Staatsrecht
des
Deutſchen Reiches.
[[II]][[III]]
Staatsrecht
des
Deutſchen Reiches.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
[[IV]]
Das Recht der Ueberſetzung wird vorbehalten.
Druck von H. Laupp in Tübingen.
[[V]]
Vorwort.
Der in dem Vorwort zum erſten Bande angedeutete Plan,
das Werk in zwei Bänden erſcheinen zu laſſen, hat eine Abände-
rung erfahren, indem die Darſtellung der auf das Heer und die
Marine, auf die Gerichtsverfaſſung und auf das Reichsfinanzweſen
ſich beziehenden Rechtsſätze einem dritten Bande vorbehalten worden
iſt. Der Grund hierfür liegt nicht allein in dem großen Umfange
des Stoffes, der eine äußerliche Abtrennung der erwähnten Materien
zweckmäßig erſcheinen ließ; ſondern zum Theil in der gegenwärtigen
Lage der Geſetzgebung. Die Juſtizgeſetzgebung iſt noch nicht vol-
lendet; dieſelbe wird im Laufe des nächſten Jahres erſt durch den
Erlaß der noch fehlenden Rechtsanwalts-Ordnung und des Reichs-
geſetzes über die Gerichtskoſten, ſowie durch die Ausführungs-Ge-
ſetze der Einzelſtaaten ihren Abſchluß finden. Die Ordnung des
Finanzweſens des Reiches aber geht einer eingreifenden Umgeſtal-
tung entgegen, indem die Einführung neuer unmittelbarer Einnahme-
Quellen des Reiches in naher Ausſicht ſteht. Die Tragweite dieſer
Reform iſt ebenſo wenig in ſtaatsrechtlicher wie in politiſcher Hin-
ſicht in dieſem Augenblicke zu überſehen. Eine Darſtellung des
gegenwärtigen Rechtszuſtandes würde daher der Gefahr unter-
liegen, ſchon bei ihrer Veröffentlichung veraltet zu ſein.
[VI]Vorwort.
In dieſer Erwägung erſchien es angemeſſen, die Erörterung
der angegebenen Lehren noch aufzuſchieben und ſie für den Schluß-
band vorzubehalten, der hoffentlich nach einer nicht zu langen Pauſe
erſcheinen wird.
Straßburg, im November 1877.
[[VII]]
Inhalts-Verzeichniß.
- Siebentes Kapitel.
Die Geſetzgebung des Reiches. - Seite
- §. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes 1
- §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung 24
- §. 58. Geſetze im formellen Sinne 59
- §. 59. Die Verordnungen des Reiches 67
- §. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze 93
- §. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung 106
- §. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen 120
- Achtes Kapitel.
Die Staatsverträge des Reiches. - §. 63. Begriff und juriſtiſche Natur 152
- §. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen 160
- §. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge 185
- §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder 194
- Neuntes Kapitel.
Die Verwaltung des Reiches. - I.Abſchnitt. Allgemeine Grundſätze.
- §. 67. Der Begriff der Verwaltung 198
- §. 68. Die Formen der Verwaltung 212
- §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung 229
- II.Abſchnitt. Die einzelnen Verwaltungszweige.
- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten 239
- §. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie 284
- §. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens 358
- §. 73. Die Verwaltung des Bankweſens 380
- §. 74. Die Verwaltung des Münzweſens mit Einſchluß des Papiergeldes 410
- §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens 439
- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens 456
[[VIII]][[1]]
Siebentes Kapitel.
Die Geſetzgebung des Reiches.
§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Das Wort Geſetz hat in der Rechtswiſſenſchaft eine doppelte
Bedeutung, welche man als die materielle und formelle bezeichnen
kann. Im materiellen Sinne bedeutet Geſetz die rechtsver-
bindliche Anordnung eines Rechtsſatzes. Der Begriff
iſt demnach aus zwei Elementen zuſammengeſetzt, welche durch die
Worte „Anordnung“ und „Rechtsſatz“ gegeben ſind. Den Gegen-
ſatz dazu bildet in einer Beziehung das Gewohnheitsrecht1),
welches zwar Rechtsſätze enthält, deren Geltung aber nicht auf
einer Anordnung, alſo einem Willensact, ſondern auf dem Bewußt-
ſein von der Rechtsverbindlichkeit einer thatſächlich beſtehenden Ue-
bung beruht. Den Gegenſatz in der anderen Richtung bildet das
Rechtsgeſchäft, welches zwar ein Willensact, eine rechtswirk-
ſame Anordnung iſt, aber nicht Rechtsſätze zum Inhalt hat, ſon-
dern ſubjective Rechte und Pflichten.
Aus dem Begriff des Geſetzes leiten ſich folgende Sätze ab:
1) Es gehört zum Begriff des Geſetzes im materiellen Sinne
des Wortes, daß daſſelbe einen Rechtsſatz aufſtellt; aber nicht,
daß dieſer Rechtsſatz eine allgemeine Regel enthält, welche auf
viele oder auch nur auf eine unbeſtimmte Anzahl von Fällen an-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 1
[2]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
wendbar iſt 1). Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daß
daſſelbe gewöhnlich ſolche Regeln bildet, welche in allen Fällen An-
wendung finden ſollen, in denen ein beſtimmter Thatbeſtand ge-
geben iſt, und da das Geſetz eine Rechtsquelle iſt, ſo hat es ge-
wöhnlich, dieſer Natur des Rechtes entſprechend, einen allgemeinen
Rechtsſatz zum Inhalt. Allein dies iſt eben nur ein Naturale,
nicht ein Essentiale des Geſetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des
Geſetzes iſt es völlig vereinbar, daß daſſelbe einen Rechtsſatz auf-
ſtellt, der nur auf einen einzigen Thatbeſtand anwendbar iſt, oder
nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt 2). Für ein
Geſetz dieſer Art hat die römiſche Rechtsſprache einen beſonderen
techniſchen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier
die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß ſich
deckt, hat man das Wort auch auf das ſubjektive Recht angewen-
det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet
wird. Die Sprache hat ſich dann des Wortes bemächtigt, um jede
Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszuſtande, jede dem ius
singulare angehörende Rechtsvorſchrift und jede durch ius singulare
begründete ſubjective Berechtigung zu bezeichnen 3).
Der Deutſchen Rechtsſprache fehlt das Gefühl für den ur-
ſprünglichen Sinn des fremden Wortes als einer beſonders gear-
teten lex gänzlich; man verwendet es ſeit Jahrhunderten für jede
Art von ſubjectiven Befugniſſen, die nicht durch die allgemein gül-
tigen Rechtsvorſchriften von ſelbſt gegeben ſind, und für jeden Akt
der Staatsgewalt, durch welchen derartige Befugniſſe zur Ent-
ſtehung kommen können. Das Wort Privilegium entſpricht dem-
[3]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
gemäß ebenſo wenig einem beſtimmten Rechtsbegriff, wie das Wort
Vorrecht. Es wird verwendet zur Bezeichnung theils von Regeln
des ius singulare, z. B. Privilegien der Minderjährigen, Kirchen,
Weiber, Soldaten, bevorzugten Gläubiger u. ſ. w., theils von
vertragsmäßig eingeräumten Begünſtigungen, z. B. Zoll- oder
Schifffahrtsprivilegien, welche durch internationale Handelsverträge
feſtgeſetzt ſind, theils von Vorrechten oder Befreiungen, welche
durch Akte der Staatsgewalt, ſeien es nun Akte der Verwaltung
oder der Geſetzgebung, begründet worden ſind. Es iſt mithin un-
richtig, das Wort Privilegium, ſo wie es in dem modernen Sprach-
gebrauch verwendet wird, mit lex specialis oder lex in privos ho-
mines lata zu identifiziren und die ſogenannte Privilegienhoheit
als einen Beſtandtheil der „geſetzgebenden Gewalt“ zu erklären.
Vielmehr iſt die Ertheilung eines ſogenannten Privilegiums in der
Mehrzahl der Fälle ein Akt der Staatsverwaltung innerhalb
des durch die Geſetze abgegränzten Gebietes, auf welchem die Hand-
lungsfreiheit der Regierung ihren Spielraum hat 1).
Aber es iſt andererſeits ebenſo unrichtig, das Privilegium als
begrifflichen Gegenſatz des Geſetzes hinzuſtellen und zu behaup-
ten, die Ertheilung eines Privilegiums ſei immer eine Verwal-
tungshandlung 2). Beides iſt vielmehr möglich; ein Privilegium
kann bald durch Rechtsgeſchäft (Verwaltungsact), bald durch Ge-
ſetzgebungsact (lex specialis) begründet ſein 3). In allen Fällen, in
welchen beſtehende Rechtsgrundſätze aufgehoben oder ſuspendirt
werden ſollen, ohne daß der Regierung eine allgemeine Ermäch-
tigung hierzu durch einen Rechtsſatz ertheilt worden iſt, bedarf es
einer lex specialis. Insbeſondere iſt es aber auch möglich, daß
für einen einzelnen, concreten Fall ein Rechtsſatz angeordnet oder
eine ſonſt geltende allgemeine Rechtsregel abgeändert wird, ohne
daß zugleich eine ſubjective Berechtigung oder Begünſtigung be-
gründet wird. Eine ſolche Anordnung iſt ein privilegium im ech-
1*
[4]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
ten und urſprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk-
liche lex specialis.
Auch für die Reichsgeſetzgebung gelten dieſe, aus dem Begriffe
des Geſetzes ſich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs-
verfaſſung eine Beſtimmung darüber nicht enthält, ſo haben ſie
doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver-
waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, ſind nie-
mals unter dem Geſichtspunkt der lex specialis aufzufaſſen, auch
wenn der gemeine Sprachgebrauch ſie ſelbſt oder die aus ihnen
hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer-
ſeits iſt die Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz auch dann,
wenn der Rechtsſatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar iſt.
Beiſpiele für ſolche Specialgeſetze ſind das Geſetz vom 21. Juli
1870 (B.G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur-
Periode des am 31. Auguſt 1867 gewählten Reichstages; das
Geſetz v. 24. Dez. 1874 (R.-G.-Bl. S. 194) über die geſchäftliche
Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der
beiden Prozeß-Ordnungen 1), ſowie die Geſetze über die Kontrole
der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlaſſen worden
ſind 2).
2) Ein Geſetz enthält eine Rechtsregel, aber es iſt zum Be-
griff eines Geſetzes nicht genügend, daß lediglich ein Rechtsſatz
formulirt wird. Die Conſtatirung, daß ein Rechtsſatz beſtehe, oder
daß er zweckmäßig oder vernünftig ſei, oder daß ſeine Einführung
beantragt oder beſchloſſen ſei, iſt weſentlich verſchieden von einem
Geſetz. Der im Geſetz zu Tage tretende Wille iſt ſtets ein Be-
fehl, daß der in dem Geſetz enthaltene Rechtsſatz befolgt werden
ſoll. Jedes Geſetz iſt eine Anordnung und ſetzt das iubeo des
[5]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Geſetzgebers voraus 1). In jedem Geſetz iſt deshalb ein doppelter
Beſtandtheil zu unterſcheiden, die in dem Geſetze formulirte Rechts-
regel und die Ausſtattung derſelben mit rechtsverbindlicher Kraft,
oder wie man auch ſagen kann, der Geſetzes-Inhalt und der
Geſetzes-Befehl.
Dieſe beiden Elemente des Geſetzesbegriffes können mit ein-
ander derartig verbunden ſein, daß ihre Unterſcheidung ohne ſtaats-
rechtliche Bedeutung iſt. Sowohl die ſouveraine Volksverſammlung
wie der abſolute Monarch beſchließt die Rechtsregel und befiehlt
zugleich ihre Geltung. Es iſt aber ebenſo gut möglich, daß für
die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes andere Vorſchriften beſtehen
und daß dabei andere Kräfte mitwirken, wie für die Ertheilung
des Geſetzes-Befehles. Alsdann wird die Unterſcheidung beider
Momente von großer theoretiſcher und praktiſcher Wichtigkeit. Man
verſchließt ſich jede Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
der Lehre von der Geſetzgebung, wenn man das Weſen des Geſetzes
in der Schaffung eines Rechtsſatzes erblickt. Geſetzgebung
iſt vielmehr lediglich die Ausſtattung eines Rechtsſatzes mit ver-
bindlicher Kraft, mit äußerer Autorität; ſie beſteht in der Sanc-
tion eines Rechtsſatzes2).
Es iſt nicht einmal nothwendig, daß ein Organ des Staates
an der Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes mitwirkt; der Staat kann
in die Lage kommen, nicht nur den Rechtsſatz in dem geltenden
Gewohnheitsrecht, ſondern ſogar den Wortlaut des Geſetzes, dem
er die Sanction ertheilen ſoll, bereits als gegeben vorzufinden.
Durch einen völkerrechtlichen Vertrag können zwei oder mehrere
Staaten ſich verpflichten, einen vertragsmäßig feſtgeſtellten Complex
von Rechtsſätzen gleichlautend zum Geſetz zu erheben. Im ehe-
maligen Deutſchen Bunde konnte die Bundes-Verſammlung durch
Beſchluß Rechtsregeln formuliren, ſogenannte Bundesgeſetze machen,
welche an ſich keine Geſetzeskraft hatten, denen aber die einzelnen
[6]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Bundesſtaaten dieſelbe zu ertheilen verpflichtet waren. Wechſel-
Ordnung und Handelsgeſetzbuch ſind bei ihrem erſten Entſtehen
von keinem verfaſſungsmäßig zur Geſetzgebung berufenen Organe
eines Deutſchen Staates ihrem Inhalte nach feſtgeſtellt oder be-
ſchloſſen, wohl aber von den einzelnen Staaten zum Geſetz erklärt
oder als Geſetz eingeführt, d. h. mit Geſetzeskraft ausgeſtattet
worden. Ihre Erklärung zu Reichsgeſetzen änderte Nichts an ihrem
Inhalte, ſondern erſetzte lediglich den Geſetzesbefehl der Einzel-
ſtaaten durch den Geſetzesbefehl des Reiches.
Für mehrere Rechtsgebiete ergehende ſelbſtſtändige Geſetzes-
Befehle mit identiſchem Rechtsinhalt ſchaffen materiell gemeines
Recht; ein für mehrere Rechtsgebiete verbindlicher Geſetzes-Befehl
begründet für dieſelben formell gemeines Recht.
Auch innerhalb des einzelnen Staates aber kann die Feſtſtellung
deſſen, was Geſetz werden ſoll, einem andern Organ obliegen, als dem-
jenigen, welchem die Sanction zukömmt. Dies iſt insbeſondere in
der conſtitutionellen Monarchie der Fall. Der Monarch als der
alleinige Träger der ungetheilten und untheilbaren Staatsgewalt iſt
allein im Stande ein Staatsgeſetz zu erlaſſen, d. h. den ſtaatlichen
Befehl ſeiner Befolgung zu ertheilen. Den Inhalt des Geſetzes
aber zu beſtimmen, ſteht ihm nicht ausſchließlich zu; die Volksver-
tretung hat vielmehr mit der Regierung den Inhalt zu vereinbaren.
Der Wortlaut der anzuordnenden Rechtsregeln iſt bereits vor dem
Erlaß des Geſetzes auf dem im Verfaſſungsrecht vorgezeichneten
Wege fixirt; der Souverain kann an demſelben Nichts ändern, er
hat nur darüber die Freiheit der Willensentſchließung, ob er den
Befehl ertheilen will, daß dieſer Wortlaut Geſetz werde. Und
nicht blos die Volksvertretung, auch die Organe der Provinzial-
Kreis- oder Kommunalverbände oder andere bei dem Zuſtande-
kommen des Geſetzes Betheiligte können verfaſſungsmäßig einen
Antheil an der Feſtſtellung ſeines Inhaltes haben.
Das Hoheitsrecht des Staates oder die Staatsgewalt kömmt
nicht in der Herſtellung des Geſetzes-Inhaltes, ſondern nur in der
Sanction des Geſetzes zur Geltung; die Sanction allein iſt Geſetz-
gebung im ſtaatsrechtlichen Sinne des Wortes 1). Das Recht zur
ſtaatlichen Geſetzgebung in dieſer Bedeutung iſt ebenſo untheilbar
[7]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
wie die Souverainetät, deren Ausfluß und Bethätigung es iſt, und
die Frage nach dem Subject der geſetzgebenden Gewalt iſt iden-
tiſch mit der Frage nach dem Träger der Staatsgewalt.
Die Lehre von der Theilung der Gewalten beruht
in der Hauptſache auf der Verkennung des hier entwickelten Gegen-
ſatzes 1). Da in dem conſtitutionellen Staate der Monarch kein
Geſetz erlaſſen darf, welches die Volksvertretung nicht genehmigt
hat, und andererſeits kein Beſchluß der Volksvertretung Geſetzes-
kraft erlangt, wenn der Monarch demſelben nicht die Sanction er-
theilt, ſo faßte man das Weſen der Geſetzgebung als eine Verein-
barung zwiſchen dem Monarchen und dem Landtage auf. Der
Willensact der einheitlichen Staatsperſönlichkeit wurde in den Con-
ſens zweier Contrahenten aufgelöst 2). Man ſah einerſeits in der
Beſchlußfaſſung der Volksvertretung über den Inhalt des Geſetzes
eine Bethätigung der Geſetzgebungsgewalt und man nannte die
Volksvertretung deshalb „den geſetzgebenden Körper“; andererſeits
zog man die königliche Sanction herunter zu einer bloßen Zuſtim-
mung zu den Beſchlüſſen des corps législatif. Formen und Aus-
drücke des engliſchen Rechtes wurden auch hier von Einfluß. Da
in England die Zuſtimmung des Königs zu der vom Parlament
beſchloſſenen Bill Royal Assent3) heißt, ſo bezeichnete auch die
franzöſiſche Conſtitution von 1791 die vom Könige ertheilte Sanc-
[8]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
tion als Consentement royal und in der franzöſiſchen Literatur
des conſtitutionellen Staatsrechts war die Auffaſſung durchweg
herrſchend, daß die Sanction des Geſetzes durch den König ein der
Genehmigung des Geſetzes durch die Kammern gleichartiger
Akt, eine Erklärung von gleichem Willens-Inhalte ſei.
Dieſe Anſchauungen wurden auch in Deutſchland geltend 1).
Faſt alle Darſtellungen des Deutſchen Staatsrechts, auch wenn ſie
die Lehre von der Theilung der Gewalten verwerfen und von dem
ſogen. monarchiſchen Prinzip ausgehen, erfordern zum Zuſtande-
kommen eines Geſetzes den „übereinſtimmenden Willen“ des Landes-
herrn und des Landtages, ohne zu erkennen, daß die Genehmigung
eines Geſetzes durch den Landtag eine Willenserklärung von ganz
anderem Inhalte iſt als die Genehmigung eines Geſetzes durch den
Landesherrn. Der Sprachgebrauch wurde immer allgemeiner, dem
Landesherrn ein „Veto“ und zwar das ſogenannte abſolute Veto
beizulegen 2). Dadurch wurde das ihm zuſtehende Recht der Sanc-
tion unter den verkehrteſten Geſichtspunkt gebracht, indem das
Weſen der landesherrlichen Befugniß, wenn ſie ein Veto wäre,
nicht darin beſtände, ein Geſetz zu erlaſſen, ſondern den Geſetzgeber
(Landtag) an der Ausübung ſeines Rechtes zu hindern 3). Daß
man aus dieſer falſchen Auffaſſung keine Conſequenzen zog, beruhte
weſentlich darauf, daß die Behandlung des Staatsrechts eine vor-
wiegend politiſche war, welche ſich um die juriſtiſche Logik nicht
kümmerte.
[9]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Die wichtigſte aller Deutſchen Verfaſſungen, die Preußiſche
Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrſchenden Theorie
von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der
Landtag hinſichtlich der Geſetzgebung auszuüben haben, indem ſie
im Art. 62 beſtimmte:
„Die geſetzgebende Gewalt wird gemeinſchaftlich durch den
König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinſtimmung
des Königs und beider Kammern iſt zu jedem Geſetze erforderlich.“
Dieſer Beſtimmung gegenüber ſuchte man die Untheilbarkeit der
dem Könige zuſtehenden Souveränetät durch die theoretiſche Unter-
ſcheidung zwiſchen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht
der Geſetzgebung ſtehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in
Gemeinſchaft mit dem Landtage 1).
Und doch konnte man ſich nicht verhehlen, daß nur die
Sanction einen Entwurf zum Geſetz erhebt, an dieſer Sanction
aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen
Antheil hat 2).
Die Faſſung der Preuß. Verf.-Urk. iſt auch für die Ausdrucks-
weiſe der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und der Reichsverf. von
maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abſ. 1 der R.-V. lehnt
ſich eng an den Art. 62 der Preuß. V.-U. an. Um ſo weniger
darf man ſich dieſer Beſtimmung gegenüber mit einer bloßen Wort-
Interpretation begnügen.
Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinſtimmung der
Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstags zu einem
Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, widerſpricht nicht nur
der Natur der Sache, ſondern auch den Anordnungen der Artikel
2 und 17 der R.-V. Uebereinſtimmende Mehrheitsbeſchlüſſe der
beiden Verſammlungen ſind zu einem Reichsgeſetze zwar erforder-
lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, ſo müßte eine
[10]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
vom Bundesrathe an den Reichstag gebrachte Geſetzesvorlage in
dem Augenblicke zum Geſetz werden, in welchem die Mehrheit des
Reichstages ſie genehmigt hat 1). Die Anordnung des Art. 5 be-
trifft nur die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhalts; hierzu iſt die
Uebereinſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe der beiden Verſamm-
lungen erforderlich und ausreichend; der Effect dieſer Ueberein-
ſtimmung beſteht aber zunächſt nur in der definitiven Herſtellung
eines Geſetz-Entwurfes. Um ihn zum Geſetz zu erheben, muß
noch die Ausſtattung deſſelben mit verbindlicher Kraft, der Ge-
ſetzes-Befehl oder die Sanction hinzukommen 2).
3) Da nur diejenige Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz
iſt, welche rechtsverbindlich iſt, ſo ergiebt ſich, daß Geſetze nur
derjenige erlaſſen kann, welcher befugt iſt, die Rechtsordnung zu
regeln und die Befolgung eines Rechtsſatzes anzubefehlen 3). Die
Frage, wem dieſe Befugniß zuſteht, beantwortet ſich nach dem je-
weiligen Verfaſſungszuſtande. Daß nur der Souverain oder die
„höchſte“ Staatsgewalt Geſetze zu geben befugt ſei, folgt aus dem
Begriffe des Geſetzes nicht, ſondern kann nur aus dem in einem
politiſchen Gemeinweſen verwirklichten Staatsbegriff ſich er-
geben. Der Begriff des Geſetzes umfaßt vielmehr auch die Au-
tonomie in allen ihren Abſtufungen und Anwendungen. Rechts-
verbindliche Anordnungen von Rechtsſätzen Seitens der Gemeinden
und anderen öffentlich-rechtlichen Verbänden oder der Grundherr-
ſchaften und anderen nicht ſouverainen Gewalthabern ſind auch
Geſetze im materiellen Sinne des Wortes. Nur da, wo der Staat
die Ordnung und Regelung des Rechtszuſtandes zu ſeiner Aufgabe
gemacht hat, die er ſelbſt und ausſchließlich durchführt, ſo daß er
allein befugt iſt, Rechtsſätze wirkſam anzuordnen, wird die Defini-
tion des Geſetzes als einer rechtsverbindlichen Anordnung
eines Rechtsſatzes gleichbedeutend mit der Definition des Geſetzes
als einer vom Staate erlaſſenen Anordnung eines Rechtsſatzes 4).
Wo der Staat die Ordnung des Rechtszuſtandes im Weſent-
[11]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
lichen, wenngleich nicht völlig, zu ſeiner eigenen Aufgabe macht
und den ihm untergeordneten Verbänden und Einzelperſonen nur
in beſchränktem Maße den Erlaß rechtsverbindlicher Anordnungen
von Rechtsſätzen geſtattet, ſo daß die an Zahl und Bedeutung über-
wiegende Maſſe aller Geſetze vom Staat ausgeht, entwickelt ſich
der Sprachgebrauch, unter Geſetzen die Staatsgeſetze zu ver-
ſtehen. Anſtatt die Geſetze einzutheilen in ſtaatliche (ſouveräne)
und autonomiſche, pflegt man die autonomiſchen Anordnungen den
„Geſetzen“ gegenüberzuſtellen, als wären ſie nicht eine Unterart,
ſondern der Gegenſatz der Geſetze. Dieſe ungenaue Ausdrucksweiſe
erzeugt dann ihrerſeits wieder die Vorſtellung, daß nur der Sou-
verain Geſetze erlaſſen könne, daß die „geſetzgebende Gewalt“ ihrem
Begriff und Weſen nach „die höchſte Gewalt“ ſei, der alle andern
untergeordnet ſind, und daß die Souveränetät eine unerläßliche
Vorausſetzung für die Geſetzgebung ſei. Dieſe Vorſtellung iſt,
trotzdem ſie allgemein verbreitet iſt, ein Irrthum. Es iſt leicht,
aus der Rechtsgeſchichte dies zu erweiſen und Verfaſſungszuſtände
anzuführen, in denen die Regelung der Rechtsordnung und darum
auch die Befugniß zum Erlaß von Geſetzen nicht zu den aus-
ſchließlichen Prärogativen der ſouverainen Gewalt gehörte. Grade
in Deutſchland iſt das ehemalige Reich niemals in dem Alleinbeſitz
der Befugniß geweſen, die Rechtsordnung zu regeln, und erſt die
allgemeine Staatsrechts-Theorie des letzten Jahrhunderts hat die
in Rede ſtehende Anſchauung zur Herrſchaft gebracht.
Auch die jetzige Reichsverfaſſung weiß Nichts von dem Grund-
ſatz, daß das Reich allein und ausſchließlich berufen ſei, die ge-
ſammte Rechtsordnung zu regeln und damit iſt von ſelbſt die aus-
ſchließliche Befugniß des Reiches zur Geſetzgebung verneint. Den
Einzelſtaaten iſt ein großer Theil der ſtaatlichen Aufgaben zu ſelbſt-
ſtändiger Erfüllung überlaſſen und dadurch ihnen zugleich die Be-
fugniß gewahrt, hinſichtlich dieſes Theiles Rechtsregeln in verbind-
licher Weiſe aufzuſtellen, alſo Geſetze zu geben. Demgemäß unter-
ſcheidet die Reichsverfaſſung ſelbſt Reichsgeſetze und Landes-
geſetze1). Wenn man die unrichtige Vorſtellung fallen läßt, daß
nur die ſouveräne Staatsgewalt im Stande ſei, Geſetze zu
geben, ſo kann man aus der reichsverfaſſungsmäßigen Anerkennung
[12]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
der Landesgeſetzgebung nicht den Schluß ziehen, daß die Einzel-
ſtaaten ſouverain ſeien oder daß die Souveränetät zwiſchen Reich
und Einzelſtaat getheilt ſei, ſondern die Landesgeſetzgebung fällt
unter den wiſſenſchaftlichen Begriff der Autonomie, während die
Reichsgeſetzgebung die Geſetzgebung des Souverains iſt 1).
4) Da jedes Geſetz ein Willensact iſt, bedarf daſſelbe einer
Erklärung. Denn ein Wille, welcher nicht erklärt, d. h. äußer-
lich erkennbar gemacht iſt, gilt juriſtiſch nicht als vorhanden. Die
Form, in welcher die Erklärung erfolgen muß, läßt ſich aus dem
Begriff des Geſetzes nicht ableiten, ſondern beſtimmt ſich nach den
poſitiven Vorſchriften, welche darüber beſtehen. Die Erklärung des
Geſetzeswillens darf man aber nicht verwechſeln oder identifiziren
mit der Verkündigung des Geſetzes. Es kann allerdings eine Form
der Erklärung gewählt werden, welche zugleich die Gemeinkundig-
keit des Geſetzes herbeiführt oder erleichtert; es gilt dies nament-
lich von dem Falle, wenn die Sanction des Geſetzes durch Ab-
ſtimmung der Volksverſammlung erfolgt und das Reſultat der
Abſtimmung in der Volksverſammlung ſelbſt verkündigt wird. Ge-
wöhnlich aber iſt die Bekanntmachung eines Geſetzes von der Er-
klärung des Geſetzes-Willens getrennt. Die Form für dieſe Er-
klärung dient nur dem Zwecke, den Geſetzes-Willen in authenti-
ſcher Geſtalt erkennbar, nicht ihn allgemein bekannt zu machen.
Gegenwärtig bedient man ſich allgemein hierzu der Schrift; die
Form der Geſetzes-Erklärung iſt ſonach die der öffentlichen
Urkunde. Wer dieſe Urkunde auszufertigen hat und welchen
Erforderniſſen dieſelbe genügen muß, iſt eine Frage des poſitiven
Rechts; für die Reichsgeſetzgebung beantwortet ſie ſich durch Art. 17
der R.-V. 2) Weſentlich iſt für dieſelbe nur, daß ſich aus der-
ſelben in formell unzweifelhafter Art das Vorhandenſein des Ge-
ſetzgebungs-Befehls und ſein Inhalt ergiebt. Durch die Beurkun-
dung des Geſetzes wird daſſelbe ſinnlich wahrnehmbar und dadurch
juriſtiſch erſt exiſtent. In der abſoluten Monarchie enthält die
Geſetzes-Urkunde weiter Nichts als die Erklärung des landesherr-
lichen Willens, daß ein Rechtsſatz befolgt werden ſoll; das Zu-
ſtandekommen eines rechtsgültigen Geſetzes iſt an andere Voraus-
[13]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
ſetzungen nicht gebunden; die formellen Erforderniſſe der Geſetzes-
Urkunde dienen lediglich zur Sicherung, um den wahren und ern-
ſten Willen des Monarchen zu conſtatiren und um Fälſchungen,
Irrthümer und Willkürlichkeiten auszuſchließen. Wo aber der Er-
laß eines Geſetzes noch an andere Vorausſetzungen als an den
perſönlichen Willen des Monarchen geknüpft iſt, kann die Beur-
kundung des Geſetzes nur erfolgen, wenn das Vorhandenſein dieſer
Vorausſetzungen feſtgeſtellt wird. Die Erklärung des Geſetzes iſt
in dieſem Falle nicht nur eine authentiſche Beurkundung ſeines
Wortlautes, ſondern zugleich eine formelle Conſtatirung, daß die
verfaſſungsmäßigen Vorbedingungen des Geſetzgebungs-Willens er-
füllt ſind.
Die Erklärung des Geſetzes erhält alsdann eine weittragende
ſtaatsrechtliche Bedeutung; ſie bildet ein Erforderniß für das Zu-
ſtandekommen eines Geſetzes, welches man eben ſowohl von der
Sanction wie von der Verkündigung unterſcheiden muß. In der
Deutſchen Rechtsliteratur iſt dieſes Erforderniß durchweg unbeachtet
geblieben; man verlangt für die Geſetzgebung einfach Sanction und
Publikation. So wie man die Sanction zuſammenwirft mit der
ihr vorangehenden Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes, ſo vermengt
man die Verkündigung mit der ihr vorangehenden formellen Er-
klärung (Beurkundung) des Geſetzes-Befehls.
Das ältere Deutſche Reichsſtaatsrecht hat den Akt,
durch welchen das rechtsgültige Zuſtandekommen eines Reichsge-
ſetzes conſtatirt wird, in höchſt ſorgfältiger Weiſe ausgebildet. Be-
kanntlich wurden alle auf einem Reichstage zu Stande gekommenen
Geſetze am Schluß des Reichstages zuſammengefaßt 1). Die Re-
[14]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
daktion des Reichsabſchiedes lag dem Reichs-Erzkanzler ob, jedoch
unter Mitwirkung einer Deputation der Stände, welche aus Mit-
gliedern aller Collegien gebildet wurde, und eines oder zweier
Kommiſſare des Kaiſers. Die Urkunde wurde in zwei Exemplaren
auf Pergament ausgefertigt, von denen eines für die Reichskanzlei,
das andere für den Reichshofrath beſtimmt war. Beide Urkunden
wurden vom Kaiſer und den Ständen unterzeichnet und unterſiegelt;
die Lehre von der subscriptio und obsignatio der Reichs-Abſchiede
bildete ein nicht unbeträchtliches Kapitel des Reichsrechts. Wenn
allſeitiges Einverſtändniß über die Faſſung des Reichs-Abſchiedes
erzielt und die Ausfertigung mit Unterſchriften und Siegeln ver-
ſehen war, ſo wurde eine feierliche Sitzung des Reichstages anbe-
raumt, in welcher der Kaiſer in Perſon oder ſein Kommiſſar über
die Verhandlungen des Reichstages berichtete, hierauf den Reichs-
Abſchied vom Reichs-Erzkanzler laut vorleſen ließ, und endlich die
Stände ermahnte, die Vorſchriften deſſelben zu befolgen. Dieſer
Akt heißt bei den Reichs-Publiziſten die Publicatio oder auch Pro-
mulgatio des Reichsabſchiedes 1); die Befugniß, dieſen Akt vorzu-
nehmen, wurde als kaiſerliches Reſervatrecht angeſehen. Wurde
von den verſammelten Ständen kein Widerſpruch erhoben, ſo lag
hierin die Erklärung des Einverſtändniſſes mit der Faſſung des
Reichsabſchiedes. Eine beglaubigte Abſchrift wurde dem Reichs-
Kammergericht von der Reichskanzlei zugeſendet. Der eben be-
ſchriebene Akt der Publicatio war keine Verkündigung im Sinne
von Bekanntmachung. Kaiſer und Reichstag hatten ſelbſt den
Reichsabſchied beſchloſſen; ihnen brauchte er alſo nicht kund ge-
macht zu werden; die Behörden und Angehörigen des Reiches aber
erlangten durch die feierliche Schlußſitzung des Reichstages keine
Kunde von dem Inhalte des Reichsgeſetzes. Die Verkündigung
der Reichs-Abſchiede im eigentlichen Sinne war im Weſentlichen
Sache der Stände, welche dieſelbe in ihren Territorien zu veran-
1)
[15]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
laſſen hatten 1). Die Bedeutung der feierlichen Publicatio des
Reichs-Abſchiedes beſtand vielmehr darin, daß Exiſtenz und Wort-
laut der vom Kaiſer und Reichstag vereinbarten und vom Kaiſer
ſanctionirten Reichsgeſetze in ſolenner und authentiſcher Form con-
ſtatirt wurden; es war die »solemnis editio« des Reichsgeſetzes.
Eine ähnliche Einrichtung beſteht in England. Das Recht
der Krone, die von den beiden Häuſern genehmigten Bills zu ſanc-
tioniren, iſt ein Scheinrecht, da nach einem unbezweifelten Rechts-
ſatz die Krone die Genehmigung nicht verweigern darf 2). Von
weſentlicher Bedeutung aber iſt die Befugniß der Krone, das Ge-
ſetz auszufertigen. Die alte und regelrechte Form der Er-
klärung des Geſetzes beſteht darin, daß der König in einer feier-
lichen Sitzung des Hauſes der Lords erſcheint, die Gemeinen an
die Schranke entbietet, vom Kron-Clerk die Titel der vom Parla-
ment beſchloſſenen Bills verleſen läßt und die Genehmigung der-
ſelben erklärt. Seit Stat. 33 Heinrich VIII. c. 21 iſt ſtatt dieſer
Form auch die Erklärung durch Patent zuläſſig, welches vom König
eigenhändig unterſchrieben, von dem Kron-Clerk gegengezeichnet und
mit dem großen Staatsſiegel verſehen ſein muß. In feierlicher
Sitzung der Lords, zu welcher die Gemeinen geladen werden, wird
das Patent ſeinem ganzen Inhalte nach verleſen und die königliche
Genehmigungsklauſel wird von dem Clerk des Parlaments in das
1)
[16]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Protokollbuch der Lords eingetragen. Dieſer Vorgang iſt keine
eigentliche Verkündigung des Geſetzes, obwohl die Fiction beſteht,
daß Alles, was in öffentlicher Sitzung des Parlaments geſchieht,
auch öffentlich bekannt gemacht ſei; die wirkliche Bekanntmachung
des Geſetzes erfolgt erſt ſpäter durch den Druck. Die juriſtiſche
Bedeutung des Aktes beſteht vielmehr in der formellen und au-
thentiſchen Erklärung des ſtaatlichen Geſetzgebungs-
Willens. Bevor dieſe Erklärung erfolgen kann, muß der König
und der ihm in dieſer Angelegenheit Rath ertheilende Miniſter
prüfen, ob die Bill in der That die ordnungsmäßige und über-
einſtimmende Genehmigung beider Häuſer erlangt hat und ob die
zahlreichen Formvorſchriften, welche das Engliſche Recht für das
Zuſtandekommen eines Geſetzes aufgeſtellt hat, vollſtändig beobachtet
worden ſind. Ergiebt ſich in dieſer Beziehung ein Mangel, ſo iſt
die Bill dem betreffenden Hauſe zur Erledigung deſſelben und zur
Beſeitigung der Formwidrigkeit zurückzuſtellen 1). Hieraus folgt,
worin das wahre Weſen der Königlichen Ausfertigung beſteht. Sie
iſt nur ſcheinbar die Ertheilung der Sanction und bezweckt nicht
die Kundmachung der Bill, ſondern ſie conſtatirt in authentiſcher
und feierlicher Form das verfaſſungsmäßige Zuſtandekommen des
Geſetzes, ſie iſt die solemnis editio legis.
Von größerem Einfluß auf das gegenwärtige conſtitutionelle
Staatsrecht Deutſchlands iſt die Entwicklung des Franzöſiſchen
Rechts geweſen, welche deshalb einer genaueren Erörterung bedarf.
Vor der Revolution von 1789 ging ſowohl die Sanction als
die Erklärung des Geſetzes vom Könige aus, die Verkündigung da-
gegen war Sache der Gerichtshöfe (Parlamente). Gemäß der Or-
donnanz von 1667 Tit. I. Art. 2 wurden die königlichen Ausfer-
tigungen der Geſetze und Verordnungen den „ſouverainen Gerichts-
höfen“ zur Regiſtrirung und Verkündigung überſendet. Das En-
registrement führte keine Bekanntſchaft des Publikums mit dem
Geſetze herbei; es beſtand darin, daß das Geſetz in die Liſte des
Gerichtshofes eingetragen wurde; es conſtatirte die Aechtheit der
königlichen Urkunde und den Wortlaut des in ihr enthaltenen Ge-
ſetzes; es wird von Portalis ganz richtig als vérification des
[17]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
lois bezeichnet 1). Die Verkündigung erfolgte nach geſchehener Ein-
regiſtrirung auf Befehl des Parlaments in den einzelnen Ort-
ſchaften durch Verleſen, Aushang u. ſ. w. Auch die Geſetzgebung
von 1789 ließ zunächſt die Regiſtrirung und Verkündigung der
Geſetze durch die Gerichtshöfe beſtehen; die Geſetze v. 20. Oktober
und 5. Nov. 1789 beſeitigten nur die Mißbräuche, welche ſich in
die Praxis der Gerichte eingeſchlichen hatten, indem ſie anordneten,
daß die von der National-Verſammlung beſchloſſenen Dekrete, ſo-
bald ſie die Sanction des Königs erhalten haben, ohne Zuſatz,
Veränderung oder Anmerkung den Behörden zum Zweck der Ein-
tragung in die Liſten und zur Verkündigung zu überſenden ſeien,
und daß die Gerichts- und Verwaltungsbehörden, welche nicht
binnen drei Tagen nach Empfang der Geſetze ſie eintragen und ſie
binnen einer Woche verkündigen laſſen, als prévaricateurs und
wegen forfaiture beſtraft werden ſollen. Die formelle und authen-
tiſche Erklärung des Geſetzes verblieb dagegen Sache des Königs;
das Geſetz vom 9. Nov. 1789 bezeichnet dieſen Akt als die Pro-
mulgation des Geſetzes, indem es denſelben ſcharf von der
Publikation deſſelben unterſcheidet.
So lange das Königthum und das — wenigſtens ſcheinbare
— Recht deſſelben zur Sanction der Geſetze beſtand, fiel die Pro-
mulgation äußerlich mit der Sanction zuſammen 2). Seit der
Unterdrückung des Königthums hob ſich die Promulgation von der
Sanction, von der ſie begrifflich durchaus verſchieden war, auch
in der äußeren Erſcheinung ab und es treten jetzt Sanction, Pro-
mulgation und Publikation als drei völlig getrennte Erforderniſſe
eines Geſetzes hervor. Es gilt dies namentlich von der Verfaſſung
des Jahres VIII. Nach dem Art. 37 dieſer Verf. wurden die
Geſetze ſanctionirt (erlaſſen) vom Corps législatif. Innerhalb einer
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 2
[18]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
Friſt von 10 Tagen konnte aber die Sanction ſowohl von dem
Tribunal als von der Regierung durch Recurs an den Senat pour
inconstitutionalité de la loi angefochten werden, ſo daß alſo der
Sanctionsbeſchluß erſt nach Ablauf der zehntägigen Friſt, wenn
innerhalb derſelben der Recurs nicht erhoben wurde, Rechtskraft
erlangte. Nach einem Arrêté v. 28 Nivôse des Jahres VIII. war
die Anordnung getroffen, daß in dem Arbeitszimmer der Conſuln
ein Koffer ſich befinden ſollte, in welchem die Siegel der Republik
deponirt waren und in welchen die Decrete des Corps législatif
vom Staatsſecretair gelegt werden ſollten. Am zehnten Tage nach
Erlaß der Decrete des Corps législatif hatte der Staatsſecretär
ſie dem erſten Conſul zu überreichen, welcher die Beidrückung des
Staatsſiegels befahl und eine offizielle, unterſchriebene gegenge-
zeichnete und mit dem Siegel verſehene Ausfertigung unverzüglich
dem Juſtiz-Miniſter überſendete 1).
Hierin beſtand die dem erſten Conſul zuſtehende Promulgation
der Geſetze, während die Sanction vom Corps législatif ausgieng,
die Publikation dem Juſtizminiſter und den Behörden oblag. Es
iſt klar, daß der Rechtsgrund für die verbindliche Kraft der Geſetze
nicht in der Promulgation, ſondern in der Sanction derſelben be-
ruhte; die Promulgation conſtatirte nur, daß der ſtaatliche Geſetz-
gebungsbefehl verfaſſungsmäßig erlaſſen worden iſt und gab dem-
ſelben einen formellen und authentiſchen Ausdruck 2). Portalis
bezeichnet in dem Discours vom 23 Frimaire X (14 Dezbr. 1801)
nr. 16 (bei Locré I. S. 466 ff.) die Promulgation als solemnis
editio legis und fügt mit dem ihm eigenthümlichen phraſenhaften
Styl hinzu: »La promulgation est une forme extérieure à la loi
comme la parole et l’écriture sont extérieures à la pensée.«
Die ſpätere franzöſiſche Verfaſſungs-Entwicklung hat dieſe Be-
[19]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
deutung der Promulgation wieder verdunkelt. Schon der Art. 1
des Code civ. ſchreibt der Promulgation eine Wirkung zu, welche
nicht ihr, ſondern der Sanction zukömmt, indem er beſtimmt, daß
die Geſetze vollſtreckbar ſind en vertu de la promulgation. Ver-
gebens wurde bei den Berathungen des Corps législatif ausge-
führt, daß dieſe Beſtimmung mit dem Weſen der Promulgation
im Widerſpruch ſtehe 1). Da dem Chef der Regierung in Wahr-
heit die geſetzgebende Gewalt übertragen werden ſollte, nach der
Verfaſſung aber die Sanction der Geſetze dem Corps législatif
und nur die Promulgation dem erſten Conſul zuſtand, ſo begann
man das Geſetzbuch mit dem Satze, daß die Geſetze ihre verbind-
liche Kraft erhalten en vertu de la promulgation. Die Redner
der Regierung, Portalis und Boulay, verſuchten die Bedeu-
tung des Satzes zu verhüllen 2).
Nach der Reſtauration fallen Promulgation und Sanction
wieder zuſammen, in derſelben Weiſe wie dies 1789 der Fall war.
Sowohl die Charte von 1814 Art. 22 wie die Charte von 1830
Art. 18 beſtimmten: »Le Roi seul sanctionne et promulgue les
lois.« Zur Promulgation gehört aber nicht nur die authentiſche
Erklärung der Sanction, ſondern auch die formelle Beſtätigung,
daß die Vorausſetzung der Sanction, nämlich die Genehmigung
des Geſetzes durch die Kammern vorhanden iſt 3). Dagegen legt
die Ordonnanz v. 27. Nov. 1816 dem Worte Promulgation einen
völlig verſchiedenen Sinn unter, indem Art. 1. derſelben lautet:
2*
[20]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
»A l’avenir la promulgation des lois et de nos ordonnances
résultera de leur insertion au Bulletin officiel.« Die Einrückung
in das Geſetzblatt iſt Verkündigung des Geſetzes, nicht Ausferti-
gung deſſelben.
Im heutigen franzöſiſchen Staatsrecht fallen Sanction und
Promulgation wieder ganz auseinander; nach der Verf. von 1875
werden die Geſetze von den Kammern ſanctionirt, der Präſident
hat weder das Recht der Zuſtimmung noch des Veto; dagegen
ſteht es ihm zu, die Geſetze zu promulgiren und zu publiziren 1).
Trotz dieſes Schwankens der Geſetzgebung hinſichtlich des Ge-
brauches des Wortes Promulgation 2) iſt in der franzöſiſchen Rechts-
literatur der Unterſchied der Promulgation von der Sanction einer-
ſeits und von der Publikation andererſeits faſt ausnahmslos feſt-
gehalten worden und das Weſen der Promulgation in der authen-
tiſchen Beglaubigung des Geſetzes erblickt worden 3).
Da die Promulgation des Geſetzes in Frankreich nicht wie im
alten deutſchen Reiche und in England in einem vor dem Reichs-
tage oder Parlamente ſich vollziehenden feierlichen Akte, ſondern
lediglich in der Unterzeichnung einer Urkunde beſteht, ſo entzieht
ſich dieſe Thatſache ſelbſt wieder der allgemeinen Kenntniß und
Wahrnehmung. Sie bedarf der Kundmachung und dieſelbe erfolgt,
indem die Geſetzes-Urkunde offiziell veröffentlicht wird. Die
Veröffentlichung des Geſetzes iſt die unmittelbare und nothwendige
Folge ſeiner Promulgation; mit der Promulgation verbindet ſich
[21]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
daher der Befehl zur Verkündigung des Geſetzes. Schon die
altfranzöſiſchen Geſetzes-Ausfertigungen enthielten dieſen Befehl an
die Parlamente; ebenſo findet er ſich in der Promulgationsformel
des Geſ. v. 9. Nov. 1789; die Verf. vom 5 Fructid. des Jahres III,
welches dem Directorium die Promulgation der Geſetze übertrug,
ſchrieb im Art. 130 für die Promulgation ebenfalls eine Formel
vor, welche einen Publikationsbefehl enthielt 1); daſſelbe gilt von
dem Reglement v. 13. Aug. 1814. Nicht ſelten wird daher das
Weſen der Promulgation, zwar nicht in der Verkündigung ſelbſt,
wohl aber in dem Befehl zur Verkündigung gefunden, da dieſer
Befehl gewiſſermaßen die unmittelbare und praktiſche Conſequenz
der Ausfertigung des Geſetzes iſt 2).
Dieſe Rechtsanſchauungen ſind mit der franzöſiſchen conſtitu-
tionellen Staatsrechtstheorie in das Deutſche Landesſtaats-
recht eingedrungen. Bei der monarchiſchen Verfaſſung der Deut-
ſchen Staaten lag aber kein praktiſcher Anlaß vor zwiſchen der
Sanction und der Promulgation zu unterſcheiden. Es galt als
ſelbſtverſtändlich, daß die Sanction in einer vom Landesherrn unter-
ſchriebenen, mit dem Staatsſiegel verſehenen und gegengezeichneten
Urkunde erklärt wird und es galt als ebenſo ſelbſtverſtändlich, daß
in dieſer Urkunde auf die erfolgte Zuſtimmung der Stände Bezug
genommen und dieſelbe ausdrücklich bezeugt werde. In allen
Deutſchen Staaten herrſcht in dieſer Beziehung eine gleichmäßige,
faſt bis auf den Wortlaut der Formel übereinſtimmende Praxis 3).
In der Promulgation des franzöſiſchen Rechts ſah man Nichts
Anderes als die Verkündigung des Geſetzes, oder im günſtigſten
Fall den Verkündigungs-Befehl 4). Daß ſich zwiſchen Sanction
[22]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
und Publikation noch ein drittes Erforderniß für die Herſtellung
des Geſetzes einſchiebe, nämlich die ſolenne und authentiſche Er-
klärung des ſtaatlichen Geſetzgebungs-Willens, blieb unbemerkt 1)
und es wurde ebenſowenig den wichtigen Rechtswirkungen dieſes
Aktes, die im folgenden Paragraphen ihre Erörterung finden wer-
den, Beachtung geſchenkt. Die conſtitutionelle Staatsrechts-Theorie
ſelbſt ſtand einer richtigen Auffaſſung des Geſetzgebuugs-Vorganges
im Wege, da man das Weſen des Geſetzes in der Uebereinſtim-
mung des Landtages und der Krone erblickte, nicht in einer ein-
heitlichen Willens-Erklärung der einen und untheilbaren Staats-
gewalt, für welche jene Uebereinſtimmung nur eine verfaſſungs-
mäßig erforderte Vorbedingung iſt.
Auf die Reichsverfaſſung ſind dieſe Sätze des Deutſchen
Landesſtaatsrechtes nicht ohne Abänderung anwendbar, weil das
Deutſche Reich keine Monarchie iſt. Sanction und Promulgation
der Geſetze fallen nicht mehr zuſammen; und ebenſo wenig darf
die Promulgation mit der Kundmachung verwechſelt werden. Die
Ausfertigung der Geſetze und der Befehl, dieſelben zu verkündigen,
ſtehen vielmehr zwiſchen der Sanction der Geſetze und ihrer Kund-
machung durch das Reichsgeſetzblatt als ein beſonderer Akt, deſſen
Vollziehung der Art. 17 der R.V. dem Kaiſer überträgt.
5) Endlich folgt aus dem an die Spitze geſtellten Begriffe
des Geſetzes die Nothwendigkeit ſeiner Verkündigung. Da jedes
Geſetz ein Befehl iſt, alſo an Jemanden gerichtet ſein muß, ſo er-
4)
[23]§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
giebt ſich, daß dem Adreſſaten die Möglichkeit gewährt werden
muß, von dem Befehl Kunde zu erlangen. Das Geſetz aber iſt
nicht an beſtimmte einzelne Perſonen gerichtet; es enthält einen
Rechtsſatz, es normirt die allgemeine Rechtsordnung, es verlangt
Befolgung oder Berückſichtigung von Allen, welche an dieſer Rechts-
ordnung Theil nehmen oder zur Handhabung und Aufrechterhal-
tung derſelben berufen ſind. Daraus ergiebt ſich, daß das Geſetz
nicht blos einzelnen Behörden oder Beamten, die es zunächſt zur
Ausführung zu bringen haben, mitgetheilt werden darf, ſondern
daß es öffentlich bekannt, gemeinkundig gemacht werden muß. Es
tritt hier in ſehr bezeichnender Weiſe ein Gegenſatz zwiſchen Ge-
ſetzen und Verwaltungs-Verordnungen hervor, der auf der Ver-
ſchiedenheit des Weſens derſelben beruht 1).
Nicht jede Veröffentlichung des Geſetzes aber iſt Verkündigung
deſſelben im ſtaatsrechtlichen Sinne. Die Verkündigung iſt ein
Willensact des Geſetzgebers und kann deshalb nur ausgehen von
dem Geſetzgeber oder von demjenigen, den er dazu beauftragt hat.
Deshalb ſind Abdrücke eines Geſetzes in Sitzungsberichten, Zei-
tungen, wiſſenſchaftlichen Werken u. ſ. w., trotzdem ſie grade die
Gemeinkundigkeit des Geſetzes am meiſten fördern, keine Verkün-
digung. Auch die Verkündigung iſt ein obrigkeitlicher Akt, ein Be-
ſtandtheil des Geſetzgebungs-Vorganges. Die Verkündigung kann
demnach nur von demjenigen rechtswirkſam erfolgen, der dazu ver-
faſſungsmäßig legitimirt iſt.
Damit hängt ein anderes Erforderniß eng zuſammen. Die
Art der Verkündigung muß eine Gewähr dafür bieten, daß der
veröffentlichte Wortlaut des Geſetzes vollſtändig und genau iſt und
daß er in der That Geſetz geworden iſt. Dieſe Gewähr muß eine
rechtliche ſein; d. h. es genügt nicht, daß das Geſetz thatſäch-
lich correct abgedruckt worden iſt oder daß keine Verdachtsgründe
vorliegen, welche einen Zweifel an der Richtigkeit des Textes be-
gründen, ſondern es muß eine Verantwortlichkeit für die
Verkündigung beſtehen. Mit dem Erforderniß der Legitimation zur
Vornahme der Verkündigung fällt dies inſofern zuſammen, als die
Verkündigung eine Amtshandlung ſein muß, die nur derjenige
wirkſam vornehmen kann, der dazu competent iſt, und für welche
derſelbe, wie für alle Amtshandlungen, verantwortlich iſt.
[24]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen
Ausführungen gehören zu dem gültigen Zuſtandekommen eines Ge-
ſetzes folgende Erforderniſſe: die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes,
die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es iſt nun
zu unterſuchen, welche Vorſchriften die Reichsverfaſſung für dieſe
Erforderniſſe der Reichsgeſetze aufgeſtellt hat.
I.Die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes.
1) Nach dem Art. 5 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung iſt die Ueber-
einſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des
Reichstages zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend.
Dieſe Beſtimmung iſt, wie ſchon oben hervorgehoben wurde, ihrer
Faſſung nach nicht correct; ſie bezieht ſich nicht auf den eigent-
lichen Erlaß des Geſetzes, ſondern auf die Beſchlußfaſſung darüber,
was zum Geſetz erhoben werden darf oder ſoll; ſie normirt nicht
die Geſetzgebung, ſondern einen Theil, ein Stadium derſelben. Sie
bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge-
ſetzgebung anfängt, durch ſtaatsrechtliche Regeln beherrſcht zu
werden. Ein Geſetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in
Anſpruch nehmende Vorſtufen durchgemacht haben, ehe es Gegen-
ſtand einer Beſchlußfaſſung im Bundesrathe oder Reichstage wird;
aber dieſe Vorſtufen ſind nicht durch Rechtsſätze geregelt 1). Wer
zuerſt den Gedanken eines neuen Geſetzes faßt und deſſen Verwirk-
lichung anregt; wer ſich der Arbeit unterzieht, dieſen Gedanken zu
formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik
und Verbeſſerung dieſer Vorſchläge ſich betheiligt u. ſ. w., der hat
vielleicht an dem Geſetzgebungswerke thatſächlich einen ſehr viel
größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich
ſeinen Vorſchlägen zuſtimmen. Aber ſeine geſammte Thätigkeit iſt
ſtaatsrechtlich unerheblich; ſeine Dienſte für die Geſetzgebung
[25]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
ſind thatſächliche; eine juriſtiſche Mitwirkung an der Geſetzgebung
iſt in denſelben nicht enthalten.
Dieſer Satz erſcheint als ſelbſtverſtändlich und kaum der Er-
wähnung werth, wenn man dabei an Vorarbeiten für ein Geſetz
denkt, welche von Privatperſonen ausgehen. Aber er gilt ebenſo
von Vorarbeiten, welche von Behörden in Erfüllung ihrer amt-
lichen Pflichten unternommen werden. Es liegt in den thatſäch-
lichen Verhältniſſen begründet, daß die Vorarbeiten für Geſetzent-
würfe, die Formulirung des Inhaltes und die Aufſtellung von
Motiven in der Mehrzahl der Fälle im Reichskanzler-Amt oder in
einer der andern oberſten Reichsbehörden erfolgen. Aber es giebt
keinen Rechtsſatz, der dies anordnet. Der Reichskanzler hat
kein Recht darauf, daß dieſe Vorarbeiten von den ihm unterſtellten
Behörden und Beamten, oder daß ſie unter ſeiner Leitung und
Aufſicht vorgenommen werden. An Stelle des Reichskanzler-Amtes
kann ebenſo gut auch das Miniſterium eines der Gliedſtaaten dieſe
Arbeiten vornehmen oder ſie kann einer Kommiſſion von Sachver-
ſtändigen übertragen werden, wie dies ſchon in mehreren Fällen
geſchehen iſt. Staatsrechtlich iſt es gleichgültig, welche Schickſale
ein Geſetzentwurf gehabt hat, bevor er an den Bundesrath oder
Reichstag gelangt. Andererſeits ſtehen Entwürfe von Reichsge-
ſetzen, welche der Reichskanzler ausarbeiten läßt, die aber nicht zur
Vorlage an den Bundesrath gelangen, ſtaatsrechtlich auf der glei-
chen Stufe, wie unbeachtet gebliebene Geſetzes-Entwürfe von Privat-
perſonen; d. h. ſie ſind ohne alle rechtliche Bedeutung. Auch eine
an den Bundesrath oder den Reichstag gelangende Petition um
Erlaß eines Geſetzes kann, ſelbſt wenn ſie zu dem gewünſchten
Ziele führt, nicht als der Anfang der Geſetzgebung im ſtaatsrecht-
lichen Sinn erachtet werden; die Initiative zum Geſetz iſt vielmehr
erſt in den Anträgen und Beſchlüſſen enthalten, welche die Petition
zur Folge hat.
2) Bundesrath und Reichstag ſind einander vollkommen gleich-
geſtellt. Die Thätigkeit des Bundesrathes unterſcheidet ſich von
derjenigen des Reichstages in Bezug auf die Feſtſtellung des Ge-
ſetzes-Inhaltes in keinem Punkte. Keine der beiden Körperſchaften
iſt auf ein Veto beſchränkt oder genöthigt, einen Geſetzes-Vorſchlag
im Ganzen anzunehmen oder zu verwerfen; ebenſowenig beſteht
eine Rangordnung hinſichtlich der Zeitfolge der Beſchlußfaſſung.
[26]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Es hat demnach jede der beiden Körperſchaften die ſogenannte
Initiative. Dieſelbe kann in beiden nur von einem Antrage
eines Mitgliedes der betreffenden Körperſchaft ihren Ausgang neh-
men. Im Bundesrath iſt nach Art. 7 Abſ. 2 der R.-V. „jedes
Bundesglied befugt, Vorſchläge zu machen und in Vortrag zu
bringen und das Präſidium iſt verpflichtet, dieſelben der Berathung
zu übergeben“ 1). Im Reichstage müſſen Anträge, welche von
Reichstags-Mitgliedern ausgehen, von mindeſtens 15 Mitgliedern
unterzeichnet ſein; Abänderungs-Vorſchläge, welche vor oder bei
der zweiten Berathung eingebracht werden, bedürfen keiner Unter-
ſtützung; bei der dritten Berathung müſſen ſie von 30 Mitgliedern
unterſtützt ſein 2).
Ueber die geſchäftliche Behandlung der Geſetzes-Vorſchläge im
Bundesrathe und Reichstage vrgl. oben Bd. I. §. 30 S. 276 ff.
§. 51 S. 565 ff.
Eine ſcheinbare Differenz zwiſchen dem Rechte des Bundes-
rathes und dem des Reichstages, Geſetze vorzuſchlagen, iſt dadurch
begründet, daß der Art. 23 dem Reichstage dieſe Befugniß „inner-
halb der Kompetenz des Reiches“ geſtattet, während der Bundes-
rath an eine ſolche Beſchränkung nicht gebunden iſt 3). Da aber
auch die Veränderung der Kompetenz des Reiches ſelbſt nach Art. 78
der R.-V. dem Reiche zuſteht, alſo „innerhalb der Kompetenz des
Reiches“ liegt, ſo iſt es dem Reichstage unbenommen, eine Erwei-
terung dieſer Kompetenz vorzuſchlagen 4). Bei ſtrengſter Auslegung
würde demnach der Art. 23 nur die Folge haben, daß der Reichs-
[27]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
tag, bevor er ein Geſetz vorſchlägt, welches das zur Zeit der
Reichsgeſetzgebung zugewieſene Gebiet überſchreitet, zunächſt ein
präparatoriſches Geſetz vorſchlagen müßte, welches in entſprechender
Weiſe dieſes Gebiet erweitert, und daß der Reichstag erſt, nach-
dem dieſer Vorſchlag Geſetz geworden iſt, dasjenige Geſetz vor-
ſchlagen dürfte, welches von dieſer erweiterten Kompetenz Anwen-
dung macht 1). Es iſt aber nicht einzuſehen, warum der Reichstag
dieſen letzteren Vorſchlag nicht gleich mit dem auf Abänderung
der verfaſſungsmäßigen Kompetenz gerichteten für den Fall der
Annahme des letzteren ſolle verbinden können oder warum er nicht
eine Erweiterung der Kompetenz mittelſt Sanctionirung des von
ihm vorgeſchlagenen Geſetzes ſolle beantragen dürfen 2).
Eine praktiſche Bedeutung kömmt der in Rede ſtehenden ein-
ſchränkenden Klauſel aber in keinem Falle zu. Denn Geſetzes-
Vorſchläge des Reichstages kann der Bundesrath ohnedies nach
freiem Belieben verwerfen, auch wenn ſie innerhalb der Reichs-
competenz ſich halten 3); ſtimmt er denſelben aber zu und werden
ſie auf verfaſſungsmäßigem Wege zum Geſetz erhoben, ſo wird die
Gültigkeit deſſelben dadurch nicht beeinträchtigt, daß der Vorſchlag
vom Reichstage ausgegangen iſt, da eben die Uebereinſtimmung
von Bundesrath und Reichstag genügt, um auf Grund derſelben
ein Geſetz zu ſanctioniren.
[28]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
3) Wenn eine der beiden Körperſchaften einen Geſetzes-Vor-
ſchlag beſchloſſen hat, ſo iſt derſelbe der andern zu übermitteln.
Geht der Vorſchlag vom Bundesrath aus, ſo wird die Vorlage
„nach Maßgabe der Beſchlüſſe des Bundesrathes im Namen des
Kaiſers an den Reichstag gebracht.“ R.-V. Art. 16. Der Reichs-
kanzler als der einzige Reichsminiſter hat die Vorlage einzubringen;
er thut dies nicht als Vorſitzender des Bundesrathes, ſondern als
Beamter des Kaiſers, demgemäß nicht im Auftrage des Bundes-
rathes oder im Namen der verbündeten Regierungen, ſondern im
Auftrage und im Namen des Kaiſers. Ob er für die Einbringung
jeder einzelnen Vorlage einer ſpeziellen kaiſerlichen Ermächtigung
bedarf, iſt reichsgeſetzlich nicht beſtimmt; ſcheint aber durch die
ausdrückliche Hervorhebung, daß die Vorlage im Namen des Kaiſers
gemacht werden ſoll, angedeutet zu ſein.
Der Kaiſer aber iſt verfaſſungsmäßig verpflichtet, die Vorlage
an den Reichstag nach Maßgabe der Beſchlüſſe des Bun-
desrathes zu bringen; d. h. er darf weder die Einbringung
ganz unterlaſſen oder unnöthig verzögern, noch darf er die Vorlage
anders einbringen, als der Bundesrath ſie beſchloſſen hat. Ge-
ſetz-Entwürfe, welche der Bundesrath verworfen hat, oder welche
in demſelben gar nicht zur Beſchlußfaſſung gelangt ſind, kann der
Kaiſer dem Reichstage nicht vorlegen laſſen; der Kaiſer als ſolcher
hat das Recht der Initiative nicht; er iſt darauf beſchränkt, in
ſeiner Eigenſchaft als König von Preußen Anträge im Bundesrathe
zu ſtellen. Der Reichstag muß über eine Geſetzesvorlage des
Bundesrathes einen materiellen Beſchluß faſſen, d. h. ſie annehmen
oder ablehnen; er darf nicht über dieſelbe zur Tages-Ordnung
übergehen 1).
Wenn der Reichstag einen Geſetzes-Vorſchlag aufgeſtellt oder
einen vom Bundesrath ihm vorgelegten amendirt hat, ſo wird der-
ſelbe durch den Präſidenten des Reichstages dem Reichskanzler
überſendet 2) und von dieſem dem Bundesrathe in deſſen nächſter
Sitzung vorgelegt 3). Scheinen dem Bundesrathe Veränderungen
an dem Entwurfe erforderlich, ſo können die von ihm beſchloſſenen
[29]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Amendements dem Reichstage vorgelegt und die Verhandlungen
zwiſchen beiden Körperſchaften ſo lange fortgeſetzt werden, bis eine
Einigung über den Wortlaut des Geſetzes erzielt iſt 1).
II.Die Sanction der Reichsgeſetze.
1. Der von dem Bundesrathe und Reichstage feſtgeſtellte Ent-
wurf wird dadurch zum Geſetze erhoben, daß die Befolgung ſeiner
Vorſchriften befohlen oder angeordnet wird. Jedes Geſetz
beſteht demnach aus zwei verſchiedenen, auch äußerlich vollkommen
von einander getrennten Theilen, von denen der eine die Regeln
ſelbſt, der andere den Geſetzesbefehl, die Anordnung ihrer Befol-
gung enthält. Dieſe Anordnung kann dem Geſetzes-Inhalt voran-
gehen oder nachfolgen. Die Praxis hat ſich im Anſchluß an das
in Preußen und allen andern Deutſchen Staaten beobachtete Ver-
fahren für die Voranſtellung der Sanctions-Formel entſchieden,
welche aus den Worten beſteht: „Wir … verordnen … was
folgt.“ Die Sanctions-Formel kann aber auch noch einen andern
Inhalt haben, ſie kann zugleich die verfaſſungsmäßige Entſtehung
des Geſetzes, insbeſondere die zwiſchen dem Bundesrathe und Reichs-
tage erzielte Uebereinſtimmung bezeugen; ſie kann alſo zugleich
Promulgations-Formel ſein. Dieſe Verbindung iſt in der conſti-
tutionellen Monarchie üblich und in der Natur der Verhältniſſe
gegeben, da der Monarch in demſelben Akte das Geſetz ſanctionirt
und promulgirt 2). In den Deutſchen Staaten haben daher die
Geſetze eine Eingangsformel, welche dieſen doppelten Inhalt
hat, und der Norddeutſche Bund ſowie das Deutſche Reich haben
für die Eingangsworte der Geſetze eine Formel angenommen, welche
ſich an dieſe Praxis und insbeſondere an die in der Preußiſchen
Monarchie herkömmliche Faſſung anlehnt.
[30]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Inſoweit die Eingangsworte des Geſetzes Promulgationsformel
ſind, wird die Bedeutung derſelben unten erörtert werden; an
dieſer Stelle kommen ſie nur als Sanctions-Erklärung in Betracht.
2. Die wichtigſte Frage, welche ſich in Betreff der Sanction
erhebt, iſt die nach dem Organ, welches den Geſetzen die Sanc-
tion ertheilt. Die Eingangsformel der Reichsgeſetze ſcheint darauf
eine einfache und zweifelloſe Antwort zu geben; denn nach ihr iſt
es der Kaiſer, welcher die Anordnung erläßt. Bei näherer
Prüfung erweist ſich dieſe Annahme aber als unhaltbar und weder
mit der Natur der Sache noch mit den Beſtimmungen der Reichs-
verfaſſung vereinbar.
Da die geſetzgebende Gewalt des Staates identiſch iſt mit der
Staatsgewalt, ſo ergiebt ſich, daß nur der Souverain des Staates,
der Träger der Staatsgewalt, Geſetzgeber ſein, d. h. den Geſetzen
die Sanction ertheilen kann. In der Sanction der Geſetze kommt
der ſtaatliche Herrſchaftswille unmittelbar zum Ausdrucke. Sowie
man ſagen kann, daß dem Träger der Souveränetät die Sanction
der Geſetze zuſteht, ſo kann man auch umgekehrt ſchließen, daß
demjenigen, der in einem Staatsweſen die Geſetze ſanctionirt, die
ſouveräne Staatsgewalt zuſteht. Die Sanction iſt der Kernpunkt
des ganzen Geſetzgebungs-Vorganges; Alles, was vorher auf dem
Wege der Geſetzgebung geſchieht, iſt nur Vorbereitung derſelben,
Erfüllung von erforderlichen Vorbedingungen; Alles, was nachher
geſchieht, iſt nothwendige Rechtsfolge der Sanction; unabwendbar
durch dieſelbe bereits verurſacht. Der entſcheidende und freie Wille,
ob etwas Geſetz werden ſoll oder nicht, kömmt allein bei der Sanc-
tion zur Entfaltung. Daraus folgt mit Nothwendigkeit, daß der-
jenige, der das Recht hat, die Sanction zu ertheilen, auch das
Recht haben muß, ſie zu verſagen, oder wie man ſich gewöhnlich
ausdrückt, daß ihm das abſolute Veto zuſtehen muß. Wer die
Sanctionsformel in Folge des Willens eines Anderen auf ein
Geſetz ſchreiben muß, auch ohne daß er ſelbſt will, aber kraft
rechtlicher Nöthigung, der ertheilt in Wahrheit die Sanction nicht,
der iſt nicht Träger der geſetzgebenden Gewalt, ſondern jener An-
dere, in deſſen freier Entſchließung es ſteht, jenen Beſchluß zu
faſſen oder nicht. Hieraus ergiebt ſich, daß man dem Kaiſer nur
dann die Sanction der Reichsgeſetze zuſchreiben kann, wenn man
ihm zugleich das ſogen. abſolute Veto, d. h. die Befugniß, die
[31]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Sanction zu verweigern, beilegt. Dies iſt aber durch die Reichs-
verfaſſung ausgeſchloſſen. Art. 5 der R.-V. ſtellt [den] Satz an die
Spitze: „Die Reichsgeſetzgebung wird ausgeübt durch den Bundes-
rath und den Reichstag.“ Der Kaiſer wird hier gar nicht er-
wähnt; hätte dem Kaiſer aber die Befugniß eingeräumt werden
ſollen, einem Reichsgeſetz die Sanction zu ertheilen oder zu ver-
ſagen, wäre alſo ſeine Zuſtimmung zu dem Zuſtandekommen eines
Geſetzes weſentlich, ſo hätte man ihn nicht bei der Aufzählung
derjenigen Organe übergehen können, durch welche die Geſetzgebung
ausgeübt wird. Auch der folgende Paſſus, wonach die Ueberein-
ſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe beider Verſammlungen zu einem
Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, beſtätigt, daß die
Zuſtimmung des Kaiſers zum Zuſtandekommen eines Geſetzes nicht
erforderlich iſt. Wenngleich Art. 5 Abſ. 1, wie bereits hervorge-
hoben worden iſt, den Weg der Reichsgeſetzgebung nicht vollſtän-
dig regelt, ſeine Anordnungen alſo anderweitig ergänzt werden
müſſen, ſo wird doch durch ihn jede mit ihm in Widerſpruch
ſtehende Annahme widerlegt. Aus der Vergleichung des Art. 5
Abſ. 1 mit ſeinem Vorbild, dem Art. 62 der Preuß. Verf.-Urk.
ergiebt ſich zweifellos, daß die Nichterwähnung der kaiſerlichen Zu-
ſtimmung bei dem Zuſtandekommen eines Geſetzes bedeutet, daß
dieſelbe kein Requiſit für den Erlaß eines Geſetzes ſein ſolle.
Ganz direct ausgeſchloſſen wird aber das kaiſerliche Placet
durch den zweiten Abſatz deſſelben Artikels, nach welchem Geſetzes-
vorſchläge über das Militairweſen, die Kriegsmarine und die im
Art. 35 bezeichneten Abgaben im Bundesrath als abgelehnt gelten,
wenn ſich die Stimme des Präſidiums dagegen ausſpricht. Die
Einräumung dieſes Rechtes wäre völlig ſinnlos, wenn das Präſi-
dium bei allen Geſetzesvorſchlägen ein liberum veto hätte, oder
richtiger ausgedrückt, wenn es den vom Bundesrath und Reichstag
beſchloſſenen Geſetzentwürfen die Sanction zu ertheilen hätte. Auch
bei den im Art. 5 Abſ. 2 bezeichneten Geſetzen kömmt die bevor-
zugte Kraft der Präſidialſtimme nur innerhalb des Bundes-
rathes zur Geltung; auch bei ihnen iſt davon keine Rede, daß
neben der Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages
noch das Placet des Kaiſers erforderlich ſei 1); aber nach dem
[32]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Grundſatz exceptio firmat regulam folgt aus dem Abſ. 2 des
Art. 5, daß der Regel nach Reichsgeſetze auch gegen den Willen
des Kaiſers zu Stande kommen können, wofern nämlich die
Preußiſchen Stimmen im Bundesrathe in der Minorität geblieben
ſind. Folglich kann unmöglich derjenige Willensact, welcher den
Geſetzes-Entwurf zu einem Reichsgeſetz umwandelt, ein Willensact
des Kaiſers ſein 1).
Auch Art. 17 der R.-V. beſtätigt dies. Denn er überträgt
dem Kaiſer die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgeſetze
und die Ueberwachung der Ausführung derſelben, alſo nur Funk-
tionen, welche die Sanction des Geſetzes bereits vorausſetzen.
Aus der Betrachtung der rechtlichen Grundlinien der Reichsver-
faſſung ergiebt ſich vielmehr ein anderes Reſultat.
Träger der ſouverainen Reichsgewalt iſt die Geſammtheit der
Deutſchen Staaten als ideelle Einheit gedacht 2). Nur von ihr
kann daher der eigentliche Geſetzgebungsact, die Sanction der
Reichsgeſetze ausgehen. Die Geſammtheit der Deutſchen Landes-
herren und freien Städte ertheilt den Entwürfen zu Reichsgeſetzen
die Sanction, welche ſie in Reichsgeſetze umwandelt. In allen
Fällen aber, in denen die Deutſchen Bundesglieder ihren Antheil
an der Reichsgewalt auszuüben haben, iſt der Bundesrath das
dafür verfaſſungsmäßig beſtimmte Organ, nicht der Kaiſer. Denn
der Kaiſer handelt nach freier und höchſt eigener Entſchließung,
die Bundesraths-Mitglieder ſtimmen nach der ihnen ertheilten In-
ſtruktion. Der Kaiſer iſt daher wohl geeignet, Rechte des Reiches
gegen die Gliedſtaaten, gegen die Reichsangehörigen und gegen
auswärtige Mächte zu verwalten, niemals aber den Antheil der
Bundesglieder an der Reichsgewalt zu verwirklichen. Dazu iſt
allein der Bundesrath geeignet, deſſen Mitglieder rechtlich keinen
[33]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
eigenen Willen haben, ſondern nur die Werkzeuge ſind, durch welche
der Wille der Einzelſtaaten und deren Landesherren erklärt wird,
und der durch ſeinen Beſchluß den Willen der Einzelſtaaten zu
einem einheitlichen Geſammtwillen verbindet.
Die Sanction der Reichsgeſetze erfolgt demnach
durch einen Beſchluß des Bundesrathes1).
Da nun der Bundesrath auch an der Feſtſtellung des Geſetzes-
Inhaltes Antheil nimmt, ſo kann die Zuſtimmung des Bundes-
rathes zu dem Inhalte des Geſetzentwurfs mit dem Beſchluß,
denſelben zu ſanctioniren, in einen und denſelben Akt zuſammen-
fallen und in Folge deſſen die Bedeutung dieſes letzteren ver-
dunkelt werden. Deſſenungeachtet iſt es nicht ſchwierig, beide
Momente von einander zu unterſcheiden; denn die beiden Be-
ſchlüſſe werden nicht in allen Fällen gleichzeitig
und uno actu gefaßt. Cs tritt dies deutlich zu Tage, wenn
ein Geſetzesvorſchlag vom Bundesrath ausgeht und vom Reichs-
tage unverändert angenommen wird. Obwohl der Bundes-
rath ſchon früher als der Reichstag mit dem Inhalt des Geſetz-
entwurfs ſich einverſtanden erklärt hat, ſo muß der Bundesrath
dennoch, wenn die Vorlage aus dem Reichstage an ihn zurück-
gelangt, einen zweiten Beſchluß faſſen, welcher darauf gerichtet iſt,
den Geſetzentwurf dem Kaiſer zur Ausfertigung und Verkündigung
zu unterbreiten 2).
Dieſer Beſchluß enthält die Sanction des Geſetzentwurfes.
Rechtlich iſt die Möglichkeit gegeben, daß die Bundesregie-
[rungen] einen von ihnen dem Reichstag vorgelegten und vom Reichs-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 3
[34]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
tage bereits genehmigten Geſetzentwurf zurückziehen, d. h. nicht
ſanctioniren.
Daſſelbe gilt von dem Falle, wenn der Bundesrath während
der Verhandlungen des Reichstages über die von Reichstags-Mit-
gliedern oder Kommiſſionen geſtellten Anträge oder über die in
zweiter Berathung gefaßten Beſchlüſſe verhandelt und vor der
Schlußberathung des Reichstages in demſelben eine Erklärung ab-
gibt, welchen Abänderungen er zuſtimmen wolle und welchen nicht.
Genehmigt alsdann der Reichstag bei der Schlußabſtimmung den
Geſetzentwurf in der den Bundesrathsbeſchlüſſen entſprechenden
Faſſung, ſo iſt die Uebereinſtimmung über den Geſetzes-Inhalt
hergeſtellt, deſſenungeachtet aber noch ein Beſchluß des Bundes-
rathes erforderlich, welcher den Geſetzes-Entwurf definitiv geneh-
nehmigt, d. h. ſanctionirt.
Dieſer Akt der Sanction iſt merkwürdig durch das Mißver-
hältniß, welches zwiſchen ſeiner politiſchen und ſeiner juriſtiſchen
Bedeutung beſteht. Politiſch iſt er faſt ohne Belang; denn der
Bundesrath wird natürlich einem Geſetzentwurf, deſſen Inhalt er
zuſtimmt, die Sanction ertheilen und umgekehrt die Sanction ver-
weigern, wenn er den Inhalt verwirft. Die politiſche Aufgabe
iſt vollſtändig gelöſt, wenn es gelungen iſt, einen Wortlaut des
Geſetzentwurfs zu finden, mit welchem Bundesrath und Reichstag
ſich einverſtanden erklären. Bei der überwiegend durch politiſche
Geſichtspunkte beherrſchten Behandlung des Staatsrechts iſt es
daher nicht zu verwundern, daß man die Sanction mit der Zu-
ſtimmung zum Inhalt völlig zuſammenwirft und nur der letzteren
unter den Erforderniſſen des Geſetzes Beachtung ſchenkt, und daß
auch die Reichsverfaſſung ſelbſt die Sanction der Reichsgeſetze gar
nicht erwähnt. Juriſtiſch iſt es dagegen von größter Wichtigkeit,
ſowohl für die Erkenntniß des Geſetzgebungs-Vorganges als auch
für das richtige Verſtändniß des ganzen Verfaſſungsbaues des
Reiches, Klarheit darüber zu gewinnen, wer im Deutſchen Reiche
der eigentliche Geſetzgeber iſt. Dadurch allein wird es ermöglicht,
ſowohl die Funktionen des Kaiſers wie diejenigen des Bundes-
rathes und des Reichstages bei der Geſetzgebung in logiſchem Ein-
klang mit dem Prinzip von der Untheilbarkeit der Souve-
ränetät zu erhalten und den Widerſpruch zu vermeiden, daß
man die Lehre von der Theilung der Staatsgewalt allgemein als
[35]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
eine unlogiſche und abſurde erkennt und ſie dennoch auf die Aus-
übung der Geſetzgebung anwendet.
3. Die Eingangsformel der Reichsgeſetze gibt dem Vorgange,
durch welchen ein Reichsgeſetz zu Stande kömmt, keinen völlig ge-
treuen Ausdruck. Sie iſt ganz ſo gefaßt, als wäre der Bundes-
rath eine Abtheilung der Volksvertretung und das Reich nicht ein
Bundesſtaat, ſondern eine Monarchie mit zwei Kammern. Die
erfolgte Zuſtimmung des Bundesrathes wird neben der des Reichs-
tages erwähnt, als wäre bei der Reichsgeſetzgebung die Stellung
beider Verſammlungen ebenſo gleichartig, wie etwa die Stellung
der beiden Häuſer des preußiſchen Landtages. Den Geſetzesbefehl
erläßt der Kaiſer; allerdings „im Namen des Reiches“, aber
ohne Andeutung, daß der Wille des Reiches, das Geſetz zu ſanc-
tioniren, durch das Organ des Bundesrathes hergeſtellt worden
iſt. Trotzdem ſteht die Sanctionsformel nicht im Widerſpruch mit
der Rolle, welche nach der Reichsverfaſſung dem Bundesrath zu-
gewieſen iſt. Denn der Bundesrath iſt durchweg darauf beſchränkt,
Beſchlüſſe zu faſſen; dagegen erläßt er niemals formell Befehle.
So wie auf dem ganzen Gebiete der Verwaltung der Reichskanzler
den Beſchluß des Bundesrathes zur Ausführung bringt, indem er
die Befolgung deſſelben befiehlt, ſei es auch nur in der Form der
Bekanntmachung; ſo wird bei der Geſetzgebung der von den Bun-
desregierungen gefaßte Sanctionsbeſchluß vom Kaiſer ausgeführt,
indem er die Befolgung deſſelben befiehlt. In der Eingangsfor-
mel der Reichsgeſetze iſt demnach hinter dem Worte „verordnen“
hinzuzudenken: auf Grund und in Ausführung des vom Bundes-
rathe Namens der verbündeten Regierungen gefaßten Sanctions-
beſchluſſes. Thatſächlich ſind dieſe Worte entbehrlich, weil der
Zuſtimmung des Bundesrathes ohnedies in der Eingangsformel
Erwähnung geſchieht; freilich ohne Andeutung, daß die Zuſtim-
mung des Bundesrathes etwas weſentlich Anderes in ſich ſchließt
als die Zuſtimmung des Reichstages.
4. Da der Reichstag weder an der Sanction noch an der
Promulgation der Reichsgeſetze einen Antheil hat, die Eingangs-
formel aber lediglich auf dieſe beiden Gegenſtände ſich bezieht, ſo
beſteht keine rechtliche Nöthigung, daß die Genehmigung des Reichs-
tages auch auf die Eingangsworte des Geſetzes erſtreckt wird. Die
Praxis hat jedoch im Anſchluß an das in Preußen beobachtete
3*
[36]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Verfahren ſich dafür entſchieden, die Beſchlußfaſſung des Reichs-
tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen 1). Dadurch iſt
der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben,
daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgeſetzgebung vor-
geſchriebenen Verfahren im Einklang ſteht.
5. Der Beſchluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge-
ſetzentwurf die Sanction ertheilt wird, iſt nach den in Art. 6 und 7
der Reichsverfaſſung gegebenen Beſtimmungen zu faſſen. In der
Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den
Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorſchriften feſtzuſtellen iſt. Aus-
genommen hiervon ſind
a) Geſetzesvorſchläge, durch welche die beſtehenden Einrich-
tungen hinſichtlich des Militärweſens, der Kriegs-
marine oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab-
gaben verändert werden ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn die
preußiſchen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge-
geben werden 2).
b) Geſetzesvorſchläge, durch welche Veränderungen der Ver-
faſſung erfolgen ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn ſie im Bun-
desrathe 14 Stimmen gegen ſich haben 3).
Daß in dieſem Artikel unter Verfaſſung nur die Verfaſ-
ſungs-Urkunde, wie ſie durch das Geſ. v. 16. April 1871
feſtgeſtellt worden iſt, nicht der geſammte Verfaſſungszuſtand
des Reiches zu verſtehen iſt, unterliegt keinem Zweifel. Dieſe
Verfaſſungs-Urkunde bezeichnet ſich ſelbſt als „Verfaſſung“ und es
kann daher nicht angenommen werden, daß ſie in ihrem eigenen
Artikel 78 unter dieſem Ausdruck etwas Anderes verſteht 4). Auch
würde die entgegengeſetzte Anſicht zu völliger Unklarheit führen,
da der „Verfaſſungszuſtand“ durch die Geſammtheit aller beſte-
[37]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
henden Geſetze und Einrichtungen beſtimmt wird; faſt jedes Geſetz
daher eine Veränderung der Verfaſſung in dieſem Sinne bewirken
würde. Auch der Art. 107 der Preuß. Verf.-Urk., welcher in
ähnlicher Weiſe wie Art. 78 Abſ. 1 der R.-V. von der Abände-
rung der Verfaſſung auf dem Wege der Geſetzgebung ſpricht, iſt
niemals anders ausgelegt worden, als daß das Wort Verfaſſung
gleichbedeutend mit Verfaſſungs-Urkunde iſt 1).
Ebenſo unzweifelhaft iſt es, daß alle in geſetzlichem Wege er-
folgten Veränderungen der Verfaſſungs-Urkunde ebenfalls nur
geändert werden können unter Beobachtung der im Art. 78 Abſ. 1
aufgeſtellten Regel 2).
Dagegen bedarf eine andere Frage noch einer näheren Unter-
ſuchung. Es kann nämlich vorkommen, daß ein Geſetz erlaſſen
werden ſoll, welches formell den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde
unverändert läßt, materiell aber eine Abänderung ihres Inhaltes
bewirkt, welches alſo, wie man zu ſagen pflegt, „materiell ver-
faſſungswidrig“ iſt 3).
Ein ſolches Geſetz kann ſelbſtverſtändlich nur die Sanction
erhalten, wenn ſich im Bundesrath nicht 14 Stimmen gegen die-
ſelbe erklären, da ſonſt die Beſtimmung des Art. 78 Abſ. 1 eine
völlig wirkungsloſe und illuſoriſche wäre. Es iſt ferner unbedenk-
lich anzuerkennen, daß das korrekte Verfahren darin beſteht, daß
zunächſt der Wortlaut der Verfaſſung entſprechend verändert und
alsdann erſt das beabſichtigte Specialgeſetz erlaſſen wird, damit
die Harmonie zwiſchen den in der Verfaſſung formulirten Prin-
zipien und den Geſetzgebungs-Akten des Reiches nicht geſtört wird.
Auch ſind die politiſchen Nachtheile unverkennbar, welche die Durch-
löcherung der Verfaſſungsſätze durch gelegentliche Specialgeſetze im
Gefolge hat. Alles dies iſt aber nicht entſcheidend für die Be-
antwortung der Rechtsfrage, ob nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen
oder nach den Anordnnngen der deutſchen Reichsverfaſſung der
Erlaß von Spezialgeſetzen, welche dem Wortlaut der Verfaſſung
[38]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
widerſtreiten, auch unter Erfüllung der für Verfaſſungsänderungen
vorgeſchriebenen Erforderniſſe unterſagt und unſtatthaft iſt, und
ob Geſetze dieſer Art, welche ohne vorhergehende verfaſſungsmäßig
erfolgte Veränderung der Verfaſſungs-Urkunde erlaſſen worden
ſind, rechtlich wirkungslos ſeien.
Dieſe Frage iſt zu verneinen 1). Die in der Verfaſſung ent-
haltenen Rechtsſätze können zwar nur unter erſchwerten Bedingun-
gen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als an-
deren Geſetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren
Willen im Staate als den des Souverains und in dieſem Willen
wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfaſſung wie der
Geſetze. Die Verfaſſung iſt keine myſtiſche Gewalt, welche über
dem Staat ſchwebt, [ſondern] gleich jedem andern Geſetz ein Willens-
act des Staates und mithin nach dem Willen des Staates ver-
änderlich 2). Es kann freilich geſetzlich vorgeſchrieben ſein, daß
Aenderungen der Verfaſſung nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h.
durch Geſetze, welche ihren Inhalt modifiziren), ſondern nur unmit-
telbar durch Geſetze, welche ihren Wortlaut anders faſſen. Wo ein
ſolches erſchwerendes Erforderniß für Verfaſſungs-Aenderungen aber
durch einen poſitiven Rechtsſatz nicht angeordnet iſt, läßt ſich das-
ſelbe aus der juriſtiſchen Natur der Verfaſſung und dem Verhält-
niß der Verfaſſungs-Urkunde zu einfachen Geſetzen nicht herleiten.
Der Satz, daß Spezialgeſetze ſtets mit der Verfaſſung im Ein-
klang ſtehen müſſen und niemals mit ihr unvereinbar ſein
dürfen3), iſt lediglich ein Poſtulat der Geſetzgebungs-Politik,
[39]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
aber kein Rechtsſatz; wenn es auch wünſchenswerth erſcheint, daß
der geſetzlich beſtehende Rechts- und Verfaſſungszuſtand nicht im
Widerſpruch ſtehe mit dem Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde, ſo
iſt dennoch die thatſächliche Exiſtenz eines ſolchen Widerſpruchs an
und für ſich ebenſo möglich und rechtlich zuläſſig, wie etwa eine
Divergenz des Strafgeſetzbuchs, Handelsgeſetzbuchs oder der Pro-
zeß-Ordnung mit einem ſpäter erlaſſenen Specialgeſetz.
Die Reichsverfaſſung enthält keine Vorſchrift, daß Aenderun-
gen ihrer Beſtimmungen nur unmittelbar durch Aenderungen ihres
Wortlautes, nicht mittelbar durch Erlaß von Specialgeſetzen er-
folgen dürfen. Sie verlangt im Art. 78 Abſ. 1 Nichts weiter,
als daß ſie „im Wege der Geſetzgebung erfolgen“, mit dem allei-
nigen Zuſatz, daß 14 Stimmen im Bundesrathe zur Ablehnung
des Geſetzes genügen. Es iſt daher nicht wohl zu begreifen, wie
man ſich auf den Art. 78 Abſ. 1 berufen kann 1), um darzuthun,
daß „der Weg der Geſetzgebung“ nicht genügend ſei, ſondern daß
er gleichſam zweimal zurückgelegt werden müſſe, das erſte Mal
um der Verfaſſungs-Urkunde den erforderlichen Wortlaut zu geben,
das zweite Mal um die eigentlich beabſichtigten geſetzlichen Anord-
nungen zu treffen. Eben ſo wenig kann man ſich mit Erfolg auf
die Beſtimmung im Art. 2 der R.-V. berufen, wonach das Reich
das Recht der Geſetzgebung nur „nach Maßgabe des Inhaltes der
Reichsverfaſſung“ auszuüben berechtigt ſei, um darzuthun, daß
jedes Geſetz ſeinem Inhalte nach mit den Beſtimmungen der Reichs-
verfaſſung in Uebereinſtimmung ſtehen müſſe; denn auch Art. 78
gehört zum Inhalte der Reichsverfaſſung. Jedes Geſetz, welches
in den in der Reichsverfaſſung vorgeſchriebenen Formen er-
gangen iſt, entſpricht dem Erforderniß der Verfaſſungsmäßigkeit;
die in der Verfaſſung enthaltenen materiellen Vorſchriften da-
gegen ſind durch Art. 78 ausdrücklich für abänderlich im Wege
der Geſetzgebung erklärt. Auch der Reichsverfaſſung gegenüber
gilt daher der Grundſatz lex posterior derogat priori.
In der Praxis des Deutſchen Reiches ſind die hier entwickelten
Sätze wiederholt zur Anwendung gebracht worden. Der Art. 4
der Verfaſſung hat ſchon zur Zeit des Norddeutſchen Bundes, ohne
daß ſein Wortlaut verändert worden wäre, ſeinem Inhalte nach
[40]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
eine Erweiterung erfahren durch das Geſetz vom 12. Juni 1869
über die Errichtung des Oberhandelsgerichts 1). Daß auch das
Geſetz vom 6. März 1875, betreffend Maßregeln gegen die Reb-
lauskrankheit, die im Art. 4 normirte Competenz überſchreitet, iſt
kaum zweifelhaft 2). Ganz offenbar aber iſt es, daß Art. 1 der
R.-V. durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 betreffend die Vereinigung
von Elſ.-Lothr. mit dem Deutſchen Reiche und Art. 20 Abſ. 2 und
Art. 40 der R.-V. durch das Geſ. v. 25. Juni 1873 betreffend
die Einführung der Verf. des Deutſchen Reichs in Elſ.-Lothr. ma-
teriell abgeändert worden ſind, obgleich dieſe Veränderungen im
Text der Verfaſſung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat
das Geſ. v. 21. Juli 1870 die Legislatur-Periode des damaligen
Reichstages über die im Art. 24 der R.-V. feſtgeſetzte Dauer
verlängert.
Endlich iſt Art. 50 Abſ. 2 der R.-V. durch das Poſtgeſ. v.
28. Oktob. 1871 § 50 modifizirt worden 3).
Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung
der im Art. 78 aufgeſtellten Erforderniſſe verfaſſungsändernde Ge-
ſetze erlaſſen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfaſ-
ſungs-Urkunde eine Abänderung erfährt, ſo entſteht die weitere
Frage, ob ſolche Geſetze ebenfalls nur unter Beobachtung der im
Art. 78 Abſ. 1 gegebenen Vorſchrift abgeändert werden können
oder ob hierzu ein von der einfachen Majorität des Bundesrathes
ſanctionirtes Geſetz genügt. Dieſe Frage iſt im letzteren Sinne
zu entſcheiden 4). Denn die erſchwerende Bedingung des Art. 78
Abſ. 1 ſetzt Anordnungen voraus, welche formell Beſtandtheile der
Verfaſſungs-Urkunde geworden oder an die Stelle ſolcher Be-
[41]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
ſtandtheile getreten ſind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines
Rechtsſatzes, ſondern dieſes äußerliche Merkmal allein iſt dafür
entſcheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder
die ſpezielle Regel des Art. 78 Abſ. 1 Anwendung findet. Wenn
demnach einmal die Verfaſſung durch ein Spezialgeſetz mittelbar
abgeändert worden iſt, ſo können die Beſtimmungen dieſes Spezial-
geſetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität ſanctionirtes
Geſetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende
Modifikationen der urſprünglichen Verfaſſungsſätze herbeigeführt
werden. Auch dieſer Grundſatz iſt in der Praxis zur Anwendung
gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts
und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des
Reichs durch eine Reihe von Geſetzen erweitert worden iſt 1), ohne
daß für dieſelben der Charakter der verfaſſungsändernden Geſetze
in Anſpruch genommen worden iſt 2). Sollen die Beſtimmungen
eines Spezialgeſetzes dieſelben Garantieen gegen Veränderungen
erhalten, wie diejenigen der Verfaſſung, ohne daß ſie doch in die
Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt aufgenommen werden, ſo muß das
Spezialgeſetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur
auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert
werden könne. Andererſeits kann auch die Verfaſſungs-Urkunde
Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Geſetz-
gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79
Abſ. 2 der Norddeutſchen Bundesverf. der Fall war, oder indem
ſie ihre Anordnungen „bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes“ auf-
ſtellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Abſ. 2. 60. 61 Abſ. 2. 68. 75 Abſ. 2.
III.Die Promulgation der Reichsgeſetze.
Wenn der Reichstag einem Reichsgeſetze die Zuſtimmung er-
theilt und der Bundesrath daſſelbe definitiv genehmigt (ſanctionirt)
hat, ſo ſind die materiellen Vorausſetzungen für den Erlaß des
Geſetzes gegeben. Es bedarf das Geſetz aber, um rechtlich wirk-
ſam werden zu können, einer ſinnlich wahrnehmbaren authentiſchen
[42]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
und ſolennen Erklärung, einer äußeren, ſeine rechtmäßige Entſte-
hung verbürgenden und beſtätigenden Form. Der Beſchluß des
Reichstages hat an und für ſich keine verbindliche Kraft, weil er
nicht einen Befehl der Staatsgewalt zum unmittelbaren Inhalte
hat; der Sanctions-Beſchluß des Bundesrathes iſt — wie bereits
erörtert wurde — ebenfalls nicht der formelle Erlaß des Geſetzes-
befehles ſelbſt, ſondern nur ein Beſchluß, daß dieſer Befehl im
Namen des Reiches erlaſſen werden ſoll. Die formelle Erklärung
des Geſetzgebungswillens des Reiches, die Ausfertigung
und Verkündigung des Reichsgeſetzes iſt vielmehr durch
Art. 17 der R.-V. dem Kaiſer übertragen.
1. Die Eingangsworte der Geſetzes-Urkunde lauten: „Wir
. . . . . verordnen im Namen des Deutſchen Reiches, nach er-
folgter Zuſtimmung des Bundesrathes und des
Reichstages, was folgt.“ Die Ausfertigung des Geſetzes
enthält alſo die kaiſerliche Verſicherung, daß das Geſetz die Zu-
ſtimmung des Reichstages und Bundesrathes erhalten hat, d. h.
den Anforderungen der Reichsverfaſſung gemäß zu Stande gekom-
men iſt. Sie ſetzt demnach eine Prüfung des Weges, den das
Geſetzgebungswerk zurückgelegt hat, voraus. Dem Kaiſer als ſol-
chem ſteht zwar ein Veto gegen das Reichsgeſetz nicht zu; aber
der Kaiſer hat das Recht und die Pflicht, zu unterſuchen, ob das
Geſetz in verfaſſungsmäßiger Weiſe die Zuſtimmung des Reichs-
tages und Bundesrathes und die Sanktion des durch den Bundes-
rath vertretenen Reichs-Souverains erhalten hat. Er hat daher
insbeſondere zu prüfen, ob im Bundesrathe die Abſtimmung nach
den im Art. 7 der Reichsverf. aufgeſtellten Regeln und ob die
Beſchlußfaſſung der Beſtimmunngen der Art. 5. 37 oder 78 der
R.-V. gemäß erfolgt iſt 1); ob dem Geſetz, falls es iura singulo-
[43]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
rum berührt, der davon betroffene Bundesſtaat zugeſtimmt hat;
ob der Reichstag und Bundesrath die Geſetzesvorlage den beſte-
henden Vorſchriften gemäß behandelt haben, ob zwiſchen den Be-
ſchlüſſen beider Körperſchaften völlige Uebereinſtimmung beſteht,
u. ſ. w. Wenn dieſe Prüfung zu einem negativen Ergebniß führt,
ſo hat der Kaiſer nicht blos das Recht, ſondern die Pflicht, die
Ausfertigung zu verſagen bis der Mangel gehoben iſt. Auch
wenn der Kaiſer irrthümlich zu dieſer Anſicht gelangen ſollte, ſo
gilt ſeine Entſcheidung; denn es gibt keine höhere Inſtanz, welche
ihn zur Ausfertigung des Geſetzes anhalten könnte. Es iſt daher
thatſächlich die Möglichkeit gegeben, daß der Kaiſer, indem
er die Ausfertigung des Geſetzes aus einem formellen Grunde
verſagt, ein Veto ausübt 1). Eine politiſche Gefahr iſt in dieſem
Satze nicht zu finden; man würde völlig ſeine thatſächliche Be-
deutung verkennen, wenn man daraus den Schluß ziehen wollte,
daß es in die Willkür des Kaiſers geſtellt ſei, ob er ein
Geſetz ausfertigen wolle oder nicht. Die Rückſicht auf den Bun-
desrath und auf den Reichstag, auf die öffentliche Meinung und
auf das eigene Anſehen machen es ganz unmöglich, daß der Kaiſer
die ihm übertragene Befugniß widerrechtlich mißbrauche.
Erkennt der Kaiſer an, daß das Geſetz in tadelloſer Weiſe
den Vorſchriften der Reichsverfaſſung gemäß zu Stande gekom-
men iſt, ſo iſt die Ausfertigung deſſelben ſeine verfaſſungsmäßige
Pflicht 2).
2. Wenn der Kaiſer die Ausfertigung ertheilt, ſo wird da-
mit in formell unanfechtbarer und rechtswirkſamer Weiſe conſtatirt,
daß das Geſetz verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt.
Dadurch beantwortet ſich die Frage nach dem ſogen. richter-
lichen Prüfungsrecht der Verfaſſungsmäßigkeit der Reichsgeſetze
von ſelbſt. Dieſe in der Deutſchen Rechtsliteratur ſo überaus
[44]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
häufig erörterte Frage wird von der überwiegenden Mehrzahl der
Schriftſteller zu Gunſten des richterlichen Prüfungsrechts entſchie-
den 1). Man ſagt: In verfaſſungswidriger Weiſe errichtete oder
die Verfaſſung verletzende Geſetze ſeien nur Scheingeſetze; die
Gerichte, welche berufen ſind, die Geſetze anzuwenden, müſſen vor
allen Dingen prüfen, ob ein ſich als Geſetz bezeichnender Erlaß
auch in der That den Erforderniſſen eines Geſetzes entſpreche, und
wenn dieſe Prüfung zu einem verneinenden Reſultat führe, ſo ſei
es die Pflicht der Gerichte, ſich durch die trügeriſche Bezeichnung
nicht irreleiten zu laſſen, ſondern den Erlaß, der in Wahrheit kein
Geſetz und nichtig ſei, als nichtig zu behandeln.
Dieſe Deduction enthält, wie ihr ſchon oft entgegengehalten
worden iſt, eine petitio principii. Es iſt allerdings richtig, daß
der Richter, bevor er ein Geſetz anwendet, ſich vergewiſſern muß,
daß dieſes Geſetz exiſtirt; dadurch iſt aber Nichts für die Frage
entſchieden, durch welche Thatſachen für den Richter die Exiſtenz
des Geſetzes formell conſtatirt wird. Das Argument beweiſt aber,
wie falſche Gründe ſo oft, zu viel. Nicht nur der Richter, ſon-
dern jeder Beamte hat bei ſeiner Amtsthätigkeit die Geſetze
anzuwenden und folglich zu unterſuchen, welche Geſetze verbindliche
Kraft haben. Jeder Beamte haftet für die Geſetzmäßigkeit ſeiner
Amtsführung; für die Reichsbeamten iſt dieſer Satz durch § 13
des Reichsbeamten-Geſetzes ausdrücklich anerkannt 2). Derſelbe
Grund, welcher für das Prüfungsrecht der Gerichte geltend ge-
macht wird, führt daher zu dem Schluß, daß jede Behörde
das verfaſſungsmäßige Zuſtandekommen eines Geſetzes unterſuchen
müßte, bevor ſie das Geſetz zur Anwendung bringt 3). Aber nicht
[45]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
nur die Behörden und Beamten, ſondern alle unter der Herrſchaft
der Geſetze lebenden Perſonen müſſen die Geſetze befolgen und bei
ihren Rechtsgeſchäften und bei allen Handlungen und Unterlaſſun-
gen nach den beſtehenden Geſetzen ſich richten. Der Grundſatz
ignorantia iuris nocet macht es Jedem ohne Ausnahme zur Pflicht,
zu prüfen, welche Geſetze beſtehen. Wer einen ſich als Geſetz aus-
gebenden Erlaß, dem keine Geſetzeskraft zukömmt, als Geſetz an-
ſieht und darnach handelt, kann die Folgen einer Geſetzes-Ver-
letzung auf ſich laden, inſofern er diejenigen Geſetze verletzt, welche
er durch jenen Erlaß irrthümlich für aufgehoben erachtet. Die
Frage wird daher ganz falſch und in vollkommen irreführender
Weiſe geſtellt, wenn man ſie auf das richterliche Prüfungsrecht
der Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze richtet. Die Frage iſt viel-
mehr die, ob es überhaupt formelle Kriterien gibt, an welchen
die rechtswirkſame Exiſtenz eines Geſetzes erkannt werden kann,
oder ob ein Geſetz nur dann Geltung hat, wenn materiell alle
für das Zuſtandekommen eines Geſetzes gegebenen Regeln befolgt
ſind. Ein Geſetz kann nicht zugleich für die Gerichte unverbindlich
und für alle anderen Behörden und Unterthanen verbindlich ſein,
ſondern es kann nur abſolut, d. h. für Alle, die unter ſeiner Herr-
ſchaft ſtehen, entweder gültig oder ungültig ſein. Es bedarf keiner
Ausführung, welche politiſchen Nachtheile, welche Störung der
Rechtsſicherheit, welche Gefährdung der ſtaatlichen Ordnung mit
dem Grundſatz verknüpft wären, daß Jeder in jedem Falle auf
eigene Gefahr die Unterſuchung vornehmen müſſe, ob ein Geſetz
in verfaſſungsmäßiger Weiſe zu Stande gekommen iſt 1). Die
[46]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Unrichtigkeit dieſes Grundſatzes ergibt ſich vom rein ſtaatsrecht-
lichen Geſichtspunkte aus der juriſtiſchen Bedeutung der Promul-
gation des Geſetzes in dem oben entwickelten Sinne. In dem
monarchiſchen Einheitsſtaate iſt es das nobile officium, das hohe
politiſche Amt des Landesherrn zu prüfen und zu conſtatiren, be-
vor er das Geſetz verkündigen läßt, daß es der Verfaſſung ent-
ſprechend errichtet worden iſt. Die Verkündigung des Geſetzes iſt
mehr als die bloße Bekanntmachung; der Landesherr iſt nicht an
die Stelle des Ausrufers getreten, welcher im vorigen Jahrhundert
beim Schall der Trommel oder Trompete das Geſetz auf dem
Marktplatz vorgeleſen hat; ſondern ſein Kronrecht beſteht in dem
Geſetzgebungs-Amt und zur Obliegenheit dieſes Amtes ge-
hört die Kontrole, daß die für das Geſetzgebungs-Geſchäft beſte-
henden Rechtsvorſchriften befolgt worden ſind.
Im Deutſchen Reich iſt dieſes Amt durch Art. 17 der R.-V.
dem Kaiſer übertragen. Nicht jeder einzelne Richter oder Ver-
waltungsbeamte, ſondern der Kaiſer iſt zum Wächter und Hüter
der Reichsverfaſſung geſetzt. Ihm liegt es ob, darauf zu ſehen,
daß bei jedem Geſetzgebungsakt des Reiches alle für die Reichs-
geſetzgebung geltenden Rechtsſätze befolgt werden; er prüft im
Intereſſe aller Glieder und Unterthanen des Reiches, ob das Ge-
ſetz verfaſſungsmäßig errichtet iſt; und er gibt dem Reſultat dieſer
Prüfung durch Ausfertigung des Geſetzes den formell rechtswirk-
ſamen Ausdruck.
Es iſt ſchon öfters der Gedanke ausgeſprochen worden, daß
die Erwähnung der Zuſtimmung der Volksvertretung in der ver-
öffentlichten Geſetzes-Urkunde eine Vermuthung der Wahrheit
und Legalität begründe; dieſe Vermuthung aber durch den Be-
weis des Gegentheils entkräftet werden könne 1). Der Richter
würde daher die Entſtehungsgeſchichte eines Geſetzes zu unter-
ſuchen haben, wenn entweder eine Prozeß-Partei das verfaſſungs-
mäßige Zuſtandekommen des Geſetzes beſtreitet, oder wenn eine
politiſche Partei, eine Fraktion des Reichstages oder eine Bundes-
regierung eine ſolche Conteſtation erhebt und dadurch die Beſtrei-
[47]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
tung jener Vermuthung notoriſch geworden iſt. Es kann nun
der Fall, daß der Kaiſer unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers
ein Geſetz verkündigen läßt mit der ausdrücklichen Verſicherung,
daß daſſelbe die Zuſtimmung des Reichstages und Bundesrathes
erhalten habe, während in Wahrheit das Geſetz von einer dieſer
Körperſchaften oder von beiden gar nicht genehmigt worden iſt,
als thatſächlich unmöglich bezeichnet werden. Wer könnte ernſtlich
die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiſer und Reichskanzler
ſich zu einer ſo dreiſten, öffentlichen Lüge verbinden? Dies ſind
gänzlich unpraktiſche „Doktorfragen“. Von praktiſcher Wichtigkeit
iſt dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die
Abſtimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beſchluß-
faſſung des Bundesrathes gemäß Art. 5. 7. 37. 78. der R.-V.
erfolgt iſt.
Soll der Richter alſo verpflichtet und berechtigt ſein, zu unter-
ſuchen, ob der Reichstag, als er das Geſetz genehmigte, beſchluß-
fähig war und ob ſich in Wahrheit die abſolute Majorität für
daſſelbe erhoben hat; ſoll er etwa auf Grund von Zeugen-Aus-
ſagen feſtſtellen, daß die verfaſſungsmäßig erforderliche Zuſtim-
mung nicht ertheilt worden iſt? Gneiſt a. a. O., dem zahlreiche
Anhänger folgen, bricht ſeiner eigenen Theorie die praktiſche Spitze
ab, indem er den im engliſchen Recht geltenden Grundſatz
zur Anwendung bringt, daß dies interna corporis ſeien, über
welche das Parlament wie jede Korporation ſelbſt zu entſcheiden
habe; dadurch ſei die Kognition der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſer
Grund aber iſt unzutreffend, auch abgeſehen davon, ob man die
Volksvertretung in Deutſchland in irgend einer Beziehung einer
universitas ordinata vergleichen darf. Denn theils können die
Gerichte unzweifelhaft darüber entſcheiden, ob ein Korporations-
Veſchluß ſtatutengemäß gefaßt und gültig oder unter Verletzung
der Statuten zu Standen gekommen und deshalb null und nichtig
ſei; theils ſind die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung über die
Beſchlußfaſſung des Reichstages keine bloße Geſchäfts-Ordnung
des Reichstages, die deſſen Autonomie unterliegen oder deren Be-
folgung in dem Ermeſſen des Reichstages ſtünde; es handelt ſich
hierbei nicht um interna des Reichstages, ſondern um das öffent-
liche Recht des Reiches.
Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemuthet wer-
[48]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
den, wenn er feſtzuſtellen verpflichtet wäre, ob die der Oeffentlich-
keit entzogene Beſchlußfaſſung des Bundesrathes „verfaſſungs-
mäßig“ erfolgt iſt, z. B. ob bei einem Geſetze, welches nach der
Anſicht des Richters die verfaſſungsmäßige Kompetenz des
Reiches erweitert oder iura singulorum betrifft, die Vorſchriften
des Art. 78 Abſ. 1 und Abſ. 2 befolgt worden ſind, ob der letzte
Abſatz des Art. 7 mit Recht oder Unrecht zur Anwendung gekom-
men iſt u. ſ. w. Auch dieſe Beſtimmungen ſind nicht blos eine
Geſchäfts-Ordnung des Bundesrathes, welche lediglich interna des-
ſelben regeln, ſondern ſie ſind zugleich gemeingültige Sätze des
Verfaſſungsrechtes 1). Soll aber etwa der Richter den Reichs-
kanzler zeugeneidlich vernehmen oder eine amtliche Auskunft von
demſelben über Thatſachen verlangen, aus denen die Verfaſſungs-
widrigkeit des Geſetzes hergeleitet werden ſoll, nachdem derſelbe
Reichskanzler durch Gegenzeichnung des Geſetzes die Verantwort-
lichkeit dafür übernommen hat, daß daſſelbe verfaſſungsmäßig zu
Stande gebracht worden iſt? 2)
Würde man aber das richterliche Prüfungsrecht der verfaſ-
ſungsmäßigen Entſtehung eines Geſetzes trotz dieſer Bedenken aus
konſtitutionellem Doctrinarismus aufrecht erhalten wollen, ſo dürfte
man auch vor der Conſequenz nicht zurückſcheuen, daß ein in dem
Reichsgeſetzblatt gehörig verkündigtes Geſetz, über deſſen verfaſſungs-
mäßiges Zuſtandekommen und über deſſen Rechtsgiltigkeit der Kaiſer
und ſein Reichskanzler, der Bundesrath und der Reichstag vollkom-
men einverſtanden ſind, bei Gelegenheit eines Civil- oder Criminalpro-
zeſſes von einem Gericht für verfaſſungswidrig entſtanden und des-
halb für null und nichtig erklärt werden könnte. Denn iſt das Reichs-
geſetz von Anfang an nichtig, ſo kann es dadurch nicht rechtswirkſam
werden, daß der Reichstag oder der Bundesrath dazu ſchweigen 3).
[49]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Man hat ſich für das richterliche Prüfungsrecht des verfaſ-
ſungsmäßigen Zuſtandekommens der Reichsgeſetze auf Art. 2 der
R.-V. berufen, welcher beſtimmt, daß das Reich das Recht der
Geſetzgebung „nach Maßgabe des Inhaltes dieſer Verfaſſung“
ausübt 1). Allerdings ſoll das Reich ſeine Geſetzgebung nur aus-
üben gemäß der Reichsverfaſſung, nicht unter Verletzung derſelben;
die objective Geltung dieſer Regel iſt unbeſtreitbar und bedarf
keiner Anerkennung in der Reichsverfaſſung. Aber darüber ſagt
der angef. Art. 2 Nichts, wer zu entſcheiden habe, ob
ein Reichsgeſetz nach Maßgabe des Inhaltes der Reichsverfaſſung
erlaſſen ſei; insbeſondere ob dieſe Frage von jedem Gerichtshofe
und von jeder Verwaltungsbehörde aus anderen Gründen und
in anderer Weiſe, oder ob ſie einheitlich und gemeinverbindlich
vom Kaiſer zu entſcheiden ſei. Aus dem Art. 2 der R.-V. folgt
nur, daß der Kaiſer einen ihm vorgelegten Geſetzes-Text nicht
ausfertigen und zur Verkündigung bringen ſoll, wenn dieſer Geſetzes-
Text nicht nach Maßgabe der Reichsverfaſſung vereinbart und
ſanctionirt worden iſt.
Es iſt in der That nicht einzuſehen, welche ſtaatsrechtliche
Bedeutung die im Art. 17 der R.-V. dem Kaiſer übertragene
„Ausfertigung“ der Reichsgeſetze haben ſolle, wenn nicht die im
Vorſtehenden entwickelte 2). Die Beſchlüſſe des Reichstages ſowie
die des Bundesrathes werden von den Vorſitzenden dieſer Körper-
3)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 4
[50]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
ſchaften, dem Reichstags-Präſidenten, reſp. dem Reichskanzler aus-
gefertigt. Der Wortlaut des Geſetzes, wie er von dieſen beiden
Verſammlungen beſchloſſen werden iſt, ſteht daher ohne Zuthun
des Kaiſers bereits urkundlich feſt und der Kaiſer könnte darauf
beſchränkt ſein, die Verkündigung anzuordnen. Dieſe Form be-
ſteht in der Schweiz. Der Beſchluß des Nationalrathes und
ebenſo der Beſchluß des Ständerathes werden in gleichlautenden
oder in einer und derſelben Urkunde von den Präſidenten und
Protokollführern der beiden Räthe ausgefertigt und der Bundes-
rath beſchließt alsdann lediglich die Aufnahme des Bundesbe-
ſchluſſes in die amtliche Geſetzſammlung der Eidgenoſſenſchaft. Nach
der Reichsverfaſſung aber ſoll der Kaiſer die Geſetze nicht blos
verkünden, ſondern auch ausfertigen; die Geſetzes-Urkunde ſoll
nicht eine Urkunde des Bundesrathes, ſondern eine Urkunde des
Kaiſers ſein. Daraus ergiebt ſich, daß die Geſetzes-Ausfertigung
einen ſelbſtſtändigen Inhalt haben muß; denn der Kaiſer iſt nicht
dazu da, um Beſchlüſſe des Bundesrathes oder des Reichstages
zu beurkunden; ſondern wenn er etwas beurkundet, ſo iſt dies
ſtets ſein eigener Regierungsakt.
Andererſeits bedeutet die kaiſerliche Ausfertigung des Geſetzes
auch nicht die Genehmigung deſſelben; denn im Deutſchen Reich
geht die Sanction der Geſetze — wie gezeigt worden iſt — nicht
vom Kaiſer, ſondern vom Bundesrathe aus 1).
Wenn demnach die kaiſerliche Ausfertigung des Geſetzes einen
ſelbſtſtändigen Inhalt hat und doch nicht Genehmigung des Geſetzes
iſt, ſo bleibt für dieſelbe nichts Anderes übrig, als daß ſie die
formelle Conſtatirung erbringt, daß das Geſetz reichsverfaſſungs-
mäßig berathen, beſchloſſen und ſanctionirt worden iſt. Sie iſt
die solemnis editio legis; ſie entſpricht dem Begriff der Promul-
gation, wie ihn die franzöſiſche Verf. des Jahres VIII. ausge-
bildet hat 2). Wenn die Reichsverfaſſung aber den Kaiſer mit
[51]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
dieſer Funktion betraut, ſo kann es nicht jedem Richter und Ver-
waltungsbeamten zuſtehen, in dem einzelnen, von ihnen zu ent-
ſcheidenden Falle den kaiſerlichen Ausſpruch einer Ueberprüfung
zu unterwerfen und je nach dem Ausfalle derſelben ihm einen
widerſprechenden entgegenzuſetzen 1).
Selbſt wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines
Deutſchen Bundesſtaates ein richterliches Prüfungsrecht der Ver-
faſſungsmäßigkeit der Landes geſetze annehmen wollte, ſo beſteht
jedenfalls ein ſolches Prüfungsrecht den Reichsgeſetzen gegen-
über nicht.
Aus dem hier ausgeführten Grundſatz ergibt ſich noch eine
andere wichtige Conſequenz. So wenig der Richter oder Verwal-
tungsbeamte, ebenſowenig kann auch das einzelne Bundesglied
ein vom Kaiſer ausgefertigtes Geſetz als verfaſſungswidrig zu-
ſtandegekommen bezeichnen und für unverbindlich erklären 2). Wenn
eine Bundesregierung der Anſicht iſt, daß durch ein Geſetz ein ihr
zuſtehendes Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbe-
laſtung auferlegt werde, ſo muß ſie ihren Widerſpruch gegen den
Erlaß des Geſetzes vor Ausfertigung deſſelben erheben und
der Beſchlußfaſſung im Bundesrath unterbreiten. Hat der Kaiſer
die Ausfertigung ertheilt, ſo iſt damit conſtatirt, daß ein ſolcher
4*
[52]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Widerſpruch entweder nicht erhoben oder durch ordnungsmäßigen
Beſchluß des Bundesrathes für unbegründet erklärt oder durch
nachträgliche Zuſtimmung des betheiligten Bundesgliedes zu dem
Geſetze erledigt worden iſt 1). So iſt beiſpielsweiſe durch die
Ausfertigung des Poſtgeſetzes v. 28. Oktober 1871 in formeller
und unanfechtbarer Weiſe conſtatirt, daß Württemberg von dem
im Protokoll v. 25. Nov. 1870 Ziff. 3 (B.-G.-Bl. S. 657) ihm
eingeräumten Widerſpruchsrecht keinen Gebrauch gemacht hat; und
es würde ebenſo unzuläſſig ſein, daß etwa einmal die Regierung
von Württemberg es in Frage ſtellt, ob die Zuſtimmung Würt-
tembergs zum Poſtgeſetz in rechtswirkſamer Weiſe ertheilt ſei, als
daß ein Württembergiſches Gericht im einzelnen Rechtsfall Erhe-
bungen darüber anſtellt.
3) Ueber die Form, in welcher die Ausfertigung zu erfolgen
hat, beſtimmt die Reichsgeſetzgebung Nichts. Aus dem Wortbe-
griff ſelbſt ergibt ſich, daß die Ausfertigung die weſentlichen Be-
ſtandtheile einer Urkunde, alſo den vollſtändigen Wortlaut des
Geſetzes, die eigenhändige Unterſchrift des Kaiſers und das Datum
enthalten muß. Das Datum der Reichsgeſetze beſtimmt ſich nicht
nach dem Tage, an welchem ſie vom Reich mittelſt Bundesraths-
Beſchluſſes ſanctionirt worden ſind, und ebenſo wenig nach dem
Tage der Verkündigung, ſondern nach dem Tage, an welchem der
Kaiſer ſie ausgefertigt hat. Außer der Unterſchrift enthält die
Ausfertigung auch den Abdruck des Kaiſerlichen Siegels.
Erforderlich iſt ferner die Gegenzeichnung des Reichskanzlers,
welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. R.-V. Art. 17.
Die Verantwortlichkeit erſtreckt ſich in dieſem Falle darauf, daß
der dem Kaiſer zur Ausfertigung vorgelegte Text buchſtäblich ge-
nau dem vom Reichstage und Bundesrathe beſchloſſenen Wortlaut
[53]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
entſpricht, und daß das Geſetz in verfaſſungsmäßiger Weiſe zu
Stande gekommen iſt. Der Reichskanzler hat bei Prüfung dieſer
Frage den Kaiſer zu unterſtützen und ihm darüber erforderlichen
Falles Vortrag zu halten; durch ſeine Gegenzeichnung bekundet er,
daß auch er bei pflichtmäßiger Prüfung die rechtliche Ueberzeugung
gewonnen habe, daß das Geſetz in Uebereinſtimmung mit den Vor-
ſchriften der Reichsverfaſſung errichtet worden ſei. Dagegen er-
ſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nicht auf den
materiellen Inhalt der Geſetzes-Vorſchriften, auf welche er nach
erfolgter Beſchlußfaſſung des Reichstages und Bundesrathes keinen
Einfluß mehr auszuüben vermag. Wenn der Reichskanzler daher
mit den Anordnungen des Geſetzes nicht einverſtanden iſt, jedoch
anerkennen muß, daß das Geſetz verfaſſungsmäßig errichtet worden
iſt, ſo iſt er weder verpflichtet, noch auch berechtigt, die Ausferti-
gung deſſelben durch Verſagung ſeiner Gegenzeichnung zu hindern
oder zu verzögern.
4. Dem Kaiſer ſteht außer der Ausfertigung der Reichsgeſetze
gemäß Art. 17 der R.-V. deren Verkündigung zu. Dieſer
Ausdruck bedeutet an dieſer Stelle nicht die Bekanntmachung ſelbſt,
welche im Art. 2 der R.-V. geregelt iſt, ſondern den Verkündi-
gungs-Befehl. Der kaiſerliche Befehl iſt an den Reichskanzler
gerichtet und ſteht mit der Ausfertigung in ſo untrennbarem und
engem Zuſammenhange, daß beide thatſächlich zuſammenfallen.
Denn der Kaiſer kann kein Geſetz verkündigen laſſen, deſſen ver-
faſſungsmäßige Exiſtenz er nicht vorher durch die Ausfertigung
conſtatirt hat, und er kann andererſeits nicht das Geſetz ausfertigen
und es dennoch nicht verkündigen laſſen. Wenn der Kaiſer aner-
kennt, daß das Geſetz gültig zu Stande gekommen iſt, ſo iſt die
Verkündigung deſſelben, da ihm kein Veto zuſteht, nicht nur ſein
Recht, ſondern ſeine Pflicht. Sowie die Terminologie des franzö-
ſiſchen Rechtes, wie oben ausgeführt, unter dem Ausdruck promul-
gation die Ausfertigung und den Publikationsbefehl zuſammenfaßt,
ſo verbindet auch der Art. 17 der R.-V. die Ausfertigung und
Verkündigung der Reichsgeſetze mit einander. Der Regel nach
wird die Verkündigung ſofort nach vollzogener Ausfertigung er-
erfolgen; erſcheint es dem Kaiſer geboten, die Verkündigung auf
einige Zeit hinauszuſchieben, ſo kann er dies durch Verzögerung
der Ausfertigung erreichen.
[54]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Da die Verkündigung die nothwendige und in der Regel
ſofort eintretende Folge der Ausfertigung iſt, ſo ergiebt ſich, daß
der Verkündigungs-Befehl vom Kaiſer nicht ausdrücklich ertheilt
zu werden braucht, ſondern daß er als ſelbſtverſtändlich in der
Ausfertigung ſtillſchweigend mitenthalten iſt. Dem Wortlaut des
Art. 17 würde es allerdings entſprechen, wenn der Kaiſer die Aus-
fertigung des Geſetzes dem Reichskanzler mit der ausdrücklichen
Anordnung, daſſelbe zu verkündigen, zugehen ließe und ein ſolcher
Befehl wird in der That in allen denjenigen Fällen erforderlich
ſein, wenn derſelbe noch irgend einen andern Inhalt hat als die
ſtereotype und ſelbſtverſtändliche Beſtimmung: „Dieſes Geſetz iſt
zu verkündigen“ 1).
IV.Die Publikation der Reichsgeſetze.
Die Ausführung des Verkündigungsbefehls, alſo die eigent-
liche Verkündigung geſchieht nach Art. 2 der Reichsverf. vermittelſt
eines Reichsgeſetzblattes. Hier kommen folgende Punkte in Betracht:
1. Die Verkündigung iſt keine gewöhnliche Bekanntmachung,
ſondern ſie iſt die Ausführung eines kaiſerlichen Befehls, eine
Amtshandlung der Reichsregierung. Demgemäß kann
die Verkündigung nur erfolgen von einem Organ des Reiches; die
Verkündigung der Reichsgeſetze iſt ein Beſtandtheil des zur Reichs-
geſetzgebung erforderlichen Vorganges und kann mithin nur vom
Reiche ausgehen. Damit widerlegt ſich die von Seydel, Com-
mentar S. 39 u. 124 aufgeſtellte Anſicht, daß die Verkündigung von
Reichswegen nur eine „Formvereinfachung ſei und daß es gerade
ſo gut denkbar wäre, daß man die Verkündigung den einzelnen
Staaten überlaſſen hätte“ 2). Der Abdruck von Reichsgeſetzen in
[55]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Geſetz- oder Amtsblättern der Einzelſtaaten iſt ohne jede ſtaats-
rechtliche Bedeutung; er ſteht auf gleicher Stufe mit dem Abdruck
in Zeitungen oder wiſſenſchaftlichen Werken 1).
2. Die Verkündigung kann nur erfolgen vermittelſt eines
Reichsgeſetzblattes. Es iſt dieſe Art der Verkündigung von Reichs-
geſetzen nach Art. 2 der R.-V. die einzige, welche rechtliche Wirkung
hat; ſie kann durch kein anderes Mittel der Bekanntmachung erſetzt
werden. Das Reichsgeſetzblatt enthält daher eine vollſtändige
Sammlung aller Reichsgeſetze; es giebt keine Reichsgeſetze mit ver-
bindlicher Kraft, welche nicht im Reichsgeſetzblatt abgedruckt ſind.
Von dieſem Grundſatz hat ſich in der Praxis eine, allerdings
nur ſcheinbare Ausnahme gebildet. Wenn nämlich durch ein Reichs-
geſetz ein Landesgeſetz, welches in einem zum Reiche gehörenden
Staate bereits ordnungsmäßig verkündet worden iſt, zum Reichs-
geſetz erklärt oder in einem andern Gebiete des Reiches eingeführt
oder wenn auf daſſelbe in einem Reichsgeſetz Bezug genommen
wird, ſo findet ein Wieder-Abdruck in dem Reichsgeſetzblatte nicht
immer ſtatt, ſondern es wird öfters auf den im Geſetzblatte des
Einzelſtaates erfolgten Abdruck verwieſen, welcher dadurch vom
Reiche für authentiſch erklärt wird 2). So wenig eine ſolche Spar-
[56]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
ſamkeit in dem Reichsgeſetzblatte, welches neben den Reichsgeſetzen
eine große Anzahl nicht dahin gehörender Mittheilungen enthält,
zu billigen iſt, ſo kann ſie doch nicht als eine Verletzung des Art. 2
der R.-V. erachtet werden, da der Abdruck im Reichsgeſetzblatte
dasjenige enthält, was ſtaatsrechtlich der weſentliche Beſtand-
theil eines Reichsgeſetzes iſt, nämlich den vom Reich erlaſſenen
Geſetzes-Befehl, während der Inhalt dieſes Befehls freilich aus
anderweitigen Druckſchriften ermittelt werden muß.
3. Die Amtshandlung der Geſetzes-Verkündigung, die Aus-
führung des kaiſerlichen Verkündigungs-Befehls, liegt dem Reichs-
miniſter des Kaiſers, dem Reichskanzler ob. Der Reichskanzler
allein iſt dazu ſtaatsrechtlich legitimirt. Da die Verkündigung
nur vermittelſt des Reichsgeſetzblattes erfolgen kann, ſo läßt ſich
dies auch in der Form ausdrücken, daß der Reichskanzler von
Rechtswegen der Herausgeber des Reichsgeſetzblattes iſt 1). Daraus
ergiebt ſich zugleich, daß der Reichskanzler für den Inhalt
des Reichsgeſetzblattes verantwortlich iſt. Das heißt:
Er darf kein Geſetz in demſelben abdrucken, von welchem ihm
nicht die kaiſerliche Ausfertigung zugegangen iſt, und er hat dar-
2)
[57]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
über zu wachen, daß der Abdruck fehlerfrei, ohne Zuſätze und ohne
Auslaſſungen erfolgt 1). Der Reichskanzler muß daher, um ſich
nöthigenfalls verantworten zu können und damit etwaige Zweifel
an der Richtigkeit des im Geſetzblatte gelieferten Abdrucks erledigt
werden können, für die Aufbewahrung der vom Kaiſer ausgefer-
tigten Original-Geſetzes-Urkunde Sorge tragen. Die Verantwort-
lichkeit erſtreckt ſich ferner darauf, daß alle vom Kaiſer promul-
girten Geſetze vollſtändig und rechtzeitig im Reichsgeſetzblatt abge-
druckt werden.
Durch dieſe in poſitiver und negativer Richtung wirkende Ver-
antwortlichkeit des Reichskanzlers für den Inhalt des Reichsgeſetz-
blattes iſt eine ſtaatsrechtliche Garantie für die Echtheit und Rich-
tigkeit des im Reichsgeſetzblatt gelieferten Abdruckes gegeben. Der
durch die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers geſicherte Abdruck
des Geſetzes im Reichsgeſetzblatte hat die rechtliche Eigenſchaft der
Authenticität. Allen Gerichten, Behörden und Angehörigen
des Reiches wird das Vorhandenſein und der Wortlaut der Kaiſerl.
Ausfertigung des Geſetzes vom Reichskanzler dadurch amtlich be-
kundet und mitgetheilt, daß er das Geſetz in das Reichsgeſetzblatt
aufnimmt und das Stück des Geſetzblattes herausgiebt (d. h. ver-
ſenden läßt) 2). Die Prüfung, welche den Behörden und Ange-
hörigen des Reiches hinſichtlich der Exiſtenz der Reichsgeſetze ob-
liegt, beſchränkt ſich daher darauf, daß ſie ſich überzeugen, daß
das Reichsgeſetz in dem Reichsgeſetzblatt in der dem Art. 17 der
R.-V. entſprechenden Art und Weiſe abgedruckt iſt.
Die vorſtehenden Sätze werden im Art. 2 der R.-V. in einer an
die Faſſung des Art. 1 des Code civ. anklingenden Weiſe ausgedrückt,
indem es daſelbſt heißt: „Die Reichsgeſetze erhalten ihre verbindliche
Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche
[58]§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
vermittelſt eines Reichsgeſetzblattes geſchieht“. In Wahrheit be-
ruht die verbindliche Kraft der Reichsgeſetze nicht auf ihrem Ab-
druck im Geſetzblatte, ſondern auf der ihnen ertheilten Sanction;
aber dieſe Sanction hat zur Folge die Kaiſerliche Promulga-
tion (Ausfertigung und Verkündigungs-Befehl); und die Promul-
gation hat wieder zur Folge die vom Reichskanzler bewirkte Pu-
blikation durch Abdruck im Reichsgeſetzblatt. Aus dieſer,
unter der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erfolgten Verkün-
digung ergiebt ſich daher einerſeits der Rückſchluß auf die verfaſ-
ſungsmäßig geſchehene Sanction und andererſeits erlangt ohne
die Verkündigung im Reichsgeſetzblatt kein Reichsgeſetz verbindliche
Kraft. Im praktiſchen Reſultate verhält es ſich demnach ſcheinbar
ſo, als erhielten die Reichsgeſetze in der That ihre verbindliche
Kraft „durch ihre Verkündigung vermittelſt des Reichsgeſetz-
blattes“.
V. Der geſammte Geſetzgebungs-Akt von der Einbringung des
Entwurfs im Reichstage bis zur Verkündigung der ausgefertigten
Geſetzes-Urkunde im Reichsgeſetzblatt muß nach einer allgemeinen
Uebung, die ſich zu einem wirklichen conſtitutionellen Gewohnheits-
recht geſtaltet hat, beendet ſein bevor der Reichstag zu einer neuen
Seſſion zuſammentritt. Es beruht dies theils auf dem ſogen.
Prinzip der Discontinuität der Reichstags-Seſſionen 1), theils auf
einer Rückſicht auf den Reichstag, deſſen Majorität vielleicht wegen
veränderter Verhältniſſe dem Geſetze zur Zeit nicht mehr zuſtimmen
würde, ſo daß es angemeſſen erſcheint, den Entwurf ihm nochmals
vorzulegen. Eine ausdrückliche Anerkennung hat der Grundſatz
Seitens der Reichsregierung im Jahre 1871 gefunden. Die Poſt-
geſetze wurden dem Reichstage in der 2ten Seſſion 1871 in der-
jenigen Faſſung vorgelegt, welche der Reichstag in der 1ten Seſſion
beſchloſſen hatte, nachdem der Bundesrath die anfänglich beſtehen-
den Bedenken gegen die Sanktion des Geſetzentwurfs aufgegeben
hatte, inzwiſchen aber die Berufung des Reichstages zu einer neuen
Seſſion erfolgt war 2).
[59]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
I. Der im vorigen Paragraphen erörterte Weg der Geſetz-
gebung und die Beobachtung der für den Erlaß eines Geſetzes auf-
geſtellten Vorſchriften iſt auch anwendbar auf ſolche ſtaatliche Willens-
acte, welche nicht die Anordnung von Rechtsregeln zum Inhalte
haben. Der materielle Inhalt jedes Willensentſchluſſes des Staates
kann gerade ſo wie ein einzuführender Rechtsſatz zwiſchen denjeni-
gen Organen vereinbart werden, welchen die Feſtſtellung des Ge-
ſetzes-Inhaltes zuſteht, und es kann auf Grund dieſer Vereinba-
rung die Sanction, Promulgation und Publikation in vollkommen
gleicher Weiſe wie bei der Aufſtellung von Rechtsregeln erfolgen.
In der abſoluten Monarchie war jeder ordnungsmäßig erlaſſene
Befehl des Landesherrn verbindlich, gleichviel ob er die Befolgung
eines Rechtsſatzes und ſeine Anwendung durch die Gerichte, oder ob
er die Verwaltung und die Thätigkeit der dazu beſtellten Behörden
betraf. Ebenſo kann nach dem Engliſchen Staatsrecht eine Bill
des Parlaments und die königliche Zuſtimmung zu derſelben jeden
irgend denkbaren Inhalt haben. Schon vor der Einführung der
conſtitutionellen Verfaſſungsform war daher der „Weg der Geſetz-
gebung“ nicht beſchränkt auf die Regelung der Rechtsordnung und
nicht für dieſelbe charakteriſtiſch. Dieſe Verfaſſungsform hat aber
die Veranlaſſung gegeben, daß ſich ein neuer, durch formelle Kri-
terien beſtimmter Begriff des Geſetzes gebildet und zu großer
ſtaatsrechtlicher Bedeutung entwickelt hat.
Die conſequente Durchführung der Theorie von der Theilung
der Gewalten hatte zur Folge, daß alle Funktionen des ſtaatlichen
Lebens, welche dem Könige allein und den von ihm ernannten
Verwaltungs-Beamten zuſtanden, zur Executive, und alle Funk-
tionen, welche ein Zuſammenwirken von Krone und Volksvertretung
verlangten, zur Legislative gerechnet wurden. Dadurch ſcheiden
aus dem Begriffe des Geſetzes einerſeits aus alle diejenigen Anord-
nungen von Rechtsſätzen, welche der Monarch ohne Zuſtimmung der
Volksvertretung auf Grund einer allgemeinen in der Verfaſſung,
oder einer ſpeziellen in einem Geſetze ihm ertheilten Ermächtigung
zu erlaſſen befugt iſt. Nicht jede rechtsverbindliche Anordnung
einer Rechtsregel, alſo nicht jedes Geſetz im materiellen Sinne des
Wortes, iſt daher zugleich ein Geſetz im formellen Sinne. Im
[60]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
materiellen Sinne iſt geſetzliches Recht gleichbedeutend mit ius
scriptum; im formellen Sinne iſt nur dasjenige ius scriptum Ge-
ſetzesrecht, welches unter Zuſtimmung der Volksvertretung ent-
ſtanden iſt.
Andererſeits aber fallen unter dieſen formellen Begriff des
Geſetzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die
Zuſtimmung der Volksvertretung erforderlich iſt, auch wenn ſie
keine Anordnung von Rechtsſätzen enthalten. Ueberall, wo man
die ſelbſtſtändige Entſcheidung des Monarchen oder ſeiner Miniſter
ausſchließen wollte, erklärte man „ein Geſetz“ d. h. die Beobach-
tung der für die Geſetzgebung vorgeſchriebenen Formen für erfor-
derlich, weil dieſe Formen die Genehmigung der Volksvertretung
in ſich ſchließen. Man glaubte, indem man das Wort Geſetz auf
alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen
Willensentſchlüſſe des Staates, auch wenn ſie keine Rechtsſätze be-
treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die „Legis-
lative“ beſchränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten
durchgeführt zu haben.
In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Geſetz in dieſem Sinne
nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befug-
niſſe, ſondern eine Form, in welcher der ſtaatliche Wille er-
klärt wird, gleichviel was der Inhalt dieſes Willens iſt. Durch
ein „Geſetz“ kann der Wirthſchaftsplan für den Staatshaushalt
oder der Koſten-Anſchlag für ein Unternehmen feſtgeſtellt, die Rich-
tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver-
jagten Dynaſtie confiscirt und ebenſo derſelben reſtituirt, die Er-
richtung oder Zerſtörung eines nationalen Denkmals anbefohlen,
die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines
Titels, ſowie die Verbannung oder der Verluſt der Staats-Ange-
gehörigkeit ausgeſprochen werden. Durch ein Geſetz kann ebenſo
eine ſchwebende Rechtsſtreitigkeit entſchieden, die Gültigkeit oder
Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgeſprochen, eine Wahl
anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amneſtie ertheilt
werden. Verwaltungsvorſchriften von Wichtigkeit, welche nicht nach
dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, ſondern
dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden ſollen, wer-
den überaus häufig in der Form des Geſetzes erlaſſen. Ein und
daſſelbe Geſetz kann einen ſehr verſchiedenartigen Inhalt haben
[61]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
und neben wirklichen Rechtsſätzen Verwaltungsvorſchriften, Finanz-
maßregeln, Ermächtigungen u. ſ. w. enthalten. Es giebt mit einem
Worte keinen Gegenſtand des geſammten ſtaatlichen Lebens, wel-
cher nicht zum Inhalte eines Geſetzes gemacht werden könnte.
Geſetz im materiellen Sinne und Geſetz im formellen Sinne
verhalten ſich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie
ein weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff; ſondern
es ſind zwei durchaus verſchiedene Begriffe, von denen jeder
durch ein anderes Merkmal beſtimmt wird; der eine durch
den Inhalt, der andere durch die Form einer Willenserklä-
rung 1). Ein Staatsgeſetz im formellen Sinne iſt ein Willensact
des Staates, der in einer beſtimmten feierlichen Weiſe zu Stande
gekommen und erklärt worden iſt 2). Den gemeinſamen Ausgangs-
punkt für beide Begriffe, der die Verwendung deſſelben Ausdrucks
für zwei ſo verſchiedene Dinge erklärt, bildet der Satz, daß An-
ordnungen von Rechtsſätzen der Regel nach nur auf dem verfaſ-
ſungsmäßig beſtimmten Wege erfolgen dürfen, der deshalb der
Weg der Geſetzgebung heißt.
Aus dieſen Erörterungen ergiebt ſich, in welcher Hinſicht Ge-
[62]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
ſetze im materiellen Sinn und Geſetze im formellen Sinn unter
denſelben Grundſätzen ſtehen, und in welcher Beziehung dies nicht
der Fall iſt. In Beziehung auf die Vorausſetzungen ihrer
Gültigkeit ſtehen beide gleich; denn darauf beruht ja eben der
formelle Begriff des Geſetzes, daß für die Gültigkeit eines ſtaat-
lichen Willensactes diejenigen Erforderniſſe verfaſſungsmäßig auf-
geſtellt worden ſind, welche für die rechtsverbindliche Anordnung
eines Rechtsſatzes beſtehen. Die Vorſchriften über Feſtſtellung des
Inhaltes, Sanction, Promulgation und Publikation finden dem-
nach vollſtändig und ausnahmslos auch Anwendung auf ſolche Ge-
ſetze, welche nicht Anordnungen von Rechtsregeln enthalten. Die
Wirkungen eines ſtaatlichen Willensactes dagegen beſtimmen ſich
nach dem Inhalte deſſelben. Geſetze, welche Rechtsregeln überhaupt
nicht enthalten, können nicht diejenigen Wirkungen haben, welche dem
Befehl, einen Rechtsſatz zu befolgen, zukommen; ſondern ſie haben die
ihrem Inhalt entſprechenden Wirkungen. Geſetze, welche Ermächtigun-
gen ertheilen, haben die Wirkungen von Vollmachten; Geſetze, welche
einen Rechtsſtreit entſcheiden, haben die Wirkungen von Urtheilen;
Geſetze, welche den Haushalt regeln, haben die Wirkungen von
Wirthſchaftsplänen, alſo von Verwaltungsvorſchriften u. ſ. w. 1).
II. Die doppelte Bedeutung des Wortes „Geſetz“ im ma-
teriellen und formellen Sinne macht ſich auch noch in einer andern,
praktiſch wichtigen Richtung geltend. Der Ausdruck „Geſetzgebung“
wird im objectiven und ſubjectiven Sinne verſtanden; in dieſem
bedeutet er die Befugniß zum Erlaß von Vorſchriften (Kompetenz),
in jenem bedeutet er die Summe der auf Grund der Geſetzgebungs-
befugniß in gültiger Weiſe erlaſſenen Vorſchriften. Wenn der Ver-
faſſungsſatz beſteht, daß eine gewiſſe Materie von der „Reichsge-
ſetzgebung“ ausgeſchloſſen ſei, ſo bedeutet das nicht, daß das Reich
dieſe Materie in der Form der Verordnung regeln dürfe, ſondern
es ſoll damit geſagt werden, daß dieſe Materie überhaupt der
Willensherrſchaft des Reiches entrückt und z. B. der der Einzel-
ſtaaten überwieſen ſei. In dieſem Sinne wird „die Bundeslegis-
lative“ oder „Bundesgeſetzgebung“ in dem Bayriſchen Verfaſſungs-
bündniß und dem dazu gehörigen Schlußprotokoll v. 23. Nov. 1870
vielfach in Bezug auf Bayern beſchränkt oder ausgeſchloſſen, wo-
durch ſelbſtverſtändlich die Befugniß des Reiches zur Normirung
[63]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
gewiſſer Angelegenheiten, ſowohl in der Form des Geſetzes als in
der Form der Verordnung, abgewendet werden ſoll. Andererſeits
bedeutet die Anordnung, daß eine Materie der Reichsgeſetzgebung
unterliegt, nicht: daß die Regelung in der Form des Reichs-
Geſetzes erfolgen müſſe, ſondern: daß die Reichs-Gewalt über-
haupt kompetent ſei, dieſe Materie in verbindlicher Weiſe zu regeln.
So werden im Art. 4 der R.-V. die Angelegenheiten aufgeführt,
„welche der Beaufſichtigung des Reiches und der Geſetzgebung
deſſelben“ unterliegen. Hierdurch wird die Befugniß des Reiches
zur Aufſtellung rechtsverbindlicher Regeln begründet, nicht die Form
vorgeſchrieben, in welcher dieſelben aufzuſtellen ſind. In demſelben
Sinne kehrt das Wort wieder in Ziff. 13 deſſelben Artikels, in
Art. 35; 38; 52 Abſ. 2, an welchen Stellen der Umfang der
Reichskompetenz normirt wird, und ebenſo in den zahlreichen Stellen
der Reichsgeſetze, in welchen die Regelung irgend eines Gegenſtan-
des der „Landesgeſetzgebung“ übertragen oder auf die „Landes-
geſetze“ verwieſen wird. Das Geſ. v. 5. Juni 1869 §. 3 (B.-G.-Bl.
S. 380) erklärt, daß die Vorſchriften der Einführungs-Geſetze in
Kraft bleiben, „nach welchen unter Landesgeſetzen im Sinne des
Handelsgeſetzb. nicht blos die förmlichen Geſetze, ſondern das ge-
ſammte Landesrecht zu verſtehen und in Anſehung der be-
treffenden Vorbehalte des Handelsgeſetzbuchs die Erlaſſung maß-
gebender Vorſchriften auf anderem Wege als auf dem Wege der
förmlichen Geſetzgebung, ſoweit dies nach dem Landesrecht zuläſſig,
nicht ausgeſchloſſen iſt.“ In demſelben Sinne wird der Ausdruck
„Landesgeſetz“, „Landesgeſetzgebung“ in der Gewerbe-Ordn. v.
21. Juni 1869 §. 155, im Einf.-Geſ. zum Strafgeſetzb. v. 31. Mai
1870, in dem Perſonenſtands- und Civilehegeſetz v. 6. Febr. 1875
§. 11 1) und anderen Reichsgeſetzen verwendet.
In allen dieſen Stellen entſpricht das Geſetzgebungsrecht dem
materiellen Geſetzesbegriff. Es kann aber auch die Geſetzgebungs-
Befugniß in einer dem formellen Geſetzesbegriff entſprechenden Be-
deutung verſtanden werden; d. h. nicht als Kompetenz zur Auf-
ſtellung von Rechtsregeln, ſondern als Befugniß, in der Form
des Geſetzes Willensacte von irgend welchem Inhalte vorzu-
nehmen. Der Ausdruck kann das Recht des Reichstages oder des
[64]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
Landtages zur Mitwirkung an dem Erlaß eines Befehles bedeuten.
Wenn in einem ſouverainen Einheitsſtaate eine Verfaſſungsbeſtim-
mung dahin lautet, daß eine gewiſſe Anordnung der Geſetzgebung
zuſteht, ſo kann das nicht die Kompetenz der Staatsgewalt
bedeuten, da dieſelbe ſouverain iſt, ſondern es beſchränkt die Kom-
petenz des Staats oberhauptes, es erkennt die Befugniß der
Volksvertretung zur Theilnahme an der Bethätigung der Staats-
gewalt an. In einem Bundesſtaat aber iſt ein doppelter Gegen-
ſatz möglich, die Bundesgewalt kann der Einzelſtaatsgewalt und
innerhalb der Organiſation beider Gewalten kann das Staatsober-
haupt der Volksvertretung gegenüber geſtellt werden. Der Rechts-
ſatz, daß irgend ein Befehl durch Reichsgeſetz oder durch Landes-
geſetz erlaſſen werden könne, enthält daher eine doppelte Beſtimmung;
er normirt einerſeits die Kompetenz des Reiches oder Einzel-
ſtaates zum Erlaß eines ſolchen Befehls und andererſeits die
Form, in welcher der Befehl zu erlaſſen iſt.
Ein Beiſpiel für eine ſolche Verwendung des Wortes „Reichs-
geſetz“ liefert der Art. 41 Abſ. 1 der R.-V., wonach „kraft eines
Reichsgeſetzes“ Eiſenbahnen angelegt oder an Privatunternehmer
zur Ausführung konzeſſionirt und mit dem Expropriationsrechte
ausgeſtattet werden können. Es handelt ſich hier nicht um die
Aufſtellung von Rechtsſätzen und die Regelung der Rechtsordnung,
ſondern um eine Regierungshandlung, für welche durch die Clauſel
„kraft eines Reichsgeſetzes“ ſowohl die Kompetenz des Reiches als
die Beobachtung der Geſetzgebungsformen vorgeſchrieben wird.
Daſſelbe gilt vom Art. 69, welcher anordnet, daß der Reichshaus-
halts-Etat für jedes Jahr „durch ein Geſetz“ (i. e. Reichsgeſetz)
feſtgeſtellt wird. Deutlicher wird die Verwendung des Wortes
Geſetz im formellen Sinne zum Ausdruck gebracht, wenn die An-
ordnung getroffen wird, daß das Reich eine Befugniß „im Wege
der Geſetzgebung“ auszuüben habe, denn der Weg der Reichsge-
ſetzgebung iſt eben die Geſetzgebungsform. Die Reichsverf. ſelbſt
bedient ſich dieſes Ausdruckes im Art. 18 Abſ. 2; Art. 46 Abſ. 3;
Art. 58; 60; 73; 75 Abſ. 2; Art. 76 Abſ. 2; Art. 78 Abſ. 1;
und in zahlreichen Stellen der Reichsgeſetze kehrt er wieder.
Aus den vorſtehenden Erörterungen ergiebt ſich, daß die Vor-
ſchrift, eine gewiſſe Staatsthätigkeit ſoll „durch Reichsgeſetz“ er-
folgen oder unterliegt „der Reichsgeſetzgebung“, einen dreifachen
[65]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
Sinn haben kann. Entweder bildet den begrifflichen Gegenſatz das
Landesgeſetz; alsdann erkennt ſie die Kompetenz des Reiches
an und ſchließt die der Einzelſtaaten aus 1). Oder die Verord-
nung des Kaiſers, oder Bundesraths u. ſ. w. bildet den Gegen-
ſatz; alsdann ſchreibt ſie die Form des Reichsgeſetzes vor und
ſchließt die Formen der Verwaltungsacte, Verträge u. ſ. w. aus.
Oder endlich ſie will beides zugleich ausdrücken, ſowohl die
Befugniß des Reiches als auch die Form ihrer Ausübung.
Für die Interpretation der Reichsverfaſſung und der auf
Grund derſelben ergangenen Geſetze iſt es von Wichtigkeit, dieſe
verſchiedenen Bedeutungen auseinander zu halten. Der Sinn der
Vorſchriften wird öfters ein völlig verſchiedener, je nachdem man
die eine oder andere Bedeutung des Wortes Reichsgeſetz zu Grunde
legt. Gewöhnlich wird aus dem Zuſammenhange und der Aus-
drucksweiſe ohne Schwierigkeiten zu ermitteln ſein, wie die Beſtim-
mung der Verfaſſung zu verſtehen iſt; dies gilt aber keineswegs
allgemein. Gleich der Art. 2 der R.-V. kann hier als wichtigſtes
Beiſpiel angeführt werden, da derſelbe theils ſo ausgelegt werden
kann, daß er unter Reichsgeſetzen alle vom Reiche — gleichviel in
welcher Form — erlaſſenen Rechtsvorſchriften verſteht, theils
in der Art, daß er ſich auf alle in der Form des Geſetzes
erklärten Willensacte des Reiches bezieht, gleichviel welchen Inhalt
ſie haben 2). Leider iſt die Reichsverf. von dem Vorwurf nicht
freizuſprechen, daß ſie ſelbſt die verſchiedenen Bedeutungen des
Wortes Geſetzgebung verwechſelt und durcheinander geworfen hat.
Ganz unverkennbar und deshalb in unſchädlicher Weiſe iſt
dies der Fall im Art. 48 Abſ. 2 der R.-V. Derſelbe beſtimmt:
„Die im Art. 4 vorgeſehene Geſetzgebung des Reichs in Poſt-
und Telegraphen-Angelegenheiten erſtreckt ſich nicht auf die-
jenigen Gegenſtände, deren Regelung nach den in der Norddeutſchen
Poſt- und Telegraphen-Verwaltung maßgebend geweſenen Grund-
ſätzen der reglementariſchen Feſtſetzung oder adminiſtrativen An-
ordnung überlaſſen iſt.“
In dem hier in Bezug genommenen Art. 4 wird die Kom-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 5
[66]§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
petenz des Reiches normirt und das Wort Geſetzgebung im ma-
teriellen Sinne verſtanden. Wenn von dem im Art. 4 Nro. 10 der
Reichsgeſetzgebung zugewieſenen Bereich im Art. 48 Abſ. 2 ein
Theil wieder ausgenommen wird, ſo kann das an ſich nur den
Sinn haben, daß dieſer Theil nicht zur Kompetenz des Reiches,
mithin alſo zur Kompetenz der Einzelſtaaten gehören ſoll. Dieſen
Sinn aber hat Art. 48 Abſ. 2 nicht; vielmehr beſtimmt Art. 50
Abſ. 2 ausdrücklich, daß der Erlaß der reglementariſchen Feſt-
ſetzungen und allgemeinen adminiſtrativen Anordnungen dem Kaiſer
zuſteht. Es iſt alſo nicht die Kompetenz des Reiches ausgeſchloſſen,
denn der Kaiſer iſt ja ein Organ des Reiches; ſondern es iſt die
Form des Reichsgeſetzes ausgeſchloſſen und durch die der kaiſerl.
Verordnung erſetzt. Die im Art. 4 vorgeſehene Geſetzgebung
des Reiches iſt die Geſetzgebungs-Befugniß; im Art. 48 Abſ. 2
wird dagegen dem Worte die Bedeutung der Geſetzgebungs-Form
untergelegt; bei der Berufung auf Art. 4 alſo die materielle mit
der formellen Bedeutung verwechſelt.
Ganz daſſelbe gilt von Art. 11 Abſ. 2. Nur iſt hier die
Verwechslung weniger ſicher zu erkennen und deshalb eine ver-
ſchiedene Auslegung des Artikels eher möglich. Derſelbe ordnet
an, daß inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf ſolche
Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich
der Reichsgeſetzgebung gehören, zu ihrem Abſchluß die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Geneh-
migung des Reichstages erforderlich iſt. Obwohl nach dieſer Aus-
drucksweiſe es auf den erſten Blick kaum zweifelhaft erſcheint, daß
das Wort Reichsgeſetzgebung hier — ebenſo wie im Art. 4 — im
materiellen Sinne genommen iſt, ſo iſt der wahre Sinn dieſes Ar-
tikels doch nur dann zu gewinnen, wenn man unter dem Bereich
der Reichsgeſetzgebung denjenigen Kreis von Willensentſchlüſſen
verſteht, für welchen die Form des Reichsgeſetzes nothwendig iſt.
Art. 11 Abſ. 2 will Bundesrath und Reichstag dagegen ſchützen,
daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht werden könne, um
die Form des Reichsgeſetzes zu umgehen 1).
[67]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
I. Ueber Begriff und Weſen der Verordnung ſtehen ſich
in der Deutſchen Literatur zwei Anſichten gegenüber. Nach der
einen iſt die Verordnung eine Aeußerung der Verwaltungs-
oder Regierungsthätigkeit des Staates; ſie bildet den Gegenſatz
zum Geſetze; in ihr kommt nicht der Wille des Staates oder Vol-
kes, ſondern der Wille der Regierung oder des Königs zum Aus-
drucke; ſie findet Anwendung auf dem Gebiete, welches von der
Geſetzgebung der freien Thätigkeit der Verwaltungsbehörden über-
laſſen iſt; ſie iſt ein Ausfluß der ſogen. vollziehenden Gewalt 1).
Nach der anderen Anſicht iſt die Verordnung dem Geſetz gleich-
artig; ſie enthält Rechtsvorſchriften; der Ausdruck Geſetz im wei-
teren Sinne umfaßt die eigentlichen oder formellen Geſetze und
die Verordnungen; Verordnungen ſind demnach Geſetze, welche von
dem Staatsoberhaupt oder den mit dieſer Befugniß ausgeſtatteten
Behörden ohne Mitwirkung der Volksvertretung erlaſſen ſind 2).
Die Durchſicht jeder größeren Geſetz- und Verordnungsſamm-
lung lehrt, daß beide Anſichten für einen Theil der Verordnungen
richtig ſind. Es gibt zahlloſe Verordnungen, welche Rechtsſätze
enthalten und ſich materiell durchaus nicht von Geſetzen unterſchei-
den, welche gewiſſermaßen nur zufällig ſtatt in der Form des Ge-
5*
[68]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
ſetzes in der der Verordnung ergangen ſind; ebenſo giebt es un-
zählige Verordnungen, welche Verwaltungsvorſchriften enthalten oder
Verwaltungs-Einrichtungen betreffen und nicht Rechtsregeln ſanctio-
niren, ſondern Aeußerungen der Regierungsgewalt ſind. Keine der
beiden Definitionen trifft daher das Weſen der Verordnung voll-
ſtändig und ausſchließlich.
Der Begriff der Verordnung iſt vielmehr gerade wie der des
Geſetzes ein zwiefacher; der Ausdruck hat eine materielle und eine
formelle Bedeutung; wie hinſichtlich des Geſetzesbegriffes ſo iſt auch
hinſichtlich der Verordnung der Doppelſinn durch die Theorie von
der Theilung der Gewalten und ihre hiſtoriſche Bedeutung für das
moderne Staatsrecht entſtanden 1).
Der materielle Begriff der Verordnung ergiebt ſich aus
dem Gegenſatz zum materiellen Geſetzesbegriff. Da das Geſetz die
Anordnung einer Rechtsregel iſt, ſo muß die Verordnung im Ge-
genſatz zum Geſetze einen anderen Inhalt haben; ſie enthält keinen
Rechtsſatz, ſondern iſt eine Anordnung auf dem Gebiete der Ver-
waltung, eine Ausübung der freien Regierungsthätigkeit. Ihr An-
wendungsgebiet iſt das von den Geſetzen den Verwaltungsbehörden
freigelaſſene Feld ſtaatlicher Fürſorge. Die Geſchichte lehrt, daß
die Grenzen zwiſchen dem Gebiet des Geſetzes und dem der Ver-
ordnung keine unwandelbaren, ja überhaupt nicht feſt beſtimmte
ſind. Was urſprünglich eine durch Zweckmäßigkeitsrückſichten ver-
anlaßte Vorſchrift für die Ausübung der den Behörden und Be-
amten obliegenden Funktionen war, kann ein dauernder und we-
ſentlicher Beſtandtheil der öffentlichen Rechtsordnung eines Staates
werden; ebenſo kann das Gebiet, auf welchem dem freien Ermeſſen
der Regierung Spielraum gegeben iſt, durch fortſchreitende Detail-
lirung der Geſetzgebung mehr und mehr eingeengt werden. So
lange aber eine Verwaltungs-Vorſchrift nicht geſetzlich ſanctionirt
iſt, kann ſie von dem Oberhaupte der Verwaltung aufgehoben oder
verändert werden; ſo lange hat ſie demnach nicht den Charakter
eines Rechtsſatzes. Den einzelnen Beamten oder Behörden
gegenüber kann ſie vollkommen bindend und verpflichtend ſein; für
die Verwaltung als Ganzes iſt ſie nicht ein zwingender Befehl
[69]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
einer höheren Potenz, ſondern ein Ausfluß der eigenen Wil-
lensbeſtimmung; ſie ſchafft nicht Recht, ſondern bewegt ſich inner-
halb der vom Recht geſetzten Schranken. Der Gegenſatz von Ge-
ſetz und Verordnung im materiellen und urſprünglichen Sinne
entſpricht daher vollkommen dem Gegenſatz von Rechts vorſchrift
und Verwaltungsvorſchrift.
Nach der Theorie von der Theilung der Gewalten hat die
Volksvertretung einen Antheil an der Regelung der Rechtsordnung,
aber nicht an der Leitung der Verwaltung; ſie hat eine Mitwirkung
an dem Erlaß der Geſetze, aber nicht an dem Erlaß der Verord-
nungen. Hieraus ergiebt ſich der formelle Sinn der Verord-
nung. Sowie man einerſeits Verwaltungsacte, an denen die Volks-
vertretung eine Mitwirkung erhalten ſollte, der Legislative oder
Geſetzgebung zuwies, ſie an die Form des Geſetzes band, ſo er-
klärte man andererſeits die Anordnung von Rechtsregeln, falls
dieſelbe ohne Zuſtimmung der Volksvertretung ſtatthaft ſein ſollte,
für eine Verordnung, d. h. man geſtattete dafür diejenigen For-
men, welche im Allgemeinen nur für den Erlaß von Verwaltungs-
vorſchriften ausreichend ſind. In dieſem formellen Sinne ſcheiden
demnach aus dem Begriff der Verordnung aus alle diejenigen Ver-
waltungs-Vorſchriften, welche auf dem Wege der Geſetzgebung er-
laſſen werden, wie z. B. der Staatshaushalts-Etat, und es fallen
andererſeits unter dieſen Begriff alle Rechtsvorſchriften, welche ohne
Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommen ſind. Der
formelle Begriff der Verordnung deckt ſich mithin keineswegs mit
dem Begriff der Verwaltungs-Vorſchrift; er umfaßt theils weniger,
theils mehr; er umfaßt im Gegenſatz zum formellen Geſetzes-
begriff alle Willensacte des Staates, welche im Wege der Ver-
ordnung ſich vollziehen.
Die Lehre von der Geſetzgebung hat es demnach mit der Ver-
ordnung nur inſoweit zu thun, als Rechtsvorſchriften im
Wege der Verordnung erlaſſen werden können; ſoweit die Verord-
nung dagegen zur Aufſtellung von Verwaltungs-Vorſchriften dient,
iſt ſie bei der Lehre von der Verwaltung zu behandeln.
II. Es entſteht zunächſt die Frage, ob der Erlaß von Rechts-
vorſchriften im Wege der Verordnung nach der Reichsverfaſ-
ſung überhaupt zuläſſig iſt?
Man unterſcheidet bekanntlich zwei Arten von Rechts-Verord-
[70]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
nungen, welche man als Verordnungen mit interimiſtiſcher Geſetzes-
kraft und Ausführungs-Verordnungen einander gegenüberſtellt. Der
begriffliche Gegenſatz zwiſchen denſelben beruht darauf, daß die
erſteren geſetzlich ſanctionirte Rechtsvorſchriften zu ſuſpendiren oder
aufzuheben vermögen, die letzteren dagegen nur innerhalb der
in den Geſetzen aufgeſtellten allgemeinen Rechtsgrundſätze ſpeziellere
Beſtimmungen treffen dürfen, durch welche untergeordnetere Punkte
geregelt, Rechtsvorſchriften von geringerer Wichtigkeit und Bedeu-
tung gegeben werden. Durch die erſteren würde, wenn ſie unbe-
dingt zuläſſig wären, die Mitwirkung der Volksvertretung an der
Geſetzgebung zu einer werthloſen Förmlichkeit herabgemindert; ſie
ſind deshalb überall nur geſtattet unter der Reſolutiv-Bedingung,
daß das demnächſt zuſammentretende Parlament ſie genehmigt.
Die letzteren laſſen die unter Theilnahme der Volksvertretung er-
laſſenen Rechtsvorſchriften unangetaſtet, ſie halten ſich innerhalb des
von ihnen gezogenen Rahmens und haben deshalb dauernde Geltung.
Ausführungs-Verordnungen in dem hier entwickelten
Sinne ſind Ergänzungen der Geſetze; „Ausführung“ der geſetz-
lichen Regeln hat den Sinn von Detaillirung, Entwicklung, Ent-
faltung, ſo wie man von der Ausführung eines ſkizzirten Gemäldes
oder eines kurz angedeuteten Gedankens ſpricht. Der Ausdruck
„Ausführung eines Geſetzes“ kann aber auch die Anwendung oder
Handhabung deſſelben bedeuten, ſo wie man die Erfüllung eines
Befehls oder Auftrages die Ausführung deſſelben nennt. Es er-
giebt ſich hieraus der Doppelſinn, welchen das Wort „Ausfüh-
rungs-Verordnung“ haben kann; es kann einerſeits bedeuten den
Erlaß von Rechtsvorſchriften zur Ergänzung oder Detaillirung von
Geſetzesregeln und es kann andererſeits bedeuten den Erlaß von
Anweiſungen an die Behörden über die von ihnen zu entfaltende
Thätigkeit, um die Anordnungen eines Geſetzes zur Ausführung
zu bringen. In dem erſteren Falle enthält die Ausführungs-Ver-
ordnung Rechtsregeln und fällt unter den Begriff der Geſetzge-
bung im materiellen Sinne, im letzteren Fall enthält ſie Verwal-
tungs-Vorſchriften und hat mit der Regelung der Rechtsordnung
Nichts zu thun. Die an dieſer Stelle zu beantwortende Frage iſt
demnach die, ob es nach der Reichsverfaſſung zuläſſig iſt, daß
Rechtsvorſchriften zur Ergänzung und Detaillirung von Reichsge-
ſetzen im Wege der Verordnung erlaſſen werden.
[71]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
In dieſer ſpeziellen Faſſung wird die Frage in der bisherigen
Literatur aber nicht aufgeſtellt, ſondern es wird die Zuläſſigkeit
von Ausführungs-Verordnungen im Allgemeinen bejaht, ſo daß
beide Arten von Ausführungs-Verordnungen darunter mitbegriffen
werden 1). Es wird nur erfordert, daß die Verordnung weder
Beſtimmungen enthalte, welche mit dem Reichsgeſetze unmittelbar
oder mittelbar im Widerſpruch ſtehen (contra legem), noch daß
ſie für Materien, welche geſetzlich nicht geregelt ſind, neue Rechts-
ſätze (praeter legem) einführen, ſondern daß ſie intra legem die
ſpeziellen, im Geſetze ſelbſt nicht ausdrücklich formulirten Vor-
ſchriften aufſtellen. Darin aber weichen die Anhänger dieſer Lehre
von einander ab, daß die Einen wegen Art. 7 Z. 2 der R.-V. den
Bundesrath für der Regel nach befugt erachten, Ausführungs-Ver-
ordnungen zu erlaſſen 2), Andere dagegen wegen Art. 17 den Kai-
ſer 3), noch Andere endlich, indem ſie beide Stellen der R.-V. com-
biniren, ein concurrirendes Recht des Bundesrathes und Kaiſers
annehmen 4).
Dieſe ganze Theorie iſt aber in der Reichsverfaſſung nicht nur
nicht begründet, ſondern ſie ſteht mit derſelben in offenbarem Wi-
derſpruch. Art. 7 Abſ. 2 der R.-V. ſagt:
„Der Bundesrath beſchließt über die zur Ausführung der
Reichsgeſetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungs-
vorſchriften und Einrichtungen, ſofern nicht durch
Reichsgeſetz etwas Anderes beſtimmt iſt.“
[72]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Hier iſt mit der größten Deutlichkeit hervorgehoben, daß nur von
Verwaltungsvorſchriften und Einrichtungen die Rede iſt; von der Auf-
ſtellung von Rechtsvorſchriften enthält der Artikel Nichts. Er ertheilt
dem Bundesrath durchaus keine Befugniß, ohne Zuſtimmung des Reichs-
tages Rechtsregeln zu ſanctioniren, Ausführungs-Geſetze im materiel-
len Sinne des Wortes zu erlaſſen 1). Ganz übereinſtimmend ſpricht
der Art. 37 der R.-V. nur von den „zur Ausführung der gemein-
ſchaftlichen Geſetzgebung dienenden Verwaltungsvorſchriften und Ein-
richtungen.“ In der Verf. des Nordd. Bundes fehlte bekanntlich der
Art. 7; als er bei der Redaktion der R.-V. in dieſelbe aufgenom-
men wurde, erklärte der Staatsminiſter Delbrück, daß „eine ma-
terielle Aenderung des Beſtehenden damit kaum herbeigeführt iſt“ 2).
Auch aus der Entſtehungsgeſchichte dieſes Artikels ergiebt ſich da-
her, daß durch ihn nicht eine Geſetzgebungs-Befugniß für den Bun-
desrath begründet werden ſollte, für welche ſich in der Nordd.
Bundesverf. und den Verfaſſungsbündniß-Verträgen durchaus kein
Anhalt findet. Die Tragweite des Art. 7 Ziff. 2 liegt ausſchließ-
lich auf dem Gebiete der Verwaltung und wird dort erörtert werden.
Ebenſowenig überträgt der Art. 17 dem Kaiſer die Befugniß,
Ausführungs-Geſetze zu erlaſſen, ſondern „die Ueberwachung der
Ausführung der Reichsgeſetze“. Einer Ueberwachung können nur
Handlungen oder Unterlaſſungen unterliegen, aber nicht Regeln.
Dem Kaiſer gebührt die Controle über die durch Reichsgeſetze nor-
mirte Verwaltung, aber nicht die Aufſtellung von Rechtsnor-
men 3). Das, was der Kaiſerlichen Ueberwachung unterliegt, iſt
die Anwendung und Handhabung der Reichsgeſetze, die Ausführung
derſelben im Sinne von Durchführung; der Erlaß einer Ausfüh-
rungs-Verordnung iſt aber — wie oben entwickelt worden iſt —
die Ergänzung oder Detaillirung eines Geſetzes durch Spezial-
Vorſchriften 4).
[73]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Die in Rede ſtehende Theorie führt auch zu abſurden Reſul-
taten; ſie könnte dazu mißbraucht werden, die Mitwirkung des
Reichstages an der Reichsgeſetzgebung gänzlich illuſoriſch zu machen.
Denn der Begriff eines Ausführungsgeſetzes iſt ein äußerſt unbe-
ſtimmter und dehnbarer; unter dem Vorgeben, daß gewiſſe Rechts-
vorſchriften zur Ausführung anderer Geſetzesbeſtimmungen dienen,
ließen ſich mancherlei Rechtsregeln aufſtellen, die nur in loſem Zu-
ſammenhange mit dem zur Ausführung zu bringenden Geſetze ſtehen.
Ja es läßt ſich mit Grund behaupten, daß faſt ſämmtliche
Reichsgeſetze zur Ausführung der Reichsverfaſſung dienen, ihr ge-
genüber nur Ausführungsbeſtimmungen enthalten, und man würde
damit zu dem Schluß gelangen, daß jedes innerhalb der verfaſ-
ſungsmäßigen Kompetenz des Reiches ſich haltende Geſetz eben ſo
wohl in der Form der Geſetzgebung als in der Form der Ver-
ordnung nach dem Belieben der Reichsregierung erlaſſen werden
könnte, wofern nur in dem letzteren Falle das Geſetz als Ausfüh-
rungsbeſtimmung zu dieſem oder jenem Artikel der R.-V. bezeichnet
wird. Der Grundſatz, daß Geſetze im materiellen Sinne (Rechts-
vorſchriften) im Wege der Geſetzgebung zu erlaſſen ſind, alſo zu-
gleich Geſetze im formellen Sinne ſein ſollen, iſt in der Reichsverf.
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt; ebenſo wie in der Preuß. Verf.-
Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der „conſtitutionellen“ Verfaſſungen.
Während aber die Preuß. Verf.-Urk. im Art. 45 dem Könige den
Erlaß von Ausführungs-Verordnungen ohne Einſchränkungen über-
trägt, hat die Reichsverfaſſung keine entſprechende Beſtimmung.
Ebenſo wenig wie die R.-V. den Erlaß von Ausführungs-
geſetzen im Verordnungswege für zuläſſig erklärt, enthält ſie eine
Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen mit interimi-
ſtiſcher Geſetzeskraft, durch welche reichsgeſetzlich anerkannte
Rechtsſätze zeitweilig abgeändert oder aufgehoben werden könnten.
Nur inſoweit nach Art. 68 der R.-V. der Kaiſer einen Theil des
Bundesgebietes in Kriegszuſtand erklären darf, iſt demſelben die
Befugniß eingeräumt, den geſetzlichen Rechtszuſtand nach Vorſchrift
des Preuß. Geſetzes v. 4. Juni 1851 zeitweiſe abzuändern. In
der Literatur des Reichsſtaatsrechts herrſcht darüber auch Einver-
ſtändniß, daß Verordnungen, welche Reichsgeſetzen gegenüber dero-
gatoriſche Kraft hätten (contra legem), oder welche reichsgeſetzlich
nicht geregelte Rechtsmaterien normiren und neues Recht ſchaffen
[74]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
ſollen (praeter legem), auf Grund der R.-V. nicht erlaſſen werden
dürfen, auch nicht im Falle eines Nothſtandes und wenn der Reichs-
tag nicht verſammelt iſt. Die R.-V. enthält weder über die Be-
dingungen, unter denen eine ſolche Verordnung ſtatthaft iſt, noch
über das Subject, von welchem ſie erlaſſen werden darf, noch über
die Formen und Rechtswirkungen derſelben irgend eine Beſtimmung.
Wenn ſonach die R.-V. weder den Erlaß von Ausführungs-
Verordnungen noch den Erlaß von Verordnungen mit interimiſti-
ſcher Geſetzeskraft für zuläſſig erklärt und kein Organ des Reiches
dazu ermächtigt hat, ſo iſt es doch andererſeits ebenſo unrichtig,
daß die R.-V. den Erlaß von Rechtsverordnungen verboten oder
für unzuläſſig erklärt habe und daß die Sanctionirung von Rechts-
vorſchriften auf einem andern Wege als dem der Geſetzgebung
verfaſſungswidrig ſei. Dieſe Theorie, welche gleichſam den
Gegenſatz zu der ſoeben bekämpften Anſicht bildet, iſt von v. Rönne,
Staatsr. des Deutſchen Reiches II. 1. S. 13 ff., entwickelt wor-
den 1). Derſelbe begründet ſie in folgender Weiſe: „Da nach Art. 5
Abſ. 1 der R.-V. die Reichsgeſetzgebung durch den Bundesrath
und den Reichstag gemeinſchaftlich ausgeübt wird, ſo folge,
daß es verfaſſungsmäßig nicht zuläſſig ſei, daß der eine der beiden
Faktoren der Reichsgeſetzgebung die Ausübung ſeines Rechtes der
Theilnahme daran auf den andern übertrage oder auch nur dem-
ſelben ſtillſchweigend überlaſſe. Es ſei daher der Reichstag ver-
faſſungsmäßig nicht berechtigt, ſich der ihm durch die Verfaſſung
beigelegten Mitwirkung bei der Reichsgeſetzgebung, auch nicht
für einzelne Fälle, zu begeben und dieſes Recht auf den
Bundesrath allein zu übertragen. Die R.-V. kenne nur eine einzige
Gattung von Geſetzen, nämlich die im Art. 5 gedachten, zwiſchen
dem Bundesrathe und dem Reichstage vereinbarten und gebe dem
Reichstage nicht das Recht, auf die Ausübung ſeines Mitwirkungs-
rechtes bei der Geſetzgebung zu verzichten und den Erlaß von Ge-
ſetzen dem Bundesrathe allein zu übertragen oder zu überlaſſen.
Deshalb ſei es mit dem Grundſatz des Art. 5 unver-
[75]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
einbar, in ein Reichsgeſetz die Beſtimmung aufzu-
nehmen, daß der Bundesrath ermächtigt ſein ſolle, im Wege
der Verordnung ohne weitere Zuziehung des Reichstages,
Vorſchriften über Gegenſtände zu erlaſſen, welche an ſich und ihrer
Natur nach zu denjenigen gehören, welche dem Gebiete der Ge-
ſetzgebung angehören.“
Auf Grund dieſer Deduktion ſollte man den Schluß erwarten,
daß Rechtsvorſchriften intra legem (Ausführungs-Geſetze) nicht
durch Verordnung erlaſſen werden dürfen; zur Ueberraſchung des
Leſers fährt v. Rönne aber fort: „dagegen iſt es ſelbſtverſtänd-
lich verfaſſungsmäßig zuläſſig, durch ein Reichsgeſetz dem Bundes-
rathe oder auch dem Kaiſer oder auch dem Reichskanzler den Er-
laß derjenigen Verordnungen zu übertragen, welche zur Aus-
führung eines Reichsgeſetzes erforderlich erſcheinen“ 1). Da
v. Rönne, wie oben S. 71 erwähnt worden iſt, zum Erlaß von
Ausführungsverordnungen nicht nur den Bundesrath ſondern außer-
dem auch den Kaiſer für verfaſſungsmäßig befugt erachtet, ſo iſt
der praktiſche Sinn ſeiner Erörterung wohl der, daß Verordnungen
contra und praeter legem verfaſſungswidrig ſeien und weder der
Bundesrath noch der Kaiſer noch beide gemeinſam durch Reichs-
geſetz zum Erlaß derſelben ermächtigt werden können.
Dies iſt aber durchaus unrichtig. Zwiſchen Ausführungs-
Verordnungen und Verordnungen mit interimiſtiſcher Geſetzeskraft,
oder beſſer ausgedrückt, zwiſchen dem Erlaß von Rechtsvorſchriften
intra legem und dem Erlaß von Rechtsvorſchriften praeter oder
contra legem beſteht in dieſer Hinſicht keinerlei Unterſchied. Der
Geſetzgebung iſt keine Schranke auferlegt, daß ſie nicht auch An-
ordnungen über die Aufſtellung von Rechtsvorſchriften treffen
dürfte. Der Art. 5 enthält lediglich eine Beſtimmung, in welcher
[76]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Form die Reichsgeſetzgebung ausgeübt wird, aber keine Vorſchrift,
worin der Inhalt eines Reichsgeſetzes beſtehen müſſe oder nicht
beſtehen dürfe. Ein Geſetz kann demnach anſtatt unmittelbar
Rechtsregeln aufzuſtellen, Anordnungen darüber enthalten, wie
gewiſſe Rechtsregeln erlaſſen werden ſollen. Es liegt hierin keine
Verletzung oder Aufhebung, ſondern eine beſondere Anwendung
der im Art. 5 der R.-V. gegebenen Vorſchrift 1). Man kann da-
her nicht das Erforderniß aufſtellen, daß für die Sanctionirung
eines derartigen Geſetzes die für Verfaſſungs-Aenderungen gegebe-
nen Regeln befolgt werden müſſen und noch weniger kann man
ein ſolches Geſetz für gänzlich unzuläſſig und verfaſſungswidrig
erachten.
Eine vielfach bethätigte Praxis, deren Rechtmäßigkeit niemals
weder vom Reichstage noch vom Bundesrathe oder der Reichs-
regierung angezweifelt worden iſt, hat dieſer Auffaſſung ſich ange-
ſchloſſen. Für den Erlaß von Ausführungs-Beſtimmungen iſt es
überflüſſig, Beiſpiele anzuführen, da hinſichtlich dieſer eine Mei-
nungsverſchiedenheit nicht beſteht. Aber es giebt auch Reichsge-
ſetze, deren Inhalt lediglich in der Delegation des Verordnungs-
rechtes beſteht, die alſo nichts Anderes beſtimmen, als daß gewiſſe
au und für ſich dem Gebiete der Geſetzgebung angehörende Normen
auf einem anderen, als dem in Art. 5 der R.-V. vorgezeichneten
Wege erlaſſen werden ſollen. Solche Geſetze ſind das Bundesgeſ.
v. 10. März 1870 (B.-G.-Bl. S. 46), durch welches der Bundes-
rath ermächtigt wird, gewiſſe Vorſchriften zur Ergänzung der Maaß-
und Gewichtsordnung zu erlaſſen; das Geſ. v. 30. März 1874
(R.-G.-Bl. S. 23) über die Aegypt. Konſulargerichtsbarkeit, das
Geſ. v. 6. Januar 1876 (R.-G.-Bl. S. 3).
Endlich fehlt es auch nicht an Beiſpielen, daß die Aufhebung
oder Abänderung von Vorſchriften der Reichsgeſetze im Verord-
nungswege geſetzlich vorgeſehen iſt, mit der Beſchränkung, daß
die Verordnung dem Reichstage bei deſſen nächſtem Zuſammen-
treten zur Genehmigung vorzulegen iſt und daß ſie außer Kraft
tritt, wenn der Reichstag die Genehmigung verſagt. Dies iſt ge-
ſchehen in der Gewerbe-Ordnung §. 16 u. §. 56, welche einen
[77]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Beſchluß des Bundesrathes zuläßt, und namentlich in dem Ein-
führungs-Geſetz zur Civilproceß-Ordn. §. 6, woſelbſt eine
mit Zuſtimmung des Bundesrathes erlaſſene Kaiſerl. Verordnung
erfordert wird 1).
Es ergiebt ſich demnach folgendes Reſultat: Eine allgemeine,
durch die Reichsverfaſſung ſelbſt begründete Befugniß zum Erlaß
von Rechts-Verordnungen 2) beſteht nicht, wohl aber kann dieſelbe
in jedem einzelnen Falle durch ausdrückliche Anordnung eines
Reichsgeſetzes conſtituirt werden. Oder mit andern Worten: Jede
Verordnung, welche Rechtsvorſchriften enthält, kann
nur gültig erlaſſen werden auf Grund einer ſpe-
ziellen, reichsgeſetzlichen Delegation3).
Fehlt es an einer ſolchen Delegation und iſt ein Reichsgeſetz
ſo unvollſtändig, daß es ohne den Erlaß von Ergänzungs-Vor-
ſchriften unausführbar iſt, ſo muß es unausgeführt bleiben bis
die erforderlichen Ergänzungs-Vorſchriften im Wege der Geſetz-
gebung erlaſſen werden 4). In allen anderen Fällen iſt die Hand-
habung und Auslegung der Reichsgeſetze, die Herleitung der aus
denſelben ſich ergebenden Conſequenzen, die Beſtimmung ihres Wir-
kungskreiſes und die Art ihrer Anwendung den Gerichten und an-
deren zur Rechtſprechung berufenen Behörden überlaſſen und die
Befolgung gleichheitlicher Grundſätze wird in dieſer Beziehung ledig-
lich durch den Inſtanzenzug geſichert.
[78]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
III. Die Delegation des Verordnungsrechts kann erfolgen zu
Gunſten des Bundesrathes, des Kaiſers, des Reichskanzlers oder
einer andern Reichsbehörde, oder der Einzelſtaaten 1). Jeder dieſer
vier Fälle bedarf einer näheren Erörterung. Vorauszuſchicken iſt
die für alle Arten von Verordnungen geltende Bemerkung, daß
der juriſtiſche Inhalt der Befugniß, Verordnungen zu erlaſſen,
nicht in der Abfaſſung der Verordnung ſondern in der Ausſtattung
derſelben mit verbindlicher Kraft, in dem Befehl, ſie zu befolgen,
beſteht. Erlaß einer Verordnung bedeutet nicht die Feſtſtellung
ihres Wortlautes, ſondern die Sanction der in ihr enthaltenen
Rechtsſätze. Es wird ſich zeigen, daß auch bei den Verordnungen
theilweiſe andere Regeln für die Feſtſtellung ihres Inhaltes wie
für die Sanction gelten.
1. Bundesraths-Verordnungen2). Die Beſchluß-
[79]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
faſſung über dieſelben erfolgt nach ganz denſelben Regeln wie die
Beſchlußfaſſung über Geſetze. Jedoch iſt das ſogenannte Veto der
Präſidialſtimme in Angelegenheiten, welche das Militairweſen, die
Kriegsmarine und die im Art. 35 der R.-V. bezeichneten Abgaben
betreffen, auf „Geſetzesvorſchläge“ beſchränkt. R.-V. Art. 5 Abſ. 2.
Daß hier das Wort „Geſetzesvorſchläge“ nur Geſetze im engeren
oder formellen Sinne bezeichnet, ergiebt ſich theils aus dem Zu-
ſammenhange mit Abſ. 1 deſſelben Artikels, welcher die Ausübung
der Reichsgeſetzgebung durch den Bundesrath und Reichstag
behandelt, theils aus der Vergleichung mit Art. 37, welcher das
ſogen. Veto des Präſidiums gegen Bundesraths-Verordnungen in
Angelegenheiten der Zoll- und Steuer-Verwaltung anerkennt.
Es genügt auch das Veto gegen Geſetzesvorſchläge vollkommen, da
es das Mittel bietet, die Delegation des Verordnungsrechtes an
den Bundesrath, die ja nur durch Geſetz erfolgen kann, zu ver-
hindern.
2. Verordnungen des Kaiſers. Der Ausdruck Ver-
ordnung wird vielfach auf Kaiſerliche Anordnungen angewendet,
welche keine Rechtsvorſchriften enthalten und ſich in keiner Beziehung
unter den Geſichtspunkt der Geſetzgebung bringen laſſen, ſondern
ihrem Inhalte nach Anwendungen eines Rechtsſatzes auf einen ein-
zelnen Fall, Regierungsakte, Verfügungen ſind 1). Dahin gehört
z. B. der Kaiſerliche Befehl, durch welchen die Reichstagswahlen
ausgeſchrieben, der Bundesrath und der Reichstag berufen, ver-
tagt oder geſchloſſen werden, durch welchen auf Grund des Art. 65
der R.-V. die Anlage eines Feſtungswerkes angeordnet wird u. ſ. w.
2)
[80]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Wir reden hier aber nur von Rechtsverordnungen, d. h. von An-
ordnungen, welche ihrem Inhalte nach Geſetze ſind 1).
Der Erlaß ſolcher Verordnungen kann dem Kaiſer entweder
ſchlechthin delegirt werden oder mit der Einſchränkung, daß er da-
bei an die Zuſtimmung des Bundesrathes gebunden
iſt 2). In dem letzteren Falle tritt ebenſo wie bei der förmlichen
Geſetzgebung der Unterſchied zwiſchen der Feſtſtellung des Inhaltes
und der Sanction der Verordnung zu Tage. Der Inhalt der
Verordnung wird durch Vereinbarung feſtgeſtellt; die Herſtellung
einer Uebereinſtimmung zwiſchen Kaiſer und Bundesrath iſt die
Vorbedingung zu ihrem Erlaß 3). Die Sanction der Verordnung
aber ſteht dem Kaiſer zu; die Beſchlüſſe des Bundesrathes ſind
demnach, wenngleich ſie unter Zuſtimmung der Preußiſchen Ver-
treter gefaßt ſind, nicht rechtswirkſam, ſo lange der Kaiſer die-
ſelben nicht ſanctionirt hat. Es iſt dies weſentlich verſchieden von
der kaiſerlichen Promulgation (Ausfertigung und Verkündigung)
eines Geſetzes. Dieſelbe iſt eine Erklärung von ganz anderem
Inhalte als die Sanction und iſt, wofern das Geſetz ordnungs-
mäßig zu Stande gekommen iſt, eine Pflicht des Kaiſers 4). Die
Verordnung dagegen kommt durch die Beſchlußfaſſung des Bundes-
[81]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
rathes nicht zu Stande, ſondern wird durch dieſelbe nur vorbereitet
und ermöglicht; der Kaiſer iſt daher völlig ungehindert, die Sanc-
tion zu verſagen. In politiſcher Beziehung iſt dies in dem Falle
ohne Belang, wenn die Preußiſchen Bevollmächtigten im Bundes-
rath der Verordnung zugeſtimmt haben; juriſtiſch aber iſt es auch
in dieſem Falle von Erheblichkeit, daß die mit Zuſtimmung des
Bundesrathes erlaſſenen Verordnungen nicht Geſetzgebungs-Akte
des Bundesrathes, ſondern des Kaiſers ſind. Denn wenn in einem
Reichsgeſetz der Erlaß von Ausführungs-Vorſchriften dem Kaiſer
delegirt iſt, würden vom Bundesrath erlaſſene Verordnungen
null und nichtig ſein, während durchaus kein Hinderniß beſteht,
daß der Kaiſer auch in denjenigen Fällen, in welchen ihm dies
nicht geſetzlich zur Pflicht gemacht iſt, ſich der Zuſtimmung des
Bundesraths zu dem Inhalte der von ihm zu erlaſſenden Verord-
nungen verſichert 1). In keinem Falle aber kann gegen oder auch
nur ohne den Willen des Kaiſers eine ſolche Verordnung zu
Stande kommen und es iſt wenigſtens denkbar und ſtaatsrechtlich
zuläſſig, daß der Kaiſer den Erlaß der Verordnung nachträglich
ablehnt, obgleich die Preuß. Stimmen im Bundesrathe für Er-
theilung der Zuſtimmung abgegeben worden ſind.
3. Verordnungen des Reichskanzlers oder einer
andern Reichsbehörde. Dieſer Fall hat die größte Verwandt-
ſchaft mit der Delegation zu Gunſten des Kaiſers und iſt ihm in
allen Stücken analog. Denn der Reichskanzler und die übrigen
Reichsbehörden ſind Gehilfen des Kaiſers, deren er ſich bei der
ihm zuſtehenden Regierungsthätigkeit bedient 2). Alle einer Reichs-
behörde zuſtehenden Befugniſſe ſind umſchloſſen von der kaiſerlichen
Prärogative und ſtaatsrechtlich nur Bethätigungen der dem Kaiſer
übertragenen Führung der Regierungsgeſchäfte 3). Man kann da-
her jede geſetzliche Anordnung, welche dem Reichskanzler oder einer
andern Reichsbehörde den Erlaß einer Rechtsverordnung überträgt,
juriſtiſch auffaſſen als die Delegation des Verordnungsrechtes zu
Gunſten des Kaiſers, mit der Maßgabe, daß nicht der Kaiſer
ſelbſt dieſes Geſchäft zu verſehen braucht, ſondern daß es für
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 6
[82]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
ihn ſein Miniſter (der Reichskanzler) oder eine andere, zur Füh-
rung ſolcher Geſchäfte conſtituirte Behörde erledigen kann. Daß
dies in der That ſich ſo verhält, ergiebt ſich daraus, daß der
Kaiſer, falls er will, innerhalb der durch die Geſetze gegebenen
Grenzen dem Reichskanzler Anweiſungen ertheilen kann, in welcher
Art die Verordnung von ihm erlaſſen werden ſoll, und daß er
einen Reichskanzler, welcher einem ſolchen Befehl zuwider handelt,
entlaſſen kann. Es ergiebt ſich aus dieſer Erwägung, daß in den-
jenigen Fällen, in denen der Reichskanzler oder eine andere Reichs-
behörde mit dem Erlaß einer Ausführungs-Verordnung betraut iſt,
auch eine kaiſerliche Verordnung zuläſſig und rechtsgültig iſt; aber
nicht eine Bundesraths-Verordnung. Denn im Verhältniß zur
Verordnung des Reichskanzlers iſt die Verordnung des Kaiſers
das majus, welches das minus in ſich ſchließt; dagegen die Bun-
desraths-Verordnung ein aliud1).
Ebenſo, wie von den kaiſerlichen Verordnungen diejenigen An-
ordnungen des Kaiſers zu unterſcheiden ſind, welche im juriſtiſchen
Sinne Verfügungen ſind, ſo ſind auch die von dem Reichskanzler
oder einer andern Reichsbehörde kraft geſetzlicher Delegation er-
laſſenen Verordnungen wohl zu unterſcheiden von den von ihnen
bei Erledigung der ihnen obliegenden Verwaltungsgeſchäfte ertheil-
ten Entſcheidungen und Verfügungen, für welche ſie einer beſonde-
ren Delegation nicht bedürfen, zu denen ſie vielmehr kraft ihres
allgemeinen amtlichen Geſchäfts-Auftrages befugt ſind.
Die Analogie zwiſchen den kaiſerl. Verordnungen und den
Verordnungen des Reichskanzlers zeigt ſich auch darin, daß bei
den letzteren ebenfalls die Zuſtimmung des Bundesrathes oder
eines Bundesraths-Ausſchuſſes zu dem Inhalt der Verordnung für
erforderlich erklärt werden kann 2). Iſt dies geſetzlich vorgeſchrieben,
[83]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
ſo muß der Inhalt der Verordnung zwiſchen dem Reichskanzler
und dem Bundesrathe oder Bundesraths-Ausſchuß vorerſt verein-
bart werden, während die Sanction der auf dieſe Art feſtgeſtellten
Verordnung dann durch den Reichskanzler erfolgt.
4. Verordnungen der Einzelſtaaten. Hier iſt es
von Wichtigkeit, die den Einzelſtaaten delegirte Befugniß, Aus-
führungs-Verordnungen zu den Reichsgeſetzen zu erlaſſen, von der
den Einzelſtaaten zuſtehenden Autonomie zu unterſcheiden. Beide
haben das mit einander gemein, daß ſie nicht gegen die Reichs-
geſetze (contra legem) verſtoßen dürfen; ferner, daß die Sanction
von der Einzelſtaatsgewalt ausgeht; endlich, daß ſie nicht für das
ganze Reichsgebiet, ſondern nur für das Gebiet des Einzelſtaates
Geltung haben. Im Uebrigen aber ſind ſie durchweg verſchieden.
Bei den autonomiſchen Anordnungen übt der Staat ſeine eigene
Geſetzgebungsgewalt aus, bei dem Erlaß von Ausführungs-Ver-
ordnungen eine fremde, ihm nur delegirte, nämlich die des Reiches.
Die Kraft dieſer Verordnungen wurzelt in dem Reichsgeſetz; ſie
ſind, obgleich von dem Einzelſtaat erlaſſen, ein Beſtandtheil der
Reichsgeſetzgebung im materiellen Sinne des Wortes und des-
halb gehen ſie den Landesgeſetzen und folglich auch
den Verfaſſungsgeſetzen der Einzelſtaaten vor. Die
autonomiſchen Geſetzgebungs-Akte der Einzelſtaaten normiren das
Gebiet, welches von der Reichsgeſetzgebung freigelaſſen wird, ſei
es, daß es der Kompetenz derſelben entzogen iſt oder ſei es, daß
das Reich es nicht normiren will; ſie ſind Anordnungen praeter
legem imperii. Die kraft Delegation erlaſſenen Verordnungen
können nur ſolche Materien betreffen, welche von der Reichsgeſetz-
gebung geregelt ſind, und können nur Beſtimmungen enthalten,
welche innerhalb des durch die Regeln des Reichsgeſetzes gegebenen
Rahmens fallen; ſie ſind Anordnungen intra legem imperii. Dar-
aus folgt, daß alle autonomiſchen Anordnungen in den For-
men erlaſſen werden müſſen, welche das Landesſtaatsrecht vor-
ſchreibt, insbeſondere, wenn es ſich dabei um die Veränderung des
beſtehenden Rechtszuſtandes handelt, im Wege der Landesgeſetz-
gebung; und wenn es ſich um Abänderungen des Verfaſſungsrechts
2)
6*
[84]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
handelt, in den für Verfaſſungs-Aenderungen vorgeſchriebenen For-
men. Dagegen ſind die vom Reich delegirten Verordnungen
in den vom Reich dafür vorgeſchriebenen Formen zu erlaſſen; es
hängt alſo von dem Wortlaut der Delegation in dem einzelnen
Reichsgeſetz ab, ob die Ausführungs-Beſtimmungen im Wege der
Landesgeſetzgebung, oder durch landesherrliche Verordnung („im
Verordnungswege“) 1), oder durch Verordnung der oberſten Re-
gierungsbehörden, Miniſterien, Finanzbehörden u. dgl. zu erlaſſen
ſind 2). Nur wenn das Reichsgeſetz Nichts darüber beſtimmt, treten
die Vorſchriften des Landesſtaatsrechts ein.
Wenn in den Reichsgeſetzen demnach auf die in den Einzel-
ſtaaten geltenden oder von denſelben zu erlaſſenden Beſtimmungen
Bezug genommen wird, ſo iſt es von großer Erheblichkeit, durch
Interpretation feſtzuſtellen, ob das Reichsgeſetz hierbei auf die
Autonomie der Einzelſtaaten verweiſt, alſo das von der Reichs-
geſetzgebung normirte Gebiet von dem von derſelben nicht normirten
Gebiete abgränzt, oder ob es die Einzelſtaaten ermächtigt,
auf einem reichsgeſetzlich geregelten Gebiete die erforderlichen Aus-
führungs-Beſtimmungen zu erlaſſen 3).
[85]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Es ergiebt ſich endlich, daß die Einzelſtaaten einer ausdrück-
lichen reichsgeſetzlichen Ermächtigung zum Erlaß von Geſetzen auf
den ihrer Autonomie überlaſſenen Gebieten nicht bedürfen, wohl
aber zum Erlaß von Verordnungen behufs Ausführung von Reichs-
geſetzen 1). Die Delegation an die Einzelſtaaten kann auch in der
Art beſchränkt ſein, daß nur der formelle Erlaß (die Sanction)
der Anordnungen ihnen zuſteht, der materielle Inhalt derſelben
dagegen vom Bundesrath feſtgeſtellt wird, wie dies z. B. in dem
Geſ. v. 25. Febr. 1876 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 164) geſchehen iſt 2);
oder daß ihnen die Anordnung von Ausführungs-Beſtimmungen
nur ſubſidiär übertragen iſt, d. h. ſoweit nicht der Bundesrath
ſelbſt ſie erläßt, wofür das Geſ. v. 6 Febr. 1875 §. 83 ein Bei-
ſpiel liefert.
IV. Die Verordnung bedarf wie das Geſetz einer formellen
und authentiſchen Erklärung und mithin einer Ausfertigung.
Hinſichtlich der vom Kaiſer zu erlaſſenden Verordnungen verſteht
es ſich von ſelbſt, daß ſie vom Kaiſer ausgefertigt werden. Es
finden dieſelben Grundſätze Anwendung, wie bei den Geſetzen; die
Ausfertigung beſteht in einer vom Kaiſer unterſchriebenen, mit dem
Kaiſerlichen Siegel verſehenen, datirten und vom Reichskanzler
gegengezeichneten Urkunde. Iſt der Erlaß der Verordnung dem
Reichskanzler übertragen, ſo iſt die Urkunde, welche die Verordnug
enthält, von ihm zu unterzeichnen 3). Die Form, in welcher die
von den Einzelſtaaten zu erlaſſenden Verordnungen auszufertigen
ſind, beſtimmt ſich, falls nicht etwa das Reichsgeſetz darüber eine
[86]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
Anordnung trifft, nach dem Landesſtaatsrecht. Was endlich die
Bundesraths-Verordnungen anlangt, ſo liegt die Ausfertigung der
Bundesraths-Beſchlüſſe, wie dies bei allen beſchließenden Collegien
Gebrauch iſt, dem Vorſitzenden, alſo dem Reichskanzler ob. Eine
kaiſerliche Ausfertigung der vom Bundesrath beſchloſſenen Verord-
nungen iſt in der R.-V. nicht vorgeſchrieben; Art. 17 erfordert
dieſelbe nur bei Geſetzen. Dieſe Unterſcheidung iſt ſachlich begrün-
det, da für ein Geſetz der Bundesrathsbeſchluß nur eine der ver-
faſſungsmäßigen Vorbedingungen iſt, für eine Verordnung dagegen
der Bundesrathsbeſchluß genügt.
Die rechtliche Bedeutung der Ausfertigung iſt bei den Ver-
ordnungen dieſelbe, wie bei den Geſetzen. Es wird durch dieſelbe
authentiſch bekundet, daß die Verordnung formell ordnungsmäßig
zu Stande gekommen iſt, und daß ſie den in der Urkunde enthal-
tenen Wortlaut hat. Wenn in der Promulgationsformel einer
kaiſerlichen Verordnung bezeugt wird, daß dieſelbe mit Zuſtimmung
des Bundesrathes oder im Einvernehmen mit dem Bundesrath er-
laſſen iſt, ſo entzieht ſich die Richtigkeit dieſer Thatſache jeder
weiteren Prüfung und Beurtheilung durch die Gerichte, Verwal-
tungsbehörden und Unterthanen des Reiches. Es iſt in dieſer
Formel nicht nur ein Zeugniß enthalten, daß der Inhalt der Ver-
ordnung dem Bundesrath zur Beſchlußfaſſung vorgelegt und durch
einen Beſchluß deſſelben gebilligt worden iſt; ſondern auch ein
formell unanfechtbares Urtheil ausgeſprochen, daß dieſer Beſchluß
des Bundesrathes den Verfaſſungsbeſtimmungen gemäß und gültig
gefaßt worden iſt. Dieſer kaiſerliche Ausſpruch kann nicht von
Gerichten oder Verwaltungsbehörden in den einzelnen von ihnen
zu entſcheidenden Fällen unbeachtet gelaſſen oder berichtigt werden.
Die Verantwortlichkeit für die Richtigkeit des kaiſerlichen Ausſpruchs
übernimmt der Reichskanzler durch Gegenzeichnung der kaiſerlichen
Urkunde. Daſſelbe gilt von den vom Reichskanzler erlaſſenen Ver-
ordnungen, wenn in denſelben bezeugt wird, daß ſie nach Verneh-
mung oder unter Genehmigung eines Bundesraths-Ausſchuſſes oder
unter Zuſtimmung des Bundesraths oder nach Anhörung einer
Reichsbehörde ergangen ſind. Iſt dem Reichskanzler der Erlaß
der Verordnung anvertraut, ſo iſt ihm auch unter eigener Verant-
wortlichkeit die Beobachtung des dafür vorgeſchriebenen Verfahrens
überlaſſen.
[87]§. 59. Die Verordnungen des Reiches.
Bei den vom Bundesrath zu beſchließenden Verordnungen hat
der Bundesrath ſelbſt, wie jedes Collegium bei ſeinen Beſchlüſſen,
die dafür beſtehenden Vorſchriften zu beobachten und, falls ſich
Zweifel oder Meinungsverſchiedenheiten ergeben, dieſelben durch
Beſchluß zu entſcheiden. Wenn der Vorſitzende des Bundesrathes
den Bundesraths-Beſchluß ausfertigt, ſo bekundet er dadurch zu-
gleich, daß Zweifel über das Verfahren oder über das Reſultat
der Abſtimmung entweder nicht erhoben oder ordnungsmäßig er-
ledigt worden ſind 1).
Die Ausfertigung der Verordnung hat demnach wie die Pro-
mulgation der Geſetze die Wirkung, daß ſie die Ordnungsmäßig-
keit des formellen Verfahrens authentiſch bekundet. Dagegen be-
ſteht in einer andern Beziehung ein ſehr weſentlicher Unterſchied
zwiſchen Geſetzen und Verordnungen. In der Form des Geſetzes
kann das Reich, ſo wie jeder vollſouveräne Staat, jeden Willens-
akt, gleichviel worin ſein Inhalt beſteht, rechtswirkſam erklären;
die Verordnung dagegen kann nur auf Grund einer beſonderen
Ermächtigung erlaſſen werden. Die Rechtskraft jeder Rechtsver-
ordnung iſt immer zurückzuführen auf ein Geſetz, welches für einen
beſtimmten Kreis von Anordnungen den gewöhnlichen Weg der
Geſetzgebung durch den kürzeren Verordnungsweg erſetzt. Die
Gültigkeit der Verordnung iſt daher nicht blos abhängig davon,
daß dieſer Verordnungsweg formell richtig eingehalten worden iſt,
ſondern auch davon, daß er überhaupt zuläſſig war. Man kann
dies die materielle Vorausſetzung für die Gültigkeit der Verord-
nungen nennen. Die Ausfertigung oder Promulgation beſtätigt
nur die Beobachtung der formellen Erforderniſſe, nicht die Inne-
haltung der materiellen Schranken.
Bei den formellen Geſetzen giebt es keine ſolche materiellen Vor-
ausſetzungen; bei ihnen iſt durch die Bekundung, daß der Weg der
Geſetzgebung eingehalten worden iſt, zugleich nothwendig die Rechts-
[88]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
gültigkeit des Geſetzes conſtatirt. Bei den Verordnungen iſt die
Innehaltung des dafür beſtehenden Weges unzureichend, wenn
dieſer Weg überhaupt nicht geſtattet war. Hieraus ergiebt ſich,
daß in jedem einzelnen Falle, in welchem es ſich um die Anwen-
dung einer Verordnung handelt, eine Prüfung vorgenommen wer-
den muß, ob die Form der Verordnung zuläſſig war 1). Es iſt
dies kein Vorrecht der Gerichte; Verordnungen können — eben ſo
wenig wie Geſetze — Rechtsvorſchriften aufſtellen, die bald gültig,
bald ungültig ſind.
Die für eine Rechtsverordnung erforderliche geſetzliche Dele-
gation muß ſowohl das Subject beſtimmen, von welchem die Ver-
ordnung erlaſſen werden ſoll, als das Object, worauf ſie ſich er-
ſtrecken darf. Demgemäß iſt auch die Prüfung der Rechtsgültig-
keit einer Verordnung auf beide Punkte zu erſtrecken.
1. Auf das Subject. Es iſt zu unterſuchen, ob die Ver-
ordnung von demjenigen Organe erlaſſen iſt, welches dazu reichs-
geſetzlich ermächtigt worden iſt. Iſt im Geſetz eine kaiſerliche Ver-
ordnung verlangt, ſo kann ſie nicht durch eine Verordnung des
Bundesrathes erſetzt werden, und eben ſo wenig umgekehrt 2). Iſt
die Verordnung einem Organ des Reiches übertragen, ſo ſind Aus-
führungsverordnungen der Einzelſtaaten rechtsunwirkſam und an-
dererſeits kann die durch Geſetz begründete Befugniß der Einzel-
ſtaaten zum Erlaß von Ausführungs-Verordnungen nicht dadurch
beſeitigt werden, daß der Kaiſer oder der Bundesrath oder der
Reichskanzler eine ſolche Verordnung erläßt.
2. Auf das Object. Der Kreis der durch Verordnung
zu regelnden Rechtsbeziehungen kann ein ſehr weiter ſein; ein Ge-
ſetz kann möglicher Weiſe weiter Nichts enthalten als die Anord-
nung, daß eine gewiſſe Materie durch Verordnung normirt werden
ſoll 3), oder es kann eine Strafe für die Uebertretung von Vor-
[89]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
ſchriften androhen, welche im Verordnungswege zu erlaſſen ſind 1).
In allen Fällen muß ſich aber der Inhalt der Verordnung inner-
halb der von dem delegirenden Geſetz gezogenen Grenzen halten.
Wenn eine Verordnung dieſe Grenzen überſchreitet, ſo braucht ſie
deshalb nicht ganz und gar nichtig zu ſein; ſie behält ihre Gültig-
keit, ſoweit ihre Anordnungen durch die geſetzliche Ermächtigung
geſtützt und getragen werden; oder ſie kann als Rechtsvorſchrift
ungültig ſein, als Verwaltungsvorſchrift dagegen Wirkungen haben 2).
Von dieſen Geſichtspunkten aus unterliegen einige Verord-
nungen des Reiches in Beziehung auf ihre rechtliche Gültigkeit er-
heblichen Bedenken. Es gilt dies namentlich vom Eiſenbahn-
Polizei-Reglement, welches zuerſt am 3. Juni 1870 erlaſſen
und im Bundesgeſetzbl. S. 461 verkündigt wurde, in neuer Re-
daction aber am 4. Januar 1875 ergangen und im Centralblatt
des Deutſchen Reiches v. 1875 S. 57 ff. abgedruckt iſt. Daſſelbe
iſt ergangen „in Gemäßheit der Art. 42 und 43 der Reichsver-
faſſung“; dieſe Artikel enthalten aber keine Ermächtigung für den
Bundesrath, eine Geſetzgebung in Bahnpolizei-Angelegenheiten aus-
zuüben, ſondern eine „Verpflichtung der Bundesregierungen“, die
Deutſchen Eiſenbahnen wie ein einheitliches Netz verwalten und zu
dieſem Behuf die neuherzuſtellenden Bahnen nach einheitlichen Nor-
[90]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
men anlegen und ausrüſten zu laſſen. „Es ſollen demgemäß in
thunlichſter Beſchleunigung übereinſtimmende Betriebseinrichtungen
getroffen, insbeſondere gleiche Bahnpolizei-Reglements eingeführt
werden.“ Demnach iſt die Einführung der Bahnpolizei-Reglements
den Einzelſtaaten überlaſſen 1); das vom Bundesrath beſchloſſene
Reglement gilt demnach in jedem Einzelſtaat nur dann, wenn es
in der That in einer dem Landesrecht entſprechenden Weiſe in dem-
ſelben eingeführt worden iſt 2). Nun enthält das Reglement aber
nicht blos polizeiliche Verwaltungs vorſchriften, ſondern in dem
§. 62 eine Strafbeſtimmung und im §. 63 eine Anordnung über
die vorläufige Feſtnehmung von Perſonen, welche auf der Ueber-
tretung der polizeil. Beſtimmungen betroffen werden, alſo Anord-
nungen, welche in das Gebiet des Strafrechts und des ſtrafrechtl.
Verfahrens einſchlagen und überall da in der Form des Ge-
ſetzes erlaſſen werden müſſen, wo nicht durch beſondere geſetzliche
Anordnung der Verordnungsweg für zuläſſig erklärt worden iſt.
Ebenſo iſt die Rechtsgültigkeit der Schiffsvermeſſungs-Ordnung v.
5. Juli 1872 mindeſtens zweifelhaft; dieſelbe iſt auf Grund des
Art. 54 der R.-V. vom Bundesrath erlaſſen; dieſer Artikel nor-
mirt aber lediglich die Kompetenz des Reiches, er enthält keine
Delegation für den Bundesrath zum Erlaß von Rechtsſätzen 3).
V. Die Verordnungen, welche Rechtsvorſchriften enthalten,
müſſen, um Geltung zu erlangen, verkündigt werden. Es er-
[91]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
giebt ſich dies daraus, daß Rechtsvorſchriften nicht an einzelne Be-
hörden oder Perſonen gerichtet ſind, wie Inſtruktionen und Ver-
fügungen, welche durch Mittheilung an den Adreſſaten verbindliche
Kraft erlangen, ſondern daß ſie die öffentliche Rechtsordnung mit
regeln helfen und an Alle gerichtet ſind, welche an der Rechtsord-
nung des Staates Antheil nehmen. Ob die Rechtsvorſchrift im
Wege des Geſetzes oder in der Form der Verordnung erlaſſen wird,
macht in dieſer Beziehung keinen Unterſchied 1). Auch der Begriff
der Verkündigung iſt derſelbe bei der Rechtsverordnung wie bei
dem Geſetz. Nicht jede Veröffentlichung iſt Verkündigung, ſondern
nur diejenige, welche zugleich eine ſtaatsrechtliche Gewähr für die
Authenticität der veröffentlichten Verordnung bietet, d. h. welche
unter amtlicher Verantwortlichkeit geſchieht. Dieſem Erforderniß
wird aber nur genügt durch die Veröffentlichung im Reichs-Ge-
ſetzblatt, für deſſen Inhalt der Reichskanzler die Verantwort-
lichkeit trägt 2). Ein Abdruck im Centralblatt f. das Deutſche Reich
oder im Reichs-Anzeiger u. ſ. w. kann nur die Bekanntſchaft des
Publikums mit der Verordnung fördern, aber nicht als Verkün-
digung im ſtaatsrechtlichen Sinne gelten.
Daß Verordnungen im Reichsgeſetzblatt verkündet werden
müſſen, ergibt ſich auch aus dem Art. 2 der Reichsverf. Der erſte
Satz dieſes Artikels legt dem Reich das Recht der Geſetzgebung
mit der Wirkung zu, daß die „Reichsgeſetze“ den „Landesgeſetzen“
vorgehen. Es iſt bereits oben bemerkt worden, daß die Ausdrücke
„Reichsgeſetze“ und „Landesgeſetze“ hier nicht auf formelle Geſetze
beſchränkt werden dürfen, ſondern dieſer Satz beſagt, daß alle
vom Reiche ſanctionirten Rechtsvorſchriften den von den Einzel-
ſtaaten ſanctionirten Rechtsvorſchriften vorgehen. Zu den vom Reiche
ſanctionirten Rechtsvorſchriften gehören aber auch die in den Reichs-
verordnungen enthaltenen Rechtsregeln. Wenn nun der zweite Satz
dieſes Artikels fortfährt: „Die Reichsgeſetze erhalten ihre verbind-
liche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche ver-
mittelſt eines Reichsgeſetzblattes geſchieht“, ſo würde es gegen die
Regeln der Auslegungskunſt verſtoßen, in dieſem zweiten Satze
[92]§. 59. Die Verordnungen des Reichs.
das Wort Reichsgeſetz in einem ganz andern Sinne zu verſtehen
und dieſem Ausdruck in derſelben Zeile der Reichsverfaſſung zwei
verſchiedene Bedeutungen beizulegen. Auch dieſer zweite Satz be-
ſchränkt ſich nicht auf die formellen Geſetze, von denen erſt Art. 5
der R.-V. ſpricht, ſondern er ſchreibt für alle vom Reiche erlaſ-
ſenen Rechtsvorſchriften die Verkündigung mittelſt des Reichsgeſetz-
blattes vor 1). Es folgt hieraus, daß Rechtsverordnungen des
Reiches, welche nicht im Reichsgeſetzblatt verkündigt ſind, keine
verbindliche Kraft haben.
Für die vom Kaiſer erlaſſenen Verordnungen iſt übrigens in
der Verordn. v. 26. Juli 1867 (B.-G.-Bl. S. 24) ausdrücklich
vorgeſchrieben worden, daß ſie in dem Reichsgeſetzblatt verkündet
werden ſollen 2). Die Ausführung dieſer Vorſchrift liegt dem Reichs-
kanzler als Miniſter des Kaiſers ob 3).
Den Abdruck der vom Bundesrath ſanctionirten Verordnungen
hat der Reichskanzler als Vorſitzender des Bundesrathes zu ver-
anſtalten. Es folgt dies aus Art. 15 der R.-V.; da zu der ihm
obliegenden „Leitung der Geſchäfte“ auch die zur Ausführung der
Beſchlüſſe des Bundesrathes erforderlichen Verfügungen gehören 4),
der Beſchluß des Bundesrathes aber, eine Verordnung zu erlaſſen,
durch Bekanntmachung dieſer Verordnung im Reichsgeſetzblatte aus-
geführt wird.
Andere Regeln gelten ſelbſtverſtändlich für diejenigen Verord-
[93]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
nungen, deren Erlaß den Einzelſtaaten delegirt iſt. Beruht die
verbindliche Kraft derſelben auch auf der vom Reiche ertheilten Er-
mächtigung, ſo ſind ſie doch Willenserklärungen des Einzelſtaates
und nur für das Gebiet deſſelben verbindlich. Sie werden daher
vom Einzelſtaat nicht nur ſanctionirt, ſondern auch publicirt und
die Formen, welche beobachtet werden müſſen, um ihre Echtheit
und Richtigkeit zu verbürgen, beſtimmen ſich nach den Vorſchriften
des Landesſtaatsrechts. Für die Verkündigung derſelben kann dem-
nach der Abdruck in einem Verordnungsblatt oder Miniſterialblatt
oder Amtsblatt u. ſ. w. genügen, beziehungsweiſe erforderlich ſein 1).
§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
I. Die Wirkungen der Geſetze beſtimmen ſich nach deren In-
halt und können daher ebenſo verſchieden ſein wie dieſe. Im All-
gemeinen haben die Geſetze dieſelbe Bedeutung, welche dem Rechte
überhaupt zukommt, ſie beſtimmen die durch das geſellige Zuſam-
menleben der Menſchen gebotenen Schranken und Gränzen der na-
türlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen. Das Geſetz kann dieſe
Handlungsfreiheit in einem gewiſſen Umfange anerkennen, alſo eine
Ermächtigung oder Erlaubniß enthalten, oder es kann ſie in einem
gewiſſen Umfange aufheben, ſei es durch ein Gebot oder ſei es
durch ein Verbot, und es kann endlich an die Verletzung dieſer
Anordnungen Rechtsnachtheile knüpfen. Legis virtus haec est:
imperare, vetare, permittere, punire ſagt Modeſtinus 2).
Ergibt ſich ſchon aus dieſem verſchiedenen Inhalt eine große
Mannigfaltigkeit der Wirkungen, ſo wird die letztere noch dadurch
geſteigert, daß die in dem Geſetz enthaltene Anordnung bald an
die Einzelnen bald an die Behörden und Organe der Staatsgewalt
ſelbſt gerichtet ſein kann. Dies gilt auch von der Geſetzgebung auf
dem Gebiete des Civilrechts, indem dadurch den Gerichten Befehle
ertheilt werden, unter welchen Vorausſetzungen und in welchem
Umfange ſie den privatrechtlichen Anſprüchen den rechtlichen Schutz
gewähren ſollen. Sehr zahlreiche Geſetze regeln nur die eigene
[94]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
Thätigkeit des Staates, ſeine Verfaſſung, die Zuſammenſetzung,
Geſchäfte und Geſchäftsformen der Behörden, die wirthſchaftliche
Ordnung des Staatsweſens, den Betrieb der Staatsanſtalten u. ſ. w.
Solche Geſetze berühren den Unterthan des Staates unmittelbar
gar nicht und ſind auf ihn und ſeine individuellen Rechtsbeziehun-
gen unanwendbar; er wird von den Wirkungen dieſer Geſetze nur
dadurch mitbetroffen, daß er in dem Staatsweſen lebt, in welchem
jene Geſetze gelten.
Dieſe Geſetze ſind ſcheinbar Befehle des Staates an ſich ſelbſt.
Da jeder wirkſame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungs-
Verhältniß vorausſetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen aus-
geſtatteten Herrn und einen zum Gehorſam verpflichteten Unter-
gebenen, ſo kam man wegen jenes Scheines dazu, zwiſchen dem
Staat, dem der Befehl ertheilt wird, und dem Staate, welcher den
Befehl erläßt, zu unterſcheiden, oder mit andern Worten: die „ge-
ſetzgebende Gewalt“ für die höchſte Gewalt im Staate zu erklären,
welcher die anderen „Gewalten“ gehorchen müſſen, alſo unterge-
ordnet ſeien 1). Dieſe Theorie löst die Einheitlichkeit des Staates
auf und ſteht im Widerſpruch mit dem Begriff der Souveränetät,
der die Untheilbarkeit in ſich ſchließt. Die geſetzgebende Gewalt
iſt identiſch mit der Staatsgewalt und kann demnach nicht in my-
ſtiſcher und tranſcendentaler Weiſe über der Staatsgewalt ſchweben.
Jene Geſetze ſind auch in der That nicht Befehle, welche an die
Staatsgewalt gerichtet ſind, ſondern Befehle der Staatsgewalt an
die Behörden und Beamten und an die übrigen Körperſchaften und
Perſonen, welche ſtaatliche Funktionen zu verrichten haben. Sie
enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie dieſe Funk-
tionen zu verſehen ſind; ſie ſind der maßgebende Ausdruck des
wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn dieſe Geſetze
von der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und
Beamten verletzt werden, ſo tritt nicht die Staatsgewalt mit ſich
ſelbſt in Widerſpruch, ſondern die Perſonen, welche das Geſetz,
ſtatt es zur Anwendung zu bringen, verletzen, treten in Widerſpruch
mit der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt in abstracto iſt durch
das Geſetz niemals gebunden, wohl aber Jeder, der die Staats-
[95]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
gewalt nach dem Willen des Staates zu handhaben hat. Deshalb
kann der Staat ſeine Geſetze zu jeder Zeit ändern, ſuspendiren
oder aufheben, und zwar Verfaſſungsgeſetze ſo gut wie einfache
Geſetze; aber es iſt dazu die Erklärung des ſtaatlichen Willens
erforderlich, daß an die Stelle der bisherigen Anordnung eine an-
dere treten ſoll. Für die Erklärung dieſes Willens iſt, da er die
Aufſtellung von Rechtsſäßen zum Inhalt hat, die Form des Ge-
ſetzes erforderlich, ſo weit nicht durch poſitive Rechtsvorſchriften
einzelne Ausnahmen begründet ſind.
Mithin ergiebt ſich der Satz, daß ein Geſetz nur durch ein
Geſetz aufgehoben oder abgeändert werden kann; bis zur Aufhebung
durch Geſetz aber auch für die Organe des Staates ſelbſt verbind-
lich iſt.
Auf dieſem Grundſatz beruht die überaus große praktiſche
Wichtigkeit des formellen Geſetzesbegriffes. Wenn die Form
des Reichs-Geſetzes für irgend einen Willensact des Reiches ge-
wählt wird oder vorgeſchrieben iſt, mag dieſer Willensact die
Sanction einer Rechtsvorſchrift zum Inhalt haben oder nicht, ſo
werden dadurch der Reichstag und der Bundesrath nicht nur an
dem Erlaß betheiligt, ſondern es iſt auch die Wieder-Aufhebung
oder Aenderung dieſes Willensentſchluſſes nur auf dem Wege der
Geſetzgebung zuläſſig. Man kann dieſen Satz in der Art aus-
drücken, daß die Beobachtung der Geſetzesform einen ſtaatlichen
Willensact mit formeller Geſetzeskraft ausſtattet.
II. Aus dem Begriff des Geſetzes folgt, daß im Prinzip dem
Gewohnheitsrecht derogatoriſche Kraft nicht zukömmt 1). So
lange der Staat ſeinen Befehl, daß ein gewiſſer Rechtsſatz gelten
ſoll, aufrecht erhält, können Unterthanen und Behörden dieſen Be-
fehl nicht unbeachtet laſſen und noch weniger ihn durch Nichtbefol-
gung aufheben. Insbeſondere darf der vom Staat beſtellte Richter
den ſtaatlichen Rechtsſchutz nicht in anderer Weiſe und nach
anderen Grundſätzen handhaben, als ihm durch die Geſetze des
Staates vorgeſchrieben iſt.
Allein das Geſetz kann unanwendbar werden, wenn die That-
[96]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
beſtände, die es regeln will, nicht mehr exiſtiren. Der Wille, den
der Staat in ſeinem Geſetze ausſpricht, hat in vielen Fällen Le-
bensverhältniſſe, Einrichtungen und wirthſchaftliche Zuſtände zur
ſelbſtverſtändlichen und deshalb ſtillſchweigenden Vorausſetzung,
ſo daß bei dem Wegfallen dieſer Vorausſetzung auch der im Geſetz
ausgeſprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Geſetze enthal-
tenen Befehl gilt ganz daſſelbe was überhaupt von jedem Befehl
gilt; er kann ſeine Kraft und Wirkſamkeit wegen veränderter Um-
ſtände verlieren. In den Geſetzen werden die Thatbeſtände, auf
welche die geſetzlichen Regeln Anwendung finden ſollen, gewöhnlich
nur unvollſtändig angegeben; ſie ſind aus den allgemeinen Lebens-
verhältniſſen und Kulturzuſtänden zu ergänzen. Die im Geſetze
ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbeſtehen, aber ihre
Bedeutung völlig verändern, wenn ſie mit andern Lebensverhält-
niſſen ſich combiniren. Wünſchenswerth wird es zwar auch in
dieſen Fällen ſein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das
veraltete Geſetz ausdrücklich aufhebt; allein eine ſolche förmliche
Aufhebung iſt nicht abſolut erforderlich, da der Wille des Staates,
die neueren veränderten Lebensverhältniſſe rechtlich zu regeln und
ſie Normen, die für andere Thatbeſtände gegeben waren, zu
unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch
nicht aufgehoben zu werden braucht. Die ſogenannte derogatoriſche
Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt ſich daher auf eine Inter-
pretation des Geſetzes und auf die Regel, daß das Geſetz auf
ſolche Fälle nicht anzuwenden iſt, auf welche es ſelbſt nicht ange-
wendet werden will1).
III. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich
das Recht der Geſetzgebung „innerhalb dieſes Bundesge-
bietes“ aus. Dieſe Worte können unmöglich ausdrücken wollen,
daß die Reichsgeſetze außerhalb des Bundesgebietes nicht gelten.
Denn theils verſteht es ſich von ſelbſt, daß die Staatsgewalt der
Regel nach nur in dem ihr unterworfenen Gebiete ſich wirkſam
entfalten kann; die Worte würden daher einen äußerſt trivialen
Sinn haben, wenn ſie nur hervorheben ſollen, daß das Reich dem
Ausland keine Geſetze geben könne. Theils würden ſie etwas
[97]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
offenbar Unrichtiges ausſagen; denn es iſt zweifellos, daß das
Reich auch ſolche Geſetze geben kann, welche außerhalb des Bun-
desgebietes zur Geltung und Wirkſamkeit kommen und zwar nicht
nur in den Jurisdictions-Bezirken der Reichsconſulate, ſondern
allgemein im Auslande. Territorial begränzt iſt nur die Hand-
habung des Rechtsſchutzes; ſie kann nur in dem Bundesgebiet
verwirklicht werden, dem die Konſular-Jurisdictionsbezirke und in
einigen Beziehungen die deutſchen Seeſchiffe hinzutreten. Soweit
die Geſetze dagegen die Reichsangehörigen zu Handlungen
oder Unterlaſſungen verpflichten oder ſonſt Rechtsnormen für ihr
Verhalten aufſtellen, iſt ihr Geltungsbereich örtlich überhaupt
nicht begränzt. Beiſpiele liefern das Konſulatsgeſetz, das Reichs-
beamten-Geſetz hinſichtlich der Reichsbeamten, welche im Auslande
ihren Wohnſitz haben, die Mehrzahl der auf die Seeſchifffahrt be-
züglichen Geſetze, das Geſetz über die Beurkundung des Perſonen-
ſtandes §§. 61—64; 68 Abſ. 2; 85; die Vorſchriften über Be-
ſtrafung von Verbrechen, welche im Auslande verübt werden
(R.-St.-G.-B. §. 4 fg.), Militär-Strafgeſetzb. §. 7. 161. See-
manns-Ordn. v. 27. Dez. 1872 §. 100 u. ſ. w.
Die Worte ſollen vielmehr nur andeuten, daß für die Geſetz-
gebung des Reiches das Bundesgebiet eine Einheit iſt, und daß
die in dem vorhergehenden Artikel 1 aufgeführten Staaten, aus
deren Gebieten das Bundesgebiet beſteht, für die räumliche Gel-
tung der Reichsgeſetze keine geſonderten Rechtsgebiete bilden. Nur
ſoweit Reſervatrechte einzelner Staaten die Kompetenz des Reiches
zur Geſetzgebung beſchränken, iſt eine Ausnahme begründet.
Dieſe Einheit des Bundesgebietes als Geltungsbereich der
Reichsgeſetze ſchließt aber nicht den Satz ein, daß das Reich ſeine
Geſetze immer für das ganze Bundesgebiet erlaſſen müſſe. Ge-
ſetze und ebenſo Verordnungen des Reiches können auch für Theile
des Bundesgebietes gegeben werden und zwar ohne Rückſicht da-
rauf, ob das Geltungsgebiet des Reichsgeſetzes mit dem Gebiete
eines oder mehrerer Bundesſtaaten zuſammenfällt oder nicht 1). Nur
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 7
[98]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
in Betreff des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts und des ge-
richtlichen Verfahrens iſt nach Art. 4 Z. 13 der R.-V. (Geſ. v.
20. Dez. 1873) die Kompetenz des Reiches beſchänkt auf „die ge-
meinſame Geſetzgebung“. Darnach iſt die Fortbildung und Um-
geſtaltung eines einzelnen Landrechts oder Partikularrechts durch
die Reichsgeſetzgebung verfaſſungsmäßig ausgeſchloſſen 1). Soweit
indeß partikuläre Rechtsſätze mit den allgemeinen von der Reichs-
geſetzgebung befolgten Prinzipien und Tendenzen im Widerſpruch
ſtehen, ohne daß ſie durch den Wortlaut der Reichsgeſetze als auf-
gehoben zu erachten ſind, ſteht es dem Reiche zu, ſie durch be-
ſondere Geſetze zu beſeitigen 2).
Der Satz, daß Reichsgeſetze auch für Theile des Bundes-
gebietes erlaſſen werden können, findet folgende ſpezielle Anwen-
dungs-Fälle:
1) Ein Landesgeſetz kann zum Reichsgeſetz erklärt werden,
ohne Erweiterung ſeines Geltungsgebietes. Dadurch wird in den
geltenden Rechtsſätzen ſelbſt nichts geändert, ſondern nur der lan-
desherrliche Befehl, dieſe Sätze als Rechtsregeln zu befolgen, durch
den Befehl des Reiches erſetzt. Dies hat die Wirkung, daß der
Einzelſtaat dieſes Geſetz weder aufheben noch verändern kann.
Hievon iſt aber wohl zu unterſcheiden der überaus häufige
Fall, daß in einem Reichsgeſetz hinſichtlich gewiſſer Pnnkte auf die
Landesgeſetze verwieſen, dieſelben für anwendbar erklärt, oder in
1)
[99]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
Kraft erhalten werden. Eine ſolche Anordnung eines Reichsge-
ſetzes enthält keine Sanction der in den Landesgeſetzen enthal-
tenen Beſtimmungen und ſtattet demnach nicht die zur Zeit gel-
tenden Landesgeſetze mit der Kraft von Reichsgeſetzen aus, ſondern
ſie erklärt, daß die reichsgeſetzlichen Vorſchriften in den landes-
geſetzlichen ihre Ergänzung finden ſollen; ſie beſtätigt alſo die
Fortdauer der Autonomie der Einzelſtaaten 1). Demgemäß
können ſolche Landesgeſetze von den einzelnen Staaten abgeändert
und aufgehoben werden 2).
2) Ein Reichsgeſetz, welches für einen Theil des Bundes-
gebietes erlaſſen iſt, kann ſpäter auf einen anderen Theil aus-
gedehnt oder in demſelben eingeführt werden. Nach dem,
was oben S. 54 fg. über das Weſen der Verkündigung ausgeführt
worden iſt, bedarf es in dieſem Falle nicht eines erneuten Ab-
drucks des Geſetzes im Reichsgeſetzblatt, ſondern es genügt die
Verkündigung des Geſetzes, welches die Ausdehnung des Geltungs-
bereiches ausſpricht. Die Einführung eines Reichsgeſetzes in einem
andern Theile des Bundesgebietes iſt nicht in der Art aufzufaſſen,
als wenn von dieſem Zeitpunkt an zwei gleichlautende Geſetze des
Reiches in zwei verſchiedenen Geltungsbereichen herrſchen, ſondern
der einheitliche Geltungsbereich des einen Reichsgeſetzes iſt ein
größerer geworden. Es kann dies bei manchen Auslegungsfragen
z. B. über die Bedeutung von Inland, Ausland, Inländer, Fremde
u. ſ. w. in Betracht kommen.
3) Ein Reichsgeſetz kann für einzelne Theile des Bundes-
gebietes Abänderungen oder Zuſätze erhalten; ebenſo kann ein für
einen Theil des Bundesgebietes erlaſſenes Reichs-Geſetz in einem
andern Theil mit Modifikationen eingeführt werden. Daß in
einem ſolchen Falle die beſondere, für einen gewiſſen Gebietstheil
erlaſſene Vorſchrift der allgemeinen Anordnung des Reichsgeſetzes
7*
[100]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
vorgeht, iſt ſelbſtverſtändlich. Von Wichtigkeit wird dies nament-
lich in Betreff derjenigen Reichsgeſetze, welche vor Einführung der
Reichsverfaſſung mit Abänderungen und Ergänzungen in Elſaß-
Lothringen eingeführt worden ſind 1).
IV. Der Geſetzgeber kann mit dem Befehl, die im Geſetz
enthaltenen Normen zu beobachten, zugleich eine Anordnung ver-
binden, von welchem Zeitpunkte an dieſer Befehl gelten ſoll. Es
kann auch die Beſtimmung des Anfangstermins vorbehalten bleiben,
ſei es einem beſonderen Geſetz 2), ſei es einer Verordnung des
Kaiſers 3) oder Bundesrathes 4). Iſt aber in dem Reichsgeſetz
der Anfangstermin ſeiner Geltung weder beſtimmt noch die Be-
ſtimmung deſſelben vorbehalten, ſo beginnt die verbindliche Kraft
des Geſetzes mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablauf des-
jenigen Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgeſetz-
blattes in Berlin ausgegeben worden iſt. R.-V. Art. 2 a. E.
Aus dieſer Verfaſſungsbeſtimmung ergeben ſich zunächſt zwei Fol-
gen, nämlich, daß auf jedem Stück des Reichsgeſetzblattes der Tag
angegeben ſein muß, an welchem die Ausgabe deſſelben in Berlin
erfolgt iſt 5), und ferner, daß jedes Geſetz, deſſen Geltungs-
termin ſich nach Art. 2 der R.-V. beſtimmt, mag es noch ſo um-
fangreich ſein, in Einem Stück des Reichsgeſetzblattes vollſtändig
abgedruckt werden muß.
[101]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
Im Uebrigen aber gibt dieſe Beſtimmung der R.-V. noch zu
folgenden Erörterungen Anlaß:
1) Das Motiv, aus welchem der Anfang der rechtsverbind-
lichen Kraft eines Reichsgeſetzes um einen Zeitraum von 14 Tagen
nach der Verkündigung hinausgeſchoben wird, iſt zweifellos darin
zu ſuchen, daß die allgemeine Kundbarkeit des Reichsgeſetzes und
zwar ſowohl ſeines Wortlautes als der Thatſache ſeiner Verkündi-
gung, ermöglicht werden ſoll, bevor das Geſetz in Kraft tritt. Die
Form der Verkündigung durch die Preſſe dient ja vorzugsweiſe
dem Zweck, das Geſetz allgemein bekannt zu machen; dieſer Zweck
aber wird durch den Abdruck ſelbſt noch nicht erreicht, ſondern
erſt durch die Verbreitung des Abdruckes. Aber man darf
dieſes Motiv eines Rechtsſatzes nicht ſelbſt zum Rechtsſatz er-
heben. Gemeinkundigkeit des Geſetzes iſt in keiner
Beziehung eine Vorausſetzung ſeiner Gültigkeit.
Der Art. 2 der R.-V. ſtellt keine Fiktion auf, daß nach Ab-
lauf der 14tägigen Friſt das Reichsgeſetz allgemein bekannt ſei 1).
Durch eine Vergleichung mit dem Art. 1 des Code civil, welcher
das Vorbild für die ähnlichen Anordnungen der Deutſchen Landes-
geſetzgebungen geliefert hat, wird die Tragweite dieſes Satzes
deutlich. Der franzöſiſche Geſetzgeber ging von der Anſchauung
aus, daß die Geſetze nicht verpflichten können, ohne bekannt zu
ſein; da man ſie aber nicht jedem Einzelnen bekannt machen könne,
ſo ſei man genöthigt, ſich mit einer öffentlichen Kundmachung zu
begnügen und eine Friſt aufzuſtellen, nach Ablauf deren die Fiktion
eintrete, daß Jedermann ſich die Kenntniß des Geſetzes verſchafft
habe 2). Dem entſprechend wird im Art. 1 Abſ. 2 des Cod. civ.
die Möglichkeit, daß die Verkündigung des Geſetzes öffentlich be-
kannt ſei, zur ausdrücklichen Bedingung der Vollſtreckbarkeit eines
Geſetzes gemacht. »Elles seront exécutées dans chaque partie de
l’Empire, du moment où la promulgation en pourra être con-
[102]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
nue.« Nach Maßgabe der Entfernung der Departements-Haupt-
ſtadt von der Reichs-Hauptſtadt wird darauf im Abſ. 3 deſſelben
Artikels die Friſt beſtimmt, mit deren Ablauf die Vermuthung
eintritt, daß die Promulgation in dem Departement gemeinkundig
ſei. »La promulgation faite par l’Empereur sera réputée con-
nue« … Eine Conſequenz dieſes Grundſatzes iſt die, daß ſo-
lange ein franzöſiſches Departement von einer feindlichen Macht
occupirt iſt oder die Verbindung der Departements-Hauptſtadt mit
Paris unterbrochen iſt, ein in dieſer Zeit verkündetes Geſetz in
dem Departement verbindliche Kraft nicht erlangen kann. Die
franzöſiſche Praxis hat dieſen Grundſatz ſtets als einen zweifel-
loſen in Anwendung gebracht 1). Die vom Art. 1 des Code civ.
hingeſtellte Vermuthung fällt daher weg, wenn die Unmöglich-
keit, daß ein Geſetz Gemeinkundigkeit habe erlangen können, dar-
gethan wird.
Der Art. 2 der R.-V. dagegen knüpft nicht die Verbindlich-
keit der Geſetze an die Vorausſetzung ihrer Gemeinkundigkeit, und
die Vermuthung ihrer Gemeinkundigkeit an den Ablauf einer ge-
wiſſen Friſt, ſondern die verbindliche Kraft tritt unmittelbar durch
den Ablauf dieſer Friſt ein, ohne alle Rückſicht darauf, ob dieſe
Friſt die Gemeinkundigkeit ermöglichte oder nicht. Daher iſt
es auch zuläſſig, den Anfang der Geltung auf den Tag der Ver-
kündigung ſelbſt zu beſtimmen, alſo auf einen Zeitpunkt, an wel-
chem das Stück des Reichsgeſetzblattes noch gar nicht im ganzen
Umfang des Bundesgebietes verbreitet ſein kann2). Aus dem-
ſelben Grunde iſt es ohne Belang, ob das Reichsgeſetzblatt in der
That in allen Theilen des Bundesgebietes Verbreitung gefunden
[103]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
hat; die Reichsgeſetze gelten auch in denjenigen Orten, in denen
niemals Jemand ein Stück des Reichsgeſetzblattes zu Geſicht be-
kommen hat 1). Deshalb iſt es auch unerheblich, ob das Reichs-
geſetzblatt in einen gewiſſen Theil des Reichsgebietes gelangen
konnte oder nicht. In einer belagerten Feſtung, in einem vom
Feinde beſetzten Landſtrich, in einer durch Ueberfluthung oder an-
dere Natur-Ereigniſſe unzugänglich gemachten Gegend erlangen die
Geſetze des Deutſchen Reiches in demſelben Zeitpunkt wie im
übrigen Bundesgebiet verbindliche Kraft 2). Andererſeits erlangt
vor Ablauf der geſetzlichen Friſt kein Reichsgeſetz verbindliche
Kraft, wenngleich es die allgemeinſte Verbreitung und Gemein-
kundigkeit gefunden hat.
2) Der Termin, an welchem die verbindliche Kraft der Reichs-
geſetze beginnt, iſt für das ganze Bundesgebiet derſelbe; die
größere oder geringere Entfernung von Berlin macht keinen Unter-
ſchied 3). Aber er gilt auch nur für das Bundesgebiet, nicht für
das Ausland. Die an die Spitze des Artikels 2 der R.-V. ge-
ſtellten Worte: „innerhalb dieſes Bundesgebietes“ ſind auch auf
den Schlußſatz deſſelben Artikels zu beziehen und dort zu ergänzen.
Eine Beſtätigung findet dies in dem Konſulats-Geſetz v. 8. Nov.
1867 §. 24 Abſ. 2 (B.-G.-Bl. S. 142), wonach in den Konſular-
Jurisdiktonsbezirken die verbindliche Kraft der Reichsgeſetze nach
Ablauf von 6 Monaten, von dem Tage gerechnet, an welchem
[104]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
dieſelben durch das Bundesgeſetzblatt verkündet worden ſind 1),
anfängt.
Von dieſer ſpeziellen Vorſchrift abgeſehen, fehlt es an einer
allgemeinen Regel, wann die verbindliche Kraft von Reichs-Geſetzen
außerhalb des Bundesgebietes anfängt, insbeſondere von Geſetzen,
welche den im Auslande lebenden Reichsangehörigen oder Reichs-
beamten oder den zur Bemannung Deutſcher Seeſchiffe gehörenden
Perſonen etwas anbefehlen oder verbieten u. ſ. w. 2). In der-
artigen Geſetzen ſollte daher ein Anfangstermin ihrer Geltung
immer ausdrücklich angeordnet werden 3). Iſt dies unterblieben,
ſo muß nach den Umſtänden ermeſſen werden, welche Zeit etwa
erforderlich iſt, damit das Stück des Geſetzblattes von Deutſch-
land nach dem in Frage ſtehenden ausländiſchen Gebiete gelangen
könne und dieſe Zeit der für das Bundesgebiet geltenden 14-
tägigen Friſt hinzugerechnet werden 4).
3) Der Wortlaut des Art. 2 der R.-V. ſpricht zwar nur
von Geſetzen; es iſt aber bereits dargethan worden, daß dieſes
Wort hier nicht im formellen Sinne verſtanden werden kann, daß
es daher diejenigen Verordnungen, welche Rechtsregeln enthalten,
mit umfaßt. Solche Verordnungen des Reiches erlangen daher
ebenfalls erſt mit dem im Art. 2 der R.-V. feſtgeſetzten Zeitpunkt
[105]§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
verbindliche Kraft, wenn ſie nicht ſelbſt einen anderen Anfangs-
termin derſelben beſtimmen 1).
4) Auf Willensacte des Reiches, welche in der Form des
Reichsgeſetzes erklärt werden, die aber keine Rechtsſätze enthalten,
iſt die Vorſchrift über den Anfang ihrer verbindlichen Kraft nicht
anwendbar. Denn zum „Wege der Geſezgebung“ oder zur „Ge-
ſetzes-Form“ gehört dieſe Vorſchrift nicht; ſie ſetzt vielmehr ein
Geſetz im materiellen Sinne voraus. Auch der Natur der Sache
nach läßt ſich dieſelbe auf Willenserklärungen, die nur formell
oder ſcheinbar Geſetze ſind, nicht übertragen. Es gilt dies na-
mentlich von dem wichtigſten hierher gehörenden Falle, dem Reichs-
haushalts-Etat; die verbindliche Kraft deſſelben von dem 14ten Tage
nach Ausgabe des Stückes des Reichsgeſetzblattes, in welchem er
publizirt iſt, zu datiren, hätte keinen Sinn 2).
Von dieſem Geſichtspunkte aus iſt auch eine Frage zu ent-
ſcheiden, welche bereits wiederholt praktiſche Bedeutung erlangt
hat. Wenn nämlich ein Reichsgeſetz die Beſtimmung enthält, daß
der Zeitpunkt, mit welchem es in Kraft tritt, durch Kaiſerliche
Verordnung beſtimmt werden ſoll, ſo müßte, wenn man den Art. 2
der R.-V. auf alle Geſetze in formellen Sinne für anwendbar er-
achtet, erſt eine Friſt von 14 Tagen ſeit dem Tage der Verkündi-
gung verſtreichen, bevor dieſe Kaiſerliche Verordnung erlaſſen
werden kann, da ja die im Geſetz ertheilte Ermächtigung ſelbſt
erſt mit dieſem Zeitpunkt in Kraft treten würde. In mehreren
Fällen iſt jedoch dieſe Friſt nicht innegehalten worden 3) und es
[106]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
erſch eint auch in der That der Art 2 nicht anwendbar, da eine
ſolche Ermächtigung keine Vorſchrift iſt, welche einen Rechtsſatz zum
Inhalt hat.
5) Endlich bedarf der Fall noch der Erwähnung, wenn das
Geſetz einen beſtimmten Anfangstermin ſeiner Geltung enthält, die
Verkündigung deſſelben aber über dieſen Termin hinaus ſich ver-
zögert. Da die Verkündigung ein weſentliches Erforderniß für
die Exiſtenz eines Geſetzes iſt, ſo ergibt ſich, daß das Geſetz vor
ſeiner Verkündigung keinerlei Rechtskraft äußern kann und daß
daher auch die Beſtimmung über den Beginn ſeiner Geltung vor
der Verkündigung rechtlich als nicht vorhanden anzuſehen iſt. In
wie weit aber die in dem Geſetz enthaltenen Rechtsvorſchriften nach
Verkündigung des Geſetzes auf Thatbeſtände oder Rechtsverhält-
niſſe zurückzubeziehen ſind, welche in der Zwiſchenzeit zwiſchen dem
im Geſetz angegebenen Tage der Wirkſamkeit und dem Tage der
Verkündigung ihre Entſtehung haben, iſt lediglich nach dem Inhalt
des Geſetzes zu beurtheilen 1).
§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
I. Da im Bundesſtaate die Einzelſtaaten der ſtaatlichen Herr-
ſchaft des Bundes unterworfen ſind 2), ſo ergibt ſich, daß die
Bundesgeſetze nicht blos die rechtlichen Schranken für die Hand-
3)
[107]§. 61. Reichsgeſetzgebung nnd Landesgeſetzgebung.
lungsfreiheit der Individuen, ſondern auch für die der Glied-
ſtaaten ziehen.
So haben auch die Reichsgeſetze zum großen Theil einen In-
halt, durch welchen ſie den Einzelſtaaten etwas erlauben,
gebieten oder verbieten. Der in dem Reichsgeſetz enthaltene Be-
fehl iſt in überaus zahlreichen Fällen ein Befehl an die Einzel-
ſtaaten über die Ausübung oder Nichtausübung von Hoheitsrechten,
über die Entfaltung oder Unterlaſſung einer ſtaatlichen Thätigkeit.
Es tritt uns hier der Gegenſatz zwiſchen dem Bundesſtaat und
dem Staatenbund beſonders ſcharf entgegen. Auch die von einem
Staatenbund aufgeſtellten Rechtsregeln können für die betheiligten
Staaten verbindlich ſein; aber ihre Verbindlichkeit beruht nicht
auf dem Befehl einer übergeordneten Gewalt, ſondern auf dem
Conſenſe der Mitglieds-Staaten, und zwar auch dann, wenn
ſie durch die Majorität beſchloſſen werden. Ihre Verbindlichkeit
iſt die des Vertrages. Der einzelne Staat erfüllt eine ver-
tragsmäßige Pflicht, indem er den Bundesbeſchluß zur Ausfüh-
führung bringt. Hierzu iſt demnach ein Willensact des Einzel-
ſtaates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelſtaates an ſeine
Behörden und Unterthanen, den Bundesbeſchluß zu befolgen; oder
mit andern Worten: es muß ein Geſetzgebungs-Akt des Einzel-
ſtaates hinzukommen, durch welchen der Bundesbeſchluß für den
Einzelſtaat in ein Geſetz umgewandelt wird. Formell kann
dieſer Akt in der bloßen Verkündigung des Bundesbeſchluſſes
beſtehen, deren juriſtiſches Weſen — wie oben ausgeführt wor-
den iſt — nicht in der Bekanntmachung des Geſetzes-In-
halts, ſondern in der öffentlichen Erklärung des Geſetzes-Befehls
beſteht.
Im Bundesſtaat dagegen erlangt das Bundesgeſetz ſeine recht-
liche Geltung und verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des
Einzelſtaates. Der dem Reiche angehörende Gliedſtaat wird von
der Reichsgewalt beherrſcht und ergriffen, wie der einzelne Unter-
than. Die Geſetzes-Befehle des Reiches müſſen von dem Einzel-
ſtaat und ſeinen Behörden befolgt und ausgeführt werden. Einer
vertragsmäßigen Pflicht gegenüber beſteht die Wahl der Willens-
entſchließung, ob man ſie erfüllen oder ob man ſie nicht erfüllen
und die Folgen der Nichterfüllung auf ſich nehmen wolle; dagegen
das Geſetz des Reiches entfaltet ſeine rechtliche Kraft ohne Rück-
[108]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
ſicht darauf, ob der Einzelſtaat ihm gehorchen wolle oder nicht;
es gilt kraft des Willens des Reiches, nicht kraft des Willens des
Einzelſtaates. Deshalb kann der Einzelſtaat die Befolgung der
Reichsgeſetze ſeinen Behörden und Angehörigen nicht nur nicht
verbieten, ſondern es iſt auch kein Raum für eine Willens-
erklärung des Einzelſtaates, welche den Behörden und Unterthanen
deſſelben die Beobachtung und Anwendung der Reichsgeſetze anbe-
fiehlt oder erlaubt. Der Einzelſtaat kann den an ihn erlaſſenen
und ihn bindenden Befehl des Reiches nicht ſeinerſeits ſanctioniren,
und da die Sanction ihren öffentlichen Ausdruck findet in der
Verkündigung, auch nicht verkündigen 1). Der bloße Abdruck
eines Reichsgeſetzes in einem Geſetz- oder Verordnungsblatt eines
Einzelſtaates iſt im juriſtiſchen Sinne keine Verkündigung, ſon-
dern eine bloße Verbreitung des Geſetzes im Publikum 2). Wird mit
dieſem Abdruck aber der landesherrliche Befehl, das Reichs-
geſetz zu befolgen, verbunden, ſo iſt dieſer Befehl vollſtändig nich-
tig; denn er ſagt nur, was ſich ganz von ſelbſt verſteht und was
der Landesherr weder zu befehlen noch zu verbieten rechtlich be-
fugt iſt 3). Daß die Richter und Verwaltungsbeamten, welche die
Reichsgeſetze in den Einzelſtaaten anzuwenden und auszuführen
haben, in keinem Dienſtverhältniß zum Reiche, ſondern nur zum
Einzelſtaate ſtehen, ändert hieran Nichts. Der Art. 2 der R.-V.
deutet die Unzuläſſigkeit einer Verkündigung durch die Einzelſtaaten
dadurch an, daß er ſagt: „Die Reichsgeſetze erhalten ihre verbind-
liche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen.“ Was
bereits verbindliche Kraft hat, dem kann nicht nochmals verbind-
liche Kraft ertheilt werden.
[109]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
II. Das Verhältniß der Reichsgeſetze zu den Landesgeſetzen 1)
der einzelnen Staaten beſtimmt ſich im Allgemeinen durch den
Grundſatz, daß das Reich die ſouveräne Geſetzgebungs-Gewalt, die
Einzelſtaaten die Autonomie haben 2). Daraus ergiebt ſich, daß
die Reichsgeſetze den Landesgeſetzen vorgehen. R.-V. Art. 2. Im
Einzelnen erfordern hier folgende Punkte eine genauere Erörterung:
1. Der Vorrang der Reichsgeſetze vor den Landesgeſetzen be-
ruht darauf, daß ihre Sanktion von der höheren, und zwar
der ſouverainen Gewalt, ausgeht; nicht auf ihrem Inhalte oder
der Art der Feſtſtellung deſſelben. Der Vorrang kömmt daher
nicht blos den eigentlichen, d. h. unter Zuſtimmung des Reichs-
tags erlaſſenen Reichsgeſetzen, ſondern auch allen Reichsverordnungen
zu, wofern ſie rechtsgültig erlaſſen ſind 3). Andererſeits ſtehen nicht
blos die formellen Landesgeſetze den Reichsgeſetzen nach, ſondern
ebenſo die Verordnungen der Einzelſtaaten und die in den Einzel-
ſtaaten geltenden Gewohnheitsrechtsſätze. Durch den Erlaß eines
Reichsgeſetzes verlieren alle landesrechtlichen Vorſchriften, welche
mit dem Reichsgeſetz im Widerſpruch ſtehen, ipso iure ihre Gel-
tung; ebenſo treten formell außer Kraft diejenigen, deren mate-
rieller Inhalt mit dem neuen Reichsgeſetz übereinſtimmt 4); das
Reichsgeſetz iſt nicht blos das ſpätere, ſondern auch das ſtärkere
(höhere) Geſetz 5).
2. Durch den Erlaß eines Reichsgeſetzes ergeben ſich für die
Geſetzgebung der Einzelſtaaten folgende Beſchränkungen:
a) Landesgeſetze, welche Rechtsſätze, die in einem Reichsgeſetz
enthalten ſind, wiederholen oder beſtätigen, ſind unſtatthaft und
[110]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
wirkungslos. Was bereits auf Grund der vom Reiche ertheilten
Sanction rechtliche Geltung hat, kann nicht von einem Einzelſtaat
nochmals ſanctionirt werden 1). Ebenſo wenig kann der Einzel-
ſtaat ein Reichsgeſetz durch Landesgeſetz erläutern; denn eine
authentiſche Interpretation eines Geſetzes kann nur vom Geſetz-
geber ſelbſt ausgehen; eine wiſſenſchaftliche oder logiſche Interpre-
tation aber iſt niemals mit dem Befehl, ſie zu befolgen, verbun-
den, kann alſo niemals in der Form des Geſetzes oder der Ver-
ordnung erfolgen 2).
b) Landesgeſetze, welche die mit einem Reichsgeſetz im Wider-
ſpruch ſtehenden landesgeſetzlichen Vorſchriften aufheben, ſind
unzuläſſig 3). Eine bereits aufgehobene Vorſchrift kann nicht noch-
mals aufgehoben werden; der landesherrliche Befehl eine gewiſſe
Rechtsvorſchrift zu befolgen, wird kraftlos, ſobald der ſouve-
raine Befehl des Reiches, eine andere Rechtsvorſchrift zu befolgen,
in Wirkung getreten iſt; mithin kann der landesherrliche Befehl
auch nicht mehr zurückgenommen werden. Wenn das Landesgeſetz
ſich darauf beſchränkt, im Allgemeinen die landesrechtlichen,
mit einem Reichsgeſetz im Widerſpruch ſtehenden Beſtimmungen
für aufgehoben zu erklären, ſo ſpricht es etwas aus, was ſich von
ſelbſt verſteht, und iſt unſchädlich. Wenn aber das Landesgeſetz
die durch das Reichsgeſetz in Wegfall gekommenen landesrechtlichen
Vorſchriften ſpeziell und in der Tendenz, ſie vollzählig aufzuführen,
angiebt, ſo iſt die Möglichkeit geboten, daß das Landesgeſetz hier-
bei gewiſſe Rechtsvorſchriften überſieht oder die Tragweite der
reichsgeſetzlichen Anordnungen verkennt. Die in einem ſolchen Ge-
ſetze nicht aufgeführten, mit dem Reichsgeſetze aber thatſächlich
dennoch im Widerſpruch ſtehenden landesgeſetzlichen Vorſchriften
ſind aber ebenſo beſeitigt, wie die ausdrücklich erwähnten. Der
Einzelſtaat kann die Wirkungen des Reichsgeſetzes nicht indirect
abſchwächen, indem er dieſe Wirkungen unvollſtändig aufzählt. Die
landesgeſetzliche Aufhebung beſtimmter Vorſchriften des Landes-
rechtes, weil dieſelben mit einem Reichsgeſetz im Widerſpruch
ſtehen, würde eine unzuläſſige Deklaration eines Reichsgeſetzes ſein 4).
[111]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
Nur wenn ein Reichsgeſetz ausdrücklich die Einzelſtaaten er-
mächtigt, diejenigen landesrechtlichen Vorſchriften im Wege der
Geſetzgebung oder im Wege der Verordnung zu bezeichnen, welche
durch das Reichsgeſetz in Wegfall kommen, iſt der Einzelſtaat in
der Lage, die Veränderungen, welche das Reichsgeſetz an dem bis-
herigen Rechtszuſtande hervorbringt, partikularrechtlich zu fixiren.
Außerdem kann das Reichsgeſetz die Veranlaſſung bieten,
landesrechtliche Vorſchriften, welche mit dem Reichsgeſetz nicht im
Widerſpruch ſtehen, die aber durch daſſelbe aus ihrem bisherigen
Zuſammenhange geriſſen werden und deren Fortgeltung die Har-
monie des Rechtszuſtandes ſtören würde, zu beſeitigen, alſo die
Wirkungen des Reichsgeſetzes zu erweitern. Eben dahin iſt
der Fall zu rechnen, wenn Rechtsgrundſätze, welche ein Reichsgeſetz
für gewiſſe Thatbeſtände anordnet, landesgeſetzlich auch auf andere
Thatbeſtände ausgedehnt werden. Hierzu iſt der Regel nach
ein förmliches Landesgeſetz erforderlich; es ſei denn, daß das
Reichsgeſetz ſelbſt die Aufhebung derartiger Vorſchriften des Lan-
desrechts im Verordnungswege geſtattet.
c) Landesgeſetze, welche Rechtsvorſchriften, die mit einem
Reichsgeſetz im Widerſpruch ſtehen, einführen, ſind unzuläſſig;
ebenſo Landesgeſetze, welche reichsgeſetzliche Anordnungen aufheben,
zeitweilig außer Wirkſamkeit ſetzen oder abändern. Denn der Be-
fehl der höheren Gewalt kann nicht durch den Befehl der unter-
geordneten Gewalt aufgehoben oder verändert werden; der Um-
ſtand, daß das Landesgeſetz das ſpätere iſt, kann nicht in Betracht
kommen, da es dem Reichsgeſetz gegenüber das ſchwächere iſt 1).
Enthält ein Landesgeſetz Vorſchriften, welche theilweiſe mit einem
Reichsgeſetz im Widerſpruch ſtehen, theilweiſe nicht, ſo kann es in-
4)
[112]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
ſoweit rechtliche Verbindlichkeit erlangen, als ſeine Anordnungen
mit denen des Reichsgeſetzes vereinbar ſind.
Ein Reichsgeſetz kann jedoch ſeine Vorſchriften als ſubſidiäre
oder eventuelle aufſtellen, ſo daß ſie alſo nur in Ermangelung
landesgeſetzlicher Anordnungen gelten ſollen 1). In dieſem Falle
ſteht es den Einzelſtaaten frei, durch partikularrechtliche Normirung
eines ſolchen Rechtsverhältniſſes die Anwendung der reichsgeſetz-
lichen Vorſchriften auszuſchließen 2). Es ſetzt dies aber immer
voraus, daß das Reichsgeſetz auf die Landesgeſetze verweiſt und
ſeine eigenen Anordnungen als nur ſubſidiäre erkennbar macht.
In einigen Fällen übrigens hat das Reichsgeſetz ſeine Be-
ſtimmungen als ſubſidiäre erklärt, dennoch aber die Landesgeſetz-
gebung ausgeſchloſſen, indem das Reichsgeſetz zwar der örtlichen
Rechtsbildung (Ortsgebrauch, Ortsſtatut, Verordnung der Orts-
polizei) den Vorrang vor ſeinen eigenen Vorſchriften einräumte,
nicht aber die territoriale Staatsgewalt zum Erlaß von Rechts-
vorſchriften ermächtigte 3).
d) Landesgeſetze zur Ergänzung der Reichsge-
geſetze ſind unzuläſſig, wenn das Reichsgeſetz eine Materie voll-
ſtändig regeln wollte, gleichviel ob es dieſes Ziel thatſächlich
in befriedigender Weiſe erreicht hat oder nicht 4). Das Reich ent-
rückt durch ein ſolches Geſetz die von ihm normirte Rechtsmaterie
der einzelſtaatlichen Autonomie. Iſt eine Ergänzung der reichs-
geſetzlichen Beſtimmungen erforderlich, ſo iſt dieſelbe den höheren
allgemeinen Rechtsprinzipien zu entnehmen, denen die in dem Reichs-
geſetz ſanctionirten Sätze ſich logiſch unterordnen. Im einzelnen
[113]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
Falle kann die Entſcheidung der Frage allerdings ſehr ſchwierig
ſein, ob ein Reichsgeſetz eine Rechtsmaterie in vollſtändiger und
abſchließender Weiſe regeln oder Ergänzungen durch die Landes-
geſetzgebung geſtatten will, und ob ein von einem Landesgeſetz ge-
regelter Punkt zu dem von der Reichsgeſetzgebung occupirten Ge-
biete gehört oder nicht 1). Die authentiſche und allgemein maß-
gebende Entſcheidung eines ſolchen Zweifels kann nur durch ein
Reichsgeſetz erfolgen, welches den Sinn und die Tragweite des
früheren Reichsgeſetzes deklarirt; ſo lange dies nicht ergeht,
iſt in jedem einzelnen Anwendungsfalle von der kompetenten Ge-
richts- oder Verwaltungsbehörde nach den Regeln juriſtiſcher Inter-
pretation zu beurtheilen, ob das Reichsgeſetz Ergänzungen durch
das Landesrecht geſtattet oder ausſchließt. Sehr zahlreiche Reichs-
geſetze verweiſen ausdrücklich auf die Landesgeſetze als Ergänzun-
gen der reichsgeſetzlichen Beſtimmungen oder bedienen ſich der
Formel, daß gewiſſe Vorſchriften der Landesgeſetze durch das
Reichsgeſetz „unberührt“ bleiben 2). Wenn es an einer ſolchen
ausdrücklichen Erklärung fehlt, kann für die Beantwortung dieſer
Frage es von Bedeutung ſein, ob ein Reichsgeſetz ſchlechthin „alle
in den einzelnen Bundesſtaaten geltenden Rechtsvorſchriften“, welche
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 8
[114]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
die reichsgeſetzlich geregelte Materie betreffen, beſeitigt 1), oder ob
es nur „alle entgegenſtehenden“ oder ihm „widerſprechenden“ Be-
ſtimmungen der Landesgeſetze aufhebt 2). In dem letzteren Falle
weiſt das Reichsgeſetz auf die ihm nicht widerſprechenden Beſtim-
mungen der Landesgeſetze als zu ſeiner Ergänzung dienende hin
und erklärt damit, daß es keine abſchließende oder umfaſſende
Normirung der von ihm behandelten Materie geben will; es iſt
demnach zu vermuthen, daß es auch in Zukunft eine Ergänzung
durch die Autonomie der Einzelſtaaten dulden will. Indeß iſt
nicht zu überſehen, daß ſich die beiden in Rede ſtehenden Klauſeln
direct nur auf die bereits in Geltung befindlichen landesgeſetzlichen
Vorſchriften beziehen und daher für die Frage nach der Zuläſſigkeit
einer Ergänzung durch ſpätere Geſetze der Einzelſtaaten nur als
Interpretations-Momente in Betracht kommen können.
e) Endlich bedarf die Frage, ob Landesgeſetze zuläſſig ſind,
welche Vorſchriften zur Ausführung eines Reichsgeſetzes auf-
ſtellen, einer Beantwortung. Dieſelbe iſt deshalb nicht ohne Schwie-
rigkeit, weil der Ausdruck „Ausführungsgeſetz“ ein vieldeutiger
und unbeſtimmter iſt. Bei der Lehre von den Verordnungen iſt
bereits hervorgehoben worden, daß man unter Ausführungsbe-
ſtimmungen zu einem Geſetze die nähere Entwickelung, Detaillirung,
Interpretation und Ergänzung der in dieſem Geſetze ſanctionirten
Prinzipien zu verſtehen pflegt. Beſtimmungen dieſer Art dürfen
die Einzelſtaaten eben ſo wenig im Wege der Geſetzgebung wie
im Wege der Verordnung erlaſſen, wofern nicht das Reichsgeſetz
ihnen dieſe Befugniß ausdrücklich übertragen hat. Denn die authen-
tiſche Interpretation eines Reichsgeſetzes kann nur vom Reiche
ausgehen, die logiſche Interpretation der Reichsgeſetze aber, die
Entwicklung der in ihnen enthaltenen Rechtsſätze, die Anwendung
der daraus ſich ergebenden Folgerungen iſt Sache der Gerichte
und andern im Einzelfalle kompetenten Behörden. Unter dem
[115]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
Namen und Schein der Ausführungsgeſetze könnte ſich leicht eine
landesgeſetzliche Declaration, eine partikuläre Umbildung und Um-
prägung des Reichsgeſetzes verſtecken 1).
Wohl zu unterſcheiden von Geſetzen dieſer Art ſind aber Lan-
desgeſetze, welche man zwar auch als Ausführungsgeſetze zu Reichs-
geſetzen bezeichnet, welche aber nur gewiſſe von den Reichsgeſetzen
nicht unmittelbar normirte Partien des Landesrechts in der Art
umgeſtalten, daß die Ausführung der Reichsgeſetze erleichtert und
ermöglicht und der geſammte Rechtszuſtand des Einzelſtaats in
harmoniſchem Zuſammenhang erhalten wird. Solche Geſetze ſind
zuläſſig; denn wenngleich ſie durch die Einführung eines Reichs-
geſetzes veranlaßt und auf die Erleichterung ihrer Ausführung
berechnet ſind, ſo normiren ſie doch nicht dieſe Ausführung ſelbſt,
ſondern eine von der Reichsgeſetzgebung freigelaſſene Sphäre des
Landesrechts 2).
Ein beſonders wichtiger hierher gehörender Fall iſt der, wenn
das Reichsgeſetz gewiſſe ſtaatliche Einrichtungen vorausſetzt,
aber ſie nicht regelt; z. B. eine Behörden-Organiſation, ein Ge-
fängnißweſen, eine Gemeinde-Verfaſſung. Ohne ſolche Einrichtun-
gen könnte zwar das Reichsgeſetz nicht ausgeführt werden, aber
die Einrichtungen haben eigene und ſelbſtſtändige und weiterrei-
chende Zwecke als bloß die Ausführung des Reichsgeſetzes zu er-
möglichen. Ihre Normirung bleibt daher den Einzelſtaaten über-
laſſen.
3. So lange eine Rechtsmaterie reichsgeſetzlich nicht geregelt
iſt, unterliegt dieſelbe im Allgemeinen der Autonomie der Einzel-
ſtaaten 3). Von dieſem Prinzip giebt es aber eine doppelte Aus-
8*
[116]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
nahme, indem gewiſſe Angelegenheiten nach der Reichsverfaſſung
entweder der Geſetzgebung der Einzelſtaaten oder derjenigen des
Reiches gänzlich entzogen ſind. Die geſammte Rechtsordnung zer-
fällt demnach in dieſer Hinſicht in drei Gebiete, in das der aus-
ſchließlichen Geſetzgebungs-Competenz des Reiches, in das der fa-
kultativen Geſetzgebungs-Competenz des Reiches, welches zugleich
bedingt das Geſetzgebungsgebiet der Einzelſtaaten iſt, und in das
der ausſchließlichen Geſetzgebungs-Competenz der Einzelſtaaten.
a) Der ausſchließlichen Kompetenz 1) des Reiches unterliegen
die Anordnungen über die Verfaſſung des Reiches, die Organiſa-
tion, die Amtsbefugniſſe und Pflichten ſeiner Behörden, die recht-
liche Stellung ſeiner Beamten, die Bildung des Reichstages (Wahl-
recht) und die Rechte und Pflichten der Abgeordneten, die Finanz-
wirthſchaft des Reiches, die Verwaltung der Reichs-Anſtalten und
das Verhältniß der einzelnen Bundesglieder zum Reich. Alle dieſe
Gegenſtände unterliegen ihrer Natur nach nicht der Machtſphäre
eines einzelnen Staates, ſondern ſetzen die Verbindung der Einzel-
ſtaaten zu einer höheren Einheit, dem Reiche, voraus; ſie können
daher auch nur von dieſer höheren Gewalt ihre rechtliche Normi-
rung erhalten. Aus demſelben Grunde hat das Reich ausſchließ-
lich die Geſetzgebung über die Kriegsmarine, da nach Art. 53 der
R.-V. dieſelbe eine „einheitliche“ iſt; hinſichtlich der Handelsmarine
ſind in Art. 54 Abſ. 2 diejenigen Punkte aufgeführt, welche „das
Reich“ zu beſtimmen hat, ſo daß auch in dieſen Beziehungen die
Geſetzgebung der Einzelſtaaten ausgeſchloſſen iſt. In Betreff des
Kriegsweſens iſt die Geſetzgebung der Einzelſtaaten ebenfalls aus-
geſchloſſen, da nach Art. 61 der Verf. im ganzen Reichsgebiet „die
geſammte“ Preuß. Militairgeſetzgebung einzuführen war und nach
gleichmäßiger Durchführung der Kriegsorganiſation ein „umfaſſen-
des“ Reichsmilitairgeſetz dem Reichstage und dem Bundesrathe
vorgelegt werden ſollte. Dieſes „umfaſſende“, alſo Ergänzungen
durch die Landesgeſetzgebung ausſchließende Reichsmilitairgeſetz iſt
unter dem 2. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 45) ergangen. Außerdem
iſt durch den Art. 35 der R.-V. dem Reich ausſchließlich zuge-
wieſen die Geſetzgebung über das geſammte Zollweſen; ferner über
3)
[117]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
die Beſteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und
Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder
anderen inländiſchen Erzeugniſſen dargeſtellten Zuckers und Syrups,
jedoch mit der Ausnahme, daß in Bayern, Württemberg und
Baden die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres
der Landesgeſetzgebung vorbehalten bleibt; endlich über den gegen-
ſeitigen Schutz der in den einzelnen Bundesſtaaten erhobenen Ver-
brauchsabgaben gegen Hinterziehungen, ſowie über die Maßregeln,
welche in den Zoll-Ausſchlüſſen zur Sicherung der gemeinſamen
Zollgrenze erforderlich ſind 1).
Auf dieſen Gebieten ſind geſetzliche Vorſchriften der Einzel-
ſtaaten unſtatthaft und rechtlich unwirkſam auch hinſichtlich ſolcher
Punkte, welche das Reich geſetzlich nicht geregelt hat. Denn hier
iſt die Geſetzgebung der Einzelſtaaten ganz und gar ausgeſchloſſen
und durch die Reichsverfaſſung unterſagt.
b) Der fakultativen Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches unter-
liegen die übrigen, im Art. 4 der Reichsverf. aufgeführten Angelegen-
heiten. So lange das Reich über Gegenſtände, welche hierher ge-
hören, eine bindende Norm nicht aufſtellt, bleiben nicht nur die in
den Einzelſtaaten geltenden Rechtsvorſchriften in Kraft, ſondern ſie
können auch von dem Einzelſtaat im Wege der Landesgeſetzgebung
und — ſo weit dies nach dem Landesrecht zuläſſig iſt — der
Landesverordnung aufgehoben oder abgeändert werden 2). So bald
das Reich von der ihm zuſtehenden Befugniß Gebrauch macht,
treten die Landesgeſetze nach den vorſtehend entwickelten Regeln
außer Kraft und die Reichsgeſetze an ihre Stelle.
c) Der ausſchließlichen Geſetzgebungs-Kompetenz der Einzel-
ſtaaten unterliegen alle Gebiete, welche nach der Reichsverfaſſung
oder den auf Grund derſelben ergangenen Geſetzen der Kompetenz
des Reiches nicht zugewieſen ſind. Dieſe Kompetenz der Einzel-
ſtaaten tritt alſo überall ſubſidiär ein, wo es an einem die
Kompetenz des Reiches begründenden Rechtsſatz fehlt. Eine Er-
weiterung der Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches iſt eine Ab-
änderung der Reichsverfaſſung; demnach kann das Gebiet, welches
[118]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
der ausſchließlichen Geſetzgebung der Einzelſtaaten überlaſſen iſt,
beſchränkt werden durch ein nach den Vorſchriften des Art. 78
Abſ. 1 und event. Art. 78 Abſ. 2 der R.-V. zu Stande gekomme-
nes Reichsgeſetz.
4. Es entſteht nun die Frage, ob Behörden der Einzelſtaaten,
richterliche oder Verwaltungs-Behörden, befugt und verpflichtet
ſind, die Zuläſſigkeit eines Landesgeſetzes oder einer landesherr-
lichen Verordnung gegenüber einem Reichsgeſetz zu prüfen, oder
ob es dem Reiche überlaſſen bleiben muß, kraft der ihm nach
Art. 4 und Art. 17 zuſtehenden „Beaufſichtigung“ und „Ueber-
wachung“ dafür Sorge zu tragen, daß die Einzelſtaaten Anordnun-
gen zurücknehmen, zu deren Erlaß ſie der Reichsgeſetzgebung gegen-
über nicht befugt waren.
Hier iſt zunächſt die Einmengung eines unrichtigen Geſichts-
punktes abzuweiſen; nämlich die Berückſichtigung landesgeſetzlicher
Vorſchriften über das Recht der Behörden, die Rechtsgültigkeit
gehörig verkündeter landesherrlicher Geſetze oder Verordnungen zu
prüfen, wie ſie z. B. die Preuß. Verf.-Urk. Art. 106 aufſtellt.
Dieſe Vorſchriften beziehen ſich nicht auf das Verhältniß der vom
Einzelſtaat angeordneten Rechtsſätze zu den von einer überge-
ordneten Gewalt ausgehenden Anordnungen, ſondern auf die
Bethätigung der Geſetzgebungs-Befugniß innerhalb der Macht-
ſphäre des Einzelſtaats. Entſtanden ſind dieſe Anordnungen zu
einer Zeit, als den Einzelſtaaten die ſouveraine Geſetzgebungs-
gewalt zuſtand; anwendbar geblieben ſind ſie ſeit Gründung des
Reiches (Nordd. Bundes) nur auf die den Einzelſtaaten verbliebene
Autonomie 1). So weit die Einzelſtaaten noch das Recht der Ge-
ſetzgebung haben, ſo weit behalten auch dieſe Vorſchriften unge-
ſchmälert ihre Kraft; ob aber die Einzelſtaaten überhaupt über
einen gewiſſen Punkt noch Geſetze zu geben befugt ſind, iſt eine
Frage, welche von jenen Vorſchriften völlig unberührt bleibt. Das
Verhältniß, in welchem die Organe der einzelnen Staaten in Be-
ziehung auf die Geſetzgebung zu einander ſtehen, kann durch Geſetz
jedes einzelnen Staates normirt werden; das Verhältniß dagegen
der Staatsgewalt des Einzelſtaats zur Reichsgewalt hinſichtlich der
[119]§. 61. Reichsgeſetzgebung und Landesgeſetzgebung.
Befugniß, Rechtsvorſchriften zu ſanctioniren, kann nicht durch den
Willen des Einzelſtaates, alſo nicht durch Landesgeſetz entſchieden
werden. Die Entſcheidung dieſer Frage iſt vielmehr aus der
Reichsverfaſſung zu entnehmen und für alle Deutſchen Staaten
gleichmäßig zu treffen, gleichviel welche Rechtsgrundſätze in den-
ſelben über das ſogen. richterliche Prüfungsrecht landesgeſetzlicher
Anordnungen gelten. Dieſe Entſcheidung iſt durch folgende zwei
Sätze gegeben:
a) Jede Behörde, welche in ihrem amtlichen Wirkungskreiſe
Rechtsſätze zu handhaben hat, mag es ein Gericht oder eine Ver-
waltungsbehörde ſein, muß prüfen, welcher Rechtsſatz auf den
einzelnen, zur Entſcheidung ſtehenden Fall anwendbar iſt. Ent-
halten die vorhandenen Rechtsquellen einander widerſprechende
Rechtsſätze, ſo muß die Prüfung darauf gerichtet werden, welche
dieſer Rechtsquellen in dem concreten Falle maßgebend iſt und
nach bekannten Rechtsgrundſätzen gebührt hierbei beiſpielsweiſe der
lex specialis vor der lex generalis, der lex posterior vor der lex
prior u. ſ. w. der Vorrang. Ergiebt ſich ein Widerſpruch zwiſchen
einem Reichsgeſetz — und daß auch die Reichsverfaſſung ein Reichs-
geſetz iſt, verſteht ſich von ſelbſt — und einem Landesgeſetz, ſo
entſcheidet einfach der im Art. 2 der R.-V. aufgeſtellte Grundſatz,
daß die Reichsgeſetze den Landesgeſetzen vorgehen; d. h. die
Behörde hat auf den ihrer Entſcheidung unterliegenden Fall nicht
die Vorſchrift des Landesgeſetzes, ſondern die des Reichsgeſetzes
anzuwenden 1). Nur unterliegt die Frage, ob eine Colliſion zwi-
ſchen einem Reichsgeſetz und einem Landesgeſetz vorliegt, dem reſ-
ſortmäßigen Inſtanzenzuge und hieraus ergiebt ſich eine verſchiedene
Stellung der Gerichte und der Verwaltungsbehörden, indem die
Entſcheidung der höheren Verwaltungs-Inſtanz für die ihr unter-
geordneten Behörden zwingend und für ihr Verhalten in anderen,
ähnlichen Fällen maßgebend ſein kann, während die Entſcheidung
der höheren richterlichen Inſtanz nur in dem einzelnen Fall for-
melles Recht ſchafft.
[120]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Ein Widerſpruch zwiſchen einem Reichsgeſetz und einem Lan-
desgeſetz liegt aber nicht nur dann vor, wenn das Reichsgeſetz eine
andere Rechtsvorſchrift aufſtellt als das Landesgeſetz, ſondern
auch in dem Fall, wenn das Reich den Erlaß einer landesgeſetz-
lichen Vorſchrift ausdrücklich oder ſtillſchweigend unterſagt hat 1).
b) Daneben beſteht das Recht des Reiches, die Ausführung
der Reichsgeſetze zu überwachen und die im Art. 4 der R.-V. auf-
gezählten Angelegenheiten zu beaufſichtigen. Dieſe Befugniß kann
aber nicht in der Art geltend gemacht werden, daß der Kaiſer reſp.
ſein Miniſter, der Reichskanzler, oder der Bundesrath ein Landes-
geſetz für nichtig erklärt oder in die amtliche Thätigkeit der Landes-
behörden unmittelbar eingreift, ſondern nur dem Landesherrn, reſp.
der Centralregierung des Einzelſtaates gegenüber, indem der Einzel-
ſtaat über die Unzuläſſigkeit des von ihm erlaſſenen Geſetzes auf-
geklärt und zur pflichtmäßigen Rücknahme deſſelben aufgefordert
wird 2).
§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Aus der eigenthümlichen Stellung, welche das Reichsland ein-
nimmt, ergeben ſich auch hinſichtlich der Geſetzgebung Beſonder-
heiten und zwar ſowohl in Beziehung auf die Formen, in denen
der geſetzgeberiſche Wille zur rechtlichen Wirkſamkeit gelangt als
auch in Beziehung auf das gegenſeitige Verhältniß von Reichsge-
ſetzgebung und Landesgeſetzgebung. Der hiſtoriſchen Entwicklung
gemäß ſind drei Zeiträume von einander zu unterſcheiden, für
welche verſchiedene Grundſätze zur Anwendung kommen. Der erſte
beginnt mit der Occupation des Landes durch die Deutſchen Heere,
[121]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
der zweite mit der Vereinigung des im Friedensvertrage v. 26. Febr.
1871 abgetretenen Gebietes mit dem Deutſchen Reiche, der dritte
mit der Einführung der Deutſchen Reichsverfaſſung im Reichslande.
I.Die Zeit der kriegeriſchen Occupation.
1. Die Rechtsregeln, welche für dieſe Periode zur Anwendung
zu bringen ſind, beruhen auf dem völkerrechtlichen Prinzip, daß
durch die kriegeriſche Beſetzung eines Gebietes die ſtaatliche Zuge-
hörigkeit deſſelben rechtlich nicht aufgehoben oder verändert wird,
wohl aber thatſächlich die Ausübung der einheimiſchen
Staatsgewalt ſuspendirt und auf die occupirende Macht übertra-
gen wird 1). Bis zum Friedensſchluß war Elſaß-Lothringen ein
Theil Frankreichs, nicht Deutſchlands; aber die franzöſiſche Staats-
gewalt konnte in den von den Deutſchen Heeren beſetzten Gebieten
ſich nicht wirkſam äußern, ihre Handhabung und Ausübung war
dem Oberbefehlshaber der Deutſchen Heere, d. h. dem Könige von
Preußen zugefallen. Die Suſpenſion der franzöſiſchen Staatsge-
walt enthält zugleich den Ausſchluß der franzöſiſchen Geſetzgebung;
in denjenigen Gebieten, welche dem Machtbereich des franzöſiſchen
Staates entzogen waren, konnten Willensakte deſſelben überhaupt
nicht, alſo auch nicht Geſetze, zur rechtlichen Geltung gelangen. Da-
gegen war der Oberbefehlshaber der Deutſchen Armee in der Lage,
die in der Staatsgewalt enthaltenen Befugniſſe auszuüben, alſo
auch Geſetzesbefehle zu erlaſſen, und die Schranken, die er ſich
hierbei auferlegte, waren lediglich durch die völkerrechtliche Uebung
gegeben 2). Aus dieſem Grundſatze ergeben ſich folgende Conſe-
quenzen:
a) Die franzöſiſche Geſetzgebungsbefugniß erloſch in dem Ge-
biete des Reichslandes nicht durch einen einheitlichen Rechtsakt und
nicht mit einem Male, ſondern nach und nach mit dem Vorrücken
der Deutſchen Heere. Entſcheidend dafür iſt nicht die Thatſache,
daß ein Ort von Deutſchen Truppen beſetzt worden iſt, ſondern
daß er der Einwirkung der franzöſiſchen Staatsgewalt entzogen
worden iſt. Beides braucht nicht nothwendig zuſammenzufallen;
[122]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
auch ſolche Ortſchaften, die nicht mit Deutſchen Truppen belegt
waren, die ſich aber im Machtbereich der letzteren befanden, waren
der Herrſchaft der franzöſiſchen Staatsgewalt entrückt. Die Feſt-
ſtellung des Zeitpunktes, in welchem ein Diſtrict aus der thatſäch-
lichen Beherrſchung durch die Franzöſiſche Macht in die der Deut-
ſchen Macht überging, iſt eine quaestio facti. Die während des
Krieges erlaſſenen franzöſiſchen Geſetze konnten demnach in einem
Theile Elſaß-Lothringens noch rechtliche Wirkſamkeit erlangen, wäh-
rend in einem anderen Theile dies nicht mehr möglich war.
Man darf hieraus aber nicht den Schluß ziehen, daß dies in
Wirklichkeit überall da eingetreten iſt, wo die Beſetzung durch
Deutſche Truppen noch nicht vollzogen war. Es mußten vielmehr
auch da, wo Geſetzgebungsakte Frankreichs noch an ſich möglich
waren, diejenigen Bedingungen erfüllt werden, welche das franzö-
ſiſche Recht ſelbſt für die Rechtswirkſamkeit von Geſetzen vorſchreibt,
und dahin gehört das im Code civ. Art. 1 enthaltene, oben S. 101
bereits erörterte Erforderniß der Publikation in dem Sinne, daß
die Promulgation des Geſetzes authentiſch d. h. durch Verbreitung
des Geſetzblattes bekannt werden kann. In den von den Deutſchen
Truppen cernirten Feſtungen konnte es daher einen Zeitraum geben,
in welchem die Deutſche Heeresleitung zur Ausübung der Geſetz-
gebungsbeſugniß noch nicht gelangt war, weil ſie ſich dieſe Orte
thatſächlich noch nicht unterworfen hatte, während zugleich die fran-
zöſiſchen Geſetze nicht mehr zu rechtlicher Geltung kamen, weil
die Verbindung mit dem in franzöſiſcher Gewalt verbliebenen Ge-
biete unterbrochen und dadurch die Verbreitung des authentiſchen
Geſetzes-Abdruckes in dieſen Orten verhindert war 1).
b) Die occupirten Gebiete waren während des Krieges dem
Deutſchen Staatsweſen, das erſt mit dem 1. Januar 1871
errichtet wurde, nicht unterworfen, ſondern ſie befanden ſich nur
in der militäriſchen Gewalt der verbündeten Deutſchen Heere. Der
König von Preußen als Oberbefehlshaber der Deutſchen Streit-
kräfte hatte daher in den beſetzten Gebieten nicht ſtaatsrechtliche,
ſondern völkerrechtliche Befugniſſe; er übte, ſo weit es ſich um die
Regierung der franzöſiſchen Gebiete handelte, nicht die deutſche,
ſondern die franzöſiſche Staatsgewalt aus. Daher ſind auch die
[123]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
während der Occupation erlaſſenen Verordnungen nicht als Willens-
akte des Deutſchen Reiches anzuſehen, ſondern als Willens-
akte, welche der Deutſche Oberbefehlshaber an Stelle der
ſuspendirten franzöſiſchen Staatsgewalt vornahm. Sie
ſtehen demnach auf gleicher Stufe mit den franzöſiſchen, in Elſaß-
Lothringen geltenden Geſetzen d. h. ſie ſind nicht Reichsgeſetze, ſon-
dern Landesgeſetze, ſie haben nicht die Kraft des Reichsrechts,
ſondern die des Partikularrechts.
2. Die Verwaltung (d. h. Occupations-Regierung) von Elſaß-
Lothringen wurde von dem Oberbefehlshaber der Deutſchen Heere
auf den „General-Gouverneur im Elſaß“ übertragen 1).
Die ihm obliegende Thätigkeit wurde geregelt durch eine vom
Preußiſchen Kriegsminiſterium in Gemeinſchaft mit dem Kanzler
des Norddeutſchen Bundes entworfene und von dem Bundes-Ober-
feldherrn genehmigte Inſtruction 2). Dieſelbe iſt nicht veröffentlicht
worden; in der Proklamation des General-Gouverneurs, Grafen
v. Bismarck-Bohlen, v. 30. Auguſt 1870 macht derſelbe aber be-
kannt, daß in den ihm zugewieſenen Gebieten „die kaiſerlich fran-
zöſiſche Staatsgewalt außer Wirkſamkeit geſetzt und die Autorität
der Deutſchen Mächte an deren Stelle getreten ſei“, und daß er
„zur Handhabung derſelben“ ernannt worden ſei 3). Die Voll-
macht des General-Gouverneurs umfaßte daher alle in der fran-
zöſiſchen Staatsgewalt enthaltenen Befugniſſe. Wenngleich ihm
in der Inſtruction über die Art und Richtung, in welcher er von
dieſer Vollmacht Gebrauch machen ſollte, wahrſcheinlich nähere An-
weiſungen ertheilt worden ſind, ſo war formell ſeine Vollmacht
eine unbeſchränkte. Er konnte daher in rechtsverbindlicher Weiſe
Anordnungen über Gegenſtände treffen, welche in den Bereich der
Geſetzgebung gehören. Oder mit andern Worten: Während
der Zeit der Occupation war die Verordnung des
[124]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
General-Gouverneurs die Form, in welcher die
Geſetzgebung in Elſaß-Lothringen ausgeübt wurde1).
Von dieſer Befugniß machte der General-Gouverneur in ſehr aus-
gedehnter Weiſe Gebrauch.
Zur Verkündigung dieſer Verordnungen wurden die „Amt-
lichen Nachrichten für das General-Gouvernement Elſaß“ vom
1. September 1870 an herausgegeben. Eine Verordnung vom
9. Sept. 1870 beſtimmte, daß alle Verordnungen oder Verfügun-
gen des General-Gouverneurs und des (ihm durch Cab.-Ordre v.
26. Aug. 1870 unterſtellten) Civil-Commiſſars durch die Veröffent-
lichung in den Amtl. Nachrichten ꝛc. ohne Unterſchied, ob ſie in
deutſcher oder franzöſiſcher Sprache abgefaßt ſind, verbindende
Kraft für Jedermann erhalten. Dieſe verbindende Kraft trat, ſo-
fern in den Verordnungen ſelbſt nicht etwas anderes beſtimmt iſt,
ein für das Departement des Niederrheins nach Ablauf des Tages
der Ausgabe der „Amtlichen Nachrichten“ in der Reſidenz des
General-Gouverneurs, für das Departement des Oberrheins nach
Ablauf des folgenden, für das Departement der Moſel nach Ab-
lauf des zweitfolgenden Tages. Auf jeder Nummer wurde der
Vermerk des Ortes und das Datum der Ausgabe beſonders ab-
gedruckt.
Seit dem 19. Oktober 1870 erſchienen die „Amtlichen Nach-
richten ꝛc.“ unter dem Titel „Straßburger Zeitung und Amtliche
Nachrichten für das General-Gouvernement Elſaß“ 2).
Sie ſind für Elſaß-Lothringen an die Stelle des Bulletin
des Lois getreten und bilden die offizielle Geſetzſammlung für die
Zeit der Occupation. Eine Sammlung aller in derſelben enthal-
tenen Verordnungen und Bekanntmachungen iſt vom Oberpräſidium
in Straßburg herausgegeben worden unter dem Titel: Verord-
nungen und Amtliche Nachrichten für Elſaß-Lothringen aus der
[125]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Zeit vom Beginn der deutſchen Occupation bis Ende März 1872“.
Straßb. Trübner. 1872 1).
3. Nach Abſchluß des Friedens mit Frankreich wandelte ſich
die thatſächliche kriegeriſche Beſetzung der an Deutſchland abgetre-
tenen Gebiete in eine rechtliche Beherrſchung derſelben um; der
Rechtstitel derſelben war nicht mehr das Kriegsrecht, ſondern die
vertragsmäßige Uebertragung der Staatsgewalt. Die für Deutſch-
land erworbenen Gebiete wurden aber nicht ſofort dem Deutſchen
Staatsverbande einverleibt und ebenſo wenig zu einem eigenen
Staate conſtituirt; es dauerte vielmehr der durch den Krieg ge-
ſchaffene proviſoriſche Zuſtand noch einige Zeit fort. Erſt das
Reichsgeſetz vom 9. Juni 1871 ſprach die Vereinigung von Elaß-
Lothringen mit dem Deutſchen Reiche aus; dieſes Geſetz iſt am
14. Juni 1871 durch das Reichsgeſetzblatt verkündigt worden, hat
alſo am 28. Juni 1871 gemäß Art. 2 der R.-V. verbindliche Kraft
erlangt. In Elſaß-Lothringen iſt es zwar erſt am 5. Juli 1871
durch die erſte Nummer des Geſetzblattes für Elſaß-Lothringen
verkündet worden; da es aber unmöglich war, daß das die Ver-
einigung ausſprechende Geſetz in Elſaß-Lothringen zu einem andern
Zeitpunkte in Geltung trat als im Deutſchen Reiche und da es
ſich bei dieſem Geſetz um eine Verfügung des Deutſchen Reiches
über die ihm abgetretenen Gebiete, alſo um einen Willensakt des
Deutſchen Reiches handelte, deſſen Object Elſaß-Lothringen war,
ſo muß man annehmen, daß das Geſetz auch für Elſaß-Lothringen
am 28. Juni 1871 in Wirkſamkeit getreten iſt 2), und daß mithin
von dieſem Tage an die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen nach
den im Geſetz vom 9. Juni 1871 aufgeſtellten Regeln zu beur-
theilen iſt.
Obwohl das Amt des General-Gouverneurs noch bis zum
5. September beſtand 3), ſo beſtimmte ſich doch vom 28. Juni an
die demſelben zuſtehende Kompetenz nicht mehr ausſchließlich nach
der vom Bundesoberfeldherrn ertheilten Inſtruction, ſondern in
[126]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
erſter Reihe nach den Vorſchriften des Reichsgeſetzes vom 9. Juni
1871. Die Machtbefugniß des General-Gouverneurs, das in Elſaß-
Lothringen geltende Recht durch Verordnungen umzugeſtalten, hörte
mit dem 28. Juni 1871 auf.
II.Die Zeit vom 28. Juni 1871 bis zum 31. Dezember
1873.
Durch das Geſetz vom 9. Juni 1871 §. 3 iſt dem Kaiſer
die Ausübung der Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen übertragen,
mithin auch die Ausübung der Befugniß, Geſetze zu erlaſſen. Die
Form, in welcher dieſe Befugniß ausgeübt werden mußte, war
aber, ſo lange die Reichsverfaſſung in Elſaß-Lothringen nicht zur
Wirkſamkeit gelangte, eine von den Vorſchriften der Reichsverfaſ-
ſung abweichende und ebenſo iſt das Verhältniß der auf Grund
des Geſetzes vom 9. Juni 1871 für Elſaß-Lothringen erlaſſenen
Geſetze zu den auf Grund der Reichsverfaſſung erlaſſenen Geſetzen
ein anderes wie es im Uebrigen zwiſchen Landesgeſetzen und
Reichsgeſetzen beſteht. Im Einzelnen iſt Folgendes zu bemerken:
1. Der Weg der Geſetzgebung. Derſelbe beſteht auch
bei den für das Reichsland gegebenen Geſetzen aus der Feſtſtellung
des Geſetzentwurfs, der Sanction, Promulgation und Publikation.
a) Die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes. Die
weſentlichſte Abweichung zwiſchen den durch die Reichsverfaſſung
vorgeſchriebenen und den durch das Geſetz vom 9. Juni 1871 an-
geordneten Erforderniſſen eines Geſetzes beruht in dem Ausſchluß
des Reichstages an der Beſchlußfaſſung über den Geſetzent-
wurf. Nur bei der Aufnahme von Anleihen oder der Uebernahme
von Garantien für Elſaß und Lothringen, durch welche irgend
eine Belaſtung des Reiches herbeigeführt wurde, war die Zu-
ſtimmung des Reichstages erforderlich. Dieſe Ausnahme betrifft
lediglich die Finanzwirthſchaft des Reiches; Geſetze, welche der
Landeskaſſe von Elſaß-Lothringen Verpflichtungen auferlegten, auch
wenn ſie die Aufnahme einer Anleihe zu Laſten derſelben anord-
neten, bedurften der Zuſtimmung des Reichstages nicht 1).
Dagegen war die Zuſtimmung des Bundesrathes
[127]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
zum Erlaß eines Geſetzes erforderlich. Ueber die Beſchlußfaſſung
des Bundesrathes enthält das Geſetz vom 9. Juni 1871 keine be-
ſonderen Vorſchriften; es kommen mithin die im dritten Abſchnitt
der Reichsverf. darüber aufgeſtellten Regeln zur Anwendung. Einer
ausdrücklichen Einführung derſelben in Elſaß-Lothringen bedurfte
es nicht, da die Thätigkeit des Bundesrathes als eines Organes
des Reichs ſelbſtverſtändlich durch die Reichsverfaſſung geregelt
wird 1). Daſſelbe gilt von den Funktionen des Reichskanzlers in
ſeiner Eigenſchaft als Vorſitzender des Bundesrathes. Eine Er-
gänzung erhielt jedoch Art. 8 der R.-V. durch die Bildung eines
dauernden Ausſchuſſes für Elſaß-Lothringen, die bereits am 27. Mai
1871 beſchloſſen wurde 2).
b) Die Sanction der Geſetze gebührt dem Kaiſer. Der
Wortlaut des Geſetzes vom 9. Juni 1871 läßt darüber keinen
Zweifel zu. Der erſte Abſatz des hier in Betracht kommenden §. 3
ſtellt den allgemeinen Grundſatz an die Spitze, daß der Kaiſer
die Staatsgewalt in Elſaß und Lothringen ausübt.
Da die Geſetzgebung nichts Anderes als Bethätigung der Staats-
gewalt iſt, ſo ſteht mithin dem Kaiſer die Ausübung der Geſetz-
gebung zu; der ſtaatsrechtliche Hoheitsakt beſteht aber — wie
oben ausgeführt wurde — bei der Geſetzgebung in der Sanction.
Wer nicht die Geſetze erläßt, d. h. ſanctionirt, von dem
kann man nicht ſagen, daß er die Staatsgewalt ausübt. Der
zweite Abſatz deſſelben Paragraphen beſtätigt dies vollkommen, in-
dem er hinzufügt, daß der Kaiſer bei Ausübung der Geſetz-
gebung an die Zuſtimmung des Bundesrathes gebunden iſt. Als
das Subject, welches die Geſetzgebungs-Befugniß ausübt, wird
alſo hier ausdrücklich der Kaiſer bezeichnet und ſeine Freiheit in
der Ausübung dieſer Befugniß wird nur dadurch beſchränkt, daß
die Zuſtimmung des Bundesrathes erfordert wird. Während der
Art. 5 der R.-V. bei den Erforderniſſen eines Reichsgeſetzes den
Kaiſer gar nicht erwähnt, ſondern nur innerhalb des Bundesrathes
die Präſidialſtimme in gewiſſen Fällen den Ausſchlag geben läßt,
[128]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
ſtellt das Geſ. v. 9. Juni 1871 den Kaiſer als den eigentlichen
Geſetzgeber hin.
Dieſer Unterſchied iſt kein bloß theoretiſcher und formeller.
Zwar kann der Kaiſer kein Geſetz für Elſaß-Lothringen erlaſſen
ohne Zuſtimmung des Bundesrathes; während aber der Kaiſer
nach der Reichsverfaſſung verpflichtet iſt, ein vom Bundesrath ord-
nungsmäßig beſchloſſenes Geſetz zu promulgiren, ohne daß ihm
ein Veto zuſteht, hat er für Elſaß-Lothringen die freie Entſchei-
dung darüber, ob er dem vom Bundesrath beſchloſſenen Geſetze
ſein Placet ertheilen wolle oder nicht 1). Der Kaiſer kann nicht
majoriſirt werden; ja ſelbſt, wenn die Preußiſchen Stimmen im
Bundesrath für einen Geſetzentwurf abgegeben worden ſind, kann
der Kaiſer — wenn er z. B. durch Berichte aus dem Reichslande
die Ueberzeugung von der Unzweckmäßigkeit des Geſetzentwurfs
gewinnt — die Genehmigung deſſelben verweigern. Die Beſchlnß-
faſſung des Bundesrathes über ein elſaß-lothring. Geſetz iſt
an ſich ohne Rechtswirkung; ſie iſt eine bloße Vorbedingung für
den Erlaß eines kaiſerlichen Geſetzes. Die Beſchlußfaſſung des
[129]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Bundesrathes über den Erlaß eines Reichsgeſetzes nach der Reichs-
verfaſſung iſt ſtaatsrechtlich der entſcheidende Akt, denn ſie hat
die kaiſerliche Ausfertigung und Verkündigung des Geſetzes zur
nothwendigen Rechtsfolge. Das Geſetz vom 9. Juni 1871 nor-
mirt die Stellung des Kaiſers und Bundesrathes bei der Geſetz-
gebung für Elſaß-Lothringen genau ebenſo, wie dies oben für die-
jenigen Verordnungen nachgewieſen wurde, welche der Kaiſer
mit Zuſtimmung des Bundesrathes oder im Einvernehmen mit dem
Bundesrathe zu erlaſſen hat. Man kann demnach den Gedanken
des Geſetzes v. 9. Juni 1871 §. 3 auch in der Art formuliren:
Bis zum Eintritt der Wirkſamkeit der Reichsver-
faſſung iſt die unter Zuſtimmung des Bundesrathes
erlaſſene kaiſerliche Verordnung die Form, in wel-
cher die Geſetzgebung im Reichslande ausgeübt wird.
In der That bedient ſich auch der §. 2 deſſelben Geſetzes einer
ähnlichen Ausdrucksweiſe, indem er beſtimmt, daß „durch Verord-
nung des Kaiſers mit Zuſtimmung des Bundesrathes einzelne
Theile der Verfaſſung eingeführt werden können“ 1).
c) Die Promulgation der kaiſerlichen Geſetze erfolgt ſelbſt-
verſtändlich durch den Kaiſer. Die Ausfertigung geſchieht durch
eine Urkunde unter der Unterſchrift und dem Inſiegel des Kaiſers,
welche zu ihrer Gültigkeit der Unterſchrift des Reichskanzlers be-
darf 2). Die Promulgationsformel enthält die Conſtatirung, daß
der Bundesrath verfaſſungsmäßig ſeine Zuſtimmung zu dem Wort-
laut des Geſetzes ertheilt hat und der Reichskanzler übernimmt
durch ſeine Unterſchrift für die Richtigkeit dieſer Feſtſtellung die
Verantwortlichkeit. Im Uebrigen gilt von der Ausfertigung des
Geſetzes und dem damit verbundenen Verkündigungsbefehl in allen
Beziehungen dasjenige, was oben S. 41 und S. 85 von der Pro-
mulgation der Reichsgeſetze und kaiſerlichen Verordnungen ausge-
führt worden iſt.
d) Die Publikation der elſaß-lothringiſchen Geſetze iſt in
dem Geſ. v. 9. Juni 1871 nicht geregelt worden. Da der Art. 2
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 9
[130]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
der R.-V. nicht eingeführt wurde, ſo kam die Verkündigung durch
das Reichsgeſetzblatt nicht zur Anwendung. Zunächſt blieb die V.
v. 9. Septemb. 1870 in Geltung, nach welcher die Verkündigung
durch die „Amtlichen Nachrichten“ zu erfolgen hatte. Schon am
3. Juli 1871 wurde jedoch ein Geſetz gegeben, wonach die Ver-
kündigung der für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze und kaiſer-
lichen Verordnungen in einem Geſetzblatt erfolgen ſoll, welches den
Titel „Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen“ führt und vom Reichs-
kanzler-Amt herausgegeben wird. Das Geſetz lehnt ſich in ſeiner
Wortfaſſung an den Art. 2 der R.-V. an und beſtimmt wie dieſer,
daß, ſofern nicht in dem verkündeten Geſetze ein anderer Anfangs-
Termin ſeiner verbindlichen Kraft beſtimmt iſt, dieſe mit dem vier-
zehnten Tage nach Ablauf desjenigen Tages beginnt, an welchem
das betreffende Stück des Geſetzblattes in Berlin ausgegeben wor-
den iſt 1).
Dieſes Geſetz trat am Tage ſeiner Verkündigung, nämlich am
5. Juli 1871, in Kraft.
Alles, was oben S. 54 fg. von dem Weſen und den Erforder-
niſſen der Verkündigung von Reichsgeſetzen entwickelt worden iſt,
findet auch auf die Geſetze für Elſaß-Lothringen analoge Anwen-
dung.
2. Die Form der Verordnung.
Das Geſetz vom 9. Juni 1871 hat keine Anordnung darüber,
wie Ausführungs-Beſtimmungen, welche Rechtsſätze enthalten, rechts-
wirkſam erlaſſen werden können. Die Frage nach der Zuläſſigkeit
von Rechtsverordnungen iſt demnach ebenſo zu entſcheiden, wie
nach der Reichsverfaſſung 2). Alle Rechtsregeln, auch wenn ſie nur
zur Ausführung oder Ergänzung geſetzlicher Vorſchriften dienen,
müſſen der Regel nach in der, im §. 3 des Geſ. v. 9. Juni 1871
normirten Geſetzesform aufgeſtellt werden; eine allgemeine Er-
mächtigung von dieſer Form abzuweichen iſt nicht ertheilt worden.
Ebenſo wenig iſt es aber verboten, durch eine ſpezielle im Wege
der Geſetzgebung erlaſſene Vorſchrift eine ſolche Ermächtigung zu
ertheilen und für den Erlaß gewiſſer Anordnungen einen anderen
Weg als den der regelmäßigen Geſetzgebung vorzuſchreiben 3).
[131]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Von den verſchiedenen Formen, welche für Verordnungen zur
Ausführung von Reichsgeſetzen oben §. 59 als möglich dargethan
worden ſind, ſcheidet zunächſt die Verordnung des Einzelſtaates
aus, da Elſaß-Lothringen kein Staat iſt und eine der Reichsgewalt
gegenüber ſelbſtſtändige, mit eigenen Rechten ausgeſtattete Staats-
gewalt im Reichsland nicht beſteht 1).
Es ſcheidet aber ferner unter der Herrſchaft des Geſetzes vom
9. Juni 1871 aus: die unter Zuſtimmung des Bundes-
rathes erlaſſene kaiſerliche Verordnung. Denn dies
iſt eben die von dieſem Geſetz normirte Geſetzesform. Deſſen-
ungeachtet findet ſich ein Beiſpiel für die Vorſchrift, daß die zur
Ausführung eines Geſetzes erforderlichen Rechtsvorſchriften „durch
eine im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlaſſende kaiſer-
liche Verordnung“ ergehen ſollen, und zwar in dem Geſ. v. 15. Okt.
1873 betreffend die Kautionen der Beamten §. 2, in wörtlicher
Wiederholung des §. 3 des Bundesgeſetzes v. 2. Juni 1869. Dieſe
Beſtimmung iſt von praktiſcher Bedeutung erſt von der Zeit an,
wo die Reichsverf. in Elſaß-Lothringen in Wirkſamkeit trat. So
lange das Geſ. v. 9. Juni 1871 die Formen der Geſetzgebung
regelte, wurde durch §. 2 des Geſ. v. 15. Okt. 1873 keine Ab-
weichung von dem Wege der Geſetzgebung vorgeſchrieben; erſt ſeit-
dem dieſer Weg der Geſetzgebung ſich nach den Vorſchriften der
R.-V. beſtimmt, iſt die im §. 2 des Geſ. v. 15. Okt. 1873 vor-
geſchriebene Form nicht mehr die Geſetzesform, ſondern eine Ver-
ordnungsform; und da die unter der Herrſchaft des Geſetzes vom
9. Juni 1871 rechtsgültig erlaſſenen Geſetze ihre Geltung mit Ein-
führung der R.-V. nicht einbüßten, ſo beſteht auch dieſe Vorſchrift
gegenwärtig zu Recht 2).
9*
[132]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Auch Verordnungen des Bundesrathes für Elſaß-
Lothringen waren nach dem Geſetz v. 9. Juni 1871 nicht für zu-
läſſig zu erachten, obgleich ſie an und für ſich ja möglich und durch
den Wortlaut jenes Geſetzes nicht ausdrücklich verboten waren.
Das Geſetz ſchloß ſie aber mittelbar aus durch Anerkennung des
Grundſatzes, daß der Kaiſer die Staatsgewalt ausübt, da der Er-
laß einer Verordnung eine Ausübung der Staatsgewalt iſt. Das
Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen enthält auch in der That keine
Verordnungen des Bundesrathes aus der Zeit der Herrſchaft des
Geſetzes vom 9. Juni 1871, abgeſehen von der Abgrenzung der
Reichstags-Wahlbezirke und der Ergänzung des Wahlreglements
v. 1. Dez. 1873, wozu der Bundesrath durch das Geſ. v. 25. Juni
1873 §. 6 ermächtigt worden war. Eine Ausnahme macht nur
das Bahnpolizei-Reglement, welches nach einer Bekannt-
machung des Reichskanzlers v. 29. Dez. 1871 „auf Beſchluß des
Bundesrathes in Elſaß-Lothringen vom 1. Jan. 1872 an in Kraft
tritt“ (G.-Bl. 1872 S. 92) 1). Soweit daſſelbe lediglich die Ver-
waltung der Reichs-Eiſenbahnen in Elſaß-Lothringen regelt, war
der Reichskanzler unzweifelhaft befugt, die Befolgung des Bundes-
raths-Beſchluſſes den ihm unterſtellten Behörden anzubefehlen; ſo
weit dieſes Reglement aber in den §§. 67—70 Beſtimmungen aus
dem Bereich des Strafrechts und des Strafproceſſes enthält, war
weder der Bundesrath für das Reich, noch der Reichskanzler für
2)
[133]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
das Reichsland zum Erlaß derſelben befugt 1); dieſe Beſtimmungen
erlangten vielmehr im Reichslande keine Rechtsgültigkeit.
Es ſind jedoch während der Herrſchaft des Geſetzes vom
9. Juni 1871 in Elſaß-Lothringen Reichsgeſetze eingeführt
worden, welche den Bundesrath zum Erlaß von Ausführungs-
Verordnungen ermächtigen. So z. B. das Jeſuitengeſetz v. 4. Juli
1872 durch Geſ. v. 8. Juli 1872; demgemäß ſind die Bundes-
rathsbeſchlüſſe, welche auf Grund des §. 3 des Reichsgeſetzes ge-
faßt worden ſind, vom Reichskanzler für Elſaß-Lothringen ver-
kündet worden im Geſetzblatt 1872 S. 507, 1873 S. 89 2). In
einigen Fällen enthält das Einführungs-Geſetz die Beſtimmung,
daß der Reichskanzler die zur Ausführung des Geſetzes er-
forderlichen Anordnungen erläßt, während das eingeführte Reichs-
geſetz den Erlaß dieſer Anordnungen dem Bundesrathe über-
trägt. Dies iſt z. B. der Fall in dem Geſ. v. 14. Juli 1871
Art. 3 (G.-Bl. S. 175) betreffend die Einführung der Wechſel-
ſtempelſteuer, verglichen mit §. 28 des Wechſelſtempel-Geſetzes vom
10. Juni 1869 §. 28 3). Demzufolge hat der Reichskanzler durch
Bekanntmachung v. 27. Juli 1871 die vom Bundesrathe getroffenen
Beſtimmungen im Geſetzblatt für E.-L. (S. 183) verkündet mit
der Klauſel, daß dieſelben „Anwendung zu finden haben.“ Es
kann nun fraglich erſcheinen, ob für Elſaß-Lothringen der Bundes-
rath oder der Reichskanzler weitere Ausführungsbeſtimmungen zum
Wechſelſtempelgeſetz, falls der Erlaß ſolcher ſich als nothwendig
erweiſen ſollte, zu treffen befugt iſt. Da es gewiß nicht die Ab-
ſicht des Geſetzes war, Elſaß-Lothringen in dieſer Hinſicht dauernd
in anderer Art wie das übrige Deutſchland zu ſtellen und dem
[134]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Bundesrath hier eine Befugniß zu entziehen, welche ihm im ganzen
übrigen Reichsgebiet zuſteht, dem Reichskanzler auch bei ſtrenger
Wortauslegung nur der Erlaß der zur Ausführung des Einfüh-
rungs-Geſetzes erforderlichen Anordnungen, aber nicht der
Erlaß der zur Ausführung des eingeführten Reichsgeſetzes
nothwendigen Beſtimmungen im Art. 3 des Geſ. v. 14. Juli 1871
übertragen worden iſt, ſo beantwortet ſich die Frage zu Gunſten
des Bundesrathes.
Es bleiben als regelmäßige Verordnungs-Formen unter der
Herrſchaft des Geſ. v. 9. Juni 1871 demgemäß übrig:
a) Verordnungen des Kaiſers. Dieſelben unter-
ſcheiden ſich von den Geſetzen lediglich dadurch, daß die Zuſtim-
mung des Bundesrathes nicht eingeholt zu werden braucht, und
daß, wenngleich thatſächlich der Inhalt der Verordnung die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes erhalten haben ſollte, dies in der
Promulgations-Formel nicht erwähnt wird. Sie ſind, ſofern ſie
Rechtsvorſchriften enthalten, nur zuläſſig auf Grund ſpezieller
geſetzlicher Ermächtigung, welche in zahlreichen Fällen ertheilt
worden iſt 1). Daß ſie im Geſetzbl. für Elſ.-Lothr. verkündigt
werden, iſt in dem Geſetz v. 3. Juli 1871 §. 1 ausdrücklich vor-
geſchrieben.
b) Verordnungen des Reichskanzlers oder einer
anderen mit der [Landesverwaltung] betrauten Behörde. Es gilt
von denſelben Alles, was oben S. 81 von den Verordnungen des
Reichskanzlers im Herrſchaftsgebiete der Reichsverfaſſung ausge-
führt worden iſt. Soweit Anordnungen des Reichskanzlers ledig-
lich die Verwaltungsthätigkeit der Beamten regeln, iſt eine beſon-
dere geſetzliche Ermächtigung zum Erlaß derſelben nicht erforder-
lich; zu derſelben iſt der Reichskanzler vielmehr in ſeiner Stellung
als Miniſter des Kaiſers, dem die Ausübung der Staatsgewalt
in Elſaß-Lothringen übertragen iſt, befugt. Jede in den Bereich
der Geſetzgebung eingreifende Anordnung, insbeſondere jede Rechts-
vorſchrift, kann dagegen der Reichskanzler nur auf Grund ſpezieller
[135]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
geſetzlicher Delegation und nur innerhalb des Umfanges der ihm
ertheilten Ermächtigung treffen 1). Verbindliche Kraft erlangen
ſolche Verordnungen aus den oben S. 91 fg. entwickelten Gründen
nur dann, wenn ſie ordnungsmäßig, d. h. im Geſetzblatt für Elſaß-
Lothringen verkündet worden ſind.
4) Das Verhältniß zu den nach Maßgabe der
Reichsverfaſſung erlaſſenen Geſetzen.
Die oben S. 109 fg. über das gegenſeitige Verhältniß der Reichs-
geſetze und Landesgeſetze entwickelten Regeln ſind auf die für
Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze vollſtändig unanwendbar,
denn ſie beruhen auf der Thatſache, daß Reichsgeſetze und Landes-
geſetze von zwei verſchiedenen Staatsgewalten erlaſſen wer-
den, von denen die eine der anderen untergeordnet iſt. Die Wir-
kungen eines Geſetzes gegenüber anderen Anordnungen hängen
von der rechtlichen Machtſtellung des Subjectes ab, welches den
Geſetzesbefehl (die Sanction) ertheilt, nicht von den Formen, welche
den Weg der Geſetzgebung bilden; aus der Ueberordnung der
Reichsgewalt über die Einzelſtaats-Gewalt ergibt ſich der Vorrang
der Reichsgeſetze vor den Landesgeſetzen und ihre verbindliche
Kraft. In Elſaß-Lothringen iſt die Staatsgewalt mit der Reichs-
gewalt identiſch; kann man auch objectiv die Befugniſſe, welche
das Reich auf Grund der Verfaſſung im ganzen Reichsgebiete
hat, von denen unterſcheiden, welche dem Reiche auf Grund ſeiner
unmittelbaren Herrſchaft im Reichslande zuſtehen, ſo haben doch
beide Klaſſen von ſtaatlichen Befugniſſen daſſelbe Subject2).
Seit der Conſtituirung Elſaß-Lothringens zum Reichslande gibt
es demnach in Elſaß-Lothringen keine Landesgeſetzgebung, keine
Autonomie im juriſtiſchen Sinne mehr. Als Landesgeſetze
[136]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
(im Sinne des Art. 2 der R.-V.) zu betrachten ſind nur diejeni-
gen Rechtsvorſchriften, welche vor der Vereinigung Elſaß-Loth-
ringens mit dem Deutſchen Reiche Geltung erlangt haben; ſeit
der Vereinigung ſteht die geſetzgebende Gewalt im Reichslande
ausſchließlich dem Reiche zu. Die für Elſaß-Lothringen erlaſſenen
Geſetze ſind demnach nicht Landesgeſetze, ſondern Reichsgeſetze
und zwar Provinzialgeſetze des Reiches1). Das Ver-
hältniß der auf Grund des Vereinigungsgeſetzes erlaſſenen Geſetze
zu den auf Grund der Reichsverfaſſung ergangenen Geſetze
iſt mithin nicht das der Landesgeſetze zu den Reichsgeſetzen,
ſondern das zweier Arten von Reichsgeſetzen zu einander. Das
Reich übte, ſo lange die R.-V. in E.-L. noch nicht eingeführt war,
für zwei von einander getrennte Gebiete das Recht der Geſetz-
gebung in zwei verſchiedenen Formen aus; das Reichsgebiet
zerfiel in Hinſicht auf die Ausübung der Geſetzgebung in zwei
Rechtsgebiete, aber die geſetzgebende Gewalt des Reiches ſpal-
tete ſich nicht in zwei von einander unabhängige, ſelbſtſtändige
Gewalten. Von dieſem Prinzip aus ergibt ſich eine Reihe von
Folgerungen, in denen der Gegenſatz zwiſchen dem Reichsland und
dem übrigen Bundesgebiet zu Tage tritt.
a) Im Herrſchaftsgebiet der Reichsverfaſſung gilt jedes Reichs-
geſetz kraft ſeiner Verkündigung von Reichswegen mittelſt des
Reichsgeſetzblattes; jede Verkündigung durch den Einzelſtaat, jede
Beſtätigung, Erläuterung oder Einführung des Reichsgeſetzes durch
einen Akt der Landesgeſetzgebung iſt unſtatthaft. Für Elſaß-
Lothringen war die Verkündigung eines Reichsgeſetzes mittelſt des
Reichsgeſetzblattes völlig wirkungslos; ein auf Grund der Reichs-
verfaſſung erlaſſenes Geſetz war für Elſaß-Lothringen ebenſowenig
von verbindender Kraft, wie ein auf Grund des Geſetzes vom
9. Juni 1871 ergangenes Geſetz im Gebiete der Reichsverfaſſung
Geltung hatte. Es mußte vielmehr jedes nach Maßgabe der
Reichsverfaſſung erlaſſene Geſetz, wenn es im Reichslande Geltung
erlangen ſollte, daſelbſt durch einen beſonderen Geſetzgebungsakt
nach Vorſchrift des Geſ. v. 9. Juni 1871 eingeführt werden. Der
Rechtsgrund ſeiner Geltung beruht ausſchließlich auf dem kaiſer-
lichen Einführungsgeſetz. Davon machen auch diejenigen Geſetze
des Reiches keine Ausnahme, welche nach ihrem Wortlaut, Inhalt
[137]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
und Zweck für das ganze Reichsgebiet Geltung haben ſollten
und mußten, wie das Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871, das Je-
ſuitengeſetz v. 4. Juli 1872, das Militair-Strafgeſetzbuch v. 8. Juli
1872, das Zollgeſetz v. 7. Juli 1873 1), das Geſetz über die Kriegs-
leiſtungen v. 13. Juni 1873 u. ſ. w. Sie mußten zweimal er-
laſſen werden, einmal für das Herrſchaftsgebiet der Reichsverfaſ-
ſung, das andere Mal für das Herrſchaftsgebiet des Geſ. v. 9. Juni
1871. Will man die Provinzialgeſetzgebung des Reichs für Elſaß-
Lothringen als Landesgeſetzgebung bezeichnen, ſo kann man für
das Reichsland im vollſten Gegenſatz zu dem im Art. 2 der R.-V.
ausgeſprochenen Prinzip den Grundſatz formuliren, daß Reichsge-
ſetze nur gelten, wenn ſie im Wege der Landesgeſetzgebung einge-
führt worden ſind 2).
b) Während es im Gebiete der Reichsverfaſſung unzuläſſig
iſt, daß die Einzelſtaaten eine Beſtimmung eines Reichsgeſetzes ab-
ändern oder aufheben, die Reichsgeſetze vielmehr den unbedingten
Vorrang vor allen Landesgeſetzen haben, auch den ſpäter erlaſſe-
nen, verhält es ſich im Reichslande umgekehrt. Die Einführung
der Reichsgeſetze konnte in Elſaß-Lothringen mit Abänderungen
derſelben erfolgen 3), mit der Wirkung, daß das Landesgeſetz
(d. h. das für das Reichsland erlaſſene Geſetz) dem Reichsgeſetz
vorgeht. Denn die Mitwirkung des Reichstages verleiht den
Reichsgeſetzen keine höhere Kraft; das Reich übte ſeine geſetzgebende
Gewalt im Reichslande nur in anderer Form oder durch andere
Organe aus wie im übrigen Bundesgebiet; immer iſt es aber die-
[138]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
ſelbe Gewalt, von welcher der Geſetzesbefehl ausgeht. Derſelben
ſteht es daher frei, für das Reichsland etwas Anderes, wie für
das übrige Gebiet anzuordnen. Nur das Reichsgeſetz v. 9. Juni
1871 ſelbſt konnte nicht durch ein auf Grund deſſelben ergangenes
Landesgeſetz abgeändert werden, da es die Delegation der Geſetz-
gebungsgewalt für den Kaiſer und Bundesrath enthält, ſonach der
Kompetenz derſelben die Grenzen zieht und die Art der Ausübung
beſtimmt. Zur Hinausrückung des im §. 2 dieſes Geſetzes ange-
gebenen Zeitpunktes, mit welchem die R.-V. in Elſaß-Lothringen
in Wirkſamkeit treten ſollte, bedurfte es daher eines nach Vorſchrift
der R.-V. erlaſſenen Geſetzes 1).
c) Durch die unveränderte Einführung eines Reichsgeſetzes in
Elſaß-Lothringen entſtand ſtreng genommen nur materiell gemeines
Recht zwiſchen dem Reichsland und dem übrigen Reichsgebiete,
d. h. es herrſchten in zwei verſchiedenen Rechtsgebieten Geſetze mit
identiſchem Inhalte; ihre Geltung beruhte nicht auf einem und
demſelben, für beide Gebiete verbindlichen Befehl. Um aber dieſe
Folge auszuſchließen und um in der That in Beziehung auf die
eingeführten Geſetze das ganze Reichsgebiet zu einem einheit-
lichen Rechtsgebiet zu machen, wurde in den meiſten Einfüh-
rungsgeſetzen die Formel gewählt, daß „die Wirkſamkeit des an-
liegenden Reichsgeſetzes auf Elſaß-Lothringen ausgedehnt wird.“
d) Die auf Grund des Reichsgeſetzes v. 9. Juni 1871 ergangenen
Geſetze für Elſ.-Lothringen haben die Kraft von Reichsgeſetzen.
Während das in allen Deutſchen Staaten bereits in Wirkſamkeit ge-
weſene Handelsgeſetzbuch zum Reichsgeſetz erklärt werden konnte, in-
dem dadurch der Geſetzesbefehl des Reiches an die Stelle des Geſetzes-
befehls des Einzelſtaates getreten iſt, würde es ſinnlos ſein, die
während der Herrſchaft des Geſ. v. 9. Juni 1871 in Elſ.-Loth-
ringen erlaſſenen Geſetze zu Reichsgeſetzen zu erklären; denn dies
hieße den Geſetzesbefehl des Reiches durch den Geſetzesbefehl des
Reiches erſetzen. Dies gilt nun aber nicht blos von denjenigen
Geſetzen, welche in den Bereich der in der R.-V. normirten Kom-
petenz der Reichsgeſetzgebung fallen ſondern von allen Geſetzen 2).
[139]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Hieraus ergibt ſich die ſtaatsrechtlich wichtige Conſequenz, daß,
nachdem die Reichsverfaſſung in Elſaß-Lothringen in Wirkſamkeit
getreten iſt, die auf Grund des Reichsgeſetzes vom 9. Juni 1871
erlaſſenen Geſetze nur im verfaſſungsmäßigen Wege der Reichs-
geſetzgebung abgeändert und aufgehoben werden können, auch
wenn ſie Gegenſtände betreffen, welche nach der R.-V. nicht der
Reichsgeſetzgebung unterliegen 1). Die mit Zuſtimmung des Bun-
desrathes ergangene Kaiſerliche Verordnung war die Form, in
der ſie erlaſſen werden durften; aber dieſe Form iſt nicht mehr
genügend, um ſie abzuſchaffen oder zu modifiziren 2).
III.Die Zeit ſeit Einführung der Reichsverfaſſung.
Auf Grund des Reichsgeſetzes vom 25. Juni 1873 trat die
Reichsverfaſſung vom 1. Januar 1874 ab in Elſaß-Lothringen in
Kraft, ſoweit nicht einzelne Beſtimmungen derſelben ſchon vorher
eingeführt waren. Von dieſem Zeitpunkte an fiel demnach hin-
2)
[140]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
ſichtlich der Geſetzgebung die Spaltung des Reichsgebietes in zwei
Rechtsgebiete fort; das Reichsland trat dem von der Reichsver-
faſſung beherrſchten Rechtsgebiete hinzu. Die oben entwickelten
Regeln, nach denen die Geſetzgebung des Reiches ausgeübt wird,
fanden daher zunächſt auf die für das Reichsland ergehenden Ge-
ſetze vollkommene Anwendung. Durch das Reichsgeſetz vom
2. Mai 1877 1) ſind dieſelben jedoch ergänzt und modifizirt wor-
den, ſo daß die Grundſätze über die Ausübung der Geſetzgebung
in Elſaß-Lothringen gegenwärtig ziemlich complicirt ſind.
1. Die Geſetzgebungs-Kompetenz.
Während die Reichsverfaſſung die Befugniß des Reiches zur
Geſetzgebung beſchränkt und beſtimmte Grenzen zieht, durch welche
die Kompetenz der Reichsgeſetzgebung von der Autonomie der
Einzelſtaaten geſchieden wird, iſt die Geſetzgebungs-Befugniß des
Reiches im Reichslande eine allumfaſſende, unbeſchränkte und aus-
ſchließliche. Dieſer Satz iſt durch den Begriff des Reichslandes
ſelbſt gegeben; denn es beſteht im Reichslande keine von der Reichs-
gewalt verſchiedene Landes-Staatsgewalt, folglich auch kein vom
Reich verſchiedener Geſetzgeber. Es exiſtirt keine ſtaatliche Macht
im Reichslande, von welcher die Sanction eines Geſetzes ausgehen
könnte, als das Reich ſelbſt. Es iſt dies in dem Geſetz v. 9. Juni
1871 §. 3 Abſ. 4 ausdrücklich anerkannt worden:
„Nach Einführung der Reichsverfaſſung ſteht bis zu ander-
weitiger Regelung durch Reichsgeſetz das Recht der Geſetzgebung
auch in den der Reichsgeſetzgebung in den Bundesſtaaten nicht
unterliegenden Angelegenheiten dem Reiche zu.“
Dieſer Grundſatz iſt durch das Reichsgeſetz v. 2. Mai 1877
vollkommen unberührt geblieben; denn dieſes Geſetz hat zwar für
gewiſſe Fälle den Weg der Geſetzgebung abweichend von der Reichs-
verfaſſung normirt, aber die Kompetenz des Reiches in keiner Weiſe
beſchränkt.
Obgleich es nun im Reichslande nur Einen Geſetzgeber
giebt, ſo kann man doch die Angelegenheiten, welche ver-
faſſungsmäßig im ganzen Reichsgebiet der Geſetzgebung des
Reiches unterliegen, von denjenigen Angelegenheiten unterſcheiden,
auf welche ſich die Geſetzgebung des Reiches nur im Reichs-
[141]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
lande erſtreckt. Auf dieſer Unterſcheidung der beiden Kompetenz-
kreiſe beruht es, wenn man von einer inneren Geſetzgebung 1)
des Reichslandes und von Landesgeſetzen für Elſaß-Loth-
ringen ſpricht 2). Dieſe Unterſcheidung war bis zum Erlaß des
Reichsgeſ. v. 2. Mai 1877 ohne alle ſtaatsrechtliche Bedeutung;
für die innere Geſetzgebung des Reichslandes beſtanden durchweg
dieſelben Regeln wie für die übrige Reichsgeſetzgebung; erſt durch
das erwähnte Reichsgeſetz ſind beſondere Rechtsvorſchriften dafür
erlaſſen worden. Landesgeſetze für Elſaß-Lothringen ſind aber
auch gegenwärtig noch Reichsgeſetze d. h. vom Reich ſanctio-
nirte Geſetze. Landesgeſetze für E.-L. ſind Provinzialge-
ſetze des Reiches für E.-L. in ſolchen Angelegenheiten, in denen
nach der Verfaſſung des Reiches die Geſetzgebungs-Kompetenz des-
ſelben im übrigen Bundesgebiet ausgeſchloſſen iſt.
Für Landesgeſetze in dieſem Sinne iſt durch das Geſetz vom
2. Mai 1877 eine beſondere Form vorgeſchrieben; aber ihrem
Weſen und ihrer ſtaatsrechtlichen Bedeutung nach ſind ſie nicht
Bethätigungen einer Autonomie, wie die Landesgeſetze der Bundes-
ſtaaten, ſondern Bethätigungen der Reichsgewalt. Die „Autonomie“
beſteht nicht in einer eigenthümlichen Form, in welcher Geſetze zu
Stande kommen, ſondern in der ſelbſtſtändigen Befugniß, Ge-
ſetze zu erlaſſen. Dieſe Befugniß ſetzt ein Subject voraus, dem
ſie zuſteht; im Reichslande fehlt ein ſolches Subject.
2. Der Weg der elſaß-lothringiſchen Landes-
geſetzgebung.
Durch das Reichsgeſetz v. 2. Mai 1877 ſind für den Erlaß
von Landesgeſetzen zwei Wege gegeben. Der eine derſelben iſt
der gewöhnliche Weg der Reichsgeſetzgebung; er entſpricht dem
eben entwickelten Charakter der Landesgeſetze für E.-L. als Reichs-
geſetze, er iſt theoretiſch der reguläre, der ratio negotii entſpre-
chende, und war bis zum Geſ. v. 2. Mai 1877 der einzig zu-
läſſige. Der zweite durch das Geſ. v. 2. Mai 1877 geſchaffene
Weg bildet ein ius singulare; er beſteht in einer Nachbildung des
in den Bundesſtaaten für die Landesgeſetzgebung beſtehenden Weges.
Dieſer ſinguläre Weg ſoll nach dem Reichsgeſ. v. 2. Mai 1877
[142]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
regelmäßig befolgt werden, dagegen der begrifflich reguläre
Weg der Reichsgeſetzgebung nur ausnahmsweiſe oder ſubſi-
diär eingeſchlagen werden 1). Er unterſcheidet ſich von dem ordent-
lichen Wege der Reichsgeſetzgebung in folgenden Punkten:
a) Die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes.
Die Zuſtimmung des Reichstages iſt erſetzt durch die Zuſtim-
mung des durch den Kaiſerl. Erlaß vom 29. Oktober 1874 2) ein-
geſetzten Landesausſchuſſes.
Dieſer Erlaß ermächtigte den Reichskanzler, Entwürfe von
Geſetzen für Elſaß-Lothringen über ſolche Angelegenheiten, welche
der Reichsgeſetzgebung durch die Verfaſſung nicht vorbehalten ſind,
einſchließlich des Landeshaushalts-Etats, einem aus Mitgliedern
der Bezirkstage zu bildenden Landes-Ausſchuß zur gutacht-
lichen Berathung vorzulegen, ehe ſie den „zuſtändigen Faktoren
der Geſetzgebung zur Beſchlußfaſſung zugehen“ 3). Dieſer Erlaß
hat keinen Rechtsſatz geſchaffen; er hatte bis zu dem Geſetz
v. 2. Mai 1877 nur die Bedeutung einer Inſtruktion für den
mit der Vorbereitung der Geſetzgebungs-Arbeiten für Elſaß-Loth-
ringen betrauten Reichskanzler. Seine politiſche Wichtigkeit darf
nicht unterſchätzt werden; ſtaatsrechtlich aber bedeutete er Nichts.
Denn es beſteht ohnehin kein rechtliches Hinderniß für die Regie-
rung, über Geſetzentwürfe gutachtliche Aeußerungen einzuholen,
bevor ſie dem Bundesrath oder Reichstag zur Beſchlußfaſſung
vorgelegt werden; und es iſt andererſeits durch den Erlaß die
[143]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Einholung des Gutachtens des Landesausſchuſſes für Geſetze,
welche die ſogen. inneren Angelegenheiten Elſaß-Lothringens be-
treffen, nicht zum rechtlichen Erforderniß erklärt geworden. Auch
wenn die Begutachtung Seitens des Landesausſchuſſes nicht er-
folgt iſt, kann das Reichsgeſetz rechtsgiltig zu Stande kommen 1).
Mit Recht iſt daher die Bezugnahme auf das eingeholte Gutachten
des Landesausſchuſſes in der Promulgationsformel der für Elſaß-
Lothringen ergangenen Reichsgeſetze fortgeblieben.
Erſt das Geſetz vom 2. Mai 1877 hat dem erwähnten Erlaß
vom 29. Oktober 1874 eine ſtaatsrechtliche Bedeutung verliehen,
indem es die gutachtliche Aeußerung des Landesausſchuſſes in eine
Zuſtimmung zu den Landesgeſetzen verwandelte und dieſer Zu-
ſtimmung die Kraft beilegte, die Zuſtimmung des Reichstages zu
erſetzen.
Der Erlaß vom 29. Oktober 1874 war nicht in der für
Schaffung eines Rechtsſatzes erforderlichen Geſetzesform ergangen.
Dieſen Mangel hat das R.-G. v. 2. Mai 1877 gehoben. Das-
ſelbe hat den Erlaß mit der Kraft eines Reichsgeſetzes ausge-
ſtattet; er iſt als Anlage zu dem Geſetz im R.-G.-Bl. verkündet;
und er kann fortan nur durch Reichsgeſetz d. h. im ordent-
lichen Wege der Reichsgeſetzgebung abgeändert oder auf-
gehoben werden 2).
Außer der Zuſtimmung des Landes-Ausſchuſſes iſt die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes zu dem Inhalt des Geſetzes er-
forderlich; in dieſer Beziehung beſteht kein Unterſchied zwiſchen
dem Weg der ordentlichen Reichsgeſetzgebung und dem Weg der
elſaß-lothringenſchen Landesgeſetzgebung.
b) Die Sanction.
Nach dem R.-G. v. 2. Mai 1877 §. 1 werden die Landes-
geſetze für Elſaß-Lothringen mit Zuſtimmung des Bundesrathes
vom Kaiſer erlaſſen. Hierin beſteht der zweite wichtige
Unterſchied zwiſchen der Landesgeſetzgebung für Elſaß-Lothringen
und der ordentlichen Reichsgeſetzgebung. Ganz ebenſo wie nach
dem Geſetz vom 9. Juni 1871 iſt auch nach dem Geſetz vom
[144]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
2. Mai 1877 die Sanction der Landesgeſetze dem Kaiſer
übertragen, während ſie nach der Reichs-Verfaſſung dem
Bundesrath zuſteht. Alles was oben S. 127 fg. über dieſen
Unterſchied für die Zeit bis zum 31. Dezember 1873 aus-
geführt worden iſt, findet auch Anwendung auf die Zeit ſeit der
Rechtskraft des Geſetzes vom 2. Mai 1877. Der Bundesrath
hat demnach keine andere Befugniß, wie der Landesausſchuß; er
iſt der eigentliche Geſetzgeber nicht; ſeine Zuſtimmung iſt lediglich
eine Vorausſetzung für den Erlaß eines Geſetzes Seitens des
Kaiſers. Zwar unterſcheidet die Faſſung des §. 1 cit. die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes von derjenigen des Landesausſchuſſes
durch eine verſchiedene Art der Erwähnung; wirklich entſcheidend
aber iſt allein der Satz, daß dem Kaiſer das Placet der Landes-
geſetze zuſteht und er nicht rechtlich verpflichtet iſt, ein vom
Bundesrath beſchloſſenes Geſetz auszufertigen und zu ver-
kündigen 1).
c) Die Ausfertigung der Landesgeſetze erfolgt wie die
der Reichsgeſetze durch den Kaiſer. Durch dieſelbe wird unter
Verantwortlichkeit des gegenzeichnenden Reichskanzlers formell con-
ſtatirt, daß der Landesausſchuß und der Bundesrath den beſte-
henden Rechtsvorſchriften gemäß dem Geſetz zugeſtimmt haben.
d) Die Verkündigung der Landesgeſetze für Elſaß-Loth-
ringen erfolgt auch nach Einführung der R.-V. noch durch das
Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen 2) und zwar auch dann, wenn ſie
im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſſen werden 3). Die Richtig-
keit dieſes Verfahrens iſt aber ſtaatsrechlich äußerſt bedenklich.
Denn auch dieſe Geſetze ſind, wie wiederholt dargethan worden iſt,
[145]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Reichsgeſetze; es findet daher auf ſie der Art. 2 der R.-V. An-
wendung. Durch Einf. der R.-V. ſind die Beſtimmungen des
Geſetz vom 3. Juli 1871, inſoweit ſie mit den Anordnungen
der Reichs-Verfaſſung im Widerſpruch ſtehen, aufgehoben 1).
Durch das Geſetz vom 2. Mai 1877 aber ſind dieſe Beſtimmun-
gen nicht wieder in Kraft geſetzt worden, da dieſes Geſetz über die
Verkündigung der Landesgeſetze für Elſaß-Lothringen gänzlich
ſchweigt. Man könnte ſich allenfalls darauf berufen, daß auch das
Geſetzblatt für Elſaß-Lothr. begrifflich „ein Reichsgeſetzblatt“ ſei
und daher die Verkündigung mittelſt deſſelben den Anforderungen
des Art. 2 der R.-V. genüge; offenbar ſetzt aber dieſer Art. 2
ſowie die zur Ausführung deſſelben ergangene V. v. 26. Juli
1867 ein einheitliches, alle Reichsgeſetze in ſich vereinigendes Ge-
ſetzblatt voraus.
Eine bisher unangefochtene Praxis hat aber die Verkündi-
gung der Landesgeſetze für Elſaß-Lothringen in dem Geſetzblatt
für Elſaß-Lothringen für rechtswirkſam erachtet und es ſprechen
dafür in der That Gründe der Zweckmäßigkeit 2). Empfehlens-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 10
[146]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
werth dürfte es aber doch vielleicht ſein, die in dem Geſetz vom
25. Juni 1873 und 2. Mai 1877 gelaſſene Lücke über den Pu-
blikations-Modus der Landesgeſetze durch ein nachträgliches Reichs-
geſetz auszufüllen, das am beſten die Form der authentiſchen Inter-
pretation haben könnte.
3. Das Verhältniß der im Wege der Landesgeſetz-
gebung zu den im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſ-
ſenen Geſetzen.
Wenn man von dem Grundſatz ausgeht, daß Landesgeſetze
für Elſaß-Lothringen Provinzialgeſetze des Reiches ſind,
ſo folgt von ſelbſt daraus, daß die ſonſt geltenden Regeln über
das Verhältniß von Landesgeſetzen und Reichsgeſetzen unanwend-
bar ſind und daß im Falle eines Widerſpruches einfach die Regel
lex posterior derogat priori entſcheidet. Dies findet unzweifelhaft
Anwendung auf die im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſſenen
Landesgeſetze. Durch ein Reichsgeſetz kann jedes Reichsgeſetz, mit
Einſchluß der Reichsverfaſſung ſelbſt, für Elſaß-Lothringen abge-
ändert oder aufgehoben werden; ſo gut dies zuläſſig iſt, wenn es
ausdrücklich geſchieht, kann es auch thatſächlich geſchehen, indem
Angelegenheiten der Landesgeſetzgebung in einer mit älteren reichs-
geſetzlichen Anordnungen im Widerſpruch ſtehenden Weiſe durch
Reichsgeſetz geregelt werden. Es iſt dieſelbe Staatsgewalt,
welche die Reichsgeſetze und Landesgeſetze für Elſaß-Lothringen
erläßt und mithin muß der letzte Willensact derſelben als der
Ausdruck des gegenwärtigen Willens dem früheren vorgehen.
Für die im Wege der Landesgeſetzgebung d. h. gemäß §. 1
des Geſ. v. 2. Mai 1877 erlaſſenen Geſetze gilt dies aber nicht;
dieſelben ſind nicht im Stande, Reichsgeſetze aufzuheben oder ab-
zuändern. Es folgt dies aus §. 2 Abſ. 2 dieſes Geſetzes. Dar-
aus ergiebt ſich die ſtaatsrechtliche Natur dieſer Landesgeſetzgebung.
Dieſelbe beruht auf einer Delegation der Geſetzge-
bungs-Befugniß des Reiches an den Kaiſer. Die
Landesgeſetze für Elſaß-Lothringen, welche nach §. 1 des Geſetzes
vom 2. Mai 1877 erlaſſen werden, ſind im Vergleich zu den for-
mellen Reichsgeſetzen Kaiſerliche Verordnungen, welche
2)
[147]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
unter Zuſtimmung des Bundesrathes und Landesausſchuſſes, auf
Grund der im §. 1 des Geſetzes vom 2. Mai 1877 ertheilten Er-
mächtigung, erlaſſen werden. Wenn ſie auch den Namen Landes-
geſetze wegen der Theilnahme des Landes-Ausſchuſſes an ihrer
Herſtellung führen, ſo wurzelt doch die Befugniß zu ihrem Erlaß
nicht unmittelbar in der Souveränetät, ſondern in einer Ermächti-
gung, welche der Souverän (das Reich) geſetzlich dem Kaiſer er-
theilt hat.
Von dieſem Satz aus läßt ſich eine Frage beantworten, welche
die ſchlechte Faſſung des Geſ. v. 2. Mai 1877 hervorruft und
ungelöſt läßt. Der §. 2 lautet nämlich:
„Die Erlaſſung von Landesgeſetzen (§. 1) im Wege der Reichs-
geſetzgebung bleibt vorbehalten. Die auf Grund dieſes
Vorbehaltes erlaſſenen Landesgeſetze können nur im Wege
der Reichsgeſetzgebung aufgehoben oder geändert werden.“
Wie verhält es ſich mit den vor dem Mai 1877 im Wege
der Reichsgeſetzgebung erlaſſenen Landesgeſetzen? 1) Dieſelben ſind
nicht „auf Grund dieſes Vorbehaltes“ erlaſſen, ſondern auf Grund
des Geſetzes v. 9. Juni 1871 und v. 25. Juni 1873. Können
auch dieſe Geſetze nur im Wege der Reichsgeſetzgebung oder auch
auf dem im §. 1 des Geſ. v. 2. Mai 1877 vorgezeichneten Wege
der Landesgeſetzgebung abgeändert werden? Von dem oben ent-
wickelten Satze aus beantwortet ſich die Frage in dem erſten Sinn;
was im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſſen iſt, kann nicht im
Wege der Landesgeſetzgebung aufgehoben oder verändert werden,
weil ein Geſetz des Reiches nicht durch einen Willensact ſeines
Delegaten aufgehoben werden kann.
Nach dieſem Prinzip beſtimmt ſich ferner der Umfang des
Prüfungsrechtes der Gerichte, Behörden, Unterthanen u. ſ. w. ge-
genüber der Rechtsgültigkeit der nach §. 1 des Geſ. vom 2. Mai
1877 ergangenen Landesgeſetze. Da ſie auf einer Delegation be-
ruhen, ſind diejenigen Grundſätze analog anzuwenden, welche oben
S. 86 ff. hinſichtlich der Verordnungen entwickelt ſind. Dem
Prüfungsrechte entzogen ſind diejenigen Thatſachen, welche in
der Promulgationsformel rechtsverbindlich conſtatirt ſind, nämlich
10*
[148]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
die verfaſſungsmäßig erfolgte Zuſtimmung des Landesausſchuſſes
und des Bundesrathes und die Sanction des Kaiſers. Dem Prü-
fungsrechte unterworfen iſt die Frage, ob dieſe Geſetze nicht
materiell die in der Delegation enthaltenen Gränzen überſchreiten
d. h. etwas enthalten, was nach der Reichsverfaſſung der Reichs-
geſetzgebung vorbehalten iſt, oder was einem auf Grund der
R.-V. erlaſſenen Reichsgeſetz oder einem im Wege der Reichs-
geſetzgebung erlaſſenen Landesgeſetz widerſpricht.
4. Die Rechtsverordnungen.
Das Reichsgeſ. v. 25. Juni 1873 §. 8 ermächtigt bis zu
anderweiter geſetzlicher Regelung den Kaiſer, unter Zu-
ſtimmung des Bundesrathes Verordnungen mit geſetzlicher Kraft
zu erlaſſen; ſie geſtattet alſo den Erlaß von Rechtsvorſchriften in
derjenigen Form, welche in der Zeit von der Einverleibung Elſaß-
Lothringens bis zur Einführung der Reichsverf. die alleinige Ge-
ſetzgebungsform war. Die Anwendung dieſer Form iſt aber an
eine dreifache Schranke gebunden:
a) „Dieſelben dürfen Nichts beſtimmen, was der Verfaſ-
ſung oder den in Elſaß-Lothringen geltenden Reichsgeſetzen
zuwider iſt, und ſie dürfen ſich nicht auf ſolche Angelegenheiten
beziehen, in welchen nach dem Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 2
die Zuſtimmung des Reichstages erforderlich iſt“ 1). Ausgeſchloſſen
iſt dieſe Form demnach in allen denjenigen Angelegenheiten, welche
nach der Reichsverfaſſung der Reichsgeſetzgebung vorbehalten ſind;
und ſie iſt ferner auch im Bereiche der Landesgeſetzgebung nur
zuläſſig unter Wahrung derjenigen Vorſchriften der Landesgeſetze,
welche im Wege der Reichsgeſetzgebung ergangen ſind 2).
b) Die Verordnungen dürfen nur erlaſſen werden, „während
der Reichstag nicht verſammelt iſt“. Die kaiſerl. Verord-
[149]§. 62. Die Geſetzgebung für Elaß-Lothringen.
nung, durch welche der Reichstag einberufen wird und welche den
Tag ſeines Zuſammentretens angiebt, wird im Reichsgeſetzblatt
bekannt gemacht; dagegen iſt es nicht üblich, den Tag, an welchem
der Reichstag vertagt oder geſchloſſen wird, im Reichsgeſetzbl. mit-
zutheilen. Aus dem R.-G.-Bl. iſt demnach nicht zu erſehen, ob
das Datum der Verordnung in einen Zeitraum fällt, während
deſſen der Reichstag nicht verſammelt geweſen iſt. Ebenſo wenig
wird in der Promulgationsformel der Verordnung dieſe Thatſache
ausdrücklich conſtatirt; indeß kann eine Vermuthung für das Vor-
handenſein dieſer Vorausſetzung daraus hergeleitet werden, daß in
der Promulgationsformel der §. 8 des Geſ. v. 25. Juni 1873 in
Bezug genommen wird.
c) Die Verordnungen ſind dem Reichstage bei deſſen
nächſtem Zuſammentritt zur Genehmigung vorzulegen. Sie treten
außer Kraft, ſobald die Genehmigung verſagt wird. Man nennt
Verordnungen dieſer Art gewöhnlich Verordnungen mit interimi-
ſtiſcher oder proviſoriſcher Geſetzeskraft. Die juriſtiſche Charakte-
riſirung derſelben beſteht darin, daß der Geſetzesbefehl unter einer
Reſolutivbedingung erlaſſen wird; wenn dieſe Reſolutivbedingung
eintritt, d. h. wenn der Reichstag die Genehmigung verſagt, ſo fällt
der Geſetzesbefehl ex nunc fort 1). Der Verſagungsbeſchluß muß
vom Reichskanzler ſofort im Geſetzblatt bekannt gemacht werden; aber
auch wenn er dies unterläßt, hat die Verordnung keine Kraft mehr;
denn ſie verliert dieſelbe durch den Beſchluß des Reichstages, nicht
durch die Bekanntmachung des Reichskanzlers über dieſen Beſchluß 2).
Ertheilt der Reichstag die Genehmigung, ſo iſt eine Verkündigung
dieſes Beſchluſſes zwar nicht weſentlich, da ſich an der Geltung
der Verordnung nichts ändert, ſondern nur der Nichteintritt der
[150]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Reſolutivbedingung entſchieden iſt 1); thatſächlich beſteht aber die
Praxis, den Genehmigungsbeſchluß des Reichstages im Geſetzbl.
f. E.-L. zu publiziren. Ob Verordnungen dieſer Art, nachdem der
Reichstag die Genehmigung derſelben ertheilt hat, fortan nur im
Wege der Reichsgeſetzgebung aufgehoben werden können oder ob
ſie auch fernerhin durch kaiſerl. Verordnung nach §. 8 cit. oder
durch ein nach dem Geſ. v. 2. Mai 1877 zu Stande gebrachtes
Landesgeſetz abgeändert werden können, iſt geſetzlich nicht be-
ſtimmt.
Es entſteht die Frage, ob die im §. 8 des Geſ. v. 25. Juni
1873 ertheilte Ermächtigung durch das R.-G. v. 2. Mai 1877
aufgehoben iſt oder ob ſie neben demſelben fortbeſteht. Die Faſ-
ſung des Geſ. v. 2. Mai 1877 iſt eine ſo unklare, daß ſie nicht
einmal über dieſen wichtigen Punkt Auskunft gewährt. Der §. 8
des Geſ. v. 25. Juni 1873 ertheilte die Ermächtigung „bis zu
anderweiter geſetzlicher Regelung“; es frägt ſich, ob dieſe ander-
weite geſetzliche Regelung in dem R.-G. v. 2. Mai 1877 zu er-
blicken und demgemäß mit dem Inkraftreten des letzteren der dies
ad quem eingetreten und die Ermächtigung des §. 8 erloſchen iſt.
So ſehr ſachliche Gründe hierfür ſprechen würden, ſo iſt dieſe
Frage dennoch zu verneinen. Nach ſeinem Wortlaut führt das
Geſ. v. 2. Mai 1877 einen Weg der Landesgeſetzgebung neben
und an Stelle des Weges der formellen Reichsgeſetzgebung ein;
es erſetzt die Zuſtimmung des Reichstages durch die Zuſtimmung
des Landesausſchuſſes; aber es beſtimmt nicht, daß in ſolchen
Fällen, in denen bis dahin die Zuſtimmung des Reichstages nicht
erforderlich war, in Zukunft die Zuſtimmung des Landesausſchuſſes
eingeholt werden müſſe. Von der Form der Verordnung und den
Bedingungen, unter denen dieſelbe zuläſſig iſt, ſpricht das Geſetz
v. 2. Mai 1877 gar nicht; daſſelbe hebt keine der bis dahin vor-
handen geweſenen Formen für den Erlaß von Rechtsvorſchriften
auf, ſondern es führt nur neben den beſtehenden noch eine neue
[151]§. 62. Die Geſetzgebung für Elſaß-Lothringen.
Form ein, die cumulativ den älteren hinzutritt. Dies wird auch
durch die Geſchichte des Geſetzes beſtätigt 1).
Die praktiſchen Conſequenzen ſind allerdings etwas ſonderbar.
Rechtsvorſchriften, die im Wege der Landesgeſetzgebung, alſo mit
Zuſtimmung des Bundesrathes und Landesausſchuſſes erlaſſen
worden ſind, können vom Kaiſer unter Zuſtimmung des Bundes-
rathes ohne Zuſtimmung des Landesausſchuſſes abgeändert wer-
den; es iſt dies auch dann zuläſſig, während der Landes-
ausſchuß verſammelt iſt, wofern nur der Reichstag nicht
verſammelt iſt 2); ſolche Verordnungen ſind zur Genehmigung
nicht dem Landesausſchuß, ſondern dem Reichstage vorzu-
legen und ſie treten außer Kraft, wenngleich der Landesausſchuß
ihnen nachträglich zugeſtimmt hat, falls der Reichstag ſeine Ge-
nehmigung verſagt. Dieſe Uebelſtände wären vermieden worden,
wenn in das Geſ. v. 2. Mai 1877 die Beſtimmung aufgenommen
worden wäre, daß der §. 8 des Geſetzes vom 25. Juni 1873
mit der Maßgabe in Geltung bleibt, daß wo in demſelben vom
Reichstage die Rede iſt, der Landesausſchuß an deſſen Stelle
tritt 3).
5. Nach den vorſtehenden Erörterungen giebt es demnach in
Elſaß-Lothringen gegenwärtig folgende Formen für den Erlaß von
Rechtsvorſchriften:
a) Reichsgeſetze im formellen Sinne. Sie werden vom Kaiſer
[152]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
unter Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages ver-
kündet.
b) Landesgeſetze im formellen Sinne. Sie werden vom Kai-
ſer unter Zuſtimmung des Bundesrathes und des Landes-
ausſchuſſes erlaſſen auf Grund des §. 1 des Geſ. v. 2. Mai
1877.
c) Verordnungen auf Grund des §. 8 des Geſ. v. 25. Juni
1873. Sie werden vom Kaiſer mit Zuſtimmung des Bundes-
rathes erlaſſen und ſind dem Reichstag zu nachträglicher Geneh-
migung vorzulegen.
d) Ausführungs-Verordnungen zu Landesgeſetzen. Sie
werden auf Grund des §. 3 Abſ. 1 des R.-G. v. 9. Juni 1871
vom Kaiſer erlaſſen.
e) Ausführungs-Verordnungen zu Reichsgeſetzen, welche
nach Maßgabe der in den Reichsgeſetzen enthaltenen Delegation
zu erlaſſen ſind.
Achtes Kapitel.
Die Staatsverträge des Reiches.
§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur.
Willensakte des Staates können außer in der Form des Ge-
ſetzes auch in der Form des völkerrechtlichen Vertrages ſich voll-
ziehen. Den Gegenſtänden nach, welche der Einwirkung der ſtaat-
lichen Willensmacht unterworfen ſind, beſteht keine Abgrenzung
zwiſchen dem Gebiet der Geſetzgebung und dem Gebiete der Ver-
tragsſchließung. So wie die Form des Geſetzes nicht auf den
Erlaß von Rechtsvorſchriften beſchränkt iſt, ſondern auf jeden denk-
baren Willensact des Staates Anwendung finden kann, ſo iſt auch
Alles, was der Staat überhaupt wollen und thun kann, geeignet,
zum Gegenſtand eines Staatsvertrages gemacht zu werden 1). Aus
[153]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
dieſem Grunde müſſen die Rechtsſätze über die Erforderniſſe und
Wirkungen der Staatsverträge in Einklang ſtehen mit den Rechts-
grundſätzen über die Geſetzgebung, weil ſonſt die Regeln, welche
über eine dieſer beiden Formen ſtaatlicher Willensacte beſtehen,
durch Anwendung der andern Form illuſoriſch gemacht werden
könnten. Dieſe Harmonie iſt auch in der That in vollſtem Maße
vorhanden und es iſt zur theoretiſchen Erkenntniß derſelben nur
erforderlich, die juriſtiſchen Vorgänge und Willenserklärungen zu
analyſiren, welche ſich bei dem Abſchluß und der Durchführung
von Staatsverträgen verwirklichen.
Von einem Geſetz unterſcheidet ſich ein Staatsvertrag auf den
erſten Blick dadurch, daß das Geſetz ein Befehl iſt, den die
Staatsgewalt an ihre Unterthanen erläßt, daß der Staatsvertrag
dagegen ein Verſprechen iſt, welches einem gleichberechtigten
Contrahenten ertheilt wird. In dem Staatsvertrage verpflichtet
ſich der Staat — oder der Geſchäftsführer des Staates Namens
deſſelben — etwas zu geben, zu thun, zu unterlaſſen. Während
nun der Staat die Befolgung ſeiner Befehle von ſeinen Untertha-
nen durch die ſtaatlichen Machtmittel erzwingt, kann es keinen
ſtaatlichen Zwang zur Erfüllung von Staatsverträgen geben,
da der Staat nicht gegen ſich ſelbſt Zwang zu üben vermag; ſon-
dern es giebt lediglich einen völkerrechtlichen Zwang, welchen
der eine Contrahent gegen den andern zur Anwendung bringt,
wenn er es für erforderlich oder nützlich hält. Ein Staatsvertrag
hat an und für ſich gar keine Rechtswirkungen nach Innen (gegen
Behörden und Unterthanen), ſondern einzig und allein nach Außen.
Staatsverträge ſind Rechtsgeſchäfte, durch welche nur die Contra-
henten gegen einander Anſprüche und Verpflichtungen begründen.
Durch den Abſchluß des Vertrages iſt in keiner Weiſe eine recht-
liche oder thatſächliche Gewißheit geboten, daß der Vertrag auch
wirklich erfüllt wird; manche Staatsverträge bleiben unausgeführt,
bisweilen unter ſtillſchweigender Zuſtimmung beider Contrahenten,
bisweilen auch weil ein Contrahent auf die Ausführung nicht
1)
[154]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
dringen kann oder will. Die Entſcheidung, ob ein Staatsvertrag
erfüllt oder ob die völkerrechtlichen Folgen der Nichterfüllung ge-
tragen werden ſollen, ſteht in jedem Falle nur dem Staate als
ſolchem, der Regierung, nicht den einzelnen Unterthanen oder Be-
hörden zu. Der völkerrechtliche Vertrag als ſolcher verpflichtet die
letzteren niemals und unter keinen Umſtänden und die einzelnen
Behörden und Unterthanen ſind in keinem Falle weder befugt noch
im Stande, den Vertrag zu erfüllen. Nur der Staat als ſolcher,
der das alleinige Subject der aus dem Staatsvertrage hervor-
gehenden Pflichten iſt, vermag dieſelben zu erfüllen. Dieſe Er-
füllung aber geſchieht in der Mehrzahl der Fälle durch einen
Befehl an die Unterthanen reſp. Behörden. Wenn z. B. ein
Schutz- und Trutzbündniß mit einer andern Macht abgeſchloſſen
wird, ſo iſt dieſer Vertrag für die Staatsangehörigen ohne alle und
jede Rechtswirkung; ſie gehorchen, falls daſſelbe zu einem Kriege
führt, lediglich der Einberufungs-Ordre, dem Marſchbefehl, dem
Geſetz, welches ihnen die zur Kriegsführung erforderlichen finan-
ziellen Leiſtungen auferlegt u. ſ. w., alſo nicht die Vereinbarung
unter den Staaten äußert rechtliche Wirkungen auf die Angehöri-
gen eines derſelben, ſondern innerhalb jedes Staates wirkt einzig
und allein der von der Staatsgewalt ausgehende Befehl. Ohne
einen ſolchen Befehl darf der einzelne Staatsangehörige gar nicht
nach eigenem Ermeſſen jenes Bündniß erfüllen. Ganz daſſelbe gilt
nun, wenn zwei Staaten übereinkommen, gewiſſe Geſchäfte nach
gleichmäßigen Grundſätzen zu verwalten, gewiſſe Einrichtungen über-
einſtimmend zu treffen, ſich gegenſeitige Dienſte zu leiſten u. ſ. w.
Ein ſolcher Vertrag verpflichtet die Behörden der einzelnen Staaten
nicht nur nicht, ihn zu erfüllen, ſondern ſie ſind auch nicht einmal
befugt, ihn zur Richtſchnur ihrer amtlichen Thätigkeit zu nehmen,
ſo lange ſie nicht von der vorgeſetzten Behörde, alſo in letzter In-
ſtanz von der Centralregierung ihres Staates, den Befehl er-
halten haben, dem Vertrage gemäß zu handeln; und der Vertrag
verliert für ſie ſofort jede Geltung, ſo bald ſie von der vorgeſetzten
Behörde die Weiſung bekommen, im Widerſpruch mit demſelben
zu verfahren. Auch hier iſt es alſo nicht der Vertrag, ſondern
der dienſtliche Befehl der vorgeſetzten Behörde, die Verwaltungs-
Verordnung, welche innerhalb des einzelnen Staates rechtliche
Wirkungen entfaltet.
[155]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
Wenn nun ein Staatsvertrag einen Inhalt hat, welcher die
in einem oder mehreren der contrahirenden Staaten beſtehenden
Rechtsſätze verändert oder aufhebt oder die Schaffung neuer Rechts-
regeln erfordert, ſo iſt es wieder nicht der Staatsvertrag, der im
Stande wäre, dieſe Rechtsſätze hervorzubringen, ſondern der Staats-
vertrag erzeugt nur die Verpflichtung für die contrahirenden Staaten,
daß dieſe und zwar jeder in ſeinem Gebiete die vereinbarten
Rechtsſätze ſchaffen. Dazu iſt ein Befehl der Staatsgewalt er-
forderlich, welcher die Befolgung der in dem Vertrage enthaltenen
Rechtsregeln anordnet, ſie mit Geſetzeskraft ausſtattet, d. h. ein
Geſetzesbefehl.
Der Abſchluß eines Staatsvertrages erzeugt demgemäß nie-
mals irgend welche Rechtsſätze oder Verwaltungs-Normen, ſondern
er begründet lediglich die Verpflichtung des Staates zum Erlaß
derſelben. Durch den Erlaß dieſer Vorſchriften wird der Vertrag
erfüllt; die Behörden und Unterthanen, welche dann dieſe Ver-
waltungs-Vorſchriften und Rechtsſätze befolgen, erfüllen nicht mehr
den Staatsvertrag, ſondern den Befehl ihres Staates. Hier-
aus ergiebt ſich zunächſt ein ſehr wichtiges Reſultat. Ein Vertrag
kann vollwirkſam und gültig abgeſchloſſen ſein, d. h. völkerrechtliche
Verpflichtungen der Contrahenten erzeugen, und er kann
doch gleichzeitig für die Behörden und Unterthanen des Staates
rechtlich wie nicht vorhanden zu erachten ſein; wenn nämlich der
Befehl der Staatsgewalt, ihm gemäß zu handeln, gar nicht oder
nicht in der verfaſſungsmäßigen Form ergangen iſt. Inzwiſchen
iſt der Vertrag eben nicht erfüllt, was ein bei allen Verträgen des
Völkerrechts wie des Privatrechts mögliches und rechtlich durchaus
nicht unzuläſſiges Stadium iſt.
Die Richtigkeit dieſer Unterſcheidung ergiebt ſich in zweifel-
loſer Weiſe, wenn man ſich denkt, daß der abgeſchloſſene Staats-
vertrag gar nicht veröffentlicht wird. An der Verbindlichkeit des-
ſelben für die Staaten ändert dies nicht das Geringſte; die
Behörden und Unterthanen der contrahirenden Staaten können
aber unmöglich durch einen geheimen Staatsvertrag gebunden wer-
den; ſie werden nur verpflichtet durch die in verfaſſungsmäßiger
Form zur Erfüllung dieſes Vertrages ergehenden Befehle ihres
Staates; es iſt nicht erforderlich, daß es jemals bekannt wird,
daß dieſe Befehle auf Grund jenes Staatsvertrages ergangen ſind,
[156]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
und es iſt andererſeits ganz unerheblich, wenn der Staatsvertrag
nachträglich veröffentlicht wird. Staatsrechtlich kömmt es einzig
und allein auf die von der Staatsgewalt erlaſſenen Befehle an 1).
Die äußere Trennung des Vertrages, der unter den Staaten
abgeſchloſſen iſt, und der von den contrahirenden Staaten zur
Durchführung deſſelben erlaſſenen Befehle iſt aber in vielen Fällen
unzweckmäßig und mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die
Verträge enthalten regelmäßig gegenſeitige Zuſicherungen, die
nicht aus ihrem Zuſammenhange geriſſen werden können, ſie ent-
halten ferner Verabredungen, welche theils nur die Verwaltung
betreffen, theils in die Rechtsordnung eingreifen, und hier handelt
es ſich wieder theils um die Einführung neuer Verwaltungsvor-
ſchriften oder neuer Rechtsregeln, theils nur um die Aufrechterhal-
tung und die Fortdauer der beſtehenden Anordnungen. Es würde
deshalb eine keineswegs leichte und einfache Aufgabe ſein, wenn
der Staat im Anſchluß an den Staatsvertrag diejenigen Verfü-
gungen, Verordnungen und Geſetze formuliren und erlaſſen ſollte,
welche zur Durchführung des Vertrages erforderlich ſind 2). Der
[157]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
Staat erleichtert und vereinfacht ſich dies, indem er den allge-
meinen Befehl erläßt, den von ihm abgeſchloſſenen Vertrag zu
beobachten, ihm gemäß zu verwalten, zu urtheilen u. ſ. w. Dies
iſt die gewöhnliche und in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle
zur Anwendung kommende Form. Betrifft der Vertrag lediglich
Verwaltungsſachen, ſo genügt es, wenn er den betreffenden Be-
hörden mit der Verfügung, ihm gemäß zu verfahren, bekannt ge-
macht wird; greift er in den Bereich der Geſetzgebung ein, ſo muß
der Befehl ihn zu befolgen wie jeder andere Geſetzesbefehl ver-
kündet werden. So wie das gewöhnliche Geſetz aus zwei Theilen
beſteht, dem Geſetzesinhalt und dem den Geſetzesbefehl enthalten-
den Eingang, ſo wird auch der Staatsvertrag mit einem Eingange
verſehen, welcher die Befolgung deſſelben anbefiehlt. Faſt in allen
Staaten, namentlich auch in der Mehrzahl der Deutſchen Staaten
wird dieſes Verfahren beobachtet 1); es verſchafft dem wahren juri-
ſtiſchen Verhältniß, daß nicht der internationale Vertrags-Abſchluß
ſondern der ſtaatliche Befehl den in dem Vertrage enthaltenen
Sätzen innerhalb des Staats Rechtsgültigkeit und Geſetzeskraft er-
theilt, den deutlichen und zutreffenden Ausdruck.
Man kann nun aber noch einen Schritt weitergehen. Wenn
die Regierung einen von ihr abgeſchloſſenen Staatsvertrag den
Behörden mittheilt, ſo kann ſie die ausdrückliche Anordnung, den-
ſelben zu befolgen, als ſelbſtverſtändlich weglaſſen; die letztere er-
giebt ſich in concludenter und zweifelloſer Weiſe aus der That-
ſache der amtlichen Mittheilung ſelbſt. Der Befehl, den Vertrag
zu beobachten, kann ſtillſchweigend ertheilt werden. Denn daß
die Regierung einen von ihr abgeſchloſſenen Vertrag auch erfüllen
und ausführen will, iſt im Allgemeinen zu vermuthen und wird
im concreten Fall zweifellos, da die Regierung den Behörden doch
offenbar den Vertrag in der Abſicht und zu dem Zwecke mittheilt,
daß ſie ſich nach dem Inhalt deſſelben richten ſollen. Die ſtereo-
type Klauſel, durch welche dies den Behörden ausdrücklich anbe-
fohlen wird, iſt deshalb entbehrlich. Dieſe Form war ſeit langer
2)
[158]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
Zeit in Preußen üblich. Vor Einführung der conſtitutionellen
Verfaſſungsform machte es auch keinen Unterſchied, ob der Vertrag
lediglich die Verwaltungsthätigkeit oder auch die Rechtsordnung
berührte; für beide Arten von ſtaatlichen Anordnungen war der
Befehl des Königs genügend und nur darin beſtand ein Unter-
ſchied, daß die wichtigeren oder die das Publikum direct berühren-
den Staatsverträge, z. B. Handels- und Schifffahrtsverträge, in
der Geſetzſammlung verkündet, andere nur in den Amtsblättern
oder Miniſterialblättern abgedruckt oder den betreffenden Behörden
durch Cirkular-Verfügung mitgetheilt wurden.
Dieſe in Preußen übliche Form, welche den Befehl, den Ver-
trag zu befolgen, als ſelbſtverſtändlich unterdrückt, hat nun die
nachtheilige Folge, daß dieſer Befehl überhaupt überſehen werden
kann. Denn da er ſtillſchweigend ertheilt wird, ſo iſt er nicht ſinn-
lich wahrnehmbar, ſondern nur durch den Intellekt zu begreifen.
Es entſteht dann leicht die, durch den Anblick des nackten ohne
Verkündigungsformel abgedruckten Vertrages erzeugte Vorſtellung,
als ob Behörden und Unterthanen durch den Abſchluß des Ver-
trages zur Befolgung deſſelben verpflichtet wären und als wenn
die Verkündigung des Vertrages keine andere Bedeutung hätte als
ihn zur öffentlichen Kenntniß zu bringen. Der Staat ſelbſt ver-
ſchuldet die irrige Theorie, als könnten durch den Abſchluß eines
Staatsvertrages Verwaltungsvorſchriften oder gar Rechtsſätze er-
zeugt werden. Man überſieht das nothwendige Mittelglied und
verkennt die juriſtiſche Bedeutung der Verkündigung. Der Ab-
ſchluß des Vertrages conſtatirt nur den Willen des Staates, ſich
zu verpflichten; die Verkündigung des Vertrages conſtatirt den
Willen des Staates, die Verpflichtung zu erfüllen, indem die
Beobachtung des Vertrages anbefohlen wird. Die Verkündigung
iſt auch bei Staatsverträgen etwas weſentlich Anderes als die Ver-
öffentlichung; der bloße Abdruck eines Staatsvertrages in Zeitun-
gen, Zeitſchriften u. ſ. w. iſt ohne alle und jede rechtliche Bedeu-
tung. Der rechtliche Inhalt der Verkündigung iſt nicht die Be-
kanntmachung des Publikums mit dem Staatsvertrage, ſondern der
Befehl des Staates an Behörden und Unterthanen, den Vertrag
zu beachten. Völkerrechtlich iſt der Abſchluß des Vertrages
der entſcheidende Vorgang, ſtaatsrechtlich die Verkündigung;
die ſtaatsrechtliche Theorie aber hat ſich daran gewöhnt, ſich vor-
[159]§. 63. Begriff und juriſtiſche Natur der Staatsverträge.
zugsweiſe mit dem Abſchluſſe und nur nebenher und in flüchtiger
Kürze mit der Verkündigung der Staatsverträge zu beſchäftigen,
da dieſe Verkündigung ihrem äußeren Beſtande nach nichts weiter
enthält als den Wortlaut des Vertrages.
War dieſe Form ſchon vor der Einführung der conſtit. Verf.
eine incorrecte, ſo iſt ſie nach derſelben eine durchaus verwerf-
liche. Denn an dem Abſchluß des Vertrages iſt der Landtag
niemals betheiligt; dagegen kann der Befehl, den Vertrag zu be-
folgen, in allen Fällen, in denen der Vertrag in den Bereich der
Geſetzgebung eingreift, vom König nicht ohne Zuſtimmung des
Landtages erlaſſen werden. Die Mittheilung der Thatſache, daß
der König einen Staatsvertrag abgeſchloſſen hat, involvirt nicht
mehr die ſelbſtverſtändliche Anordnung, dieſen Vertrag zu befolgen;
denn dieſe Anordnung hat noch eine andere Vorausſetzung als
den Willen des Königs, nämlich die Zuſtimmung des Landtages;
folglich ſollte dieſe Anordnung nicht mehr ſtillſchweigend er-
theilt werden, ſondern unter Conſtatirung der vom Landtage er-
theilten Genehmigung.
Daß man die vor 1848 beſtehende Form beibehalten hat, be-
ruhte Anfangs vielleicht auf einem Irrthum über die juriſtiſche
Bedeutung der Verkündigung; und — wie unten näher ausgeführt
werden wird — darauf, daß man eine doppelte Ausfertigung des
Vertrages unterließ; daß man ſie ſpäter nicht änderte, auf der
Macht der Gewohnheit.
Im höchſten Grade zu bedauern iſt es aber, daß die Preuß.
Art der Verkündigung im Nordd. Bunde und im Deutſchen Reiche
beibehalten worden iſt; denn hier iſt der Kaiſer nicht der Souve-
rain, hier kömmt nicht blos der Reichstag ſondern auch der Bun-
desrath als ein eigenartiger Faktor in Betracht; hier wird das
Verhältniß der vom Reich ausgehenden Befehle zu den Befehlen
der Einzelſtaaten, insbeſondere alſo auch das Verhältniß der Staats-
verträge des Reiches zu den Landesgeſetzen der Einzelſtaaten von
Wichtigkeit; hier können die Sonderrechte der Einzelſtaaten in Be-
tracht kommen u. ſ. w. Der bloße Abdruck des Vertrages in dem
Reichsgeſetzblatt ohne jede Promulgationsformel trägt allen dieſen
Fragen keine Rechnung; er läßt den ſtaatsrechtlichen Vorgang,
welcher dem internationalen Rechtsgeſchäft die Bedeutung rechts-
verbindlicher Normen verſchafft, völlig im Dunkeln, und er iſt
[160]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Schuld daran, daß ſowohl die Theorie wie die Praxis hinſichtlich
der Behandlung, der Wirkung, der Erforderniſſe von Staatsver-
trägen eine ungemein unklare und ſchwankende iſt. Es erhöht dies
die großen Schwierigkeiten, welche die mißlungene Faſſung des Art. 11
der R.-V. ohnedies bere itet. Wenn man aber nicht gänzlich darauf
verzichtet, einen wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang in die Lehre von
den Staatsverträgen zu bringen, und wenn man ſie mit den übri-
gen Lehren des Staatsrechts in den unerläßlichen, praktiſch und
theoretiſch gleich unentbehrlichen Einklang ſetzen will, ſo darf man
ſich durch die fehlerhafte Art der Verkündigung nicht hindern laſſen,
denjenigen Willensact aus dem Dunkel hervorzuholen, auf welchem
die ſtaatsrechtliche Bedeutung eines Staatsvertrages allein beruht.
Wie bei der Geſetzgebung der ſtaatsrechtlich entſcheidende Vorgang
— die Sanction — äußerlich verſchwindet und von den übrigen
Erforderniſſen der Geſetzgebung verdeckt und verborgen iſt, ſo wird
auch der ſtaatsrechtlich entſcheidende Vorgang bei den Staatsver-
trägen — der Befehl ſie zu befolgen — bei der Verkündigung
gleichſam verſchluckt und deshalb der Aufmerkſamkeit der Staats-
rechtslehrer entzogen.
Im Folgenden ſollen die beiden Akte, der Abſchluß des völker-
rechtlichen Rechtsgeſchäftes und der ſtaatliche Befehl, auf dem die
verbindliche Kraft im Innern beruht, einer getrennten Erörterung
unterzogen werden.
§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
I.Die Legitimation zum Abſchluß.
Es iſt ein allgemeiner Rechtsgrundſatz, der ſowohl auf
dem Gebiete des Privatrechts wie auf demjenigen des öffentlichen
Rechts Geltung hat, daß der Vertreter eines Rechtsſubjekts das
letztere nur inſoweit rechtsgültig verpflichten kann, als er innerhalb
ſeiner Vertretungsbefugniß oder Vollmacht handelt. Dies gilt alſo
auch von demjenigen Organ, welches berufen iſt, für einen Staat
internationale Verträge abzuſchließen; dieſelben können völkerrechtliche
Gültigkeit nur erlangen, wenn jenes Organ innerhalb ſeiner verfaſ-
ſungsmäßigen Vertretungsbefugniß gehandelt hat. Wenn demnach
eine Verfaſſung den Grundſatz aufſtellt, daß der Souverain ohne
Genehmigung des Landtages oder der Präſident ohne Zuſtimmung
[161]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
einer ſouverainen (geſetzgebenden) Verſammlung zum Abſchluß
völkerrechtlicher Verträge nicht befugt iſt, ſo ſind Verträge, welche
unter Verletzung einer ſolchen Vorſchrift abgeſchloſſen ſind, null
und nichtig und ſie erzeugen keinerlei völkerrechtliche Verpflichtun-
gen. Denn Verfaſſungsbeſtimmungen dieſer Art heben die Legi-
timation des Souverains oder Präſidiums auf; ſie ſetzen ent-
weder an die Stelle derſelben die Legitimation des geſetzgebenden
Körpers und beſchränken den Souverain oder Präſidenten auf die
Führung der Verhandlungen und Vereinbarung eines Vertrags-
entwurfs, oder ſie begründen für den Souverain oder Landesherrn
eine bedingte Legitimation. Die Behauptung, daß ein ſolcher
Rechtsſatz nur innerhalb desjenigen Staates Wirkungen haben
könne, welcher ihn ſanctionirt hat, dagegen nicht für den andern
Staat, mit welchem der Vertrag geſchloſſen worden iſt, iſt völlig
unhaltbar. Denn jeder Contrahent muß die Legitimation desjeni-
gen, mit dem er verhandelt, prüfen; er muß die Dispoſitionsfähig-
keit und Stellvertretungsbefugniß deſſelben unterſuchen; er muß
auf eigene Gefahr feſtſtellen, daß derſelbe die rechtliche Macht hat,
das Subject, Namens deſſen er handelt, zu vertreten und zu ver-
pflichten; er muß daher namentlich bei Geſchäften mit juriſtiſchen
Perſonen ſich eine ſolche Kenntniß von ihrer Verfaſſung verſchaffen,
als erforderlich iſt, um beurtheilen zu können, wer zur Vertretung
der juriſtiſchen Perſon befugt und legitimirt iſt. Ueber dieſen
Rechtsſatz waren ſeit Hugo Grotius alle Autoritäten des Völker-
rechts einig 1) und es iſt auch in der That nicht möglich, ihn zu
leugnen, ohne mit den Grundbegriffen des Rechts und der Logik
in Conflict zu gerathen.
Allein eine ganz andere Frage iſt die, ob das poſitive Recht
eines Staates, welches die Genehmigung der Volksvertretung zu
Staatsverträgen oder zu gewiſſen Arten derſelben vorſchreibt, da-
durch die Legitimation des Staatsoberhauptes zur völker-
rechtlichen Vertretung aufheben oder beſchränken will, oder ob es
nur das Staatsoberhaupt bei der Vollziehung des Vertrages
an die Mitwirkung der Volksvertretung binden will. Daß das
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 11
[162]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Geſetz immer beides zugleich wollen müſſe, daß es mit ſich ſelbſt
in Widerſpruch treten würde, wenn es für die völkerrechtliche Gül-
tigkeit der Verträge andere Vorausſetzungen aufſtellen würde als
für ihre ſtaatsrechtliche Vollziehbarkeit, iſt unrichtig 1). Die Le-
gitimation zur Vertretung betrifft ein ganz anderes Rechts-
verhältniß, wie die Befugniß, Unterthanen und Behörden rechts-
gültige Befehle ertheilen zu dürfen. Sowie bei den Perſonen
des Privatrechts die Befugniß zur Vertretung derſelben mit rechts-
verbindlicher Kraft an ganz andere Bedingungen geknüpft ſein
kann, wie die Befugniß zur Geſchäftsführung, Vermögensverwal-
tung, Statutenveränderung, innerhalb der Korporation, ſo iſt auch
bei den Perſonen des öffentlichen Rechtes und insbeſondere bei
den Staaten weder ein begriffliches noch thatſächliches Hinderniß
gegeben, daß die Legitimation zur Vertretung durch andere Vor-
ſchriften geregelt iſt, wie die Befugniß zur Vornahme von Herr-
ſchaftsakten innerhalb des Staatsverbandes. Dazu fehlt es auch
nicht an Motiven. Denn für den völkerrechtlichen Verkehr wie
für den vermögensrechtlichen Privatverkehr beſteht das Bedürfniß,
die Legitimation des Mitcontrahenten leicht und ſicher feſtſtellen zu
können, äußerlich erkennbare und untrügliche Merkmale zu haben,
durch welche ſeine Vollmacht dargethan wird, vor Ausflüchten und
Einreden wegen mangelnder Stellvertretungsbefugniß geſichert zu
ſein. Deshalb iſt es nicht nur rechtlich möglich, ſondern es
kann ſich auch aus praktiſchen Gründen empfehlen, das Staats-
oberhaupt mit der formellen Legitimation nach Außen, mit der
Befugniß zum Abſchluß völkerrechtlicher Verträge auszuſtatten,
und doch gleichzeitig bei der Vollziehung der Vertragsverpflich-
tungen innerhalb des Staates ihn denſelben Beſchränkungen zu
unterwerfen, welche für andere Regierungsakte beſtehen. Dies iſt
unbeſtrittener Weiſe in England geſchehen 2); daſſelbe Recht iſt
[163]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
verfaſſungsmäßig in Belgien und im Anſchluß an die Beſtimmun-
gen der belgiſchen Verfaſſung in Preußen anerkannt worden 1).
Es iſt unbedingt zuzugeben, daß dieſe verſchiedene Normirung der
völkerrechtlichen Legitimation und der ſtaatsrechtlichen Machtvoll-
kommenheit nicht allgemeine Anwendbarkeit auf alle Staaten hat,
nicht aus der juriſtiſchen Natur der conſtitutionellen Staatsform
mit Nothwendigkeit ſich ergiebt, ſondern daß es eben lediglich eine
Frage des poſitiven Rechtes iſt, in wie weit nicht nur
die Vollziehung, ſondern zugleich auch die Legitimation zum Ab-
ſchluß von Staatsverträgen beſchränkenden Vorſchriften unter-
worfen iſt 2).
Dieſe Frage iſt nun mit Beziehung auf das Deutſche Reich
zu unterſuchen:
1. Der erſte Abſatz des Art. 11 der R.-V. ermächtigt
den Kaiſer, das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen
des Reiches Frieden zu ſchließen, Bündniſſe und andere Verträge
mit fremden Staaten einzugehen. Hierdurch wird die formelle
Legitimation des Kaiſers zur Vertretung des Reiches im völker-
11*
[164]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
rechtlichen Verkehr begründet; Abſ. 1 cit.enthält die allge-
meine ſtaatsrechtliche Bevollmächtigung des Kaiſers,
Rechtsgeſchäfte im Namen des Reiches mit fremden
Staaten abzuſchließen.
An die allgemeine im Abſ. 1 enthaltene Regel ſchließen ſich
aber zwei weitere Beſtimmungen an. Der zweite Abſatz, welcher
in der Verf. des Nordd. Bundes fehlte und erſt bei dem Eintritt
der ſüddeutſchen Staaten in den Bund hinzugefügt wurde, be-
ſtimmt, daß zur Erklärung des Krieges im Namen des Reiches
die Zuſtimmung des Bundesrathes erforderlich iſt, es ſei denn,
daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten erfolgt.
Der dritte Abſatz fügt die Regel hinzu:
„Inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf ſolche
Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der
Reichsgeſetzgebung gehören, iſt zu ihrem Abſchluß die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die
Genehmigung des Reichstages erforderlich“1).
Wenn man zunächſt für einen Augenblick zugiebt, daß ſich
dieſe Beſtimmung überhaupt auf die Legitimation zum Abſchluß
von Verträgen und auf die völkerrechtliche Verbindlichkeit
der letzteren bezieht, ſo iſt doch der Satz zweifellos und unbeſtreit-
bar, daß die im erſten Abſatz ertheilte Stellvertretungsbefugniß
durch Abſ. 3 nicht allgemein d. h. für alle Staatsverträge des
Reiches aufgehoben oder an Bedingungen geknüpft wird, ſondern
nur für eine gewiſſe Sorte von Staatsverträgen. Man würde daher
zunächſt folgendes Reſultat [gewinnen]: Es giebt zwei Klaſſen von
Staatsverträgen; die einen kann der Kaiſer mit völkerrechtlicher
Gültigkeit Namens des Reiches abſchließen; dagegen iſt er nicht
befugt, die anderen abzuſchließen, wofern er nicht die Zuſtimmung
des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichstages hat.
[165]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Die erſte Klaſſe würde die Regel, die zweite Klaſſe die Ausnahme
bilden. Es erhebt ſich nun die Frage, welche Verträge gehören
zu dieſer zweiten Klaſſe; welchen Umfang hat die Rechtsregel,
durch welche die Legitimation des Kaiſers zur völkerrechtlichen
Vertretung des Reiches an die Zuſtimmung des Bundesrathes und
Reichstages geknüpft wird?
2. Dieſe Frage beantwortet Abſ. 3 des Art. 11 durch die
Worte: „inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf
ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 in den Be-
reich der Reichsgeſetzgebung gehören.“ Art. 4 der R.-V.
zählt die Angelegenheiten auf, welche der Beaufſichtigung und
Geſetzgebung des Reiches unterliegen; er gränzt die Kompetenz
des Reiches gegen die Kompetenz der Einzelſtaaten ab 1); den
Gegenſatz zu den Gegenſtänden, welche nach Art. 4 in den Bereich
der Reichsgeſetzgebung gehören, bilden die Gegenſtände, welche
in den Bereich der Landesgeſetzgebung gehören. Eine wörtliche
Auslegung des Abſ. 3 giebt alſo das unſinnige und deshalb un-
mögliche Reſultat, daß wenn ein Staatsvertrag Gegenſtände be-
trifft, welche verfaſſungsmäßig zur Kompetenz des Reiches gehören,
der Kaiſer nicht befugt iſt, dieſen Vertrag abzuſchließen, ohne die
Zuſtimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichs-
tages einzuholen; hinſichtlich der Gegenſtände dagegen, welche
nicht zur Kompetenz des Reiches gehören, würde die all-
gemeine, im Abſ. 1 enthaltene Regel eintreten, daß der Kaiſer
ohne Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages Staatsver-
träge Namens des Reiches darüber abzuſchließen befugt wäre.
Daß dies der Sinn des Art. 11 nicht ſein kann, bedarf keiner
Ausführung. Der Kaiſer kann über Angelegenheiten, die der
Kompetenz des Reiches überhaupt nicht unterſtellt ſind, auch nicht
durch internationale Verträge verfügen 2). Die Vorſchriften, welche
für Verfaſſungs-Aenderungen gegeben ſind, müſſen vielmehr auch
in dem Falle zur Anwendung kommen, wenn mittelſt eines Staats-
[166]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
vertrages die verfaſſungsmäßige Grenzlinie der Reichskompetenz
abgeändert werden ſoll; folglich kann der Kaiſer nicht durch die
Verfaſſung ſelbſt die Befugniß erhalten haben, ohne Zuſtimmung
des Bundesrathes und Reichstages Staatsverträge über Gegen-
ſtände zu ſchließen, welche nicht zur verfaſſungsmäßigen Kompetenz
des Reiches gehören.
Man könnte darnach verſucht ſein, den Art. 11 in der Art zu
interpretiren, daß der Kaiſer zwar Verträge nur innerhalb der
dem Reiche zuſtehenden Kompetenz abſchließen dürfe, daß aber die
Kompetenz des Reiches in zwei Kreiſe zerfällt, von denen der eine
durch die im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Angelegenheiten
gebildet wird, der andere dagegen durch ſolche Angelegenheiten,
auf welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere
Beſtimmung der R.-V. oder der Reichsgeſetze erſtreckt wird 1). Dies
iſt aber nicht weniger abſurd. Darnach würden z. B. die Finanzen
des Reiches, welche im Art. 4 der R.-V. als ſelbſtverſtändlich
unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten
nicht beſonders aufgeführt worden ſind, zu denjenigen Gegenſtänden
gehören, auf welche die beſchränkende Vorſchrift des Art. 11 Abſ. 3
keine Anwendung findet. Daſſelbe würde von allen denjenigen An-
gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich
erſtreckt worden iſt, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Ver-
änderung erfahren hat. Es würde in der That dem Umſtande,
daß eine Befugniß des Reiches grade im Art. 4 der R.-V. und
nicht durch eine andere Geſetzesbeſtimmung anerkannt oder begrün-
det iſt, eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abſchluß von
Staatsverträgen beigelegt worden ſein. Art. 4 würde hinſichtlich
der Geſetzgebung die Kompetenz des Reiches gegen die Kompe-
tenz der Einzelſtaaten, dagegen hinſichtlich der Vertragsſchlieſ-
ſung die Kompetenz des Kaiſers gegen die Kompetenz des Bun-
desrathes und Reichstages abgrenzen.
Andererſeits ſtehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten,
welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung
gehören, auch Verwaltungsbefugniſſe zu. Der Art. 4 beſtimmt
durchaus nicht, daß das Reich hinſichtlich der daſelbſt aufgezählten
[167]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Gegenſtände, auf die Beaufſichtigung und den Erlaß von Geſetzen
beſchränkt iſt; einige der im Art. 4 aufgezählten Angelegen-
heiten ſind ausſchließlich, andere zum größten Theil in die un-
mittelbare Verwaltung des Reiches genommen; bei allen ſind Ver-
ordnungen des Kaiſers oder Reichskanzlers möglich. So weit die
Verwaltungsbefugniſſe des Reiches ſich erſtrecken oder dem Kaiſer
oder Reichskanzler das Verordnungsrecht geſetzlich übertragen iſt,
könnten durch Verfügung oder Verordnung die Beamten des Reiches
angewieſen werden, gewiſſe Geſchäfte in einer gewiſſen Art zu er-
ledigen. Und doch fallen völkerrechtliche Verträge über ſolche Ge-
genſtände unter die Beſtimmung des Art. 11 Abſ. 3. Der Kaiſer
könnte alſo die Zuſage, eine ſolche Verordnung zu erlaſſen, einem
fremden Staate zwar ohne Zuſtimmung des Bundesrathes und
Genehmigung des Reichstages nicht gültig ertheilen, wohl aber
wäre er ſtaatsrechtlich völlig befugt, dieſe Zuſage ſogleich rechts-
wirkſam zu erfüllen! 1)
Dem Wortlaut des Art. 11 Abſ. 3 liegt offenbar eine Ver-
wechslung zu Grunde zwiſchen den Angelegenheiten, welche zum
Bereich der Reichsgeſetzgebung (Kompetenz) gehören, und den-
jenigen Gegenſtänden, welche das Reich in der Form der Geſetz-
gebung erledigen ſoll. Dem Abſ. 3 iſt ein befriedigender Sinn
nur abzugewinnen, wenn man ihn trotz ſeines entgegenſtehenden
Wortlautes dahin auslegt, daß Willensakte, welche das Reich ver-
faſſungsmäßig nur unter Zuſtimmung des Bundesrathes und mit
Genehmigung des Reichstages, d. h. in der im Art. 5 definirten
Form des Reichsgeſetzes vornehmen kann, an dieſe Er-
forderniſſe auch dann gebunden ſein ſollen, wenn ſich das Reich
durch einen Staatsvertrag zur Vornahme derſelben verpflichtet hat.
Dieſes Kriterium wird aber nicht dadurch gegeben, ob der
Staatsvertrag einen Gegenſtand betrifft, welcher im Art. 4 der
R.-V. aufgeführt iſt oder nicht, ſondern einzig und allein dadurch,
ob zur Vollziehung des Staatsvertrages ein Befehl erforderlich iſt,
den der Kaiſer nur unter Zuſtimmung des Bundesrathes und mit
Genehmigung des Reichstages (im Geſetzgebungs-Wege)
erlaſſen kann, oder ob der Kaiſer die zur Erfüllung des Staats-
[168]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
vertrages erforderlichen Befehle ſelbſtſtändig (im Verordnungs-
Wege) zu erlaſſen befugt iſt 1).
In dieſem Sinne verſtanden iſt die Anordnung in Art. 11
Abſ. 3 nicht nur im Einklang mit den übrigen Vorſchriften der
R.-V. und der allgemein herrſchenden ſtaatsrechtlichen Theorie,
ſondern ſie iſt ganz unentbehrlich und im Grunde genommen völlig
ſelbſtverſtändlich. Denn die Rechte des Bundesrathes und des
Reichstages, an den Willensakten des Reiches mitzuwirken, könnten
mit Leichtigkeit umgangen und völlig illuſoriſch gemacht werden,
wenn es dem Kaiſer frei ſtünde, anſtatt den Weg der Geſetzgebung
zu betreten, unbehindert durch Bundesrath und Reichstag die von
ihm gewünſchte Vorſchrift zum Gegenſtande eines Staatsvertrages
mit der Rechtswirkung zu machen, daß ſie für Behörden und
Unterthanen verbindlich iſt.
3. Die vorſtehende Erörterung hat das Reſultat ergeben, daß
die beiden Klaſſen von Staatsverträgen, welche nach Abſ. 1 und
Abſ. 3 des Art. 11 zu unterſcheiden ſind, ſich durch ein Kriterium
beſtimmen, welches lediglich die Vollziehung des Ver-
trages, d. h. ſeine ſtaatsrechtliche Gültigkeit betrifft. Es wäre
nicht nur unzweckmäßig, ſondern vernunftwidrig und ſich ſelbſt
widerſprechend, wenn der Kaiſer einen Befehl, den er nur mit Zu-
ſtimmung des Bundesrathes und Reichstages erlaſſen kann, als-
dann ohne Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages erlaſſen
dürfte, wenn er zuvor den Erlaß dieſes Befehls in einem Vertrage
mit einer fremden Macht der letzteren zugeſichert hat. Dieſe Ab-
ſurdität ſollte durch Art. 11 Abſ. 3 ausgeſchloſſen werden, weil
man in mißverſtändlicher Auffaſſung des Weſens eines Staats-
vertrages glaubte, daß ſie aus Abſ. 1 des Art. 11 hergeleitet
werden könnte. Abſ. 3 hebt diejenigen Verträge heraus, welche
nur mit Zuſtimmung des Bundesrathes und Genehmigung des
Reichstages vollzogen werden können, weil zu ihrer Vollziehung
ein Geſetz nothwendig iſt. Eine Beſtimmung über die Bedingungen
der Vollziehbarkeit kann vollkommen unabhängig von den Vor-
ſchriften über die Legitimation zum Abſchluß eines Staatsvertrages
beſtehen. Es iſt daher durchaus nicht erforderlich, die Anordnun-
[169]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
gen in Abſ. 1 u. Abſ. 3 in der Art zu combiniren, daß Abſ. 3
eine Ausnahme aufſtellt, durch welche die im Abſ. 1 enthaltene
allgemeine Regel für gewiſſe Klaſſen von Verträgen ausgeſchloſ-
ſen wird. Vielmehr können beide Regeln neben einander beſtehen
und die Rechtsſätze enthalten: Der Kaiſer iſt legitimirt, Staats-
verträge Namens des Reiches abzuſchließen. Wenn zur Vollziehung
eines Staatsvertrages Anordnungen erforderlich ſind, die in der
Form des Geſetzes ergehen müſſen, ſo kann der Kaiſer den von
ihm geſchloſſenen Staatsvertrag nicht zur Ausführung bringen,
wenn nicht der Bundesrath dem Abſchluß zugeſtimmt und der
Reichstag die Genehmigung ertheilt hat.
In dieſem Sinne verſtanden, ſteht der Inhalt der im Abſ. 3
des Art. 11 enthaltenen Regel im Einklang mit dem Umfang, auf
welchen ſie ſich erſtreckt; er unterſcheidet nicht blos die Staatsver-
träge nach den Vorausſetzungen ihrer Vollziehbarkeit, ſondern er
normirt auch dieſe Vorausſetzungen. Die Legitimation zum Ab-
ſchluß völkerrechtlicher Verträge bliebe dagegen durch Abſ. 3 ganz
unberührt; dieſelbe würde lediglich durch Abſ. 1 normirt. Auch
bei dieſer Auslegung darf man aber nicht meinen, daß die Be-
ſtimmung des Abſ. 3 auf die Befugniß zum Abſchluß der Staats-
verträge einflußlos ſei; ihre Wirkung iſt eine indirecte, aber
ſehr eingreifende. Es würde nämlich weder der Würde des Kai-
ſers und ſeines Miniſters, noch der des Reiches entſprechen, wenn
der Kaiſer Staatsverträge abſchließen würde, die er nicht erfüllen
kann; wenn er insbeſondere den Erlaß von ſtaatlichen Befehlen
(Geſetzen) zuſichern würde, zu dem er rechtlich gar nicht befugt iſt.
Der Kaiſer wäre vielmehr durch die Vorſchrift des Art. 11 Abſ. 3
genöthigt, auch wenn dieſelbe ſeine völkerrechtliche Legitimation zur
Vertretung des Reiches unberührt läßt, bei Staatsverträgen, welche
in den Bereich der Geſetzgebung eingreifen, vor ihrem Abſchluß
die Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages einzuholen.
Der Vorgang iſt nicht der, daß erſt der Staatsvertrag abgeſchloſ-
ſen und dann derſelbe vom Reichstage genehmigt wird, ſondern
der regelmäßige und übliche Weg iſt der, daß der Bundesrath und
der Reichstag zuerſt ihre Zuſtimmung zur Ausführung des Ver-
trages ertheilen, und daß darauf erſt der Kaiſer den Vertrag
abſchließt 1). Aus der Vorſchrift des Abſ. 3 cit. ergiebt ſich,
[170]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
wenn man ſie in der angegebenen Weiſe auslegt, eine ſtaats-
rechtliche Pflicht des Kaiſers, von der ihm anvertrauten Ver-
tretungsbefugniß in den von dem Abſ. 3 betroffenen Fällen nur
Gebrauch zu machen, nachdem er die Zuſtimmung des Bundes-
rathes und die Genehmigung des Reichstages erlangt hat, es ſei
denn, daß er mit Zuverſicht auf die nachträgliche Genehmigung
rechnen kann und ein Aufſchub des definitiven Vertragsabſchluſſes
mit Nachtheilen verknüpft iſt. Die Erfüllung dieſer Verpflichtung
iſt aber eine res interna des Reiches; es iſt lediglich Sache des
Bundesrathes und Reichstages, gegen Verletzungen derſelben zu
reagiren. Die völkerrechtliche Gültigkeit des vom Kaiſer ratifizir-
ten Vertrages bliebe gänzlich unberührt davon, weil dieſe Ver-
pflichtung des Kaiſers die formelle Legitimation deſſelben zum Ver-
tragsabſchluſſe nicht berührt, der fremde Staat aber nur dieſe Legi-
timation zu prüfen hat.
4. Dieſe Auslegung des Art. 11 iſt nun auch in der That
die einzige, welche mit ſeinem Wortlaut, mit den allgemeinen Prin-
zipien der Reichsverfaſſung und mit der Praxis des internationalen
Verkehrs vereinbar iſt 1).
So wie Abſ. 3 zum Abſchluß von Verträgen die Zuſtimmung
des Bundesrathes verlangt, ſo erklärt der vorhergehende Abſatz
1)
[171]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
deſſelben Artikels „zur Erklärung des Krieges im Namen des Rei-
ches die Zuſtimmung des Bundesrathes für erforderlich“. Es
entſpricht den Regeln der Auslegungskunſt, dieſelbe Redewendung
in demſelben Artikel in demſelben Sinne zu interpretiren 1). Der
Kaiſer würde ſich nach Art. 11 Abſ. 2 ohne Zweifel einer Ueber-
ſchreitung ſeiner ſtaatsrechtlichen Befugniſſe ſchuldig machen, wenn
er, abgeſehen von dem Falle eines Angriffs auf das Bundesgebiet,
im Namen des Reiches einen Krieg erklären würde, ohne die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes eingeholt zu haben. Aber würde in
dieſem Falle die Kriegserklärung völkerrechtlich ungültig ſein?
Wäre der Krieg etwa ein Privatunternehmen des Kaiſers, für
welches das Reich die Verantwortlichkeit ablehnen könnte? Würde
irgend Jemand der Deduktion Gehör ſchenken, daß der fremde
Staat ja wiſſen müſſe, daß der Kaiſer nicht berechtigt ſei, ohne
Zuſtimmung des Bundesrathes den Krieg zu erklären, daß deshalb
eine ſolche Kriegserklärung nichtig ſei, daß die vom Kaiſer in
Kriegsbereitſchaft geſetzten und in das feindliche Gebiet geführten
Truppen nicht als die Armee eines kriegführenden Staates anzu-
ſehen ſeien u. ſ. w.? Der Abſ. 2 läßt eine andere Auslegung
gar nicht zu, als daß er zwar eine ſtaatsrechtliche Beſchrän-
kung des Kaiſers mit rechtlicher Wirkung nach Innen, nicht aber
eine Beſchränkung der im Abſ. 1 ertheilten völkerrechtlichen
Vertretung mit Wirkung nach Außen enthält.
Dieſer unzweifelhafte Sinn, in welchem im Abſ. 2 die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes für erforderlich erklärt wird, bietet
ein authentiſches Hülfsmittel der Interpretation für den Sinn, in
welchem dieſelben Worte im Abſ. 3 zu verſtehen ſind.
Damit ſtimmt überein, daß der Bundesrath und ebenſo der
Reichstag nach Außen überhaupt nicht Namens des Reiches han-
deln. Woher ſoll der auswärtige Staat zuverläſſige Kenntniß
haben, daß der Bundesrath die Zuſtimmung zum Abſchluß des
Vertrages ertheilt hat, da ſeine Verhandlungen nicht öffentlich ſind?
[172]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Und mit der bloßen Anzeige, daß der Bundesrath zugeſtimmt habe,
wäre immer noch nicht dem Erforderniß Genüge geſchehen, daß
der fremde Staat die Vorſchriften der Verfaſſung des mitcontra-
hirenden Staates kennen und beachten müſſe. Der fremde Staat
müßte noch weiter prüfen, ob der Beſchluß des Bundesrathes ge-
mäß den im Art. 7 der R.-R. aufgeſtellten Vorſchriften erfolgt iſt.
Die auswärtige Regierung wäre ferner verpflichtet, die ſtenogra-
phiſchen Berichte des Deutſchen Reichstages, die Geſchäfts-Ordnung
u. ſ. w. zu ſtudiren, um zu wiſſen, ob der Reichstag die verfaſ-
ſungsmäßige Genehmigung zum Vertrage ertheilt hat. Die Funk-
tionen, welche dem Kaiſer obliegen, bevor er einen Staatsvertrag
ratifizirt, legt die entgegenſtehende Theorie der Regierung des
fremden Staates auf, wenn die letztere bei dem Abſchluß eines
völkerrechtlich wirkſamen Vertrages prüfen müßte, ob die im Abſ. 3
des Art. 11 enthaltene Vorſchrift beobachtet worden iſt. Die Rati-
fikation eines Vertrages Seitens des Kaiſers wäre für die aus-
wärtige Regierung nicht genügend, um ihr die formelle Gewißheit
zu verſchaffen, daß ein Staatsvertrag mit völkerrechtlich verbind-
licher Kraft abgeſchloſſen worden iſt; ſie müßte außerdem noch auf
Beibringung einer authentiſchen Urkunde über den Beſchluß des
Bundesrathes und über den Beſchluß des Reichstages beſtehen.
Die fremde Regierung müßte überdies die überaus ſchwierige
Unterſuchung vornehmen, ob der Vertrag Gegenſtände betrifft,
welche in den Bereich der Reichsgeſetzgebung (in dem oben darge-
legten Sinne) gehören. Die Kenntniß der Verfaſſungs-Organiſation
des Deutſchen Reiches genügt zur Beantwortung dieſer Frage nicht,
ſondern es iſt die genaueſte Kenntniß der geſammten Geſetzgebung
dazu erforderlich, da man nur aus dem Studium derſelben ent-
nehmen kann, welche Willensakte des Reiches auf den Weg der
Geſetzgebung gewieſen ſind. Dieſe Rechtsſätze darf man nicht mit
der Legitimation des Souverains zum Abſchluß von Verträgen zu-
ſammenwerfen, die klar und deutlich erkennbar ſein muß. Der
Regierung eines auswärtigen Staates kann man die richtige und
vollſtändige Kenntniß dieſer verwickelten und ſich ſtets verändernden
Regeln unmöglich zumuthen, während man wohl verlangen und
erwarten darf, daß ſie die Verfaſſung befreundeter Staaten ſoweit
kennt, um zu wiſſen, wer zur völkerrechtlichen Vertretung derſelben
legitimirt iſt. Wenn eine Meinungsverſchiedenheit zwiſchen der
[173]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
Reichsregierung und dem Reichstage (reſp. zwiſchen Kaiſer und
Bundesrath) beſteht, ob ein Staatsvertrag unter den Abſ. 3 des
Art. 11 fällt oder nicht, ſo heißt es geradezu die auswärtige Re-
gierung zur Einmiſchung in dieſen Streit auffordern und nöthigen,
ſofern man die völkerrechtliche Gültigkeit des Staatsvertrages
von der Entſcheidung dieſer Frage abhängig macht, denn die aus-
wärtige Regierung muß ſich doch ein Urtheil darüber bilden, ob
ſie einen gültigen Vertrag abgeſchloſſen hat oder nicht 1).
Auch politiſch führt die hier bekämpfte Theorie zu einem un-
haltbaren Reſultate. Zwar iſt der Kaiſer befugt, die geſammte
auswärtige Politik zu leiten, Schutz- und Trutzbündniſſe zu ſchließen,
das Reich in einen Krieg zu ſtürzen, die bewaffnete Macht des
Reiches aufzubieten, die höchſten Lebensintereſſen des Reichs auf
das Spiel zu ſetzen — aber einen Staatsvertrag abzuſchließen, der
die Niederlaſſungsverhältniſſe oder den Schutz literariſcher Erzeug-
niſſe oder die Form und Beweiskraft von Notariatsurkunden eines
Konſuls u. dgl. betrifft, dazu wäre der Kaiſer nicht legitimirt. So
ganz willkührlich kann ein Staat denn doch nicht die Vertretungs-
befugniß regeln und beſchränken, daß es für den völkerrechtlichen
Verkehr allein auf den Wortlaut ankäme, den ein Regierungs-
Kommiſſar oder ein Reichstagsabgeordneter einem von ihm vorge-
ſchlagenen Amendement zur R.-V. gegeben hat. Wem ein Staat
die Verwendung der Armee und Kriegsmarine, die Entſcheidung
[174]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
über Krieg und Frieden, die Leitung der geſammten auswärtigen
Politik überträgt und anvertraut, den muß der Staat auch zu
ſeiner Vertretung im internationalen Verkehr ermächtigen, deſſen
feierliches Wort muß er mit der Kraft ausſtatten, den Staat zu
verpflichten 1). Wenn jemals der Verſuch einer praktiſchen Anwen-
dung der entgegenſtehenden Theorie gemacht werden ſollte, d. h.
wenn ein vom Deutſchen Kaiſer Namens des Reiches ratifizirter
Staatsvertrag nachträglich von der Deutſchen Regierung für völker-
rechtlich unverbindlich und null und nichtig erklärt werden würde,
weil der Bundesrath oder Reichstag die Zuſtimmung zu demſelben
nicht ertheilt habe, obgleich der Vertrag zu der im Art. 11 Abſ. 3
der R.-V. aufgeführten Kategorie gehöre, ſo würde das allge-
meine Rechtsgefühl hierin nicht die Bethätigung eines im völker-
rechtlichen Verkehr anerkannten Rechtsſatzes, ſondern einen frivolen
Wort- und Vertragsbruch erblicken.
5. Die hier vertheidigte Auslegung des Art. 11 Abſ. 3 findet
hinſichtlich der Genehmigung des Reichstages eine direkte und
ausdrückliche Beſtätigung in den Materialien der Reichsverfaſſung.
Zu dem Art. 47 des Entwurfs (Art. 50 der jetzigen R.-V.) war
von den Abgeordneten Erxleben und Francke ein Amendement ge-
[175]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
ſtellt worden, welches hinſichtlich der Poſtverträge auf Art. 11
verwies. Nachdem der Bundescommiſſar, Staatsminiſter Graf von
Itzenplitz ſich gegen daſſelbe ausgeſprochen und es für unausführ-
bar erklärt hatte, die Poſt- und Telegraphen-Verträge mit den
auswärtigen Staaten erſt von der vorhergehenden Genehmigung
des Reichstages abhängig zu machen, ſprach der Abgeordnete Lette,
auf deſſen Antrag Art. 11 Abſ. 3 den in Rede ſtehenden Zuſatz
erhalten hatte 1), ſein Einverſtändniß hiermit aus und gab über
den Sinn, in welchem er ſelbſt ſeinen Antrag verſtanden, fol-
gende Erklärung ab:
„Im Weſentlichen iſt nichts Anderes mit meinem Amendement
gemeint, als das, was auch in der Preußiſchen Verfaſſung be-
ſtimmt iſt. Außerdem weiſt wohl ſchon die Faſſung des Amen-
dements darauf hin, daß es nur um eine nachträgliche
Genehmigung in den betreffenden Fällen zu thun iſt, da es
heißt „zur Gültigkeit bedarf es der Genehmigung des Reichs-
tages“. Es iſt eine andere Faſſung in Bezug auf den
Reichstag gewählt als in Bezug auf den Bundesrath. Ich
glaube, ich kann das im Namen meiner politiſchen Freunde ver-
ſichern, daß ein Anderes durchaus nicht beabſich-
tigt iſt und daß man am wenigſten die Executive in gedachter
Beziehung hat geniren wollen. Manche übrigens von derartigen
Verträgen werden zum Theil nur in das Gebiet der Exekutive
gehören und nicht einmal der Vorlegung beim
Reichstage bedürfen. Soweit ſie aber nach der Wortfaſſung
unſeres Amendements in Verbindung mit §. 4 der Genehmi-
gung des Reichstages bedürfen, würde es in den vorausgeſetzten
Fällen genügen, daß ſie nachträglich vorgelegt
werden.“
Der Bundescommiſſar erwiderte, daß er „dieſe Erklärung
dankbar acceptire“, der Abgeordnete Erxleben erklärte ſich eben-
falls mit dem, was der Bundescommiſſar geſagt hat, „vollſtändig
einverſtanden“ und ſprach die Anſicht aus, „daß es ſehr wohl
möglich ſein wird, dergleichen Poſtverträge nachträglich vor-
zulegen“.
Hiermit war die Discuſſion über Art. 47 (50) geſchloſſen
[176]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
und bei der Abſtimmung wurde das Amendement Erxleben abge-
lehnt 1).
Aus dieſer Verhandlung ergiebt ſich, daß das Amendement
des Abg. Lette nicht bezweckte, den Abſchluß der Staatsverträge
von einer Genehmigung des Reichstages abhängig zu machen, daß
die Staatsverträge vielmehr nur nachträglich dem Reichstage
vorgelegt werden ſollten, und daß man einer anderen Auslegung
dadurch glaubte vorbeugen zu können, daß man in Bezug auf den
Reichstag eine andere Faſſung wählte als in Bezug auf den Bun-
desrath. Dieſe Erklärung gab der Abg. Lette in ſeinem Namen
und im Namen ſeiner politiſchen Freunde ab, ſie wurde vom Bun-
descommiſſar ausdrücklich acceptirt und es wurde ihr im Reichs-
tage von keiner Seite ein Widerſpruch entgegengeſetzt. Es fehlt
daher der Behauptung, daß der Reichstag und die verbündeten
Regierungen trotzdem die entgegengeſetzte Anſicht durch die An-
nahme des Amendements Lette haben ſanctioniren wollen, an jeder
Begründung 2).
Wenn die Genehmigung des Reichstages eine Vorbedingung
für den völkerrechtlich gültigen Abſchluß eines Staatsvertrages
wäre, wenn er ohne dieſe Genehmigung keine internationale Ver-
pflichtung erzeugen könnte und null und nichtig bliebe, ſo könnte
die Vorlegung des Vertrages an den Reichstag nicht als „nach-
träglich“ bezeichnet werden. Dieſe Ausdrucksweiſe iſt vielmehr nur
mit der Auffaſſung vereinbar, daß die Regierung den Vertrag be-
reits mit völkerrechtlicher Kraft und Wirkſamkeit abgeſchloſſen habe
und hierauf zur Vollziehung deſſelben im Inlande die Genehmi-
gung des Reichstages einholt 3).
[177]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
6. Ueber die Frage, ob die Zuſtimmung des Bundesrathes
zum Abſchluß von Staatsverträgen von den verbündeten Regie-
rungen in dem Sinne für erforderlich erklärt worden iſt, daß da-
durch die völkerrechtliche Legitimation des Bundespräſidiums be-
ſchränkt werden ſollte, oder nur in dem Sinne, daß dem Bundes-
präſidium die ſtaatsrechtliche Pflicht auferlegt wurde, die Zuſtim-
mung des Bundesrathes vor dem Vertrags-Abſchluß einzuholen,
geben die Protokolle über die Berathungen der Bevollmächtigten
keine Auskunft 1).
Wohl aber findet die letztere Anſicht ihre Beſtätigung in dem
vom Norddeutſchen Bunde und Deutſchen Reiche beobachteten Ver-
fahren bei der Ratifikation der Staatsverträge. Würde zum gül-
tigen Abſchluß des internationalen Rechtsgeſchäftes die Zuſtimmung
des Bundesrathes erforderlich ſein, wie z. B. in der Nordameri-
kaniſchen Union die Zuſtimmung des Senates erforderlich iſt, ſo
müßte in der Ratifikations-Urkunde dieſe Zuſtimmung be-
glaubigt oder erwähnt ſein, da ſie nicht nur innerhalb des
Reiches (ſtaatsrechtlich), ſondern auch dem fremden Staate gegen-
über (völkerrechtlich) von Erheblichkeit wäre. Grade in der erſten
Zeit des Norddeutſchen Bundes aber iſt in einem Staatsvertrage,
der die Genehmigung des Bundesrathes und Reichstages erhalten
hat und in dem Bundesgeſetzblatt veröffentlicht worden iſt, die ent-
gegengeſetzte Regel ſanctionirt und der Gegenſatz zwiſchen dem
Rechte des Nordd. Bundes und dem Rechte der Vereinigten Staaten
von Nordamerika veranſchaulicht worden.
Der Vertrag mit Amerika über die Staatsangehörigkeit v.
22. Febr. 1868 beſtimmt im Art. 6 2):
„Der gegenwärtige Vertrag ſoll ratifizirt werden von Seiner
Majeſtät dem Könige von Preußen im Namen des Norddeutſchen
Bundes und von dem Präſidenten unter und mit Geneh-
migung des Senats der Vereinigten Staaten“ 3).
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 12
[178]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
In ganz ähnlicher Weiſe heißt es in dem Frankfurter Frieden
mit Frankreich v. 10. Mai 1871 Art. 18:
„Die Ratifikationen des gegenwärtigen Vertrages durch Seine
Majeſtät den Deutſchen Kaiſer einerſeits
und
andererſeits durch die Nationalverſammlung und durch
das Oberhaupt der vollziehenden Gewalt der Franzöſiſchen
Republik werden in Frankfurt … ausgetauſcht werden“1).
In Uebereinſtimmung hiermit ſteht das Formular, welches
Seitens des Deutſchen Reiches bei Ausfertigung der Ratifikationen
verwendet wird. Sonderbarer Weiſe wird in der ſtaatsrechtlichen
und völkerrechtlichen Literatur auf Form und Inhalt dieſer Ur-
kunde keine Rückſicht genommen und anſtatt aus dieſem authenti-
ſchen Material den wirklichen Sachverhalt zu ermitteln, zieht man
es vor „aus den Feſſeln des Syſtems zu argumentiren“. Es mag
dies z. Th. daraus ſich erklären, daß im Reichsgeſetzblatt die Rati-
fikations-Urkunden nicht veröffentlicht werden. Dagegen kann man
den Wortlaut der Ratifikationen aus ausländiſchen Geſetz-
ſammlungen kennen lernen, in denen Staatsverträge in einer mehr
correcten und ſachgemäßen Weiſe als in Deutſchland veröffentlicht
werden. Dies iſt der Fall z. B. in der Schwediſchen Geſetzſamm-
lung. Die Staatsverträge werden daſelbſt mit den Ratifikations-
Urkunden ſowohl in Schwediſcher Sprache als in der Sprache der
Ausfertigung publicirt und man kann daher aus der »Swensk
Författnings-Samling 1873 Nro. 41“ den Wortlaut der Ratifi-
kation des Additional-Poſtvertrages vom 25. Mai 1873 kennen
lernen, alſo eines Vertrages, welcher dem Deutſchen Reichstage
zur verfaſſungsmäßigen Beſchlußnahme vorgelegt 2) und im Reichs-
3)
[179]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
geſetzblatt verkündet worden iſt 1).
Die Urkunde lautet:
Wir Wilhelm von Gottes Gnaden Deutſcher Kaiſer, König
von Preußen ꝛc. ꝛc. ꝛc. Urkunden und bekennen hiermit:
Nachdem der von Unſerem Bevollmächtigten mit dem Bevoll-
mächtigten Seiner Majeſtät des Königs von Schweden und Nor-
wegen am 25. Mai 1873 geſchloſſene Additional-Poſtvertrag, wel-
cher aus vier Artikeln beſtehende Vertrag wörtlich alſo lautet:
(Folgt der Text des Vertrages)
Uns vorgelegt und von Uns geprüft worden: ſo erklären Wir,
daß Wir dieſen Vertrag in allen darin enthaltenen Beſtimmungen
hierdurch genehmigen und ratificiren, auch verſpre-
chen, ſelbige zu erfüllen und von unſeren Behörden genau voll-
ziehen zu laſſen. Urkundlich haben Wir gegenwärtiges Ratifika-
tionsinſtrument vollzogen und mit dem Reichs-Inſiegel verſehen laſſen.
Gegeben zu Schloß Babelsberg den 23. Juni 1873.
Wilhelm.
(L. S.)v. Bismarck.
Ebenſo werden in der Amtlichen Sammlung der Bun-
desgeſetze und Verordnungen der Schweizeriſchen
Eidgenoſſenſchaft die Staatsverträge der Schweiz mit dem
vollſtändigen Abdruck beider Ratifikationen verkündigt. Bei der
Ratifikation des Auslieferungs-Vertrages v. 24. Januar
1874 iſt Seitens des Deutſchen Reiches ein Formular angewendet
worden, welches mit dem vorſtehend abgedruckten bis auf unerheb-
liche ſtyliſtiſche Wendungen faſt wörtlich übereinſtimmt und daſſelbe
dadurch beſtätigt 2).
In den vom Deutſchen Reiche ausgeſtellten und von den
fremden Staaten angenommenen Vertrags-Urkunden erſcheint mit-
hin der Bundesrath ebenſowenig wie der Reichstag als ein bei
dem Abſchluß von Staatsverträgen betheiligtes Organ; die völker-
rechtliche Vertretung des Reiches ſteht vielmehr unbeſchränkt und
ausſchließlich dem Kaiſer zu.
12*
[180]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
II.Die Leitung der Verhandlungen.
Zu den dem Kaiſer zuſtehenden Regierungsgeſchäften gehört
die Leitung der Verhandlungen mit auswärtigen Staaten über
den Abſchluß von Staatsverträgen, die Ernennung und Beglaubi-
gung der Beamten, denen die Führung der Verhandlungen über-
tragen iſt, ſowie die Ertheilung der Inſtruktionen für dieſelben.
Eine Theilnahme einzelner Staaten an den Verhandlungen iſt je-
doch in folgenden Fällen reichsgeſetzlich zugeſichert:
1. Bei Handels- und Schifffahrtsverträgen mit
Oeſterreich und der Schweiz iſt der Kaiſer verpflichtet, die
angränzenden Bundesſtaaten zur Theilnahme an den dem Abſchluß
vorangehenden Verhandlungen einzuladen, ohne daß dieſen Staaten
aber ein Veto gegen den Abſchluß des Vertrages zuſteht, falls
eine Uebereinſtimmung nicht zu erzielen iſt 1).
2. Bei dem Abſchluſſe (d. h. den dem Abſchluß vorhergehen-
den Verhandlungen) von Poſt- und Telegraphen-Ver-
trägen mit außerdeutſchen Staaten ſollen Vertreter der an die
betreffenden Staaten angränzenden Bundesſtaaten zur Wahrung
der beſonderen Landesintereſſen zugezogen werden 2).
Thatſächlich beſteht die Uebung, die Genehmigung des
Bundesrathes ſchon zur Eröffnung der Verhandlungen
über alle diejenigen Gegenſtände einzuholen, deren Regelung zur
Kompetenz des Bundesrathes nach Art. 7 der R.-V. gehört.
III.Die Perfection des Staatsvertrages.
Die Reichsverfaſſung enthält keine Vorſchriften, in welcher
Form der Kaiſer völkerrechtliche Verträge Namens des Reiches
abſchließen ſolle; es gelten darüber vielmehr die allgemeinen, auf
der völkerrechtlichen Uebung beruhenden Sätze des Völkerrechts.
Die theoretiſche Möglichkeit, daß Staatsverträge mündlich oder
ſtillſchweigend geſchloſſen werden, kann außer Betracht bleiben, da
praktiſch der ſchriftliche Abſchluß allein von Bedeutung iſt. Die
Vertragsurkunde hat nicht nur den Zweck, ein authentiſches Be-
[181]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
weismittel über den Inhalt der Vereinbarungen zu bieten, ſondern
ihre Bedeutung beſteht vorzüglich darin, das Zuſtandekommen einer
bindenden Uebereinkunft zu conſtatiren, das Stadium der Vorver-
handlungen, der Propoſitionen und Gegenpropoſitionen äußerlich
abzuſchließen und zu bekunden, daß die contrahirenden Staaten
ſich definitiv gegen einander verpflichtet haben. Der Staatsver-
trag wird demnach perfekt in dem Moment der Unterzeich-
nung der Vertrags-Urkunde durch beide Contrahen-
ten — oder, falls jeder der beiden Contrahenten eine von ihm
allein unterzeichnete Urkunde dem andern Contrahenten übergiebt,
mit der Zuſtellung (Auswechslung) der unterzeichne-
ten Urkunde. Da nun der allgemeinen im Art. 11 Abſ. 1 der
R.-V. anerkannten Regel gemäß der Kaiſer zum Abſchluß von
Staatsverträgen Namens des Reiches legitimirt iſt, ſo wird der
Staatsvertrag perfekt in dem Momente, in welchem die von dem
Deutſchen Kaiſer unterzeichnete Vertragsurkunde dem Souverain
des andern Staates reſp. deſſen Bevollmächtigten (Miniſter, Ge-
ſandten u. ſ. w.) gegen Empfangnahme der von ihm unterzeichneten
Ausfertigung der Vertragsurkunde übergeben wird. Dieſe Regel
gilt indeß nicht unbedingt. Denn der Souverain kann ſeine Be-
amten nicht nur beauftragen, die Verhandlungen zu führen und
einen Vertrags entwurf zu vereinbaren, ſondern er kann ſie auch
bevollmächtigen, den Vertrag ſelbſt definitiv abzuſchließen und die
Urkunden darüber zu unterzeichnen. Dieſe, nur in minder wichti-
gen Fällen übliche und — wie ſich zeigen wird — ſtaatsrechtlich
zuläſſige Art der Vertragsſchließung kann man im Gegenſatz zu
der regelmäßigen als die nicht ſolenne Vertragsform bezeichnen.
1. Die nicht ſolenne Vertragsform. Dieſelbe
beſteht entweder in der Unterzeichnung einer gemeinſchaft-
lichen Urkunde, eines ſogenannten Protokolls, durch die Miniſter,
Geſandten oder anderen Bevollmächtigten der contrahirenden Staa-
ten, mit der Maßgabe, daß dieſelbe eine definitive Vereinbarung
ſein ſoll 1), oder in der Auswechslung einſeitiger Ur-
[182]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
kunden, ſogenannter Erklärungen, welche von einer Behörde aus-
geſtellt werden 1). Daß die Erklärung von dem Miniſter der ausw.
Angelegenheiten ſelbſt, alſo für das Deutſche Reich vom Reichs-
kanzler unterſchrieben wird, iſt nicht nothwendig. Der Reichskanzler
kann bei dieſen Staatsgeſchäften wie bei anderen ſich vertreten
laſſen. Ja es iſt nicht einmal erforderlich, daß die Erklärung
vom Auswärtigen Amt ausgeht; auch andere Behörden, z. B. das
Reichskanzleramt, das Generalpoſtamt, die Admiralität u. ſ. w.
können mit coordinirten Behörden anderer Staaten Erklärungen
austauſchen. Selbſtverſtändliche Vorausſetzung iſt aber, daß die
Erklärung nur ſolche Gegenſtände betrifft, welche zur ausſchließ-
lichen Kompetenz der Behörde gehören, ſo daß dieſelbe kraft
ſtaatlichen Geſchäfts-Auftrages 2) oder kraft ſpezieller Ermächtigung
der kompetenten Oberbehörde befugt iſt, die von der Erklärung
berührten Angelegenheiten ſelbſtſtändig zu regeln 3). Hieraus er-
1)
[183]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
giebt ſich, daß dieſe Vertragsform niemals anwendbar iſt, wenn
die in der Erklärung abgegebenen Verſprechungen mit den Geſetzen
oder den Verordnungen des Kaiſers, des Bundesrathes oder einer
höheren Verwaltungsinſtanz im Widerſpruch ſich befinden oder
wenn ſie Geldmittel erfordern, welche noch nicht im Staatshaus-
halts-Geſetz bewilligt ſind. Da die auswärtige Regierung darüber
nur ſchwer eine formelle Gewißheit ſich verſchaffen kann, ſo wird
auch ſie nur bei geringfügigen Gegenſtänden, deren Erledigung
zweifellos den Verwaltungsbehörden obliegt, auf dieſe Form ein-
gehen 1). Wenn dieſe Form aber unter dem Einverſtändniß beider
Staaten gewählt worden iſt und wenn materiell die Miniſter, Ge-
ſandten, Behörden u. ſ. w., welche die Urkunden unterzeichnet haben,
innerhalb ihrer Kompetenz gehandelt haben, ſo iſt die Ueberein-
kunft im juriſtiſchen Sinn ein gültiger Staatsvertrag mit voller
völkerrechtlicher Wirkſamkeit.
2. Die ſolenne Vertragsform iſt die übliche. Die
Miniſter oder Geſandten ſind zwar beauftragt, die Verhandlungen
zu führen und einen Vertragsentwurf zu vereinbaren und definitiv
feſtzuſtellen, aber ſie ſind regelmäßig nicht bevollmächtigt, in Ver-
tretung des Souverains Namens des Staates ein internationales
Rechtsgeſchäft abzuſchließen. Der Abſchluß erfolgt vielmehr durch
die Ausſtellung einer Urkunde, welche vom Souverain ſelbſt unter-
ſchrieben, mit dem Staatsſiegel verſehen und von dem Miniſter
contraſignirt iſt 2). Man nennt die Auswechslung dieſer Urkunden
3)
[184]§. 64. Der Abſchluß von Staatsverträgen.
die Ratificirung oder Ratifikation des Vertrages. Sie wird
in den Punktationen der Bevollmächtigten in der Regel ausdrück-
lich vorbehalten, bisweilen unter Verabredung einer beſtimmten
Friſt, binnen welcher ſie erfolgen ſoll; aber auch ohne ausdrück-
liche Verabredung verſteht ſich der Vorbehalt der Ratificirung von
ſelbſt. Dem Souverain und ſeinen Räthen wird dadurch Gelegen-
heit geboten zu prüfen, ob der Bevollmächtigte ſeinen Inſtruktionen
gemäß gehandelt habe, ob der feſtgeſtellte Wortlaut des Vertrages
klar und deutlich dem wahren Willen des Souverains entſpricht
u. ſ. w. Der völkerrechtliche Vertrag wird erſt
durch die Ratificirung abgeſchloſſen, erſt durch ſie
im juriſtiſchen Sinne perfekt 1). Man muß ſich auch an dieſem
Punkte hüten, die juriſtiſche Auffaſſung von der politiſchen beirren
zu laſſen. Das politiſche Problem iſt gelöſt, wenn die Bevoll-
mächtigten ſich über den Staatsvertrag geeinigt haben; für den
Politiker und Staatsmann hat nur die Feſtſtellung des definitiven
Wortlautes Intereſſe, die nachfolgende Auswechslung formeller
Dokumente iſt von ſeinem Standpunkte aus eine Formalität ohne
praktiſche Bedeutung. Im Rechtsſinne dagegen exiſtirt vor der
Ratifikation der Staatsvertrag überhaupt noch gar nicht, ſondern
lediglich ein Vertrags-Entwurf2).
[185]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
Bevor nun der Souverain den Vertrag abſchließt, kann er
den Entwurf deſſelben der Volksvertretung zur Genehmigung vor-
legen und ſich von derſelben die ſtaatsrechtlich erforderliche Zu-
ſtimmung zu dem Erlaß derjenigen Maßregeln ertheilen laſſen,
welche zur Erfüllung des Vertrages erforderlich ſind. Erſt wenn
dies geſchehen iſt, kann der Souverain den Vertrag mit der Ge-
wißheit abſchließen, daß er zur Erfüllung deſſelben in der recht-
lichen Lage iſt, und da der Souverain einen Conflict zwiſchen den
völkerrechtlichen Verbindlichkeiten des Staates und den ſtaatsrecht-
lichen Vorausſetzungen ihrer Erfüllung nicht herbeiführen darf, ſo
kann man es in der That als eine Rechtspflicht des Souve-
rains bezeichnen, bei allen das Gebiet der Geſetzgebung berühren-
den Verträgen den Vertragsentwurf der Volksvertretung vorzu-
legen und erſt nach ertheilter Genehmigung den Vertrag zu rati-
ficiren d. h. abzuſchließen. Aber auch in ſolchen Fällen, in denen
eine ſtaatsrechtliche Verpflichtung hierzu nicht begründet iſt, kann
es aus politiſchen Gründen angemeſſen erſcheinen, die Zuſtimmung
der Volksvertretung einzuholen 1).
§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
Verträge verpflichten ihrer juriſtiſchen Natur nach immer nur
die Contrahenten; Staatsverträge verpflichten daher lediglich die
Staaten, niemals deren Unterthanen; ſie erzeugen immer nur
völkerrechtliche Befugniſſe und Verbindlichkeiten, niemals Rechts-
2)
[186]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
ſätze. Die Behörden und Unterthanen werden nicht durch Rechts-
geſchäfte, ſondern nur durch Befehle ihrer Staatsgewalt zum Ge-
horſam verpflichtet; ſie werden demgemäß auch zur Befolgung der
in einem Staatsvertrage vereinbarten Regeln nicht durch den
Staatsvertrag ſelbſt, ſondern nur durch den ſtaatlichen Befehl,
dieſe Regeln zu befolgen, verpflichtet. Von dieſem Geſichtspunkte
aus ergiebt ſich als logiſche Conſequenz der Satz: die ſtaatsrecht-
liche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge beruht nicht auf deren
Abſchluß, ſondern auf dem Befehl des Staates, den Inhalt des
Vertrages als bindende Vorſchrift anzuſehen.
Nach dem Inhalte dieſes Befehls beſtimmen ſich die ſtaats-
rechtlichen Erforderniſſe deſſelben. Wenn das Reich in dem Ver-
trage ſich zur Vornahme einzelner Handlungen verpflichtet hat, zu
welchen die Behörden nach Maßgabe der beſtehenden Geſetze be-
fugt ſind, ſo genügt eine einfache Verfügung an die reſſortmäßigen
Behörden, durch welche ihnen die Vornahme dieſer Handlungen
aufgetragen wird. Enthält der Vertrag Vereinbarungen über all-
gemeine Verwaltungsvorſchriften und Einrichtungen, welche zur
Ausführung von Reichsgeſetzen dienen 1), ſo iſt nach Art. 7 Ziff. 2
der Bundesrath zum Erlaß von Anordnungen befugt, falls nicht
durch Reichsgeſetz der Erlaß ſolcher Anordnungen dem Kaiſer oder
einer Reichsbehörde übertragen iſt. Dagegen iſt die Uebereinſtim-
mung von Bundesrath und Reichstag erforderlich, wenn zur Aus-
führung des Vertrages ein Geſetzesbefehl nothwendig iſt. Dies
iſt aber nicht nur dann der Fall, wenn der Vertrag Rechtsvor-
ſchriften enthält, welche das beſtehende Recht aufheben, abändern,
ergänzen, ſondern auch dann, wenn er irgend einen Gegenſtand
betrifft, welcher im Deutſchen Reich in der Form der Geſetz-
gebung erledigt werden muß oder erledigt zu werden pflegt,
insbeſondere auch wenn er Verwaltungsregeln betrifft, die
im Deutſchen Reich durch Geſetze ſanctionirt worden ſind 2).
[187]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
Denn Verwaltungsvorſchriften, welche im Wege der Geſetzgebung
erlaſſen ſind, können auch nur im Wege der Geſetzgebung aufge-
hoben werden 1).
Die Frage, welche Staatsverträge „in den Bereich der Reichs-
geſetzgebung“ eingreifen, iſt demnach nicht im Allgemeinen nach
unabänderlichen Kriterien zu beantworten, ſondern immer nur nach
dem momentanen Zuſtande der Reichsgeſetzgebung. Jedes neue
Geſetz kann einen Gegenſtand, der bisher der freien Willensent-
ſcheidung der Verwaltung überlaſſen war, „geſetzlich“ regeln
oder eine bisher in Geltung ſtehende geſetzliche Vorſchrift aufheben
und das freie Ermeſſen der Verwaltungsbehörden für maßgebend
anerkennen; damit ändert ſich immer zugleich auch der Kreis der
Gegenſtände, über welche Staatsverträge nur mit Genehmigung
des Bundesrathes und Reichstages ſtaatsrechtliche Geltung erlangen
können.
Inſoweit nun ein Geſetzesbefehl erforderlich iſt, um einem
Staatsvertrage ſtaatsrechtliche Geltung zu verſchaffen — oder wenn
man ſich der verunglückten Faſſung des Art. 11 Abſ. 3 anſchließen
will — inſoweit die Verträge ſich auf ſolche Gegenſtände beziehen,
welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören
— iſt zum Erlaß und zur Wirkſamkeit dieſes Befehles Alles das-
jenige erforderlich, was zum Zuſtandekommen eines gewöhnlichen
Geſetzes gehört und die im §. 57 entwickelten Rechtsſätze finden
durchweg analoge Anwendung. Damit die im Staatsvertrage ent-
haltenen Vorſchriften geſetzliche Gültigkeit erlangen, bedarf
es der Uebereinſtimmung zwiſchen Bundesrath und Reichstag über
ihren Inhalt, der Sanction, Promulgation und Publikation, und
zwar nach folgenden Regeln:
1. Die Feſtſtellung des Inhaltes.
Da nur der Kaiſer die Verhandlungen über Staatsverträge
durch ſeine Beamten führen laſſen kann, ſo ergiebt ſich, daß die
Vorlage eines Staatsvertrages im Bundesrath immer nur vom
Kaiſer, niemals von einem anderen [Bundesgliede] erfolgen kann 2).
[188]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
Da ferner die Vorlagen an den Reichstag nach Maßgabe der Be-
ſchlüſſe des Bundesrathes gebracht werden (R.-V. Art. 16), ſo
folgt, daß dem Reichstage ein Staatsvertrag nur vorgelegt werden
kann, wenn der Bundesrath ſich mit demſelben einverſtanden er-
klärt hat.
Sowie hierdurch das ſogen. Recht der Initiative für die
Mitglieder des Bundesrathes und Reichstages in Wegfall kömmt,
ſo iſt auch das Recht der Amendirung, wenn auch de jure
nicht ausgeſchloſſen, ſo doch de facto beſchränkt, da der Inhalt
und Wortlaut des Vertrages nicht unter den Organen des Reiches,
ſondern zwiſchen den Bevollmächtigten des Reiches und des frem-
den Staates vereinbart und feſtgeſtellt wird. Der Reichstag kann
jedoch die Genehmigung des Vertrages an die Bedingung
knüpfen, daß derſelbe gewiſſe Abänderungen oder Zuſätze erhält,
und die Zuläſſigkeit einer ſolchen Beſchlußfaſſung kann um ſo we-
niger bezweifelt werden, als dem Reichstage regelmäßig nicht der
definitiv geſchloſſene Vertrag, ſondern der Vertrags-Entwurf zur
Genehmigung vorgelegt wird.
2. Die Sanction.
Der Erlaß des Befehls, welcher dem Staatsvertrage ſtaats-
rechtliche Kraft und Verbindlichkeit ertheilt, ergeht von dem Bun-
desrathe, als demjenigen Organe des Reiches, dem der eigentliche
Geſetzgebungsakt zuſteht. S. oben S. 30 ff. Dieſer Akt kann nur
vollzogen werden, nachdem der Reichstag die Genehmigung er-
theilt hat und der Wortlaut des Vertrages mit den Beſchlüſſen
des Reichstages in Einklang geſetzt worden iſt. Der vom Reichs-
tage gefaßte Beſchluß, welcher die Genehmigung ausſpricht, muß
nach Art. 7 Ziff. 1 der R.-V. dem Bundesrath nochmals zur
Beſchlußfaſſung vorgelegt werden, und dieſer zweite Beſchluß des
Bundesrathes enthält die Sanktion. Sowie bei gewöhnlichen Ge-
ſetzen dieſer Beſchluß darauf gerichtet iſt, dieſelben dem Kaiſer
zur Ausfertigung zu unterbreiten, geht er bei Staatsverträgen da-
hin, dieſelben dem Kaiſer zur Ratifikation zu überweiſen. Art. 11
Abſ. 3 macht im Gegenſatz zu Art. 5, der bei der gewöhnlichen
Geſetzgebung die Beſchlüſſe des Bundesraths und Reichstags als
ganz gleichartige nebeneinanderſtellt, einen bemerkenswerthen Unter-
ſchied bei den Staatsverträgen, indem er die Zuſtimmung des
Bundesrathes für erforderlich zu ihrem Abſchluß, die Geneh-
[189]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
migung des Reichstages für erforderlich zu ihrer Gültigkeit
erklärt. Obwohl in dieſer Ausdrucksweiſe der völkerrechtliche Akt
mit dem ſtaatsrechtlichen zuſammengeworfen und verwechſelt wird,
ſo ſpricht ſich doch durch dieſelbe der richtige Gedanke aus, daß
die Erklärungen des Bundesrathes und des Reichstages nicht
gleichartig ſind. Die Genehmigung des Reichstages iſt die Vor-
ausſetzung, ohne welche der Bundesrath den Vertrag nicht für
ſtaatsrechtlich verbindlich erklären kann; die Erklärung des Bun-
desrathes iſt wieder die Vorausſetzung, ohne welche der Kaiſer
nicht dem fremden Staat das Verſprechen geben kann, daß der
Vertrag vollzogen werden wird. Die Erklärung des Bundes-
rathes iſt demnach die Vorausſetzung der Ratificirung und es
liegt die Verwechslung ſehr nahe, den Inhalt des Bundesraths-
beſchluſſes anſtatt in der Vollſtreckbarkeits-Erklärung
des Vertrages in der Zuſtimmung zu ſeinem Abſchluſſe (d. h. Rati-
ficirung) zu erblicken. In Wahrheit iſt die Ratificirung die Folge
der vom Bundesrath beſchloſſenen Vollſtreckbarkeits-Erklärung, ſo-
wie die Ausfertigung des Geſetzes die Folge der vom Bundesrath
ertheilten Sanction iſt.
Für die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes gelten ganz die-
ſelben Regeln, welche für die Sanction der Geſetze Anwendung
finden. Nur iſt das im Art. 5 Abſ. 2 den Preußiſchen Stimmen
eingeräumte Widerſpruchsrecht bei Geſetzesvorſchlägen über das
Militairweſen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeichneten
Abgaben praktiſch unanwendbar, da nur mit Zuſtimmung des
Kaiſers ein Vertragsentwurf zu Stande kommen und die Initia-
tive im Bundesrath vom Kaiſer allein ausgehen kann, ſo daß alſo
der Fall unmöglich iſt, daß ſich im Bundesrath die Stimme des
Präſidiums gegen die Vollſtreckbarkeits-Erklärung des vom Kaiſer
ſelbſt oder ſeiner Regierung vorgelegten Vertrages ausſpricht.
Dagegen finden die im Art. 78 der R.-V. enthaltenen Rechts-
Vorſchriften auch auf Staatsverträge vollkommene Anwendung
und zwar
a) Wenn die Vollziehung des Vertrages eine Veränderung
der Verfaſſung in ſich ſchließt, ſo gilt dieſelbe als abgelehnt,
wenn im Bundesrathe 14 Stimmen ſich dagegen erklären 1). Dies
[190]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
findet beiſpielsweiſe Anwendung auf Staatsverträge, welche eine
Veränderung des Bundesgebietes (R.-V. Art. 1) zum Gegenſtande
haben, ohne Unterſchied, ob der Vertrag ein Friedensſchluß iſt
oder ob er ohne vorausgegangenen Krieg abgeſchloſſen worden iſt 1).
Sollte ein Staatsvertrag einen mit der Verf. im Widerſpruch
ſtehenden Inhalt haben, z. B. die Anordnungen derſelben über
das Eiſenbahnweſen oder über das Poſt- und Telegraphenweſen
modificiren oder die Fortdauer eines Landeskonſulates zugeſtehen
(Art. 56) oder die Grenzen des Bundesgebietes abändern u. dgl.,
ſo wäre es zwar correct und empfehlenswerth, durch ein beſonde-
res Geſetz den Wortlaut der Verfaſſung entſprechend abzuändern;
für die Vollſtreckbarkeit des Vertrages kann dies aber ebenſowenig
als rechtliches Erforderniß aufgeſtellt werden, wie für die Gültig-
keit eines die Verfaſſung abändernden Geſetzes. Siehe oben
S. 37 ff.
b) Wenn die Vollziehung des Staatsvertrages in die Son-
derrechte einzelner Bundesſtaaten eingreift, ſo iſt die beſondere
Zuſtimmung der betheiligten Bundesſtaaten erforderlich. Der in
Art. 78 Abſ. 2 der R.-V. zugeſicherte Schutz der Sonderrechte
wäre ein vollkommen illuſoriſcher, wenn er ſich nur auf den ge-
wöhnlichen Weg der Geſetzgebung und nicht auch auf den Fall
der Genehmigung eines internationalen Vertrages bezöge. Aus
dem oben Bd. I. §. 11 entwickelten Begriff dieſer Rechte ergiebt
ſich, daß dieſelben materielle Schranken der dem Reiche zuſtehenden
[191]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
Gewalt ſind 1); ihre Reſpectirung iſt daher unabhängig von der
Form, in welcher das Reich ſeine Gewalt ausübt 2).
3. Die Ausfertigung.
Gemäß der in Preußen ausgebildeten und vom Norddeutſchen
Bunde und dem Deutſchen Reiche feſtgehaltenen Praxis findet eine
Ausfertigung des Geſetzes, welches den Unterthanen und Behörden
die Beobachtung oder Vollziehung eines Staatsvertrages anbefiehlt,
nicht ſtatt. Wenn man das völkerrechtliche Geſchäft und den
ſtaatlichen Befehl äußerlich ſo auseinanderhalten würde, wie
es die juriſtiſche Natur der Sache verlangt und wie es in der
überwiegenden Mehrzahl aller Staaten thatſächlich geſchieht, ſo
müßte jeder Staatsvertrag zweimal ausgefertigt werden; ein-
mal für den Staat, mit welchem er abgeſchloſſen worden iſt (Rati-
fikation) und überdies für den eigenen Staat behufs der Geſetz-
gebung (Promulgation). Die völkerrechtliche Ausfertigung bedarf
keiner Bezugnahme auf die vom Bundesrath und Reichstag er-
theilte Zuſtimmung oder Genehmigung, da dieſe eine res interna
iſt, die den Mitcontrahenten Nichts angeht; die Hinzufügung eines
Befehles, dem Vertrage nachzukommen, würde ganz ſinnlos ſein,
da der internationale Vertrag unter Gleichberechtigten geſchloſſen
wird und lediglich gegenſeitige Verſprechungen enthält. Für die
ſtaatsrechtliche Ausfertigung dagegen iſt das weſentlichſte Stück
der Befehl an alle der Staatsgewalt unterworfenen Perſonen
(Unterthanen und Behörden), den Vertrag zu beachten und zu be-
folgen, d. h. die Verordnungsclauſel, wie ſie für jedes Geſetz er-
[192]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
forderlich iſt 1). Zugleich müßte die Verfaſſungsmäßigkeit dieſes
Befehls formell conſtatirt werden durch die Kaiſerliche Beurkun-
dung, daß der Bundesrath und der Reichstag die Zuſtimmung
ertheilt haben. Endlich wäre noch ein drittes Erforderniß begründet,
welches bei gewöhnlichen Geſetzen nicht exiſtirt; da nämlich die
Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages nur für den Fall
und unter der Vorausſetzung ertheilt iſt, daß der völkerrechtliche
Vertrag wirklich zu Stande kömmt und auch der mitcontrahirende
Staat ſich definitiv verpflichtet, ſo müßte in der ſtaatsrechtlichen
Ausfertigung conſtatirt werden, daß dieſe Vorausſetzung erfüllt,
d. h. der Vertrag durch Auswechslung der Ratifikationen definitiv
geſchloſſen worden iſt. Dieſe zweite — ſtaatsrechtliche — Aus-
fertigung der Verträge unterbleibt aber nach der im Reich an-
genommenen Praxis gänzlich; man beſchränkt ſich auf die Rati-
fikation.
4. Die Verkündigung.
Der Staatsvertrag als Geſchäft des Völkerrechts bedarf
weder einer Verkündigung im ſtaatsrechtlichen Sinne noch einer
Veröffentlichung zum Zwecke ſeiner thatſächlichen Bekanntmachung.
Geheime Verträge haben dieſelben völkerrechtlichen Wirkungen wie
veröffentlichte. Der Begriff der Verkündigung iſt auf Rechtsge-
ſchäfte überhaupt logiſch unanwendbar. Dagegen bedarf das Ge-
ſetz, welches die Vollziehung oder Beobachtung des Staatsver-
trages anordnet, der Verkündigung wie jedes andere Geſetz. Da
nun aber im Deutſchen Reich dieſes Geſetz überhaupt nicht formu-
lirt und ausgefertigt wird, ſo kann es auch nicht verkündigt wer-
den; der Verkündigung wird vielmehr die Vertrags urkunde zu
Grunde gelegt.
Der Abdruck derſelben im Reichsgeſetzblatt erſcheint daher
äußerlich als eine bloße Mittheilung, daß ein Staatsvertrag
mit dem angegebenen Wortlaut abgeſchloſſen worden ſei, aber nicht
als ein an die Reichsangehörigen gerichteter Befehl. Der Abdruck
ſchweigt von der Zuſtimmung des Bundesrathes und der Geneh-
migung des Reichstages und es wird dieſelbe auch nicht einmal
ſtillſchweigend durch die Thatſache des Abdruckes im Reichsgeſetz-
blatte conſtatirt, da bisweilen auch ſolche Verträge daſelbſt abge-
[193]§. 65. Die ſtaatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
druckt werden, die gar nicht in den Bereich der Reichsgeſetzgebung
eingreifen, der Genehmigung des Reichstages nicht bedürfen und
dieſelbe auch nicht erhalten haben 1). Dem Abdruck wird ferner
diejenige Urkunde zu Grunde gelegt, in welcher die mit Führung
der Verhandlungen betrauten Bevollmächtigten die Punktatio-
nen feſtgeſtellt und unterzeichnet haben, er enthält daher nicht
einmal die Unterſchrift des Kaiſers und ebenſowenig die Contra-
ſignatur des Reichskanzlers. Der völkerrechtliche Hauptact, die
Ratifikations-Urkunde, wird nicht publicirt. Dagegen wird hinter
dem Abdruck des Vertrages die hiſtoriſche Notiz, daß die Ratifi-
kation deſſelben erfolgt iſt, beigefügt. Dieſe Notiz iſt ohne Unter-
ſchrift und Beglaubigung und man kann ihr nicht anſehen, ob ſie
vom Reichskanzler oder von einem Setzerlehrling der Staatsdruckerei
herrührt.
Da dieſe Art der Verkündigung den Anordnungen im Art. 2
und Art. 17 der R.-V. zweifellos nicht entſpricht, ein Rechtsſatz
aber, daß der bloße Abdruck eines Staatsvertrages im Reichsge-
ſetzblatt dieſelben ſtaatsrechtlichen Wirkungen habe wie eine ord-
nungsmäßige Verkündigung, weder in der Reichsverfaſſung noch
in einem andern Reichsgeſetz anerkannt iſt, ſo läßt ſich mit Grund
in Zweifel ziehen, ob die bisher übliche Art der Verkündigung in
denjenigen Fällen, in denen der Inhalt des Vertrages in den Be-
reich der Geſetzgebung eingreift, rechtliche Kraft und Wirkſamkeit
hat 2).
In jedem Falle hat die bisher übliche Art der Verkündigung
ohne Eingangsworte, alſo ohne Conſtatirung, daß die Zuſtimmung
des Bundesraths und Reichstages ertheilt worden iſt, die Wirkung,
daß den Behörden, welche die in dem Staatsvertrage enthaltenen
Rechtsſätze zur Anwendung zu bringen haben, insbeſondere den
Gerichtsbehörden, das Recht und die Pflicht obliegt, im einzelnen
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 13
[194]§. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
Falle zu prüfen, ob in Wahrheit dieſen Erforderniſſen geſetzlicher
Gültigkeit Genüge geſchehen iſt oder nicht.
5. Ausführungsbeſtimmungen.
Wenn zur Vollziehung von Staatsverträgen Ausführungsbe-
ſtimmungen erforderlich ſind, ſo finden die Grundſätze über Ver-
ordnungen analoge Anwendung. Demgemäß können Rechts-
vorſchriften im Verordnungswege nur auf Grund geſetzlicher
Ermächtigung, die in der Genehmigung des Staatsvertrages durch
Bundesrath und Reichstag enthalten ſein kann, erlaſſen werden;
Verwaltungsvorſchriften dagegen ſind vom Bundesrath
oder, wenn ſie die unmittelbare Reichsverwaltung betreffen, nach
Maßgabe der Spezialgeſetze von den Verwaltungschefs zu erlaſſen.
Hervorzuheben iſt nur, daß auch die Ausführungsbeſtimmungen
durch völkerrechtlichen Vertrag vereinbart werden können,
welcher der Genehmigung des Reichstages nicht bedarf, wenn er nur
Verwaltungsmaßregeln oder Detailvorſchriften innerhalb der durch
den genehmigten Staatsvertrag ſanctionirten Grundſätze betrifft 1).
§. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
Die Reichsverfaſſung enthält keine Beſtimmung darüber, in-
wieweit den einzelnen Gliedſtaaten die Befugniß zum Abſchluß
von Staatsverträgen verblieben iſt; aus den allgemeinen Prinzi-
pien der Verfaſſung ergiebt ſich aber, daß den Einzelſtaaten der
völkerrechtliche Verkehr mit fremden Staaten, ſowie der Abſchluß
von Staatsverträgen untereinander nicht entzogen, wohl aber be-
ſchränkt worden iſt. Dieſer Satz iſt ſo zweifellos und unbeſtritten
und durch eine ſo conſtante und unangefochtene Praxis bekräftigt,
daß er keiner weiteren Begründung bedarf. Dagegen muß der
Umfang, in welchem den Einzelſtaaten das Vertragsrecht zuſteht
und die rechtliche Wirkung der internationalen Verträge der Einzel-
ſtaaten gegenüber den Hoheitsrechten des Reiches näher feſtgeſtellt
werden.
[195]§. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
I. Der Umfang, in welchem den Einzelſtaaten das Recht
zur Vertragsſchließung verblieben iſt, begrenzt ſich durch folgende
zwei Sätze:
1. Aus der ſtaatsrechtlichen Unterordnung der Einzelſtaaten
unter das Reich und der hierauf beruhenden Verpflichtung der
Einzelſtaaten und ihrer Regierungen zur Treue ergiebt ſich, daß
kein Gliedſtaat weder mit einem anderen Bundesſtaat noch mit
einer ausländiſchen Macht einen Vertrag abſchließen darf, welcher
gegen die Sicherheit, Exiſtenz oder Integrität des Deutſchen Reiches
oder eines Gliedes deſſelben oder gegen deſſen Verfaſſung, Landes-
herrn u. ſ. w. gerichtet iſt. Ein ſolcher Vertrag würde nicht blos
nichtig ſein, ſondern diejenigen Perſonen, welche an dem Abſchluß
deſſelben wiſſentlich Theil genommen haben, würden ſich nach §§. 81.
83. 84. 87 ff. des R.-St.-G.-B.’s des Hochverraths oder Landes-
verrathes ſchuldig machen.
2. Ueber Gegenſtände, welche der Kompetenz der Einzelſtaaten
durch die Reichsverfaſſung oder durch die auf Grund derſelben er-
gangenen Reichsgeſetze entzogen ſind, können die Einzelſtaaten keine
Verträge mit rechtlicher Wirkſamkeit abſchließen. Denn ſoweit ein
Einzelſtaat gewiſſe Hoheitsrechte, ſei es auf dem Gebiete der Rechts-
ordnung oder auf dem Gebiete der Verwaltungsthätigkeit, über-
haupt nicht mehr hat, kann er auch keine Verpflichtung über die
Art und Weiſe ihrer Ausübung übernehmen 1).
II. Innerhalb des Umfanges, in welchem die Einzelſtaaten
hiernach Staatsverträge abſchließen dürfen, ergeben ſich für die
Wirkungen derſelben zwei Beſchränkungen, von denen die eine
ſtaatsrechtlicher, die andere völkerrechtlicher Natur iſt.
1. Auch auf denjenigen Gebieten ſtaatlicher Thätigkeit, auf
welchen den Einzelſtaaten ſelbſtſtändige Hoheitsrechte verblieben
ſind, iſt ihre Gewalt keine ſouveraine, ſondern durch die Reichs-
gewalt beſchränkte. Sie können daher keine Staatsverträge ab-
ſchließen, durch deren Erfüllung ſie ſich mit den Anordnungen der
Reichsgeſetze oder der gültig erlaſſenen Verordnungen der Reichs-
behörden in Widerſpruch ſetzen würden 2). Ihre Handlungsfreiheit
13*
[196]§. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
findet in den Reichsgeſetzen eine Schranke. Insbeſondere iſt die
Anordnung des Art. 2 der R.-V., wonach Reichsgeſetze den Lan-
desgeſetzen vorgehen, ein rechtliches Hinderniß für den Abſchluß
aller Staatsverträge, durch welche ſich ein Staat zum Erlaß von
Vorſchriften verpflichten würde, die mit irgend einer Vorſchrift
eines Reichsgeſetzes im Widerſpruch ſtehen. Die mit der Logik
unvereinbare Auffaſſung, als ſei in einem Bundesſtaat die Staats-
gewalt zwiſchen Centralgewalt und Einzelſtaat getheilt und jeder
von beiden auf ſeinem Theil ſouverain, erweiſt ſich eben überall
als völlig unhaltbar, ſobald man eine ernſthafte Anwendung von
ihr machen will 1). Es läßt ſich kein Staatsvertrag mit irgend
welchem Inhalt ausdenken, den ein deutſcher Einzelſtaat abſchließen
könnte, ohne an den Reichsgeſetzen z. B. über Strafrecht, Proceß,
Privatrecht, Militair-, Zoll-, Poſt-, Conſulatsweſen u. ſ. w. eng-
gezogene Schranken zu finden.
Aber auch ſoweit das Reich von ſeiner Geſetzgebungsbefugniß
noch keinen Gebrauch gemacht hat, kann der Einzelſtaat durch
Staatsverträge dem Rechte des Reiches nicht präjudiciren. Die
auf Grund von Staatsverträgen von den Einzelſtaaten erlaſſenen
Vorſchriften verlieren ipso iure ihre Geltung, ſobald das Reich
durch Geſetz eine andere Vorſchrift ſanctionirt. Denn das Motiv,
aus welchem der Einzelſtaat eine Vorſchrift erlaſſen hat, nament-
lich ob dies auf Grund eines internationalen Rechtsgeſchäftes oder
aus eigenem Antriebe geſchehen iſt, verleiht der Vorſchrift keine
höhere Kraft; ſie muß vor dem Befehl der höheren Macht (des
Reiches) weichen. Das Reich kann zwar ſehr erhebliche Gründe
haben, die von den Einzelſtaaten geſchloſſenen Staatsverträge bei
der Reichsgeſetzgebung zu berückſichtigen; wenn das Reich aber ein
Geſetz erläßt, ſo beſeitigt daſſelbe nach Art. 2 der R.-V. alle
mit ihm im Widerſpruch ſtehenden landesgeſetzlichen Vorſchriften,
auch die in Folge eines Staatsvertrages ergangenen. Jeder aus-
wärtige Staat kennt die rechtliche Lage der Deutſchen Einzelſtaaten
oder muß ſich vor dem Abſchluß eines Vertrages mit ihnen dieſe
[197]§. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
Kenntniß verſchaffen; wenn er ſich trotzdem darauf einläßt, mit
ihnen ein ſolches Rechtsgeſchäft abzuſchließen, ſo weiß er auch, daß
ſein Gegencontrahent ſich gar nicht anders verpflichten kann als
unter dem ſelbſtverſtändlichen Vorbehalt, daß die von ihm ertheilten
Zuſicherungen nicht im Widerſpruch ſich befinden mit den verfaſ-
ſungsmäßigen Befehlen des Reiches und daß er durch den Erlaß
eines ſolchen Befehls in die rechtliche Unmöglichkeit verſetzt
werden kann, den von ihm abgeſchloſſenen Staatsvertrag noch
weiter zu erfüllen 1).
2. Die Einzelſtaaten ſind außer Stande, die Erfüllung der
von ihnen mit andern Staaten abgeſchloſſenen Verträge durch die
völkerrechtlichen Mittel zu erzwingen; weder gegenüber anderen
Gliedſtaaten des Reiches, da hier gewaltſame Selbſthülfe unter
denſelben durch den Begriff des Reiches ausgeſchloſſen iſt, noch
gegenüber auswärtigen Staaten, da kein einzelner Staat des Reiches
Krieg führen kann. Alle durch Staatsverträge erworbenen Rechte
oder Anſprüche der Einzelſtaaten finden daher ihren Schutz ledig-
lich durch das Reich, und zwar bei Streitigkeiten unter verſchiede-
nen Bundesſtaaten nach Art. 76 Abſ. 1 der R.-V., bei Streitig-
keiten mit auswärtigen Staaten nach den Grundſätzen des Völker-
rechts, im äußerſten Falle durch Erklärung des Krieges im Namen
des Reiches, wozu der Kaiſer unter Zuſtimmung des Bundes-
rathes nach Art. 11 Abſ. 2 der R.-V. befugt iſt.
Ebenſo kann kein auswärtiger Staat gegen einen Deutſchen
[198]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
Einzelſtaat völkerrechtliche Zwangsmittel zur Durchführung der
durch Staatsverträge begründeten Anſprüche in Anwendung bringen,
ohne daß das Reich zum Schutze ſeines Mitgliedes und des Bun-
desgebietes einzutreten verpflichtet wäre 1).
Wenngleich daher die Befugniß der Einzelſtaaten zum Ab-
ſchluß von Staatsverträgen mit auswärtigen Staaten durch das
Reich nicht abſorbirt iſt, ſo fällt dem Reiche doch die Vertretung
der Einzelſtaaten bei der völkerrechtlichen Geltendmachung der
aus den Staatsverträgen reſultirenden Anſprüche und Verpflich-
tungen aktiv und paſſiv zu.
Neuntes Kapitel.
Die Verwaltung des Reiches.
Erſter Abſchnitt.
Allgemeine Grundſätze.
§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
I. Der Ausdruck „Verwaltung“ wird je nach dem Gegen-
ſatz, in welchem dieſes Wort ſteht, in der ſtaatsrechtlichen und po-
litiſchen Literatur in ſehr verſchiedenem Sinne gebraucht; man
unterſcheidet bald die Verwaltung von der Verfaſſung und ſtellt
demgemäß das Verwaltungsrecht dem Verfaſſungsrecht gegenüber;
bald findet man den Gegenſatz zur Verwaltung in der Rechts-
pflege. Oder man faßt unter dem Worte Verwaltung die
geſammte Fürſorge für die geſellſchaftlichen Kultur-Intereſſen zu-
ſammen und bringt das Verwaltungsrecht in Gegenſatz zum
Privatrecht, ja ſelbſt zum Staatsrecht. Oder endlich man verſteht
unter Verwaltung die Vollziehung der Geſetze und ſtellt dieſelbe
[199]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
der Geſetzgebung gegenüber. Die letztere Auffaſſung iſt die in der
ſtaatsrechtlichen Literatur herrſchende; auf ihr beruht die Einthei-
lung der Staatsgewalt in die Legislative und in die Executive
oder vollziehende Gewalt. Auch hier wird der Begriff der Ver-
waltung im Gegenſatz zur Geſetzgebung genommen. Aber nicht in
dem aus der franzöſiſchen Doctrin von der Theilung der Gewalten
in die Deutſche Literatur übergegangenen Sinne. Man darf aus
der Geſetzgebung und Verwaltung nicht zwei verſchiedene, von ein-
ander getrennte Gewalten oder materiell abgegränzte Theile der
Staatsgewalt machen. Vielmehr kömmt ſowohl in der Geſetz-
gebung des Staates wie in der Verwaltung deſſelben die einheit-
liche und ungetheilte Staatsgewalt zur Erſcheinung. Und anderer-
ſeits iſt der Inhalt der Verwaltung in der Ausführung der Ge-
ſetze nicht erſchöpft; ſondern ſie empfängt ihren Inhalt, gerade
wie die Geſetzgebung ſelbſt, unmittelbar aus dem Weſen und den
Aufgaben des Staates. Das Verhältniß zwiſchen Geſetzgebung
und Verwaltung beſtimmt ſich durch folgende Erwägung.
Der Staat iſt als Perſon ein handlungsfähiges Weſen. Er
hat die durch ſeinen Zweck ihm geſtellten Aufgaben durch freie
Thätigkeit zu erfüllen; er vermag dies nur durch Handlungen,
gerade wie der einzelne Menſch. Dieſelben haben ihre Quelle in
ſeinem Willen; nicht in einer Rechtsregel. Die Freiheit des
Willens hat aber eine doppelte Schranke, eine natürliche in dem
Maaß der Kräfte, und eine rechtliche in den Rechtsſätzen, welche
gewiſſe Handlungen verbieten, zu anderen nöthigen. Ganz ſo wie
der einzelne Menſch ſeine individuellen Lebensaufgaben erfüllt
durch ſeine Thätigkeit, welche ihren Urſprung in ſeinem Wollen
hat, die aber durch ſein Können und Dürfen ihre Gränzen findet,
ſo auch der Staat. Durch die Aufſtellung von Geſetzen werden
die dem Staate obliegenden Aufgaben nicht realiſirt; Geſetze ſind
nichts Anderes als Regeln; ſie ſind an und für ſich wirkungslos.
Ein Staat, der weiter Nichts thäte, als Geſetze geben, müßte ſo-
gleich der Auflöſung verfallen; der Staat kann ſeine Lebensauf-
gaben durch die Aufſtellung von Rechtsregeln ebenſowenig verwirk-
lichen, wie man durch die Formulirung von Regeln der Mechanik
eine Maſchine herſtellen und in Thätigkeit erhalten kann. Es gilt
dies zunächſt für die eine große Hauptaufgabe jedes Staates, für
die Aufrechterhaltung der Rechts-Ordnung. Dieſer Aufgabe wird
[200]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
nicht genügt durch Sanctionirung von Rechtsſätzen, es kann im
Gegentheil das Gewohnheitsrecht ausreichen, ſondern es muß die
Handhabung des Rechtsſchutzes hinzukommen, alſo eine ſehr um-
faſſende Thätigkeit, welche den in den Geſetzen ausgeſprochenen
Rechtsregeln praktiſchen Erfolg verſchafft.
Außer dem Schutze des Rechtes hat der Staat aber noch
andere Aufgaben; ihm liegt der Schutz ſeiner Angehörigen und
ſeines Gebietes gegen Angriffe anderer Staaten und die Pflege
der Wohlfahrt des Volkes ob. Die Erfüllung dieſer Aufgaben
kann durch Aufſtellung von Rechtsregeln nicht nur nicht erreicht
werden, ſondern ſie iſt begrifflich ohne alle Sanction von Rechts-
ſätzen möglich, da ſie es mit der Verwirklichung des Rechts über-
haupt gar nicht zu thun hat.
Soldaten ausbilden, Waffen anſchaffen, Feſtungen anlegen, —
oder Wege und Kanäle bauen, Eiſenbahnen in Betrieb halten,
Briefe und Telegramme befördern, — oder Schulen errichten,
Handel, Induſtrie und Ackerbau heben und unterſtützen u. ſ. w.
das Alles ſind Thätigkeiten, welche ſich zwar innerhalb der vom
Recht gezogenen Schranken halten müſſen, welche aber die Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung ſelbſt nicht zum Gegenſtande haben,
und deshalb ihren poſitiven Inhalt durch Rechtsſätze nicht er-
halten. Sie ſind möglich und denkbar, ohne daß ſie durch ſpe-
zielle Geſetze angeordnet und normirt werden; die Regierung hat
die Befugniß zur Vornahme dieſer Thätigkeit nicht auf Grund
von Rechtsregeln, ſondern auf Grund der Natur des Staates und
der aus dieſer Natur ſich ergebenden Aufgaben des Staates.
Das urſprüngliche und begriffliche Verhältniß der Verwal-
tung und Geſetzgebung beſteht demnach nicht darin, daß die
Verwaltung poſitiv durch die Geſetzgebung beſtimmt und ge-
leitet wird, ſondern daß ſie negativ durch die Geſetzge-
bung beſchränkt wird. Das Weſen der Verwaltung beſteht
nicht in der Ausführung der Geſetze, ſondern in der Durchführung
der dem Staate obliegenden Aufgaben unter Beobachtung d. h.
ohne Verletzung der Geſetze. Die Staatsverwaltung ſteht hinſicht-
lich der Führung der öffentlichen Geſchäfte dem Rechte gerade ſo
frei und gerade ſo gebunden gegenüber wie der Einzelne hinſicht-
lich ſeiner Privatgeſchäfte. Der Kaufmann, welcher ein Handels-
gewerbe betreibt, führt dadurch nicht das Handelsgeſetzbuch aus,
[201]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
fondern er findet an demſelben für ſeine Thätigkeit, die er ſich
frei geſtaltet, rechtliche Normen und Schranken; ebenſo hat der
Staat durch das von ihm ſelbſt geſetzte Recht nicht den Inhalt
ſeiner Thätigkeit beſtimmt, ſondern derſelben rechtliche Schranken
auferlegt.
Staats-Verwaltung kann man daher definiren als die freie
Thätigkeit der Staatsregierung behufs Durchführung der ſtaat-
lichen Aufgaben innerhalb der von der Rechtsordnung des Staates
geſteckten Gränzen.
II. Dieſes reine und einfache Verhältniß der Verwaltung zur
Geſetzgebung genügt und iſt thatſächlich aufrecht erhalten, wo der
Staat für die Erfüllung ſeiner Thätigkeit ſich der allgemeinen,
für alle Rechtsſubjecte geltenden Rechtsordnung unterwirft und ſich
mit derſelben zufrieden giebt. Für die Verwaltung von Domänen
und Forſten, von fiskaliſchen Bergwerken und Fabriken, für den
Betrieb von Banquiergeſchäften durch den Staat (Seehandlung)
u. ſ. w. gelten in der That im Allgemeinen die Grundſätze des
allgemeinen Rechts, innerhalb deren die Staatsregierung ganz die-
ſelbe Handlungsfreiheit hat wieder Einzelne. Wenn der Staat für
die Beförderung der Briefe und Packete mittelſt der Poſt diejeni-
gen Rechtsſätze gelten läßt, welche für alle Frachtführer im All-
gemeinen beſtehen, ſo bedarf es keines Poſtgeſetzes; ein ſolches
wird nur dann nothwendig, wenn der Staat ſich das Monopol
der Briefbeförderung beilegt und wenn er hinſichtlich ſeiner An-
ſprüche und Pflichten beſondere Rechtsregeln aufzuſtellen für an-
gemeſſen erachtet. Auch wenn der Staat ſeine militäriſchen Streit-
kräfte, wie dies unter der Herrſchaft des Werbeſyſtems der Fall
war, durch gewöhnlichen Dienſtvertrag ſich verſchafft, ſo wie der
Fabrikherr ſeine Arbeiter oder der Rheder ſeine Schiffsleute mie-
thet, bedarf die Verwaltung keines Militärgeſetzes. Erſt wenn die
Dienſtpflicht der Unterthanen anerkannt und geregelt und das Mi-
litärverhältniß anderen, beſonderen Rechtsgrundſätzen unterſtellt
werden ſoll, als ſie das ſonſt geltende allgemeine Recht enthält,
wird ein Militärgeſetz für die Verwaltung unentbehrlich.
Ebenſowenig bedarf es eines Schulgeſetzes, wenn die Erthei-
lung von Unterricht Jedem freiſteht und der Staat von dieſer
Freiheit unter den für Alle geltenden Regeln durch Errichtung von
Schulen Gebrauch macht.
[202]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
Beſondere Verwaltungsgeſetze ſind begrifflich die Ausnahme;
als Regel ergiebt ſich für die Verwaltung die freie Thätigkeit
innerhalb des Spielraumes, welchen die Geſetze geſtatten. That-
ſächlich kehrt ſich das Verhältniß aber um, weil für die zweck-
mäßige Erfüllung der dem Staate obliegenden Aufgaben gewöhn-
kich die Aufſtellung beſonderer Rechtsregeln nothwendig oder
wenigſtens nützlich iſt. Es ſind hier zwei Klaſſen von Geſetzen
zu erwähnen, ohne welche eine heilſame Verwaltungsthätigkeit
des Staates gewöhnlich nicht entfaltet werden kann.
1. Der Staat bedient ſich behufs Durchführung ſeiner Auf-
gaben ſeiner Herrſchaft über Land und Leute; er verlangt Lei-
ſtungen; er befiehlt Handlungen; er beſchränkt die Handlungsfrei-
heit der Unterthanen durch Verbote. Der Staat ſteht ſeinen An-
gehörigen nicht als gleichberechtigtes Subject gegenüber, ſondern
als der mit imperium ausgeſtattete Herr. Dieſes imperium aber
iſt in dem modernen, civiliſirten Staate keine willkührliche, ſondern
eine durch Rechtsſätze beſtimmte Gewalt. Der Staat kann von
ſeinen Angehörigen keine Leiſtung und keine Unterlaſſung fordern,
er kann ihnen nichts befehlen und nichts verbieten, als auf Grund
eines Rechtsſatzes. Das iſt das Merkmal des Rechtsſtaates im
Gegenſatz zur Deſpotie. Nicht in dem Umfange, in welchem die
Staatsgewalt die Freiheit der Unterthanen beſchränkt, nicht in dem
Maße der Laſten, welche ſie ihnen auferlegt, iſt dieſer Unterſchied
begründet; ſondern lediglich darin, daß in der Deſpotie die Staats-
gewalt nach Willkühr gehandhabt wird, im Rechtsſtaat nach Rechts-
regeln. Dieſe Rechtsregeln können im Gewohnheitsrecht begründet
ſein; bei den modernen ſtaatlichen und rechtlichen Zuſtänden ſind
ſie gewöhnlich durch Geſetze ſanctionirt. Der Staat kann Niemanden
zur Zahlung von Steuern und Zöllen, zur Leiſtung von Militair-
dienſten, zur Erfüllung der Geſchworenenpflicht, zum Schulbeſuch
u. ſ. w. zwingen, wenn nicht durch Geſetz dieſe Befugniß des
Staates anerkannt iſt, und folglich auch nur unter den Voraus-
ſetzungen und nur in demjenigen Maße, welche das Geſetz vor-
ſchreibt. Ebenſo wenig kann die Regierung Jemanden in ſeiner
Gewerbethätigkeit oder an der freien Bewegung oder an der freien
Benutzung ſeines Eigenthums u. ſ. w. hindern und ihm im Inte-
reſſe der allgemeinen Sicherheit, Geſundheit, Wohlfahrt oder im
Intereſſe der Staatsfinanzen Beſchränkungen auferlegen, außer auf
[203]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
Grund eines Rechtsſatzes, welcher die Behörden des Staates dazu
ermächtigt.
Hierauf beruht die Nothwendigkeit des größten Theiles der
ſogenannten Verwaltungsgeſetze. Der Staat könnte den wichtigſten
und erheblichſten Theil ſeiner Aufgaben nicht erfüllen, wenn er
nicht Handlungen und Unterlaſſungen der Unterthanen anbefehlen
könnte. Er darf dies aber im Rechtsſtaate nur auf Grund eines
Rechtsſatzes und deshalb ſind Geſetze nöthig, welche dieſe Rechts-
ſätze ſchaffen. Der Staat verwendet bei der ihm obliegenden
Thätigkeit die ihm durch die Geſetzgebung eingeräumten rechtlichen
Befugniſſe und je ſorgfältiger und genauer das Geſetz Voraus-
ſetzungen, Umfang und Formen beſtimmt, in denen die Staatsge-
walt dem Einzelnen gegenüber zur Geltung gebracht werden darf,
deſto enger lehnt ſich die Thätigkeit der Behörden an die durch
Geſetze aufgeſtellten Regeln an. Dadurch entſteht der Anſchein,
als ſei die Verwaltung nach ihrem Zweck und Weſen Ausfüh-
rung der Geſetze. Allein mit größerem Rechte könnte man
ſagen, daß derjenige, welcher die ihm obliegenden Steuern zahlt,
welcher ſeiner Militairpflicht genügt, welcher ſeine Kinder zur
Schule ſchickt, welcher ſeine Fabrik vorſchriftsmäßig anlegt, die
Finanzgeſetze, das Militairgeſetz, das Schulgeſetz, die Fabrikordnung
ausführt. Ebenſo wird das dem Staate durch das Poſtgeſetz ein-
geräumte Monopol zur Briefbeförderung nicht durch die Poſt-
anſtalt realiſirt, ſondern durch die mittelſt Androhung von Strafen
erzwungene Enthaltung aller anderen Perſonen von der gewerbe-
mäßigen Beförderung von Briefen. Für die Verwaltung liefern
jene Geſetze nicht die von ihr zur Ausführung zu bringenden Auf-
gaben, ſondern nur die rechtlichen Vorausſetzungen oder Befugniſſe,
mittelſt deren die Verwaltung in der Lage iſt, ihren Aufgaben ge-
recht zu werden. Die Militärbehörde, welche auf Grund des
Dienſtpflicht-Geſetzes Rekruten einzieht, oder die Zoll- und Steuer-
behörde, welche auf Grund der Finanzgeſetze Abgaben erhebt,
bringt dieſe Geſetze in keinem anderen Sinne „zur Ausführung“,
wie etwa der Erbe, welcher auf Grund des geſetzlichen Erbrechts
den Nachlaß fordert, oder der Gläubiger, welcher auf Grund des
Handelsgeſetzbuches Verzugszinſen verlangt, das Privatrecht „zur
Ausführung bringt“ 1). Dieſe Geſetze bilden vielmehr nur den
[204]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
formellen Rechtsgrund, kraft deſſen die Behörde bei ihrer, auf die
Realiſirung der Staatsaufgaben gerichteten Thätigkeit in der Lage
iſt, dem Einzelnen etwas befehlen oder verbieten, von ihm Lei-
ſtungen oder Unterlaſſungen erzwingen zu können. Es kann darin
allerdings zugleich eine Normirung der dem Staate obliegenden
Pflichten liegen; denn da die Geſetzgebung der Regierung nur die-
jenigen Eingriffe in die Rechtsſphäre des Einzelnen geſtattet, welche
für die Ausführung der ſtaatlichen Aufgaben nothwendig erſcheinen,
ſo liegt in der Einräumung einer Befugniß der Staatsgewalt zu-
gleich die Anerkennung, daß ſich die Thätigkeit der Staatsregie-
rung in dieſer Richtung erſtrecken ſoll, daß alſo die Regierung von
der ihr zugewieſenen Befugniß nicht nur Gebrauch machen darf,
ſondern auch Gebrauch machen ſoll.
Allein, wenn das Geſetz beſtimmt, daß jeder wehrfähige
Deutſche dienſtpflichtig iſt, ſo hat die Verwaltung dadurch nicht die
Aufgabe, dieſes Geſetz auszuführen, d. h. wirklich jeden wehr-
fähigen Deutſchen ohne Ausnahme zur Fahne einzuberufen; ſon-
dern es wird ihr nur das Recht dazu verliehen und jeder wehr-
fähige Deutſche hat die Pflicht, wenn er zum Dienſt einberufen
wird, Folge zu leiſten. Ja es kann durch Geſetz die Regierung
mit Befugniſſen ausgeſtattet werden, die dieſelbe regelmäßig nicht
verwerthet, ſondern die ſie nur für den Nothfall in Reſerve hat,
von denen ſie vielleicht niemals thatſächlich Gebrauch macht, ſo daß
1)
[205]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
man gewiß nicht davon reden kann, daß die Regierung die Auf-
gabe oder Verpflichtung habe, ein ſolches Geſetz zu vollziehen.
Die Geſetze, von denen hier die Rede iſt, haben es ſämmtlich
zu thun mit einer Abgränzung der Staatsgewalt. Sie
geben die Rechtsvorſchriften über die Einwirkungen, welche der
Staat auf Perſonen und Vermögen ſeiner Untergebenen vornehmen
darf, und ſichern daher zugleich andererſeits die Sphäre, welche
vor dieſen Eingriffen rechtlich geſchützt iſt. Der Geſammtinhalt
aller dieſer Geſetze definirt den rechtlichen Inhalt der Staatsge-
walt, wie er durch die poſitive Geſetzgebung eines beſtimmten
Staates in einem beſtimmten Zeitpunkt fixirt iſt. Alle dieſe Be-
fugniſſe zuſammengenommen bilden das ſtaatliche imperium. Dieſe
Geſetze ſind daher „ſtaatsrechtliche“ im engſten Sinne des Wortes;
ſie betreffen recht eigentlich die Rechte des Staates. Von Ver-
waltungsvorſchriften ſind ſie dagegen durch ihren Inhalt und ihre
Wirkungen verſchieden.
2. Auch wo es ſich nicht um die Ausſtattung der Staatsge-
walt mit Herrſchaftsrechten handelt, ſondern wo an und für ſich
der Staat auf gleicher Stufe mit den anderen Rechtsſubjecten
ſtehen könnte, ſchafft ſich der Staat für ſeine auf die Durchfüh-
rung der ſtaatlichen Aufgaben gerichtete Thätigkeit günſtigere
oder wenigſtens beſondere Rechtsſätze. Solche Geſetze modifi-
ciren das Privatrecht, Strafrecht oder Proceßrecht und ſetzen ſpe-
zielle Regeln an die Stelle der allgemeinen. Die Poſtanſtalt
könnte, ſo gut wie jeder andere Frachtführer, nach den Grund-
ſätzen des Civil- und Handelsrechts in ihren geſchäftlichen Ver-
hältniſſen verpflichtet und berechtigt werden; der Staat aber giebt
für ihre Haftpflicht, für ihre Leiſtungen und Rechte in dem Poſt-
geſetze beſondere Vorſchriften. Die Finanzbehörden könnten die
fälligen Steuern und Zölle im gewöhnlichen Wege des Civilpro-
ceſſes einklagen und beitreiben; der Staat aber ſetzt an die Stelle
dieſes Verfahrens ein anderes, einfacheres, ſeine Thätigkeit erleich-
terndes. Die Thätigkeit der Regierung könnte auf dieſelben Mittel
beſchränkt ſein, wie ſie das Recht jedem Unterthan für ſeine Ge-
ſchäftsthätigkeit gewährt; der Staat ſichert und erleichtert dieſe
Thätigkeit aber durch zahlreiche Strafgeſetze, welche den Anord-
nungen ſeiner Verwaltungsbehörden Gehorſam und Befolgung ge-
währleiſten. Eine große Maſſe der ſogenannten Verwaltungsgeſetze
[206]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
enthält Regeln des Privatrechts, Proceßrechts und Strafrechts,
welche ebenſo gut, wie ſie in dem Poſtgeſetz, den Steuer- und
Zollgeſetzen, der Gewerbe-Ordnung u. ſ. w. enthalten ſind, in dem
bürgerlichen Geſetzbuch, der Proceß-Ordnung oder dem Strafgeſetz-
buch ihren Platz haben könnten. Daß die ſpeziellen Rechtsſätze in
beſonderen Geſetzen formulirt ſind, beruht nicht auf ihrem juriſti-
ſchen Weſen, ſondern auf techniſchen Gründen der Geſetzgebungs-
kunſt. Andererſeits enthalten die privatrechtlichen Geſetze, die
Proceßordnungen und beſonders das Strafgeſetzbuch ſehr viele
Beſtimmungen, welche mit Rückſicht auf die Verwaltungsthätigkeit
des Staates die im Allgemeinen herrſchenden Rechtsregeln abän-
dern oder ergänzen. Soweit aber ſpezielle Rechtsſätze geſetzlich
nicht anerkannt ſind, gelten die allgemeinen Rechtsregeln auch für
die durch die Verwaltungsthätigkeit des Staates hervorgerufenen
Rechtsverhältniſſe. So wie die unter 1. beſprochenen Geſetze keine
Verwaltungsvorſchriften ſondern ſtaatsrechtliche Regeln enthalten,
ſo ſind auch die hier in Rede ſtehenden Geſetze keine Verwaltungs-
vorſchriften, ſondern ſie enthalten Rechtsſätze des Privatrechts,
Strafrechts und Proceßrechts. Auch hier kann man nicht in dem
herkömmlichen Sinne ſagen, daß die Verwaltung die Aufgabe habe,
die Geſetze auszuführen. Die Poſt, welche auf Grund des Poſt-
geſetzes Entſchädigung leiſtet, führt das Poſtgeſetz in keinem andern
Sinne aus, wie der Frachtführer, welcher für ein verlorenes Fracht-
gut Schadenserſatz zahlt, das Handelsgeſetzbuch ausführt. Daſſelbe
gilt von den zahlloſen Leiſtungen von Vermögenswerth, welche
die meiſten Verwaltungsbehörden nach Maßgabe der Geſetze zu
erheben oder zu gewähren haben. Die Zoll- und Steuerbehörde,
welche im adminiſtrativen Wege Zahlungen eintreibt und Strafen
vollſtreckt, führt die Zoll- und Steuergeſetze in keinem andern
Sinne aus, wie man dies von den Gerichten hinſichtlich der Pro-
ceßordnungen ſagen könnte; die Zollbehörde und das von ihr zu
beobachtende Verfahren tritt lediglich an die Stelle des ordentlichen
Gerichts und des gewöhnlichen Proceſſes. Ebenſo iſt kein begriff-
licher Unterſchied zwiſchen der Beſtrafung desjenigen, welcher ein
im Strafgeſetzbuch erwähntes Delict verübt hat, und der Beſtra-
fung desjenigen, der eine im Zoll- oder Steuergeſetz u. ſ. w. mit
Strafe bedrohte Handlung begangen hat.
III. Die beiden erwähnten Klaſſen von Geſetzen ſind Geſetze
[207]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
im materiellen Sinne des Wortes, denn ſie enthalten Rechtsregeln.
Auch wenn ſie in der Form der Verordnung ergehen, ſind ſie nicht
Aeußerungen der Verwaltungsthätigkeit, ſondern Akte der Geſetz-
gebung; nicht Handlungen des Staates, ſondern Sanction von
Rechtsregeln für die Handlungen deſſelben. Es giebt nun aber
gewiſſe Anordnungen, welche man ebenſowohl unter dem Geſichts-
punkt der Geſetzgebung als unter dem der Verwaltung auffaſſen
kann; das iſt namentlich die Einrichtung des Verwaltungs-Appa-
rates ſelbſt, die Organiſation des Behördenſyſtems. Von der
Verwaltungsthätigkeit iſt die Schaffung dieſes Apparates begriff-
lich leicht zu unterſcheiden. Die Errichtung von Verwaltungs-
Behörden iſt noch nicht die Verwaltungsthätigkeit ſelbſt, ſondern
nur Vorbereitung und Ermöglichung derſelben; es iſt die Aus-
ſtattung des Staates mit Organen, mittelſt deren der Staat eine
Thätigkeit entfalten kann. Die Organe der juriſtiſchen Perſonen
kann man gewiſſermaßen den Körper derſelben nennen und ſie den
natürlichen Organen der phyſiſchen Perſonen vergleichen. Da nun
jede juriſtiſche Perſon ein Gebilde des Rechts iſt, ſo iſt auch die
Organiſation derſelben durch die Rechtsordnung beſtimmt und ge-
regelt und die Bildung und Wirkſamkeit ihrer Organe beruht auf
Rechtsſätzen. Eine juriſtiſche Perſon kann erſt thätig werden, wenn
ſie exiſtent geworden iſt, wenn ſie alſo Organe hat; ſie kann ſich
nicht durch ihre eigene Thätigkeit erzeugen. So wie man auf dem
ganzen Gebiete des Privatrechts keinerlei Art von juriſtiſcher Per-
ſon ſich vorſtellen kann, deren Grundformen und Organe nicht durch
Rechtsſätze vorgezeichnet oder durch Statut normirt ſind, ſo giebt
es auch auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts keine juriſtiſche
Perſon ohne Organe, die von Rechtswegen beſtehen. Vor Allem
gilt dies von dem Staate, deſſen Verfaſſung das wichtigſte Stück
ſeiner eigenen Rechtsordnung iſt. Es giebt daher auch keinen
Staat, deſſen Verfaſſungsrecht nicht darüber Regeln enthielte, welche
Organe die verwaltende Thätigkeit auszuüben haben, und deſſen
Geſetzgebung nicht Beſtimmungen über die Behörden-Organiſation
träfe.
Andererſeits aber kann die einmal organiſirte und handlungs-
fähig gewordene juriſtiſche Perſon durch ihre eigene Thätigkeit ihre
Organiſation weiter ausbilden, vervollſtändigen und ſpezialiſiren.
Auch hier gelten die gleichen Regeln von den juriſtiſchen Perſonen
[208]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
des Privatrechts und des öffentlichen Rechts. Die Corporation
und der Aktienverein haben durch Rechtsſätze und Statut gewiſſe
allgemeine und unentbehrliche Verwaltungs-Organe; dieſelben kön-
nen aber durch Rechtsgeſchäfte ſich anderweitige Organe ſchaffen,
indem ſie Bevollmächtigte, Gehülfen, Kontrolleure u. ſ. w. ernennen
und eine planmäßige Vertheilung der Geſchäfte unter dieſelben
vornehmen.
So kann auch im Staate das Recht ſich möglicherweiſe auf
den einen Satz beſchränken, daß der Monarch zu verwalten habe.
Alsdann iſt die Herſtellung des Verwaltungs-Apparates ſelbſt eine
Verwaltungsthätigkeit, eine Summe von Rechtshandlungen.
Wie weit die Organiſation des Verwaltungs-Apparates zum
Gegenſtand der Rechtsordnung erhoben, wie weit dieſelbe der Ge-
ſchäftsführung der durch das Recht gegebenen Organe überlaſſen
wird, iſt demnach nicht durch juriſtiſche Gründe beſtimmt, ſondern
durch politiſche Erwägungen. Für gewiſſe Gebiete der Verwaltung
pflegt die Behörden-Organiſation bis auf die Einzelheiten rechtlich
feſtgeſtellt zu ſein, ſo insbeſondere für die Rechtspflege und für
die Finanzverwaltung; für andere Gebiete beſteht eine [ausgedehnte]
Handlungsfreiheit der Regierung 1).
Die Einrichtung und Verzweigung der Behörden und die Ab-
gränzung ihres Geſchäftskreiſes, ſowie die Veränderung oder Auf-
hebung beſtehender Behörden kann daher an ſich ebenſowohl als
ein Akt der Geſetzgebung d. h. als Regelung der ſtaatlichen Rechts-
ordnung, wie als ein Akt der ſtaatlichen Verwaltung d. h. als
Bethätigung der Geſchäftsführung gedacht werden und es iſt ledig-
lich nach dem poſitiven Recht eines beſtimmten Staates und eines
beſtimmten Zeitpunktes zu beantworten, in welchem Maaße das
Eine oder das Andere der Fall iſt. Die Entwicklung des moder-
nen Staates iſt darauf gerichtet, das geſammte Behörden-Syſtem
und die Zuweiſung beſtimmter Geſchäftskreiſe an die einzelnen
Aemter immer vollſtändiger und ausſchließlicher durch die Geſetz-
gebung zu regeln und zur Rechtsinſtitution zu erheben. Soweit
dies geſchehen iſt, iſt die Handlungsfreiheit der Verwaltung be-
ſeitigt oder beſchränkt; und dieſelbe kann nur die geſetzlichen Vor-
[209]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
ſchriften durch Ernennung der Beamten, Herſtellung von Dienſt-
gebäuden u. ſ. w. zur Verwirklichung bringen. Inſoweit aber
eine geſetzliche Anordnung nicht getroffen iſt, erſcheint die auf die
Organiſirung der Aemter gerichtete Verwaltungsthätigkeit auch hier
nicht als Ausführung oder Vollziehung von Geſetzen, ſondern
als Bethätigung der Handlungsfreiheit innerhalb der geſetzlichen
Schranken.
IV. In den vorhergehenden Erörterungen iſt der Begriff der
Geſetzgebung durchweg im materiellen Sinne des Wortes d. h. als
Sanction von Rechtsregeln verwendet worden; ganz anders aber
geſtaltet ſich das Verhältniß von Verwaltung und Geſetzgebung,
wenn der letztere Ausdruck im formellen Sinne genommen wird.
Es iſt oben bereits dargethan worden, daß jeder überhaupt mög-
liche Willensact des Staates in die Form des Geſetzes gekleidet
werden kann; in dieſem Sinne beſteht daher kein Gegenſatz zwi-
ſchen Geſetzgebung und Verwaltung, ſondern das Geſetz kann ſelbſt
ſeinem Inhalte nach ein Verwaltungsakt ſein. Insbeſondere kann
das Geſetz gewiſſe Handlungen der Regierung vorſchreiben; z. B.
die Herſtellung einer Eiſenbahn, eines Feſtungswerkes, eines Par-
lamentsgebäudes, die Aufnahme oder Tilgung einer Anleihe, die
Anſammlung eines Fonds, die Errichtung einer Anſtalt u. ſ. w.
Ferner kann in der Form des Geſetzes den Behörden eine
mehr oder minder ausführliche Inſtruktion über die Art und Weiſe
ihrer Thätigkeit gegeben werden. Der Betrieb der Bankgeſchäfte,
der Poſt- und Telegraphen-Anſtalt, die Ausprägung von Münzen,
die Anlage und Verwaltung von Staatsgeldern, die Thätigkeit
der Behörden im Intereſſe der Geſundheitspflege, der Sicherheit
des Verkehrs, der Hebung von Handel, Induſtrie und Landwirth-
ſchaft, der Verbreitung von Kenntniſſen und Bildung im Volke
u. ſ. w. kann durch allgemeine Anordnungen geregelt werden,
welche in der Form der Geſetzgebung ergehen. In den Geſetzen
finden ſich unzählige Beſtimmungen, welche ihrem Inhalte nach
ebenſo gut in Reglements oder allgemeinen Verfügungen ihren
Platz haben könnten. Geſetze dieſer Art ſind im materiellen Sinne
Verwaltungsakte; ſie enthalten keinen Rechtsbefehl, ſon-
dern einen Verwaltungsbefehl.
Dieſen Geſetzen gegenüber iſt die Verwaltung allerdings Voll-
ziehung, d. h. Ausführung des in geſetzlicher Form ergangenen
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 14
[210]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
Verwaltungsbefehls. Die Handlungsfreiheit der Verwaltungs-
behörden innerhalb der vom Rechte gezogenen Gränzen wird
durch ſolche Geſetze beſeitigt. Die Regierung kann nunmehr nicht
handeln, wie ſie will, ſondern ſie muß handeln, wie es das ihre
Verwaltungsthätigkeit regelnde Geſetz vorſchreibt. Vom Stand-
punkte der franzöſiſchen Staatsdoktrin aus, welche den Begriff
der Geſetzgebung durchaus im formellen Sinne nimmt, iſt es
daher völlig begreiflich, die Verwaltung als die Executive zu er-
klären. Nur zeigt es ſich gerade hier, wie unrichtig es iſt, aus
der Legislative und Executive zwei getrennte Gewalten zu machen.
Grade weil die Form des Geſetzes ebenſo gut zum Erlaß eines
Rechtsbefehls wie zum Erlaß eines Verwaltungsbefehls verwendet
werden kann, iſt der Volksvertretung durch ihre Mitwirkung bei
der ſogenannten Legislative ein Antheil ſowohl an der Regelung
der Rechtsordnung wie an der Verwaltung des Staates gewährt.
Die Verwaltung kann nur dann auf die Vollziehung oder Aus-
führung der Geſetze beſchränkt ſein, wenn die oberſten Verwaltungs-
befehle in der Form des Geſetzes erlaſſen werden, alſo nicht unter
Ausſchluß, ſondern unter Mitwirkung der Volksvertretung. In
England, von deſſen öffentlichem Rechte die ganze Lehre von der
Theilung der Gewalten abſtrahirt worden iſt, hat man es niemals be-
zweifelt, daß das Parlament auch Funktionen der Verwaltung ausübt.
Die Gränze zwiſchen einer allgemeinen Verwaltungs-Anord-
nung und der Aufſtellung einer Rechtsregel iſt aber eine überaus
ſchwankende und unſichere. Es iſt bereits oben hervorgehoben
worden, daß eine Anordnung, welche das Oberhaupt der Ver-
waltung innerhalb des Gebietes der ihm zuſtehenden Handlungs-
freiheit getroffen hat, zu einem Satze der Rechtsordnung erhoben
werden kann, der die Verwaltung ſelbſt bindet und von ihr nicht
mehr aufgehoben oder verändert werden kann. Die Verwaltung
iſt nicht blos Anwendung und Ausführung, ſondern zugleich Fort-
bildung und Quelle des öffentlichen Rechts. Indem die Verwal-
tung innerhalb der vom Rechte gezogenen Schranken für die Be-
friedigung der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Bedürfniſſe Sorge
trägt, führt ſie zu neuen Rechtsſätzen. Gerade ſo wie der Ge-
ſchäftsverkehr der Individuen das Privatrecht langſam aber ſtetig
weiter ausbildet und aus dem ſtets wiederkehrenden, ſtereotypen
Inhalte der Rechts geſchäfte erſt Gebräuche, dann Rechtsſätze
[211]§. 67. Der Begriff der Verwaltung.
ſchafft, welche als Gewohnheitsrecht oder durch geſetzliche Aner-
kennung bindende Kraft erlangen, ſo erzeugt auch die gleichmäßige
in unzähligen Fällen wiederholte und den Bedürfniſſen des Staates
entſprechende Geſchäftsthätigkeit der Behörden erſt eine Verwal-
tungs-Tradition, und endlich Sätze des öffentlichen Rechts. Das
Recht ſelbſt iſt gleichſam nur der Niederſchlag und die Fixirung
der vorangegangenen Entwickelung; die Bedürfniſſe des wirth-
ſchaftlichen und ſtaatlichen Zuſammenlebens ſind immer früher da,
als die Rechtsſätze, welche bei normalen Zuſtänden ihr Erzeugniß
ſind. Wenn auch das vorhandene Recht Form und Inhalt der
Rechtsgeſchäfte beherrſcht und für die weitere Entwicklung ein
weſentlich mit beſtimmendes Moment iſt, ſo iſt doch das Recht
niemals ein fertig abgeſchloſſenes, d. h. todtes, ſondern ein ſtets
fortſchreitendes, veränderliches. Dies iſt nicht nur hinſichtlich des
Privatrechts, ſondern in demſelben Maaße für das öffentliche Recht
wahr. Immer neue Lebensverhältniſſe entſtehen und erzeugen neue
geſellſchaftliche Mißſtände und Bedürfniſſe und damit immer neue
ſtaatliche Aufgaben und Thätigkeiten. Das vorhandene Recht ge-
nügt deshalb niemals vollſtändig ſämmtlichen Bedürfniſſen der
Gegenwart, es iſt immer nur das Reſultat der Vergangenheit.
Die Verwaltung muß dieſen Bedürfniſſen der Gegenwart abhelfen
und indem ſie innerhalb der Schranken der Rechtsordnung beginnt,
führt ſie allmählig eine Umgeſtaltung, Erweiterung und Fortbil-
dung der Rechtsordnung herbei. Unter Umſtänden kann dieſer
Einfluß ein ſo gewaltiger ſein, daß die alte Rechtsordnung da-
durch völlig verändert wird. Das alte ius civile der Römer er-
lag den Amtsverordnungen der Prätoren und Aedilen, dem ius
honorarium; das alte Volksrecht der germaniſchen Stämme ver-
ſchwand vor den Beamten-Inſtructionen, welche die merovingiſchen
und karolingiſchen Könige in ihren Kapitularien ertheilten; das
gemeine Landrecht des ſpäteren Mittelalters wurde auf das gründ-
lichſte umgeſtaltet und in allen ſeinen Theilen verändert und fort-
gebildet durch die Verwaltungs-Verordnungen der Stadtmagiſtrate;
das aus dem Mittelalter überkommene Recht machte einem ganz
neuen Rechte Platz, welches ſeine Ausbildung durch die Inſtruktio-
nen und Verwaltungs-Verordnungen erhielt, die die Landesherren
ihren Amtmännern, ihren Rentmeiſtern, ihren Hof- und Kammer-
richtern, mit einem Worte ihren Beamten, ertheilten.
14*
[212]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
Die Verwaltungsthätigkeit des Staates iſt ſonach zugleich
Handhabung und Erzeugung des öffentlichen Rechts und es findet
eine fortwährende Wechſelwirkung zwiſchen Verwaltung und Rechts-
bildung ſtatt. Dadurch tritt der Antheil der Volksvertretung in
der verwaltenden Thätigkeit des Staates erſt in ſeiner vollen Be-
deutung hervor. Er beſteht nicht nur darin, daß bei den parla-
mentariſchen Verhandlungen eine etwaige Verletzung der Geſetze
durch die Verwaltungsbehörden oder eine irrige und unzweckmäßige
Vollziehung derſelben gerügt werden kann; er wird auch nicht
dadurch erſchöpft, daß durch Feſtſtellung des Staatshaushaltes die
finanziellen Mittel für die Verwaltungsthätigkeit der Behörden
bewilligt werden; ſondern er kommt vorzugsweiſe dadurch zur
Geltung, daß die Geſetzgebung eine Form der ſtaatlichen Willens-
erklärung iſt, welche nicht blos auf die Sanction von Rechtsſätzen
ſondern auch auf die Anordnung und Regelung der Verwaltungs-
thätigkeit anwendbar iſt.
§. 68. Die Formen der Verwaltung.
I. Verwaltung iſt — wie in dem vorhergehenden Paragraphen
entwickelt wurde — Thätigkeit, Geſchäftsführung. Die ſtaatliche
Geſchäftsführung vollzieht ſich aber, wie jede Geſchäftsführung,
theils durch Handlungen factiſcher Natur, theils durch Rechts-
geſchäfte. Die erſteren ſind durch Rechtsſätze nicht beſtimmt; die
unzähligen Arbeiten, welche der Staat auf den verſchiedenen Ge-
bieten der Verwaltung vornehmen läßt, haben eben ſo wenig ein
juriſtiſches Intereſſe und einen rechtlichen Inhalt, wie die that-
ſächlichen Beſchäftigungen und Arbeiten der Individuen. Für das
Staatsrecht ſind nur die Rechtsgeſchäfte der Verwaltung von
Belang. Dieſe Rechtsgeſchäfte ſind ganz ebenſo wie auf dem Ge-
biete des Privatrechts entweder zweiſeitige, d. h. Verträge, oder
einſeitige, d. h. Befehle.
1. Der Vertrag findet überall Anwendung, wo der Staat
mit den ihm zuſtehenden Herrſchaftsrechten die ihm obliegenden
Aufgaben nicht zu erfüllen vermag. Die Verwaltung iſt genöthigt,
Verträge aller Art in großer Zahl unabläſſig abzuſchließen; die
Lieferung von Waaren, die Leiſtung von Arbeiten, die Herſtellung
von Werken, die Beſchaffung von Geldmitteln u. ſ. w. kann der
[213]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
Gegenſtand dieſer Verträge ſein. Ebenſo kann der Staat ſeiner-
ſeits die Leiſtung von Arbeiten oder die Lieferung von Waaren u. ſ. w.
übernehmen, z. B. in dem Betrieb der Poſtanſtalt, der Staats-
Eiſenbahnen, der Forſten, in dem Dienſte der Lootſen u. v. a.
Auch die Anſtellung der Staatsbeamten iſt — wie oben Bd. I.,
§. 37 fg. — ausgeführt wurde, ein Vertrag, weil der Staat der
Regel nach nicht das Recht beanſprucht, Jemanden zur Uebernahme
eines Staatsamtes zu zwingen. Soweit der Vertrag einen ver-
mögensrechtlichen Inhalt hat, was in der weitaus überwiegenden
Mehrzahl der Fälle zutrifft, handelt der Staat als Perſönlichkeit
des Privatrechts, als Fiskus, und er ſteht alsdann als gleichbe-
rechtigte Partei ſeinen Mitcontrahenten gegenüber. Das durch
den Vertrag begründete Rechtsverhältniß iſt nach den allgemeinen
Grundſätzen des Privatrechts zu beurtheilen, ſofern nicht dieſelben
durch ſpezielle zu Gunſten des Fiskus eingeführte Rechtsſätze modi-
fizirt ſind. Es ergiebt ſich zugleich hieraus, daß die Entſcheidung
von Streitigkeiten über die aus ſolchen Verträgen entſtehenden Be-
fugniſſe und Pflichten im Wege des gerichtlichen Proceſſes zu
treffen iſt. Ein ſehr großer Theil der geſammten Verwaltungs-
thätigkeit des Staates ſteht demnach nicht unter eigenthümlichen
ſtaatsrechtlichen Regeln, ſondern unter denen des Privatrechts und
Civilproceſſes. In zwei Beziehungen aber kommen ſtaatsrechtliche
Prinzipien zur Anwendung.
a) Hinſichtlich des Subjects, welches den Vertrag für den
Staat ſchließt. Der Staat wird nur durch diejenigen Verträge
verpflichtet, welche ein Bevollmächtigter deſſelben innerhalb ſeiner
Stellvertretungsbefugniß, d. h. ein Beamter des Staates innerhalb
ſeiner Kompetenz abgeſchloſſen hat. Dieſes für alle juriſtiſchen
Perſonen geltende Prinzip hat die Folge, daß die Frage nach der
Gültigkeit eines für den Staat abgeſchloſſenen Geſchäftes zum
Theil nach ſtaatsrechtlichen Regeln zu beurtheilen iſt. Die Voll-
macht einer Behörde beſtimmt ſich nach dem ihr zugewieſenen Ge-
ſchäftskreiſe und die Befugniß einer beſtimmten Perſon Namens
einer Behörde zu handeln, beruht auf der Berufung dieſer Per-
ſon zur Führung des betreffenden Amtes. Die Gültigkeit eines
Vertrages, welcher zum Zwecke der Staatsverwaltung abgeſchloſſen
worden iſt, hängt demnach von der Bejahung der beiden Vorfragen
ab, ob demjenigen, welcher im Namen des Staates den Vertrag
[214]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
geſchloſſen hat, in rechtsgültiger Weiſe das Amt übertragen worden
iſt, und ob der Abſchluß des in Rede ſtehenden Vertrages zu dem
Geſchäftskreiſe dieſes Amtes gehört. Beide Fragen ſind ſtaats-
rechtlicher Natur. Die erſte iſt nach den über die Anſtellung von
Staatsbeamten geltenden Rechtsgrundſätzen, die zweite nach den
ſtaatsrechtlichen Vorſchriften über das Behördenſyſtem und die
Kompetenz der einzelnen Behörden zu entſcheiden. In beiden Be-
ziehungen aber muß man ſich hüten, die Anſätze des Staatshaus-
halts mit Rechtsregeln zu verwechſeln. Das Staatsoberhaupt
kann durch die Anſtellung eines Beamten, welchem ein Gehalt zu-
gebilligt wird, ohne daß daſſelbe im Budget ausgeworfen iſt, eine
Rechtsverletzung ſich zu Schulden kommen laſſen; deſſenungeachtet
aber bleibt die Uebertragung des Amtes und die damit verbundene
Vollmacht völlig rechtswirkſam, wenn ſie in den vorgeſchriebenen
Formen erfolgt iſt. Ebenſo ſind die von einer Behörde innerhalb
ihrer geſetzlichen Kompetenz abgeſchloſſenen Verträge völlig rechts-
wirkſam, wenngleich ſie die im Etat angeſetzten Summen über-
ſteigen. Inwieweit der Beamte dafür von ſeinem Vorgeſetzten
zur Verantwortung gezogen, vielleicht zum Erſatz angehalten wer-
den kann, iſt eine den Dritten nicht berührende Frage.
b) Hinſichtlich des Inhaltes der Verträge. Im Allge-
meinen beſteht auf dem Gebiete des Verkehrsrechtes volle Freiheit
der Contrahenten, innerhalb der geſetzlichen Schranken zu verein-
baren, was ihnen beliebt. Die Grundſätze des Obligationenrechts
haben regelmäßig den Charakter des ius dispositivum. Dies gilt
prinzipiell auch von den Rechtsgeſchäften, welche zum Zwecke der
Staatsverwaltung geſchloſſen werden. Grade an den unzähligen
Verträgen, welche die Verwaltungsbehörden abzuſchließen veran-
laßt ſind, wird es deutlich, daß die Verwaltungsthätigkeit nicht
Anwendung oder Vollziehung der Geſetze iſt; der Staat ſchließt
vielmehr dieſe Verträge mit derſelben Handlungsfreiheit ab wie
jedes andere Rechtsſubject, und die Behörden, welche zur Verwal-
tung der Staatsgeſchäfte berufen ſind, haben bei der Vereinbarung
der Vertragsbedingungen der Regel nach keine andere Stellung
wie ſie die geſchäftsführenden Organe juriſtiſcher Perſonen (Corpo-
rationen, Stiftungen, Aktienvereine) überhaupt haben. Ausnahms-
weiſe aber kann der Inhalt der Verträge durch Geſetz ſo feſt vor-
geſchrieben ſein, daß die Verwaltungsbehörden die Verträge nach
[215]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
einer genau beſtimmten Schablone abſchließen müſſen. Dieſe Aus-
nahmen beruhen theils auf dem finanziellen Intereſſe des Staates,
ſind alſo durch den Antheil der Volksvertretung an der Ordnung
der Staatswirthſchaft begründet, theils auf der Fürſorge für die
Wohlfahrt des Volkes. Ein Beiſpiel für die Ausnahmen der
erſten Klaſſe bieten die Anleihegeſetze. In denſelben kann nicht
nur die Regierung zur Aufnahme einer Anleihe in gewiſſem Be-
trage ermächtigt werden, ſondern es kann zugleich vorgeſchrieben
werden, unter welchen Bedingungen das Geſchäft geſchloſſen, wie
die Anleihe aufgebracht, verzinſt, getilgt werden ſoll. Ebenſo kann
ein Geſetz, welches die Regierung ermächtigt, eine Eiſenbahn zu
kaufen oder in eigenen Betrieb zu nehmen, die Bedingungen ge-
nau feſtſtellen, welche in dem zu dieſem Zwecke abzuſchließenden
Vertrage zu vereinbaren ſind.
Für die zweite Klaſſe von Ausnahmen bietet ein beſonders
anſchauliches Beiſpiel die Poſt. Es würde ganz unerträglich ſein,
wenn bei der Aufgabe jedes einzelnen Briefes die Bedingungen
ſpeziell verabredet werden müßten oder auch nur dürften, unter
denen die Poſtanſtalt die Beförderung deſſelben übernimmt. Dieſe
in unzähligen Fällen abzuſchließenden Verträge müſſen einen voll-
kommen ſtereotypen Inhalt haben. Nun iſt es allerdings möglich,
daß die Verwaltungsbehörden ſelbſt dieſen Inhalt allgemein feſt-
ſtellen, insbeſondere auch den zu entrichtenden Gebührenbetrag
fixiren. Dies iſt gegenwärtig der Fall bei dem Geſchäftsbetrieb der
Telegraphen-Anſtalt, der Eiſenbahnen, mehreren Geſchäftszweigen der
Poſt u. ſ. w. Es kann aber auch durch Geſetz der Inhalt dieſer
Verträge fixirt werden, wie dies namentlich hinſichtlich der Beför-
derung von Briefen geſchehen iſt. Der geſetzlich feſtgeſtellte Porto-
Tarif enthält keine Rechtsſätze, ſondern iſt ein Preis-Verzeichniß;
aber die Verwaltung darf nicht unter anderen Bedingungen Brief-
beförderungs-Verträge abſchließen, als unter den geſetzlich feſtge-
ſtellten. Ebenſo können die Anſtellungs-Verträge mit Beamten von
der Regierung nicht anders abgeſchloſſen werden, als nach den im
Beamtengeſetz gegebenen Vorſchriften, namentlich in Betreff der
Gehalts- und Penſionsanſprüche. Aber nicht nur die vom Staate
zu zahlenden oder zu erhebenden Geldbeträge, ſondern auch der
geſammte übrige Inhalt der von der Verwaltung abzuſchließenden
Verträge kann für gewiſſe Arten der letzteren durch Geſetz allge-
[216]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
mein vorgezeichnet ſein, ſo daß er in jedem einzelnen Falle ohne
Abweichung und deshalb auch ohne beſondere oder ausdrückliche
Erklärung als vereinbart anzuſehen iſt. Alsdann wandelt ſich das,
was ſeiner Natur nach urſprünglich Vertragsberedung iſt, in geſetz-
liches Recht um, gerade ſo wie auf dem Gebiete des Privatrechts
aus dem ſtets wiederkehrenden ſtereotypen Inhalt unzähliger Ge-
ſchäfte ein Satz des Gewohnheitsrechtes ſich bildet. In dem einen
Falle iſt es der Geſetzesbefehl des Staates, in dem andern die
opinio iuris, d. h. das Bewußtſein von der rechtlichen Verbind-
lichkeit des Geſchäfts-Gebrauches, welches die Umwandlung des
Vertragswillens in eine Rechtsregel bewirkt. Dadurch aber fällt
der Vertragswille nicht fort. Der Verkäufer haftet für die von
ihm zugeſicherten Eigenſchaften der Waare allerdings kraft Rechts-
ſatzes, gleichviel ob er will oder nicht; andererſeits entſpricht dieſe
Haftung aber auch ſeinem vertragsmäßigen Willen, ohne Rückſicht
auf das Geſetz, welches ihm dieſelbe auferlegt; und ſo beruhen
auch die Anſprüche und Verpflichtungen des Staates aus den im
Betriebe der Verwaltung geſchloſſenen Verträgen nicht blos auf
der abſtracten Regel des Geſetzes, ſondern ebenſo auf dem im
concreten Falle wirkſam gewordenen Willen der Contrahenten; der
Inhalt beider iſt identiſch.
2. Der Befehl. Soweit der Staat Herrſchaftsrechte über
Land und Leute hat, um durch Anwendung derſelben ſeinen Auf-
gaben gerecht zu werden, iſt der Befehl die Form, in welcher ſich die
Thätigkeit der Verwaltungsbehörden vollzieht. Der Befehl wird
ertheilt durch eine Verfügung der Verwaltungsbehörde, welche
außer dieſem Befehle ſelbſt bisweilen noch andere Beſtandtheile
haben kann, insbeſondere Angabe der Gründe, Androhung von
Strafen, Belehrungen über die Befugniß zu Reclamationen oder
Beſchwerden u. ſ. w. Der ſtaatsrechtlich erhebliche Inhalt der
Verfügung aber, auf welchem die von ihr bezweckten Rechtswir-
kungen beruhen, iſt der Befehl an den der Staatsgewalt Unter-
gebenen, etwas zu leiſten, zu thun oder zu unterlaſſen. Die Ein-
ziehung der Steuern, Zölle und Gebühren, die Einberufung zur
Leiſtung der Militairpflicht, die Anforderungen des Staates an die
Unterthanen zur Handhabung des Rechtsſchutzes, die polizeiliche
Thätigkeit u. ſ. w. bieten zahlloſe Anwendungsfälle.
Die Verfügung iſt ein Akt des öffentlichen Rechtes; man kann
[217]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
ſie das einſeitige Rechtsgeſchäft des öffentlichen
Rechtes nennen, im Gegenſatz zu den eben erörterten zweiſeitigen
Geſchäften, den Verträgen. Dadurch iſt zugleich der begriffliche Ge-
genſatz der Verfügung und des Geſetzes, oder des Verwaltungs-
befehls und des Geſetzesbefehls ausgedrückt. Der Akt
der Geſetzgebung (im materiellen Sinne) iſt kein Rechtsgeſchäft und
begründet kein Rechtsverhältniß, ſondern ſanctionirt eine Rechts-
regel; der Verwaltungsbefehl ſchafft keine Rechtsſätze, ſondern
Rechtsverhältniſſe, er begründet ſubjective Pflichten und iſt Aus-
übung ſubjectiver Rechtsbefugniſſe 1).
Die Verfügung iſt ein Rechtsakt, ſie muß deshalb auch
nach Inhalt und Form gewiſſen Erforderniſſen des Rechts entſprechen.
a) Der Inhalt der Verfügung. Der in der Verfügung
enthaltene Befehl muß rechtlich begründet ſein, d. h. die Befugniß
des Staates, Jemandem etwas zu befehlen oder zu verbieten, von
welcher die Verfügung Anwendung macht, muß durch einen Rechts-
ſatz anerkannt ſein. Die dem Staatsbürger obliegende Gehorſams-
pflicht iſt im modernen Staate keine ungemeſſene, deren Umfang
durch das Belieben der Regierung beſtimmt werden könnte. Dies
iſt nicht einmal für den Fall eines Nothſtandes zuzugeben; es be-
ſteht im heutigen Recht kein ius eminens des Staates, welches
für die Zeit der Noth aus dem Staatsbürger einen Staatsſclaven
machen würde, ſondern zu jeder Zeit und unter allen Verhältniſſen
ſind die Rechte der Staatsgewalt gegen den Einzelnen durch Rechts-
ſätze anerkannt und deshalb beſchränkt. Jeder Verwaltungsbefehl
muß daher auf einem Geſetze beruhen, welches die Regierung mit
der Befugniß ausſtattet, eine derartige Leiſtung, Handlung oder
Unterlaſſung von den Unterthanen zu verlangen. Es gilt dies
ausnahmslos und findet nicht blos auf die Einforderung von finan-
ziellen oder militäriſchen Leiſtungen, ſondern in demſelben Umfange
auf alle polizeilichen Gebote und Verbote Anwendung. Die Frage,
ob eine Verfügung einen Befehl enthält, zu deſſen Erlaß die Re-
gierung befugt iſt oder nicht, iſt eine reine Rechtsfrage und
[218]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
iſt immer einzig und allein durch eine juriſtiſche Erwägung, durch
die logiſche Subſumirung der Verfügung unter das objective Recht,
durch eine richterliche Urtheilsfindung zu entſcheiden, gleichviel ob
nach dem poſitiven Recht eine Gerichtsbehörde oder eine Verwal-
tungsbehörde zur Fällung dieſes Urtheils berufen iſt. Die geiſtige
Thätigkeit iſt die gleiche, mag der damit betraute Beamte Gerichts-
rath oder Regierungsrath heißen.
Der Rechtsgrund, auf dem die Verfügung beruht, iſt
aber für den Inhalt derſelben nicht allein und ausſchließ-
lich entſcheidend. Der Staat ſoll von den ihm zuſtehenden Rechten
keinen zweckloſen und noch weniger einen unzweckmäßigen Gebrauch
machen. Die Ausübung der ſtaatlichen Herrſchaftsrechte geſchieht
nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern nur zur Durchführung der
ſtaatlichen Aufgaben, alſo nur in dem Maße und in der Art und
Weiſe, wie es dieſer Zweck erfordert. Die Verfügung muß daher
nicht nur rechtlich zuläſſig, ſie muß auch für die Erreichung der
ſtaatlichen Zwecke nothwendig oder nützlich, mit einem Worte zweck-
mäßig ſein. Die Entſcheidung der Frage, ob die Verfügung die-
ſem Erforderniß entſpricht, iſt niemals eine juriſtiſche, d. h. nach
Rechtsregeln zu findende, ſondern in allen Fällen eine techniſche
oder politiſche oder finanzwiſſenſchaftliche u. ſ. w. In der Prüfung
und Entſcheidung dieſer Zweckmäßigkeitsfrage kömmt die Freiheit
der Verwaltung innerhalb der Rechtsſchranken zur Verwirklichung.
Hieraus ergiebt ſich der prinzipielle Unterſchied zwiſchen Ver-
waltung und Rechtspflege. Die richterlichen Entſcheidungen ſind
ausſchließlich durch Rechtsſätze begründet, die Entſchließungen der
Verwaltungsbehörden müſſen zugleich rechtlich erlaubt und durch
Zweckmäßigkeitsgründe gerechtfertigt ſein. Die Geſetze ſind für
die Verwaltungsbehörden keineswegs weniger bindend wie für
die Gerichte; die Verwaltungsbehörden dürfen niemals aus Zweck-
mäßigkeitsgründen die geltenden Rechtsſätze verletzen; aber ſie wer-
den innerhalb der durch die Rechtsordnung gegebenen Gränzen
durch Motive der Zweckmäßigkeit zu ihren Handlungen beſtimmt.
Die Verwaltungs-Verfügung kann daher in zwiefacher Weiſe von
dem Betroffenen angegriffen werden, entweder Mangels des Rechts-
grundes oder Mangels des Zweckmäßigkeitsgrundes. Die Ent-
ſcheidung über beide Angriffe kann durch poſitives Recht einer und
derſelben Behörde übertragen ſein; der Natur dieſer Entſcheidung
[219]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
entſpricht es aber, daß die Beſchwerde über den mangelnden Rechts-
grund durch Urtheil des Gerichts, die Beſchwerde über die mangelnde
Zweckmäßigkeit durch Verfügung der höheren Verwaltungsbehörde
erledigt wird.
Der Mangel der Zweckmäßigkeit macht die Verfügung nie-
mals rechtlich unwirkſam oder unerlaubt; er iſt überhaupt ohne
juriſtiſche Erheblichkeit. Er kann nur für die höhere Ver-
waltungsbehörde Veranlaſſung geben, wegen des eigenen Intereſſes
der Verwaltung die Verfügung aufzuheben oder abzuändern, wo-
bei es ſich von ſelbſt verſteht, daß das Intereſſe der Verwaltung
mit dem des Staates völlig zuſammenfällt. Der Mangel des
Rechtsgrundes dagegen macht die Verfügung unwirkſam und un-
verbindlich, ſelbſt wenn ſie durchaus zweckmäßig iſt. Unterwirft
ſich der von der Verfügung Betroffene nicht freiwillig, was ihm
im Allgemeinen unbenommen iſt 1), ſo muß die höhere Verwal-
tungsbehörde, wenn ihr der Nachweis des mangelnden Rechtsgrun-
des erbracht iſt, die Verfügung aufheben oder abändern; unzweck-
mäßige Verfügungen kann die höhere Behörde aufrechterhalten,
wenn ihr die Aufhebung mit größeren Nachtheilen verbunden zu
ſein ſcheint, wie die Beſtätigung. Durch rechtswidrige Verfügungen
macht ſich der Beamte dem dadurch Beſchädigten verantwortlich,
durch unzweckmäßige kann er ſich den Tadel der vorgeſetzten Be-
hörde oder des Publikums zuziehen, aber er kann nicht rechtlich
dafür belangt werden. Der Mangel der Zweckmäßigkeit findet
ſeine Remedur innerhalb des Organismus der Verwaltung ſelbſt,
der Mangel der Rechtmäßigkeit bringt die Verwaltung in Colli-
ſion mit der Rechtsordnung.
Auf den verſchiedenen Gebieten der ſtaatlichen Thätigkeit iſt
der, den Zweckmäßigkeits-Erwägungen der Verwaltungsbehörden
eingeräumte Spielraum ein ſehr ungleich bemeſſener. Am gering-
ſten iſt er der Regel nach auf dem finanziellen Gebiete; die Er-
hebung der Steuern, Zölle und Gebühren iſt durchweg durch
Rechtsſätze ſo feſt normirt, daß bei den Verfügungen der Steuer-
und Zollbehörden u. ſ. w. faſt nur die Geſetzmäßigkeit derſelben
in Frage kommt. Den Gegenſatz bildet die polizeiliche Thätigkeit;
[220]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
hier beſchränken ſich die Geſetze meiſtens auf allgemeine und weit-
reichende Ermächtigungen, ſo daß im einzelnen Falle nach Zweck-
mäßigkeits-Rückſichten zu befinden iſt, ob und in welcher Art von
der geſetzlichen Befugniß Gebrauch gemacht werden ſoll.
b) Die Form der Verfügung. Die Verfügung iſt eine
obrigkeitliche Willenserklärung, welche einen Befehl enthält. Dar-
aus ergiebt ſich ein dreifaches Erforderniß. Sie muß von dem-
jenigen ausgehen, dem die Befugniß zuſteht, Namens des Staates
zu befehlen; ſie muß ferner in deutlich erkennbarer und zuver-
läſſiger Weiſe enthalten, was der Inhalt des Befehles iſt; ſie
muß endlich demjenigen, dem der Befehl ertheilt wird, gehörig
bekannt gemacht werden.
α) Die Verfügung muß von demjenigen erlaſſen werden,
welcher dazu befugt iſt; d. h. ſie iſt nur dann rechtsverbindlich,
wenn ſie von einer Behörde innerhalb ihrer geſetzlichen Kompetenz
ergangen iſt. Die Kompetenz der Behörden aber iſt ſowohl räum-
lich als ſachlich begränzt und überdies nach der Rangordnung der
Behörden abgeſtuft. Nur in dem hierdurch beſtimmten Umfange
iſt jede Behörde mit dem obrigkeitlichen imperium ausgeſtattet.
Jede Verfügung, welche eine Behörde mit Ueberſchreitung der ihr
zuſtehenden Kompetenz erläßt, entbehrt des Grundes, auf welchem
ihre Rechtswirkung beruht, nämlich der mit einem gewiſſen Amte
verbundenen Staatsgewalt. Es kann in dem Erlaß einer ſolchen
Verfügung möglicherweiſe der Thatbeſtand eines Amtsdelictes ge-
geben ſein; in keinem Falle aber hat der von einer inkompetenten
Behörde ertheilte Befehl verbindliche Kraft und deshalb kann
auch die Nichtbefolgung deſſelben keine Rechtsnachtheile begründen.
β) Die Verfügung muß, wie jede Willenserklärung in deut-
licher und zuverläſſiger Weiſe erkennbar machen, worauf der Wille,
alſo in dieſem Falle der obrigkeitliche Befehl, gerichtet iſt. An
ſich iſt jedes Mittel der Erklärung zuläſſig, nicht blos die Schrift.
Mündliche Verfügungen ſind durchaus nicht ſelten; der Polizei-
beamte, welcher eine Verſammlung auflöſt, welcher einem Händler
einen beſtimmten Platz am Markte anweiſt, welcher einen Haus-
beſitzer zur Reinigung des Straßenpflaſters auffordert u. ſ. w.,
ertheilt dieſe Befehle mündlich. Ebenſo der Zollbeamte, welcher
dem Reiſenden die Oeffnung ſeiner Koffer oder die Bezahlung
eines gewiſſen Zollbetrages anbefiehlt. Selbſt durch Zeichen kann
[221]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
ein obrigkeitlicher Befehl gültig ertheilt werden, wofern dieſelben
allgemein verſtändlich ſind; ſo kann z. B. die Sperrung einer
Straße, alſo das polizeiliche Verbot, ſie zu paſſiren, durch eine
Barrière oder durch eine mit einem Strohwiſch verſehene Stange
u. dergl. erklärt werden.
Der Regel nach aber erfolgt der obrigkeitliche Befehl ſchrift-
lich und der gemeine Sprachgebrauch bezeichnet die in dieſer Form
ertheilten Befehle vorzugsweiſe als Verfügungen. Die urkund-
liche Form der Verfügungen iſt in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle nicht geſetzlich näher beſtimmt, ſondern richtet ſich nach
dem Geſchäftsgebrauch der Behörden, welcher für die häu-
figer vorkommenden Fälle Formulare ausgebildet hat. Im Allge-
meinen iſt zu einer urkundlichen Verfügung die Unterſchrift der
Behörde oder des ſie vertretenden Beamten erforderlich; dagegen
iſt die Beidrückung des Amtsſiegels weder nothwendig noch üblich.
γ) Die Verfügung muß demjenigen, der ſie befolgen ſoll, be-
kannt gemacht werden. Die Bekanntmachung geſchieht der Regel
nach durch Behändigung (Inſinuation oder Intimation). Die Lehre
von der Behändigung iſt rechtlich beſonders ausgebildet hinſichtlich
der gerichtlichen Verfügungen, namentlich der Vorladungen. Die
geſetzliche Regelung iſt für dieſe Art obrigkeitlicher Verfügungen
wegen der Contumazial-Folgen, welche die Nichtbefolgung der ge-
richtlichen Ladung nach ſich ziehen kann, geboten. Die Vorſchriften
über die Behändigung gerichtlicher Verfügungen ſind aber nicht
durch den Inhalt des gerichtlichen Befehles bedingt, ſondern ſie
normiren die Vorausſetzungen, unter denen angenommen werden
kann, daß die gerichtliche Verfügung zur Kenntniß des Adreſſaten
gelangt iſt.
Sie ſind deshalb analog auf alle Verfügungen anwendbar.
Es gilt dies insbeſondere hinſichtlich der Frage, welchen Perſonen
in Vertretung des Adreſſaten eine Verfügung behändigt werden
kann, über die Inſinuation von Verfügungen, welche an juriſtiſche
Perſonen, Vereine, Geſellſchaften u. ſ. w. gerichtet ſind.
Iſt die Verfügung nicht an individuell beſtimmte Perſonen,
ſondern an eine Mehrheit von Perſonen oder an unbekannte Per-
ſonen gerichtet, ſo tritt an die Stelle der Behändigung die öffent-
liche Bekanntmachung durch Amtsblätter, Zeitungen, Mauer-An-
ſchläge u. dgl. Eine ſolche Bekanntmachung hat begrifflich keiner-
[222]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
lei Verwandtſchaft mit der Publikation der Geſetze und Rechts-
verordnungen, ſondern ſie iſt analog dem öffentlichen Aufgebot,
welches die Gerichte bei Concurſen, Subhaſtationen und in an-
deren zahlreichen Fällen erlaſſen; ſie iſt ein Surrogat der
Behändigung.
II. Aus dem Begriff der Verwaltung als Geſchäftsführung
ergiebt ſich, daß die Thätigkeit der Behörden durch das Geſetz
allein nicht beſtimmt wird, ſondern durch das freie Ermeſſen der-
ſelben innerhalb der durch das Geſetz beſtimmten Schranken. Dieſe
Freiheit kann aber nicht jeder einzelnen Behörde in ihrem Wir-
kungskreiſe zuſtehen, ohne daß die Einheit und Harmonie der Ge-
ſchäftsführung gefährdet und geſtört wird. Unter dem freien Er-
meſſen der Verwaltung iſt nicht das ſubjective Ermeſſen jedes ein-
zelnen Beamten und unter der Handelungsfreiheit nicht das Belieben
jeder untergeordneten Behörde zu verſtehen. Die einzelnen Be-
hörden ſind vielmehr in einem gegliederten Syſtem verbunden und
die Geſchäftsführung des Staates iſt nicht zerriſſen und zerſtückelt,
ſondern unter die Behörden planvoll vertheilt. Die Zerlegung
der ſtaatlichen Geſchäfte in kleine Geſchäftskreiſe, welche den ein-
zelnen Aemtern zugewieſen ſind, muß Hand in Hand gehen mit
einer Centraliſation der Geſchäftsleitung. Die unteren Behörden
ſind demgemäß bei ihrer Geſchäftsführung den Anweiſungen der
vorgeſetzten Behörde unterworfen und zur Befolgung der ihnen
ertheilten Anordnungen verpflichtet. Den oberen Behörden liegt
es ob, die Geſchäftsführung der ihnen untergebenen zu leiten und
zu beaufſichtigen. Die Verwaltung der Staatsgeſchäfte vollzieht
ſich daher nicht blos durch Befehle an Unterthauen, ſondern auch
durch Befehle an die eigenen Organe. Die Befolgung der von
der vorgeſetzten Behörde innerhalb ihrer Kompetenz ertheilten Be-
fehle gehört zu der Dienſtpflicht des Beamten und die Verletzung
derſelben iſt ein Disciplinarvergehen 1). Der Befehl der vorge-
ſetzten Behörde kann nun aber zweierlei Art ſein. Er kann ſich
auf einen einzelnen, concreten Fall beziehen, die Vornahme einer
beſtimmten Handlung, den Abſchluß eines beſtimmten Vertrages,
den Erlaß einer beſtimmten Verfügung anordnen oder unterſagen.
Ein ſolcher Befehl wird ebenfalls als Verfügung bezeichnet
[223]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
und unterſcheidet ſich von den ſoeben erörterten Verfügungen durch
Nichts Anderes, als daß ſeine verbindliche Kraft nicht auf den
allgemeinen geſetzlichen Herrſchaftsrechten des Staates, ſondern auf
der beſonderen Amtsgewalt der vorgeſetzten Behörde beruht, und
die Pflicht, ihn zu befolgen, nicht ein Theil der ſtaatsbürgerlichen
Unterthanenpflicht, ſondern ein Theil der amtlichen Dienſtpflicht
iſt. Der Befehl der vorgeſetzten Behörde kann aber auch einen
generellen Inhalt haben, das Verhalten der untergeordneten Be-
hörden im Allgemeinen oder für eine unbeſtimmte Anzahl von
Fällen regeln oder denſelben die Richtung vorzeichnen, welche ſie
bei ihrer Geſchäftsführung inne zu halten haben. Ein ſolcher
Befehl heißt eine Verordnung oder — da dieſer Ausdruck auch
auf dem Gebiete der Geſetzgebung vorkömmt — genauer Ver-
waltungs-Verordnung. Die juriſtiſche Natur der Verwal-
tungs-Verordnung und der Gegenſatz derſelben gegen die Rechts-
Verordnung ergiebt ſich aus folgenden Punkten:
1. Die Verwaltungs-Verordnung iſt ihrem Weſen nach nicht
mit dem Geſetz, ſondern mit der Verfügung verwandt; ſie ſanktio-
nirt nicht Rechtsregeln, ſondern ſie befiehlt die Vornahme oder
Unterlaſſung von Handlungen und Rechtsgeſchäften oder ſie ordnet
die Modalitäten an, unter welchen dieſe Handlungen nnd Rechts-
geſchäfte vollzogen werden ſollen. Die Verwaltungs-Verordnung
iſt kein Ausführungsgeſetz, ſondern eine General-Verfügung;
ſie iſt eine Inſtruktion oder ein Reglement für die untergebenen
Beamten und Behörden; ſie normirt nicht die Rechtsordnung,
ſondern die Thätigkeit und das Verhalten der Behörden.
2. Die Verwaltungs-Verordnung hat deshalb Rechtswirkungen
nur innerhalb des eigenen Verwaltungs-Apparates, nicht gegen
Dritte. Mittelbar freilich kann ſie von der erheblichſten Trag-
weite für alle Unterthanen werden, da die Unterbehörden die dem
Staate zuſtehenden Herrſchaftsrechte in der Art handhaben und
die ihnen behufs Durchführung der ſtaatlichen Aufgaben obliegende
Thätigkeit in der Art ausüben, wie es in der Verordnung ihnen
vorgeſchrieben iſt. Unmittelbar aber verpflichtet die Verwaltungs-
Verordnung nicht die Staatsbürger, ſondern nur die Staatsbe-
hörden und Beamten; ſie iſt eine res interna der Verwaltung.
Der Bereich der Verwaltungs-Verordnung iſt demnach derſelbe
wie der Bereich der freien Verwaltungs-Thätigkeit überhaupt; ſie
[224]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
kann — wie bereits oben S. 211 ausgeführt wurde, die Ent-
ſtehung neuer Rechtsſätze vorbereiten und anbahnen, aber formelles
Recht weder aufheben noch ſchaffen.
3. Die Befugniß, Verwaltungs-Verordnungen zu erlaſſen,
ſteht nicht blos dem Monarchen, als dem Chef der Verwaltung,
ſondern in vielfachen Abſtufungen den Behörden zu. Die von der
höheren Inſtanz erlaſſene Verordnung bindet alle unteren In-
ſtanzen, ſchließt aber nicht die Befugniß derſelben aus, hinſichtlich
aller, in der höheren Verordnung nicht geregelten Punkte, ihrer-
ſeits wieder Verordnungen zu erlaſſen für die ihnen unterſtellten
Aemter. Wenn man auch öfters den Namen Verordnung auf die
vom Landesherrn oder etwa von den oberſten Centralbehörden
(Miniſtern) erlaſſenen Anordnungen beſchränkt, dagegen die von
anderen Behörden erlaſſenen als General-Verfügungen, Reſcripte,
Inſtructionen n. dergl. bezeichnet, ſo beſteht doch ein begrifflicher,
juriſtiſcher Unterſchied nicht.
4. Die Verwaltungs-Verordnung bedarf keiner Publikation
in dem Sinne, welchen dieſes Wort bei der Geſetzgebung hat,
ſondern der Behändigung oder Inſinuation. Sie muß denjenigen
Behörden, denen ſie Vorſchriften giebt, mitgetheilt werden. Die
Mittheilung erfolgt gewöhnlich durch ein von der vorgeſetzten Be-
hörde ausgefertigtes Schreiben, welches bei den Akten aufbewahrt
wird. Die ſchriftliche Zufertigung kann aber erſetzt werden durch
den Druck in ſolchen Amtsblättern, welche die Behörden zu halten
verpflichtet ſind. Nur muß alsdann der Abdruck die Gewähr der
Aechtheit und Zuverläſſigkeit bieten. Eine ſolche Mittheilung durch
gedruckte Blätter iſt lediglich ein Surrogat der ſchriftlichen Zu-
fertigung.
Abgeſehen von dieſem Falle hat die Veröffentlichung der Ver-
waltungs-Verordnung durch den Druck weder die Rechtswirkung
der Verkündigung noch diejenige der Behändigung, ſondern ſie iſt
lediglich thatſächliche Bekanntmachung an das Publikum. Dieſelbe
iſt nicht nur für die Gültigkeit der Verordnung rechtlich nicht er-
forderlich, ſondern ſie kann eine pflichtwidrige und ſtrafbare Ver-
letzung des Amtsgeheimniſſes enthalten. Die Entſcheidung darüber,
ob eine Verwaltungs-Verordnung veröffentlicht werden ſoll reſp.
darf oder nicht, ſteht natürlich derjenigen Behörde zu, welche die
Verordnung erläßt, nicht derjenigen, an welche ſie gerichtet iſt.
[225]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
III. Bei jeder ausgedehnten und an viele Geſchäftsführer
vertheilten Verwaltung ſind zur Erhaltung der Einheit und Ord-
nung nicht blos leitende Organe erforderlich, welche die ausfüh-
renden inſtruiren und ihnen ihre Thätigkeit vorſchreiben, ſondern
es iſt auch eine ſtetige und wirkſame Beaufſichtigung erfor-
derlich. Hieraus ergibt ſich eine dritte Art von Verwaltungs-
geſchäften, die ebenſowohl von der unmittelbaren Geſchäftsführung,
wie von der Ertheilung von Anweiſungen und Inſtructionen be-
grifflich verſchieden iſt, wenngleich ſie mit dieſer letzteren Art von
Geſchäften thatſächlich oft verbunden iſt. Die controllirende Thätig-
keit hat die Eigenthümlichkeit, daß ſie nach Außen hin nicht wirk-
ſam zu werden braucht, ja es in unmittelbarer Weiſe nicht einmal
werden kann. Die genaueſte und ſorgfältigſte Controlle hat ein
durchaus negatives Ergebniß, wenn die Thätigkeit der controllirten
Behörden eine vollkommen ordnungsmäßige und zufriedenſtellende
iſt. Nur wenn Fehler der unteren Behörden bemerkt werden, wenn
dieſe Behörden etwa Rechtsſätze oder die ihnen ertheilten Inſtruk-
tionen verletzen oder unrichtig anwenden, oder wenn ihre Geſchäfts-
führung als unzweckmäßig oder nutzlos erſcheint, führt die Con-
trole zu einem Einſchreiten. Die beaufſichtigende Thätigkeit der
Inſtanzen hat aber zunächſt und unmittelbar nur den Erfolg, daß
die Fehler, Rechtswidrigkeiten oder Mängel conſtatirt werden.
Möglicherweiſe hat dieſe Feſtſtellung gar keine weiteren Folgen.
Sie kann aber Veranlaſſung geben zu Handlungen ſehr verſchie-
denen Inhaltes, z. B. zur gerichtlichen Verfolgung des pflicht-
widrigen Beamten oder zur Einleitung einer Disciplinar-Unter-
ſuchung gegen ihn oder zur Einziehung des Erſatzes für den von
ihm verurſachten Schaden; ferner aber zum Erlaß einer Verfügung,
welche dem Beamten eine beſtimmte Handlung oder Unterlaſſung
vorſchreibt, oder einer Verwaltungs-Verordnung, durch die das
Verhalten einer Behörde für gewiſſe Fälle geregelt wird; oder ſie
kann endlich zur Vorbereitung eines Geſetzes dienen, durch welches
die Colliſion zwiſchen dem für nothwendig erachteten Verhalten der
Verwaltungs-Behörden und dem beſtehenden Recht beſeitigt wird.
Die Beaufſichtigung der Verwaltung iſt an ſich kein Rechts-
geſchäft, überhaupt kein Willensact, ſondern eine geiſtige Thätig-
keit von lediglich factiſcher Natur, die an ſich nicht nur ohne alle
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 15
[226]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
rechtliche Wirkung iſt, ſondern die überhaupt gar nicht äußerlich
erkennbar zu werden braucht; welche aber die Motive für
Willensacte des Staates erzeugt. Grade deshalb liegt
in ihr politiſch der Schwerpunkt der ganzen Verwaltungs-
Thätigkeit. Im Vergleich zu ihr erſcheint die unmittelbare Ge-
ſchäftsführung der eigentlich ausführenden Unterbehörden als eine
unſelbſtſtändige und in zahlloſen Fällen mechaniſche Thätigkeit;
der Erlaß von ſpeziellen oder allgemeinen Anordnungen (Verfügun-
gen und Verordnungen) an die Unterbehörden aber iſt bloße Con-
ſequenz und Ausfluß der durch die Aufſicht gewonnenen Motive.
Die Befugniß zum Erlaß ſolcher Anordnungen iſt daher gewöhn-
lich mit der Funktion, die Geſchäftsführung zu beaufſichtigen, ver-
bunden. Darnach kann man die Geſammtthätigkeit der Verwal-
tung in zwei große Gruppen theilen; in die unmittelbare
Geſchäftsführung, die in der That gewöhnlich bloße Voll-
ziehung der durch Geſetz oder durch Anordnungen der höheren
Behörden ertheilten Verwaltungsbefehle iſt, und in die Leitung
und Beaufſichtigung der Geſchäftsführung. Beide Gruppen
von Thätigkeiten zuſammen bilden erſt die volle Geſchäftsführung
oder Verwaltung.
Da die erſte der beiden Gruppen von der letzteren geiſtig und
rechtlich vollſtändig beherrſcht wird, ſo kann der ſouveraine Staat
auf die erſtere verzichten, auf die letztere nicht. Er kann die un-
mittelbare Geſchäftsführung Gemeinden, Korporationen, Vereinen,
Verbänden aller Art übertragen oder überlaſſen; ſich ſelbſt auf
die Leitung und Beaufſichtigung ihrer Geſchäftsführung beſchrän-
kend. Die ſouveraine Staatsgewalt kann in weit ausgedehntem
Maaße die zur Erfüllung der ſtaatlichen Aufgaben erforderliche
Thätigkeit Verbänden überlaſſen, die ihr zwar untergeben und
gleichſam einverleibt ſind, die aber eine eigene rechtliche Perſön-
lichkeit, eine ſelbſtſtändige Willensſphäre und Willensmacht haben,
die mit obrigkeitlichen Rechten ausgeſtattet ſind und welche Ge-
ſchäfte, die zur Realiſirung ſtaatlicher Zwecke gehören, als eigene
Geſchäfte führen. Eine ſolche Einrichtung neunt man, wie bereits
oben Bd. I. §. 10. S. 101 ff. ausgeführt worden iſt, Selbſt-
verwaltung. Ihr Weſen beſteht demgemäß in einer Theilung
der Verwaltungsgeſchäfte zwiſchen Staat und Verwaltungskörper
in der Art, daß dem letzteren die unmittelbare Geſchäftsführung
[227]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
oder Vollziehung, dem erſteren die Normirung und Beaufſichtigung
zuſteht.
IV. Neben der Beaufſichtigung der Geſchäftsführung, welche
ſich innerhalb der Verwaltung ſelbſt vollzieht und einen integriren-
den Beſtandtheil derſelben bildet, iſt die Verwaltung überdies einer
mehrfachen Controlle unterworfen, welche man als indirecte bezeich-
nen kann. Es iſt nämlich die Gefahr vorhanden, daß die Ver-
waltungsbehörden durch einſeitige und rückſichtsloſe Verfolgung
der von ihnen zu erreichenden Zwecke, andere gleichberechtigte oder
noch höher ſtehende Intereſſen des Staates verletzen, insbeſondere
die Finanzwirthſchaft oder die Rechtsordnung, ſowie daß die von
der Verwaltung eingeſchlagene Richtung nicht im Einklang ſteht
mit den allgemeinen Zielpunkten der Politik, welche der Staat
verfolgt. Der Staat bedarf daher gegen ſeine eigene Verwaltung
eines Schutzes, der die Schädigung dieſer der Verwaltungsthätig-
keit an ſich fremden Intereſſen verhütet. Daraus ergiebt ſich eine
dreifache Controlle der Verwaltung:
a) Die Finanzcontrolle. Dieſelbe betrifft lediglich die
ſtaatswirthſchaftliche Seite der ſtaatlichen Geſchäftsführung; ſie
wird geführt durch die Ober-Rechnungsbehörde. Ihr liegt
es ob, zu prüfen und feſtzuſtellen, ob die Rechnungen über die
Einnahmen und Ausgaben der Staatskaſſen in Ordnung ſind, ob
die Verwaltungsbehörden bei der Einnahme von Staatsgeldern
und bei der Verwendung des Staatsvermögens den beſtehenden
Vorſchriften gemäß gehandelt haben, und ob die Verwaltung dem
in dem Etatsgeſetz aufgeſtellten Wirthſchaftsplan gemäß geführt
worden iſt 1).
b) Die Rechtscontrolle. Dieſelbe erſtreckt ſich nur auf
die Rechtmäßigkeit der von der Verwaltung vorgenommenen Rechts-
acte; weder die Zweckmäßigkeit derſelben noch die finanzielle Wir-
kung derſelben auf die Staatswirthſchaft läßt eine Prüfung nach
Rechtsſätzen zu. Sie wird geführt durch die Gerichte, gleichviel
ob durch die gewöhnlichen zur Handhabung der Rechtspflege ein-
geſetzten Gerichtsbehörden oder durch Spezialgerichte, denen die
Entſcheidung verwaltungsrechtlicher Streitfragen übertragen iſt, ſo-
genannte Verwaltungsgerichte. Dieſe Controlle ſetzt die Erhebung
15*
[228]§. 68. Die Formen der Verwaltung.
eines Streites über die Berechtigung der Verwaltung zur Vor-
nahme einer Handlung, zum Erlaß eines Befehles, zur Geltend-
machung eines Anſpruches oder über die Verpflichtung zu einer
Leiſtung auf dem Gebiete der Verwaltung voraus. Sie wird
daher nicht wirkſam, wenn ſich der Gegenpart der Verwaltungs-
behörde bei der rechtswidrigen Handlung oder Unterlaſſung be-
ruhigt. Unmittelbar und formell weist ſie ferner nur in dem
einzelnen, dem Streit zu Grunde liegenden Falle die Verwaltungs-
behörden in die vom Rechte gezogenen Schranken zurück; ſie wirkt
aber mittelbar über den einzelnen Fall hinaus auf die Geſammt-
haltung der Verwaltungsbehörden durch die thatſächliche Macht
der Präjudikate.
Sie wird ergänzt und verſtärkt durch die civilrechtliche und
ſtrafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten für Geſetzesverletzungen,
welche ebenfalls im Wege des gerichtlichen Verfahrens geltend ge-
macht wird.
c) Die politiſche Controlle. Dieſelbe iſt darauf ge-
richtet, daß die Verwaltungsbehörden nicht eine Thätigkeit ent-
wickeln, welche dem allgemeinen Wohle des Staates ſchädlich oder
gefährlich werden könnte, und daß ſie nicht Tendenzen verfolgen,
welche der Staat als ſolcher nicht theilt. Dieſe Controlle liegt
zwar in erſter Reihe dem Landesherrn ob; da demſelben aber die
oberſte Leitung der Verwaltung ohne dies zuſteht, ſo fällt die
Controlle mit der Leitung zuſammen; ſie wäre — getrennt von
ihr gedacht — bloße Selbſtcontrolle. Dagegen wird ſie wirkſam
gehandhabt von der Volksvertretung, welche vielfache Mittel
hat, die Thätigkeit der Verwaltung zu kritiſiren, Mängel zu rügen,
Widerſprüche mit der allgemeinen Politik hervorzuheben und auf
Abhülfe zu dringen. Rechtlich findet dieſe Controlle ihren Aus-
druck und ihre Verwirklichung in der parlamentariſchen Miniſter-
Verantwortlichkeit.
Die vorſtehenden Erörterungen haben den Zweck, die rechtlich
erheblichen Momente in der Lehre von der Staatsverwaltung klar
zu legen. Sie haben gezeigt, daß die allgemein herrſchende Auf-
faſſung, wonach die Verwaltung Ausführung oder Vollziehung der
Geſetze ſei, theils falſch theils ungenügend iſt, und ſie haben ver-
ſucht, die juriſtiſchen Folgerungen aus dem Grundſatz herzuleiten,
[229]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
daß die Verwaltung Geſchäftsführung ſei. Es ergiebt ſich aus
denſelben zugleich, inwiefern die Staatsverwaltung überhaupt ein
Object der Rechtswiſſenſchaft iſt. Der weitaus größte Theil der
Staatsverwaltung ſteht dem Recht ganz fern und kann deshalb
nicht in Rechtsregeln gebracht werden. Die Rechtsordnung liefert
nur für einen verhältnißmäßig kleinen Theil der ſtaatlichen Ver-
waltungsthätigkeit die Motive oder beſtimmt ihren Inhalt; der
bedeutendſte Theil der Verwaltungshandlungen iſt entweder ohne
allen juriſtiſchen Charakter oder er ſteht wenigſtens nicht unter be-
ſonderen Rechtsſätzen, ſondern unter den allgemeinen Regeln des
Privatrechts, Strafrechts und Proceßrechts. Eigenthümliche Rechts-
ſätze für die Verwaltung beſtehen nur in Betreff der Ausſtattung
der Staatsbehörden mit Hoheitsrechten, in Betreff der Ver-
theilung der Befugniſſe unter die einzelnen Behörden und
in Betreff der Formen und Wirkungen der zum Zwecke der Ver-
waltung dienenden Rechtsgeſchäfte. Daraus ergibt ſich die
Abgränzung des Verwaltungsrechts aus dem Chaos der ſogen.
Verwaltungslehre und die Beantwortung der Frage, inwiefern
die Verwaltungsthätigkeit des Reiches ein Gegenſtand des Reichs-
ſtaatsrechts iſt 1).
§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
Der im vorſtehenden Paragraphen entwickelte Unterſchied zwi-
ſchen unmittelbarer Geſchäftsführung und beaufſichtigender Ver-
waltung iſt für das Verhältniß von Reichsverwaltung und Staats-
verwaltung entſcheidend. Die Geſammtmaſſe der zur Erreichung
der ſtaatlichen Aufgaben erforderlichen Geſchäftsthätigkeit zerfällt
dadurch in drei große Theile, welche ſtaatsrechtlich von einander
geſchieden ſind. Dieſe Scheidung iſt für das Verhältniß des Reiches
zu den Einzelſtaaten von hervorragender Bedeutung und auf ihr
[230]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
beruht die juriſtiſche Eigenthümlichkeit der Reichsverwaltung. Der
eine Theil wird von denjenigen Zweigen der Verwaltungsthätig-
keit gebildet, welche den Einzelſtaaten vollſtändig überlaſſen ſind,
ſo daß ihnen Geſchäftsführung und Beaufſichtigung zuſteht. Die
zweite Gruppe umfaßt diejenigen Verwaltungsgebiete, welche unter
Einzelſtaat und Reich vertheilt ſind, ſo daß den Einzelſtaaten die
unmittelbare Geſchäftsführung (Selbſtverwaltung), dem Reich die
oberſte Leitung und Beaufſichtigung zugewieſen iſt. Die dritte
Maſſe endlich beſteht aus denjenigen Reſſorts, welche das Reich
vollſtändig verwaltet, ſo daß ihm nicht nur die Controlle, ſondern
auch die unmittelbare Geſchäftsführung obliegt.
Als der Norddeutſche Bund gegründet wurde, waren die
Deutſchen Staaten ſouverän, alſo in ihrer auf die Erfüllung der
ſtaatlichen Aufgaben gerichteten Thätigkeit rechtlich vollkommen un-
abhängig. Durch die Errichtung des Bundesſtaates unterwarfen
ſie ſich einer Oberſtaatsgewalt, welcher die Befugniß zur Geſetz-
gebung für einen großen Kreis ſtaatlicher Angelegenheiten zuge-
wieſen wurde. Die rechtlichen Normen für die Regierungsthätig-
keit der Einzelſtaaten konnten von jetzt ab den letzteren von einer
über ihnen ſtehenden Gewalt vorgeſchrieben werden; damit aber
dieſe Geſetzgebung nicht wirkungslos und unbeachtet bleibe, mußte
die Verwaltungsthätigkeit der Einzelſtaaten der Aufſicht der Cen-
tralgewalt unterſtellt werden.
Es war dies nicht nur deshalb erforderlich, damit die Regie-
rungen und Behörden der einzelnen Staaten zur Beobachtung der
reichsgeſetzlichen Vorſchriften genöthigt werden, ſondern auch des-
halb, damit die Geſetzgebung des Reiches auf die bei der Ver-
waltungsthätigkeit der Einzelſtaaten hervortretenden Bedürfniſſe
und Mängel, auf die dabei geſammelten Erfahrungen und ent-
ſtandenen Gebräuche Rückſicht nehmen könne, da die Verwaltung,
wie oben S. 210 fg. ausgeführt worden iſt, auch eine rechtsbildende
Bedeutung hat. Die Geſchäftsführung ſelbſt aber iſt den Einzel-
ſtaaten verblieben; dem politiſchen Bedürfniß war genügt, wenn
die Verwaltung nur nach gleichen Regeln und nach übereinſtim-
menden Zielen geführt wurde. Nur einige Verwaltungszweige ſind
ſpeziell ausgenommen; bei ihnen iſt dem Reiche auch die Geſchäfts-
führung zugewieſen worden.
Soweit dagegen die geſetzliche Regelung gewiſſer Angelegen-
[231]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
heiten der Autonomie der Einzelſtaaten überlaſſen blieb, war auch
keine politiſche oder ſtaatsrechtliche Nothwendigkeit vorhanden, ihre
Verwaltungsthätigkeit der Ueberwachung oder Leitung Seitens des
Reiches zu unterwerfen.
Die Reichsverfaſſung hat im Eingange des Art. 4 dieſe Grund-
ſätze anerkannt: „Der Beaufſichtigung Seitens des Reichs und der
Geſetzgebung deſſelben unterliegen die nachſtehenden Angelegenheiten.“
Es iſt hierin die Congruenz der Geſetzgebungs-Kompetenz und der
Verwaltungs-Kompetenz des Reiches ausgeſprochen und die Ver-
waltungsthätigkeit des Reiches ausdrücklich auf die Beaufſichtigung
beſchränkt. Hinſichtlich einzelner Angelegenheiten iſt dann in den
ſpäteren Artikeln der Reichsverfaſſung oder in beſonderen Reichsge-
ſetzen dem Reiche auch die unmittelbare Geſchäftsführung ganz oder
theilweiſe übertragen worden. Es ſind dies Ausnahmen, während
Art. 4 das allgemeine Prinzip aufſtellt. Ergänzt werden dieſe
Regeln durch den Grundſatz, daß den, bei ihrem Eintritt in den
Norddeutſchen Bund und das Deutſche Reich ſouverainen, im Voll-
beſitze der ſtaatlichen Gewalt befindlichen Staaten alle diejenigen
Rechte verblieben ſind, welche nicht durch die Verfaſſung oder durch
verfaſſungsmäßig erlaſſene Geſetze ihnen entzogen worden ſind.
Hieraus ergeben ſich drei Rechtsgrundſätze:
- 1. Alle Angelegenheiten, welche der Autonomie der Einzel-
ſtaaten unterliegen, bilden das Gebiet der vollen und freien Ver-
waltung derſelben. - 2. Die Verwaltungs-Kompetenz des Reiches erſtreckt ſich auf
dieſelben ſtaatlichen Angelegenheiten, welche der Geſetzgebung des
Reiches unterſtellt ſind. Dieſe Kompetenz umfaßt aber regelmäßig
nur die Beaufſichtigung und die damit nothwendig verbundene
oberſte Leitung der Verwaltung, während die unmittelbare Ge-
ſchäftsführung den Einzelſtaaten verblieben iſt. - 3. Die volle Verwaltung ſteht dem Reiche nur ausnahmsweiſe
zu hinſichtlich derjenigen Angelegenheiten, welche durch beſondere
Geſetzes-Anordnung der Verwaltung des Reiches überwieſen ſind
oder nach der Natur der Sache ihr zufallen müſſen, wie z. B. die
Verwaltung des Aktiv- und Paſſivvermögens des Reichsfiskus.
I.Die freie Verwaltung der Einzelſtaaten.
Dieſelbe bildet keinen Gegenſtand des Reichsſtaatsrechts, ſon-
[232]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
dern des Staatsrechts der einzelnen Staaten. Sie wird von dem
Willen der Einzelſtaaten beherrſcht und geregelt. Deſſenungeachtet
würde es ganz unhaltbar ſein, die Einzelſtaaten hinſichtlich dieſer
Thätigkeit für ſouverain zu erachten und ſonach eine Theilung der
Souverainetät zwiſchen Reich und Einzelſtaat anzunehmen. Es iſt
dies bereits bei der Erörterung des Bundesſtaatsbegriffes Bd. I.
S. 74 und 105 hervorgehoben worden und findet hier ſeine nähere
Ausführung und Beſtätigung. Verwaltungs-Befehle können
auf dieſen Gebieten ſtaatlichen Lebens den Einzelſtaaten vom Reiche
allerdings nicht ertheilt werden, weder in der Form der Verord-
nung noch in der des Reichsgeſetzes; eine poſitive Thätigkeit kann
das Reich den Einzelſtaaten nicht vorſchreiben und noch weniger
die Art und Weiſe anordnen, wie dieſe Thätigkeit vollzogen wer-
den ſoll. Da aber die Verwaltung eine Thätigkeit innerhalb der
beſtehenden Rechtsordnung iſt, da die Handlungen und Rechtsge-
ſchäfte der Verwaltungsbehörden hinſichtlich ihrer Zuläſſigkeit, Gül-
tigkeit und Wirkung in vielen Fällen nach den Regeln des Privat-
rechts, Strafrechts und Proceſſes zu beurtheilen ſind, dieſe Rechts-
regeln aber vom Reiche erlaſſen werden können und zum großen
Theile von demſelben bereits erlaſſen worden ſind, ſo befindet ſich
der Einzelſtaat in Bezug auf ſeine Verwaltungsthätigkeit nicht
innerhalb einer von ihm ſelbſt aufgerichteten, ſondern innerhalb
einer ihm von einer höheren Macht gegebenen Rechtsordnung.
Handlungen und Rechtsgeſchäfte, welche das vom Reich gegebene
Recht verbietet oder für unwirkſam erklärt, können die Regierungen
der Einzelſtaaten auch auf den ihnen überlaſſenen Verwaltungs-
Gebieten nicht mit rechtlicher Wirkung vornehmen. Soweit die
Thätigkeit der Verwaltungsbehörden Ausführung oder Vollziehung
ſtaatlicher Befehle iſt, haben die Behörden hinſichtlich dieſer Ange-
legenheiten nicht Befehle des Reiches, ſondern Befehle ihres Staates
zu vollführen; inſoweit die Verwaltung aber die Entfaltung der
ſtaatlichen Handlungsfreiheit innerhalb der Rechtsſchranken iſt,
kommen auf dieſelbe nicht nur die Landesgeſetze, ſondern in erſter
Reihe die Reichsgeſetze zur Anwendung.
II.Die beaufſichtigende Verwaltung des Reiches.
1. Die Controlle des Reiches hat den Zweck, darüber zu
wachen, daß die vom Reiche aufgeſtellten Rechtsregeln von den
[233]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
Regierungen der Einzelſtaaten nicht verletzt werden. Sie beſtimmt
alſo nicht poſitiv die Thätigkeit der Einzelſtaaten; die Initiative
der Geſchäftsführung iſt den letzteren übertragen. Dem Reiche
ſteht aber die Geſetzgebung zu und hier wird der ſchon öfters
hervorgehobene Doppelſinn des Wortes Geſetz von größter Wichtig-
keit. Das Reichsgeſetz kann nicht nur einen Rechtsbefehl ſondern
auch einen Verwaltungsbefehl enthalten, oder mit andern Worten:
es kann nicht nur eine Rechtsregel ſanctioniren, ſondern auch den
Einzelſtaaten Handlungen anbefehlen. In zahlreichen Geſetzen des
Reiches iſt dies geſchehen und in allen dieſen Fällen iſt die Ge-
ſchäftsführung der Einzelſtaaten Vollziehung oder Ausführung des
Reichsgeſetzes. Hier tritt der Gegenſatz zwiſchen der freien Ver-
waltung und der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten zu Tage; die
erſtere iſt nur negativ beſchränkt durch die reichsgeſetzliche Rege-
lung der Rechtsordnung, die letztere iſt poſitiv beſtimmt und mit
ſpeziellen Aufgaben erfüllt durch die in der Form des Reichsge-
ſetzes ergangenen Verwaltungsbefehle.
2. Aber nicht nur in der Form des Geſetzes, ſondern auch
in der Form der Verordnung kann das Reich Verwaltungs-
befehle erlaſſen. Die in einem Reichsgeſetze vorgeſchriebene oder
erforderte Thätigkeit der Bundesſtaaten kann hinſichtlich des De-
tails eine nähere Regelung finden. Das Reich kann den Einzel-
ſtaaten Inſtructionen oder Belehrungen ertheilen, in welcher Art,
Richtung, Form, Umfang ſie das Reichsgeſetz zur Ausführung
zu bringen haben und dieſe Inſtructionen ſind für die Einzelſtaaten
verbindliche Befehle. Nach Art. 7 Z. 2 der R.-V. hat der Bun-
desrath zu beſchließen „über die zur Ausführung der Reichsgeſetze
erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorſchriften und Einrichtun-
gen, ſofern nicht durch Reichsgeſetz etwas Anderes beſtimmt iſt.“
Dieſes im Art. 7. Abſ. 2 der R.-V. dem Bundesrathe beigelegte
Recht, Verwaltungs-Verordnungen zu erlaſſen, iſt wohl zu unter-
ſcheiden von der Befugniß, Rechtsregeln im Verordnungswege zu
ſanctioniren, d. h. Ausführungs-Geſetze zu geben. Vrgl. oben
§. 59. S. 70 ff. Während eine Rechtsverordnung immer nur auf
Grund beſonderer geſetzlicher Ermächtigung (Delegation) gültig er-
laſſen werden kann, iſt der Bundesrath durch die Verfaſſung ſelbſt
mit dem Verwaltungs-Verordnungs-Recht ausgeſtattet. Nur wenn
daſſelbe dem Bundesrath entzogen und entweder dem Kaiſer, dem
[234]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
Reichskanzler oder einer andern Reichsbehörde oder den Einzel-
ſtaaten übertragen werden ſoll, muß dies durch ſpezielle reichsge-
ſetzliche Anordnung erfolgen. Die Beſchlußfaſſung über die Ver-
waltungs-Verordnungen erfolgt nach den in den Art. 6 u. 7 der
R.-V. gegebenen Regeln. Die Zuſtimmung des Präſidiums zur
Abänderung beſtehender Vorſchriften oder Einrichtungen iſt nach
Art. 37 der R.-V. nur bei denjenigen Verwaltungs-Verordnungen
erforderlich, welche zur Ausführung der gemeinſchaftlichen Zoll-
und [Steuergeſetzgebung] dienen (Art. 35). Für das Heer-
weſen und die Kriegs-Marine iſt dieſes Sonderrecht entbehrlich
wegen der im Art. 63 und im Art. 53 der R.-V. dem Kaiſer
eingeräumten Befugniſſe, welche das Recht des Bundesrathes,
Verwaltungsvorſchriften zu erlaſſen, überhaupt ſehr weſentlich be-
ſchränken und in der Hauptſache ausſchließen 1).
Ueberdies iſt in dem Kriegsdienſtgeſetz vom 9. Nov. 1867,
§. 18, dem Militairgeſetz v. 2. Mai 1874 §. 71, dem Landſturm-
geſetz v. 12. Februar 1875 §. 8, dem Militair-Kontrollgeſetz vom
15. Febr. 1875 §. 8 dem Kaiſer der Erlaß der erforderlichen
Ausführungsbeſtimmungen ausdrücklich übertragen worden.
Die vom Bundesrathe auf Grund des Art. 7 Abſ. 2 erlaſſe-
nen Vorſchriften haben niemals die Kraft von Rechtsſätzen, ſon-
dern ſind lediglich Inſtruktionen oder Anweiſungen für die Regie-
rungen und deren Behörden. Sie ſind daher nur für die Amts-
führung der letzteren verbindlich, nicht für Dritte; namentlich be-
gründen ſie keine Verpflichtungen der einzelnen Reichsangehörigen
und ebenſo wenig können ſie dieſelben wirkſam mit Strafen be-
drohen. Die Verwaltungs-Verordnungen des Bundesrathes be-
dürfen aus demſelben Grunde keiner Publikation; ſie werden viel-
mehr den Einzelregierungen mitgetheilt (behändigt), welche für die
weitere Mittheilung an die Landesbehörden Sorge zu tragen ha-
ben 2). Soweit der Inhalt etwa für das Publikum von Intereſſe
[235]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
iſt, kann eine öffentliche Bekanntmachung erforderlich und in der
Bundes-Verordnung ſelbſt den Einzelregierungen vorgeſchrieben
ſein; aber eine ſolche Bekanntmachung iſt etwas durchaus Anderes
als die Verkündigung eines Geſetzes oder einer Rechtsverordnung.
Ebenſo hat die Veröffentlichung von Verwaltungs-Verordnungen
des Bundesrathes im Centralblatt des Deutſchen Reiches keine
andere Bedeutung, wie ſie etwa dem Abdruck der Erkenntniſſe des
Reichs-Oberhandelsgerichts in den von Räthen deſſelben herausge-
gebenen „Entſcheidungen“ zukömmt.
3. Die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgeſetze
ſteht dem Kaiſer zu (R.-V. Art. 17). Er übt dieſe Ueberwachung
aus durch den Reichskanzler und die demſelben unterſtellten ober-
ſten Behörden des Reiches oder durch Kommiſſare. Das Recht
der Ueberwachung enthält die Befugniß, von der Geſchäftsführung
der Einzelſtaaten eine vollkommene und eingehende Kenntniß zu
nehmen und zu dieſem Zwecke den Behörden der Einzelſtaaten
entweder Kommiſſare des Reiches beizuordnen, wie dies auf dem
Gebiete der Zoll- und Steuerverwaltung geſchieht, oder von den
Bundesregierungen Berichte zu erfordern. Dem Recht des Kaiſers
zur Ueberwachung der Bundesregierungen entſpricht die Pflicht der
Bundesregierungen zur Berichterſtattung an die Reichs-
Regierung. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß auch jedes andere er-
laubte Mittel, um von der Thätigkeit der Bundesregierungen zur
Ausführung der Reichsgeſetze Kenntniß zu erlangen, neben der
Berichterſtattung anwendbar iſt. Findet der Kaiſer d. h. ſein
Miniſter, der Reichskanzler, daß die Ausführung eines Reichs-
geſetzes mangelhaft oder unrichtig iſt, ſo ſteht ihm die Befugniß
zu, die betreffende Regierung darauf aufmerkſam zu machen und
ſie zur Abhülfe aufzufordern. Wenn die Regierung des Einzel-
ſtaates aber das von ihr und ihren Behörden eingehaltene Ver-
fahren für dem Reichsgeſetz gemäß erachtet, und der von der Reichs-
regierung dem Geſetz gegebenen Auslegung widerſpricht, ſo hat der
Bundesrath den Streit zu entſcheiden. Es iſt dies, wie Bd. I.
S. 255—261 ausgeführt worden iſt, der Sinn der Beſtimmung
2)
[236]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
in Art. 7. Z. 3 der R.-V.: „Der Bundesrath beſchließt über
Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgeſetze oder der
vorſtehend erwähnten Vorſchriften oder Einrichtungen hervortreten.“
4. Die unmittelbare Verwaltung iſt Sache der Einzelſtaaten.
Sie führen dieſelbe nicht kraft Auftrages des Reiches oder als
Organe deſſelben, ſondern kraft eigenen Rechts und im eigenen
Namen. Aus dieſem Grundſatze ergeben ſich drei wichtige Folge-
rungen:
a) Die Verträge, welche die Behörden der Einzelſtaaten
bei Gelegenheit dieſer Geſchäftsführung abſchließen, verpflichten
und berechtigen nicht den Reichsfiskus, ſondern den Landesfiskus.
Es kann wohl ſein, daß die Verwaltungsgeſchäfte für Rechnung
des Reiches geführt werden, wie z. B. die Militair-Verwaltung
und in beſchränktem Maaße die Zollverwaltung, ſo daß dem
Landesfiskus die von ihm gemachten Zahlungen aus der Reichs-
kaſſe erſtattet werden; dem Dritten gegenüber iſt aber der Landes-
Fiskus zur Erfüllung obligirt, da nicht im Namen und in Stell-
vertretung des Reiches, ſondern im Namen des Gliedſtaates con-
trahirt worden iſt. Für die Frage nach der Proceßlegitimation
und dem Gerichtsſtande bei Klagen aus einem ſolchen Vertrage iſt
dies von ſehr großer Bedeutung.
b) Die obrigkeitlichen Verfügungen ſind nicht Aeuße-
rungen oder Bethätigungen der Reichsgewalt, ſondern der Staats-
gewalt der Bundesglieder. Sie ſtehen demnach, ſoweit nicht durch
Reichsgeſetz beſondere Vorſchriften ergangen ſind, unter den ſtaats-
rechtlichen Regeln des Einzelſtaates; insbeſondere hinſichtlich der
Amtsgewalt (Kompetenz) der einzelnen Behörden, hinſichtlich der
Formen, unter denen die Verfügungen zu erlaſſen ſind, in Betreff
der gegen ſie zuläſſigen Beſchwerden, über die Folgen der Nicht-
beobachtung des in der Verfügung ertheilten Befehles u. ſ. w.
c) Die Leitung der Verwaltung ſteht den Centralbehör-
den der Einzelſtaaten zu, nicht dem Reiche. Die einzelnen, mit
der unmittelbaren Verwaltungsthätigkeit betrauten Behörden ſind
Landesbehörden; ſie empfangen ihre Befehle und Inſtruktionen
von den Landesregierungen und in letzter Stelle von den Landes-
herren 1). Die Reichsregierung kann ihnen unmittelbar keine
[237]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
Handlungen oder Unterlaſſungen anbefehlen; ſie kann ſich nur an
die Regierung des Einzelſtaates wenden und ſie auffordern, für
die Befolgung der vom Reiche erlaſſenen Anordnungen Sorge zu
tragen und die Landesbehörden dazu anzuhalten. Das Reich kann
daher die von den Behörden der Einzelſtaaten erlaſſenen Verfü-
gungen weder aufheben oder abändern, noch gegen die Beamten
einſchreiten, ſondern es kann nur auf Grund des Art. 19 der
R.-V. gegen das Bundesglied wegen Nichterfüllung ſeiner ver-
faſſungsmäßigen Pflichten die Exekution vollſtrecken. Denn der
Einzelſtaat, welcher die Verletzung reichsgeſetzlicher Anordnungen
durch ſeine Behörden ſtillſchweigend duldet oder ausdrücklich ge-
nehmigt, verletzt ſeine Gehorſamspflicht gegen das Reich; der
Landesbeamte dagegen, welcher in ſeiner amtlichen Thätigkeit gegen
die Reichsgeſetze verſtößt, verletzt dadurch ſeine Dienſtpflicht gegen
den Einzelſtaat, welchem er angehört.
5. Aus dieſen Erörterungen ergiebt ſich zugleich die Entſcheidung
der Frage nach der Verantwortlichkeit für die hier in Rede
ſtehenden Verwaltungsgeſchäfte. Die unmittelbare, ausführende
und leitende Verwaltung iſt ein Geſchäft des Einzelſtaates, die
Kontrolle dieſer Verwaltung ein Geſchäft des Reiches. Demgemäß
iſt der Reichskanzler dem Kaiſer und dem Reichstage dafür ver-
antwortlich, daß er dieſe Kontrolle pflichtgemäß und mit der er-
forderlichen Sorgfalt und Umſicht handhabt; die Miniſter der Ein-
zelſtaaten dagegen ſind ihren Landesherren und Landtagen gegen-
über verantwortlich für die geſetzmäßige und zweckentſprechende
Führung der unmittelbaren Verwaltung 1). Daß die Geſetze, welche
dieſe Verwaltung regeln, Reichsgeſetze ſind, ändert hieran Nichts.
Denn einerſeits kann den Reichskanzler keine Verantwortlichkeit
treffen für Handlungen, welche er weder zu befehlen noch zu ver-
bieten im Stande iſt, andererſeits beſchränkt ſich die Verantwort-
lichkeit der Miniſter der Einzelſtaaten nicht auf die Beobachtung
der Landesgeſetze, ſondern ſie bezieht ſich auf die geltenden Geſetze
überhaupt, alſo in erſter Reihe gerade auf die den Landesgeſetzen
vorgehenden Reichsgeſetze.
[238]§. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung.
III.Die unmittelbare Reichsverwaltung.
Die für die unmittelbare Reichsverwaltung geltenden allge-
meinen Regeln ergeben ſich aus der Vergleichung mit den für die
aufſichtführende Verwaltung entwickelten Grundſätzen von ſelbſt.
1. Das Reich hat die Befugniß zur Geſetzgebung und
kann demgemäß unter Benutzung der Geſetzesform der Verwaltungs-
thätigkeit der Behörden beſtimmte Aufgaben zuweiſen, Handlungen
vorſchreiben u. ſ. w., mit einem Worte die oberſten Verwaltungs-
befehle ertheilen.
2. Das Reich hat ferner die Befugniß, allgemeine Verwal-
tungsvorſchriften zu erlaſſen und Einrichtungen zum Zweck der
Verwaltungsthätigkeit zu treffen. Dieſelben Regeln, welche oben
über die Verwaltungs-Verordnungen des Bundesrathes
ausgeführt worden ſind, finden auch hier vollkommene Anwen-
dung.
3. Das Reich hat die Befugniß, die erforderlichen obrig-
keitlichen Verfügungen zu erlaſſen. Sofern dieſelben inner-
halb der den Reichsbehörden zuſtehenden Kompetenz ergangen ſind,
haben ſowohl die Behörden der Einzelſtaaten wie die einzelnen
Angehörigen des Reiches die Pflicht, ihnen Gehorſam zu leiſten.
Die von den Reichsbehörden im Betriebe ihrer Berwaltungsge-
ſchäfte abgeſchloſſenen Verträge berechtigen und verpflichten den
Reichsfiskus. Alle mit der Verwaltungsthätigkeit verbundenen
Ausgaben und Einnahmen erfolgen für Rechnung des Reiches.
4. Die Leitung der amtlichen Thätigkeit der Verwaltungs-
hehörden ſteht dem Reichskanzler und den ihm unterſtellten Cen-
tralbehörden des Reiches zu. Die unmittelbar ausführenden Be-
hörden ſind den dienſtlichen Befehlen und Verwaltungs-Vorſchriften
(leitenden Verfügungen) der vorgeſetzten Behörden, wofern
ſie innerhalb der Kompetenz derſelben erlaſſen ſind, Gehorſam
ſchuldig. Die Verantwortlichkeit für die Geſchäftsführung der
Reichs-Verwaltungs-Behörden laſtet deshalb auf dem Reichskanzler.
[239]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Zweiter Abſchnitt.
Die einzelnen Verwaltungszweige.
§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten umfaßt die
geſammte Thätigkeit des Reiches, um die Rechte und Intereſſen
deſſelben anderen Staaten gegenüber oder die Rechte und Intereſ-
ſen von Deutſchen Reichs-Angehörigen im Auslande zu wahren.
Dieſe Thätigkeit wird theils von dem Auswärtigen Amte in Berlin,
alſo im Inlande, theils von den Geſandtſchaften und Konſulaten
im Auslande ſelbſt geleiſtet. Für Geſandtſchaften und Konſulate
beſtehen aber ſo verſchiedene Rechtsvorſchriften, daß eine getrennte
Behandlung dieſer beiden Zweige des Reſſorts der auswärtigen
Angelegenheiten geboten iſt 1). Im Allgemeinen ſind die Rechte
der diplomatiſchen Vertreter und Agenten durch Regeln des Völker-
rechts und durch die Gebräuche des internationalen Verkehrs be-
ſtimmt; ſtaatsrechtliche Grundſätze finden nur in ſehr beſchränktem
Maaße Anwendung. Die Lehre von den Vorausſetzungen und
Wirkungen völkerrechtlicher Verträge hat juriſtiſch mit der Ver-
waltung der auswärtigen Angelegenheiten Nichts zu thun, wenn-
gleich die Führung der Verhandlungen über den Abſchluß und
die Erfüllung dieſer Verträge zu dem Geſchäftskreiſe des Auswär-
tigen Amtes gehört.
I.Geſandtſchaften2).
1. Kompetenz des Reiches und der Einzelſtaaten.
Das aktive und paſſive Geſandtſchaftsrecht des Reiches beruht
[240]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
nicht auf einem Satz der Reichsverfaſſung, ſondern auf der völker-
rechtlichen Anerkennung des Reiches als politiſcher Körperſchaft.
Denn das Geſandtſchaftsrecht betrifft das Verhältniß des Reiches
zu anderen Staaten, kann daher nicht durch einen einſeitigen Willens-
akt des Reiches, durch ein nur für das Reich ſelbſt wirkſames
Geſetz normirt werden. Die Reichsverfaſſung beſtimmt vielmehr
nur, durch welches Organ das Reich das ihm nach völkerrecht-
lichen Grundſätzen zuſtehende Geſandtſchaftsrecht ausübt, indem ſie
im Art. 11 dem Kaiſer die Befugniß beilegt, „Geſandte zu be-
glaubigen und zu empfangen“ und indem ſie den Kaiſer ermächtigt,
„das Reich völkerrechtlich zu vertreten.“
Durch dieſe Beſtimmungen wird die Verwaltung der auswär-
tigen Angelegenheiten des Reiches zur unmittelbaren Reichs-
verwaltung erklärt; das Reich iſt nicht darauf beſchränkt, den di-
plomatiſchen Verkehr der Einzelſtaaten zu überwachen und geſetzlich
zu regeln, ſondern es hat ſeine eigene diplomatiſche Vertretung;
die Wahrnehmung der internationalen Beziehungen iſt dem Kaiſer
und ſeinem Miniſter, dem Reichskanzler übertragen.
Aber der Art. 11 der R.-V. überträgt dem Kaiſer nicht das
ausſchließliche Geſandtſchaftsrecht; er enthält kein Verbot für
die Einzelſtaaten, mit fremden Staaten einen diplomatiſchen Ver-
kehr zu erhalten und Geſandte zu entſenden oder zu empfangen.
Hieraus folgt, daß auch die einzelnen Bundesglieder das aktive
und paſſive Geſandtſchaftsrecht ausüben können, wofern fremde
Staaten den diplomatiſchen Verkehr mit ihnen fortzuſetzen geneigt
ſind. Das Geſandtſchaftsrecht der Einzelſtaaten hat überdies eine
ausdrückliche Anerkennung gefunden in dem Schlußprotokoll zu dem
Bayriſchen Bündniß-Vertrage v. 23. Nov. 1870 Art. VII. u. VIII.
und dieſe Beſtimmungen haben eine auch die übrigen Bundesglie-
der betreffende Bedeutung, da ſie über das Verhältniß des Ge-
ſandtſchaftsrechtes des Reiches zu dem Geſandtſchaftsrecht der Ein-
zelſtaaten poſitive Auskunft geben, während die Reichsverfaſſung
über das Geſandtſchaftsrecht der Einzelſtaaten völlig ſchweigt.
[241]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
a) Das aktive Geſandtſchaftsrecht der Bundesglieder iſt mit
dem des Reiches völlig konkurrirend; d. h. die Einzelſtaaten ſind
nicht nur befugt, an den Höfen, an welchen keine Reichsgeſandt-
ſchaften beſtehen, Landes-Geſandtſchaften zu halten, ſondern ſie
können neben der Reichsgeſandtſchaft eine Landes-Geſandtſchaft
errichten. Während der Art. 56 der R.-V. die Errichtung neuer
Landes konſulate in dem Amtsbezirk der Deutſchen Konſuln un-
terſagt, erwähnen Art. VII. und VIII. ausdrücklich das Neben-
einanderbeſtehen von Reichsgeſandtſchaften und Bayeriſchen Geſandt-
ſchaften an denſelben Höfen. Nur für Preußen iſt aus thatſäch-
lichen und völkerrechtlichen Gründen es nicht möglich, neben dem
Reichsgeſandten einen Landesgeſandten zu beglaubigen, wegen der
Perſonen-Identität des Kaiſers und Königs.
b) Die Reichsgeſandtſchaften haben nicht nur die Rechte und
Intereſſen der Geſammtheit, ſondern auch diejenigen der Einzel-
ſtaaten und aller ihrer Angehörigen zu vertreten und wahrzuneh-
men. Es gehört dies zur Pflege der Wohlfahrt des Deutſchen
Volkes, welche nach dem Eingang zur R.-V. eine Aufgabe des
Bundes bildet und iſt im Art. 3 Abſ. 6 der R.V. anerkannt 1).
Es iſt demgemäß die Errichtung von Landes-Geſandtſchaften ent-
behrlich, wo Reichsgeſandtſchaften beſtehen, und wenn ein einzelnes
Bundesglied in einem ausländiſchen Gebiete ſo erhebliche Intereſſen
wahrzunehmen hat, daß ihm eine dauernde diplomatiſche Vertre-
tung geboten erſcheint, ſo kann es zunächſt die Errichtung einer
Reichsgeſandtſchaft in Anregung bringen. Für den Fall der Ab-
lehnung bleibt ihm das Mittel, eine Landes-Geſandtſchaft zu er-
richten, vorbehalten.
c) Wenn an demſelben Hofe eine Reichsgeſandtſchaft und eine
Landesgeſandtſchaft beſteht, ſo tritt zwiſchen beiden eine Theilung
der Geſchäfte ein. Die Vertretung der Sonder-Intereſſen des
Einzelſtaates, ſeines Souveraines und ſeiner Angehörigen iſt zu-
nächſt Sache der Landesgeſandtſchaft und dem Reichsgeſandten ent-
zogen. Es iſt dies in dem Bayriſchen Schlußprotokoll Art. VIII.
anerkannt und zwar nicht in dem dispoſitiven Theile deſſelben,
welcher ein finanzielles Sonderrecht Bayerns begründet, ſondern
als ein thatſächlicher Erwägungsgrund, der auf alle Bundesglie-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 16
[242]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
der, nicht nur auf Bayern, Anwendung findet; nämlich „in Er-
wägung des Umſtandes, daß an denjenigen Orten, an wel-
chen Bayern eigene Geſandtſchaften unterhalten wird, die Ver-
tretung der Bayeriſchen Angelegenheiten den Bun-
desgeſandten nicht obliegt.“ Dem Geſandten eines Bun-
desgliedes kann zugleich von einem andern Bundesgliede Voll-
macht ertheilt und ihm die Vertretung auch dieſer beſonderen
Landes-Intereſſen übertragen ſein, ſo daß er wie ein gemeinſchaft-
licher Geſandter mehrerer Bundesglieder anzuſehen iſt. Das Reich
hat kein Einſpruchsrecht dagegen, wenn die Regierung eines Bun-
desgliedes es vorzieht, die Vertretung ihrer beſonderen Intereſſen
lieber dem Geſandten eines andern Bundesgliedes als dem Reichs-
geſandten zu übertragen.
Zu den beſonderen Angelegenheiten gehören die Beziehungen
des Landesherrn und ſeiner Familie zu den Mitgliedern des aus-
wärtigen ſouverainen Hauſes; ferner die Intereſſen des Einzel-
ſtaates für alle ſeiner Kompetenz unterliegenden Gegenſtände, ins-
beſondere die Förderung von Kunſt und Wiſſenſchaft, z. B. die
Anſchaffung von Werken für Kunſtſammlungen und Bibliotheken
oder die Einrichtung und Unterhaltung von Anſtalten im Auslande
für künſtleriſche oder wiſſenſchaftliche Arbeiten; ſodann Ausliefe-
rungs-Anträge 1); endlich die Privat-Angelegenheiten der Angehö-
rigen des Einzelſtaates 2).
Dem Reichsgeſandten liegt die Wahrnehmung derjenigen In-
tereſſen ob, welche die Geſammtheit der Bundesglieder, das Reich
als Ganzes, angehen, und die Vertretung der Sonder-Intereſ-
ſen derjenigen Bundesglieder und ihrer Angehörigen, für deren
Vertretung durch eine Landesgeſandtſchaft nicht Sorge getragen
iſt. Alle Angelegenheiten, welche durch die Reichsverfaſſung oder
durch beſondere Geſetze zu gemeinſchaftlichen des Reiches erklärt
ſind, gehören deshalb ausſchließlich zu dem Geſchäftskreiſe der
Reichsgeſandten 3). Dahin ſind zu zählen: Alle Angelegenheiten
[243]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
der auswärtigen Politik. Denn da das Reich allein Krieg
erklären und Frieden ſchließen kann und der Kaiſer den Ober-
befehl über die Machtmittel des Reiches (Heer und Marine) hat,
ſo iſt auch die geſammte auswärtige Politik, die hiervon untrenn-
bar iſt, für das ganze Reich nothwendig eine einheitliche und eine
für alle Bundesglieder gemeinſchaftliche Angelegenheit. Daſſelbe
gilt von allen internationalen Handels- und Schifffahrts-
Angelegenheiten und der Handels-Politik wegen der ver-
faſſungsmäßig anerkannten Einheit des Zollgebietes und der Han-
delsmarine. Ferner gehören hierher die Angelegenheiten des
Poſt- und Telegraphen-Weſens, die internationalen Militair- und
Marine-Angelegenheiten, Niederlaſſungs-Verhältniſſe, Freizügigkeit
zwiſchen dem Gebiete des Reichs und dem des auswärtigen Staates,
Gewerbebetrieb der Deutſchen im Auslande oder der Ausländer
in Deutſchland, Auslieferung von Flüchtigen, ſowie Unterſtützung
und Uebernahme hülfsbedürftiger Angehöriger, Auswanderungs-
Sachen, internationale Verhandlungen über das Maaß-, Münz-
und Gewichtsſyſtem, über Patentſchutz, den Schutz von Fabrik-
zeichen und Waaren-Marken, über Muſterſchutz und Schutz des
geiſtigen Eigenthums, über die Rechtshülfe und die Beglaubi-
gung von öffentlichen Urkunden, über internationale Maßregeln
der Medicinal- und Veterinärpolizei, über Angelegenheiten des
Preß- und Vereinsweſens; alle die Reichsfinanzen berührenden
internationalen Angelegenheiten; endlich alle Angelegenheiten, welche
zum Gegenſtande eines völkerrechtlichen Vertrages zwiſchen dem
Deutſchen Reich und dem Staat, bei deſſen Souverain der Reichs-
geſandte beglaubigt iſt, gemacht worden ſind.
In allen dieſen Angelegenheiten iſt jede Einmiſchung eines
Landesgeſandten ohne Zuſtimmung des Reichsgeſandten eine un-
befugte; ſie iſt eine Ueberſchreitung der den Bundesgliedern ver-
bliebenen Kompetenz und kann ſelbſt eine Verletzung der verfaſ-
ſungsmäßigen Bundespflichten ſein, ſo daß im äußerſten Falle
Art. 19 der R.-V. in Anwendung gebracht werden könnte 1).
16*
[244]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Neben dieſer ausſchließlichen Kompetenz der Reichsge-
ſandten ſteht denſelben eine ſubſidiäre oder eventuelle zu, in-
dem ſie die Sonder-Intereſſen aller Bundesglieder und die Privat-
rechte aller Reichs-Angehörigen wahrzunehmen haben, wofern nicht
durch eine Landesgeſandtſchaft für die Vertretung derſelben ge-
ſorgt iſt.
d) Aus den vorſtehenden Erörterungen ergiebt ſich die Folge-
rung, daß wenn eine Landesgeſandtſchaft aufgehoben oder zeit-
weilig außer Wirkſamkeit getreten iſt, die an demſelben Hofe be-
ſtehende Reichsgeſandtſchaft kraft der ihr zuſtehenden allgemeinen
ſubſidiären Kompetenz ipso iure den Geſchäftskreis der Landes-
geſandtſchaft überkömmt, ohne daß ſie dazu beſonders ermächtigt
und beauftragt zu werden braucht; es ſei denn, daß die Geſandt-
ſchaft eines anderen Bundesgliedes mit der interimiſtiſchen Ver-
tretung beauftragt und dadurch die ſubſidiäre Kompetenz des
Reichsgeſandten ausgeſchloſſen wird. Wenn dagegen ein Reichs-
geſandter abberufen wird oder zeitweilig an der Wahrnehmung
ſeiner Geſchäfte verhindert iſt, ſo iſt ein an demſelben Hofe be-
glaubigter Landesgeſandter nicht befugt, den Reichsgeſandten zu
vertreten und an Stelle deſſelben die zu deſſen Geſchäftskreiſe ge-
hörenden Angelegenheiten zu beſorgen. Er bedarf vielmehr dazu
einer beſonderen Vollmacht und Beauftragung des Kaiſers einer-
ſeits und der Erlaubniß ſeines Landesherrn zur Uebernahme die-
ſer Geſchäfte andererſeits. In dieſer Beziehung iſt nun in dem
Bayriſchen Schlußprotok. v. 23. Nov. 1870 Art. VII. feſtgeſetzt,
daß der Kaiſer mit Zuſtimmung des Königs von Bayern den
Königl. Bayeriſchen Geſandten an den Höfen, an welchen ſolche
beglaubigt ſind, Vollmacht ertheilen werde, die Reichsgeſandten in
Verhinderungsfällen zu vertreten. Ohne Zuſtimmung Bayerns darf
daher an den Höfen, an welchen Bayeriſche Geſandte beglaubigt
ſind, der Geſandte eines andern Staates mit der Vertretung des
Reichsgeſandten nicht beauftragt werden.
e) Hinſichtlich des paſſiven Geſandtſchaftsrechts beſtehen völlig
analoge Rechtsſätze. Die Landesherren der zum Reiche gehörenden
Staaten haben das unbeſchränkte Recht, Geſandte auswärtiger
1)
[245]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Staaten zu empfangen; ſie dürfen aber mit denſelben nur über
die beſonderen Angelegenheiten ihres Landes und Hauſes, dagegen
über die gemeinſamen Angelegenheiten des Reiches nur mit Wiſſen
und Willen des Kaiſers, reſp. Reichskanzlers, Verhandlungen
führen.
2. Amtsgeſchäfte.
Die Geſandten und die bei Geſandtſchaften verwendeten Be-
amten haben obrigkeitliche Rechte der Natur der Sache nach in der
Regel nicht auszuüben, da ihre Thätigkeit im Auslande, alſo
außerhalb des Herrſchafts-Gebietes des Reiches ſich vollzieht 1).
Verfügungen, durch welche Handlungen oder Unterlaſſungen
anbefohlen werden, können Geſandte demnach nicht erlaſſen, da ſie
nicht in der Lage ſind, die Befolgung ihrer Befehle zu erzwingen.
Aber auch im Uebrigen iſt ihre Thätigkeit durch Rechtsſätze
nicht geregelt. Bei keinem Zweige der geſammten Staatsverwal-
tung tritt die Freiheit derſelben von geſetzlichen Vorſchriften deut-
licher vor Augen als bei der Verwaltung der auswärtigen An-
gelegenheiten; dieſelbe iſt an keinem Punkte Ausführung von
Geſetzen, ſondern ſie iſt durchweg vom freien Ermeſſen, von Er-
wägungen der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit geleitet. Je weni-
ger aber das Geſetz die Thätigkeit der Geſandten regelt, deſto be-
deutungsvoller wird die Leitung dieſer Thätigkeit durch die vor-
geſetzte Behörde, alſo durch den Reichskanzler. Die ſtrenge Ge-
horſamspflicht gegen dienſtliche Befehle, die vollkommene Beherrſchung
der Thätigkeit der einzelnen Beamten durch den leitenden Chef,
alſo die ſtrenge Ordnung innerhalb des Verwaltungs-Apparats
iſt das Correlat der Ungebundenheit dieſer Verwaltung als Gan-
zes. Das Auswärtige Departement ſteht in dieſer Hinſicht unter
allen Verwaltungszweigen dem Militair-Weſen am nächſten.
[246]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Die Thätigkeit der Geſandten wird demnach geregelt durch
die Inſtruktionen oder [Anweiſungen], welche der Reichskanzler
ihnen ertheilt. Außer der möglichſt getreuen und geſchickten Aus-
führung derſelben liegt den Geſandten ferner ob die zuverläſſige
und wahrheitsgetreue Berichterſtattung an den Reichskanzler
ſowohl über die Ausführung der ihnen aufgetragenen Geſchäfte
als auch über alle Verhältniſſe, deren Kenntniß für das Aus-
wärtige Amt von Werth ſein kann. Im Zuſammenhange mit
dieſer ſtrengen Centraliſation des auswärtigen Dienſtes ſteht der
Grundſatz, daß die Gerichts- und Verwaltungsbehörden in der
Regel nicht direct mit den Geſandtſchaften in Schriftwechſel treten
und deren Dienſte beanſpruchen dürfen, ſondern daß alle Requi-
ſitionen durch Vermittelung des Auswärtigen Amtes erledigt wer-
den müſſen 1).
Da die amtliche Thätigkeit der Geſandten nicht durch Geſetze,
ſondern lediglich durch die Dienſtordnung geregelt iſt, ſo iſt die
treue, zuverläſſige und vollſtändige Erfüllung der Dienſtpflicht und
der Gehorſam gegen die Inſtruktionen und anderen dienſtlichen
Befehle der vorgeſetzten Behörde in dieſem Dienſtzweige rechtlich
beſonders geſchützt und zwar durch folgende Sätze:
a) Alle diplomatiſchen Agenten können durch kaiſerliche Ver-
fügung jederzeit mit Gewährung des geſetzlichen Wartegeldes einſt-
weilig in den Ruheſtand verſetzt werden 2). Dadurch iſt der Re-
gierung ein Mittel gegeben, auch in denjenigen Fällen, in welchen
weder ein disciplinariſches noch ein ſtrafrechtliches Verfahren ein-
geleitet werden kann, diplomatiſche Agenten ihrer Dienſtfunctionen
zu entheben.
b) Gefängniß oder Geldſtrafe bis zu 5000 Mark trifft einen
mit einer auswärtigen Miſſion betrauten oder bei einer
ſolchen beſchäftigten Beamten, welcher den ihm durch ſeinen Vor-
geſetzten amtlich ertheilten Anweiſungen vorſätzlich zuwider-
handelt, oder welcher in der Abſicht, ſeinen Vorgeſetzten in deſſen
[247]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
amtlichen Handlungen irre zu leiten, demſelben erdichtete oder ent-
ſtellte Thatſachen berichtet 1).
Für die Geſandten und anderen Miſſionschefs iſt der Reichs-
kanzler oder der ihn vertretende Staatsſekretair im Auswärtigen
Amte der „Vorgeſetzte“, für das übrige Geſandtſchafts-Perſonal
iſt der Miſſionschef der unmittelbare Vorgeſetzte 2).
Nicht jeder Ungehorſam eines im Geſandtſchafts-Dienſte an-
geſtellten Beamten fällt unter dieſe Strafſatzung 3), ſondern nur
die „vorſätzliche Zuwiderhandlung“. Von dem Thatbeſtande des
Landesverrathes aber unterſcheidet ſich das im §. 353 a normirte
Vergehen dadurch, daß bei dem Landesverrath die Abſicht erfor-
derlich iſt, das Wohl des Deutſchen Reiches zu gefährden oder
ein Staatsgeſchäft zum Nachtheil des Reiches zu führen (R.-St.-
G.-B. §. 92), während der §. 353 a nur den Vorſatz verlangt,
dem amtlichen Befehle des Vorgeſetzten zuwider zu handeln, mag
dies auch vielleicht in der Meinung geſchehen, das Wohl des Rei-
ches dadurch zu fördern. Der §. 353 a ſichert den „diplomatiſchen
Gehorſam“ in einer ähnlichen, wenngleich weniger ſtrengen Art,
wie die Anordnungen des Militair-Strafgeſetzbuches den militäri-
ſchen Gehorſam ſichern.
3. Leitung der Thätigkeit.
Die oberſte Leitung des geſammten diplomatiſchen Dienſtes
der Geſandtſchaften ſteht dem Kaiſer ganz ſelbſtſtändig zu. Man
kann dieſes Recht des Kaiſers als den diplomatiſchen Oberbefehl
dem ihm gebührenden militairiſchen Oberbefehl an die Seite ſtellen.
Beide ſind durch Geſetze nicht geregelt, ſondern nach ſeinem per-
ſönlichen Ermeſſen zu handhaben.
a) Dem Bundesrath ſteht keinerlei Mitwirkung zu, weder
bei der Ernennung und Abberufung von Geſandten noch bei der
Ertheilung von Inſtruktionen an dieſelben. Namentlich hat der
[248]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Bundesraths-Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten keinen
Antheil an der Verwaltung 1). Nur ſoweit es ſich um die Er-
richtung von neuen oder um die Einziehung von beſtehenden Ge-
ſandtſchaften handelt, iſt dem Bundesrathe und dem Reichstage
durch das Budgetrecht indirect eine Mitbeſtimmung geſichert.
b) Der Reichskanzler iſt verpflichtet, bei allen wichtigeren
Geſchäften des auswärtigen Dienſtes [den] Befehl Sr. Majeſtät
einzuholen. Maaßgebend dafür ſind die in der Preuß. Verord-
nung vom 27. Oktober 1810 über die Verfaſſung der Staatsbe-
hörden enthaltenen Vorſchriften 2). Nach denſelben iſt der Chef
des Auswärtigen Amtes verpflichtet, dem Kaiſer die genaueſte
Ueberſicht und Kenntniß ſämmtlicher auswärtigen Verhältniſſe zu
verſchaffen, demſelben alle Berichte der Geſandten und Geſchäfts-
träger, ſowie die von Fremden übergebenen Noten oder gemachten
Eröffnungen vorzulegen oder Vortrag über dieſelben zu halten.
Nach den Entſchließungen des Kaiſers hat der Reichskanzler die
Geſchäfte des Auswärtigen Amtes zu leiten, den fremden Ge-
ſandten Antwort, den Reichsgeſandten Inſtruktionen zu ertheilen.
„Sobald es darauf ankommt, den kaiſerlichen Geſandten Abweichun-
gen von den ihnen früher gegebenen Vorſchriften über politiſche
Verhältniſſe oder die Verfolgung wichtiger Gegenſtände aufzugeben,
muß die Ausfertigung der Regel nach vom Kaiſer
ſelbſt vollzogen werden.“ In andern Fällen erläßt der
Reichskanzler die Verfügungen in ſeinem Namen, ebenſo in wich-
tigeren dringenderen und eilenden Fällen, wenn die Genehmigung
des Kaiſers nicht eingeholt werden kann. Wenn jedoch der Gegen-
ſtand der Regel nach die kaiſerliche Vollziehung des Befehls er-
fordert hätte, iſt dem Kaiſer ſogleich Anzeige zu machen. Ueber
die Ernennung des geſammten Geſandtſchafts-Perſonals muß die
Genehmigung des Kaiſers eingeholt werden 3), auch wenn die Be-
amten nicht nach der Verordn. v. 23. Nov. 1874 §. 2 (R.-G.-Bl.
S. 135) eine kaiſerliche Beſtallung, ſondern nur eine vom Reichs-
kanzler ausgefertigte Anſtellungs-Urkunde enthalten 4).
[249]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
II.Konſulate*.
1. Kompetenz des Reichs und der Einzelſtaaten.
Art. 4. Z. 7 und Art. 56 der R.-V. weiſen dem Reiche nicht
nur die unmittelbare, ſondern auch die ausſchließliche
[250]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Verwaltung des Konſulatsweſens zu, ſo daß hier ein anderes
Prinzip wie bei der eigentlichen diplomatiſchen Vertretung ent-
ſcheidet.
a) Art. 4 führt unter den Gegenſtänden, auf welche die Kom-
petenz des Reiches ſich erſtreckt unter Nro. 7 auf: „Die Organi-
ſation eines gemeinſamen Schutzes des Deutſchen Handels im
Auslande, der deutſchen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See
und die Anordnung gemeinſamer konſulariſcher Vertretung,
welche vom Reiche ausgeſtattet wird.“ Art. 56 Abſ. 1 überträgt
dem Kaiſer die Aufſicht über das geſammte Konſulatweſen des
Deutſchen Reiches; das Konſulatsgeſetz §. 3 unterwirft die Bundes-
konſuln der Aufſicht des Bundeskanzlers. Die Verwaltung des Kon-
ſulatweſens erfolgt demnach nicht durch Vermittlung der Einzel-
ſtaaten.
b) Den Einzelſtaaten iſt die Befugniß, mit der konſulariſchen
Vertretung des Reiches zu konkurriren, entzogen. Abſ. 2 des
Art. 56 enthält das durchgreifende Verbot: „In dem Amtsbezirk
der Deutſchen Konſuln dürfen neue Landeskonſulate nicht errichtet
werden“ 1). Die bereits beſtehenden Landeskonſulate wurden nur
interimiſtiſch noch geduldet; „ſie werden ſämmtlich aufgehoben, ſo-
bald die Organiſation der Deutſchen Konſulate dergeſtalt vollendet
iſt, daß die Vertretung der Einzel-Intereſſen aller Bundesſtaaten
als durch die Deutſchen Konſulate geſichert von dem Bundesrathe
anerkannt wird“ (Art. 56 Abſ. 2). Dies iſt längſt erfolgt; ſchon
am 6. Dezember 1869 beſchloß der Bundesrath des Nordd. Bun-
des die Regierungen zur Aufhebung der Landeskonſulate an allen
Plätzen, an welchen Bundeskonſulate beſtehen, aufzufordern. Auch
in der Zwiſchenzeit, in welcher an demſelben Platze neben dem
*
[251]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Bundeskonſulate Landeskonſulate noch geduldet waren, durften die
deutſchen Staaten, welche keine eigenen Konſulate hatten, die
Vertretung ihrer Intereſſen nicht dem Landeskonſulat eines ande-
ren Bundesgliedes übertragen, ſondern „die Deutſchen Konſuln
übten für die in ihrem Bezirke nicht vertretenen Bundesſtaaten
die Funktionen eines Landeskonſuls aus.“ (Art. 56 Abſ. 2.)
Dieſem ausſchließlichen Rechte des Reiches entſpricht die Pflicht
deſſelben, überall da Konſulats-Vertretungen einzurichten, wo dies
durch das Intereſſe auch nur eines Bundesſtaates geboten iſt.
Es folgt dies aus dem im Art. 3 Abſ. 6 der R.-V. ausgeſprochenen
Grundſatz, daß dem Auslande gegenüber alle Deutſchen gleich-
mäßig Anſpruch auf den Schutz des Reichs haben und iſt aus-
drücklich anerkannt worden in den Bündniß-Verträgen des Nordd.
Bundes mit den ſüddeutſchen Staaten 1).
2. Hoheitsrechte.
Konſuln können im Allgemeinen eben ſo wenig wie Geſandte
obrigkeitliche Befugniſſe ausüben, da auch ihre Wirkſamkeit
außerhalb des Herrſchaftsgebietes des Reiches ſich vollzieht. Sie
ſind vielmehr im Weſentlichen darauf angewieſen, als Rathgeber
und Vertreter der Reichs-Angehörigen die Intereſſen derſelben
wahrzunehmen, mit ihrer Kenntniß des am Ort ihrer Thätigkeit
geltenden Rechts, der Behörden-Verfaſſung, der Sprache, Sitten
und Lebensverhältniſſe den Reichsangehörigen, welche als Fremde
mit dieſen Dingen nicht vertraut zu ſein pflegen, behülflich zu ſein,
die Beobachtung völkerrechtlicher Verträge, welche das Reich oder
die Gliedſtaaten deſſelben abgeſchloſſen haben, zu überwachen, Hülfs-
bedürftige im Nothfalle zu unterſtützen und die Reichsregierung
durch Berichte von Allem in Kenntniß zu erhalten, was die Inte-
reſſen des Reiches, namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und
Schifffahrt, betrifft 2).
[252]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Dieſe Thätigkeit iſt ihrer Natur nach durch Rechtsſätze über-
haupt nicht geregelt, da ſie eine Ausübung von Rechten gar nicht
in ſich ſchließt, ſondern nur durch Verwaltungs-Vorſchriften 1); ſie
findet ihre Schranken in den Geſetzen und Gewohnheiten des Lan-
des, in welchem die Konſuln fungiren und unter deren Herrſchaft
ſie ihre Thätigkeit entfalten 2). Indeß wird den amtlichen Hand-
lungen der Reichskonſuln theils eine rechtliche Wirkſamkeit im In-
lande beigelegt 3), theils ſind ſie in einigen Beziehungen gegen die
Reichsangehörigen, welche ſich innerhalb ihres Amtsbezirkes auf-
halten, mit Hoheitsrechten ausgeſtattet, deren Schutz allerdings in
der Regel nur verwirklicht werden kann, wenn der Reichsange-
hörige, der ſie verletzt hat, in das Reichsgebiet zurückkehrt. Ueberall,
wo die Conſuln gegen Reichsangehörige Hoheitsrechte, d. h. in
der Staatsgewalt enthaltene Herrſchaftsbefugniſſe ausüben, iſt eine
reichsgeſetzliche Beſtimmung erforderlich, welche die Konſuln mit
dieſer Amtsgewalt ausſtattet.
Eine weitere Vorausſetzung für die Ausübung jeder amtlichen
Thätigkeit des Konſuls iſt, daß der Staat, in deſſen Gebiet der
Konſul thätig ſein ſoll, ſie duldet und den Konſul als ſolchen an-
erkennt. Es geſchieht dies durch die Ertheilung des ſogen. Placet
oder Exequatur; bevor dieſelbe erfolgt iſt, darf der ernannte
Konſul ſeine amtliche Wirkſamkeit nicht beginnen. Dies gilt auch in
ſolchen Staaten, in welchen dem deutſchen Reich vertragsmäßig
die Befugniß zur Errichtung von Konſulaten zugeſichert iſt 4).
Durch die Ertheilung des Exequatur wird der Konſul aber nicht
ermächtigt, alle diejenigen Rechte auszuüben, welche das Deutſche
Konſulatsgeſetz den Konſuln beilegt, ſondern nur diejenigen, welche
der Staat, der das Exequatur ertheilt, den Konſuln fremder
Staaten einräumt 5). Deshalb kann der Deutſche Konſul auch
[253]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
gegen Reichsangehörige nur ſolche, in der Staatsgewalt enthaltene
Rechte ausüben, welche der Staat, in deſſen Gebiet er ſeinen
Amtsbezirk hat, nicht ausſchließlich für ſich ſelbſt beanſprucht. In
vielen Fällen beſteht eine völkerrechtliche Uebung, durch die der
Kreis der obrigkeitlichen Rechte, welche fremde Konſuln handhaben
dürfen, beſtimmt wird. Mit mehreren Staaten hat aber das
Deutſche Reich Verträge abgeſchloſſen 1), durch welche die Aus-
übung der den Deutſchen Konſuln übertragenen ſtaatlichen Befug-
niſſe ſicher geſtellt worden iſt 2).
[254]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Die obrigkeitlichen Rechte der Konſuln laſſen ſich unter fol-
gende Kategorien bringen:
Der Reichskanzler kann einem Konſul des Deutſchen Reiches
für deſſen Amtsbezirk die allgemeine Ermächtigung zur Vornahme
von Eheſchließungen und zur Beurkundung der Geburten, Heirathen
und Sterbefälle von Reichsangehörigen und Schutzgenoſſen erthei-
len 1). Die Rechtsvorſchriften über die Ausübung dieſer Befug-
niſſe ſind in dem Geſ. v. 4. Mai 1870 enthalten; ſie übertragen
dem Konſul dieſelben amtlichen Rechte und Pflichten, wie ſie inner-
halb des Bundesgebietes den Standesbeamten durch das Geſetz
v. 6. Februar 1875 zugewieſen ſind 2). Jedoch ſind die Konſuln
befugt für die von ihnen bewirkten Einträge und ertheilten Ur-
kunden Gebühren zu erheben 3), während die Standesregiſter im
Reichsgebiet koſtenfrei geführt werden 4). In ſtrafrechtlicher Hin-
ſicht ferner beſteht ein eigenthümlicher Unterſchied. §. 69 des Geſ.
v. 6. Febr. 1875, welcher Standesbeamte mit Geldſtrafe bis zu
600 Mark bedroht, wenn ſie unter Außerachtlaſſung der in dieſem
Geſetze gegebenen Vorſchriften eine Eheſchließung vollziehen, iſt auf
Konſuln und diplomatiſche Vertreter nicht anwendbar, da §. 85
Abſ. 1 erklärt, daß durch dieſes Geſetz die Beſtimmungen des Ge-
ſetzes vom 4. Mai 1870 nicht berührt werden, das letztere Geſetz
aber eine Strafbeſtimmung nicht enthält. Konſuln und Geſandte,
welche unter Verletzung der in den §§. 3 ff. des Geſ. v. 4. Mai
2)
[255]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
1870 enthaltenen Vorſchriften Eheſchließungen vornehmen, können
daher ſtrafrechtlich nicht verfolgt werden, falls nicht der Thatbe-
ſtand des §. 348. 349 des R.-St.-G.-B.’s vorliegt. Auch §. 338
des St.-G.-B.’s, welcher einen „Perſonenſtandsbeamten“ mit Zucht-
haus bis zu 5 Jahren bedroht, wenn er wiſſend, daß eine Perſon
verheirathet iſt, eine neue Ehe derſelben ſchließt, iſt auf Konſuln
und diplomatiſche Vertreter, denen vom Reichskanzler die Ermäch-
tigung zur Vornahme von Eheſchließungen ertheilt iſt, anwendbar,
da ſie unter die Kategorie von „Perſonenſtandsbeamten“ fallen 1).
Die Ausübung dieſes Hoheitsrechtes ſetzt voraus, daß der
Staat, in deſſen Gebiet der Konſul ſeinen Amtsbezirk hat, die
Vornahme von Eheſchließungen und die Beurkundung des Per-
ſonenſtandes durch Vertreter auswärtiger Staaten überhaupt dul-
det. Denn der Grundſatz locus regit actum findet auch auf die
Eheſchließung Anwendung 2). Wenn ein Staat für alle inner-
halb ſeines Gebietes zu ſchließenden Ehen, gleichviel ob die Ver-
lobten Staats-Angehörige oder Ausländer ſind, eine beſtimmte
Form der Eheſchließung obligatoriſch vorſchreibt, ſo kann das Ge-
ſetz eines anderen Staates daran Nichts ändern 3). Ebenſowenig
kann die Anmeldung einer Geburt oder eines Sterbefalles bei dem
Geſandten oder Konſul des Deutſchen Reiches von der landesge-
ſetzlich vorgeſchriebenen Pflicht, den Fall bei dem Standesbeamten
des Bezirks anzuzeigen, Jemanden befreien 4). Die gleichzeitige
Ausübung der Standesamts-Funktionen ſowohl durch die territo-
[256]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
rialen Behörden als auch durch die auswärtigen Konſuln oder
Geſandten hinſichtlich derſelben Perſonen müßte aber zu den
ſchlimmſten Mißſtänden führen und namentlich in Hinſicht auf die
Eheſchließung in dem Falle einen faſt unerträglichen Rechtszuſtand
bewirken, wenn die vor dem Deutſchen Konſul nach Maßgabe des
Geſetzes vom 4. Mai 1870 geſchloſſene Ehe in dem Ort der Ehe-
ſchließung ſelbſt, alſo in den meiſten Fällen an dem Wohnort
der Eheleute, nichtig und unwirkſam wäre 1). Auch liegt ein Be-
dürfniß für eine Ausnahmeſtellung der Reichsangehörigen in den-
jenigen Gebieten nicht vor, in welchen eine ſtaatliche Form der
Eheſchließung und eine ſtaatliche Führung der Standesregiſter ein-
gerichtet iſt. Endlich wird die Ermächtigung zur Vornahme ſo
wichtiger Akte nur denjenigen Konſuln ertheilt werden können,
deren Perſönlichkeit dafür eine Bürgſchaft bietet, daß die in Be-
tracht kommenden Rechtsvorſchriften mit richtigem Verſtändniß und
gewiſſenhaft beobachtet werden. Darauf beruht es, daß das aus-
wärtige Amt des Deutſchen Reiches zunächſt zu prüfen hat, ob in
einem gewiſſen Staate die Ausübung der Funktionen von Per-
ſonenſtands-Beamten durch die diplomatiſchen Vertreter und Kon-
ſuln des Reiches zuläſſig und wüuſchenswerth iſt, und daß deshalb
die Ermächtigung zur Ausübung dieſer Befugniſſe nur denjenigen
diplomatiſchen Vertretern und Konſuln zuſteht, denen ſie der Reichs-
kanzler beſonders und ausdrücklich ertheilt hat 2). Dieſe Ermäch-
[257]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
tigung muß aber eine allgemeine ſein, d. h. ſie darf nicht auf
die Vornahme einer oder mehrerer einzelner Eheſchließungen u. ſ. w.
beſchränkt werden.
Es iſt ferner erforderlich, daß die Ertheilung dieſer Befugniß
amtlich bekannt gemacht wird. Denn da die Rechtsgültigkeit der
Ehe und die Beweiskraft der Geburts- und Todes-Atteſte von
dieſer Ermächtigung abhängig iſt, ſo muß das Vorhandenſein der-
ſelben allgemein erkennbar ſein 1).
Die Ermächtigung wird nicht den Konſulaten, ſondern den
Konſuln perſönlich ertheilt. Der Stellvertreter eines abweſen-
den oder verhinderten Konſuls darf daher Akte der Standesbe-
amten nur dann vornehmen, wenn er vom Reichskanzler die Er-
mächtigung dazu erhalten hat 2).
Im Auslande verſehen die Konſulate des Deutſchen Reiches die
Funktionen der Seemannsämter 3). Ihre Befugniſſe erſtrecken ſich
in dieſer Eigenſchaft auf alle Kauffahrteiſchiffe, welche das Recht, die
Reichsflagge zu führen, ausüben dürfen 4) und auf die Führer und
Mannſchaft dieſer Schiffe ohne Rückſicht auf die Reichsangehörig-
keit. In ihrer Eigenſchaft als Seemanns-Aemter liegt den Kon-
ſulaten die Anmuſterung und die Ausfertigung der Muſterrolle 5),
ſowie die Abmuſterung, die Vermerkung derſelben in dem See-
fahrtsbuche und in der Muſterrolle, und event. die Ueberſendung
der Muſterrolle an das Seemannsamt des Heimatshafens ob 6).
2)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 17
[258]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Schiffer und Schiffsleute ſind verpflichtet, ſich zum Zwecke der
Anmuſterungs- und Abmuſterungs-Verhandlung in dem Konſulate
zu ſtellen und die Erfüllung dieſer Pflicht iſt durch Strafdrohungen
geſichert 1). Entzieht ſich ein Schiffsmann nach der Anmuſterung
dem Antritt oder der Fortſetzung des Dienſtes, ſo kann ihn das
Seemannsamt auf Antrag des Schiffers zwangsweiſe zur Erfül-
lung ſeiner Pflicht anhalten 2). Auch den Konſuln ſteht dieſe Be-
fugniß zu, jedoch können ſie einen Zwang nicht direct ausüben,
ſondern ſie ſind darauf beſchränkt, bei den Lokalbehörden die er-
forderlichen Anträge zu ſtellen 3). Die Konſuln können ferner auf
Antrag eines Schiffsoffiziers oder von mindeſtens drei Schiffsleuten
das Schiff einer Unterſuchung unterziehen, ob das Schiff ſeetüchtig
und mit den erforderlichen Vorräthen an Lebensmitteln verſehen
iſt. Sie haben das Ergebniß in das Schiffsjournal einzutragen
und erforderlichen Falles für die geeignete Abhülfe der Mängel
Sorge zu tragen 4). Die Konſuln ſind befugt, den Führern deut-
ſcher Kauffahrteiſchiffe den Befehl zu ertheilen, deutſche Seeleute,
welche im Auslande ſich in hülfsbedürftigem Zuſtande befinden,
behufs ihrer Rückbeförderung nach Deutſchland nach dem Beſtim-
mungshafen mitzunehmen 5). Ihnen liegt die Entſcheidung ob,
[259]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
wenn der Schiffsführer Weigerungsgründe vorſchützt. Die Nicht-
befolgung des ordnungsmäßig (ſchriftlich) ertheilten Befehles des
Seemanns-Amtes (Konſulates) wird mit einer Geldſtrafe bis zu
150 Mark oder mit Haft beſtraft 1).
Hoheitsrechte des Reiches haben die Konſulate in ihrer Eigen-
ſchaft als Seemannsämter ferner inſofern auszuüben, als ihnen
eine vorläufige Entſcheidung ſowohl bei bürgerlichen Strei-
tigkeiten als in gewiſſen Straffällen zuſteht 2) und zwar nach fol-
genden Grundſätzen:
α) Dem Schiffsmann iſt es reichsgeſetzlich verboten, den
Schiffer vor einem fremden Gericht zu belangen; ausgenommen
iſt allein die Geltendmachung von Forderungen aus dem Dienſt-
oder Heuervertrage im Falle eines Zwangsverkaufs des
Schiffes. Der Schiffer, welcher dieſem Verbote zuwiderhandelt,
iſt nicht nur für den daraus entſtehenden Schaden verantwortlich,
ſondern er wird außerdem der bis dahin verdienten Heuer ver-
luſtig. Wenn der Streitfall von ſolcher Beſchaffenheit iſt, daß er
keinen Aufſchub erleidet, ſo iſt der Schiffsmann befugt, die vor-
läufige Entſcheidung des Seemannsamtes nachzuſuchen, und der
Schiffer iſt verpflichtet, die Gelegenheit dazu ohne dringenden
Grund nicht zu verſagen 3). Die Entſcheidung des Seemanns-
amtes (Konſulates) muß von beiden Theilen vorläufig befolgt
werden; es bleibt ihnen aber unbenommen, nach Beendigung der
Reiſe ihre Rechte vor der zuſtändigen Behörde geltend zu machen 4).
17*
[260]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
β) In den im §. 101 der Seemanns-Ordnung und im §. 8
des Geſ. v. 27. Dezember 1872 aufgeführten Criminalfällen er-
folgt die Unterſuchung und Entſcheidung durch das Seemannsamt.
Gegen den Beſcheid kann der Beſchuldigte innerhalb einer zehn-
tägigen Friſt von der Verkündigung oder der Zuſtellung ab auf
gerichtliche Entſcheidung antragen. Für das weitere Verfahren iſt
dann das inländiſche Gericht des Heimatshafens und event. des
deutſchen Hafens, welchen das Schiff nach der Straffeſtſetzung zu-
erſt erreicht, zuſtändig 1). Lautet der Beſcheid des Konſulates aber
auf eine Geldſtrafe, ſo iſt er vorläufig vollſtreckbar 2).
Die Reichskonſuln ſind befugt, über die Schiffe der Deutſchen
Handelsmarine die Polizeigewalt auszuüben 3). Auch dieſe Be-
ſtimmung verſteht ſich mit der Einſchränkung, daß die Konſuln
nicht in die Hoheitsrechte des Staates eingreifen dürfen, in deſſen
Gebiet ſie reſidiren. Das Reich kann ſeinen Konſuln nicht die
Polizeigewalt des fremden Staates, ſondern nur ſeine eigenen
Rechte zur Ausübung übertragen. Dem Konſul ſteht es demge-
mäß zu, eine Kontrolle über die Befolgung der in der Seemanns-
Ordnung und den anderen auf die Seeſchifffahrt bezüglichen Ge-
ſetzen des Deutſchen Reiches und der Bundesſtaaten enthaltenen
Vorſchriften auszuüben; insbeſondere darauf zu achten, daß die
auf die Geſundheit und die Sicherheit der Schiffsleute bezüglichen
Vorſchriften nicht verletzt werden. Er wird Klagen der Schiffs-
4)
[261]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
leute über ſchlechte oder mangelhafte Beköſtigung, ordnungswidriges
Logis, geſundheitsgefährdende Unſauberkeiten u. ſ. w. abzuſtellen
und andererſeits die dem Schiffer zuſtehende Disciplinargewalt zu
ſchützen haben; dagegen ſteht ihm eine Polizei-Strafgewalt über
Handlungen der Schiffsleute außerhalb des Schiffes nicht zu;
ebenſowenig eine Einmiſchung in die eigentliche Hafenpolizei. Wo
die territoriale Staatsgewalt entweder allgemein den ausländiſchen
Konſuln eine Polizeigewalt über die unter der Flagge ihres Staates
fahrenden Schiffe zugeſteht oder vertragsmäßig dem Deutſchen
Reich ein ſolches Recht eingeräumt hat 1), ſind die Deutſchen Kon-
ſuln ermächtigt und verpflichtet, dieſe Befugniſſe in dem durch die
Verträge normirten Umfange auszuüben.
Mit der Polizei-Gewalt der Konſuln ſteht im Zuſammenhange
die Meldepflicht der Schiffsführer. Das Konſulatsgeſetz ſetzt
dieſelbe voraus, indem es den Konſuln die Pflicht auferlegt,
die Meldung der Schiffsführer entgegen zu nehmen und an den
Bundeskanzler über Unterlaſſung dieſer Meldung zu berichten 2).
Die Dienſt-Inſtruktion vom 6. Juni 1871 enthält ſehr genaue
Vorſchriften über die Meldung der Schiffsführer; ſie zählt die
Fälle auf, in denen die Meldung nicht erforderlich iſt, wann ſchrift-
liche Meldung genügt, wann perſönliche Meldung geſchehen müſſe.
Sie ſchreibt den Konſuln vor, wenn ein Schiffer die vorgeſchriebene
Meldung unterläßt, unverweilt an den Reichskanzler zu berichten,
damit dieſer wegen Einleitung des Strafverfahrens gegen
denſelben das Erforderliche veranlaſſen kann. Dieſe Beſtimmungen
ſind aus der früheren Preußiſchen allgemeinen Dienſtinſtruktion
v. 1862 entnommen 3). Es iſt nun aber einleuchtend, daß eine
Dienſtinſtruktion des Reichskanzlers für die Konſuln keine Ver-
pflichtung für die Kapitäne Deutſcher Kauffahrtei-Schiffe begrün-
den kann, und daß eine Beſtrafung derſelben nicht erfolgen kann,
ohne ein Geſetz, welches die Unterlaſſung der An- und Abmeldung
[262]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
bei den Reichskonſuln mit Strafe bedroht 1). Weder das Reichs-
ſtrafgeſetzbuch noch die Seemanns-Ordnung noch ein anderes Reichs-
geſetz enthält eine Straf-Androhung dieſer Art; Führer von See-
ſchiffen können daher wegen unterlaſſener Meldung nur auf Grund
landesgeſetzlicher Anordnungen, falls ſolche beſtehen 2), zur Beſtra-
fung gezogen werden. Die Meldung iſt aber — auch abgeſehen von
der etwaigen Beſtrafung ihrer Unterlaſſung, — allgemein üblich,
für die von den Conſuln anzufertigenden ſtatiſtiſchen Zuſammen-
ſtellungen unentbehrlich, und für die Schiffsführer ſelbſt wegen
Viſirung der Schiffspapiere, Ertheilung von ſogenannten Geſund-
heitspäſſen, und wegen des ihnen zu gewährenden conſulariſchen
Schutzes von Nutzen, ſo daß ſie thatſächlich wohl nicht häufig ver-
abſäumt wird.
Ferner haben die Konſuln die Innehaltung der wegen Füh-
rung der Reichsflagge beſtehenden Vorſchriften zu überwachen 3).
Zu den polizeilichen Befugniſſen der Konſuln gehört endlich
das ihnen zuſtehende Recht, Reichsangehörigen, welche ſich in ihrem
Amtsbezirke aufhalten, Päſſe zu ertheilen und zu viſiren, ſowie
[263]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
die von fremden Behörden ausgeſtellten Päſſe zum Eintritt in das
Bundesgebiet zu viſiren 1). Den Reichsangehörigen dürfen Päſſe
oder ſonſtige Reiſepapiere, wenn ſie die Ertheilung derſelben be-
antragen, nicht verweigert werden, ſofern ihrer Befugniß zur Reiſe
geſetzliche Hinderniſſe nicht entgegenſtehen 2).
In einer Reihe von Fällen liegt den Konſuln eine Fürſorge
für Vermögens-Intereſſen von Reichsangehörigen ob und ſie haben
dem entſprechend die Befugniß, in dieſe Vermögens-Angelegenheiten
einzugreifen. Dieſe Thätigkeit fällt durchweg unter den juriſtiſchen
Begriff der cura absentis3); es ergeben ſich hieraus die rechtlichen
Vorausſetzungen und Schranken. Der Konſul kann nur eingreifen,
wenn die Betheiligten weder ſelbſt zur Stelle ſind noch für eine
anderweitige Vertretung ihrer Intereſſen Sorge tragen. Sobald
die Betheiligten in der Lage ſind, ihre Rechte ſelbſt wahrzunehmen,
ſteht es dem Konſul nicht zu, ſie in der Verfügung über ihre
Vermögensſtücke zu bevormunden reſp. zu beſchränken. Eine fernere
Vorausſetzung iſt, daß nicht die territoriale Staatsgewalt die Für-
ſorge für die unvertretenen Vermögensintereſſen Abweſender ſich ſelbſt
und ihren eigenen Behörden ausſchließlich beilegt. Die Konſular-
Verträge haben jedoch gerade in dieſer Beziehung die Befugniſſe der
Deutſchen Konſuln geſichert 4) und in vielen Staaten wird allgemein
[264]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
die Fürſorge der ausländiſchen Konſuln für die vermögensrechtlichen
Angelegenheiten ihrer Schutzbefohlenen geduldet. Die einzelnen
Fälle einer ſolchen konſulariſchen cura absentis ſind folgende:
α) Die in ihrem Amtsbezirk befindlichen Verlaſſenſchaf-
ten von Reichsangehörigen unterliegen der Fürſorge der Reichs-
konſuln, wenn dieſelbe wegen Abweſenheit der nächſten Erben oder
aus ähnlichen Gründen geboten erſcheint. Unter dieſer Voraus-
ſetzung ſind ſie befugt, den Nachlaß zu inventariſiren, zu verſiegeln
und, wenn es die Umſtände erfordern, in Beſitz zu nehmen 1).
Sie ſind ſogar ermächtigt, Nachlaßgegenſtände öffentlich zu verkaufen,
insbeſondere wenn dieſelben dem Verderben oder der Entwerthung
ausgeſetzt oder ſchwer aufzubewahren ſind, und die vorhandenen
Gelder zur Tilgung der feſtſtehenden Schulden zu verwenden 2).
Es liegt ihnen ferner ob, die Erben und, falls dieſelben oder
deren Aufenthalt nicht bekannt ſind, das Reichskanzleramt von dem
Todesfall in Kenntniß zu ſetzen und den Nachlaß, ſobald es thun-
lich iſt, an die legitimirten Erbfolger oder an die kompetente ein-
heimiſche Behörde zu ſenden 3).
Auch der Nachlaß eines auf einem deutſchen Schiffe verſtor-
4)
[265]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
benen Schiffmannes kann von dem Schiffer einem Reichskonſulat
übergeben werden. Der Konſul kann jedoch die Uebernahme der
Nachlaßgegenſtände „aus beſonderen Gründen“ ablehnen 1), d. h.
wenn die Uebernahme zu unnöthigen und weitläufigen Schwierig-
keiten führen würde, insbeſondere wenn der Schiffer auf der Reiſe
nach einem Deutſchen Hafen ſich befindet und die Nachlaßgegen-
ſtände dorthin mitnehmen kann 2).
β) Bei Unfällen, von welchen Deutſche Schiffe betroffen
werden, haben die Konſuln die erforderlichen Bergungs- und
Rettungsmaaßregeln einzuleiten und zu überwachen 3).
Wider den Willen des Schiffsführers ſind — ſo wenig wie
an den Deutſchen Küſten 4) — an Deutſchen Schiffen im Auslande
Maßregeln zum Zweck der Bergung oder Hilfsleiſtung zu ergrei-
fen. Wird der Konſul aber von dem Schiffer zur Leiſtung von
Hülfe aufgefordert oder erfährt er, daß in der Nähe ſeines Wohn-
ſitzes ein deutſches Schiff in Noth iſt, ſo hat er ſofort ſich zu ver-
wenden, daß die zur Hülfeleiſtung erforderlichen Anſtalten ſchleu-
nigſt getroffen werden. Es liegt ihm namentlich ob, auf Erfüllung
der etwa durch völkerrechtliche Verträge übernommenen Zuſiche-
rungen zu dringen 5).
Wenn der Konſul Grund hat, anzunehmen, daß an Gegen-
ſtänden, welche von der See auf den Strand geworfen oder die
aus dem Meeresgrunde heraufgebracht werden, Reichsangehörige
einen vermögensrechtlichen Anſpruch haben, ſo iſt er zur Wahrung
dieſer Intereſſen befugt und verpflichtet.
[266]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
γ) Bei dem Verkaufe eines Schiffes durch den Schiffer
iſt der Konſul berufen, die Vermögens-Intereſſen des betreffenden
Rheders wahrzunehmen 1). Es handelt ſich hier nur um den Fall,
wenn der Schiffer von dem Rheder zum Verkaufe keine Vollmacht
hat und nicht in der Lage iſt, die Anordnung des Rheders oder
Korreſpondent-Rheders einzuholen, ſondern kraft ſeiner geſetzlichen
Stellvertretungsbefugniß zum Verkauf des Schiffes ſchreitet. Dazu
iſt er nur im Falle „dringender Nothwendigkeit“ ermächtigt und
nachdem dieſelbe durch das Gericht des Ortes nach Anhörung von
Sachverſtändigen feſtgeſtellt iſt. Bei dieſer Feſtſtellung iſt der
Reichskonſul, wo ein ſolcher vorhanden iſt, zuzuziehen und derſelbe
hat dabei als Abweſenheits-Kurator des Schiffseigenthümers deſſen
Intereſſe zu vertreten.
Auch wenn der Schiffer eine Bodmerei-Schuld aufneh-
men will, kann er vor Ausſtellung des Bodmereibriefs die Noth-
wendigkeit der Eingehung des Geſchäfts durch den Konſul beglau-
bigen laſſen 2). Bei der dem Konſul hierbei obliegenden caussae
cognitio handelt derſelbe als curator absentis theils des Rheders
theils der Ladungsbetheiligten 3). Die vom Konſul ertheilte Be-
ſcheinigung begründet die Vermuthung, daß der Schiffer zur Ein-
gehung des Geſchäfts in dem vorliegenden Umfang befugt geweſen
ſei; der Gegenbeweis iſt jedoch zugelaſſen 4).
δ) Die Reichskonſuln ſind befugt, an Stelle eines verſtorbe-
nen, erkrankten oder ſonſt zur Führung des Schiffes untauglich
gewordeuen Schiffers auf den Antrag der Betheiligten einen neuen
Schiffsführer einzuſetzen5). Wenn der Rheder oder
Korreſpondent-Rheder ſelbſt für die Beſtellung eines andern Schiffs-
führers ſorgt oder dazu in der Lage iſt, fällt dieſes Recht des
Konſuls weg; zunächſt wird derſelbe daher, wenn es thunlich iſt,
den Rheder benachrichtigen und die Anweiſung deſſelben einholen
[267]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
müſſen 1). Beauftragt der Rheder den Konſul mit der Ernennung
eines Schiffsführers, ſo kommt der §. 35 cit. nicht zur Anwen-
dung, ſondern der Konſul handelt als Mandatar des Rheders.
Das Konſulatsgeſetz aber ermächtigt den Konſul, für den abwe-
ſenden Rheder in deſſen Intereſſe auch ohne deſſen Auftrag zu
handeln, wenn die Betheiligten (z. B. der erkrankte Schiffer, die
Schiffsleute, die Ladungs-Eigenthümer u. ſ. w.) es beantragen 2).
Von den von ihm getroffenen Maßregeln hat er die Rheder oder
die Rhederei (Korreſpondent-Rheder) und event. die Regierung des
Staates, dem das Schiff angehört, zu benachrichtigen.
Eine der wichtigſten Funktionen der Konſulate beſteht darin,
daß ſie über Thatſachen oder Rechtsgeſchäfte, welche im Auslande
ſtattgefunden haben, den Angehörigen des Reiches Beweismittel
verſchaffen oder ſichern, welche vor den inländiſchen Behörden Be-
weiskraft haben. Mit der Beſeitigung oder Einſchränkung der
formellen Beweistheorie im Prozeß hat dieſe Funktion ihre Wich-
tigkeit keineswegs verloren, denn theils iſt in der Civilproceß-Ordn.
§. 380 der Satz, daß öffentliche Urkunden vollen Beweis erbringen,
ausdrücklich beibehalten worden, theils iſt bei allen Urkunden, gleich-
viel eine wie große Beweiskraft ihnen zukömmt, die Beſcheinigung
ihrer Echtheit von Belang; theils endlich haben Urkunden nicht
blos die Bedeutung von Beweismitteln, ſondern ſie können eine
weſentliche Form für die Rechtsgültigkeit eines Rechtsgeſchäftes,
eine rechtlich erforderte Vorausſetzung ſeiner Wirkſamkeit oder Klag-
barkeit ſein. Demgemäß iſt den Konſuln als Urkundsperſonen in
drei verſchiedenen Richtungen eine Thätigkeit zugewieſen:
α) Sie können öffentliche Urkunden ausſtellen. Als
ſolche gelten alle ſchriftlichen Zeugniſſe der Konſuln über ihre
eigenen amtlichen Handlungen und über die bei Ausübung ihres
Amtes wahrgenommenen Thatſachen, welche ſie unter ihrem Siegel
und unter ihrer Unterſchrift ertheilen 3).
[268]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
β) Sie können Urkunden legaliſiren, welche in ihrem
Amtsbezirke ausgeſtellt oder beglaubigt ſind 1). Die Legaliſation
bekundet zweierlei, nämlich daß die Perſon, welche die Urkunde
ausgeſtellt hat, zur Zeit der Ausſtellung diejenige Eigenſchaft hatte,
welche ſie ſich in der Urkunde beilegt, z. B. als Notar, Richter u. ſ. w.,
und ferner, daß ihre Unterſchrift nach der Ueberzeugung des Kon-
ſuls echt iſt 2).
γ) Sie können Notariats-Urkunden aufnehmen in An-
ſehung aller Rechtsgeſchäfte, welche Angehörige des Reichs errichten
oder welche ſie unter einander oder mit Fremden ſchließen 3). Dieſe
Befugniß erſtreckt ſiich auf alle Verträge und einſeitigen Rechts-
geſchäfte, insbeſondere auch auf Teſtamente und andere Willenser-
klärungen von Todeswegen 4). Die Form der konſulariſchen No-
tariats-Akte iſt im Konſulatsgeſetz §. 16 und §. 17 vorgeſchrieben 5);
ihre Beweiskraft iſt der gleichgeſtellt, welche den innerhalb des
Bundesgebietes aufgenommenen Notariats-Urkunden zukömmt.
Die Befugniß als Notare zu fungiren, iſt davon abhängig,
daß die Staatsgewalt des Ortes dies duldet. Die Konſularver-
träge haben dieſe Duldung zugeſichert, bei allen einſeitigen Rechts-
geſchäften von Reichsangehörigen, ferner bei allen Verträgen unter
Reichsangehörigen, ſowie zwiſchen Reichsangehörigen und anderen
Einwohnern des Amtsbezirkes der Konſuln, endlich ſogar zwiſchen
fremden (d. h. nicht reichsangehörigen) Einwohnern des Amtsbe-
zirkes, falls die Verträge auf ein im Bundesgebiet belegenes Grund-
[269]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
eigenthum oder auf ein daſelbſt abzuſchließendes Geſchäft ſich be-
ziehen 1). Die im Amtsbezirk beſtehenden Vorſchriften über Stempel-
abgaben oder Regiſtrirung von Notariatsakten ſind auch auf die
Notariatsakte der Konſuln anwendbar.
Die Reichsgeſetzgebung kann den von den Konſuln aus-
geſtellten Urkunden nur im Herrſchaftsgebiete der deutſchen Reichs-
geſetze Beweiskraft ertheilen; die Konſular-Verträge haben aber
auch für das Staatsgebiet, in welchem die Konſuln ihren Amtsbe-
zirk haben, den von denſelben beglaubigten oder ausgeſtellten Ur-
kunden die gleiche Kraft beigelegt, als wenn ſie von den kompetenten
Behörden oder den Notaren des Inlandes beglaubigt oder aufge-
nommen wären 2).
Daß ein Staat in dem Gebiete des andern der Regel nach
keine Gerichtsbarkeit ausüben darf, daß demnach auch die Konſuln
des Deutſchen Reiches in ihren Amtsbezirken keine Jurisdiktion
haben, bedarf keiner Ausführung. Damit iſt es aber vereinbar,
daß die Konſuln, wofern das Landesrecht dies nicht unterſagt,
einzelne Rechtsakte vornehmen können, welche in Deutſchland zur
[270]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Kompetenz der Gerichtsbehörden gehören, und daß dieſen Rechts-
akten der Reichskonſuln im Bundesgebiete die gleiche Wirk-
ſamkeit beigelegt wird, als wären ſie von inländiſchen Gerichten
vollzogen worden. Dazu kömmt, daß ausnahmsweiſe in einigen
orientaliſchen Staatsgebieten den Konſuln des Deutſchen Reiches
auf Grund des Herkommens oder beſonderer völkerrechtlicher Ver-
träge die volle Gerichtsbarkeit zugeſtanden worden iſt.
α) Die Konſuln können innerhalb ihres Amtsbezirks an die
dort ſich aufhaltenden Perſonen auf Erſuchen der Behörden eines
Bundesſtaates Zuſtellungen jeder Art bewirken; insbe-
ſondere alſo auf Requiſition Deutſcher Gerichte Klagen behändigen
und Vorladungen inſinuiren. Durch das ſchriftliche Zeugniß des
Konſuls über die erfolgte Zuſtellung wird dieſe nachgewieſen 1).
β) Die Konſuln ſind befugt, Verklarungen aufzunehmen
und in Fällen der großen Haverei auf Antrag des Schiffsführers
die Dispache aufzumachen 2). Ferner können ſie in dem, im §. 16
des Reichsgeſetzes v. 25. Okt. 1867 vorgeſehenen Falle interimiſtiſche
Schiffscertifikate (Flaggen-Atteſte) ertheilen.
γ) Der Reichskanzler kann Bundeskonſuln die Ermächtigung
ertheilen zur Abhörung von Zeugen und zur Abnahme
von Eiden. Die von dieſen Konſuln aufgenommenen Verhand-
lungen ſtehen den Verhandlungen der zuſtändigen inländiſchen Be-
hörden gleich 3). Die Ermächtigung wird den Konſuln perſön-
[271]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
lich ertheilt; ſie iſt für die rechtliche Wirkſamkeit der vom Konſul
aufgenommenen Verhandlungen [eine] weſentliche Vorausſetzung 1).
δ) Eine volle, auf Civil- und Strafſachen ſich erſtreckende
Jurisdiktion über Reichsangehörige und Schutzgenoſſen ſteht den
Konſuln in der Türkei und einigen Staaten Aſiens zu (vgl. Bd. I.
S. 366 ff.).
Jeder Reichskonſul hat ein Verzeichniß der in ſeinem Amts-
bezirke wohnenden und zu dieſem Behufe bei ihm angemeldeten
Reichsangehörigen zu führen 2). Hierin liegt urſprünglich keine
Ausübung einer obrigkeitlichen Funktion; es gibt keine juri-
ſtiſche Pflicht der Reichsangehörigen zur Meldung und die Ein-
tragung hat in ſehr vielen Fällen gar keine juriſtiſche Wirkung 3).
Es kann aber eine ſolche mit derſelben verknüpft ſein und in
der Eintragung in die Matrikel eine Aeußerung der Reichsgewalt
verwirklicht werden, indem einem Reichsangehörigen, ſo lange er
in die Matrikel eingetragen iſt, ſein heimathliches Staatsbürger-
recht erhalten bleibt 4). Da durch die Eintragung das Staats-
bürgerrecht und die Reichs-Angehörigkeit nicht erworben werden
kann, ſo muß der Konſul, bevor er die Eintragung vornimmt,
prüfen, ob der ſich Meldende auch in der That ein Reichsange-
höriger iſt. Gewöhnlich wird dieſer Nachweis durch Heimaths-
ſcheine oder Päſſe erbracht werden 5). Ueber die erfolgte Ein-
tragung erhält der Eingetragene auf ſein Verlangen ein vom Kon-
[272]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
ſul ausgeſtelltes Atteſt (Matrikelſchein, Patent); daſſelbe wird aber
der Regel nach nur für die Dauer des laufenden Kalenderjahres
ausgeſtellt, iſt alſo nach Ablauf deſſelben zu erneuern. In die
Matrikel ſind nur die in dem Amtsbezirke des Konſuls wohnen-
den Reichsangehörigen einzutragen, nicht vorübergehend ſich da-
ſelbſt aufhaltende; und die anſäſſigen auch nur dann, wenn ſie es
verlangen („ſich zu dieſem Behufe bei ihm anmelden“). Die
Löſchung erfolgt, wenn der Eingetragene die Reichsangehörigkeit
verliert, wenn er aus dem Amtsbezirke ſeinen Wohnſitz verlegt,
und wenn er ſtirbt. Auch auf Antrag des Reichsangehörigen (Ab-
meldung) muß die Löſchung vorgenommen werden, wenngleich er
im Bezirke wohnen bleibt 1).
Der von dem Konſul zu ertheilende Schutz und die Geltend-
machung der ihm zuſtehenden obrigkeitlichen Befugniſſe ſind in An-
ſehung der Reichsangehörigen völlig unabhängig davon, ob die
letzteren in der Matrikel des Konſuls eingetragen ſind oder nicht.
Abweichende Vorſchriften beſtehen für die Konſularbehörden im
Türkiſchen Reiche nebſt Aegypten, Rumänien und Serbien, ſowie
in China und Japan 2). In dieſen Gebieten iſt eine Matrikel über
ſämmtliche, dauernd in dem Conſularbezirke anweſenden Schutz-
genoſſen zu führen. Die Schutzgenoſſen zerfallen in drei Klaſſen,
für welche verſchiedene Beſtimmungen gelten:
α) Reichsangehörige. Dieſelben ſind verpflichtet, unter
dem deutſchen Schutze zu ſtehen 3); ſie ſind demgemäß verbunden,
in den erſten 3 Monaten ihres Aufenthaltes im Amtsbezirke des
Konſuls ſich bei demſelben zu melden und unter Vorlegung ihrer
Legitimationspapiere ihre Eintragung in die Matrikel zu erwirken,
oder wenn dies ausnahmsweiſe nicht erreichbar iſt, die Ausſtellung
proviſoriſcher Schutzſcheine zu beantragen 4).
[273]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
β) Angehörige ſolcher Staaten, welchen durch Staats-
verträge oder ſonſtige Verabredungen mit dem deutſchen Reiche
oder einem der zu demſelben gehörigen Staaten der Schutz der
deutſchen Konſularbehörden für ihre Nationalen zugeſagt iſt 1). Dieſe
Perſonen werden nur auf ihren Antrag in den Schutz aufgenommen
und nur in dem Falle, daß nicht der Staat, dem ſie angehören,
ſelbſt eine eigene konſulariſche Vertretung hat. Wird eine ſolche
errichtet, ſo ſcheiden ſie aus der deutſchen Schutzgenoſſenſchaft aus 2).
Auch wird es nicht geſtattet, daß ſie gleichzeitig unter dem conſu-
lariſchen Schutze eines andern Staates ſtehen; ſind ſie demſelben
unterworfen oder haben ſie ſich ausdrücklich unter den Schutz der
Lokalbehörde geſtellt, ſo muß dieſes Schutzverhältniß erſt gelöſt
werden, bevor ſie der deutſche Konſul in die Matrikel eintragen
darf 3).
γ) Sogenannte de facto Unterthanen. Als ſolche können
aufgenommen werden Perſonen deutſcher Nationalität, welche die
Reichsangehörigkeit verloren haben oder welche von ſolchen Perſonen
abſtammen 4), oder Deutſche, welche den Schutz nicht auf Grund von
Staatsverträgen in Anſpruch nehmen können, und ferner die Dra-
gomans, Kawaſſen, Jaſſakdſchis und ſonſtigen Unterbeamteu der
Geſandſchaften und Konſulate, die Familien derſelben und Indi-
viduen, welche früher ein ſolches Amt bekleidet haben. Die Auf-
nahme einer Perſon in den Schutz iſt ein zweiſeitiges Rechtsge-
ſchäft, welches der Verleihung der Staatsangehörigkeit ganz analog
iſt 5). Es iſt in jedem einzelnen Falle ein Konſens erforderlich,
nämlich einerſeits der Antrag deſſen, der den Schutz zu haben
wünſcht, andererſeits die Bewilligung des diplomatiſchen Ver-
treters des Reiches (Geſandten) 6).
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 18
[274]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
Sämmtliche Schutzgenoſſen, gleichviel welcher dieſer drei
Klaſſen ſie angehören, werden in dieſelbe Matrikel unter fortlau-
fenden Nummern eingetragen; ſie erhalten über die erfolgte Ein-
tragung einen Schutzſchein und müſſen denſelben im Monat Januar
jedesmal für das laufende Kalenderjahr erneuern laſſen 1).
Die Löſchung erfolgt, wenn die rechtlichen Vorausſetzungen der
Schutzgenoſſenſchaft wegfallen, ferner durch den Uebertritt des Schutz-
genoſſen zum Islam 2). Schutzgenoſſen, welche nicht Reichsange-
hörige ſind, werden auf ihren Antrag entlaſſen, ſofern ſie nicht
noch Verbindlichkeiten zu erfüllen haben, insbeſondere bei ſchweben-
den Rechtsangelegenheiten betheiligt ſind 3); ſie können aber auch
von dem Konſul der Eigenſchaft als Schutzgenoſſe für verluſtig er-
klärt werden, wenn ſie durch beſcholtenen, mit Vergehen oder Ver-
brechen befleckten Lebenswandel oder durch wiederholte Nichterfül-
lung ihrer Pflichten gegen die Schutzbehörde ſich des Schutzes un-
würdig machen 4).
Ueber die Führung der Matrikel und die in derſelben vor-
genommenen Veränderungen hat der Konſul im Februar jeden
Jahres einen Bericht an die Kaiſerliche Geſandſchaft zu erſtatten 5).
Allen Schutzgenoſſen wird der conſulariſche Schutz in dem
durch Geſetze, Verträge und Herkommen begründeten Umfange gleich-
mäßig gewährt 6), dafür ſind ſie auch gleichmäßig der vollen Ge-
richtsbarkeit des Konſuls unterworfen 7).
3. Amtsgeſchäfte ohne obrigkeitlichen Charakter.
Den Konſuln liegt eine vielſeitige amtliche Thätigkeit ob, bei
6)
[275]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
welcher die ſtaatliche Gewalt des Reiches über ſeine Angehörigen
nicht zur Geltung kömmt, die demnach nicht als Ausübung einer
obrigkeitlichen Herrſchaft, ſondern nur als thatſächliche Dienſtleiſtung
zu Gunſten des Reiches und ſeiner Angehörigen erſcheint. Die
ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer Dienſtleiſtung beſchränkt ſich allein
darauf, daß die letztere einen Beſtandtheil der amtlichen Pflichten
des Konſuls bildet, deren Verletzung ein disciplinariſches Einſchrei-
ten begründen kann 1). Amtsgeſchäfte dieſer Art können den Kon-
ſuln theils durch den Befehl der vorgeſetzten Behörde, ſei es für
den einzelnen Fall durch ſpezielle Anweiſung, ſei es im Allgemeinen
durch Dienſt-Inſtruktion auferlegt werden, theils auch durch geſetz-
liche Anordnungen. Ihrem Inhalte nach ſind auch die letzteren
keine Rechtsſätze, ſondern Verwaltungsvorſchriften. Dieſe Amtsge-
ſchäfte laſſen ſich auf folgende Kategorien zurückführen.
a) Die Konſuln haben den Angehörigen des Reiches
und den Schutzgenoſſen deſſelben in ihren Privat-Angelegenheiten
Rath und Beiſtand zu gewähren 2). Es verſteht ſich von ſelbſt,
daß dieſe Pflicht nicht auf diejenigen Reichsangehörigen beſchränkt
iſt, welche ſich im Amtsbezirke des Konſuls aufhalten, ſondern daß
ſie ſich auf alle Reichsangehörigen bezieht, welche Intereſſen daſelbſt
wahrzunehmen haben.
b) Wenn Angehörige des Reiches unter ſich oder mit Fremden
Rechtsſtreitigkeiten haben, ſo ſind die Konſuln „berufen“,
auf den Antrag der Parteien den Abſchluß von Vergleichen zu
vermitteln und, falls die Parteien ſie in der durch die Ortsgeſetze
vorgeſchriebenen Form zu Schiedsrichtern ernannt haben, das
Schiedsrichteramt zu übernehmen 3). Hierdurch iſt den Konſuln
keinerlei richterliche Gewalt beigelegt; kein Reichsangehöriger iſt
verpflichtet, die Vergleichsvermittelung oder den Schiedsſpruch des
Konſuls ſich gefallen zu laſſen. Die Konſuln ſollen nicht von
Amtswegen ſich einmengen, ſondern nur dann, wenn die Parteien
ihre Vermittlung beantragen, und ſie ſollen nur dann als Schieds-
richter urtheilen, wenn ein nach dem Landesrecht rechtswirkſamer
Schiedsvertrag unter den Parteien abgeſchloſſen worden iſt, durch
18*
[276]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
welchen der Konſul zum Schiedsrichter eingeſetzt worden iſt 1).
Dem Konſul wird lediglich die dienſtliche Pflicht auferlegt, das
ihm angetragene Amt eines Vermittlers oder Schiedsrichters an-
zunehmen 2).
c) Hülfsbedürftigen Reichsangehörigen haben
die Reichskonſuln nach Maßgabe der ihnen ertheilten Amtsinſtruk-
tion Unterſtützungen zur Milderung augenblicklicher Noth oder zur
Rückkehr in die Heimath zu gewähren 3). Für den zuletzt gedachten
Zweck können ſie die Mithülfe der Befehlshaber Deutſcher Kriegs-
ſchiffe in Anſpruch nehmen 4). Ein Recht auf Unterſtützung aus
Mitteln des Reiches hat ein Reichsangehöriger, welcher im Aus-
lande hülfsbedürftig wird, in keinem Falle; der Reichskonſul hat
daher niemals gegen den hülfsbedürftigen Angehörigen des Reiches
eine rechtliche Verpflichtung, ihn zu unterſtützen, ſondern er erfüllt
lediglich eine amtliche Pflicht gegen das Reich. Wenn der Hülfs-
bedürftige bei den Behörden oder Wohlthätigkeits-Anſtalten des
Ortes Unterſtützung finden kann oder wenn alimentationspflichtige
Verwandte deſſelben am Orte ſind, ſo muß der Konſul ihn zu-
nächſt auf dieſe Hülfsquellen verweiſen und in allen Fällen hat der
Konſul ſeine Ausgaben auf das nothwendigſte Maß zu beſchränken 5).
Die von ihm gemachten Auslagen kann der Konſul entweder direkt
von dem zum Erſatz Verpflichteten einziehen oder ſie beim Aus-
wärtigen Amte des Reiches liquidiren 6).
[277]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
d) Den Schiffen der Kriegsmarine des Reiches und
der Beſatzung derſelben haben die Konſuln Beiſtand zu gewähren.
Außer der gegen alle Reichsangehörigen in dieſer Hinſicht ihnen
obliegenden Pflicht iſt den Konſuln beſonders vorgeſchrieben, die
Befehlshaber dieſer Schiffe von den in ihrem Amtsbezirke in Be-
zug auf fremde Kriegsſchiffe beſtehenden Vorſchriften und Ortsge-
bräuchen zu unterrichten 1); ferner ihnen von etwa dort herrſchen-
den epidemiſchen und anſteckenden Krankheiten Mittheilung zu
machen; endlich ihnen zur Wiederhabhaftwerdung deſertirter Mann-
ſchaften behülflich zu ſein 2).
e) Endlich haben die Konſuln das Intereſſe des Reiches,
namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und Schifffahrt thun-
lichſt zu ſchützen und zu fördern, die Beobachtung der Staatsver-
träge zu überwachen, und insbeſondere dem Reichskanzler über
dieſe Angelegenheiten Berichte zu erſtatten 3). Wenn ſich Vorfälle
ereignen, deren ſofortige Kenntniß von Intereſſe iſt, oder wenn
der Konſul beſonderer Verhaltungsmaßregeln bedarf, ſo iſt ſofort
zu berichten. Hinſichtlich der laufenden Verwaltung aber hat der
Konſul möglichſt bald nach dem Schluſſe des Kalenderjahres einen
Generalbericht über ſeine geſammte Thätigkeit an den Reichs-
kanzler einzuſenden. In demſelben iſt eine ſtatiſtiſche Zuſammen-
ſtellung über den Handels- und Schifffahrtsverkehr mit Deutſch-
land nach den näheren Anweiſungen der Dienſt-Inſtruktion zu
geben 4) und eine gutachtliche Aeußerung beizufügen, welche Aus-
6)
[278]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
ſichten für den Deutſchen Handel und die Deutſche Schifffahrt im
Amtsbezirke des Konſuls für das nächſte Jahr ſich eröffnen und in
welcher Weiſe auf die Hebung derſelben hinzuwirken ſein dürfte 1).
4. Leitung der konſulariſchen Verwaltung.
a) Dem Kaiſer ſteht die Aufſicht über das geſammte Kon-
ſulatweſen des deutſchen Reiches zu; er ernennt daher die Konſuln 2)
und fertigt ihre Beſtellung aus 3); er verfügt ihre Entlaſſung oder
Verſetzung in den einſtweiligen Ruheſtand 4).
b) Dem Bundesrathe iſt eine Theilnahme an dieſer oberſten
Leitung der Konſulatsverwaltung zunächſt ausdrücklich zugeſichert
im Art. 56 der R.-V., wonach der Kaiſer die Konſuln „nach Ver-
nehmung des Ausſchuſſes des Bundesrathes für Handel und Ver-
kehr“ anſtellt 5); ferner im §. 23 des Konſulatsgeſetzes, welcher
beſtimmt, daß die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Konſuln vom
Reichskanzler nach Vernehmung deſſelben Bundesraths-Ausſchuſſes
abgegränzt werden.
Außerdem findet aber das im Art. 7 Z. 2 der R.-V. dem
Bundesrathe zugewieſene Recht der Beſchlußfaſſung über die zur
Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen allgemeinen Ver-
waltungsvorſchriften und Einrichtungen auch hinſicht-
lich der Konſulatsverwaltung Anwendung, da weder die Reichsver-
faſſung noch das Konſulatsgeſetz hiervon eine Ausnahme anerkennen 6).
Zu den „Einrichtungen“ gehört die Errichtung neuer Konſulate, zu
den „allgemeinen Verwaltungsvorſchriften“ die allgemeine Dienſt-
inſtruktion 7).
[279]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
c) Der Reichskanzler hat die dem Kaiſer zuſtehende Auf-
ſicht über das Konſulatsweſen auszuüben. Er überwacht die Ge-
ſchäftsführung der Konſulate, er ertheilt den Konſuln die erforder-
lichen Anweiſungen in Angelegenheiten von allgemeinem Intereſſe
und an ihn haben die Konſuln ihre Berichte zu ſenden 1). Dieſe
Geſchäftsthätigkeit des Kanzlers gehört zum Reſſort des Auswär-
tigen Amtes und zwar zur zweiten Abtheilung deſſelben, mit
welchem die Konſulate in direktem Schriftenwechſel ſtehen und dem
ſie dienſtlich unmittelbar untergeordnet ſind. Indeſſen ſtehen die
Konſulate in allen Angelegenheiten, denen ein politiſches Intereſſe
zukömmt, auch in einem gewiſſen Unterordnungs-Verhältniß zu den
Kaiſerlichen Geſandtſchaften, welche in dem Staate ihres Amts-
bezirkes errichtet ſind 2). Berichte allgemeinen Inhaltes ſind durch
die Hand des Geſandten dem auswärtigen Amte einzureichen oder
dem Geſandten abſchriftlich oder auszugsweiſe mitzutheilen 3). Zur
Wahrung völkerrechtlicher Befugniſſe und politiſcher Intereſſen des
Reiches ſind in erſter Linie die Geſandtſchaften berufen; die Kon-
ſuln dürfen denſelben niemals entgegen handeln, ſondern nur, ſo-
weit ihre Dienſte in Anſpruch genommen werden, ſie unterſtützen;
ſie müſſen daher den ihnen in dieſer Beziehung ertheilten Anwei-
ſungen Folge leiſten.
d) Da zahlreiche von den Konſuln zu bearbeitende Angelegen-
7)
[280]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
heiten ohne alles politiſche Intereſſe ſind, ſondern lediglich die
Privatverhältniſſe einzelner Reichs-Angehörigen betreffen oder auf
die Erledigung von Requiſitionen, welche Landesbehörden an das
Konſulat gerichtet haben, ſich beziehen, ſo beſteht hinſichtlich der
Geſchäftsleitung der Konſulate keine ſo ſtreng durchgeführte Cen-
traliſation wie hinſichtlich der Geſandtſchaften. Es iſt vielmehr bei
allen Angelegenheiten ohne allgemeines Intereſſe den Reichskonſu-
laten eine direkte Korreſpondenz geſtattet mit den Privatper-
ſonen, deren Angelegenheiten die Konſuln zu fördern haben, ferner
mit den Behörden des Reichs und der Einzelſtaaten, welche eine
amtliche Thätigkeit oder Auskunft von dem Konſul erfordern 1),
endlich mit den Regierungen der Deutſchen Bundesſtaaten.
In Beziehung auf die letzteren iſt den Konſuln im Konſulats-
geſetz §. 3, in gewiſſen Fällen die direkte Berichterſtattung zur
Pflicht gemacht 2), und es iſt den Regierungen der einzelnen Bundes-
ſtaaten geſtattet, in Angelegenheiten, welche ihr Sonderintereſſe oder
das ihrer Angehörigen betreffen, den Reichskonſulaten Aufträge
zu ertheilen 3).
e) Die Sicherung des dienſtlichen Gehorſams der
Konſuln iſt nicht wie bei den Geſandten durch eine beſondere Straf-
androhung gegen amtliche Befehle des Vorgeſetzten erfolgt; §. 353 a
Abſ. 2 des Strafgeſetzb. bezieht ſich auf Konſnln nicht; aber einige
verwaltungsrechtliche Sätze dienen dieſem Zwecke. Da die Thätig-
keit der Konſuln nur zum Theil durch Geſetze geregelt iſt, zum an-
dern Theil dagegen durch das freie Ermeſſen der Verwaltungs-
Organe beſtimmt wird, ſo iſt der von den Konſuln vor Antritt
ihres Amtes zu leiſtende Eid darauf gerichtet, „daß ſie ihre Dienſt-
[281]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
pflichten nach Maaßgabe des Geſetzes und der ihnen zu er-
theilenden Inſtruktionen treu und gewiſſenhaft erfüllen
wollen“ 1). Es können ferner die Wahlkonſuln jeder Zeit ohne
Entſchädigung aus ihrem Amt entlaſſen werden 2), während die Be-
rufskonſuln zu denjenigen Beamten gehören, welche jeder Zeit gegen
Wartegeld einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können 3).
Wenn Berufskonſuln ſich von ihrem Amte entfernt halten, ſo werden
ſie ſo angeſehen, als ob ſie die Enthebung von ihrem Amte nach-
geſucht hätten 4).
5. Das Koſtenweſen.
Das Geſetz vom 1. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 245) hat die
Gebühren, welche bei den Deutſchen Konſulaten zu erheben ſind,
geregelt 5). Es beſteht in dieſer Hinſicht ein durchgreifender Unter-
ſchied zwiſchen Berufs-Konſuln und Wahlkonſuln, indem die erſteren
die Gebühren für das Reich, alſo für fremde Rechnung, die letzteren
dagegen für ſich ſelbſt erheben 6).
Inſofern die Wahlkonſuln aber Erſatz ihrer dienſtlichen Aus-
lagen aus Reichsmitteln verlangen 7), kommen die von ihnen ver-
einnahmten Gebühren in Abrechnung, erfolgen alſo in Wahrheit
für Rechnung des Reiches 8). Berufskonſnln und Wahlkonſuln der
zuletzt erwähnten Art dürfen deshalb die Gebühren nur im Falle
der Dürftigkeit der Betheiligten erlaſſen, während es den übrigen
Wahlkonſuln freigeſtellt iſt, die Gebühren zu ermäßigen oder ganz
[282]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
zu erlaſſen 1). Eine Anzahl von Amtshandlungen müſſen im Falle
der Bedürftigkeit der Betheiligten ſowohl von Berufskonſuln als
von Wahlkonſuln gebührenfrei verrichtet werden 2). Der Gebühren-
Tarif hat zwei verſchiedene Anſätze, die einen für die Konſulate
in Europa ausſchließlich der Türkei nebſt ihren Vaſallenſtaaten, die
anderen für die Konſulate außerhalb Europa’s und in der Türkei
nebſt Vaſallenſtaaten.
Außer den Gebühren ſind den Konſuln baare Auslagen be-
ſonders zu erſtatten und die Wahlkonſuln können für dienſtlich ver-
ausgabte Gelder ortsübliche Zinſen berechnen 3).
Ueber den Anſatz der Gebühren und Koſten ſteht den Bethei-
ligten die Beſchwerde an den Reichskanzler, das heißt an das Aus-
wärtige Amt zu 4).
Die Berufskonſuln ſind verpflichtet, alle von ihnen erhobenen
Einnahmen in ein foliirtes Journal einzutragen, für welches ein
Formular ihnen vorgeſchrieben iſt 5).
Die Berufskonſuln haben über alle von ihnen geleiſteten dienſt-
lichen Ausgaben gleichfalls ein Journal zu führen, in welches ſie
dieſelben unter fortlaufenden Nummern eintragen. Zur Gewäh-
rung von Vorſchüſſen oder Darlehen ſind ſie in keinem Falle ohne
Genehmigung des Reichskanzlers ermächtigt. Auch Ausgaben, welche
dauernde Einrichtungen betreffen, müſſen vorher bei dem Ausw.
Amte beantragt und von dieſem genehmigt worden ſein 6). Wahl-
konſuln können für die von ihnen geleiſteten Ausgaben Erſatz aus
der Reichskaſſe nur dann beanſpruchen, wenn die Ausgabe vor-
[283]§. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten.
her vom Reichskanzler genehmigt worden war und wenn der Nach-
weis geführt wird, daß dieſe Ausgaben durch die eingenommenen
Gebühren nicht haben gedeckt werden können 1).
Die Berufskonſuln haben nach dem Schluſſe jeden Viertel-
jahres, wenn nicht für einzelne Konſulate abweichende Beſtimmungen
getroffen worden ſind, eine Rechnung über alle ſtattgefundenen Ein-
nahmen und Ausgaben dem Auswärtigen Amte einzureichen. Der
Rechnung ſind die Beläge beizufügen; iſt dies ausnahmsweiſe nicht
thunlich, ſo iſt dies mit dem Bemerken zu beſcheinigen, daß die
in Rechnung geſtellten Beiträge in der angegebenen Höhe und zu
dem bezeichneten Zwecke wirklich gezahlt worden ſind. Angekaufte
Inventarienſtücke ſind in das Konſulats-Inventar einzutragen und
auf der Quittung iſt zu beſcheinigen, daß dieſe Eintragung erfolgt
iſt 2).
Alle Wahlkonſuln haben nach Schluß des Jahres eine ſum-
mariſche Ueberſicht der von ihnen während dieſes Zeitabſchnittes
erhobenen Gebühren dem Auswärtigen Amte einzureichen 3).
6. Bedingungen der Zulaſſung zum Konſulats-
dienſt.
Hinſichtlich der Wahlkonſuln ſind beſtimmte Erforderniſſe
der Qualifikation weder durch Geſetz noch durch Verwaltungs-Ver-
ordnung aufgeſtellt; das Konſulatsgeſ. §. 9 beſchränkt ſich auf die
allgemeine Hinweiſung, daß dazu vorzugsweiſe Kaufleute, welchen
das Bundesindigenat zuſteht, (das ſoll heißen: welche reichsange-
hörig ſind), ernannt werden ſollen.
Dagegen iſt die Qualifikation zum Berufskonſul geſetz-
lich 4) normirt. Zum Berufskonſul kann nur derjenige ernannt
werden, welcher reichsangehörig iſt und welcher zugleich
a) entweder die zur juriſtiſchen Laufbahn in den einzelnen
Bundesſtaaten erforderliche erſte Prüfung beſtanden hat und
außerdem mindeſtens drei Jahre im inneren Dienſte oder in der
Advokatur und mindeſtens zwei Jahre im Konſulatsdienſte des
Reiches oder eines Bundesſtaates beſchäftigt geweſen iſt, oder
[284]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
b) die beſondere Konſulats-Prüfung beſtanden hat. Der
Erlaß der näheren Beſtimmungen über dieſe Prüfung iſt im Kon-
ſulatsgeſ. dem Reichskanzler übertragen worden. Sie ſind in dem
Regulativ über die Konſulatsprüfung vom 28. Februar
1873 1) ergangen. Die Meldung iſt unter Einreichung eines aus-
führlichen curricul. vitae an das Auswärtige Amt zu richten. Die
Prüfung erfolgt durch eine vom Reichskanzler zuſammengeſetzte
Kommiſſion, beſteht aus einem ſchriftlichen und einem nachfolgen-
den mündlichen Examen und erſtreckt ſich auf Sprachen, Konſulats-
weſen, Geſchichte, Geographie und Statiſtik, Rechtswiſſenſchaft,
Volkswirthſchaft und Handelswiſſenſchaft.
Ueber die Vorbedingungen, welche zu erfüllen ſind um das
Amt eines Kanzlers, Sekretairs oder Büreaubeamten bei einem
Reichskonſulate zu erlangen, ſind beſondere Vorſchriften nicht er-
gangen 2).
§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie*).
I.Die Kompetenz des Reiches.
Art. 48 Abſ. 1 der Verf. des Nordd. Bundes beſtimmte:
„Das Poſtweſen und das Telegraphenweſen werden für das ge-
[285]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſammte Gebiet des Norddeutſchen Bundes als einheitliche Staats-
verkehrs-Anſtalten eingerichtet und verwaltet“. Dadurch wurde der
*)
[286]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Selbſtſtändigkeit der Poſt- und Telegraphen-Verwaltungen, welche
in mehreren Staaten des Norddeutſchen Bundes beſtanden, ein Ende
gemacht 1). Der Norddeutſche Bund hatte nicht nur die Geſetzge-
bung über das geſammte Poſt- und Telegraphenweſen und die Be-
aufſichtigung deſſelben der Bundeskompetenz zugewieſen (Verf. Art.
4 Nro. 10), ſondern Poſt und Telegraphie wurden der Verwaltung
der einzelnen Staaten entzogen und der unmittelbaren Verwaltung
des Bundes unterſtellt. Dem Bundespräſidium gehört nach Art. 50
der Nordd. Bundesverfaſſung die obere Leitung der Poſt- und
Telegraphen-Verwaltung. Daſſelbe hat die Pflicht und das Recht,
dafür zu ſorgen, daß Einheit in der Organiſation der Verwaltung
und im Betriebe des Dienſtes, ſowie in der Qualifikation der Be-
amten hergeſtellt und erhalten wird. Ihm iſt der Erlaß der regle-
mentariſchen Feſtſetzungen und allgemeinen adminiſtrativen Anord-
nungen übertragen und ſämmtliche Beamte der Poſt- und Tele-
*)
[287]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
graphenverwaltung ſind verpflichtet, ſeinen Anordnungen Folge zu
leiſten. Einnahmen und Ausgaben des Poſt- und Telegraphen-
weſens ſollten nach Art. 49 der Nordd. B.-V. für den ganzen
Bund gemeinſchaftlich ſein. Dem Gebiete der Norddeutſchen Poſt-
und Telegraphen-Verwaltung trat außerdem der ſüdliche Theil des
Großherzogthums Heſſen hinzu, da Heſſen in dem Friedensver-
trage v. 3. September 1866 Art. 10 ſich im Voraus mit den Ab-
reden einverſtanden erklärt hatte, welche Preußen mit dem Hauſe
Taxis wegen Beſeitigung des Thurn und Taxis’ſchen Poſtweſens
treffen würde und dem Uebergang des geſammten Poſtweſens im
Großherzth. Heſſen an Preußen zugeſtimmt hatte. Ebenſo hatte
Heſſen in Art. 11 deſſelben Friedensvertrages der Preuß. Regierung
das Recht zur unbeſchränkten Anlegung und Benutzung von Tele-
graphenlinien und Telegraphenſtationen eingeräumt. Durch die Auf-
nahme Südheſſens in den Deutſchen Bund wurden dieſe vertrags-
mäſſigen, vom Norddeutſchen Bunde ausgeübten Rechte Preußens
ſtaatsrechtlich auf den Bund übertragen und die Kompetenz deſ-
ſelben zur Verwaltung der Poſt und Telegraphie in Heſſen ver-
faſſungsmäßig begründet 1). Bei der Gründung des Deutſchen
Reiches trat ferner das Großherzogth. Baden dem Gebiete der
Deutſchen Poſt- und Telegraphen-Verwaltung hinzu 2) und in El-
ſaß-Lothringen wurden die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung
über das Poſt- und Telegraphen-Weſen durch Verordn. v. 14. Okt.
1871 (R.-G.-Bl. 1871 S. 443) eingeführt. Beſondere Poſtver-
waltungen wurden dagegen Bayern und Württemberg in den
mit dieſen Staaten abgeſchloſſenen Verfaſſungsbündniſſen gelaſſen
und dieſe Sonderrechte im Art. 52 der R.-V. anerkannt.
Darnach gelten hinſichtlich der Kompetenz des Reiches in An-
gelegenheiten des Poſt- und Telegraphen-Weſens zur Zeit folgende
Grundſätze:
1. Dem Reiche ſteht für das ganze Reichsgebiet ausſchließ-
lich die Geſetzgebung über die Vorrechte der Poſt 3) und Telegraphie,
[288]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
über die rechtlichen Verhältniſſe beider Anſtalten zum Publikum,
über die Portofreiheiten und das Poſttaxweſen zu, mit Ausnahme
der reglementariſchen und Tarifbeſtimmungen für den internen Ver-
kehr innerhalb Bayerns, beziehungsweiſe Württembergs. R.-V.
Art. 4 Z. 10. Art. 52 Abſ. 2 Poſtgeſ. v. 28. Oktob. 1871 §. 50
letzter Abſ. Poſttaxgeſetz §. 13.
2. Dem Reiche ſteht für das ganze Reichsgebiet mit Aus-
nahme von Bayern und Württemberg die unmittelbare Ver-
waltung der Poſt und Telegraphie zu, welche für Rechnung des
Reiches geführt wird 1). R.-V. Art. 48 Abſ. 1. 49. Nur hin-
ſichtlich der Anſtellung der Beamten iſt im Art. 50 der R.-V. den
Einzelſtaaten ein Antheil zugeſtanden. Vom Kaiſer erfolgt die
Anſtellung der oberen Beamten (z. B. der Direktoren, Räthe,
Ober-Inſpektoren), ferner der zur Wahrnehmung des Aufſichts- u. ſ. w.
Dienſtes in den einzelnen Bezirken als Organe der erwähnten Be-
hörden fungirenden Poſt- und Telegraphenbeamten (z. B. Inſpek-
toren, Kontroleure 2). Von der Kaiſerlichen Ernennung dieſer Be-
amten wird den einzelnen Landesregierungen, ſoweit dieſelben ihre
Gebiete betreffen, behufs der landesherrlichen Beſtätigung und Publi-
kation rechtzeitig Mittheilung gemacht werden. (Art. 50 Abſ. 4.)
Die Landesregierungen ſind befugt, die andern bei den Ver-
waltungsbehörden der Poſt und Telegraphie erforderlichen Beamten,
ſowie alle für den lokalen und techniſchen Betrieb beſtimmten, mit-
hin bei den eigentlichen Betriebsſtellen fungirenden Beamten u. ſ. w.,
anzuſtellen. (Art. 50 Abſ. 5). Auch dieſe Beamten ſind verpflichtet,
3)
[289]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
den Kaiſerlichen Anordnungen Folge zu leiſten (Art. 50 Abſ. 3)
und ſie ſind den Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes unter-
worfen 1).
Dieſe, den einzelnen Staaten eingeräumten Befugniſſe ſind
indeß eingeſchränkt durch den Grundſatz: „Wo eine ſelbſtſtändige
Landespoſt- reſp. Telegraphenverwaltung nicht beſteht, entſcheiden
die Beſtimmungen der beſonderen Verträge“ (R.-V. Art. 50 Abſ. 6).
Wahrhaft „ſelbſtſtändige“ Verwaltungen giebt es nun außer in
Bayern und Württemberg in keinem deutſchen Staate; es kann
überall nur Reſte einer ehemals ſelbſtſtändigen Verwaltung geben.
Würde man aus der angeführten Beſtimmung die Folgerung her-
leiten wollen, daß die Fortdauer ſelbſtſtändiger Landespoſten und
Landestelegraphen-Anſtalten von der R.-V. als zuläſſig voraus-
geſetzt und anerkannt ſei, ſo würde man dieſelbe in unlösbaren
Widerſpruch mit allen andern Beſtimmungen des VIII. Abſchnittes
der R.-V. bringen. Durch den Schlußſatz des Art. 50 ſoll viel-
mehr nur geſagt werden, daß keinem Staate Rechte hinſichtlich der
Poſt- und Telegraphen-Verwaltung durch die Beſtimmungen der
Verfaſſung beigelegt werden, die er nicht bei Gründung des
Nordd. Bundes reſp. Deutſchen Reiches beſeſſen hat. Soweit ein
Staat ſchon vorher ſich der Verwaltung des Poſt- und Tele-
graphenweſens begeben hatte, ſollte er nicht in [Verwaltungsbefug-
niſſe] wieder eingeſetzt werden. Ebenſo iſt es keinem Staate ver-
wehrt, auf die nach der Verfaſſung ihm verbliebenen Befugniſſe
vertragsmäßig zu verzichten. In Folge dieſes Grundſatzes ſind
die Verwaltungsbefugniſſe des Reiches thatſächlich bei weitem um-
faſſender als es nach dem Wortlaut der R.-V. ſcheint und die den
einzelnen Staaten im Art. 50 zugeſtandenen Ernennungsrechte von
Poſt- und Telegraphen-Beamten beſtehen [nur] in ſehr beſchränktem
Umfange. Der gegenwärtige Rechtszuſtand iſt folgender:
a) In Elſaß-Lothringen iſt die Unterſcheidung der Ver-
waltungskompetenz des Reiches und der Einzelſtaaten hinſichtlich
des Poſt- und Telegraphenweſens ganz gegenſtandslos, da dem
Kaiſer die Ausübung der Territorial-Staatsgewalt zuſteht; die ge-
ſammte Poſt- und Telegraphen-Verwaltung iſt daher im Reichs-
lande ungetheilt und unbeſchränkt Reichsangelegenheit 2).
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 19
[290]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
b) In den Hanſeſtädten Hamburg, Bremen und Lü-
beck beſtanden vor Errichtung des Norddeutſchen Bundes höchſt
anomale Poſteinrichtungen, indem daſelbſt neben den eigenen Poſt-
anſtalten dieſer Staaten noch mehrere deutſche und ausländiſche
Poſtanſtalten etablirt waren. Der Art. 51 der Nordd. Bundes-
verfaſſung ermächtigte deshalb das Bundespräſidium „die Ver-
waltung und den Betrieb der verſchiedenen dort befindlichen ſtaat-
lichen Poſt- und Telegraphen-Anſtalten zu vereinigen“ 1). In
Ausführung dieſer Beſtimmung hat der Nordd. Bund beziehentl.
das Reich die geſammte Poſtverwaltung in den Hanſeſtädten über-
nommen, ſo daß dort derſelbe Umfang der Reichskompetenz wie
im Reichslande beſteht.
c) Preußen hat die Ausübung der ihm zuſtehenden
Rechte hinſichtlich der Verwaltung des Poſt- und Telegraphen-
weſens auf den Nordd. Bund, reſp. das Reich übertragen, indem
der Allerh. Erlaß v. 28. September 1867 beſtimmte, „daß die
Verwaltung des Poſt- und Telegraphenweſens vom 15. Oktob. 1867
ab von dem Miniſter für Handel ꝛc. mit den von demſelben als
Chef des Poſt- und Telegraphenweſens bisher geübten Befugniſſen
auf den Präſidenten des Staatsminiſteriums übergehe und unter
deſſen Verantwortlichkeit im Zuſammenhange mit der vom 1. Ja-
nuar 1868 ab dem Bundeskanzler zuſtehenden Verwaltung des
Poſt- und Telegraphenweſens des Norddeutſchen Bundes bearbeitet
werde.“ Rechtlich iſt demnach die Sphäre der Verwaltungskompe-
tenz Preußens von der Sphäre der dem Reiche zuſtehenden Ver-
waltungskompetenz geſchieden; thatſächlich aber ſind beide mit ein-
ander verſchmolzen, indem die Preußen zuſtehenden Rechte vom
Reiche ohne Mitwirkung Preußiſcher Behörden ausgeübt werden 2).
In Wirklichkeit beſteht demnach in Preußen dieſelbe Ausſchließlich-
keit der Reichsverwaltung wie im Reichslande und in den Hanſe-
ſtädten 3).
[291]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
d) Was von Preußen gilt findet nicht nur auf das Preuß.
Staatsgebiet Anwendung, ſondern auch auf alle diejenigen Gebiete,
in denen Preußen vor Errichtung der Norddeutſchen Poſt- und
Telegraphen-Verwaltung das Poſt- und Telegraphen-Regal erwor-
ben hatte, d. h. in Heſſen, Anhalt, Waldeck, beiden
Lippe, ſämmtlichen Thüringiſchen Staaten 1), mit Aus-
nahme von Sachſen-Altenburg, und in den Oldenburgiſchen
Fürſtenthümern Lübeck und Birkenfeld.
e) Oldenburg hat, ſoweit das Poſtregal nicht bereits an
Preußen übergegangen war, die ihm verfaſſungsmäßig zuſtehenden
Rechte dem Bundes-Präſidium durch eine im Januar 1868 ge-
troffene Vereinbarung abgetreten, ſo daß dort die Anſtellung aller
Poſt- und Telegraphenbeamten vom Reiche ausgeht, ebenſo wie
in den Hanſeſtädten und in Elſaß-Lothringen.
f) Im Königreich Sachſen, in beiden Mecklenburg und
in Braunſchweig erfolgt auf Grund von Vereinbarungen,
welche im Jahre 1868 zwiſchen dem Reichskanzler und den be-
treffenden Landesregierungen getroffen worden ſind, die Annahme
und Entlaſſung der im Vorbereitungsdienſte befindlichen Beamten
(Poſteleven, Poſtpraktikanten und Poſtgehülfen), ſowie die Anſtel-
lung ſämmtlicher Unterbeamten durch die Organe des
Reiches; dagegen erfolgt die Anſtellung, Beförderung und Entlaſ-
ſung der oberen Beamten, ſoweit ſie nicht nach der Verfaſſung
dem Kaiſer übertragen iſt, Namens der Landesregierungen, denen
die betreffenden Anträge von den Reichsverwaltungsbehörden zu-
gehen. Weſentlich auf der gleichen Grundlage ſind die Verhält-
niſſe in Baden nach dem Eintritte des Großherzogthums in die
Reichs-Poſt- und Telegraphenverwaltung zu Folge einer im Auguſt
1871 getroffenen Vereinbarung geregelt 2).
19*
[292]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
3) In Württemberg ſteht gemäß der Militär-Convention
vom 21./25. November 1870 Art. 11 1) im Falle eines Krieges
von deſſen Ausbruch bis zu deſſen Beendigung die obere Leitung
des Telegraphenweſens, ſoweit ſolches für die Kriegs-
zwecke eingerichtet iſt, dem Bundesfeldherrn d. h. dem Kaiſer zu.
Die Württembergiſche Regierung hat ſich demgemäß verpflichtet,
bereits während des Friedens die bezüglichen Einrichtungen in
Uebereinſtimmung mit denjenigen des Nordd. Bundes (Reiches) zu
treffen und insbeſondere bei dem Ausbau des Telegraphennetzes
darauf Bedacht zu nehmen, auch eine der Kriegsſtärke ihres
Armeekorps entſprechende Feldtelegraphie zu organiſiren. Die Be-
deutung dieſer Beſtimmung liegt mehr auf dem Gebiete des Heer-
weſens, als auf dem der Telegraphie als Verkehrsanſtalt.
4. Dem Reiche ſteht die Regelung des Poſt- und Telegra-
phen-Verkehrs mit dem Auslande zu. Auf Bayern und Württem-
berg als Glieder des Reiches findet dieſer Satz im Allgemeinen
ebenfalls Anwendung, da dem Auslande gegenüber Deutſchland
in allen Beziehungen als Einheit handelt. Die Wahrnehmung
der Beziehungen zu anderen Poſt- und Telegraphen-Verwaltungen
ſteht nach Art. 50 Abſ. 2 der R.-V. dem Kaiſer zu. Die Bay-
riſche und die Württembergiſche Poſtverwaltung haben jedoch die
Befugniß, ihren eigenen unmittelbaren Verkehr mit ihren dem
Reiche nicht angehörenden Nachbarſtaaten zu regeln unter Beob-
achtung der im Art. 49 des Poſtvertrages v. 23. November 1867
getroffenen Beſtimmungen 2). R.-V. Art. 52 Abſ. 3. Im dem
Art. 52 des Poſtvertrages zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich-
2)
[293]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Ungarn vom 7. Mai 1872 (R.-G.-Bl. 1873 S. 33) iſt ein dieſer
Befugniß Bayerns und Württemberg’s entſprechender Vorbehalt
gemacht und auch Art. 14 des Allgem. Poſtvereins-Vertrages vom
9. Okt. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 231) hat die Befugniß zum Ab-
ſchluß beſonderer Verträge und zur Errichtung engerer Poſtvereine
aufrecht erhalten. Ebenſo finden die Beſtimmungen der Reichs-
Telegraphen-Ordnung v. 21. Juni 1872 1) nur auf diejenige Korre-
ſpondenz Anwendung, welche die Linien mindeſtens zweier der 3
dem deutſchen Reiche angehörigen Verwaltungen berührt, gleichviel
ob die Depeſche im deutſchen Reiche verbleibt oder mit dem Aus-
lande gewechſelt wird.
5) Die Selbſtſtändigkeit der Verwaltungen Bayern’s und
Württemberg’s hat die Folge, daß der Verkehr zwiſchen dieſen
Gebieten untereinander ſowie zwiſchen dieſen Gebieten und dem
übrigen Reichsgebiet und die rechtlichen Beziehungen unter dieſen
Verwaltungen nicht ſtaatsrechtlich, ſondern vertragsmäßig
geregelt ſind, wobei ſelbſtverſtändlich die in den Poſtgeſetzen
des deutſchen Reiches aufgeſtellten Regeln die rechtlichen Grenz-
linien für die Vertragsfreiheit der Verwaltung abgeben. Die
Grundlage für dieſe Vereinbarungen bilden noch gegenwärtig der
zwiſchen dem Nordd. Bunde und den ſüddeutſchen Staaten abge-
ſchloſſene Poſtvertrag vom 23. November 1867 2), welcher nach
der Gründung des Reiches eine Abänderung und Ergänzung durch
die Uebereinkunft v. 9. November 1872 erhalten hat 3),
und der Telegraphen-Vereinsvertrag vom 25. Oktober
1868, welcher vom 1. Januar 1872 an eine erhebliche Verände-
rung, insbeſondere hinſichtlich der Tarifſätze erfuhr 4).
Hinſichtlich des Poſtverkehres beſteht demgemäß eine 3fache
Unterſcheidung:
a) Der innere Verkehr, wofern die Poſtſendung nur das
Gebiet einer der drei Verwaltungen berührt.
b) Der Wechſelverkehr, wenn der Transport der Poſt-
[294]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſendung innerhalb des Reichsgebietes (Reichspoſtgebiet, Bayern,
Würtemberg) ausgeführt wird, aber das Gebiet von mindeſtens
zwei Verwaltungen berührt. Jedoch werden auch die Oeſterreichiſch-
Ungariſche Monarchie 1) und das Großherzogthum Luxemburg 2)
als Gebiete des Wechſelverkehrs angeſehen; auch hinſichtlich der
Telegraphie beſteht mit den erwähnten Staaten eine engere Ver-
einigung 3).
c) Der Durchgangsverkehr, umfaßt die Poſtſendungen,
welche zwiſchen den Gebieten des Wechſelverkehrs und fremden
Staaten oder im Verkehr fremder Staaten unter ſich vorkommen,
inſofern die Sendungen mindeſtens zwei Gebiete des Wechſel-
verkehrs berühren. Durch Errichtung des „allgemeinen Poſtvereines“
iſt hinſichtlich der im Art. 2 des Berner Vertrages v. 9 Oktob.
1874 aufgeführten Sendungen der Unterſchied zwiſchen dem Durch-
gangsverkehr und dem Wechſelverkehr außerordentlich vermindert
worden 4).
II.Allgemeine Geſichtspunkte.
Der Betrieb der Poſt und Telegraphie Seitens des Reiches
enthält an und für ſich keine Bethätigung eines ſtaatlichen Hoheits-
rechtes d. h. einer Herrſchaft über Land und Leute. Es giebt
Staaten, in welchen gewiſſe Zweige der Geſchäftsthätigkeit, die in
Deutſchland die Poſt betreibt, von der öffentlichen Poſt ganz aus-
geſchloſſen ſind, z. B. die Beförderung von Perſonen und von
Packeten. Begrifflich könnte der Staat auch die Beförderung von
Briefen und Zeitungen der Privatinduſtrie überlaſſen, d. h. auf
den Betrieb des Poſtgewerbes ganz verzichten, ohne daß er da-
durch ein ſtaatliches Hoheitsrecht aufopferte 5). Damit ſoll nicht
[295]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
geſagt werden, daß der Staat durch den Betrieb der Poſt und
Telegraphie den aus ſeinem Begriff ſich ergebenden Kreis von
Aufgaben überſchreitet. Der Staat hat die Pflege der Wohlfahrt
des Volkes zur weſentlichen Aufgabe; wenn es demnach zur Er-
reichung dieſer Aufgabe geboten erſcheint, Anſtalten für den Ver-
kehr von Staatswegen zu errichten, ſo handelt der Staat durch
Erfüllung dieſes Gebotes innerhalb ſeiner begriffsmäßigen Zwecke.
Es verhält ſich damit ganz ähnlich wie mit dem Betriebe von
Eiſenbahnen, von Bankgeſchäften, von Verſicherungs- und Verſor-
gungs- (Penſions-) Anſtalten durch den Staat. Der Staat hält
die Poſt- und Telegraphen-Anſtalten nicht ausſchließlich im fiska-
liſchen Finanz-Intereſſe; er betreibt in denſelben nicht ein Gewerbe
im gewöhnlichen Sinne d. h. eine ausſchließlich oder vorzugsweiſe
auf Vermögenserwerb gerichtete Thätigkeit; es ſind vielmehr zugleich
öffentliche Intereſſen, welche er dabei verfolgt; er befriedigt ein
unabweisbares Bedürfniß ſowohl des Staats ſelbſt, als der ein-
zelnen Angehörigen deſſelben. Poſt und Telegraphie ſind deshalb
nicht einfache und gewöhnliche Handelsgewerbe, welche ſchlechthin
unter den Regeln des Privatrechtes ſtehen, ſondern ſie ſind öffent-
liche Verwaltungszweige, die nach Grundſätzen des öffentlichen
Rechtes zu beurtheilen ſind. Aber während der Staat durch Aus-
übung der Militär-, Gerichts-, Polizei- und Finanzhoheit ſeine An-
gehörigen beherrſcht, dient er ihnen durch den Betrieb der Poſt
und Telegraphie; er übt gegen ſie keinen Zwang aus; er fordert
keine Leiſtungen und Unterlaſſungen; er tritt mit dem einzelnen
Staatsunterthanen nur auf Wunſch und Willen des letzteren in
ein rechtliches Verhältniß; er begründet daſſelbe durch Vertrag
und zwar ſtets nur auf Antrag des Einzelnen, der vom Staate
die Ausführung eines Transportes verlangt; niemals dagegen
durch Befehl, dem der Unterthan auch wider oder ohne ſeinen
Willen gehorchen müßte. Bei allen von der Poſt- und Telegraphen-
Anſtalt zu verrichtenden Leiſtungen ſteht deshalb der Staat dem
Einzelnen nicht als übergeordneter Herr, ſondern als gleichbe-
rechtigter Contrahent gegenüber 1). Das allgemeine Privatrecht
5)
[296]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
und Prozeßrecht findet daher auf das Verhältniß zwiſchen der
Poſt- und Telegraphen-Anſtalt eine ſehr ausgedehnte Anwendung
und es wäre an ſich völlig denkbar, daß ſich der Staat mit dieſem
allgemeinen Recht begnügte und auf die Aufſtellung eigenthüm-
licher Rechtsregeln für den Betrieb der Poſt- und Telegraphen-
Geſchäfte ganz verzichtete. In dieſem Falle gäbe es ein beſonderes
Verwaltungsrecht für Poſt- und Telegraphie überhaupt nicht. In
Wirklichkeit aber hat der Staat (das Reich) für den Betrieb der
Poſt- und Telegraphen-Anſtalt ein Spezialrecht geſchaffen, welches
die Verwaltung dieſer Anſtalten theils mit Rechten ausſtattet,
wie ſie der ein Handelsgewerbe betreibende Private nicht hat,
theils ihre Handlungsfreiheit ſehr erheblich einſchränkt und ihr
Pflichten auferlegt, von denen der Transport-Unternehmer im All-
gemeinen frei iſt. Dieſe beſonderen Rechte und Pflichten bilden
das Poſt- und Telegraphenrecht als Beſtandtheil des Verwaltungs-
rechts; ſie finden ihre ſehr weſentliche und umfangreiche Ergänzung
in dem allgemeinen Privat- und Handelsrecht, Prozeßrecht, Straf-
recht, ohne welches ſie zuſammenhangloſes Stückwerk ſein würden.
Der Grund, auf welchem die Nothwendigkeit zur Schaffung dieſes
Spezialrechtes beruht, und aus welchem ſich zugleich die verſchie-
denen Richtungen, in denen die Aufſtellung beſonderer Rechtsvor-
ſchriften erforderlich iſt, herleiten laſſen, iſt in einem einzigen Satz
enthalten, nämlich darin, daß Poſt und Telegraphie kein freies
Gewerbe des Fiskus, ſondern öffentliche Verkehrs-Anſtalten
des Staates ſind. Aus dieſem Grundprinzip leiten ſich nämlich
folgende Sätze ab:
1. Die Benutzung der Poſt- und Telegraphen-Anſtalt ſteht
Jedem frei; ſie darf Niemandem verweigert werden, der ſich den
allgemeinen Vorſchriften für Benutzung derſelben unterwirft, und
darf für Niemanden an erſchwerende Bedingungen geknüpft werden.
Das iſt der Cardinal-Unterſchied zwiſchen einem gewöhnlichen
Transport-Unternehmer, der mit Niemandem zu kontrahiren ge-
nöthigt iſt, mit dem er nicht kontrahiren will, und den öffent-
lichen Verkehrs-Anſtalten, welche zum Dienſte des Publi-
kums beſtimmt ſind.
[297]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
2. Daraus ergiebt ſich als nothwendige Conſequenz, daß die
Vertragsbedingungen, unter welchen die Poſt und Telegraphen-
Anſtalt kontrahirt, ein für alle Mal feſtſtehen und in allen Fällen
gleichmäßig zur Anwendung kommen müſſen, während derjenige,
welcher ein freies Transportgewerbe betreibt, in jedem einzelnen
Falle die Bedingungen beſonders feſtſetzen oder vereinbaren kann.
Demgemäß iſt die Taxe für jede Art von Beförderung, die Art
der Erfüllung der übernommenen Transport-Verpflichtung, und
die Erſatzpflicht für Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Er-
füllung allgemein zu regeln. Für alle Verträge, welche die
Poſt- und Telegraphen-Verwaltung in Ausübung ihres öffentlichen
Geſchäftsbetriebes abſchließt 1), müſſen Normal-Bedingungen feſt-
geſtellt ſein, von denen ſie bei den einzelnen Geſchäften weder zu
Gunſten noch zu Ungunſten des andern Contrahenten abweichen
darf.
3. Um dieſe Bedingungen möglichſt günſtig geſtalten zu kön-
nen, um die Anſprüche des Publikums auf billige, ſichere und
ſchnelle Ausführung des Transportes mit den finanziellen Inter-
eſſen des Staates auszugleichen, ſind der Poſt- und Telegraphen-
Anſtalt gewiſſe Vorrechte beigelegt. Dahin gehört vor Allem das
Monopol der Poſt auf gewiſſe Transportgeſchäfte oder der ſo-
genannte Poſtzwang. In der Anerkennung deſſelben äußert ſich
allerdings ein Hoheitsrecht des Staates, aber nicht poſitiv d. h.
in dem Betrieb der Poſtgeſchäfte, ſondern negativ d. h. in der
Unterſagung der der Poſt vorbehaltenen Geſchäfte für alle Andern,
in der Beſchränkung der allgemeinen Gewerbe- und Handlungs-
freiheit. Der Poſtzwang reicht auch keineswegs ſo weit wie der
Geſchäftsbetrieb der Poſt. Für den Transport von Perſonen,
Paketen, Geldſendungen, Druckſachen und offenen Briefen beſteht
kein Poſtzwang, ſondern es iſt die freie Concurrenz mit der Poſt-
anſtalt Jedem geſtattet; aber auch für dieſe Zweige ihres Ge-
ſchäftsbetriebs hat die Poſt den Charakter der öffentlichen
Verkehrsanſtalt. Nur für verſchloſſene Briefe, Zeitungen, Tele-
[298]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
gramme iſt die Poſt zugleich öffentliche und monopoliſirte Verkehrs-
anſtalt.
Außer dem Monopol und dem Schutz deſſelben durch Straf-
beſtimmungen ſind der Poſtanſtalt gewiſſe Vorrechte hinſichtlich der
Benutzung der Eiſenbahnen, der öffentlichen Wege, der Privat-
grundſtücke im Falle eines außergewöhnlichen Bedürfniſſes einge-
räumt; es ſind ferner eine Anzahl von Vorſchriften polizeilichen
Charakters getroffen, um die ungehinderte und ſchnelle Ausführung
des Transports zu ſichern; und aus demſelben Grunde ſind die
zum Betriebe der Poſt erforderlichen Gegenſtände vor Beſchlag-
nahme und Pfändung geſichert.
4. Der innere Betrieb der Poſt- und Telegraphen-Anſtalt,
die Organiſation und Gliederung der Verwaltung, die Pflichten der
bei ihr beſchäftigten Beamten müſſen, da es ſich um eine öffentliche
Einrichtung des Reiches handelt, von Reichswegen geregelt ſein;
ebenſo iſt die Erfüllung der amtlichen Pflichten der Poſt- und
Telegraphen-Beamten durch Strafgeſetze gewährleiſtet, wie dies
bei anderen Zweigen des Staatsdienſtes in ähnlicher Weiſe ge-
ſchehen iſt.
5. Endlich ſind Defraudationen von Gebühren, welche die Poſt-
und Telegraphen-Anſtalt zu erheben hat, mit Strafe bedroht und
es iſt das in dieſen Fällen zu beobachtende Verfahren beſonders
d. h. abweichend von den allgemeinen Vorſchriften der Strafproceß-
Ordnung geregelt. Auch dieſe Bevorzugung der Poſt im Vergleich
mit andern Transport-Unternehmern ergiebt ſich aus dem Charakter
der Poſt als einer öffentlichen Anſtalt des Staates, der es geſtat-
tet, der Poſtverwaltung ähnliche Befugniſſe einzuräumen, wie ſie
den Steuer- Zoll- und anderen Finanzbehörden zuſtehen.
In den angegebenen fünf Richtungen beſteht ein beſonderes
Recht für die Poſt- und Telegraphen-Anſtalt, und es iſt dadurch
der Gegenſtand der nachfolgenden Erörterungen vorgezeichnet.
III.Poſt und Telegraphie als öffentliche Anſtalten.
1. Der Umfang des Geſchäfts-Betriebes der Poſt iſt geſetzlich
nicht fixirt. Er beruht auf dem Herkommen und auf den von der
Verwaltung der Poſtanſtalt ſelbſt getroffenen Anordnungen. Es
giebt insbeſondere kein, mit dem allgemeinen Zweck der Poſtanſtalt,
nämlich Beförderung und Erleichterung des Verkehrs, in Zuſammen-
[299]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
hang ſtehendes Geſchäft, deſſen Betrieb der Poſt geſetzlich verwehrt
wäre. Andererſeits iſt die Poſtanſtalt keineswegs geſetzlich ver-
pflichtet, alle diejenigen Geſchäfte, denen ſie ſich thatſächlich unter-
zieht, zu betreiben. Indeſſen giebt es für einige Zweige des poſt-
mäßigen Geſchäftsbetriebes in der That eine ausdrückliche oder ſtill-
ſchweigende geſetzliche Grundlage. Soweit nämlich der Poſtzwang
beſteht, iſt die Poſt verpflichtet, das ihr beigelegte Monopol
auch wirklich auszuüben, denn dieſe Pflicht iſt das ſelbſtverſtänd-
liche und nothwendige Correlat des Rechts auf ausſchließlichen Ge-
werbebetrieb 1). Für einige andere Leiſtungen der Poſt iſt ferner
die dafür zu bezahlende Gebühr geſetzlich normirt, dadurch alſo
geſetzlich anerkannt, daß ſich die Poſtanſtalt mit der Uebernahme
ſolcher Leiſtungen zu beſchaffen hat. Dies gielt von dem Trans-
port von Packeten 2) und von der Uebernahme von Verſicherungen 3).
Sodann enthält das Poſtgeſetz §. 50 die Ermächtigung für den Reichs-
kanzler durch ein Reglement die Gebühren für gewiſſe Transport-
Geſchäfte zu beſtimmen, wodurch, wenn auch nicht die geſetzliche
Verpflichtung, ſo doch die geſetzliche Billigung ausgeſprochen iſt,
daß die Poſt mit dieſen Geſchäften ſich befaßt. Dahin gehört die
Beförderung von Reiſenden mit den ordentlichen Poſten oder mit
Extrapoſt 4); die Beförderung von unverſchloſſenen Briefen (Korre-
ſpondenz- oder Poſtkarten), ferner von Druckſachen, Waarenproben
und Muſtern, ſodann von eingeſchriebenen (rekommandirten) Sen-
dungen und von Sendungen, welche gegen Behändigungsſchein zu-
zuſtellen ſind, endlich von Geldübermittelungen durch Poſtanwei-
ſungen, Vorſchuß-Sendungen, Poſtaufträge u. ſ. w. 5). Auch durch
die Poſtverträge, welche das Reich abgeſchloſſen hat, ergiebt ſich
die Verpflichtung der Poſtverwaltung, mit gewiſſen Arten von
Transportgeſchäften ſich zu befaſſen. So wenig aber die Poſtver-
[300]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
waltung durch alle dieſe Vorſchriften gehindert iſt, ihren Geſchäfts-
betrieb auch auf andere Transportgegenſtände 1) oder auf andere
Beförderungsarten 2) auszudehnen, ebenſo wenig iſt es ihr verwehrt,
die Uebernahme von Poſtſendungen durch reglementariſche Anord-
nungen oder Einrichtungen allgemein einzuſchränken oder abzu-
lehnen.
Hinſichtlich der Telegraphie iſt die Sachlage inſofern eine ein-
fachere und abweichende, als durch den Telegraphen überhaupt keine
andere Verrichtung als die Uebermittelung einer Nachricht vorge-
nommen werden kann; indeß giebt es auch hier verſchiedene Arten
der Beförderung oder Beſtellung 3).
2. Auch in anderer Beziehung iſt der Umfang des Geſchäfts-
betriebes der Poſt geſetzlich nicht normirt und der Poſtverwaltung
ein gewiſſes Maaß weder als Minimum noch als Maximum vor-
geſchrieben, nämlich rückſichtlich der Etablirung von Poſtanſtalten.
Dem Ermeſſen der Verwaltung iſt es völlig überlaſſen, an welchen
Orten ſie Expeditionen (Poſtämter) errichten will; ſie iſt nirgends
dazu verpflichtet und es iſt ihr dies an keinem Orte verwehrt.
Ebenſo ſteht es ihr frei, an gewiſſen Orten einzelne Geſchäftszweige
zu betreiben, andere dagegen auszuſchließen 4). Niemand hat dem-
gemäß ein Recht, von der Poſtverwaltung die Errichtung derjenigen
Anſtalten zu verlangen, die ihm die Benutzung der Poſt ermöglichen
oder erleichtern. Indeß bietet die Feſtſtellung des Reichshaushalts-
Geſetzes Gelegenheit, das Verfahren der Poſtverwaltung zu kriti-
ſiren und auf die Abhülfe von Mängeln hinzuwirken.
3. Die Annahme nnd Beförderung von Poſtſendungen
darf von der Poſt nicht verweigert werden, ſofern die Beſtimmungen
[301]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
des Poſtgeſetzes und des Reglements beobachtet ſind 1). Der Aus-
druck Poſtſendungen umfaßt alle Transporte, mit denen ſich die
Poſt überhaupt befaßt, ausgenommen die Beförderung von Reiſen-
den. Aber auch hinſichtlich der Reiſenden beſteht derſelbe Grund-
ſatz, wenngleich er im Geſetz nicht ausgeſprochen iſt; jedoch mit der
Beſchränkung, daß die Annahme von Reiſenden wegen mangelnden
Platzes verweigert werden darf 2). Ebenſo ſteht die Benutzung der
für den öffentlichen Verkehr beſtimmten Telegraphen Jedermann
zu 3). Dieſe Grundſätze beruhen auf der Oeffentlichkeit der Poſt-
anſtalt und haben keinen Zuſammenhang mit dem Poſtzwang. Der
Rechtsſatz beſchränkt ſich aber auf die Vorſchrift, daß die Benutzung
der Poſtanſtalt Niemandem verwehrt oder im einzelnen Falle
an erſchwerte Bedingungen geknüpft werden darf. Dagegen iſt es
der Poſtverwaltung überlaſſen, durch Reglement allgemein die Vor-
ausſetzungen für Uebernahme von Beförderungen zu beſtimmen 4)
und zwar auch hinſichtlich der dem Poſtzwange unterworfenen Ge-
genſtände 5). Die Poſt ſteht in dieſer Hinſicht einem Privat-Unter-
nehmer gleich, der die Bedingungen, unter denen er zum Abſchluß
von Geſchäften bereit iſt, nach eigenem Ermeſſen beſtimmen kann;
und nur darin iſt ſie von ihm verſchieden, daß ſie alle auf Grund
der von ihr aufgeſtellten Bedingungen ihr offerirten Geſchäfte ab-
ſchließen muß.
Eine ausdrückliche geſetzliche Anerkennung hat dieſer Grund-
ſatz im §. 3 des Poſtgeſetzes hinſichtlich des Vertriebes politiſcher
Zeitungen gefunden. Keine im Gebiete des deutſchen Reiches
[302]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
erſcheinende politiſche Zeitung darf vom Poſtdebit ausgeſchloſſen
werden; für alle dieſe Zeitungen müſſen hinſichtlich Berechnung der
Gebühren, welche für die Beförderung und Debitirung zu erheben
ſind, gleichmäßige Grundſätze angewendet werden und die Poſt iſt
verpflichtet, ſowohl die Pränumeration anzunehmen wie den ge-
ſammten Debit derſelben zn beſorgen 1).
4. Auf der Eigenſchaft der Poſt als einer öffentlichen Ver-
kehrsanſtalt beruht die Verpflichtung derſelben zur Bewahrung
des ſogenannten Briefgeheimniſſes. Dieſer Ausdruck, der
für den Inhalt der in Rede ſtehenden Verpflichtung eine keineswegs
zutreffende Bezeichnung iſt, könnte den Gedanken erwecken, als ſei
das Briefgeheimniß das Correlat des Briefmonopols. Dies iſt
aber in keiner Beziehung der Fall; weder der Umfang des Brief-
geheimniſſes noch die davon beſtehenden Ausnahmen noch die Rechts-
folgen der Verletzung deſſelben ſtehen in irgend einem logiſchen
oder juriſtiſchen Zuſammenhange mit dem Poſtzwange, ſondern ſie
beruhen lediglich auf dem Prinzip, daß Poſt und Telegraphie
nicht Privatunternehmungen des Fiskus, ſondern Zweige des öffent-
lichen Staatsdienſtes ſind.
[303]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
a) Der Umfang des Briefgeheimniſſes umfaßt alle Arten
von Poſtſendungen und telegraphiſchen Depeſchen. Die Verpflich-
tung bezieht ſich alſo nicht blos auf verſchloſſene Briefe und
auf Telegramme, d. h. auf die dem Poſtzwange unterworfenen
Gegenſtände, ſondern auch auf unverſchloſſene Briefe (Poſtkarten),
Poſtanweiſungen, Packete u. ſ. w. Den Poſtbeamten iſt ferner nicht
nur unterſagt, über den Inhalt der Briefe, Packete u. ſ. w. Nach-
forſchungen anzuſtellen und Mittheilungen darüber zu machen, ſon-
dern ſie ſind auch nicht befugt, die Thatſache, daß eine gewiſſe
Correſpondenz überhaupt ſtattgehabt hat, unberufenen Perſonen zu
verrathen. Sie müſſen alſo darüber Stillſchweigen beobachten, daß
Jemand einen Brief, eine Poſtkarte, Poſtanweiſung, Packet, De-
peſche u. ſ. w. erhalten hat, ebenſo darüber, wie die Adreſſe oder
Wohnung auf der Poſtſendung angegeben war 1) oder daß eine
gewiſſe Perſon poſtlagernde Briefe oder andere Poſtſendungen ab-
geholt habe u. ſ. w. Auch zu Mittheilungen darüber, welche Zei-
tungen Jemand bei der Poſt beſtellt habe, ſind die Poſtbeamten
für nicht befugt zu erachten 2).
b) Verpflichtet zur Bewahrung des Geheimniſſes ſind alle im
Dienſte der Poſt und Telegraphie angeſtellten Beamten mit Ein-
ſchluß der Poſtagenten, gleichviel ob die Anſtellung eine dauernde
oder widerrufliche iſt. Dagegen kann Niemand, der bei dem Be-
triebe der Poſtanſtalt nicht amtlich beſchäftigt iſt, das Briefgeheim-
niß im Sinne des Poſtgeſetzes verletzen 3). Insbeſondere hat die
Anordnung des §. 299 des Strafgeſetzbuches, daß derjenige be-
[304]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſtraft wird, welcher einen verſchloſſenen Brief oder eine andere ver-
ſchloſſene Urkunde, die nicht zu ſeiner Kenntnißnahme beſtimmt iſt,
vorſätzlich und unbefugter Weiſe eröffnet, gar keinen Zuſammen-
hang mit dem für die Poſt beſtehenden Recht 1). Denn er be-
ſchränkt ſich nicht auf den Schutz der mit der Poſt verſendeten
Briefe, ſondern ſichert alle verſchloſſenen Briefe oder andere Ur-
kunden; und er iſt andererſeits in vielen Fällen unanwendbar,
in welchen der Poſtbeamte als ſolcher zur Bewahrung des Ge-
heimniſſes verpflichtet iſt 2). Ebenſo wenig beſteht für andere Be-
hörden des Staates oder Reiches eine Pflicht zur Wahrung des
Briefgeheimniſſes; daſſelbe kann daher von ihnen auch niemals ver-
letzt werden. Wohl aber beſteht der Satz des öffentlichen Rechts,
daß die Poſtverwaltung von keiner andern Behörde, weder einer
richterlichen noch einer Verwaltungsbehörde, zur Verletzung des
Briefgeheimniſſes gezwungen werden darf, abgeſehen von den ge-
ſetzlich anerkannten Ausnahmefällen. Denn das Reich kann nicht
zugleich die Pflicht der von ihm ſelbſt betriebenen Poſtanſtalt zur
Bewahrung des Briefgeheimniſſes anerkennen und andere Behörden
ermächtigen, die Poſtverwaltung zur Verletzung deſſelben anzu-
halten. Auch der Poſtverwaltung ſelbſt ſteht es nicht zu, die bei
ihr angeſtellten Beamten von der Erfüllung der Pflicht zur Beobach-
tung des Briefgeheimniſſes ſei es für einzelne Fälle ſei es allge-
mein unter gewiſſen Umſtänden zu dispenſiren.
c) Ausnahmen von der Unverletzlichkeit des Briefgeheim-
niſſes ſind einzig und allein im Intereſſe der Rechtspflege zuläſſig 3).
[305]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Dieſe Fälle ſind durch Reichsgeſetz feſtzuſtellen. Nur bis zum Er-
laß deſſelben blieben die Landesgeſetze maßgebend 1). Ausgeſchloſſen
iſt demnach eben ſo wohl die Form der Reichs-Verordnung als die
Autonomie der Einzelſtaaten, ſeitdem die reichsgeſetzlichen Anord-
nungen ergangen ſind. Dieſe Ausnahmefälle ſind folgende:
α) in ſtrafgerichtlichen Unterſuchungen. Die an den Be-
ſchuldigten gerichteten Briefe und Sendungen, ſowie die an ihn
gerichteten Telegramme können auf den Poſt- und Telegraphen-An-
ſtalten in Beſchlag genommen werden. Ebenſo iſt es auch für zu-
läſſig erklärt worden, Briefe und Telegramme, welche nicht an
den Beſchuldigten gerichtet ſind, in Beſchlag zu nehmen, wenn That-
ſachen vorliegen, aus welchen zu ſchließen iſt, daß ſie von dem Be-
ſchuldigten herrühren oder für ihn beſtimmt ſind und daß ihr Inhalt
für die Unterſuchung Bedeutung habe 2). Der Richter allein iſt zur
Beſchlagnahme befugt; die Staatsanwaltſchaft nur bei Gefahr im
Verzuge und auch dann nicht, wenn die Unterſuchung blos eine
Uebertretung betrifft. Auch muß die Staatsanwaltſchaft Briefe
und andere Poſtſendungen uneröffnet ſofort dem Richter vorlegen.
Wird die von der Staatsanwaltſchaft verfügte Beſchlagnahme nicht
binnen 3 Tagen von dem Richter beſtätigt, ſo tritt ſie von ſelbſt
außer Kraft 3). Die Betheiligten (d. h. Adreſſat und Abſender)
ſind von der verfügten Beſchlagnahme der Poſtſendung Seitens des
Richters oder Staatsanwalts zu benachrichtigen, ſobald dies ohne
Gefährdung des Unterſuchungszweckes geſchehen kann. Sendungen,
deren Eröffnung überhaupt nicht angeordnet wird oder deren Zu-
rückbehaltung nach der Eröffnung nicht erforderlich iſt, ſind den
Betheiligten ſofort auszuantworten 4). Wird der Brief zurückbe-
halten, ſo iſt dem Empfangsberechtigten derſelbe abſchriftlich mit-
3)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 20
[306]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
zutheilen, inſofern nicht deſſen Vorenthaltung durch die Rückſicht
auf die Unterſuchung geboten iſt 1).
β) in Konkurſen. Auf Anordnung des Konkursgerichts
haben die Poſt- und Telegraphen-Anſtalten alle für den Gemein-
ſchuldner eingehenden Sendungen, Briefe und Depeſchen dem Ver-
walter auszuhändigen, welcher zur Eröffnung derſelben berechtigt
iſt 2). Dieſe Anordnung kann das Konkursgericht auf Antrag des
Gemeinſchuldners nach Anhörung des Verwalters aufheben oder
beſchränken 3).
γ) In civilprozeſſualiſchen Fällen hat das Poſtgeſ.
§. 5 ebenfalls Beſchränkungen des Briefgeheimniſſes vorbehalten.
Die Reichs-Civilproceß-Ordnung hat indeſſen die Beſchlagnahme
von Briefen, telegraphiſchen Depeſchen und anderen Poſtſendungen
nicht zugelaſſen. Nur in denjenigen Fällen, welche nach §. 3 des
Einf.-Geſetzes zur Civiproceß-Ordnung nicht nach den Vorſchriften
der letzteren zu behandeln ſind, weil ſie nicht vor die ordentlichen
Gerichte gehören, könnte auch nach dem Inkrafttreten der Civil-
proceß-Ordnung eine richterliche Beſchlagnahme von Briefen, De-
peſchen und Poſtſendungen ſtattfinden, wofern dieſelbe nach den
Beſtimmungen der Landesgeſetze geſtattet iſt. In Wirklichkeit
dürfte dies kaum irgendwo der Fall ſein 4).
d) Die Rechtsfolgen einer widerrechtlichen Verletzung des
Briefgeheimniſſes beſtimmen ſich nach den Bd. I. §. 41 entwickelten
Grundſätzen, welche auf dieſen Fall einfach Anwendung finden. Die
Folgen ſind theils disciplinariſche, theils privatrechtliche, theils
ſtrafrechtliche.
α) Jeder Poſt- und Telegraphenbeamte, welcher das Brief-
geheimniß in dem oben dargelegten Umfange verletzt, verübt eine
Verletzung ſeiner Amtspflicht und ſetzt ſich dadurch einer Disci-
plinarbeſtrafung aus. Zum Thatbeſtande gehört Nichts weiter
als die Verletzung der Dienſtpflicht; es iſt nicht erforderlich, daß
[307]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
irgend ein Schaden oder Nachtheil durch dieſelbe herbeigeführt
worden iſt. Für die Verfolgung des Beamten kommen die Vor-
ſchriften des Reichsbeamtengeſetzes zur Anwendung 1).
β) Wenn die Verletzung des Briefgeheimniſſes einen in Geld
ſchätzbaren Schaden verurſacht hat, ſo iſt der ſchuldige Poſt-
und Telegraphenbeamte verpflichtet, dem Beſchädigten Erſatz zu
leiſten 2).
γ) Einige beſonders ſchwere Fälle der Verletzung des Brief-
geheimniſſes ſind als Verbrechen oder Vergehen im Amte mit öffent-
licher Strafe bedroht 3); nämlich die Eröffnung 4) eines der Poſt
anvertrauten Briefes oder Packetes ſowie die Eröffnung einer tele-
graphiſchen Depeſche oder die rechtswidrige Mittheilung ihres In-
halts an Dritte 5). Die Strafe iſt Gefängniß nicht unter drei
Monaten 6). Der Verübung der That ſteht es gleich, wenn ein Poſt-
oder Telegraphen-Beamter einem Andern wiſſentlich eine ſolche
Handlung geſtattet oder ihm dabei wiſſentlich Hülfe leiſtet. Aus-
genommen ſind ſelbſtverſtändlich die im Geſetze vorgeſehenen Fälle
im Intereſſe der Rechtspflege.
5. Der Verletzung des Briefgeheimniſſes ſteht in allen Bezieh-
ungen völlig gleich die abſichtliche rechtswidrige Vernichtung, Unter-
drückung oder Vorenthaltung einer der Poſt anvertrauten
Sendung oder Depeſche 7). Bei den letzteren kömmt noch wegen
der thatſächlichen Art und Weiſe der Beförderung der Fall der
Verfälſchung der Depeſche hinzu. Auch dies beruht auf dem
Charakter der Poſt als öffentlicher Verkehrsanſtalt, demzufolge
die getreue Ausführung des übernommenen Transportes nicht blos
20*
[308]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
eine privatrechtliche, aus dem Contrakte hervorgehende Obligation,
ſondern eine öffentlich rechtliche, ſtaatlich gewährleiſtete Ver-
pflichtung iſt. In denſelben Fällen, welche geſetzliche Ausnahmen
von der Unverletzlichkeit des Briefgeheimniſſes bilden, iſt auch die
Vorenthaltung von Poſtſendungen und Telegrammen geſtattet 1);
ihnen tritt noch hinzu bei Poſtſendungen der im §. 32 des Poſt-
geſetzes erwähnte Fall der Poſt- oder Porto-Defraudation 2). Auch
die Rechtsfolgen der Verletzung dieſer Pflicht ſind völlig entſprechend
denen der Verletzung des Briefgeheimniſſes; insbeſondere hat das
St.-G.-B. §§. 354. 355 die Erfüllung dieſer Amtspflicht durch die-
ſelbe Strafandrohung geſichert, welche gegen die Eröffnung eines
Briefes oder Packetes gerichtet iſt.
IV.Die Vorrechte der Poſt- und Telegraphen-Anſtalt.
Die hier in Betracht kommenden Rechtsſätze betreffen nicht die
im Betriebe der Poſt- und Telegraphie geſchloſſenen Transport-
Geſchäfte, ſie regeln nicht das Rechtsverhältniß der Poſtanſtalt
zu denjenigen Perſonen, welche mit ihr contrahiren, ſondern ſie
dienen dazu, den Betrieb ſelbſt zu ermöglichen und zu erleichtern.
Die der Poſtanſtalt beigelegten Vorrechte ſind nicht gegen beſtimmte
einzelne Perſonen gerichtet, ſondern ſie ſind ſogen. abſolute Rechte,
deren Wirkung ſich gegen Jedermann erſtreckt. Sie ſind insbe-
ſondere außerkontraktliche Rechte, die gegen ſolche Perſonen geltend
gemacht werden können, welche mit der Poſtanſtalt kein Vertrags-
verhältniß eingegangen ſind.
1. Das Monopol der Poſt- und Telegraphen-
Anſtalt.
a) Der Poſtzwang3) oder das Poſtmonopol iſt eine Be-
ſchränkung der allgemeinen Gewerbe- und Handlungsfreiheit zu
[309]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Gunſten der Poſtanſtalt. Dem Poſtzwange unterworfen ſind ledig-
lich folgende Gegenſtände:
- α) Verſchloſſene Briefe1).
- β) Zeitungen politiſchen Inhalts, welche öfter als einmal
wöchentlich erſcheinen.
Das Monopol der Poſt erſtreckt ſich nur ſoweit, als die Poſt-
verwaltung ſelbſt den Umfang ihres Geſchäftsbetriebes ausdehnt,
d. h. es iſt die Beförderung von Briefen und Zeitungen nur un-
terſagt von Orten mit einer Poſtanſtalt nach anderen Orten
mit einer Poſtanſtalt des In- oder Auslandes. Wo die
Poſtverwaltung eine Poſtanſtalt nicht errichtet, verzichtet ſie auf die
Ausübung des Monopols und giebt dadurch Briefbeförderung und
Zeitungsdebit frei 2). „Unter Poſtanſtalt iſt jede Poſteinrichtung
zu verſtehen, welche mindeſtens Briefe ſammelt und vertheilt“ 3);
d. h. ein Poſtamt oder eine Poſt-Agentur, da eine Perſon er-
forderlich iſt, welche die Annahme und Ausgabe der Briefe und
Zeitungen, die Erhebung der Gebühren, die Einſchreibung und die
Ertheilung von Empfangsbeſcheinigungen u. ſ. w. beſorgt. Freige-
geben vom Poſtzwang iſt ferner die Beförderung der Briefe an
demſelben Orte, auch wenn eine Stadtpoſt daſelbſt beſteht, und
hinſichtlich der politiſchen Zeitungen iſt dieſer vom Poſtzwange
eximirte Bezirk auf den zweimeiligen Umkreis ihres Urſprungsortes
d. h. des Ortes, an welchem ſie herausgegeben wird, ausgedehnt 4).
Verboten iſt nur die Beförderung der Briefe und Zeitungen
[310]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
gegen Bezahlung; die unentgeldliche Beſorgung des Transportes
ſteht jedem frei. Ob die Bezahlung in baarem Gelde oder in an-
deren Werthgegenſtänden geleiſtet wird, macht keinen Unterſchied;
auch iſt das Verbot nicht auf die gewerbemäßige Uebernahme
von Brief- und Zeitungstransporten beſchränkt; die einzelne und
gelegentliche Beförderung gegen Entgeld iſt ebenfalls eine Verletzung
des Poſtmonopols. Eine Ausnahme hiervon iſt jedoch für den
Fall gemacht, daß Briefe und politiſche Zeitungen gegen Bezahlung
durch expreſſe Boten oder Fuhren befördert werden, wofern ein
ſolcher Expreſſer nur von Einem Abſender abgeſchickt wird und dem
Poſtzwange unterliegende Gegenſtände weder von Anderen mit-
nimmt, noch für Andere zurückbringt 1).
Unverſchloſſene Briefe und Packete unterliegen dem Poſtzwange
nicht. Wenn jedoch unverſchloſſene Briefe in verſiegelten, zuge-
nähten oder ſonſt verſchloſſenen Packeten befördert werden, ſo ſind
ſie den verſchloſſenen Briefen gleich zu achten, unterliegen alſo dem
Poſtzwange. Ausgenommen hiervon ſind ſolche unverſchloſſene
Briefe, Fakturen, Preiskurante und ähnliche Schriftſtücke, welche
den Inhalt des Packets betreffen 2). Nach dem Wortlaute des
Poſtgeſetzes iſt es keine Verletzung des Poſtzwanges, wenn ein
Packet, welches verſchloſſene Briefe und Zeitungen enthält, der Poſt
zur Beförderung übergeben wird; eine ſtrafbare Portodefraudation
wird nicht verübt, wenngleich das für das Packet zu entrichtende
Porto geringer iſt als das Brief-Porto, welches für die einzelnen
in dem Packete enthaltenen Briefe erhoben worden wäre 3). Denn
[311]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
die Beförderung von einem Orte zum andern geſchieht auch in
dieſem Falle nicht „auf andere Weiſe, als durch die Poſt“.
Der Poſtzwang erſtreckt ſich auch auf diejenigen verſchloſſenen
Briefe und politiſchen Zeitungen, welche vom Auslande eingehen
und nach einem inländiſchen Ort mit Poſtanſtalt beſtimmt ſind, oder
durch das Gebiet des deutſchen Reiches tranſitiren ſollen. Dieſelben
müſſen bei der nächſten inländiſchen Poſtanſtalt zur Weiterbeförderung
eingeliefert werden 1).
Die Verletzung des Poſtmonopols wird mit dem vierfachen
Betrage des defraudirten Portos, jedoch mindeſtens mit einer Geld-
ſtrafe von drei Mark beſtraft 2).
b) Der Telegraphen-Zwang beſteht nur thatſächlich,
die rechtliche Anerkennung fehlt zur Zeit noch. Man hat zwar
verſucht, aus dem Art. 48 Abſ. 1, wonach das Telegraphenweſen
für das geſammte Reichsgebiet als einheitliche Staatsverkehrs-
Anſtalt eingerichtet und verwaltet wird, eine ſolche Anerkennung
herzuleiten 3). Allein mit Unrecht. Der Art. 48 ſpricht hinſicht-
lich der Telegraphie und der Poſt nur aus, daß die bis dahin
ſelbſtſtändigen Verwaltungen zu einer einheitlichen Verwaltung des
Reiches verbunden werden; aber ſo wenig wie er den Poſtzwang
ſanctionirt und ſo wenig er irgend Jemandem verbietet, Briefe,
Packete, Perſonen gegen Entgelt zu befördern und als Privat-
Unternehmer der Reichspoſt Concurrenz zu machen, eben ſo wenig
enthält der Art. 48 Abſ. 1 ein Verbot, telegraphiſche Leitungen
anzulegen und Telegramme gegen Entgeld zu befördern. Der
Art. 48 verfügt, daß die Poſt und Telegraphie als Staats-
Verkehrs-Anſtalten einheitlich vom Reich verwaltet werden, aber
er ſagt nicht, daß die Geſchäfte, denen ſich dieſe Anſtalten widmen,
nur von Staats-Anſtalten betrieben werden dürfen und Privat-
3)
[312]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Unternehmern unterſagt ſeien. Auch aus allgemeinen Gründen
läßt ſich ein Telegraphen-Regal, wo es nicht durch poſitives Ge-
ſetz eingeführt iſt, nicht darthun 1); denn daß der Telegraph dem
Publikum dient, zur öffentlichen Benutzung beſtimmt iſt und eine
ſtaatliche Controle ſeines Betriebes wünſchenswerth erſcheint, ſind
— wenn überhaupt Gründe — jedenfalls nur Gründe de lege
ferenda. Wenn man aber auch annehmen wollte, daß in der That
im Deutſchen Reich die Anlage und der Betrieb von Telegraphen
durch Privatperſonen verboten ſei, ſo wäre dieſes Verbot dennoch
eine lex imperfecta; denn es fehlt an jeglicher Strafbeſtimmung
für eine Verletzung deſſelben 2). Eine Ausnahme hievon macht
lediglich das Königreich Sachſen, welches für ſein Gebiet durch
das Geſetz v. 21. Sept. 1855 3) die Anlegung eines Telegraphen
von der ſtaatlichen Erlaubniß abhängig machte und die Verletzung
dieſer Anordnung mit Geldſtrafe, ſowie mit Confiskation der Ap-
parate und Leitungen bedrohte 4). Ferner iſt in Elſaß-Loth-
ringen das Franzöſ. Decret v. 27. Dezember 1851 in Geltung,
wonach ebenfalls eine Telegraphen-Leitung nur von der Regierung
oder unter ihrer Genehmigung angelegt oder zur Beförderung von
Depeſchen benutzt werden darf 5). Von dieſen Gebieten abgeſehen
fehlt es im Deutſchen Reiche an einer rechtlichen Grundlage, um ein
ausſchließliches Recht des Staates auf die Telegraphie in Anſpruch
zu nehmen. Thatſächlich aber ſind die großen Telegraphen-
Linien vom Staate oder den vom Staate dazu ermächtigten Eiſen-
[313]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
bahn-Unternehmern angelegt und betrieben worden und der Staat
allein iſt im Stande, auf große Strecken hinaus ſolche Anlagen
zu machen und zu unterhalten. Rechtlich ſteht es Jedem frei, auf
ſeinem eigenen Gebiete electro-magnetiſche Telegraphen anzulegen
und ſie im eigenen Geſchäftsbetriebe zu benutzen; in großen Pri-
vathäuſern, Hotels, Fabriken und anderen induſtriellen Etabliſſe-
ments wird von dieſer Befugniß häufig Gebrauch gemacht; den
großartigſten Anwendungsfall bieten die Betriebs-Telegraphen der
Eiſenbahnen. Wenn der Einzelne dieſe Befugniß auf ſeinem
Grundſtück hat, ſo kann er auch einem Fremden die Erlaubniß
ertheilen, eine Telegraphen-Leitung über das Grundſtück zu legen,
und ſo wäre es in der That denkbar, daß ein Unternehmer zwi-
ſchen zwei Orten eine telegraphiſche Leitung herſtellt, indem die
Beſitzer ſämmtlicher Grundſtücke, über welche er die Telegraphen-
Linie zieht, ihm die Befugniß dazu einräumen. Ebenſo wenig be-
ſteht ein rechtliches Hinderniß, daß der Unternehmer den ihm ge-
hörigen Telegraphen Anderen gegen Entgeld zur Benützung geſtattet
und ſonach aus der Beförderung telegraphiſcher Depeſchen ein Pri-
vat-Gewerbe macht. Ein wirkliches Telegraphennetz von großen
Dimenſionen und mit einem geordneten Anſchluß an andere Linien
gegen den Willen und ohne die Mithülfe des Staates herzuſtellen,
iſt aber einem Privat-Unternehmer wegen der thatſächlichen Schwie-
rigkeiten kaum möglich und ſo beſteht, wenn auch nicht de jure,
ſo doch de facto ein Telegraphen-Monopol des Reiches 1). Eine
Ausnahme hiervon machen lediglich die Betriebs-Telegraphen
der Eiſenbahnen, indem es den Eiſenbahn-Unternehmern ge-
ſtattet iſt, auch ſolche Telegramme anzunehmen und zu befördern,
welche nicht den Eiſenbahndienſt betreffen 2). Die Eiſenbahn-Tele-
[314]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
graphenſtationen dürfen jedoch nur dann von Jedermann Telegramme
annehmen, wenn keine Reichs-Telegraphenanſtalt an demſelben Orte
iſt; befindet ſich eine Reichs-Telegraphenanſtalt an demſelben Orte,
ſo dürfen ſie Telegramme nur von ſolchen Perſonen annehmen, die
mit den Eiſenbahnzügen ankommen, abreiſen oder durchreiſen 1).
Die Eiſenbahn-Telegraphen ſind, ſofern ſie die Korreſpondenz ver-
mitteln, der für die Reichstelegraphen geltenden Telegraphen-Ord-
nung unterworfen 2); insbeſondere haben ſie für dieſen Wirkungs-
kreis den Charakter der öffentlichen Verkehrsanſtalten, d. h. ſie
dürfen ordnungsmäßig formulirte Telegramme nicht
von der Annahme und Beförderung zurückweiſen3) und
ſie müſſen zur Bedienung des telegraphirenden Publikums während
der vorſchriftsmäßigen Dienſtſtunden bereit ſein 4). Der Geſchäfts-
Umfang der Eiſenbahn-Telegraphen erleidet dadurch eine erhebliche
Einſchränkung, daß ſie der Regel nach die ihnen aufgegebenen Tele-
gramme an die nächſte zur Vermittelung geeignete Reichs-Tele-
graphenanſtalt behufs der Weiterbeförderung zu überweiſen haben;
nur wenn das Telegramm von der Aufgabe- an die Adreßſtation
direct d. h. ohne jede Umtelegraphirung gegeben werden kann,
oder wenn das Telegramm auf dem Wege von der Aufgabe- bis
zur Adreßſtation nicht mehr als eine Umtelegraphirung zu erleiden
hat und am Orte der Adreßſtation eine Reichstelegraphenanſtalt
nicht beſteht, findet die Beförderung ausſchließlich mittelſt des Bahn-
telegraphen ſtatt 5). Um die Auswechſelung der Telegramme zu be-
ſchleunigen und zu erleichtern, ſind an geeigneten Orten die Bahntele-
graphen mit den Reichstelegraphen durch Leitungen zu verbinden 6).
Für diejenigen Telegramme, deren Beförderung ausſchließlich mit dem
Bahntelegraphen erfolgt iſt, fällt die dafür erhobene Gebühr unge-
2)
[315]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
theilt der Eiſenbahnkaſſe zu; in allen anderen Fällen tritt eine
Theilung zwiſchen der Eiſenbahnkaſſe und der Reichstelegraphen-An-
ſtalt ein 1).
2. Rechte an den Eiſenbahnen.
Als man in Deutſchland den Bau von Eiſenbahnen begann,
hatte der Poſtzwang hinſichtlich der Beförderung von Sachen und
Perſonen einen ſolchen Umfang, daß der Eiſenbahn-Betrieb durch
Privatunternehmer mit demſelben unvereinbar geweſen, jedenfalls
durch ihn erheblich erſchwert und beſchränkt worden wäre. Anderer-
ſeits boten die Eiſenbahnen für den Betrieb der Poſtanſtalt ein
vorzügliches und ſehr bald unentbehrliches Hülfsmittel dar. Es
wurde daher eine Ausgleichung zwiſchen den Bedürfniſſen der Poſt
und der Eiſenbahn, wo die letztere nicht ganz und gar Staatsver-
kehrsanſtalt war, in der Art gefunden, daß man die Eiſenbahnen
von dem aus dem Poſtregal ſich ergebenden Beſchränkungen befreite
und ſie dafür verpflichtete, der Poſtverwaltung die für dieſelben
erforderlichen Leiſtungen zu gewähren. Der Umfang derſelben und
die den Eiſenbahnen etwa zu zahlenden Vergütungen wurden in den
Konzeſſionen, welche den einzelnen Eiſenbahn-Unternehmern er-
theilt wurden, vertragsmäßig feſtgeſtellt. In größeren Staaten
mußten hierbei aber gleichmäßige Grundſätze befolgt werden und
es ſtellte ſich in Folge deſſen das Bedürfniß heraus, dieſelben ge-
ſetzlich zu normiren. Dies iſt zuerſt geſchehen in dem Preußi-
ſchen Geſetz über die Eiſenbahn-Unternehmungen v.
3. Novemb. 1838 §. 36 3), deſſen Vorſchriften nicht nur hiſtoriſch
ſondern auch in ihren wichtigſten Beſtimmungen materiell dem gegen-
wärtigen Rechte zu Grunde liegen. Die Preuß. Poſtgeſetze v. 5.
Juni 1852 §. 9 und v. 21. Mai 1860 §. 5 haben den §. 36 des
Eiſenbahngeſetzes v. 1838 aufrecht erhalten, in den im Jahre 1866
erworbenen Gebieten iſt er durch V. v. 19. Aug. 1867 eingeführt
[316]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
worden 1), ſo daß er bei Gründung des Nordd. Bundes in dem
weitaus größten Theile des Bundesgebietes geſetzliche Geltung
hatte. Auch das Poſtgeſ. v. 2. Nov. 1867 §. 5 2) erhielt ihn in
Kraft und beſtimmte zugleich, daß bei neu zu konzeſſionirenden
Eiſenbahn-Unternehmungen das Bundespräſidium die erforderlichen
Anordnungen wegen gleichmäßiger Bemeſſung der den Eiſenbahnen
im Intereſſe der Poſt aufzuerlegenden Verpflichtungen treffen werde
und daß dieſe Verpflichtungen nicht über das Maaß derjenigen Ver-
bindlichkeiten hinausgehen ſollen, welche den neu zu erbauenden
Eiſenbahnen nach den bisher in den älteren öſtlichen Landestheilen
Preußens geltenden Geſetzen obliegen. Dieſe Anordnungen ſind
vom Bundes-Präſidium ergangen; ſie ſchließen ſich mit einigen Ab-
änderungen ſehr eng an die Vorſchriften des §. 36 des Eiſenbahn-
geſetzes v. 3. Nov. 1838 an 3). Da die Poſt nun aber für Rech-
nung des Bundes, die Staatsbahnen dagegen für Rechnung der
Einzelſtaaten betrieben wurden, ſo genügte es nicht, die Rechte der
Poſt gegen die Privat-Eiſenbahnen feſtzuſtellen; ſondern es mußten
auch die von den Staats-Eiſenbahnen der Poſt zu leiſtenden Dienſte
normirt werden. Dies iſt erfolgt durch ein im Bundesrathe ver-
einbartes Reglement v. 1. Januar 1868, das ebenfalls mit den
Vorſchriften des Preußiſchen Rechtes im Weſentlichen übereinſtimmt
und gemäß Bundes-Beſchluſſes v. 4. Dezemb. 1867 bis zum 31.
Dezember 1875 Geltung haben ſollte 4). Bei dem Eintritt Badens
in die Reichspoſtverwaltung am 1. Januar 1872 wurde für einen
Zeitraum von 8 Jahren, alſo bis zum Ablaufe des Jahres 1879,
dieſes Reglement auf die Badiſchen Staatsbahnen ausgedehnt und
der Badiſchen Regierung für die Leiſtungen ihrer Staatsbahnen zu
Poſtzwecken eine jährliche Vergütung von 48,900 Thlr. für dieſen
Zeitraum zugeſichert 5).
[317]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Das Poſtgeſetz vom 28. Oktob. 1871 §. 4 hat die Beſtim-
mungen des Poſtgeſ. des Nordd. Bundes vom 2. Nov. 1867 §. 6
wiederholt; ihre Geltung auf Bayern und Württemberg mit Rück-
ſicht auf Art. 52 der R.-V. aber nicht ausgedehnt.
Da das Reglement v. 1. Januar 1868 mit dem Ablauf des
Jahres 1875 außer Geltung trat, ſo wurde dem Reichstag v. 1875
ein Geſetzentwurf vorgelegt, welcher das Rechtsverhältniß der Poſt
zu den Eiſenbahnen, ſowohl den Staats- wie den Privatbahnen
einheitlich und mit geſetzlicher Kraft regeln ſollte. Das in Folge
deſſen erlaſſene Reichsgeſetz vom 20. Dezemb. 1875 1) iſt
ſeit dem 1. Januar 1876 an die Stelle des §. 4 des Poſtgeſetzes
v. 28. Oktob. 1871 getreten 2). Dieſes Geſetz gilt ebenfalls in
Bayern und Württemberg nicht 3), da dieſe beiden Staaten die
Poſt ſelbſtſtändig und auf eigene Rechnung verwalten. Das Geſetz
hat ferner die auf ſpeziellem Rechtstitel beruhenden Rechte, insbe-
ſondere die durch Konzeſſionen oder Verträge begründeten Rechts-
verhältniſſe zwiſchen der Poſt und den Eiſenbahnen unberührt ge-
laſſen 4); es findet auf ſolche Bahnen oder ihre zukünftig konzeſſio-
nirte Erweiterungen durch Neubauten nur inſoweit Anwendung, als
dies nach den Konzeſſionsurkunden zuläſſig iſt. Den konzeſſionirten
Eiſenbahn-Unternehmern ſteht jedoch das Recht zu, an Stelle der
ihnen konzeſſionsmäßig obliegenden Verpflichtungen für die Zwecke
des Poſtdienſtes die durch das gegenwärtige Geſetz angeordneten Lei-
ſtungen zu übernehmen; ſie haben alſo ein Wahlrecht zwiſchen den
vertragsmäßigen (konzeſſionsmäßigen) und den geſetzmäßigen Lei-
ſtungen 5). Im Uebrigen kommt das Geſetz nicht blos gegenüber
[318]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
den Privatbahnen zur Anwendung, ſondern auch hinſichtlich der im
Eigenthum des Reiches oder eines Bundesſtaates befindlichen, ſo-
wie auf die in das Eigenthum des Reiches oder eines Bundes-
ſtaates übergehenden Eiſenbahnen 1).
Für ſchmalſpurige Eiſenbahnen und für Eiſenbahnen von un-
tergeordneter Bedeutung kann der Reichskanzler die geſetzlichen Ver-
pflichtungen für die Zwecke des Poſtdienſtes ermäßigen oder ganz
erlaſſen 2).
Die Rechte der Poſt beziehen ſich auf die Betriebs-Einrich-
tungen, auf die unentgeldliche Beförderung von Poſttransporten,
auf die Gewährung von Transportmitteln, ſowie auf die Berechnung
oder Vergütung für die gegen Entgeld zu gewährenden Leiſtungen.
a) Die Eiſenbahnen ſind verpflichtet, ihren Betrieb, ſoweit es
die Natur und die Erforderniſſe deſſelben geſtatten, ſo einzurichten,
daß er den Bedürfniſſen des Poſtdienſtes entſpricht. Dahin gehört
z. B. die Anordnung des Fahrplanes in der Art, daß einerſeits
die Poſt Anſchluß findet und daß ſie andererſeits an den Stationen
die genügende Friſt für die Ein- und Ausladung der Poſtſendungen
hat. Die Einlegung beſonderer Züge für die Zwecke des Poſt-
dienſtes kann jedoch von der Poſtverwaltung nicht beanſprucht wer-
den 3). Auch kann die Mitbeförderung ſolcher Päckereien, welche
nicht zu den Brief- und Zeitungspacketen gehören, bei Zügen, deren
Fahrzeit beſonders kurz bemeſſen iſt, beſchränkt oder ausgeſchloſſen
werden, wenn dies von der Eiſenbahn-Aufſichtsbehörde zur Wah-
rung der pünktlichen und ſicheren Beförderung der betreffenden Züge
für nothwendig erachtet wird und andere zur Mitnahme der
Päckereien geeignete Züge auf der betreffenden Bahn eingerichtet
ſind 4). Bei der Errichtung oder bei dem Um- oder Erweiterungs-
bau von Stationsgebäuden ſind auf Verlangen der Poſtverwaltung
die durch den Eiſenbahnbetrieb bedingten für den Poſtdienſt erfor-
derlichen Dienſträume herzuſtellen; falls in der Nähe der Bahn-
[319]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
höfe geeignete Privatwohnungen nicht vorhanden ſind, auch Dienſt-
wohnungsräume für diejenigen Poſtbeamten, welche zur Verrichtung
des durch den Eiſenbahnbetrieb bedingten Poſtdienſtes erforderlich
ſind. Die Herſtellung und Unterhaltung dieſer Räume liegt der
Eiſenbahn ob; die Poſt hat dafür eine Miethsentſchädigung zu be-
zahlen 1). Das Miethsverhältniß iſt unkündbar und kann nur im
Einverſtändniß beider Verwaltungen aufgelöſt werden 2).
Beſteht zwiſchen der Poſtverwaltung und einer Eiſenbahn-Ver-
waltung eine Meinungsverſchiedenheit über die Bedürfniſſe des Poſt-
dienſtes und über die Natur und die Erforderniſſe des Eiſenbahn-
betriebes, ſo iſt der Rechtsweg zur Entſcheidung des Streites
ausgeſchloſſen. Die Poſtverwaltung hat ſich zunächſt an die
der Eiſenbahn-Verwaltung vorgeſetzte Landes-Aufſichtsbehörde zu
wenden; will ſie ſich bei dem Ausſpruche derſelben nicht beruhigen,
ſo entſcheidet der Bundesrath nach Anhörung der Reichs-Poſt-
Verwaltung und des Reichs-Eiſenbahn-Amtes 3).
b) Die Pflicht der Eiſenbahnen zur unentgeldlichen Beförderung
erſtreckt ſich auf die Briefpoſtſendungen, Zeitungen, Gelder mit Ein-
ſchluß des ungemünzten Goldes und Silbers, Juwelen und Pretioſen
ohne Unterſchied des Gewichts; ferner auf ſonſtige Poſtſtücke bis
zum Einzelngewichte von 10 Kilogramm einſchließlich. Dieſe Ver-
pflichtung der Eiſenbahnen entſpricht ſonach durchaus nicht dem
Umfange des Poſt zwangs, reicht vielmehr viel weiter; anderer-
ſeits erſtreckt ſie ſich nicht ſoweit, wie der Geſchäftsumfang
der Poſt. Außer den Poſtſendungen müſſen unentgeldlich befördert
werden die zur Begleitung der Poſtſendungen, ſowie zur Verrich-
tung des Dienſtes unterwegs erforderlichen Poſtbeamten, auch wenn
dieſelben vom Dienſte zurückkehren, ſowie die Geräthſchaften, deren
die Poſtbeamten unterwegs bedürfen.
Dieſe Verpflichtung der Eiſenbahnen findet aber dadurch eine
[320]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Begränzung, daß dieſelben mit jedem für den regelmäßigen Beför-
derungsdienſt der Bahn beſtimmten Zuge nur Einen Poſtwagen
unentgeldlich zu befördern brauchen 1).
Eine Vergütung haben die Eiſenbahnen daher zu verlangen
für Poſtſtücke, welche nicht unentgeldlich zu befördern ſind, auch
wenn ſie in dem Einen Poſtwagen untergebracht werden, und zwar
berechnet ſich die Frachtvergütung nach der Geſammtmenge der auf
der betreffenden Eiſenbahn ſich bewegenden zahlungspflichtigen Poſt-
ſtücke für den Achskilometer 2). Ebenſo iſt den Eiſenbahnen eine
Vergütung zu bezahlen, wenn ſie in einem Zuge mehr als Einen
Poſtwagen befördern, wenngleich dieſelben mit Poſtſtücken, die un-
entgeldlich zu befördern ſind, befrachtet werden; die Vergütung
wird nach den Achskilometern berechnet, welche die mehr beförder-
ten Poſtwagen auf der Eiſenbahnſtrecke zurückgelegt haben. Für
das Poſt-Begleitungsperſonal und die für den Dienſt erforderlichen
Geräthſchaften wird eine Vergütung nicht gezahlt 3). Die Eiſen-
bahnen ſind verpflichtet, auf rechtzeitige Anmeldung mehrere Poſt-
wagen zur Beförderung zuzulaſſen 4).
c) Die für den regelmäßigen Dienſt erforderlichen Eiſenbahn-
Poſtwagen werden zwar auf Koſten der Poſtverwaltung angeſchafft
und unterhalten 5), die Eiſenbahn-Verwaltungen ſind aber ver-
pflichtet, im Falle des Mehrbedürfniſſes oder falls die der Poſt
gehörigen Wagen beſchädigt oder laufunfähig werden, der Poſtver-
waltung geeignete Güterwagen oder einzelne geeignete Abtheilungen
von Perſonenwagen zur Aushülfe gegen die übliche Wagenmieths-
Entſchädigung zu überlaſſen 6). Auch ſind die Eiſenbahn-Verwal-
[321]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
tungen verbunden, die Unterhaltung, äußere Reinigung, das
Schmieren und das Ein- und Ausrangiren der Poſtwagen gegen
eine den Selbſtkoſten entſprechende Vergütung zu bewirken 1). Der
Poſtverwaltung ſteht es auch frei, ſtatt die Stellung von Trans-
portmitteln zu verlangen, der Eiſenbahn-Verwaltung Poſtſendungen,
mit Ausnahme von Geld- oder Werthſendungen, zur eigenen
Beförderung zu überweiſen, wofern bei dem betreffenden Zuge
überhaupt Güter (Eil- oder Frachtgüter) befördert werden 2).
d) Für die von der Poſt an die Eiſenbahnen zu leiſtenden
Vergütungen iſt das Prinzip entſcheidend, daß keine der beiden
Verwaltungen auf Koſten der andern ſich bereichern ſoll. Die
Eiſenbahn muß ſich daher für die von ihr für Zwecke des Poſt-
dienſtes gemachten Auslagen und Verwendungen mit Erſtattung
der Selbſtkoſten oder der üblichen Miethsentſchädigung begnügen 3),
für die von ihr ausgeführten entgeldlichen Transportdienſte aber
die Geſammtmaſſe ihrer Leiſtungen für Poſtzwecke der Berechnung
zu Grunde legen 4).
Die näheren Anordnungen über die Feſtſetzung und die Be-
rechnung der zu zahlenden Vergütung ſind von dem Reichskanzler
nach Anhörung der Reichs-Poſtverwaltung und des Reichs-Eiſen-
bahn-Amts unter Zuſtimmung des Bundesrathes zu erlaſſen 5).
Wenn bei dem Betriebe einer Eiſenbahn ein im Dienſt befind-
licher Poſtbeamter getödtet oder verletzt worden iſt und die Eiſen-
bahn-Verwaltung auf Grund des Haftpflicht-Geſetzes vom 7. Juni
1871 Schadenserſatz dafür geleiſtet hat, ſo ſteht ihr der Regreß
an die Poſtverwaltung zu, falls nicht der Tod oder die Körper-
verletzung durch ein Verſchulden des Eiſenbahnbetriebs-Unterneh-
mers oder einer der im Eiſenbahnbetrieb verwendeten Perſonen
herbeigeführt worden iſt 6).
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 21
[322]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Durch Beſchluß des Bundesrathes des Nordd.
Bundes v. 21. Dezember 1868 1) ſind den Eiſenbahn-Verwal-
tungen im Intereſſe der Telegraphen-Anſtalten Verpflichtungen auf-
erlegt, deren weſentlicher Inhalt in Folgendem beſteht:
a) Das Eiſenbahnterrain, welches außerhalb des vorſchrifts-
mäßigen freien Profils liegt und ſoweit es nicht zu Seitengräben,
Einfriedigungen u. ſ. w. benutzt wird, iſt zur Anlage von ober-
irdiſchen und unterirdiſchen Reichs-Telegraphen-Linien unentgeld-
lich zu geſtatten. Dafür iſt der Eiſenbahn-Verwaltung die un-
entgeldliche Mitbenutzung der von der Telegraphen-Verwaltung
errichteten Stangen geſtattet.
b) Den Telegraphenbeamten und deren Hülfsarbeitern iſt be-
hufs Ausführung ihrer Geſchäfte das Betreten der Bahn unter
Beachtung der bahnpolizeilichen Beſtimmungen geſtattet. Den Be-
amten iſt auf allen Zügen, einſchließlich der Güterzüge, die Be-
nutzung eines Schaffnerſitzes oder Dienſtcoupés gegen Löſung von
Fahrbillets der III. Wagenklaſſe geſtattet. Zum Transport von
Leitungs-Materialien iſt die Benutzung von Bahnmeiſterwagen
unter bahnpolizeilicher Aufſicht gegen eine Vergütung von 50 Pf.
für Wagen und Tag und von 2 Mark pro Tag der Aufſicht zu
geſtatten. Die Lagerung der Vorräthe von Telegraphen-Stangen
auf den dazu geeigneten Bahnhöfen iſt unentgeldlich zu geſtatten.
c) Die Eiſenbahn-Verwaltung hat die Reichs-Telegraphen-
Anlagen an der Bahn gegen eine Entſchädigung bis zur Höhe von
30 M. (nach beſonderem Uebereinkommen) pro Jahr und Meile
durch ihr Perſonal bewachen und in Fällen der Beſchädigung nach
Anleitung der von der Telegraphen-Verwaltung erlaſſenen In-
ſtruktion proviſoriſch wieder herſtellen, auch von jeder wahrgenom-
menen Störung der Linien der nächſten Reichs-Telegraphen-
Station Anzeige machen zu laſſen.
d) Die Eiſenbahn-Verwaltung hat bei vorübergehenden Unter-
6)
[323]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
brechungen und Störungen des Reichs-Telegraphen alle Depeſchen
der Reichs-Telegraphen-Verwaltung mittelſt ihres Telegraphen, ſo-
weit derſelbe nicht für den Eiſenbahnbetriebsdienſt in Anſpruch
genommen iſt, unentgeldlich zu befördern, wofür die Reichs-
Telegraphen-Verwaltung in der Beförderung von Eiſenbahn-Dienſt-
depeſchen Gegenſeitigkeit ausüben wird.
3. Rechte an öffentlichen Straßen.
a) Die Poſtverwaltung iſt von der Entrichtung von Chauſ-
ſeegeldern und anderen Kommunikations-Abgaben 1) befreit für die
ordentlichen Poſten 2) nebſt deren Beiwagen, die auf Koſten des
Staates beförderten Kuriere und Eſtafetten, die von Poſtbeförde-
rungen ledig zurückkommenden Poſtfuhrwerke und Poſtpferde, die
Briefträger und die Poſtboten. Dieſe Befreiung findet nicht blos
an den Staatsſtraßen ſtatt, ſondern auch gegen die zur Erhebung
ſolcher Abgaben berechtigten Korporationen, Gemeinden oder Privat-
perſonen, jedoch unbeſchadet wohlerworbener d. h. auf ſpeciellem
Rechtstitel beruhender Rechte 3).
b) Die Telegraphen-Verwaltung iſt berechtigt, das
Terrain der öffentlichen, unter ſtaatlicher Verwaltung ſtehenden
Straßen zur Anlage von oberirdiſchen und unterirdiſchen Telegraphen-
linien unentgeldlich zu benützen, ſoweit dies ohne Behinderung des
Staßenverkehrs thunlich iſt. Jedoch muß die Telegraphen-Verwal-
tung die bei Anlage der Telegraphen-Leitungen erfolgten Beſchä-
digungen des Straßenkörpers (Planum, Böſchungen, Gräben) auf
eigene Koſten nach Anweiſung der Straßenbau-Verwaltung wieder
herſtellen. Die Letztere iſt verpflichtet, durch ihr Straßen-Aufſichts-
perſonal die Telegraphen-Anlagen bewachen, im Falle der Beſchä-
digung ſie proviſoriſch wieder herſtellen und die nächſte Telegraphen-
Station benachrichtigen zu laſſen, auch bei den Anpflanzungen, Aus-
äſtungen u. ſ. w. auf die Bedürfniſſe der Telegraphie Rückſicht zu
21*
[324]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
nehmen. Dieſelben Verpflichtungen ſollen bei Konzeſſionsertheilungen
für den Bau neuer Kunſtſtraßen den Unternehmern auferlegt und für
die bereits konzeſſionirten Kunſtſtraßen inſoweit eingeführt werden,
als die Reichstelegraphen-Verwaltung es beantragt und die Be-
ſtimmungen der Konzeſſions-Urkunden es geſtatten. Auf die Straßen
innerhalb der Städte finden dieſe Vorſchriften keine Anwendung.
Dieſe Verpflichtungen der öffentlichen Straßenbauverwaltungen
beruhen auf dem unter den Regierungen des Norddeutſchen Bundes
vereinbarten Bundesrathsbeſchluß v. 25. Juni 1869 1);
durch denſelben ſind aber die zwiſchen der Reichstelegraphen-Ver-
waltung und den einzelnen Bundesſtaaten beſtehenden Verträge über
den in Rede ſtehenden Gegenſtand unberührt geblieben.
4. Vorſchriften zur Sicherung des Betriebes
der Poſtanſtalt.
Das Poſtgeſetz enthält einige Anordnungen, welche die Wege-
polizei, Pfändung, Beſchlagnahme u. ſ. w. betreffen, um die Poſt-
anſtalt vor plötzlichen und unvorhergeſehenen Störungen, Hemmniſſen
und Unterbrechungen ihres Geſchäftsbetriebes zu ſichern.
a) Jedes Fuhrwerk muß den ordentlichen Poſten, ſowie den
Extrapoſten, Kurieren und Eſtafetten auf das übliche Signal aus-
weichen 2). Die Thorwachen, Thor-, Brücken- und Barrière-Beamten
ſind verbunden, die Thore und Schlagbäume ſchleunigſt zu öffnen, ſo-
bald der Poſtillon das übliche Signal giebt; ebenſo müſſen auf daſſelbe
die Fährleute die Ueberfahrt unverzüglich bewirken 3). Die Befol-
gung dieſer Vorſchriften iſt durch [Androhung] einer Strafe von
1—30 Mark geſichert 4).
b) Wenn die gewöhnlichen Poſtwege gar nicht oder ſchwer zu
paſſiren ſind, können die ordentlichen Poſten, die Extrapoſten,
Kuriere und Eſtafetten ſich der Neben- und Feldwege, ſowie der
ungehegten Wieſen und Aecker bedienen, unbeſchadet jedoch des
Rechts der Eigenthümer auf Schadenerſatz 5). Hieraus ergiebt ſich
zugleich, daß wenn Poſten von dieſem Rechte Gebrauch machen, ſie
[325]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
von dem Beſitzer des Grundſtücks oder ſeinen Leuten nicht gepfändet
werden dürfen, da die Pfändung nur wegen unbefugten und
widerrechtlichen Betretens geſtattet iſt. Das Poſtgeſetz hat dieſe
Folgerung ausdrücklich gezogen und überdies die Pfändung gegen
ordentliche Poſten, Extrapoſten, Kuriere, Eſtafetten und Poſtillone,
welche mit dem ledigen Geſpann zurückkehren, mit einer Geldſtrafe
von 1—30 Mark bedroht 1).
c) Wenn den ordentlichen Poſten, Extrapoſten, Kurieren oder
Eſtafetten unterwegs ein Unfall begegnet, ſo ſind die Anwohner
der Straße verbunden, denſelben die zu ihrem Weiterkommen er-
forderliche Hülfe gegen vollſtändige Entſchädigung ſchleunigſt zu ge-
währen 2). Einen Rechtsſchutz erhält dieſe Anordnung durch das
R.-St.-G.-B. §. 360 Z. 10, wonach mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark
oder mit Haft derjenige bedroht wird, welcher bei Unglücksfällen
von der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hülfe
aufgefordert, keine Folge leiſtet, obgleich er der Aufforderung ohne
erhebliche eigene Gefahr genügen konnte. Die Poſtbeamten oder
Poſtillone müſſen daher, wenn die Anwohner der Straße die von
ihnen verlangte Hülfeleiſtung verweigern, ſich an die Ortspolizeibe-
hörde wenden und durch dieſe die Anwohner zur Hülfeleiſtung auf-
fordern laſſen 3).
d) Das Inventarium der Poſthaltereien darf im Wege des
Arreſtes oder der Exekution nicht mit Beſchlag belegt werden 4).
Die vorſchriftsmäßig zu haltenden Poſtpferde und Poſtillone dürfen
zu den behufs der Staats- und Communalbedürfniſſe zu leiſtenden
Spanndienſten nicht herangezogen werden 5). Die von den Poſt-
haltern kontraktmäßig zu haltenden Pferde brauchen bei Mobil-
machung der Armee nicht der Militairbehörde überlaſſen zu werden 6).
[326]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
e) Das R.-Strafgeſetzb. §. 317. 318 bedroht denjenigen mit
Strafe, der vorſätzlich oder fahrläſſigerweiſe Handlungen begeht,
durch welche die Benutzung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden
Telegraphen-Anſtalt verhindert oder geſtört wird 1).
5. Rechte an unbeſtellbaren Poſtſendungen und
zurückgelaſſenen Paſſagier-Effekten.
Beträge, welche in einer Poſtſendung enthalten ſind, die weder
an den Adreſſaten beſtellt, noch an den Abſender zurückgegeben
werden kann, oder welche aus dem Verkaufe der vorgefundenen
Gegenſtände gelöſt werden 2), ferner Poſtanweiſungsbeträge, welche
der Abſender eingezahlt hat, Poſtvorſchußbeträge, welche der Adreſſat
entrichtet hat, und Geldbeträge, welche auf Grund eines Poſtauf-
trages eingezogen worden ſind, falls dieſe Beträge weder dem Ab-
ſender noch dem Adreſſaten ausgezahlt werden können, endlich zu-
rückgelaſſene Paſſagier-Effekten oder die aus dem Verkaufe derſelben
erzielten Beträge ſind nach Abzug des Porto’s und der ſonſtigen
Koſten der Poſtarmen- oder Unterſtützungskaſſe zu über-
weiſen. Meldet ſich ſpäter der Abſender oder der Adreſſat, be-
ziehentl. der Verlierer der Paſſagier-Effekten, ſo iſt die Poſtarmen-
oder Unterſtützungskaſſe verpflichtet, demſelben die ihr zugefloſſenen
Summen, jedoch ohne Zinſen, zurückzuerſtatten 3).
Weſentliche Vorausſetzung dieſes Rechtes iſt, daß die Poſt den
Beſitz der unbeſtellbaren Geldbeträge oder Sachen auf Grund eines
Beförderungs-Vertrages erhalten hat, daß ſie ihr alſo zum Zwecke
der Beförderung übergeben worden ſind 4). Gegenſtände,
welche in den Dienſträumen der Poſtanſtalt oder in Brief-Sammel-
kaſten oder ſonſt bei Gelegenheit des Betriebes der Poſtgeſchäfte
[327]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
von den Poſtbeamten gefunden werden, ſind nach den Vorſchriften
der Landesgeſetze über gefundene Sachen zu behandeln 1).
Auch hinſichtlich des formellen Verfahrens iſt zwiſchen den der
Poſt übergebenen, unanbringlichen Sendungen und den gelegent-
lich beim Betrieb des Poſtgeſchäftes gefundenen Sachen zu un-
terſcheiden. Die Vorſchriften über das Verfahren mit unanbring-
lichen Poſtſendungen hat auf Grund des Poſtgeſetzes §. 50 Nr. 4
der Reichskanzler zu erlaſſen; ſie ſind in der Poſtordnung §. 40
enthalten 2). Für das gerichtliche Aufgebot der von Poſtbeamten
bei Gelegenheit ihrer Dienſtverrichtungen gefundenen Sachen kommen
dagegen die Regeln der Civilproceß-Ordnung §§. 823 ff. zur An-
wendung; jedoch ſteht es den Einzelſtaaten frei, im Wege der Lan-
desgeſetzgebung die [Anwendung] dieſer Vorſchriften auf das
Aufgebot gefundener Sachen auszuſchließen oder durch andere Be-
ſtimmungen zu erſetzen 3).
V.Das Rechtsverhältniß aus den von der Poſt- und
Telegraphen-Verwaltung abgeſchloſſenen Beförde-
rungs-Verträgen.
Das Rechtsverhältniß der Poſt- und Telegraphen-Verwaltung
hinſichtlich der Ausführung eines Transportes irgend welcher Art
iſt in allen Fällen ein vertragsmäßiges, gleichviel ob der
Transport entgeldlich und unentgeldlich ausgeführt wird und gleich-
viel ob dem andern Contrahenten die Wahl zwiſchen mehreren
Transport-Unternehmern freiſtand oder der Poſtzwang dieſe Wahl
ausſchloß 4). Ausgenommen ſind allein diejenigen Fälle, in denen
das Reich ſich ſeiner eigenen Poſt- und Telegraphen-Anſtalt zur
[328]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Ausführung von Transporten bedient, da der Reichsfiskus, ſowenig
wie irgend ein anderes Rechtsſubjekt, mit ſich ſelbſt contrahiren
kann. Soweit die Poſt- und Telegraphen-Anſtalt Transporte von
Briefen und anderen Poſtſendungen oder von telegraphiſchen Depeſchen
für das Reich ausführt, ſind ihre Dienſte rein thatſächlicher
Natur; ein Rechtsverhältniß zwiſchen der Poſt und dem Reiche
oder den abſendenden Reichsbehörden wird dadurch nicht begrün-
det 1). Dagegen ſtehen die Einzelſtaaten, welche ſich der Reichs-
Poſt- und Telegraphen-Anſtalt bedienen, derſelben wie andere Per-
ſonen als Contrahenten obligatoriſcher Verträge gegenüber.
Aus dem an die Spitze geſtellten Prinzip ergiebt ſich, daß die
Entrichtung des Porto’s u. ſ. w. nicht unter den Geſichtspunkt der
Steuerzahlung gebracht werden darf, ſondern juriſtiſch die Leiſtung
einer vertragsmäßigen Geldſchuld iſt 2), und daß ebenſo die von
der Poſt zu gewährenden Leiſtungen nicht beurtheilt werden dürfen,
wie Leiſtungen, die der Staat als ſolcher (d. h. im publiziſtiſchen
Sinne) zur Führung der Regierungsgeſchäfte oder zur Hebung der
Volkswohlfahrt macht 3), ſondern als Leiſtungen des Fiskus be-
hufs Erfüllung von ihm contrahirter Verpflichtungen.
Daraus folgt ferner, daß prinzipiell die Poſtanſtalt mit
Demjenigen, der mit ihr contrahirt, die Vertragsbedingungen ver-
einbaren kann, ſoweit nicht verbietende Rechtsgrundſätze entgegen-
ſtehen, und daß zur Ergänzung der vertragsmäßig getroffenen Be-
ſtimmungen die Vorſchriften des Privatrechts zur Anwendung kom-
men. Wie aber bereits in anderem Zuſammenhange dargethan
worden iſt, kann es den Poſtanſtalten nicht in jedem einzelnen
Falle überlaſſen ſein, die Bedingungen des Vertrages zu verab-
reden, abgeſehen von einigen nicht wichtigen und minder häufigen
Ausnahmefällen; ſondern die Poſt muß als öffentliche Verkehrsanſtalt
Normalbeſtimmungen aufſtellen, unter denen ſie gleichmäßig mit
[329]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Allen zu contrahiren bereit iſt. Dadurch wird die Vertrags-
freiheit der Poſt als einheitliches Inſtitut nicht aufge-
hoben, ſondern nur die Befugniß der einzelnen Poſtämter und Poſt-
beamten zur Vertretung der Poſtanſtalt beim Abſchluß der Verträge
beſchränkt. Und zwar in doppelter Beziehung; die Poſtbeamten
dürfen von den Spezialbeſtimmungen, welche für die Geſchäfte
der Poſt erlaſſen ſind, bei dem Abſchluß dieſer Geſchäfte nicht ab-
weichen; ſie dürfen aber auch andererſeits, ſoweit keine Spezial-
beſtimmungen erlaſſen ſind, von den allgemeinen, zur Ergänzung,
der Spezialbeſtimmungen dienenden Rechtsvorſchriften nicht ab-
weichen 1). Faßt man die einzelnen, von den Poſtämtern geſchloſ-
ſenen Geſchäfte in das Auge, ſo kehrt ſich allerdings der Grund-
ſatz des Privatrechts, daß die Parteien beim Abſchluß von ver-
mögensrechtlichen Verträgen volle Dispoſitionsfreiheit haben, ſo weit
nicht ausnahmsweiſe ein Rechtsſatz zum ius cogens erklärt iſt, in
das Gegentheil um. Bei den einzelnen Geſchäften der Poſtan-
ſtalt können Abweichungen von den dafür ergangenen allgemeinen
Vorſchriften und den Anordnungen des Privatrechts nicht ver-
abredet werden, ſo weit nicht ausnahmsweiſe für beſondere Fälle
dies für ſtatthaft erklärt iſt 2). Die Poſtverwaltung als ſolche aber
kann durch Erlaß allgemeiner Anordnungen Spezialvorſchriften für
die Geſchäfte aufſtellen, d. h. die naturalia negotii (das bürger
liche Recht) ausſchließen.
Nach den oben S. 214 ff. gegebenen Ausführungen iſt die Auf-
ſtellung ſolcher allgemeiner Normativ-Beſtimmungen für die Ver-
träge ein Verwaltungsakt; denn es handelt ſich dabei um eine
Bethätigung der allgemeinen Handlungs- (Vertrags-) freiheit intra
legem (d. h. unter Beobachtung des ius cogens). Der Regel
nach wird alſo die Regierung dieſe Bedingungen in der Form des
Verwaltungsaktes d. h. durch Reglement, Inſtruktion, Verordnung
erlaſſen können.
[330]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Bei der großen Bedeutung dieſer Anordnungen für den Ver-
kehr, die Volkswohlfahrt und die Staatsfinanzen iſt es aber er-
klärlich, daß man die wichtigſten Beſtimmungen unter Zuſtimmung
der Volksvertretung d. h. in der Form und mit der Kraft des
Geſetzes zu erlaſſen pflegt. Soweit dies der Fall iſt, hat dies
eine dreifache Wirkung. Erſtens bildet das ius cogens keine
Schranke, es kann durch ein Spezialgeſetz für die Geſchäfte der
Poſt beſeitigt werden. Zweitens iſt die Freiheit der Verwaltung
in der Normirung der Bedingungen ausgeſchloſſen, ſoweit die im
Wege des Geſetzes erlaſſenen Vorſchriften reichen. Drittens haben
dieſe Vorſchriften die Natur von Rechtsnormen, ſie bilden ein Spe-
zialrecht für die Geſchäfte der Poſt. Diejenigen Bedingungen da-
gegen, deren Feſtſtellung der Verwaltung überlaſſen iſt, dürfen
nicht gegen das ius cogens vorſtoßen, ſie können im Wege der
Verordnung abgeändert werden und ſie haben den Charakter von
Vertragsnormen1). Das Reichspoſtgeſetz §. 50 Abſ. 2 hat
dies anerkannt, indem es beſtimmt:
„Dieſe Vorſchriften (nämlich das von dem Reichskanzler zu
erlaſſende Reglement) gelten als Beſtandtheil des Ver-
trages zwiſchen der Poſtanſtalt und dem Abſender, beziehungs-
weiſe Reiſenden“2).
Derſelbe Satz findet auch auf die Telegraphen-Ordnung An-
wendung, obgleich er in derſelben nicht ausdrücklich ausgeſprochen
iſt. Sie iſt, ſoweit ſie die interne Korreſpondenz im Gebiete der
Reichstelegraphen-Verwaltung betrifft, in allen Beziehungen dem
Poſtreglement gleich zu ſtellen 3).
[331]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Die Abgränzung derjenigen Beſtimmungen, welche in der Form
des Geſetzes zu erlaſſen ſind, von denjenigen, die durch Verwal-
tungsakte getroffen werden können, iſt nicht prinzipiell zu gewinnen,
ſondern nach finanziellen, politiſchen, techniſchen und anderen Er-
wägungen. Die Verf. des Nordd. Bundes Art. 48 Abſ. 2 be-
ſtimmte, daß für dieſe Abgränzung diejenigen Grundſätze maaßge-
bend ſein ſollten, die damals in der Preußiſchen Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung galten. Das Poſtgeſ. v. 2. Nov. 1867 hat
dieſe Gränzen etwas anders gezogen. In der Reichsverf. Art. 48
Abſ. 2 ſind die im Norddeutſchen Bunde maßgebend geweſenen
Grundſätze auf das Reich übertragen worden; das Poſtgeſetz v.
28. Oktob. 1871 hat aber wieder die Anordnungen des Poſtgeſ. v.
2. Nov. 1867 theils ergänzt theils abgeändert.
Nach Art. 50 Abſ. 2 der R.-V. ſteht dem Kaiſer der Erlaß
der reglementariſchen Feſtſetzungen zu; das Poſtgeſetz v. 28. Oktob.
1871 §. 50 überträgt aber den Erlaß des Reglements dem Reichs-
kanzler und erfordert für die unter Z. 2. 4. u. 6. bezeichneten
Gegenſtände die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes.
Inſoweit weder die Spezial-Poſtgeſetze noch die auf Grund
der vorſtehenden Beſtimmungen erlaſſenen Reglements Vorſchriften
über die Geſchäfte der Poſtanſtalt enthalten, kommen die Anord-
nungen des Handelsgeſetzbuchs in Anwendung 1), und zwar
[332]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
- für den Poſt-Transport von Gütern zu Lande oder auf Flüſſen
und Binnengewäſſern H.-G.-B. Buch IV. Titel 5 1) - für den Poſt-Transport von Gütern zur See und für die Be-
förderung von Reiſenden über See H.-G.-B. Buch V. Titel 5
und 6 2).
Auf die Rechtsgeſchäfte der Telegraphen-Anſtalt laſſen ſich dieſe
Anordnungen nicht analog anwenden, da weder eine Depeſche ein
„Gut“, noch das Telegraphiren ein „Transport“ im Sinne des
Handelsgeſetzbuches iſt. Vielmehr hat der Vertrag, welchen der
Abſender einer Depeſche mit der Telegraphen-Anſtalt abſchließt,
die Leiſtung einer Arbeit gegen Entgeld zum Gegenſtand, die nicht
nur von der Arbeitsleiſtung des Frachtführers ſpezifiſch verſchieden,
ſondern überhaupt durchaus eigenartig iſt und eine Species für
ſich bildet. Der Telegraphen-Vertrag fällt unter die allgemeine
Kategorie der locatio conductio operis (Werkverdingung, Arbeits-
vertrag, Vertrag über Handlungen 3). Da weder das Handelsge-
ſetzbuch noch ein anderes Reichsgeſetz dieſen Vertrag gemeinrechtlich
geregelt hat, ſo kommen die Vorſchriften der partikulären Landes-
geſetze (preußiſches, rheiniſches, römiſches, ſächſiſches Recht u. ſ. w.)
zur Anwendung, ſoweit nicht die Beſtimmungen der Telegraphen-
Ordnung als Vertragsfeſtſetzungen das Zurückgreifen auf die Rechts-
ſätze überhaupt ausſchließen 4).
Dieſen allgemeinen Erörterungen gemäß gelten über das Rechts-
verhältniß der Poſt- und Telegraphen-Anſtalt folgende Regeln:
A.Verpflichtungen der Poſtanſtalt.
1. Die Poſtanſtalt iſt verpflichtet, die von ihr übernommenen
Transporte ordnungsmäßig und rechtzeitig auszuführen. Dahin
gehört die Abſendung der zu befördernden Gegenſtände mit der
nächſten, reglementsmäßigen Gelegenheit, die ununterbrochene Fort-
ſetzung des Transports, ſofern die vorhandenen und üblichen Trans-
portmittel dies geſtatten, die Bewahrung der ihr übergebenen Ge-
[333]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
genſtände vor Beſchädigung und Verluſt, und die ordnungsmäßige
Ablieferung an den auf der Adreſſe oder dem Frachtbrief (Begleit-
adreſſe) genannten Deſtinatair 1). Die Poſtanſtalt contrahirt mit
dem Abſender; ſie iſt daher nur dieſem, nicht dem Deſtinatair
(Adreſſaten) gegenüber zur Erfüllung der aufgeführten Verpflich-
tungen obligirt. Der Adreſſat kann die Rechte des Abſenders nur
geltend machen, wenn der Abſender ihm dieſelben cedirt hat. Eine
ſolche Ceſſion liegt in der bloßen Adreſſirung nicht; die letztere iſt
lediglich die Erklärung des Abſenders, an wen die Poſtanſtalt
den von ihr zu befördernden Gegenſtand abzuliefern hat; ſie iſt
Beſtandtheil des zwiſchen dem Abſender und der Poſtanſtalt ab-
geſchloſſenen Vertrages, weiter Nichts 2).
Wenn jedoch der Frachtführer am Ort der Ablieferung ange-
kommen iſt, d. h. mit Beziehung auf die Poſt, wenn die Poſtſen-
dung am Beſtimmungsort angelangt iſt 3), ſo ſteht dem Adreſſaten
das Recht zu, in eigenem Namen den Frachtführer auf Uebergabe
des Frachtbriefes und Ablieferung des Gutes zu belangen,
ſofern nicht der Abſender demſelben vor Anſtellung der Klage eine
nach Maßgabe des Geſetzes noch zuläſſige entgegenſtehende An-
weiſung gegeben hat 4). Dieſer Grundſatz findet auch der Poſtver-
waltung gegenüber Anwendung 5).
2. Der Frachtführer haftet für den Schaden, welcher durch
Verluſt oder Beſchädigung des Frachtgutes oder durch Verzögerung
[334]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
des Transportes entſtanden iſt. Die über dieſe Verpflichtung im
H.-G.-B. Art. 395—399 aufgeſtellten Rechtsregeln ſind jedoch durch
Abſchnitt II. des Poſtgeſetzes v. 28. Oktober 1871 beſeitigt und
durch ein Spezialrecht erſetzt worden 1). Die Erſatzpflicht der Poſt
iſt theils ganz ausgeſchloſſen, theils ihrem Umfange nach ſehr be-
ſchränkt, theils an andere Vorausſetzungen geknüpft.
a) Die Haftpflicht der Poſtanſtalt iſt ganz ausgeſchloſſen für
alle Gegenſtände, für welche ſie im Geſetz nicht ausdrücklich aner-
kannt iſt, ſo daß formell die Haftung die Ausnahme, die Befreiung
von der Haftpflicht die Regel iſt 2). Insbeſondere iſt die Poſt be-
freit von jeder Schadenserſatzleiſtung im Falle eines Verluſtes,
einer Beſchädigung oder verzögerten Beförderung oder Beſtellung
von gewöhnlichen Briefen, Poſtkarten, Kreuzband-, Muſter- und
Proben-Sendungen, Zeitungen u. ſ. w. 3).
b) Für eine rekommandirte Sendung, der eine zur Beför-
derung durch Eſtafette eingelieferte Sendung gleichſteht, wird dem Ab-
ſender im Falle des Verluſtes ohne Rückſicht auf den Werth der Sen-
dung ein Erſatz von 42 Mark gezahlt 4). Im Falle der Beſchädigung
oder Verzögerung iſt die Poſtanſtalt von jeder Erſatzleiſtung frei 5).
c) Für Packete ohne Werthangabe vergütet die Poſt-
verwaltung im Falle eines Verluſtes oder einer Beſchädigung den
wirklich erlittenen Schaden, jedoch nur unter der Beſchränkung, daß
ſie niemals mehr als drei Mark für jedes Pfund (500 Gramm)
der ganzen Sendung bezahlt 6).
[335]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Im Falle der verzögerten Beförderung oder Beſtellung leiſtet
die Poſtverwaltung dieſen Erſatz nur dann, wenn die Sache durch
die verzögerte Beförderung oder Beſtellung verdorben iſt
oder ihren Werth bleibend ganz oder theilweiſe verloren hat,
wobei überdies auf eine Veränderung des Kurſes oder marktgängi-
gen Preiſes keine Rückſicht genommen wird 1).
d) Für Briefe mit Werthangabe und für Packete
mit Werthangabe leiſtet die Poſt im Falle des Verluſtes und
der Beſchädigung dem Abſender Schadenserſatz unter Zugrunde-
legung des Betrages, der als Werth angegeben iſt. Der Poſtver-
waltung bleibt jedoch der Beweis vorbehalten, daß der angegebene
Werth den gemeinen Werth der Sache überſteigt, und wenn ſie
dieſen Beweis erbringt, ſo braucht ſie nur den gemeinen Werth zu
erſetzen 2). Wenn in betrüglicher Abſicht zu hoch deklarirt worden
iſt, ſo verliert der Abſender jeden Anſpruch auf Schadenserſatz 3).
[336]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Im Falle verſpäteter Ablieferung findet dieſelbe Regel wie bei
Packeten ohne Werthangabe Anwendung 1).
e) Für die auf Poſtanweiſungen eingezahlten Beträge
haftet die Poſtverwaltung unbedingt 2), da hier die Poſt nicht den
Transport beſtimmter Geldſtücke, einer res individua übernimmt,
ſondern das Eigenthum an den eingezahlten Geldſtücken erwirbt
und zur Auszahlung derſelben Geldſumme an den Adreſſaten ſich
obligirt. Von Tragung der Gefahr hinſichtlich des Verluſtes oder
der Beſchädigung einer ſpeziellen Sache kann daher hier keine Rede
ſein. Im Falle ſchuldbarer Verzögerung der Auszahlung iſt die
Poſtverwaltung nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen zur Zahlung
von Verzugszinſen verpflichtet. Wegen völliger Gleichheit des
Grundes greifen dieſelben Regeln auch bei den von der Poſt auf
Grund eines Poſtauftrages eingezogenen Beträgen Platz.
f) Bei Reiſen mit den ordentlichen Poſten 3) leiſtet die
Poſtverwaltung für das reglementsmäßig eingelieferte Paſſagiergut
nach denſelben Regeln Erſatz, welche für Packete gelten 4). Außer-
dem erſetzt die Poſtverwaltung die erforderlichen Kur- und Verpfleg-
ungskoſten im Falle der körperlichen Beſchädigung eines Reiſenden,
wenn dieſelbe nicht erweislich durch höhere Gewalt oder durch eigene
Fahrläſſigkeit des Reiſenden herbeigeführt iſt 5).
g) Die Telegraphen-Verwaltung leiſtet für Nachtheile, welche
durch Verluſt, Verſtümmelung oder Verſpätung der Depeſchen ent-
ſtehen, keinerlei Erſatz. Jedoch erſtattet ſie in gewiſſen Fällen die
für die Depeſche erhobenen Gebühren ganz oder theilweiſe zurück 6).
[337]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
3. Soweit nach den vorſtehenden Regeln eine Schadenserſatz-
pflicht der Poſtverwaltung beſteht, iſt dieſelbe an die Bedingung
der reglementsmäßigen Einlieferung geknüpft 1). Da dies eine Vor-
ausſetzung für den von dem Abſender zu erhebenden Anſpruch bil-
det, ſo trifft ihn die Beweislaſt 2). Ausgeſchloſſen 3) iſt ferner die
Erſatzpflicht der Poſtverwaltung, wenn ſie den Beweis erbringt,
daß der Verluſt, die Beſchädigung oder die verzögerte Beförderung
oder Beſtellung herbeigeführt worden iſt:
- a) durch die eigene Fahrläſſigkeit des Abſenders 4), oder
- b) durch die unabwendbaren Folgen eines Natur-Ereigniſſes 5),
oder - c) durch die natürliche Beſchaffenheit des Gutes.
Es fällt ferner die Haftung der Poſtverwaltung für theilweiſen
Verluſt der beförderten Güter fort, wenn der Verſchluß und die
Verpackung der Poſtſendung bei der Aushändigung an den Empfänger
äußerlich unverletzt und zugleich das Gewicht mit dem bei der
Einlieferung ermittelten übereinſtimmend gefunden wird 6).
4. Nach dem gemeinen Handelsrecht haftet der Frachtführer,
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 22
[338]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
welcher zur gänzlichen oder theilweiſen Ausführung des von ihm
übernommenen Transports das Gut einem andern Frachtführer
übergiebt, für dieſen und die etwa folgenden Frachtführer bis zur
Ablieferung 1). Das Poſtgeſ. ſchließt jedoch die Haftung der Poſt-
verwaltung aus, wenn der Verluſt, die Beſchädigung oder Verzöge-
rung auf einer auswärtigen 2) Beförderungsanſtalt 3) ſich ereignet
hat, für welche die Poſtverwaltung nicht durch Konvention die Er-
ſatzleiſtung ausdrücklich übernommen hat, und verpflichtet nur die
Deutſche Poſtanſtalt, bei welcher die Einlieferung erfolgt iſt, dem
Abſender Beiſtand zu leiſten, wenn er ſeine Anſprüche gegen die
auswärtige Beförderungsanſtalt geltend machen will 4).
5. Der Frachtführer iſt verpflichtet, das Frachtgut dem rich-
tigen Adreſſaten auszuhändigen; er muß alſo die Identität der-
jenigen Perſon, welcher er die Güter ausliefert, mit dem Adreſſaten,
reſp. ihre Legitimation zur Vertretung der letzteren prüfen 5). Für
die Poſt beſteht auch in dieſer Hinſicht ein abweichendes Recht; ſie iſt
nur verpflichtet, das Formular zum Ablieferungsſchein oder den Be-
gleitbrief dem Adreſſaten regelmäßig auszuliefern und darauf zu ach-
ten, daß dieſer Schein mit dem Namen des Adreſſaten verſehen werde,
dagegen braucht ſie weder die Aechtheit der Unterſchrift und des
etwa hinzugefügten Siegels noch die Legitimation des Ueberbringers
des vollzogenen Ablieferungsſcheines oder Begleitbriefes zu prüfen 6).
[339]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Von der Verantwortlichkeit für richtige Beſtellung iſt die Poſtver-
waltung ganz frei, wenn der Adreſſat erklärt hat, die an ihn ein-
gehenden Poſtſendungen ſelbſt abzuholen oder abholen zu laſſen 1).
6. Nach dem H.-G.-B. Art. 408 Abſ. 3 verjähren die Klagen
gegen den Frachtführer wegen Schadenserſatz für Verluſt, Beſchä-
digung und verzögerte Ablieferung in einem Jahre von dem
Tage, an welchem die Ablieferung erfolgt iſt reſp. hätte er-
folgen ſollen. Der Anſpruch auf Entſchädigung an die Poſtver-
waltung erliſcht dagegen mit Ablauf von 6 Monaten vom Tage
der Einlieferung der Sendung oder vom Tage der Beſchädigung
des Reiſenden an gerechnet 2). Der Anſpruch auf Schadloshaltung
muß in allen Fällen gegen die Ober-Poſtdirektion gerichtet werden,
in deren Bezirk der Ort der Einlieferung der Sendung oder der
Ort der Einſchreibung des Reiſenden liegt 3). Die ſechsmonatliche
Verjährung des Anſpruches wird unterbrochen, wenn entweder die
Klage gegen die kompetente Poſtbehörde erhoben wird 4) oder wenn
bei der kompetenten Poſtbehörde eine Reklamation angebracht d. h.
ohne Klageerhebung ein Erſatzanſpruch geltend gemacht wird 5). Er-
geht auf die Reklamation eine abſchlägige Beſcheidung, ſo beginnt
vom Empfange derſelben eine neue Verjährung von 6 Monaten,
welche durch eine Reklamation gegen jenen Beſcheid nicht unter-
brochen wird 6).
22*
[340]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
7) Ueber das von den Ober-Poſtdirektionen bei Erſatz-Leiſtungen
zu beobachtende Verfahren iſt eine beſondere Dienſt-Anweiſung er-
gangen 1).
B.Verpflichtungen des Abſenders.
1. Der Abſender iſt verpflichtet, an die Poſtanſtalt das tarif-
mäßige Porto zu entrichten. Die Höhe deſſelben 2) iſt normirt
a) durch Geſetz für Briefe, Packete, Werthſendungen und
Zeitungen 3).
b) durch Reglement, welches der Reichskanzler unter Zu-
ſtimmung des Bundesraths zu erlaſſen hat, für Poſtanweiſungen,
Vorſchußſendungen und ſonſtige Geldübermittelungen, Druckſachen,
Waarenproben und Muſter, Poſtkarten, eingeſchriebene Sendungen,
für Zuſtellung von Sendungen mit Behändigungsſcheinen, für Lauf-
ſchreiben wegen Poſtſendungen und Ueberweiſung der Zeitungen.
Der Zuſtimmung des Bundesrathes bedarf es nicht bei Feſt-
ſtellung der Gebühren für die Ortsbeſtellung, Eſtafettenbeförderung,
für die Beförderung von Reiſenden und Paſſagiergut und für
die Kreditirung und Kontirung von Porto 4).
c) Durch internationalen Vertrag bei dem Poſtverkehr
mit außerdeutſchen Poſtgebieten 5).
Abweichungen von den tarifmäßigen Sätzen ſind den Poſtan-
[341]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſtalten nicht geſtattet, eben ſo wenig Erhöhungen als Ermäßigungen
oder Gewährung von Portofreiheiten 1). Nur mit den Staatsbe-
hörden der Bundesſtaaten kann die Poſtverwaltung Abkommen da-
hin treffen, daß an Stelle der Porto- und Gebührenbeträge für
die einzelnen Sendungen Averſionalſummen an die Poſtver-
waltung gezahlt werden 2).
Die Zahlung kann nach Wahl des Abſenders erfolgen entweder
baar oder durch Verwendung von Poſtwerthzeichen, mit deren Ver-
kauf ſich die Poſtanſtalten nach näherer Anordnung der Reichspoſt-
verwaltung zu befaſſen haben 3). Ebenſo kann die Bezahlung der
Gebühren für die Beförderung telegraphiſcher Depeſchen anſtatt in
baarem Gelde auch durch Telegraphen-Freimarken erfolgen, zu
deren Anfertigung und Verkauf die Reichstelegraphen-Verwaltung
ermächtigt iſt 4). Die Fälſchung und unbefugte Anfertigung von
Poſt- und Telegraphen-Werthzeichen, ſowie der wiſſentliche Gebrauch
von falſchen oder gefälſchten Werthzeichen werden mit Gefängniß
nicht unter 3 Monaten beſtraft 5); der Gebrauch entwertheter Poſt-
oder Telegraphen-Werthzeichen zur Frankirung wird als Porto-
defraudation mit dem vierfachen Betrage des defraudirten Porto’s
beſtraft 6).
[342]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Befreit von der Zahlung des Porto’s ſind lediglich die regie-
renden Fürſten des Deutſchen Reiches, deren Gemahlinnen und Witt-
wen in dem Umfange, in welchem ihnen bei Einführung des Geſ.
v. 5. Juni 1869 die Befreiung von Portogebühren zugeſtanden
hat. Ferner ſind einſtweilen aufrecht erhalten worden die Porto-
Vergünſtigungen, welche den Perſonen des Militärſtandes und
denen der Bundes-Kriegsmarine bewilligt ſind. Dem Kaiſer iſt
aber die Ermächtigung ertheilt, dieſe Porto-Vergünſtigungen aufzu-
heben oder einzuſchränken (nicht ſie auszudehnen) 1).
Außerdem wird kein Porto erhoben in reinen Reichsdienſt-
Angelegenheiten, und zwar in Bundesraths-Sachen, ſowie in Mili-
tair- und Marine-Angelegenheiten ohne Einſchränkung, in anderen
Reichs-Dienſt-Angelegenheiten, wenn die Sendungen von einer Reichs-
behörde abgeſchickt oder an eine Reichsbehörde gerichtet ſind und
die äußere Beſchaffenheit ꝛc. den reglementsmäßigen Beſtimmungen
entſpricht. Der Reichstag iſt in dieſer Hinſicht den Reichs-Behörden
gleichgeſtellt 2). Von einer Befreiung von der Zahlungspflicht
kann in dieſen Fällen im juriſt. Sinne nicht geſprochen werden,
da die Zahlung doch nur eine Zahlung des Reichsfiskus an ſich
ſelbſt wäre 3). In Bayern und Württemberg aber hat der Reichsfiskus
in dem angegebenen Umfange allerdings ein Privilegium auf
unentgeldliche Benutzung der Poſtanſtalten dieſer beiden Staaten 4).
Der Mißbrauch einer von der Entrichtung des Portos be-
freienden Bezeichnung oder die Verpackung einer portopflichtigen
6)
[343]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Sendung in eine andere, welche bei Anwendung einer vorgeſchrie-
benen Bezeichnung portofrei befördert wird, iſt mit dem vierfachen
Betrage des defraudirten Portos, mindeſtens aber mit einer Geld-
ſtrafe von drei Mark, zu beſtrafen 1).
Hinſichtlich der telegraphiſchen Correſpondenz beſtehen
weder hinſichtlich der Höhe der zu zahlenden Gebühren 2) noch über
die Gebührenfreiheit geſetzlich anerkannte Regeln. Doch kann auf
Grund des Art. 50 Abſ. 2 der Kaiſer durch Reglement der Reichs-
Telegraphen-Verwaltung Anweiſung ertheilen, welche Depeſchen
auf den Reichs-Telegraphen gebührenfrei zu befördern ſind 3).
Dieſelben Vorſchriften finden auch auf die Eiſenbahn-Telegraphen
hinſichtlich der den Eiſenbahndienſt nicht betreffenden Telegramme
Anwendung 4).
2. Mit der Verpflichtung des Abſenders zur Zahlung des
Porto’s und anderer Gebühren iſt nicht zu verwechſeln der Fran-
kirungszwang. Es iſt im Allgemeinen geſtattet, der Poſtver-
waltung die Einziehung der Gebühren vom Adreſſaten zu über-
tragen 5). In dieſem Falle ertheilt der Abſender der Poſtverwal-
tung den Auftrag, den Gebührenbetrag beim Adreſſaten zu er-
heben und mit der erhobenen Summe ſich für ihre Forderung
gegen den Abſender bezahlt zu machen. Es wird daher — ganz
ebenſo wie dies beim Frachtvertrag zu geſchehen pflegt — mit
[344]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
dem eigentlichen Transport-Vertrag ein Nebenvertrag verbun-
den, der in allen weſentlichen Stücken der Anweiſung (Aſſignation)
entſpricht. Er braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden, da ſich
ſowohl die in Betracht kommenden Perſonen als der Inhalt aus
den concreten Umſtänden des Falles mit vollkommener Gewißheit
ergeben 1). Der Abſchluß dieſes Nebenvertrages vollzieht ſich durch
das Aufgeben der unfrankirten Poſtſendung und die Annahme der-
ſelben Seitens der Poſtanſtalt 2).
Die Poſt iſt zum Abſchluß eines derartig modifizirten Trans-
port-Vertrages mit Jedermann hinſichtlich der Briefe und Packete,
mit und ohne Werthangabe, geſetzlich verpflichtet, da die
Poſttaxgeſetze das für unfrankirte Briefe und Packete zu ent-
richtende Porto beſtimmen 3). Für jede unfrankirte oder unge-
nügend frankirte Sendung wird ein ſogen. Zuſchlagsporto von
10 Pfennigen erhoben; ausgenommen ſind allein portopflichtige
Dienſtbriefe, wenn die Eigenſchaft derſelben als Dienſtſache
auf dem Kouvert vor der Poſtaufgabe erkennbar gemacht wor-
den iſt 4).
Soweit der Poſtverwaltung aber die Befugniß eingeräumt
worden iſt, für gewiſſe Gegenſtände oder Beförderungs-Arten die
Bedingungen des Vertrags durch Reglement zu normiren, iſt ſie
in der Lage, die Vorausbezahlung der Gebühren zu verlangen,
d. h. den Frankirungszwang einzuführen. Die Poſtverwaltung hat
hiervon Gebrauch gemacht für Poſtkarten 5), für Druckſachen 6),
für Waarenproben 7), für ſogen. Rückſcheine 8), für Poſt-Anweiſun-
[345]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
gen 1), Depeſchen-Anweiſungen 2), Poſtauftragsbriefe 3), für Eſta-
fetten-Sendungen (mit Ausnahme des Ortsbeſtellgeldes) 4), für
telegraphiſche Depeſchen 5). Für Druckſachen und Waarenproben
beſteht der Frankirungszwang jedoch nur in dem Sinne, daß für
dieſelben, wenn ſie unfrankirt oder unzureichend frankirt eingelie-
fert werden, das Briefporto erhoben wird 6).
Eine rechtliche Verpflichtung des Adreſſaten, das Porto und
die übrigen Gebühren zu entrichten, beſteht nicht, da er mit der
Poſtverwaltung nicht contrahirt hat und er durch den Vertrag des
Abſenders nicht verpflichtet werden kann. Wenn jedoch der Adreſ-
ſat die Poſtſendung annimmt, ſo verpflichtet er ſich dadurch zur
Zahlung des Porto’s und der Gebühren und kann ſich davon
durch ſpätere Rückgabe der Sendung nicht befreien 7). In der
Annahme der unfrankirten Sendung liegt zugleich das Accept der
vom Abſender auf den Adreſſaten gezogenen Anweiſung gegenüber
dem Aſſignatar (der Poſtverwaltung), alſo ein verpflichtendes
Rechtsgeſchäft zwiſchen dem Adreſſaten und der Poſtverwaltung 8).
Durch die Auslieferung der Poſtſendung an den Adreſſaten wird
der Abſender von ſeiner Verpflichtung zur Portozahlung frei; und
zwar auch dann, wenn die Poſtanſtalt etwa dem Adreſſaten das
Porto ſtundet. Denn durch den freiwilligen Erwerb der Forde-
rung gegen den Adreſſaten auf Zahlung des creditirten Porto’s
wird die Poſtverwaltung wegen ihrer Forderung gegen den Ab-
ſender befriedigt 9). Den Poſtanſtalten iſt es daher geſetzlich unter-
[346]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſagt, falls nicht eine terminweiſe Abrechnung über die Poſtgefälle
zwiſchen der Poſtanſtalt und dem Adreſſaten verabredet iſt, die
Poſtſendungen auszuhändigen, bevor die Zahlung der Poſtgefälle
erfolgt iſt 1).
Wenn der Adreſſat die Annahme einer Poſtſendung verwei-
gert (oder die Zahlung der Poſtgefälle verweigert, was der Ver-
weigerung der Annahme gleichſteht 2)), oder nicht zu ermitteln iſt,
ſo ſteht der Poſtverwaltung der Regreß gegen den Abſender zu.
Der Regreß iſt aber an die Vorausſetzung geknüpft, daß die Poſt-
verwaltung die Unbeſtellbarkeit der Sendung beſcheinigt und daß
ſie dem Abſender die Poſtſendung wieder zurückliefert 3). Von der
Verpflichtung, ſämmtliche für den Hin- und Hertransport zu er-
hebende Gebühren zu bezahlen, kann ſich der Abſender dadurch
nicht befreien, daß er die Zurücknahme der von ihm eingelieferten
Poſtſendung verweigert 4).
Iſt der Abſender nicht zu ermitteln oder verweigert oder ver-
zögert er die Annahme, ſo iſt die Poſtanſtalt berechtigt, die Gegen-
ſtände zu verkaufen 5). Aus dem Erlöſe werden die Gebühren
und Koſten beſtritten. Reicht der Erlös dazu nicht hin, ſo bleibt
der Abſender zur Zahlung des fehlenden Betrages verpflichtet;
ergiebt der Verkauf einen Ueberſchuß, ſo wird derſelbe der Poſt-
armen- und Unterſtützungskaſſe überwieſen 6). Briefe müſſen mit
[347]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Rückſicht auf das Briefgeheimniß vernichtet werden; daſſelbe ge-
ſchieht mit werthloſen zum Verkauf nicht geeigneten Gegenſtänden.
3. Der Anſpruch der Poſtverwaltung auf Zahlung von Ge-
bühren erliſcht, wenn die Poſtſendung erweislich auf der Poſt
verloren gegangen iſt oder wenn die Annahme der Sendung vom
Adreſſaten wegen einer von der Poſtverwaltung zu vertretenden
Beſchädigung verweigert wird 1). Er erliſcht ferner durch Verjäh-
rung 2), deren Friſt ein Jahr von dem Tage der Aufgabe der
Sendung an beträgt 3), und welche durch Anmeldung der Nach-
forderung unterbrochen wird.
4. Die Poſtanſtalten ſind berechtigt, unbezahlt gebliebene Be-
träge an Perſonengeld, Porto und Gebühren nach den
für die Beitreibung öffentlicher Abgaben beſtehenden Vorſchriften
exekutoriſch einziehen zu laſſen 4). Dieſes Recht kann entweder
gegen den Adreſſaten oder gegen den Abſender ausgeübt werden,
je nachdem der Eine oder Andere nach den vorſtehenden Erörte-
rungen den Betrag ſchuldig geblieben iſt. Dem Exequirten ſteht
jedoch die Betretung des Rechtsweges offen, d. h. er kann gegen
die kompetente Poſtbehörde (Ober-Poſtdirektion) auf Rückzahlung
des von ihm beigetriebenen Betrages die gerichtliche Klage er-
heben 5).
VI.Das Straf-Verfahren bei Poſt- und Porto-Defrau-
dationen.
Unter den Begriff der Poſt-Defraudation fallen die Verletzung
des Poſtzwanges, der Mißbrauch der geſetzlichen Portofreiheit, die
Verwendung entwertheter Poſtwerthzeichen zur Frankirung, die Um-
gehung der Portogefälle dadurch, daß man Briefe oder andere
[348]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Sachen einem Poſtbeamten oder Poſtillon zur Mitnahme über-
giebt 1), und die Hinterziehung des Perſonengeldes dadurch, daß
man wiſſentlich uneingeſchrieben mit der Poſt reiſt 2). Die Poſt-
Defraudation wird beſtraft mit dem vierfachen Betrage des defrau-
dirten Portos oder Perſonengeldes; überdies muß das Porto oder
Perſonengeld, welches für die Beförderung zu entrichten geweſen
wäre, nachgezahlt werden 3). Iſt die Geldſtrafe nicht beizutreiben,
ſo tritt Haft an die Stelle. Die Dauer derſelben muß vom Rich-
ter feſtgeſetzt werden und darf 6 Wochen nicht überſteigen 4). Die
Feſtſetzung und Beitreibung der Geldſtrafen aber kann anſtatt durch
gerichtliches Verfahren im Verwaltungswege nach folgenden
Regeln erfolgen 5).
1. Straf-Verfügung ohne Unterſuchung6). Nach
Entdeckung einer Poſtdefraudation hat die Ober-Poſtdirektion mittelſt
beſonderer Verfügung dem Angeſchuldigten mitzutheilen, welche
Geldſtrafe er verwirkt habe und ihm frei zu ſtellen, das fernere
Verfahren und die Ertheilung eines Strafbeſcheides durch Bezah-
lung der Strafe und Koſten innerhalb einer präkluſiviſchen Friſt
von 10 Tagen zu vermeiden 7). Wenn der Angeſchuldigte die Zah-
lung ohne Einrede, d. h. ohne Vorbehalt der Rückforderung im
Prozeßwege 8), leiſtet, ſo gilt die Verfügung als rechtskräftiger
Strafbeſcheid und das Verfahren iſt beendet; im entgegengeſetzten
Falle iſt eine Unterſuchung erforderlich.
[349]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
2. Straf-Beſcheid nach erfolgter Unterſuchung1).
Die Unterſuchung wird von den Poſtanſtalten (Poſtämtern) oder
Bezirks-Aufſichtsbeamten ſummariſch geführt 2). Die Betheiligten
werden mündlich zu Protokoll verhört; die Zuſtellungen und Vorla-
dungen geſchehen durch die Poſtanſtalten oder auf deren Requiſition
nach den für gerichtliche Inſinuationen beſtehenden Vorſchriften; die
Zeugen ſind verbunden, den Vorladungen Folge zu leiſten, jedoch
ſteht den Poſtbehöden das Recht der Vereidigung von Zeugen nicht
zu. In Sachen, in denen die zu verhängende Geldſtrafe den Be-
trag von 150 Mark überſteigt, iſt dem Angeſchuldigten auf Ver-
langen eine Friſt von 8 Tagen bis 4 Wochen zur Einreichung
einer ſchriftlichen Vertheidigung zu geſtatten.
Die Entſcheidung erfolgt von der Ober-Poſt-Direktion 3). Findet
dieſelbe die Verhängung einer Strafe nicht begründet, ſo wird die
Zurücklegung der Akten verfügt und der Angeſchuldigte davon benach-
richtigt; wird auf eine Strafe erkannt, ſo müſſen die Entſcheidungs-
gründe beigefügt ſein und der Angeſchuldigte iſt zugleich über die
ihm zuſtehenden Rechtsmittel, ſowie über die Beſtrafung, welche er
im Rückfalle zu erwarten hat, zu belehren. Die Inſinuation er-
folgt entweder zu Protokoll oder in der für Vorladungen vorge-
ſchriebenen Form.
Bis zum Erlaß des Strafbeſcheides kann die Oberpoſtdirektion
die Sache zum gerichtlichen Verfahren verweiſen 4). Ebenſo
kann der Angeſchuldigte während der Unterſuchung und binnen
10 Tagen präcluſiviſcher Friſt nach Eröffnung des Strafbeſcheides
auf rechtliches Gehör antragen 5). Der Antrag iſt an die Poſtbe-
[350]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
hörde zu richten. Dem ausdrücklichen Antrage ſteht es gleich,
wenn der Angeſchuldigte auf die Vorladung der Poſtbehörde nicht
erſcheint oder die Auslaſſung vor derſelben verweigert 1). Wird
gegen einen erlaſſenen Strafbeſcheid die Berufung auf rechtliches
Gehör rechtzeitig angemeldet, ſo iſt der Strafbeſcheid als nicht er-
gangen anzuſehen.
3. Rekurs-Reſolut2). Der Angeſchuldigte hat binnen 10
Tagen präkluſiviſcher Friſt nach Eröffnung des Strafbeſcheides die
Wahl, entweder auf richterliches Gehör anzutragen, oder an die
der Ober-Poſtdirektion vorgeſetzte Behörde den Rekurs zu ergreifen 3).
Der Rekurs iſt durch Anmeldung bei jeder beliebigen inländiſchen
Poſtbehörde gewahrt. Er ſchließt fernerhin jedes gerichtliche Ver-
fahren aus. Für die Rechtfertigung des Rekurſes iſt eine Friſt
von höchſtens vier Wochen zu gewähren; ſie iſt in dem anzuſetzenden
Termin zu Protokoll zu erklären oder bis dahin ſchriftlich einzu-
reichen. Führt der Angeſchuldigte neue Thatſachen oder Beweis-
mittel an, deren Aufnahme erheblich befunden wird, ſo wird mit
der Inſtruktion nach den für die erſte Inſtanz gegebenen Beſtim-
mungen verfahren. Das Rekursreſolut iſt von der oberſten Poſt-
behörde abzufaſſen, mit Entſcheidungsgründen zu verſehen, an die
betreffende Poſtbehörde zur Publikation oder Inſinuation zu be-
fördern und vollſtreckbar.
4. Die Vollſtreckung der Strafbeſcheide und Re-
kursreſolute4) geſchieht von der Poſtbehörde nach denjenigen
landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche für die Exekution der im Ver-
waltungswege feſtgeſetzten Geldſtrafen beſtehen. Nach den Landes-
geſetzen iſt demnach auch die Frage zu entſcheiden, ob die Voll-
ſtreckung durch die eigenen Beamten der Poſtverwaltung erfolgen
5)
[351]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
darf oder ob die Requiſition der Gerichte erforderlich iſt. Können
die Geldſtrafen nicht beigetrieben werden, ſo ſind die Akten dem
Gericht zu überſenden mit dem Antrage, die erkannte Geldſtrafe
in Haft umzuwandeln 1).
VII.Ordnung, Leitung und Sicherung des inneren
Dienſtes.
1. Die Behörden-Organiſation der Poſt- und Telegraphenver-
waltung iſt geſetzlich nicht geregelt, abgeſehen davon, daß den Auf-
ſtellungen im Etatsgeſetz eine beſtimmte Organiſation nothwendiger
Weiſe zu Grunde liegt. Ja es iſt eine geſetzliche Regelung durch
Art. 48 Abſ. 2 prinzipiell ausgeſchloſſen und dieſelbe für das Ge-
biet der Reichspoſtverwaltung durch Art. 50 dem Kaiſer über-
tragen, für Bayern und Württemberg durch Art. 52 dieſen beiden
Staaten überlaſſen. Durch Kaiſerl. Erlaß kann demnach, ſo weit
der Inhalt des Etatsgeſetzes kein Hinderniß bietet, der Geſchäfts-
kreis der einzelnen Poſt- und Telegraphen-Behörden ſowohl in
räumlicher als ſachlicher Beziehung verändert werden 2). Die ge-
genwärtige Organiſation beruht im Weſentlichen auf dem Syſtem,
welches in Preußen durch die Verordn. v. 19. Septemb. 1849 ein-
geführt wurde 3); d. h. auf einer Dreigliederung der Ämter. Zwi-
ſchen der oberſten Centralſtelle und den für den lokalen Betrieb
und die Expedition der Poſtſendungen und Poſtreiſenden beſtimmten
Poſtämtern ſtehen für größere Bezirke, in Preußen urſprünglich
für jeden Regierungsbezirk, Mittelbehörden unter dem Namen Ober-
Poſtdirekionen, welche theils die Aufſicht über die Poſtämter
und Beamten zu führen, theils die Anordnungen über den lokalen
Dienſtbetrieb zu erlaſſen haben, und denen die Vertretung des Poſt-
fiskus, die Erledigung der Beſchwerden, die Bearbeitung der Rechts-
Angelegenheiten, die Kontrole des Kaſſen- und Rechnungsweſens
u. ſ. w. obliegt 4).
[352]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Die Telegraphen-Verwaltung war in Preußen von der Poſt-
verwaltung gänzlich getrennt und in eine nähere Verbindung mit
der Armee-Verwaltung gebracht. Im Nordd. Bunde wurde ſie
neben der Poſtverwaltung als ſelbſtſtändiges Reſſort dem Bundes-
kanzler-Amte unterſtellt 1). Erſt ſeit dem 1. Januar 1876 ſind
beide Verwaltungen aus dem Reſſort des Reichskanzler-Amtes aus-
geſchieden und vereinigt worden 2).
In dem General-Poſtmeiſter haben beide Verwaltungen
ihren gemeinſamen Chef, dem die oberſte Leitung unter Verant-
wortlichkeit des Reichskanzlers obliegt 3). Die Centralbehörde zer-
fällt zwar in 2 Abtheilungen, von denen die eine als General-Poſt-
amt, die andere als das General-Telegraphenamt iſt 4), bei den
Oberpoſtdirektionen aber ſind die Poſt- und Telegraphen-Angelegen-
heiten vereinigt und ebenſo bei den für den unmittelbaren Dienſt
beſtimmten Poſtämtern, ſoweit nicht die örtlichen Verhältniſſe und
der Umfang des Geſchäftsbetriebes die Trennung in Poſtämter
und Telegraphenämter erfordern.
2. Durch die im Art. 50 der R.-V. ſanctionirten Grundſätze
iſt die Kompetenz des Bundesrathes hinſichtlich der Verwaltung
des Poſt- und Telegraphen-Weſens weſentlich beſchränkt. Die Be-
ſchlußfaſſung über die allgemeinen Verwaltungsvorſchriften und Ein-
richtungen, welche nach Art. 7 Z. 2 der Regel nach dem Bundes-
rath zuſteht, iſt ausgeſchloſſen und durch das Recht des Kaiſers
zum Erlaß der reglementariſchen Feſtſetzungen und allgemeinen ad-
miniſtrativen Anordnungen erſetzt, dem in Bayern und Württemberg
das Recht der Landesregierungen zur Leitung der Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung entſpricht. Die Wirkſamkeit des Bundesrathes
beſchränkt ſich daher, ſoweit nicht die Form der Geſetzgebung für
Verwaltungs-Vorſchriften und Einrichtungen Verwendung findet,
vorzüglich auf diejenigen Poſt- und Telegraphen-Angelegenheiten,
welche andere Verwaltungszweige, z. B. Eiſenbahnen, Militär-
[353]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
weſen, Zollweſen u. ſ. w. mit berühren, und auf diejenigen Gegen-
ſtände, welche für alle drei Poſtverwaltungen gemeinſam geregelt
werden müſſen, insbeſondere auf den Wechſelverkehr. Anſtatt eines
Bundesrathsbeſchluſſes iſt in den zuletzt erwähnten Angelegenheiten
aber auch ein vertragsmäßiges Abkommen zwiſchen den drei Ver-
waltungen zuläſſig. Im Bundesrath beſteht ein dauernder Aus-
ſchuß für Eiſenbahnen, Poſt und Telegraphen 1).
3. Die Beamten der Reichs-Poſt- und Telegraphen-Verwal-
tung ſind verpflichtet, den Kaiſerlichen Anordnungen Folge zu leiſten.
Die Anordnungen des Kaiſers werden in ſeinem Auftrage und Ver-
tretung von den von ihm beſtellten Behörden nach Maßgabe ihrer
Stellung im Behörden-Syſtem erlaſſen. Dieſe Behörden haben die
Pflicht und das Recht, dafür zu ſorgen, daß Einheit in der Organiſa-
tion der Verwaltung und im Betriebe des Dienſtes hergeſtellt und
erhalten wird 2). Die Form, in welcher die Anordnungen erlaſſen
werden, iſt die Verfügung des General-Poſtmeiſters reſp. des
General-Poſtamts oder General-Telegraphen-Amts, ſowie der Ober-
poſtdirektionen innerhalb des den letzteren zugewieſenen Geſchäfts-
kreiſes 3). Eine Zuſammenſtellung der beſtehenden Dienſtvorſchriften
enthält die Allgemeine Dienſt-Anweiſung4).
Auf die Beamten der Reichs-Poſt- und Telegraphen-Verwal-
tung findet das Reichsbeamten-Geſetz Anwendung (vgl. Bd. I. S.
398 ff.); nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes beſtimmen ſich da-
her die Rechtsfolgen einer Verletzung der Dienſtpflicht 5). Durch
beſondere ſtrafrechtliche Sätze iſt die Erfüllung der Dienſtpflicht
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 23
[354]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
der Poſt- und Telegraphen-Beamten im Allgemeinen nicht geſchützt
abgeſehen von den Strafen, welche auf Verletzung des Brief-
geheimniſſes und Unterdrückung der der Poſt anvertrauten Briefe
oder Packete und Telegramme geſetzt ſind 1). Eine bedeutſame Aus-
nahme beſteht jedoch hinſichtlich einiger Klaſſen von Telegraphen-
Beamten. Denn Gefängniß bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe
bis zu 900 Mark iſt gegen die zur Beaufſichtigung und Bedienung
der Telegraphenanſtalten und ihrer Zubehörungen angeſtellten Per-
ſonen 2) angedroht, wenn ſie durch Vernachläſſigung der
ihnen obliegenden Pflichten die Benutzung der Anſtalt ver-
hindern oder ſtören 3). In dieſem einen Falle iſt die bloße Thatſache
der „Pflicht-Vernachläſſigung“; welche im Uebrigen lediglich die
Vorausſetzung disciplinariſchen Einſchreitens bildet 4), zum
Thatbeſtand eines ſtrafrechtlichen Delicts erklärt worden, wenn
ſie einen gewiſſen Erfolg, nämlich die Verhinderung oder Störung
der Benutzung der Telegraphen-Anſtalt, hervorbringt 5).
4. Behufs Beaufſichtigung und Kontrole der unteren Beamten
iſt für jeden Bezirk einer Oberpoſtdirektion ein Poſt-Inſpektor
und ein Telegraphen-Inſpektor angeſtellt. Sie haben den
Dienſt in allen ſeinen Theilen perſönlich zu beaufſichtigen, insbe-
ſondere auch die geſammten Rechnungs- und Kaſſengeſchäfte bei
den Poſt- reſp. Telegraphen-Anſtalten zu überwachen, und zu dieſem
Zwecke regelmäßige Inſpektionsreiſen in ihrem Gebiete vorzunehmen.
Sie ſind dem Ober-Poſtdirektor des Bezirks, für welchen ſie an-
geſtellt ſind, unmittelbar untergeordnet und gelten als beſtändige
Beauftragte des Ober-Poſtdirektors 6). Alle Beamten des Bezirks
[355]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
müſſen den dienſtlichen Anordnungen der Inſpektoren Folge leiſten.
Ihre Ernennung ſteht verfaſſungsmäßig dem Kaiſer zu.
Die Thätigkeit der Ober-Poſtdirektionen wird durch die oberſte
Poſt- und Telegraphenbehörde überwacht, deren Mitglieder zur
Förderung dieſes Zweckes von Zeit zu Zeit in die Bezirke entſen-
det werden. Den dienſtlichen Aufforderungen der entſendeten Kom-
miſſare muß Folge geleiſtet werden 1).
5. Die Einheit in der Organiſation der Verwaltung und im
Betriebe des Dienſtes kann nur erhalten werden, wenn gleichmäßige
Vorſchriften hinſichtlich der Qualifikation der Beamten
beſtehen. Demgemäß iſt dem Kaiſer und den von ihm beſtellten
Behörden die Fürſorge hierfür übertragen 2). Auf Grund dieſer
Ermächtigung ſind die Vorſchriften über das Prüfungsweſen
der Poſtbeamten und über die durch daſſelbe bedingten Stufen des
Poſtdienſtes von der Centralbehörde erlaſſen worden 3).
Die Stufen des Poſtdienſtes ſind folgende:
a) Der Vorbereitungsdienſt als Poſteleve. Zur
Zulaſſung zu dieſem Dienſte iſt erforderlich, daß der Bewerber das
Zeugniß der Reife zur Univerſität von einem Gymnaſium oder
von einer Realſchule erſter Ordnung erlangt hat 4), daß er nicht
jünger als 17 Jahre und nicht älter als 25 Jahre iſt, daß er
körperlich geſund, perſönlich für den Poſtdienſt geeignet, von un-
beſcholtenem Lebenswandel und frei von Schulden iſt. Er muß eine
Kaution von 900 Mark hinterlegen und im Allgemeinen im Stande
6)
23*
[356]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
ſein, ſich während der Ausbildungszeit ohne Beihülfe aus der Poſt-
kaſſe zu unterhalten 1). Die Entſcheidung über die Zulaſſung und
Beſchäftigung erfolgt durch die Oberpoſtdirektion, jedoch iſt der
Wunſch des Eleven, bei welchem Poſtamt er den Dienſt zuerſt er-
lernen will, thunlichſt zu berückſichtigen. Durch Verf. der Oberpoſt-
direktion kann der Poſteleve, „weil er für den Poſtdienſt ſich nicht
eigne“, entlaſſen werden.
b) Die Qualifikation zum Poſtſekretair wird er-
worben durch Ablegung einer Prüfung, zu welcher der Poſt-Eleve
nach 3 Poſtdienſtjahren zugelaſſen wird 2). Die Prüfung wird bei
der Ober-Poſtdirektion vor einem dazu eingeſetzten Prüfungsrathe
abgelegt und zerfällt in eine techniſche, ſchriftliche und mündliche
Prüfung 3). Poſteleven, welche die Poſtſekretair-Prüfung beſtanden
haben, erhalten die Amtsbezeichnung „Poſtpraktikant“; ſie
werden grundſätzlich als unentbehrliche Hülfsarbeiter und zu Stell-
vertretungen verwendet und empfangen dafür fortlaufende Tagegelder;
bei befriedigender Führung werden ſie nach Maßgabe ihres Dienſt-
alters als Poſtpraktikanten etatsmäßig als Poſtſekretaire angeſtellt 4).
c) Die Qualifikation zum höheren Poſtverwal-
tungsdienſt iſt bedingt durch Ablegung einer zweiten Prüfung,
zu der ſich ſolche Beamte, welche in allen Theilen der Poſtſekretair-
Prüfung mindeſtens die Cenſur „gut“ erhalten haben, früheſtens
2 Jahre, die andern Beamten früheſtens 3 Jahre nach beſtandener
Sekretair-Prüfung melden dürfen. Die. Anmeldung erfolgt durch
die Ober-Poſtdirektion; die Prüfung wird vor dem beim General-
Poſtamte eingeſetzten Prüfungsrathe abgelegt und zerfällt in die
Ausführung eines praktiſchen Auftrages, in die Anfertigung zweier
ſchriftlicher Arbeiten und in die mündliche Prüfung 5).
[357]§. 71. Die Verwaltung der Poſt und Telegraphie.
Abgeſehen von dieſer regelmäßigen Beamten-Laufbahn des
eigentlichen Poſtdienſtes werden junge Männer von genügender
Schulbildung 1) als Poſtgehülfen zugelaſſen und nach voran-
gegangener Kautionsleiſtung bei einem Poſtamte II. oder III. als
Privatgehülfen, ausnahmsweiſe auch bei einem Poſtamte I. als
überzählige Arbeiter zur Erlernung des Dienſtes beſchäftigt. Die
Beſchäftigung des Gehülfen bei den Poſtämtern II. und III. be-
ruht auf einem Privat-Dienſtverhältniß mit dem Vorſteher
der betreffenden Poſtanſtalt; die Bedingungen dieſes Verhältniſſes,
namentlich die Bezahlung des Gehülfen, ſind Gegenſtand der Ver-
einbarung zwiſchen dem Vorſteher der Poſtanſtalt und dem Poſt-
gehülfen 2). Als ſtillſchweigend vereinbart iſt ein gegenſeitiges
Kündigungsrecht mit dreimonatlicher Friſt anzuſehen. Trotzdem
iſt der Poſtgehülfe den für Poſtbeamte beſtehenden Geſetzen und
Disciplinar-Beſtimmungen unterworfen und kann aus dienſtlichen
Gründen ohne weiteres Verfahren und zu jeder Zeit von der vor-
geſetzten Ober-Poſtdirektion aus dem Poſtdienſte entlaſſen werden 3).
Nach vierjähriger Dienſtzeit werden Poſtgehülfen zur Poſt-
aſſiſtenten-Prüfung zugelaſſen, welche ebenfalls in eine prak-
tiſche, ſchriftliche und mündliche zerfällt und vor einem Prüfungs-
rath der Ober-Poſtdirektion abgelegt wird 4). Der Poſtgehülfe,
welcher die Prüfung beſteht, wird nach erfolgter Kautionsbeſtellung
zum Poſtaſſiſtenten ernannt und bezieht als ſolcher zunächſt Tage-
gelder 5); er iſt befähigt definitiv angeſtellt zu werden als Poſt-
verwalter (Vorſtand eines Poſtamts III.), als Poſtaſſiſtent bei
einem Poſtamte I. oder II. oder als Büreau-Aſſiſtent bei einer
Ober-Poſtdirektion.
Endlich können Militär-Anwärter6), welche den Anſpruch
[358]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
auf Verſorgung oder Anſtellung im Civildienſte erworben haben,
körperlich zum Poſtdienſt geeignet und im Beſitze der erforderlichen
Kenntniſſe ſind, als Poſt-Anwärter zur Ableiſtung des Probedienſtes
gegen Gewährung einer Beihülfe zugelaſſen und nach Ablauf eines
Jahres, wenn ſie ihre Brauchbarkeit erwieſen haben, zu Poſtaſſiſten-
ten ernannt werden. Es ſteht ihnen frei, durch Ablegung der
Poſtſekretair-Prüfung ſich den Eintritt in die höhere Laufbahn zu
erſchließen 1).
§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens2).
Die ſtaatsrechtliche Ordnung des Eiſenbahnweſens befindet ſich
im Deutſchen Reiche gegenwärtig in einem Uebergangszuſtand,
welcher nicht nur der Darſtellung große Schwierigkeiten bereitet,
ſondern auch die Erwartung berechtigt, daß binnen kurzer Zeit theils
eine tief eingreifende Veränderung theils eine nähere Präciſirung
erfolgen werde. Nachdem der Reichstag wiederholt 3) den Erlaß
eines Reichs-Eiſenbahngeſetzes angeregt hatte, wurde von dem Reichs-
Eiſenbahn-Amt zuerſt der Entwurf eines ſolchen im März 1874
veröffentlicht 4) und auf Grund der zahlreichen Bemerkungen, welche
über denſelben eingegangen ſind, vollſtändig umgearbeitet. Dieſer
zweite Entwurf iſt im April 1875 fertig geſtellt worden 5); er fand
aber bei einer informatoriſchen Vorberathung mit Kommiſſarien der-
jenigen Bundesſtaaten, welche an der Entwicklung des Eiſenbahn-
6)
[359]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
weſens vorzüglich intereſſirt ſind, einen ſo lebhaften Widerſpruch,
daß vorläufig davon Abſtand genommen werden mußte, ihn die
Stadien des Geſetzgebungsweges durchlaufen zu laſſen, und die
weitere Entwicklung der Angelegenheit zur Zeit in völliger Unge-
wißheit ſchwebt 1).
Gegenwärtig befinden ſich die Einzelſtaaten noch faſt in der
ausſchließlichen Ausübung der auf das Eiſenbahnweſen bezüglichen
Hoheitsrechte und wenngleich die Reichsverfaſſung im Art. 4 Z. 8
das Eiſenbahnweſen unter den der Beaufſichtigung und Geſetzge-
bung des Reiches unterſtellten Angelegenheiten aufzählt und im VII.
Abſchnitt eine Anzahl höchſt wichtiger Grundſätze über die Herſtel-
lung einer einheitlichen Ordnung des Eiſenbahnweſens im Reichs-
gebiete Anerkennung gefunden hat, ſo ſind doch die Geſetze ſelbſt,
nach welchen die Beaufſichtigung geführt und dieſe einheitliche Ord-
nung verwirklicht werden ſoll, vom Reiche noch nicht erlaſſen 2). In
Folge deſſen iſt in dem jetzigen Stadium das Eiſenbahn-Verwal-
tungsrecht, d. h. der Inbegriff derjenigen Rechtsſätze, welche über
die ſtaatlichen Hoheitsrechte an Eiſenbahnen beſtehen, ſeiner
überwiegenden Maſſe nach ein Theil des Landesſtaatsrechts. Die
Reichsgeſetze enthalten vorläufig in dieſer Materie nur fragmen-
tariſche und zuſammenhangsloſe Sätze, welche zu einer umfaſſenden
und wiſſenſchaftlich abgeſchloſſenen Erörterung ungeeignet ſind.
Aus dieſen Gründen beſchränkt ſich die hier folgende Darſtellung
[360]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
auf eine kurze Aufzählung der Hauptpunkte, welche durch die Reichs-
verfaſſung gegeben ſind, während eine befriedigendere und eingehen-
dere Behandlung dieſer Lehre einem dafür geeigneteren Zeitpunkt
vorbehalten bleiben muß.
I. Die Grundſätze über die Bedingungen, unter welchen die
Herſtellung einer Eiſenbahn rechtlich erlaubt iſt, entbehren bis
jetzt jeder reichsgeſetzlichen Regelung. Jeder Einzelſtaat hat für
ſein Gebiet zu befinden über die Ertheilung der Erlaubniß zur
Vornahme der allgemeinen und ſpeziellen Vorarbeiten, über die Ge-
nehmigung der vorgelegten Baupläne, er ertheilt die Conzeſſion
zur Herſtellung der Eiſenbahnbauten und er führt die Controle über
dieſelbe aus. Ein Mitwirkungsrecht des Reiches hierbei iſt ver-
faſſungsmäßig nicht begründet; das Reich iſt insbeſondere nicht
befugt, die Ausführung einer projektirten Bahn zu unterſagen oder
eine andere Führung der Linie zu verlangen oder die Zwiſchen-
ſtationen zu beſtimmen oder eine gewiſſe Art der Bauausführung
vorzuſchreiben, oder auf die Conceſſions-Bedingungen einzuwirken.
Der Gedanke, daß das Intereſſe der Landesvertheidigung oder des
gemeinſamen Verkehrs oder der Finanzwirthſchaft u. ſ. w. auch
gegen die Herſtellung einer gewiſſen Eiſenbahn oder gegen eine
gewiſſe Art und Weiſe dieſer Herſtellung ins Gewicht fallen kann,
iſt in der R.-V. überhaupt nicht zur Würdigung gelangt. Dagegen
ſind zu Gunſten der Herſtellung von Eiſenbahnen in Art. 41 der
R.-V. drei Rechtsſätze ſanctionirt worden, durch welche gewiſſe
Hinderniſſe beſeitigt ſind, an denen neue Eiſenbahn-Anlagen ſcheitern
könnten.
1. Dem Reiche ſelbſt iſt die Befugniß beigelegt, auch gegen
den Widerſpruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Eiſenbahnen
durchſchneiden, Eiſenbahnen entweder für Rechnung des Reiches
anzulegen oder an Privatunternehmer zur Ausführung zu konzeſ-
ſioniren und mit dem Expropriationsrecht auszuſtatten. Dieſe Be-
fugniß iſt aber an folgende Bedingungen geknüpft:
a) Dieſelbe kann nur ausgeübt werden kraft eines Reichs-
geſetzes, alſo unter Zuſtimmung des Bundesraths und des Reichs-
tages. Wenn das Geſetz, welches den Reichshaushalts-Etat feſt-
ſtellt, die Herſtellung einer Eiſenbahn für Rechnung des Reiches
genehmigt, ſo iſt dem Erforderniß des Art. 41 Abſ. 1 der R.-V.
[361]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
genügt; eines beſonderen Spezialgeſetzes bedarf es in dieſem Falle
nicht.
b) Das Reich ſoll von dieſer Befugniß nur dann Gebrauch
machen, wenn die Eiſenbahnen im Intereſſe der Vertheidigung
Deutſchlands oder im Intereſſe des gemeinſamen Verkehrs für
nothwendig erachtet werden. Da der Entſchluß des Reiches, ſich
der im Art. 40 Abſ. 1 eingeräumten Machtvollkommenheit zu be-
dienen, aber an die Form des Geſetzes geknüpft iſt, ſo kann die
Prüfung und Feſtſtellung, ob dieſe Vorausſetzung thatſächlich vor-
handen iſt, nur bei der Berathung und Beſchlußfaſſung des Bun-
desraths und Reichstags von Belang werden. Iſt das Geſetz
formell ordnungsmäßig zu Stande gekommen, ſo iſt dadurch auch
formell feſtgeſtellt, daß ein Intereſſe der Landesvertheidigung oder
des gemeinſamen Verkehrs an der Herſtellung der Eiſenbahn vor-
handen iſt, und jeder weitere Widerſpruch wegen Mangels dieſer
verfaſſungsmäßigen Vorbedingung iſt ausgeſchloſſen.
c) Die Ausübung des dem Reiche zuſtehenden Rechtes erfolgt
„unbeſchadet der Landeshoheitsrechte“. Dies iſt wörtlich genommen
ein vollſtändiger Widerſpruch mit ſich ſelbſt, denn die Ausübung
der Befugniß iſt eben nichts Anderes als ein Eingriff in die Lan-
deshoheitsrechte, oder vielmehr Art. 41 Abſ. 1 enthält eine Be-
ſchränkung der Landeshoheit 1). Der Sinn der Anordnung kann
nur der ſein, daß dem Einzelſtaat alle diejenigen Landeshoheits-
rechte verbleiben, welche das Reich nicht durch das die Eiſenbahn-
Anlage genehmigende Geſetz ausdrücklich oder nach der Natur der
Sache auf ſich ſelbſt oder den Privatunternehmer überträgt. Zu
dieſen Hoheitsrechten gehört namentlich das im Art. 41 ſelbſt er-
wähnte Expropriationsrecht 2), ſowie die Handhabung der Bahn-
polizei durch Beamte des Betriebs-Unternehmers.
[362]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
2. „Jede beſtehende Eiſenbahn-Verwaltung iſt verpflichtet, ſich
den Anſchluß neu angelegter Eiſenbahnen auf Koſten der letzteren
gefallen zu laſſen.“ Art. 41 Abſ. 2. Dieſe Vorſchrift gilt auch
von den Staatsverwaltungen und ſie enthält ebenfalls eine Be-
ſchränkung der Landeshoheit der Einzelſtaaten, nicht blos eine Ver-
pflichtung der Eiſenbahn-Unternehmer. Denn wenn die neu ange-
legte Eiſenbahn auf dem Gebiete eines Nachbarſtaates liegt und
von dem letzteren konzeſſionirt worden iſt, ſo darf der Staat, wel-
chem die Anſchlußſtation zugehört, die Konzeſſion zur Herſtellung
und zum Betriebe der Anſchlußſtrecke, ſoweit dieſelbe in ſeinem
eigenen Gebiete liegt, nicht verſagen oder an erſchwerende Be-
dingungen knüpfen.
Eine Verpflichtung bereits beſtehender Bahnen, die Mitbe-
nutzung einzelner Strecken, Bahnhöfe u. ſ. w. Seitens der neu
anzulegenden Anſchlußbahnen zu geſtatten, iſt durch den Art. 41
Abſ. 2 nicht begründet.
3. Kein Einzelſtaat iſt befugt, einem Eiſenbahn-Unternehmer
ein Widerſpruchsrecht gegen die Anlegung von Parallel- oder Kon-
kurrenzbahnen zu verleihen. Alle geſetzlichen Beſtimmungen
der Einzelſtaaten, welche beſtehenden Eiſenbahn-Unternehmungen
ein ſolches Recht einräumen, ſind durch die Verfaſſung aufgehoben.
Soweit jedoch ein ſolches Widerſpruchsrecht die Eigenſchaft eines
erworbenen Rechtes hat, d. h. auf ſpeziellem Rechtstitel (Pri-
vileg, Vertrag) beruht, bleibt es in Kraft. Art. 41 Abſ. 3.
Dieſe drei im Art. 41 enthaltenen Rechtsſätze haben auch für
Bayern Geltung.
II. Neben der Tendenz, die Anlage neuer Bahnſtrecken im
2)
[363]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
Bundesgebiete zu erleichtern, wurde bei Abfaſſung der Nordd.
Bundes- (reſp. Reichs-) Verfaſſung vorzüglich das Ziel verfolgt,
die Einheitlichkeit des Betriebes auf ſämmtlichen Bahnen Deutſch-
lands herzuſtellen. Eine nothwendige Vorbedingung zur Erreichung
dieſes Zieles beſteht darin, daß die Bahnen nach gleichmäßigen
Normen angelegt und ausgerüſtet werden und daß die techniſche
Verwaltung (der Betrieb) nach übereinſtimmenden Grundſätzen ge-
führt wird. Dieſer oberſte Grundſatz, der von weitreichender Be-
deutung iſt und in ſeinen letzten Conſequenzen dazu führen muß,
die Oberleitung der geſammten Eiſenbahn-Verwaltung völlig auf
das Reich zu übertragen, hat im Art. 42 der R.-V. einen ſehr
ſonderbaren Ausdruck erhalten. Der Artikel lautet nämlich:
„Die Bundesregierungen verpflichten ſich, die
Deutſchen Eiſenbahnen im Intereſſe des allgemeinen Verkehrs
wie ein einheitliches Netz verwalten und zu dieſem Behuf auch
die neu herzuſtellenden Bahnen nach einheitlichen Normen an-
legen und ausrüſten zu laſſen“.
Dieſe Faſſung erinnert an die alten Zollvereins-Verträge oder
an die Privatverträge der Eiſenbahn-Verwaltungen, durch welche
ſie Eiſenbahn-Verbände errichtet haben. Die Verfaſſung fällt voll-
kommen aus der Ausdrucksweiſe des Geſetzgebers heraus; ſie be-
fiehlt nicht, ſie ſanctionirt keine Regel, ſondern ſie enthält ein Ver-
ſprechen der Einzelſtaaten. Das Reich legt nicht den Bundesſtaaten
eine Pflicht auf, ſondern die Bundesregierungen „verpflichten ſich“,
ſie leiſten und acceptiren gegenſeitige Zuſicherungen. Dieſe Aus-
drucksweiſe iſt aber kein bloßes Redaktionsverſehen; ihr liegt viel-
mehr der Gedanke zu Grunde, daß das Eiſenbahnweſen der Selbſt-
verwaltung der Einzelſtaaten überlaſſen bleiben ſoll; daß nicht das
Reich, ſondern die Bundesſtaaten kraft eigenen Rechts die Hoheits-
rechte über die Eiſenbahnen auszuüben haben. Die Bundesſtaaten
ſollen nur nach übereinſtimmenden Grundſätzen und in gleicher
Art und Weiſe ihre Verwaltungsbefugniſſe ausüben.
Den Vorſchriften der R.-V. über das Eiſenbahnweſen, die
ſich unmittelbar an den Abſchnitt über das Zollweſen anſchließen,
liegt in manchen Beziehungen eine ähnliche Anſchauung von dem
Verhältniß der Einzelſtaaten zu einander und zu dem Reiche zu
Grunde, wie ſie hinſichtlich des Zollweſens Anerkennung gefunden
hat. Während aber die Anordnungen der R.-V. über das Zoll-
[364]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
weſen klar und beſtimmt ſind und überdies durch den im Art. 40
aufrecht erhaltenen Zollvereins-Vertrag eine bis auf die Einzel-
heiten ſich erſtreckende Ergänzung erhalten, zeichnen ſich die Vor-
ſchriften der R.-V. über das Eiſenbahnweſen hinſichtlich aller Kom-
petenzverhältniſſe durch eine vage Unbeſtimmtheit aus, die faſt
abſichtlich darauf berechnet zu ſein ſcheint, der weiteren Entwicklung
des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten der Eiſenbahnen einen
möglichſt freien Spielraum zu gewähren. Aus der im Art. 42
der R.-V. anerkannten Verpflichtung der Bundesregierungen, „die
Deutſchen Eiſenbahnen wie ein einheitliches Netz zu verwalten“,
kann man einerſeits jeden Eingriff des Reiches in die ſelbſtſtändige
Verwaltung der Einzelſtaaten herleiten und für das Reich eine
nicht viel geringere Kompetenz in Anſpruch nehmen, wie ſie hin-
ſichtlich der Poſt und Telegraphie anerkannt iſt, die nach Art. 48
auch „als einheitliche Staats-Verkehrsanſtalten eingerichtet und
verwaltet werden“. Andererſeits kann man aus den Vorſchriften
der Reichsverfaſſung darthun, daß dem Reich keinerlei Verwal-
tungsbefugniſſe hinſichtlich der Eiſenbahnen zugewieſen ſind, daß
das Reich an dem finanziellen Erträgniß der Eiſenbahn-Unterneh-
mungen (abgeſehen vom Reichslande) unbetheiligt iſt und daher
jeder Eingriff in die Selbſtbeſtimmung der Eiſenbahn-Verwaltungen
eine Verfügung über fremde Kaſſen wäre, und daß die Aufſicht,
welche nach Art. 4 dem Reiche zuſteht, nicht die Befugniß in ſich
ſchließt, nach Belieben und Willkühr Anordnungen zu treffen, ſon-
dern nur die Befolgung der in Geltung ſtehenden Vorſchriften zu
controliren, ſo daß ihr bis zum Erlaß eines Reichseiſenbahnge-
ſetzes jede rechtliche Grundlage fehlt.
Insbeſondere läßt Art. 42 es auch ganz unbeſtimmt, in welcher
Form und durch welches Organ, reſp. mit welchen Mitteln das
Reich befugt iſt, die einzelne Bundesregierung zu zwingen, die
Verpflichtung, welche ſie nach Art. 42 übernommen hat, zu erfüllen.
Eine nähere Beſtimmung hat der Art. 42 jedoch erhalten
durch Art. 43 und Art. 46 Abſ. 3, welche folgende 3 Rechtsſätze
aufſtellen:
1) „Es ſollen demgemäß in thunlichſter Beſchleunigung über-
einſtimmende Betriebseinrichtungen getroffen, insbeſondere gleiche
Bahnpolizei-Reglements eingeführt werden“. Dieſer Satz ſchließt
ſich unmittelbar an Art. 42 an und durch das Wort „demgemäß“
[365]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
wird in unzweideutiger Weiſe hervorgehoben, daß er eine Folgerung
oder nähere Ausführung des im Art. 42 ausgeſprochenen Grund-
prinzips enthält. Hierdurch gewinnt er eine unentbehrliche Ergän-
zung; es fehlt ihm nämlich die Hauptſache, nämlich das Subject.
„Es ſollen“ übereinſtimmende Betriebseinrichtungen u. ſ. w. „ge-
troffen werden“. Von wem? Vom Reich oder von den Einzel-
ſtaaten? Durch Reichsgeſetz, durch Beſchluß des Bundesrathes oder
durch Anordnung des Kaiſers? Aus dem Zuſammenhang mit dem
Art. 42 ergiebt ſich, daß „die Bundesregierungen“ als das Subjekt
zu ergänzen ſind; ihre Verpflichtung, die ihnen unterſtellten Eiſen-
bahnen wie ein einheitliches Netz verwalten und nach einheitlichen
Normen anlegen und ausrüſten zu laſſen, ſollen ſie unter Anderem
dadurch erfüllen, daß ſie übereinſtimmende Betriebseinrich-
tungen treffen und gleiche Bahnpolizei-Reglements einführen. Daß
die Einrichtungen übereinſtimmend und die Reglements gleich ſein
ſollen, ſetzt eine Mehrheit von Anordnungen mit identiſchem Inhalt
voraus; wenn bei der Abfaſſung des Art. 43 der Gedanke vorge-
ſchwebt hätte, daß das Reich für das ganze Reichsgebiet (excl.
Bayern) die Betriebs-Einrichtungen und das Polizeireglement er-
laſſen ſoll, ſo wäre es ſinnlos geweſen, anzuordnen, daß die Ein-
richtungen übereinſtimmend und die Reglements gleich ſein ſollen.
Der formelle Erlaß dieſer Anordnungen gehört demnach
nicht zur Kompetenz des Reiches, ſondern zu derjenigen der Einzel-
ſtaaten 1). Auf welchem Wege iſt aber die Uebereinſtimmung der
Einzelſtaaten über einen gleichartigen oder identiſchen Inhalt zu
erzielen? Hierüber giebt der Art. 43 ebenſo wenig eine beſtimmte
Auskunft, wie Art. 42 und es bleibt nur die bis zum Erlaß eines
Reichseiſenbahngeſetzes übrigens ebenfalls anfechtbare und zweifel-
hafte Zuflucht zu Art. 7 Abſ. 2 übrig, wonach der Bundesrath
„über die zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen allge-
meinen Verwaltungsvorſchriften und Einrichtungen“ beſchließt. Ab-
geſehen davon, daß der Bundesrath hiernach zur Anordnung von
Rechtsſätzen, z. B. Strafandrohungen, nicht befugt iſt, kann man
auch die Frage aufwerfen, ob die den Einzelſtaaten obliegende Ver-
pflichtung, ſich über einen gleichartigen Inhalt der von ihnen zu
[366]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
erlaſſenden Vorſchriften über den Eiſenbahnbetrieb zu verſtändigen,
als ein Reichsgeſetz angeſehen werden dürfe, deſſen „Ausführung“
der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegt, zumal die Ver-
faſſung des Nordd. Bundes, aus welcher die Artikel 42 und 43
der R.-V. mit nur unweſentlichen Faſſungsänderungen entnommen
ſind, eine dem Art. 7 Abſ. 2 der R.-V. entſprechende Beſtimmung
überhaupt nicht hatte. Zu praktiſchen Mißſtänden hat die Unklar-
heit, welche in der Faſſung der Art. 42 und 43 zu beklagen iſt,
nur deshalb nicht geführt, weil glücklicher Weiſe ſämmtliche Bun-
desſtaaten dem vom Bundesrath beſchloſſenen Reglement zugeſtimmt
und daſſelbe bei der ihnen zuſtehenden Verwaltung in Eiſenbahn-
Angelegenheiten zur Anwendung gebracht haben 1). Der rechtliche
Beſtand dieſes Verhältniſſes iſt aber ein ſo unſicherer, daß auch
hieraus ein Motiv zum Erlaß eines Reichs-Eiſenbahngeſetzes ent-
ſpringt.
Auch in anderer Beziehung leidet die Faſſung des in Rede
ſtehenden Satzes des Art. 43 an einem Mangel an Klarheit, der
nicht ohne nachtheilige Folgen iſt. Indem nämlich den Einzelſtaaten
auferlegt wird, „übereinſtimmeude Betriebseinrichtungen“
zu treffen, wird ihnen „insbeſondere die Einführung gleicher Bahn-
polizei-Reglements“ zur Pflicht gemacht. Hiernach erſcheint alſo
das Bahnpolizei-Reglement als eine „Betriebs-Einrichtung“,
während im Gegenſatz dazu Art. 45, welcher vom Tarifweſen
handelt, die Einführung „übereinſtimmender Betriebsreglements“
verlangt. Zunächſt ſollte man doch wohl die Vorſchriften über die
Einrichtungen des Betriebs im Betriebsreglement, die bahnpolizei-
lichen Anordnungen im Bahnpolizeireglement, und die Bedingungen,
unter welchen der Transport von Perſonen und Gütern übernom-
men wird, im Transportreglement vermuthen. In Wahrheit aber
kann man ſich leicht überzeugen, daß ſowohl das ſogen. Polizei-
Reglement wie das ſogenannte Betriebs-Reglement einen bunt zu-
ſammengewürfelten Inhalt haben. So finden ſich in dem Betriebs-
Reglement, welches vorwiegend ein Transport-Reglement iſt und
die Bedingungen des Paſſagier- und Fracht-Vertrages innerhalb
[367]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
der durch das H.-G.-B. geſtatteten Gränzen der Vertragsfreiheit
normirt, ſehr zahlreiche Anordnungen rein polizeilichen Charak-
ters 1), dagegen enthält andererſeits das Bahnpolizei-Reglement ein-
gehende Beſtimmungen über die Ausrüſtung, die Unterhaltung und
Bewachung der Bahn, über Einrichtung und Zuſtand der Betriebs-
mittel, über die Handhabung des Betriebes, die Signale, u. ſ. w.,
lauter Gegenſtände, welche mit der Bahnpolizei Nichts zu thun
haben, und nur die §§. 53—71 ſind in der That ein Polizeiregle-
ment. Das Recht des Staates für den Betrieb der Eiſenbahnen
im Intereſſe der öffentlichen Sicherheit und um die Ordnung und
Pünktlichkeit dieſes Betriebes ſelbſt aufrecht zu erhalten, Vorſchriften
zu erlaſſen, d. h. die Ausübung der ſogenannten Landespolizei gegen
den Betriebsunternehmer, wird hier völlig vermengt mit
der Handhabung der Bahnpolizei durch den Betriebsunternehmer
und ſeine Beamten und mit den für das Publikum ertheilten Vor-
ſchriften zum Schutz des Eiſenbahn-Betriebes. Die erſte Kategorie
von Vorſchriften enthält Beſchränkungen des Betriebs-Unternehmers,
Bedingungen, welche er bei dem Betriebe erfüllen muß; die zweite
Kategorie enthält Begünſtigungen des Betriebs-Unternehmers, Be-
ſchränkungen des Publikums im Intereſſe des Eiſenbahnbetriebes.
Dieſe Bahnpolizei im eigentlichen Sinne des Wortes iſt keine Be-
triebs-Einrichtung 2).
2) Der zweite im Art. 43 enthaltene Satz lautet:
„Das Reich hat dafür Sorge zu tragen, daß die Eiſenbahn-
Verwaltungen die Bahnen jederzeit in einem die nöthige Sicher-
heit gewährenden baulichen Zuſtande erhalten und dieſelben
mit Betriebsmaterial ſo ausrüſten, wie das Verkehrsbe-
dürfniß es erheiſcht“.
Im Gegenſatz zu dem vorhergehenden Paſſus zeichnet ſich dieſer
durch vollkommene Beſtimmtheit ſowohl hinſichtlich des Subjekts
[368]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
als Objekts aus. Dem Reich iſt die Controle über den baulichen
Zuſtand der Bahnen und über das Betriebsmaterial derſelben über-
tragen; es hat alſo zunächſt die Befugniß, ſich jeder Zeit von dem
Zuſtande der Bahn zu überzeugen, durch Kommiſſare Beſichtigungen
und Aufnahmen vornehmen zu laſſen, die Einreichung von Berich-
ten, Inventaren u. ſ. w. von den Verwaltungen zu verlangen, die
Brauchbarkeit und Haltbarkeit des zu den Bauten, Fahrzeugen
u. ſ. w. verwendeten Materials zu prüfen, überhaupt eine voll-
kommene und umfaſſende Reviſion der geſammten Eiſenbahn-Anlage
und Ausrüſtung vorzunehmen. Der Gegenſatz zwiſchen dem erſten
und dem zweiten Satze beſteht alſo darin, daß den Betriebs ein-
richtungen das Betriebsmaterial und der Bahnkörper gegen-
übergeſtellt wird. Die Betriebseinrichtungen betreffen die Thätig-
keit zum Zwecke des Betriebs, die Organiſation der Verwaltung
und des Dienſtes, die Funktionen der beim Betriebe verwendeten
Beamten, die Signale, Fahrordnung u. ſ. w.; der zweite Satz da-
gegen betrifft das Material, welches zum Betriebe dient, und das
wieder in die Bahnbauten und das Betriebsmaterial eingetheilt
wird. Während die Betriebs-Einrichtungen von den einzelnen Eiſen-
bahn-Verwaltungen, beziehentlich von den Bundesregierungen, an-
geordnet werden, wird dem Reiche über den Zuſtand der Bauten
und über die Ausrüſtung mit Betriebsmaterial nicht nur eine In-
ſpectionsbefugniß zugewieſen, ſondern „es hat dafür Sorge zu
tragen“, daß die Eiſenbahnverwaltungen das liegende und beweg-
liche Inventar in dem durch die Sicherheit und das Verkehrsbe-
dürfniß gebotenen Zuſtande erhalten. Die Eiſenbahn-Verwaltungen
ſind demnach verpflichtet, den in dieſer Hinſicht an ſie ergehenden
Befehlen Folge zu leiſten.
Hieraus ergiebt ſich zugleich, daß das Reich befugt iſt, Nor-
malbeſtimmungen über die Eiſenbahnbauten und über die
Ausrüſtung der Bahnen mit Betriebsmaterial zu erlaſſen und durch
Reviſionen feſtſtellen zu laſſen, ob die einzelnen Verwaltungen dieſen
Normalbeſtimmungen vollkommen genügen.
Auch die Organe, mittelſt deren das Reich dieſe Befugniſſe aus-
übt, ſind nicht zweifelhaft. Die Ueberwachung der Ausführung der
Reichsgeſetze ſteht nach Art. 17 dem Kaiſer zu; er hat daher
durch Inſpektion den Zuſtand der Bahnen feſtſtellen zu laſſen und
die dadurch veranlaßten Anordnungen wegen Abſtellung von Mängeln
[369]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
zu erlaſſen. Zur Wahrnehmung und Ausübung dieſer Aufſichts-
rechte iſt das Reichs-Eiſenbahnamt beſtellt 1). Die allge-
meinen Anordnungen über die Konſtruktion und Beſchaffenheit der
Bahnbauten (das Eiſenbahn-Baureglement) und über die Aus-
ſtattung mit Betriebsmaterial (Ausrüſtungs-Reglement), hat der
Bundesrath gemäß Art. 7 Abſ. 2 der R.-V. zu erlaſſen. Wird
gegen eine von dem Reichs-Eiſenbahnamt verfügte Maßregel von
der davon betroffenen Verwaltung aus dem Grunde Einſpruch er-
hoben, weil jene Maßregel in den Geſetzen und rechtsgültigen Vor-
ſchriften nicht begründet ſei, ſo erfolgt die Entſcheidung durch das
durch richterliche Beamte verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt2).
3) Die beiden im Vorſtehenden erörterten, im Art. 43 der R.-V.
enthaltenen Sätze finden auf Bayern keine Anwendung; dagegen
ſteht nach Art. 46 Abſ. 3 dem Reiche auch Bayern gegenüber
das Recht zu, „im Wege der Geſetzgebung einheitliche Nor-
men für die Konſtruktion und Ausrüſtung der für die Landesver-
theidigung wichtigen Eiſenbahnen aufzuſtellen“. Der Ausdruck „ein-
heitliche Normen“ bedeutet, daß die für das übrige Bundesge-
biet in dieſer Hinſicht aufgeſtellten Normen auch für Bayern in
Kraft geſetzt werden können 3); ſonach iſt das Reich nicht befugt,
für Bayern beſondere, erſchwerende Vorſchriften zu erlaſſen.
III. Da die Eiſenbahnen öffentliche Verkehrsanſtalten ſind und
ſie wie ein „einheitliches Netz“ verwaltet werden ſollen, ſo ſind die
Eiſenbahnverwaltungen verpflichtet, ihrem Betriebe einen dem Ver-
kehrsintereſſe entſprechenden Umfang und wechſelſeitigen
Zuſammenhang zu geben. Dem entſprechend ſind ihnen im
Art. 44 der R.-V. drei Verpflichtungen auferlegt:
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 24
[370]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
- 1) Es ſollen die für den durchgehenden Verkehr und zur Her-
ſtellung in einander greifender Fahrpläne nöthigen Perſonenzüge
mit entſprechender Fahrgeſchwindigkeit eingerichtet werden. - 2) Die Eiſenbahnverwaltungen haben die zur Bewältigung des
Güterverkehrs nöthigen Güterzüge einzuführen. - 3) Jede Eiſenbahnverwaltung hat die direkte Expedition im
Perſonen- und Güterverkehr, unter Geſtattung des Ueberganges
der Transportmittel von einer Bahn auf die andere, gegen die
übliche Vergütung einzurichten.
Die Ueberwachung der Ausführung dieſer reichsgeſetzlichen An-
ordnungen liegt dem Kaiſer ob, welche er vermittelſt des Reichs-
Eiſenbahn-Amtes ausübt. Demgemäß ſind dieſer Reichsbehörde
rechtzeitig die Fahrpläne einzureichen und alle an denſelben vorzuneh-
menden Abänderungen anzuzeigen und die Eiſenbahn-Verwaltungen
ſind verpflichtet, den Anordnungen des Reichs-Eiſenbahn-Amtes be-
hufs Erfüllung der im Art. 44 anerkannten Verpflichtungen, vor-
behaltlich des Rekurſes an das durch richterliche Mitglieder ver-
ſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt, nachzukommen.
Auf Bayern finden dieſe Vorſchriften keine Anwendung.
IV. Art. 45 der R.-V. überträgt dem Reiche die Kontrole
über das Tarifweſen. Daß dem Reiche die Normirung der
Tarife zuſteht, ſagt der Artikel nicht; noch viel weniger, daß der
Bundesrath oder der Kaiſer (das Reichs-Eiſenbahn-Amt) den Eiſen-
bahn-Verwaltungen die Tarife vorſchreiben dürfe. Die „Kontrole“
enthält lediglich die Befugniß, von den beſtehenden Tarifen in
Kenntniß geſetzt zu werden 1), und das Recht der Ueberwachung,
daß die Eiſenbahnverwaltungen theils bei Aufſtellung und Veröf-
fentlichung der Tarife den für ſie beſtehenden landesgeſetzlichen
oder konzeſſionsmäßigen Vorſchriften genügen theils bei dem Ab-
ſchluß der Transportverträge die beſtehenden Tarife inne halten. Eine
reichsgeſetzliche Grundlage für die Handhabung dieſer Kontrole
fehlt zur Zeit; ja die Anordnung der Verfaſſung hindert nicht ein-
mal die Einzelſtaaten, die ihnen zuſtehenden Befugniſſe hinſichtlich
[371]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
der Feſtſetzung oder Abänderung der Tarife aufzuopfern und den
Privat-Eiſenbahn-Unternehmern eine größere Freiheit als bisher
zu geſtatten, und noch viel weniger, für die Staats-Eiſenbahnen
nach Belieben Tarife einzuführen oder abzuändern. Durch die bloße
Kontrole über das Tarifweſen wird weder dem Reiche irgend ein
Zwangsmittel beigelegt, um die Einzelſtaaten zu Abänderungen be-
ſtehender Tarife und zur Einführung eines einheitlichen Tarifſyſtems
zu nöthigen, noch ein Veto oder Zuſtimmungsrecht des Reiches zur
Veränderung beſtehender Tarife begründet. Man trug offenbar
und mit Recht bei Abfaſſung des Art. 45 Bedenken, dem Reiche,
welches bei den finanziellen Erträgniſſen der Eiſenbahnen gänzlich
unbetheiligt war und zur Zeit nur hinſichtlich der Reichseiſenbahnen
in Elſaß-Lothringen betheiligt iſt, die Befugniß zur Feſtſetzung der
Tarife einzuräumen, d. h. ihm eine Verfügung über die Einnahmen
der Staatskaſſen und Eiſenbahn-Aktienvereine zu gewähren. Es
frägt ſich daher, welchen Zweck die Kontrole des Reiches über das
Tarifweſen hat. Abgeſehen nun von der Garantie gegen Willkühr-
lichkeiten und Ungeſetzlichkeiten der Eiſenbahn-Verwaltungen, welche
durch die Kontrole des Reiches gegeben iſt, ſollte dieſelbe eine
Handhabe ſein, mittelſt deren das Reich auf die Fortentwickelung
und Umgeſtaltung des Tarifweſens einwirken könne; ſie ſollte dem
Reich einen Einfluß auf die ſogenannte Tarifpolitik ſichern 1). Dies
24*
[372]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
wird beſtätigt durch zwei Sätze, welche im Art. 45 der R.-V. dem
an die Spitze geſtellten Grundſatz zur Erläuterung und näheren
Beſtimmung hinzugefügt worden ſind. Dieſe beiden Sätze ſind
folgende:
1. „Das Reich wird namentlich dahin wirken, daß baldigſt
auf allen Deutſchen Eiſenbahnen übereinſtimmende Betriebsregle-
ments eingeführt werden“. Zum Verſtändniß dieſer Beſtimmung
iſt zunächſt zu bemerken, was bereits oben berührt worden iſt, daß
nach einem bei den Eiſenbahnverwaltungen Deutſchlands beſtehenden,
ſonderbaren Sprachgebrauch das Betriebsreglement keineswegs, wie
man erwarten ſollte, den Betrieb regelt, ſondern die Transport-
Bedingungen feſtſetzt und zwar gerade mit Ausnahme der Tarife.
Das Betriebsreglement hat daher ebenſo wenig eine Beziehung auf
den Betrieb des Eiſenbahndienſtes, was ſein Wortlaut ſagt, noch
auf die Tarife, d. h. die Höhe der Frachtſätze, was man nach der
Erwähnung deſſelben im Art. 45 der R.-V. erwarten ſollte, da
derſelbe die Kontrole über das Tarifweſen behandelt. Zwiſchen
dem Inhalt des Betriebs-Reglements und den Tarifen beſteht nur
inſofern ein enger juriſtiſcher und thatſächlicher Zuſammenhang, als
auch die Tarife zu den Vertragsbedingungen gehören, unter welchen
die Eiſenbahn-Betriebsunternehmer Transportgeſchäfte abſchließen.
Daß dieſe Bedingungen auf allen Deutſchen Bahnen, und womög-
lich darüber hinaus auf allen Bahnen des Continents, einen mög-
lichſt übereinſtimmenden Inhalt haben, liegt ebenſo wohl im In-
tereſſe des Verkehrs und der Rechtsſicherheit als im Intereſſe der
Eiſenbahnverwaltungen. Die Erreichung dieſes Zieles wurde auch
ſeit langer Zeit durch die unter den Eiſenbahnverwaltungen beſteh-
enden Verbände mit Erfolg angeſtrebt. Zur vollſtändigen Durch-
führung wird dem Reiche die Aufgabe zugewieſen, dahin zu
wirken, daß baldigſt auf allen Deutſchen Eiſenbahnen überein-
ſtimmende Betriebsreglements eingeführt werden. Mit welchen
Mitteln aber das Reich „wirken“ ſoll, wird nicht geſagt; das Recht,
den Eiſenbahnverwaltungen ein Betriebsreglement vorzuſchrei-
ben, iſt dem Reiche nicht beigelegt, insbeſondere auch nicht dem
1)
[373]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
Bundesrath 1). Während ſonſt Geſetze die Rechtsbefugniſſe der Be-
hörden oder die Rechtspflichten der Angehörigen des Staates be-
gründen und begränzen, oder, wie dies oben näher dargethan wurde,
einen Befehl enthalten, ſpricht Art. 45 Z. 1 der R.-V. einen
Wunſch aus, ſie ſteckt ein Ziel, auf deſſen Erreichung das Reich
hinſtreben ſoll 2).
In Wirklichkeit iſt die Erreichung dieſes Zieles gelungen. Der
Bundesrath hat ein Betriebs-Reglement beſchloſſen, welches auf
allen Eiſenbahnen Deutſchlands, auch auf denjenigen Bayern’s, in
Kraft getreten iſt 3). Seine Geltung aber beruht ſtaatsrechtlich
nicht auf dem Befehl des Reiches, ſondern auf dem Willen der ein-
zelnen Staaten und Eiſenbahn-Verwaltungen.
Ueber die juriſtiſche Bedeutung dieſes Betriebs-Reglements iſt
noch Folgendes zu bemerken. Die Rechtsregeln über das Fracht-
geſchäft der Eiſenbahnen bilden einen Theil des Handelsrechts; ihre
Normirung gehört daher unzweifelhaft zur Kompetenz des Reiches
und muß im Wege der Geſetzgebung erfolgen, ſoweit nicht der Ver-
ordnungsweg ausdrücklich vorbehalten iſt. Dieſe geſetzliche Rege-
lung iſt erfolgt im Handelsgeſetzbuch; ſoweit daſſelbe keine Beſtim-
mungen enthält kommen nach Art. 1 deſſelben die Handelsgebräuche
[374]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
und in Ermangelung derſelben die Vorſchriften des bürgerlichen
Rechts zur Anwendung. Der Bundesrath kann das Handels-
geſetzbuch weder abändern noch ergänzen, und ebenſo wenig iſt hier-
zu der Miniſter eines Einzelſtaates oder die Verwaltung einer
Eiſenbahn im Stande. Das Handelsgeſetzbuch enthält aber im
Allgemeinen nur jus dispositivum; es geſtattet den Parteien, ihren
Verträgen auch einen anderen Inhalt zu geben. Dieſe Befugniß
haben auch die Betriebs-Unternehmer von Eiſenbahnen, wenngleich
nicht in demſelben Maße und mit derſelben Freiheit wie andere
Frachtführer. Das Betriebs-Reglement ſtellt die Bethätigung dieſer
Vertragsfreiheit dar; es enthält die Bedingungen für den Trans-
port von Perſonen und Gütern, zu deren Vereinbarung die Eiſen-
bahn-Betriebsunternehmer (Frachtführer) nach dem H.-G.-B. be-
fugt ſind. Hieraus ergeben ſich folgende Sätze:
- a) Das Betriebs-Reglement hat keine rechtliche Wirkſamkeit,
ſoweit es mit zwingenden Vorſchriften des H.-G.-B.’s im Wider-
ſpruch ſteht. - b) Auch ſoweit ein ſolcher Widerſpruch nicht vorhanden iſt,
haben die Vorſchriften des Betriebs-Reglements nicht die rechtliche
Wirkſamkeit von Rechtsregeln, ſondern diejenige von Vertrags-
feſtſetzungen und ſind als ſolche zu beurtheilen 1). - c) Der Erlaß des Betriebs-Reglements ſtellt ſich juriſtiſch dar
als ein Verwaltungsbefehl an die Eiſenbahn-Unternehmer reſp.
an die Eiſenbahn-Verwaltungen, alle Transportverträge nach den
im Betriebs-Reglement formulirten Bedingungen abſchließen 2).
[375]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
In Wirklichkeit hebt dieſer Erlaß eines obligatoriſchen Betriebs-
(d. h. Transport-) Reglements die im Handelsgeſetzbuch gewährte
Vertragsfreiheit wieder auf und wenn nun Art. 45 der R.-V. die
geſetzliche Handhabe dafür liefert, daß das Reich ein einheitliches
und für die Eiſenbahn-Verwaltungen verbindliches Reglement er-
läßt, ſo entſteht der eigenthümliche Contraſt, daß das Reich durch
einen ſeiner Willensakte den andern vernichtet. Wenn die im
H.-G.-B. gewährte Vertragsfreiheit einen zn großen Spielraum
hat und ſich als ſchädlich erweiſt, ſo iſt eine geſetzliche Abänderung
und Ergänzung des H.-G.-B.’s der geeignete Weg der Abhülfe;
wenn man aber dieſen Weg deshalb nicht für vollſtändig paſſend
hält, weil dadurch Abänderungen des Transport-Reglements nach
jeweiligen Zeitverhältniſſen und örtlichen Umſtänden zu ſehr er-
ſchwert werden, ſo giebt die Ordnung des Poſtweſens, die in dieſer
Hinſicht eine völlige Analogie darbietet, ein Muſter, wie man dieſe
Schwierigkeiten beſeitigen kann.
Es iſt den geſetzlichen Regeln über das Transportgeſchäft
und die Haftpflicht der Eiſenbahn-Betriebsunternehmer einer dem
§. 50 des Poſtgeſetzes entſprechende Beſtimmung hinzuzufügen, welche
den Reichskanzler ermächtigt, (mit Zuſtimmung des Bundesraths
und nach Anhörung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes) ein Reglement
zu erlaſſen und durch daſſelbe beſtimmte, einzeln aufzuzählende
Gegenſtände zu normiren. Gleichzeitig müßte — wie dies in §. 50
Abſ. 2 des Poſtgeſetzes geſchehen iſt — geſetzlich ausgeſprochen
werden, daß die Beſtimmungen des Eiſenbahn-Transport-Regle-
ments als Beſtandtheil des Vertrages zwiſchen der Eiſenbahn-
Verwaltung und dem Abſender, beziehungsweiſe Reiſenden gelten.
2. Der Art. 45 der R.-V. enthält ferner den Satz:
„Das Reich wird namentlich dahin wirken, daß die möglichſte
Gleichmäßigkeit und Herabſetzung der Tarife erzielt, insbeſondere,
daß bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen,
Koaks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheiſen, Düngungsmitteln
und ähnlichen Gegenſtänden ein dem Bedürfniß der Landwirthſchaft
und Induſtrie entſprechender ermäßigter Tarif, und zwar zunächſt
thunlichſt der Einpfennig-Tarif eingeführt werde“.
Dieſe Beſtimmung iſt der vorangehenden völlig gleichartig.
Sowie das Reich dahin wirken ſoll, daß übereinſtimmende Betriebs-
[376]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
Reglements eingeführt werden, ſo ſoll es auch dahin wirken,
daß die möglichſte Gleichmäßigkeit der Tarife erzielt wird.
Auch hier ſchließt die Faſſung des Artikels die Annahme aus,
daß das Reich die Befugniß habe, den Eiſenbahu-Verwaltungen
weder im Allgemeinen noch für einzelne Klaſſen von Transport-
Gegenſtänden Tarife vorzuſchreiben; durch ein auf Grund des
Art. 4 Z. 8 ergehendes Eiſenbahn-Geſetz könnte zwar dem Bun-
desrath oder dem Kaiſer eine ſolche Befugniß beigelegt werden,
auf Grund der R.-V. und der gegenwärtigen Geſetzgebung beſteht
ſie dagegen nicht 1).
Als Ziel der vom Reiche zu befolgenden, verfaſſungsmäßigen
„Tarif-Politik“ wird aber nicht nur die Gleichmäßigkeit, ſon-
dern auch die Herabſetzung der Tarife hingeſtellt und es wird
ſogar ein ganz beſtimmter Tarifſatz für gewiſſe Gegenſtände als
Ziel der verfaſſungsmäßigen Wünſche des Deutſchen Reichs ange-
geben 2).
Bei dem Mangel an Zwangsmitteln, durch welche das Reich
die Erzielung gleichmäßiger und herabgeſetzter Tarife u. ſ. w. er-
wirken kann, verliert auch die Beſtimmung des Potokolls vom
25. November 1870 Ziff. 2, (B.-G.-B. S. 657) durch welche „an-
erkannt wurde, daß auf den Württembergiſchen Eiſenbahnen
bei ihren Bau-, Betriebs- und Verkehrsverhältniſſen nicht alle im
[377]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
Art. 45 aufgeführten Transportgegenſtände in allen Gattungen
von Verkehren zum Einpfennig-Satz befördert werden können, einen
großen Theil ihrer juriſtiſchen Bedeutung.
So wie es nun aber thatſächlich gelungen iſt, ein allgemeines
Einverſtändniß der Bundesregierungen über das Betriebs-Reglement
zu erreichen, ſo iſt es — allerdings unter großen Schwierigkeiten
— auch geglückt, eine Verſtändigung der Deutſchen Staats- und
Privat-Eiſenbahn-Verwaltungen über ein gemeinſames Tarifſyſtem
zu erzielen, das freilich nicht mit der „möglichſten Herabſetzung“,
von welcher Art. 45 der R.-V. ſpricht, ſondern mit einer durch-
ſchnittlichen Erhöhung der Tarife verbunden iſt 1). Der Bundes-
rath hat in ſeiner Sitzung vom 14. Dezember 1876 beſchloſſen,
daß gegen deſſen Einführung unter gewiſſen Einſchränkungen vom
Standpunkte des Reichs nichts zu erinnern ſei und hat angeordnet,
daß ihm bis zum 1. Januar 1880 Behufs weiterer Beſchlußnahme
eingehende Mittheilung über den praktiſchen Erfolg des neuen
Syſtems gemacht werden ſoll 2). Die Geltung des neuen Tarif-
ſyſtems beruht daher nicht auf der Autorität des Reiches oder dem
Beſchluß des Bundesrathes, ſondern auf der Vereinbarung der
Deutſchen Staats- und Privat-Eiſenbahn-Verwaltungen und auf
den Rechtsbefugniſſen, welche den einzelnen Bundesregierungen auf
Grund der Landesgeſetze oder Konzeſſionen den Eiſenbahn-Unter-
nehmern gegenüber zuſtehen.
Dieſe partikuläre und conventionsmäßige Grundlage für die
Geltung des jetzt zur Einführung gelangenden Tarifſyſtems birgt
nicht nur die Gefahr in ſich, daß daſſelbe in ſehr verſchiedener
[378]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
Weiſe gehandhabt und im Einzelnen ausgeführt werde, ſo daß es
doch wieder zu neuer Zerſplitterung und Verwirrung führen kann,
ſondern ſie läßt auch das Bedürfniß nach einem Organ, von welchem
die einheitliche und planmäßige Weiterbildung und Fortentwicklung
des Tarifweſens geleitet werde, unbefriedigt. Eine durchgreifende
Abhülfe kann auch hier nur ein Reichsgeſetz gewähren, welches dem
Reich feſtumgränzte aber wirkſame Befugniſſe hinſichtlich der Tarif-
feſtſetzungen überträgt.
V. Im Gegenſatz zu der unbeſtimmten und ſtaatsrechtlich
wenig [belangreichen] Kontrole über das Tarifweſen, welche Art. 45
dem Reiche zuweiſt, ſind dem Reiche zwei höchſt eingreifende und
inhaltsvolle Befugniſſe in den Art. 46 und 47 der R.-V. zuge-
ſprochen.
1) Nach Art. 46 ſind die Eiſenbahnverwaltungen mit Ausſchluß
Bayerns verpflichtet, bei eintretenden Nothſtänden, insbeſondere
bei ungewöhnlicher Theuerung der Lebensmittel, für den Trans-
port, namentlich von Getreide, Mehl, Hülſenfrüchten und Kartoffeln,
zeitweiſe einen dem Bedürfniß entſprechenden niedrigen Spezialtarif
einzuführen.
Dieſer Spezialtarif wird von dem Kaiſer auf Vorſchlag des
betreffenden Bundesraths-Ausſchuſſes (für Eiſenbahnen, Poſt und
Telegraphen) feſtgeſtellt, darf jedoch nicht unter den niedrigſten auf
der betreffenden Bahn für Rohprodukte geltenden Satz herabgehen.
2) Den Anforderungen der Behörden des Reiches in Betreff
der Benutzung der Eiſenbahnen zum Zweck der Vertheidigung Deutſch-
lands haben ſämmtliche Eiſenbahnverwaltungen unweigerlich Folge
zu leiſten. Insbeſondere iſt das Militair und alles Kriegsmaterial
zu gleichen ermäßigten Sätzen zu befördern. Art. 47.
Dieſe Verfaſſungsbeſtimmung gilt auch für Bayern. Ihre
Geltung iſt nicht auf den Fall des Krieges oder der Kriegsvorbe-
reitungen beſchränkt, ſondern ſie findet auch im Frieden Anwendung,
da ſie nur eine Benutzung der Eiſenbahnen zum Zweck der Ver-
theidigung Deutſchlands vorausſetzt, dieſem Zwecke aber das Kriegs-
heer und die Marine auch im Frieden dienen 1). Durch dieſe Vor-
ſchrift ſind ſämmtliche Eiſenbahnen Deutſchlands zur vollen und un-
eingeſchränkten Dispoſition für Militairzwecke geſtellt und zwar
[379]§. 72. Die Verwaltung des Eiſenbahnweſens.
ſteht den Eiſeubahnverwaltungen gegen die Verfügungen der Reichs-
behörden keinerlei Beſchwerde- oder Rekursrecht mit aufſchiebender
Wirkung zu, ſie müſſen vielmehr „unweigerlich“ Folge leiſten. Eben-
ſo wenig haben ſie ein Mitbeſtimmungsrecht über die Tarife für
die Transporte von Truppen und Kriegsmaterial; die Entſchädigung
ſoll vielmehr für ſämmtliche Eiſenbahnen die gleiche ſein 1) und
iſt vom Reich feſtzuſtellen.
Eine nähere Präziſirung haben die im Art. 47 der R.V. ent-
haltenen Grundſätze hinſichtlich des Maaßes der Leiſtungen, welche
von den Eiſenbahn-Verwaltungen gefordert werden dürfen, durch
die Reichsgeſetze über die Militairlaſten erhalten. Dieſe Geſetze
unterſcheiden zwiſchen Kriegsleiſtungen und zwiſchen Natural-
leiſtungen für die bewaffnete Macht im Frieden; jene ſind normirt
in dem Reichsgeſetz v. 13. Juni 1873 §§. 28—31 2); dieſe durch
das Reichsgeſetz vom 13. Febr. 1875 §. 15 3), welches die Feſt-
ſtellung des Tarifs für Militairtransporte dem Bundesrath über-
trägt.
Die nähere Darſtellung der den Eiſenbahn-Verwaltungen für
militairiſche Zwecke obliegenden Verpflichtungen wird unten bei der
Erörterung des Heerweſens im Zuſammenhange mit den andern
finanziellen Militairlaſten gegeben werden.
VI. Das Verhältniß der Eiſenbahn-Verwaltungen zur Poſt-
und Telegraphen-Verwaltung iſt im vorhergehenden
Paragraphen erörtert worden. Die den Eiſenbahn-Verwaltungen
im Intereſſe der Zollverwaltung obliegenden Verpflichtungen
werden bei dem Reichsfinanzweſen zur Darſtellung kommen; eben
dahin gehört die Beſprechung der im Eigenthum und Betrieb des
Reichsfiskus befindlichen Bahnen.
Ueber die Einrichtung und Kompetenz des Reichs-Eiſen-
bahn-Amts vgl. Bd. I. S. 341 ff. 380 fg.
[380]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens*).
A.Die Verwaltung der Reichsbank.
I.Allgemeine Grundſätze.
Auf Grund des Reichsgeſetzes v. 14. März 1875 (R.-G.-Bl.
S. 177) iſt unter dem Namen „Reichsbank“ eine Bank mit dem
[381]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
Hauptſitz in Berlin errichtet worden, welche unter Aufſicht und
Leitung des Reiches ſteht und durch Organe des Reiches verwaltet
wird 1). Von den Geſchäften derſelben gilt im Allgemeinen daſſelbe,
was von denen der Poſt ausgeführt wurde. Ein Hoheitsrecht
des Reiches wird durch den Betrieb von Bankgeſchäften nicht aus-
geübt; vielmehr ſteht das Reich bei dem Abſchluß von Geſchäften
dieſer Art dem Publikum in derſelben Stellung wie eine Privat-
bank gegenüber. Der Staat macht, wenn er Banquiergeſchäfte über-
nimmt, von ſeiner Staatsgewalt keinerlei Anwendung, ſondern er
contrahirt als Subject des Privatrechts, als Fiskus. Zu den
weſentlichen Funktionen des Staates gehört daher der Betrieb von
Bankgeſchäften irgend welcher Art nicht. Aber die Geſchäfte der
Bank dienen zugleich zur Förderung der öffentlichen Wohlfarth
indem ſie den Geldumlauf regeln, die Zahlungsausgleichungen er-
leichtern und für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals ſorgen.
Der Staat überſchreitet daher die aus ſeinem Begriffe ſich ergebende
Aufgabe [nicht], wenn er eine öffentliche Anſtalt zur Erreichung dieſes
Zweckes errichtet. Der Geſchäftsbetrieb einer ſolchen Staatsanſtalt
iſt kein gewöhnliches Gewerbe, wie das eines Banquiers oder einer
Privatbank, da es nicht vorzugsweiſe oder ausſchließlich zum Zweck
des Vermögenserwerbes, ſondern in erſter Reihe zur Förderung
der allgemeinen ſtaatlichen Aufgaben und der öffentlichen Wohlfahrt
dienen ſoll. Ein finanzieller Gewinn iſt ſelbſtverſtändlich bei der
Verwaltung der Reichsbank ebenſo wie bei dem Betriebe der Poſt
weder ausgeſchloſſen noch als unweſentlich zu betrachten, aber die
Erzielung eines Ueberſchuſſes ſoll und darf nicht auf Koſten der
allgemeinen volkswirthſchaftlichen und handelspolitiſchen Zwecke an-
geſtrebt werden.
Um die Erreichung dieſer Zwecke der Reichsbank zu ermög-
lichen und zu erleichtern, und um die Intereſſen des Publikums,
welches ſich der Bank bedient, mit denen des Reichsfiskus auszu-
gleichen, iſt die Geſchäftsthätigkeit der Reichsbank nicht einfach den
*)
[382]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
allgemeinen Grundſätzen des Privat- und Handelsrechts unterworfen
worden, ſondern es iſt in einzelnen Beziehungen für die Reichs-
bank ein Sonderrecht geſchaffen worden, durch welches ſie theils
günſtiger theils ungünſtiger wie Privatbanquiers geſtellt worden
iſt. In allen dieſen Beziehungen gelten hinſichtlich der Reichsbank
ganz dieſelben prinzipiellen Erwägungen wie hinſichtlich der Reichs-
poſt und nur die thatſächliche Geſtaltung und Anwendung iſt eine
verſchiedene, indem es ſich bei der Poſt um Transportgeſchäfte, bei
der Bank um Geldgeſchäfte handelt 1).
Die Aehnlichkeit wird aber durch einen tiefgreifenden Unter-
ſchied erheblich verringert, der gerade für die ſtaatsrechtliche Stel-
lung der Reichsbank von der größten Wichtigkeit iſt. Während
nämlich die Reichspoſt eine Anſtalt des Reiches in der Art iſt, daß
der Reichsfiskus als der Prinzipal derſelben durch alle ihre Ge-
ſchäfte berechtigt und verpflichtet wird, iſt die Reichsbank eine vom
Reichsfiskus verſchiedene, ſelbſtſtändige juriſtiſche Perſon des Privat-
rechts. Der Reichsfiskus iſt an derſelben nur als das geſchäfts-
führende Mitglied betheiligt 2). Das Vermögen der Reichsbank iſt
demnach nicht Reichsvermögen und die Geſchäfte der Reichsbank
ſind in allen privatrechtlichen Beziehungen nicht als Geſchäfte des
Reiches, ſondern als Geſchäfte einer Privatperſon anzuſehen. Die
dem Reiche zuſtehende Verwaltungsthätigkeit bei
der Reichsbank iſt nicht Verwaltung eigner, ſondern
Verwaltung fremder Geſchäfte und dadurch von der eigent-
lichen Finanzverwaltung des Reiches weſentlich verſchieden. Aller-
dings geſchieht dieſe Verwaltung fremder Geſchäfte zugleich im
eigenen Intereſſe des Reiches, da der Reichsfiskus an dem Ergeb-
niſſe derſelben mit einer bedeutenden Quote betheiligt iſt.
Eine Folge hiervon iſt, daß zwiſchen dem Reichsfiskus und
der Reichsbank alle denkbaren vermögensrechtlichen Verhältniſſe be-
ſtehen, insbeſondere obligatoriſche Verträge geſchloſſen werden können,
während dies zwiſchen der Reichs-Poſt und dem Reiche unmöglich
iſt, da der Reichsfiskus und der ſogenannte Poſtfiskus identiſch
[383]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſind. Ja die Reichsbank kann ſogar vom Reiche beſteuert werden,
was in der That geſchieht. Die Conſtituirung der Reichsbank als
ſelbſtſtändiger Perſon des Privatrechts hat die weitere Folge, daß
obrigkeitliche Rechte ihr ganz und gar fehlen und die Reichsbankbe-
hörden zur Ausübung von irgend welchen Hoheitsrechten durchaus
incompetent ſind, während ſolche Rechte der Poſt- und Telegraphen-
behörde in gewiſſem Umfange zuſtehen. Endlich beruht auf dieſem
Charakter der Reichsbank die Thatſache, daß die Reichsbank hin-
ſichtlich ihrer Geſchäfte dem allgemeinen Recht faſt ganz und gar
unterworfen iſt und daß nur in ſehr wenigen Punkten Abweichungen
von demſelben anerkannt ſind, welche das ſinguläre Recht der Reichs-
bank bilden.
II.Juriſtiſche Natur und Verfaſſung der Reichsbank.
Die Reichsbank entſpricht dem Begriff des Aktienvereins.
Sie hat ein Grundkapital von 120 Mill. Mark, welches in 40,000
auf Namen lautende Antheile von je 3000 Mark getheilt iſt. Die
Antheilseigner ſind von der perſönlichen Haftung für die Verbind-
lichkeiten der Reichsbank frei, ſie haben einen Anſpruch auf eine
Dividende aus dem ſich ergebenden Reingewinn, ſie ſind befugt,
an der Verwaltung durch die General-Verſammlung und
den Centralausſchuß ſich zu betheiligen; ſie erhalten bei der Auf-
löſung des Vereins das Vermögen deſſelben, wenigſtens zum größ-
ten Theile. Alles, was für den Aktienverein weſentlich iſt, findet
ſich auch bei der Reichsbank wieder und ihre durch Geſetz und
Statut beſtimmte Verfaſſung hat dieſelben Grundformen, welche
den Aktienvereinen mit Namensaktien eigenthümlich ſind. Deſſen-
ungeachtet ſind die Vorſchriften des Handelsgeſetzbuches und des
Geſ. v. 11. Juni 1870 auf die Reichsbank im Allgemeinen unan-
wendbar und durch die ausſchließenden Beſtimmungen des
Bankgeſetzes und des Status der Reichsbank erſetzt, und zwar des-
halb, weil das Reich ſich bei der Reichsbank eine Stellung zuge-
wieſen hat, welche bei den nach den Vorſchriften des H.-G.-B.’s
conſtituirten Aktienvereinen unmöglich iſt. Dieſe Betheiligung des
Reiches begründet nach allen Richtungen hin für die Reichsbank
Abweichungen von dem gemeinen für Aktienvereine geltenden Rechte
und macht die Reichsbank zu einer anormalen Rechtsſchöpfung, die
zwar dem allgemeinen Begriff der [Aktienvereine] ſich ſubſumirt,
[384]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
die aber im ganzen Bereiche des Rechtes ihres Gleichen nicht
hat 1).
1) Zunächſt übernahm das Reich die Gründung. Dieſelbe
erfolgte in der Art, daß das Reich von der Preußiſchen Regierung
die Preußiſche Bank erwarb 2), den Preußiſchen Fiskus und die
Antheilseigner der Preuß. Bank abfand, die Preußiſche Bank mit
allen Rechten und Verpflichtungen an die zu errichtende Reichsbank
abtrat und das Grundkapital der Reichsbank durch Aktienzeichnung
aufbrachte, zu welcher das Publikum unter Ausbedingung eines
erheblichen Agios aufgefordert wurde 3). Aber das Reich dispenſirte
ſich bei dieſer Gründung von allen Vorſchriften, welche das H.-G.-B.
Art. 209 fg. für die Errichtung von Aktienvereinen aufgeſtellt hat;
insbeſondere auch von der Eintragung der Reichsbank und ihrer
Zweiganſtalten in das Handelsregiſter 4).
2) Das Reich legte ſich die Rechte bei, welche die Mit-
glieder von Aktienvereinen haben, nämlich einen Antheil am
Reingewinn und im Falle der Auflöſung einen Antheil am Kapital
(Reſervefond) 5); dagegen leiſtete das Reich weder eine Einzahlung
zum Grundkapital der Reichsbank noch übernahm es eine Haftung
für die Schulden der letzteren, ja es verpflichtete nicht einmal die
Reichskaſſen zur Annahme der von der Reichsbank ausgegebenen
Banknoten 6). Die Leiſtung, die das Reich zu Gunſten der Reichs-
bank machte, beſtand nicht in der Hergabe von Kapital, ſondern in
der Ertheilung des Rechts zur unbeſchränkten Ausgabe von Bank-
[385]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
noten 1), war alſo von ganz anderer Natur wie die Leiſtungen, die
von Privatperſonen bei Errichtung eines Aktienvereins gemacht
werden können.
3) Ferner hat das Reich ſich alle diejenigen Rechte vorbe-
halten, welche in einem Aktienverein dem Vorſtande zuſtehen
und dadurch jeden Einfluß der Antheilseigner (Aktionäre) auf Er-
nennung des Vorſtandes und der Beamten, ſowie auf Entlaſſung
derſelben vollſtändig ausgeſchloſſen.
Die Rolle des Direktors der Reichsbank iſt dem Reichs-
kanzler zugewieſen. Er leitet die geſammte Bankverwaltung in-
nerhalb der Beſtimmungen des Bankgeſetzes und Statuts. Er er-
läßt die Geſchäftsanweiſungen für das Reichsbank-Direktorium und
für die Zweiganſtalten, ſowie die Dienſtinſtruktionen für die Be-
amten der Bank, und verfügt die erforderlichen Abänderungen der
beſtehenden Geſchäftsanweiſungen (Reglements) und Dienſtinſtruk-
tionen 2). Iſt der Reichskanzler verhindert, ſo werden dieſe Be-
fugniſſe von einem Stellvertreter ausgeübt, den der Kaiſer hiefür
ernennt 3). Alle für den Geſchäftsbetrieb der Bank erforderlichen
Beamten werden vom Reich ernannt, und wenngleich dieſelben auf
Koſten der Bank ihre Beſoldungen, Penſionen und ſonſtigen Dienſt-
bezüge erhalten, ſo haben ſie doch die Rechte und Pflichten der
Reichsbeamten 4), ſind alſo auch der Disciplinargewalt des Reiches
unterworfen. Das vom Reich eingeſetzte, dem Reichskanzler unter-
geordnete Reichsbank-Direktorium hat die geſammte Geſchäftsführung
und die unbeſchränkte Vertretungsbefugniß für die Reichsbank 5).
Der Beſoldungs- und Penſions-Etat der Reichsbank wird vom
Reiche nach Maßgabe der im §. 28 des Bankgeſ. enthaltenen
näheren Anordnungen feſtgeſetzt; die Reviſion der Rechnungen er-
folgt durch den Rechnungshof des Deutſchen Reiches 6).
4. Es beſteht zwar eine Generalverſammlung der
Aktionäre der Reichsbank, welche äußerlich der Generalverſammlung
jedes andern Aktienvereins völlig gleichartig iſt, deren rechtliche Be-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 25
[386]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
fugniſſe aber auf ein ſehr geringfügiges Maß herabgeſetzt ſind. Sie
beſchränken ſich auf die Entgegennahme des jährlichen Verwaltungs-
berichts und die Wahl des Central-Ausſchuſſes 1). Weder über
die Geſchäftsleitung der Reichsbank noch über die Vertheilung der
Dividende kann die Generalverſammlung Beſchlüſſe faſſen, welche
für das Bankdirektorium verbindlich wären. Insbeſondere aber
iſt die Generalverſammlung nicht befugt, eine Aende-
rung des Bankſtatuts zu beſchließen. Das Bankſtatut iſt
vielmehr theils in dem Bankgeſetz ſelbſt enthalten, theils auf Grund
des §. 40 dieſes Geſetzes vom Kaiſer im Einvernehmen mit dem
Bundesrath erlaſſen worden; es kann daher auch nur abgeändert
werden durch Reichsgeſetz, ſoweit es in der Form des Geſetzes
ergangen iſt, und durch kaiſerl. mit Zuſtimmung des Bundesrathes
erlaſſene Verordnung, ſoweit es in dieſer Form erlaſſen iſt.
Wenn in dem Bankſtatut §. 21 die Beſchlußfaſſung über Abände-
rung des Statuts der Generalverſammlung zugewieſen iſt, ſo bedeutet
dies nicht, daß ein ſolcher Beſchluß eine Abänderung des Statuts
bewirkt, ſondern nur, daß vor der Abänderung des Statuts
durch Reichsgeſ. oder Verordnung die Anſicht der Generalverſamm-
lung eingeholt werden ſoll 2). Die Reichsbank-Aktionäre haben da-
durch eine Garantie, daß das Statut nicht ohne ihre Mitwirkung
abgeändert werde. Dieſer Stellung der Generalverſammlung ent-
ſpricht es, daß das Reich in derſelben nicht ſtimmberechtigt iſt; die
Mitglieder des Reichsbank-Direktoriums ſind jedoch verpflichtet, der
Generalverſammlung beizuwohnen und dürfen ſich an der Berathung
betheiligen.
5. Die Funktionen, welche bei gewöhnlichen Aktienvereinen
der Aufſichtsrath wahrzunehmen hat, ſind bei der Reichsbank dem
Central-Ausſchuß übertragen. Er beſteht aus 15 Mitgliedern
und eben ſo vielen Stellvertretern, welche von der Generalverſamm-
lung aus der Zahl der Aktionäre gewählt werden 3). Er verſam-
melt ſich unter dem Vorſitz des Präſidenten des Bankdirektoriums
wenigſtens einmal monatlich, empfängt Berichte über die Geſchäfte
der Bank und über die Ergebniſſe der Kaſſenreviſionen, Mitthei-
lungen über die Anſichten des Reichsbank-Direktoriums hinſichtlich
[387]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
des Ganges der Geſchäfte im Allgemeinen und über die etwa er-
forderlichen Maßregeln und er iſt über die im Bankgeſetz §. 32
unter a) bis f) aufgeführten Angelegenheiten gutachtlich zu
hören. Eine entſcheidende Stimme ſteht ihm nicht zu; ausgenom-
men ſind allein die im §. 35 des Bankgeſetzes erwähnten Geſchäfte
mit den Finanzverwaltungen des Reichs oder Deutſcher Bundes-
ſtaaten, gegen deren Abſchluß dem Zentralausſchuſſe ein Veto ein-
geräumt iſt 1). Der Zentralausſchuß übt eine fortlaufende ſpezielle
Kontrole über die Verwaltung der Reichsbank aus durch drei aus
der Zahl ſeiner Mitglieder auf ein Jahr gewählte Deputirte,
denen es zuſteht allen Sitzungen des Reichsbank-Direktoriums mit
berathender Stimme beizuwohnen und welche berechtigt und ver-
pflichtet ſind, in den gewöhnlichen Geſchäftsſtunden und im Beiſein
eines Mitglieds des Reichsbank-Direktoriums von dem Gange der
Geſchäfte Kenntniß zu nehmen, die Bücher und Portefeuilles der
Bank einzuſehen und den Kaſſenreviſionen beizuwohnen. Ueber
ihre Wirkſamkeit erſtatten ſie in den monatlichen Verſammlungen
des Zentralausſchuſſes Bericht 2).
Entſprechend dem Zentralausſchuß werden außerhalb Berlins
an denjenigen Orten, an welchen Reichsbank-Hauptſtellen etablirt
werden, Bezirksausſchüſſe errichtet, die für den Geſchäfts-
kreis der Bank-Hauptſtelle eine ganz analoge Thätigkeit zu ent-
wickeln haben, wie ſie dem Zentralausſchuß dem Bankdirektorium
gegenüber zukömmt. Die von den Bezirksausſchüſſen gewählten
Deputirten heißen Beigeordnete 3).
Die Bundesregierungen üben eine Aufſicht über die Leitung
der Reichsbank aus durch das Bank-Kuratorium4).
6. Der Regel nach iſt die Generalverſammlung eines Aktien-
vereins befugt, die Fortſetzung des Vereins oder die Auflöſung
deſſelben zu beſchließen. H.-G.-B. 214. 242. Den Antheilseig-
nern der Reichsbank ſteht weder das Eine noch das Andere zu;
25*
[388]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
die Reichsbank iſt vielmehr bis zum Ende des Jahres 1890 er-
richtet; nach Ablauf dieſer Zeit ſteht es im alleinigen Belieben
des Reiches, ob die Reichsbank fortbeſtehen oder aufhören ſoll,
ohne daß die Antheilseigner dabei ein Zuſtimmungsrecht haben 1).
Dem Reiche iſt nur die Beſchränkung auferlegt, daß es die Auf-
hebung ein Jahr vorher ankündigen muß, zuerſt am 1. Januar
1889, und daß, wenn die Ankündigung unterbleibt, die Reichsbank
immer um 10 Jahre prolongirt wird.
Die Prolongirung kann daher ſtillſchweigend geſchehen,
d. h. ohne Geſetz, Verordnung oder Verfügung des Reichs. Jedoch
iſt die Zuſtimmung des Reichstages dazu erforderlich 2), weil in
der Verlängerung der Exiſtenz der Reichsbank zugleich eine Ver-
längerung des ihr ertheilten Privilegs zur Ausgabe von Bank-
noten enthalten iſt, die ohne Genehmigung des Reichstages nicht
erfolgen ſoll.
Die Auflöſung muß ausdrücklich angekündigt werden. Die
hierfür vorgeſchriebene Form iſt eine, im Einvernehmen mit dem
Bundesrath erlaſſene Verordnung des Kaiſers, welche dem Reichs-
kanzler die Kündigung aufträgt 3). Der Reichskanzler richtet die-
ſelbe an das Reichsbank-Direktorium und das letztere hat ſie zu
veröffentlichen.
Die Auflöſung kann auf zwei verſchiedene Arten bewirkt wer-
den, entweder durch formelle Aufhebung und Liquidation, wobei
dem Reiche die Befugniß zuſteht, die Grundſtücke der Reichsbank
gegen Erſtattung des Buchwerthes zu erwerben, oder durch ſchein-
bare Fortführung der Reichsbank unter Enteignung ſämmtlicher
Reichsbank-Antheile zum Nennwerthe, ſo daß der Reichsfiskus der
alleinige Eigenthümer des geſammten Geſchäftes wird 4). In bei-
den Fällen wird der bilanzmäßige Reſervefonds, ſoweit derſelbe
[389]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
nicht zur Deckung von Verluſten in Anſpruch zu nehmen iſt, in
der Art getheilt, daß die Antheilseigner die eine Hälfte, der Reichs-
fiskus die andere erhält 1).
7. Endlich ſind die Vorſchriften des H.-G.-B.’s Art. 244 ff.
über die Liquidation eines aufgelöſten Aktienvereins hinſichtlich
der Reichsbank ausgeſchloſſen. Die Anordnungen darüber ſind auf
Grund des Bankgeſetzes §. 40 Nro. 9 durch das Bankſtatut er-
laſſen und gehen dahin, daß die Liquidation der Reichsbank und
die ſchließliche Auseinanderſetzung zwiſchen dem Reiche und den
Antheilseignern, ſowie unter dieſen, durch das Reichsbank-Direkto-
rium unter Leitung des Reichskanzlers erfolgt. Den Aktionären
ſteht eine Mitwirkung dabei nicht zu 2).
III.Die Reichsbank als öffentliche Anſtalt.
1. Der Umfang des Geſchäftsbetriebes der Bank iſt geſetz-
lich fixirt; die Reichsbank iſt nur befugt, die im §. 13 des Bank-
geſetzes aufgeführten Geſchäfte zu betreiben. Sie ſoll dadurch vor
Ertheilung ungedeckten oder ungenügend gedeckten Credits und vor
Betheiligung am Börſenſpiel und Differenzhandel gewahrt werden.
Dieſe Beſchränkungen des Geſchäftsbetriebes ſind das Correlat des
Notenprivilegiums. Der Bank iſt es aber keineswegs unterſagt,
auch andere als die im §. 13 des Geſetzes genannten Geſchäfte
abzuſchließen; nur betreiben darf ſie dieſelben nicht, d. h.
der gewerbemäßige Abſchluß darf auf dieſelben nicht ausgedehnt
werden. Die Bank könnte die ihr im §. 13 zugewieſenen Ge-
ſchäftszweige gar nicht betreiben ohne zahlloſe andere Geſchäfte,
ſogen. Hülfs- oder Nebengeſchäfte, abzuſchließen, z. B. Anſchaffung
von Grundſtücken, von Bureau-Ausſtattungs-Gegenſtänden, von
Schreibmaterialien, Miethsverträge aller Art u. ſ. w. Daß die
Reichsbank zum Abſchluß aller dieſer Geſchäfte befugt iſt, kann
keinem Zweifel unterliegen. Aber auch dann, wenn die Reichs-
bank mit Ueberſchreitung des ihr geſetzlich geſtatteten Geſchäfts-
betriebes Verträge eingeht, ſind dieſelben nicht deshalb nichtig,
weil ſie unbefugter Weiſe abgeſchloſſen worden ſind. Die Reichs-
bank kann vielmehr in demſelben Umfange wie jede juriſtiſche Per-
[390]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſon, insbeſondere wie jeder Aktienverein, vermögensrechtliche Ver-
pflichtungen übernehmen und Befugniſſe erwerben. Die civilrecht-
liche Gültigkeit und Wirkſamkeit eines Rechtsverhältniſſes bleibt
davon ganz unberührt, daß die Eingehung deſſelben unter Ver-
letzung einer Vorſchrift des Verwaltungsrechts geſchehen iſt. Der
Beamte, der ein derartiges Geſchäft abſchließt, begeht aber eine
Pflichtverletzung; er kann daher disciplinariſch beſtraft wer-
den und, falls das Geſchäft der Reichsbank Schaden gebracht hat,
zum Erſatz deſſelben angehalten werden. Es treten ganz dieſelben
Privatrechtsfolgen ein, als wenn der Vorſtand eines gewöhnlichen
Aktienvereins Geſchäfte abſchließt, welche nicht zu dem ſtatuten-
mäßigen Geſchäftsbereiche gehören 1).
2) Die räumliche Ausdehnung des Geſchäftsbetriebes d. h. die
Etablirung von Zweig-Niederlaſſungen iſt durch das Geſetz nicht
normirt, abgeſehen davon, daß die Reichsbank ihren Hauptſitz in
Berlin hat. Die Reichsbank iſt berechtigt, aller Orten im Reichs-
gebiete Zweiganſtalten zu errichten 2). Dadurch iſt es ihr zugleich
unterſagt, im Auslande eine Zweigniederlaſſung zu etabliren 3).
An welchen Orten des Reichsgebiets die Reichsbank Zweiganſtalten
einrichten will, iſt im Allgemeinen ihr ſelbſt überlaſſen; ſie kann
aber vom Bundesrath gezwungen werden, an beſtimmten Orten
Zweigniederlaſſungen zu errichten 4). Insbeſondere hat der Bun-
desrath diejenigen größeren Plätze zu beſtimmen, an welchen
„Hauptſtellen“ zu errichten ſind 5). Die Errichtung von Zweigan-
ſtalten, welche dem Reichsbank-Direktorium unmittelbar unterge-
ordnet werden (Reichsbankſtellen) ſteht dem Reichskanzler zu; die
Errichtung von Niederlaſſungen, welche einer andern Zweiganſtalt
untergeordnet werden (Reichsbank-Nebenſtellen, Kommanditen oder
Agenturen), erfolgt Seitens des Bankdirektoriums 6).
[391]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
3) Eine Verpflichtung der Bank, die Geſchäfte, auf welche
ihr Gewerbe ſich erſtreckt, mit Jedem abzuſchließen, welcher ſich den
bankmäßigen Bedingungen unterwirft, beſteht im Allgemeinen nicht.
Denn theils iſt im einzelnen Falle die Creditwürdigkeit des Con-
trahenten oder die Sicherheit der angebotenen Deckung zu prüfen,
theils legt die Höhe der der Bank zur Verfügung ſtehenden Betriebs-
mittel dem Umfange des Geſchäftes gewiſſe Schranken auf. Nur
in einem Falle beſteht eine abſolute geſetzliche Verpflichtung; die
Bank muß nämlich Barrengold zum feſten Satze von 1392 Mark
für das Pfund fein gegen ihre Noten umtauſchen, wobei es ihr
freiſteht, ſolches Gold auf Koſten des Abgebers durch die von ihr
zu bezeichnenden Techniker prüfen und ſcheiden zu laſſen 1). Wenn-
gleich daher bei der Reichsbank der Charakter der öffentlichen An-
ſtalt nicht in gleichem Grade ausgeprägt erſcheint, wie bei den Ver-
kehrsanſtalten, ſo beſteht doch auch bei der Bank die Regel, daß
die Bedingungen für die von der Bank zu betreibenden Ge-
ſchäfte allgemein im Voraus feſtgeſtellt werden, und daß that-
ſächlich mit Jedem, der es verlangt, alle diejenigen Geſchäfte ab-
geſchloſſen werden, welche nicht mit der Ertheilung eines ungedeck-
ten Credits oder mit einem durch Kursſchwankungen begründeten
Riſiko verknüpft ſind. Dieſe Geſchäfte ſind folgende:
a) Lombardgeſchäfte d. h. verzinsliche Darlehen gegen
bewegliche Pfänder. Welche Werthgegenſtände als Pfand ver-
wendbar ſind und in welchem Betrage ſie „beliehen“ werden dürfen,
iſt im Bankgeſetz §. 13, Nr. 3 Lit. a)—e) geſetzlich beſtimmt 2).
Die Bank muß jeweilig den Prozentſatz öffentlich bekannt machen,
6)
[392]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
zu welchem ſie lombardirt d. h. die Darlehen ertheilt 1). Dieſer
Beſtimmung liegt die Vorausſetzung zu Grunde, daß der Zinsſatz
nicht in jedem einzelnen Falle verabredet und je nach der Perſon
des Darlehensnehmers verſchieden normirt wird, ſondern daß er
für alle Lombardgeſchäfte oder für beſtimmte Arten derſelben ein
und derſelbe iſt 2).
b) Kommiſſionsgeſchäfte. Die Reichsbank beſorgt für
Rechnung von Privatperſonen, Anſtalten und Behörden die Einzieh-
ung von Forderungen (Inkaſſo’s) und nach vorheriger Deckung die
Leiſtung von Zahlungen, ſowie die Ertheilung von Anweiſungen oder
Ueberweiſungen auf ihre Zweiganſtalten oder Korreſpondenten 3).
Sie übernimmt es ferner, für fremde Rechnung Effekten aller Art
ſowie Edelmetalle nach vorheriger Deckung zu kaufen und nach vor-
heriger Ueberlieferung zu verkaufen 4). Die Bedingungen, unter
denen ſie dieſe Kommiſſions-Aufträge übernimmt, insbeſondere die
Proviſion, welche ſie beanſprucht, werden allgemein feſtgeſetzt und
öffentlich bekannt gemacht 5). Soweit Abweichungen nicht verein-
bart ſind, finden die Vorſchriften des H.-G.-B.’s Art. 360 ff. An-
wendung.
[393]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
c) Depoſitengeſchäfte. Dieſelben ſind von dreierlei Art;
entweder übernimmt die Bank Werthgegenſtände lediglich in Ver-
wahrung (ſogen. geſchloſſene Depoſita), oder ſie übernimmt ſie zu-
gleich in Verwaltung (offene Depoſita) oder endlich ſie empfängt
Gelder unverzinslich oder gegen Zins mit der Verpflichtung, die
empfangene Summe ohne oder mit Kündigungsfriſt zurückzuzahlen
(irreguläres Depoſitum 1). Das letzte dieſer Geſchäfte iſt ein
Creditgeſchäft, welches ſich vom Gelddarlehen nur wenig unterſchei-
det; der Bank iſt deshalb die Beſchränkung auferlegt worden, daß
die Summe der verzinslichen Depoſiten diejenige des Grundkapitals
und des Reſervefonds der Bank nicht überſteigen darf 2).
Da die Depoſitengeſchäfte der Banquiers weder im Handels-
geſetzbuch noch in einem andern Reichsgeſetz gemeinrechtlich geregelt
ſind, ſo kommen bei Beurtheilung derſelben, ſoweit die Parteien keine
Verabredungen getroffen haben, die Handelsgebräuche und in deren
Ermangelung das allgemeine bürgerliche Recht zur Anwendung 3).
4) Auf der Eigenſchaft der Reichsbank als einer öffentlichen
Anſtalt beruht das ſogenannte Bankgeheimniß, welches mit
dem Briefgeheimniß in Parallele geſtellt werden kann 4).
a) Daſſelbe bezieht ſich auf alle einzelnen Geſchäfte der
Bank, beſonders auf die mit Privatperſonen abgeſchloſſenen, und
auf den Umfang des den letzteren gewährten Credits. Völlig ver-
einbar damit iſt demnach die vollſtändigſte Oeffentlichkeit in Betreff
der allgemeinen Geſchäftslage der Bank und die Bekanntmach-
ung ſtatiſtiſcher Erhebungen über den Umfang der einzelnen Ge-
ſchäftszweige, zu welcher alle Notenbanken geſetzlich verpflichtet
ſind 5). Nicht die Geſchäfte der Bank ſollen in Geheimniß gehüllt
werden, ſondern die Geſchäfte derjenigen Perſonen, welche mit der
Reichsbank in Verbindung treten, ſollen vor unbefugter Mittheilung
geſchützt werden.
b) Verpflichtet zur Bewahrung des Geheimniſſes ſind
[394]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſämmtliche bei der Verwaltung der Bank als Beamte, Ausſchuß-
mitglieder oder Beigeordnete betheiligte Perſonen. Für die Be-
amten der Bank ergiebt ſich dieſe Verpflichtung überdies aus §. 11
des Reichsbeamten-Geſetzes, dem dieſelben unterworfen ſind; ihre
Erfüllung wird daher durch den Dienſteid angelobt. Die Deputir-
ten des Zentralausſchuſſes und deren Stellvertreter, ſowie die Bei-
geordneten bei den Reichsbankhauptſtellen werden vor Antritt ihrer
Funktionen mittelſt Handſchlags an Eidesſtatt beſonders dazu ver-
pflichtet. Bei den anderen Ausſchußmitgliedern findet eine beſondere
Angelobung, das Bankgeheimniß zu wahren, nicht ſtatt, da ſie in
der Regel von den einzelnen Geſchäften der Bank keine Kenntniß
erlangen 1).
c) Ueber die Ausnahmen von der Bewahrung des Bankge-
heimniſſes im Intereſſe der Rechtspflege ſind beſondere Vorſchriften
nicht erlaſſen. Es müſſen daher die allgemeinen Regeln über die
Zeugnißpflicht zur Anwendung kommen. Darnach ſind folgende
Fälle zu unterſcheiden:
α) In Strafprozeſſen dürfen die Bankbeamten, auch
wenn ſie nicht mehr im Dienſte ſind, über Umſtände, auf welche
ſich ihre Pflicht zur Amtsverſchwiegenheit bezieht, als Zeugen nur
mit Genehmigung ihrer vorgeſetzten Dienſtbehörde oder der ihnen
zuletzt vorgeſetzt geweſenen Dienſtbehörde vernommen werden 2).
Dieſe Genehmigung darf aber nur verſagt werden, wenn die Ab-
legung des Zeugniſſes dem Wohle des Reiches oder eines
Bundesſtaates Nachtheil bereiten würde 3); nicht um einen
Angeſchuldigten vor der Enthüllung ſeiner mit der Bank geſchloſſenen
Geſchäfte zn ſchützen. Hinſichtlich der Ausſchußmitglieder, Deputir-
ten und Beigeordneten ſind dieſe Beſtimmungen nicht anwendbar,
da dieſe Perſonen nicht Beamte ſind; ihnen liegt vielmehr in Straf-
prozeſſen die Zeugnißpflicht ohne Einſchränkungen ob.
β) In Civilprozeſſen ſind zur Verweigerung des Zeug-
niſſes berechtigt: Perſonen, welchen kraft ihres Amtes, Standes
oder Gewerbes Thatſachen anvertraut ſind, deren Geheimhaltung
durch die Natur derſelben oder durch geſetzliche Vorſchrift ge-
boten iſt, in Betreff der Thatſachen, auf welche die Verpflichtung
[395]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
zur Verſchwiegenheit ſich bezieht 1). Die Vernehmung dieſer Per-
ſonen iſt, auch wenn das Zeugniß nicht verweigert wird,
auf Thatſachen nicht zu richten, in Anſehung welcher erhellt, daß
ohne Verletzung der Verpflichtung zur Verſchwiegenheit ein Zeug-
niß nicht abgelegt werden kann 2). Dieſe Vorſchriften kommen auf
ſämmtliche Perſonen zur Anwendung, denen gemäß §. 39 des
Bankgeſetzes die Pflicht zur Bewahrung des Bankgeheimniſſes ob-
liegt, auch auf die Ausſchußmitglieder, Deputirten und Beigeordne-
ten. Für die Bankbeamten beſteht außerdem die im §. 12 des
Reichs-Beamtengeſetzes begründete Zeugnißverweigerungs-Pflicht.
γ) In Konkurſen fällt die Pflicht zur Bewahrung des Bank-
geheimniſſes in ſo weit fort, als dies durch den Grundſatz be-
dingt wird, daß mit der Eröffnung des Konkurſes der Gemein-
ſchuldner die Befugniß verliert, ſein zur Konkursmaſſe gehöriges
Vermögen zu verwalten und über daſſelbe zu verfügen, und daß
dieſe Befugniß durch den Konkursverwalter ausgeübt wird 3).
d) Die Verletzung des Bankgeheimniſſes hat für die Bank-
beamten disciplinariſche Beſtrafung gemäß den Vorſchriften des
Reichsbeamten-Geſetzes, für die Mitglieder der Ausſchüſſe, die De-
putirten und Beigeordneten Entfernung aus ihren Stellen zur
Folge 4). Außerdem kann ſie die Verpflichtung zum Schadenser-
ſatz begründen, ſofern der Kläger nachzuweiſen vermag, daß ſie
ihm einen in Geld ſchätzbaren Schaden verurſacht hat. Strafrecht-
liche Folgen hat die Verletzung des Bankgeheimniſſes nicht; dieſelbe
kann auch landesgeſetzlich nicht mit Strafe bedroht werden, da
§. 300 des Reichsſtrafgeſetzb. in ausſchließender Weiſe diejenigen
Perſonen aufzählt, welche wegen unbefugter Offenbarung von an-
vertrauten Geheimniſſen beſtraft werden. Weder in dem §. 300
noch in den von den Vergehen im Amte handelnden Paragraphen
werden aber die Beamten der Reichsbank erwähnt.
[396]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
IV.Die Vorrechte der Reichsbank.
„Die Reichsbank hat das Recht, nach Bedürfniß ihres Ver-
kehrs Banknoten auszugeben. Die An- und Ausfertigung, Ein-
ziehung und Vernichtung derſelben erfolgt unter Kontrole der Reichs-
ſchulden-Kommiſſion 1), welcher zu dieſem Zwecke ein vom Kaiſer er-
nanntes Mitglied hinzutritt“. Bankgeſetz §. 16. Hinſichtlich dieſes
Vorrechtes gelten folgende Regeln:
a) Dem Umfange nach iſt das Privilegium un-
beſchränkt; die Reichsbank kann ſo viele Banknoten ausgeben,
als das Bedürfniß ihres Verkehrs verlangt. Die Ausübung dieſes
Rechtes iſt aber durch zwei Verpflichtungen erſchwert, welche
thatſächlich eine Beſchränkung der Banknoten-Emiſſion (ſogenannte
indirekte Kontigentirung) bewirken, nämlich durch die Deckung und
durch die Beſteuerung.
α) Die Banknoten-Deckung. Von dem Geſammtbetrage
der im Umlauf befindlichen Reichsbanknoten muß mindeſtens ein
Drittel jederzeit durch kursfähiges deutſches Geld mit Einſchluß
der Reichskaſſenſcheine oder durch Gold 2) und der Reſt durch dis-
kontirte Wechſel, welche eine Verfallzeit von höchſtens drei Monaten
haben, und aus welchen in der Regel drei, mindeſtens aber zwei
als zahlungsfähig bekannte Verpflichtete haften, in den Kaſſen der
Reichsbank gedeckt ſein 3).
Dieſer Satz iſt eine Verwaltungsvorſchrift, die ihre Sicherung
lediglich in der Verantwortlichkeit der Bankbeamten und des Reichs-
kanzlers findet. Die von dem Zentral-Ausſchuß und dem Bank-
kuratorium 4) geübte Aufſicht, ſowie die geſetzlich vorgeſchriebene
Veröffentlichung des Standes der Bankgeſchäfte 5) und die dadurch
ermöglichte Kontrole der Bank durch das Publikum bieten that-
[397]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſächliche Garantien für ihre Befolgung. Rechtswirkungen
ſind aber mit der Verletzung der über die Deckung erlaſſenen Vor-
ſchriften nicht verbunden; Art. 17 des Bankgeſetzes iſt, wenn er
überhaupt als Rechtsvorſchrift anzuſeheu wäre, immer nur eine
lex imperfecta.
β) Die Banknoten-Beſteuerung. Wenn der Umlauf
von Reichsbanknoten den Baarvorrath der Reichsbank um mehr als
250 Millionen Mark überſteigt, ſo iſt von dem Mehrbetrage
eine Steuer von jährlich fünf Prozent an die Reichskaſſe zu ent-
richten 1). Der Betrag der Steuer wird am Schluſſe des Jahres
auf Grund der von der Verwaltung viermal monatlich zu ver-
öffentlichenden Nachweiſungen feſtgeſtellt und iſt ſpäteſtens am 31.
Januar des folgenden Jahres zur Reichskaſſe abzuführen 2).
Wenn die Befugniß einer Privatbank zur Notenausgabe er-
liſcht, ſo wächſt der derſelben zuſtehende Betrag an ſteuerfreien
ungedeckten Noten dem Antheile der Reichsbank zu 3), und es iſt
der Reichsbank geſtattet, mit anderen deutſchen Banken Vereinba-
rungen über Verzichtleiſtung der letzteren auf das Recht zur Noten-
ausgabe abzuſchließen 4). In Folge dieſer Beſtimmung hat ſich
der ſteuerfreie Betrag, um welchen die Reichsbanknoten den Baar-
vorrath der Bank überſteigen darf, um 23,875,000 M. erhöht, in-
dem 15 Banken, denen zuſammen dieſer Betrag nach dem Bank-
geſetz zugeſtanden worden war, auf ihr Noten-Ausgaberecht ver-
zichtet haben 5).
b) Die Reichsbank iſt verpflichtet, ihre Noten bei ihrer Haupt-
kaſſe in Berlin ſofort auf Präſentation dem Inhaber gegen
kursfähiges deutſches Geld einzulöſen 6). Dieſe Verpflichtung iſt
[398]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
eine unbedingte; ihre Nichterfüllung würde eine Klage auf Schadens-
erſatz nicht nur gegen die Reichsbank begründen, ſondern auch
gegen den Bankbeamten, welcher die Einlöſung verweigert, ob-
wohl er durch die vorhandenen Baarbeſtände zur Einlöſung im Stande
iſt, ſowie gegen die Mitglieder des Bankdirektoriums oder
den Reichskanzler, wenn ſie den ihnen untergebenen Beamten
die Einlöſung der Banknoten in Berlin unterſagen oder unmöglich
machen 1). Sollte die Reichsbank in die Lage kommen, dem An-
drange des Publikums, welches die Einlöſung der Banknoten ver-
langt, nicht genügen zu können, und wird in einem ſolchen Falle
nicht durch ein Reichsgeſetz der §. 18 des Bankgeſetzes aufgehoben
oder ſuspendirt, ſo muß der Konkurs über das Vermögen der
Reichsbank auf Antrag des Reichskanzlers oder eines Gläubigers,
z. B. des Inhabers einer Reichsbanknote, eröffnet werden 2).
Bei den Zweiganſtalten beſteht die Verpflichtung zur Einlöſung
nur, „ſoweit es deren Baarbeſtände und Geldbedürfniſſe geſtatten“ 3).
Die Einlöſung iſt auch hier keine bloße Gefälligkeit, ſondern Er-
füllung einer Verpflichtung und ein Bankbeamter kann durch un-
begründete Verweigerung der Einlöſung eine Verletzung ſeiner Amts-
pflicht verüben. Aber die Reichsbank als ſolche, d. h. die oberſte
Verwaltung derſelben, kann durch Beſchränkung der Baarbeſtände
an einer Zweiganſtalt auf das nothdürftige Maaß die Einlöſung
der Banknoten an dieſer Anſtalt in Wegfall bringen; oder mit an-
dern Worten: es hängt von dem Belieben der Reichsbank ab, in
welchem Umfange ſie an den Zweiganſtalten ihre Noten einzulöſen
bereit iſt; ſie iſt nur verpflichtet, wenn ſie will 4). Unzweifelhaft
aber muß die Reichsbank an allen ihren Kaſſen die von ihr aus-
gegebenen Noten in Zahlung nehmen.
Ueber die Verpflichtung der Reichsbank auch die Noten der
[399]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
Deutſchen Privatbanken in Zahlung zu nehmen gemäß §. 19 Abſ. 1
des Bankgeſetzes vgl. unten.
Die Reichsbank iſt befugt, wenn der Schuldner eines im Lom-
bardverkehr gewährten Darlehens im Verzuge iſt, das beſtellte
Fauſtpfand ohne gerichtliche Ermächtigung oder Mitwirkung nach
den im Art. 311 des H.-G.-B.’s aufgeſtellten Vorſchriften 2) ver-
kaufen zu laſſen und ſich aus dem Erlöſe wegen Kapital, Zinſen
und Koſten bezahlt zu machen. Zwiſchen den allgemeinen Vor-
ſchriften des H.-G.-B.’s und den beſonderen Vorſchriften des Bank-
geſetzes beſtehen jedoch folgende Unterſchiede:
a) Die im Art. 311 des H.-G.-B.’s gewährte Befugniß iſt
davon abhängig gemacht, daß das Fauſtpfand unter Kaufleu-
ten für eine Forderung aus beiderſeitigen Handelsgeſchäften er-
folgt iſt und daß ſchriftlich vereinbart iſt, daß der Gläubiger
ohne gerichtliches Verfahren ſich aus dem Pfande befriedigen könne.
Beide Vorausſetzungen kommen für die Reichsbank in Wegfall;
ſie hat das im §. 20 des Bankgeſ. gewährte Recht auch dann, wenn
das Fauſtpfand von einem Nichtkaufmann beſtellt worden iſt
und wenn die im Art. 311 des H.-G.-B.’s erforderte ſchriftliche
Vereinbarung mangelt. Dagegen iſt das der Bank gewährte Recht
an die Vorausſetzung geknüpft, daß das Fauſtpfand für ein Lom-
barddarlehen beſtellt worden iſt. Hinſichtlich aller Pfandrechte,
welche der Reichsbank für andere Forderungen eingeräumt werden,
insbeſondere hinſichtlich ihres geſetzlichen Pfandrechtes am Kommiſ-
ſionsgut für ihre Forderungen aus Kommiſſionsgeſchäften, kommen
die Vorſchriften des H.-G.-B.’s zur Anwendung.
b) Die Reichsbank kann den Verkauf durch einen ihrer Be-
amten bewirken laſſen und zwar auch dann, wenn der verpfändete
Gegenſtand, weil er einen Markt- oder Börſenpreis hat, nicht
öffentlich zum laufenden Preiſe verkauft wird. Das H.-G.-B. da-
gegen verlangt, daß der nicht-öffentliche Verkauf durch einen Han-
delsmäkler oder in Ermangelung eines ſolchen durch einen zu Ver-
ſteigerungen befugten Beamten bewirkt wird.
[400]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
c) Das H.-G.-B. Art. 311 legt dem Gläubiger die Pflicht
auf, von der Vollziehung des Verkaufs den Schuldner, ſoweit es
thunlich, ſofort zn benachrichtigen, und macht ihn bei Unterlaſſung
der Anzeige ſchadenserſatzpflichtig; das Bankgeſetz §. 20 ſchweigt
hiervon und ſchließt hierdurch, da es im Uebrigen dem Wortlaut
des Art. 311 des H.-G.-B.’s folgt, dieſe Verpflichtung für die
Reichsbank aus.
„Die Reichsbank und ihre Zweiganſtalten ſind im geſammten
Reichsgebiete frei von ſtaatlichen Einkommen- und Gewerbeſteuern.“
Bankgeſ. §. 21.
Die Reichsbank iſt demnach allen geſetzlich beſtehenden Kom-
munalſteuern unterworfen, trotzdem ſie vom Bundesrath ange-
halten werden kann, an einem beſtimmten Orte eine Zweignieder-
laſſung zu errichten. Ferner iſt die Reichsbank aber auch keines-
wegs von der Beſteuerung durch die Einzelſtaaten völlig befreit;
insbeſondere nicht von der Grundſteuer. Das Reichsgeſetz v.
25. Mai 1873 §. 1 Abſ. 2 1) kann auf die Grundſtücke der Reichs-
bank keine Anwendung finden, weil der Reichsfiskus nicht der
Eigenthümer derſelben iſt. Ebenſo iſt die Reichsbank allen geſetz-
lichen Vorſchriften über Stempelabgaben und Regiſtrirungs-
gebühren unterworfen. Nur die Erhebung einer Einkommen- und
Gewerbeſteuer Seitens der Bundesſtaaten iſt ausgeſchloſſen, da
das Reich von dem Reingewinn der Reichsbank ohnedies einen
erheblichen Antheil für ſich nimmt 2).
B.Die Beaufſichtigung der Privat-Notenbanken.
I. Die Befugniß zur Ausgabe von Banknoten kann ſeit Er-
laß des Bankgeſetzes nur erworben werden durch ein vom Reich
ertheiltes Privilegium; für die Ertheilung eines ſolchen Privi-
legiums iſt die Form des Reichsgeſetzes erforderlich 3). Soweit
[401]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
vor Erlaß des Bankgeſetzes aber das Recht zur Ausgabe von
Banknoten bereits erworben war, iſt dieſes Recht in Kraft geblieben,
da das Reich iura quaesita durch das Bankgeſetz nicht beſeitigen
wollte. Eine Erweiterung der Befugniß zur Notenausgabe über
den bei Erlaß des Bankgeſetzes zuläſſigen Betrag hinaus, ſteht
ſelbſtverſtändlich der Ertheilung dieſer Befugniß gleich, bedarf da-
her ebenfalls eines Reichsgeſetzes 1). Den Bundesſtaaten iſt es
fortan unterſagt, Banknoten-Privilegien zu ertheilen; die Kompe-
tenz des Reiches iſt eine ausſchließliche 2).
Wer im Reichsgebiet unbefugt, d. h. ohne ein dieſen Grund-
ſätzen gemäß ertheiltes Privilegium, Banknoten oder ſonſtige auf
den Inhaber lautende unverzinsliche Schuldverſchreibungen (welche
auf eine beſtimmte Geldſumme lauten) ausgiebt, wird mit einer
Geldſtrafe beſtraft, welche dem Zehnfachen des Betrages der von
ihm ausgegebenen Werthzeichen gleichkommt, mindeſtens aber 5000
Mark beträgt 3). Ebenſo iſt die Verwendung ausländiſcher
Banknoten und ihnen gleichzuachtender Geldwerthzeichen, welche
auf Reichswährung oder eine deutſche Landeswährung ausgeſtellt
ſind, zu Zahlungen verboten und mit einer Geldſtrafe von 50 bis
zu 5000 M. und, falls die Verwendung gewerbemäßig geſchieht,
neben der Geldſtrafe mit Gefängniß bis zu einem Jahre bedroht 4).
Mit dem in dieſer Art geſchützten Privilegium ſind Verpflich-
3)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 26
[402]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
tungen und Einſchränkungen verknüpft, welche in zwei, begrifflich
ſehr verſchiedene Klaſſen zerfallen; die eine derſelben betrifft die
Ausübung des Privilegs ſelbſt, d. h. Ausgabe, Einlöſung, Ein-
ziehung u. ſ. w. der Banknoten, die andere umfaßt Vorſchriften
über den Gewerbebetrieb des Privilegirten, die zwar die Ausübung
des Privilegs unmittelbar nicht betreffen, aber mit Rückſicht auf
daſſelbe zur Sicherung des Publikums erlaſſen ſind.
1. Die Normativbeſtimmungen über Ausübung des Banknoten-
Privilegs beſtehen in folgenden Sätzen:
a) Banknoten dürfen nur auf Beträge von 100, 200, 500 und
1000 Mark oder von einem Vielfachen von 1000 Mark ausgefertigt
werden 1). Dadurch iſt die Stückelung der Banknoten in Zuſam-
menhang und Uebereinſtimmung mit dem Münzenſyſtem gebracht
worden. Sollte eine Bank dieſe Vorſchriften verletzen, indem ſie
z. B. Banknoten in Umlauf ſetzt, welche auf einen geringeren Be-
trag als 100 M. lauten, ſo würden die Vorſtände der Bank wegen
„unbefugter“ Banknoten-Ausgabe nach §. 55 des Bankgeſetzes ſtraf-
bar ſein.
b) Jede Bank iſt verpflichtet, ihre Noten ſofort auf Präſen-
tation zum vollen Nennwerthe einzulöſen und ſie nicht nur an
ihrem Hauptſitz, ſondern auch bei ihren Zweiganſtalten jederzeit
zum vollen Nennwerthe in Zahlung zu nehmen 2). Die baare Ein-
löſung muß an dem Hauptſitz unbedingt ſofort, d. h. am Tage der
Präſentation geſchehen; an den übrigen durch die Statuten be-
[403]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſtimmten Einlöſungsſtellen bis zum Ablauf des dritten Tages nach
dem Tage der Präſentation 1).
Die Bank darf Noten nicht wieder ausgeben, welche in be-
ſchmutztem oder beſchädigtem Zuſtande in ihre Kaſſen zurückkehren 2).
c) Die Bank darf ihre Noten oder einzelne Gattungen der-
ſelben nicht aufrufen oder einziehen, als mit Genehmigung
des Bundesrathes und dieſe Genehmigung darf vom Bundes-
rath nur in dem Falle ertheilt werden, wenn nachgewieſen wird,
daß Nachahmungen der aufzurufenden Noten in den Verkehr ge-
bracht ſind 3). Die Bank muß ihre Noten oder einzelne Gattungen
derſelben aufrufen und einziehen auf Anordnung des Bun-
desrathes, welche jedoch nur erlaſſen werden darf, wenn ein
größerer Theil des Umlaufs ſich in beſchädigtem oder beſchmutztem
Zuſtande befindet, oder wenn die Bank die Befugniß zur Noten-
ausgabe verloren hat 4).
Die Vorſchriften über das bei der Aufrufung und Einziehung
zu beobachtende Verfahren ſind in allen Fällen vom Bundes-
rath zu erlaſſen und durch das Reichs-Geſetzblatt zu veröffent-
lichen 5).
2) Die mit der Ausübung des Banknoten-Privilegs verbun-
denen Beſchränkungen und Verpflichtungen ſind folgende:
a) Den Notenbanken iſt es unterſagt, Wechſel zu akzeptiren
und Waaren oder kurshabende Papiere für eigene oder für fremde
Rechnung auf Zeit zu kaufen oder zu verkaufen oder für die Er-
füllung ſolcher Kaufs- oder Verkaufsgeſchäfte Bürgſchaft zu über-
nehmen 6). Die Uebertretung dieſer Vorſchrift hat keine civilrecht-
lichen Wirkungen; die Gültigkeit und Klagbarkeit der von den
Notenbanken abgeſchloſſenen Geſchäfte wird davon nicht berührt;
die Vorſtandsmitglieder aber, welche dieſem Verbote zuwiderhan-
deln, werden mit Geldſtrafe bis zu 5000 M. beſtraft 7).
26*
[404]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
b) Notenbanken müſſen nach näherer Vorſchrift des Bankge-
ſetzes §. 8 viermal monatlich den Stand ihrer Aktiva und Paſſiva,
und ſpäteſtens 3 Monate nach dem Schluſſe jedes Geſchäftsjahres
eine genaue Bilanz ihrer Aktiva und Paſſiva nach näherer Anord-
nung des Bundesrathes 1), ſowie den Jahresabſchluß des Gewinn-
und Verluſtkonto’s durch den Reichsanzeiger auf ihre Koſten ver-
öffentlichen.
Auch ſind in beiden Veröffentlichungen die eventuellen
Verbindlichkeiten der Bank, die aus dem Indoſſament im Inlande
zahlbarer Wechſel entſpringen, erſichtlich zu machen 2).
Die Mitglieder des Vorſtandes werden mit Gefängniß bis zu
3 Monaten beſtraft, wenn ſie in dieſen Veröffentlichungen wiſſent-
lich den Stand der Verhältniſſe der Bank unwahr darſtellen oder
verſchleiern 3).
c) Wenn der Notenumlauf einer Bank den Baarvorrath der-
ſelben und den ihr nach dem Bankgeſetz 4) zugewieſenen Betrag
überſteigt, ſo muß die Bank von dem Ueberſchuſſe eine Steuer von
jährlich fünf Procent an die Reichskaſſe entrichten 5). Zum Zwecke
der Feſtſtellung der Steuer iſt von der Verwaltung der Bank vier-
mal in jedem Monat der Betrag des Baarvorraths und der um-
laufenden Noten der Bank feſtzuſtellen und der Aufſichtsbehörde
einzureichen 6). Vorſtandsmitglieder, welche durch unrichtige Auf-
ſtellung dieſer Nachweiſungen den ſteuerpflichtigen Notenumlauf zu
gering angeben, werden mit einer Geldſtrafe beſtraft, welche dem
Zehnfachen der hinterzogenen Steuer gleichſteht, mindeſtens aber
500 Mark beträgt 7).
II. Banken, welche von den einzelnen Bundesſtaaten (alſo
vor Erlaß des Bankgeſetzes) 8) die Befugniß zur Notenausgabe er-
langt haben, dürfen unter Beobachtung der vorſtehend aufgeführ-
ten reichsgeſetzlichen Vorſchriften das ihnen ertheilte Privilegium,
[405]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
ſo wie es ihnen ertheilt iſt, auch ferner ausüben, d. h. alle
Beſchränkungen und Verpflichtungen, welche in dem ihnen ertheilten
Privilegium oder in ihrem von der Landesregierung beſtätigten
Statut enthalten ſind, z. B. über die Höhe des Notenumlaufes,
über die Zeitdauer des Privilegiums, über die Beſchränkungen ihres
Geſchäftsbetriebes, über die Deckung und Einlöſung der Noten
u. ſ. w. bleiben in Kraft. Die Beſchränkungen des Reichs-
bankgeſetzes treten nicht an ihre Stelle, ſondern, ſoweit ſie bisher
für einzelne Bankinſtitute noch nicht beſtanden haben, treten ſie zu
den bereits begründeten Beſchränkungen und Verpflichtungen hin-
zu. Denn das Bankgeſetz wollte das wohlerworbene Recht auf
Ausgabe von Noten zwar anerkennen, aber nicht erweitern.
Es verſteht ſich nun von ſelbſt, daß jeder Staat das Privi-
legium zur Ausgabe von Banknoten nur für ſein Gebiet rechts-
wirkſam ertheilen konnte. Wenngleich thatſächlich die Banknoten
über das Gebiet des Staates, welcher das Privilegium zur Emiſſion
derſelben gewährt hat, ſich verbreiteten und als Zahlungsmittel ver-
wendet wurden, ſo hatte doch keine Bank ein Recht auf die Fort-
dauer dieſes Zuſtandes. Die Geſtattung der Umlaufsfähigkeit der
Noten außerhalb des Staatsgebietes, für welches das Banknoten-
Privileg ertheilt iſt, im ganzen Reichsgebiete wäre eine Erweiterung
des Noten-Privilegs geweſen. Dieſe iſt von dem Reichsbankgeſetz
prinzipiell verweigert worden. Das Bankgeſetz hat das Verbot
aufgeſtellt, Noten einer Bank außerhalb desjenigen Staates, welcher
der Bank die Befugniß zur Notenausgabe ertheilt hat, zu Zahlungen
zu gebrauchen 1) und es hat denjenigen, der dieſes Verbot über-
tritt, mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark bedroht 2).
Um dieſes Verbot wirkſamer zu machen und den Umlauf von
Privatbanknoten außerhalb des Gebietes des konzeſſionirenden
Staates möglichſt zu verhindern, hat das Reich den Privat-Noten-
banken noch eine weitergehende Beſchränkung auferlegt, welche für
ſie eine empfindliche Ausnahme von der allgemeinen Niederlaſſungs-
und Gewerbefreiheit begründet. Es iſt nämlich den Privat-Noten-
banken nicht geſtattet, außerhalb desjenigen Staates, welcher ihnen
das Notenprivilegium ertheilt hat, Bankgeſchäfte durch Zweig-
[406]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
anſtalten zu betreiben oder durch Agenten für ihre Rechnung be-
treiben zu laſſen oder als Geſellſchafter an Bankhäuſern ſich zu
betheiligen 1). Die Uebertretung dieſes Verbotes iſt mit einer Geld-
ſtrafe bis zu 5000 Mark bedroht 2).
Das Reich hat ſich nun aber im §. 44 des Bankgeſetzes be-
reit erklärt, den Banken den Umlauf der von ihnen ausgegebenen
Noten im ganzen Reichsgebiet freizugeben und ihnen unter gewiſſen
Bedingungen auch den Betrieb von Bankgeſchäften durch Zweig-
anſtalten oder Agenturen außerhalb des im §. 42 bezeichneten Ge-
bietes zu geſtatten, wenn ſie bis zum 1. Januar 1876 eine Anzahl von
Vorausſetzungen erfüllen, welche im §. 44 des Bankgeſetzes aufge-
führt ſind. Dieſe Vorausſetzungen laſſen ſich auf folgende Geſichts-
punkte zurückführen:
1) Die Privatbank unterwirft ſich den für die Reichsbank
erlaſſenen Vorſchriften hinſichtlich der Anlegung ihrer Be-
triebsmittel 3), der Anſammlung eines Reſervefonds und der Noten-
Deckung.
2) Sie verpflichtet ſich, eine Einlöſungsſtelle in Berlin oder
Frankfurt a. M., deren Wahl der Genehmigung des Bundesrathes
unterliegt, einzurichten und an derſelben die von ihr ausgegebenen
Noten ſpäteſtens vor Ablauf des auf den Tag der Präſentation
folgenden Tages gegen kursfähiges deutſches Geld einzulöſen.
3. Sie verpflichtet ſich, alle deutſchen Banknoten, deren Um-
lauf im geſammten Reichsgebiete geſtattet iſt, an ihrem Sitze ſo-
wie bei denjenigen ihrer Zweiganſtalten, welche in Städten von
mehr als 80,000 Einwohnern ihren Sitz haben, zu ihrem vollen
[407]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
Nennwerthe in Zahlung zu nehmen, ſo lange die Bank, welche die
Noten ausgegeben hat, ihrer Einlöſungspflicht pünktlich nachkommt.
Die bei einer Bank eingenommenen Noten einer andern Bank,
mit alleiniger Ausnahme der Reichsbanknoten, dürfen aber nur
entweder zur Einlöſung präſentirt oder zu Zahlungen an diejenige
Bank, welche dieſelben ausgegeben hat, oder zu Zahlungen an dem
Orte, wo letztere ihren Hauptſitz hat, verwendet werden 1).
4) Ferner verzichtet die Bank auf ein ihr etwa zuſtehendes
Widerſpruchsrecht gegen die Ertheilung der Befugniß zur Ausgabe
von Banknoten und gegen die Aufhebung eines ihr etwa zuſtehen-
den Anſpruches, daß ihre Noten an öffentlichen Kaſſen ſtatt baaren
Geldes in Zahlung genommen werden müſſen.
5) Endlich unterwirft ſich die Bank den für die Reichsbank
beſtehenden Vorſchriften über die Kündigung des Banknoten-Privi-
legs ohne Anſpruch auf irgend welche Eutſchädigung, mit der Maß-
gabe, daß die Kündigung entweder von der Landesregierung oder
vom Bundesrath erfolgen kann. Von Seiten des Bundesrathes
darf eine Kündigung aber nur erfolgen zum Zwecke weiterer einheit-
licher Regelung des Notenbankweſens oder wenn eine Notenbank
den Anordnungen der Bankgeſetzes zuwidergehandelt hat. Ueber die
Frage, ob dieſe Vorausſetzungen vorliegen, iſt der Rechtsweg aus-
geſchloſſen; die Entſcheidung erfolgt durch Beſchluß des Bundes-
rathes.
Einer Bank, deren Noten im ganzen Reichsgebiet umlaufen
dürfen, kann es vom Bundesrath geſtattet werden, außerhalb des
Staatsgebietes, für welches ſie conceſſionirt iſt, Bankgeſchäfte durch
Zweiganſtalten und Agenturen zu betreiben, jedoch nur auf Antrag
der Landesregierung, in deren Gebiet die Zweigniederlaſſung er-
richtet werden ſoll 2).
[408]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
Die bei Erlaß des Bankgeſetzes beſtehenden Notenbanken hatten
bis zum 1. Januar 1876 demnach die Wahl entweder unter den
bisher für ſie beſtehenden Vorſchriften, aber unter Beſchränkung
auf das Gebiet des Staates, der ſie privilegirt hat, ihr Geſchäft
fortzubetreiben, oder für ihre Noten die Umlaufsfähigkeit im ganzen
Reichsgebiete zu erlangen, dafür aber ſich den Beſchränkungen des
§. 44 des Bankgeſetzes zu unterwerfen.
Von den 32 Privatnotenbanken, welche bei Erlaß des Bank-
geſetzes beſtanden, haben 14 Banken auf das Recht zur Ausgabe
von Banknoten ganz verzichtet 1); von den übrigen 18 Banken haben
ſich 16 den Vorſchriften des §. 44 des Bankgeſetzes unterworfen 2),
ſo daß nur zwei Banken, nämlich die Roſtocker und die Braun-
ſchweigiſche, ſich für die erſte der beiden Alternativen erklärt haben 3).
III. Aus den vorſtehenden Erörterungen ergeben ſich nun die
Prinzipien, aus denen ſich die dem Reiche gegen die Privat-
banken zuſtehenden Hoheitsrechte ableiten und erklären.
Sie beruhen auf zwei ſtaatsrechtlichen Grundſätzen. Der erſte
derſelben beſteht in dem Verbot an die Einzelſtaaten, No-
tenprivilegien zu ertheilen oder die beſtehenden zu erweitern, zu
verlängern, von Beſchränkungen und Bedingungen zu befreien, ſei
es ausdrücklich, ſei es ſtillſchweigend durch Nichtausübung des Auf-
ſichtsrechtes. Der zweite beſteht darin, daß alle Banken, deren
Noten im ganzen Reichsgebiet umlaufen dürfen, nicht blos von dem
Einzelſtaat, in dem ſie ihren Sitz haben, ſondern zugleich von
dem Reich ihr Notenprivilegium erhalten haben; denn
der Einzelſtaat konnte dieſes Privilegium nur für ſein Gebiet er-
theilen; die Erweiterung des Umlaufsgebietes iſt eine Erweiterung
2)
[409]§. 73. Die Verwaltung des Bankweſens.
des Privilegiums, oder vielmehr die Verleihung eines erweiterten
Privilegiums von Seiten des Reiches. Deshalb ſtehen dem Reiche
den Privatbanken gegenüber diejenigen Befugniſſe zu, welche nach
allgemeinen Grundſätzen dem Staat, der ein Privileg ertheilt hat,
gegen den Privilegirten zukommen, nämlich die Beaufſichtigung
des Gebrauches und die Entziehung des Privilegs wegen Miß-
brauches. Zugleich beſtimmt ſich hiernach auch das Kompetenz-Ver-
hältniß zwiſchen Reich und Einzelſtaat rückſichtlich der Hoheitsrechte
über die Privatnotenbanken.
Im Einzelnen gelten demgemäß folgende Sätze:
1. Den Einzelſtaaten verbleibt die Aufſicht über die von ihnen
privilegirten Notenbanken nach Maßgabe der Landesgeſetze, Bank-
ſtatuten und Privilegien 1). Außerdem aber iſt das Reich ebenfalls
zur Ausübung einer Kontrole befugt. Der Reichkanzler kann
jederzeit durch Kommiſſare die Bücher, Geſchäftslokale und Kaſſen-
beſtände der Notenbanken revidiren, um ſich die Ueberzeugung zu
verſchaffen, daß dieſelben die für ſie beſtehenden Vorſchriften befolgen,
die ihnen auferlegten Bedingungen und Beſchränkungen innehalten
und die vorgeſchriebenen Wochen- und Jahresüber ſichten und
Nachweiſungen der wirklichen Sachlage entſprechend anfertigen 2).
2. Die Einzelſtaaten dürfen die Grundgeſetze, Statuten oder
Privilegien der Notenbanken nur mit Genehmigung des
Bundesrathes abändern, ſofern die Abänderung das Grund-
kapital, den Reſervefonds, den Geſchäftskreis oder die Deckung
der auszugebenden Noten oder die Dauer der Befugniß zur Noten-
ausgabe zum Gegenſtande hat. Soll eine derartige Abänderung
getroffen werden, ſo hat die Landesregierung den Antrag auf Ge-
nehmigung im Bundesrath zu ſtellen; der Bundesrath darf dieſelbe
aber nicht ertheilen, wenn die Bank nicht den Beſtimmungen des
§ 44 des Bankgeſetzes ſich unterworfen hat 3).
3. Den Einzelſtaaten verbleibt das Recht, die Dauer einer be-
reits erworbenen Befugniß zur Notenausgabe durch Kündigung
[410]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
auf eine beſtimmte Zeit zu beſchränken, wenn durch das Statut
oder Privileg ein ſolches Recht begründet iſt. Dieſe Kündigung
tritt aber kraft des Bankgeſetzes alſo auf Befehl des Reiches
zu dem früheſten zuläſſigen Termin ein, falls nicht die Bank den
Maximalbetrag ihrer Notenausgabe auf den am 1. Januar 1874
eingezahlten Betrag ihres Grundkapitals beſchränkt und ſich den
Beſtimmungen des § 44 unterworfen hat 1).
4. Durch richterliches Urtheil kann die Entziehung der Befug-
niß zur Noten-Ausgabe ausgeſprochen werden. Zur Anſtellung
der Klage berechtigt iſt ebenſowohl die Regierung des Bun-
desſtaates, in welchem die Bank ihren Sitz hat, als auch der
Reichskanzler2). Die Entziehung des Notenprivilegiums wird
ausgeſprochen wegen Mißbrauchs deſſelben d. h. wegen Nichtbe-
folgung der Vorſchriften über die Deckung und über die Grenzen
des Notenumlaufes und wegen Verletzung der den Notenbanken
auferlegten Geſchäftsbeſchränkungen, ferner wegen Nichterfüllung
der Einlöſungspflicht und endlich ſobald das Grundkapital ſich durch
Verluſte um ein Drittheil vermindert hat. Die Klage iſt im ordent-
lichen Verfahren zu verhandeln; der Rechtsſtreit gilt als Handels-
ſache. Die Vollſtreckung des Urtheils erfolgt auf Verfügung des
Prozeßgerichtes; dem Reichskanzler ſteht aber hinſichtlich der Ein-
ziehung und Vernichtung der Banknoten eine Kontrole zu 3).
§. 74. Die Verwaltung des Müuzweſens (mit Einſchluß des
Papiergeldes)*).
I.Allgemeine Geſichtspunkte.
Um die ſtaatsrechtlichen Prinzipien, auf denen die Ordnung
des Münzweſens im deutſchen Reiche beruht, zu erkennen, iſt es
[411]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
erforderlich zwei Begriffe auseinander zu halten, welche die ältere
Theorie unter dem Namen Münzregal durcheinander geworfen hat.
*)
[412]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Der eine dieſer Begriffe, den man mit dem Namen Münzho-
heit bezeichnen kann, iſt das in der Staatsgewalt enthaltene Recht,
das Münzſyſtem zu regeln; der andere iſt die Ausmünzung oder
Münzprägung d. h. die Herſtellung von Münzen, welche einem
gewiſſen Münzſyſtem entſprechen.
1. Die Regelung des Münzſyſtems iſt ein Hoheitsrecht, durch
deſſen Ausübung ſich die Staatsgewalt bethätigt; denn es beſteht
in der Sanctionirung von Rechtsſätzen. Den Inhalt
dieſer Rechtsſätze darf man freilich nicht, wie dies bei oberfläch-
licher und unjuriſtiſcher Betrachtung zu geſchehen pflegt, darin
ſuchen, daß Goldſtücke oder Silberſtücke von dem oder jenem Ge-
wichte und Durchmeſſer unter dem oder jenem Namen fabrizirt
werden ſollen. Der Rechtsſatz beſteht vielmehr darin, daß der Ge-
ſetzgeber erklärt, die geſetzlich näher bezeichneten Münzen ſollen
Zahlungsmittel ſein; ſie ſollen dazu dienen, Schulden zu
tilgen 1). Die Regelung des Münzſyſtems beſteht darin, daß der
Geſetzgeber erklärt, was in dem ihm unterworfenen Gebiet Geld
ſein ſoll. Im volkswirthſchaftlichen Sinn verſteht man unter dieſem
Ausdruck zwar ſehr verſchiedenartige Dinge; im juriſtiſchen Sinn
aber iſt Geld ganz gleichbedeutend mit geſetzlich anerkanntem Zah-
lungsmittel. Zahlen kann man allein mit Geld; alle anderen
Werthgegenſtände kann man nur zur Hingabe an Zahlungsſtatt
verwenden. Die Befriedigung mit Geld muß ſich jeder Gläubiger
von Rechtswegen gefallen laſſen; die Befriedigung mit anderen
*)
[413]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Werthobjecten braucht er nur anzunehmen, wenn er will. Die
Eigenſchaft einer Sache als Geld iſt eine rein juriſtiſche und
beruht deshalb auch ausſchließlich auf einer Rechtsregel (Ge-
ſetz oder Gewohnheitsrecht). Der wirthſchaftliche Werth, die ſo-
genannte Kaufkraft oder der Tauſchwerth, kommt bei dem Rechts-
begriff des Geldes gar nicht in Betracht. Der Geſetzgeber kann
ihn gar nicht normiren; er kann ihn bei keiner Sache erhöhen oder ver-
mindern, auch nicht bei dem Edelmetall durch Aufdrücken des Präge-
ſtempels; denn dieſer Werth wird durch thatſächliche Verhält-
niſſe, nicht durch Rechtsſätze beſtimmt 1). Der Geſetzgeber kann und
will vielmehr nur den Zahlungswerth im Inlande feſt-
ſetzen. Die Eigenſchaft eines Zahlungsmittels kann der Geſetzgeber
aber andererſeits an jedes beliebige Subſtrat anknüpfen; er kann
zum Gelde erklären, was er will; wenn in den Kulturſtaaten regel-
mäßig nur edle Metalle mit dieſer rechtlichen Eigenſchaft ausgeſtattet
werden, ſo beruht dies nicht auf dem juriſtiſchen Begriffe des Geldes,
ſondern auf volkswirthſchaftlichen und techniſchen Gründen.
Zum Begriffe des Geldes gehört deshalb ebenſowenig die
ſtaatliche Beglaubigung des Metallgehaltes eines Stückes. Ein
geeichter Goldbarren iſt kein Geld und andererſeits ſind Münzen
mit ſehr ausgedehnter Toleranz 2), bei denen der Metallgehalt der
einzelnen Stücke ein ſehr verſchiedener ſein kann, dennoch Geld,
wofern ſie nur geſetzliches Zahlungsmittel ſind 3).
Ganz und gar nicht entſcheidend iſt ferner die thatſäch-
liche Cirkulation und Verwendung zu Zahlungen. Die Goldkro-
nen waren Geld, obgleich ſie nicht cirkulirten, und ausländiſche
Münzen ſind im Inlande kein Geld, wenngleich ſie thatſächlich
vielfach als Zahlungsmittel Verwendung finden. Nicht das, was
[414]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
man solutionis caussa giebt und nimmt, iſt Geld; ſondern das,
was man kraft Rechtsſatzes in Zahlung geben ſoll und nehmen
muß, iſt Geld. Was in concreto Geld ſei, iſt eine Frage des
poſitiven Rechtes; ſie kann nur für jeden Staat, für jedes Rechts-
gebiet beantwortet werden.
Kein Staat von einiger Kultur kann Rechtsſätze über das
Münzſyſtem entbehren, auch wenn er ſelbſt Münzen nicht ausprägt.
Der wirthſchaftliche Verkehr, die Eingehung und Tilgung von
Schulden, das Finanzweſen des Staates ſelbſt und nicht minder
die Handhabung des Strafrechts und der Rechtsſchutz in Civilſachen
ſetzen ein beſtimmtes Münzſyſtem voraus. Wo der Staat es unter-
läßt, dieſe Rechtsſätze zu ſanctioniren, tritt ſofort ergänzend das
Gewohnheitsrecht ein; insbeſondere durch Anſchluß an das Münz-
ſyſtem eines benachbarten Rechtsgebietes. Auch ausländiſche Mün-
zen können Geld ſein, wenn ein Rechtsſatz ſie dazu erklärt; ein
Staat aber ohne Rechtsſätze darüber, was in ſeinem Gebiete
Geld ſei, wäre ein Staat ohne Geld.
2. Dagegen die Herſtellung von Münzen iſt nicht die Ausübung
eines Hoheitsrechts, iſt keine Bethätigung der Staatsgewalt, keine
Normirung des Rechtszuſtandes, ſondern ein induſtrielles Unter-
nehmen, eine mit Gewinn verbundene Arbeitsleiſtung, welche man
im Allgemeinen dem Betriebe jeder beliebigen Metallwaaren-Fabrik
gleichſtellen kann. Sowie der Staat im Betriebe der Poſt ein
Frachtführer und im Betriebe der Bank ein Bankier iſt, ſo iſt er
bei dem Betriebe der Münzprägeanſtalten ein Fabrikant von Gold-
und Silberwaaren. Gerade dieſe Seite des Münzweſens iſt aber
in den früheren Zeiten und bis zur Gegenwart als die weſentliche
angeſehen worden, weil ſie ein finanzielles Intereſſe darbot. Die
Münzprägung wurde in erſter Reihe als Einnahmequelle angeſehen;
deshalb legte ſich der Staat das ausſchließliche Recht bei, Münzen
zu fabriziren und in den Verkehr zu bringen, er begründete für
den Fiskus das Münzregal oder Münzmonopol. Die Rege-
lung des Münzſyſtems erſchien im Vergleich hierzu als untergeord-
nete Nebenſache, gleichſam nur als die Art und Weiſe, wie der
Staat ſein Monopol auf Ausprägung von Münzen verwirklicht und
ausübt. Sobald man aber von dem verkehrten Beginnen abläßt,
aus der Ausprägung von Münzen eine unſolide Bereicherung der
[415]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Staatskaſſe zu erzielen, tritt das wahre Verhältniß trotz aller an
hergebrachten ſcholaſtiſchen Begriffen hängenden Theorien zu Tage.
Der Staat kann auf die Herſtellung vou Münzen ver-
zichten, ohne ein Hoheitsrecht Preis zu geben und ohne irgend
eine ſeiner Aufgaben unerfüllt zu laſſen. Der Staat kann ſich
darauf beſchränken, fremde Münzen zum geſetzlichen Zahlungs-
mittel, alſo zum Gelde, zu erklären, was in Deutſchland vielfach
geſchehen iſt, beſonders durch Gewohnheitsrecht. Es hat ferner in
Deutſchland zahlreiche Staaten gegeben, welche keine Münzfabriken
hatten, ſondern welche entweder zeitweiſe gar nicht ausmünzen
ließen, oder welche die Herſtellung von Münzen bei auswärtigen
Prägeanſtalten gegen Bezahlung beſtellten. Dagegen hat es keinen
deutſchen Staat gegeben ohne Münzſyſtem, d. h. ohne Regelung
der Währung u. ſ. w. durch Rechtsſätze. Der Staat könnte es
der Privat-Induſtrie überlaſſen Münzen herzuſtellen, wie er es
ihr überläßt, Maaße und Gewichte herzuſtellen, und ſich auf eine
Eichung der Münzen oder auf eine Controle der Münzfabriken
beſchränken.
Der Staat kann andererſeits im Auftrage von Privatperſonen
und gegen Bezahlung die Herſtellung von Münzen übernehmen,
wie er für ſie Güter befördert oder ihre Wechſel diskontirt; wäh-
rend er ſeine Hoheitsrechte doch nur im öffentlichen und ſtaatlichen
Intereſſe, nicht auf Beſtellung von Privatperſonen gegen Vergü-
tung auszuüben vermag.
3. Auf dem Gegenſatz der beiden einander gegenüberſtehenden
Begriffe beruht die ſtaatsrechtliche Geſtaltung des heutigen
deutſchen Münzweſens und ihre Eigenartigkeit; auf ihm die Ab-
gränzung der Kompetenz zwiſchen Reich und Einzelſtaaten. Man
kann das oberſte Prinzip in dem einen Satz zuſammenfaſſen: Das
Reich hat die ausſchließliche Befugniß zur Rege-
lung des Münzſyſtems (Münzhoheit), die Einzel-
ſtaaten haben dagegen die Befugniß zur Prä-
gung von Reichsmünzen (Münzmonopol).
Dieſe Trennung von Münzhoheit und Münzmonopol iſt für
die Münzverfaſſung des deutſchen Reiches charakteriſtiſch und findet
vielleicht in keinem andern Staate ihres Gleichen. Auf ihr beruht
es, daß es in Deutſchland im juriſtiſchen Sinne keine Landes-
münzen, ſondern nur Reichsmünzen giebt, daß Deutſchland ein
[416]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
einheitliches Münzgebiet im Sinne von Rechtsgebiet iſt, daß der
Charakter eines gemünzten Metallſtücks als Geld durch die An-
ordnung und Anerkennung des Reiches begründet iſt, daß die
innere und äußere Beſchaffenheit der Münzen durch das Reich aus-
ſchließlich feſtgeſetzt wird. Auf ihr beruht es aber zugleich, daß
das Reich keine Münzen prägt und keine Anſtalt dafür hat, daß
vielmehr diejenigen Einzelſtaaten, welche ſich mit dem Betriebe von
Münzfabriken befaſſen wollen, die Herſtellung von Reichsmünzen
übernehmen und zwar nicht nur im Auftrage und für Rechnung
des Reiches, ſondern auch auf Beſtellung von Privatperſonen.
Endlich ergiebt ſich hieraus, daß zwiſchen dem Reich und den
Einzelſtaaten Verhältniſſe entſtehen, welche die Herſtellung von
Reichsmünzen für Rechnung des Reiches auf den Landes-Präge-
anſtalten und die Stellung des Reiches gegenüber dem den Ein-
zelſtaaten gewährten Präge-Recht zum Gegenſtand haben.
In der folgenden Darſtellung ſollen dieſe rechtlichen Verhält-
niſſe näher dargelegt werden 1).
II.Die Regelung des Münzweſens Seitens des Reiches.
1. Die Reichsverf. Art. 4 Nro. 3 erklärt das Reich für zu-
ſtändig „zur Ordnung des Münzſyſtems“. Von dieſer Kompetenz
hat das Reich den einſchneidendſten Gebrauch gemacht, indem es
an der Spitze des Münzgeſetzes den Grundſatz ſanctionirt hat:
„An die Stelle der in Deutſchland geltenden
Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung“.
Der Zeitpunkt, an welchem die Reichswährung im geſammten
Reichsgebiete in Kraft treten ſollte, war durch eine mit Zuſtim-
mung des Bundesrathes zu erlaſſende Verordnung des Kaiſers
zu beſtimmen; er iſt auf den erſten Januar 1876 feſtgeſetzt wor-
den 2). Den Einzelſtaaten war es aber geſtattet, ſchon vor dieſem
Zeitpunkte für ihr Gebiet die „Reichsmarkrechnung“ im Verord-
nungswege einzuführen 3) und viele Staaten haben von dieſer Be-
fugniß Gebrauch gemacht 4). Mit dem geſetzlichen Eintritt der
[417]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Reichswährung ſind alle landesgeſetzlichen und ge-
wohnheitsrechtlichen Rechtsſätze über das Münz-
ſyſtem aufgehoben. Die Frage, was geſetzliches Zahlungs-
mittel ſei, iſt ausſchließlich nach dem Reichsmünzgeſetz und den
auf Grund deſſelben erlaſſenen Verordnungen zu beantworten. Im
ganzen Reichsgebiet als einem einheitlichen Rechts- und Wirth-
ſchaftsgebiet iſt nur derjenige Gegenſtand „Geld“ im Rechtsſinne
d. h. geſetzlich anerkanntes und das Rechnungsweſen des allgemei-
nen Verkehrs beſtimmendes Zahlungsmittel, den das Reich dazu
erklärt. Dieſe Befugniß des Reiches iſt eine ausſchließliche 1).
Nicht nur die bis zur Einführung der Reichswährung in Geltung
geweſenen Landeswährungen ſind abgeſchafft, ſondern die Einzel-
ſtaaten können auch fortan kein Geld ſchaffen, insbeſondere nicht
neben der für das ganze Reichsgebiet geltenden Reichswährung
eine für ihr Landesgebiet geltende Landeswährung einführen 2).
2. In Folge der Beſeitigung der Landeswährungen wurde es
den Einzelſtaaten unterſagt, Münzen dieſer Währungen noch ferner
auszuprägen oder ausprägen zu laſſen. Schon das Reichsgeſetz
v. 4. Dezemb. 1871 §. 10 verbot die Ausprägung von anderen
als den durch dieſes Geſetz eingeführten Goldmünzen, ſowie von
groben Silbermünzen mit Ausnahme von Denkmünzen; das Münz-
geſetz Art. 11 dehnte dieſes Verbot auf ſämmtliche Münzen aus,
welche nicht durch dieſes Geſetz eingeführt worden ſind, und ſetzte
der Befugniß, Silbermünzen als Denkmünzen auszuprägen, mit
dem 31. Dezemb. 1873 ein Ende.
3. Die Abſchaffung der Landeswährungen machte es noth-
wendig, die vorhandenen Münzen derſelben außer Kurs zu
ſetzen. Die Außerkursſetzung iſt die Bethätigung eines Hoheits-
rechts; ſie iſt der Befehl der Staatsgewalt, durch welchen dem
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 27
[418]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
bisherigen Gelde die Eigenſchaft des geſetzlichen Zahlungsmittels,
alſo die Geldqualität, entzogen wird. Die Außerkursſetzung iſt
die Aufhebung oder Veränderung eines beſtehenden Rechtsſatzes,
ſie hat alſo ſelbſt einen Rechtsſatz zum Inhalt; ſie iſt ein Geſetz
im materiellen Wortſinne. Da das Reich die Landeswährungen
im Allgemeinen beſeitigte, ſo ging auch die Außerkursſetzung der
einzelnen Münzſorten von demſelben aus. Nicht die Einzelſtaaten
waren nach Erlaß des Münzgeſetzes befugt, den in ihren Gebieten
als geſetzliches Zahlungsmittel umlaufenden Münzen dieſe Eigen-
ſchaft zu nehmen, ſondern das Reich 1) und zwar hat das Münz-
geſetz Art. 8 dem Bundesrath die Anordnung der Außer-
kursſetzung von Landesmünzen und die [Feſtſtellung] der für dieſelben
erforderlichen Vorſchriften übertragen. Es wurde zugleich vorge-
ſchrieben, daß dieſe Verordnungen ſowohl in den zur Veröffent-
lichung von Landesverordnungen beſtimmten Blättern als auch
durch das Reichs-Geſetzblatt zu veröffentlichen ſind 2). Der Zeit-
punkt der Außerkursſetzung war der Beſtimmung des Bundesrathes
überlaſſen; nur hinſichtlich der im Art. 6 des Münzgeſetzes auf-
geführten Scheidemünzen war angeordnet, daß ſie mit dem Ein-
tritt der Reichswährung außer Kurs treten 3).
Die Außerkursſetzung betrifft nicht nur die von den Einzel-
ſtaaten geprägten Münzen, ſondern alle in den Gebieten der
Bundesſtaaten als Zahlungsmittel anerkannten Münzen; alſo auch
alle Münzen ausländiſchen Gepräges, welche kraft Geſetzes
oder Gewohnheitsrechtes in einzelnen Theilen des Bundesgebietes
Geldqualität hatten; denn die Außerkursſetzung ſteht in keinem be-
grifflichen Zuſammenhange mit der Prägung und Ausgabe von
Münzen, ſondern nur mit ihrer Anerkennung als Geld. Dagegen
iſt aus demſelben Grunde die Außerkursſetzung ausländiſcher Mün-
[419]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
zen, welchen die Geldeigenſchaft im Inlande geſetzlich oder ge-
wohnheitsrechtlich überhaupt mangelt, ſinnlos.
Der Bundesrath hat vom 1. April 1874 an ſämmtliche bis
zum Inkrafttreten des Geſetzes v. 4. Dezemb. 1871 geprägten
Gold münzen der deutſchen Bundesſtaaten und ſämmtliche landes-
geſetzlich den inländiſchen Münzen gleichgeſtellten ausländiſchen
Gold münzen der Eigenſchaft als geſetzliches Zahlungsmittel
(Geld) entkleidet 1). Er hat ferner nach und nach faſt alle andern
Münzſorten, welche in dem Reichsgebiet oder einzelnen Theilen
deſſelben, die Eigenſchaft geſetzlicher Zahlungsmittel hatten, außer
Kurs geſetzt 2). Verſchont von der Außerkursſetzung ſind bis jetzt
nur noch die Einthalerſtücke und Einſechſtel-Thaler-Stücke deutſchen
Gepräges 3) geblieben.
4. Von der Außerkursſetzung iſt ganz verſchieden das Ver-
bot des Umlaufes gewiſſer Münzen, d. h. das Verbot ſie
in Zahlung zu geben. Die Außerkursſetzung von Münzen hebt
nur den Rechtsſatz auf, daß ſie in Zahlung genommen werden
müſſen, aber ſie ſtellt nicht das Verbot auf, daß ſie nicht als
Zahlungsmittel verwendet werden dürfen. Münzen, die ent-
weder niemals als Geld rechtlich anerkannt waren oder denen dieſe
Eigenſchaft durch Außerkursſetzung entzogen worden iſt, können
deſſen ungeachtet ein ſehr beliebtes Zahlungsmittel ſein; nament-
lich in den Grenzgebieten werden immer gewiſſe Mengen von
Münzen der Nachbarländer im Verkehr ſich erhalten. Im juriſti-
ſchen Sinne ſind ſie allerdings nicht Geld, ſondern Geld-Surrogat;
ihre Hingabe zur Tilgung einer Schuld iſt nicht Zahlung (solu-
tio), ſondern Hingabe an Zahlungsſtatt (datio in solutum); ihre
Zurückweiſung ſteht dem Gläubiger frei; aber thatſächlich fungiren
ſie wie Geld. Aus Gründen der Volkswirthſchaft oder Münzpo-
litik oder im Intereſſe der Verkehrsſicherheit kann es ſich aber als
nothwendig erweiſen, gewiſſe Münzen aus dem Verkehr ganz aus-
zuſchließen; in dieſem Falle wird das Verbot erlaſſen, ſie in Zah-
lung zu geben.
Auch der Erlaß eines derartigen Rechtsſatzes iſt den Einzel-
27*
[420]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
ſtaaten entzogen und dem Reich vorbehalten. Der Bun-
desrath iſt befugt, den Umlauf fremder Münzen entweder gänzlich
zu unterſagen oder ſie zu tarifiren, d. h. einen Maximalwerth zu
beſtimmen, über welchen hinaus ſie nicht in Zahlung angeboten
und gegeben werden dürfen 1). Gewohnheitsmäßige oder gewerbs-
mäßige Zuwiderhandlungen gegen die vom Bundesrath getroffenen
Anordnungen werden mit Geldſtrafe bis zu 150 M. oder mit
Haft bis zu 6 Wochen beſtraft. Die vereinzelte gelegentliche Ver-
wendung einer verbotenen Münze als Zahlungsmittel iſt nicht
ſtrafbar. Das Verbot bezieht ſich ferner nur auf diejenigen Fälle,
in welchen die verbotene Münze anſtatt Geldes angeboten
und gegeben wird; dagegen bleiben alle Geſchäfte, in welchen die
Münze als Waare behandelt wird, von demſelben ganz unberührt 2).
Diejenigen fremden Münzen, deren Umlauf nicht verboten
iſt, können nun auch bei Reichs- oder Landeskaſſen in Zahlung
angeboten werden, was namentlich bei Eiſenbahn- und Poſtkaſſen
an Grenzſtationen von Reiſenden, die aus dem Auslande kommen,
bei Zoll- und Steuerkaſſen u. ſ. w. nicht ſelten vorkommt. In
einem ſolchen Falle ſteht es dem Fiskus, wie jedem andern Zah-
lungsempfänger, dem Rechte nach frei, nach Belieben zu beſtim-
men, ob er eine ſolche Münze überhaupt annehmen wolle und zu
welchem Werthe. Denn es handelt ſich dabei um ein Geſchäft,
deſſen Bedingungen von den Parteien vereinbart werden, nicht
um Anwendung eines Rechtsſatzes oder Erfüllung einer Rechts-
pflicht. Die Verwaltung befindet ſich daher hier auf dem Ge-
biete der Handlungsfreiheit. Wie aber bereits oben S. 222 aus-
geführt wurde, beſteht die Handlungsfreiheit der Verwaltung nicht
darin, daß jeder einzelne Beamte nach eigenem Ermeſſen han-
[421]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
deln kann, ſondern daß das Verhalten der Beamten und Behörden
durch Inſtruktionen oder Dienſtanweiſungen, d. h. nicht durch
Rechtsvorſchriften ſondern durch Verwaltungsvorſchriften, geregelt
wird. Gerade in dem erwähnten Falle würde es von den äußer-
ſten Uebelſtänden begleitet ſein, wenn jeder einzelne Kaſſenbeamte
darüber zu befinden hätte, ob er eine ausländiſche Münze anneh-
men oder zurückweiſen und zu welchem Betrage er ſie annehmen
wolle. Es bedarf vielmehr hierüber einer allgemeinen Inſtruktion.
Der Erlaß dieſer Verwaltungsvorſchriften iſt nun ebenfalls
den Einzelſtaaten entzogen und ausſchließlich dem Bundesrath vor-
behalten, damit in den Gebieten ſämmtlicher Bundesſtaaten und
bei allen öffentlichen Kaſſen, ſowohl denen des Reiches als der Ein-
zelſtaaten, ein übereinſtimmendes Verfahren befolgt werde 1).
5. Die Beſeitigung der Landeswährungen hatte die Einlö-
ſung der in dieſen Währungen ausgeprägten Münzen zur Folge.
In rechtlicher Beziehung beſteht aber zwiſchen der Außerkursſetzung
und der Einlöſung von Münzen ein erheblicher Unterſchied und
es iſt nicht nothwendig, daß beide Maßregeln immer mit einander
verbunden ſind. Eine Einlöſung kann auch erfolgen ohne Außer-
kursſetzung dadurch, daß die öffentlichen Kaſſen eingehende Stücke
nicht wieder ausgeben und die ihnen präſentirten Stücke umtauſchen,
z. B. wegen fehlerhafter oder häßlicher Prägung; und ebenſo
kann eine Außerkursſetzung erfolgen ohne Einlöſung. Während
die Außerkursſetzung ein Geſetzgebungsakt, eine Bethätigung der
Staatsgewalt iſt, kömmt in der Einlöſung kein ſtaatliches Hoheits-
recht zur Anwendung, ſie iſt vielmehr ein Geſchäft des Privat-
rechts, die Erfüllung einer vermögensrechtlichen Verpflichtung des
Fiskus. Sie hat ihr Analogon in der Pflicht desjenigen, der In-
haberpapiere ausgegeben hat, dieſelben einzulöſen. Der Staat,
welcher Münzen prägt und mit der rechtlichen Eigenſchaft des Geldes
verſieht, giebt dieſelben nicht nach ihrem Metallwerthe aus, ſon-
dern nach ihrem Geldwerthe d. h. geſetzlich fixirten Zah-
lungswerth 2). Durch die Außerkursſetzung entzieht er ihnen
den letzteren für den allgemeinen Verkehr; dadurch entſteht für
ihn die Verpflichtung, ſie zu dem geſetzlichen Zahlungswerthe
[422]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
(Geldwerth) zurückzunehmen d. h. ſie gegen Münzen der neuen
oder in Geltung erhaltenen Währung von gleichem Geldbetrage
umzutauſchen. Die Einlöſungspflicht beſteht daher für jeden Staat
nur hinſichtlich der von ihm ausgegebenen Münzen, während die
Außerkursſetzung auch Münzen fremden Gepräges betreffen kann.
Sie erſtreckt ſich ferner auf die durch den gewöhnlichen Umlauf
abgenutzten, im Gewicht verringerten Münzſtücke, dagegen nicht
auf durchlöcherte, beſchnittene oder ſonſt gewaltſam beſchädigte oder
verfälſchte Münzſtücke 1). Behufs leichterer und ſchnellerer Abwick-
lung des Einlöſungs-Geſchäftes, auf welches im Allgemeinen die
Grundſätze des bürgerlichen Rechtes Anwendung finden, werden
die letzteren durch Aufſtellung von zwei ſpeziellen Rechts-Vorſchriften
modifizirt, nämlich durch Fixirung des Umrechnungs-Maßſtaabes,
um geringfügige Bruchtheile zu vermeiden und Streitigkeiten wegen
des Werthverhältniſſes auszuſchließen, und durch Anordnung eines
Aufgebots-Verfahrens, das iſt die öffentliche Aufforderung
der Inhaber der Münzen, ſie zur Einlöſung zu präſentiren, mit
Feſtſetzung einer Präcluſivfriſt.
Auch dieſe Rechtsvorſchriften ſind vom Reich erlaſſen und der
Kompetenz der Einzelſtaaten entzogen. Das Münzgeſetz unterſagt
jede Außerkursſetzung von Münzen deutſchen2) Gepräges ohne
Einlöſung; es erfordert eine Einlöſungsfriſt von mindeſtens vier
Wochen und es verlangt, daß dieſelbe mindeſtens drei Monate vor
ihrem Ablaufe durch das Reichsgeſetzblatt und in den zur Ver-
öffentlichung von Landesverordnungen beſtimmten Blättern bekannt
gemacht worden ſei 3). Es überträgt ferner dem Bundesrath die
Feſtſtellung des Werthverhältniſſes und der erforderlichen Verwal-
tungsvorſchriften 4).
Es iſt ferner der für die Finanzwirthſchaft wichtige Grund-
[423]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
ſatz angenommen worden, daß die Einlöſung aller Münzen deutſchen
Gepräges für Rechnung des Reiches erfolgt 1); ein Satz der
ſelbſtverſtändlich die Einzelſtaaten von der Einlöſungspflicht der
von ihnen geprägten Münzen gegen die Inhaber derſelben rechtlich
nicht befreit, ihnen aber den Anſpruch auf Koſtenerſatz gegen die
Reichskaſſe gewährt.
Die Abwicklung des Einlöſungsgeſchäfts ſelbſt dagegen iſt den
Einzelſtaaten hinſichtlich der von ihnen geprägten oder in ihren
Gebieten als geſetzliches Zahlungsmittel anerkannten deutſchen Mün-
zen übertragen; ſie haben demnach die mit der Einlöſung beauf-
tragten Kaſſen zu bezeichnen und mit den erforderlichen Anwei-
ſungen zu verſehen 2); ſie haben ferner die eingezogenen Beträge
an das Reich abzuliefern und Rechnung zu legen 3).
6. Die vom Reiche an Stelle der Landeswährung eingeführte
Reichswährung beſteht aus zwei Gattungen von Münzen, Reichs-
Goldmünzen und Reichs-Scheidemünzen4). Nur den
Reichs-Goldmünzen kömmt der Charakter als Geld d. h. als ge-
ſetzliches Zahlungsmittel vollſtändig und unbedingt zu; Reichs-
Scheidemünzen dagegen ſind grundſätzlich nur zu Zahlungen von
geringfügigen Beträgen und zur Ausgleichung der in Goldmünzen
nicht zahlbaren Reſtbeträge beſtimmt. Die Reichswährung iſt dem-
nach eine einheitliche, nämlich reine Goldwährung; alle Münzen
aus anderem Metall ſind vom Reiche zwar zu ihrem Nennwerthe
[424]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
wie die Goldmünzen ausgegeben, ohne daß ihnen aber die Geld-
eigenſchaft abſolut beigelegt iſt. Hieraus ergeben ſich zwei Rechts-
ſätze, welche den juriſtiſchen Charakter der Scheidemünzen im
Gegenſatz zu den Goldmünzen beſtimmen, nämlich.
a) Niemand iſt verpflichtet, Reichs ſilbermünzen im Betrage
von mehr als 20 Mark und Reichs-Nickel- und Kupfermünzen
im Betrag von mehr als einer Mark in Zahlung zu nehmen 1).
b) Das Reich iſt verpflichtet, Reichs-Scheidemünzen gegen
Reichs-Goldmünzen umzutauſchen. Hinſichtlich dieſer Verpflichtung
iſt die Anordnung getroffen, daß zunächſt von allen Reichs- und
Landeskaſſen Reichs-Silbermünzen in jedem Betrage in Zah-
lung genommen werden; ferner daß an gewiſſen, vom Bundes-
rath zu bezeichnenden Kaſſen 2), Reichsſilbermünzen in Beträgen
von mindeſtens 200 Mark und Reichs- Nickel- und Kupfermünzen
in Beträgen von mindeſtens 50 M. auf Verlangen gegen Reichs-
goldmünzen umgetauſcht werden 3). Der Bundesrath iſt er-
mächtigt, die näheren Bedingungen des Umtauſches feſtzuſetzen 4).
Von dieſen Grundſätzen beſteht aber gegenwärtig noch eine
Ausnahme, indem die Thalerſtücke deutſchen Gepräges im
geſammten Bundesgebiete den Reichs-Goldmünzen unter Berech-
nung des Thalers zu drei Mark gleichgeſtellt ſind, ſo lange ſie
nicht außer Kurs geſetzt werden 5). Den Thalerſtücken deutſchen
Gepräges ſtehen die in Oeſterreich bis zum Schluſſe des Jahres
1867 geprägten Vereinsthaler gleich 6). Der Bundesrath iſt nach
dem Münzgeſetz Art. 8 zur Außerkursſetzung aller Landesmünzen,
alſo auch der Thaler befugt; dies iſt nachträglich durch die An-
[425]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
ordnung ergänzt worden, daß der Bundesrath auch befugt iſt, zu
beſtimmen, daß die Einthalerſtücke deutſchen Gepräges ſowie die
in Oeſterreich bis zum Schluſſe des Jahres 1867 geprägten Ver-
einsthaler bis zu ihrer Außerkursſetzung nur noch an Stelle der
Reichsſilbermünzen, unter Berechnung des Thalers zu drei
Mark, in Zahlung anzunehmen ſind 1).
So lange der Bundesrath die Einthalerſtücke weder den
Reichsſilbermünzen gleichgeſtellt noch gänzlich außer Kurs geſetzt
hat, iſt in Deutſchland die reine Goldwährung nicht völlig durch-
geführt; es beſteht vielmehr interimiſtiſch eine ſogen. Doppelwäh-
rung, indem ſowohl die goldenen Reichsmünzen als die ſilbernen
Thalerſtücke uneingeſchränkt die rechtliche Eigenſchaft des Geldes
haben.
7. Die einzelnen Stücke der als geſetzliche Währung an-
erkannten Münzſorten haben den Charakter als Geld nur unter
der Vorausſetzung, daß ihr Gewicht und Gehalt unverſehrt und
ihr Gepräge erkennbar iſt. Verlieren ſie dieſe Eigenſchaften, ſo
braucht ſie Niemand mehr in Zahlung zu nehmen; ſie hören auf
„Geld“ zu ſein und es kann für den Staat, welcher ſie ausge-
geben hat, die Verpflichtung zur Einlöſung begründet ſein. Hier
iſt nur aber zu unterſcheiden zwiſchen der Abnutzung der Münzen
durch den gewöhnlichen Umlauf, welche unvermeidlich mit
dem Dienſte, den die Münzen zu leiſten haben, verbunden iſt, und
anderweitigen Beſchädigungen z. B. durch Beſchneidung, Ab-
feilen, Durchlöcherung u. ſ. w. Im letzteren Fall findet weder
eine Verpflichtung, im Gewicht verringerte oder verfälſchte Münz-
ſtücke in Zahlung zu nehmen, noch ein Anſpruch gegen das Reich
oder die Einzelſtaaten auf Umtauſch ſtatt 2), gleichviel ob die Be-
ſchädigung auf einem Verſchulden oder auf einem zufälligen Ereig-
[426]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
niſſe beruht 1). Dagegen hat das Reich die mit dem ordnungs-
mäßigen Gebrauch der Reichsmünzen verbundene Gefahr der
Abnutzung übernommen und eine Einlöſungspflicht derſelben aner-
kannt. Dabei beſteht aber zwiſchen Goldmünzen und Scheidemün-
zen eine rechtliche Verſchiedenheit, die auf der Verſchiedenheit des
Materialwerthes beruht.
a) Bei Goldmünzen beſteht ein ſogenanntes Paſſir-
gewicht. Wenn das Gewicht der Kronen und Doppelkronen
um nicht mehr als 5 Tauſendtheile und das Gewicht der halben
Kronen nicht mehr als 8 Tauſendtheile hinter dem geſetzlichen
Normalgewicht zurückbleibt und die Verringerung des Gewichtes
nicht durch gewaltſame oder geſetzwidrige Beſchädigung hervorge-
bracht iſt, ſo ſollen ſie bei allen Zahlungen als vollwichtig
gelten 2). Sie dürfen daher weder von öffentlichen Kaſſen noch von
Privatperſonen, denen ſie in Zahlung angeboten werden, zurückge-
wieſen werden und ſie können von Neuem in Cirkulation geſetzt
werden 3).
[427]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Goldmünzen dagegen, welche das Paſſirgewicht nicht erreichen,
brauchen von Niemandem in Zahlung angenommen zu werden; ihre
Cirkulation (Verausgabung) zum vollen Nennwerthe iſt indeß nicht
unterſagt. Nur den Reichs-, Staats-, Provinzial- oder Kommunal-
kaſſen, ferner den Geld- und Kreditanſtalten und den Banken iſt es
verboten, wenn ſie Goldmünzen dieſer Art in Zahlung empfangen
haben, dieſelben wieder auszugeben 1).
Alle Kaſſen des Reichs und der Bundesſtaaten ſind verpflichtet,
abgenutzte Reichsgoldmünzen, welche das Paſſirgewicht nicht mehr
erreichen, zu dem vollen Werthe, zu welchem ſie ausgegeben worden
ſind, anzunehmen; ſie werden für Rechnung des Reiches zum Ein-
ſchmelzen eingezogen 2).
b) Bei den Reichs-Scheidemünzen iſt ein Paſſirgewicht
geſetzlich nicht fixirt; ſie können trotz der Abnutzung auch von öffent-
lichen Kaſſen, welche ſie in Zahlung genommen haben, wieder in
den Verkehr gebracht werden. Eine rechtliche Verpflichtung,
unter beſtimmt gegebenen Vorausſetzungen, ſie aus dem Verkehr
zu ziehen oder ſie umzutauſchen, beſteht nicht; dagegen iſt die all-
gemeine Anordnung getroffen worden, daß Reichs-Scheidemünzen
(Silber-, Nickel- und Kupfermünzen), welche in Folge längerer
Cirkulation und Abnutzung an Gewicht oder Erkennbarkeit erheb-
lich eingebüßt haben, auf Rechnung des Reiches einzuziehen ſind 3).
III.Die Herſtellung der Reichsmünzen.
1. Die Einzelſtaaten haben vor Errichtung des Reiches neben
der Münzhoheit und im engſten Zuſammenhange mit derſelben das
Münzmonopol d. h. die ausſchließliche Befugniß zur Herſtellung
der Metall-Geldſtücke gehabt. Das Reich hat den Einzelſtaaten
die Münzhoheit entzogen, die Ausprägung der Reichsmünzen da-
gegen gelaſſen. Das Reich hat keine Münzpräge-Anſtalt errichtet
oder die von den Einzelſtaaten betriebenen in Reichsverwaltung
übernommen, ſondern es hat geſetzlich den Grundſatz ſanctionirt,
[428]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
daß die Reichsmünzen auf den Münzſtätten der Bundes-
ſtaaten, welche ſich dazu bereit erklären, ausgeprägt werden 1).
Auch iſt der Privat-Induſtrie die Ausprägung nicht freigegeben
worden; das Monopol der Bundesſtaaten iſt vielmehr anerkannt
und durch eine ſehr ſtrenge Straf-Androhung gegen Verletzung ge-
ſchützt 2).
Eine Verpflichtung einzelner Staaten, Münzanſtalten zu be-
treiben und Reichsmünzen auf denſelben anzufertigen, beſteht nicht;
die Ausprägung wird nur denjenigen Staaten übertragen, welche
ſich zur Uebernahme derſelben bereit erklären. Die Errichtung von
Münzſtätten ſteht aber jedem deutſchen Staate frei, auch den-
jenigen, welche bei Erlaß des Münzgeſetzes keine Münzſtätten
hatten 3).
2. Die Münzſtätten müſſen die Münzen genau nach dem vom
Reich aufgeſtellten Vorſchriften ausprägen, ſowohl in Beziehung
auf Gewicht und Feingehalt, als auch hinſichtlich der Form, der
Inſchriften und Verzierungen, der Ränder u. ſ. w. Soweit dieſe
Vorſchriften nicht durch Reichsgeſetz ertheilt ſind, hat der Bundes-
rath dieſelben zu erlaſſen 4). Jedes Münzſtück muß mit dem
Münzzeichen verſehen ſein 5). Auf den Goldmünzen und auf den
Silbermünzen über 1 Mark iſt auf der einen Seite der Münzen
(Avers) das Bildniß des Landesherrn beziehungsweiſe das Hoheits-
[429]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
zeichen der freien Städte mit einer entſprechenden Umſchrift anzu-
bringen 1).
Welche Landesherren auf den Münzen abzubilden ſeien, iſt
in den Münzgeſetzen nicht beſtimmt; es verſteht ſich von ſelbſt, daß
jede Münzanſtalt mit dem Bildniß des Landesherrn prägt, dem
ſie angehört 2); die Faſſung der Geſetze läßt es aber zu, daß eine
Münzanſtalt aus Gefälligkeit auch Münzen mit dem Bildniß ande-
rer deutſchen Landesherren oder dem Hoheitszeichen einer freien
Stadt prägt. Bei den Goldmünzen und Silbermünzen über 1
Mark ſind demnach die Reversſeite und der Rand bei ſämmtlichen
Stücken derſelben Sorte gleich, die Aversſeite dagegen iſt nach
den Münzſtätten verſchieden; bei den übrigen Scheidemünzen ſind
beide Seiten gleich. Um die möglichſte Gleichförmigkeit des Ge-
präges zu ſichern, ſind die Urmatrizen für die übereinſtimmend
auf allen Münzſtätten zu prägenden Seiten der Reichsmünzen, für
den Rand und die Zahlen in der Münzſtätte zu Berlin angefertigt
worden und allen übrigen Münzanſtalten werden Matrizen, welche
mittelſt dieſer Urmatrize hergeſtellt ſind, überwieſen 3).
Nicht nur das Gepräge, ſondern auch das von den Münz-
ſtätten zu beobachtende Verfahren bei der Ausprägung wird vom
Bundesrath feſtgeſtellt und von Seiten des Reiches beaufſichtigt 4).
[430]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Die Münzſtätten dürfen keine Gold- oder Silber-Münzen zur Ver-
ausgabung abliefern, welche von dem geſetzlichen Normalgewicht
im Mehr oder Weniger weiter abweichen, als es in den Münzge-
ſetzen für die einzelnen Münzſorten vorgeſchrieben iſt 1). Für die
Gewichts- und Gehaltsprüfung der Gold- und Silbermünzen
(ſogen. Juſtirung) iſt durch die vom Bundesrath erlaſſenen Vor-
ſchriften ein ſorgfältiges Verfahren und eine ſtrenge Kontrole vor-
geſchrieben 2).
3. Die Beaufſichtigung der Landes-Münzſtätten Seitens des
Reiches erfolgt durch Kommiſſare, welche der Reichs-
kanzler ernennt. Dieſelben haben örtliche Reviſionen der Münz-
ſtätten vorzunehmen und dabei über die Befolgung der vom Bun-
desrath erlaſſenen Vorſchriften und über das geſammte Verfahren
bei der Ausprägung ſich Kenntniß zu verſchaffen. Sie ſind be-
fugt die Regiſter und Journale, die im Betriebe befindlichen Gold-
beſtände nnd neugeprägten Reichsmünzen zu unterſuchen. Die
Münzbeamten müſſen ſie bei den Reviſionsgeſchäften unterſtützen 3).
Auch muß jede Münzſtätte alljährlich über die bei ihr erfolgten
Geldausprägungen an das Reichskanzler-Amt einen amtlichen Be-
richt abſtatten 4).
4. Die Einzelſtaaten prägen die Münzen auf Beſtellung und
auf Koſten des Reiches 5). Durch Ertheilung und Annahme einer
Beſtellung wird zwiſchen dem Reich und dem Einzelſtaat ein Ver-
trag privatrechtlichen Inhaltes abgeſchloſſen, der die entgeltliche
Leiſtung einer Arbeit zum Gegenſtande hat. Ueber den Abſchluß
und Inhalt dieſes Vertrages gelten folgende Rechtsregeln:
a) Der Reichskanzler beſtimmt unter Zuſtimmung des Bundes-
rathes, wie große Beträge in jeder einzelnen Münzſorte für Rech-
[431]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
nung des Reiches ausgeprägt werden ſollen und wie dieſe Beträge
auf die einzelnen Münzſtätten vertheilt werden 1).
b) Die Münzſtätten liefern das Material zu den Münzen
nicht; ihre Leiſtung beſchränkt ſich ausſchließlich auf die Präge-Ar-
beit; die Münzmetalle ſchafft der Reichskanzler an und liefert die
erforderlichen Mengen den einzelnen Münzſtätten 2).
c) Die Einzelſtaaten tragen ſämmtliche Koſten, welche mit
der Einrichtung, der Erhaltung und dem Betriebe der Münz-Präge-
anſtalten verbunden ſind, insbeſondere auch die Bezahlung der
Arbeiter und Beamten; ſie tragen ferner allemeinen Rechtsgrund-
ſätzen gemäß die Gefahr für das von ihnen übernommene Münz-
metall und haften für die in den Münzſtätten beſchäftigten Arbeiter
und Beamten.
d) Das Reich bezahlt den Einzelſtaaten einen Prägelohn als
Vergütung für die ſämmtlichen Koſten der Prägung, welcher vom
Reichskanzler unter Zuſtimmung des Bundesrathes gleichmäßig
für ſämmtliche Münzſtätten feſtgeſtellt wird 3). Die Bevorzugung
einer Münzſtätte vor einer andern iſt unzuläſſig. Die Prägege-
bühr iſt für die einzelnen Münzſorten nach Verhältniß der zur
Ausprägung erforderlichen Arbeitsleiſtung abgeſtuft 4).
5. Die Ausgabe von Scheidemünzen, mit Einſchluß
[432]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
der Silbermünzen, iſt ein Monopol des Reiches. Es iſt dies die
nothwendige Folge der Unterwerthigkeit der Scheidemünzen und
der im Art. 9 Abſ. 2 des Münzgeſetzes anerkannten Verpflichtung
des Reiches, gegen Einlieferung von Reichsſcheidemünzen Reichs-
goldmünzen zu verabfolgen. Die Einzelſtaaten dürfen daher auf
ihren Münzſtätten Silber- Nickel- und Kupfermünzen nur im Auf-
trage d. h. auf Beſtellung des Reiches ausprägen und dieſelben
nur für Rechnung des Reiches in Cirkulation ſetzen. Weder dürfen
ſie für eigene Rechnung Reichsſcheidemünzen anfertigen und ver-
ausgaben, noch die Ausprägung auf Beſtellung von Privatperſonen
übernehmen 1).
6. Dagegen beſteht hinſichtlich der Reichsgoldmünzen,
alſo der eigentlichen vollwerthigen Geldſtücke, weder für das Reich
noch für die Einzelſtaaten die ausſchließliche Befugniß, dieſelben
in Umlauf zu ſetzen. Das Münzgeſetz hat im Gegentheil das
Prinzip ſanctionirt, daß, ſobald das Reich für den zunächſt erfor-
derlichen Vorrath geſorgt haben wird, es der Privatinduſtrie über-
laſſen bleiben ſoll, dem Bedürfniß nach Goldmünzen zu genügen.
Demgemäß ſind die Münzſtätten der Einzelſtaaten berechtigt und
verpflichtet, für Rechnung und auf Beſtellung von Privatper-
ſonen die Ausprägung von Reichsgoldmünzen zu übernehmen 2).
Zwiſchen der Privatperſon, welche die Fabrikation von Reichs-
goldmünzen beſtellt, und der Münzſtätte, welche die Beſtellung
angenommen hat, wird ein Vertrag abgeſchloſſen, welcher nach Art.
272 Ziff. 1. des Handelsgeſetzbuchs ein Handelsgeſchäft iſt 3).
[433]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Das Reich hat aber eine Anzahl von Vorſchriften erlaſſen, durch
welche die Vertragsfreiheit der Einzelſtaaten bei Abſchluß dieſer
Geſchäfte erheblich eingeſchränkt wird, damit die Privatperſonen
dem Reiche nicht auf deſſen eigene Koſten hinſichtlich der Münz-
prägung Concurrenz machen können und damit unter den Einzel-
ſtaaten ſelbſt keine unpaſſende Concurrenz ſtattfinde. Dieſe Vor-
ſchriften ſind folgende:
- a) Keine Münzſtätte darf die Prägung für Privatperſonen
übernehmen, wenn ſie ſich nicht zur Ausprägung auf Reichsrechnung
bereit erklärt hat 1), und ſie darf die Beſtellung für Privatperſonen
nur ausführen, ſoweit ſie nicht für das Reich beſchäftigt iſt. Die
Beſtellungen des Reiches haben alſo den Vorrang 2) - b) Die Gebühr, welche für ſolche Ausprägungen zu erheben
iſt, wird vom Reichskanzler unter Zuſtimmung des Bundesrathes
feſtgeſtellt, darf aber das Maximum von 7 Mark auf das Pfund
ſein Gold nicht überſteigen 3). - c) Dieſe Gebühr wird unter das Reich und den Einzelſtaat,
welcher die Münzfabrik betreibt, in der Art vertheilt, daß der
Einzelſtaat für die Ausprägung für Privatrechnung ebenſoviel er-
hält, als das Reich für die Ausprägung bezahlt, während der
Ueberſchuß in die Reichskaſſe fließt. Der Einzelſtaat hat demnach
kein Intereſſe daran, ob er für Reichsrechnung oder für Privat-
rechnung die Prägung beſorgt; er erhält in beiden Fällen die
gleiche Vergütung . Der dem Reiche verbleibende Ueberſchuß,
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 28
[434]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
welcher für das Pfund Gold (1395 M.) nur noch 25 Pfennig
beträgt, bildet ein Aequivalent für die Verpflichtung des Reiches,
die durch den Gebrauch abgenutzten und unter das Paſſirgewicht
verringerten Goldmünzen zum vollen Nennwerthe in Zahlung zu
nehmen und einzuziehen. (Vergl. oben S. 427.) - d) Die Ermittelung des Feingehaltes erfolgt auf Koſten des
Einlieferers; von jedem Barren werden 2 Proben gemacht, wofür
zuſammen 3 Mark zu entrichten ſind 1).
IV.Die Ausgabe von Papiergeld.
1. Der Ausdruck Papiergeld wird in einem doppelten Sinne
verſtanden, einem juriſtiſchen und einem unjuriſtiſchen (volkswirth-
ſchaftlichen). Im juriſtiſchen Sinne iſt Papiergeld das, was der
Wortlaut ausſagt: Geld aus Papier, alſo Geld d. h. ein durch
Rechtsſatz als allgemeines Zahlungsmittel anerkanntes Werth-
zeichen. Für den Begriff des Geldes iſt es ganz unerheblich, woraus
das Material dieſes Werthzeichens beſteht, ob aus Gold oder Kupfer
oder Papier; rechtlich kommt allein der Rechtsſatz in Betracht,
durch welchen das Werthzeichen zum allgemeinen Zahlungsmittel von
einem abſtracten Werthe erklärt wird 2). Im volkswirthſchaftlichen
Sinne verſteht man dagegen unter Papiergeld außer dem wirk-
lichen Gelde aus Papier auch alle auf eine beſtimmte Geldſumme
lautenden Inhaberpapiere, welche im Publikum thatſächlich an
4)
[435]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Stelle des Geldes cirkuliren, d. h. die man behufs Begründung
oder Tilgung von Schuldverhältniſſen an Zahlungsſtatt
giebt und nimmt. Papiergeld im Rechtsſinn iſt eine Sache wie
Metallgeld, keine bloße Urkunde über eine Forderung; ihr Werth
beruht nicht auf dem Material und ebenſowenig auf dem „Credit“
des Emittenten, ſondern auf dem Rechtsſatz, der ihr die Geld-
qualität verleiht. Papiergeld repräſentirt im Rechtsſinne niemals
eine Obligation; der Inhaber hat kein Forderungsrecht gegen irgend
Jemanden auf Einlöſung; er iſt nicht Gläubiger und der Staat,
welcher das Papiergeld ausgegeben hat, iſt nicht Schuldner; der
Inhaber iſt vielmehr Eigenthümer des papiernen Geld-
ſtücks ganz in derſelben Art wie er Eigenthümer eines gol-
denen Geldſtückes von gleichem Betrage wäre 1). Der volks-
wirthſchaftliche Begriff von Papiergeld dagegen iſt überhaupt gar
kein Rechtsbegriff und es iſt ein ganz vergebliches Bemühen,
Rechtsſätze, unter welchen er ſteht, aufzuſtellen 2). Er umfaßt
einerſeits Geld, andererſeits Schuldſcheine der verſchiedenſten
Art, welche nur das gemein haben, daß ſie darauf eingerichtet
ſind, leicht cirkuliren zu können, d. h. daß ſie auf Inhaber ge-
ſtellt ſind, auf eine feſtbeſtimmte (unverzinsliche) Geldſumme lauten,
und daß ſie nicht an einem beſtimmten Tage fällig werden, ſon-
dern daß der Emittent verſpricht, ſie jeder Zeit an gewiſſen Kaſſen
entweder in Zahlung zu nehmen oder gegen Geld umzutauſchen3).
Auf dem Glauben und der Hoffnung, daß dies wirklich geſchehen
werde, beruht die Geneigtheit des Publikums ſie anſtatt Gel-
des in Zahlung zu nehmen und darauf wieder beruht ihre that-
ſächliche Verwendung an Stelle des Geldes. Sie repräſentiren
Forderungsrechte reſp. Schuldverſprechungen; ihr Werth beruht
nicht auf einem Rechtsſatz, ſondern auf der Zahlungsfähigkeit des
Schuldners, alſo auf einer Thatſache. Zu dem Papiergelde in
dieſem Sinne gehören insbeſondere auch die Banknoten.
28*
[436]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
Die Geſetzgebung hat den Ausdruck Papiergeld aber vielfach
nicht bloß in dem juriſtiſchen, ſondern auch in dem unjuriſtiſchen
Sinne angewendet, freilich ſtets auf Koſten der Klarheit und
Deutlichkeit. Dies gilt auch von der Reichsgeſetzgebung 1). Die
R.-V. Art. 4 Z. 3. überweiſt dem Reiche: „Die Feſtſtellung der
Grundſätze über die Emiſſion von fundirtem und unfundirtem
Papiergelde“. Die Zuſammenſtellung mit der Ordnung des „Maaß-
Münz- und Gewichtsſyſtems“ 2) in derſelben Ziffer des Ar-
tikels und die Trennung von dem Bankweſen (Banknoten) laſſen
darauf ſchließen, daß das Papiergeld mit dem Münzſyſtem
in Zuſammenhang gedacht werden ſoll, daß das Wort alſo im
juriſtiſchen Sinne zu verſtehen ſei; die Hinzufügung der Worte „fun-
dirt und unfundirt“, die für wirkliches Papiergeld keinen Sinn
haben, deutet aber darauf hin, daß das Wort Papiergeld an
dieſer Stelle auch gewiſſe Inhaberobligationen (Geldpapiere) mit
umfaſſen ſoll, und die vom Reiche auf Grund dieſer Beſtimmung
erlaſſenen Geſetze betreffen auch in der That nicht blos das Pa-
piergeld, ſondern auch die Emiſſion von Schuldſcheinen.
2. Das Reich hat durch das Geſetz vom 16 Juni 1870 3), —
zunächſt vorläufig bis zur geſetzlichen Feſtſtellung der Grundſätze
über die Emiſſion von Papiergeld, — den Einzelſtaaten die Aus-
gabe von Papiergeld unterſagt, wenn nicht die Erlaubniß
dazu dem Einzelſtaat auf ſeinen Antrag vom Reich in der Form
eines Reichsgeſetzes ertheilt wird.
Das Reich hat ferner durch das Münzgeſetz Art. 18 Art. 3
den einzelnen Bundesſtaaten die Verpflichtung auferlegt, das von
ihnen ausgegebene Papiergeld ſpäteſtens bis zum 1. Januar 1876
einzuziehen und ſpäteſtens 6 Monate vor dieſem Termin öffentlich
aufzurufen. Das Geſ. v. 30 April 1874 § 2 hat dieſe Vor-
ſchrift in der Art verſchärft, daß die Staaten das von ihnen
ausgegebene Papiergeld ſpäteſtens bis zum 1. Juli 1875 zur
Einlöſung öffentlich aufzurufen und thunlichſt ſchnell einzuziehen
[437]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
haben 1) und daß zur Annahme von Staatspapiergeld vom 1. Januar
1876 an nur die Kaſſen desjenigen Staates verpflichtet ſind, welcher
das Papiergeld ausgegeben hat.
Endlich hat das Reich den Bundesſtaaten definitiv die Aus-
gabe von Papiergeld unterſagt, wofern ihnen nicht durch ein Reichs-
geſetz die Erlaubniß dazu ertheilt wird 2).
Durch dieſe Beſtimmungen iſt es zunächſt zweifellos, daß
wirkliches Papiergeld im juriſtiſchen Sinne ſeit dem 1. Januar
1876 im Deutſchen Reiche nicht mehr exiſtirt und von den Einzel-
ſtaaten nicht mehr emittirt werden kann; d. h. daß Niemand, außer
der Kaſſe des ausgebenden Staates rechtlich gezwungen werden
kann, es in Zahlung zu nehmen 3).
Die Motive des Geſetzes, die Verhandlungen des Reichstages,
das geſammte Auslegungs-Material und die thatſächlich ausnahms-
los und übereinſtimmend befolgte Praxis weiſen aber darauf hin,
daß das Geſetz in dem Sinne zu verſtehen iſt, daß die Einzelſtaaten
auch Geldſurrogate, denen die Eigenſchaft des Geldes rechtlich
fehlt, nicht ferner verausgaben dürfen resp. ſie einlöſen müſſen 4).
Das Verbot der Papiergeld-Ausgabe ohne Erlaubniß des
Reiches hat ſeine juriſtiſche Analogie in dem Verbot der Banknoten-
Ausgabe. Die Befuguiß, Inhaberpapiere, welche ihrer äußeren
Beſchaffenheit nach wie Geld cirkuliren können, (Geldpapiere)
zu emittiren, kann nur durch ein vom Reich im Wege der Ge-
ſetzgebung ertheiltes Privilegium erworben werden; und dieſer
Satz iſt ganz unabhängig davon, ob die emittirten Inhaberpapiere
[438]§. 74. Die Verwaltung des Münzweſens.
durch einen Rechtsſatz zum allgemeinen Zahlungsmittel (Papiergeld)
erklärt ſind, oder ob ihnen die Geldeigenſchaft mangelt 1).
3. Das Reich ſelbſt hat Reichskaſſenſcheine ausgegeben,
welche im juriſtiſchen Sinne kein Papiergeld, ſondern auf den In-
haber lautende Schuldſcheine des Reiches ſind. Dieſer rechtliche
Charakter derſelben ergiebt ſich aus 2 Sätzen:
a) Im Privatverkehr findet ein Zwang zu ihrer Annahme nicht
ſtatt 2). Es fehlt ihnen alſo die Geldqualität; ſie ſind kein ge-
ſetzliches Zahlungsmittel.
b) Bei den Kaſſen des Reiches und ſämmtlicher Bundesſtaaten
werden ſie nicht blos nach ihrem Nennwerthe in Zahlung ange-
nommen, ſondern auch von der Reichs-Hauptkaſſe für Rechnung des
Reichs jederzeit auf Erfordern gegenbaares Geldeingelöſt3).
Sie enthalten alſo ein Schuldverſprechen, welches durch Geldzah-
lung erfüllt werden muß; folglich können ſie ſelbſt nicht Geld ſein 4).
Die Ausfertigung der Reichskaſſenſcheine iſt der „Reichsſchul-
den-Verwaltung“ übertragen 5); die Kontrole über die Ausfertigung
und Ausgabe der Reichskaſſenſcheine übt die „Reichsſchulden-Kom-
miſſion“ 6).
Die Reichskaſſen-Scheine ſind an die einzelnen Bundesſtaaten
nach Maßgabe der Bervölkerung vertheilt worden; an diejenigen,
welche Papiergeld (oder Geldpapiere) in Umlauf geſetzt hatten, mit
[439]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
der Verpflichtung, die Reichskaſſen-Scheine zur Einziehung des
Staatspapiergeldes zu verwenden 1).
§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens*).
I.Allgemeine Grundſätze.
Zwiſchen dem Maß- und Gewichtsweſen und dem Münzweſen
beſteht hinſichtlich ihrer wirthſchaftlichen und rechtlichen Bedeutung
eine unverkennbare Analogie, indem Maß und Gewicht zur quan-
titativen Beſtimmung von Waaren, Arbeit oder Leiſtungen, Geld
zur quantitativen Beſtimmung des Preiſes oder Lohnes dient. In
der ſtaatsrechtlichen Geſtaltung findet dieſe Analogie ihren Aus-
druck. Sowie bei dem Münzweſen zu unterſcheiden iſt zwiſchen dem
Münzſyſtem und der Münzprägung, ſo auch bei dem Maß- und
[440]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
Gewichtsweſen zwiſchen der Ordnung des Maß- und Gewichts-
ſyſtems und der Herſtellung der Maße und Gewichte. Die
Ordnung des Maß- und Gewichts-Syſtems iſt in gleicher Weiſe
wie die Ordnung des Münzſyſtems die Ausübung eines Hoheits-
rechtes, welche in der Schaffung von Rechtsſätzen beſteht;
dagegen iſt die Herſtellung von Maßen und Gewichten, die dem
geſetzlichen Syſtem entſprechen, eine thatſächliche Verrichtung,
die an ſich ohne allen rechtlichen Inhalt iſt, aus Gründen des
öffentlichen Wohles aber polizeilich geregelt oder ſtaatlich contro-
lirt werden kann, und die ebenſo wie die Herſtellung der Geld-
ſtücke vom Staate ſelbſt ausſchließlich übernommen (monopoliſirt)
werden könnte.
1. Das Maß- und Gewichtsſyſtem beſteht aus einer
Reihe von Definitionen; es erklärt, welchen Sinn gewiſſe
Maß- und Gewichtsbezeichnungen haben 1). An und für ſich ſind
dieſe Definitionen keine Rechtsſätze. Welche Dimenſionen
und Gewichtsmengen mit dem Namen Meter, Schoppen, Scheffel,
oder Kilogramm, Pfund, Zentner, bezeichnet werden, iſt ebenſo-
wenig Gegenſtand eines Rechtsſatzes, wie die Bedeutung von Aus-
drücken, welche die Qualität von Waaren bezeichnen. Die ge-
ſetzliche Ordnung des Maß- und Gewichtsſyſtems kann aber zugleich
die Sanction von Rechtsſätzen enthalten, durch welche
jene Definitionen rechtliche Bedeutung erlangen, und zwar kann
dies in zwiefacher Weiſe geſchehen, indem entweder der Rechtsſatz
ein blos dispoſitiver, erläuternder iſt, oder indem er mit der
Kraft des ius cogens ausgeſtattet wird, alſo einen Befehl (Ver-
bot) enthält.
a) Die Einführung des Maß- und Gewichtsſyſtems enthält
zunächſt den Erlaß eines dispoſitiven Rechtsſatzes. Die Maß-
und Gewichts-Ordnung erklärt, welchen Sinn ſowohl in Geſetzen
als in Rechtsgeſchäften gewiſſe Maß- und Gewichts-Bezeichnungen
haben, vorausgeſetzt daß nicht aus den ausdrücklichen Erklärungen
des Geſetzgebers oder der Parteien, beziehentlich aus concluden-
ten Umſtänden ſich ergiebt, daß der Geſetzgeber oder die Parteien
mit jenen Ausdrücken einen andern Sinn verbinden wollten.
Die Maß- und Gewichts-Ordnung erfüllt dieſe Aufgabe, wie ſie
[441]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
das ius dispositionen überhaupt erfüllt; es dient dazu den un-
vollſtändig erklärten Parteiwillen zu ergänzen und zu erläutern.
Die Maß- und Gewichts-Ordnung hindert demnach im Allgemeinen
die Parteien nicht, mit denſelben Ausdrücken, denen ſie einen ge-
wiſſen Sinn beilegt, einen andern Sinn zu verbinden; nur muß
dies in deutlicher Weiſe erkennbar gemacht werden. Von Wichtig-
keit iſt dieſer Satz namentlich in privatrechtlicher Beziehung. Wenn
aus den Erklärungen der Parteien beim Abſchluß eines Vertrages
ſich ergiebt, daß ſie darüber einverſtanden waren, mit dem Aus-
druck „Zentner“ etwas Anderes zu bezeichnen, als die Maß- und
Gewichts-Ordnung mit dieſem Worte bezeichnet, ſo muß bei der
Erfüllung des Geſchäftes der Ausdruck in dem Sinne des Ver-
trages, nicht des Geſetzes, ausgelegt werden.
Insbeſondere hindert der, durch Erlaß der Maß- und Ge-
wichts-Ordnung ſanctionirte dispoſitive Rechtsſatz Niemanden, in
dem Geltungsbereich der Maß- und Gewichts-Ordnung auch andere
Maß- und Gewichts-Größen bei Rechtsgeſchäften in Anwendung
zu bringen, z. B. Waaren, welche aus dem Auslande bezogen
oder zum Export dahin beſtimmt ſind, nach einem ausländiſchen
Maß oder Gewicht der Quantität nach zu beſtimmen.
Man kann dies in dem Satz formuliren: Die Einführung
eines Maß- und Gewichtsſyſtems ſchließt die Verwendung von
anderen Maß- und Gewichts-Syſtemen im geſchäftlichen Verkehr
nicht aus, ebenſowenig wie die geſetzliche Anerkennung eines Münz-
ſyſtems die Parteien hindert, Preisverabredungen nach einer aus-
ländiſchen oder geſetzlich außer Kurs geſetzten Währung zu treffen.
b) Mit dem Erlaß der Maß- und Gewichts-Ordnung kann
aber ferner die Sanction eines zwingenden Rechtsſatzes ver-
bunden werden, indem der Gebrauch von Maßen und von Ge-
wichten und Waagen, welche den Anordnungen des Geſetzes nicht
entſprechen, verboten iſt. Es bezieht ſich dies aber nicht auf
Vereinbarungen über Quantitäten, ſondern auf das Zu-
meſſen und Zuwägen derſelben; ſowie die geſetzliche Regelung des
Münzſyſtems nicht die Verabredung des Preiſes oder der
Schuldſummen, ſondern deren Zahlung betrifft. Das Zumeſſen
und Zuwägen entſpricht der Zahlung (Zuzählen); ſowie letztere
nicht in Geldſtücken angeboten und geleiſtet werden darf, deren
Umlauf verboten iſt, ſo darf das Zumeſſen und Zuwägen nicht
[442]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
durch Maße oder Gewichte und Waagen erfolgen, deren Gebrauch
unterſagt iſt. Während aber bei den nicht zur geſetzlichen Wäh-
rung erklärten Münzen das Verbot des Umlaufes die Ausnahme
iſt, welche vom Geſetzgeber beſonders ausgeſprochen werden
muß, iſt bei den Maßen und Gewichten die Regel anerkannt, daß
nur die der Maß- und Gewichts-Ordnung entſprechenden Stücke
im öffentlichen Verkehr gebraucht werden dürfen 1), der Gebrauch
aller andern Stücke dagegen unterſagt iſt, falls er nicht ausnahms-
weiſe geſtattet wird 2). Es beruht dieſer Gegenſatz auf der Ver-
ſchiedenheit der Vorſchriften über Herſtellung von Münzen und von
Maß- und Gewichts-Apparaten.
2. Die Herſtellung der Maße, Gewichte und Waagen
iſt der Privat-Induſtrie freigegeben. Dagegen ſind Maße,
Gewichte nnd Waagen einer obrigkeitlichen Controle hinſichtlich
ihrer Richtigkeit unterworfen, indem ihr Gebrauch nur geſtattet
iſt, wenn ſie gehörig geſtempelt ſind. Die Prüfung und Stempe-
lung (Eichung) der Maße und Gewichte iſt ein Akt ſtaatlicher
Polizeithätigkeit, welcher den Einzelſtaaten überlaſſen iſt, jedoch
nach Vorſchrift und Controle des Reiches 3).
Aus dieſen Erörterungen ergeben ſich die Rechtsfragen, zu
welchen die Ordnung des Maß- und Gewichtsſyſtems im deutſchen
Reiche Veranlaſſung bietet; für das Staatsrecht von Belang iſt
namentlich die Abgränzung der Kompetenz zwiſchen Reich und
Einzelſtaaten und ihr Zuſammenwirken bei der Verwaltung der
Eichungsgeſchäfte.
II.Die rechtliche Bedeutung des Maß- und
Gewichts-Syſtems.
1. Durch die Einführung der Maß- und Gewichtsordnung
iſt eine reichsgeſetzliche Regel des ius dispositi-
vum geſchaffen, welche alle damit in Widerſpruch ſtehenden
landesgeſetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Rechtsregeln aufhebt
und die durch landesgeſetzliche Anordnungen nicht aufgehoben werden
[443]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
kann. In allen Geſetzen, Erlaſſen und Verordnungen der Einzel-
ſtaaten, welche nach Einführung der Maß- und Gewichts-Ordn.
ergangen ſind, haben daher die zur Bezeichnung der Maß- und
Gewichts-Größen verwendeten Ausdrücke kraft Rechtsſatzes den-
jenigen Sinn, welchen das Reichsgeſ. ihnen beilegt. Ebenſo kann für
die Beurtheilung von Rechtsgeſchäften nicht eine partikuläre Rechts-
regel erlaſſen werden, welche neben den Definitionen des Reichs-
geſetzes noch andere Definitionen von Maß- und Gewichtsbezeich-
nungen aufſtellt; die Rechtsgeſchäfte ſind vielmehr hinſichtlich der
in ihnen enthaltenen Maß- und Gewichts-Bezeichnungen auszulegen
in erſter Reihe nach dem Willen der Parteien, ſei es daß
derſelbe ausdrücklich erklärt oder nach Handelsgebrauch oder den
thatſächlichen Umſtänden deutlich erkennbar iſt, in zweiter Reihe
nach der vom Reich erlaſſenen Maß- und Gewichts-Ordnung.
2. Die Verwaltungsbehörden der Einzelſtaaten haben
in ihrer amtlichen Thätigkeit das vom Reiche anerkannte Maß-
und Gewichtsſyſtem zur Anwendung zu bringen; ſo müſſen z. B.
die Wege-Verwaltungen die Entfernungs-Angaben in Kilometern,
die Kataſter-Behörden die Grundſtücks-Größen in Aren aus-
drücken u. ſ. w. 1).
3. Die Eichungsämter der Einzelſtaaten dürfen Maße
und Gewichte nicht ſtempeln, wenn dieſe nicht den in der
Maß- und Gewichts-Ordnung zugelaſſenen Größen entſprechen 2).
Dieſer Satz, verbunden mit dem Verbot ungeſtempelter Maße und
Gewichte, enthält den Schwerpunkt der reichsgeſetzlichen Regelung
des Maß- und Gewichtsweſens. Die Einführung und
Sicherung der Maß- und Gewichts-Einheit beruht
juriſtiſch auf der Kombination zweier Verbote;
das eine Verbot iſt an die Einzelſtaaten gerichtet und unterſagt
denſelben die Eichung anderer als in der M.- und Gew.-Ordn.
zugelaſſener Maße und Gewichte; das andere Verbot iſt an die
Unterthanen gerichtet und unterſagt denſelben den Gebrauch anderer
als obrigkeitlich geeichter Maße und Gewichte. Das an die Einzel-
[444]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
ſtaaten gerichtete Verbot findet ſeine rechtliche Garantie in der dem
Reiche zuſtehenden Oberaufſicht und in der Verantwortlichkeit der
Beamten für die Geſetzmäßigkeit ihrer amtlichen Handlungen.
4. Das Verbot ungeſtempelter Maße und Ge-
wichte betrifft nur den Gebrauch derſelben zum Zuwägen und
Zumeſſen im öffentlichen Verkehr 1). Der Begriff des Zuwägens
und Zumeſſens hat aber folgende Vorausſetzungen:
a) Er erfordert eine Handlung. Es iſt demnach nur ver-
boten, bei dieſer Handlung ſich ungeſtempelter Maße und
Gewichte zu bedienen. Dagegen iſt es nicht unterſagt, Waaren
zu liefern, welche nach andern Qualitätsbeſtimmungen bereits ab-
gemeſſen oder abgewogen ſind 2). Dies findet namentlich Anwen-
dung auf Waaren, welche nach Handelsgebrauch in beſtimmter
Verpackung im Verkehr ſind; das durch dieſe Verpackung beſtimmte
Quantum braucht nicht nach Maßgabe des geſetzl. Maß- und Ge-
wichtsſyſtems feſtgeſtellt oder angegeben zu werden. Nur wenn
Wein in Fäſſern zum Verkauf kommt, muß die den Raum-
gehalt der Fäſſer bildende Zahl der Liter durch Stempelung be-
glaubigt ſein, ausgenommen wenn ausländiſcher Wein in den
Originalgebinden weiter verkauft wird 3).
b) Der Begriff des Zumeſſens und Zuwägens erfordert
zwei Perſonen wie die Zahlung. Zum Meſſen und Wägen kann
man ſich jedes beliebigen Hülfsmittels bedienen; wenn dagegen
dem Empfänger einer Waare gegenüber 4) Größe oder Gewicht
derſelben feſtgeſtellt oder abgegränzt werden ſoll, iſt der Gebrauch
ungeſtempelter Maße und Gewichte unterſagt. Auch hier giebt es
aber einen Fall, in welchem beim Wägen, obwohl es kein Zu-
wägen iſt, geſtempelte Waagen und Gewichte verwendet werden
müſſen; nämlich bei der Bereitung der Arzneien in den Apotheken 5).
[445]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
c) Meſſen und Wägen bedeuten nach allgemeinem Sprachge-
brauch nur die Feſtſtellung räumlicher Dimenſionen beziehungs-
weiſe der Schwere eines Gegenſtandes. Die M.- u. Gew.-Ordu.
hat aber außerdem in zwei Fällen den Gebrauch geſtempelter
Apparate angeordnet, nämlich um bei dem Verkaufe weingeiſtiger
Flüſſigkeiten nach Stärkegraden den Alkoholgehalt zu ermitteln,
und für Gasmeſſer, nach welchen die Vergütung für den Verbrauch
von Leuchtgas beſtimmt wird 1).
5. Die Verletzung des vorſtehend erwähnten Verbotes iſt
in der Maß- und Gewichts-Ordnung mit Rechtsfolgen nicht be-
droht; dagegen enthält das R.-St.-G.-B. § 369 § 2 folgenden
Satz 2):
„Gewerbetreibende, bei denen zum Gebrauche in ihrem Ge-
werbe geeignete, mit dem geſetzlichen Eichungsſtempel nicht ver-
ſehene oder unrichtige Maße, Gewichte oder Waagen vorgefunden
werden, oder welche ſich einer anderen Verletzung der Vorſchriften
über die Maß- und Gewichtspolizei ſchuldig machen — werden
mit Geldſtrafe bis zu 100 M. oder mit Haft bis zu vier Wochen
beſtraft. Neben der Geldſtrafe iſt auf die Einziehung der vor-
ſchriftswidrigen Maaße, Gewichte, Waagen oder ſonſtigen Meßwerk-
zeuge zu erkennen.“ Der Thatbeſtand dieſer Uebertretung unter-
ſcheidet ſich von dem Thatbeſtand des in der M.- und Gew.-Ordn.
enthaltenen Verbotes in drei Beziehungen:
a) Die M.- u. Gew.-Ordn. verbietet allgemein den Gebrauch
ungeſtempelter Maße und Gewichte im öffentlichen Verkehr, das
Strafgeſetzb. dagegen bedroht nur Gewerbetreibende mit
Strafe. Wenn daher öffentliche Behörden (z. B. Poſtanſtalten)
ſich ungeſtempelter Waagen und Gewichte bedienen ſollten, ſo
würden die Beamten im Verwaltungswege dafür zur Verantwor-
5)
[446]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
tung gezogen werden können und der Reichskanzler würde nach
Art. 4. und 17 der Reichsverf. auch den Einzelſtaaten gegenüber
befugt ſein, die Beobachtung des Art. 10 der M.- u. Gew.-Ordn.
ſeitens der Staatsbehörden und landesherrl. Beamten zu über-
wachen; ein ſtrafrechtliches Einſchreiten dagegen auf Grund des
§ 369 cit. wäre nicht ſtatthaft.
b) Die M.- u. Gew.-Ordn. verbietet die Anwendung un-
geſtempelter Maße, Gewichte und Waagen zum Zumeſſen und
Zuwägen, das St.-G.-B. dagegen beſtraft die Innehabung
von ungeſtempelten oder unrichtigen Maßen, Gewichten und Waagen,
wofern nur dieſelben zum Gebrauche im Gewerbebetriebe des In-
habers geeignet ſind. Der Nachweis, daß er ſich derſelben wirk-
lich bedient habe, iſt nicht erforderlich 1).
c) Das Str.-G.-B. bedroht mit Strafe auch jede andere Ver-
letzung der Vorſchriften über die Maß- und Gewichtspolizei. Dahin
gehört z. B. die Verletzung der von der Normal-Eichungs-Kom-
miſſion zur Ausführung der M.- u. Gew.-Ordn. erlaſſenen
Vorſchriften 2), ſowie der Verſtoß gegen Markt-Ordnungen
oder andere Polizei-Verordnungen, welche das Zumeſſen oder Zu-
wägen der Waaren im Marktverkehr oder Kleinhandel anbefehlen.
Insbeſondere gehört dahin die Verletzung der landesgeſetzlichen
Vorſchriften über die ſogen. „Nacheichung“ 3).
III.Die Eichung der Meß- und Wäge-Werkzeuge.
1. Die Eichung beſteht in der amtlichen Prüfung und Be-
glaubigung der Richtigkeit der Maße, Gewichte und Waagen. Die
Prüfung iſt eine techniſche Verrichtung ohne obrigkeitlichen Charak-
ter 4), die Stempelung dagegen iſt die Ausſtellung einer öffent-
[447]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
lichen Urkunde, durch welche die Richtigkeit des Maßes oder Ge-
wichtes beglaubigt wird. Die unbefugte Nachahmung des Eichungs-
ſtempels iſt daher nach § 267 ff. des St.-G.-B’s als Urkunden-
fälſchung zu beſtrafen, wenn die übrigen Erforderniſſe dieſes Ver-
gehens (rechtswidrige Abſicht und Gebrauch zum Zwecke einer Täu-
ſchung) vorhanden ſind.
2. Die Eichung und Stempelung wird ausſchließlich durch
Eichungsämter ausgeübt 1). Die Errichtung und Beſetzung dieſer
Aemter ſteht den Regierungen der Einzelſtaaten zu; durch Landes-
geſetze iſt demnach die Organiſation dieſes Behörden-Reſſorts, die
Vertheilung der Eichungsgeſchäfte, der Gehalt der dabei beſchäf-
tigten Beamten u. ſ. w. zu regeln 2). Den Regierungen der Einzel-
ſtaaten liegt es deshalb ob, die Thätigkeit der Eichungsämter zu
beaufſichtigen, dieſelben mit Inſtruktionen zu verſehen, von ihnen
Berichte zu erfordern und die Disciplin über die bei den Eichungs-
behörden angeſtellten Beamten auszuüben 3).
3. Das Reich hat die Fürſorge für die gleichmäßige Aus-
übung der Eichungsgeſchäfte Seitens der landesherrlichen Eichungs-
ämter und die Oberaufſicht über dieſelben. Zu dieſem Zweck hat
4)
[448]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
das Reich eine eigene ſtändige Behörde eingerichtet, welche die
amtliche Bezeichnung: Normal-Eichungskommiſſion führt.
Dieſelbe hat ihren Sitz in Berlin 1).
Die dem Reiche zuſtehenden und durch die Normal-Eichungs-
kommiſſion auszuübenden Befugniſſe ſind folgende:
a) Ihr liegt es ob, nach beglaubigten Kopien des Urmaßes 2)
und des Urgewichtes 3) die Normalmaße und Normalge-
wichte herzuſtellen und richtig zu erhalten und dieſelben, ſowie
die von den einzelnen Eichungsämtern bei ihrem Geſchäftsbetriebe
zu verwendenden Eichungsnormale und Normalapparate
an die Eichungsſtellen der Bundesſtaaten zu verabfolgen 4).
b) Die Normal-Eichungskommiſſion hat die näheren Vor-
ſchriften über Material, und Geſtalt, Bezeichnung und ſonſtige
Beſchaffenheit der Maße und Gewichte, ſowie über die von Seiten
der Eichungsſtellen innezuhaltenden Fehlergrenzen zu erlaſ-
ſen 5). Sie iſt befugt, Anordnungen darüber zu treffen, daß zu
beſonderen gewerblichen Zwecken beſondere Arten von Waagen,
Gewichten und Meßwerkzeugen verwendet werden müſſen, und ſie
ſetzt die Bedingungen ihrer Stempelfähigkeit feſt. Sie hat über-
haupt alle die techniſche Seite des Eichungsweſens betreffenden
Gegenſtände und das bei der Eichung und Stempelung zu beob-
achtende Verfahren zu regeln 6).
c) Die Eichung erfolgt bei ſämmtlichen Eichungsſtellen des
[449]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
Bundesgebietes vermittelſt eines übereinſtimmenden Stempelzeichens
und daneben vermittelſt eines jeder Stelle eigenthümlichen Zeichens.
Die Beſtimmung dieſer Stempelzeichen liegt der N.-E.-Komm. ob 1).
d) Die Normal-Eichungskommiſſion hat die Taxen für die
von den Eichungsſtellen zu erhebenden Gebühren feſtzuſetzen 2).
e) Der Normal-Eichungskommiſſion liegt die Pflicht ob, da-
rüber zu wachen, daß im Reichsgebiete das Eichungsweſen nach
übereinſtimmenden Regeln und dem Intereſſe des Verkehrs ent-
ſprechend gehandhabt werde; ſie ſteht deshalb mit den oberen
Eichungsbehörden der Staaten in direktem amtlichen Verkehr und
ſie iſt befugt, dieſelben mit Anweiſungen zu verſehen 3).
4. In Bayern iſt die Verwaltungs-Kompetenz der Nor-
mal-Eichungs-Kommiſſion vollſtändig ausgeſchloſſen. Bayern hat
vielmehr ſeine eigene Normal-Eichungs-Komm., welche für das
Gebiet des Königreiches diejenigen Befugniſſe auszuüben hat,
welche in dem übrigen Reichsgebiet der Reichsbehörde zuſtehen 4).
Demgemäß iſt es der Bayer. Regierung überlaſſen, die Anord-
nungen über die innere Einrichtung, den Geſchäftsbetrieb und den
Wirkungskreis der Bayer. Normal-Eichungskommiſſ. zu erlaſſen 5).
Eine Kontrole über die Thätigkeit der bayeriſchen Eichungsämter
ſteht der Normal-Eichungskommiſſ. des Reiches nicht zu. Dagegen
iſt Bayern reichsgeſetzlich verpflichtet, nicht nur die Normale von
der Reichsbehörde zu beziehen, ſondern auch die techniſchen
Eichungs-Vorſchriften in Uebereinſtimmung mit den von der Reichs-
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 29
[450]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
Normaleichungskommiſſ. getroffenen Anordnungen zu erlaſſen. Die
Ueberwachung der vollſtändigen und genauen Ausführung dieſer
reichsgeſetzlichen Vorſchrift ſteht nach Art. 17 der R.-V. dem Kaiſer,
d. h. im Auftrage und in Vertretung deſſelben ſeinem Reichsmi-
niſter, dem Reichskanzler, zu.
5. Die übereinſtimmende Normirung des Maß- u. Gewichts-
ſyſtems und des bei der Eichung und Stempelung zu beobachten-
den Verfahrens für das ganze Reichsgebiet hat die Wirkung, daß
die von den Eichungsämtern durch die Stempelung ertheilte Be-
glaubigung der Maße, Gewichte, Waagen u. ſ. w. nicht blos für
das Gebiet des Staates, welchem die Eichungsſtelle angehört, ſon-
dern für das geſammte Reichsgebiet Wirkſamkeit hat. Die von
einer Eichungsſtelle des Bundesgebietes mit dem vorſchriftsmäßigen
Stempelzeichen beglaubigten Maße, Gewichte und Maßwerkzeuge
dürfen im ganzen Bundesgebiete im öffentlichen Verkehr angewen-
det werden 1).
IV.Die Vermeſſung von Seeſchiffen
iſt ſpeziell geregelt durch die Schiffsvermeſſungs-Ordnung
vom 5. Juli 1872, welche mit dem 1. Januar 1873 in Kraft
getreten iſt 2). Dieſelbe iſt vom Bundesrath auf Grund des
Art. 54 der Reichsverf. erlaſſen worden. Art. 54 Abſ. 2 lautet:
„Das Reich hat das Verfahren zur Ermittelung der Ladungsfä-
higkeit der Seeſchiffe zu beſtimmen, die Ausſtellung der Meßbriefe,
ſowie der Schiffscertifikate zu regeln“. Dieſe Verfaſſungsbeſtimmung
erkennt die Kompetenz des Reiches im Gegenſatz zur Kompetenz
der Einzelſtaaten an, enhält aber keine Vorſchrift über die Form,
in welcher die Anordnungen zu ergehen haben. Der Art. 54 Abſ.
2 ſagt nicht: der Bundesrath hat das Verfahren u. ſ. w. zu
beſtimmen, ſondern ſchweigt über die Organe, durch welche das
Reich ſeine Anordnungen zu erlaſſen hat. Es kommen ſonach die
allgemeinen Vorſchriften der R.-V. zur Anwendung. Dem Bun-
desrath ſteht nach Art. 7 Z. 2 nur der Erlaß von allgemeinen Ver-
waltungsvorſchriften zu. Die Schiffsvermeſſungs-Ordnung geht
aber darüber hinaus, ſie enthält Rechtsvorſchriften 3); denn ſie
[451]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
begründet rechtliche Verpflichtungen der Erbauer, Rheder und des
Führers eines Schiffes in Bezug auf die Vermeſſung deſſelben
(§. 27 ff.), ſie regelt das Vermeſſungsſyſtem und ſie normirt
indirect die Berechnung gewiſſer Schifffahrts-Abgaben; ſie charak-
teriſirt ſich überhaupt als ein Specialgeſetz zur Ergänzung der
Maß- und Gewichts-Ordnung und hätte deshalb wie dieſe im
Wege der Geſetzgebung erlaſſen werden ſollen 1).
Die Vorſchriften der Schiffsvermeſſungs-Ordnung, ſoweit die-
ſelben von rechtlicher Erheblichkeit ſind, beſtehen in folgenden
Sätzen:
1. Alle Schiffe, Fahrzeuge und Boote, welche nach ihrer
Bauart ausſchließlich oder vorzugsweiſe zum Verkehr auf See,
oder auf den Buchten, Haffen und Watten derſelben beſtimmt
ſind, mit alleiniger Ausnahme derjenigen ausſchließlich zur Fiſcherei
beſtimmten Fahrzeuge, welche mit durchlöchertem Fiſchbehälter ver-
ſehen ſind, unterliegen der Vermeſſungspflicht 2). Die Vermeſſung
erfolgt nach metriſchem Maße und iſt darauf gerichtet, den
Raumgehalt des Schiffes zu ermitteln 3). Das Vermeſſungs-
Verfahren iſt das von Moorſom angegebene, ſeit 1854 in England
eingeführte und ſeitdem von vielen Staaten angenommene 4).
Neue, im Bau begriffene Schiffe ſind zu vermeſſen ſobald das
Deck gelegt iſt und bevor irgend eine Einrichtung im Innern des
3)
29*
[452]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
Schiffes angebracht iſt, welche die Aufnahme der vorgeſchriebenen
Maße verhindern könnte. Die Erbauer des Schiffes ſind ver-
pflichtet, eine ſchriftliche Anzeige hiervon der zuſtändigen Ver-
meſſungs-Behörde rechtzeitig zugehen zu laſſen. Die Vermeſſung
der Aufbauten auf dem oberſten Deck und der Räume im Innern
des Schiffes erfolgt nachträglich 1). Die Rheder und der
Führer eines jeden Schiffes ſind verpflichtet, bei der Ver-
meſſung entweder ſelbſt oder durch ihre Leute der Vermeſſungs-
behörde jede Hülfe und jeden Aufſchluß zu gewähren, welche dieſe
für die Ausführung des Vermeſſungsgeſchäftes von ihnen zu be-
anſpruchen ſich veranlaßt ſehen; dies gilt insbeſondere von den
etwaigen Aufforderungen der Vermeſſungs-Behörde behufs Auf-
räumung des inneren Schiffsraumes zum Zwecke der Vermeſſung.
Ladung oder Ballaſt darf vor beendeter Vermeſſung ohne vorherige
Zuſtimmung der Vermeſſungs-Behörde nicht eingenommen werden 2).
Werden an einem Schiff durch Umbau Veränderungen vor-
genommen, welche bei Ausſtellung des Meßbriefes nicht berück-
ſichtigt ſind, oder werden diejenigen Räume verändert, welche
von dem Brutto-Raumgehalt zur Ermittelung des Netto-Raumge-
haltes in Abzug gebracht worden ſind 3), ſo hat derjenige, welcher
den Umbau ausführt, der zuſtändigen Vermeſſungsbehörde, oder
— falls der Umbau im Auslande ausgeführt wurde, der Schiffs-
führer der Vermeſſungs-Behörde in dem erſten inländiſchen Hafen,
in welchen das Schiff einläuft, — eine ſchriftliche Anzeige von
dem ſtattgehabten Umbau zu machen, und zwar ſo zeitig, daß die
Vermeſſung ungehindert ſtattfinden kann 4).
Die Vermeſſungs-Behörden ſind überdies befugt, auch unauf-
gefordert ein Schiff der Kontrole wegen zu vermeſſen und es ſtehen
ihnen dabei gegen Rheder und Schiffsführer dieſelben Rechte zu,
als wenn die Vermeſſung auf Antrag erfolgt 5).
2. Die Vermeſſungsbehörden ſind ebenſo wie die
Eichungsämter Landesbehörden. Die Mitglieder derſelben
[453]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
werden von den Einzelſtaaten ernannt und beſoldet; jeder Behörde
muß ein Schiffsbau-Techniker als Mitglied zugeordnet werden.
Ueber dieſen Behörden ſtehen die Reviſions-Behörden,
welche ebefalls Landesbehörden ſind 1). Das eigentliche Ver-
meſſungsgeſchäft liegt den zuerſt erwähnten Behörden hinſichtlich
der in ihrem Bezirke ſich aufhaltenden Schiffe ob; den Reviſions-
behörden dagegen liegt ob die Prüfung und Berichtigung der von
den Vermeſſungsbehörden vorgenommenen Berechnungen, nach Be-
finden auch der Meſſungen 2), ſowie die Prüfung und Berichtigung
der anzuwendenden Meßinſtrumente nach den Probemaßen 3).
3. Ueber jede Vermeſſung wird ein Meßbrief ausgefertigt,
welcher den Brutto- und Netto-Raumgehalt des Schiffes angiebt 4).
Der Meßbrief wird von den Reviſionsbehörden — und in den-
jenigen Fällen, in denen das Vermeſſungsgeſchäft ausnahmsweiſe
(nach §. 19) von den Vermeſſungsbehörden erledigt wird, von dieſen
— ausgeſtellt. Die Formulare, deren ſich die Bundesbehörden zu
bedienen haben, ſind in der Sch.-V.-O. vorgeſchrieben. Die Meß-
briefe laſſen ſich in juriſtiſcher Hinſicht dem Eichungsſtempel ver-
gleichen; da ſie aber Urkunden ſind, welche mit dem Schiff ſelbſt
körperlich nicht verbunden ſind, ſo müſſen ſie diejenigen Thatſachen
enthalten, welche zur Feſtſtellung der Identität der Schiffe dienen 5).
Betrifft die Vermeſſung ein deutſches Schiff, ſo wird der Meßbrief
erſt ausgeſtellt, wenn die Behörde ſich vergewiſſert hat, daß die
den Netto-Raumgehalt des Schiffes bezeichnende Kubikmeterzahl auf
einem der Deckbalken des Schiffes eingeſchnitten, eingebrannt oder
[454]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
in anderer Art gut ſichtbar gemacht und feſt angebracht iſt 1).
Iſt für das Schiff bereits ein älterer deutſcher Meßbrief ausge-
ſtellt worden, ſo wird der neue Meßbrief erſt dann ausgefertigt,
wenn der ältere Meßbrief zurückgeliefert oder deſſen Verluſt glaub-
haft nachgewieſen iſt 2). Die zurückgelieferten Meßbriefe ſind bei
den Akten der Vermeſſungs- und Reviſionsbehörde aufzubewahren 3).
Die nach dem älteren Verfahren (vor dem 1. Januar 1873) aus-
gefertigten Meßbriefe verlieren mit dem 1. Januar 1878 ihre
Gültigkeit 4). Die Reviſionsbehörden haben die von ihnen für
deutſche Schiffe ausgefertigten Meßbriefe an die Schiffsregiſter-
Behörden mitzutheilen, in deren Regiſter die Schiffe eingetragen
ſind oder eingetragen werden ſollen 5).
4. Für die Vermeſſung und Ausfertigung des Meßbriefes
werden von den Einzelſtaaten Gebühren erhoben, welche 5 Pf.
für jedes angefangene Kubikmeter des Brutto-Raumgehalts des
Schiffes, mindeſtens aber 2 Mark, betragen, wenn die Vermeſſung
nach dem vollſtändigen Verfahren ausgeführt wurde und ein frü-
herer deutſcher Meßbrief nicht vorgezeigt werden konnte. In allen
andern Fällen wird nur die Hälfte dieſer Gebühren erhoben 6).
Wenn jedoch die Erbauer, Rheder oder Führer des Schiffes
den ihnen nach §. 27 ff. der Sch.-V.-O. obliegenden Verpflichtungen
nicht nachgekommen ſind oder wenn bei einer von der Vermeſſungs-
behörde veranlaßten Nachvermeſſung ſich ergiebt, daß unangemeldete
räumliche Veränderungen im Bau des Schiffes vorgenommen worden
ſind, ſo werden die Vermeſſungsgebühren auf das Doppelte er-
[455]§. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtsweſens.
höht 1). Dieſe Erhöhung der Gebühren hat den Charakter einer
polizeilichen Ordnungsſtrafe.
5. Dem Reiche ſteht die Aufſicht über das Schiffsvermeſ-
ſungsweſen zu. Dieſelbe wird vom Reichskanzler ausgeübt
durch Inſpektoren, welche er nach Anhörung der Bundesraths-Aus-
ſchüſſe für das Seeweſen und für Handel und Verkehr beſtellt 2).
Der Normal-Eichungs-Kommiſſion ſteht hinſichtlich der Schiffsver-
meſſung keinerlei Kompetenz zu.
Die Inſpektoren ſind befugt, der Aufnahme der Meſ-
ſungen beizuwohnen, die Richtigkeit der Maße zu prüfen, von
den Aufzeichnungen und Berechnungen der Vermeſſungs- und
Reviſions-Behörden Einſicht zu nehmen und auf vorgefundene
Mängel aufmerkſam zu machen 3). Dieſelben gehören in ihrer
dienſtlichen Stellung zum Reſſort des Reichskanzler-Amtes 4).
Der Reichskanzler iſt ermächtigt, die zur Ausführung der
Vermeſſungs-Ordnung erforderlichen Beſtimmungen nach Anhörung
der Bundesraths-Ausſchüſſe für das Seeweſen und für Handel und
Verkehr zu erlaſſen 5).
6. Mit denjenigen Staaten, welche für die Schiffsvermeſſung
ein Verfahren eingeführt haben, das dem vom Deutſchen Reich an-
geordneten gleich oder ähnlich iſt, ſind Vereinbarungen über die
gegenſeitige Anerkennung der amtlich ausgeſtellten Schiffsvermeſ-
ſungs-Urkunden abgeſchloſſen worden 6).
[456]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
I.Die Gewerbe-Polizei*).
1. Die gewerbliche Thätigkeit der dem Staate angehörenden oder
im Staatsgebiete ſich aufhaltenden Privatperſonen iſt an und für
ſich kein Gegenſtand der ſtaatlichen Geſchäftsführung oder Ver-
waltung; der Staat iſt vielmehr im Allgemeinen darauf beſchränkt
durch Normirung des Strafrechts, Privatrechts und Prozeßrechts
die rechtliche Ordnung herzuſtellen, innerhalb deren ſich die Hand-
lungsfreiheit der Einzelperſonen in ihrem Gewerbebetriebe entfaltet
und verwirklicht. Dem Gedeihen und Blühen der Gewerbe kann
der Staat zwar nicht theilnahmlos und gleichgültig gegenüber
ſtehen, aber er kann daſſelbe nicht unmittelbar fördern, indem er
die Geſchäftsthätigkeit der Einzelperſonen verwaltet d. h. leitet und
[457]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
regelt, ſondern nur indirect, indem die Bedürfniſſe der Gewerbe
für den Staat ſchwerwiegende Motive bei der Normirung der
Rechtsordnung, bei dem Abſchluß von Staatsverträgen, bei der
Regelung des Steuerſyſtems u. ſ. w. bilden, und indem der Staat
Anſtalten errichtet und erhält, welche die Gewerbethätigkeit der
Einzelnen erleichtern und fördern. Da die Wohlfahrtspflege des
Volkes ein weſentlicher Staatszweck iſt, ſo bildet die Unterſtützung
und Förderung der Gewerbe für den Staat bei Handhabung ſeiner
Hoheitsrechte und bei Entfaltung ſeiner Verwaltungsthätigkeit ein
von ſelbſt gegebenes Ziel.
Dieſes allgemeine Prinzip erleidet nun aber erhebliche Aus-
nahmen, indem der Staat den Betrieb gewiſſer Gewerbe an er-
ſchwerende Bedingungen knüpft oder einſchränkt und demgemäß eine
Controle über die Befolgung dieſer einſchränkenden Vorſchriften
führen muß. Die Motive für dieſe Beſchränkungen ſind ſehr ver-
ſchiedener Art; ſie liegen theils in der Gefährlichkeit gewiſſer Ge-
werbe für die Sicherheit der Perſonen und des Eigenthums, theils
in den Bedürfniſſen des allgemeinen Verkehrs, theils in der Rück-
ſicht auf die finanziellen, militairiſchen und politiſchen Bedürfniſſe
des Staates. Aber auch die Rückſicht auf die Entwicklung der
Gewerbethätigkeit ſelbſt kann es geboten erſcheinen laſſen, einzel-
nen Gewerbetreibenden einen beſonderen Schutz und beſondere
Begünſtigungen zu ertheilen, namentlich durch Verhinderung oder
Erſchwerung der Concurrenz, d. h. durch Beſchränkung der allge-
meinen Gewerbefreiheit. Hierdurch entſteht eine Verwaltungs-
thätigkeit des Staates, für welche der Gewerbe-Betrieb der Ein-
zelnen nicht blos Motiv und Zweck, ſondern unmittelbares Object
iſt. Man faßt dieſelbe unter der Bezeichnung Gewerbepoli-
zei zuſammen. Sie bildet den Gegenſatz und die Einſchränkung
der Gewerbefreiheit 1). Soweit der Grundſatz der Gewerbefrei-
[458]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
heit anerkannt iſt, giebt es keine ſtaatliche Gewerbeverwaltung; die
letztere hat es ausſchließlich mit Beſchränkungen der Gewerbefrei-
heit zu thun, ſowie das Weſen der Polizei überhaupt darin be-
ſteht, daß die natürliche Handlungsfreiheit des Einzelnen im In-
tereſſe der Geſellſchaft oder des Staates Beſchränkungen unter-
worfen wird. Da nun durch die Gewerbe-Geſetzgebung des Reiches
das Prinzip der Gewerbefreiheit im Allgemeinen anerkannt
und die im früheren Rechte begründeten Beſchränkungen zum größ-
ten Theile beſeitigt worden ſind, ſo iſt der Kreis der für die
ſtaatliche Verwaltung des Gewerbeweſens geeigneten Angelegen-
heiten überaus verkleinert worden. Soweit der Grundſatz der Ge-
werbefreiheit durchgeführt worden iſt, ſteht weder dem Reich noch
den Einzelſtaaten eine Gewerbe-Verwaltung zu.
2. Die Reichsverf. hat der Geſetzgebung und Beaufſichtigung
Seitens des Reiches zugewieſen „die Beſtimmungen über den
Gewerbebetrieb, einſchließlich des Verſicherungsweſens“ (Art. 4
Z. 1.) 1). Nachdem der Nordd. Bund durch das Geſetz v. 8. Juli
1868 (B.-G.-Bl. S. 406) zunächſt vorläufig die weſentlichſten
Beſchränkungen der Gewerbefreiheit beſeitigt hatte, wurde eine um-
faſſende Codifikation des polizeilichen Gewerberechts durch die Ge-
werbe-Ordnung v. 21 Juni 1869 erzielt. An der Spitze dieſes
Geſetzes ſteht der Grundſatz:
„Der Betrieb eines Gewerbes iſt Jedermann geſtattet, ſoweit
nicht durch dies Geſetz Ausnahmen oder Beſchränkungen vorge-
ſchrieben oder zugelaſſen ſind.“
Hierdurch ſind nicht nur alle landesgeſetzlichen und gewohn-
heitsrechtlichen Beſchränkungen der Gewerbefreiheit aufgehoben 2),
1)
[459]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
ſondern es iſt auch den Einzelſtaaten die Befugniß entzogen, durch
autonomiſche Anordnungen ſolche Beſchränkungen einzuführen, wo-
fern nicht die Gewerbe-Ordnung ſelbſt auf die Landesgeſetze ver-
weiſt. Aufrecht erhalten ſind insbeſondere die Beſtimmungen der
Landesgeſetze hinſichtlich des Gewerbe-Betriebes der juriſtiſchen
Perſonen des Auslandes 1) ſowie diejenigen Beſchränkungen, welche
in Betreff des Gewerbe-Betriebes für Perſonen des Soldaten- und
Beamtenſtandes, ſowie deren Angehörigen beſtehen 2). Die Ge-
werbe-Ordnung hat ferner Nichts geändert in denjenigen Beſchrän-
kungen des Betriebes einzelner Gewerbe, welche auf den Zoll-
Steuer- und Poſtgeſetzen beruhen 3). Unter den hier genannten
Geſetzen kommen die Zoll- und Poſtgeſetze nicht in Betracht, weil
ſie der Autonomie der Einzelſtaaten entzogen ſind, wol aber die
Steuergeſetze 4). Endlich hat die Gew.-Ordn. §. 6 eine Reihe von
Gewerben aufgeführt, auf welche ſie keine Anwendung findet. Es
ſchließt dies zwar nicht aus, daß das Reich den Betrieb dieſer
Gewerbe durch andere ſpezielle Geſetze regelt, ſo lange dies aber
nicht geſchehen iſt, bleiben hinſichtlich dieſer Gewerbe die beſtehen-
den Landesgeſetze in Kraft und unterliegen der Fortbildung durch
die Autonomie der Einzelſtaaten.
3. Der Grundſatz der Gewerbefreiheit iſt in der Gewerbe-
Ordnung zwar zum Ausgangspunkt genommen, aber nicht unbe-
2)
[460]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
dingt und uneingeſchränkt durchgeführt worden. Die in der Ge-
werbe-Ordnung aufrecht erhaltenen oder neu eingeführten Gewerbe-
Beſchränkungen laſſen ſich unter folgende Kategorien zuſammen-
faſſen:
a) Hinſichtlich aller Gewerbe beſteht die Vorſchrift, daß der-
jenige, welcher den ſelbſtändigen Betrieb eines Gewerbes anfängt,
der für den Ort, wo ſolches geſchieht, nach den Landesgeſetzen zu-
ſtändigen Behörde gleichzeitig Anzeige davon machen muß 1), und
daß überdies derjenige, welcher außerhalb ſeines Wohnorts ohne
Begründung einer gewerblichen Niederlaſſung und ohne Beſtellung
(im Umherziehen) ein Gewerbe betreibt, ſich einen Legitimations-
ſchein ertheilen laſſen muß 2), der in gewiſſen, geſetzlich beſtimmten
Fällen verweigert werden kann 3).
b) Die obrigkeitliche Genehmigung iſt erforderlich zur Errich-
tung gewiſſer Anlagen, welche durch die örtliche Lage oder durch
die Beſchaffenheit der Betriebsſtätte für die Beſitzer oder Bewohner
der benachbarten Grundſtücke oder für das Publikum überhaupt
erhebliche Nachtheile, Gefahren oder Beläſtigungen herbeiführen
können 4). Die Gew.-Ordnung enthält ein Verzeichniß dieſer An-
lagen, welches durch Beſchluß des Bundesrathes vorbehaltlich der
Genehmigung des nächſtfolgenden Reichstages abgeändert werden
kann 5). Das Verfahren behufs Ertheilung der obrigkeitlichen Er-
laubniß iſt in den §§. 17—22 der Gew.-Ordn. geregelt. Be-
ſondere Vorſchriften beſtehen überdies für Neu-Anlagen von Waſſer-
triebwerken 6) und für die Anlegung und den Betrieb von Dampf-
keſſeln 7). Endlich kann für die Errichtung von durch Wind be-
wegten Triebwerken die von benachbarten fremden Grundſtücken
und von öffentlichen Wegen inne zu haltende Entfernung durch
[461]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Polizei-Verordnungen der höheren Verwaltungsbehörden beſtimmt
werden 1).
c) Für eine Anzahl von Gewerben iſt die Ertheilung einer
obrigkeitlichen Erlaubniß geſetzliche Vorbedingung des Betriebes,
nämlich für Unternehmer von Privat-Kranken-, Privat-Entbindungs-,
und Privat-Irren-Anſtalten 2); für Schauſpiel-Unternehmer 3); für
den Betrieb einer Gaſtwirthſchaft, Schenkwirthſchaft oder des Klein-
handels mit Branntwein oder Spiritus 4); für den Straßenverkauf
oder das Anſchlagen von Druckſchriften oder anderen Schriften und
Bildwerken 5), und — wofern die Landesgeſetze dies anordnen —
für den Handel mit Giften und für das Lootſen Gewerbe und das
Gewerbe der Markſcheider 6). Oder es kann der Betrieb gewiſſer
Gewerbe Perſonen unterſagt werden, welche wegen ſolcher Ver-
gehen oder Verbrechen beſtraft worden ſind, zu deren Verübung
der Gewerbebetrieb Veranlaſſung bieten kann 7).
d) Die Straßengewerbe (der Droſchkenkutſcher, Dienſtmänner
u. ſ. w.) ſind gänzlich der Regelung durch die Ortspolizeibehörde
unterworfen 8); ferner ſind die Ortsbehörden innerhalb der durch
die Gew.-Ordnung gezogenen Gränzen zum Erlaß von Markt-Ord-
nungen befugt 9). In einigen Fällen iſt auch der Erlaß obrigkeit-
licher Taxen geſtattet 10).
e) Zum Betriebe gewiſſer Gewerbe ſind nur diejenigen Per-
ſonen befugt, welche eine Approbation auf Grund eines Nachweiſes
der Befähigung erlangt haben. Eine ſolche Approbation gilt nicht
nur für das Gebiet des Staates, deſſen Behörde ſie ausgeſtellt hat,
ſondern für das ganze Bundesgebiet. Aus dieſem Grunde müſſen
die Vorſchriften über den Nachweis der Befähigung für alle Bun-
desſtaaten die nämlichen ſein und es iſt deshalb der Erlaß derſelben
[462]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
dem Bundesrath übertragen. Eine Approbation iſt erforder-
lich für folgende 3 Klaſſen von Gewerbetreibenden:
α) Für Apotheker1). Die Vorſchriften über die Behörden,
welche zur Ertheilung der Approbation befugt ſind, und über die
Prüfung, von deren Ablegung die Ertheilung der Approbation ab-
hängig iſt, ſind vom Bundesrath erlaſſen für Apotheker am 5.
März 1875 2) und für Apothekergehilfen am 13 November 1875 3).
Durch dieſe Anordnungen ſind die älteren, über denſelben Gegen-
ſtand erlaſſenen Vorſchriften aufgehoben worden. Die Abgränzung
derjenigen Zubereitungen, Droguen und chemiſchen Präparate, deren
Feilhaltung und Verkauf nur in Apotheken geſtattet iſt, von den-
jenigen, welche auch anderweitig in Verkehr gebracht werden dürfen,
iſt in §. 6 Abſ. 2 der Gew.-Ordn. einer Kaiſerl. Verordnung
übertragen, welche am 4. Januar 1875 ergangen iſt 4).
β) Für diejenigen Perſonen, welche ſich als Aerzte, (Wund-
ärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte) oder
mit gleichbedeutenden Titeln bezeichnen oder Seitens des
Staates oder einer Gemeinde als ſolche anerkannt oder mit amt-
lichen Funktionen betraut werden ſollen 5). Die Vorſchriften
über die Behörden, welche in den einzelnen Bundesſtaaten zur
Ertheilung der Approbation befugt ſind und über die Prüfung der
Aerzte, Zahnärzte und Thierärzte ſind nach Maßgabe der Bundes-
rathsbeſchlüſſe vom Reichskanzler am 25. Septemb. 1869 verkündet
worden 6); die Vorſchriften über die Fälle, in welchen eine Dis-
[463]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
penſation von der Prüfung zuläſſig iſt, und über das in ſolchen
Fällen zu beobachtende Verfahren ſind in der Bekanntmach. v. 9.
Dezemb. 1869 enthalten 1).
Auch für Hebammen iſt das Erforderniß einer Approbation
reichsgeſetzlich aufgeſtellt, die Regelung des Verfahrens aber den
Einzelſtaaten überlaſſen 2).
γ) Für Seeſchiffer, Seeſteuerleute und Lootſen3).
Durch Bekanntmachung v. 25. Septemb. 1869 ſind die vom Bundes-
rath beſchloſſenen Vorſchriften über den Nachweis der Befähigung
als Seeſchiffer und Seeſteuermann erlaſſen worden 4). Dieſelben
unterſcheiden die Schifferprüfung für kleine Fahrt, worunter die
Fahrt in der Nordſee bis zum 61 Grad nördlicher Breite und in
der Oſtſee mit Seeſchiffen vom 30 bis ausſchl. 100 Tonnen (zu
1000 Kilogr.) Tragfähigkeit verſtanden wird; ferner die Steuer-
mannsprüfung, durch deren Ablegung die Zulaſſung als Steuer-
mann auf großer Fahrt und, nach Zurücklegung einer gewiſſen
Fahrzeit zur See als Steuermann 5), die Zulaſſung als Schiffer
auf Europäiſcher Fahrt (d. h. Europäiſche Häfen und Häfen
des Mittelländiſchen, Schwarzen und Azow’ſchen Meeres) bedingt
iſt; und endlich die Schifferprüfung für große Fahrt. Die Be-
ſtimmungen über den Nachweis der Befähigung, welcher erforder-
lich iſt um als Führer von Küſtenſchiffen zugelaſſen zu werden,
ſind einſtweilen den Landesregierungen überlaſſen 6); die Vorſchrif-
ten des Bundesrathes über die Prüfung der Lootſen ſind noch
nicht ergangen, ſo daß inzwiſchen ebenfalls noch die in den einzelnen
Bundesſtaaten geltenden Vorſchriften Anwendung finden.
Spezielle Anordnungen über das Prüfungsverfahren und über
die Zuſammenſetzung der Prüfungskommiſſionen für die Schiffer-
[464]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
und Steuermanns-Prüfungen ſind auf Grund der vom Bundesrath ge-
faßten Beſchlüſſe durch die Bekanntmachung vom 30. Mai 1870 publi-
zirt worden 1). Darnach wird eine Prüfungs-Kommiſſion am Sitze je-
der öffentlichen Navigationsſchule von der Landesregierung einge-
ſetzt2); das Prüfungsweſen wird aber von Reichswegen beaufſichtigt ver-
mittelſt Prüfungs-Inſpektoren, welche der Reichskanzler nach An-
hörung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Handel und Verkehr beſtellt3).
Die Befugniß zur Ausübung des Gewerbes kann einem deutſchen
Schiffer oder Steuermann entzogen werden durch den Spruch
eines Seeamtes oder des Ober-Seeamtes 4). Die Seeämter ſind Lan-
desbehörden, deren Errichtung und Beaufſichtigung den Einzelſtaaten
zuſteht; die Abgrenzung ihrer Bezirke aber erfolgt durch den Bun-
desrath und die Oberaufſicht über die Seeämter führt das Reich 5).
Die Aufgabe des Seeamtes beſteht in der Unter-
ſuchung von Seeunfällen deutſcher Kauffahrteiſchiffe und von See-
unfällen, welche ausländiſche Kauffahrteiſchiffe innerhalb der deut-
ſchen Küſtengewäſſer betroffen haben oder deren Unterſuchung
vom Reichskanzler angeordnet worden iſt 6). Durch die Unter-
ſuchung ſollen die Urſachen des Seeunfalles, ſowie alle mit den-
ſelben zuſammenhängenden Thatumſtände ermittelt werden; insbe-
ſondere ob der Schiffer oder der Steuermann durch Handlungen
oder Unterlaſſungen den Unfall oder deſſen Folgen verſchuldet
hat 7). Das Seeamt bildet eine kollegiale Behörde und beſteht
aus einem Vorſitzenden, der die Fähigkeit zum Richteramt haben
muß, und aus vier Beiſitzern, von denen mindeſtens zwei die Be-
fähigung als Seeſchiffer beſitzen und als ſolche gefahren haben 8).
[465]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Der Reichskanzler beſtellt für jedes Seeamt einen Kommiſ-
ſar, welcher Anträge an das Seeamt oder ſeinen Vorſitzenden zu
ſtellen, den Verhandlungen des Seeamtes beizuwohnen, Einſicht
von den Akten zu nehmen und für den Fall, daß der Vorſitzende
die Einleitung einer Unterſuchung verweigert, Anträge auf Anord-
nung einer Unterſuchung bei dem Reichskanzler zu ſtellen, berechtigt
iſt. Dieſelbe Perſon kann für mehrere Seeämter als Kommiſſar
beſtellt werden 1). Auf Antrag des Reichskommiſſars kann, wenn
ſich ergiebt, daß ein deutſcher Schiffer oder Steuermann in Folge
des Mangels ſolcher Eigenſchaften, welche zur Ausübung ſeines Ge-
werbes erforderlich ſind, den Unfall oder deſſen Folgen verſchuldet
hat, demſelben durch den Spruch des Seeamtes über die Urſachen
des Seeunfalles zugleich die Befugniß zur Ausübung ſeines Ge-
werbes entzogen werden. Einem Schiffer, dem die Befugniß ent-
zogen wird, kann nach Ermeſſen des Seeamtes auch die Ausübung
des Steuermannsgewerbes unterſagt werden 2).
Gegen den Spruch des Seeamtes ſteht das Rechtsmittel der
Beſchwerde an das Ober-Seeamt dem Schiffer oder Steuermann
zu, wenn der Spruch auf Entziehung der Befugniß zur Ausübung
des Gewerbes lautet; andererſeits dem Reichskommiſſar, wenn das
Seeamt einem hierauf gerichteten Antrage deſſelben nicht Folge
gegeben hat 3).
Das Ober-Seeamt iſt eine kollegiale Reichsbehörde. Es
8)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 30
[466]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
beſteht aus einem Vorſitzenden, welcher zum Richteramt befähigt
iſt, und 6 Mitgliedern, von denen wenigſtens drei der Schifffahrt
kundig ſein müſſen. Der Kaiſer ernennt den Vorſitzenden und
einen ſchifffahrtskundigen Beiſitzer. Für das Amt der übrigen Bei-
ſitzer bringen die Regierungen der Bundes-Seeſtaaten je drei
ſachkundige Perſonen in Vorſchlag und zwar immer für einen Zeit-
raum von 3 Jahren. Aus der Geſammtzahl der Vorgeſchlagenen
wählt der Vorſitzende für jeden Beſchwerdefall fünf Beiſitzer aus,
beruft dieſelben ein und beeidigt ſie auf die Erfüllung der Obliegen-
heiten ihres Amtes. Sie erhalten aus der Reichskaſſe Erſatz ihrer
Reiſekoſten und Tagegelder, deren Höhe der Reichskanzler beſtimmt 1).
Die Geſchäfts-Ordnung bei dem Ober-Seeamt wird vom Bundes-
rath feſtgeſtellt 2). Das Ober-Seeamt faßt ſeine Beſchlüſſe nach
Stimmenmehrheit; auf das Verfahren finden im Allgemeinen die-
ſelben Vorſchriften Anwendung, welche für das Verfahren bei den
Seeämtern gelten; die Verhandlung und Entſcheidung erfolgt in
öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung des Be-
ſchwerdeführers und ſeines Gegners. Die Entſcheidung muß mit
Gründen verſehen ſein und iſt dem Beſchwerdeführer und ſeinem
Gegner in Ausfertigung zuzuſtellen 3).
Einem Schiffer oder Steuermann, dem die Befugniß zur Aus-
übung ſeines Gewerbes entzogen iſt, kann dieſelbe nach Ablauf
eines Jahres durch das Reichskanzler-Amt wieder eingeräumt
werden, wenn anzunehmen iſt, daß er fernerhin den Pflichten ſeines
Gewerbes genügen wird 4).
f) Ueber die Innungen iſt theils den Gemeindebehörden theils
den ſtaatlichen Verwaltungsräthen ein Recht der Aufſicht eingeräumt,
durch welches Verträge, Statutenveränderungen, Auflöſungsbe-
ſchlüſſe u. ſ. w. an die Ertheilung der Genehmigung gebunden ſind 5).
g) Jeder Gewerbeunternehmer iſt verpflichtet, auf ſeine Koſten
[467]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
alle diejenigen Einrichtungen herzuſtellen und zu unterhalten, welche
zur thunlichſten Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben
und Geſundheit nothwendig ſind 1). Bei der Beſchäftigung der
Lehrlinge iſt die gebührende Rückſicht auf Geſundheit und Sittlich-
keit zu nehmen und denjenigen Lehrlingen, welche des Schul- und
Religionsunterrichtes noch bedürfen, muß Zeit dazu gelaſſen wer-
den 2). Namentlich aber iſt die Beſchäftigung jugendlicher Arbeiter
in Fabriken im Intereſſe der Geſundheit, Schulbildung, und Sitt-
lichkeit erheblichen Beſchränkungen und einer obrigkeitlichen Controle
unterworfen 3).
h) Endlich kann durch Ortsſtatut die Bildung von Hülfskaſſen
angeordnet, für Geſellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter die Be-
theiligung an denſelben zur Pflicht gemacht und den Arbeitsgebern
auf dieſe Beiträge die Leiſtung von Vorſchüſſen bis auf die Hälfte
des verdienten Lohnes, den Fabrikinhabern auch die Leiſtung von
Zuſchüſſen zu den Beiträgen ihrer Arbeiter bis auf Höhe der
Hälfte dieſer Beiträge auferlegt werden 4).
4. In den genannten Beziehungen beſteht noch gegenwärtig
eine gewerbepolizeiliche Verwaltungsthätigkeit. Dieſelbe iſt aber
durchweg den Behörden der Einzelſtaaten oder den Gemeinde-
behörden übertragen, mit alleiniger Ausnahme der für die Prü-
fung der Seeſchiffer und Steuerleute und für die Unterſagung und
Wiederverleihung der Befugniß zur Ausübung ihres Gewerbes be-
ſtehenden Vorſchriften, an deren Handhabung das Reich einen un-
mittelbaren Antheil hat. Hiervon abgeſehen giebt es keine un-
mittelbare Reichsverwaltung in gewerbepolizeilichen Angelegenheiten.
Das Reich iſt beſchränkt auf die Führung der [Oberaufſicht] über
die Thätigkeit der Behörden der Einzelſtaaten und Gemeinden,
welche nach Art. 17 der Kaiſer mittelſt des Reichskanzler-Amtes
führt. Der Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorſchriften zur Aus-
30*
[468]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
führung der Gewerbe-Ordnung und der andern den Gewerbebetrieb
betreffenden Reichsgeſetze ſteht, ſoweit derſelbe nicht ausdrücklich
den Einzelſtaaten vorbehalten iſt, nach Art. 7 Z. 2 der R.-V.
dem Bundesrathe zu.
II.Der Patentſchutz*).
1. Rechtliche Natur des Patentſchutzes. Die allgemeine
Gewerbefreiheit iſt in ſehr eingreifender Weiſe dadurch beſchränkt,
daß die gewerbemäßige Verwerthung von Produkten geiſtiger Ar-
beit nicht freigegeben, ſondern innerhalb gewiſſer Gränzen zu
Gunſten des Autors monopoliſirt iſt. Das hieraus ſich ergebende
Gewerbe-Privilegium nennt man mit einem bildlichen Ausdruck
das geiſtige Eigenthum und auch die Reichsverfaſſung bedient ſich
deſſelben, indem ſie in Art. 4 Z. 6 der Kompetenz des Reiches
„den Schutz des geiſtigen Eigenthums“ zuweiſt. Dieſe Bezeichnung
iſt aber eine juriſtiſch unrichtige, denn das Weſen des Eigenthums
im Rechtsſinne beſteht in der phyſiſchen Herrſchaft über eine Sache,
ſo daß geiſtiges Eigenthum eine contradictio in adjecto iſt 1). Das
Recht, welches man damit bezeichnen will, hat auch mit dem Eigen-
thum durchaus Nichts gemein, ausgenommen daß es einen Ver-
[469]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
mögenswerth hat; ſobald man die Rechts-Grundſätze von ding-
lichen Rechten überhaupt oder vom Eigenthum insbeſondere auf
daſſelbe anwenden will, gelangt man zu abſurden Reſultaten und in
zahlreiche Widerſprüche mit den poſitiven Vorſchriften der Geſetze 1).
Das ſogen. Urheberrecht iſt vielmehr ſeinem rechtlichen Weſen nach
ein zeitlich beſchränktes und an gewiſſe Bedingungen geknüpftes
Monopol; es iſt eine Beſchränkung der allgemeinen Gewerbe-
freiheit, indem die gewerbliche Verwerthung der geiſtigen Arbeit
Allen außer dem Autor oder ſeinem Rechtsnachfolger unterſagt und
an die Verletzung dieſes Verbotes eine Strafe und eine Schaden-
erſatzpflicht oder eine Buße geknüpft iſt.
Der Nachdruck oder die Nachbildung iſt eine Delictsobligation,
deren juriſtiſcher Thatbeſtand und Begriff in der Verletzung dieſer
der allgemeinen Gewerbefreiheit gezogenen Schranke beſteht; das
Urheberrecht iſt ebenſo wie ein dem Fiskus gewährtes Monopol
lediglich der Reflex oder das wirthſchaftliche Reſultat dieſer Be-
ſchränkung der Gewerbefreiheit 2). Sowie das Weſen des Mono-
pols nicht darin beſteht, daß der Fiskus ein gewiſſes Gewerbe be-
treiben darf, wozu es keines beſonderen Rechtsſatzes bedarf, ſon-
dern darin, daß der Betrieb dieſes Gewerbes Allen mit Ausnahme
des Fiskus verboten iſt, ſo beſteht auch das Weſen des ſoge-
nannten Urheberrechts nicht darin, das der Autor ſeine Geiſtes-
arbeit verwerthen darf, was ihm innerhalb der durch die Straf-
geſetze gezogenen Schranken auch ohne ausdrückliche geſetzliche An-
erkennung freiſteht, ſondern es beſteht in der Ausſchließlich-
keit dieſer Befugniß d. h. in dem an alle anderen Perſonen ge-
richteteten Verbot, fremde Geiſtesarbeit gewerblich auszubeuten.
Das Reich hat das Verbot der gewerblichen Verwerthung
fremder Geiſtesarbeit nicht in einem einheitlichen und conſequent
[470]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
durchgeführten Rechts-Grundſatz ausgeſprochen, ſondern es hat in
einer Reihe von Spezialgeſetzen für verſchiedene Arten von Pro-
dukten geiſtiger Arbeit in mannigfacher Art die Vorausſetzungen,
den Umfang und die Wirkungen des Verbotes ihrer gewerblichen
Ausnützung normirt. Dieſe Reichsgeſetze ſind folgende fünf:
- a) vom 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht an Schrift-
werken, Abbildungen, muſikaliſchen Kompoſitionen und dra-
matiſchen Werken. (B.-G.-Bl. S. 339.) - b) vom 9. Januar 1876 betreffend das Urheberrecht an
Werken der bildenden Künſte. (R.-G.-Bl. S. 4.) - c) vom 10. Januar 1876 betreffend den Schutz der Photo-
graphien gegen unbefugte Nachbildung. (R.-G.-Bl. S. 8.) - d) vom 11. Januar 1876 betreffend das Urheberrecht an
Muſtern und Modellen. (R.-G.-Bl. S. 11.) - e) vom 25. Mai 1877 das Patentgeſetz, betreffend den Schutz
neuer Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwerthung
geſtatten. (R.-G.-Bl. S. 501.)
Von dieſen Geſetzen bietet nur das letzte Veranlaſſung zu
einer Verwaltungsthätigkeit des Reichs. Die vier erſtgenannten
ſetzen eine obrigkeitliche Thätigkeit zur Entſtehung des Gewerbe-
privilegiums des Urhebers überhaupt nicht voraus oder ſie be-
ſchränken dieſelbe auf die Eintragung des zu ſchützenden Geiſtes-
produktes in eine Eintragsrolle, welche hinſichtlich der Schrift-
und Kunſtwerke 1) vom Stadtrath zu Leipzig, hinſichtlich der
Muſter und Modelle von den mit Führung des Handelsregiſters
beauftragten Gerichtsbehörden geführt wird 2). Dagegen iſt der
[471]§. 76 Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Schutz neuer Erfindungen von gewerblicher Verwerthbarkeit in
jedem einzelnen Falle von der Ertheilung eines Patentes, alſo
einem Verwaltungsakt, abhängig gemacht und zur Führung dieſer
Geſchäfte eine beſondere Reichsbehörde, das Patentamt, errichtet
worden.
2. Die Organiſation des Patentamtes. Das Pa-
tentamt iſt eine ſtändige Reichsbehörde, welche ihren Sitz in
Berlin hat. Es beſteht aus Mitgliedern, welche vom Kaiſer er-
nannt werden, und aus Büreau- und Unterbeamten, deren Ernen-
nung dem Reichskanzler übertragen iſt. Die Mitglieder zerfallen
in zwei Klaſſen, ſtändige und nicht ſtändige 1). Die ſtändigen
Mitglieder werden auf Vorſchlag des Bundesrathes ernannt und
zwar, wenn ſie im Reichs- oder Staatsdienſte ein Amt bekleiden,
auf die Dauer dieſes Amtes, anderen Falls auf Lebenszeit; min-
deſtens drei derſelben müſſen die Befähigung zum Richteramte oder
zum höheren Verwaltungsdienſte beſitzen. Die nicht ſtändigen
Mitglieder werden auf fünf Jahre ernannt 2); ſie müſſen in einem
Zweige der Technik ſachverſtändig ſein; ſie ſind zwar Reichsbeamte
und den Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes v. 13. März 1873
unterworfen, aber von dem im §. 16 dieſes Geſetzes enthaltenen
Verbot, ohne vorgängige Genehmigung der oberſten Reichsbehörde
ein Nebenamt oder eine mit fortlaufender Remuneration verbun-
dene Nebenbeſchäftigung zu übernehmen oder ein Gewerbe zu be-
treiben 3), ausgenommen 4).
Das Patentamt beſteht aus mehreren Abtheilungen,
welche im Voraus auf mindeſtens ein Jahr gebildet werden. Ein
Mitglied kann mehreren Abtheilungen angehören 5). Die Bildung
der Abtheilungen, die Beſtimmung ihres Geſchäftskreiſes, die For-
men des Verfahrens und der Geſchäftsgang des Patentamtes
2)
[472]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
werden, inſoweit das Patentgeſetz nicht Beſtimmungen darüber
trifft, durch Kaiſerliche Verordnung unter Zuſtimmung
des Bundesraths geregelt 1). Dieſelbe iſt am 18 Juni 1877
ergangen 2). Ihr zufolge zerfällt das Patentamt in ſieben Abthei-
lungen, von denen zuſtändig ſind: die Abtheilungen I u. II für
die Beſchlußfaſſung über Patentgeſuche ausſchließlich aus dem Ge-
biete der mechaniſchen Technik; die Abtheilungen III und IV für die
Beſchlußfaſſung über Patentgeſuche ausſchließlich aus dem Gebiete der
chemiſchen Technik; die Abtheilungen V u. VI für die Beſchlußfaſſung
über ſolche Patentgeſuche, welche das Gebiet der chemiſchen und der
mechaniſchen Technik zugleich berühren, ſowie über alle ſonſtigen Pa-
tentgeſuche; die Abtheilung VII für die Beſchlußfaſſung und Ent-
ſcheidung in dem Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit und
wegen Zurücknahme ertheilter Patente 3). Die näheren Beſtim-
mungen über die Vertheilung der Geſchäfte an die einzelnen Ab-
theilungen hat der Vorſitzende des Patentamtes zu treffen; ebenſo
hat er das Mitglied zu beſtimmen, welches die Geſchäftsleitung
in den einzelnen Abtheilungen führt; in der Abtheilung VII
führt er ſie ſelbſt; auch verfügt er über die Vertretung im Vor-
ſitz des Patentamtes und über die Vertretung in der Geſchäfts-
leitung der Abtheilungen 4).
Dem Vorſitzenden liegt es ob, auf eine gleichmäßige Behand-
[473]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
lung der Geſchäfte und auf die Beobachtung gleicher Grundſätze
Seitens der einzelnen Abtheilungen hinzuwirken. Zu dieſem Be-
hufe iſt er befugt, den Berathungen aller Abtheilungen beizuwoh-
nen, auch ſämmtliche Mitglieder zu Plenarverſammlungen zu ver-
einigen und die Berathung des Plenums über die von ihm vor-
gelegten Fragen herbeizuführen 1). Er hat ferner die Einrichtung
des Büreaus, die Verwaltung der Kaſſe, der Bibliothek und der
Sammlungen zu ordnen und die für die Beamten erforderlichen
Geſchäftsanweiſungen zu erlaſſen; ihm ſteht die Leitung und Be-
aufſichtigung des geſammten Geſchäftsbetriebes zu; er verfügt in
allen Verwaltungsangelegenheiten; er iſt der Dienſtvorgeſetzte der
Subaltern- und Unterbeamten 2).
3. Zuſtändigkeit und Geſchäftskreis des Patent-
amtes. Das Patentamt iſt kein Spezial-Gerichtshof, welcher in
Rechtsſtreitigkeiten zu urtheilen hat; es ſteht ihm insbeſondere keine
Entſcheidung zu über die Beſtrafung und Entſchädigungspflicht
wegen Verletzung eines Patentes, über die Rechtsverhältniſſe, welche
aus der Abtretung eines Patentes entſtehen, über die Entſchädi-
gung des Patentinhabers, dem der Reichskanzler im öffentlichen
Intereſſe den Patentſchutz ganz oder theilweiſe entzieht 3), und
über andere Rechtsſtreitigkeiten civilrechtlichen oder ſtrafrechtlichen
Charakters, welche ſich auf den Patentſchutz beziehen. Das Pa-
tentamt hat vielmehr lediglich darüber zu befinden, ob die Vor-
ausſetzungen vorhanden ſind, unter welchen das Reich den
Patentſchutz ertheilt, reſp. fortgewährt, und diejenigen Geſchäfte zu
erledigen, welche hiermit in unterennbarem Zuſammenhange ſtehen.
Im Einzelnen gehört hierher:
a) Die Beſchlußfaſſung über die Ertheilung, die Erklärung
der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente 4).
b) Die Ausfertigung der Patenturkunde 5).
[474]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
c) Die Führung der Patentrolle. In dieſelbe ſind der Gegen-
ſtand und die Dauer der ertheilten Patente, Namen und Wohn-
ort der Patentinhaber und ihrer bei Anmeldung der Erfindung etwa
beſtellten Vertreter, ſowie eine Aenderung dieſer Perſonen, wenn
ſie in beweiſender Form zur Kenntniß des Patentamtes gebracht
iſt, ferner der Anfang, der Ablauf, das Erlöſchen, die Erklärung
der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente einzutragen 1).
Die Patentrolle iſt öffentlich; ihre Einſicht ſteht jedem frei, ſoweit
es ſich nicht um ein im Namen der Reichsverwaltung für die Zwecke
des Heeres oder der Flotte genommenes Patent handelt 2).
Mit der Führung der Patentrolle iſt verbunden die Aufbe-
wahrung, Aufſtellung und Regiſtrirung der Beſchreibungen, Zeich-
nungen, Modelle und Probeſtücke, auf Grund deren die Ertheilung
der Patente erfolgt iſt. Die Einſicht dieſer Sammlungen ſteht
unter derſelben Einſchränkung jedermann frei, wie die Einſicht der
Rolle 3). Das Patentamt iſt indeß befugt Anordnungen zu treffen,
um den Mißbrauch der Oeffentlichkeit zum Schaden des Patent-
ſuchers oder Patentinhabers zu verhüten 4).
d) Veröffentlichungen. Dieſelben ſind von zweierlei Art. Das
Patentamt iſt geſetzlich verpflichtet, im Reichsanzeiger bekannt zu
machen: die Anmeldung des Patentſuchers 5), den Beſchluß, daß
das Patent ertheilt ſei oder daß die Ertheilung verſagt ſei 6), den
Anfang, den Ablauf, das Erlöſchen, die Erklärung der Nichtigkeit
und die Zurücknahme der Patente, ſowie den Namen und Wohn-
ort des Patentinhabers und ſeines etwa beſtellten Vertreters 7).
5)
[475]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Außerdem liegt dem Patentamt die Herausgabe eines amtlichen
Blattes ob, in welchem außer denjenigen Bekanntmachungen, welche
durch den Reichsanzeiger erfolgen, die Beſchreibungen und Zeich-
nungen, ſoweit deren Einſicht jederman freiſteht, in ihren weſent-
lichen Theilen veröffentlicht werden 1).
e) Die Einziehung der Gebühren 2) und Koſten 3) und die
hiermit verbundenen Kaſſengeſchäfte, Buchführung und Rechnungs-
legung.
f) Das Patentamt iſt verpflichtet, auf Erſuchen der Gerichte
über Fragen, welche Patente betreffen, Gutachten abzugeben. Es
hat demnach bei denjenigen Prozeſſen, welche den Patentſchutz be-
treffen, dieſelbe Aufgabe zu erfüllen, welche bei Prozeſſen wegen
Nachdrucks oder wegen unbefugter Nachbildung den Sachverſtän-
digen-Vereinen obliegt 4). Im Uebrigen iſt das Patentamt nicht
befugt, ohne Genehmigung des Reichskanzlers außerhalb ſeines
geſetzlichen Geſchäftskreiſes Beſchlüſſe zu faſſen oder Gutachten ab-
zugeben 5).
4. Die Ertheilung eines Patentes erfolgt unter
folgenden Vorausſetzungen und nach folgendem Verfahren:
a) Patente werden ertheilt für neue Erfindungen,
welche eine gewerbliche Verwerthung geſtatten6). Er-
findungen ſtehen im Gegenſatz zu Entdeckungen 7); ausgeſchloſ-
ten von dem Patentſchutze ſind deshalb „rein wiſſenſchaftliche Ent-
deckungen, die Auffindung unbekannter Naturprodukte, die Ent-
deckung unbekannter Produktivkräfte, die Aufſtellung neuer Me-
thoden des Ackerbaues oder Bergbaues u. ſ. w., die Kombination
neuer Pläne für Unternehmungen auf dem Gebiete des Handels 8)“.
[476]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Die Erfindung wird nur dann patentirt, wenn ſie eine gewerb-
liche Verwerthung geſtattet; da der Patentſchutz in Nichts
Anderem beſteht, als in der Monopoliſirung der gewerblichen
Verwerthung einer Erfindung, ſo iſt die Möglichkeit der ge-
werblichen Verwerthung ein durch den Begriff ſelbſt gegebenes Er-
forderniß, eine logiſche Vorbedingung der Patentirung 1).
Eine Erfindung von gewerblicher Verwerthbarkeit wird nur
dann patentirt, wenn ſie neu iſt. Unter welchen Vorausſetzungen
die Neuheit einer Erfindung anzuerkennen ſei, hat das Geſetz nicht
beſtimmt; es unterliegt dies dem techniſchen Urtheil des Patent-
amtes. Dagegen hat das Patentgeſetz erklärt, daß eine Erfindung
in zwei Fällen nicht neu ſei, nämlich wenn ſie bereits vor der
Anmeldung des Patentſuchers in öffentlichen Druckſchriften ſo genau
beſchrieben oder im Inlande ſo offenkundig benutzt iſt 2), daß dar-
nach die Benutzung durch andere Sachverſtändige möglich erſcheint 3).
Ausgeſchloſſen von dem Patentſchutz ſind Erfindungen von
Nahrungs- Genuß- und Arzneimitteln, ſowie von Stof-
fen, welche auf chemiſchem Wege hergeſtellt werden, ſoweit die
Erfindungen nicht ein beſtimmtes Verfahren zur Herſtellung der
[477]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Gegenſtände betreffen 1). Ueberdies alle Erfindungen, deren Ver-
werthung den Geſetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen würde 2).
b) Berechtigt, die Ertheilung eines Patentes zu erlangen, iſt
derjenige, „welcher die Erfindung zuerſt nach Maßgabe
dieſes Geſetzes angemeldet hat3)“. Es iſt nicht erforder-
lich, daß der Patentſucher die Erfindung ſelbſt gemacht oder durch
ein Rechtsgeſchäft die Befugniß zur gewerblichen Ausbeutung der
Erfindung von dem Erfinder erworben hat. Der Patentſchutz iſt
in dieſer Beziehung weſentlich verſchieden von dem Urheberrecht
an Schriftwerken, Kompoſitionen u. ſ. w. 4). Es iſt ſehr wohl
möglich, daß der Eine eine Erfindung macht, während der Andere
die gewerbliche Verwerthbarkeit derſelben erkennt oder das dazu
erforderliche Kapital aufzuwenden bereit iſt und ein Patent dafür
nachſucht. Deshalb würde auch die Auffaſſung unhaltbar ſein,
daß der erſte Anmelder die Rechtsvermuthung für ſich habe, der
Erfinder zu ſein, und daß aus dieſem Grunde ihm das Patent
verliehen werde 5). Auch wenn in der Anmeldung ausdrücklich
angegeben wird, daß das Patent für die von einem Andern ge-
machte Erfindung verlangt werde, iſt dem Patentgeſuch zu will-
fahren. Deſſen ungeachtet iſt der Patentſchutz ſeinem Weſen nach
keine Belohnung für die Anmeldung einer Erfindung, ſondern für
die Erfindung ſelbſt und es iſt nur die Aktivlegitimation aus
Gründen der Zweckmäßigkeit in einer von dieſem Grundmotiv ab-
weichenden Weiſe normirt. Der Patentſucher iſt von dem Be-
weiſe befreit, daß er der Erfinder und insbeſondere daß er der
erſte Erfinder ſei, und ebenſo iſt er, wenn er vom Erfinder die
Befugniß zur Ausbeutung der Erfindung erworben hat, nicht ge-
[478]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
nöthigt, die Verhältniſſe und Bedingungen, unter denen dies ge-
ſchehen iſt, darzulegen. Das Patentgeſetz geſtattet, daß über die
zwiſchen dem Erfinder und dem Patentſucher beſtehenden Rechtsbe-
ziehungen die vollkommenſte Discretion gewahrt werde. Der erſte
Erfinder hat aber nicht nur thatſächlich einen Vorſprung vor Jedem
Andern in Beziehung auf die Anmeldung des Patentgeſuches, ſon-
dern es iſt ihm auch rechtlich ein Schutz dagegen gewährt, daß
ſeine Erfindung wider ſeinen Willen einem Andern patentirt werde.
Das Patentgeſetz verſagt nämlich den Anſpruch des Patentſuchers
auf Ertheilung des Patentes, „wenn der weſentliche Inhalt ſeiner
Anmeldung den Beſchreibungen, Zeichnungen, Modellen, Geräth-
ſchaften, oder Einrichtungen eines Anderen oder einem von dieſem
angewendeten Verfahren ohne Einwilligung deſſelben entnommen
und von dem letzteren aus dieſem Grunde Einſpruch erhoben iſt“ 1),
und wenn in einem ſolchen Falle das Patent ertheilt worden iſt,
kann daſſelbe für nichtig erklärt werden 2). In dieſem Einſpruchs-
recht des Erfinders oder ſeines Rechtsnachfolgers gegen die Er-
theilung und in dieſem Antragsrecht auf Nichtigkeitserklärung des
Patentes macht ſich die wahre Natur des Patentſchutzes als einer
Prämie für Erfindungen geltend.
Daß der Patentſucher ein Reichsangehöriger iſt oder im Bun-
desgebiet wohne, iſt nicht erforderlich; der Anſpruch auf Patentſchutz
hat das Reichsbürgerrecht nicht zur Vorausſetzung. Wenn jedoch
der Patentſucher nicht im Inlande wohnt, ſo muß er einen,
im Inlande wohnenden Vertreter beſtellen, welcher in dem Ver-
fahren behufs Erlangung des Patentes ſowie in allen das Patent
betreffenden bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten zur Vertretung befugt
iſt und nach deſſen Wohnſitz ſich bei allen gegen den Patentin-
haber anzuſtellenden Klagen die Gerichts-Zuſtändigkeit beſtimmt 3).
c) Das Verfahren beſtimmt ſich nach den im Vorhergehen-
den erörterten, objectiven und ſubjectiven Vorausſetzungen und der
juriſtiſchen Natur der Patentertheilung. Das Patentamt muß von
Amtswegen prüfen, ob das Patent für eine Erfindung nach-
geſucht wird, welche nach den Anordnungen der §.§. 1 u. 2 des
Geſetzes patentfähig iſt, da nur unter dieſer Bedingung das
[479]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Geſetz die Beſchränkung der allgemeinen Gewerbefreiheit durch den
Patentſchutz überhaupt geſtattet. Außerdem aber kann Einſpruch
gegen die Ertheilung eines Patentes an den Patentſucher aus
einem doppelten Grunde erhoben werden; entweder wegen Mangels
der Neuheit der Erfindung (objectiven Vorausſetzung) oder wegen
Mangels des Patentanſpruchs (ſubjectiven Borausſetzung) 1). Der
erſte Einſpruch kann von Jedermann erhoben werden; denn durch
die Ertheilung des Patentes würde die allgemeine Gewerbefreiheit
beſchränkt werden und demnach Jeder an der geſetzlich geſtatteten
Handlungsfreiheit eine Einbuße erleiden; es bedarf daher keiner
beſonderen Aktivlegitimation. Der andere Einſpruch dagegen kann
nur von demjenigen erhoben werden, welcher nachweiſt, daß die
Anmeldung des Patentgeſuches ſeinen Beſchreibungen, Zeichnungen
u. ſ. w. ohne ſeine Einwilligung entnommen worden iſt. Dieſer
Einſpruch kann mit dem Geſuch um Ertheilung eines Patentes
verbunden ſein; er kann ſich aber auch auf den negativen Antrag
der Verſagung des Patentes an den Andern beſchränken. Dem-
gemäß iſt das Verfahren in der Art geordnet, daß die Prüfung
der Patentfähigkeit Seitens des Patentamtes ſowie die Erhebung
des Einſpruches und die Beurtheilung deſſelben ermöglicht iſt und
daß die Ertheilung des Patentes öffentlich beurkundet und bekannt
gemacht wird. Daraus ergeben ſich folgende Beſtandtheile des
Verfahrens.
α) Die Anmeldung. Dieſelbe geſchieht ſchriftlich bei dem
Patentamte; ſie kann nur eine Erfindung zum Inhalt haben und
muß eine ſo genaue Beſchreibung derſelben enthalten, daß danach
die Benutzung derſelben durch andere Sachverſtändige möglich er-
ſcheint. Die erforderlichen Zeichnungen, bildlichen Darſtellungen,
Modelle und Probeſtücke ſind beizufügen. Gleichzeitig mit der An-
meldung ſind für die Koſten des Verfahrens 20 Mark zu zahlen.
Das Patentamt iſt ermächtigt, über die ſonſtigen Erforderniſſe der
Anmeldung Beſtimmungen zu erlaſſen 2).
Das Patentamt hat zunächſt zu prüfen, ob die Anmeldung
[480]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
dieſen formellen Erforderniſſen genügt, und wenn dies nicht der
Fall iſt, dem Patentſucher unter Angabe der Mängel deren Beſei-
tigung innerhalb einer beſtimmten Friſt aufzugeben. Wird dieſer
Aufforderung bis zu dem feſtgeſetzten Termin nicht genügt, ſo iſt
die Anmeldung ohne weiteres Verfahren zurückzuweiſen 1).
β) Die materielle Vorprüfung. Wenn die Anmel-
dung formell ordnungsmäßig erfolgt iſt, ſo prüft diejenige Abthei-
lung des Patentamtes, zu deren Geſchäftskreis das Geſuch gehört,
ob die materiellen Vorausſetzungen des Patentſchutzes, welche die
§§. 1 u. 2 des Patentgeſetzes erfordern, vorhanden ſind. Für
jede Sache wird von dem geſchäftsleitenden Mitglied der Abthei-
lung ein Berichterſtatter bezeichnet, welchem allein oder unter Mit-
wirkung eines zweiten Mitglieds die Prüfung der Sache zunächſt
zufallen ſoll. Der Berichterſtatter hat den mündlichen Vortrag in
den Sitzungen zu halten 2). Wenn eine patentfähige Erfindung
nach der Anſicht des Patentamtes nicht vorliegt, ſo weiſt daſſelbe
das Geſuch zurück 3).
γ) Das Aufgebots-Verfahren. Daſſelbe tritt ein, wenn
das Patentamt die Ertheilung eines Patentes nicht für ausge-
ſchloſſen erachtet. Es beginnt mit der Bekanntmachung des Namens
des Patentſuchers und des weſentlichen Inhaltes ſeiner Anmeldung
durch den Reichsanzeiger. Gleichzeitig iſt die Anmeldung mit ſämmt-
lichen Beilagen bei dem Patentamte zur Einſicht für jedermann
auszulegen, ſoweit es ſich nicht um ein im Namen der Reichsverwal-
tung für die Zwecke des Heeres oder der Flotte nachgeſuchtes
Patent handelt 4). Die öffentliche Bekanntmachung hat die Rechts-
wirkung, daß für den Gegenſtand der Anmeldung der Patentſchutz
zu Gunſten des Patentſuchers einſtweilen eintritt 5).
[481]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Die Friſt für Erhebung des Einſpruchs beträgt acht Wochen
ſeit dem Tage der Veröffentlichung; der Einſpruch muß ſchrift-
lich erfolgen und mit Gründen verſehen ſein. Nach Ablauf der
achtwöchentlichen Friſt hat das Patentamt über die Ertheilung
des Patentes Beſchluß zu faſſen; es iſt befugt, vor der Beſchluß-
faſſung die Ladung und Anhörung der Betheiligten, ſowie die Be-
gutachtung des Antrages durch geeignete, in einem Zweige der
Technik ſachverſtändige Perſonen und ſonſtige zur Aufklärung der
Sache erforderliche Ermittelungen anzuordnen 1).
δ) Das Beſchwerde-Verfahren. Die Einlegung der
Beſchwerde ſteht dem Patentſucher zu: gegen den Beſchluß des Pa-
tentamtes, durch welchen vor Einleitung des Aufgebots-Verfahrens
die Anmeldung zurückgewieſen wird, und ſowohl dem Patentſucher
wie dem Einſprechenden: gegen den Beſchluß, durch welchen über
die Ertheilung des Patentes entſchieden wird. Die Friſt für die
Einlegung der Beſchwerde beträgt vier Wochen von dem Tage der
Zuſtellung des angegriffenen Beſchlußes an. Bei Einlegung der
Beſchwerde ſind für die Koſten des Beſchwerde-Verfahrens 20 Mark
zu zahlen, widrigenfalls die Beſchwerde als nicht erhoben gilt 2).
Ueber die Beſchwerde entſcheidet das Patentamt ſelbſt; der
Rechtsweg iſt völlig ausgeſchloſſen. Die Entſcheidung über die
Beſchwerde gegen den Beſchluß einer Abtheilung erfolgt von der-
jenigen Abtheilung, welche neben der erſteren über Patentgeſuche
aus demſelben Gebiete der Technik zu beſchließen hat 3). Die Be-
5)
Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 31
[482]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
ſchlußfaſſung kann nur auf Grund mündlichen Vortrags in der
Sitzung erfolgen 1). Vor der Beſchlußfaſſung kann die Vernehmung
der Betheiligten oder techniſcher Sachverſtändiger ſtattfinden 2).
ε) Wenn endgültig die Ertheilung des Patentes beſchloſſen iſt,
ſo erläßt das Patentamt darüber durch den Reichsanzeiger eine
Bekanntmachung und ertheilt dem Patentinhaber eine Urkunde 3).
Auch die Verſagung des Patentes iſt bekannt zu machen. In die-
ſem Falle gelten die Wirkungen des einſtweiligen Schutzes, der mit
der Bekanntmachung der Anmeldung verknüpft iſt, als nicht einge-
treten 4); es können daher Perſonen, welche vorher den proviſori-
ſchen Patentſchutz verletzt haben, dafür nicht zur Verantwortung
gezogen werden 5).
5. Die Wirkungen des Patentes. Der Patentſchutz
iſt, wie oben ausgeführt wurde, eine Beſchränkung der allgemeinen
Gewerbefreiheit zu Gunſten des Patentinhabers. Demgemäß be-
ſtimmt das Patentgeſetz im §. 4 die Wirkung des Patentes dahin,
„daß Niemand befugt iſt, ohne Erlaubniß des Patentinhabers den
Gegenſtand der Erfindung gewerbsmäßig6) herzuſtellen, in
Verkehr zu bringen oder feilzuhalten“.
Bildet ein Verfahren oder eine Maſchine, eine Betriebsvor-
richtung, ein Werkzeug oder ein ſonſtiges Arbeitsgeräth den Ge-
genſtand des Patentes, ſo darf überdies Niemand ohne Erlaub-
niß des Patentinhabers das Verfahren anwenden oder den Gegen-
ſtand der Erfindung gebrauchen 7).
Dieſe Wirkungen ſind räumlich beſchränkt auf das Reichs-
[483]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
gebiet; denn das Reich kann nur innerhalb ſeines Gebietes die
rechtlichen Grenzen und Schranken der Gewerbefreiheit beſtimmen 1).
Gegenſtände, welche im Reichsgebiet den Patentſchutz genießen, kann
man unbehindert durch denſelben vom Auslande beziehen; nur darf
man ſie nicht gewerbsmäßig in Verkehr bringen oder feilhalten 2).
Sie ſind ferner zeitlich beſchränkt auf die Dauer von fünfzehn
Jahren von dem Tage an, welcher auf die Anmeldung der Er-
findung folgt 3). Der Patentſchutz wird aber auch für dieſe Zeit
nur gewährt, wofern der Berechtigte mit Beginn des zweiten und
jeden folgenden Jahres eine Gebühr entrichtet, welche das erſte
Mal 50 Mark beträgt und weiterhin jedes Jahr um 50 Mark
ſteigt 4). Es wird dadurch verhütet, daß Beſchränkungen der Ge-
werbefreiheit fortdauern, welche für den Patentinhaber einen ge-
ringen oder gar keinen Vermögenswerth haben.
Wenn der Patentinhaber die für ihn geſchützte Erfindung durch
eine andere verbeſſert, ſo hat er die Wahl, entweder ein Zuſatz-
patent zu nehmen, für welches er außer den Koſten für die An-
meldung keine Gebühren zu entrichten hat, welches aber mit dem
Patente für die ältere Erfindung ſein Ende erreicht 5); oder für
die Verbeſſerung ein ſelbſtſtändiges Patent zu nehmen und dafür
die vollen Gebühren zu entrichten.
Die Wirkungen des Patentes ſind ferner ausgeſchloſſen gegen
denjenigen, welcher bereits zur Zeit der Anmeldung des Patent-
inhabers die Erfindung im Inlande in Benutzung genommen oder
die zur Benutzung erforderlichen Veranſtaltungen getroffen hatte 6).
31*
[484]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Durch ſpezielle Anordnung des §. 5 Abſ. 3 ſind endlich Einrich-
tungen an Fahrzeugen, (Schiffen, Lokomotiven, Eiſenbahnwagen),
welche nur vorübergehend in das Inland gelangen, von den Wir-
kungen des Patentes befreit, um den internationalen Verkehr vor
läſtigen Beſchränkungen zu ſchützen.
Das Recht aus dem Patente (der Patentſchutz) und ebenſo
der durch die erſte Anmeldung der Erfindung begründete Anſpruch
auf Ertheilung eines Patentes ſind vererblich und veräußerlich 1).
Wiſſentliche Verletzungen des Patentſchutzes ziehen
theils ſtrafrechtliche, theils civilrechtliche Folgen nach ſich; in dieſer
Beziehung gelten von dem Patentſchutz gleichartige Rechtsſätze wie
von dem Schutze des Urheberrechts an Schriftwerken u. ſ. w., ab-
geſehen davon, daß das letztere auch gegen fahrläſſige Verletzungen
geſchützt iſt.
a) Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die Strafe
iſt Geldſtrafe bis zu 5000 Mark oder Gefängniß bis zu einem
Jahre 2); auch iſt dem Verletzten die Befugniß zuzuſprechen, die
Verurtheilung auf Koſten des Verurtheilten öffentlich bekannt zu
machen, in einer im Urtheil zu beſtimmenden Art der Bekannt-
machung und Friſt 3). Neben der Strafe kann auf Verlangen des
Beſchädigten auf eine an ihn zu erlegende Buße bis zum Betrage
von 10,000 Mark erkannt werden, für deren Zahlung die zu der-
ſelben Verurtheilten als Geſammtſchuldner haften. Eine erkannte
Buße ſchließt die Geltendmachung eines jeden andern Entſchädi-
6)
[485]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
gungsanſpruches aus 1). Kompetent zur Entſcheidung ſind die
ordentlichen Gerichte nach Maßgabe der Strafproceß-Ordnung.
b) Die bürgerlichen Klagen wegen Verletzung des Patentrech-
tes verjähren rückſichtlich jeder einzelnen dieſelbe begründenden Hand-
lung in drei Jahren. Das Gericht entſcheidet ſowohl darüber,
ob ein Schaden entſtanden iſt, als auch über die Höhe deſſelben
unter Würdigung aller Umſtände nach freier Ueberzeugung 2).
6. Beendigung des Patentſchutzes. Der Patentſchutz
hört auf durch Erlöſchen, durch Nichtigkeitserklärung und durch
Zurücknahme des Patents; er kann beſchränkt werden durch Ab-
löſung.
a) Das Patent erliſcht, wenn die Zeit, für welche es er-
theilt iſt, abgelaufen iſt, wenn die alljährlich für die Fortdauer zu
entrichtenden Gebühren nicht ſpäteſtens drei Monate nach der Fällig-
keit bezahlt werden, oder wenn der Patentinhaber auf daſſelbe ver-
zichtet 3). Das Erlöſchen tritt ipso iure ohne Verfahren ein; es
wird aber in der vom Patentamt geführten Rolle vermerkt und
durch den Reichsanzeiger bekannt gemacht 4).
b) Das Patent wird für nichtig erkärt, wenn ſich er-
giebt, daß die Erfindung nicht patentfähig war oder daß der we-
ſentliche Inhalt der Anmeldung den Beſchreibungen ꝛc. eines Andern
oder einem von dieſem angewendeten Verfahren ohne Einwilligung
deſſelben entnommen war 5).
Die Nichtigkeits-Erklärung macht das Patent von Anfang an
unwirkſam; nachdem die Nichtigkeits-Erklärung definitiv ausge-
ſprochen worden iſt, können daher weder Strafen noch Entſchädi-
gungsverpflichtungen wegen der vor der Nichtigkeits-Erklärung
verübten Verletzungen des Patentes von den Gerichten verhängt
werden. Wird im Laufe eines Prozeſſes wegen Patentverletzung
[486]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
die Nichtigkeit des Patentes behauptet, ſo iſt das Verfahren vor-
läufig auszuſetzen 1).
Die Nichtigkeits-Erklärung kann nur auf Antrag erfolgen; über
die Aktivlegitimation zur Stellung eines ſolchen Antrages gelten
dieſelben Regeln wie über die Aktivlegitimation zur Erhebung des
Einſpruchs gegen die Patent-Ertheilung 2). An eine beſtimmte Friſt
iſt der Antrag nicht geknüpft; er iſt ſchriftlich an das Patentamt
zu richten und muß die Thatſachen enthalten, auf welche er geſtützt
wird. Eine Zurückweiſung des Antrages a limine wegen Unzuläſ-
ſigkeit oder unzulänglicher Begründung iſt unſtatthaft 3); das Pa-
tentamt muß die Einleitung des Verfahrens verfügen und den Pa-
tentinhaber unter Mittheilung des Antrages auffordern, ſich über
denſelben binnen vier Wochen zu erklären 4).
Unterläßt der Patentinhaber die Erklärung, ſo kann das Pa-
tentamt ohne Ladung und Anhörung der Betheiligten ſofort nach
dem Antrage entſcheiden und dabei die von dem Antragſteller be-
haupteten Thatſachen für erwieſen annehmen 5); das Patentamt
kann aber auch, bevor es entſcheidet, noch weitere Ermittelungen
zur Aufhellung des Sachverhaltes veranlaſſen. Wenn der Patent-
inhaber rechtzeitig widerſpricht, ſo findet ein contradiktoriſches Ver-
fahren ſtatt, auf welches die Vorſchriften der Civilprozeß-Ordnung
entſprechende Anwendung finden 6). Die Gerichte ſind verpflichtet,
dem Patentamte Rechtshülfe zu leiſten 7). Die Entſcheidung erfolgt
nach Ladung und Anhörung der Betheiligten 8); in derſelben wird
zugleich nach freiem Ermeſſen des Patentamtes beſtimmt, zu wel-
chem Antheil die Koſten des Verfahrens den Betheiligten zur Laſt
fallen 9). Zur Beſchlußfaſſung und Entſcheidung iſt zuſtändig die
Abtheilung VII. des Patentamtes; über Beſchwerden gegen Be-
ſchlüſſe derſelben entſcheiden diejenigen beiden Abtheilungen ge-
meinſam, welche über die Ertheilung von Patenten aus demjenigen
[487]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
Gebiete der Technik, welchem das angefochtene Patent angehört,
zu entſcheiden haben 1).
Gegen die Entſcheidung des Patentamtes iſt die Berufung
an das Reichs-Oberhandelsgericht zuläſſig; ſie iſt binnen
ſechs Wochen nach der Zuſtellung bei dem Patentamte ſchriftlich
anzumelden und zu begründen 2). Ueber das Verfahren vor dem
Gerichtshofe ſoll ein Regulativ die näheren Beſtimmungen enthal-
ten; daſſelbe iſt von dem Gerichtshofe zu entwerfen und durch eine
vom Kaiſer unter Zuſtimmung des Bundesrathes zu erlaſſende
Verordnung feſtzuſtellen 3).
c) Das Patent kann zurückgenommen werden, wenn drei
Jahre ſeit Ertheilung deſſelben verfloſſen ſind und der Patentinhaber
es unterläßt, im Inlande die Erfindung in angemeſſenem Umfange
zur Ausführung zu bringen oder doch Alles zu thun, was erfor-
derlich iſt, um dieſe Ausführung zu ſichern 4). Dem durch das
Patent gewährten Monopol entſpricht die Verpflichtung, ſoweit die
Verwerthung der patentirten Erfindung einem Bedürfniß der In-
duſtrie entſpricht, von dem verliehenen Rechte auch thatſächlich Ge-
brauch zu machen. Darnach ergiebt ſich, was unter einem „ange-
meſſenen Umfange“ zu verſtehen iſt; der Patentinhaber ſoll nicht
in der Lage ſein, nachdem Andere von der Ausbeutung der von
ihm angemeldeten Erfindung ausgeſchloſſen ſind, die Benutzung die-
ſer Erfindung für die inländiſche Induſtrie ganz unmöglich zu
machen oder zu [verkümmern]5).
Die Zurücknahme des Patentes kann ferner nach Ablauf von
drei Jahren erfolgen, wenn im öffentlichen Intereſſe die
Ertheilung der Erlaubniß zur Benutzung der Erfindung an Andere
[488]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
geboten erſcheint, der Patentinhaber aber gleichwohl ſich weigert,
dieſe Erlaubniß gegen angemeſſene Vergütung und ge-
nügende Sicherſtellung zu ertheilen 1). Die Frage, ob ein öffent-
liches Intereſſe vorhanden ſei, welches die Mitbenutzung der paten-
tirten Erfindung durch einen Andern als geboten erſcheinen läßt,
und ob derjenige, der dieſe Mitbenutzung in Anſpruch nimmt, dem
Patentinhaber eine Vergütung und Sicherſtellung angeboten habe,
welche für angemeſſen und genügend zu erachten iſt, hat das Pa-
tentamt nach ſeinem Ermeſſen zu entſcheiden 2); bevor aber aus
dieſem Grunde die Zurücknahme des Patentes erfolgen kann, muß
das Patentamt dieſelbe dem Patentinhaber unter Angabe von
Gründen und unter Feſtſetzung einer angemeſſenen Friſt androhen 3).
Die Zurücknahme kann nur auf Antrag erfolgen. Ueber den
Antrag, über das von dem Patentamt zu beobachtende Verfahren
und über die Berufung gegen die Entſcheidung des Patentamtes
an das Reichs-Oberhandelsgericht gelten dieſelben Regeln, welche
bei der Nichtigkeits-Erklärung eines Patentes Anwendung finden.
d) Der Patentſchutz kann beſchränkt reſp. aufgehoben
werden, wenn die Erfindung für das Heer oder für die Flotte oder
ſonſt im Intereſſe der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden ſoll.
Dieſer Fall iſt nach ſeiner juriſtiſchen Natur eine Art von Expro-
priation 4) und entſpricht der Ablöſung von Gewerbe-Privilegien
und anderen Unterſagungs-Rechten.
Der Patentinhaber muß ſich die Einſchränkung oder Aufhebung
ſeines Monopols zwar wider ſeinen Willen gefallen laſſen; er
hat aber Anſpruch auf angemeſſene Vergütung gegenüber dem
Reiche oder dem Staate, welcher in ſeinem beſonderen Intereſſe
die Beſchränkung des Patentes beantragt hat. Ueber die Frage,
ob ein Intereſſe des Heeres, der Flotte oder der öffentlichen Wohl-
fahrt vorhanden iſt, ſowie über den Umfang, in welchem der Pa-
tentſchutz zu beſchränken oder aufzuheben iſt, entſcheidet ausſchließ-
[489]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
lich der Reichskanzler; weder ein Verfahren vor dem Patent-
amt noch ein Verfahren im Rechtswege iſt darüber zuläſſig. Da-
gegen iſt die Höhe der Entſchädigung des Patentinhabers in Er-
mangelung einer Verſtändigung im Rechtswege, d. h. im Wege des
Civilprozeſſes feſtzuſetzen 1).
Dieſe Grundſätze finden nicht nur Anwendung, wenn das Pa-
tent bereits ertheilt iſt, ſondern auch in dem Verfahren behufs Er-
langung eines Patentes.
7. Simulirung des Patentſchutzes. Da die Verlei-
hung eines Patentes eine eingreifende Beſchränkung der Gewerbe-
freiheit enthält, deren Verletzung ſchwere ſtrafrechtliche und civil-
rechtliche Folgen nach ſich zieht, ſo iſt die Irreführung des
Publikums über das Vorhandenſein eines Patentſchutzes, während
in Wahrheit ein ſolcher nicht ertheilt iſt, unter Strafe geſtellt.
Das Patentgeſetz §. 40 hat demgemäß mit Geldſtrafe bis 150 Mk.
oder mit Haft denjenigen bedroht, welcher Gegenſtände oder deren
Verpackung mit einer Bezeichnung verſieht, welche geeignet iſt, den
Irrthum zu erregen, daß die Gegenſtände durch ein Patent nach
Maßgabe dieſes Geſetzes 2) geſchützt ſeien, oder welcher eine ſolche
Bezeichnung in öffentlichen Anzeigen, auf Aushängeſchildern, auf
Empfehlungskarten oder in ähnlichen Kundgebungen anwendet.
8. Landespatente. Seit dem Inkrafttreten des Patent-
geſetzes (1. Juli 1877) ſind die deutſchen Einzelſtaaten nicht mehr
befugt, Patente zu ertheilen oder die Dauer ertheilter Patente zu
verlängern. Dagegen ſind die vorher verliehenen Patente in Kraft
geblieben 3). Ihre Wirkung normirt ſich nach den Beſtimmungen,
auf Grund deren ſie ertheilt worden ſind. Prinzipiell begründen
ſie daher ein ausſchließliches Recht zur Ausbeutung einer gewerblichen
Erfindung nur für das Gebiet desjenigen Staates, welcher ſie er-
theilt hat, inſofern nicht durch Verträge unter den deutſchen Staaten
die gegenſeitige Anerkennung der Patente vereinbart iſt 4). Ebenſo
31*
[490]§. 76. Die Verwaltung des Gewerbeweſens.
richten ſich die ſtrafrechtlichen und civilrechtlichen Folgen der Pa-
tentverletzung nach den landesgeſetzlichen Vorſchriften. Endlich ſind
die in den Einzelſtaaten beſtehenden Beſtimmungen maßgebend für
das Erlöſchen, die Aufhebung oder Beſchränkung des Patentrechtes.
Das Reichsgeſetz hat indeß die Umwandlung der beſtehenden
Landespatente in Reichspatente geſtattet und dabei die für die
Ertheilung eines Reichspatentes aufgeſtellten Erforderniſſe inſofern
modifizirt, als bei Prüfung der Neuheit der Erfindung derjenige
Zeitpunkt in Betracht gezogen werden ſoll, in welchem ſie im In-
lande zuerſt einen Schutz erlangte 1). Für die Dauer eines ſolchen
Reichspatentes und für die Berechnung des Fälligkeitstages und
des Jahresbetrages der Gebühren wird die Zeit in Anrechnung
gebracht, während deren die Erfindung nach dem älteſten der be-
ſtehenden Patente im Inlande bereits geſchützt geweſen iſt 2).
[[491]]
Appendix A Berichtigungen.
- S. 18 Z. 2 iſt anſtatt „Tribunal“ zu leſen „Tribunat“
- S. 19 Note 1 „ „ „Tribunals“ „ „ „Tribunats“
- S. 90 Note 3 „ „ „§. 74“ „ „ „§. 75“
[][][][]
gleichbedeutend mit „Rechtsnorm“ verwendet, ſo daß er auch das Gewohnheits-
recht mit einſchließt. Es beruht dies auf der ſehr untergeordneten Bedeutung,
welche bei den ſtaatlichen Zuſtänden der Gegenwart dem Gewohnheitsrecht im
Verhältniß zum Geſetzesrechte zukömmt. In dieſem weiteſten Sinne wird das
Wort „Geſetz“ erklärt in den Einführungs-Geſetzen zur Strafproceß-
Ordn. §. 7, zur Civilproc.-Ordn. §. 12, zur Konkurs-Ordn. §. 2.
Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl, Staatsr. II. §. 430. v. Rönne,
Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172.
hältniſſes durch Geſetz der Begründung des Rechtsverhältniſſes durch Rechts-
geſchäft ſehr nahe kommen, grade ſo, wie bei dem ſogen. Herkommen es oft
ſchwer zu unterſcheiden iſt, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält-
niſſes durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines
Rechtsverhältniſſes durch Erſitzung, alſo mit objectivem oder ſubjectivem
Recht, zu thun hat. Man muß aber feſthalten, daß an und für ſich Beides
möglich iſt.
vgl. v. Savigny, Syſtem I. S. 62, von Wächter, Würtb. Privatr. II. 1.
S. 16.
ſchrift f. Staatswiſſenſch. 1871 S. 430 fg. (Auch in ſeinen geſammelten Juriſt.
Abhandlungen S. 470 fg.)
— wie ich glaube, mit Unrecht — für ſeine Anſicht beruft.
1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R.G.-Bl. S. 15. 23.).
11. Juni 1870 (B.G.-Bl. S. 416); inſofern es Mecklenburg-Schwerin und An-
halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es
zugleich ſubjective Rechte dieſer Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererſeits
enthält das Geſ. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1
ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf.-Geſ. zum Gerichts-
verfaſſungsgeſ. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelſtaaten zur Errichtung eines
oberſten Landesgerichtes dem Königreich Sachſen entzieht.
tis hoc, Quirites, rogo. — Gaius I. §. 3 definirt: Lex est quod populus
iubet atque constituit; plebiscitum est quod plebs iubet atque con-
stituit.
quelle finden ſich bei von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik II. S. 380 ff.
Vgl. auch Jordan, Lehrb. des Staatsrechts §. 186. 213. (S. 341 fg.)
welche weder logiſch haltbar noch praktiſch durchführbar iſt, kann hier unter-
bleiben, da in der deutſchen, politiſchen und ſtaatsrechtlichen Literatur über die
Verwerflichkeit dieſer Theorie ſeit langer Zeit faſt vollkommenes Einverſtändniß
beſteht. Vergl. v. Mohl, Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaft I.
S. 280—282. Eine Ausnahme macht neuerdings Weſterkamp, Ueber die
Reichsverf. S. 89 ff., der ſich wieder für dieſe Lehre erwärmt.
des Feudalweſens erwachſene ſtändiſche Staat hat bekanntlich die geſetzgebende
Gewalt des Staates nur ſehr unvollkommen entwickelt und an ihre Stelle eine
vertragsmäßige Vereinbarung über die Befolgung gewiſſer Rechtsnormen ge-
ſetzt. Anſchauungen dieſer Art wirkten noch lange nach, auch nachdem der
moderne organiſche Staatsbegriff bereits ausgebildet war.
roy le veult« erklären ſich daraus, daß in früherer Zeit alle Bills des Par-
lamentes die Form von Petitionen an die Krone hatten. Vgl. May,
Das engliſche Parlament und ſein Verfahren (überſ. v. Oppenheim) S. 378 fg.
Cox, die Staatseinrichtungen Englands (überſetzt von Kühne) S. 14. 42.
ſten Grotefend, Staatsr. §. 621 S. 634: „Die Entſchließungen ſowohl des
Souverains und des Landtages als auch jeder der beiden Kammern dieſes
letzteren ſtehen ſich hinſichtlich der rechtlichen Bedeutung völlig gleich“. Auch
Bluntſchli ſagt noch in der 5ten Aufl. ſeines Allgemeinen Staatsr. (1876)
S. 132 ausdrücklich: „Was die Abſtimmung durch die Kammern, iſt die Sanc-
tion des Hauptes.“
Klüber, Oeffentl. R. §. 295 Note a). Zöpfl, Grundſ. des Staatsr. II.
§. 373 Nr. IV. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. §. 46 (S. 175). Weiß,
Staatsr. §. 309 ſpricht ſogar von einem wechſelſeitigen Veto der Regie-
rung und der Stände; ebenſo Weſterkamp S. 95 fg. von einem wechſel-
ſeitigen Veto des Reichstages und des Bundesrathes hinſichtlich der Reichs-
geſetze.
ZachariäII. S. 163 und Bluntſchli a. a. O. S. 433.
Gewalt ſei ein Ausfluß der Staatsgewalt und ſtehe daher dem Könige, als
dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176
aber heißt es, die geſetzgebende Gewalt ſtehe dem Könige und den bei-
den Kammern gemeinſchaftlich zu und es wird daraus ſogar de-
ducirt, daß es nicht einmal möglich ſei, die Ausübung der Geſetzgebungsgewalt
dem Könige zu delegiren.
und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8).
ſetz ganz richtig als »une règle établie par une autorité à laquelle on est
tenu d’obéir.«
1654. Während des Regensburger permanenten Reichstages kam ein eigent-
liches Reichsgeſetz nicht mehr zu Stande. Alle Anordnungen des Reiches be-
ſtanden vielmehr formell aus zwei getrennten Akten, dem übereinſtimmenden
Beſchluß der drei Collegien des Reichstages (Commune trium oder Reichs-
gutachten), welches vom Kurfürſten von Mainz als Reichs-Erzkanzler ausge-
fertigt und dem Kaiſer überſendet wurde, und der kaiſerlichen Ratifikations-
Urkunde (Commiſſionsdekret oder Hofdekret). Vrgl. Pütter, elementa iuris
publ. Germanici I. §. 226 sq., woſelbſt zugleich Beiſpiele mitgetheilt ſind.
Häberlin, Handbuch des Teutſchen Staatsr. I. §. 154 ff. (S. 515—526).
Gönner, Teutſches Staatsr. §. 188. 189. Um die Geſetzgebungsformen des
Deutſchen Reiches zu ermitteln, muß man daher in die Zeit vor 1654 zurück-
gedruckte Schrift: „Ausführlicher Bericht, wie es auf Reichstägen pflegt ge-
halten zu werden“, beſonders Cap. 13. (Sie ſteht bei Goldaſt, Reichshän-
del. P. XXII). Vrgl. ferner Limnäus, Jus public. T. III. Lib. IX. c. 1.
nro. 192 sq. Pfeffinger, Vitriar. illustr. Tom. IV. Lib. IV. cap. 1.
nr. 83 sq. und am ausführlichſten Moſer, Teutſches Staatsr. Bd. 50 S. 253 ff.,
woſelbſt umfaſſende Auszüge aus den älteren Schriften gegeben ſind.
behörden und an die Kreis-Ausſchreibe-Aemter und Stände nannte man aller-
dings auch Publikation, gewöhnlich aber Inſinuation oder Intimation. Die
Art und Weiſe der Bekanntmachung war eine ſehr ungeregelte. Moſer,
Teutſches Staatsr. Bd. 50 S. 50 ff. Vrgl. auch Güterbock, Entſtehungs-
geſchichte der Carolina (1876) S. 199 fg.
von der Krone verworfen wurde, ereignete ſich im Jahre 1707. Auch vorher
waren Fälle dieſer Art höchſt ſelten. Die Verpflichtung des Königs wird theils
aus dem von ihm geleiſteten Eid, theils aus der Stellung der dem Parla-
mente verantwortlichen Miniſter, auf deren Rath der König ſeine Regierungs-
handlungen vornimmt, hergeleitet. Vgl. Cox, Staatseinrichtungen Englands
S. 43 fg. May, das engl. Parlament S. 422 und beſonders Blackstone,
Commentaries I. chap. 2. (15. Engl. Ausgabe. London 1809. Vol. I. p. 183 ff.
Franzöſ. Ueberſ. von Chompré I. pag. 350 ff.)
Daſelbſt findet ſich S. 283—295 eine genaue Beſchreibung aller Vorgänge bei
der „Publikation“ des Reichs-Abſchiedes von 1654.
S. 378—430, beſonders S. 425 fg.
Locré, La Législation de la France I. p. 569 sq.
lung das Geſetz beſchloſſen und der König daſſelbe genehmigt habe. Die in
dem Geſetz vom 9. Nov. 1789 vorgeſchriebene Formel lautet: Louis, par la
Grâce de Dieu .... L’Assemblée nationale a décrété et nous
voulons et ordonnons ce qui suit: … Mandons et ordonnons à
tous les tribunaux, corps administratifs et municipalités, que les présentes
ils fassent transcrire sur leurs régistres, lire, publier et afficher dans leurs
ressorts et départements respectifs.
des Lois. Paris 1839. S. 205. 206.
Januar 1800) führt aus, daß die Promulgation der Geſetze nicht dem pouvoir
législatif, ſondern dem pouvoir exécutif zuſtehe und fügt hinzu: »Il faut
bien se garder de confondre cette promulgation avec la sanction, que le
Roi constitutionel avait en 1791 ou avec l’acceptation que le Conseil des
Anciens avait par la Constitut. de l’an III. Cette sanction et cette ac-
ceptation étaient parties nécessaires de la formation de la loi et ne res-
semblaient en rien à sa promulgation.« Locré a. a. O. I. p. 623 sq.
gislatif v. 23 Frimaire des Jahres X. (14. Dezbr. 1801) geltend: »La pro-
mulgation n’est en aucune manière un acte législatif; elle n’a pour objet
que de certifier la loi et déclarer, qu’elle n’a point été attaquée pour
cause d’inconstitutionalité.« (Locré I. S. 438.) Der Redner des Tri-
bunals Favard charakteriſirte das Weſen der Promulgation, indem er ſagte:
»La promulgation n’est autre chose que le cachet du gouvernement,
qui atteste, que la loi qui est presentée aux citoyens a reçu tous les
caractères qui la constituent loi, et n’a point été dénoncée au Sénat Con-
servateur pour cause d’inconstitutionalité.« (Locré I. S. 534.)
König die Sanction ertheilt, »en faisant inscrire sur la minute, que ladite
loi disputée, deliberée et adoptée par les deux chambres, sera publiée et
enregistrée pour être exécutée comme loi de l’État.« Vrgl. die entſpre-
chende Beſtimmung des Geſ. v. 9. Nov. 1789 oben S. 17 Note 2.
(Paris 1876) p. 337 ff. 344. Geſetz vom 18. Juli 1875 Art. 7. Decret vom
6. April 1876.
Art. Loi §. IV. (T. XVIII. p. 387 sqq.)
125. »La promulgation est l’acte par lequel le Chef de l’Etat atteste
l’existence de la loi et la publication est le mode employé pour
faire parvenir la loi à la connaissance des citoyens.« Uebereinſtimmend:
Ph. Vallette et Benat St.-Marsy, Traité de la confection des
Lois (1839) p. 211. Batbie, Traité de droit publ. III. p. 439 (Paris
1862). Ducrocq, Cours de droit administratif I. nr. 20. A. Valette,
Cours de Code civil. Paris 1872. I. S. 19. Aehnlich auch Laferrière,
Cours de droit publ. et administratif. (5. Ausg. Paris 1860) I. S. 114.
»La promulgation est l’édition solennelle de la loi, le moyen de constater
son existence et de lier le peuple à son observation.«
législatif ci-dessus sera publié, exécuté«, etc.
nr. 44 ff. Berriat-St. Prix, Théorie de droit Constit. franç. S. 502 ff.
Aubry et Rau, Cours de droit civil français (4. Ausg.) I. § 26. S. 48 ff.
Laurent, Principes de droit civil (Brüſſel 1869) I. S. 57 ff. Der Zu-
ſammenhang zwiſchen Ausfertigung und Verkündigungsbefehl wird angedeutet
von Demante, Cours analytique de Code civ. (1849) I. p. 33.
in ſehr verſchiedenem Sinne verwendet. Die überwiegende Mehrzahl der
Schriftſteller gebraucht daſſelbe als ganz gleichbedeutend mit Publikation. Ebenſo
ſtimmung mit dem herrſchenden Sprachgebrauch Promulgation für gleichbedeu-
tend mit Publikation; bemerkt aber, daß im franzöſiſchen Recht eine von
der Publikation verſchiedene Promulgation des Geſetzes „eine nicht ganz un-
angemeſſene Bedeutung“ habe. Vgl. auch Pfaff und Hofmann, Com-
mentar zum öſterr. bürgerl. Geſetzb. I. S. 135 Note 44.
§. 373 Note 1. Bisweilen bezeichnet man aber damit den Entſtehungsprozeß,
die verfaſſungsmäßige Zuſtandebringung eines Geſetzes. Vgl. z. B. v. Rönne,
Preuß. Staatsr. I. 1 S. 199 Note 2. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 223.
Grotefend, S. 534 Note 1. v. Held, Syſtem des Verfaſſungsr. II.
S. 93. Noch Andere verſtehen darunter „den Befehl, das Geſetz zu befolgen“,
z. B. Jordan, Verſuche über Staatsr. S. 538 fg. Linde im civil. Archiv
Bd. 16 S. 331. Weiß, Syſtem des Staatsr. S. 658. Einige erklären
Promulgation für gleichbedeutend mit Sanction, z. B. Puchta, Vorleſungen
§. 14. Reyſcher, Württemb. Privatr. I. §. 67. S. 107.
geſchrieben ſein, daß ein Geſetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag
zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden
müſſe. Vrgl. über eine derartige Vorſchrift der Württemb. Verf. v. Mohl,
Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes-
Ausſchuſſes von Elſaß-Lothringen unten §. 62.
laufe der Diskuſſion eines auf die Tagesordnung geſetzten Gegenſtandes ent-
wickeln, ſind von dem Bevollmächtigten dem Reichskanzler ſchriftlich zu über-
geben und werden von dieſem auf die Tagesordnung der nächſten Sitzung
gebracht oder, wenn ſie ſich auf eine, bereits einem Ausſchuß überwieſene Vor-
lage beziehen, dieſem Ausſchuß vorgelegt.“ Geſchäfts-Ordnung des
Bundesrathes §. 8. Vgl. Bd. I. S. 276.
Abſ. 2.
nimmt an, daß auch der Bundesrath nicht berechtigt ſei, Geſetze außerhalb der
Kompetenz des Reiches vorzuſchlagen.
160. 256 und bei Koller, Verfaſſung des Deutſchen Reichs S. 93 ff.
S. 215. Auerbach S. 57. Beſeler in den Preuß. Jahrb. Bd. 28 (1871).
S. 192. v. Rönne a. a. O. S. 266. 267. Note 5. Vgl. auch deſſen Preuß.
Staatsr. I. 1. §. 22 (S. 87). Hänel, Studien I. S. 256 Note 7 erklärt
dieſe Anſicht für „ganz unhaltbar“.
Hänel a. a. O. Die richtige Anſicht iſt auch im Verfaſſungberathenden
Reichstage vom Bundes-Kommiſſ. Hofmann entwickelt worden. (Stenogr.
Berichte S. 319 Sp. 2.). Vgl. auch HierſemenzelI. S. 35 und Bähr
in den Preuß. Jahrd. Bd. XXVIII. (1871) S. 80.
langenden Geſetzesvorſchlag, ohne ſich auf eine ſachliche Prüfung ſeiner Be-
ſtimmungen einzulaſſen, unter Berufung auf Art. 23 aus dem formellen Grunde
zurückweiſen, weil dieſer Vorſchlag ſich nicht innerhalb der Reichscompetenz
halte. Allein da der Bundesrath überhaupt Gründe nicht anzugeben verpflichtet
iſt, wenn er einem Geſetzes-Vorſchlag des Reichstages ſeine Zuſtimmung ver-
ſagt, ſo unterſcheidet ſich rechtlich eine ſolche Zurückweiſung in Nichts von einer
Verwerfung des Vorſchlages.
Ordnung §. 50 Abſ. 4.
wichtigen Geſetzes-Entwürfen von Seiten des Bundesrathes während der Ver-
handlungen des Reichstages, namentlich nach den bei der zweiten Bera-
thung gefaßten Beſchlüſſen, im Reichstage eine Erklärung darüber abgegeben
wird, welchen Beſchlüſſen des Reichstages der Bundesrath ſich anſchließen,
welchen er ſeine Zuſtimmung verſagen wolle. Eine formelle Rechtswirkung iſt
mit einer ſolchen Erklärung nicht verbunden; es bleibt insbeſondere dem Bun-
desrathe unbenommen, nachträglich doch noch den Wünſchen des Reichstages
nachzugeben.
ein, daß dem Kaiſer die Sanction der Geſetze nicht zuſteht. Vgl. Thudichum,
Verf.-R. S. 88. Meyer, Grundzüge S. 67. 69. HierſemenzelI.
S. 70. 71. Riedel S. 22. 25. v. Held S. 106. v. Mohl S. 290.
Seydel, Kommentar S. 124. v. Gerber S. 246. Auch v. Rönne
(2. Aufl.) I. S. 230 iſt derſelben Anſicht; jedoch verbindet er damit das Miß-
verſtändniß, daß in den Fällen des Art. 5 Abſ. 2 der R.-V. der Kaiſer „das
Recht der Sanction beſitzt“ (!) und er in den übrigen Fällen nicht berechtigt
ſei, „die Sanction zu verweigern.“
Elſaß-Lothringen mit dem deutſchen Reich erklärte Miniſter v. Mittnacht
in der Reichstagskommiſſion: „Der Kaiſer ſei im Reiche kein ſelbſtſtändiger
Faktor der Geſetzgebung, ſondern nur das einflußreichſte Mitglied der Geſammt-
heit. … Der Kaiſer habe auch in der Reichsverfaſſung eine einflußreiche
Stellung, obgleich die oberſte Gewalt, die Geſetzgebung, föderativ gedacht
ſei.“ Kommiſſionsbericht v. 16. Mai 1871. Druckſachen I. Seſſ. 1871. Bd. II.
Nro. 133. S. 17. (Auch abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871.)
wonach der Bundesrath beſchließt: „über die dem Reichstage zu machenden
Vorlagen und die von demſelben gefaßten Beſchlüſſe.“ Es ge-
nügt daher nicht, den vom Reichstag gefaßten Beſchluß nur zur Kenntniß
des Bundesraths zu bringen.
geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein „Theil des Geſetzes“ ſei,
vgl. auch deſſen Staatsrecht des deutſchen Reichs II. 1 S. 16 — iſt lediglich
eine verſteckte petitio principii.
Geſetzvorſchlag eine Veränderung der Verfaſſung enthält oder nicht, erfolgt
durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel, S. 259. v. Rönne,
II. 1. S. 35.
S. 617 fg.
rechtliche Bedeutung verfaſſungswidriger Geſetze enthält v. Mohl’s Staatsr.
Völkerr. und Politik. Bd. I. S. 66 ff.
jahung erklären ſich: HierſemenzelI. S. 35. 214. Beſeler in den
Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der
Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer,
Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Weſterkamp, S. 133 u. be-
ſonders v. Rönne, Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver-
neinung haben ſich ausgeſprochen O. Bähr, in den Preuß. Jahrb. 1871
Bd. 28 S. 79, beſonders Hänel, Studien I. S. 258.
faſſungsurkunde zu ſtützen pflegt, nämlich, daß ſie „feierlich verbrieft“, „mit
der Volksvertretung vereinbart“ ſei und dgl., kommen ebenſo allen anderen
Geſetzen zu.
ſterkamp, S. 196 ff. u. v. a.
Stenogr. Berichte S. 59.
verhältniſſe der zum dienſtlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung beſtimmten
Gegenſtände iſt nach der Anſicht von Seydel (in Behrend’s Zeitſchrift f. die
Deutſche Geſetzgebung Bd. VII. S. 234) außerhalb der verfaſſungsmäßigen
Reichscompetenz erlaſſen.
84 und Weſterkamp S. 135. Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Hänel
S. 255 Note 6. Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen
v. Mohl’s S. 158.
ſicht iſt, die Verfaſſungs-Grundſätze durch Spezialgeſetze zu durchbrechen, ohne
den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde entſprechend abzuändern.
mulgationsformel: „nach erfolgter verfaſſungsmäßiger Zuſtimmung des
Bundesrathes und Reichstages.“ Es ſollte dadurch angedeutet werden, daß
die Abſtimmung im Bundesrathe gemäß Art. 78 der R.-V. erfolgt iſt. Bei
den ſpäteren, die Reichsverfaſſung abändernden Geſetzen hat man dieſen Zu-
ſatz in den Eingangsworten jedoch wieder fortgelaſſen und zwar mit Recht;
denn die Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages muß bei allen
Geſetzen, mögen ſie die Verfaſſung abändern oder nicht, verfaſſungs-
mäßig erfolgen.
Kaiſer die Ausfertigung „verfaſſungswidriger“ Geſetze „nicht zugemuthet“
werden könne; er unterſcheidet aber nicht zwiſchen Ausfertigung und Sanktion.
S. 94. Hierſemenzel, I. S. 70. Meyer, Grundz. S. 70. Riedel,
S. 108. Seydel, Commentar S. 124. Weſterkamp, S. 130 fg.
v. Pözl, S. 111. v. Rönne, I. S. 230. Nur v. Martitz, S. 53 Anm.
45 vertritt die entgegengeſetzte Anſicht, indem er irriger Weiſe die Stellung
des Kaiſers im Reich mit der des Königs von Preußen identifizirt.
rechts und Privatrechts zuſammengeſtellt und ſoll deshalb hier nicht von Neuem
aufgeführt werden. Die vollſtändigſte Darſtellung der Dogmengeſchichte gibt
die Abhandlung von Biſchof in der Zeitſchrift f. Civilr. n. Proceß (Gießen
1859) Bd. XVI. S. 245 ff. 385 ff.; ſeit dem Erſcheinen dieſer Schrift iſt die
Literatur aber noch ſehr erheblich angewachſen. — Hervorgehoben muß werden,
daß die Erörterungen oben im Texte ſich nur auf die Reichsgeſetze beziehen,
alſo nicht auf Verordnungen des Reiches, von denen unten §. 59 die Rede
ſein wird.
Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht S. 133 Note 2 hervorgehoben.
daß wenn der „einfache Bürger“ einem von ihm für verfaſſungswidrig gehal-
tenen Geſetze den Gehorſam verweigert, dies nur als ein „erfreuliches Zeichen
ſtaatlicher Durchbildung und männlicher Geſinnung betrachtet werden könne.“
„Faſt möchte man ſo weit gehen, zu behaupten, daß ſelbſt ein Mißgriff
von Seiten eines Bürgers nicht viel weniger erfreulich ſei (!), indem einer-
ſeits die Geſinnung ſich als die nämliche erweiſe, auf der andern Seite die
Staatsgewalt durch Aufrechterhaltung ihres Rechtes, zum mindeſten geſagt,
nichts verliere.“ Wie aber, wenn einige Millionen einfacher Bürger einen
ſolchen „erfreulichen“ Mißgriff thun und dem Geſetz den Gehorſam verſagen?
Oder wenn der einfache Bürger ein ordnungsmäßig verkündetes Geſetz befolgt
und nachher, durch Richterſpruch über die Verfaſſungswidrigkeit des Geſetzes
belehrt, zu ſpät zu ſeinem Schaden erkennt, daß es ihm an „ſtaatlicher Durch-
bildung und männlicher Geſinnung“ fehlt?
v. Gerber, Grundzüge §. 49 S. 155 fg. Planck, in Ihering’s Jahr-
büchern Bd. IX. S. 370. Schulze, Preuß. Staatsrecht II. S. 243 fg.
Hänel, Studien I. S. 264.
ſichtlich des Bundesrathes ſich mit der in der Promulgationsformel enthaltenen
Beſcheinigung begnügen müſſe, hinſichtlich des Reichstages dagegen ein Prü-
fungsrecht habe, — was ganz prinziplos iſt.
kann man aus folgendem Beiſpiel erſehen. Wenn ein Gericht die gewiß nicht
unbegründete Anſicht hat, daß die Errichtung des Reichs-Oberhandelsgerichts
außerhalb der in der Nordd. Bundesverfaſſung begrenzten Kompetenz lag,
wenn daſſelbe Gericht der von vielen Staatsrechtslehrern aufgeſtellten Theorie
S. 25. Hänel, Studien I. S. 263. 264. v. Rönne, II. 1. S. 61.
Verkündigung der Reichsgeſetze wird in der Literatur des Reichsſtaatsrechts
faſt nirgends erörtert. Nur Seydel, Kommentar S. 124 fg. geht auf die-
ſelbe ein; er findet darin aber nur ein „Ehrenrecht“ des Kaiſers, „eine blos
formelle, keine materielle Befugniß.“
der Verfaſſung widerſpricht, zu erlaſſen, ſo lange der Wortlaut der Verfaſ-
ſungs-Urkunde nicht entſprechend abgeändert worden iſt, wenn endlich dieſes
Gericht ſich die Befugniß und Pflicht beilegt, die Verfaſſungsmäßigkeit gehörig
verkündeter Geſetze zu unterſuchen und verfaſſungswidrig erlaſſene, wenngleich
ordnungsmäßig verkündete Geſetze als rechtsungültig zu behandeln: ſo müßte
dieſes Gericht die ganze Einrichtung des oberſten Reichsgerichts für verfaſ-
ſungswidrig erachten, deſſen Urtheile als null und nichtig erklären, ihnen die
Vollſtreckung verſagen u. dergl. Die drei hier vorausgeſetzten Vorderſätze
finden ſich z. B. bei v. Rönne, Staatsrecht des D. R. II. 1. S. 32. 34
Note 1. 62.
Sanktion zuſammen; indem der König das Original des Geſetzes unterſchreibt,
ſanctionirt und beurkundet er es zugleich. Die Verfaſſungs-Urkunden der
Einzelſtaaten erwähnen daher die Ausfertigung der Geſetze als eines beſon-
deren Aktes nicht.
miſchen Republik vgl. v. Ihering, Geiſt d. Röm. R. III. 1. §. 55 S. 229 ff.
(3. Aufl. 1877.)
daß eine Anordnung im Reichsgeſetzblatt als „Geſetz“ bezeichnet ſei, aber weder,
daß die Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages darin erwähnt
ſei, noch daß dieſe Zuſtimmung wirklich ertheilt ſei. Das letztere ſtellt aber
Art. 5 der Reichs-Verf. als Erforderniß eines Geſetzes hin. Es muß daher
entweder — wie die herrſchende Anſicht will — in jedem einzelnen
Falle vom Richter unterſucht werden, ob dieſem Erforderniß genügt iſt, oder
es muß — wie hier ausgeführt worden iſt — das Vorhandenſein dieſes Er-
forderniſſes allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung con-
ſtatirt ſein.
Studien I. S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht
der Verfaſſungsmäßigkeit der Reichsgeſetze einen indirekten Rechtsſchutz
des Einzelſtaates gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in ſeine
Rechts-Ordnung. Die Einzelſtaaten würden um denſelben nicht zu beneiden
ſein; denn ſie könnten in die eigenthümliche Lage kommen, daß der Bundes-
rath von ihnen die Durchführung eines Reichsgeſetzes verlangt und ſie mit
Bundesexekution bedroht, während die Gerichtshöfe daſſelbe Reichsgeſetz
für nicht nach Maßgabe der Reichsverfaſſung erlaſſen und deshalb für unan-
wendbar und nichtig erklären.
§. 11 entwickelte Theorie der jura singulorum erhoben worden ſind; insbe-
ſondere von Löning in Hirth’s Annalen. 1875 S. 359 fg. und v. Mar-
titz in der Tübinger Zeitſchrift f. Staatswiſſenſch. 1876 S. 570 ff. Die jura
singulorum ſind objective Schranken für die Reichsgeſetzgebung, durch deren
Nichtbeachtung das Reich materiell Unrecht begehen würde; aber der Einzel-
ſtaat hat nicht die Befugniß, durch die einſeitige Behauptung, daß ein ſolches
Unrecht gegen ihn verübt worden iſt, ſich dem Gehorſam gegen eine Anord-
nung des Reiches zu entziehen, welche formell die Kraft eines Reichsgeſetzes
erlangt hat.
Zeitpunktes gewartet werden ſoll. In dieſer Hinſicht iſt ein Beſchluß des
Bundesraths v. 5. April 1876 anzuführen. Der Bundesrath ſanctionirte
das Geſ. betreffend die Abänderung des Tit. VIII. der Gewerbe-Ordn., ſowie
das Geſ. über die eingeſchriebenen Hülfskaſſen mit der Maßgabe, daß das
letztere Geſetz bei der Verkündigung dem erſteren vorangehe. Es ſollte
nämlich das Datum jenes Geſetzes in dieſem (§ 141) eingefügt werden. Protok.
des Bundesr. 1876 § 152. S. 109.
gebungsrecht verſchiedenes Reichsgeſetzgebungsrecht ganz leugnet und das Reichs-
geſetz als „gleichmäßiges Landesgeſetz aller Bundesſtaaten“ definirt.
S. 187. Die meiſten Geſetzſammlungen der Einzelſtaaten enthalten ſich mit
Recht jeder Reproduction des Inhaltes des Reichsgeſetzblattes, da die in dem-
ſelben abgedruckten Geſetze und Verordnungen als gemeinkundig gelten können.
Bei den von den Einzelſtaaten erlaſſenen Ausführungs-Geſetzen wird aber nicht
ſelten das betreffende Reichsgeſetz zur Erleichterung des Verſtändniſſes als „An-
lage“ abgedruckt; dies iſt namentlich geſchehen mit dem Münzgeſetz, Impfgeſetz,
Perſonenſtands- und Civilehegeſetz u. a. Einige Geſetz-Sammlungen enthalten
ferner Inhalts-Angaben der zur Verſendung gelangten Stücke des Reichsgeſetz-
blattes, ſo z. B. das Regierungs-Blatt von Württemberg, die Geſetz-
Sammlung von Sachſen-Altenburg, das Regierungs-Blatt von
Sachſen-Weimar. Im Geſetzblatt für Sachſen-Coburg und
Gotha iſt bis incl. 1868 und im Regierungsblatt für Mecklenburg-
Schwerin bis 1870 incl. der Inhalt des Bundes-Geſetzblattes vollſtändig
abgedruckt. Jetzt wird auf der „Amtl. Beilage zum Regierungs-Bl. f. Mecklenb.-
Schwerin“ nur angegeben, welches Stück des Reichs-Geſetzblattes mit verſendet
wird. In einer beſonderen „Beilage“ zum Bayeriſchen Geſetzblatt von
1872 ſind eine Anzahl in Bayern eingeführter Geſetze des Norddeutſch. Bundes
„abgedruckt“, ebenſo im Großh. Heſſiſchen Regierungs-Blatt 1870 Nr. 63
die in Südheſſen zur Einführung gelangten Geſetze des Norddeutſchen Bundes.
1867 § 3 (B.-G.Bl. S. 24); „Die Herausgabe des Bundesgeſetzblattes erfolgt
im Bureau des Bundeskanzlers“.
in Reichsgeſetzen in Bezug genommen ſind, ſind im Bundes- reſp. Reichs-
Geſetzblatt wieder abgedruckt; in ſehr zahlreichen anderen Fällen iſt dies unter-
blieben und es iſt lediglich auf den Abdruck in der Preuß. Geſ.-Samml. ver-
wieſen. Während z. B. das Handels-Geſ.-B. und die Wechſel-Ordn. bei ihrer
Erklärung zu Geſetzen des Nordd. Bundes wieder abgedruckt worden ſind, iſt
die im Freizügigkeits-Geſetz v. 1. Nov. 1867 § 7 in Bezug genommene Gotha’er
Convention v. 15. Juli 1851, die im Anleihe-Geſetz v. 9. Nov. 1867 § 6 für
anwendbar erklärte Preuß. Verordn. v. 16. Juni 1819, das im Geſ. v. 19. Juni
1868 § 1 auf die Bundesſchulden-Verwaltung ausgedehnte Preuß. Geſ. vom
24. Febr. 1850 u. v. a. nicht in dem Bundes- reſp. Reichs-Geſetzbl. zum Ab-
druck gelangt; und dieſes Verfahren iſt bisweilen auch bei ſolchen Geſetzen
beobachtet worden, welche in einem weniger verbreiteten und darum minder
zugänglichen Blatt als es die Preuß. Geſ.-Sammlung iſt, verkündet worden
ſind. So verweiſt z. B. das Geſ. v. 14. Juni 1868 nicht blos auf ein Preuß.
Reglement v. 13. Juni 1825, ſondern auch auf eine Schleswig-Holſteiniſche
Verordn. v. 15. Februar 1850, und das Geſ. v. 18. Mai 1868 § 9 auf ein
im Fürſtenthum Hohenzollern-Sigmaringen erlaſſenes Geſetz vom 6. März
1840, ohne daß dieſe Vorſchriften im Bundesgeſetzbl. abgedruckt worden ſind.
Pflicht des Reichskanzlers und gehört zu ſeinen amtlichen Befugniſſen.
Eine Verordn. des Kaiſers iſt dazu nicht erforderlich, wie Böhlau, Mecklenb.
Landr. I. S. 303 meint.
lichen Geſetz- und Verordnungs-Blätter der einzelnen Staaten des Reichs-Poſt-
gebietes) durch die Reichspoſtanſtalt ſind reglementariſche Vorſchriften
gegeben in der Allgemeinen Poſtdienſtanweiſung Abſchn. V. Abth. 3.
Abſchn. II.
Geſetzentwurfs ausdrücklich hervor; Druckſachen des Reichstages 1871. II. Seſſ.
Bd. I. Nro. 9 (S. 19).
formellen Geſetzen habe ich gegeben in meiner Schrift über das Budget-
recht (Berlin 1871) S. 3—11. Vgl. ferner Schulze, Preuß. Staatsr. II.
S. 205 ff.; Ernſt Meier in v. Holtzendorff’s Encyclopädie I. (3. Aufl.)
S. 882 und E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi’s Zeitſchrift für deutſches
Staatsr. I. S. 209 (1867).
es: La loi est l’expression de la volonté générale. In ähnlicher Weiſe deſi-
nirt Portalis: »La loi est une déclaration solennelle de la volonté du
Souverain sur un objet d’intérêt commun.« (Locré, Legislat. de la
France I. S. 266 Nr. 21). Merlin, Répertoire Art. Loi §. II. (Tome XVIII.
p. 384 ſq.) ſetzt ausführlich auseinander, daß nicht jede Erklärung des pou-
voir législatif einen Rechtsſatz ſchaffe, dennoch aber als Geſetz anzuerkennen
ſei, denn die conſtituirende Verſammlung habe durch Decret vom 9. Nov. 1789
beſchloſſen, que tous ses décrets, qui seraient revêtus de la sanction royale
portassent indistinctement le nom et l’intitulé de Lois.« Die Verfaſſung
v. 5. Fructidor des Jahres III. Art. 92 ſagt: »Les resolutions du Conseil
des Cinqcents adoptées pour le Conseil des Anciens s’appellent Lois«.
Dieſer formelle Begriff des Geſetzes iſt in der neueren franzöſiſchen Literatur
der ausſchließlich herrſchende, nur daß natürlich die Erforderniſſe mit jeder
Verfaſſungs-Aenderung wechſeln.
ſtaaten und des Reiches anerkannt wird.
verträgen §. 64.
Beſeler, Deutſches Privatrecht I. §. 18. Förſter, Preuß. Privatr. I. §. 9.
Dernburg, Preuß. Privatr. I. §. 16 S. 29. G. Planck in Ihering’s
Jahrb. Bd. IX. S. 339. E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi’s Zeitſchr.
f. Deutſches Staatsr. Bd. I. S. 203 fg. und namentlich Lor. v. Stein,
Handb. der Verwaltungslehre I. S. 30 fg. S. 64 ff. (2. Aufl. 1876).
ihren ſehr zahlreichen Vertretern ſind hervorzuheben: Zachariä, Staatsr. II.
§. 160 (S. 168 ff.). v. Held, Verf.-R. II. S. 59 ff. v. Mohl, Staats-
recht, Völkerr. u. Polit. II. S. 404 ff. v. Gerber, Grundzüge §. 48 S. 150.
Ferner v. Mohl, Württemb. Staatsr. I. §. 33 S. 198. v. Pözl, Bayr.
Verf.-R. §. 161. §. 163. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172. 185 ff.
Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 225. Böhlau, Mecklenb. Landr. I.
§. 51. S. 311. Roth, Bayr. Civilr. I. §. 7 S. 95. Unger, Syſtem des
öſterr. Privatr. I. S. 26. 27. Gneiſt, Verwaltung, Juſtiz, Rechtsweg S. 73:
„Geſetz iſt die mit Zuſtimmung der verfaſſungsmäßigen Landesvertretung er-
laſſene Verordnung; Verordnung der Ausdruck des Staatswillens ohne dieſe
Zuſtimmung.“
Grundlinien des Staatsrechts §. 74 S. 302.
in Zweifel gezogen werden, daß die von den dazu berechtigten Organen der
Reichsgewalt innerhalb ihrer Zuſtändigkeit erlaſſenen Verordnungen unbedingte
Gültigkeit für alle Reichsangehörige haben und daß ſie, ebenſo wie die
Reichsgeſetze, den landesgeſetzlichen jeder Art, mit Einſchluß der Landes-
verfaſſungen, vorgehen. Denn, wenn gleich der Art. 2 der R.-V. nur beſtimmt
hat, daß die Reichsgeſetze den Landesgeſetzen vorgehen, ſo muß dies doch auch
gleichmäßig von den Reichsverordnungen gelten, da letztere nur ergän-
zende Theile des betreffenden Reichsgeſetzes ſind.“
v. Held, S. 109. Dreyer, Deutſches Reichs-Civilrecht S. 6.
v. Rönne (2. Aufl.), I. S. 214 fg. 231. II. 1. S. 57 fg. Zorn in der
Krit. Vierteljahresſchrift 1875 Bd. XVII. S. 394 ff.
Grund des Art. 17 der R.-V. erlaſſen worden iſt. Die Verordn. vom
26. Juli 1867 (B.-G.-Bl. S. 24) betreffend die Einführung des Bundesge-
ſetzblattes — welche übrigens einen Rechtsſatz nicht ſanctionirt — iſt zur Aus-
führung der Art. 2 u. Art. 17 erlaſſen; ſie iſt die einzige Kaiſerl. Verordn.,
in deren Eingangsformel der Art. 17 der R.-V. überhaupt erwähnt worden iſt.
den in deſſen Preuß. Staatsrecht I. 1. §. 46 (3. Aufl. S. 176). Er ſelbſt
conſtatirt aber, daß ſie „von den Preuß. Kammern nicht immer inne gehalten
worden iſt“ (Staatsr. des Deutſchen Reichs a. a. O. Note 4), d. h. daß die
Preuß. Geſetzgebung durch dieſelbe ſich nicht hat irre führen laſſen.
des betreffenden Reichsgeſetzes nöthigen allgemeinen Verwaltungs-Vorſchriften
und Einrichtungen betreffen, bei welchen es ſich alſo nur um die Anwendung
der in dem Reichsgeſetze niedergelegten Normen handelt.“ So wird durch
eine leichte Redewendung der Art. 7 Ziff. 2 der R.-V. entſtellt. Die letztere
Stelle erwähnt nur eine Art von Verordnungen, nämlich die zur Ausführung
der Reichsgeſetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungs-Vorſchriften und
Einrichtungen; v. Rönne macht zwei Kategorien daraus, Ausführungsbeſtim-
mungen zu einem Reichsgeſetz oder die zur Ausführung erforderlichen Ver-
waltungs-Vorſchriften.
hierüber äußert.
für Elſaß-Lothringen vergleiche unten §. 62.
die Geſetzes-Beſtimmung angegeben, auf Grund deren ſie erlaſſen iſt. Als
eine weſentliche Form, deren Nichtbeobachtung die Ungültigkeit der Ver-
ordnung zur Folge hat, kann dies zwar nicht erachtet werden, da die Reichs-
geſetzgebung die Formen, in denen Verordnungen zu erlaſſen ſind, überhaupt
nicht geregelt hat. Materiell hängt aber die Gültigkeit einer Verordnung
von dem Vorhandenſein einer geſetzl. Delegation ab und es iſt demgemäß die
Praxis, dieſe Geſetzesbeſtimmung in der Verordnung in Bezug zu nehmen,
durchaus ſachgemäß.
Anleihegeſetz v. 9. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. S. 157), welches erſt durch das Geſ.
v. 19. Juni 1868 (B.-G.-Bl. S. 339) ausführbar gemacht wurde. Auch §. 35
des Geſ. über die Kriegsleiſtungen v. 13. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 137) kann
hier angeführt werden.
wirkſam nur erfolgen kann unter Angabe desjenigen Organes, welches die Ver-
ordnung erlaſſen ſoll. Wenn es richtig iſt, daß in der Reichsverfaſſung eine
allgemeine Ermächtigung, Rechtsverordnungen zu erlaſſen, nicht enthalten
iſt, ſo ergiebt ſich, daß es keinen Sinn hat, wenn ein Geſetz beſtimmt, daß
die zur Ausführung erforderlichen Rechtsregeln „durch Verordnung“ erlaſſen
werden ſollen, ohne hinzuzufügen, von wem. Die Reichsgeſetzgebung enthält
jedoch ein Paar Beiſpiele einer derartigen Anordnung; nämlich in dem Geſetz
über die Verpflichtung zum Kriegsdienſte v. 9. Nov. 1867 §. 19 und im Rayon-
Geſetz v. 21. Dez. 1871 §. 47 Abſ. 2 (R.-G.-Bl. S. 471). Indeß ſind keine
Rechtsvorſchriften im Verordnungswege auf Grund dieſer beiden Geſetzes-
beſtimmungen ergangen; vielmehr ſind z. B. die zur Ausführung des §. 16
des Geſ. v. 9. Nov. 1867 nothwendig geweſenen Vorſchriften durch das Ge-
ſetz über den Landſturm v. 12. Febr. 1875 (R.-G.-Bl. S. 63) erlaſſen wor-
den, das ſeinerſeits wieder im §. 8 den Erlaß der Ausführungsbeſtimmungen
dem Kaiſer überträgt. Soweit nach Art. 63 der R.-V. dem Kaiſer das Ver-
ordnungsrecht in Militair-Angelegenheiten übertragen iſt, bedurfte es keines
Vorbehaltes.
Zoll- und Steuergeſetzen; ſo z. B. im Geſ. v. 10. Mai 1868 §. 10
(B.-G.-Bl. S. 227); im Geſetz v. 25. Mai 1868 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 313);
im Geſ. v. 26. Mai 1868 (Tabakſteuer) §. 7. 8. 13; im Geſ. v. 10. Juni
1869 §. 28 (Wechſelſtempel B.-G.-Bl. S. 199); im Geſ. v. 26. Juni 1869
§. 5 (Zuckerſteuer B.-G.-Bl. S. 284); im Zollgeſ. v. 1. Juli 1869 §. 167
(B.-G.-Bl. S. 364); im Geſ. v. 8. Juni 1871 §. 5 (Prämienpapiere R.-G.-Bl.
S. 211); im Geſ. v. 31. Mai 1872 §. 1 Abſ. 2 u. §. 43 (Brauſteuer R.-G.-Bl.
S. 166); im Zollgeſ. v. 7. Juli 1873 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 243). Ferner in
anderen das Finanzweſen betreffenden Geſetzen z. B. Geſ. v. 14. Juni
S. 407), im Kriegsleiſtungsgeſ. v. 13. Juni 1873 (S. 129) §. 16. 17 Abſ. 4,
§. 20 Abſ. 3, §. 33 und in dem Geſ. vom 23. Febr. 1874 §. 5 (R.-G.-Bl.
S. 17); im Münzgeſ. v. 9. Juli 1873 Art. 13 (R.-G.-Bl. S. 237) und im
Bankgeſ. v. 14. März 1875 §. 6 Abſ. 3, §. 12. 36. Andere Beiſpiele von
Wichtigkeit ſind das Wahlgeſ. v. 31. Mai 1869 § 15 (B.-G.-Bl. S. 148), die
Gewerbe-Ordnung §. 24. 29. 31. 64 Abſ. 3, das Jeſuitengeſ. v. 4. Juli 1872
§. 3. Soweit nach den angeführten Geſetzesbeſtimmungen nur ſolche Verord-
nungen vom Bundesrath erlaſſen werden ſollen, welche die Verwaltungsthätig-
keit der Behörden regeln, iſt die geſetzl. Ermächtigung dazu wegen der in der
Verfaſſung Art. 7 u. 37 enthaltenen Grundſätze überflüſſig.
nimmt auf dieſen Unterſchied keine Rückſicht.
§. 3 (B.-G.-Bl. S. 161), Geſ. über den Reichskriegsſchatz v. 11. Nov. 1871
§. 3, Reichsbeamtengeſ. §. 18. 87. 88, Geſ. über die Seewarte v. 9. Januar
1875 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 11); Reichsbankgeſ. v. 14. März 1875 §. 40 (R.-G.-Bl.
S. 188); Einf.-Geſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. §. 15. 16. 17, zur Civilproceß-
Ordn. §. 6 u. v. a.
ſehr vielen Geſetzen auch der Ausdruck: „im Einvernehmen mit dem
Bundesrathe“. Thudichum, Verf.-R. S. 90 meint, daß dieſer Ausdruck
dem Kaiſer zwar die Pflicht auferlege, mit dem Bundesrathe vor Verkündigung
der Verordnung in Verhandlung zu treten, daß aber der Erlaß der Verordn.
durch den Widerſpruch des Bundesrathes nicht gehindert werden könne. Auch
v. Mohl S. 266. 267 iſt dieſer Anſicht, „weil ſonſt wohl „im Einverſtänd-
niſſe“ geſagt worden wäre“. Ihm folgt faſt wörtlich v. RönneI. S. 214
Note 2 a. E. Ich vermag mich dieſer Auslegung nicht anzuſchließen, welche
dem allgemeinen Sprachgebrauch Zwang anthut. „Im Einvernehmen mit
Jemandem“ heißt nicht: „nach Vernehmung“, ſondern iſt ganz gleichbedeutend
mit: „im Einverſtändniß“.
weiſen.
Fällen, in welchen der Erlaß von Ausführungsbeſtimmungen dem Bundes-
rath geſetzlich übertragen worden iſt, der Bundesrath ermächtigt iſt, dieſe
Befugniß dem Reichskanzler zu ſubdelegiren, wie dies z. B. in der V. v.
19. Juni 1871 §. 10 Abſ. 1 (R.-G.-Bl. S. 258) geſchehen iſt.
§. 50; Schiffsvermeſſungs-Ordn. v. 5. Juli 1872 §. 35; Geſ. v. 23. Mai
1873 (Invalidenfonds) §. 11 (R.-G.-Bl. S. 121) u. a. Noch complicirter iſt
die Vorſchrift im §. 10 des Reichsgeſetzes v. 20. Dez. 1875, wonach Vollzugs-
beſtimmungen von dem Reichskanzler, nach Anhörung der Reichs-Poſtver-
raths zu erlaſſen ſind.
noſſenſchaftsgeſ. v. 4. Juli 1868 §. 72; in der Seemanns-Ordnung §. 23
Abſ. 3; im Geſ. v. 6. Febr. 1875 §. 79; eine Königl. Bayeriſche Ver-
ordn. im Geſ. v. 9. Febr. 1875 §. 3 und im Geſ. v. 13. Febr. 1875 §. 18
(R.-G.-Bl. S. 41. 58); eine landesherrliche Verordnung im §. 17
Abſ. 2 des Einf.-Geſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſetz u. ſ. w.
Einzelſtaaten übertragenen Ausführungsbeſtimmungen zu erlaſſen ſeien,
nach dem Landesſtaatsrecht ſich beſtimme, iſt demnach falſch. Richtig
Seydel in Hirth’s Annalen 1874 S. 1144.
enthält z. B. das Geſ. über die Bundesflagge v. 25. Okt. 1867 §. 3 u. §. 17
eine Delegation, in §. 19 eine Anerkennung der Autonomie; die Gewerbe-
Ordnung enthält im §. 21. 38 eine Delegation, in zahlreichen anderen Artikeln
Vorbehalte der Autonomie; das Geſetz über den Unterſtützungswohnſitz ent-
hält im §. 8 eine Delegation, im §. 52 einen Vorbehalt der Landesgeſetz-
gebung; im Reichsmilitairgeſetz §. 36 iſt den Einzelſtaaten die Normirung der
Koſten des Rekrutirungsverfahrens übertragen; daſelbſt im §. 46 die Beſteue-
rung der Militairperſonen ihrer Autonomie unterworfen; die Strandungs-
Ordn. v. 17. Mai 1874 enthält in §. 2. 22. 24 eine Delegation, in §. 45
einen Vorbehalt für die Autonomie; ebenſo die Seemanns-Ordnung im §. 4
eine Delegation, im §. 45 einen Vorbehalt für die Autonomie u. ſ. w.
Dagegen meint v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. §. 48 (S. 197), daß, „ſo
weit die Einzelſtaaten die Vollziehung von Reichsgeſetzen haben, ihnen ſelbſt-
verſtändlich (?) auch das Recht des Erlaſſes aller Ausführungs-Verordnungen
zuſteht“. Es liegt hier wahrſcheinlich eine Verwechslung der Verwaltungs-
Verordnung mit der Rechts-Verordnung (dem Ausführungs-Geſetz) zu Grunde.
Rinderpeſt betreffend) §§. 7 u. 8.
geordneten Reichsbehörde oder durch einen ihm zur Unterſtützung beigegebenen
Beamten kann bei dem Erlaß von Rechts-Verordnungen nicht für zuläſſig er-
achtet werden. Denn die dem Reichskanzler delegirte Geſetzgebungs-Befugniß
enthält nicht die Befugniß zur Subdelegation. Eben ſo wenig kann eine vom
Kaiſer zu erlaſſende Verordnung vom Reichskanzler ausgefertigt werden.
Bundesrathes obliegen, iſt eine Vertretung deſſelben durch ein anderes Mit-
glied des Bundesrathes zuläſſig. Art. 15 Abſ. 2 der R.-V. Es ſind auch in
der That Bundesraths-Verordnungen in Vertretung des Reichskanzlers von
dem Präſidenten des Reichskanzler-Amts ausgefertigt worden. Vgl. z. B. die
V. v. 25. Sept. 1869 (B.-G.-Bl. S. 635); die Schiffsvermeſſungs-Ordnung
v. 5. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 281) u. v. a.
Verordn. v. 1. April 1876 (R.-G.-Bl. S. 137 fg.) zur Ausführung des Kriegs-
leiſtungsgeſ. v. 13. Juni 1873. Dieſes Geſetz enthält keine Delegation zu
Gunſten des Kaiſers, ſondern in den §§. 16. 17. 20. 29. 33 Ermächtigungen
für den Bundesrath. Der Fehler iſt aber lediglich ein formeller; denn
die Verordn. v. 1. April 1876 iſt „nach erfolgter Zuſtimmung des Bundes-
rathes“ erlaſſen.
geſetzlich geſchützten Verordnungen vom Kaiſer zu erlaſſen ſind. Binding,
Normen I. S. 75 nennt derartige Geſetze „Blankettſtrafgeſetze“.
glement. Daſſelbe ſchafft keine Rechtsſätze, ſondern lediglich Verwaltungs-
regeln für den Eiſenbahn-Betrieb und kann bei der Beurtheilung der Fracht-
verträge nicht kraft des Geſetzgebungswillens des Reiches als Entſcheidungs-
norm, ſondern kraft des Willens der Vertragſchließenden als Vertrags-
beſtimmung in Betracht kommen. Es iſt dies mit vorzüglicher Klarheit
ausgeſprochen in dem Urtheil des Reichs-Oberhandelsgerichts v.
30. Nov. 1875 Entſcheidungen Bd. XIX. S. 184 ff. — Auch die zur Ausfüh-
rung des Militairpenſionsgeſetzes vom Bundesrath beſchloſſenen „Beſtimmun-
gen“ v. 22. Febr. 1875 (Centralbl. S. 142), welche vielfach Interpretationen
des Geſetzes oder Schlußfolgerungen aus demſelben enthalten, zu deren Erlaß
der Bundesrath aber nicht durch eine beſondere geſetzliche Beſtimmung ermäch-
tigt worden iſt, ſondern welche er auf Grund des Art. 7 Ziff. 2 der R.-V.
erlaſſen hat, können nur als Inſtruktionen für die Militär-Intendanturen und
Kaſſenverwaltungen angeſehen werden, nicht als Rechtsregeln, welche bei einer
richterlichen Entſcheidung über Penſions-Anſprüche in Betracht kommen könnten.
Urth. v. 24. Febr. 1876 die richtige Auslegung dieſes Artikels zur Geltung
gebracht; das Reichs-Oberhandelsger. hat ſich indeß für die ent-
gegengeſetzte Anſicht erklärt im Urth. v. 2. Juni 1876 (Juriſt. Zeitſchrift für
Elſaß-Lothr. I. S. 340 fg.).
das „Centralblatt für das Deutſche Reich“ und außerdem von den Bundes-
regierungen publizirt.“ Die Publicirung im Centralblatt iſt bloße Kund-
machung, die Publicirung in den Einzelſtaaten wirkliche Einführung. Damit
ſteht allerdings nicht im Einklang, daß das Reglement ſelbſt den Tag beſtimmt,
von welchem an es „in Kraft tritt und auf allen Eiſenbahnen Deutſchlands
Anwendung findet“. In ähnlicher widerſpruchsvoller Weiſe heißt es in der
Lootſen-Signal-Ordnung v. 31. Januar 1875 (Centralbl. S. 124):
„Nachdem der Bundesrath beſchloſſen hat, die Regierungen der Seeuferſtaaten
um Erlaß der nachſtehenden (Verordnung) zu erſuchen, wird dieſelbe
mit dem 1. März d. J. in Kraft treten.“
und der Verwaltungs-Verordnung. Ueber die letztere ſiehe unten §. 67.
geſetze ohne Rechtsinhalt im Geſetzblatt verkündigt werden müſſen, iſt zweifel-
los, da die Verkündigung zum „Wege der Geſetzgebung“ gehört; daraus iſt
aber der Rückſchluß nicht gerechtfertigt, daß Rechtsvorſchriften ohne Geſetzes-
form (Rechtsverordnungen) nicht verkündigt zu werden brauchen.
nicht Verfügungen (Verwaltungshandlungen). Vgl. Entſch. des R.-O.-H.-G.
Bd. XV. S. 297.
v. 15. Juli 1873 über die Tagegelder und Reiſekoſten der Perſonen des Sol-
datenſtandes „des preußiſchen Heeres“. Obwohl dieſelbe vom Miniſter
Delbrück in Vertretung des Reichskanzlers contraſignirt iſt, die Finanzen des
Reiches berührt und allgemeine Normen aufſtellt, welche vermögensrechtliche
Anſprüche einzelner Perſonen gegen die Reichskaſſe begründen, iſt ſie nicht im
Reichsgeſetzblatt verkündet, ſondern nur im Centralblatt f. das Deutſche Reich
v. 1873 S. 248 ff. mitgetheilt worden.
blatt des Deutſchen Reiches abgedruckt worden; ſo namentlich die über die
Schifffahrts-Abgaben, 1873 S. 184, 1875 S. 203 ff. 301 ff. Dieſer Abdruck
iſt keine „Verkündigung“ im Rechtsſinne.
S. 93.
S. 77 dies an und zwar nicht wegen Art. 1 des H.-G.-B.’s, ſondern wegen
Art. 2 der R.-V., dem zu Folge „es kein den Reichsgeſetzen widerſtreitendes
Recht irgend einer Art giebt“.
Gewohnheitsrecht im Widerſpruch ſtehenden Gedankens muß ich mir für eine
andere Gelegenheit vorbehalten.
Mai 1868 für die Hohenzollern’ſchen Lande. (B.-G.-Bl. 1868 S. 150). Geſ.
v. 4. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 375) für beide Mecklenburg, Lauenburg, Lübeck
und Preußiſche Gebietstheile; Geſ. v. 8. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 384) für
gen zum Entw. des St.-G.-B. (1870) S. 18 fg. Die von ihm gezogenen Con-
ſequenzen gehen aber zu weit. Vgl. Rüdorff, Kommentar zum St.-G.-B.
(2. Aufl.) S. 55.
welches Beſtimmungen des Lüb. Rechts und Roſtocker Stadtrechts aufhob, die
mit den Prinzipien der Gewerbe-Ordnung nicht im Einklang ſtanden. Eben-
ſo iſt dem Reiche wol nicht die Befugniß zu beſtreiten, Landesgeſetze auf-
zuheben oder für nichtig zu erklären, welche ſich mit der gemeinſamen Geſetz-
gebung des Reichs in Bezug auf bürgerliches Recht, Strafrecht oder gericht-
liches Verfahren in Widerſpruch befinden. Dadurch kann das Reich Ueberſchrei-
tungen der den Einzelſtaaten zuſtehenden Autonomie beſeitigen und unſchädlich
machen. Ein ſolches Geſetz wäre nicht Normirung des Partikularrechts, ſon-
dern Schutz des gemeinſamen Rechts. Abweichender Anſicht iſt Heinze
S. 143.
für Theile des Hamburgiſchen Gebietes u. ſ. w.
ſondern die Landesgeſetzgebung als fortwirkende Rechtsquelle wird in
Kraft erhalten. Vgl. auch Heinze S. 89 ff.
flagge v. 25. Okt. 1867 §. 19 (B.-G.-Bl. S. 39): „Die landesgeſetzlichen Be-
ſtimmungen … finden Anwendung, ſoweit ſie mit den Vorſchriften des Bun-
desgeſetzes ſich vertragen und unbeſchadet ihrer ſpäteren Aenderung auf landes-
geſetzlichem Wege.“ Vgl. ferner das Geſ. über die vertragsmäßigen Zinſen
v. 14. Nov. 1867 §. 5 Abſ. 2 (B.-G.-Bl. S. 160).
für ein Geſ., welches lediglich die Beſtimmung des Geltungstermins einer ge-
ſetzl. Vorſchrift zum Inhalt hat.
4. Juli 1868 §. 39 (B.-G.-Bl. S. 383). Geſ. v. 8. Juli 1868 §. 70 (S. 402).
Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 27 (B.-G.-Bl. S. 208). Geſ. v. 1. Juni 1870 §. 1
Abſ. 2 (B.-G.-Bl. S. 312). — Das Geſ. v. 15. Juli 1871 beſtimmt zwar
den Anfangstermin ſeiner Geltung, ermächtigt aber den Kaiſer, die Vorſchrift
in §. 1 ſchon vor dem geſetzlichen Termin durch Verordnung in Wirkſamkeit
zu ſetzen. (R.-G.-Bl. S. 325. Die Kaiſerl. V. S. 326.)
ſtimmung des Bundesrathes erlaſſene Kaiſerl. V., welche mindeſtens drei Mo-
nate vor dem Eintritt des Zeitpunktes zu verkündigen iſt.
1867 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 24). Die Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers für den Inhalt des Reichsgeſetzblattes erſtreckt ſich
auch auf dieſen Vermerk.
Er nimmt an, daß Gemeinkundigkeit zur Vollendung der Publikation gehöre
und daß im Art. 2 der R.-V. eine Fiktion aufgeſtellt werde, deren Gegen-
ſtand „die Vollendung des Publikations-Aktes“ (?) ſei.
projet de Code civil Nro. 25 (Locré, La Législation de la France
I. S. 268).
folgende: Geſ. v. 29. Mai 1868 §. 5 B.-G.-Bl. S. 238 (Aufhebung der Schuld-
haft); Geſ. vom 27. März 1870 § 6 B.-G.-Bl. S. 15 (Verbot der Ausgabe
von Banknoten). Geſetze vom 21. Juli 1870 B.-G.-Bl. S. 497. 498. Ferner
ſämmtliche Verordnungen, welche Ausfuhr- und Einfuhr-Verbote enthalten oder
dieſelben wieder aufheben. — Geſetze, die im fernen Auslande beobachtet wer-
den müſſen, ſollten geraume Zeit vor dem Beginn ihrer Geltung verkündet
werden. Dies geſchieht aber nicht immer; ſo iſt z. B. in der am 30. Dez.
1871 (R.-G.-Bl. S. 479) verkündigten Verordnung zur Verhütung des Zu-
ſammenſtoßens der Schiffe auf See der Anfang ihrer Geltung auf den 1. Jan.
1872 feſtgeſetzt.
die Zeitungen viel wirkſamer als durch das R.-G.-Bl.
ſtellung der ſubjectiven Verſchuldung die Thatſache in
Betracht zu ziehen iſt, daß Jemand von dem Erlaß einer reichsgeſetzl. Vor-
ſchrift keine Kunde hatte oder haben konnte.
werden, ſchon vor dem reichsgeſetzl. Termin die Geltung des Reichsgeſetzes
in ihren Gebieten eintreten zu laſſen. Dies iſt z. B. geſchehen in der Ge-
werbe-Ordn. v. 21. Juni 1869 §. 7 (durch Landes geſetz); Münzgeſetz
§. 1 und Perſonenſtands- und Civilehegeſetz v. 6. Febr. 1875 §. 79 (im Ver-
ordnungs wege). Andererſeits kann den Einzelſtaaten auch geſtattet werden,
den Anfangstermin der Geltung einer reichsgeſetzl. Beſtimmung über den
reichsgeſetzl. Termin hinauszuſchieben. Beiſpiele: Geſ. v. 10. Nov. 1871
§. 2 (R.-G.-Bl. S. 392) u. Geſ. v. 26. Nov. 1871 § 2 (R.-G.-Bl. S. 397).
gabetag angegeben iſt. Vgl. auch Seydel, Comment. S. 40.
Anwendung bringen, ſo käme man zu dem Reſultat, daß ein und daſſelbe
Reichsgeſetz in den Konſular- Jurisdictions bezirken, alſo z. B. in der
Türkei 6 Monate, dagegen in Auſtralien oder Californien ſchon 14 Tage nach
ſeiner Verkündigung verbindliche Kraft erlangt.
obachtet; ſo fehlt z. B. die Feſtſetzung des Geltungstermines in dem Geſetz
über die Eheſchließung und die Beurkundung des Perſonenſtandes von Reichs-
angehörigen im Auslande vom 4. Mai 1870. Das Geſetz v. 6. Febr. 1875
§. 85 Abſ. 2 hat dagegen einen beſtimmten Geltungstermin feſtgeſetzt und zwar
den 1. März 1875.
Fall. Vgl. darüber Demolombe, Cours de Code civil. Tom. I. Ch. II.
Nr. 29. Nach ſeiner Anſicht beginnt die verbindliche Kraft franzöſ. Geſetze
für einen im Auslande lebenden Franzoſen, ſobald er das Geſetz kennen ge-
lernt hat oder die Gelegenheit dazu gehabt hat; darnach könnte die Geſetzes-
kraft für jeden einzelnen im Auslande lebenden Franzoſen an einem andern
Tage beginnen und unter Umſtänden niemals anfangen.
als Declaration eines früheren Reichsgeſetzes bezeichnen, wie z. B. das Geſetz
v. 19. Mai 1871 (R.-G.-Bl. S. 101), wohl nicht Anwendung finden, da in
dieſen Fällen das Geſetz ſelbſt erklärt, daß es einen neuen Rechtsſatz nicht
einführen, [ſondern] einen bereits beſtehenden nur deutlicher und zweifel-
loſer ausſprechen wolle.
von Grundſtücken, zur Gewährung von Unterſtützungen, zur Aufnahme von
Anleihen u. ſ. w. ermächtigen, oder die ein Etats-Geſetz nachträglich abändern.
gleichzeitig verkündigte Verordnung des Bundespräſidiums iſt vom 2. Nov.
datirt und ſetzt den Beginn der Geltung jenes Geſetzes auf den 15. November
feſt. (B.-G.-Bl. 1867 S. 53. 54.) — Das Geſ. v. 1. Juni 1870 iſt am 16.
Juni verkündigt; die Präſidial-Verordnung iſt ebenfalls vom 1. Juni 1870
datirt und in demſelben Stück des Geſetzblattes wie das Geſetz verkündigt.
dieſer Art zu erwähnen, der aber allerdings nicht vollkommen hierher gehört.
Der Verfaſſungs-Bündniß-Vertrag mit Bayern iſt am 31.
Januar 1871 verkündigt worden und ſollte mit dem 1. Januar 1871 in Wirk-
ſamkeit treten. Vgl. darüber Bd. I. S. 47. Es iſt bereits wiederholt vorge-
kommen, daß ſich die Verkündigung einer Rechtsvorſchrift bis faſt zu dem
Tage verzögerte, an welchem ſie in Kraft treten ſollte; ſo die Verordn. vom
29. Juli 1868 (verkündigt am 10. Auguſt. B.-G.-Bl. S. 465), die Verordn.
v. 19. Oct. 1868 (verkündigt am 31. Oct. B.-G.-Bl. S. 513); das Geſ. vom
11. Juni 1870, welches die Aufhebung des Elbzolls am 1. Juli anordnet, iſt
am 29. Juni verkündigt; vergl. ferner die in der vorigen Note erwähnte V.
v. 19. Aug. 1871.
gehörige Kaiſerl. V. vom 19. Auguſt 1871 ſind in einem und demſelben Stück
des Reichsgeſetzbl. am 27. Aug. 1871 verkündigt (S. 325. 326) und dieſer
27. Aug. 1871 iſt zugleich der Tag, an welchem die V. in Kraft trat.
39 ſiehe oben S. 54 Note 2. Sie hängt mit deſſen Geſammt-Auffaſſung des
Weſens des Reiches zuſammen. Aber ſelbſt v. Mohl, Reichsſt. S. 165
ſchreibt: „Einer beſonderen Verkündigung durch die einzelne Regierung be-
darf (!) es nicht und iſt eine ſolche eher (!) grundſatzwidrig.“
mit dem Abdruck in Zeitungen und Zeitſchriften. Dies gilt z. B. von dem
Wieder-Abdruck der Reichsgeſetze im Mecklenburg. Regierungsblatte. Vgl.
Böhlau, Mecklenb. Landr. I. S. 298.
hat das ungefähr die gleiche Bedeutung, als wenn der Magiſtrat einer Stadt-
gemeinde den Einwohnern die Befolgung eines Staatsgeſetzes einſchärft.
das Verhältniß des Reichsſtrafrechts zu dem Landesſtrafrecht. Leipzig 1871.
Vgl. auch auch Kayſer im Handbuch des Deutſchen Strafrechts von Holtzen-
dorff Bd. IV. S. 93 ff. (1877).
nimmt Seydel ein, welcher Kommentar S. 35. 124 das Reichsgeſetz lediglich als
„gleichmäßiges Landesgeſetz aller Bundesſtaaten“ erklärt. Ebenſo Böhlau
a. a. O. I. S. 289. 309.
S. 41. Seydel, Commentar S. 37. v. Mohl S. 168. Hänel, Studien
I. S. 263 Note 16.
zwei Erkenntniſſen, welche in der Allgem. Deutſch. Strafrechtszeitung Bd. X.
(1870) S. 265 ff. mitgetheilt ſind, zur Geltung gebracht. Vgl. über die Un-
richtigkeit dieſer Urtheile Belmonte a. a. O. und John ebenda Bd. XI.
S. 240 ff., woſelbſt ein von der richtigen Auffaſſung ausgehendes Urtheil des
O.-A.-G’s. zu Lübeck mitgetheilt iſt. Vgl. ferner auch Dreyer, Reichs-
civilr. S. 12 fg. Kayſer a. a. O. S. 57.
gutachtliche Publikation (!) über die derogirende Wirkſamkeit eines Reichsgeſetzes
zuſtehen.“
Ueber die ſubſidiären Vorſchriften des H.-G.-B’s. vgl. Goldſchmidt, Hand-
buch des Handelsrechts I. S. 298.
geſetz aufgeſtellte Regel zu ſanctioniren, ſteht es ihnen auch frei, dieſelbe
Regel für anwendbar zu erklären. Die ſonſt unſtatthafte Wiederholung einer
reichsgeſetzlichen Vorſchrift durch Landesgeſetz iſt dann zuläſſig, wenn der Einzel-
ſtaat zu beſtimmen hat, ob die reichsgeſetzliche Vorſchrift oder eine andere
gelten ſoll. Vgl. Heinze S. 86.
Die Gewerbe-Ordnung Art. 69. 72 ff. 106. 108. u. v. a.
v. RönneII. 1. S. 7.
Falle bedeutet das Schweigen des Reichsſtrafgeſetzb. über einen gewiſſen That-
beſtand Strafloſigkeit deſſelben, in dem andereu Falle Unterwerfung des-
ſelben unter die Autonomie der Einzelſtaaten. Beiſpiele bei Heinze
S. 32 ff. und in deſſen Erörterungen zu dem Entw. des St.-G.-B.’s (1870)
S. 24 ff. Vgl. auch Rüdorff, Kommentar z. St.-G.-B. 2. Aufl. S. 48 ff.
Für das Handelsgeſetzb. u. die Wechſel-Ordn. iſt reichsgeſetzlich aner-
kannt, daß Ergänzungen durch die Landesgeſetzgebung ſtatthaft ſind, und
die landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche nur eine Ergänzung derſelben ent-
halten, ſind bei der Erklärung jener Geſetzbücher zu Reichsgeſetzen in Kraft
erhalten worden. Geſ. v. 5. Juni 1869 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 379). Vgl. Thöl,
Handelsr. I. S. 71 (5. Aufl.).
rechtlichen Vorſchriften der Landesgeſetze treten für alle bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten, deren Entſcheidung nach den Vorſchriften der Civilproceßordnung
zu erfolgen hat, außer Kraft, ſoweit nicht in der Civilprozeßordn. auf ſie
verwieſen oder ſo weit nicht beſtimmt iſt, daß ſie nicht berührt
werden.“ Die §§. 15 u. 16 enthalten einen Katalog von landesgeſetzlichen
Vorſchriften, welche „unberührt bleiben.“ Vgl. ferner das Einf.-Geſ. zur
Strafproceß-Ordn. §. 6 und zur Konkurs-Ordn. §. 4.
verſtändlich und deshalb überflüſſig. Bei weitem zweckmäßiger wäre es, wenn
die Reichsgeſetze in dieſen Fällen die entgegengeſetzte Formulirung enthielten,
daß die Landesgeſetze in Kraft bleiben, ſo weit ſie mit den Beſtimmungen
des Reichsgeſetzes nicht in Widerſpruch ſtehen, denn dies iſt eben nicht ſelbſt-
verſtändlich.
fugniß der Einzelſtaaten ausdrücklich anerkennt, nennt ſolche Anordnungen
fälſchlich: „Uebergangsbeſtimmungen“. Vgl. Heinze S. 109. Wirkliche
Uebergangsbeſtimmungen kann der Regel nach nur das Reich geben,
falls dieſelben die Zeit nach Einführung des Reichsgeſetzes berühren, der
Einzelſtaat, falls ſie die Zwiſchenzeit bis zum Inkrafttreten des neuen Reichs-
geſetzes betreffen. Das Einf.-Geſ. z. Strafproceß-Ordn. §. 8; das
Einf.-Geſ. zur Civilproc.-Ordn. §. 18 Abſ. 2. §. 21 Abſ. 2. §. 23
Abſ. 2; das Einf.-Geſ. z. Konc.-Ordn. §. 8 Abſ. 2. §. 12. 13 ermäch-
tigen die Einzelſtaaten zum Erlaß eigentlicher Uebergangsbeſtimmungen.
zu Reichsgeſetzen. Siehe oben S. 83 fg.
in Hirth’s Annalen 1873 S. 448 ff.
ſtrafr. und Landesſtrafr. S. 16 (Allgem. Deutſche Strafrechtszeitung 1871).
Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 247.
gen Anmerk. angeführten Schriftſteller. Unrichtig iſt es daher, wenn Riedel
S. 83 lit. e dieſe Prüfung den Behörden „in Ermanglung einer ſpe-
ziellen reichs- oder landesgeſetzlichen Beſtimmung oder einer ſonſtigen
verbindlichen Erklärung der hiezu berufenen Organe (?)“ zugeſtehen will.
richt zu Dresden durch Erk. v. 27. Sept. 1872 (Goltdammer’s Archiv
Bd. XX. S. 97 ff.) die Königl. Sächſ. Verordn. v. 10. Dez. 1870 für unwirk-
ſam erklärt, welche in Folge deſſen aufgehoben wurde. Rüdorff, Kom-
mentar (2. Aufl.) S. 50.
Beiſpiel eines ſolchen Vorganges iſt oben Bd. I. S. 266 Note 1 mitgetheilt. In
einem anderen Falle hat der Bundesrath durch Beſchluß anerkannt (Protok. 1873
§. 134): „daß der Erlaß landesgeſetzlicher Beſtimmuugen in Beziehung auf
Forſt- und Feldpolizei-Straffälle und auf den Holz-(Forſt) Diebſtahl durch
§. 2 Abſ. 2 des Einf.-Geſ. zum St.-G.-B. v. 31. Mai 1870 nicht ausge-
ſchloſſen ſei.“
General-Gouvernem. im Elſaß. Straßb. 1874 S. 8 ff.
die occupirten Diſtrikte des Elſaſſes, durch Verordn. v. 21. Aug. 1870
aber auch die lothringiſchen Arrondiſſements Saarburg, Chateau-Salins,
Saargemünd, Metz und Thionville unterſtellt worden. (Verordnungen und
Amtl. Nachrichten f. Elſ.-Lothr. Nro. 2 u. 3.)
Cabinets-Ordre vom 26. Aug. 1870 ergibt. Verordn. u. Amtl. Nachr. Nr. 4.
befehlshaber der Deutſchen Heere“ ſelbſt erlaſſen werden konnten. Beiſpiele
ſind die Verordnungen über das Poſttaxweſen v. 28. Oct. 1870 und die V.
über die Beſtrafung des Anſchluſſes an die feindlichen Streitkräfte v. 15. Dez.
1870 (Verordnungen und Amtl. Nachrichten Nro. 36. 77).
thenticität kommt derſelben nicht zu.
rechtzeitige Verkündigung des Geſetzes in Elſaß-Lothringen Sorge ge-
tragen hätte.
§. 20 fg. (G.-Bl. f. E.-L. S. 171.).
wendbar.
Reichstage traten in dieſer Hinſicht ſehr verſchiedene Anſichten hervor. Von
einigen Rednern wurde die Auffaſſung zur Geltung gebracht, daß der Kaiſer
bei der Geſetzgebung für Elſ.-Lothringen dem Bundesrathe gegenüber dieſelbe
Stellung habe, wie ſie ihm nach Art. 5 der R.-V. zukomme. So namentlich
in den Berathungen der Kommiſſion v. Mittnacht, und in der Sitzung des
Reichstages v. 20. Mai 1871 die Abgeordneten Wagner und Windthorſt
(Stenogr. Ber. S. 820. 822). Von anderer Seite wurde die ausdrückliche
Anerkennung des kaiſerlichen Veto in dem Geſetze gewünſcht, insbeſondere von
den Abgeordneten v. Treitſchke und v. Kardorff (Stenogr. Ber. S. 817.
844). Miniſter Delbrück und Andere machten dagegen geltend, daß es dem
Einfluß der Kaiſerl. Regierung ohnedies gelingen würde, die Mehrheit im
Bundesrathe in wichtigen Fragen zu erlangen. Mit vorzüglicher Klarheit
führte indeſſen der Abgeordnete Lasker aus, daß die Stellung des Kaiſers
im Reichslande, wie ſie durch das Einverleibungsgeſetz begründet werden ſollte,
eine weſentlich andere ſei wie die Stellung des Kaiſers als Bundespräſidium
nach der Reichsverf. (Stenogr. Berichte S. 827. 828). Den hier in Betracht
kommenden Satz ſprach endlich auf das Beſtimmteſte Fürſt Bismarck aus,
indem er erklärte, er könne als Reichskanzler im Bundesrathe „nicht majoriſirt
werden, ohne Zuſtimmung des Kaiſers iſt kein Geſetz möglich.“ (Stenogr.
Berichte S. 924.) — Die Frage iſt ſeit Einf. der Reichsverfaſſung in Elſaß-
Lothringen ohne praktiſche politiſche Bedeutung, und nur ſtaatsrechtlich von
Intereſſe.
wurde, beruhte auf dem Beſtreben, die Vorſtellung auszuſchließen, als hätten
die Anordnungen des Kaiſers nur proviſoriſche Geltung und wäre eine nach-
trägliche Genehmigung des Reichstages erforderlich.
(G.-Bl. S. 292), ſondern auch die V. v. 15. Okt. 1875 (G.-Bl. S. 183) er-
gangen. Im Allgemeinen muß allerdings beſtritten werden, daß während des
Proviſoriums Anordnungen getroffen werden durften, durch welche die Formen
der Geſetzgebung für die Zeit nach Einführung der R.-V. abweichend von
den Beſtimmungen des Reichsrechts normirt worden wären. Denn das Geſ.
v. 9. [Juni] 1871 enthielt eine zeitlich begränzte Delegation für den Kaiſer;
dem Staatsoberhaupt oder den Verwaltungsbehörden die Befugniß zum Erlaß
von Verordnungen u. ſ. w. übertragen.
kann alſo vorher nicht rechtliche Gültigkeit erlangt haben.
auf Grund derſelben ſeine Geſetzgebungs-Befugniß verlängert. Mit Einf.
der R.-V. ſollte die Theilnahme des Reichstages an der Geſetzgebung eintreten;
es konnte daher nicht während des Proviſoriums angeordnet werden, daß die
Form der Geſetzgebung für gewiſſe Gegenſtände ausgeſchloſſen bleiben ſolle.
Das Geſ. v. 15. Okt. 1873 §. 2 wiederholt aber nur einen Satz, der für das
Reich bereits durch das Geſ. v. 2. Juni 1869 §. 3 Anerkennung gefunden
hatte. — Auch das Geſetz v. 13. Juli 1873 (G.-Bl. S. 165) führt an Stelle der
bis dahin erforderlichen Form des Geſetzes die Form der Kaiſerl. Ver-
ordnung ein für die Ermächtigung der Bezirke, Gemeinden und anderen
Korporationen zur Aufnahme von Anleihen und zur Erhebung von Steuerzu-
ſchlägen. Dieſer Fall betrifft nicht die Normirung des Rechts, ſondern die
ſtaatliche Aufſicht über die Finanzwirthſchaft der Bezirke, Gemeinden u. ſ. w.,
alſo die Verwaltung; iſt aber immerhin bedenklich.
iſt bereits oben S. 89 fg. ausgeführt worden.
führung des §. 29 der Gewerbe-Ordnung, mit welchem zugleich die vom Bun-
desrath beſchloſſenen Ausführungsbeſtimmungen verkündet worden ſind (G.-Bl.
1872 S. 534 ff.) und das Geſetz v. 27. Jauuar 1873, betreffend die Einfüh-
rung des Geſetzes zum Schutz des Urheberrechtes, mit welchem zugleich die
Bundesraths-Verordnung v. 12. Dez. 1870 über die Zuſammenſetzung und
den Geſchäftsbetrieb der Sachverſtändigen-Vereine verkündet worden iſt (G.-Bl.
1873 S. 19. 34).
des Branntweinſteuergeſetzes.
§. 18. Geſ. v. 17. Juli 1871 §. 2. Einf.-Geſ. zum Strafgeſetzb. v. 30. Aug.
1871 Art. XVI. Verwaltungs-Geſ. v. 30. Dez. 1871 §. 18. Einf.-Geſ. zum
Handels-Geſ. u. Wechſ.-Ordn. v. 19. Juni 1872 §. 34. Geſ. v. 1. Dez. 1873
§. 15. Geſ. v. 26. Dez. 1873 §. 8.
1871 über die Gerichtsverfaſſ. §. 2 Abſ. 3 u. §. 16. Geſ. v. 14. Juli 1871
über die [Quartierleiſtung] §. 3. Das Geſ. v. 14. Juli 1871 über die Berg-
behörden Art. 8. Geſ. v. 17. Juli 1871 über die Einf. der Zoll- u. Steuer-
geſetze §. 4. Das Verwaltungsgeſetz v. 30. Dez. 1871 §. 14. Das Forſtgeſetz
v. 30. Dez. 1871 §. 8 u. 9. Das Schulgeſetz v. 12. Febr. 1873 §. 4. Das
Weinſteuergeſ. v. 20. März 1873 §. 38. Das Expropriationsgeſ. v. 1. Dez.
1873 §. 29. Ein Geſetz, welches lediglich die Aufhebung der beſtehenden Vor-
ſchriften ausſpricht und den Reichskanzler ermächtigt, andere an deren Stelle
zu erlaſſen, iſt das Geſ. v. 13. Januar 1873 (G.-Bl. S. 14.).
kündet worden, aber ohne Einführungsgeſetz, was ein formelles Ver-
ſehen iſt. — Ebenſo iſt die geſetzliche Einführung des Poſttax-Geſetzes vom
17. Mai 1873 und des den Art. 13 Nro. 4 der R.-V. abändernden Geſetzes
v. 20. Dez. 1873 verabſäumt und dieſes Verſehen erſt durch das Reichsgeſetz
v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. S. 9) gut gemacht worden.
durchaus anderen Sinn als für die Bundesglieder.
dafür bieten das Einf.-Geſ. zum Strafgeſetzbuch Art. XVI. und das Einf.-
Geſ. zum Handelsgeſetzb. §. 32. — Dieſe Einführungsgeſetze vereinigen in ſich
Anordnungen, welche im übrigen Reiche theils der Geſetzgebung des Reiches
theils der Geſetzgebung der einzelnen Staaten unterliegen. Vgl. auch Förtſch
und Leoni in Rüdorff’s Kommentar zum St.-G.-B. (2. Aufl.) S. 571.
Elſ.-Loth S. 441 verkündet worden.
Geſetz über den Schutz des Urheberrechts u. ſ. w. ſind in Elſaß-Lothringen
S. 373 fg. kommt grade zu dem entgegengeſetzten Reſultat; er erklärt alle
vor Einf. der R.-V. in Elſaß-Lothr. erlaſſenen Geſetze für Landesgeſetze,
auch z. B. das Strafgeſetzb., Handelsgeſetzb. u. ſ. w. Es beruht dies auf der
Verwechslung des Begriffes des Landesgeſetzes mit Geſetzen, die auf einem
anderen als dem in der Reichsverf. vorgeſchriebenen Wege vom Reiche für
einen Theil des Reichsgebietes erlaſſen werden.
geſetzen zugleich die auf Grund derſelben ergangenen Ausführungs-Verord-
nungen durch Geſetz eingeführt worden. So durch das Geſ. v. 14. Juli
1871 (G.-Bl. S. 187) nicht blos das Geſ. v. 25. Juni 1868, ſondern auch
die zur Ausführung deſſelben erlaſſene „Inſtruction“ v. 31. Dez. 1868; ferner
durch das Geſ. v. 11. Dez. 1871 (G.-Bl. S. 386) nicht blos das Kautions-
geſetz v. 2. Juni 1869, ſondern auch die zur Ausführung deſſelben ergangenen
Kaiſerl. Verordnungen. In ſpäteren Fällen hat man die richtigere Form ge-
wählt, die Ausführungsverordnungen im Einf.-Geſetz nicht zu erwähnen. Aber
auch in den angegebenen Fällen iſt ihre Abänderung im Verordnungswege
auch nach Einf. der Reichsverf. für zuläſſig zu erachten, da das eingeführte
Reichsgeſetz ſelbſt dieſe Form anerkennt. Dadurch wird die Anwendung der
ſonſt geltenden Regel ausgeſchloſſen, daß die Einführung einer Verordnung durch
Geſetz den Inhalt der Verordnung mit formeller Geſetzeskraft ausſtattet.
1871 eingeführt worden, ſtehen alſo in dieſer Hinſicht den Geſetzen völlig gleich,
welche Gegenſtände betreffen, auf die ſich die Kompetenz des Reichs nach der
Reichsverfaſſung nicht erſtreckt.
beſtimmt: Landesgeſetze — werden — erlaſſen —; darauf folgt dann im
§. 2 der Zuſatz: „Die Erlaſſung von Landesgeſetzen (§ 1) im Wege der
Reichsgeſetzgebung bleibt vorbehalten.“ Dadurch iſt das Verhältniß, in
welchem die beiden Wege der Geſetzgebung zu einander ſtehen, zwar im All-
gemeinen charakteriſirt, beſtimmte Vorausſetzungen aber, unter denen
von dem Vorbehalt des §. 2 Gebrauch gemacht werden ſoll oder darf, ſind
nicht feſtgeſtellt worden.
Einberufung und den Geſchäftsgang des Landes-Ausſchuſſes. Der Erl. vom
13. Febr. 1877 (G.-Bl. f. E.-L. S. 9. R.-G.-Bl. S. 493) änderte ihn ab,
indem die Wahl von zwei Vicepräſidenten geſtattet wurde. Die zur Ausfüh-
rung des Erl. erforderlichen Anordnungen hat der Reichskanzler durch V. v.
23. März 1875 (G.-Bl. S. 63) getroffen.
vorbehaltene Weg der Reichsgeſetzgebung beſchritten wird.
führt wurde, die Zuſtimmung des Bundesrathes etwas weſentlich Anderes be-
deutet wie die Zuſtimmung des Reichstages, werden im Art. 5 der R.-V. und
in der Promulgationsformel der Reichsgeſetze beide ganz gleichartig neben
einander genannt. Für die Landesgeſetze von Elſaß-Lothringen dagegen, bei
deren Zuſtandekommen Bundesrath und Landesausſchuß in der That ganz
gleiche Funktionen haben, beſtimmt §. 1 des Geſetzes v. 2 Mai 1877 mit
einer ſtyliſtiſchen Geſchmackloſigkeit, die bei den R.-G. leider nicht ſelten iſt:
„Landesgeſetze … werden mit Zuſtimmung des Bundesraths vom
Kaiſer erlaſſen, wenn der … Landesausſchuß denſelben zugeſtimmt hat.“
III. Nro. 177) berühren dieſe Frage, entſcheiden ſie aber ohne zutreffende
Gründe im entgegengeſetzten Sinn. Art. 2 der R.-V. muß auf die für E.-L.
erlaſſenen Geſetze uneingeſchränkte Anwendung finden, weil das Geſetz
vom 25. Juni 1873 die R.-V. in Elſaß-Lothr. „mit der Maßgabe“ ein-
führte, daß dem in Art. 1 der Verf. bezeichneten Bundesgebiete das Gebiet
des Reichslandes hinzutritt, und weil das Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 4
die Geſetzgebungskompetenz des Reiches auch auf die der Reichsgeſetzgebung in
den Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten erſtreckt hat.
geſetze für E.-L. hat das bisherige Verfahren die Folge, daß manche Geſetze
doppelt, nämlich im Reichs-Geſetzbl. und im Geſetzbl. f. E.-L. verkündigt
werden. So z. B. das Geſ. v. 15. Nov. 1874 (Münzgeſ.) im R.-G.-Bl. S.
131, ausgegeben am 19. November und im Geſetzbl. f. E.-L. S. 39, ausge-
geben am 25. Nov.; das Geſ. v. 19. Dez. 1874 (Maß- u. Gew.) im R.-G.-Bl.
1875 S. 1 (ausgegeb. am 11. Januar) und im Geſetzbl. f. E.-L. S. 1 (aus-
gegeben am 5. Januar); das Geſ. v. 8. Februar 1875 im R.-G.-Bl. S. 69
(22. Febr.) und im Geſetzbl. f. E.-L. S. 9 (19. Febr.); das Geſ. v. 11. Febr.
1875 im R.-G.-Bl. S. 61 (18. Febr.), im Geſetzbl. f. E-L. S. 49 (vom 23.
Febr.). Dieſe doppelte Verkündigung eines und deſſelben Geſetzes widerſpricht
nicht nur dem juriſtiſchen Begriffe der Geſetzes-Verkündigung, ſondern führt
auch zu dem ſonderbaren Reſultat, daß der Tag, an welchem das Geſetz in
Wirkſamkeit tritt, ſich verſchieden beſtimmt, je nachdem die vierzehntäge Friſt
f. E.-L. berechnet wird.
des Geſ. v. 9. Juni 1871 erlaſſenen Geſetze völlig gleich. Vgl. oben S. 138.
für Elaß-Lothringen durch welche irgend eine Belaſtung des Reichs her-
beigeführt wird.“
der Ausdruck „Reichsgeſetz“ mehrdeutig iſt. Aus den Motiven zu dieſem
Geſetze S. 12 (Druckſachen 1873 IV. Seſſ. Bd. III. Nr. 177) ergiebt ſich aber,
daß die Verordnungen nur im Bereiche der Landesgeſetzgebung und inner-
halb dieſes Bereiches nur unter Wahrung der im Wege der Reichsgeſetz-
gebung erlaſſenen (landesgeſetzlichen) Vorſchriften geſtattet werden ſollten.
einer Beſchlußfaſſung über dieſelbe nicht gelangt, ſo bleibt die Verordnung in
Geltung; denn nur die Verſagung der Genehmigung entzieht ihr die Kraft;
dazu bedarf es eines Beſchluſſes des Reichstages. Hieraus ergiebt ſich,
daß die Verordnungen nicht eine proviſoriſche, ſondern eine reſolutiv bedingte
Geſetzeskraft haben.
Preußiſchen Verfaſſungs-Urkunde erlaſſenen Verordnungen eine andere Auf-
faſſung vorherrſchend; dieſelbe iſt aber auf Art. 106 der Verfaſſungs-Urkunde
geſtützt und daher auf das Reichsland nicht übertragbar, da dort eine ähnliche
Geſetzesbeſtimmung nicht beſteht.
theilung der Genehmigung Seitens des Reichstages in ein Geſetz um-
wandele. Ein Geſetz im materiellen Sinne iſt ſie von Anbeginn an, ein
Geſetz im formellen Sinne wird ſie auch durch die ertheilte Genehmigung
nicht, ſondern ſie behält die Form der Verordnung. Vgl. Bd. I. S. 513. 514.
II. Seſſion, Mai 1876 vorgelegt wurde, enthalten die ausdrückliche Bemer-
kung, daß die im §. 8 des Geſ. v. 25. Juni 1873 ertheilte Befugniß „von
dem Geſetzentwurfe nicht berührt“ wird. Verhandlungen des Landes-
ausſchuſſes v. E.-L. II. Seſſ. (Straßb. 1876) Bd. I. Nro. 2. Ebenſo die
Motive des dem Reichstage vorgelegten Entwurfes. Druckſachen des
Reichstages, I. Seſſ. 1877 Bd. I. Nro. 5. Auch der Abg. Hänel, der an
erſter Stelle den Antrag unterzeichnet hat, auf welchem die definitive Faſſung
des Geſetzes beruht (Druckſ. a. a. Ort Nro. 60), hat dies ausdrücklich hervor-
gehoben (Stenogr. Berichte des Reichst. S. 280) und ebenſo der Unter-
ſtaatsſecretär Herzog (ebendaſ. S. 281).
vom Reichstage abgelehnt, nachdem ſowohl der Abgeordnete Hänel als der
Unterſtaatsſecretär Herzog ſich dagegen ausgeſprochen hatten. Stenogr. Be-
richte S. 280. 281.
der ordentliche Weg der Reichsgeſetzgebung vorbehalten.
Die Fähigkeit des Staates, Staatsverträge abzuſchließen, iſt kein Theil der
Staatsgewalt, der von anderen Theilen derſelben irgendwie abgegränzt wäre,
ſo wenig wie die Fähigkeit einer Privatperſon, Contracte zu ſchließen, ein
Theil der Perſönlichkeit iſt.
anführen, daß Geſetze oder Verordnungen auf Grund oder Behufs Erfüllung
völkerrechtlicher Vereinbarungen erlaſſen worden ſind, ohne daß die letzteren
verkündigt worden ſind. So das Geſetz vom 30. März 1874 und die Verord-
nung vom 23. Dez. 1875 wegen Einſchränkung der Konſulargerichtsbarkeit in
Egypten, während die Uebereinkunft mit Egypten nicht veröffentlicht iſt; ferner
ſind die internationalen Telegraphen-Konventionen nicht verkündet, wohl aber
auf Grund derſelben die Telegraphen-Ordnungen v. 21. Juni 1872 und vom
24. Januar 1876 erlaſſen worden; ebenſo liegt der Bekanntmachung vom
31. Okt. 1873 (R.-G.-Bl. S. 366) betreffend die portopflichtige Korreſpondenz
mit Oeſterreich ſelbſtverſtändlich ein Uebereinkommen mit der Oeſterreichiſchen
Regierung zu Grunde; die Bundesraths-Verordnung v. 8. Juli 1874 zur Er-
gänzung der Schiffsvermeſſungs-Ordnung (Centralbl. 1874 S. 282) iſt erlaſſen
„im Anſchluß an die von der internationalen Kommiſſion zur Regelung der
Abgaben auf dem Suezkanal gefaßten Beſchlüſſe“ u. ſ. w.
an den Staatsvertrag ſich ein Geſetz oder eine Verordnung anſchließen. So
iſt z. B. das Salzſteuergeſetz v. 12. Oktober 1867 (G.-Bl. S. 41) ſeiner
eigenen Angabe in den Eingangsworten gemäß erlaſſen worden „in Folge
der zwiſchen den Staaten des Deutſchen Zoll- und Handelsvereins am 8. Mai
d. J. abgeſchloſſenen, hier beigefügten Uebereinkunft“ … Ebenſo iſt das
Geſetz v. 2. Nov. 1871 (R.-G-Bl. S. 375) betreff. die St. Gotthard-Eiſenbahn
äußerlich getrennt von dem Vertrage v. 28. Okt. 1871, welche bei der Publi-
S. 330 ff., welche leicht vermehrt werden können.
(R.-G.-Bl. S. 329) wegen Uebernahme der Wilh.-Luxemb. Eiſenb. und dem
beigefügten Vertrage vom 11. Juni 1872.
Abſchluß von Staatsverträgen Leipzig 1874. S. 91 ff., ſo daß eine Wieder-
holung der Citate hier entbehrlich ſcheint. Einige derſelben finden ſich auch
bei Gorius in Hirth’s Annalen 1874 S. 762 ff.
den Abſchluß und über die Ausführung von Staatsverträgen nehmen Meier
und Gorius in den angeführten Abhandlungen zum Ausgangspunkte ihrer
Deduktionen.
Gneiſt über Art. 48 der Preuß. Verf.-Urk. (Druckſ. des Hauſes der Abge-
ordneten 1868 Nr. 236.) Daſſelbe iſt in dem citirten Werke von Meier als
Anhang abgedruckt. Vgl. ferner die ausführlichere und gründliche Darſtellung,
welche Meier ſelbſt a. a. O. S. 115 ff. giebt.
über Gneiſt a. a. O. unter Nr. IV. und v. Rönne, Preuß. Staatsr. I.
1 §. 77 S. 467 ff., deſſen Ausführungen ich im Weſentlichen für richtig und
zutreffend halte. Eine andere Auffaſſung hat Meier S. 212 ff. vertheidigt,
welcher Schulze, Preuß. Staatsrecht II. S. 826 zuſtimmt.
verträgen nur unter Zuſtimmung des Senats legitimirt, während
dem Repräſentantenhauſe keine Theilnahme am Abſchluſſe, ſondern nur an
der Vollziehung zuſteht. RüttimannI. §. 249 ff. Meier a. a. O. S.
163 ff. Nach der Verfaſſung der Schweiz v. 29. Mai 1874 iſt der Bundes-
rath beſchränkt auf die „Wahrung der Intereſſen der Eidgenoſſenſchaft nach
Außen“ und auf die „Beſorgung der auswärtigen Angelegenheiten“ (Art. 102
Nro. 8), dagegen gehört der Abſchluß von Bündniſſen und Verträgen mit dem
Auslande zur Kompetenz der Bundesverſammlung (Art. 85 Nro. 5)
und für das Bundesgericht ſind die von der Bundesverſammlung geneh-
migten Staatsverträge maßgebend (Art. 113 Abſ. 3). Dieſelben Grund-
ſätze galten auch nach der früheren Bundesverfaſſung. RüttimannI. §. 256.
— Im ehemaligen Deutſchen Reich konnte der Kaiſer nur mit Zu-
ſtimmung des Reichstags Verträge mit fremden Staaten abſchließen. Inſtr.
Pac. Oſnabr. Art. VIII. §. 2. Wahlcapitul. Art. VI. §. 4. Vgl. Pfef-
finger, Vitriar. illuſtr. III. 3. §. 21 (T. IV. p. 397—430). — Ueber die
Verfaſſungsbeſtimmungen der Deutſchen Einzelſtaaten vgl. Meier S. 106.
110 ff. Zachariä, Staatsr. II. §. 236 Note 8.
der Satz. Bei den Berathungen der Regierungs-Kommiſſare über den Preuß.
Entw. wurde das Erforderniß der Zuſtimmung des Bundesrathes hinzugefügt,
das Erforderniß der Genehmigung des Reichstags wurde von dem verfaſſungs-
berath. Reichstag auf Grund eines Antrages des Abg. Lette eingeſchaltet,
ohne daß bei der Debatte über den Art. 11 in der Sitzung vom 26. März
1867 die Bedeutung des Amendements erörtert worden iſt. Stenogr. Be-
richte S. 374.
lichen Kompetenzgränzen zwiſchen Reich und Einzelſtaat aufhebende Aus-
legung, wofern nur Zweck und Inhalt des Staatsvertrages ſich innerhalb der
Aufgaben halten, welche in der Einleitung zur R.-V. angegeben ſind. Ihm folgt
Gorius Hirth’s Annalen 1874 S. 771.
Riedel S. 106 Ziff. 11.
hat ſich trotz ihrer Abſurdität ein Vertheidiger gefunden, nämlich Gorius
in Hirth’s Annalen 1875 S. 546 ff.
Meier a. a. O. S. 294 ff. ausgelegt.
völkerrechtliche Wirkſamkeit, ſo daß ein vom Kaiſer geſchloſſener Vertrag nichtig
iſt, wenn er nicht die Zuſtimmung des Bundesrathes und die Genehmi-
gung des Reichstages erlangt hat, ſchreiben dem Abſ. 3 zu Thudichum
S. 91 ff. 127 v. Mohl, Reichsſtaatsr. S. 304. Gorius a. a. O. und beſon-
ders E. Meier a. a. O. S. 275 ff. Dagegen unterſcheiden v. Rönne, Ver-
faſſungsr. des D. R. S. 60 ff. (1. Aufl. — Die zweite Aufl. behandelt dieſe
Lehre bis jetzt noch nicht) und Seydel, Komment. S. 118 zwiſchen der Zu-
ſtimmung des Bundesrathes zum Abſchluß und der Genehmigung des
Reichstages zur Gültigkeit; die erſtere ſei ein Erforderniß der völker-
rechtlichen Verbindlichkeit, die letztere dagegen nur ein Erforderniß der ſtaats-
rechtlichen Vollziehbarkeit. — Beide Anſichten ſind, wie im Folgenden dargethan
werden wird, meines Ermeſſens unrichtig.
pflichten nach Außen und der verfaſſungsmäßig beſchränkten Verfügungsgewalt
des Staatsoberhaupts im Innern beſteht, iſt demnach unbegründet. Richtig
iſt nur, daß ein Widerſpruch entſtehen kann, wenn der Kaiſer einen Vertrag
ohne Vorbehalt ratifizirt, zu deſſen Vollziehung er ohne die Zuſtimmung des
Bundesrathes und Reichstages nicht befugt iſt.
Bundes, während Abſ. 2 erſt bei dem Hinzutritt der ſüddeutſchen Staaten ein-
geſchaltet wurde. Dies ändert aber Nichts an dem Satze, daß die Reichsver-
faſſung als ein einheitliches Geſetz aus ſich ſelbſt ausgelegt werden muß, ſo
daß ihre einzelnen Beſtimmungen unter einander im Einklang bleiben. Dieſe
Interpretationsregel hebt Meier ſelbſt S. 195 mit Recht hervor.
Hauptnachdruck darauf gelegt, ob durch das Zuſtimmungsrecht der Volksver-
tretung zum Abſchluß von Staatsverträgen die Einheitlichkeit der Aktion nach
Außen für die Regierung beſchränkt wird, oder nicht, reſp. in wie weit
dies zuläſſig ſei. Dieſer Geſichtspunkt iſt m. E. ein unrichtiger. Die freie
Bewegung der Regierung bei der Führung von Verhandlungen mit fremden
Staaten wird in beiden Fällen in gleichem Maße beſchränkt, mag die
völkerrechtliche Gültigkeit oder nur die ſtaatsrechtliche Vollziehbarkeit der Ver-
träge von der Genehmigung der legislativen Körperſchaften abhängig gemacht
ſein. Der Unterſchied beſteht nur darin, daß die erſte Anſicht den fremden
Staat an der Löſung der inneren ſtaatsrechtlichen Frage unmittelbar und
direct betheiligt und ihm ein eigenes ſelbſtſtändiges Urtheil über die ſtaats-
rechtlichen Befugniſſe des Staatsoberhauptes zur rechtlichen Pflicht macht,
während die zweite Anſicht die Löſung der ſtaatsrechtlichen Frage von der
Einmiſchung des fremden Staates abſchließt und ihn auf die Prüfung der
formellen Legitimation beſchränkt.
von Staatsverträgen nicht befugt war, ſondern der Reichstag, ſo ſtand dies
im vollen Einklang mit der geſammten Verfaſſung. Ohne Zu-
ſtimmung des Reichstages konnte der Kaiſer auch auf dem Gebiet der aus-
wärtigen Politik keine Entſcheidung treffen, kein Bündniß ſchließen, keinen
Krieg erklären, keinen Frieden vereinbaren; er konnte ohne Beſchluß des Reichs-
tages kein Truppencontingent aufbieten, als die ſeines eigenen Staates; er
hatte keinen Kriegsſchatz zur Verfügung. Die Geſandten auswärtiger Mächte
waren beim Reichstage beglaubigt, ſie traten mit demſelben in geſchäftlichen
Verkehr, ihnen wurden die Beſchlüſſe des Reichstages in den mit ihnen ver-
handelten Angelegenheiten offiziell mitgetheilt u. ſ. w. Pfeffinger,
Vitriar. illustr. III. 2 §. 71 (T. IV. p. 357 sqq.). Im jetzigen Deutſchen
Reich iſt dies Alles anders; dem Kaiſer ſind Machtbefugniſſe eingeräumt,
welche ihn gleichſam von ſelbſt zum Vertreter des Reiches nach Außen machen,
ſo daß eine Auslegung des Art. 11 Abſ. 3, welche ſeine Legitimation theil-
weiſe aufhebt, die Harmonie des Verfaſſungsbaus ſtört, während die Rechte
des Bundesrathes und Reichstages vollkommen gewahrt bleiben, wenn jede
Veränderung der beſtehenden Geſetze innerhalb des Reiches nur mit ihrer
Zuſtimmung erfolgen darf.
Stenogr. Berichte S. 518. 519.
die Aeußerung des Abgeordneten Erxleben „noch auffallender“, die Inter-
pretation, welche der Abg. Lette ſeinem eigenen Amendement gab, „am aller-
auffallendſten“ (a. a. O. S. 278. 279). In der That auffallend iſt aber, daß
Meier durch dieſe authentiſchen Erklärungen über den Sinn des Art. 11
nicht zu der Ueberzeugung gelangt iſt, daß ſeine eigene Auslegung deſſelben
unrichtig iſt.
rius, indem derſelbe bald die Genehmigung des Reichstages für eine
Suſpenſivbedingung erklärt, durch deren Eintritt der Staatsvertrag Gültigkeit
wurde in dem Schluß-Protokoll am Ende (B.-G.-Bl. 1867 S. 112) „konſtatirt,
Reſolutivbedingung, durch deren Eintritt der gültig geſchloſſene Vertrag inva-
lidirt wird (Hirth’s Annalen 1875 S. 537 ff.).
vorbehalten iſt, z. B. in dem Vertrage mit Frankreich v. 12. Okt. 1871 Art.
12 (R.-G.-Bl. S. 368) ſind der Bundesrath und Reichstag einander
vollkommen gleichgeſtellt worden. Vgl. auch den Vertrag mit der Schweiz
v. 24. Januar 1874 Art. 16 (R.-G.-Bl. 1874 S. 119).
deſſen Präſidium zu erfolgen habe.“ Vgl. auch die Poſtverträge mit
Oeſterreich und mit Luxemburg vom November 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 96.
115). „Die Ratifikation des Vertrages für den Norddeutſchen Bund erfolgt
durch deſſen Präſidium.“
wird in der Schweizeriſchen Ratifikations-Urkunde bezeugt, daß der Ver-
trag „vom Nationalrathe am 31. Januar und vom Ständerathe am 2. Juni
dieſes Jahres genehmigt worden iſt.“ Dieſer Klauſel ſteht in der daneben
abgedruckten Deutſchen Ratifikations-Urkunde ein leerer Raum gegenüber.
1867. B.-G.-Bl. 1867 S. 108. — R.-V. Art. 40.
G.-Bl. 1871 S. 23) Art. XI.
und mit Belgien v. 8. Okt. 1875 wegen Verzichts [auf] die Beibringung
von Trau-Erlaubnißſcheinen (Centralbl. 1875 S. 155 u. 719); mit Frank-
reich vom 7. Okt. 1874 wegen Abgränzung der Diöceſen (R.-G.-Bl. 1874
S. 123); mit England v. 14. April 1875 wegen Declaration des Art. 6
ſchieht überaus häufig; Anwendungsfälle bieten die zahlreichen Uebereinkom-
men wegen Anerkennung der Schiffsvermeſſungs-Papiere (z. B. Centralblatt
1873 S. 163. 316. 1874 S. 323 1876 S. 26. 221 u. ſ. w.), wegen wechſel-
ſeitiger Unterſtützung Hülfsbedürftiger (z. B. Centralbl. 1873 S. 281. 1874
S. 31. 1875 S. 475), wegen Schutzes der Waarenbezeichnungen ꝛc. (R.-G.-Bl.
1872 S. 293. 1873 S. 337. 1875 S. 259. 301. 1876 S. 169. 1877 S. 406)
u. ſ. w.
durch einen zum Abſchluß nicht kompetenten Bevollmächtigten vereinbart
oder iſt der definitive Abſchluß durch ein auf Seiten des andern Contrahenten
liegendes Hinderniß verzögert, ſo kann auch die Ratifikation durch den Reichs-
kanzler vorbehalten werden. So iſt z. B. die Uebereinkunft mit der
Schweiz v. Aug. 1873 wegen Errichtung einer Deutſchen Zollabfertigungs-
ſtelle in Baſel, Seitens der Schweiz von der Bundesverſammlung ge-
nehmigt und formell ratifizirt worden, während Seitens des Deutſchen
Reichs die Ratifikation folgende Form hat: „Vorſtehende Uebereinkunft wird
im Namen des Deutſchen Reiches genehmigt. Berlin, 23. Auguſt 1873. Der
Reichskanzler. In Vertretung. Delbrück.“ (Amtl. Geſetzſammlung der Schweiz.
Eidgenoſſenſch. 1874 Bd. XI. S. 364.) Die Frage, in welcher Form Verein-
barungen abgeſchloſſen werden ſollen, iſt ſchon häufig zum Gegenſtand der Be-
land über den Handels- und Schifffahrtsverkehr im Sulu-Archipel vom 11.
März 1877 (Centralblatt 1877 S. 271). Die letztere iſt dem Reichstage „zur
Kenntniß“ gebracht worden. Druckſachen 1877 Bd. II. Nro. 205.
Verwaltungsbehörden getroffenen Vereinbarungen die Ratifikation des
Kaiſers vorbehalten wird, ſo iſt die Vertragsſchließung eine ſolenne. Vgl.
z. B. die Vereinbarungen zwiſchen dem Generalpoſtamt des Nordd.
Bundes mit der Poſtverwaltung von Nordamerika v. 21. Okt. 1867 (B.-G.-Bl.
1868 S. 26) und mit dem Generalpoſtamt von England v. 25. April 1870
(B.-G.-Bl. 1870 S. 565). Eine in nicht ſolenner Form geſchloſſene Ueberein-
kunft kann in einen formellen Staatsvertrag umgewandelt werden. Ein Bei-
ſpiel liefert der Vertrag mit den Niederlanden v. 12. Okt. 1876, der das
Protokoll v. 17. Mai 1876 beſtätigt, R.-G.-Bl. 1877 S. 539.
werden müſſen, entſpricht ebenſowohl dem völkerrechtlichen Gebrauch als den allge-
meinen Principien des conſtitutionellen Staatsrechts. Die Reichsverfaſſung
Art. 17 ſtellt das Erforderniß der Gegenzeichnung allerdings nur „für Anord-
§. 34. 1875 §. 185. §. 200. 237.
Vgl. z. B. Charles de Martens, Manuel diplomatique cap. 10
Nro. 5. G. Fr. v. Martens, Précis du droit des gens §. 48. Vattel,
Le droit des gens. II. §. 156. Heffter, Völkerrecht §. 87. Hart-
mann, Inſtitut. des Völkerr. S. 130. Calvo, Le droit international.
I. §. 589. Eine Abhandlung (von Wurm) über die Ratifikation von Staats-
verträgen iſt in der Deutſchen Vierteljahrsſchrift 1845 I. S. 163 ff. enthalten.
Vgl. ferner Amari, Diritto internazionale (Milano 1875) II. pag. 494—502,
der zahlreiche Schriftſteller anführt und überhaupt die Frage ausführlich be-
handelt. — Eine etwas abweichende Anſicht hat Klüber, Völkerr. §. 142.
fikations-Urkunde den Wortlaut des Vertrages wiederholt; es genügt, wenn
die von den Bevollmächtigten feſtgeſtellten Punktationen (der Vertragsentwurf)
in der Ratifikations-Urkunde dergeſtalt in Bezug genommen werden, daß ſie
hinlänglich genau bezeichnet werden. Dieſe Form der Ratifikation wird bis-
weilen ausdrücklich vereinbart; ſo z. B. im Zollvereinsvertrag (B.-G.-Bl. 1867
S. 112), in den Poſtverträgen v. 23. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 68. 96.
angenommen, daß es auch für andere Regierungsakte des Kaiſers gilt.
rührt, der unter Art. 4 der R.-V. gehört, und der überhaupt mit dem Rechts-
zuſtande Deutſchlands gar nichts zu thun hat, dagegen dem Deutſchen Reiche
pekuniäre Laſten auferlegt, nämlich bei dem Vertrage mit Griechenland
wegen der Ausgrabungen in Olympia (R.-G.-Bl. 1875 S. 241), iſt
im Art 10 ausbedungen, daß keiner der beiden Theile verpflichtet iſt, ihn vor
der Genehmigung durch die Volksvertretung zur Ausführung zu bringen und
im Art. 11 iſt eine Friſt für die Ratifikation „unter Vorbehalt der Ge-
nehmigung durch die Volksvertretung“ feſtgeſetzt. Dem Deutſchen Reichstage
iſt der Vertrag als Anlage zum Etat für 1875 (III. S. 45) vorgelegt worden.
Aehnlich die internationale Meterkonvention Art. 14, welche
dem Reichstage mit dem Etat für 1876 als Anlage (I. S. 31) vorgelegt
worden iſt.
Gebrauch Calvo a. a. O. I. §. 588.
papiere u. dgl.
mit Geldausgaben verknüpft iſt, ſo iſt es erforderlich, daß dieſe Ausgaben in
das Reichsbudget-Geſetz aufgenommen, alſo vom Bundesrath und Reichstag
bewilligt werden. Vgl. die S. 185 Note 1 angeführten Beiſpiele.
Staatsvertrages in Anregung zu bringen, und einen Antrag zu ſtellen, daß
der Bundesrath beſchließen möge, den Kaiſer zu erſuchen, die zur Herbeifüh-
rung eines Vertrags-Abſchluſſes geeigneten Schritte zu veranlaſſen.
und andere Verträge mit fremden Staaten“; Abſ. 3 des Art. 11 ſpricht
dann von Verträgen mit fremden Staaten; es könnte daher die Meinung
entſtehen, als beziehe ſich der Abſ. 3 nur auf ſolche Verträge, welche weder
Frieden noch Bündniſſe ſind. Allein eine ſolche Auslegung würde weder dem
Wortlaute noch dem Sinne entſprechen. Dem Wortlaute nicht, weil Abſ. 3
aus der Geſammtmaſſe der Verträge diejenigen heraushebt, welche ſich auf
Gegenſtände der Reichsgeſetzgebung beziehen, alſo ein ganz anderes funda-
mentum divisionis wie die Aufzählung im Abſ. 1 deſſ. Artikels zur Grund-
lage hat; dem Sinne nach nicht, weil Abſ. 1 — wie im Texte ausgeführt —
die völkerrechtliche Legitimation zum Abſchluſſe, Abſ. 3 die ſtaatsrechtlichen
Erforderniſſe der Vollziehbarkeit betrifft. Für die Gleichſtellung der Friedens-
verträge mit andern Staatsverträgen entſcheiden ſich Hierſemenzel S. 52.
Thudichum S. 93. Seydel S. 117. Weſterkamp S. 43; die ent-
gegengeſetzte Anſicht vertreten v. Rönne a. a. O. S. 63 und Meier
S. 306 fg.
des Bundesrathes über die Uebereinkunft mit Italien v. 3. Dez. 1874 wegen
gegenſeitigen Verzichts auf die Beibringung von Trau-Erlaubnißſcheinen. Der
Königl. Bayeriſche Bevollmächtigte erklärte: „Die Kgl. Bayer. Regierung
hält ſich zunächſt für verpflichtet, auf den Vorbehalt in Nro. III. §. 1 des
Verſailler Bündniſſes v. 23. Nov. 1870 und in Ziff. I des Schlußprotokolls
von demſelben Tage hinzuweiſen, erklärt ſich indeß bereit, wegen Aus-
führung des Uebereinkommens, gegen deſſen Inhalt eine materielle Erinne-
rung nicht beſteht, die betreffenden bayer. Behörden mit Anweiſung zu ver-
ſehen, nachdem die bayeriſche Landesgeſetzgebung, ſoweit ſie in den Bereich
jenes Reſervatrechtes fällt, durch das Uebereinkommen nicht alterirt wird.“
Protokolle des Bundesrathes 1875 §. 103 S. 84. Vgl. auch ebendaſ.
§. 306 S. 296.
die Conceſſionirung, den Anſchluß und den Betrieb an der Gränzſtation be-
treffen; ferner der Vertrag mit den Niederlanden über die Verbindung der
Kanäle (R.-G.-Bl. 1877 S. 539) u. ſ. w.
wiederholt gerügt worden, z. B. von Thudichum S. 96 und ihn ziemlich
wörtlich abſchreibend v. Rönne, Verfaſſungsr. (1. Aufl.) S. 62 Note 3; ferner
von E. Meier S. 336.
11. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. 1872 S. 7) zur Ausführung des Art. 17 des Frank-
furter Friedens. Das Abkommen zwiſchen Deutſchland und Italien
mit der Schweiz von 25. Juli 1873 zur Ausführung des zwiſchen dem
Deutſchen Reich und Italien abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrages vom
31. Okt. 1871 (Centralbl. 1873 S. 271). Das Protokoll vom 6. Juli 1874
(R.-G.-Bl. S. 120) zur Ausführung des Auslieferungsvertrages mit der
Schweiz v. 24. Januar 1874.
Meier S. 271 ff. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 829.
Weſen des Bundesſtaates auf S. 271 den Satz auf, daß ſowohl das Reich
als die Einzelſtaaten „innerhalb ihres Kreiſes vollkommen ſelbſtändig und
unabhängig ſind“, bringt aber ſelbſt S. 273 fg. ſofort Thatſachen bei, die das
Gegentheil beweiſen.
im Widerſpruch ſtehen, ſondern auch praktiſch zu unſinnigen Reſultaten führen.
Jeder einzelne Staat könnte einer vom Reich beabſichtigten Geſetzgebung zu-
vorkommen und ſie vereiteln, indem er einen Staatsvertrag ſchließt. Das
Recht des Reiches, das Münzweſen, Maaß- und Gewichtsweſen, Bankweſen,
Patentweſen u. ſ. w. einheitlich zu regeln, wäre ein völlig illuſoriſches ge-
weſen, wenn die Einzelſtaaten vor Erlaß der betreffenden Reichsgeſetze im
Stande geweſen wären, durch Staatsverträge Rechtsſätze bei ſich einzuführen,
welche auch nach Erlaß des Reichsgeſetzes noch Geltung behalten hätten. Das-
ſelbe gilt natürlich auch von den noch nicht vom Reich geregelten Materien.
Wenn das Reich ein Geſetz über das Eiſenbahnweſen, über das Notariats-
weſen, über die Medicinalpolizei, über das bürgerl. Recht u. ſ. w. erlaſſen
wird, verlieren alle mit dieſen Geſetzen im Widerſpruch ſtehenden landesgeſetz-
lichen Vorſchriften ipso jure ihre Geltung, mögen ſie auf Staatsverträgen be-
ruhen oder nicht. Vgl. auch Thudichum S. 251. Riedel S. 105. Sey-
del S. 119. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 831.
nach freiem Belieben die Geltendmachung ſeines Rechtes unterlaſſen darf, kann
man nicht einwenden. Es beruht dieſer Unterſchied auf dem Gegenſatz der
öffentlichen Rechte, denen Pflichten entſprechen, gegen die Privatrechte, bei
denen dies nicht der Fall iſt. Weil der Staat die Aufgabe hat für die Lan-
desvertheidigung zu ſorgen, ergiebt ſich die Pflicht der Behörden, für militä-
riſch ausgebildete Mannſchaften zu ſorgen und deshalb auch unter Anderem
von dem, dem Staate eingeräumten Aushebungs-Recht Gebrauch zu machen.
Die Pflicht des Staates wird dadurch aber keineswegs erfüllt; die Armee-
Verwaltung hat noch unzählige andere Aufgaben, die in keinem Sinne als
Ausführung der Militärgeſetze bezeichnet werden können. Die Behörden dürfen
zwar nur nach Maßgabe des Dienſtpflicht-Geſetzes und der anderen Mili-
tärgeſetze Rekruten einziehen; aber ſie thun dies nicht, damit dieſe Ge-
ſetze ausgeführt werden, ſondern damit die Aufgabe des Staates,
wehrhaft zu ſein, erfüllt werde. Aehnliches gilt von der polizeilichen Thätigkeit.
ſelben durch den Staatshaushalts-Etat abgeſehen. Vgl. oben Bd. I.
S. 301 ff.
wiſſe Handlungen allgemein mit Strafe bedrohen, nicht zu den Verwaltungs-
acten ſondern zu den Geſetzgebungsacten, zu deren Vornahme die Polizei-
Behörden kraft Delegation befugt ſind.
fordert, oder eine geſetzlich vorgeſchriebene Handlung unterſagt.
des Geſundheits-Amts, der Seewarte und anderer mit rein wiſſenſchaftlichen
oder techniſchen Funktionen betrauter Aemter überhaupt gar kein Object des
Staatsrechts iſt; von ſtaatsrechtlicher Bedeutung iſt lediglich die Stellung
dieſer Aemter im Behördenſyſtem des Reiches und das aus der Beamten-
Eigenſchaft der zur Beſorgung der Amtsgeſchäfte angeſtellten Perſonen ſich er-
gebende Rechtsverhältniß derſelben. Dieſe beiden Lehren ſind bereits im erſten
Bande §§. 32 ff. erörtert worden.
Vorſchlägen an; mithin kann ohne Zuſtimmung des Präſidiums auch kein Ge-
ſetz zu Stande kommen, welches das Recht, Ausführungsgeſetze zu erlaſſen
oder in die dem Kaiſer nach Art. 53 u. Art. 63 zuſtehenden Verwaltungsbe-
fugniſſe einzugreifen, dem Bundesrath überträgt.
ordnungen liegt zunächſt den Regierungen der Bundesſtaaten ob, welche
ſorts mit den erforderlichen Verfügungen (Verordnungen) verſehen. Es iſt dies
wenigſtens vom Bundesrath ſelbſt wiederholt und ohne Widerſpruch anerkannt
worden. Vgl. z. B. Protokoll 1875 §. 124 S. 111.
und denjenigen der Konſulate vgl. beſonders F. Martens, das Conſular-
weſen im Orient (Berlin 1874) S. 25 ff.
theilungen Leipzig 1847 (die zweite Abtheilung enthält ein ſehr ausführliches
Literaturverzeichniß); L. Alt, Handbuch des Europäiſchen Geſandtſchaftsrechtes.
Berlin 1870. Beide Werke betreffen nur die völkerrechtliche Seite dieſer Lehre
und das Geſandtſchafts-Ceremoniell; ſtaatsrechtliche Fragen werden in den-
ſelben gar nicht berührt. Daſſelbe gilt von dem trefflichen Werk des Baron
Karl v. Martens, Le Guide diplomatique (5. Aufl. herausgegeben von
Turin 1872. Speziell mit den Verhältniſſen des Deutſchen Reiches beſchäftigt
ſich der Aufſatz von Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. S. 323 ff.
und der Aufſatz über die Reichsbehörden in Hartmann’s Zeitſchr. f. Ge-
ſetzgeb. u. Praxis auf dem Gebiet des öffentl. Rechts Bd. II. (1876) S. 15 ff.
die Bekanntmachung v. 6. Januar 1873 betreffend die Zurückſtellung der in
Rußland lebenden Deutſchen Militairpflichtigen. Centralblatt 1873 S. 16.
S. 50 fg.
eines Landesgeſandten zur Geltendmachung allgemeiner Deutſcher Intereſſen
von Nutzen ſein könnte, ſo iſt eine Mitwirkung des Landesgeſandten nicht nur
zuläſſig, ſondern durch die Gemeinſamkeit der Deutſchen Intereſſen geboten
und es iſt dem entſprechend in dem Bayr. Schlußprotok. v. 23. Nov. 1870
riſchen Geſandten angewieſen ſein würden, in einem ſolchen Falle den Reichs-
geſandten ihre Beihülfe zu leiſten.
ſandten zur Beglaubigung von Vollmachten, welche Inländer im Auslande
ausſtellen. Vgl. darüber Anhang §. 46 zum Preuß. Allg. Landr.
(zu I. 13 §. 117). Preuß. Cab.-Ordre v. 11. Nov. 1829 (Geſ.-Samml.
1830 S. 2). Ueber die Ertheilung der Ermächtigung zur Vornahme von Ehe-
ſchließungen und zur Beurkundung von Geburts- und Todesfällen vgl. unten
S. 254. Ihre Befugniß, öffentliche Urkunden, welche in dem Staate ihrer
Reſidenz ausgeſtellt ſind, zu legaliſiren, iſt in der Civilproc.-Ordn. §. 403
anerkannt.
S. 207 ff.) und v. 8. Juli 1852 (Juſtiz-Miniſt.-Bl. S. 275). — Allgemein
iſt der Grundſatz bereits ausgeſprochen in der Verordn. über die Verfaſſung
der Staatsbehörden v. 27. Oktob. 1810 (Preuß. Geſ.-Samml. 1810 S. 22).
hierzu Meves in Holtzendorff’s Handb. d. D. Strafr. IV. S. 346 ff.
tung von Oppenhoff, Strafgeſetzbuch (5. Ausg. 1876) Note 2 zu §. 353 a,
daß unter dem Vorgeſetzten nur der Chef des Auswärtigen Amtes zu verſtehen
ſei, widerſpricht dem Wortlaut des Geſetzes und iſt durch Nichts begründet.
worden war (Druckſ. des Reichstages 1875/76 Nro. 54).
Bundeskonſulate, ſowie die Amtsrechte und Pflichten der Bun-
deskonſuln, vom 8. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1867 S. 137). Eingeführt
in Baden und Südheſſen (B.-G.-Bl. 1870 S. 647), in Württemberg
(B.-G.-Bl. 1870 S. 654), in Bayern (R.-G.-Bl. 1871 S. 88). In
Elſaß-Lothringen iſt eine beſondere Einführung dieſes Geſetzes nicht er-
folgt. Es wird im Folgenden als Konſulatsgeſetz citirt.
Zu dieſem Geſetze iſt ergangen die Allgemeine Dienſt-In-
ſtruction für die Konſuln des Deutſchen Reichs vom 6. Juni 1871
und die Nachtrags-Inſtruction v. 22. Febr. 1873. Beide
ſind erſchienen in der Decker’ſchen geheimen Ober-Hofbuchdruckerei und
abgedruckt in dem unten citirten Werke von Hänel u. Leſſe; die erſtere
auch in Hirth’s Annalen 1871 S. 607 ff. und bei Döhl. , • Geſetz, betreffend die Gebühren und Koſten bei den Konſulaten
des Deutſchen Reichs. Vom 1. Juli 1872. R.-G.-Bl. 1872 S. 245 ff. , • Geſetz, betreffend Eheſchließung und Beurkundung des
Perſonenſtandes von Bundes-Angehörigen im Auslande. Vom
4. Mai 1870. B.-G.-Bl. 1870 S. 599. Eingef. in Baden und Süd-
heſſen (B.-G.-Bl. 1870 S. 647), in Württemberg (B.-G.-Bl. 1870 S. 654),
in Bayern (R.-G.-Bl. 1871 S. 87), in Elſaß-Lothringen (R.-G.-Bl.
1875 S. 69. G.-Bl. f. E.-L. 1875 S. 9). Dazu die Inſtruktion des
Reichskanzlers v. 1. März 1871; gedruckt bei Hänel u. Leſſe S. 93 fg. , • Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872. R.-G.-Bl. 1872
S. 409 ff. , • Literatur: Döhl, das Konſularweſen des Deutſchen Reiches. Bremen
1873. (Iſt im Weſentlichen nur ein Abdruck der das Konſulatweſen
betreffenden Reichsgeſetze mit Hinzufügung der Inſtruktion, einem Ver-
zeichniß der Konſulate, Miſſionen u. ſ. w.) , • König, Preußens Conſular-Reglement. 2. Aufl. Berlin 1866. Der-
ſelbe, Handbuch des Deutſchen Conſulatweſens. Berlin 1875. (Ein
populärer Auszug aus dieſem Werk iſt von dem Verf. herausgegeben
worden unter dem Titel: Die Deutſchen Konſuln in ihren Beziehungen
zu den Reichsangehörigen. Bremen 1876.) , • F. Martens, das Conſularweſen und die Conſularjurisdiction im Orient
(überſetzt von Skerſt). Berlin 1874. , and • P. Esperson, Diritto diplomatico. Vol. II. Mailand 1874. (Dieſes
Werk behandelt zwar faſt ausſchließlich das italieniſche Recht, das letz-
letztere iſt aber in allen weſentlichen Punkten mit dem Deutſchen Recht
übereinſtimmend.)
Konſulate errichten dürfen, iſt zweifellos. Dieſelben ſind aber ohne alle
rechtliche und politiſche Bedeutung.
- Lammers in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 239 ff. Reitz in Hirth’s
Annalen 1874 S. 70 ff. Thudichum, Verf.-Recht S. 256 ff. Riedel,
S. 139. Seydel S. 210 fg. v. RönneII. 1. S. 224. - Hänel u. Leſſe, die Geſetzgebung des Deutſchen Reiches über Conſu-
larweſen und Seeſchifffahrt. Berlin 1875. - Eine gute Ueberſicht der Amtsgeſchäfte der Deutſchen Konſulate giebt der
(anonyme) Aufſatz in Hartmann’s Zeitſchr. f. Geſetzgeb. u. Praxis
Bd. II. S. 16 ff.
trag Nro. 1. e).Bayr. Schlußprotok. XII. Abſ. 2. „Ferner wurde
die Zuſicherung gegeben, daß Bundeskonſuln an auswärtigen Orten auch dann
aufgeſtellt werden ſollen, wenn es nur das Intereſſe eines einzelnen Bundes-
ſtaates als wünſchenswerth erſcheinen läßt, daß dies geſchehe.“ — Ueber das
Recht der Einzelſtaaten, den von auswärtigen Staaten beſtellten Konſuln für
ihr Gebiet das Exequatur zu ertheilen, vgl. Bd. I. S. 205 und Thudichum
in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. (1876) S. 346.
ſetzes erlaſſen werden, was z. Th. in dem Konſulatsgeſetz geſchehen iſt.
die Gewohnheiten ihres Amtsbezirkes gebotenen Schranken einhalten.“
auch im Auslande als rechtlich wirkſame behandelt werden, richtet ſich nach
den Grundſätzen des ſogenanten internationalen Privatrechts. Das Reichsgeſetz
kann ihnen nur für das Reichsgebiet Rechtswirkungen beilegen.
1769 und mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika 1788 abgeſchloſſenen.
Sie ſind gedruckt bei de Cussy, Réglements consulaires (Leipzig 1851)
S. 26 ff.
Hirth’s Annalen V. (1872) S. 1281 ff. und beſonders König, Handbuch
S. 16 ff. In einigen Handels- und Schifffahrts-Verträgen des Reiches iſt
demſelben lediglich die Befugniß, Konſulate zu errichten, zugeſichert, mit der
Maßgabe, daß die Deutſchen Konſuln alle Vorrechte und Freiheiten genießen
ſollen, welche den Konſuln anderer Staaten zugeſtanden werden. So in den
Verträgen mit Liberia v. 31. Oktober 1867 Art. 7 (B.-G.-Bl. v. 1868
S. 201), mit Oeſterreich v. 9. März 1868 Art. 20 (B.-G.-Bl. v. 1868
S. 247), mit Mexiko v. 28. Aug. 1869 Art. 22 (B.-G.-Bl. v. 1870 S. 537).
Eigentliche Konſular-Verträge, welche die Befugniſſe der Konſuln im
Einzelnen regeln, ſind mit folgenden Staaten abgeſchloſſen worden: Der
Preußiſch-Niederländiſche (Kolonien) Vertrag v. 16. Juni 1856 iſt
ausgedehnt worden auf das Deutſche Reich durch Vertrag v. 11. Januar 1872
(R.-G.-Bl. 1872 S. 67 ff.). Der Vertrag des Nordd. Bundes mit Italien
v. 21. Dez. 1868 (B.-G.-Bl. 1869 S. 113), ausgedehnt auf das Deutſche Reich
durch Vertr. v. 7. Febr. 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 134). Der Vertrag mit
Spanien v. 22. Febr. 1870 (B.-G.-Bl. 1870 S. 99 ff.), ausgedehnt auf
das Deutſche Reich durch V. v. 12. Jan. 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 211); mit
den Vereinigten Staaten von Amerika v. 11. Dez. 1871 (R.-G.-Bl.
1872 S. 95); mit Rußland v. 12. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 145).
Verabredungen über die den Konſuln zuſtehenden Befugniſſe enthalten ferner
die Verträge mit Japan v. 20. Febr. 1869 (B.-G.-Bl. 1870 S. 1 ff.) Art.
5 fg.; mit Perſien v. 11. Juni 1873 (R.-G.-Bl. 1873 S. 351 ff.) Art. 10.
13—15; mit Salvador v. 13. Juni 1870 (R.-G.-Bl. 1872 S. 377); mit
Portugal v. 2. März 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 254 ff.) Art. 17—19;
mit Coſta Rica v. 18. Mai 1875 (R.-G.-Bl. 1877 S. 13 ff.) Art. 27 ff.
Soweit dieſe Verträge den Deutſchen Konſuln eine amtliche Wirkſamkeit
zuweiſen, begründen ſie zunächſt nur internationale Rechte des Reiches gegen-
über dem Staate, mit welchem der Vertrag geſchloſſen worden iſt, während
1875 §. 85. Dieſelbe Ermächtigung kann auch einem diplomatiſchen Ver-
treter (Geſandten) für das ganze Gebiet des Staates, bei deſſen Hofe oder
Regierung derſelbe beglaubigt iſt, ertheilt werden. Die Befugniß zur Vor-
nahme von Eheſchließungen greift auch dann Platz, wenn nur einer der beiden
Verlobten ein Reichsangehöriger oder Schutzgenoſſe iſt. Geſ. v. 4. Mai 1870
§. 10. Geſ. v. 6. Febr. 1875 §. 85 Abſ. 2. — Ueber den Begriff der Schutz-
genoſſen ſiehe unten.
tion v. 1. März 1871 erlaſſen. Dieſelbe iſt gedruckt bei Hänel u. Leſſe
S. 93 ff. und bei König, Handbuch S. 513.
17. 31 (R.-G.-Bl. S. 245).
Pflichten der Konſuln bildet. Vgl. König S. 27.
er Wahlkonſul iſt — möglicher Weiſe kein Reichsangehöriger iſt, ſchließt ſeit
der Novelle zum St.-G.-B. v. 26. Febr. 1876 die Strafverfolgung nicht aus,
da nach §. 4 Ziff. 1 die im Auslande von Reichsbeamten verübten Ver-
brechen und Vergehen im Amte verfolgt werden können.
son II. Nro. 207 S. 127 fg. Hinſchius, Kommentar (2. Aufl.) S. 158.
6. Febr. 1875 ſanctionirt: „Innerhalb des Gebietes des Deutſchen
Reiches kann eine Ehe rechtsgültig nur vor dem Standesbeamten geſchloſſen
werden“. Vgl. auch Hinſchius a. a. O. S. 477 a. E. Eine Ausnahme
iſt indeſſen durch einige Konſular-Verträge geſchaffen. Siehe unten S. 256
Note 1.
6. Febr. 1875 §, 17. 56.
Deutſchen in Salvador (und vice versa) für gültig angeſehen werden ſoll,
wenn ſie gemäß den Geſetzen ſeines Heimathlandes geſchloſſen iſt. Zu
dieſen Geſetzen gehört auch das vom 4. Mai 1870. Ausdrücklich iſt die Gültig-
keit der vor diplomat. oder konſular. Vertretern geſchloſſenen Ehen ſtipulirt in
dem Vertrage mit Coſta Rica Art. IX. und Schluß-Protokoll dazu
(R.-G.-Bl. 1877 S. 37).
fugniß zugeſprochen, durch Geſetz den diplomatiſchen Vertretern und Konſuln
die Funktionen der Standesbeamten zu übertragen, ohne daß ſie beſon-
ders dazu ermächtigt werden, und hat die darüber bereits ergangenen
Landesgeſetze in Kraft erhalten. Ein ſolches Landesgeſetz iſt nur ergangen in
Baden am 21. Dezember 1869 (§. 32). Zu demſelben iſt vom Badiſchen
Miniſterium eine Inſtruction v. 22. Okt. 1872 erlaſſen worden, welche der
Reichskanzler allen Geſandtſchaften und Konſulaten des Reiches zugefertigt hat.
Sie iſt gedruckt im Badiſchen Geſetzes- und Verordnungsblatt von 1872
S. 345 ff. Das Preuß. Geſ. v. 3. April 1854 (Geſ.-Samml. S. 469) und
geſchieht ſie vermittelſt des Centralblattes für das Deutſche Reich.
Durch dieſes Geſetz hat der §. 32 des Konſulatsgeſetzes theils einen feſter be-
ſtimmten, theils einen ſehr erweiterten Inhalt bekommen.
S. 35).
das von den Konſuln bei der Muſterung inne zu haltende Verfahren gibt
die Nachtrags-Inſtruction v. 22. Febr. 1873 zu §. 32 des Konſnlatsgeſetzes.
Verordn. Bd. 33 S. 396) erforderten die beſondere Ermächtigung durch
den Miniſter reſp. Senat.
1873. Ueberdies unterliegt ein Schiffsmann, welcher es unterläßt, im Falle
eines dem Dienſtantritt entgegenſtehenden Hinderniſſes ſich gegen das See-
mannsamt (Konſulat) auszuweiſen, der Beſtrafung nach §. 93 Z. 3 der See-
manns-Ordnung. Entläuft ein Schiffsmann mit der Heuer, ſo iſt er nach
R.-St.-G.-B. §. 298 ſtrafbar. Die internationalen Verträge ſichern den Kon-
ſulaten die Unterſtützung der Landesbehörden zu. Italien Art. 15 a. E. 16.
Spanien Art. 15 Abſ. 4, Art. 16 Abſ. 1. Salvador Art. 28. 29.
Vereinigte Staaten Art. 13 Abſ. 2 u. Art. 14. Rußland Art. 11.
Coſta Rica Art. 32.
wider beſſeres Wiſſen durch eine auf unwahre Behauptungen geſtützte Be-
ſchwerde veranlaßt, wird nach §. 94 eod. beſtraft. Das Verfahren, welches
die Konſuln zu beobachten haben, iſt vom Reichskanzler im Einvernehmen
mit den betreffenden Ausſchüſſen des Bundesrathes geregelt
worden durch die Nachtrags-Inſtruct. v. 22. Febr. 1873 zu §. 37 des Kon-
ſulatsgeſ. (bei Hänel u. Leſſe S. 88.)
und die zu leiſtende Entſchädigung ſind in dem Reichsgeſ. v. 27. Dez. 1872
tigkeiten, welche bei Gelegenheit der Abmuſterung zur Sprache kommen. See-
manns-Ordn. §. 104.
gegen den Matroſen anzurufen. Urth. des Reichs-Oberhandelsgerichts
v. 17. Febr. 1874 (Entſch. Bd. 12 S. 419. 420).
dem Handels-Geſetzb. Art. 537 entnommen. Eine wirkliche Gerichts-
barkeit iſt in dieſer Funktion nicht enthalten; denn der Zweck dieſer Be-
geſehenen Falle beſteht die gleiche Befugniß auch hinſichtlich hülfsbedürftiger
ausländiſcher Seeleute behufs der Rückbeförderung derſelben in ihr Heimaths-
land. — Die Inſtruction v. 22. Febr. 1873 zu §. 26 des Konſulats-Geſetzes
enthält die näheren Vorſchriften über das vom Konſul zu beobachtende Ver-
fahren. Hänel und Leſſe S. 68.
proceß-Ordn. Anwendung. Vgl. Einf.-Geſ. zur St.-Pr.-Ordn. §. 5.
Nachtrags-Inſtr. v. 22. Febr. 1873 zu §. 33 des Konſ.-Geſ. ausführliche
Vorſchriften. Hänel und Leſſe S. 78.
gründung eines forum speciale zu beſchränken, ſondern die Einmiſchung der
ausländiſchen Gerichte auszuſchließen; das Seemanns-Amt und bezw.
Konſulat bildet deshalb keine eigentliche Inſtanz im Sinne der Civilproceß-
Ordnung und die Beſchreitung des Rechtsweges im Inlande iſt keine Appella-
tion. — Die Konſular-Verträge haben meiſtens die Schlichtung der Rechts-
ſtreitigkeiten, welche zwiſchen dem Schiffer und den Schiffsleuten entſtehen,
durch die Konſuln ausdrücklich zugelaſſen. Niederlande Art. 12. Ita-
lien 15. Spanien 15. Vereinigte Staaten 13. Rußland 11.
Vgl. Esperson II. Nro. 267 ff. S. 152.
Salvador Art. 28. Rußland Art. 11. Coſta Rica Art. 31.
Ihr erſter Urſprung iſt eine Preußiſche Verordnung v. 8. Dezember 1781 und
die Preußiſche Ordonnance circulaire pour les consuls ainsi que pour les
navigateurs prussiens v. 1. Sept. 1783.
kündet. Es fehlen ihr überhaupt materiell und formell alle Crforderniſſe einer
Rechtsverordnung; ſie iſt nicht mehr als ſie ſelbſt von ſich ausſagt, nämlich
eine Dienſt-Inſtruktion. Der Anſicht von König, Handb. S. 210 und die
Deutſchen Konſuln S. 61, daß die Vorſchriften der Allgem. Dienſt-Inſtr. über
die Meldepflicht der Schiffsführer in allgemeiner Gültigkeit ſtehen, muß daher
entſchieden widerſprochen werden. Auch daß in dem Gebührengeſetz v. 1. Juli
1872 Tarif §. 30 b für die An- und Abmeldung Koſten feſtgeſetzt und dabei
die Vorſchriften der Allgem. Dienſt-Inſtr. theilweiſe in Bezug genommen ſind,
kann keinen geſetzlichen Grund abgeben, um Schiffer wegen unterlaſſener An-
und Abmeldung mit Strafe zu belegen.
Conſular-Reglement v. 18. Sept. 1796 §. 2 zur Anwendung, welches
eine (für jetzige Verhältniſſe ganz unzureichende) Geldſtrafe von 5 Rthlrn. feſt-
ſetzt. Es iſt gedruckt in der Mylius’ſchen Edicten-Sammlung v. 1796 S. 651,
ferner bei Miruß, Europ. Geſandtſchaftsr. II. S. 338. König, Preuß.
Conſularregl. S. 481. de Cussy, Réglements Consulaires S. 265 und
ſonſt mehrfach.
v. 25. Oktober 1867 (B.-G.-Bl. S. 35) und in der Verordn. vom ſelben Tage
(B.-G.-Bl. S. 39). Das Verfahren, welches die Konſuln zu beobachten haben,
iſt in der Dienſt-Inſtruction zu §. 30 näher geregelt.
1867 (B.-G.-Bl. S. 33) §. 6. 8. König, Handb. S. 163 fg.
namentlich zu erachten die Militairpflicht, Polizeiaufſicht, gerichtliche Unter-
ſuchung, berechtigte Einſprache der Landesbehörden. Vgl. Inſtruction zu
§. 25 des Konſulatsgeſetzes.
es ſein, den Konſul als einen negotiorum gestor im gewöhnlichen Sinne des
Privatrechts anzuſehen, welcher ſich aus eigener Initiative in fremde Ver-
mögens-Angelegenheiten einmengt. Der Konſul hat vielmehr einen ſtaat-
lichen Auftrag. Er iſt dazu berufen, die dem Staate geſtellte Aufgabe
zum Schutz und zur Wohlfahrtspflege ſeiner Angehörigen, außerhalb des
Staatsgebiets in dem Umfange zu erfüllen, als das Völkerrecht es zuläßt.
Dieſer Geſichtspunkt iſt hinſichtlich der civilrechtlichen Verantwort-
lichkeit des Konſuls gegenüber denjenigen Perſonen, deren Vermögensinte-
reſſen er wahrzunehmen hat, von Wichtigkeit.
(R.-G.-Bl. 1872 S. 99) erklärt ausdrücklich, daß die Konſuln „als die geſetz-
Vgl. auch König, Handbuch S. 134 fg.
ten Fällen gehört die Erhebung oder Verwahrung von Geldern für Privat-
perſonen nur dann zu den amtlichen Obliegenheiten eines Konſuls, wenn
er von dem Auswärtigen Amte oder der ihm unmittelbar vorgeſetzten Dienſt-
behörde ausdrücklich Auftrag dazu erhalten hat. Cirkular-Erlaß des
Reichskanzlers v. 6. Dez. 1875 (Centralbl. 1875 S. 817).
den Konſular-Verträgen verſchieden begränzt. Am engſten beſchränkt iſt er in
dem Vertrage mit den Niederlanden Art. 11, etwas weiter geht der
Vertrag mit den Vereinigten Staaten Art. 10. Alle weſentlichen
Sicherungs-Maßregeln ſind den Konſuln eingeräumt in Italien und Spa-
nien Art. 11 u. 12, Salvador Art. 27, Coſta Rica Art. 30. Mit
Rußland iſt ein beſonderer Vertrag über die Regulirung von Hinterlaſſen-
ſchaften geſchloſſen worden am 12. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 136). Die
ausgedehnteſten Befugniſſe haben die Konſuln in denjenigen Gebieten, in denen
Vertrag mit Salvador Art. 27 a. E. (1872 S. 394) überträgt ihnen ſogar
die Führung der Vormundſchaft über Waiſen und Minderjährige. Ebenſo
Vertrag mit Coſta Rica Art. 30 a. E. Vgl. auch den Vertrag mit Italien
Art. 11 Nro. 7 und mit Spanien Art. 11 Nr. 8.
laſſenſchaften von Schiffsleuten und Schiffspaſſagieren in der Regel das aus-
ſchließliche Recht der Inventariſirung und Sicherſtellung ein. Italien
und Spanien Art. 13. Vereinigte Staaten Art. 11. Vgl. die Kon-
vention mit Rußland Art. 13.
Italien Art. 18. Spanien Art. 18. Salvador Art. 31. Nieder-
lande Art. 9. Vereinigte Staaten Art. 16. Portugal Art. 19.
Perſien 10. Rußland 14. Coſta Rica 34. — Vgl. Esperson
II. Nro. 167 ff. S. 102.
und die Darſtellung bei F. Martens, das Konſularweſen im Orient S. 489 ff.
dung eingewilligt oder den Schiffer dazu bevollmächtigt hat, liegt ein Bodmerei-
Vertrag im Sinne des H.-G.-B.’s überhaupt nicht vor. H.-G.-B. Art. 680.
ſelbſt für einen Stellvertreter ſorgt. H.-G.-B. Art. 483 Abſ. 2.
näheren Vorſchriften, nach welchen Rückſichten der Konſul bei Auswahl des
Schiffsführers zu handeln hat.
dieſelbe Befugniß auch für die Geſandten anerkannt worden.
ausländiſchen Behörden oder von Perſonen, die mit öffentlichem Glauben aus-
geſtattet ſind, amtlich ausgeſtellt worden ſind. Civilproceß-Ordn. §. 403 Abſ. 1.
— Von eigentlichen Notariats-Akten ſind die Legaliſationen zu unterſcheiden.
Vgl. die Inſtruktion zu §. 14 des Konſulatsgeſetzes.
beſtimmt ſich nach dem Rechte des Ortes. Wechſel-Ordn. §. 86. Ebenſo iſt
die Frage, ob ein Teſtament rechtswirkſam vor einem Notar und mithin auch
vor einem Reichskonſul errichtet werden kann, nach der lex loci zu beurtheilen.
Inſtruktion. Eine ſehr eingehende Darſtellung der Notariats-Verrichtungen
der Konſuln giebt Esperson II. Nro. 332—262 S. 139 ff. Vgl. auch
König, Handb. S. 117 fg.
Staaten Art. 9. Noch weiter gehend ſind die Beſtimmungen in dem Ver-
trage mit Rußland Art. 9, welcher zwiſchen unbeweglichen und beweglichen
Vermögensſtücken nicht unterſcheidet. Dagegen hebt dieſer Art. ausdrücklich
hervor, daß wenn der Vertrag ein Grundſtück betrifft, das in dem Lande, in
welchem der Konſul ſeinen Amtsſitz hat, belegen iſt, der Notariatsakt in der
Form und nach Maßgabe der beſonderen Beſtimmungen, welche die Geſetze
dieſes Landes vorſchreiben, abgefaßt ſein muß.
träge. Bei den Notariats-Akten kömmt die ſtaatliche Gewalt nicht den Con-
trahenten gegenüber zur Anwendung; denn es beſteht ihnen gegenüber
kein Zwang; ſie beantragen freiwillig die Aufnahme des Notariats-Aktes. Des-
halb iſt auch dieſe Funktion der Konſuln zugelaſſen, wenn Nichtangehö-
rige ihres Staates vor ihnen Geſchäfte abſchließen. Die Staatsgewalt äußert
ſich allein in der Ausſtattung der conſulariſchen Notariats-Urkunden mit öffent-
lichem Glauben, d. h. in dem Befehle an die Gerichte und anderen Be-
hörden, dieſe Urkunden als vollgültige Beweismittel zu betrachten. Dieſer
Befehl kann natürlich nur den eigenen Behörden von jedem Staate ertheilt
werden. Daſſelbe gilt von dem Falle, wenn die Geſetzgebung die Gültigkeit
oder Klagbarkeit eines Rechtsgeſchäftes von dem notariellen Abſchluß deſſelben
abhängig macht.
zuſtändigen Gerichte aufgenommen werden, H.-G.-B. Art. 492, die Dispache
wird durch die dazu ein für allemal obrigkeitlich beſtellten oder in deren Er-
mangelung durch die vom Gerichte beſonders ernannten Perſonen (Dispacheure)
aufgemacht, H.-G.-B. Art. 731. Die Befugniß der Konſuln iſt anerkannt in
den Verträgen mit Italien Art. 17, Spanien 17, Salvador 30,
Vereinigte Staaten 15, Rußland 13, Coſta Rica 33, falls
nicht Angehörige des eigenen Staates oder eines dritten Staates an der Ha-
varegroſſe betheiligt ſind.
bezieht ſich derſelbe nur auf Handlungen der Gerichtsbarkeit und
die Thätigkeit der Konſuln kann nur auf Erſuchen inländiſcher Be-
hörden ſtattfinden. — Durch das Reichsgeſ. v. 27. Juli 1877 §. 15 (R.-G.-Bl.
S. 552) ſind die Konſulate jetzt auch verpflichtet, bei Seeunfällen zur vorläu-
figen Feſtſtellung des Thatbeſtandes Beweiserhebungen vorzunehmen, welche
keinen Aufſchub dulden.
ſul generell ertheilt werden muß; ſie kann auch auf einen einzelnen Fall
beſchränkt ſein. Die näheren Vorſchriften über das von den Juſtizbehörden
einzuhaltende Verfahren, wenn ſie eine ſolche ſpezielle Ermächtigung eines
Konſuls zur Abnahme eines Eides oder zur eidlichen Vernehmung eines Zeu-
gen herbeiführen wollen, ſind enthalten in den Verfügungen des Preuß. Juſtiz-
Miniſters v. 20. Nov. 1869 und vom 10. April 1870 (Juſtiz-Miniſterial-Bl.
1869 S. 230. 1870 S. 111).
meldepflicht und über die im Orient beſtehenden Einrichtungen und Vorſchriften
F. Martens S. 555 ff.
über Bd. I. S. 173 fg.
König, Handb. S. 91 fg.
jahres, für welches derſelbe ausgeſtellt wird, unterlaſſen, ſo findet die Löſchung
in der Matrikel lediglich aus dieſem Grunde nicht ſtatt. Verf. des Reichs-
kanzlers v. 5. Nov. 1872. König, Handb. S. 98.
kanzlers v. 1. Mai 1872 (abgedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1263 fg.;
bei Hänel und Leſſe S. 103 fg.; bei König, Handb. S. 434 fg.).
Oeſterreich und der Schweiz.
bewahrt haben, was an der Sprache, deren ſie ſich bedienen und an ihren
ſonſtigen Verhältniſſen leicht zu erkennen ſein wird“ a. a. O. §. 13 Abſ. 3.
ſandtſchaften und Konſulate iſt, ſo lange ſie im Amte ſtehen, die Genehmigung
citirten Inſtruktion unter 9 Nummern aufgeführt.
nen ſie ſich demſelben nicht durch Aufgeben der Schutzgenoſſenſchaft entziehen.
Vgl. das Urtheil des Reichs-Oberhandelsger. vom 2. Febr. 1875.
Entſch. Bd. 16 S. 17 ff.
Rekurs an die Kaiſerl. Miſſion zu; bis deren Entſcheidung erfolgt, iſt der
Schutz zu verſagen. a. a. O. §. 18 Nr. 9.
15 eod.
des Konſuls Folge zu leiſten, beſteht aber nicht.
lich rechtsbeſtändig abgeſchloſſen iſt, um ſich nicht der Gefahr auszuſetzen,
daß die Gerichte des Ortes ihren Spruch für nichtig erklären.
Regeln. Vgl. ferner hinſichtlich der Schiffsleute oben S. 259.
kommen die Vorſchriften des Reichsgeſetzes v. 27. Dez. 1872 zur Anwendung.
Siehe oben S. 258.
Militärpflichtigen, offenbar unwürdigen Individuen, ingleichen ſolchen Reichs-
angehörigen, welche die Staatsangehörigkeit eines andern Landes erworben
haben oder ohne Erlaubniß in fremde Militär- oder Civildienſte getreten ſind.
— Inſtruktion zu §. 26.
ſehr ausführlichen Anweiſungen (Hänel u. Leſſe S. 65—69). Ueber die Vor-
ausſetzungen der Klage des Konſuls oder Fiskus auf Erſtattung der von
zur Ergreifung von Deſerteuren und über die Pflicht zur Auslieferung der-
ſelben enthalten alle Konſulats-Verträge detaillirte Vorſchriften: Italien 16,
Spanien 16, Mexiko 24, Salvador 29, Niederlande 10, Ver-
einigte Staaten 14, Portugal 18, Rußland 12, Coſta Rica 32.
ſtattenden Handelsberichte abgeſondert einzureichen, während weiter-
gehende Mittheilungen, Urtheile über Perſonen und Verhältniſſe u. ſ. w. und
die Darſtellung der geſammten Amtsthätigkeit der Konſulate in einem beſon-
deren Bericht zu behandeln ſind. König, Handbuch S. 68.
den Vater, des Unterſtützten, vgl. das Urtheil des Reichs-Oberhandels-
gerichts v. 18. Nov. 1871 (Entſcheid. Bd. IV. S. 39).
Auch nach dem früheren Preuß. Recht nahm der „Chef der Abtheilung für
Gewerbe“ d. i. der Handelsminiſter an der Beſetzung der Konſulate Theil.
V. v. 27. Oktober 1810 (G.-S. S. 22 Ziff. 2).
barkeit. Das Preuß. Geſetz v. 29. Juni 1865 §. 60 überträgt den Er-
laß der Ausführungs-Beſtimmungen den Miniſtern der Auswärtigen Angelegen-
heiten und der Juſtiz. Das Konſulatsgeſ. §. 24 erhebt dieſes Geſetz zum
Reichsgeſetz, indem es die nach Maßgabe deſſelben den Preuß. Miniſtern zu-
ſtehenden Befugniſſe dem Reichskanzler überträgt.
desrath hinſichtlich der Inſtruktion der Konſuln iſt demnach dahin zu beſtim-
men, daß die Spezial-Anweiſungen in den einzelnen Fällen vom Reichs-
kanzler ſelbſtſtändig ertheilt, die allgemeinen Verwaltungsvorſchriften da-
gegen vom Bundesrath beſchloſſen und vom Reichskanzler den Konſuln zur
Nachachtung mitgetheilt werden, dem dann die Kontrole ihrer Befolgung obliegt.
Wo General-Konſulate beſtehen, hat der General-Konſul über die
Thätigkeit der zu ſeinem Sprengel gehörigen Konſuln und Vicekonſuln eine
Ueberwachung und Leitung auszuüben. (Motive zum Konſulatsgeſ. §. 2. Druck-
ſachen des Reichst. 1867 Nro. 79 S. 138.)
außer Wirkſamkeit geſetzten, proviſoriſchen Gebühren-Tarif iſt bemerkt, daß
derſelbe im Einvernehmen mit dem Ausſchuſſe für Handel und Verkehr erlaſſen
worden iſt (Konſulatsgeſ. §. 38). Daſſelbe gilt von den Beſtimmungen der
Nachtrags-Inſtruktion v. 23. Febr. 1873 §. 37 zur Ausführung des §. 47 der
Seemanns-Ordnung.
Ordn. Art. 328 Abſ. 2 und Art. 700 Abſ. 2.
Bericht in der Regel an das Auswärtige Amt zu ſenden und nur in dring-
lichen Fällen iſt gleichzeitig die erforderliche Anzeige über erhebliche That-
ſachen unmittelbar an die zunächſt betheiligte Regierung zu erſtatten. Wenn
die Angelegenheit dagegen nur das Intereſſe eines einzelnen Bundesſtaates
oder einzelner Reichsangehöriger angeht, ſo iſt der Bericht an die Regierung
des in Betracht kommenden Bundesſtaates zu ſenden.
Miniſterium, ſondern an das Auswärtige Amt des Deutſchen Reiches zu be-
richten. König, Handbuch S. 37.
von der Verordn. v. 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 303) unberührt geblieben.
dienſtlichen Wohnſitz iſt von dem Falle zu unterſcheiden, daß ſich der Konſul
„von ſeinem Amte entfernt hält“. Vgl. die Allgem. Dienſt-Inſtrukt. zu §. 6.
galt ein proviſoriſcher Gebühren-Tarif v. 15. März 1868. Für die mit Ge-
richtsbarkeit verſehenen Konſuln iſt der (Preußiſche) Tarif v. 24. Oktober 1865
in Kraft erhalten worden hinſichtlich derjenigen Amtsgeſchäfte, für welche der
dem Geſetz vom 1. Juli 1872 angehängte Tarif keine Anſätze enthält. §. 8
dieſes Geſetzes.
ſatz, daß für diejenigen Amtshandlungen, welche im Tarife nicht vorgeſehen
ſind, Gebühren nicht erhoben werden dürfen. Die Anwendung der einzelnen
Poſitionen auf analoge Fälle iſt nicht zuläſſig. König, Handb. S. 284.
kannt, daß wenn ein Wahlkonſul Geſchäfte beſorgt, die nicht zu ſeinen amt-
lichen Obliegenheiten gehören, er von dem Auftraggeber die ortsübliche Ver-
gütung (Proviſion) beanſpruchen darf.
enthält dieſes Formular ſowie die näheren Vorſchriften über die Buchführung.
• Geſetz über das Poſtweſen des Deutſchen Reiches. Vom 28. Okt.
1871 (R.-G.-Bl. 347). In Elſaß-Lothringen eingeführt durch Geſ. v.
4. November 1871 (Geſetzbl. f. E.-L. S. 348). Dieſes Geſetz iſt ſeit
dem 1. Januar 1872 an Stelle des Geſetzes über das Poſtweſen des
Nordd. Bundes v. 2. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. S. 61) getreten. Motive
Druckſ. des Reichstages 1871 I. Seſſ. Bd. I. Nro. 87. 1871 II. Seſſ.
Bd. I. Nro. 9. , • Geſetz, betreffend die Abänderung des §. 4 des Poſt-
geſetzes. Vom 20. September, 1875 (R.-G.-Bl. S. 318). Motive
Druckſ. 1875/76 III. Seſſ. Bd. I. Nro. 4. Kommiſſionsbericht ebendaſ.
Nro. 58. , and • Geſetz über das Poſttaxweſen. Vom 28. Oktober 1871 (R.-
G.-Bl. S. 358). In Elſ.-Lothr. eingeführt durch Geſ. v. 4. Nov. 1871
(G.-Bl. f. E.-L. S. 348). Geſetz, betreffend einige Abänderungen
dieſes Geſetzes. Vom 17. Mai 1873 (R.-G.-Bl. S. 107). In Elſaß-
Lothr. eingeführt durch Geſ. v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. f. E.-L. S. 9).
- Geſetz, betreffend Abänderung deſſelben Geſetzes. Vom 3. November
1874 (R.-G.-Bl. S. 127). - Geſetz, betreffend die Portofreiheiten. Vom 5. Juni
1869 (B.-G.-Bl. S. 141). Eingeführt in Baden v. 1. Januar 1872
ab (Bundesverf. Art. 80 II. Nro. 4. B.-G.-Bl. 1870 S. 649); in El-
ſaß-Lothringen durch Geſetz vom 1. März 1872 (G.-Bl. f. E.-L.
S. 150); in Südheſſen durch Geſ. v. 20. Dez. 1875 (R.-G.-Bl.
S. 323); in Bayern und Württemberg für den Wech-
ſelverkehr durch Geſetz v. 29. Mai 1872 (R.-G.-Bl. S. 167). - Poſtordnung vom 18. Dez. 1874 (Centralbl. des Deutſchen Reichs
1875 S. 6 ff.). Iſt an die Stelle der älteren Poſtreglements getreten.
Hinſichtlich der Telegraphie: - Telegraphen-Ordnung für das Deutſche Reich. Vom 21. Juni
1872 (R.-G.-Bl. S. 213). - Verordnung, betreffend Abänderungen und Ergänzungen der Telegr.-
Ordn. Vom 24. Januar 1876 (Centralbl. S. 101 ff.). - Geſetz, betreffend die Einführung von Telegraphen-Freimarken. Vom
16. Mai 1869 (B.-G.-Bl. S. 377). Eingeführt in Baden und Süd-
heſſen durch die Bundesverf. Art. 80 (B.-G.-Bl. 1870 S. 649), in
Elſaß-Lothringen durch Geſ. v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. f. E.-L.
S. 9).
- Geſetz, betreffend Abänderung deſſelben Geſetzes. Vom 3. November
- Literatur über das Poſtweſen: Fiſcher in v. Holtzendorff’s Jahrb.
I. S. 409 ff. II. 211 ff. Derſelbe, die Deutſche Poſtgeſetzgebung.
Berlin 1872. Dambach, das Geſetz über das Poſtweſen. (3. Aufl.)
Berlin 1872. (Die Darſtellung in v. Rönne’s Staatsrecht II. 1.
S. 289 ff. enthält zahlreiche, meiſtens wörtliche, Excerpte aus dieſen
Schriften.) Die ſtrafrechtlichen Beſtimmungen in dem Poſtgeſetz
ſind erläutert von Meves in Bezold’s Geſetzgeb. des Deutſchen Reiches.
Dritter Theil. Bd. I. Heft 4. Erlangen 1876. Rösler, Deutſches
Verwaltungsrecht I. 2. S. 461 ff. (Poſt), S. 478 ff. (Telegraphie).
Endemann, das Deutſche Handelsrecht (3. Aufl. 1876) § 160 (Poſt),
§. 162 (Telegraphie). Mandry im Archiv f. d. civil. Praxis Bd. 60
S. 197 ff. (1877). Ueber die Haftpflicht der Poſtanſtalten ſind noch
zu nennen: Kompe, vom Poſttransportvertrage. In der Zeitſchrift
für Deutſches Recht Bd. XVIII. S. 301—388 (Tübingen 1858). Gad,
die Haftpflicht der Deutſchen Poſtanſtalten. Berlin 1863. Wolff in
der Zeitſchrift für Geſetzgebung und Rechtspflege in Preußen. Bd. IV.
S. 130 ff. (Berlin 1870) und namentlich Meili, Haftpfl. der Poſt-
anſtalten. Leipzig 1877. - Literatur-Angaben über das Telegraphenweſen in der
Zeitſchrift f. das geſ. Handelsr. Bd. VI. S. 625, XIII.
S. 351, XVIII. S. 291 ff. Hervorzuheben ſind: Reyſcher, das
Grund beſonderer Staatsverträge auch in Anhalt, Waldeck und in Theilen der
beiden Schwarzburgiſchen Fürſtenthümer, in den Oldenburgiſchen Fürſten-
thümern Birkenfeld und Lübeck und in der Großherzogl. Sächſ. Enclave All-
ſtedt die Poſt verwaltete. Außerdem hatte Preußen durch Vertrag v. 28. Jan.
1867 dem Fürſten v. Thurn und Taxis die geſammten, demſelben zuſtehenden
Poſtrechte abgekauft; dieſelben erſtreckten ſich, abgeſehen von den im Jahre
1866 mit Preußen vereinigten Landestheilen, auf das Großherz. Heſſen, die
Sächſiſch-Thüringiſchen Fürſtenthümer und beide Lippe. Eigene Poſtverwal-
tungen beſtanden überdies im Königreich Sachſen, welches zugleich für
Sachſen-Altenburg die Poſt verwaltete, in beiden Mecklenburg, Olden-
burg, Braunſchweig und den Hanſeſtädten. In den drei Hanſe-
ſtädten beſtanden überdies Poſtämter des Fürſten Thurn u. Taxis, in Ham-
burg und Lübeck Däniſche Poſtämter und in Hamburg ein Schwediſches Poſt-
amt. Durch die Verträge mit Dänemark v. 7. April 1868 (B.-G.-Bl. S. 157)
und mit Schweden v. 23. Febr. 1869 (B.-G.-Bl. S. 73) wurden dieſe aus-
ländiſchen Poſtämter beſeitigt. Die in den Hanſeſtädten befindlichen Deutſchen
Anſtalten wurden nach Vorſchrift des Art. 51 der Verf. des Nordd. Bundes
vereinigt. Vgl. Timm im Amtsblatt der Reichspoſtverw. 1872 S. 115 fg.
- Telegraphenrecht. In der Zeitſchr. f. Deutſches Recht Bd. XIX. S. 271
—320 (Tübingen 1859). Serafini, Il telegrafo. Pavia 1862.
Meili, das Telegraphen-Recht. 2. Aufl. Zürich 1873 (woſelbſt S. 5 ff.
zahlreiche Literatur-Angaben). Ludewig, die Telegraphie. Leipzig
1872. Vgl. auch Dambach, das Telegraphen-Strafrecht, im Ge-
richtsſaal Bd. XXIII. 1871 S. 241 ff. (auch im Separat-Abdruck
1872 erſchienen) und Fiſcher, Telegraphie u. Völkerr. Leipz. 1876.
B.-G.-Bl. S. 650) ſind lediglich finanzieller Natur und von nur vorüber-
gehender Bedeutung geweſen.
für eine gewiſſe Uebergangszeit finanzielle Sonderrechte verabredet.
im Geſetz v. 5. Juni 1869 §. 13 ſind nicht mehr von Belang. Vgl. über die-
ſelben meine Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 (Bd. 6) S. 513 fg.
und den Dienſteid der unmittelbaren Reichsbeamten zu leiſten haben,
ſind die Oberpoſtdirektoren, Oberpoſträthe, Poſträthe, Poſtbauräthe, Poſtinſpek-
toren und Ober-Poſtkaſſen-Rendanten.
der Poſt geltenden Beſtimmungen auf den internen Verkehr Württembergs in-
ſoweit von der Zuſtimmung Württembergs abhängen ſoll, als dieſe Beſtim-
mungen der Poſt Vorrechte beilegen, welche derſelben nach der gegenwärtigen
Geſetzgebung in Württemberg nicht zuſtehen“. Dieſer Vorbehalt iſt erledigt,
indem das die Vorrechte der Poſt regelnde Reichsgeſetz v. 28. Okt. 1871 unter
Zuſtimmung Württembergs für das ganze Reichsgebiet in Geltung getreten iſt.
ſidium die Hälfte der auf die Hanſeſtädte entfallenden Quote zur Dispoſition
geſtellt, zu dem Zwecke, daraus zunächſt die Koſten für die Herſtellung nor-
maler Poſteinrichtungen in den Hanſeſtädten zu beſtreiten. Nordd. Bundes-
verfaſſ. Art. 52 Abſ. 5.
S. 466 ff.
nur das Poſtweſen, nicht die Telegraphie. Dieſe Staaten haben aber durch
beſondere Staatsverträge die ihnen verfaſſungsmäßig zuſtehenden Befugniſſe
hinſichtlich der Telegraphen-Verwaltung auf das Reich übertragen.
dem Reichskanzler und den Centralſtellen der betreffenden Staaten abgeſchloſſen
und weder publicirt noch durch den Druck veröffentlicht worden. Ihre Kennt-
Allgem. Poſtdienſt-Anweiſung Bd. IV. Abſchn. X. Abth. 2. §§. 8. 9.
gen dieſes Vertrages gehen dahin, daß bei den Verhandlungen mit fremden
Regierungen, welche eine Poſtverwaltung einleitet oder führt, die andern ver-
bündeten Poſtverwaltungen in Kenntniß geſetzt werden ſollen, ferner daß der
Abſchluß des Vertrages, ſoweit es thunlich iſt, gemeinſchaftlich bewirkt wird,
und endlich daß jedenfalls durch die Verträge dahin Vorſorge getroffen wird,
daß die der einen Deutſchen Verwaltung zugebilligten Erleichterungen des Ver-
kehrs in gleicher Weiſe und unter denſelben Bedingungen auch auf den durch
dieſe Verwaltung ſtückweiſe vermittelten Korreſpondenzverkehr der andern
Deutſchen Poſtgebiete zur Anwendung gelangen.
Dr.Fiſcher in Berlin.
„Handbuch für den Wechſelverkehr ꝛc. ꝛc.“ Berlin 1872 (Decker).
dorff’s Jahrb. II. S. 253.
S. 339).
den Niederlanden vom 5. Oktober 1871 (Telegr.-Amtsbl. 1872 S. 27 ff.
S. 30 ff.) und Telegraphen-Vertrag mit Luxemburg v. 20. Juni 1872
(ebend. S. 93).
graphen-Conferenz zu Rom vereinbarten Vertrag vom 14. Januar 1872 und
den Petersburger Vertrag von 10./22. Juli 1875 geregelt.
Ankauf oder Expropriation zu erwerben und die Verwaltung der Telegraphie
dem Staate zu übertragen. Meili S. 23.
S. 38 fg.
tracht kömmt, ſondern Hülfsgeſchäfte zum Betriebe des Transportunternehmens
abſchließt, z. B. Gebäude, Wagen, Pferde, Schreibmaterial u. drgl. anſchafft
oder veräußert, genießt ſie volle Handlungsfreiheit und ſteht lediglich unter
den allgemeinen Rechtsgrundſätzen.
tungsdebits im Poſttaxgeſetz §. 3. Andererſeits ruht der Poſtzwang, ſo
lange die Poſtverwaltung in Fällen des Kriegs und gemeiner Gefahr jede
Vertretung ablehnt und Briefe nur auf Gefahr des Abſenders zur Beförderung
übernimmt. Poſtgeſ. §. 15.
ſtimmung wegen Defraudation des „Perſonengeldes“.
eintheilen in die Briefpoſt (Briefe, Poſtkarten, Druckſachen, Zeitungen,
Waarenproben und Muſter), in die Fahrpoſt (Packete, Einſchreibſendungen,
Briefe mit Werthangabe, Poſtanweiſungen), in die Perſonenpoſt (Beför-
derung von Reiſenden und Reiſeeffekten) und in die Telegraphie. Von
juriſtiſcher Bedeutung iſt dieſe Eintheilung, die übrigens nicht erſchöpfend iſt,
aber nicht. In demſelben Sinne äußert ſich auch Meili, Haftpflicht S. 28.
Einrichtung von Perſonenpoſten, Geſtellung von Extrapoſten, Herſtellung von
Telegraphenſtationen u. ſ. w.
ſung von Reiſenden, wenn noch verfügbare Plätze vorhanden ſind, oder die
Bevorzugung von Reiſenden, die ſich ſpäter gemeldet haben, vor früher Ange-
meldeten iſt unſtatthaft (vgl. Poſtordnung §. 47 Nro. III.) und würde einen
Anſpruch auf Schadenserſatz begründen.
rung richtet ſich nach der Zeit der Aufgabe, vorbehaltlich der reglementsmäßig
angeordneten Bevorzugung der Staatsdepeſchen und der als „dringlich“ be-
zeichneten Depeſchen.
Briefe. Vgl. Poſtordnung §. 1 ff. Abfaſſung telegraphiſcher Depeſchen. Tele-
graphen-Ordn. §. 6.
Poſtverwaltung einer landesgeſetzlich zuläſſigen Anordnung der Landespolizei-
behörde, welche die Ausgabe und Verbreitung einer gewiſſen Zeitung verbietet,
nicht Folge leiſten dürfe, iſt eine Verkennung des Sinnes des §. 3 des Poſt-
geſetzes. Denn dieſer Paragraph regelt lediglich die Verpflichtung der Poſt
zur Uebernahme der von ihr betriebenen Geſchäfte. Die Poſtverwaltung
iſt daher allerdings nicht befugt, aus eigener Initiative gewiſſen Zeitungen die
Beförderung oder Vertheilung an die Abonnenten zu verſagen; im poſtmäßigen
Betriebe muß ſie alle ihr aufgetragenen Geſchäfte nach gleichen Grundſätzen
ausführen. In die preßpolizeilichen Befugniſſe greift dagegen der §. 3
des Poſtgeſetzes gar nicht ein. Iſt die Verbreitung einer Zeitung in einem
Lande polizeilich verboten, ſo wird die Poſtverwaltung denjenigen, der dieſe
Zeitung beſtellen will, davon zu verſtändigen haben. Beſteht derſelbe auf der
Beſtellung, ſo muß ſich die Poſt dieſem Auftrage zwar unterziehen und die
einzelnen Nummern in der für alle Zeitungen üblichen Weiſe befördern, aber
die eingetroffenen Exemplare ſind zunächſt nicht auszugeben, ſondern für die
Abonnenten bis zu dem Zeitpunkt aufzuheben, wo das Verbot der Verbreitung
zurückgenommen wird. Im Gebiete des Reichspreßgeſetzes vom 7. Mai 1874
kann dieſer Fall nicht vorkommen, praktiſch iſt die Frage dagegen in Elſaß-
Lothringen, ſo lange das Reichspreßgeſetz daſelbſt nicht zur Einführung ge-
langt. Eine Erörterung darüber findet ſich in den Verhandl. des Reichstages
vom 26. April 1877. Stenogr. Berichte S. 803 ff.
(Paris 1864) pag. 29 nro. 40. Telegraphen-Betriebs-Ordnung 1876 §. 4.
S. 1419. Dagegen iſt in der Veröffentlichung ſtatiſtiſcher Notizen über die
Anzahl von Beſtellungen auf die einzelnen Zeitungen eine Verletzung des
Briefgeheimniſſes nicht zu erblicken.
des Strafgeſetzb. gleichgeſtellt: „andere mit der Beaufſichtigung und Bedienung
einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen-Anſtalt betraute Perſonen“;
hierhin gehören zunächſt Eiſenbahn-Beamte, welche im Betriebe der
Telegraphie beſchäftigt werden, ſodann aber auch Ehefrauen oder andere Fa-
miliengenoſſen eines Telegraphenbeamten, welche als Gehülfen oder Vertreter
der letzteren dienſtlich verwendet (mit der Bedienung betraut) werden.
Vgl. Ludewig, die Telegraphie S. 66.
an Angehörige, Hausgenoſſen u. ſ. w. des Adreſſaten. Vrgl. Poſtordnung
§. 34 Z. III.
die von ſeiner Frau geſchriebenen oder an ſie gerichteten Briefe zu eröffnen,
ebenſo Eltern oder Vormünder hinſichtlich der Correſpondenz ihrer Kinder oder
Mündel; dagegen würde ein Poſtbeamter ſeine amtliche Pflicht zur Bewahrung
des Briefgeheimniſſes unzweifelhaft verletzen, wenn er dem Ehemann, Vater
oder Vormund eine Mittheilung machen würde, daß die ſeiner Gewalt unter-
worfenen Perſonen Poſtſendungen erhalten oder aufgegeben haben. — Auf
andere Poſtſendungen als verſchloſſene Briefe kann §. 299 des St.-G.-B.’s
überhaupt nicht zur Anwendung kommen, wohl aber §. 5 des Poſtgeſetzes.
Poſtſendungen durch die Ober-Poſtdirektion zu rechnen, um den Abſender zu
Juſtizbehörden ob; die Poſtverwaltung iſt von jeder weiteren Verantwortlich-
keit hinſichtlich der in Beſchlag genommenen Poſtſendungen frei.
ſind gemäß §. 50 Z. 3 des Poſtgeſetzes vom Reichskanzler zu erlaſſen.
Sie ſind getroffen in der Poſtordnung §. 40.
nicht mehr Anwendung finden. Ebenſowenig das Reſcript v. 31. Oktob. 1791
(Gad, Haftpflicht S. 36 Note 22). Sie ſind bereits durch Art. 33 der Preuß.
Verf.-Urkunde für beſeitigt anzuſehen.
nahme oder Mittheilung des Inhaltes iſt zur Vollendung des Vergehens nicht
erforderlich. Oppenhoff, Strafgeſetzb. Note 5 zu §. 354.
auf die Dauer von Einem bis zu fünf Jahren erkannt werden. R.-St.-G.-B.
§. 358.
widrige Vorenthaltung“ iſt die Ausübung des Retentionsrechts an Poſtſen-
dungen und telegraphiſchen Depeſchen wegen Verweigerung der Gebührenzahlung.
unbeſtellbarer Poſtſendungen, deren Abſender nicht ermittelt werden kann.
Poſtordn. §. 40.
Sachen, welche Gegenſtand der Uebertretung ſind, können von den Poſtbehör-
den in Beſchlag genommen und ſo lange ganz oder theilweiſe zurückge-
halten werden, bis entweder die defraudirten Poſtgefälle, die Geldſtrafe und
die Koſten gezahlt oder durch Kaution ſichergeſtellt ſind.
ſei, iſt im Geſetz abſichtlich nicht definirt worden. Vgl. Dambach S. 5. Der-
ſelbe hebt mit Recht hervor, daß auch ein verſchloſſenes adreſſirtes Couvert,
in welchem ſich ein Stück unbeſchriebenes Papier befindet [oder das ganz leer
iſt], im Sinne des §. 1 des Poſtgeſetzes ein „Brief“ iſt. Vgl. auch Meves
a. a. O. S. 366 Nro. 5.
gemeiner Gefahr von dem im §. 15 des Poſtgeſ. ihr beigelegten Rechte Ge-
brauch macht.
Nro. 16. In keinem Falle ſind bloße Briefſammelkaſten als Poſtanſtalten zu
erachten.
welchem die Zeitung herausgegeben wird, ſondern die politiſche Ortsgrenze als
Anfangspunkt und die politiſche Ortsgrenze des Beſtimmungsortes als End-
punkt zu Grunde zu legen. Dambach S. 7 Nro. 11.
graph den Anlaß bietet, vgl. Dambach S. 10 fg. Hervorzuheben iſt insbe-
ſondere, daß der Expreſſe Gegenſtände, welche dem Poſtzwang unterliegen, für
Andere auch unentgeldlich nicht mitnehmen oder zurückbringen kann; dagegen
kann er andere Gegenſtände, z. B. unverſchloſſene Briefe oder Packete, ohne
Beſchränkung ſowohl entgeldlich als unentgeldlich befördern. Immerhin muß
er aber den Charakter eines expreſſen Boten bewahren, d. h. der eigentliche
und weſentliche Zweck muß die Abtragung oder Abholung der Briefe ſeines
Abſenders ſein. Daher würde z. B. der Milchpächter, welcher mit ſeiner
Waare in die Stadt fährt und für den Gutsherrn Briefe und Zeitungen gegen
Entgeld mitnimmt oder zurückbringt, nicht als expreſſer Bote zu erach-
ten ſein.
in Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 440 fg.
täglich in einem verſchloſſenen Packet per Poſt nach Berlin an einen Geſchäfts-
freund ſchickt und ſie durch Vermittlung des letzteren den Adreſſaten zuſtellt.
Der Schutz gegen eine ſolche Concurrenz, die überhaupt nur zwiſchen großen
Städten mit Ausſicht auf Erfolg betrieben werden könnte, liegt in der Billig-
keit, Schnelligkeit und Zuverläſſigkeit der Briefbeförderung mittelſt der Poſt.
Zeitſchrift f. Deutſches R. Bd. XIX. S. 282 ff. Bluntſchli, Allgem.
Staatsrecht. 5. Aufl. S. 510 (Lehre vom modernen Staat Bd. II.). Meili
S. 11 ff. — Vgl. dagegen die ſehr treffenden Ausführungen von Ludewig,
die Telegr. S. 12 ff. 52 fg.
St.-G. B. in Geltung geblieben ſind, unterliegt keinem Zweifel. Vgl. Dam-
bach a. a. O.
1837 eingeführt und mit ſtrengen Strafen geſchützt. Das Geſ. v. 29. Nov.
1850 gab zuerſt die Staatstelegraphen der Benutzung des Publikums frei, das
Monopol ſelbſt aber wurde durch das Decret v. 27. Dez. 1851 beibehalten.
Vgl. Hepp, de la Correspond. privée postale ou télégraphique. Paris
1864. S. 21 ff.
Kommunen, in denen keine Reichstelegraphen-Anſtalt beſteht, geſtattet iſt, nach
näherer Anordnung der Telegraphen-Direktion Anſchluß-Leitungen herzuſtellen
und auf eigene Rechnung unter Befolgung der Telegraphen-Ordnung zu be-
treiben. Denn das Reich kann jeder Zeit gegen Erſtattung der Hälfte der An-
lagekoſten die Telegraphen-Anlage erwerben und in eigene Verwaltung nehmen.
Bekanntmachung v. 2. März 1869. Preuß. Miniſt.-Bl. d. i. V. 1869 S. 61.
Reichskanzlers vom 7. März 1876. Centralbl. 1876 S. 155 ff. Für die Zeit
vor dem Erlaß dieſes Reglements entſchieden über die Befugniß der Eiſen-
bahnen zur Beförderung von Privattelegrammen die Beſtimmungen der ein-
jedoch in der Beförderung den Vorzug vor allen anderen Telegrammen. eben-
daſ. §. 4.
Stationen mit vollem Tagesdienſt. ebendaſ. §. 5.
treffen — Ludewig a. a. O. S. 44 ff.
bührenfreiheit, Haftung für Defecte u. ſ. w. ſind in dem Reglem. §§. 9—13
feſtgeſetzt.
Schweiz, Deutſchland, Oeſterreich, Frankreich, England u. Nordamerika findet
ſich bei Meili, Haftpflicht S. 122 ff.
v. 20. Dez. 1875. Druckſ. des Reichstages 1875/76 Bd. I. Nro. 4 S. 16. 17.
d. d. 1871. Motive zu Art. 12 des Reichsgeſ. vom
20. Dezemb. 1875 a. a. O. S. 13.
unter Zuſtimmung ges Bundesrathes unter dem 9. Febr. 1876 erlaſſen. Sie
ſind gedruckt im Centralblatt des D. R. 1876 S. 87 und in der Allge-
meinen Poſt-Dienſtanweiſung Bd. I. Abſchn. II. S. 29.
Badiſchen Staatsbahn und der Reichspoſt beſtehende. Bis zum Ende des
Jahres 1879 gilt daher für Baden noch das Reglement v. 1. Jannar 1868
und Baden erhält ſeine vertragsmäßige Vergütung, falls nicht im Wege der
Vereinbarung etwas Anderes feſtgeſetzt wird. Es iſt dies ausdrücklich aner-
kannt im Art. 12 Abſ. 1 des Geſ.
bahn, ſo treten mit dem Uebergang derſelben in das Eigenthum des Staates
die geſetzlichen Leiſtungen für die Poſt an die Stelle der konzeſſions-
mäßigen.
dienſt auf den Bahnhöfen hergeſtellt werden. Alsdann hat die Eiſenbahn den
erforderlichen Bauplatz gegen Erſtattung der Selbſtkoſten zu beſchaffen,
während die Bau- und Unterhaltungskoſten von der Poſt beſtritten werden.
Art. 7 Abſ. 5. Die Eiſenbahnen ſind durch das ihnen zuſtehende Enteigungs-
recht in der Lage, dieſer Pflicht in allen Fällen zu genügen.
wichts der zahlungspflichtigen Eiſenbahn-Poſtſendungen iſt eine beſondere An-
weiſung ergangen. Sie bildet die Anlage 50 zu Abſchn. V. Abth. 2 der
Allgem. Poſtdienſtanweiſung.
auch auf Grund vorangegangener Verſtändigung eine Abtheilung eines Eiſen-
bahnwagens für den Poſtdienſt hergerichtet werden. Die Poſt trägt alsdann
die Koſten der Einrichtung und Wiederherſtellung und zahlt eine Miethsent-
ſchädigung. Art. 3.
Centralblatt 1876 S. 87 ff abgedruckt.
Wege des Prozeſſes verfolgt, ſo hat die Eiſenbahn-Verw. derjenigen Ober-
Poſtdirektion, in deren Bezirk der Unfall ſich ereignet hat, nach Zuſtellung der
Klage eine Abſchrift derſelben mitzutheilen. Reglem. v. 9. Febr. 1876 a. a. O.
Bd. I. (Berlin 1876) Abſchn. II. S. 22. Auch bei Ludewig a. a. O. S. 57.
beamten in den Eiſenbahnwagen während der Ausführung von Zugrangirbe-
wegungen vgl. den Bundesraths-Beſchluß v. 27. März 1877 und den
Erlaß des Preuß. Handelsminiſters v. 25. September 1877.
Damm-, Pflaſter-, Prahm- und Fährgelder.
18. Dez. 1874 §. 58 lit. f. (Centralbl. 1875 S. 36.)
ſind Perſonen fuhrwerke, welche durch Privatunternehmer eingerichtet und
als Erſatz für ordentliche Poſten ausſchließlich zur Beförderung von Rei-
ſenden und deren Effekten und von Poſtſendungen (alſo nicht von andern
Frachtgütern) benutzt werden. Vgl. Dambach S. 58.
Poſt und Telegraphie Bd. I. (1876) Abſchn. II. S. 23 fg.
Ordn. §. 1 Abſ. 3.
Z. 10 des Strafgeſetzb. auch auf die Poſthalter Anwendung, wenn ſie in Noth-
fällen die Hülfeleiſtung verweigern.
(R.-G.-Bl. S. 135).
Ermittelung ſolcher Beſchädigungen vgl. die Allgem. Dienſtanweiſung Bd. I.
Berlin 1876. Abſchn. II. S. 20.
1875 S. 26. 27.
ſagiergut der Poſt eingeliefert worden iſt, nicht wenn der Reiſende die Effekten
unter eigener Aufſicht behalten und ſie im Wartezimmer oder im Poſtwagen
zurückgelaſſen hat. Das Poſtgeſ. §. 26 Abſ. 2 unterſcheidet aber nicht, ſondern
ſpricht allgemein von „zurückgelaſſenen Paſſagier-Effekten“.
Warteſaal eines Poſtgebäudes ein Plaid, Regenſchirm, Stock oder drgl. ge-
funden wird, ein verſchiedenes Verfahren einzuſchlagen ſein, je nachdem ein
Poſtreiſender den Gegenſtand zurückgelaſſen hat oder eine andere Perſon, da
die gefundene Sache im erſteren Falle zu den Paſſagier-Effekten gehören würde,
im letzteren Falle nicht. Woran ſoll man dies aber erkennen, wenn ſie nicht
zufällig reiſemäßig verpackt iſt?
ſchnitt XI. Abth. 2.
dern ein Zwang, ſich des Betriebes der der Poſt vorbehaltenen Transport-
Geſchäfte zu enthalten.
für den Bayeriſchen Staat und von den Dienſten der Württemb. Poſtanſtalt
für den Württemb. Staat.
mann a. a. O. S. 18.
allerdings hierher, nicht aber das einzelne von der Poſtanſtalt innerhalb
ihres Reſſorts geſchloſſene Geſchäft.
man dies ſo formuliren, daß die Beamten der Poſt im einzelnen Falle keine
Accidentalia negotii verabreden dürfen, ſondern daß die Naturalia negotii
(das bürgerliche reſp. Handelsrecht) Anwendung finden, ſoweit ſie nicht durch
Spezial-Vorſchriften ausgeſchloſſen ſind.
Einrichtung von Poſtfächern, über Kreditirung und Kontirung von Porto u. dgl.
58 und namentlich die Ausführungen von Goldſchmidt in der Zeitſchrift
f. das geſ. Handelsr. Bd. IV. S. 585 ff.
haltene Reglement auch auf ſolche Gegenſtände ſich erſtreckt, die mit dem Poſt-
Transport-Vertrage Nichts zu thun haben, z. B. Anordnungen zur Aufrechthal-
tung der Ordnung, der Sicherheit und des Anſtandes auf den Poſten, in den
Poſtlokalen und Paſſagierſtuben. §. 50 Z. 10.
Grund des Art. 48 der R.-V. „Geſetzeskraft“ habe, iſt demnach nicht zutref-
fend; daraus folgt aber nicht, daß ſie überhaupt nicht gelte, weil die Ver-
waltung beſtehende Rechtsſätze nicht aufheben könne. Rechtsſätze kann die
Verwaltung allerdings nicht aufheben, wohl aber, ſoweit ſie nicht ius cogens
treffen, Handelsgeſchäfte ſind, iſt unſtreitig; ſehr beſtritten iſt dagegen
die Frage, ob die Poſtanſtalt mit Rückſicht auf dieſe Geſchäfte als Kauf-
mann anzuſehen iſt. Dagegen erklären ſich unter Anderen: Gold-
ſchmidt, Handelsr. I. S. 490 (2. Aufl.). Dambach S. 4. Volkmann
im Poſtarchiv 1874 Nro. 11 S. 321 ff. Urth. des O.-A.-G. zu München
v. 28. Dez. 1869 (Zeitſchr. f. Handelsr. XX. S. 604). Für die bejahende
Meinung ſind anzuführen: Kompe, Zeitſchrift f. Handelsr. Bd. XI. S. 63.
v. Hahn, Kommentar zum H.-G.-B. I. S. 26 (2. Aufl.) Endemann,
Handelsr. S. 745. Thöl, Handelsr. I. S. 111 (5. Aufl.) und namentlich
der Plenar-Beſchluß des R.-O.-H.-G. v. 2. Januar 1874 (Entſcheid.
Bd. XII. S. 311).
Telegraphenordnung gilt nicht als Geſetz, ſondern als Vertragsberedung. Es
bedarf für Sachverſtändige keiner Ausführung, daß dies nicht einerlei iſt, ſon-
dern ſehr erhebliche praktiſche Conſequenzen hat.
hage 1867. III. §. 1. Reuling, Zeitſchr. f. Handelsr. Bd. 18. S. 294.
Ludewig S. 90 ff. und beſonders Meili S. 26 ff. 34. 90 ff. (2. Aufl.),
woſelbſt andere Auffaſſungen widerlegt werden.
(3. Aufl.).
ſichtspunktes findet ſich hinſichtlich der Telegramme bei Ludewig, die Tele-
graphie S. 89.
H.-G.-B. II. S. 474. 478. Makower, Komment. S. 402 (7. Aufl.)
auf §. 6 Abſ. 1 des Poſtgeſetzes. Dieſes Geſetz ſpricht aber nur von dem
Anſpruch des Abſenders auf Erſatz im Falle des Verluſtes oder der Be-
ſchädigung und kann daher höchſtens dahin interpretirt werden, daß es dieſen
Anſpruch dem Adreſſaten verſagt. Den Anſpruch des Adreſſaten auf Aus-
lieferung der für ihn angelangten Poſtſendungen läßt es dagegen unberührt.
Nach Art. 421 des H.-G.-B.’s muß daher die Vorſchrift des Art. 405 ebendaſ.
Anwendung finden. Eine Anerkennung hat dies übrigens gefunden in der
Poſtordnung §. 43 Abſ. 2.
handelt ſich hier nicht um eine Gewährleiſtung, ſondern um Erfüllung reſp.
um Schadenserſatz für Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Erfüllung
des Vertrages. Beſſer wäre die Ueberſchrift „Haftpflicht“.
berechnet ſich die Maximalgrenze der Entſchädigung nach dem Geſammtgewicht
des ganzen Packets. Dambach S. 39 Note 3. Packete von weniger als
einem Pfund und überſchießende Pfundtheile des Gewichts werden für ein
Pfund gerechnet. Poſtgeſ. §. 9 a. E. Für Packete ohne Werthangabe, die
recommandirt ſind, beträgt die Entſchädigung gemäß §. 10 des Poſtgeſ. min-
deſtens 42 Mark, während die Maximalgränze ſich nach §. 9 berechnet.
Dambach S. 42.
dieſes Artikels unter Berufung auf ein Urtheil des Kammergerichts zu Berlin
von 1863, daß wenn die Poſtſendung beim Adreſſaten verſpätet, aber in guter
Beſchaffenheit anlangt, der Adreſſat jedoch die Annahme wegen Verzögerung
ablehnt und auf dem Rückwege nach dem Abſendungsorte die Sendung ver-
dorben iſt, die Poſtverwaltung von der Erſatzpflicht frei ſei. Dem iſt kaum
beizupflichten; denn die Nothwendigkeit der Rückbeförderung iſt durch die Ver-
zögerung des Transports entſtanden und mithin auch der durch die Rückbe-
förderung herbeigeführte Verderb. Wenn z. B. Jemand zu einer großen Feſt-
lichkeit friſche Blumen oder Delikateſſen beſtellt, dieſelben durch verzögerte Be-
förderung verſpätet, aber in noch gutem Zuſtande, bei ihm eintreffen, er die
Annahme verweigert, weil er für die Waaren keine Verwendung mehr hat,
und dieſelben nun auf dem Rücktransport zum Aufgabeort verwelken oder ver-
derben, ſo iſt der Schaden doch zweifellos „durch die verzögerte Beförderung“
verurſacht worden.
rung der Beweislaſt. Wolff S. 133.
modifizirt. — Die Werthdeclaration iſt nicht — wie dies gewöhnlich geſchieht
— als eine Aſſecuranz aufzufaſſen, welche als Nebenvertrag mit dem Poſt-
Transportvertrag verbunden iſt, ſondern als aestimatio des id quod interest,
als Schätzung des bei Nichterfüllung der loc. cond. operis zu vergütenden
Schadens; und ebenſo iſt das Zuſchlagsporto, das für declarirte Werthſen-
dungen erhoben wird, keine Aſſecuranzprämie, ſondern ein Theil des zu ent-
richtenden Lohnes. Es wird dies ſehr treffend hervorgehoben von Meili,
Haftpflicht S. 76 ff. Die weitere Entwicklung der hieraus ſich ergebenden
ausgeſchloſſen. Poſtgeſ. §. 11 Abſ. 2.
der Paſſagiere aller öffentlichen Transport-Anſtalten Anwendung. Erk. des
Ober-Trib. zu Berlin v. 12. Sept. 1865 (Striethorſt’s Arch. Bd. 61 S. 21.
Zeitſchr. f. Handelsr. XII. S. 581). Vgl. auch H.-G.-B. Art. 674.
§. 26. 27 (R.-G.-Bl. 1872 S. 226). Vgl. auch die Telegraphen-Betriebs-
Ordnung (Berlin 1876) §. 71 fg.
Natur ſind. Unerheblich iſt es keineswegs, ob man dieſe oder jene Con-
ſtruktion zu Grunde legt. Vgl. z. B. Meili a. a. O. S. 85.
pflicht S. 38.
Verpackung (vgl. H.-G.-B. Art. 395); ferner unrichtige Adreſſirung u. ſ. w.
„durch höhere Gewalt (vis major)“ entſtanden iſt. Dieſer vieldeutige, unklare
und höchſt beſtrittene Begriff, der aus dem Röm. Rechte herſtammt, iſt für
die Haftung der Poſtverwaltung nicht mehr von Belang, ausgenommen bei
der Beförderung von Reiſenden. Poſtgeſ. §. 11. Der Einrede-Beweis der
Poſtverwaltung muß dreierlei umfaſſen: 1) das Natur-Ereigniß, 2) den Cau-
ſalzuſammenhang zwiſchen demſelben und der Beſchädigung des Poſt-Fracht-
guts, 3) daß dieſe Folge nach Lage des concreten Falles unabwendbar ge-
weſen iſt.
Rechtsvermuthung aufgeſtellt, daß wenn die Sendung ohne Erinnerung
angenommen worden iſt, Verſchluß und Verpackung unverletzt und das Ge-
wicht mit dem bei der Einlieferung ermittelten übereinſtimmend geweſen ſei.
Vgl. H.-G.-B. Art. 408 Abſ. 2. Die Vermuthung kann durch Gegenbeweis
widerlegt werden. Urth. des R.-Oberhandelsgerichts v. 2. Dez. 1874.
Entſcheidungen Bd. 17 S. 126.
und Württembergs haften für einander.
betriebenes Transport-Unternehmen iſt. Vgl. hierzu Wolff S. 137 ff.
kanzler, Anordnungen über die Art der Beſtellung der durch die Poſt
beförderten Gegenſtände zu treffen. Demgemäß hat der Reichskanzler in der
Poſtordn. §. 32 Vorſchriften erlaſſen, welche Gegenſtände den Adreſſaten ins
Haus zu ſenden ſind und welche von der Poſtanſtalt abgeholt werden müſſen,
und im §. 34, an welche Perſonen die Beſtellung geſchehen darf. In den
Ausführungs-Beſtimmungen hierzu in der Allgem. Dienſtanweiſung
Abſchn. V. Abth. 1 ſind zahlreiche und ſehr detaillirte Erläuterungen dazu
ertheilt worden.
Beſtellung ordnungsmäßig erfolgt iſt, hat im Beſtreitungsfalle die Poſtver-
waltung zu führen. Dies iſt ihr weſentlich erleichtert durch die Beſtimmung
§. 36 und dazu die Allgem. Dienſtanweiſung Abſchn. V. Abth. 1. (Bd. II.
S. 57 ff.) Eine ſcharfe Verurtheilung dieſer Vorſchriften bei Meili, Haftpfl.
S. 42 ff.
ſo hat ihn dieſelbe an die competente Oberpoſtdirektion abzugeben. Motive
zu §. 13 des Poſtgeſ. v. 1867. Vgl. Wolff S. 136.
meldung einer Klage eintreten. Dieſe Vorſchrift iſt aufgehoben durch das
Einf.-Geſ. zur Civilproceß-Ordn. §. 13 Z. 4.
Reklamation bei einer inkompetenten Poſtbehörde angebracht, ſo bewirkt dies
die Unterbrechung der Verjährung nicht.
ihm geſchehene Beſtellung auf ſeinen Dienſteid anzeigt, ſo lange für wahr
und richtig anzunehmen iſt, bis das Gegentheil überzeugend nachgewieſen iſt.
Dienſt-Anweiſung.
Dienſtanweiſung Abſchnitt III. Abth. 1.
und das daſſelbe abändernde Geſ. v. 17. Mai 1873 (B.-G.-Bl. S. 107). Vgl.
auch das Geſetz v. 3. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. S. 127).
Fälle, in denen die Zuſtimmung des Bundesrathes erfordert wird und in
denen dies nicht geſchieht, beruht darauf, daß die erſteren den Wechſelverkehr
zwiſchen der Reichspoſt und der Bayer. und Württemberg. Poſt mit berühren
und daher den Vertretern dieſer Staaten eine Theilnahme an der Beſchluß-
faſſung eingeräumt werden mußte, während die letzteren nur den Lokalverkehr
betreffen und deshalb von jeder der drei Verwaltungen ſelbſtſtändig geregelt
werden können.
Waarenproben u. dgl. kommen die Beſtimmungen bes Allgemeinen Poſt-
vereins-Vertrages v. 9. Okt. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 223) zur An-
wendung.
des General-Poſtamts v. 15. Dec. 1869. Fiſcher, Poſtgeſetzgebung S. 72.
73. Sie iſt abgedruckt als Anlage 7 zu Abſchn. III. Abth. 1 der Allgem.
Dienſtanweiſung.
drohung des §. 276 des St.-G.-B.’s iſt auf dieſen Fall unanwendbar, da ſie
nur Stempelmarken betrifft. Auch die Vertilgung des Ent-
werthungszeichens iſt nach der gegenwärtigen Strafgeſetzgebung nicht
ſtrafbar; vgl. Dambach, Telegraphen-Strafrecht §. 12. Jedoch können
unter Umſtänden wol die Vorausſetzungen des §. 263 des St.-G.-B.’s (Be-
trug) gegeben ſein. Daß das Entwerthungs-Zeichen eine Urkunde
iſt, kann nicht bezweifelt werden, §. 267 bedroht aber nur die Verfertigung
und fälſchliche Anfertigung einer Urkunde mit Strafe, die Entfernung des Ent-
werthungs-Stempels dagegen iſt Vernichtung einer öffentlichen Urkunde.
Andererſeits bedroht §. 274 zwar die Vernichtung einer Urkunde in böswilliger
Abſicht mit Strafe, aber nur dann, wenn die Urkunde dem Thäter überhaupt
ſicht der einſtweilen aufrecht erhaltenen Porto-Begünſtigungen bei Fiſcher,
Poſtgeſetzgebung S. 69. Dieſelben ſind offiziell zuſammengeſtellt in der All-
gemeinen Dienſtanweiſung Abſchn. III. Abth. 1. §. 35. 36.
die Portofreiheiten. Allgem. Dienſtanweiſung Abſchn. III. Abth. 1. Anlage 6.
S. 28 ff.
keine vermögensrechtlichen Verpflichtungen geben. Wohl aber können thatſäch-
lich aus den etatsmäßigen Fonds der Reichsbehörden Portogebühren an die
Poſtkaſſe gezahlt werden.
iſt auf den Eigenthümer entwertheter Poſt- und Telegraphen-Freimarken,
welcher das Entwerthungszeichen von denſelben entfernt. Vgl. Oppenhoff,
Komment. (5. Ausg.) Note 11 zu §. 274.
des III. Abſchnitts der Allgem. Dienſtanweiſung.
8. Nov. 1872. Sie ſind abgedruckt in der Allgem. Dienſtanweiſung a. a. O.
S. 8 ff. Seit dem 1. Juli 1877 ſind ſie erſetzt durch die Kaiſerl. Ver-
ordnung v. 2. Juni 1877. R.-G.-Bl. S. 524. Darnach iſt die Gebühren-
freiheit beſchränkt auf die telegraph. Korreſpondenz der regierenden Fürſten,
deren Gemahlinnen und Wittwen; der Bevollmächtigten zum Bundesrath in
Bundesraths-Angelegenheiten; des Reichstages und der Reichsbehörden in
reinen Reichs-Dienſt-Angelegenheiten; der Deutſchen Militär- und Marine-
behörden in reinen Militär- und Marine-Dienſtangelegenheiten; endlich Tele-
gramme der Eiſenbahn-Verwaltungen und Beamten an vorgeſetzte Beamte über
vorgekommene Unglücksfälle und Betriebsſtörungen. — Die Gebührenfreiheit
erſtreckt ſich nicht auf die baaren Auslagen für Weiterbeförderung über die
Telegraphen-Linien hinaus.
Aſſignatar; der angewieſene Betrag beſtimmt ſich nach dem Portotarif; die
Zahlungszeit nach dem Zeitpunkt der Ablieferung.
gewieſene Summe auf den Ergänzungsbetrag.
§. 1 u. 2. Allgemeiner Poſtvereins-Vertrag v. 9. Okt. 1874 Art. 3 Abſ. 4.
Ordn. §. 19. IX.
zu dem ermäßigten Satze.
jedoch befugt, Briefumſchläge oder Begleitadreſſen an die Poſtanſtalt zurück-
zugeben, um das Porto nachträglich vom Abſender einziehen zu laſſen.
eine beſondere Urkunde ausgeſtellt wird, ſondern in dem Frachtvertrage im-
plicite als Nebenberedung enthalten iſt, ſo braucht auch das Accept nicht aus-
drücklich oder gar ſchriftlich ertheilt zu werden, ſondern es wird durch An-
nahme des Frachtgutes (Brief, Packet) ſtillſchweigend erklärt.
reichend frankirten Sendungen aus dem Inlande, wenn dieſelben nicht ge-
wöhnliche Briefe, Waarenproben und Druckſachen ſind. Poſt-Ordn. §. 43. II.
Uebrigens kann die Zuläſſigkeit dieſer Vorſchrift gegenüber der beſtimmten ge-
ſetzlichen Anordnung in §. 6 des Poſttaxgeſetzes wohl zweifelhaft ſein.
unbeſtellbar zu erachten ſind, und über das zu beobachtende Verfahren enthält
die P.-O. §. 39. Bei Sendungen, die einem ſchnellen Verderben ausgeſetzt
ſind und deren Verderben während des Rücktransportes zu befürchten iſt, kann
die Veräußerung für Rechnung des Abſenders erfolgen. P.-O. §. 39. III.
Pfandrechts des Frachtführers ſind für die Poſt ausgeſchloſſen durch die auf
Grund des Poſtgeſetzes §. 50 Nro. 3 u. 4 vom Reichskanzler erlaſſenen
Vorſchriften der Poſt-Ordnung §. 39. 40.
Gunſten des Adreſſaten, wenn von ihm zu wenig oder gar kein Porto
bei Aushändigung der Poſtſendung erhoben worden iſt. Das cit. Geſ. §. 7
unterſcheidet nicht zwiſchen Abſender und Adreſſaten, ſondern faßt beide unter
dem Ausdruck „Correſpondent“ zuſammen.
bliebene Gebühren für telegraphiſche Depeſchen beſteht dieſes Privile-
gium nicht.
das Vierfache erhöht. eod. §. 28.
Hinterziehung von Perſonengeld nicht Statt. Ueber die Vorausſetzungen des
ſtrafbaren Thatbeſtandes vgl. Meves S. 379 fg.
tive S. 19. Dambach S. 96. Meves S. 381 fg.
Strafproceß-Ordnung unberührt. Einf.-Geſ. zur St.-P.-O. §. 5 Abſ. 1.
im adminiſtrativen oder im gerichtlichen Verfahren ſtattfinden darf; es iſt nicht
in das Ermeſſen der Poſtbehörde geſtellt. Vgl. Meves S. 389 Nro. 11.
Allein die bloße Betheuerung des zahlenden Defraudanten, daß er unſchuldig
ſei, muß als rechtlich unerheblich pro non scripto angeſehen werden.
zu führen, ſondern nur die Poſtanſtalten oder die Aufſichtsbeamten auszu-
wählen, denen die Führung der Unterſuchungen aufgetragen wird. Meves
S. 390.
Ober-Poſtdirection die Entſcheidung zu treffen, in deren Bezirk die Defrauda-
tion verübt worden iſt. Dambach S. 100. Vgl. Meves S. 387.
von Zeugen als erforderlich erweiſt oder weitläufige Ermittelungen nothwendig
ſind. Vgl. Allgem. Dienſtanweiſung II. §. 35.
Ordn. §§. 460—469 zur Anwendung. Dagegen iſt die zehntägige Friſt des
liche Erklärung einſendet, ſo braucht die Sache nicht an das Gericht abgegeben
zu werden. Dambach S. 101 Nro. 4.
ſchuldigten nicht zu; insbeſondere iſt in der Einlegung des Rekurſes ein Ver-
zicht auf richterliches Gehör enthalten. Meves S. 392. 400.
defraudations-Fällen iſt Sache der Gerichte.
hoben. Einf.-Geſ. zur St.-Pr.-Ordn. §. 5.
Geſchäfte giebt die Allgemeine DienſtanweiſungI. Bd. (1876)
Abſchn. I. §. 7. Vgl. auch Stephan a. a. O. S. 704 ff. Der Geſchäfts-
betrieb iſt geregelt in der Allgem. Dienſtanweiſung Abſchn. XI. Abth. 1.
ordnungen über die Behörden-Organiſation dieſer Verwaltung ſiehe Bd. I.
S. 615 ff.
Allgem. Dienſtanw. Abſchn. I. §. 4 (Bd. I. S. 7) auf.
lungen werden veröffentlicht in dem Amtsblatt der Reichs-Poſt-
und Telegraphen-Verwaltung. Berlin, Decker. Redigirt im
General-Poſt- und Telegraphenamt. Bis 1875 incl. beſtand für jede der
beiden Verwaltungen ein beſonderes Amtsblatt.
die Grundlage der jetzt geltenden bildet, vgl. Stephan a. a. O. S. 715 fg.
Eine erneute Redaktion in 3 Bänden iſt 1863 erſchienen. Die neueſte, ſeit
1875 in einzelnen Abſchnitten veröffentlichte Faſſung führt den Titel: Allge-
meine Dienſt-Anweiſung für Poſt und Telegraphie in
vier Bänden (zwölf Abſchnitten).
Bayer. und Württemb. Telegraphen-Anſtalten, ſondern auch gegen die Tele-
graphen-Beamten der Eiſenbahnen. Abſ. 1 des Art. 318 erfordert nur: „eine
zu öffentlichen Zwecken dienende Telegraphen-Anſtalt“. Vgl. Dambach,
Telegraphen-Strafrecht §. 4 (Gerichtsſaal 1871 S. 250 ff.). Oppenhoff
Note 2 zu §. 317.
tigung im Telegraphendienſte erkannt werden. St.-G.-B. §. 319.
Abſ. 2 führen kann, vgl. Dambach a. a. O. S. 277 ff.
wichtiges Material enthalten in dem Kommiſſions-Bericht des
Reichstages v. 13. Mai 1871. Druckſ. I. Seſſ. 1871 Nro. 112. Als Bei-
lage A. zu demſelben (S. 29 ff.) iſt ein Auszug aus dem neuen Regle-
ment über die Annahme und Anſtellung von Civil- und Militär-Anwärtern
im Poſtdienſte abgedruckt. Daſſelbe bildet Abth. 1 des X. Abſchnittes
der Allgem. Dienſtanweiſung (Bd. IV.). Vgl. auch Hirth’s Annalen
1871 S. 733 ff.
welche dieſes Zeugniß nicht haben, angenommen werden. P.-D.-A. a. a. O.
§. 2 Ziff. 2.
graphen-Inſpectoren“, Anlage 3 und Anlage 4 zur Allgemeinen Dienſt-
anweiſung Abſchn. I. §. 8 (Bd. I. S. 31—54).
Dienſte eines vollbeſchäftigten Hülfsarbeiters herangezogen wird, von Tage-
geldern iſt jedoch nicht ausgeſchloſſen. Vgl. P.-D.-A. a. a. O. §. 8.
Friſt entſprechend verlängert. a. a. O. §. 11 Abſ. 2.
der A. P.-D.-Anw. abgedruckt. Analoge Beſtimmungen gelten für die Tele-
graphenſekretär-Prüfung.
der A. P.-D.-A.
der A. P.-D.-Anw.
ſachen des Reichstages 1872. Nro. 144 S. 8.
Unterbeamte (Briefträger, Poſtſchaffner, Packmeiſter, Hausdiener u. ſ. w.)
Anſtellung fordern können. Gemäß §. 77 des Geſ. v. 27. Juni 1871 (R.-G.-
Bl. S. 293) und den auf Grund deſſelben vom Bundesrathe erlaſſenen Vor-
v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 412 ff. II. S. 211 ff. IV. S. 421 ff. Vrgl.
ferner Hierſemenzel S. 116 ff. Thudichum S. 344 ff. Riedel
S. 125 fg. Seydel S. 69 fg. 188 ff. v. RönneII. 1. S. 314 ff.
L. v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre S. 402 ff. (2. Aufl. 1876).
Rösler, Sociales Verwaltungsr. I. 2. §. 419 ff. (S. 431 ff.). Schmeidler,
Geſchichte des Deutſchen Eiſenbahnweſens. Leipzig 1871. S. 249 ff.
tung des Vereins Deutſcher Eiſenbahn-Verwaltungen 1875 Nro. 34 und ſonſt
mehrfach.
nahme eines Drittels der Stellen für Briefträger und für Poſtſchaffner im
innern Dienſt, mit civilverſorgungsberechtigten Militäranwärtern zu beſetzen.
Vgl. Reglement v. 20. Juni 1867 (Preuß. Juſtiz-Miniſt.-Bl. 1867 S. 229 ff.)
tigkeit bis Ende des Jahres 1876 (Hirth’s Annalen 1877 S. 683 fg.). Unter
den Erörterungen über die Entwürfe iſt beſonders hervorzuheben die Abhand-
lung von Fiſcher in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. 1876 S. 446 ff.
legenheiten iſt nicht auf die in den Artikeln 41—47 der R.-V. aufgeführten
Gegenſtände beſchränkt; ſie normirt ſich vielmehr nach Art. 4 Ziff. 8 der R.-V.
und hat demnach, abgeſehen von Bayern, keinerlei andere Schranken, als daß
ſie „im Intereſſe der Landesvertheidigung und des allgemeinen Verkehrs“ aus-
geübt werden ſoll. Ob ein ſolches Intereſſe vorhanden ſei, können nur die
zur Mitwirkung an der Geſetzgebung berufenen Organe des Reiches entſcheiden.
Auch ſogen. Lokalbahnen und Secundärbahnen können für die Landesverthei-
digung und den allgemeinen Verkehr von Intereſſe ſein, ſind daher verfaſſungs-
mäßig der Geſetzgebungs-Befugniß des Reiches nicht unbedingt entzogen. —
Ueber das Verhältniß des Art. 4 Ziff. 8 zu den Artik. 41 ff. der R.-V. iſt
namentlich hinzuweiſen auf die Rede des Abg. Miquel in der Sitzung des
Reichstages v. 21. April 1870 (Stenogr. Berichte S. 784 ff.).
auf den Antrag der Regierungskommiſſare eingeſchaltet worden. Anlage
zum zweiten Protokoll v. 28. Januar 1867. Stenogr. Berichte des verfaſ-
ſungber. Reichstages. Aktenſtück Nro. 10 S. 20.
des Unternehmers, behufs der erforderlichen Vorarbeiten zum Zweck der
Anfertigung genauer Karten, Pläne, Koſtenvoranſchläge u. ſ. w. das Privat-
eigenthum zu betreten und andere Eingriffe in daſſelbe vorzunehmen. Es er-
giebt ſich hieraus ein eigenthümlicher circulus vitiosus. Denn dieſes Recht
ſetzt, wenn der Einzelſtaat die Verleihung deſſelben ablehnt, zu ſeiner Ent-
Unternehmer mit demſelben ausſtattet; andererſeits kann der Natur der Sache
nach das Geſetz, welches die Anlage der Bahn geſtattet, die erforderlichen Geld-
mittel bewilligt u. ſ. w., in der Regel doch erſt auf Grund ſpezieller Vorar-
beiten formulirt werden. — Was das eigentliche Expropriationsrecht anlangt,
ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß, wofern das Reichsgeſetz die Normen, nach
denen daſſelbe ausgeübt werden ſoll, für die ſpezielle Eiſenbahn-Anlage nicht
beſonders aufſtellt, die Geſetze des Bundesſtaates, in deſſen Gebiet die Eiſen-
bahn hergeſtellt wird, Anwendung finden. Die Behauptung Seydel’s (Kom-
mentar S. 189) aber, daß das Reich zur Erlaſſung eines Zwangsenteigungs-
Geſetzes überhaupt nicht kompetent ſei, iſt im Hinblick auf Art. 4 der R.-V.
gänzlich unhaltbar.
worden.
Signal-Ordnung ſind vom Bundesrath am 4. Januar 1875 beſchloſſen
und im Centralblatt 1875 S. 57 ff. 73 ff. abgedruckt worden.
oder auszuſteigen, ſich ſeitwärts aus dem Wagen zu biegen, gegen die Thür
anzulehnen oder auf die Sitze zu treten, u. drgl. Vorſchriften mehr.
von Barrièren an den Uebergängen zu den Vorſchriften über den Betrieb, die
Anordnungen von Strafen dagegen für das Ueberſchreiten der Bahn, wenn
die Barrière geſchloſſen iſt, ſind keine „Betriebs-Einrichtung“, ſondern Polizei-
Strafgeſetze.
Bundesrathes über die Konſtruktion und Ausrüſtung der Eiſenbahnen mit Aus-
ſchluß Bayerns die im letzten Satz des Art. 7 der R.-V. aufgeſtellte Regel
Platz greift d. h. die Bayriſchen Stimmen nicht mitgezählt werden. Denn
theils iſt die Landesvertheidigung in allen Beziehungen eine allen Staaten
gemeinſchaftliche Angelegenheit, theils iſt Bayern an den für das übrige Ge-
biet zu erlaſſenden Vorſchriften deshalb mitintereſſirt, weil dieſelben ungeachtet
ſeines Widerſpruchs durch Reichsgeſetz auch auf Bayern ausgedehnt werden
können.
1874 und vom 30. Sept. 1875 Vorſchriften über die Anzeigen erlaſſen, welche
die Bahnverwaltungen von allen Tarif-Erhöhungen und von allen Einſchrän-
kungen der direkten Expedition an das Reichs-Eiſenbahnamt erſtatten müſſen.
Centralbl. 1875 S. 79. 657.
gab Miniſter Delbrück über den Sinn dieſes Artikels folgende Erklärung
ab: „In dem Entwurfe iſt eine Controlle der Tarife durch den Bund in Aus-
ſicht genommen und der Gedanke dabei iſt der, daß der Ausſchuß des Bundes-
rathes, welcher nach Art. 8 des Entw. für das Eiſenbahnweſen zu bilden iſt,
durch die vorliegende Beſtimmung die Befugniß erhält, von den Ta-
rifen Kenntniß zu nehmen (!) und mit der Tendenz, welche in dem
weiteren Verlaufe des Art. 42 [45] ausgedrückt iſt, wenn es ihm geeignet
ſcheint, die betheiligten Regierungen zu einer Einwirkung, ſoweit ſie ihnen
geſetzlich zuſteht, auf ihre Eiſenbahnen im Sinne des Artikels 42 [45] zu ver-
anlaſſen“. Der Abgeordn. Michaelis, von welchem die zum Geſetz erhobene
Faſſung herrührt, fügte hinzu, daß er in der Controle der Tarife „durchaus
nicht eine Thätigkeit ſehen könne, welche auf einen Zwang gegenüber den ein-
zelnen Eiſenbahnen, ihren Tarif herabzuſetzen, hinauslaufen könnte“. ....
„Daß der Ausdruck Controlle die Bedeutung habe, daß er Zwangsmaßregeln
gegen die Eiſenbahnen involvire, das kann ich meinerſeits nicht annehmen.“
Annalen 1874 S. 1087 ff. und Derſelbe in Holtzendorff’s Jahrb. IV. (1876)
S. 266 ff.
dies zweifellos. Der Regierungsentwurf Art. 40 lautete: „Es ſollen dem-
gemäß in thunlichſter Beſchleunigung gleiche Betriebs-Einrichtungen getroffen,
insbeſondere gleiche Bahnpolizei- und Betriebs-Reglements für Perſonen-
und Güter-Transport eingeführt werden.“ Die jetzige Faſſung, welche im
Weſentlichen von dem Abg. Michaelis herrührt, motivirte derſelbe damit,
daß da, „wo die Intereſſen der Eiſenbahnen zu unbedingt der Reglementirung
des Bundes unterworfen worden waren“, ihnen eine gewiſſe Sicherheit gewährt
werden ſollte „gegen unberechtigte Willkühr“. „Wir haben zunächſt — ſagt
er — im Art. 40 das Wort „gleiche Betriebseinrichtungen“ in „überein-
ſtimmende Betriebseinrichtungen“ umgewandelt. Sie ſehen, es ſind leichte
Umwandlungen, welche indeß den Anforderungen des Bundes, ſoweit ſie nicht
in der Natur der Sache begründet wären, die Spitze abbrechen.“ (!)
Stenogr. Berichte S. 504.
Verfaſſungsbeſtimmungen ſelbſt „als eine Inſtruktion für das Eiſenbahn-
Commiſſariat des Bundes, dahin gehend, auf Herſtellung und Aufrechterhaltung
übereinſtimmender Betriebs-Reglements hinzuwirken“.
gedruckt. Abänderungen deſſelben werden ebenfalls im Centralblatt veröffent-
licht; vgl. daſelbſt 1876 S. 223, 1877 S. 7.
freilich meint, das Reglement enthalte „eine weitere Ausführung der Art. 422
—431 des H.-G.-B.’s“ und es wolle (?) als geſetzliche Norm an die
Stelle der früher von den Eiſenbahnen ſelbſt in ihren Reglements getroffenen
Beſtimmungen treten (!).
geſchloſſen worden iſt, ſei es ausdrücklich ſei es ſtillſchweigend nach dem aus
den Umſtänden zu entnehmenden Conſens, ſo kann der betreffende Eiſenbahn-
beamte reſp. die Verwaltung ſich der vorgeſetzten Inſtanz gegenüber dadurch
verantwortlich machen, dem Dritten gegenüber iſt der Vertrag ſo zu erfüllen,
wie er in concreto geſchloſſen worden iſt. Ueberdies iſt wohl zu beachten,
daß das Betriebs-Reglement die Bahnverwaltungen nicht hindert, dem Publi-
kum günſtigere Bedingungen zu gewähren; es ſchreibt den Bahnverwal-
tungen nur das Minimum der Haftung vor, welches ſie übernehmen ſollen.
mitgetheilten Auszügen aus den Verhandlungen des verfaſſungberath. Reichs-
tages, den Petitionsbericht in den Druckſachen des Deutſchen Reichstages 1872
Bd. II. Nro. 100 S. 8 ff. Vgl. ferner Stenogr. Berichte des Reichstages 1869
Bd. II. S. 823 ff. 1872 S. 858 (Miniſter Delbrück). 1874/75 S. 1119 ff. Auch
das Reichseiſenbahnamt hat dies in einer von ihm verfaßten und vom Reichs-
kanzler am 5. Mai 1874 dem Bundesrathe vorgelegten Denkſchrift ausführlich
dargethan.
geſehen davon, daß ein beſtimmter Rechtsinhalt fehlt und ſtatt deſſen eine Ten-
denz ausgeſprochen iſt, der die Tarifpolitik des Reiches folgen ſoll, erhebt ſich
die Frage, worin die „möglichſte“ Gleichmäßigkeit beſtehe, was eine „größere“
Entfernung ſei, welche Gegenſtände Kohlen, Holz, Erzen, Salz, Düngungsmit-
teln u. ſ. w. „ähnlich“ ſeien, wem die Entſcheidung darüber zuſtehe, ob ein
Tarif „dem Bedürfniß der Landwirthſchaft und Induſtrie entſpreche“ und,
was es bedeute, daß der Einpfennig-Tarif „zunächſt thunlichſt“ eingeführt wer-
den ſoll. Vgl. auch Seydel, Kommentar S. 192 und namentlich die Rede
des Abg. Berger v. 20. Januar 1875. Stenogr. Berichte 1874/75 S. 1122.
geſprochen, „daß vom Standpunkt des Reiches gegen eine mäßige, im
Durchſchnitt den Betrag von 20 Procent nicht überſteigende Erhöhung der
Eiſenbahn-Frachttarife unter der Vorausſetzung Nichts zu erinnern ſei,
daß ein gewiſſes, näher angegebenes, Tarifſyſtem zur Einführung gelange“.
Der Wortlaut iſt abgedruckt in Hirth’s Annalen 1874 S. 1528.
Denkſchrift des Reichs-Eiſenbahn-Amtes vom Januar 1877 I. 9. (Hirth’s An-
Annalen 1877 S. 688 ff.) Ferner Fiſcher in v. Holtzendorff’s Jahrbuch
Bd. IV. S. 456 ff. Die definitive Feſtſetzung der neuen Gütertarife wurde
erſt auf der General-Tarif-Conferenz der Deutſchen Eiſenbahn-Verwaltungen
zu Berlin im Februar 1877 vereinbart. Vgl. Zeitung des Vereins Deutſcher
Eiſenbahn-Verwaltungen 1877 Nro. 16.
renden Reichstags von 1867 von dem Miniſter Delbrück interpretirt worden.
Stenogr. Berichte S. 509.
Vom 27. März 1870 (R.-G.-Bl. S. 15). Dieſes Geſetz beſtimmt, daß
vom Tage ſeiner Verkündigung an bis zum 1. Juli 1872 die Befugniß
zur Ausgabe von Banknoten nur durch ein Bundesgeſetz erworben (reſp.
erweitert und verlängert) werden kann.
Eingeführt in Baden, Württemberg und Südheſſen vom 1. Januar
1872 ab (Art. 80 der vereinbarten Verfaſſung R.-G.-Bl. S. 648. 656);
in Bayern durch Reichsgeſ. v. 22. April 1871 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 88),
ebenfalls vom 1. Januar 1872 ab.
Die Wirkſamkeit dieſes Geſetzes wurde verlängert durch die Geſetze
v. 16. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 169), vom 30. Juni 1873 (R.-G.-Bl.
S. 159) und vom 21. Dezember 1874 (R.-G.-Bl. S. 193).
• Bankgeſetz vom 14. März 1875 (R.-G.-Bl. S. 177) und Statut
der Reichsbank vom 21. Mai 1875 (R.-G.-Bl. S. 203). Dem
Entwurf des Bankgeſetzes (vom 5. Nov. 1874) ſind ſehr ausführliche
Motive beigegeben. Druckſachen des Deutſchen Reichstages II.
Seſſ. 1874 Nro. 27). Die vom Reichstag eingeſetzte Kommiſſion
erſtattete ebenfalls einen ſehr ausführlichen und beachtenswerthen Be-
richt, welcher in den Druckſachen a. a. O. Bd. IV. Nro. 195
enthalten iſt. Die Verhandlungen des Reichstages Stenograph.
Berichte 1874/75 S. 1265 ff. 1435 ff. , and • Literatur. Die meiſten Schriften über das Bankweſen ſind volkswirth-
ſchaftlichen, nicht juriſtiſchen Charakters. Einige Ausgaben des Bank-
geſetzes ſind mit Auszügen aus den Motiven, dem Kommiſſionsbericht
und den Reichstags-Verhandlungen verſehen, ſo von M. Ströll, Nörd-
lingen 1875; Gerothwohl, Frankfurt a. M. 1875; Stommel,
Berlin 1875. Die Materialien des Bankgeſetzes finden ſich auch in
Hirth’s Annalen 1874 S. 1611 ff. 1875 S. 835 ff. 945 ff. 1563 ff.
Die beſte Ausgabe der über das Bankweſen erlaſſenen Reichsgeſetze mit
ausführlichen Mittheilungen aus den Geſetzgebungs-Materialien, jedoch
ohne juriſtiſche Erörterungen, iſt von Adolf Soetbeer veranſtaltet
unter dem Titel Deutſche Bankverfaſſung. Erlangen 1875.
(Daſelbſt S. 401 Literatur über das Bankweſen in Deutſchland.) Die
Darſtellung in v. Rönne’s Staatsrecht des Deutſchen Reichs II. 1.
S. 268 beſteht, ſoweit ſie nicht einfach Abdruck der Reichsgeſetze iſt,
zum größten Theil aus ziemlich wörtlichen Excerpten aus dieſer Schrift
mann’s Handelsrecht. 3. Aufl. §. 82 u. §. 141. Ueber die Verfaſ-
ſung der Reichsbank iſt zu vergleichen der (anonyme) Aufſatz in
Hartmann’s Zeitſchr. f. Geſetzgeb. u. Praxis auf dem Gebiet des
öffentl. Rechts. Bd. I. (Berlin 1875) S. 590 ff.
ganze Verkehr mit Poſtanweiſungen und Poſtaufträgen in das Gebiet des
Bankgeſchäfts hineinragt.
ſehr eng an die der ehemal. Preußiſchen Bank an, welche durch die
Bank-Ordnung v. 5. Oktober 1846 und das Geſetz v. 7. Mai 1856 geregelt
war, alſo aus der Zeit vor Abfaſſung des Allg. D. H.-G.-B.’s ſtammt. Dar-
aus erklärt ſich wohl z. Th. die Thatſache, daß die Vorſchriften des letzteren
im Bankgeſetz und Bankſtatut wenig Berückſichtigung gefunden haben.
Begebung von 20,000 Stück Reichsbank-Antheilsſcheinen. Der Subſcriptions-
preis war 130 %.
die Reichsbanknoten und ſonſtigen Schuldſcheine der Reichsbank Schuldſcheine
des Reichsfiskus ſeien, ſteht mit dem Bankgeſetz im Widerſpruch.
um die Höhe des Betrages feſtzuſetzen, der zum Ankauf von Effekten für Rech-
nung der Bank verwendet werden darf; Bankgeſ. §. 32 lit. d, und zur Lei-
ſtung von Abſchlagszahlungen auf die Dividende, Bankſtatut §. 15 Abſ. 2.
der Kaiſer und der Bundesrath ſind im Voraus geſetzlich zur Kündigung er-
mächtigt. Wenn der Reichstag der Verlängerung der Friſt nicht zuſtimmt,
muß die Kündigung erfolgen; der Bundesrath iſt daher geſetzlich verpflichtet,
die Zuſtimmung zu der Kaiſerl. Verordnung zu ertheilen, die dem Reichs-
kanzler die Kündigung aufträgt.
fiskus verſchiedene, ſelbſtſtändige vermögensrechtliche Perſon zu ſein.
Reichsbank, welche unter Verletzung des §. 35 des Bankgeſetzes abgeſchloſſen
worden ſind.
oder Geldinſtituten abzuſchließen, iſt ihr unverwehrt.
laſſungen der Reichsbank ſich befinden, iſt in dem erſten Jahresbericht der
Kronen (1395 Mark) ausgeprägt. Reichsgeſ. v. 4. Dez. 1871 §. 1. Die Bank
kann alſo, wenn ſie das Gold in Barren nicht wieder verwendet, ſondern
Reichsgoldmünzen daraus anfertigen läßt, eine Prägegebühr von 3 Mark für
jedes Pfund fein Gold zahlen, ohne Schaden zu leiden. Ueber die volkswirth-
ſchaftliche Bedeutung der im Bankgeſ. §. 14 ausgeſprochenen Verpflichtung vgl.
Bamberger, Reichsgold S. 78 ff. Soetbeer, Bankverf. S. 287 ff.
piere, welche unter die ſehr umfaſſenden Kategorieen des §. 13 cit. fallen, zu
beleihen. Der §. 13 hat nur den Sinn, daß die Bank andere als die da-
ſelbſt genannten Objecte nicht beleihen darf.
1877 S. 736 ff.
kontirung von Wechſeln.
Lombardverkehr ſind auf den vom Darlehensnehmer zu unterſchreibenden
Pfandſcheinen abgedruckt.
geldlich Zahlungen annehmen und bis auf Höhe des Reichsguthabens Zah-
lungen leiſten. Bankgeſ. §. 22 Abſ. 1. Im Zuſammenhange hiermit ſteht
ihre Verpflichtung, das Guthaben des Reiches unentgeldlich zu verwalten
und über die für Rechnung des Reiches angenommenen und geleiſteten Zah-
lungen Buch zu führen und Rechnung zu legen. Bankſtatut §. 11. Dieſes
Recht des Reiches auf die unentgeldlichen Dienſte der Reichsbank entſpricht der
Portofreiheit des Reiches, dem Recht auf die unentgeldlichen Dienſte der Poſt-
anſtalt in Bayern und Württemberg. Vrgl. S. 342.
die Proviſion ⅙ % und, falls die zu verkaufenden Effekten im Depot der
Bank ſich befinden, ⅛ % vom Nominalbetrage, jedoch wenigſtens Mark 0,50.
— Die „Bedingungen für den Giro-Verkehr der Reichsbank“ ſind vom
Direktorium unter dem 25. Februar 1876 feſtgeſetzt worden; Abänderungen
haben dieſelben im Juni 1877 erfahren.
tung und Rückgabe von Depoſiten ſind vom Reichsbank-Direktorium im Februar
1876 feſtgeſtellt worden und in den Komptoirs der Reichsbank zu erhalten.
ſcheidet die Generalverſammlung; Bankgeſ. §. 33 Abſ. 2; ein Deputirter
kann ſchon vorher durch den Zentral-Ausſchuß ſuspendirt werden; Bankgeſ.
§. 34 Abſ. 4. Dieſe Vorſchrift iſt analog auch auf die Beigeordneten der
Bezirks-Ausſchüſſe anzuwenden.
zu 1392 Mark gerechnet.
ſtellungen oder Verſchleierung des Standes der Verhältniſſe der Bank iſt mit
Gefängnißſtrafe bis zu 3 Monaten bedroht. Bankgeſ. §. 59 Z. 1.
Gelde und Gold auch noch die Noten deutſcher Privatbanken gerechnet.
darin, für den Reichsfiskus eine Einnahmequelle zu ſchaffen, ſondern das über-
mäßige Anwachſen der umlaufenden Geldwerthzeichen zu verhüten. Die Bank-
notenſteuer läßt ſich mit einem Ausfuhrzoll auf das Kapital vergleichen, indem
ſie durch Vertheuerung der Banknoten den Export von Gold erſchwert.
S. 124. 176 und v. 13. Oktober 1877. R.-G.-Bl. S. 567.
aus dem Reichsgebiet erſchwert. Würde die Bank an allen Zweiganſtalten
zur unbeſchränkten Einlöſung verpflichtet ſein, ſo würde der Banquier, welcher
Gold nach England oder Frankreich ausführen will, die Banknoten in Ham-
burg oder Metz zur Einlöſung präſentiren, d. h. der Reichsbank Gefahr und
Koſten des Transportes bis zur Reichsgränze auflegen.
aber der verpfändete Gegenſtand einen Börſenpreis oder Marktpreis hat, ſo
kann der Verkauf auch nichtöffentlich zum laufenden Preiſe bewirkt werden.
Sinne dieſes Geſetzes dasjenige Staatspapiergeld gleich geachtet wird, deſſen
Ausgabe einem Bankinſtitute zur Verſtärkung ſeiner Betriebsmittel übertragen
iſt. Dieſe Anordnung bezieht ſich auf die Oldenburgiſche Landesbank, welcher
ein Betrag von zwei Millionen Thaler Oldenburg. Staatspapiergeld für ihren
Höchſtbetrage von 70 Mill. Mark die Befugniß zur Ausgabe von Banknoten
für die in Bayern beſtehende Notenbank zu erweitern oder dieſe Befugniß einer
andern Bank zu ertheilen, ſofern die Bank ſich den Beſtimmungen des §. 44 des
Bankgeſetzes (ſiehe unten) unterwirft. Bankgeſ. §. 47 Abſ. 3. Von dieſer
Befugniß hat Bayern Gebrauch gemacht zu Gunſten der Bayeriſchen
Privat-Notenbank, welche von der Bayr. Hypotheken- und Wechſel-
bank auf Grund eines mit der Bayr. Regierung geſchloſſenen Vertrages vom
20. März 1875 gegründet worden iſt. Der Vertrag iſt abgedruckt bei Soet-
beer S. 361.
einer Bank, wenn die letztere mehr Noten ausgiebt, als ſie auszugeben befugt
iſt. Bankgeſ. §. 59 Z. 3.
ausgabe verzichtet hat (R.-G.-Bl. 1876 S. 124), ſo iſt dieſe Geſetzesbeſtimmung
gegenſtandslos geworden.
noten, welche auf niedrigere Beträge oder auf die früheren Landeswährungen
lauteten, mußten von den Banken eingezogen und vernichtet werden. Das
Reichsgeſ. v. 21. Dezemb. 1874 (R.-G.-Bl. S. 193) verbot den Banken, vom
1. Juli 1875 ab Banknoten, welche auf Beträge von 50 M. oder darunter
lauten, auszugeben und verpflichtete ſie, bis ſpäteſtens den 30. Juni 1875 dem
Reichskanzler nachzuweiſen, daß ſie alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen
haben, um die Einziehung ihrer ſämmtlichen nicht auf Reichswährung, ſowie
ihrer auf Reichswährung in Beträgen von weniger als 100 M. lautenden Noten
ſpäteſtens bis zum 31. Dez. 1875 herbeizuführen.
wenn der Inhaber entweder ein Stück der Note präſentirt, welches größer iſt
als die Hälfte, oder wenn er den Nachweis führt, daß der Reſt der Note,
von welcher er die Hälfte oder weniger präſentirt, vernichtet iſt. eod. §. 4
Abſ. 4.
anzudrohen, iſt verſäumt worden.
7. Juni 1877. R.-G.-Bl. S. 527.
Sie ſind veröffentlicht im Centralblatt f. d. Deutſche Reich 1877 S. 24 fg.
Vorſtandes, welche Zweiganſtalten oder Agenturen beſtellen oder die von ihnen
vertretene Bank als Geſellſchafter an Bankhäuſern betheiligen, ſondern auch
diejenigen Perſonen, welche als Agenten oder Vorſteher von Zweiganſtalten
oder durch Eingehung von Geſellſchaftsverträgen mit Privatnotenbanken den
§. 42 des Bankgeſetzes verletzen.
Betrages, welcher in Effekten angelegt werden darf, beſteht eine Abweichung;
bei den Privatbanken darf höchſtens die Hälfte des Grundkapitals und des
Reſervefonds dazu verwendet werden; bei der Reichsbank iſt der Betrag ge-
ſetzlich nicht normirt, ſondern wird durch die Geſchäfts-Anweiſung für das
Reichsbank-Direktorium feſtgeſtellt.
die Reichsbank. Bankgeſ. §. 19. Durch dieſe Anordnungen wird ein zweifacher
Vortheil erreicht; einmal wird die Verwendbarkeit aller geſtatteten Banknoten
im ganzen Reichsgebiet erhöht, da alle Zweiganſtalten ſämmtlicher Banken als
eben ſo viele Einlöſungsſtellen jeder einzelnen Bank functioniren, indem man
ihnen die Noten in Zahlung geben kann; ſodann werden die Noten jeder Pri-
vatbank immer wieder in das Gebiet zurückgeſchoben, in welchem die Bank
ihren Hauptſitz hat.
weis lieferte, daß ſie den Betrag der ihr geſtatteten Notenausgabe auf den
S. 390) und vom 7. Januar 1876 (R.-G.-Bl. S. 2).
Braunſchweigiſche dagegen erſt am 10. Mai 1952. (Motive zum Bankgeſetz-
Entw. S. 61. 63.) Nachträglich hat nun auch die Roſtocker Bank auf das
Recht zur Ausgabe von Banknoten verzichtet. Bekanntmachung des Reichs-
kanzlers vom 13. Oktob. 1877. R.-R.-Bl. S. 567.
1874 eingezahlt war, ſo iſt ihren Noten der Umlauf und ihr der Betrieb von
Bankgeſchäften im ganzen Reichsgebiet unter erleichterten Bedingungen geſtattet.
Bankgeſ. §. 44 Abſ. 4.
hat, ſo kann ſie von ſolchen landesgeſetzlich beſtehenden Beſchränkungen,
welche das Bankgeſetz nicht enthält, vom Bundesrath auf Antrag der Landes-
regierung befreit werden.
Verpflichtung auf Banken keine Anwendung findet, die ihren Notenumlauf auf
den Betrag ihres Grundkapitals beſchränken. Vgl. §. 44 Abſ. 4.
halten.
Reichsgoldmünzen. Vom 4. Dezember 1871. R.-G.-Bl. S. 404.
Die Motive dazu in den Druckſachen des Reichstages 1871. II. Seſſion.
Aktenſtück Nro. 50. Die Verhandlungen des Reichstages: Stenogr.
Ber. Bd. 1. S. 225 ff. 317 ff. 453 ff.
- Münzgeſetz. Vom 9. Juli 1873. R.-G.-Bl. S. 233. Die Motive da-
zu in den Druckſachen des Reichstages 1873 Aktenſtück Nr. 15. Die
Verhandlungen des Reichstages: Stenogr. Berichte S. 117 ff. 241 ff.
521 ff. u. 1352 ff. (Art. 15 des Münzgeſ. iſt ergänzt worden durch das
Reichsgeſ. v. 20. April 1874 R.-G.-Bl. S. 35 und durch das Reichsgeſ.
v. 6. Januar 1876. R.-G.-Bl. S. 3.).
Die Münz-Geſetze wurden in Elſaß-Lothringen eingeführt durch
das Reichsgeſ. v. 15. November 1874. R.-G.-Bl. S. 131.
Die zur Ausführung der Münzgeſetze gefaßten Bundesraths-Be-
ſchlüſſe ſind veröffentlicht in den Denkſchriften, welche der Reichs-
kanzler nach §. 11 Abſ. 3 des Geſ. v. 4. Dez. 1871 dem Reichstage all-
jährlich vorzulegen verpflichtet iſt. Dieſelben ſind abgedruckt in den
Druckſachen des Reichstages und zwar: die erſte Denkſchrift v. 4. Mai
1872 in den Druckſachen 1872 III. Seſſ. Bd. I. Nro. 52. Die zweite
Denkſchr. v. 5. April 1873 in den Druckſ. v. 1873. IV. Seſſ. Bd. I.
Nro. 39. Die dritte Denkſchr. v. 20. März 1874 in den Druckſ. v.
1874. I. Seſſ. Nro. 105. Die vierte Denkſchrift v. 30. Nov. 1875.
Druckſ. III. Seſſ. 1875 Bd. I. Aktenſt. Nro. 70. Die fünſte Denkſchr.
v. 11. Nov. 1876 in den Druckſachen IV. Seſſ. 1876. Bd. II. Nro. 32. - Geſetz über die Ausgabe v. Papiergeld. Vom 16. Juni 1870. B.-G.-Bl. S. 507
(Verbot der Ausgabe von Staats-Papiergeld) und Reichsgeſetz be-
treffend die Ausgabe von Reichskaſſenſcheinen. V. 30.
April 1874. R.-R.-Bl. S. 40. Die Motive dazu in den Druckſachen
des Reichstages. I. Seſſ. 1874. Bd. II. Aktenſt. Nro. 70. Die Ver-
handl. des Reichstages Stenogr. Berichte 1874 S. 557 ff. 651 ff. 923 ff. - Literatur. Das Geſetzgebungs-Material findet ſich ziemlich vollſtändig
abgedruckt in Hirth’s Annalen. 1872. 1874. 1876 (S. 180 ff.) 1877
(S. 353). Eine Verarbeitung deſſelben in Form eines Commentars zu
den beiden Münzgeſetzen enthält die Schrift von Soetbeer. Deutſche
Münzverfaſſung. Erlangen 1874. Eine ähnliche, jedoch weniger aus-
führliche Bearbeitung des Münzgeſetzes iſt in Hirth’s Annalen 1874
S. 546 ff. erſchienen. Vgl. auch Mandry im Arch. f. civil. Praxis Bd.
60 S. 10 fg. (1877). Die volkswirthſchaftliche und techniſche Seite des
Münzweſens hat in neuerer Zeit überaus zahlreiche Bearbeitungen
gefunden (Literatur-Nachweiſungen giebt Soetbeer a. a. O. S.
136 ff.); auch die privatrechliche Lehre vom Gelde iſt mehrfach gründ-
lich erörtert worden, z. B. von G. Hartmann. Ueber den rechtl. Be-
griff des Geldes. Braunſchw. 1868 und von Goldſchmidt, Handb. des
Handelsr. I. 2. S. 1060. (Zu nennen iſt auch der Aufſatz von Voigtel
in der Zeitſchrift f. Geſetzgeb. und Rechtspfl. in Preußen Bd. I. S. 445 ff.
Berlin 1867). Dagegen fehlt es an einer Erörterung der ſtaatsrecht-
lichen Seite des Münzweſens in der neueren Literatur gänzlich,
den nach dem Münzſyſtem bemeſſen d. h. quantitativ beſtimmt werden.
Daß das Geld zur „Abſchätzung“, als „Werthmaaßſtab“ dient, vgl. Gold-
ſchmidt, Zeitſchr. f. Handelsr. Bd. XIII. S. 317 ff. und Knies, Das Geld
(Berlin 1873) S. 259 ff., iſt juriſtiſch nicht als eine ſelbſtſtändige und
eigenthümliche Funktion deſſelben anzuerkennen, ſondern durch ſeine Eigen-
ſchaft als geſetzliches Zahlungsmittel bereits implicite gegeben. Um eine Schuld
irgend welcher Art in Geld zu tilgen, muß man ſie, — wenn ſie nicht auf
Geld ſchon lautet — auf eine Geldſchuld reduziren. Durch die Abſchätzung
wird die Verpflichtung zu einer zahlbaren Schuld gemacht.
- während die früheren Arbeiten darüber vollkommen veraltet ſind. Die
Darſtellung in v. Rönne’s Staatsrecht des D. R. II. 1. S. 248 ff.
iſt lediglich eine Sammlung von Excerpten aus den Münzgeſetzen und dem
Geſetzgebungsmaterial, zwiſchen welche auf S. 252 eine ziemlich wört-
liche Abſchrift des §. 198 des Staatsrechts von Zachariä (Bd. II. S.
372 ff.) eingeſchaltet iſt.
theils durch den Kurs deſſelben im Auslande, theils durch den Preis der
Waaren, zu welchen auch ausländiſche Münzen gehören, im Inlande. Die
Vorſtellung, als könnte der Staat den Tauſchwerth irgend einer Sache durch
ſeinen Willen fixiren, ihn z. B. einem Stücke Gold beilegen, iſt eine ſehr
naive, trotzdem aber in der Literatur über das Geldweſen noch immer ſehr ver-
breitete. Sie trägt ganz beſonders die Schuld an der Verwirrung dieſer Theorie.
Promille mehr oder weniger wiegt — ſein Geldwerth, d. h. geſetzlicher Zah-
lungswerth iſt derſelbe.
Münzen u. ſ. w. in keiner Beziehung ein ſtaatsrechtliches Intereſſe, ſo
wenig wie die Farbe der Briefmarken oder das Format der Banknoten.
währung interimiſtiſch Münzen der Landeswährung als geſetzliches Zahlungs-
mittel erklären, wie dies in den Artikeln 15 und 16 des Münzgeſetzes geſchehen
iſt. Andererſeits waren bereits vor der Aufhebung der Landeswährungen die
Reichsgoldmünzen geſetzliches Zahlungsmittel. Geſ. v. 4. Dezember 1871 §. 8.
Bayern iſt für den Bedürfnißfall die Untertheilung des Pfennigs in
zwei Halbpfennige (Heller) geſtattet. Dieſe clausula bavarica iſt ſonder-
barer Weiſe in das Reichsgeſ. über Ausprägung von Reichsgoldmünzen
(§. 13) gerathen.
ſetzung der bremiſchen Silber- und Kupfermünzen erfolgt durch Geſ. v. 30. April
1872.
ordnung; ſie bedarf zu ihrer Gültigkeit daher der Publikation durch das
Reichsgeſetzblatt. Vgl. oben S. 90 fg.
dieſe Scheidemünzen in Zahlung zu nehmen, als die mit der Einlöſung der-
ſelben beauftragten Kaſſen“. Eine Ausnahme von der Außerkursſetzung macht
der Bayeriſche Heller.
S. 21. 111. 149. 1875 S. 247. 304. 307. 311. 415. 1876 S. 162. 221.
öſterreichiſchen und ungariſchen Ein- und Zweiguldenſtücke, ſowie die nieder-
ländiſchen Ein- und Zweieinhalb-Guldenſtücke (V. v. 22. Januar 1874. R.G.Bl.
S. 12); die niederländiſchen Halbguldenſtücke, ſowie die öſterreichiſchen und
ungariſchen Viertelguldenſtücke (V. v. 29. Juni 1874 R.-G.-Bl. S. 111); die
polniſchen eindrittel und einſechstel Talaraſtücke (V. v. 26. Febr. 1875. R.-G.-B.
S. 134); die Münzen des Konventionsfußes öſterreichiſchen Gepräges und
die Silber- und Kupfermünzen däniſchen Gepräges (V. v. 19. Dezemb. 1874
R.-G.-Bl. S. 152); die finniſchen Silbermünzen (V. v. 16. Oktob. 1874
R.-G.-Bl. S. 126). Vgl. die vierte Denkſchrift des Reichskanzlers 1875. S. 7.
oben S. 413.
7. März 1874 §. 4. v. 2. Juli 1874 §. 3, v. 19. Dez. 1874 §. 4 u. ſ. w.
pflicht. Geſ. v. 15. Novemb. 1874 §. 2 u. 3. R.-G.-Bl. S. 131. Ebenſo
wenig hinſichtlich der in der Thalerwährung geprägten Oeſterreichiſchen Münzen.
ſind jedoch für die im Art. 15 des Münzgeſ. aufgeführten Münzſorten die-
jenigen Werthe maßgebend, welche daſelbſt dieſen Münzen bis zu ihrer
Außerkursſetzung bei allen Zahlungen geſetzlich beigelegt worden ſind.
Anordnungen ſind in den Motiven zum Münzgeſetz S. 75 fg. auseinander-
geſetzt.
S. 151 fg.
langten Landes-Silber- und Kupfermünzen werden allmonatlich im Centralblatt
für das Dentſche Reich veröffentlicht. Ueber die Reſultate des Einlöſungs-Ge-
ſchäftes geben die Denkſchriften des Reichskanzlers eingehende Mitthei-
lungen.
Einem Pfunde feinen Goldes), Doppelkronen und halben Kronen.
Allerh. Erl. v. 17. Febr. 1875. R-.G.-Bl. S. 72. Die näheren Anordnungen
über Gewicht, Miſchungsverhältniſſe und Ausprägung ſind enthalten in dem
Geſ. v. 4. Dezemb. 1871 §§. 1—5 und in dem Münzgeſetz Art. 2. Die Reichs-
Scheidemünzen ſind entweder Silbermünzen oder ſie ſind Nickel- oder
Kupfermünzen nach näherer Anordnung des Art. 3 des Münzgeſetzes.
in der Bekanntmach. v. 19. Dezemb. 1875 aufgeführt. Centralblatt 1875 S. 802.
münzen iſt in das Münzgeſetz Art. 4 und Art. 5 die Verwaltungs-Vor-
ſchrift aufgenommen, daß der Geſammtbetrag der Reichsſilbermünzen bis auf
Weiteres 10 Mark und der Geſammtbetrag der Nickel- und Kupfermünzen
2½ M. für den Kopf der Bevölkerung des Reiches nicht überſteigen ſoll.
genannt, dieſelben ſind aber auch ſeit dem 15. Nov. 1876 außer Kurs geſetzt.
V. v. 2. Nov. 1876. R.-G.-Bl. S. 221.
von dieſer Befugniß Gebrauch macht, entſteht hinſichtlich der Thalerſtücke deutſchen
Gepräges für die Reichskaſſen die Verpflichtung zum Umtauſch gegen Reichs-
Goldmünzen in demſelben Umfange, wie dies im Art 9 Abſ. 2 des Münz-
geſetzes hinſichtlich der Reichsſilbermünzen angeordnet iſt; hinſichtlich der Ver-
einsthaler Oeſterreich. Gepräges beſteht dagegen für das Reich weder eine Ver-
pflichtung zur unbeſchränkten Annahme noch zum Umtauſch (Einlöſung).
Abſ. 1. (Scheidemünzen).
Abfeilen oder auf andere Art verringert und als vollgültig in Verkehr bringt,
oder wer ſolche verringerte Münzen gewohnheitsmäßig oder im Einverſtändniſſe
mit dem, welcher ſie verringert hat, als vollgültig in Verkehr bringt, wird mit
Gefängniß beſtraft, neben welchem auf Geldſtrafe bis zu 3000 Mark, ſowie
auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Der Verſuch
iſt ſtrafbar“. Reichs-Strafgeſtzb. §. 150. Nach einer auf Grund des Art.
7 der R.-V. erlaſſenen Verordnung des Bundesrathes v. 24. März
1876 ſind gewaltſam beſchädigte Reichsmünzen von allen Reichs- und Landes-
kaſſen anzuhalten und entweder den zuſtändigen Behörden behufs Einleitung
des Strafverfahrens einzuſenden oder — falls der Verdacht eines Münzvergehens
gegen eine beſtimmte Perſon nicht vorliegt — durch Zerſchlagen oder Einſchnei-
den für den Umlauf unbrauchbar zu machen und dem Einzahler zurückzugeben.
Centralblatt 1876 S. 260.
Normalgewicht und das Paſſirgewicht der Reichsgoldmünzen leicht feſtſtellen zu
können, ſollen Gewichtsſtücke zur Eichung und Stempelung zugelaſſen werden,
welche dieſen Gewichten oder einem Vielfachen derſelben entſprechen. Geſ. vom
4. Dezemb. 1871 §. 12 und dazu die Bekanntmachung der Normal-Eichungs-
Kommiſſion vom 31. Januar 1872. (Beilage zu Nr. 12 des R.-G.-Bl. 1872
S. III.)
fiction; der Beweis, daß die Münze das Normalgewicht nicht habe, iſt uner-
heblich und befreit nicht von der Verpflichtung, ſie anzunehmen.
Reichs- und Landeskaſſen zu befolgende Verfahren ſind in dem Beſchluß des
Bundesrathes vom 24. März 1876 Centralbl. S. 260 getroffen.
a. a. O.
Jahren Jeden, der inländiſches oder ausländiſches Metallgeld „nachmacht“,
ohne zu unterſcheiden, ob das nachgemachte Geld dem echten an Gehalt gleich-
ſteht, oder ob es hinter ihm zurückbleibt. Es beſtraft die Privat-Herſtellung
vollwerthigen Geldes (ſog. Nachprägung) ganz ſo wie die eigentliche Münz-
fälſchung.
Beginn des Jahres 1875 eine Münzſtätte in Betrieb geſetzt hat.
die Beſchlüſſe des Bundesrathes v. 7. Dezemb. 1871 und vom 8. Juli 1873.
für die einzelnen Münzſtätten beſtimmten Buchſtaben richten ſich nach der im
Art. 6 der R.-V. feſtgeſtellten Reihenfolge der Staaten, ſo daß die Buchſtaben
A B C den 3 preußiſchen Münzſtätten, D Bayern, E Sachſen u. ſ. w. zu-
kommen. Bundesraths-Beſchluß v. 7. Dezemb. 1871 Ziff. 1 und v. 16. Oktob.
1874.
der Fürſten auf den Münzen nichts zu thun; diejenigen Staaten, welche keine
Münzſtätten haben, ſind genau eben ſo ſehr oder eben ſo wenig ſouverain wie
die andern. Eher könnte man das Bildniß der Landesherrn mit der Ausübung
des Münzmonopols in Verbindung bringen. Die volksthümliche Anſchau-
ung hat ſich freilich ſeit Jahrhunderten daran gewöhnt, in dem Bildniß des
Fürſten ein Symbol der Münzhoheit d. h. der Staatsgewalt zu
erblicken und mit Rückſicht auf dieſe, den früheren Rechtszuſtänden Deutſchlands
entſtammende, volksthümliche, aber ſtaatsrechtlich nicht mehr zutreffende, An-
ſchauung hat die Reichsgeſetzgebung geſtattet, daß die Reichsmünzen mit den
Bildniſſen der Landesherren beſtempelt werden. Erörterungen darüber, welche
aber das Weſen der Sache nicht treffen, finden ſich in den Verhandlungen des
Reichstages 1871 II. Seſſion Stenogr. Berichte Bd. I. S. 335 ff.
Z. 20 (Abgedruckt in der I. und III. Denkſchrift von 1872 und 1874).
Der Bundesrath hat das zu beobachtende Verfahren geregelt durch die Be-
ſchlüſſe v. 7. Dezemb. 1871 (Ziff. 7—13) und v. 8. Juli 1873 Ziff. 5—17.
2½ Promille des Gewichts und 2 Promille des Feingehaltes (Geſ. v. 4. Dez.
1871 § 7); für halbe Kronen 4 Promille des Gewichts (Münzgeſ. Art. 2);
für Silbermünzen im Feingehalt 3 Promille, im Gewichte — mit Ausnahme
der 20 Pf.-Stücke — 10 Promille. (Münzgeſ. Art. 3 §. 1 Abſ. 3).
1873 Nro. 21.
Maßſtab für die Vertheilung bildet nach der vom Bundesrath befolgten Praxis
die Leiſtungsfähigkeit der einzelnen Münzſtätten, wie dieſe ſie ſelbſt angeben.
der Nickel- und Kupfermünzen wird den Münzſtätten das Metall in Form
von Münzplättchen, alſo ſchon vorbereitet, geliefert. Bundesraths-Beſchluß v.
8. Juli 1873 Ziff. 18 Abſ. 2.
und v. 8. Juli 1873 feſtgeſetzten Gebühren ſind ſpäter verändert worden und
zwar ſind die Prägegebühren für Goldmünzen ſehr erheblich herabgeſetzt, die für
Kupfermünzen dagegen erhöht worden. Gegenwärtig kommen die Gebühren in
Anſatz, welche der Bundesrath durch Beſchluß v. 29. Mai 1875 (Vierte
Denkſchrift S. 4) feſtgeſetzt hat. Danach beträgt die Gebühr für Ausmünzung
eines Pfundes Feingold in Doppelkronen 2,75 M., in Kronen 4,75 M., in
Halbkronen 6,75 M. Für die Silbermünzen ſteigt die Prägegebühr von ¾ %
(bei den Fünfmark-Stücken) bis zu 4 % (bei den Zwanzigpfennigſtücken) und
bei den Rickel- und Kupfermünzen von 3 % bis zu 30 % des ausgeprägten
Nominalwerthes.
von Zwanzigmark-Stücken. Dies iſt aber nicht mit Soetbeer S. 93 (ebenſo
der Bearbeiter des Münzgeſetzes in Hirth’s Annalen 1874 S. 593) dahin aus-
zulegen, daß dem Beſteller ausſchließlich Doppelkronen geliefert werden müſſen
und er befugt ſei, andere Goldmünzen zurückzuweiſen. Der Beſteller iſt viel-
mehr verpflichtet, ſich die Lieferung von Doppelkronen, deren Ausprägung am
wenigſten Koſten macht, gefallen zu laſſen; er iſt nicht befugt, Kronen oder
Halbkronen zu verlangen. Wenn ihm ohne Erhöhung der Prägege-
bühr Kronen geliefert werden, ſo kann er ſie nicht zurückweiſen; ſeiner Verufung
auf Art. 12 des Münzgeſ. würde die exceptio »tua non interest« entgegen-
ſtehen. Vgl. auch Bundesrathsbeſchluß v. 29. Mai 1876. II. Ziff. 5.
entſteht, ſo müſſen die Vorſchriften in Buch IV. Titel 1 des H.-G.-B.’s An-
wendung finden.
ſtehenden Münzſtätten (9) ſich zur Ausprägung ſowohl für Reichsrechnung als
für Privatrechnung bereit erklärt haben.
Mai 1875 iſt die Prägegebühr auf drei Mark normirt worden. Dieſer Satz er-
giebt ſich von ſelbſt durch die Anordnung des Bankgeſetzes §. 14, wonach
die Reichsbank verpflichtet iſt, Barrengold zum feſten Satze von 1392 Mark
zu kaufen. Vgl. oben S. 391.
oben S. 431 Note 4) 2,75 M. für das Pfund ſein Gold in Doppelkronen.
Falls die Münzſtätten mit Genehmigung des Bundesrathes (reſp. Reichskanz-
lers) die Ausprägung in Zehnmarkſtücken vornehmen, ſo wird ihnen das dafür
gebührende Mehr des Prägelohnes zum Betrage von 2 Mark für das Pfund
Feingold aus der Reichskaſſe vergütet. Vgl. Bundesraths-Beſchl. v. 13.
Novemb. 1875 Ziff. 3 a. (Fünfte Denkſchrift S. 4). Auch wurde beſchloſſen,
Mai 1875. (Bekanntmach. des Reichskanzlers v. 8. Juni 1875 im Centralbl.
1875 S. 349.)
E. J. Bekker im Jahrbuch des gemeinen deutſchen Rechts. Bd. I. S. 321 ff.
und von Thöl, Handelsr. 5. Aufl. I. 2. S. 35. Vgl. auch Hartmann,
Begriff des Geldes S. 55 ff. Stein, Handb. der Verwaltungslehre (2. Aufl.)
S. 446 ff.
dieſem Jahre auf Reichs- und Privatrechnung erfolgten Goldausprägungen
der Deutſchen Münzſtätten ſich auf dieſe Münzſtätten in einem andern als dem
vom Bundesrath feſtgeſtellten Verhältniſſe vertheilt haben, eine Ausgleichung
entweder durch Anrechnung der Mehrleiſtungen auf die künftig von Reichswegen
zu vertheilenden Goldmengen oder in anderer Weiſe herbeigeführt werden ſoll.
Dies Alles führt auf das Prinzip zurück, daß verwaltungsrechtlich die
Ausprägungen auf Privatrechnung ganz ebenſo behandelt
werden als wenn ſie auf Beſtellung des Reiches erfolgten.
Das Geld. Berlin 1873 S. 266.
Aufwande von Gelehrſamkeit von Goldſchmidt, Handbuch des Handelsr. I.
2. S. 1061—1231, beſonders S. 1197 ff.
geld im juriſtiſchen Sinne ganz treffend: „Geldpapiere“.
man auch an dieſer Stelle ſehen, wo das „Maaß- und Gewichtsſyſtem“ durch
das dazwiſchen eingeſprengte Münzſyſtem auseinander geriſſen iſt.
Einzelſtaaten überlaſſen. Die von denſelben erlaſſenen Verordnungen ſind nur
dem Bundesrath zur Kenntnißnahme vorgelegt worden. Vgl. Protokolle des
Bundesraths 1875 §. 193.
die rechtliche Eigenſchaft eines geſetzlich anerkannten Zahlungsmittels.
weiſung der Papiergeld-Emiſſionen des deutſchen Reiches“. Alle hier aufge-
führten Papiere ſollten von den deutſchen Staaten eingezogen werden und ſind
auch von ihnen eingezogen worden, obwohl der größte Theil derſelben von
Privatperſonen in Zahlung nicht genommen zu werden brauchte, alſo kein
wirkliches Papiergeld war.
kein Papiergeld ausgeben (denn ſie ſind außer Stande ihren Zetteln die
Eigenſchaft eines allgemeinen Zahlungsmittels beizulegen) und ſie dürfen
keine Geldpapiere ausgeben (denn es iſt ihnen dies vom Reich geſetzlich ver-
boten).
ſcheinen in der Mitte. Bei Zahlungen bis zu einem gewiſſen Betrage haben ſie
die rechtliche Eigenſchaft des Geldes, darüber hinaus nicht. Soweit ſie
als Geld nicht Verwendung finden können, ſind ſie wie die Reichskaſſenſcheine
von dem Reiche gegen vollgültiges Geld einzulöſen. Vgl. oben S. 424. Sie ent-
halten alſo zugleich ein eventuelles Zahlungsverſprechen des Reiches; ſie
ſind „metallene Geldpapiere“, die in gewiſſen Gränzen vom Reich mit der recht-
lichen Eigenſchaft des Geldes verſehen worden ſind.
die Emiſſion von Papiergeld betreffen, ſondern volkswirthſchaftliche und ſtaats-
wirthſchaftliche Maßregeln.
Bund v. 17. Auguſt 1868. B.-G.-Bl. S. 473. Motive dazu in den
Druckſachen des Reichstages 1868. Aktenſtück Nro. 76. Kommiſſions-
Bericht ebendaſ. Nro. 107. Verhandlungen des Reichstages Stenogr.
Berichte S. 397 ff. 430.
Sie iſt mit dem 1. Januar 1872 in Kraft getreten. Inzwiſchen
hat ſie für Baden, Südheſſen und Württemberg Geſetzeskraft erhalten
durch die vereinbarte Verfaſſung Art. 80 I. Nro. 11. (B.-G.-Bl. 1870
S. 647. 654); in Bayern durch das R.-G. v. 26. Nov. 1871 (R.-G.-Bl.
S. 397). In Elſaß-Lothringen iſt ſie am 1. Juli 1875 in Kraft ge-
treten in Folge des R.-G. v. 19. Dezember 1874 (R.-G.-Bl. 1875 (S. 1).
Art. 4 der M.- u. Gew.-Ordn. iſt aufgehoben worden durch das
R.-G. v. 7. Dezemb. 1873. (R.-G.-Bl. S. 377). , • Eichordnung v. 16. Juli 1869. (B.-G.-Bl. 1869 Beilage zu Nro. 32.)
Eichgebührentaxe v. 12. Dezember 1869. (B.-G.-Bl. 1869 Beilage
zu Nro. 40). Vom 24. Dezember 1874 (Centralbl. 1875 S. 94). , • Schiffsvermeſſungs-Ordnung vom 5. Juli 1872. (R.-G.-Bl. S. 270). , and • Literatur. Eine Ausgabe der M.- u. Gew.-Ordn. mit Auszügen aus dem
Geſetzgebungs-Material nebſt der Eichordnung iſt beſorgt von Kletke.
(2. Aufl. Berlin 1871). Eine ähnliche Ausgabe erſchien im Kortkampf’-
ſchen Verlage in Berlin. 2. Auflage 1873. — Vgl. ferner Thudichum
Verf. des Nordd. Bundes S. 356 ff. Rösler, Deutſches Verwaltungsr.
I. 2. S. 317 ff. v. Rönne, Staatsr. des D. R. II. 1 S. 241 ff.
v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 2. Aufl. S. 429 ff. Keine
dieſer Schriften enthält eine juriſtiſche Behandlung des Gegenſtandes.
(B.-G.-Bl. S. 46).
hält das R.-G. v. 26. Nov. 1871 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 397), wonach in Bayern
die dort beſtehenden Feldmaße bis zum 1. Januar 1878 noch in Geltung
bleiben können.
Gew.-Ordn. definirten Ausdruck, welche in Wirklichkeit geringer iſt als das
reichsgeſ. normirte Maß, kann den Thatbeſtand eines Betruges darſtellen.
R.-St.-G.-B. §. 263.
tität ein rechtliches Intereſſe hat, weil ſich das Maß ſeiner Verpflichtungen
oder Rechte darnach beſtimmt.
lichen Geſetz ſondern auf den partikulären Apotheker-Ordnungen. Vgl. f. Preußen
die Nachweiſungen in v. Rönne’s Preuß. Staatsr. II. 2. S. 236. — Die Maß-
u. Gew.-Ordn. Art. 7 hat aber die partikulären Medizinal-Gewichte durch das
Reichs-Gewichtsſyſtem erſetzt und ein Erl. der Normal-Eichungskomm. v. 1. Mai
1872 R.-G.-Bl. 1872 Beilage zu Nro. 14 hat angeordnet, daß die Apotheker
ſowohl für die Rezeptur als auch für den Handverkauf von Medizinal-
waaren ſich geeichter Präziſionswaagen bedienen müſſen.
dieſer Stelle. (S. 745 fg.)
wichte vorgeſchrieben ſind, Gewerbetreibende Waagen und Gewichte verwenden,
die mit dem einfachen Eichungsſtempel verſehen ſind. Vgl. Oppenhof a. a.
O. Note 23.
1875 S. 1).
Gewichtsſyſtems zu ſichern haben zahlreiche Staaten, darunter auch das Deutſche
Reich, die internationale Meterkonvention v. 20. Mai 1875 (R.-R.-G.
hufs der Beaufſichtigung (Inſpectionen u. ſ. w.) der Eichungsämter können
auch von mehreren Bundesſtaaten gemeinſchaftlich getroffen werden.
nalen Maß- und Gewichtsbüreau’s“ mit dem Sitze in Paris auf gemeinſchaft-
liche Koſten vereinbart wurde. Die Aufgabe dieſes Büreau’s iſt eine rein
wiſſenſchaftliche und techniſche; irgend welche Hoheitsrechte kommen bei der
Thätigkeit deſſelben nicht zur Ausübung. Noch viel weniger hat die inter-
nationale Meterkonvention etwas zu thun mit der reichsgeſetzlichen Ordnung des
Maß- und Gewichtsſyſtems für das Gebiet des Deutſchen Reiches. Die Be-
hauptung von Rönne’s, Staatsr. II. 1. S. 247 Note 4, daß nach Art. 11
Abſ. 3 der R.-V. die Konvention dem Reichstage zur ausdrücklichen Genehmig-
ung hätte vorgelegt werden müſſen, iſt daher grundlos. Die Genehmigung des
Reichstages war nur erforderlich zur Bewilligung der Koſten, welche mit der
Ausführung der Konvention verbunden ſind. Vgl. oben S. 185 fg. Auch dem
Bundesrathe iſt die Konvention nur mit dem Antrage vorgelegt worden,
ſich mit der Einſtellung der zur Ausführung erforderlichen Summen in den
Etat für 1876 einverſtanden zu erklären. Protokolle des Bundesraths.
1875 §. 231. 411. (S. 203. 383).
die Einrichtung dieſer Behörde Bd. I. S. 318 ff.
kehr noch zu duldenden Abweichungen von der abſoluten Richtigkeit erfolgen
jedoch nach Vernehmung der Normal-Eichungskommiſſion durch den Bun-
desrath. M.- u. Gew.-Ordn. Art. 10 Abſ. 2. Dieſelben ſind veröffentlicht
im R.-G.-Bl. 1869 S. 698 ff. 1871 S. 328. 1875 S. 257 (Centralbl. S. 436).
Vgl. auch R.-G.-Bl. 1876 S. 123 (Centralbl. S. 185).
der Eichordnung f. den Nordd. Bund v. 16. Juli 1869. (B.-G.-Bl. 1869
Beilage zu Nro. 32). Zu derſelben ſind zahlreiche Nachträge erſchienen, welche
bis 1872 im Reichs-Geſetzblatt, von 1873 an im Centralblatt des D. R. ver-
öffentlicht worden ſind. Eine Aufzählung derſelben findet ſich bei v. Rönne
a. a. O. S. 246. Vgl. auch Bekanntm. v. 26. März 1877 R.-G.-Bl. S. 408.
Eichordnung §. 72 ff. und in dem 2. Nachtrage v. 6. Mai 1871. (R.-G.-Bl.
1871 Beilage zu Nro. 23. S. III.)
am 12. Dezember 1869 erlaſſen. (B.-G.-Bl. 1869. Beilage zu Nro. 40.)
Zu derſelben ſind mehrere Nachträge ergangen. Nach Einführung der Mark-
rechnung iſt ſie neu redigirt worden. Dieſe vom 24. Dezemb. 1874 datirte
Redaktion iſt abgedruckt im Centralbl. 1875 S. 94 ff. Abänderungen und
Nachträge zu derſelben werden im Centralblatt bekannt gemacht.
mit den Landesbehörden, reſp. mit den Bundesregierungen, ſind enthalten in
der Inſtruction des Reichskanzlers für die Normal.-E.-K. v. 21.
Juli 1869 §. 7 (abgedruckt bei v. Rönne I. S. 309).
gedruckt im R.-G.-Bl. a. a. O.). Pözl. Bayer. Verwaltungsr. S. 74. (3. Aufl.)
keit, ſoweit ſie nicht bloße Verwaltungsvorſchriften für die Schiffsvermeſſungs-
Behörden enthält.
Brutto-Raumgehalt und nach Abzug der Logisräume der Schiffsmannſchaft
(§. 15), ſowie der etwa vorhandenen Maſchinen-, Dampfkeſſel- und Kohlen-
räume (§. 16), der Netto-Raumgehalt.
Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrbuch Bd. III. S. 313 ff. Ausnahmsweiſe
kann ein abgekürztes Verfahren nach Maßgabe der §§. 12 u. 13 ſtattfinden,
wenn das Schiff ganz oder theilweiſe beladen iſt oder Umſtände anderer Art
die Vermeſſung nach dem vollſtändigen Verfahren verhindern. Sch.-V.-O. §. 3
Abſ. 2.
weder von HierſemenzelI., 148, der ſich für die erſtere Anſicht ausſpricht,
noch von Seydel, Komment. S. 208, der ſich für die letztere erklärt, berück-
ſichtigt.
Centralbl. des Deutſchen Reiches veröffentlicht. (1873 S. 36 fg. 1876 S. 474 fg.)
fähigkeit, welche nach dem R.-G. v. 25. Oktob. 1867 (B.-G.-Bl. S. 35) nicht
in das Schiffs-Regiſter einzutragen ſind, und von den nach dem abgekürzten
Verfahren vorläufig vermeſſenen Schiffen. Bei ſolchen Vermeſſungen findet
ein Verfahren der Reviſionsbehörde nicht ſtatt. Sch.-V.-O. §. 19. Von
der Eintragung in das Schiffsregiſter befreit ſind Schiffe von nicht mehr als
50 Kubikmeter Brutto-Raumgehalt. R.-G. v. 28. Juni 1873 §. 1. (R.-G.-Bl.
S. 184.)
ſprechende Zahl britiſcher Regiſter-Tons anzugeben.
einer öffentlichen Urkunde, da ſie nicht von der Vermeſſungsbehörde beglaubigt
wird. Nur der Meßbrief ſelbſt iſt eine öffentliche Urkunde.
ſtande bereits bei einer andern Deutſchen Vermeſſungs-Behörde nach dem in
den §§. 4—11 vorgeſchriebenen vollſtändigen Verfahren vermeſſen worden, ſo
iſt der Antrag auf Vermeſſung abzulehnen. Verordn. des Bundesrathes v. 24.
Oktober 1875. (Centralbl. S. 718.)
auszufertigenden Schiffscertifikate das Ergebniß der Schiffsvermeſſung einzu-
tragen. Die näheren Vorſchriften dafür ertheilt die Anweiſung des Reichs-
kanzler-Amtes v. 5. Januar 1873. (Centralbl. S. 156.)
vorgenommene Nachvermeſſung, daß räumliche Veränderungen nicht ſtattge-
funden haben, ſo werden Gebühren für die Nachvermeſſung nicht erhoben.
leramt eine Inſtruktion v. 23. Nov. 1872 erlaſſen, zu welcher einige Ab-
änderungen und Ergänzungen hinzugekommen ſind. Vgl. v. RönneII. 1.
S. 213 Note 3. Eine Sammlung der über die Regiſtrirung und Vermeſſung
der Deutſchen Kauffahrteiſchiffe erlaſſenen Geſetze, Verordnungen, Inſtruktionen
u. ſ. w. iſt 1874 im Reichskanzer-Amte herausgegeben worden. (Centralbl.
1874 S. 333.)
reich, Dänemark, Oeſterr., Ungarn, den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika,
Italien, Chile, Norwegen und den Niederlanden. (Centralblatt 1873 S. 163.
316. von 1874 S. 323. v. 1875 S. 324. 1876 S. 26. 221. 1877 S. 184). Für
Segelſchiffe auch mit Schweden. (Centralbl. 1875 S. 688.)
in den Druckſachen des Reichstages 1869 Bd. I. Nro. 13. Verhand-
lungen in den Stenogr. Berichten 1869 S. 114 ff. 236 ff. 470 ff.
605 ff. 1054 ff.
Eingeführt in Südheſſen durch Art. 80 der vereinbarten Bundes-
verf. (B.-G.-Bl. S. 647); in Württemberg und Baden durch Geſetz v.
10. Novemb. 1871 (R.-G.-Bl. S. 392); in Bayern durch Geſ. vom
12. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 170). In Elſaß-Lothringen iſt bis jetzt
nur §. 29 zur Einführung gelangt durch das Geſ. v. 15. Juli 1872
(R.-G.-Bl. S. 350).
Einige Strafbeſtimmungen der Gewerbe-Ordnung ſind abgeändert
worden durch das Geſ. v. 12. Juni 1872 §. 2. (R.-G.-Bl. S. 170);
Titel VIII. (Gewerbliche Hülfskaſſen) iſt abgeändert worden durch das
Geſ. v. 8. April 1876 (R.-G.-Bl. S. 134). , and • Literatur. Unter den zahlreichen Bearbeitungen der Gewerbe-Ordnung
iſt weit hervorragend das Werk von L. Jacobi, Die Gewerbe-Geſetz-
gebung im Deutſchen Reiche. Berlin 1874. Eine Ausgabe, in welcher
die Geſetzgebungsmaterialien, namentlich die Reichstagsverhandlungen,
bei den einzelnen Paragraphen abgedruckt ſind, iſt von Koller ver-
faßt worden. (2. Aufl. Berlin 1870.) Zu erwähnen ſind ferner noch
die Erläuterungen zur Gew.-Ordn. in Hirth’s Annalen Bd. II. S. 480 ff.
und die Ausgaben des Geſetzes von Schow (Hannover 1870), v. Berne-
witz (Dresden 1870), Berger (Berlin 1872), Kah (Würzburg 1873)
und von Turban (Karlsruhe 1872). Vrgl. auch Thöl, Handels-
recht (5. Aufl. 1875) Bd. I. S. 145 ff.
Unterſagungsrechte von vermögensrechtlichem Inhalte zu Gunſten einzelner
Gewerbetreibenden bilden (Zwangsrechte, Bannrechte, Monopole, Zunftprivi-
legien, Realgewerberechte, u. ſ. w.); deren Verletzung im Wege des Civilpro-
zeſſes verfolgt werden kann. Es iſt aber unrichtig, das Weſen der Gewerbe-
freiheit lediglich in der Aufhebung ſolcher Beſchränkungen, welche die Geſtalt
ſubjectiver Privatrechtsbefugniſſe gewonnen haben, zu erblicken. Gewerbefrei-
heit iſt überhaupt kein Begriff von poſitivem Rechtsinhalt und noch vielweniger
ſicherung erhalten, daß wenn ſich die Reichsgeſetzgebung mit dem Immobiliar-
Verſicherungsweſen befaſſen ſollte, die vom Reiche zu erlaſſenden geſetzlichen
Beſtimmungen in Bayern nur mit Zuſtimmung der Bayeriſchen Regierung
Geltung erlangen können.
privatrechtlichen und ſtrafrechtlichen Inhalts mit Einſchluß der Polizeiverord-
nungen, welche den Gewerbebetrieb zwar Beſchränkungen unterwerfen, welche
aber allgemeine Geltung auch für ſolche Perſonen haben, die kein Gewerbe
betreiben. Denn ſolche Geſetze ſind Beſchränkungen der allgemeinen Handlungs-
allgemeinen Handlungsfreiheit in Bezug auf die gewerbliche Thätigkeit.
auch auf die reichsgeſetzlichen Beſtimmungen, nämlich Reichsbeamten-Ge-
ſetz §. 16 (vgl. Bd. I. S. 431 und die daſelbſt Note 2 angeff. Anordnungen
der Reichsgeſetze) und Reichsmilitairgeſetz v. 2. Mai 1874 §. 43 (R.-G.-Bl.
S. 56). Hinſichtlich dieſer Reichsgeſetze iſt Gew.-Ordn. §. 12 übrigens ohne
Belang, da ſie ihr ſchon deshalb derogiren, weil ſie ſpäteren Datums ſind.
Einzelſtaaten beſchränkt durch das R.-G. v. 13. Mai 1870 §. 3 (B.-G.-Bl.
S. 119), welches die Beſteuerung eines Gewerbetriebes und des aus dieſem
Betriebe herrührenden Einkommens nur demjenigen Bundesſtaate geſtattet, in
deſſen Gebiete das Gewerbe betrieben wird, und ſie iſt ausgeſchloſſen hin-
ſichtlich derjenigen Erzeugniſſe, deren Beſteuerung nach Art. 35 der R.-V. aus-
ſchließlich dem Reiche zuſteht.
iſt. Beſchränkungen der Gewerbefreiheit ſind nur diejenigen Rechtsvorſchriften,
welche den Betrieb eines Gewerbes zur Vorausſetzung haben.
V. v. 20. Juli 1873. (R.-G.-Bl. S. 299). Vgl. R.-G. vom 2. März 1874.
(R.-G.-Bl. S. 19.)
Beſtimmungen des Bundesrathes hat derſelbe erlaſſen. Vgl. die Bekanntmach-
ung des Reichskanzlers v. 29. Mai 1871. R.-G.-Bl. S. 122.
S. 65.)
die perſönliche Qualifikation, im ganzen Bundesgebiete das Apotheker-Ge-
werbe zu betreiben; die landesgeſetzlichen Vorſchriften über Errichtung und
Verlegung der Apotheken, über die Geſchäftsführung, Viſitationen u. ſ. w. ſind
vorläufig in Kraft erhalten worden. Gew.-Ordn. §. 6.
v. 25. März 1872 (R.-G.-Bl. 85) aufgehoben worden.
9. Dezemb. 1869 (B.-G.-B. S. 688); für Württemberg und Baden durch
Bekanntm. v. 21. Dezemb. 1871 (R.-G.-Bl. S. 472) und v. 17. Mai 1872
(R.-G.-Bl. S. 151); für Bayern durch Bekanntmachung vom 28. Juni 1872
(R.-G.-Bl. S. 243); für Elſaß-Lothringen durch die Bekanntm. vom
19. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 351).
iſt frei, ſoweit nicht in Folge von Staatsverträgen beſondere Anord-
nungen getroffen ſind. Die letzteren hat die Gew.-O. aufrecht erhalten. Ver-
träge dieſer Art, durch welche die Ausſtellung von Schifferpatenten vereinbart
wird, ſind abgeſchloſſen worden hinſichtlich der Schifffahrt auf dem Rhein, der
Weſer, der Elbe. Sie ſind mitgetheilt bei Jacobi Gewerbegeſetzb. S. 456 ff.
bekannt gemacht; vgl. z. B. 1877 S. 105; ebenſo der Beginn der Prüfungen.
unfällen, vom 27. Juli 1877 §. 26. 29. (R.-G.-Bl. S. 554. 555.) Das
Geſetz tritt am 1. Januar 1878 in Kraft. Motive Druckſ. des Reichstages
1877 Bd. I. Nro. 4. Kommiſſionsbericht ebendaſ. Nro. 95. Ver-
handlungen Stenogr. Berichte S. 16. 864 fg. 877 fg.
einzelnen Seeämter entſcheidet das Reichskanzler-Amt. §. 5 Abſ. 3.
des Seeamtes führen kann, iſt dem Schiffer und dem Steuermann während
des Verfahrens eine Rolle zuertheilt, welche ihnen die Möglichkeit einer Ver-
theidigung gewährt und die deshalb mit der des Beſchuldigten im Strafver-
fahren einige Aehnlichkeit hat. Insbeſondere können ſie Anträge ſtellen, über
welche das Seeamt zu befinden hat, an die zur Vernehmung erſchienenen Per-
ſonen unmittelbar Fragen richten, auch ſich eines rechts- oder ſachkundigen Bei-
ſtandes bedienen. Geſ. §. 22. Vgl. Kommiſſionsbericht S. 3 fg. 14 fg.
legung und Rechtfertigung der Beſchwerde, welche der Regel nach eine auf-
ſchiebende Wirkung nicht hat.
im Allgemeinen die Beſtimmungen des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes und der
Strafproceß-Ordn. Anwendung. §. 19. Jedoch findet die Anordnung der
Haft zur Erzwingung eines Zeugniſſes nicht ſtatt. Vgl. Stenogr. Ber. a. a. O.
S. 878 fg.
beamten, da ſie in keinem Dienſtverhältniß zum Reiche ſtehen; gleichwohl
verwalten ſie ein Reichsamt, da das Oberſeeamt eine Reichsbehörde iſt.
Sie treten demnach den Bd. I. S. 397 aufgeführten Kotegorien hinzu.
und Lehrlinge, ſofern ſie das 18. Lebensjahr nicht überſchritten haben, der
obligatoriſche Beſuch einer Fortbildungsſchule des Ortes angeordnet werden,
woraus für die Arbeitgeber die Verpflichtung entſteht, die für dieſen Beſuch
erforderliche Zeit zu gewähren.
in Kraft getreten. Motive dazu in den Druckſachen des Deutſchen
Reichstages 1877 Bd. I. Nro. 8. Kommiſſionsbericht ebendaſ.
Bd. II. Nro. 144. Verhandlungen in den Stenogr. Berichten
S. 25 ff. 915 bis 1011 ff. , and • Literatur. Aus der Zeit vor Erlaß des Patentgeſetzes iſt das Haupt-
werk: Kloſtermann. Die Patentgeſetzgebung aller Länder. 2. Aufl.
Berlin 1876. Daſelbſt ſind S. 108 ff. zahlreiche Literatur-Angaben.
Ueber die Vorarbeiten des Reichspatentgeſetzes und die Schickſale deſſelben
handelt Genſel im Jahrbuch von v. Holtzendorff und Brentano Bd. I.
Heft 3 S. 503 ff. und beſonders ausführlich Grothe Das Patentgeſetz
Berlin 1877. Die Schrift enthält zugleich einen Kommentar des Patent-
geſetzes. Kommentare zum Patentgeſetz ſind außerdem ver-
öffentlicht worden von Dambach, Berlin 1877. J. Landgraf,
Stuttgart 1877. Gareis, Berlin 1877 und Kloſtermann, Berlin
1877.
die juriſtiſche Conſtruktion des Schutzes gegen Nachdruck ꝛc. zu fixiren, wird
auch von Dambach das Urheberrecht. (Berlin 1871) mit Recht hervorge-
hoben.
Privatrechts an und kann daher hier übergangen werden, um ſo mehr als die
Theorie vom geiſtigen Eigenthum bereits vielfach widerlegt worden iſt. Vgl.
v. Gerber, Juriſt. Abhandlungen S. 302 ff., Mandry, das Urheberrecht,
Erlangen 1867 S. 33 ff., Beſeler, Deutſches Privatrecht (1873) I. S. 321.
Osc. Wächter, Das Autorrecht S. 12 ff.
büchern Bd. 3 S. 359 ff. 1859 (in ſeinen Geſammelten Juriſt. Abhandlungen
S. 261 ff.). Sie ſind zwar oft angegriffen, aber nicht widerlegt worden.
ſtatt; ſie ſind nur erforderlich reſp. zuläſſig in den in §. 6 Abſ. 4; §. 11 Abſ. 4;
§. 52 Abſ. 3 und §. 60 Abſ. 4 des Geſ. v. 11. Juni 1870 erwähnten Fällen.
Ihnen entſprechen §. 9 Abſ. 3 und §. 19 Abſ. 4 des Geſ. v. 9. Januar 1876.
Die Rechtsgrundſätze über die Eintragung ſind in den §§. 39 ff. des Geſ. vom
11. Juni 1870 enthalten; §. 41 daſelbſt ermächtigt das Reichskanzleramt
zum Erlaß einer Inſtruktion. Dieſelbe iſt am 7. Dezemb. 1870 erlaſſen
und nebſt einer Ergänzung vom 29. Febr. 1876 im Centralbl. des Deutſchen
Reiches v. 1876 S. 119 fg. abgedruckt. Vgl. Kloſtermann, Urheberrecht
(Berlin 1876) S. 188 ff.
liche Vorbedingung. Geſ. v. 11. Januar 1876 §. 7. Die näheren Vorſchriften
über die Führung des Muſterregiſters ſind nach §. 9 Abſ. 4 dieſes Geſetzes vom
nicht Mitglieder ſind, zugezogen werden; an den Abſtimmungen dürfen
dieſelben aber nicht Theil nehmen. Patentgeſetz. §. 14 Abſ. 5.
Motive S. 29.
und im Centralblatt von 1876 S. 123 ff. veröffentlicht.
den Abtheilungen III. u. IV. mindeſtens je 3, den Abtheilungen V. u. VI.
mindeſtens je 4 und der Abtheilung VII. mindeſtens 6 nicht ſtändige Mit-
glieder angehören. Von den Mitgliedern der Abtheilung V. und der Abthei-
lung VI. muß mindeſtens je eins aus jeder der erſten vier Abtheilungen, von
den Mitgliedern der Abtheilung VII. muß mindeſtens je eins aus jeder der
erſten ſechs Abtheilungen entnommen ſein. Jeder Abtheilung muß mindeſtens
ein ſtändiges Mitglied, der Abtheilung VII. außerdem der Vorſitzende des
Patentamtes angehören. Die Abtheilungen werden durch eine Verfügung des
Vorſitzenden des Patentamtes auf die Dauer von mindeſtens einem Jahre ge-
bildet. An den Verhandlungen einer Abtheilung können nur ſolche Mitglieder
theilnehmen, welche der Abtheilung angehören; der Vorſitzende kann jedoch im
Falle des Todes, der Erkrankung oder der längeren Abweſenheit eines Mit-
glieds, ſoweit und ſo lange das Bedürfniß es erfordert, Mitglieder anderer
Abtheilungen zur Aushülfe berufen. Verordn. §. 4 u. 5.
des Patentamtes oder von dem geſchäftsleitenden Mitgliede der Abtheilung
vollzogen (unterſchrieben), ſondern nur beglaubigt. Die Beglaubigung geſchieht
unter der Unterſchrift des von dem Vorſitzenden des Patentamtes dazu be-
beruhenden Eingaben und Verhandlungen, ſoweit deren Einſichtnahme geſetzl.
nicht beſchränkt iſt, auf Antrag an jedermann Abſchriften und Auszüge gegen
Einzahlung der Koſten ertheilen. Verordn. §. 18.
der Bekanntmachung v. 13. Nov. 1877 getroffen und im Reichsanzeiger
veröffentlicht worden.
ſtand der Anmeldung einſtweilen gegen unbefugte Benutzung geſchützt ſei.
v. 18. Juni 1877 §. 19.
Berlin (Carl Heymann’s Verlag).
vorbringung eines neuen, bisher nicht vorhanden geweſenen Gegenſtandes oder
Productionsmittels zu materiellen Gebrauchszwecken. Vgl. über andere Defini-
tionsverſuche Gareis S. 25 fg.
Wahrſcheinlichkeit, daß die Erfindung wirklich eine gewerbliche Verwerthung
finden werde, d. h. mit dem Urtheil über die wirthſchaftliche Nützlichkeit oder
Brauchbarkeit einer Erfindung. Vgl. Gareis S. 34.
daß dieſelbe im Inlande geſchehen iſt, hinſichtlich der Beſchreibung in öffent-
lichen Druckſchriften nicht. Die Neuheit einer Erfindung iſt daher auch zu ver-
neinen, wenn die Erfindung in ausländiſchen amtlichen Patentbeſchreibungen
veröffentlicht iſt. Der Regierungs-Entw. §. 2 wollte für dieſen Fall eine Aus-
nahme anerkennen; der Reichstag lehnte dies aber ab. Vgl. darüber Kloſter-
mann S. 127.
einen Anſicht will das Geſetz ausſprechen, daß nur in den beiden, im §. 2
erwähnten Fällen, der Charakter der Neuheit mangle, alſo in allen anderen
Fällen eine Erfindung als neu anzuerkennen ſei. So Dambach S. 11. Nach
der andern Anſicht ſpricht das Geſetz nicht poſitiv aus, unter welchen Voraus-
ſetzungen eine Erfindung als neu zu erachten ſei, ſondern hebt nur 2 Fälle
hervor, in denen dies unbedingt ausgeſchloſſen iſt. Vgl. Landgraf S. 15.
Kloſtermann S. 123. Gareis S. 56 ff. Nach der Faſſung des Geſetzes
iſt die letztere Anſicht für die richtige zu erachten.
allen Kommentaren des Patengeſetzes.
die in Folge des Patentſchutzes zu befürchtende Vertheuerung der Nahrungs-
mittel u. ſ. w. zu vermeiden, ergiebt ſich die zweite Ausnahme aus dem Charak-
ter des Patentſchutzes als einer vom Staat gewährten Begünſtigung oder Be-
lohnung für die Erfindung.
tentgeſetzes wiederholt geltend gemacht. Vgl. die Angaben bei Kloſtermann
S. 134. Sie kehrt wieder bei Gareis S. 72.
des Patentamtes v. 11. Juli 1877 enthalten, welche im Reichsanzeiger 1877
und bei Kloſtermann S. 228 fg. veröffentlicht worden iſt. Sie iſt abge-
druckt bei Gareis S. 209.
ledigung der Mängel wiederholt, ſo gilt ſie als neue Anmeldung, deren Datum
nicht auf den Tag der erſten Anmeldung zurückbezogen werden kann und für
welche die Gebühren von 20 Mark nochmals zu entrichten ſind.
öffentliche Bekanntmachung für den Patentſucher die nachtheiligſten Folgen haben.
Die Rechtswirkung des proviſoriſchen Schutzes beſteht darin, daß, wenn der
I. u. II. gegenſeitig die Beſchwerde-Inſtanz für einander; ebenſo die Abthei-
lungen III. und IV. und die Abtheilungen V. u. VI.
ſeiner Erfindung durch Andere auch in dem Falle als Patentverletzung behandelt
wird, wenn ſie vor der Ertheilung des Patents geſchehen iſt. Wenn dagegen
der Antrag auf Patentertheilung zurückgewieſen wird, ſo erſcheint der in der
Zwiſchenzeit ſeit der Bekanntmachung der Patentanmeldung geſchehene Gebrauch
der Erfindung als nicht rechtswidrig. Juriſtiſch iſt demnach der „einſtweilige“
Patentſchutz des §. 22 Abſ. 1 ein reſolutiv bedingter. Schwebt ein
Prozeß wegen Verletzung des einſtweiligen Patentſchutzes, ſo wird das Gericht
die Entſcheidung auszuſetzen haben, bis das Patentamt über die Ertheilung
oder Verſagung des Patentes Beſchluß gefaßt hat. Kloſtermann S. 235.
welches im erſten Abſatz von der Commiſſion des Reichstages eingeſchaltet
worden iſt — fehlt, ſo hat man daraus geſchloſſen, daß der Gebrauch paten-
tirter Werkzeuge u. ſ. w. auch zu nicht gewerblichen Zwecken, z. B. in der
Führung des Haushaltes, unterſagt ſei. Dambach S. 19. Dieſe dem Be-
griff des Patentſchutzes widerſprechende Auslegung iſt bereits von Kloſter-
mann S. 143 fg. als unrichtig dargethan worden, deſſen Ausführung durch
das, was Gareis S. 91 dagegen einwendet, meines Ermeſſens nicht wider-
legt wird.
widrig Waaren durch deutſches Reichsgebiet nicht für verboten zu erachten,
wie Gareis S. 98 und Kloſtermann S. 156 annehmen; denn die Durch-
fuhr von Waaren bringt dieſelben nicht im Reichsgebiet in Verkehr; ſie
vermittelt nur den Verkehr zwiſchen zwei ausländiſchen Gebieten.
tentes an.
für die erſten beiden Jahre bis zum dritten Jahre geſtundet, und wenn das
Patent im dritten Jahre erliſcht, erlaſſen werden. Ein rechtlicher Anſpruch auf
Erlaß oder Stundung iſt auch im Falle der Bedürftigkeit nicht begründet.
Gareis S. 135.
Erfindung nicht als neu zu erachten iſt; es kann aber Jemand die Erfindung
bereits im Geheimen benutzt haben, ohne ein Patent nachzuſuchen. Wenn dann
ſpäter ein Anderer auf dieſelbe Erfindung ein Patent nimmt, ſo ſoll durch
§. 5 Abſ. 1 — wie die Motive S. 21 ſagen — „der berechtigte Beſitzſtand
gegen die Einwirkung des ſpäter verliehenen Privilegiums geſichert werden.“
Juriſtiſch iſt dies eine geſetzliche Einſchränkung des Patentſchutzes, die der
ältere Erfinder, wenn er von dem Patentnehmer wegen Patent-Verletzung be-
langt wird, einredeweiſe entgegenhalten kann, aber kein ſelbſtſtändiges Recht
von poſitivem Inhalt, das eine active Geltendmachung zuläßt. Der von Gareis
erfundene „Erfindungsbeſitz“ iſt ſchwerlich als ein Rechtsbegriff anzuerkennen.
Die richtige Auffaſſung findet ſich bei Landgraf S. 49.
Inkrafttreten der Reichsjuſtizgeſetze iſt die Kompetenz des Reichs-Oberhandels-
gerichts auf bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten auf Grund des Reichs-Patentgeſetzes
erſtreckt worden. §. 37 des Geſetzes. Vgl. dazu Dambach Patentgeſ. S. 81.
Abth. „Beſchlüſſe“ ſind, welche im Wege der Beſchwerde angefochten werden
können, iſt übrigens zweifelhaft. Vgl. Dambach S. 70. Gareis S. 176.
Kloſtermann S. 207. 213. 250.
haben und aus denen ſich die Geſichtspunkte für die Auslegung der etwas un-
beſtimmten Faſſung des Geſetzes gewinnen laſſen, iſt der [Kommiſſions]-
bericht S. 21 ff. zu vergleichen, ſowie die ausführliche Erörterung bei Land-
graf S. 72 fg.
Anderen gegen Entſchädigung die Mitbenutzung der Erfindung zu geſtatten, den
Licenzzwang. Vgl. über die juriſt. Natur deſſelben Kloſtermann S. 161.
gemeſſenheit der angebotenen Vergütung den Kommiſſionsbericht S. 38 fg.
patentes, nicht die fälſchliche Angabe, daß für die Gegenſtände ein ausländiſches
Patent oder ein noch wirkſames Patent eines Deutſchen Einzelſtaates ertheilt ſei.
vereine verbundenen Regierungen wegen Ertheilung von Erfindungs-Patenten
und Privilegien v. 21. September 1842. (Preuß. Geſ. Samml. 1843 S. 265 fg.)
Vgl. darüber Kloſtermann S. 104. 271. und Genſel im Jahrbuch von
v. Holtzendorff und Brentano Bd. I. S. 503.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bntc.0