Verlag von O. Haering.
1898.
[[II]][[III]]
Meiner Tochter Else
gewidmet.
[[IV]][[V]]
Vorbemerkung.
Ein äuſserer Anlaſs hat mich bestimmt, einen lang ge-
hegten Gedanken zur That werden zu lassen.
In den zehn Jahren, während welcher ich hier in Halle
über Völkerrecht lese, habe ich immer wieder von neuem das
Bedürfnis empfunden, meinen Zuhörern einen meine An-
schauungen wiederspiegelnden Grundriſs in die Hand zu geben,
und mir so die schwer entbehrte Freiheit des mündlichen Vor-
trages zu sichern. Als ich nun vor Jahresfrist für ein fach-
wissenschaftliches Sammelwerk die Bearbeitung des Völkerrechts
auf sehr engumschriebenem Raum übernahm, schien es mir
unerläſslich, diesem kurzen Abriſs eine wenigstens etwas aus-
führlichere Darstellung voranzuschicken, um den Fachgenossen
gegenüber, wenn ich so sagen darf, den Befähigungsnachweis
zu erbringen.
Aus diesen Erwägungen heraus ist das kleine Buch ent-
standen. Es ist in erster Linie für das akademische Studium
bestimmt. Sollte es diesen Zweck erreichen, so durfte es einer-
seits einen gewissen Umfang nicht übersteigen, muſste es ander-
seits sich bemühen, die einzelnen Rechtssätze möglichst scharf
herauszuarbeiten. Das eine wie das andere hat gerade auf
diesem Gebiete die Gefahr bedenklicher Fehlgriffe im Gefolge.
Eine Auswahl des Wichtigsten wird stets den Eindruck
der Willkürlichkeit hervorrufen. Ich bin mir bewuſst, überall
[VI]Vorbemerkung.
meine Lehrerfahrungen zu Grunde gelegt zu haben, und ich
hoffe, daſs mein guter Wille, Wesentliches vom Unwesentlichen
zu sondern, aus der ganzen Anlage sich ergiebt. Aber das
entscheidende Wort muſs ich dem Urteile der Berufenen über-
lassen, das mir eine wertvolle Richtschnur für die Weiterarbeit
sein wird. Besondere Schwierigkeit bot mir die Auswahl der
anzuführenden Litteratur. Die fremdsprachigen Werke durften
nicht nur nicht beiseite gelassen werden, sie muſsten vielmehr
besondere Berücksichtigung finden, sollte der Anfänger ein
richtiges Bild von dem heutigen Stande unsrer gerade an den
deutschen Universitäten stiefmütterlich behandelten Wissenschaft
gewinnen. Dagegen muſste die Auseinandersetzung mit ab-
weichenden Ansichten vor der Wiedergabe des Stoffes in den
Hintergrund treten. Auch die fortlaufende Anführung der
gröſseren Systeme glaubte ich durch deren Zusammenstellung
in § 4 meines Buches ersetzen zu dürfen.
Bei der Fassung der durch den Druck hervorgehobenen
Lehrsätze bin ich von dem Bestreben geleitet gewesen, die
in Staatenverträgen und in der Staatenübung hervortretende ge-
meinsame Rechtsüberzeugung zum kurzen und scharfen Ausdruck
zu bringen. Mancher von diesen Lehrsätzen mag bedenklich
scheinen, mancher mag unrichtig sein. Aber keiner von ihnen
soll, das ist mein Wunsch, unvereinbar sein mit der nach
meiner Überzeugung einzig richtigen Methode der völkerrecht-
lichen Wissenschaft: allen Rechtsinhalt ausschliesslich aus der
bethätigten Rechtsüberzeugung der zur Völkerrechtsgemein-
schaft gehörenden Staaten zu schöpfen. Diese Methode sichert
nicht nur vor der Verwechslung frommer Wünsche und legis-
lativer Vorschläge mit dem geltenden Recht; sie läſst auch die
rechtbildende Kraft erkennen, die der zielbewuſsten Haltung
eines einzelnen Staates unter Umständen zukommt.
[VII]Vorbemerkung.
Möge das kleine Buch, an dem ich mit Freude in den
von anderen Aufgaben mir gelassenen Muſsestunden gearbeitet
habe, in den Herzen unsrer jungen deutschen Juristen die
Liebe zu dem Zweige des Rechts wecken und wacherhalten,
dessen Entwicklungsgang in den letzten Jahrzehnten durch das
mächtige und zugleich maſsvolle Walten des Ersten deutschen
Reichskanzlers wesentlich bestimmt und gefördert worden ist.
Möge es ihm aber auch vergönnt sein, in weitere Kreise die
Überzeugung zu tragen, daſs die Weltstellung des deutschen
Reichs nicht zum kleinsten Teile bedingt ist durch die Sicherung
und Weiterbildung der Rechtssätze, durch welche die Bezieh-
ungen der Staaten zu einander geregelt werden.
Halle a. S., im Juli 1898.
Franz v. Liszt.
[[VIII]][[IX]]
Inhaltsverzeichnis.
- Einleitung.
- Seite
- § 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts1—6
- I. Das Völkerrecht und die Völkerrechtsgemeinschaft 1
- II. Die Rechtsnatur des Völkerrechts 4
- III. Einteilung des Völkerrechts 5
- § 2. Die Quellen des Völkerrechts6—9
- I. Rechtsübung und ausdrückliche Rechtssatzung 6
- II. Naturrecht. Rechtsphilosophie. Staatenpolitik. Entwicklungs-
gesetze 8 - III. Kodifikation des Völkerrechts 8
- § 3. Geschichte des Völkerrechts9—18
- I. Periode bis 1648 9
- II. Periode bis 1815 12
- III. Periode bis 1856 13
- IV. Periode bis 1878 14
- V. Periode bis zur Gegenwart 15
- § 4. Die Litteratur des Völkerrechts18—20
- I. Systematische Darstellungen 18
- II. Zeitschriften 20
- III. Sammlungen von Staatsverträgen 20
- I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgemeine Rechtsstellung.
§ 5. Die Staaten als Rechtssubjekte des Völkerrechts21—27 - I. Der Begriff des Staates 21
- II. Die Staatenverbindungen 23
- III. Entstehung und Untergang der Staaten 25
- IV. Veränderungen der Regierungsform 27
- Seite
- I. § 6. Die souveräne Staatsgewalt27—34
- I. Begriff der Souveränität 27
- II. Übernommene oder auferlegte Verpflichtungen 27
- III. Dauernd neutralisierte Staaten 28
- IV. Halbsouveräne Staaten 30
- § 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit. (Die
völkerrechtlichen Grundrechte)34—40 - I. Die äuſsere Selbständigkeit der Staaten 34
- II. Rechtswidrigkeit des Angriffs auf die äuſsere Existenz eines
Staates. Prinzip der Nichtintervention 35 - III. Recht und Pflicht des Verkehrs 39
- IV. Rechtswidrigkeit der Beleidigung eines Staates 40
- § 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit40—47
- I. Die Autonomie der Staatsgewalt 40
- II. Die Gebietshoheit. „Völkerrechtliche Servituten“ 42
- III. und IV. Die der Gebietshoheit unterworfenen Sachen und
Personen. Die Exterritorialität 44 - II. § 9. Das Staatsgebiet47—55
- I. Begriff 47
- II. Das Staatslandgebiet. Die „Interessensphären“ 47
- III. Die Eigengewässer 49
- IV. Die Küstengewässer 51
- V. Staats- und Handelsschiffe 54
- § 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet55—61
- I. Allgemeines 55
- II. Option und Plebiszit 57
- III. Okkupation 58
- IV. Die Übernahme „zur Besetzung und Verwaltung“ 60
- III. § 11. Das Staatsvolk61—65
- I. Das völkerrechtliche Indigenat 61
- II. Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit 61
- III. Das Schutzrecht des Staates 63
- IV. Erwerb der Herrschaft bei Gebietserwerbungen 65
- II. Buch. Der völkerrechtliche Verkehr der Staaten im allgemeinen.
- 1. Abschnitt. Die Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.
- § 12. Das Staatsoberhaupt66—70
- I. Allgemeine Rechtsregeln 66
- II. Die Exterritorialität des Staatsoberhauptes 68
- Seite
- § 13. Das Auswärtige Amt und die völkerrechtlichen
Agenten im allgemeinen70—72 - I. Das Auswärtige Amt 70
- II. Die völkerrechtlichen Agenten 71
- III. Die Staatsvertreter im Kriege 72
- § 14. Die Gesandten insbesondere72—81
- I. Das Gesandtschaftsrecht 72
- II. Die Rangordnung der Gesandten 73
- III. Die völkerrechtliche Rechtsstellung der Gesandten 74
- IV. Die Exterritorialität der Gesandten 75
- § 15. Die Konsuln insbesondere81—91
- I. Begriff 81
- II. Einteilung 81
- III. Die Rechtsstellung der Konsuln 82
- IV. Die Jurisdiktionskonsuln 86
- § 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft92—95
- I. Nationale und internationale Organe 92
- II. Die internationalen Fluſskommissionen 92
- III. Die internationalen Sanitätskommissionen 93
- IV. Die internationalen Finanzkommissionen 94
- V. Die Ämter der völkerrechtlichen Verwaltungsgemeinschaften 95
- VI. Die internationalen Gerichte 95
- § 17. Die internationalen Ämter der völkerrechtlichen
Verwaltungsgemeinschaften95—99 - I. Ihr allgemeiner Charakter 95
- II. Die einzelnen Ämter 96
- § 18. Die internationalen Gerichte99—103
- I. Die türkischen Gerichte 99
- II. Die gemischten Gerichte Egyptens 100
- III. Der oberste Gerichtshof von Samoa 102
- IV. und V. Die Gerichtsbarkeit der internationalen Sanitäts-
und Fluſskommissionen 102—103 - VI. Weitergehende Vorschläge 103
- 2. Abschnitt. Die Rechtsverhältnisse und die rechtserheblichen
Thatsachen. - § 19. Die völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse im all-
gemeinen103—108 - I. Begriff des völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses 103
- Seite
- II. Die Einteilung der völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse 106
- III. Unübertragbarkeit der völkerrechtlichen Berechtigungen
und Verpflichtungen 107 - § 20. Die rechtserheblichen Thatsachen108—112
- I. Natürliche Thatsachen und menschliche Handlungen 108
- II. Das völkerrechtliche Rechtsgeschäft 109
- § 21. Die völkerrechtlichen Verträge112—118
- I. Begriff des völkerrechtlichen Vertrages 112
- II. Abschluſs 113
- III. Wirkung 115
- IV. Aufhebung der völkerrechtlichen Verträge 117
- § 22. Die Sicherung bestehender völkerrechtlicher
Verpflichtungen119—121 - I. Allgemeines 119
- II. Der Garantievertrag 119
- § 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen auf be-
stehende Rechtsverhältnisse121—124 - I. Der Untergang eines Staates 121
- II. Begründung einer Schutzherrschaft 123
- III. Gebietsveränderungen 123
- IV. Losreiſsung vom Mutterlande 124
- § 24. Das völkerrechtliche Delikt125—130
- I. Der Begriff 125
- II. Die Fälle der Deliktshaftung 126
- III. Ausschluſs der Rechtswidrigkeit 128
- IV. Die Deliktsfolgen des Völkerrechts 129
- III. Buch. Die friedliche Regelung und Verwaltung gemeinsamer
Interessen. - I. § 25. Die Erschlieſsung des Landes und die Rechts-
stellung der Fremden131—139 - I. Die Rechtsstellung der Staatsfremden überhaupt 131
- II. Die Fremdenpolizei 137
- III. Fremde Handelsschiffe 000
- IV. Fremde Kriegsschiffe und Truppenkörper 138
- II. Die Verkehrsbeziehungen.
- § 26. Die Hochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres 140—147
- I. Der Grundsatz 140
- II. Seine Durchführung 140
- III. Ausnahmsweise Ausübung von Hoheitsrechten auf offner See 143
- IV. Das internationale Seerecht 147
- Seite
- § 27. Die Binnenschiffahrt und die internationalen
Ströme und Kanäle148—155 - I. Die Binnenschiffahrt 147
- II. Die grundsätzliche Rechtslage der internationalen Ströme 148
- III. Die Durchführung des Grundsatzes für den Rhein, die
Donau, den Kongo und den Niger 150 - IV. Der Suezkanal und der Panamakanal 153
- § 28. Der Auſsenhandel155—158
- I. Die Autonomie der Handelspolitik und die Handelsverträge 155
- II. Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr von Waren 156
- III. Die Schiedsgerichtsklausel 157
- IV. Zollverbände 157
- V. Die Vereinigung zur Veröffentlichung der Zolltarife 158
- § 29. Eisenbahn-, Fluſs- und Kanalverhältnisse158—161
- I. Verträge einzelner Staaten 158
- II. Der Vertrag vom 15. Mai 1886 über das rollende Material
der Eisenbahnen u. s. w. 160 - III. Der Vertrag über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Ok-
tober 1890 160 - § 30. Post- und Telegraphenbetrieb162—166
- I. Einzelverträge 162
- II. Der Weltpostverein vom 9. Oktober 1874 162
- III. Der Allgemeine Telegraphenverein vom 17. Mai 1865 163
- IV. Der Vertrag zum Schutze der unterseeischen Kabel vom
14. März 1884 164 - V. Der Fernsprechbetrieb 166
- § 31. Münz-, Maſs- und Gewichtswesen166—167
- I. Die Münzunionen 166
- II. Die internationale Meterkonvention vom 20. Mai 1875 167
- III. § 32. Gesetzgebung und Rechtspflege167—177
- I. Selbständigkeit der nationalen Gesetzgebung 167
- II. Vereinbarungen über Privatrecht, Civilprozeſs und Rechts-
hilfe 168 - III. Vereinbarungen über die freiwillige Gerichtsbarkeit 175
- IV. Vereinbarungen über Strafrecht und Strafverfahren 176
- IV. § 33. Der internationale Schutz der Gesundheit177—181
- I. Einzelne Verträge 177
- II. Die Bekämpfung der Cholera 177
- III. Die Bekämpfung der Pest 180
- Seite
- V. § 34. Der internationale Schutz des Eigentums181—184
- I. Schutz gegen Tierkrankheiten 181
- II. Die Reblauskonvention 181
- III. Schutz der Fischerei 182
- IV. Vogelschutz 184
- VI. § 35. Der internationale Schutz ideeller Interessen184—190
- I. Der Schutz religiöser Interessen 184
- II. Der Schutz sittlicher und humanitärer Interessen 186
- III. Der Schutz wissenschaftlicher Interessen 189
- § 36. Fortsetzung. Insbesondere die Bekämpfung des
Sklavenhandels191—196 - I. Die Bekämpfung des Handels mit afrikanischen Neger-
sklaven 191 - II. Der Handel mit chinesischen und polynesischen Arbeitern 195
- VII. § 37. Die Regelung gemeinsamer politischer
Interessen196—199 - I. Die internationalen Kongresse 196
- II. Einzelverträge über politische Verhältnisse 196
- III. Der Bündnisvertrag zwischen Deutschland, Österreich und
Italien 198 - IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
- § 38. Die völkerrechtlichen Streitigkeiten und ihre
Erledigung ohne Waffengewalt200—207 - I. Vereinbarung der Streitteile 200
- II. Schiedsrichterliche Erledigung 202
- III. Nichtkriegerische Gewaltmaſsregeln 203
- IV. Der Krieg und der Gedanke des ewigen Friedens 206
- § 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhält-
nis. Allgemeine Grundsätze207—216 - I. Begriff 207
- II. Einteilungen des Krieges 209
- III. Die Quellen des Kriegsrechts 209
- IV. Der Kriegszustand 211
- V. Die Beendigung des Krieges 213
- § 40. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts216—223
- I. Der Kriegsschauplatz 216
- II. Die Anwendung der Waffengewalt 218
- III. Verbotene Mittel der Kriegführung 222
- Seite
- § 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fort-
setzung223—231 - I. Die Rechtsstellung der Gefangenen 224
- II. Die Kranken und Verwundeten 224
- III. Belagerung und Beschieſsung 227
- IV. Die Besetzung fremden Staatsgebietes 228
- V. Die Kriegsverträge 230
- § 42. Der Seekrieg insbesondere231—239
- I. Allgemeine Grundsätze 231
- II. Die Blokade 232
- III. Feindliches Privateigentum 235
- § 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte239—248
- I. Die geschichtliche Entwickelung des Begriffes der Neu-
tralität 239 - II. Rechte und Pflichten der Neutralen 241
- III. Freiheit des Handels der Neutralen 243
- IV. Die Kriegskontrebande 244
[[XVI]]
Abkürzungen.
- B. G. Zeitschrift für das internationale Privat- und Strafrecht;
begründet von Böhm, herausgegeben von Böhm und Nie-
meyer. - L. A. Archiv für öffentliches Recht; begründet von Laband und
Stoerk. - N. R. G. Nouveau Recueil Général des Traités; begründet von
G. F. de Martens, jetzt herausgegeben von Stoerk. - R. G. Revue générale de droit international public; herausgegeben
von Pillet und Fauchille. - R. G. Bl. Deutsches Reichsgesetzblatt.
- R. J. Revue de droit international et de législation comparée;
herausgegeben von Rolin.
Einleitung.
§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
I.
Völkerrecht (jus inter gentes, droit des gens, law of nations,
auch internationales Recht genannt) ist der Inbegriff der Rechtsregeln,
durch welche Rechte und Pflichten der zur Gemeinschaft der Kultur-
staaten gehörenden Staaten untereinander bestimmt werden.
Dagegen hat das sogenannte internationale öffentliche oder
private Recht, soweit darunter der Inbegriff der nationalen Rechts-
sätze über das Geltungsgebiet des nationalen Rechts verstanden werden
soll (unten § 8 I), an sich mit dem Völkerrecht nichts gemein.
1. Die Rechtsgemeinschaft der Kulturstaaten (la communauté
du droit des gens) wird umgrenzt durch die gemeinsame Rechtsüber-
zeugung, die auf der Gemeinsamkeit der Kultur und der Interessen
beruht. Sie kennzeichnet sich durch den regelmäſsigen und umfassen-
den Verkehr auf dem Fuſse der Gleichberechtigung.
Die Völkergemeinschaft ist durchaus verschieden von dem
„Staatenstaat“, der von den Anhängern des „ewigen Friedens“
(unten § 38 IV), von Suarez, Grotius, Wolf, Kant bis auf zahl-
reiche Schriftsteller unserer Tage, in der verschiedensten Gestalt,
bald als loses Staatengefüge („Die Vereinigten Staaten Europas“),
bald als in sich geschlossener internationaler Staat, etwa nach dem
Vorbild der konstitutionellen Monarchie mit Zweikammersystem oder
aber als Universalmonarchie, geplant ist. Der Staatenstaat ist nicht
denkbar ohne Eingriff in die Souveränität der einzelnen Staaten;
die Völkergemeinschaft dagegen steht und fällt mit der Anerkennung
der Souveränität gleichberechtigter Glieder.
v. Liszt, Völkerrecht. 1
[2]Einleitung.
Die durch das Völkerrecht umschlossene Staatengemeinschaft
ist zunächst Kulturgemeinschaft. Sie beruht als solche in letzter
Linie auf der Gemeinsamkeit der religiös-ethischen Überzeugungen,
die durch das christliche Bekenntnis nicht ohne weiteres gegeben
und an dieses nicht unbedingt gebunden ist. Sie setzt aber weiter
voraus, daſs die Grenzlinie zwischen der Macht der Staatsgewalt
und der Freiheit des Einzelnen in Gesetzgebung, Rechtspflege und
Verwaltung gegen willkürliche Verrückung, sei es durch den Herr-
scher, sei es durch die Beherrschten, gesichert sei.
Die Staatengemeinschaft ist aber auch eine Interessenge-
meinschaft. Der steigende Verkehr zwischen den Staaten weist
jeden von ihnen auf jeden andern hin, läſst ihn seine thatsächliche
Abhängigkeit von allen andern (seine „interdépendance“) erkennen
und zwingt ihn zur Verständigung mit allen übrigen. So entsteht
und entwickelt sich die Erkenntnis, daſs es Lebensinteressen, Güter
der Menschen giebt, deren Träger nicht der einzelne Staat, sondern
eine Gesamtheit von Staaten ist.
In dieser Gemeinschaft der Kultur und der Interessen wurzelt
die Überzeugung, daſs die Beziehungen der Staaten untereinander
durch verbindliche Normen geregelt werden. Diese Normen bilden
das Völkerrecht.
Durch die Selbstbindung des Staatenwillens entstanden, be-
deuten diese Normen zunächst die gegenseitige Anerkennung des
von ihnen umschriebenen Machtkreises jedes einzelnen Rechts-
genossen (die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden
„Grundrechte“ der Staaten). Darüber hinausgehend aber vereinigen
sie die Willensmacht der einzelnen Glieder der Rechtsgemein-
schaft zur gemeinsamen Verfolgung gemeinsamer Interessen (die
„internationalen Verwaltungsgemeinschaften“). Jene bil-
den das ruhende, diese das beweglich fortschreitende Element des
Völkerrechts. —
Dem geschichtlichen Ursprung nach ist das Völkerrecht daher
das Recht der „christlich europäischen“ Staaten. Aber es hat
sich ausgedehnt über die christlichen Staaten hinaus auf die Türkei,
[3]§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
die, wohl verfrüht, 1856 durch den Pariser Vertrag ausdrücklich
in das „Europäische Konzert“ aufgenommen wurde (wenn auch
unter Fortdauer der Kapitulationen; unten § 15). Es hat sich weiter
erstreckt über Europa hinaus auf die selbständig gewordenen
Kolonieen der europäischen Staaten in Nord-, Süd- und Mittel-
Amerika. Es umfaſst auch christliche Staaten in andern Weltteilen;
so den Kongostaat, die südafrikanische Republik, den Oranje-Freistaat,
Liberia, Abessinien sowie (das augenblicklich noch selbständige)
Hawaï, mögen auch einzelne dieser Staaten, wie Haïti, sich heute
noch mancher Verletzung des Völkerrechts schuldig machen.
Über die Angelegenheit Lüders vgl. R. G. V 103.
Zur Völkerrechtsgemeinschaft muſs aber schon heute auch
Japan gerechnet werden. Seine Kultur, obwohl eigenartig, steht
durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen
Staaten. Das Land ist seit 1854 dem Verkehr mit den andern
Mächten und dem Einfluſs der westlichen Civilisation erschlossen;
in dem siegreichen Krieg mit China von 1894 hat Japan die Regeln
des Völkerrechts strenger beachtet als mancher europäische Staat in
den letzten groſsen Kriegen; durch die seit 1894 geschlossenen Ver-
träge hat es sich den Wegfall der Kapitulation (unten § 15) gesichert.
Allerdings sind diese Verträge noch nicht in Kraft getreten; aber die
japanische Regierung hat es in der Hand, den Zeitpunkt zu bestimmen,
in dem das geschehen soll. In diesem Augenblick wird der Eintritt
Japans in das „Europäische Konzert“ auſser allem Zweifel sein.
Vgl. Yorikadzu v. Matsudaira, Die völkerrechtlichen Verträge des
Kaisertums Japan in wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Be-
deutung. 1890.
Lehr, R. J. XXVII 97.
2. Die halbcivilisierten Staaten gehören der Völkerrechtsgemein-
schaft nur in denjenigen Beziehungen an, die durch Verträge mit den
Kulturstaaten geregelt sind. Ihnen gegenüber gilt das Völkerrecht
mithin nur als Vertragsrecht und nur soweit als der Vertrag reicht.
Kennzeichen dieser Staatengruppe ist die nur teilweise Erschlieſsung
des Landes. Siam, China, Korea, Persien sind an erster Stelle zu
nennen; aber auch die Tongainseln, Marokko und andere Staaten
1*
[4]Einleitung.
haben „Freundschafts-Verträge“ mit den Kulturstaaten geschlossen.
Unaufhaltsam schreitet diese Ausbreitung des Völkerrechts fort.
Der Weltpostverein schlieſst fast alle Staaten der sämtlichen Erd-
teile zu einer riesigen Verwaltungsgemeinschaft zusammen.
3. Im Verkehr mit den halbcivilisierten Staaten auſserhalb der
vertragsmäſsig geregelten Beziehungen und im gesamten Verkehr mit
den nichtcivilisierten Staaten ist die Rechtsgemeinschaft der Kultur-
staaten nur durch ihre thatsächliche Macht geschützt und nur durch
die Grundsätze des Christentums und der Menschlichkeit gebunden.
II.
Die Normen des Völkerrechts sind wirkliche Rechtsregeln;
sie binden die civilisierten Staaten, sie sind positives Recht.
Die Rechtsnatur des Völkerrechts wird bestritten von Lorimer,
Westlake, Lasson, Zorn und andern; scharf betont von v. Jhe-
ring, Laband und fast allen Völkerrechtsschriftstellern.
Vgl. gegen Zorn insbesondere Laband, Staatsrecht. 3. Aufl. II. 1.
Es kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, daſs die
Normen des Völkerrechts unvollkommener sind als die des nationalen
Rechts. Auf den ersten Blick scheint sogar auf dem Gebiete des
Völkerrechts die über den einzelnen Staaten stehende gesetzgebende,
richtende, vollziehende Gewalt völlig zu fehlen. Aber die Recht-
sätze des Völkerrechts tragen dennoch das unverkennbare Wahr-
zeichen des Rechts: sie sind als verpflichtend gemeint von der
rechtsetzenden Gewalt und werden als verpflichtend anerkannt von
den das Recht Empfangenden. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben
die Staaten die verpflichtende Kraft des „Völkerrechts“ ausdrück-
lich und feierlich anerkannt; bei allen Streitigkeiten zwischen den
Mächten, selbst während des Krieges, berufen sich diese auf das
„Völkerrecht“; neu entstehende Staaten verpflichten sich selbst und
werden verpflichtet, die Sätze des „Völkerrechts“ zu beachten; die
Konsuln erhalten durch Staatenverträge die Befugnis, Verletzungen
des „Völkerrechts“ durch den Empfangsstaat zu rügen; den Schieds-
richtern wird aufgetragen, „nach Völkerrecht“ die Entscheidung
zu fällen; die nationalen Gesetze enthalten (so in den „Delikten
gegen das Völkerrecht“) seine Anerkennung, und die nationalen
[5]§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
Gerichte (insbesondere die Prisengerichte) bringen es zur Anwen-
dung; nach englisch-amerikanischer Auffassung bildet das Völker-
recht sogar einen integrierenden Bestandteil des nationalen Rechts.
Es darf eben nicht übersehen werden: die rechtsetzende, rich-
tende, vollziehende Gewalt ist in Wahrheit doch vorhanden; es ist
die Gemeinschaft der Kulturstaaten selbst. Mag diese auch bei dem
Mangel einer bleibenden Organisation schwerfällig genug in Bewegung
gesetzt werden, so fehlt ihr doch nicht die Möglichkeit (und sie
hat von dieser oft genug Gebrauch gemacht), das Recht zu weisen,
es anzuwenden und es durchzusetzen. Sie kann auf Staatenkon-
gressen, oder in Versammlungen von Abgeordneten der einzelnen
Staaten die künftig anzuwendenden Rechtssätze feststellen (unten
§ 2 I 2); sie kann in derselben Weise, so lange ein ständiger inter-
nationaler Schiedsgerichtshof nicht eingerichtet ist (unten § 38 II),
Streitigkeiten schlichten; sie kann durch diplomatische oder kriege-
rische Kollektivintervention den drohenden Rechtsbruch hindern oder
den gestörten Besitzstand wieder herstellen. Sie kann auch, wie sie
das seit bald einem halben Jahrhundert in der orientalischen Frage ge-
than hat, einem engeren Ausschusse (den europäischen Groſsmächten)
ihre Befugnis delegieren. Aber selbst wenn sie von allen diesen
Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, entbehren die von ihr auf-
gestellten Normen nicht der Sanktion. Nur einem dem Leben völlig
entfremdeten Auge vermöchten die überwältigenden Nachteile zu
entgehen, die jeder Bruch des Völkerrechts heute für den recht-
brechenden Staat im Gefolge hat: je verschlungener die Fäden des
internationalen Verkehrs sind, desto lähmender muſs die Isolierung
auf jeden einzelnen Staat wirken.
III. Einteilung des Völkerrechts.
In der nachfolgenden Darstellung, die vier Bücher umfaſst,
wird ein allgemeiner und ein besonderer Teil des Völkerrechts unter-
schieden. Das erste Buch des Allgemeinen Teiles bringt die Ent-
wicklung der allgemeinen Rechtsregeln, durch welche, auch ab-
gesehen von besonderen Vereinbarungen, die Rechtstellung der
[6]Einleitung.
Staaten zueinander, der Inhalt der Grundrechte (oben S. 2), be-
stimmt wird. Sie ergeben sich unmittelbar aus dem Begriff des
Staates als eines mit allen andern gleichberechtigten Mitgliedes
der Völkerrechtsgemeinschaft. Das zweite Buch behandelt den
völkerrechtlichen Verkehr im allgemeinen, abgesehen also
von dem Inhalt der völkerrechtlichen Beziehungen; er zerfällt
in zwei Abschnitte, deren erster die Organe des völkerrecht-
lichen Verkehrs, deren zweiter die völkerrechtlichen Rechts-
verhältnisse und die rechtserheblichen Thatsachen be-
spricht. Für den Besonderen Teil ergiebt sich die Gliederung durch
den tiefgreifenden Unterschied, den Krieg und Frieden in den völker-
rechtlichen Beziehungen der Staaten begründen. Das dritte Buch
ist daher der Darstellung der friedlichen, das vierte der Dar-
stellung der feindlichen Beziehungen der Staaten gewidmet.
In dem dritten finden die Staatenverbindungen zur gemeinsamen
Verfolgung gemeinsamer Ziele (oben S. 2) ihren Platz.
Diese Einteilung soll jedoch nur den allgemeinen Rahmen,
nicht aber ein Zwangsbett für die Darstellung, bilden. Wichtiger
als die Folgerichtigkeit und Geschlossenheit des Systems ist der
innere Zusammenhang verwandter Lehren. Daher wird das erste
Buch auch solche Rechtssätze enthalten, die nicht unmittelbar aus
dem Staatsbegriff sich ergeben, wohl aber als vereinbarte Rechtssätze
eine Weiterbildung jener primären Rechtssätze darstellen.
§ 2. Die Quellen des Völkerrechts.
Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts. 1877.
I.
Das Völkerrecht beruht auf der übereinstimmenden Rechtsüber-
zeugung der Kulturstaaten. Diese äuſsert sich zum weitaus gröſsern
Teile als Rechtsübung, zum kleinern als ausdrückliche Rechtsatzung.
1. Gewohnheitsrecht (ungesetztes Recht) ist die thatsächliche
Übung als Kundgebung des Rechtsbewuſstseins (opinio juris sive neces-
sitatis). Dieses Erfordernis fehlt einerseits bei Handlungen der Höf-
lichkeit (comitas gentium, courtoisie internationale), andrerseits bei
Handlungen, die im Notstand vorgenommen werden (Notakte; unten
[7]§ 2. Die Quellen des Völkerrechts.
§ 24 III). Doch führt die Entwicklung dazu, Handlungen der Höf-
lichkeit allmählich zu Rechtspflichten zu gestalten (so bei der Rechts-
hilfe, insbesondere der Auslieferung).
Die thatsächliche Rechtsübung tritt uns entgegen:
- a) In dem friedlichen und kriegerischen Verkehr der Staaten,
insbesondere auch in dem Inhalt der zwischen den einzelnen
Staaten geschlossenen Verträge, auch wenn diese nicht, wie
in den berühmten „drei Washingtoner Regeln“ des englisch-
amerikanischen Alabama-Vertrages vom 8. Mai 1871, all-
gemeine, für das künftige Verhalten der Staaten bindende
Normen enthalten; - b) in den Entscheidungen der internationalen Gerichte (ins-
besondere der Schiedsgerichte); - c) in der nationalen Gesetzgebung und Rechtsprechung, insoweit
deren inhaltliche Übereinstimmung in den verschiedenen Staaten
die Gemeinsamkeit der Rechtsüberzeugung erkennen läſst.
(Die „Parallelgesetzgebung der Staaten“ nach Stoerk.)
Beispiele: Das italienische Garantiegesetz vom 13. Mai 1871
über die Rechtsstellung des Papstes (unten § 6 I); §§ 18—21
des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes (unten §§ 14, 15); die
Auslieferungsgesetze verschiedener Staaten.
2. Die ausdrückliche Rechtsatzung finden wir:
- a) In den Beschlüssen der internationalen Konferenzen und Kon-
gresse (Pariser Kongreſs 1856, Berliner Kongreſs 1878); - b) in den Verträgen zwischen verschiedenen Staatengruppen,
durch welche allgemeine Rechtsregeln aufgestellt werden (so
die Wiener Kongreſsakte vom 9. Juni 1815 über die inter-
nationalen Ströme (unten § 27); die Genfer Konvention von
1864 (unten §§ 27, 41 II); - c) in den sog. Unionen (Staatenvereinen oder internationalen Ver-
waltungsgemeinschaften), durch welche bleibende Interessen-
gemeinschaften gebildet werden (die Unionen zum Schutz
der Urheberrechte u. s. w. (unten § 17);
[8]Einleitung.
- d) in den durch internationale Organe (Donaukommission, inter-
nationale Gerichte u. s. w.) innerhalb ihrer Zuständigkeit ge-
troffenen Anordnungen (unten § 16).
II.
Nur die Rechtsüberzeugung der Staaten vermag Recht zu schaffen.
Daher sind nicht Quellen des Völkerrechts:
- 1. Das Naturrecht im alten Sinne, als ein über dem posi-
tiven Recht stehendes, von Zeit und Ort unabhängiges, unveränder-
liches Recht; - 2. die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht im moder-
nen Sinne des Wortes, d. h. die von der Wissenschaft an den Ge-
setzgeber gerichteten Forderungen; - 3. die Staatenpolitik, d. h. die Grundsätze, nach denen die
Staaten bei Verfolgung ihrer politischen Zwecke wirklich oder an-
geblich vorgehen (Legitimitätsprinzip, Prinzip des europäischen
Gleichgewichts, Nationalitätsprinzip); - 4. Entwicklungsgesetze, durch welche (soweit wissen-
schaftliche Feststellung hier möglich ist) die Staatenbildung und
Staatengeschichte kausal bestimmt wird (das Gesetz der natürlichen
Grenzen, der Ausdehnung bis ans Meer u. s. w.).
III.
Eine allgemeine Kodifikation des Völkerrechts ist in der
Litteratur seit Bentham durch eine ganze Reihe von Schriftstellern
vorgeschlagen worden, insbesondere 1872 durch den nachmaligen
Präsidenten des Instituts für Völkerrecht, den Rechtslehrer und
Staatsmann Mancini, in seiner in italienischer Sprache geschrie-
benen Schrift über den Beruf unseres Jahrhunderts zur Reform und
Kodifikation des Völkerrechts und zur Regelung eines internatio-
nalen Streitverfahrens. Unter den litterarischen Versuchen, die
Rechtssätze des Völkerrechts in der Gestalt eines Gesetzbuches dar-
zustellen, sind zu erwähnen: Bluntschli, Das moderne Völker-
recht als Rechtsbuch dargestellt 1868, 3. Auflage 1878; Dudley-
Field, Draft outlines of an International Code 1872; Fiore, Il
diritto internazionale codificato e la sua sanzione giuridica 1890,
2. Aufl. 1898. Wertvolle Vorarbeiten lieferte das 1873 gegründete
[9]§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
Institut für Völkerrecht und die aus demselben Jahre stammende
Association für die Reform und Kodifikation des Völkerrechts. Die
Arbeiten des erstgenannten Instituts sind seit 1877 in dem Annuaire
niedergelegt, von dem bisher 16 Bände erschienen sind.
Über den 1874 unternommenen Versuch, das Landkriegsrecht
in Gesetzesform zu bringen, vgl. unten § 39 III.
§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
Laurent, Etudes sur l’histoire de l’humanité. Histoire du droit des gens et
des relations internationales. 18 Bde. 1851 bis 1870.
v. Holtzendorff, H. H. I 159 schlieſst die Geschichte des Völkerrechts
gerade mit dem Jahre 1648. Dagegen bringt Rivier hier I 353 eine
wertvolle Darstellung der Litteraturgeschichte des Völkerrechts.
Nys, Les origines du droit international. 1894. Verschiedene Aufsätze des-
selben Verfassers in der R.J. Derselbe, Etudes de droit internatio-
nal et de droit politique. 1896.
I. Periode: bis 1648.
1. Notwendige thatsächliche Voraussetzung für die Entstehung
eines Völkerrechts ist das gleichzeitige Bestehen (die Koexistenz)
mehrerer Staaten von ungefähr gleicher Macht, die, durch die Ge-
meinsamkeit ihrer Kultur und ihrer Interessen verbunden, in stetem
und lebhaftem Verkehr miteinander stehen.
Das Völkerrecht ist unverträglich mit dem Gedanken eines,
sei es durch einen besondern Bund mit der Gottheit, sei es durch
eine überlegene und eigenartige Kultur „auserwählten Volkes“.
So lange im Sinne des jüdischen wie des klassischen Altertums
der Staatsfremde als Feind, als Ungläubiger oder als Barbar galt,
konnte ein Völkerrecht sich nicht entwickeln. Das Völkerrecht ist
aber auch unverträglich mit dem Gedanken einer Weltherrschaft,
mag diese auch in kluger Politik das Sonderleben der unterworfenen
Völkerschaften achten und erhalten, wie das im Altertum Rom
schon gethan hat. Daher war auch die Ausbreitung des Christen-
tums, obwohl sie die unentbehrliche Grundlage einer gemeinsamen
[10]Einleitung.
religiös-ethischen Anschauung schuf, doch nicht ausreichend für die
Entstehung des Völkerrechts, so lange die römisch-deutschen Kaiser
und im Wettbewerb mit ihnen die römisch-katholische Kirche nach
der Herrschaft über die gesamte Christenheit strebten. Es hat lediglich
geschichtliches Interesse, den ersten Anfängen eines Völkerrechts in
jenen Jahrhunderten des Altertums und des Mittelalters nachzuspüren.
2. Das Völkerrecht konnte daher erst entstehen, als sich mit
dem Ausgang des Mittelalters die groſsen und selbständigen christ-
lichen Staatswesen Europas (Österreich, Spanien, Frankreich, Eng-
land, der skandinavische Norden) bildeten und entwickelten. Die
Entdeckung der überseeischen Welt schuf zugleich eine bis dahin
ungeahnte Fülle gemeinsamer Interessen, während das Vordringen
der türkischen Herrschaft (1453 Eroberung von Byzanz) in den
europäischen Staaten trotz aller Eifersucht das Gefühl der Zusammen-
gehörigkeit stärkte.
3. In diese Zeit fällt die Entstehung und die erste Blütezeit
der völkerrechtlichen Wissenschaft.
Schon die Postglossatoren hatten einzelne Fragen des Völker-
rechts (neben der dem internationalen Privatrecht angehörigen Lehre
von der Statutenkollision) behandelt. Ihnen folgten die kirchen-
rechtlichen Schriftsteller, die sich mit besonderer Vorliebe der Be-
sprechung des Kriegsrechts widmeten. Die Handelsbeziehungen zu
den Ländern des fernen Ostens veranlaſsten verschiedene Aufzeich-
nungen des Seegewohnheitsrechts, unter welchen das Consolato
del mar (aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammend) als der
angesehenste coutumier die weiteste Verbreitung fand. Unter den
Schriftstellern des 16. Jahrhunderts verdienen, nach da Vittoria
(† 1546) und Belli († 1575), Albericus Gentilis († 1602, Haupt-
werk: De jure belli libri tres 1598) und der spanische Theologe
Suarez hervorgehoben zu werden.
Vgl. Thamm, Alb. Gentilis und seine Bedeutung für das Völkerrecht.
Würzb. Diss. 1896.
Aber der Einfluſs der wissenschaftlichen Litteratur des Völker-
rechts auf den thatsächlichen Staatenverkehr knüpft doch eigentlich
[11]§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
erst an an den Namen des 1645 verstorbenen Hugo Grotius
(de Groot), der zuerst als Vorkämpfer der Meeresfreiheit (darüber
unten § 26), dann durch sein unter den Stürmen des dreiſsigjährigen
Krieges und in der durch sie hervorgerufenen Friedenssehnsucht
geschriebenes Hauptwerk: De jure belli ac pacis libri tres 1625
die bleibenden Grundlagen für die Weiterentwicklung der jungen
Wissenschaft legte. Eigentümlich ist Grotius die Scheidung des
positiven Rechts von dem über diesem stehenden, von Zeit und
Raum unabhängigen und unabänderlichen Naturrecht, das Gott
selbst zugleich mit der Menschennatur gesetzt hat.
Unter seinen Nachfolgern sind zu erwähnen: Zouch († 1660),
der als Vorläufer der spätern Positivisten angesehen werden kann;
Pufendorf († 1694), der, abweichend von Grotius, das positive
Völkerrecht völlig in dem Naturrecht aufgehen lieſs; und Christian
Wolf († 1754), der gegenüber der rein idealistischen Richtung
der Pufendorfschen Schüler wieder die Scheidung des „natürlichen“
und des „positiven“ Völkerrechts durchzuführen sich bemühte. Als
Wolfs Schüler hat der Schweizer Vattel († 1767) durch sein 1758
erschienenes Droit des gens den meisten Einfluſs auf die Gelehrten
wie auf die Staatsmänner der folgenden Jahrzehnte gewonnen.
4. Den Abschluſs dieser ersten Entwicklungsperiode des Völker-
rechts bildet der westfälische Frieden von 1648, das Ergebnis der
ersten allgemeinen Beratung von Vertretern fast sämtlicher euro-
päischer Staaten. Die Gleichberechtigung der christlichen Staaten,
ohne Unterschied der Konfession wie der Staatsform, und damit
die Anerkennung der christlichen Staatengemeinschaft findet ihren
Ausdruck in dem „Prinzip des europäischen Gleichgewichts“ (auch
Système copartageant genannt). Danach hat jeder Staat das Recht,
allein oder im Bündnis mit andern, die drohende Übermacht ein-
zelner Staaten abzuwehren (bewährt und feierlich anerkannt im
Utrechter Frieden 1713). Die Unabhängigkeit der Niederlande und
der Schweiz findet die Anerkennung Europas. Die ständige Ver-
tretung der Staaten durch die an den befreundeten Höfen unter-
haltenen Gesandtschaften wird allgemein üblich.
[12]Einleitung.
II. Periode: von 1648 bis 1815.
1. Das 18. Jahrhundert bringt den Entscheidungskampf um
die Groſsmachtstellung der europäischen Mächte und die Ausdehnung
des Völkerrechts weit über die westeuropäische Grenze hinaus.
Spanien, Schweden, Holland werden aus ihrer beherrschenden
Stellung zurückgedrängt. England übernimmt die Führung der See-
mächte; Preuſsen, Ruſsland, gegen Ausgang des Jahrhunderts die
Vereinigten Staaten von Nordamerika, treten als Groſsmächte in den
Kreis der Völkerrechtsgemeinschaft ein. Im Frieden von Kutschuck-
Kainardsche von 1774 erhält Ruſsland das Schutzrecht über die
Donaufürstentümer Moldau und Walachei und damit die Grundlage
für seine Politik auf der Balkanhalbinsel.
2. Die Rechtsregeln über die Stellung der neutralen Mächte
im Seekriege erhalten eine wichtige Weiterbildung durch die unter
russischer Führung (Kaiserin Katharina) gegen Englands Übergriffe
zur See zweimal zu stande gekommene „bewaffnete Neutralität“
(28. Februar 1780; 16. Dezember 1800). Hervorzuheben sind die
folgenden von ihr zur Anerkennung gebrachten Sätze (darüber
unten §§ 42 und 43):
- a) Die Neutralen haben das Recht der freien Schiffahrt von
Hafen zu Hafen sowie an den Küsten der Kriegführenden; - b) neutrales Eigentum unter neutraler Flagge ist mit Ausnahme
der Kriegskontrebande frei (der Begriff der Kriegskontrebande
wird auf die unmittelbar und besonders für den Krieg be-
stimmten Gegenstände mit Einschluſs von Schwefel und Sal-
peter beschränkt); - c) die Blokade muſs, um die Neutralen zu verpflichten, effektiv sein.
Fauchille, La diplomatie française et la ligue des Neutres de 1780. 1893.
Bergbohm, Die bewaffnete Neutralität 1780 bis 1783. Eine Entwicklungs-
phase des Völkerrechts im Seekrieg. 1884.
Trendelenburg, Friedrichs des Groſsen Verdienste um das Völkerrecht
im Seekrieg. 1866. (Monatsberichte der Berliner Akademie).
Von besonderer Wichtigkeit ist ferner der Vertrag Preuſsens
mit den Vereinigten Staaten vom 10. September 1785: Beseitigung
der Kaperei; Unverletzlichkeit des Privateigentums im Seekrieg.
[13]§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
3. In der Wissenschaft des Völkerrechts gewinnt die positive
Methode und mit ihr die praktische Richtung, insbesondere durch
Bynkershoek († 1743), den Sieg über die naturrechtliche Schule.
Ihre späteren Hauptvertreter sind J. J. Moser († 1785) und
G. F. v. Martens († 1821).
III. Periode: von 1814/15 bis 1856.
1. Die Kriegszüge der französischen Republik und die durch
Napoleons Eroberungspolitik geschaffenen Wirren bedeuteten für das
Völkerrecht eine streng rückläufige Periode, die in der Kontinental-
sperre ihren schärſsten Ausdruck erhielt. Sie fand ihren politischen
Abschluſs durch die Bestimmungen des Pariser Friedens vom 30. Mai
1814 und durch den Wiener Kongreſs vom 13. November 1814
bis zum 25. Mai 1815 (Schluſsakte vom 9. Juni 1815).
Aus den politischen Bestimmungen sind hervorzuheben die
Schaffung des Königreichs der Niederlande, die Anerkennung der
dauernden Neutralität der Schweiz und die Vereinbarung der deut-
schen Bundesakte vom 8. Juni 1815 (ergänzt durch die Wiener
Schluſsakte vom 15. Mai 1820). Das Völkerrecht wurde weiter-
gebildet:
- a) durch die Regelung der Rangordnung der Gesandten (unten
§ 14 II); - b) durch die grundsätzliche Verdammung des Negerhandels zur
See (unten § 36); - c) durch die grundsätzliche Anerkennung der freien Schiffahrt
auf allen internationalen Strömen (unten § 27).
2. Die folgenden Jahrzehnte stehen unter dem Zeichen der
„heiligen Allianz“, die zunächst (26. September 1815) zwischen den
Herrschern von Österreich, Ruſsland und Preuſsen geschlossen, durch
den Beitritt von Frankreich und England zur Pentarchie der Groſs-
mächte sich erweiterte und im Namen des Legitimitätsprinzips die
Aufrechterhaltung des neugeschaffenen Besitzstandes der Mächte wie
die innere Ordnung der Staaten zu sichern suchte (Kongresse zu
Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach 1821, Verona 1822). Die
[14]Einleitung.
Groſsmächte waren jedoch nicht im stande, die Loslösung der spa-
nischen und portugiesischen Kolonieen in Mittel- und Südamerika
und deren Umwandlung in selbständige Staaten zu hindern (1810
bis 1825; Monroe-Doctrin 1823, unten § 7 II). Und der grie-
chische Freiheitskrieg (1821—1829) endete nach dem russisch-
türkischen Frieden von Adrianopel (1829) mit der Anerkennung
der Unabhängigkeit Griechenlands durch die Londoner Konferenz
von 1830. Auch die Loslösung Belgiens von den Niederlanden fand
ihre Anerkennung durch die Groſsmächte (Londoner Konferenz von
1830); das neu geschaffene Königreich Belgien wurde durch Vertrag
der Groſsmächte vom 15. November 1831 (dem die Niederlande im
Vertrag vom 19. April 1839 beitraten) für dauernd neutral erklärt
und die Neutralität unter die Garantie der Mächte gestellt (unten
§ 6 III).
3. Das an kriegerischen Ereignissen wie an inneren Unruhen
reiche vierte Jahrzehnt hatte die Stellung der Groſsmächte zuein-
ander wesentlich verschoben. Noch einmal fanden sie sich einmütig
zusammen, um in dem Londoner Traktat vom 8. Mai 1852 eine
neue Thronfolgeordnung für Dänemark und die Herzogtümer Schles-
wig und Holstein festzustellen. Dann brachte die russische Forde-
rung des Schutzrechts über alle Christen des türkischen Reiches
den Krimkrieg (1853—1856) zum Ausbruch. Er endete mit dem
dritten Pariser Frieden vom 30. März 1856.
IV. Periode: von 1856 bis 1878.
1. Für die Weiterbildung des Völkerrechts war der Pariser
Frieden von gröſster Bedeutung. Die Türkei wurde in das „Euro-
päische Konzert“ aufgenommen, das von den Donaumündungen ab-
gedrängte Ruſsland muſste in die Neutralisierung des Schwarzen
Meeres willigen (Aufhebung durch den Londoner Vertrag vom
13. März 1871; unten § 26 II) und seinem ausschlieſslichen Schutz-
recht über die Christen in der Türkei entsagen. Die Freiheit der
Donauschiffahrt wurde von den Mächten ausgesprochen und ihre
Durchführung einer europäischen Kommission übertragen (unten
[15]§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
§ 27 III); die Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856, hervor-
gegangen aus der Einigung der beiden groſsen Seemächte England
und Frankreich, erklärte die Kaperei für abgeschafft, verlangte die
Effektivität der Blokade und sicherte das Privateigentum im See-
krieg (unten §§ 42 und 43).
2. Aber den dauernden Frieden hatte der Pariser Kongreſs
zu sichern nicht vermocht. Auf den Schlachtfeldern erwarben die
deutschen Stämme wie die Landschaften Italiens die staatliche Ein-
heit. An Stelle Preuſsens trat das Deutsche Reich in die Reihe
der Groſsmächte und neben ihm als jüngste Groſsmacht das König-
reich Italien. Auf friedlichem Wege dagegen vollzog sich der Über-
gang der unter englische Schutzherrschaft gestellten Ionischen In-
seln an Griechenland (1863); und der Londoner Konferenz vom
11. Mai 1867 gelang es, die Luxemburger Frage zu schlichten:
die Neutralität des Groſsherzogtums wurde von den Groſsmächten
(mit Einschluſs Italiens und der Niederlande) gemeinsam garantiert,
und die preuſsische Besatzung räumte die Stadt Luxemburg, deren
Festungswerke geschleift wurden (unten § 6 III).
3. Eine wichtige Milderung der Kriegsschrecknisse bringt die
Genfer Konvention vom 22. August 1864 (über das Rote Kreuz;
unten § 41 II), der sich die Petersburger Konvention von 1868
über die Verwendung von Sprengstoffen im Krieg (unten § 40 III)
anschlieſst. Dagegen führen die Beratungen über die Kodifikation
des Landkriegsrechts (1874) zu keinem greifbaren Ergebnis (unten
§ 39 III). Die Reihe der allgemeinen administrativen Staatenverträge
(unten § 17) wird durch die Union géodésique 1864 und die Union
télégraphique 1865 eröffnet, und damit die Entwicklung des Völker-
rechts in neue Bahnen gelenkt. Der französisch-englische Handels-
vertrag vom 23. Januar 1860 leitet die Herrschaft des Freihandels-
systems zwischen den europäischen Staaten ein.
V. Periode: von 1878 bis zur Gegenwart.
1. Der Berliner Kongreſs vom 13. Juni bis 13. Juli 1878
brachte, unter Ermäſsigung der im Frieden von San Stefano fest-
[16]Einleitung.
gelegten Forderungen des siegreichen Ruſsland, die einstweilige
Regelung der orientalischen Frage. Neben Montenegro, das seine
Selbständigkeit längst und teilweise mit Erfolg behauptet hatte,
wurden Serbien und Rumänien als unabhängige Staaten anerkannt;
Bulgarien wurde zum türkischen Vasallenstaat, Ostrumelien zur
autonomen Provinz gemacht (1885 Vereinigung mit Bulgarien);
Österreich erhielt das Mandat zur Besetzung und Verwaltung von
Bosnien und der Herzegowina (unten § 10 IV); England teilte den
bis dahin geheim gehaltenen Bündnisvertrag mit der Türkei (vom
4. Juni 1878) mit, durch den es das Recht zur Besetzung von
Cypern erhalten hatte (unten § 10 IV). Auſserdem befaſste sich
der Kongreſs mit der Freiheit der Donauschiffahrt (unten § 27 III).
Vgl. Choubler, La question d’Orient depuis le traité de Berlin. 1898.
Bluntschli, R. J. XI 1, 411; XII 276, 410; XIII 571.
2. Die äuſsern Beziehungen der Staaten zueinander wurden
nach 1878 beherrscht durch die Friedenspolitik des ersten deutschen
Reichskanzlers: deutsch-österreichisches Bündnis vom 7. Oktober
1879; durch den Beitritt Italiens nach der französischen Be-
setzung von Tunis (1881) zum Dreibund erweitert (förmlicher Ab-
schluſs des Bündnisses 1887; zugleich italienisch-englische Ab-
machungen; unten § 37 III); und geheimer deutsch-russischer
Vertrag von 1884, 1890 nicht wieder erneuert. Seither Annähe-
rung und höchst wahrscheinlich festes Bündnis zwischen Frankreich
und Ruſsland (1891 die französische Flotte in Kronstadt; 1897 der
Präsident der französischen Republik in Petersburg).
3. Der europäische Frieden ermöglichte den Mächten die kräf-
tige Wahrnehmung ihrer überseeischen Interessen. Zunächst voll-
zieht sich die Aufteilung Afrikas unter die Kulturstaaten Europas:
Frankreich begründet seine Schutzherrschaft über Tunis (1881) und
befestigt damit seine Herrschaft in Nordafrika, während es gleich-
zeitig Madagaskar immer enger an sich schlieſst; England besetzt
1882 Egypten und strebt seither nach der Herstellung einer Ver-
bindung zwischen seinen nord- und südafrikanischen Besitzungen;
Italien faſst Fuſs am Roten Meer (Massaua) und sucht, allerdings
[17]§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
vergeblich, Abessinien seinem Einfluſs zu unterwerfen; Deutschland
tritt (seit 1884) in die Reihe der Kolonialmächte; die belgische
Kongogesellschaft begründet ihre bis tief ins Herz Afrikas hinein
reichende Herrschaft; die Berliner Kongokonferenz vom November
1884 bis Februar 1885 (Schluſsakte vom 26. Februar 1885) tritt den
übertriebenen Ansprüchen Englands (englisch-portugiesischer Vertrag
vom 26. Februar 1884) im Kongobecken entgegen, anerkennt den
unabhängigen Kongostaat und vereinbart die Handelsfreiheit in
dem gesamten Kongobecken; zugleich werden Rechtsregeln über
den Erwerb der Gebietshoheit an den Küsten Afrikas aufgestellt
(unten § 10 III).
4. Der langandauernde Frieden hat aber auch sonst in den ver-
schiedensten Richtungen den engeren Zusammenschluſs der Staaten
zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke zum Ergebnis. Die Zahl der
„Unionen“ (unten § 17) vermehrt sich und ihre Bedeutung wächst
in ungeahntem Maſse. Der Allgemeine Postverein von 1874 er-
weitert sich 1878 zum Weltpostverein und umfaſst allmählich die
gesamte civilisierte und nicht civilisierte Welt; andere Unionen (zum
Schutz des litterarischen wie des gewerblichen Eigentums u. s. w.)
folgen; zuletzt die Vereinbarung betreffend den Eisenbahnfracht-
verkehr von 1890. Zahlreich sind die auf das „internationale Ver-
waltungsrecht“ bezüglichen Verträge, unter denen, neben den
Konventionen zum Schutz gegen die Cholera (unten § 33 II), ins-
besondere die Brüsseler Antisklavereiakte von 1890 (unten § 36)
besondere Erwähnung beansprucht. Schwankend ist dagegen die
Handelspolitik der Staaten. Die Periode des Freihandels wird durch
eine Zeit der strengen Schutzzollpolitik abgelöst (Deutschland seit
1879), die aber ihrerseits seit dem Beginne des letzten Jahrzehnts
gemäſsigtere Bahnen einschlägt (die deutschen Handelsverträge seit
1891).
5. Den Abschluſs der Periode bilden drei kriegerische Ereig-
nisse von ungleicher Art und Tragweite: der japanisch-chinesische
Krieg von 1894 schafft die Grundlagen für eine friedliche Erschlieſsung
des weiten chinesischen Reiches, deren Folgen heute noch nicht
v. Liszt, Völkerrecht. 2
[18]Einleitung.
annähernd überblickt werden können; dem Aufstand auf Kreta und
dem griechisch-türkischen Krieg von 1897 gegenüber erhält sich
trotz aller Schwierigkeiten die Einigkeit der europäischen Mächte,
die Kreta die Durchführung der Autonomie, Ruſsland im übrigen
die Aufrechterhaltung des Besitzstandes gewährleistet; der spanisch-
amerikanische Seekrieg von 1898 endlich rückt den Wettbewerb
der Vereinigten Staaten mit den europäischen Mächten um die
Herrschaft der Welt, damit vielleicht aber auch eine engere
völkerrechtliche Zusammenfassung der Staaten Europas, in bisher
unvorhergesehene Nähe.
Nagao Ariga, La guerre sino-japonaise au point de vue du droit inter-
national. 1896.
Erskine Holland, The European Concert in the Eastern Question. 1885.
R. G. V 116 (über den türkisch-griechischen Frieden).
6. In der Wissenschaft herrscht unbestritten die positive
Methode (letzter Anhänger des Naturrechts wohl der Schotte Lo-
rimer), die die Erscheinungen des Rechtslebens der Staaten zu
verallgemeinern und die sie bestimmenden Normen in Begriffe und
Grundsätze zu fassen sich bemüht (am klarsten v. Martitz). Bisher
ist es ihr auch (trotz Heilborn u. a.) glücklich gelungen, die An-
griffe des privatrechtlichen Formalismus abzuwehren. Für ihre
Lebenskraft legen zahlreiche Systeme und Monographieen, mehr
aber noch die dem Völkerrecht gewidmeten Zeitschriften, ein
glänzendes Zeugnis ab.
§ 4. Die Litteratur des Völkerrechts.
Treffliche Übersicht in dem „Juristischen Litteraturbericht 1884—1894,
herausgegeben von v. Kirchenheim“ (für das Völkerrecht bearbeitet
von Stoerk). In der folgenden Übersicht sind die empfehlenswertesten
Werke durch Sternchen hervorgehoben.
I. Systematische Darstellungen.
1. In deutscher Sprache:
Bluntschli († 1881), Das Völkerrecht der civilisierten Staaten als Rechts-
buch dargestellt. 1868. 3. Aufl. 1878.
Bulmerincq († 1890), Das Völkerrecht oder das internationale Recht, 1884
(in Marquardsens Handbuch des öffentlichen Rechts).
[19]§ 4. Die Litteratur des Völkerrechts.
* Gareis, Institutionen des Völkerrechts. 1888.
Hartmann, Institutionen des praktischen Völkerrechts in Friedenszeiten
mit Rücksicht auf die Verfassung, die Verträge und die Gesetzgebung
des Deutschen Reiches. 1874. 2. Aufl. 1878.
Heffter († 1880), Das europäische Völkerrecht der Gegenwart auf den bis-
herigen Grundlagen. 1844. 8. Aufl. herausgegeben von Geffcken
(† 1896) 1888.
* v. Holtzendorff († 1889), Handbuch des Völkerrechts (in Einzelbeiträgen).
4 Bände. 1885—1889.
* F. v. Martens, Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten
Nationen. Deutsch von Bergbohm. 1883—1888.
* Rivier, Lehrbuch des Völkerrechts. 1889.
* Stoerk in v. Holtzendorffs Rechtsencyklopädie. 5. Aufl.
* E. Ullmann, Völkerrecht. 1898. (Neubearbeitung des oben erwähnten
Bulmerincq’schen Werkes.)
2. In nicht deutscher Sprache (nur die wichtigeren neueren Ar-
beiten können hier genannt werden):
Bry, Précis élémentaire de droit international public. 2. Aufl. 1892.
Bonfils, Manuel de droit public (droit des gens). 1894. 2. Aufl., heraus-
gegeben von Fauchille, 1898.
Chrétien, Précis de droit international public. 1893.
Despagnet, Cours de droit international public. 1894.
Piédelièvre, Précis de droit international public ou droit des gens. 2 Bände,
1894/95.
* Rivier, Principes du droit des gens. 2 Bände. 1896.
Pradier-Fodéré, Traité de droit international public européen et améri-
cain. 7 Bände. 1885—1897.
Calvo, Le droit international théorique et pratique. 4. Aufl. 5 Bände.
1887/88; 6. (Ergänzungs-) Band 1896.
Hall († 1895), A treatise on international law. 4. Aufl. 1895.
T. J. Lawrence, A Handbook of public international law. 4. Aufl. 1898.
Lorimer, Institutes of the Law of Nations. 2 Bände. 1882—1884. Fran-
zösische Ausgabe von Nys. 1885.
Phillimore († 1885), Commentaries upon international law. 3. Aufl. 4 Bände.
1879 ff.
Travers Twiss († 1897), Le droit des gens ou des nations considérées
comme communautés politiques indépendants. Selbständige französ.
Ausgabe des 1861 ff. erschienenen englischen Werkes. 2 Bände. 1887
und 1889.
Walker, The science of international law. 1893.
Derselbe, A Manual of public international law. 1895.
Wheaton, Elements of international law. 3. Aufl. 1889 (dazu ausführlicher
Kommentar von Lawrence).
2*
[20]Einleitung.
Pasquale Fiore, Trattato di diritto internazionale publico. 3. Aufl.
3 Bände, 1887—1891.
II.
Von Zeitschriften sind insbesondere zu nennen:
* „Revue de droit international et de législation comparée“, seit 1869 er-
scheinend; jetzt unter der Redaktion von Eduard Rolin in Brüssel
(bisher 29 Bände).
* „Revue général de droit international public“, herausgegeben von Pillet
und Fauchille seit 1894 (bisher 4 Bände).
Einzelne einschlagende Abhandlungen auch in der „Zeitschrift für inter-
nationales Privat- und Strafrecht“ (seit 1891), begründet von Böhm
und im „Archiv für öffentliches Recht“ (seit 1885), begründet von
Laband und Stoerk.
III.
Unter den Sammelwerken steht unerreicht da der groſse „Recueil
des traités“ (Quellenmaterial seit 1761), begründet von G. F. de Mar-
tens, mit verschiedenen Fortsetzungen; zuletzt als „Nouveau Recueil
Général de Traités et autres actes relatifs aux rapports de droit inter-
national“, seit 1876; von 1887 ab unter der Leitung von Stoerk (seit
1876 22-Bände). Daneben sind das seit 1861 erscheinende (von Aegidi
und Klauhold begründete) „Staatsarchiv“, sowie die seit demselben
Jahre erscheinenden, von Renault geleiteten „Archives diplomatiques“
zu erwähnen.
[[21]]
I. Buch.
Die Rechtssubjekte und ihre allgemeine
Rechtsstellung.
§ 5. Die Staaten als Rechtssubjekte des Völkerrechts.
I.
Nur die Staaten (nicht die Fürsten, noch die Völker) sind
Subjekte des Völkerrechts: Träger von völkerrechtlichen Rechten und
Pflichten.
Staat im Sinne des Völkerrechts ist die auf einem bestimmten Ge-
biete angesiedelte, durch eine selbständige und unabhängige Herrscher-
gewalt zusammengefaſste, menschliche Gemeinschaft. Zum Begriff des
Staates gehören mithin drei Merkmale: 1. die selbständige und unab-
hängige (souveräne) Staatsgewalt; 2. das Staatsgebiet; 3. das Staatsvolk.
Subjekte des Völkerrechts sind daher nicht:
1. Nomadisierende Stämme, soweit sie nicht etwa ein abge-
grenztes Gebiet ausschlieſslich beherrschen. Die mit ihnen ge-
schlossenen Verträge können aber als „fiktiver Besitzerwerb“ (unten
§ 9 II) in Betracht kommen.
2. Die von Einzelnen oder von privaten Gesellschaften aus-
gehenden kolonisatorischen Unternehmungen.
Jedoch ist zu bemerken:
- a) Diese Unternehmungen werden zu selbständigen Staaten in
dem Augenblick, in dem sich in ihnen die drei Merkmale
des Staatsbegriffes vereinigen. Die seither, nicht aber die
bis dahin von ihnen abgeschlossenen Rechtsgeschäfte stehen
unter den Normen des Völkerrechts.
[22]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
- b) Es ist möglich, daſs der Staat in einem ihm bereits er-
worbenen Gebiet Einzelnen oder Privatgesellschaften die
Ausübung von Hoheitsrechten in seinem Namen widerruflich
überläſst. Dann sind und bleiben diese Gebiete aber Teile
des Mutterlandes und werden nach auſsen hin durch dieses
vertreten.
Vgl. Heilborn, R. G. III 177.
Beispiele bieten: Die englisch-ostindische Kompagnie (ge-
gründet 1600, East-India-Bill 1784, Aufhebung des Pivilegiums
nach Unterdrückung des Aufstandes 1858). — Die heutigen eng-
lischen chartered companies am Niger, in Ost- und Südafrika
(1886, 1888, 1889). — Die deutsche Neu-Guinea-Kompagnie,
der durch die kaiserlichen Schutzbriefe vom 17. Mai 1885 und
15. Dezember 1886 die Ausübung der Staatshoheitsrechte, mit Aus-
nahme der Rechtspflege, übertragen worden ist.
Besonders zweifelhaft und bestritten ist der Zeitpunkt, in
welchem die internationale Gesellschaft des Kongo zum Kongostaat
geworden ist. Verträge, die von der Gesellschaft Ende 1884 und
Anfang 1885 geschlossen worden sind (mit dem Deutschen Reich
am 8. November 1884, R. G. Bl. 1885 S. 211) sprechen davon, daſs
„die Flagge der Gesellschaft als die eines befreundeten Staates an-
erkannt“ werde. Aber noch während der Kongokonferenz von 1885
wird der Kongostaat vielfach als ein erst ins Leben zu rufender
Staat bezeichnet. Unter diesen Umständen wird daran festgehalten
werden müssen, daſs erst durch die Konferenz selbst der neue
Staat geschaffen worden ist; genauer gesprochen: durch die Er-
klärung des Königs der Belgier vom 1. Oktober 1885, daſs er die
Regierung des Kongostaates übernommen habe und durch die Zu-
stimmung der Mächte zu dieser Erklärung.
Vgl. Moynier, La fondation de l’Etat indépendant du Congo au point
de vue juridique. 1887.
R. G. I 409. R. G. II 405 (Fauchille).
3. Die aufständischen Parteien, auch wenn sie einen Teil
des Staatsgebietes unter ihre Herrschaft gebracht haben, so lange
[23]§ 5. Die Staaten als Rechtssubjekte des Völkerrechts.
die bisherige Staatsgewalt noch fortbesteht. Über ihre Aner-
kennung als kriegführende Partei unten § 39 I.
4. Der Papst, obwohl er nicht nur nicht Unterthan irgend
eines Staates ist, sondern auch durch das italienische Garantie-
gesetz vom 13. Mai 1871 eine Reihe von Rechten, insbesondere das
aktive und passive Gesandtschaftsrecht, erhalten hat, die sonst nur
souveränen Staaten zustehen, und diese unter Zustimmung der
übrigen Staaten ausübt. Die von den Staaten mit dem Papst ge-
schlossenen Verträge (Konkordate) stehen daher nicht unter dem
Völkerrecht. Daher kann ferner die italienische Regierung für
Handlungen des Papstes nicht verantwortlich gemacht werden;
jedenfalls nicht von denjenigen Staaten, die durch Unterhaltung
diplomatischer Beziehungen mit der Kurie deren extranationale
Stellung anerkannt haben. Andrerseits ist zu beachten, daſs Italien
den Mächten gegenüber sich verpflichtet hat, die Unabhängigkeit
des Papstes zu sichern, seine Rechtsstellung insoweit also auf
völkerrechtlicher Grundlage ruht.
Vgl. Geffcken H. H. II. 153.
Bompart, Le pape et le droit des gens. 1888.
Scaduto, Guarentigie ponteficie. 2. Aufl. 1889.
Imbart de la Tour, La papauté en droit international. 1893.
De Olivart, Le pape, les Etats de l’Eglise et l’Italie. Essai juridique
sur l’état actuel de la question romaine. 1897.
5. Auch die Staatsteile (Provinzen, Kreise, Gemeinden) mit
Einschluſs der Kolonieen, sind nicht Rechtssubjekte des Völkerrechts.
Schlieſst z. B. England mit den Niederlanden einen Vertrag, der
ausschlieſslich für Britisch-Guayana Vorteile und für Niederländisch-
Guayana Lasten bringt, so werden doch nur die beiden vertrag-
schlieſsenden Staaten, niemals ihre unmittelbar interessierten Kolo-
nieen aus dem Vertrage berechtigt und verpflichtet.
II.
Schwierigkeiten bietet die völkerrechtliche Stellung der Staaten-
verbindungen: u. z. insbesondere deshalb, weil die geschichtlich ge-
gebenen Erscheinungen den von der Wissenschaft aufgestellten Begriffen
sich nicht immer einordnen wollen.
Vgl. insbesondere Jellinek, Die Lehre von den Staaten verbindungen. 1882.
[24]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
1. In der Personal-Union ist jeder einzelne der verbundenen
Staaten völkerrechtliches Rechtssubjekt.
Beispiele: 1707 bis 26. Mai 1857 Preuſsen und Neuenburg;
1815 bis 23. Oktober 1890 die Niederlande und Luxemburg. Seit
1877 Groſsbritannien und Indien; seit 1885 Belgien und der
Kongostaat.
2. Das Gleiche gilt begrifflich vom Staatenbund; doch kann
der Bund daneben selbständiges völkerrechtliches Rechtssubjekt in
einzelnen Beziehungen sein.
Beispiel: Der Deutsche Bund 1815—1866. Artikel 113 der
deutschen Verfassung von 1815: „Die Bundesglieder behalten zwar
das Recht der Bündnisse aller Art, verpflichten sich jedoch, keine
Verbindung einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes
oder einzelner Bundesstaaten gerichtet ist.“ Daneben hatte der
Bund aktives und passives Gesandtschaftsrecht.
3. Der Bundesstaat ist selbständiges völkerrechtliches Rechts-
subjekt; doch kann den einzelnen Staaten eine beschränkte völker-
rechtliche Handlungsfähigkeit überlassen sein.
Beispiele: Die Schweiz nach der Verfassung vom 29. Mai 1874.
Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nach der Verfassung
vom 17. September 1787. Hier wie dort ist der Bund ausschlieſs-
lich Rechtssubjekt. Doch haben die Schweizer Kantone ein, wenn
auch sehr beschränktes, Vertragsrecht. — Anders das Deutsche
Reich. Artikel 11 der Verfassung: „Der Kaiser hat das Reich
völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu er-
klären und Frieden zu schlieſsen, Bündnisse und andere Verträge
mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu
empfangen.“ Doch haben die einzelnen Staaten das aktive und
passive Gesandtschaftsrecht, und soweit die Zuständigkeit des
Reiches nicht eingreift, das Recht des Vertragschlusses.
4. Die Realunion kommt für das Völkerrecht nur als solche in
Betracht, so daſs die verbundenen Staaten jeder für sich nicht als
völkerrechtliche Rechtssubjekte erscheinen.
Ein gutes Beispiel bietet Österreich-Ungarn seit dem Ausgleich
von 1867. Aber auch in der Realunion kann durch das die Staaten
[25]§ 5. Die Staaten als Rechtssubjekte des Völkerrechts.
verbindende Staatsgrundgesetz dem einzelnen Staate eine gewisse
völkerrechtliche Handlungsfähigkeit eingeräumt sein. So bilden
Schweden und Norwegen seit dem 6. August 1815 eine Realunion.
Aber beide Staaten haben, jeder für sich allein, Verträge geschlossen,
so Auslieferungs- und Handelsverträge, und wiederholt erscheinen
die beiden Staaten nebeneinander als Unterzeichner von Kollektiv-
verträgen. Daher ist denn auch in der Litteratur die juristische
Konstruktion des Verhältnisses dieser beiden Staaten zu einander
sehr bestritten.
III.
Ein Staat ist entstanden, sobald alle drei Merkmale des
Staatsbegriffes gegeben sind; er ist untergegangen, sobald eines von
ihnen hinwegfällt.
Entstehung und Untergang des Staates kann erfolgen (unten § 20):
1. Durch natürliche Thatsachen oder diesen gleichstehende
Handlungen. Der Staat kann entstehen durch Besiedlung eines bis-
her unbewohnten Gebietes. So wurde die Neger-Republik Liberia,
1821 durch Besiedlung mit freigelassenen Negern gegründet, 1847
als unabhängiger Staat anerkannt; unter ähnlichen Umständen 1860
das benachbarte Maryland; Transvaal ist 1837 durch holländische
Buren besiedelt worden. Er kann untergehen durch Auswande-
rung oder Vernichtung sämtlicher Staatsangehörigen, durch den
Untergang des Staatsgebietes (infolge eines Erdbebens, einer Sturm-
flut u. s. w.).
2. Durch Rechtsgeschäft, insbesondere durch die Vereinbarung
der beteiligten Staaten oder dritter Mächte. So haben sich durch
Vertrag vom 20. Juni 1895 die bisher selbständigen Staaten Hon-
duras, Salvador und Nicaragua zur „Republica mayor von Central-
Amerika“ zusammengeschlossen; so ist der Einheitstaat Österreich
durch den Ausgleich von 1867 zum Doppelreich Österreich-Ungarn
geworden.
3. Durch Waffengewalt insbesondere. So ist durch den griechi-
schen Freiheitskrieg von 1821—1829 (ganz abgesehen von den
Beschlüssen der Londoner Konferenz von 1830/31) Griechenland
zum selbständigen Staat geworden. Durch Eroberung wurden 1866
[26]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt als
selbständige Staaten vernichtet.
Die Entstehung eines Staates ist unabhängig von der Aner-
kennung (reconnaissance) durch die übrigen Mächte. Diese hat im
allgemeinen nur deklaratorische Bedeutung, konstitutive Bedeutung
nur insoweit, als sie den anerkennenden Staat bindet (wichtig be-
sonders die Anerkennung durch das Mutterland), der durch vorbe-
haltlose Anerkennung auf diejenigen Rechte verzichtet, die durch
die Neubildung verletzt sein können.
Die Bedeutung der Anerkennung ist sehr bestritten. Vielfach wird ihr
überhaupt konstitutive Bedeutung beigelegt, so daſs der nicht aner-
kannte Staat rechtlich nicht besteht; so auch Heilborn, R. G. III 179.
Die Anerkennung kann ausdrücklich, insbesondere in feier-
licher Weise auf Kongressen, oder auch stillschweigend, so durch An-
knüpfung oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen geschehen.
Beispiele bieten: die Anerkennung des Kongostaates (oben S. 22) durch
den Berliner Kongreſs von 1885; die Anerkennung von Montenegro,
Serbien, Rumänien durch den Berliner Kongreſs von 1878. Sie kann
unbedingt erfolgen oder an „Bedingungen“ geknüpft sein. Dabei
kann freilich im Einzelfall die Entscheidung der Frage schwierig
sein, ob es sich wirklich um (aufschiebende oder auflösende) Be-
dingungen oder aber um Auflagen handelt. Die den Balkanstaaten
durch den Berliner Kongreſs von 1878 auferlegten Verpflichtungen
(unten S. 28) sind nicht als auflösende Bedingungen zu betrachten,
deren Nichterfüllung die Vertragsmächte zum Widerruf der Aner-
kennung berechtigen würde; sondern als Auflagen, deren Erfüllung
durch gewaltsame Intervention durchgesetzt werden könnte.
Vgl. dagegen z. B. Pièdelièvre 99.
Verweigerung der Anerkennung berechtigt als Unfreundlich-
keit (nicht als Unrecht) zur Retorsion (unten § 38); vorzeitige An-
erkennung eines um seine Selbständigkeit ringenden Staatsgebietes,
so die der Vereinigten Staaten von Nordamerika durch Frankreich
vom 15. März 1778, ist rechtswidrige Intervention in die inneren
Angelegenheiten des Mutterlandes.
[27]§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.
IV.
Veränderungen in der Regierungsform eines Staates haben
keinen Einfluſs auf seine völkerrechtlichen Berechtigungen und Ver-
pflichtungen.
Über den Einfluſs von Gebietsveränderungen auf bestehende
Rechte unten § 23.
I.
§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.
I.
Souveränität ist die Eigenschaft der Staatsgewalt, die höchste,
nach auſsen hin selbständige, im innern unabhängige Macht (die
summa potestas) zu sein. Die Souveränität äuſsert sich in der uneinge-
schränkten völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit.
1. Handlungsfähigkeit aber ist zunächst als Geschäftsfähigkeit
die Fähigkeit, durch selbständig abgegebene oder entgegengenommene
Willenserklärungen (Rechtsgeschäfte) sich zu berechtigen oder zu ver-
pflichten.
Sie tritt besonders hervor:
- a) In der Unterhaltung des völkerrechtlichen Verkehrs durch
ständige diplomatische Agenten (jus legationum, aktives
und passives Gesandtschaftsrecht). - b) In der Fähigkeit zum Abschluſs von Verträgen, insbesondere
auch von Bündnisverträgen (jus foederum et tractatuum). - c) In dem Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schlieſsen
(jus belli ac pacis).
2. Handlungsfähigkeit ist ferner als Deliktsfähigkeit die völker-
rechtliche Verantwortlichkeit für rechtswidrige Handlungen.
II.
Völkerrechtliche Rechtsfähigkeit und völkerrechtliche Hand-
lungsfähigkeit fallen mithin durchweg zusammen. Ist die Handlungs-
fähigkeit völlig ausgeschlossen, so daſs der „Staat“ nur durch
eine fremde Staatsgewalt Rechte erwerben und Pflichten begründen
kann, so ist jener Staat als völkerrechtliches Rechtssubjekt überhaupt
nicht vorhanden (so der einzelne Staat bei streng durchgeführter Real-
union). Ist die Handlungsfähigkeit teilweise ausgeschlossen,
so daſs der Staat nur in gewissen völkerrechtlichen Beziehungen
selbständig handelnd auftreten kann, in andern aber durch eine
[28]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
fremde Staatsgewalt vertreten werden muſs, so gelangen wir zu
dem unter IV zu besprechenden Begriff der Halbsouveränität. Ver-
schieden von dem gänzlichen oder teilweisen Ausschluſs der Hand-
lungsfähigkeit ist ihre Beschränkung, ihre Bindung durch Ver-
träge, die Übernahme von Verpflichtungen zu einem bestimmten
Handeln oder einem bestimmten Unterlassen (Offensivbündnis; Bin-
dung der autonomen Zollpolitik durch einen Handelsvertrag).
Der Beweis für die fortdauernde Souveränität liegt darin,
daſs der verpflichtete Staat der übernommenen Verpflichtung zu-
wider handeln kann und sich durch dieses Zuwiderhandeln völker-
rechtlich verantwortlich macht; daſs also die gegen die Verpflichtung
vorgenommenen Handlungen Rechtswirkungen erzeugen. Das muſs
auch dann angenommen werden, wenn die Auferlegung der Ver-
pflichtung durch den einseitigen Beschluſs dritter Mächte erfolgt
ist. So ist durch die Artikel 33, 44 und 62 des Berliner Ver-
trages von 1878 die Freiheit der Religionsbekenntnisse in Serbien,
Rumänien wie in der Türkei ausgesprochen worden, obwohl der
Vertrag von den neu anerkannten Staaten Serbien und Rumänien
nicht mit unterzeichnet, also nicht mit geschlossen wurde. So ist
durch die Berliner Kongoakte von 1885 die Handelsfreiheit für
das ganze Kongobecken, also auch für den nicht mit unterzeich-
neten Kongostaat vereinbart worden.
Auch durch unkündbare, von dritten Mächten auferlegte Ver-
pflichtungen, wird mithin die Souveränität als „die höchste, nur
sich selbst bestimmende Macht“ (Laband) zwar beschränkt, aber
nicht, auch nicht teilweise, ausgeschlossen.
III.
Die Souveränität wird insbesondere zwar wesentlich beschränkt,
aber nicht ausgeschlossen durch die dem Staat auferlegte oder von
ihm übernommene Verpflichtung zu dauernder Neutralität.
Piccioni, Essai sur la neutralité perpétuelle. 1891.
de Mazade, L’Europe et les neutralités, la Belgique et la Suisse. 1893.
Hilty, Die Neutralität der Schweiz in ihrer heutigen Auffassung. 1889.
Und dazu Rettich, L. A. V 113.
Schweizer, Geschichte der schweizerischen Neutralität. 1895.
[29]§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.
Die dauernde Neutralisierung unabhängiger Staaten findet sich
erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts.
Morand, R. G. I 522.
Sie verfolgt den Zweck, den neutralisierten Staat im allge-
meinen Interesse vor den Einverleibungsgelüsten der benachbarten
Staaten sicherzustellen. In diesem Sinne kann man den neu-
tralisierten Staat auch als „Pufferstaat“ (Etat tampon nach dem
von Thiers eingeführten Ausdruck) bezeichnen. Diese Sicherung
kann aber nur dann als hinreichend angesehen werden, wenn die
interessierten Staaten sich verpflichten, die Integrität des Gebietes
des neutralisierten Staates zu schützen und, wenn nötig, mit Waffen-
gewalt zu verteidigen: Garantierung der Neutralität, meist als Kol-
lektivgarantie (unten § 22 II). Gerade deshalb muſs aber auch ange-
nommen werden, daſs auch ohne besondere Vereinbarung jede Gebiets-
veränderung, sei es durch Vergröſserung, sei es durch Verkleinerung,
ohne Zustimmung der garantierenden Mächte ausgeschlossen ist.
R. G. I 417; Fauchille, R. G. II 427.
Die dauernde Neutralität, mag sie mit dritten Mächten ver-
einbart, oder durch diese auferlegt sein, bindet aber auch den
neutralisierten Staat insoweit, als er nicht nur andere Kriege als
zur Verteidigung seines Gebietes nicht führen, sondern auch im
Frieden keine Verträge schlieſsen darf, die ihn (wie Bündnisse
oder Garantieverträge) zur Kriegführung verpflichten könnten.
Jedoch ist die von ihm vorgenommene Kriegserklärung nicht
etwa nichtig, sondern sie hat alle die Rechtswirkungen, die durch
die Kriegserklärung von seiten eines nicht neutralisierten Staates
erzeugt werden (unten § 39 III). Wohl aber befreit sie die garan-
tierenden Staaten von der durch diese übernommenen Verpflichtung
und berechtigt sie zum Einschreiten gegen den neutralisierten Staat.
Da Gebietserwerbungen, insbesondere auch die Erwerbung
von Kolonieen einen Staat sehr leicht in kriegerische Verwicklungen
hineinziehen können, muſs auch aus diesem Grunde dem dauernd
neutralisierten Staat das Recht zu Gebietserwerbungen versagt
werden.
[30]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Die dauernde Neutralisierung bindet aber auch die übrigen
Staaten, soweit sie, sei es ausdrücklich, sei es auch nur still-
schweigend (unten § 20 II) ihre Zustimmung erteilt haben, so daſs
Verletzung der Neutralität durch die Kriegführenden als völker-
rechtliches Delikt erscheint.
Verschieden von der Neutralisierung einzelner Staaten ist
die (hier nicht interessierende) dauernde Neutralisierung bestimmter
Staatsteile (unten § 40 I).
Dauernd neutralisierte Staaten sind:
- 1. Die Schweiz, neutralisiert durch die Erklärung vom 20. No-
vember 1815, unterzeichnet von Österreich, Frankreich, England,
Portugal, Preuſsen, Ruſsland, unter der Kollektivgarantie der Sig-
natarmächte. - 2. Belgien, dessen Neutralisierung durch Vertrag der Groſs-
mächte vom 15. November 1831 ausgesprochen und garantiert,
von den Niederlanden durch Vertrag mit den Groſsmächten vom
19. April 1839 anerkannt worden ist (vgl. auch die englischen
Verträge mit Preuſsen und Frankreich vom August 1870). - 3. Luxemburg, dessen Neutralisierung durch den Londoner
Vertrag zwischen den Groſsmächten, Belgien und den Niederlanden
vom 11. Mai 1867 ausgesprochen und (von diesen Mächten mit
Ausnahme Belgiens) garantiert worden ist. - 4. Der Kongostaat, der auf Grund des Art. 10 der General-
akte vom 26. Februar 1885 seine dauernde Neutralität am 1. Au-
gust 1885 den Mächten mitgeteilt hat.
IV.
Die Souveränität wird nicht vollständig, wohl aber teilweise
ausgeschlossen durch die Oberherrlichkeit (Souveränität) eines andern
Staates.
Heilborn, Das völkerrechtliche Protektorat. 1891.
Despagnet, Essai sur les protectorats. 1896.
Engelhardt, Les protectorats anciens et modernes. 1896.
Gairal, Le protectorat international. 1896.
Bornhak, Einseitige Abhängigkeitsverhältnisse unter den modernen
Staaten. 1896.
Pillet, R. G. II 583.
Pic, R. G. III 613.
[31]§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.
1. Die Handlungsfähigkeit des unter der Oberherrlichkeit eines
andern Staates stehenden Staates (auch wohl unzutreffend „Vasallen-
staat“ genannt) ist insoweit ausgeschlossen (und insoweit ist dieser
Staat nicht souverän), als das Recht des oberherrlichen Staates reicht,
ihn in völkerrechtlichen Beziehungen, insbesondere im diplomatischen
Verkehr, beim Abschluſs von Verträgen, in der Kriegführung und
im Friedensschlusse zu vertreten. Soweit dagegen trotz der Ober-
herrlichkeit eines andern Staates für den Vasallenstaat die Möglich-
keit besteht, durch eigne Handlungen sich zu berechtigen und zu ver-
pflichten, soweit besitzt er völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, und
ebensoweit auch ist er völkerrechtliches Rechtssubjekt, ist er souverän.
Man pflegt diese eigenartige Rechtsstellung, in welcher die Souveräni-
tät nach gewissen Richtungen hin ausgeschlossen, nach andern da-
gegen vorhanden ist, mit dem nicht sehr glücklichen Ausdruck „Halb-
souveränität“ zu bezeichnen.
Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe
in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur un-
eingeschränkten Selbständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechts-
stellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu
prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung
dem oberherrlichen Staat vollständig übertragen (Tunis kann Ver-
treter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung
auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in
nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Han-
delsverträgen, Litterarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn-
und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten
regelmäſsig beteiligt. In diesem Fall kann der halbsouveräne Staat
innerhalb seiner Selbständigkeit selbst mit dem Oberstaat Verträge
schlieſsen (vgl. das türkisch-bulgarische Eisenbahnübereinkommen
von 1894). Für rechtswidrige Handlungen des halbsouveränen Staates
haftet der Oberstaat uneingeschränkt (unten § 24). Wie weit dagegen
der Einfluſs des Oberstaates auf die innere Verwaltung des halbsouve-
ränen Staates reicht, hängt von den besondern Vereinbarungen
ab, wenn auch ein gewisser Einfluſs schon durch die völkerrecht-
liche Vertretung unvermeidlich gemacht wird. Nicht erforderlich
ist die Verpflichtung des halbsouveränen Staates zur Waffenhilfe
[32]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
bei Kriegen des Oberstaates (die eigentliche Vasallität). Erhebung
des erstern gegen den letztern ist jedenfalls nicht Krieg im völker-
rechtlichen Sinne (unten § 39 I).
Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates dem oberherr-
lichen Staate gegenüber kann unter die Garantie dritter Mächte
gestellt sein.
Die Begründung einer bisher nicht bestandenen Oberherr-
schaft bedarf an sich nicht der Zustimmung oder der Anerkennung
dritter Mächte. Doch haben diese ein Einspruchsrecht, soweit
durch diese Veränderung in ihre wohlerworbenen Rechte eingegriffen
wird (darüber unten § 20 II). Die Aufkündigung der Schutzherr-
schaft durch den Unterstaat ist ausgeschlossen, da er ja gerade in
dem Verhältnisse zu dem Oberstaate sich seiner staatlichen Souve-
ränität begeben hat. Die Aufkündigung hat ebensowenig unmittel-
bare Rechtswirkung wie etwa die Unabhängigkeitserklärung einer
Kolonie.
Die wichtigsten halbsouveränen Staaten sind heute:
- a) Unter der Oberherrlichkeit der Türkei:
1. Egypten, seit dem Vertrag zwischen England, Ruſsland,
Österreich, Preuſsen vom 15. Juli 1840 (Beitritt Frankreichs am
10. Juli 1841) und den Firmanen von 1841 und 1873 und trotz
der Schmälerung der Egypten eingeräumten Rechte durch die Fir-
mane von 1879 und 1892.
Dagegen behauptet ein anonymer Aufsatz in R. G. III 291, daſs Egypten
nach wie vor Provinz des ottomanischen Reiches sei, da der Sultan
die Hoheitsrechte dem Khedive nicht zu eigenem Rechte abgetreten,
sondern nur der Ausübung nach delegiert habe.
2. Bulgarien, durch den Berliner Vertrag von 1878 unter
der Kollektivgarantie der Signatarmächte.
- b) Unter der Oberherrlichkeit von Spanien und Frankreich:
die Republik Andorra. - c) Unter der Oberherrlichkeit Frankreichs:
1. in Hinterindien die Königreiche Kambodja (durch Verträge
von 1863 und vom 17. Juni 1884) und Annam (durch Verträge von
1874 und 6. Juni 1884).
[33]§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.
2. Tunis (durch den Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag
mit dem Bey vom 12. Mai 1881 und den Vertrag vom 8. Juni 1883).
Dagegen ist das bis dahin (seit dem Vertrag vom 17. De-
zember 1885) halbsouveräne Königreich Madagaskar 1896 zur
französischen Kolonie geworden (Gesetz vom 6. August 1896). —
Monaco, häufig hierhergestellt, ist unabhängig.
Vgl. R. G. II 150, III 55, IV 228; die Aktenstücke von 1894 und 1895
sind abgedruckt N. R. G. 2. Ser. XXI 755.
- d) Unter der Oberherrlichkeit Englands:
1. Die eingebornen Fürsten Indiens.
2. Die drei kleinen Staaten der Insel Borneo: Nord-Borneo,
Sarawak und Brunei, seit 1888.
3. Das Sultanat von Zanzibar (deutsch-englischer Vertrag vom
7. November 1890).
Dagegen hat Afghanistan, das sich 1879 unter englische
Oberherrschaft gestellt hatte, seither durch Einwirkung Ruſslands
wieder eine unabhängigere Stellung gewonnen.
Bestritten ist die Stellung der südafrikanischen Republik (Trans-
vaal). Nach dem mit England am 27. Februar 1884 geschlossenen
Vertrag hat dieses das Recht, gegen alle von der Republik mit
andern Mächten (mit Ausnahme des Oranje-Freistaates) geschlossenen
Verträge binnen 6 Monaten Einspruch zu erheben. Da die Ver-
träge aber nicht von England für die südafrikanische Republik,
sondern von dieser in eigenem Namen geschlossen werden, da mit-
hin von einer völkerrechtlichen Vertretung Transvaals durch England
nicht gesprochen werden kann, genügt diese Einschränkung nicht,
um die Republik als halbsouverän erscheinen zu lassen.
Für die gegenteilige Ansicht Rivier, I 89, 316, sowie insbesondere Heil-
born, R. G. 3, 28, der ein ganz eigenartiges Verhältnis annimmt und
sowohl die Souveränität Transvaals, als auch die Oberherrschaft Eng-
lands bestreitet; ferner de Louter, R. J. XXVIII 117, Westlake,
R. J. XXVIII 268.
- e) Unter der Oberherrlichkeit Ruſslands:
Die Khanate Chiwa und Buchara (seit 1873).
v. Liszt, Völkerrecht. 3
[34]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
- f) Unter der Gesamtoberherrlichkeit von Deutschland, England und
den Vereinigten Staaten:
die Samoa-Inseln (durch Vertrag der drei Mächte vom
14. Juni 1889).
- g) Die von Italien über Abessinien auf Grund des Vertrages zu
Utschialli vom 25. Mai 1889 in Anspruch genommene Ober-
herrschaft muſste im Frieden zu Adis Abeba vom 26. Oktober
1896 wieder aufgegeben werden.
Despagnet, R. G. IV 1.
2. Verschieden von der Oberherrlichkeit ist der vertragsmäſsig
einem andern Staat gewährte Schutz, das eigentliche, heute nurmehr
ausnahmsweise vorkommende Protektorat. Durch das Schutzver-
sprechen wird die Souveränität des geschützten Staates in keiner
Weise berührt. Ein Beispiel bietet San Marino im Verhältnisse zu
Italien (Vertrag von 1862).
3. Als staatsrechtliches oder koloniales „Protektorat“ oder als
„Schutzgewalt“ über „Schutzgebiete“ pflegt man wohl auch irre-
führend einerseits die Landeshoheit über überseeische Kolonieen, andrer-
seits die völkerrechtlichen Befugnisse in der Interessensphäre oder dem
Hinterlande zu bezeichnen (unten § 9 II).
§ 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit.
(Die völkerrechtlichen Grundrechte.)
I.
Aus dem Begriff des Völkerrechts ergiebt sich unmittelbar die
Pflicht eines jeden Staates, alle übrigen Staaten als gleichberechtigte
Glieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft, als souveräne Rechtsge-
nossen anzuerkennen und sich jedes Eingriffs in ihre Selbständigkeit
zu enthalten. Jeder solche Eingriff begründet ein völkerrechtliches
Delikt (unten § 24).
1. Die aus diesem Satz sich ergebenden Rechte kommen ohne
weiteres jedem Staat als Mitglied der völkerrechtlichen Gemein-
schaft (aber auch nur diesen, und nicht den auſserhalb der Ge-
meinschaft stehenden Staaten) zu; sie werden daher auch wohl als
völkerrechtliche „Grundrechte“ bezeichnet. Sie bedürfen, wie die
ihnen entsprechenden Pflichten, keiner besondern, vertragsmäſsigen
[35]§ 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit.
Anerkennung, die, wenn sie dennoch erfolgt, nur deklaratorische
Bedeutung hat oder als Einzeldurchführung des selbstverständlichen
Grundsatzes erscheint. Sie sind nur die logischen Folgen aus dem
Begriff der Souveränität und daher mit dem Begriff des Staates
als eines völkerrechtlichen Rechtssubjektes ohne weiteres gegeben;
so daſs man sie auch als völkerrechtliche „Persönlichkeits-
rechte“ bezeichnet hat (Heilborn).
Es empfiehlt sich nicht, von einem besonderen „Recht der
Selbsterhaltung“ (droit de conservation) zu sprechen, da dieses
doch nur im Falle des Notstandes (unten § 24 III) zu Eingriffen
in fremde Rechte berechtigt.
Pillet, R. G. V 66.
Stoerk, 1291.
Heilborn, 280.
2. Durch die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Mitglieder
der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die sich insbesondere auf den
Staatenkongressen in dem gleichen Stimmrecht aller Beteiligten und
dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit bei allen Beschlüssen
äuſsert, wird die thatsächliche Vorherrschaft einzelner von ihnen
nicht ausgeschlossen. Man denke an die thatsächliche Stellung der
europäischen Groſsmächte (das „Europäische Konzert“).
II.
Aus der Pflicht jedes Staates, die Selbständigkeit aller
übrigen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu achten, er-
giebt sich:
1. Jeder Staat hat nicht nur jedes Angriffs auf die äuſsere
Existenz jedes andern Staates sich zu enthalten, sondern auch dafür
Sorge zu tragen, daſs auf dem von ihm beherrschten Gebiet kein
solcher Angriff von seinen Staatsangehörigen oder von Staatsfremden
vorbereitet oder unternommen werde.
Italien würde mithin seinen völkerrechtlichen Pflichten zu-
widerhandeln, wenn es den Bestrebungen der Italia irridenta, die
auf Losreiſsung eines Teils des österreichischen Gebietes gerichtet
sind, nicht entgegentreten wollte. Ebenso Rumänien gegenüber
seinen „unerlösten“ Stammesgenossen. Und es fragt sich, ob das
Verhalten Englands, das nicht nur den Verschwörern aller Länder
3*
[36]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Asyl gewährt, sondern auch ihrem Treiben ruhig zuzusehen pflegt,
den Anforderungen des Völkerrechts in allen Fällen entsprochen hat.
Vgl. R. G. I 157.
2. Kein Staat darf sich unbefugt in die innern oder äuſsern
Angelegenheiten eines andern Staates einmischen (Prinzip der Nicht-
intervention).
Intervention ist die autoritative Einmischung in die innern oder
äuſsern Angelegenheiten eines andern Staates. Sie erfordert das an
einen andern Staat gerichtete, wenn auch nicht notwendig durch An-
drohung oder Anwendung von Waffengewalt unterstützte Verlangen
zu einem bestimmten Thun oder Unterlassen.
Sie ist daher verschieden von der Intercession d. h. der Er-
teilung freundschaftlicher Ratschläge, sowie von der unten § 38 I zu
besprechenden Mediation oder Vermittlung. Die Grenzlinie mag
freilich im einzelnen Falle schwer zu ziehen sein. So wurde der
von Ruſsland, Frankreich und Deutschland gegen den Frieden von
Simonoseki vom 17. April 1895, insbesondere gegen die Abtretung
der Halbinsel Liautung, erhobene Einspruch auf beiden Seiten als
„freundschaftlicher Ratschlag“ bezeichnet, obwohl es klar war, daſs
seine Beachtung im Notfalle erzwungen werden würde.
Die Intervention widerspricht dem heutigen Völkerrecht.
Aber dieser Satz hat sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts aus-
gebildet. Die Heilige Allianz hat die Aufrechthaltung des „legi-
timen“ Zustandes in den kleineren europäischen Staaten von 1815
an wiederholt mit Waffengewalt durchzusetzen versucht. Erst seit
dem dritten Jahrzehnt tritt Groſsbritannien für die Unabhängigkeit
der einzelnen Staaten ein. Einen besonderen Ausdruck hat dann
das Prinzip der Nichtintervention gefunden in der Botschaft von
James Monroe, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, vom
2. Dezember 1823.
Cespedes, La doctrina de Monroe. 1893.
Desjardin, R. G. III 137.
J. B. Moore, R. J. XXVIII 301.
Th. Barclay, R. J. XXVIII 502.
Declarue de Beaumarchais, La doctrine de Monroe. 1898.
[37]§ 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit.
Die sogenannte Monroe-Doctrin umfaſst die Aufstellung
zweier, voneinander gänzlich verschiedener Sätze.
a) Die Vereinigten Staaten verwahren sich dagegen, daſs die
europäischen Mächte das von ihnen in Europa angewendete Prinzip
der Intervention (dessen Anwendung gegenüber den im siegreichen
Kampf gegen das Mutterland begriffenen mittel- und südamerika-
nischen Kolonieen Spaniens und Portugals Ruſsland mehrfach, auch
auf dem Kongreſs zu Verona 1822, unter dem Widerspruch Eng-
lands, angeregt hatte) auch auf die amerikanischen Gebiete zu
übertragen versuchen. Sie proklamieren also das Selbstbestimmungs-
recht der amerikanischen Kontinente und erklären ausdrücklich,
sich in die Angelegenheiten Europas auch fernerhin nicht einmischen
zu wollen.
b) Die Vereinigten Staaten erklären aber weiter, daſs jeder
Erwerb amerikanischen Gebietes durch eine europäische Macht
künftighin ausgeschlossen sein solle, mag dieser Erwerb ein ursprüng-
licher (durch Eroberung oder Okkupation), mag er ein abgeleiteter
(durch Vertrag) sein. Damit greift die Monroe-Doctrin weit hinaus
über die Rechtssätze des Völkerrechts, das solchen Erwerb in
gleicher Weise auf allen Teilen der Erde zuläſst. Schon in der
Botschaft ist aber auch die Forderung angedeutet, die dann später
die Vereinigten Staaten mit steigender Bestimmtheit, aber unter
dem Widerspruch Europas wie auch teilweise der übrigen ameri-
kanischen Staaten selbst aufgestellt haben, daſs nämlich den Ver-
einigten Staaten eine Schutzherrschaft auch über die süd- und
mittelamerikanischen Staaten zukomme („Amerika“ nicht den Ameri-
kanern, sondern „den Vereinigten Staaten“); eine Forderung, die
in direktem Widerspruch gerade zu dem Interventionsprinzip steht.
Die Befugnis zu einer Einmischung in die Angelegenheiten
eines andern Staates kann gegeben sein:
1. Durch das Ersuchen des andern Staates selbst oder durch
dessen Zustimmung (Ruſsland und Österreich 1849).
2. Durch ein von diesem vertragsmäſsig eingeräumtes Recht.
[38]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
3. Durch die Notwendigkeit, die eigenen Staatsinteressen
gegen drohende Gefahr oder die Interessen der Staatsangehörigen
gegen ein ihnen von dem fremden Staat zugefügtes oder drohendes
Unrecht zu schützen (unten § 11 III).
4. Dagegen kann nicht zugegeben werden, daſs ein Ein-
mischungsrecht schon dann gegeben sei, wenn nach der, sei es
auch begründeten Ansicht eines Staates die allgemeinen Interessen
der Menschheit oder der Kultur einen Angriff notwendig machen
(die Vereinigten Staaten und Kuba 1898); denn damit würde der
Willkür Thür und Thor geöffnet. Und ebensowenig darf in der Be-
drückung von Stammesgenossen für dritte Staaten ein Grund für die
Intervention erblickt werden, denn das Schutzrecht eines jeden Staates
beschränkt sich, von besonderen Vereinbarungen abgesehen, auf seine
eigenen Staatsangehörigen (Griechenland gegenüber Kreta 1897).
In allen diesen Fällen kann das Recht zum Einschreiten auch
einer Mehrzahl von Staaten gemeinschaftlich zustehen (sogenannte
Kollektiv-Intervention). So hat der Berliner Vertrag 1878 das
Recht der Groſsmächte zur Einmischung in die innern Angelegen-
heiten der Türkei, das jene seit 1840 begehrt und seit 1856
(unter Zurückweisung des von Ruſsland seit 1774 beanspruchten
einseitigen Schutzrechts) thatsächlich wiederholt geübt hatten, be-
züglich der armenischen Provinzen ausdrücklich anerkannt. Vgl.
Berliner Vertrag Artikel 61: „Die Hohe Pforte verpflichtet sich,
ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins
Leben zu rufen, welche die örtlichen Verhältnisse in den, von den
Armeniern bewohnten Provinzen erfordern und für die Sicherheit
derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie
wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zweck ge-
troffenen Maſsregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben
überwachen werden, Kenntnis geben.“ Auf diesem Artikel beruhte
das Einschreiten der Mächte zu Gunsten der Armenier im Jahre 1895.
Aber auch allgemein liegt in der durch den Pariser Frieden
von 1856 ausgesprochenen Kollektivgarantie des ottomanischen Ge-
bietes durch die Groſsmächte die Begründung eines Internationalrechtes
[39]§ 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit.
für diese. Darauf gestützt, haben Groſsbritannien und Österreich
nach dem russisch-türkischen Präliminarfrieden zu San Stephano
1878 sich in die weiteren Friedensverhandlungen eingemischt.
Vgl. dazu Engelhardt, R. J. XII 363 und R. G. II 296.
3. Aus der gegenseitigen Unabhängigkeit der Staaten vonein-
ander folgt, daſs kein Staat vor die Gerichte eines andern Staates
gestellt werden kann, es sei denn, daſs es sich (unten § 8 III) um
dingliche Klagen in Bezug auf unbewegliches Gut handelt oder er
sich freiwillig der inländischen Gerichtsbarkeit unterwirft.
Dieser Satz, der heute noch von der weitaus überwiegenden
Litteratur und Rechtsprechung anerkannt wird, ist in neuerer Zeit
vielfach angefochten werden. Man stellt die Behauptung auf, daſs
der Staat, soweit er nicht als solcher, sondern als Privatunter-
nehmer (als Fabrikant, als Betreiber einer Eisenbahn u. s. w.) auf-
tritt, soweit also nicht seine Souveränität in Frage steht, daſs also
der fremde Staat als Fiskus den inländischen Gerichten auch
gegen seinen Willen unterworfen sei.
Vgl. die Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht von 1891.
Audinet, R. G. II 385.
Hartmann, R. J. XXII 425.
Die richtige Ansicht wird nicht nur von der Rechtsprechung
der meisten auſserdeutschen Länder, sondern ganz besonders auch
von den deutschen obersten Gerichtshöfen ständig vertreten.
Vgl. Droop in Gruchots Beiträgen XXVI 289.
Privatrechtliche Streitigkeiten zwischen selbständigen Staaten
können daher regelmäſsig nur auf dem Wege einer gütlichen Ver-
einbarung oder durch Schiedsgerichtsspruch erledigt werden.
Vgl. Streit, L’affaire Zappa. 1894.
4. Auch die exterritoriale Stellung des in fremdem Staatsgebiet
weilenden Staatsoberhauptes sowie des Gesandten ergiebt sich als
Folgerung aus der Unabhängigkeit jedes einzelnen Gliedes der Völker-
rechtsgemeinschaft (unten §§ 12 ff.).
III.
Jeder Staat hat Recht und Pflicht des Verkehrs mit allen
übrigen Mitgliedern der Völkergemeinschaft (des commerciums, der
Soziabilität), der „Erschlieſsung des Landes“ (unten § 25).
[40]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Ein Staat, der durch eine chinesische Mauer sich gegen alle
übrigen Staaten abschlieſsen wollte, tritt damit aus der Völker-
rechtsgemeinschaft aus. Ein Staat, der einem andern Staat allein
grundsätzlich das allen andern gewährte commercium versagt, be-
gründet damit für diesen einen casus belli. Durch diese grund-
sätzliche Verpflichtung wird die Berechtigung nicht berührt, im
einzelnen Falle den Abschluſs eines Vertrags, den Empfang einer
Gesandtschaft zu verweigern. (Die Ansichten über diesen Punkt
gehen auseinander. Doch bedeutet auch die beliebte Aufstellung
eines „droit de passage oder usage inoffensif“ nichts anderes als
die Anerkennung des hier vertretenen Satzes.)
IV.
Als Verletzung der Souveränität, mithin als völkerrecht-
liches Delikt (unten § 24), erscheint auch jede Beleidigung des
fremden Staates, sei es in seinen völkerrechtlichen Vertretern und
Organen, sei es in seinen Hoheitszeichen.
Jeder Staat hat daher auch, insbesondere durch seine Straf-
gesetzgebung, dafür Sorge zu tragen, daſs solche Verletzungen auf
seinem Gebiet sich nicht ereignen. Dagegen gehört die Erweisung
besonderer Ehren nicht mehr dem Völkerrecht, sondern der inter-
nationalen Höflichkeit an. Das gilt von dem gesamten Land- und
See-Zeremoniell, sowie insbesondere von den sogenannten „könig-
lichen Ehren“ (Gesandte erster Klasse, Königskrone im Wappen,
Brudertitel).
Titeländerungen, die ein Staat für sich vornimmt, binden
andere Staaten nur, insoweit sie die Änderung ausdrücklich oder
stillschweigend anerkannt haben.
§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
I.
Die Souveränität schlieſst begrifflich nicht nur (negativ) die
Unzulässigkeit jeder äuſsern Einwirkung, sondern auch (positiv) die
innere Unabhängigkeit in sich. Sie erscheint daher als völkerrecht-
lich anerkannte Herrschaft über das ganze Staatsgebiet und über die
auf dem Gebiet befindlichen Personen und Sachen.
Die Selbständigkeit der Staatsgewalt äuſsert sich allen übrigen
Staaten gegenüber als autonome Regelung der Gesetzgebung, der
Rechtspflege und der Verwaltung (Territorialprinzip).
[41]§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
Jedoch ist zu beachten:
1. In Ausübung seiner Autonomie darf der Staat nicht über-
sehen, daſs er nicht isoliert dasteht, sondern Glied einer groſsen Ge-
meinschaft gleichberechtigter Rechtsgenossen ist. (Interdépendance,
oben § 1 I). Er hat daher Kollisionen mit der Autonomie der
andern Staaten zu vermeiden.
Hier liegt der Berührungspunkt zwischen dem Völkerrecht
und dem sogenannten internationalen öffentlichen und Privatrecht
(oben § 1 I). Die Lösung der Statutenkollision, die nicht nur im
Privatrecht und im Strafrecht, sondern auf allen Gebieten der Ge-
setzgebung ohne jede Ausnahme von Wichtigkeit werden kann, ist
zweifellos zunächst Aufgabe eines jeden einzelnen Staates. Durch
seine nationale Gesetzgebung hat er zu bestimmen, ob im einzelnen
Fall inländisches oder ausländisches Recht zur Anwendung kommen
soll. Aber die ausnahmslose Anwendung des inländischen Rechtes
auf alle zur Beurteilung der nationalen Behörden gelangenden
Rechtsverhältnisse, also die uneingeschränkte Durchführung des
Territorialprinzips, würde im Widerspruch stehen mit dem Grund-
gedanken des Völkerrechts selbst: mit der Anerkennung der Gleich-
berechtigung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft; und
sie würde im Widerspruch stehen mit den Bedürfnissen des inter-
nationalen Verkehrs, insbesondere des Handelsverkehrs. In der
That bringt kein einziger Staat heute ausnahmslos sein heimisches
Recht zur Anwendung. Jeder Staat schreibt vielmehr unter ge-
wissen Voraussetzungen die Anwendung des ausländischen Rechtes
vor, mag es sich um die persönliche Rechtsfähigkeit eines Aus-
länders oder um ein dingliches Recht an einer im Auslande ge-
legenen Sache oder um die Gültigkeit eines im Ausland geschlossenen
Vertrages u. s. w. handeln. Diese Grundsätze, durch welche die Ent-
scheidung über die „Konflikte“ des inländischen mit dem ausländischen
Recht, über die „Kollision der Statuten“, bestimmt wird, hat die
nationale Gesetzgebung ausdrücklich oder stillschweigend aufzustellen.
Aber sie hat bei Aufstellung derselben die Coexistenz der mit ihr
gleichberechtigten ausländischen Staaten ins Auge zu fassen.
[42]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Freilich muſs die Darstellung des positiven Völkerrechts mit
der Hervorhebung dieses allgemeinen Satzes sich begnügen. Seine
Durchführung durch besondere Staatsverträge ist bisher nur im
bescheidensten Umfang gesichert (unten § 32). Aber auch abge-
sehen von diesen Verträgen, ist schon heute die Überwindung des
sogenannten Territorialprinzips gerade durch die nationale Gesetz-
gebung aller Kulturstaaten eine feststehende Thatsache.
2. Die Autonomie kann durch vertragsmäſsig übernommene
oder durch von andern Staaten auferlegte Verpflichtungen beschränkt
sein (oben § 6 II).
II.
Die Staatsgewalt, bezogen auf das Staatsgebiet (unten § 9)
und durch diese Beziehung räumlich umgrenzt. nennen wir Gebiets-
hoheit (Territorialgewalt). Sie ist imperium, nicht dominium; völker-
rechtlich anerkannte Herrschaft über das Gebiet, nicht ein dingliches
Recht an dem Gebiet.
1. Die Gebietshoheit schlieſst jedes Eingreifen einer fremden
Staatsgewalt in das Staatsgebiet, jede Ausübung fremder Hoheitsrechte
in dem Gebiet aus.
Über die besondern Rechtsregeln, welche für die konsulari-
schen Jurisdiktionsbezirke gelten unten § 15 IV.
2. Ein und dasselbe Gebiet kann unter der, sei es geteilten,
sei es ungeteilten Herrschaft mehrerer Staaten stehen (condominium).
Ungeteilte Mitherrschaft hatten nach dem Wiener Frieden
vom 30. Oktober 1864 Österreich und Preuſsen in Schleswig-Hol-
stein und Lauenburg; sie wurde 1866 gelöst. Ungeteilte Mitherr-
schaft haben Belgien und Preuſsen seit 1814 an dem Minendistrikt
von Moresnet; doch ist die Teilung des Gebietes von Preuſsen vor-
geschlagen worden (1897). Über geteilte Mitherrschaft unten § 9 III.
3. Die Gebietshoheit kann, wie die Staatsgewalt überhaupt,
durch die zu Gunsten anderer Staaten übernommenen oder aufer-
legten Verpflichtungen beschränkt sein.
So kann ein Staat verpflichtet sein:
- a) auf seinem Gebiet die Ausübung eines Hoheitsrechtes durch
einen andern Staat zu dulden; oder
[43]§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
- b) auf seinem Gebiet die Ausübung eines eignen Hoheits-
rechtes zu unterlassen.
Beispiele für a: Die Einräumung eines Besetzungs- oder
Durchzugsrechtes, einer Kohlenstation, einer Fischereigerechtsame.
Beispiele für b: Die Neutralisierung gewisser Gebiete (unten
§ 40 I). Ferner: Die durch den Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867
getroffene Bestimmung, daſs die geschleiften Befestigungen der Stadt
Luxemburg nicht wieder aufgerichtet werden dürfen. Die durch
Artikel 29 des Berliner Vertrags vom 13. Juli 1878 Montenegro auf-
erlegte Verpflichtung, am Laufe der Bojana keine Befestigungen anzu-
legen, soweit sie nicht zur Verteidigung von Skutari bis zu 6 km
von der Stadt notwendig sind. Die Bestimmung des Konstantinopler
Vertrages vom 2. Juli 1881 (Abtretung eines Teiles von Thessalien
und von Arta an Griechenland), nach welcher die Befestigungen
am Golfe von Arta niedergelegt und in Friedenszeiten nicht er-
neuert werden sollen.
Clauſs, Die Lehre von den Staatsdienstbarkeiten. 1894.
Es ist völlig irreführend, in diesen Fällen von (positiven und
negativen) völkerrechtlichen Servituten zu sprechen. Denn
ganz abgesehen davon, daſs an Stelle des praedium dominans der
berechtigte Staat und seine Angehörigen treten, fehlt vor allem der
dingliche Charakter dieser Berechtigungen. Wenn Ruſsland etwa
auf einer französischen Insel eine Kohlenstation eingeräumt erhält,
und später England diese französische Insel erwirbt, so kann durch-
aus nicht behauptet werden, daſs der Erwerber des belasteten Ge-
bietes ohne weiteres in die Verbindlichkeit seines Vorgängers ein-
rückt. Es ist vielmehr in solchem Falle Sache des Veräuſserers,
den bisher Berechtigten zu entschädigen, wenn dieser nicht aus-
drücklich oder stillschweigend, durch vorbehaltlose Einwilligung
in die Gebietsveränderung, auf sein Recht verzichtet.
Anders liegt die Sache dann, wenn, insbesondere bei der
Verpflichtung, die Ausübung von Hoheitsrechten zu unterlassen,
die Bindung des verpflichteten Staates nicht im einseitigen Interesse
seines Vertragsgegners, sondern etwa durch Kongreſsbeschluſs im
[44]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
allgemeinen Interesse erfolgt. Dann ruht die Verpflichtung aller-
dings insoweit auf dem Gebiete, als sie bei Gebietsveränderungen
auf den Erwerber übergeht (unten § 23). Ein vielbesprochenes Bei-
spiel bieten die ehemals sardinischen Provinzen Chablais und
Faucigny. Diese sollten nach Artikel 92 der Wiener Kongreſsakte
an der Neutralität der Schweiz teilnehmen; im Fall eines Krieges
sollte Sardinien seine Truppen zurückziehen und die Schweiz das
Besetzungsrecht haben. Als durch den Turiner Vertrag vom
24. März 1860 diese Gebiete von Sardinien an Frankreich über-
tragen wurden, erkannte Frankreich ausdrücklich seine Verpflichtung
an, sie mit der auf ihnen ruhenden Neutralität zu übernehmen
und sich, falls es deren Beseitigung wünschte, mit den Signatar-
mächten der Wiener Kongreſsakte ins Einvernehmen zu setzen.
Die Schweiz hat auch 1859 und 1870 ihr Besetzungsrecht betont,
aber nicht ausgeübt. Aber auch in diesem Falle paſst der privat-
rechtliche Begriff der Servituten schlecht auf diese streng öffent-
lich-rechtliche Beschränkung der Staatsgewalt (unten § 19 I).
III.
Die Gebietshoheit ergreift grundsätzlich alle auf dem Ge-
biet befindlichen Sachen, und zwar die unbeweglichen wie die beweg-
lichen Sachen, jedoch mit den durch die Exterritorialität (s. unten IV)
gegebenen Einschränkungen.
1. Der Staat kann daher grundsätzlich Erwerb und Besitz
von unbeweglichen Sachen den Staatsfremden verbieten oder von
der Erfüllung besonderer Bedingungen abhängig machen (unten
§ 25 I). Dies gilt insbesondere auch von dem Erwerb durch einen
fremden Staat selbst oder durch fremde Staatshäupter und Staats-
vertreter.
2. Dingliche Klagen in Bezug auf unbewegliche Güter ge-
hören auch dann vor die Gerichte des Staates, in dem sie gelegen
sind, wenn der Kläger oder der Beklagte exterritorial ist. Dieser
allgemein anerkannte Satz kann auf die Erwägung gestützt werden,
daſs, wer ein dingliches Recht an einer in fremdem Staate ge-
legenen Sache erwirbt, sich der Gerichtsbarkeit dieses Staates frei-
willig unterwirft.
[45]§ 8. Die Souveränität als innere Unabhängigkeit.
3. Der exterritoriale Eigentümer eines unbeweglichen Gutes
(mit Ausnahme des Gesandtschaftshotels) ist auch der gesamten auf
dieses bezüglichen Staatsverwaltung, insbesondere auch der Steuer-
verwaltung, unterworfen. Auch hier kann der Gesichtspunkt der
freiwilligen Unterwerfung verwendet werden.
IV.
Die Gebietshoheit ergreift alle auf dem Gebiet sich befindenden
Personen. Nicht nur die Staatsangehörigen, sondern auch die auf
dem Gebiet weilenden Staatsfremden sind der Gesetzgebung, Rechts-
pflege, Verwaltung des Aufenthaltstaates (als sogenannte subditi tempo-
rarii) unterworfen.
Damit ist umgekehrt für den Aufenthaltstaat die Verpflichtung
gegeben, auch den auf seinem Gebiet sich aufhaltenden Staatsfremden
denselben Schutz zu gewähren, wie seinen eigenen Staatsangehörigen.
Er hat daher insbesondere die Verpflichtung, auch in Rechtsstreitig-
keiten zwischen den Angehörigen desselben fremden Staates die Durch-
führung begründeter Ansprüche durch seine Gerichte und seine Voll-
streckungsbehörden zu sichern. Abweichend bisher die französische
Rechtsprechung, die aber mehr und mehr der richtigen Ansicht
sich genähert hat.
1. Aber so wie die Staatsfremden keinen Anspruch auf die
Gewährung der staatsbürgerlichen (politischen) Rechte haben (unten
§ 25 I 4), so können sie auch den staatsbürgerlichen Pflichten im
engeren Sinne (den politischen Pflichten) nicht unterworfen werden.
Insbesondere ist die Heranziehung der Staatsfremden zu der staatlichen
oder kommunalen Wehrpflicht oder zu der an deren Stelle tretenden
Wehrsteuer, sowie zu andern Kriegsleistungen völkerrechtswidrig.
Dieser Grundsatz ist wiederholt in Verträgen ausdrücklich
ausgesprochen worden. Vgl. deutsch-japanischen Handels- und
Schiffahrtsvertrag vom 4. April 1896, Artikel 2: „Die Angehörigen
eines jeden der vertragschlieſsenden Teile, welche in den Gebieten des
anderen wohnen, sollen von jedem zwangsweisen Militärdienst irgend
welcher Art, sei es im Heer, in der Flotte, der Bürgerwehr oder
der Miliz, von allen an Stelle persönlicher Dienstleistung auf-
erlegten Abgaben und von allen Zwangsanleihen oder militärischen
Leistungen oder Abgaben befreit sein.“
[46]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Dagegen beruht die Befreiung von dem „zwangsweisen Amts-
dienst gerichtlicher, administrativer oder munizipaler Art“ (als
Geschworner u. s. w.) nicht auf allgemeinem Rechtssatz, sondern
auf besonderer Vereinbarung (vgl. den deutsch-griechischen Handels-
und Schiffahrtsvertrag vom 9. Juli 1884, R. G. Bl. 1885 S. 23, Art. 5;
deutsch-italienischen Handels- u. s. w. Vertrag vom 6. Dezember 1891,
R. G. Bl. 1892 S. 97, Art. 4; und verschiedene andere).
2. Die Staatsfremden werden aber auch, wenn sie im Ausland
sich aufhalten, der inländischen Gesetzgebung, Rechtspflege, Ver-
waltung unterworfen, soweit die Rechtsverhältnisse, an denen sie als
Berechtigte oder Verpflichtete beteiligt sind, unter das inländische
Recht fallen.
3. Die Gebietshoheit ergreift nicht die sogenannten exterritorialen
Personen, die von der inländischen Civil- und Strafgerichtsbarkeit
(mithin mittelbar von der Herrschaft der Civil- und Strafgesetze selbst),
sowie von persönlichen Steuern und Abgaben, insbesondere aber von
dem Zugriff der vollstreckenden Gewalt des Aufenthaltstaates, befreit
(eximiert) sind.
Die Befreiung erstreckt sich auch auf die im Eigentum oder
Besitz dieser Personen befindlichen beweglichen Sachen, nicht aber
auf ihre unbeweglichen Güter. Die einzelnen Rechtsregeln werden
später entwickelt werden.
Exterritorial sind:
- a) Der fremde Staat selbst (oben § 7 II 3).
- b) Das fremde Staatsoberhaupt (unten § 12 II).
- c) Die diplomatischen Vertreter fremder Staaten (unten §§ 13—15).
- d) Fremde Truppenkörper, sowie fremde Staatsschiffe (unten § 9 V).
Dabei macht es keinen Unterschied, ob ihr Aufenthalt auf
der Bewilligung des Aufenthaltstaates beruht oder nicht (In-
vasionsarmee). - e) Auch den Angehörigen gewisser internationaler Kommissionen
pflegt eine beschränkte Exterritorialität eingeräumt zu sein (unten
§§ 16 und 27). - f) In den nichtchristlichen Ländern genieſsen die Angehörigen der
christlichen Mächte auf Grund der sogenannten Kapitulationen
eine weitgehende Befreiung von der Gebietshoheit des Aufent-
haltstaates (unten § 15 IV).
[47]§ 9. Das Staatsgebiet.
- g) Aber auch der Papst wird gewohnheitsrechtlich von den christ-
lichen Mächten als exterritorial behandelt. In Italien beruht
seine exterritoriale Stellung auf dem Garantiegesetz vom 13. Mai
1871 (oben § 5 I).
4. Verschieden von der Exterritorialität ist die Unverletzlich-
keit gewisser Personen und Sachen im Krieg (unten § 40).
II.
§ 9. Das Staatsgebiet.
I.
Staatsgebiet ist das von der Staatsgewalt eines Staates (also von
der Gebietshoheit) umfaſste Gebiet.
Die Grenzen des Staatsgebietes sind im folgenden näher dar-
zustellen.
II. Die Gebietshoheit umfaſst zunächst:
1. Das Staatslandgebiet, d. h. den von den Staatsgrenzen um-
schlossenen Teil der Erdoberfläche, mit den von andern Staaten
umschlossenen Gebietsteilen (Enclaven), sowie mit den vom Wasser
umspülten Inseln.
Die Grenzen sind entweder natürliche oder künstliche. Als
erstere spielen Gebirge und Flüsse die Hauptrolle. Bei jenen ist
meist die Wasserscheide, bei diesen, soweit nicht andere Verein-
barungen getroffen sind, der sogenannte Thalweg die Grenzlinie.
Künstliche Grenzen, die nach den Grundsätzen der Erdmessung
festgestellt werden, sind besonders in den bisher noch nicht oder
nicht vollständig erforschten Ländern gebräuchlich. Die Grenze
kann auch durch einen mehr oder weniger breiten Landstreifen
gebildet werden, der vielleicht als „neutrale Zone“ der Verwaltung
der beiden beteiligten Grenzstaaten entzogen wird. Vgl. die Ab-
machungen zwischen Spanien und Marokko vom 5. März 1894 über
das Feld von Melilla. Dagegen hat die sogenannte österreichische
Militärgrenze stets einen Bestandteil der Habsburgischen Monarchie
gebildet.
2. Die Kolonieen, die auch als sogenannte Schutzgebiete
(oben § 6 IV) zu dem Mutterland nicht in völkerrechtlicher, sondern
[48]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
in staatsrechtlicher Beziehung stehen, allen andern Staaten gegen-
über Ausland sind und durch das Mutterland völkerrechtlich ver-
treten werden. An diesem Verhältnis ändert auch die weitest-
gehende, den Kolonieen eingeräumte Autonomie nichts.
G. Meyer, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete.
1888.
3. Den Luftraum oberhalb der durch die Staatsgrenzen um-
schriebenen Erdoberfläche, soweit er thatsächlich beherrscht werden
kann, sei es durch Feuerwaffen, sei es durch Luftballons.
Sehr bestritten; wichtig für die Rechtstellung der Neutralen
im Kriege.
4. Uneingeschränkt den Erdraum unter der durch die Staats-
grenze umschriebenen Erdoberfläche.
Wichtig für unterirdische Anlagen aller Art: Bergwerke,
Eisenbahn-Tunnels, telegraphische Leitungen u. s. w.
5. Die Gebietshoheit erstreckt sich dagegen nicht auf die soge-
nannten Interessensphären (oder das Hinterland). In diesem Gebiet
hat der Staat nicht die Staatsgewalt, sondern zunächst nur ein aus-
schlieſsliches Okkupationsrecht, sowie das Recht, die Ausübung fremder
Staatsgewalten auszuschlieſsen.
Despagnet, R. G. I 103.
Adam, L. A. VI 284.
Die Abgrenzung der Interessensphären, wie sie zwischen
den verschiedenen Kolonialmächten durch zahlreiche Verträge im
letzten Jahrzehnt, insbesondere zur friedlichen Aufteilung von
Afrika, vorgenommen worden ist und immer noch vorgenommen
wird, bedeutet zunächst nur die vertragsmäſsige Einräumung eines
ausschlieſslichen Okkupationsrechtes; sie berechtigt und bindet da-
her unmittelbar nur die vertragschlieſsenden Teile. Aber der Ver-
zicht des zunächst an Erwerbungen interessierten Vertragsgegners
und die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung der übrigen
Mächte, denen von dem Vertrage Mitteilung gemacht worden ist,
muſs wohl weitergehend als die Einräumung eines absoluten auch
gegen jeden Dritten wirkenden Rechts gedeutet werden (unten
§ 20 II).
[49]§ 9. Das Staatsgebiet.
So erscheint die „Interessensphäre“ als eine Vorstufe des
Staatsgebietes, dem sie, durch allmähliche Einrichtung von Ver-
waltung und Rechtspflege, schrittweise einverleibt wird.
Dieser Ansicht entspricht es, wenn das Deutsche Reich in
dem Vertrag mit den Niederlanden vom 21. Dezember 1897 (R. G. Bl.
S. 747) einerseits zur Auslieferung der in die deutschen Interessen-
sphären geflüchteten Verbrecher sich verpflichtet, andrerseits die
Eingebornen dieser Gebiete ebenso wie die deutschen Staatsange-
hörigen von der Auslieferung ausnimmt.
Von den deutschen Verträgen sind hervorzuheben: Verträge
mit England: 1. November 1886 und 1. Juli 1890 (Ostafrika),
15. November 1893 (Centralafrika); mit Portugal: 30. Dezember
1886 (Ostafrika); mit Frankreich: 4. Februar 1894 (Kamerun);
23. Juli 1897 (Togo).
III.
Die Gebietshoheit umfaſst aber weiter auch die Eigengewässer
des Staates (die „nationalen“ Gewässer im engern Sinne). Dazu
gehören:
1. Die nationalen Ströme, die nationalen Kanäle, sowie die
Binnenmeere und Binnenseeen im engern Sinne.
- a) Ströme, die in dem Gebiet desselben Staates entspringen
und münden, stehen unter der ausschlieſslichen Herrschaft
dieses Staates. Ströme, die, ohne vom Meer aus schiffbar
zu sein, das Gebiet mehrerer Staaten durchflieſsen, stehen
unter der geteilten Herrschaft der Uferstaaten. Ströme, die
das Gebiet mehrerer Staaten durchflieſsen und vom Meer
aus schiffbar sind, heiſsen internationale Ströme; sie stehen
unter besonderen Rechtsregeln (unten § 27 II). - b) Kanäle, die von beiden Seiten vom Landgebiet desselben
Staates umschlossen werden, stehen unter der ausschlieſs-
lichen Herrschaft dieses Staates, und zwar auch dann,
wenn sie zwei freie Meere miteinander verbinden (so der
deutsche Nord-Ostsee-Kanal). Werden sie vom Landgebiet
mehrerer Staaten umschlossen, so stehen sie unter der ge-
teilten Herrschaft der Uferstaaten. Über die auf besonderer
v. Liszt, Völkerrecht. 4
[50]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Vereinbarung beruhende Neutralisierung des Suezkanals
unten § 27 IV. - c) Binnenmeere oder Binnenseeen im engern Sinne (mare clau-
sum) sind diejenigen Seeen, die mit dem offenen Meere
nicht in schiffbarer Verbindung stehen. Auf sie finden
dieselben Regeln Anwendung (bestritten). Daher steht der
Bodensee (was für die Frage der Neutralität wichtig wird)
unter der geteilten Herrschaft der Uferstaaten. So die
überwiegende Meinung.
Dagegen insbesondere Rettich, Die völkerrechtlichen und staats-
rechtlichen Verhältnisse des Bodensees. 1884.
Ferner Carathéodory, H. H. II 380.
Litteratur bei Ullmann, S. 184 Note 3.
Durch besondere Vereinbarung können auch hier ab-
weichende Rechtsverhältnisse geschaffen werden. So hat sich
Ruſsland durch den Vertrag mit Persien vom 22. Februar 1828
zu Turkmentschai die ausschlieſsliche Herrschaft über das
Kaspische Meer gesichert.
Kraft der Gebietshoheit kann der Uferstaat, soweit er durch
Verträge nicht eingeschränkt ist, den Angehörigen anderer Staaten
Schiffahrt und Fischerei in seinen Eigengewässern verbieten oder sie
ihnen nur unter gewissen, die eigenen Staatsangehörigen begünstigenden,
Bedingungen (Abgaben) gestatten (unten § 25 I). Die Gerichtsbarkeit
über fremde Handelsschiffe (und damit das Durchsuchungsrecht) steht
ihm uneingeschränkt zu.
2. Binnenseeen im weiteren Sinne sind solche, die mit dem offenen
Meere in schiffbarer Verbindung stehen. Sie unterliegen der Gebiets-
hoheit des sie umschlieſsenden einen Uferstaates, wenn dieser die Ver-
bindung mit dem Meere vollständig beherrscht. Sie sind offenes Meer,
soweit diese Bedingungen nicht zutreffen. Das Gleiche gilt von den
diese Verbindung herstellenden Meerengen.
Vgl. unten § 26 II, insbesondere über die Dardanellen und
und den Bosporus.
Auch hier also bestimmt der Uferstaat souverän über die
Zulassung Staatsfremder zu Schiffahrt und Fischerei.
[51]§ 9. Das Staatsgebiet.
3. Dasselbe gilt für die Häfen und Reeden sowie für die Baien
und Buchten in ihrem innern, von den Ufern aus noch vollständig
beherrschbaren Teile.
Man pflegt die Abgrenzung dieses innern Teiles in der Weise
zu gewinnen, daſs man sich von Küste zu Küste eine gerade Linie
in derjenigen Breite der Bucht gezogen denkt, daſs der Mittelpunkt
der Linie durch die auf beiden Ufern errichteten Strandbatterieen
noch erreicht wird. Hinter dieser Linie, dem Festlande zu, liegt
die geschlossene Bucht; vor dieser Linie, gegen das offene Meer
zu, beginnen die Küstengewässer. Teilweise abweichend Artikel 2
des von den Nordseestaaten geschlossenen Vertrages vom 6. Mai
1882 (unten § 34 III), betreffend die polizeiliche Regelung der
Fischerei in der Nordsee auſserhalb der Küstengewässer (R. G. Bl.
1884 S. 25): „Die Fischer jeder Nation sollen das ausschlieſsliche
Recht zum Betriebe der Fischerei haben in dem Gebiete bis zu
drei Seemeilen Entfernung von der Niedrigwassergrenze, in der
ganzen Längsausdehnung der Küsten ihres Landes und der davor
liegenden Inseln und Bänke.“
„In den Buchten ist das Gebiet der drei Seemeilen von einer
geraden Linie ab zu rechnen, welche in dem dem Eingang der Bucht
zunächst gelegenen Teile von einem Ufer derselben zum anderen
da gezogen gedacht wird, wo die Öffnung zuerst nicht mehr als
10 Seemeilen beträgt.“
Viel weitergehende Ansprüche auf die Buchten und Baien
(kings chambers) sind von englischer Seite wiederholt erhoben
worden.
IV.
Beschränkte Gebietshoheit dagegen hat der Staat in den Küsten-
gewässern.
Küstengewässer nennt man denjenigen Teil der offenen See, den
der Uferstaat durch Strandbatterieen von der Küste (sei es des Fest-
landes, sei es der Inseln) aus zu beherrschen vermag.
Die Bestimmung der Grenzlinie der Küstengewässer ist sehr
bestritten. In der Gesetzgebung Deutschlands und anderer Staaten
sowie in den wichtigsten neueren Verträgen wird die Entfernung
4*
[52]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
meist auf drei Seemeilen (5550 km), vom niedrigsten Wasserstand
der Tiefebene (la laisse de la basse marée) gerechnet, bestimmt.
Eine Ausdehnung auf sechs Seemeilen ist vom Institut für Völker-
recht vorgeschlagen worden. Godey will den sichtbaren Horizont
(6—7 Seemeilen) entscheiden lassen. Häufig wird auch in der
Weise unterschieden, daſs der Uferstaat für die Ausübung gewisser
Hoheitsrechte, so besonders für die Zoll- und Sanitätspolizei die
Grenze weiter hinausschiebt als für die Ausübung insbesondere
der Gerichtsbarkeit.
Imbart la Tour, La mer territoriale en point de vue théorique et pra-
tique. 1889.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1894/95 und 1897.
Stoerk, H. H. II 453, der die Uferrechte auf die Verwaltungspflege des
Uferstaates gründet und durch diese räumlich begrenzt.
v. Martens, R. G. I 32.
Godey, R. G. III 224.
Godey, La mer côtière. Obligations réciproques des neutres et des bel-
ligérants dans les eaux côtières et dans les ports et rades. 1896.
Nuger, Des droits de l’Etat sur la mer territoriale. 1887.
David, La pêche maritime au point de vue international. 1898.
Für die Küstengewässer gelten folgende Rechtsregeln:
- a) Die Durchfahrt darf den Handels- und Kriegsschiffen fremder
Staaten weder versagt, noch von Abgaben abhängig gemacht
werden (droit de passage inoffensif, jus passagii sivi transitus
innoxii). - b) Die Küstenfrachtfahrt (cabotage) und die Fischerei darf den
eigenen Staatsangehörigen vorbehalten werden (unten § 25 I). - c) Der Uferstaat hat das Recht der Seepolizei.
- d) Bei Delikten, die an Bord eines in den Küstengewässern befind-
lichen Schiffes begangen werden, hat er Gerichtsbarkeit, wenn
und soweit durch das Delikt berechtigte Interessen des Uferstaates
selbst, oder eines seiner Staatsangehörigen (mit Ausnahme der
an Bord befindlichen) verletzt oder gefährdet worden ist.
In den Verträgen ist meistens gesagt, daſs die Aufrecht-
haltung der innern Ordnung an Bord der in fremden Gewässern
verankerten Schiffe ausschlieſslich den Konsuln des Staates zusteht,
dem das Schiff seiner Flagge nach angehört. Die Konsuln haben
daher allein über Streitigkeiten jeder Art zwischen Schiffsführer,
[53]§ 9. Das Staatsgebiet.
Schiffsoffizieren, Mannschaften und andern in den Musterrollen
unter irgend welcher Bezeichnung aufgenommenen Personen zu
entscheiden; insbesondere auch über Streitigkeiten, die sich auf
die Heuer und auf die Erfüllung anderer vertragsmäſsiger Ver-
bindlichkeiten beziehen. Die Ortsbehörden dürfen einschreiten,
wenn die Unordnungen, welche aus solchen Zwistigkeiten entstehen,
geeignet sind, die öffentliche Ruhe im Lande oder im Hafen zu
stören oder wenn Landesangehörige oder nicht zur Schiffsbesatzung
gehörige Personen beteiligt sind.
In dieser Fassung ist der, insbesondere von Frankreich seit
der Entscheidung des Conseil d’Etat von 1806 vertretene Rechts-
satz in einer groſsen Anzahl von Staatsverträgen, insbesondere in
sämtlichen Verträgen Frankreichs, des Deutschen Reiches und anderer
Staaten, ausdrücklich ausgesprochen worden. Für ihn auch das
Institut für Völkerrecht. Auch englische Schriftsteller vertreten
ihn (so Walker 229). Zwei entgegengesetzte Ansichten stehen
ihm gegenüber:
Nach der einen Ansicht hat der Uferstaat die uneingeschränkte
Gerichtsbarkeit auch über diejenigen fremden Schiffe, welche die
Küstengewässer, ohne anzuhalten, durchfahren. Dieser Satz wurde
ausgesprochen durch die englische Territorial waters jurisdiction
act vom 16. August 1878. Kurz vorher hatte der Central criminal
Court seine Zuständigkeit verneint, als der Kapitän des deutschen
Schiffes Franconia, das mit einem englischen Schiff im Februar 1876
in der Nähe von Dover zusammengestoſsen war, von den eng-
lischen Gerichten wegen der Verursachung des Todes eines der
Passagiere des englischen Schiffes verfolgt wurde. Auch Zorn,
Staatsrecht II 839, schlieſst sich der neuenglischen Ansicht an.
Dagegen behaupten andere (so Fedozzi, R. G. IV 202) die unbe-
dingte Exterritorialität auch des in fremden Küstengewässern ver-
ankerten Handelsschiffes und mithin die Gerichtsbarkeit des Staates,
dem es durch seine Flagge angehört.
Vgl. auch Negropontes, Die Zuständigkeit der Staaten für die auf dem
Meere begangenen Delikte. 1894.
[54]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
- e) Dagegen hat, wenigstens nach dem Anspruch der meisten Mächte,
der Uferstaat die unbedingte Gerichtsbarkeit bei Seeunfällen, die
sich in seinen Küstengewässern ereignen.
So nicht nur nach englischem Recht (vgl. Act von 1878),
sondern auch nach dem deutschen Reichsgesetz vom 27. Juli 1877
(R. G. Bl. S. 549), betreffend die Untersuchung von Seeunfällen.
- f) Recht und Pflicht der Neutralität erstrecken sich auch auf die
Küstengewässer.
V.
Die Gebietshoheit umfaſst auch die nationalen Staatsschiffe, die
auch in fremden Küsten- und Eigengewässern von der Staatsgewalt
des Aufenthaltstaates befreit sind, sowie die nationalen Schiffe auf
offener See.
Ferber, Internationale Rechtsverhältnisse der Kriegs- und Handelsschiffe
im Krieg und Frieden. 1895.
Stoerk, H. H. II 434.
Perels, L. A. I 461, 677.
Es ist daher nicht nur die Ausübung jeder Staatshoheit durch
einen andern als denjenigen Staat ausgeschlossen, dem das Schiff
seiner Flagge nach angehört, sondern die Schiffe gelten überhaupt
und in allen Beziehungen als „schwimmende Gebietsteile“ dieses
Staates. Das an Bord eines französischen Schiffes auf offener See
geborene Kind ist in Frankreich geboren, die abgeschlossenen Ver-
träge sind in Frankreich geschlossen, die begangenen Delikte in
Frankreich begangen. Flüchtet sich ein Verbrecher auf ein solches
Schiff, so gelten für seine Auslieferung (von dem Hausrecht des
Kapitäns abgesehen) dieselben Rechtsregeln, als wenn er sich auf
das Landgebiet geflüchtet hätte. Entsprechend ist die Rechtslage
eines an Bord des Schiffes gelangten Sklaven zu beurteilen.
Zu den Staatsschiffen gehören in erster Linie die Kriegs-
schiffe; aber auch alle andern Schiffe, die dauernd und ausschlieſs-
lich im Dienst des Staates verwendet werden (so Zollkutter, Sanitäts-
schiffe u. s. w.). Postschiffe, die fast immer auch die Beförderung
von Personen und Waren übernehmen, gehören, von besonderer
Vereinbarung abgesehen, nicht hierher; ebensowenig Handelsschiffe,
die das fremde Staatsoberhaupt oder den Gesandten des fremden
[55]§ 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet.
Staates an Bord haben, ohne ihnen zur freien Verfügung gestellt
zu sein. Den Kriegsschiffen stehen die Kaperschiffe gleich, soweit
der Staat, dem sie angehören, sich der Pariser Deklaration von
1856 (unten § 40 II) über die Abschaffung der Kaper nicht an-
geschlossen hat.
§ 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet.
Heimburger, Der Erwerb der Gebietshoheit. 1888.
v. Holtzendorff, Eroberung und Eroberungsrecht. 1871.
Salomon, L’occupation des territoires sans maître. 1889.
Adam, L. A. VI 193.
Jèze, Etude théorique et pratique sur l’occupation comme mode d’acquérir
les territoires en droit international. 1896.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1888.
R. G. II 617 (Streit zwischen Brasilien und Groſsbritannien über die Insel
Trinidad).
I. Allgemeines.
1. Der Erwerb, wie der Verlust von Staatsgebiet kann durch
natürliche Thatsachen oder durch Rechtsgeschäfte erfolgen (unten § 20).
Beispiele für das erstere: alveus derelictus, insula in flumine
nata; Deltabildung, Abspülung und Anspülung von Erdteilen. (Über
diese vgl. d. österreichisch-preuſsischen Vertrag vom 9. Februar 1869.)
2. Der Erwerb kann ein selbständiger (originärer) oder abge-
leiteter (derivativer) sein.
Nur im letzteren Fall ist der erwerbende Staat Rechtsnach-
folger des abtretenden, übernimmt mithin die auf dem abgetretenen
Gebiet ruhenden Rechte und Pflichten (unten § 23). Als selbst-
ständige Erwerbsarten sind besonders zu nennen die Eroberung
(debellatio) und die Okkupation.
3. Erwerb und Abtretung von Staatsgebiet kann nur durch die
Organe des Staates erfolgen; durch Private, insbesondere auch durch
Kolonialgesellschaften, nur im Auftrag oder mit nachfolgender (und
dann rückwirkender) Genehmigung des Staates. Die Erwerbung
durch Privatgesellschaften (englisch-deutsches System nach Bismarck)
mit nachfolgender Genehmigung bildet heute die Regel.
[56]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Erwerb von Hoheitsrechten durch Private ist, soweit nicht
Staatengründung in Frage steht, logisch unmöglich. Die gegen-
teilige Ansicht, heute oft genug vertreten (Litteratur bei Ull-
mann 193), beruht auf einer unrichtigen Auffassung der schein-
baren Cessionsverträge.
4. Erwerb wie Abtretung können bestehenden Verpflichtungen
zuwiderlaufen und erscheinen insoweit als völkerrechtswidrig.
In diesem Falle ist es Sache der in ihren Rechten bedrohten
oder verletzten Mächte, gegen die Gebietsveränderung Einspruch
zu erheben und so ihre Rechte zu wahren (unten § 20 II). Das
Stillschweigen trotz erfolgter Verständigung wäre als Zustimmung,
mithin als Verzicht, aufzufassen.
So würde die Erwerbung des Kongostaates durch Belgien,
die in dem sogenannten Testament des Königs der Belgier vom
2. August 1889 und dem Vertrag Belgiens mit dem Kongostaat
vom 3. Juli 1890 vorgesehen ist (vgl. auch den nicht ratifizierten
belgisch-kongolesischen Vertrag vom 9. Januar 1895 in N. R. G.
2. Ser. XXI 693), den Verpflichtungen zuwiderlaufen, die Belgien als
dauernd neutralisierter Staat den Garantiemächten gegenüber auf
sich genommen hat, und daher ohne deren Zustimmung rechtswidrig
sein (oben § 6 III).
Das Gleiche gilt aber auch von der Ausübung des französi-
schen Vorkaufsrechtes auf den Kongostaat (gestützt auf die Verträge
Frankreichs mit der Kongogesellschaft vom 23. April 1884 und mit
Belgien vom 5. Februar 1895), das zwar von Belgien, nicht aber
von den übrigen Staaten anerkannt worden ist.
R. G. II 545.
Rivier I 173.
Fauchille, R. G. II 400.
Und gegen den Vertrag zwischen Groſsbritannien und dem
Kongostaat vom 12. Mai 1894 haben Frankreich, Deutschland und
die Türkei Einspruch erhoben.
Deutschland hat insbesondere gegen den Artikel 3 des Ver-
trages, durch welchen der Kongostaat einen 25 km breiten Land-
[57]§ 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet.
strich vom Tanganyika- bis zum Albert-Eduard-See pachtweise an
England überlassen, mit Erfolg protestiert. Der Artikel wurde
bedingungslos zurückgezogen.
Vgl. R. G. I 374; die Aktenstücke in N. R. G. 2. Ser. XX 805, XXI
531, 676.
II.
Mit der Herrschaft über das Gebiet wird auch die Herrschaft
über die zur Zeit des Erwerbes auf dem Gebiete ansässigen Staats-
angehörigen erworben.
Stoerk, Option und Plebiszit bei Eroberungen und Gebietszessionen.
1879.
Freudenthal, Die Volksabstimmung bei Gebietsabtretungen und Er-
oberungen. 1891.
Heilborn, System 112.
1. Die Staatsgewalt des erwerbenden Staates ergreift dagegen
nicht diejenigen Staatsangehörigen, die bereits vor dem Erwerb die
Staatsangehörigkeit überhaupt oder (durch Aufgabe des Wohnsitzes) die
Zugehörigkeit zu dem Gebiete aufgegeben haben.
2. Der Erwerb des Gebietes ist nicht bedingt durch die Zustim-
mung seiner Bewohner (Plebiszit).
Das Plebiszit, ein Lieblingsgedanke Napoleons III. und Ca-
vours, wurde, in Bezug auf europäisches Gebiet, angewandt 1860
bei der Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich auf Grund
des Turiner Vertrags vom 24. März 1860; 1860 bis 1870 bei den
neuen Eroberungen Italiens (2. Oktober 1870 in Rom); 1863 bei
der Einverleibung der Ionischen Inseln in Griechenland. Durch
den Prager Frieden vom 23. August 1866 übertrug Österreich auf
Frankreichs Wunsch seine Rechte an Schleswig-Holstein an Preuſsen
mit der Maſsgabe, daſs „die Bevölkerung der nördlichen Distrikte
Schleswigs, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu er-
kennen gäbe, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark
abgetreten werden sollte“. Diese Vereinbarung, aus der nur
Österreich, keine dritte Macht, ein Recht ableiten konnte, wurde
durch Vertrag zwischen Österreich und Preuſsen vom 11. Oktober
1878 aufgehoben.
Über die Abtretung von Savoyen vgl. Grivaz, R. G. III 445 und Bur-
geois, R. G. III 673.
[58]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
3. Nicht kraft allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsregel, wohl
aber durch eine, im 19. Jahrhundert häufige, besondere Vereinbarung
der beteiligten Staaten (sogenannte Optionsklausel) wird den Ange-
hörigen des erworbenen Gebietsteils gestattet, binnen bestimmter Frist
bei der zuständigen Behörde zu erklären, daſs sie ihre Zugehörigkeit
zu dem abtretenden Staat bewahren wollen, die sie durch die Abtretung
an sich verloren hätten. Diese Erklärung schlieſst die Pflicht der Aus-
wanderung (nicht aber des Verkaufs von unbeweglichem Eigentum) in
sich. Die Erklärung des Vaters gilt auch für die unter väterlicher
Gewalt stehenden Kinder, die des Ehemannes auch für die Frau (option
collective).
Frankfurter Frieden von 1871 Artikel 2 Absatz 1: „Den aus
den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem
Gebiete wohnhaften Französischen Unterthanen, welche beabsichtigen,
die Französische Nationalität zu behalten, steht bis zum 1. Oktober
1872 und vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige
Behörde die Befugnis zu, ihren Wohnsitz nach Frankreich zu
verlegen und sich dort niederzulassen, ohne daſs dieser Befugnis
durch die Gesetze über den Militärdienst Eintrag geschehen könnte,
in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger
erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit
Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz zu be-
halten.“ Vgl. auch Artikel 1 der Zusatzkonvention vom 11. Dezember
1871 (R. G. Bl. 1872 S. 7).
III.
Okkupation ist die Begründung der Gebietshoheit (mithin der
Erwerb der Staatshoheit, des imperium) auf bisher staatslosem oder
von einem nichtcivilisierten Staate beherrschtem Gebiet.
1. Die Okkupation erfordert begrifflich thatsächliche Herrschaft
über das Gebiet (Prinzip der Effektivität) und sie reicht nur soweit
wie diese.
Es genügt mithin nicht die bloſse Entdeckung oder die sym-
bolische Besitzergreifung (durch Hissen der Flagge u. s. w.). Die
Okkupation erfordert dagegen nicht wirtschaftliche Erschlieſsung
des Landes (agrarische Kolonisation). Für Erwerbungen an der
afrikanischen Küste hat die Kongoakte von 1885 in Artikel 34, 35
das in der Staatenübung längst anerkannte Prinzip der Effektivität
[59]§ 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet.
ausdrücklich ausgesprochen und näher bestimmt als „das Vor-
handensein einer hinreichenden Obrigkeit, um erworbene Rechte
und gegebenen Falles die Handels- und Durchgangsfreiheit zu
schützen“.
Engelhardt, R. J. XVIII 438.
2. Durch die Kongoakte ist ferner als Bedingung für rechtswirk-
same Erwerbungen die Mitteilung an die übrigen Mächte (Notifikation)
aufgestellt worden (Prinzip der „Publizität“).
Dieser Satz bezieht sich allerdings zunächst nur auf Er-
werbungen an den Küsten von Afrika, ist aber seither auch auf
andere Erwerbungen angewendet worden (so hat Deutschland 1886
die Okkupation der Marschalls-Inseln, Frankreich die von Mada-
gaskar sowohl 1886 als auch 1896 den übrigen Mächten mitgeteilt)
und ist dazu bestimmt, allgemeine völkerrechtliche Rechtsregel zu
werden.
Rivier I 192.
Pic, R. G. III 635.
3. Verschieden von der Gebietserwerbung ist die Erwerbung eines
Hinterlandes oder einer Interessensphäre (oben § 9 II).
Sie ist von jener verschieden in ihrer Wirkung: denn die
Gebietshoheit wird erst durch die Begründung einer thatsächlichen
Herrschaft erworben. Sie ist von jener verschieden aber auch in
ihrer Voraussetzung: der fiktive Erwerb (etwa durch Verträge mit
den Eingeborenen oder Kraft des Prinzips der „continuité“, d. h.
des Zusammenhangs) genügt.
4. In der verschiedensten Bedeutung kommt heute die Begründung
einer sogenannten Schutzherrschaft vor.
Soweit es sich nicht um ein wirkliches, völkerrechtliches Protek-
torat (oben § 6 IV) handelt, bedeutet der Ausdruck entweder:
- a) den Erwerb der Gebietshoheit, auf welchen dann die Rechts-
regeln über den selbständigen oder abgeleiteten Gebietserwerb
Anwendung finden; oder - b) den Erwerb eines ausschlieſslichen Okkupationsrechtes (oben
unter 3, sowie § 9 II), also die Abgrenzung einer Interessen-
sphäre. Auch für diesen Fall hat die Kongoakte 1885, so-
[60]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
weit die Küsten Afrikas in Frage stehen, die Mitteilung an
die übrigen Mächte zur Rechtswirksamkeit des Erwerbs
vorgeschrieben.
5. Die mehrfach sich findende Vereinbarung einer „neutralen
Zone“ (oben § 9 II 1) kann auch die gegenseitige Verpflichtung der Ver-
tragsstaaten bedeuten, in dem umschriebenen Gebiete keine Erwerbungen
zu machen.
Insoweit bildet die „neutrale Zone“ ein Gegenstück zur
Interessensphäre.
R. G. I 169.
IV.
Eine verschleierte Form des derivativen Erwerbs ist die Uber-
nahme eines Gebietes „zur Besetzung und Verwaltung“ unter nomi-
neller Fortdauer der bisherigen Staatsgewalt (auch, aber sehr unglück-
lich, als „Condominium inégal“ bezeichnet).
Hierher gehört:
1. Die Besetzung von Bosnien und der Herzogowina durch
Österreich 1878. Sie beruht auf dem Vertrag zwischen Österreich
und Ruſsland zu Reichstadt von 1877, auf Artikel 25 des Berliner
Vertrags von 1878, und auf dem Vertrag zwischen Österreich und
der Türkei vom 21. April 1879. Artikel 25 des Berliner Vertrags
bestimmt. „Die Provinzen Bosnien und Herzogowina werden von
Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die öster-
reichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, die Ver-
waltung des Sandjaks von Novibazar zu übernehmen ....., so
wird die ottomanische Verwaltung daselbst fortgeführt werden.
Um jedoch sowohl den Bestand der neuen politischen Ordnung,
als auch die Freiheit und die Sicherheit der Verkehrswege zu
wahren, behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen
Umfange dieses Teils des alten Vilajets von Bosnien Garnisonen
zu halten und Militär- und Handelsstraſsen zu besitzen.“ — Die
Souveränität der Türkei ist ausdrücklich vorbehalten; aber Öster-
reich-Ungarn übt die uneingeschränkte Gebietshoheit aus, und die
Mächte haben dies durch den Verzicht auf die Kapitulationen an-
erkannt. Jenem Vorbehalt kann mithin rechtliche Bedeutung nicht
beigemessen werden.
[61]§ 11. Das Staatsvolk.
Neumann, R. J. XI 13.
Rivier, R. J. XI 144.
Martens-Bergbohm I 362.
Lingg, L. A. V 480.
Jellinek, Staatenverbindungen 113.
2. Die Besetzung von Cypern durch England. In dem eng-
lisch-türkischen Bündnisvertrag vom 4. Juni 1878 tritt die Türkei
Cypern an Groſsbritannien mit der Bedingung ab, daſs die Ab-
tretung aufhören soll, sobald Ruſsland die Erwerbung von Kars
rückgängig machen wird.
Dagegen ist die Besetzung Egyptens durch England (1882)
ohne jeden Rechtstitel erfolgt, und weder von der Türkei, noch
von den übrigen Mächten jemals anerkannt worden.
3. Hierher gehört endlich auch die pachtweise Überlassung
von Gebieten, wenn sie auf längere Zeit und unter Übertragung
der Hoheitsrechte erfolgt. Vgl. den Vertrag zwischen England
und dem Kongostaat vom 12. Mai 1894 und ganz besonders die
chinesischen Verträge von 1898 mit Deutschland über die Ab-
tretung der Bucht von Kiau-Tschau (6. März 1898) und mit Ruſs-
land über die Abtretung von Port Arthur und Talienwan nebst
Hinterland.
III.
§ 11. Das Staatsvolk.
v. Martitz, Das Recht der Staatsangehörigkeit im internationalen Ver-
kehr. 1875.
Stoerk, R. G. II 273.
Derselbe, H. H. II 585.
Cahn, Das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870. 2. Aufl. 1896.
Cogordan, De la nationalité au point de vue des rapports internationaux.
2. Aufl. 1890.
I.
Die Staatsangehörigen sind nicht Subjekte des Völkerrechts,
genieſsen aber zufolge ihrer Zugehörigkeit zu einem Staat der völker-
rechtlichen Gemeinschaft die durch das Völkerrecht gewährleisteten
Rechte (völkerrechtliches „Indigenat“).
II.
Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit wird durch die
nationale Gesetzgebung jedes Staates bestimmt.
Vgl. das deutsche Reichsgesetz vom 1. Juni 1870.
[62]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Da diese aber heute noch nicht nach einheitlichen Grundsätzen
vorzugehen pflegt, so ist die Möglichkeit einer positiven wie einer nega-
tiven Statutenkollision gegeben.
1. Es kann jemand die Staatsangehörigkeit seines Heimatstaates
beibehalten und die eines andern Staates erworben haben, mithin An-
gehöriger zweier Staaten sein (sujets mixtes).
2. Es kann jemand die Staatsangehörigkeit seines Heimatstaates
verloren und die eines andern Staates nicht erlangt haben, mithin im
völkerrechtlichen Sinne „heimatlos“ sein.
An diese beiden Fälle schlieſsen sich weiter die bereits mit
der Geburt möglicherweise gegebene doppelte Staatsangehörigkeit
oder Heimatlosigkeit.
Vgl. von und zu Bodmann, L. A. XII 200, 317.
Zur Vermeidung der mit den Kollisionsfällen verbundenen
Übelstände haben verschiedene Verträge zwischen einzelnen Staaten
gleiche Grundsätze über Erwerb und Verlust der Staatsangehörig-
keit aufgestellt. Beachtenswert sind insbesondere die von Frank-
reich mit der Schweiz am 23. Juli 1879 und mit Belgien am
30. Juli 1891 geschlossenen Verträge. Aber auch das Deutsche
Reich und die deutschen Einzelstaaten haben solche Verträge ge-
schlossen; hierher gehören die vom Norddeutschen Bund (am
22. Februar 1868; R. G. Bl. S. 228), sowie von den süddeutschen
Staaten mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas geschlossenen so-
genannten Bancroftverträge. Nach diesen werden Angehörige des
einen Vertragschlieſsenden, die naturalisierte Angehörige des andern
geworden sind und fünf Jahre lang ununterbrochen in dessen Gebiet
zugebracht haben, als Angehörige des Aufenthaltstaates betrachtet
und behandelt. Sie dürfen bei der Rückkehr in das Geburtsland
in diesem nur wegen der vor der Auswanderung, nicht wegen
der durch die Auswanderung begangenen strafbaren Handlungen
(es handelt sich insbesondere um die Verletzung der Wehrpflicht)
zur Verantwortung gezogen werden. Spätere Niederlassung in dem
Geburtsland ohne Absicht der Rückkehr in das Land, in dem die
Naturalisation erfolgt ist, gilt als Verzicht auf diese. Und der
Verzicht auf die Rückkehr kann als vorhanden angenommen werden,
[63]§ 11. Das Staatsvolk.
wenn der Naturalisierte des einen Teils sich länger als zwei Jahre
in dem Gebiet des andern Teiles aufgehalten hat. Ferner hat das
Deutsche Reich mehrfach durch Verträge mit den süd- und mittel-
amerikanischen Staaten vereinbart, daſs die Deutschen, die sich
in das Gebiet des andern Teiles begeben haben, um daselbst zu
leben, sich aber die Nationalität ihres Heimatlandes nach den Ge-
setzen desselben bewahrt haben, als Deutsche angesehen werden
sollen (und ebenso umgekehrt). Vgl. z. B. den Freundschafts-
u. s. w. Vertrag des Deutschen Reiches mit Nikaragua vom
4. Februar 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 171) Art. 10 § 1.
Ferner kehrt regelmäſsig in den deutschen Verträgen eine
Bestimmung wieder, für die der Freundschafts- u. s. w. Vertrag des
Deutschen Reiches mit Honduras vom 12. Dezember 1887 (R. G. Bl.
1888 S. 262) als Beispiel dienen mag.
Hier wird vereinbart, daſs die in Honduras geborenen ehe-
lichen Kinder eines Deutschen als Deutsche, die in Deutschland
geborenen Kinder eines hondurenischen Vaters als Hondurener gelten
sollen; die groſsjährigen Söhne müssen aber nachweisen, daſs sie
die auf den Militärdienst ihrer Nation bezüglichen Gesetze erfüllt
haben, widrigenfalls sie als Bürger ihres Geburtslands angesehen
werden können. Nach dem Freundschafts-, Handels- und Schiffahrts-
vertrag des Deutschen Reiches mit Costa Rica vom 18. Mai 1875
(R. G. Bl. 1877 S. 13) haben die Söhne das Recht, zur Zeit, wo
sie nach ihren vaterländischen Gesetzen die Groſsjährigkeit erlangen,
sich für die Nationalität ihres Geburtsstaates zu entscheiden (soge-
nanntes Optionsrecht; nicht mit der oben § 10 II 3 besprochenen
Optionsklausel zu verwechseln).
Auch der Abschluſs von Kollektivverträgen ist wiederholt,
aber bisher ohne Erfolg, vorgeschlagen worden.
Vgl. insbesondere die Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht, 1896,
und dazu Catellana, R. J. XXIX 248.
III.
Der Staat schützt seine Angehörigen, mögen sie sich im Inland
oder im Ausland aufhalten, gegen das im internationalen Verkehr von
einem fremden Staat unmittelbar oder mittelbar ihnen zugefügte oder
drohende Unrecht.
[64]I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
Vgl. Artikel 3 Abs. 6 der deutschen Reichsverfassung: „Dem
Auslande gegenüber haben alle Deutschen gleichmäſsig Anspruch auf
den Schutz des Reichs.“ Diese, durch die Vertreter des Staates
ausgeübte Schutzgewalt (jus protectionis) kann sogar zu einer Ein-
mischung in die innern Angelegenheiten eines andern Staates führen
(oben § 7 II).
Doch tritt die Berechtigung des diplomatischen Schutzes erst
dann ein, wenn die Anrufung der Gerichte oder anderer Behörden
des Aufenthaltstaates vergeblich gewesen ist. Also nur bei Rechts-
verweigerung oder Rechtsbeugung, sowie bei Verschleppung der Ge-
rechtigkeit. Das wird in den Verträgen vielfach ausdrücklich aus-
gesprochen. Vgl. Artikel 20 Abs. 2 des deutschen Freundschafts- u. s. w.
Vertrages mit Kolumbien vom 23. Juli 1892 (R. G. Bl. 1894 S. 471):
„Auch sind sie (die vertragschlieſsenden Teile), geleitet von dem
Wunsche, jeden Anlaſs zur Trübung ihrer freundschaftlichen Be-
ziehungen zu vermeiden, dahin übereingekommen, daſs ihre diplo-
matischen Vertreter aus Anlaſs der Rechtsansprüche oder Beschwerden
von Privatpersonen nicht in Angelegenheiten eingreifen sollen,
welche dem Bereiche der bürgerlichen oder Strafrechtspflege oder
Entscheidung im Verwaltungswege angehören, es sei denn, daſs es
sich um Rechtsverweigerung, um ungewöhnliche oder ungesetzliche
Rechtsverzögerung oder um Nichtvollstreckung eines rechtskräftigen
Urteils handelt, oder endlich, daſs nach Erschöpfung der gesetzlichen
Rechtsmittel eine klare Verletzung der zwischen den beiden ver-
tragschlieſsenden Teilen bestehenden Verträge oder der von den ge-
sitteten Nationen allgemein anerkannten Bestimmungen des Völker-
rechts oder des internationalen Privatrechts vorliegen sollte.“
Besondere praktische Bedeutung hat der Schutz der Staats-
angehörigen bei Verletzung der Gläubigerrechte durch den schuld-
nerischen ausländischen Staat.
Meili, Der Staatsbankerott und die moderne Rechtwissenschaft. 1895.
Politis, Les emprunts d’Etat en droit international. 1894.
Lewandowski, De la protection des capitaux empruntés en France par
les Etats étrangers ou par les sociétés. 1896.
Kebedgy, R. G. I 261; R. G. II 293.
[65]§ 11. Das Staatsvolk.
1. Der Schutz wird zunächst den Staatsangehörigen gewährt.
Über seine Ausdehnung in den Konsular-Gerichtsbezirken
unten § 15 IV.
Er kann aber durch die mit einem andern Staat allgemein oder
auf den besonderen Fall (etwa während eines Krieges) geschlossenen Ver-
träge diesem Staat übertragen werden. Die durch allgemeine Verein-
barung der Schutzgewalt eines andern Staates empfohlenen Personen
werden „Schutzgenossen“ genannt.
Vgl. Artikel 21 des deutsch-österreichischen Handels- und
Zollvertrags vom 6. Dezember 1891 (R. G. Bl. 1892 S. 3): „Jeder der
vertragschlieſsenden Teile wird seine Konsuln im Auslande ver-
pflichten, den Angehörigen des anderen Teiles, sofern letzterer an
dem betreffenden Platze durch einen Konsul nicht vertreten ist,
Schutz und Beistand in derselben Art und gegen nicht höhere Ge-
bühren wie den eigenen Angehörigen zu gewähren.“ Deutsche
Schutzgenossen sind ferner die Staatsangehörigen der Schweiz und
Luxemburgs.
2. Zu den Schutzgenossen treten in den konsularischen Juris-
diktionsbezirken die sogenannten „de facto Unterthanen“ hinzu; das
sind Staatsfremde (meist Eingeborne des Staates, in welchem der Konsul
beglaubigt ist), die wegen ihrer amtlichen Beziehungen zum Konsul,
insbesondere als Dolmetscher (Dragomans), Kavassen u. s. w. oder wegen
besonderer von ihnen geleisteten Dienste durch einen individuellen
„Schutzbrief“ unter den Schutz des Konsuls gestellt und dadurch in
gewissem Umfang auch der den Staatsbürgern des Schutzstaates einge-
räumten Rechte teilhaftig werden.
Beachtenswert ist in dieser Beziehung die zwischen England,
Österreich, Deutschland, Frankreich, Spanien, Belgien, Italien,
Dänemark, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Schweden,
Portugal und Marokko am 3. Juli 1880 zu Madrid abgeschlossene
„Konvention über die Ausübung des Schutzrechtes in Marokko“
(R. G. Bl. 1881 S. 103), die insbesondere der miſsbräuchlichen Aus-
dehnung des Schutzrechtes entgegenzutreten bestimmt ist.
IV.
Den Erwerb der Herrschaft über die Gebietsangehörigen bei
Gebietserwerbungen behandelt § 10 II.
Liszt
[[66]]
II. Buch.
Der völkerrechtliche Verkehr der Staaten
im allgemeinen.
1. Abschnitt. Die Organe des Verkehrs.
§ 12. Das Staatsoberhaupt.
I.
Das völkerrechtliche Organ, durch welches der Staat als Subjekt
des Völkerrechts rechtlich-relevante Handlungen vornimmt, ist das
Staatsoberhaupt.
Das Staatsoberhaupt ist nicht selbst völkerrechtliches Rechts-
subjekt; aber seine Handlungen berechtigen und verpflichten völker-
rechtlich den Staat. Es ist kraft seiner Stellung, ohne daſs es
eines weiteren Auftrags bedarf, der Vertreter seines Staates, die
Verkörperung der Staatsgewalt. Es schlieſst die Verträge, erklärt
den Krieg, schickt und empfängt die Gesandten (jus repraesentationis
omnimodo).
1. Das Staatsoberhaupt wird durch die innere Verfassung jedes
Staates bestimmt. Die völkerrechtliche Vertretungsbefugnis ruht also
auf staatsrechtlicher Grundlage.
Insoweit also ist die Eigenart der Staatsverfassung auch von
völkerrechtlicher Bedeutung. Jene kann monarchisch oder republi-
kanisch sein: dann besitzt dort der Monarch, hier der Präsident
die Vertretungsbefugnis. Die Verfassung kann einer einzelnen Person
oder einer Mehrheit von Personen die völkerrechtliche Vertretung
übertragen; so hat in der Schweiz der Bundesrat das Recht des
Vertragsabschlusses. Ist für den minderjährigen oder geisteskranken
[67]§ 12. Das Staatsoberhaupt.
Monarchen eine Regentschaft eingesetzt, so vertritt diese den Staat
nach auſsen.
2. Dagegen kommen staatsrechtliche Beschränkungen, die das
Staatsoberhaupt in der freien Bethätigung seiner Vertretungsbefugnis
hemmen, völkerrechtlich nicht in Betracht.
Auch in der konstitutionellen Monarchie berechtigt und ver-
pflichtet der Monarch durch seine Handlungen den von ihm be-
herrschten Staat. Wenn mithin der Deutsche Kaiser gegen Artikel 11
Absatz 2 der Reichsverfassung ohne die Zustimmung des Bundesrates
einen Angriffskrieg erklären sollte, würde damit der Kriegszustand
gegeben sein.
3. Das uneingeschränkte Vertretungsrecht steht dem thatsäch-
lichen Staatsoberhaupt zu.
Die Frage seiner Legitimität ist nicht zu prüfen. Die Revo-
lution ist ein Vorgang des inneren Staatslebens, der die völker-
rechtlichen Beziehungen des Staates unberührt läſst. Die An-
erkennung des siegreichen Usurpators hat wie die Anerkennung
eines neu entstehenden Staates (oben § 5 III 26) nur deklaratorische
Bedeutung.
4. Nur das Oberhaupt eines Staates, der selbst völkerrechtliches
Subjekt ist, kommt hier in Betracht.
Was von halbsouveränen Staaten und von Staatenverbindungen
(oben §§ 6 IV) und 5 II gesagt ist, ist daher auch hier anzuwenden.
Da die halbcivilisierten Staaten nicht Glieder der völkerrechtlichen
Gemeinschaft sind, beruht auch die Stellung ihrer Staatsoberhäupter
im Ausland nicht auf völkerrechtlichen Regeln.
5. Die Vertretung des Staates kann durch das Staatsoberhaupt
(soweit die Staatsverfassung dies gestattet) für bestimmte Teile des
Staatsgebietes ganz oder teilweise an andere Personen (so an Vize-
könige, Statthalter, Kolonialgesellschaften) delegiert werden. Diese
Personen, die nicht kraft eigenen Rechts für den Staat handelnd
auftreten, haben aber keinen Anspruch auf die dem Staatsoberhaupte
völkerrechtlich zukommende Rechtsstellung.
Vgl. Schanzer, Il diritto di guerra e dei trattati negli Stati a governo
representativo. 1891.
5*
[68]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
II.
Als Vertreter der souveränen Staatsgewalt kann das Staatsober-
haupt keiner fremden Staatsgewalt unterworfen sein: sogenannte Ex-
territorialität.
Sie tritt insbesondere, aber nicht ausschlieſslich, dann zu
Tage, wenn das Staatsoberhaupt auf fremdem Staatsgebiet sich auf-
hält (oben § 8 III und IV). Es macht dabei grundsätzlich keinen
Unterschied, ob es sich um ein monarchisches Staatsoberhaupt oder
aber um den Präsidenten eines Freistaates handelt. Wenn der
Präsident der Vereinigten Staaten und der König von Italien in
einem deutschen Badeort zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit
weilen, so ist ihre völkerrechtliche Stellung genau dieselbe. Und
die weitverbreitete Meinung ist unrichtig, welche die Exterritorialität
des Präsidenten einer fremden Republik auf den Fall beschränken
will, daſs er in Staatsgeschäften das Ausland betritt; jeder Versuch,
diesen Satz praktisch anzuwenden, würde sofort seine theoretische
Unhaltbarkeit aufdecken.
Dagegen u. a. Despagnet 236, Rivier I 424, Ullmann 88 (da die
Präsidenten der Freistaaten nur Mandatare des souveränen Volkes seien).
Besteht das Staatsoberhaupt aus einer Mehrheit von Personen,
so genieſst jede von ihnen die Vorrechte der Exterritorialität.
Die Exterritorialität genieſst auch das, das Staatsoberhaupt
begleitende Gefolge, sowohl seine Familie wie die übrigen be-
gleitenden Personen (bestritten; dagegen z. B. Martens-Berg-
bohm, I 322); sie wird auch der allein reisenden Frau des mo-
narchischen Staatsoberhauptes, aber lediglich aus internationaler
Höflichkeit, zugestanden.
Da der Aufenthalt des Staatsoberhauptes auf fremdem Staats-
gebiet eine Ausnahme darstellt, während er für die diplomatischen
Vertreter die Regel bildet, hat sich geschichtlich die Lehre von
der Exterritorialität des Staatsoberhauptes im Anschluſs an die der
diplomatischen Vertreter entwickelt. Dort, wo von dieser gesprochen
wird (unten § 14 IV), ist daher auch wissenschaftlich der „Sitz
der Materie“, so daſs hier eine allgemeine Übersicht genügt. Die
Exterritorialität umfaſst:
[69]§ 12. Das Staatsoberhaupt.
1. Die persönliche Unantastbarkeit.
Das Staatsoberhaupt ist auf fremdem Staatsgebiet in Friedens-
zeiten unverletzlich, sakrosankt; nur die äuſserste Not würde die An-
wendung von Gewalt rechtfertigen. Anders im Krieg (unten § 40 II).
2. Die Exemtion von der (gesamten) Gerichtsbarkeit des fremden
Staates (oben § 8 III und IV).
Dieser Satz gilt nicht nur dann, u. z. hier unbestritten, wenn
das Staatsoberhaupt im Auslande weilt; sondern auch das in seinem
Staat sich aufhaltende Staatsoberhaupt kann nicht vor die Gerichte
eines andern Staates gezogen werden, soweit es sich nicht um ding-
liche Klagen in Bezug auf unbewegliches Gut handelt oder das Staats-
oberhaupt sich freiwillig dieser Gerichtsbarkeit unterwirft.
Auch hier aber (oben § 7 II 3) neigt eine neuere Richtung in
der Litteratur wie in der Rechtsprechung dahin, die Befreiung
auf die Fälle zu beschränken, in welchen das Staatsoberhaupt als
solches in Frage steht, sie dagegen zu verneinen, wenn aus seinen
Handlungen als Privatmann Rechtsansprüche abgeleitet werden. So
haben die französischen Gerichte (1872) eine Klage gegen die
Königin von Spanien zugelassen, die von dem Goldarbeiter, bei dem
sie Juwelen für sich und ihre Tochter bestellt hatte, erhoben war;
aber (1872) eine Klage gegen den Kaiser von Österreich, als Erben
des Kaiser Max von Mexiko, abgewiesen, die den Kaufpreis für ge-
lieferte Ordens-Dekorationen forderte (vgl. R. J. V 245). Die Unter-
scheidung ist aber nicht durchführbar. Auch würde die Ansicht,
da das angegangene Gericht seine eigene Zuständigkeit zu prüfen
hat, die Exterritorialität des fremden Staatsoberhauptes von den
schwankenden Rechtsanschauungen der fremden Gerichte abhängig
machen.
Für die gegenteilige Ansicht neuerdings Ullmann S. 87.
3. Die Unbetretbarkeit der Wohnung, in der das Staatsoberhaupt
sich aufhält, so daſs auch alle in dieser befindlichen Gegenstände dem
Zugriff des Aufenthaltstaates entzogen sind.
4. Die Befreiung von allen Steuern und Abgaben, soweit diese
nicht auf Grundeigentum in dem fremden Staatsgebiet ruhen.
[70]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
5. Den ungehemmten und uneingeschränkten Verkehr mit dem
eigenen Staat (durch chiffrierte Depeschen, Feldjäger und andere
Boten).
6. Ob das Staatsoberhaupt während des Aufenthaltes im Aus-
land Regierungsgeschäfte vornehmen kann, hängt lediglich von
der Verfassung seines Staates ab; völkerrechtliche Hindernisse stehen
nicht im Wege. Dasselbe gilt von der Ausübung der Gerichts-
barkeit über sein Gefolge; die in dieser Beziehung vielfach auf-
gestellten Einschränkungen haben nur dann Bedeutung, wenn man
an die hier überhaupt nicht in Frage stehenden Häupter uncivili-
sierter oder halbcivilisierter Staaten denkt.
7. Wenn das Haupt eines Staates in die Dienste eines
fremden Staates tritt, so ist es in allen Rechtsbeziehungen,
welche diese Stellung mit sich bringt, der Staatsgewalt des dienst-
herrlichen Staates unterworfen. Daſs eine solche Zwitterstellung
zu verschiedenen Unzuträglichkeiten führen kann, ist zweifellos;
aber ebenso sicher, daſs sie wiederholt vorgekommen ist und noch
immer vorkommen kann. Die von dem Reichskanzler v. Caprivi
im Deutschen Reichstag am 5. Februar 1894 aufgestellte Behauptung,
daſs ein deutscher Landesherr nicht zugleich Unterthan einer fremden
Macht sein könne, wird durch die Geschichte widerlegt, die zahl-
reiche Monarchen im österreichischen und preuſsischen Militärdienst
gesehen hat.
Vgl. R. G. I 154.
§ 13. Das Auswärtige Amt und die völkerrechtlichen
Agenten im allgemeinen.
I.
Der Verkehr des Staates mit den übrigen Staaten wird geleitet
durch das Auswärtige Amt.
Der an dessen Spitze stehende Minister oder Staatssekretär
der auswärtigen Angelegenheiten gilt nach auſsen hin auch ohne
besondere Vollmacht als der unmittelbar Beauftragte des Staatsober-
hauptes, mithin als Vertreter der Staatsgewalt. Seine Erklärungen
binden den von ihm vertretenen Staat.
[71]§ 13. Das Auswärtige Amt und die völkerrechtlichen Agenten.
II.
Unter der Leitung des Auswärtigen Amtes wird der völkerrecht-
liche Verkehr mit dem Ausland unterhalten durch die völkerrechtlichen
Agenten, die kraft besonderer Vollmacht den auftraggebenden Staat
vertreten.
Man unterscheidet:
- 1. ständige Agenten; und zwar:
- a) Gesandte, die den Absendestaat in allen seinen völkerrechtlichen
Beziehungen vertreten, mithin „diplomatischen Charakter“ be-
sitzen, und - b) Konsuln, die den Absendestaat, von besonderen Aufträgen abge-
sehen, nur in den handelspolitischen Beziehungen zum Empfangs-
staat vertreten;
- a) Gesandte, die den Absendestaat in allen seinen völkerrechtlichen
- 2. nichtständige (auſserordentliche) Agenten; und zwar:
- a) solche, die „mit diplomatischem Charakter“, d. h. mit den Vor-
rechten der Gesandten, bei besonderen Anlässen den Absende-
staat vertreten; und - b) Agenten ohne diplomatischen Charakter oder Kommissarien, die
zur Erledigung einzelner Staatsgeschäfte, insbesondere tech-
nischer Fragen (Grenzregulierungen, Verkehrsinteressen, In-
dustrieausstellungen u. s. w.), entsendet werden. Sie ge-
nieſsen während ihres amtlichen Aufenthaltes in dem Empfangs-
staate nur diejenigen Vorrechte, ohne welche die Erledigung
ihrer Aufgabe nicht möglich wäre; dahin gehört die Unver-
letzlichkeit ihrer Person und ihrer Papiere (anerkannt vom
Reichskanzler Fürsten Bismarck, aus Anlaſs des Falles
Schnäbele, durch Erklärung vom 28. April 1887); nicht aber
die Befreiung von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates.
- a) solche, die „mit diplomatischem Charakter“, d. h. mit den Vor-
Vgl. v. Holtzendorff, R. J. XX 217.
Eine lehrreiche Anwendung dieses Grundsatzes enthält ferner
der deutsch-schweizerische Vertrag vom 5. Dezember 1896 (R. G. Bl.
1897 S. 195) betreffend die Einrichtung schweizerischer Neben-
zollämter auf badischem Gebiet in Artikel VI: „Während seines in
Gemäſsheit der vorstehenden Bestimmungen auf deutschem Gebiet
erfolgenden Aufenthalts ist das schweizerische Zollpersonal den
deutschen Gesetzen, sowie der deutschen Gerichtsbarkeit und Polizei-
[72]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
gewalt insoweit unterworfen, als nicht die Ausübung seiner
zolldienstlichen Verrichtungen, mithin die Disziplin,
Dienstvergehen oder Dienstverbrechen in Frage stehen“.
3. Im Verkehr mit halbsouveränen Staaten und mit nicht an-
erkannten Regierungen werden ständige Geschäftsträger, aber ohne
dilpomatischen Charakter, verwendet.
III.
Im Kriege üben die militärischen Befehlshaber (mit Einschluſs
der Festungskommandanten) vielfach selbständig das Vertretungsrecht
(unten § 39 V). Die Verhandlungen werden durch Parlamentäre ge-
führt (unten § 40 II).
§ 14. Die Gesandten insbesondere.
Krauske, Die Entwicklung der ständigen Diplomatie vom 15. Jahrhundert
bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818. 1885.
Lehr, Manuel théorique et pratique des agents diplomatiques et consulaires.
1888.
Coulon, Agents diplomatiques. 1889.
Hübler, Die Magistraturen des völkerrechtlichen Verkehrs. 1895.
Geffcken in H. H. III 603.
I.
Gesandte sind die ständigen Vertreter des Absendestaates in allen
seinen völkerrechtlichen Beziehungen zum Empfangsstaat.
1. Der Gebrauch, ständige Gesandte bei den übrigen Höfen
zu unterhalten, zuerst von der päpstlichen Kurie, dann von den
italienischen Handelsstädten wie von der deutschen Hansa geübt,
ist von den seit dem Ende des 15. Jahrhunderts aufblühenden
groſsen Staatswesen aufgenommen worden und hat seit dem West-
phälischen Frieden allgemeine Anwendung gefunden. Er beschränkt
sich auf die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft. Doch
haben auch die halbcivilisierten Staaten, so China, Siam, Marokko u. a.,
meist auf Grund besonderer Verträge, diesem Gebrauch sich an-
geschlossen. Soweit es der Fall ist, finden die Rechtsregeln des
Gesandtschaftsrechtes auch im Verhältnis zu diesen Staaten An-
wendung.
2. Das Gesandtschaftsrecht, d. h. das Recht, Gesandte zu schicken
und zu empfangen, ist Ausfluſs der staatlichen Souveränität.
[73]§ 14. Die Gesandten insbesondere.
Der halbsouveräne Staat wird daher im diplomatischen Ver-
kehr durch den Schutzstaat vertreten; die von oder bei ihm etwa
beglaubigten besonderen Agenten entbehren des diplomatischen
Charakters (oben § 13 II 3).
3. Über die Staatenverbindungen ist das oben § 5 II Gesagte
zu vergleichen. In der Personalunion hat jeder der verbundenen
Staaten, in der Realunion nur die Union als solche das Gesandt-
schaftsrecht. Im Staatenbund steht es grundsätzlich den einzelnen
Staaten zu; doch kann daneben der Bund ein selbständiges Ge-
sandtschaftsrecht haben (so der Deutsche Bund nach der Wiener
Schluſsakte vom 15. Mai 1820). Im Bundesstaat steht es grund-
sätzlich dem Bund selbst zu; doch kann daneben durch besondere
Vereinbarung den einzelnen Staaten ein besonderes Gesandtschafts-
recht eingeräumt sein (so nicht in der Schweiz oder in den Ver-
einigten Staaten von Nordamerika, wohl aber im Deutschen Reich
nach dem Schluſsprotokoll des Bayrischen Bündnisvertrages vom
23. November 1870).
Die Ausübung des Gesandtschaftsrechtes kann von dem Staats-
oberhaupte andern Staatsorganen übertragen werden; so übt es der
Vizekönig von Indien wie der Generalgouverneur von Turkestan.
4. Das besondere Gesandtschaftsrecht des Papstes beruht einer-
seits auf dem italienischen Garantiegesetz vom 13. Mai 1871 (oben
§ 5 I 4), andrerseits auf Verträgen mit den einzelnen Staaten oder
auf dem Herkommen.
II.
Innerhalb der Gesandten (employés diplomatiques) unterscheidet
man seit dem Wiener Reglement vom 19. März 1815 drei, und seit dem
Aachner Protokoll vom 21. November 1818 vier Rangklassen.
1. Die Botschafter (ambassadeurs), die nicht nur als politische
Vertreter des Absendestaates, sondern, nach der älteren, heute
rechtlich veralteten Auffassung, zugleich auch als persönliche Ver-
treter ihres Staatsoberhauptes gelten (sie allein haben nach Artikel 2
des Wiener Reglements „le caractère représentatif“) und daher ge-
wisse Ehrenvorzüge genieſsen. Ihnen werden die päpstlichen Le-
gaten und Nuntien gleichgestellt.
[74]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
2. Die Gesandten im engeren Sinn, auch auſserordentliche Ge-
sandte oder bevollmächtigte Minister genannt (envoyés extraordinaires
et ministres plénipotentiaires). Ihnen werden die päpstlichen Inter-
nuntien gleichgestellt.
3. Die 1818 eingeschobenen Ministerresidenten.
4. Die Geschäftsträger (chargés d’affaires).
Wesentlich ist jedoch, von den Fragen der Etikette abge-
sehen, nur, daſs die Gesandten der drei ersten Klassen von dem
Staatsoberhaupt bei dem Staatsoberhaupt, die der vierten Klasse
dagegen vom Minister bei dem Minister der auswärtigen Angelegen-
heiten beglaubigt werden.
Die bei einem Staat beglaubigten Gesandten der zur Völker-
rechtsgemeinschaft gehörenden Staaten bilden zusammen das „diplo-
matische Corps“, an dessen Spitze als Doyen das rangälteste Mitglied
steht. Der Rang bestimmt sich nach der Klasse, innerhalb derselben
Klasse nach dem Zeitpunkt der Anmeldung der Ankunft bei dem
Empfangsstaat. (Wiener Reglement: „d’après la date de la noti-
fication de leur arrivée“.)
III.
Die völkerrechtliche Stellung des Gesandten wird begründet
durch die Übergabe und Empfangnahme des Beglaubigungsschreiben
beim Empfangsstaat.
Die Bestellung des Gesandten durch den Absendestaat ist ein
rein innerstaatlicher Akt. Er gewinnt völkerrechtliche Bedeutung erst
durch die Mitteilung der Ernennung an den Empfangsstaat. Dieser
hat das Recht, die Ernennung einer persona ingrata, auch ohne
Angabe von Gründen (die aber allerdings von England und den
Vereinigten Staaten verlangt wird), zurückzuweisen. Daher ist vor-
hergehende Anfrage (demande d’agréation) üblich, aber nicht völker-
rechtlich erforderlich. Die meisten Staaten pflegen den Empfang eigener
Staatsangehöriger als Gesandter fremder Mächte abzulehnen (anders
bezüglich der Konsuln). Ist die Mitteilung der Ernennung von
dem Empfangsstaat entgegengenommen worden, so vollzieht sich
die Reise des Gesandten an seinen Bestimmungsort von dem Augen-
blicke an, in dem er die Grenze des Empfangsstaates überschreitet,
[75]§ 14. Die Gesandten insbesondere.
bereits unter dem Schutze des Völkerrechts. Aber erst mit der
Überreichung des Beglaubigungsschreibens (Creditive, lettres de
créance) an das Staatsoberhaupt oder an den Minister des Empfangs-
staates tritt der Gesandte in den vollen Umkreis seiner völker-
rechtlichen Rechte und Pflichten, die aber nach strengem Recht
(anders nach Höflichkeitssitte) stets nur dem Empfangsstaate, nicht
dritten Staaten gegenüber bestehen.
Die völkerrechtliche Rechtsstellung des Gesandten endet:
1. Durch die Abberufung von seiten des Absendestaates, genauer
durch Überreichung und Empfangnahme des Abberufungsschreibens
(lettres de rappel). Der Empfangsstaat pflegt dem Abberufenen
ein Beglaubigungsschreiben (lettres de récréance) einzuhändigen.
Bei einer Änderung der Regierungsform des Absendestaates oder
bei einem Wechsel in der Person des monarchischen Staatsober-
hauptes werden die von diesem Staat im Ausland beglaubigten
Gesandten meist abberufen oder aufs neue beglaubigt.
2. Durch Abbruch der Beziehungen von seiten des Empfangs-
staates, sei es mit dem Absendestaat selbst, sei es bloſs mit dem Ge-
sandten; doch steht in beiden Fällen die Heimreise des Gesandten,
wenn sie nicht mit ungebührlicher Verzögerung erfolgt, bis zur
Grenze des Empfangsstaates unter dem Schutz des Völkerrechts.
IV.
Der Gesandte hat innerhalb der Grenzen seines Auftrags und
unter der Leitung seines Ministers des Auswärtigen den Absendestaat
im völkerrechtlichen Verkehr mit dem Empfangsstaat, und zwar nach
allen Richtungen hin, zu vertreten.
Mit seiner Stellung ist ihm die völkerrechtliche Befugnis ge-
geben, die Interessen seines Heimatstaates wie die der Staatsange-
hörigen und Schutzgenossen desselben zu wahren, während im
übrigen seine Pflichten dem Absendestaat gegenüber sich durch
innerstaatsrechtliche Grundsätze bestimmen. Auſserdem können
ihm die konsularischen Befugnisse (unten § 15) übertragen werden
(Frankreich hat seit 1890 an dem Sitze seiner Gesandten keine
Konsuln mehr).
[76]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Als Verletzung des Völkerrechts erscheint jeder Versuch des
Gesandten, sich in die inneren Verhältnisse des Empfangsstaates ein-
zumengen. Und rechtswidriger Miſsbrauch der Vertrauensstellung
ist die Verwendung geheimer Kundschafter.
Um seiner völkerrechtlichen Aufgabe Genüge leisten zu können,
ist der Gesandte befreit von der Staatsgewalt des Empfangsstaates:
darin besteht seine sogenannte Exterritorialität (oben § 8 IV).
Heyking, L’exterritorialité. 1889.
Vercamer, Des franchises des agents diplomatiques et spécialement de
l’exterritorialité. 1891.
Pietri, Etude critique sur la fiction d’exterritorialité. 1895.
Odier, Des privilèges et immunités des agents diplomatiques en pays de
chrétienté. 1890.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1895.
Beling, Die strafrechtliche Bedeutung der Exterritorialität. Beiträge
zum Völkerrecht und zum Strafrecht. 1896. Dazu Harburger, Kri-
tische Vierteljahrsschrift. 3. Folge. Bd. IV S. 122.
Die dem Gesandten selbst (dem „Chef der Mission“) gewährte
Exterritorialität erstreckt sich aber weiter auch:
- a) Auf die mit ihm wohnenden Mitglieder seiner Familie.
- b) Auf die Mitglieder der Gesandtschaft mit Einschluſs der militä-
rischen und technischen Attachés, sowie auf die Familien dieser
Personen. - c) Auf das Geschäftspersonal (gens d’uniforme) wie Sekretäre, Kanz-
listen, Prediger, Ärzte. - d) Auf die Dienerschaft (gens de livrée), soweit diese Personen nicht
etwa Angehörige des Empfangsstaates sind (bestritten).
Das Deutsche Gerichtsverfassungsgesetz giebt die herrschende
Ansicht wieder. § 18 Abs. 1 sagt: „Die inländische Gerichtsbar-
keit erstreckt sich nicht auf die Chefs und Mitglieder der bei dem
Deutschen Reiche beglaubigten Missionen .....“ § 19: „Auf die
Familienglieder, das Geschäftspersonal der im § 18 erwähnten Per-
sonen und auf solche Bedienstete derselben, welche nicht Deutsche
sind, finden die vorstehenden Bestimmungen Anwendung.“
Die Befreiung von der Staatsgewalt des Empfangsstaates, die
schon von den Vorgängern des Grotius als Rechtssatz des Völker-
rechts aufgestellt worden ist, seit Grotius aber trotz aller Wider-
[77]§ 14. Die Gesandten insbesondere.
sprüche in der Wissenschaft und trotz gelegentlicher Verletzung in
der Übung der Staaten stets zu den unantastbaren Grundlagen des
Staatenverkehrs gerechnet worden ist, ergiebt sich unmittelbar aus
der Souveränität der Staatsgewalt, die der Gesandte bei dem
Empfangsstaat persönlich vertritt (oben § 7 II 4). Sie allein sichert
ihm auch die Erfüllung der mit Zustimmung des Empfangsstaates
von ihm übernommenen Aufgaben. Es kann zugegeben werden, daſs
der Ausdruck „Exterritorialität“ nicht glücklich gewählt ist und zu
Miſsverständnissen Anlaſs geben kann. In der That aber ist der
Gesandte trotz des Aufenthalts im fremden Staat den Gesetzen
seines Heimatlandes unterworfen, als hätte er dieses niemals ver-
lassen. Er behält seinen Wohnsitz in der Hauptstadt des Heimat-
landes und hat in diesem seinen Gerichtsstand. Die herrschende
Ansicht von der Exterritorialität muſs mithin, auch gegenüber den
in neuester Zeit gegen sie (so von Lawrence, Esperson, Fiore,
Zorn, Beling und andern) gerichteten Angriffen, aufrecht er-
halten werden.
Aus dieser Auffassung ergiebt sich auch, daſs der Gesandte
weder für sich, noch auch für die übrigen Personen, auf welche
sich die Befreiung erstreckt, auf diese völlig Verzicht leisten
kann. Der Absendestaat kann es zweifellos thun; aber diese Frage
ist ohne jede praktische Bedeutung. Auf die Möglichkeit eines
teilweisen Verzichts wird bei der Besprechung des Inhalts der
Exterritorialität einzugehen sein.
Die Exterritorialität umfaſst im einzelnen:
1. Die persönliche Unantastbarkeit, die nur im Notstand
(unten § 24 III) verletzt werden darf.
Dagegen ohne Begründung Zorn, Staatsrecht II 435.
2. Die Exemtion von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates.
Damit ist auch die Befreiung von der Herrschaft des mate-
riellen Privat- und Strafrechts gegeben (abweichend insbesondere
Beling). Nur bei dinglichen Klagen in Beziehung auf unbeweg-
liche, im Gebiet des Empfangsstaates gelegene Güter, hat der be-
klagte Gesandte vor den Gerichten des Empfangsstaates Recht zu
[78]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
geben (Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz § 20). Das gilt auch
von dem Gesandtschaftshotel (bestritten). Erhebung der Klage vor
den Gerichten des Empfangsstaates und Einlassung auf diese durch
den Gesandten gilt als der, mit der Ermächtigung seiner Regierung
erfolgte, Verzicht auf die Befreiung in diesem einzelnen Rechts-
streit.
Abweichend Martens-Bergbohm II 56 u. a., welche ausdrückliche Er-
mächtigung seitens des Absendestaates verlangen.
Die Zustellung muſs aber auch in diesem Falle auf diplo-
matischem Wege erfolgen; Versäumnis steht der Einlassung nicht
gleich; die Zwangsvollstreckung ist ausgeschlossen, soweit ihr die
persönliche Unantastbarkeit des Gesandten und die Unbetretbarkeit
seiner Wohnung im Wege steht, während sie in die übrigen un-
beweglichen Güter, die der Gesandte im Empfangsstaat besitzt und
in die auſserhalb seiner Wohnung befindlichen, beweglichen Güter
(so in die Wertpapiere, die er bei einem Bankhause niedergelegt
hat) ebenso möglich ist, wie in das Vermögen, das der Gesandte
im Absendestaat besitzt.
Wenn der Gesandte mit Zustimmung seines Absendestaates
im Empfangsstaat Handel oder Gewerbe betreibt, so muſs ange-
nommen werden, daſs er auf die Befreiung von der inländischen
Civilgerichtsbarkeit in allen Rechtsstreitigkeiten verzichtet, nicht
nur in denjenigen, die aus dem Betrieb des Handels und Gewerbes
sich ergeben. Auch in diesem Falle gelten aber die soeben auf-
gestellten Einschränkungen.
Das Gegenstück zu der Befreiung von der Gerichtsbarkeit
des Empfangsstaates bildet der ebenso durch das Völkerrecht wie
durch das nationale Staatsrecht der Kulturstaaten allgemein an-
erkannte Satz, daſs der Gesandte wegen aller von ihm begangenen
Delikte in seinem Heimatstaat nach dessen Gesetzen verantwortlich
gemacht, und daſs er wegen aller von ihm eingegangenen privat-
rechtlichen Verpflichtungen vor den Gerichten des Heimatstaates
verfolgt werden kann. Seine Befreiung ist nicht Befreiung von
der Herrschaft des Gesetzes überhaupt, sondern Befreiung von den
[79]§ 14. Die Gesandten insbesondere.
Gesetzen des Empfangsstaates unter gleichzeitiger Gebundenheit
durch die Gesetze des Absendestaates.
3. Die Unbetretbarkeit der Wohnung (franchise de l’hôtel) und
damit die Unantastbarkeit aller in Haus und Hof befindlichen
Gegenstände. Vor zwei nahe liegenden Irrtümern ist jedoch zu
warnen. Die Hotelfreiheit schlieſst kein Asylrecht in sich. Flüchtet
sich ein Verbrecher in das Gesandtschaftshotel, so ist der Gesandte
zur Auslieferung, auch ohne Bestehen eines Auslieferungsvertrages,
verpflichtet. Sie schlieſst auch nicht die Fiktion in sich, als wäre
das Haus des Gesandten als Territorium des Absendestaates zu be-
trachten. Wird in dem Berliner Hotel des englischen Gesandten
ein Engländer von einem andern Engländer ermordet, so ist die
That auf deutschem Staatsgebiet begangen und von den deutschen
Gerichten abzuurteilen.
Früher war die Unbetretbarkeit vielfach auf das ganze Stadt-
viertel ausgedehnt worden, in dem das Haus des Gesandten lag
(jus quarteriorum oder franchise des quartiers). Damit war zugleich
das Asylrecht gegeben.
4. Die Befreiung von allen persönlichen Steuern und Abgaben
(Vermögenssteuer, Einkommensteuer); nicht aber von Grundsteuern,
indirekten Steuern, Zollabgaben. Doch sind hier durch besondere
Vereinbarungen vielfach weitergehende Vorrechte eingeräumt.
Vgl. Deutsches Reichsgesetz vom 25. Juni 1868 (R. G. Bl.
S. 523), betreffend die Quartierleistung für die bewaffnete Macht
während des Friedenszustandes, § 4 Ziffer 2: Befreit sind: „Die
Wohnungen der Gesandten und des Gesandtschaftspersonals fremder
Mächte; ferner, in Voraussetzung der Gegenseitigkeit, die Woh-
nungen der Berufskonsuln fremder Mächte, sofern sie Angehörige
des entsendenden Staates sind und in ihrem Wohnort kein Ge-
werbe betreiben oder keine Grundstücke besitzen.“
Das Deutsche Reichsgesetz vom 13. Februar 1875 über die
Naturalleistungen für die bewaffnete Macht im Frieden (R. G. Bl.
S. 52), § 3: Von der Vorspannleistung sind befreit: 2. „Die Gesandten
und das Gesandtschaftspersonal fremder Mächte.“ § 5 Abs. 3: Diese
[80]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Befreiung findet „auch hinsichtlich der Verpflichtung zur Verab-
reichung der Fourage insoweit Anwendung, als der vorhandene
Fouragebestand für den Unterhalt derjenigen Pferde erforderlich
ist, auf welche sich die Befreiung bezieht.“
5. Den uneingeschränkten und ungehemmten Verkehr mit dem
Absendestaat (unbedingtes Brief- und Depeschengeheimnis,
dessen Verletzung mithin ein völkerrechtliches Delikt darstellt).
Daher darf auch das Reisegepäck der Kuriere keiner Grenz-
untersuchung unterzogen werden. (Dagegen Zorn II 435.)
6. Gerichtsbarkeit über die eigenen Staatsangehörigen darf der
Gesandte nur innerhalb der durch den Empfangsstaat gezogenen Grenzen
ausüben.
Im allgemeinen wird ihm die freiwillige Gerichtsbarkeit ein-
geräumt (Beurkundung aller Art, standesamtliche Funktionen).
7. Von geringer praktischer Bedeutung ist heute die sogenannte
Kapellenfreiheit, d. h. das (in den Verträgen mit den süd- und
mittelamerikanischen Staaten vielfach noch ausdrücklich vereinbarte)
Recht des Gesandten, nicht nur für die der Gesandtschaft ange-
hörigen Personen in der Gesandtschaftskapelle den Gottesdienst
halten zu lassen, sondern zu diesem auch andern dem Absende-
staate angehörigen Glaubensgenossen den Zutritt zu gewähren.
Auch hier ist aber vor dem Miſsverständnisse zu warnen,
als stelle die Gesandtschaftskapelle ausländisches Staatsgebiet dar:
die in der Kapelle der englischen Botschaft in Berlin zwischen
Engländern geschlossene Ehe ist auf deutschem Boden geschlossen.
In den Verträgen mit den halbcivilisierten Staaten werden
wohl den beiderseitigen Gesandten diese Vorrechte, sei es durch
einen allgemeinen Hinweis auf die Grundsätze des Völkerrechts,
sei es durch Aufzählung der einzelnen Freiheiten, ausdrücklich
zugestanden. Vgl. Vertrag des Deutschen Zollvereins mit China vom
2. September 1861 (Preuſsische Gesetzsammlung 1863 S. 265)
Artikel 3: „Die diplomatischen Agenten Preuſsens und Chinas sollen
gegenseitig am Orte ihres Aufenthalts die Vorrechte und Frei-
heiten genieſsen, welche das Völkerrecht ihnen gewährt. Ihre Person,
[81]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
ihre Familie, ihr Haus und ihre Korrespondenz sollen unverletz-
lich sein .....“
§ 15. Die Konsuln insbesondere.
Bulmerincq in H. H. III 685.
Für die deutschen Verhältnisse König, Handbuch des deutschen Konsular-
wesens. 5. Aufl. 1896.
I.
Konsuln sind die ständigen Vertreter des Absendestaates in seinen
handelspolitischen Beziehungen zum Empfangsstaat (Handelskonsuln).
Das Konsularrecht ruht völkerrechtlich teils auf dem Her-
kommen, teils auf Verträgen, die entweder reine Konsularverträge,
oder aber allgemeine Verträge (Handels-, Schiffahrts-, Niederlassungs-
verträge) mit konsularischen Bestimmungen sind.
Vgl. Laband, Staatsrecht II 13 Note 2 über die vom Deutschen Reich
geschlossenen Verträge.
Die gegenseitige Vertretung durch Konsuln greift weit über
den Kreis der zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörenden Staaten
hinaus. Jedoch hat jeder Staat das Recht, fremde Konsuln nur an
bestimmten Orten zuzulassen oder sie von bestimmten Orten aus-
zuschlieſsen. Dabei wird in den Verträgen meist vorausgesetzt,
daſs dieser Vorbehalt allen Mächten gegenüber gleichmäſsige An-
wendung findet. Auch spielt vielfach die Meistbegünstigungsklausel
eine wichtige Rolle.
Deutsch-japanischer Konsularvertrag vom 4. April 1896 (R. G. Bl.
S. 732) Art. I Abs. 1: „Jeder der vertragschlieſsenden Teile kann
Generalkonsuln, Konsuln, Vizekonsuln und Konsularagenten in allen
Häfen, Städten und Plätzen des anderen Teiles bestellen, mit Aus-
nahme derjenigen Orte, wo es nicht angemessen erscheinen sollte,
solche Beamte anzuerkennen. Dieser Vorbehalt soll jedoch auf
keinen der vertragschlieſsenden Teile angewendet werden, ohne
jeder anderen Macht gegenüber ebenfalls Anwendung zu finden.“
II. Einteilung der Konsuln.
1. Die Unterscheidung von Beruſskonsuln (consules missi, con-
suls de carrière) und Wahlkonsuln (consules electi) ist völkerrechtlich
v. Liszt, Völkerrecht. 6
[82]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
nur insoweit von Bedeutung, als in den Verträgen jenen vielfach gröſsere
Rechte als diesen eingeräumt werden.
2. Von den bloſsen Handelskonsuln unterscheiden sich die Juris-
diktionskonsuln, deren Rechtsstellung unter IV besonders darge-
stellt werden wird.
3. Die Unterscheidung von Generalkonsuln, Konsuln, Vizekon-
suln und Konsularagenten hat zunächst nur staatsrechtliche Bedeutung.
Jedoch wird in den Verträgen vielfach zwischen den beiden ersten
Klassen einerseits, den beiden letzten andrerseits unterschieden, so
daſs insoweit die Zugehörigkeit zu der einen oder andern Klasse auch
völkerrechtliche Rechtsfolgen erzeugt.
4. Die Konsuln können auch mit der gesamten Vertretung des
Absendestaates beauftragt, also zu Geschäftsträgern ernannt werden
(consuls généraux chargés d’affaires).
Das geschieht insbesondere im Verkehr mit den halbsouveränen
Staaten sowie mit den Staaten Central- und Südamerikas. Doch
haben sie auch in diesem Falle niemals den „diplomatischen Cha-
rakter“ (oben § 13 II), also nicht die persönliche Rechtsstellung
der Gesandten.
III. Die Rechtsstellung der Konsuln.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1896.
1. Sie wird völkerrechtlich begründet durch die Ernennung von
seiten des Absendestaates (lettres de provision) und durch deren Ge-
nehmigung von seiten des Empfangsstaates (Erteilung des exequatur
oder „Placet“, in der Türkei Berat genannt).
2. Die Aufgabe der Konsuln umfaſst:
- a) Die Wahrung der handelspolitischen Interessen des Absendestaates.
Sie überwachen daher den gesamten Handels- und Schiff-
fahrtsverkehr zwischen dem Absendestaat und dem Empfangsstaat, die
Beachtung der Staatsverträge, nach einzelnen Verträgen, so z. B.
zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten vom 11. De-
zember 1871, R. G. Bl. 1872 S. 95, Artikel 8, die Beachtung des
„Völkerrechts“ überhaupt. Die Besorgung weiterer Staatsgeschäfte
kann ihnen durch besonderen, vom Empfangsstaat genehmigten,
Auftrag des Absendestaates übertragen werden.
- b) Die Wahrnehmung der Interessen der Staatsangehörigen und
Schutzgenossen des Absendestaates.
[83]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
- c) Die Ausübung obrigkeitlicher Befugnisse, soweit ihnen diese
unter Genehmigung des Empfangsstaates übertragen sind.
Insbesondere pflegt den Konsuln in den Verträgen übertragen
zu werden:
- α) die Aufnahme und Beglaubigung von Urkunden;
- β) die Eheschlieſsung zwischen Staatsangehörigen;
- γ) die Regelung des Nachlasses und die Sorge für die Hinter-
bliebenen der in ihrem Amtsbezirk gestorbenen Staatsange-
hörigen (darüber unten § 32 III); - δ) die Seepolizei; insbesondere die Verhaftung entwichener See-
leute, die Aufrechterhaltung der innern Ordnung an Bord
ihrer nationalen Handelsschiffe, die Regelung der Havarieen,
die Überwachung der Ausbesserung, Verproviantierung und
des Verkaufs gestrandeter oder gescheiterter Schiffe.
Dagegen bleibt ihnen die streitige Gerichtsbarkeit, insbesondere
auch die Vernehmung von Zeugen, von besonderen Vereinbarungen
abgesehen, entzogen.
Über die Befugnis der deutschen Konsuln vgl. Laband, Staatsrecht II 14.
3. Die Konsuln sind, im Unterschied von den Gesandten, nicht
„mit diplomatischem Charakter bekleidet“.
Sie sind mithin, von den ihnen übertragenen Funktionen ab-
gesehen, nicht Vertreter des Absendestaates. Das ist in den Ver-
trägen vielfach ausdrücklich ausgesprochen. Die Konsuln sind daher,
was ebenfalls in den Verträgen vielfach ausdrücklich hervorgehoben
zu werden pflegt, nicht befugt, sich unmittelbar an die Central-
behörde des Empfangsstaates zu wenden, sondern haben zu diesem
Zweck die Vermittlung des diplomatischen Vertreters ihres Ab-
sendestaates in Anspruch zu nehmen.
Die Konsuln sind daher auch von der Staatsgewalt des Em-
pfangsstaates nur soweit befreit, als dies zur ungehinderten Durch-
führung ihrer Aufgabe notwendig ist. Die den Gesandten zustehenden
Vorrechte und Befreiungen kommen ihnen, mangels besonderer
Vereinbarung, nicht zu. Ihre Rechtsstellung wird in den Ver-
trägen meist durch Aufzählung der ihnen gewährten Rechte und
6*
[84]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Befreiungen umschrieben. Doch findet sich gerade auch hier die
Meistbegünstigungsklausel.
Vorrechte und Befreiungen der Konsuln.
- a) Die persönliche Unantastbarkeit genieſsen sie nur, soweit sie ihnen
durch Vertrag oder Herkommen besonders eingeräumt ist.
Aber auch in diesem Fall wird sie für Verbrechen im engern
Sinne nicht gewährt. Meist beschränkt sich die Befreiung auf die
Untersuchungshaft in andern als Verbrechensfällen, nicht aber auf
die Strafgerichtsbarkeit selbst. Deutsch-japanischer Konsularver-
trag vom 4. April 1896 (R. G. Bl. S. 732) Artikel III Abs. 1: „Kon-
sularbeamte, welche Angehörige desjenigen vertragschlieſsenden
Teiles sind, der sie ernannt hat, sollen frei von Verhaftung oder
Gefangenhaltung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und von Unter-
suchungshaft in Strafsachen sein, ausgenommen in Fällen straf-
barer Handlungen, welche nach der Landesgesetzgebung als Ver-
brechen angesehen werden .....“
- b) Die Unverletzlichkeit der Amtsräume sowie insbesondere des
Konsulararchivs ist gemeines Recht. Nur England bestreitet seine
Verbindlichkeit (ihm folgt Zorn II 463). Doch müssen die amt-
lichen Papiere von den privaten Papieren getrennt gehalten
werden. Die Unbetretbarkeit der Wohnung wird mehrfach durch
besondere Vereinbarung zugesichert.
Deutsch-japanischer Konsularvertrag Artikel VI:
„Die Konsulararchive sollen jederzeit unverletzlich sein, und
unter keinem Vorwande soll es den Landesbehörden erlaubt sein,
die Papiere, welche zu diesen Archiven gehören, zu durchsuchen
oder mit Beschlag zu belegen.“
„Betreibt ein Konsularbeamter nebenbei Geschäfte, so sollen
die auf das Konsulat bezüglichen Papiere unter besonderem Ver-
schlusse, gesondert von den Privatpapieren, aufbewahrt werden.“
„Die Amtsräume und Wohnungen der Konsularbeamten, welche
Angehörige des Landes sind, das sie ernannt hat, und nicht Handel,
Industrie oder eine sonstige gewerbliche Thätigkeit nebenbei betreiben,
sollen jederzeit unverletzlich sein.“
[85]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
„Die Landesbehörden sollen, soweit es sich nicht um Ver-
folgung von Verbrechen handelt, unter keinem Vorwande dort ein-
dringen. In keinem Falle dürfen sie die daselbst niedergelegten
Papiere durchsuchen oder in Beschlag nehmen. Unter keinen Um-
ständen jedoch dürfen die Amtsräume oder Wohnungen der Konsu-
larbeamten als Asyl benutzt werden.“
- c) Befreiung von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates genieſsen
sie nicht, soweit nicht die bisher besprochenen Einschränkungen
Platz greifen. Sie sind daher, von besonderen Vereinbarungen
abgesehen, auch der Zeugnispflicht vor den Gerichten des Em-
pfangsstaates unterworfen.
Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz § 21: „Die im Deutschen
Reiche angestellten Konsuln sind der inländischen Gerichtsbarkeit
unterworfen, sofern nicht in Verträgen des Deutschen Reichs mit
anderen Mächten Vereinbarungen über die Befreiung der Konsuln
von der inländischen Gerichtsbarkeit getroffen sind.“ Damit ist
zugleich die Wirksamkeit eines Gewohnheitsrechts ausgeschlossen.
Deutsch-japanischer Konsularvertrag Artikel IV:
„Die Generalkonsuln, Konsuln und ihre Kanzler oder Sekretäre,
sowie die Vizekonsuln und Konsularagenten sind verbunden, vor
Gericht Zeugnis abzulegen, wenn die Landesgerichte solches für
erforderlich halten. Doch soll die Gerichtsbehörde in diesem
Falle sie mittelst amtlichen Schreibens ersuchen, vor ihr zu er-
scheinen.“
„Für den Fall der Behinderung der gedachten Beamten
durch Dienstgeschäfte oder Krankheit soll, jedoch nur in bürger-
lichen Rechtsstreitigkeiten, die Gerichtsbehörde sich in ihre Wohnung
begeben, um sie mündlich zu vernehmen, oder unter Beobachtung
der einem jeden der beiden Länder eigentümlichen Förmlichkeiten
ihr schriftliches Zeugnis verlangen. Die gedachten Beamten haben
dem Verlangen der Behörde in der ihnen bezeichneten Frist zu
entsprechen und derselben ihre Aussage schriftlich, mit ihrer Unter-
schrift und ihrem amtlichen Siegel versehen, zuzustellen.“
- d) Befreiung von Lasten und Abgaben können die Konsuln nur
auf Grund besonderer Vereinbarung in Anspruch nehmen.
[86]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Solche Vereinbarungen finden sich in den Verträgen sehr häufig.
Deutsch-japanischer Konsularvertrag Artikel III Abs. 1:
Konsularbeamte, welche Angehörige desjenigen vertragschlies-
senden Teiles sind, der sie ernannt hat, sollen „befreit von Militär-
einquartierung und Kontributionen sein, und vorausgesetzt, daſs sie
nicht Handel, Industrie oder ein anderes Gewerbe, beziehungsweise
eine auſseramtliche Erwerbsthätigkeit betreiben, sollen sie auch
von persönlichen oder Luxusabgaben und von allen Leistungen
und Beiträgen befreit sein, welche einen direkten oder persönlichen
Charakter haben. Diese Befreiung soll sich dagegen nicht auf
Zölle, Verbrauchssteuern, örtliche Verzehrungsabgaben oder auf
Auflagen hinsichtlich Grundeigentums erstrecken, das sie etwa in
dem Lande ihres Amtssitzes erwerben oder besitzen.“
Deutsch-türkischer Freundschafts-, Handels- und Schiffahrts-
vertrag vom 26. August 1890 (R. G. Bl. 1891 S. 117) Artikel X:
„Zollfrei dürfen in das Ottomanische Reich nach zollamt-
licher Prüfung eingeführt werden:
3. Effekten und Gegenstände, welche unter der Adresse des
Vorstehers eines in der Türkei errichteten deutschen Generalkonsu-
lats oder Konsulats eingeführt werden und zu dessen persönlichem
Gebrauch oder dem seiner Familie bestimmt sind, wenn diese Vor-
steher von ihrer Regierung festbesoldete Berufsbeamte sind und
insoweit, als die Einfuhrabgabe 2500 Piaster Gold jährlich nicht
übersteigt.“
- e) Zu den Ehrenvorrechten gehört das Recht der Konsuln, die Hoheits-
zeichen ihres Staates (Flagge, Wappen u. s. w.) in der dem Her-
kommen entsprechenden Weise zu führen.
IV.
Eine durchaus eigenartige Rechtsstellung haben die Jurisdiktions-
konsuln. Sie beruht auf der fortdauernden einseitigen Geltung des
Personalitätsprinzips in den nichtchristlichen Ländern (pays hors chré-
tienté).
Latino, I consoli e le colonie europee nei possedimenti ottomani. 1898.
1. Die rechtliche Grundlage dieser eigenartigen Stellung liegt,
abgesehen von dem Herkommen, in besonderen Verträgen (Kapitula-
[87]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
tionen), welche die christlichen Staaten nach dem Vorbilde Frank-
reichs mit den nichtchristlichen Staaten geschlossen haben.
Vertrag von 1535 zwischen Franz I. und Soliman II., dem
eine Reihe von elf weiteren Verträgen bis zu dem heute noch
geltenden Vertrag von 1740 folgte. Vgl. auch den preuſsisch-
türkischen Freundschafts- und Handelsvertrag vom 22. März 1761
(alten Stils).
- a) Diese Verträge gelten auch heute noch für das Gesamtgebiet
der Türkei, obwohl das 14. Protokoll des Pariser Vertrags
vom 25. März 1856 die Erklärung der Mächte enthält, daſs
sie: „einem Zustande entsprechen, dem der gegenwärtige
Vertrag (durch welchen die Türkei in die Völkerrechts-
gemeinschaft aufgenommen wurde) ein Ende zu machen not-
wendig bestrebt sein muſs.“ Seitdem durch das Gesetz vom
10. Juni 1867 den Fremden die Erwerbung von Grundeigentum
in der Türkei eingeräumt ist, entscheiden jedoch die türkischen
Gerichte über alle Grundstreitigkeiten ohne Ausnahme. (Proto-
koll von Konstantinopel vom 9. Juni 1868.) - b) Solche Verträge sind aber auch mit den Mächten des äuſsersten
Osten Asiens (L’extrême orient) sowie mit andern nichtchrist-
lichen Staaten, insbesondere mit den polynesischen Inselstaaten,
nach dem Vorbild der türkischen Kapitulationen geschlossen
worden (so mit China, Japan, Korea, Siam, Persien; mit Zan-
zibar, Madagaskar, Marokko u. s. w.) - c) Die Verträge erlöschen, sobald die eine der christlichen Mächte
die Gebietshoheit oder auch nur eine Schutzherrschaft über ein
bisher unter nichtchristlicher Herrschaft stehendes Gebiet er-
wirbt und in diesem ihre nationale Gerichtsbarkeit einrichtet.
Dies war zunächst der Fall in Tunis. Daher bestimmte
das Deutsche Reichsgesetz vom 27. Juli 1883 (R. G. Bl. 1883 S. 263):
„Die dem Konsul des Deutschen Reichs in Tunis für die Regent-
schaft Tunis zustehende Gerichtsbarkeit kann mit Zustimmung des
Bundesrats durch Kaiserliche Verordnung eingeschränkt oder auſser
Übung gesetzt werden.“ Dies geschah durch Verordnung vom
21. Januar 1884 (R. G. Bl. 1884 S. 9). Neuerdings hat das
[88]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Deutsche Reich durch eine Frankreich gegenüber abgegebene Er-
klärung vom 18. November 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 7) ausdrücklich
„auf die Geltendmachung des Regimes der Kapitulationen in Tunis“
Verzicht geleistet, und „wird daselbst für seine Konsuln und seine
Reichsangehörigen keine anderen Rechte und Privilegien in Anspruch
nehmen als diejenigen, welche ihnen in Frankreich auf Grund der
zwischen Deutschland und Frankreich bestehenden Verträge zu-
stehen.“
Dasselbe gilt von Bosnien und der Herzogowina, seitdem
diese an Österreich übergegangen sind. Anerkannt durch Deutsches
Reichsgesetz vom 7. Juni 1880 (R. G. Bl. S. 146) und durchgeführt
durch Verordnung vom 23. Dezember 1880 (R. G. Bl. 1880 S. 191).
Auf der Insel Cypern wurde die konsularische Gerichtsbar-
keit einseitig durch England beseitigt.
Esperson, R. J. X 587.
Saripolos, R. J. XII 389.
Die Aufhebung in Annam und Tonkin durch Frankreich
1884 begegnete keinem Widerspruch. Neuerdings fällt sie in
Madagaskar hinweg, nachdem dieses von Frankreich einverleibt
worden ist.
- d) Durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 wurde bestimmt
(Artikel 8 Absatz 4, Artikel 37 Absatz 3, Artikel 49), daſs in
Bulgarien, Serbien, Rumänien die konsularische Jurisdiktion in
Kraft bleiben soll, so lange sie nicht durch gemeinsames Ein-
verständnis der Beteiligten beseitigt werde. Die Beseitigung
ist durch Verträge Serbiens und Rumäniens mit den christ-
lichen Mächten seither thatsächlich erfolgt (deutsch-serbischer
Konsularvertrag vom 6. Januar 1883, R. G. Bl. S. 62, Artikel XXV);
dagegen bestehen die Kapitulationen in Bulgarien weiter. - e) Durch die seit 1894 mit England, den Vereinigten Staaten und
andern Mächten geschlossenen Verträge ist Japan der Erfüllung
seines Wunsches, die konsularische Jurisdiktion in seinem
Lande beseitigt zu sehen, um einen wichtigen Schritt näher ge-
kommen. Die Beseitigung ist nur mehr eine Frage der Zeit;
und die Bestimmung des Zeitpunktes liegt in der Hand Japans
selbst.
[89]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
Deutsch-japanischer Handels- und Schiffahrtsvertrag vom
4. April 1896 (R. G. Bl. 1896 S. 715) Artikel XX. Mit dem Inkraft-
treten dieses Vertrags „hört alsdann die bis dahin in Japan aus-
geübte Gerichtsbarkeit deutscher Gerichtsbehörden auf und erreichen
alle ausnahmsweisen Privilegien, Befreiungen und Immunitäten, die
bis dahin die deutschen Reichsangehörigen als einen Bestandteil
oder einen Ausfluſs dieser Gerichtsbarkeit genossen, ohne Weiteres
ihre Endschaft. Diese Gerichtsbarkeit wird alsdann von japanischen
Gerichten übernommen und ausgeübt werden.“
Artikel XXI: „Der gegenwärtige Vertrag … soll … in Kraft
treten nach Ablauf eines Jahres, nachdem die Regierung Seiner
Majestät des Kaisers von Japan der Regierung Seiner Majestät des
Deutschen Kaisers … von ihrem Wunsche, den Vertrag in Kraft
zu setzen, Anzeige gemacht hat .....“
Vgl. auch den Handels-, Freundschafts- und Schiffahrtsver-
trag zwischen dem Reich und dem Königreich Korea vom 26. No-
vember 1883 (R. G. Bl. 1884 S. 221), Schluſsprotokoll zu Ar-
tikel III des Vertrages: „Dem Rechte der exterritorialen Jurisdiktion
über deutsche Reichsangehörige wird von der Kaiserlich deutschen
Regierung entsagt werden, sobald nach ihrer Auffassung das Ge-
richtsverfahren und die Gesetze des Königreichs Korea so weit ge-
ändert und verbessert worden sind, um die gegenwärtig bestehen-
den Bedenken gegen eine Unterstellung deutscher Reichsangehöriger
unter die koreanische Gerichtsbarkeit zu beseitigen, und die korea-
nischen Richter eine gleichartige richterliche Befähigung und eine
ähnliche unabhängige Stellung wie der deutsche Richterstand erreicht
haben werden.“
2. Die Rechte der Jurisdiktionskonsuln im einzelnen.
- a) Sie haben, soweit ihre nationale Gesetzgebung ihnen diese Be-
fugnis gewährt, die (ausschlieſsliche) Polizeigewalt (Verordnungs-
und Strafgewalt) über die Staatsangehörigen und die Schutz-
genossen ihres Absendestaates, daher insbesondere auch das Recht,
diese aus ihrem Bezirk auszuweisen.
Mérignhac, R. J. XXIV 147.
Féraud-Giraud, R. J. XIX 1.
[90]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
- b) Sie haben die Civil- und Strafgerichtsbarkeit in allen Streitig-
keiten, in welchen beide Teile Staatsangehörige, Schutzgenossen
oder de facto Unterthanen ihres Staates sind. - c) In Streitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener christlichen
Staaten entscheidet der Konsul des Geklagten oder Beschuldigten
(nach dem Grundsatz: actor sequitur forum rei). - d) Bei Streitigkeiten zwischen den Angehörigen eines christlichen
Staates und einem Eingeborenen giebt es keine allgemeine Regel.
Vgl. Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht von 1883.
In der Türkei, in China und in Persien entscheiden in
diesem Falle die lokalen Gerichte, aber mit Dazwischenkunft des
Konsuls. Nach dem deutsch-persischen Freundschafts- u. s. w. Ver-
trag vom 11. Juni 1873 (R. G. Bl. 1873 S. 351) Artikel 16 sollen
Strafsachen, in welche Deutsche in Persien oder umgekehrt ver-
wickelt werden, nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung beur-
teilt werden. Vgl. auch den Vertrag zwischen China und dem
Deutschen Zollverein vom 2. September 1861 (Preuſsische Gesetz-
sammlung 1863 S. 265). Dagegen entscheiden in Korea, Zanzibar
und andern Ländern die Behörden des Geklagten oder Angeklagten.
- e) Die Konsuln haben das Recht der Beistandschaft in allen Streitig-
keiten, in welchen ein Angehöriger ihres Staates als Partei vor
den einheimischen Gerichten zu erscheinen hat. - f) Sie genieſsen die Exterritorialität wie die Gesandten.
Es sind ihnen sogar, darüber hinausgehend, weitere besondere
Rechte eingeräumt. So haben sie das Recht, sich eine Ehrenwache
zu halten; ihre Wohnung gilt als Asyl; ihre Schutzgewalt erstreckt
sich teilweise über das ganze Stadtviertel, in dem sie mit ihren
Staatsangehörigen wohnen (franchise des quartiers, oben S. 79).
Samel, Les étrangers devant les tribunaux consulaires et nationaux en
Turquie. 1891.
Derselbe, De la compétence des tribunaux ottomans. 1893.
3. Aus dem Gesagten ergiebt sich, daſs aber auch die Staats-
angehörigen der christlichen Staaten selbst in den konsularischen Juris-
diktionsbezirken einer weitgehenden Befreiung von der Staatsgewalt
des Aufenthaltsstaates genieſsen, insoweit also exterritorial sind (oben
§ 8 IV).
[91]§ 15. Die Konsuln insbesondere.
Dies ist mit aller juristischen Schärfe ausgesprochen in
dem deutschen Freundschafts- u. s. w. Vertrag mit Zanzibar vom
20. Dezember 1885 (R. G. Bl. 1886 S. 261) Artikel XVI. Dieser be-
ginnt mit den Worten: „Die Angehörigen des Deutschen Reichs
genieſsen innerhalb des Gebietes Seiner Hoheit des Sultans von
Zanzibar das Recht der Exterritorialität“.
„Die Behörden Seiner Hoheit des Sultans haben sich in Streitig-
keiten, welche zwischen deutschen Reichsangehörigen untereinander
und zwischen ihnen und Angehörigen anderer christlicher Nationen
entstehen, nicht einzumischen ....“ Diese Befreiung ergreift so-
gar nach einzelnen Abmachungen die Dienerschaft der christ-
lichen Staatsangehörigen. Artikel XVII des Vertrags fährt fort:
„Unterthanen Seiner Hoheit des Sultans oder Angehörige, durch
Konsuln bei Seiner Hoheit nicht vertretener, nichtchristlicher Nationen,
welche innerhalb der Besitzungen Seiner Hoheit als Bedienstete
bei deutschen Reichsangehörigen angestellt sind, sollen denselben
Schutz wie die letzteren selbst genieſsen. Sollten dieselben jedoch
eines Vergehens oder Verbrechens beschuldigt werden, so sollen
sie, sofern hinreichende Verdachtsgründe gegen sie nachgewiesen
werden, von ihren deutschen Dienstherren eventuell durch das
deutsche Konsulat den Behörden Seiner Hoheit des Sultans zur
Bestrafung überwiesen und zu diesem Zweck aus dem Dienste
der deutschen Unterthanen entlassen werden.“
Die Exterritorialität erstreckt sich dann auch auf die Woh-
nungen der christlichen Staatsangehörigen, die ohne die Zustimmung
der Besitzer nur mit Genehmigung oder doch nur in Gegenwart
des Konsuls oder seines Vertreters einer Durchsuchung unterzogen
werden dürfen. Vgl. die deutschen Verträge mit Zanzibar, mit
Persien u. s. w.
4. Eine wesentliche Einschränkung der konsularischen Gerichts-
barkeit wird durch die Einsetzung der gemischten Gerichtshöfe herbei-
geführt. (Vgl. unten § 18.)
[92]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
§ 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft.
I.
Da es heute noch an einer ständigen und allgemeinen Organi-
sation der Völkerrechtsgemeinschaft fehlt, so giebt es auch keine stän-
digen und allgemeinen Vertreter dieser Gemeinschaft. Das Staatsober-
haupt, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Gesandte,
der Konsul, der Kommissar — sie alle vertreten nur den einzelnen
Staat in seinem völkerrechtlichen Verkehr mit den übrigen Staaten,
niemals die Gesamtheit dieser Staaten; sie sind im strengen Sinne
des Wortes durchaus nationale Organe für den internationalen Ver-
kehr, nicht aber internationale Organe.
Zur Beratung und Entscheidung über Angelegenheiten von ge-
meinsamem Interesse, mögen diese politischer oder technisch-admi-
nistrativer Natur sein, treten die Abgesandten der einzelnen Staaten
zu besonderen, nur zu diesem Zweck einberufenen Versammlungen zu-
sammen. Diese Versammlungen heiſsen Kongresse oder Konferenzen,
ohne daſs zwischen diesen beiden Ausdrücken ein streng festgehaltener
Unterschied bestände, obwohl im allgemeinen die Verhandlungen über
die groſsen politischen Fragen als Kongresse, die weniger feierlichen,
meist nur durch Kommissare beschickten Verhandlungen über tech-
nisch-administrative Fragen als Konferenzen bezeichnet zu werden
pflegen. Auf Kongressen wie auf Konferenzen können Beschlüsse nur
mit Stimmeneinhelligkeit gefaſst werden; die Möglichkeit, überstimmt
zu werden, würde als unerträgliche Gefährdung der nationalen Selb-
ständigkeit erscheinen.
Bei Gründung der Heiligen Allianz (oben § 3 III) waren regel-
mäſsige, in bestimmten Zeiträumen abzuhaltende Kongresse der
beteiligten Staaten in Aussicht genommen worden. Diese hätten
wohl den Keim abgeben können zu einem Völkerareopag und da-
mit zu einer rechtlichen Organisation der Völkerrechtsgemeinschaft.
Aber schon nach wenig Jahren hatten die Kongresse der Heiligen
Allianz ein unrühmliches Ende gefunden. Seitdem hat der Ge-
danke einer ständigen oder doch von Zeit zu Zeit sich versammeln-
den Staatenvertretung nur in den Utopieen derjenigen Schriftsteller
eine Rolle gespielt, die von dem Staatenstaat (oben § 1 I) träumten.
II.
Dennoch hat die Entwicklung des Staatenverkehrs in diesem
Jahrhundert und zwar insbesondere in den letzten Jahrzehnten stän-
dige Staatenvertretungen ins Leben gerufen, die zur Verwaltung ab-
[93]§ 16. Die Organe der Völkerrechtsgemeinschaft.
gegrenzter gemeinsamer Interessen von einer gröſseren oder kleineren
Staatengruppe berufen, mithin kraft internationalen Auftrags, als
wirklich internationale Ämter erscheinen.
Hierher gehören in erster Linie, ihrer zeitlichen Entstehung
nach, die Internationalen Fluſskommissionen, wie sie zur Überwachung
der freien Schiffahrt auf den konventionellen Strömen (unten § 27 II)
eingesetzt worden sind. Zu erwähnen sind in diesem Zusammen-
hange:
1. Die Europäische Donaukommission, bestehend aus Vertretern
der Groſsmächte, eingesetzt 1856, der durch den Berliner Vertrag
von 1878 die volle Unabhängigkeit von der Landesgewalt zuge-
sichert wurde. Nach der Zusatzakte zur Schiffahrtsakte für die
Donaumündungen vom 28. Mai 1881 (R. G. Bl. 1882 S. 61) ernennt
die Europäische Kommission den Schiffahrtsinspektor der unteren
Donau (Inspecteur de la navigation du Bas-Danube), der von einem
Kanzler und den Aufsehern für die verschiedenen Fluſssektionen
unterstützt wird, sowie den Kapitän des Hafens von Sulina und
dessen ganzes Unterpersonal, und zwar mit Stimmenmehrheit und
ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit. Der Inspektor und
der Hafenkapitän haben die Gerichtsbarkeit erster Instanz bei allen
Übertretungen der Schiffahrtspolizei; ihr Urteil wird im Namen
der Europäischen Kommission gefällt. Alle Beamten und Arbeiter
der Europäischen Kommission haben das Recht, ein besonderes
Abzeichen zu tragen (auf blauem Feld die Buchstaben C. E. D.)
und auf allen Bauten und Schiffen der Kommission kann deren
eigene Flagge ausschlieſslich geführt werden.
2. Die durch die Kongoschiffahrtsakte vom 26. Februar 1885 vor-
gesehene Internationale Kommission, welche die Ausführung der Akte
zu überwachen hat. Diese Kommission hat das Mandat von den
sämtlichen Signatarmächten der Kongokonferenz.
3. Die Vertreter der Mächte in Egypten bilden eine besondere
Internationale Kommission, welche die Ausführung des Vertrags vom
29. Oktober 1888 über die Neutralisierung des Suezkanals zu über-
wachen hat (unten § 27 IV).
III.
Eine ähnliche Stellung, aber mit beschränkterem Auftrag nehmen
die Internationalen Sanitätskommissionen ein.
[94]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
1. Durch die eben (II 1) erwähnte Akte von 1881, betreffend die
Donauschiffahrt wurde ein Conseil international zu Bukarest eingesetzt,
der die sanitären Reglements im Einvernehmen mit der Europäi-
schen Donaukommission auszuarbeiten und deren Befolgung zu über-
wachen, sowie insbesondere den Sanitätsdienst in Sulina zu ver-
walten hat.
2. Über die Entwicklung des 1851 zur Bekämpfung der Cholera
in Konstantinopel eingesetzten Conseil supérieur de santé, insbesondere
durch die Pariser Konferenz von 1894 und die Konferenz zu Venedig
von 1897, vgl. unten § 33 II und III.
IV.
Es gehören ferner hierher die Internationalen Kommissionen, die
zur Überwachung der Finanzverwaltung einzelner Staaten eingesetzt
worden sind.
1. Die öffentliche Schuld der Türkei wird verwaltet durch eine
Kommission, in der England, Deutschland, Frankreich, Österreich,
Italien vertreten sind.
2. Zur Überwachung der egyptischen Finanzverwaltung (ins-
besondere auch der Eisenbahnen, der Telegraphen und des Hafens von
Alexandrien als der wichtigsten Einnahmequellen für die egyptische
Staatsschuld) wurde bereits 1876 eine Commission de la caisse de la
dette publique eingesetzt. Sie erhielt den Charakter eines eigentlichen
internationalen Organs durch das Liquidationsgesetz vom 17. Juli 1880;
die Garantie der egyptischen Einnahmen von 1885 durch die sechs
Groſsmächte brachte eine Erweiterung ihrer Zuständigkeit.
Salitis, R. G. III 245.
Kaufmann, R. J. XXII 556, XXIII 62.
Derselbe, Das internationale Recht der egyptischen Staatsschuld. 1891.
3. In die Reihe der in ihrer Finanzverwaltung überwachten
Staaten ist neuerdings auch Griechenland getreten.
Die türkisch-griechischen Friedenspräliminarien vom 18. Sep-
tember 1897 bestimmen in Artikel 2: Die nötigen Einrichtungen
(arrangement), um die rasche Zahlung der Kriegsentschädigung
möglich zu machen, werden mit Zustimmung der Mächte getroffen
werden, damit die wohlerworbenen Rechte der alten Gläubiger
der öffentlichen Schuld Griechenlands nicht beeinträchtigt werden.
Zu diesem Zweck wird zu Athen eine internationale Kommission
eingesetzt werden aus Vertretern der vermittelnden Mächte, von
[95]§ 17. Die Ämter der „völkerrechtlichen Unionen“.
welchen jede ein Mitglied ernennen wird. Die griechische Regie-
rung wird ein Gesetz annehmen lassen, das vorher von den Mächten
gebilligt worden ist, durch welches die Thätigkeit der Kommission
geregelt wird und durch welches Erhebung und Verwendung der-
jenigen Einkünfte, die genügend sind, um die Zinsen der zum
Zweck der Kriegsentschädigung aufgenommenen Anleihen und die
übrigen nationalen Schulden zu decken, unter die absolute Kon-
trolle der genannten Kommission gestellt werden.
V.
Ganz besondere Bedeutung haben die internationen Ämter der
völkerrechtlichen Verwaltungsgemeinschaften (Unionen) erlangt, von
denen im nächsten Paragraphen besonders die Rede sein wird.
VI.
Endlich aber finden sich auch die ersten Anzeichen zur Bildung
internationaler Gerichtshöfe. Vgl. über sie unten § 18.
§ 17. Die internationalen Ämter der „völkerrechtlichen
Verwaltungsgemeinschaften“.
Moynier, Les Bureaux internationaux des Unions universelles. 1892.
Descamps, Les offices internationaux et leur avenir. 1894.
Meili, Die internationalen Unionen über das Recht der Weltverkehrs-
anstalten und des geistigen Eigentums. 1889.
Renault, R. G. III 14.
Kazansky, R. J. XXIX 238.
I.
Die internationalen Verwaltungsgemeinschaften sind dauernde
Vereinigungen von einer nicht geschlossenen Staatengruppe zur gemein-
samen Förderung abgegrenzter gemeinsamer Interessen. Sie werden
mithin durch ein doppeltes Merkmal gekennzeichnet. Es handelt sich
einmal nicht um einen geschlossenen Kreis von Staaten, etwa um die
Groſsmächte, sondern grundsätzlich wenigstens steht der Beitritt zu den
getroffenen Vereinbarungen jedem Staate offen, der gewissen Voraus-
setzungen entspricht. Dann aber kennzeichnen sich diese Gemein-
schaften durch ihren auf Dauer berechneten Charakter, der in der
Einsetzung ständiger Verwaltungsämter sowie in den regelmäſsig wieder-
kehrenden Konferenzen seinen Ausdruck findet. In dieser Gestalt
stammen die Unionen aus der Mitte der 60er Jahre dieses Jahrhunderts.
Sie sind heute neun an der Zahl. Eine kräftige Weiterentwicklung
kann ihnen mit Bestimmtheit vorausgesagt werden.
[96]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Die Gestaltung der einzelnen Verwaltungsgemeinschaften wird
im nächsten Buch an den geeigneten Stellen zur Darstellung ge-
langen. Hier handelt es sich nur um eine übersichtliche Zusammen-
stellung der von ihnen ins Leben gerufenen internationalen Ämter.
II.
1. Die älteste Verwaltungsgemeinschaft ist der Internationale
Telegraphenverein (die Union télégraphique internationale), gegründet
zu Paris am 17. Mai 1865 (vgl. unten § 30 III.) Aber erst 1868
wurde das „Bureau international des administrations télégraphiques“
mit dem Sitz in Bern ins Leben gerufen.
Seine Aufgabe besteht in der Sammlung, Ordnung und Ver-
öffentlichung aller auf die internationale Telegraphie bezüglichen
Auskünfte. Sein Organ ist das in französischer Sprache erscheinende
Journal télégraphique. Das Bureau hat ferner die regelmäſsigen
Konferenzen der Union vorzubereiten und in der Zwischenzeit den
Verkehr zwischen den beteiligten Verwaltungen aufrecht zu er-
halten. Es besteht aus vier Beamten, die unter der Aufsicht der
Schweiz ihre Funktionen ausüben.
2. Der Weltpostverein (Union postale universelle), gegründet
als Allgemeiner Postverein (Union générale des postes) am 9. No-
vember 1874 zu Bern (vgl. unten § 30 II).
Das Bureau, bestehend aus einem Direktor und sechs andern
Beamten, trat am 15. September 1875 zu Bern unter der Aufsicht
der Schweiz ins Leben. Seine Aufgabe ist im allgemeinen die-
selbe wie die des oben genannten Amtes. Es hat aber auch die
weitere Aufgabe, rechtliche Gutachten zu geben und kann als
Schiedsgericht angerufen werden. Es veröffentlicht die Monats-
schrift: „L’union postale“ in drei Sprachen (deutsch, französisch,
englisch).
3. Durch Vertrag vom 20. Mai 1875 (R. G. Bl. 1876 S. 191;
vgl. unten § 31 II) verpflichtete sich eine Reihe von Staaten, in Paris
ein „Bureau international des poids et mesures“ zu gründen, be-
stehend aus einem Direktor, zwei Adjunkten und einer unbestimmten
Anzahl weiterer Beamten. Dieses Bureau erhielt die Aufgabe, die
internationalen Prototype des Meters und des Kilogramms zu be-
[97]§ 17. Die Ämter der „völkerrechtlichen Unionen“.
wachen und mit den nationalen Prototypen zu vergleichen. Das
Bureau arbeitet unter der Leitung und Beaufsichtigung eines inter-
nationalen Komitees von 14 Mitgliedern, die verschiedenen Staaten
angehören. Die oberste Instanz bildet die Generalversammlung (con-
férence générale) der Vertragsstaaten, die mindestens alle sechs Jahre
einmal in Paris unter dem Vorsitz des Präsidenten der französi-
schen Akademie der Wissenschaften zusammentreten soll.
4. Die Staatengemeinschaft zum Schutz des gewerblichen Eigen-
tums (Union internationale pour la protection de la propriété industrielle),
gegründet am 20. März 1883 zu Paris (unten § 32 II) besitzt eben-
falls ein besonderes Bureau in Bern, das die Wochenschrift „La
propriété industrielle“ herausgiebt, alle auf das gewerbliche Eigen-
tum bezüglichen Auskünfte zu sammeln und den Mitgliedern auf
Verlangen mitzuteilen, sowie die regelmäſsigen Konferenzen der
Union vorzubereiten hat. Seit 1856 ist dieses Bureau mit dem
unter 5 genannten vereinigt.
5. Durch Vertrag vom 9. September 1886 (R. G. Bl. 1887 S. 493)
wurde zu Bern der Staatenverband zum Schutze der Werke der Litte-
ratur und Kunst (die Union internationale pour la protection des œuvres
littéraires et artistiques) gegründet (unten § 32 II).
Sein Bureau in Bern, das jetzt mit dem unter 4 genannten
vereinigt ist, steht unter der Aufsicht des schweizerischen Departe-
ments der auswärtigen Angelegenheiten und wird durch einen
Generalsekretär mit drei Hilfskräften gebildet. Seine amtliche
Thätigkeit ist eine sehr bescheidene, seine litterarische dagegen
von groſser Bedeutung. Die von ihm herausgegebene Monatsschrift
„Le droit d’auteur“ erscheint einstweilen nur in französischer
Sprache.
6. Rein wissenschaftliche Zwecke (die Vermessung des Erdballs)
verfolgt die Association géodésique internationale, 1864 zu Berlin ge-
gründet (unten § 35 III). Sie wird geleitet durch einen ständigen
Ausschuſs (commission permanente) von sieben Mitgliedern, der durch
ein bureau central mit dem Sitz in Potsdam in seinen Arbeiten unter-
stützt wird.
An der Spitze des Bureaus steht als Direktor der Leiter des
preuſsischen geodätischen Instituts, dem aber zur Wahrung des
v. Liszt, Völkerrecht. 7
[98]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
internationalen Charakters des Amtes 1886 ein ständiger Sekretär
an die Seite gesetzt wurde.
7. Das Jahr 1890 brachte die drei jüngsten der völkerrechtlichen
Unionen. Die Brüssler Generalakte zur Bekämpfung des Sklavenhandels
und Sklavenraubes vom 2. Juli 1890 (R. G. Bl. 1892 S. 605) schuf ein
Bureau international maritime in Zanzibar mit der Befugnis, Hilfs-
bureaus in andern Gebieten der verdächtigen Zone (unten § 36), ins-
besondere im Roten Meer, einzurichten.
Jede der Signatarmächte hat das Recht, sich durch einen
Abgeordneten in diesem Bureau vertreten zu lassen. Seine Auf-
gabe ist die Sammlung aller Schriftstücke und aller Auskünfte, die
der Bekämpfung des Sklavenhandels dienlich sein können.
Zugleich soll durch ein „Bureau spécial“ in Brüssel der Aus-
tausch aller Gesetze und Verordnungen sowie aller statistischen Nach-
richten vermittelt werden, welche Gegenstände der Brüssler General-
akte betreffen.
8. Unter dem 5. Juli 1890 wurde ebenfalls zu Brüssel der Inter-
nationale Verband zur Veröffentlichung der Zolltarife (die Union inter-
nationale pour la publication des tarifs douaniers) geschlossen (unten
§ 35 III).
Vgl. R. G. II 225 Note 2.
Ein besonderes Bureau wurde beauftragt, die Zolltarife der
verschiedenen Staaten und die sie abändernden Gesetze und Ver-
ordnungen zu sammeln, und so rasch als möglich zu veröffent-
lichen. Das Bureau hat seinen Sitz in Brüssel und steht unter
dem Schutz des belgischen Ministeriums der auswärtigen Angelegen-
heiten. Das von ihm herausgegebene „Bulletin international des
douanes“ erscheint in fünf Sprachen (deutsch, französisch, englisch,
italienisch und spanisch). Der Direktor des Bureaus wird unter-
stützt durch einen Sekretär und zehn Übersetzer.
9. Die Reihe wird geschlossen durch das Office central des trans-
ports internationaux, das durch den Vertrag vom 14. Oktober 1890
(R. G. Bl. 1892 S. 793) betreffend den internationalen Eisenbahnfracht-
verkehr (unten § 29 III) ins Leben gerufen worden ist.
Der weitergehende Vorschlag des Deutschen Reichs, einen
internationalen Gerichtshof für Rückgriffsstreitigkeiten unter den
[99]§ 18. Internationale Gerichte.
Eisenbahnen einzusetzen (Entwurf von 1877/78), fand nicht die
Zustimmung der übrigen Mächte.
Jenem „Centralamt für den internationalen Transport“ wurden
durch Artikel 57 folgende Aufgaben überwiesen: 1. die Mitteilungen
eines jeden der Vertragsstaaten und einer jeden der beteiligten Eisen-
bahnen entgegenzunehmen und sie den übrigen Staaten und Verwal-
tungen zur Kenntnis zu bringen; 2. Nachrichten aller Art, die für
das internationale Transportwesen von Wichtigkeit sind, zu sammeln,
zusammenzustellen und zu veröffentlichen; 3. auf Begehren der Par-
teien Entscheidungen über Streitigkeiten der Eisenbahnen unterein-
ander abzugeben; 4. Abänderungsanträge geschäftlich zu behandeln
und den Vertragsstaaten, wenn hierzu Anlaſs vorliegt, den Zu-
sammentritt einer neuen Konferenz vorzuschlagen; 5. die finanziellen
Beziehungen der beteiligten Verwaltungen, sowie die Einziehung
rückständiger Forderungen zu erleichtern. Durch ein besonderes
Reglement (R. G. Bl. 1892 S. 870) wurde Bern als der Sitz des
Centralamtes bestimmt und die Herausgabe einer Zeitschrift in Aus-
sicht genommen. Diese erscheint in deutscher und französischer
Sprache. Das Reglement weist dem Centralamt auſserdem wich-
tige Aufgaben für den Fall zu, daſs eine der beteiligten Eisen-
bahnverwaltungen ihren Verpflichtungen nachzukommen sich weigert.
§ 18. Internationale Gerichte.
In wesentlich verschiedenen Gestaltungen, teilweise an-
knüpfend an die konsularische Gerichtsbarkeit, finden sich inter-
nationale Gerichte, sowohl als Civil-, wie als Strafgerichte, ins-
besondere in der Türkei, in Egypten und auf Samoa.
I. Türkei.
Seit 1847 (beziehungsweise Hatti-Scheriff von 1856)
sind gemischte Gerichte, sowohl einerseits für die Handelssachen, als
auch andrerseits für die Strafsachen, in der Türkei geschaffen worden.
Savvas-Pascha in der Strafgesetzgebung der Gegenwart Bd. I (1894)
S. 708.
Annuaire des Instituts für Völkerrecht V (1882) S. 132.
1. Handelsrechtliche Streitigkeiten zwischen Europäern und
Eingeborenen werden durch Handelskammern erster Instanz und
7*
[100]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
eine Handelskammer zweiter Instanz (diese in Konstantinopel) ent-
schieden, in welchen zwei Angehörige des europäischen Streit-
teiles Sitz und Stimme haben.
2. In Konstantinopel sowie in den meisten gröſseren Städten
der Türkei sind korrektionelle Gerichte eingesetzt, die zur Hälfte
aus Eingeborenen, zur Hälfte aus Europäern, je nach der Staats-
angehörigkeit des europäischen Streitteiles gebildet werden.
II. Egypten.
Féraud-Giraud, Les justices mixtes dans les pays hors chrétienté. 1884.
Derselbe, R. J. XXII 70.
Fauchille, R. G. II 146.
Van den Berg, Strafgesetzgebung der Gegenwart I (1894) 742.
Zorn, Staatsrecht II 505.
1. Infolge einer von dem Khedive ausgehenden Anregung wur-
den 1867 durch eine französisch-egyptische Kommission, dann durch
internationale Kommissionen der Groſsmächte und der Vereinigten
Staaten 1869, 1870 und 1873 die Grundlagen für die Einsetzung von
internationalen Gerichtshöfen in Egypten unter gleichzeitiger Ein-
schränkung der konsularischen Gerichtsbarkeit geschaffen.
Dem Règlement d’organisation judiciaire pour les procès
mixtes en Egypte traten 1873 und in den folgenden Jahren Frank-
reich, Deutschland, Groſsbritannien, Österreich-Ungarn und Italien
ausdrücklich bei (vgl. das deutsche Gesetz vom 30. März 1874, be-
treffend die Einschränkung der Gerichtsbarkeit der deutschen Kon-
suln in Egypten, R. G. Bl. 1874 S. 23, und die dazu gehörende Aus-
führungsverordnung vom 23. Dezember 1875, R. G. Bl. 1875 S. 381).
Die Gerichte traten am 15. Februar 1876 zunächst nur für die
Dauer von fünf Jahren ins Leben. Doch wurden ihre Funktionen
nach Ablauf dieser Zeit wiederholt auf weitere fünf Jahre (zuletzt
bis 1899) verlängert und mehrfach haben spätere Gesetze und
internationale Vereinbarungen (so das Liquidationsgesetz vom 17. Juli
1880, der Vertrag der Groſsmächte und der Türkei über die Garantie-
rung der egyptischen Schuld vom 18. März 1885, das internationale
Gesetz vom 6. Juni 1890) ihre Einrichtung als eine dauernde an-
erkannt. Auch das deutsche Gesetz vom 5. Juni 1880 (R. G. Bl.
[101]§ 18. Internationale Gerichte.
1880 S. 145) und die dazu gehörende Verordnung vom 23. Dezember
1880 (R. G. Bl. 1880 S. 192) haben die 1874 und 1875 aufgestellten
Zeitbeschränkungen ausdrücklich als aufgehoben erklärt. So haben
diese gemischten Gerichtshöfe, trotz der mannigfachen gegen sie
geltend gemachten Bedenken feste Wurzel geschlagen und die
Lebenskraft des Gedankens, dem sie ihre Entstehung verdanken,
überzeugend dargethan.
2. Es bestehen als gemischte Gerichte: Drei Gerichtshöfe erster
Instanz in Alexandrien, Kairo und Ismaila (früher in Sagasig), jeder
mit vier europäischen und drei egyptischen Richtern besetzt; und der
Appellationshof in Alexandrien, besetzt mit sieben europäischen und
vier egyptischen Richtern. Die europäischen Mitglieder dieser Gerichts-
höfe werden von dem Vizekönig von Egypten auf Vorschlag und mit
Zustimmung der europäischen Mächte ernannt.
3. Die Zuständigkeit der gemischten Gerichte umfaſst:
- a) Die Civilgerichtsbarkeit
- α) in allen Streitigkeiten, in welchen eine in Egypten belegene
unbewegliche Sache oder ein Recht an einer solchen Sache
den Gegenstand des Streites bildet; - β) in allen andern Streitigkeiten zwischen Europäern und
Egyptern;
- α) in allen Streitigkeiten, in welchen eine in Egypten belegene
- b) die Strafgerichtsbarkeit dagegen nur:
- α) über alle Übertretungen;
- β) über alle Verbrechen oder Vergehen, die gegen die gemischten
Gerichte selbst oder ihre Mitglieder begangen werden; - γ) über Verbrechen und Vergehen, die in der Absicht begangen
worden sind, die Vollstreckung von Entscheidungen dieser
Gerichte zu verhindern; - δ) über Verbrechen oder Vergehen, welche von einem Mitglied
der Gerichte in seiner amtlichen Stellung begangen worden sind.
Die wiederholten Versuche, eine Erweiterung der strafrecht-
lichen Zuständigkeit zu vereinbaren, sind bisher gescheitert.
4. Soweit die Zuständigkeit der gemischten Gerichte nicht ein-
greift, bleibt die der Konsuln, beziehungsweise der bisherigen Gerichte,
bestehen.
Dieses gilt insbesondere:
- a) von den Konsuln selbst, ihren Familienangehörigen, den in
ihrem Dienst befindlichen Personen und den ihnen unter-
[102]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
stellten Beamten, mit Einschluſs der Familienangehörigen
dieser Beamten, sowie den Wohnungen dieser Personen
(vgl. § 5 der deutschen Verordnung vom 23. Dezember 1875); - b) von den unter dem Schutz der christlichen Mächte stehen-
den Wohlthätigkeitsanstalten, Schulen und religiösen Nieder-
lassungen ohne Unterschied des Bekenntnisses, die als
Korporationen unter der Konsulargerichtsbarkeit bleiben (vgl.
deutsche Verordnung vom 15. Februar 1897, R. G. Bl. 1897
S. 17).
III.
Auf Samoa wurde durch die Generalakte der Berliner Konferenz
vom 14. Juni 1889 zwischen Deutschland, England und den Vereinigten
Staaten die Einsetzung eines „obersten Gerichtshofes“ vereinbart.
Dieser soll aus einem Richter bestehen, welcher den Titel
„Oberrichter von Samoa“ führt. Er soll von den Signatarmächten
gemeinschaftlich und wenn diese sich über seine Person nicht
einigen können, durch den König von Schweden ernannt werden.
Die Zuständigkeit dieses obersten Gerichtshofes umfaſst:
- a) Die gesamte Gerichtsbarkeit bei Streitigkeiten über Grundeigen-
tum auf Samoa und dazu gehörige Rechte; - b) die Civilgerichtsbarkeit bei Streitigkeiten
- α) zwischen Eingeborenen und Fremden;
- β) zwischen Fremden verschiedener Nationalität;
- c) die Strafgerichtsbarkeit bei Verbrechen und Vergehen, die
- α) von einem Eingeborenen gegen einen Fremden;
oder - β) von einem Fremden begangen werden, der keiner konsula-
rischen Gerichtsbarkeit untersteht.
- α) von einem Eingeborenen gegen einen Fremden;
Soweit die Zuständigkeit des obersten Gerichtshofes nicht
eingreift, bleibt die der Konsuln bestehen. Doch ist dem Municipal-
magistrat von Samoa die Strafgerichtsbarkeit wegen Verletzung der
von ihm erlassenen Gesetze und Verordnungen übertragen.
IV.
Durch die Internationale Sanitätskonferenz zu Paris von 1894
(unten § 33 II) wurde die Strafgerichtsbarkeit über die Übertretungen
der Vorschriften zur Überwachung der Pilgerschiffe einer besonderen
internationalen Kommission übertragen. Dasselbe geschah durch die
[103]§ 19. Die völkerrechtl. Rechtsverhältnisse im allgemeinen.
Konferenz zu Venedig von 1897 bezüglich der Übertretungen der Pest-
vorschriften (unten § 33 III).
V.
Auch die Donaufluſskommission hat, wie bereits in § 16 II er-
wähnt, eine Strafgewalt bei Übertretungen der Schiffahrtspolizei.
VI.
Weitergehende, in der Litteratur (inbesondere auch im Schoſse
des Instituts für Völkerrecht) vielfach gemachte Vorschläge, die
Entscheidung der Prisenangelegenheiten (wenigstens in letzter
Instanz) sowie über Verletzungen der Genfer Konvention inter-
nationalen Gerichten zu übertragen, haben bisher keinen Erfolg gehabt.
2. Abschnitt. Die Rechtsverhältnisse und die
rechtserheblichen Thatsachen.
§ 19. Die völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse
im allgemeinen.
I.
Die völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse kennzeichnen sich durch
ein zweifaches Merkmal.
1. Es sind Rechtsverhältnisse zwischen Staaten, also Rechts-
verhältnisse, bei denen als berechtigt und verpflichtet Staaten einander
gegenüberstehen.
- a) Rechtsverhältnisse zwischen einzelnen Angehörigen ver-
schiedener Staaten sind niemals völkerrechtliche Rechtsver-
hältnisse. Die Sätze des sogenannten internationalen Privat-
rechts sind nicht Sätze des Völkerrechts, sondern Sätze des
nationalen Rechts. Der Artikel 7 Absatz 1 Einführungsgesetz
zum Bürgerlichen Gesetzbuch: „Die Geschäftsfähigkeit einer
Person wird nach den Gesetzen des Staates beurteilt, dem die
Person angehört“ — enthält deutsches Reichsrecht, nicht aber
Völkerrecht. Die Rechtsregeln aber, nach denen die einzelnen
Staaten durch ihre nationale Gesetzgebung den Geltungsbereich
ihrer Rechtsnormen (die Statutenkollision), sei es auf Grund
[104]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
besonderer Vereinbarungen, sei es nach allgemeinen Grund-
sätzen zu bestimmen verbunden sind (oben § 8 I und unten
§ 32) sind völkerrechtlicher Natur, sie berechtigen und ver-
pflichten daher nur den Staat selbst, nicht seine Staats-
angehörigen. Erst wenn die Vereinbarung die Gestalt eines
nationalen Gesetzes annimmt, entsteht aus diesem für den
Staatsbürger seinem Staat und nur diesem gegenüber Recht
und Pflicht. - b) Auch die Rechtsverhältnisse zwischen dem Angehörigen
eines Staates und einem fremden Staat, sind nicht völkerrecht-
licher Natur. Die Verpflichtung des Staatsfremden, der sich
innerhalb unseres Staatsgebietes aufhält, zur Beobachtung
unserer Gesetze folgt unmittelbar aus dem Begriff der Staats-
gewalt, die wir innerhalb unseres Gebietes ausüben. Die Ge-
währung des Rechtsschutzes dagegen auch den Staatsfremden
gegenüber ist völkerrechtliche Pflicht des Aufenthaltsstaates;
aber sie ist eine Rechtspflicht, die der Staat nicht dem staats-
fremden Einzelnen, sondern dem Staate schuldet, dem dieser
angehört. Wird dem Staatsfremden dieser Schutz durch den
Aufenthaltsstaat versagt (bei Justizverweigerung u. s. w.), so
hat daher der Staat, dem jener angehört, das Recht, das
verletzte oder gefährdete Interesse seines Staatsangehörigen
dem Aufenthaltsstaat gegenüber zu vertreten (oben § 11 III).
2. Aber auch Rechtsverhältnisse, als deren Träger auf Seiten
des Berechtigten wie des Verpflichteten ein Staat erscheint, sind nicht
notwendig völkerrechtliche Rechtsverhältnisse. Sie sind dieses viel-
mehr nur dann, wenn den Inhalt dieser Berechtigungen und Ver-
pflichtungen die Ausübung von Hoheitsrechten ausmacht, also von
solchen Rechten, die Ausfluſs der Staatsgewalt sind. Nur soweit die
Staatsgewalt selbst als die Herrschaft über Menschen und über Gegen-
stände gebunden oder berechtigt wird, kann von einem völkerrecht-
lichen Verhältnis die Rede sein.
Bestritten; abweichend z. B. Stoerk.
Wenn mithin Frankreich gegen Bezahlung einer bestimmten
Summe Geldes von dem Deutschen Reich ein Grundstück zu Eigen-
[105]§ 19. Die völkerrechtl. Rechtsverhältnisse im allgemeinen.
tum erwirbt, um auf diesem etwa ein Gebäude zu wissenschaft-
lichen Zwecken zu errichten, oder wenn das Deutsche Reich in
England ein Kohlenbergwerk von der englischen Regierung kauft,
so sind die dadurch erzeugten Rechtsverhältnisse nicht nach Völker-
recht, sondern nach Privatrecht zu beurteilen. Der Staat tritt hier
als Fiskus, d. h. als lediglich vermögensrechtliches Rechtssubjekt
auf, nicht als Subjekt des öffentlichen Rechtes. Dasselbe gilt,
wenn ein Staat etwa dem andern ein Gelddarlehn gewährt, oder
die Bürgschaft für ein von einem andern Staat aufgenommenes
Darlehn übernimmt. Daſs in all diesen Fällen der verpflichtete
Staat nur vor seinen eigenen Gerichten Recht zu geben hat (oben
§ 7 II 3), kann an der Wesenheit der in Frage stehenden Rechts-
verhältnisse nichts ändern. Verletzung der vom Staat als Fiskus über-
nommenen Verpflichtungen ist mithin niemals völkerrechtliches Delikt.
Daraus ergiebt sich aber auch abermals (oben § 8 II 3),
daſs der Begriff der sogenannten völkerrechtlichen Servituten
unhaltbar ist. Denn wenn es sich wirklich nur um die Einräu-
mung eines dinglichen Rechtes an fremder Sache handelt, so liegt
ein völkerrechtliches Rechtsverhältnis überhaupt nicht vor. Hat
aber ein Staat dem andern die Ausübung von Hoheitsrechten auf
seinem Gebiet gestattet oder sich in der Ausübung seiner Staats-
gewalt vertragsmäſsig beschränkt, so ist von einem dinglichen Recht
an fremder Sache nicht mehr die Rede. Entweder Einschränkung
des dominiums: dann entfällt die Anwendung des Völkerrechts;
oder aber Einschränkung des imperiums: dann entfällt der Begriff
der Servitut.
Von diesem Standpunkt aus kann auch die Beurteilung der-
jenigen Staatenverträge keine Schwierigkeiten bieten, welche die
über Hoheitsrechte getroffenen Vereinbarungen hinter dem Schein
eines privatrechtlichen Rechtsgeschäftes verbergen. Der gewollte
Inhalt des Geschäftes, nicht die zu seiner Verdeckung gewählte
Einkleidung ist maſsgebend. Das Rechtsgeschäft, durch welches
Schweden im Jahre 1877 die Insel St. Barthélemy gegen Zahlung
einer Summe Geldes an Frankreich abgetreten hat, ist kein „Kauf“
[106]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
im Sinne des Privatrechts, sondern völkerrechtliche Gebietsüber-
tragung. Der Vertrag, den China mit dem Deutschen Reich am
6. März 1898 über die Abtretung der Kiao-Tschau-Bucht ge-
schlossen hat, ist völkerrechtlicher Natur. China hat die Aus-
übung der Hoheitsrechte an das Deutsche Reich abgetreten. Daſs
die Form eines auf 99 Jahre geschlossenen Pachtvertrages gewählt
worden ist, um die Empfindlichkeit des einen Kontrahenten und
die Begehrlichkeit andrer Mächte zu schonen, ist völkerrechtlich
durchaus gleichgültig (oben § 10 IV 3). Das sogenannte Testa-
ment des Königs der Belgier vom 2. August 1896, durch welches
er als souveräner Herrscher des Kongostaates alle seine Rechte an
diesem Staat auf Belgien überträgt, ist einseitiger Staatsakt eines
souveränen Staates, der durch die entsprechende Annahme von
seiten Belgiens zum völkerrechtlichen Vertrag zwischen beiden
Staaten wird; von allen Rechtssätzen des Privatrechts, die sich
auf „Testamente“ beziehen, findet kein einziger hier Anwendung.
II.
Eine systematische Einteilung der einzelnen völkerrechtlichen
Rechtsverhältnisse ist schon deshalb ohne Wert, weil die rechtbildende
Kraft des Willens der Staaten nicht, wie die des Einzelnen im Privat-
recht, an bestimmte, von der Rechtsordnung vorgezeichnete typische
Gestaltungen gebunden ist. Soweit auf dem Gebiet des völkerrecht-
lichen Vertrages solche typische Formen ausgebildet sind, so daſs er-
gänzende Rechtssätze die Lücken auszufüllen vermögen, die der aus-
gesprochene oder erkennbare Wille der Vertragschlieſsenden gelassen
hat, wird unten in den §§ 20 bis 23 auf sie einzugehen sein.
Nur auf drei bereits besprochene Einteilungen sei an dieser
Stelle wiederholt aufmerksam gemacht.
1. Man unterscheidet Rechte und Pflichten, die sich unmittel-
bar als völkerrechtliche „Grundrechte“ aus dem Grundgedanken
des Völkerrechts, also aus dem Nebeneinanderbestehen gleich-
berechtigter Staaten ergeben, von denjenigen Rechten und Pflichten,
die erst aus besonderen, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigen-
den Vereinbarungen entstehen, die daher als „konventionelles
Völkerrecht“ bezeichnet werden können. Von jenen ist bereits
[107]§ 19. Die völkerrechtl. Rechtsverhältnisse im allgemeinen.
oben, insbesondere in § 7, die Rede gewesen; diese sollen im
III. Buche besprochen werden. Die Grenzlinie ist aber flieſsend;
die Entwicklung des Völkerrechts besteht gerade darin, daſs viel-
fach das, was heute noch besonderer Vereinbarung bedarf, dem-
nächst auch ohne solche als aus dem Grundgedanken des Völker-
rechts folgend anerkannt wird.
2. Man unterscheidet Rechte und Pflichten, die nur einem
Staat oder mehreren Staaten gegenüber bestehen, von denjenigen
Rechten und Pflichten, die der Staat jedem andern Mitglied der
Völkerrechtsgemeinschaft gegenüber hat. Man kann jene als re-
lative, diese als absolute bezeichnen. So hat jeder Staat der
Völkergemeinschaft die Pflicht, die belgische Neutralität zu achten
und jeder Staat ist berechtigt, die Durchführung der Handelsfrei-
heit von dem Kongostaat zu verlangen. Verträge aber, die zwischen
einzelnen Staaten abgeschlossen werden, begründen im allgemeinen
(unten § 21 III) Rechte und Pflichten nur zwischen den vertrag-
schlieſsenden Teilen.
3. Rechte und Pflichten können auf einem bestimmten Staats-
gebiet lokalisiert sein, so daſs sie bei einem Übergang dieses Ge-
bietes an einen andern Staat auf den neuen Erwerber übergehen
(oben § 8 II 3 S. 44), aber diese Lokalisierung ist eine seltene und
daher im einzelnen Falle besonders nachzuweisende Erscheinung;
in der Regel der Fälle bleiben Gebietsveränderungen ohne Einfluſs
auf die bestehenden völkerrechtlichen Berechtigungen und Ver-
pflichtungen.
Das System der völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse wird daher
an keine dieser Einteilungen anknüpfen können. Der Einteilungs-
grund wird vielmehr hergenommen werden müssen aus den Völker-
interessen, deren gemeinsame Regelung den Zweck der Begründung, Auf-
hebung oder Abänderung der völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse bildet.
III.
Während die Übertragung der Hoheitsrechte der Ausübung
nach zulässig ist (oben § 12 I 5), sind die aus den konventionellen völker-
rechtlichen Rechtsverhältnissen entspringenden Berechtigungen, mangels
entgegenstehender Vereinbarung, unübertragbar.
[108]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Sie können weder an andere Staaten abgetreten, noch an
Privatpersonen oder Gesellschaften zur Ausübung überlassen werden.
Dasselbe gilt von den völkerrechtlichen Verpflichtungen.
R. G. I 290.
§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
I.
Rechtserhebliche Thatsachen sind diejenigen Thatsachen, an
deren Vorliegen Entstehung, Untergang oder Veränderung von völker-
rechtlichen Rechtsverhältnissen geknüpft ist.
Jene Thatsachen sind entweder:
1. Natürliche Thatsachen, deren Eintritt von menschlicher
Willkür unabhängig ist.
Beispiele von solchen Thatsachen, durch welche Entstehung
oder Untergang von Staaten oder aber Gebietsveränderungen inner-
halb der bestehenden Staaten bewirkt werden, sind bereits oben
§ 5 III und § 10 I gegeben worden.
Zu den natürlichen Thatsachen gehört im Gebiete des nationalen
Rechts auch der Ablauf der Zeit. Auf dem Gebiet des Völkerrechts muſs
aber der rechtbegründende oder rechtvernichtende Einfluſs der Zeit in
Abrede gestellt werden. Die Verjährung hat völkerrechtlich weder
als acquisitive (insbesondere als Ersitzung) noch als extinctive die Kraft
einer rechtserheblichen Thatsache.
Die Rechtfertigung dieses auf den ersten Blick auffallenden
(in der Litteratur auch sehr bestrittenen) Satzes liegt in einem
doppelten: a) in der Bedeutung, die der stillschweigenden Zustim-
mung desjenigen Staates, der durch eine Verschiebung der völker-
rechtlichen Beziehungen in seinen Interessen betroffen wird, zu-
kommt (unten II 2); b) in der unmittelbar rechtbegründenden
Wirkung, die auf dem Gebiete des Völkerrechts die Gewalt, ins-
besondere als Eroberung, hat (darüber unten § 23 I). Die kriege-
rische Erwerbung eines fremden Staatsgebietes erstreckt, ganz ab-
gesehen von dem Friedensvertrage, die Staatsgewalt des erobern-
den Staates ohne weiteres auch auf das neu erworbene Gebiet,
ohne daſs es einer Ersitzung im Sinne des Privatrechts bedarf; und
wenn ein Staat zuläſst, daſs seine Kolonieen von einem andern
[109]§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
Staat besetzt und verwaltet werden, so muſs sein Verzicht auf
die ihm zustehenden Rechte angenommen werden, ohne daſs erst
die Verjährung seiner Ansprüche durch den Ablauf der Zeit ab-
gewartet zu werden braucht.
2. Willkürliche menschliche Handlungen. Unter diesen treten,
wie auf dem Gebiete des nationalen Rechtes, zwei Gruppen hervor:
Die Rechtsgeschäfte einerseits, von denen hier die Rede sein soll und
die Delikte andrerseits, die unten in § 24 behandelt werden. Neben
diesen stehen die „natürlichen“ Rechtshandlungen, unter welchen die
Eroberung als originäre Erwerbsart eine hervorragende Rolle spielt
(unten § 23 I).
II.
Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf Herbeiführung einer
völkerrechtlichen Wirkung (Begründung, Aufhebung, Änderung eines
völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses) gerichtete Willenserklärung.
Unter den Rechtsgeschäften sind die zweiseitigen, die Ver-
träge, von besonderer Bedeutung (unten § 21). Die völkerrecht-
lichen Rechtsgeschäfte sind sämtlich Rechtsgeschäfte unter Leben-
den, denn: „der Staat stirbt nicht“.
1. Die Willenserklärung muſs von dem dazu berufenen Organ
des Staates ausgehen.
- a) Ohne weitere Vollmacht sind das Staatsoberhaupt und der Mi-
nister des Auswärtigen zu jeder rechtsgeschäftlichen Willens-
erklärung befugt.
Auch das geisteskranke Staatsoberhaupt kann, so lange es
thatsächlich an der Spitze seines Staates steht, eine Kriegserklärung
mit allen rechtlichen Wirkungen erlassen. Staatsrechtliche Be-
schränkungen, die etwa den Monarchen an die Zustimmung der
Volksvertretung oder den Minister an die Genehmigung des Staats-
oberhauptes binden, kommen völkerrechtlich nicht in Betracht (oben
§ 12 I 2). Umgekehrt ist die Willenserklärung auch des völlig ab-
soluten Monarchen für den von ihm beherrschten Staat ohne weiteres
verbindlich. Das oben § 19 I 2 erwähnte „Testament“ des Königs
der Belgier ist ein den Kongostaat verpflichtender Staatsakt.
- b) Die diplomatischen Agenten vertreten den Staat innerhalb der
ihnen erteilten Vollmacht. Durch die von ihnen abgegebene
Erklärung wird mithin der Absendestaat berechtigt oder ver-
[110]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
pflichtet. Doch wird bei Staatsverträgen zumeist (unten § 21)
auſser der Erklärung des Bevollmächtigten noch die hinzutretende
feierliche Genehmigung des Staatsoberhauptes (die sogenannte
Ratifikation) verlangt. - c) Willenserklärungen, die von einzelnen Staatsangehörigen aus-
gehen, mögen diese auch in beamteter Stellung sich befinden,
bedürfen, um den Staat zu berechtigen oder zu verpflichten, der
nachfolgenden Genehmigung der Staatsgewalt. - d) Die empfangsbedürftige Willenserklärung muſs dem zu ihrem
Empfang befugten Vertreter des andern Staates gegenüber ab-
gegeben werden.
Sie kann daher, wenn sie von dem Staat A dem Staate B
abgegeben werden soll, entweder an den bei dem Staate A beglau-
bigten Vertreter des Staates B durch den Minister des Auswärtigen
des Staates A oder aber durch den bei dem Staate B beglaubigten
Vertreter des Staates A an den Minister des Auswärtigen des
Staates B abgegeben werden.
2. Jede Willenserklärung kann ausdrücklich oder durch kon-
kludente Handlungen oder aber auch stillschweigend erfolgen. Dies
gilt insbesondere auch von der Kriegserklärung (unten § 39 IV).
Nachdem Frankreich die Schutzherrschaft über Madagaskar
erworben und demgemäſs die Vertretung Madagaskars in allen
auswärtigen Beziehungen in seine Hand genommen hatte, bedeutete
die von seiten der Vereinigten Staaten erfolgte Einholung des
Exequatur für den in Madagaskar zu bestellenden Konsul bei dem
französischen Residenten in Tamatave die Anerkennung der französi-
schen Schutzherrschaft durch die Vereinigten Staaten.
Das Stillschweigen eines Staates, dem eine Veränderung in den
rechtlichen Beziehungen zweier Staaten, insbesondere eine Gebiets-
veränderung oder die Erwerbung einer Schutzherrschaft durch den
erwerbenden Teil in amtlicher Weise mitgeteilt worden ist (sogenannte
Notifikation) hat dieselbe Wirkung wie der ausdrückliche Verzicht
jenes Staates auf diejenigen Rechte, die durch die mitgeteilte Ver-
änderung notwendig und offensichtlich verletzt oder gefährdet werden.
Das Stillschweigen bedeutet also beispielsweise Einwilligung in
die Kündigung derjenigen Verträge, welche der die Schutzherrschaft
[111]§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
erwerbende Staat mit dem jetzt nur mehr halbsouveränen Staat ge-
schlossen hat; denn der Zweck einer solchen Notifikation besteht
ja (wie die Kongokonferenz 1885 ausdrücklich hervorgehoben hat)
gerade darin, den Widerspruch (Protest) derjenigen Staaten herbei-
zuführen, die ihrerseits irgend welchen Anspruch in Bezug auf
die in Frage stehende Rechtsveränderung geltend zu machen be-
absichtigen. Es macht dabei keinen Unterschied, ob der Staat,
an welchen die amtliche Mitteilung gelangt, diese einfach zur
Kenntnis nimmt (prendre acte) oder ob er den Empfang der Mit-
teilung bescheinigt (accuser reception). Dagegen kann dem Still-
schweigen diese Bedeutung dann nicht beigelegt werden, wenn
die Veränderung nicht als eine vollzogene oder demnächst zu voll-
ziehende, sondern als eine erst in der Zukunft bevorstehende mit-
geteilt wird. So hat das Stillschweigen der Mächte gegenüber
der Mitteilung, daſs Frankreich sich von Belgien das „Vorkaufs-
recht“ an dem Kongostaat habe zusichern lassen (oben § 10 I 4)
nicht die Bedeutung eines Verzichtes der Signatarmächte der Kongo-
konferenz auf das ihnen gegen diesen Erwerb zustehende Wider-
spruchsrecht.
3. Die völkerrechtliche Willenserklärung ist an eine bestimmte
Form nicht gebunden, doch ist Schriftlichkeit der Erklärung die fast
allgemeine Regel.
Die von den Staaten beobachteten Grundsätze über die in Ver-
trägen sowie insbesondere auf Kongressen und Konferenzen ge-
brauchte Sprache gehören nicht dem Völkerrecht an, sondern der
internationalen Courtoisie (vgl. Artikel 120 der Wiener Schluſsakte
über den Gebrauch der französischen Sprache).
4. Die Willenserklärung kann eine unbedingte oder eine be-
dingte sein.
Dabei sind die der allgemeinen Rechtslehre angehörenden
Begriffe der aufschiebenden wie der auflösenden Bedingung, sowie
der von der Bedingung zu unterscheidenden Auflage, sinngemäſs
zur Anwendung zu bringen (oben § 5 III S. 26). Nichteintritt der
aufschiebenden oder Eintritt der auflösenden Bedingung hat die
[112]II. Buch. Der völkerrecht. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Unwirksamkeit der abgegebenen Willenserklärung zur Folge; doch
tritt diese Wirkung nicht ipso jure, sondern nur dann ein, wenn
der Staat, der die Willenserklärung abgegeben hat, sich auf jene
Unwirksamkeit beruft: denn auch hier gilt das Stillschweigen als
Zustimmung.
5. Die Willenserklärung kann angefochten werden wegen wesent-
lichen Irrtums oder wegen eines auf die Person des Erklärenden aus-
geübten Zwanges. Keine Ausnahme bilden die Kriegsverträge mit Ein-
schluſs des Friedensvertrages. Auch diese können nur angefochten
werden, wenn gegen den vertragschlieſsenden Vertreter des Staates
Zwang geübt worden ist, nicht aber, weil der unterlegene Staat selbst
sich in einer Zwangslage befunden hat. Nicht die Kriegsgefangen-
schaft an sich, wohl aber der zu ihr hinzutretende völkerrechtswidrige
Zwang bildet einen Anfechtungsgrund. Der Friedensvertrag, den das
in Kriegsgefangenschaft befindliche, im Lande des Eroberers weilende
Staatsoberhaupt abgeschlossen hat, bindet den von ihm vertretenen
Staat, soweit nicht etwa die Kriegsgefangenschaft selbst unmittelbar
oder mittelbar nach dem Staatsrecht seines Staates ihm die Vertretungs-
befugnis entzogen hat.
§ 21. Die völkerrechtlichen Verträge.
Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatsverträge. 1880.
Seligmann, Abschluſs und Wirksamkeit der Staatsverträge. 1890.
Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung im Rechtssystem
und seine Bedeutung für das internationale Recht. 1894.
Wegmann, Die Ratifikation von Staatsverträgen. 1892.
Stoerk in Stengels Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts II 516.
I.
Völkerrechtlicher Vertrag, der an dieser Stelle nur als Rechts-
geschäft, nicht als Rechtsatzung (oben § 2 I 2) in Betracht kommt, ist
die zwischen zwei oder mehreren Staaten über staatliche Hoheitsrechte
zu stande gekommene Willenseinigung.
1. Die Fähigkeit, Verträge zu schlieſsen, ist Ausfluſs der Sou-
veränität. Doch pflegt halbsouveränen Staaten meist das Recht ein-
geräumt zu sein, auf nichtpolitischem Gebiet Verträge, insbesondere
Handelsverträge, zu schlieſsen (oben § 6 IV 1 S. 31).
So hat Egypten nach dem Firman vom 20. Januar 1879 das
Recht, alle Verträge abzuschlieſsen und zu vereinbaren, die das
[113]§ 21. Die völkerrechtlichen Verträge.
Zollwesen, den Handel, die Fremdenpolizei und die Beziehungen
der Fremden zu der Regierung und der eingeborenen Bevölkerung
betreffen; doch dürfen dadurch die politischen Verträge der Türkei
und ihre Hoheitsrechte über Egypten keine Einbuſse erleiden. Die
dauernd neutralisierten Staaten sollen Verträge, durch welche sie
in kriegerische Unternehmungen verwickelt werden können, nicht
schlieſsen; aber die von ihnen dennoch geschlossenen Verträge
sind rechtswirksam (oben § 6 III).
2. Das Recht des Vertragschlusses kann durch die souveräne
Staatsgewalt der Ausübung nach übertragen werden: etwa an hoch-
gestellte Beamte, oder an Kolonisationsgesellschaften oder auch an
einzelne Teile des Reiches (oben § 12 II 5). So haben im Kriege die
Befehlshaber der Truppen ein weitgehendes Recht zum Abschluſs
von Kriegsverträgen aller Art; Canada hat nach der Verfassung
von 1867 das Recht, selbständige Zollverträge abzuschlieſsen und
hat von diesem Recht auch wiederholt Gebrauch gemacht. Da-
gegen bezeichnet sich der deutsch-englische Vertrag vom 25. April
1870 (B. G. Bl. S. 565) zu Unrecht als zwischen den beiden General-
postämtern geschlossen; denn er bedurfte der Ratifikation, die
thatsächlich auch erfolgt ist.
II.
Der Abschluſs der Staatsverträge erfolgt durch die unmittel-
bare oder mittelbare Willenserklärung des Staatsoberhauptes.
1. Die Staatenpraxis hat jedoch dahin geführt, daſs von be-
sonderen Fällen (wie den Kriegsverträgen) und besonderen Verein-
barungen abgesehen, zum rechtswirksamen Abschluſs aller Staatsver-
träge die ausdrückliche und in besonderer Form unmittelbar abgegebene
Erklärung des Staatsoberhauptes erfordert wird.
Die von den Bevollmächtigten der miteinander verhandeln-
den Staaten getroffenen, zu Protokoll gebrachten und unterzeich-
neten Vereinbarungen erlangen daher völkerrechtlich verbindliche
Kraft erst mit der Genehmigung oder Ratifikation des Staats-
oberhauptes. Es ist unrichtig, den Vertrag schon mit der Unter-
schrift durch die Bevollmächtigten als suspensiv bedingt wirksam
anzusehen; denn nach erfolgter Genehmigung wird nur die Datierung,
v. Liszt, Völkerrecht. 8
[114]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
nicht aber die Wirksamkeit des Vertrages nach dem Tag der
Unterzeichnung, berechnet.
Dagegen die früher vielfach, jetzt auch noch von Rivier II 75, ver-
tretene Ansicht.
2. Meist kommt der Vertragsabschluſs durch den gegenseitigen
Austausch der Ratifikationsurkunden zu stande.
Es kann aber auch vereinbart werden, daſs die einseitige Er-
teilung der Genehmigung den genehmigenden Staat bindet. So
verfügt Artikel 38 Absatz 2 der Kongoakte vom 8. November 1884
(R. G. Bl. 1885 S. 211): Die gegenwärtige Akte „tritt für jede Macht
von dem Tage ab in Kraft, an welchem letztere die Ratifikation
vollzogen hat.“
Verschieden von den Formen des Vertragsabschlusses sind
die Formen für seine Beurkundung. Der angeführte Artikel 38
bestimmt weiter in Absatz 4 und 5: „Jede Macht wird ihre Ratifika-
tion der Regierung des Deutschen Reichs zugehen lassen, durch
deren Vermittelung allen anderen Signatarmächten der gegenwärtigen
Generalakte davon Kenntnis gegeben werden wird. — Die Ratifika-
tionen aller Mächte bleiben in den Archiven der Regierung des
Deutschen Reichs aufbewahrt. Wenn alle Ratifikationen beigebracht
sind, so wird über den Hinterlegungsakt ein Protokoll errichtet,
welches von den Vertretern aller Mächte, die an der Berliner
Konferenz teilgenommen haben, unterzeichnet und wovon eine be-
glaubigte Abschrift allen diesen Mächten mitgeteilt wird.“
3. Mit der Ratifikation ist der Vertrag völkerrechtlich verbind-
lich, ohne Rücksicht darauf, ob die nach der Verfassung der vertrag-
schlieſsenden Teile etwa erforderliche Zustimmung der gesetzgebenden
Faktoren erteilt worden ist oder nicht (oben § 12 I 2).
Wenn die deutsche Reichsverfassung in Artikel 11 Absatz 3
bestimmt: „Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf
solche Gegenstände beziehen, welche nach Artikel 4 in den Bereich
der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluſs die Zustim-
mung des Bundesrates und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung
des Reichstages erforderlich“ — so wird nach dieser staatsrecht-
[115]§ 21. Die völkerrechtlichen Verträge.
lichen Beschränkung die völkerrechtliche Vertretungsbefugnis
des Deutschen Kaisers in keiner Weise berührt.
In demselben Sinne die überwiegende Meinung. Vgl. über die lebhaft
bestrittene Frage etwa Heilborn System 144.
Ganz eigenartig und aus der besonderen Sachlage zu er-
klären ist Artikel 18 des Frankfurter Friedensvertrages vom 10. Mai
1871 (R. G. Bl. 1871 S. 223). Er bestimmt: „Die Ratifikationen des
gegenwärtigen Vertrages durch Seine Majestät den Deutschen
Kaiser einerseits und andererseits durch die Nationalversamm-
lung und durch das Oberhaupt der vollziehenden Gewalt der
Französischen Republik werden in Frankfurt binnen zehn Tagen
oder wo möglich früher ausgetauscht werden.“ Und in dem Protokoll
vom 20. Mai 1871 über den Austausch der Ratifikationen ist die
Vorlegung einer in gehöriger Form erfolgten Ausfertigung des am
18. Mai von der Nationalversammlung angenommenen, den Friedens-
vertrag ratifizierenden Gesetzes ausdrücklich erwähnt.
III. Die Wirkung der Staatsverträge.
Der Staatsvertrag berechtigt und verpflichtet die vertragschlieſsen-
den Teile.
Er bindet, von besonderen Vereinbarungen abgesehen, den
Staat mit seinem Gesamtgebiet; doch wird in den Kollektivverträgen
mehrfach eine besondere Erklärung über den Beitritt mit den
einzelnen Kolonieen oder andern überseeischen Besitzungen der Ver-
tragschlieſsenden besonders vorgesehen (so auch in der Berner
Litterarkonvention vom 9. September 1886).
1. Der Vertrag berechtigt und bindet mithin nicht dritte Staaten.
Jedoch kann diesen der Beitritt (die Accession oder Adhäsion) offen
gehalten werden.
Beispiele: Artikel 37 der Kongoakte: „Die die gegenwärtige
Generalakte nichtunterzeichnenden Mächte können ihren Bestim-
mungen durch einen besonderen Akt beitreten. — Der Beitritt
jeder Macht wird auf diplomatischem Wege zur Kenntnis der Re-
gierung des Deutschen Reichs und von dieser zur Kenntnis aller
der Staaten gebracht, welche diese Generalakte unterzeichnen oder
8*
[116]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
derselben nachträglich beitreten. — Er bringt zu vollem Recht
(„de plein droit“, also richtig: ohne weiteres) die Annahme aller
Verpflichtungen und die Zulassung zu allen Vorteilen mit sich,
welche durch die gegenwärtige Generalakte vereinbart worden sind.“
2. Ferner bringt die Meistbegünstigungsklausel (Vereinbarung
des „traitement de la nation la plus favorisée“), die in zahlreichen Ver-
trägen gerade der letzten Jahre sich findet, es mit sich, daſs die durch
den neuen von dem Staate A mit dem Staate N geschlossenen Vertrag
die diesem eingeräumten Rechte ohne weiteres auch allen denjenigen
Staaten zu gute kommen, zu deren Gunsten in früheren Verträgen des
Staates A die Meistbegünstigungsklausel vereinbart worden ist.
Sie bezieht sich am häufigsten auf den Handelsverkehr, findet
sich aber auch sonst in Verträgen aller Art, so inbesondere in Be-
ziehung auf die Rechtsstellung der diplomatischen und konsulari-
schen Vertreter.
Freundschafts-, Handels-, Schiffahrts- und Konsularvertrag
zwischen dem Deutschen Reich und Nicaragua vom 4. Februar 1896
(R. G. Bl. 1897 S. 171) Artikel 30: „Die beiden Hohen kontrahieren-
den Teile sind einverstanden, daſs sie sich gegenseitig in Handels-,
Schiffahrts- und Konsulatssachen ebenso viele Rechte und Privilegien
zugestehen wollen, als der meistbegünstigten Nation ein-
geräumt sind oder in Zukunft eingeräumt werden mögen,
und es werden unter Privilegien, Befreiungen, Rechten u. s. w.
der „meistbegünstigten Nation“ diejenigen Privilegien, Befreiungen
und Rechte u. s. w. verstanden, welche durch irgend welchen Vertrag
oder irgend welche Konvention, unter welchem Namen dieses auch
sein möge — wie Meistbegünstigungs-, Friedens-, Freundschafts-,
Handels-, Konsular-, Reziprozitätsvertrag, Tarifkonvention — einer
anderen Nation gewährt worden sind oder gewährt werden sollten,
welches auch immer die Ursachen solcher Privilegien, Befreiungen,
Konzessionen oder Ermäſsigungen in den Zolltarifen u. s. w. u. s. w.
sein sollten, und welches auch immer die von einem oder von beiden
vertragschlieſsenden Teilen zu dem Zwecke gewährten Konzessionen
sein sollten, um diese Vertrags- oder Konventions-Abmachungen zu
erhalten.“
[117]§ 21. Die völkerrechtlichen Verträge.
Die Zusage der Meistbegünstigung wird wohl auch einge-
schränkt durch den Zusatz, daſs die gewissen Mächten gewährten
Begünstigungen dem andern Kontrahenten nicht zu gute kommen
sollen. So bestimmt Artikel 11 des Frankfurter Friedens vom
10. Mai 1871, nachdem in Absatz 1 die Meistbegünstigung zugesagt
worden, in Absatz 3: „Jedoch sind ausgenommen von der vorge-
dachten Regel die Begünstigungen, welche einer der vertragenden
Teile durch Handelsverträge anderen Ländern gewährt hat oder
gewähren wird, als den folgenden: England, Belgien, Niederland,
Schweiz, Österreich, Ruſsland“.
Ein weiteres Beispiel bietet die deutsch-französische Er-
klärung vom 18. November 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 7), nach
welcher von dem dem Deutschen Reich in Tunis gewährten Meist-
begünstigungsrecht die Vorteile ausgenommen sind, die das ober-
herrliche Frankreich genieſst. Vgl. weiter den deutschen Freund-
schafts- u. s. w. Vertrag mit Nicaragua vom 4. Februar 1896
(R. G. Bl. 1897 S. 171) Artikel 32: „Es ist verabredet worden,
daſs die besonderen Vorteile, welche der Freistaat Nicaragua den
übrigen vier mittelamerikanischen Freistaaten oder einem derselben
eingeräumt hat oder künftig einräumen wird, deutscherseits auf
Grund des in diesem Vertrage zugestandenen Meistbegünstigungs-
rechts nicht beansprucht werden können, solange jene Vorteile auch
allen anderen dritten Staaten vorenthalten werden.“
Schraut, System der Handelsverträge und der Meistbegünstigung. 1874.
Melle in H. H. III 204.
IV.
Die Aufhebung der Verträge erfolgt nach den bekannten, der
allgemeinen Rechtslehre angehörigen Grundsätzen.
Nur zwei Punkte bedürfen der Erörterung.
1. Die Behauptung, daſs alle völkerrechtlichen Verträge mit
der stillschweigenden Klausel „rebus sic stantibus“ geschlossen
werden, ist zweifellos unrichtig; durch diesen Satz würde das
Völkerrecht in seinen Grundlagen verneint.
Verträge, die auf eine bestimmte Zeit geschlossen worden sind,
können, mangels besonderer Vereinbarung, jedenfalls nicht vor Ablauf
[118]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
dieser Zeit gekündigt werden. Aber auch bei Verträgen, die auf un-
bestimmte Zeit, vielleicht sogar „auf ewige Zeiten“ geschlossen worden
sind, ist keiner der vertragschlieſsenden Teile mangels besonderer Ver-
einbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein
Notstand im technischen Sinne des Wortes (unten § 24 III) vorliegt.
2. Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden
Staaten bestehenden Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder
in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges ge-
schlossen worden sind.
Es erlöschen also nicht bloſs die Verträge, die mit dem
Kriegszustand unverträglich sind, also etwa Bündnisverträge, die
zwischen den jetzigen Gegnern geschlossen waren, sondern alle
Verträge, die nicht, wie die Genfer Konvention, Neutralisierungs-
verträge, Verträge über den freien Abzug gegnerischer Staats-
angehöriger u. s. w. erst unter der Voraussetzung des Kriegszustandes
ihre Wirksamkeit entfalten. Das gilt auch, dem Gegner gegenüber,
von den mit diesem und zugleich mit andern Staaten abgeschlossenen
Verträgen, soweit eine solche Ausscheidung der nur dem Gegner
gegenüber bestehenden Verpflichtungen durchführbar ist.
Die überwiegende Ansicht der Litteratur geht allerdings dahin,
daſs die Verträge durch den Krieg nur suspendiert, nicht aufgehoben
werden. Die Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte spricht aber gegen
diese Ansicht. Vgl. Artikel 11 Absatz 1 des Frankfurter Friedensver-
trages vom 10. Mai 1871 (und Artikel 18 des Zusatzvertrages vom
11. Dezember 1871). „Da die Handelsverträge mit den verschie-
denen Staaten Deutschlands durch den Krieg aufgehoben sind (ayant
été annulés par la guerre), so werden die Deutsche Regierung und
die Französische Regierung den Grundsatz der gegenseitigen Behand-
lung auf dem Fuſse der meistbegünstigten Nation ihren Handels-
beziehungen zu Grunde legen.“ Ebenso wurde nach Beendigung
des türkisch-griechischen Krieges von 1897 von allen Seiten an-
erkannt, daſs die vor dem Kriegsausbruch zwischen den beiden
Staaten geschlossenen Verträge, insbesondere auch die Kapitula-
tionen, aufgehoben seien.
[119]§ 22. Die Sicherung bestehender völkerrechtl. Verpflichtungen.
22. Die Sicherung bestehender völkerrechtlicher
Verpflichtungen.
Milovanowitsch, Des traités de garantie en droit international. 1888.
Geſsner, H. H. III 83.
I.
Das alte Recht hatte, ganz abgesehen von den privatrechtlich
anerkannten Formen der Pfandbestellung und der Bürgschaft, eine ganze
Reihe verschiedenartiger Mittel angewendet, um die Erfüllung be-
stehender völkerrechtlicher Verpflichtungen zu sichern.
So insbesondere die eidliche Bekräftigung des gegebenen Ver-
sprechens (besonders auch bei Friedensverträgen), die Stellung von
Geiseln (während des deutsch-französischen Krieges noch vielfach
angewendet), das Einlager u. s. w.
Unter den in der Rechtsübung unserer Tage verwendeten Mitteln
zur Sicherung völkerrechtlicher Verpflichtungen sind hervorzuheben:
- 1. Die vollständige oder teilweise Verpfändung der Staatsein-
nahmen; - 2. die pfandweise Besetzung von fremdem Staatsgebiet mit Über-
nahme der Verwaltung (doch gehört sie hierher nur soweit sie ver-
tragsmäſsig eingeräumt ist, nicht aber als Art der Repressalien;
unten § 38 III); - 3. die rein militärische Besetzung von fremdem Staatsgebiet,
bei welcher die Verwaltung in den Händen der zuständigen Staatsgewalt
verbleibt; besonders häufig angewendet zur Sicherung der Leistung
einer Kriegsentschädigung (vgl. Artikel VIII der Versailler Friedens-
präliminarien vom 26. Februar 1871, R. G. Bl. 1871 S. 215); - 4. der Garantievertrag mit oder zwischen dritten Mächten.
II.
Garantieverträge sind diejenigen völkerrechtlichen Verträge,
durch welche ein Staat sich verpflichtet, entweder für die Erfüllung
der völkerrechtlichen Verpflichtungen eines andern Staates, oder aber
dafür einzustehen, daſs dieser von seiten eines andern Staates in seinen
völkerrechtlichen Rechten nicht beeinträchtigt werde.
Die übernommene Garantie, die eine einseitige oder eine
gegenseitige sein kann, verpflichtet den garantierenden Staat,
seine ganze Kraft, wenn nötig, mit den Waffen in der Hand, für
das gegebene Versprechen einzusetzen; die von mehreren Staaten
gemeinsam geleistete Garantie berechtigt im Zweifel jeden von
[120]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
ihnen, verpflichtet im Zweifel nur alle zusammen zum Einschreiten
(Kollektivgarantie). Die Verpflichtung des garantierenden Staates
kann, was aber im Zweifel nicht anzunehmen ist, bedingt sein
durch das Anrufen des garantierten Staates.
Die verschiedenartigsten Rechtsverhältnisse, die durchaus nicht
notwendig dem Völkerrecht anzugehören brauchen, können den Gegen-
stand eines Garantievertrages bilden.
Nur beispielsweise sind die folgenden Fälle angeführt:
1. Es kann die Staatsverfassung eines Staates, insbesondere die
Erbfolge garantiert werden.
So hatten im Westphälischen Frieden Frankreich und Schweden
die Garantie für die deutsche Verfassung übernommen und daraus
Anlaſs zu fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegen-
heiten Deutschlands hergeleitet. Die deutsche Bundesakte von 1815
stand unter dem Schutze der Kongreſsmächte.
2. Besitzstand und dauernde Neutralität oder auch nur eines von
beiden ist durch die Verträge des 19. Jahrhunderts häufig unter den
Kollektivschutz der Mächte gestellt worden.
So wurde 1856 durch die Signatarmächte der Pariser Kongreſs-
akte die Unabhängigkeit und Integrität der Türkei garantiert.
Über die Garantie der Neutralität von Belgien und von Luxem-
burg vgl. oben § 6 III.
3. Wird der Schutz gegen Angriffe von auſsen versprochen, so
nähert sich der Garantievertrag dem Bündnisvertrag. Er geht in diesen
über, sobald gemeinsames Handeln der beiden Vertragschlieſsenden
vereinbart ist (unten § 37 II).
So hatte England in dem Vertrag vom 4. Juni 1878 (Ver-
trag über Cypern) der Türkei bewaffneten Beistand für den Fall
versprochen, daſs Ruſsland versuchen sollte, weitere Erwerbungen in
Asien zu machen, somit den asiatischen Besitzstand der Türkei
garantiert.
4. Auch eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen kann garantiert
werden.
Hierher gehört der von Österreich, England und Frankreich
am 15. April 1856 geschlossene Vertrag, durch welchen die Mächte
[121]§ 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen.
sich gegenseitig verpflichteten, jede Verletzung des Pariser Friedens
vom 30. März 1856 als Kriegsfall zu betrachten.
5. Die Garantie des von einem Staate aufgenommenen Geld-
darlehens begründet nach dem oben § 19 I 2 Gesagten an sich nicht
notwendig eine völkerrechtliche Verpflichtung.
Die Bedeutung eines internationalen Vertrages erlangt der
Garantievertrag aber sofort, wenn etwa der Staat, dessen Anleihe
von andern garantiert wird, Verpflichtungen auf sich nimmt, durch
welche seine Finanzverwaltung beschränkt wird; oder wenn der
garantierende Staat, nicht etwa den Staatsgläubigern, sondern andern
Staaten gegenüber sich verpflichtet, seine Gesetzgebung oder Ver-
waltung, wenn nötig, in Bewegung zu setzen. Vgl. die Überein-
kunft vom 18. März 1885 zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn,
Frankreich, Groſsbritannien, Italien, Ruſsland und der Türkei über
die Garantierung der egyptischen Staatsanleihe (Anlage zum Deut-
schen Reichsgesetz vom 14. November 1886, R. G. Bl. S. 301),
durch welche die Vertragsmächte sich verpflichten, die regelmäſsige
Zahlung des Jahresbetrages von 315000 Pfund Sterling „gemein-
sam und solidarisch zu garantieren, beziehungsweise die Genehmi-
gung ihrer Parlamente zur gemeinsamen und solidarischen Garantie
einzuholen.“
§ 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen auf
bestehende Rechtsverhältnisse.
Larivière, Des conséquences des transformations territoriales des Etats
sur les traités antérieurs. 1892.
Appleton, Des effets de l’annexion sur les dettes de l’Etat demembré ou
annexé. 1895.
Kiatibiau, Conséquences juridiques des transformations territoriales des
Etats sur les traités. 1892.
I.
Der Untergang eines Staates vernichtet das völkerrechtliche Rechts-
subjekt.
Alle Rechtsverhältnisse, in denen der untergegangene Staat
gestanden hat, insbesondere alle von ihm oder mit ihm geschlossenen
[122]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
Verträge, erlöschen. Es giebt im Völkerrecht keine Gesamtnach-
folge von Todes wegen.
Zutreffend Gareis 59. Die entgegengesetzte Ansicht wird überwiegend
in der Litteratur vertreten. Vgl. Martens-Bergbohm I 278.
Das Gesagte gilt zweifellos von dem Fall, wenn ein Staat
auf dem Weg der Eroberung zum Gebietsteil eines andern wird;
Sache der in ihren erworbenen Rechten bedrohten dritten Staaten
ist es, gegen die Eroberung Einspruch zu erheben und so ihre Inter-
essen zu wahren. Mit der Eroberung Belgiens durch Frankreich
würde ganz zweifellos die Neutralität des ersteren untergegangen
sein. Das Gesagte gilt aber auch von dem Fall eines scheinbar
derivativen Erwerbs, etwa infolge eines zwischen dem einverleibten
Staate und dem erwerbenden Staate geschlossenen Vertrages, denn
dieser Vertrag bindet nur, solange die beiden Rechtssubjekte be-
stehen. Die Erwerbung des Kongostaates durch Belgien infolge
des „Testaments“ König Leopolds würde die Vereinbarungen der
Kongoakte von 1885 hinfällig machen, wenn anders die Garantie-
mächte von 1831 und die Unterzeichner der Kongoakte diese Er-
werbung stillschweigend und ohne ihre Interessen wahrzunehmen,
dulden sollten (oben § 10 I 4).
Vgl. Fauchille, R. G. II 400 und oben § 20 II.
Umgekehrt erstrecken sich mit dem Augenblick der Erwerbung
die völkerrechtlichen Beziehungen des erwerbenden Staates auch auf
das neuerworbene Gebiet.
Mit der Bildung des Königreichs Italien erloschen die von
Parma, Modena, Toskana geschlossenen Verträge; die von Sardinien
geschlossenen Verträge dagegen dehnten sich auf das gesamte
Gebiet des neuentstandenen Einheitsstaates aus. Ebenso 1866 im
Verhältnis zwischen Preuſsen einerseits, den einverleibten Staaten
andrerseits gegenüber dem Ausland.
Spaltet sich ein Staat in zwei oder mehrere Teile, wie die Öster-
reichische Monarchie 1867 in Österreich und Ungarn, so bleiben die
bisherigen Rechtsverhältnisse des Einheitsstaates auch für die neuge-
gründeten Teilstaaten weiter bestehen.
[123]§ 23. Der Einfluſs von Gebietsveränderungen.
In diesem Falle kann eben von dem Untergange des bis-
herigen Rechtssubjektes nicht gesprochen werden. Doch steht den
neugegründeten Teilstaaten, wegen der in dem Rechtssubjekte
eingetretenen Änderung, das Recht zu, die von dem Einheits-
staat mit dritten Mächten, die der Spaltung nicht widersprochen
haben, geschlossenen Verträge zu kündigen.
Das Gesagte gilt auch, soweit nicht besondere Vereinbarungen
getroffen sind, von den Staatsschulden. Es kann insbesondere nicht
behauptet werden, daſs der einverleibende Staat, soweit er es nicht
freiwillig thut, die Schulden des einverleibten Staates übernimmt.
Sehr bestritten. Für die gegenteilige Ansicht Ullmann 71.
II.
Tritt ein Staat unter die Schutzherrschaft eines andern Staates,
so sind alle Verträge des geschützten Staates als erloschen zu betrachten,
welche die uneingeschränkte Souveränität des Vertragschlieſsenden
voraussetzen.
Hierher gehören insbesondere alle Bündnisverträge, sowie die
politischen Verträge überhaupt. Die übrigen Verträge des ge-
schützten Staates bleiben bestehen; doch hat auch hier der er-
werbende Staat das Recht der Kündigung gegenüber denjenigen
Staaten, die der Erwerbung der Schutzherrschaft nicht wider-
sprochen haben. Die vom schützenden Staat geschlossenen Verträge
werden dagegen nicht auf das Gebiet des geschützten Staates aus-
gedehnt.
Vgl. Pic, R. G. III 613.
III.
Gebietsveränderungen, bei welchen der Bestand der beiden
Staaten erhalten bleibt, haben grundsätzlich keinen Einfluſs auf die
bestehenden völkerrechtlichen Berechtigungen und Verpflichtungen. Die
von dem erwerbenden Staat geschlossenen Verträge erstrecken sich ohne
weiteres auch auf die neu erworbenen Gebiete; und die von dem ver-
kleinerten Staate geschlossenen Verträge bleiben trotz des Gebiets-
verlustes weiter bestehen.
Das ist das sogenannte Prinzip der „beweglichen Ver-
tragsgrenzen“, das insbesondere auch in den neuern Handels-
verträgen des Deutschen Reichs zur ausdrücklichen Anerkennung
[124]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
gelangt ist. Mit der Angliederung von Elsaſs-Lothringen an das
Deutsche Reich war mithin der französisch-schweizerische Vertrag
über das internationale Privatrecht vom 15. Juni 1869 für jene
Gebiete auſser Kraft getreten. Das gilt auch von den Garantie-
verträgen. Hat ein Staat oder haben mehrere einem andern Staat
die Integrität seines Gebietes garantiert, so erstreckt sich die
Garantie auch auf die von diesem Staate neuerworbenen Gebiete.
Will der garantierende Staat diesen seine Verpflichtung erweiternden
Erfolg nicht eintreten lassen, so muſs er gegen die Neuerwerbung
Einspruch erheben. Umgekehrt bleibt die Garantie auch für das
verkleinerte Gebiet bestehen, während der Staat, der ein Stück
des garantierten Staates erwirbt, in die Rechtsverhältnisse des
garantierten Staates nicht eintritt. Auch hier kann bezüglich der
allgemeinen Staatsschulden des verkleinerten Staates ein nicht auf
besonderer Vereinbarung beruhender Rechtssatz nicht anerkannt
werden (sehr bestritten). Die Übernahme eines verhältnismäſsigen
Anteils durch den vergröſserten Staat beruht auf dessen freier Ent-
schlieſsung.
Eine Ausnahme besteht nur für die auf einem bestimmten Gebiet
lokalisierten Berechtigungen und Verpflichtungen (oben § 8 II 3 S. 44);
diese gehen bei derivativem Erwerb auf den Neuerwerber über.
Beispiele bieten: Die Verpflichtungen des verkleinerten Staates,
in dem abgetretenen Gebiet die öffentlichen Straſsen in gutem Zu-
stand zu halten, die dieses Gebiet durchströmenden Flüsse einzu-
dämmen; ferner Verpflichtungen des abtretenden Staates in Bezug
auf die mit dem Gebiet abgetretenen Eisenbahnen. Dasselbe gilt
von den hypothezierten Schulden (dettes hypothéquées), d. h. den-
jenigen, die im ausschlieſslichen Interesse des abgetretenen Gebietes
aufgenommen sind, sowie von den Grundschulden (dettes hypo-
thécaires), d. h. denjenigen, für welche unbewegliches, in dem ab-
getretenen Gebiet gelegenes, Staatsgut verpfändet ist.
IV.
Ein durch Losreiſsung vom Mutterland neugebildeter Staat wird
durch die von jenem geschlossenen Verträge weder berechtigt noch ver-
pflichtet.
[125]§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
Clunet, Offenses et actes hostiles commis par des particuliers contre un
Etat étranger. 1887.
Heilborn, R. G. III 179.
I.
Völkerrechtliches Delikt ist die von einem Staate ausgehende
Verletzung eines völkerrechtlich geschützten Interesses eines andern
Staates.
1. Subjekt des völkerrechtlichen Deliktes, mithin Träger der
durch dieses begründeten Verantwortlichkeit, ist nur der Staat selbst;
und zwar auch dann, wenn er für Handlungen seiner Staatsangehörigen
haftet.
Das völkerrechtliche Delikt ist daher verschieden von den
sogenannten „Delikten gegen das Völkerrecht“, wie sie die nationalen
Strafgesetzbücher aufzustellen pflegen („strafbare Handlungen gegen
befreundete Staaten“ nach der Terminologie des deutschen Reichs-
strafgesetzbuches); Subjekt eines solchen „Deliktes gegen das Völker-
recht“ ist stets der Einzelne, niemals der Staat.
2. Nur der souveräne Staat besitzt mit der völkerrechtlichen
Geschäftsfähigkeit auch die Deliktsfähigkeit.
Für den halbsouveränen Staat haftet daher, soweit dieser in
seiner Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, der oberherrliche Staat
(oben § 6 IV 1). Für eine Verletzung der von den christlichen
Staaten mit der Türkei geschlossenen Verträge durch Bulgarien hat
daher die Türkei aufzukommen. Dagegen ist der dauernd neutrali-
sierte Staat deliktsfähig (oben § 6 III). Das gilt auch von der süd-
afrikanischen Republik, deren souveräne Stellung sich auch aus
diesem Gesichtspunkte ergiebt (oben § 6 IV S. 33). Der Staat ver-
tritt auch seine überseeischen Kolonieen; die von diesen begangenen
Rechtsverletzungen fallen ohne weiteres ihm zur Last. In Bezug
auf die Staatenverbindungen ist das oben § 5 II Gesagte anzuwenden.
3. Jede Verletzung eines völkerrechtlich geschützten Interesses
ist Delikt; insbesondere auch, im Gegensatz zum Privatrecht, die
einfache Vertragswidrigkeit, soweit es sich (oben § 19 I) wirk-
lich um völkerrechtliche Verträge handelt. Jede Verletzung
bestehender Staatsverträge kann mithin die sämtlichen Unrechts-
[126]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
folgen nach sich ziehen. Doch ist der Staat, wenn sein Vertrags-
gegner auch nur in einem einzigen Punkte den geschlossenen Ver-
trag verletzt, auch berechtigt, von dem ganzen Vertrage zurück-
zutreten. Damit entfallen dann die eigentlichen Unrechtsfolgen.
4. Das völkerrechtliche Delikt ist stets Verletzung eines Staates.
Doch kann dieser nicht nur unmittelbar (insbesondere auch
in seinen Vertretern und in seinen Hoheitszeichen), sondern auch,
in seinen Staatsangehörigen und Schutzgenossen, mittelbar ver-
letzt werden.
II. Die völkerrechtliche Deliktshaftung des Staates tritt in folgen-
den Fällen ein:
1. Der Staat haftet unbedingt für alle von seinen Vertretern
innerhalb ihrer Vertretungsbefugnis vorgenommenen Handlungen.
Er haftet also für die Handlungen seines Oberhauptes und
seines Ministers des Auswärtigen, seiner Gesandten und seiner
Konsuln, insbesondere auch für die im Krieg vorgenommenen
Handlungen seiner Befehlshaber. Doch müssen, damit die Delikts-
folge eintritt, vorsätzliche Handlungen dieser Personen vorliegen.
Für Entscheidungen seiner Gerichte und Verwaltungsbehörden haftet
er dagegen nur, soweit Rechtsweigerung oder Rechtsbeugung vorliegt.
Vgl. Regelsperger R. G. IV 735.
2. Der Staat haftet aber auch, wenngleich nur bedingt, für die
von einzelnen Personen oder von seinen Vertretern auſserhalb ihrer
Vertretungsbefugnis auf seinem Gebiet vorgenommenen Handlungen,
gleichgültig ob Handlungen seiner Staatsangehörigen oder Handlungen
von Staatsfremden in Frage stehen.
- a) Der Staat haftet für die von Einzelnen gegen fremde Staaten
oder deren Vertreter oder deren Hoheitszeichen schuldhaft be-
gangenen Delikte nur insoweit, als seine Strafgesetzgebung und
seine Strafrechtspflege nicht ausreichen, um durch die Bestrafung
des Schuldigen eine genügende Sühne herbeizuführen.
Er ist dann zur Genugthuung, und wenn nötig, insbesondere
auch zu einer Änderung seiner Gesetzgebung verpflichtet.
- b) Der Staat haftet für die von Einzelnen auf seinem Gebiet gegen
die Angehörigen eines andern Staates begangenen Rechtsver-
letzungen strafrechtlicher oder privatrechtlicher Natur nur inso-
[127]§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
weit, als seine Gerichte sich einer Verweigerung oder Ver-
schleppung der Justiz schuldig machen. Seine Haftung ist also
bedingt durch die vergebliche Anrufung seiner Gerichte.
Wenn fremde Staatsangehörige bei leidenschaftlich erregtem
Nationalitätshaſs wegen ihrer Angehörigkeit zu dem frem-
den Staate verletzt worden sind (man erinnere sich an die Lyn-
chung freigesprochener Italiener in New-Orleans 1891), haben die
Regierungen, insbesondere der europäischen Staaten, wiederholt
Entschädigungen gewährt. So Frankreich 1893 aus Anlaſs der
Schlägerei zwischen Franzosen und Italienern zu Aigues Mortes.
Eine rechtliche Verpflichtung dazu bestand aber nicht.
Vgl. R. G. I 171.
Das gilt auch für diejenigen Verletzungen, die während
eines Bürgerkrieges oder eines Aufstandes zugefügt sind.
Die Verletzten haben daher zunächst den Rechtsweg zu betreten;
und erst, wenn dieser versagt, tritt die Ersatzpflicht des Staates
ein. Die europäischen Mächte sind gegenüber den durch immer-
wiederkehrende Unruhen erschütterten mittel- und südamerikanischen
Staaten vielfach mit Erfolg weiter gegangen und haben sofort,
ohne daſs eine Anrufung der Gerichte stattgefunden hätte, auf
diplomatischem Wege bei der fremden Regierung Entschädigung
verlangt und erhalten. Aber eine Rechtspflicht, diesem Verlangen
zu entsprechen, besteht nicht; und die amerikanischen Staaten
haben nicht nur wiederholt das Verlangen zurückgewiesen (so
Venezuela 1895), sondern auch in den mit den europäischen Mächten
geschlossenen Verträgen ihre Verpflichtung ausdrücklich abgelehnt.
Beispiel: Deutsch-mexikanischer Freundschafts-, Handels- und
Schiffahrtsvertrag vom 5. Dezember 1882 (R. G. Bl. 1883 S. 247)
Artikel 18 Absatz 3:
„Ferner besteht darüber Einverständnis unter den vertrag-
schlieſsenden Teilen, daſs die deutsche Regierung, mit Ausnahme
der Fälle, wo ein Verschulden oder ein Mangel an schuldiger
Sorgfalt seitens der mexikanischen Behörden oder ihrer Organe
vorliegt, die mexikanische Regierung nicht verantwortlich machen
[128]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
wird für Schäden, Bedrückungen oder Erpressungen, welche die
Angehörigen des Deutschen Reichs in dem Gebiete Mexikos in
Zeiten der Insurrektion oder des Bürgerkrieges von Seiten der Auf-
ständischen zu erleiden haben sollten, oder welche ihnen durch
die wilden Stämme zugefügt werden, die den Gehorsam gegen die
Regierung nicht anerkennen.“ Ähnlich in späteren Verträgen mit
andern Staaten.
Vgl. R. G. I 164; II 338; III 476. Aber auch Rivier II 43.
III.
Der Begriff des Deliktes wird ausgeschlossen durch den Mangel
der Rechtswidrigkeit.
Er wird also beseitigt durch die Befugnis zu dem Eingriff
in die Rechtssphäre des verletzten Staates, mag diese Befugnis
auf allgemeinen Rechtssätzen oder auf besonderer Einräumung be-
ruhen. Doch ist nicht ausgeschlossen, daſs die Ersatzpflicht ohne
die übrigen Unrechtsfolgen trotz der Rechtmäſsigkeit eintritt.
Diese Erscheinung hat dieselbe Bedeutung wie auf dem Gebiete
des Privatrechtes. Der Standpunkt der Deliktshaftung ist damit
aufgegeben.
1. Der Einwilligung des verletzten Staates muſs unter allen Um-
ständen die Kraft eines die Rechtswidrigkeit ausschlieſsenden Um-
standes beigelegt werden.
Das folgt aus der Souveränität der Staatsgewalt. Eine Ein-
schränkung ist nur insoweit zu machen, als die Handlung nicht
nur die Interessen des unmittelbar verletzten Staates selbst, sondern
auch diejenigen anderer Staaten verletzt. Die Einwilligung Belgiens
also in die Besetzung seines Gebietes durch eine kriegführende
Macht würde dieser Besetzung die Rechtswidrigkeit zu nehmen
nicht in der Lage sein.
2. Die strafrechtlich und privatrechtlich anerkannten Begriffe
der Notwehr und des Notstandes schlieſsen auch für das Gebiet des
Völkerrechts die Rechtswidrigkeit der begangenen Verletzung aus.
Auch der dauernd neutralisierte Staat darf mithin den feind-
lichen Überfall mit Waffengewalt abwehren. Er handelt in Not-
wehr. Dasselbe gilt vom Notstand. Droht den Interessen eines
[129]§ 24. Das völkerrechtliche Delikt.
Staates Gefahr, so darf er sie durch Verletzung der berechtigten
Interessen eines dritten Staates schützen. Doch hat er in diesem
Falle Ersatz zu leisten. Auch diejenigen Schriftsteller, welche die
Anwendbarkeit des Notstandbegriffes im Völkerrecht leugnen, ge-
währen dem bedrohten Staat das „Recht auf Selbsterhaltung“ (oben
§ 7 I S. 35). Damit ist derselbe Begriff durch einen andern Aus-
druck bezeichnet. Auf dem Begriff des Notstandes beruht eine ganze
Reihe von anerkannten Rechtssätzen. So die Anerkennung einer
die Rechtsregeln der Kriegsführung schmälernden oder vernichten-
den Kriegsraison (nécessité de guerre). Auf ihm beruht
insbesondere auch das (durch diese Grundlage zugleich umgrenzte)
Recht der Staaten, Handelsschiffe unter neutraler Flagge oder
andere Gegenstände, die im Eigentum von Staatsfremden stehen,
für öffentliche Zwecke mit Beschlag zu belegen (das sogenannte
Embargo); oder fremde Schiffe im Interesse der Wahrung des
Geheimnisses militärischer Operationen im Hafen zurückzuhalten
(arrêt de prince); oder endlich zu Zwecken der Kriegsführung,
gegen Entschädigung zu verwenden (jus angariae). So haben
die Deutschen im Krieg gegen Frankreich bei Duclair englische
Schiffe versenkt, um die Seine für die französischen Kriegsfahr-
zeuge zu sperren. Auf dem Notstand beruht endlich auch das
Recht der Seeschiffe zur relâche forcée, d. h. zum Aufenthalt
in einem, ihnen sonst verschlossenen Hafen, wenn sie durch See-
not dazu gezwungen sind (unten § 25 III und IV).
IV.
Die Rechtsfolgen des völkerrechtlichen Deliktes sind vielge-
staltiger als die in dem nationalen Recht aufgestellten Rechtsfolgen
des privatrechtlichen Deliktes oder des strafrechtlichen Verbrechens.
1. Der schuldige Staat hat zunächst den früheren Zustand
wiederherzustellen und eine Entschädigung in Geld zu leisten.
Diese kann sich naturgemäſs nicht auf vermögensrechtliche
Interessen beschränken, da bei allen gegen den Staat selbst ge-
richteten Verletzungen staatliche Hoheitsrechte in Frage stehen.
2. Über die Entschädigung hinaus ist in allen schwereren Fällen
Genugthuung zu leisten, die in einer Huldigung vor der verletzten Staats-
gewalt besteht (Ausdruck des Bedauerns, Salutieren der Flagge u. s. w.).
v. Liszt, Völkerrecht. 9
[130]II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
3. Soweit die Gefahr einer Wiederholung der verletzenden Hand-
lung besteht, ist Sicherheit zu leisten.
Diese kann insbesondere in der zeitweisen oder dauernden
Abtretung von Staatsgebiet bestehen.
4. Wird die freiwillige Leistung der geschuldeten Sühne ver-
weigert, so kann diese mittelbar oder unmittelbar erzwungen werden.
In erster Linie kommen hier die (unten § 39) zu besprechenden nicht-
kriegerischen Gewaltmittel, in letzter Linie der Krieg als ultima ratio
des Völkerrechts in Betracht.
[[131]]
III. Buch.
Die friedliche Regelung und Verwaltung
gemeinsamer Interessen.
I.
§ 25. Die Erschlieſsung des Landes und die Rechts-
stellung der Fremden.
Langhard, Das Recht der politischen Fremdenausweisung mit besonderer
Berücksichtigung der Schweiz. 1891.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1892.
Féraud-Giraud, Droit d’expulsion des Etrangers. 1890.
I.
Die vollständige Eröffnung des Landes für die Staatsangehörigen
aller Kulturstaaten ergiebt sich aus dem Grundbegriff des Völkerrechts
(jus commercii, oben § 7 III).
Innerhalb der Mitglieder der Kulturgemeinschaft bedarf die
Eröffnung des Landes daher keiner ausdrücklichen Anerkennung.
Eine vertragsmäſsige Regelung erfolgt lediglich (in den sogenannten
Niederlassungsverträgen) zur Feststellung einzelner Punkte. Vgl. den
deutsch-schweizerischen Niederlassungsvertrag vom 31. Mai 1890.
(R. G. Bl. 1890 S. 131). Dagegen beruht die Erschlieſsung des
Landes im Verhältnis zu den halbcivilisierten Staaten auf beson-
deren Vereinbarungen und reicht nicht weiter als diese.
1. Die Erschlieſsung des Landes gewährt den Staatsfremden das
Recht, das Gebiet des Staates zu betreten, an jedem Ort innerhalb
desselben sich aufzuhalten, sich niederzulassen, und ohne besondere
Abgabe Handel, Schiffahrt und Gewerbe zu treiben.
a) Die Ausübung gewisser Gewerbe kann jedoch aus
staatspolizeilichen Gründen den Staatsangehörigen vorbehalten werden.
9*
[132]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Vgl. den deutsch-italienischen Handels-, Zoll- und Schiffahrtsver-
trag vom 6. Dezember 1891 (R. G. Bl. 1892 S. 97) Artikel 1 Absatz 3:
„Die vorstehenden Bestimmungen finden keine Anwendung auf
Apotheker, Handelsmakler, Hausierer und andere Personen, welche
ein ausschlieſslich im Umherwandern ausgeübtes Gewerbe betreiben;
diese Gewerbetreibenden sollen ebenso behandelt werden, wie die
Angehörigen der meistbegünstigten Nation, welche dasselbe Ge-
werbe betreiben.“
b) Ebenso pflegt ihnen der Erwerb von Seeschiffen
(vgl. deutsches Gesetz, betreffend die Nationalität der Kauffahrtei-
schiffe u. s. w. vom 25. Oktober 1867) und die Fischerei in den
nationalen Gewässern versagt zu werden (oben § 9 III und IV;
S. 50 und 52). In den Vereinigten Staaten, den Niederlanden und
in Griechenland ist die Küstenfischerei freigegeben.
David, La pêche maritime au point de vue international. 1898.
c) Auch die Küstenfrachtfahrt oder cabotage (von dem
spanischen cabo = Kap) pflegt den eigenen Staatsangehörigen vor-
behalten zu werden. Vgl. den oben S. 51 angeführten Vertrag
vom 6. Mai 1882. England und Belgien haben sie völlig freige-
geben. Auch sonst wird sie häufig durch besondere Vereinbarung
unter Voraussetzung der Gegenseitigkeit den Staatsfremden ein-
geräumt. Das Deutsche Reich gewährt sie nach dem Gesetz, be-
treffend die Küstenfrachtfahrt vom 22. Mai 1881 (R. G. Bl. 1881
S. 97) den Angehörigen aller Staaten, die ihrerseits die deutschen
Staatsangehörigen den eigenen Unterthanen gleichstellen. Wie
sehr durch diese Ausnahme die Regel selbst durchbrochen ist,
beweist die folgende Zusammenstellung. Das Deutsche Reich
hat die gegenseitige Gestattung der Küstenfrachtfahrt vereinbart
mit: Belgien, Brasilien, Columbien, Costa Rica, Dänemark, Domi-
nica, Egypten, Griechenland, Groſsbritannien, Guatemala, Honduras,
Italien, dem Kongostaat, Mexiko, den Niederlanden, Schweden-
Norwegen, Österreich-Ungarn, Rumänien, Ruſsland, Siam, Spanien,
Tonga und Uruguay.
[133]§ 25. Erschlieſsung des Landes und Rechtsstellung der Fremden.
Die Küstenfrachtfahrt besteht in der Fahrt von einem Punkt
der Küste eines Staates zu einem andern Küstenpunkt desselben
Staates, so daſs die in dem einen Hafen geladenen Güter in dem
andern Hafen desselben Staates gelöscht werden. Verschieden
von der Küstenfrachtfahrt ist die stufenweise Löschung der aus dem
Ausland gebrachten Ladung in verschiedenen Häfen desselben frem-
den Staates (commercio de escala). Diese wird auch den Schiffen
fremder Mächte, selbst abgesehen von besonderen Vereinbarungen,
eingeräumt. Vgl. als Beispiel den deutschen Freundschafts- u. s. w.
Vertrag mit Nicaragua vom 4. Februar 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 171)
Artikel 16 Abs. 1: „Die deutschen Schiffe in Nicaragua und die nicara-
guanischen Schiffe in Deutschland können einen Teil ihrer aus dem
Auslande kommenden Ladung in dem einen Hafen und den Rest
dieser Ladung in einem oder mehreren anderen Häfen desselben
Landes entlöschen, und nicht minder können sie ihre Rückfracht
teilweise in verschiedenen Häfen des gedachten Landes einnehmen,
ohne in jedem Hafen andere und höhere Abgaben zu entrichten, als
diejenigen, welche unter ähnlichen Umständen die Schiffe des eigenen
Landes entrichten oder zu entrichten haben werden.“
d) Wichtig wird auch hier die häufig verwendete Meist-
begünstigungsklausel (oben § 21 III S. 116).
2. Das Recht, Grundbesitz durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden
oder von Todeswegen zu erwerben, zu besitzen und darüber zu verfügen,
kann den Staatsfremden versagt werden (oben § 8 III 1), wird ihnen
aber von den meisten Kulturstaaten gewährt.
Solche Beschränkungen bestanden in der Türkei bis 1867,
in England bis 1870 und bestehen (von den halbcivilisierten
Staaten abgesehen) noch heute in Ruſsland. Nach der rumänischen
Verfassung von 1879 ist der Erwerb von Grundbesitz den rumäni-
schen Staatsangehörigen vorbehalten.
3. Privatrechtlich stehen die Staatsfremden den Staatsangehörigen
grundsätzlich gleich. Dieselben Vorschriften finden auf diese wie auf
jene Anwendung. Daher sind aber auch alle den Staatsfremden als
solchen treffenden Abgaben und Lasten dem heutigen Völkerrecht fremd.
[134]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Dieses gilt insbesondere auch von den Abgaben, die früher er-
hoben zu werden pflegten, wenn durch Erbfolge, Schenkung, Aus-
wanderung oder aus andern Gründen Vermögen aus dem Gebiet
eines Staates in das Gebiet eines andern Staates überging; also
von der gabella hereditaria (Abschoſs), dem jus detractus,
dem census emigrationis (Abfahrtgeld). Die Verträge des
Deutschen Reichs mit den süd- und mittelamerikanischen Staaten
sprechen das teilweise noch ausdrücklich aus (vgl. den Freund-
schafts-, Handels- u. s. w. Vertrag mit Costa Rica vom 18. Mai 1875,
R. G. Bl. 1877 S. 13 Artikel X); mit Dänemark hat das Deutsche
Reich unter dem 5. Februar 1891 (R. G. Bl. 1891 S. 346) einen be-
sonderen Vertrag über die Aufhebung dieser Abgaben geschlossen. —
In den Verträgen wird auch noch das sogenannte Embargo
(oben § 24 III) ausdrücklich ausgeschlossen. Vgl. den Freundschafts-,
Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und
Salvador vom 13. Juni 1870 (R. G Bl. 1872 S. 377), beziehungs-
weise 12. Januar 1888 (R. G. Bl. 1889 S. 191) Artikel VI: „Die
Angehörigen des einen und des andern Landes können gegen-
seitig weder einer Beschlagnahme unterworfen, noch mit ihren
Schiffen, Ladungen, Waren und Effekten zum Zwecke irgend welcher
militärischen Expedition oder irgend welcher öffentlichen Ver-
wendung zurückgehalten werden, ohne daſs vorher durch die Be-
teiligten selbst, oder durch von ihnen ernannte Sachverständige
eine Vergütung nach Landesgebrauch festgestellt worden ist, welche
in jedem Falle hinreicht zur Deckung aller Nachteile, Verluste,
Verzögerungen und Schäden, welche durch den Dienst, dem sie
unterworfen wurden, entstanden sind oder entstehen könnten.“
Vgl. ferner den deutsch-kolumbischen Freundschafts-, Handels-
und Schiffahrtsvertrag vom 23. Juli 1892 (R. G. Bl. 1894 S. 471).
Im Civilprozeſs ist der Ausländer insofern ungünstiger
gestellt als der Inländer, als er mangels besonderer Vereinbarung,
Sicherheit für Prozeſskosten zu leisten und keinen Anspruch auf
Gewährung des Armenrechtes hat (unten § 32 II).
[135]§ 25. Erschlieſsung des Landes und Rechtsstellung der Fremden.
Im übrigen haben auch die Ausländer Anspruch auf den
Schutz der Gerichte, sowie sie diesen in den durch die Ge-
setzgebung des Aufenthaltstaates gezogenen Grenzen unterworfen sind.
Für das groſse und praktisch wichtige Gebiet des littera-
rischen und gewerblichen Eigentums ist dagegen die Gleich-
stellung der Ausländer mit den Inländern nicht kraft allgemeiner
Rechtsregeln oder durch die nationale Gesetzgebung der verschie-
denen Staaten, sondern nur durch besondere Vereinbarungen ge-
sichert, die teils in Sonderverträgen einzelner Staaten, teils in
Kollektivverträgen enthalten sind (unten § 32 II).
4. Die Gleichstellung bezieht sich jedoch nicht ohne weiteres
auf die ausländischen juristischen Personen, die vielfach im Erwerb
von beweglichem und insbesondere von unbeweglichem Gut be-
schränkt sind, und deren Prozeſsfähigkeit besonderer Anerkennung,
sei es durch Landesgesetz, sei es durch Staatsvertrag, bedarf.
Über die hier einschlagenden Verträge unten § 32 II.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht von 1897 über die Rechts-
und Prozeſsfähigkeit der Körperschaften des öffentlichen Rechts (Staat,
Provinzen, Bezirke, Gemeinden, öffentliche Anstalten).
Zusammenstellung bei Leske-Löwenfeld, Die Rechtsverfolgung im
internationalen Verkehr. 2 Bde. 1895 ff.
5. Sowie die Staatsfremden von den rein politischen Pflichten
des Staatsbürgers frei bleiben (oben § 8 IV S. 45), so haben sie auch keinen
Anspruch auf die Gewährung derjenigen politischen Rechte, in deren
Ausübung sich die Teilnahme des Staatsangehörigen an der Regierung
des Landes äuſsert, also insbesondere auf die Gewährung des politi-
schen Wahlrechtes.
Die Staatsfremden werden dagegen wie die Inländer in dem
Genuſs der politischen Rechte im weiteren Sinne des Wortes ge-
schützt, also derjenigen Freiheitsrechte der Staatsbürger, die
wie das Vereins- und Versammlungsrecht, die Preſsfreiheit, das
Hausrecht u. s. w. in den Verfassungen ausdrücklich eingeräumt
und umgrenzt zu werden pflegen.
Die Gewissensfreiheit mit Einschluſs des Gottesdienstes
steht den Angehörigen der Kulturstaaten ohne weiteres zu (unten
[136]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
§ 35 I), wird aber in den Verträgen, insbesondere mit den mittel-
und südamerikanischen Staaten, teilweise noch ausdrücklich erwähnt.
Vgl. den Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen
Deutschland und Salvador vom 13. Juni 1870 (R. G. Bl. 1872 S. 377)
Artikel VII: „Die Salvadorener, welche sich in Deutschland und
die Deutschen, welche sich in Salvador aufhalten, genieſsen die
vollständigste Gewissensfreiheit und es werden die betreffenden Re-
gierungen nicht zugeben, daſs sie belästigt, beunruhigt oder gestört
werden wegen ihres religiösen Glaubens oder wegen der Ausübung
ihres Gottesdienstes, welchen sie in Privathäusern, Kapellen oder
sonstigen für gottesdienstliche Zwecke bestimmten Orten, unter
Beobachtung der kirchlichen Schicklichkeit und angemessenen
Achtung der Landesgesetze, Sitten und Gebräuche ausüben.“
„Auch sollen die Salvadorener und die Deutschen die Be-
fugnis haben, ihre Landsleute, welche in Deutschland und in
Salvador mit Tode abgehen, an passenden und angemessenen Orten,
welche sie selbst unter Vorwissen der Ortsobrigkeit dazu be-
stimmen und einrichten, oder an den von den Verwandten und
Freunden des Verstorbenen gewählten Begräbnisorten zu bestatten
und sollen die Begräbnisfeierlichkeiten in keiner Art gestört, noch
die Gräber aus irgend welchem Grunde beschädigt oder zerstört
werden.“
Die Zusicherung des „vollständigen und immerwährenden
Schutzes der Person und des Eigentums“, die sich noch in
den Verträgen mit den mittel- und südamerikanischen Staaten
findet, hat im Verhältnis der civilisierten Staaten zu einander heute
keine Bedeutung mehr. Sie spielt aber noch eine Rolle in den
Verträgen mit halbcivilisierten Staaten. So sagt der deutsche Freund-
schafts- u. s. w. Vertrag mit Persien vom 11. Juni 1873 (R. G. Bl.
1873 S. 351) Artikel 5: Die Ortsbehörden der beiden Vertragsstaaten
„werden ihrerseits die lebhafteste Sorge tragen, sie (die Unter-
thanen der beiden Staaten) vor allem Miſsgeschick zu bewahren,
insbesondere unausgesetzt über ihre persönliche Sicherheit wachen,
sie mit jeder möglichen Rücksicht behandeln, damit sie nicht
[137]§ 25. Erschlieſsung des Landes und Rechtsstellung der Fremden.
irgendwie Schaden, Schwierigkeiten oder Kränkungen auf ihrer
Reise erfahren, und sie zu dem Ende mit Geleitbriefen, Pässen
oder anderen Dokumenten versehen.“
6. Die Einwanderung von Angehörigen der nicht zur Völker-
rechtsgemeinschaft gehörenden Staaten kann, soweit nicht besondere
Verträge im Wege stehen, von jedem Staat beschränkt oder verboten
werden.
Praktische Bedeutung hat die chinesische Einwanderung
in den Vereinigten Staaten und in Australien gewonnen. Der von
den ersteren mit China 1868 geschlossene sogenannte Burlingame-
vertrag hatte gegenseitig das Einwanderungsrecht ausdrücklich an-
erkannt. Dagegen räumte China durch den Pekinger Vertrag von
1880 (N. R. G. 2. Ser. XI 730) den Vereinigten Staaten das Recht
ein, die Einwanderung und den Aufenthalt chinesischer Arbeiter
zu regulieren, zu beschränken oder zu suspendieren, nicht aber
gänzlich zu verbieten. Auf Grund dieses Vertrages erging das
nordamerikanische Gesetz vom 4. August 1882, das die Einwande-
rung chinesischer Arbeiter auf zehn Jahre verbot.
Durch den zwischen China und den Vereinigten Staaten zu
Washington geschlossenen Vertrag vom 17. März 1894 (N. R. G.
2. Ser. XXII 551) hat China seine Zustimmung dazu erklärt, daſs
für einen Zeitraum von zehn Jahren von dem Austausch der Rati-
fikation dieses Vertrages (also vom 7. Dezember 1894) die Ein-
wanderung chinesischer Arbeiter in die Vereinigten Staaten voll-
ständig verboten sei. Zugleich erklärt China seine weitere Zu-
stimmung zu den amerikanischen Gesetzen vom 5. Mai 1892 und
3. November 1893, durch welche die Registrierung aller recht-
mäſsig in den Vereinigten Staaten sich aufhaltenden chinesischen
Arbeiter vorgeschrieben wurde.
Vgl. Sartorius v. Waltershausen, Handbuch der Staatswissenschaften
I. Ergänzungsband S. 265.
II.
Durch die Erschlieſsung des Landes wird das Recht der Fremden-
polizei nicht berührt. In dieser Beziehung gelten folgende Rechtsätze:
1. Jeder Staat hat das Recht, den Grenzverkehr zu überwachen
(etwa durch den Paſszwang, soweit diesem nicht besondere Verein-
[138]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
barungen im Wege stehen) und den Eintritt in sein Gebiet denjenigen
Personen zu versagen, die seiner innern oder äuſsern Sicherheit ge-
fährlich werden können.
Zu diesen gehören: Verurteilte Verbrecher, Personen ohne
genügenden Ausweis, unbemittelte und erwerbsunfähige Personen.
Der Staat hat das Recht, aber nicht die Pflicht, solche
Personen zurückzuweisen. Und er hat das Recht, ihnen Asyl zu
gewähren, soweit dadurch nicht die Sicherheit andrer Staaten ge-
fährdet wird (oben § 7 II 1). Das Asylrecht ist mithin völker-
rechtlich ein Recht des Zufluchtsstaates, nicht aber des staats-
fremden Flüchtlings.
2. Jeder Staat ist aus den gleichen Gründen berechtigt, Staats-
fremde, die sich bereits auf seinem Gebiet aufhalten, auszuweisen
(droit du renvoi).
3. Der Staat, dem der Abgewiesene oder Ausgewiesene angehört
hat, ist verpflichtet, ihn wieder aufzunehmen, auch wenn er inzwischen
seine frühere Staatsangehörigkeit verloren haben sollte, ohne die neue
zu gewinnen.
Diese Pflicht wird durch sogenannte Repatriierungsver-
träge (zahlreich auch vom Deutschen Reich geschlossen) vielfach
ausdrücklich ausgesprochen, muſs aber auch ohne diese als be-
stehend anerkannt werden.
III.
Die Erschlieſsung des Landes bedeutet grundsätzlich auch Zu-
lassung der Handelsschiffe der sämtlichen zur Kulturgemeinschaft ge-
hörenden Flaggen in alle Seehäfen.
Die fremden Handelsschiffe dürfen daher die Häfen anlaufen
und hier wie auf den Reeden vor Anker gehen; sie dürfen
Waren aus- und einladen, wobei sie wie die inländischen Handels-
schiffe der Polizeigewalt des Aufenthaltsstaates unterworfen sind.
Über die Gerichtsbarkeit oben § 9 IV S. 52. Es bleibt jedoch
jedem Staate vorbehalten, bestimmte Häfen, insbesondere Kriegs-
häfen, von der allgemeinen Eröffnung auszunehmen. Nur im Fall
der Seenot (relâche forcée) dürfen die fremden Handelsschiffe auch
die verschlossenen Häfen anlaufen und sich hier so lange aufhalten,
bis ihnen die Weiterfahrt wieder möglich ist.
[139]§ 25. Erschlieſsung des Landes und Rechtsstellung der Fremden.
Heilborn im Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für vergleichende
Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. 1896.
Stoerk, H. H. II 428.
Das Institut für Völkerrecht hat 1897 ein Reglement über die Rechts-
stellung der Schiffe und ihrer Mannschaften in fremden Häfen aus-
gearbeitet.
Über Fluſs- und Küstenschiffahrt oben § 9 III und IV.
Auch hier findet sich die Meistbegünstigungsklausel.
Vgl. Freundschafts- u. s. w. Vertrag des Deutschen Reichs mit
Nicaragua vom 4. Februar 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 171) Artikel 2
Absatz 2: „Die Angehörigen der beiden Hohen vertragenden
Teile können frei und in voller Sicherheit mit ihren Schiffen und
Ladungen in alle diejenigen Plätze, Häfen und Flüsse Deutsch-
lands und Nicaraguas einlaufen, welche für die Schiffahrt und den
Handel irgend einer anderen Nation oder eines anderen Staates jetzt
geöffnet sind oder in Zukunft geöffnet sein werden.“
Verschiedene Behandlung der Handelsschiffe verschiedener
fremder Staaten ist an sich nicht völkerrechtswidrig und wird daher
insbesondere als Repressalie (unten § 38 III) verwendet.
IV.
Fremden Truppenkörpern kann der Durchzug durch das Staats-
gebiet sowie der Aufenthalt in diesem versagt oder nur unter gewissen
Bedingungen gestattet werden, soweit nicht besondere Vereinbarungen,
insbesondere die Einräumung eines Durchzugsrechtes (Etappenrechtes,
Heerstraſsenrechtes) im Wege stehen. Fremde Staatsschiffe (oben § 9 V)
bedürfen für den Aufenthalt in den nationalen Gewässern und in den
Häfen eines fremden Staates besonderer Erlaubnis; doch darf ihnen das
Anlaufen der Häfen im Falle der Seenot (relâche forcée, oben § 24 III),
sowie die friedliche Durchfahrt durch die Küstengewässer (oben § 9 IV
S. 52) nicht versagt werden.
Durch Verträge sind mehrfach weitergehende Berechtigungen
eingeräumt worden, die sich auch aus der Meistbegünstigungsklausel
ergeben können.
[140]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
II. Die Verkehrsbeziehungen.
§ 26. Die Hochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres.
Perels, Das Internationale öffentliche Seerecht der Gegenwart. 1882.
Derselbe, Handbuch des allgemeinen öffentlichen Seerechts im Deutschen
Reich. 1884.
Lemaine, Précis de droit maritime international. 1888.
Stoerk, H. H. II 483.
I.
Der völkerrechtliche Grundsatz der Meeresfreiheit schlieſst jede
staatliche Herrschaft über die offene See aus. Jeder ursprüng-
liche oder abgeleitete Erwerb der Gebietshoheit über Teile des offenen
Meeres ist völkerrechtlich unmöglich. Das Meer ist nicht res nullius,
sondern res communis omnium. Jeder Staat hat das Recht, Handels-
schiffe und Kriegsschiffe im Frieden wie im Krieg unter seiner Flagge
und unter der ausschlieſslichen Herrschaft seiner Gesetze die hohe See
befahren zu lassen und den unerschöpflichen Reichtum, den die Tiefen
des Meeres bieten, durch seine Fischerei für sich zu verwerten. Im
Kriege gehört mithin auch das Meer, unbeschadet der Rechte der Neu-
tralen, zum Kriegsschauplatz (unten § 40 I).
Der Grundsatz der Meeresfreiheit ist bereits von H. Groot
in seiner Jugendschrift „mare liberum seu de jure quod Batavis
competit ad Indica commercia“ 1609 gegen die weitgehenden An-
sprüche der groſsen Seemächte vertreten worden. Er gelangte trotz
Seldens „mare clausum“ 1635 (geschrieben 1618), Cromwells
Navigationsakte von 1651, insbesondere seit Bynkershoeks Schrift
„de dominio maris“ 1702 zur allgemeinen Anerkennung und wird
heute von keiner Seite mehr in Frage gestellt.
II.
Aber die Durchführung dieses an sich unbestrittenen Grund-
satzes stöſst auf nicht unbedeutende Schwierigkeiten.
1. Binnenmeere im weiteren Sinne des Wortes sind nicht mehr
„geschlossene Meere“ (mare clausum, oben § 9 III 2), wenn sie vom
Staatsgebiet mehrerer Uferstaaten umschlossen werden, mag auch die
Verbindung zwischen ihnen und der offenen See durch einen einzigen
Staat vom Ufer her beherrscht werden können. Auch für sie gilt mit-
hin der Grundsatz der Meeresfreiheit.
Geschlossene Binnenseen sind demnach das Azowsche Meer,
der Rigasche Meerbusen, die Zuidersee. Teile des offnen Meeres
[141]§ 26. Die Hochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres.
sind dagegen die Ostsee (die im Krimkrieg, wie im deutsch-
französischen Krieg Kriegsschauplatz war); das Schwarze Meer und
das Marmarameer (ausdrücklich anerkannt im Frieden zu Adria-
nopel von 1829 und im Pariser Frieden von 1856), das Bering-
meer (Schiedsrichterspruch von 1893 gegen die Ansprüche der
Vereinigten Staaten) u. s. w.
Jedoch kann durch Vereinbarung der Mächte die sogenannte
Neutralisation von Meeresteilen, d. h. ihre Schlieſsung für Kriegs-
schiffe angeordnet werden.
So hatte der Artikel 11 des Pariser Friedens von 1856 die
Gewässer und Häfen des Schwarzen Meeres (mit Einschluſs also
der Küstengewässer) den Kriegsschiffen nicht nur der Uferstaaten,
sondern auch aller andern Mächte in Krieg und Frieden „auf ewig“
verschlossen. Nachdem sich aber das durch diese Vereinbarung
in seinen Lebensinteressen schwer betroffene Ruſsland im Oktober
1870 einseitig von dieser Verpflichtung losgesagt hatte, wurde Ar-
tikel 11 durch den Londoner Vertrag vom 13. März 1871 zwischen
Deutschland, Österreich, Frankreich, Groſsbritannien, Italien, Ruſs-
land, und der Türkei (R. G. Bl. 1871 S. 104) ausdrücklich aufgehoben.
2. Die Meerengen, welche Teile der offenen See miteinander
verbinden, nehmen an der Freiheit des Meeres auch dann teil, wenn
sie vom Ufer aus durch einen einzigen Staat beherrscht werden können.
Der Uferstaat darf daher insbesondere Zölle für die bloſse Durchfahrt
auch nicht als Gegenleistung für die Erhaltung des Fahrwassers und
der Schiffahrtszeichen erheben.
Abweichend Heilborn, System 48; Rivier I 157.
Der von Dänemark erhobene Sundzoll wurde durch Vertrag
vom 14. März 1857 gegen Entschädigung aufgehoben, ohne daſs
in dieser Ablösung eine Anerkennung des dänischen Rechts erblickt
werden dürfte.
Auch bezüglich der Meerengen können jedoch durch besondere
Vereinbarungen der Mächte abweichende Bestimmungen getroffen wer-
den. So wurde durch den Londoner Meerengen-Vertrag (convention
des détroits) vom 13. Juli 1841 bestimmt, daſs in Friedenszeiten jedem
nicht türkischen Kriegsschiff die Durchfahrt durch die Dardanellen und
den Bosporus versagt sein sollte (während Ruſsland sich im Frieden
[142]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
von Unkiar-Skelessi vom 8. Juli 1833 das alleinige Durchfahrtsrecht
vorbehalten hatte).
Die Türkei verpflichtete sich ausdrücklich, diesen Rechtssatz
zur Anwendung zu bringen. Eine Ausnahme wurde für leichte
Kriegsschiffe im Dienste der Gesandtschaften gemacht; jede der
Signatarmächte sollte das Recht haben, ein solches Schiff durch-
fahren zu lassen. Diese Bestimmungen wurden durch einen be-
sonderen Annex zum Pariser Frieden 1856 aufrecht erhalten. Nur
wurde eine weitere Ausnahme hinzugefügt für je zwei leichte
Kriegsschiffe jeder Signatarmacht, die dazu bestimmt sind, an den
Donaumündungen zur Überwachung der freien Fluſsschiffahrt auf
der Donau stationiert zu werden (unten § 27 III). Abweichend
hat der oben S. 41 erwähnte Londoner Vertrag vom 13. März 1871
die Machtvollkommenheit (faculté) des Sultans ausdrücklich an-
erkannt, die Meerengen im Frieden den Kriegsschiffen der befreun-
deten und verbündeten Mächte (nicht aber einer von ihnen unter
Ausschluſs der übrigen) zu öffnen, falls die Hohe Pforte dies für
nötig erachten sollte, um die Ausführungen des Pariser Vertrages
sicherzustellen. Artikel 63 der Berliner Kongreſsakte von 1878
hat die Verträge von 1856 und 1871 ausdrücklich aufrecht er-
halten. Durch besonderen Vertrag zwischen Ruſsland und der
Türkei wurde 1891 den unter Handelsflagge fahrenden (meist zu
Truppentransporten verwendeten, aber keine Armierung führenden)
Schiffen der russischen „freiwilligen Flotte“ die Durchfahrt frei-
gegeben. 1895 (Irade vom 10. Dezember) setzten die Signatar-
mächte die Anerkennung ihres Rechtes durch, je ein zweites leichtes
Kommissionsschiff durch die Dardanellen laufen (aber nicht hier
Anker werfen) zu lassen. Der von andern Mächten (den Vereinigten
Staaten, Spanien, Holland, Griechenland) erhobene Anspruch, eben-
falls je ein Stationsschiff nach Konstantinopel zu schicken, wurde
von der Türkei zurückgewiesen.
3. Die Küstengewässer stehen, obwohl sie ebenfalls Teile der
offenen See sind, unter der beschränkten Gebietshoheit des Uferstaates
(oben § 9 IV).
[143]§ 26. Die Hochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres.
III.
Nur ausnahmsweise und nur in eng umschriebenen Beziehungen
können staatliche Hoheitsrechte auf der offenen See ausgeübt werden.
1. Der Uferstaat hat das Recht der Nacheile (droit de pour-
suite); er kann fremde Schiffe, die auf dem unter seiner Gebiets-
hoheit stehenden Gebiet sich eines unter seine Gerichtsbarkeit
fallenden Unrechts schuldig gemacht haben, in die offene See hinaus
verfolgen. Das Recht der Nacheile erlischt, sobald das verfolgte
Schiff in andere Küstengewässer gelangt ist.
2. Auf Grund besonderer Vereinbarungen haben die Kriegs-
schiffe das Recht, auf offener See die unter fremder Flagge fahrenden
verdächtigen Schiffe a) anzuhalten (droit d’arrêt), b) ihre Schiffspapiere
zu prüfen (droit de visite im weiteren Sinn, vérification du pavillon),
beziehungsweise c) die Schiffsräume zu durchsuchen (droit de visite
im engeren Sinn, droit de recherche), und d) bei Bestätigung des
Verdachts sie mit Beschlag zu belegen (droit de saisie). Vgl.:
- a) unten § 36 über Unterdrückung des Sklavenhandels;
- b) unten § 34 III über den Vertrag vom 6. Mai 1882, betreffend
die Hochseefischerei auf der Nordsee; - c) unten § 30 IV über den Vertrag vom 14. März 1884, be-
treffend den Schutz der unterseeischen Telegraphenkabel; - d) unten § 35 II über den Vertrag vom 16. November 1887
zur Unterdrückung des Branntweinhandels unter den Nord-
seefischern auf hoher See; - e) unten § 34 III über den Robbenschutz.
3. Im Kriege haben die Kriegsschiffe der Kriegführenden das
Recht, nicht nur Schiffe des Gegners, sondern auch die der Neutralen
anzuhalten und unter Umständen mit Beschlag zu belegen (unten
§ 42 III und § 43 IV).
4. Besondere Rechtsregeln gelten für den Seeraub (die Piraterie).
Sie haben freilich seit der Niederwerfung der nordafrikani-
schen Barbareskenstaaten Marokko, Algier, Tunis und Tripolis durch
Frankreichs entschiedenes Vorgehen (um das Jahr 1830) nur mehr
sehr geringe praktische Bedeutung.
[144]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Seeraub ist die auf offener See oder von dieser aus (etwa durch
Landung) von der Mannschaft eines Seeschiffes an Menschen oder Sachen
ohne staatliche Ermächtigung begangene Gewalt.
- a) Seeräuber sind daher nicht die auf Kaperei ausgehenden
Kriegsschiffe, oder die mit staatlichen Kaperbriefen, wenn
auch mit Verletzung des Pariser Vertrages von 1856, ver-
sehenen Privatschiffe (unten § 40 II), wohl aber die von den
Insurgenten, so lange sie noch nicht als kriegführende Macht
anerkannt sind, ausgerüsteten Kaperschiffe. - b) Der Seeräuber, der keine oder eine nicht anerkannte Flagge
führt, steht unter keines Staates Schutz; er wird aber auch
durch die von ihm etwa geführte Flagge nicht gedeckt. Er ist
mithin völkerrechtlich vogelfrei; er kann ohne Verletzung des
Staates, dem das Schiff der Flagge nach oder die Besatzung
ihrer Nationalität nach angehört, von den Kriegsschiffen jedes
Staates aufgegriffen und nach dem Recht des aufgreifenden Staates
zur Verantwortung gezogen werden.
Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch §§ 4 und 250 Ziffer 3.
Die geraubten Gegenstände sind nach dem, seit dem 18. Jahr-
hundert anerkannten Satz (pirata non mutat dominium) dem Eigen-
tümer zurückzugeben.
Diese allgemein anerkannten Rechtssätze werden wohl auch
heute noch in den Verträgen ausdrücklich ausgesprochen. Vgl.
den deutschen Freundschafts- u. s. w. Vertrag mit Nicaragua vom
4. Februar 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 171) Artikel 19: „Schiffe, Waren
und andere den betreffenden Staatsangehörigen eigentümliche Gegen-
stände, welche innerhalb der Gerichtsbarkeit des einen der beiden
vertragenden Teile oder auf hoher See von Piraten geraubt und
nach den Häfen, Flüssen, Reeden oder Buchten im Gebiete des
anderen Teiles gebracht oder daselbst angetroffen werden, sollen
ihren Eigentümern gegen Erstattung der Kosten der Wiedererlangung,
wenn solche entstanden und von den kompetenten Behörden zuvor
festgestellt sind, zurückgegeben werden, sobald das Eigentumsrecht
vor diesen Behörden nachgewiesen sein wird, auf die Reklamation
hin, welche innerhalb einer Frist von zwei Jahren von den Be-
[145]§ 26. Die Hochseeschiffahrt und die Freiheit des Meeres.
teiligten oder deren Bevollmächtigten oder von den Vertretern der
betreffenden Regierungen eingebracht werden muſs.“
IV.
Die Ausgestaltung des öffentlichen und des privaten Seerechtes
ist eben infolge der Freiheit des Meeres Sache des einzelnen Staates.
Doch hat sich hier in einer Reihe von Beziehungen ein inhaltlich
gleiches und in diesem Sinne internationales Recht ausgebildet.
1. Die Staatsangehörigkeit eines Schiffes richtet sich (im Frieden
wie im Kriege) nach der von diesem geführten Flagge.
Die Voraussetzungen der Befugnis wie der Verpflichtung zur
Führung der nationalen Flagge bestimmen sich nach der Gesetz-
gebung des Staates, dem das Schiff angehört. Vielfach verlangt
diese (so das deutsche Gesetz, betreffend die Nationalität der
Kauffahrteischiffe und ihre Befugnis zur Führung der Bundes-
flagge vom 25. Oktober 1867), daſs das Schiff ausschlieſslich im
Eigentum von Staatsangehörigen stehe. Widersprüche zwischen den
verschiedenen nationalen Gesetzen sind daher nicht ausgeschlossen;
über gleichmäſsige Regelung wurde vom Institut für Völkerrecht
1896 zu Venedig beraten.
Allgemein aber wird bei Prüfung des Rechtes zur Führung der
Flagge, sowie bei Prüfung der Legitimationspapiere des Schiffes (ins-
besondere des auf Grund der Registrierung ausgestellten Certifikats)
das Recht desjenigen Staates angewendet, dem das Schiff nach der von
ihm geführten Flagge angehört.
Vgl. den deutsch-japanischen Handels- und Schiffahrtsver-
trag vom 4. April 1896 (R. G. Bl. 1896 S. 715) Artikel XV: „Alle
Schiffe, welche nach deutschem Recht als deutsche, und alle Schiffe,
welche nach japanischem Recht als japanische Schiffe anzusehen sind,
sollen im Sinne dieses Vertrages als deutsche beziehungsweise japa-
nische Schiffe gelten.“
Die zu Konstantinopel 1872 ausgearbeiteten Regeln über die
Bestimmung des Tonnengehalts der Seeschiffe sind Italien, Öster-
reich-Ungarn, Belgien, Frankreich, Deutschland, Groſsbritannien,
die Niederlande, Ruſsland, Schweden und Norwegen sowie die
Türkei beigetreten.
v. Liszt, Völkerrecht. 10
[146]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
2. Das Seestraſsenrecht wird ebenfalls durch die nationale Ge-
setzgebung geregelt, die aber inhaltlich sich an das englische Recht
anschlieſst, so daſs das Seestraſsenrecht der verschiedenen seefahrenden
Nationen in allen wesentlichen Punkten thatsächlich dasselbe ist.
a) Das gilt insbesondere von dem internationalen Signal-
kodex, der durch Annahme des von dem englischen Board of
trade angefertigten Commercial code of signals for the use of all
Nations (1856) von seiten der übrigen seefahrenden Mächte zu
stande gekommen ist. 1857 und in den folgenden Jahren haben sich
Groſsbritannien, Frankreich, Ruſsland, die Niederlande, Österreich-
Ungarn, Schweden-Norwegen, der Norddeutsche Bund, Brasilien,
Portugal, Italien, Belgien, Dänemark, Spanien und Griechenland
angeschlossen. Auch die Vereinigten Staaten haben, ohne förmlich
beizutreten, die Geltung des Signalbuches grundsätzlich anerkannt.
b) Zur Vermeidung des Zusammenstoſses auf See wur-
den von Österreich-Ungarn, Belgien, Chile, Dänemark, Frankreich,
Deutschland, Groſsbritannien, Griechenland, Italien, Norwegen, den
Niederlanden, Portugal, Ruſsland, Spanien, Schweden und den Ver-
einigten Staaten gemeinsame Grundsätze am 4. April 1880 verein-
bart, die auf den englischen Regulations for preventing collisions
at sea von 1862 beruhen.
Vgl. die Verhandlungen des internationalen Kongresses zu Washington.
1889. (N. R. G. 2. Ser. XVI 363; XXII 113).
Prien, Der Zusammenstoſs von Schiffen. 1896.
3. Daneben finden sich auch einzelne Verträge verschiedener
Staaten über die Erhaltung der Seewege, insbesondere über Errichtung
und Erhaltung der Seezeichen (Leuchttürme, Bojen und Baken u. s. w.).
Ein typisches Beispiel bietet der deutsch-niederländische Ver-
trag vom 16. Oktober 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 603), durch den
sich die preuſsische Regierung verpflichtet, „die Betonnung und
Bebakung der Mündungen der Unterems sowie die Leuchttürme
auf Borkum, die Leuchtbaken auf dem Randsel und die Leucht-
türme bei Pilsum und bei Campen in gutem Zustande beziehungs-
weise in ordnungsmäſsigem Betriebe zu erhalten“, während die
niederländische Regierung die Verpflichtung übernimmt, „die
[147]§ 27. Die Binnenschiffahrt u. d. internationalen Ströme u. Kanäle.
Küstenlichter in Delfzyl und in Watum in ordnungsmäſsigem Be-
triebe zu erhalten.“
Auch Verträge einer gröſseren Gruppe von seefahrenden Staaten
finden sich. So haben durch Vereinbarung vom 31. Mai 1868
Belgien, Frankreich, Italien, Groſsbritannien, Österreich-Ungarn,
Portugal, Schweden, Spanien und die Vereinigten Staaten sich ver-
pflichtet, eine Beisteuer zu dem von Marokko am Kap Spartel zu
errichtenden Leuchtturm zu leisten; zugleich haben die Vertrags-
mächte sich die oberste Leitung und Verwaltung vorbehalten. Das
Deutsche Reich ist durch Erklärung vom 4. März 1878 der Verein-
barung beigetreten. Über die „Neutralisierung“ dieses Leucht-
turms unten § 40 ff.
§ 27. Die Binnenschiffahrt und die internationalen Ströme
und Kanäle.
Engelhardt, Du régime conventionnel des fleuves internationaux. 1879.
Derselbe, Du principe de neutralité dans son application aux fleuves
internationaux et aux canaux maritimes. 1886.
Derselbe, L’Origine et la constitution des communautés fluviales conven-
tionnelles. 1888.
Derselbe, Histoire du droit fluviale conventionnel. 1889.
Orban, Etude sur le droit fluvial international. 1896.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1887. (Schiffahrtsreglement
für internationale Ströme).
Besonders Carathéodory, H. H. II 279.
I.
Binnenschiffahrt ist die Schiffahrt in den Eigengewässern und
innerhalb der Küstengewässer.
Nach feststehender Rechtsregel hat jeder Staat das Recht,
die Schiffahrt in seinen Eigengewässern seinen Staatsangehörigen vor-
zubehalten. Das gilt insbesondere von der Fluſsschiffahrt mit Ein-
schluſs der Fischerei. Das deutsche Reichsgesetz, betr. die privat-
rechtlichen Verhältnisse der Binnenschiffahrt, vom 15. Juni 1895
(R. G. Bl. 1895 S. 301) hat dagegen die Ausländer den Inländern
völlig gleichgestellt. Es gilt dann weiter auch von der Küsten-
frachtfahrt und der Fischerei in den Küstengewässern (oben § 25 I).
10*
[148]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Im übrigen kann den fremden Handelsschiffen die Durchfahrt durch
die Küstengewässer nicht versagt werden.
II.
Durchaus abweichende Grundsätze gelten dagegen für die inter-
nationalen Ströme, d. h. diejenigen Ströme, welche das Gebiet mehrerer
Staaten durchströmen (oder trennen) und vom Meere aus schiffbar sind.
Auf den internationalen Strömen soll die Schiffahrt den Schiffen aller
Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft freistehen.
Dieser Grundsatz wurde zuerst durch das Dekret des republi-
kanischen Conseil exécutif provisoire vom 16. November 1792, und
zwar zunächst für die Schelde und Maas, dann aber allgemein mit
den Worten ausgesprochen: „daſs kein Staat ohne Ungerechtigkeit
das Recht für sich in Anspruch nehmen kann, den Lauf eines
Flusses zu benützen und die benachbarten Völker, die an dem Ober-
lauf gelegen sind, in dem Genuſs dieser selben Vorteile zu hindern“
(also Beschränkung auf die Uferstaaten). Seither wurde die Frage
auf verschiedenen Kongressen und in verschiedenen Friedensschlüssen
erörtert, bis Artikel V des Pariser Friedens vom 30. Mai 1814 die
Bestimmung traf: „Die Schiffahrt auf dem Rheine, von dem Punkte
an, wo er schiffbar wird, bis zur See (jusqu’à la mer), und um-
gekehrt, soll frei seyn, in der Maaſse, daſs sie niemandem unter-
sagt werden kann, und man wird sich bei dem künftigen Kon-
gresse mit den Grundsätzen beschäftigen, nach welchen die von
den Ufer-Staaten zu erhebenden Gefälle auf die gleichmäſsigste
und dem Handel aller Nationen am meisten günstige Weise regu-
liert werden können. — Gleichergestalt soll bei dem künftigen
Kongresse untersucht und entschieden werden, in welcher Art die
obige Bestimmung, um den Verkehr zwischen den Völkern zu er-
leichtern und sie sich, eines dem andern, immer weniger fremd
zu machen, auch auf alle andern in ihrem Laufe schiffbaren und
verschiedene Staaten trennenden oder durchflieſsenden Ströme aus-
gedehnt werden könne.“ Der Wiener Kongreſs hat dann in den
Artikeln 108—116 der Schluſsakte vom 9. Juni 1815 diese Grund-
sätze im einzelnen, aber unter Vorbehalt besonderer Vereinbarungen
für die einzelnen Ströme, durchgeführt.
[149]§ 27. Die Binnenschiffahrt u. d. internationalen Ströme u. Kanäle.
Solche besondere Vereinbarungen sind getroffen worden: für
den Rhein und seine Nebenflüsse, für die Maas, Schelde, Elbe
(Aufhebung des Elbzolles durch den norddeutsch-österreichischen Ver-
trag vom 22. Juni 1870, R. G. Bl. 1870 S. 417), die Weser, Oder,
Weichsel, den Niemen, Pruth, Po (der, obwohl zum italienischen
Strom geworden, doch unter den Rechtsregeln der internationalen
Ströme geblieben ist), den Duero, Tajo und ganz besonders für
die Donau; ferner für verschiedene nord- und südamerikanische
Ströme, so insbesondere für den Rio de la Plata (Vertrag zwischen
Argentinien, Groſsbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten
vom 10. Juli 1853), während die übrigen amerikanischen Ver-
einbarungen sich meist mit der Wahrung der Rechte der Uferstaaten
begnügen; endlich in jüngster Zeit auch für den Kongo und den
Niger. Ergänzend greifen Verträge über die Schiffahrt auf den
Binnenseeen ein; ein Beispiel bieten die Bestimmungen des
Züricher Friedens vom 11. November 1859 über den Gardasee.
Die Durchführung des Grundsatzes setzt besondere Vereinbarungen
für die einzelnen Ströme voraus, die daher auch „konventionelle“
Ströme genannt werden. Der Inhalt dieser Vereinbarungen geht im
allgemeinen dahin:
- 1. Die Gebietshoheit der Uferstaaten bleibt bestehen. Diese
haben für die Erhaltung des Fahrwassers, des Leinpfades u. s. w., über-
haupt der Schiffbarkeit des Stromes, zu sorgen und die Schiffahrts-
ordnungen festzustellen. - 2. Die Schiffahrt steht den Schiffen aller Flaggen (nicht nur
der Uferstaaten) offen. Abgaben dürfen nur insoweit erhoben werden,
als sie Gegenleistungen für die zur Erhaltung der Schiffbarkeit oder
zur Erleichterung des Verkehrs gemachten Aufwendungen sind. - 3. Mehrfach sind neben der Kommission der Uferstaaten allge-
meine, sogenannte „europäische“ Kommissionen eingesetzt worden,
um gegenüber den Uferstaaten im allgemeinen Interesse über die
Durchführung der Schiffahrtsfreiheit zu wachen. - 4. Dazu tritt mehr und mehr die sogenannte „Neutralisierung“
der Ströme selbst, der zur Erhaltung der Schiffbarkeit errichteten
Anstalten und der überwachenden Kommissionsmitglieder.
[150]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
III.
Im einzelnen sei folgendes hervorgehoben:
1. Die Freiheit der Rheinschiffahrt beruht, abgesehen von den
Vereinbarungen im Frieden zu Lunéville von 1801 und den Be-
stimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803, auf
Artikel V des Pariser Friedens und Artikel 17 der Wiener Kongreſs-
akte (Centralkommission der Uferstaaten. Rheinschiffahrtsakte vom
31. März 1831: das Recht der Schiffahrt beschränkt auf die Ufer-
staaten. Revidierte Rheinschiffahrtsakte vom 17. Oktober 1868:
Die Schiffahrt frei für die Schiffe aller Flaggen von Basel bis ins
Meer; durch Vertrag zwischen Baden und der Schweiz vom 10. Mai
1879 ausgedehnt auf die Strecke Neuhausen-Basel).
2. Die Freiheit der Donauschiffahrt (die sich Ruſsland in
dem Frieden zu Adrianopel 1829 vorbehalten hatte) wurde erst
durch die Artikel 15 ff. des Pariser Friedens von 1856 begründet.
Der ganze Lauf von der Iller bis ins Meer soll den Schiffen aller
Flaggen geöffnet sein. Eine europäische Kommission, be-
stehend aus Vertretern von Österreich, Bayern, Württemberg und
der Türkei, sowie Kommissaren der Donaufürstentümer, soll den
untersten Lauf der Donau von Isaktscha bis ins Meer in schiffbaren
Zustand setzen. Eine Uferstaatenkommission hat die Schiff-
fahrtsakte auszuarbeiten und nach Auflösung der europäischen Kom-
mission an deren Stelle zu treten. — Die von der Uferstaaten-
kommission ausgearbeitete Schiffahrtsakte vom 7. November 1857,
welche die Küstenfahrt zwischen den einzelnen Donauhäfen den
Uferstaaten vorbehielt und den Schiffen der übrigen Mächte nur
die Fahrt vom offnen Meer bis zu einem Donauhafen oder um-
gekehrt freigab, wurde von den Mächten verworfen (sie ist aber
noch heute als Akte vom 9. Januar 1858, in Widerspruch mit dem
Pariser Frieden, in Österreich-Ungarn in Geltung).
Dagegen vereinbarten die Mächte unter dem 2. November
1865 eine Schiffahrtsakte für die Donau-Mündungen (Preuſs. G. S.
1867 S. 307; Zusatz vom 28. Mai 1881, R. G. Bl. 1882 S. 61.
Nach ihr (Artikel 21) genieſsen alle von der europäischen Kom-
mission geschaffenen Arbeiten und Einrichtungen, insbesondere
[151]§ 27. Die Binnenschiffahrt u. d. internationalen Ströme u. Kanäle.
die Schiffahrtskasse von Sulina, die durch Artikel 11 des Pariser
Friedens für das Schwarze Meer vereinbarte Neutralität (oben
S. 141) Diese erstreckt sich aber weiter auch auf die General-
inspektion der Schiffahrt, die Verwaltung des Hafens von Sulina,
die Angestellten der Schiffahrtskasse und das Marinehospital, so-
wie auf das mit der Überwachung der Arbeiten beauftragte tech-
nische Personal. Das heiſst, die genannten Personen und Anstalten
sind im Krieg und Frieden von der Staatsgewalt der Uferstaaten
befreit, im Kriege auſserdem vor den Unternehmungen der Krieg-
führenden geschützt.
Der Londoner Vertrag vom 13. März 1871 (oben S. 141) hielt
diese Bestimmungen aufrecht; insbesondere wurde das der europäi-
schen Kommission erteilte Mandat verlängert. Nach Artikel 7 soll
das Recht der Türkei, in ihrer Eigenschaft als Territorialmacht ihre
Kriegsschiffe wie früher zu jeder Zeit in die Donau einlaufen zu
lassen, unberührt bleiben.
Artikel 52 des Berliner Vertrags vom 13. Juli 1878 (R. G. Bl.
1878 S. 307) dehnte die Neutralität der Donau bis hinauf zum
Eisernen Thor aus. Alle Festungen und Befestigungen, welche sich
an dem Laufe des Flusses von dem Eisernen Thore ab bis zu seinen
Mündungen befinden, sollen geschleift und neue nicht angelegt
werden. Kein Kriegsschiff darf die Donau abwärts des Eisernen
Thores befahren mit Ausnahme der leichten, für die Fluſspolizei
und den Zolldienst bestimmten Fahrzeuge. Die Stationsschiffe der
Mächte an den Donaumündungen dürfen jedoch bis nach Galatz
hinaufgehen. Die europäische Kommission wird (Artikel 53) ihre
Thätigkeit bis nach Galatz hinauf in vollständiger Unabhängigkeit
von der Landesgewalt ausüben. Artikel 57 überträgt Österreich-
Ungarn die Ausführung der Arbeiten, die notwendig sind, um die
durch das Eiserne Thor und die Stromschnellen der Schiffahrt be-
reiteten Hindernisse zu beseitigen (feierliche Eröffnung des Eisernen
Thores am 27. September 1896).
Über die Unzulänglichkeit dieser Regulierungsarbeiten vgl. Blocizewski,
R. G. IV 104.
[152]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Das von der europäischen Kommission (in Ergänzung des für
den untersten Donaulauf geltenden Reglements von 1865, beziehungs-
weise 19. Mai 1881) ausgearbeitete Schiffahrtsreglement für den
mittleren Donaulauf vom Eisernen Thor bis nach Braila (vom 2. Juni
1882) wurde in den Londoner Verhandlungen vom 10. März 1883
von den Groſsmächten und der Türkei angenommen, ist aber in-
folge des Widerspruchs von Rumänien (Litteratur über diese Frage
ist R. G. IV 120 verzeichnet) bisher nicht in Kraft getreten. Durch
die Londoner Vereinbarung vom 10. März 1883 wurden zugleich
die Befugnisse der internationalen Kommission auf 21 Jahre ver-
längert (von da ab mit stillschweigender Verlängerung auf je 3 Jahre).
3. Die Freiheit der Schiffahrt auf dem Kongo und dem Niger
ist durch die General-Akte der Berliner Konferenz vom 26. Februar
1885 (R. G. Bl. 1885 S. 215) und zwar durch die Artikel 13 ff.
(Kongoschiffahrtsakte) und 26 ff. (Nigerschiffahrtsakte) gewährleistet.
Vgl. Duchêne, R. G. II 439.
Pillot, R. G. III 190.
Travers-Twiſs, R. J. XV 437, 547; XVI 237; XVII 213.
v. Martens, R. J. XVIII 159.
Der Gedanke hat aber hier nach verschiedenen Richtungen
hin eine wesentlich erweiterte Durchführung gefunden. a) Die
Freiheit der Schiffahrt erstreckt sich nicht nur auf den Strom selbst,
sondern auf das ganze Stromgebiet, auf alle in dieses fallenden
Nebenflüsse, Seeen, Kanäle, Eisenbahnen und Straſsen (Artikel 15
und 16). b) Sie erstreckt sich ferner nicht nur auf die Handels-
schiffe, sondern auch auf die Kriegsschiffe (Artikel 22); und zwar
gilt dieses sowohl vom Kongo als auch vom Niger, obwohl es für
diesen letzteren nicht ausdrücklich ausgesprochen ist. c) Sie soll
endlich auch in Kriegszeiten, ausgenommen für die Konterbande,
in Kraft bleiben (Artikel 25).
„Alle in Ausführung der gegenwärtigen Akte (für den Kongo)
geschaffenen Werke und Einrichtungen, namentlich die Hebestellen
und ihre Kassen, sowie die bei diesen Einrichtungen dauernd an-
gestellten Personen sollen den Gesetzen der Neutralität unterstellt
[153]§ 27. Die Binnenschiffahrt u. d. internationalen Ströme u. Kanäle.
sein und demgemäſs von den Kriegführenden geachtet und geschützt
werden“ (Artikel 25 Absatz 4).
Eine internationale Kommission soll die Ausführung für die
gegenwärtige Schiffahrtsakte (über den Kongo) sichern (Artikel 17).
Ihre Mitglieder sowie die von ihr ernannten Agenten sind in der
Ausübung ihrer Funktionen mit dem Privileg der Unverletzlich-
keit bekleidet. Der gleiche Schutz soll sich auf die Amtsräume,
Bureaus und Archive der Kommission erstrecken (Artikel 18). Für
den Niger ist die Überwachung den Uferstaaten vorbehalten worden.
IV.
Die internationalen Kanäle.
1. Der für die internationalen Ströme geltende Grundsatz der
Schiffahrtsfreiheit ist nach längeren Vorberatungen durch den Vertrag
vom 29. Oktober 1888 auch auf den Suezkanal ausgedehnt worden.
Der Vertrag wurde zu Konstantinopel, auf Grundlage der
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1879 und der Kon-
ferenz zu Paris 1885, von Deutschland, Österreich-Ungarn, Spanien,
Frankreich, Groſsbritannien, Italien, den Niederlanden, Ruſsland und
der Türkei geschlossen.
Vgl. Travers-Twiſs, R. J. XIV 572, XVII 615.
Aſser, R. J. XX 529.
Derselbe, La convention de Constantinople pour garantir le libre usage
du Canal de Suez. 1888.
Roſsignol, Le Canal de Suez. Etude historique, juridique et politique. 1898.
Weitere Litteratur bei Carathéodory, H. H. II 386.
Aus den Bestimmungen des Vertrages sind die folgenden
hervorzuheben:
Der Kanal steht in Friedens- wie in Kriegszeiten jedem Handels-
und jedem Kriegsschiff ohne Unterschied der Flagge offen.
Die Mächte verpflichten sich, jeder Verletzung in Bezug auf
die freie Benützung des Kanals im Krieg wie im Frieden sich zu
enthalten; der Kanal darf unter keinen Umständen blokiert werden
(Artikel 1).
Da der Kanal mithin auch in Kriegszeiten den Kriegsschiffen
der Kriegführenden offen stehen wird, verpflichten sich die Ver-
tragsmächte, kein Kriegsrecht, keinen Akt der Feindseligkeit und
[154]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
keine Handlung, deren Zweck die Beschränkung der freien Schiffahrt
im Kanal wäre, auszuüben, sei es im Kanal selbst und seinen
Eingangshäfen, sei es in einem Umkreis von drei Seemeilen von
dem Eingangshafen an gerechnet, auch wenn die Türkei selbst
eine der kriegführenden Mächte sein sollte. Die Kriegsschiffe der
Kriegführenden dürfen im Kanal und in seinen Eingangshäfen sich
nur soweit es unumgänglich notwendig ist aufhalten, um sich mit
Lebensmitteln oder andern Bedürfnissen zu versehen. Die Durch-
fahrt der Kriegsschiffe durch den Kanal wird in möglichst kurzer
Frist nach den geltenden Reglements und ohne andern Aufenthalt
geschehen als demjenigen, der durch die Bedürfnisse des Dienstes
erfordert wird. Ihr Aufenthalt in Port Said und auf der Reede
von Suez darf, den Fall der Seenot (relâche forcée) ausgenommen,
vierundzwanzig Stunden nicht übersteigen. Zwischen der Ausfahrt
eines Kriegsschiffes aus einem der Eingangshäfen und der Ausfahrt
eines dem Gegner gehörenden Kriegsschiffes muſs ein Zeitraum von
vierundzwanzig Stunden liegen (Artikel 4).
Ferner dürfen in Kriegszeiten die Kriegführenden in dem
Kanal und seinen Eingangshäfen weder Truppen, noch Munition,
noch Kriegsmaterial ausschiffen (Artikel 5). Die Mächte dürfen
keine Kriegsschiffe im Kanal halten. In die Häfen von Port Said
und Suez dürfen sie Kriegsschiffe senden, insoweit ihre Zahl nicht
zwei für jede Macht übersteigt; den Kriegführenden steht dieses
Recht nicht zu (Artikel 7). Die Vertreter der Mächte in Egypten
haben die Ausführung des Vertrages zu überwachen. Sie haben
insbesondere die Aufgabe, die Neutralität des Kanals im Notfall
mit Waffengewalt zu verteidigen; die Truppen sollen von der egpy-
tischen Regierung, und wenn diese dazu nicht im stande ist, von
dem Sultan gestellt werden; weigert sich dieser, so soll die Kom-
mission sich an die Mächte wenden (Artikel 8 bis 10).
2. Weiter zurück reichen die bisher erfolglosen Verhand-
lungen bezüglich des Panamakanals. Schon im Jahre 1850
wurde zwischen England und den Vereinigten Staaten der sogenannte
Clayton-Bulwer-Vertrag geschlossen, in welchem die Vertrag-
[155]§ 28. Der Auſsenhandel.
schlieſsenden erklärten, daſs der Kanal „zum Wohle der ganzen
Menschheit“ dienen und „allen unter den gleichen Bedingungen
zugänglich“ sein solle; daſs sie daher im Falle eines zwischen
ihnen ausgebrochenen Krieges die den Kanal passierenden Schiffe
nicht wegnehmen oder mit Beschlag belegen und den Kanal nicht
blokieren würden; auſserdem verpflichten sich die beiden Mächte,
die Sicherheit und Neutralität des Kanals zu verbürgen. Aber seit
den 80 er Jahren haben die Vereinigten Staaten ihre Haltung ge-
ändert und gestützt auf ihre Auslegung der Monroedoktrin (oben
§ 7 II S. 37) für sich das ausschlieſsliche Recht der Überwachung
jedes Kanals, wie jedes Landwegs über den Isthmus von Panama
in Anspruch genommen.
Vgl. Carathéodory, H. H. II 394.
§ 28. Der Auſsenhandel.
Melle in H. H. III 141.
Die von den verschiedenen Staaten abgeschlossenen Handelsverträge werden
von dem deutschen Handelsarchiv in deutscher Sprache veröffentlicht.
I.
Aus der Souveränität der Staatsgewalt folgt die Autonomie der
Handelspolitik (oben § 8 I).
Jeder Staat, soweit er durch Verträge nicht beschränkt ist,
hat das Recht, diejenige Handelspolitik zu treiben, die er für die
richtige hält; er kann dem reinsten Freihandelsprinzip huldigen
oder auf dem Wege der Gesetzgebung weitgehende Schutzzölle ein-
führen, um Landwirtschaft, Handel und Gewerbe im Kampf gegen
den Wettbewerb des Auslandes zu schirmen; er kann durch Ver-
träge sich binden, die entweder einen bis in die kleinsten Einzel-
heiten gehenden Tarif, oder aber die bloſse Meistbegünstigungs-
klausel enthalten; er kann alle andern Staaten auf dem Fuſs der
Gleichberechtigung behandeln, oder, wenn er Retorsionen nicht
scheut, mit Differenzialzöllen arbeiten.
Über die gegenwärtige Handelspolitik des Deutschen Reichs, das durch
die Handelsverträge vom 6. Dezember 1891 mit Österreich-Ungarn, Italien
und Belgien und vom 10. Dezember 1891 mit der Schweiz die Grund-
[156]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
lagen eines gemäſsigt-schutzzöllnerischen Vertragssystems geschaffen hat,
vgl. Lexis im Handwörterbuch der Staatswissenschaften I. Ergänzungs-
band S. 442.
Dabei ist jedoch zu beachten:
1. Die Schutzzölle dürfen nicht als allgemeine, auf alle Gegen-
stände gelegte Prohibitivzölle zu einer Abschlieſsung des Landes gegen
allen Handelsverkehr überhaupt werden; denn damit würde der Staat
seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zum commercium (oben § 7 III)
direkt zuwider handeln. Der Merkantilismus des 17. Jahrhunderts
(Cromwells Navigationsakte 1651) würde dem heutigen Völkerrecht
gegenüber als rechtswidrig erscheinen. Die Grenze wird im einzelnen
Falle vielleicht schwer zu ziehen sein.
2. Die Selbständigkeit der Handelspolitik kann (ganz abgesehen
von den kündbaren Handelsverträgen) eingeschränkt oder ausgeschlossen
sein durch die von andern Staaten dem Staat auferlegte Verpflichtung,
eine bestimmte Handelspolitik zu treiben.
So ist dem Kongostaat durch die Kongoakte von 1885 der
Freihandel auferlegt worden (dagegen gewährten ihm die Unter-
zeichner der Brüsseler Antisklavereiakte vom 2. Juli 1890 das Recht
zur Erhebung von Eingangszöllen, um der ungünstigen Finanzlage
des jungen Staatswesens aufzuhelfen).
II.
Durch die Handelsverträge werden insbesondere die Voraus-
setzungen geregelt, unter welchen die Ein-, Aus- und Durchfuhr von
Waren gestattet wird.
1. Nur ausnahmsweise und auf Grund besonderer Vereinbarung
kann in diesem Fall die Ein-, Aus- oder Durchfuhr gewisser Waren
verboten werden.
Vgl. Stoerk, L. A. IX 23.
Als solche Waren pflegen in den Verträgen aufgezählt zu
werden:
- a) Waren, welche den Gegenstand eines Staatsmonopols bilden;
- b) Waren, deren Einfuhr Gefahr für die Gesundheit von Men-
schen, Tieren oder Pflanzen mit sich bringen könnte; - c) Waren, deren Ausfuhr die Interessen der Landesverteidigung
gefährden würde.
[157]§ 28. Der Auſsenhandel.
- d) Mehrfach findet sich aber auch noch eine weitergehende
Klausel, kraft welcher die Vertragschlieſsenden sich vorbe-
halten, „aus Rücksichten der öffentlichen Sicherheit oder der
Moral“ Einfuhr- und Ausfuhrverbote auch in Beziehung auf
andere Waren zu erlassen. - e) Einzelne Staaten (so Italien und Griechenland) lassen die
Ausfuhr von Kunstgegenständen oder Denkmälern nur unter
besonderen einschränkenden Voraussetzungen zu.
2. Von den einzuführenden Waren werden, soweit nicht Frei-
handel herrscht, Eingangszölle erhoben, während die Durchgangszölle
nur mehr selten sich finden.
Die Waren müssen, um der vertragsmäſsigen Behandlung
teilhaftig zu werden, mit Ursprungszeugnissen versehen sein. Be-
sondere Erleichterungen gelten regelmäſsig für den Grenz-, Markt-
und Veredelungsverkehr, für die Muster von Handlungsreisenden u. s. w.
Häufig werden auch besondere Zollkartelle geschlossen, mit Ver-
einbarungen zur Verhütung und Bestrafung des Schleichhandels
(unten § 32 IV).
III.
In zahlreichen Handelsverträgen der neueren Zeit, insbesondere
in denen, die von Italien, Belgien und der Schweiz geschlossen worden
sind, findet sich die Schiedsgerichtsklausel (kompromissarische Klausel),
d. h. die Vereinbarung, daſs die Vertragschlieſsenden sich ver-
pflichten, alle Streitigkeiten, die aus der Anwendung und Aus-
legung des Vertrages entstehen sollten, einem Schiedsgericht zu
übertragen (unten § 38 II). Das Deutsche Reich hat sich bisher
geweigert, diese Klausel in die von ihm geschlossenen Verträge
aufzunehmen.
IV.
Mehrere Staaten können auch wohl einen Zollverband schlieſsen,
durch den sie dem Ausland gegenüber als einheitliches Handelsgebiet
erscheinen.
Ein solcher Verband, der ohne ein einheitliches Zollparla-
ment zur Beratung der gemeinsamen Angelegenheiten nicht gut
denkbar ist, setzt politische Einigung der verbundenen Staaten
nicht voraus, hat sie aber erfahrungsgemäſs meist zur Folge. Das
[158]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
bekannteste Beispiel bietet der deutsch-preuſsische Zollverein, der
nach langen Vorverhandlungen am 1. Januar 1834 ins Leben ge-
treten ist. In theoretischer Beziehung ist der Vertrag vom 9. No-
vember 1865 von besonderm Interesse, durch den die Zollunion
zwischen Frankreich und Monako begründet wurde. Hierher ge-
hört auch das durch den Ausgleich von 1867 geschaffene Zoll-
und Handelsbündnis zwischen den österreichischen Kronländern und
den Ländern der ungarischen Krone. Neuerdings ist der Gedanke
eines europäischen Zollverbandes vielfach von Nationalökonomen
wie von Staatsmännern (Caprivi 1893, Goluchowski 1897) aus-
gesprochen worden.
V.
Über die Internationale Vereinigung zur Veröffentlichung der
Zolltarife unten § 35 III.
§ 29. Eisenbahn-, Fluſs- und Kanalverhältnisse.
Wilhelm Kaufmann, Die mitteleuropäischen Eisenbahnen und das inter-
nationale öffentliche Recht. 1893.
Meili in H. H. III 257.
Eger, Das internationale Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr.
1893.
Droz, R. G. II 169.
I.
Durch zahlreiche Verträge, insbesondere zwischen den benach-
barten Staaten wird der internationale Verkehr auf Eisenbahnen,
sowie auf den nationalen Flüssen und Kanälen gesichert.
Hierher gehören Verträge über Fluſskorrektionen, über die
Verbindung des inländischen Eisenbahn- und Kanalnetzes mit dem-
jenigen der benachbarten Staaten, über durchgehende Züge und
Wagen, über die Beförderung der Post, der Personen und der
Güter, über die Zollabfertigung und über die Errichtung fremder
Zollämter auf heimischem Gebiete, über die Zahlung der Gebühren
in den beiden Landeswährungen u. s. w. u. s. w. Ferner Verträge
über den Bau gemeinsamer Eisenbahnen oder Kanäle, Herstellung
von gemeinsamen Einzelbauten, wie Grenzstationsgebäuden, Brücken,
Tunnels u. s. w.; über den Bau von Grenzverbindungsbahnen und
[159]§ 29. Eisenbahn-, Fluſs- und Kanalverhältnisse.
-Kanälen, die bald im gemeinsamen Eigentum der beiden vertrag-
schlieſsenden Staaten oder aber eines von ihnen, bald im Eigentum
von Privatgesellschaften unter der Aufsicht der Staaten stehen;
Verträge über die Übernahme der Verwaltung einer im andern
Staat bestehenden staatlichen oder privaten Eisenbahn unter Auf-
rechterhaltung der Gebietshoheit des Territorialstaates, der gleich-
zeitig das Oberaufsichtsrecht an den andern Kontrahenten abgiebt;
endlich Verträge über die finanzielle Unterstützung einer für den
internationalen Verkehr wichtigen Eisenbahn.
Ein Beispiel für diese letztere Gruppe bilden die auf den
Bau der Gotthardbahn bezüglichen Verträge. Auf den Grund-
lagen des Schluſsprotokolls der Berner Konferenz vom 13. Oktober
1869, in welchem sich die interessierten Staaten über die Mittel
zur Ausführung der Gotthardbahn zu verständigen suchten, schlossen
zunächst Italien und die Schweiz die Übereinkunft vom 15. Ok-
tober 1869 (R. G. Bl. 1871 S. 378). Dieser trat zuerst der Nord-
deutsche Bund (Gesetz vom 31. Mai 1869), dann an dessen Stelle
das Deutsche Reich durch Übereinkunft mit Italien und der Schweiz
vom 28. Oktober 1871 (R. G. Bl. 1871 S. 376) bei. Danach verpflichtete
sich das Deutsche Reich, 20 Millionen Franks zum Bau der Bahn beizu-
tragen, die durch den Nachtragsvertrag vom 12. März 1878 (R. G. Bl.
1879 S. 270) auf 30 Millionen erhöht wurden. Die Schweiz behielt
die Betriebs- und Tarifhoheit und auſserdem das Recht (Artikel 6
Absatz 2 der Übereinkunft von 1869) „die zur Aufrechthaltung
der Neutralität und zur Verteidigung des Landes nötigen Maſs-
regeln zu treffen.“ Die Vertragsstaaten behalten sich einen An-
spruch auf Teilnahme an den finanziellen Ergebnissen des Unter-
nehmens nur für den Fall vor, daſs die Dividende 7 % übersteigen
sollte. In diesem Falle wird die Hälfte des Überschusses als Zins
unter die subventionierenden Staaten nach Verhältnis ihrer Sub-
sidien verteilt (Artikel 18).
Wichtig sind auch die Verträge, durch welche der teilweise
auch in der Landesgesetzgebung (deutsches Reichsgesetz vom 3. Mai
1886, betreffend die Unzulässigkeit der Pfändung von Eisenbahn-
[160]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
fahrbetriebsmitteln, R. G. Bl. 1886 S. 131) anerkannte Grundsatz der
Nichtpfändbarkeit von Fahrbetriebsmitteln auch völkerrechtlich sicher-
gestellt wird.
II.
Schon der 1846 begründete Verein Deutscher Eisenbahn-
verwaltungen (dem auch die Eisenbahnen von Österreich, den Nieder-
landen und von Luxemburg angehören) hatte weitergehende Ver-
einbarungen bahntechnischer Natur getroffen, durch welche
groſse Betriebsstrecken umfaſst wurden. Die neuere Entwicklung
ist auf diesem Wege fortgeschritten.
Die Vereinbarung vom 15. Mai 1886 in Bern, zunächst zwischen
Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich und der Schweiz
geschlossen (später sind auch Belgien, Griechenland, Serbien, Bul-
garien, Dänemark, Luxemburg, Schweden und Norwegen beigetreten)
stellt über die Spurweite der Eisenbahnen, sowie über die Beschaffen-
heit des rollenden Materials, die diesem die Verwendung im inter-
nationalen Verkehr sichern soll, einheitliche Grundsätze auf (vgl. die
deutsche Bekanntmachung, betreffend die technische Einheit im
Eisenbahnwesen vom 17. Februar 1887, R. G. Bl. 1887 S. 111).
Gleichzeitig wurde in Bern über die zollsichere Einrichtung des
Verschlusses der Eisenbahnwagen im internationalen Verkehr zwischen
denselben Staaten Vereinbarungen getroffen, die in N. R. G. 2. Ser.
XXII 42 abgedruckt sind.
III.
Von besonderer Wichtigkeit aber ist das 60 Artikel umfassende
internationale Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr, das
nach langen Vorberatungen am 14. Oktober 1890 zwischen Deutsch-
land, Belgien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Luxemburg,
Österreich-Ungarn, Ruſsland und der Schweiz geschlossen worden ist
(Ratifikationsurkunde niedergelegt in Bern am 30. September 1892;
in Kraft seit 1. Januar 1883; deutsches R. G. Bl. 1892 S. 793).
Beigefügt ist dem Hauptvertrag eine (seither wiederholt ab-
geänderte und erweiterte) Liste der beteiligten Eisenbahnstrecken,
ein Reglement, betreffend die Errichtung eines Centralamtes, Aus-
führungsbestimmungen, Vorschriften über bedingungsweise zur Be-
förderung zugelassene Gegenstände und ein Schluſsprotokoll. Eine
[161]§ 29. Eisenbahn-, Fluſs- und Kanalverhältnisse.
Zusatzerklärung vom 20. September 1893 (R. G. Bl. 1896 S. 707)
hält den nichtbeteiligten Staaten den Beitritt offen. Bisher ist nur
Dänemark 1897 beigetreten. Eine Zusatzvereinbarung vom 16. Juli
1895 (R. G. Bl. 1895 S. 465) brachte Verkehrserleichterungen, insbe-
sondere bezüglich der bedingungsweise zur Beförderung zugelassenen
Gegenstände.
Auſser dem Hauptvertrag sind Nebenverträge für den wechsel-
seitigen Verkehr der Grenzstaaten vorgesehen.
Das Übereinkommen findet Anwendung (Artikel 1) auf alle
Sendungen von Gütern, welche auf Grund eines durchgehen-
den Frachtbriefes aus dem Gebiete eines der vertragschlieſsenden
Staaten in das Gebiet eines anderen vertragschlieſsenden Staates auf
denjenigen Eisenbahnstrecken befördert werden, die für den inter-
nationalen Eisenbahnverkehr geeignet erscheinen und sich den Be-
stimmungen des Übereinkommens unterwerfen.
Für den Frachtverkehr auf diesen zur wirtschaftlichen und
rechtlichen Einheit zusammengefaſsten Linien hat das Übereinkommen
eine ganze Reihe von Rechtssätzen aufgestellt, die teils privatrecht-
licher (handelsrechtlicher), teils civilprozessualer Natur sind, hier
aber nicht weiter besprochen werden können. Sie beziehen sich
auf die zu dem Verkehr zugelassenen, von ihm ausgeschlossenen
oder nur bedingt zugelassenen Gegenstände, auf den Augenblick
des Vertragsabschlusses und auf den Inhalt des Frachtvertrages,
auf das Verhältnis der beteiligten Eisenbahnen zu einander u. s. w.;
bilden also ein nahezu vollständiges internationales Gesetzbuch über
den Eisenbahnfrachtverkehr (unten § 32 I.) Über das gleichzeitig
eingesetzte Centralamt zu Bern ist bereits oben § 17 II gesprochen
worden.
Von den Sonderverträgen der benachbarten Staaten ist insbe-
sondere die vom Deutschen Reich mit den Niederlanden, Österreich-
Ungarn und der Schweiz vom 29. Januar 1894 (R. G. Bl. 1894 S. 113)
geschlossene Vereinbarung erleichternder Vorschriften für den wechsel-
seitigen Verkehr hervorzuheben, der auch Luxemburg und Belgien
beigetreten sind.
v. Liszt, Völkerrecht. 11
[162]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
§ 30. Post- und Telegraphenbetrieb.
I.
Auch hier sind zunächst zahlreiche Einzelverträge, insbesondere
wieder zwischen den benachbarten Staaten, über die Beförderung von
Postsendungen sowie über andere Betriebsfragen zu nennen. Von Wich-
tigkeit ist das auf altem Herkommen beruhende, von der Türkei ohne
Erfolg bestrittene Recht der christlich-europäischen Staaten, in den
Ländern der Türkei ihre eigenen Postämter zu errichten.
Vgl. R. G. II 365.
II.
Aber gerade auf diesem Gebiet hat der Gedanke der völker-
rechtlichen Verwaltungsgemeinschaften (oben § 17 I) frühzeitig über-
raschende Früchte getragen.
Zahlreich sind die Verträge, welche die europäischen Staaten
untereinander, welche insbesondere erst der Norddeutsche Bund, dann
das Deutsche Reich, mit den übrigen Staaten geschlossen hatten.
Besonders innig gestalteten sich die Beziehungen der Deutschen
Staaten zu dem benachbarten Österreich, die in dem Postverein
vom 6. April 1850 und später in dem Postvertrag vom 23. No-
vember 1867 (R. G. Bl. 1868 S. 69) ihre feste Regelung gefunden
hatten.
Nach dem Muster der von kleineren Staatengruppen geschlossenen
Verträge wurde am 9. Oktober 1874 zu Bern der allgemeine Postverein
(die Union générale des postes) von 21 Staaten begründet.
Diese Staaten waren: Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien,
Dänemark, Egypten, Spanien, die Vereinigten Staaten, Frankreich,
Groſsbritannien, Griechenland, Italien, Luxemburg, Norwegen,
die Niederlande, Portugal, Rumänien, Ruſsland, Serbien, Schweden,
die Schweiz und die Türkei.
An Stelle des „Allgemeinen Postvereins“ trat durch die Pariser
Vereinbarung vom 1. Januar 1878 auf Deutschlands Antrag der Welt-
postverein (die Union postale universelle) die, durch verschiedene spätere
Kongresse mehrfach revidiert (insbesondere zu Lissabon 1885, Wien
4. Juli 1891, Washington 15. Juni 1897), jetzt die ganze Welt, nicht nur
die civilisierten Staaten, umfaſst.
1. Der Hauptvertrag (convention principale) bezieht sich auf
die Beförderung von Briefen, von einfachen Postkarten und Post-
[163]§ 30. Post- und Telegraphenbetrieb.
karten mit bezahlter Antwort, auf Drucksachen, Geschäftspapiere
und Warenproben, die von einem der vertragschlieſsenden Staaten
nach einem andern bestimmt sind. Für diese Beförderung stellt
der Verein eine ganze Reihe von Rechtssätzen auf, deren Anfüh-
rung an dieser Stelle nicht möglich ist. Erwähnt sei die Beseiti-
gung der Durchgangsgebühren, die Einheitlichkeit der Postgebühr,
die Zulassung von Einschreibesendungen, die mit Nachnahme be-
lastet werden können, die Zulassung von Eilsendungen, sowie die
Einsetzung eines internationalen Bureaus (oben § 17 II).
2. Neben dem Hauptvertrag besteht eine Reihe von Neben-
verträgen (arrangements particuliers) zwischen kleineren Staaten-
gruppen. Diese betreffen
- a) den Austausch von Briefen und Kistchen mit Wertangabe
(seit 1878); - b) den Postanweisungsdienst (seit 1878);
- c) den Austausch von Postpaketen (seit 1880);
- d) den Postauftragsdienst (seit 1885);
- e) den Postbezug von Zeitungen und Zeitschriften (seit 1891).
Der letzte von den alle fünf Jahre zusammentretenden Welt-
postkongressen, der zu Washington am 5. Mai 1897 zusammentrat,
hat zu dem Schluſsprotokoll vom 15. Juni geführt. Dieses hat Korea
mit unterzeichnet; der Oranje-Freistaat hat telegraphisch seinen
Beitritt erklärt und China hat seinen bevorstehenden Anschluſs an
den Weltpostverein angemeldet, so daſs für dieses Land das Pro-
tokoll offen gelassen worden ist. Ferner haben die engeren Ver-
bände (die Nebenverträge) eine erfreuliche Erweiterung durch den
Zutritt verschiedener Staaten gefunden. Endlich ist die Neuregelung
der Briefpost-Transit-Entschädigungen zu erwähnen; auf Grund
der Gewichtsstatistik von 1896 sollen, sowohl für den Land- wie
auch für den Seetransit Pauschalvergütungen gezahlt werden, die
einer allmählichen, stufenweisen Herabminderung unterliegen.
III.
Der Telegraphenbetrieb hat ebenfalls neben einer groſsen
Reihe von Einzelverträgen zur Bildung einer völkerrechtlichen Ver-
11*
[164]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
waltungsgemeinschaft geführt. Schon durch den preuſsisch-franzö-
sischen Vertrag von 1862 war die österreichisch-deutsche Gruppe,
die durch Beitritt verschiedener deutscher Staaten zu dem preuſsisch-
österreichischen Vertrage von 1850 entstanden war, der romani-
schen Staatengruppe näher gekommen.
Nach wiederholten Verhandlungen gelang am 17. Mai 1885 zu
Paris der Abschluſs des Allgemeinen Telegraphenvereins (der Union
télégraphique universelle; zunächst ohne England, wo der Telegraphen-
betrieb noch nicht Staatssache war), der, durch spätere Vereinbarungen
(insbesondere zu Petersburg 22. Juli 1875) vielfach ergänzt und um-
gestaltet (Berliner Ausführungsübereinkunft vom 17. September 1885),
gegenwärtig etwa 50 Telegraphenverwaltungen (nicht aber die Ver-
einigten Staaten) umfaſst. Auch von den Privatgesellschaften ist etwa
die Hälfte dem Petersburger Vertrag (ohne Stimmrecht) beigetreten.
Obwohl älter als der Weltpostverein, ist doch der Telegraphen-
verein hinter diesem nicht nur in räumlicher Ausdehnung, sondern
auch in der Durchbildung der für die Verwaltungsgemeinschaft
maſsgebenden Rechtssätze ganz wesentlich zurückgeblieben. Ins-
besondere ist es trotz wiederholter Bemühungen der Vertreter des
Deutschen Reichs nicht gelungen, zu dem Einheitstarif für den
europäischen Verkehr zu gelangen. Eine Hauptschwierigkeit bieten
in dieser Beziehung die unterseeischen Telegraphenkabel. Auch
auf der letzten (achten) Konferenz zu Pest 1896 wurde die Beschluſs-
fassung über den deutschen Vorschlag aus fiskalischen Rücksichten
vertagt.
IV.
Gerade die Telegraphenkabel haben aber wegen der Kostspielig-
keit ihrer Anlage und Unterhaltung, sowie wegen ihrer Wichtigkeit
für den internationalen Verkehr den Anlaſs zu einer andern, für die
Entwicklung des Völkerrechts sehr wichtigen Vereinbarung gegeben,
die schon 1869 von den Vereinigten Staaten und wiederholt 1878
und 1879 durch das Institut für Völkerrecht angeregt worden war.
Am 14. März 1884 wurde zu Paris der „internationale Vertrag
zum Schutze der unterseeischen Telegraphenkabel“ geschlossen; an ihn
reiht sich ein Zusatzartikel vom selben Tag, sowie eine Deklaration vom
1. Dezember 1886, beziehungsweise 23. März 1887 (R. G. Bl. 1888 S. 151).
[165]§ 30. Post- und Telegraphenbetrieb.
Der Vertrag war ursprünglich abgeschlossen von Deutsch-
land, Argentinien, Österreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Costa-Rica,
Dänemark, St. Domingo, Spanien, den Vereinigten Staaten, Kolum-
bien, Frankreich, Groſsbritannien, Guatemala, Griechenland, Italien,
Türkei, den Niederlanden, Luxemburg, Persien, Portugal, Rumänien,
Ruſsland, Salvador, Serbien, Schweden-Norwegen, Uruguay. Doch
haben Kolumbien und Persien den Vertrag nicht ratifiziert. Da-
gegen ist England auch für seine Kolonieen und Besitzungen Kanada,
Neufundland, Cap, Natal, Neusüdwales, Tasmanien, Westaustralien,
Neuseeland, Süd-Australien, Viktoria und Queensland beigetreten;
auch Japan und Tunis haben ihren Beitritt erklärt.
Vgl. Landois, Zur Lehre vom völkerrechtlichen Schutz der submarinen
Telegraphenkabel. Greifswalder Diss. 1894.
Hickhefel, Die Eigentumsaufgabe auf Grund des internationalen Ver-
trages vom 14. März 1884 u. s. w. Greifswalder Diss. 1898.
Renault, R. J. XII 255, XV 17, 619.
1. Der Vertrag, der am 1. Mai 1888 in Kraft getreten ist, be-
zieht sich auf alle unterseeischen Telegraphenkabel, die, rechtmäſsig
angelegt, auf den Staatsgebieten, Kolonieen oder Besitzungen eines
oder mehrerer vertragschlieſsenden Teile landen.
Er findet nur Anwendung auſserhalb der Küstengewässer,
da innerhalb dieser die Staatsgewalt des Uferstaates die zum Schutz
geeigneten Maſsregeln zu ergreifen berechtigt ist; und er gilt ferner
nur in Friedenszeiten, während im Krieg die Freiheit der Krieg-
führenden durch den Vertrag in keiner Weise beeinträchtigt wird
(Artikel 15). Sie behalten daher das ihnen nach allgemeinen Grund-
sätzen zustehende Recht zur Zerstörung der auf dem Kriegsschau-
platz (mit Einschluſs der hohen See) gelegenen Kabel, soweit die
Zerstörung (mögen die Kabel auch zwei neutrale Staaten miteinander
verbinden) durch den Kriegszweck geboten ist (unten § 40 ff.).
2. Der Vertrag verbietet jede Störung des Betriebs durch Be-
schädigung oder Zerreiſsung der Kabel. Jede vorsätzliche oder fahr-
lässige Zuwiderhandlung ist strafbar und ersatzpflichtig, soweit nicht
Notstand des Thäters vorliegt.
Alle Fahrzeuge haben sich von den Schiffen, welche mit
der Legung oder der Wiederherstellung eines Kabels beschäftigt
[166]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
sind, sowie von den zur Kennzeichnung der Kabel dienenden Bojen
entfernt zu halten.
3. Zur Feststellung der Zuwiderhandlungen können die Kriegs-
schiffe oder andere dazu ermächtigte Schiffe eines der Vertragsstaaten
jedes verdächtige Schiff anhalten, den urkundlichen Nachweis der
Nationalität des angehaltenen Schiffes verlangen und über ihre Amts-
handlungen ein Protokoll aufnehmen.
Die Aburteilung der Schuldigen erfolgt nach den Gesetzen
und durch die Gerichte des Staates, dem das schuldige Schiff seiner
Flagge nach angehört. Die Verfolgung aber ist im Namen des
Staates oder durch den Staat zu betreiben.
4. Die vertragschlieſsenden Staaten verpflichten sich, diejenigen
Gesetze und Verordnungen zu erlassen, welche zur Durchführung dieser
Bestimmungen notwendig sind.
Dieser Verpflichtung hat das Deutsche Reich Genüge ge-
leistet durch das deutsche Ausführungsgesetz vom 21. November
1887 (R. G. Bl. 1888 S. 169) und das Gesetz, betreffend die Ab-
änderungen von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs vom 13. Mai
1891 (R. G. Bl. 1891 S. 107).
Die auſserdeutschen Ausführungsgesetze sind abgedruckt N. R. G. 2. Ser.
XI 290, XV 71.
V.
Anlage und Betrieb der Fernsprechanstalten ist bisher nur ver-
einzelt Gegenstand von Staatsverträgen gewesen; als Beispiele mögen
dienen: der zwischen Frankreich und der Schweiz über die Corre-
spondence téléphonique zu Paris abgeschlossene Vertrag vom 21. Juli
1892, in dem insbesondere auch die Einheit der Gesprächsdauer, so-
wie der Gebühren festgesetzt worden ist; ferner die Verträge zwischen
Belgien und den Niederlanden vom 11. April 1895 und zwischen
dem Deutschen Reich und Belgien vom 28. August 1895.
N. R. G. 2. Ser. XXI 45, XIII 28, 146.
§ 31. Münz-, Maſs- und Gewichtswesen.
I.
Während die Bemühungen, zu internationalen Vereinbarungen
der Kulturstaaten über das Münzwesen zu gelangen (Konferenzen
zu Paris 1867, 1878, 1881), bisher schon wegen der Meinungs-
[167]§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
verschiedenheit über die festzuhaltende oder einzuführende Währung
keinen Erfolg gehabt haben, sind zwischen kleineren Staatengruppen
Münzunionen zu stande gekommen, die freilich insbesondere infolge
der Entwertung des Silbers sich keines besonderen Aufblühens zu
erfreuen hatten. Zu erwähnen sind:
1. Die lateinische Münzunion.
Sie wurde am 23. Dezember 1865 zwischen Frankreich, Bel-
gien, Italien und der Schweiz unter Annahme des festen Wert-
verhältnisses von Gold und Silber gleich 1 : 15½, gegründet, 1868
durch den Beitritt von Griechenland verstärkt, später wiederholt
erneuert (so schon 1878 und später am 6. November 1885 und
15. November 1893 mit mannigfachen Änderungen).
2. Der skandinavische Münzverband.
Er wurde am 27. Mai 1873 zwischen Dänemark, Schweden
und Norwegen geschlossen.
II. Zu dem Zweck, die internationale Durchführung und die Ver-
vollkommnung des metrischen Systems zu sichern, haben am 20. Mai
1875 17 Staaten zu Paris eine internationale Meterkonvention (Conven-
tion internationale du mètre) (R. G. Bl. 1876 S. 191) geschlossen.
Die Konvention wurde unterzeichnet von Deutschland, Öster-
reich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Argentinien, Dänemark, Spanien,
den Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien, Peru, Portugal, Ruſs-
land, Schweden-Norwegen, der Schweiz, der Türkei und Venezuela.
Ihr sind seither beigetreten Groſsbritannien, Serbien, Rumänien,
Japan und Mexiko. Über die Organisation und die Arbeiten dieser
völkerrechtlichen Verwaltungsgemeinschaft ist bereits oben § 17 II
gesprochen worden.
III.
§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
Lammasch in H. H. III 343.
I.
Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechtes pflegen die einzelnen
Staaten durchaus selbständig vorzugehen und auch vertragsmäſsige
Bindung der Autonomie zu vermeiden. Allgemein anerkannt ist nur
[168]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
die Befreiung der exterritorialen Personen von der Staatsgewalt (auch
von der Finanzhoheit) des Aufenthaltsstaates (oben §§ 8 IV, 12 II, 14 IV,
15 III).
Im übrigen bestimmt sich Verfassung und Verwaltung eines
jeden Staates nach seiner nationalen Gesetzgebung. Das gilt ins-
besondere von den Rechtsregeln über Erwerb und Verlust der
Staatsangehörigkeit (oben § 11 I). Die Vereinbarungen über die
Einsetzung gemischter Gerichtshöfe (oben § 18), über die Finanz-
kontrolle (oben § 16 IV), sowie über die konsularische Gerichtsbar-
keit (oben § 15 IV) sind bereits besprochen worden.
Über die „Ansätze einer internationalen Rechtshilfe in der Bevölkerungs-
kontrolle“ (insbesondere Vertrag zwischen Belgien und der Schweiz
vom 14. Dezember 1889) vgl. die Greifswalder Diss. von Weiſsen-
born. 1898.
II.
Wesentlich anders steht es auf dem Gebiet des Privatrechtes
und des Civilprozesses mit Einschluſs der Rechtshilfe.
Hier ist zunächst der allgemeine Satz in Erinnerung zu rufen,
daſs auch abgesehen von besonderen Vereinbarungen der Ausländer
grundsätzlich in allen privatrechtlichen Beziehungen dem Inländer
gleichsteht (oben § 25 I). Wir finden ferner eine groſse Anzahl von
Verträgen zwischen einzelnen Staaten, durch welche die Durchfüh-
rung dieses Grundsatzes gesichert wird.
So zahlreiche (auch vom Deutschen Reich mit den verschie-
densten Ländern) geschlossene Verträge über Gleichstellung der
Ausländer mit den Inländern in Beziehung auf das litterarische
und gewerbliche Eigentum; über die Anerkennung der Rechts-
und Prozeſsfähigkeit ausländischer Vereine und Gesellschaften (vgl.
dazu Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1897); Rechts-
hilfeverträge aller Art; Verträge über die Befreiung des auslän-
dischen Klägers von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für
die Prozeſskosten; über die Bewilligung des Armenrechtes an den
ausländischen Kläger u. s. w.
Es sind weiter zwischen einzelnen Staaten zahlreiche Verträge
über die Grundsätze des internationalen Privatrechtes, also über die
Beseitigung der Statutenkollision auf privatrechtlichem Gebiet, ge-
schlossen worden.
[169]§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
Zu erwähnen sind insbesondere der sehr ausführliche Ver-
trag Frankreichs mit der Schweiz vom 15. Juni 1869 und die Verträge,
die infolge des 1888/89 zu Montevideo abgehaltenen Kongresses
zwischen den südamerikanischen Staaten geschlossen worden sind.
Vgl. Pradier-Fodéré, R. J. XXI 217.
Auch für Preuſsen ist aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
eine Reihe solcher Verträge zu erwähnen. Geringere Bedeutung da-
gegen haben die vom Deutschen Reich geschlossenen Einzelverträge.
Sie beschränken sich meist auf die Bestimmung, daſs die Gültig-
keit einer Ehe nach den Gesetzen desjenigen Staates beurteilt
werden soll, auf dessen Gebiet sie geschlossen ist. Daneben wird
auch wohl vereinbart, nach welchem Gesetz die Erbfolge und die
Entscheidung von Nachlaſsstreitigkeiten sich richten soll, wenn ein
Angehöriger des einen Staates in dem Gebiet des andern Staates
gestorben ist. Für die Erbfolge in unbewegliches Gut ist die aus-
schlieſsliche Anwendung der Gesetze desjenigen Staates anerkannt,
in welchem jenes gelegen ist. Vgl. deutsch-russische Konvention vom
12. November/31. Oktober 1874 (R. G. Bl. 1875 S. 136) Artikel 10.
Es ist aber auch, und das ist für unsere Betrachtung das Wich-
tigste, durch Kollektivvereinbarungen zwischen gröſseren Staatengruppen
eine stattliche Reihe von gemeinsamen Rechtssätzen des Privatrechts,
des Civilprozesses und der Rechtshilfe im privatrechtlichen Streitver-
fahren zur allseitigen Anerkennung gelangt.
1. Die Pariser Konvention zum Schutze des gewerblichen Eigen-
tums vom 20. März 1883 (N. R. G. 2. Ser. X 133) hat einen Staatenver-
band begründet, dessen Mitglieder den Angehörigen eines jeden Ver-
bandsstaates dieselben Rechte in Beziehung auf das gewerbliche Eigen-
tum zu gewähren sich verpflichten, wie ihren eigenen Staatsangehörigen.
Jeder Erfinder kann in jedem Verbandsstaate die Erteilung
des Patents verlangen; die in dem Ursprungsland eingetragene
Fabrikmarke genieſst den Rechtsschutz in jedem Verbandsstaat; und
dasselbe gilt von der Handelsfirma.
Der Vertrag wird ergänzt durch die Ausführungsverordnung
vom 11. Mai 1885 und durch die Madrider Vereinbarung vom
14. und 15. April 1891 (N. R. G. 2. Ser. XXII 208).
[170]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Signatarmächte sind: Belgien, Brasilien, Spanien, Frankreich,
Guatemala, Italien, die Niederlande, Portugal, Salvador, Serbien
und die Schweiz. Später sind Ecuador, Groſsbritannien, Schweden-
Norwegen und Tunis beigetreten.
Vgl. Lyon-Caen, R. J. XIV 191, XV 272.
Das Deutsche Reich hat sich bisher der Konvention nicht an-
geschlossen. Es hat sich damit begnügt, durch zahlreiche Einzel-
verträge mit andern Staaten einen gegenseitigen Schutz der Waren-
zeichen und -Marken, der Geschmacks- und Gebrauchsmuster, der
Modelle und Erfinderpatente zu vereinbaren.
Nach einer Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 22. Sep-
tember 1894 (R. G. Bl. 1894 S. 521) genieſsen deutsche Warenbezeich-
nungen denselben Schutz wie die inländischen in Belgien, Brasilien,
Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Groſsbritannien,
Italien, Luxemburg, Niederlanden, Österreich-Ungarn, Rumänien,
Ruſsland, Schweden-Norwegen, Schweiz, Serbien, Venezuela und
den Vereinigten Staaten.
2. Eine wesentlich gröſsere Beteiligung als die eben erwähnte
Pariser Konvention hat die sogenannte Berner Konvention von allem
Anfang an gefunden; d. h. die durch wiederholte Kongresse seit 1858
vorbereitete, insbesondere durch die Bemühungen der Association litté-
raire internationale (seit 1878) geförderte Übereinkunft, betreffend die
Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der
Litteratur und Kunst vom 9. September 1886 (R. G. Bl. 1887 S. 493).
Hier finden wir das Deutsche Reich unter den Gründern des
Verbandes. Die Konvention ist ferner unterzeichnet von Belgien,
Spanien, Frankreich, Groſsbritannien mit allen seinen Kolonieen,
Haïti, Italien, Liberia, der Schweiz, Tunis; später sind Luxemburg,
Montenegro und Norwegen beigetreten.
Die vertragschlieſsenden Länder bilden einen Verband zum
Schutze des Urheberrechts an Werken der Litteratur und Kunst
(Artikel 1); die Verbandsländer gewähren den Urhebern, welche einem
Verbandslande angehören, denselben Schutz wie ihren eigenen An-
gehörigen (Artikel 2). Das Gleiche gilt von den Verlegern solcher
Werke, die in einem Verbandslande veröffentlicht sind und deren
[171]§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
Urheber einem Nichtverbandsland angehört (Artikel 3). Weitere
Bestimmungen betreffen das Recht der Übersetzung, der Verwer-
tung von Auszügen, die öffentliche Aufführung dramatischer oder
dramatisch-musikalischer Werke, die indirekte Aneignung durch
sogenannte „Adaption, musikalische Arrangements u. s. w.“ Weiter-
gehende Abmachungen zwischen einzelnen Ländern bleiben (nach
dem Zusatzartikel vom 9. September 1886) in Kraft und können
(nach Artikel 15 des Vertrages) auch in Zukunft getroffen werden.
Den am Abschluſs nicht beteiligten Mächten wird der Beitritt offen
gehalten. Artikel 17 stellt die Abhaltung weiterer Konferenzen zur
Entwicklung des Verbandes in Aussicht.
Die zu diesem Zweck 1896 in Paris zusammengetretene
Konferenz hat jedoch nur ein sehr bescheidenes Ergebnis gehabt.
Eine Zusatzakte vom 4. Mai 1896 (unterzeichnet von Deutschland,
Belgien, Spanien, Frankreich, Groſsbritannien, Italien, Luxemburg,
Monaco, Montenegro, der Schweiz und Tunis (R. G. Bl. 1897
S. 759) hat einige Artikel der Übereinkunft von 1886 unwesent-
lich abgeändert. Hervorzuheben wäre allerdings die jetzige
Fassung des Artikels 5, nach welchem die Urheber oder ihre
Rechtsnachfolger das Übersetzungsrecht während der ganzen Dauer
ihres Rechts am Original haben, es jedoch verlieren, wenn sie
nicht innerhalb 10 Jahren von der ersten Veröffentlichung an ge-
rechnet in einem Verbandslande eine Übersetzung in der Sprache,
für welche der Schutz in Anspruch genommen wird, veröffentlicht
haben oder haben veröffentlichen lassen. Ferner wurde gleichzeitig
eine Deklaration von Deutschland, Belgien, Spanien, Frankreich
Italien, Luxemburg, Monaco, Montenegro, Norwegen, der Schweiz
und Tunis unterzeichnet, durch welche gewisse Artikel des Berner
Übereinkommens und der Pariser Zusatzakte erläutert werden (R. G. Bl.
1897 S. 769). Haïti ist dem Zusatzübereinkommen am 17. Januar
1898 beigetreten.
Über die internationalen Ämter, die durch die beiden Über-
einkommen von Paris und Bern ins Leben gerufen worden sind,
oben § 17 II.
[172]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Vgl. Orelli, R. J. XVI 533.
Derselbe, Der internationale Schutz des Urheberrechts. 1887.
Dubois, R. J. XXIX 577.
Fuld, B. Z. VII 419.
Soldan, L’Union internationale pour la protection des œuvres littér. et
artist. 1888.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht. 1895.
3. Das internationale Übereinkommen vom 14. November 1890
über den Eisenbahnfrachtverkehr (oben § 29 III) enthält die ersten
Ansätze zu einem internationalen Handelsgesetzbuch nebst den ein-
schlagenden civilprozessualischen Bestimmungen.
Dagegen haben die Bemühungen, zu einer allgemeinen Wechsel-
ordnung, wenigstens für die europäischen Staaten, zu gelangen (Ver-
suche der deutschen Regierung 1878), ebensowenig Erfolg gehabt,
wie die internationalen Verhandlungen über das Handelsrecht, die
1886 zu Antwerpen, 1888 zu Brüssel, 1889 zu Paris zwischen
den Vertretern der Mächte stattgefunden haben.
4. Auf Einladung der niederländischen Regierung hatten in
den Jahren 1893 und 1894 wiederholte Konferenzen von Vertretern
der verschiedenen Staaten stattgefunden, um zur Aufstellung ge-
meinsamer Rechtssätze über eine Reihe von Fragen des internatio-
nalen Privatrechtes zu gelangen. (Die Protokolle sind abgedruckt
R. N. G. 2. Ser. XIX 424 und XXI 113.) Das Ergebnis der Be-
ratungen, die sich auf Ehe, Vormundschaft, Erbfolge, Bankrott
und verschiedene civilprozessualische Fragen erstreckten, war „das
zur gemeinsamen Regelung einiger Fragen des internationalen Privat-
rechtes im Haag am 14. November 1896 abgeschlossene Abkommen“.
Das Abkommen wurde unterzeichnet von Belgien, Spanien,
Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal und
der Schweiz; nachdem Schweden-Norwegen sich diesen Staaten
angeschlossen hatte, sind einige nachträgliche Veränderungen in
einem Zusatzprotokoll vom 22. Mai 1897 niedergelegt worden. Das
Deutsche Reich hat, gleichzeitig mit Österreich-Ungarn, am 9. No-
vember 1897 seinen Beitritt erklärt.
Vgl. R. J. XXV 521, XXVI 349, 367, XXVIII 573.
[173]§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
Das Ergebnis ist, wenn wir den Inhalt des Übereinkommens
mit der Tagesordnung der Verhandlungen vergleichen, mehr als
bescheiden; aber seine grundsätzliche Bedeutung als erster Schritt
auf einem bisher nicht betretenen Wege kann nicht hoch genug an-
geschlagen werden.
Das Übereinkommen betrifft lediglich den Civilprozeſs mit Aus-
schluſs des Strafverfahrens und umfaſst folgende Punkte:
a) Die Zustellung von gerichtlichen oder auſsergerichtlichen
Schriftstücken. Sie erfolgt auf Grund eines an die zuständige Be-
hörde des andern Staates zu richtenden Ersuchens der Beamten
der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte des ersuchenden Staates.
Die Übermittlung erfolgt auf diplomatischem Wege, soweit nicht
der unmittelbare geschäftliche Verkehr zwischen den Behörden der
beiden Staaten zulässig ist (Artikel 1). Die Zustellung darf nur
abgelehnt werden, wenn sie nach der Auffassung des Staates, auf
dessen Gebiet sie erfolgen soll, geeignet erscheint, seine Hoheits-
rechte zu verletzen oder seine Sicherheit zu gefährden (Artikel 2).
Sie hat daher auch dann zu erfolgen, wenn sie dem innern Recht
desjenigen Staates, auf dessen Gebiet sie stattfinden soll, wider-
spricht. Zum Nachweis der Zustellung genügt das beglaubigte
Empfangsbekenntnis des Adressaten oder die Bescheinigung der
ersuchten Behörde (Artikel 3). Soweit nach der Gesetzgebung der
beteiligten Staaten oder den zwischen ihnen bestehenden besonderen
Vereinbarungen ein einfacheres Zustellungsverfahren vorgesehen ist,
soll es dabei sein Bewenden haben (Artikel 4).
b) Das Ersuchen um Rechtshilfe. Entsprechend der bisherigen
Übung der meisten Kulturstaaten wird den Gerichten eines jeden
der Vertragsstaaten das Recht eingeräumt, die zuständige Behörde
eines andern Vertragsstaates um die Vornahme von richterlichen
Handlungen (Beweisaufnahmen, Parteivernehmungen, Eidesabnahmen
u. s. w.) zu ersuchen (Artikel 5). Die Übermittlung der Ersuchungs-
schreiben erfolgt ebenfalls, soweit nicht direkter Geschäftsverkehr
vorgesehen ist, auf diplomatischem Wege (Artikel 6, Absatz 1).
Ists da Schreiben nicht in der Sprache der ersuchten Behörde ab-
[174]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
gefaſst, so muſs es, soweit nicht besondere Vereinbarungen be-
stehen, von einer beglaubigten Übersetzung in die zwischen den
beiden Staaten vereinbarte Sprache begleitet sein (Artikel 6, Ab-
satz 2). Die ersuchte Behörde ist verpflichtet, dem Ersuchen zu
entsprechen. Sie kann jedoch das Ersuchen ablehnen, wenn die
Echtheit der Urkunde nicht feststeht, oder wenn in dem ersuchten
Staat die verlangte Handlung nicht in den Bereich der Gerichts-
gewalt fällt. Die Erledigung kann ferner abgelehnt werden, wenn
sie nach der Auffassung des ersuchten Staates geeignet erscheint,
seine Hoheitsrechte zu verletzen oder seine Sicherheit zu gefährden
(Artikel 7). Im Falle der Unzuständigkeit der ersuchten Behörde
hat diese das Ersuchen an die zuständige Behörde weiter zu geben
(Artikel 8). In diesem Falle, sowie dann, wenn das Ersuchen ab-
gelehnt wird, ist die ersuchende Behörde sofort zu verständigen
(Artikel 9). Die ersuchte Behörde hat bei der Ausführung der
verlangten Handlung die Prozeſsgesetze ihres Landes zu beachten.
Auf besondern Wunsch der ersuchenden Behörde können jedoch
auch abweichende Formen des Verfahrens angewendet werden, vor-
ausgesetzt, daſs diese nicht gegen inländische Verbotsgesetze ver-
stoſsen (Artikel 10). (Eine Vereinbarung über die Kosten, die durch
die Erledigung des Ersuchens entstehen, insbesondere in der Richtung
des gegenseitigen Verzichtes auf deren Erstattung, wird angestrebt,
ist aber bisher nicht erzielt worden.)
c) Die Sicherheitsleistung für die Prozeſskosten. Angehörige
der Vertragsstaaten werden, vorausgesetzt daſs sie in einem der
Vertragsstaaten ihren Wohnsitz haben, von der Verpflichtung zur
Sicherheitsleistung für die Prozeſskosten befreit (Artikel 11). Andrer-
seits sind die Entscheidungen, durch welche der befreite Kläger in die
Prozeſskosten verurteilt wird, in jedem der andern Vertragsstaaten
durch die zuständige Behörde nach Maſsgabe ihrer Gesetze für voll-
streckbar zu erklären (Artikel 12). Diese zuständige Behörde hat ihre
Prüfung darauf zu beschränken (Artikel 13): 1. ob nach den Gesetzen
des Landes, in welchem die Verurteilung erfolgt ist, die Ausfertigung
der Entscheidung die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraus-
[175]§ 32. Gesetzgebung und Rechtspflege.
setzungen erfüllt; 2. ob nach diesen Gesetzen die Entscheidung
die Rechtskraft erlangt hat.
d) Das Armenrecht. Die Angehörigen eines jeden Vertrags-
staates werden in allen andern Vertragsstaaten unter ähnlichen ge-
setzlichen Bedingungen und Voraussetzungen zum Armenrecht zu-
gelassen, wie die Angehörigen desjenigen Staates, in dessen Gebiet
die Bewilligung des Armenrechtes nachgesucht wird (Artikel 14—16).
e) Die Personalhaft. Sie findet gegen die einem Vertragsstaat
angehörigen Ausländer nur in denselben Fällen statt, in denen sie
auch gegen Inländer anwendbar sein würde (Artikel 17).
5. Wertvolle Vorarbeiten für weitere Regelungen des inter-
nationalen Privatrechts hat insbesondere das Institut für Völkerrecht
geliefert.
III.
Die freiwillige Gerichtsbarkeit betreffen zahlreiche Verträge
zwischen den verschiedenen einzelnen Staaten.
Sie beziehen sich insbesondere:
- 1. auf die Befugnis der Konsuln, als Standesbeamte, insbe-
sondere auch bei Abschluſs von Ehen, thätig zu sein; - 2. auf die Befugnis der Konsuln, mit öffentlichem Glauben
ausgestattete Urkunden aufzunehmen; - 3. auf die Ausstellung und Beglaubigung, sowie auf die
Beweiskraft von Urkunden; - 4. auf die Befugnis der Konsuln zur Regelung der Ver-
lassenschaft der in ihrem Amtsbezirk gestorbenen Staatsangehörigen
(Versieglung, Inventarisierung, Verwahrung, Verwaltung, Hinter-
legung der Nachlaſsgegenstände; Einberufung der Nachlaſsgläubiger;
Bezahlung der Kosten der letzten Krankheit und der Beerdigung
des Verstorbenen, des Lohnes der Dienstboten, des Mietzinses u. s. w.;
Ausgaben für die Familie des Gestorbenen; Vertretung der Erben,
wozu es einer besonderen Vollmacht nicht bedarf; Ausfolgung des
Nachlasses an die Erben. Ihre Befugnis ist eine ausschlieſsliche, wenn
es sich um den Nachlaſs von Schiffsleuten oder Schiffspassagieren
ihrer Nationalität handelt, mögen diese im Lande oder an Bord
[176]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
von nationalen Schiffen, während der Reise oder im Bestimmungs-
hafen gestorben sein; - 5. auf die Einleitung einer Vormundschaft oder Kuratel.
IV.
Das Strafrecht und das Strafverfahren mit Einschluſs der Rechts-
hilfe hat ebenfalls den Gegenstand vielfacher Abmachungen gebildet.
1. Durch internationales Übereinkommen kann ein Staat ver-
pflichtet werden, gewisse Strafdrohungen in seine nationale Gesetz-
gebung aufzunehmen.
a) Von den zwischen gröſseren Staatengruppen getroffenen Ver-
einbarungen sind zu nennen: die Reblauskonvention (unten § 34 II);
der Kabelschutzvertrag (oben § 30 IV); die Brüssler Antisklaverei-
akte (unten § 36).
b) Zwischen den Grenzstaaten sind Vereinbarungen häufig
über die Verfolgung und Bestrafung der auf dem „Gebiet des
anderen vertragschlieſsenden Teiles“ begangenen strafbaren Hand-
lungen.
Sehr eigenartig ist Artikel IV 6 a. E. des deutschen Handels-
u. s. w. Vertrages mit Korea vom 26. November 1883 (R. G. Bl.
1884 S. 221): „Wer die genannten Grenzen (in dem Umkreis der
geöffneten Häfen und Plätze) ohne Paſs überschreitet, wird mit einer
Geldstrafe bis zu einhundert Dollars bestraft, neben welcher auf
Gefängnis bis zu einem Monat erkannt werden kann.“ Diese völker-
rechtliche Vereinbarung ist bisher ohne staatsrechtliche Verbind-
lichkeit geblieben. Das Gleiche gilt von der in Artikel VI von
Deutschland übernommenen Verpflichtung, den Schleichhandel der
deutschen Staatsangehörigen mit den nichtgeöffneten Häfen und
Plätzen zu bestrafen.
c) In den Handelsverträgen und neben diesen finden sich
vielfach Kartelle zu dem Zwecke der Verhütung und Bestrafung
des Schleichhandels. Vgl. deutsch-österreichischen Handels- und
Zollvertrag vom 6. Dezember 1891 (R. G. Bl. 1892 S. 3), den eben
erwähnten deutschen Vertrag mit Korea, sowie das dem deutsch-
egyptischen Handelsvertrag vom 19. Juli 1892 (R. G. Bl. 1893 S. 17)
angehängte Zollreglement.
[177]§ 33. Der internationale Schutz der Gesundheit.
2. Der wichtigste Fall der Rechtshilfe in Strafsachen ist die
Auslieferung von Personen, die, in einem Staat wegen einer strafbaren
Handlung verfolgt oder verurteilt, in dem Gebiet eines andern Staates
sich aufhalten.
An dieser Stelle kann die wichtige Lehre nur gestreift werden.
Vgl. über alles Weitere v. Liszt, Lehrbuch des Strafrechts
§ 29 der 9. Aufl. (1898) und die dort angeführte Litteratur.
Der Aufenthaltsstaat ist zur Auslieferung nur auf Grund be-
sonderer Vereinbarungen (Auslieferungsverträge), und nur soweit
verpflichtet, als diese reichen. Er ist zur Auslieferung auch ohne
Vertrag berechtigt. Auslieferungsverträge sind zwischen zahlreichen
Staaten in groſser Zahl geschlossen. Dagegen hat der mehrfach
ausgesprochene Gedanke eines Staatenverbandes zum Zwecke der
Verfolgung und Auslieferung flüchtiger Verbrecher bisher keine Ver-
wirklichung gefunden. Besondere Verträge, meist Kartelle genannt,
betreffen die Auslieferung von geflüchteten Wehrpflichtigen, von
ausgetretenen Schiffsmannschaften (regelmäſsig in den Handels- und
Schiffahrtsverträgen vorgesehen), von Landstreichern u. s. w.
IV.
§ 33. Der internationale Schutz der Gesundheit.
I.
Auch hier sind zunächst zahlreiche Einzelverträge, insbesondere
zwischen den Grenzstaaten, zu verzeichnen.
Sie betreffen die gegenseitige Zulassung der in den Grenz-
gemeinden wohnenden Ärzte, Wundärzte, Tierärzte und Hebammen,
die Benutzung der Spitäler, das Verfahren bei Feststellung von
Geisteskrankheiten, die Beförderung von Geisteskranken in ihre
Heimat, das Beerdigungswesen, den Schutz gegen die Verschleppung
ansteckender Krankheiten u. s. w.
Daneben aber finden sich verschiedene Verträge, durch welche
sich ganze Staatengruppen zur gemeinsamen Bekämpfung verheerender
Krankheiten zusammengeschlossen haben.
II.
An erster Stelle ist der seit den 50er Jahren begonnene Kampf
gegen die Cholera zu erwähnen.
v. Liszt, Völkerrecht. 12
[178]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
1. Die auf Napoleons Anregung 1850 zu Paris zusammengetretene
erste internationale Sanitätskonferenz führte zu der Konvention vom
3. Februar 1852.
Diese enthielt Vereinbarungen zwischen den Mittelmeerstaaten,
Groſsbritannien, Ruſsland und Portugal über die Überwachung der
Mittelmeerhäfen und über die Einsetzung des Conseil supérieur de
santé in Konstantinopel, sowie der Intendance sanitaire in Alexan-
drien. Aber die Ratifikation der Mächte blieb aus. Auch die auf
den folgenden Konferenzen (Paris 1859, Konstantinopel 1866, Wien
1874, Washington 1881, Rom 1885) vereinbarten Maſsregeln hatten
keinen durchgreifenden Erfolg. Günstiger entwickelte sich der
durch die Donauschiffahrtsakte vom 28. Mai 1881 eingesetzte Con-
seil international de santé zu Bukarest (oben § 16 III).
2. Neue Bahnen schlug die Konferenz zu Venedig 1892 ein, die
unter der Führung Österreich-Ungarns tagte und zu der Konvention
vom 30. Januar 1892 führte.
Diese ist unterzeichnet von Frankreich, Deutschland, Österreich-
Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Groſsbritannien, Griechenland,
den Niederlanden, Portugal, Ruſsland, Schweden-Norwegen und der
Türkei. Sie beruhte auf den neuen medizinischen Anschauungen über
die Art der Übertragung der Krankheit. Von den früher üblichen
langen Quarantänen (insbesondere an den Landgrenzen der Staaten)
ist keine Rede mehr. Die zur Bekämpfung der Cholera vereinbarten
Maſsregeln betreffen insbesondere Egypten und die Durchfahrt durch
den Suezkanal. Die verdächtigen Schiffe sollen desinfiziert, ver-
seuchte Schiffe sollen zurückgehalten werden. Der Conseil sanitaire
maritime et quarantenaire in Alexandrien (4 Egypter und 14 Euro-
päer) wurde reformiert und internationaler gestaltet.
3. Die Dresdener Übereinkunft vom 15. April 1893 (R. G. Bl.
1894 S. 343) hat den Kampf gegen die Ausbreitung der Cholera in
Europa selbst im Auge.
Sie ist unterzeichnet von Deutschland, Österreich-Ungarn,
Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Montenegro, Ruſsland
und der Schweiz; die Niederlande, Serbien und Liechtenstein sind
später, Rumänien ist erst 1897 beigetreten.
[179]§ 33. Der internationale Schutz der Gesundheit.
Die vereinbarten Maſsregeln, denen sich Groſsbritannien nur
mit weitgehendem Vorbehalt angeschlossen hat, betreffen einerseits
den Verkehr von Reisenden und Waren (Anlage I), andrerseits das
Sanitätswesen an der Donaumündung bei Sulina (Anlage II). Jeder
Vertragsstaat ist verpflichtet, von der Entstehung eines Cholera-
herdes auf seinem Gebiet und von den getroffenen Vorbeugungs-
maſsregeln den andern Staaten Mitteilung zu machen. Die den
Verkehr einengenden Maſsregeln sind auf die verseuchten Gebiete
zu beschränken. Die Gegenstände, welche Träger von Ansteckungs-
stoffen sein können und daher für Einfuhrverbote und für die Des-
infektion in Frage kommen, werden genau bezeichnet (Leibwäsche,
getragene Kleider, gebrauchtes Bettzeug, Hadern und Lumpen); die
Durchfuhr dieser Gegenstände darf nicht untersagt werden, wenn
durch die Verpackung die Gefahr einer Berührung während der
Beförderung ausgeschlossen ist. Eine allgemeine Absperrung der
Landesgrenzen darf nicht stattfinden; nur erkrankte Personen dürfen
zurückgehalten werden. Für den Seeverkehr wird zwischen ver-
seuchten, verdächtigen und reinen Schiffen unterschieden. Nur
die ersteren unterliegen der Quarantäne; die verdächtigen Schiffe
werden desinfiziert, mit frischem Trinkwasser versehen und das
Kielwasser wird ausgeschöpft.
Alle von der Sulinamündung stromaufwärts gehenden Schiffe
sind, solange die Stadt nicht mit gutem Trinkwasser versehen ist,
einer gesundheitspolizeilichen Beaufsichtigung unterworfen. In der
Stadt selbst, sowie an beiden Ufern des Stromes sind Sanitäts-
stationen minderer Ordnung zu errichten, welche die Schiffe zu
überwachen haben und in welche die Kranken zu schaffen sind.
4. Einen wichtigen weiteren Fortschritt brachte die Pariser Kon-
ferenz von 1894. Ihr Ergebnis war die Vereinbarung von Maſsregeln
zur Bekämpfung der Cholera in den Ursprungsländern.
Die Pilgerfahrten von und nach Hidschaz (der arabischen
Provinz, welche die beiden heiligen Städte des Islam, Mekka und
Medina, umschlieſst) werden einer strengen Überwachung unter-
worfen. Insbesondere müssen die Pilgerschiffe bestimmten sani-
12*
[180]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
tären Anforderungen entsprechen. Übertretungen sind mit Geld-
strafen bedroht und werden durch eine besondere Kommission ab-
geurteilt, die aus den Konsuln der verschiedenen Mächte zusammen-
gesetzt und vom diplomatischen Corps in Konstantinopel gewählt
wird (oben § 16 III). Besondere Maſsregeln sind vereinbart für
den Fall des Ausbruchs der Cholera auf einem der Schiffe. Eine
Hauptstation soll auf der Insel Kamaran (im Roten Meer), Sanitäts-
anstalten sollen auf der ganzen Linie der Pilgerfahrt eingerichtet
werden. Im Golf von Persien wird ein geordneter Sanitätsdienst
eingeführt. Die Durchführung dieser Vereinbarung soll durch
einen besonderen Ausschuſs überwacht werden, der aus dem Conseil
supérieur de santé genommen wird und aus drei Vertretern der
Türkei, sowie verschiedenen Vertretern der Vertragsmächte be-
stehen soll.
Vgl. R. G. I 444.
III.
Die Bekämpfung der Pest bildete die Aufgabe der zu Venedig
vereinbarten Konvention vom 19. März 1897.
Sie ist geschlossen zwischen Österreich-Ungarn, Belgien,
Frankreich, Groſsbritannien, Italien, Luxemburg, Montenegro, den
Niederlanden und Ruſsland, mit gewissen Einschränkungen auch
von Deutschland und der Schweiz. Die Vertreter der übrigen
Mächte nahmen die Vereinbarung ad referendum.
Der Ausbruch der Pest in Bombay hatte die österreich-
ungarische Regierung veranlaſst, die Mächte zu gemeinsamen Be-
ratungen einzuladen. Ihr Ergebnis ist das der Konvention einver-
leibte Sanitäts-Reglement, das in vielen Punkten dem Pariser
Reglement von 1894 nachgebildet ist, soweit nicht insbesondere
die längere Inkubationsdauer der Pest (zehn Tage gegenüber fünf
Tagen bei der Cholera) abweichende Bestimmungen notwendig
gemacht hat.
1. Kapitel: Auſserhalb Europas gegen die Pest zu er-
greifende Maſsregeln. 1. Die Regierung des verseuchten Landes
hat den übrigen Regierungen Mitteilung zu machen. Die Ein-
[181]§ 34. Der internationale Schutz des Eigentums.
fuhr gewisser Gegenstände, die aus dem verseuchten Gebiet
stammen, kann untersagt werden. 2. Sanitäre Überwachung der
aus den verseuchten Häfen auslaufenden Schiffe, insbesondere der
Pilgerschiffe. 3. Maſsregeln zur Verhinderung der Einschleppung
der Pest auf dem Land- und Seeweg. Verschiedene Behandlung
der gesunden, der verseuchten und der verdächtigen Schiffe; mildere
Behandlung derjenigen Schiffe, die einen Arzt und einen Trocken-
ofen an Bord haben. Einrichtung und Unterhaltung von Sanitäts-
stationen.
Das 2. Kapitel beschäftigt sich mit der Pest in Europa.
Quarantänen bei dem Verkehr zu Lande sind ausgeschlossen; an
ihre Stelle tritt die ärztliche Überwachung. Dagegen ist die Quaran-
täne nach wie vor innerhalb des Seeverkehrs zugelassen.
Das 3. und 4. Kapitel enthalten Bestimmungen von vorwiegend
technischer Natur (über Vornahme der Desinfektion u. s. w.).
5. Kapitel: Die Durchführung und Überwachung der ver-
einbarten Maſsregeln wird einem besonderen Ausschuſs übertragen,
der aus dem Conseil supérieur de santé in Konstantinopel gewählt
wird und diejenigen Mächte vertreten soll, die den Konventionen von
1892 (Venedig), 1893 (Dresden), 1894 (Paris) und 1897 (Venedig)
beigetreten sind. Die Aburteilung der Übertretungen, die mit Geld-
strafen bedroht sind, ist einem Ausschuſs aus den in Konstantinopel
beglaubigten Konsuln übertragen (oben § 16 III).
Vgl. R. G. IV 780.
V.
§ 34. Der internationale Schutz des Eigentums.
I.
Zur Verhütung der Verbreitung von ansteckenden Tierkrank-
heiten (insbesondere auch der Tollwut der Hunde) sind zahlreiche Ver-
träge zwischen einzelnen Staaten, vorzugsweise zwischen benachbarten
Staaten, geschlossen worden.
II.
Dagegen hat die Gefahr, welche die Reblaus für die Wein-
pflanzungen mit sich brachte, zu einer internationalen Konvention ge-
führt, die am 17. September 1878 geschlossen, am 3. November 1881
[182]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
durch eine neue Vereinbarung ersetzt wurde (R. G. Bl. 1882 S. 125;
deutsches Reichsgesetz vom 3. Juli 1883, R. G. Bl. 1883 S. 149).
Vertragsmächte sind: Deutschland, Österreich-Ungarn, Frank-
reich, Portugal und die Schweiz. Später sind beigetreten: Belgien,
Italien, Luxemburg, die Niederlande, Rumänien, Serbien, Spanien.
Deklaration dazu vom 15. April 1889 (R. G. Bl. 1889 S. 203). Diese
internationale Reblauskonvention (Convention Phylloxérique Inter-
nationale) verpflichtet die Vertragsstaaten, ihre innere Gesetzgebung
zu vervollständigen, um ein gemeinsames und wirksames Vorgehen
gegen die Einschleppung und Verbreitung der Reblaus zu sichern.
Sie enthält ferner Bestimmungen über den Verkehr von Wein,
Trauben u. s. w. Ausgerissene Weinstöcke und trockenes Rebholz
sind von dem internationalen Verkehr ausgeschlossen. Die Ver-
tragsstaaten werden sich alle auf die Bekämpfung der Reblaus be-
züglichen Maſsregeln mitteilen. Die Einsetzung eines internationalen
Bureaus ist nicht vorgesehen.
III.
Der Schutz der Fischerei in den durch das Gebiet mehrerer
Staaten strömenden Flüssen bildet den Inhalt verschiedener Verträge
zwischen den beteiligten Staaten.
Für die deutschen Interessen ist hier von besonderer Wichtig-
keit der zwischen Deutschland (d. h. Preuſsen, Bayern, Württem-
berg, Baden, Hessen, Oldenburg), den Niederlanden und der Schweiz
am 30. Juni 1885 geschlossene Vertrag, betreffend die Regelung
der Lachsfischerei im Stromgebiete des Rheins (R. G. Bl. 1886
S. 192). Er betrifft die Fangarten, die Schonzeit, den Schutz der
natürlichen Laichplätze, den Schutz der künstlichen Lachszucht.
In Artikel IX verpflichten sich die beteiligten Uferstaaten, die
erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu erlassen und deren
Übertretung mit angemessenen Strafen zu bedrohen.
Andere Staatsverträge enthalten Abmachungen über die Küsten-
fischerei, insbesondere über die Gleichstellung der Ausländer mit den
Inländern (oben § 25 I S. 132).
Aber auch die Hochseefischerei ist unter den Schutz internatio-
naler Vereinbarungen gestellt worden.
[183]§ 34. Der internationale Schutz des Eigentums.
1. Hierher gehört der Vertrag, betreffend die polizeiliche Regelung
der Fischerei in der Nordsee auſserhalb der Küstengewässer, geschlossen
im Haag am 6. Mai 1882.
Unterzeichnet haben Deutschland, Belgien, Dänemark, Frank-
reich, Groſsbritannien und die Niederlande; Schweden-Norwegen ist
der Beitritt vorbehalten (R. G. Bl. 1884 S. 25; deutsches Ausführungs-
gesetz vom 30. April 1884, R. G. Bl. 1884 S. 48). Dazu die Erklärung
vom 1. Februar 1889 (R. G. Bl. 1890 S. 5). Der Vertrag findet An-
wendung auf die Nordsee auſserhalb der Küstengewässer (Artikel
1—4). Die Fischerfahrzeuge der vertragschlieſsenden Mächte sind
in das Schiffsregister einzutragen und durch äuſsere Kennzeichen
erkennbar zu machen (Artikel 5—13). Eingehende Bestimmungen
werden getroffen, um Konflikte zwischen den Fischerbooten der
verschiedenen Flaggen zu verhindern (Artikel 14—25). Die Über-
wachung der Fischerei wird durch Kriegsfahrzeuge der vertrag-
schlieſsenden Mächte ausgeübt. Die Fischereikreuzer sind berechtigt,
die durch die Fischerboote begangenen Übertretungen ohne Unter-
schied der Nationalität der Fischer festzustellen. Sie haben zu
diesem Zweck das Recht, das Schiff anzuhalten, zu besuchen und
zu durchsuchen, sowie ein Protokoll aufzunehmen oder in schwierige-
ren Fällen das einer Zuwiderhandlung schuldige Fahrzeug in einen
Hafen der Nation des Fischers abzuführen (Artikel 26—31). Die
Entscheidung liegt stets bei den Gerichten desjenigen Landes,
welchem die Fahrzeuge der Schuldigen angehören (Artikel 36). Die
Verfolgung ist im Namen des Staates oder durch den Staat zu
betreiben (Artikel 34).
2. Um die Robben im Beringmeer vor der Ausrottung zu schützen,
haben zunächst die Vereinigten Staaten und England auf Grund des
Pariser Schiedsspruches vom 15. August 1893 Vereinbarungen über den
Robbenfang auſserhalb der Küstengewässer (die auf drei Seemeilen be-
stimmt werden) miteinander getroffen.
Durch diese wird der Robbenfang zur See in einer 60 See-
meilen um die Pribyloffinseln umfassenden Zone überhaupt aus-
geschlossen. In den übrigen Teilen des Beringmeeres wird die
Anwendung von Feuerwaffen, Netzen und Sprengstoffen untersagt;
[184]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
eine Schonzeit, die vom 1. Mai bis 31. Juli reicht, wird eingeführt;
der Fang darf nur mit Segelbooten betrieben werden; die Fischer-
boote müssen von ihrer Regierung eine besondere Bewilligung zum
Fang von Robben erhalten und eine besondere Flagge führen.
Über die Ergebnisse des Fischzuges sind genaue Eintragungen
in das Schiffsbuch zu machen.
Die Vereinigten Staaten haben auf Grund dieser Vereinbarungen
das Robbenschutzgesetz vom 9. April 1894 erlassen und die 33 See-
mächte eingeladen (1894), den Vereinbarungen beizutreten. Sie haben
dann zunächst mit Ruſsland am 4. Mai 1894 sich über einen ent-
sprechenden modus vivendi geeinigt; Italien ist durch Deklaration
vom 23. Oktober 1894 den englisch-amerikanischen Abmachungen
beigetreten und endlich haben die Vereinigten Staaten mit Ruſsland
und Japan am 7. November 1897 auf derselben Grundlage einen Ver-
trag über die Regelung des Robbenfangs im Beringmeer geschlossen.
Vgl. Barclay, R. J. XXV 417.
Engelhardt, R. J. XXVI 386; R. G. V 193.
E. Löning, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband II
667.
Die Aktenstücke sind abgedruckt in N. R. G. 2. Ser. XVIII 587, XXI 493,
XXII 557, 564, 624.
IV. Die im Jahre 1895 zwischen den Vertretern der meisten euro-
päischen Regierungen vereinbarte Vogelschutzkonvention unterliegt noch
gegenwärtig den Beratungen der beteiligten Mächte.
VI.
§ 35. Der internationale Schutz ideeller Interessen.
I. Der Schutz religiöser Interessen.
1. Im Verhältnis der christlichen Staaten zu einander ist die
Freiheit der Religionsübung seit dem Westphälischen Frieden auch
ohne besondere Vereinbarung als zugestanden anzunehmen (oben
§ 25 I S. 135).
Nach diesem Grundsatz haben die Angehörigen eines jeden
Mitgliedes der Völkerrechtsgemeinschaft das Recht, ihre Religion,
soweit diese in ihrem Heimatstaat anerkannt ist, in jedem
[185]§ 35. Der internationale Schutz ideeller Interessen.
andern Staat der Völkerrechtsgemeinschaft auszuüben. Sie dürfen
nicht etwa wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer solchen Religion
oder Konfession ungünstiger als Andersgläubige behandelt werden.
In den Verträgen mit den süd- und mittelamerikanischen Staaten
wird aber die Religionsfreiheit in dem eben umschriebenen Sinne
vielfach noch ausdrücklich vereinbart (oben S. 136). Selbstverständ-
lich ist es dagegen, daſs im Verhältnis zu den nichtchristlichen
Staaten die Freiheit der Religionsübung ausdrücklicher und be-
sonderer Vereinbarung bedarf.
2. Über die Wahrung der Interessen der eigenen Staatsangehörigen
hinausgehend, hat der Berliner Kongreſs von 1878 die Balkanstaaten
verpflichtet, die Gleichheit der Religionsbekenntnisse in Gesetzgebung
und Verwaltung ausnahmslos durchzuführen.
So bestimmt Artikel 5 bezüglich Bulgariens: „Der Unterschied
des religiösen Glaubens und der Bekenntnisse darf Niemandem gegen-
über geltend gemacht werden als ein Grund der Ausschlieſsung
oder der Unfähigkeit bezüglich des Genusses der bürgerlichen
und politischen Rechte, der Zulassung zu öffentlichen Diensten,
Ämtern und Ehren oder der Ausübung der verschiedenen Berufs-
und Gewerbszweige, an welchem Orte es auch sei.“ — „Die Freiheit
und die öffentliche Ausübung aller Kulte werden allen Angehörigen
Bulgariens sowie den Ausländern zugesichert, und es darf weder
der hierarchischen Organisation der verschiedenen Religionsgemein-
schaften noch deren Beziehungen zu ihren geistlichen Oberen ein
Hindernis entgegengestellt werden.“
Ähnliche Bestimmungen finden sich in den Artikeln 27 für
Montenegro, 35 für Serbien, 44 für Rumänien.
3. Dieselbe Verpflichtung wurde, wenn auch in anderer Fassung,
durch den Berliner Kongreſs von 1878 der Türkei auferlegt.
Nach Artikel 62 nehmen die Mächte von dem freiwilligen
Entschluſs der Hohen Pforte Kenntnis, „den Grundsatz der religiösen
Freiheit aufrecht zu erhalten und demselben die weiteste Aus-
dehnung zu geben.“ Die folgenden Artikel enthalten die nähere
Ausführung dieser Grundsätze. Dann fährt der Artikel fort: „Die
in der europäischen oder asiatischen Türkei reisenden Geistlichen,
[186]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Pilger und Mönche aller Nationalitäten sollen die gleichen Rechte,
Vorteile und Privilegien genieſsen.“ — „Das Recht der amt-
lichen Schutzgewährung steht den diplomatischen und konsu-
larischen Vertretern der Mächte in der Türkei sowohl bezüglich
der vorerwähnten Personen als auch der von denselben zu reli-
giösen, Wohlthätigkeits- und anderen Zwecken an den Heiligen
Orten und anderwärts gemachten Anlagen zu.“ — „Die bestehenden
Rechte Frankreichs werden ausdrücklich gewahrt, und man ist ein-
verstanden darüber, daſs kein Eingriff in den gegenwärtigen Zu-
stand an den Heiligen Orten geschehen soll.“ — „Die Mönche des
Berges Athos, aus welchem Lande sie auch immer stammen mögen,
sollen in ihren bisherigen Besitzungen und Vorrechten geschützt
bleiben und, ohne irgend welche Ausnahme, eine vollständige Gleich-
heit der Rechte und Prärogative genieſsen.“
Umgekehrt hat Österreich-Ungarn in dem Vertrag mit der
Türkei vom 21. April 1879 (Artikel 2) allen Bewohnern der besetzten
Provinzen die freie Religionsübung zugesichert.
4. Auch Artikel 6 Absatz 3 der Kongoakte vom 26. Februar
1885 (R. G. Bl. 1885 S. 215) gewährleistet die Religionsfreiheit.
„Gewissensfreiheit und religiöse Duldung werden sowohl den
Eingeborenen wie den Landesangehörigen und Fremden ausdrück-
lich gewährleistet. Die freie und öffentliche Ausübung aller Kulte,
das Recht der Erbauung gottesdienstlicher Gebäude und der Ein-
richtung von Missionen, welcher Art Kultus dieselben angehören
mögen, soll keinerlei Beschränkung noch Hinderung unterliegen.“
5. Durch die Verträge, welche China mit Ruſsland und andern
Staaten geschlossen hat, verpflichtete jener Staat sich, seine christlichen
Unterthanen gleich den Angehörigen aller andern Konfessionen zu be-
schützen, die christlichen Missionen nicht zu stören und ihnen den
Zutritt auch in nichtgeöffnete Teile des Landes zu gestatten.
Damit ist den christlichen Mächten ein wichtiges Interventions-
recht zum Schutze des Christentums in China eingeräumt.
II. Der Schutz sittlicher und humanitärer Interessen.
1. Über die Maſsregeln zur Bekämpfung des Sklavenhandels vgl.
den folgenden Paragraphen.
[187]§ 35. Der internationale Schutz ideeller Interessen.
2. Die Bekämpfung des Mädchenhandels behandeln bisher nur
Verträge zwischen einzelnen Staaten; ein allgemeiner Staatenver-
band fehlt.
Man vgl. das deutsch-niederländische Übereinkommen vom
15. November 1889 (R. G. Bl. 1891 S. 356) zum Schutze verkuppelter
weiblicher Personen und das damit vollständig übereinstimmende
Übereinkommen zwischen dem Deutschen Reich und Belgien vom
4. September 1890 (R. G. Bl. 1891 S. 375).
3. Zur Unterdrückung des Branntweinhandels unter den Nord-
seefischern auf hoher See ist im Haag am 16. November 1887 ein Vertrag
geschlossen worden (R. G. Bl. 1894 S. 427); deutsches Ausführungs-
gesetz vom 4. März 1894 (R. G. Bl. 1894 S. 151).
Dieser von Deutschland, Belgien, Dänemark, Frankreich,
Groſsbritannien und den Niederlanden unterzeichnete, von Frank-
reich aber nicht ratifizierte, von den übrigen Mächten durch das
Ratifikationsprotokoll vom 11. April 1894 (N. G. R. 2. Ser. XXII 562)
in Kraft gesetzte Vertrag lehnt sich teilweise an den Haager Vertrag
von 1882 zur Regelung der Hochseefischerei in der Nordsee (oben
§ 34 III) an. Er hat die fahrenden Branntweinschenken (bumboots
oder coopers) im Auge. Durch den Vertrag wird der Verkauf von
spirituösen Getränken an Personen, welche sich an Bord eines Fischer-
fahrzeuges befinden oder zu einem solchen Fahrzeuge gehören, auf
offener See unbedingt verboten. Dasselbe gilt von dem Verkauf,
wie vom Aus- und Eintausch solcher Getränke (Artikel 2). Zur
Vermeidung einer Umgehung dieser Vorschrift wird auch das Recht,
Mundvorrat und andere Gebrauchsgegenstände an die Fischer zu
verkaufen, von einer besonderen Bewilligung abhängig gemacht,
die derjenige Staat zu erteilen hat, dem das verkaufende Schiff
angehört (Artikel 3). Das Recht der Überwachung steht den Fischerei-
kreuzern der vertragschlieſsenden Mächte in demselben Umfange zu,
in dem es ihnen durch den Haager Vertrag von 1882 eingeräumt
ist. Die Aburteilung erfolgt durch die Gerichte desjenigen Staates,
dem das schuldige Schiff seiner Flagge nach angehört.
Vgl. Guillaume, R. J. XXVI 488.
[188]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Es ist ferner darauf hinzuweisen, daſs durch die Artikel XC—XCIV
der Brüsseler Antisklavereiakte vom 2. Juli 1890 (R. G. Bl. 1892 S. 605)
der Handel mit Spirituosen innerhalb einer genau abgegrenzten Zone
wesentlichen Beschränkungen unterworfen ist.
Artikel XC erwähnt als Grund dieser Bestimmung die gerechte
Besorgnis wegen der moralischen und materiellen Folgen, welche
der Miſsbrauch der Spirituosen bei den eingeborenen Völkerschaften
mit sich bringt. Zunächst wird durch Artikel XCI die Einfuhr wie
auch die Fabrikation dieser Getränke in denjenigen Teilen der
Zone gänzlich verboten, in welchen erweislich, sei es aus religiösen
oder andern Gründen, keine Spirituosen konsumiert werden oder
deren Genuſs sich nicht eingebürgert hat. In den übrigen Teilen der
Zone soll der Verkehr mit Spirituosen durch einen im Vertrag be-
stimmten Einfuhrzoll sowie durch eine diesem entsprechende Fabrika-
tionssteuer eingedämmt werden (Artikel XCII und XCIII). Die
Mächte, deren Besitzungen an die bezeichnete Zone angrenzen, ver-
pflichten sich, die erforderlichen Maſsregeln zu treffen, um zu ver-
hindern, daſs Spirituosen über ihre inländischen Grenzen in das Ge-
biet der Zone eingeführt werden (Artikel XCIV).
4. Noch deutlicher ist das Bestreben, die Eingeborenen der
europäischen „Schutzgebiete“ vor dem Untergang zu schützen, in der
Kongoakte von 1885 zum Ausdruck gebracht.
Artikel 6 Absatz 1 verfügt: „Alle Mächte, welche in den ge-
dachten Gebieten Souveränitätsrechte oder einen Einfluſs ausüben,
verpflichten sich, die Erhaltung der eingeborenen Bevölke-
rung und die Verbesserung ihrer sittlichen und mate-
riellen Lebenslage zu überwachen (und an der Unterdrückung
der Sklaverei und insbesondere des Negerhandels mitzuwirken);
sie werden ohne Unterschied der Nationalität oder des Kultus alle
religiösen, wissenschaftlichen und wohlthätigen Einrichtungen und
Unternehmungen schützen und begünstigen, welche zu jenem Zweck
geschaffen und organisiert sind, oder dahin zielen, die Eingeborenen
zu unterrichten und ihnen die Vorteile der Civilisation verständlich
und wert zu machen.“
[189]§ 35. Der internationale Schutz ideeller Interessen.
Auch Artikel VIII ff. der Brüsseler Antisklavereiakte von 1890, in
welcher der Vertrieb von Feuerwaffen eingeschränkt wird, dient der
„Erhaltung der afrikanischen Völkerschaften, deren Fortbestehen zu
sichern der ausdrückliche Wille der Mächte ist“ (unten § 36).
Vgl. Gattier, R. J. XXVII 263.
5. Zur Regelung des Armenwesens sind verschiedene Verträge
zwischen einzelnen Staaten geschlossen worden.
Hierher gehören die Verträge über die gegenseitige Unter-
stützung hilfsbedürftiger Staatsangehöriger, insbesondere aber hilfs-
bedürftiger Seeleute. Vgl. z. B. deutsch-schweizerischen Nieder-
lassungsvertrag vom 31. Mai 1890 (R. G. Bl. 1890 S. 131) Artikel 11.
Über die Gewährung des Armenrechts im Civilprozeſs oben § 32 II.
6. Dagegen sind die Bemühungen, zu einer internationalen Rege-
lung der Arbeiterschutzgesetzgebung zu gelangen, bisher ohne Erfolg
geblieben.
Die Schweiz, welche durch Rundschreiben vom 15. März 1889
alle europäischen Industriestaaten zu gemeinsamen Beratungen ein-
geladen und von den meisten Staaten Zusagen erhalten hatte, trat
zurück, als der Deutsche Kaiser durch die Erlasse vom 4. Februar
1890 die Sache in die Hand nahm. Die Vertreter von 13 Mächten
tagten in Berlin vom 15. bis 29. März des Jahres 1890 unter
Vorsitz des Staatsministers v. Berlepsch. Aber sie haben nur Gut-
achten und Wünsche formuliert, und die in Aussicht genommene
Erneuerung der Beratungen hat bisher nicht stattgefunden.
Vgl. Rolin-Jaequemyns, R. S. XXII 1.
7. Auch eine internationale Vereinbarung zum Schutze der (über-
seeischen wie kontinentalen) Auswanderung ist bisher nicht zu stande
gekommen.
Wertvolle Vorarbeiten in den Verhandlungen des Instituts für Völker-
recht von 1897.
III. Der Schutz wissenschaftlicher Interessen.
1. Von den verschiedenen Einzelverträgen verdient Beachtung
der von Deutschland und Griechenland am 13./25. April 1874 ge-
schlossene Vertrag über die Ausführung von archäologischen Aus-
grabungen auf dem Boden des alten Olympia (R. G. Bl. 1875 S. 241).
[190]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Es wäre dann noch als Beispiel für die mit halbcivilisierten
Staaten getroffenen Vereinbarungen hinzuweisen auf Artikel 9 des
Vertrages zwischen dem Deutschen Zollverein (und andern deutschen
Staaten) und China vom 2. September 1861 (preuſsische Gesetzsamm-
lung 1863 S. 265): „Es soll den Unterthanen der kontrahierenden
Deutschen Staaten gestattet sein, ..... von Chinesen die Sprache oder
Dialekte des Landes zu lernen, oder sie in fremden Sprachen zu
unterrichten. Dem Verkaufe von Deutschen und dem Ankaufe von
Chinesischen Büchern soll kein Hindernis in den Weg gelegt werden.“
2. Nach Artikel 6 Absatz 2 der Kongoakte von 1885 bilden
(christliche Missionare) „Gelehrte, Forscher, sowie ihr Gefolge, ihre
Habe und ihre Sammlungen .... den Gegenstand eines besonderen
Schutzes.“
3. Die Internationale Gesellschaft für Erdmessung
von 1864 und der Staatenverband zur Veröffentlichung
der Zolltarife von 1890 wurde bereits oben § 17 II erwähnt.
An dem letzterwähnten Verbande sind beteiligt: Argentinien,
Österreich-Ungarn, Belgien, der Kongostaat, Chile, Costa Rica, Däne-
mark, Spanien, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Groſsbritannien,
Griechenland, Guatemala, Haïti, Hawai, Italien, Mexiko, Nicaragua,
Paraguay, Niederlande, Peru, Portugal, Rumänien, Ruſsland, Salva-
dor, Serbien, Siam, Schweiz, Türkei, Uruguay, Venezuela.
Dagegen ist der Gedanke eines Verbandes zur Veröffent-
lichung sämtlicher Staatsverträge (Union internationale
pour la publication des traités), den Franz v. Holtzendorff
bereits 1875 angeregt hatte und der seither wiederholt von dem In-
stitut für Völkerrecht behandelt worden ist, bisher seiner Verwirk-
lichung nicht näher gerückt, obwohl die Schweiz 1894 und ins-
besondere Belgien 1895 die Regierungen auf Grund eines aus-
gearbeiteten Planes zum Beitritt aufgefordert hatten; von gröſseren
Staaten hat bisher nur Italien seine Zustimmung erklärt.
Vgl. R. G. I 135 (Rostworowsky), II 221, III 587; R. J. XXVII 495.
Die Verhandlungen der Berner Konferenz von 1894 siehe N. R. G. 2. Ser.
XXI 460.
[191]§ 36. Fortsetzung. Insbesondere d. Bekämpfung d. Sklavenhandels.
§ 36. Fortsetzung. Insbesondere die Bekämpfung
des Sklavenhandels.
Vgl. v. Liszt, Lehrbuch des Strafrechts. 8. Aufl. § 98 III und § 101 IV,
sowie die dort angeführte Litteratur.
Auſserdem E. Löning im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Er-
gänzungsband II 679.
I.
Die Maſsregeln zur Unterdrückung des Sklavenhandels gewinnen
völkerrechtliche Bedeutung erst mit dem Augenblick, in welchem die
Staaten zu seiner gemeinsamen Bekämpfung sich zusammenschlieſsen.
Nur diese internationalen Vereinbarungen, nicht die Bestim-
mungen der nationalen Gesetzgebung sind an dieser Stelle zur Dar-
stellung zu bringen.
1. Der von den Vereinigten Staaten und von England ausgehen-
den Bewegung folgend, hatte bereits der Wiener Kongreſs durch die
berühmte Erklärung vom 8. Februar 1815 den Handel mit Negersklaven
(die „traite des noirs“; nicht zu verwechseln mit der Rechtseinrichtung
der Sklaverei), der damals besonders von Afrika nach Amerika be-
trieben wurde, als eine Verletzung des europäischen Völkerrechts be-
zeichnet. In dem zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815
wurden weitere Verhandlungen über die Frage vereinbart, die in London
1817 und 1818, sowie auf dem Kongreſs zu Aachen 1818 und Verona
1822 stattfanden, aber ergebnislos verliefen.
England ging daher auf dem von ihm bereits seit 1810 ein-
geschlagenen Wege selbständig weiter vor und schloſs mit einer
Reihe von Staaten Verträge ab, durch welche den Kriegsschiffen
der Vertragsstaaten das Recht zur Durchsuchung verdächtiger Schiffe
gegenseitig eingeräumt wurde.
2. Erst der sogenannte Quintupelvertrag vom 20. Dezember 1841,
zwischen England, Frankreich, Ruſsland, Österreich und Preuſsen ge-
schlossen (von Frankreich jedoch nicht ratifiziert), setzt jenen theore-
tischen Grundsatz des Wiener Kongresses in Wirklichkeit um.
Der Vertrag, dem Belgien 1848, das Deutsche Reich durch
Vertrag mit Groſsbritannien vom 29. März 1879 (R. G. Bl. 1880
S. 100) an Stelle Preuſsens beitraten, beruht (abgesehen von der
Gleichstellung des Sklavenhandels mit dem Seeraub) darauf, daſs
in einer genau umschriebenen „verdächtigen Zone“, die den Atlan-
[192]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
tischen Ozean zwischen Afrika und Amerika (also nicht das Mittel-
meer) sowie den westlichen Teil des Indischen Ozeans umfaſst, den
Kreuzern der Vertragsmächte das Recht der Durchsuchung der des
Sklavenhandels verdächtigen Schiffe eingeräumt wurde.
Auch nach dem Vertrag von 1841 war England unausgesetzt
bemüht, durch Verträge mit andern Staaten die vorhandenen Lücken
auszufüllen. Den Abschluſs fanden diese Bestrebungen zunächst
durch den Vertrag der Vereinigten Staaten mit England vom 7. April
1862, in welchem jene in das von ihnen lange bestrittene gegen-
seitige Durchsuchungsrecht innerhalb einer bestimmten Zone ein-
willigten. Ende der 60er Jahre konnte der Negerhandel nach
Amerika als erloschen betrachtet werden.
3. Mit der friedlichen Aufteilung von Afrika entstand für die
Kulturstaaten die neue Aufgabe, auch dem Sklavenhandel, der von der
Ostküste Afrikas und von Madagaskar aus insbesondere nach Asien
betrieben wurde, sowie den besonders von arabischen Sklavenhändlern
ausgehenden Sklavenjagden im Innern von Afrika entgegenzutreten.
Die erste Vereinbarung der Mächte enthielt die von 16 Staaten unter-
zeichnete Kongoakte von 1885, der auch der neugebildete Kongostaat
sofort beigetreten ist.
Artikel 9 enthält die Erklärung: „Da nach den Grundsätzen
des Völkerrechts, wie solche von den Signatärmächten anerkannt
werden, der Sklavenhandel verboten ist, und die Operationen, welche
zu Lande oder zur See diesem Handel Sklaven zuführen, eben-
falls als verboten anzusehen sind, so erklären die Mächte, welche
in den das konventionelle Kongobecken bildenden Gebieten Sou-
veränitätsrechte oder einen Einfluſs ausüben oder ausüben werden,
daſs diese Gebiete weder als Markt noch als Durchgangsstraſse
für den Handel mit Sklaven, gleichviel welcher Rasse, benutzt
werden sollen. Jede dieser Mächte verpflichtet sich zur Anwen-
dung aller ihr zu Gebote stehenden Mittel, um diesem Handel ein
Ende zu machen und diejenigen, welche ihm obliegen, zu bestrafen.“
4. Um die Maſsregeln zur Durchführung dieses Grundsatzes zu
beraten, trat auf die im Einverständnis mit England von Belgien aus-
gegangene Einladung am 18. November 1889 die Brüsseler Konferenz
[193]§ 36. Fortsetzung. Insbesondere d. Bekämpfung d. Sklavenhandels.
zusammen. Ihr Ergebnis ist in der Generalakte vom 2. Juli 1890 (R. G. Bl.
1892 S. 605) niedergelegt.
Die Brüsseler Antisklavereiakte ist unterzeichnet von Deutsch-
land, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, dem Kongo-
staat, den Vereinigten Staaten, Frankreich, Groſsbritannien, Italien,
den Niederlanden und Luxemburg, Persien, Portugal, Ruſsland,
Schweden-Norwegen, der Türkei und von Zanzibar. Später sind
Liberia und der Oranje-Freistaat (letzterer am 10. Februar 1896)
beigetreten (deutsches Ausführungsgesetz vom 28. Juli 1895, R. G. Bl.
1895 S. 425).
Die Vereinbarung enthält in sieben Kapiteln 100 Artikel.
Das I. Kapitel spricht von den Maſsregeln, welche
in den Gebieten zu treffen sind, in denen der Sklaven-
handel seinen Ursprung hat. Hier handelt es sich darum, die
Sklavenjagden zu verhindern und die dem Sklavenhandel dienenden
Straſsen abzusperren. Zu diesem Zweck sollen im Innern des
Landes feste Stationen angelegt und es sollen auf den Gewässern
Kreuzfahrten unterhalten werden, die in bestimmten Schutzhäfen
ihren Stützpunkt finden. Die Vertragsmächte verpflichten sich, alle
für die Erreichung dieses Zweckes erforderlichen Maſsregeln zu
treffen, insbesondere auch Strafdrohungen gegen den Sklavenraub
zu erlassen. Der Vertrieb der Feuerwaffen innerhalb einer be-
stimmten Zone (die sich vom 20.° nördlicher zu dem 22.° süd-
licher Breite erstreckt) soll überwacht und möglichst verhindert
werden.
Die Bestimmungen des II. Kapitels sollen dem Skla-
venhandel zu Lande entgegentreten. Die von den Sklaven-
händlern benützten Karawanenwege sollen überwacht, die auf dem
Marsch befindlichen Sklavenzüge sollen angehalten und soweit als
dieses gesetzlich zulässig ist, verfolgt werden. Eine besondere
Überwachung soll in den Seehafenplätzen ausgeübt werden.
Das III. Kapitel beschäftigt sich mit dem Sklaven-
handel zur See. In den allgemeinen Bestimmungen wird die
„verdächtige Zone“ abgegrenzt, innerhalb welcher der Sklaven-
v. Liszt, Völkerrecht. 13
[194]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
handel 1890 noch getrieben wurde. Darauf folgen strenge Vor-
schriften über Verleihung des Flaggenrechtes an die einheimischen
Schiffe, über die Musterrollen und die Listen der schwarzen Passa-
giere. Die Kriegsschiffe der Vertragsmächte haben das Recht,
jedes verdächtige Schiff unter 500 Tonnen Gehalt, das sie in der
bezeichneten Zone treffen, anzuhalten und eine Prüfung der Schiffs-
papiere vorzunehmen (oben § 26 III, S. 143: die vérification oder
enquête du pavillon, unrichtig droit de recherche genannt). „Die
Prüfung der Schiffsladung oder die Durchsuchung“ (also die eigent-
liche recherche im technischen Sinne des Wortes) darf jedoch nur
dann stattfinden, wenn der Staat, dem das verdächtige Schiff seiner
Flagge nach angehört, dieses Recht dem Staate des anhaltenden
Kreuzers ausdrücklich eingeräumt hat; eine Einschränkung, die aus
Rücksicht für Frankreich aufgenommen wurde. Bestätigt sich der
Verdacht, so soll das angehaltene Schiff in den nächsten Hafen der-
jenigen Macht geführt werden, der es seiner Flagge nach angehört;
es kann aber auch einem Kreuzer seiner Flagge übergeben werden,
wenn dieser bereit ist, es zu übernehmen. Die Behörde, der das
aufgebrachte Schiff überantwortet worden ist, hat in Gegenwart
eines Offiziers des aufbringenden Schiffes ein Untersuchungsver-
fahren einzuleiten. Wird miſsbräuchliche Flaggenführung festgestellt,
so verbleibt das aufgebrachte Schiff der Verfügung des Aufbringen-
den. Wird dagegen ein Fall des Sklavenhandels nachgewiesen, so
bleibt das Schiff unter Sequestration der untersuchenden Behörde,
während Schiffer und Mannschaft den Gerichtshöfen ihrer Flagge
überwiesen werden. Ein zu Unrecht angehaltenes Schiff hat An-
spruch auf eine (von der Regierung des Kreuzers zu leistende)
Entschädigung. Wird im Verfahren von dem Gerichtshofe das
Schiff endgültig verurteilt, so soll es als gute Prise des aufbringen-
den Kreuzerschiffes erklärt werden.
Kapitel IV handelt von den Ländern, deren Recht
das Bestehen der Haussklaverei gestattet. Diese Mächte
verpflichten sich, soweit sie die Generalakte unterzeichnet haben,
Einfuhr, Durchfuhr, Ausfuhr von afrikanischen Sklaven, sowie den
[195]§ 36. Fortsetzung. Insbesondere d. Bekämpfung d. Sklavenhandels.
Handel mit diesen zu verhindern. Die Signatarmächte erkennen
den hohen Wert des türkischen Gesetzes vom 4./16. Dezember
1889 über die Verhinderung des Sklavenhandels an „und sie halten
sich versichert, daſs wirksame Überwachungsmaſsregeln von den
ottomanischen Behörden werden getroffen werden, besonders an der
Westküste Arabiens und auf den Straſsen, welche diese Küste mit
den übrigen türkischen Gebieten in Asien verbinden.“ Der Schah
von Persien und der Sultan von Zanzibar versprechen ebenfalls,
die geeigneten Vorbeugungsmaſsregeln zu treffen.
In Kapitel V ist die Rede von dem internationalen
maritimen Bureau in Zanzibar und dem Spezialbureau in
Brüssel (oben § 17 II), sowie von dem Schutz der in Frei-
heit gesetzten Sklaven.
Kapitel VI betrifft die bereits besprochene Über-
wachung und Einschränkung des Handels mit Spirituosen
(oben § 35 II).
Ein VII. Kapitel enthält die Schluſsbestimmungen.
Zu erwähnen wäre noch, daſs Frankreich (Gesetz vom 23. De-
zember 1891) die Generalakte nur mit Ausschluſs gewisser Be-
stimmungen ratifiziert hat (Protokoll vom 2. Januar 1892 in N. R. G.
2. Ser. XXII 259). Die ausgeschlossenen Artikel sind die Artikel 21
bis 23, 42 bis 61. Sie beziehen sich auf die verdächtige Zone,
aus welcher der Umkreis von Madagaskar ausgeschieden werden
soll, sowie auf die Mitwirkung eines Offiziers des festnehmenden
Kreuzers bei Feststellung des Sachverhalts.
Vgl. R. J. XXIII 560, XXIV 206.
Die Brüsseler Generalakte ist am 1. Oktober 1892 in Kraft
getreten.
5. Auch seit dem Jahre 1890 haben verschiedene Einzelverträge
die Brüsseler Generalakte ergänzt.
Von besonderer Wichtigkeit ist der Vertrag Groſsbritanniens
mit Egypten vom 21. November 1895 (N. R. G. 2. Ser. XXIII 166).
II.
Der Handel mit chinesischen Kulis, die vielfach mit
Anwendung von List oder Gewalt von Macao nach Westindien und
13*
[196]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
Südamerika gebracht wurden, sowie der Handel mit polynesi-
schen Kontraktarbeiten (Kanaken) nach Queensland, den Fidschi-
und den Gesellschaftsinseln, der in den 60er und 70er Jahren
dieses Jahrhunderts dem afrikanischen Sklavenhandel nicht viel nach-
gegeben haben dürfte, hat zu internationalen Vereinbarungen keinen
Anlaſs gegeben, sondern ist durch die einheimische Gesetzgebung
der beteiligten Länder mit Erfolg bekämpft worden.
Vgl. Sartorius v. Waltershausen, Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften. I. Ergänzungsband S. 265.
VII.
§ 37. Die Regelung gemeinsamer politischer Interessen.
I.
Die Verträge, welche sich auf diese Gruppe gemeinsamer Inter-
essen beziehen, sind im Laufe unseres Jahrhunderts mehr und mehr
hinter den ökonomischen Verträgen zurückgetreten. Dennoch haben
auch gemeinsame politische Interessen ihre Regelung, insbesondere
auf den groſsen Staatenkongressen gefunden, deren an anderer Stelle
gedacht worden ist. Es genügt, an die beiden Kongresse zu Paris
1856 und Berlin 1878 zu erinnern, durch welche wenigstens in groſsen
Umrissen auf Jahre hinaus der Lösung der Orientalischen Frage die
Bahnen vorgezeichnet worden sind. Diese Verträge, durch welche die
stufenweise Befreiung der Balkanstaaten von der türkischen Herrschaft
durchgeführt worden ist, können zugleich auch als Beispiele für eine
der wichtigsten Gruppen der politischen Verträge gelten: die Staats-
gründungsverträge. In diese Gruppe gehört auch die Schluſsakte der
Kongokonferenz von 1885.
II.
Noch viel zahlreicher aber sind die zwischen einzelnen
Staaten geschlossenen einschlagenden Verträge. Ohne auf Voll-
ständigkeit Anspruch zu machen, mag die folgende Übersicht das
weite Gebiet der politischen Staatenverträge veranschaulichen.
1. Verträge über Gründung oder Auflösung von Staaten:
Gründung des Deutschen Reichs durch die vom Norddeutschen
Bund mit den süddeutschen Staaten geschlossenen Verträge; Grün-
dung der groſsen Republik von Central-Amerika (oben § 5 III S. 25);
österreichisch-ungarischer Ausgleich von 1867.
[197]§ 37. Die Regelung gemeinsamer politischer Interessen.
2. Verträge über die Begründung oder Aufhebung einer Schutz-
herrschaft (oben § 6 IV).
3. Verträge über die dauernde Neutralisierung von Staaten oder
Staatsteilen (oben § 6 III und unten § 40 I).
4. Verträge über Gebietsabtretung und Grenzregulierung.
5. Verträge über Kolonialgebiet, insbesondere über die Ab-
grenzung der Interessensphäre (oben § 9 II).
6. Verträge über die Übertragung der Verwaltung überhaupt
oder in einzelnen Beziehungen an einen andern Staat.
Hierher gehören insbesondere die Verträge, durch welche die
Finanzverwaltung einzelner Staaten der Beaufsichtigung und Leitung
durch andere Staaten übertragen wird (oben § 16 IV).
7. Politische Garantieverträge (oben § 22 II).
8. Verträge über Einräumung politischer, insbesondere militä-
rischer positiver oder negativer Servituten (oben § 8 II).
9. Bündnisverträge und Militärkonventionen.
III.
1. Als Beispiel eines Bündnisvertrages mag das
deutsch-österreichische Bündnis vom 7. Oktober 1879 (oben S. 16)
dienen, das am 3. Februar 1888 gleichzeitig vom Deutschen Reichs-
anzeiger, der Wiener Abendpost und dem Pester Lloyd seinem
Wortlaut nach veröffentlicht worden ist.
„In Erwägung, daſs Ihre Majestäten der Deutsche Kaiser …
und der Kaiser von Österreich … es als ihre unabweisliche monar-
chische Pflicht erachten müssen, für die Sicherheit ihrer Reiche
und die Ruhe ihrer Völker unter allen Umständen Sorge zu tragen;
in Erwägung daſs beide Monarchen, ähnlich wie in dem
bestandenen Bundesverhältnis, durch festes Zusammenhalten beider
Reiche im stande sein werden, diese Pflicht leichter und wirk-
samer zu erfüllen;
in Erwägung schlieſslich, daſs ein inniges Zusammengehen
von Deutschland und Österreich-Ungarn niemanden bedrohen kann,
wohl aber geeignet ist den durch die Berliner Stipulationen ge-
schaffenen europäischen Frieden zu konsolidieren,
[198]III. Buch. Die friedl. Regelung u. Verwaltung gemeins. Interessen.
haben Ihre Majestäten ......, indem sie einander feierlich
versprechen, daſs sie ihrem rein defensiven Abkommen eine aggres-
sive Tendenz nach keiner Richtung jemals beilegen wollen, einen
Bund des Friedens und der gegenseitigen Verteidigung zu knüpfen
beschlossen.
Artikel I. Sollte wider Verhoffen und gegen den Wunsch
der beiden Hohen Kontrahenten eines der beiden Reiche von seiten
Ruſslands angegriffen werden, so sind die Hohen Kontrahenten ver-
pflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche bei-
zustehen und demgemäſs den Frieden nur gemeinsam und über-
einstimmend zu schlieſsen.
Artikel II. Würde einer der Hohen kontrahierenden Teile
von einer andern Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich
hiermit der andere Kontrahent, dem Angriff gegen seinen Verbün-
deten nicht nur nicht beizustehen, sondern mindestens eine wohl-
wollend neutrale Haltung gegen den Hohen Mitkontrahenten zu
beachten.
Wenn jedoch in einem solchen Falle die angreifende Macht
von seiten Ruſslands, sei es in Form einer aktiven Kooporation, sei
es durch militärische Maſsnahmen ....... unterstützt werden sollte,
so tritt die in Artikel I dieses Vertrages stipulierte Verpflichtung
des gegenseitigen Beistandes mit voller Heeresmacht auch in diesem
Falle sofort in Kraft und die Kriegführung der beiden Hohen Kon-
trahenten wird auch dann eine gemeinsame bis zum gemeinsamen
Friedensschluſs.
Artikel III. Dieser Vertrag soll in Gemäſsheit seines fried-
lichen Charakters und um jede Miſsdeutung auszuschlieſsen, von
beiden Hohen Kontrahenten geheim gehalten und einer dritten Macht
nur im Einverständnis beider Teile und nach Maſsgabe spezieller
Einigung mitgeteilt werden. Beide Hohe Kontrahenten geben sich
nach der bei der Begegnung von Alexandrowo ausgesprochenen
Gesinnung des Kaisers Alexander der Hoffnung hin, daſs die
Rüstungen Ruſslands sich als bedrohlich für sie in Wirklichkeit nicht
erweisen werden und haben aus diesem Grunde zu einer Mittei-
[199]§ 37. Die Regelung gemeinsamer politischer Interessen.
lung für jetzt keinen Anlaſs. Sollte sich aber diese Hoffnung wider
Erwarten als eine irrtümliche erweisen, so würden die beiden Hohen
Kontrahenten es als eine Pflicht der Loyalität erkennen, den Kaiser
Alexander mindestens vertraulich darüber zu verständigen, daſs sie
einen Angriff auf einen von ihnen als gegen beide gerichtet be-
trachten müſsten.
2. Der Wortlaut der von Italien mit Deutschland und
Österreich getroffenen Vereinbarungen ist bisher nicht amt-
lich veröffentlicht worden. Italien hat sich bereits 1882, ver-
anlaſst durch Frankreichs Vorgehen gegen Tunis, den Centralmächten
angeschlossen. Aber erst im Oktober 1887, nach der Begegnung
zwischen Bismarck und Crispi in Friedrichsruh, wurden bestimmte
Vereinbarungen getroffen. Nach den Mitteilungen der Zeitungen,
die allerdings mit Vorbehalt aufzunehmen sein dürften, handelt es
sich um zwei Verträge. Der erste ist zwischen Italien und
Österreich geschlossen. Er verpflichtet Österreich zu einer „wohl-
wollenden Neutralität“ im Falle eines Krieges zwischen Italien und
Frankreich; Italien zu einer gleichen Haltung im Falle eines Krieges
zwischen Österreich und Ruſsland. Österreich verspricht auſser-
dem, die italienischen Interessen im Mittelmeer mit allen Kräften
zu unterstützen und auf der Balkanhalbinsel nichts ohne vorher-
gegangene Verständigung mit Italien zu unternehmen. Der Ver-
trag zwischen Italien und Deutschland enthält zunächst die
feierliche Erklärung der beiden Vertragschlieſsenden, daſs keiner
von ihnen freiwillig den Frieden brechen wird. Für den Fall, daſs
einer der beiden Mächte von Frankreich angegriffen werden sollte,
werden sich beide mit allen ihren Streitkräften zur Seite stehen.
Wenn aber Frankreich und Ruſsland einen gemeinsamen Angriffs-
krieg gegen Deutschland und Österreich oder auch nur gegen
Deutschland allein unternehmen sollten, würden die gesamten Streit-
kräfte der drei Mächte gemeinsam ins Feld rücken.
Vgl. Rolin-Jaequemyns, R. J. XX 1.
[[200]]
IV. Buch.
Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
§ 38. Die völkerrechtlichen Streitigkeiten und ihre
Erledigung ohne Waffengewalt.
I.
Die friedliche Beilegung der zwischen den Staaten der Völker-
rechtsgemeinschaft ausgebrochenen Streitigkeiten, mag es sich um die
Behauptung eines (thatsächlich oder angeblich) völkerrechtlich be-
gründeten Rechtsanspruches, mag es sich um die Austragung eines
Interessenkonfliktes handeln, kann zunächst erfolgen durch Vereinba-
rung der streitenden Mächte, also durch Vergleich, Anerkennung,
Verzicht.
1. Zur Vorbereitung dieses Ergebnisses werden häufig ge-
mischte Kommissionen (commissions mixtes) aus den Vertretern beider
Staaten mit oder ohne Zuziehung von Sachverständigen zusammen-
gesetzt, deren Vereinbarungen aber noch der Genehmigung durch
die von ihnen vertretene Staatsgewalt bedürfen.
2. Die friedliche Beilegung kann gefördert werden durch die
freundlichen Bemühungen dritter Mächte (intervention amicale; ver-
schieden von der autoritativen Intervention, oben § 7 I S. 36).
Mögen diese von der dritten Macht angeboten oder von beiden
streitenden Teilen oder von einem von ihnen erbeten sein, stets
behalten die streitenden Teile die Entscheidung in der eigenen
Hand; darin liegt der Unterschied dieser freundlichen Bemühungen
von der schiedsrichterlichen Entscheidung. Man pflegt dabei zwischen
den „guten Diensten“ (den „bons offices“) und der eigentlichen
[201]§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.
„Vermittelung“ (médiation) zu unterscheiden; doch kann der
Unterschied nicht streng durchgeführt werden. Am richtigsten ist
es, von Vermittelung nur dann zu sprechen, wenn der dritte Staat
den streitenden Teilen einen förmlichen Vergleichsvorschlag macht.
Vermittler, nicht Schiedsrichter, war der Papst in dem Karolinen-
streit zwischen dem Deutschen Reich und Spanien 1885. Die
endgültige Erledigung erfolgte erst auf Grund dieses Vermittelungs-
vorschlages durch den deutsch-spanischen Vertrag vom 17. De-
zember 1885.
Wiederholt haben die Mächte in den zwischen ihnen ge-
schlossenen Einzelverträgen sich verpflichtet, einander gegen-
seitig ihre guten Dienste zur Beilegung von Streitigkeiten mit
dritten Staaten zu leihen. Vgl. den deutschen Handels- u. s. w.
Vertrag mit Korea vom 26. November 1883 (R. G. Bl. 1884 S. 221)
Artikel I Ziffer 2: „Sollten zwischen Einem der vertragschlieſsenden
Teile und einer dritten Macht Streitigkeiten entstehen, so wird der
andere vertragschlieſsende Teil auf ein diesfallsiges Ersuchen seine
guten Dienste leihen und eine freundschaftliche Erledigung des
Streites herbeizuführen suchen.“
In Artikel 8 des Pariser Vertrags von 1856 hatten sich die
Signatarmächte verpflichtet, bei Streitigkeiten mit der Türkei
die Vermittlung der übrigen, am Streite unbeteiligten Unterzeichner
des Vertrags anzunehmen. Und das 23. Protokoll vom 14. April
1856 sprach den Wunsch aus, daſs die Mächte in allen Streitig-
keiten die guten Dienste eines befreundeten Staates anrufen sollten,
ehe sie das Glück der Waffen versuchten. Nach diesem Vorbild
findet sich mehrfach auch in neueren Kollektivverträgen die
Verpflichtung der Vertragsmächte, ehe sie wegen der zwischen
ihnen ausgebrochenen Streitigkeiten zu den Waffen greifen, die
guten Dienste oder die Vermittelung befreundeter Mächte in An-
spruch zu nehmen. Vgl. insbesondere Artikel 11 und 12 der
Kongoakte vom 26. Februar 1885. Die Vermittelung kann insbe-
sondere auch durch Einberufung eines Staatenkongresses erfolgen
(Deutschland als „ehrlicher Makler“ im Jahre 1878).
[202]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
II.
Die friedliche Beilegung völkerrechtlicher Streitigkeiten kann
auch durch Schiedsspruch geschehen.
Vgl. insbesondere A. Mérignhac, Traité théorique et pratique de l’arbi-
trage. 1895.
1. Die Befugnis der Schiedsrichter ruht in der Mehrzahl der
Fälle auf einem besonderen Schiedsvertrag (compromissum) der betei-
ligten Staaten, durch welche diese sich verpflichten, die Entscheidung
der zwischen ihnen entstandenen Streitigkeit dem Ausspruch der von
ihnen vereinbarten Schiedsrichter zu übertragen.
Solche Schiedsverträge, schon in früherer Zeit nicht selten,
finden sich mit steigender Häufigkeit insbesondere seit dem Beginn
dieses Jahrhunderts. Der bekannteste Schiedsspruch wurde in der
Alabamafrage zwischen England und den Vereinigten Staaten am
14. September 1872 gefällt. Er verurteilte die englische Regierung
zur Zahlung von 15½ Millionen Dollars, weil sie geduldet hatte,
daſs während des amerikanischen Bürgerkrieges Kreuzer der Süd-
staaten in englischen Häfen ausgerüstet wurden (unten § 43 II).
Als letzter wichtigerer Schiedsvertrag ist die Washingtoner Verein-
barung zwischen England und Venezuela vom 2. Februar 1897 zu
erwähnen (v. Martens Vorsitzender des Schiedsgerichts).
2. Daneben aber findet sich in den zwischen einzelnen Staaten
geschlossenen Verträgen verschiedensten Inhalts (insbesondere aber in
den von Italien, Belgien, der Schweiz u. s. w. geschlossenen Handels-
verträgen) die sogenannte kompromissarische Klausel, durch welche die
Vertragschlieſsenden sich verpflichten, alle bei Auslegung und Anwen-
dung des Vertrags sich ergebenden Streitigkeiten einem Schiedsgericht
zur Entscheidung zu übertragen (oben § 28 III).
Das Deutsche Reich hat bisher die Aufnahme einer solchen
Klausel in seine Verträge abgelehnt. Dagegen findet sie sich auch
in einzelnen allgemeinen Verträgen. So im Postvereinsvertrag
seit dem 9. Oktober 1874, in der Brüsseler Antisklavereiakte vom
2. Juli 1890 Artikel LIV und LV, sowie in dem Vertrag über den
Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Oktober 1890 (R. G. Bl. 1892 S. 793)
Artikel 57.
3. Auch allgemeine Schiedsverträge, durch welche die sämt-
lichen zwischen den Vertragschlieſsenden künftig entstehenden Streitig-
keiten (sei es uneingeschränkt, sei es mit Ausnahme derjenigen Streitig-
[203]§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.
keiten, bei welchen die Ehre oder die Unabhängigkeit des Staates in
Frage steht) einem Schiedsgericht überwiesen werden, sind zwischen
einzelnen Staaten, insbesondere Mittel- und Südamerikas geschlossen
worden, ohne aber bisher greifbare Wirkung erzielt zu haben.
Am umfassendsten ist der am 19. April 1890 zu Washington
zwischen den meisten Staaten „der drei Amerika“ geschlossene
Vertrag. Der vielbesprochene englisch-amerikanische Vertrag vom
12. Januar 1897 ist durch den Senat der Vereinigten Staaten am
5. Mai desselben Jahres abgelehnt worden.
4. Die weit zurückreichenden Bemühungen, einen ständigen
Staatengerichtshof für die Erledigung völkerrechtlicher Streitigkeiten
einzurichten, haben durch die Vorschläge, welche von der interparla-
mentarischen Friedenskonferenz zu Brüssel 1895 ausgearbeitet worden
sind, greifbare Gestalt gewonnen.
Der Vorschlag ruht auf dem Gedanken eines Staatenverbandes
(oben § 17 I), durch welchen ein ständiger Schiedsgerichtshof ge-
bildet werden soll, dem die Vertragsstaaten die zwischen ihnen
entstehenden Streitigkeiten zuweisen können, soweit sie es nicht
vorziehen, sie auf anderm Wege zur Erledigung zu bringen. Durch
diese Einschränkung wird die Souveränität der beteiligten Staaten
in vollem Umfang gewahrt und damit das wichtigste der Bedenken
beseitigt, die gegen jeden derartigen Vorschlag geltend gemacht
zu werden pflegen.
Vgl. Descamps, Die Organisation eines internationalen Schiedsgerichtes.
Autorisierte deutsche Übersetzung von A. K. Fried s. a.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1873 bis 1875.
III.
Zu den friedlichen Mitteln der Durchsetzung eines behaupteten
Anspruches wird aber auch unter gewissen Voraussetzungen die An-
wendung nichtkriegerischer Gewalt, als Akt der völkerrechtlichen Selbst-
hilfe gerechnet.
Das Eigentümliche dieser Gewaltmaſsregeln liegt darin, daſs ihre
Anwendung den Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen nicht erzeugt.
1. Hierher gehört zunächst die Retorsion oder Vergeltung. Sie
besteht darin, daſs eine unbillige Maſsregel, die ein Staat gegen einen
andern Staat ergreift, durch eine andere Unbilligkeit erwidert wird;
und ihr Zweck geht dahin, die Beseitigung jener ersten unbilligen
Maſsregel herbeizuführen.
[204]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Der Begriff der „Vergeltung“ schlieſst daher die Anwendung
einer der Billigkeit zuwiderlaufenden Maſsregel, eines jus iniquum
in sich; er schlieſst aber umgekehrt jede Verletzung des Völkerrechts
begrifflich aus. Die Unbilligkeit wird zumeist in einer differenziellen
Behandlung des sich beschwerenden Staates, also darin bestehen,
daſs dieser schlechter behandelt wird als die übrigen Staaten. Als
ein im heutigen Staatenverkehr praktisch besonders wichtiger Fall
der Vergeltung erscheint der sogenannte Zollkrieg. So können
nach § 6 Absatz 1 des Deutschen Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879
(R. G. Bl. 1879 S. 207) „Waren, welche aus Staaten kommen,
welche deutsche Schiffe oder Waren deutscher Herkunft ungünstiger
behandeln, als diejenigen anderer Staaten, ..... mit einem Zu-
schlage bis zu 50 Prozent des Betrages der tarifmäſsigen Eingangs-
abgabe belegt werden.“ Auch der Ausschluſs fremder Staatspapiere
von dem amtlichen Börsenverkehr und die Verschärfung des Paſs-
zwanges haben in den letzten Jahren eine Rolle gespielt.
Die Anwendung der Vergeltung kann durch die nationale
Gesetzgebung an bestimmte Voraussetzungen gebunden sein. So
verfügt Artikel 31 des Einführungsgesetzes zum deutschen Bürger-
lichen Gesetzbuche: „Unter Zustimmung des Bundesrats kann durch
Anordnung des Reichskanzlers bestimmt werden, daſs gegen einen
ausländischen Staat sowie dessen Angehörige und ihre Rechts-
nachfolger ein Vergeltungsrecht zur Anwendung gebracht wird“;
eine Bestimmung, die sich aber nur auf das internationale Privat-
recht bezieht.
Es wird ferner, insbesondere auch in den von dem Deutschen
Reich mit den mittel- und südamerikanischen Staaten geschlossenen
Verträgen, die Anwendung der Vergeltung vielfach ausdrücklich
eingeschränkt.
So bestimmt Artikel XXXVI des deutschen Freundschafts-
u. s. w. Vertrages mit Costa Rica vom 18. Mai 1875 (R. G. Bl. 1877
S. 13): „Im Falle, daſs einer der vertragenden Teile der Meinung
sein sollte, es sei eine der Bestimmungen des gegenwärtigen Ver-
trages zu seinem Nachteile verletzt worden, soll er alsbald eine
[205]§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.
Auseinandersetzung der Thatsachen, mit dem Verlangen der Abhülfe
und mit den nötigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner
Beschwerde versehen, dem andern Teile zugehen lassen, und er
darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermäch-
tigung erteilen oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die
verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich verzögert wurde.“
2. Dagegen besteht die Anwendung von Repressalien in der Er-
widerung einer Rechtsverletzung durch eine andere Rechtsverletzung.
Sie erscheint als eigenmächtige indirekte Durchsetzung eines Rechts-
anspruches. Sie ist völkerrechtlich erlaubt, soweit sie notwendig ist,
um den verletzenden Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen
Pflichten zu zwingen.
Im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange des 18. Jahr-
hunderts wurde regelmäſsig dem verletzten Staatsangehörigen durch
sogenannte Repressalienbriefe (lettres de marques) das Recht
gegeben, soviel Eigentum von Staatsangehörigen des verletzenden
Staates wegzunehmen, daſs sein Anspruch befriedigt war. Nach
heutiger Rechtsanschauung steht die Ergreifung von Repressalien
nur dem berufenen Vertreter der Staatsgewalt des Staates zu, der
als solcher oder in seinen Angehörigen durch das Vorgehen eines
andern Staates (insbesondere durch Rechtsverweigerung oder Rechts-
beugung) verletzt worden ist. Die ergriffenen Maſsregeln können
sich gegen den verletzenden Staat selbst richten (insbesondere Be-
setzung von Gebiet, Beschieſsung von Plätzen u. s. w.). Sie können
aber auch gegen die Person oder gegen das Vermögen der Ange-
hörigen dieses Staates sich wenden, also in der Festnahme von
Menschen (Androlepsie) oder in der Beschlagnahme von Sachen be-
stehen. Als Unterfall der letzteren erscheint auch hier das Embargo
oder die Beschlagnahme von Staatsschiffen oder Handelsschiffen des
verletzenden Staates, die sich in dem Herrschaftsbereich des verletzten
Staates befinden (oben § 24 III S. 129). So hat 1872 die deutsche
Korvette Vineta in Pont-au-Prince zwei haïtische Kriegsfahrzeuge
weggenommen, da Haïti sich rechtswidrig weigerte, eine von
Deutschland verlangte Entschädigung zu zahlen. Mehrfach ist durch
[206]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Staatsverträge einzelner Staaten das Embargo ausgeschlossen oder
beschränkt (oben S. 134). — Über Repressalien im Kriege unten § 40 III.
3. Eine nichtkriegerische Gewaltsmaſsregel ist ferner die fried-
liche Blokade (der blocus pacifique), die seit den ersten Jahrzehnten
dieses Jahrhunderts von den gröſseren Seemächten wiederholt ange-
wendet worden ist, um kleinere Staaten zur Einhaltung ihrer Ver-
pflichtungen anzuhalten.
Besonders die Türkei (zuerst 1827) sowie Griechenland sind
wiederholt von den Groſsmächten blokiert worden. Viel besprochen
wurde die Blokade Formosas durch Frankreich 1885. Ganz eigen-
artig war die Blokierung Kretas 1897. Der Begriff, die Voraus-
setzungen und die Wirkung der friedlichen Blokade sind dieselben
wie die der kriegerischen Blokade (darüber unten § 42 II).
Die Wirkung der Blokade kann aber auch (wie das 1886
bei der Blokierung Griechenlands durch Deutschland, Österreich
Italien, Ruſsland und England der Fall war) darauf beschränkt
werden, daſs nur den Schiffen des blokierten Staates der Seeverkehr
untersagt wird, während er für die Schiffe der neutralen Mächte
frei bleibt. Dann erscheint die Blokade als ein Anwendungsfall
der nichtkriegerischen Intervention.
Die rechtliche Zulässigkeit der Blokade ist in der Litteratur
wiederholt (auch von Blumerincq und Ullmann), aber bisher
ohne Erfolg, bestritten worden.
Vgl. die Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1887.
Godey, La mer côtière 1896.
Falcke, Die Hauptperioden der sogenannten friedlichen Blokade (1827 bis
1850). 1891.
4. Als eine nichtkriegerische Gewaltmaſsregel kann auch die
Intervention dritter Mächte (oben § 7 II) sich darstellen.
Hierher gehört insbesondere die vollständige oder teilweise
Besetzung des Gebiets des im Unrecht befindlichen Staates. Als
Beispiel diene die Okkupation von Kreta durch die Groſsmächte im
Jahre 1897.
IV.
Das äuſserste Mittel zur Durchsetzung eines wirklichen oder
vermeintlichen Anspruches, die ultima ratio zur Erledigung völker-
rechtlicher Streitigkeiten, bleibt auch im heutigen Völkerrecht der Krieg.
[207]§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
Der oft erörterte Gedanke eines ewigen Friedens ist Utopie
geblieben. Aus den zahlreichen Schriften, welche diese Frage be-
handeln, seien hervorgehoben: Abbé de St. Pierre († 1743),
Projet de traité pour rendre la paix perpétuelle entre les souve-
rains chrétiens etc. 1713 (im Jahre des Utrechter Friedens; be-
sprochen von Rousseau 1761). Kant, Zum ewigen Frieden.
Ein philosophischer Entwurf. 1. Aufl. 1795, 2. Aufl. 1796. Dazu
insbesondere Staudinger, Kants Traktat zum ewigen Frieden.
Ein Jubiläumsepilog. In Vaihingers Kantstudien I. Heft 3.
Für die Bestrebungen der heute über die ganze Erde ver-
breiteten Friedensvereine bietet sich eine lohnende Doppelaufgabe:
einerseits die Bildung eines ständigen Staatengerichtshofes mit
fakultativer Kompetenz (oben II 4), andrerseits die Kodifizierung
des Kriegsrechtes. Die folgerichtige Auffassung, daſs der Krieg
ein Rechtsverhältnis darstellt, eine Summe von Rechten und
Pflichten zwischen den Kriegführenden untereinander und zwischen
ihnen und den neutralen Staaten erzeugt, wird mehr als jede
andere von den Friedensvereinen vorgeschlagene Maſsregel dazu
beitragen, die Übel des Krieges auf ein verhältnismäſsig geringes
Maſs zurückzuführen.
§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
Allgemeine Grundsätze.
Guelle, Précis des lois de la guerre sur terre. 1884.
Pillet, Le droit de la guerre. 2 Bde. 1892—1894.
Rettich, Zur Theorie und Geschichte des Rechtes zum Krieg. 1888.
I.
Krieg ist der mit Waffengewalt geführte Kampf zweier oder
mehrerer Staaten.
1. Subjekte des Krieges und der dadurch begründeten Rechts-
verhältnisse können mithin nur souveräne Staaten als die selbständigen
Träger völkerrechtlicher Berechtigungen und Verpflichtungen sein.
Privatpersonen (Kolonialgesellschaften) und Staatsteilen (ent-
fernten, unter selbständiger Verwaltung stehenden Kolonieen) kann
[208]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
das Recht zur selbständigen Kriegführung von ihrem Mutterlande
der Ausübung nach übertragen werden.
Einzelne Staatsbürger, welche die Waffen gegen einen fremden
Staat ergreifen, werden nach Strafrecht und Standrecht, nicht nach
Völkerrecht behandelt (Schill 1809).
Die Auflehnung der Staatsbürger gegen ihre eigene Staats-
gewalt (der Bürgerkrieg) ist nicht Krieg im völkerrechtlichen Sinne
des Wortes und erzeugt daher insbesondere nicht die Rechte und
Pflichten der Neutralität.
Dasselbe gilt von dem Kampfe der Teilstaaten einer Real-
union oder eines Bundesstaates, sei es untereinander, sei es gegen
die Centralgewalt. Dagegen ist Krieg im völkerrechtlichen Sinne
möglich zwischen den Gliedern einer Personalunion oder eines
Staatenbundes.
Die Aufständischen können, wenn sie einen Teil des Staatsge-
bietes thatsächlich besetzt halten und geordnet verwalten, sowie regel-
mäſsige Verbindungen mit den übrigen Staaten zu unterhalten in der
Lage sind, als kriegführende Macht (partie belligérante) anerkannt
werden.
Die Anerkennung bindet nur den anerkennenden Staat; sie
verpflichtet ihn insbesondere zur Neutralität. Sie verpflichtet aber
auch die anerkannte Partei, sich den Rechtsregeln des Völkerrechts
zu unterwerfen. Vorzeitige Anerkennung (wenn deren Voraus-
setzungen noch nicht vorliegen) erscheint als völkerrechtswidrige
Intervention (oben § 7 II).
Féraud-Giraud, R. G. III 277.
2. Halbsouveräne Staaten haben das Kriegsrecht nur auf Grund
besonderer Vereinbarungen mit dem schützenden Staat oder auf Grund
eines besonderen Gewohnheitsrechtes (oben § 6 IV S. 31).
So hat Egypten eine Reihe von selbständigen Kriegen in
Afrika geführt. Bulgarien hat 1885 anerkannt, daſs es das Recht
der Kriegführung nicht habe.
Der Krieg des geschützten Staates gegen den Schutzstaat muſs
dagegen stets als innerer Kampf betrachtet werden, der den nicht be-
teiligten Mächten die Pflicht der Neutralität nicht auferlegt.
[209]§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
Sehr bestritten; vgl. Fauchille, R. G. II 156, Féraud-Giraud, R. G. II 295;
dagegen Brusa, R. G. IV 157, Rivière II 209, Fedozzi, R. J. XXVIII
591, Despagnet, Essai sur le protectorat, 1896, S. 336, 372.
3. Dauernd neutralisierte Staaten haben, vom Notstand abge-
sehen, das Recht der Kriegführung nicht (oben § 6 III S. 29).
Genauer gesprochen: Der von dem neutralisierten Staate
ausgehende Angriff hat alle die Rechtswirkungen, die mit dem Aus-
bruch des Krieges verbunden sind; aber der neutralisierte Staat ver-
letzt eben durch den Beginn der Feindseligkeiten die ihm auferlegte
völkerrechtliche Rechtspflicht. Das Recht des Verteidigungskrieges
dagegen kann ihm nicht bestritten werden.
II. Einteilung des Krieges.
1. Die Unterscheidung von Angriffskriegen und Verteidigungs-
kriegen ist, obwohl unter Umständen für den Einzelfall schwer durch-
zuführen, sowohl für das Staatsrecht, als auch für das Völkerrecht
von Bedeutung.
So ist nach Artikel 11 Absatz 2 der deutschen Reichsverfassung
zur Erklärung des Krieges im Namen des Reiches die Zustimmung
des Bundesrates erforderlich, es sei denn, daſs ein Angriff auf das
Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Und die Bündnisver-
träge zwischen dem Deutschen Reich, Österreich und Italien (oben
§ 37 III) stellen nur den Fall eines Angriffskrieges von auſsen als
den casus foederis für diese reine Defensivallianz auf.
2. Landkrieg und Seekrieg stehen in wichtigen Beziehungen
(Genfer Konvention, Privateigentum) unter durchaus verschiedenen
Rechtsregeln.
Über den Seekrieg vgl. unten § 42.
III.
Die Kriegführung zu Wasser und zu Lande steht unter be-
stimmten Rechtssätzen des Völkerrechts, durch welche sowohl die
Beziehungen der Kriegführenden untereinander, als die Rechte und
Pflichten zwischen den Kriegführenden und den neutralen Mächten
geregelt werden.
Lueder, H. H. IV 174, 371.
Von den landesrechtlichen Kodifikationen des Kriegsrechts haben besondere
Beachtung gefunden die von Lieber ausgearbeiteten Instructions for
the government of armies of the United States in the field. 1863.
v. Liszt, Völkerrecht. 14
[210]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Von einzelnen Vereinbarungen abgesehen (so Pariser Dekla-
ration von 1856, Genfer Konvention von 1864, Petersburger Kon-
vention von 1868), gehören diese Rechtsregeln dem ungeschriebenen
Rechte an. Die von der russischen Regierung 1874 einberufene
Staatenkonferenz, deren Aufgabe die Vereinbarung eines umfassenden
Kriegsgesetzbuchs war, scheiterte insbesondere an dem Widerstreben
Englands (Lord Derby). Die „Brüsseler Deklaration“, das Er-
gebnis dieser Beratungen, hat jedoch nicht nur dem Institut für
Völkerrecht als Grundlage für das von diesem 1880 ausgearbeitete
und 1881 an die verschiedenen Regierungen verschickte Manuel des
lois de la guerre sur terre (Briefwechsel zwischen Bluntschli und
Moltke), sondern auch verschiedenen Mächten als Vorbild für die
von diesen erlassenen Gesetze und Verordnungen gedient.
Vereinbarungen über die Beachtung des Kriegsrechts finden
sich mehrfach in den Staatenverträgen. Vgl. den deutschen Freund-
schafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag mit Mexiko vom 5. De-
zember 1882 (R. G. Bl. 1883 S. 247) Artikel 17: „Hinsichtlich
ihrer Beziehungen in Kriegszeiten, sei es als Kriegführende, sei
es als Neutrale, werden sich die vertragschlieſsenden Teile nach
den Normen des Völkerrechts richten, welche von den gesitteten
Nationen allgemein anerkannt sind. Auf dem Gebiete des inter-
nationalen Seerechts insbesondere verpflichten sie sich, gegen ein-
ander die Regeln 2, 3 und 4 der Pariser Deklaration vom 16. April
1856 (also mit Ausschluſs der auf die Kaperei bezüglichen Regel 1)
zu beobachten, jedoch mit dem Vorbehalt von Seiten der Vereinigten
Staaten von Mexiko, daſs diese, sofern sie sich im Kriege mit
einer dritten Macht befinden sollten, das unter neutraler Flagge
befindliche Gut des Feindes nur in dem Fall als frei anerkennen
werden, wenn die genannte Macht den gleichen Grundsatz des
Seerechts auch ihrerseits gegen Mexiko gelten läſst.“
Auf die sämtlichen „Regeln von 1856“ bezieht sich der
deutsche Freundschafts- u. s. w. Vertrag mit Salvador vom 13. Juni
1870 (R. G. Bl. 1872 S. 377) Artikel XIX und XX.
[211]§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
Verletzung der Rechtssätze des Kriegsrechts erzeugt die all-
gemeinen Unrechtsfolgen (oben § 24); doch findet auch hier der
Begriff des Notstandes (als nécessité de guerre oder Kriegsraison)
Anwendung. Im Notstand und als Repressalien (unten § 40 III)
sind auch Handlungen gestattet, die dem strengen Kriegsrecht (der
Kriegsmanier) zuwiderlaufen.
IV.
Der Kriegszustand als der Inbegriff der durch den Krieg er-
zeugten Rechtsverhältnisse beginnt entweder mit der förmlichen Kriegs-
erklärung oder aber mit dem thatsächlichen Ausbruch der Feindselig-
keiten auf beiden Seiten.
Die Kriegserklärung ist mithin nicht unbedingt notwendig
(teilweise bestritten); doch haben Frankreich 1870 und Ruſsland 1877
dem Gegner den Krieg erklärt. Sie bedarf keiner besonderen
Form; sie muſs jedoch als empfangsbedürftige Willenserklärung
(oben § 20 II) den Entschluſs, den Kriegszustand herbeizuführen,
dem Gegner gegenüber zum unzweideutigen Ausdruck bringen. Ver-
weigerte Entgegennehmung der Kriegserklärung steht der erfolgten
Entgegennehmung gleich. Eine Erklärung, die, ohne zur Kenntnis
des Gegners gebracht zu werden, nur den eigenen Staatsangehörigen
oder dritten Mächten gegenüber erfolgt, begründet den Kriegs-
zustand nicht. Andrerseits ist Verständigung der Neutralen
wünschenswert, aber nicht erforderlich. Die Kriegserklärung kann
als bedingte Erklärung abgegeben werden (Ultimatum); sie kann
auch betagt sein. Bei fehlender Kriegserklärung genügt einseitige
Waffengewalt nicht; gewaltsame Abwehr des Angriffs durch den
Angegriffenen (vis mutua) ist vielmehr erforderlich, um den Kriegs-
zustand zu erzeugen.
Vgl. de Saint-Croix, De la déclaration de guerre et ses effets immé-
diats, 1892.
Féraud-Giraud, R. J. XVII 19.
Der Kriegszustand äuſsert seine Wirkung:
1. In staatsrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der Staats-
gewalt zu den ihr unterworfenen Personen.
Hierher gehören: Der Eintritt des Kriegs- oder Standrechts;
die Zurückberufung der im Ausland weilenden Staatsangehörigen; das
14*
[212]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Verbot des Handels mit den Angehörigen des Gegners; Ausfuhr-
verbote von Pferden, Nahrungsmitteln u. s. w.
2. In völkerrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der beiden
Staaten zu einander.
Die diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen; der
eigene Gesandte wird abberufen, dem Gesandten des Gegners werden
die Pässe zugestellt, den Konsuln wird (zumeist, aber nicht not-
wendig) das Exequatur entzogen und die Vertretung der Interessen
der Staatsangehörigen den Konsuln einer befreundeten Macht über-
tragen. Die mit dem Gegner geschlossenen Verträge werden auf-
gehoben, soweit sie nicht gerade für den Fall des Krieges abge-
schlossen sind (oben § 21 IV). Den Staatsangehörigen des Gegners
kann der Eintritt in das Staatsgebiet versagt werden; die auf dem
Staatsgebiet weilenden Angehörigen des Gegners können, soweit
nicht besondere Vereinbarungen im Wege stehen, im Lande zu-
rückgehalten oder aber ausgewiesen werden (Xenelasie).
Der vertragsmäſsige Ausschluſs des Rechts zur Ausweisung
der gegnerischen Staatsangehörigen findet sich beispielsweise in Ar-
tikel 11 des deutschen Freundschafts- u. s. w. Vertrags mit Nicaragua
vom 4. Februar 1896 (R. G. Bl. 1897 S. 171): „Wenn (was Gott ver-
hüten wolle) der Friede zwischen den beiden Hohen kontrahierenden
Teilen gestört werden sollte, so soll den Angehörigen des einen
Staates, welche zu der Zeit in dem Gebiete des anderen sich be-
finden, der Aufenthalt daselbst und der Betrieb ihres Berufs oder
Gewerbes gestattet bleiben, ohne daſs sie auf irgend welche Art,
insbesondere durch auſserordentliche Steuern, Leistungen oder
Kontributionen, welche nicht zugleich alle Angehörigen des Landes
treffen, belästigt werden, und der volle Genuſs ihrer Freiheit und
ihrer Güter soll ihnen gelassen werden, solange sie sich keiner
Verletzung der Landesgesetze schuldig machen.“
„Wenn dieselben aber vorziehen sollten, während des Kriegs-
zustandes das Land zu verlassen, so soll ihnen das gleichfalls ge-
stattet sein, und sie sollen demgemäſs ungehindert ihre Geschäfte
ordnen, über ihr Eigentum verfügen und den Erlös ohne Abzug mit-
[213]§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
führen können. In diesem Falle wird ihnen ein Geleitsbrief erteilt
werden, um sich in einem Hafen, den sie nach ihrer Wahl selbst
bezeichnen mögen, einzuschiffen, vorausgesetzt, daſs derselbe vom
Feinde weder besetzt noch blokiert ist, noch ihre eigene Sicherheit
oder die des Staates die Abreise über diesen Hafen verbietet, in
welchem Falle dieselbe stattfinden wird, wie und wo es geschehen
kann.“
Dagegen hat Frankreich 1870 die auf französischem Gebiet
weilenden Deutschen (angeblich etwa 100 000, davon 40 000 in
Paris) ausgewiesen, während eine Ausweisung der gegnerischen
Staatsangehörigen während des türkisch-russischen Krieges von 1877
und während des chinesisch-japanischen Krieges 1894 nicht erfolgte.
Vgl. R. G. I 468, II 577.
Die Beschlagnahme des auf dem Gebiet befindlichen Privat-
eigentums der gegnerischen Staatsangehörigen ist nicht gestattet.
Insbesondere gilt das von der Beschlagnahme feindlicher, in den
Häfen der Küstengewässer weilender Schiffe (Embargo), denen
vielmehr regelmäſsig eine bestimmte Frist gewährt wird, um sich
in Sicherheit zu bringen (pratique de l’indult). So haben die Ver-
einigten Staaten 1898 den in den amerikanischen Gewässern
weilenden spanischen Schiffen eine 30 tägige Frist zur Einnehmung
der Ladung und zur Abreise gestattet. (Oben § 25 I, S. 134.)
3. In völkerrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der krieg-
führenden zu den übrigen Mächten.
Vgl. darüber unten § 43. Doch kann den neutralen Schiffen,
um die Geheimhaltung militärischer Unternehmungen zu sichern,
die Ausfahrt zeitweilig untersagt werden (arrêt de prince; oben
§ 24 III).
V. Die Beendigung des Kriegszustandes.
v. Kirchenheim, H. H. IV 791.
1. Sie erfolgt entweder:
- a) Formlos durch Einstellung der Feindseligkeiten von beiden
Seiten oder durch Unterjochung des Gegners (Eroberung, de-
bellatio oder subjugatio).
[214]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Damit hat dieser aufgehört, als Staat, mithin als völkerrecht-
liches Rechtssubjekt, zu existieren. In diesem Fall können Ab-
machungen oder „Kapitulationen“ über die Person des bisherigen
Herrschers, sein Vermögen, das geschlagene Heer u. s. w. getroffen
werden. Ein Beispiel bietet die mit Hannover von Preuſsen am
29. Juni 1866 zu Langensalza geschlossene Kapitulation.
- b) Oder in förmlicher Weise durch Abschluſs und Ratifikation des
Friedensvertrages.
2. Der Friedensvertrag steht unter denselben völkerrechtlichen
Rechtsregeln wie jeder andere Staatsvertrag.
Dies gilt insbesondere von der Berechtigung des Staatsober-
hauptes, den von ihm beherrschten Staat zu binden (oben § 12).
Daſs das in Kriegsgefangenschaft geratene Staatsoberhaupt einen
verbindlichen Friedensvertrag schlieſsen kann, wurde bereits oben
§ 20 hervorgehoben. Häufig pflegt dem eigentlichen Friedens-
vertrag ein Präliminarfrieden voranzugehen. So bildeten die Ver-
sailler Friedenspräliminarien vom 26. Februar 1871 die Grund-
lage für den Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871; der russisch-
türkische Präliminarfrieden von San Stefano 1878 den Ausgangs-
punkt für die Beratungen der Berliner Konferenz von demselben
Jahre. Dabei sei ins Gedächtnis zurückgerufen, daſs die Versailler
Friedenspräliminarien vereinbart wurden zwischen dem deutschen
Reichskanzler Grafen Bismarck, dem bayrischen Minister des
Auswärtigen Grafen v. Bray-Steinburg, dem württembergischen
Minister des Auswärtigen Freiherrn v. Wächter, dem Präsidenten
des badischen Staatsministeriums Jolly als Vertreter des Deutschen
Reichs einerseits und dem Chef du Pouvoir excécutif der Französi-
schen Republik Thiers, sowie dem Minister der auswärtigen An-
gelegenheiten Jules Favre als Vertreter Frankreichs andrerseits.
Dagegen wurde der Frankfurter Frieden unterzeichnet vom deutschen
Reichskanzler Fürsten Bismarck und dem deutschen Gesandten
bei dem Päpstlichen Stuhl Grafen Harry v. Arnim im Namen
des Deutschen Kaisers einerseits; und dem französischen Minister
der auswärtigen Angelegenheiten Jules Favre, dem Finanzminister
[215]§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.
Pouyer-Quertier, sowie dem Mitglied der Nationalversammlung
de Goulard im Namen der Französischen Republik andrerseits.
3. Die allgemeine und grundsätzliche Wirkung des Friedens-
vertrages ist zunächst die Beendigung des Streites zwischen den Krieg-
führenden, die Erledigung des casus belli, die Wiederherstellung der
völkerrechtlich geregelten friedlichen Beziehungen.
Insoweit also tritt der frühere Rechtszustand wieder in Kraft
(sogenanntes postliminium). Die frühere Staatsgewalt übernimmt
die Leitung der Staatsgeschäfte in den vom Feinde besetzt ge-
wesenen Gebietsteilen (unten § 41 IV); die Gefangenen werden frei;
das mit Beschlag belegte bewegliche und unbewegliche Gut kehrt
an den Eigentümer zurück. Doch behalten die nach Kriegsrecht
erfolgten Rechtshandlungen ihre Rechtswirksamkeit. Und die durch
den Krieg aufgehobenen Verträge treten, von besonderen Verein-
barungen abgesehen, nicht wieder in Kraft (oben § 21 IV 2). Der
Einwand des Besiegten, daſs er durch Gewalt zum Abschluſs des
Friedens gezwungen worden sei, ist ausgeschlossen; der Gedanke der
Revanche steht im Widerspruch zu dem innersten Wesen des Friedens-
vertrages.
Der Friedensvertrag enthält aber häufig noch weitere besondere
Vereinbarungen. Unter diesen sind zu erwähnen:
- a) Die sogenannte Amnestieklausel, d. h. der Ausschluſs der Straf-
verfolgung der während des Krieges von den beiderseitigen Staats-
angehörigen begangenen politischen und militärischen Delikte.
Die Amnestieklausel wird wichtig bei Gebietsabtretungen,
während sie sich im übrigen von selbst versteht. Vgl. Artikel 2,
Absatz 2 des Frankfurter Friedens: „Kein Bewohner der abgetretenen
Gebiete darf in seiner Person oder seinem Vermögen wegen seiner
politischen oder militärischen Handlungen während des Krieges
verfolgt, gestört oder zur Untersuchung gezogen werden.“
- b) Die Vereinbarung von Gebietsabtretungen.
Hier ist der Erwerb (anders als bei der Eroberung) ein ab-
geleiteter, und es finden mithin die oben § 23 III aufgestellten
Rechtsregeln Anwendung. Den Bewohnern der abgetretenen Ge-
biete kann das Optionsrecht zugestanden werden (oben § 10 II).
[216]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
- c) Die Vereinbarung einer Kriegsentschädigung, die der Besiegte
an den Sieger zu zahlen hat.
Zur Sicherung der Leistung kann diesem auch die völlige
oder teilweise militärische Besetzung des dem Besiegten verbleiben-
den Gebietes (§ 22 I) eingeräumt werden. Vgl. den Frankfurter
Frieden Artikel 7.
- d) Die Berichtigung der Grenzen oder der Vorbehalt einer ge-
naueren Bestimmung derselben. - e) Erwähnung verdient Artikel 16 des Frankfurter Friedens
vom 10. Mai 1871: „Beide Regierungen .... verpflichten
sich gegenseitig, die Gräber der auf ihren Gebieten be-
erdigten Soldaten respektieren und unterhalten zu lassen.“
§ 40. Die einzelnen Kriegsrechtssätze.
I.
Kriegsschauplatz (théâtre de la guerre) ist das gesamte Land-
und Wassergebiet der kriegführenden Staaten, sowie die hohe See.
Der Kriegschauplatz umfaſst auch die überseeischen Kolonieen,
die autonomen Provinzen, sowie die den Kriegführenden unter-
geordneten halbsouveränen Staaten. Durch eine Kriegserklärung
an die Türkei werden mithin auch Egypten. sowie Bulgarien in
Kriegszustand versetzt. Der Kriegsschauplatz umfaſst aber nicht
diejenigen Gebiete, welche von einer fremden, die staatlichen
Hoheitsrechte ausübenden Staatsgewalt „besetzt“ sind (oben § 10 IV).
Befindet sich mithin die Türkei im Kriegszustand, so ergreift dieser
weder Bosnien noch auch Cypern.
Da auch die hohe See zum Kriegsschauplatz gehört, können
die Kriegführenden hier alle ihnen erforderlich erscheinenden An-
griffs- und Verteidigungshandlungen vornehmen, mögen diese auch,
wie das Legen von Seeminen, dem neutralen Handel beschwerlich
fallen. Auch Eingriffe in neutrales Eigentum, z. B. die Durch-
schneidung submariner Kabel (oben § 30 IV 1), sind mithin auf
offener See unter denselben Voraussetzungen wie auf dem fest-
ländischen Kriegsschauplatz gestattet (unten § 41 IV).
[217]§ 40. Die einzelnen Kriegsrechtssätze.
Der Kriegsschauplatz kann durch die Neutralisierung einzelner Ge-
bietsteile eingeschränkt werden. Auf diesen Gebieten dürfen kriegerische
Operationen nicht vorgenommen werden. Die Neutralisierung kann
entweder auf einer besonderen, für einen bestimmten Krieg getroffenen
Vereinbarung der streitenden Teile, oder aber auf allgemeinen und
dauernden Abmachungen beruhen.
Besondere Vereinbarungen sind auch in früheren Zeiten
häufig (so bezüglich besuchter Badeorte) getroffen worden. Durch
Artikel 11 der Kongoakte von 1885 verpflichten sich die Signatar-
mächte, ihre guten Dienste zu leihen, damit durch Vereinbarung
der Kriegführenden deren in dem konventionellen Kongobecken be-
legene Besitzungen „den Gesetzen der Neutralität“ unterstellt werden.
Die dauernde Neutralisierung gewisser Gebiete, zu unter-
scheiden von der Neutralisierung ganzer Staaten (oben § 6 III) und
daher besser „Befriedung“ genannt, kann sich auf Landgebiet wie
auf Wassergebiet der Kriegführenden erstrecken.
Dabei tritt, insbesondere soweit es sich um die Neutrali-
sierung von Wasserstraſsen handelt, eine wichtige Verschiedenheit
hervor.
- a) Es kann sein, und das ist die ältere Form der Abmachungen,
daſs den Truppen und Kriegsschiffen der Kriegführenden
der Zutritt zu dem neutralisierten Gebiet unbedingt unter-
sagt ist (sogenannte negative Neutralisierung). - b) Es kann aber auch sein, daſs die neutralisierten Gebiete
(Wasserstraſsen) auch in Kriegszeiten den Truppen und
Kriegsschiffen der Kriegführenden offen stehen, daſs diese
aber keinerlei kriegerische Operationen in diesen Gebieten
vornehmen dürfen (sogenannte positive Neutralisierung
oder Internationalisierung).
In jedem dieser beiden Fälle sind kriegerische Unternehmungen
irgend welcher Art auf den neutralisierten Gebieten ausgeschlossen.
Daraus folgt, daſs insbesondere auch die Blokierung von neu-
tralisierten Stromläufen als völkerrechtswidrig angesehen werden
muſs. Doch weiſs die Geschichte von mancher Verletzung dieser
Rechtsregel zu berichten. Daher ist mehrfach der Ausschluſs der
[218]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Blokierung durch besondere Vereinbarung ausdrücklich gesichert
worden. So bezüglich des La Plata durch den zwischen Argentinien,
Frankreich, England und den Vereinigten Staaten geschlossenen
Vertrag von 1853 (oben § 27 II S. 149).
Als dauernd neutralisierte Gebietsteile sind zu erwähnen:
- 1. Die ehemaligen sardinischen Gebiete von Chablaix und Fau-
cigny (oben § 8 II S. 44). - 2. Die Meerengen des Bosporus und der Dardanellen (oben § 26 II).
- 3. Die internationalen Ströme, so insbesondere die Donau, der
Kongo und der Niger (oben § 27 III). - 4. Der Suezkanal (oben § 27 IV).
- 5. Nach dem Vertrag der Groſsmächte mit Griechenland vom
14. November 1863 dürfen sich in den Gewässern der ionischen Inseln
keine Kriegsschiffe, auf den Inseln selbst keine Truppen aufhalten; die
Festungen werden geschleift.
Der Londoner Vertrag vom 22. März 1864 hat diese „avantages
d’une paix perpétuelle“ auf die Inseln Korfu und Paxos und ihre
Dependenzen beschränkt. - 6. Nach dem Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 Artikel 29 Ab-
satz 5, 6 darf Montenegro weder Kriegsschiffe besitzen, noch eine
Kriegsflagge führen; die montenegrinischen Gewässer sind den Kriegs-
schiffen aller Nationen verschlossen.
II.
Die Anwendung von Gewalt, insbesondere von Waffengewalt,
ist nur der Kriegsmacht, also den bewaffneten Streitkräften (forces
militaires) der Kriegführenden und nur gegen die Kriegsmacht des
Gegners gestattet. Nur die Kriegsmacht hat den sogenannten „aktiven
Kriegsstand“.
1. Kriegsmacht ist die gesamte organisierte Wehrkraft des Staates,
die unter staatlicher Leitung steht und durch äuſserliche Abzeichen
kenntlich gemacht ist.
Die Kriegsmacht umfaſst das Heer und die Flotte, die Linie
und die Reserve, die Landwehr und die Seewehr, die Bürgerwehr,
den organisierten Landsturm; die Angehörigen des Staates wie die
in seinen Diensten stehenden oder freiwillig zu den Waffen ge-
eilten Staatsfremden. Den Gegensatz zu der Kriegsmacht bildet
[219]§ 40. Die einzelnen Kriegsrechtssätze.
die friedliche Bevölkerung des Landes. Ihr gegenüber ist die
Waffengewalt ausgeschlossen („passiver Kriegsstand“).
Feindseligkeiten, die ein Angehöriger der friedlichen Bevölkerung
gegen die Kriegsmacht des Gegners begeht, sind mithin als gemeine
Verbrechen nach dem maſsgebenden Strafrecht oder Standrecht zu
bestrafen.
Proklamation des Königs von Preuſsen vom 11. August 1870:
„Ich führe Krieg mit den französischen Soldaten und nicht mit
den Bürgern Frankreichs. Diese werden demnach fortfahren, einer
vollkommenen Sicherheit ihrer Personen und ihres Eigentums zu
genieſsen, und zwar so lange als sie mich nicht selbst durch feind-
liche Unternehmungen gegen die deutschen Truppen des Rechtes
berauben werden, ihnen meinen Schutz angedeihen zu lassen.“
Die Grenze ist nicht immer leicht zu ziehen, und die Meinungen
gehen noch vielfach auseinander. Napoleon I. hat 1813 das Lützow’-
sche Freicorps nicht als Bestandteil der Kriegsmacht anerkannt.
Während des deutsch-französischen Krieges waren es besonders die
Franctireurs, deren Rechtsstellung erbitterte Streitigkeiten verursachte.
Maſsgebend kann nur sein, ob die Freischaren (die „Irregulären“), die
neben den Soldaten diese in der Kriegführung unterstützen, organisiert
sind oder nicht; d. h. ob sie der regulären Kriegsmacht angegliedert
und unter deren Oberleitung gestellt sind, oder ob sie ausschlieſs-
lich auf eigene Faust den eingedrungenen Gegner bekämpfen (Andreas
Hofer 1809 in Tirol). Es muſs aber ferner gefordert werden, daſs
die erfolgte Eingliederung der Freischaren, wenn auch nicht durch
vollständige Uniformierung, so doch durch deutlich erkennbare Ab-
zeichen ersichtlich gemacht wird. In diesem Fall genieſsen auch
die Freischaren die Rechte der Soldaten.
Das Gegenteil gilt von der nicht militärisch organisierten Be-
völkerung, die sich zum Schutz des Vaterlandes gegen den heran-
dringenden Feind erhoben hat (die levée en masse). Daher hat
die neuere Landesgesetzgebung auch den Landsturm militärisch
organisiert. So bestimmt das deutsche Reichsgesetz über den
Landsturm, vom 12. Februar 1875 (R. G. Bl. 1875 S. 63) (§ 5
[220]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Absatz 1), daſs der Landsturm bei Verwendung gegen den Feind
militärische, auf Schuſsweite erkennbare Abzeichen erhalte. In
der Litteratur ist die Frage sehr bestritten. Die Brüssler Dekla-
ration von 1874 und das Handbuch von 1880 hatten ohne weiteres
auch der Massenerhebung die Vorrechte der Soldaten zugestanden;
und das war gerade einer derjenigen Punkte, die den ganzen Ent-
wurf eines internationalen Gesetzbuchs für den Landkrieg zum
Scheitern brachten, da insbesondere die kleineren Mächte erklärten,
niemals auf das Recht einer Massenerhebung des Volkes verzichten
zu können. Für die richtige Ansicht unter andern Rivier II 252.
2. Zur Seemacht gehören an sich auch diejenigen Handelsschiffe,
die in Kriegszeiten mit besonderer Ermächtigung der kriegführenden
Regierung Jagd auf gegnerische Handelsschiffe unternehmen.
Sie heiſsen Kaper (corsaires oder armateurs), stehen unter
dem Kommando der Admiralität, von der sie die Erlaubnis zur
Wegnahme der guten Prisen (lettres de marque oder commission
de guerre, Kommissionen) erhalten haben und führen die Kriegs-
flagge. Ausstellung von Kaperbriefen an Schiffe, die nicht der
Handelsmarine des Kriegführenden angehören, gilt als völkerrechts-
widrig.
Nach vielfachen vergeblichen Versuchen (z. B. preuſsisch-ameri-
kanischer Vertrag von 1785), durch Verträge zwischen einzelnen
Staaten zu einer Beseitigung der Kaperei zu gelangen, ist endlich
durch die Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856 die Kaperei
zwischen den Signatarmächten abgeschafft worden („La course est et
demeure abolie“).
Die meisten Seemächte sind dieser Vereinbarung beigetreten,
nicht aber die Vereinigten Staaten, Spanien, Mexiko, Bolivia, Neu-
granada, Uruguay, Venezuela. Die Vereinigten Staaten verweigerten
den Beitritt, weil sie die vollständige Freiheit des Privateigentums
auch im Seekrieg, also die vollständige Aufgabe des Prisenrechts,
forderten. Im Kriege von 1898 haben jedoch sowohl die Vereinigten
Staaten als auch Spanien auf die Verwendung von Kapern verzichtet.
Die Vereinbarung verpflichtet nur die Signatarmächte und auch
diese nur in den zwischen ihnen geführten Kriegen. Der gegen die
[221]§ 40. Die einzelnen Kriegsrechtssätze.
Vereinbarung ausgerüstete Kaper würde völkerrechtlich dennoch als
solcher, und nicht als Seeräuber zu behandeln sein (oben § 29 III);
denn für die Verletzung des Vertrages hat nicht der Kaper, sondern
die ihn verwendende Regierung aufzukommen.
Soweit dagegen staatliche Kriegsschiffe durch Beiträge einzelner
Staatsbürger erbaut und ausgerüstet werden, oder soweit Handels-
schiffe freiwillig sich vollständig in den Dienst der Kriegsmarine
ihres Staates stellen, gehören sie zur organisierten Seewehr. Die
Abgrenzung kann Schwierigkeiten bereiten. Die von Preuſsen 1870
(vgl. den Erlaſs vom 24. Juli) geplante deutsche freiwillige Flotte
hätte nicht im Widerspruch zur Pariser Deklaration gestanden;
der gegen diesen Plan von Frankreich erhobene Protest wurde auch
von den englischen Kronjuristen für unbegründet erklärt. Dasselbe
gilt von der 1878 geschaffenen russischen freiwilligen Kreuzerflotte.
Vgl. Perels, L. A. I 466.
Funck-Brentano, R. G. I 324.
Duboc, R. G. IV 402.
R. G. IV 696.
3. Neben den waffentragenden Soldaten genieſsen aber auch (ab-
gesehen vom Staatsoberhaupte und seiner Familie) die zur Kriegsmacht
gehörenden und ihrer Disziplin unterworfenen, sowie die von ihr zu-
gelassenen Nichtkombattanten die Vorrechte des Soldatenstandes.
Hierher gehören die Militärbeamten mit Einschluſs der Feld-
geistlichen; die zugelassenen Vertreter fremder Mächte; die Zeitungs-
korrespondenten, Lieferanten, Marketender; aber auch die bei dem
Heer dienstlich weilenden nichtmilitärischen Beamten des krieg-
führenden Staates. Sie unterliegen vorübergehender Gefangen-
nahme; der Waffengebrauch dagegen ist ihnen und gegen sie
untersagt.
4. Parlamentäre, die zur Führung von Unterhandlungen zu-
gelassen werden, sind so lange unverletzlich, als sie ihre Rechtsstel-
lung nicht miſsbrauchen.
5. Spione werden nach Standrecht gerichtet, feindliche Kund-
schafter nach Völkerrecht behandelt, eventuell zu Kriegsgefangenen
gemacht.
[222]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Der Kundschafter unterscheidet sich vom Spion dadurch, daſs
er der Militärmacht angehört und die Abzeichen dieser Zugehörig-
keit trägt.
Die Träger von militärischen Depeschen stehen als Militär-
personen unter dem Völkerrecht. Die Luftschiffer können Spione oder
Kundschafter oder Boten sein und werden je nachdem behandelt.
Vgl. G. Friedemann, Die Lage der Kriegskundschafter und Kriegs-
spione. 1892.
III.
Im allgemeinen darf der Kriegführende alle Mittel anwenden,
deren Anwendung notwendig ist, um den Widerstand des Gegners
niederzuwerfen.
Ganz abgesehen davon, daſs nach dem oben unter II Ge-
sagten Waffengewalt gegen die friedliche Bevölkerung des Landes
ausgeschlossen ist, ist daher jede zur Erreichung des Kriegszweckes
nicht erforderliche Schädigung des Gegners völkerrechtswidrig. Hier-
her gehört jede unnütze Grausamkeit, insbesondere die Tötung von
Soldaten, die wehrlos sind oder sich auf Gnade oder Ungnade er-
geben haben; die Verwüstung des Landes; das Niederschieſsen un-
verteidigter Ortschaften, soweit diese Maſsregel nicht für Angriff
oder Verteidigung erforderlich ist. Die Notwendigkeit (oben § 39 III
S. 211) rechtfertigt dagegen auch den Eingriff in fremdes bewegliches
oder unbewegliches Eigentum (Beschädigung, Zerstörung, Gebrauch,
Verbrauch), ohne Unterschied, ob der Eigentümer Angehöriger
des feindlichen oder aber eines neutralen Staates ist.
Aber auch in der Verwendung der als notwendig erkannten
Mittel werden dem Kriegführenden durch das Völkerrecht gewisse,
freilich zum Teil recht bestrittene Grenzen gezogen.
Im einzelnen wäre folgendes zu bemerken:
1. Die Verwendung von Truppen, denen die europäische
Civilisation fremd geblieben ist, kann an sich nicht als völkerrechts-
widrig betrachtet werden, verpflichtet aber den kriegführenden
Staat, der sie verwendet, mit besonderer Sorgfalt über die Ein-
haltung der Regeln des Kriegsrechtes durch diese Truppen zu
achten.
2. Gift und vergiftete Waffen dürfen nicht verwendet werden.
[223]§ 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fortsetzung.
3. Durch die Petersburger Konvention vom 11. Dezember 1868
haben sich die Mächte verpflichtet, gegenseitig im Fall eines Krieges
zwischen ihnen für die Land- wie für die Seetruppen auf den Gebrauch
jedes Explosiv-Geschosses unter 400 Gramm Gewicht zu verzichten
(qui serait ou explosible ou chargé de matières fulminantes ou in-
flammables).
Die Verpflichtung bindet nur diejenigen Staaten, welche die
Vereinbarung unterzeichnet haben oder ihr später beigetreten sind;
und auch diese nur im Kriege mit einem der übrigen unterzeich-
neten Staaten. Unterzeichnet haben: Belgien, Österreich-Ungarn,
Bayern, Dänemark, Frankreich, Groſsbritannien, Griechenland, Italien,
die Niederlande, Persien, Portugal, Preuſsen und der Norddeutsche
Bund, Ruſsland, Schweden-Norwegen, Schweiz, Türkei und Württem-
berg. Die sämtlichen übrigen Kulturstaaten sind später beigetreten.
Ziemlich allgemein wird auch angenommen, daſs das Legen
von Minen im Landkrieg, etwa um die eine Brücke überschreiten-
den Soldaten in die Luft zu sprengen, völkerrechtswidrig sei.
4. Kriegslist ist gestattet, der Betrug verboten. Als solcher
gilt der Miſsbrauch der feindlichen Abzeichen (Fahnen, Flaggen,
Uniformen u. s. w.), sowie der Parlamentärflagge oder des Roten
Kreuzes.
5. Verbindung mit aufständischen Parteien im feindlichen
Lande ist nicht völkerrechtswidrig, wohl aber die Aufforderung zur
Empörung.
6. Repressalien (oben § 38 III 2) sind im Kriege wie auſser-
halb desselben gestattet; als solche sind auch Mittel verwendbar,
deren Anwendung sonst völkerrechtswidrig wäre.
§ 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fortsetzung.
I. Die Rechtsstellung der Gefangenen.
Vgl. Romberg, Des belligérants et des prisonniers de guerre. 1894.
1. Die Gefangenschaft ist im heutigen Krieg nur Sicherheitshaft
mit Schonung des Lebens und der Gesundheit der Gefangenen.
Der kriegführende Staat, in dessen Gewalt die Gefangenen
geraten sind, darf alle Maſsregeln treffen, um sie am Entweichen
[224]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
zu hindern; er darf sie auch mit angemessenen Arbeiten be-
schäftigen, muſs aber andrerseits für ihren Unterhalt sorgen. Die
Entweichung des Gefangenen zieht kriminelle Bestrafung nicht
nach sich.
2. Auch die bei dem Heer befindlichen Nichtkombattanten unter-
liegen der Gefangennahme, die aber nicht länger dauern darf, als der
Kriegszweck es erfordert (oben § 40 II 3).
3. Gefangene Offiziere können, wenn die Gesetzgebung ihres
Landes das gestattet, auf Ehrenwort in die Heimat entlassen werden.
Sie dürfen dann, dem gegebenen Worte entsprechend, die Waffen nicht
gegen den Gegner tragen.
Thun sie es dennoch (wie das während des deutsch-franzö-
sischen Krieges von seiten französischer Offiziere vielfach ge-
schehen ist), so verwirken sie das Recht, bei abermaliger Gefangen-
nahme als Kriegsgefangene behandelt zu werden, und die Regie-
rung, die ihre Dienste annimmt, begeht eine Völkerrechtswidrigkeit.
Die Behandlung der Kriegsgefangenen ist vielfach durch die
nationale Gesetzgebung geregelt. Beachtenswert insbesondere das
französische Reglement vom 21. März 1893.
II.
Die kranken und verwundeten Soldaten sind durch die Genfer
Konvention vom 22. August 1864 (Convention pour l’amélioration du
sort des militaires belssés dans les armées en campagne) geschützt.
Vgl. Lueder, Die Genfer Konvention. 1876.
Moynier, La Croix-Rouge, son passé et son avenir. 1882.
R. Müller, Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer
Konvention. 1897.
Triepel, Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete des Kriegsrechts. 1894.
Vereinbarungen zwischen einzelnen Staaten, um das Los der
Verwundeten zu sichern und zu erleichtern, sind seit dem 16. Jahr-
hundert häufig genug getroffen worden.
Vom Jahre 1581 bis zum Jahre 1864 werden 291 solche
Verträge aufgezählt, die sich teilweise auch auf den Seekrieg be-
ziehen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt sich eine rück-
läufige Bewegung, die im Krimkrieg, in dem italienischen Krieg
und während des amerikanischen Bürgerkrieges deutlich zu Tage
[225]§ 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fortsetzung.
trat. Die Schlacht bei Solferino (24. Juni 1859) gab einem Schweizer
Bürger, Dunant, den Anlaſs, die Pflege verwundeter und kranker
Soldaten im Feldzug, insbesondere die Gründung von Vereinen
freiwilliger Krankenpfleger im Kriege, näher ins Auge zu fassen.
Er und ein anderer Schweizer, Moynier, der Vorsitzende der
Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, bestimmten die Schweizer
Regierung, die übrigen Mächte zu einer Konferenz einzuladen, die
vom 8. bis 22. August 1864 in Genf tagte. Das Ergebnis dieser
Beratungen, die Genfer Konvention, wurde zuerst nur von acht
Staaten unterzeichnet (von der Schweiz, Baden, Belgien, Dänemark,
Spanien, Frankreich, Italien und den Niederlanden). Preuſsen und
andere Staaten folgten; Österreich schloſs sich erst nach der Schlacht
bei Königgrätz, Ruſsland erst im Jahre 1867 an. Seither sind die
sämtlichen civilisierten und halbcivilisierten Staaten beigetreten;
zuletzt 1897 der Oranje-Freistaat, sowie 1898 die Republica Mayor
von Centralamerika (oben S. 25) für Honduras und Nicaragua (während
Salvador schon früher sich angeschlossen hatte). Die Kriege nach 1864
lieferten den Beweis, daſs die Konvention, so wohlthätig sie im all-
gemeinen gewirkt hatte, doch nach verschiedenen Richtungen hin der
Verbesserung und Erweiterung bedurfte. Insbesondere war von
Italien ihre Ausdehnung auf den Seekrieg angeregt worden. Nach
verschiedenen Verhandlungen trat eine abermalige Konferenz in
Genf zusammen. Sie einigte sich über 15 Zusatzartikel, die in der
Konvention vom 20. Oktober 1868 zusammengefaſst wurden. Aber
diese neue Vereinbarung, die insbesondere auch die Ausdehnung
auf den Seekrieg enthielt, fand nicht die Genehmigung der Mächte
und ist daher bis zum heutigen Tage Projekt geblieben. Dennoch
haben Deutschland und Frankreich während des Krieges von 1870/71
sie als für sich verbindlich erklärt und ihr gemäſs gehandelt.
Dasselbe haben, von der Regierung der Schweiz aufgefordert,
Spanien und die Vereinigten Staaten während des Krieges von
1898 gethan.
Der Genfer Konvention von 1864 gehören gegenwärtig
31 Staaten an. Diese sind: die Vereinigten Staaten, Argentinien,
v. Liszt, Völkerrecht. 15
[226]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Belgien, Bolivia, Bulgarien, Chile, der Kongostaat, Dänemark,
Deutschland, Frankreich, Griechenland, Groſsbritannien, Italien,
Japan, Luxemburg, Montenegro, die Niederlande, der Oranje-Frei-
staat, Österreich-Ungarn, Persien, Peru, Portugal, die Republica
Mayor von Centralamerika, Rumänien, Ruſsland, Schweden-Nor-
wegen, die Schweiz, Serbien, Spanien, die Türkei und Venezuela.
1. Die Genfer Konvention von 1864 gilt nur für den Landkrieg.
Sie verpflichtet die Mächte, die sie unterzeichnet haben oder ihr bei-
getreten sind, nur in ihrem Verhältnis zu einander.
Führt eine dieser Mächte einen Krieg gegen einen Staat, welcher
der Konvention nicht beigetreten ist, so ist er durch die Konven-
tion nicht gebunden; ebensowenig in einem Bürgerkrieg, den er
zur Niederwerfung eines innern Aufstandes führt. Die häufig ver-
tretene Gegenansicht verwechselt die Grundsätze des Christentums
und der Menschlichkeit mit den Rechtsregeln des Völkerrechts
(oben § 1 I 3).
2. Die verwundeten und erkrankten Soldaten werden ohne Unter-
schied der Nationalität aufgenommen und verpflegt (Artikel 6).
Diejenigen von ihnen, die nach der Heilung als dienstuntaug-
lich befunden werden, sollen in ihre Heimat zurückgeschickt wer-
den. Die Konvention von 1868 verlangt auch die Zurücksendung
der übrigen geheilten Soldaten unter der Bedingung, daſs sie
während der Dauer des Krieges die Waffen nicht wieder ergreifen;
ausgeschlossen sollen nur die Offiziere sein, deren „Besitz auf das
Waffenlos von Einfluſs sein würde.“
3. Das gesamte Verpflegungspersonal, also Ärzte und Kranken-
pfleger, ebenso die mit der Verwaltung der Lazarette und mit dem
Transport der Verwundeten beauftragten Personen, sowie die Feld-
prediger, sind unverletzlich (Artikel 2 und 3).
Die Konvention von 1864 giebt ihnen das Recht, auch nach
der Besetzung der von ihnen bedienten Anstalt durch den Feind
ihrer Aufgabe weiter obzuliegen; die Konvention von 1868 legt
ihnen die Verpflichtung auf, das zu thun. Zugleich verpflichtet
diese den Sieger, die jenen Personen gebührenden Bezüge ihnen
[227]§ 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fortsetzung.
unverkürzt weiter zu gewähren. Dagegen ist von den freiwilligen
Krankenpflegern im Kriege in beiden Konventionen nicht die Rede.
4. Die Sanitätsanstalten und zwar sowohl die Hauptfeldlazarette
als auch die fliegenden Ambulanzen sind unverletzlich, solange sich
Kranke und Verwundete darin befinden (Artikel 1). Dagegen unter-
liegt das Material der ersteren dem Kriegsrecht, d. h. dem Beuterecht
des Siegers (Artikel 4).
5. Die Landesbewohner, welche den Verwundeten zu Hilfe
kommen, sollen geschont werden und frei bleiben.
Jeder in einem Hause aufgenommene oder verpflegte Ver-
wundete soll dem Hause als Schutz dienen. Der Einwohner, welcher
Verwundete bei sich aufnimmt, soll mit Truppeneinquartierung, so-
wie mit einem Teil der etwa auferlegten Kriegskontributionen ver-
schont werden (Artikel 5).
6. Die zur Aufbewahrung der Verwundeten und Kranken die-
nenden Räumlichkeiten sind durch eine Flagge kenntlich zu machen,
die das rote Kreuz im weiſsen Felde zeigt. (Die Türkei führt seit 1877
den roten Halbmond im weiſsen Felde.) Das Personal hat Armbinden
mit dem gleichen Abzeichen zu tragen.
7. Miſsbrauch des Roten Kreuzes und alle Übertretungen der
Genfer Konvention sind nach den nationalen Gesetzen und durch
die nationalen Gerichte abzuurteilen. Die Einsetzung internationaler
Gerichtshöfe, wenigstens in zweiter Instanz, ist wiederholt vor-
geschlagen worden.
Vgl. Buzzati, De l’emploi abusif du signe et du nom de la Croix-
Rouge. 1890.
Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht von 1895.
III. Belagerung und Beschieſsung von Ortschaften.
1. Befestigte oder verteidigte Städte, Dörfer, Gebäude unter-
liegen der Beschieſsung. Offene und unverteidigte Plätze nur dann,
wenn dieses zum Angriff oder zur Verteidigung notwendig ist.
Vorhergehende Anzeige von der bevorstehenden Beschieſsung
ist nach der überwiegenden (freilich sehr bestrittenen) Ansicht nicht
erforderlich.
2. Die Beschieſsung braucht nicht auf die eigentlichen Festungs-
werke eingeschränkt zu werden (ebenfalls bestritten).
15*
[228]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Sie kann sich auch auf die friedlichen Stadtteile erstrecken,
soll aber Denkmäler der Kunst, wissenschaftliche Sammlungen u. s. w.
schonen, soweit diese nicht vom Gegner zu Stützpunkten seiner Ver-
teidigung gemacht werden.
3. Die friedlichen Einwohner der belagerten Städte, insbesondere
die Kranken, die Weiber und Kinder haben keinen Rechtsanspruch auf
Gewährung ungestörten Abzugs.
4. Die diplomatischen Vertreter neutraler Mächte, die sich in der
umlagerten Stadt befinden, haben keinen Anspruch auf ungehemmten
Verkehr mit ihrem Absendestaat.
Die Frage wurde während der Belagerung von Paris im
deutsch-französischen Kriege lebhaft erörtert.
IV. Die kriegerische Besetzung fremden Staatsgebietes.
Während durch die Eroberung fremdes Staatsgebiet dem Sieger
erworben wird, tritt infolge der Besetzung von feindlichem Staats-
gebiet durch die vorrückende Kriegsmacht nur thatsächlich und vorüber-
gehend, soweit die effektive Macht der besetzenden Truppen reicht, die
Staatsgewalt des Okkupierenden an die Stelle der rechtmäſsigen Staats-
gewalt. Durch die Okkupation wird also ein besonderes Rechtsverhältnis
zwischen der besetzenden Staatsgewalt und den Bewohnern des be-
setzten Gebietes erzeugt.
1. Die besetzende Staatsgewalt hat das Recht wie die Pflicht,
an Stelle der rechtmäſsigen Staatsgewalt Ruhe und Ordnung aufrecht
zu erhalten.
Gesetzgebung, Rechtspflege, Verwaltung werden, soweit es
möglich ist, wie bisher fortgeführt. Doch hat die besetzende Staats-
gewalt das Recht, alle Maſsregeln zu treffen, die erforderlich sind,
um die besetzenden Truppen und die Zwecke der Kriegführung zu
sichern. Die Bewohner des besetzten Gebietes schulden der be-
setzenden Staatsgewalt Gehorsam, nicht aber die Treue, die den
Unterthanenverband kennzeichnet. Die Gemeinde, auf deren Boden
eine die Truppen gefährdende oder verletzende rechtswidrige Hand-
lung vorgenommen worden ist, kann für den Schuldigen verant-
wortlich gemacht werden; sie kann insbesondere angehalten wer-
den, Strafgelder zu zahlen, Geiseln zu stellen (die ebenso wie
Kriegsgefangene zu behandeln sind), und andere Sicherheit zu leisten.
[229]§ 41. Die einzelnen Sätze des Kriegsrechts. Fortsetzung.
2. Das in die Hände des Siegers gefallene fremde Staatsver-
mögen wird den Zwecken der Kriegführung dienstbar gemacht.
Steuern und Abgaben werden, soweit sie fällig sind, von
der besetzenden Gewalt erhoben und für die Verwaltung des Landes
verwendet. Bewegliches Staatsgut kann eingezogen werden: so
insbesondere Bargeld und Wertpapiere, Waffen, Pferde, Kriegs-
material aller Art. Unbewegliches Gut (Gebäude, Wälder, Staats-
eisenbahnen, Forste und Domänen) kann von der besetzenden Staats-
gewalt mit den einen Nutznieſser bindenden Beschränkungen ge-
braucht werden. Alle Rechtsgeschäfte der besetzenden Staatsgewalt,
welche diese Schranke miſsachten, sind völkerrechtswidrig und
daher nichtig. Öffentliche Anstalten, die dem Gottesdienst, der
Wohlthätigkeit, der Kunst und Wissenschaft gewidmet sind, sind
unverletzlich.
3. Das Privateigentum ist im Landkrieg unverletzlich, soweit
nicht der Notstand (die nécessité de guerre) seine Verletzung recht-
fertigt (oben § 40 III S. 222).
Das Beutemachen, Plündern u. s. w. ist völkerrechtswidrig.
Gegenstände, die unmittelbar der Kriegführung zu dienen geeignet
sind (nicht Bargeld und Wertpapiere, wohl aber das rollende Material
der Eisenbahnen, Waffen, Pferde, Kleidungsstücke und Nah-
rungsmittel), können gegen Entschädigung, die durch Barzahlung
oder durch Anweisung zu leisten ist, enteignet und verwendet
werden. Die Bewohner können (ohne Unterschied der Staats-
angehörigkeit) zu Requisitionen, d. h. zu Naturalleistungen für
Kriegszwecke (Stellung von Pferden und Wagen, Lieferung von
Nahrungsmitteln und Kleidung u. s. w.) gegen Entschädigung heran-
gezogen werden; an Stelle von nicht gelieferten Leistungen tritt
die Zahlung von Strafgeldern. Kontributionen, d. h. auſser-
ordentliche Geldleistungen können ihnen nur in dem letzterwähnten
Falle, sowie sonst bei dringender Not auferlegt werden. Im Not-
fall ist auch, ebenfalls gegen Entschädigung, die Beschlagnahme und
Verwendung von Privateigentum (von Wagen, Pferden, Schiffen u. s. w.)
gestattet. Das ist das sogenannte jus angariae (oben § 24 III S. 129).
[230]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
4. Durch besondere Vereinbarung können gewisse bewegliche
oder unbewegliche Sachen für unverletzlich erklärt („befriedet“) wer-
den. Dieses ist allgemein geschehen bezüglich der Feldlazarette (oben
S. 227); ferner bezüglich der von den internationalen Fluſsschiffahrts-
kommissionen errichteten Schiffahrtsanstalten (vgl. oben § 27 III über
die Donau und den Kongo).
Ein weiteres Beispiel bietet die „Neutralisierung“ des Leucht-
turms am Kap Spartel durch die Konventionen vom 31. Mai 1865
und 27. Januar 1892 (oben § 26 IV S. 147).
Vgl. R. G. I 289.
V.
Kriegsverträge, d. h. die während eines Krieges zwischen den
Kriegführenden über die Kriegführung geschlossenen Verträge, berech-
tigen und verpflichten selbstverständlich wie jeder andere Staatsvertrag
die vertragschlieſsenden Teile.
Kriegsverträge sind entweder Verträge über dauernde Ver-
hältnisse, meist Kartelle genannt, so über die Neutralität gewisser
Plätze, über die Behandlung von Parlamentären, den Austausch von
Gefangenen, über den Post- und Telegraphenverkehr u. s. w.; oder
Verträge über einzelne militärische Verhältnisse, Kriegsverträge
im engeren Sinn genannt, die dann meist von den Befehlshabern
unmittelbar geschlossen werden können, ohne daſs die Ratifikation
durch das Staatsoberhaupt hinzuzutreten braucht (oben § 13 III).
In diese Gruppe gehören Vereinbarungen über die Beerdigung von
Gefallenen nach der Schlacht, über die Kapitulation von befestigten
Plätzen, Schiffen oder Truppenkörpern, über die Erteilung von
Schutz- oder Geleitbriefen, über die Räumung von Spitälern u. s. w.,
insbesondere aber die Vereinbarung einer vorübergehenden und nur
für bestimmte Zwecke geschlossene Waffenruhe (suspension
d’armes) oder eines für längere Zeit und für den ganzen Kriegs-
schauplatz oder dessen gröſseren Teil geschlossenen Waffenstill-
standes (armistice). Während des Waffenstillstandes ruhen alle
militärischen Unternehmungen. Haben solche etwa, weil die Be-
fehlshaber in Unkenntnis des Waffenstillstandes gelassen wurden,
auf entfernteren Teilen des Kriegsschauplatzes stattgefunden (Be-
[231]§ 42. Der Seekrieg insbesondere.
setzung von Plätzen, Gefangennahme von Mannschaften u. s. w.),
so sind sie wieder rückgängig zu machen. Trotz des Stillstandes
der gegen den Gegner gerichteten kriegerischen Unternehmungen
dauert aber der Kriegszustand fort. Jeder Teil ist daher, wenn
nicht besondere Vereinbarungen im Wege stehen, zur Ausbildung
und Verstärkung seiner eigenen Kriegsmacht (Aushebung und Ein-
übung von Mannschaften, Ankauf von Waffen, Ausrüstung von
Kriegsschiffen u. s. w.) durchaus berechtigt.
Bruch des Waffenstillstandes durch einen oder mehrere Ein-
zelne verpflichtet nur zu einer Bestrafung des Schuldigen und Ent-
schädigung des verletzten Gegners; Bruch durch den Befehlshaber
selbst berechtigt den Gegner nicht nur zur Aufkündigung der Ver-
einbarung, sondern sogar zum sofortigen Wiederbeginn der Feind-
seligkeiten.
§ 42. Der Seekrieg insbesondere.
Rettich, Prisenrecht und Fluſsschiffahrt. 1892.
Boeck, De la propriété ennemie sous pavillon ennemi. 1882.
Travers Twiſs, R. J. XVI 113.
Bulmerincq, R. J. XIII 447, XIV 114.
I.
Die in den vorhergehenden Paragraphen aufgestellten Rechtssätze
gelten im allgemeinen auch für den Seekrieg. Daneben aber gelten für
den Seekrieg besondere Rechtsregeln, durch welche jene Rechtssätze
nicht nur umgestaltet, sondern teilweise völlig verdrängt werden. Ihre
Gesamtheit bildet das Seekriegsrecht.
1. Schauplatz des Seekriegs ist in erster Linie die offene See
mit Einschluſs der mit ihr zusammenhängenden, an der Meeresfrei-
heit teilnehmenden Meeresteile (oben § 26 II). Kriegsschauplatz im See-
krieg sind ferner die Küstengewässer des feindlichen Staates, nicht
aber dessen Eigengewässer.
Ein Gefecht, das etwa in der unteren Elbe zwischen Kriegs-
schiffen ausgetragen wird, ist keine Seeschlacht, sondern nach den
für den Landkrieg geltenden Rechtsregeln zu beurteilen. Die Ver-
wundeten stehen unter dem Schutze der Genfer Konvention von
1864. Die auf dem See-Kriegsschauplatz und die von ihm aus
[232]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
vorgenommenen militärischen Unternehmungen stehen unter der
Herrschaft des Seekriegsrechts. Dies gilt insbesondere von den
gegen das feindliche Landgebiet gerichteten Unternehmungen. Für
die Beschieſsung offener Hafenplätze gelten jedoch die Grundsätze
des Landkriegsrechts (sehr bestritten). Aus dem Kriegsschauplatz
scheiden die neutralisierten Meeresteile aus (oben § 40 I).
2. Zur kriegführenden Macht gehören auch die mit staatlicher
Ermächtigung versehenen Kaperschiffe.
Dieser Satz gilt (nach dem oben § 40 II S. 221 Gesagten) auch
dann, wenn der die Kaper verwendende Staat der Pariser Seerechts-
deklaration von 1856 beigetreten ist, durch die Verwendung der
Kaper mithin einen Rechtsbruch begeht. Handelsschiffe, die ohne
staatliche Ermächtigung auf Beute ausgehen, sind Seeräuber und
als solche zu behandeln (oben § 26 III).
3. Die Genfer Konvention von 1864 mit den Zusätzen von 1868
findet auf den Seekrieg keine Anwendung, soweit sich die Kriegführen-
den nicht besonders zu ihrer Beobachtung verpflichten (oben § 41 II).
Auch Schiffe, die mit der Überführung von Verwundeten be-
auftragt sind, unterliegen mithin der Beschieſsung und der Weg-
nahme.
4. Der Friedensschutz der unterseeischen Kabel (oben § 30 IV)
erstreckt sich nicht auf den Krieg.
Die Zerreiſsung oder Beschädigung der Kabel ist mithin nicht
völkerrechtswidrig, auch wenn sie in neutralem Eigentum stehen.
Doch muſs vorausgesetzt werden, daſs der Eingriff auf dem Kriegs-
schauplatz erfolgt und durch den Kriegszweck geboten ist.
5. Feindliches Staatseigentum wird Beute des Wegnehmenden.
Auch hier aber gelten die unten unter III angeführten Aus-
nahmen.
II.
Eine dem Seekrieg eigentümliche Maſsregel ist die kriegerische
Blokade.
Vgl. Fauchille, Du blocus maritime. 1882.
Über die Friedensblokade oben § 38 III 3.
[233]§ 42. Der Seekrieg insbesondere.
Blokade ist die Absperrung eines Küstenstriches (eines Hafens
oder andern Platzes, einer Fluſsmündung, einer Meerenge) vom See-
verkehr.
Irreleitend bezeichnet man wohl die Sperrung des Fahrwassers
durch Steine oder versenkte Schiffe als Steinblokade (blocus par
pierres). Diese Maſsregel hat mit dem Begriff der Blokade über-
haupt nichts zu thun.
1. Voraussetzung der Rechtswirksamkeit einer Blokade ist zu-
nächst ein Krieg im völkerrechtlichen Sinne des Wortes.
Sie ist daher ausgeschlossen, wenn es sich um die Nieder-
werfung eines Aufstandes (etwa in überseeischen Kolonieen) handelt.
Die Rechtswirksamkeit der Kriegsblokade setzt aber weiter ein
doppeltes voraus.
a) Die „Effektivität“, d. h. die thatsächliche Verhinderung des
Verkehrs, die durch eine genügende Anzahl stationierter oder kreuzen-
der Kriegsschiffe gesichert werden muſs.
Diesen Satz hatte bereits die bewaffnete Neutralität (oben
S. 12) zur Geltung gebracht. Sie erklärte sogar noch weitergehend
nur derjenige Hafen sei blokiert, „où il y a, par des bâtiments
de guerre arrêtés et suffisamment proches, un danger évident
d’entrer“. Damit ist auch die Blokade durch kreuzende Schiffe
(blocade par croisière) ausgeschlossen. Aber in der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts pflegten die Seemächte, insbesondere Frank-
reich und England, der bloſsen Erklärung, daſs ein Küstenstrich
blokiert sei, die Wirkung einer thatsächlichen Blokade beizulegen
(man denke an die Kontinentalsperre). Das war die sogenannte
papierne Blokade, der blocus sur papier, blocus de cabinet, auch
blocus anglais genannt. Dieser Übung gegenüber bestimmte die
Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856: „Les blocus, pour
être obligatoires, doivent être effectifs, c’est-à-dire maintenus par
une force suffisante pour interdire réellement l’accès du littoral de
l’ennemi.“ Spanien und Mexiko, nicht aber die Vereinigten Staaten,
sind dieser Vereinbarung beigetreten. Doch haben die Vereinigten
Staaten 1898 diesen Satz der Pariser Seerechtsdeklaration that-
sächlich anerkannt (Blokade von Kuba), so daſs er heute als all-
[234]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
gemein angenommen bezeichnet werden kann. In den Staatsverträgen,
so auch besonders in denen des Deutschen Reichs mit den mittel-
und südamerikanischen Staaten haben sich die Staaten vielfach noch
ausdrücklich zur Beobachtung dieser Rechtsregel verpflichtet.
b) Die Mitteilung an die neutralen Mächte (Generalnotifikation),
daſs von einem bestimmten Zeitpunkte angefangen ein bestimmtes Ge-
biet blokiert sei.
2. Die Rechtswirkung der Blokade besteht darin, daſs den Schiffen
auch der neutralen Mächte der Verkehr mit dem blokierten Gebiet
untersagt ist. Jeder Versuch, die Blokade zu durchbrechen, hat mit-
hin zur Folge, daſs das bei diesem Versuch festgenommene Schiff als
gute Prise dem Blokierenden verfällt.
Doch muſs das Schiff vor der Wegnahme auf die bestehende
Blokade besonders aufmerksam gemacht worden sein (Spezial-
notifikation); die erfolgte Mitteilung wird meist durch Eintragung
in die Schiffspapiere beurkundet. Diese mildere Übung wurde auch
von den Vereinigten Staaten 1898 befolgt. Gelungene Durchbrechung
der Blokade beweist, daſs diese nicht effektiv gewesen ist, erzeugt
daher für den Blokierenden keinerlei Anspruch. Die Lehre von der
„einheitlichen Reise“ muſs auch hier (unten § 43 IV S. 247) zurück-
gewiesen werden. Hat das Schiff die Blokade glücklich durchbrochen,
und wird es später auf der Weiterfahrt oder auf der Rückfahrt auf-
gegriffen, so darf es nicht mit Beschlag belegt werden (Springbock-
Fall 1863).
Gestattet ist der amtliche Verkehr der neutralen Mächte mit
ihren Agenten.
3. Blokiert werden kann nur das unter der Staatsgewalt des
Feindes stehende, oder das vom Feinde besetzte eigene Gebiet.
Ausgeschlossen ist mithin die Blokade eines Teiles der offenen
See, insbesondere auch die einer unter der Meeresfreiheit stehenden
Meerenge. Ausgeschlossen ist ferner die Blokade derjenigen Land-
und Wassergebiete, die durch allgemeine oder besondere Verein-
barungen neutralisiert sind (oben § 40 I S. 217).
4. Die Blokade wird aufgehoben (nicht bloſs unterbrochen),
sobald aus irgend einem nicht bloſs vorübergehenden Grunde ihre
[235]§ 42. Der Seekrieg insbesondere.
Effektivität entfällt; nicht also, wenn das blokierende Geschwader
durch den Sturm zerstreut worden ist, wohl aber, wenn es auf der
Flucht vor dem Feinde oder aus andern Gründen sich aufgelöst oder
seine Stelle verlassen hat. In diesem Falle ist die Wirksamkeit
der erneuten Blokade durch erneute Notifikation bedingt.
III.
Das feindliche Privateigentum im Seekrieg ist gute Prise; ge-
nauer ausgedrückt: feindliches Gut unter feindlicher Flagge unterliegt
der Wegnahme durch die Kriegsschiffe (beziehungsweise Kaper) des
Gegners, während feindliches Gut unter neutraler Flagge und neutrales
Gut unter feindlicher Flagge frei bleibt (über diesen letzteren Satz
unten § 43 III).
1. Dieser Grundsatz, auf dessen Anwendung Preuſsen und
die Vereinigten Staaten schon im Ausgange des 18. Jahrhunderts ver-
zichtet hatten (Vertrag von 1785), ist im Gegensatz zu dem im Land-
krieg dem feindlichen Eigentum gewährten Schutz durch die Pariser
Seerechtsdeklaration, wenn auch nur indirekt, aufs neue sanktioniert
worden. Das war der Grund, weshalb die Vereinigten Staaten und
andre Mächte bis zum gegenwärtigen Augenblick sich geweigert haben,
der Deklaration beizutreten. Zu Beginn des letzten deutsch-französi-
schen Krieges hatte eine Verordnung des Norddeutschen Bundes vom
18. Juli 1870 bestimmt (R. G. Bl. 1870 S. 485): „Französische Handels-
schiffe sollen der Aufbringung und Wegnahme durch die Fahrzeuge
der Bundes-Kriegsmarine nicht unterliegen. Diese Bestimmung findet
keine Anwendung auf diejenigen Schiffe, welche der Aufbringung
und Wegnahme auch dann unterliegen würden, wenn sie neutrale
Schiffe wären.“ Da aber Frankreich sich weigerte, seinerseits auf
die Wegnahme deutscher Schiffe zu verzichten, wurde die Bestim-
mung durch Verordnung vom 19. Januar 1871 (R. G. Bl. 1871 S. 8)
mit Wirkung vom 10. Februar ab wieder auſser Kraft gesetzt. That-
sächlich wurden während des Krieges 75 deutsche Schiffe von den
französischen Kreuzern aufgebracht.
Selbstverständlich kann die Anwendung des Prisenrechts
durch Staatsverträge für immer oder für einen bestimmten Krieg,
ebenso wie durch die nationale Gesetzgebung unbedingt oder unter
[236]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Voraussetzung der Gegenseitigkeit ausgeschlossen werden. (Italie-
nisches Handelsgesetzbuch vom 21. Juni 1865 Artikel 211.)
Regelmäſsig wird den feindlichen Schiffen eine bestimmte
Frist gewährt, um sich in Sicherheit zu bringen (Indult; oben
§ 39 IV S. 213). Schiffe, die vor Ablauf dieser Frist den feindlichen
Hafen verlassen oder vor Beginn der Frist ihre Reise angetreten
haben, bleiben in diesem Falle unbehelligt.
2. Die Wegnahme darf nur erfolgen, wenn sowohl Schiff als
Ladung feindlich sind.
a) Das Schiff ist feindlich, wenn es unter feindlicher Flagge
fährt, oder wenn es zu Unrecht die Flagge eines neutralen Staates
führt, während es die feindliche Flagge zu führen rechtlich ver-
pflichtet ist.
Denn nach dem allgemeinen Grundsatz des internationalen
Seerechts (oben § 26 IV) bestimmt sich die Staatszugehörigkeit eines
Schiffes durch die Flagge, und über Recht und Pflicht der Flaggen-
führung entscheidet lediglich die nationale Gesetzgebung des Staates,
dessen Flagge das Schiff führt. Eine Ausnahme muſs nur insoweit
gemacht werden, als die Schiffe derjenigen Mächte, die selbst keine
Seeflagge haben, sich der Flagge eines andern Staates mit dessen
Zustimmung bedienen. So fahren schweizerische Schiffe gegebenen
Falles unter deutscher Flagge. In diesem Falle gewinnen die Schiffe
mit der Flagge nicht auch zugleich die Staatsangehörigkeit.
Aber die Durchführung jener Sätze im Seekrieg bietet Schwierig-
keiten und Bedenken. Die Gefahr liegt nahe, daſs ein feind-
liches Schiff, um sich vor der Wegnahme zu schützen, neutrale
Flagge führt. Daher läſst die französische Rechtsprechung die
Staatsangehörigkeit des Schiffseigners, die englisch-amerikanische
dessen Wohnsitz entscheiden. Nach der ersten Ansicht ist das
Schiff ein feindliches, wenn es einem Angehörigen des gegnerischen
Staates gehört; nach der zweiten, wenn sein Eigentümer in dem
gegnerischen Staat seinen Wohnsitz hat.
Es ist ferner daran festzuhalten, daſs auch die nach Aus-
bruch des Krieges stattgehabte Veränderung in der Staatszugehörig-
keit des Schiffes von den Kriegführenden anerkannt werden muſs,
[237]§ 42. Der Seekrieg insbesondere.
vorausgesetzt nur, daſs es sich nicht um ein Scheingeschäft handelt.
Wenn also das Schiff infolge eines Verkaufs in anderes Eigentum
übergeht und damit das Recht gewinnt, die Flagge eines neutralen
Staates zu führen, so darf es nicht weggenommen werden. Doch
hat hier die Rechtsprechung der Prisen-Gerichte in den verschie-
denen Ländern vielfach eine strengere Auffassung vertreten.
b) Die Ladung ist eine feindliche, wenn sie im Eigentum eines
Staatsangehörigen des Gegners steht, mag dieser Absender oder Em-
pfänger der Ware sein.
Auch hier läſst die englisch-amerikanische Auffassung den
Wohnsitz und nicht die Staatsangehörigkeit entscheiden; sie geht
auch im übrigen über den aufgestellten und von den Kontinental-
mächten festgehaltenen Grundsatz hinaus (feindlich ist die Ware,
die ein Erzeugnis des feindlichen Bodens ist).
3. Von der Wegnahme sind gewohnheitsrechtlich gewisse Schiffe
befreit; doch ist die Gewohnheit eine schwankende.
Meist rechnet man hierher: die zur Küstenfischerei bestimmten
Boote und Gerätschaften; Schiffe, die zu wissenschaftlichen For-
schungen und für Missionszwecke ausgerüstet sind; Lotsenboote und
Kartellboote (die zur Überbringung von Parlamentären oder von aus-
zuwechselnden Gefangenen bestimmt sind). Sanitätsschiffe und
Rettungsboote dagegen nur nach der nichtratifizierten Genfer Kon-
vention von 1868.
4. Das Kriegsschiff (beziehungsweise der Kaper) hat nur das
Recht der Beschlagnahme.
Nachdem das verdächtige Schiff durch einen blinden Schuſs
(coup de semonce) zur Anhaltung und zur Weisung seiner Flagge
angehalten worden ist, wird es durch eine Abordnung des Kriegs-
schiffes besucht, damit die Staatsangehörigkeit des Schiffes und der
Ladung festgestellt werden kann. Stellt eine Durchsuchung der
Schiffspapiere fest, daſs die Voraussetzungen der Wegnahme ge-
geben sind, so wird das Schiff mit Beschlag belegt und entweder
durch seine eigene Mannschaft oder durch die Mannschaft des Kriegs-
schiffes in den nächsten Hafen des Wegnehmenden gesteuert. Leistet
das Schiff Widerstand, so kann es in den Grund gebohrt werden;
[238]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
dasselbe ist der Fall, wenn die Wegführung den Kreuzer selbst (sei
es wegen der Nähe des Feindes, sei es wegen der groſsen Ent-
fernung, sei es aus andern Gründen) dringender Gefahr aussetzt.
5. Daſs die Beschlagnahme gerechtfertigt gewesen sei, muſs
durch ein Urteil des Prisengerichts ausgesprochen werden. Mit diesem
Urteil geht das Eigentum an Schiff und Ladung auf den Staat über,
dessen Kriegsschiff die Wegnahme bewirkt hat.
Die Ladung verfällt, soweit sie feindlich ist. Die Verwer-
tung der guten Prise erfolgt meist, nicht notwendig, durch Ver-
kauf. Schiffer und Mannschaft werden Kriegsgefangene, soweit sie
Staatsangehörige des Gegners sind; soweit dies nicht der Fall ist,
werden sie freigegeben.
Ungerechtfertigte Beschlagnahme verpflichtet den Staat, dem
das aufbringende Kriegsschiff angehört, zur Entschädigung des
Schiffes.
Die Zusammensetzung des Prisengerichts und das vor diesem
einzuschlagende Verfahren bestimmt sich durch die innere staat-
liche Gesetzgebung. Vgl. das deutsche Reichsgesetz, betreffend
die Prisengerichtsbarkeit vom 3. Mai 1884 (R. G. Bl. 1884 S. 49),
das aus nur zwei Paragraphen besteht. § 1: „Die Entscheidung über
die Rechtmäſsigkeit der in einem Kriege gemachten Prisen erfolgt
durch besondere Behörden (Prisengerichte).“ § 2: „Der Sitz der
Prisengerichte, ihre Zusammensetzung, das Verfahren vor denselben,
sowie die Verpflichtung anderer Behörden des Reichs oder der Bundes-
staaten, in Prisensachen mitzuwirken, wird durch Kaiserliche Ver-
ordnung bestimmt.“ Dazu die aus Anlaſs der ostafrikanischen Blo-
kade zur Bekämpfung des Sklavenhandels erlassene kaiserliche Ver-
ordnung vom 15. Februar 1889 (R. G. Bl. 1889 S. 5). — Vgl. ferner das
vom Institut für Völkerrecht ausgearbeitete und allen Regierungen
mitgeteilte Prisenreglement von 1887 (welches in der Berufungs-
instanz internationale Gerichtshöfe vorgeschlagen hat). In seiner
Jahresversammlung von 1897 hat das Institut dieses Reglement
mit den 1896 gefaſsten Beschlüssen über Kontrebande (unten § 43 IV)
in Einklang gebracht.
[239]§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
6. Wird vor rechtskräftiger Entscheidung des Prisengerichts
das aufgebrachte Schiff dem aufbringenden Kreuzer wieder entrissen
oder gelingt es ihm zu entkommen (reprise, recousse), so verbleibt
Schiff wie Ladung dem früheren Eigentümer.
7. Das Prisenrecht endigt mit dem endgültigen Aufhören der
Feindseligkeiten, also mit dem Friedensschluſs.
Die später erfolgte Wegnahme ist rechtsunwirksam; die früher
erfolgte kann vor dem Prisengericht weiter verfolgt werden. Meist
werden bereits im Waffenstillstandsvertrag besondere Vereinbarungen
auch über die vor den Prisengerichten schwebenden Rechtsstreitig-
keiten getroffen.
Vgl. den Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871 Ar-
tikel 13: „Die Deutschen Schiffe, welche durch Prisengerichte vor
dem 2. März 1871 (an diesem Tag wurden die Ratifikationen der
Friedenspräliminarien ausgetauscht) kondemniert waren, sollen als
endgültig kondemniert angesehen werden.“
„Diejenigen, welche an besagtem Tage nicht kondemniert
waren, sollen mit der Ladung, soweit solche noch vorhanden,
zurückgegeben werden. Wenn die Rückgabe der Schiffe und
Ladungen nicht mehr möglich ist, so soll ihr nach dem Verkaufs-
preise bemessener Wert ihren Eigentümern erstattet werden.“
§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
Schopfler, R. G. II 632.
Féraud-Giraud, R. G. II 291.
Heilborn, Rechte und Pflichten der neutralen Staaten in Bezug auf die
während des Krieges auf ihr Gebiet übertretenden Angehörigen einer
Armee und das dorthin gebrachte Kriegsmaterial der kriegführenden
Parteien. 1888.
Kleen, Lois et usages de la neutralité d’après le droit international con-
ventionel et coutumier des Etats civilisés. I. Bd. 1898.
I.
Der Krieg erzeugt nicht nur ein Rechtsverhältnis zwischen den
Kriegführenden, sondern auch ein solches zwischen den Kriegführenden
und den nicht am Krieg beteiligten Mächten.
Dieses Rechtsverhältnis wird Neutralität genannt. Für die neu-
tralen Mächte (die medii in bello) ist der Krieg eine res inter alios
[240]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
gesta; sie haben an die Kriegführenden den Anspruch, von den Feind-
seligkeiten unberührt zu bleiben; und sie haben den Kriegführenden
gegenüber die Verpflichtung, an den Feindseligkeiten keinen Anteil zu
nehmen.
Die Rechtsstellung der Neutralen tritt ohne weiteres mit dem
Kriegszustande ein. Die am Krieg nicht beteiligten Staaten pflegen
jedoch noch besondere Neutralitätserklärungen abzugeben; doch ist
die Unterlassung dieser Erklärung ohne rechtliche Bedeutung. Das
Deutsche Reich hat daher keine Rechtspflicht verletzt, als es während
des spanisch-nordamerikanischen Krieges von 1898 eine besondere
Neutralitätserklärung unterlieſs; es hat aber auch durch diese Unter-
lassung seine Rechtsstellung in keiner Beziehung geändert.
1. Der strenge Rechtsbegriff der Neutralität ist dem alten
Völkerrecht fremd; von der Willkür des Kriegführenden hing es
ab, ob er diejenigen Mächte, die nicht für ihn waren, als seine
Feinde ansehen wollte oder nicht. Verschiedene Vereinbarungen
einzelner Mächte (Pyrenäenvertrag 1659, Utrechter Frieden 1713)
sowie insbesondere auch die Bemühungen Preuſsens hatten keinen
bleibenden Erfolg. Erst durch die bewaffnete Neutralität (oben S. 12)
wurde von den neutralen Mächten unter der Führung von Ruſsland
und Frankreich die Rechtsstellung der am Kriege nicht beteiligten
Staaten zur Anerkennung gebracht; und nach der rückläufigen Be-
wegung während der groſsen Kämpfe der napoleonischen Zeit
bildete die Einigung der groſsen Seemächte England und Frank-
reich im Krimkrieg und der auf dieser Übereinstimmung beruhende
Pariser Frieden von 1856 einen neuen und wesentlichen Fortschritt
in der Anerkennung der den Neutralen zustehenden Rechte.
2. Der Begriff der Neutralität läſst Abstufungen nicht zu.
Jede Beteiligung am Kriege, sei es auch nur durch die Zahlung
von Subsidien, die Stellung von Hilfstruppen, die Gewährung von
Schiffen und andern Kriegsmaterialien, die Gestattung des Durch-
zugs u. s. w. vernichtet die aus der Neutralität flieſsenden Rechte.
Auch die sogenannte „wohlwollende Neutralität“ (neutralité bien-
veillante), wie sie 1870 Bismarck von England begehrte und wie
[241]§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
sie insbesondere auch Artikel 2 des deutsch-österreichischen Bünd-
nisvertrages vom 7. Oktober 1879 vereinbart (oben § 37 III), steht
im Widerspruch mit dem Begriff der Neutralität und berechtigt
den Gegner dazu, den Freund seines Feindes als Feind zu be-
handeln. Dagegen ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daſs die
neutralen Mächte ihre Neutralität durch Aufgebot ihrer Truppen-
macht zu verteidigen sich rüsten (bewaffnete Neutralität), so
lange sie nicht angriffsweise gegen einen der Kriegführenden vor-
gehen.
II.
Der neutrale Staat darf keinen der Kriegführenden in der
Führung des Krieges unterstützen. Er darf für keinen von ihnen that-
sächlich Partei ergreifen, wenn er auch seine Neigung und Abneigung
auszusprechen durchaus berechtigt ist. Was er dem einen gewährt,
darf er dem andern nicht versagen. Diese Pflicht trifft den Staat als
solchen, nicht seine Unterthanen. Doch haftet der Staat unter ge-
wissen Voraussetzungen für die von diesen vorgenommenen Handlungen.
Die Abgrenzung kann Schwierigkeiten machen. Es empfiehlt
sich daher für jeden Staat, seine Auffassung von den Pflichten,
welche durch die Neutralität seinen Staatsangehörigen auferlegt
werden, durch die nationale Gesetzgebung zum klaren Ausdruck zu
bringen. Das hat z. B. England durch seine Foreign Enlistment
Act von 1870 gethan. Demselben Zwecke dienen (teilweise) die
von den nichtbeteiligten Mächten erlassenen Neutralitätserklärungen.
1. Jede direkte Unterstützung des einen oder des andern Krieg-
führenden durch die Regierung des neutralen Staates ist eine Ver-
letzung des Völkerrechts; ebenso die Gewährung von Hilfstruppen oder
von Geldmitteln, die Gestattung des Durchzugs von Truppen durch
das neutrale Staatsgebiet, die Lieferung von Waffen oder anderem
Kriegsbedarf, der Verkauf von Kriegsschiffen u. s. w.
Das gilt auch von dem Fall, daſs sich der neutrale Staat
durch Verträge, die er vor dem Krieg mit einem der Kriegführenden
geschlossen hat, zu solchen Leistungen verpflichtet haben sollte.
Durch die Erfüllung dieser Vertragspflichten nimmt er am Kriege
teil und verwirkt die Rechtsstellung des Neutralen. Von allen
Seiten ist es als eine schwere Verletzung des Völkerrechts bezeichnet
v. Liszt, Völkerrecht. 16
[242]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
worden, daſs die Regierung der Vereinigten Staaten während des
deutsch-französischen Krieges groſse Mengen von Waffen an Frank-
reich verkaufte.
2. Insbesondere darf der neutrale Staat nicht dulden, daſs das
von ihm beherrschte Land- und Wassergebiet zum Ausgangs- oder
Stützpunkt für kriegerische Unternehmungen gemacht wird.
Er ist daher verpflichtet, Streitkräfte der Kriegführenden,
die auf sein Gebiet gedrängt werden (man erinnere sich an den
Übertritt der französischen Ostarmee auf schweizerisches Gebiet
am 1. Februar 1871), zu entwaffnen und während der Dauer des
Krieges auf Kosten des Kriegführenden, dem sie angehören, zu
internieren. Er darf nicht gestatten, daſs auf seinem Staats-
landgebiet Werbungen oder Rüstungen für einen der Kriegführen-
den vorgenommen werden; und wenn er auch nicht verpflichtet
ist, seine Staatsangehörigen zu hindern, daſs sie in dem einen
oder dem andern der streitenden Heere Kriegsdienste nehmen,
so verletzt er doch die Pflicht der Neutralität, wenn er seinen
aktiven Offizieren und Mannschaften die Teilnahme an den Feind-
seligkeiten gestattet, ohne sie aus dem eigenen Dienste zu ent-
lassen. Es war daher eine Verletzung der Neutralität, als Ruſs-
land 1876 seinen Offizieren den Dienst in der serbischen Armee
gestattete. Über die deutschen Offiziere im türkischen Heere
während des griechischen Feldzuges von 1897 vgl. R. G. IV 720.
Dasselbe gilt im allgemeinen auch von dem Staatswassergebiet.
Doch darf den Kriegsschiffen der Kriegführenden die Durchfahrt
durch die Küstengewässer, ja sogar im Falle der Seenot (relâche
forcée) der Aufenthalt in diesen, gestattet werden. Auch ist es
keine Verletzung der Neutralität, wenn den Kriegsschiffen der
Kriegführenden das Anlaufen der Häfen und das Einnehmen der
für die Weiterreise bis zum nächsten Hafen erforderlichen Kohlen
gestattet wird; doch müssen in diesem Falle die beiden Gegner
mit gleichem Maſs gemessen werden. Dagegen darf der neutrale
Staat nicht dulden, daſs in seinen Häfen und auf seinen Werften
Kriegsschiffe für einen der Kriegführenden gebaut, ausgerüstet,
[243]§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
bemannt werden, oder daſs sie seine Häfen ohne Not als Zufluchts-
ort oder zur Einholung von Kohlen oder Ausbesserung von Havarieen
benutzen; er haftet für allen durch diese Schiffe dem Gegner ver-
ursachten Schaden, wenn er diese Verletzung der Neutralität wissent-
lich oder fahrlässig geschehen lieſs (Alabama-Fall, oben § 38 II
S. 202).
3. Der neutrale Staat darf sich nicht selbst an der von einem
der Kriegführenden ausgeschriebenen Kriegsanleihe beteiligen, braucht
aber seine Staatsangehörigen an der Beteiligung nicht zu hindern und
kann daher (wie das England 1870 bezüglich der von dem Gouverne-
ment de la défense nationale ausgeschriebenen Morgan-Anleihe ge-
than hat) die Auflegung zur Zeichnung seinen Börsen gestatten. Er
darf nicht selbst Kriegslieferungen und Kriegsleistungen (etwa Truppen-
transporte) übernehmen, kann aber seinen Angehörigen gestatten, das
auf ihre eigene Rechnung und Gefahr zu thun.
Die neutralisierten Staaten haben häufig, teils durch allge-
meine Gesetze (so die englische Foreign Enlistement Act von 1870)
oder durch besondere für die Dauer des Kriegs erlassene Ausfuhr-
verbote (von Kriegsmaterial, Schiffen, Pferden u. s. w.) solche
Lieferungen und Leistungen zu verhindern sich bemüht, während
die deutsche Industrie gerade aus den letzten Kriegen vielfach
Vorteile gezogen hat.
III.
Nach heute feststehendem Rechtssatz ist der Handel der Neu-
tralen auch in Kriegszeiten frei. Die Staatsangehörigen der Neutralen
dürfen zu Wasser und zu Lande, nicht nur unter sich, sondern auch
mit den Kriegführenden selbst, nicht nur auf neutralem Gebiet, son-
dern auch auf dem Kriegsschauplatz, Handel treiben. Doch unterliegt
die Kriegskontrebande (unten IV) zu Lande wie insbesondere zur See
der Wegnahme durch den Kriegführenden; und im Seekrieg sperrt die
Blokade (oben § 42 II) den Verkehr der Neutralen mit dem blokierten
Gebiet.
1. Diese Sätze beruhen auf der Pariser Seerechtsdeklaration von
1856. Durch diese wurde ausgesprochen, daſs, von der Kontrebande ab-
gesehen, nur feindliches Gut unter feindlicher Flagge der Wegnahme im
Seekrieg unterliegt (oben § 42 III). Feindliches Gut unter neutraler
Flagge wird durch diese gedeckt und bleibt frei. („Le pavillon neutre
16*
[244]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
couvre la marchandise ennemie“ oder Anerkennung der alten Rechts-
regel: „frei Schiff, frei Gut.“) Und umgekehrt: auch das unter
feindlicher Flagge fahrende neutrale Gut darf nicht weggenommen
werden (la marchandise neutre ..... n’est pas saisissable sous pavillon
ennemi“; oder Verwerfung der alten Rechtsregel: „unfrei Schiff,
unfrei Gut“).
2. Diese Sätze waren dem alten Rechte fremd. Am weitesten
war die französische Praxis des 16. und 17. Jahrhunderts (noch in
der Ordonnance de la marine von 1681) gegangen, die Schiff und
Ladung der Wegnahme unterwarf, wenn auch nur Schiff oder
Ladung feindlich war („confiscantur ex navibus res et ex rebus
naves“). Die an das Consolato del mar anknüpfende englische
Praxis lieſs die Eigenschaft der Ware entscheiden und nahm feind-
liches Gut auch unter neutraler Flagge weg. Weit verbreitet war im
übrigen der Satz, daſs die feindliche oder neutrale Flagge maſs-
gebend sei („frei Schiff, frei Gut; unfrei Schiff, unfrei Gut“. „Navire
confisque cargaison“ oder „robe d’ennemi confisque celle d’ami“).
Der jetzt geltende Rechtssatz war aber bereits in dem Ver-
trage Frankreichs mit den Vereinigten Staaten von 1778, sowie
insbesondere von der bewaffneten Neutralität (oben S. 12) aufge-
stellt worden und hatte Eingang auch teilweise in die Gesetzgebung
des 18. Jahrhunderts, so insbesondere in das preuſsische allgemeine
Landrecht gefunden. Die Seerechtsdeklaration von 1856 war das
Ergebnis der Verständigung zwischen Frankreich und England und
des Anschlusses von Ruſsland. Sie bindet nur die Sigatarmächte
in ihrem Verhältnis zu einander. Vielfach aber haben sich auch
andere Staaten durch besondere Staatsverträge (mehrfache Verträge
auch des Deutsehen Reichs mit süd- und mittelamerikanischen
Staaten) zur Beobachtung dieser Sätze verpflichtet. Auch Spanien
und Mexiko, nicht aber die Vereinigten Staaten, haben in diesem
Punkte sich der Pariser Deklaration angeschlossen.
IV.
Die Kriegskontrebande dagegen unterliegt zu Lande wie ins-
besondere zur See der Wegnahme durch die Streitkräfte des Krieg-
führenden, dessen Gegner sie zugeführt werden soll.
[245]§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
Kleen, De la contrebande de guerre et des transports interdits aux neutres.
1893. (R. J. XXV 7.)
Vossen, Die Kontrebande des Krieges. Erlanger Diss. 1896.
Vgl. auch R. G. II 182 und die Verhandlungen des Instituts für Völker-
recht von 1895 und 1897.
1. Der Begriff der Kontrebande ist sehr bestritten.
- a) Unzweifelhaft gehören zur Kontrebande alle diejenigen Gegen-
stände, die unmittelbar und besonders zur Verwendung durch
die Streitkräfte bestimmt sind, also Waffen aller Art für den
Land- und Seekrieg, mögen es Feuerwaffen oder blanke Waffen
sein, ebenso die Kriegsmunition.
Auf diese Gegenstände hatte sowohl der Pyrenäische Frieden
von 1659 als auch der Utrechter Frieden von 1713 den Begriff
der Kontrebande beschränkt. Auch die bewaffnete Neutralität stand
auf diesem Standpunkt, aber unter Hinzufügung der zur Erzeugung
des Schieſspulvers erforderlichen Stoffe (Schwefel und Salpeter);
und das preuſsische allgemeine Landrecht hat sich ihm ange-
schlossen. Nach dieser Auffassung ist die „destination hostile“,
die als dem Gegenstand aufgeprägt erscheint, ausschlaggebend.
- b) Eine weitergehende, schon von Grotius aufgestellte und insbe-
sondere von England vertretene Ansicht rechnet aber auch
solche Gegenstände hierher, die an sich sowohl friedlichen als
auch kriegerischen Zwecken dienen können (res ancipitis usus),
wie Pferde, Wagen, Kohlen, Dampfmaschinen, Segeltuch,
Roheisen, Bauholz, Kleidungsstücke u. s. w., wenn diese Gegen-
stände im einzelnen Fall nachweisbar, sei es unmittelbar, sei
es nach vorangegangener Bearbeitung, den Zwecken des An-
griffs oder der Verteidigung dienen sollen (contrebande relative
oder par accident).
Dagegen fallen auch nach dieser Ansicht Bargeld und Wert-
papiere sowie Lebensmittel niemals unter den Begriff der Kontre-
bande, auch wenn sie unmittelbar den Truppen zugeführt werden
und zu deren Löhnung oder Verpflegung dienen sollen.
Unter diesen Umständen pflegen, da es an einem allgemein
anerkannten Rechtssatz fehlt, bei Ausbruch eines Krieges die Krieg-
führenden durch besondere Bekanntmachung die Gegenstände zu
bezeichnen, die sie als Kontrebande zu behandeln gedenken. Auch
[246]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
finden sich in den zwischen einzelnen Staaten geschlossenen Ver-
trägen vielfach Vereinbarungen über die Ausdehnung, welche die Kon-
trahenten dem Begriff der Kontrebande geben werden. Die Kongoakte
vom 26. Februar 1885 begnügt sich mit einem allgemeinen Hinweis
auf das Völkerrecht. Artikel 25 sagt in Absatz 3: „Dieser Grund-
satz (der Handelsfreiheit) erleidet eine Ausnahme nur bezüglich der
Beförderung von Gegenständen, welche für einen Kriegführenden
bestimmt und nach dem Völkerrecht als Kriegskontrebande anzusehen
sind“ (ebenso Artikel 33 Absatz 4).
- c) Als Quasikontrebande (contrebande par analogie) bezeichnet
man wohl auch die Kriegsmannschaften selbst, sowie auch die
militärischen Depeschen; d. h. man unterwirft die neutralen
Schiffe, auf welchen diese oder jene befördert werden, ebenso
der Wegnahme, als wenn sie wirkliche Kontrebande geführt
hätten.
2. Die Kriegskontrebande unterliegt der Wegnahme jedoch nur
dann, wenn sie während der Beförderung an den Kriegführenden von
dessen Gegner ergriffen wird.
Das Schiff, das Kontrebande geführt hat, wird frei, sobald
es die Ladung glücklich gelöscht hat. Es darf auf der Weiterfahrt
oder auf der Heimreise nicht mit Beschlag belegt werden. Maſs-
gebend ist der Bestimmungsort der Ware, d. h. der wirkliche Be-
stimmungsort, nicht eine Scheinadresse. Dabei kommt aber nur
derjenige Bestimmungsort in Frage, nach dem das Schiff die Ware
zu bringen hat; nicht der Ort, an welchen, von jenem Bestimmungs-
hafen des Schiffes aus, die Ware, sei es zur See, sei es auf dem
Landwege, weiter gebracht werden soll. Ist während eines deutsch-
französischen Krieges ein amerikanisches Schiff mit Kontrebande
von New-York nach Portsmouth unterwegs, und es kann nachge-
wiesen werden, daſs die Ware in dem englischen Hafen gelöscht
und dann durch ein anderes Schiff in die Hände eines der Krieg-
führenden gebracht werden soll, so unterliegt das Schiff der Weg-
nahme nicht. Die entgegengesetzte Ansicht betrachtet zunächst
die ganze Reise des Schiffes von dem Verlassen des Heimathafens
bis zur Rückkehr in diesen als eine Einheit und gestattet daher
[247]§ 43. Die Rechtsstellung der neutralen Mächte.
die Wegnahme des Schiffes auch nach der Löschung der Ladung.
Sie will ferner die letzte Bestimmung der Ware entscheiden lassen
und erklärt die Wegnahme für zulässig, auch wenn die Ware zunächst
in einem neutralen Hafen gelöscht werden soll (Théorie de la con-
tinuité du voyage, du voyage continu; dolus non purgatur circuitu).
Vgl. Fauchille, R. G. IV 297.
Fedozzi, R. J. XXIX 70.
3. Das Verfahren ist dasselbe wie bei der Wegnahme von feind-
lichem Gut unter feindlicher Flagge (oben § 42 III).
Vgl. Duboc, R. G. IV. 328.
Das aufbringende Kriegsschiff hat also das aufgebrachte
Handelsschiff vor das nationale Prisengericht zu stellen, welches
über die Berechtigung der Wegnahme entscheidet. Das Verfahren
ist meist als Reklameprozeſs gestaltet; d. h. der Eigentümer der
weggenommenen Güter hat als „Reklamant“ den negativen Beweis
zu führen. Zu beachten ist, daſs nach einem nur von England
nicht anerkannten Rechtssatz die Beschlagnahme entfällt, wenn das
Handelsschiff von einem neutralen Kriegsschiff begleitet wird (so-
genannter Convoi) und der Befehlshaber dieses Begleitschiffes die
Erklärung abgiebt, daſs das Handelsschiff keine Kontrebande führe.
Das Deutsche Reich hat in verschiedenen Verträgen mit den
mittel- und südamerikanischen Staaten diesen Rechtssatz ausdrück-
lich ausgesprochen. So bestimmt Artikel XXI Absatz 4 des deutschen
Freundschafts- u. s. w. Vertrages mit Salvador vom 13. Juni 1870
(R. G. Bl. 1872 S. 377): „Die Durchsuchung wird nicht gestattet
sein auſser an Bord von Schiffen, die ohne Geleit fahren. Wenn
sie mit Geleit reisen, so genügt es, daſs der Befehlshaber des
letzteren mündlich und auf sein Ehrenwort versichert, daſs die
unter seinen Schutz und seine bewaffnete Bedeckung gestellten
Schiffe dem Lande angehören, dessen Flagge sie führen, und daſs
er, wenn diese Schiffe nach einem feindlichen Hafen bestimmt
sind, ferner erklärt, daſs sie keine Kriegskontrebande an Bord
haben.“ Dieselbe Ansicht vertraten Frankreich während des Krieges
von 1870/71 und das Institut für Völkerrecht 1887.
[248]IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.
Wird die Wegnahme für gerechtfertigt erklärt, so verfällt
die Kontrebande; das Schiff selbst nur dann, wenn dessen Eigen-
tümer mitschuldig ist.
Mit dem Abschluſs des Friedens, also mit dem Aufhören des
Kriegszustandes fällt auch das Prisenrecht hinweg. Neue Weg-
nahmen dürfen nicht erfolgen; die bereits erfolgten können aber
abgeurteilt werden (oben § 42 III).
Vgl. Brusa, R. G. IV 157 gegen Fedozzi, R. J. XXIX 64.
Appendix A
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Völkerrecht. Das Völkerrecht. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnsz.0