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Der
grüne Heinrich.

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Der
grüne Heinrich.


Roman


In vier Bänden.

Zweiter Band.


Braunſchweig,
: Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1854.
[[1]]

Erſtes Kapitel.

Am fruͤhen Morgen, als Sonnenglanz durch
das viele Laubwerk in's Zimmer drang, wurde ich
auf eigenthuͤmliche Weiſe geweckt. Ein junger
Edelmarder mit zartem Pelze ſaß auf meine
Bruſt, und beſchnuͤffelte mit den feinen haſtigen
Athemſtoͤßen ſeiner ſpitzen kuͤhlen Schnauze meine
Naſe und huſchte, als ich die Augen aufſchlug,
unter die Bettdecke, blinzelte da und dort her¬
vor und verſteckte ſich wieder. Als ich aus dieſer
Erſcheinung nicht klug wurde, brachen meine jun¬
gen Vettern aus ihrer Schlafkammer, in wel¬
cher ſie gelauſcht hatten, lachend hervor, veran¬
laßten das behende Thier zu den anmuthigſten
und poſſierlichſten Spruͤngen und erfuͤllten das
Zimmer mit Froͤhlichkeit. Dadurch herangelockt,
drang eine Meute ſchoͤner Hunde herein, ein zah¬
II. 1[2] mes Reh erſchien neugierig unter der Thuͤr, eine
prachtvolle graue Katze folgte und ſchmiegte ſich
durch das Getuͤmmel, die ſpielenden und zu taͤp¬
piſchen Hunde wuͤrdevoll abweiſend, Tauben ſa¬
ßen auf dem Fenſter, Menſchen und Thiere, die
erſteren kaum halb angezogen, jagten ſich durch¬
einander; Alle aber hielt der kluge Marder zum
Beſten und ſchien viel eher mit uns zu ſpielen,
als wir mit ihm. Nun erſchien auch der Oheim
mit dem rauchenden Waldhoͤrnchen, uns eher noch
zu Unfug anſpornend, als abwehrend; ſeine friſch
bluͤhenden Toͤchter folgten ihm, um nach der Ur¬
ſache des Geraͤuſches zu ſehen und uns zu Fruͤh¬
ſtuͤck und Ordnung zu rufen, mußten ſich aber
bald ihrer Haut wehren, da ein Krieg allgemei¬
ner Neckerei ſich gegen ſie entſpann, an dem ſo¬
gar die Hunde Theil nahmen, welche ſich die Pa¬
role der erlaubten Ausgelaſſenheit am fruͤhen
Morgen nicht zweimal geben ließen, ſondern ſich
tapfer an die ſtarken Kleiderſaͤume der ſchelten¬
den Maͤdchen hingen. Ich ſaß an dem offenen
Fenſter und athmete die balſamiſche Morgenluft;
die glitzernden Wellen des raſchen Fluͤßchens
[3] flimmerten wider an der weißen Zimmerdecke und
ihr Reflex uͤberſtrahlte das Angeſicht jenes ſeltſa¬
men Kindes, deſſen alterthuͤmliches Bild an der
Wand hing. Es ſchien unter dem Wechſeln des
ſpielenden Silberſcheines zu leben und vermehrte
den Eindruck, den Alles auf mich machte. Dicht
unter dem Fenſter wurde Vieh getraͤnkt, Kuͤhe,
Ochſen, junge Rinder, Pferde und Ziegen gingen
in der Mitte des klaren Waſſers, tranken in be¬
daͤchtigen Zuͤgen und ſprangen muthwillig da¬
von; das ganze Thal war lebendig und glaͤnzte
vor Friſche und ſein Rauſchen vermiſchte ſich mit
dem Gelaͤchter in meinem Zimmer, ich fuͤhlte
mich ſo gluͤcklich, wie ein junger Fuͤrſt, bei wel¬
chem glaͤnzendes Lever gehalten wird. Endlich
erſchien die Muhme und befahl uns ohne Wider¬
ſtand zum Fruͤhſtuͤck.


Ich ſah mich wieder an den langen Tiſch ver¬
ſetzt, um welchen die zahlreiche Familie mit ihren
Schuͤtzlingen und Arbeitern verſammelt war.
Letztere kamen ſchon von mehrſtuͤndiger Arbeit
und erholten ſich von der erſten leichten Muͤde,
von der erſtarkten Sonne als Morgengruß geſen¬
1 *[4] det. Alles aß kraͤftige Haferſuppe, in welche
reichlich Milch gegoſſen wurde; nur am obern
Ende, zwiſchen Vater, Mutter und der aͤlteſten
Tochter, herrſchte die Kaffetaſſe, und ich, als Gaſt
dieſem vornehmen Anhaͤngſel beigefuͤgt, ſah mit
Neid in die friſche Suppenregion hinuͤber, wo
froͤhliche Witzworte getauſcht wurden und die ge¬
neckten Maͤdchen, mit braunen Wangen und Ar¬
men, doch mit ſchneeweißen Hemden und Hals¬
tuͤchern, geſchuͤtzt durch den Anſtand des verſam¬
melten Tiſches, die vorlauten Jungen glaͤnzend
heimſchickten. Doch bald brach die Geſellſchaft
wieder auf, um zur Arbeit auf dem fernen hei¬
ßen Felde oder in Scheunen und Stall ſich zu
zerſtreuen. Die Auszuͤge des Tiſches wurden in
einander geſchoben, daß er, eine ſchwere Maſſe
glaͤnzenden Nußbaumholzes, ſtill in der geleerten
Stube ſtand, bis die Hausfrau einen maͤchtigen
Korb Huͤlſenfruͤchte darauf ſchuͤttete, um ſie fuͤr
das Mittagsmahl vorzubereiten und dem Oheim
kaum fuͤr ſeine Hefte Raum ließ, in welchen er
den diesjaͤhrigen Ertrag ſeiner Felder eintrug,
mit den fruͤheren Jahrgaͤngen und uͤberdies noch
[5] das Verhalten der einzelnen Aecker unter einan¬
der verglich. Der juͤngſte Sohn, etwa in mei¬
nem Alter, mußte ihm, hinter ſeinem Stuhle ſte¬
hend, Bericht erſtatten, und als er ſeiner Pflicht
genuͤgt hatte, forderte er, ſelbſt noch nicht zu an¬
haltender Arbeit verbunden, mich auf, mit ihm
hinauszuſtreifen und etwa mit zu arbeiten, wo
es uns am beſten gefiele, vorzuͤglich aber uns bei
dem Zwiſchenimbiß einzufinden, der auf dem Felde
gehalten wuͤrde und wo es an Scherz nicht fehle.
Indeſſen erſchien aber ein Sendbote der Gro߬
mutter, die von meiner Ankunft gehoͤrt hatte und
mich einlud, ſogleich zu ihr zu kommen. Mein
Vetter bot ſich mir zur Begleitung an, ich putzte
mich, nicht ohne Affektation, halb einfach laͤnd¬
lich, halb komoͤdiantiſch heraus und wir gingen
auf den Weg, welcher zuerſt uͤber den Kirchhof
fuͤhrte, der auf einer kleinen Hoͤhe gelegen iſt.
Dort duftete es gewaltig von tauſend Blumen,
eine flimmernde, ſummende Welt von Licht, Kaͤ¬
fern und Schmetterlingen, Bienen und namen¬
loſen Glanzthierchen webte uͤber den Graͤbern hin
und her. Es war ein feines Concert bei beleuch¬
[6] tetem Hauſe, wogte auf und nieder, erloͤſchte bis
auf das gehaltene Singen eines einzelnen Inſek¬
tes, belebte ſich wieder und ſchwellte muthwillig
und volltoͤnig an; dann zog es ſich in die Dun¬
kelheiten zuruͤck, welche die Jasmin- und Hol¬
lunderbuͤſche uͤber den Grabzeichen bildeten, bis
eine brummende Hummel den Reigen wieder an's
Licht fuͤhrte, die Blumenkelche nickten im Rhyth¬
mus vom fortwaͤhrenden Abſitzen und Auffliegen
der Muſikanten. Und unter dieſem zarten Ge¬
webe lag das Schweigen der Graͤber und der
Jahrhunderte, beredt und vollmaͤchtig und ſchwoll
hinunter bis in die Tage, wo dieſer Zweig ale¬
maniſchen Wandervolkes ſich hier feſtgeſetzt und
die erſte Grube gegraben. Ihr Wort, Spuren
ihrer Sitte und ihre Geſetze leben noch im gruͤ¬
nen Gau, in den kleinen grauen Steinſtaͤdten,
die an den Fluͤſſen hangen oder an Halden leh¬
nen, und ein heiliges Bewußtſein der Geſchichte
that ſich auf auf dieſem Friedhofe. Daher em¬
pfand ich eine Art von Scheu, vor die ergraute
Frau zu treten, die ich noch nie geſehen und mir
eher als eine geſtorbene Vorfahrin, denn als eine
[7] lebendige Großmutter erſchien. Auf engen Pfa¬
den, unter fruchtbeſchwerten Baͤumen hin, um
ſtille Gehoͤfte herum gelangten wir endlich vor
ihr Haus, welches in tief gruͤnem ſchweigendem
Schatten lag: ſie ſtand unter der braunen Thuͤr
und ſchien, die Hand uͤber den Augen, ſich nach
mir umzuſehen. Sogleich fuͤhrte ſie mich in die
Stube hinein und hieß mich mit ſanfter Stimme
willkommen, ging zu einem blanken zinnernen
Gießfaſſe, welches in gebohnter Nußbaumniſche
uͤber einer ſchweren zinnernen Schale hing, drehte
den Hahn und ließ ſich das klare Waſſer uͤber
die kleinen gebraͤunten Haͤnde ſtroͤmen. Dann
ſetzte ſie Wein und Brot auf den Tiſch, ſtand
laͤchelnd, bis ich getrunken und gegeſſen hatte,
und ſetzte ſich hierauf ganz nahe zu mir, da ihre
Augen ſchwach waren, betrachtete mich unver¬
wandt, waͤhrend ſie nach der Mutter und unſe¬
rem Ergehen fragte und doch zugleich in Erinne¬
rung fruͤherer Zeit verſunken ſchien. Auch ich
ſah ſie aufmerkſam und ehrerbietig an und behel¬
ligte ſie nicht mit kleinen Berichten, welche mir
nicht hieher zu gehoͤren ſchienen. Sie war ſchlank
[8] und fein gewachſen, trotz ihres hohen Alters be¬
weglich und aufmerkſam, keine Staͤdterin und
keine Baͤuerin, ſondern eine wohlwollende Frau;
jedes Wort, das ſie ſprach, war voll Guͤte und
Anſtand, Duldung und Liebe, Freude und Leid,
von aller Schlacke uͤbler Gewohnheit gereinigt,
gleichmaͤßig und tief. Es war noch ein Weib,
von dem man begreifen konnte, wie die Alten
das verdoppelte Wehrgeld des Mannes forderten,
wenn es erſchlagen oder beſchimpft wurde. Frei¬
lich war ſie von ihrem Manne weder geachtet
noch geliebt, ſondern geknechtet, ſo weit dies moͤg¬
lich war; aber da nicht mehr Alle Mannen ſind,
kann auch das Weib ſeinen Vollwerth nicht mehr
haben.


Ihr Mann erſchien, ein diplomatiſcher und
gemeſſener Bauer; er begruͤßte mich mit freund¬
licher Theilnahmloſigkeit, und nachdem er mit
Einem Blicke geſehen, daß ich eine aͤhnliche »phan¬
taſtiſche« Natur wie mein Vater und desnahen
in der Zukunft weder Anſpruͤche noch Streitig¬
keiten zu befuͤrchten ſeien, ließ er ſeine Frau in
ihrer Freude gewaͤhren, gab ihr ſogar gelaſſen zu
[9] verſtehen, daß ſie mich nach Gefallen bewirthen
duͤrfe und ging wieder ſeine Wege.


Ich blieb einige Stunden bei ihr, ohne daß
wir viel ſprachen; ſie ſaß ſtillvergnuͤgt neben mir
und ſchlief endlich laͤchelnd ein. Ueber ihre ge¬
ſchloſſenen Augen ging eine leiſe Bewegung wie
das Wallen eines Vorhanges, hinter welchem et¬
was vorgeht, man ahnte, daß ſich dort Bilder
in zartem, verjaͤhrtem Sonnenſcheine zeigten und
die freundlichen Lippen verkuͤndeten es in ſchwa¬
chen Regungen. Als ich mich erhob, um behut¬
ſam fortzugehen, erwachte ſie ſogleich, hielt mich
an und betrachtete mich fremd; wie in ihrer
Perſon das meinem Daſein Vorhergegangene
groß und unvermittelt vor mir ſtand, mochte ich
als die Fortſetzung ihres Lebens, als ihre Zu¬
kunft dunkel und raͤthſelhaft vor ihr ſtehen, da
meine Tracht wie meine Sprache von Allem ab¬
wich, in dem ſie ſich lebenslang bewegt hatte.
Sie ſchritt gedankenvoll in die Nebenkammer,
wo ſie in einem hohen Schranke einen Vorrath
neuer Kleinigkeiten aufbewahrte, die ſie von fah¬
renden Kraͤmern zu kaufen pflegte, um ſie gele¬
[10] gentlich an das junge Volk zu verſchenken. Statt
eines maͤchtigen Taſchentuches ergriff ſie, ihres
bloͤden Geſichtes wegen, ein kleines rothſeidenes
Halstuch, wie es Bauermaͤdchen tragen und gab
mir es, noch in das gleiche Papier gewickelt, in
dem ſie es gekauft. Ich mußte ihr verſprechen,
jeden Tag zu kommen und naͤchſtens einmal dort
zu ſpeiſen.


Mein Vetter hatte ſich laͤngſt entfernt und
ich ſuchte allein meinen Heimweg, das rothe Tuͤ¬
chelchen in der Taſche. Bei einem Hauſe vor¬
beigehend, bemerkte ich einige derbe Kinder, welche
wie der Blitz hineinliefen und dort laͤrmend et¬
was riefen. Eine Frau kam heraus, holte mich
ein, kuͤndigte ſich als Baſe an und fragte, ob
ich denn nichts von ihr und ihrer Familie wiſſe?
Ich bejahte die Frage, indem ich mich entſchul¬
digte, ſie nicht gekannt zu haben. Sie noͤthigte
mich nun in das Haus, wo es von friſch ge¬
backenem Brote duftete und eine lange Treppe
von unten bis oben mit großen viereckigen und
runden Kuchen bedeckt war, auf jeder Staffel ei¬
ner, um zu verkuͤhlen. Waͤhrend dieſe Baſe, ein
[11] ruͤſtiges Weib in voller Bluͤthe der Arbeitsluſt
und Kraft, ſchnell ihre Haare zuruͤckſtrich und
eine Schuͤrze umband, hockten die Kinder alle
hinter dem heißen Ofen und guckten ſcheu, doch
kichernd hervor, ohne daß ich die Gewandtheit
beſaß, ſie zahm zu machen, weil ich ſelbſt noch
zu nah an ihrem Alter ſtand und ihnen zu we¬
nig uͤberlegen war. Meine neue Goͤnnerin ver¬
kuͤndigte, daß ich gerade zu einer guten Stunde
gekommen ſei, da ſie heute gebacken haͤtte, zer¬
ſchnitt ſogleich einen gewaltigen Kuchen in vier
Stuͤcke und ſetzte Wein dazu, um dann den Tiſch
fuͤr das Mittagsmahl zu decken. Dieſes Haus
hatte nicht den patriarchaliſchen Anſtrich, wie
dasjenige der Großmutter; man ſah keine Ge¬
raͤthe von Nußbaum, ſondern nur von lackirtem
Tannenholz, die Waͤnde waren noch von friſcher
Holzfarbe, die Ziegel auf dem Dache hellroth,
wie das zu Tage tretende Gebaͤlke und vor dem
Hauſe wenig oder kein Baumſchatten; die Sonne
uͤberwand ſpielend die jungen Obſtbaͤumchen und
lag heiß auf dem weiten Gemuͤſegarten, in wel¬
chem nur ein beſcheidenes Blumenrevier verkuͤn¬
[12] dete, daß dieſe Haushaltung einen jungen Wohl¬
ſtand zu begruͤnden im Begriffe und vor der
Hand an den proſaiſchen Nutzen gewieſen ſei.
Nun kam der Mann vom Felde mit dem aͤlteſten
Knaben, beſorgte, obgleich er vernahm, daß ich
in der Stube ſei, erſt ſeine Ochſen und Kuͤhe,
wuſch ſich am Brunnen gemaͤchlich die Haͤnde
und trat dann, dieſelben mir reichend, feſt und
ruhig herein, ſogleich nachſehend, ob ſeine Frau
mich gehoͤrig bewirthe. Dabei zeigten die Leute
keinerlei Ziererei, als ob ihre Gaben zu gering
waͤren u. dgl. Der Bauer iſt der Einzige, wel¬
cher nur ſein Brot als das beſte erachtet und es
als ſolches Jedermann anbietet. Seine Lecker¬
biſſen ſind die Erſtlinge jeder Frucht; die neue
Kartoffel, die erſte Birne, die Kirſchen und die
Pflaumen gehen ihm uͤber Alles und er ſchaͤtzt ſie
ſo hoch, daß er Wunder glaubt was zu gewin¬
nen, wenn er von fremden Baͤumen im Voruͤber¬
gehen eine Handvoll erhaſchen kann, waͤhrend er
an den bunten Leckereien der Staͤdte gleichguͤltig
voruͤbergeht und ſeinen Lieben hoͤchſtens ein un¬
genießbares Bonbon von Staͤrkemehl kauft, weil
[13] es die Form eines Herzens hat und ein huͤb¬
ſcher Spruch darauf ſteht. Eine andere Dilikateſſe,
die er aus der Stadt mitbringt, iſt einfaches
Weißbrot; hier holt er ſich nur wieder zuruͤck,
was er ſelbſt hervorgebracht hat, und deswegen
zeichnet er aus. Dieſe Ueberzeugung, daß er das
Beſte und Geſundeſte biete, welche in unverdor¬
benen und noch nicht ſervilen Gegenden nicht
ohne Oſtentation hervortritt, geht auf den Gaſt
uͤber, welcher ſich alsbald einer kraͤftigen Eßluſt
hingiebt, ohne ſie zu bereuen. Darum ſaß ich
ſchmaͤchtiges »Vetterlein« wieder tapfer ſchmau¬
ſend hinter dem Tiſche, obgleich ich heute ſchon
ein Erkleckliches gethan hatte. Mit Wohlwollen
uͤberhaͤuften mich die Verwandten und betrachte¬
ten mich, wie jeden Staͤdter, der nicht ein Zins¬
herr iſt, als einen Hungerſchlucker. Sie fuͤhrten
ein lebhaftes Geſpraͤch uͤber unſer Schickſal und
befragten mich des Genaueſten nach allen unſeren
Umſtaͤnden. Die Frau erkundigte ſich, ob ihre
jaͤhrlichen Geſchenke an Feldfruͤchten immer rich¬
tig ankaͤmen und verſprach, gewiß ſelbſt ein Mal
nach der Stadt zu kommen; der Mann erzaͤhlte
[14] von meinem Vater, wie derſelbe als kleines Juͤn¬
gelchen, wenn man ihn gefragt habe, was er ge¬
ben wolle, geantwortet: Ein'n Herr ab! naͤm¬
lich abgeben, was aber luſtiger Weiſe geklungen
haͤtte wie: Ein Herab! »Nun,« fuͤgte der Vet¬
ter hinzu, »wenn er gelebt haben wuͤrde, ſo waͤre
er noch ein vollſtaͤndiger Herr geworden; eigent¬
lich war er an ſich ſchon mehr als unſer Einer!
aber nun muͤſſet Ihr aufmerken, Vetterlein, daß
Ihr es auch zu was bringt und das zu Ende
fuͤhret, was er angefangen hat. Allem Anſcheine
nach werdet Ihr fuͤr die Feder gut ſein, ſonder¬
lich da Euch die Mutter gut ſchulen laͤßt, ſoviel
wir hoͤren, und was ehrenfeſt von ihr gehandelt
iſt. Da muͤſſet Ihr vor Allem aus nicht ſtolz
werden und nicht ſo ein Fuchsſchwanz, ſondern
Euch immerdar zu uns halten, damit Ihr ein
rechter Volksmann werdet und wir auch was an
Euch haben. Denn wir leiden in unſerem Dorfe
Noth an gelehrten Leuten und muͤſſen unſeren
Bezirksnachbaren trotz unſerer ſtarken Zahl bei
Wahlen immer die Vorhand laſſen, weil wir
keine Federhelden aufbringen koͤnnen. Wenn Ihr,
[15] gutes Vetterlein, daher etwas Rechtes werdet, ſo
brauchet Ihr alsdann die Herren in der Stadt
gar nicht, wir wollen Euch ſchon zu Etwas ma¬
chen. Obgleich Euer Vater ſchon lange todt iſt
und es dann noch laͤnger ſein wird, ſo hat er
doch in dieſer Gegend ein ſolches Andenken hin¬
terlaſſen und Ihr ſelbſt ſeid ſo mitten unter uns
buͤrgerlich, daß Ihr weiter keine Gunſt brauchet,
als Euere Tuͤchtigkeit!«


Dieſe Rede, an ſich etwas zu fruͤh an mich gerich¬
tet, betruͤbte mich, daß ich ganz ſtill ſchwieg; denn
erſtens war es nun mit der Schule vorbei, was
der Mann noch nicht wußte, und zweitens fuͤhlte
ich mich nicht nach dem Geſchaͤftsleben hingezo¬
gen, fuͤhlte vielmehr eine Art von Grauen vor
demſelben.


Nachdem ich noch den Stall beſehen und in
der Scheune jeder Kuh eine Gabel voll Klee
hinuͤbergeſchoben, verabſchiedete ich mich; die Baſe
ließ es ſich aber nicht nehmen, mich ein Stuͤck
Weges zu begleiten, um mich ſchnell noch einer
anderen Baſe vorzuſtellen, wo ich mich nicht
lange aufzuhalten brauche fuͤr dieſes Mal. Ich
[16] fand eine freundliche Matrone, nicht ganz von
dem edlen und feinen Weſen meiner Großmutter,
aber doch voll Anſtand und Wohlwollen. Sie
lebte allein mit einer Tochter, welche fruͤher, einer
haͤufigen Sitte gemaͤß, zwei Jahre in der Stadt
gedient, dann einen vermoͤglichen Bauer geheira¬
thet hatte, welcher bald geſtorben, und nun Witwe
bleiben wollte, wie ſie verſicherte, obgleich ſie erſt
ungefaͤhr dreißig Jahre alt war. Sie war von
hohem und feſtem Wuchſe, ihr Geſicht hatte den
ausgepraͤgten Typus unſerer Familie, aber durch
eine ſeltſame Schoͤnheit verklaͤrt; beſonders die
großen braunen Augen und der Mund mit dem
vollen uͤppigen Kinn machten augenblicklichen
Eindruck. Dazu ſchmuͤckte ſie ein ſchweres dunk¬
les, faſt nicht zu bewaͤltigendes Haar. Sie galt
fuͤr eine Art Lorelei, obſchon ſie Judith hieß, auch
Niemand etwas Beſtimmtes oder Nachtheiliges
von ihr wußte. Dies Weib trat nun herein, vom
Garten kommend, etwas zuruͤckgebogen, da ſie in
der Schuͤrze eine Laſt friſch gepfluͤckter Ernte¬
aͤpfel und daruͤber eine Maſſe gebrochener Blu¬
men trug. Dies ſchuͤttete ſie alles auf den Tiſch,
[17] wie eine reizende Pomona, daß ein Gewirre von
Form, Farbe und Duft ſich auf der blanken Ta¬
fel verbreitete. Dann gruͤßte ſie mich mit ſtaͤdti¬
ſchem Accente, indeſſen ſie aus dem Schatten
eines breiten Strohhutes neugierig auf mich her¬
abſah, ſagte, ſie haͤtte Durſt, holte ein Becken
mit Milch herbei, fuͤllte eine Schale davon und
bot ſie mir an; ich wollte ſie ausſchlagen, da ich
ſchon genug genoſſen hatte, allein ſie ſagte la¬
chend: »Trinkt doch!« und machte Anſtalt, mir
das Gefaͤß an den Mund zu halten. Daher
nahm ich es und ſchluͤrfte nun den marmorwei¬
ßen und kuͤhlen Trank mit Einem Zuge hinunter
und mit demſelben ein unbeſchreibliches Behagen,
wobei ich ſie ganz ruhevoll anſah und ſo ihrer
ſtolzen Ruhe das Gleichgewicht hielt. Waͤre ſie
ein Maͤdchen von meinem Alter geweſen, ſo haͤtte
ich ohne Zweifel meine Unbefangenheit nicht be¬
wahrt. Doch war dies Alles nur ein Augen¬
blick und als ich mir darauf mit den Blumen
zu ſchaffen machte, zwang ſie ſogleich einen gro¬
ßen betaͤubenden Strauß von Roſen, Nelken und
ſtarkduftenden Kraͤutern zuſammen und ſteckte mir
II. 2[18] denſelben wie ein Almoſen in die Hand: das
alte Muͤtterchen fuͤllte meine Taſchen mit Aepfeln,
daß ich nun mit Gaben foͤrmlich beladen, ohne
Widerrede gedemuͤthigt von dannen zog, von
ſaͤmmtlichen Frauen zu fleißigem Beſuche bei ih¬
nen, wie bei den noch uͤbrigen Verwandten, auf¬
gefordert.


Es war ſchon tiefer Nachmittag, als ich end¬
lich das Haus meines Oheims wieder fand; es
war verſchloſſen, weil alle Bewohner im Freien
waren; doch wußte ich, daß ich durch Scheune
und Stall ein Schlupfloch finden wuͤrde. In
der Scheune ſprang mir das Reh entgegen und
ſchloß ſich mir unverweilt an, da es ihm lang¬
weilig ſein mochte, im Stalle ſahen ſich die Kuͤhe,
Unterhaltung fordernd, nach mir um, und ein le¬
diges Rind tappte halbwegs auf mich zu, ſah
mich verwundert an und machte Anſtalt, einen
vertraulichen Satz gegen mich zu nehmen, daß
ich mich furchtſam in den naͤchſten Raum ſal¬
virte, der ganz mit Ackergeraͤthſchaften und Holz¬
geruͤmpel angefuͤllt war. Aus dem dunklen Wirr¬
ſal hervor ſchoß mit vergnuͤglichem Murren der
[19] Marder, welcher ſich hier einſam amuͤſirt hatte,
und ſaß mir im Augenblicke auf dem Kopfe, mir
mit dem Schwanz um die Backen ſchlagend und
vor Freude tollen Unſinn treibend, daß ich laut
lachen mußte. So gelangte ich mit meiner Ge¬
ſellſchaft in den helleren, bewohnten Theil des
Hauſes und fand endlich die Wohnſtube, wo ich
meine Buͤrde von Blumen, Fruͤchten und Thie¬
ren abwarf. Auf dem Tiſche ſtand mit Kreide
geſchrieben, wo ich zu eſſen finden wuͤrde, im
Falle ich Luſt haͤtte, nebſt allerlei beigefuͤgten
Witzen des jungen Volkes; aber ich zog vor, mir
das Geburtshaus meiner Mutter nun gemaͤchlich
anzuſehen.


Mein Oheim hatte ſchon ſeit einigen Jahren
ſeiner geiſtlichen Pfruͤnde entſagt, um ſich ganz
ſeinen Neigungen hinzugeben. Da der Staat
ohnehin Willens war, der Gemeinde ein neues
Pfarrhaus zu bauen, kaufte der Oheim dazumal
das alte Pfarrhaus von ihm, welches urſpruͤng¬
lich eigentlich der Landſitz eines Ariſtokraten ge¬
weſen war und daher ſteinerne Treppen mit Ei¬
ſengelaͤndern, in Gyps gearbeitete Plafonds, einen
[20] Saal mit einem Kamine, viele Zimmer und
Raͤume und uͤberall eine Unzahl geſchwaͤrzter Oel¬
gemaͤlde enthielt, Thierſtuͤcke, Stillleben, Land¬
ſchaften und Perruͤckenbilder. In dieſes Weſen
hinein hatte der Oheim, unter das gleiche Dach,
ſeine Landwirthſchaft geſchoben, indem er einen
Theil der Wohnung herausgebrochen, daß ſich
beide Elemente, das junkerhafte und das baͤuer¬
liche, verſchmolzen und durch wunderliche Thuͤren
und Durchgaͤnge verbanden. Aus einem mit Jag¬
den bemalten und mit alten theologiſchen Wer¬
ken verſehenen Zimmer ſah man ſich, wenn man
eine Tapetenthuͤr oͤffnete, ploͤtzlich auf den Heu¬
boden verſetzt, das Parket und die Decke des Ka¬
minſaales waren mit Fallthuͤren verſehen, welche
mit Tenne und Speicher correſpondirten, und ich
verwunderte mich nachher, als ich in dem kuͤhlen
und heitern Saale meinen Sitz aufgeſchlagen und
an nichts dachte, als ploͤtzlich eine ſchwere Garbe
aus dem Boden ſtieg, an einem Seile aufgezo¬
gen, und in den Gypsblumen der Decke wieder
verſchwand, wie ein Traum von den ſieben fet¬
ten Jahren. Von der Decke dieſes Saales hin¬
[21] gen uͤberdies große glaͤſerne Kugeln herab, welche
inwendig mit Herren und Damen in Reifroͤcken
und Perruͤcken, auf Papier gemalt, beklebt wa¬
ren; dazwiſchen ein Kronleuchter, aus Hirſch¬
geweihen zuſammengeſetzt, und neben der Fluͤgel¬
thuͤr ragte eine in Holz geſchnittene und bemalte
Meerfrau aus der Wand, zwiſchen ihren Haͤnden
eine zierliche Walze haltend, uͤber welche ehemals
ein langes Handtuch gehangen wurde zu allge¬
meinem Gebrauche. Unter dem Dache fand ich
eine kleine Manſarde, deren Waͤnde mit alten
Hirſchfaͤngern und Galanteriedegen, ſowie mit un¬
brauchbarem Schießgewehr bedeckt waren; eine
uͤberlange ſpaniſche Klinge mit herrlich gearbeite¬
tem ſtaͤhlernem Griffe war ein ſeltenes Prachtſtuͤck
und mochte ſchon ſeltſame Tage geſehen haben.
Ein paar Folianten lagen beſtaͤubt in der Ecke,
in der Mitte des Zimmers ſtand ein mit Leder
bezogener zerfetzter Lehnſtuhl, ſo daß nur der
Don Quixotte fehlte, um das Ganze zu einem
Bilde zu machen. Uebrigens ſetzte ich mich be¬
haglich hinein und dachte an den guten Herrn,
deſſen Geſchichte ich, unter der Leitung meines
[22] ehemaligen Lehrers, aus dem Franzoͤſiſchen des
Mr. Florian uͤberſetzt hatte. Ich hoͤrte ein ſelt¬
ſames Geraͤuſch, Gurren und Krabbeln an der
Wand, ſchlug einen hoͤlzernen Schieber zuruͤck
und ſteckte den Kopf hindurch in — den heißen
Taubenſchlag, welcher alſobald in ſolchen Allarm
gerieth, daß ich mich zuruͤckziehen mußte. Ferner
entdeckte ich die Schlafzimmer der Toͤchter, ſtille
Gelaſſe mit gruͤnen Fenſtergaͤrtchen und uͤberdies
von treuen Baumwipfeln bewacht, mit geretteten
Stuͤcken blumiger Tapeten bekleidet, wo die zahl¬
reichen Rokokoſpiegel des ehemaligen Herrenſitzes
eine ehrenvolle Zuruͤckgezogenheit gefunden hat¬
ten; ſo auch die große Kammer der Soͤhne, welche
mit den Spuren einiger nicht zu tiefen Studien
und den Werkzeugen des laͤndlichen Muͤſſiggan¬
ges, mit Angelzeug und Vogelgarnen verziert
war.


Gegen Oſten ſahen die Fenſter des Hauſes in
das Wirrſal von Obſtbaͤumen und Dachgiebeln
des Dorfes, aus welchem der erhoͤhte Kirchhof
mit der ſchneeweißen Kirche wie eine geiſtliche
Feſtung emporragte, nach der Abendſeite ſchaute
[23] die hohe lange Fenſterflucht des Saales uͤber ein
ſattgruͤnes Wieſenthal, durch welches ſich der Fluß
in vielen Armen und Windungen buchſtaͤblich
ſilbern ſchlaͤngelte, da er hoͤchſtens zwei Fuß tief
war und wie Brunnenwaſſer in lebendigen hefti¬
gen Wellen uͤber weißes Geſchiebe floß. Jenſeits
dieſes Wieſengrundes ſtieg eine waldige Berg¬
halde oder ein haldiger Bergwald auf, an wel¬
chem alle Laubarten durcheinander wogten, von
duͤſteren Felswaͤnden und Kuppen unterbrochen.
Die untergehende Sonne aber hatte einen freien
Eingang uͤber fernere Blauberge in das Thal
und uͤbergoß es alle Abend mit Gluth, daß man
an den Fenſtern des Saales im Rothen ſaß, ja
die Roͤthe drang durch dieſen hin, wenn ſeine
Thuͤren geoͤffnet, in's Innere des Hauſes und
uͤberzog Gaͤnge und Waͤnde. Gemuͤſe- und Blu¬
mengaͤrten, vernachlaͤſſigte Zwiſchenraͤume, Hol¬
lunderbuͤſche und eingefaßte Quellen, alles von
Baͤumen uͤberſchattet, bildeten eine reizende Wild¬
niß weit herum und dehnten ſich noch mittelſt
einer kleinen Bruͤcke uͤber das Waſſer hinaus.
Die etwas weiter oben liegende Muͤhle aber gab
[24] ſich nur durch das Geraͤuſch und durch das Blitzen
und Staͤuben des Rades kund, welches unter den
Baͤumen durchleuchtete. Das Ganze war eine
Verſchmelzung von Pfarrei, Bauernhof, Villa
und Jaͤgerhaus, und mein Herz jubelte, als ich
alle Schoͤnheit und Poeſie entdeckte und uͤberſah,
umgaukelt von der gefluͤgelten und vierfuͤßigen
Thierwelt. Hier war uͤberall Farbe und Glanz,
Bewegung, Leben und Gluͤck, reichlich, ungemeſ¬
ſen, dazu Freiheit und Ueberfluß, Scherz, Witz
und Wohlwollen. Der erſte Gedanke war eine
freie ungebundene Thaͤtigkeit. Ich eilte auf mein
Zimmer, welches auch nach der Abendſeite lag,
und begann meine indeſſen angekommenen Sa¬
chen auszupacken, meine Schulbuͤcher und abge¬
brochenen Hefte, welche ich ſo gut moͤglich noch
zu pflegen gedachte, vorzuͤglich aber einen anſehn¬
lichen Vorrath von Papier verſchiedener Art, Fe¬
dern, Bleiſtifte und Farben, vermittelſt deren ich
zu ſchreiben, zu zeichnen, zu malen gedachte, was
weiß ich, was Alles! In dieſem Augenblicke
wandelte ſich der bisherige Spieltrieb in eine
ganz ernſthafte und gravitaͤtiſche Luſt zu Schaf¬
[25] fen und Arbeit, zu bewußtem Geſtalten und Her¬
vorbringen um. Mehr als alles vorhergehende
Ungemach weckte dieſer eine, ſo einfache und
doch ſo reiche Tag den erſten Schein der Klar¬
heit, die Morgendaͤmmerung der reifern Jugend
in mir auf. Als ich meine bisher uͤbermalten
Streifen und Bogen auf dem großen Bette aus¬
breitete, daß es mit wunderlich bunter Decke be¬
zogen war, fuͤhlte ich mich mit einem Male uͤber
dieſe Dinge hinausgeruͤckt und mit dem Beduͤrf¬
niß auch den Willen, ſogleich einen Fortſchritt
aus mir ſelbſt hervorzuzwingen. Es lag in der
Luft, es lag in mir oder weiß Gott wo, daß ich
das naͤchſte Blatt mit mehr Energie und Geſchick
angegriffen vor mir ſchweben ſah. Zuletzt eigent¬
lich mochte ich nur die aͤußere Anregung voraus¬
empfinden, die ſich in dieſem Augenblicke mir
naͤherte.


Mein Oheim trat, von einer Aufſichtswande¬
rung zuruͤckgekehrt, zu mir herein und faßte eine
gutmeinende Verwunderung, als er mich von
meinem Krame umgeben ſah. Die kindliche Re¬
nomiſterei und Keckheit meiner Machwerke, die
2 *[26] marktſchreieriſchen Farben imponirten ſeinem un¬
geuͤbten Auge und er rief: »Ei, Du biſt ja ein
ganzer Maler, Herr Neveu! Das iſt nun recht;
da haſt Du ja auch eine Menge Papier und Far¬
ben? Gut! Was haſt Du hier fuͤr Sachen, wo
haſt Du ſie hergenommen?« Ich erwiederte, daß
ich Alles aus dem Kopfe gemacht haͤtte. »Ich
will Dir nun andere Aufgaben ſtellen,« ſagte er,
»Du ſollſt nun unſer Hofmaler ſein! Gleich
Morgen ſollſt Du verſuchen, unſer Haus zu zeich¬
nen mit Gaͤrten und Baͤumen und Alles genau
nachbilden! Auch kann ich Dir manchen ſchoͤnen
Punkt in unſerer Gegend zeigen, wo Du inter¬
eſſante Proſpekte aufnehmen magſt; das wird
Dich uͤben und Dir nuͤtzlich ſein. Ich wollte
ſelbſt, ich haͤtte dergleichen geuͤbt. Halt, ich kann
Dir einige huͤbſche Sachen zeigen, welche von
einem Herrn herruͤhren, der vor dreißig Jahren
oft bei uns zu Gaſt war, als wir immer Beſuch
aus der Stadt hatten. Er malte zu ſeinem Ver¬
gnuͤgen in Oel, in Waſſerfarben und ſtach in
Kupfer oder radirte, wie er es nannte, und war
geſchickt, trotz einem Kuͤnſtler!«


[27]

Er holte eine uralte Mappe herbei, welche
mit einer anſehnlichen Schnur umwickelt war,
und indem er ſie oͤffnete, ſagte er: »Ich habe
bei Gott dieſe Dinge laͤngſt vergeſſen, ich ſeh' ſie
ſelbſt einmal gern wieder! Der gute Junker Fe¬
lix liegt in Rom begraben, ſchon manches lange
Jahr; er war ein alter Junggeſell, trug gepuderte
Haare und ein Zoͤpfchen noch anfangs der zwan¬
ziger Jahre; er malte und radirte den ganzen
Tag, ausgenommen im Herbſte, wo er mit uns
jagte. Damals, zu Anfang der zwanziger Jahre,
kamen ein paar junge Herren aus Italien zuruͤck,
worunter ein Malergenie. Dieſe Burſche mach¬
ten einen Teufelslaͤrm und behaupteten, die ganze
alte Kunſt ſei verkommen und wuͤrde eben jetzt in
Rom wiedergeboren von deutſchen Maͤnnern. Al¬
les was vom Ende des vorigen Jahrhunderts
her datire, das Geſchwaͤtz des ſogenannten Goͤthe
von Hackert, Tiſchbein u. dgl. das ſei Alles Lum¬
perei, eine neue Zeit ſei angebrochen. Dieſe Re¬
densarten ſtoͤrten meinen armen Felix urploͤtzlich
in ſeinem bisherigen Lebensfrieden; umſonſt ſuch¬
ten ihn ſeine alten Kuͤnſtlerfreunde, mit denen er
[28] ſchon manchen Centner Taback verraucht hatte,
gelaſſen zur Ruhe zu bringen, indem ſie ſagten,
er moͤge doch die jungen Faͤnte ſchreien laſſen,
die Zeit werde ſo gut uͤber ſie hinweggehen, wie
uͤber uns! Alles umſonſt! Eines Morgens ſchloß
er ſeinen hageſtolzlichen Kunſttempel zu und
rannte wie verruͤckt nach dem St. Gotthard, hin¬
uͤber und kam nicht wieder. Nachdem ihm die
Hallunken zu Rom den Zopf abgeſchnitten bei
einer Sauferei, verlor er allen Halt und alle
Ehrbarkeit und ſtarb in ſeinen alten Tagen nicht
an Altersſchwaͤche, ſondern an dem roͤmiſchen
Wein und an den roͤmiſchen Weibsbilden. Dieſe
Mappe ließ er zufaͤllig bei uns zuruͤck.«


Wir durchblaͤtterten nun die vergilbten Pa¬
piere; es waren ein Dutzend Baumſtudien in
Kreide und Rothſtift, nicht ſehr koͤrperlich und
ſicher gezeichnet, doch von einem tuͤchtigen dilet¬
tantiſchen Streben zeugend, nebſt einigen verbla߬
ten Farbenſkizzen und einer großen in Oel ge¬
malten Eiche. »Dies nannte er Baumſchlag,«
ſagte mein Oheim, »und machte ein großes We¬
ſen daraus. Das Geheimniß deſſelben hatte er
[29] im Jahre 1780 in Dresden erlernt bei ſeinem
verehrten Meiſter Zink, oder wie er ihn nannte.
Es gibt, pflegte er zu ſagen, zwei Klaſſen von
Baͤumen, in welche alle zerfallen, in die mit run¬
den, und die mit gezackten Blaͤttern. Daher
giebt es zwei Manieren, die gezackete Eichenma¬
nier und die gerundete Lindenmanier! Wenn er
beſtrebt war, unſern jungen Damen das gelaͤufige
Schreiben dieſer Manieren beizubringen, ſo ſagte
er, ſie muͤßten ſich vor Allem an einen gewiſſen
Takt gewoͤhnen, z. B. beim Zeichnen dieſes oder
jenes Baumſchlages zaͤhlen: Eins, zwei, drei
vier, fuͤnf, ſechs! Das iſt ja der Walzer¬
takt! ſchrieen die Maͤdchen und begannen um ihn
herumzutanzen, bis er wuͤthend aufſprang, daß
ihm der Zopf wackelte!«


So gewann ich auf dem ſeltſamen Wege einer
Tradition, deren Traͤger ſelbſt der Sache fremd
war, den erſten Anhaltspunkt. Ich betrachtete
die Blaͤtter ſtumm und aufmerkſam und bat mir
die Mappe zur freien Verfuͤgung aus. Sie ent¬
hielt uͤberdies noch eine Anzahl radirter Land¬
ſchaften, einige Waterloo's, einige idylliſche Haine
[30] von Geßner mit ſehr huͤbſchen Baͤumen, deren
Poeſie mich frappirte und ſogleich einnahm, bis
ich eine Radirung von Reinhardt entdeckte, gelb
und beſchmutzt, knapp am Rande beſchnitten, de¬
ren Kraft, Schwung und Geſundheit maͤchtig zu
mir ſprach und aus dem verzettelten Stuͤckchen
Papier gewaltig herausleuchtete. Waͤhrend ich
ſtaunend das Blatt in der Hand hielt (ich hatte
bis jetzt nie etwas wahrhaft Kuͤnſtleriſches geſe¬
hen), kam der Oheim wieder und rief: »Komm
mit, Neveu Maler! der Herbſt wird bald genug
da ſein und da muͤſſen wir ſehen, wie es vor¬
laͤufig um die Haͤslein und Fuͤchslein, um Huͤh¬
ner und derlei Volk ſteht! Es iſt ein ſchoͤner
Abend, wir wollen ohne Gewehr ein bischen auf
den Anſtand gehen, da kann ich Dir zugleich
huͤbſche Proſpekte zeigen.«


Er ergriff aus einem Winkel, wo eine Menge
alter ſpaniſcher Rohre verſammelt war, einen
tuͤchtigen Stock, gab mir auch einen ſolchen, pu¬
ſtete aus ſeinem Waldhoͤrnchen den abgebrannten
Cigarrenſtumpf heraus, daß er gewaltſam an die
Decke flog, ſteckte einen friſchen Glimmſtengel
[31] hinein, pfiff aus dem Fenſter in weithin ſchallen¬
den Toͤnen, worauf ſogleich die Hunde aus allen
Ecken des Dorfes wie der Blitz herbeiſprangen,
und wir zogen, umgeben von den bellenden Thie¬
ren, dem abendlichen Bergwalde zu.


Bald war die Meute weit voraus und im
Gehoͤlze verſchwunden, aber kaum begannen wir
die Hoͤhe hinanzuſteigen, ſo hoͤrten wir ſie uͤber
uns anſchlagen und in voller Jagd am Berge
hinziehen, daß die Schluchten widerhallten. Mei¬
nem Oheim lachte das Herz, er zog mich vor¬
waͤrts und behauptete, wir muͤßten raſch nach
einer kleinen Waldwieſe eilen, um das Thier zu
ſehen; doch auf dem Wege horchte er auf und
aͤnderte die Richtung, indem er rief: »Es iſt
bei Gott ein Fuchs! dorthin muͤſſen wir gehen,
ſchnell, pſt!« Kaum hatten wir einen ſchmalen
Pfad betreten, welcher neben einem trockenen
Waldbache hinlief, zwiſchen zwei bewachſenen
Abhaͤngen, als er mich ploͤtzlich anhielt und laut¬
los vorwaͤrts wies, ein roͤthlicher Streif ſchoß
ſtill uͤber Weg und Schlucht, herab, hinauf, und
eine Minute nachher heulten die ſechs Hunde hin¬
[32] tendrein, raſend, toll! »Haſt Du ihn geſehen?«
ſagte der Oheim, ſo vergnuͤgt, als ob er am
Vorabend ſeiner Hochzeit ſtaͤnde; dann fuhr er
fort: »Sie haben ihn verloren, doch in jenem
Schlag muͤſſen ſie nothwendig ein Haͤschen auf¬
thun! Wir wollen vollends hier hinaufgehen!«
Wir gelangten auf eine kleine Hochebene, welche
ein von der ſinkenden Sonne geroͤthetes Hafer¬
feld enthielt, umſaͤumt von ſtillgluͤhenden Foͤhren.
Hier hielten wir an und ſtellten uns am Rande
auf, in wohligem Schweigen, unfern eines ver¬
wachſenen Weges, der in's Dunkle fuͤhrte. Wir
mochten ſo eine Viertelſtunde gewartet haben, als
das Gebell in großer Naͤhe ploͤtzlich wieder be¬
gann und mein Oheim mich anſtieß. Zugleich
bewegte ſich der Hafer vor uns, er fluͤſterte:
»Was Teufel iſt denn da los?« und es erſchien
eine rieſenhafte Bauernkatze, welche uns anſah
und davonſchlich. In großem Zorne rief der
geiſtliche Herr: »Du vermaledeite Beſtie, was
haſt denn du hier zu ſchaffen? da ſieht man, wo
die jungen Haſen hinkommen! Wart, ich will
dir jagen helfen!« und er ſchleuderte ihr einen
[33] maͤchtigen Stein nach. Sie ſprang wieder mit¬
ten in den Hafer hinein, indeſſen die Hunde an
uns voruͤberbrauſten und mein zorniger Oheim
ganz verbluͤfft ſagte: »Da! nun haben wir den
Haſen nicht geſehen!« Die Hunde waren eben¬
falls im Haferfelde verſchwunden, auch war es
ſtill geworden und wir bemerkten nur, daß fuͤnf¬
zig Schritte von uns eine große Bewegung darin
herrſchte und zugleich ſahen wir dort ſechs ver¬
gnuͤgte Hundeſchwaͤnze uͤber den Halmen wedeln.
»Sie haben entweder die Katze, oder ein armes
junges Haͤschen!« rief mein Fuͤhrer. Wir bega¬
ben uns nach der Stelle und entdeckten Beides.
Die Katze hatte das zarte Thierchen erſchnappt,
nicht ahnend, daß es ſechs Hunde hinter ſich
habe, und dieſe zerriſſen ſie in ſelbem Augenblicke
ſammt ihrem Opfer. Wir hatten genug zu thun,
mit unſeren Stoͤcken den Knaͤuel auseinander zu
treiben. Mein Oheim war verdrießlich uͤber den
Verluſt des Haſen und er troͤſtete ſich nur mit
dem Tode der unbefugt jagdliebenden Katze.


»Genug fuͤr heute,« ſagte er, und ſteckte das
Haͤschen in ſeine weite Rocktaſche, »da wir ein¬
ll. 3[34] mal unwillkuͤrliche Wilddiebe ſind, ſo wollen wir
das Ding morgen braten! Nun laß uns noch
da vornenhin gehen, wo Du das Hochgebirge ſe¬
hen kannſt, dem Du jetzt ein bischen ferner ge¬
ruͤckt biſt.«


Am entgegengeſetzten Rande des hohen Fel¬
des, wo die Foͤhren ſich lichteten, ſah man uͤber
zuerſt gruͤne, dann immer blauer werdende Berg¬
ruͤcken hin nach dem Gebirge im Suͤden, welches
in ſeiner ganzen Ausdehnung von Oſt nach Weſt
vor uns lag, von den Appenzeller Kuppen bis zu
den Berner Alpen, aber ſo fern, daß man nur den
hohen Schnee ſah in ſchwachem Roſenlichte, der
Jura lag zu tief und der See bei meiner Stadt
lag vollends in der Tiefe unſichtbar begraben.
Dieſer ferne, weite Kranz kam mir ganz fremd
vor, da ich das Gebirge bisher nur in groͤßerer
Naͤhe und maſſenhafter, aber auch vereinzelter ge¬
ſehen hatte.


Dadurch wurde ich auch auf den Charakter
der mich umgebenden Landſchaft aufmerkſamer.
Dieſelbe war ſchon mehr in der Art, wie ich mir
deutſches Gebirge vorſtelle, gruͤn, felſig und be¬
[35] baut, in kleinerem Maßſtabe, aber immer poe¬
tiſch. Eine Menge Thaͤler und Einſchnitte, von
Gewaͤſſern durchzogen, verſprachen eine reiche Zu¬
flucht fuͤr fortwaͤhrende Streifereien, vorzuͤglich
war es ein rechtes Waldland. Die Formen wa¬
ren eben nicht maleriſch, meiſtens ſogar mono¬
ton, und doch waren die Gegenſtaͤnde groß und
ſchoͤn durch ihr Daſein, durch ihre Bedeutung,
durch den Contraſt, in welchem ſie zu einander
ſtanden und erſt in den Ueber- und Durchgaͤngen
gab es eine Menge maleriſcher Anblicke, welche
geſucht ſein wollten, indeſſen das reichſte Detail
an Baͤumen und Steinen bei jedem Schritte ent¬
gegenſprang. Kurz, es war nicht eine raffinirte
ſchoͤne Gegend, deren Hauptzuͤge in einem Tage
erſchoͤpft ſind, ſondern eine ſolide Landſchaft,
welche bei anſcheinender Haͤrte und Schroffheit
tief und lebendig war. Dieſer und jener Berg
lag gleich einem Wallroſſe traͤg und einfoͤrmig
da, aber wenn man in ihn hineinging, ſo bot er
alle Wunder der Phantaſie ſo reichlich, daß einem
die Wahl ſchwer wurde.


Indeſſen wir auf einem anderen Wege nach
3 *[36] Hauſe kehrten, wechſelten die reizenden Bilder
vor meinen Augen bis in die Schatten der Nacht
hinein und ſchloſſen mit dem hellſten Mondſcheine,
der auf Muͤhle, Pfarrhaus und auf dem Waſſer
flimmerte, als wir anlangten. Die jungen Leute
jagten ſich auf dem Platze unter den Eſchen um¬
her und draͤngten einander in das Fluͤßchen, die
Toͤchter ſangen im Garten, die Muhme rief aus
dem Fenſter, ich waͤre ein Landſtreicher, den man
den ganzen Tag nie geſehen haͤtte, und mein
Oheim ſagte, wir wollten das Haͤschen lieber
heute noch braten, es werde ein trefflicher Nacht¬
biſſen ſein!

[[37]]

Zweites Kapitel.

Der naͤchſte junge Tag ließ mich von allen
Seiten mit dem Rufe: Maler! begruͤßen. Gu¬
ten Morgen, Maler! Haben der Herr Maler
wohl geruht? Maler, zum Fruͤhſtuͤck! hieß es,
und das Voͤlklein handhabte dieſen Titel mit der¬
jenigen gutmuͤthig ſpottenden Freude, welche es
immer empfindet, wenn es fuͤr einen neuen An¬
koͤmmling, den es nicht recht anzugreifen wußte,
endlich eine gelaͤufige Bezeichnung gefunden hat.
Ich ließ mir jedoch den angewieſenen Rang treff¬
lich munden und nahm mir im Stillen vor, den¬
ſelben nie mehr aufzugeben. Ich brachte aus
Pflichtgefuͤhl die erſte Morgenſtunde noch uͤber
meinen Schulbuͤchern zu, mich ſelbſt unterrich¬
tend; aber mit dem grauen Loͤſchpapier dieſer
melancholiſchen Werke kam die Oede und die Be¬
[38] klemmung der Vergangenheit wieder heran; jen¬
ſeits des Thales lag der Wald in ſilbergrauem
Duft, die Terraſſen hoben ſich merklich von ein¬
ander los, ihre laubigen Umriſſe, von der Mor¬
genſonne beſtreift, waren hellgruͤn, jede bedeutende
Baumgruppe zeichnete ſich groß und ſchoͤn in dem
zuſammenhaltenden Dufte und ſchien ein Spiel¬
werk fuͤr die nachahmende Hand zu ſein; meine
Schulſtunde wollte aber nicht voruͤbergehen, ob¬
ſchon ich laͤngſt nicht mehr aufmerkte.


Ungeduldig ging ich, ein Lehrbuch der Phyſik
in der Hand, hin und her und durch mehrere
Zimmer, bis ich in einem derſelben die weltliche
Bibliothek des Hauſes entdeckte; ein breiter alter
Strohhut, wie ihn die Maͤdchen zur Feldarbeit
brauchen, hing daruͤber und verbarg ſie beinahe
ganz. Wie ich denſelben aber wegnahm, ſah ich
eine kleine Schaar guter Franzbaͤnde mit golde¬
nem Ruͤcken, ich zog einen Quartband hervor,
blies den dichten Staub davon und ſchlug die
Geßner'ſchen Werke auf, in dickem Schreibpapier,
mit einer Menge Vignetten und Bildern ge¬
ſchmuͤckt. Ueberall wo ich blaͤtterte, war von
[39] Natur, Landſchaft, Wald und Flur die Rede, die
Radirungen, von Geßner's Hand mit Liebe und
Begeiſterung gemacht, entſprachen dieſem Inhalte,
ich ſah meine Neigung hier den Hauptinhalt
eines großen, ſchoͤnen und ehrwuͤrdigen Buches
bilden. Als ich aber auf den Brief uͤber die
Landſchaftmalerei gerieth, worin der Verfaſſer
einem jungen Manne guten Rath ertheilt, las ich
denſelben uͤberraſcht vom Anfang bis zum Ende
durch. Die unſchuldige Naivetaͤt dieſer Abhand¬
lung war mir ganz faßlich; die Stelle, wo gera¬
then wird, mannigfaltig gebrochene Feld- und
Bachſteine auf das Zimmer zu tragen und dar¬
nach Felſenſtudien zu machen, entſprach meinem
noch halbkindiſchen Weſen und leuchtete mir un¬
gemein in den Kopf. Ich liebte ſogleich dieſen
Mann und machte ihn zu meinem Propheten.
Nach mehr Buͤchern von ihm ſuchend, fand ich
ein kleines Baͤndchen, nicht von ihm, aber ſeine
Biographie enthaltend Auch dieſes las ich auf
der Stelle ganz durch. Er war ebenfalls ein
hoffnungsloſer Schuͤler geweſen, indeſſen er auf
eigene Fauſt ſchrieb und kuͤnſtleriſchen Beſchaͤfti¬
[40] gungen nachhing. Es war in dem Werklein viel
von Genie und eigener Bahn und ſolchen Din¬
gen die Rede, von Leichtſinn, Drangſal und end¬
licher Verklaͤrung, Ruhm und Gluͤck. Ich ſchlug
es ſtill und gedankenvoll zu, dachte zwar nicht
ſehr tief, war jedoch, wenn auch nicht klar be¬
wußt, fuͤr die Bande geworben.


Es iſt bei der beſten Erziehung nicht zu ver¬
huͤten, daß dieſer folgenreiche und gefaͤhrliche Au¬
genblick nicht uͤber empfaͤngliche junge Haͤupter
komme, unbemerkt von aller Umgebung, und
wohl nur Wenigen iſt es vergoͤnnt, daß ſie erſt
das leidige Wort Genie kennen lernen, nachdem
ſie unbefangen und arglos bereits ein geſundes
Stuͤck Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen hin¬
ter ſich haben. Ja, es iſt uͤberhaupt die Frage,
ob nicht zu dem beſcheidenſten Gelingen eine dichte
Unterlage von bewußten Vorſaͤtzen und allem Ap¬
parate genialer Gruͤbelei gehoͤre, und der Unter¬
ſchied moͤchte oft nur darin beſtehen, daß das
wirkliche Genie dieſen Apparat nicht ſehen laͤßt,
ſondern vorweg verbrennt, waͤhrend das bloß ver¬
meintliche ihn mit großem Aufwande hervorkehrt
[41] und um ſeine mageren Geſtaltungen wirft, wie
einen Theatermantel.


Den beruͤckenden Trank ſchoͤpfte ich jedoch
nicht aus einem anſpruchsvollen und blendenden
Zauberbecher, ſondern aus einer beſcheidenen lieb¬
lichen Hirtenſchaale; denn bei allen Redensarten
war dies Geßner'ſche Weſen durchaus einfacher
und unſchuldiger Natur und fuͤhrte mich fuͤr ein¬
mal nur mit etwas mehr Bewußtſein unter gruͤ¬
nen Baumſchatten und an ſtille Waldquellen.


In der Biographie machte ich auch die Be¬
kanntſchaft mit dem alten Sulzer, welcher in Ber¬
lin des jungen Geßner Goͤnner geweſen; wie ich
nun unter den Buͤchern einige ſtattliche Baͤnde
der »Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte« wahrnahm,
nahm ich ſie als in mein neuentdecktes Gebiet
gehoͤrig in Beſchlag. Dies Buch muß ſeiner Zeit
eine gewaltige Verbreitung gefunden haben, da
man es faſt in allen alten Buͤcherſchraͤnken fin¬
det und es auf allen Auktionen ſpukt und fuͤr
wenig Geld erſtanden werden kann. Wie ich die
encyklopaͤdiſche Einrichtung deſſelben bemerkte,
ſchlug ich flugs den Artikel Landſchaftsmalerei
[42] nach, und als ich ihn geleſen, alle moͤglichen
uͤbrigen Begriffe, die ich theils ſchon gehoͤrt, theils
aus eben dieſem Artikel abgezogen hatte, uͤber
Schulen, Meiſter, Farbe, Licht, Perſpektive und
dergleichen; las dazwiſchen ſchnell einen Artikel
uͤber ein anderes Gebiet, der gerade neben einem
Malerartikel ſtand und mir auffiel, und als der
Mittag herannahte, war mein Kopf von Gelehr¬
ſamkeit vollgepfropft, ich fuͤhlte beinahe ſelbſt den
gravitaͤtiſchen Hochmuth in meinen feſtgeſchloſſe¬
nen Lippen und aufgeſpannten Augen und ſchleppte
ſaͤmmtliche Kunſtliteratur in mein Zimmer hin¬
uͤber zu der Mappe des Junker Felix.


Kaum nahm ich mir nach Tiſche noch Zeit,
bei der Großmutter einen kurzen Beſuch abzuſtat¬
ten, ein Glas Wein zu trinken, welchen ſie ſchon
ſeit Vormittag fuͤr mich bereit gehalten, und ein
kleines Teſtamentchen mit Goldſchnitt und ſilber¬
nem Schloͤßchen, welches nach ihrer Angabe ein
verſpaͤtetes Pathengeſchenk fuͤr meinen ſchon fort¬
gezogenen Vater geweſen, vergeſſen worden und
lange Jahre in ihrem Schranke liegen geblieben
und welches ſie treulich fuͤr mich aufgehoben hatte:
[43] kaum nahm ich mir Zeit, dies ruͤhrende und zier¬
liche Geſchenk einzuſtecken und eilte wieder da¬
von. Die Großmutter ſah mir, ſo weit ihre
ſchwachen Augen reichten, etwas wehmuͤthig nach;
denn ſie hatte mir die heilige Gabe mit beſonde¬
rer Liebe und Feierlichkeit einhaͤndigen wollen.
Aber ich ſchwand ihr eilig aus dem Geſichte, al¬
lein begierig, meine angefachte Kunſteinſicht an
den Mann oder vielmehr an die Baͤume zu
bringen.


Mit einer Mappe und Zubehoͤr verſehen, ſchritt
ich bereits unter den gruͤnen Hallen des Berg¬
waldes hin, jeden Baum betrachtend, aber nir¬
gends eigentlich einen Gegenſtand ſehend, weil
der ſtolze Wald eng verſchlungen, Arm in Arm
ſtand und mir keinen ſeiner Soͤhne einzeln Preis
gab; die Straͤucher und Steine, die Kraͤuter und
Blumen, die Formen des Bodens ſchmiegten und
duckten ſich unter den Schutz der Baͤume und
verbanden ſich uͤberall mit dem großen Ganzen,
welches mir laͤchelnd nachſah und meiner Rath¬
loſigkeit zu ſpotten ſchien. Endlich trat ein ge¬
waltiger Buchbaum mit reichem Stamme und
[44] praͤchtigem Mantel und Krone herausfordernd vor
die verſchraͤnkten Reihen, wie ein Koͤnig aus al¬
ter Zeit, der den Feind zum Einzelkampfe auf¬
ruft. Dieſer Recke war in jedem Aſte und jeder
Laubmaſſe ſo feſt und klar, ſo lebens- und got¬
tesfreudig, daß ſeine Sicherheit mich blendete und
ich mit leichter Muͤhe ſeine Geſtalt bezwingen zu
koͤnnen waͤhnte. Schon ſaß ich vor ihm und
meine Hand lag mit dem Stifte auf dem weißen
Papiere, indeſſen eine geraume Weile verging,
ehe ich mich zu dem erſten Strich entſchließen
konnte; denn je mehr ich den Rieſen an einer be¬
ſtimmten Stelle genauer anſah, deſto unnahbarer
ſchien mir dieſelbe und mit jeder Minute verlor
ich mehr meine Unbefangenheit. Endlich wagte
ich, von unten anfangend, einige Striche und
ſuchte den ſchoͤn gegliederten Fuß des maͤchtigen
Stammes feſtzuhalten; aber was ich machte, war
leben- und bedeutungslos, die Sonnenſtrahlen
ſpielten durch das Laub auf dem Stamme, be¬
leuchteten die markigen Zuͤge und ließen ſie wie¬
der verſchwinden, bald laͤchelte ein grauer Silber¬
fleck, bald eine ſaftige Moosſtelle aus dem Hell¬
[45] dunkel, bald ſchwankte ein aus den Wurzeln
ſproſſendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ
auf der dunkelſten Schattenſeite eine neue mit
Flechten bezogene Linie entdecken, bis Alles wie¬
der verſchwand und neuen Erſcheinungen Raum
gab, waͤhrend der Baum in ſeiner Groͤße immer
gleich ruhig daſtand und in ſeinem Innern ein
geiſterhaftes Fluͤſtern vernehmen ließ. Aber ha¬
ſtig und blindlings zeichnete ich weiter, mich ſelbſt
betruͤgend, baute Lage auf Lage, mich aͤngſtlich
nur an die Partie haltend, welche ich gerade
zeichnete, und gaͤnzlich unfaͤhig, ſie in ein Ver¬
haͤltniß zum Ganzen zu bringen, abgeſehen von
der Formloſigkeit der einzelnen Striche. Die Ge¬
ſtalt auf meinem Papiere wuchs in's Ungeheuer¬
liche, beſonders in die Breite und als ich an die
Krone kam, fand ich keinen Raum mehr fuͤr ſie
und mußte ſie, breit gezogen und niedrig, wie die
Stirne eines Lumpen, auf den unfoͤrmlichen Klum¬
pen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht
am letzten Blatte ſtand, waͤhrend der Fuß unten
im Leeren taumelte. Wie ich aufſah und endlich
das Ganze uͤberflog, grinſte ein laͤcherliches Zerr¬
[46] bild mich an, wie ein Zwerg aus einem Hohl¬
ſpiegel, die lebendige Buche aber ſtrahlte noch
einen Augenblick in noch groͤßerer Majeſtaͤt als
vorher, wie um meine Ohnmacht zu verſpotten;
dann trat die Abendſonne hinter den Berg und
mit ihr verſchwand der Baum im Schatten ſei¬
ner Bruͤder. Ich ſah nichts mehr, als Eine
gruͤne Wirrniß und das Spottbild auf meinen
Knieen. Ich zerriß daſſelbe, und ſo hochmuͤthig
und anſpruchsvoll ich in den Wald gekommen,
ſo kleinlaut und gedemuͤthigt war ich nun. Ich
fuͤhlte mich abgewieſen und hinausgeworfen aus
dem Tempel meiner jugendlichen Hoffnung, der
troͤſtende Inhalt des Lebens, den ich gefunden zu
haben waͤhnte, entſchwand meinem innern Blicke
und ich kam mir nun vor, wie ein wirklicher
Taugenichts, mit welchem wenig anzufangen ſei.
Ich brach verzagt und weinerlich auf, mit ge¬
brochenem Muthe nach einem andern Gegenſtande
ſuchend, welcher ſich barmherziger gegen mich er¬
wieſe. Allein die Natur, mehr und mehr ſich
verdunkelnd und verſchmelzend, ließ mir kein Al¬
moſen ab; in meiner Bedraͤngniß that ſich mir
[47] das Wort kund »Aller Anfang iſt ſchwer« und
mit demſelben die Einſicht, daß ich ja erſt jetzt
anfange und dieſe Muͤhſal eben den Unterſchied
von dem fruͤheren Spielwerke begruͤnde. Aber
dieſe Einſicht ſtimmte mich nur trauriger, da mir
Muͤhſeligkeit und ſaurer Fleiß bisher ſpaniſche
Doͤrfer geweſen und keineswegs ſehr verlockend,
vielmehr der Arbeit die Seele und die freudige
Luſt zu nehmen ſchienen. Ich nahm meine Zu¬
flucht endlich wieder einmal zu Gott, der mir im
Rauſchen des Waldes und in meinem eingebilde¬
ten Elende wieder nahe getreten, und bat ihn
flehendlich, mir zu helfen um meiner Mutter wil¬
len, deren ſorgenvoller Einſamkeit ich nun auch
gedachte.


Da traf ich auf eine junge Eſche, welche mit¬
ten in einer Waldluͤcke auf einem niedrigen Erd¬
walle emporwuchs, von einer ſickernden Quelle
getraͤnkt. Das Baͤumchen hatte einen ſchwanken
Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben
eine zierliche Laubkrone, deren regelmaͤßig gereihte
Blaͤtter zu zaͤhlen waren und ſich, ſowie der
Stamm, einfach, deutlich und anmuthig auf das
[48] klare Gold des Abendhimmels zeichneten. Weil
das Licht hinter der Pflanze war, ſah man nur
den ſcharfen Umriß des Schattenbildes, es ſchien
wie abſichtlich zur Uebung eines Schuͤlers hinge¬
ſtellt.


Ich ſetzte mich noch einmal hin und wollte
flugs das kindliche Staͤmmchen mit zwei paralle¬
len Linien auf mein Papier ſtehlen; aber noch
einmal wurde ich gehoͤhnt, indem der einfache,
gruͤnende Stab im ſelben Augenblicke, wo ich ihn
zu zeichnen und genauer anzuſehen begann, eine
unendliche Feinheit und Mannigfaltigkeit der Be¬
wegung annahm. Die beiden aufſtrebenden Li¬
nien ſchmiegten ſich in allen kaum merklichen
Biegungen ſo ſtreng an einander, ſie verjuͤngten
ſich nach oben ſo fein und die jungen Aeſte gin¬
gen endlich in ſo gemeſſenen Winkeln daraus her¬
vor, daß um kein Haar abgewichen werden durfte,
wenn das Baͤumchen ſeine ſchoͤne Geſtalt behal¬
ten ſollte. Doch nahm ich mich zuſammen und
klammerte mich aͤngſtlich und aufmerkſam an jede
Bewegung meines Vorbildes, woraus endlich
nicht eine ſichere und elegante Skizze, ſondern ein
[49] zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervor¬
ging. Ich fuͤgte, einmal im Zuge, mit Andacht
die naͤchſten Graͤſer und Wuͤrzelchen des Bodens
hinzu, und ſah nun auf meinem Blatte eines jener
frommen nazareniſchen Stengelbaͤumchen, welche
auf den Bildern der alten Kirchenmaler und
ihrer heutigen Epigonen den Horizont ſo anmu¬
thig und naiv durchſchneiden. Ich war zufrieden
mit meiner beſcheidenen Arbeit und betrachtete ſie
noch lange abwechſelnd mit der ſchlanken Eſche,
die ſich im leiſen Abendhauche wiegte und mir
wie ein freundlicher Himmelsbote erſchien. Als
ob ich Wunder was verrichtet hatte, zog ich hoch
vergnuͤgt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten
begierig waren, die Fruͤchte meiner mit ſo viel
Anſpruch unternommenen Waldfahrt zu ſehen.
Nachdem ich aber mein Baͤumlein mit ſeinen
hoͤchſtens vier Dutzend Blaͤttern hervorgezogen,
loͤſte ſich die Erwartung in ein allgemeines Laͤ¬
cheln auf, welches bei den Unbefangenſten zum
Gelaͤchter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß
man doch gleich ein junges Eſchchen erkannte,
und er munterte mich auf, unverdroſſen fortzu¬
II. 4[50] fahren und die Waldbaͤume recht zu ſtudiren,
wozu er mir als Forſtmann behuͤlflich ſein wolle.
Er beſaß noch ſo viel ſtaͤdtiſche Erinnerung, daß
ihm dergleichen nicht laͤcherlich vorkam; auch
mochten leidenſchaftliche Jaͤger von jeher die Ma¬
lerei wohl leiden, inſofern ſie den Schauplatz
ihrer Freuden und ihre Thaten ſelbſt verherrlicht.
Daher begann er nach dem Abendeſſen noch ſo¬
gleich einen Kurſus mit mir und ſprach von den
Eigenthuͤmlichkeiten der Baͤume und von den
Stellen, wo ich die lehrreichſten Exemplare finden
wuͤrde. Zuvoͤrderſt aber empfahl er mir, die
Studien des Junkers Felix zu kopiren, was ich
an den folgenden Tagen mit großem Eifer that,
indeſſen wir an den ſchoͤnen Abenden unſere Re¬
kognoszirungen fuͤr die naͤchſte Jagdzeit fortſetzten
und dabei die reizendſten Gruͤnde und Hoͤhen
durchſtreiften, umgeben und begleitet von der
reichſten Baumwelt.


So ging die erſte Woche meines laͤndlichen
Aufenthaltes angenehm zu Ende, und um dieſe
Zeit wußte ich ſchon die meiſten Baͤume von
einander zu unterſcheiden, und freute mich, die
[51] gruͤnen Geſellen mit ihren Namen begruͤßen zu
koͤnnen; nur hinſichtlich der reichen Kraͤuterwelt
des feuchten oder trockenen Bodens bedauerte ich
erſt jetzt wieder lebhaft die Unterbrechung jener
botaniſchen Anfaͤnge in der Schule, da ich wohl
fuͤhlte, daß fuͤr die Kenntniß dieſer kleinen, aber
weit mannigfaltigeren Welt einige grobe Umriſſe
nicht genuͤgten, und doch haͤtte ich ſo gern die
Namen und Eigenſchaften aller der bluͤhenden
Dinge gekannt, welche den Boden bedeckten.


Auf den erſten Sonntag meiner Anweſenheit
war ſchon ein Beſuch verabredet worden, welchen
wir jungen Leute hinter dem Walde abſtatten
wollten. Dort wohnte auf einem einſamen und
abgelegenen Hofe ein Bruder meiner Muhme mit
einer jungen Tochter, welche mit meinen Baſen
eine eifrige Maͤdchenfreundſchaft pflag. Ihr Va¬
ter war fruͤher Dorfſchulmeiſter geweſen, hatte
aber nach dem Tode ſeiner Frau ſich in jenen
beſchaulichen Waldhof zuruͤckgezogen, da er ein
hinlaͤngliches Vermoͤgen beſaß und das gerade
Gegentheil meines Oheims darſtellte. Waͤhrend
Dieſer, von ſtaͤdtiſcher Abkunft und in einigen
4 *[52] geiſtlichen Studien aufgewachſen, dieſes Alles
hinter ſich geworfen und vergeſſen hatte, um ſich
ganz der braunen Ackererde und dem wilden
Forſte hinzugeben, ſtrebte Jener, von baͤueriſchem
Herkommen und duͤrftiger Bildung, allein nach
milden und feinen Sitten, nach dem Leben und
Ruhme eines Weiſen und Gerechten, und vertiefte
ſich in beſchauliche geiſtliche und philoſophiſche
Spekulationen, betrachtete die Natur nach An¬
leitung allerlei ſeltſamer Buͤcher, und freute ſich,
vernuͤnftige Geſpraͤche anzuknuͤpfen, ſo oft ſich
hierzu die Gelegenheit bot, wobei er eine große
Artigkeit zu entfalten beſtrebt war. Sein Toͤch¬
terchen, ungefaͤhr von vierzehn Jahren, lebte ſtill
und fein in dem milden Lichte ſolcher Geſinnungs¬
weiſe, und ſtellte nach den Wuͤnſchen ihres Va¬
ters eher ein zartes Pfarrerskind vor, denn eine
Landmannstochter, indeſſen die weibliche Nach¬
kommenſchaft meines Oheims, zur derben Arbeit
gehalten, einen ſtarken Anhauch von Regen und
Sonnenſchein zeigte, welcher ſie aber viel eher
zierte als entſtellte und dem Glanze ihrer friſchen
Augen entſprach.


[53]

Meine drei Baſen, von zwanzig, ſechszehn
und vierzehn Jahren, mit ſtaͤdtiſch verwaͤlſchten
Namen: Margot, Liſette und Caton, hielten am
Sonntag Nachmittag lange Conferenz in ihren
Kaͤmmerchen, einander wechſelſeitig beſuchend und
die Thuͤren hinter ſich abſchließend. Wir Bur¬
ſchen, deren Toilette laͤngſt beendigt war, harrten
ungeduldig und konnten nur durch Schluͤſſelloͤcher
und Thuͤrſpalten bemerken, daß die Kleider¬
ſchraͤnke weit geoͤffnet und die Maͤdchen mit wich¬
tigen Gebehrden rathſchlagend davor ſtanden. Ein
ſtarker Geruch verſchiedener Spezereien verbreitete
ſich und bildete mit den neuen Stoffen und Sie¬
benſaͤchelchen, welche in den Schraͤnken lagen,
jenen behaglichen Duft, der ſich aus geoͤffneten
Frauenſchraͤnken oder ſonſtigen Mobilien entwi¬
ckelt. Um uns die Zeit zu vertreiben, begannen
wir die andaͤchtigen Toͤchter zu necken und dran¬
gen endlich mit hellem Haufen in ihre Mitte,
uͤber einen maͤchtigen Schrank herfallend, um die
Naſen in die hundert Schaͤchtelchen, Buͤchschen
und Heimlichkeiten zu ſtecken. Aber mit dem
Muthe wilder Loͤwinnen, denen man die Jungen
[54] rauben will, wurden wir hinausgeworfen und
fuͤhrten vor den Thuͤren einen vergeblichen Kampf,
dieſelben wieder aufzubrechen. Da gingen ſie mit
einem Male nach einer kurzen Stille von ſelber
auf und heraustraten, verſchaͤmt und unwillig
und doch ſiegbewußt, die drei armen Kinder,
bunt und praͤchtig, nach der vorjaͤhrigen Mode
gekleidet, mit vorweltlichen Paraſols und wun¬
derbar geformten Ridikuͤls, der eine einem
Sterne gleich, der andere einem Halbmonde, der
dritte ein Mittelding zwiſchen Saͤbeltaſche und
Lyra.


Dies Alles mußte um ſo groͤßeren Eindruck
machen, wenn man bedachte, daß die guten Maͤd¬
chen Autodidaktinnen waren und in Sachen des
Putzes ganz allein und rathlos in der Welt da¬
ſtanden; denn ihre Mutter hatte einen Abſcheu
vor aller Stadtkleidung, und riß jedesmal, wenn
ſie aus der Kirche kam, die furchtbare Horia¬
haube, welche ſie als Pfarrfrau trug, ſogleich
herunter. Die Damen des neuen Pfarrers, außer¬
dem die einzigen im Dorfe, waren ſtolz, unzu¬
gaͤnglich und bezogen ihren Putz fertig aus der
[55] Stadt. So waren meine Baſen ganz auf ſich
ſelbſt, auf eine intelligente Dorfnaͤtherin und auf
einige Traditionen des Hauſes gewieſen, welche
ſie als eifrige Forſcherinnen der dunklen Vergan¬
genheit entlockten. Deswegen waren ihre Erfolge
doppelt achtungswerth, und wenn wir ſie mit
einem ſpoͤttiſchen Ah! empfingen bei ihrer heu¬
tigen Erſcheinung, ſo war dieſer Spott nur ein
verſtellter und die Maske einer aufrichtigen Be¬
wunderung.


Indeſſen entſprach unſere Tracht an kuͤhner
und eleganter Miſchung vollkommen derjenigen
der Jungfrauen. Die Vettern trugen Jacken von
ziemlich grobem Tuche, welchen aber der Dorf¬
ſchneider in Betracht ihres Ranges einen kecken,
ja hoͤchſt gewagten Zuſchnitt gegeben hatte, indem
er in die tiefſten Abgruͤnde ſeiner Phantaſie und
Erfahrung hinuntergeſtiegen. Dieſe Jacken wa¬
ren mit einer Unzahl blanker Knoͤpfe beſetzt, auf
welchen die Thiere des Waldes gepreßt in jagd¬
gerechten Spruͤngen erſchienen, und welche der
Oheim einſt bei guter Gelegenheit en gros ein¬
gehandelt und ſich ſo fuͤr Kind und [Kindeskind]
[56] verſehen hatte. Die abgefallenen Stuͤcke dieſer
Zierrath gingen unter der Dorfjugend als gang¬
bare Muͤnze und wogen beim Spiele ſechs Horn¬
oder Bleiknoͤpfe auf. Daher mochte es kommen,
daß die Jacken des juͤngſten Sohnes, welcher
noch in lebhaftem Verkehre mit den Knopfkapi¬
taliſten ſtand, aͤußerlich immer dieſer Zierde be¬
raubt waren und ſie dagegen im Innern ihrer
Taſchen verbargen, daß ſogar den Kleidungs¬
ſtuͤcken der aͤlteren Bruͤder mehr Knoͤpfe abgin¬
gen, als nach der Haltbarkeit des derben Zwir¬
nes jenes Jackendichters zu berechnen war. Ich
ſelber trug zu meinem gruͤnen Soldatenrock mit
rothen Schnuͤrchen weiße Beinkleider, keine Weſte
uͤber dem burſchikoſen Hemde, hingegen das rothe
Seidentuch der Großmutter maleriſch umgeſchlun¬
gen, und uͤberdies hing die goldene Uhr meines
Vaters, die ich ererbt, aber nie recht in Ordnung
zu halten verſtand, an einem tuͤchtigen blauen
Bande mit geſtickten Blumen, das ich den
Schachteln meiner Mutter entnommen hatte. Von
der Muͤtze hatte ich laͤngſt den philiſterioͤſen Schirm
abgetrennt, daß ſie die Stirn frei ließ, und ich
[57] haͤtte wie ein vollendeter Jahrmarktsburſche aus¬
geſehen, wenn nicht die Unſchuld und Schuͤchtern¬
heit des Alters den unbeſcheidenen Aufzug gemil¬
dert haͤtten. Menſchen, welche etwas Beſſeres
und Tieferes ahnen und wuͤnſchen, werden ſich,
wie ich glaube, mehr und mehr aller laͤcherlichen
Aeußerlichkeiten enthalten, je mehr ſie dem ge¬
ahnten Inhalte durch Erfahrung und That nahe
treten; je mehr ſie aber noch davon entfernt ſind,
deſto aͤngſtlicher klammern ſie ſich an ſolche
Schnoͤrkeleien. Allein gerade dieſe Aeußerlichkeit
verhindert oft das Innere, ſich raſch zu ent¬
wickeln, wenn nicht ein Mann und Vater vor¬
handen iſt, welcher ſie mit geſundem Spotte be¬
ſchneidet und unterdruͤckt, indeſſen er dem auf¬
ſtrebenden Sohne das Wahre mit feſter Hand
vorzeichnet.


Man konnte auf zwei Wegen zu der Woh¬
nung des alten Schulmeiſters gelangen; entweder
mußten wir einen lang gedehnten Berg hinter
dem Dorfe erſteigen und laͤngs auf demſelben
fortgehend, endlich jenſeits niederſteigen, wo wie¬
der ein Thal lag, aͤhnlich dem unſerigen, nur
[58] kleiner und runder und beinahe ganz mit einem
tiefen dunklen See erfuͤllt; oder wir konnten
laͤngs des Fluſſes unſer Thal durchwandern und
mit dem in Gehoͤlzen ſich verlierenden Waſſer
um den Berg herum an den See gelangen, in
welchen jenes ſich ergoß und an welchem das be¬
freundete Haus lag.


Wir zogen es vor, mit dem kurzweiligen
Fluͤßchen den Hinweg zuruͤckzulegen und erſt in
der Abendkuͤhle uͤber den Berg heimzukehren,
und unſere bunte, weithin glaͤnzende Geſellſchaft
bewegte ſich bald durch das gruͤne Thal hin, bis
wir in eine reizende Wildniß gelangten, wo der
Wald von beiden Seiten an das Gewaͤſſer nie¬
derſtieg und daſſelbe kuͤhl und dunkel uͤberſchattete.
Bald faßte er es mit undurchdringlichen Laub¬
waͤnden ein, daß wir die uͤberhangenden Zweige
zuruͤckbiegen mußten, bald weitete er ſich aus
und ließ eine Schaar lichter, hoher Tannen auf
ſonnigem Boden vorruͤcken, dann lagen herab¬
geſtuͤrzte Felsbloͤcke am Rande und im Waſſer
und verurſachten Waſſerfaͤlle, indeſſen zuruͤck¬
gebliebene Truͤmmer aus dem Gebuͤſche der Ab¬
[59] haͤnge hervorragten; kleine Seitenwege lockten in's
Dunkel und uͤberall enthuͤllten ſich die lieblichſten
Geheimniſſe. Die rothen, blauen und weißen
Gewaͤnder der Maͤdchen leuchteten herrlich in dem
dunklen Gruͤn, die Vettern ſprangen von Stein
zu Stein, daß ihre Goldknoͤpfe aufblitzten und
mit den Silberkringeln der Wellen wetteiferten.
Allerhand Gethier machte ſich ſichtbar, hier ſahen
wir die Federn einer Taube, die unzweifelhaft
von einem Raubvogel zerriſſen worden, dort
ſchoß eine Schlange durch die Uferwellen uͤber
die glatten Kieſel hin, und in einer abgetrennten
Untiefe hatte ſich eine ſchimmernde Forelle gefan¬
gen, welche mit ihrer Schnauze aͤngſtlich an den
abſchließenden Steinen herumtaſtete, bei unſerer
Annaͤherung aber einen Salto mortale machte
und im ſtroͤmenden Elemente verſchwand.


So waren wir unbemerkt um den Berg her¬
umgekommen, die holde Wildniß erweiterte ſich
und ließ mit einem Male den ſtillen dunkel¬
blauen, mit Silber beſprengten See ſehen, der
mit ſeiner friedevollen Umgebung im lautloſen
Glanze eines Sonntagnachmittages ruhte. Ein
[60] ſchmaler Streifen bebauter Erde zog ſich um den
See herum, hinter demſelben ſetzte ſich uͤberall
der anſteigende Wald fort, welcher aber da und
dort wieder ein ſtilles Ackerfeld bergen mußte, da
hier und da ein rothes Dach oder eine blaue
Rauchſaͤule aus dem Dickicht emporſtieg. Nur
auf der Sonnenſeite lag ein anſehnlicher Wein¬
berg und zu Fuͤßen deſſelben das Haus des
Schulmeiſters, dicht am See, unmittelbar uͤber
den hoͤchſten Weinreihen aber hing der reine tiefe
Himmel, und dieſer ſpiegelte ſich in dem glatten
Waſſer, bis wo er durch den gelben Kornſtreifen,
die ſmaragdenen Kleefelder und den dahinter lie¬
genden Wald, welche alle ſich gaͤnzlich unveraͤn¬
dert in der Fluth auf den Kopf ſtellten, begraͤnzt
wurde. Das Haus war weiß getuͤnſcht, das
Fachwerk roth angeſtrichen und die Fenſterladen
mit großen Muſcheln und Blumen bemalt, aus
den Fenſtern wehten weiße Gardinen und aus
der Hausthuͤr trat, ein zierliches Treppchen her¬
unter, das junge Baͤschen, ſchlank und zart wie
eine Narziſſe, in einem weißen Roͤckchen und mit
einem himmelblauen Bande geguͤrtet, mit gold¬
[61] braunen Haaren, blauen Aeuglein, einer etwas
eigenſinnigen Stirne und einem kleinen laͤchelnden
Muͤndchen. Auf den ſchmalen Wangen wallte
ein Erroͤthen uͤber das andere hin, das feine
Glockenſtimmchen klang kaum vernehmbar und
verhallte alle Augenblicke wieder. Durch ein duf¬
tendes Roſen- und Nelkengaͤrtchen fuͤhrte uns
Anna, nachdem ſie ſich mit meinen Baſen ſo
zaͤrtlich und feierlich begruͤßt hatte, als ob ſie
einander ein Jahrzehnt nicht geſehen, in das vor
Reinlichkeit und Aufgeraͤumtheit widerhallende
Haus, wo uns ihr Vater, in einem ſaubern
grauen Fracke und weißer Halsbinde, in geſtickten
Pantoffeln einhergehend, herzlich und zufrieden
willkommen hieß. Er hatte den beſchaulichen
Sonntag uͤber Buͤchern zugebracht, welche noch
auf dem Tiſche lagen, und mochte nun froh ſein,
unverhofft eine ſo huͤbſche Anzahl Zuhoͤrer fuͤr
ſeine Beredſamkeit vor ſich zu ſehen. Als ich
ihm vorgeſtellt wurde, ſchien er ſich beſonders zu
freuen, ſeine Manieren und gelehrte Reden mit
Anerkennung an den Mann bringen zu koͤnnen,
da er mich mitten aus dem bluͤhendſten hoͤheren
[62] Schulweſen herkommend vermuthete. Er hatte
auch alle Urſache, ſich an mich zu halten; denn
ſchon hatten meine Vettern ſich aus dem Staube
gemacht, noch ehe der Schulmeiſter einen Stoff
ergriffen, und ich ſah, wie ſie draußen am Ufer
alle drei ihre Koͤpfe tief in die Oeffnung eines
Fiſchkaſtens ſteckten, daß man nichts von ihnen
ſehen konnte als ihre ſechs Beine. Sie unter¬
ſuchten aufmerkſam den Fiſchbeſtand ihres Oheims,
indeſſen die Schweſtern ſeinem Toͤchterchen und
einer alten Magd in Kuͤche, Keller und Garten
gefolgt waren.


Der Schulmeiſter merkte bald, daß ich ein
andaͤchtiger und beſcheidener Zuhoͤrer und auf
ſeine Fragen nicht ohne Geſchick einzugehen im
Stande ſei. Freilich nahm er das ſtille Daſitzen,
welches nicht immer auf die ſummenden Worte
achtet und ſie, etwas heuchleriſch, als angenehmes
Wiegenlied zu einem anderweitigen Traͤumen be¬
nutzt, fuͤr baare Muͤnze, um ſo mehr, als ich in
ſolcher Lage doch immer wach genug war, auf
die Uebergaͤnge zu merken. Nachdem er mich
uͤber die neuen Schuleinrichtungen angelegentlich
[63] befragt, fuhr er fort: »Aber etwas bunt muß es
doch noch zugehen! Da habe ich eben in der Zei¬
tung geleſen, daß in einer Abtheilung unſerer
Cantonsſchule die bekannten Stoͤrungen endlich
dadurch gehoben worden, daß man den unprak¬
tiſchen Lehrer und den unnuͤtzeſten Schuͤler, einen
wahren kleinen Revolutionaͤr, zugleich entfernt
und dadurch die Ruhe gruͤndlich hergeſtellt habe.
Daß man nun den Lehrer entlaſſen hat, ſcheint
mir ganz vernuͤnftig, wenn man ihn nur ander¬
weitig verſorgt; hingegen mit dem Schuͤler will
es mir nicht recht einleuchten, es will mich be¬
duͤnken, als ob man demſelben damit verdeutet
habe: Du biſt nun außer unſere Gemeinſchaft
geſtellt und magſt zuſehen, was Du aus Dir
machſt! Dies iſt nicht chriſtlich gehandelt und
unſer Herr und Meiſter wuͤrde das verirrte
Schaf gewiß zunaͤchſt unter die Falten ſeines
Mantels genommen haben. Kennt ihr, liebes
Vettermaͤnnchen, den verſtoßenen Knaben?«


Der Mann weckte durch dieſe Frage die pein¬
vollen Erinnerungen und durch ihre Faſſung zu¬
gleich eine tiefe Wehmuth in mir auf, und ich
[64] antwortete kleinlaut und eine Thraͤne im Auge,
ich waͤre es ſelbſt.


Ganz erſtaunt trat er einen Schritt zuruͤck
und betrachtete mich mit großen Augen; er war
verlegen, einen angehenden Teufel in ſo harm¬
loſer Geſtalt ſo nahe vor ſich zu ſehen. Doch
hatte ich ihn ſchon zu ſehr fuͤr mich eingenom¬
men, als daß dieſe Verlegenheit zu lange an¬
dauern konnte, und mein eigenes Benehmen
mochte ihn belehren, daß er mit ſeiner vorher
ausgeſprochenen milden Anſicht nicht das Un¬
rechte getroffen.


»Ich habe mir es doch gleich gedacht,« ver¬
ſetzte er, »daß die Sache ein Haͤklein habe; denn
ich ſehe und will es gern glauben, daß der Vet¬
termann ein junger Menſch iſt, mit dem ſich ein
vernuͤnftiges Wort reden laͤßt! Doch erzaͤhlt mir
nun den Verlauf dieſer ſchlimmen Geſchichte recht
getreulich, es nimmt mich ſehr Wunder, wie ſich
darin die Schuld und das Unrecht vertheilen!«


Nachdem ich dem freundlichen Schulmeiſter
den ganzen Hergang aufrichtig und weitlaͤufig,
zuletzt etwas leidenſchaftlich berichtet, da ich zum
[65] erſten Mal ſeither mein Herz leeren konnte, be¬
ſann er ſich eine Weile, indem er verſchiedene
Hm! und So ſo! hervorſtieß, und fuhr dann
fort:


»Das iſt ein ganz eigenes Geſchick! Zuerſt
muͤſſet Ihr nun Euch nicht uͤberheben und etwa
einen hochmuͤthigen Groll auf das Erlittene be¬
gruͤnden, welcher Euch fuͤr das ganze Leben ſchaͤd¬
lich ſein koͤnnte! Ihr muͤſſet bedenken, daß Ihr
doch das Unrecht und den Muthwillen der Uebri¬
gen getheilt habt und Euch hiernach gluͤcklich
preiſen, daß Ihr in ſo fruͤhem Alter ſchon von
Gott ſelbſt eine ernſte Strafe und Belehrung
empfangen; denn das, was Euch widerfahren,
iſt nicht die Gerechtigkeit der Menſchen, ſondern
ein unmittelbares Eingreifen des Herrn der Welt,
womit er Euch fruͤhzeitig gewuͤrdigt und gezeigt
hat, daß er mit Euch nicht zu ſpaßen gedenkt,
ſondern Euch ſeine eigenen ſtrengen Wege fuͤhren
will. Nachdem Ihr alſo dieſes ſcheinbare Un¬
gluͤck dankbar und reuevoll angenommen und
das vermeintliche Unrecht vergeben und vergeſſen,
muͤßt Ihr allein darauf bedacht ſein, dem Ernſte
II. 5[66] dieſes Erlebniſſes entſprechend fortzuleben und
gewaͤrtig, daß jede Abweichung von der Bahn
des Rechten und Guten ſich an Euch empfind¬
licher raͤchen werde, als an Anderen, auf daß
Ihr dadurch in der Uebung des Guten gerade
fleißiger und ſtaͤrker werdet, als Viele, denen
nicht Solches geſchieht. Nur auf dieſe Weiſe
vermag das Ereigniß etwas Heilbringendes und
der Troſt uͤber ſich ſelbſt zu ſein, ohne dies aber
wuͤrde es nur eine fatale und aͤrgerliche Geſchichte
bleiben, mit welcher ein ſo junges Leben zu be¬
laden nicht die Abſicht und das Vergnuͤgen Got¬
tes ſein kann. Freilich iſt nun die Wahl eines
Berufes das Naͤchſte und Wichtigſte, und wer
weiß, ob nicht Euere Beſtimmung iſt, gerade
durch dieſe ploͤtzliche Bedraͤngniß Euch fruͤher zu
entſcheiden, als ſonſt geſchehen waͤre! Gewiß
habt Ihr ſchon die Luſt zu irgend einem beſon¬
deren Berufe in Euch verſpuͤrt?«


Dieſe Reden gefielen mir ausnehmend wohl;
obgleich ich den ernſten moraliſchen Sinn der¬
ſelben nicht ſonderlich faßte, ſo ergriff ich doch
den Gedanken an eine hoͤhere Beſtimmung und
[67] Leitung Gottes hoͤchſt lebendig und duͤnkte mich
gluͤcklich, mich unter dem beſonderen Schutze
Gottes in meinen Neigungen zu wiſſen; es ging
mir ein heller Stern auf und ich ſagte unum¬
wunden: »Ja, ich moͤchte ein Maler werden!«


Bei dieſer Antwort ſtutzte mein neuer Freund
faſt noch mehr, als bei dem fruͤheren Geſtaͤndniſſe,
weil er in ſeiner Abgeſchiedenheit von allem Ver¬
kehre der Kultur am wenigſten an dies Wort
gedacht hatte. Doch beſann er ſich ebenfalls
ſchnell und ſprach:


»Ein Maler? Ei ſieh, das iſt ſeltſam! Doch
laſſet ſehen! Es hat allerdings eine Zeit gegeben,
wo es Maler gegeben hat, welche von goͤttlichem
Geiſte erfuͤllt waren, welche den duͤrſtenden Voͤl¬
kern einen Trunk himmliſchen Lebens reichten in
Ermangelung des lebendigen Wortes, das wir
jetzt haben. Allein ſo wie ſchon dazumal dieſe
Kunſt nur zu bald ein eitler Flitterkram der hoch¬
muͤthigen Kirche geworden, ſo ſcheint ſie mir
heutzutage vollends ohne inneren Kern und ein
bloßes Gebaren der menſchlichen Eitelkeit und
Fratzenhaftigkeit zu ſein. Ich habe zwar durch¬
[68] aus keine Kenntniß von den Kuͤnſten, wie ſie
jetzo in der Welt hanthiert werden, kann mir
aber deſto weniger vorſtellen, wie ſich ein ernſt¬
haftiges und geiſtiges Leben dabei fuͤhren laͤßt!
Habt Ihr denn ſo große Luſt und Geſchick, aller¬
lei unnuͤtzes Bildwerk zu verfertigen oder wohl
gar Menſchengeſichter fuͤr Bezahlung abzubilden?«


»Zuvoͤrderſt will ich ein Landſchaftsmaler wer¬
den,« erwiederte ich, »und habe dazu allerdings
große Luſt und hoffe, der liebe Gott werde mir
auch das Geſchick geben!«


»Ein Landſchaftsmaler? das heißt, merkwuͤr¬
dige Staͤdte, Gebirge und Weltgegenden abbil¬
den? Hm! Dieſes ſcheint mir nicht ſo uͤbel zu
ſein, da lernt man wenigſtens die Welt kennen
und kommt weit umher; Laͤnder, Meere und
allenfalls auch die Menſchen dazu; aber dazu
gehoͤrt beſonderer Muth und eigenes Gluͤck, wie
mich duͤnkt, und vor Allem ſoll, meines Erachtens,
ein junger Menſch darauf denken, wie er im
Lande bleiben und ſich redlich naͤhren, auch ſeinen
Mitbuͤrgern ſich nuͤtzlich und ſeinen Eltern dienſt¬
bar erweiſen kann!«


[69]

»Die Landſchaftsmalerei, die ich im Sinne
habe, iſt nicht ſowohl, was Ihr hiermit darunter
verſteht, Herr Vetter! als etwas ganz Anderes!«


»Nun, und das waͤre?«


»Sie beſteht nicht darin, daß man merkwuͤr¬
dige und beruͤhmte Orte aufſucht und nachmacht,
ſondern darin, daß man die ſtille Herrlichkeit und
Schoͤnheit der Natur betrachtet und abzubilden
ſucht, manchmal eine ganze Ausſicht, wie dieſen
See mit den Waͤldern und Bergen, manchmal
einen einzigen Baum, ja nur ein Stuͤcklein Waſ¬
ſer und Himmel.«


Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, ſon¬
dern auf eine Fortſetzung zu warten ſchien, fuhr
ich auch fort und gerieth nun meinerſeits in eine
Begeiſterung und Beredſamkeit, die ich fruͤher
nicht gekannt hatte. Der zwiſchen Sonnenglanz
und Waldesſchatten ſchwebende See ruhte maje¬
ſtaͤtiſch vor den klaren Fenſtern, von fernem
Bergruͤcken ſchienen einige ſchlanke Eichen, die in
die himmelhohe Sonntagsluft ſtiegen, mir zuzu¬
winken, fern, leiſe, aber eindringlich; ich blickte
[70] unverwandt nach ihnen, wie auf eine hoͤhere Er¬
ſcheinung, indem ich ſprach:


»Warum ſollte dies nicht ein edler und ſchoͤ¬
ner Beruf ſein, immer und allein vor den Wer¬
ken Gottes zu ſitzen, die ſich noch am heutigen
Tag in ihrer Unſchuld und ganzen Schoͤnheit
erhalten haben, ſie zu erkennen und zu verehren
und ihn dadurch anzubeten, daß man ſie in ihrem
Frieden wieder zu geben verſucht? Wenn man
nur ein einfaͤltiges Straͤuchlein abzeichnet, ſo
empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige,
weil derſelbe ſo gewachſen iſt und nicht anders
nach den Geſetzen des Schoͤpfers; wenn man
aber erſt faͤhig iſt, einen ganzen Wald oder ein
weites Feld mit ſeinem Himmel wahr und treu
zu malen, und wenn man endlich dergleichen aus
ſeinem Inneren ſelbſt hervorbringen kann, ohne
Vorbild, Waͤlder, Thaͤler und Gebirgszuͤge, oder
nur kleine Erdwinkel, frei und neu, und doch
nicht anders, als ob ſie irgendwo gewachſen und
ſichtbar ſein muͤßten, ſo duͤnkt mir dieſe Kunſt
eine Art wahren Nachgenuſſes der Schoͤpfung zu
ſein. Da laͤſſet man die Baͤume in den Himmel
[71] wachſen und daruͤber die ſchoͤnſten Wolken ziehen
und beides ſich in klaren Gewaͤſſern ſpiegeln!
Man ſpricht, es werde Licht! und ſtreut den
Sonnenſchein beliebig uͤber Kraͤuter und Steine
und laͤßt ihn unter ſchattigen Baͤumen erloͤſchen.
Man reckt die Hand aus und es ſteht ein Un¬
wetter da, welches die braune Erde beaͤngſtigt
und laͤßt nachher die Sonne in Purpur unter¬
gehen! Und dies Alles, ohne ſich mit ſchlechten
Menſchen vertragen zu muͤſſen; es iſt kein Mi߬
ton im ganzen Thun!«


»Giebt es denn eine ſolche Art der Kunſt
und wird ſie anerkannt?« fragte der gute Schul¬
meiſter ganz verbluͤfft.


»Ja wohl,« erwiederte ich, »in den Staͤdten,
in den Haͤuſern der Vornehmen, da haͤngen
ſchoͤne glaͤnzende Gemaͤlde, welche meiſtens ſtille
gruͤne Wildniſſe vorſtellen, ſo reizend und treff¬
lich gemalt, als ſaͤhe man in Gottes freie Natur,
und die eingeſchloſſenen, gefangenen Menſchen
erfriſchen ihre Augen an den unſchuldigen Bil¬
dern und naͤhren Diejenigen reichlich, welche ſie
zu Stande bringen!«


[72]

Der Schulmeiſter trat an das Fenſter und
ſchaute etwas uͤberraſcht hinaus.


»Alſo dieſer kleine See z. B., dieſe meine
holdſelige Einſamkeit wuͤrde ein genugſamer
Gegenſtand ſein fuͤr die Kunſt, obgleich Niemand
den Namen kennte, bloß wegen der Milde und
Macht Gottes, die ſich auch hier offenbart?«


»Ja gewiß! ich hoffe noch, Euch dieſen See
mit ſeinem dunklen Ufer, mit dieſer Abendſonne
ſo zu malen, daß Ihr mit Vergnuͤgen dieſen
Nachmittag darin erkennen ſollt und ſelbſt ſagen
muͤßt, es ſei weiter hierzu nichts noͤthig, um be¬
deutend zu ſein, d. h. wenn ich ein Maler wer¬
den kann und etwas Rechtes lerne!« ſetzte ich
hinzu.


»Jetzt habe ich alter Menſch wieder etwas
Neues gelernt,« ſagte mein Vetter geruͤhrt, »es
iſt doch hoͤchſt merkwuͤrdig, in wie vielen Weiſen
der menſchliche Geiſt ſich aͤußern kann. Mir
ſcheint, Ihr ſeid auf einem guten und frommen
Wege, und wenn Ihr ein ſolches Stuͤck zu
Stande bringen koͤnnt, ſo moͤchte es leichtlich ſo
verdienſtvoll ſein, als ein gutes geiſtliches Fruͤh¬
[73] lings- oder Erntelied. »He, ihr Knaben!« rief er
den jungen Fiſchkennern zu, welche immer noch an
ihrem Geſchaͤfte waren, »holt ein Gefaͤß und ſucht
ein tuͤchtiges Gericht Fiſche aus, Aale, Forellen
oder Hechte, daß die Weiber ſie backen koͤnnen!«


Indeſſen waren die Maͤdchen wieder in die
Stube gekommen und hatten theilweiſe unſer
Geſpraͤch angehoͤrt, ſo daß der redſelige Mann
nicht verlegen war, auf einen neuen Stoff uͤber¬
zugehen und Alle fuͤr denſelben pflichtig zu ma¬
chen. Ich ſelbſt wurde wieder ſtill und ziemlich
befangen, da die zierliche Anna ungehoͤrt wieder
da war und leiſe mit einer Baſe fluͤſterte. Der Alte
ſprach nun von der Ernte, von den Weinhoff¬
nungen, von den Baumfruͤchten mit den Maͤd¬
chen, aber Alles in einer feinen und ſalbungs¬
vollen Weiſe, mir nebenbei manche Aufklaͤrung
gebend, wenn er meine Unbekanntſchaft mit die¬
ſen Dingen vorausſetzte. Ich aber ſagte fuͤrder
Nichts, ſondern befand mich gluͤcklich und wohl¬
gemuth in der Naͤhe des lieblichen Maͤdchens,
ohne ſie jedoch anzuſehen, und nur angenehm
beruͤhrt, wenn ſie einmal ihr Stimmchen erhob.


5 *[74]

Ein maͤchtiger Kuͤchenduft verbreitete ſich durch
das Haus, zog die Knaben herbei und veranlaßte
den Schulmeiſter, auf ein Zeichen der alten Koͤchin,
zum Aufbruch in das obere Stockwerk aufzufor¬
dern. Dort war ein kleiner, heller und kuͤhler
Saal, welcher zwiſchen ſeinen ganz geweißten
Waͤnden nichts enthielt, als einen laͤnglichen Tiſch,
Stuͤhle und eine alte Hausorgel. Der Tiſch war
gedeckt, wir ſetzten uns zu einem froͤhlichen Abend¬
eſſen, welches aus den Fiſchen beſtand, ſo die
Vettern mit wenig Beſcheidenheit ausgewaͤhlt hat¬
ten. Laͤndliches Backwerk und Fruͤchte und ein
milder unſchuldiger Wein, an der Hoͤhe hinter
dem Hauſe gewachſen, ſchmuͤckten das einfache
und in ſeiner Art doch gewaͤhlte und anſtaͤndige
Mahl, der Alte wuͤrzte es mit ſinnigen Reden,
die Jungen ſcherzten und gaben ſich naive Raͤth¬
ſel und Wortſpiele auf, und dies Alles uͤber¬
goldete ein gehobener ſonntaͤglicher Ton, anders,
als ob man zu Hauſe, und anders, als ob man
in einer gewoͤhnlichen Bauernfamilie waͤre. Als
wir uns genugſam erfriſcht, ſchritt der Schul¬
meiſter zu der Orgel hin und oͤffnete dieſelbe,
[75] daß die glaͤnzende Pfeifenreihe zu Tage trat und
das Innere der beiden Fluͤgelthuͤrchen das ge¬
malte Paradies zeigte mit Adam und Eva,
Blumen und Thieren. Er ſetzte ſich davor, wir
mußten uns in einen Kreis um ihn herumſtellen,
Anna theilte einige alte Muſikbuͤcher aus, und
nachdem ihr Vater gar anmuthig praͤludirt, ſan¬
gen wir zu ſeinem Spiele und Vorſang einige
ſchoͤne kirchliche Sommerlieder und hernach einen
kuͤnſtlichen Kanon. Wir ſangen in heiterer Freude
und aus voller Bruſt und doch mit Maß und
Haltung, die Dankbarkeit gegen den Augenblick
brachte beſſere Muſik hervor, als die ſtrengſte
Schulprobe, und ich ſelbſt ließ mein inneres
Gluͤck unbefangen und frei in den Geſang ſtroͤ¬
men; denn dieſer Tag war fuͤr mich wieder
neuer und ſchoͤner, als alle fruͤheren. Wenn wir
einen Vers geendigt hatten, erklang uͤber den
See her, von einer Wand im Walde, ein har¬
moniſch verhallendes Echo, die Orgeltoͤne und
Menſchenſtimmen verſchmelzend zu einem neuen
wunderbaren Tone, und zitterte eben aus, indem
wir ſelbſt den Geſang wieder anhoben. An ver¬
[76] ſchiedenen Stellen, in der Hoͤhe und Tiefe, wur¬
den freudige Menſchenſtimmen wach, welche ihre
Luſt in die ſtill webenden Luͤfte ſangen und
jauchzten, ſo daß unſer Kanon, mit welchem wir
ſchloſſen, ſo zu ſagen ſich uͤber das ganze Thal
verbreitete.


Doch nun mußten wir aufbrechen, da die
Sonne ſich ſchon den Bergen naͤherte: der Schul¬
meiſter entließ uns mit Zufriedenheit und verab¬
ſchiedete mich mit entſchiedenen Zeichen ſeines
Wohlwollens. Ich mußte ihm verſprechen, auf
meinen Streifzuͤgen ſo oft als moͤglich in ſein
Thal zu kommen und in ſeinem Hauſe meinen
Sitz aufzuſchlagen, als ob er ebenfalls mein
Oheim waͤre. Anna wollte uns noch bis auf die
Berghoͤhe begleiten, und ſo machten wir uns
viel aufgeregter und lauter auf den Weg, als
wir gekommen waren. Die Maͤdchen, ſo ſchon
durch ein Nichts, durch die bloße freie Gelegen¬
heit in die hoͤchſte Stimmung reiner muthwilliger
Luſt verſetzt, ſangen fort und fort mit glaͤnzenden
Augen und verlockten uns mit zu ſingen, indem
ſie Welt- und Vaterlandslieder anſtimmten. Da¬
[77] zwiſchen machte ſich eine gegenſeitige Neckerei
mit Herzensangelegenheiten unter den Geſchwi¬
ſtern geltend, das ganze ſuͤße Geplauder jenes
hoffnungsreichen Alters befreite ſich aus den
offenen Gemuͤthern und umſpann Alle mit gern
gehoͤrten Anſpielungen, verſtelltem Widerſtande
und ſchelmiſcher Ruͤckantwort. Nur Anna ſchien
vor den Angriffen ſicher zu ſein, waͤhrend ſie hie
und da einen ſchuͤchternen Scherz hinwarf, und
ich ſagte gar nichts dazu, weil mein Herz voll
war von den Begebniſſen des Tages. Wir ſtan¬
den nun auf der Hoͤhe, welche von der Gluth
der untergehenden Sonne uͤbergoſſen war, vor
mir ſchwebte die federleichte, verklaͤrte Geſtalt des
jungen Maͤdchen und neben ihr glaubte ich den
lieben Gott laͤcheln zu ſehen, den Freund und
Schutzpatron der Landſchaftsmaler, als welchen
ich ihn heute in dem Geſpraͤche mit dem Schul¬
meiſter entdeckt hatte; das ſcheidende Maͤdchen
erroͤthete noch ſtaͤrker in die Abendroͤthe hinein,
als ſie zuletzt auch mir die Hand bot. Wir be¬
ruͤhrten uns kaum mit den Fingerſpitzen und
nannten uns hoͤflich Sie; aber die Vettern lach¬
[78] ten uns aus und die Baſen verlangten ernſthaft,
daß wir uns mit Du anreden ſollten, da hier zu
Lande nichts Anderes geduldet wuͤrde unter jun¬
gen Leuten.


So wechſelten wir unſere Taufnamen, ver¬
zagt und ſproͤde; aber der meinige ſchluͤpfte wie
ein Floͤtenton in mein Ohr, und als Anna ſchnell
und aͤngſtlich im Schatten ihrer Bergſeite ver¬
ſchwand und wir auf der unſerigen niederſtiegen,
hatte ich zwei Dinge erworben: einen großen
und maͤchtigen Kunſtgoͤnner, der unſichtbar uͤber
die daͤmmernde Welt hinſchritt, und ein aller¬
liebſtes Schaͤtzchen von meinem Alter im Herzen.

[[79]]

Drittes Kapitel.

Ich konnte den unbeſtimmten Zwiſchenzuſtand
nun nicht laͤnger ertragen, ſondern ſuchte unter
meinen Sachen nach einem feinen Blaͤttchen
Papier, um einen Brief an meine Mutter zu
ſchreiben, den erſten in meinem Leben. Als ich
ganz zu oberſt am Rande das »Liebe Mutter!«
hinſetzte, ſchwebte ſie mir in einem neuen Lichte
vor, ich empfand dieſen feinen Fortſchritt und
Ernſt des Lebens wohl und meine Schreibgelaͤu¬
figkeit ließ mich anfaͤnglich im Stiche und kaum
die erſten Saͤtze finden. Doch fuͤhrten mich die
Schilderungen meiner Reiſe und des Aufenthaltes
im Pfarrhauſe, ſo wie der ſonſtigen Erlebniſſe
bald in das Geleiſe zuruͤck, und meine Beſchrei¬
bung fiel nur allzu geſchmuͤckt und prahleriſch
aus. Ich trug ein großes Behagen zur Schau
[80] und ein gewiſſes, ſonderbares Beſtreben, welches
ſich nachher mehrmals wiederholte, auf meine
Mutter mit einem gluͤcklichen Befinden und mit
meinen verſchiedenen Thaten und Abenteuern eine
Art Eindruck zu bewirken, eine foͤrmliche Sucht,
auf naive Weiſe ſie zu unterhalten und zugleich
dadurch mich geltend zu machen, als ob ich auch
ohne den Quell meines Lebens dieſes zu finden
und zu bezwingen wuͤßte. Alsdann ging ich auf
den Zweck meines Schreibens uͤber und erklaͤrte
ihr weitlaͤufig, daß ich nun durchaus glaubte,
ein Maler werden zu muͤſſen, und in Folge deſ¬
ſen bat ich ſie, ſich vorlaͤufig umzuſehen und mit
den verſchiedenen Erfahrenen unſerer Bekannt¬
ſchaft ſich zu berathen. Die Familienberichte und
Gruͤße, ſo wie einige wichtige Auftraͤge uͤber
kleine Gegenſtaͤnde bildeten den Schluß des Brie¬
fes, ich faltete ihn eng und kuͤnſtlich zuſammen
und verſchloß ihn mit meinem Leibſiegel, einem
unbehuͤlflichen Anker, das Zeichen der Hoffnung,
welches ich laͤngſt in ein weiches Stuͤckchen Ala¬
baſter ſelbſt gegraben hatte und nun zum erſten
Mal zu einem wirklichen Zwecke gebrauchte.
[81] Die Adreſſe ſchrieb ich ſehr ausfuͤhrlich und be¬
ſonders das »an Frau Lee, née Hartmann« mit
ungemeiner Anſehnlichkeit.


Nach dem Empfange dieſes Briefes begab
ſich meine Mutter in ihre Staatskleidung, ſchlicht
und einfarbig, bauſchte ein friſches Taſchentuch
zuſammen, das ſie in die Hand nahm, und be¬
gann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zu¬
gaͤnglichen Autoritaͤten.


Zuerſt ſprach ſie bei einem angeſehenen Schrei¬
nermeiſter vor, welcher viel in vornehmen Haͤu¬
ſern verkehrte und Weltkenntniß beſaß. Als Freund
meines ſeligen Vaters pflegte er noch Freund¬
ſchaft und Wohlwollen fuͤr uns, ſo wie er auch
die Bildungsbeſtrebungen jener Tage eifrig fort¬
ſetzte. Nachdem er Vortrag und Bericht der
Mutter ernſtlich angehoͤrt, erwiederte er kurzweg,
das ſei nichts und hieße ſo viel, als das Kind
einer liederlichen und ungewiſſen Zukunft aus¬
ſetzen. Man ſolle ſich umſchauen, ſo viele Maler
in unſerm Gebiete ſich noch haͤtten blicken laſſen,
ſo viele arme Teufel und verkommene Menſchen
waͤren es auch! So wies er vorzuͤglich auf einen
II. 6[82] Portraitmaler hin, welcher jedes Jahr zwei Mal
in unſere Stadt gekommen, um die inzwiſchen
entſtandenen Braͤute und ſolche bejahrte Herr¬
ſchaften zu malen, die ihre ſilberne oder goldene
Hochzeit feierten, daneben auch etwa einen ange¬
ſehenen Magiſtraten, welcher ſich durch hinlaͤng¬
liches oͤffentliches Wirken fuͤr die Verewigung
auf eindringliches Bitten ſeiner Verehrer reif
erachtete. Dieſer Kuͤnſtler war ein Habenichts
und Branntweinſaͤufer geweſen, hatte immer
Schulden hinterlaſſen, trotz dem reichlichen Ver¬
dienſte, und war endlich auf der Landſtraße er¬
froren. Hingegen wußte der Schreiner beſſeren
Rath, wenn einmal etwas Kuͤnſtleriſches ergriffen
werden muͤſſe. Ein junger Vetter von ihm hatte
ſich in einer entfernteren Stadt als Landkarten¬
ſtecher ausgebildet und genoß einen reichlichen
und anſtaͤndigen Erwerb, ſo daß er in den Augen
ſeiner Sippſchaft als etwas Rechtes daſtand.
Daher erbot ſich der Rathgeber, mich aus be¬
ſonderer Freundſchaft in der Naͤhe dieſes Man¬
nes unterzubringen, wo ich dann, wenn wirklich
etwas Tuͤchtiges in mir ſtaͤcke, es nicht nur bis
[83] zum Stechen, ſondern zum Selbſtentwerfen der
Landkarten bringen koͤnne, indem ich meine Zeit
wohl anwende zur Erwerbung der noͤthigen
Kenntniſſe. Dies waͤre dann ein feiner, ehren¬
voller und zugleich ein nuͤtzlicher und in das
große Leben paſſender Beruf.


Mit vermehrten Sorgen und Zweifeln ge¬
langte meine Mutter zum zweiten Goͤnner und
auch einem Freunde ihres Mannes. Derſelbe
war ein Fabrikant von farbigen und bedruckten
Tuͤchern, welcher ſein urſpruͤnglich geringes Ge¬
ſchaͤft nach und nach erweitert hatte und ſich
eines wachſenden Wohlſtandes erfreute. Er er¬
wiederte den Bericht meiner Mutter folgender
Maßen:


»Dieſes Ereigniß, daß der junge Heinrich,
der Sohn unſeres unvergeßlichen Freundes, ſich
fuͤr eine kuͤnſtleriſche Laufbahn erklaͤrt und die
Nachricht, daß er ſchon lange ſich vorzugsweiſe
mit Stift und Farben beſchaͤftigt, kommt ſehr
erfreulich einer Idee entgegen, die ich ſchon einige
Zeit in Bezug auf den Knaben hege. Es ent¬
ſpricht ganz dem Geiſte ſeines wackern Vaters,
6 *[84] daß er ſeine Neigung einer feineren Thaͤtigkeit
zuwendet, zu welcher Talente und ein hoͤherer
Schwung erforderlich ſind: allein dieſe Neigung
muß auf eine ſolide und vernuͤnftige Bahn ge¬
lenkt werden. Nun iſt Euch, wertheſte Frau und
Freundin, die Art meines unbedeutenden Geſchaͤf¬
tes bekannt; ich fabrizire bunte Stoffe, und wenn
ich einen leidlichen Verdienſt erzwecke, ſo geſchieht
es hauptſaͤchlich dadurch, daß ich mit Aufmerk¬
ſamkeit und Raſchheit allezeit die neueſten und
gangbarſten Deſſins zu bringen und ſelbſt den
herrſchenden Geſchmack durch ganz Neues und
Originelles zu uͤberbieten ſuche. Hierzu ſind
eigene Zeichner vorhanden, deren Aufgabe es iſt,
lediglich neue Deſſins zu erfinden und, in der be¬
haglichen Stube ſitzend, nach Herzensluſt Blu¬
men, Sterne und Linien durcheinander zu werfen.
In meiner beſcheidenen Anſtalt habe ich drei ſol¬
cher Leute, die gerade keine großen Kirchenlichter
ſind, denen ich aber ein laͤſterliches Geld bezahlen
und ſie obenhinein noch ſehr glimpflich behandeln
muß. Sie ſind, obgleich ſie ganz geſchickt den
Gang des Geſchaͤftes begreifen und verfolgen,
[85] doch nur zufaͤllig zu dieſem Berufe gekommen
und durch keinerlei innere Kraft vorher beſtimmt.
Was koͤnnte mir nun willkommener ſein, als ein
junger Menſch, der mit ſolcher Energie ſich fuͤr
Papier und Farben erklaͤrt, in ſo fruͤhem Alter,
der den ganzen Tag, ohne weitere Anregung,
Baͤume und Blumengaͤrtchen malt? Wir wol¬
len ihm ſchon Blumen genug verſchaffen, in ge¬
ordneten Reihen ſoll er ſie auf die Tuͤcher zau¬
bern, unerſchoͤpflich, immer neu; er ſoll aus der
reichen Natur die wunderbarſten und zierlichſten
Gebilde abſtrahiren, welche meine Konkurrenten
zur Verzweiflung bringen! (Und der treffliche
Mann erging ſich hier, meine Mutter beinahe
vergeſſend, in den kuͤhnſten Spekulationen.) Kurz,
gebt mir Euren Sohn in's Haus! Ich werde
ihn bald ſo weit gebracht haben, wie die Anderen,
und wenn er einige Jahre aͤlter iſt, ſo thun wir
ihn nach Paris, wo die Sache in's Große betrie¬
ben wird und die ausgezeichnetſten Deſſinateurs
der verſchiedenſten Induſtriezweige leben wie die
Fuͤrſten und von den Geſchaͤftsleuten auf Haͤnden
getragen werden. Hat er dort ſich gehoͤrig empor¬
[86] geſchwungen und ſeine Erfahrung bereichert, ſo
iſt er ein gemachter Mann und kann ſein Loos
ſelbſt beſtimmen. Will er alsdann ſich wieder
mit mir verbinden, ſo wird das mir zur Freude
und zum Vortheil gereichen, findet er aber ſein
Gluͤck anderswo, ſo habe ich nichts deſto weniger
meine Zufriedenheit daran. Bedenket Euch, ich
glaube mich nicht zu taͤuſchen!«


Er fuͤhrte hierauf meine Mutter in ſeinem
Geſchaͤfte herum und zeigte ihr die bunten Herr¬
lichkeiten, die geſchnittenen [Holzmoͤbel] und vor
Allem die kuͤhnen Compoſitionen ſeiner Zeichner.
Es leuchtete ihr Alles vollkommen ein und er¬
fuͤllte ſie wieder mit Hoffnung. Abgeſehen von
dem geſicherten und reichlichen Erwerbe, welchen
ein gewandter Geſchaͤftsmann verbuͤrgte, war ja
dieſe ganze Kunſt dem Dienſte der Frauen ge¬
widmet und ſo reinlich und friedſam, daß ein
Sohn in ihrem Schooße wohl geborgen ſchien.
Auch mochte es vielleicht eine Ader verzeihlicher
Eitelkeit erwecken, wenn ſie ſich in einen der be¬
ſcheideneren Stoffe meiner Erfindung gekleidet
dachte. Sie war ſo mit dieſen angenehmen
[87] Gedanken beſchaͤftigt, daß ſie fuͤr diesmal ihre
Wanderung einſtellte, um ſich ganz in denſelben
zu ergehen.


Der folgende Tag jedoch rief ſie wieder zur
gaͤnzlichen Erfuͤllung ihrer Mutterpflicht auf und
fuͤhrte ſie mit neuen Sorgen und Zweifeln auf
den Weg. Sie gelangte zu einem dritten Freunde
des Vaters, einem Schuſter, der im Geruche tie¬
fen Verſtandes lebte und ein gewaltiger Politiker
war. Seit dem Tode meines Vaters war er
durch die Zeitereigniſſe in eine ſtrenge demokra¬
tiſche und ſozialiſtiſche Richtung hineingetreten.
Nach mißlauniſcher Anhoͤrung des Berichtes und
des Erfolges der geſtrigen Bemuͤhungen brach er
barſch los:


»Maler, Landkartenmacher, Bluͤmchenzeichner,
Stubenſitzer, Herrenknecht! Handlanger der Geld¬
ariſtokraten, Gehuͤlfe des Luxus und der Ver¬
weichlichung, als Landkartenmacher ſogar direkter
Vorſchubleiſter des beſtialiſchen Kriegsweſens!
Handwerk, ehrliche und ſchwere Handarbeit iſt
uns von noͤthen, gute Frau! Wenn Euer Mann
lebte, ſo wuͤrde er den Jungen ſo gewiß durch
[88] ſchwere Handarbeit in's Leben fuͤhren, als zwei
mal zwei vier ſind! Zudem iſt der Junge ſchon
ein Biſchen ſchwaͤchlich und verwoͤhnt durch Euere
Weiberwirthſchaft; laßt ihn ein Maurer oder
Steinmetz werden, oder beſſer, gebt ihn mir, ſo
wird er die gehoͤrige Demuth und damit den
rechten Stolz eines Mannes aus dem Volke ge¬
winnen, und bis er im Stande iſt, einen guten
Schuh fix und fertig zu arbeiten, ſoll er gelernt
haben, was ein Buͤrger iſt, wenn er anders ſei¬
nem Vater nachfolgt, den wir ſehr vermiſſen,
wir andere Handwerksleute! Beſinnt Euch, Frau
Lee! von der Pike auf dienen, das macht den
Mann! Waren die neuen Schuhe doch nicht zu
eng, die ich letzthin ſchickte?«


Die Frau Lee ging aber nicht ſonderlich er¬
baut fort und murmelte vor ſich her: »Schlag
du nur deine Zwecke ein, bei mir erreichſt du
deinen Zweck nicht, Herr Schuſter, ungehobelter
Mann! Bleib nur bei deinem Leiſten und warte,
bis mein Kind kommt, dir Geſellſchaft zu leiſten!
Draht iſt nicht Rath! Wenn du Gott fuͤrchten
wuͤrdeſt, ſo brauchteſt du nicht vor dem Gerber
[89] zu fliehen! Wer Pech angreift, beſudelt ſich!«
Unter ſolchen Sarkasmen, welche ſie nachher wie¬
derholte, ſo oft ſie auf dieſe Unterredung zu
ſprechen kam, zog ſie die Klingel an einem hohen
und ſchoͤnen Hauſe, welches der Vater einſt fuͤr
einen vornehmen Herrn gebaut hatte. Es war
ein feiner und ernſter Mann, der in den Staats¬
geſchaͤften ſtand, nicht viele Worte machte, jedoch
fuͤr uns einige Geneigtheit bezeigte und ſchon
mehrmals mit entſcheidendem Rath an die Hand
gegangen war. Als er vernommen, warum es
ſich handelte, erwiederte er mit hoͤflich ablehnen¬
den Worten:


»Es thut mir leid, gerade in dieſer Ange¬
legenheit nicht dienen zu koͤnnen! Ich verſtehe ſo
viel wie Nichts von der Kunſt! Nur weiß ich,
daß auch fuͤr das ausgezeichnetſte Talent lange
Studienjahre und bedeutende Mittel erforderlich
ſind. Wir haben wohl große Genies, welche ſich
durch beſondere Widerwaͤrtigkeiten endlich empor¬
geſchwungen; allein um zu beurtheilen, ob Ihr
Sohn hierzu nur die geringſten Hoffnungen biete,
dazu beſitzen wir in unſerer Stadt gar keine be¬
[90] rechtigte Perſon! Was hier an Kuͤnſtlern und
dergleichen lebt, iſt ziemlich entfernt von dem,
was ich mir unter wirklicher Kunſt vorſtelle, und
ich koͤnnte nie rathen, einem aͤhnlichen verfehlten
Ziele entgegenzugehen.« Dann beſann er ſich
eine Weile und fuhr fort: »Betrachten Sie mit
Ihrem Sohne die ganze Sache als eine kindiſche
Traͤumerei; kann er ſich entſchließen, ſich von
mir in einer unſerer Kanzleien unterbringen zu
laſſen, ſo will ich hierzu gern die Hand bieten
und ihn im Auge behalten. Ich habe gehoͤrt,
daß er nicht ohne Talent ſei, beſonders in ſchrift¬
lichen Arbeiten. Wuͤrde er ſich gut halten, ſo
koͤnnte er ſich mit der Zeit eben ſo gut zu einem
tuͤchtigen Verwaltungsmanne emporarbeiten, als
mancher andere wackere Mann, welcher eben ſo
von unten angefangen und als armer Schreiber¬
junge in unſere Kanzleien getreten iſt. Dieſe
Bemerkung mache ich uͤbrigens nicht, um irgend
große Hoffnungen zu erregen, ſondern nur um
Ihnen zu zeigen, daß der Knabe auch auf dieſem
Wege nicht unbedingt an ein dunkles und duͤrf¬
tiges Loos gebunden iſt.«


[91]

Dieſe Rede, indem ſie meiner Mutter eine
ganz neue Ausſicht eroͤffnete, warf ſie gaͤnzlich
in Ungewißheit zuruͤck, ob ſie nicht ernſtlich mich
zu Aenderung meines Sinnes beſtimmen ſolle.
Denn hier war noch mehr, als beim Fabrikan¬
ten, die Buͤrgſchaft eines angeſehenen und ſeiner
Worte ſicheren Mannes zur Hand, welcher einen
großen Theil unſerer Verhaͤltniſſe eben ſo klar
durchſchaute als mit beherrſchte und wohl im
Stande war, diejenigen uͤber dem Waſſer zu
halten, die ſich ſeinem Rathe anvertrauten.


Sie ſchloß hier ihren beſchwerlichen Gang und
beſchrieb mir in einem großen Briefe ſaͤmmtlichen
Erfolg deſſelben, jedoch die Vorſchlaͤge des Fabri¬
kanten und des Staatsmannes beſonders hervor¬
hebend, und ermahnte mich, meinen beſtimmten
Entſchluß noch hinauszuſchieben und eher darauf
zu denken, auf welche Weiſe ich am fuͤglichſten
im Lande bleiben, mich redlich naͤhren, ihr ſelbſt
ein Troſt und eine Stuͤtze des Alters und doch
meinen natuͤrlichen Anlagen gerecht werden koͤnne;
denn daß ſie je dazu helfen wuͤrde, mich gewalt¬
ſam zu einem mir widerſtrebenden Lebensberufe
[92] zu beſtimmen, davon ſei keine Rede, da ſie hier¬
uͤber die Grundſaͤtze des Vaters genugſam kenne
und es ihre einzige Aufgabe waͤre, annaͤhernd ſo
zu verfahren, wie er gethan haben wuͤrde.


Dieſer Brief war uͤberſchrieben »mein lieber
Sohn!« und das Wort Sohn, das ich zum erſten
Male hoͤrte von ihr, ruͤhrte mich und ſchmeichelte
mir auf's Eindringlichſte, daß ich fuͤr den uͤbrigen
Inhalt ſehr empfaͤnglich und dadurch an mir
ſelbſt irre und in Zweifel geſetzt wurde. Ich
fuͤhlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen
gruͤnen Baͤumen gegenuͤber dem ernſten kalten
Weltleben und ſeinen Lenkern. Aber waͤhrend
ich ſchon begann, mich mit dem Gedanken, auf
immer vom geliebten Walde zu ſcheiden, vertraut
zu machen (ich wußte von keinem Dilettantis¬
mus und daß man auch als Weltmann ſeine
Mußeſtunden dergleichen Neigungen widmen
koͤnne), gab ich mich nur um ſo inniger der Na¬
tur hin und ſchweifte den ganzen Tag in den
Bergen, und die drohende Trennung ließ mich
manches angehende Verſtaͤndniß ſicherer ergreifen,
als es ſonſt geſchehen waͤre. Ich hatte ſchon
[93] ſaͤmmtliche Studien des Junker Felix nachgezeich¬
net und dadurch einige Ausdrucksweiſe gewonnen,
ſo daß meine Blaͤtter wenigſtens ordentlich weiß
und ſchwarz wurden von Stift und Tuſche.


Oft, am Morgen oder am Abend, ſtand ich
auf der Hoͤhe uͤber dem tiefen See, wo unten
der Schulmeiſter mit ſeinem Toͤchterchen wohnte,
oder ich hielt mich auch einen ganzen Tag an
einer Stelle des Abhanges auf, unter einer Buche
oder Eiche, und ſah das Haus abwechſelnd im
Sonnenſcheine oder im Schatten liegen; aber je
laͤnger ich zauderte, deſto weniger konnte ich es
uͤber mich gewinnen, hinabzugehen, da mir das
Maͤdchen fortwaͤhrend im Sinne lag und ich des¬
halb glaubte, man wuͤrde mir auf der Stelle
anſehen, daß ich ſeinetwegen kaͤme. Meine Ge¬
danken hatten von der feinen Erſcheinung Anna's
ploͤtzlich ſo vollſtaͤndigen Beſitz ergriffen, daß ich
alle Unbefangenheit ihr gegenuͤber im gleichen
Augenblicke verloren und in beſchraͤnkter Uner¬
fahrenheit von ihrer Seite ſogleich das Gleiche
vorausſetzte. Indem ich jedoch mich nach dem
Wiederſehen ſehnte, war mir die Zwiſchenzeit und
[94] meine Unentſchloſſenheit gar nicht peinlich und
unertraͤglich, vielmehr gefiel ich mir in dieſem
gedanken- und erwartungsvollen Zuſtande und ſah
einem zweiten Begegnen eher mit Unruhe ent¬
gegen. Wenn meine Baſen von ihr ſprachen,
that ich, als hoͤrte ich es nicht, indeſſen ich doch
nicht von der Stelle wich, ſo lange das Geſpraͤch
dauerte, und wenn ſie mich fragten, ob es denn
nicht ein allerliebſtes Kind ſei, erwiederte ich ganz
trocken: »Ja, gewiß!«


In dieſen Tagen fand ich kaum Zeit, bei
meiner Großmutter den taͤglichen kurzen Aufent¬
halt zu nehmen und vernachlaͤſſigte die anderen
Verwandten ſo ziemlich, wenn ich nicht gerade
beſtimmt eingeladen war zur Theilnahme an
einem Ausnahmegericht oder ſonſtigem Schmauſe,
wie ſolche durch den Wechſel der Feldfruͤchte oder
durch Schlachten und Backen hervorgerufen werden.


Auf dieſen Wegen war ich haͤufig am Hauſe
der ſchoͤnen Judith voruͤbergekommen und, da ich
eben deswegen, weil ſie ein ſchoͤnes Weib war,
auch einige Befangenheit fuͤhlte und Anſtand
nahm einzutreten, von ihr gebieteriſch herein¬
[95] gerufen und feſtgehalten worden. Nach der Weiſe
der aufopfernden und nimmermuͤden alten Frauen
und auch aus unentbehrlicher Gewohnheit befand
ſich ihre Mutter beinahe immer auf dem warmen
Felde, waͤhrend die kraͤftige Tochter das leichtere
Theil erwaͤhlte und im kuͤhlen Haus und Garten
gemaͤchlich und halb muͤßig waltete. Deswegen
war dieſe bei gutem Wetter faſt immer allein zu
Hauſe und ſah es gern, wenn Jemand, den ſie
leiden mochte, bei ihr vorkehrte und mit ihr
plauderte. Als ſie meine Malerkuͤnſte entdeckt
hatte, trug ſie mir ſogleich auf, ihr ein Blumen¬
ſtraͤuſchen zu malen, welches ſie mit Zufrieden¬
heit in ihr Geſangbuch legte. Sie beſaß ein
kleines Stammbuͤchelchen von der Stadt her, das
nur zwei oder drei Inſchriften und eine Menge
leerer Blaͤtter mit Goldſchnitt enthielt; von die¬
ſen gab ſie mir bei jedem Beſuche einige, daß
ich eine Blume oder ein Kraͤnzchen darauf male
(Farben und Pinſel hatte ich ſchon bei ihr depo¬
nirt und ſie verwahrte dieſelben ſorgfaͤltig), dann
wurde ein Vers oder verliebter Spruch darunter
geſchrieben und ihr Kirchenbuch mit ſolchen Bild¬
[96] chen, die ich in ein paar Minuten anfertigte, an¬
gefuͤllt. Die Verſe wurden einer großen Samm¬
lung bedruckter Papierſtreifchen entnommen, welche
ſie als Ueberbleibſel fruͤher genoſſener Bonbons
aufbewahrte. Durch dieſen Verkehr war ich hei¬
miſch und vertraut bei ihr geworden, und, indem
ich immer an die junge Anna dachte, hielt ich
mich gern bei der ſchoͤnen Judith auf, weil ich
in jener unbewußten Zeit ein Weib fuͤr das
andere nahm und nicht im Mindeſten eine Un¬
treue zu begehen glaubte, wenn ich im Anblicke
der entfalteten vollen Frauengeſtalt behaglicher an
die abweſende zarte Knoſpe dachte, als anderswo,
ja als in Gegenwart dieſer ſelbſt. Manchmal
traf ich ſie am Morgen, wie ſie ihr uͤppiges
Haar kaͤmmte, welches geoͤffnet bis auf ihre Huͤf¬
ten fiel. Mit dieſer wallenden Seidenfluth fing
ich neckend an zu ſpielen und Judith pflegte bald,
ihre Haͤnde in den Schooß legend, den meinigen
ihr ſchoͤnes Haupt zu uͤberlaſſen und laͤchelnd die
Liebkoſungen zu erdulden, in welche das Spiel
allmaͤlig uͤberging. Das ſtille Gluͤck, welches ich
dabei empfand, nicht fragend, wie es entſtanden
[97] und wohin es fuͤhren koͤnne, wurde mir Gewohn¬
heit und Beduͤrfniß, daß ich bald taͤglich in das
Haus huſchte, um eine halbe Stunde dort zuzu¬
bringen, eine Schale Milch zu trinken und der
lachenden Frau die Haare aufzuloͤſen, ſelbſt wenn
ſie ſchon geflochten waren. Dies that ich aber
nur, wenn ſie ganz allein und keine Stoͤrung zu
befuͤrchten war, ſowie ſie auch nur dann es ſich
gefallen ließ, und dieſe ſtillſchweigende Ueberein¬
kunft der Heimlichkeit lieh dem ganzen Verkehre
einen ſuͤßen Reiz.


So war ich eines Abends, vom Berge kom¬
mend, bei ihr eingekehrt; ſie ſaß hinter dem Hauſe
am Brunnen und hatte ſo eben einen Korb gruͤ¬
nen Salat gereinigt, ich hielt ihre Haͤnde unter
den klaren Waſſerſtrahl, wuſch und rieb dieſelben,
wie einem Kinde, ließ ihr kalte Waſſertropfen
in den Nacken traͤufeln und ſpritzte ihr ſolche
endlich mit unbeholfenem Scherze in's Geſicht,
bis ſie mich beim Kopfe kriegte und ihn auf
ihren Schooß preßte, wo ſie ihn ziemlich derb
zerarbeitete und walkte, daß mir die Ohren
ſauſten. Obgleich ich dieſe Strafe halb und halb
II. 7[98] bezweckt hatte, wurde ſie mir doch zu arg: ich
riß mich los und faßte meine Feindin, nach Rache
duͤrſtend, nun meinerſeits beim Kopfe. Doch
leiſtete ſie, indem ſie immer ſitzen blieb, ſo kraͤf¬
tigen Widerſtand, daß wir Beide zuletzt heftig
athmend und erhitzt den Kampf aufgaben und
ich, beide Arme um ihren weißen Hals geſchlun¬
gen, ausruhend an ihr hangen blieb; ihre Bruſt
wogte auf und nieder, indeſſen ſie, die Haͤnde
erſchoͤpft auf ihre Kniee gelegt, vor ſich hin ſah.
Meine Augen gingen den ihrigen nach in den
rothen Abend hinaus, deſſen Stille uns um¬
faͤchelte; Judith ſaß in tiefen Gedanken verſun¬
ken und verſchloß, die Wallung ihres aufgejagten
Blutes baͤndigend, in ihrer Bruſt innere Wuͤnſche
und Regungen feſt vor meiner Jugend, waͤhrend
ich, unbewußt des brennenden Abgrundes, an
dem ich ruhte, mich arglos der ſtillen Seligkeit
hingab und in der durchſichtigen Roſengluth des
Himmels das feine, ſchlanke Bild Anna's auf¬
tauchen ſah. Denn nur an ſie dachte ich in die¬
ſem Augenblicke, ich ahnte das Leben und Weben
der Liebe und es war mir, als muͤßte ich nun
[99] das gute Maͤdchen alſogleich ſehen. Ploͤtzlich riß
ich mich los und eilte nach Hauſe, von wo mir
der ſchrille Ton einer Dorfgeige entgegenklang.
Saͤmmtliche Jugend war in dem geraͤumigen
Saale verſammelt und benutzte den kuͤhlen, muͤ¬
ßigen Abend, nach den Klaͤngen des herbeigerufe¬
nen Geigers ſich gegenſeitig im Tanze zu unter¬
richten und zu uͤben; denn die aͤlteren Mitglieder
der Sippſchaft befanden fuͤr gut, auf die Feſte des
nahenden Herbſtes den juͤngeren Nachwuchs vor¬
zubereiten und dadurch ſich ſelbſt ein vorlaͤufiges
Tanzvergnuͤgen zu verſchaffen. Als ich in den
Saal trat, wurde ich aufgefordert, ſogleich Theil
zu nehmen, und indem ich mich fuͤgte und unter
die lachenden Reihen miſchte, erſah ich ploͤtzlich
die erroͤthende Anna, welche ſich hinter denſelben
verſteckt hatte. Sogleich war ich zufrieden und
innerlich hoch vergnuͤgt; aber obgleich ſchon zwei
Wochen vergangen, ſeit ich ſie zum erſten Male
geſehen, ließ ich meine Zufriedenheit nicht merken
und entfernte mich, nachdem ich ſie kurz begruͤßt,
wieder von ihr, und als meine Baſen mich auf¬
forderten, mit ihr, die gleichfalls anfing, einen
7 *[100] Tanz zu thun, ſuchte ich ungehobelt und unter
tauſend Ausfluͤchten auszuweichen. Dieſes half
nichts, widerſtrebend fuͤgten wir uns endlich und
tanzten, einander nicht anſehend und uns kaum
beruͤhrend, etwas ungeſchickt und beſchaͤmt einmal
durch den Saal. Ungeachtet es mir ſchien, als
ob ich einen jungen Engel an der Hand fuͤhrte
und im Paradieſe herumwalzte, trennten wir uns
doch nach der Tour ſo ſchleunig wie Feuer und
Waſſer und waren in ſelbem Augenblicke an den
entgegengeſetzten Enden des Saales zu ſehen.
Ich, der ich kurz vorher unbefangen und muth¬
willig die Wangen der großen und ſchoͤnen Judith
zwiſchen meine Haͤnde gepreßt, hatte jetzt gezit¬
tert, die ſchmale, faſt weſenloſe Geſtalt des Kin¬
des zu umfangen und dieſelbe fahren laſſen, wie
ein gluͤhendes Eiſen. Sie verbarg ſich ihrerſeits
wieder hinter die froͤhlichen Maͤdchen und war
ſo wenig mehr in die Reihen zu bringen als ich,
hingegen beſtrebte ich mich, meine Worte an die
Geſammtheit zu richten und ſo zu ſtellen, daß
ſie von Anna auch hingenommen werden mu߬
ten, und bildete mir ein, ſie meine es mit
[101] den wenigen Woͤrtchen, die ſie hoͤren ließ, eben¬
falls ſo.


Sie war, da ſie mit den Toͤchtern meines
Oheims einen lebhaften Taubenverkehr fuͤhrte,
mit einem Koͤrbchen voll junger Taͤubchen her¬
gekommen, was hauptſaͤchlich das Heraufrufen
des herumziehenden Geigers veranlaßt hatte. Nun
wurde verabredet, daß die Tanzuͤbungen mehrere
Male wiederholt werden ſollten und Anna den¬
ſelben beiwohnen. Fuͤr jetzt aber war es noth¬
wendig, da es dunkel geworden, daß Jemand ſie
nach Hauſe begleite, und dazu wurde ich aus¬
erſehen. Dieſe Kunde klang mir zwar wie Mu¬
ſik, doch draͤngte ich mich nicht ſonderlich vor
und ſtellte mich eher, als ob es mir verdrießlich
und unbequem waͤre; denn es erwachte ein Stolz
in mir, der es mir faſt unmoͤglich machte, gegen
das junge Ding freundlich zu thun, und je lie¬
ber ich es in meinem Herzen gewann, deſto muͤr¬
riſcher und unbeholfener wurde mein Aeußeres.
Das Maͤdchen aber blieb immer gleich, ruhig,
beſcheiden und fein, und band gelaſſen ſeinen
breiten Strohhut um, auf welchem einige Korn¬
[102] blumen und eine brennendrothe Mohnbluͤthe
lagen; der Nachtkuͤhle wegen brachte die Muhme
einen prachtvollen weißen Staatsſhawl aus alter
Zeit mit Aſtern und Roſen beſaͤet, den man um
ihr blaues, halb laͤndliches Kleid ſchlug, daß ſie
mit ihren Goldhaaren und dem feinen Geſichtchen
ausſah, wie eine junge Englaͤnderin aus den
neunziger Jahren. So wandte ſie ſich nun an¬
ſcheinend ganz ruhig zum Gehen, gewaͤrtig, wer
ſie begleiten wuͤrde, aber ſich deswegen nicht un¬
entſchloſſen aufhaltend. Sie laͤchelte, durch den
Muthwillen der Baſen belebt und gedeckt, uͤber
meine Ungeſchicklichkeit, ohne ſich nach mir umzu¬
blicken, und vermehrte ſo meine Verlegenheit, da
ich gegenuͤber den zuſammenhaltenden und ver¬
ſchworenen Maͤdchen allein daſtand und faſt Wil¬
lens war, im Saale zuruͤckzubleiben. Doch er¬
barmte ſich die aͤlteſte Baſe meiner und rief mich
noch einmal entſchieden heran, ſo daß es mit
meiner Ehre vertraͤglich war, mich wenigſtens
dem Zuge anzuſchließen, der ſich vor das Haus
bewegte. Wir gingen gemeinſchaftlich bis an das
Ende des Dorfes, wo der Berg anhub, uͤber
[103] welchen Anna zu gehen hatte. Dort wurde Ab¬
ſchied genommen: ich ſtand im Hintergrunde und
ſah, wie ſie ihr Tuch zuſammenfaßte und ſagte:
»Ach, wer will nun eigentlich mit mir kommen?«
Indeſſen die Maͤdchen ſchalten und ſagten: »Nun,
wenn der Herr Maler ſo unartig iſt, ſo muß
aber jemand Anders Dich begleiten!« und ein
Bruder rief: »Ei, wenn es ſein muß, ſo gehe
ich ſchon mit, obgleich der Maler ganz Recht hat,
daß er nicht den Jungfernknecht ſpielt, wie ihr
es immer gern einfuͤhren moͤchtet!« Ich trat aber
hervor und ſagte barſch: »Ich habe gar nicht
behauptet, daß ich es nicht thun wolle, und wenn
es der Anna recht iſt, ſo begleite ich ſie ſchon.«
»Warum ſollte es mir nicht recht ſein?« erwie¬
derte ſie, und ich ſchickte mich an, neben ihr her¬
zugehen. Allein die Uebrigen riefen, ich muͤßte
ſie durchaus am Arme fuͤhren, da wir ſo feine
Stadtleutchen ſeien, ich glaubte dies und ſchob
meinen Arm in den ihrigen, ſie zog ihn raſch
zuruͤck und faßte mich unter den Arm, ſanft, aber
entſchieden, indem ſie laͤchelnd nach dem ſpotten¬
den Volke zuruͤckſah; ich merkte meinen Fehler
[104] und ſchaͤmte mich dergeſtalt, daß ich ohne zu
ſprechen den Berg hinanſtuͤrmte und das arme
Kind mir beinahe nicht folgen konnte. Sie ließ
ſich dies nicht anſehen, ſondern ſchritt tapfer aus,
und ſobald wir allein waren, fing ſie ganz ge¬
laͤufig und ſicher an zu plaudern uͤber die Wege,
welche ſie mir zeigen mußte, uͤber das Feld, uͤber
den Wald, wem dieſe und jene Parzelle gehoͤre
und wie es hier und dort vor wenigen Jahren
noch geweſen ſei. Ich wußte wenig zu erwiedern,
waͤhrend ich aufmerkſam zuhoͤrte und jedes Wort
wie einen Tropfen Muskatwein verſchlang; meine
Eile hatte ſchon nachgelaſſen, als wir die Hoͤhe
des Berges erreichten und auf ſeiner Ebene ge¬
maͤchlich dahingingen. Der funkelnde Sternhim¬
mel hing weit gebreitet uͤber dem Lande und
doch war es dunkel auf dem Berge, und die
Dunkelheit band uns naͤher zuſammen, da wir,
unſere Geſichter kaum ſehend, einander auch beſ¬
ſer zu hoͤren glaubten, wenn wir uns feſt zu¬
ſammenhielten. Das Waſſer rauſchte vertraulich
im fernen Thale, hier und da ſahen wir ein
mattes Licht auf der dunklen Erde glimmen,
[105] welche ſich maſſenhaft mit ihrem ſchwarzen Schat¬
ten vom Himmel ſonderte, der ſie am Rande mit
einem blaſſen Daͤmmerguͤrtel umgab. Ich beach¬
tete dieſes Alles, lauſchte den Worten meiner
Begleiterin und bedachte zugleich fuͤr mich meine
Freude und meinen Stolz, eine Geliebte am
Arme zu fuͤhren, als welche ich ſie ein fuͤr alle¬
mal betrachtete. Wir ſprachen nun ganz munter
und aufgeraͤumt von tauſend Dingen, von gar
Nichts, dann wieder mit wichtigen Worten von
unſeren gemeinſamen Verwandten und ihren Ver¬
haͤltniſſen, wie alte kluge Leute. Je naͤher wir
ihrer Wohnung kamen, deren Licht bereits in der
Tiefe gluͤhte wie ein Leuchtwurm, deſto ſicherer
und lauter wurde Anna, ihre Stimme bimmelte
unaufhoͤrlich und fein, gleich einem fernen Ves¬
pergloͤckchen, ich ſetzte ihren artigen Einfaͤllen die
beſten meiner eigenen Erfindung entgegen, und
doch hatten wir uns den ganzen Abend noch nie
unmittelbar angeredet und das Du war ſeit jenem
einen Male nie mehr zwiſchen uns gefallen. Wir
huͤteten es, wenigſtens ich, im Herzen gleich einem
goldenen Sparpfennige, den man auszugeben gar
[106] nicht noͤthig hat; oder es ſchwebte wie ein Stern
weit vor uns in neutraler Mitte, nach welchem
ſich unſere Reden und Beziehungen richteten und
ſich dort vereinigten, wie zwei Linien in einem
Punkte, ohne ſich vorher unzart zu beruͤhren.
Erſt als wir in der Stube waren und ihren ſie
erwartenden Vater begruͤßt hatten, nannte ſie,
die Ereigniſſe des Abends froh erzaͤhlend, beilaͤu¬
fig ganz unbefangen meinen Namen, ſo oft es
erforderlich war, und nahm, unter dem Schutze
ihres Vaterhauſes, wo ſie ſich geborgen fuͤhlte,
wie eine Taube im Neſte, unbeſehens das Woͤrt¬
chen Du hervor und warf es unbekuͤmmert hin,
daß ich es nur aufzunehmen und ebenſo arglos
zuruͤckzugeben brauchte. Der Schulmeiſter machte
mir Vorwuͤrfe uͤber mein langes Ausbleiben, und
um ſicher zu gehen, forderte er mich zu dem
Verſprechen auf, gleich am naͤchſten Morgen fruͤh
zu kommen und den ganzen Tag an ſeinem See
zuzubringen. Anna uͤbergab mir den Shawl,
den ich wieder zuruͤcktragen ſollte, dann leuchtete
ſie mir vor das Haus und ſagte Adieu mit jenem
angenehmen Tone, der ein anderer iſt nach einer
[107] ſtillſchweigend geſchloſſenen Freundſchaft, als vor¬
her. Kaum war ich aus dem Bereiche des Hau¬
ſes, ſo ſchlug ich das blumige weiche Tuch, das
mir eine Wolke des Himmels zu ſein duͤnkte, um
Kopf und Schultern, und tanzte darin wie ein
Beſeſſener uͤber den naͤchtlichen Berg. Als ich
auf ſeiner Hoͤhe war unter den Sternen, ſchlug
es unten im Dorfe Mitternacht, die Stille war
nun nah und fern ſo tief geworden, daß ſie in
ein geiſterhaftes Getoͤſe uͤberzugehen ſchien, und
nur, wenn ſich dieſe Taͤuſchung zerſtreute und
man geſammelt horchte, rauſchte und zog der
Fluß immer vernehmlich doch leiſe, wie ein im
Traume klagendes Kind. Ein ſeliger Schauer
ſchien, als ich einen Augenblick ſtand wie feſt¬
gebannt, rings vom Geſichtskreiſe heranzuzittern
an den Berg, in immer engeren Zirkeln bis an
mein Herz heran. Das Gluͤck des Lebens ſchien
ſeinen Rundgang uͤber die ſchlafende Welt zu
machen und, mich auf dem Berge wachend fin¬
dend, mich an die Hand und fuͤr immer an ſeine
Seite zu nehmen. Ich entledigte mich andaͤchtig
meiner naͤrriſchen Umhuͤllung, legte ſie zuſammen,
[108] ſtieg traͤumend den Abhang hinunter und fand den
Weg durch ſtockfinſtere Waldwege nach Hauſe,
ohne zu wiſſen wie.


Am naͤchſten Morgen legte ich denſelben Weg,
der von Thau und Sonne funkelte und blitzte,
mit meinem Geraͤthe beladen, zuruͤck und ſah
bald den See unter dem Morgendufte hervor¬
leuchten. Haus und Garten waren vom jungen
Tag uͤbergoldet und warfen ein reizendes Farben¬
bild in die unbewegte Fluth, zwiſchen den Bee¬
ten bewegte ſich eine blaue Geſtalt, ſo fern und
klein, wie in einem Nuͤrnberger Spielzeuge, das
Bild verſchwand wieder hinter den Baͤumen, um
bald deſto groͤßer und naͤher hervorzutreten und
mich in ſeinen Rahmen mit aufzunehmen. Schul¬
meiſters hatten mit dem Fruͤhſtuͤcke auf mich ge¬
wartet, ich war ſehr eßluſtig geworden durch den
weiten Weg und ſah mich daher mit großer Zu¬
friedenheit hinter dem Tiſche, waͤhrend Anna die
Tugenden eines angehenden Hausmuͤtterchens
auf's Lieblichſte ſpielen ließ und ſich endlich neben
mich ſetzte und ſo zierlich und maͤßig an dem
Eſſen nippte wie eine Elfe, und als ob ſie keine
[109] irdiſchen Beduͤrfniſſe haͤtte. Ich ſah ſie indeß
kaum eine Stunde nachher mit einem maͤchtigen
Stuͤck Brod in der Hand und mir auch ein ſol¬
ches bringend, unbefangen und tuͤchtig dreinbeißen
mit ihren kleinen weißen Zaͤhnen, und dies be¬
gierige Eſſen im Gehen und Plaudern ſtand ihr
eben ſowohl an, wie vorher der beſcheidene An¬
ſtand am Tiſche, und reizte mich, meinen Pferde¬
kopf, wie wir die großen Brodſtuͤcke nannten,
ebenſo ſchnell und luſtig zu verzehren, trotz des
reichlich genoſſenen Fruͤhſtuͤckes.


Nach dieſem war der Vater mit der alten
Magd in ſeinen Weinberg geſtiegen, um von den
reifenden Trauben das Laub zu brechen, welches
den Sonnenſtrahlen den Zugang verſperrte. Die
Beſorgung des Weinberges war, nebſt dem
Schlagen und Kleinmachen des Holzes, ſeine
Hauptarbeit in ſeinem beſchaulichen Leben. Ich
[hingegen]/choice\> ſah mich nach einem Gegenſtande mei¬
ner Thaͤtigkeit um. Anna hatte eine maͤchtige
Wanne voll gruͤner Bohnen der Schwaͤnzchen
und Faͤden zu entledigen und an lange Faͤden zu
reihen, um ſie zum Doͤrren vorzubereiten. Damit
[110] ich in ihrer Naͤhe bleiben konnte, gab ich vor,
ich muͤßte nun zur Abwechſelung einmal Blumen
nach der Natur malen, und bat ſie, mir einen
Strauß derſelben zu brechen. Der Zuſammen¬
ſtellung wegen begleitete ich ſie in den Garten,
und nach einer guten halben Stunde hatten wir
endlich ein huͤbſches Bouquet beiſammen und
ſetzten es in ein altmodiſches Prunkglas, dieſes
auf einen Tiſch, der in einer Weinlaube hinter
dem Hauſe ſtand, Anna ſchuͤttete ihre Bohnen
rings darum her und wir ſetzten uns einander
gegenuͤber, bis zur Mittagsſtunde arbeitend und
von unſeren gegenſeitigen Lebenslaͤufen, Eltern
und Familien erzaͤhlend. Ich war nun ganz
erwaͤrmt und heimiſch geworden und begann bald
mit der Ueberlegenheit eines Bruders dem guten
Kinde mit wichtigen Urtheilen, eingeſtreuten Be¬
merkungen und Belehrungen zu imponiren, in¬
deſſen ich meine Blumen mit verwegenen bunten
Farben anlegte und ſie mir erſtaunt und ver¬
gnuͤgt zuſchaute, uͤber den Tiſch gebeugt und ein
Buͤſchel Bohnen in der einen, das kleine Taſchen¬
meſſerchen in der anderen Hand. Ich zeichnete
[111] den Strauß in natuͤrlicher Groͤße auf einen Bo¬
gen und gedachte damit ein rechtes Prunkſtuͤck
im Hauſe zuruͤckzulaſſen. Inzwiſchen kam die
Magd vom Berge und forderte meine Geſpielin
auf, ihr zum Bereiten des Eſſens behuͤlflich zu
ſein. Dieſe kurze Trennung, dann das Wieder¬
ſehen am Tiſche, die Ruheſtunde nach demſelben,
das aufrichtige Bewundern meiner vorgeſchritte¬
nen Arbeit von Seiten des Schulmeiſters, ge¬
wuͤrzt mit weiſen Spruͤchen, und endlich die Aus¬
ſicht auf ein abermaliges Zuſammenſein bis zum
Abend in der Laube veranlaßten ebenſo viele
angenehme Bewegungen und Zwiſchenſpiele. Anna
ſchien auch meines Sinnes zu ſein, da ſie eben
wieder einen anſehnlichen Haufen Bohnen auf
den Tiſch ſchuͤttete, welcher bis zum Abend aus¬
zureichen ſchien. Allein die Haushaͤlterin erſchien
ploͤtzlich und erklaͤrte, daß Anna mit in den
Weinberg muͤßte, damit man heute mit demſel¬
ben noch fertig wuͤrde und eines kleinen Ueber¬
bleibſels wegen nicht am anderen Tage hinzu¬
gehen brauche. Dieſe Erklaͤrung betruͤbte mich
und ich ward ſehr aͤrgerlich uͤber die alte Frau,
[112] Anna hingegen brach ſogleich willig und freund¬
lich auf und bezeigte weder Freude noch Verdruß
uͤber die Aenderung ihres Planes. Die Alte, als
ſie mich bleiben ſah, ſagte, ob ich nicht auch mit
komme, ich werde doch nicht allein hier ſein wol¬
len und es ſei recht ſchoͤn im Weinberge. Allein
ich war nun ſchon zu tief betruͤbt und unwillig
und erklaͤrte, ich muͤßte meine Zeichnung zu Ende
fuͤhren. Demgemaͤß wurde mir ein kleines Flaͤſch¬
chen Wein und Brod in der Stube zurechtgeſetzt
fuͤr die Veſperzeit und der Hausſchluͤſſel uͤber¬
geben, den ich neben mich legte. Bald war ich
allein in der einſamen Gegend und der Nachmit¬
tagsſtille, und fuͤhlte mich nun doch wieder zu¬
frieden. Auch kam dies Alleinſein meinem Mach¬
werke zugut, indem ich mir mehr Muͤhe gab, die
natuͤrlichen Blumen vor mir wirklich zu benutzen
und an ihnen zu lernen, waͤhrend ich am Vor¬
mittage mehr nach meiner fruͤheren Kindermanier
drauf losgepinſelt hatte. Ich miſchte die Farben
genauer und verfuhr reinlicher und aufmerk¬
ſamer mit den Formen und Schattirungen, und
dadurch entſtand ein Bild, welches an der
[113] Wand unſchuldiger Landbewohner Etwas vorſtel¬
len konnte.


Daruͤber verfloß die Zeit ſchnell und leicht
und brachte den Abend, indeſſen ich mit Liebe
die Zeichnung nach meiner Einſicht vervollkomm¬
nete und uͤberall ein Blatt oder einen Blumen¬
ſtiel ausbeſſerte und einen Schatten verſtaͤrkte,
dort einen vergeſſenen Staubfaden hinzufuͤgte.
Die Neigung fuͤr das Maͤdchen lehrte mich dies
gewiſſenhafte Fertigmachen und Durchgehen der
Arbeit, welches ich bis dahin noch nicht gekannt,
und als ich gar nichts mehr anzubringen ſah,
ſchrieb ich in eine Ecke des Blattes »Heinrich
Lee fecit.«, was ich mir anderswo ſchon gemerkt
hatte, und unter den Strauß mit ſchoͤner Schrift
den Namen der kuͤnftigen Eigenthuͤmerin.


Der Weinberg mußte inzwiſchen noch ein
großes Stuͤck Arbeit gegeben haben, denn ſchon
ſchwebte die Sonne dicht uͤber dem Waldrande
und warf ein feuerfarbenes Band uͤber das dun¬
kelnde Gewaͤſſer her und noch hoͤrte ich nichts von
meinen Gaſtfreunden. Ich ſetzte mich auf die
Stufen vor dem Hauſe, den Wein und das
II. 8[114] Brod neben mir, wie ein Arbeiter, der ſeines
Lohnes werth iſt. Die Sonne ging hinab und
ließ eine hohe Roſengluth zuruͤck, welche auf
Alles einen ſterbenden Nachglanz warf und die
Zeichnung auf meinen Knieen ſammt meinen
Haͤnden wunderbar roͤthete und etwas Rechtem
gleichſehen ließ. Da ich ſehr fruͤh aufgeſtanden
war und in dieſem Augenblicke auch ſonſt nichts
Beſſeres zu thun wußte, ſchlief ich allmaͤlig ein,
und als ich erwachte, ſtanden die Zuruͤckgekehrten
in der vorgeruͤckten Daͤmmerung vor mir und am
dunkelblauen Himmel wieder die Sterne. Meine
Malerei wurde nun in der Stube bei Licht be¬
ſehen, die Magd ſchlug die Haͤnde uͤber den Kopf
zuſammen und hatte noch nie etwas Aehnliches
erblickt, der Schulmeiſter fand mein Werk gut
und belobte meine Artigkeit gegen ſein Toͤchter¬
chen mit ſchoͤnen Worten und freute ſich daruͤber,
Anna laͤchelte vergnuͤgt auf das Geſchenk, wagte
aber nicht, es anzuruͤhren, ſondern ließ es auf
dem flachen Tiſche liegen und guckte nur hinter
den Anderen hervor daruͤber hin. Wir nahmen
nun das Nachtmahl ein, nach welchem ich auf¬
[115] brechen wollte; aber der Schulmeiſter verhinderte
mich daran und gab Befehl, mir ein Lager zu be¬
reiten, da ich mich auf dem dunklen Berge unfehl¬
bar verirren wuͤrde. Obgleich ich einwandte, daß
ich den naͤchtlichen Weg ja ſchon einmal zuruͤck¬
gelegt haͤtte, ließ ich mich doch leicht bereden,
aus bloßer Freundſchaft da zu bleiben, worauf
wir in den kleinen Saal mit der Orgel gingen.
Der Schulmeiſter ſpielte und Anna und ich ſan¬
gen dazu einige Abendlieder, und der Magd zu
Gefallen, welche gern mitſang, einen Pſalm, den
ſie mit heller Stimme beherrſchte. Dann ging
der Alte zu Bette. Doch jetzt begann erſt die
Herrſchaft der alten Katherine, welche unten in
der Stube einen ungeheuren Vorrath von Boh¬
nen aufgethuͤrmt hatte, welche heute Nacht noch
ſaͤmmtlich bearbeitet werden ſollten. Denn da
ſie Nachts nicht viel ſchlafen konnte, beharrte ſie
hartnaͤckig auf der laͤndlichen Sitte, dergleichen
Dinge bis tief in die Nacht hinein vorzunehmen.
So ſaßen wir bis um Ein Uhr um den gruͤnen
Bohnenberg herum und trugen ihn allmaͤlig ab,
indem Jedes einen tiefen Schacht vor ſich hinein¬
[116] grub und die Alte den ganzen Vorrath ihrer
Sagen und Schwaͤnke heraufbeſchwor und uns
Beide, die wir wach und munter blieben, wie
Wieſelchen, ſo lachen machte, daß uns die Thraͤ¬
nen uͤber die Wangen liefen. Anna, welche mir
gegenuͤber ſaß, baute ihren Hohlweg in die Boh¬
nen hinein mit vieler Kunſt, eine Bohne nach
der andern herausnehmend, und grub unvermerkt
einen unterirdiſchen Stollen, ſo daß ploͤtzlich ihr
kleines Haͤndchen in meiner Hoͤhle zu Tage trat,
als ein Bergmaͤnnchen, und von meinen Bohnen
wegſchleppte in die grauliche Finſterniß hinein.
Katherine belehrte mich, daß Anna der Sitte ge¬
maͤß verpflichtet ſei, mich zu kuͤſſen, wenn ich
ihre Finger erwiſchen koͤnne, jedoch duͤrfe der
Berg daruͤber nicht zuſammenfallen, und ich
legte mich deshalb auf die Lauer. Nun grub ſie
ſich noch verſchiedene Wege und begann mich auf
die liſtigſte Weiſe zu necken; die Hand in der
Tiefe des Bohnengebirges verſteckt, ſah ſie mich
uͤber daſſelbe her mit ihren blauen Augen neckiſch
an, indeſſen ſie hier eine Fingerſpitze hervorgucken
ließ, dort die Bohnen bewegte, wie ein unſicht¬
[117] barer Maulwurf, dann ploͤtzlich mit der gan¬
zen Hand hervorſchoß und wieder zuruͤckſchluͤpfte,
wie ein Maͤuschen in's Loch, ohne daß es mir
je gelang, ſie zu haſchen. Sie trieb es ſo weit,
mir immer auf die Augen ſehend, daß ſie ploͤtzlich
eine Bohne, die ich eben ergreifen wollte, meinen
Fingern entzog, ohne daß ich wußte, wo dieſelbe
hingekommen. Katherine bog ſich zu mir her¬
uͤber und fluͤſterte mir in's Ohr: »Laßt ſie nur
machen, wenn ihr der Bau endlich zuſammen¬
bricht uͤber den vielen Loͤchern, ſo muß ſie Euch
auf jeden Fall kuͤſſen!« Anna wußte jedoch ſo¬
gleich, was die Alte zu mir ſagte; ſie ſprang
auf, tanzte drei Mal um ſich ſelbſt herum, klatſchte
in die Haͤnde und rief: »Er bricht nicht! er bricht
nicht, er bricht nicht!« Beim dritten Male gab
Katherine mit ihrem Fuße dem Tiſche ſchnell
einen Stoß und der unterhoͤhlte Berg ſtuͤrzte
jammervoll zuſammen. »Gilt nicht, gilt nicht!«
rief Anna ſo laut und ſprang ſo ausgelaſſen im
Zimmer umher, wie man es gar nicht hinter ihr
vermuthet haͤtte. »Ihr habt an den Tiſch geſtoßen,
ich hab' es wohl geſehen!«


[118]

»Es iſt nicht wahr,« behauptete Katherine,
»Heinrich bekommt einen Kuß von Dir, Du
Hexe!«


»Ei ſchaͤme Dich doch, ſo zu luͤgen, Kathe¬
rine,« ſagte das verlegene Kind, und die uner¬
bittliche Magd erwiederte: »Sei dem wie ihm
wolle, der Berg iſt gefallen, ehe Du Dich drei
Mal gedreht haſt, und Du biſt dem Herrn Hein¬
rich einen Kuß ſchuldig!«


»Den will ich auch ſchuldig bleiben,« rief ſie
lachend, und ich, ſelbſt froh der feierlichen Zere¬
monie entflohen zu ſein und doch die Sache zu
meinem Vortheile lenkend, ſagte: »Gut, ſo ver¬
ſprich mir, daß Du mir immer und jederzeit
einen Kuß ſchuldig ſein willſt!«


»Ja, das will ich,« rief ſie und ſchlug leicht¬
ſinnig und muthwillig auf meine dargebotene
Hand, daß es ſchallte. Sie war jetzt uͤberhaupt
ganz lebendig, laut und beweglich wie Queckſilber
und ſchien ein ganz anderes Weſen zu ſein, als
am Tage. Die Mitternacht ſchien ſie zu ver¬
wandeln, ihr Geſichtchen war ganz geroͤthet und
ihre Augen glaͤnzten vor Freude. Sie tanzte
[119] um die unbehuͤlfliche Katherine herum, neckte
ſie und wurde von ihr verfolgt, es entſtand eine
Jagd in der Stube umher, in welche ich auch
verwickelt wurde. Die alte Katherine verlor
einen Schuh und zog ſich keuchend zuruͤck, aber
Anna ward immer wilder und behender. End¬
lich haſchte ich ſie und hielt ſie feſt, ſie legte ohne
Weiteres ihre Arme um meinen Hals, naͤherte
ihren Mund dem meinigen und ſagte leiſe, vom
haſtigen Athmen unterbrochen:

»Es wohnt ein weißes Maͤuschen

Im gruͤnen Bergeshaus;

Das Haͤuslein wollte fallen,

Das Maͤuslein floh daraus;«

worauf ich in gleicher Weiſe fortfuhr:

»Man hat es noch gefangen,

Am Fuͤßchen angebunden

Und um die Vordertaͤtzchen

Ein rothes Band gewunden;«

dann ſagten wir Beide im gleichen Rhythmus
und indem wir uns geruhig hin und her wiegten:


»Es zappelte und ſchrie:

Was hab' ich denn verbrochen?

Da hat man ihm in's Herzlein

Ein goldnen Pfeil geſtochen «
[120]

Und als das Liedchen zu Ende war, lagen
unſere Lippen dicht auf einander, aber ohne ſich
zu regen; wir kuͤßten uns nicht und dachten gar
nicht daran, nur unſer Hauch vermiſchte ſich auf
der neuen, noch ungebrauchten Bruͤcke und das
Herz blieb froh und ruhig.


Am andern Morgen war Anna wieder wie
gewoͤhnlich, ſtill und freundlich; der Schulmei¬
ſter begehrte die Zeichnung bei Tage zu beſehen,
und da ergab es ſich, daß ſie von Anna ſchon
in den unzugaͤnglichſten Gelaſſen ihres Kaͤmmer¬
chen verwahrt und begraben worden. Sie mußte
dieſelbe aber wieder hervorholen, was ſie ungern
that, der Vater nahm einen Rahmen von der
Wand, in welchem eine vergilbte und verdorbene
Gedaͤchtnißtafel der Theuerung von 1817 hing,
nahm ſie heraus und ſteckte den friſchen bunten
Bogen hinter das Glas. »Es iſt endlich Zeit,
daß wir dies traurige Denkmal von der Wand
nehmen,« ſagte er, »da es ſelber nicht laͤnger
vorhalten will. Wir wollen es zu anderen ver¬
ſchollenen und verborgenen Denkzeichen legen und
dafuͤr dieſes bluͤhende Bild des Lebens auf¬
[121] pflanzen, das uns unſer junge Freund geſchaffen.
Da er Dir die Ehre erwieſen hat, liebes Aenn¬
chen, Deinen Namen unter die Blumen zu ſetzen,
ſo mag die Tafel zugleich Deine Ehren- und
Denktafel in unſerem Hauſe ſein und ein Vor¬
bild, immer heiter, mit geſchmuͤckter Seele und
ſchuldlos zu leben, wie dieſe zierlichen und ehr¬
baren Werke Gottes!«


Nach Tiſch machte ich mich endlich bereit zur
Ruͤckkehr; Anna erinnerte ſich, daß heute wieder
Tanzuͤbung ſtattfinde und erbat ſich die Erlaub¬
niß, gleich mit mir gehen zu duͤrfen. Zugleich
verkuͤndete ſie, daß ſie bei ihren Baſen uͤbernach¬
ten wuͤrde, um nicht wieder ſo ſpaͤt uͤber den
Berg zu muͤſſen. Wir waͤhlten den Weg laͤngs
des Fluͤßchens, um im Schatten zu gehen, und
da dieſer Pfad vielfach feucht war und von tie¬
fen Kraͤutern und Geſtraͤuchen beengt, ſchuͤrzte ſie
das hellgruͤne, mit rothen Punkten beſetzte Kleid,
nahm den Strohhut der uͤberhaͤngenden Zweige
wegen in die Hand und ſchritt anmuthig neben
mir her durch das Helldunkel, durch welches die
heimlich leuchtenden Wellen uͤber roſenrothe, weiße
8 *[122] und blaue Steine rieſelten. Ihre Goldzoͤpfe hin¬
gen tief uͤber den Nacken hinab, ihr Geſicht war
von einer allerliebſten weißen Krauſe von eigener
Erfindung eingefaßt und dieſelbe bedeckte noch
die jungen ſchmalen Schultern. Sie ſagte nicht
viel und ſchien ſich ein wenig der vergangenen
Nacht zu ſchaͤmen; uͤberall, wo ich Nichts ge¬
wahrte, ſah ſie verborgene Bluͤthen und brach
dieſelben, daß ſie bald alle Haͤnde voll zu tragen
hatte. An einer Stelle, wo das Waſſer ſich in
einer Erweiterung des Bettes ſammelte und ſtille
ſtand, warf ſie ihre ſaͤmmtliche Laſt zu Boden
und ſagte: »Hier ruht man aus!« Wir ſetzten
uns an den Rand des Teiches; Anna flocht einen
feinen Kranz aus den kleinen vornehmen Wald¬
blumen und ſetzte ihn auf. Nun ſah ſie ganz
aus wie ein holdſeliges Maͤhrchen, aus der tiefen,
dunkelgruͤnen Fluth ſchaute ihr Bild laͤchelnd
herauf, das weiß und rothe Geſicht wie durch
ein dunkles Glas fabelhaft uͤberſchattet. Aus der
gegenuͤberliegenden Seite des Waſſers, nur zwan¬
zig Schritte von uns, ſtieg eine Felswand empor,
beinahe ſenkrecht und nur mit wenigem Geſtraͤuche
[123] behangen. Ihre Steile verkuͤndete, wie tief hier
das kleine Gewaͤſſer ſein muͤſſe, und ihre Hoͤhe
betrug diejenige einer großen Kirche. An der
Mitte derſelben war eine Vertiefung ſichtbar, die
in den Stein hineinging und zu welcher man
durchaus keinen Zugang entdeckte. Es ſah aus
wie ein recht breites Fenſter an einem Thurme.
Anna erzaͤhlte, daß dieſe Hoͤhle die Heidenſtube
genannt wuͤrde. »Als das Chriſtenthum in das
Land drang,« ſagte ſie, »da mußten ſich die
Heiden verbergen, welche nicht getauft ſein
wollten. Eine ganze Haushaltung mit vielen
Kindern fluͤchtete ſich in das Loch dort oben,
man weiß gar nicht auf welche Weiſe. Und man
konnte nicht zu ihnen gelangen, aber ſie fanden
den Weg auch nicht mehr heraus. Sie hauſten
und kochten eine Zeitlang und ein Kindlein nach
dem andern fiel ihnen uͤber die Wand herunter
in's Waſſer hier und ertrank. Zuletzt waren nur
noch Vater und Mutter uͤbrig und hatten nichts
mehr zu eſſen und nichts zu trinken, und zeigten
ſich als zwei Jammergerippe am Eingange und
ſtarrten auf das Grab ihrer Kinder, zuletzt fielen
[124] ſie vor Schwaͤche auch herunter, und die ganze
Familie liegt in dieſem tiefen, tiefen Waſſer;
denn hier geht es ſo weit hinunter, als der Stein
hoch iſt!«


Wir ſchauten, in tiefem Schatten ſitzend, in
die Hoͤhe, wo der obere Theil des grauen Felſens
im Sonnenſcheine glaͤnzte und die ſeltſame Ver¬
tiefung erhellt war. Wie wir ſo hinſchauten,
ſahen wir einen blauen glaͤnzenden Rauch aus
der Heidenſtube dringen und laͤngs der Wand
hinſteigen, und wie wir laͤnger hinſtarrten, ſahen
wir ein fremdartiges Weib, lang und hager, in
der webenden Rauchwolke ſtehen, herabblicken aus
hohlen Augen und wieder verſchwinden. Sprach¬
los ſahen wir hin, Anna ſchmiegte ſich dicht an
mich und ich legte meinen Arm um ſie, wir wa¬
ren erſchreckt und doch gluͤcklich, und das Bild
der Hoͤhle ſchwamm verwirrt und verwiſcht vor
unſeren emporgerichteten Augen, und als es wie¬
der klar wurde, ſtanden ein Mann und ein Weib
in der Hoͤhe und ſchauten auf uns herab. Eine
ganze Orgelpfeifenreihe von Knaben und Maͤd¬
chen, halb oder ganz nackt, ſaß unter dem Loche
[125] und hing die Beine uͤber die Wand herunter.
Alle Augen ſtarrten nach uns, ſie laͤchelten
ſchmerzlich und ſtreckten die Haͤnde nach uns aus,
wie wenn ſie um Etwas flehten. Es ward uns
bange, wir ſtanden eilig auf, Anna fluͤſterte, in¬
dem ſie perlende Thraͤnen vergoß: »O, die armen,
armen Heidenleute!« Denn ſie glaubte feſt, die
Geiſter derſelben zu ſehen, beſonders da man in
der Gegend uͤberzeugt war, daß kein menſchlicher
Weg zu jener Stelle fuͤhre. »Wir wollen ihnen
etwas opfern,« ſagte das Maͤdchen leiſe zu mir,
»damit ſie unſer Mitleid gewahr werden!« Sie
zog eine Muͤnze aus ihrem Beutelchen, ich ahmte
ihr nach und wir legten unſere Spende auf einen
Stein, der am Ufer lag. Noch einmal ſahen wir
hinauf, wo die ſeltſame Erſcheinung uns fort¬
waͤhrend beobachtete und mit dankenden Gebehr¬
den nachſchaute.


Als wir im Dorfe anlangten, hieß es, man
habe eine Bande Heimathloſer in der Gegend
geſehen und man wuͤrde dieſelben naͤchſter Tage
aufſuchen, um ſie uͤber die Graͤnze zu bringen.
Anna und ich konnten uns nun die Erſcheinung
[126] erklaͤren, es mußte doch ein geheimer Weg dort¬
hin fuͤhren, welcher nur unter dem ungluͤcklichen
Volke, das ſolche Schlupfwinkel braucht, bekannt
ſein mochte. Wir gaben uns in einem einſamen
Winkel feierlich das Wort, den Aufenthalt der
Armen nicht zu verrathen, und hatten nun ein
artiges Geheimniß zuſammen.


So lebten wir, unbefangen und gluͤcklich,
manche Tage dahin, bald ging ich uͤber den Berg,
bald kam Anna zu uns, und unſere Freundſchaft
galt ſchon fuͤr eine ausgemachte Sache, an der
Niemand ein Arges fand, und ich war am Ende
der Einzige, welcher heimlich ihr den Namen
Liebe gab, weil mir einmal nach alter Weiſe
Alles ſich zum entſchiedenen Romane geſtaltete.


Um dieſe Zeit erkrankte meine Großmutter,
nach und nach, doch immer ernſtlicher, und nach
wenigen Wochen ſah man, daß ſie ſterben wuͤrde.
Sie hatte genug gelebt und war muͤde; ſo lange
ſie noch bei guten Sinnen war, ſah ſie gern,
wenn ich eine Stunde oder zwei an ihrem Bette
verweilte, und ich fuͤgte mich willig dieſer Pflicht,
obgleich der Anblick ihres Leidens und der Aufent¬
[127] halt in der dumpfen Krankenſtube mir ungewohnt
und truͤbſelig waren. Als ſie aber in das eigent¬
liche Sterben kam, welches mehrere Tage dauerte,
wurde mir dieſe Pflicht zu einer ernſten und
ſtrengen Uebung. Ich hatte noch nie Jemanden
ſterben ſehen und ſah nun die bewußtloſe, oder
wenigſtens ſo ſcheinende Greiſin mehrere Tage
roͤchelnd im Todeskampfe liegen, denn ihr Lebens¬
funke mochte faſt nicht erloͤſchen. Die Sitte ver¬
langte, daß immer mindeſtens drei Perſonen in
dem Gemache ſich aufhielten, um abwechſelnd zu
beten und den fremden Beſuchern, welche unab¬
laͤſſig eintraten, die Ehren zu erweiſen und Nach¬
richt zu geben. Nun hatten aber die Leute, bei
dem goldenen Wetter, gerade viel zu arbeiten,
und ich, der ich nichts zu thun hatte und gelaͤu¬
fig las, war ihnen daher willkommen und wurde
den groͤßten Theil des Tages am Todesbette
feſtgehalten. Die Weiber hatten zudem insbeſon¬
dere ein großes Beduͤrfniß, die Traurigkeit und
den Schrecken des Todes recht auszubeuten, und
da die Maͤnner ſich niemals lange in der Kam¬
mer aufhielten, waren ſie froh, mich fuͤr Alle
[128] buͤßen zu laſſen und erklaͤrten, der Tod meiner
Großmutter muͤſſe ſich mir recht einpraͤgen, dies
wuͤrde mir fuͤr immer nuͤtzlich ſein. Auf einem
Schemel ſitzend, ein Buch auf den Knieen, mußte
ich mit vernehmlicher Stimme Gebete, Pſalmen
und Sterbelieder leſen, erwarb mir zwar durch
meine Ausdauer die Gunſt der Frauen, wofuͤr
ich aber den ſchoͤnen Sonnenſchein nur von ferne
und den Tod beſtaͤndig in der Naͤhe betrachten
durfte.


Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna
umſehen, obſchon ſie mein ſuͤßeſter Troſt in mei¬
ner asketiſchen Lage war; da erſchien ſie, ſchuͤch¬
tern und manierlich, unverſehens auf der Schwelle
der Krankenſtube, um die ihr ſehr entfernt Ver¬
wandte zu beſuchen. Das junge Maͤdchen war
beliebt und geehrt unter den Baͤuerinnen und
daher jetzt willkommen geheißen, und als ſie ſich,
nach einigem ſtillen Aufenthalte, anbot, mich im
Gebete abzuloͤſen, wurde ihr dies gern geſtattet,
und ſo blieb ſie die noch uͤbrige Sterbenszeit an
meiner Seite und ſah mit mir die ringende
Flamme verloͤſchen. Wir ſprachen ſelten mit ein¬
[129] ander, nur wenn wir uns die geiſtlichen Buͤcher
uͤbergaben, fluͤſterten wir einige Worte, oder wenn
wir Beide frei waren, ruhten wir behaglich neben
einander aus und neckten uns im Stillen, da die
Jugend einmal ihr Recht geltend machte. Als
der Tod eingetreten und die Frauen laut ſchluchz¬
ten, da zerfloß auch Anna in Thraͤnen und konnte
ſich nicht zufrieden geben, da ſie doch der Todes¬
fall weniger beruͤhrte als mich, der ich als Enkel
der Todten, obgleich ernſt und nachdenklich,
trockenen Auges blieb. Ich ward beſorgt fuͤr das
arme Kind, welches immer heftiger weinte, und
fuͤhlte mich ſehr niedergeſchlagen und ungluͤcklich
noch zu der Trauer uͤber den Tod hinzu; denn
ich konnte das zarte Maͤdchen nicht leiden ſehen.
Ich fuͤhrte ſie in den Garten, ſtreichelte ihr die
Wangen und bat ſie inſtaͤndigſt, doch nicht ſo
ſehr zu weinen. Da erheiterte ſich ihr Geſicht,
wie die Sonne durch Regen, ſie trocknete die
Augen und ſah mich urploͤtzlich laͤchelnd an.


Wir genoſſen nun wieder freie Tage und ich
begleitete Anna zur Erholung ſogleich nach Hauſe,
um dort zu bleiben bis zum Leichenbegaͤngniſſe.
II. 9[130] Ich blieb die Zeit uͤber ziemlich ernſt, da der
ganze Verlauf mich angegriffen und mir uͤber¬
dies die Großmutter ſehr lieb und verehrungs¬
wuͤrdig geweſen, ungeachtet ich ſie ſeit Kurzem
kannte. Dieſe Stimmung war nun wiederum
meiner Freundin unbehaglich und ſie ſuchte mich
mit tauſend Liſten aufzuheitern, und glich hierin
den uͤbrigen Frauen, welche alle wieder plaudernd
und raiſonnirend vor ihren Haͤuſern ſtanden.


Der Mann der todten Großmutter that nun,
waͤhrend er ſich bequem fuͤhlte, als ob er ſehr
viel verloren und ſeine Frau im Leben werth ge¬
halten haͤtte. Er ordnete eine pomphafte Leichen¬
feier an, woran uͤber ſechzig Perſonen theilneh¬
men ſollten, und ließ es an Nichts fehlen, alle
alten Gebraͤuche in ihrem vollen Umfange zu
beobachten.


Am bezeichneten Tage begab ich mich mit
dem Schulmeiſter und mit Anna auf den Weg;
er trug einen feierlichen ſchwarzen Frack mit ſehr
breiten Schoͤßen und eine geſtickte weiße Hals¬
binde, Anna ebenfalls ihr ſchwarzes Kirchen¬
gewand und eine ihrer eigenthuͤmlichen Krauſen,
[131] worin ſie ausſah wie eine Art Stiftsfraͤulein.
Den Strohhut hingegen ließ ſie zu Hauſe und
trug ihre Haare beſonders kunſtreich geflochten,
dazu durchdrang ſie heute eine tiefe Froͤmmig¬
keit und Andacht, ſie war ſtill und ihre Bewe¬
gungen voll Sitte, und dieſes Alles ließ ſie in
meinen Augen in neuem unendlichem Reize er¬
ſcheinen. In meine traurig feſtliche Stimmung
miſchte ſich ein ſuͤßer Stolz, mit dieſem liebens¬
wuͤrdigen und ſeltenen Weſen ſo vertraut zu ſein,
und zu dieſem Stolze geſellte ſich eine innige
Verehrung, daß ich meine Bewegungen ebenfalls
maß und zuruͤckhielt und mit eigentlicher Ehr¬
erbietung neben ihr her ging und ihr dienſtbar
war, wo es der unebene Weg erforderte.


Wir machten vorerſt im Hauſe meines Oheims
Halt, deſſen Familie ſchon geruͤſtet war und ſich,
als die Todtenglocke laͤutete, uns anſchloß. Im
Sterbehauſe wurde ich von meinen ſaͤmmtlichen
Begleitern getrennt, da meine Stellung als Enkel
die Gegenwart unter den naͤchſten Leidtragenden
mit ſich brachte, und als der juͤngſte und unmit¬
telbarſte Nachkomme befand ich mich in meinem
9 *[132] gruͤnen Habit an der Spitze der ganzen Trauer¬
geſellſchaft und war den umſtaͤndlichen und lang¬
wierigen Zeremonien zuerſt ausgeſetzt. Die naͤhere
Verwandtſchaft war in der aufgeraͤumten großen
Wohnſtube verſammelt und harrte auf das weib¬
liche Geſchlecht, welches erſcheinen ſollte, um hier
ſeine Beileidsbezeugungen abzuſtatten. Nachdem
wir eine geraume Weile ſtumm und aufrecht
laͤngs den Waͤnden geſtanden, traten nach und
nach viele bejahrte Baͤuerinnen herein, in ſchwar¬
zer Tracht, fingen bei mir an, eine um die an¬
dere, indem ſie mir die Hand boten, ihren Spruch
ſagten und zum Naͤchſten fortſchritten auf gleiche
Weiſe. Dieſe Matronen gingen groͤßtentheils
gebuͤckt und zitternd und ſprachen ihre Worte
mit Ruͤhrung als alte Freundinnen und Be¬
kannte der Seligen und als Solche, welche die
Naͤhe des Todes doppelt empfanden. Sie ſahen
mich alle feſt und bedeutungsvoll an, ich mußte
jeder Einzelnen danken und ſie ebenfalls anſehen,
was ich ohnehin gethan haͤtte, da mir jede dieſer
Geſtalten ihres ausgepraͤgten Lebens und Schick¬
ſales wegen auffallen mußte. Manchmal war
[133] eine noch hohe und kraftvolle alte Frau darunter,
welche aufrecht heranſchritt und mit Seelenruhe
auf mich ſah, dann folgte aber gleich wieder ein
gebeugtes Muͤtterchen, welche an ihrem eigenen
Leiden dasjenige der Geſchiedenen zu kennen und
zu ſchaͤtzen ſchien. Doch wurden die Frauen im¬
mer juͤnger und in gleichem Verhaͤltniſſe mehrte
ſich die Zahl; die Stube war nun vollſtaͤndig
mit dunklen Geſtalten angefuͤllt, die ſich herbei¬
draͤngten, Weiber von vierzig und dreißig Jah¬
ren, voll Beweglichkeit und Neugierde, die ver¬
ſchiedenen Leidenſchaften und Eigenthuͤmlichkeiten
waren kaum durch die gleichmachende Trauer¬
haltung verſchleiert. Der Andrang ſchien kein
Ende nehmen zu wollen; denn nicht nur das
ganze Dorf, ſondern auch viele Frauen aus der
Umgegend waren erſchienen, weil die Großmutter
eines großen Ruhmes unter ihnen genoß, der,
zum Theil verjaͤhrt, jetzt noch einmal in vollem
Glanze ſich geltend machte. Endlich wurden die
Haͤnde glaͤtter und weicher, das juͤngſte Geſchlecht
zog voruͤber und ich war ſchon ganz muͤrbe und
muͤde, als meine Baſen herzutraten, mir auf¬
[134] munternd und freundlich die Hand boten, und
gleich hinter ihnen, wie ein Himmelsbote, die
allerliebſte Anna, welche, blaß und aufgeregt,
mir fluͤchtig das Haͤndchen reichte und ſchim¬
mernde Thraͤnen daruͤber fallen ließ. Weil ich
ſeltſamer Weiſe gar nicht an ſie gedacht und auf
ſie gehofft hatte, ſchwebte ſie mir jetzt um ſo
uͤberraſchender und reizender voruͤber, wie ein
Bild aus gluͤcklicheren Raͤumen.


Zuletzt erſchoͤpfte ſich doch die Frauenwelt und
wir traten vor das Haus, wo eine unabſehbare
Schaar bedaͤchtiger Maͤnner harrte, um mit uns,
die wieder eine Reihe bildeten, den gleichen Ge¬
brauch vorzunehmen. Sie machten es zwar be¬
deutend kuͤrzer und raſcher, als ihre Weiber,
Toͤchter und Schweſtern, allein dafuͤr gebrauchten
ſie ihre ſchwieligen harten Haͤnde wie Schmiede¬
zangen und Schraubſtoͤcke, und aus mancher
Fauſt brauner Ackermaͤnner glaubte ich meine
Hand nicht mehr heil zuruͤckzuziehen.


Endlich ſchwankte der Sarg vor uns her, die
Weiber ſchluchzten und die Maͤnner ſahen bedenk¬
lich und verlegen vor ſich nieder, der Geiſtliche
[135] erſchien auch und machte ſeine Wuͤrde geltend,
und ohne viel zu wiſſen, wie es zugegangen,
ſah ich mich endlich an der Spitze des langen
Zuges auf dem Kirchhofe und dann in die kuͤhle
Kirche verſetzt, welche von der Gemeinde ganz
angefuͤllt wurde. Ich hoͤrte nun mit Verwunde¬
rung und Aufmerkſamkeit den urſpruͤnglichen
Familiennamen, die Abſtammung, das Alter, den
Lebenslauf und das Lob der Großmutter von der
Kanzel verkuͤnden, und ſtimmte von Herzen in
das Verſoͤhnungs- und Ruhelied, welches zum
Schluſſe geſungen wurde. Als ich aber die Schau¬
feln klingen hoͤrte vor der Kirchenthuͤr, draͤngte
ich mich hinaus, um in das Grab zu ſchauen.
Der einfache Sarg lag ſchon darin, viele Men¬
ſchen ſtanden umher und weinten, die Schollen
fielen hart auf den Deckel und verbargen ihn
allmaͤlig, ich ſah erſtaunt hinein und kam mir
fremd und verwundert vor, und die Todte in
der Erde erſchien mir auch fremd und ich fand
keine Thraͤnen. Erſt als es mir durch den Sinn
fuhr, daß es die leibliche Mutter meines Vaters
geweſen und an meine Mutter dachte, welche
[136] einſt auch alſo in die Erde gelegt werde, da ver¬
gegenwaͤrtigte ſich mir wieder mein Zuſammen¬
hang mit dieſem Grabe und das harte Wort:
»Ein Geſchlecht vergeht und das andere entſteht!«
verlor die ſcheinbare Kaͤlte ſeiner Nothwendigkeit.


Der eingeladene Theil der Verſammlung be¬
gab ſich nun wieder nach dem Trauerhauſe, deſ¬
ſen Raͤume alle mit den Vorrichtungen des Lei¬
chenmahles erfuͤllt waren. Als man zu Tiſche
ſaß, verſetzte mich die Sitte wieder an die Seite
des finſtern Wittwers, wo ich zwei volle Stun¬
den aushalten mußte, ohne mit Jemandem ſpre¬
chen zu koͤnnen, ſo lange die erſte herkoͤmmliche
Eſſenszeit mit allen ihren unvermeidlichen Ge¬
richten dauerte. Ich ſah die lange Tafel hinunter
und ſuchte den Schulmeiſter und ſein Kind,
welche auch anweſend waren; ſie mußten aber
im anſtoßenden Zimmer ſein, denn ich fand ſie
nicht.


Anfaͤnglich wurde maͤßig und bedaͤchtig ge¬
ſprochen und die Speiſen in großer Ehrbarkeit
eingenommen. Die Bauern ſaßen aufrecht an
ihre Stuͤhle oder an die Wand gelehnt, in be¬
[137] traͤchtlichem Abſtand vom Tiſche, und ſtachen die
Fleiſchbiſſen mit feierlich ausgeſtrecktem Arme an,
die Gabel am aͤußerſten Ende haltend. So fuͤhr¬
ten ſie ihre Beute auf dem weiteſten Wege zum
Munde und tranken den Wein in kleinen, zuͤch¬
tigen, aber haͤufigen Zuͤgen. Die Aufwaͤrterinnen
trugen die breiten Zinnſchuͤſſeln in erhobenen Haͤn¬
den in der Hoͤhe ihres Geſichtes heran, mit ge¬
meſſenem Paradeſchritt, die Huͤften gewaltig hin
und her wiegend. Wo ſie die Tracht auf den
Tiſch ſetzten, mußten die beiden Zunaͤchſtſitzenden
einen Wettſtreit beginnen, indem ſie ihnen ihre
Glaͤſer zum Trinken boten und Jeder wenigſtens
zwei gute Witze auf den Nebenbuhler losließ;
dieſer kleine Kampf wurde dann dadurch ge¬
ſchlichtet, daß die Aufwaͤrterin aus jedem Glaſe
nippte und mehr oder weniger zufrieden mit der
Ausfuͤhrung dieſer Etiquette ſich zuruͤckzog.


Nach Verfluß zweier langen Stunden wurden
die Gerichte feiner und leckerer, die Roheren unter
den Gaͤſten naͤherten ſich immer mehr dem Tiſche,
legten die Arme darauf, und begannen nun erſt,
auf dem moͤglichſt kuͤrzeſten Wege, ein ungeheures
[138] und heftiges Eſſen, wozu ſie den Wein in tiefen
Zuͤgen ſchluckten. Die Aelteren und Feineren
aber wurden lauter im Geſpraͤche, ruͤckten ihre
Stuͤhle mehr zuſammen und ließen die Unterhal¬
tung allmaͤlig in eine gehaltene Froͤhlichkeit uͤber¬
gehen. Dieſe war wohl zu unterſcheiden von
einer gewoͤhnlichen luſtigen Stimmung und eine
ſymboliſche Abſicht, welche eine heitere Ergebung
in den Lauf der Dinge und das Recht des Le¬
bens gegen den Tod bedeuten ſollte.


Ich fand nun endlich Raum, meinen Platz
zu verlaſſen und umherzugehen. Im naͤchſten
Zimmer fand ich an einer kleineren Tafel Anna
neben ihrem Vater ſitzen, welcher im Kreiſe eini¬
ger Klugen und Frommen die weiſe und froͤhliche
Ergebung in das Unvermeidliche mit ausgezeich¬
neter Kunſt uͤbte. Er machte einigen bejahrten
Frauen den Hof und wußte Jeder noch zu ſagen,
was ſie vor dreißig Jahren gern gehoͤrt; dafuͤr
ſchmeichelten ſie der kleinen Anna, lobten ihre
Manieren und prieſen den Alten gluͤcklich Zu
dieſer Gruppe ſetzte ich mich und horchte neben
Anna auf die beſchaulichen Reden der Alten.
[139] Dabei hielten wir Zwei, denen nun erſt vergnuͤg¬
lich zu Muthe wurde, noch eine kleine Mahlzeit
aus der gleichen Schuͤſſel und tranken zuſammen
ein Glas Wein.


Auf einmal fing es uͤber unſeren Koͤpfen an
zu brummen und zu quieken. Geige, Baß und
Klarinette wurden angeſtimmt und ein Waldhorn
erging ſich in ſchwuͤlen, verliebten Toͤnen. Waͤh¬
rend der ruͤſtige Theil der Verſammlung aufbrach
und nach dem geraͤumigen Boden hinaufſtieg,
ſagte der Schulmeiſter: »So muß es alſo doch
getanzt ſein? Ich glaubte, dieſer Gebrauch waͤre
endlich abgeſchafft, und gewiß iſt dies Dorf das
einzige weit und breit, wo er noch manchmal
geuͤbt wird! Ich ehre das Alte, aber Alles,
was ſo heißt, iſt doch nicht ehrwuͤrdig und taug¬
lich! Indeſſen moͤgt Ihr einmal zuſehen, Kinder,
damit Ihr ſpaͤter noch davon ſagen koͤnnt; denn
hoffentlich wird das Tanzen auf Leichenbegaͤng¬
niſſen endlich doch verſchwinden!«


Wir huſchten ſogleich hinaus, wo auf der
Flur und der Treppe, die nach oben fuͤhrte, die
Menge ſich zu einem Zuge ordnete und paarte,
[140] denn ungepaart durfte Niemand hinaufgehen. Ich
nahm daher Anna bei der Hand und ſtellte mich
in die Reihe, welche ſich, von den Muſikanten
angefuͤhrt, in Bewegung ſetzte. Man ſpielte
einen elendiglichen Trauermarſch, zog nach ſeinem
Takte dreimal auf dem Boden herum, der zum
Tanzſaal umgewandelt war, und ſtellte ſich dann
in einen großen Kreis. Hierauf traten ſieben
Paare in die Mitte und fuͤhrten einen ſchwer¬
faͤlligen alten Tanz auf von ſieben Figuren mit
ſchwierigen Spruͤngen, Kniefaͤllen und Verſchlin¬
gungen, wozu ſchallend in die Haͤnde geklatſcht
wurde. Nachdem dies Schauſpiel ſeine gehoͤrige
Zeit gedauert hatte, erſchien der Wirth, ging ein¬
mal durch die Reihen, dankte den Gaͤſten fuͤr
ihre Theilnahme an ſeinem Leid und fluͤſterte
hier und dort einem jungen Burſchen, daß es
Alle ſahen, in die Ohren, er moͤchte ſich die
Trauer nicht allzuſehr zu Herzen gehen und ihn
in ſeinem Schmerze jetzt nur allein und einſam
laſſen, er empfoͤhle ihm vielmehr, ſich nun wieder
des Lebens zu freuen. Hierauf ſchritt er wieder
geſenkten Hauptes von dannen und ſtieg die
[141] Treppe hinunter, als ob es direkt in den Tarta¬
rus ginge. Die Muſik aber ging ploͤtzlich in
einen luſtigen Hopſer uͤber, die Aelteren zogen
ſich zuruͤck und die Jugend brauſte jauchzend und
ſtampfend uͤber den droͤhnenden Boden hin. Anna
und ich ſtanden, noch immer Hand in Hand,
verwundert an einem Fenſter und ſchauten dem
daͤmoniſchen Wirbel zu. Auf der Straße ſahen
wir die uͤbrige Jugend des Dorfes dem Geigen¬
klange nachziehen; die Maͤdchen ſtellten ſich vor
die Hausthuͤr, wurden von den Knaben herauf¬
geholt, und wenn ſie einen Tanz gethan, hatten
ſie das Recht erworben, aus den Fenſtern die
Burſchen, die noch unten waren, heraufzurufen.
Es wurde Wein gebracht und in allerhand Dach¬
winkeln kleine Trinkſtaͤtten hergeſtellt, und bald
verſchmolz Alles in Einen rauſchenden und toben¬
den Wirbel der Luſt, welche ſich in ihrem Laͤrm
um ſo ſonderbarer ausnahm, als es Werktag
war und das Dorf ringsherum in gewoͤhnlicher
ſtiller Arbeit begriffen.


Nachdem wir lange Zeit zugeſchaut, fort¬
gegangen und wieder gekommen waren, ſagte
[142] Anna erroͤthend, ſie moͤchte einmal probiren, ob
ſie in der großen Menge tanzen koͤnne. Dieſes
kam mir ſehr gelegen und wir drehten uns im
ſelben Augenblicke in den Kreiſen eines Walzers
dahin. Von nun an tanzten wir mehrere Stun¬
den ununterbrochen, ohne muͤde zu werden, die
Welt und uns ſelbſt vergeſſend. Wenn die Mu¬
ſik eine Pauſe machte, ſo ſtanden wir nicht ſtill,
ſondern ſetzten unſern Weg durch die Menge fort
in raſchem Schritte und fingen mit dem erſten
Tone wieder zu tanzen an, wir mochten gerade
gehen, wo es war.


Mit dem erſten Tone der Abendglocke aber
ſtand auf einmal der Tanz ſtill mitten in einem
Walzer, die Paare ließen ihre Haͤnde fahren, die
Dirnen wanden ſich aus den Armen der Taͤnzer,
und Alles eilte, ſich ehrbar begruͤßend, die Treppe
hinunter, ſetzte ſich noch einmal hin, um Kaffee
mit Kuchen zu genießen und dann ruhig nach
Hauſe zu gehen. Anna ſtand, mit gluͤhendem
Geſichte, noch immer in meinem Arme und ich
ſchaute verbluͤfft umher. Sie laͤchelte und zog
mich fort; wir fanden ihren Vater nicht mehr im
[143] Hauſe und gingen weg, ihn beim Oheim aufzu¬
ſuchen. Es war Daͤmmerung draußen und die
allerſchoͤnſte Nacht brach an. Als wir auf den
Kirchhof kamen, lag das friſche Grab einſam
und ſchweigend, vom aufgehenden goldfarbenen
Monde beſtreift. Wir ſtanden vor dem braunen,
nach feuchter Erde duftenden Huͤgel und hielten
uns umfangen, zwei Nachtfalter flatterten durch
die Buͤſche, die vielen Bluͤthen gaben einen maͤch¬
tigen Duft und Anna athmete erſt jetzt ſchnell
und ſtark. Wir gingen zwiſchen den Graͤbern
umher, fuͤr dasjenige der Großmutter einen Strauß
zu ſammeln, und geriethen dabei, im tiefen
thauigen Graſe wandelnd, in die verworrenen
Schatten der uͤppigen Grabgeſtraͤuche. Da und
dort blinkte eine matte goldene Schrift aus dem
Dunkel oder leuchtete ein Buſch weißer Roſen
wie Schnee hervor, Anna brach, da hier von
abgegraͤnztem Eigenthume nicht die Rede war,
ihr aufgeſchuͤrztes ſchwarzes Kleid ganz voll wei¬
ßer und rother Roſen, und als ſie, damit beladen
und beide Haͤnde beſchaͤftigt, mit dem Koͤpfchen
ſich in den Zweigen eines dichten dunklen Hol¬
[144] lunderſtrauches fing, ich ſie befreien wollte und
wir beide ſo in der ſtark duftenden Finſterniß
ſtanden, da fluͤſterte ſie, ſie moͤchte mir jetzt etwas
ſagen, aber ich muͤßte ſie nicht auslachen und es
verſchweigen. Ich fragte: Was? und ſie ſagte,
ſie wolle mir jetzt den Kuß geben, den ſie mir
von jenem Abend her ſchuldig ſei. Ich hatte
mich ſchon zu ihr geneigt und wir kuͤßten uns
zwei oder drei Mal, aber hoͤchſt ungeſchickt, wir
ſchaͤmten uns, eilten zum Grabe, Anna warf die
Blumenlaſt darauf hin, wir fielen uns um den
Hals und kuͤßten uns eine Viertelſtunde lang
unaufhoͤrlich, zuletzt ganz vollendet und ſchul¬
gerecht.

[[145]]

Viertes Kapitel.

Als Anna mit ihrem Vater noch ſpaͤt ſich
verabſchiedete, war ich in dem Augenblicke nicht
zugegen und ſie konnte mir daher nicht Adieu
ſagen. Obgleich ich ſchmerzlich betroffen war, als
ich ſie nicht mehr zugegen fand, uͤberwog doch
mein junges Seelengluͤck; auf meiner Kammer
lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fen¬
ſter und ſah die Geſtirne ihren fernen Gang thun,
und die Wellen unter mir trugen das Monden¬
ſilber auf ihren klaren Schultern haſtig und
kichernd zu Thal, als ob ſie es geſtohlen haͤtten,
warfen hier und da einige Schimmerſtuͤcke an's
Ufer, als ob ſie ihnen zu ſchwer wuͤrden, und
ſangen fort und fort ihr muthwilliges Wanderlied.
Auf meinem Munde lag es unſichtbar, aber ſuͤß
und warm und doch friſch und thaukuͤhl.


II. 10[146]

Als ich ſchlafen ging, ſpukte und rauſchte es
die ganze Nacht auf meinen Lippen, durch Traum
und Wachen, welche oft und heftig wechſelten:
ich ſank von Traum zu Traum, farbig und
blitzend, dunkel und ſchwuͤl, dann wieder ſich er¬
hellend aus dunkelblauer Finſterniß zu blumen¬
durchwogter Klarheit, ich traͤumte nie von Anna,
aber ich kuͤßte Baumblaͤtter, Blumen und die
lautere Luft und wurde uͤberall wieder gekuͤßt,
fremde Frauen gingen uͤber den Kirchhof und
wateten durch den Fluß mit ſilberglaͤnzenden Fuͤ¬
ßen, die eine trug Anna's ſchwarzes Gewand, die
andere ihr blaues, die dritte ihr gruͤnes mit den
rothen Bluͤmchen, die vierte ihre Halskrauſe,
und wenn mich dies aͤngſtigte und ich ihnen
nachlief und daruͤber erwachte, war es, als ob
die wirkliche Anna von meinem Lager ſoeben
und leibhaftig wegſchliche, daß ich verwirrt und
betaͤubt auffuhr und ſie laut beim Namen rief,
bis mich die ſtille Glanznacht, welche getreulich
im Thale lag, zu mir ſelbſt brachte und in neue
Traͤume huͤllte.


So ging es in den hellen Morgen hinein und
[147] beim Erwachen war ich wie von einem heißen
Quell der Gluͤckſeligkeit durchtraͤnkt und berauſcht.
Die Nacht in meinem Bewußtſein war wie ein
großes ſchoͤnes Ereigniß und alle ihre verwirrten
Traͤume ließen den Eindruck der ſchoͤnſten Wirk¬
lichkeit zuruͤck, ich war wie ein neuer Menſch,
reicher an Wiſſen und Erfahrung als geſtern,
und doch wußte ich Nichts und haͤtte es in keine
Worte faſſen koͤnnen.


Ich ging noch immer trunken und traͤumend
unter meine Verwandten und fand in der Wohn¬
ſtube den benachbarten Muͤller vor, welcher mit
einem leichten Fuhrwerke meiner harrte, um mich
mit nach der Stadt zu nehmen. Meine Ruͤckkehr
war naͤmlich, ſeit einiger Zeit beſtimmt, an die
Geſchaͤftsreiſe dieſes Mannes geknuͤpft und zu¬
faͤllig verabredet worden, da das Fahren mit ihm
einige Bequemlichkeit bot. Ich fragte nach dieſer
ohnehin nicht viel, der Muͤller erſchien zudem un¬
erwartet und fruͤher als man geglaubt, mein
Oheim und ſeine Sippſchaft forderten mich auf,
ihn fahren zu laſſen und zu bleiben, in meinem
Herzen ſchrie es nach Anna und nach dem ſtillen
10 *[148] See — aber ich verſicherte ernſthaft, daß meine
Verhaͤltniſſe geboͤten, dieſe Gelegenheit zu be¬
nutzen, fruͤhſtuͤckte eilig, nahm einige meiner Sa¬
chen zuſammen und von den verbluͤfften und faſt
unwilligen Verwandten Abſchied und ſetzte mich
mit dem Muͤller auf das Waͤgelchen, welches
ohne Aufenthalt zum Dorfe hinaus und bald auf
der ſtaubigen Landſtraße dahinrollte. Dies Alles
that ich halb unbewußt in der Verwirrung, zum
Theil, weil ich waͤhnte, man wuͤrde mir auf der
Stelle anſehen, daß ich wegen Anna bliebe und
daß ich ſie wirklich liebe, und endlich auch aus
unerklaͤrlicher Laune.


Sobald ich hundert Schritte vom Dorfe ent¬
fernt war, reute mich meine Abreiſe, ich waͤre
gern vom Wagen geſprungen, und drehte den
Kopf immerwaͤhrend zuruͤck nach den Hoͤhen,
welche um den See lagen, und ſchaute ſie an,
ohne zu gewahren, wie ſie unter meinen Augen
blau und klein wurden und hinter meinem Ruͤcken
das Hochgebirge aus groͤßern und tiefern Seeen
emporſtieg.


Ich konnte mich in den erſten Tagen meiner
[149] Ruͤckkehr kaum zurechtfinden. Im Angeſichte der
großartigen und ſchoͤnen Landſchaft, welche die
Stadt umgiebt, ſchwebte mir nur die verlaſſene
Gegend wie ein Paradies vor und ich fuͤhlte erſt
jetzt jeden Reiz ihrer einfachen und anſpruchloſen,
aber ſo ruhigen und lieblichen Beſtandtheile. Wenn
ich auf der hoͤchſten Hoͤhe uͤber unſerer Stadt
in das Land hinaus ſah, ſo war mir der kleine
verſteckte Strich blauen Fernegebietes, wo das
Dorf und nicht weit davon des Schulmeiſters
See zu vermuthen waren, die ſchoͤnſte Stelle des
Geſichtskreiſes, die Luft wehte reiner und gluͤck¬
licher von dort her, der mir unſichtbare Aufent¬
halt Anna's in jener entlegenen blaͤulichen Daͤm¬
merung wirkte magnetiſch uͤber alles dazwiſchen
liegende Land her; ja wenn ich, in der Tiefe
gehend, jenen gluͤcklichen Horizont nicht ſah, ſo
ſuchte und fuͤhlte ich doch die Himmelsgegend
und ſah mit Heimweh und Sehnſucht das dort¬
hin gehende Stuͤck Himmel von naͤheren Bergen
begraͤnzt.


Indeſſen erneuerte ſich die Frage uͤber meine
Berufswahl und machte ſich taͤglich dringender
[150] geltend, da man mich nicht laͤnger halb muͤßig
und planlos ſehen konnte. Ich war einmal an
den Thuͤren des Fabrikgebaͤudes vorbeigeſtrichen,
wo der eine Goͤnner hauſte. Ein haͤßlicher
Vitriolgeruch drang mir in die Naſe und bleiche
Kinder arbeiteten innerhalb und lachten mit rohen
Grimaſſen hervor. Ich verwarf unbedingt die
Hoffnungen, die ſich hier darboten, und zog es
vor, lieber ganz von ſolchen halbkuͤnſtleriſchen
Anſpruͤchen fern zu bleiben und mich dem Schrei¬
berthume entſchieden in die Arme zu werfen,
wenn einmal entſagt werden muͤſſe, und ich gab
mich dieſem Gedanken ſchon geduldig hin. Denn
nicht die mindeſte Ausſicht that ſich auf, bei
irgend einem guten Kuͤnſtler untergebracht zu
werden.


Da gewahrte ich eines Tages, wie eine
Menge der gebildeten Leute der Stadt in einem
oͤffentlichen Gebaͤude aus- und eingingen. Ich
erkundigte mich nach der Urſache und erfuhr, daß
in dem Hauſe eine Kunſtausſtellung ſtattfinde,
welche, von einem Vereine mehrerer groͤßerer
Schweizerſtaͤdte veranlaßt, in dieſen bereits ihre
[151] Runde gemacht und nun noch durch die kleineren
Staͤdte zirkulire, um auch hier der Kunſt mehr
Freunde zu gewinnen. Da ich ſah, daß nur fein
gekleidete Leute hineingingen, lief ich nach Hauſe,
putzte mich ebenfalls moͤglichſt heraus, als ob es
in die Kirche ginge, und wagte mich alsbald in
die geheimnißvollen Raͤume. Ich trat in einen
hellen Saal, in welchem es von allen Waͤnden
und von großen Geſtellen in friſchen Farben und
Gold erglaͤnzte. Der erſte Eindruck war ganz
traumhaft, große klare Landſchaften tauchten von
allen Seiten, ohne daß ich ſie vorerſt einzeln be¬
ſah, auf und ſchwammen vor meinen Blicken
mit zauberhaften Luͤften und Baumwipfeln,
Abendroͤthen brannten, Kinderkoͤpfe, liebliche Stu¬
dien, guckten dazwiſchen hervor und Alles ent¬
ſchwand wieder vor neuen Gebilden, ſo daß ich
mich ernſtlich umſehen mußte, wo denn dieſer
herrliche Lindenhain oder jenes maͤchtige Gebirge
hingekommen ſeien, die ich im Augenblicke noch
zu ſehen geglaubt? Dazu verbreiteten die friſchen
Firniſſe der Bilder einen ſonntaͤglichen Duft,
der mir angenehmer duͤnkte, als der Weihrauch
[152] einer katholiſchen Kirche, obſchon ich dieſen ſehr
gern roch.


Es ward mir kaum moͤglich, endlich vor einem
Werke ſtillzuſtehen, und als dies geſchah, da ver¬
gaß ich mich vor demſelben und kam nicht mehr
weg. Einige große Bilder der Genfer Schule,
maͤchtige Baum- und Wolkenmaſſen in mir un¬
begreiflichem Schmelze gemalt, waren die Zier¬
den der Ausſtellung, eine Menge Genrebildchen
und Aquarellen reizten dazwiſchen als leichtes
Plaͤnklervolk, und ein paar Hiſtorien und Heili¬
genſcheine wurden kalt bewundert. Aber immer
kehrte ich zu jenen großen Landſchaften zuruͤck,
verfolgte den Sonnenſchein, welcher durch Gras
und Laub ſpielte, und praͤgte mir voll inniger
Sympathie die ſchoͤnen Wolkenbilder ein, welche
von Gluͤcklichen mit leichter und ſpielender Hand
hingethuͤrmt ſchienen.


Ich ſtak, ſo lange es dauerte, den ganzen
Tag in dem wonniglichen Saale, wo es fein
und anſtaͤndig herging, die Leute ſich hoͤflich be¬
gruͤßten und vor den glaͤnzenden Rahmen mit
zierlichen Worten ſich beſprachen. Nach Hauſe
[153] gekommen, ſaß ich nachdenklich umher und be¬
klagte fortwaͤhrend mein Schickſal, daß ich auf
das Malen verzichten muͤſſe, daß es meiner Mut¬
ter durch's Herz ging und ſie nochmals eine
Rundſchau anſtellte mit dem Vorſatze, mir mei¬
nen Willen zu thun, moͤchte es gehen, wie es
wolle.


So trieb ſie endlich einen Mann auf die
Beine, welcher in einem alten Frauenkloͤſterlein
vor der Stadt, wenig beachtet, einen wunderlichen
Kunſtſpuk trieb. Er war ein Maler, Kupfer¬
ſtecher, Lithograph und Drucker in Einer Perſon,
indem er, in einer verſchollenen Manier, viel¬
beſuchte Schweizerlandſchaften zeichnete, dieſelben
in Kupfer kratzte, abdruckte und von einigen
jungen Leuten mit Farben uͤberziehen ließ. Dieſe
Blaͤtter verſandte er in alle Welt und fuͤhrte
einen dankbaren Handel damit. Dazu machte
er, was ihm unter die Finger kam, ſonſt noch,
riskirte Portraits, fertigte Etiquetten und Viſiten¬
karten, Taufſcheine mit Taufſtein und Pathen
und Grabſchriften mit Trauerweiden und weinen¬
den Genien; wenn dazwiſchen ein Unkundiger
[154] gekommen waͤre und ihm geſagt haͤtte: Koͤnnt
ihr mir ein Bild malen, ſo ſchoͤn es zu haben
iſt, das unter Kennern zehntauſend Thaler werth
iſt? Ich moͤchte ein Solches! ſo wuͤrde er die
Beſtellung unbedenklich angenommen und ſich,
nachdem die Haͤlfte des Preiſes zum Voraus be¬
zahlt, unverweilt an die Arbeit gemacht haben.
Bei dieſem Treiben unterſtuͤtzte ihn ein tapferes
Haͤuflein Gerechter, und der Schauplatz ihrer
Thaten war das ehemalige Refektorium der from¬
men Kloſterfrauen. Deſſen beide Langſeiten wa¬
ren jede mit einem halben Dutzend hoher Fenſter
verſehen mit runden Scheibchen, welche wohl
Licht ein-, aber bei ihrer wellenfoͤrmigen Ober¬
flaͤche keinen Blick hinausließen, was auf den
Fleiß der hier waltenden Kunſtſchule wohlthaͤtigen
Einfluß uͤbte. Jedes dieſer Fenſter war mit
einem Kunſtbefliſſenen beſetzt, welcher, dem Hin¬
termanne den Ruͤcken zukehrend, dem Vorder¬
manne in's Genick ſah. Das Haupttreffen dieſer
Armee bildeten vier bis ſechs junge Leute, theils
Knaben, welche die Schweizerlandſchaften bluͤhend
kolorirten; dann kam ein kraͤnklicher, huſtender
[155] Burſche, der mit Harz und Scheidewaſſer auf
kleinen Kupferplatten herumſchmierte und bedenk¬
liche Loͤcher hineinfreſſen ließ, auch wohl mit der
Radirnadel dazwiſchen ſtach und der Kupferſtecher
genannt wurde. Auf dieſen folgte der Lithograph,
ein froher und unbefangener Geiſt, der verhaͤlt¬
nißmaͤßig das weiteſte Gebiet umfaßte, naͤchſt dem
Meiſter, da er ſtets gewaͤrtig und bereit ſein
mußte, das Bildniß eines Staatsmannes oder
eine Weinkarte, den Plan einer Dreſchmaſchine,
wie das Titelblatt fuͤr eine Erbauungsſchrift
junger Toͤchter auf den Stein zu bringen mit
Kreide, Feder, gravirt oder getuſcht. Im Hin¬
tergrunde des Refektoriums arbeiteten mit breiten
Bewegungen zwei ſchwaͤrzliche Geſellen, der
Kupfer- und der Steindruckergehuͤlfe, Jeder an
ſeiner Preſſe, indem ſie die Werke obiger Kuͤnſt¬
ler auf feuchtes Papier abzogen. Endlich, im
Ruͤcken der ganzen Schaar und Alle uͤberſehend,
ſaß der Meiſter, Herr Kunſtmaler und Kunſt¬
haͤndler Haberſaat, Beſitzer einer Kupfer- und
Steindruckerei und ſich allen entſprechenden Auf¬
traͤgen empfehlend, an ſeinem Tiſche mit den
[156] feinſten und ſchwierigſten Aufgaben, meiſtens
jedoch mit ſeinem Buche, Briefſchreiben und dem
Verpacken der fertigen Sachen beſchaͤftigt.


Es herrſchte ein ſtreng ausgeſchiedener Geiſt
in den Anſpruͤchen und Hoffnungen des Refek¬
toriums. Der Kupferſtecher und der Lithograph
waren fertige Leute, die ſelbſtaͤndig in die Welt
ſchauten, bei Meiſter Haberſaat um einen Gul¬
den taͤglich ihre acht Stunden arbeiteten und ſich
weiter weder um ihn was bekuͤmmerten, noch
große Hoffnungen naͤhrten. Mit den jungen
Koloriſten hingegen verhielt es ſich anders. Dieſe
luſtigen Geiſter gingen mit wirklichen, leichten
und durchſichtigen Farben um, ſie handhabten den
Pinſel in Blau, Roth und Gelb, und das um
ſo froͤhlicher, als ſie ſich um Zeichnung und An¬
ordnung Nichts zu bekuͤmmern hatten und mit
ihrem buntfluͤſſigen Elemente vornehm uͤber die
duͤſtern Schwarzkuͤnſte des Kupferſtechers wegeilen
durften. Sie waren die eigentlichen Maler in
der Verſammlung, ihnen ſtand noch das Leben
offen, und Jeder hoffte, wenn er nur erſt aus
dieſem Fegefeuer des Meiſters Haberſaat entron¬
[157] nen, noch ein großer Kuͤnſtler zu werden. In
dieſer Gruppe erbte ſich durch alle Generationen,
welche ſchon im Dienſte des Meiſters durch das
Refektorium geſchwunden, die große Kuͤnſtlertra¬
dition von Sammtrock und Bart fort; aber nur
ſelten erreichte Einer dies Ziel, indem immer der
Flug vorher ermuͤdete und die Mehrzahl der Ge¬
taͤuſchten nach ihrem Austritte noch ein gutes
Handwerk erlernte. Es waren immer Soͤhne
blutarmer Leute, welche, in der Wahl eines Un¬
terkommens verlegen, von dem ruͤhrigen Manne
in ſein Refektorium gelockt wurden unter der
Ausſicht, eine Art Maler und Herren zu werden,
die ihr Auskommen finden und immer noch etwas
uͤber den Schneider und Schuſter ſtehen wuͤrden.
Da ſie gewoͤhnlich keine Gelder beibringen konn¬
ten, ſo mußten ſie ſich verbindlich machen, den
Unterricht in der »Malerkunſt« abzuverdienen und
vier Jahre fuͤr den Meiſter zu arbeiten. Er rich¬
tete ſie dann vom erſten Tage an zum Faͤrben
ſeiner Landſchaften ab und brachte ſie, ungeachtet
ihrer gaͤnzlichen Unberufenheit, durch Strenge ſo
weit, daß ſie ihre Arbeit bald reinlich und klar
[158] und nach den uͤberlieferten Gebraͤuchen verrichteten.
Nebenbei durften ſie, wenn ſie wollten, an Feier¬
tagen ein verkommenes oder zweckloſes Blatt
nachzeichnen zur weiteren Ausbildung, und ſie
waͤhlten meiſtens ſolche Gegenſtaͤnde, welche Nichts
zu lernen darboten, aber fuͤr den Augenblick am
meiſten Effekt machten, und die ihnen der Mei¬
ſter korrigirte, wenn er nicht allzu beſchaͤftigt
war. Er ſah es aber nicht einmal gern, wenn
ſie dieſen Privatfleiß zu weit trieben; denn er
hatte ſchon einige Mal erfahren, daß Solche,
welche Geſchmack daran fanden und eine kuͤnſt¬
leriſche Ader in ſich entdeckten, beim Koloriren
ſeiner Proſpekte unreinlich und verwirrt geworden.
Sie mußten ſtreng und anhaltend arbeiten und
ſteckten um ſo mehr voll Poſſen und Schwaͤnke,
die ſich in jedem freien Augenblicke Luft machten,
und erſt gegen das vierte Jahr hin, wenn die
ſchoͤnſte Zeit zur Erlernung von etwas Beſſerem
verfloſſen war, wurden ſie gebeugt und gedruͤckt,
von den Eltern mit Vorwuͤrfen geplagt, daß ſie
immer noch von ihrem Brode aͤßen, und dachten
ernſtlich darauf, waͤhrend ſie noch pinſelten, bei
[159] guter Zeit noch etwas Eintraͤglicheres zu ergreifen,
und auch Solche, die wirklich aus einem inneren
Antriebe gekommen waren und außergewoͤhnliches
Geſchick bezeigten, fielen ohne Weiteres ab, da
ſie in ihrer ganzen Erfahrung zufaͤllig nie ge¬
hoͤrt, daß man nur durch Entbehren, Dulden
und Ausharren an's Ziel gelange, und dagegen
einzig wußten, daß man ſo bald als moͤglich
Geld verdienen muͤſſe. Die Jugendjahre von
wohl Dreißigen ſolcher Knaben und Juͤnglinge
hatte Haberſaat ſchon in blauen Sonntagshim¬
meln und grasgruͤnen Baͤumen auf ſein Papier
gehaucht, und der huͤſtelnde Kupferſtecher war ſein
infernaliſcher Helfershelfer, indem er mit ſeinem
Scheidewaſſer die ſchwarze Unterlage dazu aͤtzte,
wobei die melancholiſchen Drucker, an das knar¬
rende Rad gefeſſelt, fuͤglich eine Art gedruͤckter
Unterteufel vorſtellten, nimmermuͤde Daͤmonen,
die unter der Walze ihrer Preſſen die zu bemalen¬
den Blaͤtter unerſchoͤpflich, endlos hervorzogen.
So begriff er vollſtaͤndig das Weſen heutiger
Induſtrie, deren Erzeugniſſe um ſo werthvoller
und begehrenswerther zu ſein ſcheinen fuͤr die
[160] Kaͤufer, je mehr ſchlau entwendetes Kinderleben
darin aufgegangen iſt. Es ſaßen im Refektorium
zehnjaͤhrige Aeffchen in Hoͤschen und Jaͤckchen,
die ihnen zu kurz waren, und ließen ihre Finger
ruhlos tanzen, in ſtrengſter Reinlichkeit die leich¬
teren Anlagen bereitend; die Ungluͤcklichen waren
in dies Paradies gerathen, weil ſie zu Hauſe
allzu emſig die Titelblaͤtter und Vignetten ihrer
Teſtamente illuminirt und ſo ihre Eltern irre und
die Aufmerkſamkeit des Herrn Haberſaat auf ſich
geleitet hatten. Er machte auch ganz ordentliche
Geſchaͤfte, und galt daher fuͤr einen Mann, bei
dem ſich was lernen ließe, wenn man nur wolle.


Von irgend einer Seite her war meiner Mut¬
ter angerathen worden, ſich mit ihm zu beſpre¬
chen und ſein Geſchaͤft einmal anzuſehen, da es
wenigſtens fuͤr den Anfang eine Zuflucht zu wei¬
terem Vorſchreiten boͤte, zumal man mit ihm
uͤbereinkaͤme, daß er mich nicht zu ſeinem Nutzen
verwende, ſondern gegen genuͤgende Entſchaͤdigung
nach ſeinem beſten Wiſſen unterrichte. Er zeigte
ſich gern bereit und erfreut, einen jungen Men¬
ſchen einmal als eigentlichen Kuͤnſtler heranzu¬
[161] bilden, und belobte meine Mutter hoͤchlich fuͤr
ihren kundgegebenen Entſchluß, die noͤthigen Sum¬
men hieran wenden zu wollen; denn jetzt ſchien
ihr der Zeitpunkt gekommen zu ſein, wo die Frucht
ihrer unablaͤſſigen Sparſamkeit geopfert und auf
den Altar meiner Beſtimmung mit voller Hand
gelegt werden muͤſſe. Es ward alſo ein Contrakt
geſchloſſen auf zwei Jahre, welche ich gegen regel¬
maͤßige Quartalzahlungen des Honorars im Re¬
fektorium zubringen ſollte unter den zweckdienlich¬
ſten Uebungen. Nach gegenſeitiger Unterſchreibung
deſſelben verfuͤgte ich mich eines Montags Mor¬
gen in das alte Kloſter und trug meine ſaͤmmt¬
lichen bisherigen Verſuche und Arbeiten in bun¬
ter Miſchung bei mir, um ſie auf Verlangen des
neuen Meiſters vorzuzeigen. Er bezeugte, indem
meine wunderlichen Blaͤtter herumgingen, nach¬
traͤglich ſeine Zufriedenheit mit meinem Eifer und
meinen Abſichten, und ſtellte mich dem Perſonale,
das ſich erhoben hatte und neugierig herumſtand,
als einen wahren Beſtrebten vor, wie er beſchaf¬
fen ſein muͤſſe ſchon vor dem Eintritte in eine
Kunſthalle. Sodann erklaͤrte er, daß es ihm
II. 11[162] recht zum Vergnuͤgen gereichen werde, einmal
eine ordentliche Schule an einem Schuͤler durch¬
zufuͤhren, und ſprach ſeine Erwartungen hinſicht¬
lich meines Fleißes und meiner Ausdauer feier¬
lich aus.


Einer der Koloriſten mußte nun ſeinen Platz
am Fenſter raͤumen und ſich neben einen andern
ſetzen, indeſſen ich dort eingerichtet wurde, und
hierauf, als ich erwartungsvoll der Dinge, die
da kommen ſollten, vor dem leeren Tiſche ſtand,
brachte Herr Haberſaat eine landſchaftliche Vor¬
lage aus ſeinen Mappen hervor, den Umriß eines
einfachen Motives aus einem lithographirten
Werke, wie ich es ſchon in den Schulen vielfach
geſehen hatte. Dies Blatt ſollte ich vorerſt auf¬
merkſam und ſtreng kopiren. Doch bevor ich
mich hinſetzte, ſchickte mich der Meiſter wieder
fort, Papier und Bleiſtift zu holen, an welche
ich nicht gedacht, da ich uͤberhaupt keinen Be¬
griff von dem erſten Beginnen gehabt hatte. Er
beſchrieb mir das Noͤthige, und da ich kein Geld
bei mir trug, mußte ich erſt den weiten Weg
nach Hauſe machen und dann in einen Laden
[163] gehen, um es gut und neu einzukaufen, und als
ich wieder hinkam, war es eine halbe Stunde
vor Mittag. Dieſes Alles, daß man mir fuͤr
dieſen Anfang nicht einmal ein Blatt Papier
und einen Stift gab, ſondern fortſchickte, welche
zu holen, ferner das Herumſchlendern in den
Straßen, das Geldfordern bei der Mutter und
endlich das Beginnen kurz vor der Stunde, wo
Alles zum Eſſen auseinander ging, erſchien mir
ſo nuͤchtern und kleinlich und im Gegenſatze zu
dem Treiben, das ich mir dunkel in einer Kuͤnſtler¬
behauſung vorgeſtellt hatte, daß es mir das Herz
beengte.


Jedoch ward es bald von dieſem Eindrucke
abgezogen, als die unſcheinbaren Aufgaben, die
mir geſtellt wurden, mir mehr zu thun gaben,
als ich mir anfaͤnglich eingebildet; denn Haber¬
ſaat ſah vor Allem darauf, daß jeder Zug, den
ich machte, genau die gleiche Groͤße des Vorbil¬
des maß und das Ganze weder groͤßer noch klei¬
ner erſchien. Nun kamen aber meine Nachbil¬
dungen immer groͤßer heraus, als das Original,
obgleich in richtigem Verhaͤltniſſe, und der Mei¬
[164] ſter nahm hieran Gelegenheit, ſeine Genauigkeit
und Strenge zu uͤben, die Schwierigkeit der
Kunſt zu entwickeln und mich behaglich fuͤhlen
zu laſſen, daß es doch nicht ſo raſch ginge, als
ich wohl geglaubt haͤtte.


Doch fand ich mich wohl und geborgen an
meinem Tiſche (die Abweſenheit von Staffeleien,
die ich mir als beſondere Zierde einer Werkſtatt
gedacht, empfand ich freilich) und arbeitete mich
tapfer durch dieſe kleinlichen Anfaͤnge hindurch.
Ich kopirte getreulich die laͤndlichen Schweinſtaͤlle,
Holzſchuppen und derlei Dinge, aus welchen, in
Verbindungen mit allerlei magerem Strauchwerk,
meine Vorbilder beſtanden, und die mir um ſo
muͤhſeliger wurden, je veraͤchtlicher ſie meinen
Augen erſchienen. Denn mit dem Eintritte in
den Saal des Meiſters hatte ſich mit der Pflicht
und dem Gehorſame zugleich der Schein der
Nuͤchternheit und Leerheit uͤber dieſe Dinge er¬
goſſen fuͤr meinen ungebundenen und willkuͤrlichen
Geiſt. Auch kam es mir fremd vor, den ganzen
Tag, an meinen Platz gebunden, uͤber meinem
Papiere zu ſitzen, zumal man nicht im Zimmer
[165] umhergehen und unaufgefordert nicht ſprechen
durfte. Nur der Kupferſtecher und der Lithograph
fuͤhrten einen beſcheidenen Verkehr mit ſich und
den betreffenden Druckergeſellen und richteten das
Wort auch an den Meiſter, wenn es ihnen gut¬
duͤnkte, ein bischen zu plaudern. Dieſer aber,
wenn er guter Laune war, erzaͤhlte allerlei Ge¬
ſchichten und gelaͤufige Kunſtſagen, auch Schwaͤnke
aus ſeinem fruͤheren Leben und Zuͤge von der
Herrlichkeit der Maler. Sowie er aber bemerkte,
daß Einer zu eifrig aufhorchte und die Arbeit
daruͤber vergaß, brach er ab und beobachtete
eine geraume Zeit weiſe Zuruͤckhaltung.


Ich genoß das Vorrecht, meine Vorlagen
ſelbſt hervorzuholen, und verweilte dabei immer
laͤngere Zeit, die vorhandenen Schaͤtze durchzu¬
gehen. Sie beſtanden aus einer großen Menge
zufaͤllig zuſammengeraffter Gegenſtaͤnde, aus gu¬
ten alten Kupferſtichen, einzelnen Fetzen und
Blaͤttern ohne Bedeutung, wie ſie die Zeit an¬
haͤuft, Zeichnungen von einer gewiſſen Routine,
ohne Naturwahrheit und einem unendlichen uͤbri¬
gen Miſchmaſch. Was mich zunaͤchſt betraf,
[166] waren einige Hefte franzoͤſiſcher Landſchaftsſtudien,
mit Eleganz und Bravour auf Stein gezeichnet,
welche mir fuͤr das eigentliche Studium in Aus¬
ſicht geſtellt waren. Handzeichnungen nach der
Natur, Blaͤtter, die um ihrer ſelbſt willen da
waren und denen man angeſehen haͤtte, daß ſie
freie Luft und Sonne getrunken, fanden ſich nicht
ein einziges Stuͤck vor, denn der Meiſter hatte
ſeine Kunſt und ſeinen Schlendrian innerhalb
vier Waͤnden erworben, und begab ſich nur hin¬
aus, um ſo ſchnell als moͤglich eine gangbare
Anſicht zu entwerfen, wobei alle ſeine Baͤume
Einen neutralen Typus erhielten, und Erde, Weg
und Steine mit den gleichen Tuſchen und Cha¬
rakteren gebildet wurden, daß ſie alle aus dem
naͤmlichen Stoffe zu beſtehen ſchienen. Indeſſen
zeigten dieſe Arbeiten alle ein fertiges Geſchick in
Betreff der Klarheit und Sauberkeit der Tinten;
dieſelben waren nicht wahr und beſtanden aus
ſogenannten Phantaſiefarben, welche in der Natur
nicht anzutreffen waren, wenigſtens nicht an der
Stelle, wo ſie gerade angewendet erſchienen; allein
ſie ſpielten glaͤnzend und anſprechend ineinander
[167] fuͤr den unkundigen Beſchauer. Dieſe gewandte,
obſchon falſche Technik war das eigentliche Wiſ¬
ſen meines Meiſters, und er legte alles Gewicht
ſeines Unterrichtes auf dieſen Punkt. Da er,
waͤhrend meiner Uebungen mit Stift, Kreide und
Feder, uͤber den Zweck derſelben, als da ſind die
Eigenthuͤmlichkeiten in den Ausladungen, den
Silhouetten und Laubmaſſen der Baͤume, ſowie
ihrer Charaktere, der Rinden und Aeſte, nicht
viel zu ſagen wußte, ſo veranlaßte er mich bald,
die lithographirten Pariſer Blaͤtter, welche große
effektvolle Baumgruppen enthielten, in Tuſche,
Sepia und dergleichen zu kopiren. Da dieſe
Sachen nicht ſehr gruͤndlich und gut gezeichnet,
hingegen in Ton und Haltung aͤußerſt klar und
kraͤftig waren, wobei Vieles der vollendeten Tech¬
nik des Steindruckes zugeſchrieben werden konnte,
ſo boten ſie meinem Vorgeſetzten guͤnſtige Ge¬
legenheit, ſeine Erfahrung und Strenge hinſicht¬
lich durchſichtiger und reiner Toͤne und Halbtoͤne
an den Mann zu bringen.


Anfaͤnglich hielt er mich eine Weile in reſpek¬
tirlicher Abhaͤngigkeit, indem ich den Unterſchied
[168] zwiſchen einem transparenten ſcharfen und einem
rußigen ſtumpfen Vortrage nicht recht begriff und
mehr auf Form und Charakter ſah; doch endlich,
durch das fortwaͤhrende Pinſeln, gerieth ich hin¬
ter das Geheimniß, und nun fertigte ich in einem
fixen Jargon eine Menge brillanter Tuſchzeich¬
nungen an, ein Blatt um's andere. Schon ſah
ich nur auf die Zahl des Gemachten und hatte
meine Freude an der anſchwellenden Mappe, kaum
daß bei meiner Wahl die wirkungsvollſten und
auffallendſten Gegenſtaͤnde mir noch eine weitere
Theilnahme abgewannen. So war, noch ehe der
erſte Winter ganz zu Ende, ſchon meines Lehrers
ganzer Vorrath an Vorlagen von mir durch¬
gemacht, und zwar auf eine Weiſe, wie er
es ſelbſt ungefaͤhr konnte; denn nachdem ich ein¬
mal die Handgriffe und Mittel einer ſorgfaͤltigen
und reinlichen Behandlung gemerkt, erſtieg ich
bald den Grad gelaͤufiger Pinſelei, welchen der
Meiſter ſelbſt inne hatte, um ſo ſchneller, als ich
in dem wahren Weſen und Verſtaͤndniß um ſo
mehr und gaͤnzlich zuruͤckblieb. Haberſaat war
desnahen ſchon nach dem erſten halben Jahre in
[169] einiger Verlegenheit, was er mir vorlegen ſollte,
da er mich aus Sorge fuͤr ſich ſelbſt nicht ſchon
in ſeine ganze Kunſt einweihen mochte; denn
er hatte nun nur noch ſeine gewandte Behand¬
lung der Waſſerfarben im Hinterhalte, welche,
wie er ſie verſtand, ebenfalls keine Hexerei war.
Weil Nachdenken und geiſtige Gewiſſenhaftigkeit
im Refektorium nicht gekannt waren, ſo beſtand
alles Koͤnnen in demſelben aus einer bald erwor¬
benen leeren Aeußerlichkeit. Doch fand ich ſelbſt
einen Ausweg, als ich erklaͤrte, eine kleine Samm¬
lung großer Kupferſtiche mit meinem Tuſchpinſel
vornehmen zu wollen. Er beſaß in derſelben
etwa ſechs ſchoͤne Blaͤtter nach Claude Lorrain
von Haldenwang und Anderen geſtochen, zwei
große Felſenlandſchaften mit Banditen nach Sal¬
vator Roſa und einige huͤbſche Stiche nach
Ruisdael und Waterloo. Dieſe Sachen kopirte
ich der Reihe nach in meiner gelaͤufigen frechen
Manier. Die Claude's und Roſa's geriethen
nicht ſo uͤbel, da ſie, abgeſehen davon, daß ſie
ſelbſt etwas konventionell geſtochen waren, auch
ſonſt mehr in ſymboliſchen und breiten Formen
11 *[170] ſich darſtellten; die feinen und natuͤrlichen Nie¬
derlaͤnder hingegen zerarbeitete ich auf eine graͤu¬
liche Weiſe, und Niemand ſah dieſe Laſterhaftig¬
keit ein.


Doch legte ſich durch dieſe Arbeit in mir ein
Grund edlerer Anſchauung, und die ſchoͤnen und
durchdachten Formen, die ich vor mir hatte, hiel¬
ten dem uͤbrigen Treiben ein wohlthaͤtiges Gegen¬
gewicht und ließen die Ahnung des Beſſeren nie
ganz in mir verloͤſchen. Auf der anderen Seite
aber heftete ſich an dieſe gute Seite ſogleich wie¬
der ein Nachtheil, indem ſich die alte voreilige
Erfindungsluſt regte und ich, durch die einfache
Groͤße der klaſſiſchen Gegenſtaͤnde verfuͤhrt, zu
Hauſe anfing, ſelber dergleichen heroiſche Land¬
ſchaftsbilder zu entwerfen und dieſe Thaͤtigkeit
bald in der eigentlichen Arbeitszeit bei dem Mei¬
ſter fortſetzte, meine Entwuͤrfe in anſpruchsvollem
Format mit der eingelernten Pinſelvirtuoſitaͤt
ausfuͤhrend. Herr Haberſaat hinderte mich in
dieſem Thun nicht, ſondern ſah es vielmehr gern,
da es ihn der weiteren Sorge um zweckdienliche
Vorbilder enthob; er begleitete die ungeheuerlichen
[171] und unreifen Gedanken, welche ich zu Tage
brachte, mit anſehnlichen Redensarten von Kom¬
poſition, hiſtoriſcher Landſchaft u. dgl., und das
Alles brachte ein gelehrtes Element in ſeine
Werkſtatt, daß ich bald fuͤr einen Teufelsburſchen
galt und auch die luftigen Ausſichten der Zu¬
kunft, Reiſe nach Italien, Rom, große Oelbilder
und Cartons, was man mir Alles vormalte, ge¬
ſchmeichelt hinnahm. Doch uͤberhob ich mich nicht
in dieſen Dingen, ſondern lebte in Eintracht und
Schelmerei mit meinen jungen Genoſſen, und
war oft froh, das ewige Sitzen unterbrechen zu
koͤnnen, indem ich ihnen, die zugleich der Haus¬
frau unterthaͤnig waren, einen Haufen Brenn¬
holz unter Dach bringen oder ihre ſaͤmmtlichen
Betten auf daſſelbe breiten und ausklopfen half.
Ueberhaupt draͤngte ſich die Frau, eine zungen¬
fertige und ſtreitbare Dame, mit Hausweſen und
Familiengeſchichten, Kind und Magd, haͤufig in
das Refektorium und machte es zum Schauplatze
heißentbrannter Kaͤmpfe, in welche nicht ſelten
die ganze Mannſchaft verwickelt wurde. Dann
ſtand der Mann an der Spitze einer ihm ergebe¬
[172] nen Gruppe der Frau gegenuͤber, welche mit
maͤchtigem Geraͤuſche vor ihrem Anhange ſich
aufſtellte und nicht eher abzog, als bis ſie Alles
niedergeſprochen hatte, was ſich ihr entgegenſetzte;
manchmal befand ſich auch das Ehepaar zuſam¬
men gegen das ganze uͤbrige Haus im Streite,
oft auch begann der Kupferſtecher oder der Litho¬
graph eine drohende Bewegung als Vaſall, in¬
deſſen die gemeinen Sklavenempoͤrungen der
Koloriſten mit Macht niedergeſchlagen wurden.
Ich ſelbſt kam mehr als ein Mal in gefaͤhrliche
Lage, indem mich die heftigen Scenen beluſtigten
und ich dies zu unvorſichtig kund gab, und z. B.
einſt eine ſolche theatraliſch nachbildete und in
dem halb verfallenen Kreuzgange des Hauſes
mit den jungen Malern zur Auffuͤhrung brachte.
Denn obgleich ich um dieſe Zeit empfaͤnglich und
geneigt geweſen waͤre, ein feines und reinſtreben¬
des Leben zu fuͤhren, da waͤhrend der ſchoͤnen
Tage auf dem Lande ein ſtarkes Ahnen in mir
erwacht war, ſo ſah ich mich doch, von aller
maͤnnlichen Stuͤtze und Leitung entbloͤßt, an das
derbe Treiben des Refektoriums gewieſen und
[173] machte allen Unfug getreulich und lebhaft mit,
weil ich des Umganges und der Mittheilung be¬
durfte und am wenigſten mich auf weiſe Zuruͤck¬
haltung und halbe Theilnahme verſtand. Und es
war wohl auch am beſten ſo; indeſſen der innere,
edlere Theil des Menſchen unentwickelt blieb,
uͤbte ſich wenigſtens der aͤußere tuͤchtig in der
Reibung mit Anderen, in Vertheidigung und
Angriff, und ſtreifte viel Unbeholfenheit und weich¬
liches Weſen ab; zugleich lernte ich meine Neben¬
menſchen und dadurch mich ſelbſt beſſer kennen
und bereicherte meine Erfahrung, ſowie meine
Einbildungskraft. Nur das gaͤnzliche Stilleſtehen
und die abſolute Bewegungsloſigkeit ſind das
eigentliche Schlimme und gleichen dem Tode.


Daß aber das Heulen mit den Woͤlfen mir
nicht Schaden that, wie ich glaube, verhuͤtete der
freundliche Stern Anna, der immer in meiner
Seele aufging, ſobald ich in dem Hauſe meiner
Mutter oder auf einſamen Gaͤngen wieder allein
war. An ſie knuͤpfte ich Alles, weſſen ich uͤber
den Tag hinaus bedurfte, und ſie war das ſtille
Licht, welches das verdunkelte Herz jeden Abend
[174] erleuchtete, wenn die rothe Sonne niederging,
und in der erhellten Bruſt wurde mir dann im¬
mer auch unſer gute Freund, der liebe Gott,
ſichtbar, der um dieſe Zeit mit erhoͤhter Klarheit
begann, ſeine hochherrlichen und ewigen Rechte
auch an mir geltend zu machen.


Ich hatte, nach Buͤchern herumſpuͤrend, in
der Leihbibliothek unſerer Stadt einen Roman
des Jean Paul in die Haͤnde bekommen. In
demſelben ſchien mir ploͤtzlich Alles troͤſtend und
erfuͤllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt
und geſucht, oder unruhig und dunkel empfun¬
den: gefuͤhlerfuͤlltes und ſcharf beobachtetes Klein¬
leben und feine Spiegelung des naͤchſten Men¬
ſchenthums mit dem weiten Himmel des geahn¬
ten Unendlichen und Ewigen daruͤber; heitere,
muthwillige Schrankenloſigkeit und Beweglichkeit
des Geiſtes, die ſich jeden Augenblick in tiefes
Sinnen und Traͤumen der Seele verwandelte;
laͤchelndes Vertrautſein mit Noth und Wehmuth,
daneben das Ergreifen poetiſcher Seligkeit, welche
mit goldener Fluth alle kleine Qual und Gruͤbe¬
lei hinwegſpuͤlte und mich in gluͤckliche Vergeſſen¬
[175] heit tauchen ließ; vor Allem aber die Natur¬
ſchilderung an der Hand der entfeſſelten Phan¬
taſie, welche berauſcht uͤber die bluͤhende Erde
ſchweifte und mit den Sternen ſpielte, wie ein
Kind mit Blumen, je toller, deſto beſſer! Dieſe
Herrlichkeit machte mich ſtutzen, dies ſchien mir
das Wahre und Rechte! Und inmitten der
Abendroͤthen und Regenbogen, der Lilienwaͤlder
und Sternenſaaten, der rauſchenden und plaͤt¬
ſchernden Gewitter, die der aufgehenden Sonne
das Kinderantlitz wuſchen, daß es einen Augen¬
blick ſich weinend verzog und verdunkelte, um
dann um ſo reiner und vergnuͤgter zu ſtrahlen,
inmitten all' des Feuerwerkes der Hoͤhe und Tiefe,
in dieſen ſaumloſen ſchillernden Weltmantel ge¬
huͤllt der Unendliche, groß, aber voll Liebe, heilig,
aber ein Gott des Laͤchelns und des Scherzes,
furchtbar von Gewalt, doch ſich ſchmiegend und
bergend in eine Kinderbruſt, hervorguckend aus
einem Kindesauge, wie das Oſterhaͤſchen aus
Blumen! Das war ein anderer Herr und Goͤn¬
ner, als der ſilbenſtecheriſche Patron im Kate¬
chismus!


[176]

Fruͤher [hatte] ich dergleichen Etwas getraͤumt,
die Ohren hatten mir gelaͤutet, nun ging mir der
Morgen auf in den langen Winternaͤchten, welche
hindurch ich an drei mal zwoͤlf Baͤnde des un¬
ſterblichen Propheten las. Und als der Fruͤhling
kam und die Naͤchte kuͤrzer wurden, las ich von
Neuem in den koͤſtlichen Morgen hinein und ge¬
woͤhnte mir daruͤber an, lange im Bette zu lie¬
gen und am hellen Tage, die Wange auf dem
geliebten Buche, den Schlaf des Gerechten zu
ſchlafen. Dazumal ſchloß ich einen neuen Bund
mit Gott und ſeinem Jean Paul, welcher Vater¬
ſtelle an mir vertrat, und mag dieſen die wan¬
delbare Welt in ihrer Vergaͤnglichkeit zu dem
alten Eiſen werfen, mag ich ſelbſt dereinſt noch
meinen und glauben, was es immer ſei: ihn
werde ich nie verleugnen, ſo lange mein Herz
nicht vertrocknet! Denn dieſes iſt der Unterſchied
zwiſchen ihm und den andern Helden und Koͤni¬
gen des Geiſtes! Bei dieſen iſt man vornehm zu
Gaſte und geht umher in reichem Saale, wohl
bewirthet, doch immer als Gaſt, bei ihm aber
liegt man an einem Bruderherzen! Was kuͤmmert
[177] uns da der wunderliche Bettlermantel ſeiner
Kunſt und Art, der uns Beide ſo naͤrriſch um¬
huͤllt? Er theilt ihn mit uns, noch liebevoller
als St. Martin, denn er giebt uns nicht ein ab¬
geſchnittenes Stuͤck, ſondern zieht uns unter dem
Ganzen an ſeine Bruſt, waͤhrend Jene ſich ſtolz
in ihren Purpur huͤllen und im innerſten Winkel
ihres Herzens ſprechen: Was willſt Du von mir?


II. 12
[[178]]

Fünftes Kapitel.

Als der Fruͤhling kam, welchen ich voll Un¬
geduld erwartet hatte, begab ich mich in den
erſten warmen Tagen in's Freie, ausgeruͤſtet mit
der erworbenen Fertigkeit, um an die Stelle der
papiernen Vorbilder die Natur ſelbſt zu ſetzen.
Das ſaͤmmtliche Refektorium ſah voll Achtung
und mit geheimem Neide auf meine umſtaͤndlichen
Zuruͤſtungen; denn es war das erſte Mal, daß
eines ſeiner Mitglieder die Sache ſo großartig
betrieb, und das Zeichnen »nach der Natur« war
bisher ein wunderbarer Mythus geweſen. Ich
ſelbſt ging nicht mehr mit der unverſchaͤmten,
aber gut meinenden Zutraulichkeit des letzten
Sommers vor die runden, koͤrperlichen und ſonne¬
beleuchteten Gegenſtaͤnde der Natur, ſondern mit
einer weit gefaͤhrlicheren und ſelbſtgefaͤlligen Bor¬
[179] nirtheit. Denn was mir nicht klar war oder zu
ſchwierig erſchien, das warf ich, mich ſelbſt be¬
truͤgend, durcheinander und verhuͤllte es mit mei¬
ner unſeligen Pinſelgewandtheit, da ich, anſtatt
beſcheiden mit dem Stifte anzufangen, ſogleich
mit den angewoͤhnten Tuſchſchalen, Waſſerglas
und Pinſel hinausging und beſtrebt war, gleich
ganze Blaͤtter in allen vier Ecken bildartig anzu¬
fuͤllen. Die Baͤume waren noch unbelaubt und
ich haͤtte daher Gelegenheit gefunden, einſtweilen
den Bau ihrer Staͤmme, Aeſte und Zweige, die
Verſchiedenheit und Anmuth im Verlaufe derſel¬
ben zu beobachten und mir einzupraͤgen; ſtatt
deſſen aber zog ich es vor, ſolche Gegenſtaͤnde zu
waͤhlen, welche jetzt ſchon ein Ganzes vorſtellten,
und gerieth deshalb an die ſchwierigſten und fuͤr
jetzt zweckloſeſten Dinge. Ich ergriff entweder
ganze Ausſichten mit See und Gebirgen, oder
ging im Walde den Bergbaͤchen nach, wo ich
eine Menge kleiner und huͤbſcher Waſſerfaͤlle fand,
welche ſich anſehnlich zwiſchen vier Striche ein¬
rahmen ließen. Das lebendige, geiſtige und zarte
Spiel des Waſſers im Fallen, Schaͤumen und
12 *[180] eiligen Weiterfließen, ſeine Durchſichtigkeit und
tauſendfaͤltige Widerſpiegelung ergoͤtzte mich, aber
ich bannte es in die plumpen und renommiſtiſchen
Formeln meiner laͤcherlichen Virtuoſitaͤt, daß Leben
und Glanz verloren gingen, indeſſen nicht meine
Mittel, ja nicht einmal die Materialien hinreich¬
ten, das bewegliche Weſen wiederzugeben. Leich¬
ter haͤtte ich die mannigfaltigen und ſchoͤnen
Steine und Felstruͤmmer der Baͤche, in reicher
Unordnung uͤber einander geworfen, beherrſchen
koͤnnen, wenn nicht mein kuͤnſtleriſches Gewiſſen
verdunkelt geweſen waͤre. Wohl regte ſich dieſes
oft mahnend, wenn ich perſpektiviſche Feinheiten
und Verkuͤrzungen der Steine, trotzdem daß ich
ſie ſah und fuͤhlte, uͤberging und verhudelte, ſtatt
den bedeutenden Linien nachzugehen, mit der
Selbſtentſchuldigung, daß es auf dieſe oder jene
Flaͤche nicht ankomme und die zufaͤllige Natur
ja wohl auch ſo ausſehen koͤnnte, wie ich ſie
nachbildete: allein die ganze Weiſe meines Arbei¬
tens ließ ſolche Gewiſſensbiſſe nicht zur Geltung
kommen, und der Meiſter, wenn ich ihm meine
Machwerke vorzeigte, war nicht darauf einge¬
[181] richtet, der fehlenden Naturwahrheit nachzuſpuͤren,
die ſich gerade in den vernachlaͤſſigten Zuͤgen
haͤtte zeigen ſollen, ſondern er beurtheilte die
Sachen immer von ſeiner Stubenkunſt aus.


Abgeſehen von ſeinem Grundſatze der Rein¬
lichkeit und Durchſichtigkeit des Vortrages, hegte
er, in Beziehung auf inneren Gehalt, nur noch
eine einzige Tradition, welche er in ſeinem Ge¬
ſchaͤfte zwar nicht ſelbſt anwandte, als zu luxurioͤs
und unpraktiſch, die er aber mir zu uͤberliefern
fuͤr angemeſſen hielt, naͤmlich die des Sonder¬
baren und Krankhaften, was mit dem Poetiſchen
oder Maleriſchen und Genialen verwechſelt wurde.
Er wies mich an, hohle, zerriſſene Weidenſtruͤnke,
verwitterte Baͤume und abenteuerliche Felsgeſpen¬
ſter aufzuſuchen mit den bunten Farben der Faͤul¬
niß und des Zerfalles, und pries mir ſolche
Dinge als intereſſante Gegenſtaͤnde an. Dies
ſagte mir ſehr zu, indem es meine Phantaſie
reizte, und ich begab mich eifrig auf die Jagd
nach ſolchen Erſcheinungen. Doch die Natur bot
ſie mir nur ſpaͤrlich, ſich einer volleren Geſund¬
heit erfreuend, als mit meinen Wuͤnſchen ver¬
[182] traͤglich war, und was ich an ungluͤcklichem Ge¬
waͤchſe vorfand, das wurde meinen uͤberreizten
Augen bald zu bloͤde und harmlos, wie einem
Trinker, der nach immer ſtaͤrkerem Schnapſe ver¬
langt. Das bluͤhende Leben in Berg und Wald
fing daher an, mir gleichguͤltig zu werden im
Einzelnen, und ich ſtreifte vom Morgen bis zum
Abend in der Wildniß umher, ohne etwas zu
thun, und uͤberließ mich einem traͤumeriſchen
Muͤßiggange. Ich ging immer ſchwer bepackt
fruͤh hinaus, warf mich an einer einſamen Stelle
nieder und verzehrte zuerſt die Eßwaaren, ſo mir
die Mutter fuͤr den ganzen Tag mitgegeben; als¬
dann las ich in einem mitgenommenen Buche,
ſchaute in die Wellen der plaudernden Baͤche,
machte mit jedem Stein Bekanntſchaft und wie¬
derholte wohl gar laͤngſt vergeſſene kindiſche
Spiele, wie wenn ich dieſelben vor Jahren nicht
ganz ausgeſpielt haͤtte, indem ich allerlei Waſſer¬
bauten auffuͤhrte, irrende Inſekten verfolgte und
ſchamhaft um mich ſpaͤhte, ob mich Niemand da¬
bei belauſche. Auch ſah ich Tag fuͤr Tag das
Hervordringen des gruͤnen jungen Laubes, und
[183] beobachtete genau, wie ein und derſelbe Baum
nach und nach voll und rund wurde und die
hervorkeimenden Pflanzen am Boden mit Blu¬
men endigten, deren Art ich neugierig erwartet
hatte. Ich drang immer tiefer in bisher nicht
geſehene Winkel und Gruͤnde; fand ich eine recht
abgelegene und geheimnißvolle Stelle, ſo ließ ich
mich dort nieder und fertigte raſch eine Zeichnung
eigener Erfindung an, um ein Produkt nach
Hauſe zu bringen. In derſelben haͤufte ich die
ſeltſamſten Gebilde zuſammen, die meine Phan¬
taſie hervorzutreiben vermochte, indem ich die
bisher wahrgenommenen Eigenthuͤmlichkeiten der
Natur mit meiner erlangten Fertigkeit verſchmolz
und ſo Dinge hervorbrachte, die ich Herrn Haber¬
ſaat als in der Natur beſtehend vorlegte und aus
denen er nicht klug werden konnte. Er gratulirte
mir zu meinen Entdeckungen und fand ſeine Aus¬
ſpruͤche uͤber meinen Eifer und mein Talent be¬
ſtaͤtigt, da ich hiermit beweiſe, daß ich unver¬
kennbar ein ſcharfes und gluͤckliches Auge fuͤr das
Maleriſche haͤtte und Dinge auffaͤnde, an welchen
tauſend Andere voruͤbergingen. Dieſe gutmuͤthige
[184] Taͤuſchung erweckte mir eine uͤble Luſt, derglei¬
chen fortzuſetzen und es foͤrmlich darauf anzu¬
legen, den guten Mann zu hintergehen. Ich er¬
fand, irgendwo im Dunkel des Waldes ſitzend,
immer tollere und muthwilligere Fratzen von
Felſen und Baͤumen, und freute mich im Vor¬
aus, daß ſie mein Lehrer fuͤr wahr und in naͤch¬
ſter Umgegend vorhanden erachten wuͤrde. Doch
mag es mir zu einiger Entſchuldigung gereichen,
daß ich in alten Kupferblaͤttern, z. B. von Swane¬
feldt, die abenteuerlichſten Formationen als loͤb¬
liche Meiſterwerke vorgebildet ſah und ſelbſt der
guten Meinung lebte, dieſes ſei das Wahre und
immerhin eine gute Uebung. Denn ſchon waren
die edlen und geſunden Formen Claude Lorrain's
im fluͤchtigen Jugendgemuͤthe wieder unter die
Oberflaͤche getreten. Waͤhrend der Winterabende
war im Refektorium etwas Figurenzeichnen ge¬
trieben worden, und ich hatte mir, indem ich
eine Menge radirter, bekleideter Staffagefiguren
kopirte, einige grobe Uebung und Kenntniß im
Entwerfen ſolcher erworben. So erfand ich nun
zu meinen wunderlichen Landſchaftsſtudien noch
[185] viel wunderlichere Menſchen, zerlumpte Kerle,
welche ich geſehen zu haben vorgab, und welche
das ganze Haus des Lehrers oft unmaͤßig zum
Lachen brachten. Es war ein nichtsnutziges und
verruͤcktes Geſchlecht, welches in Verbindung mit
der ſeltſamen Gegend eine Welt bildete, die nur
in meinem Gehirne vorhanden war und endlich
doch meinem Vorgeſetzten verdaͤchtig und aͤrgerlich
wurde. Doch bemerkte er nicht viel hieruͤber,
ſondern ließ mich meine Wege gehen, da ihm
einerſeits das friſche junge Gemuͤth mangelte,
um dem Gedankengange und den Raͤnken meines
Treibens nachzuſpuͤren und mich daruͤber zu er¬
tappen und anderſeits die voͤllige Ueberlegenheit
des eigenen Wiſſens. Dieſe beiden Vermoͤgen
bilden ja das Geheimniß aller Erziehung: unver¬
wiſchte lebendige Jugendlichkeit und Kindlichkeit,
welche allein die Jugend kennt und durchdringt,
und die ſichere Ueberlegenheit der Perſon in allen
Faͤllen. Eines kann oft das Andere zur Noth¬
durft erſetzen, wo aber beide fehlen, da iſt die
Jugend eine verſchloſſene Muſchel in der Hand
des Lehrers, die er nur durch Zertruͤmmerung
[186] oͤffnen kann. Beide Eigenſchaften gehen aber
nur aus Einem und demſelben letzten Grunde
hervor: aus unbedingter Ehrlichkeit, Reinheit und
Unbefangenheit des Bewußtſeins.


Der Sommer war nun auf ſeine volle Hoͤhe
geſchritten, als ich, die Zeit allgemeiner Erholung
erſehend, meinem geheimen Verlangen nach der
andern Heimath, dem entlegenen Dorflande, nach¬
gab und mit meinen Siebenſachen hinauszog.
Die Mutter blieb wieder zuruͤck in entſagender
Unbeweglichkeit und Selbſtbeſchraͤnkung, ungeach¬
tet aller freundlichen Aufforderungen, die Woh¬
nung doch ganz zu ſchließen und wieder einmal
an den Orten ihrer Jugend ſich zu ergehen. Ich
aber fuͤhrte die umfangreichen Fruͤchte meiner
zwiſchenweiligen Thaͤtigkeit mit mir, da ich mit¬
telſt derſelben ein guͤnſtiges Aufſehen zu erregen
gedachte.


Die zahlreichen, kraͤftig geſchwaͤrzten Blaͤtter
verurſachten im Hauſe meines Oheims allerdings
einige Verwunderung, und im Allgemeinen ſah
man, mich nun wirklich fuͤr einen Maler haltend,
die Sache mit ziemlichem Reſpekt an; als jedoch
[187] der Oheim die Zeichnungen betrachtete, welche ich
nach der Natur gefertigt haben wollte (denn ich
glaubte nun wie ein verſtockter Luͤgner beinahe
ſelbſt daran und wußte uͤberdies, da ich die
Dinge einmal unter freiem Himmel und immer¬
hin unter dem Einfluſſe der Natur zuwege ge¬
bracht, keine andere Bezeichnung dafuͤr aufzu¬
finden), da ſchuͤttelte er bedenklich den Kopf
und wunderte ſich, wo ich denn meine Augen
gehabt haͤtte. In ſeinem realiſtiſchen Sinne, als
tuͤchtiger Land- und Forſtmann, fand er trotz
aller Unkunde in Kunſtdingen den Fehler ſchnell
und leicht heraus.


»Dieſe Baͤume,« ſagte er, »ſehen ja einer dem
andern aͤhnlich und alle zuſammen gar keinem
wirklichen! Dieſe Felſen und Steine koͤnnten
keinen Augenblick ſo aufeinanderliegen, ohne zu¬
ſammenzufallen! Hier iſt ein Waſſerfall, deſſen
Maſſe einen der groͤßeren Faͤlle verkuͤndet, die
aber uͤber kleinliche Bachſteine ſtuͤrzt, als ob ein
Regiment Soldaten uͤber einen Span ſtolperte;
hierzu waͤre eine tuͤchtige Felswand erforderlich,
indeſſen nimmt es mich eigentlich Wunder, wo
[188] zum Teufel in der Naͤhe der Stadt ein ſolcher
Fall zu finden iſt! Dann moͤchte ich auch wiſſen,
was an ſolchen verfaulten Weidenſtoͤcken Zeichnens¬
werthes iſt, da duͤnkte mich doch eine geſunde
Eiche oder Buche erbaulicher u. ſ. f.«


Die Frauensleute hingegen aͤrgerten ſich uͤber
meine Vagabunden, Keſſelflicker und Fratzen¬
geſichter, und begriffen nicht, warum ich im
Felde nicht lieber ein artiges voruͤbergehendes
Landmaͤdchen oder einen anſtaͤndigen Ackersmann
abgebildet habe, als mich fortwaͤhrend mit ſolchen
Unholden zu beſchaͤftigen; die Soͤhne belachten
meine ungeheuerlichen Berghoͤhlen, die unmoͤg¬
lichen und laͤcherlichen Bruͤcken, die menſchen¬
aͤhnlichen Steinkoͤpfe und Baumkruͤppel, und ga¬
ben jeder ſolchen Tollheit einen luſtigen Namen,
deſſen Laͤcherlichkeit auf mich zu fallen ſchien. Ich
ſtand beſchaͤmt da als ein Menſch, der voll naͤr¬
riſcher und eitler Dinge iſt, und die mitgebrachte
kuͤnſtliche Krankhaftigkeit verkroch ſich vor der
einfachen Geſundheit dieſes Hauſes und der laͤnd¬
lichen Luft.


Gleich am erſten Tage nach meiner Ankunft
[189] ſtellte mir der Oheim, um mich wieder auf eine
reale Bahn zu leiten, die Aufgabe, ſeine Beſitzung,
Haus, Garten und Baͤume, genau und bedaͤchtig
zu zeichnen und ein getreues Bild davon zu ent¬
werfen. Er machte mich aufmerkſam auf alle
Eigenthuͤmlichkeiten und auf das, was er beſon¬
ders hervorgehoben wuͤnſchte, und wenn ſeine
Andeutungen auch eher dem Beduͤrfniſſe eines
ruͤſtigen Beſitzers, als denjenigen eines Kunſt¬
verſtaͤndigen entſprachen, ſo ward ich doch da¬
durch genoͤthigt, die Gegenſtaͤnde wieder einmal
genau anzuſehen und in allen ihren eigenthuͤm¬
lichen Oberflaͤchen zu verfolgen. Die aller ein¬
fachſten Dinge am Hauſe ſelbſt, ſogar die Ziegel
auf dem Dache, gaben mir nun wieder mehr zu
ſchaffen, als ich je gedacht hatte, und veranlaßten
mich, auch die umſtehenden Baͤume in gleicher
Weiſe gewiſſenhafter zu zeichnen; ich lernte die
aufrichtige Arbeit und Muͤhe wieder kennen, und
indem daruͤber eine Arbeit entſtand, die mich in
ihrer anſpruchloſen Durchgefuͤhrtheit ſelbſt unend¬
lich mehr befriedigte, als die marktſchreieriſchen
Produkte der juͤngſten Zeit, erwarb ich mir mit
[190] ſaurer Muͤhe den Sinn des Schlichten, aber
Wahren.


Inzwiſchen erfreute ich mich des Wiederfindens
alles Deſſen, was ich im letzten Jahre hier ver¬
laſſen, beobachtete alle Veraͤnderungen, welche
etwa vorgefallen, und harrte im Stillen auf den
Augenblick, wo ich Anna wiederſehen oder wenig¬
ſtens zuerſt ihren Namen hoͤren wuͤrde. Aber
ſchon waren einige Tage verfloſſen, ohne daß die
geringſte Erwaͤhnung fiel, und je laͤnger dies an¬
dauerte, deſto minder brachte ich die Frage nach
ihr hervor. Man ſchien ſie voͤllig vergeſſen zu
haben, ſie ſchien nie da geweſen zu ſein, und,
was mich innerlich kraͤnkte, Niemand ſchien die
geringſte Ahnung zu haben, daß ich irgend eine
Veranlaſſung oder ein Beduͤrfniß haben koͤnnte,
von ihr zu hoͤren. Wohl ging ich halbwegs uͤber
den Berg, oder in den Schatten des Flußthales,
allein jedesmal kehrte ich ploͤtzlich um aus uner¬
klaͤrlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf
den Kirchhof und ſtand an dem Grabe der Gro߬
mutter, welche nun ſchon ſeit einem Jahre in der
Erde lag, aber die Luft war windſtill vom Ge¬
[191] daͤchtniſſe Anna's, die Graͤſer ſchienen nichts von
ihr zu wiſſen, die Blumen fluͤſterten nicht ihren
Namen, Berg und Thal ſchwiegen von ihr, nur
mein Herz toͤnte ihn laut hinaus in die undank¬
bare Stille.


Endlich wurde ich gefragt, warum ich den
Schulmeiſter nicht beſuche? und da ergab es ſich
zufaͤllig, daß Anna ſchon ſeit einem halben Jahre
nicht mehr im Lande ſei und daß man meine
Kunde hieruͤber vorausgeſetzt habe. Ihr Vater
hatte, in ſeiner ſteten Sehnſucht nach Bildung
und Feinheit der Seele und in Betracht, daß
nach ſeinem Tode ſein Kind, das einmal fuͤr eine
Baͤuerin zu zart ſei, verlaſſen in der rauhen
doͤrflichen Umgebung bleiben wuͤrde, ſich ploͤtzlich
entſchloſſen, Anna in eine Bildungsanſtalt der
franzoͤſiſchen Schweiz zu bringen, wo ſie ſich
feinere Kenntniſſe und Selbſtſtaͤndigkeit des Gei¬
ſtes erwerben ſollte. Er ließ ſich, als ſie ihre
Abneigung dagegen ausſprach, durch ihre Thraͤ¬
nen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung
ſeiner Wuͤnſche bedacht, und begleitete das ungern
ſcheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm¬
[192] religioͤſen Erziehers, wo ſie nun noch wenigſtens
ein volles Jahr zu bleiben hatte. Dieſe Nach¬
richt traf mich wie ein Schlag aus blauem Him¬
mel. Nun wurde das ganze Land wieder beredt
und voll ihres Lobes! Jedes Gras und jedes
Blatt am Baume ſprach mir von ihr, der blaue
Himmel hier ſchien mir tauſendmal ſchoͤner und
ſehnſuͤchtiger, als anderswo, die blauen Bergzuͤge
und die weißen Wolken zogen ihr nach, und von
Weſten her, wo Anna weilte, duͤnkte es mir leis
aber ſelig uͤber die Bergruͤcken herzulaͤuten.


Ich ging nun alle Tage zu ihrem Vater, be¬
gleitete ihn auf ſeinen Wegen und hoͤrte von ihr
ſprechen; oft blieb ich mehrere Tage dort, als¬
dann wohnte ich in ihrem Kaͤmmerchen, wagte
mich jedoch faſt nicht zu ruͤhren darin und
betrachtete die wenigen einfachen Gegenſtaͤnde,
welche es enthielt, mit heiliger Scheu. Es war
klein und enge, die Abendſonne und der Mond¬
ſchein fuͤllten es immer ganz aus, daß kein
dunkler Punkt darin blieb und es bei jener wie
ein rothgoldenes, bei dieſem wie ein ſilbernes
[193] Juwelenkaͤſtchen ausſah, deſſen Kleinod ich nicht
verfehlte mir hineinzudenken.


Wenn ich nach maleriſchen Gegenſtaͤnden um¬
herſtreifte, ſo ſuchte ich vorzuͤglich die Stellen
auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; ſo war die
geheimnißvolle Felswand am Waſſer, wo ich mit
ihr geruhet und jene Erſcheinung geſehen, ſchon
von mir gezeichnet worden, und ich konnte mich
nun nicht enthalten, auf der ſchneeweißen Wand
des Kaͤmmerchens ein ſauberes Viereck zu ziehen
und das Bild mit der Heidenſtube ſo gut ich
konnte hineinzumalen. Dies ſollte ein ſtiller Gruß
fuͤr ſie ſein und ihr ſpaͤter bezeugen, wie beſtaͤn¬
dig ich an ſie gedacht.


Dieſe fortwaͤhrende Erinnerung an ſie und
ihre Abweſenheit machten mich in's Geheim im¬
mer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde;
ich begann lange Liebesbriefe an ſie zu ſchreiben,
die ich zuerſt verbrannte, dann aufbewahrte, und
zuletzt ward ich ſo verwegen, Alles, was ich fuͤr
Anna fuͤhlte, auf ein offenes Blatt zu ſchreiben,
in den heftigſten Ausdruͤcken, mit Vorſetzung ihres
vollen Namens und Unterſchrift des meinigen,
II. 13[194] und dies Blatt auf das Fluͤßchen zu legen, daß
es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und
dem Meere zu, wie ich kindiſcherweiſe dachte.
Ich kaͤmpfte lange mit dieſem Vorſatze, allein ich
unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That
fuͤr mich und ein Bekenntniß meines Geheimniſ¬
ſes, wobei ich freilich vorausſetzte, daß es in
naͤchſter Naͤhe Niemand finden wuͤrde. Ich ſah,
wie es gemaͤchlich von Welle zu Welle ſchluͤpfte,
hier von einer uͤberhaͤngenden Staude aufgehalten
wurde, dann lange an einer Blume hing, bis
es ſich nach langem Beſinnen losriß; zuletzt kam
es in Schuß und ſchwamm flott dahin, daß ich
es aus den Augen verlor. Allein der Brief
mußte ſich ſpaͤter doch wieder irgendwo geſaͤumt
haben, denn erſt tief in der Nacht gelangte er zu
der Felswand der Heidenſtube, an die Bruſt
einer badenden Frau, welche niemand anders als
Judith war, die ihn auffing, las und aufbe¬
wahrte.


Dies erfuhr ich erſt ſpaͤter, denn waͤhrend
meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich
nie in ihr Haus und vermied den Weg deſſelben
[195] ſorgfaͤltig. Das Jahr, um welches ich aͤlter ge¬
worden, ließ mich mit Beſchaͤmung auf das ver¬
trauliche Verhaͤltniß von fruͤher zuruͤckblicken und
floͤßte mir eine trotzige Scheu ein vor der kraͤf¬
tigen und ſtolzen Geſtalt; ich verbarg mich, ohne
zu gruͤßen, raſch, als ſie einmal am Hauſe
voruͤberging, und ſah ihr doch verlangend nach,
wenn ich ſie von fern durch Gaͤrten und Korn¬
felder ſchreiten ſah. Meine Wuͤnſche, wenn ſie
aus der Weite ruhlos zuruͤckkehrten, flatterten
Obdach ſuchend hin und her und niſteten ſich
endlich bei der Judith ein, als ob ſie dort ein
gutes Wort und das Geheimniß der Liebe er¬
haſchen koͤnnten.


Ich kehrte dies Mal fruͤher nach der Stadt
zuruͤck mit einer tiefen Sehnſucht im Gemuͤthe,
welche ſich nun gaͤnzlich ausgebildet hatte und
Alles umfaßte, was mir fehlte und was ich in
der Welt doch als vorhanden ahnte.


Mein Lehrer fuͤhrte mich nun auf die letzten
Stufen ſeiner Kunſt, indem er mir die Behand¬
lung ſeiner Waſſerfarben mittheilte und mich mit
aller Strenge zu deren ſauberer und flinker An¬
13 *[196] wendung anhielt. Da jedoch die Natur nicht in
Frage kam, oder doch nur hoͤchſt uͤberlieferungs¬
weiſe, ſo lernte ich bald, durch das endlich er¬
reichte Ziel, »mit Farben umzugehen,« zu neuem
Fleiße gereizt, gefaͤrbte Zeichnungen hervorbrin¬
gen, wie ſie ungefaͤhr als das Beſte im Hauſe
verlangt wurden, einzig aufgehalten und behin¬
dert, wenn ich geſehene Farben der Natur, die
ſich mir waͤhrend des vielen Zeichnens eingepraͤgt
hatten, anbringen wollte und dadurch mit den
im Refectorium herkoͤmmlichen Mitteln in Wider¬
ſpruch gerieth. Alsdann wurden meine Arbeiten
unrein und ungeſchickt, und der Meiſter war
froh, mich der Unachtſamkeit und des Eigenſinnes
zu beſchuldigen. Noch lange, ehe das zweite be¬
dungene Jahr zu Ende war, ſah ich nicht viel
mehr zu lernen, und uͤbte mich, auf den Rath
des Lehrers, in den verſchiedenſten Fertigkeiten,
die dort ſonſt getrieben wurden. Ich radirte,
laborirte in Scheidewaſſer, pfuſchte auf Stein
herum, fertigte ſchlecht gezeichnete, aber bunt¬
gemalte kleine Portraits an, half den Genoſſen
die Kupferdrucke faͤrben, lernte ſolche verpacken
[197] und ſonſt mit allen den kleinen Geſchaͤften, ſolchen
Betriebes umgehen, kurz ich wuchs den Winter
hindurch zu einer Art Tauſendkuͤnſtler und Fac¬
totum heran, der nun fuͤr eine Bahn, wie ſie
Haberſaat verfolgte, reif war und eigentlich das
wirklich erreicht hatte, was dieſer ihm beizubrin¬
gen ſich verpflichten konnte, der aber von dem
Ziele, das ihm vorſchwebte, entfernter als je war.
Ich fuͤhlte dunkel, daß ich eigentlich erſt jetzt mit
einigem Verſtande beginnen ſollte und ſah mich
doch mit einer bedenklichen und leeren Fertigkeit
ausgeruͤſtet und ohne etwas Rechtes zu koͤnnen.
Dies geſtand ich mir zwar nicht, aber es ver¬
urſachte doch einen untroͤſtlichen Widerſpruch; ich
langweilte mich in dem alten Kloſter und blieb
wochenlang zu Hauſe, um dort zu leſen oder
Arbeiten zu beginnen, die ich vor dem Meiſter
verbarg. Dieſer ſuchte meine Mutter auf, be¬
ſchwerte ſich uͤber meine Zerſtreutheit, ruͤhmte
meine Fortſchritte und ſchlug vor, ich ſollte nun
in ein anderes Verhaͤltniß zu ihm treten, in
ſeinem Geſchaͤfte fuͤr ihn arbeiten, fleißig und
puͤnktlich, aber gegen reichliche Entſchaͤdigung,
[198] da ich ihm gute Dienſte zu leiſten im Stande
waͤre, zufolge ſeiner Erziehung. Es ſei dies, er¬
klaͤrte er, das zweite Stadium, wo ich, indeſſen
ich mich vorlaͤufig immer mehr ausbilde, mich
an vorſichtige Arbeit gewoͤhnen und zugleich Er¬
ſparniſſe machen koͤnne, um in einigen Jahren
in die Welt zu gehen, wozu es doch noch zu
fruͤh ſei. Er verſicherte, daß es nicht die Schlech¬
teſten unter den beruͤhmten Kuͤnſtlern waͤren,
welche ſich durch jahrelange anſpruchloſere Arbeit
endlich auf die Hoͤhe der Kunſt geſchwungen, und
eine muͤhevolle und beſcheidene Betriebſamkeit die¬
ſer Art lege manchmal einen tuͤchtigeren Grund
zur Ausdauer und Unabhaͤngigkeit, als eine vor¬
nehme und ausſchließliche Kuͤnſtlererziehung. Er
habe, ſagte er, talentvolle Soͤhne reicher Eltern
gekannt, die es nur deswegen zu Nichts gebracht
haͤtten, weil ſie nie zu Selbſthuͤlfe und raſchem
Erwerb gezwungen geweſen und in ewiger Selbſt¬
verhaͤtſchelung, falſchem Stolze und Sproͤdigkeit
ſich verloren haͤtten.


Dieſe Worte waren ſehr verſtaͤndig, obgleich
ſie auf einigem Eigennutze beruhen mochten; allein
[199] ſie fanden keinen Anklang bei mir. Ich verab¬
ſcheute jeden Gedanken an Tagelohn und kleine
Induſtrie und wollte allein auf dem geraden Wege
an's Ziel gelangen. Das Refectorium erſchien
mir mit jedem Tage mehr als ein Hinderniß
und eine Beengung; ich ſehnte mich darnach, in
unſerem Hauſe mir eine ſtille Werkſtatt einzu¬
richten und mir ſelbſt zu helfen, ſo gut es ginge,
und eines Morgens verabſchiedete ich mich, noch
vor Beendigung meiner Lehrzeit, bei Herrn Haber¬
ſaat und erklaͤrte der Mutter, ich wuͤrde nun zu
Hauſe arbeiten, wenn ſie verlange, daß ich etwas
verdienen ſolle, ſo koͤnne ich dies auch ohne ihn
thun, zu lernen wuͤßte ich Nichts mehr bei ihm.


Vergnuͤgt und hoffnungsvoll ſchlug ich meinen
Sitz zu oberſt im Hauſe auf, in einer Dachkam¬
mer, welche uͤber einen Theil der Stadt weg
weit nach Norden hin ſah, deren Fenſter am
fruͤhen Morgen und am Abend den erſten und
letzten Sonnenblick auffingen. Es war mir eine
ebenſo wichtige als angenehme Arbeit, mir hier
eine eigene Welt zu ſchaffen, und ich brachte
mehrere Tage mit der Einrichtung der Kammer
[200] zu. Die runden Fenſterſcheiben wurden klar ge¬
waſchen, vor dieſelben auf ein breites Blumen¬
brett, mit der Mutter Beihuͤlfe ein kleiner Gar¬
ten gepflanzt und inwendig die Pfoſten ſowie die
naͤchſte Wand mit Epheu bezogen, zu welchem
im Sommer noch bluͤhende Schlingpflanzen ka¬
men, ſo daß das helle große Fenſter von einem
gruͤnen Urwald umgeben war. Die geweißten
Waͤnde behing ich theils mit Kupferſtichen und
ſolchen Zeichnungen, welche irgend einen aben¬
teuerlichen Knalleffect enthielten, theils zeichnete
ich mit Kohle ſeltſame Larven oder ſchrieb Lieb¬
lingsſpruͤche und gewaltſame Verſe, die mir im¬
ponirt hatten, darauf. Ich ſtellte die aͤlteſten
und ehrwuͤrdigſten unſerer Geraͤthe hinein, ſchleppte
herzu, was nur irgend einem Buche gleichſah,
und ſtellte es auf die gebraͤunten Moͤbeln, die
verſchiedenſten Gegenſtaͤnde haͤuften ſich nach und
nach an und vermehrten den maleriſchen Ein¬
druck; in der Mitte aber ward eine maͤchtige
Staffelei aufgepflanzt, das Ziel meiner langen
Wuͤnſche, und auf große Blendrahmen geſpanntes
Papier darauf geſtellt; denn ich ſehnte mich nach
[201] tuͤchtigem Handtieren in weitlaͤufiger, hand¬
greiflicher Materie, und da ich noch keinen Weg
zur Oelmalerei offen ſah, ſo half ich mir dadurch,
daß ich einſtweilen auf grobem Papiere mit Kohle,
Kreide und kraͤftigen Farbentoͤnen ſattſam herum¬
fegte. Ich freute mich großer Baumgruppen und
Gebirgsformen, die ich ohne vieles Gruͤbeln her¬
vorrief, die Einzelnheiten, die ſich mir waͤhrend
meines Herumtreibens in der freien Natur mehr
oder minder eingepraͤgt hatten, harmlos anwen¬
dend, Geſtein und Baͤume reichlich mit Moos,
Wurzel- und Flechtwerk bekleidend. Das Beſte
davon waren noch die mannigfaltigen bewegten
Luͤfte; da ich von meiner hohen Warte aus ein
weites Himmelsfeld beherrſchte, ſo ſah ich den
ganzen Tag die Wolken kommen und gehen in
allen Farben, und dies erregte in mir den Ge¬
danken, eigene Luftſtudien zu machen. So oft
ich daher eine ſchoͤne Wolkenmaſſe entdeckte, bil¬
dete ich ſie ſchnell mit meinen Waſſerfarben nach,
indeſſen mich die compacten und doch ſchmelz¬
vollen Gebilde eine unbeſtimmte Sehnſucht nach
der Oelpalette empfinden ließen. Doch erreichte
[202] ich eine ziemliche Uebung und begann den leben¬
digen Himmel zu verſtehen; ich ging leidenſchaft¬
lich den tauſend Reizen der Wolken nach, beſon¬
ders wandelten meine Blicke friedevoll durch die
tiefen plaſtiſchen Thaͤler, uͤber die weißen Hoͤhen
und um die ſonnigen Vorſpruͤnge und Abhaͤnge
dieſer luftigen Gebirge herum, ſie ſchlichen ver¬
wegen unter der ſchattigen blauen Baſis hindurch,
die ungeheure Ausdehnung in der ſcheinbaren
Verkuͤrzung ermeſſend. Als ich ſpaͤter hoͤrte, daß
dieſe Uebung allerdings ein ſehr eifrig gepflegter
Weg landſchaftlicher Kunſt ſei, war ich nicht
wenig ſtolz darauf, in meiner Abgeſchiedenheit
von ſelbſt darauf verfallen zu ſein, wie ich uͤber¬
haupt erfuhr, daß das Beduͤrfniß ſolche Huͤlfen
immer ſelbſt erfindet und die allgemeine Wahrheit
ſich in jedem abgeſchiedenen aber lebendigen Be¬
ſtreben Bahn bricht.


Erſt jetzt, als die erſte Begierde nach Staf¬
felei und umfangreichen Flaͤchen geſtillt war, ge¬
wann es neuen Reiz fuͤr mich, daneben kleine
ſaubere und zierliche Arbeiten auszufuͤhren und
ich hatte immer einen idylliſchen Gedanken in
[203] Bereitſchaft, welchen ich in kleinem Umfange mit
bunten und glaͤnzenden Farbentoͤnen aufs Sorg¬
ſamſte ausfuͤhrte, im Gegenſatze zu den groͤßeren
verwegenen Unternehmungen. Dieſe doppelte Art
der Thaͤtigkeit entſprach einem natuͤrlichem Be¬
duͤrfniſſe und mochte als ein weiterer Beweis
gelten, daß ſich ſolches immer von ſelbſt ausbildet
und hilft, wo es nicht durch einſeitige Schule
gehindert wird.


Ich war nun ganz mir ſelbſt uͤberlaſſen, voll¬
kommen frei und unabhaͤngig, ohne die mindeſte
Einwirkung und ohne Vorbild, noch Vorſchrift.
Ich knuͤpfte abwechſelnden Verkehr an mit jun¬
gen Leuten, an denen mich ein verwandter Hang
oder ein freundliches Eingehen anzog, am liebſten
mit ehemaligen Schulgenoſſen, die in der Zeit
ihre Studien fortſetzten und mir, mich in meiner
Klauſe beſuchend, getreulich Bericht erſtatteten
von ihren Fortſchritten und von Allem, was in
den Schulen vorkam. Dieſe Gelegenheit benutzte
ich, noch ein und andere Brocken aufzuſchnappen
und ſah oͤfter ſchmerzlich durch die verſchloſſenen
Gitter in den reichen Garten der reiferen Jugend¬
[204] bildung, erſt jetzt recht fuͤhlend, was ich ver¬
loren. Doch lernte ich durch meine Freunde
manches Buch und manchen Anknuͤpfungspunkt
kennen, von wo aus ich weiter tappte am duͤrf¬
tigen Faden und, das Gefundene verſchmelzend
mit dem phantaſtiſchen Weſen meiner Abgeſchie¬
denheit, gefiel ich mir in einer komiſchen, hoͤchſt
unſchuldigen Gelehrſamkeit, welche meine Be¬
ſchaͤftigungen ſeltſam bereicherte und vermehrte.
Ich ſchrieb an fruͤhen ſtillen Morgen oder in
ſpaͤter Nacht hochtrabende Aufſaͤtze, begeiſterte
Schilderungen und Ausrufungen und war be¬
ſonders eitel auf tiefſinnige Aphorismen, die ich,
mit Skizzen und Schnoͤrkeleien vermiſcht, in
Tagebuͤchern anbrachte. So glich meine Zelle,
in welcher ſich geſuchte Gegenſtaͤnde und Zier¬
rathen immer mehr anhaͤuften, dem kochenden
Herde eines Hexenmeiſters oder Alchymiſten, auf
welchem ein ringendes Leben gebraut wurde. Das
Anmuthige und Geſunde und das Verzerrte und
Sonderbare, Maß und Willkuͤr brodelten durch
einander und miſchten ſich oder ſchieden ſich in
Lichtblicken aus.


[205]

Und ungeachtet meines aͤußerlich ſtillen Lebens
trat doch manche fruͤhe Truͤbung hinzu, welche
mich ſorgenvoll oder leidenſchaftlich bewegte. Mein
Trieb, mich zu unterrichten und zu unterhalten,
und meine Sammlungsluſt fuͤhrten mich uͤberall
hin, wo alte Buͤcher, Kupferſtiche und ſonſtige
Dinge zu kaufen waren; denn die Buͤcher meines
Vaters, deren Hauptzierde Schiller war, hatte
ich laͤngſt, ſo weit ſie mir verſtaͤndlich, durchge¬
leſen und zu eigen gemacht und ſelbſt das Un¬
verſtaͤndliche uͤberſetzte ich in eine eigens erfun¬
dene fabelhafte Wiſſenſchaft, mit Worten ſpielend;
Kupferſtiche aber, wenn ich ſie ſah, reizten mich
zum Beſitz und bildeten uͤberdies faſt die einzige
aͤußere Huͤlfsquelle fuͤr mich, ſo daß ihre Er¬
werbung mir Pflicht ſchien. Unſere Stadt zeugte
in einer Menge alter guter Sammlungen von
Buͤchern und Kupferſtichen, welche fuͤr wenig
Geld faſt unerſchoͤpflich in Winkeln und Maga¬
zinen zu finden waren, daß in den guten Haͤu¬
ſern, aus welchen ſie herruͤhrten, in der vergan¬
genen Zeit große Bildung gepflegt worden ſei.
Je mehr ich in Buͤchern und Bildwerken mich
[206] zurecht fand und mir was zu Gute that, in
Namen und Zeit bewandert zu ſein, deſto eifriger
wurde meine Beſitzluſt; ich kaufte anfaͤnglich Man¬
ches fuͤr meine wenige Baarſchaft, dann entdeckte
ich den verfuͤhreriſchen Ausweg ſchon fruͤh, zu
waͤhlen und zu beſtellen und ſich, von der Bereit¬
willigkeit der Handelsleute unterſtuͤtzt, reichliche
Sendungen zuſchicken und groͤßere Rechnungen
anlegen zu laſſen. Dieſe waren nun bei alledem
nie ſehr bedenklich, und der Name meiner ſpar¬
ſamen Mutter gab mir einen guten Credit. Allein
da ich fuͤr mich allein handelte und meine Ein¬
kaͤufe ſelbſt bezahlen wollte durch verkaufte Ar¬
beiten, dieſen Verkauf aber nicht einmal verſuchte
und vor dem Augenblicke ſcheu zuruͤckwich, wo
ich Jemanden etwas antragen ſollte, ohne was
doch kein Anfang denkbar war, blieben meine
Rechnungen ſo lange unbezahlt, bis es den An¬
tiquaren und wunderlichen Troͤdelleuten endlich
auffiel und ſie mich durch hoͤfliche Briefe mahn¬
ten. Dadurch gerieth ich in tauſend Aengſten,
dachte aber nur unbeſtimmt auf Abhuͤlfe, bis
dieſe Mahnungen mir nicht mehr ſchrecklich wa¬
[207] ren. Dann erſchienen meine Glaͤubiger mit feier¬
lich langgezogenen Geſichtern unverſehens im
Hauſe, meine Mutter erſchreckend und mir ſelbſt
nun ſtreng und unheimlich vorkommend, die
mich ſonſt ſo freundliche bejahrte Leutchen ge¬
duͤnkt hatten. Dieſe Umwandlung der ſonſt
ſo harmloſen Perſoͤnlichkeiten durch ein Schuld¬
verhaͤltniß, aus einem unſcheinbaren Troͤdelmaͤnn¬
chen z. B. in einen gefuͤrchteten Verfolger, be¬
unruhigte mich und ließ mich das Peinliche des
Schuldenmachens empfinden, bis die Mutter,
nachdem ſie mich eine gute Weile hatte zappeln
laſſen, endlich unter ernſten Ermahnungen mich
erloͤſte. Dieſe Weiſe ſagte ihr gar nicht zu und
war bisher unbekannt geweſen in ihrem Hauſe.
Daher gedachte ſie ſolche Fruͤhlingsſchwalben, die
mit dem neuen Kuͤnſtlerleben ſo zeitig einzogen,
am beſten zu vertreiben, wenn ſie mich die Un¬
bequemlichkeit eine Zeit lang fuͤhlen ließe.


Ferner hatte ich um die Zeit einen feurigen
und lebhaften Freund, welcher meine Neigungen
ſtaͤrker theilte, als alle anderen Bekannten, viel
mit mir zeichnete und poetiſch ſchwaͤrmte und da
[208] er noch die Schulen beſuchte, reichlichen Stoff
von da in meine Kammer brachte. Doch war
unſer Verkehr mehr ein prahleriſches Feuerwerk
und glaͤnzende Uebung genialer und origineller
Formen, die wir nachahmend aus Geleſenem
erhaſchten. Zugleich war er lebensluſtig und trieb
ſich eben ſo oft mit flotten Leuten in Wirths¬
haͤuſern herum, von deren Herrlichkeiten und
energiſchen Gelagen er mir dann erzaͤhlte. Ich
blieb meiſtens wehmuͤthig zu Hauſe, da mich
meine Mutter in dieſer Beziehung aͤußerſt knapp
hielt und keine Nothwendigkeit einer geringſten
Ausgabe dieſer Art einſah. Deswegen ſah ich
dem froh ſich Herumtummelnden nach wie ein
gefangener Vogel einem in der Hoͤhe fliegenden
und traͤumte von der Freiheit einer glaͤnzenden
Zukunft, wo ich eine Zierde der Zechgelage zu
werden mir vornahm. Inzwiſchen aber mißbil¬
ligte ich, wie der Fuchs, dem die Trauben zu
ſauer ſind, oͤfter die Wildheit meines Freundes
und ſuchte ihn mehr an meine ſtille Wohnung
zu feſſeln. Dies verurſachte manche Mißſtim¬
mung zwiſchen uns, und ich freute mich endlich
[209] innerlich ſeiner Abreiſe in die Ferne, welche zu
einem feurigen Briefwechſel die willkommene Ge¬
legenheit gab. Wir erhoben nun unſer Verhaͤlt¬
niß zu einer idealen Freundſchaft, nicht getruͤbt
von dem perſoͤnlichen Zuſammenſein, und boten
in regelmaͤßigen Briefen die ganze Beredſamkeit
jugendlicher Begeiſterung auf. Nicht ohne Selbſt¬
gefaͤlligkeit und Abſicht ſuchte ich meine Epiſteln
ſo ſchoͤn und ſchwungreich als immer moͤglich zu
ſchreiben und es koſtete mich viele Uebung im
Nachdenken, meine unerfahrene Philoſophie eini¬
germaßen in Form und Zuſammenhang zu brin¬
gen, weil die bisher erworbene Geſtaltungskraft
beim Zeichnen und damit verbundene Einſicht in
meine Schreibuͤbungen uͤberging und mich auch
ohne Logik ein Beduͤrfniß von Harmonie empfin¬
den ließ. Leichter wurde es, den ernſten Theil
der Briefe in ein Gewand ausſchweifender Phan¬
taſie zu huͤllen und mit dem bei meinem Jean
Paul gelernten Humor zu verbraͤmen; allein wie
ſehr ich mich auch erhitzte und allen meinen Eifer
aufbot, ſo uͤbertrafen die Antworten des Freundes
dieſes Alles jedesmal ſowohl an reiferen und
II. 14[210] gediegenen Gedanken, als an feinerem und ge¬
waͤhltem Witze, der mir beſchaͤmend das Schreiende
und Unruhige meiner Erguͤſſe hervorhob. Ich
bewunderte meinen Freund, war ſtolz auf ihn
und nahm mich doppelt zuſammen, indem ich
mich an ſeinen Briefen bildete, derſelben wuͤr¬
dige und ebenbuͤrtige Sendungen aufzubringen.
Doch je mehr ich mich erhob, um ſo hoͤher und
unerreichbarer wich er zuruͤck, wie ein glaͤnzendes
Luftbild, nach welchem ich fruchtlos zu ſchlagen
ſtrebte, ich rang gleichſam mit einem neckiſchen
Heldenſchatten. Dazu trugen ſeine Gedanken
die abwechſelndſten Farben gleich dem ewigen
Meere, ebenſo reizend launenhaft und uͤberraſchend
und ebenſo reich an Quellen, die aus der Tiefe,
von Gebirgen herab und vom Himmel zugleich
zu ſtroͤmen ſchienen; ich ſtaunte den fernen Ge¬
noſſen an wie eine geheimnißvolle großartige Er¬
ſcheinung, deren herrliche Entwickelung von Tag
zu Tage Groͤßeres verſprach, und ruͤſtete mich
allen Ernſtes, an ihrer Seite in's Leben hinaus
moͤglichſt Schritt zu halten.


Da fiel mir eines Tages Zimmermann's Buch
[211] uͤber die Einſamkeit in die Haͤnde, von welchem
ich ſchon viel gehoͤrt, und das ich deshalb nun
mit doppelter Begierde las, bis ich auf die Stelle
traf, welche anfaͤngt: »auf deiner Studirſtube
moͤchte ich dich feſthalten, o Juͤngling!« Jedes
Wort ward mir bekannter und endlich fand ich
einen der erſten Briefe meines Freundes hier
wortgetreu abgeſchrieben. Bald darauf entdeckte
ich einen anderen Brief in Diderot's unmaßgeb¬
lichen Gedanken uͤber die Zeichnung, welche ich
bei einem Antiquar erworben, und fand ſo die
Quelle jener Schaͤrfe und Klarheit, die mir ſo
imponirt hatten. Und wie lange getrennte Er¬
eigniſſe und Zufaͤlle ploͤtzlich haufenweiſe zu Tage
treten und ſich ein verabredetes Rendez-vous zu
geben ſcheinen, ſo trat nun raſch eine Entdeckung
nach der anderen hervor und enthuͤllten eine ſelt¬
ſame Myſtification. Auch ſpuͤrte ich den Buͤchern
nach, von denen er in ſeinen Briefen beilaͤufig
erwaͤhnte. Ich fand Stellen aus Rouſſeau, wie
aus dem Werther, aus Sterne und Hippel ſo¬
wohl, wie aus Leſſing, glaͤnzende Gedichte aus
Byron und Heine in briefliche Proſa umgewan¬
[212] delt, ſogar Ausſpruͤche tiefſinniger Philoſophen,
die, unverſtanden, mich mit Achtung vor dem
Freunde erfuͤllt hatten. Mit ſolchen hellen Ster¬
nen hatte ich ohnmaͤchtig gerungen; ich war wie
vom Blitz getroffen, ich ſah im Geiſte meinen
Freund uͤber mich lachend und konnte mir ſeine
Handlungsweiſe nur durch eigenen Unwerth er¬
klaͤren. Doch fuͤhlte ich mich ſchmerzlich beleidigt
und ſchrieb nach einigem Schweigen einen ſpoͤtti¬
ſchen und anzuͤglichen Brief, mittelſt deſſen ich
ſeine angemaßte geiſtige Herrſchaft abzuwerfen,
doch nicht unſere Freundſchaft aufzuheben, viel¬
mehr ihn zu treuer Wahrheit zuruͤckzufuͤhren ge¬
dachte. Allein mein verletzter Ehrgeiz ließ mich
zu heftige und ſpitzige Ausdruͤcke waͤhlen, mein
Gegner hatte ſich nicht uͤber mich luſtig machen,
ſondern nur mit wenig Muͤhe meinem Eifer die
Wage halten wollen, wie er ſich auch nachher,
in ernſteren Dingen, immer mit ſolchen Mitteln
zu helfen ſuchte, obgleich er die Talente zu wirk¬
lichem Streben in vollem Maße und daher auch
Selbſtgefuͤhl beſaß: ſo kam es, daß er, um ſeine
Verlegenheit zu bedecken und aͤrgerlich uͤber meine
[213] Auflehnung, noch gereizter und beleidigter ant¬
wortete. Es ſtieg ein maͤchtiges Zorngewitter
zwiſchen uns auf, wir ſchalten uns ruͤckſichtslos
und je mehr wir uns zugethan geweſen, mit
deſto mehr Aufwand und tragiſchen, feindlichen
Worten kuͤndeten wir uns ploͤtzlich die Freund¬
ſchaft auf und beſtrebten uns blindlings, Jeder
der Erſte zu ſein, der den Andern aus ſeinem
Gedaͤchtniß verbanne!


Aber nicht nur ſeine, ſondern auch meine
eigenen harten Worte ſchnitten mir in's Herz, ich
trauerte mehrere Tage lang tief und ſchmerzvoll,
indeſſen ich den Geſchiedenen zu gleicher Zeit noch
achtete, liebte und haßte; ich empfand nun zum
zweiten Male, in vorgeruͤckterem Alter, das Weh
beim Brechen einer engen Freundſchaft, aber um ſo
edler und feiner und daher ſchmerzvoller, als die
Verhaͤltniſſe edler waren. Die innere Grund¬
loſigkeit eines ſolchen Bruches laͤßt denſelben um
ſo daͤmoniſcher und einſchneidender fuͤhlen, da er
durch ein feindliches unvermeidliches Schickſal
herbeigefuͤhrt ſcheint.


In dieſe Bewegungen herein ſpielten abwech¬
[214] ſelnd das gepflegte Andenken an Anna und die
Hoffnung auf ihr Wiederſehen, ſo wie die Angſt
vor meinen gemuͤthlichen Glaͤubigern, wenn ſie
mit Rechnungen kamen fuͤr allerhand alte Schwar¬
ten, Kupferſtiche und verſtuͤmmelte Gypsfiguren,
ſo daß ich komiſcher Weiſe fruͤh den Spruch auf
mich anwenden konnte:


Widerſacher, Weiber, Schulden —

Ach kein Ritter wird ſie los!
[[215]]

Sechstes Kapitel.

Der Fruͤhling war gekommen; ſchon lagen
viele Fruͤhpflanzen, nachdem ſie fluͤchtige ſchoͤne
Tage hindurch mit ihren Bluͤthen der Menſchen
Augen vergnuͤgt, nun in ſtiller Vergeſſenheit dem
ſtillen Berufe ihres Reifens, der verborgenen
Vorbereitung zu ihrer Fortpflanzung ob. Schluͤſſel¬
bluͤmchen und Veilchen waren ſpurlos unter dem
erſtarkten Graſe verſchwunden, Niemand beachtete
ihre kleinen Fruͤchtchen. Hingegen breiteten ſich
Anemonen und die blauen Sterne des Immergruͤn
zahllos aus um die lichten Staͤmme junger Bir¬
ken, am Eingange der Gehoͤlze, die Lenzſonne
durchſchaute und uͤberſchien die Raͤumlichkeiten
zwiſchen den Baͤumen, vergoldete den bunten
Waldboden; denn noch ſah es hell und geraͤumig
aus, wie in dem Hauſe eines Gelehrten, deſſen
Liebſte daſſelbe in Ordnung gebracht und aufge¬
[216] putzt hat, ehe er von einer Reiſe zuruͤckkommt
und bald Alles in die alte tolle Verwirrung ver¬
ſetzt. Beſcheiden und abgemeſſen nahm das zart¬
gruͤne Laubwerk ſeinen Platz und ließ kaum
ahnen, welche Gewalt und Herrlichkeit in ihm
harrte. Die Blaͤttchen ſaßen ſymmetriſch und zier¬
lich an den Zweigen, zaͤhlbar, ein wenig ſteif,
wie von der Putzmacherin angeordnet, die Ein¬
kerbungen und Faͤltchen noch hoͤchſt exact und
ſauber, wie in Papier geſchnitten und gepreßt,
die Stiele und Zweigelchen roͤthlich lackirt, Alles
aͤußerſt aufgedonnert. Frohe Luͤfte wehten, am
Himmel kraͤuſelten ſich glaͤnzende Wolken, es
kraͤuſelte ſich das junge Gras an den Rainen,
die Wolle auf dem Ruͤcken der Laͤmmer, uͤberall
bewegte es ſich leiſe muthwillig, die loſen Flocken
im Genicke der jungen Maͤdchen kraͤuſelten ſich,
wenn ſie in der Fruͤhlingsluft gingen, es kraͤu¬
ſelte ſich in meinem Herzen. Ich lief uͤber alle
Hoͤhen und blies an einſamen, ſchoͤn gelegenen
Stellen ſtundenlang auf einer alten großen Floͤte,
welche ich ſeit einem Jahre beſaß. Nachdem ich
die erſten Griffe einem muſikaliſchen Schuhmacher¬
[217] geſellen abgelernt, war an weiteren Unterricht
nicht zu denken und die ehemaligen Schuluͤbungen
waren laͤngſt in ein tiefes Meer der dunkelſten
Vergeſſenheit gerathen. Darum bildete ſich, da
ich doch bis zum Uebermaß anhaltend ſpielte,
eine wildgewachſene Fertigkeit aus, welche ſich in
den wunderlichſten Trillern, Laͤufen und Cadenzen
erging. Ich konnte eben ſo fertig blaſen, was
ich mit dem Munde pfeifen oder aus dem Kopfe
ſingen konnte, aber nur in der haͤrteren Tonart
die weichere hatte ich allerdings empfunden und
wußte ſie auch hervorzubringen, aber dann mußte
ich langſam und vorſichtiger ſpielen, ſo daß dieſe
Stellen gar melancholiſch und vielfach gebrochen
ſich zwiſchen den uͤbrigen Laͤrm verflochten. Muſik¬
kundige, welche in entfernterer Nachbarſchaft mein
Spiel hoͤrten, hielten daſſelbe fuͤr etwas Rechtes,
belobten mich und luden mich ein, an ihren Un¬
terhaltungen Theil zu nehmen. Als ich mich
aber mit meiner maͤchtigen braunen Roͤhre ein¬
fand, deren Klappe einer meſſingenen Thuͤrklinke
glich, und verlegen und mit boͤſem Gewiſſen die
Ebenholzinſtrumente mit einer Unzahl ſilberner
14 *[218] Schluͤſſel, die ſtattlichen Notenblaͤtter ſah, bedeckt
von Hieroglyphen, da ſtellte es ſich heraus, daß
ich rein zu gar Nichts zu gebrauchen, und die
Nachbaren ſchuͤttelten verwundert die Koͤpfe. Deſto
eifriger erfuͤllte ich nun die freie Luft mit meinem
Floͤtenſpiele, welches dem ſchmetternden und doch
monotonen Geſange eines großen Vogels gleichen
mochte, und empfand, unter ſtillen Waldſaͤumen
liegend, innig das ſchaͤferliche Vergnuͤgen des
ſiebzehnten Jahrhunderts und zwar ohne Abſicht
und Gemachtheit.


Um dieſe Zeit hoͤrte ich ein fluͤchtiges Wort,
Anna ſei in ihre Heimath zuruͤckgekehrt. Ich hatte
ſie nun ſeit zwei Jahren nicht geſehen, wir Beide
gingen unſerem ſechszehnten Geburtstage entgegen.
Sogleich ruͤſtete ich mich zur Ueberſiedelung nach
dem Dorfe und machte mich eines Sonnabends
wohlgemuth auf die geliebten Wege. Meine
Stimme war gebrochen und ich ſang, dieſelbe
mißbrauchend, mich muͤd durch die hallenden
Waͤlder. Dann hielt ich inne und die ſeit kurzem
gekommene Tiefe meiner Toͤne bedenkend, dachte
ich an Anna's Stimme und ſuchte mir einzubil¬
[219] den, welchen Klang ſie nun haben moͤge. Darauf
bedachte ich ihre Groͤße, und da ich ſelbſt in der
Zeit raſch gewachſen, ſo konnte ich mich eines
kleinen Schauers nicht erwehren, wenn ich mir
die Geſtalt ſechszehnjaͤhriger Maͤdchen unſerer
Stadt vorſtellte. Dazwiſchen ſchwebte mir immer
das halbkindliche Bild am See oder auf jenem
Grabe vor, mit ſeiner Halskrauſe, ſeinen Gold¬
zoͤpfen und freundlich unſchuldigen Augen. Dies
Bild verſcheuchte einigermaßen die Unſicherheit
und Zaghaftigkeit, welche ſich meiner bemaͤchtigen
wollten, daß ich getroſt fuͤrbaß ſchritt und am
Abend das Haus meines Oheims in alter Ord¬
nung und lauter Froͤhlichkeit fand.


Doch nur die aͤlteren Perſonen waren ſich
eigentlich ganz gleich geblieben, das junge Volk
ließ einen etwas veraͤnderten Ton in Scherz und
Reden merklich werden. Als nach dem Nachteſſen
ſich die Aeltern zuruͤckgezogen und einige junge
ledige Dorfbewohner beiderlei Geſchlechtes dafuͤr
ankamen, um noch einige Stunden zu plaudern,
bemerkte ich, daß die Gegenſtaͤnde der Liebe und
der geſchlechtlichen Verhaͤltniſſe nun ausſchließlicher
[220] und ausgepraͤgter der Stoff der neckiſchen Ge¬
ſpraͤche geworden, aber ſo, daß die Juͤnglinge
mit gleichguͤltig verwegener und etwas ſpoͤttiſcher
Galanterie den Schein tieferer Empfindung zu
verhuͤllen, die Maͤdchen eine große Sproͤdigkeit,
Maͤnnerverachtung und jungfraͤuliche Selbſtzu¬
friedenheit an den Tag zu legen bemuͤht ſchienen,
und an der Art und Weiſe, wie die ſich kreuzen¬
den Scherze und Angriffe hier reizten, dort ſchein¬
bar verletzten, war nicht zu verkennen, daß hier
die Kryſtallelemente zuſammenzuſchießen auf dem
Punkte waren.


Ich war Anfangs ſtill und ſuchte mich in den
wort- und witzreichen Scharmuͤtzeln zurechtzufin¬
den; die Maͤdchen betrachteten mich als einen
anſpruchsloſen Neutralen und ſchienen einen from¬
men und beſcheidenen Knappen an mir gewinnen
zu wollen. Doch unverſehens nahm ich, das
Scheingefecht fuͤr vollen Ernſt haltend, die Partei
meines Geſchlechts. Die vermeintliche Beduͤrfni߬
loſigkeit und ſtolze Selbſtverklaͤrung der Schoͤnen
ſchien mir gefaͤhrlich und beleidigend und ent¬
ſprach nicht im Mindeſten meinen Gefuͤhlen.
[221] Aber leider ſetzte ich, anſtatt mich der praktiſche¬
ren und beliebteren Waffen meiner Genoſſen zu
bedienen, knabenhafter und ungalanter Weiſe den
Maͤdchen ihre eigene Kriegfuͤhrung entgegen. Der
trotzige Stoicismus, welchen ich gegen das jung¬
fraͤuliche Selbſtgenuͤgen aufwandte, warf mich um
ſo ſchneller in eine iſolirte und gefaͤhrliche Stel¬
lung, als ich in meiner Einfalt augenblicklich
ſelber daran glaubte und mit heftigem Ernſte
verfuhr. Ich vereinigte ſogleich alle Pfeile des
Spottes auf mich, als ein nicht zu duldender
Aufruͤhrer; die maͤnnlichen Theilnehmer ließen
mich auch im Stich oder hetzten mich faͤlſchlicher
Weiſe auf, um bei den erzuͤrnten Maͤdchen deſto
beſſer ihre Rechnung zu finden, woruͤber ich wie¬
der verdrießlich und eiferſuͤchtig ward, und es
aͤrgerte mich gewaltig, wenn ich bemerkte, wie
mitten im Kriege die verſtaͤndnißvollen Blicke
haͤufiger fielen und der ſchoͤne Feind ſeine Haͤnde
den Burſchen immer anhaltender und williger
uͤberließ. Kurz, als die Geſellſchaft auseinander
ging und ich die Treppe hinanſtieg als ein er¬
klaͤrter Weiberfeind, verfolgten mich die drei Baſen,
[222] jede ihr Nachtlaͤmpchen tragend, ſpottend bis vor
die Thuͤr meines Schlafzimmers. Dort wandte
ich mich um und rief: Geht, ihr thoͤrichten Jung¬
frauen mit euren Lampen! Obgleich jede nur
zu bald ihren irdiſchen Braͤutigam haben wird,
fuͤrchte ich doch, das Oel eurer Geduld reiche
nicht aus fuͤr die kuͤrzeſte Friſt; loͤſcht eure Lich¬
ter und ſchaͤmt euch im Dunklen, ſo ſpart ihr
das Biſchen Oel, ihr verliebten Dinger!


Eine Magd trug gerade ein Becken mit
Waſſer hinein; ſie tauchten ihre Finger in das
Waſſer und ſpritzten mir dasſelbe in's Geſicht,
waͤhrend ſie mit ihren brennenden Laͤmpchen mir
um Haar und Naſe herumzuͤndeten und mich
hart bedraͤngten. »Mit Feuer und Waſſer,«
ſagten ſie, »taufen wir dich zu ewigem Frauen¬
haſſe! Nie ſoll Eine wuͤnſchen, dieſen Haß
ſchwinden zu ſehen und das Licht der Liebe ſoll
dir fuͤr immerdar erloͤſchen! Schlafen Sie recht
wohl, geſtrenger Herr, und traͤumen Sie von
keinem Maͤdchen!« Hiermit blieſen ſie meine
Kerze aus und huſchten auseinander, daß ihre
Lichtchen in dem dunklen Hauſe verſchwanden
[223] und ich im Finſtern ſtand. Ich tappte in das
Zimmer, ſtieß an alle Gegenſtaͤnde und ſtreute in
der Dunkelheit mißmuthig meine Kleider auf dem
Boden umher. Und als ich endlich das Kopf¬
ende des Bettes gefunden und mich raſch unter
die Decke ſchwingen wollte, fuhr ich mit den
Fuͤßen in einen verwuͤnſchten Sack, daß ich ſie
nicht ausſtrecken konnte, ſondern in meiner ge¬
waltſamen Bewegung auf das Unangenehmſte
gehemmt und zuſammengebogen wurde. Die
Leintuͤcher waren, in Folge einer laͤndlichſitt¬
lichen Neckerei, ſo kuͤnſtlich in einander geſchuͤrzt
und gefaltet, daß es allen meinen ungeduldigen
Bemuͤhungen nicht gelang, ſie zu entwirren, und
ich mußte mich in der unbequemſten und laͤcher¬
lichſten Lage von der Welt zum Schlafe zuſam¬
menkauern. Allein dieſer wollte trotz meiner
Muͤdigkeit ſich nicht einfinden; ein aͤrgerliches
und beſchaͤmendes Gefuͤhl, daß ich mich in eine
ſchiefe Stellung geworfen, die Beſorgniß, wie
Anna ſich zu all dieſem verhalten wuͤrde, und
das verhexte Bett ließen mich die Augen nur
auf Augenblicke ſchließen, wo dann die unruhigſten
[224] Traumbilder mich verfolgten. Die Nacht im
Thale war unruhig und geraͤuſchvoll, denn es
war diejenige des Sonnabends auf den Sonntag,
in welcher die ledigen Burſche bis zum Morgen
zu ſchwaͤrmen und ihren Liebeswegen nachzugehen
pflegen. Ein Theil derſelben durchzog in Haufen
ſingend und jauchzend die naͤchtliche Gegend, bald
fern, bald nah laut werdend; ein anderer Theil
ſchlich einzeln um die Wohnungen her, mit ver¬
haltner Stimme Maͤdchennamen rufend, Leitern
anlegend. Steinchen an Fenſterladen werfend.
Ich ſtand auf und oͤffnete das Fenſter; balſami¬
ſche Mailuft ſtroͤmte mir entgegen, die Sterne
zwinkerten verliebt hernieder, ein Kaͤtzchen duckte
ſich um die eine Hausecke, um die andere bog
ein ſchlanker Schatten mit einer langen Leiter
und lehnte ſie an das Haus, drei oder vier Fen¬
ſter von mir. Ruͤſtig klomm er die Sproſſen
entlang und rief halblaut den Namen der aͤlteſten
Baſe, worauf das Fenſter leiſe aufging und ein
trauliches Gefluͤſter begann, von einem Geraͤuſche
unterbrochen, welches von demjenigen feuriger
Kuͤſſe nicht im Mindeſten zu unterſcheiden war.
[225] »Oho!« dachte ich, »das ſind feine Geſchichten!«
und indem ich ſo dachte, ſah ich einen anderen
Schatten aus dem Fenſter der mittleren Baſe,
welche eine Treppe tiefer ſchlief, ſich auf den Aſt
eines nahen Baumes ſchwingen und flink zur
Erde gleiten; kaum war er aber fuͤnfzig Schritte
entfernt, ſo brach er, den fernen Nachtſchwaͤrmern
antwortend, in ein moͤrderliches Jauchzen aus,
welches weithin widerhallte.


Mit ſehr gemiſchten Empfindungen machte
ich vorſichtig das Fenſter zu und ſuchte in mei¬
nem boshaften Leinwandlabyrinth Maͤdchen, Liebe,
Mainacht und Verdruß zu vergeſſen.


Noch gemiſchtere Gefuͤhle jedoch kehrten zu¬
ruͤck, als ich am Morgen meine gemachten Er¬
fahrungen bedachte. Zuerſt machte ſich eine Art
von Zorn geltend gegen meine Baſen und ihre
Liebhaber, oder vielmehr eine gewiſſe Unbehag¬
lichkeit, mir bekannte und nahſtehende Maͤdchen
in einem engen Verhaͤltniß zu fremden Perſonen
zu ſehen. Es machte mir den Eindruck, wie
wenn in einem heimlichen verſchloſſenen Garten
allerlei Freimaurerei getrieben wuͤrde und ich als
II. 15[226] ein Verhoͤhnter vor dem Thore ſtaͤnde. Dann
ſtellte ſich aber ſogleich das Bewußtſein heraus,
mich im Beſitze eines Geheimniſſes zu finden,
welches die Maͤdchen ſtark beruͤhrte und mit die¬
ſem Bewußtſein noch ſchneller eine vorlaͤufige
Berathſchlagung, in welcher Weiſe das Geheim¬
niß am vortheilhafteſten fuͤr meine Stellung zu
dem ſchoͤnen Geſchlechte zu verwenden ſei? Hier
muß ich zu meiner Schande aufrichtig geſtehen,
daß ich ſehr unbefangen die Wahl zwiſchen Ver¬
ſchwiegenheit und Verrath ganz in der Ordnung
fand, ja nicht einmal daruͤber dachte und allein
meinen Nutzen in's Auge faßte. Es fragte ſich,
ob ich mich durch offene Mittheilung mit einem
Schlage in das erzwungene Vertrauen der Maͤd¬
chen ſetzen oder durch ein ſchonendes allmaͤliges
Merkenlaſſen ihre Gunſt beſſer erwerben koͤnne;
denn wenn auch das, was ich wußte, nicht fuͤr
ſie gefaͤhrlich oder ſchaͤdlich war und man ohne¬
hin von jeder herangewachſenen Schoͤnen, beſtimmt
vorausſetzen konnte, daß ſie mit ihrem Erwaͤhlten
in der Sitte keine Ausnahme machen werde, wo
dann der Grad der Hingabe immer noch von
[227] dem perſoͤnlichen Charakter abhing, wie andere
Dinge mehr im Leben: ſo war doch das Be¬
kanntwerden des einzelnen Falles verpoͤnt und
vielmehr das Geſetz beliebt: du ſollſt dich nicht
erwiſchen laſſen! wie bei anderen Dingen mehr,
und ich entſchloß mich, gelegentlich und mit guter
Manier die eine und andere meiner Baſen in
meine Mitwiſſenſchaft blicken zu laſſen und durch
ein vertrautes Verhaͤltniß meine Ungeſchicklichkeit
aufzuwiegen, zumal ich nun ſchon merkte, daß
ich dem gewohnten Krieg und Verkehr nicht ge¬
wachſen war. Ich dachte mir nun nicht anders,
als die Liebe waͤre das Geheimniß eines gemein¬
ſchaftlichen Ordens, in welchem voraus alle
Frauen und Maͤdchen inbegriffen, der aber jedem
Neuling, welcher ſich ungeſchickt anſtelle, den
Eintritt erſchwere, und doch glaubte ich ſeiner
ſchon vollkommen wuͤrdig und faͤhig zu ſein.


Indeſſen beſchloß ich, als es darauf ankam,
in die große Wohnſtube zu gehen und mein
naͤchſtes Benehmen zu bedenken, welches mir
keineswegs klar war, vorderhand gaͤnzliche Ver¬
ſchwiegenheit zu uͤben, und dieſer Entſchluß kam
15 *[228] mir ſo edel und großmuͤthig vor, daß ich, ganz
aufgeblaͤht davon, waͤhnte, die Maͤdchen muͤßten
mir meine Großmuth auf der Stelle anſehen, als
ich in die Stube trat. Ich erregte jedoch nicht
die mindeſte Aufmerkſamkeit: wohl aber ſah ich
an einem der Fenſter eine ſchlank aufgewachſene
jungfraͤuliche Geſtalt ſtehen, umgeben von meinen
drei Baſen. An ihren eigenthuͤmlichen Zuͤgen
und der veraͤnderten und doch gleich lieblich ge¬
bliebenen Stimme erkannte ich ſogleich Anna:
ſie ſah fein und nobel aus und ich blieb ganz
rathlos und verbluͤfft ſtehen. Fein und beſcheiden
ſchaute ſie in die Landſchaft hinaus und die Baſen
ſprachen gedaͤmpft, zierlich und vertraulich mit
ihr, wie es die Weiber zu thun pflegen, wenn
ſie einen Beſuch haben, der ihrer Geſellſchaft zum
Schmucke gereicht. Es ging ſo freundlich an¬
daͤchtig zu, als ob die vier huͤbſchen Kinder ge¬
raden Weges aus einer Kloſterſchule kaͤmen, und
beſonders die Toͤchter des Hauſes ſchienen nicht
die leiſeſte Erinnerung an den Ton des geſtrigen
Abends zu hegen. Unbefangen gruͤßten ſie mich,
als ich endlich bemerkt wurde und ſtellten mich
[229] der Anna vor. Wir ſahen auf den Boden und
boten uns die Fingerſpitzen, die ſich kaum be¬
ruͤhrten, wobei ſie, wie ich glaube, einen kleinen
hoͤflichen Knix machte. Ich ſagte ganz verlegen:
Sie ſind alſo wieder zuruͤckgekehrt? worauf ſie
erwiederte: Ja — mit dem Tone eines Gloͤck¬
chens, welches nicht recht weiß, ob es anfangen
ſoll, Mittag oder Veſper zu laͤuten. Hierauf ſah
ich mich wieder aus dem Maͤdchenkreiſe heraus¬
verſetzt, ohne zu wiſſen auf welche Weiſe, und
machte mir eifrig mit einer Katze zu ſchaffen, in¬
deſſen ich Anna verſtohlen betrachtete. Sie war
eine ganz andere Geſtalt geworden, ſchmal und
hoch, von einem ſchwarzen Seidenkleide umwallt,
ihr Goldhaar lag ſchlicht und vornehm gebunden
und ließ eine ſorgfaͤltige Toilette ahnen, waͤhrend
fruͤher manche Loͤckchen ſich auf eigne Hand ge¬
kraͤuſelt und zwiſchen den Flechten hervorgeguckt
hatten. Die Geſichtszuͤge waren in ihrer Eigen¬
thuͤmlichkeit ganz gleich geblieben, nur hielten ſie
ſich nun viel ruhiger, und die armen, ſchoͤnen
blauen Augen hatten ihre Freiheit verloren und
lagen in den Banden vornehm bewußter Sitte.
[230] Dies Alles unterſchied ich im Augenblick nicht
genau, allein es machte zuſammen einen ſolchen
Eindruck auf mich, daß ich erſchrak, als ich mich
zum Fruͤhſtuͤck, welches inzwiſchen aufgetragen
war, neben ſie ſetzen mußte; denn der Oheim
hatte, da Anna aus Waͤlſchland kam, ſeine fran¬
zoͤſiſchen Kuͤnſte aus der eleganten Zeit des Pfarr¬
hauſes wieder zuſammengeleſen und zu mir ge¬
ſagt: Eh bien! monsieur le neveu! prenez
place auprès de Mademoiselle votre cousine
,
s'il vous plaît, hé, parbleu! est-ce que vous
n'avez pas bien dormi
? vous faites une triste
figure
, il me paraît! und zu Anna, mit einem
komiſchen Kratzfuße, indem er mit ſeinem Wald¬
hoͤrnchen ſalutirte: Veuillez accepter les services
de ce pauvre jeune homme de la triste figure,
Mademoiselle! souffrez
, s'il vous plaît, qu'il
fasse vôtre galant, pour que notre illustre
maison revisse les beaux jours d'autrefois
!
allons parler français toute la compagnie!
Nun begann eine drollige Unterhaltung in fran¬
zoͤſiſchen Brocken, welche ſich auf die luſtigſte
Weiſe kreuzten, indem Niemand ſich ſchaͤmte, ſeine
[231] Schwerfaͤlligkeit und Unkunde zu verrathen und
der Scherz als eine Art Huldigung der Anna
Gelegenheit geben ſollte, ihre erworbene feine
Bildung zu zeigen. Auch nahm ſie beſcheiden
aber ſicher an dem ſeltſamen Geſpraͤche Theil
und brachte ihre Reden mit artigem Accente vor,
geziert mit den Wendungen waͤlſcher Converſa¬
tion, als: En vérité! voilà qui est curieux!
ah que c'est joliment dit! extrèmement, je vous
dis
! tenez! voyez! u. ſ. f., wozwiſchen der
Oheim, ſeine Geiſtlichkeit vergeſſend, einige
diables! einfuͤgte. Mir waren dieſe Formen
keineswegs gelaͤufig und ich konnte meine Mei¬
nungen nur in ſtricter und nackter Uebertragung
vorbringen, dazu nicht in dem lieblichſten Accente;
daher ſagte ich nur dann und wann oui und non
oder je ne sais pas! Die einzige Redensart, welche
mir zu Gebote ſtand, war: Que voulez-vous,
que je fasse! und ich brachte dieſe Bluͤthe meh¬
rere Male an, ohne daß ſie gerade paßte. Als
hieruͤber gelacht wurde, machte mich dies truͤb¬
ſelig und verſtimmt, denn mit jedem Augenblicke,
ſeit ich an das ſeidene Kleid Anna's ſtreifte,
[232] wurde es mir baͤnger, daß ich als gaͤnzlich werth¬
los und unbedeutend zum Vorſchein kaͤme, waͤh¬
rend ich doch bisher uͤberzeugt war, das Beſte
und Hoͤchſte ſchaͤtzen und erſtreben zu wollen und
gerade dadurch ſelber einen nicht unerheblichen
Werth in mir zu tragen. In der Theorie hatte
ich ſchon die Welt erobert und auch verdient und
beſonders uͤber Anna durchaus verfuͤgt; da nun
aber die Praxis begann, ſo beſchlich mich gleich
im Anfange eine verzagte Demuth, welche ich
ungefaͤhr in folgende trotzige und gewaltige Rede
zuſammenfaßte: Moi, j'aime assez la bonne et
vénérable langue de mon pays
, qui est heureu¬
sement la langue allemande, pour ne pas plaindre
mon ignorance du français
. Mais comme Ma¬
demoiselle ma cousine a le goût français et
comme elle doit visiter l'église de notre village
,
c'est beaucoup à plaindre, qu'elle n'y trouvera
point de ses orateurs vaudois, qui sont si élevés
,
élégants et savants. Aussi, que son déplaisir
ne soit trop grand
, je vous propose, Monsieur
mon oncle
, de remonter en chaire, nous ferons
un petit mais élégant auditoire et vous nous
[233] ferez de beaux sermons français
! Que voulez-
vous que je fasse! fuͤgte ich etwas verlegen hinzu,
als ich dieſe Rede ſo haſtig und fließend als
moͤglich gehalten hatte. Die Geſellſchaft war
ſehr verwundert uͤber dieſe langathmige Phraſe
und betrachtete mich als einen unvermutheten
Teufelskerl von Franzoſen, beſonders da ſie wegen
der Schnelligkeit, mit der ich ſprach, nichts davon
verſtanden hatten, außer dem Oheim, welcher
vergnuͤglich lachte. Man ahnte freilich nicht, daß
ich die Rede im Stillen foͤrmlich ausgedacht und
daß ich keineswegs mit dieſer Gelaͤufigkeit fort¬
zufahren im Stande waͤre. Anna war die einzige
Perſon, welche Alles verſtanden, und ſie ſagte
kein Wort hierauf und ſchien innerlich beleidigt
zu ſein, denn ſie ward roth und ſah verlegen vor
ſich nieder. Sie verſtand naͤmlich, wie es ſich
ſpaͤter zeigte, keinen Spaß in Bezug auf die
waadtlaͤndiſchen Geiſtlichen, die ſie in dem An¬
flug kirchlichen Weſens, den das junge Ding
nebſt dem Franzoͤſiſchen davon getragen, ſehr ver¬
ehrte und deren Andenken fuͤr ſie eine ſchoͤne und
bewußtvolle Erinnerung war. Da ich bemerkte,
[234] daß die verkehrte Art, meine innere Muthloſigkeit
zu aͤußern, faſt einen uͤblen Eindruck gemacht, ſo
fluͤchtete ich mich ſobald moͤglich vom Tiſche hin¬
weg. Es laͤutete nun das letzte Zeichen zur
Kirche und die ganze Familie ruͤſtete ſich zum
Kirchgange. Anna zog feine glaͤnzende Leder¬
handſchuhe an und die drei Maͤdchen des Hauſes,
welche bisher, obgleich ſtaͤdtiſch gekleidet, wie die
Landmaͤdchen ohne Handſchuhe zur Kirche gegan¬
gen, brachten nun ebenfalls deren geſtrickte aus
Seide oder Baumwolle zum Vorſchein und putz¬
ten ſich damit aus. Anna zeigte, als man zum
Gehen bereit war, ein geſammeltes und andaͤch¬
tiges Weſen, ſprach nicht mehr viel und ſah vor
ſich nieder, und die uͤbrigen Baͤſchen, welche von
jeher lachend und froͤhlich zur Kirche gegangen,
gaben ſich nun auch ein feierliches Anſehen, daß
ich ganz aus der Verfaſſung kam und nicht wußte,
wie ich mich geberden ſollte. Ich ſtand aus Ver¬
legenheit am Ofen, obſchon die junge Sommer¬
ſonne auf dem Garten ſich lagerte; man fragte
mich, ob ich denn nicht mitginge? worauf ich, um
endlich mir wieder etwas Geltung zu verſchaffen,
[235] mit Wichtigkeit ſprach: nein, ich haͤtte nicht Zeit,
ich muͤßte ſchreiben!


Diesmal ging das ganze Haus zur Kirche,
wohl Anna zu Ehren, und nur ich allein blieb
zuruͤck. Durch das Fenſter ſah ich dem anſehn¬
lichen Zuge nach, welcher ſich durch die Wieſen
unter den Baͤumen hin bewegte und dann auf
der Hoͤhe des Kirchhofes zum Vorſchein kam,
um endlich in der Kirchenthuͤr zu verſchwinden.
Dieſe wurde bald darauf geſchloſſen, das Gelaͤute
ſchwieg, der Geſang begann und hallte deutlich
und ſchoͤn heruͤber. Auch dieſer ſchwieg und nun
verbreitete ſich ein Meer von Stille uͤber das
Dorf, welches einzig dann und wann durch einen
kraͤftigeren Ruf des Predigers unterbrochen wurde.
Das Laub und die Millionen Graͤſer waren
maͤuschenſtill, trieben aber nichts deſto minder mit
Hin- und Herwackeln allerlei lautloſen Unfug,
wie muthwillige Kinder waͤhrend einer feierlichen
Verhandlung. Die abgebrochenen Toͤne der Pre¬
digt, welche durch einen offenen Fenſterfluͤgel ſich
in die Gegend verloren, klangen ſeltſam und
manchmal wie hollaho! manchmal wie juchhe oder
[236] hopſa! bald in hohen Fiſteltoͤnen, bald tief grol¬
lend, jetzt wie ein naͤchtlicher Feuerruf und dann
wieder wie das Gelaͤchter einer Lachtaube. Waͤh¬
rend der Pfarrer predigte und ich Anna in Ge¬
danken aufmerkſam und ſtill daſitzen ſah, nahm
ich Papier und Feder und ſchrieb meine Gefuͤhle
fuͤr ſie in feurigen Worten nieder. Ich erinnerte
ſie an die zaͤrtliche Begebenheit auf dem Grabe
der Großmutter, nannte ſie mit ihrem Namen
und brachte ſo haͤufig als moͤglich das Du an,
welches ehedem zwiſchen uns gebraͤuchlich geweſen.
Ich ward ganz begluͤckt uͤber dieſem Schreiben,
hielt manchmal inne und fuhr dann in um ſo
ſchoͤneren Worten wieder fort. Das Beſte, was
in meiner zufaͤlligen und zerſtreuten Bildung an¬
geſammelt lag, befreite ſich hier und vermiſchte
ſich mit der Empfindung meiner augenblicklichen
Lage. Ueberdies wob ſich eine ſchwermuͤthige
Stimmung durch das Ganze, und als das Blatt
vollgeſchrieben war, durchlas ich es mehrere Male,
als ob ich damit jedes Wort der Anna in's Herz
rufen koͤnnte. Dann reizte es mich, das Blatt
offen auf dem Tiſche liegen zu laſſen und in den
[237] Garten zu gehen, damit es der Himmel oder
ſonſt wer durch das offene Fenſter leſen koͤnne;
aber nur die voͤllige Sicherheit, daß jetzt doch
keine menſchliche Seele in der Naͤhe ſei, gab mir
dieſe Verwegenheit, mit welcher ich zwiſchen den
Beeten auf und nieder ſpazierte, nach dem Fen¬
ſter hinauf ſchauend, hinter welchem meine ſchoͤne
Liebeserklaͤrung lag. Ich glaubte etwas Rechtes
gethan zu haben und fuͤhlte mich zufrieden und
befreit, verfuͤgte mich aber bald wieder in die
Stube, da ich dem Frieden doch nicht recht traute,
und kam gerade dort an, als das Blatt, durch
den Luftzug getragen, zum Fenſter hinausſaͤuſelte.
Es ſetzte ſich auf einem Apfelbaume nieder; ich
lief wieder in den Garten: dort ſah ich es ſich
erheben und mit einem gewaltigen Schuſſe auf
das Bienenhaus zufliegen, wo es hinter einem
vollen ſummenden Bienenkorbe ſich feſt klemmte
und verſchwand. Ich naͤherte mich dem Korbe,
allein die Bienen waren, in Betracht der kurzen
Sommerzeit, polizeilich von der Sonntagsfeier
dispenſirt und in vollſter Bewegung und Thaͤtig¬
keit begriffen; es ſummte und kreuzte ſich vor
[238] dem Hauſe, wie auf einem Jahrmarkte, daß an
kein Durchkommen zu denken war. Unſchluͤſſig
und aͤngſtlich blieb ich ſtehen, doch ein empfind¬
licher Stich auf die Wange bedeutete mir, daß
meine Liebeserklaͤrung fuͤr einmal der bewaffneten
Obhut dieſes Bienenſtaates anheimgegeben ſei.
Fuͤr einige Monate lag ſie allerdings ſicher hinter
dem Korbe; wenn aber der Honig ausgenommen
wurde, ſo kam ſicher auch mein Blatt zu Tage,
und was dann? Indeſſen betrachtete ich dieſen
Vorfall als eine hoͤhere Fuͤgung und war halb
und halb froh, meine Erklaͤrung aus dem Be¬
reiche meines Willens einer allfaͤlligen Entdeckung
ausgeſetzt zu wiſſen, gleich einem verlornen Sa¬
menkorn des Aufbluͤhens harrend. Meine geſto¬
chene Wange reibend verließ ich endlich die Bie¬
nen, nicht ohne genau nachzuſehen, ob nirgends
ein Zipfelchen des weißen Blattes hervorgucke.
Der Geſang in der Kirche ertoͤnte wieder, die
Glocken laͤuteten und die Geſellſchaft kam in ein¬
zelnen Gruppen zerſtreut nach Hauſe. Ich ſtand
wieder oben am Fenſter und ſah Anna's Geſtalt
durch das Gruͤne allmaͤlig herannahen. Ihren
[239] weißen Hut abnehmend, ſtand ſie vor dem Bie¬
nenhauſe einige Zeit ſtill und ſchien die fleißigen
Thierchen mit Wohlgefallen zu betrachten; mit
noch groͤßerem Wohlgefallen betrachtete ich jedoch
ſie, welche ſo ruhig vor meinem verborgenen
Geheimniſſe ſtand, und ich bildete mir ein, daß
die Ahnung deſſelben ſie an der bluͤhenden und
lieblichen Stelle feſthalte. Als ſie herauf kam,
zeigte ſie jene zufriedene Froͤhlichkeit Andaͤchtiger,
welche aus der Kirche kommen, und machte ſich
nun ein wenig lauter und zugaͤnglicher, als vor¬
her. Beim Mittageſſen, wo ich wieder neben
ihr zu ſitzen kam, begann jedoch meine herb an¬
nehmliche Schule wieder. An Sonn- und Feſt¬
tagen glich der Tiſch meines Oheims ganz ſeinem
Hauſe und zeigte deſſen merkwuͤrdige und male¬
riſche Zuſammenſetzung in allen Stuͤcken. Drei
Viertheile deſſelben, von der Jugend und den
Dienſtleuten beſetzt, trugen große laͤndliche Schuͤſ¬
ſeln mit den entſprechenden Speiſen: maͤchtige
Stuͤcke Rindfleiſch und gewaltige Schinken. Neuer
Wein aus einem großen Kruge wurde in einfache
gruͤnliche Glaͤſer geſchenkt, Meſſer und Gabeln
[240] waren auf's Billigſte beſchaffen und die Loͤffel
von Zinn. Nach der Spitze der Tafel zu, wo
der Oheim und die allfaͤlligen Gaͤſte ſaßen, ver¬
aͤnderte ſich die Geſtalt dieſer Dinge. Dort waren
die Ergebniſſe der Jagd oder des Fiſchfanges
nebſt anderen guten Dingen in kleinen Portionen
aufgeſtellt: denn da die Muhme dem Zubereiten
und Eſſen ſolcher Sachen nicht gruͤn war, ſo
behandelte ſie dieſelben apothekerhaft und zimpfer¬
lich, gleich einem Grobſchmied, der eine Uhr zu¬
ſammenſetzen will. Auf einem bunten alten Por¬
zellanteller lag hier ein gebratener Vogel, dort
ein Fiſch, einige rothe Krebſe oder ein feines
Salaͤtchen. Alter ſtarker Wein ſtand in kleineren
Flaſchen, uralte Zierglaͤſer der verſchiedenſten Form
dabei; die Loͤffel waren von Silber und das
uͤbrige Beſteck beſtand aus den Truͤmmern fruͤherer
Herrlichkeit, hier ein Meſſer mit einem Elfenbein¬
hefte, dort eine komiſch gezackte Gabel mit Email¬
griff. Aus dem Gewimmel dieſer Zierlichkeiten
ragte das ungeheure Brot wie ein Berg empor,
als ein maͤchtiger Auslaͤufer des unteren Speiſen¬
gebirges, deſſen Anwohner ſich an der Ausſchlie߬
[241] lichkeit der oberen Feinſchmecker dadurch raͤchten,
daß ſie eine ſcharfe Kritik uͤber deren Geſchicklich¬
keit im Eſſen ausuͤbten. Wer nicht raſch und
reinlich einen Fiſch zu verzehren oder die Knoͤchel¬
chen eines Vogels zu zerlegen wußte, hatte fuͤr
den Spott nicht zu ſorgen. Da ich bei der Mut¬
ter an die einfachſte Lebensweiſe gewoͤhnt war,
ſo war meine Gewandtheit in Fiſch- und Vogel¬
eſſen nur gering und ich ſah mich daher am mei¬
ſten den Witzen der Tiſchgenoſſen ausgeſetzt. So
hielt mir auch heute ein Knecht einen Schinken
her und bat mich, ihm dieſen Taubenfluͤgel zu
zerlegen, da ich ſo geſchickt hierin ſei; ein Anderer
hielt mich fuͤr vortrefflich geeignet, den Ruͤckgrat
einer Bratwurſt zu benagen. Dazu ſollte ich als
angeblicher Galan meine Schoͤne bedienen, was
mir durchaus unbequem war; denn außer daß es
mir laͤcherlich vorkam, ihr ein Gericht vorzuhal¬
ten, das ihr vor der Naſe ſtand, und ich ihr
lieber mit dem Herzen, als mit den Haͤnden
dienen wollte, wo es nicht noͤthig war, reichte
meine Kenntniß hiefuͤr nicht aus, indem ich manch¬
mal den Schwanz eines Fiſches praͤſentirte, wo
II. 16[242] der Kopf gut war, und umgekehrt. Ich ließ ſie
auch bald unbedient ſitzen und freute mich unbe¬
ſchwert ihrer Naͤhe; aber der Oheim weckte mich
aus dieſem Vergnuͤgen, indem er mich aufforderte,
Anna einen Hechtkopf auseinander zu legen und
ihr die Symbole des Leidens Chriſti zu zeigen,
welche darin enthalten ſein ſollten. Allein ich
hatte dieſen Kopf unbeſehens gegeſſen, obſchon
man fruͤher davon geſprochen, und ſtellte mich
nun zugleich als einen unwiſſenden Heiden dar;
daruͤber aͤrgerlich, ergriff ich mit der Fauſt den
mittlerweile entbloͤßten Schinkenknochen, hielt ihn
der Anna unter die Augen und ſagte, hier waͤre
noch ein heiliger Nagel vom Kreuze. Ich behielt
nun freilich wieder Recht in den Augen der
Spoͤtter, doch Anna hatte gerade ſolche Grobheit
nicht verdient, da ſie mich nicht verſpottet und
ganz ſtill neben mir geſeſſen hatte. Sie wurde
uͤber und uͤber roth, ich fuͤhlte augenblicklich mein
Unrecht und haͤtte aus Reue gern den Knochen
verſchlungen. Verlegen legte ich ihn auf meinen
Teller und fuͤgte noch ein paar ſchlechte Witze
hinzu. »Dieſe Reliquie,« ſagte ich, »wuͤrde aller¬
[243] dings ein artiger Sparren im Kopfe ſein! In¬
deſſen mag es manchen Heiligen geben, deſſen
chriſtliche Ideen einem Schinkenknochen gleichen.«
Hierauf antwortete Niemand etwas außer meinem
Oheim, welcher mich ernſtlich erſucht haben wollte,
dergleichen Mittheilungen zu unterlaſſen. Das
Rothwerden war nun an mir und ich ſagte nichts
mehr waͤhrend der uͤbrigen Zeit, die man am
Tiſche zubrachte. Ich zog mich zuruͤck in bitterem
Unmuthe und gedachte mich nicht mehr ſehen zu
laſſen, bis meine Baͤschen mich aufſuchten und
mich aufforderten, mit ihnen und ihren Bruͤdern
Anna nach Hauſe zu begleiten und den Schul¬
meiſter zu beſuchen. Da ich durch den ſeltenen
Verweis des Vaters in eine beſchaͤmende Lage
gerathen, ſo fanden ſie es angemeſſen, mich durch
dieſe Freundlichkeit daraus zu ziehen; denn ſie
wußten wohl, daß ich ſonſt nach der Etikette je¬
nes Alters nicht mitkommen konnte, wo das
Schmollen eine Ehrenſache und an beſtimmte
Geſetze gebunden iſt.


Wir zogen alſo aus und gingen dem Fluͤßchen
nach durch den Wald. Ich blieb ſtill, und als
16 *[244] wir durch die Enge des Weges getrennt hinter
einander gehen mußten, marſchirte ich als der
Letzte hinten drein, dicht nach Anna, aber immer
in tiefem Schweigen. Meine Augen hingen mit
Andacht und Liebe an ihrer Geſtalt, immer bereit,
ſich abzuwenden, ſobald ſie zuruͤckſchauen wuͤrde.
Doch that ſie dies nicht ein einziges Mal; hin¬
gegen bildete ich mir mit innerlichem Vergnuͤgen
ein, daß ſie hie und da mit einer kaum ſichtbaren
Abſicht, zu gefallen, ſich uͤber ſchwierige Stellen
hinbewegte. Ich machte ein paar Mal ſchuͤch¬
terne Anſtalten, ihr behuͤlflich zu ſein, allein im¬
mer kam ſie meinen Haͤnden zuvor. Da ſtand
an einer erhoͤhten Stelle des Weges die ſchoͤne
Judith unter einer dunklen Tanne, deren Stamm
wie eine Saͤule von grauem Marmor emporſtieg.
Ich hatte ſie lange nicht mehr geſehen, ſie ſchien
mit der Zeit noch immer ſchoͤner zu werden und
hatte die Arme uͤber einander geſchlagen, eine
Roſenknoſpe im Munde, mit welcher ihre Lippen
nachlaͤſſig ſpielten. Sie gruͤßte Eines um das
Andere, ohne ſich in ein Geſpraͤch einzulaſſen,
und als ich ſchließlich auch an die Reihe kam,
[245] nickte ſie mir leicht zu mit einem etwas ſpoͤtti¬
ſchen Laͤcheln.


Der Schulmeiſter begruͤßte uns mit Freuden
und vor Allen ſeine Tochter, die er ſehnlich zu¬
ruͤck erwartet. Denn ſie war nun die Erfuͤllung
ſeines Ideales geworden, ſchoͤn, fein, gebildet und
von andaͤchtigem, edlem Gemuͤthe, und mit dem
beſcheidenen Rauſchen ihres Seidenkleides war,
nicht in ſchlimmem Sinne, eine neue ſchoͤne Welt
fuͤr ihn aufgegangen. Er hatte zu ſeinem bis¬
herigen Vermoͤgen noch eine gute Erbſchaft ge¬
macht und benutzte dieſe, ohne Vornehmthuerei,
ſich mit allerhand anſtaͤndigen Annehmlichkeiten
zu umgeben. Was ſeine Tochter nach den aus
Waͤlſchland mitgebrachten Beduͤrfniſſen irgend
wuͤnſchen konnte, ſchaffte er augenblicklich an und
unter dieſem Vorwande uͤberdies eine Menge
ſchoͤner Buͤcher fuͤr ſeine eigenen Wuͤnſche. Auch
hatte er ſeinen grauen Frack mit einem feinen
ſchwarzen Leibrock vertauſcht, wenn er ausging,
und im Hauſe trug er einen ehrbaren talarartigen
Schlafrock, um mehr das Anſehen eines wuͤrdi¬
gen, halbgeiſtlichen Privatgelehrten zu gewinnen.
[246] Was irgend mit einer Stickerei geziert werden
konnte an ſeiner Perſon oder an ſeinem Geraͤthe,
das zeigte dieſen Schmuck in allen Manieren und
Farben, da ihm ſolcher ausnehmend gefiel und
Anna reichlich dafuͤr ſorgte. In dem kleinen
Orgelſaale ſtand nun ein praͤchtiges Sopha mit
bunt geſtickten Kiſſen und vor demſelben lag ein
großblumiger Teppich von Anna's Hand. Dieſe
reiche Farbenpracht an einer Stelle zuſammenge¬
haͤuft, nahm ſich vortrefflich und eigenthuͤmlich
aus im Gegenſatze zu dem einfachen weiß ge¬
tuͤnchten Saale. Nur die Orgel bot noch einigen
Schmuck in glaͤnzenden Pfeifen und mit ihren
bemalten Thuͤrchen. Anna erſchien nun in einem
weißen Kleide und ſetzte ſich an die Orgel. Sie
hatte in der Penſion Klavier ſpielen muͤſſen,
lehnte es aber ab, ein Klavier zu haben, als
ihr Vater ſogleich ein ſolches anſchaffen wollte;
denn ſie war zu klug und zu ſtolz, die gewoͤhn¬
liche Klimperei fortzuſetzen. Dagegen wandte
ſie das Erlernte dazu an, ſich fuͤr einfache Lieder
auf der Orgel einzuuͤben, ſie begleitete alſo jetzt
unſeren Geſang und der Schulmeiſter ſtand dafuͤr
[247] ſingend in unſerm Kreiſe. Er ſah fortwaͤhrend
ſeine Tochter an und ich ebenfalls, da wir ihr
im Ruͤcken ſtanden, ſie ſah wirklich aus wie eine
heilige Caͤcilie, waͤhrend die Stellung ihrer weißen
Finger auf den Taſten noch etwas Kindliches
ausdruͤckte. Als wir des muſikaliſchen Vergnuͤ¬
gens ſatt waren, gingen wir vor das Haus;
dort war auch Vieles veraͤndert. Auf dem Trepp¬
chen ſtanden Mandel- und Oleanderbaͤumchen,
das Gaͤrtchen war nicht mehr ein krauſes Roſen-
und Gelbveigeleingaͤrtchen, ſondern Anna's jetzi¬
ger Erſcheinung mehr angemeſſen mit fremden
Gewaͤchſen und einem gruͤnen Tiſche nebſt einigen
Gartenſtuͤhlen verſehen. Nachdem wir hier eine
kleine Abendmahlzeit eingenommen, gingen wir
an das Ufer, wo ein neuer Kahn lag; Anna
hatte auf dem Genferſee fahren gelernt und der
Schulmeiſter deswegen das Fahrzeug machen laſ¬
ſen, das erſte, welches auf dem kleinen See ſeit
Menſchengedenken zu ſehen war. Außer dem
Schulmeiſter ſtiegen wir Alle hinein und fuhren
auf das ruhige glaͤnzende Waſſer hinaus; ich
ruderte, da ich als Anwohner eines groͤßeren
[248] Sees auch meine Kuͤnſte zeigen wollte, und die
Maͤdchen ſaßen dicht beiſammen, die Burſche
aber hielten ſich unruhig und ſuchten Scherz und
Haͤndel. Endlich gelang es ihnen, das Gefecht
wieder zu eroͤffnen, zumal ſich ihre Schweſtern
aus der gemeſſenen Haltung heraus nach freier
Bewegung ſehnten. Sie hatten ſich nun genug
darin gefallen, mit Anna die Feinen und Ge¬
ſtrengen zu machen, und wuͤnſchten vorzuͤglich die
Fruͤchte des Spuckes, welchen ſie ſich mit meinem
Bette erlaubt hatten, mit Glanz einzuaͤrnten.
Deshalb wurde ich bald der Gegenſtand des Ge¬
ſpraͤches; Margot, die Aelteſte, berichtete Anna,
daß ich mich als einen ſtrengen Feind der Maͤd¬
chen dargeſtellt haͤtte und daß nicht zu hoffen
waͤre, daß ich jemals mich eines ſchmachtenden
Herzens erbarmen wuͤrde: ſie warne daher Anna
zum Voraus, ſich nicht etwa fruͤher oder ſpaͤter
in mich zu verlieben, da ich ſonſt ein artiger
junger Menſch ſei. Darauf bemerkte Liſette, es
waͤre dem Schein nicht zu trauen; ſie glaube
vielmehr, daß ich innerhalb lichterloh brenne vor
Verliebtheit, in wen, wiſſe ſie freilich nicht; allein
[249] ein ſicheres Zeichen davon waͤre mein unruhiger
Schlaf, man haͤtte am Morgen mein Bett im
allerſonderbarſten Zuſtande gefunden, die Lein¬
tuͤcher ganz verwickelt, ſo daß zu vermuthen, ich
habe mich die ganze Nacht um mich ſelbſt ge¬
dreht wie eine Spindel. Scheinbar beſorgt fragte
Margot, ob ich in der That nicht gut geſchlafen
habe? Wenn dem ſo waͤre, ſo wuͤßte ſie aller¬
dings nicht, was ſie von mir halten muͤßte. Sie
wolle inzwiſchen hoffen, daß ich nicht ein ſolcher
Heuchler ſei und den Maͤdchenfeind mache, waͤh¬
rend ich vor Liebe nicht wuͤßte, wo hinaus! Ueber¬
dies waͤre ich doch noch zu jung fuͤr ſolche Ge¬
danken. Liſette erwiederte, eben das ſei das Un¬
gluͤck, daß ein Gruͤnſchnabel wie ich ſchon ſo
heftig verliebt ſei, daß er nicht einmal mehr ſchla¬
fen koͤnne. Dieſe letzte Rede brachte mich endlich
auf und ich rief: »Wenn ich nicht ſchlafen konnte,
ſo geſchah das, weil ich durch Euere eigene Ver¬
liebtheit die ganze Nacht geſtoͤrt wurde, und ich
habe wenigſtens nicht allein gewacht!« »O gewiß
ſind wir auch verliebt, bis uͤber die Ohren!«
ſagten ſie etwas betroffen, faßten ſich aber ſo¬
[250] gleich und die Aeltere fuhr fort: »Weißt Du was,
Vetterchen, wir wollen gemeinſam zu Werke ge¬
hen; vertraue uns einmal Deine Leiden und zum
Danke dafuͤr ſollſt Du unſer Vertrauter werden
und unſer Rettungsengel in unſeren Liebesnoͤthen!«
»Es duͤnkt mich, Du haſt keinen Rettungsengel
nothwendig,« antwortete ich, »denn an Deinem Fen¬
ſter ſteigen die Engel ſchon ganz luſtig die Leiter
auf und nieder!« — »Hoͤrt, nun redet er irre, es
muß ſchon arg mit ihm ſtehen!« rief Margot,
roth werdend, und Liſette, welche noch bei Zeiten
ſich verſchanzen wollte, ſetzte hinzu: »Ach, laßt
den armen Jungen in Ruh, er iſt mir recht lieb
und dauert mich!« »Schweig Du!« ſagte ich noch
mehr erboſt, »Dir fallen die Liebhaber von den
Baͤumen in die Kammer!«


Die Burſche klopften in die Haͤnde und riefen:
Oho, ſteht es ſo? Der Maler hat gewiß etwas
geſehen, freilich, freilich, freilich! Wir haben's
ſchon lange gemerkt! und nun nannten ſie die be¬
guͤnſtigten Liebhaber der beiden Daͤmchen, welche
uns den Ruͤcken wandten mit den Worten: Lari¬
fari! ihr ſeid alle verlogene Schelme und der
[251] Maler ein recht boͤſer Hauptluͤgner! Lachend und
fluͤſternd unterhielten ſie ſich hierauf mit den an¬
deren beiden Maͤdchen, die nicht recht wußten
woran ſie waren, und Alle wuͤrdigten uns keines
Blickes mehr. So hatte ich das Geheimniß,
das ich am Morgen großmuͤthig zu verſchweigen
gelobt, noch vor Untergang der Sonne ausge¬
plaudert. Dadurch war der Krieg zwiſchen mir
und den Schoͤnen erklaͤrt und ich ſah mich ploͤtz¬
lich himmelweit von dem Ziele meiner Hoffnun¬
gen geruͤckt; denn ich dachte mir alle Maͤdchen
als eng verbuͤndet und gleichſam Eine Perſon,
mit welcher man im Ganzen gut ſtehen muͤſſe,
wenn man ein Theilchen gewinnen wolle.

[[252]]

Siebentes Kapitel.

Um dieſe Zeit wurde der zweite Lehrer des
Dorfes verſetzt und an ſeine Stelle kam ein blut¬
junges Schulmeiſterlein von kaum ſiebzehn Jahren,
welches bald ein Original in der Gegend wurde.
Es war ein wunderhuͤbſches Buͤrſchchen mit roſen¬
rothen Waͤnglein, einem kleinen lieblichen Munde,
mit einem kleinen Stumpfnaͤschen, blauen Augen
und blonden gelockten Haaren. Er nannte ſich
ſelbſt einen Philoſophen, weshalb ihm dieſer
Name allgemein zu Theil wurde, denn ſein We¬
ſen und Treiben war in allen Stuͤcken abſonder¬
lich. Mit einem vortrefflichen Gedaͤchtniſſe be¬
gabt, hatte er die zu ſeinem Berufe gehoͤrigen
Kenntniſſe bald erworben und ſich im Seminare
daher mit dem Studium von allen moͤglichen
Philoſophien abgegeben, welche er der Reihe nach
auswendig lernte; der Director dieſer Anſtalt war
[253] ein Mann, welcher ſeinen Zoͤglingen, obgleich
ſie nur Volkslehrer werden ſollten, gern zum all¬
gemeinſten Wiſſen verhalf, wenn ſie ſich durch
Fleiß die noͤthige Zeit dazu erwarben. Das hatte
freilich zur Folge, daß Alle, welche wirklich ein
hoͤheres und gruͤndliches Wiſſen erreichten oder
fuͤr erreichbar hielten, ſobald als moͤglich der
Volksſchule Valet ſagten und andere Bahnen
verfolgten. Dies war indeſſen nur billig; wenn
das Seminar dabei ſeinen unmittelbaren Zweck
verfehlte, ſo vergab es doch ſeiner Wuͤrde nichts,
indem es armen Bauersſoͤhnen die Welt aufthat.
Auch behielten dieſe, wenn ſie anſehnliche Gelehrte
oder Staatsbeamte wurden, doch immer eine be¬
ſondere Anhaͤnglichkeit und Liebe fuͤr die Volks¬
ſchule, welcher ſie ſich anfaͤnglich geweiht hatten,
und was dieſer oft zu Schutz und Gedeihen ge¬
reichte.


Aber es gab auch eine andere Art Wißbe¬
gieriger, welche mehr vom aͤußeren Schein und
Hochmuth getrieben, Vieles erſchnappten, ohne je
den rechten Schluͤſſel zum wiſſenſchaftlichen Leben
zu finden, auch ſonſt behindert und ohne Talent,
[254] Schulmeiſter bleiben mußten und manchmal tuͤch¬
tige Lehrer abgaben, wenn ſie Eitelkeit und Un¬
zufriedenheit uͤberwunden, manchmal aber auch
unnuͤtze Geſellen wurden, welche alle Liebe fuͤr
ihren Beruf verloren, waͤhrend ſie doch von Je¬
dermann die unbedingteſte Hochachtung verlang¬
ten, ihre Zeit zwiſchen Dorfintriguen und Kar¬
tenſpiel theilten oder unausgeſetzt um alle Maͤd¬
chen im Lande ſich bewarben, die einige tauſend
Gulden zu erben hatten. Am liebſten heiratheten
ſie endlich, nach vielen verfehlten Plaͤnen, irgend
eine verwittwete Schenkebeſitzerin, wo ſie alsdann
als gelehrte Wirthe ſtattlich figurirten, froh, dem
Schulſtaube entronnen zu ſein.


Zu allen Dieſen gehoͤrte jedoch der Philoſoph
nicht. Er behauptete, der beſte Volksſchulmeiſter
waͤre nur derjenige, welcher auf dem hoͤchſten und
klarſten Gipfel menſchlichen Wiſſens ſtaͤnde, mit
dem umfaſſenden Blicke uͤber alle Dinge, das
Bewußtſein bereichert mit allen Ideen der Welt,
zugleich aber in Demuth und Einfalt, in ewi¬
ger Kindlichkeit wandelnd unter den Kleinen,
wo moͤglichſt mit den Kleinſten. Demgemaͤß lebte
[255] er wirklich, aber dies Leben war ſeiner großen Ju¬
gend wegen eine allerliebſte Traveſtie in Miniatur.
Gleich einem Staare wußte er alle Syſteme von
Thales bis auf heute herzuſagen, allein er ver¬
ſtand ſie immer im woͤrtlichſten und ſinnlichſten
Sinn, wobei beſonders ſeine Auffaſſung der Gleich¬
niſſe und Bilder einen komiſchen Unfug hervor¬
brachte. Wenn er von Spinoza ſprach, ſo war
ihm nicht etwa die Idee aller moͤglichen Stuͤhle
der Welt, als ein Stuͤck zweckmaͤßig gebrauchter
Materie, der Modus, ſondern der einzelne Stuhl,
der gerade vor ihm ſtand, war ihm der fertige
und vollſtaͤndige Modus, in welchem die goͤttliche
Subſtanz in wirklichſter Gegenwart ſteckte, und
der Stuhl wurde dadurch geheiligt. Bei Leibnitz
fiel ihm nicht etwa die Welt in einem graͤulichen
Monadenſtaub auseinander, ſondern die Kaffee¬
kanne auf dem Tiſch, mit welcher er gerade exem¬
plirte, drohte auseinander zu gehen und der Kaffee,
welcher im Gleichniß nicht mitbegriffen, auf den
Tiſch zu fließen, ſo daß der Philoſoph ſich beei¬
len mußte, durch die praͤſtabilirte Harmonie die
Kanne zuſammenzuhalten, wenn wir den erquicken¬
[256] den Trank genießen wollten. Bei Kant hoͤrte man
das goͤttliche Poſtulat ſo leibhaftig und zierlich
erklingen, wie ein Poſthoͤrnchen, aus der tiefen
Ferne der innerſten Bruſt; bei Fichte verſchwand
wieder alle Wirklichkeit gleich den Trauben in
Auerbach's Keller, nur daß wir nicht einmal
an unſere Naſen glauben durften, welche wir
in den Haͤnden hielten; wenn Feuerbach ſagte:
Gott iſt nichts Anderes, als was der Menſch
aus ſeinem eigenen Weſen und nach ſeinen Be¬
duͤrfniſſen abgezogen und zu Gott gemacht hat,
folglich iſt Niemand als der Menſch dieſer Gott
ſelbſt, ſo verſetzte ſich der Philoſoph ſogleich in
einen myſtiſchen Nimbus und betrachtete ſich
ſelbſt mit anbetender Verehrung, ſo daß bei ihm,
indem er die religioͤſe Bedeutung des Wortes
immer beibehielt, zu einer komiſchen Blasphemie
wurde, was im Buche die ſtrengſte Entſagung
und Selbſtbeſchraͤnkung war. Am drolligſten
nahm er ſich jedoch aus in ſeiner Anwendung
der alten Schulen, deren Lebensregeln er in ſei¬
nem aͤußeren Behaben vereinigte. Als Cyniker
ſchnitt er alle uͤberfluͤſſigen Knoͤpfe von ſeinem
[257] Rocke, warf die Schuhriemen weg und riß das
Band von ſeinem Hute, trug einen derben Pruͤ¬
gel in der Hand, welcher zu ſeinem zarten Ge¬
ſichtchen ſeltſam contraſtirte, und legte ſein Bett
auf den bloßen Boden; bald trug er ſein ſchoͤnes
Goldhaar in langen tauſendfach geringelten Locken,
weil die Scheere uͤberfluͤſſig ſei, bald ſchnitt er
es ſo dicht am Kopfe weg, daß man mit dem
feinſten Zaͤngelchen kaum ein Haͤrchen haͤtte faſ¬
ſen koͤnnen, indem er die Locken als ſchnoͤden Luxus
erklaͤrte, und er ſah dann mit ſeinem geſchorenen
Roſenkoͤpfchen noch viel luſtiger aus. Im Eſſen
war er hinwieder Epikuraͤer und die gewoͤhnliche
Dorfkoſt verſchmaͤhend, ſchmorte er ſich ein ſaures
Eichhoͤrnchen, briet ein Fiſchchen oder eine Wachtel,
die er gefangen hatte, und aß ausgeſuchte kleine
Boͤhnchen, junge Kraͤutchen u. dgl., wozu er ein
halbes Glaͤschen alten Wein trank. Als Stoiker
hingegen richtete er allerhand ſpaßhafte Haͤndel
an und brachte die Leute in Harniſch, um in dem
entſtandenen Laͤrm dann einen kalten Gleichmuth
zu behaupten und ſich Nichts anfechten zu laſſen;
insbeſondere aber erklaͤrte er ſich als einen Ver¬
II. 17[258] aͤchter der Frauen und fuͤhrte einen beſtaͤndigen
Krieg mit ihnen, welche mit ihren ſinnlichen
Reizen und ihrem eitlen Weſen die Maͤnner ihrer
Tugend und Ernſthaftigkeit berauben wollten.
Als Cyniker verfolgte er die Frauen und Maͤd¬
chen uͤberall mit Natuͤrlichkeiten, als Epikuraͤer
mit erotiſchen Witzen, und als Stoiker ſagte er
ihnen Grobheiten, war aber immer zu finden,
wo drei bei einander ſtanden. Sie wehrten ſich
mit geraͤuſchvollem Entſetzen gegen ihn, ſo daß
uͤberall, wo er erſchien, ein luſtiger Spectakel
losging; nichts deſto minder ſah man ihn uͤberall
gern, die Maͤnner achteten nicht auf ihn und die
Kinder hingen mit großer Liebe an ihm; denn
mit dieſen war er auf einmal wie ein Lamm und
ſtand in dem reinſten und ſchoͤnſten Verhaͤltniſſe
zu ihnen. Er hatte die Allerkleinſten zu beſorgen
und er that dies ſo vortrefflich, daß man noch
nie einen ſo wohlgearteten und ſittigen Schlag
kleiner Juͤngelchens und Dirnchens im Dorfe ge¬
ſehen hatte. Deshalb uͤberſah man ſeine uͤbri¬
gen Geſchichten, die er anrichtete, und die man
ſeiner tollen Jugend zuſchrieb, und ſelbſt, daß er
[259] ſich fuͤr einen Atheiſten ausgab, konnte ihn der
Gunſt des weiblichen Dorfes nicht berauben.


Er fand ſich auch im Hauſe meines Oheims ein,
wo eine gute Anzahl Maͤdchen und junger Bur¬
ſche, die durch vielfaͤltigen Beſuch noch verſtaͤrkt
wurde, fuͤr ſeine Auffuͤhrungen empfaͤnglich war.
Ich geſellte mich dem Philoſophen bei, einestheils
von ſeinem Philoſophiren angezogen, anderntheils
von ſeinem Weiberkriege, da dieſer gerade mit
meiner ſchiefen Lage zu den Maͤdchen zuſammen¬
traf. Wir machten große Spaziergaͤnge, auf
welchen er mir die Syſteme der Reihe nach vor¬
trug, wie er ſie im Kopfe hatte und wie ich ſie
verſtehen konnte. Es kam mir Alles aͤußerſt
wichtig und erbaulich vor und ich ehrte bald,
gleich ihm, jede Lehre und jeden Denker, gleich¬
viel, ob wir ſie billigten oder nicht. Ueber den
chriſtlichen Glauben waren wir bald einig und
machten in die Wette unſern Krieg gegen
Pfaffen und Autoritaͤtsleute jeder Art; als ich
aber den lieben Gott und die Unſterblichkeit auf¬
geben ſollte und der Philoſoph dieſes mit hoͤchſt
unbefangenen Auseinanderſetzungen verlangte, da
[260] lachte ich eben ſo unbefangen, und es kam mir
nicht einmal in den Sinn, die Sache ernſtlich zu
unterſuchen. Ich ſagte, am Ende waͤre die Haupt¬
formel einer jeden Philoſophie, und ſei dieſe noch
ſo logiſch, eine ebenſo große und graͤuliche Myſtik,
wie die Lehre von der Dreieinigkeit, und ich wollte
von gar Nichts wiſſen, als von meiner perſoͤnlichen
angeborenen Ueberzeugung, ohne mir von irgend
einem Sterblichen etwas dazwiſchen reden zu laſ¬
ſen. Außerdem, daß ich nicht gewußt haͤtte, was
ich anfangen ſollte ohne Gott und ich die Ahnung
hatte, daß ich einer Vorſehung im Leben noch ſehr
benoͤthigt ſein wuͤrde, band mich ein kuͤnſtleriſches
Bewußtſein an dieſe Ueberzeugung. Ich fuͤhlte, daß
Alles, was Menſchen zu Wege bringen, ſeine
Bedeutung nur dadurch hat, daß ſie es zu Wege
bringen konnten, und daß es ein Werk der Ver¬
nunft und des freien Willens iſt; deshalb konnte
mir die Natur, an die ich gewieſen war, auch
nur einen Werth haben, wenn ich ſie als das
Werk eines mir gleichfuͤhlenden und vorausſe¬
henden Geiſtes betrachten konnte. Ein ſonne¬
durchſchoſſener Buchengrund konnte nur dann
[261] ein Gegenſtand der Bewunderung ſein, wenn ich
ihn mir durch ein aͤhnliches Gefuͤhl der Freude
und der Schoͤnheit geſchaffen dachte. »Sehen
Sie dieſe Blume,« ſagte ich zum Philoſophen, »es
iſt gar nicht moͤglich, daß dieſe Symmetrie mit
dieſen abgezaͤhlten Punkten und Zacken, dieſe
weiß und rothen Streifchen, dies goldene Kroͤn¬
chen in der Mitte nicht vorher gedacht ſeien!
Und wie ſchoͤn und lieblich iſt ſie, ein Gedicht,
ein Kunſtwerk, ein Witz, ein bunter und duften¬
der Scherz! So was macht ſich nicht ſelbſt!« —
»Auf jeden Fall iſt ſie ſchoͤn,« ſagte der Phi¬
loſoph, »ſei ſie gemacht oder nicht gemacht! Fra¬
gen Sie einmal! Sie ſagt nichts, ſie hat auch
nicht Zeit dazu, denn ſie muß bluͤhen und kann
ſich nicht um Ihre Zweifel kuͤmmern! Denn das
ſind alles Zweifel, was Sie vorbringen, Zweifel
an Gott und ſchnoͤde Zweifel an der Natur, und
es wird mir uͤbel, wenn ich nur einen Zweifler
hoͤre, einen empfindſamen Zweifler! O weh!«
Er hatte dieſen Trumpf beim Disputiren aͤlte¬
rer Leute gehoͤrt und brachte denſelben wie aͤhn¬
liche Gewandtheiten, die er ſich angeeignet, ge¬
[262] gen mich vor, ſo daß ich zuletzt immer geſchlagen
wurde; beſonders ſagte er zuletzt immer, ich ver¬
ſtehe eben die Sache noch nicht und wuͤßte nicht
richtig zu denken, was mich dann gewaltig er¬
boſte, und wir geriethen manchmal in grimmi¬
gen Zank. Doch vereinigten wir uns immer
wieder, wenn wir mit den Maͤdchen zuſammen¬
trafen, wo wir einen gemeinſamen Kampf zu
beſtehen hatten, von allen Seiten angegriffen.
Wir ſchlugen unſere Feinde eine Zeit lang mit
unſeren Sarkasmen ſiegreich zuruͤck, wenn ſie
aber nicht mehr weiter konnten und zu ſehr ge¬
reizt waren, ſo ging der Krieg in Thaͤtlichkeiten
uͤber; eine einzelne begann damit, Einem von
uns unverſehens ein Glas Waſſer uͤber den
Kopf zu gießen und alſobald war ein hitziges Jagen
und Verfolgen durch Haus und Gaͤrten im Gange.
Andere Burſche machten ſich ſchnell herbei, denn
fuͤnf bis ſechs zornige Maͤdchen waren eine zu rei¬
zende Gelegenheit fuͤr ſie. Man warf ſich mit
Fruͤchten, ſchlug ſich mit ausgeriſſenen Neſſel¬
ſtauden, ſuchte ſich gegenſeitig in's Waſſer zu
draͤngen, wobei man in's allerengſte Handge¬
[263] menge kam, und ich war ſehr verwundert, die
tollen Kinder ſo ruͤhrig und wehrbar zu finden.
Wenn ich eine junge Wilde mit aller Kraft um¬
faßt hielt, um ſie zu baͤndigen, waͤhrend ſie mich
boͤslich zu ſchaͤdigen ſuchte, ſo ſtritt ich ganz ehr¬
lich und tapfer, ohne irgend einen Nebenvortheil
zu ſuchen, und ich wußte gar nicht, daß ich ein
Maͤdchen in den Arm preßte. Solche Gefechte
geſchahen immer in Anna's Abweſenheit: einſt
aber entzuͤndete ſich der Streit in ihrer Gegen¬
wart, ohne daß man es gewollt hatte, ſie ſuchte
ſich ſchleunigſt zu ſalviren, ich aber, der eben
hitzig einer Anderen nachſtellte, um ſie fuͤr eine
meuchleriſche Bosheit zu beſtrafen, kriegte ploͤtz¬
lich Anna zu faſſen und ließ erſchrocken meine
Haͤnde ſinken.


So muthig ich an der Seite des Philoſophen
war, um ſo kleinlauter war ich, wenn ich den
Maͤdchen allein gegenuͤber ſtand, denn alsdann
war keine Rettung, als Alles uͤber ſich ergehen
zu laſſen. Der Philoſoph fuͤrchtete ſich vor die¬
ſer Feuertaufe nicht und tummelte ſich manchmal
furchtlos in einer Hoͤlle von zwoͤlf jungen und
[264] alten Weibern umher, und er triumphirte um ſo
lauter, je uͤbler er von ihren Zungen und Haͤn¬
den zugerichtet wurde, wenn er ihnen weiber¬
ſchmaͤhende Ausſpruͤche aus der Bibel und welt¬
liche Argumente an den Kopf warf. Ich hin¬
gegen raͤumte das Feld, wenn mir die Sache zu
arg wurde, oder ich ſtellte mich, als ob ich nicht
ungeneigt waͤre, mich belehren und bekehren zu
laſſen. Wenn ich vollends mit einem der Maͤd¬
chen ganz allein war, ſo wurde ſtets ein Waf¬
fenſtillſtand geſchloſſen und ich war immer halb
bereit, unſere Sache zu verrathen und mich unter
den Schutz des Feindes zu ſtellen. Jedoch muß ich
dieſe Neigung ſchlecht zu aͤußeren gewußt haben,
denn niemals ſchien man ſie zu bemerken und
ich mußte zufrieden ſein, ſonſt ein vernuͤnftiges
Wort zu wechſeln. Ich wuͤnſchte durch dieſen
gemaͤßigten und freundlichen Verkehr allmaͤlig
dahin zu gelangen, auch mit Anna wieder im
Einzelnen und allein zu ſprechen, und glaubte dies
thoͤrichter Weiſe immer am beſten auf weitlaͤufigem
Wege zu bewerkſtelligen, indem ich mich an die
Anderen hielt, ſtatt Anna einfach einmal bei
[265] der Hand zu nehmen und anzureden. Allein
dies Letztere ſchien mir eben noch himmelweit zu
liegen und eine reine Unmoͤglichkeit; lieber haͤtte
ich einen Drachen gekuͤßt, als ſo leichtſinnig die
Schranke gebrochen, obgleich es vielleicht nur
an dieſem Drachenkuß, an dieſem erſten Worte
hing, die ſchoͤne Jungfrau Vertraulichkeit aus der
Verzauberung wieder zu gewinnen. Allein wer
konnte wiſſen! Ein Sperling in der Hand iſt
beſſer, als ein Adler auf dem Dache! Lieber
noch dies ſtumme Nahſein ſicher behalten, als
durch die beleidigte Ehre genoͤthigt zu ſein, auf
immer zu ſcheiden! Dadurch ward ich immer mehr
und mehr verhaͤrtet, und zuletzt ward es mir un¬
moͤglich, das gleichguͤltigſte Wort an Anna zu
richten; ſo kam es, als ſie auch nichts zu mir
ſagte, daß nach einer ſehr ſtillſchweigenden Ueber¬
einkunft wir fuͤr einander gar nicht da waren,
ohne uns deswegen zu meiden. Sie kam eben
ſo oft zu uns heruͤber, wenn ich da war, wie
ſonſt, und ich beſuchte den Schulmeiſter nach wie
vor, wo ſie ſich dann zufrieden herumzubewegen
ſchien, ohne ſich um mich zu bekuͤmmern. In¬
17 *[266] deſſen kam es mir wunderlich vor, daß kein
Menſch unſere ſeltſame Haltung zu bemerken
ſchien, obgleich es doch gewiß auffallen mußte,
daß wir auch gar nie etwas zu einander ſagten.
Die aͤlteſte Baſe, Margot, hatte ſich dieſen
Sommer mit dem jungen Muͤller verlobt, wel¬
cher ein ſtattlicher Reitersmann war, die mittlere
duldete offen die Bewerbungen eines reichen
Bauernſohnes, und die juͤngſte, ein Ding von
16 Jahren, welches ſich im Kriege immer am
wildeſten und feindſeligſten geberdet, war un¬
mittelbar oder faſt waͤhrend eines der hitzigſten
Gefechte uͤberraſcht worden, wie ſie in einer
Laube ſich ſchnell von dem Philoſophen kuͤſſen
ließ; die Wolken der Zwietracht hatten ſich daher
verzogen, der allgemeine Friede war hergeſtellt,
nur zwiſchen mir und Anna, welche nie im
Kriege gelegen mit einander, war auch kein
Friede oder vielmehr ein ſehr ſtiller, denn unſer
Verhaͤltniß blieb ſich immer gleich. Anna hatte
die erſte aͤußere Garnitur aus dem Welſchland
ſchon abgelegt und war wieder friſcher und freier
geworden; allein ſie blieb doch ein feines und
[267] ſproͤdes Kind, das uͤberhaupt nicht viel ſprach,
leicht beleidigt und gereizt wurde, was ein ſchnel¬
les Erroͤthen immer anzeigte, und beſonders ſtellte
ſich ein leichter Stolz heraus, der ſich mit etwas
Eigenſinn verband. Dieſem Charakter zufolge
war ſie unerbittlich und haͤtte eher den Tod ge¬
nommen, als daß ſie ſich durch das geringſte
Entgegenkommen etwas vergeben haͤtte. Deſto
verliebter aber wurde ich mit jedem Tage, ſo
daß ich mich fortwaͤhrend mit ihr beſchaͤftigte,
wenn ich allein war, mich hoͤchſt ungluͤcklich fuͤhlte
und ſehnſuͤchtig traͤumend die Waͤlder und Hoͤhen
durchſtreifte; denn da ich nunmehr wieder der Ein¬
zige war, welcher ſeine Liebe verbergen mußte, wie
ich wenigſtens glaubte, ſo ging ich auch vorzugs¬
weiſe wieder allein und auf mich ſelbſt angewie¬
ſen. Ich brachte die Tage im tiefen Walde zu,
mit meinem Handwerkszeuge verſehen; allein ich
zeichnete nur wenig nach der Natur, ſondern
wenn ich eine recht geheime Stelle gefunden, wo
ich ſicher war, daß Niemand mich uͤberraſchte,
zog ich ein großes ſchoͤnes Stuͤck Pergament her¬
vor, auf welchem ich Anna's Bildniß aus dem
[268] Gedaͤchtniß in Waſſerfarben malte. Dies war
fuͤr mich das allergroͤßte Gluͤck, wenn ich mich an
einem klaren Spiegelwaͤſſerchen unter dichtem Blaͤt¬
terdache ſo wohnlich eingerichtet hatte, das Bild
auf den Knieen. Ich konnte nicht zeichnen, daher
fiel das Ganze etwas byzantiniſch aus, was ihm
bei der Fertigkeit und dem Glanz der Farben
ein eigenes Anſehen gab. Jeden Tag betrachtete
ich Anna verſtohlen oder offen und verbeſſerte
danach das Bild, bis es zuletzt ganz aͤhnlich
wurde. Es war in ganzer Figur und ſtand in
einem reichen Blumenbeete, deſſen hohe Bluͤthen
und Kronen mit Anna's Haupt in den tief¬
blauen Himmel ragten; der obere Theil der
Zeichnung war bogenfoͤrmig abgerundet und mit
Rankenwerk eingefaßt, in welchem glaͤnzende
Voͤgel und Schmetterlinge ſaßen, deren Farben
ich noch mit Goldlichtern erhoͤhte. Alles dies,
ſowie Anna's Gewand, welches ich phantaſie¬
voll bereicherte, war mir die angenehmſte Arbeit
waͤhrend vieler Tage, die ich im Walde zu¬
brachte, und ich unterbrach dieſe Arbeit nur, um
auf meiner Floͤte zu ſpielen, welche ich beſtaͤndig
[269] bei mir fuͤhrte. Auch des Abends nach Sonnen¬
untergang ging ich oft mit der Floͤte noch aus,
ſtrich hoch uͤber den Berg, bis wo der See
in der Tiefe und des Schulmeiſters Haus daran
lag und ließ dann meine ſelbſterfundenen Weiſen
oder auch ein ſchoͤnes Liebeslied durch Nacht und
Mondſchein ertoͤnen. Hierauf ſchien kein Menſch
zu achten oder ſich wenigſtens ſo zu ſtellen;
denn ich haͤtte ſogleich aufgehoͤrt, wenn irgend Je¬
mand ſich darum bekuͤmmert haͤtte, und doch ſuchte
ich gerade dies und blies meine Floͤte wie Einer,
der gehoͤrt ſein will. So gingen die Sommermo¬
nate voruͤber; ich verbarg das Bild ſorgfaͤltig
und gedachte es noch lange zu verbergen, indem
es von Jedermann als ein ziemlich deutliches
Geſtaͤndniß der Liebe angeſehen werden mußte.
An einem ſonnigen Septembernachmittage, als
der herbſtliche Schein mild auf dem Garten lag
und das Gemuͤth zur Freundlichkeit ſtimmte,
wollte ich eben ausgehen, als ein ganz kleines
Knaͤbchen mir die Botſchaft brachte, ich moͤchte
in die groͤßere Gartenlaube kommen. Ich wußte,
daß ſaͤmmtliche Maͤdchen dort mit Margot's Aus¬
[270] ſteuer beſchaͤftigt waren und daß Anna ihnen
half; das Herz klopfte mir daher ſogleich, weil
ich irgend etwas Angenehmes ahnte, doch ging
ich erſt nach einer kleinen Weile mit gleichguͤlti¬
ger Miene hin. Die Maͤdchen ſaßen in einem
Halbkreiſe um das weiße Leinenzeug herum,
unter dem gruͤnen Rebendache, und ſie ſahen alle
ſchoͤn und bluͤhend aus. Als ich eintrat und
fragte, was ſie begehrten, laͤchelten und kicherten
ſie eine Zeitlang verlegen, daß ich trotzig ſchon
wieder umkehren und weggehen wollte. Jedoch
Margot ergriff das Wort und rief: So bleib doch
hier, wir werden dich nicht freſſen! und nachdem
ſie ſich geraͤuſpert, fuhr ſie fort: Es ſind man¬
nigfaltige Klagen uͤber dich angeſammelt und
wir haben daher uns als eine Art Gerichtshof
hierher geſetzt, um dich zu richten und in's Ver¬
hoͤr zu nehmen, lieber Vetter! und wir fordern
dich hiermit auf, uns auf alle Fragen treu, wahr
und beſcheiden zu antworten! Erſtlich wuͤnſchen
wir zu wiſſen — je, was wollten wir denn zu¬
erſt fragen, Caton? Ob er gern Aprikoſen
eſſe, erwiederte dieſe und Liſette rief: Nein, wie
[271] alt er ſei, muͤſſen wir zuerſt fragen, und wie er
heiße! Bitte, macht euch nicht gar zu unnuͤtz, ſagte
ich, und ruͤckt heraus mit eurem Anliegen! Doch
Margot ſagte: Kurz und gut, du ſollſt einmal
ſagen, was du gegen die Anna haſt, daß du
dich ſo gegen ſie benimmſt? Wie ſo? antwortete
ich verlegen, und Anna wurde ganz roth und
ſah auf ihre Leinwand; Margot fuhr fort:
Wie ſo? das moͤchte ich auch noch fragen! Mit
Einem Wort, was haſt du fuͤr einen Grund, ſeit
deiner Ankunft bei uns kein Sterbenswoͤrtchen
zu Anna zu ſagen und zu thun, als ob ſie gar
nicht in der Welt waͤre? Dies iſt nicht nur eine
Beleidigung fuͤr ſie, ſondern fuͤr uns Alle,
und ſchon des oͤffentlichen Anſtandes we¬
gen muß es gehoben werden auf irgend eine
Weiſe; wenn Anna dich beleidigt hat, ohne es
zu wiſſen, ſo erklaͤre es, damit ſie dir demuͤthige
Abbitte thun kann. Uebrigens brauchſt du hier¬
auf nicht ſtolz zu ſein oder zu glauben, es ſei
auf deine koſtbare Gunſt abgeſehen! Einzig und
allein muß durch gegenwaͤrtige Verhandlung die
Schicklichkeit und das gute Recht gewahrt wer¬
[272] den! Ich erwiederte, daß ich die Gruͤnde fuͤr
mein Benehmen gegen Anna angeben koͤnne,
ſobald ſie mir diejenigen fuͤr ihr eigenes Verhal¬
ten mittheilen wolle, indem ich mich ebenſowenig
eines an mich gerichteten Wortes ruͤhmen koͤnne.
Auf dieſe Rede ward mir vorgehalten: ein Frauen¬
zimmer koͤnne immer noch thun, was ſie wolle;
jedenfalls muͤßte ich den Anfang machen, wor¬
auf dann Anna ſich verpflichten wuͤrde, in
einem geſellſchaftlich freundlichen und zuvorkom¬
menden Verkehr mit mir zu leben, wie mit
Anderen.


Dies ließ ſich hoͤren und ſchien mir ganz in dem
Sinne geſagt zu ſein, in welchem ich die Frauen
als eine verſchworene Einheit betrachtet hatte;
es klang mir wie ein angenehmer Beweis davon,
daß es gut ſei, wenn ſie eine Sache wohlwol¬
lend an die Hand naͤhmen. Ihre hochtrabenden
Worte beirrten mich nicht und ich bildete mir
gleich ein, daß man mich ſehr noͤthig habe. Laͤ¬
chelnd erwiederte ich, daß ich mich einem vernuͤnf¬
tigen Wort gern fuͤge und daß ich nichts Beſſe¬
res verlange, als mit aller Welt in Frieden zu
[273] leben. Nun ſtand ich aber wieder da, ohne
Anna weiter anzuſehen, welche emſig naͤhte.
Liſette ergriff nun das Wort und ſagte: Um
einen Anfang zu machen, gieb nun der Anna
die Hand und verſprich ihr mit deutlichen Wor¬
ten, jedesmal, wo du mit ihr zuſammentriffſt,
ſie mit ihrem Namen zu gruͤßen und ſie zu fra¬
gen, wie es ihr geht; hierbei ſoll feſtgeſetzt ſein,
daß jedesmal, wo du ſie zuerſt an dem Tage
ſiehſt, die Hand gereicht werde, wie es unter Chriſten
gebraͤuchlich iſt! Ich naͤherte mich Anna, hielt meine
Hand hin und ſprach eine verworrene kleine Rede;
ohne aufzuſehen, gab ſie mir die Hand, wobei ſie
die Naſe ein bischen ruͤmpfte und ein wenig laͤ¬
chelte. Als ich hierauf mich aus der Laube entfernen
wollte, begann Margot wieder: Geduld, Herr Vet¬
ter! Es kommt nun der zweite Punkt, welcher zu
erledigen iſt. Sie ſchlug die Tuͤcher, welche den
Tiſch bedeckten, auseinander und enthuͤllte mein
Bild Anna's. Wir wollen, fuhr ſie fort, nicht
lange eroͤrtern, wie wir zu dieſem geheimnißvol¬
len Werke gelangt, genug, es iſt entdeckt und
wir wuͤnſchen nun zu wiſſen, mit welchem Recht
II. l8[274] und zu welchem Zweck harmloſe Maͤdchen ohne
ihr Wiſſen abconterfeit werden?


Anna hatte einen fluͤchtigen Blick auf das
bunte Pergament geworfen und ſaß ebenſo ver¬
legen und unruhig da, als ich beſchaͤmt und trotzig
war. Ich erklaͤrte, daß das Blatt mein Eigen¬
thum und ich keiner ſterblichen Seele eine Ver¬
antwortung daruͤber ſchuldig waͤre, gleichviel ob
es an's Tageslicht getreten oder noch im Ver¬
borgenen liege, wo ich kuͤnftig meine Sachen zu
laſſen bitte. Damit wollte ich meine Zeichnung
ergreifen; allein die Maͤdchen deckten ſie ſchleunig
mit Leinwand zu und thuͤrmten die ganze Aus¬
ſteuer darauf. Es koͤnne ihnen nicht gleichguͤltig
ſein, ſagten ſie, ob ihre Bildniſſe heimlich und
zu unbekanntem Zwecke angefertigt wuͤrden. Ich
muͤßte alſo beſtimmt erklaͤren, fuͤr wen ich be¬
ſagtes Werk angefertigt habe oder was ich damit
zu machen gedenke: denn daß ich es fuͤr mich
behalten wolle, ſei nach meinem bisherigen Ver¬
halten nicht wohl anzunehmen, auch waͤre dies
nicht zu geſtatten. Die Sache iſt ſehr einfach,
erwiederte ich endlich, ich habe dem Schulmeiſter,
[275] Anna's Vater, eine kleine Freude zu ſeinem
Namenstage machen wollen und gedachte dies
am beſten durch ein Portrait ſeiner Jungfer
Tochter zu erreichen; habe ich damit Unrecht ge¬
than, ſo thut es mir leid, ich werde es nicht
wieder thun! Ich kann vielleicht durch eine Ab¬
bildung ſeines Hauſes und Gartens am See
dem Herrn Vetter den gleichen Dienſt leiſten,
mir verſchlaͤgt es nichts!


Durch dieſe Ausflucht beraubte ich mich zwar
ſelbſt des Bildes, das mir auch der Muͤhe und
Arbeit wegen lieb geworden war, zugleich aber
ſchnitt ich der unbequemen Verhandlung den Faden
ab, indem die Maͤdchen hiegegen nichts mehr
einzuwenden wußten und meine aufmerkſame Ge¬
ſinnung fuͤr den Schulmeiſter noch zu loben ver¬
anlaßt wurden. Doch beſchloſſen ſie, das Per¬
gament aufzubewahren bis zum beſtimmten Tage,
wo wir es ſaͤmmtlich dem Schulmeiſter feierlich
uͤberbringen wuͤrden. So kam ich um meinen
Schatz, verhehlte aber meinen Verdruß, indeſſen
die kleine Caton, noch nicht zufrieden, wieder
anfing: »Ihm verſchlaͤgt es nichts!« ob er das
18*[276] Haus zeichne oder Anna, ſagte er! Was ſoll das
wohl heißen? Und Margot erwiederte: Das ſoll
heißen, daß er ein hochmuͤthiger Geſell iſt, wel¬
chem ein Haus und ein ſchoͤnes Maͤdchen gleich
unbedeutend ſind! Hauptſaͤchlich aber ſoll es heißen:
Glaubt ja nicht etwa, daß ich das mindeſte be¬
ſondere Intereſſe an dieſem Geſichtchen hatte,
als ich es malte! Dies iſt eine neue Beleidigung
und der armen Anna gebuͤhrt eine glaͤnzende
Genugthuung! Margot zog nun ein zuſammen¬
gefaltetes Blatt aus dem Buſen, entfaltete es
und beauftragte Liſette, es laut und feierlich vor¬
zuleſen. Ich war ſehr begierig, was es ſein
moͤchte, Anna wußte ebenfalls nicht, was das
bedeute und ſah ein wenig auf; nach den erſten
Worten aber erkannte ich, daß es meine Liebes¬
erklaͤrung aus dem Bienenhauſe war. Es wurde
mir kalt und heiß waͤhrend des Leſens, Anna
kam, ſo viel ich in meiner Verwirrung bemerken
konnte, erſt nach und nach auf die Spur, die
uͤbrigen Maͤdchen, welche Anfangs uͤbermuͤthige
und lachende Geſichter zeigten, wurden durch die
Stille waͤhrend des Leſens und durch die ehrliche
[277] Schoͤnheit und Kraft jener Worte betroffen und
beſchaͤmt und ſie erroͤtheten der Reihe nach, wie
wenn die Erklaͤrung ſie ſelber betroffen haͤtte.
Indeſſen gab mir die Angſt ſchon eine neue Liſt
ein, die Angſt, welche ich vor dem Verklingen des
letzten Wortes hatte. Als die Leſerin ſchwieg,
ſelbſt in nicht geringer Verlegenheit, ſagte ich ſo
trocken als moͤglich: Teufel! das kommt mir
ganz bekannt vor, zeigt einmal her! — Richtig!
das iſt ein altes Blatt Papier, von mir beſchrieben!


Nun? Weiter? ſagte Margot etwas ver¬
bluͤfft, denn ſie wußte nun ihrerſeits nicht, wo
es hinaus ſollte. Wo habt ihr das gefunden?
fuhr ich fort, das iſt ein Stuͤck Ueberſetzung aus
dem Franzoͤſiſchen, das ich ſchon vor zwei Jah¬
ren hier im Hauſe gemacht habe. Die ganze
Geſchichte ſteht in dem alten vergoldeten Schaͤ¬
ferroman, der im Dachſtuͤbchen liegt bei den al¬
ten Degen und Folianten; ich habe damals ſtatt
des Namens Melinde den Namen Anna hinge¬
ſetzt zum Spaße. Hole einmal das Buch her¬
unter kleine Caton! ich will euch die Stelle fran¬
zoͤſiſch vorleſen.


[278]

Hol' einmal ſelbſt, kleiner Heinrich, wir ſind
gerade gleich alt! verſetzte die Kleine und die
Uebrigen machten ganz enttaͤuſchte Geſichter, da
meine Erfindung zu natuͤrlich und wahrhaft aus¬
ſah. Nur Anna mußte wiſſen, daß die Erklaͤ¬
rung doch ausſchließlich an ſie gerichtet war,
weil ſie allein an der Berufung auf das Grab
der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und
Datum neu waren. Sie ruͤhrte ſich nicht. So
war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch
noch an ſeine rechte Beſtimmung gelangt und
ich konnte ſeine Wirkung ſich ſelbſt uͤberlaſ¬
ſen, ohne mit meiner Perſon unmittelbar dazu
zu ſtehen und ohne daß die Maͤdchen einen
Triumph davon hatten. Ich wurde ſo ſicher und
kuͤhn, daß ich das Papier nahm, zuſammenfaltete
und es der Anna mit einer komiſchen Verbeugung
und den Worten uͤberreichte: Da man dieſer
Styluͤbung einmal einen hoͤheren Zweck zugeſchrie¬
ben hat, ſo geruhen ſie, verehrtes Fraͤulein! dem
irrenden Blatte ein ſchuͤtzendes Obdach zu geben
und daſſelbe als eine Erinnerung an dieſen denk¬
wuͤrdigen Nachmittag von mir anzunehmen! Sie
[279] ließ mich erſt eine Weile ſtehen und wollte das
Papier nicht nehmen; erſt als ich eben links ab¬
ſchwenken wollte, nahm ſie es raſch und warf
es neben ſich auf den Tiſch.


Mein Witz war indeſſen zu Ende und ich
ſuchte mit guter Manier aus der Laube zu kom¬
men. Mit einer zweiten ſcherzhaften Verbeu¬
gung empfahl ich mich, ſaͤmmtliche Maͤdchen
ſtanden zierlich auf und entließen mich unter
ſpoͤttiſch-hoͤflichen Verneigungen. Der Spott
kam von ihrem weiblichen Grolle, daß ſie mich
nicht gedemuͤthigt und untergekriegt hatten, die
Hoͤflichkeit von der Achtung, welche ihnen mein
Benehmen einfloͤßte; denn waͤhrend das Bild
ſowohl wie das beſchriebene Blatt von dem Vor¬
handenſein einer beſtimmten Neigung zeugten,
war ich doch nicht aufdringlich und ſchwaͤchlich
mit derſelben und hatte trotz der Oeffentlichkeit
der Verhandlung das eigentliche zarte Geheimniß
ſo zu ſchuͤtzen gewußt, daß unter dem Mantel
des Scherzes nicht nur ich, ſondern auch Anna
die volle Freiheit behalten hatte, anzuerkennen,
was ihr beliebte.


[280]

Hoͤchſt zufrieden zog ich mich in das Dach¬
ſtuͤbchen zuruͤck, wo ich meinen Sitz aufgeſchla¬
gen hatte, und vertraͤumte dort eine kleine Stunde
in der groͤßten Seligkeit. Anna kam mir ſo lie¬
benswerth und koͤſtlich vor, wie noch niemals,
und indem mein eigenſuͤchtiger Sinn ſie ſich nun
unentrinnbar verfallen dachte, bedauerte ich ſie
in ihrer Feinheit beinahe und fuͤhlte eine Art
zaͤrtlichen Mitleidens mit ihr. Doch machte ich
mich bald wieder auf die Beine und ſchlich, da
die Septemberſonne ſich ſchon zu neigen begann,
dem Garten zu, um dem Tage die Krone auf¬
zuſetzen und zu ſehen, ob ich Anna nach Hauſe
geleiten koͤnnte, zum erſten Male wieder ſeit den
ſchoͤnen Kindertagen. Sie aber war ſchon fort
und allein uͤber den Berg gegangen, die Baſen
raͤumten ihre Arbeit zuſammen und thaten
ſehr gleichmuͤthig und ruhig, ich uͤberblickte den
leeren Tiſch, huͤtete mich aber wohl zu fragen,
ob Anna das Papier wirklich mitgenommen
habe, und ſchlenderte das Thal hinauf in den
Schatten hinein, unmuthig wie Einer, welcher
von einem froͤhlichen Mittagsmahle kommt und
[281] nicht weiß, wie er den Abend zubringen ſoll;
denn ich dachte nicht daran, daß Anna, wenn
ſie mich liebte, nun ja auch allein uͤber den Berg
wanderte.


Die naͤchſten Tage kam ſie nicht zu uns
und ich getraute mir auch nicht zum Schulmei¬
ſter zu gehen; ſie hatte nun ein ſchriftliches Ge¬
ſtaͤndniß von mir in den Haͤnden, weswegen mir
nun unſer Beider Freiheit verloren und deshalb
unſer Benehmen ſchwieriger ſchien, weil ich die
Gewaltſamkeit einer ſolchen Erklaͤrung wohl
fuͤhlte. Ich ſehnte mich auch nicht ſowohl nach
einer Erwiederung von ihrer Seite, als nach
einem ſchweigenden und ruhigen Einverſtaͤndniß
und nach ſicheren Zeichen, daß nicht etwa eine
andere Neigung in ihrem Herzchen entſtanden
ſei. Wie nun ein Tag nach dem anderen vor¬
uͤberging, verſchwand meine vergnuͤgte Sicherheit
wieder, beſonders da ich gar keinerlei Erwaͤhnung
und Spuren von dem Vorgange in der Laube
erfuhr, und ich war eben wieder auf dem Punkte,
in meinem Herzen trotzig zu verſtocken, als der
Namenstag des Schulmeiſters, welchen ich in der
[282] Noth angerufen hatte, wirklich da war und die
Baͤschen erklaͤrten, wir wuͤrden auf den Abend
Alle hingehen, um ihn zu begluͤckwuͤnſchen. Erſt
jetzt bekam ich mein Bild wieder zu ſehen, wel¬
ches ganz fein eingerahmt war. An einem ver¬
dorbenen Kupferſtiche hatten die Maͤdchen einen
ſchmalen, in Holz auf das Zierlichſte geſchnitte¬
nen Rahmen gefunden, welcher wohl ſiebenzig
Jahr alt ſein mochte und eine auf einen ſchma¬
len Stab gelegte Reihe von Muͤſchelchen vor¬
ſtellte, von denen eins das andere halb bedeckte.
An der inneren Kante lief eine feine Kette mit
viereckigen Gelenken herum, faſt ganz frei ſte¬
hend, die aͤußere Kante war mit einer Perlen¬
ſchnur umzogen. Der Dorfglaſer, welcher allerlei
Kuͤnſte trieb und beſonders in verjaͤhrten Lackir¬
arbeiten auf altmodiſchem Schachtelwerk ſtark
war, hatte den Muſcheln einen roͤthlichen Glanz
gegeben, die Kette vergoldet und die Perlen ver¬
ſilbert und ein neues klares Glas genommen,
ſo daß ich hoͤchſt erſtaunt war, meine Zeichnung
in dieſem Aufputze wieder zu finden. Sie er¬
regte die Bewunderung aller laͤndlichen Be¬
[283] ſchauer und beſonders meine Blumen und Voͤ¬
gel, ſowie die Goldſpangen und Edelſteine, wo¬
mit ich Anna geſchmuͤckt, auch die fromme und
ſorgfaͤltige Ausarbeitung ihrer Haare und ihrer
weißen Halskrauſe, die ſchoͤnblauen Augen und
die roſenrothen Wangen, der tiefrothe Mund, Alles
entſprach dem phantaſiereichen Sinne der Leute,
welche ihre Augen an den mannigfaltigen Gegen¬
ſtaͤnden vergnuͤgten. Das Geſicht war faſt gar nicht
modellirt und ganz licht, und dies gefiel ihnen
nur um ſo mehr, obgleich dieſer vermeintliche
Vorzug in meinem Nichtkoͤnnen ſeinen einzigen
Grund hatte.


Ich mußte das allerherrlichſte Werk eigen¬
haͤndig tragen, als wir fortgingen, und wenn
die Sonne ſich in dem glaͤnzenden Glaſe ſpiegelte,
ſo erwies es ſich recht eigentlich, daß kein Faͤde¬
lein ſo fein geſponnen, das nicht endlich an die
Sonne kaͤme. Auch machten die Maͤdchen reich¬
liche Witze, wenn ſie ſich nach mir umſahen,
der den Rahmen ſorgfaͤltig in Acht nehmen
mußte und daher ausſah, als ob ich ein Palla¬
dium im Schweiße meines Angeſichts uͤber den
[284] Berg truͤge. Aber die Freude, welche der Schul¬
meiſter bezeugte, entſchaͤdigte mich reichlich fuͤr Alles,
ſowie uͤber den Verluſt des Bildes, zumal ich mir
vornahm, fuͤr mich ſelbſt noch ein viel ſchoͤneres
zu entwerfen. Ich war der Held des Tages,
als das Bild nach genugſamem Betrachten uͤber
dem Sopha im Orgelſaale aufgehaͤngt wurde,
wo es ſich wie das Bild einer maͤrchenhaften
Kirchenheiligen ausnahm. Doch dies Alles trug
dazu bei, meine Annaͤherung zu Anna zu er¬
ſchweren; es war mir unmoͤglich, dieſe Gelegen¬
heit zu benutzen und mit ihr ſchoͤn zu thun, ich
begriff ebenfalls, daß ſie jetzt eben ſich ſehr gemeſ¬
ſen benehmen mußte, und ich erkannte, daß es ei¬
gentlich gar kein Spaß ſei, einem Maͤdchen ſeine
Neigung ſo beſtimmt kund zu thun. Deſto beſ¬
ſer ſtand ich mich mit dem Schulmeiſter, mit
welchem ich vielfach disputirte. Sein Bildungs¬
kreis umfaßte hauptſaͤchlich das chriſtlich morali¬
ſche Gebiet in einem halb aufgeklaͤrten und halb
myſtiſch andaͤchtigen Sinne, wo der Grundſatz
der Duldung und Liebe, gegruͤndet auf Selbſter¬
kenntniß und auf das Studium des Weſens Got¬
[285] tes und der Natur, zu oberſt ſtand. Daher
war er ſehr bewandert in den memoirenartigen
Schriften geiſtreich andaͤchtiger Leute aus ver¬
ſchiedenen Nationen, und er beſaß und kannte
ſeltene und beruͤhmte Buͤcher dieſer Art, die ihm
die Ueberlieferung gleicher Beduͤrfniſſe in die Haͤnde
gegeben hatte. Es war viel Schoͤnes, Vor¬
nehmes und allgemein Wahres zu leſen in dieſen
Buͤchern und ich hoͤrte mit Beſcheidenheit und
Wohlgefallen ſeinen Vortraͤgen zu, indem das
Gruͤbeln nach dem Wahren und Guten mich
immer mehr anzog. Meine Einſprachen beſtan¬
den darin, daß ich gegen das Chriſtliche prote¬
ſtirte, welches das alleinige Merkzeichen alles Gu¬
ten ſein ſollte. Ich befand mich in dieſer Hin¬
ſicht in einem peinlichen Zerwuͤrfniſſe. Waͤhrend
ich die Perſon Chriſti liebte, wenn ſie auch, wie
ich glaubte, in der Vollendung, wie ſie daſteht,
eine Sage ſein ſollte, und waͤhrend ich vielfach
das Wohlthuende ihrer Erinnerung empfand,
war ich doch gegen Alles, was ſich Chriſtlich
nannte, ganz feindlich geſinnt geworden, ohne
recht zu wiſſen warum, und ich war ſogar froh,
[286] dieſen Haß zu empfinden: denn wo ſich Chriſten¬
thum geltend machte, war fuͤr mich reizloſe und
graue Nuͤchternheit. Ich ging deswegen ſchon ſeit
ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche, als an
hohen Feſttagen, und die chriſtliche Unterweiſung
beſuchte ich ſehr ſelten, obgleich ich geſetzlich dazu
verpflichtet war; im Sommer kam ich durch,
weil ich groͤßtentheils auf dem Lande lebte, im
Winter ging ich zwei oder drei Mal und man
ſchien dies nicht zu bemerken, wie man mir
uͤberhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem
einfachen Grunde, weil ich der gruͤne Heinrich
hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangen¬
heit nach eine abgeſonderte und abgeſchiedene
Erſcheinung war; auch machte ich ein ſo finſte¬
res Geſicht dazu, daß die Geiſtlichen mich gern
gehen ließen. So genoß ich einer vollſtaͤndigen
Freiheit, und wie ich glaube nur dadurch, daß
ich mir dieſelbe, trotz meiner Jugend, entſchloſſen
angemaßt; denn ich verſtand durchaus keinen
Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre
mußte ich genugſam fuͤr dieſelbe bezahlen, wenn
naͤmlich an mich die Reihe kam, in der Kirche
[287] »aufzuſagen«, d. h. in der oͤffentlichen Kinderlehre
nach vorhergegangener Einuͤbung einige auswendig
gelernte Fragen zu beantworten und ſchließlich
eine Liederſtrophe herzuſagen. Dies war vor vie¬
len Jahren ſchon eine Pein fuͤr mich geweſen,
nun aber geradezu unertraͤglich; und doch unter¬
zog ich mich dem Gebrauche oder mußte es viel¬
mehr, da, abgeſehen von dem Kummer, den ich
meiner Mutter gemacht haͤtte, das endliche ge¬
ſetzliche Loskommen daran geknuͤpft war. Auf
die naͤchſte Weihnacht ſollte ich nun confirmirt
werden, was mir ungeachtet der gaͤnzlichen Frei¬
heit, welche mir nachher winkte, große Sorgen
verurſachte. Daher aͤußerte ich mein Antichri¬
ſtenthum jetzt gegen den Schulmeiſter mehr, als
ich ſonſt gethan haben wuͤrde, obgleich es in
ganz anderer Weiſe geſchah, als wenn ich mit
dem Philoſophen zuſammen war; ich mußte
nicht nur den Vater Anna's, ſondern uͤberhaupt
den bejahrten Mann ehren, und beſonders ſeine
duldſame und liebevolle Weiſe ſchrieb mir von
ſelber vor, mich in meinem Ausdruͤcken mit
Maß und Beſcheidenheit zu benehmen und ſogar
[288] die Vorausſetzung, daß ich als ein junger Burſche
noch was zu lernen moͤglich faͤnde, nicht aufzu¬
geben. Auch war der Schulmeiſter eher froh
uͤber meine abweichenden Meinungen, indem ſie
ihm Veranlaſſung zu geiſtiger Bewegung gaben
und er Urſache fand, mich foͤrmlich lieb zu ge¬
winnen, der Muͤhe wegen, die ich ihm machte.
Er ſagte, es ſei ganz in der Ordnung, ich ſei
wieder einmal ein Menſch, bei welchem das
Chriſtenthum das Ergebniß des Lebens und
nicht der Kirche ſein wuͤrde, und werde noch ein
rechter Chriſt werden, wenn ich erſt etwas er¬
fahren habe. Der Schulmeiſter ſtand ſich nicht
gut mit der Kirche und behauptete, ihre gegen¬
waͤrtigen Diener waͤren unwiſſende und rohe Men¬
ſchen. Ich habe ihn aber ein wenig im Verdacht,
daß dies nur darin ſeinen Grund hatte, daß ſie
Hebraͤiſch und Griechiſch verſtanden, was ihm
verſchloſſen war. Ich lernte bei ihm viele Buͤ¬
cher kennen, die wieder eine ganz andere Welt
enthielten, als diejenigen des Philoſophen, wel¬
cher ein maͤchtiges Zuckerfaß voll philoſophiſcher
Buͤcher in's Dorf gebracht hatte.


[289]

Indeſſen war die Ernte laͤngſt voruͤber und
ich mußte an die Ruͤckkehr denken. Mein Oheim
wollte mich diesmal nach der Stadt bringen
und zugleich ſeine Toͤchter mitnehmen, von denen
die zwei juͤngeren noch gar nie dort geweſen.
Er ließ eine alte Kutſche beſpannen, welche ſeit
Menſchengedenken im Wirthshauſe ſtand, und ſo
fuhren wir davon, die Toͤchter in ihrem beſten
Staate, zum Erſtaunen aller Dorfſchaften, durch
welche wir kamen. Der Oheim fuhr am gleichen
Tage mit Margot zuruͤck, Liſette und Caton
blieben eine Woche bei uns, wo die Reihe an
ihnen war, die Bloͤden und Schuͤchternen zu
ſpielen, denn ich zeigte ihnen mit wichtiger Miene
alle Herrlichkeiten der Stadt und that, als ob
mir dies Alles gehoͤrte. Nicht lange nachdem ſie
fort waren, kam eines Morgens ein leichtes Fuhr¬
werk vor unſer Haus gerollt und herausſtiegen
der Schulmeiſter und ſein Toͤchterchen, letzteres
durch einen fliegenden gruͤnen Schleier gegen die
ſcharfe Herbſtluft geſchuͤtzt. Eine lieblichere Ueber¬
raſchung haͤtte mir gar nicht widerfahren koͤnnen,
und meine Mutter hatte die groͤßte Freude an
II. 19[290] dem guten Kinde. Der Schulmeiſter wollte ſich
umſehen, ob fuͤr den Winter eine geeignete Woh¬
nung zu finden waͤre, indem er doch allmaͤlig
ſein Kind mit der Welt mehr in Beruͤhrung brin¬
gen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten
ſich entwickeln zu laſſen. Es ſagte ihm jedoch
keine Gelegenheit zu und er behielt ſich vor, lieber
im naͤchſten Jahre ein kleines Haus in der Naͤhe
der Stadt zu kaufen und ganz uͤberzuſiedeln.
Dieſe Ausſicht erfuͤllte mich theils mit Freuden,
theils aber haͤtte ich mir Anna doch lieber fuͤr
immer als das Kleinod jener gruͤnen entlegenen
Thaͤler gedacht, die mir einmal ſo lieb geworden.
Indeſſen hatte ich das heimliche Vergnuͤgen, zu
ſehen, wie meine Mutter Freundſchaft ſchloß mit
Anna, und wie dieſe eben ſo tiefen Reſpect als
herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu
meiner allergroͤßten Genugthuung gern zu zeigen
ſchien. Wir wetteiferten nun foͤrmlich, ich dem
Schulmeiſter meine Achtung darzuthun und ſie
meiner Mutter, und uͤber dieſem angenehmen
Streite fanden wir keine Zeit, mit einander ſelbſt
zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur
[291] dadurch mit einander. So ſchieden ſie von uns,
ohne daß ich mit ihr einen einzigen beſondern
Blick gewechſelt haͤtte.


Nun ruͤckte der Winter heran und mit ihm
das Weihnachtsfeſt. Woͤchentlich drei Mal fruͤh
um fuͤnf Uhr mußte ich in das Haus des Pfarr¬
helfers gehen, wo in einer langen ſchmalen riemen¬
foͤrmigen Stube an vierzig junge Leute zur Con¬
firmation vorbereitet wurden. Wir waren Juͤng¬
linge, wie man uns nun nannte, aus allen
Staͤnden; am oberen Ende, wo einige truͤbe Ker¬
zen brannten, die Vornehmen und Studirenden,
dann kam der mittlere Buͤrgerſtand, unbefangen
und muthwillig, und zuletzt, ganz in der Dunkel¬
heit, arme Schuhmacherlehrlinge, Dienſtboten und
Fabrikarbeiter, etwas roh und ſchuͤchtern, unter
denen nur dann und wann eine plumpe Stoͤrung
vorfiel, waͤhrend weiter oben man ſich mit Ge¬
ſchicklichkeit fortwaͤhrend unruhig verhielt. Dieſe
Ausſcheidung war gerade nicht abſichtlich ange¬
ordnet, ſondern ſie hatte ſich von ſelbſt gemacht.
Wir waren naͤmlich nach unſerem Verhalten und
nach unſerer Ausdauer geordnet; da nun die Vor¬
19 *[292] nehmſten von Haus aus zum aͤußeren Frieden
mit der Kirche ſtreng erzogen wurden und die
meiſte Sicherheit im Sprechen beſaßen und dies
Verhaͤltniß durch alle Grade herunterging, ſo
war dem Scheine nach die Rangordnung ganz
natuͤrlich, beſonders da die Ausnahmen ſich dann
von ſelbſt zu ihres Gleichen hielten und durchaus
nicht ſich unter die anderen Staͤnde miſchen woll¬
ten. Es geziemte ſich auch, daß diejenigen,
welche vermoͤge ihrer Verhaͤltniſſe darauf gewieſen
waren, als Maͤnner einſt in der Kirche eine
Stuͤtze fuͤr ihre politiſchen und ſocialen Grund¬
ſaͤtze und einen Schutz fuͤr das »Eigenthum« zu
finden, in dieſer geweihten Werkſtaͤtte des Chri¬
ſtenthumes obenan ſaßen und ſich aufmerkſam
verhielten, waͤhrend dem gezeichneten Haͤuflein,
welchem eingepraͤgt werden mußte, daß Chriſti
Reich nicht von dieſer Welt ſei, zur heilſamen
Uebung auch hier der unterſte Platz gebuͤhrte.


Schon das puͤnktliche Aufſtehen und Hinge¬
hen am kalten dunklen Wintermorgen, an regel¬
maͤßigen Tagen und das Hinſitzen an einen be¬
ſtimmten Platz war mir unertraͤglich, da ich ſeit
[293] der Schulzeit dergleichen nicht mehr geuͤbt. Nicht
daß ich gaͤnzlich unfuͤgſam war fuͤr irgend eine
Disciplin, wenn ich einen nothwendigen und ver¬
nuͤnftigen Zweck einſah; denn als ich zwei Jahre
ſpaͤter meiner Militaͤrpflicht genuͤgen und als Re¬
crut mich an beſtimmten Tagen auf die Minute
am Sammelplatze einfinden mußte, um mich nach
dem Willen eines verſoffenen Exercirmeiſters
ſechs Stunden lang auf dem Abſatze herumzu¬
drehen, da that ich dies mit dem groͤßten Ver¬
gnuͤgen und war aͤngſtlich beſtrebt, mir das Lob
des alten Commißbruders zu erwerben. Allein
hier galt es, ſich zur Vertheidigung des Vater¬
landes und ſeiner Freiheit faͤhig zu machen; das
Land war ſichtbar, ich ſtand darauf und naͤhrte
mich von ſeiner Frucht. — Dort aber mußte
ich mich gewaltſam aus Schlaf und Traum reißen,
um in der duͤſteren Stube zwiſchen langen Reihen
einer Schaar anderer ſchlaftrunkener Juͤnglinge
das allerfabelhafteſte Traumleben zu fuͤhren unter
dem eintoͤnigen Befehl eines weichlichen Schwarz¬
rockes, mit dem ich ſonſt auf der Welt Nichts
zu ſchaffen hatte.


[294]

Was unter fernen oͤſtlichen Palmen vor Jahr¬
tauſenden theils ſich begeben, theils von heiligen
Traͤumern getraͤumt und niedergeſchrieben worden
war, ein Buch der Sage, zart und luftig und
weiſe wie alle Sage, das wurde hier als das
hoͤchſte und ernſthafteſte Lebenserforderniß, als
die erſte Bedingung, Buͤrger zu ſein, Wort fuͤr
Wort durchſprechen und der Glaube daran auf
das Genaueſte regulirt. Die wunderbarſten Aus¬
geburten menſchlicher Phantaſie, bald heiter und
reizend, bald finſter, brennend und blutig, aber
immer durch den Duft einer entlegenen Ferne
gleichmaͤßig umſchleiert, mußten als das wirk¬
lichſte und feſteſte Fundament unſeres ganzen Da¬
ſeins angeſehen werden und wurden uns nun
zum letzten Male und ohne allen Spaß beſtimmt
erklaͤrt und erlaͤutert, zu dem Zwecke, im Sinne
jener Phantaſieen ein wenig Wein und ein wenig
Brot am richtigſten genießen zu koͤnnen; und
wenn dies nicht geſchah, wenn wir uns dieſer
fremden wunderbaren Disciplin nicht mit oder
ohne Ueberzeugung unterwarfen, ſo waren wir
unguͤltig im Staate, und es durfte Keiner nur
[295] eine Frau nehmen. Von Jahrhundert zu Jahr¬
hundert war dies ſo geuͤbt und die verſchiedene
Auslegung der poetiſchen Vorſtellung hatte ſchon
ein Meer von Blut gekoſtet, der jetzige Umfang
und Beſtand unſeres Staates war groͤßtentheils
eine Folge jener Kaͤmpfe, ſo daß fuͤr uns die
Welt des Traumes auf das Engſte mit der merk¬
lichſten und greifbarſten Wirklichkeit verbunden
war. Was als geſchichtliches Document vergan¬
gener Geiſtestraͤume von der groͤßten poetiſchen
Meiſterſchaft und kuͤnſtleriſchen Vernunftmaͤßigkeit
war, wenn man es unbefangen betrachten durfte,
das wurde als aufgedrungene gegenwaͤrtige
Realitaͤt mit Einem Schlage zu einem beaͤngſti¬
genden Unſinn, und es ward mir zu Muthe, wenn
ich den widerſpruchloſen Ernſt ſah, mit welchem
ohne Mienenverzug das Fabelhafte behandelt
wurde, als ob von alten Leuten ein Kinderſpiel
mit Blumen getrieben wuͤrde, bei welchem jeder
Fehler und jedes Laͤcheln Todesſtrafe nach
ſich zog.


Welchen Boden die ausgeſtreute Lehre in dem
Herzen jedes Einzelnen fand, war nicht zu mer¬
[296] ken. Alle hatten von Kindheit auf die gleichen
Worte und Bilder des Chriſtenthumes gehoͤrt,
immer ein wenig deutlicher; Alle fuͤhlten jetzt,
daß man nun das wahre Verſtaͤndniß von ihnen
verlange als ein Hauptkennzeichen ihrer menſch¬
lichen Tauglichkeit und als eine Hauptbedingung
ihrer Gluͤckſeligkeit, aber Alle ſetzten dem beredten
Lehrer ein farbloſes und ſtummes Schweigen ent¬
gegen, durch ihre knappen Antworten nur duͤrftig
unterbrochen. Die ſtarrſinnigen Knuͤppelſtirnen
ſowohl wie die glatten und heiteren, die engherzig
ſchmalen und niederen wie die hohen freien Woͤl¬
bungen, diejenigen Stirnen, welchen in der Mitte
nur ein Knoͤpfchen fehlte, um ganz ein viereckiges
Schublaͤdchen vorzuſtellen, wie diejenigen, welche
in edler Rundung eine ganze runde Welt abbil¬
deten, alle waren in der gleichen kuͤhlen Ruhe
geſenkt; weder der kuͤnftige Freigeiſt, noch der
kuͤnftige Fanatiker gaben ein Zeichen ihrer Natur
von ſich, weil der groͤßte Proſelytenmacher, das
Menſchenſchickſal, nicht mit in der Stube war.
Doch waren Alle einſtweilen aufmerkſam, und ich
ſelbſt merkte wohl auf die inneren chriſtlichen
[297] Grundlehren, waͤhrend ich auf das wunderbare
Gewand derſelben, auf die bibliſchen Geſtaltungen
der goͤttlichen Perſoͤnlichkeiten nicht achtete, und
ich weiß mich nicht einmal einer Zeit zu entſin¬
nen, wo ich darauf geachtet oder angefangen
haͤtte, nicht daran zu glauben. Deſto mehr hatte
ich in meinem Herzen gegen jenen inneren Gehalt
zu eifern, welcher uns einzig unter der Bedin¬
gung zu Gut kommen ſollte, daß wir an die
aͤußere Geſtalt glaubten, und mein Herz be¬
hauptete, daß es jenen Gehalt mit auf die Welt
gebracht habe, ſo weit er brauchbar ſei, und daß
der Erloͤſer in ihm erwache, ſobald nur ein
zweites Herz hinzukomme. Meine unchriſtliche
und ungeiſtliche Geſinnung war mir damals
nicht klar und ich hielt mich halb und halb
ſelbſt fuͤr unfromm und lachte dazu, indem ich
dabei doch keinerlei Schuld empfand. Die Sache
war aber die, daß ich ſchon lebhaft fuͤhlte,
daß jener angeborne und berechtigte Gehalt
viel zu zarter Natur war, als daß er in
eine Staatsreligion geſpannt oder auch nur mit
einem anderen als dem ſchlechtweg menſchlichen
[298] oder goͤttlichen Namen bezeichnet werden koͤnnte.


Das Erſte, was uns der Lehrer als chriſt¬
liches Erforderniß bezeichnete und worauf er eine
weitlaͤufige Wiſſenſchaft gruͤndete, war das Er¬
kennen und Bekennen der Suͤndhaftigkeit. Dieſe
Lehre traf auf eine verwandte Richtung in mir,
welche tief in meiner Natur begruͤndet iſt, wie
in derjenigen jedes ordentlichen Menſchen; ſie be¬
ſteht darin, daß man jeden Augenblick ſich ſelbſt
klaren Wein einſchenken ſoll, nie und in keiner
Weiſe ſich einen blauen Dunſt vormachen, ſon¬
dern das Unzulaͤngliche und Fratzenhafte, das
Schwache und Schlimme ſich und Anderen offen
eingeſtehen. Der natuͤrliche Menſch betrachtet ſich
ſelbſt als einen Theil vom Ganzen und darum
ebenſo unbefangen wie dieſes oder einen anderen
Theil deſſelben; daher darf er ſich ebenſo wichtig
und erbaulich vorkommen, wie alles Andere, ſich
ſelbſt unbedenklich hervorkehren, wenn er nur zu
gleicher Zeit jedes kranke Puͤnktchen an ſich ſelbſt
ebenſo genau ſieht und in's Licht ſetzt. Ferner
muß man die beſonderen Umſtaͤnde ſeiner Fehler
oder Vergehen in Betracht ziehen und die jedes¬
[299] malige Verantwortlichkeit feſtſtellen, welche im¬
mer eine andere iſt; denn das gleiche Vergehen
kann bei dem einen Menſchen faſt unbedeutend
ſein, waͤhrend es fuͤr den anderen eine Suͤnde iſt;
ja fuͤr ein und denſelben Menſchen iſt es zu der
einen Stunde unverzeihlicher und ſchwerer, als
zu der anderen Stunde. Das richtige und augen¬
blickliche Erkennen iſt nicht eine weitlaͤufige und
ſchwerfaͤllige Kunſt oder Uebung, ſondern eine
ganz leichte, fluͤſſige und ſchmiegſame, weil Jeder
alsbald recht wohl weiß, wo ihn der Schuh
druͤckt. Das eine Mal beſteht unſer Vergehen
nur darin, daß wir nicht auf der Hut waren
und in der ſelbſtbeherrſchenden Haltung, welche
wir uns nach dem Grade unſerer Einſicht, Faͤhig¬
keit und Erfahrung zu eigen gemacht und welche
bei Jedem wieder einen anderen Maßſtab verlangt,
nachgelaſſen haben, ohne deſſen inne zu werden;
das andere Mal beſteht aber das Vergehen ſo
recht in und durch ſich ſelbſt, indem wir es uns
in der vollen Gegenwart unſerer Einſicht und Er¬
fahrung zu Schulden kommen laſſen. Alsdann
geht die Suͤnde ſo zu ſagen mit der Erkenntniß
[300] und Reue zuſammen, und es giebt allerdings eine
Haͤlfte Menſchen, welche ihr Leben hindurch an
der einen Hand die Suͤnde, an der anderen Hand
die Reue gleichzeitig fuͤhren, ohne ſich je zu aͤn¬
dern; aber ebenſo gewiß giebt es eine Haͤlfte,
welche im Verhaͤltniß zu ihrer Erfahrung und
Verantwortlichkeit in einem gewiſſen Grade von
Schuldloſigkeit lebt, und jeder Einzelne, wenn er
ſich recht beſinnen will, kennt gewiß Einzelne,
bei welchen dieſe Schuldloſigkeit zu voͤlliger Rein¬
heit wird. Moͤge nun dieſes auch eine bloße Folge
von zuſammengetroffenen gluͤcklichen Umſtaͤnden
ſein, ſo daß ſolche Erſcheinungen z. B. durch
ein paſſives Fernſein vom Boͤſen von jeher ſchuld¬
los blieben: warum denn nicht ebenſo gern an
eine Unſchuld des Gluͤckes, ja der Geburt glauben,
als an eine Schuld des Mißgeſchickes, der Vor¬
herbeſtimmung? Solchen Gluͤcklichen, welche,
ohne zu wiſſen warum und wie? gerecht und
rein ſind, die Phantaſie verderben und verun¬
reinigen mit dem Gedanken angeborener ekler
Suͤndlichkeit, iſt im hoͤchſten Grade unnuͤtz und
abgeſchmackt, und wenn man nicht zu ihnen ge¬
[301] hoͤrt, fuͤr ſich ſelber das Bekenntniß der Suͤnden
profeſſionsmaͤßig betreiben, verwandelt jene natuͤr¬
liche und unbefangene Selbſterkenntniß mit Einem
Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem
mich eine unſaͤgliche froſtige Nuͤchternheit und
Schlaffheit anweht. Daher gedeiht dieſe Lehre
am beſten bei den entnervten und erſchoͤpften
Seelen; denn die Manierirtheit iſt der Ceremonien¬
meiſter des Unvermoͤgens auf jedem Gebiete, und
ſie iſt es, welche die friſchen Geiſter von jedem
Gebiete wegſcheucht, wo ſie ſich breit macht.


Nach der Lehre von der Suͤnde kam gleich
die Lehre vom Glauben, als der Erloͤſung von
jener, und auf ſie ward eigentlich das Haupt¬
gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller
Beifuͤgungen, wie daß auch gute Werke vonnoͤthen
ſeien, blieb der Schlußgeſang doch immer und
allein: Der Glaube macht ſelig! und dies uns
einleuchtend zu machen als herangewachſenen jun¬
gen Leuten, wandte der geiſtliche Mann die moͤg¬
lichſt annehmliche und vernuͤnftig ſcheinende Be¬
redtſamkeit auf. Wenn ich auf den hoͤchſten Berg
laufe und den Himmel abzaͤhle, Stern fuͤr Stern,
[302] als ob ſie ein Wochenlohn waͤren und ich ſie
ſaͤmmtlich in der Hoſentaſche haͤtte, ſo kann ich
darunter kein Verdienſt des Glaubens entdecken,
und wenn ich mich auf den Kopf ſtelle und den
Maibluͤmchen unter den Kelch hinaufgucke, ſo
kann ich nichts Verdienſtliches am Glauben aus¬
findig machen. Wer an eine Sache glaubt, kann
ein guter Mann ſein, wer nicht, ein ebenſo guter.
Wenn ich zweifle, ob zwei mal zwei vier ſeien,
ſo ſind es darum nicht minder vier, und wenn ich
glaube, daß zwei mal zwei vier ſeien, ſo habe ich
mir darauf gar Nichts einzubilden und kein Menſch
wird mich darum loben. Wenn Gott eine Welt
geſchaffen und mit denkenden Weſen bevoͤlkert
haͤtte, darauf ſich in einen undurchdringlichen
Schleier gehuͤllt, das geſchaffene Geſchlecht aber
in Elend und Suͤnde verkommen laſſen, hierauf
einzelnen Menſchen auf außerordentliche und wun¬
derbare Weiſe ſich offenbart, auch einen Erloͤſer
geſendet unter Umſtaͤnden, welche nachher mit
dem Verſtande nicht mehr begriffen werden konn¬
ten, von dem Glauben daran aber die Rettung
und Gluͤckſeligkeit aller Creatur abhaͤngig gemacht
[303] haͤtte, alles dieſes nur, um das Vergnuͤgen zu
genießen, daß an Ihn geglaubt wuͤrde, Er, der
ſeiner doch ziemlich ſicher ſein duͤrfte: ſo wuͤrde
dieſe ganze Procedur eine gemachte Komoͤdie ſein,
welche fuͤr mich dem Daſein Gottes, der Welt
und meiner ſelbſt alles Troͤſtliche und Erfreuliche
benaͤhme. Glaube! O wie unſaͤglich bloͤde klingt
mich dies Wort an! Es iſt die allerverzwickteſte
Erfindung, welche der Menſchengeiſt machen
konnte in einer zugeſpitzten Lammslaune! Wenn
ich des Daſeins Gottes und ſeiner Vorſehung
beduͤrftig und gewiß bin, wie entfernt iſt dies
Gefuͤhl von dem, was man Glauben nennt! Wie
ſicher weiß ich, daß die Vorſehung uͤber mir geht
gleich einem Stern am Himmel, der ſeinen Gang
thut, ob ich nach ihm ſehe oder nicht nach ihm
ſehe. Gott weiß, denn er iſt allwiſſend, jeden
Gedanken, der in meinem Inneren aufſteigt, er
kennt den vorigen, aus welchem er hervorging,
und ſieht den folgenden, in welchen er uͤbergeht;
er hat allen meinen Gedanken ihre Bahn gege¬
ben, die ebenſo unausweichlich iſt, wie die Bahn
der Sterne und der Weg des Blutes; ich kann
[304] alſo wohl ſagen: ich will dies thun oder jenes
laſſen, ich will gut ſein oder mich daruͤber hin¬
wegſetzen, und ich kann durch Treue und Uebung
es vollfuͤhren; ich kann aber nie ſagen: ich will
glauben oder nicht glauben; ich will mich einer
Wahrheit verſchließen oder ich will mich ihr oͤffnen!
Ich kann nicht einmal bitten um Glauben, weil,
was ich nicht einſehe, mir niemals wuͤnſchbar ſein
kann, weil ein klares Ungluͤck, das ich begreife,
noch immer eine lebendige Luft zum Athmen fuͤr
mich iſt, waͤhrend eine Seligkeit, die ich nicht
begriffe, Stickluft fuͤr meine Seele waͤre.


Dennoch liegt in dem Worte: der Glaube
macht ſelig! etwas Tiefes und Wahres, inſofern
es das Gefuͤhl unſchuldiger und naiver Zufrieden¬
heit bezeichnet, welches alle Menſchen umfaͤngt,
wenn ſie gern und leicht an das Gute, Schoͤne
und Merkwuͤrdige glauben, gegenuͤber denjenigen,
welche aus Duͤnkel und Verbiſſenheit oder aus
Selbſtſucht Alles in Frage ſtellen und bemaͤkeln,
was ihnen als gut, ſchoͤn oder merkwuͤrdig er¬
zaͤhlt wird. Wo das religioͤſe Glauben bei man¬
gelnder Ueberlegungskraft ſeinen Grund in jener
[305] liebenswuͤrdigen und gutmuͤthigen Leichtglaͤubig¬
keit hat, da ſagt man mit Recht, es mache ſelig,
und denjenigen Unglauben, welcher aus der an¬
deren Quelle herruͤhrt, kann man billig unſelig
nennen. Allein mit der eigentlichen dogmatiſchen
Lehre vom Glauben haben beide rein Nichts zu
thun; denn waͤhrend es chriſtlich Glaͤubige giebt,
welche in allen anderen Dingen die unangenehm¬
ſten Bezweifler und Bemaͤkler ſind, gibt es eben
ſo viele Unglaͤubige, ſogar Atheiſten, welche ſonſt
an alles Hoffnungsvolle und Erfreuliche mit all¬
bereiter Leichtigkeit glauben, und es iſt ein be¬
liebtes Argument der chriſtlichen Polemiker, daß
ſie Solchen hoͤhniſch vorhalten, wie ſie jeden auf¬
fallenden Quark als baare Muͤnze annaͤhmen und
ſich von Illuſionen naͤhrten, waͤhrend ſie nur das
Große und Eine nicht glauben wollten. So
haben wir das komiſche Schauſpiel, wie Men¬
ſchen ſich der abſtracteſten aller Ideologieen hin¬
geben, um nachher Jeden, der an etwas erreich¬
bar Gutes und Schoͤnes glaubt, einen Ideologen
zu nennen; ſie bilden eine eigene wunderliche
Bank der Spoͤtter, vom Caͤſar Napoleon bis
II. 20[306] herunter zum letzten Zappler und Staͤnker, der
vor Hochmuth und Unruhe nicht weiß, was er
anfangen ſoll und, da es ihm an jedem Koͤrn¬
lein von Autoritaͤt und Witz mangelt, ſich an
die Ruͤckwand des Glaubens lehnt, um was hin¬
ter ſich zu haben, von wo aus er rumoren kann.
Der Caͤſar ehrt den Glauben als Tyrann und
Ariſtokrat, der Zappler und Staͤnker ſchaͤtzt ihn
als geiſtiger Proletarier und Scandalmacher,
Beide aus Selbſtſucht. Will man die Bedeutung
des Glaubens kennen, ſo muß man nicht ſowohl
die orthodoxen Kirchenleute betrachten, bei denen
der Inſtitutionen wegen Alles uͤber Einen Kamm
geſchoren iſt und das Eigenthuͤmliche daher zuruͤck¬
tritt, als vielmehr die undisciplinirten Wildlinge
des Glaubens, welche außerhalb der Kirchen¬
mauern frei umherſchwirren, ſei es in entſtehen¬
den Secten, ſei es in einzelnen Perſonen. Hier
treten die rechten Beweggruͤnde und das Ur¬
ſpruͤngliche in Schickſal und Charakter hervor
und werfen Licht in das verwachſene und feſt ge¬
wordene Gebilde der großen geſchichtlichen Maſſe.


Es lebte in unſerer Stadt ein Mann, welcher
[307] ſich ein Vergnuͤgen daraus machte, den Leuten,
welche ſich mit ihm abgaben, allerlei Erfindun¬
gen und Aufſchneidereien vorzutragen, um ſie
nachher ihrer Leichtglaͤubigkeit wegen zu verhoͤh¬
nen, indem er erklaͤrte, die Geſchichte ſei gar
nicht wahr. Jemand Anders' aber mochte er¬
zaͤhlen was er wollte, ſo ſtellte der Mann es in
Abrede und hatte eine ganz eigene tuͤckiſche Manier,
die Treuherzigkeit, mit welcher ihm etwas geſagt
wurde, in's Laͤcherliche zu ziehen, auf die gleiche
Weiſe, wie er die Treuherzigkeit derer, welche
ihm glaubten, ſpoͤttiſch zu machen wußte. Er
aß keine Krumme Brotes, die er ſich nicht durch
eine Luͤge verſchafft; denn er waͤre lieber Hun¬
gers geſtorben, eh' als er in ein auf geradem
Wege erworbenes Stuͤck Brot gebiſſen haͤtte. Aß
er aber ſein Brot, ſo ſagte er, es ſei gut, wenn
es ſchlecht war, und ſchlecht, wenn es gut war;
hatte er Hunger, ſo benagte er es zimpferlich und
warf die Brocken umher; hatte er keinen Hunger,
ſo nahm er Anderen den Biſſen weg, den ſie eben
in den Mund ſtecken wollten, und fraß ſich ſo
voll, daß er krank wurde; alsdann behauptete er,
[308] ſich ſehr wohl zu befinden! Ueberhaupt ging ſein
ganzes Streben dahin, ſich immer fuͤr etwas
Anderes zu geben, als er war, was ihm ein
fortgeſetztes Studium verurſachte, ſo daß er, der
eigentlich nichts that und nie etwas genuͤtzt hatte,
doch zu jeder Minute in der complicirteſten Thaͤ¬
tigkeit begriffen war. Hierzu beduͤrfte er eines
fortgeſetzten Schleichens und Lauerns, theils um
die guͤnſtigen Momente zu erhaſchen, um ſeine
Narrheiten vorzubringen, theils um Andere auf
ſchwachen Seiten zu ertappen, da eine Haupt¬
leidenſchaft von ihm darin beſtand, die ganze
Welt der Unwahrheit und Luͤge zu uͤberfuͤhren,
und es war nichts Luſtigeres zu ſehen, als wenn
er, ſoeben hinter einer Thuͤr, wo er gelauert
hatte, auf den Zehen hervorhuͤpfend, ploͤtzlich ſtrack
und ſteif da ſtand, mit rollenden Augen um ſich
ſtierte und mit bombaſtiſchen Worten ſeine Grad¬
heit, Ehrlichkeit und argloſe Derbheit anruͤhmte.
Da er bei Alledem wohl fuͤhlte, daß Jedermann
beſſer daran war als er, ſo erfuͤllte ein unnenn¬
bar neidiſches Weſen ſeine Seele, welches ihn
verzehrte wie ein gluͤhendes Feuer, und welches
[309] ſich dadurch aͤußerte, daß ſein drittes Wort im¬
mer das Wort »Neid« war. Er verſicherte, ſich
in einer ewig gluͤckſeligen moraliſchen Ueberlegen¬
heit zu befinden, und ſah daher in jedem Blatte,
das nicht nach ſeiner Weiſe ſaͤuſelte, einen neidi¬
ſchen Widerſacher, und die ganze Welt war nur
ein vor Neid zitternder Wald fuͤr ihn. Wider¬
ſprach ihm Jemand, ſo ſchrieb er jeden Wider¬
ſpruch dem Neide zu, ſchwieg man waͤhrend ſeiner
Vortraͤge, ſo ward er wuͤthend und konnte kaum
das Weggehen des Schweigenden abwarten, um
denſelben des Neides zu beſchuldigen, ſo daß ſeine
ganze Rede durch das unaufhoͤrlich wiederkehrende
Wort Neid recht eigentlich zum neidiſch toͤnenden
Geſange des Neides ſelbſt wurde. So war er
in Allem der perſoͤnliche Feind der Wahrheit und
athmete nur in Abweſenheit derſelben, wie die
Maͤuſe auf dem Tiſche tanzen, wenn die Katze
nicht zu Hauſe iſt, und die Wahrheit raͤchte ſich
auf die einfachſte Weiſe an ihm. Sein Grund¬
uͤbel war, daß er ſchon im Mutterleibe hatte ge¬
ſcheidter ſein wollen als ſeine Mutter, und in
Folge deſſen konnte er nur leben, wenn er Nichts
[310] zu glauben brauchte, was irgend ein Menſch
ſagte, alle Menſchen aber glaubten, was Er
ſagte. Nun konnte er ſich freilich ſtellen, als ob
dem ſo waͤre, und er that es auch, was ſchon
eine energiſche Zuſammenfaſſung der einzelnen
Verlogenheiten und ſeine Hauptluͤge war; allein
der Beweis vom wahren Sachverhalte machte
ſich doch zu offenbar im Gelaͤchter ſeiner Neben¬
menſchen. Daher fand er kurz und gut ſeinen
beſten Stuͤtzpunkt in derjenigen Lehre, welche den
unbedingten Glauben zum Panier erhebt. Schon
daß die allgemeine Richtung der Zeit ſich vom
Glauben abwandte und die Mehrzahl der denken¬
den Menſchen, wenn ſie ſich auch nicht dagegen
ausſprachen, doch denſelben gut ſein ließen und
in der Praxis nur auf das Begreifliche und Er¬
kennbare bauten, war ihm Grund genug, ſich
dieſer Richtung ſchnurſtracks entgegenzuſtellen und
dabei zu behaupten, der Hang und Drang der
Zeit ginge unverkennbar auf den erneuten Glau¬
ben los; denn er konnte das Luͤgen nirgends laſ¬
ſen. Diejenigen, welche wirklich glaubten, waren
ihm hoͤchſt langweilig und er bekuͤmmerte ſich
[311] nicht um ſie, daher er auch nie in einer Kirche
oder religioͤſen Gemeinſchaft geſehen wurde. Da¬
gegen hatte er es um ſo mehr mit denen zu thun,
welche nicht glaubten. Nicht daß er ſich um das
Seelenheil derſelben viel gekuͤmmert hatte, obgleich
er die Sache mit aͤngſtlicher Haſt verfolgte; ſeine
Angſt war die: Hatte er einmal geſagt, daß Er
glaube, ſo mußten fuͤr ihn Alle, welche nicht
glaubten, Eſel ſein, und wenn dies auf ſein Wort
hin nicht angenommen wurde, ſo glaubte Er ſelbſt
als ein Eſel dazuſtehen. Er hatte ſich im Mut¬
terleibe ſchon geſagt: Wenn du nun an's Licht
kommſt, ſo wird die Frage deiner Exiſtenz die
ſein: Entweder biſt du ein Eſel, oder alle An¬
deren ſind Eſel! Er verrieth dies in ſchwachen
Augenblicken des Streites, wenn er ſich in eine
Sackgaſſe verrannt, indem ihm alsdann das Wort
entſchluͤpfte: Nun, da muͤßte ich alſo ein Eſel ſein,
wenn ich ſo was glaubte, was nicht wahr waͤre!
und er bezeichnete damit, ohne es zu wollen,
ſeinen Standpunkt und auch das Herz, welches
er fuͤr ſeine Sache hatte. In der That koͤnnte man
den unſeligen Streit die Eſelfrage nennen, da
[312] gewiß von tauſend Fanatikern, welche fuͤr ihre
religioͤſe Meinung im Blute wateten, neunhun¬
dert neun und neunzig nur aus dem Grunde den
Frieden verriethen und Scheiterhaufen anzuͤnde¬
ten, weil ihnen aus dem Trotze der Verfolgten
das Wort Eſel entgegen zu toͤnen ſchien. Nichts
haßte der Mann mehr, als die gewiſſenhafte und
redliche Forſchung und die Entdeckungen der Wiſ¬
ſenſchaft; wenn irgend ein Ergebniß derſelben be¬
kannt wurde, ſo zappelte er mit Haͤnden und
Fuͤßen dagegen und ſuchte es laͤcherlich zu machen,
und wenn es ſich als richtig erwies und ſeine
bedeutenden Folgen auf allen Gaſſen zu ſehen
und zu greifen waren, ſo tobte er erſt recht und
nannte es in's Angeſicht eine Luͤge. Das Ein¬
maleins und eine chemiſche Schaale waren ihm
unertraͤglicher, als dem Teufel Vaterunſer und
Weihkeſſel; aber auch die Natur raͤchte ſich laͤchelnd
an ihm. Denn waͤhrend er die fuͤnf Sinne nicht
gelten ließ, war er ſtets bemuͤht, dieſelben durch
einige erfundene Sinne zu vermehren, durch deren
poſſierliche Ausmalung er die chriſtliche Wunder¬
welt erklaͤren wollte. Wenn er hiedurch vielfach
[313] gegen den chriſtlichen Geiſt verſtieß und man ihm
dies durch das neue Teſtament bewies, ſo ſagte
er, er pfeife auf das neue Teſtament, er habe
ſeinen eigenen Kopf, im gleichen Augenblicke, wo
er es das Buch des Lebens genannt hatte. Trotz
alledem glaubte er aufrichtig, denn nach irgend
einer Seite hin muß jeder Menſch ſich ergeben,
und er glaubte um ſo aufrichtiger, als eines
Theils der Gegenſtand des Glaubens unerwieſen,
unbegreiflich und uͤberirdiſch war, anderentheils
ihn das innere Gefuͤhl ſeines verungluͤckten Witzes
[ſentimental] und weinerlich machte.


Eines Tages ging er mit einer luſtigen Ge¬
ſellſchaft uͤber eine Felſenhoͤhe am Seeufer. Er
war urſpruͤnglich gut gewachſen, doch die andau¬
ernde Verdrehtheit ſeiner Seele hatte ſeinen Koͤr¬
per ganz windſchief gemacht, daß er ausſah wie
ein verbogener Wetterhahn. Sein ſchoͤner Wuchs
war aber ein Lieblingsthema ſeiner Rede und
jeden Augenblick war er bereit, ſich auszukleiden
und ihn zu zeigen, waͤhrend er an allen Sterbli¬
chen etwas auszuſetzen hatte, ungefragt dieſem
einen Hoͤcker andichtete, jenem krumme Beine
20 *[314] Als er nun etwas verſtimmt vor den uͤbrigen
Geſellen herging, die ihn ſchon verſchiedentlich
aufgezogen hatten, rief ploͤtzlich Einer, welcher
ihn zum erſten Mal genauer in's Auge faßte:
Sie! Herr Oelfinger! Sie ſind eigentlich verteu¬
felt krumm! Erſtaunt kehrte er ſich um und
ſagte: Sie traͤumen wohl, oder ſoll das ein Witz
ſein? Der Andere wandte ſich aber zur Geſell¬
ſchaft und forderte ſie auf, ihn ebenfalls naͤher zu
betrachten; man hieß ihn einige Schritte vor¬
waͤrts gehen, er that es, und Jedermann beſtaͤ¬
tigte nun: Ja, er ſei ſchief! Aufgebracht ſtellte
er ſich ſogleich neben den Angreifer und wollte
ihm beweiſen, daß dieſer ſelbſt der Mißgewachſene
ſei. Der war aber ſchlank wie eine Tanne und
die Geſellſchaft fing an zu lachen. Sprachlos
und haſtig kleidete er ſich aus und ging ſplitter¬
nackt vor den Uebrigen her; die rechte Schulter
war vom unaufhoͤrlichen ſpoͤttiſchen Achſelzucken
hoͤher als die linke, die Elbogen von ſeiner eit¬
len Geſpreiztheit nach auswaͤrts gedreht und die
Huͤften verſchoben: dazu wurde er durch das Be¬
ſtreben, gerade zu ſcheinen, nur noch krummer;
[315] er machte in ſeiner Nacktheit die wunderlichſten
Beine, als er ſo dahin ſchritt und ſich dann und
wann aͤngſtlich umſah, ob ihm noch nicht Beifall
und Achtung der Geſellſchaft nachfolge. Als dieſe
aber in ein maßloſes Gelaͤchter ausbrach, gerieth
er in großen Zorn und begann, um ſich Achtung
zu erzwingen, ungeheuerliche Spruͤnge und Kunſt¬
ſtuͤcke zu machen, um die Staͤrke ſeines Koͤrpers
zu zeigen. Das Gelaͤchter wurde immer groͤßer
und die Lachenden mußten ſich auf die Erde ſe¬
tzen. An jener Stelle war vor Zeiten ein Fichten¬
wald in den See geſtuͤrzt und wurde in der
Tiefe durch die nachgerollten Felsbloͤcke feſtgehal¬
ten. Wie nun der nackt umher Tanzende ſah,
daß die lachenden Menſchen ſich bereits auf der
Erde waͤlzten mit naſſen Augen, ſprang er ploͤtz¬
lich in einem Anfall von unſaͤglicher Wuth und
irgend etwas Wunderbares erzwingen wol¬
lend, mit einem maͤchtigen Satz uͤber den Rand
hinaus in den See, hoch hinunter, wo der ver¬
ſunkene Wald lag. Erſt eine geraume Weile
nachher, als die lachende Geſellſchaft ſich einiger¬
maßen geſammelt hatte, bemerkten ſie ſein Ver¬
[316] ſchwinden, ſuchten ihn uͤberall, traten an den
Rand des Abgrundes, aber Niemand hat ihn wie¬
der geſehen.


Dies krankhafte Beiſpiel von den wunderba¬
ren Gaͤngen, welche die Entſtehung des »Glau¬
bens« in den Menſchen verfolgt, mag nun frei¬
lich ſehr vereinzelt daſtehen; doch wenn ſie auch
bei der Mehrzahl einen edleren Grund und Bo¬
den hat, ſo werden ihre Schneckenlinien doch nicht
grad. Ich wuͤrde mich ſchaͤmen, wenn ich je¬
mals dahin kommen wuͤrde, Jemanden ſeines
Glaubens wegen zu verachten oder zu verhoͤhnen,
oder den Gegenſtand deſſelben nicht zu ehren,
wenn der Glaͤubige darin ſeinen Troſt findet;
aber die nackte und gewaltſame Forderung des
Glaubens, ſo zu ſagen die Theorie des Glau¬
bens ſelbſt, iſt eine ſo mißliche Sache fuͤr mich,
daß ich, indem ich dieſe meine geheime Schrei¬
berei uͤberſehe, mein Herz durch die lange Kund¬
gebung gegen den Glauben beinahe ſo ſtau¬
big, trocken und unangenehm fuͤhle, als wenn
ich ein ehrbarer Theologe waͤre und fuͤr den
Glauben polemiſirt haͤtte, und ich muß mich be¬
[317] eilen, aus dieſem unerquicklichen Gebiete wieder
zu den Geſtalten des einfachen wirklichen Lebens
zu gelangen.


Die dritte Hauptlehre, welche der Geiſtliche uns
als chriſtlich vortrug, handelte von der Liebe. Hier¬
uͤber weiß ich nicht viel Worte zu machen; ich habe
noch keine Liebe bethaͤtigen koͤnnen und doch fuͤhle
ich, daß ſolche in mir iſt, daß ich aber auf Befehl
und theoretiſch nicht lieben kann. Inwiefern
durch die ſtaͤte Wiederholung des Worts das
Chriſtenthum einen gewiſſen Beſtand wirklicher
Liebe in die Welt gebracht habe, wage ich nicht
zu beurtheilen; doch duͤnkt es mich, es habe vor
zweitauſend Jahren auch Liebe gegeben und
gebe auch jetzt noch, wo das Chriſtenthum nicht
hingelangt iſt, wenn man nur die verſchiedenen
Formen unterſcheiden will, in welche das wahre
Gefuͤhl ſich huͤllt. Gewiß iſt ſchon mancher ein¬
zelne Ungluͤcksmenſch und mancher arme rauhe
Volksſtamm durch das eindringlich und heiß aus¬
geſprochene Wort Liebe aufgeweckt und einem hel¬
leren und ſchoͤneren Daſein gewonnen worden;
wenn aber ſolche gewonnenen Voͤlker, einmal dem
[318] Chriſtenthum einverleibt, endlich das ganze Be¬
wußtſein und die Bildung der chriſtlichen Welt,
welche wir Alle zuſammen ausmachen, erreicht
haben, dann wird jenes naive Morgengefuͤhl der
Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kaͤlte
der alten Chriſtenwelt und nur da beſtehen, wo
es urſpruͤnglich in den Menſchen wurzelte, alſo
zuletzt uͤberall auferſtehen. Schon die unmittelbare
Ruͤckſicht auf den lieben Gott iſt mir hinderlich
und unbequem, wenn ſich die natuͤrliche Liebe in
mir geltend machen will. Da einmal bei unſeren
Handlungen das Denken an Gott und das Ver¬
dienſt in den Augen Gottes ſo feſt in die Men¬
ſchenwelt gewebt iſt, ſo kann man oft trotz aller
Unbefangenheit nicht verhindern, daß bei guten
oder vielmehr pflichtmaͤßigen Handlungen nicht im
tiefſten Innern der Hinblick auf Gott auftaucht
mit der eigennuͤtzigen Hoffnung, daß Er uns die
That wohlgefaͤllig gut ſchreiben werde. Schon
oft iſt es mir begegnet, daß ich einen armen
Mann auf der Straße abwies, weil ich, waͤhrend
ich ihm eben das Wenige geben wollte, das ich
hatte, zugleich an das Wohlgefallen Gottes dachte
[319] und nicht aus Eigennutz handeln wollte. Dann
dauerte mich aber der Arme, ich lief zuruͤck; allein
waͤhrend des Zuruͤcklaufens duͤnkte meiner Selbſt¬
ſucht gerade dieſes Bedauern wieder artig und ver¬
dienſtlich, ich kehrte nochmals um, bis ich endlich
auf den vernuͤnftigen Gedanken kam: Moͤge dem
ſein, wie ihm wolle, der arme Teufel muͤſſe je¬
denfalls zu ſeiner Sache kommen, das ſei die
erſte Frage! Manchmal kommt dieſer Gedanke
aber zu ſpaͤt und die Gabe bleibt in meiner
Taſche, wo ſie mir alsdann unertraͤglich iſt. Da¬
her freue ich mich immer wie ein Kind, wenn es
mir paſſirt, daß ich unbedacht meine Pflicht er¬
fuͤllt habe und es mir erſt nachtraͤglich einfaͤllt,
daß das etwas Verdienſtliches ſein duͤrfte; ich
pflege dann hoͤchſt vergnuͤgt ein Schnippchen ge¬
gen den Himmel zu ſchlagen und zu rufen:
Siehſt du alter Papa! nun bin ich Dir doch
durchgewiſcht! Das hoͤchſte Vergnuͤgen erreiche
ich aber, wenn ich mir in ſolchen Augenblicken
denke, wie ich Ihm nun ſehr komiſch vorkommen
muͤſſe; denn da der liebe Gott Alles verſteht,
ſo muß er auch Spaß verſtehen, obgleich man
[320] auch wieder mit Recht ſagen kann, der liebe Gott
verſtehe keinen Spaß!


Das Heiterſte und Schoͤnſte war mir die
Lehre vom Geiſte, als welcher ewig iſt und Alles
durchdringt. Er war maͤchtig im Chriſtenthume,
deſſen Beweglichkeit und Feinheit die Welt fort¬
baute, ſo lange es geiſtig war; als es aber geiſt¬
lich wurde, war dieſe Geiſtlichkeit die Schlangen¬
haut, welche der alte Geiſt abwarf. Denn Gott
iſt nicht geiſtlich, ſondern ein weltlicher Geiſt,
weil er die Welt iſt und die Welt in ihm; Gott
ſtrahlt von Weltlichkeit.


Alles in Allem genommen, glaube ich doch,
daß ich unter Menſchen, welche rein in dem ur¬
ſpruͤnglichen geiſtigen Chriſtenthum lebten, gluͤcklich
ſein und auch nicht ganz ohne deren Achtung le¬
ben wuͤrde, und wenn ich dies Anna's Vater, dem
Schulmeiſter, eingeſtehen mußte, forderte er, das
Wunderbare und die Glaubensfragen einſtweilen
freiſinnig bei Seite ſetzend, mich auf, das Chri¬
ſtenthum wenigſtens dieſer geiſtigen Bedeutung
nach anzuerkennen und darauf zu hoffen, daß es
in ſeiner wahren Reinheit erſt noch erſcheinen
[321] und ſeinen Namen behaupten werde; etwas Beſſe¬
res ſei einmal nicht da, noch abzuſehen. Hierauf
erwiederte ich aber: der Geiſt koͤnne wohl durch ei¬
nen Menſchen leidlich ſchoͤn ausgeſprochen, niemals
aber erfunden werden, da er von jeher und un¬
endlich ſei; daher die Bezeichnung der Wahrheit
mit einem Menſchennamen ein Raub am [unend¬
lichen]
Gemeingute ſei, aus welchem der fortgeſetzte
Raub des Autoritaͤts- und Pfaffenweſens aller
Art entſpringe. In einer Republik, ſagte ich,
fordere man das Groͤßte und Beſte von jedem
Buͤrger, ohne ihm durch den Untergang der Re¬
publik zu vergelten, indem man ſeinen Namen
an die Spitze pflanze und ihn zum Fuͤrſten er¬
hebe; ebenſo betrachte ich die Welt der Geiſter
als eine Republik, die nur Gott als Protector
uͤber ſich habe, deſſen Majeſtaͤt in vollkommener
Freiheit das Geſetz heilig hielte, das er gegeben,
und dieſe Freiheit ſei auch unſere Freiheit, und
unſere die ſeinige! Und wenn mir jede Abendwolke
eine Fahne der Unſterblichkeit, ſo ſei mir auch
jede Morgenwolke die goldene Fahne der Weltre¬
publik! »In welcher Jeder Faͤhndrich werden
II. 21[322] kann!« ſagte freundlich lachend der Schulmeiſter;
ich aber behauptete: die moraliſche Wichtigkeit die¬
ſes Unabhaͤngigkeitsſinnes ſcheine mir ſehr groß
und groͤßer zu ſein, als wir es uns vielleicht den¬
ken koͤnnten.


Der geiſtliche Unterricht ging nun zu Ende;
wir mußten auf unſere Ausſtattung denken, um
wuͤrdig bei der Feſtlichkeit zu erſcheinen. Es war
unabaͤnderliche Sitte, daß die jungen Leute auf
dieſe Tage den erſten Frack machen ließen, den
Hemdekragen in die Hoͤhe richteten und eine
ſteife Halsbinde darum banden, auch die erſte Hut¬
roͤhre auf den Kopf ſetzten; zudem ſchnitt Jeder, wer
jugendlich lange Haare getragen, dieſelben nun
kurz und klein, gleich den engliſchen Rundkoͤpfen.
Dies waren mir alles unſaͤgliche Graͤuel und ich
ſchwur, dieſelben nun und nimmermehr nachzu¬
machen. Die gruͤnen Kleider meines Vaters
waren endlich zu Ende und zum erſten Male
mußte neues Tuch gekauft werden. Die gruͤne
Farbe war mir einmal eigen geworden und ich
wuͤnſchte nicht einmal meinen Uebernamen abzu¬
ſchaffen, der mir noch immer gegeben wurde,
[323] wenn man von mir ſprach. Leicht wußte ich
meine Mutter zu uͤberreden, gruͤnes Tuch zu waͤh¬
len und ſtatt eines Frackes einen huͤbſchen kur¬
zen Rock mit einigen Schnuͤren machen zu laſ¬
ſen, dazu ſtatt des gefuͤrchteten Hutes ein ſchwar¬
zes Sammetbaret, da Hut und Frack doch ſelten
getragen und wegen meines Wachsthums, ſowie
wegen der Mode alſo eine unnuͤtze Ausgabe ſein
wuͤrden. Es leuchtete ihr klar ein, um ſo mehr,
da die armen Lehrlinge und Tageloͤhnerſoͤhne
auch keinen ſchwarzen Habit zu tragen pflegten,
ſondern in ihren gewoͤhnlichen Sonntagskleidern
erſchienen, und ich erklaͤrte, es ſei mir vollkom¬
men gleichguͤltig, ob man mich zu den ehrbaren
Buͤrgersſoͤhnen zaͤhle oder nicht. So breit ich
konnte, ſchlug ich den Hemdekragen zuruͤck, ſtrich
mein langes Haar kuͤhn hinter die Ohren und
erſchien ſo, das Baret in der Hand, am heiligen
Abend in der Stube des Geiſtlichen, wo noch
eine herzliche und vertrauliche Vorbereitung ſtatt¬
finden ſollte. Als ich mich unter die feierliche
ſteif geputzte Jugend ſtellte, wurde ich mit eini¬
ger Verwunderung betrachtet, denn ich ſtand al¬
21 *[324] lerdings in meinem Aufzuge als ein vollendeter Pro¬
teſtant da; weil ich aber ohne Trotz und Unbeſchei¬
denheit mich eher zu verbergen ſuchte, ſo verlor ich
mich wieder und wurde nicht weiter beachtet. Die
Anſprache des Geiſtlichen gefiel mir ſehr wohl; ihr
Hauptinhalt war, daß von nun an ein neues Leben
fuͤr uns beginne, daß alle bisherigen Vergehun¬
gen vergeben und vergeſſen ſein ſollten, hingegen
die kuͤnftigen mit einem ſtrengeren Maße gemeſ¬
ſen wuͤrden. Ich fuͤhlte wohl, daß ein ſolcher
Uebergang nothwendig und die Zeit dazu gekommen
ſei; darum ſchloß ich mich mit meinen ernſten
Vorſaͤtzen, welche ich insbeſondere faßte, gern und
aufrichtig dieſem oͤffentlichen Vorgange an und
war auch dem Manne gut, als er angelegentlich
uns ermahnte, nie das Vertrauen zum Beſſeren
in uns ſelbſt zu verlieren. Aus ſeiner Behau¬
ſung zogen wir in die Kirche vor die ganze Ge¬
meinde, wo die eigentliche Feier vor ſich ging.
Dort war der Geiſtliche ploͤtzlich ein ganz Anderer;
er trat gewaltig und hoch auf, holte ſeine Be¬
redtſamkeit aus der Ruͤſtkammer der beſtehenden
Kirche und fuͤhrte in toͤnenden Worten Himmel und
[325] Hoͤlle an uns voruͤber. Seine Rede war kunſtvoll
gebaut und mit ſteigender Spannung auf Einen
Moment hingerichtet, welcher die ganze Gemeinde
erſchuͤttern ſollte, als wir, die in einem weiten
Kreiſe um ihn herumſtanden, ein lautes und feier¬
liches Ja ausſprechen mußten. Ich hoͤrte nicht auf
den Sinn ſeiner Worte und fluͤſterte ein Ja mit,
ohne die Frage deutlich verſtanden zu haben; jedoch
durchfuhr mich ein Schauer und ich zitterte einen
Augenblick lang, ohne daß ich dieſer Bewegung
Herr werden konnte. Sie war eine dunkle Miſchung
von unwillkuͤrlicher Hingabe an die allgemeine Ruͤh¬
rung und von einem tiefen Schrecken, welcher mich
uͤber dem Gedanken ergriff, daß ich, ſo jung noch
und unerfahren, doch einer ſo uralten Meinung und
einer gewaltigen Gemeinſchaft, von der ich ein unbe¬
deutendes Theilchen war, abgefallen gegenuͤberſtand.


Am Weihnachtsmorgen mußten wir wieder
im vereinten Zuge zur Kirche gehen, um nun das
Nachtmahl zu nehmen. Ich war ſchon in der
Fruͤhe guter Laune, noch ein paar Stunden und
ich ſollte frei ſein von allem geiſtigen Zwange,
frei wie der Vogel in der Luft! Ich fuͤhlte mich
[326] daher mild und verſoͤhnlich geſinnt und ging
zur Kirche, wie man zum letzten Mal in eine
Geſellſchaft geht, mit welcher man nichts gemein
hat, daher der Abſchied aufgeweckt und hoͤflich iſt.
In der Kirche angekommen, durften wir uns un¬
ter die aͤlteren Leute miſchen und Jeder ſeinen
Platz nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum
erſten und letzten Male in dem Maͤnnerſtuhle
Platz, welcher zu unſerem Hauſe gehoͤrte und
deſſen Nummer mir die Mutter in ihrem haͤus¬
lichen Sinne ſorglich eingepraͤgt hatte. Er war
ſeit dem Tode des Vaters, alſo viele Jahre, leer
geblieben oder vielmehr hatte ſich ein armes
Maͤnnchen, das ſich keines Grundbeſitzes erfreute,
darin angeſiedelt. Als er heran kam und mich
an dem Orte vorfand, erſuchte er mich mit kirch¬
licher Freundlichkeit, »ſeinen Ort« raͤumen zu wol¬
len, und fuͤgte belehrend hinzu, in dieſem Re¬
viere ſeien alles eigenthuͤmliche Orte. Ich haͤtte als
ein gruͤner Junge fuͤglich dem bejahrten Maͤnn¬
chen Platz machen und mir eine andere Stelle
ſuchen koͤnnen; allein dieſer Geiſt des Eigenthums
und des Wegdraͤngens mitten im Herzen chriſt¬
[327] licher Kirche reizte meine kritiſche Laune; zweitens
wollte ich den frommen Kirchgaͤnger fuͤr ſeine
gemuͤthliche Anmaßung beſtrafen, und drittens
that ich dieſes nur in dem Bewußtſein, daß der
Abgewieſene alſobald wieder und fuͤr immer ſei¬
nen gewohnten Platz einnehmen koͤnne, und dieſer
Gedanke machte mir das groͤßte Vergnuͤgen. Als
ich ihn meinerſeits auch belehrt und ihn ganz ver¬
bluͤfft und traurig eine entfernte Stelle unter den
unſtaͤt herumwandernden Beſitzloſen aufſuchen ſah,
nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeu¬
ten, daß er ſich immerhin meines Stuhles bedienen
ſolle, indem ich denſelben nicht brauche. Ein Mal
aber wollte ich darin ſitzen und ſtehen, wie es mein
Vater gethan. Derſelbe beſuchte an allen Feſttagen
die Kirche, denn alle hohen Feſte erfuͤllten ihn mit
heiterer Freude und tapferem Muthe, indem er den
großen und guten Geiſt, welchen er in aller Welt
und Natur ſich erfuͤllen ſah, alsdann beſonders
fuͤhlte und verehrte. Weihnachten, Oſtern, Himmel¬
fahrt und Pfingſten waren ihm die herrlichſten
Freudentage, an welchen es mit edlen Betrach¬
tungen, Kirchenbeſuch, duftendem Mittagsmahl
[328] und frohen Spaziergaͤngen auf gruͤne Berge hoch
her ging. Dieſe Art hat ſich auf mich vererbt,
naͤmlich das frohe Genießen der Feſttage, und
wenn ich an einem Pfingſtmorgen auf einem duf¬
tigen Berge ſtehe in der kryſtallklaren Luft, ſo
iſt mir das Glockengelaͤute in der fernen Tiefe
die allerſchoͤnſte Muſik und ich habe ſchon oft
daruͤber ſpintiſirt, durch welchen Gebrauch bei
einer allfaͤlligen Abſchaffung des Kirchenthumes
das ſchoͤne Gelaͤute wohl erhalten werden duͤrfte.
Es wollte mir jedoch Nichts einfallen, was nicht
thoͤricht und gemacht ausgeſehen haͤtte, und ich
fand zuletzt immer, daß der ſehnſuͤchtige Reiz der
Glockentoͤne gerade in dem jetzigen Zuſtande be¬
ſtehe, wo ſie fern aus der blauen Tiefe heruͤber¬
klangen und mir ſagten, daß dort das Volk in
alten glaͤubigen Erinnerungen verſammelt war.
In meiner Freiheit ehrte ich dann dieſe Erinne¬
rungen, wie diejenigen der Kindheit, und eben
dadurch, daß ich von ihnen geſchieden war, wur¬
den mir die Glocken, die ſo viele Jahrhunderte
in dem alten ſchoͤnen Lande klangen, wehmuͤ¬
thig ergreifend. Ich empfand, daß man Nichts
[329] »machen« kann, und daß die Vergaͤnglichkeit, der
ewige Wandel alles Irdiſchen ſchon genugſam fuͤr
poetiſch ſehnſuͤchtigen Reiz ſorgen.


Der Freiheitsſinn meines Vaters in religioͤſer
Hinſicht war vorzuͤglich gegen die Uebergriffe des
Ultramontanismus und gegen die Unduldſamkeit
und Verknoͤcherung reformirter Orthodoxen gerich¬
tet, gegen abſichtliche Verdummung und Heuchelei
jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm da¬
her oͤfter zu hoͤren. Wuͤrdige Geiſtliche ehrte er
aber und freute ſich, ihnen Ergebenheit zu zei¬
gen, und wenn es wo moͤglich ein erzkatholiſcher,
aber ehrenwerther Prieſter war, welchem er Ehr¬
erbietung beweiſen konnte, ſo machte ihm dies um
ſo groͤßeres Vergnuͤgen, gerade weil er ſich im
Schooße der Zwingli'ſchen Kirche ſehr geborgen
fuͤhlte. Zwingli's Erſcheinung iſt reiner und
milder, als diejenige Luther's. Er hatte einen
freieren Geiſt und einen weiteren Blick, war viel
weniger ein Pfaff als ein humaner Staatsmann,
und beſiegelte ſein Wirken mit einem ſchoͤnen
Tode auf dem Schlachtfeld, das Schwert in der
Hand. Daher war ſein Bild meinem Vater ein
[330] geliebter ſichrer Fuͤhrer und Buͤrge. Ich aber ſtand
nun auf einem anderen Boden und fuͤhlte wohl,
daß ich bei aller Ehrerbietung fuͤr den Reforma¬
tor und Helden doch nicht Eines Glaubens mit
meinem Vater ſein wuͤrde, waͤhrend ich ſeiner
vollkommenen Duldſamkeit und Achtung fuͤr die
Unabhaͤngigkeit meiner Ueberzeugung gewiß war.
Dieſes friedliche und achtungsvolle Ausſcheiden
in Glaubensſachen zwiſchen Vater und Sohn
feierte ich nun in dem Kirchenſtuhle, indem ich mir
den Vater noch lebend vorſtellte und ein geiſti¬
ges Geſpraͤch mit ihm fuͤhrte, und als die Ge¬
meinde ſein ehemaliges Lieblings- und Weih¬
nachtslied: »Dies iſt der Tag, den Gott gemacht!«
anſtimmte, ſang ich es fuͤr meinen Vater laut
und froh mit, obgleich ich Muͤhe hatte, den rich¬
tigen Ton zu halten; denn rechts ſtand ein alter
Kupferſchmied, links ein gebrechlicher Chorherr,
welche mich mit den wunderbarſten Variationen
von der rechten Bahn zu locken ſuchten und dies
um ſo lauter und kuͤhner, je ſtandhafter ich blieb.
Dann hoͤrte ich aufmerkſam auf die Predigt, kri¬
tiſirte ſie und fand ſie gar nicht uͤbel; je naͤher
[331] das Ende ruͤckte und mir die Freiheit winkte,
deſto trefflicher fand ich die Predigt, und ich
nannte in meinem Herzen den Pfarrer einen wa¬
ckeren Mann. Meine Stimmung ward immer
heiterer, endlich wurde das Nachtmahl genom¬
men; aufmerkſam verfolgte ich die Zuruͤſtungen
und beobachtete Alles ſehr genau, um es nicht zu
vergeſſen; denn ich gedachte nicht mehr dabei zu
erſcheinen. Das Brot beſteht aus weißen Blaͤttern
von der Groͤße und Dicke einer Karte und ſieht
feinem glaͤnzendem Papiere aͤhnlich. Der Kuͤſter
backt es und die Kinder kaufen ſich bei ihm die
Abfaͤlle als einen unſchuldigen Leckerbiſſen, und
ich ſelbſt hatte mir manchmal eine Muͤtze voll er¬
worben und mich gewundert, daß man eigent¬
lich doch nichts daran aͤße. Zahlreiche Kirchen¬
diener bieten es aus, den Reihen entlang, worauf
die Andaͤchtigen eine Ecke davon brechen und die
Blaͤtter weitergeben, waͤhrend andere Beamtete
den Wein in hoͤlzernen Bechern nachfolgen laſ¬
ſen. Manche Leute, beſonders die Frauen und
Maͤdchen, behalten gern ein Blaͤttchen zuruͤck, um
es andaͤchtig in ihr Geſangbuch zu legen. Auf
[332] ein ſolches, daß ich im Buche einer meiner Ba¬
ſen gefunden, hatte ich einſt ein Oſterlaͤmmchen
gemalt mit einem Amor, der darauf reitet, und
bei der Entdeckung ein ſtrenges Verhoͤr nebſt
Verweis zu beſtehen gehabt; als ich jetzt mehrere
ſolcher Blaͤtter in der Hand hielt, erinnerte ich
mich daran und mußte laͤcheln; auch geluͤſtete es
mich einen Augenblick lang, eins zuruͤckzubehal¬
ten, um irgend ein luſtiges Erinnerungszeichen
an meinen Abſchied von der Kirche darauf zu
malen. Aber ich beſann mich, daß ich in dem
vaͤterlichen Stuhle ſtand, und gab das Brot
weiter, nachdem ich eine Ecke davon in den
Mund geſteckt, zum andaͤchtigen aber allerletzten
Abſchiede von der Kinderzeit und der Kinder¬
ſpeiſe, die ich beim Kuͤſter gekauft hatte. Als
ich den Becher in der Hand hielt, blickte ich
feſt in den Wein, ehe ich trank; aber es ruͤhrte
mich nicht, ich nahm einen Schluck, gab die Schale
weiter und, indem ich mit den Gedanken ſchon
weit auf dem Wege nach Hauſe, den Wein hin¬
abſchluckte, drehte ich ungeduldig mein Sam¬
metbaret in der Hand und mochte kaum das
[333] Ende des Gottesdienſtes abwarten, da es mich
anfing, gewaltig an den Fuͤßen zu frieren und
das Stillſtehen ſehr ſchwierig wurde.


Als die Kirchenthuͤren geoͤffnet wurden, draͤngte
ich mich geſchmeidig durch die vielen Leute, ohne
die Freude meiner Freiheit ſichtbar werden zu laſ¬
ſen und ohne Jemanden anzuſtoßen, und war bei
aller Gelaſſenheit doch der Erſte, der ſich in einiger
Entfernung von der Kirche befand. Dort erwar¬
tete ich meine Mutter, welche ſich endlich in ihrem
ſchwarzen Gewande demuͤthig aus der Menge her¬
vorſpann, und ging mit ihr nach Hauſe, gaͤnzlich
unbekuͤmmert um meine Genoſſenſchaft des geiſt¬
lichen Unterrichts. Es war kein Einziger darunter,
mit welchem ich in naͤherer Beruͤhrung ſtand, und
Viele derſelben ſind mir bis jetzt noch gar nicht
wieder begegnet. In unſerer warmen Stube an¬
gekommen, warf ich vergnuͤgt mein Geſangbuch
hin, indeſſen die Mutter nach dem Eſſen ſah,
welches ſie am Morgen in den Ofen geſetzt hatte.
Es ſollte heute ſo reichlich und feſtlich ſein, wie un¬
ſer Tiſch ſeit den Tagen des Vaters nie mehr geſe¬
hen hatte, und eine arme Wittwe war dazu eingela¬
[334] den, welche der Mutter manche kleine Dienſte leiſtete
und ſich jetzt puͤnktlich einfand. Am Weihnachts¬
tage wird immer das erſte Sauerkraut genoſſen,
und ſo wurde es auch hier aufgeſtellt mit ſchmack¬
haften Schweinsrippchen. Die Beurtheilung deſ¬
ſelben gab den Frauen einen guten Anfang zum
Geſpraͤche. Die Wittwe war von eben ſo gutmuͤ¬
thiger als polternder Gemuͤthsart; als hierauf eine
Paſtete kam, ſchlug ſie die Haͤnde uͤber dem
Kopfe zuſammen und verſicherte, ſie eſſe gewiß
Nichts davon, es waͤre Schade dafuͤr. Den
Schluß machte ein gebratener Haſe, den der
Oheim geſendet hatte. Dieſen, ermahnte die Frau,
ſollten wir unangetaſtet laſſen und auf den
zweiten Feiertag verſparen, es ſei nun ſchon mehr
als genug; trotzdem aßen wir Alle mit trefflichem
Appetit und ſaßen lange bei Tiſch, auf's Beſte
unterhalten von der armen Frau, welche die Tiſch¬
reden mit der Erzaͤhlung ihres Schickſales durch¬
flocht und die Schleuſen ihres Herzens weit oͤff¬
nete. Sie hatte vor langer Zeit einmal ein Jahr
lang einen nichtsnutzigen Mann gehabt, der in
alle Welt gegangen mit Hinterlaſſung eines Soh¬
[335] nes, welchen ſie mit großer Noth ſo weit ge¬
bracht, daß er als Geſelle bei Dorfſchneidern ſich
kuͤmmerlich umhertreiben konnte, waͤhrend ſie in der
Stadt ihr Brot mit Waſſertragen, Waſchen und
ſolchen Dingen verdienen mußte. Schon die Be¬
ſchreibung ihres Mannes, des Lumpenhundes, wie
ſie ihn nannte, machte uns hoͤchlich lachen, doch
noch mehr das Verhaͤltniß, in welchem ſie zu ih¬
rem Sohne ſtand. Waͤhrend ſie ihn als eine Frucht
des Lumpenhundes mit der groͤßten Verachtung be¬
zeichnete, war derſelbe doch der einzige Gegenſtand
ihrer Liebe und ihrer Sorge, ſo daß ſie fortwaͤh¬
rend von ihm ſprach. Sie gab ihm Alles, was
ſie irgend konnte, und gerade die Kleinheit die¬
ſer Gaben, die fuͤr ſie ſo viel waren, mußte uns
ruͤhren und zugleich zum Lachen reizen, wenn ſie
die »Opfer«, welche ſie fortwaͤhrend bringe, mit
gutmuͤthiger Prahlerei aufzaͤhlte. Letzte Oſtern, er¬
zaͤhlte ſie, habe er ein roth und gelbes Kattunfou¬
lard von ihr erhalten, auf Pfingſten ein Paar Schuh
und zu Neujahr haͤtte ſie ihm ein Paar wollene
Struͤmpfe und eine Pelzkappe bereit, dem miſerablen
Kerl, dem Knirps, dem Milchſuppengeſicht! Seit
[336] drei Jahren haͤtte er an zwei Louisd'or nach und
nach von ihr empfangen, der Seuberling, die elende
Krautſtorze. Aber fuͤr Alles muͤſſe er ihr eine Be¬
ſcheinigung zuſtellen, denn ſo wahr ſie lebe, muͤſſe
ihr Mann, der Landſtreicher, ihr jeden Liar er¬
ſetzen, wenn er ſich nur einmal ſehen ließe. Die
Beſcheinigungen ihres Sohnes, des Stuhlbeines,
ſeien ſehr ſchoͤn, denn derſelbe koͤnne beſſer ſchrei¬
ben als der eidgenoͤſſiſche Staatskanzler, auch blaſe
er die Clarinette gleich einer Nachtigall, daß man
weinen muͤſſe, wenn man ihm zuhoͤre. Allein er ſei
ein ganz miſerabler Burſche, denn Nichts gedeihe
bei ihm, und ſo viel Speck und Kartoffeln er
auch verſchlinge, wenn er mit ſeinem Meiſter bei
den Bauern auf Kundſchaft gehe, Nichts helfe
es und er bleibe mager gruͤn und bleich, wie
eine Ruͤbe. Ein Mal habe er die Idee gehabt,
zu heirathen, da er nun doch dreißig Jahr alt
ſei. Da ſie aber nun gerade ein Paar Struͤmpfe
fuͤr ihn fertig gehabt, habe ſie ſelbige unter den
Arm genommen, auch eine Wurſt gekauft, und
ſei auf das Dorf hinaus gerannt, um ihm die
ſaubere Idee auszutreiben. Bis er die Wurſt
[337] fertig gegeſſen, habe er auch ſich endlich in ſein
Schickſal ergeben, und nachher habe er noch auf das
Schoͤnſte die Clarinette geblaſen. Er koͤnne naͤhen
wie der Teufel, ſo wie auch ſein Vater nicht auf
den Kopf gefallen ſei, und die beſten Garnhaͤspel
zu machen verſtehe weit und breit; allein es waͤre
einmal ein boͤſes Blut in dieſen verteufelten Bur¬
ſchen und daher muͤſſe der junge Seuberling im
Zaume gehalten und mit dem Heirathen vorſichtig
verfahren werden. Sie lobte das Eſſen unaufhoͤr¬
lich und pries jeden Biſſen mit den uͤberſchwaͤng¬
lichſten Worten, nur bedauernd, daß ſie ihrem
Galgenſtrick nichts davon geben koͤnne, obſchon
er es nicht verdiene. Dazwiſchen brachte ſie die
Geſchichte von drei oder vier Meiſterfamilien an,
bei denen ihr Soͤhnchen gearbeitet, die unſchul¬
digen Zerwuͤrfniſſe mit denſelben und luſtige Vor¬
faͤlle, welche ſich in den Doͤrfern ereignet, wo
Meiſter und Geſelle geſchneidert hatten, ſo daß die
Schickſale einer großen Menge unſer Mahl
wuͤrzten, ohne daß dieſe etwas davon ahnte.
Nach dem Eſſen nahm die Frau, durch ein
Paar Glaͤſer Wein luſtig geworden, meine Floͤte
II. 22[338] und ſuchte darauf zu blaſen, gab ſie dann mir
und bat mich, einen Tanz aufzuſpielen. Als ich dies
that, faßte ſie ihre Sonntagsſchuͤrze und tanzte
ein Mal zierlich durch die Stube herum, wir ka¬
men aus dem Lachen nicht heraus und waren
Alle hoͤchſt zufrieden. Sie ſagte, ſeit ihrer Hoch¬
zeit habe ſie nicht mehr getanzt, es ſei doch der
ſchoͤnſte Tag ihres Lebens wenn ſchon der Hoch¬
zeiter ein Lumpenhund geweſen; und am Ende
muͤſſe ſie dankbar bekennen, daß der liebe Gott
es immer gut mit ihr gemeint und fuͤr ihr
Brot geſorgt, auch ihr noch jederzeit eine froͤh¬
liche Stunde gegoͤnnt habe; ſo haͤtte ſie noch
geſtern nicht gedacht, daß ſie einen ſo vergnuͤgten
Weihnachtstag erleben wuͤrde. Dadurch wurden
die beiden Frauen veranlaßt, ernſthaftere und zu¬
friedene Betrachtungen anzuſtellen, indeſſen ich
Gelegenheit hatte, einen Blick in das Leben einer
Wittwe zu werfen, welche aus ihrem Sohne ei¬
nen Mann machen moͤchte und hierzu nichts thun
kann, als demſelben Struͤmpfe zu ſtricken. Auch
mußte ich geſtehen, daß meine Lebensverhaͤlt¬
niſſe, welche mir oft arm und verlaſſen ſchienen,
[339] wahrhaftes Gold waren im Vergleich zu der
duͤrftigen Verlaſſenheit und Getrenntheit, in
welcher die Wittwe und ihr armer magerer Sohn
lebten und die mir wie ſchlechtes Blei vor¬
kamen.


22 *
[[340]]

Achtes Kapitel.

Einige Wochen nach Neujahr, als ich eben
den Fruͤhling herbei wuͤnſchte, erhielt ich vom
Dorfe aus die Kunde, daß mehrere Ortſchaften
jener Gegend ſich verbunden haͤtten, dieſes Jahr
zuſammen die Faſtnachtsbeluſtigungen durch eine
großartige dramatiſche Schauſtellung zu verherr¬
lichen. Die ehemalige katholiſche Faſchingsluſt
hat ſich naͤmlich als allgemeine Fruͤhlingsfeier bei
uns erhalten, und ſeit einer Reihe von Jahren
haben ſich die derben Volksmummereien nach und
nach in vaterlaͤndiſche Auffuͤhrungen unter freiem
Himmel verwandelt, an welchen erſt nur die rei¬
fere Jugend, dann aber auch froͤhliche Maͤnner
Theil nahmen; bald wurde eine Schweizerſchlacht
dargeſtellt, bald eine Handlung aus dem Leben
beruͤhmter Schweizerhelden, und nach dem Ma߬
ſtabe der Bildung und des Wohlſtandes einer
Gegend wurden ſolche Aufzuͤge mit mehr oder
[341] weniger Ernſt und Aufwand vorbereitet und
ausgefuͤhrt. Einige Ortſchaften waren ſchon
beruͤhmt und jedesmal ſtark beſucht durch die¬
ſelben, andere ſuchten es zu werden. Mein
Heimathdorf war nebſt ein paar anderen Doͤr¬
fern von einem benachbarten Marktflecken ein¬
geladen worden zu einer großen Darſtellung
des Wilhelm Tell, und in Folge deſſen war
ich wieder durch meine Verwandten aufgefordert
worden, hinaus zu kommen und an den Vor¬
bereitungen Theil zu nehmen, da man mir
manche Einſicht und Fertigkeit beſonders als
Maler zutraute, um ſo mehr, als unſer Dorf in
einer faſt ausſchließlichen Bauerngegend lag und
in ſolchen Dingen wenig Gewandtheit beſaß. Ich
war vollſtaͤndig Herr meiner Zeit, auch war eine
Unterbrechung zu ſolchem Zwecke zu ſehr im Geiſte
meines Vaters, als daß die Mutter dagegen
Bedenken erhoben haͤtte; alſo ließ ich es mir nicht
zwei Mal ſagen und ging jede Woche fuͤr einige
Tage hinaus, wobei mir ſchon das ſtete Wan¬
dern zu dieſer Jahreszeit, manchmal durch die
ſchneebedeckten Felder und Waͤlder, die groͤßte
[342] Freude machte. Ich ſah nun das Land auch im
Winter, die Winterbeſchaͤftigungen und Winter¬
freuden der Landleute und wie dieſelben dem er¬
wachenden Fruͤhling entgegengehen.


Man legte der Auffuͤhrung Schiller's Tell zu
Grunde, welcher in einer Volksſchulausgabe viel¬
fach vorhanden war und welchem nur die Liebes¬
epiſode zwiſchen Bertha von Brunneck und Ul¬
rich von Rudenz fehlte. Das Buch iſt den Leu¬
ten ſehr gelaͤufig, denn es druͤckt auf eine wun¬
derbar richtige Weiſe die ſchweizeriſche Geſinnung
aus, und beſonders der Charakter des Tell ent¬
ſpricht ganz der Wahrheit und dem Leben, und
wenn Boͤrne darin nur ein ſelbſtſuͤchtiges und
philiſtroͤſes Ungeheuer finden konnte, ſo ſcheint
mir dies ein Beweis zu ſein, wie wenig die
krankhafte Empfindſamkeit der Unterdruͤckten geeig¬
net iſt, die Art und Weiſe unabhaͤngiger Maͤnner
zu begreifen. Weitaus der groͤßere Theil der Theil¬
nehmer ſollte als Hirten, Bauern, Fiſcher, Jaͤ¬
ger das Volk darſtellen und in ſeiner Maſſe von
Schauplatz zu Schauplatz ziehen, wo die Handlung
vor ſich ging, getragen durch Solche, welche ſich zu
[343] einem kuͤhnen Auftreten fuͤr berufen hielten; in den
Reihen des Volks nahmen auch junge Maͤdchen
Theil, ſich hoͤchſtens in den gemeinſchaftlichen Ge¬
ſaͤngen aͤußernd, waͤhrend die handelnden Frauen¬
rollen bluͤhenden Juͤnglingen uͤbertragen waren.
Es ſollte nur vorgefuͤhrt werden, was wirklich
geſchichtlich iſt, mit Weglaſſung aller Vorberei¬
tungen und dramatiſchen Zwiſchenſpiele, das Ge¬
ſchichtliche aber mit dem Schiller'ſchen Perſonal
und Dialog, außerdem aber auch ſeine poetiſche
Faͤrbung uͤber dem Ganzen walten. Der Schau¬
platz der eigentlichen Handlung war auf alle
Ortſchaften vertheilt, je nach ihrer Eigenthuͤmlich¬
keit, ſo daß dadurch ein feſtliches Hin- und Her¬
wogen der koſtuͤmirten Menge und der Zuſchauer¬
maſſen bedingt wurde.


Ich erwies mich als brauchbar bei den Vor¬
bereitungen und wurde mit manchen Geſchaͤften
betraut, welche in der Stadt zu beſorgen waren.
Ich ſtoͤberte alle Magazine durch, wo ſich etwa
Flitter- und Maskenwerk vorfinden mochte und
ſuchte das Tauglichſte vorzuſchlagen, beſonders
da andere Beauftragte geneigt waren, zuerſt nach
[344] dem Grellen und Auffallenden zu greifen. Ja
ich kam ſogar mit den Beamten der Republik in
Beruͤhrung und fand Gelegenheit, mich als einen
tapferen Vertreter meiner Landesgegend zu zei¬
gen, da mir die Auswahl und Uebernahme der
alten Waffen uͤbergeben wurde, welche die Re¬
gierung unter der Bedingung treuer Sorgfalt
bewilligte. Weil aber gerade diesmal mehrere
aͤhnliche Feſte ſtattfanden, ſo mußten beinahe alle
Vorraͤthe geraͤumt werden, und nur die werth¬
vollſten Trophaͤen, an welche ſich beſtimmte Er¬
innerungen knuͤpften, blieben zuruͤck. Ueberdies
ſtritten ſich die Abgeordneten der Gemeinden um
die Waffen, alle wollten daſſelbe haben, obſchon
es nicht fuͤr alle ſich ſchickte; eine Anzahl großer
Schlachtſchwerter und Morgenſterne, welche ich
fuͤr meine Eidgenoſſen ausgeſucht, wollte mir von
einem Gegner durchaus abgerungen werden, un¬
geachtet ich ihm vorſtellte, daß er fuͤr den Schwa¬
benkrieg, aus welchem ſeine Leute eine Schlacht
ſpielen wollten, ganz anderer Gegenſtaͤnde be¬
duͤrfe. Ich berief mich endlich auf den Zeugwart,
welcher mir Recht gab, und der anſehnliche ſtarke
[345] Wirth aus den Doͤrfern, welcher hinter mir ſtand,
um die Sachen wegzufuͤhren, triumphirte und
reſpectirte mich freundlich. Allein die Gegner
hielten mich nun fuͤr einen gefaͤhrlichen Burſchen,
der das Beſte vorwegnaͤhme, und gingen mir auf
Schritt und Tritt nach in dem alten Zeughauſe,
gerade das auserſehend, was ich in's Auge faßte,
ſo daß ich nur mit der aͤußerſten Beharrlichkeit
noch einen Wagen voll Eiſenhuͤte und Hellebarden
fuͤr meine reiſigen Tyrannenknechte zur Seite
brachte. So kam ich mir ſehr wichtig vor, als
ich mit den Aufſehern das Verzeichniß der verab¬
folgten Sachen feſtſtellte, obgleich der Wirth der
eigentliche Gewaͤhrsmann war und daſſelbe unter¬
ſchrieb.


Dann hatte ich wieder auf dem Lande voll¬
auf zu thun und begab mich mit einigen Packeten
Farbſtoff und maͤchtigen Pinſeln hinaus, um ein
ſchoͤnes neues Bauernhaus an der Straße noch
voͤllig in Stauffacher's Wohnung umzuwandeln
mittelſt bunter Zierrathen und Spruͤche; denn
nicht nur ſollte da die Unterredung zwiſchen
Stauffacher und ſeinem Weibe ſtattfinden, ſondern
[346] der Zwingherr vorher ſelbſt heranreiten und ſeine
boͤſe Harrangue loslaſſen.


Im Hauſe des Oheims war ich ein eigentli¬
ches Factotum und eifrig beſtrebt, die Kleidung
der Soͤhne ſo hiſtoriſch als moͤglich zu machen
und die Toͤchter, welche ſich ſehr modern auf¬
putzen wollten, von ſolchem Beginnen abzuhalten.
Mit Ausnahme der Braut wollten ſich alle Kin¬
der des Oheims betheiligen und ſie ſuchten auch
Anna zu uͤberreden, welche uͤberdies von dem lei¬
tenden Ausſchuſſe dringend eingeladen war. Al¬
lein ſie wollte ſich durchaus nicht dazu verſtehen,
ich glaube nicht nur aus Zaghaftigkeit, ſondern
auch ein wenig aus Stolz, bis der Schulmeiſter,
fuͤr dieſe Veredlung der alten roheren Spiele
durchaus begeiſtert, ſie entſchieden aufforderte,
auch das Ihrige beizutragen. Nun war aber die
große Frage, was ſie vorſtellen ſollte; ihre Fein¬
heit und Bildung ſollte dem Feſte zur Zierde ge¬
reichen, waͤhrend doch alle hervorragenden Frauen¬
rollen jungen Maͤnnern zu Theil geworden. Ich
hatte mir aber laͤngſt etwas fuͤr ſie ausgedacht
und uͤberzeugte bald meine Baſen und den Schul¬
[347] meiſter von der Trefflichkeit meines Vorſchlages.
Obgleich die Rolle der Bertha von Brunneck
gaͤnzlich wegfiel, ſo konnte ſie doch als ſtumme
Perſon das ritterliche Gefolge Geßler's verherr¬
lichen. Dieſes war ſonſt vom Volkshumor ziem¬
lich ſchofel und wild, und beſonders der Tyrann
ſehr fratzenhaft und laͤcherlich dargeſtellt worden;
dagegen hatte ich nun durchgeſetzt, daß der Aufzug
des Landvogts recht glaͤnzend und herriſch ſein
muͤſſe, weil der Sieg uͤber einen elenden Wider¬
ſacher nichts Abſonderliches ſei. Ich ſelbſt hatte den
Rudenz uͤbernommen, auch ſein Verhaͤltniß zum
Attinghauſen fiel weg und erſt am Schluſſe
hatte »er zum Volke uͤberzugehen«, ſo daß mir
viel Freiheit und Zeit zu mancher Aushuͤlfe und
vor Allem wenig zu ſprechen blieb. Einer der
Vettern machte Rudolph den Harras und Anna
konnte alſo ſich im Schutze von zwei Verwand¬
ten befinden. Zufaͤllig war die Originalausgabe
von Schiller gar nicht bekannt im Hauſe, und
ſelbſt der Schulmeiſter las dieſen Dichter nicht,
weil ſeine Bildung nach anderen Seiten hin
ſtrebte; alſo ahnte kein Menſch die Beziehungen,
[348] welche ich in meinen Plan legte, und Anna ging
arglos in die ihr geſtellte Falle. Das Schwerſte
war, ſie zum Reiten zu bringen; ein kugelrunder
gemuͤthlicher Schimmel ſtand im Stalle meines
Oheims, welcher nie Jemandem ein Haar ge¬
kruͤmmt hatte und auf welchem der Oheim uͤber
Land zu reiten pflegte. Auf dem Boden befand
ſich ein vergeſſener Damenſattel aus der alten
Zeit; dieſer wurde mit rothem Pluͤſch neu bezo¬
gen, welchen man einem ehrwuͤrdigen Lehnſtuhle
entnahm, und als Anna zum erſten Mal ſich dar¬
auf ſetzte, ging es ganz trefflich, beſonders da
der reitkundige Nachbar Muͤller einige Anleitung
gab, und Anna fand zuletzt großes Vergnuͤgen
an dem guten Schimmel. Eine maͤchtige hellgruͤne
Damaſtgardine, welche einſt ein Himmelbett um¬
geben hatte, wurde zerſchnitten und in ein Reit¬
kleid umgewandelt; auch beſaß der Schulmeiſter
als ein altes Erbſtuͤck eine Krone von ſilbernem
Flechtwerke, wie ſie ehemals die Braͤute getra¬
gen; Anna's goldglaͤnzendes Haar wurde nur zu¬
naͤchſt der Schlaͤfe zierlich geflochten, unterhalb
aber in ſeiner ganzen Laͤnge frei ausgebreitet und
[349] dann die Krone aufgeſetzt, auch ein breites gol¬
denes Halsband umgethan, auf meinen Rath ei¬
nige Ringe uͤber die weißen Handſchuhe geſteckt,
und als ſie zum erſten Mal dieſen ganzen Anzug
probirte, ſah ſie nicht nur aus wie ein Ritter¬
fraͤulein, ſondern wie eine Feenkoͤnigin, und das
ganze Haus war in ihren lieblichem Anblick ver¬
loren. Aber jetzt weigerte ſie ſich auf's Neue,
an dem Spiele Theil zu nehmen, weil ſie ſich
ſelber ſo fremd vorkam, und wenn nicht die
ganze Bevoͤlkerung in ihren ehrbarſten Familien
bei der Sache geweſen waͤre, ſo haͤtte man ſie
nicht dazu gebracht. Unterdeſſen hatte ich nicht
geruht, und mit meinen Herren Vettern ein we¬
nig in's Sattlerhandwerk gepfuſcht, indem wir
die nicht ſehr ſauberen Zuͤgelriemen des Oheims
mit rothem Seidenzeuge umnaͤhten, welches wir
von einem Juden billig gekauft; denn Anna's
Haͤnde ſollten das alte Lederwerk nicht unmittel¬
bar beruͤhren.


Meinen eigenen Anzug hatte ich laͤngſt in
Ordnung gebracht und denſelben gruͤn und jaͤger¬
maͤßig gewaͤhlt, da dadurch eine groͤßere Einfach¬
[350] heit moͤglich war fuͤr meine geringen Mittel.
Doch war er noch ertraͤglich getreu, eine große
zimmetfarbene Decke, ohne Beſchaͤdigung in einen
faltenreichen Mantel umgewandelt, verhuͤllte die
Unvollkommenheiten; auf dem Ruͤcken trug ich
eine Armbruſt und auf dem Kopfe einen grauen
Filz. Allein da der Menſch immer eine ſchwache
Seite haben muß, ſo ſchnallte ich den langen
Toledodegen um aus der Dachkammer; ich hatte
alle Anderen zu hiſtoriſcher Treue ermahnt, hatte
zeitgemaͤße Waffen in Menge ſelbſt aus dem
Zeughauſe geholt und doch waͤhlte ich dieſen ſpa¬
niſchen Bratſpieß, ohne daß ich mir heute klar
machen kann, was ich mir dabei dachte!


Der wichtige und erſehnte Tag brach an mit
dem allerſchoͤnſten Morgen; der Himmel war
ganz wolkenlos, es war in dieſem Hornung ſchon
ſo warm, daß die Baͤume anfingen auszuſchla¬
gen und die Wieſen gruͤnten. Mit Sonnenauf¬
gang, als eben der Schimmel an dem funkelnden
Fluͤßchen ſtand und gewaſchen wurde, toͤnten Al¬
penhoͤrner und Heerdengelaͤute durch das Dorf
herab und ein Zug von mehr als hundert praͤch¬
[351] tigen Kuͤhen, bekraͤnzt und mit Schellen verſehen,
kam heran, begleitet von einer großen Menge
junger Burſche und Maͤdchen, um das Thal
hinauf zu ziehen in die anderen Doͤrfer und ſo
eine Bergfahrt vorzuſtellen. Die Leute hatten
nur ihre altherkoͤmmliche Sonntagstracht anzuzie¬
hen gebraucht, mit Ausſchluß aller eingedrunge¬
nen Neuheiten und Hinzufuͤgung einiger Pracht¬
ſtuͤcke ihrer Aeltern oder Großaͤltern, um ganz
feſtlich und maleriſch auszuſehen, und der ſtaͤrkſte
Anachronismus waren die kurzen Pfeifen, welche
die Burſche unbekuͤmmert im Munde trugen.
Die friſchen Hemdaͤrmel der Juͤnglinge und Maͤd¬
chen, ihre rothen Weſten und blumigen Mieder
leuchteten weithin in frohem Gewimmel, und als
ſie vor unſerem Hauſe und der benachbarten
Muͤhle anhielten und unter den Baͤumen ploͤtz¬
lich das bunteſte Gewuͤhl entſtand, von Geſang,
Jauchzen und Gelaͤchter begleitet, als ſie mit lau¬
tem Gruͤßen einen Fruͤhtrunk verlangten, da fuh¬
ren wir vom reichlichen Fruͤhſtuͤck, um welches
wir, mit Ausnahme Anna's, ſchon angekleidet ver¬
ſammelt waren, luſtig auf und die Freude uͤber¬
[352] raſchte uns in ihrer Wirklichkeit viel gewaltiger
und feuriger, als wir bei aller Erwartung darauf
gefaßt waren. Schnell begaben wir uns mit den
bereitgehaltenen Weingefaͤßen und einer Menge
Glaͤſer in das Gewimmel, der Oheim und ſeine
Frau mit großen Koͤrben voll laͤndlichen Back¬
werkes. Dieſer erſte Jubel, weit entfernt eine
fruͤhe Erſchoͤpfung zu bedeuten, war nur der
ſichere Vorbote eines langen Freudentages und
noch herrlicherer Dinge. Die Muhme pruͤfte und
pries das ſchoͤne Vieh, ſtreichelte und kraute be¬
ruͤhmte Kuͤhe, welche ihr wohlbekannt waren, und
machte tauſend Spaͤße mit dem jungen Volke;
der Oheim ſchenkte unaufhoͤrlich ein, ſeine Toͤch¬
ter boten die Glaͤſer herum und ſuchten die Maͤd¬
chen zum Trinken zu uͤberreden, waͤhrend ſie wohl
wußten, daß ihr ehrſames Geſchlecht am fruͤhen
Morgen keinen Wein trinkt. Deſto munterer
ſprachen die Hirtinnen den ſchmackhaften Kuchen
zu und verſorgten mit denſelben die vielen Kin¬
der, welche nebſt ihren Ziegen den Zug vergroͤ¬
ßerten. In der Mitte des Gedraͤnges ſtießen wir
auf die Muͤllersleute, welche den Feind von der
[353] anderen Seite her angegriffen hatten, angefuͤhrt
vom jungen Muͤller, der als geharniſchter Reiter
ſchwer einherklirrte und ſein verjaͤhrtes Eiſenge¬
wand andaͤchtig verehren und betaſten ließ. Auf
einmal zeigte ſich Anna, ſchuͤchtern und ver¬
ſchaͤmt; doch ihre Zaghaftigkeit ward von der Ge¬
walt der allgemeinen Freude ſogleich vernichtet
und ſie war in einem Augenblicke wie umgewan¬
delt. Sie laͤchelte ſicher und wohlgemuth, ihre
Silberkrone blitzte in der Sonne, ihr Haar wehte
und flatterte ſchoͤn im Morgenwind und ſie ging
ſo anmuthig und ſicher in ihrem aufgeſchuͤrzten
Reitkleide, das ſie mit den ringgeſchmuͤckten Haͤn¬
den hielt, als ob ſie ihr Lebenlang ein ſolches ge¬
tragen haͤtte. Sie mußte uͤberall herumgehen und
wurde mit ſtaunender Bewunderung begruͤßt.
Endlich aber bewegte ſich der Zug weiter und
mir ſeinem Aufbruche theilte ſich auch unſer
Hausſtand. Die zwei juͤngeren Baſen und zwei
ihrer Bruͤder ſchloſſen ſich demſelben an, die ver¬
lobte Schweſter und der Schulmeiſter ſetzten ſich
in ein leichtes Fuhrwerk, um als Zuſchauer ihren
eigenen Weg zu fahren und uns gelegentlich zu
II. 23[354] treffen, auch um Anna aufzunehmen, im Falle
ihr die Sache nicht zuſagen wuͤrde. Der Oheim
und die Frau blieben zu Hauſe, um andere Herum¬
ſchwaͤrmer zu bewirthen und abwechſelnd etwa
ſich in der Naͤhe umzuſehen. Anna, Rudolph
der Harras und ich aber ſetzten uns nun zu
Pferde, escortirt von dem klirrenden Muͤller.
Dieſer hatte fuͤr mich unter ſeinen Pferden einen
ehrlichen Braunen ausgeſucht und uͤber den Sat¬
tel zu mehrerer Sicherheit einen Schafpelz ge¬
ſchnallt. Doch kuͤmmerte ich mich im mindeſten
nicht um die Reitkunſt und da auch kein Menſch
ſich um dergleichen bekuͤmmerte, ſo ſchwang ich
mich ganz unbefangen auf den Braunen und
tummelte denſelben mit einer Keckheit herum, die
ich jetzt gar nicht mehr begreife. Auf dem Lande
kann Jedermann reiten, der von einem dreſſirten
Pferde herunterfallen wuͤrde. So ritten wir ſtatt¬
lich das Dorf hinauf und gaben nun ſelbſt ein
Schauſpiel fuͤr die Leute, welche zuruͤckblieben,
und fuͤr eine Menge Kinder, welche uns nachlie¬
fen, bis eine andere Gruppe ihre Aufmerkſamkeit
erregte. Vor dem Dorfe ſahen wir es bunt und
[355] ſchimmernd von allen Seiten her ſich bewegen,
und als wir eine viertel Stunde weit geritten
waren, kamen wir an eine Schenke an einer
Kreuzſtraße, vor welcher die ſechs barmherzigen
Bruͤder ſaßen, welche den Geßler wegtragen ſoll¬
ten. Dies waren die luſtigſten Burſche der Um¬
gegend, hatten ſich unter den Kutten ungeheure
Baͤuche gemacht und ſchreckliche Baͤrte von Werg
umgebunden, auch die Naſen roth gefaͤrbt; ſie
gedachten den ganzen Tag ſich auf eigene Fauſt
herumzutreiben und ſpielten gegenwaͤrtig Karten
mit großem Halloh, wobei ſie andere Spielkar¬
ten aus den Kapuzen zogen und ſtatt der Heili¬
gen an die Leute austheilten. Auch fuͤhrten ſie
große Proviantſaͤcke mit ſich und ſchienen ſchon
ziemlich angegluͤht, ſo daß wir fuͤr die Feierlich¬
keit ihrer Verrichtung bei Geßler's Tod etwas be¬
ſorgt wurden. Im naͤchſten Dorf ſahen wir den
Arnold von Melchthal ruhig einem Stadtmetzger
einen Ochſen verkaufen, wozu er ſchon ſeine alte
Tracht trug; dann kam ein Zug mit Trommel
und Pfeife und mit dem Hut auf der Stange,
um in der Umgegend das hoͤhniſche Geſetz zu ver¬
[356] kuͤnden. Denn dies war das Schoͤnſte bei dem
Feſte, daß man ſich nicht an die theatraliſche Ein¬
ſchraͤnkung hielt, daß man es nicht auf Ueber¬
raſchung abſah, ſondern ſich frei herum bewegte
und wie aus der Wirklichkeit heraus und wie
von ſelbſt an den Orten zuſammentraf, wo die
Handlung vor ſich ging. Hundert kleine Schau¬
ſpiele entſtanden dazwiſchen und uͤberall gab es
was zu ſehen und zu lachen, waͤhrend doch bei
den wichtigen Vorgaͤngen die ganze Menge an¬
daͤchtig und geſammelt zuſammentraf. Schon
war unſer Zug anſehnlich gewachſen, um mehrere
Berittene und auch durch Fußvolk verſtaͤrkt,
welche Alle zu dem Ritterzuge gehoͤrten: wir ka¬
men an eine neue Bruͤcke, die uͤber einen großen
Fluß fuͤhrt; von der anderen Seite naͤherte ſich
ein großer Theil der Bergfahrt, um das Vieh
nach Hauſe zu bringen und nachher wieder als
Volk zu erſcheinen. Nun war ein knauſeriger
Zolleinnehmer auf der Bruͤcke, welcher durchaus
von Kuͤhen und Pferden den Zoll erheben wollte,
gemaͤß dem Geſetze; er hatte den Schlagbaum
heruntergelaſſen und ließ ſich durchaus nicht be¬
[357] reden, diesmal von ſeiner Forderung abzuſtehen,
indem man jetzt nicht eingerichtet und aufgelegt
ſei, dieſe Umſtaͤndlichkeiten zu befolgen. Es ent¬
ſtand ein großes Gedraͤnge, ohne daß man jedoch
wagte, mit Gewalt durchzukommen. Da erſchien
unverſehens der Tell, welcher mit ſeinem Knaben
einſam ſeines Weges ging. Es war ein beruͤhm¬
ter feſter Wirth und Schuͤtze, ein angeſehener und
zuverlaͤſſiger Mann von etwa vierzig Jahren,
auf welchen die Wahl zum Tell unwillkuͤrlich
und einſtimmig gefallen war. Er hatte ſich in
die Tracht gekleidet, in welcher ſich das Volk die
alten Schweizer ein fuͤr allemal vorſtellt, roth
und weiß mit vielen Puffen und Litzen, roth und
weiße Federn auf dem eingekerbten roth und
weißen Huͤtchen. Ueberdies trug er noch eine
ſeidene Schaͤrpe uͤber der Bruſt und wenn dies
Alles nichts weniger als dem einfachen Waid¬
mann angemeſſen war, ſo zeigte doch der Ernſt
des Mannes, wie ſehr er das Bild des Helden
in ſeinem Sinn durch dieſen Pomp ehrte; denn in
dieſem Sinne war der Tell nicht nur ein ſchlich¬
ter Jaͤger, ſondern auch ein politiſcher Schutzpa¬
[358] tron und Heiliger, der nur in den Farben des
Landes, in Sammet und Seide, mit wallenden
Federn denkbar war. Der Schnitt ſeines Klei¬
des war aus dem ſechszehnten Jahrhundert, ſo
wie er uͤberhaupt als alte Schweizertracht noch
bei dem Volke gilt und aus den letzten großen
Heldentagen der Schweizer herruͤhrt. Sie pfleg¬
ten ſich mit einer Laſt von Federn zu ſchmuͤcken
und ſonſt großen Aufwand zu treiben aus Beute
und fremdem Gold und gingen ſo in den Tod
fuͤr fremde Herren. Aber in ſeiner braven Ein¬
falt ahnte unſer Tell die Ironie ſeines praͤchtigen
Anzuges nicht; er trat mit ſeinem eigenen Kna¬
ben, der wie eine Art Genius aufgeputzt war,
beſonnen auf die Bruͤcke und fragte nach der
Verwirrung. Als man ihm die Gruͤnde angab,
ſetzte er dem Zoͤllner auseinander, daß er gar
kein Recht habe, den Zoll zu erheben, indem
ſaͤmmtliche Thiere nicht aus der Ferne kaͤmen
oder dahin gingen, ſondern als im gewoͤhnlichen
Verkehr zu betrachten ſeien. Der Zollmann aber,
erpicht auf die vielen Kreuzer, beharrte ſpitzfindig
darauf, daß die Thiere in einem großen Zuge los und
[359] ledig auf der Straße getrieben wuͤrden und gar
nicht vom Felde kaͤmen, alſo er den Zoll zu for¬
dern berechtigt ſei. Hierauf faßte der wackere
Tell den Schlagbaum, druͤckte ihn wie eine leichte
Feder in die Hoͤhe und ließ Alles durchpaſſiren,
die Verantwortung auf ſich nehmend. Die
Bauern ermahnte er, ſich zeitig wieder einzufinden,
um ſeinen Thaten zuzuſehen, uns Rittersleute
aber gruͤßte er kalt und ſtolz und er ſchien uns
auf unſeren Pferden fuͤr wirkliches Tyrannenge¬
ſindel anzuſehen, ſo ſehr war er in ſeine Wuͤrde
vertieft.


Endlich gelangten wir in den Marktflecken,
welcher fuͤr heute unſer Altorf war. Als wir
durch das alte Thor ritten, fanden wir das win¬
zige Staͤdtchen, welches nur einen maͤßigen Platz
bildete, ſchon ganz belebt, voll Muſik, Fahnen
und Tannenreiſer an allen Haͤuſern. Eben ritt
Herr Geßler hinaus, um in der Umgegend einige
Unthaten zu begehen, und nahm den Muͤller und
den Harras mit; ich ſtieg mit Anna vor dem
Rathhauſe ab, wo die uͤbrigen Herrſchaften ver¬
ſammelt waren, und begleitete ſie in den Saal,
[360] wo ſie von dem Ausſchuſſe und den verſammel¬
ten Gemeinderathsfrauen bewunderungsvoll be¬
gruͤßt wurde. Ich war hier nur wenig bekannt
und lebte nur in dem Glanze, welchen Anna auf
mich warf. Jetzt kam auch der Schulmeiſter an¬
gefahren mit ſeiner Begleiterin; ſie geſellten ſich
zu uns, nachdem das Gefaͤhrt nothduͤrftig unter¬
gebracht, und erzaͤhlten, wie ſoeben auf der Land¬
ſchaft dem jungen Melchthal die Ochſen vom
Pfluge genommen, er fluͤchtig geworden und ſein
Vater gefangen worden ſei, wie die Tyran¬
nen uͤberhaupt ihren Spuk trieben und vor
dem Stauffacher'ſchen Hauſe merkwuͤrdige Sce¬
nen ſtattgefunden haͤtten vor vielen Zuſchauern.
Dieſe ſtroͤmten auch bald zum Thore herein; denn
obgleich nicht Alle uͤberall ſein wollten, ſo begehrte
doch die groͤßere Zahl die ehrwuͤrdigen und be¬
deutungsvollen Hauptbegebenheiten zu ſchauen
und vor Allem den Tellenſchuß. Bereits ſahen
wir auch aus dem Fenſter des Rathhauſes die
Spießknechte mit der verhaßten Stange ankom¬
men, dieſelbe mitten auf dem Platze aufpflanzen
und unter Trommelſchlag das Geſetz verkuͤnden.
[361] Der Platz wurde jetzt geraͤumt, das ſaͤmmtliche
Volk, mit und ohne Koſtuͤm, an die Seiten ver¬
wieſen und vor allen Fenſtern, auf Treppen, Ga¬
lerien und Daͤchern wimmelte die Menge. Bei
der Stange gingen die beiden Wachen auf und
ab, jetzt kam der Tell mit ſeinem Knaben uͤber
den Platz gegangen, von rauſchendem Beifall be¬
gruͤßt; er hielt das Geſpraͤch mit dem Kinde
nicht, ſondern wurde bald in den ſchlimmen Han¬
del mit den Schergen verwickelt, dem das Volk
mit geſpannter Aufmerkſamkeit zuſah, indeſſen
Anna und ich nebſt anderm zwingherrlichen Ge¬
lichter uns zur Hinterthuͤr hinaus begaben und
zu Pferde ſtiegen, da es Zeit war, uns mit dem
Geßler'ſchen Jagdzuge zu vereinigen, der ſchon
vor dem Thore hielt. Wir ritten nun unter
Trompetenklang herein und fanden die Handlung
in vollem Gange, den Tell in großen Noͤthen
und das Volk in lebhafter Bewegung und nur
zu geneigt, den Helden ſeinen Draͤngern zu ent¬
reißen. Doch als der Landvogt ſeine Reden be¬
gann, wurde es ſtill. Die Rollen wurden nicht
theatraliſch und mit Geberdenſpiel geſprochen,
23 *[362] ſondern mehr wie die Reden in einer Volksver¬
ſammlung, laut, eintoͤnig und etwas ſingend, da
es doch Verſe waren; man konnte ſie auf dem
ganzen Platze vernehmen, und wenn Jemand, ein¬
geſchuͤchtert, nicht verſtanden wurde, ſo rief das
Volk: »lauter, lauter!« und war hoͤchſt zufrieden,
die Stelle noch einmal zu hoͤren, ohne ſich die
Illuſion ſtoͤren zu laſſen. So erging es auch
mir, als ich Einiges zu ſprechen hatte; ich wurde
aber gluͤcklicher Weiſe durch einen komiſchen Vor¬
gang unterbrochen. Es trieben ſich naͤmlich ein
Dutzend Vermummte der alten Sorte herum,
arme Teufel, welche weiße Hemden uͤber ihre
aͤrmlichen Kleider gezogen hatten, ganz mit bun¬
ten Laͤppchen beſetzt, auf dem Kopfe trugen ſie
hohe kegelfoͤrmige Papiermuͤtzen, mit Fratzen be¬
malt und vor dem Geſicht ein durchloͤchertes Tuch.
Dieſer Anzug war ſonſt die allgemeine Vermum¬
mung geweſen zur Faſtnachtszeit und in derſelben
allerlei Spaͤße getrieben worden; er ſcheint von
der loͤblichen Tracht herzuruͤhren, in welcher einſt
die verurtheilten Ketzer verhoͤhnt wurden und
welche nachher in den Faſtnachtsſpielen ſich er¬
[363] hielt. Die armen Kerle waren den neueren
Spielen nicht gruͤn, da ſie in dieſer ſeltſamen
Maskirung ſich Gaben zu ſammeln gewohnt und
daher fuͤr deren Erhaltung begeiſtert waren. Sie
ſtellten gewiſſermaßen den Ruͤckſchritt und die
Verkommenheit vor und tanzten jetzt wunderlich
genug mit Pritſchen und Beſen umher. Beſon¬
ders zwei derſelben ſtoͤrten das Schauſpiel, als
ich eben reden ſollte, indem ſie einander am
Ruͤcktheile des Hemdes herumzerrten, welches mit
Senf beſtrichen war. Jeder hielt eine Wurſt in
der Hand und rieb ſie, indem er ſie aß, an dem
Hemde des Andern, waͤhrend ſie fortwaͤhrend ſich
im Kreiſe herumdrehten, wie zwei Hunde, die
einander nach dem Schwanze ſchnappen. Auf
dieſe Weiſe tanzten ſie zwiſchen Geßler und Tell
vorbei und glaubten Wunder was zu thun in
ihrer Unwiſſenheit; auch erfolgte ein ſchallendes
Gelaͤchter, indem das Volk im erſten Augenblicke
ſeinen alten Nuͤcken nicht widerſtehen konnte.
Doch alſobald erfolgten auch derbe Puͤffe und
Stoͤße mit Schwertknaͤufen und Partiſanen, die
erſchrockenen Spaßmacher ſuchten ſich unter die
[364] Zuſchauer zu retten, wurden aber uͤberall mit Ge¬
laͤchter zuruͤckgeſtoßen, ſo daß ſie laͤngs der froͤh¬
lichen Reihen kein Unterkommen fanden und aͤngſt¬
lich umherirrten, mit zerzauſten Muͤtzen und
furchtſam ihre Verhuͤllung an das Geſicht druͤ¬
ckend, damit ſie nicht erkannt wuͤrden. Anna
empfand Mitleiden mit ihnen und beauftragte
Rudolph den Harras und mich, den mißhandel¬
ten Fratzen einen Ausweg zu verſchaffen, und ſo
wurde ich meiner Rede enthoben. Dies ſtoͤrte
uͤbrigens nicht, da man gar nicht die Worte
zaͤhlte und manchmal ſogar die Schiller'ſchen
Jamben mit eigenen Kraftausdruͤcken verzierte, ſo
wie es die Bewegung eben mit ſich brachte.
Doch machte ſich der Volkshumor im Schooße
des Schauſpieles ſelbſt geltend, als es zum
Schuſſe kam. Hier war ſeit undenklichen Zeiten,
wenn bei Aufzuͤgen die That des Tell auf derbe
Weiſe vorgefuͤhrt wurde, der Scherz uͤblich ge¬
weſen, daß der Knabe waͤhrend des Hin- und
Herredens den Apfel vom Kopfe nahm und zum
großen Jubel des Volkes gemuͤthlich verſpeiſte.
Dies Vergnuͤgen war auch hier wieder einge¬
[365] ſchmuggelt worden, und als Geßler den Jungen
grimmig anfuhr, was das zu bedeuten haͤtte, er¬
wiederte dieſer keck: Herr! Mein Vater iſt ein
ſo guter Schuͤtz, daß er ſich ſchaͤmen wuͤrde, auf
einen ſo großen Apfel zu ſchießen! Legt mir
einen auf, der nicht groͤßer iſt, als Euere Barm¬
herzigkeit und der Vater wird ihn um ſo beſſer
treffen! Als der Tell ſchoß, ſchien es ihm faſt
leid zu thun, daß er nicht ſeine Kugelbuͤchſe zur
Hand hatte und nur einen blinden Theaterſchuß
abſenden konnte. Doch zitterte er wirklich und
unwillkuͤrlich, indem er anlegte, ſo ſehr war er
von der Ehre durchdrungen, dieſe geheiligte Hand¬
lung darſtellen zu duͤrfen. Und als er dem Ty¬
rannen den zweiten Pfeil drohend unter die Au¬
gen hielt, waͤhrend alles Volk in athemloſer Be¬
klemmung zuſah, da zitterte ſeine Hand wieder
mit dem Pfeile, er durchbohrte den Geßler mit
den Augen und ſeine Stimme erhob ſich einen
Augenblick lang mit ſolcher Gewalt der Leiden¬
ſchaft, daß Geßler erblaßte und ein Schrecken
uͤber den ganzen Markt fuhr. Dann verbreitete
ſich ein frohes Gemurmel, tief toͤnend, man
[366] ſchuͤttelte ſich die Haͤnde und ſagte, der Wirth
waͤre ein ganzer Mann und ſo lange wir ſolche
haͤtten, thue es nicht Noth! Doch ward der
wackere Mann einſtweilen gefaͤnglich abgefuͤhrt
und die Menge ſtroͤmte aus dem Thore nach ver¬
ſchiedenen Seiten, theils um anderen Scenen bei¬
zuwohnen, theils um ſich ſonſt vergnuͤglich um¬
her zu treiben. Viele blieben auch im Orte, um
dem Klange der Geigen nachzugehen, welche da
und dort ſich hoͤren ließen. Auf die Mittags¬
ſtunde machte ſich aber Alles bereit, auf dem
Gruͤtli einzutreffen, wo der Bund beſchworen
wurde, mit Weglaſſung der Schiller'ſchen Stel¬
len, die ſich auf die Nacht bezogen. Eine ſchoͤne
Wieſe an dem breiten Strom, von anſteigendem
Gehoͤlz umſchloſſen, war dazu beſtimmt, wie auch
der Strom uͤberhaupt den See erſetzen mußte
und den Fiſchern und Schiffsleuten zum Schau¬
platz diente. Anna ſetzte ſich zu ihrem Vater in
das Gefaͤhrt, ich ritt neben her und ſo begaben
wir uns gemaͤchlich auf den Weg dahin, um als
Zuſchauer auszuruhen und ausruhend zu genie¬
ßen. Auf dem Gruͤtli ging es ſehr ernſt und
[367] feierlich her; waͤhrend das bunte Volk auf den
Abhaͤngen unter den Baͤumen umherſaß, tagten
die Eidgenoſſen in der Tiefe. Man ſah dort die
eigentlichen wehrbaren Maͤnner mit den großen
Schwertern und Baͤrten, kraͤftige Juͤnglinge mit
Morgenſternen und die drei Fuͤhrer in der Mitte.
Alles begab ſich auf das Beſte und mit vielem
Bewußtſein, der Fluß wogte breit glaͤnzend und
zufrieden voruͤber; nur tadelte der Schulmeiſter,
daß die Jungen und die Alten bei der feierlichen
Handlung keinen Augenblick die Pfeifen aus dem
Munde thaͤten, und kaum Walter Fuͤrſt und
Stauffacher die ihrigen bei Seite gethan haͤtten;
Melchthal aber, der viel Geld mit dem Ochſen¬
handel verdiente, rauchte eine Cigarre und der
Pfarrer Roͤſſelmann ſchnupfte unaufhoͤrlich. Das
ſtoͤrte in der That aber Niemand als den Schul¬
meiſter, welcher weder rauchte noch ſchnupfte.


Als der Schweizerbund unter donnerndem
Zuruf des lebendigen Berges umher beſchworen
war, ſetzte ſich die ganze Menge, Zuſchauer und
Spieler unter einander gemiſcht, in Bewegung;
der groͤßte Theil wogte wie eine Voͤlkerwande¬
[368] rung nach dem Staͤdtchen, wo ein einfaches Mahl
bereitet und faſt jedes Haus in eine Herberge
umgewandelt war, ſei es fuͤr Freunde und Be¬
kannte, ſei es fuͤr Fremde gegen einen billigen
Zehrpfennig; denn ſo unbefangen, wie wir die
Aufzuͤge des Stuͤckes durcheinander geworfen,
hielten wir auch fuͤr gut, ſie durch eine Erho¬
lungsſtunde zu unterbrechen, um nachher die ge¬
waltſamen Schlußereigniſſe mit deſto friſcherem
Muthe herbeizufuͤhren. Der eigentliche Feſtwirth
hatte in Betracht des ungewoͤhnlich warmen
Wetters raſch den Markt, oder beſſer geſagt, den
ganzen und einzigen inneren Raum des Staͤdtchens
in einen umgeſchaffen; lange Tiſchreihen
waren errichtet und gedeckt fuͤr diejenigen der
»Verkleideten« und ſonſtigen Ehrenperſonen, welche
das gemeinſame Eſſen theilen wollten, die uͤbrigen
beſetzten die Haͤuſer und viele einzelne Tiſche,
welche vor die Haͤuſer geſtellt waren. So ge¬
wann das Staͤdtchen doch wieder das Anſehen
einer einzigen Familie, aus allen Fenſtern blick¬
ten die abgeſonderten Geſellſchaften auf die große
Haupttafel, und diejenigen vor den Haͤuſern ſahen
[369] bald wie unregelmaͤßige Verzweigungen derſelben
aus. Den Stoff zu den lauten Geſpraͤchen lieh
die allgemeine Theaterkritik, die ſich uͤber alle
Tiſche verbreitete, und deren muͤndliche Artikel
die Kuͤnſtler ſelbſt verfaßten. Dieſe Kritik be¬
faßte ſich weniger mit dem Inhalte des Dramas
und mit der Darſtellung deſſelben, als mit dem
romantiſchen Ausſehen der Helden und mit der
Vergleichung mit ihrem gewoͤhnlichen Behaben.
Daraus entſtanden hundertfache ſcherzhafte Be¬
ziehungen und Anſpielungen, von denen kaum
der Tell allein frei gehalten wurde; denn dieſer
ſchien unangreifbar. Aber der Tyrann Geßler ge¬
rieth in ein ſolches Kreuzfeuer, daß er in der
Hitze des Gefechtes einen kleinen Rauſch trank
und ſeinen blinden Ingrimm bald auf ſehr na¬
tuͤrliche Weiſe darzuſtellen im Stande war. Die
heiterſten Scherze veranlaßten die jungen Leute,
welche in Frauentracht an der Tafel ſaßen. Es
waren drei oder vier Burſchen wie Milch und
Blut, mit Sorgfalt gekleidet und benahmen ſich
ſehr zuͤchtig und zimpferlich; waͤhrend ſie verlieb¬
ter und kecker Natur und angehende Don Juans
ll. 24[370] waren, ließen ſie ſich nun von ihren Cameraden,
den laͤndlichen Cavalieren, ſproͤde den Hof ma¬
chen und ahmten auf's Beſte die Art ſittſamer
Frauen nach. Die wirklichen Maͤdchen betrachte¬
ten aus der Entfernung ziemlich wohlgefaͤllig
ihre neuen Rivalinnen; doch wenn die verkleide¬
ten Schaͤlke ploͤtzlich ſich unter ſie miſchten und
ein maͤdchenhaft vertrauliches Wort fluͤſtern woll¬
ten, fuhren ſie ſchreiend auseinander. Aber dies
alles beluſtigte mich nicht ſehr, da ich mich ge¬
nug um Anna zu kuͤmmern hatte. Sie ſaß am
Ehrenplatze zwiſchen ihrem Vater und dem Re¬
gierungsſtatthalter, gegenuͤber dem Tell und ſei¬
ner wirklichen anweſenden Ehefrau. Nachdem ſie
ſchon ihrer reizenden und vornehmen Erſcheinung
wegen die allgemeine Aufmerkſamkeit erregt,
machte ſich nun auch der ehrbare Ruf ihres Va¬
ters, ihre feine Erziehung und im Hintergrunde
ihr artiges Erbe geltend; ich mußte zu meiner
großen Bekuͤmmerniß ſehen, wie der Platz, wo ſie
ſaß, von allerhand hoffnungsvollen Geſellen be¬
lagert wurde, ja wie alle vier Facultaͤten ſich be¬
ſtrebten, dem gravitaͤtiſchen Schulmeiſter zu Ge¬
[371] fallen zu leben. Ein friſch patentirter junger
Doctor ſpielte den Erfahrenen, ein Juriſt machte
Witze, ein Vicarius verdrehte die Augen und
ſprach von der Poeſie, wie eine Kuh von der
Muscatnuß (um das Spruͤchwort zu gebrauchen),
und ein rationeller Landwirth, der die Philoſophie
vertrat, zog alle Augenblicke eine große Schweins¬
blaſe hervor, welche wenigſtens funfzig Gulden
in allen Silberſorten enthielt, und ſuchte mit
ſtarkem Geraſſel einige Kreuzer, um einen Auf¬
waͤrter zu bezahlen. Doch Alle waren ſtattliche
bluͤhende Burſche mit einer behaglichen Zukunft;
ich war arm und hatte einen Beruf gewaͤhlt, der
nicht nur mit ewiger Armuth verbunden war nach
meinen eigenen Begriffen und zu meinem ſtolzen
Vergnuͤgen, ſondern uͤberhaupt bei allen dieſen
Leuten nichts gelten konnte, waͤhrend der Stand
eines jeden der vier Hoffnungsvollen, ſelbſt wenn
dieſe arm waren, großes Anſehen bei dem Volke
genoß, wie Alles, was es nach ſeinen Begriffen
fuͤr nothwendig haͤlt und vom Staate controlirt
oder beſoldet ſieht. Ich entdeckte daher zum er¬
ſten Mal mit Schrecken, welch' einer geſchloſſenen
24 *[372] Macht ich gegenuͤberſtand. Anna war gegen
Alle gleich freundlich, ſo unbefangen und offen,
wie ich ſie gar nie geſehen und am wenigſten
gegen mich; aber obgleich mich gerade das haͤtte
beruhigen ſollen und ich uͤberdies die ungewoͤhn¬
lich edle Denkart des Schulmeiſters kannte, ſo
wurde es mir doch ganz heiß und ich beſchul¬
digte ſogleich die Weiber, daß ſie unter dem Vor¬
wande der Selbſtverlaͤugnung und des kindlichen
Gehorſams es doch immer vorzoͤgen, wenn auch
unter heuchleriſchen Thraͤnen, ſich unvermerkt da¬
hin zu ſalviren, wo guter Rath und Wohlſtand
waͤre, und wenn ſie eine Ausnahme machten, ſo
geſchaͤhe das weniger aus Liebe, als aus Eigen¬
ſinn, welcher ſich auch in Uebertreibung und Un¬
geberdigkeit alſobald kund gebe! Doch kam mir
kein Gedanke an einen beſonderen Vorwurf ge¬
gen Anna, weil mir Alles achtungswerth und
nothwendig ſchien, was ſie that oder je thun
wuͤrde, und ich entſchuldigte ſie ſogar im Voraus,
wenn ſie etwa in den Fall gerathen ſollte, nach
dem Willen ihres Vaters einem Angeſehenen und
Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich
[373] dieſe ganze maͤchtige Volksſchaft zu ſehr und
fuͤhlte mich nur unbedeutend und unnuͤtz in die¬
ſem Augenblicke. Betruͤbt erhob ich mich von
meinem Sitze, wo ich zufaͤllig zwiſchen zwei
fremde Perſonen gerathen war, und ſchlenderte
um die Tiſche herum, meine Vettern und Baſen
aufſuchend, die ſich im vollen Jubel befanden.
Sie waren zu ſehr mit ihrer Freude beſchaͤftigt,
als daß ſie meinen Truͤbſinn haͤtten bemerken
koͤnnen, und ich war nahe daran, in das empfind¬
ſame Mitleid mit mir ſelbſt, das ich in fruͤheren
Tagen gekannt, zu verfallen, als Margot, die
Braut, welche in ſtiller Gluͤckſeligkeit neben dem
Muͤller ſaß, mich heranwinkte, mit freudeſtrah¬
lenden und doch theilnehmenden Augen fragte,
warum ich mich ſo einſam und duͤſter umher¬
treibe, mich mit ungewohnter Herzlichkeit beim
Arme nahm und an ihrem Stuhle feſthielt. Ich
haͤtte ſie aus Dankbarkeit umhalſen und kuͤſſen
moͤgen, zumal ſie mir ſo ſchoͤn und liebenswuͤrdig
vorkam, wie fruͤher nie. Eine Braut zur Be¬
ſchuͤtzerin zu haben, ſchien mir halb gewonnenes
Spiel. Ich empfand ſogleich eine warme und
[374] treue Freundſchaft fuͤr ſie, und auch ſie ſchien froh
zu ſein, die duͤnne Scheidewand der bisherigen
Ironie zwiſchen uns fallen zu laſſen und einen
ihrem kuͤnftigen Hauſe ergebenen Vetter aus mir
zu machen. Sie unterhielt ſich fortwaͤhrend und
angelegentlich mit mir und veranlaßte den Muͤl¬
ler, an dem vertraulichen Geplauder Theil zu
nehmen. Das that er denn auch mit freund¬
ſchaftlicher Kraft, wir wurden herzlicher und of¬
fener gegen einander, kurz, ich glaubte endlich
zu meinem großen Troſte zu entdecken, daß man
mich achtete und werth hielt. Zutraulich bei die¬
ſem huͤbſchen Paare ſtehend, ſah ich nun ruhiger
uͤber die Verſammlung hin und ruͤckte endlich ein
Stuͤck weiter, um mich bei dem Schulmeiſter und
ſeiner Tochter einzufinden. Trotz des Verkomm¬
niſſes in der Gartenlaube war unſer Verkehr
nicht ſehr fortgeſchritten, wir wechſelten kaum
einige Worte, im Uebrigen blieben wir ſtill und
zufrieden in unſerer gegenſeitigen Naͤhe, und ſelbſt
heute hatten wir faſt Nichts unmittelbar zu ein¬
ander geſprochen. Als ich mich [nachlaͤſſig] hinter
Anna's Stuhl lehnte, bot mir der Schulmeiſter,
[375] waͤhrend er mit den Nachbaren ſprach, leichthin
das Glas, wie man einem Angehoͤrigen thut,
den man oft ſieht; ſeine Tochter kehrte ſich nicht
einmal um und fuhr fort, ihre Verehrer anzu¬
hoͤren. Das ſchmeichelte mir nun wieder, vor
einer Viertelſtunde haͤtte es meine Betruͤbniß ver¬
mehrt; ich ſchlug die Arme uͤbereinander und hoͤrte
gelaſſen dem Geſpraͤche zu. In ihrem Wetteifer
waren die vier jungen Herren ein wenig kuͤhn
und prahleriſch geworden; ihre Studentenbildung
und die Sitten ihres laͤndlichen Herkommens ge¬
riethen wunderlich durch einander, ſie verloren ih¬
ren Takt gegenuͤber dem feinen Kinde, das ſie
wie eine Muͤcke zu fangen glaubten, ſagten
Dummheiten ohne alle Originalitaͤt und Anmuth,
und als das Zeichen zum Aufbruch erklang, ga¬
ben ſie Anna ihre Viſitenkarten! Was das hei¬
ßen ſollte, wußte kein Menſch; Einer hatte an¬
gefangen, die Anderen wollten nicht zuruͤckbleiben.
Sie hatten dieſe Karten beim Abgange von der
Univerſitaͤt machen laſſen, wie ſie es bei Anderen
geſehen, die Haͤlfte davon gegen diejenigen ihrer
Freunde vertauſcht, indem ſie einander beſuchten,
[376] wenn ſie nicht zu Hauſe waren, die andere Haͤlfte
war nun noch vorraͤthig, und obgleich hier zu
Lande keine Viſitenkarten abgegeben wurden, wenn
die Leute nicht zu Hauſe waren, ſo trugen ſie
doch ſtets einige bei ſich, wie die Habichte auf
einen guͤnſtigen Zufall lauernd, wo ſie eine der¬
ſelben anbringen konnten. Jetzt hatten ſie mit
kuͤhner Hand ſich die Gelegenheit vom Zaun ge¬
brochen und ohne Weiteres die glaͤnzenden Din¬
ger hervorgeholt. Anna hielt ſie anſcheinend be¬
wunderungsvoll in der Hand; auf einem ſtand
Dr. med., auf dem andern Cand. jur., auf dem
des Vicars V. D. M. Als Anna fragte, was
Letzteres bedeute, lag es mir auf der Zunge, zu
ſagen: VerDammter Mucker! Denn der arme
junge Prieſter war zwar ein ſogenannter freiſin¬
niger Theologe, hatte aber von der Univerſitaͤt
eine bedenkliche aͤſthetiſche Muckerei heimgebracht.
Er erklaͤrte aber, es hieße Verbi divini Mi¬
nister
. Nur der rationelle Landwirth beſaß keine
Karte; dafuͤr zog er noch einmal ſeine Blaſe her¬
aus, ſetzte ſie klirrend auf den Tiſch, grub einen
[Franken] aus derſelben hervor und warf denſel¬
[377] ben ohne alle Veranlaſſung einem Kinde hin.
Ich bemerkte, daß dies von den Anweſenden
ſehr mißfaͤllig angeſehen wurde und triumphirte
nun vollkommen in meinem ſchadenfrohen Ge¬
muͤthe. Es kann mich aber vielleicht entſchuldi¬
gen, daß alle Vier ſechs bis ſieben Jahre aͤlter
als ich und ſchon gereiſt waren; auch haben ſie
ſeither nach ihrem Wunſche achtbare und vermoͤg¬
liche Frauen bekommen und ſind eben ſo tuͤchtige
als geachtete junge Maͤnner mit Ausnahme des
Verbi divini Minister, welcher einen ſchlimmen
Handel bekam und außer Landes ging.


Auf einmal kehrte ſich Anna um und bat mich,
ihr die Karten aufzubewahren; ſie bemerkte laͤ¬
chelnd, ich moͤchte ja recht Sorge dazu tragen, und
als ich ſie einſteckte, war mir, als ob ich alle
vier Helden in der Taſche truͤge. Doch dieſe
mochten auch bereits einſehen, daß ſie einen un¬
ſchicklichen und thoͤrichten Streich begangen, und
verloren ſich aus unſerer Umgebung; denn als
kluger Bauern eben ſo kluge Soͤhnlein waren ſie
nur oberflaͤchlich in ſolche Schnoͤrkeleien hineinge¬
[378] rathen und ſo eben durch Anna's feines Weſen
faͤlſchlich zu deren Anwendung verlockt worden.


Waͤhrend man nun von allen Seiten auf¬
brach, hatte ſich in unſerer Naͤhe, wo der Statt¬
halter, Wilhelm Tell, der Wirth und andere
Maͤnner von Gewicht ſaßen, eine bedaͤchtige Un¬
terhandlung entſponnen. Es handelte ſich um die
Richtung einer neuen Straße erſter Klaſſe, welche
von der Hauptſtadt her durch dieſe Gegend an
die Graͤnze gefuͤhrt werden ſollte. Zwei verſchie¬
dene Plaͤne ſtanden ſich in Bezug auf unſer en¬
geres Gebiet entgegen, welche mit gleichwiegenden
Vortheilen und Schwierigkeiten verbunden wa¬
ren; die eine Richtung ging uͤber eine gedehnte
Anhoͤhe, faſt zuſammenfallend mit einer aͤlteren
Straße zweiten Ranges, mußte aber im Zickzack
gefuͤhrt werden und ſtellte bedeutende Koſten in
Ausſicht; die andere ging mehr gerad und eben
uͤber den Fluß, allein hier war das anzukaufende
Land theurer und uͤberdies ein Bruͤckenbau noth¬
wendig, ſo daß die Koſten alſo ſich gleich kamen,
waͤhrend die Verkehrsverhaͤltniſſe die Wuͤnſchbar¬
keit ebenfalls ziemlich gleich vertheilten. Aber an
[379] der aͤlteren Straße auf der Anhoͤhe lag das Gaſt¬
haus des Tell, weit hinſchauend und viel beſucht
von Geſchaͤftsmaͤnnern und Fuhrleuten; durch die
große Straße in der Niederung wuͤrde ſich der Ver¬
kehr dort hingezogen haben und das alte beruͤhmte
Haus vereinſamt worden ſein; daher ſprach ſich
der wackere Tell, an der Spitze eines Anhanges
anderer Bewohner der Anhoͤhe, energiſch fuͤr die
Nothwendigkeit aus, daß die neue Straße uͤber
dieſelbe gezogen werde. In der Tiefe hingegen
hatte ein reicher Holzhaͤndler, die Schifffahrt ab¬
waͤrts benutzend, ſeine weitlaͤufigen Raͤume ange¬
legt, dem nun die Straße zum Transport auf¬
waͤrts unentbehrlich ſchien. Er war ſeit einer
Reihe von Jahren, ſchon in der Reſtaurationszeit,
Mitglied des großen Rathes und einer jener
Maͤnner, die weniger ideellen Stoff in eine ge¬
ſetzgebende Behoͤrde bringen, als durch geſchaͤft¬
liche Sach- und Localkenntniß eben ſo ſchlichte
als unentbehrliche und darum ſtehende Erſchei¬
nungen in denſelben und jeder herrſchenden Par¬
tei von Nutzen ſind. Er war radical und ſtimmte
in allen politiſchen Fragen im Sinne des Fort¬
[380] ſchrittes, aber ohne viel Umſtaͤnde, indem er mehr
durch ſein Beiſpiel, als durch Reden wirkte. Nur
wenn eine Frage in den Geldbeutel eingriff,
pflegte er die Debatte mit genauen Eroͤrterungen
und Bedenklichkeiten aufzuhalten; denn auch der
Radicalismus war ihm ein Geſchaͤft und er der
Meinung, mit den aͤußerſten Erſparniſſen, die
man den Koſten von ſechs Unternehmungen ab¬
gezwackt, koͤnne man eine ſiebente obendrein er¬
moͤglichen. Er wollte die Sache der Freiheit und
Aufklaͤrung nach der Weiſe eines klugen Fabri¬
kanten betrieben wiſſen, welcher nicht darauf aus¬
geht, mit ungeheuren Koſten auf Ein Mal ein
koloſſales Prachtgebaͤude herzuſtellen, in welchem
er die Arbeiter zur Noth beſchaͤftigen koͤnnte, ſon¬
dern der es vorzieht, unſcheinbare raͤucherige Ge¬
baͤude, Werkſtatt an Werkſtatt, Schuppen an
Schuppen zu reihen, wie es Beduͤrfniß und Ge¬
winn erlauben, bald proviſoriſch, bald ſolid, nach
und nach, aber immer raſcher mit der Zeit, daß
es raucht und dampft, pocht und haͤmmert an
allen Ecken, waͤhrend jeder Beſchaͤftigte in dem
luſtigen Wirrſal ſeinen Griff und Tritt kennt¬
[381] Deswegen eiferte er immer gegen die ſchoͤnen
großen Schulhaͤuſer, gegen die erhoͤhten Beſol¬
dungen der Lehrer u. dgl., weil ein Land, wel¬
ches mit einer Menge beſcheidener, aber mit allen
Mitteln vollgepropfter Schulſtuben geſpickt ſei, in
bequemer Naͤhe uͤberall, wo ein Paar Kinder
wohnen, und wo an allen Ecken und Enden tapfer
und emſig gelernt wuͤrde in aller Unſchein¬
barkeit, erſt die wahre Cultur aufzeige. Der
gravitaͤtiſche Aufwand, behauptete der Holzhaͤnd¬
ler, behindere nur die tuͤchtige Bewegung; nicht
ein goldenes Schwert thue Noth, deſſen mit Edel¬
ſteinen beſetzter Griff die Hand genire, ſondern
eine ſcharfe leichte Axt, deren hoͤlzerner Stiel,
vom ruͤſtigen Gebrauche geglaͤttet, der Hand voll¬
kommen gerecht ſei zur Vertheidigung wie zur
Arbeit, und die ehrwuͤrdige Politur an einem
ſolchen Axtſtiele ſei ein viel ſchoͤnerer Glanz, als
Gold und Steine jenes Schwertgriffes darboͤten.
Ein Volk, welches Palaͤſte baue, beſtelle ſich nur
zierliche Grabſteine, und der Wandelbarkeit koͤnne
noch am beſten widerſtanden werden, wenn man
ſich unter ihrem Panier ſchlau durch die Zeit
[382] bugſire, leicht und behende; erſt ein Volk, das
dies begriffen, immer bewaffnet und marſchfertig,
ohne unnuͤtzes Gepaͤck, aber mit gefuͤllter Kriegs¬
kaſſe verſehen ſei, deſſen Tempel, Palaſt, Feſtung
und Wohnhaus in Einem Stuͤck das leichte, luf¬
tige und doch unzerſtoͤrbare Wanderzelt ſeiner
geiſtigen Erfahrung und Grundſaͤtze ſei, uͤberall
mitzufuͤhren und aufzuſchlagen, koͤnne ſich Hoff¬
nung auf wahre Dauer machen, und ſelbſt ſeinen
geographiſchen Wohnſitz vermoͤge ein ſolches laͤn¬
ger zu behaupten. Beſonders von den Schwei¬
zern waͤre es ein Unſinn, wenn ſie ihre Berge
mit ſchoͤnen Gebaͤuden bekleben wollten; hoͤchſtens
am Eingange waͤren allenfalls ein paar anſehn¬
liche Staͤdte zu dulden, ſonſt aber muͤßten wir
es ganz der Natur uͤberlaſſen, die Honneurs zu
machen; dies ſei nicht nur das Billigſte, ſondern
auch das Kluͤgſte. Von den Kuͤnſten ließ er ein¬
zig Beredſamkeit und Geſang gelten, weil ſie
ſeinem »Wanderzelte« entſprachen, Nichts koſten
und keinen Platz einnehmen. Sein eigenes Be¬
ſitzthum ſah ganz nach ſeinen Grundſaͤtzen aus;
Brenn- und Bauholz, Kohlen, Eiſen und Steine
[383] bildeten in ungeheuren Vorraͤthen ein großes La¬
byrinth, dazwiſchen kleine und große Gaͤrten,
denn wenn ein Platz fuͤr einen Sommer frei war,
ſo wurde ſchnell Gemuͤſe darauf geſaͤet; hie und
da beſchatteten maͤchtige Tannen, die er noch hatte
ſtehen laſſen, eine Saͤgemuͤhle oder Schmiede.
Sein Wohnhaus lag mehr wie eine Arbeiterhuͤtte,
als wie ein Herrenhaus dazwiſchen hingeworfen
und ſeine Frauensleute mußten fuͤr ein beſcheide¬
nes Ziergaͤrtchen einen fortwaͤhrenden Krieg fuͤh¬
ren und mit demſelben ſtets um das Haus herum
fluͤchten; bald wurde es an dieſe, bald an jene
Ecke geſchoben, von Hecken oder Gelaͤndern war
auf dem ganzen Grundſtuͤck nichts zu ſehen. Es
lag ein großer Reichthum darin, aber dieſer aͤn¬
derte taͤglich ſeine aͤußere Geſtalt; ſelbſt die Daͤ¬
cher von den Gebaͤuden verkaufte der Mann manch¬
mal, wenn ſich guͤnſtige Gelegenheit bot, und
doch ſaß er ſeit langer Zeit auf dieſem Beſitze
und die fragliche Straße ſchien demſelben die
Krone aufzuſetzen; denn eine gute Straße duͤnkte
ihm das beſte Ding von der Welt, nur muͤſſe ſie
ohne koſtſpielige Meilenzeiger und ohne Akazien¬
[384] baͤumchen und derlei Firlefanz ſein. Auch war
er faſt immer auf der Straße in einem leichten,
einfachen, aber vortrefflichen Fuhrwerke, deſſen
Remiſe ebenfalls auf ſteter Wanderung begriffen
war und lediglich aus loſen Bauhoͤlzern be¬
ſtand. Der Holzhaͤndler meinte nun, der Wirth
muͤſſe oben ſeine Huͤtte zuſchließen und einen
Gaſthof unten an die neue Straße und Bruͤcke
bauen, wo noch ein groͤßerer Verkehr zu erwar¬
ten waͤre, da hier noch die Schiffsleute hinzu¬
kaͤmen. Allein der Wirth war der entgegenge¬
ſetzten Geſinnung. Er ſaß in dem Hauſe ſeiner
Vaͤter; es war ſeit alten Zeiten immer ein Gaſt¬
haus geweſen; von ſeiner ſonnigen Hoͤhe war er
gewohnt, uͤber das Land hinzublicken und das
Haus hatte er mit ſchoͤnen Schweizergeſchichten
bemalen laſſen. Von der Vertheidigung mit ei¬
ner ſchlechten Axt wollte er nichts hoͤren, dieſelbe
ſei hoͤchſtens zum gelegentlichen Erſchlagen eines
Wolfenſchießen gut; ſonſt bedurfte er einer treff¬
lichen und fein gearbeiteten Buͤchſe, die Uebung
mit derſelben war ihm der edelſte Zeitvertreib.
Er war auch der Meinung, ein freier Buͤrger
[385] muͤſſe arbeiten und ſorgen, ſich ein unabhaͤngiges
Auskommen zu ſchaffen und zu erhalten, aber
nicht mehr als noͤthig ſei, und wenn die Sache
in ſicherem Gange, ſo zieme dem Mann eine an¬
ſtaͤndige Ruhe, ein vernuͤnftiges Wort beim Glaſe
Wein, eine erbauliche Betrachtung der Vergan¬
genheit des Landes und ſeiner Zukunft. Er be¬
trieb einen beſchraͤnkten Weinhandel, nur mit gu¬
tem und werthvollem Wein, mehr gelegentlich als
geſchaͤftsmaͤßig; in ſeinem Hauſe ging Alles ſei¬
nen Gang, ohne daß er viel umherſprang, wozu
er auch zu beleibt war. Auch er war ein Mann
des Rathes und der That, aber mehr in der
moraliſchen Welt und in politiſchen Dingen
ein einflußreicher Volksmann, ohne daß er im
großen Rathe ſaß. Bei den Wahlen hoͤrten
Viele auf ihn; daher mochte die Regierung ihn
ſo wenig gegen ſich aufbringen als den Holzhaͤnd¬
ler. Sie hatte dem großen Rathe, behufs eines
Geſetzes uͤber den fraglichen Straßenbau, ihr Gut¬
achten vorzulegen; man wuͤnſchte, daß der betref¬
fende Nachtheil des Entſcheides nicht den Behoͤr¬
den zur Laſt gelegt, ſondern an Ort und Stelle
II. 25[386] ausgekocht wuͤrde, und zu dieſem Ende hin hatte
der Statthalter dieſe Gelegenheit ergriffen, die
beiden Maͤnner an einander zu bringen und zu
einer Verſtaͤndigung aufzufordern. Der Statt¬
halter war ein freundlicher und wohlbeleibter
Mann mit einem huͤbſchen Geſichte und vornehm
grauen Haaren; er trug feine Waͤſche und einen
feinen Rock, an der feinen Hand goldene Ringe
und lachte gern. Immer war er gelaſſen, fuͤhrte
ſeine Geſchaͤfte mit Feſtigkeit durch, ohne ſich auf
die Gewalt zu berufen und als Regierungsperſon
zu bruͤſten. Er war ſehr gebildet, allein davon
zeigte er jederzeit nur ſo viel noͤthig war und
that dies auf eine Weiſe, als ob er den Bauern
nur etwas erzaͤhlte, das er zufaͤllig erfahren und
ſie eben ſo gut wiſſen koͤnnten, wenn es ſich juſt
gefuͤgt haͤtte. Mit ſeinem feinen Rock und ſeinen
Manſchetten ging er uͤberall hin, wo ein Bauers¬
mann hinging, nahm ſeinen Putz nicht in Acht
dabei und verdarb ihn doch nicht. Zu den Leu¬
ten verhielt er ſich nicht wie ein Vogt zu ſeinen
Untergebenen, oder wie ein Offizier zu ſeinen
Soldaten, auch nicht wie ein Vater zu den Kin¬
[387] dern oder ein Patriarch zu ſeinen Hirten, ſondern
unbefangen wie ein Mann, der mit dem Andern
ein Geſchaͤft zu verrichten und eine Pflicht zu er¬
fuͤllen hat. Er ſtrebte weder herablaſſend, noch
leutſelig zu ſein, am wenigſten ſuchte er den be¬
ſoldeten Diener des Volkes zu affectiren. Er
gruͤndete ſeine Feſtigkeit gar nicht auf die Amts¬
ehre, ſondern auf das Pflichtgefuͤhl; doch wenn
er nicht mehr ſein wollte als ein Anderer, ſo
wollte er auch nicht weniger ſein. Oder vielmehr
wollte er gar nicht, denn er war Alles, was
er vorſtellte. Und doch war er kein unabhaͤngi¬
ger Mann; einer reichen, aber verſchwenderiſchen
Familie entſproſſen und in ſeiner Jugend ſelbſt
ein luſtiger Vogel, kehrte er mit erlangter Be¬
ſonnenheit gerade in das vaͤterliche Haus zuruͤck,
als daſſelbe in Verfall gerieth; es war gar Nichts
zu leben uͤbrig geblieben, ſein verkommener, laͤr¬
mender Vater mußte noch erhalten werden, ſo
ſah ſich der junge Mann genoͤthigt, gleich ein
Amt zu ſuchen und war endlich unter vielen Wech¬
ſeln und Erfahrungen Einer von Denen gewor¬
den, die ohne ihr Amt Bettler und Regierungs¬
25*[388] perſonen von Profeſſion ſind. Er konnte aber
als eine Ehrenrettung und Verklaͤrung dieſer ver¬
rufenen Lebensart gelten; den erſten Schritt hatte
er in der Jugend und in der Noth gethan, und als
es nachher nicht mehr zu aͤndern war, zog er ſich
wenigſtens mit Ehre und wahrer Klugheit aus
der Sache. Der Schulmeiſter pflegte von ihm
zu ſagen: er ſei Einer von den Wenigen, die
durch das Regieren weiſe werden. Doch alle
Weisheit half ihm jetzt nicht, den Holzhaͤnd¬
ler und den Wirth zu einer Verſtaͤndigung zu
bringen, damit er der Regierung berichten koͤnne,
welcher Zug der Straße in der Gegend allgemein
gewuͤnſcht werde. Jeder der beiden Maͤnner ver¬
theidigte hartnaͤckig ſeinen Vortheil; der Holz¬
haͤndler hielt ſich ſchlechtweg an den Vernunft¬
grund, daß die Wahl zwiſchen einer ebenen und
geraden Linie und zwiſchen einem Berge heutzutage
unzweifelhaft ſein muͤſſe, und barg ſo ſeinen eige¬
nen Vortheil hinter die Vernunft; auch ließ er
merken, daß er als Mitglied der Behoͤrde der¬
ſelben zum Siege zu verhelfen hoffe. Der Wirth
dagegen ſagte geradezu, er wolle ſehen, ob er es
[389] um die Regierung verdient habe, daß man ihm
das Haus ſeiner Vaͤter in eine Einoͤde ſetze!
Herabzuſteigen und an dem feuchten Waſſer
ſich anzuniſten, wie eine Fiſchotter, dazu werde
man ihn nicht uͤberreden; oben, wo es trocken
und ſonnig, ſei er geboren, und dort werde er
auch bleiben! Hierauf verſetzte ſein Gegner laͤ¬
chelnd: Das moͤge er unbehindert thun und von
der Freiheit traͤumen, waͤhrend er ein Unterthan
ſeiner Vorurtheile ſei; Andere zoͤgen es vor, in
der That frei zu ſein und ſich munter umherzu¬
treiben. Schon fing die Gelaſſenheit an zu wei¬
chen und bei den beiderſeitigen Anhaͤngern Worte
wie: Starrſinn und Eigennutz! laut zu werden,
als ein froͤhlicher Haufe den Tell zur Fortſetzung
ſeiner Thaten abholte; denn er ſollte noch auf die
Platte ſpringen und den Vogt erſchießen. Etwas
zornig brach er auf, indeß auch die Uebrigen ſich
zerſtreuten und nur Anna mit ihrem Vater und ich
ſitzen blieben. Die Unterredung hatte einen pein¬
lichen Eindruck auf mich gemacht; beſonders am
Wirth hatte mich dies unverholene Verfechten des
eigenen Vortheiles, an dieſem Tage und in ſol¬
[390] chem Gewande gekraͤnkt; dieſe Privatanſpruͤche
an ein oͤffentliches Werk, von vorleuchtenden
Maͤnnern mit Heftigkeit unter ſich behauptet,
das [Hervorkehren] des perſoͤnlichen Verdienſtes und
Anſehens widerſprachen durchaus dem Bilde,
welches von dem unparteiiſchen und unberuͤhrten
Weſen des Staates in mir war und das ich mir
auch von den beruͤhmten Volksmaͤnnern gemacht
hatte. Ich aͤußerte dieſen Eindruck in vorlauten
Worten gegen Anna's Vater, hinzufuͤgend, daß
mir der Vorwurf der Kleinlichkeit, des Eigen¬
nutzes und der Engherzigkeit, welcher den Schwei¬
zern von fremden, namentlich deutſchen Reiſenden
gemacht wuͤrde, nun bald gerecht erſchiene. Der
Schulmeiſter milderte in etwas meinen Tadel
und forderte mich zur Duldſamkeit auf mit der
menſchlichen Unvollkommenheit, welche auch dieſe
ſonſt wackeren Maͤnner uͤberſchatte. Uebrigens,
meinte er, ſei nicht zu laͤugnen, daß unſere Frei¬
heitsliebe noch zu ſehr ein Gewaͤchs der Scholle
ſei und daß unſeren Fortſchrittsmaͤnnern die wahre
Religioͤſitaͤt fehle, welche in das ſchwere politiſche
Leben jenen heiteren, frommen, liebevollen Leicht¬
[391] ſinn bringe, der aus warmem Gottvertrauen ent¬
ſpringe und erſt die rechte Opferfreudigkeit, die
allerfreieſte Beweglichkeit von Leib und Seele
moͤglich mache. Wenn unſere fleißigen Maͤnner
einmal einſaͤhen, daß im Evangelio noch eine
viel aufgewecktere und ſchoͤnere Beweglichkeit ge¬
lehrt wuͤrde, als diejenige ſei, welche der Holz¬
haͤndler predige, ſo werde das Politiſiren noch
viel erklecklicher von Statten gehen und erſt die
reifen Fruͤchte bringen. Ich wollte eben hierge¬
gen mein rundes Veto einlegen, als Jemand mir
auf die Achſel klopfte; als ich mich umwandte,
ſtand der Statthalter hinter uns, welcher freund¬
lich ſagte: Obgleich ich nicht der Anſicht bin,
daß man in einer guten Republik ſtark auf die
Meinungen der Jugend achte, ſo lange die Al¬
ten das Salz nicht verloren haben und Thoren
geworden ſind, ſo will ich doch verſuchen, junger
Herr! euren Kummer zu lindern, damit euch
uͤber vermeintlichen truͤben Erfahrungen nicht die¬
ſer ſchoͤne Tag zu Schanden gehe; zudem habt
ihr noch nicht einmal jenes Jugendalter erreicht,
welches ich eigentlich meine, und da ihr ſchon ſo
[392] kraͤftig zu tadeln wißt, ſo verſteht ihr gewiß noch
eben ſo gut zu lernen. Vor Allem freut es mich,
euch in Betreff der beiden Maͤnner, welche ſo
eben weggingen, euren Muth wieder aufzurich¬
ten ; es moͤgen allerdings nicht Alle gleich ſein in
unſerem Schweizerlande; doch vom Herrn Can¬
tonsrath ſowohl, wie vom Leuenwirth moͤgt ihr
ſicher glauben, daß ſie Hab und Gut ſowohl
dem Lande in Gefahr hingeben, als es Einer fuͤr
den Andern opfern wuͤrde, wenn er in's Ungluͤck
geriethe, und das vielleicht gerade deſto unbe¬
denklicher, als der Andere ſich heut kraͤftiger um
die Straße gewehrt hat. Sodann merkt euch fuͤr
eure kuͤnftige Tage, wer ſeinen Vortheil nicht
mit unverholener Hand zu erringen und zu wah¬
ren verſteht, der wird auch nie im Stande ſein,
ſeinem Naͤchſten aus freier That einen Vortheil
zu verſchaffen! Denn es iſt (hier ſchien ſich der
Statthalter mehr an den Schulmeiſter zu wen¬
den) ein großer Unterſchied zwiſchen dem freien
Preisgeben oder Mittheilen eines erworbenen, er¬
rungenen Gutes und zwiſchen dem traͤgen Fah¬
renlaſſen deſſen, was man nie beſeſſen hat oder
[393] dem Entſagen auf das, was man zu ſchwaͤchlich
iſt, zu vertheidigen. Jenes gleicht dem wohlthaͤti¬
gen Gebrauche eines wohlerworbenen Vermoͤgens,
dieſes aber der Verſchleuderung ererbter oder ge¬
fundener Reichthuͤmer. Einer, der immer und ewig
entſagt, uͤberall ſanftmuͤthig hintenanſteht, mag ein
guter harmloſer Menſch ſein; aber Niemand wird
es ihm Dank wiſſen und von ihm ſagen: Dieſer
hat mir einen Vortheil verſchafft! Denn die¬
ſes kann, wie ſchon geſagt, nur der thun, der
den Vortheil erſt zu erwerben und zu behaupten
weiß. Wo man dies aber mit friſchem Muthe
und ohne Heuchelei thut, da ſcheint mir Geſund¬
heit zu herrſchen, und gelegentlich ein tuͤchtiger
Zank um den Vortheil ein Zeichen von Geſund¬
heit zu ſein. Wo man nicht frei heraus fuͤr ſei¬
nen Nutzen und fuͤr ſein Gut einſtehen kann, da
moͤchte ich mich nicht niederlaſſen; denn da iſt
nichts zu erholen, als die magere Bettelſuppe der
Verſtellung, der Gnadenſeligkeit und der roman¬
tiſchen Verderbniß, da entſagen Alle, weil Allen
die Trauben zu ſauer ſind, und die Fuchsſchwaͤnze
ſchlagen mit bitterſuͤßem Wedeln um die duͤrren
[394] Flanken. Was aber die Meinung der Fremden
betrifft (hier wandte er ſich wieder mehr an
mich), ſo werdet ihr einſt auf euren Reiſen ler¬
nen, weniger darauf zu achten. Man macht den
Englaͤndern und den Amerikanern die gleichen
Vorwuͤrfe der Engherzigkeit, des Eigennutzes;
uns, die wir als kleine Schaar unter den Tad¬
lern leben, haͤngt man ſcharfſinniger Weiſe noch
die Kleinlichkeit an; wenn ihr aber einſt die
Graͤnzen uͤberſchreitet, ſo werdet ihr erleben, daß
der große Sinn nicht mit den Quadratmeilen zu¬
nimmt, und wo etwas dergleichen in den Luͤften
zu ſchweben ſcheint, es eigentlich nur ein truͤge¬
riſcher Wolkenmantel der Unentſchloſſenheit und
der Verzweiflung iſt.


Nach dieſer Rede ſchuͤttelte uns der Statt¬
halter die Haͤnde und entfernte ſich. Ich war
indeſſen nicht uͤberzeugt worden, ſo wenig als
dem Schulmeiſter die Wendung des Geſpraͤchs zu
behagen ſchien. Doch kamen wir darin uͤberein,
daß er ein liebenswuͤrdiger und kluger Mann
ſei, und indem ich ihm, mich durch ſeine Anſprache
geehrt fuͤhlend, wohlwollend nachblickte, pries ich
[395] ihn gegen den Schulmeiſter als einen verdienſt¬
vollen und daher gewiß gluͤcklichen Mann. Der
Schulmeiſter ſchuͤttelte aber den Kopf, und meinte,
es waͤre nicht Alles Gold, was glaͤnze. Er hatte
ſeit einiger Zeit angefangen, mich zu dutzen und
fuhr daher jetzt fort: Da du ein nachdenklicher
Juͤngling biſt, ſo gebuͤhrt es dir auch, fruͤher als
Viele einen Blick in das Leben der Menſchen zu
gewinnen; denn ich halte dafuͤr, daß die Kennt¬
niß recht vieler Faͤlle und Geſtaltungen jungen
Leuten mehr nuͤtzt, als alle moraliſchen Theorien;
dieſe kommen erſt dem Manne von Erfahrung
zu, gewiſſermaßen als eine Entſchaͤdigung fuͤr
das, was nicht mehr zu aͤndern iſt. Der Statt¬
halter eifert nur darum ſo ſehr gegen das, was
er Entſagung nennt, weil er ſelbſt eine Art Ent¬
ſagender iſt, d. h. weil er ſelbſt diejenige Wirk¬
ſamkeit geopfert hat, die ihn erſt gluͤcklich machen
wuͤrde und ſeinen Eigenſchaften entſpraͤche. Ob¬
gleich dieſe Selbſtverlaͤugnung in meinen Augen
eine Tugend iſt und er in ſeiner jetzigen Wirk¬
ſamkeit ſo verdienſtlich und nuͤtzlich daſteht, als er
es kaum anderswie koͤnnte, ſo iſt er doch nicht
[396] dieſer Meinung und er hat manchmal ſo duͤſtere
und pruͤfungsreiche Stunden, wie man es ſeiner
heiteren und freundlichen Weiſe nicht zumuthen
wuͤrde. Von Natur naͤmlich iſt er eben ſo feu¬
riger Gemuͤthsart, als von einem großen und
klaren Verſtande begabt, und daher mehr dazu
geſchaffen, im Kampfe der Grundſaͤtze beim Auf¬
einanderplatzen der Geiſter einen tapferen Fuͤhrer
abzugeben und im Großen Menſchen zu beſtim¬
men, als in ein und demſelben Amte ein ſtehen¬
der Verwalter zu ſein. Allein er hat nicht den
Muth, auf einen Tag brotlos zu werden, er hat
gar keine Ahnung davon, wie ſich die Voͤgel und
die Lilien des Feldes ohne ein fixes Einkommen
naͤhren und kleiden, und daher hat er ſich der
Geltendmachung ſeiner eigenen Meinungen bege¬
ben. Schon mehr als ein Mal, wenn durch den
Parteienkampf Regierungswechſel herbeigefuͤhrt
wurden und der ſiegende Theil den unterlegenen
durch ungeſetzliche Maßregeln zwacken wollte, hat
er ſich wie ein Ehrenmann in ſeinem Amte da¬
gegen geſtemmt, aber das, was er ſeinem Tem¬
perament nach am liebſten gethan haͤtte, naͤmlich
[397] der Regierung ſein Amt vor die Fuͤße zu wer¬
fen, ſich an die Spitze einer Bewegung zu
ſtellen und mittelſt ſeiner Einſicht und ſei¬
ner Energie die Gewalthaber wieder dahin
zu jagen, von wannen ſie gekommen: das hat
er unterlaſſen, und dies Unterlaſſen koſtet ihm
zehnmal mehr Muͤhe und Bitterkeit, als ſeine
ununterbrochene arbeitsvolle Amtsfuͤhrung. Den
Landleuten gegenuͤber braucht er nur zu leben,
wie er es thut, um in ſeiner Wuͤrde feſt zu ſtehen.
Bei den Behoͤrden aber und in der Hauptſtadt
braucht es manches verbindliche Laͤcheln, manche,
wenn auch noch ſo unſchuldige Schnoͤrkelei, wo
er lieber ſagen wuͤrde: Herr! Sie ſind ein großer
Narr! oder: Herr! Sie ſcheinen ein Spitzbube zu
ſein! Denn wie geſagt, er hat ein dunkles
Grauen vor dem, was man Brotloſigkeit nennt.


Aber zum Teufel! ſagte ich, ſind denn unſere
Herren Regenten zu irgend einer Zeit etwas An¬
deres, als ein Stuͤck Volk und leben wir nicht in
einer Republik?


Allerdings, mein lieber Sohn! erwiederte der
Schulmeiſter; allein es bleibt eine wunderbare
[398] Thatſache, wie beſonders in neuerer Zeit ein ſol¬
ches Stuͤck Volk, ein repraͤſentativer Koͤrper durch
den einfachen Prozeß der Wahl ſogleich etwas
ganz merkwuͤrdig Verſchiedenes wird, eines Theils
immer noch Volk, und andern Theils etwas dem
ganz Entgegengeſetztes, faſt Feindliches wird. Es
iſt wie mit einer chemiſchen Materie, welche durch
das bloße Eintauchen eines Staͤbchens, ja ſogar
durch bloßes Stehen auf geheimnißvolle Weiſe
ſich in ihrem ganzen Weſen veraͤndert. Manch¬
mal will es faſt ſcheinen, als ob die alten pa¬
triciſchen Regierungen mehr den Grundcharakter
ihres Volkes zu zeigen und zu bewahren ver¬
mochten. Aber laſſe dich ja nicht etwa ver¬
fuͤhren, unſere repraͤſentative Demokratie nicht
fuͤr die beſte Verfaſſung zu halten! Beſagte Er¬
ſcheinung dient bei einem geſunden Volke nur
zu einer wohlthaͤtigen Heiterkeit, da es ſich mit
aller Gemuͤthsruhe den Spaß macht, die wunder¬
bar verwandelte Materie manchmal etwas zu ruͤt¬
teln, die Phiole gegen das Licht zu halten, pruͤ¬
fend hindurch zu gucken, und ſie am Ende doch
zu ſeinem Nutzen zu verwenden.


[399]

Den Schulmeiſter unterbrechend, fragte ich,
ob denn der Statthalter als ein Mann von ſol¬
chen Kenntniſſen und ſolchem Verſtande ſich nicht
reichlicher durch eine Privatthaͤtigkeit ernaͤhren
koͤnnte als durch ein Amt? Worauf er ant¬
wortete: daß er dies nicht kann, oder nicht zu
koͤnnen glaubt, iſt wahrſcheinlich eben das Ge¬
heimniß ſeiner Lebenslage! Der freie Erwerb iſt
eine Sache, fuͤr welche manchen Menſchen der
Sinn ſehr ſpaͤt, manchen gar nie aufgeht. Vie¬
len iſt es ein einfacher Tick, deſſen Verſtaͤndniß
ihnen durch ein Handumdrehen, durch Zufall und
Gluͤck gekommen, Vielen iſt es eine langſam zu
erringende Kunſt. Wer nicht in ſeiner Jugend
durch Uebung und Vorbild ſeiner Umgebung, ſo
zu ſagen, durch die Ueberlieferung ſeines Geburts¬
hauſes, oder ſonſt im rechten Moment den [rech¬
ten]
Fleck erwiſcht, wo der Tick liegt, der muß manch¬
mal bis in ſein vierzigſtes oder fuͤnfzigſtes Jahr
ein umhergeworfener und bettelhafter Menſch ſein,
oft ſtirbt er als ein ſogenannter Lump. Viele
Perſonen des Staates, welche zeitlebens tuͤchtige
Angeſtellte waren, haben keinen Begriff vom Er¬
[400] werbe; denn alle oͤffentlich Beſoldeten bilden un¬
ter ſich ein Phalanſterium, ſie theilen die Arbeit
unter ſich und Jeder bezieht aus den allgemeinen
Einkuͤnften ſeinen Lebensbedarf ohne weitere
Sorge um Regen oder Sonnenſchein, Mißwachs,
Krieg oder Frieden, Gelingen oder Scheitern.
Sie ſtehen ſo als eine ganz verſchiedene Welt dem
Volke gegenuͤber, deſſen oͤffentliche Einrichtung ſie
verwalten. Dieſe Welt hat fuͤr Solche, die von
jeher darin lebten, etwas Entnervendes in Bezug
auf die Erwerbsfaͤhigkeit. Sie kennen die Arbeit,
die Gewiſſenhaftigkeit, die Sparſamkeit, aber ſie
wiſſen nicht, wie die runde Summe, welche ſie
als Lohn erhalten, im Wind und Wetter der
Koncurrenz zuſammengekommen iſt. Mancher iſt
ſein Leben lang ein fleißiger Richter und Executor
in Geldſachen geweſen, der es nie dazu braͤchte,
einen Wechſel auf ſeinen Namen in Umlauf zu
ſetzen. Wer eſſen will, der ſoll auch arbeiten;
ob aber der verdiente Lohn der Arbeit ſicher und
ohne Sorgen ſein, oder ob er außer der einfachen
Arbeit noch ein Ergebniß der Sorge, des Ge¬
ſchickes und dadurch zum Gewinnſt werden ſoll,
[401] welches von beiden das Vernuͤnftige und von hoͤ¬
herer Abſicht dem Menſchen Beſtimmte ſei: das
zu entſcheiden wage ich nicht, vielleicht wird es
die Zukunft thun. Aber wir haben beide Arten
in unſeren Zuſtaͤnden und dadurch ein verworre¬
nes Gemiſch von Abhaͤngigkeit und Freiheit und
von verſchiedenen Anſchauungen. Der Statthal¬
ter glaubt ſich abhaͤngig und enthaͤlt ſich waͤhrend
jeder Kriſe mit edlem Stolze gleichmaͤßig aller ei¬
genen Kundgebung und weiß dabei nicht einmal,
wie Viele ſich bemuͤhen, hinter ſeinem Ruͤcken
ſeine innerſten Gedanken zu erfahren, um ſich
danach zu richten.


Ich empfand eine große Theilnahme fuͤr den
Statthalter und ehrte ihn aufrichtig, ohne mir
daruͤber Rechenſchaft geben zu koͤnnen; denn ich
mißbilligte hoͤchlich ſeine Scheu vor der Armuth,
und erſt ſpaͤter ward es mir klar, daß er das
Schwerſte geloͤſt habe: eine gezwungene Stellung
ganz ſo auszufuͤllen, als ob er dazu allein ge¬
macht waͤre, ohne muͤrriſch oder gar gemein zu
werden. Indeſſen waren mir die Reden des
Schulmeiſters uͤber das Erwerben und uͤber den
II. 26[402] rechten Tick keine liebliche Muſik; es wurde mir
aͤngſtlich, ob ich dieſen auch erwiſchen wuͤrde, da
ich einzuſehen begann, daß fuͤr alles dies ruͤſtige
Volk die Freiheit erſt ein Gut war, wenn es ſich
ſeines Brotes verſichert hatte, und ich fuͤhlte vor
den langen nun leeren Tiſchreihen, daß ſelbſt
dieſes Feſt bei hungrigem Magen und leerem
Beutel ein ſehr truͤbſeliges geweſen waͤre. Ich
war froh, daß wir endlich aufbrachen. Anna's
Vater ſchlug vor, wir Beide ſollten uns zu ihm
in's Fuhrwerk ſetzen, damit wir zuſammen dem
Schauſpiele nachfuͤhren; doch gab ſie den Wunſch
zu erkennen, lieber noch ein Mal den Schimmel
zu beſteigen und noch ein wenig hinaus zu reiten,
da es ſpaͤter unter keinem Vorwande mehr ge¬
ſchehen wuͤrde. Hiermit war der Schulmeiſter
auch zufrieden und erklaͤrte: ſo wolle er wenig¬
ſtens mit uns fahren, bis er etwa Gelegenheit
finde, einer bejahrten Perſon den Heimweg zu
erleichtern, da ihn die Jungen alle im Stiche lie¬
ßen. Ich aber lief mit frohen Gedanken nach dem
Hauſe, wo unſere Pferde ſtanden, ließ dieſelben
auf die Straße bringen, und als ich Anna in
[403] den Sattel half, klopfte mir das Herz vor hef¬
tigem Vergnuͤgen und ſtand wieder ſtill vor an¬
genehmem Schreck, weil ich vorausſah, bald allein
neben ihr durch die Landſchaft zu reiten.


Dies traf auch ein, obgleich noch auf andere
Weiſe, als ich es gehofft hatte. Wir waren noch
nicht weit aus dem Thore, als der gaſtliche Schul¬
meiſter ſein Waͤgelchen ſchon mit drei alten Leut¬
chen beladen hatte und in luſtigem Trabe voraus¬
fuhr, der angenommenen hohlen Gaſſe zu. Still
ritten wir nun im Schritte dahin und gruͤßten
ſehr befliſſen die froͤhlichen Leute, denen wir be¬
gegneten, links und rechts, bis wir in die Naͤhe
der wogenden und ſummenden Menge kamen und
dieſelbe beinah erreichten. Da ſtießen wir auf
den Philoſophen, deſſen ſchoͤnes Geſichtchen vor
Muthwillen gluͤhte und den tollen Spuk ver¬
kuͤndigte, welchen er ſchon ausgeuͤbt. Er war in
gewoͤhnlicher Kleidung und trug ein Buch in der
Hand, da er nebſt einem anderen Lehrer das Amt
eines Einblaͤſers uͤbernommen, um uͤberall zur
Hand zu ſein, wenn einen Helden die Erinne¬
rung verlaſſen ſollte. Doch erzaͤhlte er jetzt, wie
[404] die Leute gar Nichts mehr hoͤren wollten und
Alles von ſelber ſeinen ziemlich wilden Gang
ginge: er habe daher, rief er, nun die ſchoͤnſte
Muße, uns Beiden zu der Jagdſcene zu ſouf¬
fliren, die wir ohne Zweifel aufzufuͤhren ſo ein¬
ſam ausgezogen waͤren; es ſei auch die hoͤchſte
Zeit dazu und wir wollten uns ungeſaͤumt an's
Werk machen!


Ich wurde roth und trieb die Pferde an: aber
der Philoſoph fiel uns in die Zuͤgel; Anna fragte,
was denn das waͤre mit der Jagdſcene, worauf
er lachend ausrief: er werde uns doch nicht ſagen
muͤſſen, was alle Welt beluſtige und uns ohne
Zweifel mehr, als alle Welt! Anna wurde nun
auch roth und verlangte ſtandhaft zu wiſſen, was
er meine. Da reichte er ihr das aufgeſchlagene
Buch, und waͤhrend mein Brauner und ihr Schim¬
mel behaglich ſich beſchnupperten, ich aber wie
auf Kohlen ſaß, las ſie, das Buch auf dem
rechten Knie haltend, aufmerkſam die Scene, wo
Rudenz und Bertha ihr ſchoͤnes Buͤndniß ſchlie¬
ßen, von Anfang bis zu Ende, mehr und mehr
erroͤthend. Die Schlinge kam nun an den Tag,
[405] welche ich ihr ſo harmlos gelegt, der Philoſoph
ruͤſtete ſich ſichtbar zu endloſem Unfuge, als Anna
ploͤtzlich das Buch zuſchlug, es hinwarf, und hoͤchſt
entſchieden erklaͤrte, ſie wolle ſogleich nach Hauſe.
Zugleich wandte ſie ihr Pferd und begann feld¬
ein zu reiten auf einem ſchmalen Fahrwege, un¬
gefaͤhr in der Richtung nach unſerm Dorfe, Ver¬
legen und unentſchloſſen ſah ich ihr eine Weile
nach; doch faßte ich mir ein Herz und trabte
bald hinter ihr her, da ſie doch einen Begleiter
haben mußte; waͤhrend ich ſie erreichte, ſang uns
der Philoſoph ein loſes Lied nach, welches jedoch
immer ſchwaͤcher hinter uns verklang, und zuletzt
hoͤrten wir nichts mehr als die muntere, aber
ferne Hochzeitsmuſik aus der hohlen Gaſſe und
vereinzelte Freudenrufe und Jauchzer an verſchie¬
denen Punkten der Landſchaft. Dieſe erſchien
aber durch die Unterbrechungen nur um ſo ſtiller
und lag mit Feldern und Waͤldern friedevoll und
doch ſo freudenvoll im Glanze der Nachmittags¬
ſonne, wie im reinſten Golde. Wir ritten nun
auf einer geſtreckten Hoͤhe, ich hielt mein Pferd
immer noch um eine Kopflaͤnge hinter dem ihri¬
[406] gen zuruͤck und wagte nicht, ein Wort zu ſagen.
Da gab Anna dem Schimmel einen kecken Schlag
mit der Gerte und ſetzte ihn in Galop, ich that
das Gleiche; ein lauer Wind wehte uns entge¬
gen, und als ich auf einmal ſah, daß ſie, ganz
geroͤthet die balſamiſche Luft einathmend und
waͤhrend ihr Haar wie ein leuchtender Streif
wagrecht ſchwebte, langhin flatternd: daß ſie ſo
ganz vergnuͤgt vor ſich hin laͤchelte, den Kopf
hoch aufgehalten mit dem funkelnden Kroͤnchen,
da ſchloß ich mich dicht an ihre Seite, und ſo
jagten wir wohl fuͤnf Minuten lang uͤber die
einſame Hoͤhe dahin. Aber dieſe fuͤnf Minuten,
kurz wie ein Augenblick, ſchienen doch eine Ewig¬
keit von Gluͤck zu ſein, es war ein Stuͤck Daſein,
an welchem die Zeit ihr Maß verlor, welches
einer Blume vollkommen glich, einer Blume,
von der man keine Frucht zu verlangen braucht,
weil die bloße Erinnerung ihrer Bluͤthezeit ein
volles Genuͤgen und ein Schutzbrief iſt fuͤr alle
Zukunft. Der Weg war noch halb feucht und
doch feſt, rechts unter uns zog der Fluß, wir
ſahen ſeine glaͤnzende Laͤnge hinauf, jenſeits er¬
[407] hob ſich das ſteile Ufer mit dunklem Walde und
daruͤber hin ſahen wir uͤber viele Hoͤhenzuͤge weg
im Nordoſten ein paar ſchwaͤbiſche Berge, einſame
Pyramiden, in unendlicher Stille und Ferne.
Im Suͤdweſten lagen die Alpen weit herum,
noch tief herunter mit Schnee bedeckt, und uͤber
ihnen lagerte ein wunderſchoͤnes maͤchtiges Wol¬
kengebirge im gleichen Glanze, Licht und Schat¬
ten ganz von gleicher Farbe, wie die Berge, ein
Meer von leuchtendem Weiß und tiefem Blau,
aber in tauſend Formen gegoſſen, von denen eine
die andere uͤberthuͤrmte, Gletſcherhaͤupter und
Wolken durcheinander geworfen. Das Ganze war
eine ſenkrecht aufgerichtete glaͤnzende und wunder¬
bare Wildniß, gewaltig und nah an das Gemuͤth
ruͤckend und doch ſo lautlos, unbeweglich und
fern. Wir ſahen Alles zugleich, ohne daß wir
beſonders hinblickten; wie ein unendlicher Kranz
ſchien ſich die weite Welt um uns zu drehen, bis
ſie ſich verengte, als wir allmaͤlig bergab jagten,
dem Fluſſe zu. Aber es war uns nur, als ob
wir im Traume in einen getraͤumten Traum traͤ¬
ten, als wir auf einer Faͤhre uͤber den Fluß fuh¬
[408] ren, die durchſichtig gruͤnen Wellen ſich rauſchend
am Schiff brachen und unter uns wegzogen, waͤh¬
rend wir doch auf Pferden ſaßen und uns in ei¬
nem ſchoͤnen Halbbogen uͤber die Stroͤmung weg
bewegten. Und wieder glaubten wir uns in einen
andern Traum verſetzt, als wir, am andern Ufer
angekommen, langſam einen dunklen Hohlweg
emporklommen, in welchem ſchmelzender Schnee
lag. Hier war es kalt, feucht und ſchauerlich;
von den dunklen Buͤſchen tropfte es und fielen
zahlreiche Schneeklumpen, wir befanden uns ganz
in einer kraͤftig braunen Dunkelheit, in deren
Schatten der alte Schnee traurig ſchimmerte,
nur hoch uͤber uns glaͤnzte der goldene Himmel.
Auch hatten wir den Weg nun verloren und
wußten nicht recht, wo wir waren, als es mit
einem Male gruͤn und trocken um uns wurde.
Wir kamen auf die Hoͤhe und befanden uns in
einem hohen Tannenwald, deſſen Staͤmme drei
bis vier Schritte auseinander ſtanden, deſſen Bo¬
den dicht mit trockenem Mooſe bezogen war und
deſſen Aeſte hoch oben ein dunkelgruͤnes Dach
bildeten, ſo daß wir vom Himmel faſt Nichts
[409] mehr ſehen konnten. Ein warmer Hauch empfing
uns hier, goldene Lichter ſtreiften hier und da
uͤber das Moos und an den Staͤmmen, der Tritt
der Pferde war unhoͤrbar, wir ritten gemaͤchlich
zwiſchen durch, um die Tannen herum, bald trenn¬
ten wir uns und bald draͤngten wir uns nahe
zuſammen zwiſchen zwei Saͤulen durch, wie durch
eine Himmelspforte. Eine ſolche Pforte fanden
wir aber geſperrt durch den quergezogenen Faden
einer fruͤhen Spinne; derſelbe blitzte in einem
Streiflichte in allen Farben, blau, gruͤn und roth,
wie ein Diamantſtrahl. Wir buͤckten uns ein¬
muͤthig darunter weg und in dieſem Augenblicke
kamen ſich unſere Geſichter ſo nah, daß wir uns
unwillkuͤrlich kuͤßten. Wir hatten ſchon im Hohl¬
weg zu ſprechen angefangen und plauderten nun
eine Weile ganz gluͤckſelig, bis wir uns darauf
beſannen, daß wir uns gekuͤßt, und ſahen, daß
wir roth wurden, wenn wir uns anblickten. Da
wurden wir wieder ſtill. Der Wald ſenkte ſich
nun auf die andere Seite hin und ſtand wieder
im tiefen Schatten. In der Tiefe ſahen wir ein
Waſſer glaͤnzen und die gegenuͤberſtehende Berg¬
26 *[410] halde, ganz nah, leuchtete mit Felſen und Fichten
im hellen Sonnenſcheine durch die dunklen Staͤmme,
unter denen wir zogen, und warf ein wunder¬
bares Zwielicht in die ſchattigen Hallen unſeres
Tannenwaldes. Der Boden wurde jetzt ſo ab¬
ſchuͤſſig, daß wir abſteigen mußten. Als ich
Anna vom Pferde hob, kuͤßten wir uns zum zwei¬
ten Male, ſie ſprang aber ſogleich weg und wan¬
delte vor mir uͤber den weichen gruͤnen Teppich
hinunter, waͤhrend ich die beiden Thiere fuͤhrte.
Wie ich die reizende, faſt maͤhrchenhafte Geſtalt
ſo durch die Tannen gehen ſah, glaubte ich wie¬
der zu traͤumen und hatte die groͤßte Muͤhe, die
Pferde nicht fahren zu laſſen, um mich von der
Wirklichkeit zu uͤberzeugen, indem ich ihr nach¬
ſtuͤrzte und ſie in die Arme ſchloß. So kamen
wir endlich an das Waſſer und ſahen nun, daß
wir uns bei der Heidenſtube befanden, in einem
wohlbekannten Bezirke. Hier war es wo moͤg¬
lich noch ſtiller, als in dem Tannenwalde, und
am allerheimlichſten; die beſonnte Felswand ſpie¬
gelte ſich in dem reinen Waſſer, uͤber ihr kreiſten
drei große Weihen in der Luft, ſich unaufhoͤrlich
[411] begegnend, und das Braun auf ihren Schwingen
und das Weiß an der inneren Seite wechſelten
und blitzten mit dem Fluͤgelſchlage und den
Schwenkungen im Sonnenſcheine, waͤhrend wir
unten im Schatten waren. Ich ſah dieß Alles
in meinem Gluͤcke, indeſſen ich den guten Gaͤu¬
len, welche nach dem Waſſer begehrten, die Zaͤume
abnahm. Anna erblickte ein weißes Bluͤmchen,
ich weiß nicht was fuͤr eines, brach es und trat
auf mich zu, es auf meinen Hut zu ſtecken; ich
ſah und hoͤrte jetzt Nichts mehr, als wir uns
zum dritten Male kuͤßten. Zugleich umſchlang ich
ſie mit den Armen, druͤckte ſie mit Heftigkeit an mich
und fing an, ſie mit Kuͤſſen zu bedecken. Erſt hielt
ſie zitternd einen Augenblick ſtill, dann legte ſie
ihre Arme um meinen Hals und kuͤßte mich wie¬
der; aber bei dem fuͤnften oder ſechſten Kuſſe
wurde ſie todtenbleich und ſuchte ſich loszumachen,
indeſſen ich ebenfalls eine ſonderbare Verwandlung
fuͤhlte. Die Kuͤſſe erloſchen wie von ſelbſt, es
war mir, als ob ich einen urfremden, weſenloſen
Gegenſtand im Arme hielte, wir ſahen uns fremd
und erſchreckt in's Geſicht, unentſchloſſen hielt ich
[412] meine Arme immer noch um ſie geſchlungen und
wagte ſie weder loszulaſſen, noch feſter an mich
zu ziehen. Mich duͤnkte, ich muͤßte ſie in eine
grundloſe Tiefe fallen laſſen, wenn ich ſie los
ließe, und toͤdten, wenn ich ſie ferner gefangen
hielt; eine große Angſt und Traurigkeit ſenkte
ſich aus unſere kindiſchen Herzen. Endlich wur¬
den mir die Arme locker und fielen auseinander,
beſchaͤmt und niedergeſchlagen ſtanden wir da und
blickten auf den Boden. Dann ſetzte ſich Anna
auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Waſ¬
ſer und fing bitterlich an zu weinen. Erſt als
ich dies ſah, konnte ich mich wieder mit ihr be¬
ſchaͤftigen, ſo ſehr war ich in meine eigene
Verwirrung und in die eiſige Kaͤlte verſunken,
die uns uͤberfallen hatte. Ich naͤherte mich dem
ſchoͤnen, trauernden Maͤdchen und ſuchte eine Hand
zu faſſen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte.
Aber ſie huͤllte ihr Geſicht feſt in die Falten des
langen gruͤnen Kleides, fortwaͤhrend reichliche
Thraͤnen vergießend. Endlich erholte ſie ſich ein
wenig und ſagte bloß: »O es war ſo ſchoͤn! wir
waren ſo gluͤcklich bis jetzt!« Ich glaubte ſie zu
[413] verſtehen, weil ich ziemlich das Gleiche fuͤhlte,
nur nicht ſo tief und fein wie ſie; daher erwiederte
ich Nichts, ſondern ſetzte mich ſtill neben ſie, ſie
lehnte ſich auf meine Schulter und ſo blickten
wir mit duͤſterem Schweigen in das feuchte Ele¬
ment, von deſſen Grund unſer Spiegelbild,
Haupt neben Haupt, zu uns herauf ſah.


Nicht nur unſere Neigung, ſondern unſere
ganze gegenſeitige Art, war zu ernſt und zu tief,
als daß ein ſo fruͤhzeitiges unbeſchraͤnktes Lieb¬
koſen, Herzen und Kuͤſſen derſelben haͤtte ent¬
ſprechen koͤnnen; wir waren keine Kinder mehr
und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor
uns, deren allmaͤlige Bluͤthen voraus zu brechen
unſere Natur zu ſtolz war. Meine Phantaſie
war zwar ſchon ſeit geraumer Zeit, eigentlich von
jeher wach; allein abgeſehen davon, daß zwiſchen
Phantaſie und Wirklichkeit eine jaͤhe Kluft liegt,
hatte ich, wenn mich verlangte, ſchoͤne Frauen zu
liebkoſen, immer mir ſonſt gleichguͤltige, meiſt
nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein
einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu
ſein und ſie mein eigen zu wiſſen mein einziger
[414] Wunſch war. Um wie viel mehr mußte ſie be¬
troffen ſein, welche ein Maͤdchen und dazu tauſend¬
mal feiner, reiner und ſtolzer war, als alle An¬
deren! Indem ich ſie ſo gewaltſam an mich
druͤckte und kuͤßte und ſie in der Verwirrung dies
erwiederte, neigten wir den Becher unſerer un¬
ſchuldigen Luſt zu ſehr; ſein Trank uͤberſchuͤttete
uns mit ploͤtzlicher Kaͤlte und das faſt feindliche
Fuͤhlen des Koͤrpers riß uns vollends aus dem
Himmel. Dieſe Folgen einer ſo unſchuldigen
und herzlichen Aufwallung zwiſchen zwei jun¬
gen Leutchen, welche als Kinder ſchon ge¬
nau daſſelbe gethan ohne alle Bekuͤmmerniß,
moͤgen Vielen naͤrriſch vorkommen; uns aber
duͤnkte die Sache gar nicht ſpaßhaft, und wir ſaßen
mit wirklichem Grame an dem Waſſer, das um
keinen Grad reiner war, als Anna's Seele. Un¬
ſere Lage war um ſo peinlicher, als wir uns
dieſe Rechenſchaft daruͤber damals nicht zu geben
vermochten. Ich meinerſeits befand mich in der
voͤlligſten Verwirrung. Daß wir etwas Unrech¬
tes gethan, konnte mir nicht einfallen; ich glaubte
daher, daß der Vorfall irgend etwas Fremdes,
[415] Unheimliches zwiſchen uns an's Licht gefuͤhrt, gar
gezeigt haͤtte, daß Eines von uns das Andere
nicht liebe; und doch fuͤhlte ich wahrer als je
meine Liebe und wagte auch nicht zu denken, daß
Anna mich nicht lieben ſollte. Den wahren Grund
der ſchreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht;
denn ich hatte keine Ahnung davon, daß in jenem
Alter das rothe Blut weiſer ſei, als der Geiſt,
und ſich von ſelbſt zuruͤckdaͤmme, wenn es in un¬
gehoͤrige Wellen geſchlagen worden. Anna hin¬
gegen mochte ſich hauptſaͤchlich vorwerfen, daß ſie
nun doch fuͤr ihr Nachgeben, dem Feſte beizu¬
wohnen, beſtraft und ihre eigene Art und Weiſe,
unſer Verhaͤltniß nach ihrem freien und zarten
Fuͤhlen ſich entwickeln zu laſſen, gewaltſam ge¬
ſtoͤrt worden ſei. Waͤre ich ein paar Jahre aͤlter
geweſen als ſie, ſo haͤtte ich ein gewiſſes Recht
und damit auch die Kraft und Sicherheit gehabt,
ihre Sproͤdigkeit zu uͤberwinden und zu beruhigen;
ſo aber vermehrte meine eigene Rathloſigkeit die
Vorwuͤrfe, die ſie ſich machte, waͤhrend doch alle
Schuld auf mir lag. Ja, es ſchien nun ausge¬
macht, daß eigentlich mein Plan, daß ſie heute
[416] die Brunneckerin vorſtellen ſollte, waͤhrend ich
den Rudenz machte, das Ereigniß herbeigefuͤhrt
und daß unſere Kuͤſſe in den ſeltſamen Kleidern
wohnten, welche wir anhatten. Jedenfalls haͤtte
ich ohne dieſen Umſtand noch lange warten koͤn¬
nen, bis uns eine ſolche Vertraulichkeit wider¬
fahren waͤre.


Ein gewaltiges Rauſchen in den Baumkro¬
nen rings um uns weckte uns aus der melancho¬
liſchen Verſenkung, die eigentlich ſchon wieder
an eine andere Art von ſchoͤnem Gluͤck ſtreifte;
denn meiner Erinnerung ſind die letzten Augen¬
blicke, ehe uns der ſtarke Suͤdwind wach rauſchte,
nicht weniger lieb und koſtbar, als jener Ritt
auf der Hoͤhe und durch den Tannenwald. Auch
Anna ſchien ſich zufriedener zu fuͤhlen; als wir
uns erhoben, laͤchelte ſie fluͤchtig gegen unſer ver¬
ſchwindendes Bild im Waſſer, doch ſchienen ihre
anmuthig entſchiedenen Bewegungen zugleich zu
ſagen: Wage es ferner nicht, uns beruͤhrend zu
begegnen, bis die rechte Stunde gekommen!


Die Pferde hatten laͤngſt zu trinken aufge¬
hoͤrt und ſtanden verwundert in der engen Wild¬
[417] niß, wo ſie zwiſchen Steinen und Waſſer keinen
Raum fanden, zu ſtampfen oder zu ſcharren; ich
legte ihnen das Gebiß an, hob Anna auf den
Schimmel und denſelben fuͤhrend, ſuchte ich auf
dem ſchmalen, oft vom Fluͤßchen beeintraͤchtigten
Pfade ſo gut als moͤglich vorwaͤrts zu dringen,
waͤhrend der Braune geduldig und treulich nach¬
folgte. Wir gelangten auch wohlbehalten auf die
Wieſen und endlich unter die Baͤume vor dem
alten Pfarrhauſe. Kein Menſch war daheim,
ſelbſt der Oheim und ſeine Frau waren auf den
Abend fortgegangen und Alles ſtill um das Haus.
Derweil Anna ſogleich hinein eilte, zog ich den
Schimmel in den Stall, ſattelte ihn ab und ſteckte
ihm ſein Heu vor. Dann ging ich hinauf, um
fuͤr den Braunen etwas Brot zu holen, da ich
auf ihm noch dem Schauſpiele zuzueilen gedachte.
Auch forderte mich Anna gleich dazu auf, als
ich in die Stube kam. Sie war ſchon umgeklei¬
det und flocht eben ihr Haar etwas haſtig in
ſeine gewohnten Zoͤpfe; uͤber dieſer Beſchaͤftigung
von mir betroffen, erroͤthete ſie auf's Neue und
ward verlegen. »Reut dich denn,« ſagte ich, »dieſer
II. 27[418] Tag ſo ganz und gar?« — »O nein!« erwiederte
ſie, auf ihr Coſtuͤm deutend, welches ſchon zu¬
ſammengelegt auf dem Tiſche lag, die Krone
oben auf, »ich will auch dieſe Sachen aufbe¬
wahren und ſie ſollen nie mehr getragen werden!«


Ich ging hinab, den Braunen zu fuͤttern,
und waͤhrend ich ihm das Brot vorſchnitt und
ein Stuͤck um das andere in das Maul ſteckte,
ſtand Anna an dem offenen Fenſter, ihr Haar
vollends aufbindend, und ſchaute mir zu. Die
gemaͤchliche Beſchaͤftigung unſerer Haͤnde in der
Stille, die uͤber dem Gehoͤfte lagerte, erfuͤllte uns
mit einer tiefen und von Grund aus gluͤcklichen
Ruhe, und wir haͤtten Jahre lang ſo verharren
moͤgen; manchmal biß ich ſelbſt ein Stuͤck von
dem Brote, ehe ich es dem Pferde gab, worauf
ſich Anna ebenfalls Brot aus dem Schranke
holte und am Fenſter aß. Daruͤber mußten wir
lachen, und wie uns das trockene Brot ſo wohl
ſchmeckte nach dem feſtlichen und geraͤuſchvollen
Mahle, ſo ſchien auch die jetzige Art unſeres Zu¬
ſammenlebens das rechte Fahrwaſſer zu ſein, in
welches wir nach dem kleinen Sturme eingelaufen
[419] und in welchem wir bleiben ſollten. Anna gab
ihre Zufriedenheit auch dadurch zu erkennen, daß
ſie das Fenſter nicht verließ, bis ich weggeritten
war, und mir noch ein liebevoll ſchalkhaftes Adieu
nachrief.


Gleich vor dem Dorfe kam der Schulmeiſter
heim gefahren mit dem oheimlichen Ehepaar,
denen ich ſagte, daß Anna ſchon zu Hauſe ſei,
und ein Stuͤck weiter ſtieß ich auf des Muͤllers
Knecht, welcher deſſen Pferd nach Hauſe fuͤhrte.
Da ich vernahm, daß ſchon Alles bei dem Zwing¬
uri verſammelt und dort ein großes Halloh ſei,
auch der Weg dahin nicht mehr weit war, gab
ich meinen Gaul auch dem Knecht und eilte zu
Fuß weiter. Zum Zwinguri hatte man eine ver¬
fallene Burgruine beſtimmt, welche auf dem hoͤch¬
ſten Punkte einer Bergallmende ſteht und eine
weite Ausſicht in's Gebirge hinuͤber gewaͤhrt.
Die Truͤmmer waren durch einiges Stangen- und
Brettergeruͤſt ſo bekleidet, als ob ſie eben im
Aufbau ſtatt im Verfalle waͤren, und mit den
Kraͤnzen der triumphirenden Tyrannei behangen.
Die Sonne ging eben unter, als ich ankam und
27 *[420] ſah, wie das Volk das Geruͤſte zuſammen brach
und mit den Kraͤnzen auf einen gewaltigen Holz-
und Reiſighaufen warf und dieſen anzuͤndete.
Hier ging auch die Verherrlichung des Tell vor
ſich, ſtatt vor ſeinem Hauſe, doch nicht mehr
nach der geſchriebenen Ordnung, ſondern in Folge
einer allgemeinen Erfindungsluſt, wie der Augen¬
blick ſie in den tauſend Koͤpfen erweckte, und der
Schluß der Handlung ging unbeſtimmt in eine
rauſchende Freudenfeier uͤber. Die weggejagten
Zwingherren mit ihrem Troſſe waren wieder her¬
angeſchlichen und gingen um unter dem Volke als
vergnuͤgte Geſpenſter; ſie ſtellten die harmloſeſte
Reaction vor. Auf allen Huͤgeln und Bergen
ſahen wir jetzt die Faſtnachtsfeuer brennen; das
unſrige flammte bereits in großem Umfange, wir
ſtanden in einem Kreiſe hundertweiſe darum und
Tell, der Schuͤtz, zeigte ſich jetzt auch als einen
guten Saͤnger, ſogar als einen Propheten, indem
er ein kraͤftiges Volkslied von der Sempacher¬
ſchlacht vorſang, deſſen Chorzeilen von Allen
wiederholt wurden. Wein war in Menge vor¬
handen, es bildeten ſich mehrere Liederchoͤre,
[421] ſchlichte, einſtimmige, welche alte Lieder ſangen,
wie vierſtimmige Mannerchoͤre mit neuen Liedern,
gemiſchte Singſchulen von Maͤdchen und Juͤng¬
lingen, Kinderſchaaren, Alles ſang, klang und
wogte durcheinander auf der Allmende, uͤber
welche das Feuer einen roͤthlichen Schein verbrei¬
tete. Vom Gebirge heruͤber wehte immer ſtaͤrker
und waͤrmer der Foͤhn und waͤlzte große Wolken¬
zuͤge uͤber den Himmel; je dunkler die Luft
wurde, deſto lauter ward die Freude, welche, zu¬
naͤchſt um Burgtruͤmmer und Feuer in einem
großen Koͤrper lagernd, weiterhin die Halde hin¬
ab ſich in viele Gruppen und Einzelne vertheilte,
die bald noch im roͤthlichen Scheine ſtreiften, bald in
der Dunkelheit jauchzten. Noch weiterhin ſummte
die Luſt aus den dunklen Gefilden und wieder¬
glaͤnzte zuletzt wieder ſichtbar in den zahlreichen
Flammen am Horizonte. Der uralte gewaltige
Fruͤhlingshauch dieſes Landes, obſchon er Gefahr
und Noth bringen konnte, weckte ein altes, trotzig
frohes Naturgefuͤhl, und indem er in die Geſichter
und in die wilden Flammen wehte, ging die
Ahnung zuruͤck vom Feuerzeichen des politiſchen
[422] Bewußtſeins, uͤber die Chriſtenfeuer des Mittelal¬
ters zu dem Fruͤhlingsfeuer der Heidenzeit, das
vielleicht zur ſelben Stunde, auf derſelben Stelle
gebrannt. In den dunklen Wolkenlagern ſchie¬
nen Heerzuͤge verſchwundener Geſchlechter vor¬
uͤberzuziehen, manchmal anzuhalten uͤber dem
naͤchtlich ſingenden und toͤnenden Volkshaufen,
als ob ſie Luſt haͤtten herabzuſteigen und ſich un¬
ter die zu miſchen, welche ihre Spanne Zeit am
Feuer vergaßen. Es war aber auch eine koͤſtliche
Stelle, dieſe Allmende; der braͤunliche Boden,
vom erſten Anflug des ergruͤnenden wilden Gra¬
ſes Überſchoſſen, duͤnkte uns weicher und elaſtiſcher
als Sammetpolſter, und vor der fraͤnkiſchen Zeit
ſchon war er fuͤr die Bewohner der Gegend daſ¬
ſelbe geweſen, was heute.


Die Stimmen der Weiber waren mit der Nacht
lauter geworden; waͤhrend die aͤlteren ſchon fort¬
gegangen und die verheiratheten Maͤnner ſich zu¬
ſammenthaten, um vertraute Zechſtuben aufzuſu¬
chen, begannen die Maͤdchen ihre Herrſchaft un¬
befangener auszuuͤben, erſt in lachenden Kreiſen,
bis zuletzt Alles bei einander war, was zuſam¬
[423] mengehoͤrte, und jedes Paar auf ſeine Weiſe
ſich zeigte oder verbarg. Doch als das Feuer zu¬
ſammenfiel, loͤſten ſich die verſchlungenen Men¬
ſchenkraͤnze und begannen in großen und kleinen
Gruppen dem Staͤdtchen zuzuziehen, wo auf dem
Rathhauſe, ſowie in einigen Gaſthaͤuſern Pfeifen
und Geigen ſie erwarteten. Ich hatte mich in dem
Gedraͤnge unſtaͤt herumgetrieben; denn wo es die
Geſchlechter mit einander zu thun haben, wird
auf den Vereinzelten keine Ruͤckſicht genommen,
und Jeder iſt nur mit dem Gegenſtande ſeiner
Neigung beſchaͤftigt, das Errungene feſthaltend
oder das noch nicht Errungene mit ſeinen Wuͤn¬
ſchen verfolgend. So war ich achtlos zuruͤckge¬
blieben und vergnuͤgte mich an der verloͤſchenden
Gluth, um welche außer einigen Knaben nur noch
jene Fratzgeſtalten herumtanzten, weil das fuͤr ſie
Nichts koſtete. Sie ſahen in den flatternden
Hemden und mit den hohen Papiermuͤtzen aus
wie Geſpenſter, die dem grauen Gemaͤuer entſtie¬
gen. Einige zaͤhlten auch die Muͤnzen, welche ſie
etwa erhaſcht, Andere ſuchten aus dem Feuer noch
ein verkohltes Holzſcheit zu ziehen, und beſonders
[424] ſah ich Einen, welcher ſich zu den tollſten Spruͤn¬
gen angeſtrengt, und den ich fuͤr einen jungen
Taugenichts gehalten, nunmehr nach der Entlar¬
vung als ein eisgraues Maͤnnchen zum Vorſchein
kommen und ſich haſtig mit einem rauchenden
Fichtenklotze abquaͤlen.


Ich wandte mich endlich hinweg und ging
langſam davon, unſchluͤſſig, ob ich nach Hauſe
gehen oder dem Staͤdtchen zuſteuern ſollte. Mein
Mantel, der Degen und die Armbruſt waren mir
laͤngſt hinderlich; ich nahm Alles zuſammen un¬
ter dem Arm, und indem ich raſcher von der All¬
mende herunter ſchritt, fuͤhlte ich mich ſo munter
und lebensluſtig, wie am fruͤhen Morgen, und
je laͤnger ich ging, deſto ſtaͤrker erwachte mir ein
unbaͤndiger Durſt, einmal die Nacht zu durch¬
ſchwaͤrmen, und zugleich ein maͤchtiger Zorn, daß
ich Anna ſo leichten Kaufes entlaſſen. Ich bil¬
dete mir ein, ganz der Mann dazu zu ſein, in
hohem Liebesgluͤcke ein Liebchen eine feſtliche
Nacht entlang zu fuͤhren, unter Tanz, Be¬
cherklang, Scherz und Kuß. Ich machte mir die
bitterſten Vorwuͤrfe, den einzigen Tag ſo unge¬
[425] ſchickt und ſchwachmuͤthig verpfuſcht zu haben, und
ſtellte mir zugleich voll Eitelkeit vor, daß es Anna
eben ſo ergehe und ſie vielleicht ſchlaflos auf ih¬
rem Lager ſich nach mir ſehne; denn es mochte
ſchon zehn Uhr voruͤber ſein. Unverſehens war
ich in dem Flecken angelangt, welcher von Muſik
ertoͤnte, und als ich in einen uͤbervollen Saal
trat, in welchem die bluͤhenden Paare ſich dreh¬
ten, da klopfte mein Blut immer unwilliger und
heißer; ich bedachte nicht, daß wir die einzigen
ſechszehnjaͤhrigen Leutchen geweſen waͤren, die ſich
im offenkundigen Vereine zeigten, noch weniger,
daß unſere heutigen Erlebniſſe zehnmal ſchoͤner
und bedeutſamer waren, als Alles, was dieſe
laͤrmende Jugend hier genießen konnte, und daß
ich mich in der Erinnerung derſelben reich und
gluͤcklich genug haͤtte fuͤhlen ſollen. Ich ſah nur
die Freude der Zwanzigjaͤhrigen, der Verlobten
und Selbſtaͤndigen, und maßte mir ihr Recht an,
ohne im Mindeſten zu ahnen, daß mein prahleri¬
ſches Blut, ſobald ich Anna wirklich zur Seite
gehabt haͤtte, augenblicklich wieder zahm und
ſittig geworden waͤre. Es gereicht mir auch nicht
[426] zur Ehre, daß es ihrer leibhaften Gegenwart be¬
durft haͤtte, zur Beſcheidenheit zuruͤckzukehren.
Doch als ich von meinen Vettern und Bekann¬
ten als ein verloren Geglaubter tapfer begruͤßt
und in den Strudel gezogen wurde, blendete mich
das Licht der Freude, daß ich mich und meinen
Aerger vergaß und der Reihe nach mit meinen
drei Baſen tanzte. Nach dieſen tanzte ich mit
einem fremden zierlichen Maͤdchen; allein ich er¬
hitzte mich immer mehr, ohne zufrieden zu ſein;
die Luſt, welche im Ganzen ſo viel Geraͤuſch
machte, ging mir im Einzelnen viel zu langſam
und nuͤchtern vor ſich. So freudeſtrahlend alle
die jungen Leute drein blickten, ſchien es mir doch
nur ein matter Schimmer zu ſein gegen den
Glanz, der in meiner Phantaſie wach geworden.
Unruhig ſtreifte ich durch einige Trinkſtuben, die
neben dem Saale waren, und wurde von einer
Geſellſchaft junger Burſchen angehalten, welche
purpurrothen Wein tranken und dazu ſangen.
Hier ſchien meine Sehnſucht endlich ein Ziel zu
finden, ich trank von dem kuͤhlen Wein, deſſen
ſchoͤne Farbe meinen Augen ſehr wohl gefiel, und
[427] fing leidenſchaftlich an zu ſingen. Kaum hatte
ein Lied geendet, ſo begann ich ein anderes, ſchlug
ein raſcheres Tempo an und erhob bei ausdrucks¬
vollen Stellen die Stimme, daß ſie bald die An¬
deren uͤbertoͤnte. Verwundert, daß der Duckmaͤu¬
ſer aus der Stadt noch beſſer trinken und laͤr¬
men koͤnne, als ſie, wollten die Burſchen nicht zu¬
ruͤckbleiben, wir feuerten uns gegenſeitig an, ich
ſang und ſang immer zu und bemerkte erſt bei
einem Rundgeſange, wo ich eine Weile ſchweigen
mußte, daß ſaͤmmtliche Baͤschen durch die Thuͤre
guckten und mich mit vergnuͤgtem Erſtaunen in
meiner Gloria ſitzen ſahen. Sie lachten mir zu,
winkten mir drohend, weil ich ihr Panier verlaſ¬
ſen, und forderten mich auf, wieder zu tanzen.
Aber ich war nun ein gemachter und angeſehener
Mann unter meinen Geſellen, ganz wie einſt als
Knabe, wo ich eine Zeit lang den Renommiſten
geſpielt, und als einige davon ſich wieder nach
Maͤdchen umſahen, brach ich mit zwei wilden
Juͤnglingen auf, das Staͤdtchen zu durchziehen.
Arm in Arm ſtuͤrmte ich mit den geſunden Bauers¬
ſoͤhnen uͤber die Straße, wir gaben uns die lu¬
[428] ſtigſten Redensarten zum Beſten, ſangen und
empfanden das reine und edle Vergnuͤgen, wel¬
ches entſteht, wenn Ungleiches ſich eint und zu
Gefallen lebt. Doch ſchon im naͤchſten Tanz¬
hauſe, in welches wir traten, verlor ich einen um
den anderen meiner neuen Freunde, indem ſie hier
fanden, was ſie wahrſcheinlich geſucht hatten,
und ich ſetzte allein, aber raſtlos, meinen Streif¬
zug fort. Hie und da ſchaute ich einen Augen¬
blick zu, trank bei Bekannten ein Glas, erwie¬
derte ungeſaͤumt und etwas geſalzen die Spaͤße,
die man an mich richtete, bis ich in eine Stube
kam, wo an einem großen runden Tiſche noch
vier von den barmherzigen Bruͤdern ſaßen. Zwei
waren ſchon abgefallen und verſchwunden; die
hier ſaßen, hatten bereits ihren dritten Rauſch
hinter ſich und befanden ſich nun in jenem laͤſſi¬
gen Zuſtande, in welchem erfahrene Zechbruͤder
einen luſtigen Tag austoͤnen laſſen, wohlgeſchliffene
Witze machen und ihren Wein ſo trinken, als ob
ſie nicht mehr viel darum gaͤben, ſich aber wohl
huͤten, ſchließlich einen Tropfen ſtehen zu laſſen.
Etwas entfernt von ihnen ſaß am gleichen Tiſche
[429] die Judith, welcher die Bruͤder der Sitte gemaͤß
ein Glas geboten. Sie ſchien ſich ganz allein
bei dem Feſte umgeſehen zu haben und ſich nun
am beſten zu gefallen, die Witze und Verfaͤnglich¬
keiten dieſer Herren ſchlagfertig zuruͤckzugeben und
ſie in Reſpect zu halten, wozu es keiner geringen
Gewandtheit und Kraft bedurfte. Sie ſaß eben
ſo laͤſſig da, zuruͤckgelehnt und halb abgewandt
und warf ihre Erwiederungen gleichmuͤthig hin.
Die Moͤnche hatten ihre Flachsbaͤrte abgelegt und
die gefaͤrbten Naſen gewaſchen; nur der Aelteſte,
welcher einen angehenden Kahlkopf und eine na¬
tuͤrliche Feuernaſe beſaß, prangte noch mit dem
hohen Roth derſelben. Dies war der Unnuͤtzeſte
und rief mir zu, als ich voruͤbergehen wollte:
»Heda, Gruͤnſpecht! wo hinaus?« Ich ſtand ſtill
und erwiederte: »Guter Freund! ihr habt ver¬
geſſen, den Zinnober von eurer Naſe zu wiſchen,
wie die anderen Herren doch gethan! Ich mache
euch hiermit aufmerkſam, damit ihr nicht etwa
euer Kopfkiſſen roth macht.«


Das Gelaͤchter der Uebrigen nahm mich ſo¬
gleich in den holden Bund auf; ich mußte mich
[430] ſetzen und ein Glas annehmen, worauf ſie ſagten:
»Und dennoch, koͤnnt ihr glauben, daß dieſer Kerl
es noch fuͤr noͤthig befunden hat, heut ſeine Naſe
zu ſchminken?« — »Das war freilich,« erwiederte
ich, »ebenſo thoͤricht, als wenn man eine Roſe
ſchminken wollte!«


»Und dazu viel gefaͤhrlicher,« verſetzte ein
Anderer, »denn eine Roſe ſchminken, heißt ein
Werk Gottes verbeſſern wollen, und der liebe
Gott verzeiht! Aber eine rothe Naſe ſchminken,
heißt den Teufel verhoͤhnen, und der verzeiht nicht!«


So ging es fort; ſie verhandelten nun ſeinen
Kahlkopf, wobei ich aber bald weit zuruͤckblieb,
indem ſie uͤber dieſen Gegenſtand allein wohl
zwanzig verſchiedene Witze machten, welche in der
Phantaſie die laͤcherlichſten Vorſtellungen erregten,
und von denen einer den andern an Neuheit und
Kuͤhnheit der Bilder uͤberbot. Judith lachte, als
die Taugenichtſe uͤber ſich ſelbſt herfuhren, und
als der Angegriffene dies ſah, ſuchte er ſich aus
dem Feuer zu retten, indem er ſich gegen ſie
wendete. Sie ſaß da in einem ſchlichten braunen
Kleide, die Bruſt mit einem weißen Halstuche
[431] bedeckt, welches ein wenig ihren praͤchtigen Hals
ſehen ließ; um dieſen lag eine feine Goldkette
und verlor ſich im Halstuche, ſonſt trug ſie keinen
Putz, als ihr ſchoͤnes braunes Haar. Der Kahl¬
kopf blinzelte mit den Augen und ſang:


»Mein Schatz, um deinen weißen Hals

Geht eine Schnur von Katzengold,

Die fuͤhrt an deinem Buſam

Teuf in dein falſches Herz!«

Judith erwiederte ſchnell: »Damit ihr meinen
weißen Hals einmal vergeßt, will ich euch auch
ein Lied von etwas Weißem berichten!« und ſie
ſang nicht, ſondern ſagte einfach wohlklingend:


»Es iſt eine uͤble Zeit!

Luna, die weiland keuſche Maid,

Liebaͤugelt auf den Koͤpfen alter Suͤnder

Am hellen Tag und hoͤhnt uns arme Kinder.

Schaͤm' dich, Mondſchein!
Ich that das Fenſter auf

In dunkler Nacht und ſuchte Luna's Lauf;

Da glaͤnzt ſie frech an meines Hauſes Schwelle,

Wild goß ich Waſſer auf die weiße Stelle.

Schaͤm' dich, Mondſchein!«

Ihre Mutter war geſtorben, auch hatte ſie
[432] ſeither in einer auslaͤndiſchen Lotterie mehrere
Tauſend Gulden gewonnen, da ſie aus langer
Weile ſich mit dergleichen Dingen befaßte. So
ſchien ſie nun mehr als je fuͤr ſchwere und leichte
Schnapphaͤhne ein guter Fang und der Kahle
glaubte ſie, nachdem er verſchiedene Anleihen bei
ihr gemacht, welche ſie ihm lachend gewaͤhrte, im
Sturme nehmen zu koͤnnen, ward aber eben ſo
lachend abgewieſen. Das obige Liedchen aber
ſchien ſogar auf ein ſchlimmes Abenteuer zu deuten,
welches er auf ſeiner Freite beſtanden. Denn
mit einer ganz heilloſen Discretion ſahen ſich die
drei Uebrigen an, mit funkelnden Augen und
muͤhſam verhaltenem Munde, indem ſie anfingen,
halblaut zu ſummen:


hm! hm! — hm! hm! hm!

hm! hm! hm! — hm! hm! hm!

Der Rhythmus dieſes Geſummes war ſo ver¬
fuͤhreriſch, daß ich mit einſtimmte und eine ſtolze
Gluͤckſeligkeit empfand, mit den Spoͤttern ſingen
zu duͤrfen: hm hm hm! hm hm hm! — es war
ſtill und feierlich in der nur noch ſchwach erleuch¬
teten Stube und mit feierlicher Behaglichkeit ſetz¬
[433] ten wir die ſeltſamen Takte fort. Judith lachte
hell auf und rief: »O ihr Kindskoͤpfe!« Da
brachen wir laut aus: Ha ha ha! — ha ha ha!
Der Gehoͤhnte aber ſpaͤhte umher, zog unverſehens
dem lauteſten Spoͤtter ein hervorguckendes Blatt
aus der Kutte und las deſſen Ueberſchrift: »Chriſt¬
liche Wochenboͤtin, ein conſervatives Volksblaͤtt¬
lein.« Der Spott entlud ſich nun auf den Ueber¬
raſchten, deſſen ſchwache Seite ſein Conſervatis¬
mus war, den er weder genugſam zu erklaͤren
noch zu vertheidigen vermochte. Dieſe Benen¬
nung war erſt ſeit einiger Zeit im Umlauf und
fing einige Leute, welche vorher im Nebelhaften
geſchwebt. Der Kahle forderte den Conſervativen
auf, er ſolle einmal ſagen, was er ſich eigentlich
darunter denke, wenn er behaupte, conſervativ zu
ſein. Dieſer wollte thun, als ob er hieruͤber kei¬
nen Spaß verſtehe und wuͤnſchte mit wichtigem
Geſicht, nicht zu politiſiren! Doch ein Anderer
rief: »Die Erklaͤrung iſt ſchon im Paradies zu
ſuchen! Als Adam den Thieren ihren Namen
gab, war Eines darunter, das wedelte gar be¬
daͤchtig mit den Ohren und ſagte, es ſei conſer¬
II. 28[434] vativ; es konnte aber keinen Grund hiefuͤr ange¬
ben und Adam ſagte: du ſollſt Eſel heißen!«
Erboſt ruͤckte dieſer nun mit ſeinem innerſten und
eigentlichen Grunde, der ſeine fixe Idee war,
heraus und warf dem Radicalismus vor, daß er
den Wein verſaͤuert und vertheuert haͤtte. Wenn
man noch ein ſuͤßes und billiges Glas trinken
wolle, ſo ſei dieſes einzig in den abgelegenen
altvaͤteriſchen Wirthſchaften zu finden, wo die
alten Zoͤpfe hinkroͤchen, ſich vor der Welt
zu verbergen. »Sauft,« ſchrie er, »den ra¬
dicalen Rachenputzer eurer beruͤhmten politiſchen
Wirthe! Ich halt' es mit den Zoͤpfen!« Da
allerdings etwas Wahres in dieſem Vorwurfe
lag, ſo entbrannten die drei Uebrigen ihrerſeits
im Zorne, ſchalten den Conſervativen einen Ver¬
leumder und ſuchten ihm zu beweiſen, daß er
ohne den Radicalismus gar keinen Wein zu rie¬
chen bekaͤme, weder guten, noch ſchlechten, daß
er ſelbſt als conſervativer Parteibedienter voͤllig
uͤberfluͤſſig waͤre und von ſeinen Zoͤpfen den
Schuh unter den Ruͤcken erhielte ſtatt des ſtaͤr¬
kenden Weinchens der Proſelytenbelohnung. Dies
[435] fuͤhrte zu einem hitzigen Gefechte, worin die
Herren gegenſeitig ihre Grundſaͤtze, Thatſachen
und Parteichefs herunter machten und das in
Ausdruͤcken, Vergleichungen und Wendungen,
Schlag auf Schlag, wie ſie kein dramatiſcher
Dichter fuͤr ſeine Volksſcenen treffender und eigen¬
thuͤmlicher erfinden koͤnnte; nicht einmal nachzu¬
ſchreiben waͤren ſie, ſo leicht und blitzaͤhnlich ent¬
ſprangen die Witze aus den Vorausſetzungen,
welche bald ſcharf zutreffend, bald boͤslich erſon¬
nen, doch immer ſich auf die Verhaͤltniſſe und
Perſonen gruͤndeten und zu immer neuen Grup¬
pen verſchlangen. Ein Leitartikel oder eine Rede
waͤre zwar aus dieſem Turnier nicht zu ſchoͤpfen
geweſen; doch konnte man ſehen, welch' eine
ganz vertracte Kritik das Volk auf ſeine Weiſe
fuͤhrt, und wie ſehr ſich derjenige truͤgt, welcher,
von der Tribuͤne herunter zu zweifelhaften Zwe¬
cken das »biedere, gute Volk« anrufend, irgend
ein wohlwollendes und naives Pathos voraus¬
ſetzt. Selbſt Aeußerlichkeiten, Angewoͤhnungen
und koͤrperliche Gebrechen wurden in einen ſol¬
chen Zuſammenhang mit den Worten und Hand¬
28 *[436] lungen hervorragender Maͤnner gebracht, daß die
letzten nur eine nothwendige Folge der erſten zu
ſein ſchienen und man glaubte, in den ungelehr¬
ten, aber phantaſiereichen Volksherren die doc¬
trinaͤrſten Phyſiognomiſten vor ſich zu ſehen.
Mancher angeſehene Mann ward hier zu einem
laͤcherlichen oder unheimlichen Popanz umgeſchaf¬
fen, daß er leibhaft zu ſehen war, und ſelbſt
die Vertheidigung deſſelben haͤtte etwas Demuͤ¬
thigendes fuͤr ihn gehabt, wenn er ſie gehoͤrt
haͤtte. Wie in einer ganz anderen Welt war ich
hier, als bei dem Schulmeiſter; und doch fuͤhlte
ich mich gleich zu Hauſe und ſchluͤrfte die ſtarken
und ruͤckſichtsloſen Redensarten, die ſpoͤttiſchen und
wilden Einfaͤlle ebenſo andaͤchtig ein, wie die ge¬
waͤhlten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne
deswegen den Verkehr mit dieſem zu verachten.
Ich ſchien mir dort ein Anderer und hier ein An¬
derer und doch immer der Gleiche zu ſein. Ich
freute mich, daß mein Leben eine Seite um die
andere vor mir aufthat, und war ſtolz darauf,
indem ich mir einbildete, daß dieſe luſtigen Maͤn¬
ner mich ihrer Geſellſchaft wuͤrdig hielten und
[437] ihre Witze vor mir nicht zuruͤckhielten. Mit Ver¬
gnuͤgen dachte ich an den Schulmeiſter und wie
ich fuͤrder ernſthaft und anſtaͤndig mit ihm dispu¬
tiren wolle, waͤhrend ich doch noch von was An¬
derem wuͤßte; denn es ſchien mir nun darauf
anzukommen, nirgends ausgeſchloſſen zu ſein
und Alles zu uͤberſehen, in welchem Vorſatze ich
mir unendlich klug vorkam und nicht bemerkte,
daß meine Einſicht bereits hintergangen war und
ich als ein rechter Knabe in den Schlingen der
ſchoͤnen Judith ſaß; denn ihrer Anweſenheit
war ein guter Theil meiner Behaglichkeit zuzu¬
ſchreiben.


Die barmherzigen Bruͤder waren durch die
Politik wieder ruͤſtig und munter geworden und
hatten die Flaſchen wieder fuͤllen laſſen, obgleich
Mitternacht lange voruͤber, als Judith ploͤtzlich
aufbrach und ſagte: Frauen und junge Knaben
gehoͤren nun nach Hauſe! Wollt ihr nicht mit¬
kommen, Vetter, da wir den gleichen Weg haben?
Ich ſagte Ja, doch muͤßte ich erſt nach meinen
Verwandten ſehen, welche wahrſcheinlich auch mit¬
kommen wuͤrden. »Die werden wohl ſchon fort
[438] ſein,« erwiederte ſie, »denn es iſt ſpaͤt; wenn ich
nicht darauf gerechnet haͤtte, daß ich mit euch
gehen koͤnnte, ſo waͤre ich auch laͤngſt fort.«
»Oho!« riefen die Zecher, »als ob wir nicht auch
da waͤren! Wir Alle begleiten euch! Das ſoll
nicht geſagt ſein, daß die Judith nicht Begleiter
zur Auswahl habe!« brachen auf und ſorgten,
noch den friſchen Wein unterzubringen, waͤhrend
Judith mir winkte und auf dem Flur angekommen
ſagte: »Dieſe vier Heiden wollen wir ſchoͤn an¬
fuͤhren!« Auf der Straße ſah ich, daß der Saal,
wo meine Vettern und Baſen ſich aufgehalten,
ſchon dunkel war, und mehrere Leute beſtaͤtigten
ihre Heimkehr. So mußte ich der Judith folgen,
als ſie mich durch ein dunkles Seitengaͤßchen in's
Freie und durch einige Feldwege auf die Land¬
ſtraße fuͤhrte, daß wir einen Vorſprung gewan¬
nen und die vier Maͤnner hinter uns rufen hoͤr¬
ten. Indem wir eilend weiter ſchritten, gingen
wir um einige Spannen entfernt neben einander
her; ich hielt mich ſproͤde zuruͤck, waͤhrend mein
Ohr keinen Ton ihres feſten und doch leichten
Schrittes verlor und begierig das leiſe Rauſchen
[439] ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel,
aber das Frauenhafte, Sichere und die Fuͤlle
ihres Weſens wirkte aus allen Umriſſen ihrer
Geſtalt wie berauſchend auf mich, daß ich alle
Augenblicke hinuͤberſchielen mußte, gleich einem
angſtvollen Wanderer, dem ein Feldgeſpenſt zur
Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in
ſeiner Angſt ſein chriſtliches Bewußtſein wach
ruft zum Schutze gegen den unheimlichen Beglei¬
ter, trug ich waͤhrend des verlockenden Ganges
einen geiſtlichen Hochmuth der Sproͤdigkeit und
der Unfehlbarkeit in mir. Judith ſprach von den
Maͤnnern und lachte uͤber ſie, erzaͤhlte mir un¬
befangen die Dummheiten, die der Eine ihr ge¬
macht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte
Mondgoͤttin waͤre? Wenigſtens habe ſie das im¬
mer vermuthet, wenn ſie jenes Lied in einem
alten Buche geleſen; es habe auch gut fuͤr den
Schlingel gepaßt. Dann fragte ſie mich ploͤtzlich,
warum ich ſo ſtolz geworden ſei und ſie ſeit
Jahren nie mehr angeſehen, viel weniger beſucht
habe? Ich wollte mich damit entſchuldigen, daß
ſie keinen Verkehr mit dem Hauſe meines Oheims
[440] pflege und ich daher ſchicklicher Weiſe nicht allein
ſie beſuchen koͤnne. »Ach was!« ſagte ſie, »ihr ſeid
ja auch noch mein Vetter und koͤnnt mich von
Rechtswegen wohl heimſuchen, wenn ihr wollt!
Damals, wo ihr ſo jung geweſen, habt ihr
mich ſo gern gehabt und ihr ſeid mir immer ein
wenig lieb; aber jetzt habt ihr ein Schaͤtzchen,
in welches ihr verliebt ſeid, und meint, keine an¬
dere Frau mehr anſehen zu duͤrfen!« — »Ich ein
Schaͤtzchen?« erwiederte ich und als ſie dieſe Be¬
hauptung wiederholte und Anna nannte, laͤugnete
ich die Sache auf das Beſtimmteſte. Wir wa¬
ren unverſehens beim Dorfe angekommen, in
welchem noch viele Stimmen laut wurden und
die jungen Leute uͤber die Straße gingen; Judith
wuͤnſchte ihnen aus dem Wege zu gehen, und ob¬
gleich ich nun fuͤglich meine Straße haͤtte ziehen
koͤnnen, leiſtete ich doch keinen Widerſtand und
folgte ihr unwillkuͤrlich, als ſie mich bei der
Hand nahm und zwiſchen Hecken und Mauern
durch ein dunkles Wirrſal fuͤhrte, um ungeſehen
in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Aecker
verkauft und nur einen ſchoͤnen Baumgarten
[441] naͤchſt dem Hauſe behalten, in welchem ſie ganz
allein wohnte. Der genoſſene Wein erhoͤhte die
Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir
ſo durch die engen Wege hinſchluͤpften, und als
bei dem Hauſe angekommen Judith ſagte:
»Kommt herein, ich will noch einen Kaffee ko¬
chen!« und ich hineinging und ſie die Hausthuͤre
feſt hinter uns verriegelte, da klopfte mir das
Herz wie mit Haͤmmern, waͤhrend ich mich uͤber¬
muͤthig des Abenteuers freute und mich vermaß,
daſſelbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu be¬
ſtehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wal¬
lendes Blut verfinſterte ihr Bild und ließ nur
den Stern meiner Eitelkeit durchſchimmern; denn,
genau erwogen, wollte ich nur um meiner ſelbſt
willen meine Standhaftigkeit erproben. So ſtark
iſt die Selbſtſucht, daß ſie ſelbſt da noch leuchtet,
wo die reinſte Liebe untergeht, und mit truͤgeri¬
ſchen Vorſpiegelungen den Willen zu gaͤngeln
weiß. Doch darf ich mir geſtehen, daß es im
Grunde eine Art romantiſchen Pflichtgefuͤhls war,
welches mich unbefangen antrieb, keiner merk¬
wuͤrdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor
[442] ſich die unheimliche Aufregung, ſobald Judith
Licht angezuͤndet und ein helles Feuer entflammt
hatte. Ich ſaß auf dem Herde und plauderte
ganz vergnuͤglich mit ihr, und indem ich fort¬
waͤhrend in ihr vom Feuer beglaͤnztes Geſicht
ſah, glaubte ich ſtolz mit der Gefahr ſpielen zu
koͤnnen und traͤumte mich in die Lage der Dinge
zuruͤck, wie ich vor zwei Jahren noch ihr Haar
auf- und zugeflochten hatte. Waͤhrend der Kaffee
ſingend kochte, ging ſie in die Stube, um ihr
Halstuch abzulegen und ihr Sonntagskleid aus¬
zuziehen, und kam im weißen Untergewande zu¬
ruͤck, mit bloßen Armen, und aus der ſchneewei¬
ßen Leinwand enthuͤllten ſich mit blendender
Schoͤnheit ihre Schultern. Sogleich ward ich
wieder verwirrt und erſt allmaͤlig, indem ich un¬
verwandt ſie anſchaute, entwirrte ſich mein flim¬
mernder Blick an der ruhigen Klarheit dieſer
Formen. Ich hatte ſie ſchon als Knabe ein oder
zwei Mal ſo geſehen, wenn ſie beim Ankleiden
nicht ſehr auf mich achtete, und obgleich ich jetzt
anders ſah, als damals, ſchien doch die gleiche
Vorwurfsloſigkeit auf dieſem Schnee zu ruhen,
[443] auch bewegte ſich Judith ſo ſicher und frei, daß
dieſe Sicherheit auch auf mich uͤberging. Sie
trug den fertigen Kaffee in die Stube, ſetzte ſich
neben mich und indem ſie das herbeigeholte Kir¬
chenbuch aufſchlug, ſagte ſie: »Seht, ich habe
alle die Bildchen noch, die ihr mir gezeichnet
habt!« Wir betrachteten die komiſchen Dinger,
eins um's andere, und die unſicheren Striche von
damals kamen mir hoͤchſt ſeltſam vor, wie ver¬
geſſene Zeichen einer unabſehbar entſchwundenen
Zeit. Ich erſtaunte vor dieſen Abgruͤnden der
Vergeſſenheit, die zwiſchen den kurzen Jugend¬
jahren liegen, und betrachtete die Blaͤttchen ſehr
nachdenklich; auch die Handſchrift, womit ich die
Spruͤche hineingeſchrieben, war eine ganz andere
und noch diejenige aus der Schule. Die aͤngſt¬
lichen Zuͤge ſahen mich traurig an; Judith ſah
auch eine Zeitlang ſtill auf das gleiche Bildchen
mit mir, dann ſah ſie mir ploͤtzlich dicht in die
Augen, indem ſie ihre Arme um meinen Hals
legte, und ſagte: »Du biſt immer noch der
Gleiche! An was denkſt du jetzt?« — »Ich weiß
nicht,« erwiederte ich; »weißt du, fuhr ſie fort,
[444] daß ich dich gleich freſſen moͤchte, wenn du ſo
ſtudirſt, in's Blaue hinaus!« und ſie druͤckte mich
enger an ſich, waͤhrend ich ſagte: »Warum denn?«—
»Ich weiß ſelbſt nicht recht; aber es iſt ſo lang¬
weilig unter den Leuten, daß man oft froh iſt,
wenn man an etwas Anderes denken kann; ich
moͤchte dies auch gern, aber ich weiß nicht viel
und denke immer das Gleiche, obſchon mir etwas
Unbekanntes im Kopfe herumgeht; wenn ich dich
nun ſo ſtaunen ſehe, ſo iſt es mir, als ob du
gerade an das denkſt, woran ich auch gern ſin¬
nen moͤchte, ich meine immer, es muͤßte Einem
ſo wohl ſein, wenn man mit deinen geheimen
Gedanken ſo in die Weite ſpazieren koͤnnte! O,
es muß Einem da ſo ſtill und klug, ſo traurig
und gluͤckſelig zu Muthe ſein!« So etwas hatte
ich noch niemals zu hoͤren bekommen; obgleich
ich wohl einſah, daß die Judith ſich allzuſehr zu
meinen Gunſten taͤuſchte, was meine inneren Ge¬
danken betraf, und ich tief beſchaͤmt erroͤthete,
daß ich glaubte, die Roͤthe meiner brennenden
Wange muͤſſe ihre weiße Schulter angluͤhen, an
welcher ſie lag: ſo ſog ich doch Wort fuͤr Wort
[445] dieſer ſuͤßeſten Schmeichelei begierig ein, und
meine Augen ruhten dabei auf der Hoͤhe der
Bruſt, welche ſtill und groß aus dem friſchen
Linnen emporſtieg und in unmittelbarſter Naͤhe
vor meinem Blicke glaͤnzte wie die ewige Hei¬
math des Gluͤckes. Judith wußte nicht, oder
wenigſtens nicht recht, daß es jetzt an ihrer eige¬
nen Bruſt ſtill und klug, traurig und doch gluͤck¬
ſelig zu ſein war. Es duͤnkt mich, die Ruhe an
der Bruſt einer ſchoͤnen Frau ſei der einzige und
wahre irdiſche Lohn fuͤr die Muͤhe des Helden
jeder Art und fuͤr alles Dulden des Mannes,
und mehr werth, als Gold, Lorbeer und Wein
zuſammen. Nun war ich zwar ſechszehn Jahr
alt und weder ein Held noch Mann, der was
gethan hatte; doch fuͤhlte ich mich ganz außer
der Zeit, wir waren gleich alt oder gleich jung
in dieſem Augenblicke und mir ging es durch
das Herz, als ob ich jetzt jene ſchoͤne Ruhe vor¬
ausnaͤhme fuͤr alles Leid und alle Muͤhe, die noch
kommen ſollten. Ja dieſer Augenblick ſchien ſo
ſehr ſeine Rechtfertigung in ſich ſelbſt zu tragen,
daß ich nicht einmal aufſchreckte, als Judith, in
[446] dem Geſangbuch blaͤtternd, ein zuſammengefalte¬
tes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt
und ich nach langem Sinnen jenes beſchriebene
und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte,
das ich vor Jahren einſt den Wellen uͤbergeben
hatte. »Laͤugneſt du noch, daß dies gute Kind
dein Schaͤtzchen ſei?« ſagte ſie, und ich laͤugnete
es aus Muthwillen zum zweiten Male, das Blatt
als eine vergeſſene Kinderei erklaͤrend. In die¬
ſem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hauſe,
welche wir als diejenigen der vier Maͤnner er¬
kannten. Sogleich loͤſchte ſie das Licht aus, daß
wir im Dunkeln ſaßen; doch die unten begehrten
nichts deſto minder Einlaß, indem ſie riefen:
»So macht doch auf, ſchoͤne Judith, und wartet
uns mit einer Taſſe heißem Kaffee auf! wir wol¬
len uns ehrbar benehmen und noch ein vernuͤnf¬
tiges Wort ſprechen! Aber macht auf, zum Lohn
dafuͤr, daß ihr uns ſo angefuͤhrt habt; es iſt Faſt¬
nacht und ihr duͤrft ohne Gefaͤhrde einmal die
vier ruhmwuͤrdigſten Cumpane des Landes bewir¬
then!« Wir hielten uns aber ganz ſtill; ſchwere
Regentropfen ſchlugen an die Scheiben, es wet¬
[447] terleuchtete ſogar und in der Ferne donnerte es,
daß es klang, als waͤre es Mai oder Juni; um Ju¬
dith kirre zu machen, ſangen die Maͤnner mit heuch¬
leriſcher Sorgfalt ein vierſtimmiges Lied, ſo ſchoͤn
ſie konnten, und ihr uͤberwachter Zuſtand gab
ihren Stimmen wirklich etwas geruͤhrt Vibriren¬
des. Als dies Alles nichts half, fingen ſie an
zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum
Fenſter empor, um in die dunkle Stube zu ſehen.
Wir bemerkten wohl ſeine ſpitzige Kapuze, die
er uͤber den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit
einem Mal ein Blitz die Stube, und der Spaͤ¬
her konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen
erkennen. »Die verwuͤnſchte Hexe ſitzt ganz auf¬
recht und munter am Tiſch!« rief er gedaͤmpft
hinunter; ein Anderer ſagte: »Laß mich einmal
ſehen!« Doch waͤhrend ſie ſich abloͤſten und die
Stube wieder finſter war, huſchte Judith ſchnell
zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke deſſelben
und warf ſie uͤber den Stuhl, worauf ſie mich
leis nach dem Bett hinzog, welches man vom
Fenſter aus nicht ſehen konnte. Als jetzt ein
zweiter, noch ſtaͤrkerer Blitz die Stube ganz klar
[448] machte, ſagte der Mann, welcher die Augen wie
eine Doppelbuͤchſe auf den Stuhl gerichtet hatte
»Es iſt ſie nicht, es iſt nur ein weißes Tuch;
das Kaffeegeſchirr ſteht auf dem Tiſch und das
Kirchenbuch liegt dabei. Der Himmelteufel iſt
am Ende froͤmmer, als man glaubt!« Judith
aber fluͤſterte mir in's Ohr: »Der Schelm haͤtte
dich jetzt ganz gewiß erblickt, wenn wir ſitzen ge¬
blieben waͤren!« Doch die gewaltigen Regen¬
guͤſſe, Blitz und Donner, die nun hereinbrachen,
vertrieben den Spaͤher vom Fenſter; wir hoͤrten,
wie ſie ihre Kutten ſchuͤttelten und auseinander
ſprangen, um im Dorfe ein Unterkommen zu ſu¬
chen, da ſie alle weit von Hauſe waren. Als
wir Nichts mehr von ihnen hoͤrten, ſaßen wir
noch eine Weile ganz ſtill auf dem Bette und
lauſchten auf das Gewitter, welches das Haͤus¬
chen erzittern machte, ſo daß ich mein eigenes
leiſes Zittern nicht recht davon unterſcheiden
konnte. Ich umfaßte Judith, um nur dies be¬
klemmende Zittern zu unterbrechen, und kuͤßte ſie
auf den Mund; ſie kuͤßte mich wieder, feſt und
warm; doch dann loͤſte ſie meine Arme von ihrem
[449] Hals und ſagte: »Gluͤck iſt Gluͤck und es giebt
nur Ein Gluͤck; aber ich kann dich nicht laͤnger
hier behalten, wenn du mir nicht geſtehen willſt,
daß du und des Schulmeiſters Tochter einander
gern habt! Denn nur das Luͤgen macht Alles
ſchlimm!«


Ohne Ruͤckhalt begann ich nun, ihr die
ganze Geſchichte zu erzaͤhlen von Anfang bis zu
Ende, Alles, was je zwiſchen Anna vorgefallen,
und verband die beredte Schilderung ihres We¬
ſens mit derjenigen der Gefuͤhle, die ich fuͤr ſie
empfand. Ich erzaͤhlte auch genau die Geſchichte
des heutigen Tages und klagte der Judith meine
Pein in Betreff der Sproͤdigkeit und Scheue,
welche immer wieder zwiſchen uns traten. Nach¬
dem ich lange ſo erzaͤhlt und geklagt, antwortete
ſie auf meine Klagen nicht, ſondern fragte mich:
»Und was denkſt du dir jetzt eigentlich darunter,
daß du bei mir biſt?« Ganz verwirrt und be¬
ſchaͤmt ſchwieg ich und ſuchte ein Wort; dann
ſagte ich endlich zaghaft: »du haſt mich ja mit¬
genommen!« — »Ja«, erwiederte ſie, »aber waͤreſt
du mit jeder anderen huͤbſchen Frau ebenſo ge¬
II. 29[450] gangen, die dich gelockt haͤtte? Beſinne dich ein¬
mal hierauf!« Ich beſann mich in der That und
ſagte dann ganz entſchieden: »Nein, mit gar kei¬
ner!« »Alſo biſt du mir auch ein Bischen gut?«
fuhr ſie fort. Jetzt gerieth ich in die groͤßte Ver¬
legenheit; denn die Frage zu bejahen, fuͤhlte ich
nun deutlich, wuͤrde die erſte eigentliche Untreue
geweſen ſein und doch, indem es mich trieb, ehr¬
lich nachzudenken, konnte ich noch weniger ein
Nein hervorbringen. Endlich konnte ich doch
nicht anders und ſagte: »Ja — aber doch nicht
ſo, wie der Anna!« — »Wie denn?« Ich um¬
ſchlang ſie ungeſtuͤm und indem ich ſie ſtreichelte
und ihr auf alle Weiſe ſchmeichelte, fuhr ich fort:
»Siehſt du! fuͤr die Anna moͤchte ich alles Moͤg¬
liche ertragen und jedem Winke gehorchen; ich
moͤchte fuͤr ſie ein braver und ehrenvoller Mann
werden, an welchem Alles durch und durch rein
und klar iſt, daß ſie mich durchſchauen duͤrfte wie
einen Kryſtall, Nichts thun, ohne ihrer zu geden¬
ken und in alle Ewigkeit mit ihrer Seele leben,
auch wenn ich von heute an ſie nicht mehr ſehen
wuͤrde! Dies Alles koͤnnte ich fuͤr dich nicht
[451] thun! Und doch liebe ich dich von ganzem Her¬
zen und wenn du zum Beweis dafuͤr verlangteſt,
ich ſollte mir von dir ein Meſſer in die Bruſt
ſtoßen laſſen, ſo wuͤrde ich in dieſem Augenblicke
ganz ſtill dazu halten und mein Blut ruhig auf
deinen Schooß fließen laſſen!« Ich erſchrak ſo¬
gleich uͤber dieſen Worten und entdeckte zugleich,
daß ſie nichts weniger als uͤbertrieben, ſondern
ganz der Empfindung gemaͤß waren, die ich von
jeher fuͤr Judith unbewußt getragen. Mit mei¬
nen Liebkoſungen ploͤtzlich inne haltend, ließ ich
die Hand auf ihrer Wange liegen und in dieſem
Augenblicke fuͤhlte ich eine Thraͤne darauf fallen.
Zugleich ſeufzte ſie und ſagte: »Was thue ich
mit deinem Blute! — O! nie hat ein Mann
gewuͤnſcht, brav, klar und lauter vor mir zu er¬
ſcheinen und doch liebe ich die Wahrheit wie mich
ſelbſt!« Betruͤbt ſagte ich: »Aber ich koͤnnte
doch nicht dein ernſthafter Liebhaber oder gar
dein Mann ſein?« —»O das weiß ich wohl und
faͤllt mir auch gar nicht ein!« erwiederte ſie, »ich
will dir auch ſagen, was du von mir zu denken
haſt! Ich habe dich zu mir gelockt, erſtens, weil
29 *[452] ich wieder einmal ein wenig kuͤſſen wollte, was
ich auch gleich hernach thun will, du biſt mir da¬
zu gerade recht! Zweitens wollte ich dich als ein
hochmuͤthiges Buͤrſchchen ein wenig in die Schule
nehmen, und drittens macht es mir Vergnuͤgen,
in Ermangelung eines Anderen, den Mann zu
lieben, der noch in dir verborgen iſt, wie ich dich
ſchon als Kind gern geſehen habe.« Mit dieſen
Worten packte ſie mich und fing an mich zu kuͤſ¬
ſen, daß es mir glutheiß wurde und ich nur, um
die Gluth zu kuͤhlen, ihre feuchten Lippen feſthal¬
ten und wieder kuͤſſen mußte. Als ich Anna ge¬
kuͤßt, war es geweſen, als ob mein Mund eine
wirkliche Roſe beruͤhrt haͤtte; jetzt aber kuͤßte ich
eben einen heißen, leibhaften Mund und der ge¬
heimnißvolle balſamiſche Athem aus dem Inneren
eines ſchoͤnen und ſtarken Weibes ſtroͤmte in vol¬
len Zuͤgen in mich uͤber. Dieſer Unterſchied fiel
mir ſo auf, daß mitten im heftigen Kuͤſſen Anna's
Stern aufging, eben als Judith mehr wie fuͤr
ſich fluͤſterte: »Denkſt du nun auch an dein
Schaͤtzchen?« — »Ja,« erwiederte ich, »und ich
geh' nun!« und wollte mich losmachen. »So
[453] geh'!« ſagte ſie laͤchelnd, doch loͤſte ſie ihre wei¬
chen nackten Arme auf eine ſo ſonderbare Weiſe
aus einander, daß es mir ſchneidend weh that,
mich frei zu fuͤhlen, und eben wieder im Begriffe
war, in dieſelben zu ſinken, als ſie aufſprang,
mich noch einmal kuͤßte und dann von ſich ſtieß,
indem ſie leiſe ſagte: »Nun pack' dich, es iſt jetzt
Zeit, daß du heim kommſt!« Beſchaͤmt ſuchte
ich meinen Hut und eilte davon, daß ſie laut
lachte und mir kaum nachkommen konnte, um
mir die Hausthuͤre aufzumachen. »Halt,« fluͤſterte
ſie, als ich davon laufen wollte, »geh' da oben
durch den Baumgarten hinaus und ein wenig
um's Dorf herum!« und ſie kam mit mir durch
den Garten in ihrem leichten Gewande, obgleich
es regnete und ſtuͤrmte, was vom Himmel herun¬
ter mochte. Am Gatter ſtand ſie ſtill und ſagte:
»Hoͤr' einmal! ich ſehe nie einen Mann in meinem
Hauſe und du biſt der Erſte, den ich ſeit langer
Zeit gekuͤßt! Ich habe Luſt, dir nun erſt recht
treu zu bleiben, frage mich nicht warum, ich muß
etwas probiren fuͤr die lange Zeit und es macht
mir Spaß. Dafuͤr verlange ich aber, daß du je¬
[454] desmal zu mir kommſt, wenn du im Dorfe biſt,
in der Nacht und heimlich; am Tage und vor
den Leuten wollen wir thun, als ob wir uns
kaum anſehen moͤchten. Ich verſpreche dir, daß
es dich nie gereuen ſoll. Es wird in der Welt
nicht ſo gehen, wie du es denkſt und vielleicht
auch mit Anna nicht; das Alles wirſt du ſchon
ſehen; ich ſage dir nur, daß du ſpaͤter froh ſein
ſollſt, wenn du zu mir gekommen biſt!« — »Nie
komme ich wieder!« rief ich etwas heftig — »Bſt!
nicht ſo laut,« ſagte ſie; dann ſah ſie mir ernſt¬
haft in die Augen, daß ich trotz Sturm und
Dunkelheit die ihrigen glaͤnzen ſah, und fuhr fort:
»Wenn du mir nicht heilig und auf deine Ehre
verſprichſt, daß du wiederkommen willſt, ſo nehm'
ich dich ſogleich wieder mit, nehme dich zu mir
in's Bett und du mußt bei mir ſchlafen! Das
ſchwoͤre ich bei Gott!« Es kam mir gar nicht
in den Sinn, uͤber dieſe Drohung zu lachen oder
dieſelbe zu verachten; vielmehr verſprach ich, ſo
ſchnell ich konnte, in Judith's Hand, daß ich wie¬
der kommen wollte, und eilte davon. Ich lief
darauf zu, ohne zu wiſſen wohin; denn der ſtroͤ¬
[455] mende Regen that mir wohl; ſo war ich bald
aus dem Dorfe und auf eine Hoͤhe gekommen,
auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute
und warf ein ſchwaches Licht in das Unwetter;
ich machte mir die bitterſten Vorwuͤrfe und fuͤhlte
mich ganz zerknirſcht, und als ich ploͤtzlich zu
meinen Fuͤßen den kleinen See und des Schul¬
meiſters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den
grauen Schleier des Regens und der Daͤmmerung,
da ſank ich erſchoͤpft auf den Boden und brach
gar jaͤmmerlich in Thraͤnen aus. Es regnete
immerfort auf mich nieder, die Windſtoͤße fuhren
und pfiffen durch die Luft und heulten erbaͤrmlich
in den Baͤumen, ich weinte dazu, was nur die
Augen faſſen mochten; ſeltſamer Weiſe machte ich
Niemandem Vorwuͤrfe, als mir ſelbſt, und dachte
nicht daran, der Judith irgend eine Schuld bei¬
zumeſſen. Ich fuͤhlte mein Weſen in zwei Theile
geſpalten und haͤtte mich vor Anna bei der Ju¬
dith und vor Judith bei der Anna verbergen
moͤgen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith
zu gehen und mein Verſprechen zu brechen; denn
ich empfand ein graͤnzenloſes Mitleid mit Anna,
[456] die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen
Fuͤßen jetzt ſo ſtill ſchlafend wußte. Endlich raffte
ich mich auf und ſtieg wieder in's Dorf hinunter;
der Rauch ſtieg aus den Schornſteinen und kroch
in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich ſann
etwas gefaßter daruͤber nach, was ich im Hauſe
meines Oheims uͤber mein naͤchtliches Ausbleiben
vorgeben wolle. Ich wollte ſagen, ich haͤtte mich
verirrt und ſei die ganze Nacht umhergeſtreift.
Dies war ſeit den kritiſchen Knabenjahren das
erſte Mal, wo ich zu einem eigennuͤtzigen Zwecke
wieder luͤgen mußte; mehrere Jahre hindurch
hatte ich nicht mehr gewußt, was luͤgen ſei, und
dieſe Entdeckung machte mir vollends zu Muthe,
als ob ich aus einem ſchoͤnen Garten hinaus ge¬
ſtoßen wuͤrde, in welchem ich eine Zeit lang zu
Gaſt geweſen.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der grüne Heinrich. Der grüne Heinrich. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnt3.0