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Das Odfeld.


So iſt es alſo das Schickſal Deutſch¬
lands immer geweſen, daß ſeine Be¬
wohner, durch das Gefühl ihrer Tapfer¬
keit hingeriſſen, an allen Kriegen Theil
nahmen; oder, daß es ſelbſt der Schau¬
platz blutiger Auftritte war. Daß wenn
über die Grenzen am Oronoco Zwiſt
entſtand, er in Deutſchland mußte aus¬
gemacht, Canada auf unſerm Boden er¬
obert werden.


((Holzmindiſches Wochenblatt,
45. Stück, den 10. Novbr. 1787.)
)
Leipzig,:
Verlag von B. Eliſcher.
1889.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.

Dicht am Odfelde, in der angenehmſten Mitte des
Tilithi- oder auch Wikanafeldiſtan-Gaus, liegt auf dem
Auerberge über dem romantiſchen, vom luſtigen Forſt¬
bach durchrauſchten, heute freilich arg durch Stein¬
brecherfäuſte verwüſteten Hoopthal das uralte Kloſter
Amelungsborn. Will man die Geſchichte, die ich hier¬
von erzählen kann, anhören, ſo iſt es mir recht.
Wenn nicht, muß ich mir das auch gefallen laſſen und
rede von den alten Sachen, wie ſchon recht häufig, zu
nur ſelber allein. Iſt nämlich unter Umſtänden auch
ein Vergnügen, einerlei ob am ſonnigen Sonntag¬
morgen, im abendlichen Alltagszwielicht, im Sommer
oder im Winter; — nur in der richtigen Stimmung
muß man ſich dann mit ſich ſelber allein finden!


Ach ja, wenn man ſo das Ohr an ein Bündel ver¬
gilbter Papiere, an ein würdig Pergamen, an einen
Folianten in Schweinsleder, ja oder auch an eines der
Büchelchen in Duodez mit abgegriffenem Sammetein¬
band, Goldſchnitt und Kupfern von Daniel Chodowiecki
legt! Oft hört dann kein Kind, das eine Muſchel an
Raabe, Das Odfeld. 1[2] das Ohr hält, von Ferne her ein geheimnißvolleres,
tiefgründigeres Tönen, Sauſen und Brauſen.


Man kann dann und wann ſogar über ſeiner Ma¬
terie, ſeinem gelehrten Rüſtzeug auf beiden Armen
liegend, gründlich gelangweilt einſchlafen und beim
Wiedererwachen zu ſeiner Verwunderung bemerken, daß
man doch etwas gelernt habe, zum Weitergeben an
Andere. Auch in dieſer Hinſicht beſcheert es der Herr¬
gott den Seinen nicht ſelten im Traum; und es iſt oft
nicht das Schlechteſte, was ſo den Leſern zufällt —
und auch dem Geſchichts- und Geſchichten-Schreiber,
falls er nur nachher eben bei ſeinem Niederſchreiben
die Augen offen und die Feder feſt in der Hand be¬
halten hat.


Schon Cajus Cornelius Tacitus ſoll die Gegend
um den Ith gekannt haben, wenn auch nicht aus per¬
ſönlicher Anſchauung. Er ſoll von dem Odfelde — Cam¬
pus Odini
, und von dem Vogler — mons Fugleri reden.
Dieſes laſſen wir auf ſich beruhen; aber die Gegend
iſt allzu fett und fein, als daß ſie nicht gleichfalls der
Tummelplatz vieler menſchlicher Begehrlichkeit und als
Wahlſtätte weltgeſchichtlicher Katzbalgereien hergehalten
haben ſollte.


Römer haben ſich ziemlich ſicher hier auf Wodans
Felde mit Cheruskern gezerrt und gezogen, Franken mit
Sachſen und die Sachſen ſich ſehr untereinander. Die
alte Köln-Berliner Landſtraße läuft nicht umſonſt über
das Odfeld, vorbei an dem Quadhagen: Oſt und Weſten
[3] konnten alſo, wenn ſie ſich etwas mit dem Prügel in
der Fauſt zu ſagen hatten, wohl aneinander gelangen,
und daß ſie bis in die jüngſte Zeit ausgiebigen Ge¬
brauch von der Weggelegenheit machten, davon wird
der Leſer Erfahrung gewinnen, wenn er nur um ein
Kleines weiterblättert.


Wie hübſch iſt es, wenn Brüder friedlich beiein¬
ander wohnen, und wie ſelten iſt es! Und da es ſo
ſelten iſt, ſo hat es zu allen Zeiten Leute gegeben, die
ihrer Nerven wegen den Verkehr und Umgang mit
ihrer Nachbarſchaft nach Thunlichkeit mieden oder ihn
wohl ganz abbrachen und ſich auf ſich ſelber zurück¬
zogen. Ein ſolcher Einſiedler hätte im Jahre Sieben¬
zehnhunderteinundſechzig Magiſter Buchius im Kloſter
Amelungsborn wohl ſein mögen, und ein ſolcher iſt
tauſend Jahr früher der Gründer des Kloſters unbe¬
dingt geweſen.


Das heißt ſo unbedingt der Gründer kann der
Mann Amelung, der vor undenklichen Zeiten, im Thal
unter dem Auerberge, oder dießmal genauer unterm
Küchenbrink, den Born, der nachher ſeinen Namen trug,
aufgrub, nicht genannt werden. Der Mann wollte
nichts gründen, der Mann wollte ſicherlich nichts weiter
als endlich ſeine Ruhe vor der Brüder- und Schweſter¬
ſchaft dieſer Welt. Hoffentlich iſt ſie ihm zu Theil
geworden im Eichenſchatten des Hoopthals und iſt der
wilde Eber mit ſeinen Angehörigen auf der Eicheln¬
ſuche ſein ſchlimmſter Störenfried geblieben, bis, wie
1*[4] es im Märchen heißt, eines Morgens die frommen
Rehe kamen und den lieben Freund und guten Greis
aller Unluſt durch Seinesgleichen auf Erden enthoben
fanden und ſo weiter.


„Und ſo weiter!“ nämlich werden an dieſer Stelle
ſchon leider mehr als Einer und Eine ſagen, denen
es jetzt ſchon ſcheint als ob der Hiſtoriograph wieder
einmal im Stande ſei, ihnen die gewohnte Unluſt zu¬
zubereiten, und — hinter Deren Rücken fahren wir fort
in unſerm Bericht.


Gegründet wurde das Kloſter Amelungsborn im
Anfang des zwölften Jahrhunderts von dem Grafen
Siegfried dem Jüngern von Homburg, dem man ſeinen
Vater Siegfried den Aeltern todtgeſchlagen hatte. Aus
dem erſten Ciſtercienſerkloſter in Deutſchland, Alten¬
kamp bei Köln, holte er ſich die Mönche, die die Stelle
der frommen Rehe und ſonſtigen lieben und betrübten
Waldthiere über dem Grabe ſeines Erblaſſers verſehen
ſollten. Sechs Mark Silber ſchenkte ſchon im Jahre
1125 Graf Simon von Daſſel dem Convent und fand
willige Nehmer. Der erſte Abt hieß Heinrich und ſtand
mit dem heiligen Bernhard von Clairvaux in Brief¬
wechſel, erhielt im Jahre 1129 auch ein Belobigungs¬
ſchreiben von ihm für ſein Kloſter, worüber großer
Jubel war, was mich nicht wundert, da es auch Andern
Vergnügen gemacht hat, mit dem heiligen Mann ſchrift¬
lich oder perſönlich in Verbindung zu kommen.


Im Jahre 1802 ſchreibt Schiller an Goethe:

[5]

„Ich habe mich dieſer Tage mit dem heiligen
Bernhard beſchäftigt und mich ſehr über dieſe Bekannt¬
ſchaft gefreut; es möchte ſchwer ſein, in der Geſchichte
einen zweiten ſo weltklugen geiſtlichen Schuft aufzu¬
treiben, der zugleich in einem ſo trefflichen Elemente
ſich befände, um eine würdige Rolle zu ſpielen. Er
war das Orakel ſeiner Zeit und beherrſchte ſie, ob er
gleich und eben darum weil er bloß ein Privatmann
blieb und andere auf dem erſten Poſten ſtehen ließ.
Päpſte waren ſeine Schüler und Könige ſeine Crea¬
turen. Er haßte und unterdrückte nach Vermögen alles
Strebende und beförderte die dickſte Mönchsdummheit,
auch war er ſelbſt nur ein Mönchskopf und beſaß nichts
als Klugheit und Heucheley; aber es iſt eine Freude,
ihn verherrlicht zu ſehen.“


„Zu der Bekanntſchaft des heiligen Bernhard gra¬
tulire ich,“ ſchreibt Goethe. —


Auf Herrn Heinrich folgte Herr Werner, dann kam
Hoiko, dann Eberhard, dann Gottſchalk, dann Theodor,
dann Arnold, dann Ratherius und ſo fort eine lange
Reihe, deren Namen man wohl noch weiß, aber nicht
mehr von ihren Gräberplatten aus Weſerſandſtein, die
zerbröckelt und verſtoben ſind wie die Gebeine der alten
Herren, die unter ihnen zum Ausruhen kamen. Wir
nennen von den frommen Vätern, die bis zur Refor¬
mation einander ablöſten auf dem Abtsſtuhl, nur noch
einen, nämlich Herrn Werner den Zweiten von Boden¬
werder. Zehn Schuhe ſoll der Mann lang geweſen ſein:
[6] der Freiherr von Münchhauſen, der ja auch von Boden¬
werder war, erzählt ſeltſamerweiſe von ihm nichts, was
das Ding freilich etwas verdächtig macht. Aber wie
dem auch ſei, wozu hilft alle Erdengröße, wenn in kri¬
tiſchen Zeiten der rechte Erdenverſtand dabei mangelt?


Kritiſche Zeiten kamen mit dem Wittenbergiſchen
Auguſtiner auch für die Ciſtercienſer zu Amelungsborn,
und fanden ausnahmsweiſe den rechten Mann mit dem
allerrichtigſten Verſtändniß an der Spitze der geiſtlichen
Bruderſchaft auf dem Auerberge. Andreas Steinhauer
hieß er, hatte im Jahre 1512, von deutſchen Eltern
in London geboren, zum erſtenmal aus ſchlauen Aeug¬
lein in die verworrene Welt hineingeblinzelt und ſicher¬
lich nicht ohne Gründe in Köln Theologie ſtudirt. Von
Bredelar aus beriefen ihn die Brüder in ihr Weſer¬
kloſter als Prior, und Herzog Heinrich der Jüngere
von Braunſchweig hatte bis zu ſeinem Tode Anno 1568
keinen getreuern Anhänger ſeines katholiſchen Glaubens
als ſeinen Abt zu Amelungsborn, Andreas Steinhauer.


Was helfen Einem die ſchönſten kritiſchen Zeiten,
wenn man ſie nicht zu benutzen verſteht? Dominus
Abbas Andreas Steinhauerius verſtand's; und wo Andere
unter plötzlich veränderten Umſtänden das Neſt hätten
räumen müſſen, wußte er es noch wärmer auszufüttern
und ſich ſogar ganz hausväterlich gemüthlich drin ein¬
zurichten. Die grimmig-päpſtiſche Fauſt im Eiſenhand¬
ſchuh des alten antiſchmalkaldiſchen Grimmbarts Herzog
Heinrich löſte ſich vom Kragen des braunſchweigiſchen
[7] Landes und ſank, Staub zu Staub, hinunter in die Gruft
der Kirche Beatae Mariae Virginis zu Wolfenbüttel.
Julius hieß der Erbe und Nachfolger im Reich, der
neuen Lehre zuerſt ſogar als Märtyrer zugethan, nun
aber ihr mächtiger Gönner und Beförderer. Ich habe
Gott Amor im Verdacht, daß er dem alten Herrn
Andreas ſein Märtyrerthum des Uebertritts zum Luther¬
thum nach Möglichkeit erleichterte vor ſeinem Gewiſſen.
Wie dem auch ſei, der letzte katholiſche Abt von Ame¬
lungsborn legte ſich ſofort um auf die andere Seite
und zog auch ſeinen ganzen Convent mit hinüber. Und
im Jahre 1572 freiete er, der Abt, nicht der Convent,
und führte heim in's Kloſter Jungfrawen Margarethen
Peinen, eines Bürgers zu Stadtoldendorf eheleiblich
und hoffentlich auch lieblich Töchterlein. Ob Sanct
Bernhard ſich darob in ſeinem Grabe zu Clairvaux
umgelegt habe, weiß Keiner; eine Verleumdung aber
iſt es, daß Vater Andreas Steinhauer ſeiner Eheliebſten
den Thurm der Stadtkirche zu Stadtoldendorf als
Heirathsgut verſchrieben habe. Der Thurm eignet heute
noch dem Kloſter Amelungsborn und nur die daran
hängende Kirche gehört löblicher Bürgerſchaft. Im
Jahre 1588 iſt auch dieſer werthe Mann zu ſeinen
Vätern verſammelt und in der Kloſterkirche beigeſetzt
worden. Sein Bild und Grabſtein ſind heute noch
dort zu ſehen, und der Magiſter Noah Buchius, der
nicht einmal den Namen mit dem ſeligen Ahnherrn
gemein hat, hat im währenden ſiebenjährigen Kriege
[8] durch vorgeſchobenes Gerümpel ſein Möglichſtes gethan,
beides zu ſchützen, ſowohl vor den Huſaren des Gene¬
rals Luckner, wie vor den auſtraſiſchen Freiwilligen
des Marſchalls von Broglio und den Bergſchotten My¬
lord Granby's.


Wie aber kam der Magiſter zu dieſem großen Ahn¬
herrn? Auf die einfachſte Weiſe. Sein Ururgroßvater
Veit Buchius folgte dem alten Andreas nicht nur auf
dem Abtſtuhl, ſondern auch im Ehebett. Und die
Wittib war jung und angenehm, und er hatte Nach¬
kommenſchaft. Jared zeugete Henoch. Henoch zeugete
Methuſalah. Methuſalah zeugete Lamech; und Lamech
zeugete einen Sohn und hieß ihn Noah und ſprach:


„Der wird uns tröſten in unſerer Mühe und Ar¬
beit auf Erden, die der Herr verflucht hat!“


Möge der Troſt, den wir perſönlich aus dem alten
Schulmeiſter, dem Magiſter Noah Buchius gezogen haben,
vielen Andern zu Theil werden. Dies iſt unſer herz¬
licher Wunſch, wie wir uns aufrichten von den Foli¬
anten, Quartanten, Pergamenten und Aktenbündeln, ob
denen wir auf das Sauſen und Brauſen, das Getöne
von Wodans Felde, vom Odfelde, kurz von Ferne her
gehorcht haben im Lärm der Gegenwart, im Getöſe des
Tages, der immer morgen auch ſchon hinter uns liegt,
als ob er vor hunderttauſend Jahren geweſen wäre.


Sollen wir nun noch viel reden von den Aebten,
die noch nachher kamen? Im Grunde wäre es nicht
nöthig, da wir uns die Zwei, auf welche es uns haupt¬
[9] ſächlich ankam, aus ihrer Reihe hervorgelangt haben.
Aber da iſt noch der dreißigjährige Krieg, der dem
ſiebenjährigen vorangeht, und über den kommt kein deutſcher
Autor in einem hiſtoriſchen Werke, wenn er wirklich
etwas ſagen will, hinweg, ohne etwas von ihm zu ſagen.
Herr Theodorus Berkelmannus aus Neuſtadt am Rüben¬
berge hieß der Mann, der in das Elend hineinfiel,
einerlei ob verheirathet oder unverheirathet. Daß er
dem lutheriſchen Glauben anhing, genügte, um ihm
die perſönliche Bekanntſchaft des Generals Tilly als
durchaus nicht wünſchenswerth erſcheinen zu laſſen.
Er ſuchte ihm aus dem Wege zu gehen, dem Herrn
General; und der alte Tille ſuchte ihn natürlich höf¬
lich am Aermel zurück zu halten. Zwiſchen Einbeck
und Nordheim bekam der arme Doctor der lutheriſchen
Theologie und Abt Berkelmann eine liguiſtiſche Kugel
auf der Flucht in die Schulter, was vor ihm noch
keinem andern Abte von Amelungsborn paſſirt war,
und die Kaiſerlichen reinigten hinter ihm den Tempel
von ketzeriſchem Unrath auf ihre Weiſe. Gründlich! Aber
freilich nicht auf lange.


Wer nun nach ſeiner Meinung einen Augiasſtall
zu reinigen hat, geht natürlich auf die Quelle zurück.
In unſerm Falle hielt ſich die Liga ſogar im wahrſten
Sinne des Wortes an die Ciſterne. Triumphirend
zogen die Mönche des heiligen Bernhard unter Herrn
Johannes von Meſchede wieder ein im warmen Neſt
über dem Hoopthal und gebrauchten geiſtlichen wie welt¬
[10] lichen Beſen mit Kraft und beſtem Willen — leider
nur bis zum Jahr 1631.


Ich male es mir aus, wie nach der Schlacht bei
Breitenfeld Herr Theodorus Berkelmann auf ſeinem
Patmos ſich aufhob, hinauskrähete und mit den Flügeln
ſchlug, beſonders mit dem lahmen Fittich! Unter dem
Geleit ſchwediſcher Reiter zog nun er wieder ein in
Amelungsborn und ſoll den letzten Ciſtercienſermönch,
den armen Bruder Philemon, am Ohr aus dem Kloſter¬
thor geführt und auf die Kölniſche Landſtraße weſer¬
wärts hingewieſen haben. Wie noch die Fortun' in
dem großen Kriege wechſeln mochte, in Amelungsborn
wurde der reine Glaube von nun an nicht mehr be¬
helligt, außer vielleicht durch zu leichte Koſt und durch
zu gewichtige Schulden. Herrn Theodoro folgte auf
dem jetzt ziemlich unbehaglichen Stuhl noch Dr. Statius
Fabricius, der im Grunde als der letzte wirkliche Abt
von Amelungsborn zu rechnen iſt; denn nach ihm hatte
das herzogliche Conſiſtorium zu Wolfenbüttel einen der
Zeitenklemme angemeſſenen Gedanken. Es ſchlug zwei
ſchwarze Brummer mit einer Klappe. „Wozu brauche
ich noch einen Abt zu Amelungsborn, wenn ich ſchon einen
Generalſuperintendenten zu Holzminden ſitzen habe?“
fragte es, — und:


„Dich will ich belohnen mit Ring und mit Stabe,

„Dein Vorfahr beſteige den Eſel und trabe,“

ſummte es noch vor Gottfried Auguſt Bürger, und
Herr Hermannus Topp rückte als der erſte General¬
[11] ſuperintendent von Holzminden und Abt von Amelungs¬
born auf die Prälatenbank der Lande Braunſchweig-
Wolfenbüttel. Die Güter, die liegenden Gründe der
wackern, frommen und gelehrten Bruderſchaft der Ciſter¬
cienſer waren ſchon längſt in ein Kloſteramt verwandelt
und einem Landbau-verſtändigen Kloſteramtmann unter¬
geben worden, was zur Kenntniß der „Hausgelegenheit“
dieſer Geſchichte jedenfalls mitzutheilen war. Doch die
Hauptſache kommt, wie gewöhnlich, zuletzt.


Wie überall in braunſchweigiſchen Landen gab die
Reformation in ſehr achtungswerther Weiſe mit der
rechten Hand das, was ſie mit der linken genommen
hatte. Was die Mönche verloren, das bekamen die
Wiſſenſchaften. Fürſten wie Stände erhielten ihre Hände
rein und können heute noch nüchtern, ſtolze Rechen¬
ſchaft ablegen über die Anwendung der herrenlos ge¬
wordenen Güter und Beſitzthümer der römiſch-katholi¬
ſchen Kirche. Da wurde die Univerſität Helmſtedt
errichtet, aus den Klöſtern im Lande wurden „gelehrte
Schulen“ gemacht; und auch aus Amelungsborn, mitten
im Walde, wurde ſolch' eine „große“ Schule; und wenn
nicht alle, ſo hätten doch wohl manche der alten ge¬
lehrten Herren aus Ciſtercium her ihre Freude daran
gehabt und gern auch ein Katheder darin vor der neuen
Jugend beſtiegen.


Dieſe Kloſterſchule kam ſogar zu einem Ruf, be¬
ſonders in der Mathematik. Zwei Jahrhunderte blühte
ſie in der Stille des Weſerwaldes und trug gute
[12] Früchte. Dann aber war wieder die Welt eine andere
geworden. Die Lehrerſchaft verſumpfte, das junge Volk
verwilderte im Walde, die beiden erſten ſchleſiſchen
Kriege des jungen Fritz kamen dazu, und der dritte,
der ſiebenjährige Krieg des alten Fritze ſchlug dieſem
gelehrten Weſen auf dem Auerberge über dem Hoop¬
thale völlig den Boden ein. Trotz Franzoſen, Eng¬
länder und Schottländern im Lande behielt Karl der
Erſte zu Braunſchweig-Lüneburg auch hierfür Zeit.
Wahrſcheinlich nach Rückſprache mit ſeinen trefflichen
Männern von ſeinem erlauchten Collegio Carolino ſah
er, daß die Sache ſo nicht mehr ging.


„Eine hohe Schule der Wilddiebe conveniret weder
Uns noch Unſern in Gott ruhenden Ahnen,“ meinten
Seine hochfürſtliche Durchlaucht und holten den Cötus
weg aus dem Walde und die Lehrerſchaft aus dem
Sumpfe.


Wer heute auf der Weſer zu Berg oder zu Thal
fährt, der bemerkt bei der guten Stadt Holzminden ein
ſtattlich Gebäude, an deſſen Giebel die Worte ſtehen:
DEO ET LITTERIS.


In dieſen Worten wächſt heute noch weiter, was
im Jahre 1124 von den Mönchen aus Ciſteaux auf
dem Auerberge über dem Hoopthale und dem Brunnen
des frommen Bruders Amelung in den Boden gelegt
worden iſt. Aus der Kloſterſchule von Amelungsborn
iſt ein berühmtes Gymnaſium geworden, und der jedes¬
malige Rector darf ſich immer auch noch Prior
[13] von Amelungsborn nennen und unterſchreiben. Der
Schreiber dieſes hat da, ſo um's Jahr Eintauſendacht¬
hundertundvierzig unterm alten wackern Schulrath Ko¬
kenius, auch einmal eine Schulbank abgerieben. Er
läßt es ſeine erlauchten Vorfahren in der Gelehrſam¬
keit, die klugen und ehrwürdigen Brüder Ciſtercienſer
durchaus nicht entgelten, wenn er wenig gelernt hat in
Holzminden. Zur Tugend der Wahrhaftigkeit iſt er
jedenfalls dort angehalten worden, und wenn er mal
bei einem Datum und Faktum ſein Recht als Poete zu
ſcharf nimmt, ſo ſollen weder Ciſtercium bei Dijon, noch
Amelungsborn am Odfeld und auch nicht Holzminden
an der Weſer was dafür können, und ſollen ſich bei
ihrem Beſſerwiſſen beruhigen dürfen. Von dem heiligen
Bernhard von Clairvaux redet er übrigens nicht ganz
ſo ſchlimm wie Friedrich von Schiller und Wolfgang
von Goethe. Daß Doctor Martin Luther den Mann
„höher denn alle Mönche und Pfaffen auf dem ganzen
Erdboden“ hielt, ſpricht immer mit, wenn es ſich darum
handelt, in Kloſter Amelungsborn Hausgelegenheit zu
erkunden.

[[14]]

Zweites Kapitel.

Die große Wald-Schule hatte wandern müſſen, und
der Kloſteramtmann war geblieben und hatte, ſich die
Hände reibend, gemeint, nun ſei endlich wohl für ihn
die beſſere, die ruhigere Zeit gekommen und — hatte
ſich ſehr geirrt, wie man ſich eben bei ſeinen Hoff¬
nungen und Wünſchen dann und wann im Leben zu
irren pflegt. Der Mann hatte für ſein Theil Ruhe
und Behagen in der Welt zu wenig mit den übrigen
Zeitumſtänden gerechnet. Im Jahre 1761 gab es trotz
des Abzuges des Cötus keine Ruhe in und um Kloſter
Amelungsborn, weder für den Herrn Amtmann noch
die andern In- und Umſaſſen der Stiftung Siegfrieds
von der Homburg.


Das Verhältniß zwiſchen der Schule und dem Amt
war immer nicht das beſte geweſen; aber im Verlaufe
des achtzehnten Jahrhunderts hatte es ſich derartig ver¬
ſchlechtert, daß es zuletzt gar nicht ſchlimmer mehr
werden konnte. Zu verwundern war's gerade nicht.
Sie ſaßen einander zu nahe und mit ſich zu ſehr
widerſprechenden Intereſſen auf dem Kaſten. Ihre
[15] Anſchauungen über Recht, Rechte, Berechtigungen, über
Moral, Tugend, Sitte und Gewohnheit, ja, im purſten
kraſſeſten blaſſeſten Sinne über Mein und Dein waren
allzu verſchieden. Sitte, Gewohnheit, Recht liefen
zwiſchen beiden Mächten allgemach nur darauf hinaus,
ſich gegenſeitig den größtmöglichen Verdruß und Tort,
ja das gebrannteſte Herzeleid anzuthun.


„Lieber die Franzoſen ſo lange es ihnen beliebt
im Lande, als dieſe gelehrte Cumpanei von Schlingeln,
Lümmeln, Flegeln und Spitzbuben Einen Tag auf dem
Buckel!“ hatte der Kloſteramtmann ſchon ſeit Jahren
geſeufzt und geflucht. Ach, leider, ohne zu ahnen, wie
bald und wie ſehr ihn das Schickſal beim Wort nehmen
werde!


Nun hatte er von der ganzen Schule nur noch den
Magiſter Buchius im Hauſe; aber volle Gelegenheit,
es auszuprobiren, ob es ſich mit dem Herzog von
Soubiſe, dem Marſchall von Broglio, dem Marquis
von Belſunce und dem Vicomte von Poyanne behag¬
licher Kirſchen eſſen laſſe als mit den gelehrten und
ungelehrten, den jungen und alten Erbnehmern der
Ciſtercienſer von Amelungsborn.


Wir reden mit ihm wohl noch einmal darüber,
oder hören ſeine Meinung aus der Vergangenheit.
Für's Erſte haben wir es vor allen Dingen mit dem
Magiſter Noah Buchius zu thun, den die Kloſterſchule
bei ihrer Auswanderung allein zurückgelaſſen hatte auf
dem Auerberge, wie man beim Auszug, halb des Spaßes
[16] wegen, einen alten zerriſſenen Rock am Nagel, einen
alten bodenloſen Korb im Winkel, ein altes vermorſchtes
Faß im Keller zurückläßt, und das Alles Dem von ſeinen
Nachfolgern ſchenkt, der es haben will oder es mit in
den Kauf nehmen muß. Der Amtmann hatte den letzten
Magiſter von Amelungsborn mit in den Kauf zu
nehmen, nur auf allerhöchſten Spezialbefehl von Braun¬
ſchweig aus, auf Gutachten herzoglichen Conſiſtorii zu
Wolfenbüttel. Wir aber heute, wir würden wohl nicht
nach dem Herrn Amtmann in die Tage der Vergangen¬
heit zurück gehorcht haben, wenn dem nicht ſo der Fall
geweſen wäre. Wir haben dann und wann eine Vor¬
liebe für das, was Abziehende als gänzlich unbrauchbar
und im Handel der Erde nimmer mehr verwendbar
hinter ſich zurück zu laſſen pflegen. Wir nehmen
manchmal das auch etwas ernſter, was die Menſchheit
in ihrer Tagesaufregung nur für einen guten Spaß
hält. O, wir können ſehr ernſthaft ſein bei Dingen,
die den Leuten höchſt komiſch vorkommen.


Ach Gott, ach Gott, ſich in einer Welt zu finden,
in der man ſich gar nicht zurecht zu finden weiß! Dies
Loos war dem armen letzten Magiſter von Kloſter
Amelungsborn im vollſten Maaße zu Theil geworden.
Als Sohn des Paſtors von Bevern war er geboren
worden, in Helmſtedt hatte er Theologie ſtudirt, aber
ſich auf der Kanzel nimmer auf Das beſinnen können,
was er der chriſtlichen Gemeinde aus beſtem Herzen
ſagen wollte. Auf drei oder vier adeligen Gütern
[17] zwiſchen der Weſer und der Leine hatte er das bittere
Brod des Präceptorenthums des achtzehnten Jahrhun¬
derts gegeſſen und zuletzt — vor Jahren, Jahren,
Jahren — ſehr verhungert an die Pforte geklopft,
durch die ſein Ahnherr vordem in Würden ein- und
ausgegangen war.


Wohl mit ſeines Familien-Namens und des Ahn¬
herrn wegen hatte man ihm dieſe Thür nicht auch vor
der Naſe zugeſchlagen; ſondern ihn durch ſie eingelaſſen
und ihn zuerſt auf Probe und ſodann aus Gewohnheit,
Mitleid und um immer einen Sündenbock zur Hand
zu haben, im Lehrer-Convent behalten. Der Cötus
aber hatte ihn ſofort bei ſeinem Taufnamen gefaßt
und ihn als „Vater Noah“ gewürdigt — wenn auch
leider mehr im Sinn des böſen Ham als des braven
Sem und des biederen Japhet. Daß die Generationen
von Schulbuben, die während ſeiner Lehrthätigkeit im
Kloſter vor ſeinem Katheder in der Quinta vorüber¬
gingen, nicht auch ſo ſchwarz wurden wie die Nach¬
kommen des ſchlimmen Ham, ob ihrer Verſündigungen
an ihm, das war ein Wunder. Verdient hätten ſie es
ſämmtlich.


Als Dreißigjähriger war er gekommen, nun war er
den Sechzigen nahe und hatte alſo ein Menſchenalter
im Dienſt der hohen Schule zu Amelungsborn hinge¬
bracht. Seltſamerweiſe konnte man eigentlich nicht
ſagen, daß dieſe Jahre wie römiſche Feldzüge doppelt
gezählt hatten. Er konnte trotz ihnen ein recht alter
Raabe, Das Odfeld. 2[18] Mann werden und „der Menſchheit bis an's Hundertſte
heran auf dem Halſe liegen“. Solche Bosheit und
Rückſichtsloſigkeit hätte ſogar ganz zu ſeinem Charakter
gepaßt, der von ſeiner Mutter Bruſt an etwas Hinter¬
haltiges an ſich gehabt hatte, etwas Sich-Anhaltendes,
etwas Feſtklebendes, etwas auf keine Manier Weg-zu-
Ekelndes.


Wenn er ein Held war, ſo war er ein vollkommen
paſſiver; und dieſe pflegen es dann und wann vor
allen andern Menſchenkindern zu einem hohen Alter
zu bringen, wenn auch nicht immer zu einem ge¬
ſegneten.


Dreißig Jahre Schuldienſt als der Sündenbock und
Komikus der Schule! Der gute Mann mit dem ernſt¬
haften Kinderherzen! Der von Mutterbrüſten an alte
Mann mit der ſcheuen, glückſeligen Seele der guten
Kinder!


Wer in Kloſter Amelungsborn hätte ihn miſſen
mögen, da er einmal da war? Wer hätte nicht ſein
Behagen an ihm genommen? Wer hätte nicht ſeinen
Aerger oder ſeinen Witz an ihm ausgelaſſen und zwar
ohne ſich vorher nach ſeinen Stimmungen für Beides
ein wenig umzuſehen? Im Lehrerconvent wie im ge¬
ſammten Cötus wußten ſie, was ſie an ihm hatten und
wußten ihn danach zu ſchätzen.


Und doch — doch hatten ſie ihn bei ihrem Abzuge
nicht mit ſich genommen nach Holzminden, in die neue
gelehrte Herrlichkeit, ſondern ihn zurückgelaſſen am alten
[19] Ort, allein in den leeren Auditorien und Dormitorien,
vor den jetzt ſo geſpenſtiſchen Subſellien und in ſeiner
Ciſtercienſermönchszelle über dem Hoopthale als das
unnützeſte, verbrauchteſte, überflüſſigſte Stück ihres
Hausraths! Man hatte einfach eben wieder einmal
nicht gewußt, was man that — wer kann denn
aber im Tumult des Lebens und eines Hauswechſels
ſich recht auf Alles beſinnen? Freilich hatte man von
Wolfenbüttel aus auch ſein Wort dazu gegeben. Dort
wußten ſie noch weniger, was der Magiſter Buchius
werth war und glaubten mit ſeiner Emeritirung ganz
das Richtige zu treffen. Dreißig Reichsthaler des
Jahrs ließen ſie ihm, und die Zelle des Bruders
Philemon bis zu ſeinem Lebensende. Und mit Koſt,
Licht und Feuerung wieſen ſie ihn leidergottes auf
das Kloſteramt und den Kloſteramtmann an. In An¬
betracht, daß man ſich mitten in den Kriegen des
Königs Fritzen befand, und Geld rar war, Koſt, Licht
und Feuerung auch nicht Jedermann vom heiligen
römiſchen Reiche garantirt wurden — hätte ſich der
Magiſter für den undankbarſten Koſtgänger des all¬
gütigen Herrgotts erachtet, wenn er darob, nämlich
über die Verweiſung an den Herrn Kloſteramtmann,
ſich über einem Murren betroffen hätte. Herr Gott,
wo bliebe dein Titel Zebaoth, Herr der Heerſchaaren,
wenn Du allen Deinen Koſtgängern das Gemüthe
gegeben hätteſt, ihr Tiſchgebet und Nachtgebet ſo zu
ſagen wie Dein letzter Magiſter und Quintus von
2*[20] Amelungsborn, der alte Buchius? Du haſt es nicht
gethan, und ſo iſt es nicht meine Schuld, wenn auch
dieſe Hiſtorie einmal wieder zum größten Theil vom
Gezerr um die Broſamen handelt, ſo von Deinem
Tiſche fallen, Herr Zebaoth.

[[21]]

Drittes Kapitel.

„Dieſe Bewegung ließ uns muthmaaßen, daß der
Herr Herzog Ferdinand von Braunſchweig ſich dort
lagern wollte, um die noch übrigen Lebensmittel in
der Gegend aufzuzehren,“ klagt ein franzöſiſcher Feld¬
bericht aus dem Spätherbſt des Jahres 1761, ehe beide
kriegsführenden Parteien zum vorletzten Male die
Winterquartiere bezogen und ſich häuslich und gemüthlich
darin einrichteten. Du barmherziger Himmel, die „noch
übrigen Lebensmittel“! Was hatten dieſe ſcheuen, be¬
ſcheidenen, ſchämigen, mit Allem zufriedenen Verbün¬
deten der Frau Kaiſerin-Königin Maria Thereſia, dieſe
liebſten Gäſte des deutſchen Volkes Seiner Hochfürſt¬
lichen Durchlaucht dem armen Herzog Ferdinand von
Braunſchweig noch viel übrig gelaſſen an Nahrung für
ihn ſelbſt, ſeine Leute und ſein Vieh, ſowohl am
linken wie am rechten Ufer der Weſer, ſowohl in
Weſtfalen wie in Oſtfalen? Und ſie hatten doch
wahrlich auch den Kloſteramtmann zu Amelungsborn
nicht gefragt, was ihm entbehrlich ſei zum Unterhalt
ſeiner ſelbſt, ſeiner Leute und ſeines Viehs.


[22]

Wenn ein Menſch vom Sommer des Jahres an
über ihr freundlich Zugreifen ohne Nöthigung nach¬
ſagen konnte, ſo war das der Amtmann von Kloſter
Amelungsborn.


Aber Magiſter Buchius auch.


Ja, ja, was für Witterung für den Gelehrten alle¬
zeit ſein mochte; für den Oekonomen war dazumal kein
gutes Wetter. Kiſten und Kaſten, Scheunen und
Ställe waren leer, ohne das dießmal zu große Trockniß,
zu arge Feuchte, Hagel, Rotz, Räude, Würme und
Mäuſefraß mit dem betrübten Faktum das Mindeſte
zu ſchaffen hatten. Den Hagel, der die Saaten nieder¬
ſchlug, die Mäuſe, welche die Scheunen und Vorraths¬
kammern leer machten, hatte ſich das deutſche Volk,
Fürſten und Unterthanen in einem Bündel, ſelber dazu
eingeladen. Es iſt heute noch nicht von Ueberfluß,
wenn man die zwiſchen Vogeſen und Weichſel deutſch¬
redende Bevölkerung mit der Naſe auf ihre Dummheit
ſtößt. Bis wir zu unſerer Geſchichte gelangen, hat
ſich der Herr von Belſunce ſchon verſchiedene Male
recht ſatt gefreſſen im Tilithi-Gau, und es hat dem
General von Luckner wenig genützt, ihn heraus und
auf Göttingen hin zu treiben. Der theuere Erbfeind
hat dort durchaus keine Collegia über Humaniora be¬
legt, ſondern treibt von der neuen berühmten deutſchen
Univerſitätsſtadt nur in praxi deutſche Reichshiſtorie
nach gewohnter Weiſe weiter. — —


Ein trüber Tag des Novembers Siebenzehnhundert¬
[23] einundſechzig neigte ſich ſeinem Ende, als ſie auf der
alten Köln-Berliner Landſtraße zuſammentrafen, der
Kloſteramtmann von Amelungsborn und ſein Haus¬
genoſſe, der Magiſter Buchius, der Ex-Kollaborator
am alten Ort der alten Kloſterſchule.


Der Wind fuhr über die Stoppeln; aber die, welche
das Korn geſäet hatten, hatten es wahrlich, wie geſagt, zum
wenigſten Theil für ſich ſelber geerntet. Die Waldungen
trugen überall Spuren, daß Heereszüge ſich ihre Wege
durch ſie gebahnt hatten. Ueberall Spuren und Ge¬
denkzeichen, daß ſchweres Geſchütz und Bagagewagen
mit Mühe und Noth über die Straße und durch die
Hohlwege geſchleppt worden waren! Zerſtampft lagen
die Felder und Wieſen. Kochlöcher waren überall ein¬
gegraben; Aeſer von Pferden und krepirtem Schlachtvieh
noch unheimlich häufig unvergraben in den Gräben und
Büſchen und an den Waſſertümpeln der Verweſung
überlaſſen. Es war weder für den gelehrten noch den
ökonomiſchen Mann ein Anblick zum Ergötzen, und ſie
machten Beide die Geſichter danach, als ſie an dieſem
Vierten des Wind- und Reifmonds an einer Wendung
der Straße in der Nähe des Dorfes Regenborn plötz¬
lich vor einander ſtanden.


„Er auch noch hier draußen, Magiſter?“ ſchnarrte
der Amtmann, ſein ſpaniſch Rohr dem alten Herrn
dicht vor den Füßen grimmig in den Boden ſtoßend.
„Steht Er wieder da und gafft und ſeufzt Seiner ver¬
gangenen Herrlichkeit und Seinem paſſirten Elend nach?
[24] Wurmt es Ihm denn immer noch ſo ſehr, Herr, daß
Er einen um den andern Tag hier herauslaufen muß,
um ſeiner gottverdamm — ſeiner Sauſchule nachzubölken
wie eine Kuh, der der Schlächter das Kalb abgeholt
hat? Er ſollte doch wahrhaftig Seinem Herrgott danken,
daß Ihm noch Niemand die Stubenthür eingetreten hat
und Er dahinter, wenn Er will, in Ruhe ſitzen kann
mit allen Seinen unturbirten Schrullen, Grillen und
Phantaſirereien. Wer doch in Seiner Haut ſteckte, Herr!
Herr, nehme Er's mir nicht übel, trifft man Ihn ſo
auf dem Spazierwege, ſo wird's Einem erſt richtig klar,
in welchem Elend man ſelber itzo ſeine Tage zu ver¬
ſorgen hat, einerlei ob man das Haus voll hat von
den Völkern Seiner Durchlaucht oder des Marſchalls
von Broglio. Hu, wer den Caraman und den Chabot
ſchinden wollte, wie ſie den Kloſteramtmann von Ame¬
lungsborn geſchunden haben!“


Der letzte Seufzer ſtammte noch aus den Tagen
des Septembers und Octobers des Jahres, wo der Ge¬
neralmajor von Luckner wohl ſein Möglichſtes gethan
hatte, um dem Grafen von Caraman und dem von
Rohan Chabot den Aufenthalt in Amelungsborn zu
verleiden, aber noch lange nicht genug, um der Stim¬
mung des Amtmanns gegen die beiden Herren gerecht
zu werden.


Die „Geſchicklichkeit“ des Herrn Generals von Luckner
hatte leider nur für kurze Zeit „Mittel gefunden, den
Feind aus der ſchönen Gegend, die er beſetzet hatte“, zu
[25] vertreiben. Die ſtreifenden Schaaren der kriegführenden
Parteien drangen ſchon von Neuem auf einander in
der „ſchönen Gegend“, und der Amtmann von Amelungs¬
born hatte heute nicht ohne ſeine Gründe dem eigenen
Jammer zu Hauſe den Rücken gewendet, um mit den
nächſtgelegenen Bauern über den ihrigen Rückſprache
zu nehmen. Daß ſie das Beiſpiel des wackern Oſt¬
frieſen Hajo Cordes nachahmen und ſich mit der Art
ihrer Haut wehren möchten, verlangte er wahrlich nicht.
Eine Verordnung des Marſchall Duc de Broglio hatte
er als „Baillif du lieu“ ihnen von Neuem einzuſchärfen
gehabt. Wer in den von den Truppen Seiner Aller¬
chriſtlichſten Majeſtät in Beſitz genommenen Hannover¬
ſchen und Braunſchweigiſchen Landen ſich mit ſeinen
„Effekten, Pferden, Horn- und anderm Vieh“ vor den
hohen Alliirten der römiſchen Kaiſerein in die Wälder
flüchtete und nicht ſofort zurück kam, wenn die Cara¬
biniers und Huſaren von Berchini, die Dragoner von
Languedoc und Orleans, wenn Regiment Beaufremont,
Regimenter Pikardie, Auvergne und Navarra oder gar
die Freiwilligen von Auſtraſien und die Garde Lorraine
in's Dorf rückten, dem wurde einfach das Haus ange¬
ſteckt, die zurückgelaſſene Großmutter zu Tode geprügelt,
er ſelber aber ohne Gnade vor ſeiner Thüre gehängt,
wenn man ihn mit ſeinen Habſeligkeiten in den Schluch¬
ten und Klüften ertappte, aufgrub und in ſein Dorf
zurück geſchleppt hatte.


„Und fünfzehn vierſpännige Wagen für den Com¬
[26] missaire de guerre
zu jeglicher Stunde bereit,
Leute —“


„O du barmherziger Himmel!“ hatten die Hohlen¬
berger, die Golmbacher und die Negenborner geheult,
und der Kloſteramtmann von Amelungsborn hatte wohl
einigen Grund für den Ton, mit welchem er ſeinen
alten gelehrten Leibzüchter gröblich anſchnauzte:


„Treibe Er ſich nicht länger draußen unnützlich
herum, wenn ich Ihm rathen darf, Magiſter. Komme
Er mit nach Hauſe. Wozu ſtehet Er da und ſtarret
in die Beſtialität, da Er es nicht nöthig hat? Was
ſieht Er wieder im Himmel und auf Erden, was andere
Leute nicht ſehen? Des Herrn Güte und der Menſchen
Wohlgefallen an einander? Er übergelehrter Rab'
mitten im dritten ſchleſiſchen Kriege! ho, ho, da, ich
nehme Ihn unter'm Arm, daß man doch Einen auf
dem Weg nach Hauſe hat, an den man ſich halten kann.
Was Er mir werth iſt in Seinem und meinem Leben,
das weiß Er ja.“


Magiſter Buchius hatte einigen Grund, wenn auch
aus andern Gründen, das Weiße im Auge zu zeigen
wie die Negenborner, die Golmbacher und die Hohlen¬
berger — auch die nächſten Nachbaren des Kloſter¬
amtmanns von Amelungsborn; — willenlos wendete
er, wie ſo oft in ſeinem Daſein, um und ließ ſich dem
Belieben eines Andern nachziehen.


Dießmal auf der aufgeweichten, zerfahrenen Land¬
ſtraße, die von Hauſe her und nach Hauſe zurückführte,
[27] und die er am Nachmittag wirklich nur beſchritten
hatte, um aus der unruhigen Gegenwart nach einer
ebenſo unruhigen Vergangenheit ſich zurück zu träumen.
Wie ihm ſein unwirrſcher Begleiter ſeine bis dato un¬
eingeſtoßene Stubenthür rühmen mochte: das öde Feld
und der ruinirte Handels- und Kriegs-Pfad konnten
nur zu oft doch auch als Zuflucht für ein vom Lärm
der Zeit verwirrtes, betäubtes Menſchen- und Homme
de lettres
-Gemüth vorzuziehen ſein.


„Hat Er es denn wirklich noch immer nicht aufge¬
geben, Buchius, hier den Weg nach Holzminden hin zu
laufen, wie Seinem verlorenen Glücke nach? Glaubt Er
denn immer noch, ſie werden eine Abgeſandtſchaft ſchicken,
um Ihn mit Lorbeerblättern, Pauken und Trompeten
ſich nachzuholen, weilen ſie doch eingeſehen haben, daß
ſie Ihn nicht miſſen und entbehren können?“ fragte der
Amtmann wiederum und ſetzte nochmal hinzu: „Er
ſollte doch wahrhaftig an Seinem vergangenen Pläſir
und Aerger genug haben und ſich Seines otium cum
dignitate
in Ruhe freuen.“


Cum dignitate,“ ſeufzte der alte Herr im ſchäbigen
Schwarz und in Schnallenſchuhen neben dem unterſetzten,
vierſchrötigen Begleiter in Stulpenſtiefeln und im grünen
Flaus, und ein wehmüthiges Kopfſchütteln begleitete
das Wort.


„Ja, ja,“ lachte der Amtmann, „da mag Er wohl
Recht haben mit Seinem Stöhnen. Viel Glorie war
nicht in der Art, wie man Ihn auf's Altentheil ſchob,
[28] und ich kanns Ihm nicht verdenken, wenn Er auch noch
eine Pique auf die ſaubere hochgelahrte Geſellſchaft hat,
die Ihn ſo ganz und gar nicht mehr brauchen konnte,
ſondern Ihn hier bei uns ganz allein Seiner eigenſten,
angeborenen Dignität überließ. Nu, die hat Er aber
ja auch ſicher — das nimmt Ihm anjetzo Keiner mehr,
daß Er nun der Gelehrteſte und Weiſeſte in ganz Kloſter
Amelungsborn iſt. Da wende Er ſich nur dreiſt an
mich, wenn Ihm Einer auf dem Amt, Menſch oder
Vieh, dagegen anbocken will — ha, ha, ha, ho, ho,
ho, ho.“


Es war ein ungeſchlachtes Lachen, welches die Rede
des Mannes beſchloß, aber ſo ganz übel war ſie doch
nicht gemeint, die Rede nämlich. Der Amtmann von
Amelungsborn wußte ganz genau, was er an ſeinem
„letzten Ruderum“ von ſeiner „verfloſſenen Kloſterſchul¬
ſchande“ hatte. Freilich was er ihm bieten konnte,
wußte er auch und machte in der übelſten Laune am
liebſten Gebrauch von ſeiner Macht, einer armen vor
Weisheit unbrauchbaren Kreatur des Herrgotts, das
kümmerliche Leben noch mehr zu verkümmern.


„Der Herr Amtmann wiſſen, wie ich freilich mit
meinem Leben und Frieden auf Dero Wohlmeinen und
guten Rath in allen Dingen angewieſen bin,“ ſagte der
Magiſter, doch ſein Begleiter kam nicht zu einer zweiten
Lache. Ein ſeltſam Phänomen und Naturſpiel zog die Auf¬
merkſamkeit beider Männer an und hielt ſie dauernd feſt.
Sie ſtanden ſtill und ſahen Beide auf.


[29]

Vom Südweſten her über den Solling ſtieg es
ſchwarz herauf in den düſtern Abendhimmel. Nicht
ein finſteres Sturmgewölk, ſondern ein Krähenſchwarm,
kreiſchend, flügelſchlagend: ein unzählbares Heer des
Gevögels, ein Zug, der nimmer ein Ende zu nehmen
ſchien. Und vom Norden, über den Vogler und den
Ith zog es in gleicher Weiſe heran in den Lüften, wie
in Geſchwader geordnet, ein Zug hinter dem andern,
denen vom Süden entgegen.


„Ich bitte Ihn, Herr,“ rief der Amtmann. „Sie
fliegen wohl ihrer Natur nach zu Haufen; aber hat
Er je dergleichen Vergadderung des Gezüchts wahrge¬
nommen?“


„Wahrlich nicht! O ſehe der Herr doch, es iſt als
würden ſie von kriegserfahrenen Feldherren geführt.
Sie halten an. Sie ſchwenken wie zur Schlachtordnung
ein. Sie rüſten ſich wie zur Bataille.“


„Bei uns! Herr, bei uns! Dort über dem Od¬
felde, über dem Quadhagen! So ſehe Er doch, ſehe Er
doch, Magiſter! Soll man denn hier ſeinen leiblichen
Augen trauen dürfen? Sie fahren wahrhaftig auf ſich
los, ſie brechen aufeinander ein, dort dem Quadhagen
zu und über dem Odfelde!“


„Ueber dem böſen Gehäge — dem Campus Odini,
dem Wodansfelde! Man ſollte es faſt als ein Prae¬
sagium
nehmen, daß ſie ſich gerade dieſe Stätte zur
Ausfechtung ihrer Streitigkeiten auserwählt haben. O
ſiehe, ſiehe, ſiehe, und immer mehr, immer neuer Zu¬
[30] zug von Mittag wie von Mitternacht. Ei wahrlich, da
wird uns die Vergünſtigung, einem ſeltenen, einem ein¬
zigen Schauſpiele beizuwohnen.“


„Herr, das nennt Er eine Vergünſtigung?“ rief
der Kloſteramtmann von Amelungsborn, doch in dieſem
Moment, bei dieſem wunderbaren, vor ihren Augen ſich
abſpielenden Spectakulum war er dem letzten wirklichen
ortsangehörigen Magiſter der alten Kulturſtätte in keiner
Weiſe mit ſeinen Bemerkungen und dergleichen gewachſen.


Der alte Herr ſtand ihm und der ganzen gegen¬
wärtigen Welt entrückt ob der „Vergünſtigung“, die
ihm hier und jetzt zu Theil wurde, nämlich vielleicht
dermaleinſt von einem wirklichen Portentum aus eigener
Erfahrung und vom perſönlichen Aſpekt her nachſagen
oder gar auch ſchreiben zu dürfen.


Jetzt war er es, der den Arm ſeines tagtäglichen
Leib- und Lebens-Despoten gefaßt hielt und den ver¬
ſtörten Mann mit ausgeſtrecktem Zeigefinger und mit
glänzenden Augen hinwies auf das, was ſich da in den
Lüften zutrug.


„Es iſt ein Prodigium!“ rief der Magiſter. „Sehe
der Herr, wie das unvernünftige Vieh zu den verkün¬
digenden Boten des barmherzigen Gottes wird. Es ſind
fremde Schaaren, wohl ausländiſche, die da weit vom
Südweſten kommen und denen das Volk vom Norden
zur Abwehr entgegen eilet. Ei wanne, wanne, ſie
kommen wohlgeatzet von den weſtfäliſchen und kurfürſt¬
lich heſſiſchen Champs de bataille, die Fremden. Aber
[31] nun iſt ihre Koſt dorten minder geworden und jetzt
ziehen ſie auf neuen Raub nordwärts, voran den aſſy¬
riſchen Feldoberſten, den Herren von Soubiſe und Brog¬
lio! Sehe der Herr Amtmaun genau zu; gebe Er mit
mir acht, was da werden wird —“


„Heiß und kalt wird's Einem bei Gott bei der
Geſchichte,“ murmelte der Kloſteramtmann von Ame¬
lungsborn. „Aber was meinet der Herr Magiſter denn,
was da werden kann?“


„Eine Tröſtung oder — eine Warnung, wie es
geſchrieben ſtehet: Und wer auf dem Dache iſt, der
ſteige nicht hernieder, etwas aus ſeinem Hauſe zu holen.
Und wer auf dem Felde iſt, der kehre nicht um, ſeine
Kleider zu holen. Wehe aber den Schwangern und
Säugern zu der Zeit!“


„Und das Alles in meiner Feldmark!“ murmelte
der Amtmann. „Und was ſoll die Tröſtung für uns
ſein, Magiſter Buchius?“


„Daß das Heer vom Norden Recht behalte! Daß
Seine Durchlaucht, der Herr Herzog Ferdinand, ſich
wiederum zur richtigen Stunde dem fremden Greuel,
den welſchen Landverwüſtern entgegen werfe mit den
Seinen.“


„Was faſelt Er, Magiſter? Hat Er nicht ſo gut
wie wir Andern vernommen, daß der Herzog in ſeinem
Hauptquartier zu Ohr, jenſeits der Weſer, ſeit lange
in ſchwerer Krankheit darniederliegt? Weiß Er nicht,
daß der gute Herr ſich wohl nie wieder davon erholen wird?
[32] Weiß Er nicht, daß des Königs Fritzen linker Arm im
Abſterben iſt, daß Seine Durchlaucht der Prinz Ferdi¬
nand bei Wellinghauſen dem Feinde ſeinen letzten
Sieg abgewonnen hat? Weiß Er nicht, Magiſter
Buchius —“


Der Magiſter hatte nicht den kleinſten Augenblick
Zeit für ſeinen hochgewaltigen Haus- und Brodherrn
übrig. Seine Aufmerkſamkeit war ganz allein auf dieſe
mirakulöſe Schlacht der Raben, der Vögel Wodans
über Wodans Felde, über dem Odfelde gerichtet. Mit
erhobenen Armen und Stock focht er die Schlacht mit.
In ſeinem gelehrten Gehirn drehte es ſich im Tummel
wie dort in den Lüften dem Mons Fugleri zu. Armin
und Germanicus, Sachſe und Franke, die Liga und
der Schwed' ſie lagen ſich, in Einen Knäuel verbiſſen,
wiederum im Haar im Gau Tilithi, dem Ithgau, und
der Magiſter Noah Buchius war von ſeiner Schule
hinter ſich gelaſſen worden, hatte ſo lange das Leben
gehabt, um dieſes Portentums mit eigenen Augen und
bei vollen klaren übrigen Sinnen theilhaftig zu werden,
und die Anwendung daraus zu ziehen für den eben
vorhandenen Tag und die gegenwärtigen ſchreckens- und
ſorgenvollen Zeitläufte.


Es wäre ſicherlich aber auch für den nüchterneren
und in den exakten, den empiriſchen Wiſſenſchaften beſſer
beſchlagenen Menſchen des neunzehnten Jahrhunderts
dieſer Luftkampf nicht ohne Intereſſe geweſen, und es
hatte ſich für ihn, wenn er den ſchreibenden Ständen
[33] angehörte, wohl verlohnt, einen Artikel darüber an die
nächſte Zeitung einzuſenden und ornithologiſche Auf¬
klärung in der Sache zu erbitten. Wir aber halten
uns mit dem letzten gelehrten Erben der Ciſtercienſer
von Amelungsborn einzig an das Prodigium, das
Wunderzeichen, und danken für alle fachwiſſenſchaftliche
Belehrung: wir laſſen uns heute noch gern da an den
Zeichen in der Welt genügen, wo beſſer Unterrichtete
ganz genau das — Genauere wiſſen.


Wohl eine Stunde währte der Kampf des Ge¬
vögels, dem die zwei mit ſo mancherlei Daſeinsbedin¬
gungen an einander geketteten Männer an dieſem Abend
auf ihrem Wege nach Hauſe zuſchauen durften. Sie
hatten aber unwillkürlich ihre Schritte, der Wahlſtatt
zu, beeilt, Kloſter Amelungsborn zu ihrer Rechten liegen
laſſen, ohne an die Heimkehr zu denken. Krächzende
Nachzügler vom Süden her, in Haufen oder vereinzelt,
begleiteten ſie in den Lüften fort und fort.


„Nehme Er meinen Arm und achte Er nicht auf
Seine Strümpfe und Schuhe, Magiſter,“ rief der Amt¬
mann. „Wir müſſen das Ende obſerviren, gehe es wie
es will.“


Sie kamen in den Wald, öſtlich von Hohlenberg
und nördlich vom Kloſter, und kamen aus dem Gehölz
beim letzten Tagesſchimmer auf das Odfeld hinaus, und
hatten nun wirklich vor ſich — will ſagen, über ſich
die Schlacht ſo weit das Auge reichte in der Dämme¬
rung, zwiſchen dem Vogler und dem Großen Wolf bis
Raabe, Das Odfeld. 3[34] gegen den Ith hin, und es war wahrlich wie ien
Zeichen des Herrn in der Höhe!


Es war ein Wirbel von Tauſenden und aber
Tauſenden von Streitern in der Luft, hier im Knäuel
geballt ſich drehend, dort im Einzelkampf der Führer
auf einander ſtoßend und nicht von einander laſſend,
bis der Unterlegene ſterbend oder todt zur Erde nieder¬
flatterte oder ſchoß. Wie bei Châlons sur Marne
auf den Katalauniſchen Feldern, ein ſpukhaft Gewoge
von Leidenſchaft, Grimm und Haß!


„Sehen der Herr Amtmann, iſt es nicht, als ob
die, ſo am Idiſtaviſo ſchlugen, die, ſo dem Kaiſer Carolo
Magno und dem Herzog Wittekindus in die Bataille
folgten, auf dem alten Blutort wieder lebendig worden
wären? So hetzten ſie im Gewölk, König Etzel der
Hunne, Aëtius der Römer und Theoderich und Thoris¬
mund der Weſtgothen Könige! Wären die rechten Leute
jetzo an unſerm Platze, Kindern und Kindeskindern
könnten ſie von dieſem Phänomenon erzählen, auch wohl
es in den Druck geben.“


„Aber wir Zwei ſind am Orte, und uns brennet
dieſer jetzige dritte ſchleſiſche Krieg auf die Nägel. Was
helfen mir in meiner täglichen Noth Seine grasbewach¬
ſenen Olimswelthiſtorien? Sage Er, wenn Er's weiß,
was kann dieſes Geſicht für uns arme Teufel in
Amelungsborn bedeuten?“


Der Magiſter, immerfort aufwärts in das ſchaurige
Luftkriegsſpiel ſtarrend — zuckte die Achſeln. Zugleich
[35] aber griff er zu und hielt den Stockſchlag auf, den der
Kloſteramtmann nach einem der aus der Schlacht herab¬
geſtürzten und verwundet vor ſeinen Stiefeln flattern¬
den Kämpfer thun wollte.


„Herr?!“ rief er.


In demſelben Augenblick kam's von der Weſer her
— ein unbeſtimmtes grimmes Murren, ein dumpfes
Dröhnen. Einmal — zweimal! zum dritten Mal und
nun feſt anpochend wie ein Fauſtſchlag an eine ferne
Thür.


„Das Canon!“ murmelte der Amtmann von Ame¬
lungsborn.


„Ja, ſie ſind wiederum auf dem alten Krieges- und
Heereswege. Iſt es von Höxter her oder von Holz¬
minden; ſie greifen ſich noch einmal an der Pforte nach
der Kehle um den Thorſchlüſſel,“ ſagte der Magiſter
Buchius. „Morgen mögen wir ſie vielleicht von Neuem
hier haben, hier am Ith, auf dem Odfelde, im Quad¬
hagen.“


„Da iſt uns der Teufel ſchon lange nicht bloß an
die Wand gemalet worden,“ murrte der Kloſteramtmann.


„Freilich. Aber es war hier bei uns doch nur
Kinderſpiel gegen das, was ſie da drüben in Weſtfalen
von wirklichen großen Bataillen zu erleben und auszu¬
ſtehen hatten. Nun mag aber wohl der liebe Herrgott
auch uns ſeine wahre Zuchtruthe zeigen wollen, und
ſendet ſeine Raben vorher ſeinem Sturm, uns zur
letzten Warnung. Der Herr Marſchall von Broglio
3*[36] und der Herr Prinz von Soubiſe wären thörichter als
ſie ſind, wenn ſie ſich bei währender böſer Krankheit
des Herrn Herzog Ferdinands die günſtige Gelegenheit
entgehen ließen, Seiner Durchlaucht Vaterſtadt Braun¬
ſchweig mit zu ihren Winterquartieren zu gewinnen.
Da müßte denn freilich der Zug über Einbeck gehen,
und wenn die hohen Alliirten von Hameln her doch
noch verſuchten einen Riegel vorzuſchieben, ſo möchten
wir hier endlich auch einmal des Anblicks einer geord¬
neten Schlacht theilhaftig werden, das agmen compo¬
situm
, vielleicht auch quadratum, das aciem instruere
subsidiis firmare, ja auch vielleicht die Aufſtellung
in quincuncem, ſo jedes Durchbrechen der Linie ver¬
hindern ſoll, vor unſeren Thüren mit eigenen Augen
kennen lernen. Polybius, Hyginus, ſo wie Vegetii
epitome institutorum rei militaris
—“


Der Amtmann ſah ſeinen langjährigen, oft nur zu
wohlbekannten Hausgenoſſen, den von der hohen Schule
in Holzminden und dem Conſiſtorio zu Wolfenbüttel
für überflüſſig und abgängig erachteten Magiſter Noah
Buchius an wie ein ganz neues — Portentum. Jeden¬
falls aber wie völlig zu dem immer noch vor ſeinen
Augen in der Luft ſich abſpielenden zugehörig. Aber
zu dem, was er in dieſem Augenblick dem guten Manne
ſagen wollte — konnte, kam er nicht.

Was der Grund war, weiß kein Menſch. Wie als
wenn eine Stimme von Oben, einerlei ob aus dem
chriſtlichen Himmel, oder vom Ida, oder aus Walhall
[37] her Halt geboten hätte, war urplötzlich die Schlacht der
Krähen über dem Campus Odini, dem Odfelde zu
Ende! Die ſtreitenden Raben-Heeres-Haufen löſten ſich
von einander, es geſchah ein Aufſchwirren im Ganzen
wie mit einem Ruck. Ein Auseinanderſtieben nach allen
vier Winden hin. Nach dem geſpenſtiſchen, unheim¬
lichen Getöſe, dem Gekreiſch und Gekrächze des Zorns
der Kreatur plötzlich die allertiefſte Stille! Eben Alles
Grimm, Wuth und Lebendigkeit, nun Alles leer am
Himmel und nun nur noch die Gefallenen, die Todten
und Wunden am Erdboden und das volle Abenddunkel
über der Welt!


Die beiden Männer ſtanden ob dieſes Endes des
Prodigiums faſt noch betroffener als durch das Wunder¬
zeichen ſelber. Sie gafften eine ziemliche Zeit ſtumm
in die ſtille Höhe. Wer da oben den Sieg davon ge¬
tragen hatte in der Lüfteſchlacht, ob das Volk vom
Norden oder das vom Süden, das blieb bei ſolchem
Ausgang ganz unentſchieden.


Nach einer geraumen Weile erſt bückte ſich der
Magiſter und erwiſchte den gefallenen ſchwarzen Kämpfer,
nach welchem der Amtmann vorhin mit ſeinem ſpani¬
ſchen Rohr ſchlagen wollte, am Fittich und hob ihn
behutſam auf. Der Amtmann aber ſchüttelte ſich.


„Er kann das ſo ruhig? Mir grauete beinahe davor.“

[[38]]

Viertes Kapitel.

Der Magiſter hielt ſeinen Gehſtock unterm Arm
und den ſchwarzen, leiſe zappelnden und erſchöpft ſich
wehrenden Streiter zwiſchen beiden Händen, behutſam
und mit allem Mitleid gegen die Kreatur, betrachtend
vor ſich. Nun zog er ſein Sacktuch, und an den ge¬
ſchickten Griffen, mit welchen er den Vogel hineinband,
erwies ſich einleuchtend, daß er nicht nur aus ſeinen
Büchern, ſondern auch von ſeinen Scholaren etwas ge¬
lernt habe; daß er nicht umſonſt an einer hohen Wald-
und Wildniß-Schule zum Katheder hinan- und von dem¬
ſelben herabgeſtiegen ſei.


Der Amtmann ſah ſeinem Beginnen anfangs ver¬
wundert ſtumm, ſodann aber mit ängſtlich-unwilliger
Remonſtranz zu und meinte zuletzt:


„Er wird mir doch das Unthier nicht gar mit ſich
nach Hauſe ſchleppen wollen?“


„Ich möchte es wohl, mit des Herrn Amtmanns
gütiger Permiſſion. Sei es ad memoriam dieſes ſelt¬
ſamen Abends, ſei es zur Genoſſenſchaft in der Einſam¬
keit der Winterſtube.“

[39]

„Der Einſamkeit?!“ ächzte der Kloſteramtmann von
Amelungsborn. „In dieſer Zeit des immerwährenden
Tumults! ... Und als ob wir der unnützen Freſſer
nicht genug auf dem Hofe hätten! Und gar Solchen?!“


„Der Herr, der die Raben ſpeiſet, wird auch für
dieſen wohl noch ein Bröcklein abfallen laſſen,“ ſagte
Magiſter Buchius. Leiſer ſetzte er hinzu: „Hat er
doch auch für mich zu jeder Zeit das Nothwendigſte
übrig gehabt.“


„Er iſt und bleibt ein ſchnurriger Patron, Herr,“
brummte der Amtmann. „Ich weiß es ja aber wohl,
es iſt nicht ſo leicht, wie es ausſieht, Ihm Seinen
Willen zu wenden, wenn Er ſich einmal wieder eine
neue Grille eingefangen und in den Kopf geſetzt hat.
Eh vraiment, Sein Gott ſei Dank zum Satan ver¬
zogener Conventus, Lehrerſchaft und Schlingelſchaft, hat
wohl gewußt, was er an Ihm gehabt und aufgegeben
hat. Na, zum wenigſten mache Er jetzt der Hantierung
mit dem Geſchöpf ein Ende und komme Er mit nach
Hauſe; wenn Er ſich nicht vielleicht auch noch ein paar
Leichname von dieſem kurieuſen Champ de bataille in
den Taſchen zum Abendbraten mitnehmen will. Es
wird vollſtändig Nacht ſein, ehe wir am Kloſter ſind;
und wer weiß, was für neueſte Nachricht und aller¬
neueſtes Malör uns dort erwartet, nach dieſem Por —
Por — Prodigium, oder wie Er es ſonſt nennt, was
wir hier eben mit leiblichen Augen geſehen und mit
aufgehobenen Schwurfingern bezeugen können, obgleich
[40] man es eben ſo gut im Traum hätte träumen
können.“ —


Es war freilich vollkommene Nacht, als beide Männer
den alten Mauerbezirk der weiland Ciſtercienſer von
Amelungsborn und das gewölbte Eingangsthor erreich¬
ten: der Eine mit ſeinen Lebensnöthen und Sorgen im
bitteren Ringen, der Andere ſeiner Daſeinskümmerniß
zum Trotz im kindlichen Vertrauen auf das Geſchick
und voll wunderlichen Behagens ob der Ausbeute ſeines
melancholiſchen Abendganges auf der Landſtraße ſeiner
emigrirten Schule nach, und aus der Vogelſchlacht unter
dem Mons Fugleri, auf dem Wodansfelde, ſeinem und
des C. C. Tacitus Campus Odini, dem Odfelde. Wie
gern wäre wohl ein anderer lieber Mann mit dem
Magiſter Noah Buchius gegangen und hätte auch wohl
zu ſeinem Contentement das blaugeſtreifte Sacktuch mit
dem ſchwarzen Vogel getragen! Doch dieſer Andere,
genannt Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg auch
Bevern, königlich preußiſcher General-Feldmarſchall und
General en chef der königlich großbritanniſchen und
churhannöverſchen Armeen, hatte leider eben etwas An¬
deres zu thun, als ſeinem freundlichen guten Herzen,
ſeinen Neigungen, Stimmungen, Schrullen und Grillen
Folge zu geben. In ſeinem rothen engliſchen Generals¬
rock und mit dem Stern des ſchwarzen Adlers des Kö¬
nigs Friedrich hatte er noch bei weitem weniger nach
ſeinem Behagen zu fragen, wie der Magiſter Buchius
mit ſeinem Vogel im Kopf und im Taſchentuch. Er,
[41] der große Feldherr mit dem Kinderherzen, der Sieges¬
held, der dereinſt ob ſeiner Mildigkeit nur unter der
Rechtswohlthat des Inventars von ſeinem Neffen be¬
erbte Gutsherr von Vechelde, hatte eben, mühſam von
ſeinen Fieberlager zu Ohr ſich erhebend, ſeine Schaaren
von Neuem zurecht zu rücken auf dem großen blutigen
Spielbrett des ſiebenjährigen Krieges. Und dießmal
zum Schutze ſeiner eigenen Geburtsſtätte auf dem kleinen
Moſthauſe in der Stadt Braunſchweig.


„Luckner von Ringelheim an der Innerſte, nach
Lutter am Barenberge gegen den Stainville. Der Erb¬
prinz von Hildesheim über die Leine bei Papenborn
gradaus über Limmer und Alfeld gegen die Hube bei
Einbeck, um Monſieur de Broglio den Weg zu ver¬
legen! Mylord Granby mit General-Lieutenant von
Scheele, Lieutenant Colonel Beckwith, General-Major
Pincier mit den Bataillons von Zaſtrow, Laffert, Im¬
hoff, Maxwell, Keith, den Campbells und den Walliſiſchen
Grenadieren, mit Kopplow, Warnſtedt und der Bücke¬
burgiſchen Artillerie, mit den Reitern des Oberſten
Harway, drei Schwadronen von den Elliots, zwei von
den Greys, zwei von Ancram, zwei von Moyſtin über
Coppenbrügge, Cappelnhagen unter allen Umſtänden auf
Wickenſen, um die hohlen Wege zu beſetzen, die über
Eſchershauſen nach Einbeck führen. Hardenberg mit
Boſe, Bremer, Joncquieres und den hannoverſchen Jä¬
gern unter Oberſt Friedrich von Bodenwerder auf Stadt¬
oldendorf, um dem Herrn General-Lieutenant von
[42] Poyanne da den Rückweg abzuſchneiden. Wir ſelber,
lieber Weſtphalen, unter Gottes gnädigem Beiſtand mit
Conway, Kielmannsegge, Waldgrave und Howard,
zwiſchen Haſtenbeck und Tundern über die Weſer und
auf den Höhen, den Ith entlang gleichfalls nach Wicken¬
ſen. Wenn Alles gut und vorzüglich Hardenberg nicht
fehl geht, würden wir wohl den Herrn Marquis von
Poyanne in der Falle haben und dem Herrn Herzog
und Marſchall de France einen braven Strich durch die
Rechnung machen. Meinen Sie nicht auch, lieber Weſt¬
phalen?“


Der damalige Geheimſecretär Seiner Durchlaucht
und ſpätere Canonicus am Dom Sanct Blaſii zu Braun¬
ſchweig, iſt ganz der Anſicht ſeines Herrn und Freundes
geweſen und hat auch das Seinige zur Ausführung des
guten Plans gethan. Den beiden Herren am Kloſter¬
thor von Amelungsborn hat er freilich keine Mittheilung
von der Lage der Dinge zwiſchen Göttingen und Wolfen¬
büttel, zwiſchen der Weſer und dem Harz machen können.
Sowohl der Kloſteramtmann wie der Magiſter Buchius
mußten die Sachen nehmen, wie ſie ihnen kamen, und Beide
hatten wohl eine Ahnung, daß der Invalide im Sack¬
tuch des Magiſters, der ſchwarze Kämpfer mit dem ge¬
lähmten Fittich für den Augenblick wenigſtens am be¬
haglichſten aus der Affaire heraus ſei. Sie fanden
jedenfalls ihr Haus- und Heimweſen von Neuem in
einer erklecklichen Aufregung vor und hatten abermals
Mühe, im Elend der Zeit den Kopf oben zu behalten.
[43] Auch Magiſter Buchius trotz ſeiner Erlebniſſe und Er¬
fahrungen im dreißigjährigen Schul-Leben und Kriege
und ſeiner Studien im Polybio, im Hygino und in des
Vegetii Epitome institutorum rei militaris.


Er war ein Mann der Ordnung dieſer Kloſter¬
amtmann von Amelungsborn; aber halte einmal Einer
Ordnung im Hauſe in Zeiten wie die eben vorhan¬
denen! Nach dem Abzug der Schule aus ſeinem Reich
hatte er gemeint, nunmehro ſein Reich nach ſeinem
Sinne zu lenken; doch bitter hatte ihn das Jahr Ein¬
tauſendſiebenhundertundeinundſechzig getäuſcht. Er faßte
auch dieſen Abend beim Eingehen in ſein Hof¬
thor ſein ſpaniſch Rohr mit einem ſchweren Seufzer
und mit der Gewißheit, daß ſeine Anwendung ihm
wenig helfen werde, feſter. Sie wußten auch im
Kloſter ſchon, daß das Kriegeswetter dräuender denn
je heranziehe, daß weniger denn je auf Schonung vom
Feinde zu rechnen ſei und — die Raben hatten ſie
auch über ihren Köpfen ziehen ſehen: Menſchen und
Vieh, Alt und Jung, Mann und Weib — Alles war
in Bewegung in Amelungsborn und erwartete den
Herrn und Meiſter, ſeinen Rath und Troſt.


„Sie kommen zu Tauſenden und Hunderttauſenden!
Sie verſchonen dießmal nicht das Kind im Mutterleibe.
Daſſel brennt wieder einmal! Der ganze Solling ſteht
in Feuer. Ueber Erichsburg und Lüthorſt ſind ſie
ſchon mit der Hauptmacht hinaus. In Stadtoldendorf
ſind die hellblauen Dagoner wieder, und die Schweizer
[44] ſind auf dem Wege hierher und ſind wieder die
Schlimmſten, wie im Sommer! Und ſie bringen wie
in der Schwedenzeit ganze Wagen voll von den alten
Mönchen mit. Und nicht mal verkriechen in Wald
und in der Erde ſoll man ſich vor ihnen! Sie hängen
Jeden, den ſie aus dem Buſch ziehen, und die Mädchen
nehmen ſie, über den Sattelknopf gelegt, mit. Barm¬
herziger Gott, wer hilft uns dießmal in der allerhöchſten
Noth? O liebſter Himmel, Herr Amtmann, Herr Amt¬
mann, was ſollen wir thun?“


„Vermaledeiter Hund, vorſichtig mit Feuer und
Licht in den Ställen umgehen, und wenn der jüngſte
Tag vor der Thüre ſtünde!“ ſchrie der Herr Amtmann,
ſich aus dem zeternden Haufen unter der nächſten
Stallthür einen Knecht hervorlangend, der mit einer
zerbrochenen, ſcheibenloſen Hornlaterne das Getümmel
beleuchtete. Das ſpaniſche Rohr fiel nieder auf die
Hand, welche das Licht hielt, und in das erſchreckte
Auseinanderſtieben ſeines Haus- und Hof-Geſindes
donnerte der Herr und Meiſter hinein:


„Ob der Satan ſeinen ganzen Sack voll Gezücht
über mich ausſchüttet, ſo weit mein Stock reicht,
will ich meine Ordnung halten. Fällt mir die Welt
über dem Kopfe ein, ſoll's mir allmählich recht ſein.
Fliegt mir der rothe Hahn auf's Dach, ſo ſoll er doch
nicht auf meinem eigenen Herd aus dem Ei gekrochen
ſein. Ja, ſchiele nur her, Beſtie von Kerl! was will
die Gans da mit ihrer Schürze? Zu Deinen Krancke,
[45] Hund! in Deine Küche, Weibsbild! Krieg — Krieg —
Krieg! Auf dem Amtmann von Amelungsborn liegt
der Krieg, und auf keinem Andern. Aus dem Wege
— aus dem Wege!“


Er ſchwankte wie ein Betrunkener über den alten
Kloſterhof, der in Frieden und Krieg ſchon ſo viel ge¬
ſehen hatte, ſeinem Wohnhauſe zu; und wie er ſich,
die Steintreppe zur Hausthür hinauf, am Geländer
hielt, war er wirklich der feſten Ueberzeugung, daß die
Laſt der Zeit ganz allein auf ihm liege — auf ihm,
dem Kloſteramtmann von Amelungsborn; daß Alles,
was der Satan in ſeinem Sack habe, über ihn aus¬
geſchüttet werde, über ihn, den Kloſteramtmann von
Amelungsborn.


Der geſchlagene Knecht ſah ihm drohend nach, die
geſchimpfte Magd, die ihre Schürze dem Menſchen um
die verwundete Hand hatte binden wollen, that das
jetzt ſchluchzend. Von dem Amthauſe her klang eine
keifende Weiberzunge und durcheinander zeternde Kinder¬
ſtimmen. Die Hunde bellten ſämmtlich; das wenige
noch vorhandene Vieh regte ſich in den Ställen. Ver¬
haltenes Spottlachen, Schimpfworte, verhaltenes Murren
und dann und wann ſchrille Pfiffe kamen aus den
Winkeln des Hofes, wo das ſonſtige Geſinde ſich vor
dem Grimm des Herrn verkrochen hatte, und der
Homeiſter meinte zu dem Magiſter gewendet dem Amt¬
mann nachdeutend:


„Herr, wen Der heute Abend zu ſeiner Suppe
[46] einlädt, dem wird er auch einen ſchlimmen Löffel bei
den Napf legen. No, no, freilich, es liegt auch ſchwer
genug auf ihm und er hat mit keinem beſſern zu
freſſen. Der Herr Magiſter aber haben ſich wohl Ihr
Abendbrod da im Taſchentuch eingeholt? Wie unſere
alten Vorfahren hier, die Mönche, Wurzeln aus dem
Erdboden. Das iſt wohl recht. Den gebratenen Ochſen
mit Haß, von dem der weiſe Sirach ſcheibt, haben wir
alſo den Franſchen wieder vorzuſetzen; und die Saker¬
menter laſſen all' unſern Kohl mit Liebe drum ſtehen.
Wie lange — Herr Du mein Je, Herr, iſt Er denn
wahrhaftig vorhin mit unter den Rabenäſern im Zuge
gezogen und hat ſich gar einen Gefangenen aus der
Bataille mitgebracht?“


„Nur einen Invaliden, Meiſter,“ ſagte der Magiſter
Noah Buchius. „Nur einen armen flügellahmen Warner
von Wodans Felde. Ach, wenn Er, Homeiſter, durch
Schloß und Riegel was dazu thun könnte, Amelungs¬
born morgen vor Feindeseinbruch und Mordbrand zu
bewahren!“

[[47]]

Fünftes Kapitel.

Sie blickten Alle auch dem Magiſter nach, wie er
ſeiner Thür zuſtapfte, die nicht in das Amts- und
Wirthſchaftsgebäude führte, ſondern in den Flügel des
Kloſters, der einſt hauptſächlich der berühmten Schule
und ihren Lehrern Unterkunft gegeben hatte. Bemer¬
kungen machten ſie nicht hinter ihm drein, ſie ſchüttelten
höchſtens die Köpfe. Nur der geſchlagene Knecht ſchien
einen Augenblick lang die Abſicht zu haben, den alten
Herrn am Rockſchooß zurück zu halten; doch auch er
ließ das, wandte ſich zu ſeiner Arbeit und verſchwand
im Pferdeſtall. Es wurde noch einmal ſtill wie im
Frieden in Amelungsborn, trotzdem, daß der Krieg von
Neuem über den Solling heranzog und die Wetter¬
wolken drüben am andern Ufer der Weſer gleichfalls
Miene machten, ſich von Ohr her in Bewegung zu
ſetzen. Wie der Rabenzug es verkündigt, und das
Gerücht es über das Land hier geheult, dort geächzt
hatte.


Es war ganz dunkel, doch wer dreißig Jahre lang
den ſelben Weg gegangen iſt, findet ihn im Dunkeln.
[48] Der Magiſter brauchte kein Licht auf den ausgetretenen
Treppen, in den Gängen, die an den jetzt ſo ſtillen
Schulzimmern vorbeiführten; ſelbſt der trübe Schein,
der hier und da durch ein Fenſter fiel, war ihm nicht
vonnöthen. Einen Augenblick hielt er an vor einer
Thür, der Thür ſeiner Quinta. Er legte die Hand
auf den Griff, als ob er öffnen wollte; aber mit einem
Seufzer ging er weiter.


Er brauchte auch keine Lampe auf der engern Treppe,
die zu ſeiner Wohnung mit wenigen Stufen empor
leitete, zu der Zelle, die ſein letzter mönchiſcher Vor¬
gänger, der Bruder Philemon, grade vor hundertund¬
dreißig Jahren auf der Flucht vor dem Feinde, oder,
wie die Sage geht, mit der Fauſt Herrn Theodor
Berkelmanns an der Kaputze hatte räumen müſſen,
und die leer geſtanden hatte, bis ſie ihm, dem
Magiſter Noah Buchius, zu ſeinem endlichen Unter¬
kommen im Leben angewieſen wurde. Dreißig Jahre
hatte er ſein Feuerzeug im Dunkeln zu finden gewußt
und fand es auch jetzt; Stahl, Stein und Schwefel
ſowie den Kaſten mit den zu Zunder gebrannten Lumpen.
Die Funken ſpritzten von dem Stein, und einer fing
in den ſchwarzen Lumpen. Der Schwefelfaden leuchtete
auf und fünf Minuten nach ſeinem erſten Schlag mit
dem Stahl hatte der Magiſter Buchius Licht. Er hatte
ſeine kleine Blechlampe auf dem gewohnten Fleck ge¬
funden und bis jetzt wenigſtens ſchlug ſie Keiner ihm
aus der Hand. Nichtsdeſtoweniger ging er noch einmal
[49] zur Thür, um ſich zu vergewiſſern, daß er ſie feſt
hinter ſich zugezogen habe und dann — dann ſaß er
auf ſeinem Stuhl, das Tuch mit dem Invaliden aus
der Rabenſchlacht auf dem Gipsboden zwiſchen ſeinen
Schnallenſchuhen und ſeufzte wie Einer, der ſchwerer
Bedrängung mit Mühe entgangen iſt:


„In solitudine!“ — — —


Während der fünf Minuten, daß er ſo hockt und
ſeine Gebeine und ſeine Gedanken zuſammenſucht, ſehen
wir uns wohl ein wenig in ſeinem Wohnraume um.
Es verlohnt ſich der Mühe.


Es waren eigentlich zwei Räume, die im Kloſter
Amelungsborn das letzte Aſyl des Alten ausmachten.
Man hatte eine Thür in die Wand gebrochen, und die
nebenanliegende Zelle dem Magiſter zum Schlafzimmer
angewieſen. Sein Bett ſtand da auch, und er hatte
ſeit dreißig Jahren gottlob gut da geſchlafen, aber auch
ſeine ſchlafloſen Nächte, die ihm wahrlich gleichfalls
nicht erſpart worden waren, in Geduld durchwacht.
Darüber wäre vielleicht ebenfalls etwas Mehreres zu
bemerken, doch wir verſchieben das oder erſparen es
uns ganz; es kommt nicht viel drauf an.


Die Hauptſache iſt uns augenblicklich die Zelle des
im allerbeſten Schlaf ruhenden Bruders Philemon, des
alten Ciſtercienſers vom Jahre 1631, in welcher der
alte Exkollaborator, der Magiſter Noah Buchius im
Jahre 1761 eingeniſtet ſitzt, und zuſammengetragen
hat, was ihm im Laufe der Zeiten das Schickſal an
Raabe, Das Odfeld. 4[50] Eigenthum oder als Curioſität hat zukommen laſſen
wollen.


Aber das iſt nicht das Einzige. Seltſamerweiſe
fragen ſie Alle im Kloſter ihn Abends oder gar in der
tiefen Nacht um Rath, wenn ſie ſich am Tage luſtig
über ihn gemacht haben. Die ſeit hundert Jahren nicht
getünchte Mönchszelle iſt hinter dem Rücken von Abt
und Amtmann ein Zufluchtsort für mehr als Einen
geworden, dem das Leben durch eigene oder fremde
Schuld ſauer aufſtieß. Mehr als Einer und Eine in
Amelungsborn erinnern ſich dankbarlich bis an ihren
Tod des Stuhls neben dem Kachelofen, des Tiſches von
rothgefärbtem Tannenholz, der im Winter an dieſen
Ofen und im Sommer an das Fenſter gezogen ſtand.
Auch des Bücherfaches mit der mäßigen Bibliothek des
ſonderlichen Gelehrten und Predigers in der Wüſte mag
ſich mehr als Einer entſinnen. Je nachdem der Mann
oder das Weib, der Alte oder Junge iſt, pflegt Magiſter
Buchius nach dem Schaff in die Höhe zu greifen
und anderer Gelehrten Weisheit und Troſt herabzu¬
langen nach dem Bedürfniß der Stunde. Wer nach
dem Hakenbrett mit den Kleidungsſtücken des jetzigen
Bewohners der Zelle gucken will, mag's thun. Viel
zu finden iſt da nicht. Item ſo in dem Kaſten, der
ſeine Hemden, Krauſen, Nachtkamiſöler und Zipfelmützen
in ſich ſchließt. Sereniſſimus, Herr Herzog Karl der
Erſte, haben Ihrem emeritirten gelehrten Diener am
Schulamt auch freie Wäſche für den Reſt ſeines Lebens
[51] ausgemacht; aber er hat wenig Weißes in die Seife zu
geben.


Dafür hat er manches Andere; und manch ein
anderer gelehrter Mann und College von heute würde
gern für ein Paar Griffe zwiſchen ſeine Eigenthümer
nicht nur ſeine eigene ſämmtliche Leibwäſche hingeben,
ſondern auch die ſeiner Frau, vorzüglich wenn ſie ſich
mit oder nach ihm Frau Profeſſorin, Frau Archivarin,
Frau Muſeumsdirectorin betituliren läßt.


Das iſt die Sache! Man iſt nicht umſonſt der
Magiſter Noah Buchius und lebt als ſolcher im nüchtern
altklugen achtzehnten Jahrhundert in der hohen Wald-
und Wildnißſchule von Amelungsborn im Tilithigau,
ohne das Seinige, das was Einem allein gehört, zu¬
ſammen zu tragen. Im Sacktuch auch, wie eben noch
den ſchwarzen Kämpfer aus der Rabenſchlacht auf dem
Odfelde, dem Campus Odini des Magiſters!


Es kleben und hängen an Allem Zettul. Von des
gelehrten und kurieuſen Mannes Hand geſchrieben. Wir
ſchreiben nur einige derſelben nach, wie unſer Auge
von der Wand zwiſchen dem Fenſter und dem Ofen
bei der trüben Beleuchtung durch die ſchlechte Oellampe
hinſchweift, und wir bedauern, daß wir nicht alle nach¬
ſchreiben können.


Auf Börten, jene Wand entlang find die Merk¬
würdigkeiten geordnet und haben Generationen von
Schulbuben, ſowie dem geſammten Lehrerconvent ſo¬
wie auch dem geſtrengen Herrn Kloſteramtmann reich¬
4*[52] lichſten Grund zur Verwunderung, zum Kopfſchütteln
und zum Geſpött gegeben; und zwar nicht der Erklä¬
rungen wegen, ſondern wegen des närriſchen Menſchen,
der ſich mit dergleichen riſibeln Allotriis abgab.


„No. 5. Ein römiſcher Ritterſporn, ſo wahrſchein¬
lich in den kayſerlichen Armaden Divi Auguſti oder
Tiberii verloren. Im Sumpf am Molter-Bach gefun¬
den. Arg verroſtet.“


„No. 7. Eines cheruskiſchen Edelings Arm- und
Schmuckring. In einem Topfe gefunden ohnweit Warbſen.“


„No. 7a. Derſelbige Topf, der beſſern Erhaltung
wegen mit Draht umbunden.“


„No. 7b. Etliche Aſchen und Kohlen aus dem näm¬
lichen Topfe. Zum Andenken an unſere Vorfahren in
einem Papier conſerviret in der Tobacksdoſe des hoch¬
ſeligen Herrn Abtes Doctoris Johann Friedrich Häſeler,
weiland hieſiger hohen Schule weitberühmten Vorſteher.
Ein feiner weltbekannter Mathematicus!“


„No. 16. Ein Fauſthammer auf der Mäuſebreite,
Stadtoldendorfer Feldmark aufgegraben. Wie mir däucht
eines teutſchen Offiziers Kaiſers Caroli Magni Gewaffen.
Doch laſſe ich dieſes beſſern Gelehrten anheimgeſtellt
ſein.“


„No. 20. Ein verſteinerter Knochen hominis diluvii
testis
. Eine große Rarität! Hat mir aber im Kloſter
mannichfachen Verdruß zugezogen, derer hierüber anders
laufenden Meinungen wegen. In den Steinbrüchen,
im Sundern gefunden.“

[53]

„No. 23. Ein barbariſch Horn vom Urochſen, Bos
primigenius
; auch Wiſent genannt. Ehedem von den
Barden beim Gottesdienſt und in der Bataille zum
Tuten gebraucht. Dieſes hier vorhandene Exemplar ſoll
ſich im Kuhhirtenhauſe zu Lenne hinter dem Till vor¬
gefunden haben. NB. mir von denen Herren Prima¬
nern zu meinem Geburtstage zugetragen und de¬
diciret.“


„No. 30. Ein bemalter hölzerner Arm von einem
Weibsbild, einer Statua der Jungfrau Maria. Hat zu
päbſtlicher Zeit hier bei uns in unſerer Kirche viele
Wunder gethan und großen Zudrang des Volkes von
weither zu Wege gebracht. Auch eine große Curioſität
und wohl zu bewahren, doch mit Vorſicht vorzuweiſen
des lieben Aberglaubens wegen, der heute noch wie
damals an jedwedes alte Weibermärlein glauben
muß.“ —


Nicht wahr, wenn man doch in dem Kataloge ſo
fortfahren wollte, zum Scherz der Herren Primaner
und beſſern Gelehrten heutiger Zeit? Wir thun's aber
nicht. Um keinen Spaß in der Welt! Wir werfen
höchſtens noch einen Blick auf den „Büchervorrath“
unſeres lieben alten Freundes.


Natürlich die Claſſiker in abgegriffenen Schulaus¬
gaben, meiſtens aus den eigenen Schuljahren des Ma¬
giſters. Wenige neuere und neueſte Schriften und auch
die meiſtens nur wie ſie der Zufall in der Zelle des
Bruders Philemon zuſammengeſchichtet hat: Gundlings
[54]Otia neben Petitus De amazonibus dissertatio; Jöchers
compendiöſes Gelehrtenlexikon neben des weltberühmten
Engelländers Robinſon Cruſoe Leben und gantz un¬
gemeinen Begebenheiten inſonderheit da er 28 Jahre
lang auf einer unbewohnten Inſul auf der Amerikani¬
ſchen Küſte gelebet hat. 1728. Profeſſor Gottſcheds
Kritiſche Dichtkunſt und Bearbeitung von Addiſon's Cato,
und daneben, und daneben — vielleicht pio furto ſeit
Emigrirung der Schule von Amelungsborn nach Holz¬
minden im Beſitz des Magiſters Buchius — ein ge¬
ſchrieben Breviarium mit ſauber ausgemalten Kupfern
(sic) Johannis Masconis, vordem, Anno Dom. 1363
bis 1366 am hieſigen Orte Abbas.


„Soll ein celebrirter Maler und feiner Amateur
in denen ſchönen Künſten zu ſeiner Zeit geweſen ſein,“
meint der Magiſter auf einem in der Handſchrift lie¬
genden Zettel. „Wird von denen heutigen Kunſtkennern
weniger äſtimiret.“


Es kamen, ſelbſt als noch die Schule zu Amelungs¬
born in Blüthe ſtand, die neueſten Erzeugniſſe der
Litteratur weder vollſtändig noch raſch in die gelehrte
Weſer-Waldwildniß. Jetzt wartet der Magiſter ganz
vergeblich ſelbſt auf zufällige Nachrichten aus der Ge¬
lehrten Republik da draußen. Es iſt eben Krieg, und
ſelbſt Dinte und Gänſefedern ſind rar geworden in
Amelungsborn.


Gänſefedern? Ja wohl, ja wohl! Dieſe jedem
Pädagogen, Doctor, Präceptor und Ludimagiſter unent¬
[55] behrlichen Inſtrumente flatterten wohl ungeſchnitten auf
den Feldern und Wegen, um die Kochſtellen; aber aus
den Ställen und von den Höfen waren ſie weniger zu
holen. Dafür hatten ſowohl der Vicomte von Belſunce
wie der Herr General von Luckner und ihre Völker
zu Fuß und zu Pferde ſchon ſeit dem Sommer des
Jahres geſorgt. Wem's Papier nicht ausgegangen war
an ſolch' einer entlegenen Kulturſtätte, mochte item
von Glück ſagen. Weder Charta pura, rein ſauber
Papier, noch Charta emporetica, Kramerpapier gab es
viel zu Amelungsborn; von Charta Claudiana, Regal¬
papier und Charta augusta, ſeinem, gelinden Schreib¬
papier ganz zu geſchweigen. Die wenigen Bogen des
letztern, die der Magiſter Buchius übrig hat, die hütet
er wie ſeinen Augapfel und bedient ſich ihrer nur ver¬
ſtohlen zu ſeinen im Trubel der Zeiten fortlaufenden
Collectaneen.


Das jüngſte Buch in der Zelle des Ciſtercienſer¬
mönchs Philemon und des letzten am Orte nachgelaſſe¬
nen Kollaborators der Gründung des heiligen Berhard von
Clairvaux ſtammt aus dem Jahre 1756, und iſt eine
vierte Auflage und zu haben zu Lemgo in der Meyeri¬
ſchen Buchhandlung. Es liegt an dieſem böſen un¬
ruhevollen Herbſtabend auf dem Tiſche des heutigen
alten Bewohners der Zelle und ſein Titel lautet:


„Der wunderbare Todes-Bote
oder Schrift- und Vernunftmäſſige Unterſuchung Was
von den Leichen-Erſcheinungen, Sarg-Zuklopfen, Hunde¬
[56] Heulen, Eulen- und Leichhüner-Schreyen, Lichter-Sehen,
und andern Anzeigungen des Todes zu halten. Aus
Anlaß einer ſonderbaren Begebenheit angeſtellet und
ans Licht gegeben von Theodoro Kampf, Schloß-Pre¬
digern zu Iburg.“


Magiſter Buchius hat auf dem Schmutzblatt bemerkt:

„Mir wohl aus angenehmer Satura zum freund¬
ſchaftlichen Hechelſcherz von Holzminden aus dediciret
von meinen hochgeehrteſten Mitarbeiter am hieſigen
Schulwerk, Herrn Collega, Kollaborator Magister Zinſer¬
ling. In den Iden des Märzen 1761. Habe dem
Herrn Satirikus ſeinen Scherz weiter nicht nachgetragen,
ihm jedoch auch nicht zu ſeinem gewünſchten Kitzel ob
der Sache verholfen.“


Wie aber nun auch Magiſter Buchius ſich im Früh¬
jahre 1761 zu dem abſonderlichen Buche geſtellt haben
mochte; am Morgen des vierten Novembers in dem¬
ſelben Jahre 1761 hatte er es doch aus ſeinem Vor¬
rath von gelehrtem Rüſtzeug herabgelangt und mancherlei
Beachtenswerthes darin gefunden; ja ſogar hier und da
eine kleine Aufrichtung in der Angſt, Unruhe und Sorge
des Daſeins. Letzteres vielleicht ein wenig gegen die
erſte Meinung des wohlgeſinnten Gebers und mit gen
Holzminden verzogenen jocoſen Collegen M. Zinſerling.
Und für Einen, der eben aus der Rabenſchlacht auf
dem Odfelde heimkehrte, iſt es auch wahrlich eine
Schrift, die man auf dem Tiſch nur zurückſchiebt, um
der Abendſuppe Raum zu machen.


[57]

Dieſe wurde gebracht, als der greiſe Benemeritus
ſeinen Gefangenen, oder lieber ſeinen Geretteten, aus der
Bataille auf dem Campus Odini aus dem Sacktuch, in
welchem er ihn hergetragen hatte, loslöſte.


Mit hängendem Flügel hüpfte der wunde ſchwarze
Kämpfer hervor, verſuchte zu flattern, gab es auf, hüpfte
auf gottlob geſunden Füßen hierhin und dahin durch
das Gemach, ſtellte ſich feſt unter dem Tiſche, legte
den Kopf auf die Seite, den Magiſter Buchius genau
zu betrachten und ſprach rauh, heiſer und klagend:

„Krah! krr, krr, krr!“


„Komme Er her; ich thue Ihm weiter nichts,“ ſagte
der Magiſter Buchius, wie er das vordem von ſeinem
Katheder herunter hätte ſagen können. „Laſſe Er mich
wenigſtens nach Seinem Fittich ſehen,“ ſagte der Magiſter
zuredend und dabei unter den Tiſch nach ſeinem neuen
Stubengenoſſen greifend. Noch traute dieſer aber nicht
gänzlich. Krächzend hüpfte er vor der begütigenden,
mitleidigen Hand zurück in's Dunkel, und in demſelben
Augenblick klopfte es an der Zellenthür.


Es war Wieſchen, von der Frau Kloſteramtmannin
geſchickt mit dem Abendbrod des Emeritus der großen
Schule von Amelungsborn, des zu Tode zu fütternden
gelehrten überſinnigen Haus- und Hof-Genoſſen.


„Krah!“ kreiſchte der Rab, mit dem ganzen Witz
ſeines Geſchlechts eine offene Thür ſofort von einer ge¬
ſchloſſenen unterſcheidend. Noch einmal verſuchte er zu
fliegen und flatterte wenigſtens gegen das erſchreckt
[58] gleichfalls kreiſchende Mädchen an. Doch er flatterte
nur dem Magiſter in die Hände und dieſer ſprach jetzo:


„Er thut Dir nichts, Kind! Er hat ſelber das
Seinige abgekriegt.“ Es war die Dirne, die vorhin
dem Knecht ihre Schürze um die blutende Hand ge¬
wunden hatte, und die jetzt, immer noch mit verweinten
Augen, dem alten Herrn in der Zelle des Bruders
Philemon ſeine ihm ausgemachte Atzung zutrug. „Zu
Tode hat er mich verjagt, als ob's noch nicht genug
an der Angſt wäre,“ ſchluchzte ſie, aus ihrem Korbe
den irdenen Napf mit dem ſteifen, ſchwachdampfenden
Roggenbrei hebend und zu ihm auf den Tiſch das
ſchwarze Roggenbrod und den Teller mit dem letzten
Häring von Kloſter Amelungsborn abſetzend.


„Mit der Butter reichte es ſelbſt für den Herrn
Amtmann nicht, und die Käſe wollten wir doch lieber
für den Feind aufheben wenn's doch wieder einmal ſein
müßte, läßt Ihm die Frau Amtmännin ſagen,“ ſagte
die junge Magd. „Aber wie Er ſich in ſo ſchlimmer
Zeit noch mit ſolchem Unthier abgeben mag, das weiß ich
nicht,“ ſetzte ſie hinzu. „Ich an Seiner Stelle würfe
gleich den Unglücksvogel da aus dem Fenſter in's Hoop¬
thal hinunter. Aber der Herr Magiſter grauln ſich ja
vor nichts; das weiß man freilich ſchon.“


„Weiß man dieſes?“ ſeufzte der alte Herr; doch
zu ſeinem zappelnden Gefangenen zu genauerer Be¬
ſichtigung ſich wendend, meinte er: „Armer Patron,
den Fittich hat man dir böſe zerhackt. Mit dem Fliegen
[59] wird's wohl nicht viel mehr werden in dieſer Welt;
aber im Uebrigen geht's ja noch. Sind nun auch an¬
gewieſen auf das Huppen unter Tiſch und Bank, auf
das Broſamenleſen aus den Stubenritzen, auf das
Knochenſuchen im Kehricht nach dem Jagen in den
Lüften, nach dem großen Schlagen im Gewölk! Kralle
Er mich nicht, Monſieur und tapferer Rittersmann; er
ſoll's nach Vermögen gut haben beim alten überzähligen
Kollaborator Buchius. Und Sein Theil von dem Fiſch¬
lein dort und dem guten Brod ſoll Er auch haben, ohne
im Unrath mit dem Bettelſack darnach umgehen zu
müſſen. Um ſeinen hängenden Flunk aber müſſen wir
Ihm vor Allem eine Binde legen — barmherziger
Himmel, Luiſilla, Wieſchen, Jungfer Lieſe, was fällt
Ihr denn bei? was ſoll denn dieſes bedeuten?“


Der Magiſter mochte wohl fragen und ſeinen neuen
Gaſtfreund wieder zur Erde flattern laſſen, ohne für's
Erſte nach Verbandzeug für deſſen Verwundung ſich um¬
zuſehen. Er ſah zuerſt jetzt auf die junge Magd und
zwar betroffen, erſtaunt und erſchreckt. Das Mädchen
heulte plötzlich gradheraus und brach los wie ein Platz¬
regen, als ob ſie die hintergeſchluckte Noth und Angſt
von Wochen und Jahren in dieſem Momente von der
Seele wegſpülen wolle.


„Was dies bedeuten ſoll?“ ſchluchzte ſie, und die
Worte kamen wie bei einer Ueberſchwemmung wegge¬
ſchwemmtes Hausgeräth auf dem Strome. „Nach dem
Beeſt ſieht der Herr Magiſter aus in Seiner Gut¬
[60] herzigkeit; aber für Unſereinen hat Er kein Auge mehr
übrig. Alles ſucht Er ſich zuſammen im Himmel und
auf Erden und läßt es ſich von den Jungens oder
unſern Knechten bringen, wenn ſie meinen, daß es was
für Ihn iſt; aber für uns hat Er keine Zeit mehr
übrig. Ach du lieber Gott und wir kuken doch Alle in
der Bedrängniß nach Ihm, wenn der Herr Magiſter
es auch nicht wiſſen. Und wenn Er über den Hof
geht, hat Er hinter jeder Stallthür und hinter jedem
Fenſter Einen, der mit Ihm ſprechen möchte; wenn der
Herr Magiſter auch keinen Gedanken daran haben.
Und merken laſſen kann es ja Keiner von uns, wie es
ſich für ſolch' einen gelehrten Herrn ſchickt, wie wir uns
zu gern auf Ihn um Rath und That und Troſt verlaſſen
möchten. Mit der Schrift kann es ja Keiner vom Kloſter
Ihm zu wiſſen thun, daß wir Alle wiſſen, daß Er allein
hier in Amelungsborn aus der alten Zeit her und der
frühern Gelehrſamkeit uns zu Troſt und Rath und
Hülfe ſein kann, wenn der Herr Magiſter nur wollen.
Aber Er will ja nicht —“


„Gütiger Himmel, weßhalb will er denn nicht?“
ſtammelte Magiſter und Exkollaborator Buchius, zum
allererſten Mal in ſeinem Leben, und zwar jetzt zu
ſeiner zitternden Ueberraſchung, gewahr werdend, daß
auch er auf der Wagſchaale mitwiege, daß auch er von
wirklicher angſthaft gefühlter Bedeutung für ein anderes
Menſchenkind, für andere — ausgewachſene Leute ſein
könne. „So laß doch das Gejammere, das Geweine,
[61] Kind! ſo ſage es doch, was Du eigentlich von mir
verlangſt! Wie ſoll ich Dir rathen? wie ſoll ich Dir
helfen, Wieſchen? Thu die Schürze von den Augen
und rede deutlich.“


Das Mädchen zog die Schürze von den verſchwol¬
lenen Augen herunter und ſagte unter leiſem Weinen:


„Ich kann ja um Gott und Jeſu nichts dazu, wenn
dem Herrn Magiſter die Suppe da ganz kalt wird; aber
draußen ſteht er, und er will dem Herrn Amtmann
noch vor den Franzoſen den rothen Hahn auf's Dach
ſetzen, und dann will er ſelber unter das Volk, zu den
Franzoſen und dem Herzog Ferdinand. Es iſt ihm jetzt
Alles einerlei, und ich bin ihm auch einerlei. Auf kein
gutes und giftiges Wort hört er; und draußen ſteht er;
und von Ihm, Herr, wollen wir den nächſten Weg in
das blutige Elend wiſſen; denn hier halten wir es nicht
länger aus in Amelungsborn!“

[[62]]

Sechſtes Kapitel.

Der Magiſter ſah von ſeinem kummervollen Abend¬
beſuch nach der Thür und fragte nicht mehr genauer,
wer da draußen ſtehe. Und der draußen Stehende
wartete es auch nicht länger ab, daß man ihm herein
rufe. Er klopfte aber doch höflich mit dem blutrünſtigen
Knöchel an der arbeitsharten Fauſt an, ehe er ſich ver¬
legen-ungeſchlacht hereinſchob. Und dann ſtand er neben
der Hausmagd der Frau Kloſteramtmännin und ſagte
mit harter, ſtockigter, heiſerer Stimme:


„Ja, nichts für ungut, Herr Magiſter, es iſt ſo
wie das Mädchen geſagt hat, und ich möchte wohl heute
Abend noch mit Ihm reden von wegen gutem Rath und
der Landkarte wegen, die Er wohl noch von Seiner ab¬
gegangenen Schule her auszulegen weiß.“


„Alſo Er iſt es, Schelze?“ ſagte Magiſter Buchius.
„So wünſche ich Ihm vor Allem zuerſt einen guten
Abend zu Seinem Beſuch.“


„Schönen guten Abend, Herr,“ ſtotterte der zornige
Knecht. „Und nehme Er's nicht übel, Herr, daß ich
vergeſſen habe, Ihm den zu bieten! Aber Das ſoll
[63] man wohl vergeſſen in dieſer Zeit und nach dem Tage,
wie man ihn ſich gefallen laſſen ſoll von Tage zu Tage.
Das wäre aber nun wohl die letzte Höflichkeit in Kloſter
Amelungsborn, und nun, Wieſchen, ſieh mich nicht ſo
erbärmlich an, es hilft uns Beiden zu nichts. Und
weil ich mich auf der Karte doch wohl nicht mit Seiner
beſten Hülfe zurecht finden kann, Herr Magiſter, habe
ich Ihm gleich ein Stück Kreiden mitgebracht. Da!“


Er hatte ſchon während ſeiner verworrenen Red¬
nerei in der Taſche geſucht und legte jetzt wirklich dem
alten gelehrten Herrn ein Stück Kreide auf den Tiſch
vor die erſtaunten Augen.


„Ja, wenn Er mir ſagen will, Schelze, was ich
hiermit ſoll —“


„Ja, Heinrich, jetzt ſag's dem Herrn Magiſter nur
ſelber in Deiner Unſinnigkeit, was er damit ſoll!“
ſchluchzte Wieſchen darein.


„Die Welthiſtorie ſoll Er mir damit auf den Tiſch
malen. Den Weg ſoll Er mir hier auf den Tiſch malen,
den Weg zum guten Herzog Ferdinand.“


Er zog jetzt mit ſeiner Kreide einen Strich über
den Tiſch.


„Da fließt die Weſer. Hier, wo der Brotlaib liegt,
iſt der Solling. Da über den Häring weg brechen
die Franſchen wieder ein aus dem Göttingen'ſchen, das
weiß Jeder und der Stocktaubſte hat's aus dem Geheul
heute wieder heraushören können. Aber nun da drüben
um Seinen Suppenpott iſt das Weſtfäliſche, und
[64] dorten ſteht der Herzog: längs der Weſer lang ſteht
es voll von ſeinen Völkern. Aber der Rabenzug heute
Abend iſt auch aus dem Calenbergiſchen hergezogen,
und das Weſtfäliſche iſt groß, und zerreißen kann ſich
der Herr Herzog nicht und an jeglichem Orte zugleich
ſein, und ich mag doch nur zu ihm allein hin. Daß
er in Hameln auf den Tod liegt, glaubt Keiner unten
im Stall. Das läßt unſer Herrgott nicht zu: und es
hat ihn auch ſchon Einer, der von drüben gekommen
iſt, reiten ſehen auf ſeinem Schimmel, aber das iſt
bei Meyborſen im Brever-Bruch geweſen: und da ſagen
auch Andere, das ſei einer von ſeinen engelländiſchen
Generalen geweſen. Und ſeine engliſchen Bergvölker
mit den nackten Beinen und Dudelſäcken ſind aus dem
Pyrmont'ſchen her, zwiſchen Grohnde und Bodenwerder,
vernommen worden: der Herr Magiſter hier aber hat
ſeine Karten an der Wand und ſich alles darauf an¬
geſchrieben, wie es draußen ausſieht in der Welt. Und
nun, Herr, wenn Er Erbarmen mit einem armen
Menſchen haben wollte und einem armen Menſchen
ſeine Seele vor einem Mord an ſeinem Brodherrn be¬
wahren möchte, ſo ſollte Er mir heute Abend genau an¬
weiſen, wo ich auf dem kürzeſten Richtewege zu unſerm
Herrn Herzog Ferdinand kommen kann!“


Magiſter Buchius war nicht der Mann, der ſich
ſofort zu faſſen und Antwort zu geben wußte, wenn
man in irgendeiner Art und Weiſe auf ihn einlärmte:
aber zu faſſen wußte er ſich mit der Zeit immer.


[65]

Zuerſt murmelte er jetzt, beide magere Kniee mit
den beiden Händen reibend:


„Ich hab's mir wohl gedacht! ich hab's mir wohl
gedacht. Es wird wie damals im dreißigjährigen Elend;
wir treiben uns Alle — Einer den Andern in den
Krieg. Den Bauer vom Pflug, den Handwerksmann
aus der Werkſtatt, den Studenten von dem Buch! Alle,
Alle! Den Herrn und den Knecht, den Meiſter und
den Jungen — Alle, Alle. Und die Fremden hohn¬
lachen, ihre Roſſe waten in unſerm Blut und ihre
Räder gehen über unſere Knochen. Hört Er's krachen,
Schelze? ſieht Er's roth und langſam fließen in den
Gräben, Schelze?“


„Ja, Herr,“ grollte der Knecht von Amelungsborn,
„wer von uns hat ſie nicht liegen ſehen? Habe ich ſie
nicht ſelber mit unterroden müſſen? Mit den Lade¬
ſtöcken auf dem Buckel haben ſie uns an der Arbeit
gefördert. Aber grade drum, Herr! Weshalb ſoll nicht
Unſereiner auch mit dem flachen Pallaſch den verfluch¬
ten Bauerlümmel beim Vorſpann und an der Leichen¬
kuhle traktiren, wenn er's ſo gut haben kann? Dem
Kloſteramtmann von Amelungsborn mit dem Kolben
in den Hintern, mit der Plempe über den Kopf und
die Fauſt — wie er mir — das ſoll mir jetzt das
rechte Freſſen ſein in der verhungerten, luſtigen Zeit!
Ein ehrlicher Soldatentod in dieſen Kriegestagen iſt ein
beſſer Labſal als ſich Tag für Tag zum Krüppel auf
dem Miſthaufen ſchlagen laſſen. Der Herr Magiſter
Raabe, Das Odfeld. 5[66] weiß es ſo gut wie ich, wie es hier in Amelungsborn
zugeht, ſeit der Amtmann alleine Meiſter iſt; aber vor¬
hin iſt dem Faſſe der Boden ausgeſchlagen worden.
In dieſer Nacht noch geht's unter das Volk, Herr Ma¬
giſter, und wenn's Glück gut iſt, giebt's morgen auf
dem Hofe wieder eine blutige Fauſt, aber meine iſt's
dann nicht mehr! Alſo, Herr, habe Er Mitleiden mit
dem Wieſchen und mir. Hier ſtehen wir — hier fließt
die Weſer auf dem Tiſche. Wo ſteht nun Seine Durch¬
laucht der Herzog, liebſter, beſter Herre? Da liegt Holz¬
minden. Hier Polle. Ich meine, über Polle iſt wohl
für uns der geradeſte Weg von Amelungsborn aus;
aber es wird dem Wieſchen und mir auch nicht auf
einen Umweg zu dem guten Herzog Ferdinand an¬
kommen.“


„Wir?“ rief der Magiſter und ließ jetzo beide Arme
von den Knieen ſchlaff am Leibe herunterſinken. „Wir?
Das Mädchen will Er auch mit in den Krieg nehmen,
Schelze? Menſchenkind — Menſchenkinder, ſeid ihr
denn ganz von Sinnen?“


„Da ſteht es ja, das Mädchen! Der Herr Magiſter
kann es ſelber nach ſeiner Meinung fragen.“


„Wieſchen? — Louiſa? — Unglückskind — o Men¬
ſchenkinder, Menſchenkinder! So ſprich doch, rede doch,
ſag doch dem Narren, daß Du Dich dazu nicht ver¬
führen läſſeſt.“


„O Gott, Gott, Gott, was kann ich denn dazu?“
ſchluchzte die jüngſte Hausmagd der Frau Kloſteramt¬
[67] männin von Amelungsborn. „In der Küche geht es
mit uns ja eben ſo böſe zu wie auf'm Hofe und in
den Ställen. Die Herrſchaften wiſſen ja da mit ſich
ſelber nicht ein und aus; und woran ſollen ſie denn
auch ihre Bitterniß auslaſſen als an dem, was ihnen
zunächſten zur Hand iſt. Gott ſei's geſchworen, ich
wünſche ihnen nichts Schlimmes, als was ſie täglich ſchon
auf dem Nacken haben; ich ſehe es ja wohl ein, ſie
haben ihr Theil auf dem Nacken; aber die blauen Mäler,
die ich Ihm am Leibe vorweiſen kann, die kann ich mir
draußen als Soldatenfrau pläſirlicher holen, wie Tauſend
andere, die hier und bei mir zu Hauſe durchgezogen
ſind auf dem Bagagewagen und in Sicherheit geſungen
haben, wo wir mit gezauſten Haaren und Kleidern ihnen
nachgeheult haben. Da hat mein Heinrich doch nicht
Unrecht, lieber Herr Magiſter, und zumalen da wir zu
dem guten Herrn Herzog Ferdinand gehen wollen!“


„Und zumalen, da des Herrn Herzogen Durchlaucht
das Wieſchen ſchon kennen, und es eine alte Bekannt¬
ſchaft von ihm iſt, und er ihm wohl aus guter Freund¬
ſchaft und Mildthätigkeit zu einem ſichern Platz in
ſeinem Nachzug verhilft.“


„Er ſchwatzt und ſchwatzt und ſchwatzt, Schelze.
Halte Er jetzo den Mund, Heinrich; und Sie, Wieſchen,
was ſchwatzt auch Sie? wie will Sie denn zu Seiner
hochfürſtlichen Gnaden Connaiſſance und in allergnä¬
digſte Connexion mit ihm gekommen ſein?“


„Oh, das iſt wohl an dem, Herr Magiſter, und da
5*[68] hat mein Heinrich auch nicht gelogen, Herr! und an dem
Verhältniß iſt der franzöſiſche Herzog und Diebskönig
und Räuberhauptmann, der ſchlechte Kerl der Riſchelljöh
Schuld. Der hat uns zuſammen gebracht, mich und den
guten Herzog Ferdinand.“


„Dann erzähle Sie mir wenigſtens das Genauere
über dieſe Sache, welche ich wahrlich für's Erſte immer
noch für eine Fabula, für ein geträumtes Märlein
erachte.“


„Von meinen ſilbernen Schuhſchnallen iſt's hergekom¬
men. Hat Er hier in Amelungsborn denn gar nichts davon
vernommen, wie der Riſchelljöh bei mir zu Hauſe ge¬
wirthſchaftet hat, und wie auch ich arme Junge-Magd
ihm meine Halsſpange, von meiner ſeligen Mutter her,
und meine Schuhſchnallen habe abliefern müſſen? Zu
uns in's Halberſtädtiſche ſchickte er ſeinen zweiten Spitz¬
buben-General, ſeinen argen Sohn*), und es iſt nachher
an den guten Herzog Ferdinand geſchrieben worden, wie
er in Perſon Hausſuchung gehalten hat und keinen
Silberlöffel im Schrank und keinen Pathengulden in
der Sparbüchſe und keinen Kelch in der Kirche gelaſſen
hat, und ich habe ihm mit allen anderen Mädchen in
unſerm Dorfe und in der Stadt Halberſtadt meine
Halsſpange und Schuhſchnallen hergeben müſſen in
ſeinen Raubſack. Das iſt im Jahr Achtundfünfzig ge¬
weſen und dann iſt der große Brand in unſerm Dorfe
[69] geweſen, wo aber die Franzoſen nicht Schuld daran
waren, ſondern die Mutter Lages, und ich bin ſieb¬
zehnjährig geweſen damals, und mein Vater iſt mit
mir nach der Weſer, wo er einen Bruder in Minden
gehabt hat; aber wir ſind nicht hereingekommen in die
Stadt. Der gute Herzog Ferdinand hat ſchon davor
gelegen mit ſeinen Völkern und Kanonen und hat ſie
auch eingenommen und iſt nach ſeiner Art viel zu gut
gegen die fremden Schub- und Ruppſäcke geweſen. Aber
mein Vater iſt am Fieber am Wege liegen geblieben
und geſtorben; und mich hat der Herzog im Vorbei¬
reiten nach Lübbeke bei ihm ſitzen gefunden und ſeinen
Schimmel angehalten und mich gefragt: wer ich wäre.
Da habe ich ihm Alles geſagt, und da hat er den
Kopf geſchüttelt und geſagt: Armes Ding! und hat in
ſeine Taſche gegriffen und noch einmal ein betrübtes
Geſicht gemacht und die Herren die bei ihm geweſen
ſind, gefragt: wer von ihnen Geld bei ſich hätte. Es
hat Keiner was gehabt, und da hat er ſich dieſen Knopf
vom Rocke geriſſen und ihn mir vom Pferd gegeben
und geſagt: Den bringe mir nach Braunſchweig auf
das kleine Moſthaus, wenn wir Zwei heil durch dieſes
Elend kommen!“


Und Wieſchen griff ebenfalls unter ihren Rock in
die Taſche im Unterrock und legte dem Magiſter Buchius
auf ſeinen Tiſch neben dem Kreideſtrich, der die Weſer
bedeutete, den ſilbernen Knopf, welchen ſich der weich¬
herzige tapfere Kriegsfürſt, weil er nichts anderes bei
[70] ſich hatte, für die arme Magd am Wege auf ſeinem
Wege zu ſeiner nächſten Schlacht- und Siegesſtatt bei
Crefeld vom Rocke geriſſen hatte.


Magiſter Buchius blickte mit flimmernden Augen
von dem Knopf auf das Mädchen und wieder von dem
Mädchen auf den Knopf: das war doch eine Rarität,
wie er ſie noch nicht in ſeinem Muſeo aufbewahrte!


„Das iſt wahrlich eine ſeltene und köſtliche Reliquie,
die Du ſeit dreien Jahren unter Deiner Schürze ver¬
borgen trägſt, Mädchen,“ rief er. „Aber da ſollteſt
Du auch beſſer dem lieben Gott und dem guten Fürſten
trauen. Auf den Herrgott ſollteſt Du bauen, daß er
Euch, dem lieben Herzog und Dir, heil aus den ſcheu߬
lichen Zeiten und Eurem Elend hilft, und nicht ſollteſt
Du den unſinnigen Menſchen da in ſeiner Tollwuth
beſtärken. O Narre, Narre Schelze, Heinrich Schelze,
ſo willſt Du dies koſtbare Zeichen, daß in der Welt
das Licht nimmer ganz in Greuel, Blut und Nacht
verliſcht, mißbrauchen? So willſt Du, weil Du von
einem geſchlagenen Mann geſchlagen worden biſt, das
Fatum in Muthwillen herausfordern und die Verant¬
wortung dafür, was dieſes gute Geſchöpf durch der
Könige Zwiſt und Zwietracht noch treffen mag, auf
Dich allein nehmen? Schelze, Schelze, ein Dummrian
war Er meiſtens; doch nun hat Er die Abſicht ein
Cujon dazu zu werden; und wenn es nicht anders
ſein kann, ſo habe Er ſeinen Willen und laufe Er
meinetwegen dem Unglück in den Rachen, ohne Gottes
[71] Hand hier bei uns Andern in Geduld über ſich walten
zu laſſen. Aber das Wieſchen, das Mädchen läſſet er
in Amelungsborn, läſſet es bei mir. Seine herzog¬
liche Durchlaucht haben es nicht aufgefordert, ihm das
edle Wahrzeichen von einem Bagagewagen hinzuhalten;
nach Braunſchweig in's Moſthaus oder in die Burg
Dankwarderode ſoll es ihm das Zeichen zurückſtellen,
wenn der Herr aus der Höhe ſeinen Stab zwiſchen
die Streiter geworfen hat. Ja wohl, da hat Er mir
die Weſer auf den Tiſch gemalt, Er Narre. Hier
kommt der Franzmann von Neuem über den Solling
und dringt auf Einbeck, hier ſtreckt ſich der Ith und
hier (der Magiſter ſetzte den hagern Zeigefinger feſt
auf eine ganz beſtimmte Stelle ſeiner imaginären Land¬
karte), hier wird Er freilich in den allernächſten Tagen,
ja morgen ſchon den Herzog Ferdinand treffen, wenn
der noch einmal ſeine Vaterſtadt und ſeines Herrn
Bruders Reſidenz vor dem Marſchall von Broglio
ſchirmen will. Halte Er ſich ja nicht länger auf bei
uns, Schelze, folge Er nur ſeinem Grimmbrägen und
vertauſche Er den Stab ſeines geplagten und Ihm von
Gott vorgeſetzten Brodherrn mit der Fuchtel des nächſten
welſchen, engliſchen oder hannöverſchen Feldwebels; aber
das Mädchen, das Wieſchen giebt Ihm nicht ſeine Ehre
und Schaam mit in die Rappuſe und auf den Feld¬
wagen. Es hält aus mit dem alten Magiſter Buchius
und bei ihm, und es gehet nur mit ihm von Kloſter
Amelungsborn. Wahrlich, wahrlich es iſt ſchon mehr
[72] denn genug hin und her geflüchtet durch das Land vor
dieſer Kriegesnoth. Da, Kind, nimm Dein theures
Pfand in der Hoffnung, daß wir noch einmal andere
Zeiten ſehen werden, zurück, und bewahre es wohl.
Er aber, Schelze, was dreht Er die Pudelmütze in den
Fäuſten, gehe Er doch, hole Er ſich doch bei den nächſt¬
beſten Vorpoſten die nächſtbeſte Kokarde dran. Mit
dem offenen Licht im Stall war Er noch obendrein im
Unrecht; aber das iſt einerlei, marſchire Er, mache Er
die Thüre hinter ſich zu. Ueber das Odfeld am
Quadhagen her, gehet Sein Weg. Der da hat in
Weſtfalen mitgefreſſen an Seinesgleichen und iſt auf
neuen Fraß ausgezogen jetzt zwiſchen der Weſer und
dem Harz. Nicht wahr, Alter?“


„Krah!“ ſagte der Kämpfer aus der Rabenſchlacht
über dem Wodansfelde unter dem Tiſche des Magiſters
hervor.


„Wenn ſein Flügel heil iſt, ſchicke ich ihn wieder
zum Fenſter hinaus, Schelze,“ rief der Magiſter
Buchius. „Wer weiß, ob ihr Zwei nicht noch einmal
Eure Bekanntſchaft von heute Abend erneuert? Ja,
ſchlage nur mit dem heilen Fittich, ſchwarzer Vielfraß.
Es iſt eine nahrhafte Zeit für Dich und Deine Kame¬
raden von beiden Parteien, und friſches Futter wird
jeden Tag zugeſchnitten.“


„O du barmherziger Herr und Heiland, Heinrich?!“
jammerte die junge Magd, mit beiden Händen den
Schatz am Arme packend. „Hörſt Du denn dieſes,
[73] vernimmſt Du denn dieſes und gehſt nicht in Dich?
gehſt noch immer nicht in Dich! O Herr Magiſter,
Magiſter, das Aas, das Aas! das Vieh, das Vieh!
wie es uns anſieht! Gleich möchte es uns nach den
Augen hacken! O lieber doch hier im Kloſter in den
Teich, als auf dem freien Felde dem ſchwarzen Greuel
da anbefohlen.“


Das Mädchen fuhr in die fernſte Ecke der Zelle
zurück, als grade jetzt der ſchwarze Vogel auf es zu
hüpfte; aber auch der Knecht Schelze wich rückwärts,
als das Thier ſich von ſeinem Schatz zu ihm ſelber
wandte.


Er ließ die Pudelmütze aus den tapfern Händen
fallen und brummte:


„Gottsſakrament, das Beeſt, das Aas!“


Er ſah beinahe zum Lachen aus mit ſeinem plötz¬
lichen Grauen und Schauder, und plötzlich griff er ſeine
Kappe mit einem ſchnellen, ſcheuen Griff unter dem
Schnabel des Raben weg und auf und ſtotterte:


„Nu, denn nichts für ungut, Herr Magiſter, von
wegen der Störung. Wann Sie dann meinen, Herre,
ſo kann man ſich's ja auch wohl noch eine Zeit lang
überlegen. Und wenn das Wieſchen meint, ſie hält's
noch aus mit ihrer Frauen, nu, ſo will ich auch
meinen Buckel für dießmal noch dem Herrn Kloſter¬
amtmann zu ſeinem Belieben hinhalten. Alſo will ich
weiter nichts geſagt haben und der Strich da auf'm
Tiſche ſoll meinetwegen noch nichts gelten. Aber der
[74] Herr Magiſter müſſen mir Eines verſprechen, nämlich,
daß Sie mit dem Wieſchen auch mich wüthigen Satan
nicht verlaſſen wollen mit Ihrem Rath und Beiſtand,
wann's wieder zum Schlimmſten in Kloſter Amelungs¬
born geht.“


„Ich?“ rief der alte, als fünftes Rad am Wagen
in Amelungsborn verbliebene Gelehrte. Doch ſich faſſend
rief er auch: „O Gott, ja, ja, — ſo weit es reicht, ſo
weit es reicht! ja, ja!“


„Nu, dann wollen wir den Herrn Magiſter auch
nicht länger von ſeinem Abendbrod abhalten. Komm,
Wieſchen.“


Die Junge-Magd ſetzte, laut aber froh weinend,
dem überflüſſigen letzten Schulmeiſter von Amelungs¬
born einen Knix hin.


„Ich bedanke mich auch recht ſchön bei Ihm, Herr
Magiſter.“

[[75]]

Siebentes Kapitel.

Der Herr Magiſter ſchlug noch einmal die Hände
zuſammen, nachdem ſich die Thür hinter den zwei armen
Tröpfen geſchloſſen hatte. Er ſchüttelte auch noch ein¬
mal das Haupt und ächzte ſchwer auf; doch dann zeigte er
ſich auch wieder als der Mann, der wußte, daß in dem
Drange der Zeiten mehr als ein Einiges Noth thue.
Er zog den Stuhl an den Tiſch, den Napf mit der
kaltgewordenen, nur noch ſehr ſchwach dampfenden Brei¬
ſuppe heran, ergriff den Löffel, ſprach:


„Alle gute Gabe kommt von Oben herab!“ und
— nahm etwa ſein Abendmahl bedächtig zu ſich? O
nein, er löffelte zu, hieb ab vom Brode und packte ſein
Salzfiſchlein, wenn nicht ſo gefräßig wie ein Küſter, ſo
doch mit richtigem Schulmeiſterappetit! O trotz der
Noth der Zeiten ſchenkte auch er dem Kloſteramtmann
von Amelungsborn nichts, und ſo war's nicht ganz un¬
gerechtfertigt, daß er vorhin denn auch ein wenig zu
ſeinen Gunſten redete. Der Streiter vom Odinsfelde,
den ſein Hunger jetzt entweder verwogener oder zu¬
traulicher machte und der laut krächzend ſein Theil
[76] forderte, bekam zu ſeinem Brod nur des Fiſches Gräten.
Aus ſeiner Verwundung ſchien er ſich wenig zu machen,
denn als ſein Gaſtfreund Teller, Napf, Löffel und
Meſſer zurück ſchob, verfügte er ſich in den Ofenwinkel
zurück, zog den Hals, den Kopf ein ins Gefieder und ent¬
ſchlummerte ſanft. Er wußte ſchon ganz genau, als ein
geſcheuter Vogel, daß er nach der Schlacht bei einem
braven Mann Quartier gefunden habe, und in der mi߬
lichen Welt verhältnißmäßig ſehr in Sicherheit ſei.


Letzteres Gefühl freilich hatte Magiſter Buchius
trotz ſeiner „noch einmal durch die Güte des allbarm¬
herzigen Gottes ſtattgehabten Erſättigung“ nicht.


Er konnte noch nicht zu Bette gehen. Der Gott
der Träume, der ihm ſelten nahe kam, entwich ihm
heute ferner und ferner. Der emeritirte alte Herr
erfreute ſich eines tiefen, traumloſen Schlafes und er
ſchlief auch gern lange; doch in dieſer Nacht dachte er
für's Erſte nicht an ſein Bett. Er wollte freilich bloß
noch ein wenig nachdenken; an — die Erfahrungen im
Fleiſch, die ihm die herbſtliche Finſterniß für die Zeit
bis zum erſten Hahnenſchrei aufgehoben hatte, dachte er
natürlich ebenfalls mit keinem Gedanken.


„Armes Volk! arme Leute! arme Kinderköpfe!“
murmelte er, und dann füllte er ſeine irdene Pfeife
von dem wenigen Kraut, das er vor der letzten Ein¬
quartierung geborgen hatte, blies die erſte dünne Rauch¬
wolke mit einem Seufzer von ſich und zog wie mechaniſch
erſt die Lampe und dann des Iburgiſchen Schloßpre¬
[77] digers Theodori Kampf Wunderbaren Todes-Boten
zu ſich heran, und ſchlug ihn auf bei der dritten Frage
im zweiten Kapitel: „Ob das Hundeheulen, Eulen und
Leichhünerſchreyen von Gott oder vom Teufel?“


Mit kopfſchüttelndem Lächeln ſchob er das Buch
wieder zurück und citirte:


„Quis dedit gallo intelligentiam? Wer gab dem
Hahnen das Verſtändniß?“


„Krah!“ murmelte der Schwarze im Ofenwinkel
und ſchien ſeinerſeits im unruhigen Traum die Schlacht
vom Abend noch einmal durchzufechten. Der Magiſter
aber fuhr ob des Tones erſchreckt auf und um
und rief:


„Merkeſt Du ſchon, Kumpan, daß auch von Dir
die Rede ſein mag? Oder — meldeſt Du Dich mir
ſelber als ein Zeichen vom Willen des Herrn, das ich mir
unbewußt heute Abend vom Blachfeld auf die Stube ge¬
tragen habe? Wächſet mir, wie hier auf Seite Vierzig
dem wohlangeſehenen Mann zu Osnabrück, den Herr
Kampf ſelbſt gekannt hat, ein Sarg in der Hand?“


„Krah!“ ſprach der Rabe, doch Magiſter Buchius
winkte ihm ab und ſprach lächelnd mit einer Gelaſſen¬
heit, die freilich mehr aus dem Lucius Annäus Seneca
als aus dem Iburgſchen Hofprediger Theodor Kampfius
ſtammte: „Nun, es wäre in ſolchen Zeiten ſchon etwas,
in dieſen Tagen nicht in die Erde oder gar den Bauch
Deiner Brüder zu kommen, wie die Hunderttauſend
draußen! Hm, hm, wie doch des Menſchen Selbſtſucht
[78] aus Jeglichem auf ſeinem Wege ſein eigen kleines Wohl
und Uebel herauszuklauben ſich bemühet! wie er Alles
als eine Anzeige tecte oder aperte für ſich ſelber
nimmt, der arme bedrängte Narr. Ihr ſeid wohl wahr¬
lich des alten invaliden Schulmeiſters wegen zu Eurer
Bataille auf dem Odfelde zuſammen gekommen! Da
ginge wohl auch dieſer dritte Krieg um Schleſien jetzo
ſchon in das fünfte Jahr, bloß um dem Magiſter
Buchius zu ſeiner Unterhaltung zu dienen oder ihn in
Nöthen und Aengſten wach zu halten? Welch' eine
Thorheit, Freund! Genüget es Dir nicht zu jeglicher
Zeit bei Tage und bei Nacht, im Kriege und im
Frieden, was der Pſalmiſt im Achtzehnten, Vers zwölf
ſinget: Herr, lehre uns bedenken, daß wir ſterben müſſen
auf daß wir klug werden.“


Er ſchlug das Buch zu und ſchob es von ſich.
Doch nachdem er ſeine Pfeife von Neuem gefüllt hatte,
zog er es doch wieder heran und blätterte drin hin und
her. Es gab ihm in ſeinen gegenwärtigen Nöthen und
Sorgen jedenfalls eine Unterhaltung und führte durch
die bängliche Nacht weiter und weiter aus der Gegenwart
fort in Reiche, zu welchen ihm ſeine Selbſtſüchtigkeit
gewißlich nicht folgte, ſondern bloß ſeine Gabe, die
Welt als ein großes Wunder oder — wie er ſich aus¬
drückte — als ein kurieuſes, ſubtiles Myſterium an¬
zuſchauen — Deo optimo, maximo regnante. Dabei
ſchlug die Uhr im Thurm der Kloſterkirche die Stunden,
und jedesmal wenn ſie ſchlug, nickte der Magiſter mit
[79] dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt
das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im
Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch
das ein Troſt, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel
nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war.
Er hatte wohl Recht, ſich ſelber ſtill darob zu loben;
vorzüglich bei ſeiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor
dem Abmarſch des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig
aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des
Buches würde ſich wohl ſelber über die Stimmungen
verwundert haben, die ſein ironiſch Geſchenke dem alten
Herrn, dem närriſchen alten Knaben, dem abgerollten
fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu
Amelungsborn in dieſer Nacht gab. Je ſeltſamere,
wunderlichere, geheimnißvollere Beiſpiele von den
zweyerley Wegen, durch welche Menſchen zu einer
Wiſſenſchaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen,
der Magiſter las, deſto ruhiger wurde es ihm zu Muthe,
deſto mehr befeſtigte ſich in ihm die Gewißheit, daß
ihm in Perſon heute noch keine Praedictio, kein Prae¬
sagium
zu Theil geworden ſei. Durch Gleiches wurde
auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde
vergaß der Magiſter mehr und mehr über ſeiner ſelt¬
ſamen Lectüre, über des Iburgiſchen Schloßpredigers
ſchrift- und vernunftmäßigen Unterſuchungen die eigene
Noth und die der Zeiten.


Um neun Uhr las er und zwar laut, ſeiner Un¬
ruhe beſſer Meiſter zu bleiben:

[80]

„Johannes Jessenius ein Böhme und ſehr gelehrter
Mann, ward bey ſeiner Wiederkunft aus Ungarn ge¬
fänglich eingezogen und anno 1619 nach Wien gebracht,
bald aber gegen einen Italiener vertauſchet und in
Sicherheit geführet. Als er nun aus dem Gefängniß
entwich, hat er an der Wand dieſe Buchſtaben geſchrie¬
ben zurückgelaſſen: I. M. M. M. — Ihrer viele be¬
müheten ſich vergeblich, dieſe Schrift zu errahten, bis
endlich Ferdinandus II. Kayſers Matthiae Nachfolger ins
Gefängniß kam, und es alſo auslegte: Imperator Matthias
Mense Martio Morietur
(Kaiſer Mathias wird im Monat
März ſterben). Er nahm aber ein Stück Kreide und
ſchrieb darunter: Jesseni Mentiris, Mala Morte Morieris
(Jeſſen, du lügſt, du wirſt eines ſchlimmen Todes ſter¬
ben). — Als dieſes Jessenio hinterbracht ward, ſagte
er: gleich wie ich nicht gelogen habe, alſo wird Fer¬
dinandus
auch dahin trachten, daß ſeine Worte nicht
erlogen ſeyn. Es traf auch beydes ein; Matthias ſtarb
den 10. Martii 1619 und Jessenius ward nach der
Böhmiſchen Niederlage anno 1620 gegriffen und 1621
am Leben geſtraffet.“ ...


„Krah!“ murrte der Rabe im Traum; aber —

„Schweige doch,“ rief der Magiſter und las:

„Als anno 1632 Mens. Decembr. der Kayſerliche
General Holke durch den Rittersgrüner Paß ins Ge¬
bürge einfiel und an vielen Orten übel hauſete, träumete
dem Substituten in Elterlein, Joh. Teuchern, als wenn
er dermahl geruffen würde, darüber er erwachet, auf¬
[81] ſtehet und zum Fenſter herausſiehet; als er aber nie¬
mand ſiehet noch höret, fället er in große Wehmuth,
betet und befiehlt ſich Gott; des folgenden Tages er¬
griffen ihn die Kayſerlichen Trabanten um 10 Uhr und
hieben ihn ſamt ſiebenundzwanzig Bürgern niedern. —
Anno 1686 wurde Magiſter Benjamin Heyde, Ober¬
pfarrer in Schneeberg, frühe, da er predigen ſollen, in
ſeinem Bette todt gefunden. Abends zuvor rufte drei¬
mal eine Stimme, welche ſeiner erſten Frauen Stimme
gleichete: Herr! Herr! Herr! worauf denn ſein Tod er¬
folget.“


Bei der letzten Hiſtorie ſchüttelte der Magiſter Noah
Buchius zu Amelungsborn den Kopf, der Rabe im
Winkel aber hielt ſich ſtill.


„Als der König der Schweden Gustaphus Adolphus
vor Lützen todt geblieben, hat ſich über dem Schloſſe
zu Stockholm in der Luft eine Jungfrau ſehen laſſen,
welche in der einen Hand eine brennende Fackel, in
der andern ein Schnupftuch gehalten. Gleich darauf
haben ſich alle Thurm-Thüren, obgleich mit feſten
Riegeln und Schlöſſern verwahrt, von ſelbſten geöffnet,
und endlich haben alle Glocken in ganz Smalland zu
leuten angefangen. — Als Barnimus, Herzog in Pom¬
mern im 27. Jahre ſeines Alters in der Odersburg
vor Stettin geſtorben, ſo ſind kurz nach ſeinem Tode
alle verguldeten Knöpfe auf den Gebäuden in einer
Nacht ganz ſchwarz geworden. — So hat ſich auch zu
Osnabrück begeben, daß da ein Studiosus medicinae
Raabe, das Odfeld. 6[82] auf der Reiſe in Italien Todes verblichen, ſich ein
Hund zu ſelber Zeit Abends mit einem entſetzlichen
Geheul zu dreyen malen für des Verſtorbenen Eltern
Hauſe, ſeinen Kopf unter der Thür ins Haus haltend,
hören laſſen“ —


„Ei, was hat denn der Hund?“ fragte der Magiſter
Buchius, ſchon Theodori Kampfii wunderbaren Todes¬
boten zum zweitenmal von ſich ſchiebend; und er hatte
Recht zu der Frage, es entſtand auf einmal ein greu¬
licher Lärm von Hunden innerhalb der Mönche Ring¬
mauern um Kloſter Amelungsborn.


Einer ſchlug an. Der gab den Alarm weiter, und
zehn Minuten lang ward's ein Gebell, Gekläff und Ge¬
winſel, daß es mit allem Nachdenken für's Erſte aus
und zu Ende war. Aber auch noch andere Leute wur¬
den durch das Vieh aufgeſtört. Der Magiſter glaubte
des Amtmanns Stimme zu vernehmen; — da wurden
wahrſcheinlich Knüppel und dergleichen unter das Volk
geworfen.


„Dieſes paſſete freilich ganz und gar zu des Herrn
Schloßpredigers letzter Hiſtorie,“ murmelte kopfſchüttelnd
der Magiſter, in ſeiner Zelle auf- und abſchreitend und
der Rabe vom Odfelde aus ſeinem Ofenwinkel kommend
hüpfte jetzt ſchon ganz vertraulich hinter ihm drein.
In dieſem Augenblicke gab die Kirchuhr wiederum die
volle Stunde an und der Magiſter zählte die Schläge
nach:


„Neun — zehn — eilf! Ei, ei, ſchon ſo ſpät? Wie
[83] doch das Studium dem Menſchen über die Zeit hinweg¬
hilft — von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Was ſind
wir armen Creaturen mit unſern Sorgen und Aengſten?
was bekümmern wir uns zu errathen, was die nächſte
Stunde bringet. Es kommet doch immer etwas Anderes,
als was wir in unſerer Lebensangſt herausſannen.
Einer iſt Meiſter. Hörſt du, Schwarzer, ob ich Dich
nur hereingeholt habe auf die Stube als einen finſtern
böſen Unglücks- und Todesvogel oder als einen guten
Kameraden und Freund für des Winters Einſamkeit,
ſintemalen Dich des höchſten Gottes Fürſehung mir vor
die Füße flattern ließ, ſollſt du mir in Ruhe und Ge¬
laſſenheit willkommen ſein. Χαιϱε.“


„Krah!“ ſagte der Rab, den Kopf auf die Seite
legend und ſeinen kurioſen Beſchützer ſeinerſeits mit
ſchlauer, verſtändnißvoller Zutraulichkeit, mit vollem
Vertrauen darauf, daß Alles was geſchehe, mit rechten
Dingen zugehe, in's Auge faſſend.


Magiſter Buchius aber hatte den Theodorus Kampf
beim zweiten von ſich Abſchieben aufgeſchlagen gelaſſen;
nun nahm er mechaniſch das Buch noch einmal her.
Er wollte es eben nur zuklappen; aber da fiel ſein Auge
doch noch auf ein Exemplum drin, und er war nicht
der Mann, der ein Gedrucktes gleichgültig in's Fach
ſtellte, wenn es ſein Auge in Wahrheit getroffen hatte.

Er las:


„Johann Wilhelm, Herzog zu Sachſen, hat kurz vor
ſeinem Ende im Schlaf eine liebliche Muſic gehöret
6*[84] und eine Menge Engel, und unter denſelben einen
großen geſehen, auf deſſen Rücken geſchrieben ſtand:
Bringet mir dieſen zur Ruhe. Welches göttliche
Geſichte er dann frühe Morgens ſeinen Räthen erzählet,
auf ſich gedeutet, und keiner weltlichen Sachen ſich mehr
angenommen.“


Faſt in Behagen ſich ſchüttelnd ſprach Magiſter
Noah Buchius: „Und keiner weltlichen Sachen ſich mehr
angenommen. Wie oft hab ich dieſes im Verlauf ſauerer
Schuljahre des Abends beim Zubettegehen mir vorge¬
ſagt, und einen guten Schlaf gethan?“


Von Allen zu Kloſter Amelungsborn war der Ma¬
giſter der, welcher dem Siebenjährigen Kriege am meiſten
gewachſen war.


Aber vielleicht auch grade darum gelangte er in
dieſer Nacht für's Erſte noch nicht in's Bett. Es hatte
ihn wohl noch Jemand zu nöthig; er aber, der Ma¬
giſter Noah Buchius hatte jedenfalls nicht die geringſte
Ahnung davon, wie weit der Schein ſeiner Blech¬
lampe aus ſeiner Wohn- und Schlaf-Zelle hinausleuch¬
tete in die ſturmvolle Finſterniß des Jahres 1761.

[[85]]

Achtes Kapitel.

Was die Vögel über dem Odfelde vorausverkündigt
hatten, das ſetzte ſich nun in's Werk, für das Kloſter
Amelungsborn zuerſt vom Süden her. Der Franzmann
war in Wirklichkeit auf und drängte wieder vorwärts
mit Roß und Mann, mit Wagen und Geſchütz. Seinem
Zuge aber durch die Novembernacht voran flog ein ein¬
zelner, ein anderer Vogel gen Amelungsborn. Einer,
der eben ſchnöde aus dem neuen Neſt der weiland ge¬
lahrten Schule zu Kloſter Amelungsborn geworfen wor¬
den war. So Einer von den pro tempora Glück¬
lichen, ſo um das neunzehnte Lebensjahr herum, ganz
ohne alle Bagage, Proviant und Kriegskaſſe für den
Marſch, in leichtem, noch ganz ſommerlichem Kollet,
dünnen Kniehoſen und Strümpfen, doch auf dauerhaften
Sohlen — Monſieur Thedel von Münchhauſen, der
neuen hohen Schule zu Holzminden erſter — „noch zu
Amelungsborn oft genug verwarneter“ — Relegatus!
....ach, der Magiſter Buchius kannte ihn ſchon!....
Daß er, Monſieur Thedel, der tolle Thedel die Gegend
zwiſchen der Weſer und der Homburg auch bei Nacht
kannte, das war dießmal wirklich ſein Glück. Wäre es
[86] bei Tage geweſen, ſo hätte man es ihm wohl ange¬
ſehen, daß ihm das Gezweig im Dickicht häufig genug
den Hut vom Kopfe geſtoßen habe, daß er nicht ſelten
der ausgefahrenen Heerſtraße aus dem Wege gegangen
ſei und einen Umweg durch die Wildniß nicht geſcheut
habe, um einem unnöthigen oder gar niederträchtigen
Aufenthalt auf ſeinem Marſche auszuweichen.


Mehr denn einmal hatte ihn das Marodevolk von
Auvergne, Pikardie, oder hatten ihn welche von den
Freiwilligen von Auſtraſien zum Führer brauchen
wollen; doch auf die Gefahr hin, am nächſten Baum
zu baumeln, war er den Zumuthungen entgangen.
Auf Stunden Weges wenigſtens hatte er, wie er ver¬
meinte, den Herrn Herzog von Broglio hinter ſich ge¬
laſſen; und ſeine blauen, grünen und gelben Dragoner
oft recht nahe auf den Ferſen gehabt. Wie konnte der
Holzmindenſche Schüler genau wiſſen, wo der große
franzöſiſche Oberfeldherr in dieſen Tagen ſich perſön¬
lich aufhielt? Hinter Lobach unter dem Eberſtein hatte
er aber ſeinetwegen jeden gebahnten Weg ganz auf¬
gegeben und ſich ganz im Walde verloren. Verloren?
das nun wohl nicht im wörtlichſten Sinne des Wortes.
Dazu kannte er — leidergottes — das Revier zu
gut als der ſchlimmſte nächtliche Wilderer der Sekunda
und der Prima der frommen und hochgelahrten Kloſter¬
ſchule von Amelungsborn. Daß er dem Strick des
Herrn Generals von Poyanne entging, war eigentlich
gar kein Wunder, da ihm die Büchſenkugeln der herzoglich
[87] Braunſchweigiſchen Kammerförſter der ganzen luſtigen
grünen Wildniß auch höchſtens nur geſchrammt hatten.


In Negenborn hätte er einkehren dürfen, da der
fränkiſche Heereszug in dieſer Nacht noch nicht über
Bevern hinausging; aber vielleicht war da im Dorfe
der unruhigen Zeiten halber der Förſter auch noch
wach. Herr Thedel von Münchhauſen ging lieber auch
um Negenborn herum, wegen zu guter Bekanntſchaft
mit dem Förſter dort, und ſchlug ſich rechts durch den
Wald, in welchem er von hier an jeden Baum, Stein,
Stock, Stecken und Erdfall zu genau kannte, wie nur
irgend Fuchs, Dachs, Hirſch, Reh und Wildſchwein, ſo
wie herzogliche grünröckige Beamtenſchaft im Revier.
So kam er ein wenig außer Athem und mit freſſendem
Hunger aber bei ſonſt geſunden Gliedmaßen an auf dem
ſüdlichen Rande des Hoopthals gegenüber dem Küchen¬
brink und Auerberge und ſaß, mitten in der November¬
nacht den Schweiß von der Stirn mit dem Aermel
trocknend, einen Augenblick auf einem Stein und meinte:


„Guck, er hat immer noch Licht!“


Nach dem kurzen Augenblick des Verſchnaufens nun
hinunter zum Forſtbach und auf der andern Seite des
Thals wiederum in die Höhe, den ſteilen Abhang empor
zu dem Lichtſchein aus der Zelle des Bruders Phile¬
mon und des Magiſters Noah Buchius! Auch da ging
am Geſtein und im Geſtrüpp ein Schlupfweg, den
nicht alle Leute im Kloſter ſo gut kannten wie der
Junker Thedel von Münchhauſen, welcher aber ſicher
[88] doch ſchon ſeit manchem lieben Jahrhundert von Ge¬
ſchlecht zu Geſchlecht durch die Leute von Amelungs¬
born hinter der Hand zu nützlicher Kenntniß weiter
gegeben worden war.


„Den Schrecken, wenn ich ihn jetzt von hier aus
anſchrie: Qui vive? France!“ lachte der wilde junge
nächtliche Wanderer, die flache Hand an die Mauern
von Kloſter Amelungsborn legend. „Aber wiſſen möchte
ich wohl wie ſpät es eigentlich am Tage iſt. O Se¬
linde, Selinde, Du wirſt nicht mehr Licht haben, wie
der Magiſter! Mein Herz, ach, wenn Du wüßteſt,
wer jetzo hier um die Mauern ſchleicht!“


Er ſchlich oder taſtete in Wahrheit jetzt die Mauer
des Kloſters entlang. Wo Andere um dieſe dunkle
Stunde Hals und Beine gebrochen haben würden, ging
er ſicher wie — ein Nachtwandler. Ja wohl, es war
auch nicht das erſte Mal, daß er auch hier über dem
Hoopthal verbotene Wege gewandelt war. Der Baumaſt
der dort wo die Gebäude zu Ende ſind und die Hof¬
mauer anfängt, an dieſe Mauer reicht, hängt ſeit der
Tertia ſeiner nächtlichen Abenteuer voll.


Er reitet auf dieſem Aſt, als der erſte Hund von
Amelungsborn ſeine Viſite merkt und anſchlägt. Und
— bum — bum — bum, da iſt auch die Thurmuhr. Wie
dem Magiſter Buchius zählt ſie dem Junker Thedel
von Münchhauſen die elfte Stunde des Abends zu;
aber dem Junker fehlt freilich die Muße, die feierlichen,
langſamen Schläge gelaſſen nachzuzählen.


[89]

„Verfluchte Köter!“ murmelte er auf ſeinem Zweige
zwiſchen den Zähnen. „Das ganze Neſt machen ſie mir
rebelliſch! Da hätte ich eben ſo gut Morgen früh mit
dem Herrn Marquis von Poyanne einrücken können!
O Selinde, Mademoiſell Selinde, mein Stern, meine
Fackel, mein Herzbrand!


Und trotz allem Gekläff und Gebelfer in allen Ton¬
arten der Hundkehle aus allen Gehöften der weiland
Brüder Ciſtercienſer mit einem letzten Schwung vom
Aſt auf die Mauer! Erſt rittlings da und dann mit
beiden Beinen in den Kloſtergarten hinunter baumelnd:


„Was denkt ihr doch, ihr kühnen Sinnen?

„Ihr geht auf allzuhoher Bahn;

„Denn euer frevelndes Beginnen

„Will weiter, als es ſteigen kann;

„Weil ihr daſſelbe lieben wollet,

„Was ihr doch nur anbeten ſollet;“ —

blaff, waff, waff, blaff, die Compagnie giebt nicht nach.
Sie bringen mir den Amtmann mit allem was eine
Miſtgabel, einen Dreſchflegel oder eine Donnerbüchſe
halten kann, auf den Hals. Sie wecken mir dazu freilich
mein Zuckerkind, mein ſüßes Herzchen, mein Selindchen.
Hier, hier, kuſch Erdmann, kuſch Fidel, kuſch Spitz, Mops
und Schäfertewe. Hab ich's nicht geſagt, da bellen auch
ſchon der Herr Kloſteramtmann in der Schlafhauben aus
dem Fenſter dazwiſchen. Ach Selinde, o Selinde —


„Und alſo lieb ich mein Verderben,

„Und heg ein Feuer in meiner Bruſt,

„An dem ich noch zuletzt muß ſterben,
[90]
„Mein Untergang iſt mir bewußt.

„Das macht, ich habe lieben wollen,

„Was ich doch nur anbeten ſollen!“

Der Hund, der den Alarm gegeben hatte, ſtand
innerhalb des umfriedeten Bezirks mit den Vorderpfoten
hochaufgerichtet an der Mauer und blaffte immer
wüthender zu dem nächtlichen Eindringling empor.


„Kotz Blitz,“ rief dieſer. „Ich bin's, Erdmann!
Pfü—it!“ Und ein langgezogener Pfiff verwandelte
das Gebell des treuen Wächters zuerſt in ein erſtauntes
Schweigen, ſodann in ein zärtlich Winſeln und freudig Hin-
und Herſpringen. Schon ſtand der Schüler unten im Hof —


„Hund! Spitzbube, hab ich Dich!“ ſchrie's ihm im
Ohr, und ein ſchwerer Prügel wurde ihm um den Kopf
geſchwungen.


„Dießmal bin ich's noch einmal, Heinrich!“ flüſterte
der Junge lachend. „Hand vom Kamiſol; und — wer
iſt außer Dir noch wach zu Amelungsborn?“


„Herr Gott, unſer Musjeh Thedel!“ ſtammelte der
Knecht Heinrich Schelze. „Der Herr Junker von Münch¬
hauſen. I du meine Güte — nu, nu, — alſo noch
einmal ſo mitten in der Nacht? ach Je, ach Herr Je.“


„Kerl, ſo bring' doch zuerſt die andern verdammten
Beſtien zur Ruhe. 's iſt doch nicht das erſtemal, daß
wir uns ſo treffen hier an der Mauer? Diesmal aber
habe ich nicht die Förſter, ſondern die Franſchen auf
den Hacken. Und der Herzog Ferdinand iſt über die Weſer,
und ich bin auf dem Wege zum Herzog Ferdinand —“

[91]

„Auch der!“ murmelte der Knecht.


„Und da wollt' ich im Vorbeigehn doch von Allen
hier zum allerletztenmal Abſchied nehmen. Was macht
Jungfer Fegebank, und wie geht's dem Herrn Magiſter?
Jetzt aber ſage Er gar nichts mehr, Schelze, ſondern
bringe Er die Hunde und den Kloſteramtmann zur
Ruhe. Meine Wege hier weiß ich ja wohl noch, das
weißt Du ja, Kamerad. Gute Nacht; ich krieche wohl
ſchon irgendwo unter und am liebſten beim Magiſter
Buchius. Alſo bis morgen früh, Heinrich!“ ...


„Es war ein Baummarder, Herr Kloſteramtmann,
den unſer Erdmann an der Hoopthalsmauer geſtellt
hatte,“ rief's fünf Minuten ſpäter zu dem Fenſter des
Geſtrengen empor. „Die Franſchen kommen erſt morgen
früh. Es iſt wohl erſt Ahrholzen, was jetzt brennt
— oder Schorborn! wir haben wohl noch Zeit bis
morgen mit ihnen. Wünſche eine recht wohlzuſchlafende
Nacht, Herr Amtmann.“


Als der arme Herr ſein Fenſter haſtig wieder ge¬
ſchloſſen hatte, hob der Böſewicht darunter noch einmal
die Fauſt zu ihm empor, ſchüttelte ſie und grinſte:


„Laſſe Er ſich auch was recht Schönes träumen,
Herr Kloſteramtmann.“ Nachher ſetzte er aber noch
kopfſchüttelnd hinzu: „Na, das ſoll mich doch nun wun¬
dern, ob der Herr Magiſter Dem da, unſern Junker,
ſein Verlangen nach Seiner Durchlaucht auch aus¬
treiben werden.“ —

[[92]]

Neuntes Kapitel.

Wenn nur Monſieur Thedel von Münchhauſen aus
dem Bevernſchen ſich noch bei Nacht im wilden Weſer¬
walde zurecht zu finden wußte, ſo hätte ihn eine dop¬
pelte ägyptiſche Finſterniß nicht gehindert, irgend ein
Ziel tief unten im Gewölbe oder hoch oben auf dem
Dache von Amelungsborn ohne Anſtoß zu erreichen.
Der wußte da Beſcheid! Wahrhaftig!! Er ſchlupfte
in daſſelbe thürloſe mittelalterliche Pförtchen, in welches
Magiſter Buchius ſich nach der Heimkehr von ſeinem
Nachmittags- und Abend-Spaziergang hineingeſchoben
hatte. Er erſtieg dieſelben Treppen wie der Magiſter
und durchmaß dieſelben Gänge. Er hielt ſogar vor
den nämlichen Thüren an, wie der alte Herr; aber
durchaus nicht mit den Gefühlen deſſelben. Wahrlich
legte er nicht wehmüthig-erinnerungsvoll die Hand
darauf; doch die Hand brauchte er freilich bei dem
Geſtus, den er vor mehr als einer der altersſchwarzen
ſtillen Schulzimmerpforten machte.


Das gab dann jedesmal einen klatſchenden Schall,
der das Echo weithin in den Corridoren weckte. Und
[93] jedesmal brummte der junge Malemeritus von Ame¬
lungsborn und Relegatus von Holzminden:


„Sauberer Stall! Infames Cachot! Noch der
ſelbige Geruch — pfui Teufel — Brrrr! Na, euch
gönnte ich ſchon noch ein halb Dutzend Male dem
Broglio und ſeinen Schuften zum Quartier.“


Er bezwang ſich merkwürdig. Er trat weder die Pforte
der Sekunda, noch die der Prima ein; und vor der Thür
der Quinta ſtieg auch ihm doch ſogar ein melancholiſch
Gefühl auf und mit einem Seufzer ſagte er:


„Der alte Herr! der alte Buchius! ... Dahinter
haben ſie ihn ſein ganzes liebes Leben ihnen und uns
Lümmeln zum Spaß gehalten! Und ich habe meinen
Spaß mit an ihm gehabt.“


Er hob den Hut vom Kopfe und behielt ihn in der
Hand.


„Vivat der Magiſter Buchius, und — der Herrgott
erlaſſe mir meine Sünden an ihm, wie der Alte ſie mir
zu hunderttauſend malen erlaſſen hat. Ach Gott, ach
Gott, ſo kommt der tollſte Schüler von Amelungsborn
zu dem überflüſſigſten, beſpotteten Präceptor, ſo kommt
Bartel vom Moſtholen mit zerbrochenem Kruge. O virga,
o ferula! O merces doctrinae!
Hoffentlich hat er
jetzo, nachdem auch das andere Hundepack wieder ſtill
geworden iſt, ſein Licht noch nicht ausgeblaſen.“


Im nächſten Augenblicke klopfte er leiſe und ſchüch¬
tern an die Thür des letzten wirklichen Ciſtercienſers
von Kloſter Amelungsborn. Mit dem Wort meinen
[94] wir aber nicht den Bruder Philemon, den letzten ka¬
tholiſchen Mönch der Stiftung auf dem Auerberge über
dem Hoopthale. —


Magiſter Buchius war noch wach; aber er ſaß frei¬
lich ſchon mit gelöſten Hoſenſchnallen auf ſeinem Bett¬
rande. Die Spukgeſchichten, in die er ſich nach des
Tages Erlebniſſen hineingeleſen hatte beim bänglichen
Tagesſchluß, hatten ihn doch noch eine Weile vom völ¬
ligen Entkleiden ab- und beim Hinſtarren in die trübe
Flamme ſeiner Lampe feſtgehalten. Als es nun ſo
pochte, wie es auch beim Schloßprediger von Iburg,
Herrn Theodorus Kampf hie und da zu mitternächt¬
licher Stunde geklopft hatte, vermochte er trotz der über¬
legenen Stimmung, in der wir ihn vorhin gelaſſen
haben, nicht, ſeines Erſchreckens ſogleich Meiſter zu
werden. Sein ſchlimmſter Discipulus hatte einzutreten,
ohne daß er vorher dazu eingeladen worden war.


„Ich bin es, Domine,“ ſagte Der jetzt, mit ver¬
legenem Grinſen. „Ich bitte um Permiſſion, ſo ſpäte
am Abend den Herrn Magiſter noch aufzuſtören. Thedel
Münchhauſen, mein Herr Magiſter! Von Holzminden
her mit übergroßer Sehnſucht nach Ihm! Vivat Fer¬
dinandus Dux
!“


„Krah!“ ſagte der Rabe, durch den neuen Beſuch
in ſeinem Schlaf geſtört.


„Ohe, was haben der Herr Magiſter da für einen
neuen Stubenkameraden! ... Ich bin's wirklich noch
einmal in Fleiſch und Blut, Thedel Münchhauſen!
[95] Ja, ſieh mich nicht ſo an, Beſtie. Gehörſt wohl auch
zu denen, die heute Abend mit mir zu Schaaren von
der Weſer kamen?“


Die letzten Worte waren natürlich an den aus
ſeinem Winkel vorgehüpften Vogel gerichtet, der Ma¬
giſter ſah noch eine geraume Weile von dem einen Gaſt
auf den andern, bis er ſich ſo weit gefaßt hatte, die
ſchwarzen Mancheſternen wieder in die Höhe zu ziehen,
ſie zurecht zu rücken und zu rufen:


„Täuſcht mich mein Geſicht nicht? Er, Musjeh?
Monſieur von Münchhauſen? Um dieſe mitternächtige
Stunde? Wie kommet Er hierher, Musjeh? wo kom¬
met Er her, Musjeh? Was will Er — gerade Er
wieder in Amelungsborn? O ihr Götter, hat Er ge¬
rade es nicht mit dem allerhöchſten Ueberdruß an chriſt¬
licher und heidniſcher Schulzucht und Ordnung verlaſſen?
Hat der Herr Amtmann nicht —“


„Dreimal drei Kreuze hinter der ärgſten Canaille
im ganzen Cötus her gemacht? Jawohl, Domine, einen
feinen Duft haben wir hinter uns gelaſſen; aber Sie
wiſſen es ja am beſten: Ducunt volentem fata —“


Nolentem trahunt,“ ſchloß der alte Herr. „Alſo
wollend — mit Seinem guten Willen folgt Er Seinem
Fatum hieher?“


„Gutwillig, mit meinem allerbeſten Willen. Ab¬
geſehen von dem Tritt, den ſie mir in Holzminden
auf die Poſteriora verſetzet hatten, meinen Weg in die
weite Welt zu befördern. Der Herr Magiſter Buchius
[96] haben es niemals genau gewußt, was für — ein guter
Prophete Sie zu Zeiten waren.“


„Oh, oh, — eheu, eheu, eheu!“

„Heu, heu, heu, — Heu!“ flennte grinſend mit
den Knöcheln beider Fäuſte vor den Augen der junge
Taugenichts und leichtſinnigſte Primus inter pares der
weiland gelahrten Schule zu Kloſter Amelungsborn,
Thedel Münchhauſen. „Ja, Heu, Heu! die Herren zu
Holzminden machen fürder keinen Ochſen unter ſich fett
mit dem Heu, das ich ihnen noch auf ihren gelehrten
Wieſen zuſammenharken könnte.“


„Consilium abeundi?“ ſtammelte der alte Herr.

„Relegatio in aeternum. Dießmal fortgeſchickt, aus
dem Tempel getrieben, auf Nimmerwiederkommen. Sie
hatten eben im Convent ihre letzte Hoffnung für den
Patienten auf die Veränderung von Luft und Ort ge¬
ſetzet. Geſtern waren die Herren zur letzten Conferenz
bei einander und ſind zu der Meinung gekommen, es
ſei keine Hoffnung mehr bei ihnen für den armen Sün¬
der in extremis.“


Magiſter Noah Buchius ließ noch einmal beide
Hände ſchwer auf die dürren Kniee fallen, nachdem er
von Neuem auf dem Rande ſeines Bettes niedergeſeſſen
war. Und ſein Kummer wuchs, wie er angſtvoll weiter
auf dem hübſchen, muthwilligen Geſichte ſeines ſchlimmen
Lieblings, des unbotmäßigſten Coätanen der weiland
altberühmten Kloſterſchule von Amelungsborn nach¬
forſchte, und — wenig von ſeinen eigenen ſchmerzens¬
[97] vollen und beſchämten Gemüthsbewegungen darauf ab¬
gemalt fand.


Der Knabe half nicht dem guten alten Herrn über den
Angſtbiſſen, der ihn in der Kehle würgte, hinweg. Er
ließ ihn mit aller Rückſichtsloſigkeit der Jugend mit
dem Kummer, den er ihm machte, fertig werden. Er
ließ den alten Mann mit der ſtoiſchen Gelaſſenheit
Derer, die ihr Leben noch vor ſich zu haben glauben,
wieder zu Athem und zu Worten kommen.


Es dauerte wiederum eine längere Zeit, ehe der
Magiſter ſoweit ſich gefaßt hatte, daß er matt und er¬
geben die Frage thun konnte:


„Die gütige Gewogenheit wird Er auch wohl nicht
haben wollen, mir zu communiciren Cur? zu Teutſch:
warum, weßhalb, wofür und weßwegen? Und was
Seine Verwandtſchaft zu Wolfenbüttel hierzu ſagen
wird?“


Thedel von Münchhauſen zuckte greinend die Achſeln:


„Aus Liebe zu mir und wegen größeſter Sorge
um meine Wohlfahrt und die der deutſchen Nation.
Sie meinten, was ſie mir noch anzubieten hätten bei
ſich auf der Schulbank, das ſchlüge doch nur bei mir
an, wie's weiland amelungsborn'ſche Weihwaſſer beim
leidigen Satan. Und das deutſche Vaterland habe mich
ſicherlich nöthiger, als ſie, Prior-Rector, Conrector und
Lehrerconvent in der neuen gelehrten unſchuldigen Herr¬
lichkeit, vermeinten ſie. Gefiel ihnen hier im Walde
meine Intimität mit den Wildſchützen vom Hils, Ith
Raabe, Das Odfeld. 7[98] und Vogler nicht, ſo grauete ihnen vor meiner Com¬
pagnie mit den Weſerſchiffern faſt noch mehr. Konnte
aber ich denn davor, daß heute kein Bock den Fluß
herauf- oder herunterfährt, von dem ſie nicht nach dem
lieben Thedel Münchhauſen zu den Claſſenfenſtern hinauf¬
rufen? Und der Frau Priorin war ich ſchon ſeit der
Quarta ein Dorn im Auge; das wiſſen der Herr Ma¬
giſter ja eben ſo gut als wie ich. Das Poem, die zwei
Reime, die ihr an den Reifrock hinten geſpendelt waren
und ſo mit ihr umliefen auf dem Schützenhof auf der
Steinbreite, ſind nicht von mir geweſen; aber ich habe
ſie auch auf mich nehmen müſſen in der letzten Con¬
ferenz geſtern. Ach ja, was ganz Beſonderes iſt nicht
weiter vorgefallen, das Faß iſt übergelaufen und damit
baſta. Sie haben mir in Zärtlichkeit gerathen, nun¬
mehro das Vaterland nicht länger warten zu laſſen,
ſondern zum Kalbfell zu ſchwören, wie es mir in der
Wiege geſungen worden ſei und zumal da der Herr
Vormund zu Wolfenbüttel ja ſelber dazu rathe. Daß
ſie mir mit dem Herrn Vormund und Oheim riethen,
doch meinen Herrn Vetter von Bodenwerder unter den
hannöverſchen Jägern, den hohen Alliirten und dem
Herzog Ferdinand aufzuſuchen, das traf wohl meine
Meinung auch; aber — ohne meine Sehnſucht nach
Ihm, Herr Magiſter, hätte ich ſie doch noch einmal
perſuadirt, es noch einmal, zum allerletztenmal mit der
lateiniſchen Stallfütterung bei mir armen Coridon zu pro¬
biren. Aber das Verlangen nach dem Herrn Magiſter —“

[99]

„Nach mir?“ rief der gute alte Herr, die magern
Hände zuſammenſchlagend. „O Theodorice, Theodorice,
Er wird wohl noch auf Seinem Sterbebette Seinen
Jokus treiben wollen! Iſt denn dies eine Zeit zum
Scherzen? So nehme Er jetzo doch für eine Viertel¬
ſtunde Vernunft an und rede Er verſtändig, Monſieur.
Er ſiehet doch meinen Kummer um Ihn, und — wir
ſind hier nicht mehr auf der großen Schule zu Kloſter
Amelungsborn — ſondern nur in der Kammer des
alten, verbrauchten unnützen Buchius, und — morgen
früh ruft weder Ihn noch mich die Glocke zu den
Lectionen, und Er hat an mir keine Materia mehr, ſich
zu präpariren zu einem neuen Spaß, mit dem er die
Herren Commilitonen über den närriſchen Magiſter
Buchius zum Lachen bringen möchte!“


Dies kam nun in einer Weiſe zum Vorſchein, die
den jungen Menſchen vollſtändig duckte. Es war keine
Dumme-Jungen-Komödie in dem Ausdruck der Be¬
troffenheit, der Reue, mit dem er ſich auf die Hände
des alten, vor Erregung zitternden Schulmeiſters nieder¬
beugte, ſie ergriff und zwiſchen Verlegenheit und — ja
auch zwiſchen Thränen ſtotterte:


„Der Herr Magiſter haben Recht, Sie haben Recht!
Wir haben es alle, Convent und Cötus, nicht um den
Herrn Magiſter verdient, daß Sie einen einzigen freund¬
lichen Gedanken für uns haben. Da; gleich und wie
ein Lamm gutwillig, lege ich mich da vor dem Herrn über
den Stuhl — holen der Herr Magiſter Buchius Ihr
7*[100] ſpaniſch Rohr und zahlen Sie mir nachträglich durch
den Reſt der Nacht, was ich an Ihnen pecciret und
meritirt habe und geben Sie's mir für das ganze
Kloſter, Abt, Amtmann, Rector, Doctoren und Kolla¬
boratoren mit. Haue Er ſie nach Herzensluſt in meiner
Perſon. Laſſe Er mich in dieſer Nacht den wohlverdienten
Sündenbock ſein für Seine armen elenden dreißig un¬
belohnten, übelbelohnten Jahre am Schuldienſt zu Ame¬
lungsborn. Nachher brauche ich nur noch Einen andern
Abſchied hier am Ort zu nehmen; dann werd' ich ja
auch wohl den Herrn Vetter auf dem Marſche durch
den Ith irgendwo todt oder lebendig treffen; oder wenn
den nicht, ſo doch ohnzweifelhaft den Herrn Herzog
Ferdinand und — nachher werd' ich's an die Franzoſen
weiter geben, was Er mir, liebſter Herr Magiſter, in
dieſer Nacht an Reſtanten ausgezahlet hat. Da verlaſſe
Er ſich drauf! Vivat Ferdinandus dux! imperator!
victor
! Sie belieben zuzuhauen und mir den meritirten
Lohn zu verabreichen.“


Der reuige Sünder hatte wahrhaftig ſich den Stuhl vor
dem Magiſter zurecht gerückt und holte wirklich und im
vollen Ernſt den Stock aus dem Winkel und bot ihn dem
guten Herrn hin; aber dieſer ſprach, die gefalteten Hände
vor ſich hinſtreckend und ſo mit ihnen abwehrend und mit
einer durch Erregung und Rührung erſtickten Stimme:


„Mein lieber Junker von Münchhauſen!?“ ...


„Sie belieben nicht? Der allerbeſte Herr wollen
Alles mir boshaften Cujon und Halunken hingehen laſſen?
[101] (ein Blick des Böſewichts ſtreifte hier auch ganz un¬
willkürlich die Curioſitätenſammlung des wackern Ge¬
lehrten), der Herr Magiſter will nicht an Thedel
Münchhauſen nachholen, was Er in dreißig Jahren an
der ganzen hohen Schule von Amelungsborn, Cötus
und Lehrerconvent, hat verabſäumet? Dann — gebe
Er mir ſeine gute Hand und glaube mir, im ganzen
römiſchen Reich, ja im Univerſo lebet außer dem Herzog
Ferdinand kein Andrer außer Ihm, nach dem der
wilde Münchhauſen ſolch ein Desir und Verlangen ge¬
ſpürt hat in den letzten Zeiten!“


„Oh, mein Junker von Münchhauſen!“

„Das Heimweh nach dem alten Weſen iſt es ge¬
weſen, das mich noch einmal hieher gebracht hat. Vater
und Mutter weiland zu Bevern und der Herr Vor¬
mund in Wolfenbüttel haben mich allzulange hier in
der Wildſchule belaſſen. Das alte Kloſter, der freie
Wald und Himmel haben es mir angethan. Die Herren
zu Holzminden haben vermeint, Ihn, den Herrn Ma¬
giſter, ihren Beſten, dorten in ihrer neuen Ordnung
nicht unter ſich brauchen zu können, und ſie ſind dümmer
geweſen als die Eſel in dieſem Caſu. Aber mich, den
ſchlimmen Teufelsbraten, haben ſie in Wahrheit und
Wirklichkeit nicht bei ſich präſtiren können. Sie hielten's
nicht aus, und ich hab's auch nicht ausgehalten zu
Holzminden hinter ihren Mauern, bei ihrem neuen
Zwang und Sereniſſimi des Herzogs Karl Durchlaucht
revidirter Schulordnung! Ich hab's mit Willen da¬
[102] nach gemacht, daß ſie mich vor die Thür ſetzen mußten.
Und nun bin ich hier, ehe ich zu den hohen Alliirten
gehe, um den letzten treueſten Abſchied von meinem
älteſten, treueſten und allgelahrteſten Gönner und un¬
wiſſend intimſten Freund zu nehmen.“


„Von wem wollte Er Valet nehmen im Kloſter
Amelungsborn?“ fragte trotz ſeiner Erregung und Er¬
weichung Magiſter Buchius, den ſie dreißig Jahre lang
in Amelungsborn im günſtigſten Fall nur als einen
unſchuldigen, närriſchen, gutmüthigen Simplex taxirt
hatten. Und der Exſchüler von Amelungsborn und
von Holzminden ſtotterte, jetzt ganz klein werdend:


„Auch da haben der Herr Magiſter Lunte gerochen?
Und haben auch hier Ihre Wiſſenſchaft ganz für ſich
ſelber behalten! haben keinem Menſchen Ihre Wiſſen¬
ſchaft mitgetheilet!“


Der arme Junge hielt die arme machtloſe rechte
Hand des alten Herrn zwiſchen ſeinen zwei wackern
Fäuſten und lachte, während ihm wieder die ernſthaf¬
teſten Thränen über beide Backen herunterrollten:


„Wohl dem, der ſo wie Goldſchmieds Junge denkt,

„Und eher ſich nicht zu der Liebe lenkt;

„Als bis er nach vollbrachten Jugendjahren

„Sich kann in Ehren mit der Liebſten paaren.

„Krrrr!“ ſprach in dieſem Moment der Rabe vom
Odfelde. Es hinderte ihn ſein wunder Flunk nicht,
auf den Stuhl zu hüpfen, den der junge Menſch dem
alten Magiſter vorhin zugerückt hatte. Nun ſprang er
[103] auch auf die Lehne und von dort auf den Tiſch mit
dem halbverwiſchten Kreideſtrich und den Reſten des
Nachteſſens des Emeritus von Amelungsborn. Ihm
war der Appetit nur wiedergekommen; aber auf den
neueſten Gaſt des Magiſters Buchius machte des Viehs
Gefräßigkeit den Eindruck, als vertilge es ihm den
letzten Reſt von Nahrhaftem, von Eßbarem im Weltall.
Und zwiſchen Liebe und Hunger hin und her geriſſen,
rief Junker Thedel von Münchhauſen:


„Ja, ſie trägt das weißeſte Kleid und die blaueſten
Bänder am Sonntage. Ja, dulce ridentem Lalagen
amabo
! Kucke Einer das freſſige Biiſt! Sie iſt mir
Anadyomene und die ländliche Phidyle. Wir haben
ſie hundert und tauſendmal beim Conrector Schnell¬
beckius im Horaz gehabt, und ich habe mit ihr beim
Erndtefeſt getanzet und ſie wird mein Feinslieb ſein auf
ewig. Im Garten und im Walde, auf der Wieſe und
auf dem Felde und hinter der Küchenthür haben wir's
uns hunderttauſendmal geſchworen. Der Herr Magiſter
verſtehen davon nichts und wollen auch nichts davon
wiſſen; — meinen Hagedorn hat mir der Herr Rector
confisciret; aber ich kann die Lieder, in denen er auch
ſie, unſere Schönſte hier, angeſungen, auswendig und
ich habe ſie ihr drunten im Hoop und drüben auf den
Ruderibus der Homburg im Buſch vorgeſungen. O ſie
iſt Cypris, Gnidia, Paphia und Idalia wann ſie ge¬
pudert einhertritt; aber löſt ſie ihre Flechten, fallen
ſie ihr in die Kniekehlen! Als ich ihr vom Stadt¬
[104] oldendorfer Jahrmarkt das letzte Zuckerherz von meinem
letzten Pfennig in der Welt brachte, hat ſie mit dem
Herrn Magiſter Leſſing geſprochen:


„Wähl ſelbſt. Du kannſt mich Doris,

Und Galathee und Chloris

Und wie Du willſt mich nennen;

Nur nenne mich die Deine.“

„Mamſell Fegebanck heißt ſie!“ ächzte Magiſter
Buchius, jetzo die Hände über dem Haupte zuſammen¬
ſchlagend. „Ja, ihr Vaters-Name iſt Fegebanck, und
ſie iſt des Herrn Amtmanns angenommene Vetters
Tochter —“


„Da geht er mit dem Brod unter den Tiſch!“ rief
Thedel Münchhauſen. „Halt da, Canaille, Cujon! Bei
der Belagerung von Saguntum, Numantia und Jeru¬
ſalem haben ſie ihre Schuhe und das Leder von ihren
Schilden gefreſſen; aber ich freſſe den Tiſch und Dich
ſelber, dirum mortalibus omen, Du ſchwarzer Galgen¬
ſtrick, wenn Du den Reſt vom Ueberfluß nicht gut¬
willig herausgiebſt!“


Schon war er dem ſchwarzen Vogel unter den
Tiſch nachgefahren. Jetzt hielt er den Reſt von des
Magiſters ſchwarzem Brod zwiſchen den Fäuſten, jetzt
biß er hinein und riß mit dem guten Gebiß ab, er —
fraß, und —


„Allbarmherziger Gott, und wir haben weiter nichts
übrig gelaſſen von unſerm Mahl!“ ächzte der alte Herr,
„wir haben Alles allein gemogt! ich habe nichts weiter
[105] als das da für den Verſchmachteten. O Dieterice,
Dieterice, und die Frau Amtmannin wird weder um
meinet- noch um Seinetwegen zu ſo nachtſchlafender
Stunde den Schlüſſel zum Küchenſchrank unter dem
Kopfkiſſen vorlangen.“


Musjeh Thedel ſtieß zwiſchen ſeinem Kauen, Schlingen
und Schlucken einen Laut aus, der ſeine Gefühle in
Betreff der Frau Kloſteramtmannin vollkommen deutlich
ausdrückte. Als er den erſten freien Athem wieder¬
gewonnen hatte, ſeufzte er mit der Befriedigung des
für's Erſte wenigſtens noch einmal vom Verhungern
Geretteten:


Sufficit. Es genüget vor's Erſte; — erzähle Er,
Wanderer zu Sparta, daß Du mich dankbar erblicket
haſt für das, was Gott gegeben und Amelungsborn
übrig und frei und offen auf'm Tiſche liegen gelaſſen
hat. Auf dem Wege von Holzminden her hatte kein
Bauer mehr was! Sie hatten alles in die Erde ver¬
graben und in hohlen Bäumen verſteckt vor dem Marquis
von Poyanne.“


Magiſter Buchius drückte beide Hände an die Schläfen:
„Es iſt ein Wirbel! man überſchläget ſich im Abyſſo!
Ja, auch der Feind! Man vergiſſet im ſelbigen Moment
das Eine über das Andere! Ja, auch das, auch das,
auch das! Die Franzoſen kommen wieder, und Er iſt
eben auch gekommen, Münchhauſen — und Wieſchen
und Heinrich Schelze und Mamſell Selinde und die
Schlacht auf dem Odfelde — die Rabenſchlacht und
[106] der Herzog Ferdinand, der Herr Amtmann und die Frau
Amtmannin, der Marſchall von Broglio, und — Der da!“


Er wies auf den Raben, der, ſeit der Exprimaner
von Amelungsborn und Holzminden das Brod ihm ge¬
nommen hatte, mit kurioſeſter Zutraulichkeit ein Wohl¬
gefallen an dem jungen Landläufer gefunden zu haben
ſchien.


„Krah!“ ſprach er, der ſchwarze Ritter vom Campus
Odini
, und mit einem Mal ſaß er dem Knaben auf
der Schulter und bohrte ihm faſt ſeinen Schnabel in's
Ohr und redete in ſeiner Sprache zu ihm, eindringlich,
nachdrücklich, wohl Sachen von hoher Wichtigkeit, wie
Hugin und Munin ſie vordem von ihren Flügen über
die Erde mitgebracht haben ſollen nach Walhalla.


„Vivant tempora!“ rief der tolle Thedel von ſeinem
Sitze aufſpringend. „Wer mögte ſie anders? Die
ganze Welt ein einzig luſtig Jagdrevier, — Jedem
nach ſeiner Fortuna. Aber freilich, friſch Blut, junge
Beine und grobe Fäuſte gehören auch wohl dazu, wenn
es ſo zur Rechten und zur Linken blitzt und knallt.
Und das Vaterland ſoll leben, der König Fritze und der
Herzog Ferdinand und — Mademoiſelle Selinde! Jetzt
kann ich es dem Herrn Magiſter ſchon geſtehen, ſie war
unſere Göttin ſchon in der Sekunda, und wir wären
für ſie durch's Waſſer und Feuer gegangen. In der
Prima hätten wir Alle uns ihretwegen dem Teufel mit
Leib und Seele verkauft; aber zu mir allein hat ſie
geſagt: Herr von Münchhauſen, die Andern ſind mir
[107] doch alle dumme Jungen, aber mit Ihm und unter
Seiner Sauve-Garde ziehe ich ſchon in die weite Welt,
wenn es mir ma chère tante nur noch ein bischen
ſchlimmer macht. Sie iſt ein Engel, mein Engel, ich
laſſe mir die Knochen für ſie zuſammenſchlagen, und
ich ſchlage Jedem, den ſie lieber will als mich, die
Knochen zuſammen, und wenn chère tante ihr es jetzt
zu arg gemacht hat und ſie mit will, ſo bin ich in
dieſer Nacht auch deßwegen noch einmal in Amelungs¬
born — Herr — was — ſoll? —“


Er vollendete ſein Wort nicht. Magiſter Buchius
hatte ihn zu feſt an der Schulter gefaßt, Magiſter
Buchius ſchüttelte, riß ihn, ſelber vor Aufregung zit¬
ternd, zu ſehr hin und her. Magiſter Buchius ſagte
das, was er bis jetzt noch niemals zu einem der Herren
Sekundaner oder gar Primaner der gelahrten Schule
zu Amelungsborn zu ſagen gewagt hatte. Er ſagte:


„Lieber Monſieur von Münchhauſen, Er iſt ein
Narr. Nehme Er es mir nicht für ungut: aber Er iſt
mehr denn ein Narr — Er iſt ein Einfaltspinſel und
ein neugeboren Kind im Taumel dieſes irdiſchen Elends.
Er hat den Ovidius zu viel und den Livius und den
Tacitus zu wenig traktiret. Man hat dieſes Ihm nicht
verhalten und man wird's Ihm im neuen Weſen zu
Holzminden geſagt haben. Mit der Mademoiſell kann
ich Ihm nicht dienen, ſo wenig ich Ihm in dieſer Nacht
zu Seinem Stück trockenen Brodes da zu einem andern
Stück guten Fleiſches verhelfen kann. Sie iſt doch um
[108] mehrere Luſtra älter als wie Er. Ei, wie hat Er mich
mit ſich drehend gemacht! Ich möchte Ihn in meine
Arme faſſen, um Ihn nimmer wieder von mir gehen
zu laſſen; und ich möchte — ei, ich möchte —“


„Doch das hispaniſche Rohr ergreifen und dem
Halunken ſein meritirtes Theil geben, daß kein Kor¬
poral nachher beim König Friederikus oder dem guten
Herzog Ferdinand noch eine heile Stelle für ſeinen Stab
Wehe ausfinden ſollte! Haue Er zu, Herr Magiſter, aber
rede Er mir nichts gegen Jungfer Selinde Fegebanck.“


Der alte Magiſter zog ſeinen beſten und ſchlimm¬
ſten Schüler in ſeine Arme und gebrauchte den Stab
Wehe der Korporale und der Schulmeiſter des acht¬
zehnten Säkulums wahrlich nicht an ihm. Das ge¬
mäſtete Kalb hatte er nicht für ihn ſchlachten können,
Mamſell Selinden vermochte er ihm nicht aus den jungen
Sinnen und Gedanken zu vertreiben; aber nach vielem
Hin- und Herreden gab er ihm den Strohſack aus ſeiner
Bettſtelle und begnügte ſich mit dem Unterbette. Er
wollte ihm auch ſein Kopfkiſſen geben; aber das nahm
Thedel von Münchhauſen nicht an, ſondern rollte ein¬
fach ſeine Jacke zuſammen und ſich zuſammen gleich
einem Igel unter des Magiſters Rockelor.


Während der Junge ſofort auf ſeinem ſpartaniſchen
Lager einſchlief, blieb der Alte noch eine geraume Zeit
wach und hörte ſeine Kirchthurmuhr ſchlagen und ſuchte
die Geſpenſter und Gedankengeſpinnſte dieſes Tages zu
„einfachen und ordentlichen“ Schlüſſen zuſammenzu¬
[109] ziehen und feſt zu bannen. Er entſchlummerte und er¬
wachte ſchreckhaft von Neuem. Er balgte ſich in den
Auguſtſchlachten des laufenden Jahres mit dem Herrn Vi¬
comte von Belſunce und dem General Luckner; er war
mit ſeiner Schule auf dem Wege vom Auerberge nach
der Weſer und er ſah ſich allein gelaſſen auf der Land¬
ſtraße und hatte immer fort vor ſich hin zu ſprechen:
Siebenzehnhundertſechzig, ſiebenzehnhundertſechzig, ſieben¬
zehnhundertſechzig. Eben ging er noch auf der Berlin-
Kölniſchen Heerſtraße, die Schöße ſeines ſchwarzen
Schulmeiſterrockes gegen den Wind zuſammenhaltend;
nun entfalteten ſie ſich doch und trugen ihn aufwärts
unter die ſchwarzen gefiederten Tauſende, die ihre
Schlacht über dem Odfelde und dem Quadhagen aus¬
fochten. Er hieb auch mit dem Schnabel nach rechts
und links, doch er hatte biſſige Gegner, die ihn auch
von allen Seiten zu bedrängen verſtanden. Daß er
mehr als einen ſeiner frühern Herren Kollegen mit
wirbeln und auf ſich einfliegen ſah, war ſo im Traum
eigentlich nicht verwunderlich. Hui, und das Feldgeſchrei,
wie es verworren um ihn krächzte, knarrte, kreiſchte!


Barbara, celarent, primae, darii ferioque.

Cesare, camestris, festino, baroco secundae.

Tertia darapti sibi vindicat atque felapton

Adjungens disamis, datisi, bocardo, ferison!

Alles ſcholaſtiſche Schulgeſchrei, was durch die Jahr¬
hunderte zu Kloſter Amelungsborn in den Zellen und
auf und vor den Kathedern verhallt war, das war in
[110] dieſem Traum und in dieſer Nacht von Neuem wach
geworden. Aber ſelbſt im Traume war es dem Magiſter
Buchius verwunderlich, daß er plötzlich auch Mademoi¬
ſelle Selinde Fegebanck mit gelöſtem Rabengelock auf
ſich einſtürmen ſah: „Baroco! facrono!“ — was half
es ihm, daß er der Walkyria entgegenzeterte: „Bocardo!
docambroc!?“
Sie umfittichte ihn näher und näher,
ſchlug ihm die Perrücke vom Haupte und faßte ihn
mit den Krallen in die Bruſtklappen ſeines Rockes und
hieb auf ſeinen Buſen ein. Da ſank er unter dem
harpyiſchen Geſpenſt und Omen tiefer und tiefer aus
den dunkeln Lüften hinab auf ſeinen Campus Odini,
und als er den Boden berührte, erwachte er natürlich,
und es war ſein ſchwarzer gefiederter Schützling und
Gaſtfreund vom Odfelde, der ihm in Fleiſch, Blut und
Federn auf der Bruſt ſaß und an den Knöpfen ſeines
Nachtkamiſols zupfte. Er erhob ſich jäh, der Magiſter
Buchius nämlich, und das Scheuſal flatterte mit Ge¬
krächz von ihm und zurück in den Ofenwinkel; der
Magiſter aber lag ſchweißtriefend, halbaufgerichtet auf
ſeinem rechten Ellenbogen und horchte nach ſeinem andern
Schützling und Gaſtfreund hin. Der wendete ſich eben
in ſeinem Traum von der Linken auf die Rechte und
murmelte unruhvoll, ja weinend:


„Dieſer Zeit Gemüther

„Führen falſche Güter,

„Weil der Zeug der Welt

„Keine Farbe hält.
[111]
„Trau nicht Wort und Hand;

„Denke nur kein Pfand

„Iſt genug vor Unbeſtand.“

Dies war aus einem Liederbuch, das vordem auf
ſeiner ſeligen Mutter Tiſchchen zu Bevern gelegen hatte.
Es ſtammte noch aus dem verfloſſenen Jahrhundert,
enthielt des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer
berühmten teutſchen Poeten auserleſene Gedichte; und
der Junker von Münchhauſen hatte ſchon in jüngſten
Jahren mehr aus ihm gelernt, als ihm eigentlich
gut war.

[[112]]

Zehntes Kapitel.

„Woraus denn deutlich zu erſehen, wieviel dieſe
barbariſch ſcheinenden Wörter bedeuten und wie geſchickt
ſie beſonders ſind, alle ſowohl allgemeine als beſondere
Schlußregeln zu überſehen und in jeder Figur ſich alle
richtigen Schlußarten einzuprägen. — Davon zeigt bar¬
bara
die allgemein bejahenden, celarent die allgemein
verneinenden, darii die beſonders bejahenden und ferio
die beſonders verneinenden ꝛc.“


Alſo ſagte dagegen, nämlich gegen die Lieder des
ſiebenzehnten Jahrhunderts in Schweinsleder, die Deut¬
liche und praktiſche Vernunftlehre für Schulen
insgemein
und alſo auch für die weiland hohe Kloſter-
Wald- und Wildniß-Schule zu Amelungsborn. Aber
wer gar nichts im Wachen und im Traum auf: Ca¬
cresen, bamallp, dimatis, fesapo, fresison
hielt, das
war des Herrn Kloſteramtmanns Vetterstochter Made¬
moiſell Selinde Fegebank. Sie war ſeinerzeit mit der
Schule auch ohne die Logika der Scholaſtiker ganz gut
ausgekommen und fertig geworden. Schlüſſe wie:


[113]
Wer nicht gelehrt iſt, iſt kein Menſch,

Kein Bauer iſt gelehrt, alſo

Iſt kein Bauer ein Menſch,

mochten nach Paragraph Einundneunzig den Herren Pri¬
manern zum warnenden Muſter diktirt werden, für
Mamſell hatten ſie nicht den geringſten Sinn. Die
brauchte kein Muſter, die wußte von ihrer Mutter her
ſchon ganz genau, wo der Menſch anfängt, und wo er
aufhört. Sie hatte einfach gekreiſcht unter den Eichen
im Sundern über die Concluſion:


Kein Menſch iſt ein Engel,

Kein Vieh iſt ein Engel, alſo

Kein Vieh iſt ein Menſch.

„Musjeh von Münchhauſen,“ hatte ſie gelacht, „wenn
Er mich künftig einmal wieder einen Engel nennen will,
bleibe Er mir nachher mit ſeinem Buche und ſeiner
Gelehrſamkeit vom Leibe. Und dazu weiß ich auch gar
nicht, was daraus werden ſollte, wenn ich ſo dumm
wäre wie Er. Aber ein guter Menſch iſt Er, und ich
ſitze ganz gern mit Ihm hier im Grünen und bei der
Hitze im Schatten im Hoop, und daß Er voll Lieder
und Singſang ſteckt, wie der Buchenbaum voll Mai¬
käfer, das gefällt mir auch ſchon; aber — Musjeh
Thedel, wo wollte Er wohl mit mir hin? über die Eich¬
bäume hinaus! ins Himmelblau und gar jetzo mitten
im Kriege! und wie mein Onkel und Seine Herren
Lehrer über Ihn denken, das weiß er doch auch; und
— Herr von Münchhauſen, Er närriſcher Eulenſpiegel,
Raabe, Das Odfeld. 8[114] zu früh ſoll doch Niemand erfahren, wo Barthel Moſt
holt. Das hat mir meine ſelige Mutter zu zehntauſend
Malen geſagt und hat noch auf ihrem Todtenbett ge¬
ſagt: Mädchen, daß Du mir nicht dumme Dinge machſt
in Amelungsborn unter den Herren Scholaren und
jungen Herren Magiſtern. — Da, küſſe Er mir denn
die Hand, wenn Er durchaus es nicht laſſen kann!“...

In dieſer Nacht nun, die mit dem Beginn dieſer
Geſchichte ebenfalls angefangen hat, haben wir itzo nun
auch einen beſcheidenen Blick in Mamſell Gelindens
jungfräulich Kämmerlein drüben im andern Theil der
weiland Kloſtergebäude zu werfen. Eine einfache Mönchs¬
zelle war ihr darin nicht vom galanten Fato angewieſen
worden. Die Tante, die Frau Kloſteramtmännin hatte
ſie im Gemach des weiland Subpriors von Amelungs¬
born untergebracht, und ihr bei ihrer Ankunft geſagt:
„Wer ſich im Kloſter Amelungsborn vor'm Spuken fürchtet,
dem können wir nicht helfen; aber ſollte Dir mal was
Ernſthaftes widerfahren, ſo brauchſt Du nur hier im
Gange hell zu ſchreien. Wir werden Dich dann ſchon
hören, und zuſehen, wo es Dir fehlt. Mir perſönlich
iſt bei meinem hieſigen Leben noch niemalen ein Ge¬
ſpenſt begegnet, als ein paar Male, wo ich aber gleich
am andern Morgen zum alten Tropf, dem Herrn Rector
ging und mir in meiner Gegenwart die nächtlichen
Halunken aus ſeiner lateiniſchen Spitzbubenbande heraus¬
langte. Da iſt ſo ein Schlingel, ſo einer von den
Münchhauſens, die in Bevern zuletzt nichts zu beißen
[115] und zu brechen hatten, den habe ich mir einmal, aber
ganz perſönlich, hier gerade vor Deiner Thür einge¬
fangen; er trägt wohl noch die Spur von Deines
Oheims Stiefelknecht hinten am Hinterkopf. Alſo, Kind,
Du kannſt ganz ruhig ſchlafen in Amelungsborn, bis
ich Dich wecke; dann aber biſt Du mir 'raus aus den
Federn, oder ich zeige Dir, was 'n wirkliches Geſpenſte
in Fleiſch und Blut zu ſagen hat“. — Wie gut ſich
Jungfer Selinde Fegebank in Alles, was in Kloſter
Amelungsborn ein-, aus- und umging, gefunden hatte,
wiſſen wir alſo ſchon: werfen wir jetzt demnach ruhig
den beſagten Blick in ihre Kemenate. Die Jungfrau
ſchlief ganz behaglich in ihrem Federbett aus dem un¬
ruhevollen Tage voll Lärm, Gezänk und böſen Omina
in den neuen Tag hinein und — lächelte im Traum:
die böſen Franzoſen, die ſchon ein paar Male dage¬
weſen waren und nun morgen wiederkommen ſollten,
hatten ihr bis jetzt eigentlich gar ſo übel nicht ge¬
fallen.


„Mit mir ſind die Herren Offiziers doch ganz
honett, galant umgegangen, und es war gar nicht nöthig,
daß mich chère tante am liebſten mit dem Silberzeug
vergraben hätte,“ hatte ſie beim Zubettgehen geſagt.
„Ei, es wird alſo auch morgen wohl nicht ſo ſchlimm
mit ihnen ausfallen. Die Luckner'ſchen neulich waren
ganz andere Flegel, und meinethalben lieber das ganze
Haus voll von den himmelblauen Dragonern, als ein
halb Dutzend von den dunkelblauen Huſaren in Stube,
8*[116] Kammer, Küche und Keller! Ordentlich leid konnte es
Einem thun, als die Hellblauen vor den Dunkelblauen
ſo Hals über Kopf davon mußten. Und dem galanten
Monſieur, dem armen Lieutenant Seraphin, den die
Knechte an der Gartenmauer vergraben haben, dem
pflanze ich im Frühjahr noch einen Rosmarin auf's
Grab. Es war zu poliment, wie er mir noch im
Sterben die Hand küſſen wollte. Den Schlingeln, den
Lümmeln, den Grobianen, die Einem wie die wilden
Thiere die Krauſe zerknüllen wollen, denen weiß man
ſchon die zehn Fingernägel in's Fleiſch und die Schnauz¬
bärte zu ſetzen. Ei ja, ja, ein böſes Leben iſt's im
Kriege; aber doch ein anderes luſtigeres Ding als zu
unſerer Magiſters- und Schuljungenzeit hier. Da war
doch nur der arme Junge, unſer böſer Thedel, der junge
Herre von Münchhauſen — ja, Der zu Pferde, im Federhut,
mit der Schärpe und mit dem Pallaſch in der Fauſt
— — — je ja, je ja,— — — “


Und auf den Lippen mit den Reimen:


Iſt es möglich, daß Du weineſt?

Iſt es möglich, daß Du meineſt,

Daß ich Dich verlaſſen kann?

war ſie guten Gewiſſens und geſund eingeſchlafen, um
im Traum ihr Daſein und Weſen in der Welt weiter
zu ſpielen wie im Wachen. Kloſter Amelungsborn,
ſein Amt und ſeine Schule, der ſiebenjährige Krieg, die
ſchwarzen Lateiner, die preußiſchen Huſaren, die fran¬
zöſiſchen Dragoner vertrugen ſich in Mademoiſell Selin¬
[117] dens harmloſer alberner Seele beſſer mit einander, als
es die meiſten Geſchichtsſchreiber für möglich halten.
Und wenn die Leute auf der Letzteren Schrift doch
bauen und trauen und ihr auch gern nachgehen hau¬
fensweiſe, ſo iſt das recht gut aus mehrfachen
Gründen.


Das gute Mädchen flog ebenfalls die ganze Nacht
durch. Von der Rabenſchlacht hatte ſie natürlich auch
vernommen und auch den Kämpfer aus derſelben, den
Magiſter Buchius mit nach Hauſe brachte, betrachtet.
Sie hatte wie die meiſten Andern ihrem Ekel über das
Unthier Worte verliehen, und nun rächte ſich der Spuk,
ſo gut er konnte, und ließ ſie im Traum erleben, was
der Juſtizamtmann Bürger zu Altengleichen im Calen¬
bergiſchen, zehn oder elf Jahre ſpäter, in die deutſche
Litteraturgeſchichte als großer neuer Poet hineinſang:


Der Mond, der ſcheint ſo helle,

Die Todten reiten ſo ſchnelle:

Feines Liebchen, graut dir nicht?

Und an den an der Gartenmauer den ewigen Schlaf
ſchlafenden Königsdragoner Unterlieutenant Seraphin
hatte ſie auch nicht ohne Gefährde beim Zubette¬
ſteigen gedacht. Sie hatte einen feinen Traum; und
man hebt einen Zipfel von der Decke vor dem großen
Myſterium der Welt, wenn man bedenkt und ganz
genau in Betrachtung zieht, daß die Dummen und
Armen im Geiſte die allerwundervollſten und geiſt¬
reichſten Träume haben können; ebenſo geiſtreiche und
[118] ſonderbare, als wie die Klugen, die Weiſen, ſowohl am
Tage wie bei Nacht.


Mamſell Selinde wurde auch im November 1761
abgeholt von ihrem todten Dragoner wie Lenore von ihrem
Wilhelm. Es ſtand aber ein weißes Roß an der
Mauer des Gemüſegartens, und der Himmel war hell¬
blau, die Sonne ſtand im Mittage, Wald, Feld und
Wieſen waren grün, und es kam ein luſtiges, friſches
Windeswehen dazu her vom Hils, vom Ith, vom Vogler,
über die alte Ringmauer der Ciſtercienſermönche von
Kloſter Amelungsborn. Luſtige Muſik von Nah und
von Fern klang der Jungfer in's Ohr. Als ob es ſich
von ſelbſt ſo verſtünde, war ſie in ihrem allerbeſten
Sonntagsſtaat, mit Bändern und Reifrock und Stöckel¬
ſchuhen, mit Puder und Handſchuhen — eben noch in
ihrer Kammer auf dem Bettrande und nun draußen
im Garten, im blühenden Garten voll von Bienen und
Buttervögeln. Ueber die Kloſterringmauer ſah der
weiße Pferdekopf und winkte der junge lachende Reiter¬
lieutenant im himmelblauen Rock mit Silber der Dra¬
gons de Ferronays
mit dem Federhut: Wir reiten,
wir reiten, Mademoiselle! — Ich wollt Ihm aber
doch noch ein Zweiglein Rosmarin an die Kokarde
ſtecken, Monsieur, ſagte die Jungfer, hat Er es denn
gar ſo eilig, Monsieur Seraphin? . . . . Die wilde
Roſe, la fleur d'eglantine, dort vom Buſch, Mademoi¬
selle
! wir reiten, wir reiten — Sattel und Steig¬
bügel! — unſere Zeit iſt hin im deutſchen Lande —
[119] weſtwärts, ſüdwärts, durch Nebel und Schnee, durch
und Sturm über den Rhein in die Sonne, in's
warme luſtige Frankreich zurück. Es iſt Platz im
Sattel, Mademoiselle, ma belle, ma jolie fleur de
romarin
— wir reiten, wir reiten, Mademoiselle Se¬
linde!


Es war ganz närriſch — war das nicht der Herr
Magiſter und Kollaborator Zinſerling, der da im
Kloſterbau grad jetzt ſein Fenſter aufmachte und ſich
drein legte und in den Sonnenſchein, das Mittagslicht und
friſche Weſen von Mamſells Traumgebilden ſatyriſch
hineinkrähete und zwar tumultuoſe gegen jedwede Schul¬
geſetze:


„Wie närriſch lebt ein Kerl doch in der Welt,

„Wenn er erſt in das Garn der Liebe fällt;

„Wenn er den Muth für einen Blick verhandelt

„Und in den Stricken des Verderbens wandelt?

Und war's nicht der liebe gute Junge, der Musjeh
Thedel, der Herr Primaner, der Junker von Münch¬
hauſen, welcher da hinter den Stachelbeerenbüſchen ſchlich
und zum gelahrten Herrn hinaufhöhnte:


„Bald ſitzt ihm der Kragen am Halſe nicht recht,

„Bald iſt ihm die dünne Paruque zu ſchlecht,

„Bald zieht er den Degen, bald ſteckt er ihn ein,

„Bald denkt er ein Bauer, bald König zu ſein!! — ?

Alles im Sonnenſchein — der Garten, das alte
Kloſter — weiße Tauben in Schwärmen um die Dächer
und den Kirchthurm und — mit einem Male in den
[120] Lüften über der grünen Welt — im Sattel vor dem
Reiter des Königs Ludwigs des Fünfzehnten, mitten
im Tilithigau: La France! vive la France! Mamſell
Selinde verſtand im Wachen kein Franzöſiſch, aber im
Traume verſtand ſie es: „Frankreich, Frankreich!“ rief
und jauchzte es um ſie her tauſendſtimmig. Zu Hun¬
derten, zu Tauſenden ritten ſie — ritten ſie weſtwärts
der Weſer zu — alle die thörichten Kinder der belle
France
, die ihr Grab oſtwärts des gelben Stromes,
dießmal im lieben kleinen Kriege der Madame de
Pompadour gefunden hatten. Auf Wodans Felde, über
dem Odfelde, über dem Quadhagen, wo geſtern die
ſchwarzen Vögel geſtritten hatten, ſammelten ſich die
luftigen, luſtigen Geſchwader in Gold und Roth und
Blau, in Silber und Weiß und Grün und Gelb,
Champagne und Limouſin, Dragoner von Ferronays
und du Roy, Freiwillige von Auſtraſien, Grenadiers
von Beaufremont, Grenadiers royaux, Carabiniers von
Caſtella, Carabiniers von Provence. Wer zählt es
im Wachen, was Mamſell Selinde nicht im Traume
zählen konnte — alles Das, was in den beiden letzten
Jahren nur zwiſchen dem Harz und der Weſer
der Mutter Erde und dem Bauernſpaden anheimge¬
fallen war? Ja, hurre, hurre, hop, hop, hop, aber
beim helllichten Tagesſchein und ohne alles geſpenſtiſche
Grauen! Mademoiſelle Selinde fand nicht das geringſte
Sonderbare dabei, daß ſie den linken Arm um den
hübſchen jungen Dragoner vom Regiment Ferronays
[121] geſchlungen hielt und mit der rechten Hand hoch aus
den Lüften über dem Campus Odini des Magiſters
Buchius deuten konnte: Da unten geht ja die Frau
Tante über'n Hof, und in der Milchkammer ſollte ich
eigentlich auch jetzo ſein, Musjeh Seraphin! —


Là, chaque place

Donne à choisir

Quelque plaisir

Qu'un autre efface.

C'est à l'entour

De ce domaine

Que je promène

Au point du jour

Ma souveraine —

Jungfer Selinde verſtand kein Franzöſiſch, aber
doch verſtand ſie die Verſe des gentil Bernard die ihr
bei Tagesanbruch im Traume über den Feldern, Wieſen,
Wäldern und Dächern von Kloſter Amelungsborn, hoch
in den Lüften aus lachendem Munde in's Ohr geflüſtert
wurden beim Schwirren, Flattern und Fliegen der
luſtigen Geſchwader umher, die ſich immer mehr ver¬
dichteten, ihre Reihen und Glieder ſchloſſen und ſich zu
Zügen ordneten, Fußvolk und Reiter, wie ſie ſich los¬
machten aus dem Erdboden, um nicht zurückzubleiben,
ſo in's Einzelne verſtreut über die Barbarenerde. Es
war vielleicht grade in dieſer Nacht, daß die Frau
Marquiſe aus Verſailles an den Herzog von Choiſeuil
ſchrieb! Quant à l'Allemagne tout y est désespéré.
L'Allemagne a toujours été le tambeau des Français;
[122] dans cette guerre elle a encore été le tombeau de
leur gloire!
..... Was kümmerten ſich im Traume
der Jungfer Selinde die Welt um die Frau Marquiſe,
den Herzog von Choiſeuil und die gloire von Frank¬
reich? Es war nur jetzt in den Lüften der beſte Schützen¬
hof, auf dem Mamſell ja die Tempeteh mit getanzet
hatte. La tempête — drüben aus Frankreich her war
ja der Tanz auch zu den Niederſachſen gekommen; und
alle Trompeter blieſen und alle Querpfeifer pfiffen und
alle Trommler raſſelten in dieſer Nacht zu Amelungs¬
born die wilde Weiſe dazu — wie auf der Stein¬
breite bei Holzminden.


Und immer toller wurde der Wirbel, und immer
mehr und mehr des luftigen, luſtigen Geiſtergeſindels!
und immer herzlicher klammerte ſich im Spukkarouſſel
die Jungfer an ihren lachenden Reiter, und immer
jubelnder klang's rund umher: Nach Frankreich! nach
Frankreich! nach Hauſe! nach Hauſe!


Wo unſer Herrgott lebt wie Gott in Frankreich,
Musjeh Seraphin, lachte auch Mamſell. Aber geht es
denn immer nur ſo im Kreiſe? geht es denn nicht
fort, nicht weiter, — gradaus im Fluge?


Wir warten nur noch auf den Herrn General-
Lieutenant, Mademoiſelle. Voila, da kommt er!


Und vom Weſten her kam ein einzelner Reiter auf
ſchwarzem Roß, und Jungfer Selinde Fegebanck ver¬
ſtand es ganz genau wie Jemand ſagte:


Herr Ludwig Ferdinand Joſeph von Croy, Herzog
[123] von Havre, des heiligen römiſchen Reiches Fürſt,
Grand von Spanien, der Krone Frankreich Marechal
de camp
, Gouverneur von Schlettſtadt, Obriſter des
Regiment la Couronne


Bei Wellinghauſen gefallen! ſagte jetzt plötzlich der
blaue Dragonerlieutenant von der Gartenmauer zu Kloſter
Amelungsborn ſcheu, trübe, traurig der Allerſchönſten
von Amelungsborn in's Ohr, und — Jungfer Selinde
Fegebanck kreiſchte nur noch: Jeſus, Herr Lieutenant!
— Der vornehme Cavalier auf dem ſchwarzen Roß
inmitten des Geiſterheers hob den Arm — einen zer¬
ſchmetterten, ärmelloſen, handloſen, blutigen Armſtumpfen:
En avant, messieurs! Vive le Roy! Vive la France!
..... Ein Schrei, ein Schreien, ein Heulen und Ge¬
zeter; dazwiſchen Gejauchz und ſchwere Schläge wie
von fernem Donner und nahem Thürenſchlagen! Jungfer
Selinde fiel auch — wie man immer und ewig ſo im
Traum zu fallen pflegt. In dem ſchwirrenden Ge¬
tümmel von Roſſen und Reitern ſtürzte ſie aus dem
Sattel des armen todten Lieutenants Seraphins, aus dem
Sonnenſchein, dem lichten Tage hinab in's Dunkel und
in die Wirklichkeit hinunter und zurück.


Sie ſaß zitternd und bebend auf ihrem Bett in
ihrer Kammer, der Tag dämmerte eben, der Regen
klatſchte an's Fenſter. Fern draußen ſchlugen Trom¬
meln einen eintönigen Marſch; doch in der Nähe
ſchlugen Flintenkolben an Thür und Thor. In fremd¬
ländiſchen Zungen fluchte und wetterte es, in einhei¬
[124] miſchen jammerte, ächzte und kreiſchte es. Draußen
auf dem Gange glaubte Jungfer Fegebanck auch ihres
Oheims ſchweren geſtiefelten Schritt zu erkennen im
Getümmel von bloß bepantuffelten, beſtrümpften oder
gar ſtrumpfloſen Füßen: die Franzoſen waren noch
einmal in Fleiſch und Blut in Amelungsborn. —

[[125]]

Eilftes Kapitel.

„Herr Magiſter!“


Das wurde wie in einen tiefen Brunnen hinab¬
gerufen, und es dauerte ſeine Weile, ehe Antwort herauf¬
kam.


„Herr Magiſter Buchius!“


„Eh — eh — heu! Si fractus illabitur —“,


„Jawohl — orbis! wenn der Erdball einfällt, den
Weiſen weckt's nicht! Eben ſchlagen ſie das Hofthor
ein, und der alte Impavidus nimmt's bloß für den Welt¬
untergang und ſchnarcht weiter, weil ihn die Ruinirung
garnichts angeht. Einen famoſen Schlaf mit gutem
Gewiſſen muß der alte Herr bei dem Lärm haben!
Aber auf muß er. Herr Magiſter! Herr Magiſter
Buchius — die Schulglocke!“


Beim letzten Wort ſaß der alte Schulmeiſter auf¬
recht auf ſeinem Bett, mit beiden Händen haſtig um
ſich herum greifend, wie nach ſeinen nöthigſten Klei¬
dungsſtücken, ſeinen Büchern, ſeinem nur zu harmloſen
Bakel. Dem jungen grinſenden Böſewicht zitterte in
ſeiner Luſt an dem Witz die Lampe, mit der er dem
[126] erſchreckten Kollaborator in's Geſicht leuchtete, in der
Hand.


Ecce! ehem! hem! papae! um Gottes willen, wie
ſpät —“


„Beruhige ſich der Herr Magiſter nur. Zu ſpät
iſt's noch nicht. Wir haben das ganze Pläſir noch vor
uns. Der Tag bricht eben erſt an, und es iſt nicht
der Herr Rector von Amelungsborn, der an der Thür
trommelt, ſondern es ſind nur die lieben Herren Franzoſen,
die wieder das Thor einſchlagen und nochmal Quartier
verlangen. Der Herr Prior und Rector liegen hoffent¬
lich zu Holzminden im Frieden und in den Federn
und laſſen höchſtens im Traum den Herrn Magiſter
grüßen.“


Dieſe ausführlicheren Benachrichtigungen waren wirk¬
lich nicht nöthig. Zu halbem Bewußtſein gelangt, merkte
es der alte Herr ſchon, daß es nicht ſein früherer
Scholarch ſei, der ihm auf den Hacken ſitze, ſondern daß
nur der Krieg der Krone Preußen mit der ganzen Welt
augenblicklich noch fortdauere und Canada immer noch
in Deutſchland erobert werde. Die Trommeln der
ziehenden Truppen, das Krachen des eingeſchlagenen
Kloſterthores, das Gebrüll und Hallo auf den Höfen,
auf den Treppen und in den Korridoren ſprachen laut
und deutlich genug für ſich ſelber. Nur die Anweſen¬
heit, die Gegenwärtigkeit des Junkers von Münchhauſen
war dem aus tiefſtem Schlaf Erweckten für einige
Momente noch unbegreifbar.


[127]

„Die Franzoſen! Ei, ei. Aber — nae ego
Er, Monſieur Thedel? Ja aber iſt Er — wie kommt
Er?... Ja ſo!“


Mit den letzten zwei Worten war Magiſter Buchius
wieder vollkommen bei ſich und mit allen vom Himmel
geſpendeten Seelenkräften beim laufenden Tage:


„So hat Er Recht gehabt, Musjeh Thedel; und
uns möge Gott noch einmal gnädig ſein, wie er uns
ſchon ſo oft geholfen hat.“


„Er wird's ja wohl, — ſich Einer, das ſchwarze
Vieh da auf dem Bettpfoſten vertraut ganz auf ihn
und läßt ſich's in ſeinem geſunden Schlaf nicht küm¬
mern.“


„Der Bote hat ſeinen Auftrag ausgerichtet und
braucht ſich freilich das Uebrige nicht kümmern zu laſſen,“
ſeufzte bänglich der Magiſter, den linken Fuß zuerſt
auf den Gipsboden vor ſeinem Bett ſtellend, was
gleichfalls ſein gutes Vorzeichen ſein ſoll:


„Quo, quo scelesti — welch' ein Lärm, welch' ein
Tumult der Hölle! Sie wollen diesmal jedes Gemäuer
dem Grunde gleich machen —“


„Da nehme Er die Lampe!“ rief der Schüler, und
vergeblich rief ihm der Magiſter Buchius nach:


„Herr von Münchhauſen! Aber Musjeh — Mon¬
ſieur Thedel!“


Der gute Junge hatte ſchon ſein Möglichſtes ge¬
than, daß er ſich zuerſt und ſo lange dem Vater
Anchiſes gewidmet hatte; jetzo hörte er Crëuſen ſchreien,
[128] und krachend ſchlug die Thür der Zelle des Bruders
Philemon hinter ihm in's Schloß. Vergeblich rief ſein
väterlicher Freund und Lehrer ſeine Verblüffung und
ſeine Klage ihm nach. Abiit, evasit, erupit — ab
ging er mit ſeinen achtzehn oder neunzehn Jahren:
denn Sie ſchrie nach Ihm in ihrer höchſten Noth, im
letzten, ſchlimmſten Einbruch, in der Vergewaltigung
durch den Fremden, durch den welſchen Feind.


Schön hatte ihm ſein alter Lateinlehrer nachzu¬
rufen:


„Aber Musjeh? Monſieur Thedel? Herr von
Münchhauſen, was fällt Ihm denn ein? Um Gottes
willen, was fällt Ihm ein, wo will Er hin? So höre
Er — bleibe Er doch —“


Wer nicht hörte, war der Junker von Münchhauſen,
und daß er Beſcheid wußte in den Gebäulichkeiten, auf
den Treppen und mit den Schlupflöchern von Kloſter
Amelungsborn, iſt in dieſem Augenblick weniger ein
Troſt für den Magiſter Buchius, als für ihn ſelber.
Und wer, wie gewöhnlich bei ſolchen Fällen, ganz und
gar keines Troſtes bedurfte, weil er aus dem tiefſten
Naturrecht heraus ganz und gar nicht bei Troſte war,
das war der Junker Thedel von Münchhauſen. Was
Krieg und Brand, Mord und Tod und Welteinfall?
Kein Latein mehr und — ſie drüben im Amthauſe
nach dem Retter und Ritter in der höchſten Noth
ſchreiend! Mit einem Jauchzen, das wahrlich nicht nach
Noth, Angſt und Verzweiflung klang, ſprang der Wild¬
[129] fang hinein in den Tumult des fünften Novembers
Siebenzehnhunderteinundſechzig. Es war ihm wirklich
nicht zuzumuthen, ſeinem — einem alten Präceptor,
und wenn es ihm auch der liebſte war, in die Hoſen
zu helfen. Glücklicherweiſe aber hatte Mademoiſelle
ihre Toilette wenigſtens ſo ziemlich vollendet, wäh¬
rend der Magiſter Buchius noch mit bebenden Fingern
an ſeinen Knöpfen und Knopflöchern hin und wider
taſtete. Als ein ſtandfeſtes Mädchen hatte ſie ihren
Traum abgeſchüttelt, Feuer geſchlagen, ihr Lämpchen
angezündet und ſich „für Alles zurecht gemacht“. So
ſaß ſie auf ihrem Bettrand und wartete auf ihr Theil
Unheil vom abermaligen Einbruch der Franzoſen als
ein gutes Mädchen, wie es dem lieben Gott gefällig
war. —


„I du meine Güte!“ rief ſie, als in all dem Lärm
des feindlichen Einbruchs es durch ihr Schlüſſelloch
klang:


„Sylvia, dein kaltes Nein,

„Kann mir dennoch nicht verwehren,

„Dich zu lieben, zu verehren;

„Gieb nur hier ein Jawort drein.“

„Der Junge! der närriſche Junge!“ rief ſie, auf¬
ſpringend und ihrerſeits das Ohr zum Schloß der ver¬
riegelten Pforte niederbeugend. „Musjeh? Junker
Thedel? Herr von Münchhauſen, iſt Er denn das?
Jeſes, auch jetzt mit Seinem ewigen Singſang? Was
hat Er denn jetzt wieder für Narrheiten im Kopf?“

Raabe, Das Odfeld. 9[130]

„Das fragt Sie noch, Mademoiſell?“ klang es vor¬
wurfsvoll zurück durch's Schlüſſelloch. „Bei dem Spek¬
takel? . . Sie aus dem Feuer holen, will er! In das
Waſſer für Sie gehen wie Ihr Pudelhund will er.
Jeden Franzmann, der Ihr auf drei Schritte nahe kommt,
unter'm Daumen knicken will er. Riegle Sie auf,
Jungfer! Will Sie? Auf den Knien liege ich hier —“

„Reine verrückt iſt Er; aber — doch ein guter
Menſche!“ ſagte Jungfer Selinde Fegebanck, wirklich
ihre Thür öffnend und in demſelben Augenblick ihn,
mit der Fauſt in ſeinen Haaren, von ſich abdrängend.
„Herr von Münchhauſen, das bitt' ich mir aber aus —“

„Engel!“ ſchluchzte der Tollkopf, jetzt wahrhaftig
auf den Knien vor ſeinem Ideale. „Hat man mich
nicht um Sie von Holzminden weggejagt? Bin ich
nicht um Sie den Tag durch gelaufen? Haben mich
Ihretwegen nicht der Herr von Chabot und ſeine Halunken
gejagt und hängen wollen? Hab ich nicht Ihretwegen
mit des Magiſters Buchius letzter Brodrinde die Nacht
durch auf dem kalten Gypsboden gelegen?“


„Ein Flegel braucht Er darum doch nicht zu ſein,
und wenn ich zehntauſendmal ein Engel bin — Jeſus
Chriſtus, Thedel, liebſter, beſter, allerliebſter Thedel
— ſie wollen wohl dießmal das Kind im Mutterleibe
nicht verſchonen!“


„Deßhalb bin ich ja von Holzminden hergelaufen.
Ueber meinen Leichnam geht der Weg zu Dir, meine
Prinzeß. Courage, Herze, Göttin, Seraph! Und in
[131] der höchſten Noth weiß ich ja Hausgelegenheit in
Amelungsborn.“


Das gute Mädchen hing jetzo ſeinerſeits dem jungen
ritterlichen Beſchützer am Halſe. Was thut der Menſch
nicht in ſeiner Angſt, wenn es nicht bei bloßen Kolben¬
ſtößen gegen die Thüren bleibt, ſondern auch die
Musqueten in die Thürſchlöſſer abgefeuert werden,
um den Eintritt raſcher zu erzwingen. Es waren dießmal
nicht ritterliche rothe, blaue, gelbe Dragoner oder grüne
Chaſſeurs à cheval, die bei Sonnenſchein und hellem
Tage kamen, ſondern es war wüſtes, wildes, verlumptes,
verhungertes Fußvolk Ludwigs des Fünfzehnten, das
bei dem neuen Anmarſch auf die Hube bei Einbeck
im Kloſter Amelungsborn einſprach und am dunkeln
regnichten Novembermorgen die Leute aus den Betten
holte. Nachzügler von den Regimentern Navarra, Salis,
Boccard, Reding, dabei nur einige Offiziere, die mit
dem Degen in der Fauſt die unbotmäßigen Schwärme
vorwärts zu treiben ſuchten gegen den Ith und den
guten Herzog Ferdinand!


„Venons, brulons,

„Venons, buvons,

„Mettons le feu à toutes maisons,

„Venons à cinquante, cinq-cents!

In einem Nu war das Kloſter von ihnen über¬
ſchwemmt, und der Kloſteramtmann ſchlug Keinem von
ihnen das offene Licht oder gar den Feuerbrand aus
der Hand. Und ſie waren auch in dem Corridor, auf
9*[132] den ſich Selindens Kämmerlein öffnete, und ſie waren
in Selindens Kämmerlein:


„Bon jour, Mademoiselle! Venons — baisons!
Venons — aimons! Venons à cinquante, cinq-cents!“


Ein Fauſtſchlag krachte nieder auf die Naſe des
Voltigeurs vom Regiment Navarra, der allzu zärtlich
die Arme nach der Schönen ausſtreckte und dabei die
Rechnung ohne den jungen frühern Anbeter der Dirne
gemacht hatte. Bewußtlos, blutüberſtrömt ſtürzte der
Marodeur zu Boden und ſeine Waffen klirrten über
ihn. Doch auch die Waffen des übrigens Geſindels
klirrten. Mit Sacrenom und Sacredieu kamen ſie
ihm mit Kolben und Bajonett zu Leibe, doch der
Schüler griff das Lämpchen der Jungfer Fegebanck
von der Kommode und löſchte es im Wurf aus auf
der Stirn des nächſten Feindes, der dann über den
Kameraden zu Boden taumelte und im Falle ſeine
Büchſe gegen die Decke losbrannte. In die Laterne,
die ein beutegierig Lagerweib von ihrem Bagagewagen
zur beſſern Beleuchtung ihrer Wege mit ſich trug, trat
der Junker Thedel mit dem Fuße. Es war im
November und am früheſten Morgen; für das jetzt
erfolgende Durcheinander in dem Kämmerlein der Jung¬
frau und in den Gängen und auf den Treppen von
Amelungsborn noch vollkommen Nacht. Nur der Junker
von Münchhauſen wußte auch in der Dunkelheit genau
Hausgelegenheit. Er verlor einen Rockſchooß, der ihm
durch einen Bajonettſtoß an die Wand genagelt wurde,
[133] er blutete aus einer Schramme an der Stirn, er ver¬
lor eine Hand voll Haare aus ſeiner Friſur, er fühlte
einen Augenblick höchſt unbehaglich eine hagere harte
Navarreſerfauſt an der Gurgel, aber — er kam durch
und zwar in Begleitung von Mademoiſelle Selinde.
Er hatte das ebenfalls beſinnungsloſe Mädchen von
ſeinem Bettrande aufgezogen, er hielt es mit dem
linken Arm aufrecht und warf ſich mit der Laſt auf
dem Arme auf gut Glück in den Corridor. Daß der
jetzt vollkommen vollgepropft war von Menſchen, die
nicht wußten, was da weiter vorn eigentlich vorging
und noch weniger Hausgelegenheit im Kloſter Ame¬
lungsborn kannten, trug nicht am wenigſten zu ſeiner
Rettung, zu dem Entkommen mit ſeiner ſüßen Laſt
bei. Dreimal um die Ecke und dann die Bodentreppe
hinauf! Die Riegel vor zwei, drei, vielleicht noch vor
Jahrhunderten aus feſtem Eichenholz von Mönchsfäuſten
gezimmerten Thüren und — für's Erſte mit dem den
Rieſen und Drachen, den Nachzüglern der Schweizer
und der Regimenter von Navarra und Boccard abge¬
rungenen ſchönen Kinde in Sicherheit, unter dem Dach
und den Dächern von Amelungsborn und im Nothfall
auch auf ihnen!....................


„Die Canaillen ſollen mich hier die Katerſtiege
kennen lehren, Mademoiſelle Selinde,“ lachte der Junker
von Münchhauſen. Freilich doch ein wenig außer Athem.

[[134]]

Zwölftes Kapitel.

Magiſter Buchius rüſtete ſich derweilen wie ein
Mann, der, wenn er nicht mehr die Toga um ſich zu¬
ſammenziehen konnte wie der Cajus Julius unter der
Bildſäule des Pompejus, doch anſtändig in ſeinen
Stiefeln oder Schuhen zu ſterben wünſchte. So wenig
er je den Reſpekt im Verkehr mit ſeinen Schülern
hatte aufrecht erhalten können, ſo ſehr war er in ſeiner
Seele ein Mann des Anſtandes, und dazu, wie wir
nunmehr wohl ſchon wiſſen, ein tapferer Mann.


„Rebus angustis animosus atque fortis appare,“
ſprach er mit dem Horaz und wenn es zum Aeußerſten
gekommen wäre, würde er ſicherlich auch mit dem
Martial geſagt haben: Rebus in angustis facile est,
contemnere vitam
. Daß er beim Zuknöpfen von Hoſe,
Weſte und Rock unter die heidniſchen Sentenzien und
nervose dicta auch Verſe aus dem Braunſchweigiſchen
Geſangbuch, gedruckt bei Johann Heinrich Meyer, miſchte,
wird ihm, der aus einem lutheriſchen Pfarrhauſe
ſtammte, chriſtliche Theologia ſtudirt hatte und ein Erbe
chriſtlicher Schulweisheit des heiligen Bernhards von
[135] Clairvaux und ſeiner Ciſtercienſermönche war, Keiner
verübeln. Noch dazu, da der Lärm draußen vor ſeiner
Zellenthür, drunten im Kloſter immer ärger, immer
ſchlimmer, immer entſetzlicher wurde.


„Es zieht o Gott, ein Kriegeswetter

„Jetzt über unſer Haupt daher.

„Biſt Du nicht unſer Schutz und Retter,

„So iſt die Plage uns zu ſchwer.

„Sieh, wie die Fürſten ſich entzwein,

„Und ſich zu unterdrücken dräun!“

„Krah!“ ſchnarrte es dazwiſchen, und der unver¬
muthete, geſpenſtiſche Ton, ſo dicht neben ihm, ent¬
wurzelte für den erſten Moment all' ſeine altrömiſche
Standhaftigkeit mehr als alles Gelärm von draußen.


„Ah ſo, Du biſt!“ ſprach er aber ſchon im nächſten
Augenblick beruhigt. Der Rabe auf dem Bettpfoſten
war weniger von dem Kriegsgetöſe als von dem Vers
aus dem Braunſchweigiſchen Geſangbuch erweckt wor¬
den, und ſtreckte erſt das linke Bein und den linken
Flügel und dann das rechte Bein und den rechten
Flügel weit von ſich, wie „ein Menſch beim Auf¬
wachen ſich dehnend“, und ſagte:


„Krah!“


„Ja wohl, guten Morgen. Nun werden wir es
ja wohl an unſerm Leibe wie auch an unſern Hab¬
ſeligkeiten in genauere Erfahrung bringen, was Du
und die Deinigen uns geſtern aus der Höhe über dem
Odfelde zu beſtellen hatten! Fortiter ille facit, qui
miser esse potest

[136]

„Doch findet, Herr, Dein weiſer Wille

Noch ferner Züchtigung uns gut;

Wohlan, wir ſchweigen und ſind ſtille

Bei Dem, was Deine Vorſicht thut.

Laß uns nur Deiner Plagen Noth

Zur Beſſ'rung leiten, mächt'ger Gott.

„Perfer et obdura — heißet es beim Ovidius.


„Nicht zu verderben, nein mit Maaßen

Treff uns dann auch Dein Strafgericht.

Du kannſt, Du wirſt uns nicht verlaſſen;

Nein, Vater, nein, das thuſt Du nicht —

„Dießmal ſchlagen ſie Alles kurz und klein! Mein
Gott, dies reichet ja bis an unſern großen Schultumult
in der Bierſuppenaffäre, wo die Herren Primaner den
Herrn Amtmann in der Speiſekammer eingeſperrt und
belagert hielten und Feuer davor und drunter anlegen
wollten. Der Musjeh Thedel war damals noch nicht
dabei; er war erſt einer der Haupt-Conſpiratores bei
der Verſchwörung in unſerer Wilddiebsangelegenheit vom
Heidwinkel. Sie ſchoſſen auch damals ſcharf auf ein¬
ander, die Schule und die herrſchaftliche Jägerei. Ja
trommelt, trommelt, trommelt nur, ich höre die Kuh¬
hörner unſeres animoſen, tapfern Cötus noch immer
durch Euer Getrommel und Trompeten, Ihr Herren
Welſchen! Aber, der junge Herr? .... aimabel wär's
von ihm geweſen, wenn er mich nicht ſo leichtlich in
dieſem neuen Spaß nach ſeinem Sinn und Herzen hier
in angustis rebus, in der Angſt und Betäubung meines
[137] Gemüthes hätte ſitzen laſſen. Mit Dir zur einzigen
Geſellſchaft —“


Das letzte Wort war an den geflügelten Kriegsmann
von Wodans Felde gerichtet; aber der ſchien mit dem
Krachen der Flinten drunten in den Gängen des alten
Kloſters das Pulver und ſein Futter bis hinauf in die
abgelegene Zelle des weiland Bruders Philemon zu
riechen. Er erhob ſich flügelſchlagend und hüpfte kreiſchend
und krächzend wie im Triumph dem Magiſter um die
Beine und im Gemach herum:


„Krieg, Krieg, Krieg!“


Magiſter Buchius nahm ſeinen Hut vom Haken und
drückte ihn feſt auf die Perücke. Er nahm ſeinen Stock
aus dem Winkel. Wie ein richtiger alter Römer beim
Einbruch der Gallier wollte er auf Alles gerüſtet und
gefaßt ſein.


Es war auch nur ein Unterſchied in der Zeiten¬
folge und im Koſtüm, wie er ſo daſaß an ſeinem
Tiſche auf ſeinem Stuhl in ſeinem Muſeo, Wohn- und
Studir-Gemach — aufrecht, das hiſpaniſche Rohr feſt
aufgeſtellt auf den Boden zwiſchen den Knieen, den Hut
auf dem Haupte. Wenn Kloſter Amelungsborn heute
im Abgrunde des Zornes des Höchſten verſank; den
Magiſter Buchius fand und empfing der Abyſſus in
voller Erkenntniß ſeiner Sündhaftigkeit vor dem Herrn;
aber auch außer durch den Troſt auf die Barmherzig¬
keit deſſelbigen Herrn für Alles auf's Wackerſte ge¬
[138] wappnet durch die tagtägliche erfreuliche Beſchäftigung
mit dem Alterthum! Dem claſſiſchen nämlich.


Faſt mit einem ſüßen Grauen wartete er darauf,
daß ihn der Neugallier an der Naſe in Ermangelung
eines Bartes zupfe. Er hatte ſein volltönend Wort
dafür in Bereitſchaft; aber — er hatte zu warten.
Während der Lärm drunten fortdauerte und drüben von
Augenblick zu Augenblick ärger wurde, ließ ſich in ſeinem
abgelegenen Winkel keine Seele blicken. Er wartete auf
den barbariſchen Feind eben ſo vergeblich wie auf ſeine
Morgenſuppe.


Es blieb ihm wahrhaftig nichts Anderes übrig, als
wie in ruhigeren Zeiten ſo auch heute zuerſt „in das
Wetter“ zu ſehen.


Er that's, indem er ſich mit einem Seufzer von
ſeinem Stuhl erhob. Sein Stubengenoſſe hüpfte ihm
dicht auf den Ferſen nach, und hob ſich wie von dem
ſelben Gedanken getrieben und ſprang neben ihm in die
Fenſterbank, gleich Einem, der auch wohl in dieſer Hin¬
ſicht ein Urtheil abzugeben habe.


Es war nunmehr ein wenig heller geworden, wenn
gleich noch lange nicht Tag. Der Regen hatte aufge¬
hört, aber ein dichter Nebel füllte nicht bloß das Hoop¬
thal, ſondern bedeckte die Welt um Amelungsborn über¬
haupt, als habe das alte Kloſter ſeine weiland Mönchs¬
kappe nochmals ob dem Greuel der Welt bis über
die Ohren hinuntergezogen.


„Der wird ſich halten,“ meinte der Magiſter und
[139] meinte den Nebel. „Wer ſich von hier wegſchleichen will,
wer allhier um der Menſchheit Jammerſchule herum¬
gehen will, dem giebt der liebe Gott heute die Gelegen¬
heit — falls nicht ein Wind kommt, oder zu ſtarkes
Feuern aus grobem Geſchütz einfällt.“


Die letztere überlegende Bemerkung zeugte jedenfalls
abermals davon, daß der Mann in ſeiner Zeit Beſcheid
wußte, ſei es aus eigener Erfahrung oder aus Büchern,
Briefen und Zeitungen. Uebrigens aber war eigentlich
durchaus keine Zeit, bloß gelaſſen und Gott ergeben in
das Wetter zu gucken. Auch der Magiſter Buchius
hatte ſich die Frage zu ſtellen, ob er ſein heutiges
Schickſal in der Zelle des Bruders Philemon abwarten
und an ſich herankommen laſſen wolle, oder ob es beſſer
und würdiger ſei, demſelben entgegen zu gehen, das heißt,
dem unbotmäßigen lieben Knaben, dem Junker Thedel
von Münchhauſen nachzueilen und zu erkunden, in welche
Fährlichkeit den ſeine Luſt am bellum omnium contra
omnes
diesmal geführet habe.


„Sie hängen ihn —“


„Krah!“ ſagte der Rabe —


„Oder ſie erſchießen ihn“ —


Gerade in dieſem Augenblick krachten die Flinten¬
ſchüſſe, welche das Regiment Navarra dem Junker und
ſeiner ohnmächtigen Angebeteten nachfeuerte, drunten aus
den Corridoren des Herrn Kloſteramtmanns, und —
Magiſter Buchius erwartete nicht die Gallier auf ſeiner
Stube, auf ſeinem Stuhl. Er griff noch in ſein
[140] Bücherfach (mit einem letzten wehmüthigen Abſchieds¬
blick auf ſeine Curioſitäten und Raritäten) ſchob Anicii
Manlii Torquati Severini Boëtii
Buch, Consolatio philo¬
sophiae
, in die hintere Rocktaſche und ging ihnen (den
Galliern) und ihm (ſeinem heutigen Tagesſchickſal) ent¬
gegen, von dem einfachen claſſiſch-unclaſſiſchen Bedürf¬
niß getrieben, ſeinen böſeſten und beſten Plagegeiſt der
weiland großen Schule von Amelungsborn am Rock¬
ſchooß zu faſſen und zwar mit beiden magern, harten,
haarigen Schulmeiſterpfoten. Bloß, um nochmal den
vergeblichen Verſuch zu machen, ihn vom Abgrund
zurückzureißen.


Mit dem Seufzer: „Was wird es helfen?“ ſchloß er
die Thür ſeiner Zelle hinter ſich ab und ſchob den
Schlüſſel zu dem Boëtius. Draußen noch vollſtändig
Nacht; erſt in den untern Gängen vor den Claſſen¬
zimmern erſte Tagesdämmerung durch die höheren Cor¬
ridorfenſter, — dann Lichter, Fackeln, Feuerbrände und
— zwanzig Fäuſte zugleich in ſeiner Perücke, an
ſeinem Kragen, an Arm und Bruſt! Dazu Fußtritte
und Kolbenſtöße von allen Seiten!


„Le voila! le voila! Hier haben wir die Canaille!
Chien! cochon! Her mit dem Strick! Wo iſt der
Profoß? Au diable le prêvot!


„Venons, saignons,

Venons, pendons,

Venons à cinquante, cinq-cents!“
[141]

Sie hatten ihn in ihren Fäuſten, ſie hatten ihn
unter ihren Füßen, ſie hatten ihn auf der Treppe und
ſie hatten ihn im Hofe vor der Treppe, die zu der
Thür des Kloſteramthauſes führte. Sie nahmen ihn
durchaus nicht für eine bemalte Puppe aus Holz oder
Stein, dieſe Gallier neueren Geſchlechtes. Sie tupften
dieſen Marcus Papirius wahrlich nicht bloß mit der
Spitze des Zeigefingers an, um ſich zu vergewiſſern, ob
das Ding Leben in ſich habe oder nicht. Unter andern
Umſtänden würden die luſtigen Franzoſen ſelber zuerſt über
ſich und ihn gelacht haben: ſie hielten den ſchwarzen
Alten wirklich für den ſchwarzen, jungen Sünder, der
eben ihrem Sergeanten das Naſenbein eingeſchlagen
hatte und ihnen mit der Mamſell Fegebanck durchge¬
gangen war. Im erſten Morgengrauen des Novembers
und bei ſolchem Nebel war ihnen Alles, was in ge¬
lehrtem Schwarz ging, Hoſe wie Jacke. Und ſehr
Vielen unter ihnen kam's überhaupt nicht drauf an,
wen ſie hingen, wenn ſie nur Jemand hatten, den ſie
aufhängen konnten.


Zwei aber nahmen ſie natürlich noch lieber als
Einen, und ſo hatten ſie auch bereits den Herrn Kloſter¬
amtmann in den Klauen an der Vortreppe ſeines Amts¬
gebäudes unter dem Strick, den ſie vom nächſten Aſt
der weiland alten Kloſterlinde auf ſeinen Nacken her¬
unterließen, während ſie ſein ſchreiend Weib und ſeine
halbnackten Kinder auf der Treppe feſthielten oder vom
Fenſter zuſehen ließen.


[142]

„Was hat der Herr mir angerichtet?“ ſchrie der Amt¬
mann, nicht ohne einige Berechtigung, den Magiſter an.
„Weiß Er mir zu ſagen, was die Herren eigentlich von
mir verlangen außer dem letzten Stück Brod, der letzten
Kuh aus dem Stall und dem letzten Hemd vom Leibe?
Messieurs, messieurs, demandez lui! Sakerment, ſo
helfe der Herr Magiſter mir doch wenigſtens mit
Seinem Franzöſiſch! Iſt das jetzt Zeit zum Maulaffen¬
reißen? Meine Herren, meine Herren, noch einen Augen¬
blick — öng Momang, öng Momang; — Magiſter
Buchius, Magiſter Buchius, wem hat Er dieſe Nacht bei
ſich beherberget, der uns dieſes zugerichtet hat? Er hat
uns Dieſes aus Seinem Prodigium auf dem Odfelde
zugetragen! Monsieur le capitaine noch einen Momang
— Hand weg, barmherziger Herrgott! Wen hat Er
dieſen Morgen in meiner Nichte, der nichtsnutzigen
Gans Schlafkammer gehabt, Magiſter Buchius?“


Rom ſahe nimmer etwas Größeres von Mannes¬
trotz und Männerwürde als jetzo Amelungsborn ſah,
und zwar am Magiſter Noah Buchius. Pädagogiſche
Entrüſtung, herzliche Zuneigung und innige Bewunderung
rangen in ſeiner braven Seele um den wackern Thedel
Münchhauſen; aber nur einen kürzeſten Moment. Die
Zeit drängte wahrlich! — ſchlimmer als das welſche
Mord- und Raubgeſindel konnte ſie freilich nicht
drängen.


„Er hat immer in der Conferenz Alles auf ſich
genommen!“ murmelte der alte Schulmeiſter. „Er hat
[143] niemals einen Andern verpetzet! er hat immer ſein
eigen Fell zu Markte getragen!“ Und laut, ſo laut
wie ſelten in ſeinem ſtillen Daſein, rief er: „Ich weiß
es nicht, was paſſiret iſt; aber ich nehme die Reſpon¬
ſabilität von Allem auf mich.“


Que dit-il? was ſagt er?“ kreiſchte, brüllte es in
jeder Tonart rund umher.


„Er will'ſch geweſi ſi, der mit dem Menſch durch¬
gange iſch! Nehmet 'm d'r für! Der Ein iſcht ſo guet
wie der Andere!“ krächzte lachend ein elſaſſiſch Lager¬
weib. „Dem Lump, dem Penderau, dem Kiſtenfeger,
dem Môſieu Ribaudin, dem Cacqueteur, dem Vagabond
da auf dem Stroh, dem Monſieur le Capitaine Ribaudin
gönne ich ſchon ſein Theil; aber — hänget ſie Beide
— hänget ſie alle Drei:


Allons, venons,

Brulons, pendons,

Venons à cinquante cinq-cents!“

Sie fielen ſämmtlich im Chor ein — Alles was
von Navarra, Salis, Boccard, Reding und ſo weiter
dem Herrn von Rohan-Chabot gegen die Hube bei
Einbeck nachzog — und wenn der Kloſteramtmann und
der letzte wirkliche Magiſter von Amelungsborn jetzt
am Strick aufgezogen worden wären, ſo würde das un¬
bedingt unter Polyhymnia's Begleitung geſchehen ſein,
wenn auch nicht unter Begleitung der Muſe des durch
Johann Heinrich Meyer gedruckten, privilegirten Braun¬
ſchweigiſchen Geſangbuchs.


[144]

Aber es kam etwas dazwiſchen außer dem Sträuben
und Sperren der zwei Patienten und dem Schreien
und Wehklagen der Familie des Amtmanns. Nämlich
zuerſt ein Ziegel, oder vielmehr eine „Sollinger Dach¬
platte“ vom oberſten Dachfirſt des Amtsgebäudes und
darauf ein ganzer Regen von dergleichen um Be¬
ruhigung anſuchenden Wurfgeſchoſſen.


Wenn es nun aber regnet, verläuft ſich der Pöbel;
das iſt wohl eine uralte Erfahrung, die aber nur da
ſtichgültig iſt, wo eben der Herr in der Höhe ſeine
beruhigende Hand aufthut und Waſſer herunterkommen
läßt. Wirft aber ein dummer Junge aus der Boden¬
luke mit Dachſteinen in Nebel und halbe Nacht hinein
und kräht dazu wie ein Hahn und ſchreiet: „Vivat
Herzog Ferdinand! Vivat Fridericus! Vivat Made¬
moiſell Selinde Fegebanck! Vivat der Magiſter Buchius!
Pereat la France! Steigen Sie mir doch auf den
Buckel, Meſſieurs! Ici, ici — Thierry le Temeraire,
Thedel Unverfehrden von Münchhauſen!“ ſo — hat
das eine ganz andere Wirkung.


Die, welche die einzelnen Tropfen des Steinregens
auf die Köpfe bekommen hatten, hielten ſie fluchend
und heulend mit beiden Fäuſten, aber hatten nicht Raum
ſich betäubt zu Boden zu legen. Im wüthenden Gewühl
wurden ſie gegen das Amthaus mit gehoben, geſchoben,
geriſſen. Ebenſo der Kloſteramtmann und ſein letzter
pädagogiſcher Hausgenoſſe. Ein halb Dutzend Schüſſe
wurde auf's Gerathewohl zum Dach hinauf abgefeuert.
[145] Es hing itzo an Einem Haar, ob Ein Tiſch und Ein
Stuhl in Kloſter Amelungsborn heil, ob Eine Mauer
von Kloſter Amelungsborn aufrecht erhalten bleibe. Was
der letzte Schüler der weiland großen Schule daſelbſt
dazu thun konnte, daß jetzt Alles ruinirt wurde, das
hatte er redlich beſorgt. Da würde er wohl zum erſten¬
mal in ſeinem Leben in's Teſtimonium die erſte Nummer
vom Prior-Rektor, dem geſammten Lehrerconvent, —
den heiligen Bernhard von Clairvaux eingeſchloſſen —
ſich verdienet haben.


Aber unſer Herr Gott, Ihm ſei Dank, läßt nicht
Alles in der Hand und Willkür der Unbedachtſamkeit.
Er behält ſich immer die oberſte Hand vor und hat
nicht bloß den Platzregen als einziges beruhigendes
Spezificum darin, wann er ſie öffnet über irgend einem
Tumult, einer Wütherei der nach ſeinem Bilde Er¬
ſchaffenen.


Um dießmal Amelungsborn aus der Hand der
Kinder und der Thoren zu erretten, bediente er ſich
einfach der Kanonen der hohen Alliirten des Königs
Friedrich von Preußen, der Artillerie de Bückebourg
und der Artillerie de la Brigade Beckwith, welche
pünktlich zu vorgeſchriebener Stunde zwiſchen Holtenſen
und Wenzen ihr Feuer auf den General Chabot und
den Marquis von Poyanne eröffneten, um ſie dem
Obriſtlieutenant von Hardenberg in die Fänge zu treiben,
wenn auch der pünktlich war.


Es kracht dort tüchtig in den Bergen ſowohl Ge¬
Raabe, Das Odfeld. 10[146] witterdonner wie Kanonendonner. Für die Mord- und
Raubbande auf dem Kloſteramtshofe war das Gekrach
vom Ith wie ein neuer Stein; aber dießmal wie ein
Stein in einen Spatzenhaufen.


„L'ennemi, l'ennemi! Der Feind, der Feind! Les
Prussiens, les Prussiens! Les Anglais, les Anglais!
Le duc Ferdinand!“


Die wüſte Menſchenwelle, die ſich eben gegen das
Haus gewälzt hatte, und über den Magiſter Buchius
und den Herrn Amtmann, ohne ſich um ihre Knochen
zu kümmern, weggegangen war, ſchlug jetzt zurück. Im
paniſchen Schrecken ſtürzte alles Kriegsdiebsgeſindel, mit
ſich ſchleppend, was es in der Morgendämmerung und Haſt
gegriffen hatte, aus allen Thüren, und wälzte ſich,
wiederum über die beiden zu Boden liegenden Herren
weg, gegen das Hof- und Kloſterthor.


Binnen fünf Minuten war Amelungsborn rein von
ihm, bis auf den, vom Fauſtſchlag Thedels von Münch¬
hauſen immer noch beſinnungslos auf dem Stroh
liegenden Korporal oder Sergeanten Ribaudin. Alſo
ſo frei von Einquartirung als das an einem Tage wie
dieſer und an einer ſo nahe beim Schlachtfelde gelegenen
Wohnſtätte nur irgend der Fall ſein konnte!


Neuer Trommelſchlag in nicht zu weiter Ferne
kündete bereits den Vor- und Vorbei-Marſch anderer
Truppen des Königs Ludwigs des Fünfzehnten und
der Frau Marquiſe von Pompadour an; doch der
Kloſteramtmann benutzte die kurze Friſt ſeiner Allein¬
[147] herrſchung in Amelungsborn ſo gut als möglich, wenn
freilich auch ſo unzurechnungsfähig als möglich.


Sie hatten ſich natürlich wieder aufgerappelt vom
zerſtampften naſſen Boden, ſowohl der Amtmann wie
der Magiſter. Der Erſtere befand ſich in den Armen
von Weib und Kind, der Zweite griff ſich an den Hals,
weniger um die Binde als um den franzöſiſchen Strick,
der ſich ſo bedenklich darum zuſammengezogen hatte,
zu lockern. Er löſte die infame Schleife und hob ſie
über den Kopf, um ſie mit einem Dankgebet gegen den
Herrn der Heerſchaaren ſo weit als möglich von ſich
zu ſchleudern, als — er plötzlich ſeine Hand gepackt
und den heißen, zornigen, wüthenden Athem ſeines
widerwilligen Hospes dicht vor ſeinem Geſichte fühlte.
Der Nebel geſtattete jetzo kaum noch auf zwei Schritte
weit, einem Nebenmenſchen Zärtlichkeit oder Grimm aus
den Augen abzuleſen und dem einen wie dem andern
in der richtigen Weiſe mit dem Herzen oder der Gallen¬
blaſe, mit den geöffneten Armen oder mit der Fauſt
entgegen zu kommen.


„Herr,“ ſchrie der ſeiner Zeiten Noth völlig unter¬
liegende, völlig unterlegene Kloſteramtmann von Ame¬
lungsborn, aus den Armen von Weib und Kind ſich
losmachend, den letzten wirklichen Kollaborator der großen
Schule von Amelungsborn an. „Herr, Er iſt es, der
mir als ſchwarzer Unglücksrabe auf dem Dach unter
meinem Dache ſitzt. Er iſt's, den mir der Satan als
Spuk bei Tage und bei Nacht aufgeladen hat! Was
10 *[148] hat Herzogliche Kammer und Domänenverwaltung noch
mit Ihm in Amelungsborn zu ſchaffen? Was muß
ich mit Ihm mir meinen Tod an den Hals füttern?
Was muß ich mit Ihm mir mein tagtäglich Verderb¬
niß weiter füttern? Hinaus mit Ihm! Lüge Er es
doch ab auf griechiſch oder lateiniſch: hat Er mir nicht
etwa geſtern Abend dieſen ſaubern Morgen im Taſchen¬
tuch in den Hof getragen? Und mit dem giftigen
ſchwarzen Galgenvogel den dreidoppelten Galgenvogel,
den Musjeh, den Junker von Münchhauſen? Hinaus
mit Ihm, Magiſter Buchius! Mit dem für Ihn
ſtipulirten Mittagsbrod wird's heute wohl nichts werden
können: alſo grabe Er draußen wieder nach Knochen,
äſe Er meinetwegen auf ſeinem Teufelsfelde, freſſe Er
ſich voll auf dem Odfelde! Hinaus mit Ihm! wenn
Sein Tiſch wieder gedeckt iſt in Amelungsborn, werd'
ich's dem Herrn Magiſter und Herzoglicher Kammer
ſchon zu wiſſen thun.“

[[149]]

Dreizehntes Kapitel.

Trotz aller Bedrängniß vorhin hatte Magiſter Buchius
ſein hiſpaniſch Rohr nicht fahren laſſen. Er hielt es
auch jetzt im Nebel auf der Landſtraße vor dem ein¬
geſtoßenen Kloſterthor in der Hand, und wohl mancher
Andere an ſeiner Stelle würde wenigſtens den Verſuch
gemacht haben, es auf dem Buckel tanzen zu laſſen,
auf welchen es nach eben erfahrener ſchlechter, unge¬
rechter und ſinnloſer Behandlung hingehörte. Aber da¬
nach war er leider nicht der Mann; auch ſeine Schüler
hatten ſich nimmer vor ſeinem Bakel zu fürchten gehabt.
Von irgend welchem Unrecht, ſo ihm im Leben geſchah,
kam ihm die genaue Empfindung erſt nach genauerer
Ueberlegung. Ja, wochenlang, mondenlang hatte er ſich
in ſolchen Fällen über die Frage abzuquälen und abzu¬
ängſten: ob das Unrecht nicht auf ſeiner Seite liege
und er alſo den Lohn dafür in Geduld hinnehmen
müſſe?


Dieſes that dem Faktum, daß er ein tapferer Mann,
ein ſeiner gelehrten römiſchen und griechiſchen Ahnen
gar würdiger Mann war, nicht den mindeſten Abbruch.
[150] Er bleibt deshalb doch dießmal unſer Held — unſer
Heros, und wir kennen unter unſeren lebenden Bekannten
nicht Viele, mit denen wir lieber betäubt, verwirrt, un¬
fähig zu begreifen, uns zu faſſen im Kreiſe taumelten
und — wieder feſt auf die Füße gelangten. Wir greifen
mit ihm nach dem Hut, den ihm, wie im äußerſten
Bedürfniß, nichts von ihm in ſeinem Hof- und Haus¬
bezirk bei ſich zu behalten, der Kloſteramtmann von
Amelungsborn vermittelſt ſeines beſtiefelten Fußes in
der wirklichen Unzurechnungsfähigkeit aus der Thür auf
die Landſtraße nachſchickt; und wir drücken ihn uns mit
ihm auf die zerzauſte Perücke und — ſuchen uns mit
dem Magiſter zu faſſen.


Mitten im dickſten Weſer- und Weſer-Berg-Nebel
und im Schlachtenlärm des Herzogs Ferdinand und des
Herzogs von Broglio auf der ganzen Linie von der Hube
bis zum Hils und vom Hils bis zur Weſer!


Die dortige Feldmark von heute iſt wohl nicht mit
der vom Jahre 1761 zu vergleichen. Es war damals
noch mehr Baum und Buſch ſowohl vom Solling wie
vom Weſerwald übrig als wie jetzt. Auch die Wege
waren andere und liefen anders. Was man heute Chauſſee
nennt, war damals die Heerſtraße des ſiebenjährigen
Krieges, auf der Jedermann marſchirte, ritt, fuhr und
ſtecken blieb, wie die Gelegenheit es gab. So ein Weg
aus jener Zeit nahm oft die zehnfache Breite des jetzigen
Straßenkörpers ein. Weithin über die Felder gingen
die Gleiſen und Fußtapfen. Was frei Feld und was
[151] die öffentliche Heerſtraße ſei, das war manchem armen
Bauer, adeligen Grundbeſitzer und auch manch' einer
fürſtlichen Kammer nicht unterſcheidbar. Wie er ging,
ſtolperte, taumelte, war zuerſt auch dem betäubten alten
Schulmeiſter ununterſcheidbar. Er ging in ellentiefen
Wagenſpuren, er ſtolperte über abgelaufene Räder und
Pferdekadaver, er fühlte Stoppelacker und Brachland
unter ſeinen Füßen. Er gerieth in Sumpf und Moor
und in den Buſch und taſtete ſich durch die gelbgraue
Finſterniß weiter, ohne zu wiſſen, warum und wohin.
Und er befand ſich nicht allein im Nebel. Die Gegend
war ſo belebt wie's nur an einem ſolchen Gefechtstage
möglich. Spukhafte Geſtalten — vereinzelt und zu
Haufen überall! Wildes Geſchrei, Geheul, Jauchzen
bald in der Nähe, bald aus weiter Ferne. Und dazu
vom Ith her das immer heftiger werdende Kanonen¬
feuer Mylord Granby's und des Herrn Marquis von
Poyanne.


„Was würden Profeſſor Gottſched ſagen und hiezu
thun?“ ....


Es iſt eine hiſtoriſche Thatſache und durch die
deutſche Litteraturgeſchichte zu jenes Mannes ewigen
Ehren beglaubigt, daß Magiſter Buchius, der letzte
Kollaborator der wirklichen großen Schule von Kloſter
Amelungsborn auf die Anſichten und Meinungen des
Leipziger Kollegen ein Großes mit Recht hielt.


Aber es kam keine Antwort von Leipzig. Und
aus der Welt der Klaſſiker auch nicht. Kein Ver¬
[152] bannter, von dem die Alten reden, war je in ſolcher
Weiſe und unter ſolchen Umſtänden vor die Thür ge¬
ſetzet worden, wie er — der Magiſter Buchius!


Er war ſo ſehr im Kreiſe gedreht worden, und
der Nebel war ſo dick, daß er, der jetzt in's Elend
Getriebene, nicht einmal mehr wußte, wohin er ſich zu
wenden habe, um, wenn er wollte, auf Umwegen, ſeinen
Winkel unterm Dache, die Zelle des Bruders Philemon
wiederzugewinnen. Er hätte ſich nach dem Kanonen¬
donner richten können; aber der brach ſich eben ſo viel¬
fach an den Bergwänden wie innerhalb der Wände
ſeiner Hirnſchale. Der Lärm war hinter ihm, vor
ihm, über ihm und in ihm.


„Der Herr Profeſſor würden den Herrn Amtmann
wohl als einen todten Leichnam zu Ihren Füßen zu¬
rückgelaſſen haben,“ ſagte Magiſter Buchius, für's Erſte
auf's Gerathewohl fürbaß ſchwankend. „Und zu den
Füßen der Frau Amtmännin —“


In dieſem Augenblick ſchlug eine Glocke hinter ihm.
Seine Glocke! Die Thurmglocke des weiland Kloſters
und der großen Schule Amelungsborn, die er geſtern
noch aufgezogen hatte, und die allein richtig ging am
hieſigen Ort in dieſen Zeiten der Unrichtigkeit, des Un¬
rechts und der Ungerechtigkeit.


Sechs Uhr!


Sie Alle — zwiſchen der Weſer und der Hube —
hatten den Tag noch vor ſich; Die nämlich, ſo um dieſe
Stunde nach begonnener Bataille noch nicht ganz auf
[153] ihn verzichtet hatten, das heißt denen noch nicht das
Lebenslicht ausgeblaſen war.


Der Magiſter Buchius wußte durch den Glocken¬
ſchlag jetzt wenigſtens wieder, wo Amelungsborn lag
und nach welcher Himmelsgegend hin er auf irgend
einer Hintertreppe auch ſeine Zelle wahrſcheinlich wieder
erreichen konnte. Aber er wandte ſich nicht; er wen¬
dete ſich nicht nach dem Südweſten zurück. Er fühlte
ſich in dieſem Moment wahrlich nicht der Welt ge¬
wachſen wie der tapfere Profeſſor Gottſched dem böſen
Magiſter Leſſing.


Er war dem Weinen nahe — der gute alte Herr,
der den böſeſten ſeiner Quintaner nicht hatte weinen
ſehen können. Sich im ziehenden Qualm bei währender
Schlacht unter einen triefenden kahlen Dornbuſch zu
ſetzen, den greiſen Kopf auf die Kniee zu legen, die
Arme um die Kniee zu ſchlingen und auf alles Nach¬
eifern hoher Exempla von menſchlicher Fortitudo Ver¬
zicht zu thun: das war's, was ihm um dieſe Stunde
als das einzig ihm Uebriggebliebene erſchien.


Ach, hätte er nur eine Ahnung davon gehabt, daß
um dieſelbige Stunden auf den Höhen des Iths über
dem Kanonenfeuer des Bückeburgers und des Colonels
Beckwith der große Kriegesfürſt, der zweite große
blutige Feldherr des ſiebenjährigen Krieges, der gute
Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg ganz in
der nämlichen Stimmung war. Nämlich in der Er¬
wartung, daß wieder einmal Alles vergeblich ſei und
[154] das Feld vor ihm wieder mal umſonſt ſich mit Leich¬
namen bedecke! in der feſten Vorausſicht, daß mit den
Pontons bei Bodenwerder ein Malheur paſſiret ſei und
Generallieutenant Hardenberg nicht zur rechten Stunde
kommen werde, um den Sack um den General Rohan-
Chabot, den Marquis von Poyanne und ihre zwanzig¬
tauſend Mann bei Stadtoldendorf zuzuziehen, den Her¬
zog von Broglio auf der Hube bei Einbeck rettungslos
dem Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand zu über¬
liefern und dem:
Venons à cinquante cinq-cents!
für dießmal wenigſtens gründlich ein Ende zu machen.


Wie der Magiſter Buchius horchte der Herzog Fer¬
dinand nach dem Südweſten; aber nicht der Kirchuhr
von Amelungsborn wegen.


„Wo bleibt Hardenberg? Hardenberg? Man müßte
ihn längſt vernehmen, den Herrn Generallieutenant!“ ...


„Nun Herr, wes ſoll ich mich tröſten? Ich hoffe
auf Dich!“ ſeufzte der Magiſter mit dem Pſalmiſten.
„Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien,
und ſchweige nicht über meinen Thränen; denn ich bin
Beides, Dein Pilgrim und Dein Bürger, wie alle meine
Väter! Ich bin hinausgetrieben, und es nützet nichts,
daß ich heimkehre und mein Kämmerlein ſuche. Sie
werden es ſchon ausgekehret und den Greuel der Ver¬
wüſtung darinnen angerichtet haben. Ja, ja, wie es
geſchrieben ſteht im Neununddreißigſten: ſie ſammeln
und wiſſen nicht, wer es kriegen wird! Di immortales,
[155] ſie werden Alles jetzt ſchon als eitel Plunder geachtet
und ihren Muthwillen damit getrieben haben. Sie
werden auch den Knaben vom Dach geſtürzet haben und
über ſeinen Leichnam weggetreten ſein. Jawohl, ein
Pſalm Davids und vorzuſingen für Jeduthun: Mein
Herz iſt entbrannt in meinem Leibe, und wenn ich
daran gedenke, werde ich entzündet; ich rede mit meiner
Zunge!“...


„Lieber Weſtphalen, Hardenberg kommt nicht zu ver¬
abredeter Zeit! Die Herren von Poyanne, Chabot und
Stainville werden commode Zeit haben, über Vorwohle
ſich zu reployiren!“


„So werden wir doch mit Eurer Durchlaucht gnä¬
digſter Erlaubniß zum allerwenigſten der Herren Ver¬
einigung mit dem Herrn Marſchall bei Einbeck verhin¬
dern,“ tröſtete der getreue Begleiter.


„Ihr Weg müſſe finſter und ſchlüpfrig werden,“
citirte Magiſter Buchius von Neuem den Pſalmiſten,
vor einem neuen Geſchrei, Geheul und Kriegsgezeter
hinter ihm, im Nebel ſich in einem andern Buſch ver¬
wickelnd. „Der Engel des Herrn verfolge ſie; denn ſie
haben mir ohne Urſach geſtellet ihre Netze zu ver¬
derben —“


In demſelbigen Augenblick glitt er auf etwas Weich¬
lichem aus, das nicht regenfeuchter Stoppelacker, Gras¬
narbe oder Sumpf- und Moorgrund war. Er griff in
das Gebüſch, um ſich aufrecht zu erhalten und faßte
etwas, das in ſeiner Hand blieb. Er hielt einen todten
[156] Raben in der Fauſt, der, aus den Lüften niederſtürzend,
im Gezweig hängen geblieben war; und als er ſich
bückte, ſah er, daß er auf einen andern entſeelten
Kämpfer aus der Schlacht vom geſtrigen Abend ge¬
treten war.


Portentum! Portentum! So dicht der Nebel ſein
mochte, der an dieſem fünften November Siebenzehn¬
hunderteinundſechzig die Berge und Thäler an der Weſer
erfüllte, — der Magiſter Buchius wußte jetzt wieder
ganz genau, wo er ſtand — zerzauſt, geſchlagen, athem¬
los, ein heimathloſer, freundloſer alter Schulmeiſter.
Auf ſeinem Campus Odini, ſeinem Wodansfelde — auf
dem Odfelde ſtand er, während über den Quadhagen,
das böſe Gehäge her das Kleingewehrfeuer und der
Kanonendonner von Frankreich, Großbritannien und der
zu König Fritzen haltenden deutſchen Völkerſchaften in
die graue Finſterniß hinein knatterte und krachte.


„Sie werden ihm längſt die Fenſter eingeſchlagen
haben, ſonſt ſtieße er ſich den Kopf ein an den Scheiben!“
ächzte Magiſter Buchius mit dem Vogelleichnam in
der Hand, ſelbſtverſtändlich jetzt zuerſt an ſeinen in
ſeiner Zelle eingeſperrten Schützling und Gaſtfreund
aus dem geſtrigen Kampfe denkend.


„Portentum! Prodigium! Große Farren haben
mich umgeben, fette Ochſen haben mich umringet; ihren
Rachen ſperren ſie auf wider mich, ein brüllender
und reißender Löwe,“ ſagte der Magiſter. „Ich will's
abwarten, wie Alle rundum es abwarten müſſen, wie's
[157] kommen ſoll,“ ſagte er. „Wir können nur erleben
was Du willſt, Herr Zebaoth, Herr der Heerſchaaren!“


Da — jetzt — wenn er nur dem Weinen nahe
geweſen war, klang jetzt — hier ein wirkliches ernſtge¬
meintes Weinen, mit dem auch der Herzog Ferdinand
und ſein Generalſtab nur mittelbar zu thun hatten, an
ſein Ohr. Und dazu die wehklagenden Worte:


„Ach Heinrich, Heinrich, ſo ſage doch nur noch einmal ein
allereinzigſtes Wort zu mir! Kannſt Du Dich denn auf
gar nichts mehr zu meinem Troſte beſinnen? O Jeſus
Chriſtus, das iſt ja ſchlimmer, als wenn wir Beide
gleich im Kloſter in ihrer Gewalt zu Tode gekommen
wären!“......


Der Magiſter hatte nur fünf oder zehn Schritte in
den Nebel und Dampf hinein zu thun, um zu er¬
kunden, wer da ſo jammervoll wimmere und ſeiner
Angſt und Noth Luft mache. Aber er hatte das kaum
nöthig. Die Stimme war ihm bekannt genug; geſtern
Abend hatte er ſie noch auf ſeiner Stube gehört, vor
dem Kreideſtrich auf ſeinem Tiſche, der den Lauf der
Weſer zwiſchen den Heereshaufen der hohen Krieg¬
führenden bedeuten ſollte. Er that die paar Schritte
raſch, wobei er den Kämpfer von geſtern Abend, den
er bis jetzt noch immer in der Hand gehalten hatte,
zu den übrigen weithin den Boden bedeckenden glor¬
reich gefallenen Kameraden warf. Und er faltete die
Hände über dem Stockknopf vor der kläglichen Gruppe
und rief:

[158]

„O Wieſchen, biſt Du es denn auch? Ihr Beide
ſeid's? Jawohl, jawohl, ich weiß ſchon! ich ſehe, ich
ſehe ſchon! O Wieſchen, hat er denn ſein Leben für
Dich dran geſetzt?“


Das arme Mädchen, ein gut oder vielmehr ſchlimmer
Theil zerzauſter als Mamſell Selinde von den Griffen
von Navarra, Salis, Boccard und Reding, lag da im
feuchten Moor auf den Knieen, den blutigen Kopf des
Knechtes Heinrich Schelze im Schooße. Beim mitleids¬
vollen Anruf des alten Herrn ſtieß ſie einen Freuden¬
ſchrei aus:


„Heinrich! Heinrich! der Herr Magiſter! Um Gott
und Jeſu Willen, Heinrich, der Herr Magiſter, den uns
der liebe Gott zu Hülfe ſchickt! So beſinne Dich doch
noch ein einzigſtes Mal auf Dich und mich, Heinrich!
Hier iſt ja auch der Herr Magiſter Buchius, tm Katt¬
hagen vom liebſten Herrgott in der Höhe zu uns ge¬
ſendet. Herr Magiſter, ja, er hat mich aus der
ſchlechten Menſchen Händen geriſſen, und ſie haben auf
uns eingeſchlagen und geſchoſſen, und er hat mich auf
den Armen getragen, und ich habe ihn getragen als er
umgefallen iſt auf dem Felde im Nebel, und nun
kömmt er mir um in den Armen und kann ſich auf
nichts mehr beſinnen!“


Der verwundete Knecht ſtöhnte ſchwer in den Armen
ſeines Schatzes; aber unter dem Zuruf des Mädchens
und bei der Namensnennung beſann er ſich doch noch
einmal. Er verſuchte es, ſich aufzurichten, ie blutigend
[159] Haare aus der Stirn ſtreichend. Er verſuchte es ſogar
zu grinſen:


„Sieht Er, da ſind wir doch auf dem Wege zum
Herzog Ferdinand, Herr Magiſter! Mit allen Ehren
noch an uns. Aber von blutigen Platten und zer¬
ſchlagenen Knochen ſchwanete mir gleich ſo was, als Er
uns ſein ſchwarzes Unthier auf den Hof trug.“


Er lachte und ſtöhnte wieder und verlor von Neuem
die Beſinnung. Magiſter Buchius hatte das, was dieſem
armen Volk unter dem fremden Volk in einem andern Theil
des Kloſters Amelungsborn paſſirt war, während man
ihm ſelber den Strick um den Hals legte, ſo deutlich
vor ſich, als — ob er's beim Iburgiſchen Schloßprediger
Kampf gedruckt geleſen habe.


„Ich habe ihn auf dem Buckel bis hierher geſchleppt
auf's Odfeld und habe ſelber dabei faſt nichts von mir
gewußt,“ ſchluchzte das Mädchen. „Der liebe Gott hat
uns in ſeinen Rauch wie in einen Mantel genommen.
Nun wacht er, und dann weiß er wieder nichts von
ſich und wir müſſen nun hier doch eingehen, alle Beide,
er in ſeinem Blute und ich in meiner höchſten Noth!“


„Das verhüte der Himmel!“ rief der Magiſter
ſeinerſeits unter den todten Streitern der Rabenſchlacht
auf dem Odfelde niederknieend und den Dickſchädel
Heinrich Schelze's zwiſchen ſeine hagern, harten und
doch milden Schulmeiſtertatzen nehmend.


„Eine Miſtgabel gegen ein Dutzend Flintenkolben,
juchhe!“ murmelte der Knecht. „Ein paar von den
[160] franſchen Hunden ſollen doch ihre Kaldaunen jetzt zu
Kloſter Amelungsborn zuſammenſuchen. Frage Er nur
Wieſchen, Herr Magiſter! Es wäre ja wohl Alles gut
gegangen, und wir wären ſchon beim guten Herzog
Ferdinand, wenn's mir nicht auf einmal ſo ſchwarz vom
Nebel vor den Augen geworden wäre. Nicht wahr,
Wieſchen?“


„Ach Gott, das iſt ja nun der Krieg, Heinrich, in
welchen Du immer hinein wollteſt aus dem Pferdeſtall
und mich zur Staatsmadam machen. Nun haben wir's,
nun haſt Du es; und unſere einzige Hülfe und Rettung
bleibt wieder nur der Herr Magiſter!“


„Loiſia, rede Sie nicht ſo,“ ſprach Magiſter Buchius.


„O Gott, Gott, nein, ich bin ja nur noch mehr
ohne Beſinnung als mein Heinrich, Herr Magiſter. Ich
weiß es ja wohl, daß er nur um meinetwillen ſo hier
liegt! O Heinrich, Heinrich, wenn Du bloß davon
kämeſt und es mich nicht entgelten laſſen wollteſt, was
ich in meiner Dummheit rede, ſo wollte ich ja immer
noch meinem Herrgott für ſeinen Schutz und Schirm
danken!“


„Wenn wir ein Unterkommen für ihn hätten, ſo
ſollte dieſes wenig bedeuten,“ ſprach Magiſter Buchius
von ſeiner genauern Betaſtung des niederſächſiſchen Dick¬
ſchädels vor ihm ſich wieder emporrichtend und im Weſer¬
nebel nach allen Seiten ſich umſehend.

[[161]]

Vierzehntes Kapitel.

Wir haben eben hievon erzählt wie von einem Ge¬
ſpräch zwiſchen Zweien und Dreien; aber dem war nicht
ſo für Die, welche damals ihren Jammer gegen einander
austauſchten durch Wort, Thränen und Seufzer. Der
ganze große Krieg redete mit hinein und zwar von
Augenblick zu Augenblick grimmiger. Daß man nicht
auf ſechs Schritte weit ſich auf ſeine leiblichen Augen
verlaſſen konnte, das machte die Sache nicht be¬
ruhigender.


Es kam eine verirrte Geſchützkugel und ſchlug einen
Aſt über dem Wieſchen, dem Herrn Magiſter Buchius
und dem Knecht Heinrich von einem Eichbaum. Die
Feldherren mußten es wohl wiſſen, wie ſie ihre Truppen
durch das Grau vorwärts ſchickten. Die hohen Alliirten
und Frankreich waren auch im dickſten Nebel dicht
aneinander. Wer zwiſchen ihnen ungefährdet durchkam,
hatte wohl von noch größerm Glück zu ſagen, als wer
bloß aus der Rappuſe in Kloſter Amelungsborn ſich
in's freie Feld rettete. Die Kugeln, die ſich verirren,
Raabe, Das Odfeld. 11[162] können die klügſten Könige und Feldmarſchälle nicht
mitzählen in ihren ſtrategiſchen Berechnungen.


Das zerſchmetterte Gezweig praſſelte nieder auf
die rathloſe Gruppe, die Jungfer ſchrie und duckte ſich,
dem Knecht Heinrich war's einerlei, und der Magiſter
ſah nur einen kürzeſten Moment aufwärts zum Zeus,
dem Wolkenverſammler. Er ſah ſofort wieder um, der
Magiſter Buchius. Sie waren noch nicht Alle bei ein¬
ander, die ſich an dieſem fünften November vom Kloſter
Amelungsborn aus auf dem Odfelde zuſammenfinden
ſollten; doch die Letzten kamen eben, und zwar ſpuk¬
hafter wie ſonſt was an dieſem Morgen für den Ma¬
giſter. Nämlich auf weißem Roß, wie aus der Apo¬
kalypſe heraus im Qualm des Erduntergangs: „Jeſes,
den Herrn Amtmann ſein Schimmel!“ rief Wieſchen.
„Der Junker von Münchhauſen — und — Mamſell
Fegebanck,“ ſtammelte Magiſter Buchius, als der wilde
Thedel wirklich des Kloſteramtmanns letztes in den
Knochen zuſammenhängendes Reitpferd dicht vor den
Drei unter der Eiche des Odfeldes parirte und noch
mit ſeiner Begleiterin von den abgeſchlagnen Aeſten
und Zweigen überſchüttet wurde.


Hoch vom keuchenden Gaul, vor ſich auf dem Sattel
die ſchöne aber ſchwere Laſt feſter mit dem linken
Arm umfaſſend, deutete der tolle Junge nach der Rich¬
tung des donnernden Iths:


„Hört, oder täuſchen mich beliebte Raſereien?

„Nein, nein, ich hör ihn ſchon.
[163]
„Der Heere ziehend Lärm ſind ſeine Melodeien,

„Und Friedrich jeder Ton!“

Der Jungfer Selinde durfte es in Wahrheit ſo
vorkommen, als ſei ihr Morgentraum noch nicht zu
Ende; deſſenungeachtet glitt ſie, ſobald das abgehetzte
Thier unter ihr es geſtattete, aus den Armen ihres
Cavaliers und „Erretters“ auf feſten Boden nieder:


„Sind es der Herr Magiſter, ſo erretten Sie mich!“
kreiſchte ſie, ihrerſeits jetzt den alten Schulmeiſter um¬
klammernd. „Er iſt ein Narr, er iſt verrückt, er iſt
toll! Er hat mich aufgehoben und hin und her geriſſen,
durch den Feind, Trepp ab und Trepp auf bis auf's
Dach und durch den Keller. Er hat mich verrückt und
toll gemacht; nicht einen Augenblick zur Beſinnung hat
er mir gelaſſen. Er hat mich ohnmächtig auf den alten
Hans gehoben, und hier ſind wir, und die Welt geht
unter! O Gott und Jeſu, es wird ja immer ſchlimmer
mit dem Spektakel! und nun ſind wir erſt recht mitten
unter ihnen, da wir uns aus ihnen herausretten wollten!
Münchhauſen, den Dienſt vergeſſe ich Ihm mein Leb¬
tage nicht!“


„Bis in den Tod vergeſſe auch ich dieſe Fortune
nicht, Allerſchönſte,“ jauchzte der Schüler, ſich gleichfalls
aus dem Sattel ſchwingend. „Nun mag ja das Uni¬
verſum zuſammenbrechen, Mademoiſelle Selinde; ich bin
im himmliſchen Gewölk geſchwommen und kann jeden
Augenblick ſelig ſterben, Allerſüßeſte.“


„Der unverſchämteſte Peter iſt er auch jetzt geweſen!
11*[164] Es giebt gar keinen andern Solchen! O ſolch' ein Gelb¬
ſchnabel —“


„Und letzter wirklicher Primaner der großen Wald-
und Wild-Schule Amelungsborn,“ lachte der tolle Thedel,
ſeinem alten letzten wirklichen Lehrer die Hand ſchüt¬
telnd. „Dießmal müſſen mich der Herr Magiſter doch
auch darin loben, daß man Haus-, Hof- und Stall¬
gelegenheit zu Kloſter Amelungsborn gekannt hat. Ja,
wer eben nicht Beſcheid gewußt hätte mit Thüren und
Treppen, mit Schlöſſern und Riegeln, mit jedwedem
Katerſtieg des heiligen Herrn Bernhard's von Clair¬
vaux. Nicht wahr, meine Königin, es ging um Alles,
was wir bei uns trugen?“


„Er iſt verrückt! er iſt toll! und er hat mich auch
toll und verrückt gemacht, Magiſter Buchius. Und wo
ſind wir jetzo in Sicherheit mit Leib und Leben? Man
ſieht keine Hand vor Augen, und die Bataille iſt über
uns und um uns toller als zu Hauſe im Kloſter. O
Jeſus, das Gepolter!“


„Auf dem Campus Odini, auf dem Odfelde ſind
wir, Mademoiſelle, und freilich, wie es ſcheinet, mitten
in der Schlacht des Herrn Herzogs Ferdinand und des
Herrn Herzogs von Broglio; und da iſt das Wieſchen
aus Amelungsborn, das ſeinen Schatz auf dem Rücken
bis hierher in die jetzige Sicherheit getragen hat.“


Mademoiſelle Selinde war noch viel zu ſehr in
ihre eigene Noth verſunken, als daß ſie auf die Anderer
hätte merken können; aber Thedel von Münchhauſen
[165] kniete bereits bei dem Wieſchen und dem Knecht
Heinrich:


„Kerl, was für Unſinn hat denn Er angeſtiftet?“


„Es iſt wohl nicht die erſte Schmarre, die wir uns
in Compagnie holen, Herr von Münchhauſen,“ ächzte
der Knecht, ſich auf dem Ellbogen emporrichtend. „Aber
ſo wie heute doch noch niemalen früher.“


„Hat Er Seinen Reſt weg, Heinrich?“ fragte der
Junker mit wirklicher Theilnahme und Beſorgniß. „Er
will mir doch nicht heute, im beſten Pläſir, eine Dumm¬
heit machen?“


„Schaffen der Junker mich auf's Heu hinterm Pferde¬
ſtall wie ſonſten und ich lecke mir die Bleſſur ſchon
zurechte; aber — heute — dießmal —“


„Na, Seinen Hirnſchädel kenne ich doch wohl auch ein
bißchen,“ meinte der gute Kamerad aus früherer Schul- und
Wilddiebs-Zeit. „Er verträgt ſchon einen Puff, Heinrich.“


„Sich von ſeinem Mädchen auf dem Buckel durch
den Tumult und durch's Dickicht ſchleppen laſſen müſſen!“
ächzte der Knecht halb kläglich, halb wüthend. „O ver¬
flucht, junger Herr; Sie haben es wieder beſſer gemacht.
O verflucht! verflucht! das lächert mich doch — das mit
des Alten weißem Hans. Der wird auch hinter Ihm
her wieder Augen gemacht haben, Junker, wann er Ihn
mit ihm und der Jungfer hat abfahren ſehen! O ver¬
flucht, verflucht, verflucht.“


„Siehſt Du wohl, Heinrich, biſt ja noch ganz hübſch
bei Beſinnung; nun nimm Dich aber noch ein bißchen
[166] mehr zuſammen. Der Herr Magiſter tritt von einem
Fuß auf den andern, und die Damen können wir auch
hier nicht im offenen Feld präſentiren zwiſchen Freund
und Feind, wenn der Nebel fällt.“


„Und er liegt auch bloß hier auf dem Odfelde
wie durch Gottes gütige Vorſicht für uns!“ rief Magiſter
Buchius. „An den Ithbergen iſt's klar! dort guckt
ſchon die Homburg herüber, da der Kohlenberg! da iſt
der Vogler! mons Fugleri! Wir tappen noch im Dunkel;
aber der Herzog Ferdinand muß doch ſchon längſt wiſſen,
wohin er ſein ſchwer Geſchütz und klein Gewehr zu
dirigiren hat. Der feuert nicht in's Blinde.“


„Aber er zieht mit ſeinem Canon auch uns die
Nebelkappe ab,“ ſagte Thedel. „Wir müſſen fort und
in den Wald wo er am dickſten iſt. Probire Er's,
Heinrich: ob Er's per pedibus präſtiret.“


„Ziehe Er mich auf, Junker. Die Hand beſſer in
den Rücken, Wieſchen. Kotz, Kreutz, Donner und Blitz!
Uh, uh jah! . . . Nein es präſtirt ſich noch nicht, junger
Herr. Wieſchen lege den unnützen Sack wieder hin!
Es muß auch mir wohl geſtern Abend mein Eingehen
hier auf dem Odfeld von dem Rabenvieh prophezeiet ſein.“


Es ſchien ihm von Neuem ſchwarz vor den Augen
zu werden. Einige Augenblicke ſtanden die drei Andern
ganz rathlos, der Magiſter noch immer angſthaft von
Mamſell Selinde umklammert.


Doch der Verwundete ſtrich ſich von Neuem die
blutverklebten Haare zurück.


[167]

„Ich hab Ihm auch ſchon manchen Gefallen gethan,
Herr von Münchhauſen, nun thu' Er mir auch einen.
Laſſe Er mir mein Mädchen nicht hier zurück. Herr
Magiſter, erbarme Er ſich meiner, laſſe Er mir mein
Mädchen, mein Wieſchen nicht auch hier unter den
Rabenäſern verkommen —“


„Wir bleiben Alle beieinander, Schelze.“


„Nein, nein, ihr Herren! um Gott und Jeſus nicht!
Es liegen da drüben hinterm Pfuhl wohl noch Einige
unverſcharrt vom Sommer her; — ſo laſſet mich jetzt
auch hier und grabt mich nachher unter, wenn Ihr mit
meinem Wieſchen glücklich aus dem Elend herauskommt.
Es geht nichts verloren an mir; das weiß das ganze
Kloſter. O Herren, heben Sie beide Jungfern auf des
Herrn Amtmanns Schimmel und kriechen Sie unter
im Wald, im tiefſten Dickicht, und laſſen Sie mich
hier; ich bin keinem Menſchen mehr nütze und ſelbſt
meinen herzlieben Schatz nicht.“


„O Heinrich, Heinrich, kein Menſch und kein König
ſoll mich mit Güte oder eiſernen Zangen von Dir los¬
brechen!“


Jetzt machte ſich der Magiſter Buchius doch aus
der Umarmung von des Amtmanns Vetterstochter los.
Er trat her in einer Gloria, von der er ſelber am
wenigſten wußte.


Was er in den Gaſſen von Helmſtedt niemals ge¬
rufen hatte, das rief er jetzo.


„Burſche heraus!“

[168]

Es kam über ihn wie ein Taumel, eine begeiſterte
Trunkenheit. Was er in ſeiner Jugend verſäumt hatte,
das holte er nunmehr in der Betäubung dieſes wilden,
greuligen Tages ganz und gar nach. So hatte er nie
und nimmer ſich in der Welt Trubel lebendig gefühlt,
wie in dieſer ſchlimmen, rathloſen Stunde auf Wodans
Felde, dem Odfelde.


„Amelungsborn heraus! die ganze Schule! Hier
Amelungsborn! Wir bleiben Alle beiſammen im Leben
und im Sterben —


post jucundam juventutem,

post molestam senectutem,

nos habebit humus, —

hinauf auf des Herrn Amtsmanns Schimmel, Wieſchen.
Wir heben Dir Deinen Heinrich nach. Halt ihn nur
ſo feſt, wie der junge Menſch hier Mademoiſelle in
ſeiner Thorheit gehalten hat, und wir hauen uns heraus.
Faß zu, Thedel. Dei providentia mundus administratur,
ſagt Marcus Tullius: wer weiß wozu Er geſtern Nacht
nach Amelungsborn geſendet iſt, lieber Münchhauſen.
Hat Er den Invaliden feſt? Hoch mit ihm und —
ſursum corda, hat der Herr uns bis hieher in ſeinem
Nebel geführt, ſo wird er uns auch im Lichte ſeines
Morgens nicht verlaſſen. Siehſt Du, es ging, Wieſchen.
Nun halte Du Deinen Schatz feſt im Arm vor Dir.
Der Herr Amtmann werden uns auch dieſen Noth¬
gebrauch ſeines wackern Gauls verzeihen. Nehme Er
den Hans am Zügel, und Mademoiſelle, Sie nehmen
[169] gütigſt meinen Arm. Das nennet man in Wahrheit
vasa colligere, lieber von Münchhauſen, und itzo dieſes
im bittern Ernſt ein agmen compositum. Nun denn,
signa canunt! Wir können leider keine Speculatores
voraufſchicken. Gradaus! vorwärts! Vivat der Herr
Herzog Ferdinand! Grad ſeinem Canon zu; hin unter
des Löwen ſchützende, großmüthige Tatzen. Ihr Berge
fallet über uns und decket uns, daß die Heere über
uns wegtreten, und wir ihren Fußtritt über uns hören,
ſo wir uns bergen im Schooße der Erden!“


„Wer ſein Teſtamente noch in procinctu machen
will, der thue es,“ lachte der tolle Thedel, und Ma¬
giſter Buchius meinte verwundert:


„Siehe, ſiehe, Er hat doch dann und wann in denen
Lectionen beſſer Acht gegeben, als man hat glauben
dürfen.“


Sie machten nämlich dann und wann vor dem An¬
griff ihr Teſtament, die alten Römer: in procinctu,
auf dem Sprunge. Mit einem Seufzer dachte der Ma¬
giſter an ſein wunderlich Hab und Gut in der Zelle
des Mönchs Philemon und mit einem Schulterzuſammen¬
ziehen an Die, ſo ſich in gegenwärtiger Stunde wohl
ſchon ſelber zu Erben ſeines Reichthums eingeſetzt haben
mochten.

[[170]]

Fünfzehntes Kapitel.

Vom achten September 1761 war die Verordnung
des Marſchalls Duc de Broglio datirt, durch welche
„allen Behörden, Beamten, Unterthanen der von den
Truppen Sr. Allerchriſtlichſten Majeſtät in Beſitz ge¬
nommenen Hannöverſchen und Braunſchweigiſchen Lande
befohlen wurde, in ihren bisherigen Aufenthaltsorten zu
verbleiben und ſich vor allen Dingen nicht mit ihren
Pferden und Vieh in die Wälder und auf die Berge
und auch nicht — unter die Erde zu flüchten“. Der
Strick ſtand drauf, wie ſchon geſagt worden iſt, und
das Edikt war am fünften November des genannten
Jahres mehr denn je in Kraft zwiſchen der Weſer und
der Hube bei Einbeck. Magiſter Buchius, der letzte
Kollaborator von Kloſter Amelungsborn, hatte aber
deſſenohngeachtet die feſte Abſicht, ihm zu trotzen, alle
Conſequentien auf ſich zu nehmen und ſich ſo tief als
möglich bei den Unterirdiſchen zu verkriechen.


Er hatte mit ſeinen Begleitern wohl eben ſo guten,
triftigen Grund dazu, wie jeder arme Bauer mit Weib
und Kind und der letzten magern Kuh.


[171]

Wenn er aber den Nebel über dem Odfelde noch
ausnutzen wollte, ſo war's die höchſte Zeit. Es kam
ſchon eine Bewegung in ihn hinein; ein Heben und
Sinken, ein Zerren und Zupfen. Es kam ein hartes,
naſſes, kaltes Wehen aus Oſten, das den Dampf von
dem Schlachtfelde und dem Wodansfelde gegen den
Vogler trieb, und bald die Welt und ihre Kreatur, ihr
wimmelnd Gewühl, ihre Blutlachen, zerfahrenen Wege,
zerſtampften Felder noch einmal im trüben Herbſtmorgen¬
licht bloßlegen und — den Magiſter Buchius, des Herrn
Kloſteramtmanns Schimmel mit dem Knecht Heinrich
und der Hausmagd Wieſchen drauf, und Mamſell Se¬
linde jeglichem mörderiſchen Zugreifen Allerchriſtlichen
Majeſtät oder auch der hohen Alliirten auf offener
Haide preisgeben mußte.


„Könnten wir den Rothen Stein erreichen, ſo wären
wir wohl geborgen, Thedel,“ meinte der Magiſter.


„Wenn wir noch Platz und nicht ganz Holzen —
das ganze Dorf mit Kind und Kegel drin unterge¬
krochen fänden,“ lachte der Schüler. „Denen geht's
jetzt am hitzigſten über die Kappen, und ſie kennen die
Ortsgelegenheit und ſind ihr am nächſten. Hört, wie
es gerade ihnen über den Köpfen gewittert! Wir trei¬
ben dort diesmal keine Schatzgräberei im Bauche der
Erden, Herr Magiſter.“


Magiſter Buchius ſchüttelte das Haupt und wies
die ſeltſame Erinnerung an frühere ruhigere Zeit faſt
unmuthig von ſich. Dieſes erinnerte ihn wieder nur
[172] zu ſehr an ſein Muſeum in der Zelle des Bruders
Philemon. Er hatte freilich auch aus der Höhle am
Rothen Stein, wenn auch keine Schätze, ſo doch allerlei
ſich geholt: bronzene Lanzenſpitzen, Steinhammer, Knochen
von unbekannten Thieren, ja auch Menſchenknochen —
Knochen von armen Sündern, ſo auch testes diluvii,
Zeugen der Sündfluth geweſen ſein mochten. Und
Mamſell Fegebanck hing ihm faſt zu ſchwer am Arm,
zumal da es nun ſchon bergauf und in den Wald
hinein ging.


„Wir ſind unterm Vogler am Kappenberg; ich weiß
einen überwachſenen Erdfall an ihm,“ ächzte der ver¬
wundete Knecht von des Herrn Kloſteramtmanns
Schimmel herunter. „Wann ich auf den Beinen wäre
und noch das Leben hätte, wollte ich in einer Viertel¬
ſtunde da ſein, zehn Klafter tief unter dem Walde.“


„Aber wir laufen da gradaus den Bergſchotten
in die Meſſer,“ rief Thedel von Münchhauſen. „Horch,
horch. Hört das Gequike! Das ſind ihre Dudelſäcke,
ſo wahr ich jetzo noch das Leben habe.“


„Käme der Durchlauchtigſte Herr und Herzog Fer¬
dinand dieſen Morgen auf meine Stube zu Amelungs¬
born, ſo fände er dorten ſeinen ganzen Feldzugsplan
ſauber auf den Tiſch gemalet. Er hat die Weſer mit
ſeiner Kreide hingezogen, Schelze; ich habe mir das
Uebrige danach zuſammengerechnet. Der große Krieges¬
held ſchiebt ſeine Heerſchaaren wie einen Riegel zwiſchen
die Herzogthümer Göttingen und Grubenhagen und das
[173] Fürſtenthum Hildesheim und die Stadt Braunſchweig.
Er kann dem Broglio nicht ſeinen böſen Willen laſſen.“


„Nun fängt auch der Regen wieder an,“ jammerte
Mademoiſell. „Nichts auf dem Leibe und nichts im
Leibe,“ ſtöhnte ſie ganz unſentimentaliſch. „Und im
Dreck bis über's Knie —“


„Zieh, Schimmel, zieh!“ ſeufzte der junge Cavalier,
den Zügel des Gauls feſter faſſend und ſich nach der
klagenden Inamorata angſtvoll zurückwendend. „Ja,
der Reim paßt auch ſo ziemlich:


Morgen woll'n wir Hafer dreſchen,

Den ſoll unſer Schimmel freſſen. —

O Allerſchönſte, das Herz frißt's mir ab, Sie ſo zu
ſehen. Mein Blut gäb' ich für ein Schälchen Caffee,
ſo ich es präſentiren dürfte.“


„Ach rede Er mir nicht ſo, Er dummer Junge. In
meiner Kammer hätt' Er mich laſſen ſollen. Was hab
ich nun von Seinem Heldenmuth und meinem Klettern
über Leitern und Dach? Währet dieſes noch lange ſo,
ſo kehre ich noch allein um, und gehe auf meine eigene
Hand durch Freund und Feind nach Hauſe, nach Ame¬
lungsborn. Sie wären wohl nicht ſchlimmer mit einer
Dame umgegangen, die zu parliren weiß, als wie es
mir jetzt unter Seinen Händen oder groben Fäuſten
paſſiret iſt, Er unvernünftiger Hanswurſt.“


„Ach Mamſell, ſo möchte ich doch nicht zu meinem
armen Heinrich hier vor mir reden,“ rief Wieſchen von
ihrem Sitz im Sattel herunter.


[174]

„Was ſchnattert Sie, Sie dumme Gans?“ grollte
Selinde am Arm des Magiſters. „Es iſt doch
wohl ſchon übergenug, daß ich hier hinter Ihr durch
den Koth laufe, wo Sie wie im Triumph von Ihrem
Bauernflegel einhergeführt wird. Ja, merci, Musjeh
von Münchhauſen. Ich danke Ihnen auf das Höf¬
lichſte, daß Sie meinethalben den Herrn Kloſteramtmann
um ſeinen letzten Gaul gebracht haben.“


Magiſter Buchius, trotz des kalten, naſſen, magen¬
leeren, froſtigen, bellonaumdonnerten Novembermorgens,
fühlte augenblicklich Mamſell Fegebanck an ſeinem Arm
als das Schwerſte, was er zu tragen oder beſſer zu
ſchleppen hatte. Und als eingefleiſchter, geborener
Ireniker verſuchte er auch itzo abzulenken.


„Seinen Reim, Herr von Münchhauſen, haben ſie
ſchon zu anderer, früherer Zeit geſungen. In meiner
Stube ſteht auf einer Fenſterſcheibe eingegraben:


Fleuch, Tylli, fleuch.

Aus Unterſachſen nach Halle zu,

Zum neuen Krieg kauf neue Schuh!

Fleuch, Tylli, fleuch.“

Der Knecht Heinrich Schelze hatte ſich nunmehr
im Arm ſeines Mädchens zuſammengerappelt und er¬
muntert, daß er auch ſein Wort in die Unterhaltung
geben konnte. Mit matter Stimme ſprach er aus dem
Sattel herab:


„Meine Großmutter am Rade hinterm Ofen hatte
auch ſo'n Reim:


[175]
Zeuch, Fahler, zeuch!

Balde woll'n wir Tille dreſchen,

Woll'n ſie geben in Kraut zu freſſen,

Zeuch, Fahler, zeuch!“

„Und da ſind wir am Berg! Und da kuckt der Till
heraus aus dem Gewölk. Da ſoll der Herr Feldmar¬
ſchall Tilly ja wohl auch vordem eine große Bataille
gewonnen und dem Berg ſeinen Namen gegeben haben!“
rief Thedel von Münchhauſen.


„Es hat mein Vorfahrer in meiner Stube zu
Amelungsborn, der Bruder Philemon, den Vers wohl
nicht in die Fenſterſcheibe gegraben. Der letzte Mönch
und Bruder Ciſtercienſer, der iſt wohl nach jener
Schlacht vielleicht auch gewandert auf der Flucht, grade
auf dieſem Pfade der Wildniß. Der hat wohl auch
das Seinige hinter ſich laſſen müſſen, dachlos, herdlos
hauslos, wie der alte Buchius. Eine heulende Wüſtenei
iſt auch heute wieder das arme Deutſchland, und wir
Kinder des Landes gehen rathlos in der Irre zwiſchen
den blutigen Fremdlingen —“


„Ja, hört! horcht! Hört ihr den Dudelſack? Da
quinkeliren ſie her! Das ſind der Bergſchotten Dudel¬
ſäcke. O Herr Magiſter — Mademoiſell, jetzt wird's
erſt ganz luſtig. Hinter uns König Louis, vor uns
König George, und wir mitten drunter, Seelen-Selind¬
chen, mitten zwiſchen den Kerlen mit den nackten Beinen,
Seehundsbeuteln, Umſchlagetüchern und Federmützen;
ihre Meſſer, Piſtolen und Flinten ganz ungerechnet.
[176] Vivat der Herzog Ferdinand von Braunſchweig, Lüne¬
burg und Bevern! wie ich aber da den Herr Vetter und
ſeine hannöverſchen Jäger herausfinden werde, das
möchte ich wiſſen! Huſſah — nec timor, nec pavor:
nur keine Angſt und Bange! und da iſt es Tag —
und da haben wir die ganze Beſcheerung vor uns —
unter uns. Den ganzen Kuchen auf der Platte!“


Dem war ſo. Wie ein Teppich wurde der Nebel
von unſichtbaren Händen aufgerollt. Es regnete nicht
ſtark, aber es kam doch ziemlich feucht herunter. Und
die Flüchtlinge von Amelungsborn, die noch unter der
ſchützenden Hülle, ohne ihre Schritte zu meſſen, fort
und fort durch's Unwegſame hier hinunter, dort hinauf
gewandert waren, erfuhren jetzo erſt vom Waldrande
aus, daß ſie wohl halbwegs der Höhe der Vorhügel
des Voglers ſich befanden. Und ſie waren alle
außer Athem und der Schimmel des Herrn Kloſter¬
amtmanns mehr als ſonſt einer von ihnen. Sie
keuchten, und er ſchnob und zitterte in den Knieen, und
der Dampf ging aus ſeinen Nüſtern wie ein anderer
Nebel.


Aber ſie hatten ſich Alle mit den Geſichtern nach
rechts gewendet und auch den Gaul herum gedreht.
Bis auf den letzteren hatte Keiner bei dem Schauſpiel,
das ſich ihnen bot, Zeit, auf ſeine Erſchöpfung zu achten.
Selbſt Mademoiſelle Selinde vergaß ihre zerfetzten Fal¬
beln und ihren leeren Magen und was ihr ſonſt noch
fehlte oder zu viel war, um den Anblick.


[177]

„Ach, barmherziger Gott! ach, Herr Magiſter —
ach — Thedel — liebſter Musjeh Thedel!“ rief ſie.


Sie hatten das Odfeld unter ſich, den Zug der
Heere um ſich und die Schlacht ſo dicht neben ſich, daß
ſie allgeſammt, den jungen Herrn von Münchhauſen
ausgenommen, ſich zuſammendrückten und duckten im
Buſchwerk vor ihrem Brüllen und heißem Hauchen.


Wenn der Herr Generallieutenant von Hardenberg
noch zur rechten Zeit kommen wollte, ſo war's Zeit.
Wenn er's aber noch möglich machte und kam, ſo zog
er den Sack nicht bloß um die Heere von Rohan-Chabot,
Poyanne und Stainville, ſondern auch um den Ma¬
giſter Buchius, das Wieſchen, den Knecht Heinrich, den
Junker Thedel und die wunderſchöne Mamſell Fegebanck
zuſammen.


„Es iſt wie geſchrieben ſtehet,“ murmelte der Ma¬
giſter.


„Krup unner, krup unner,

De Welt is Di gram!“

lachte der wilde Münchhauſen.


„Alsdann wer in Judäa iſt, der fliehe auf das
Gebirge; und wer mitten darinnen iſt, der weiche her¬
aus: und wer auf dem Lande iſt, der komme nicht
hinein,“ fuhr Magiſter Buchius fort, ohne auf die Unter¬
brechung zu merken.


Raabe, Das Odfeld. 12
[[178]]

Sechzehntes Kapitel.

„Allerſchönſte, Sie hören den Herrn Magiſter,“ rief
der letzte Primaner von der wirklichen Kloſterſchule
Amelungsborn, und Mamſell ließ es ſich dießmal ruhig
gefallen, daß er dabei ſeinen Arm um ſie legte. „Wer
doch jetzo hier Hausgelegenheit wüßte wie — ein Anderer
zu Amelungsborn vor zwei Stunden.“


Das gute Mädchen war nicht mehr im Stande, den
braven Jungen als einen närriſchen zu behandeln. Sie
hing ihm an der Schulter wie eine entblätternde Pfingſt¬
roſe und ächzte nur:


„O Jeſes, Jeſes, Jeſes, Thedel, ſo guck Er nur,
ſo hör Er nur! O hätt' Er mich unter mein Bett krie¬
chen laſſen, da hätten ſie vielleicht nicht drunter geleuchtet
und gegriffen. O Je, hier aus dem Buſch zerren ſie uns
in fünf Minuten und trampeln über uns weg, und
das Gekrache dort überm Katthagen bringt mich dazu
um!“ ....


„Bunt genug ſieht es aus, und das Gedudel der
Tanzmuſik iſt auch nicht übel. So'n Schützenhof! was
meinſt Du dazu, Jungfer Wieſchen?“

[179]

„Ich denke nur an meinen Heinrich und verlaſſe
mich auf den lieben Gott und unſern Herrn Magiſter.
Und Heinrich, liebſter Heinrich, wenn wir den guten
Herzog Ferdinand dazu heute wieder fänden —“


„Für's Erſte will Der nur Eſchershauſen den fran¬
ſchen Spitzbuben abnehmen. Nicht wahr, Herr Magiſter?
Der Herr Magiſter Buchius ſehen auch dorten nach der
Richtung und merken, wo die Hunde den Hirſchen ge¬
ſtellt haben? Hallali! Hallali!“


Magiſter Buchius überhörte dieſe Frage und laut
hinausgerufenen Waidmannsruf, wie alles Andere, was
eben geſchwatzt worden war. Er ſtand auf ſein ſpaniſch
Rohr gelehnt und ſah auf die Schlacht hin und hinunter
wie er am geſtrigen Abend zu ihr emporgeſchaut hatte.
Nun wimmelte das Odfeld von ſtreifenden Reitertrupps
beider kämpfender Heere, und die Pferdehufen ſtampften
die Leichname der ſchwarzen geflügelten Sieger und Ueber¬
wundenen von geſtern in Sumpf und Moor und den
Haideboden. Den Ith entlang ſcholl die Trommel und
der Dudelſack ununterbrochen in das Kleingewehrfeuer
hinein, und über den Quadhagen und den Eſchershau¬
ſener Stadtberg hinaus hörte man wohl, daß General
Conway und Mylord Granby den Herrn von Poyanne
ſcharf in der Scheere hielten, um dem Herrn General¬
lieutenant von Hardenberg ſo lange als möglich Zeit
zu laſſen, auch an ihn heranzukommen und möglicher¬
weiſe das Beſte zum Tage zu thun.


Man vermochte es nicht mehr, zu unterſcheiden, was
12*[180] als Nebeldampf noch an den Bergen hing und aus den
Thälern aufſtieg, oder was Dampf der Schlacht war.
Aber auf ruhige Zuſchauer war nicht gerechnet und
langes Beſinnen galt nicht für Leute, die unbemerkt
durchſchlüpfen und ihren Leib — einerlei wo, ob über
der Erde, ob unter der Erde in Sicherheit während
der Bataille zu bringen wünſchten.


Wer wußte jetzt einen Unterſchlupf? Sie thaten
die Frage und —


„Ich!“ ſagte Magiſter Buchius, und er hatte noch
niemals in ſeinem an die Seite gedrückten, ſcheuen,
ſchweigſamen, überſchrieenen, überlächelten, überlachten
Daſein den Accentus ſo kraftvoll auf das perſönlichſte
aller Fürwörter gelegt, wie jetzt.


Er überließ die Mamſell dem Junker von Münch¬
hauſen. Er nahm den Zügel des Schimmels des Herrn
Kloſteramtmanns. Er führte den Gaul und die übrige
Geſellſchaft weiter in den überbedrängten Tag; — zum
erſtenmal in ſeinem Leben berauſcht, — von Allem
wunderlich berauſcht — wie als ob er nun den ganzen
wirbelnden ſchwarzen Vogelſchwarm und Kampf von
geſtern Abend im eigenen Hirn habe und ſelber als
ſchwarzer gelehrter Kriegsmann mit flatternden Rock¬
ſchößen und geſchwungenem ſpaniſchen Rohr im aller¬
dickſten Haufen ſich mit im Kreiſe ſchwinge und Gegner
niederſchlage und gewaltthätige Hinderniſſe bewältige.
Siegreich! Ein Heros! Unter den Helden des heutigen
[181] Tages, wenn auch vielleicht der ſonderbarſte, doch wahr¬
lich nicht der kleinſte. —


„Nach dem Rothen Stein kommen wir nicht durch,“
murmelte er. „Das iſt dort nicht bloß Pulverrauch,
das iſt Brandqualm. Der von Münchhauſen hat Recht:
was ſich aus Holzen hat retten können, das hat
ſich im rothen Stein verkrochen, und wir finden dort
keine Unterkunft mehr. Zurück und zur Linken ſeitwärts
am Vogler hinauf können wir nicht. Auf wen wartet
der Franzos eigentlich, daß er ſich hier ſo in Haufen hält?“


Magiſter Buchius konnte es, ein ſo trefflicher Stratege
er auch war, freilich nicht wiſſen, daß die Herren von
Poyanne und von Chabot von dorther, wie der Herzog
Ferdinand, den Herrn Generallieutenant von Harden¬
berg erwarteten und mit ihren Streifparteien gleich
Fühlern im November-Morgengrauen nach ihm aus¬
taſteten.


„Wären wir durch die Lenne,“ murmelte er weiter,
„und kämen wir heil über die Heerſtraße, ſo wüßte ich
wohl durch den Eulenbruch und den düſtern Grund
hinauf —“


„Ich auch,“ ſagte Schelze vom Gaul und aus den
Armen ſeines Wieſchens herab. „Sie nennen es da
am Brauerſtiegskopf — links vom Rothen Stein.“


„Er kennt das auch?“ fragte der Magiſter Buchius
verwundert hinauf; und der immer mehr zum Bewußt¬
ſein kommende Knecht Heinrich ächzte mit mattem,
jammerhaft verlegenen Grinſen:

[182]

„Ach Gott, ſo wahr mir Gott in meiner Noth helfe,
Herr Magiſter; ich habe keinem, keinem Menſchen davon
geſagt, ſo wahr ich ehrlich bin, liebſter, liebſter Herr
Magiſter! Wenn ſie's nicht in dieſem Tumult ge¬
funden haben, kennt den Ort kein Anderer, als wir
zwei Beide!“


„Es giebt keine Stätte für Dich auf Erden, wo
Du kannſt ſagen, Du biſt allein zu Hauſe,“ ſeufzte
Magiſter Buchius nach einer Weile: und wieder nach
einer Weile fügte er hinzu: „Es iſt ſo, und es wird
alſo wohl das Beſte ſein.“


„Heinrich, ich ſeh's dem Herrn Magiſter an, daß
Du ihm einen Verdruß gemacht haſt!“ rief aber jetzt
Wieſchen. „Sag's gleich, — ich will's, ſag's gleich,
was es geweſen iſt.“ Und nun noch darzu gar heute!“


„Sei nur ruhig, Wieſchen. Nichts iſt's!“ lächelte
der alte Herr zu der erſchreckten, thränenvollen Magd
empor. „Und grade heute, Wieſchen, kommt's weniger
als vorher mir drauf an, daß Dein Schatz auch dort
Beſcheid zu wiſſen ſcheint, wo der alte Magiſter Buchius
die thebaiſche Wüſte ganz für ſich allein zu haben ver¬
meinte. Heute — jetzt ſeid ihr Alle — auch Er, lieber
von Münchhauſen, hier willkommen, wo ich mir bei
den Thieren der Wildniß als Einſiedler ein Unter¬
kommen ausgemachet hatte, wann — mir eure Luſtigkeit
im Kloſter ein wenig zu arg wurde, lieber Monſieur
Thedel.“


„Du biſt auch dabei geweſen, Heinrich!“ rief
[183] Wieſchen, ihren Schatz auf des Amtmanns Schimmel
zwar noch feſter faſſend, aber ihn doch dabei ein wenig
ſchüttelnd.


„Damals noch nicht. Halt' nur Ruhe, Kind,“ lächelte
der alte Herr wieder.


„Herr Magiſter —“ wollte der Exſchüler der
berühmten großen Wald-Wildniß- und Wilddiebs-Schule
zu Kloſter Amelungsborn betroffen, kleinlaut, nicht mit
ſeiner Rechtfertigung, ſondern mit ſeiner Reue auf¬
warten. Doch dem winkte der letzte Kollaborator ab;
zwar auch lächelnd, jedoch auf eine andere Art.


„Beruhige Er ſich nur auch, von Münchhauſen.
Jedenfalls iſt Er nicht der Einzige geweſen, ſo weder
dem Bruder Philemon in ſeiner Zelle noch den alten
Buchius in der Zelle des Bruders Philemon die Ruhe
und Beſchaulichkeit gegönnt hat — ſeinerzeit — dann
und wann.“


Er ſah jetzt, ohne ſich um den geduckten Scholaren
für's Erſte weiter zu kümmern, den wunden Knecht
auf dem Pferde an und deutete meinungsvoll vor ſich
hin in die Berge und zwar auf eine ganz beſtimmte Stelle.

Knecht Heinrich mit weinerlich verzogenem Mund¬
werk nickte und ſagte kläglich:


„Ich konnte ja nichts davor, daß ich's auch fand
und einkroch, Herr Magiſter. Aber ſo wahr mir Gott
helfe, es weiß außer mir und dem Herrn Magiſter kein
anderer Menſche davon. Ach wären wir nur über die
Straßen vor dem engelländiſchen Zuzug!“

[184]

„Du Dummrian!“ rief Wieſchen, ihren immer mehr
zum Leben erwachenden Schatz von Neuem feſter
packend und eindringlicher ſchüttelnd. „Du haſt es ja
nun, wie Du es geſtern Abend für mich und Dich
haben wollteſt. Biſt nun mit mir und noch dazu mit
dem Herrn Magiſter und der Mamſell und dem Herrn
von Münchhauſen mitten derzwiſchen! O Herr Magiſter,
Herr Magiſter, bei Ihrem lieben Herzen, laſſe Er es
Keinem von uns armen Sündern entgelten, was wir
an Ihm verböſet haben! Helfe Er uns! Helfe Er uns
Allen heraus aus dem Krieg, und der Noth, und der
Angſt, und dem Elend!“


„Wenn wir über die Straße wären!“ murmelte
der alte Herr, des Kloſteramtmanns Schimmel am
Zügel immer haſtiger ſich nachzerrend durch den Wald
und das Dickicht. —


Ei ja, die Straße und die Straße von der Weſer,
von dem Hauptquartier zu Ohr her, zu beiden Seiten
des Iths bis zu dem neuen Hauptquartier Seiner Durch¬
laucht des Herzogs Ferdinand zu Wickenſen, an dieſem
fünften November 1761!


Schon vor Tage hatten die Schotten Kapellenhagen
jenſeits der Berge den Franzoſen nach heftigem Kampfe
abgenommen und ſie durch den Ith auf der Landſtraße
nach Scharfoldendorf hinuntergetrieben; und wenn das
Dorf jenſeits der Berge noch rauchte, ſo brannte es jetzt
in Oelkaſſen wie in Lüerdiſſen, und die Herrenmühle
[185] bei Scharfoldendorf dicht vor den Flüchtigen ſtand auch
in Flammen.


„Wir können und dürfen mit den Jungfrauen nicht
hier weilen, Dieterich von Münchhauſen,“ rief der
Magiſter. „Hindurch! Mein iſt die Erde noch, Zeus!
O laß ſie mir noch dieſen Tag, dieſe Armen hier zu
erretten vor Schmach und Schande, vor dem erbarmungs¬
loſen Feinde, vor dem zuchtloſen Freunde! Grauſame
Parze, thränenliebender Pluto, ſchonet, o ſchonet der Locken
der Jugend. Verzehre uns nicht mit Feuer, Pluto.
Neptun, ich flehe Dich an — Lenne, geſchwollener
Strom, verſchwemme uns nicht den Pfad; und wenn
Du, der Proſerpina Bote, o Hermes, dieſem Zuge
voranſchreiteſt, ſo winke nur dem Greis ſeitab zum
Hades. Winke mir allein mit dem Caduceo, mir dem
Alten, der ſchon zu ſeinem Troſte weiß, daß Dein Pfad
zum Port führt, einerlei — ob man von Kekrops Flur,
ob man von Meroe kommt. O Schattenführer, den
Jungen — dieſen Kindern gönne noch ihre Hoffnung
und ihren Wandel im Tagesſchein!“ ......

[[186]]

Siebenzehntes Kapitel.

Es iſt in der Luftlinie wohl kaum der fünfzehnte
Theil eines Aequatorgrads, das heißt eine deutſche,
geographiſche Meile vom Kloſterthor zu Amelungsborn
bis auf die Höhe des Iths, bis in den Tönniesbuſch,
bis zum Ith-Anger über dem Rothen Stein. Für die
Ausgeſtoßenen, die Flüchtlinge von Amelungsborn, im
Odfeld-Nebel und am triefenden Vogler entlang, war's
erklecklich weiter.


Aber ſie hatten Glück, die Exuli. Sie kamen
wohlbehalten durch die gefährlich rauſchende Lenne und
über den noch gefahrvolleren Heerweg. Auf dem letztern
fanden ſie da, wo ſie ihn überſchritten, nur Todte,
Sterbende und Verwundete aus allen Völkerſchaften
vom Löwengolf bis zum Cap Wrath, von der Bai
von Biscaya bis zum Steinhuder Meer und in die
Lüneburger Haide. Sie kamen um Scharfoldendorf herum
auf die trümmer- und jammervolle Straße, die den
Berg hinan führt, und ließen das verwüſtete, geplün¬
derte Dorf zur Rechten, um ſich weiter aufwärts wie¬
der nach rechts hin in den Eulenbruch zu ſchlagen.
[187] Es lag dick geſät auf ihrem Wege und der alte Kriegs¬
pfad um Kloſter Amelungsborn war nichts gegen den
eben friſch in dieſem furchtbaren Kriege von Bellona
zerſtampften Bergweg.


Der, welcher pour l'amour de Dieu um miséri¬
corde
und nach Waſſer zu dem Junker von Münch¬
hauſen ſchrie, war aus Perpignan in der Grafſchaft
Rouſillon und behauptete, er könne nichts dafür, daß er
Lüerdiſſen mit in Brand habe ſetzen müſſen. Und der,
welcher die Arme nach dem Magiſter Buchius aus¬
reckte, war aus Gruſſendorf im Weſterbecker Moor und
wußte dafür, das; er unter Mylord Granby dem Bauer
in Kappelnhagen die Scheuer angeſteckt habe, auch weiter
keinen Entſchuldigungsgrund, als daß er ohne ſein Zu¬
thun in Tiddiſche an der Kleinen Aller dem Werber des
Kurfürſten von Hannover und des guten Herzogs Fer¬
dinand in die Hände gefallen ſei.


„Die Raben! Das Portentum vom geſtrigen Abend!“
murmelte der Magiſter, ſeinen Hut in einer Lache füllend
und ihm dem Mann aus Tiddiſche an den fieberheißen
Mund haltend.


„Sie liegen wie unſere Vögel auf dem Wodansfeld,
Herr Magiſter,“ rief der Junker von Münchhauſen von
dem Mann aus Perpignan her. „Da, Kamerad, ſauf!
ich wollte, es wäre was Beſſeres als Grabenwaſſer.
Na, in Einem habt Ihr's doch beſſer als wir. Ihr
habt bloß Durſt, wir haben auch Hunger ... Hollah!“


Sie hatten keine Zeit zu verlieren, ſo mitleidige
[188] Herzen ſie auch haben mochten; aber der Sprößling eines
ſo wohl und weit berühmten Geſchlechts wie Der von
Münchhauſen bewies grade itzo, daß er ganz in die
Zeit paßte und in ſie hinein grad auf die Füße hin
gefallen ſei.


Auch die Todten, ſie die in der Nacht lebendig und
gefräßig mit dem Herzog Ferdinand von der Weſer aus
zum Zug gen Einbeck aufgebrochen, aber hier, unterwegs
aus den Reihen gefallen waren, hatten ihre Kommis¬
laibe und ſonſtigen beim Abmarſch gefaßten Nationen
noch ziemlich unangetaſtet bei ſich; und ſie lagen, wie
geſagt, dick geſät auf der Straße von Scharfoldendorf
bis auf die Höhe des Ith-Angers.


„Häng um, Heinrich!“ rief der Junker, dem Knecht
Schelze einen deutſchen Brodbeutel auf den Schimmel
reichend.


Er bewies bei dieſem Ueberſchreiten der Landſtraßen
den vollen Soldatenblick des ſiebenjährigen Kriegs, und
wußte nach den Seinigen im Fluge zugreifen.


„Mein Herz blutet, Mademoiſelle; aber nur einen
Augenblick halte meine Prinzeß den engländiſchen
Torniſter. So geht es in der Rappuſe, Herr Magiſter!
Vivat jetzo der franzöſiſche Plunder! Guck der Schlingel
hat doch noch Zeit gehabt 'nem Hahnen den Hals um¬
zudrehen. Den laſſen wir ihm am Säbelgurt; aber
den Schnappſack nehmen wir ihm ab — an uns zurück
Herr Magiſter. Es iſt zum Heulen, aber fidel iſt's
doch. Und nun vorwärts, en avant! Da kommt's
[189] wieder ganz blau und roth und grün den Berg herunter
und um Eſchershauſen ſind ſie auch noch nicht in's
Reine! Jetzt, wo ſie ſich genauer in's Geſicht ſehen
können, gehen ſie erſt ordentlich an's Werk. Hallali!
hallali! hallali!“


So war es. Dicht zu ihrer Rechten von Holzen
bis Wickenſen ſtand die Schlacht; und Allen im Dorfe
Holzen, die ſich nicht in den Rothen Stein verkrochen
hatten, wie ihre Vorväter zu des Tilly und der Schweden
Zeiten, denen mochte es wohl übel zu Muthe ſein ob
dem Geſchützfeuer, mit dem ſich der Herr von Rohan
Chabot gegen den engländiſchen Mylord Granby wehrte.
Sie aber, und es ſind wieder die Flüchtlinge aus
Amelungsborn, gaben es während der nächſten zehn
Minuten auch gänzlich auf, zur Rechten und zur Linken
umzuſchauen.


Sie liefen und ſtolperten, ſtürzten und rafften
ſich wieder auf, und rannten von Neuem zu, mitten
durch die buntſcheckige Ordre de bataille des Herzogs
Ferdinand.


Sie ſahen nur vor ſich, und als ſie den Wald
wieder erreicht hatten, aufwärts durch die kahlen Gipfel
zu den Klippen des Rothen Steins, wo hinauf der alte
Herr und Führer, der Magiſter Buchius, keuchend,
ächzend, aber als ein Held bei jeglichem Weiterſchieben
der knackenden Kniee, immer von Neuem mit der Hand,
die den Zügel des Schimmels von Amelungsborn nicht
hielt, vorwärts winkte.


[190]

„Wieſchen, wir kommen noch einmal durch,“ rief der
Knecht. „Einen Büchſenſchuß noch und wir ſind zu
Hauſe. Halt aus, Krakke, und nachher verrecke!“


Magiſter Buchius blickte ſich nur einen Moment auf
das letzte Wort hin um; dann ſtieg er und ſchleppte ſich
und die Andern weiter. Er machte auch nicht die
Menſchheit anders als ſie war. Aber dem dampfenden
Thier ſtrich er die triefende Mähne:


„Halt aus, Freund, wie wir Andern auch — nur
noch fünf Minuten!“


Dolomit — Rautenſpath, Braun-Bitterſpath, Bitter¬
kalk, Mineral, farblos oder gefärbt, beſteht aus kohlen¬
ſaurem Kalk mit kohlenſaurer Magneſia; iſt als Braun¬
ſpath eiſenhaltig und bildet als Geſtein groteske Fels¬
bildungen und iſt höhlenreich, ſagt heute die Wiſſen¬
ſchaft oder das Converſationslexikon; und der Magiſter
Buchius, der weder in ſeiner Bibliothek ein Converſa¬
tionslexion beſaß, noch irgend viel von Mineralogie
verſtand, ſtand plötzlich mitten in dem wilden Wald
des achtzehnten Säkulums und mitten unter den wun¬
derlichen Steingebilden des Idiſtaviſus ſtill und ſtieß
ſein ſpaniſch Rohr in den Boden. Knecht Schelze im
Arm Wieſchens auf des Kloſteramtmanns Reitthier
nickte allein ortsverſtändig; doch dazu mit ſcheu und
ſchämern aufgezogenen Schultern und winſelte weiner¬
lich:


„Herr Magiſter, auf Eid und Gewiſſen, wahrhaf¬
tigen Gottes nicht aus böſem Willen und auch nicht
[191] mal aus Neugier. Ich hab's ja immer mit der Schule
gehalten und kroch nur der Schule wegen hier auch mal
unter, um zum Beſten unſerer Herren Primaner dem
Cujon, dem Grünrock von Heinrichshagen die Fährte zu
verwiſchen.“


Der alte Herr winkte jetzt nur melancholiſch lächelnd
dem armen Sünder Verzeihung und wendete ſich zu
ſeinen übrigen Schutzbefohlenen:


„Nun ſei es, wie es geſchrieben ſteht: Es ſollen
wohl Berge weichen und Hügel einfallen; aber meine
Gnade ſoll nicht von Dir weichen.“


„Ueberwind haben wir hier zum wenigſten,“ meinte
Thedel von Münchhauſen in der freilich windſtillen,
aber ſchlachtüberdonnerten Schluft im „Dolomit“ und
im Hochwald umguckend. „Nu, dies ſoll mich doch wun¬
dern. O Mademoi — Engel; ſicher wie Daun bei Kolin
im Felſenneſt! Aber dießmal krauchen wir vor König
Fritzens Parthei unter, wenn uns der Herr Magiſter
die Thür zeigen will. Herrgott von Daſſel, und die
Prima von Amelungsborn hat bis itzo nicht auch hier
Beſcheid gewußt?! ...“


Dießmal grinſte Magiſter Buchius beinahe völlig
wie einer ſeiner früheren Schuljungen; dann aber klatſchte
er halb zärtlich halb wehmüthig dem Schimmel des Herrn
Kloſteramtmanns auf die magere Flanke:


„Für Dich, armer Freund, hab' ich leider kein Unter¬
kommen; aber ich hoffe, Du wirſt, unſerer Laſt und
[192] Qual erledigt, Dir ſchon durchhelfen. Hebe Er Schelzen
aus dem Sattel und nehme Er dem guten Thier Sattel
und Zaum ab, Herr von Münchhauſen.“


Der Junker faßte den Knecht in die Arme, und
Wieſchen unterſtützte ihn vom Pferd aus. So brachten
ſie ihn glücklich auf den Erdboden und die Füße; und
gottlob vermochte er ſich auf den letzteren jetzt ſchon wieder
zu halten, wenn auch ein wenig taumelnd und mit ſchwar¬
zen Wolken und flimmernden Flammen vor den Augen.
Mademoiſell Selinde ſtand wie eine Bildſäule wenn
auch nicht der Ergebung, ſo doch der Betäubung in dem
Stein- und Waldwinkel und ſah ſich höchſtens ſtumpf¬
ſinnig-verwundert nach Dem um, was den Andern ſo
erklecklichen Troſt in dieſen Schreckniſſen zu geben ſchien.
Des Amtmanns Schimmel warf den Kopf auf und ſah
ſich um nach allen vier Windrichtungen, als wiſſe er
ſchon, was nun kommen werde.


„Ja, Du mußt nun gehen, alter Freund. Der
Himmel helfe Dir wie uns und ſchütze Dich vor Feind
und Freund, vor Frankreich und England; ſie würden
doch nur das letzte Mark aus Deinen alten Knochen
wollen, wenn ſie die Hand auf Dich legten. Nimm
Dich in acht — komme gut nach Hauſe — ja, was
wirſt Du aber finden zu Hauſe in Amelungsborn, wenn
Du heimgekommen biſt?“


„Grüße Er jedenfalls den Herrn Kloſteramtmann in
Amelungsborn von mir, Meiſter Hans!“ lachte Thedel
von Münchhauſen. Das Thier ſchüttelte ſich wieder,
[193] ſchnaufte, ſtand einen Augenblick überlegend und ging
langſam ſeitab in den Wald ſeines eigenen Weges.


„Herr Magiſter,“ rief Knecht Heinrich, „Herr Ma¬
giſter, mir däucht, es gehet ſchlecht für unſern Herzog
Ferdinand und die Franzoſen gewinnen's ihm ab.“


„Zum Henker ja,“ rief Thedel. „Monsieur Le
Crapaud
und Monsieur La Grenouille ſind wieder im
Vorhupfen gegen den Idiſtaviſus und alſo auch gegen
uns. Ihr Canon kommt wahrhaftig näher! Hört nur!
all' ihr groß und klein Geſchütz hat was wie vom
Froſchſumpf an ſich: Brekkekekk, brekkekekk, Koax, Koax!
O mit Jovis Donner gegen die Batrachier. Vivat
Fridericus Rex! Vivat Ferdinandus Dux!“


Magiſter Buchius bog den nächſten Buſch zur Seite:
„Belieben mir itzo auf den Ferſen zu folgen, Ma¬
demoiſelle Fegebanck. Und fürchte Sie ſich nicht, liebes
Kind, es gehet wohl zuerſt ein wenig abſchüſſig in's
Dunkle; ja auch ein wenig auf den Knieen, aber wer
kann heute hier ſagen, daß das Dach ſeines Hauſes
ſicherer über ihm ſei als das Geſtein, ſo des Herrn Hand
in der Wildniß zum Unterſchlupf für ſeine gejagte
Kreatur wundervoll ausgehöhlet hat?“


Jetzt im tiefſten Buſch und unter einer nicht allzu
hohen Felswand im Dolomitgeklipp des Iths bückte er ſich
und griff in einen hohen Haufen von dürrem Geſtrüpp,
den der Wind und Zufall hier aufgehäuft zu haben
ſchien, und fing an, denſelben zur Seite zu räumen.


Raabe, Das Odfeld. 13[194]

„Bleibe Er ruhig, Schelze; aber Er, Thedel Münch¬
hauſen, faſſe Er mit an.“


Eine unanſehnliche enge Spalte im Geſtein! ....


„Hier hinunter?“ ächzte Mademoiſell Selinde, die
Hände ringend; doch Magiſter Buchius zeigte bereits
fürder den Weg, das heißt er war ſchon verſchwunden im
„Bauche der Erden“. Thedel Münchhauſen den linken
Arm um des Herrn Amtmanns Vetterstochter legend,
breitbeinig ſtehend und mit hochgeſchwungener Rechten
citirte, außer ſich vor Vergnügen, den Kanonikus Gleim:


„Hier hört man keinen Muffel ſeufzen,

Hier läuft kein Kramer mit Gewichten,

Hier raſt kein Menzel mit Huſaren —

Hier ſind wir einfach, fromm und ſtille!

Hier ſchwärmen keine ſchwarzen Sorgen,

Hier hört man kein Geſchrei der Laſter —

Hier wollen wir uns Hütten bauen!

Was fehlt der Fülle ſolcher Wonne?

Ach Freund, es fehlt uns noch die Liebe.

Geh, hole Du Dein blondes Mädchen,

Ich will die braune Doris holen —“

ſchieb Deinen Kerl, Deinen Heinrich vorſichtig dem Ma¬
giſter nach, Wieſchen. Ach Mamſell, Prinzeſſin, Engel,


„Neulich ſprach ich mit den Bergen,

Und ſie prieſen mir ihr Silber,

Und den Schatz in goldnen Adern,

Und ſie wollten mir ihn ſchenken —“

alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er
die Berge hinaufdrückt —


[195]
„Und die Sänger auf den Zweigen

Jagt er aus den grünen Zellen

In die Ritzen hohler Klippen —“

Kotz-Kreuz-Element, es geht nicht anders, Selinde. Ob
Sie nun mag oder nicht, Jungfer Fegebanck, mit hin¬
unter, mit hinein muß Sie jetzt, wenn Sie nicht zu
blutigem Brei getreten ſein will!“


Und die Mamſell auf die Knie niederdrückend und
ſie in den Abgrund hineinſchiebend, murmelte er:


„Der alte Buchius! .... er iſt ein Held, ein
Heros — ein Heros! und die große Schule zu Kloſter
Amelungsborn war der richtige Eſelſtall. Vivat der
alte Buchius, der Magiſter Buchius! Aber wundern
ſoll's mich, was für ein Neſt er ſich verſtohlen und
heimlich, ſelbſt hinter meinem Rücken, hier in der Wild¬
niß ausgebaut hat? Sehe ein Menſche — nur muthig,
Courage, Mamſell, Allerſchönſte — es geht ja ganz
hübſch in die Tiefe — o ihr unſterblichen Götter, na,
das iſt denn wirklich ganz rieſig, ganz famos und das
Kuriöſeſte was mir heute paſſiren konnte.“


Er hatte vollkommen Recht zu dem letzten Ausruf.
Konnte die Holzener Höhle am Rothen Stein einen
ganzen Stamm vorſündfluthlicher Urmenſchen beherbergen,
ein ganzes durch den ſiebenjährigen Krieg verjagtes
Dorf aufnehmen; ſo hatte Magiſter Buchius auf ſeinen
einſamen Wegen hinterm Rücken der böſen Welt und
der großen Ciſtercienſerſchule von Amelungsborn wahr¬
lich für ſich gleichfalls im Schooße der Erde gefunden
13*[196] was er brauchte. Und — er hatte ſich drin einge¬
richtet!


„Dem, der uns hierher nachſchleicht, dem ſchlage ich
den Hirnkaſten ein,“ hatte Knecht Heinrich, wehmüthig
den Kopf ſchüttelnd, geſeufzt, nachdem er von den Förſtern
um König Heinrichs Vogelherd gejagt, dem alten Buchius
auf die Sprünge gerathen war und ſich bei ihm ein¬
geſchlichen hatte. „Dieſes iſt ja freilich gewiß und
wahrhaftig ganz und gar wie für unſern Herrn Magiſter
und ſeine Umſtände unter den Herren und den Herrn
Schülern bei uns in Amelungsborn vom lieben Herr¬
gott eingerichtet!“ — — — — „Hier könnte man
ſchon hauſen wie der heilige Antonius, der Große, in
der oberägyptiſchen Wüſte, nur mit einem Schaffell und
einem härenen Hemde bekleidet und ſeinen Körper nie¬
mals mit Seife reinigend,“ hatte der Magiſter ſelber
geſeufzet, als er als der erſte von ſeinem Rector, ſeinen
Collegen und ſeinen Schülern gepeinigte und gehetzte
Schulmeiſter zum erſtenmal den Unterſchlupf betrat,
oder vielmehr in ihn einkroch.


„Wenn ich nur wüßte, wo ich bin, und wie ich
hierher gekommen bin, und, oh, bis auf die Knochen
naß!“ jammerte Mamſell Selinde. „O Gitte, Gitte,
Gitte, und ſo dunkel!“

[[197]]

Achtzehntes Kapitel.

Bis das Auge ſich gewöhnt hatte, war's freilich ein
bischen dunkel, wie dies alle Höhlen ſo an ſich haben,
einerlei ob ſie dem frommen Aeneas und der ſchönen
Frau Dido, oder ob ſie dem Magiſter Buchius und
ſeiner Amelungsborner Kloſtergeſellſchaft ſich zum Zu¬
fluchtsort im Regenſturm oder im Kriegesſturm an¬
bieten. Auch ging es nicht gradaus und auf teppich¬
belegten Treppen in die Tiefe; und wer auf den Ruf
des Führers: „Hier mit Vorſicht bücken, oder lieber auf
die Knie!“ hörte und ihm Folge leiſtete, der that wohl
und bewahrte ſich vor Brauſchen und Schrunden an
Stirn und Hinterkopf und behielt auch ſein Naſen¬
bein heil.


„So laſſe Er doch das dumme Zeug, Thedel!“
hatte aber Mamſell Selinde ſelbſt auch hier zu flüſtern.
„Kann Er denn auch hier in ſolchen Schreckniſſen und
Nöthen Seine Albernheiten nicht unterwegens laſſen,
Herr von Münchhauſen?“


„Aber mein Gott, muß Er denn ſelbſt bei dieſem
Donner Gottes über dem Haupte der ewige Jokulator
[198] ſein, Münchhauſen?“ rief der Magiſter zurück. „Faſſe
Er doch lieber jetzt mit an und helfe Er mir Schelzen
in die Sicherheit zu bringen! Nur ruhig, Wieſchen —
hier ſind wir für's Erſte zu Hauſe. Nun danket dem
Herrn, denn ſeine Hand war über uns bis jetzt; ſtehet
oder ſitzet und gewöhnet eure Augen an die Finſterniß.
Sitzet ſtill und horchet! die Berge und Felsgeſteine ſind
wahrlich auf uns gefallen, bedecken uns und geben uns
Schutz. Horche Er, Thedel von Münchhauſen, lieber
Sohn, wie der Könige Zorn und Hader von Ferne uns
zu Häupten toſet bis zu den Ohren des Abgrundes,
und treibe Er wenigſtens jetzo keine Allotria, beſter
Münchhauſen.“


„Sie denken nichts Arges von mir,“ ſagte der
Schüler weinerlich-kicherlich, und nun ſuchten ſie wirk¬
lich allgemach ihre Augen an die Dunkelheit ihres Zu¬
fluchtsortes zu gewöhnen, während Magiſter Buchius,
der den Raum doch ſchon genau kannte, in ſeiner Tiefe
auch noch einige Zeit vergeblich taſtete und ſuchte.


Wie Schade, daß der eifrigſte Forſcher auf den
Spuren dieſer wahrhaftigen Hiſtoria zwiſchen Fels und
Wald am Ith ganz vergeblich nach der Klauſe des alten
Herrn taſten und ſuchen wird. Der Mutter Natur
ewige Arbeit auch im Erdinnern iſt ihr nicht ſo gnädig
geweſen, wie jener andern prähiſtoriſchen Spalte, mehr
gegen Dorf Holzen zu, am Rothen Stein. Iſt der
„Dolomit“ zuſammengerückt — haben die Waſſer ihr
Spiel getrieben und die Höhlung ſeit des alten Fritzen
[199] Kriegen mit Schlamm ausgefüllt; wir können es nicht
ſagen. Und des Nachgrabens lohnt es ſich nicht. Die
Schätze, die aus der Schluft zu holen waren, die hatte
der Magiſter ſchon nach Amelungsborn in der Taſche
heimgetragen, und das, was er und ſeine Begleiter am
fünften November Siebenzehnhunderteinundſechzig drin
zurückließen, das könnte von hiſtoriſchem Werth nur für
den Hiſtoriographen dieſer Begebenheiten ſein, und der
verzichtet drauf in ſeinem Namen und dem ſeiner Leſer
und — Leſerinnen.


Der „eifrigſte Forſcher“ ſoll deſſenungeachtet dort
mit Axt, Spitzhacke und Spaden unter Genehmigung
der hohen Forſtbehörden im kultivirten Walde thun
können was er will — Alles zu Ehren der großen
Wald- und Wildnißſchule Kloſter Amelungsborn und
ihres trefflichſten Kollaborators M. Noah Buchius
Seligen.


Und wie Schade, daß es nicht heißer Hochſommer
draußen war und ſie damals nicht auf einer Vergnü¬
gungsfahrt kamen, dieſe gehetzten Erdenbewohner, die
eben ihre Augen an das Licht in der Finſterniß ge¬
wöhnten! Der Troglodyt, Ureinwohner oder Einwanderer,
der vor Jahrtauſenden dieſe Junggeſellenwohnung ge¬
funden und für ſich in Beſchlag genommen hatte, der
hatte nicht nur Glück, ſondern auch Geſchmack gehabt.
Die jetzt noch vorhandene allgemeine Stammhöhle am
Rothen Stein war ein unheimlicher, naßkalter, ganz
dunkler Hordenunterſchlupf, ein Stall, ein Greul gegen
[200] des Magiſter Buchius letzten Zufluchtsort im Lebens-,
Schul- und Kriegsdrangſal.


„Es fällt, weiß Gott, auch noch Licht von Oben
herein,“ rief Thedel Münchhauſen. „O nur noch einen
Moment länger, Mamſell Selinde, in den Sack gekuckt:
nachher weiß Kater und Katze hier eben ſo gut Haus¬
gelegenheit wie — anderswo in der Welt!“


Es fiel wirklich hier und da durch die übereinan¬
der geſchichteten Blöcke ein Glimmer vom grauen Morgen
in die wenn auch kühle, ſo doch jedenfalls behaglich
trockne Höhle. Und was das Licht anbetraf, ſo ſollte
es damit noch viel beſſer kommen. Es klang in der
Tiefe Stahl auf Stein, die Funken ſpritzten, es fingen
Zunder und Schwefelſticken und nun:
„Salvete, hospites!“
ſprach Magiſter Buchius mit einer kleinen Blechlaterne
der allerechteſten Lucerna Epictetiſeine Gäſte und
Schützlinge in ſeinem bis zu dieſem heutigen Schreckens¬
morgen und furchtbaren Schlachtentage des guten Her¬
zogs Ferdinand ihm unbeſtrittenen letzten Erdenaſyl
beleuchtend, und ihnen auch es — zur Verfügung
ſtellend.


„O Herr, Herr Magiſter, und ich habe Sie, mit
den Anderen habe ich den Herrn Magiſter zum Narren
haben wollen!“ ſtotterte jetzo in Wirklichkeit und Wahr¬
haftigkeit weinerlich Junker Thedel von Münchhauſen.
O, vivat, vivat Amelungsborn! In saecula saeculo¬
rum
die große Schule von Amelungsborn!“
[201]„Vigeat! floreat!“ rief Magiſter Buchius, ſich ganz
in die Stimmung der alten wilden und gelehrten Herr¬
lichkeit und des dummen Jungen, des letzten echten
und gerechten Wald-Kloſterſchülers verſetzend; aber lei¬
der nur für einen kurzen, kürzeſten Augenblick.


„Was ſchwatzet Er, was jubiliret Er vom alten
Amelungsborn, lieber Münchhauſen? Transiti ad in¬
feros.
Das ſind wir! Zu den Unterirdiſchen ſind wir
gegangen. Helfe Er dem armen Schelze zu einer
guten Unterkunft, ſo lange der Lichtſtumpen in der
Laterne reicht,“ ſagte er, mit dem Schein, der von ihm
ausging, rundum Hausgelegenheit im Bauche des Idi¬
ſtaviſus zeigend.


Der Troglodyt, der vor ungezählten Jahrtauſenden
den heimeligen Ort für ſich eingerichtet hatte, abſeits
von der Kommune, der großen Welt und der kleinen
in dem großen Gemeinweſen nach Holzen zu im Berge,
und der Vorgänger in der Zelle des letzten Kollabora¬
tors von Amelungsborn, der letzte katholiſche Mönch,
Bruder Philemon, ſie waren beide für den Magiſter
Buchius in mancher trübſeligen Stunde wie lebende gute
theilnehmende Stubengenoſſen geweſen in den Ithklippen
wie im Kloſter. Jetzt machte der Erſtere mehr denn
je als Vertrauter mit dem Magiſter die Honneurs
des Ortes.


„Helfet dem Schelze zu einem Sitz dort auf der
Steinbank,“ ſagte der Magiſter. „Der arme Sünder
und diluvii testis, der Sündfluth Zeuge hat dort auch
[202] ſein Lager ſich zubereitet in ſeinem betrübten finſtern
Leben. Nun, die Gnade Gottes wird ihn itzo wohl auch
in ein klareres Licht erhoben und zu beſſerer Einſicht
verholfen haben. Ich habe ſeinen Kochtopf zu Hauſe
in meinem Muſeo, wenn der nicht —“ kopfſchüttelnd
und ſeufzend brach er ab in der Ueberlegung darob,
wie es augenblicklich wohl in ſeinem „Muſeo“ ausſehen
möge. Und er fuhr erſt nach wiedererrungenem philo¬
ſophiſchen Gleichmuth fort: „Wir könnten ihn, den Topf
meine ich, doch nicht heute hier von Neuem gebrauchen,
des Rauches vom Küchenherd wegen, der durch die Stein¬
ritzen dem Feind von unſerm Daſein hier unten Kunde
geben möchte. Liegt Er jetzo gut, Schelze?“


Knecht Heinrich faßte winſelnd nach der Hand des
Alten.


„O Herre, Herre, Herre! ohne den Herrn Magiſter
und mein Wieſchen, wo läge ich jetzt?!“


„Vergiß des Herrn Amtmanns Schimmel nicht,
Kamerad“, meinte der Junker. „Und Mademoiſelle Se¬
linde hat Dir ihren Sitz im Sattel auch aus ihrem himm¬
liſchen Herzen abgetreten ohne Querelen. O was meinet
Sie, ſchönſte Mademoiſell? wir kommen doch noch heil
aus dem Jammer! Ei, wiſſen der Herr Magiſter wohl
noch, wie Sie mir privatim den Propheten Jeremias
auslegeten nach der Bataille bei Kolin: Ach, daß ich
Waſſer genug hätte in meinem Haupte zu beweinen
die Erſchlagenen in meinem Volke?! Der Herr Magiſter
hatten mir bei Sonnenuntergang wieder mal den Carcer
[203] auf des Herrn Rectoris Ordre aufſchließen laſſen und
mich mit auf Ihre Stube genommen, mir nochmals in's
Gewiſſen zu reden. Ich war eben noch ganz grün in
Kloſter Amelungsborn, aber Er war auch ſchon bei der
Affaire mit den Golmbachern, Schelze, wo ſie unſere
Tertia auf ihrer Feldmark beim Krebſen im Bremeken¬
bach gepfändet hatten und ſie bei den Zöpfen nach ihrer
Pferdeſchwemme zum Untertauchen ziehen wollten.“


„Dem Regiment Bevern iſt's in der Unglücksbataille
in Böhmen nicht ſchlimmer ergangen als wie uns vom
Kloſter damals!“ rief der Knecht Heinrich ganz lebendig
in der vergnügten Erinnerung vom Canapé des Ur¬
höhlenbewohners her. „Damals ging's aber auch von
unſerer Seite mit über Bevern her; denn es war
Lobacher und Bevern'ſcher Zuzug unter den Golmbachern.
Die Lümmel —“


„O je, Heinrich, der Herr Magiſter Buchius und
der junge Herre gehören ja auch zu ihnen, Die ſind ja
auch aus Bevern!“ rief Wieſchen, die gottlob jetzt ſchon
wieder den Arm ihres Liebſten um ſich fühlte, während
ſie bis vor Kurzem in ihren Armen den armen Kerl
hatte aufrecht halten müſſen.


„Mamſell Fegebanck, allerwertheſte Jungfer,“ ſprach
aber jetzo Magiſter Buchius mit ausgeſuchter Höflichkeit
und Senſibilité die Schönſte im kleinen Haufen an,
„wir wollen jetzt Kolin Kolin und Bevern Bevern
ſein laſſen. Liebes Kind, wir ſind in Angſt, und der
Feind hat uns die Kleider zerriſſen; wir ſind durch
[204] Stock und Dorn gehetzet, und der Regen hat uns durch¬
näſſet bis auf die Knochen; wir ſind geſchüttelt vom
Hunger und vom Froſt, und vor Freund und vor Feind
haben wir uns im Eingeweide der Erde verkriechen
müſſen; aber rufen müſſen wir doch mit dankerfülltem
Gemüthe Sursum corda ...“


„Ach was habe ich von Seinem ewigen Sumſum¬
krahkrah und anderm Rabengekrächze?“ ächzte die Schöne
biſſig. „Wenn der Herr Magiſter mir eine wirkliche
Compläſance erweiſen wollten, ſo ſollten Sie lieber, ſo
lange das Licht in der Laterne reicht, in den aufge¬
griffenen Schnappſäcken nachſehen, was die Rappſäcke
aus allen Herren Ländern an Proviant mit ſich hatten.
Das war die einzige Vernunft, die der Musjeh Münch¬
hauſen bewieſen hat heute, daß er von dem todten Volk
da oben auf der Straße mitnahm in den Berg, was es
zu ſeinem Leben doch nicht mehr gebrauchen konnte.“
„Das iſt eine haarige Idee!“ rief Thedel von Münch¬
hauſen, zum erſten Male in ſeinem jungen Daſein ſich
aus dem Knieen vor dem Ideal ſeiner Schultage mit
ausgeſpreiteten Armen und Händen erhebend und ſich
mit ganzer Seele und leerem Magen der einfachen und
aufrichtigen Mutter Natur in die Arme ſtürzend.


Kein Prieſter des Bel zu Babel oder des Drachen
zu Babel konnte je zu Füßen ſeines Idols ſich eines
geſundern Appetits erfreut haben, als wie der arme
gute Junge ihn itzo, auf das vernünftige Wort ſeiner
Göttin hin, bei der Durchſuchung der aufgerafften
[205] Brodbeutel der hohen kriegführenden Parteien be¬
thätigte.


Sie trugen die drei Knappſäcke auf einem Steinblock
um die Lucerne des Magiſters Buchius zuſammen.
Schon durchwühlte Mamſell die ſchottiſche Seehundstaſche
und leerte ihren Inhalt auf die Tiſchplatte des Troglo¬
dyten; Thedel von Münchhauſen ſchüttelte den Inhalt
des franzöſiſchen Torniſters dazu, der alte Schulmeiſter
zögerte am längſten mit dem blutbeſpritzten, regennaſſen
Nachlaß des Landsmanns aus der Lüneburger Haide
in den Händen.


Er war auch der Einzige, der zu dem Sackausſchüt¬
teln auch den Kopf ſchüttelte:


„Welch' ein Leben! welch' eine Zeit!“

O tempora! o mores!“ rief der Junker. „Nu,
guck Einer den welſchen Spitzbuben an. Sind das Deine
Schuhſchnallen, von denen Du uns ſo oft lamentirt haſt,
Wieſchen?“


„I, zeige Er doch, Herr von Münchhauſen. Ne,
meine ſind es nicht. Die hat der Riſchelljöh ſelber an
ſich genommen, meine ich.“


„Aber ich meine, dieſe nimmſt Du dafür an Dich
nach Kriegsgebrauch und Recht, Wieſchen. Was meinen
der Herr Magiſter? Da haſt Du auch das Putzpulver
dazu, Wieſchen. Da, drei Paar Manſchetten und ein
halbes Hemde — hatte denn der Kerl nichts an Pro¬
viant bei ſich als den Bauerhahnen am Säbelgurt?
Noch einen ſilbernen Kinderlöffel — ein fein Frauen¬
[206] zimmerſacktuch — Teufel, das Blut! Haben der Herr
Magiſter nichts von Eßbarem gefunden?“


„Alles blutig! alles voll Blut,“ murmelte der alte
Herr ſchaudernd, einen Knorren angenagten, ſchauerlich
feuchten ſchwarzen Roggenbrodes hinüber zeigend, das
er mit zitternder Hand herausgeholt hatte aus dem
Bündel wollener Socken, Hemden, Fußlappen, welches
aus dem Knappſack des Kurfürſten von Hannover ge¬
fallen war.


„Eine Paternoſterſchnur aus Bernſteinkugeln mit
einem ſilbernen Kreuz —“


„Hat der Schlingel auch nicht bei ſeinen Haid¬
ſchnukken gefunden. Hat er von drüben her aus Weſt¬
falen zum Andenken ſich mitgebracht,“ meinte der Junker
und fügte kläglichſt hinzu: „O je, o je, o Herr Gott,
vergieb mir meine Sünden und mein freches Maul im
Coenacul, wenn die amelungsborner ſchwarze Suppe
verſalzen oder angebrannt war, und wir Sparter Panier
aufwarfen gegen Küche, Koch, Rector und Amtmann.“

„Sieht Er dies jetzo ein, lieber Münchhauſen?“ fragte
Magiſter Buchius, plötzlich ganz als Schulmeiſter —
zum erſtenmal an dieſem Tage. „Habe ich Ihm dieſen
Seinen Seufzer nicht hundertmal prophezeiet? Er war
Einer von den Schlimmſten jederzeit und hat mir freilich
durch Seine loſe Zunge manch' Unbehagen zubereitet,
und ich habe es Ihm mit Kummer nicht verhehlen
können, daß Zeiten kommen könnten, da —“


„Mademoiſelle!“ rief der Schüler plötzlich in einem
[207] Ton, der gar nicht zu dem ſeines Lehrers paßte.
„Mamſell Selinde, Göttin, Amalthea, Sie hat wieder
den Schlüſſel zur Speiſekammer. Ja, dieſe verdammten
Engliſchen! ſie haben immer das Horn des Ueberfluſſes
mit ſich. Jeſes, nun ſeh' Einer, was Mademoiſells
Kriegsfortuna ihr in die Schwanenhände gelegt hat —
Vivat Ferdinand, jetzt halten wir ſchon eine Belage¬
rung aus!“


Man konnte nicht ſagen, daß es ein zauberiſches Lächeln
war, was nun zum erſtenmal an dieſem wilden Tage
das Geſicht der Schönſten von Kloſter Amelungsborn
verklärte; aber lächeln that ſie und wies ein beneidens¬
werth geſundes Gebiß dabei von einem Ohre zum andern
über ihren Schätzen.


A flitch of bacon — ein gut Stück wenigſtens von
einer weſt- oder oſtfäliſchen Speckſeite! Deutſche Bauern¬
wurſt, deutſches Bauernbrod! Der unbehoſete Tartan¬
träger, der wackere Alliirte aus dem hohen Norden hatte
es gerade ſo gut wie der arme Teufel vom Golfe du
lion
verſtanden, auf ſeinem Marſche zum Ith unter¬
wegens zuzugreifen; und Keiner aus der kleinen hungri¬
gen Flüchtlingsſchaar in der Ithhöhle nahm ihm das
in dieſem Moment, unter „ſothanen Umſtänden“, wie
Magiſter Buchius ſich doch entſchuldigte, übel. „Son¬
dern im Gegentheil!“ ſprach Thedel von Münchhauſen
ſozuſagen mit einer gewiſſen Andacht.


Von den drei Feldflaſchen, die auf der Gefechts¬
ſtelle bei Scharfoldendorf den todten Kriegsleuten von
[208] den Kindern des Landes im Vorbeieilen mit abgeriſſen
worden waren, enthielten zwei auch noch einige Tropfen
Brannteweins: „zu einem erwärmenden Anlecken für
mesdames und zu einem gottlob beinahe überflüſſigen
,Bäuſchgen‘ auf den ‚hanebüchnen Dickſchädel des Eſels
Heinrich‘,“ wie Junker Thedel von Münchhauſen gleich¬
falls bemerkte.


Nach fünf Minuten ſaß die ganze Geſellſchaft ſtumm
kauend bei dem Schein des Lichtſtümpchens in der Laterne
des Magiſters Buchius, und Jeder horchte für ſich aus
der Tiefe des Berges, wie der Zwiſt der Könige ihnen
zu Häupten dumpf forttoſete und auch hier zu ihnen hinunterdrang —


„'s iſt wie lebendig begraben! Lange halte ich das
nicht aus,“ wimmerte Mamſell.


„Ich auch nicht,“ rief Thedel Münchhauſen, und
dann erloſch das Licht in der Laterne, und Magiſter
Buchius ergriff das Wort. Er — er — er verſuchte
es wenigſtens, die Angſt der gejagten Menſchenkreatur im
Finſtern zu beſchwichtigen; er, der ſo oft in ſeinem
kümmerlichen Daſein, im dunkeln Winkel verkrochen, vor
dem luſtigen Leben der Welt den Vogel Strauß hatte
agiren müſſen.


„Liebe Freunde, liebe Kinder,“ ſagte er und rieth
er, „einen Augenblick, nur eine kurze Weile die Augen
zumachen! nachher ſcheinen die Sterne wieder in den
Brunnen, oder, ich ſage es beſſer, wir ſehen noch ferner
das angenehme Licht auch dieſes ſchlimmen Tages.“
[209] Wie die Kinder thaten ſie, was ihnen gerathen
wurde; und ſaßen eine geraume Weile ſtill, auf die
Schlacht draußen horchend, auf dieſen Donner, der nur
wie ein unterbrochenes leiſes Murren durch die Felſen¬
ſpalten zu ihnen in die Tiefe hinabdrang.


Als ſie wiederum aufblickten, merkten ſie, daß der
ſchwache Schimmer des Tageslichtes, welcher durch die¬
ſelben Steinritzen in ihren Zufluchtsort eindrang, ge¬
nügte, ſie „lebendig im Grabe“ bei Beſinnung zu er¬
halten.


Fünf weitere Minuten ſpäter ſeufzte Thedel wahr¬
haft kläglich vor ſich hin:


„Und das hat Er herausgefunden?!.. Er! Und
Wir haben gemeint, der Wald und der Berg vier
Stunden um Amelungsborn ſei nur für uns in die
Welt hingeſtellt worden! Jetzt ſteckt er uns Alle in
die Taſche, und der Bauerochſe Schelze kann ihm nur
verſtohlen auf der Fährte folgen. Es iſt eine Blamage
für die ganze Schule, und es war die allerhöchſte Zeit,
daß ſie aus der lichtgrünen Waldgloria nach Holzminden
zu den Schuſtern und Schneidern verlegt wurde.“


Laut rief er, — im rand- und bandlos hervor¬
brechenden Enthuſiasmo ſchrie er:


„Vivat der Herr Magiſter Buchius! Der Herzog
Ferdinand und die Canaillen, der Poyanne und der
Chabot müſſen ſich am Ith treffen, daß das Letzte vom
richtigen Amelungsborner Cötus nun, da es zu ſpät
Raabe, Das Odfeld. 14[210] iſt, ſeinen beſten, liebſten, tapferſten, klügſten Herrn
Magiſter ganz kennen lerne.“


„Schreie Er wenigſtens, da es dazu wahrlich zu
ſpät iſt, nicht jetzo allzu laut, daß Er uns nicht doch
die Marodeurs aus aller Herren Volk auch hier noch
auf den Hals locke,“ rieth Magiſter Buchius. Das
Behagen, welches der letzte wirkliche Kollaborator der
wirklichen Großen Schule von Amelungsborn jetzt an
dem ſchlimmſten letzten Schüler derſelbigen nahm, ſeinen
Triumph, welchen er über den beſten wirklichen Scholaren
der Großen Wald- und Wildnißſchule feierte, trug er
kopfſchüttelnd lächelnd aus unruhvollen Tagen der Ver¬
gangenheit am unruhvollſten eben vorhandenen Tage
heraus, auch wie ein Marodebruder, der unterwegens
was aufgreift und mitnimmt, uneingedenk der nächſten
Kugel und ihres durch Urſache und Wirkung beſtimmten
Ziels. — — — — — — — — —

[[211]]

Neunzehntes Kapitel.

Sie ſaßen ja wohl nunmehr in verhältnißmäßiger
Sicherheit. Wie lange aber der Jüngſte unter ihnen,
der wahrlich nicht hierum in vergangener Nacht von
Holzminden herübergelaufen war, es in ſolcher Sicher¬
heit aushält, das werden wir wohl auch erfahren.
Zuerſt gefiel es ihm in dieſem dunkeln Loch nur allzu
gut, wenn auch aus einem Grunde, den Magiſter
Buchius wenig oder garnicht billigen konnte.


Er, Junker Thedel von Münchhauſen, hatte es
wahrlich auch ſoweit im Virgilius gebracht auf der
Großen Schule zu Amelungsborn, daß er grinſend in
dem ſaubern unterirdiſchen Cachot das Wort des in
ſolchen Sachen ganz erfahrenen Vaters Zeus citiren
konnte:


„Weil die geſchäftigen Rotten das Thal umſtellen mit Fang¬

garn,

Schütt' ich hinab und errege mit hallendem Donner den

Himmel —

Denn zur ſelbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter

Troja's ein.“...
14*[212]

„Jeſes, man kriegt ſo ſchon keine Luft vor Angſt
und in der Pechrabenſchwärze, — dichter braucht Er
mir nicht auf den Leib zu rücken, Thedel. So laſſe
Er doch das Drängeln, Herr von Münchhauſen!“ klang
es plötzlich aus einem Winkel der Spelunca, weinerlich,
verdrießlich, abwehrend.


„Münchhauſen!“ erſcholl es von der andern Seite
her, vermahnend, abmahnend; „aber lieber Münchhauſen,
wenn Er da drüben keinen Platz findet, ſo krieche Er
hier herüber zu mir her und beläſtige Er nicht Made¬
moiſelle unnöthigerweiſe. Hier iſt des Raumes zur Ge¬
nüge für Ihn und mich.“


„Mademoiſell Selinde, o mein Licht im Dunkel,“
flüſterte es drüben, während Magiſter Buchius vergeblich
auf Antwort und Folgſamkeit wartete. „Mein Wieſen¬
ſtern, mein Roſenſtrauch, mein Schönheitſpiegel, je tiefer
der Abgrund deſto höher meine Seligkeit; je finſterer
die Hölle deſto heller meine Sonne: je kälter der Keller
deſto heißer meine Amour! ..“


„Er iſt ein ganz dummer Kerl, Herr von Münch¬
hauſen, und wenn mir nicht alle Glieder vor Näſſe,
Froſt und Aengſten beberten, ſo ſollte Er ſchon — jetzt
aber laſſe Er ab — iſt das ein Ort und eine Stunde
für dumme Flattuſen und Dumme-Jungens-Kindereien?
So höre Er doch auf Seinen alten verrückten Schulmeiſter,
Thedel!“ flüſterte es zurück.


„Lieber Münchhauſen, es iſt Heldenart in großen
Drangſalen, ſich von den Schreckniſſen und Moleſten
[213] der Gegenwärtigkeit frei zu machen, und zu thun, als
ob ſie nicht wären. Wir haben die Exempla berühmter
Kriegsleute und weiſer Männer. Plutarchos giebt uns
Beiſpiele von den Erſtern. Was die zweite Art an¬
gehet, ſo haben wir vor allem Platons zwei Bücher,
den Phädon und den Kriton — Er höret mich doch,
Münchhauſen?“


„Wie die, welche das Ohrenklingen haben, das ganze
Gehör voll Pauken, Flöten und Trompeten haben, Herr
Magiſter,“ brummte der Exſcholar von Amelungsborn,
ohne die geringſte Ahnung davon zu haben, daß er jetzt
wirklich das Buch Kriton am Schluß ziemlich wörtlich
citire. „Der Herr Magiſter brauchen nur zu befehlen,
wovon wir hier im Erdenbauch diskurriren ſollen, während
uns der Kuckuck und ſein Küſter über den Köpfen
aufſpielen, tanzen und den Tanzboden eintreten —“


„Herr Magiſter,“ ſeufzte aus ſeiner Ecke in der
Erdhöhle Knecht Heinrich. „Herr Magiſter, ich meine,
ich bin halbwegs wieder bei Beinen. Den Kellerhals
kenn' ich ja leidergottes gegen des Herrn Magiſters
Vorwiſſen, und auf die Gefahr käm's mir nicht an, den
Kopf vorzuſtecken und zuzuſehen, wie's draußen ſtünde.“

„Du bleibſt hier, Du bleibſt bei mir, Du bleibſt
wo Du biſt und rührſt Dich nicht von der Stelle,“
kreiſchte Wieſchen. „Wer einzig und allein hier zu ſagen
und zu befehlen hat, und den Kopf vorzuſtecken und
draußen zu ſpioniren hat, das iſt einzig und allein
unſer einzigſter Troſt und Helfer in dieſer Angſt und
[214] dieſem Elend, der Herr Magiſter, der Herr Magiſter
Buchius!“


Magiſter Buchius, unterbrochen in ſeinem erſten
Anlauf, ſich und ſeiner ungebehrdigen Genoſſenſchaft die
Zeit im Dunkeln bis zur möglichen Erlöſung heroenhaft
und wiſſenſchaftlich zu vertreiben, ſprach:


„Herzenstochter, Du hätteſt wohl Recht: es ſollte
ganz eigentlich am hieſigen Orte kein Anderer als wie
ich als erſter neuer Poſſeſſor nach unſeren Vorfahren, der
Cherusker Auszug, die Verfügung über Thor und Thür,
Eingang und Ausgang haben. So werde ich denn
wirklich auch der Erſte von uns allhier ſein, der für¬
ſichtig nach dem Wetter draußen ſiehet, wenn es mir
Zeit dünkt, guter Freund Heinrich. Von Ihm aber,
Münchhauſen, wünſche, erhoffe und glaube ich, daß Er
mich auch in dieſer Finſterniß oder Dämmerung drauf
hin anſehen werde, wie ich unſern vornehmen Altvordern
den erlauchten Herren des Landes, des Grunds und
Bodens, einen ſolchen gemeinen, beſchwerlichen, unbe¬
quemen Aufenthalt in Höhlen und Schluchten des Waldes
und Gebirges anweiſen dürfe —“


„Thedel, ich ſage es Ihm zum allerletzten Male!“
ziſchelte es in der unbequemen, beſchwerlichen, cherus¬
kiſchen Höhlen- und Schluchtdunkelheit.


„Ich ſehe den Herrn Magiſter ganz genau darauf
an — ſitze Sie nur ſtille, o Mademoiſelle — Mamſell
Selinde!“


„Sieht Er, das freut mich! Und ſo weiſe ich Ihn
[215] denn gern auf den Dio Caſſius hin, in welchem Er
bei gemächlichern Umſtänden nachſchlagen mag: Cha¬
riomerus autem rex Cheruscorum a Chattis imperio
suo ejectus.“


„Uh Jeſes, Heinrich, hörſt Du das und gruſelt's
Dir da nicht noch mehr?“


„Es ſollte eigentlich Griechiſch ſein, Wieſchen, iſt
aber bloß Lateiniſch. Und auf Deutſch iſt's auch nicht
ſo ſchlimm, als es ſich anhört,“ lachte Thedel von
Mamſells zärtlicher Seite her, „da bedeutet's nur, daß
der Härzer König Gariomer von den blinden Heſſen
auch ſeinerſeits aus Haus, Hof, Bett und Stall heraus¬
geſchmiſſen wurde und allhier wie wir heute in Wald
und Schlucht ſich verkriechen und vielleicht grade in
dieſer ſelbigen Spelunke unterkriechen mußte.“


„Ach du liebſter Gott, auch der vornehme Herre?“
ſeufzte Wieſchen mitleidig.


„Sie ſagen, König Fritze hätte manchmal viel darum
gegeben, wenn er nur ſolchen ſichern Ort zum Unter¬
kriechen gehabt hätte,“ meinte Heinrich Schelze.


„Dieſes iſt ſo, Schelze,“ ſprach der Magiſter Buchius
melancholiſch. „Das Geſchick ducket die Könige und
die Bettler gleicherweiſe nieder, wenn es ihm beliebet.
Von Ihm aber, Herr von Münchhauſen, freuet es mich,
daß Er nicht den Herrn Paſtor Dünnhaupt bei Seiner
Derivation des Namens unſerer hochberühmteſten cherus¬
kiſchen Altvordern folget. Es ſcheinet mir doch zum
Mindeſten ein wenig zu weit hergeholet, wenn der Herr
[216] Paſtor behauptet, daß dieſe Nation von ihrer Arbeit¬
ſamkeit und unverdroſſenem Fleiße Gar ut ſin benannt
worden wäre, welches dann die Lateiner Cheruſci aus¬
geſprochen hätten.“


„Gar ut is et friilich balle mit öſch,“ murmelte
Mamſell Selinde, aber:


„Vivat der Herr Paſtor, der Herr Paſtor Dünn¬
haupt!“ klang es ſeltſamerweiſe aus dem andern Winkel
der verſündfluthlich-cheruskiſch-kattiſchen Felſenhöhle.
„Dies hätte ich ſchon wiſſen ſollen, wenn uns auf unſern
Bänken in Amelungsborn die Herren vom Katheder aus
cheruskiſche Bärenhäuter benamſeten. Faule Stricke,
grobe träge Flegel, landeingeborene Schweinpelze, und
per eminentiam — cheruskiſche Bärenhäuter uns
betitulirten!.. Hört Sie es nun wohl, Mademoiſelle?
Seit Uranfang ſind wir belobt wegen Arbeitſamkeit und
von wegen unverdroſſenem Fleiße! Und es iſt Alles
ſtinkende Verläumdung geweſen, was man uns an übelem
Geruch und Ruf aufgeladen hat ſeit tauſend Jahren.“

„Wenn Er mir jetzo eins von den warmen Bären¬
fellen, auf denen ſich Seine Herren Vorfahren geräkelt
haben, ſchaffen könnte, ſo wollte ich mich zum erſtenmal
heute bei Ihm bedanken, Thedel. Wie es aber iſt,
bleibe Er mir auf tauſend Schritte vom Leibe, Er iſt
näſſer und kälter als wir Alle mit ſeinen Zuthunlich¬
keiten.“


„Herr Paſtor Dünnhaupt will Behauſungen unſerer
Vorfahren, wie wir ſie heute, jetzt, durch Gottes Güte,
[217] Hülfe und gnädigen Beiſtand einnehmen dürfen, noch
an der Elbe bei dem Gute Langeleben angetroffen
haben,“ ſprach Magiſter Buchius. „Ich für mein Theil
glaube außer dieſen auch noch drüben am Vogler bei
Hohlenberg auf ſolche geſtoßen zu ſein, an der großen und
an der kleinen Hohle, gegen den Butzberg zu. Was
die hohle Burg bei Stadtoldendorf anbetrifft —“


„Herre,“ unterbrach hier, wahrſcheinlich haſtig ſich
aus den Armen ſeines Wieſchens aufrichtend, der Knecht
Heinrich Schelze, „Herre, Herr Magiſter, die Unter¬
kommen und Höhlungen da im Stein ſtammen nicht
von den alten, lange verſtorbenen Bärenhäutern! Man
ſoll eigentlich lieber nicht davon ſprechen. Sie haben's
nicht gerne; aber die darin gewohnt haben, die wohnen
heute noch darin. Ich habe ſelber Einen von ihnen
am hellen heißen Mittage ſitzen ſehen — am hellen
lichten Mittage, um Johanni, ſo um die Siebenſchläfer
und Peter und Paul herum, mitten im Sommer,
mitten am Mittage.“


„Jeſes, Heinrich!“ rief Wieſchen;— „ich bin nicht
dabei geweſen, Mademoiſell Selinde,“ lachte Thedel von
Münchhauſen. Der Magiſter Buchius aber fragte ernſt¬
haftiglich:


„Was — wen hat Er ſitzen ſehen, Schelze?“


„Einen von ihnen — den Kleinen, Herre! Auf
der hohlen Burg unter der Homburg! Er ſaß bei
ſeinem Loch und ließ die Beine baumeln. Wie ein
dreijährig Kind mit einem alten, alten Kopf und

[218] langem rothgrieſen Bart und einer Kappe halb über
die Augen. Und es war wohl mein Glück, daß er
um die Zeit auch halb im Schlaf war und ſaß und
mit dem Kopfe nickte. Ich hatte meine Barte bei mir,
aber Gott der Herr hat mich davor bewahrt, daß ich
ſie nach dem Spuk warf. Als ich wieder hin ſah, iſt
er weg geweſen.“


„Nun guck Einer den dummen Kerl,“ rief der
Junker von Münchhauſen. „Mademoiſell Selinde, wäre
ich dabei geweſen, als Cavalier und irrender Ritter, ich
hätte meiner Allerſchönſten, meiner Allerliebſten und
königlichen Prinzeß den Zwerg von der hohlen Burg
an Händen und Füßen gebunden, über den Rücken
gehängt mitgebracht nach dem Kloſter und zu ihren
Füßen geleget. Er iſt doch nur ein Rindvieh, Schelze,
ſo gute Freunde wir auch ſonſt ſind, Heinrich.“


„Das ſagt Er wohl, Herr von Münchhauſen,“ ſagte
Heinrich Schelze; doch Magiſter Buchius ſprach, in
ſeiner finſtern Ecke wiſſenſchaftlich melancholiſch den
Kopf ſchüttelnd: „Es iſt wohl nur eine Phantaſie,
eine Phantasmagoria, eine Einbildung und Täuſchung
der Sinne geweſen, lieber Heinrich; aber, lieber Thedel,
die Welt iſt doch voll der Mirakel und Myſterien, und
der Menſch, wie er in der Schwebe hängt zwiſchen
Himmel und Erde, ja, zwiſchen Himmel und Hölle, ſo hänget
er auch zwiſchen Dem, was er begreifet und Dem, was er
nicht begreifet um ſich her und in ſich ſelber. Der Menſch
ſitzt in der finſtern, ſchaudervollen Nacht in Heiterkeit und
[219] bei hellem Verſtand und bedienet ſich ſeiner Vernunft
fröhlich bei ſeinem Studio oder in Ueberlegung ſeiner zeit¬
lichen Umſtände. Und derſelbige Menſch traut am hellen
Mittage bei leuchtender Sonne unter Gottes blauem Him¬
mel nicht ſeinen fünf Sinnen! Ja, er ſtehet vor den beiden
großen Grundſätzen aller unſerer Erkenntniſſe, dem Satz
des Widerſpruches, nämlich daß es unmöglich iſt, daß etwas
zugleich ſei und zugleich nicht ſei; und dem Satz des zu¬
reichenden Grundes, nämlich daß Alles, was iſt, einen zu¬
reichenden Grund haben muß — er ſtehet, ſage ich, wie die
Kuh vor dem verſchloſſenen Thor. Was die ſchlimmſten,
die ärgſten Zweifler oder Skeptici nicht läugnen, das
ſchwanket in ſeiner Seele. Er ſiehet am hellen Mit¬
tage Dinge, die Dem ſchnurſtracks widerſprachen, was,
abgeſehen vom Principio rationis sufficientis, die Alten
ſchon das Principium exclusi medii inter duo con¬
tradictoria
nannten.“


„Jeſes, Jeſes, Jeſes!“ wimmerte das Wieſchen; doch
der Magiſter fuhr mit erhobener Stimme fort:


„Ja, der Menſch glaubt am hellen Mittage an ein
Drittes zwiſchen zwei Widerſprüchen. Auch ich habe
in dieſen Gegenden am lichten Sommertage, wenn die
Sonne am heißeſten auf's Geſtein und die Waldblöße
brannte, Dinge geſehen — Dinge geſehen, ſage ich, die
mich an mir ſelber und dem Satze, daß etwas entweder
ſein oder nicht ſein muß, zum herzbebenden Zweifeln
brachten.“


„Davon ſollten der Herr Magiſter gerade jetzo der
[220] Beruhigung wegen das Genauere erzählen,“ meinte
Thedel; doch Magiſter Buchius ſprach ſchon ohne dieſe
Aufmunterung weiter:


„Ihr kennet Alle auf dem Küchenbrinke unſer ur¬
altes Kloſtergebäude, ſo heute noch der Stein genannt
wird. Es ſtehet über den alten Sundern, an deſſen
Ende gen Weſten ſich noch Rudera einer Kapelle finden,
ſo die Klus von uns genannt wird. Da hab' ich ihn
geſehen um eilf Uhr gegen Mittage, gerade als die
Kloſterglocke ſchlug, am zwölften Juli des Jahres Sieben¬
zehnhundertſiebenundvierzig.


„Wen? Wen? Wen?“ rief athemlos, trotz der
Schlacht des Herzogs Ferdinand und des Marſchalls
von Broglio am fünften November Siebenzehnhundert¬
einundſechzig, die Geſellſchaft in der Ithhöhle.


„Den erſten ureigenen Herrn und Eigenthümer der
heiligen Stätte vor unſerm Einſiedler, den Waldbruder
Amelung! Er ſaß mit einem blutigen Meſſer auf den
Ruderibus der Klus, mit langem, greiſem Bart und
einem Eichenkranz, doch das Haupt geſenket wie in
tiefſten Gedanken. Er kümmerte ſich nicht um mich.
Er ſah nicht nach mir. Woher ich es wußte, weiß ich
nicht; aber ich wußte es, er war den Küchenbrink herab¬
gekommen vom Steine; er war herausgekommen aus
der Pforte nach Mitternacht, wo man heute noch das
Agnus Dei mit der Fahne eingehauen ſiehet, von dem
Orte, wo ſein Stein geſtanden hat, ſein Altar und
Opferſtein, allwo man die Römer und die Soldaten
[221] Caroli Magni abgeſchlachtet hat, ehe und bevor Graf
Siegfried von der Bomeneburg, was wir heute die
Homburg heißen, unſer Kloſter anlegte und es mit dem
Hedfeld, dem Heidenfelde dotirte.“


„Und dann, Herr Magiſter?“ fragte jetzt ſelbſt
Mamſell Selinde Fegebanck.


„Dann, meine liebſte Mademoiſelle, löſete ſich Dieſes,
ſo für den tagtäglichen Menſchenverſtand ganz und gar
außerhalb des Principii rationis sufficientis, will ſagen,
des Satzes vom zureichenden Grunde lag, auf im
Flimmern der heißen Sonne über dem Trümmerge¬
ſtein und dem jungen Tannenwuchs, und nach einer
Weile mußte ich nach Hauſe, dieweil nun doch bald
die Glocke den Cötus von Amelungsborn zu Tiſche
läutete.“


„Nihil est sine ratione sufficiente, Mamſell Se¬
linde,“ rief jetzt Thedel von Münchhauſen. „Alles was
iſt, muß ſeinen zureichenden Grund haben, die Amour
und der Haß! Auch die Wuth, die der alte Barde
auf unſern ſeligen, alten Waldbruder Amelung gehabt
haben muß. Herr Klopſtock hätte von ihm nicht ver¬
langen können, daß er unter ſeinem erbeigenthümlichen
Herd und Küchenbrinke anſtimme: Sing unſterbliche
Seele der ſündigen Menſchen Erlöſung! Aber nun
laſſen die Herren auch mich mal heran. Auch Unſereiner
hat wohl ſeine Spukgeſchichten erlebt bei Tage und bei
Nacht in dem alten Spukekaſten Amelungsborn und
draußen. Es iſt bis unters Deckbett nicht immer ge¬
[222] heuer, Mademoiſelle, und wenn Herr Leſſing ſeinen


O Jüngling, ſei ſo ruchlos nicht,

Und leugne die Geſpenſter,

Ich ſelbſt ſah eins beim Mondenlicht

Aus meinem Kammerfenſter!

ſo ſpreche ich mit dem Jüngling:


Ich wende nichts dawider ein,

Es müſſen wohl Geſpenſter ſein.

Hat nicht der Herr Amtmann einmal in der Nacht
vor Kreuzeserhöhung auf eines aus ſeinem Fenſter ge¬
ſchoſſen, wo freilich Herr Magiſter Leſſing ſeinen Alten
wieder ſingen läßt:


Auch weiß ich nicht, was manche Nacht

In meiner Tochter Kammer

Sein Weſen hat, bald ſeufzt, bald lacht;
Oft bringt's mir Angſt und Jammer.

Ich weiß, es Mädchen ſchläft allein:

Drum müſſen das Geſpenſter ſein.

Nichts ohne ſeinen zureichenden Grund, nihil sine
ratione sufficiente
hätte der Jüngling in dieſem Falle
mehr als in einem andern logice antworten dürfen;
doch ich laſſe es dahin geſtellt, und rede auch nur von
dem, was mir perſönlich paſſirt iſt und auch wie dem
Herrn Magiſter Buchius und dem Knecht Heinrich
außerhalb von Kloſter Amelungsborn. Der Heinen
Grasgrabe kennt wohl Jeder von uns?“


„Ei wohl,“ ſprach Magiſter Buchius, „das Feld
vor dem Kloſter zwiſchen der Heerſtraße und dem gleich
[223] einer Zunge aus dem Vogler vorgehenden Berge, weſt¬
lich vom Odfelde, dem Campus Odini, nordwärts unter
dem mit Holz bewachſenen Berge, ſo —“


„Der Bütze- oder Butzeberg heißt. Da bin ich für
mein Theil dem Butzemann begegnet —“


„Permittire Er einen Moment, lieber Münchhauſen,“
rief aus ſeinem dunkeln Dolomitwinkel Magiſter Bu¬
chius, „was Er uns auch zu berichten die Abſicht haben
mag, Er iſt dießmal damit auf dem richtigen, durch
die Hiſtorie begründeten Boden. Dorten war der ge¬
heiligte Hain, das Fanum Odini, der finſtere und heim¬
liche Wald, worin die Gottheit unſerer Ahnen gegen¬
wärtig war. Ohnſtreitig entſtand Böſe von Butz; und
die Chriſten haben zur Abſchreckung den Ort den Butzberg
genannt, und manche Mutter und Kindsfrau ſchrecket
noch jetzo unſchicklicher Weiſe die Kinder mit dem heid¬
niſchen Butzmann oder Buſſemann —“


„Und ich habe dort den Hohlenbergern, einerlei ob
aus der großen oder der kleinen Hohle, am hellen lichten
Mittage den Glauben an den Butzemann beigebracht,
daß ſie heute noch ihren Kindern hinterm Ofen damit
Bange machen und Kinder und Kindeskinder noch nach
hundert Jahren davon erzählen werden. Nämlich ſie
waren zu Funfzig mal wieder über Heinrichen her.
Sie hatten meinen beſten Waldkameraden Heinrich
Schelzen mal wieder unter ihren groben Bauerfäuſten
zu Boden —“


„Herr Du mein Leben, i Blitz nochmal, iſt denn
[224] das die Möglichkeit?“ rief jetzt hierzwiſchen der gute Knecht
Heinrich Schelze aus dem tiefſten Heiden- und Spuke-
Keller mit vollſtändig geſundeter ſtarker Stimme in
höchſter Verwunderung. „J, Donnerwetter, Blitz und
Hagel, Herr von Münchhauſen, waren denn das der
Herr Junker, der uns Kloſterleuten da aus dem Buſch
als unſer Vorfahr und wilder Mann zu Hülfe und den
Bärenhäutern und verfluchten Bauern über die Lauſe¬
köpfe kamen?“


„Schlechtweg und zufällig, Heinrich; — simpliciter
et per accidens
, Herr Magiſter,“ lachte der Thedel von
Münchhauſen. „Ich kam aus dem Froſchpfuhl auf dem
Odfeld. Wo alle Cherusker, Katten und Sachſen bis
zu Karl dem Großen ihr Opfervieh und ihre Prieſterinnen
gebadet haben, Herr Magiſter. Es war uns von Schul¬
wegen verboten, das heidniſche Liegen im Waſſer; aber
wer es thun wollte, der heißen Tage wegen, der that
es doch, contra leges. Ich will's jetzt nur geſtehen,
und der Herr Magiſter haben ſelber wohl dann und
wann ein Auge zugedrückt im Walde. So kam ich
dießmal, mit Erlaubniß der Damen, nackigt wie der
wilde Mann auf den Harzgulden über die Hohlenberger
und gottlob auch mit einem jungen Tannenbaum in
der Fauſt.“


„Hierüber kann man Alles vergeſſen, Bataille,
Franzoſen und Engländer!“ rief Knecht Heinrich in
allerhöchſter Verblüffung. „Nun ſind der Herr Junker
von Münchhauſen auch dieſe Erſcheinung geweſen? Und
[225] vor jeder Kuh- und Pferdekrippe, in jeder Spinnſtube,
geht es im Sommer und im Winter, bei Tage wie
bei Nacht um: der wilde Mann vom Harze habe ſich
auch hier bei uns an der Heinen Grasgrabe ſehen und
ſpüren laſſen!“


„Sehen und ſpüren laſſen!“ lachte Thedel von
Münchhauſen. „Ein paar blutige Köpfe und blau und
grüne Buckelſtriemen ſetzte es wohl ab. Dießmal ließ
das Spukeding einige handgreifliche Beweiſe von ſeiner
Erſcheinung zurück; ehe und bevor auch es ſich wieder
in die blaue Luft auflöſte.“


„Und der Herr Junker hat es über ſich vermocht,
hierüber den Mund zu halten und nur in der Stille
ſein Gaudium an — uns Allen in und rund um
Kloſter Amelungsborn zu haben?“ rief Heinrich in voller
Bewunderung einer Verſchweigſamkeit, deren er ſich
nimmer nach einem ſolchen Streiche für fähig achtete.
„Was ſagen denn der Herr Magiſter jetzt hierzu?“


Magiſter Buchius ſagte gar nichts. Er ließ nur
ein undeutlich Gebrumm vernehmen und nicht ohne
rationes sufficientes, nicht ohne zureichende Gründe.


Er hatte ſeinerzeit nämlich durchaus nicht gewußt,
was er von dieſer kurioſen Apparition des Wilden
Mannes, des Butzemannes vom Harze unterm Butze¬
berge am Vogler und auf dem Odfelde, auf dem alten
Geſchichts-, Geiſter- und Zauberboden zu halten habe.
Wie er ſich zu verhalten habe gegen die Meinungen
und Anſichten, die Jedermann um ihn her, ſpöttiſch,
Raabe, Das Odfeld. 15[226] bedenklich, angſthaft-gläubig oder kopfſchüttelnd kund
gegeben hatte.


Er hatte ſeinerzeit, Alles in Allem in Erwägung
ziehend, nur:


„Hm! hm!“


geſagt; und jetzo, in der Tiefe ſeiner wunderlich aus¬
ſtaffirten Gelehrten-Seele und ganz heraus aus dem
Geiſt, Wiſſen und Glauben der weiland großen Wald-,
Wildniß- und Kloſterſchule von Amelungsborn, ſagte er
wiederum nur:


„Hm! . . . hm, hm, hm, hm! Ahm!“


„Dieſe dummen Geſchichten machen Einen nur immer
nur noch kälter und verklommener, und die letzte auch
noch naſſer in der Einbildung,“ meinte aber jetzt weiner¬
lich-verdrießlich Mademoiſell Selinde. „Und heller wird's
auch nicht davon hier im Mordkeller. Man ſieht jetzo
wohl ſeine Hand vor Augen, aber auch weiter nichts;
und wenn ich einmal ſterben muß, ſo will ich's doch
lieber draußen im Lichte. Man vernimmt auch von
draußen her gar nichts mehr von der dummen Bataille.
Das Grummeln und Brummeln hat ja gänzlich aufge¬
hört, und wenn's nach mir ginge, hätten ſich nun Alle
die Hälſe Einer dem Andern abgeſchnitten, daß man
ruhig wieder nach Hauſe könnte. Jetzt bleibe Er von
mir, Thedel; oder ich ſpiele Ihm den Butzemann, oder
wilden Mann vom Harz und tachtle Ihm eine Maul¬
ſchelle hin, daß Er Sein Lebetage bis zum Kopfwackeln
hin an Seine dumme Prinzeß von Kloſter Amelungs¬
[227] born in Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit zu denken
haben ſoll.


„Herr Magiſter,“ rief Junker Thedel von Münch¬
hauſen, „Herr Magiſter, Mamſell hat Recht, ſo wahr
ich lebe! Hier hocken wir, Hans und Hannchen im
Keller, und erzählen einander dumme Spukegeſchichten,
und draußen bringen ſie die Welthiſtorie zum Austrag,
ohne daß Einer von uns drauf acht giebt. Sie haben,
der Teufel hole mich, ihr Pulver beiderſeits verſchoſſen,
oder der Eine hat den Andern unter. Vivat Herzog
Ferdinand und die hohen Alliirten! Mamſell hat auch
darin Recht, der Satan hält uns hier im Tartaro ein¬
geſpundet. Sehe Sie zu, wie Sie gut nach Hauſe
kommt, Mademoiſell Fegebanck. Ich krieche vor aus dem
Loch und ſehe nach, wir es draußen ſteht —“


„Caute, caute! Mit Vorſicht, Münchhauſen. Laſſe
Er mich erſt Seinen Rockſchooß faſſen, lieber Münch¬
hauſen!“ rief Magiſter Buchius, mit zitternder Stimme,
aber im vollen Bewußtſein, daß man ſich in dieſer
Ithhöhle wohl ein wenig zu lebhaft von alten Spuk¬
geſchichten unterhalten habe.


15*
[[228]]

Zwanzigſtes Kapitel.

Merde!“ ſagte Junker Thedel von Münchhauſen
in der freien Luft, im Licht des Tages vor der Ith¬
höhle ſeinen geſchwollenen blutrünſtigen Backen reibend,
und das Wort kam mit herzlichſtem Nachdruck aus ſeiner
Bruſt. Er war nicht, ein umgekehrter junger Curtius,
aus dem Schlunde aufwärts in die Schrecken der Erd¬
oberfläche gekrochen, ohne ein letztes aber auch unverge߬
lichſtes Zeichen von Mamſell Selindens Zärtlichkeit mit
ins Tageslicht empor zu nehmen. Die Schöne drunten
in Nacht und Dunkel hatte dießmal nicht nur zuge¬
ſchlagen, ſondern auch vier von ihren fünf Fingernägeln
ihm in die Wange eingeſetzt und vier blutige Striemen
dem zärtlichen Knaben vom linken Ohr hinunter bis
zum Kinn gezogen: „So careſſire Ich, Musjeh Thedel,


Herr Junker von Münchhauſen! .....“


„I ſo 'ne Katze! ſo 'ne Wildkatze!“ ächzte Thedel,
ſeine vom Zufühlen blutgeröthete innere Handfläche be¬
trachtend. „Dafür Cavalier und Ehrenretter bis zum Tode
durch Strick und Gewehrkolben? O Venus, ο Cypria,
Paphia und wie Du ſonſt geheißen wirſt, Canaille!
[229] Eine ſchöne Narbe bringe ich für mein Theil aus der
glorreichen Bataille heute. Ja, rufe der Herr Magiſter
da unten nur aus ſeiner Caverna! An meinen Rock¬
ſchooß will er ſich hängen? Mercimerde! Vivat
der Tod für's Vaterland! pro ducepro rege. Zum
Teufel mit allen Frauenzimmern. Dulce et decorum
est
— So 'ne Wildkatze! ausgeſtopft im Glaskaſten
möchte ich ſie jetzo haben und nimmer anders! Da
kriecht der alte Herr richtig zu Tage, und mein Mädchen,
ma belle, ma Princesse ihm nach. Du mein Gott,
kann ſich der Welt allerhöchſte Schönheit und Lieblich¬
keit ſo in einen wüthigen Satan verwandeln? Für
ſolch Confekt danke ich in alle Ewigkeit. Kochen Sie
ſich Jungfer Nichte ſauer, Herr Kloſteramtmann von
Amelungsborn!“


Es war ihm einerlei was ihm in den Hals kam;
aber ſingen — brüllen mußte er; und da war der
Halberſtädter Grenadier immer wieder der rechte Mann:


Zu rächen jeden Tropfen Blut,

Der unter Bevern floß,

War Alles Feuer, ſchäumte Wuth,

Schnob Rache Mann und Roß!

Aber im Begriff ſich in das Lennethal und den heu¬
tigen Schlachttumult des guten Herzogs Ferdinand von
Bevern hinunter zu ſtürzen, ſpürte er plötzlich nicht die
Hand des Magiſters Buchius an ſeinem Rockſchooß,
ſondern wahrlich eine gröbere Fauſt an ſeinem Rock¬
kragen.


[230]

„Stop, laddi! Lal de daudle. lal de daudle ....
What, toddling hame?“


Und ſich wüthend umſehend fand er ſich wehrlos
im Griff und in der Gewalt eines baumlangen, nackt¬
beinigen Schottländers mit Mütze, Schurz, Flinte und
Meſſer, — letzteres Beides ganz und gar zu ſeinem
Dienſt parat. Daß ein zweiter Gäle ſich eben bückte
und den deutſchen Magiſter und letzten Kollaborator
von Amelungsborn gleich einem ſchwarzen Rieſenmaulwurf
aus der Felſenſpalte empor zog, und daß noch ein halb
Dutzend von derſelben Art auswärtiger hoher Verbün¬
deter des Königs Friedrich in Preußen mit Spannung
Acht hatte auf das, was der germaniſche Wald und
Erdboden noch zu Tage fördern könne: das ſah er auch
— wie man Solches unter ſolchen Umſtänden eben ſieht
und ſehen kann.


Es unterlag keinem Zweifel, dieß Volk wußte aus
ſeiner Heimath her Beſcheid in Wald, Berg und Fels
und wußte die Jagdbeute nöthigenfalls auch unter die
Erde zu verfolgen. Ei, dieſe Herren verſtanden es,
den Dachs zu graben und den Fuchs im Nothfall aus¬
zuräuchern. Den ſchwarzen „Domine“ hatten ſie draußen,
lachend den Ueberraſchten, im Tageslicht Blinzelnden,
unter ſich im Kreiſe drehend und ſaſſeniſch wie keltiſch
auf ihn einredend. Daß er in fremden Zungen nur
hebräiſch, griechiſch, lateiniſch und mit „Mon dieu, mes¬
sieurs, mais — nous sommes des amis!“
zu antworten
wußte, war unter den gegebenen Umſtänden mißlich
[231] genug. Für ſein verdächtiges Franzöſiſch ſchlug man
ihm nur den Hut auf die Naſe hinab und verſetzte
ihm einige Püffe und Rippenſtöße mehr.


Aber ſchon lag Einer dieſer fremdländiſchen Schlingel
lang vor dem Loche und griff mit langem Arme
hinunter in die Felſenſpalte des Idiſtaviſus, während
zwei Kameraden ihre Flintenmündungen ebenfalls auf
den Ausgang von des Magiſters Buchius letztem, ſicherſtem
Zufluchtsort im Wirbel der Zeiten richteten.


„Uiih!“ pfiff er gellend, der Kelte oder Gäle
nämlich! Mit einen wahrſcheinlich ſcheußlichem Fluch
in ſeiner Mutterſprache fuhr er mit der Hand an den
Mund wie ein von der Katze gekratztes Kind. Die
vier blutigen Striemen, die ſie dem Junker Thedel von
Münchhauſen über die Wange gezogen hatte, hatte
Mademoiſelle dem unvorſichtigen Macmahon, Mac¬
pherſon, Macaulay oder Macintoſh über die beutegierige
rechte Fauſt geriſſen.


Er ſog auch wie ein Kind an ſeiner ſchmerzenden
Pfote, der wilde Kaledonier; aber nur einen Augen¬
blick. Im nächſten Moment griff er von Neuem zu
und in die Tiefe und hielt feſt, was er gefaßt, ohne
ſich an das Gekreiſch unter ihm, im Erdinnern zu
kümmern.


„Flegel!“ keuchte Mamſell Selinde Fegebanck, ihrer¬
ſeits im Tageslicht wieder feſten Fuß faſſend und unter
den ſchottiſchen Wilden, trotz Adlerfedern, Meſſern und
[232] Flintenläufen nach Rechts, nach Links hin eine Ohrfeige
um die andere vertheilend.


„Ihr unpolirten Lümmel, hat Euch König Fritze
dazu hergerufen?“ fragte ſie. „So'n verzotteltes, hoſen¬
loſes, rothhaariges Lumpenvolk? Da — da — da!
Wart' ich werde euch kuranzen, ihr Kannibalen! Ihr
wollt unſere Alliirten, unſere liebſten beſten Freunde
ſein? Ich danke für euch und lobe mir meine Fran¬
zoſen zu Pferde und zu Fuße. Selber die Luckner'ſchen
ſind mir noch lieber, als ihr Waldteufel, ihr Uriane,
ihr Grobiane, ihr indianiſches dudelſackrattenfängeriſches
Taterngeſindel!“


Die überſeeiſchen Wilden lachten ziemlich gutmüthig
über die erboſte, die wuthentbrannte Schöne; und das
Abenteuer fing dann erſt an eine ſchlimmere Wendung
zu nehmen, als man auch das Wieſchen und den
Knecht Heinrich Schelze aus dem Berge hervorgeholt
hatte.


Die ſchottiſchen Gebirgsleute wußten es, wie man
Felſenhöhlen auszuſuchen habe. Sie ſchlugen Feuer
und ſchickten ihre Schmächtigſten mit den Meſſern
zwiſchen den Zähnen und einem dürren, harzigen, in
Flammen geſetzten Tannenaſt in die Tiefe und Dunkel¬
heit zu genauerer Nachforſchung nach Kriegsbeute oder
auch nur nothdürftigem weiterem Marſchproviant: Deil
tak the hindmost
! Guid speed the wark! ....


Es flog des Magiſters Laterne an's Tageslicht, der
franzöſiſche Torniſter und der deutſche Ranzen. Sie
[233] fanden aber leider auch die geleerte Taſche des todten
Kameraden von der Heerſtraße bei Scharfoldendorf, und
ſtiegen aufwärts mit ihr aus dem Dolomit des Iths
und hielten ſie dem Magiſter Buchius, dem Knecht
Heinrich und dem Junker Thedel von Münchhauſen
zugleich mit den Fäuſten, Meſſern und Büchſen vor die
Naſen und baten jetzt um Auskunft in ihrer wirklichen
Mutterſprache. Sie fragten mit Oſſian, Fingal und Ducho¬
mar auf der Haide, wie die Seehundstaſche des Kriegsge¬
noſſen in die Ithhöhle und wie das Blut an die Taſche
komme? Wer von den Landeseingeborenen das Wort
nicht verſtand, dem war die Gebärde deutlich genug.
Die Fremden aus dem Norden ſprachen jetzt, gegen
zehn Uhr Morgens, unter dem „Rothen Stein“ zwiſchen
Scharfoldendorf und Eſchershauſen nicht weniger ver¬
ſtändlich mit den Kindern des Landes, als wie vorhin
die Fremdlinge aus dem Süden, gegen Tagesanbruch,
auf dem Amelungsborner Kloſterhofe. Wenn der Hiſtorio¬
graph keltiſch verſtände, würde er mit Vergnügen ſeinen
wahrheitsgetreuen Bericht auch durch dieſes Idiom ver¬
zieren, und zu Papier bringen wie es auf ſchottiſch,
gäliſch, iriſch, und ſo weiter lautet, das gute deutſche
Wort:


„Mord und Tod, hängt ſie! Schlagt ihnen die
Schädel ein! Zieht den Kerlen die Meſſer durch die
Gurgeln und nehmt die Weibsbilder mit, wenn es der
Beſchwerde werth iſt!“........


Zu der nämlichen Stunde, wie geſagt, ſo gegen zehn
[234] Uhr Morgens, ſeufzte der gute Herzog Ferdinand mit
ſeinem bunten Generalſtabe, unter ſeinen deutſchen und
engliſchen Herren auf einer Anhöhe haltend zwiſchen
Scharfoldendorf und Eſchershauſen:


„Mon dieu, dieu, lieber Weſtphalen, quelle
guerre!
Wieder ein vergeblicher Bluttag. Granby hält
die Stellung, aber Monſieur de Poyanne iſt unver¬
hindert auf dem Rückzuge nach Göttingen. Leider,
leider! — Weſtphalen, was iſt das mit Hardenberg
geweſen? Ich bitte Sie um des Himmels Willen, wo
blieb Hardenberg? Dort drüben jenſeits Stadtoldendorfs
ſollte er ſeit Stunden ſtehen, der Herr Generallieutenant
von Hardenberg. Quelle fumée épaisse la bas? Welch'
ein ſchwarzer Qualm! Das iſt nicht mehr die Artillerie.
Man ſitzt ja hier jetzo wie in der Kirche in der Stille.
Auch Mylord Granby hat ſein Feuer eingeſtellt.“


„Der Herr Marquis wünſcht ſich eben den Rücken
von uns frei zu halten, Durchlaucht. Er hat es heraus¬
gefunden, was man mit ihm im Sinne hatte, und den
Herrn Generallieutenant verſpürt er vielleicht früher
als wir hier im Anmarſch. So ſalvirt er ſich, da es
noch Zeit iſt. Er wird ſein Lager bei Stadtoldendorf
in Brand geſteckt haben, um uns die hohlen Wege durch
Feuer und Qualm zu ſperren. Durchlaucht werden
leidergottes auch heute noch nicht dem dritten ſchle¬
ſiſchen Kriege wenigſtens hier an der Weſer ein Ende
machen. Durchlaucht werden heute Mittag nur Ihr
Hauptquartier in Wickenſen nehmen können.“

[235]

Der Herzog hob ſich im Sattel und zu ſeinem mi¬
litäriſchen Gefolge ſich wendend rief er:


„Ordre an Lord Granby, mit allen Truppen, die
er vom General Conway an ſich ziehen kann, über
Vorwohle und Wenzen dem Erbprinzen unter der Hube
zum Soutien weiter zu gehen. Wir ſtecken wieder nur die
Winterquartiere ab für dies Jahr und nehmen was wir
kriegen können von unſerm Grund und Boden. Zurück
mit dem Herrn Herzog von Broglio und den übrigen
Herren Franzoſen — wenigſtens zurück über den Sol¬
ling! Gentlemen, wir rücken auf Einbeck, wo wir
leider heute unſerem Herrn Neffen, dem Prinzen Karl
Wilhelm Ferdinand, nicht die verabredete Unterſtützung
bieten konnten. Wir werden nach geordneten Umſtänden
im nächſten Monat unſer Hauptquartier in Hildesheim
nehmen und wieder nicht in Frankfurt am Main.“


Dann in ſeinem Sattel wieder zuſammenſinkend
murmelte er von Neuem:


Quelle guerre! welch' ein Krieg! welch' ein Krieg,
welch' eine Schlächterei ohne Ende!“


Ach, er hatte wohl Recht; es ſah um ihn und ſein
freundliches Herz her nur zu ſehr aus wie in einem
rieſenhaften Schlächterhauſe. Die Todten und Ster¬
benden aus Deutſchland, England, Schottland und Frank¬
reich lagen dicht geſäet rundum. Kein Baum an der
zerwühlten Heerſtraße den Ith entlang, unter welchem
nicht Verwundete vor den Rädern und den Hufen der
[236] Pferde Schutz geſucht und in der Näſſe und im ſcharfen
Herbſtwinde ſich zuſammengekauert hatten!


Der Regen hatte um dieſe Zeit wohl aufgehört,
aber der Wind war biſſiger und biſſiger geworden und
trieb fort und fort dunkles, zerriſſenes Gewölk vom
Hils gegen die Weſer, und den Brandqualm vom
Lager des Herrn Marquis von Poyanne und aus den
Defilés bei Stadtoldendorf dem Herrn Generallieutenant
von Hardenberg grade in's Geſicht — wenn er noch
im Anmarſch ſein ſollte. Der Herzog ſah immer noch
nach derſelben Richtung und griff nur von Zeit zu Zeit
mechaniſch an den Hut, wenn ihn die im ununterbroche¬
nen Zuge an ihm vorbei gegen den Hils marſchirenden
einheimiſchen und fremdländiſchen Truppen durch wilde
Zurufe grüßten. Weſtphalen, der treue Mann, blickte
mit immer größerer Sorge auf ſeinen Herrn. Er ſah
ihn unter den Nachwirkungen des böſen Fiebers von
Ohr fröſteln, ach, und er kannte nur zu gut den Cha¬
rakterunterſchied zwiſchen ſeinem großen Feldherrn, dem
kriegsgewaltigen Schützer des deutſchen Weſtens, und
jenem im Oſten, der eben vielleicht wieder einmal auf
einem ſeiner Schlachtfelder mit erhobenem Krückſtock
grollte:


„Wollen die Racker denn ewig leben?“...!


Ganz vergeblich wendete ſich Weſtphalen auf ſeinem
Sattel und ſah ſich nach einem Troſt und einer Auf¬
richtung unter den engländiſchen, ſchottiſchen, bückeburgi¬
ſchen, hannöverſchen, heſſiſchen, braunſchweigiſchen,
[237] preußiſchen Herren des Generalſtabes um für ſeinen
Gönner.


„Vom Herrn Generallieutenant von Hardenberg,
Durchlaucht, — Lieutenant von Münchhauſen von den
hannöverſchen Jägern unter Obriſtlieutenant Friederichs,
herzogliche Durchlaucht,“ ſagte in dieſem Augenblick,
militäriſch grüßend, dicht neben dem Schimmel des Feld¬
herrn ein Individuum, das dem Koſtüm nach nichts vom
Soldaten an ſich trug, aber von allem heutigen Waſſer-
und Erdbrei zwiſchen der Weſer und dem Flecken
Eſchershauſen von der Pudelmütze bis zu den Bauer¬
ſchuhen die ausgiebigſten Spuren. Und daß es durch
Buſch und Dorn gekrochen war, Felsabhänge hinaufge¬
klettert und hinabgerutſcht war, ſah man ihm auch an.


Aber dem Herzog Ferdinand von Braunſchweig ſah
man in dem nämlichen Moment von Müdigkeit und
Melancholie nicht das Geringſte mehr an. Und wer
von ſeinem gütigen Herzen, ſeiner Politeſſe gegen Jeder¬
mann das Allerbeſte hatte rühmen hören, und ihn jetzo
vernahm, der mochte ſich wohl betroffen hinter dem Ohre
krauen und ſich vorſichtig bei Seite drücken. Der gute
Herzog Ferdinand, ſich wieder im Sattel bewegend,
zeigte dem Boten des Herrn Generallieutenants von
Hardenberg auf das Kräftigſte, wie grob das Haus
Braunſchweig bei vorkommenden Gelegenheiten ſein und
wie grimmig es Gottes Ebenbilder im Drange der Ge¬
ſchäfte dieſer Erde anſchnauzen könne.


„Hardenberg?! Herr, der Satan ſoll Ihm und
[238] Seinem Herrn von Hardenberg auf die Köpfe fahren.
Messieurs, messieurs, wo ſteckt ihr, wo bleibt ihr? Wir
würgen uns ſeit der Nacht nach ordre de bataille und
disposition de marche durch die Berge und den Feind;
aber Seiner Excellenz dem Herrn Generallieutenant
preſſirts beileibe nicht. Er reibet ſich wohl noch in
Bodenwerder die Augen unter ſeiner Schlafhaube?
Muß man denn überall ſein, um die Herren an ihren
Zöpfen aus dem Sumpfe zu ziehen? Seit vier Stun¬
den ſollte der Mann drüben zwiſchen dem Solling und
uns ſtehen mit den Herren von Poyanne, Chabot und
Guerchy zwiſchen uns im Sack. Sperr' Er das Maul
auf, rede Er, Lieutenant von Münchhauſen: was hat
Hardenberg mir zu ſagen?“


„Monseigneur, Seine Excellenz werden erſt am
Nachmittag vor Stadtotdendorf ſein können,“ ſprach der
Mann im zerzauſten Bauernkittel, und der Herzog, ſich
rückwärts wendend, meinte, jetzt wieder mit etwas ge¬
laſſenerer Stimme:


„Lieber Weſtphalen, wollen Sie ſich Das für's Erſte
für unſern Bericht an Mylord Bute in London merken.
Ich bitte auch die engliſchen Herren, näher heran zu
reiten. Wollen Sie weiter erzählen, Herr Lieutenant
von Münchhauſen. Traduisez, Weſtphalen. Dolmet¬
ſchen Sie's nach Möglichkeit genau den Herren, was
uns der Herr Generallieutenant ſagen laſſen.“


„Excellenz laſſen unterthänigſt vermelden, daß Sie
wohl ſelber zu richtiger Stunde, wie befohlen, bei
[239] Bodenwerder angelangt ſind, aber mit dem allerbeſten
Willen die ſchweren Pontons auf den ſchlechten Wegen
nicht an den Fluß haben bringen können. Sie haben
daher vor's Erſte uns Jäger durch die Weſer ſchwimmen
laſſen und hat man auch die feindlichen Poſten den
Heinſer Wald entlang bis Polle und Forſt delogirt,
während dem Brückenſchlag. Herr Obriſtlieutenant
Friederichs —“


„Laſſe Er mich mit Seinem Obriſtlieutenant Friede¬
richs in Ruhe, Herr,“ ſchnauzte der Herzog. „Wann
Hardenberg mit ſeiner Brücke fertig geworden iſt, möchte
ich erfahren. Aber, exactement, Herr Lieutenant von
Münchhauſen. Keine écarts, bitte ich, point de visions,
keine entortillements, keine Verkleiſterungen; kurz, die
Wahrheit, Herr! wann beliebte es Seiner Excellenz mit
ſeiner Brücke fertig zu werden?“


„Halten Durchlaucht zu Gnaden, ein Freiherr von
Münchhauſen ſpricht nur die Wahrheit,“ ſagte der
Lieutenant bei den hannöverſchen Jägern, Freiherr
von Münchhauſen, ebenſo ruhig wie ſein größerer
Stammesverwandter in ruſſiſchen, osmaniſchen und
andern Dienſten. „Um ſieben Uhr, leider erſt bei Tage,
haben die Truppen den Fluß paſſiren können, und ſo
melden Excellenz allergehorſamſt, daß Sie, nachdem Sie
drei Bataillons und vier Eskadrons zwiſchen Rühle und
dem Vogler zur Deckung der Defilés vorgeſchoben haben,
nunmehr auf dem Wege nach Stadtoldendorf ſind —“


„Um den Herrn von Guerchy nach Holzminden und
[240] den Herrn von Poyanne bequem nach Daſſel entwiſchen
zu ſehen. Ich bitte die engliſchen Herren, noch ein
wenig näher heran zu reiten. Da Sie die Wege ſelber
kennen gelernt haben, würde es mir lieb ſein, Messieurs,
Sie für den Herrn Generallieutenant von Hardenberg
und mich um Ihre Meinung angehen zu können, wenn
im Parlament die Rede auf den heutigen Morgen
kommen ſollte. Weſtphalen, ſein Sie ſo exakt als
möglich bei Aufſtellung unſeres Verbrauchs an Menſchen,
Geld und Kriegsmaterial. Gentlemen, das Haupt¬
quartier iſt in Wickenſen, wo wir Hardenberg zu er¬
warten haben! C'est à Scharfoldendorf, où messieurs,
les generaux anglais se trouveront en quartier.

Wollen Sie die Dispoſitionen treffen, Weſtphalen, und
im Auge zu behalten, daß der Marſch, womöglich ohne
Stockung, jetzt auf Einbeck geht.“


„Mylord Granby und Generallieutenant Conway
ſind bereits über Vorwohle hinaus, wie ſie melden
laſſen, Durchlaucht.“


„So wollen wir ihnen denn ſachte nach Wickenſen
nachreiten,“ ſeufzte der gute Herzog Ferdinand. „Meine
Herren, wir werden unſer Winterquartier leider nicht
in Frankfurt am Main nehmen. Das werden wir
wieder, der Pontons des armen Hardenberg wegen,
dem Herrn Herzog von Broglio überlaſſen müſſen.
Ja, die Witterung wird ſchlecht, es geht in den Winter;
wir müſſen nun in Einbeck Halt machen, da es nicht
anders ſein kann. Auch Hildesheim iſt ja eine ange¬
[241] nehme Stadt. Wir werden unſer Hauptquartier in
Hildesheim nehmen: was ſagen Sie dazu, Weſtphalen?“


„Ich bin ganz Eurer Durchlaucht Meinung,“ ſagte
Weſtphalen; und Herzog Ferdinand von Braunſchweig,
mehr und mehr auf ſeinem müden, dampfenden, ſchnau¬
fenden Gaul in's Nachdenken über ſeine ferneren Dis¬
poſitionen verſinkend, murmelte: „Ja, ja, ſo wird's gehen
müſſen: Luckner bleibt nach uns in Einbeck und über¬
nimmt hier die Poſtirungskette. Unter ihm General¬
major von Veltheim in Holzminden, Generalmajor von
Mansberg in Oſterode“.


„Die königlich großbritanniſchen Völker werden Eure
herzogliche Durchlaucht wieder zurück über die Weſer,
in's Weſtfäliſche, legen?“ fragte Weſtphalen.


„Wir werden das mit Lord Granby arrangiren
müſſen, mon chèr! ... Sind Sie von den Boden¬
werderſchen Münchhauſens, Herr Lieutenant von Münch¬
hauſen: oder von den Bevernſchen?“


„Von den Bodenwerderſchen, zu Eurer Durchlaucht
Befehl.“


„Haben oder hatten Sie nicht einen Vetter oder
Oheim, jedenfalls einen Stammes- oder Namensver¬
wandten, in ruſſiſchen Dienſten?“


„Durchlaucht unterthänigſt zu dienen, der Herr Ritt¬
meiſter ſtammt von der Bodenwerderſchen Linie.“


„Das ſoll ein feiner Kopf ſein, und gute Hiſtorien
ſoll er erzählen können. Er hat mir aber auch eine
ſaubere Geſchichte berichtet, Lieutenant von Münchhauſen,
Raabe, Das Odfeld. 16[242] von den Pontons des Herrn von Hardenberg. Eine
leider wahre, wahre, wahre Geſchichte! Ich wollte, ſie
ſtammte auch —“


Er unterbrach ſich, oder er wurde vielmehr unter¬
brochen; denn in dieſem Augenblick überſchrillte eine
jammernde Weiberſtimme den ganzen Lärm ſeines
ziehenden Heeres:


„Herr Prinz, Herr Herzog! Herr Herzog Ferdinand!
liebſter Herr Herzog von Braunſchweig, ſie haben den
Junker von Münchhauſen todtgeſchlagen und wollen den
Herrn Magiſter an den Baum hängen und meinem
Heinrich die Hoſen abziehen und ihn als wilden Eng¬
länder mit in's Feld nehmen. Und ich bin ja Sein
Wieſchen vom Wege nach Lübbeke, und hier iſt Sein
Rockknopf, lieber Herr Herzog Ferdinand, und ich will
ja in Seinem Moſthauſe in Braunſchweig gar nichts
mehr von Ihm, wenn Er allbarmherzig uns nur jetzo
heraushilft! Helfe Er uns bloß nach Eſchershauſen
vor das Gericht, unſere Unſchuld an dieſem Kriege und
Unbilden zu erweiſen, liebſter, allerbarmherzigſter Herr
Herzog Ferdinand!“

[[243]]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Er iſt inſolvent geſtorben der Sieger von Crefeld
und Minden, der mildherzige Gutsherr von Vechelde,
der gute Herzog Ferdinand von Braunſchweig. Nun
liegt er ſchon lange im Dome zu Braunſchweig in der
Gruft, über welcher geſchrieben ſteht: Hic finis invidiae,
persecutionis et querelae
, und er liegt da in einem
Hemde, das von rechtswegen nicht ihm, ſondern ſeinen
Gläubigern gehörte. Er hat im Laufe ſeines Lebens
nicht bloß die ſilbernen Knöpfe von ſeinem Uniforms¬
rocke weggegeben, er hat auch wohl den Rock ſelber ver¬
ſchenkt, wenn er „ein Elend nicht länger anſehen“ konnte.
Er hat nach und nach Alles weggeſchenkt, was er an
irdiſchem Eigenthum beſaß; denn es iſt ihm viel Elend
auf ſeinem Wege durch's Leben begegnet; im Kriege
wie im Frieden, auf ſeinen Schlachtfeldern wie auf den
Roggen- und Weizenfeldern um Haus und Dorf Vechelde.

Der alte Fritz hat ihm ſeinerzeit auch den Stuhl
vor die Thür geſtellt, nach dem ſiebenjährigen Kriege
natürlich, und hat ihn höchſtens für einen fou genereux
erklärt; und der Neffe Karl Wilhelm Ferdinand hat ihn
[244] wohl häufig kurz le vieux fou de Vechelde genannt;
aber —


Vivat Ferdinandus dux!.. Vive Monseigneur, le
bon duc Ferdinand!... Three cheers for prince
Ferdinand, good prince Ferdinand!...
Es lebe Fer¬
dinand der Gute, der gute Herzog Ferdinand von Braun¬
ſchweig und von Bechelde!


Und er lebt und wird leben, der große Feldherr
und Menſch mit dem mitleidigen und fröhlichen Herzen,
er der Menſchlichſte ſeines dickköpfigen, ſtarrnackigen,
aus dem Groben zugehauenen Stammes. Und es iſt
noch lange nicht das Aergſte, als zahlungsunfähiger
Gutsherr von Bechelde und als Ehrenpräſident des
Großen Klubs zu Braunſchweig zu ſterben! Man darf
bei Berichten, wie dieſer vorliegende, ja nicht zu weit
um ſich faſſen und tief eingreifen in ſeiner Helden
Daſeinsverlauf. Man kommt da auf wunderliche
Dinge und nachher auf ſonderbare Gedanken und Be¬
trachtungen.


Zum Exempel, der Herzog Victor Franz von Broglio
hat noch den König Ludwig den Sechszehnten köpfen
und den Napoleon Bonaparte auf ſeinen Kaiſerſtuhl
ſteigen ſehen müſſen. Und gar der Generallieutenant
Luckner iſt däniſcher Graf und franzöſiſcher Marſchall
geworden; aber auch ſelber geköpft, — unter die neue
Erfindung, die Guillotine, gelegt worden — zu Paris
im Jahre 1794 als ein alter Herr, der ſich in ſeiner
Jugend Dieſes auch nicht vermuthet hatte.


[245]

Eben treiben ſie die Helden von Amelungsborn,
wie ſie die aus den Schluchten, Klüften und Höhlen
des Iths herausgeholt haben, dem guten Herzog Fer¬
dinand in den Kriegspfad; und daran und an den
heutigen Tag allein wollen wir uns halten und nicht
zu weit in die Zukunft ſehen. Sie hatten aber nicht
nur den Magiſter Buchius und ſeine Geſellſchaft aus
ihrem Unterſchlupf vor dem ſchlimmen Zeitenwetter
herausgegraben, ſondern ſie hatten auch das halbe Dorf
Holzen aus der größeren unterirdiſchen Kommodität im
Drange der Zeit, aus der auch heute noch vorhandenen
berüchtigteren und berühmteren Höhle am „Rothen
Stein“ hervorgezerrt.


Victoria! Trotz alles ſtrategiſchen Zukurz- und
Zuſpät-Kommens hatte ja doch der Feind den Kürzern
gezogen und der Freund die Oberhand behalten. Da¬
für, daß das letztere für den Gelehrten aus Amelungs¬
born und ſeine Geſellſchaft, für die Alten, die Weiber,
die Kranken, die Kinder aus Holzen im beſagten
„Drange der Zeiten“ ganz einerlei war, was die Be¬
handlung anbetraf, dafür konnte Keiner, unſer Herrgott
abgerechnet. Auch den hohen Alliirten war es ſo wenig
recht wie den Schelmen-Franzoſen, wenn ſich die ein¬
geborene Bevölkerung auf dem Kriegstheater mit ihrem
Vieh und ihren beweglichſten Habſeligkeiten und vor
Allem mit ihren Lebensmitteln in Wald und Fels
lieber verkroch, als daß ſie gutwillig mit den beſten
Freunden getheilt hätte.


[246]

Das Herz des Herzogs Ferdinand mochte ſich wohl
bewegen, wie es ſich jetzt vom Ith herunter, vom
Rothen Stein her, auf der Landſtraße zwiſchen Scharf¬
oldendorf und Eſchershauſen ihm unter ſeinen ziehenden
Truppen andrängte, Groß und Klein, Mann und Weib,
in Lumpen und Thränen:


„Lieber Herre, nach Ihm haben wir ja immer
ausgeguckt! ... Herr Herzog, Herr Herzog, ich bin ja
auch aus Bevern! ... Liebſter Herr Prinz Ferdinand,
ich bin ſo ein alter Mann, ich habe bei Seiner Frau
Mutter in Antoinettenruhe im Garten gegraben! ...
Und ich habe bei Seines Herrn Vaters Tod die Glocke im
Kirchthurm geläutet. Helfe Er mir aus dem Elend,
Herre Durchlaucht, ich bin auch des Herrn Bruders
Landeskind und hier zu Hauſe und habe noch einen
Jungen unterm Herrn Erbprinzen, und Zweie liegen
ſchon begraben, Einer in Böhmen unterm König Fritzen
und Einer unter Ihm ſelber bei Minden!“ ...


„Und ich habe Seinen Rockknopf, Durchlaucht Herr
Herzog, als Zeichen, daß Er mir helfen will; und das
iſt der Herr Magiſter Buchius, und da bringt mein
Heinrich auch mit blutigem Kopfe den Junker von
Münchhauſen, und das iſt Mamſell Fegebanck, des
Herrn Kloſteramtmanns vornehme Jungfer Nichte, der
ſie auch die Falten aus dem Rock geriſſen haben. Und
meinen Heinrich wollen ſie jetzt mir mit Gewalt unter's
Volk nehmen, nachdem ich's ihm mit Jammer und
Noth ausgeredet habe geſtern Abend, als er gutwillig
[247] drunter wollte, weil ihn der Herr Amtmann in der
Zornwuth mit dem ſpaniſchen Rohr über die Fauſt
geſchlagen hatte!...“


Mit zerfetzten Kleidern die Weiber; die Männer
auch; aber dazu mit blutigen Köpfen, mit Beulen von
Kolbenſtößen und mit blauen, blutrünſtigen Striemen
von der flachen Klinge! Alle zerzauſt, halb verhungert,
triefend vom Regen, zitternd im Novemberwind, im
Schlamm der Heerſtraße verſinkend —


„Weſtphalen, Weſtphalen, ſehen Sie, was zu thun
— ſehen Sie, wie den Leuten zu helfen iſt! Kinder,
reißt mich vom Gaul, zertheilt mich unter euch; aber
kommt mir jetzt nicht in den Weg. Ja, Du Kind, armes
Kind, Dir bin ich ſchon einmal begegnet auf eben
ſolchem ſchlimmen Wege. Das iſt mein Wahrzeichen,
mein Rockknopf. In Braunſchweig ſollteſt Du damit
zu mir kommen. Biſt Du auch aus Bevern?“


„Nein, Herr Durchlaucht Ferdinand. Nur aus dem
Halberſtädt'ſchen; aber mein Heinrich iſt aus Lenne
und der Herr Kloſteramtmann —“


„Das geht da vorn gar nicht voran! Lord Fre¬
deric Cavendiſh, ich bitte Sie!... the welsh Fusiliers
ſchärfer nach in die Berge! Nicht vor die Füße ſehen!
Vorwärts und durch! Kann Bibow mit den braun¬
ſchweigiſchen Karabiniers nicht um den Lagerbrand herum
dem Herrn Marquis von Poyanne plus energiquement
auf den Hacken bleiben?... Ja, Kinder, Kinder, es wird
noch Alles gut werden! Ihr ſeid da aus dem Dorfe, Leute?
[248] aus Holzen? Nun, das ſteht ja gottlob noch, und ihr
ſollt jetzt die Dächer überm Kopfe behalten, was ich
dazu thun kann. Man hat's uns unverbrannt gelaſſen
und wir marſchiren heute noch weiter und moleſtiren
euch nicht mehr. So geht nach Hauſe, ruhig nach Hauſe,
mit Gott nach Hauſe; es wird ja Alles wieder gut
werden — nur Geduld, Geduld. O Geduld, Kinder;
wer muß mehr Geduld an dieſem Tage und grade hier
haben als Ferdinand von Braunſchweig-Bevern?“


Sie hatten den Junker von Münchhauſen vom Be¬
vern'ſchen Aſt des berühmten Geſchlechts doch gottlob
noch nicht ganz todtgeſchlagen, wie Wieſchen meinte. Er
hatte ſein Theil von den Schotten nicht einmal ſo ſchlimm
gekriegt, wie ſein guter Kamerad Heinrich Schelze das
ſeinige am Morgen von den Franzoſen. Er war doch
noch einmal, trotz ſeines ſchlimmſten feſteſten Vorneh¬
mens, für Mamſell Selinde Fegebanck eingetreten, und
dabei hatte er's ſelbſtverſtändlich ebenfalls über den
Schädel und die Naſe bekommen, und es war ihm mit
dem Kolben gelauſt worden.


Aber er war noch ziemlich auf den Beinen und ver¬
mochte es, ſich durchzudrängen und den Reiterſtiefel des
Herzogs zu umfaſſen:


„Durchlaucht, ich weiß noch beſſer Beſcheid in der
Gegend wie mein Herr Vetter da! Ich bin der Letzte
von der wirklichen Wald- und Wildſchule Amelungs¬
born und bringe Reiterei und Geſchütz am Pfeffelsberge
und Scheelehufsberge her über den Katthagen an die
[249] Hunde; wenn Sie mich zu Pferde und nach der Front
nehmen! Monſeigneur, der Herr Magiſter Buchius
weiß, daß ich die Gegend kenne und mir darin zu
trauen iſt!“


Der Lieutenant unter den hannöverſchen Jägern,
der Herr von Münchhauſen von der Bodenwerder'ſchen
Linie, ſtand und faßte den Verwandten erſt am Zopfe,
nachdem er ſich mühſam in ſeiner Verwunderung gefaßt
hatte:


„Kerl, reitet Ihn der Teufel? Vor Blut und Koth
erkennt man ſein eigen Blut nicht. Wie kommt Er
hierher, Thedel? Hat man Ihn denn nicht an ſieben
Ketten zu Holzminden gelegt?“


„Zu Ihnen, mon cousin, Herr Vetter, wollte ich,“
rief der Wildſchützenſchüler außer ſich. „Jetzt einen
Gaul auf der Franzoſenfährte, nachher eine Büchſe unter
dem Herrn Vetter. Ein Sponton, ein Portepee unter
dem Herrn Herzog Ferdinand! Vivat Fridericus! vivat
Ferdinandus! Den letzten Blutstropfen für den König
Fritzen und den Herrn Herzog Ferdinand!“


Der gute Herzog Ferdinand ſchüttelte nur den Kopf
und ſeufzte, aber voll Unruhe und Ungeduld nach den
Bergen im Süden ausſchauend; dann rief er doch: „Er
iſt auch ein Münchhauſen und will uns helfen, noch ein¬
mal die Reiterei an den Feind zu bringen? Junger
Menſch, kann man Ihm trauen?“


„Parole de Münchhausen, Monseigneur!“


„Man helfe beiden Herren von Münchhauſen zu
[250] Pferde. Was haben wir noch von unſerer Cavallerie
hier bei Eſchershauſen zur Dispoſition, Weſtphalen?“

„Die beiden Schwadronen von den Elliots
Durchlaucht, die Greys, Ancram, Moyſtin, Bauer und
Riedeſel ſtecken leidergottes ſchon vor Stadtoldendorf in
den Wäldern und hohlen Wegen feſt.“


„Wollen die Herren von Münchhauſen mit den
Elliots reiten und denſelben die Wege zeigen um die
linke Flanke des Feindes.“


„Magiſter Buchius, jetzt holt ſich auch Amelungs¬
born ſeine Ehren auf Wodans Felde!“ jauchzte Thedel
von Münchhauſen ſchon aus dem Sattel eines engliſchen
Reiterpferdes. „So bin ich hundertmal im Traum über
Sein Odfeld geritten, Magiſter Buchius! Es lebe die
große Schule von Amelungsborn, und kommen Sie gut
nach Hauſe, und grüße Sie den Herrn Oncle, Mamſell
Selinde. Vivat Ferdinand! den letzten Blutstropfen für
Bevern und den Herzog Ferdinand! Huſſaſah, Vetter
von Bodenwerder!“


Messieurs, comme c'est dit, das Hauptquartier
heute iſt in Wickenſen — morgen in Einbeck und
dann in Hildesheim. Wir ſtecken eben nur wieder
die Winterquartiere ab, meine Herren,“ ſeufzte der
Herzog, den abſchwenkenden Reitern nachblickend. „Wo
iſt das Kind mit meinem Rockknopf?“


„Hier, allerhöchſter Herre,“ ſchluchzte Wieſchen.
„Und dies iſt mein Heinrich, und wenn Sie ihn mir
nur laſſen wollten, ſo wollte ich Sie ja auch gar nicht
[251] mehr in Braunſchweig mit mir moleſtiren. Und wenn
Sie es nur dem Herrn Amtmann von Amelungsborn
mit einem einzigen guten Worte für uns ſagen wollten!
Hier iſt der Herr Magiſter, der kann es uns bezeugen,
daß es kein Menſch beſſer in der ſchlimmen Zeit mit
Kloſter Amelungsborn meint, als wie mein Heinrich.
Und wenn er geſtern Abend noch mit unter das Volk
wollte, jetzo will er's gewiß und wahrhaftig nicht mehr.
Alſo bitte ich um Gott und Jeſus, laſſe Er ihn los,
Durchlaucht Herzog Ferdinand, laſſe Er uns los. Der
Herr Magiſter kann es uns Allen bezeugen, daß wir
nur arme ſchlichte Leute ſind und beinahe zuviel aus¬
ſtehen müſſen, weil es der liebe Herrgott ſo will.“


Der Sieger von Crefeld und Minden ſah nun zum
erſten Male im Gedränge des heutigen Tages genauer auf
den Magiſter, und der Magiſter Buchius ſtand mit
der Mamſell Fegebanck an ſeinem Arm und dem Hut
in der Hand, wie ein Verzückter, wie als wenn es kein
Gedränge des Tages und des Lebens gäbe, und ſah
ſeinen Heros im Felde und im Leben, ſah zum erſten
Male ſeinen guten, ſeinen großen, ſeinen guten Herzog
Ferdinand vom Bevernſchen Aſte, und — er war auch
aus Bevern und es war ihm kein Zweifel, daß ſie
Beide aus Einem Neſte waren und ſich an den
Federn erkennen mußten, wenn — ſie bloß Zeit dazu
hatten.


Leider hatte der Feldherr, der im Weſten des römi¬
ſchen Reichs deutſcher Nation den ſiebenjährigen Krieg
[252] auf den Schultern trug, keine Zeit, und der Magiſter
Buchius wußte das.


„Bitte den Herrn, ſich zu bedecken,“ ſagte er, der
Herzog, gleichfalls den Hut höflich lüftend. „Kann ich
dem Herrn dienen? Oder kann mir der Herr ſelber
rathen, wie dieſen armen Leuten hier zu helfen iſt?“


Wir haben es ſchon geſagt, daß der alte Schul¬
meiſter gleich einem Verzückten ſtand; doch wir müſſen
es noch einmal ſagen.


„Durchlaucht — Monseigneur — größeſter Held,“
ſtammelte er, immer den Helden- und Biedermann auf
dem Schimmel glänzenden Auges betrachtend und alles
Uebrige um ſich her vergeſſend. „Durchlauchtiger Herr
— mächtiger Kriegesfürſt, ach, daß doch Euer Durch¬
laucht unter ſo unruhigen Umſtänden in unſerer und
Hochdero Heimath-Gegend arriviren müſſen. Durch¬
lauchtigſter —“


„Ich bitte doch ein wenig kürzer,“ lächelte der
gute Herzog, trotz ſeiner Eile mit vollem Wohlwollen
und Verſtändniß; aber wie hätte Magiſter Buchius ſich
kurz, ja nur kürzer faſſen können?


„Durchlauchtiger Herr und Herzog von Braun¬
ſchweig, Lüneburg und Bevern, ich bin auch aus Bevern.
Mein Name iſt Buchius — dies hier iſt die Made¬
moiſelle Fegebanck, des Herrn Kloſteramtmanns von
Amelungsborn Nichte und Vetterstochter, und ich bin
der letzte wirkliche Kollaborator der weiland berühmten
großen Schule zu Kloſter Amelungsborn, und was hätte
[253] ich für mich wohl zu erbitten, da ich augenblicklich meines
höchſten Wunſches Erfüllung theilhaft werde? Der liebe
Gott ſegne Sie auf Ihren ſchweren, blutigen Wegen,
gnädigſter lieber Herzog Ferdinand, und reiten Sie
nur ruhig weiter
! Wir werden ja auch ſchon ſehen,
wie wir mit Gottes Hülfe durchkommen. Wir werden
durchkommen gut oder ſchlecht, Durchlaucht; aber der
alte Magiſter Buchius von Amelungsborn, der Sie
mit ſeinen Unbequemlichkeiten auf Ihrem ſchwerſten
Wege unnöthig aufhielte und moleſtirte, der würde ſich
darob die bitterſten Vorwürfe und Reprochen machen.
Reiten Sie ruhig zu, Euer Durchlaucht, und kümmern
ſich nur ja nicht um was Anderes als ſich ſelber;
das iſt das Beſte für uns Alle! Der allerhöchſte Gott
ſegne und erhalte den Herrn Herzog auf ſeinem ſchweren,
ſchweren Wege!“


„Herr?!“ ... ſagte und fragte der Herzog, nie
in ſeinem Leben ſo wie jetzo verwundert über einen
Menſchen, deſſen Bekanntſchaft er machte. Er ſah ſich
auch fragend im Kreiſe ſeiner Begleiter um und blickte
vor Allem jetzt wie um genauere Auskunft auf ſeinen
Freund Weſtphalen.


Darauf aber zog er den Handſchuh von ſeiner
Rechten und reichte ſie vom Pferde herab dem größeſten
Kollaborator von Amelungsborn, dem Magiſter Noah
Buchius, und ſchüttelte die feſtgefaßte, verſtändnißvoll
feſtgehaltene hagere, naſſe, verklammte Schulmeiſter- und
Freundes-Hand:

[254]

„Mein lieber Herr Magiſter, ich danke Ihnen ganz
recht höflich. Vraiment, ich danke von ganzem Herzen;
denn ſo wie der Herr jetzt hat noch Keiner den zer¬
plagten Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg auf
ſeinen ſchlimmen Wegen ein braves Wort geſagt! Und
ich hatte es nöthig — hatte es nöthig, heute mehr als
ſonſten. Magiſter Buchius von Amelungsborn, wenn
ich recht verſtanden habe? Ja, ja, mein lieber Herr
Magiſter, Sie wären mir auch willkommen in Braun¬
ſchweig im Bevern'ſchen Schloß — im Frieden —
wie das arme Mädchen hier. Kind, leider iſt noch
immer nicht die Zeit gekommen, wo ich mich mit Dir
hinter den Ofen ſetzen könnte, um von den Tagen, die
uns Beiden nicht gefallen konnten, das Genauere zu
hören und zu erzählen. Und der junge Menſch, dieſer
zweite junge von Münchhauſen, gehörte auch zu dem
Herrn Magiſter? Lieber Weſtphalen — ja, aber auch
Sie haben keine Zeit — Herr Magiſter Buchius, das
Hauptquartier iſt heute in Wickenſen; ich kann Sie mit
Ihrer Geſellſchaft nicht dorthin invitiren; aber wenn es
mir möglich iſt, werde ich in Amelungsborn nach Ihnen
nachfragen laſſen. Ah, Monſieur — Herr Hauptmann
von Meding, wollen Sie dafür ſorgen, daß die Leute
von Amelungsborn und der Herr Magiſter wenigſtens
augenblicklich aus dem Gedränge kommen. Au revoir
alſo, mein lieber Herr Magiſter Buchius. Wie geſagt,
Sie haben in Wahrheit ein wackeres Wort zu mir ge¬
ſprochen, und es iſt in Wahrheit mein Wunſch, daß
[255] auch wir uns bei beſſerer Gelegenheit und in mehrerer
Ruhe noch einmal wieder begegnen mögen.“


Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg und
Bevern hob noch einmal freundlich den Hut vom Kopfe
und ritt langſam weiter mit ſeinem buntſcheckigen Ge¬
folge von deutſchen und engliſchen Herren. Magiſter
Buchius ſtand immer noch mit der Mamſell Fegebanck
am Arm und Heinrich und Wieſchen von Amelungsborn
zur Seite, und ſah dem großen Feldherrn nach, voll¬
ſtändig entrückt nicht nur dem augenblicklichen Gedränge,
ſondern allem und jeglichem Erdentumult, Drangſal
und Wirrſal. Auch er hatte ſeinen Troſt bekommen
am heutigen böſeſten Tage. Er hatte ihn abgeleſen
von dem klugen, guten, zornvoll-kummervollen Geſicht
des braven Mannes, den ſie damals als den Zweit¬
größeſten in den Schlachten ihrer Zeit rechneten und
der dießmal wiederum nichts weiter vermochte als im
Vorbereiten ein herzlich bedauerndes und freundlich
tröſtendes Wort vom Gaul in den ihn umdrängenden
Jammer hinein zu ſprechen. Oft hatte der Magiſter
in ſeinem Leben mit dem Lächeln der Entrückung, und
natürlich dazu mit halboffenem Munde, geſtanden im
Strudel deſſen, was man die Menſchheit nennt; aber
nie ſo wie jetzt. Er ſah den Heros in das an dieſem
fünften November auch ſehr ungemüthliche und von
Freund und Feind nach Bedürfniß zugerichtete Eſchers¬
hauſen hineinreiten. Erſt nachdem der letzte Zipfel
ſeines Gefolges im Ortseingange verſchwunden war, und
[256] die marſchirenden Truppen wieder rückſichtsloſer zu¬
drängten, fand er ein Wort zwiſchen den Ellenbogen¬
ſtößen, Fußtritten, den Hufen und Rädern für die Höf¬
lichkeiten des Herrn von Meding.


Dem Herrn Hauptmann von Meding erſchien ſein
empfangener Auftrag zum mindeſten ſonderbar an einem
Tage wie der heutige. Verdrießlich ſchnarrte er:


„Herr Cantor, wenn Er mir nun raſch ſagen will,
wie grade ich Ihm und Seiner Compagnie bequem nach
Hauſe helfen kann, ſo ſoll's mir lieb ſein. Aber zum
Teufel, beeile Er ſich nach Möglichkeit. Er ſieht, wie
es uns auf den Nägeln brennt.“


Magiſter Buchius verrichtete, ſelbſt zwiſchen den
Gamaſchenſchuhen, den Ellenbogen, Rädern und Pferde¬
hufen, ſeine Courtoiſie gegen den Herrn Kapitän mit
merklich klarerer Beſinnlichkeit als wie gegen Seine
Durchlaucht den Herzog Ferdinand den Guten. Er
machte ſein untadelhaft Compliment, indem er ſprach:


„Euer Gnaden ſollen ſich doch nicht bei uns auf¬
halten. Wenn der Herr Kapitän die große Gütigkeit
haben werden, uns aus dem Heereszug der hohen
Alliirten —“


„Herr, halte Er mich nicht durch langes Geſalbader
auf. Sage Er brevement, in welchem warmen Ofen¬
winkel ich Ihn mit Seiner — Seiner Weibsbagage
abzuſetzen habe. Amelungsborn! Was iſt das? Kloſter
Amelungsborn? Nun, Seine Durchlaucht haben befohlen
— he, Kerl, Er da, Korporal Baars, gehe er doch mal
[257] mit den Leuten ſo weit es nöthig iſt — bis an die
nächſte Ecke. Weiſe Er ihnen, wo der Satan den
bequemſten Weg nach dem — den Amelungsborn offen
gehalten hat, wenn Er's weiß.“


„Zu Befehl, Herr Hauptmann,“ ſprach der Korporal,
und der Hauptmann von Meding den Hut berührend,
ſagte mürriſch-eilig:


„Alſo, bon voyage, Herr Küſter. Madam oder
Mamſell, ich empfehle mich,“ und ſo ritt er, ſo raſch
das Gedränge zuließ, ſeinem Feldherrn nach, auch hinein
nach Eſchershauſen, um ſeinen Platz im Stabe und ſein
beſſeres Unterkommen im Hauptquartier ja nicht zu lange
aus den Augen zu verlieren. Verdenken konnte man
es ihm nicht.


„Kotz Mohrenelement,“ ſchnauzte aber jetzo, nachdem
der Vorgeſetzte aus Hörweite war, Korporal Baars mit
dem Gewehrkolben aufſtoßend, „das heiße ich auf die
Taternjagd kommandirt werden! Na meinetwegen.
Hier, mal zwei Kerle mit'm Herrn Paſtor und ſeiner
Cumpanei aus'm Wege. Ihr habt gehört, was der
Herr Hauptmann befohlen haben, und das gluhe Donner¬
wetter euch über die Köpfe, wenn ihr mir nachher beim
Appell fehlt. Himmel, Hölle, der Satan und ſeine
Großmutter, läuft Einem auch noch ſo was zwiſchen
die Beine, wo man ſchon genug über Leben und Tod
und durch den Schmaratz bei Tage und bei Nachte
weg zu ſteigen hat! Angeſchloſſen, ihr Anderen —
ſakerment, könnt's ja ſonſten nicht weich genug kriegen,
Raabe, Das Odfeld. 17[258] nu iſt euch der Boden wohl wieder zu weich. Na
Gnade Gott, wer mir mit ſeinen Pontons ſtecken bleibt,
wie der Herr Generallieutenant von Hardenberg heute.
Fühlung, Kerls, Fühlung; meint ja nicht, weil ihr den
guten Herrn Herzog Ferdinand Durchlaucht über euch
habt, daß ihr nicht auch noch den lieben Korporal Baars
über euch hättet.“

[[259]]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.

Die zwei „Kerls“, an welche der Korporal Baars
den Auftrag des Herzogs Ferdinand weiter gegeben
hatte, hatten merkwürdigerweiſe dießmal nicht Luſt, die
gute Gelegenheit zum Deſertiren auszunützen.


Der Eine ſagte nur: „Na, Kriſchan, wat ſeggſt'e
denn nu?“ und der Andere ſagte etwas viel, viel —
viel Schlimmeres. Sodann aber packten Beide zu. Der
Eine nahm den einen Schutzbefohlenen, den Magiſter
Buchius, an der Schulter; der Andere griff nach dem
Kamiſol des Knechts Heinrich: „Na denn, alert! marſch
aus der Kolonne! Nach Hauſe mit den Weibſen!
Was hat ſich Das hier in der Front herumzutreiben
und die Leute aufzuhalten?“


Das Gedränge wurde grade jetzt auch ſchlimmer
denn je. Es kam ſchweres Geſchütz mehr geſchoben
und gehoben als gezogen die Straße unterm Ith her.
Artillerie mit allen Fineſſen des großen Grafen Wilhelm
von Bückeburg verſehen, aber an dieſem Tage, bei dieſem
Wetter, auf ſolchem Wege wahrlich ein Impedimentum,
wie der Herr Magiſter Buchius in der Zelle des
17*[260] Bruders Philemon ſich ausgedrückt haben würde: eine
ſchwere Belaſtung des Heereszuges.


„Bis an die nächſte Ecke,“ hatte der Herr Haupt¬
mann von Meding geſagt, und die nächſte Ecke war
auch in dieſem Falle wirklich nichts weiter als die nächſte
Ecke, bis zu welcher der Menſch, der Eile hat, dem
Menſchen das Geleit giebt; — wenn er große Eile hat,
ſo ſelbſt ſeinem beſten Freund und nächſten Verwandten.


Rechts ab, wenn man von Scharfoldendorf kommt,
führt dicht vor Eſchershauſen der Pfad zurück auf's
Odfeld unter dem Wemmelsberge her, und nicht einmal
bis an den Wemmelsberg geleiteten die beiden Mus¬
quetiere ihre Schutzbefohlenen. Es ſucht auch dort
einer von den vielen namenloſen Bächen der Gegend
ſeinen Weg der hochberühmten Lenne zu. Die Elliots
hatten ihn aber unter der Führung der Gevettern
von Münchhauſen durchtrabt und ihn in den Weg
hineingeſtampft; und Menſchen und Vieh von beiden
Parteien, Roß und Reiter lagen auch hier ge¬
fallen und halb im ekeln Schlamme verſunken, vom
erſten Zuſammenſtoß der Heere im früheſten Morgen¬
grauen her.


„Zu iſt's am ſchönſten, Herr Paſtor. Ein
Kumpelment an die Frau Paſtorſche, Herr Paſtor, vom
Herrn Herzog Ferdinand und alle uns allerhöchſte Al¬
liirte, und künftighin möchte ſie doch ein bischen beſſer
auf Ihm paſſen und nicht ſo bei ſo eiligen Zeiten mit
die Jungfern am Arm alleine laufen laſſen!“ ..


[261]

Noch einmal verſpürte der Magiſter Buchius in
dieſem laufenden ſiebenjährigen Kriege was wie einen
der ſchweren Flintenkolben des Säkulums unterhalb
ſeines Rückgrats und fand ſich mit ſeinen Begleitern
gottlob wieder allein im Sumpf und auf ſich ſelber
und den Troſt des Knechtes Schelze und die Gefühle
Wieſchens und Mamſell Selindens angewieſen.


„Wir wiſſen nun, was vor und wer hinter uns iſt,“
meinte der treue Heinrich, der eben auch mit der Hand
im Rücken die Stelle rieb, welche der deutſche Lands¬
mann und Salvegardiſt aus der Korporalſchaft des
Korporals Baars eben freundſchaftlich und ſcherzhaft
zum Abſchied mit der nägelbeſchlagenen Schuhſohle ge¬
drückt hatte. „Herr Magiſter, links ab in den Katt¬
hagen! Auf Gott und Menſchen und hohe Herren iſt
kein Verlaß an einem ſolchen Tage! ſo haben wir ge¬
ſehen! Alles Ein Elend! Da vorne kommen wir noch
nicht durch; es ſteigt noch zuviel Dampf und Pulver¬
qualm aus den Büſchen zwiſchen Amelungsborn und
uns hier. Linkswärts in den Katthagen; das Unterholz
iſt dorten ſo dick, daß bei der Eile, die heute Alles
hat, Keiner da noch ſeine eigenen letzten Lumpen unſert¬
wegen an den Dornen hängen läßt! Die Franzoſen
hält uns unſer Herr Junker Thedel ja da vorn nach
ſeinem höchſten Wunſch mit vom Leibe, und wir ſind
hier ja eigentlich jetzo bloß unter den beſten Freunden.“


Magiſter Buchius ſagte nun:


„Er hat Recht, Heinrich; und kein göttlicher Held
[262] und mildeſter Heros kann hieran viel verändern! Loviſia,
halte aber doch Deinen Knopf feſt. Es iſt ein köſt¬
liches, herrliches Angedenken!“


„Liebſter Gott, Herr Magiſter, meinen Rockknopf hat
mir ja der liebe Herr in der Hand behalten, als er in
ſeiner Zerſtreuung weiter reiten mußte!“ ......


Eine Controverſe darüber, ob man „Katthagen“
oder „Quadhagen“ zu ſprechen und zu ſchreiben habe,
würde jeder Gelehrte auf die nächſte beſſere Gelegen¬
heit verſchoben haben, wenn ihm die Frage unter ob¬
waltenden Umſtänden vorgelegt ſein würde. Im Quad¬
oder Katthagen kurzweg ſuchten die Gejagten noch
einmal nothdürftiges Unterkommen vor Freund und
Feind:


„Ein Menſch iſt wie der Andere, an ſo 'nem
Bataillentage, und kein Unterſchied iſt zwiſchen unſerm
Herrn Kloſteramtmann und unſerm Herrn Herzog Ferdi¬
nand Durchlaucht, Herr Magiſter,“ meinte Knecht Schelze,
immer noch ein bischen ſchwummerig im Sinn ſich
weiterſchleppend. „Jeder hat mit ſich ſelber zu thun
und keine Zeit für Höflichkeit und gute Freundſchaft
und alte Bekanntſchaft. Es iſt auch ganz einerlei, ob
man's mit den Franzoſen oder den Engländern zu
thun kriegt, und unſere Braunſchweigſchen und die
aus'm Hannöverſchen und die Bückeburger und die
Heſſen, na, es iſt als würde Ein Sack voll Flegel
ausgeſchüttelt, ſo viel hat Jedermann an ſeinen eigenen
Moleſten zu ſchleppen. Mamſell Fegebanck, was iſt
[263] Ihre Meinung, Mamſell, wenn ich mit Höflichkeit
fragen mag?“


„Es iſt mir Alles einerlei; ob ich lebe oder todt
bin. Und der Junge war noch mein einziger Troſt.
Nun iſt auch unſer Thedel hin, Magiſter Buchius.
Mein Lebtage vergeſſe ich ihm dieſen Tag nicht. Aber
es iſt einerlei und Ein Moraſt. Ich wehre mich gegen
garnichts mehr und ſtrecke nicht mal mehr eine Hand
aus dem Dreck zu unſerm Herrgott auf wie Der da!“


Sie wies auf eine krampfhaft zerkrümmte Menſchen¬
hand, die aus dem Sumpf zur Seite aufragte und der
man es nicht einmal mehr am Aermelaufſchlag abmerken
konnte, daß hier wieder ein früherer Bekannter und
feiner Cavalier von den Dragonern Seiner allerchriſt¬
lichſten Majeſtät durch die Reiterei der hohen Alliirten
in den deutſchen Grund und Boden mit hineingeſtampft
worden ſei.


„O Heinrich, wenn wir nur mit dem Leben davon
kommen. Alles Andere iſt ja einerlei!“ ſchluchzte oder,
wie man dort in der Gegend ſich ausdrückt, ſchnukte
Wieſchen, und Die war die Einzige von ihnen Allen,
die damit ein verſtändiges Wort in das Elend hinein¬
gab. „Ach, wenn doch unſer Herrgott endlich ein Ein¬
ſehen haben wollte, und Du und der Herr Kloſteramt¬
mann auch! Ich will mir ja auf dem Hofe und von
Euch Alles gefallen laſſen!“


Was den Herrgott anbetraf, ſo hatte der wirklich
„ein Einſehen“. Er hielt wenigſtens an dieſer Stelle
[264] zwiſchen der Weſer und der Hube ſeine gütige Hand
über die gejagte Kreatur. Der Katthagen oder der
böſe Hagen war beſſer als ſein Ruf in der Gegend.
Sein Geſtrüpp wenigſtens dicht genug und genugſam
voll Dornen, um jetzo, wo die Bataille doch ſchon ent¬
ſchieden war, die eiligen „Völker“ vom zu ſcharfem
Durchſtöbern des Waldes abzuhalten.


Im dichteſten Dickicht des Katthagens warteten, auf
einem gefällten Baumſtamme aneinander gedrückt kauernd,
wie die Krähen auf dem Dachfirſt, die ſchöne Mamſell
Selinde Fegebanck, der Magiſter Buchius, das Wieſchen
und Knecht Heinrich Schelze es ab, bis ſich das Ge¬
witter über Wickenſen und Vorwohle nach Einbeck zu
und gegen den Solling hin, bis ſich der Kriegsſturm
mehr und mehr verzog und bis es, wie Knecht Heinrich
meinte: „jetzt nur noch hinter dem Holzberge her leiſe
grummelte“.


Es gab in der aufgereiheten Geſellſchaft auf dem
Eichenſtamm im Katthagen Keinen, der nicht die Ell¬
bogen auf die Kniee geſtemmt und den Kopf in beiden
Händen liegen hatte, Keinen, dem noch ein überflüſſig
Wort für den Nachbar oder die Nachbarin übrig ge¬
blieben war.


Nur Knecht Heinrich meinte noch:


„Hat er nur halbwegs Das über den Kopf und
den Buckel gekriegt, was mein Theil heute geweſen
iſt, ſo will ich von nun an wohl in Frieden mit ihm
auskommen, Wieſchen.“

[265]

Es war der Herr Kloſteramtmann von Amelungsborn,
den der treue Dienſtmann bei dem Seufzer im Sinn
hatte, und mit welchem er in Gedanken ein Abkommen
traf für ein beſſeres Verhältniß zwiſchen ihnen Beiden,
wenn ſie in ihrem Leben noch einmal zuſammen kommen
ſollten.


Der alte Herr, der alte Magiſter Buchius aus
Kloſter Amelungsborn, ja dem ſank der Kopf zwiſchen
den hageren Fäuſten tiefer und tiefer. Er ſaß im Halb¬
ſchlaf und fiel nach und nach in einen wirklichen tiefen
Schlaf, aus dem er anfangs auch noch von Zeit zu Zeit
erſchreckt auffuhr und verwundert um ſich ſah, bis ihn
die Ermattung gänzlich überwältigte. Da fing er an
im Traum reden und zwar von ſeinem Schlimmſten
und Liebſten und Jüngſten im Drangſal dieſes fünften
Novembers Anno Siebenzehnhunderteinundſechszig, von
dem Junker Thedel von Münchhauſen.


„Um Gotteswillen, ihr Herren! ... Lieber Thedel,
mit Vorſicht! will Er denn mit aller Gewalt Arm und
Beine brechen? ... Den Hals ſtürzt Er ſich noch ab
an der Kloſtermauer —“


Nun murmelte der Alte mehr aus dem gegenwär¬
tigen Tage heraus:


„Alariae cohortesala equitum — ganz recht,
die Reuterei der Alliirten auf die Flügel. Münchhauſen,
iſt Er denn wieder von Gott verlaſſen? Zu Pferde
unterm engländiſchen Hülfsvolk? Herr Vetter, Herr
Vetter, Herr Lieutenant von Münchhauſen, der junge
[266] Menſch kennt zwar die Gegend; aber — Mamſell Se¬
linde, Sie wiſſen ja, was für ein Kind er noch iſt.
Nicht in den Qualm, nicht in den Brand, Thedel! Der
ganze Wald um die Homburg geht im Feuer auf.
Durchlaucht, da ſind ſie an einander vor Stadtolden¬
dorf, — England, Frankreich und die große Schule von
Amelungsborn! Sie kommen nur in Fetzen nach Daſſel,
die Welſchen, die Franſchen, die landfremden Land¬
ſchädiger. Vivat Friedericus! Vivat Ferdinandus! Dulce
et decorum est pro patria mori!
Ach Gott, Durch¬
laucht, Herr Herzog — Herr Herzog Ferdinand, ich bin
nur der Magiſter Buchius aus Amelungsborn und weiß,
daß der Herr Herzog keine Zeit heute für uns haben
können; und dies iſt der Junker von Münchhauſen aus
Bevern, und er kennt die Gegend. Münchhauſen! Thedel!
Iſt Er denn ganz verrückt geworden?... Herr Gott,
die Raben! Herr Gott, die Raben über dem Campus
Odini!
Herr Gott, Herr Gott, die Raben über dem Od¬
felde!“...

[[267]]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.

Nach drei Uhr Nachmittags wurde es ganz ſtill.
So ſtill, daß es faſt zu einem neuen Schrecken wurde.
Nur die Rauchwolke vom brennenden franzöſiſchen Lager
bei Stadtoldendorf ſtieg noch immer auf, und man roch
den Krieg nur noch; man hörte ihn nicht mehr. Der
Feind war, wenn auch arg zerkratzt, ausgewichen nach
Oſten und Süden; Hardenberg war bei Stadtoldendorf
angelangt und hatte Stellung daſelbſt genommen und
den Herzog Ferdinand in ſeinem Hauptquartier Wickenſen
auch ſchon perſönlich geſprochen: viel Angenehmes hatte
er wahrſcheinlich nicht zu hören gekriegt, der Herr General¬
lieutenant; und die beſte Rechtfertigung hilft nur zu
häufig nur dazu, den Verdruß noch größer zu machen.


Bald nachdem der Geſchützdonner ſchwieg, machte
der Wind ſich ſtärker auf. Es war Herbſt, und es
wollte Winter werden und augenblicklich auch noch Abend
dazu: „Hoho,“ ſagte der kalte Novemberwind im Katt¬
hagen, „was ſollte nun der Lärm? Ich bin auch noch
da und pfeife auf euer Gepolter und blaſe in euern
Qualm. Hui, hui, es iſt mir Ein Spiel mit euern
[268] Fahnen und Standarten und mit dem Graſe im nächſten
Jahre über Roß und Reiter; — mir iſt es einerlei,
ſehet ſelber, womit ihr euch behaglicher abfindet, ob mit
eurem Gelärme oder mit meinem Geſchäft und Werk in
der Welt. Hui, Kameraden, hinein in den Katthagen und
Buſch und Baum in die Friſur und dem alten Kol¬
laborator von Amelungsborn, dem Magiſter Buchius bis
in die Knochen. Endlich wieder nach Hauſe mit dem
alten närriſchen Kauz und ſeiner närriſchen Geſell¬
ſchaft!“


„Ich gehe jetzt nach Hauſe, und wenn Keiner mit
will, allein!“ ſagte Mamſell Selinde, von dem Baum¬
ſtamm aufſtehend. „Wer mit will, kann kommen.“


„Was meinſt Du, Wieſchen?“ fragte Knecht Schelze.
„Knuff und Puff haben wir genug von Freund und
Feind gekriegt. Den Herrn Herzog Ferdinand haben
wir zu Geſicht bekommen, aber helfen hat er uns auch
nicht können. Er hat für heute wieder ſelber noch
nichts und kann ſich ſelber kaum helfen. Unter die
Engländer mag ich nicht, die Bückeburger, Hannoverſchen,
Preußen, Heſſen und Braunſchweiger magſt Du auch
nicht, die Franzoſen ſind wieder über den Solling.
Sag Dein Wort, Wieſchen; haben ſie Amelungsborn
niedergebrannt, können wir uns zum wenigſten noch
mal an ſeinen Kohlen wärmen.“


„Ich habe es Dir ja ſchon geſagt. Wir wollen
nach Hauſe wie es iſt! Lieber auch todt als ſo lebendig
hier im Buſch und draußen unter den todten Menſchen!“

[269]

„Dann vorwärts,“ ſeufzte der tapfere Knecht Hein¬
rich Schelze mit kläglich-verzogenem Mundwerk. „Wer
nicht mit ſchießen und ſchlagen kann, der ſoll's nehmen
wie's ihm in das Maul geſtopft wird und ſich dran
abwürgen. Na, ſchicke mir nur der liebe Gott den
Korporal Baars mit'n Stelzfuß auf unſern Amelungs¬
bornſchen Kloſterhof! Heda, holla, Herr Magiſter, wir
wollen nach Hauſe, nach Kloſter Amelungsborn. Wir
haben's genug berathen und wollen uns ducken in die
Zeiten, weil wir müſſen. Die Mamſell ſpaziert ſchon
voran. Wenn der Herr Magiſter mit wollen, — oder
immer noch was Beſſeres wiſſen, ſo ſollen Sie uns mit
dem Einen wie dem Andern willkommen ſein.“


Der alte Mann erhob ſich als der Letzte von dem
Baumſtamm. Er kam nur gar mühſam wieder in die
Höhe, unterſtützt von dem Wieſchen.


Er ſah ſich um:


„Wa — was? Schon die Schulglocke? Ganz
richtig, ganz richtig! Habe ſie geſtern erſt wieder geſtellt
die Uhr! Was iſt denn das? Wer hat die Subſellien
verrückt und über einandergeworfen? Herr von Münch¬
hauſen, wer hat denn die Fenſter eingeſchlagen und die
Thür? wer hat die Tafel und das Katheder niederge¬
riſſen? Wer hat dieſe Wirthſchaft zu Amelungsborn
getrieben?“


„Herr Magiſter, lieber Herr Magiſter,“ ſchluchzte
das gute Wieſchen. „So beſinne Er ſich doch nur,
lieber Herr Magiſter, lieber, lieber Herr Magiſter!
[270] Wir ſind ja hier nicht im Kloſter Amelungsborn auf
der ſeligen großen Schule; wir ſind hier im ſchlimmen
Quadthagen am Odfelde und ſie haben ſich den ganzen
Tag über die Köpfe eingeſchlagen, und Er ſelber hat
uns ja in Seiner Güte beſchirmet und uns gar unter
die Erde geführet! Und der Herr Herzog Ferdinand
hat auch noch heute keinen Rath für mich gehabt, und
jetzt wollen wir mit Gottes Hülfe wieder nach Hauſe,
nach Amelungsborn und wenigſtens wiſſen, wie es
da ausſieht, und wie es mit dem Herrn Amtmann
und mit der Frau Amtmann und mit den Kindern
ergangen und ob ſie noch mehr Leben in ſich haben
als wir hier auf freiem Felde nach der Bataille. So
beſinne Er ſich doch noch einmal, lieber, lieber Herr
Magiſter.“


Und Magiſter Buchius beſann ſich wirklich noch
einmal, kam noch einmal feſt auf die Füße zu ſtehen
und zu einem klaren Ueberblick über die unruhevolle
Erde und ſein gegenwärtiges Verhältniß zu ihr.


Er klopfte das gute Mädchen zärtlich auf den
ſtützenden Arm:


„Ja, ja Kind, wo war ich denn nur? Haſt Recht,
haſt Recht. Aber der Tag war freilich ein bischen
mühſelig und voll Unbequemlichkeit, ſelbſt für einen
alten Schulmeiſter. Ei freilich, der große Herzog
Ferdinand und der Herr Marſchall von Broglio haben
ſich nur wieder eine Bataille geliefert: was hat mir
denn eben Wunderliches von der großen Schule zu
[271] Amelungsborn geträumet? Ei, ei, ja, es war ein un¬
ruhiger Tag über und unter der Erde, und es iſt recht
kalt und ein ſchneidender Wind. Haſt Recht, Kind, wir
wollen nach Hauſe, da das Kanon und die Musketerie
ſchweigt. Wir wollen uns ſchicken in die Zeit und wollen
ſehen, wie ſie ſich zu Hauſe — in Amelungsborn darein
geſchickt haben. Ei, ei, wie wunderlich hat mir doch
eben von unſerm guten Junker, unſerm Münchhauſen,
unſerm Thedel von Münchhauſen unter den umgeworfenen
Schulbänken und Tiſchen geträumet!“


Er ſchüttelte den Froſt und die Ermüdung wie die
Betäubung von ſich, der alte zähe Schulmeiſter von
Amelungsborn, der Männerfürſt und Magiſter omnium
artium
Buchius. Sie zwängten ſich noch einmal durch
das dichte, verwachſene Unterholz des Katthagens, das
ihnen den letzten Schutz während der Schlacht am Ith
gewährt hatte, und traten von Neuem hinaus auf des
Magiſter Buchii Wodans Feld, auf das Odfeld. Vor¬
ſichtig, ſcheu, ſteckten ſie zuerſt nur die Köpfe vor aus
dem verworrenen Buſch — ausgenommen den alten
Buchius trauten ſie dem alten Göttervater in Walhall
wenig, und heute auf ſeinem — dem nach ihm be¬
nannten Felde — garnicht mehr.


„Es lebt nichts weiter, als nur was liegt und nur
noch beißen, ſpucken und kratzen kann,“ ſagte Knecht
Heinrich. „Die Geſunden ſind alle ſchon mit den beiden
Herren von Münchhauſen über den Stadtoldendorf'ſchen
Galgenbrink weg. Was hier noch lebt, das liegt und
[272] das haut nicht mehr mit der ſcharfen oder flachen Klinge
vom Gaul auf Unſereinen herunter. Guck Einer, ſie
ſind unter unſerm Junker Thedel wirklich vor Feier¬
abend nochmal bitter aneinander geweſen, die Rothen
und die Blauen. Da liegt es dick genug über einander,
Roß und Reiter; wie die Tiſche und Schulbänke in
Kloſter Amelungsborn, Herr Magiſter. Es hat den
Franſchen ihr Lagerbrand doch nicht ganz aus der Falle
geholfen, Herr Magiſter. Vivat unſer Thedel, unſer
Thedel von Münchhauſen!“


Es war ſo. Die letzten Strahlen der November¬
nachmittagsſonne fielen jetzo durch das ſchwere, zerriſſene
Gewölk, das haſtig über das Odfeld hingejagt wurde,
und es war deutlich genug, daß auch die Elliots
über das Odfeld hingejagt und noch einmal an den
Feind gerathen waren. Um den Katthagen herum hatten
die Gevettern von Münchhauſen, der aus Bevern und
der aus Bodenwerder die engelländiſchen Reiter dem
Herrn von Rohan-Chabot in die Flanke geführt. Ja,
noch einmal auch heute hatte, trotz allem, der gute
Herzog Ferdinand den Franzoſen ſcharf in die Nacken¬
haare gegriffen, und man ſah es auf dem Odfelde, welch'
ein Gezauſe und Gezerre da geweſen war.

Sie lagen, weithin zerſtreut auf dem alten Götter-
und Opferfelde, über einander geſtürzt Frankreich und
England und — Deutſchland dazwiſchen; Roth und
Blau, Grün, Gelb und Weiß, ſilberne Litzen und goldene,
Bayonett und Reiterſäbel durch einander geworfen:
[273] Vieles dermaleinſt des Ausgrabens und Aufbewahrens
in Provinzialmuſeen werth.


„Großer Gott!“ ſtammelte augenblicklich der Sammler
und Inhaber der Raritäten in der Zelle des weiland
Bruders Philemon zu Kloſter Amelungsborn; aber
Knecht Heinrich hatte Recht: die Todten thaten keinen
Schaden mehr und die Wunden riefen höchſtens ſelber
um Barmherzigkeit.


„Gott ſei Lob und gedankt,“ rief Mademoiſelle
nach Süden deutend, „den Kirchthurm haben ſie ſtehen
laſſen, und die Dächer ſind auch noch heil und ganz.
Wer weiß, um wie viel beſſer ſie es in Amelungsborn
gehabt haben, als wie wir. Euern lieben Musjeh Thedel
ſoll ich nur wieder zu Geſicht kriegen, wenn es ſo iſt.
Alle zehn Gebote ziehe ich ihm nochmal, und die߬
mal mit den zehn Fingernägeln durch die Viſage, wenn
ich ihn nachher nochmals zu Geſichte kriege.“


Und zwiſchen den jammervollen Zeichen des großen
Kriegs Aller gegen Alle in Europa und Amerika ſtieß
ſie einen leiſen verdrießlichen Schrei aus:


„Jeſes und Gott und auch noch die Vögel von
geſtern Abend und heute Morgen! Uh, Sein garſtiges
Vieh, Magiſter Buchius!“


Und es war ſeltſam; auch der gelehrte Mann, der
Magiſter fuhr zuſammen und entſetzte ſich ob dem
Faktum, daß ſie wieder auch unter den Leichnamen der
geflügelten Streiter vom geſtrigen Abend und nicht mehr
Raabe, Das Odfeld. 18[274] bloß unter den heute gefallenen Kämpfern von Deutſch¬
land, England und Frankreich ſtanden.


Praesagiumprodigiumportentum,“ mur¬
melte der Magiſter, und nun dachte er zum erſtenmal
ſeit dem Morgen auch wieder an den Gaſt, den er in
ſeiner Verwirrung bei Tagesanbruch in ſeiner Zelle ein¬
geſchloſſen zurückgelaſſen hatte.


Und, wieder wunderlicherweiſe, kam ihm jetzo zum
erſtenmal in ihrer ganzen Grimmigkeit die Vorſtellung
vor die Seele, zu welchem Greuel der Verwüſtung er
auch innerhalb ſeiner armen vier Wände nach Kloſter
Amelungsborn heimkehren werde.


Es bedurfte aller Schrecken, die der Tag geboten
hatte, um ihn umzurufen auf dem Wege in die Des¬
peration, und ihm wenigſtens ein Stück ſeiner aus
Chriſten- und Heidenthum gezogenen Philoſophia, ſeines
pädagogiſchen Stoizismus, dem perſönlichen Elend gegen¬
über zurückzugeben. Ja, er faßte ſich auch jetzt. Es
gelang ihm, mit dem Handbuch der ſtoiſchen Moral des
Epiktetos, mit dem Lucius Annäus Seneca und mit
den Büchern des alten und des neuen Teſtaments den
todten Raben aus der Rabenſchlacht der Mamſell Fege¬
banck, dem zitternden Wieſchen und dem kopfſchüttelnden
Heinrich Schelze aus dem Wege zu ſchieben:


„Unſer Herrgott treibet nimmer Narrenſpoſſen. Wir
wollen auch über dieſe ſeine Zeichen wieder ruhig nach
Hauſe gehen. Und wir wollen uns mehr denn je vor¬
halten, daß wir uns immerdar in ſeinen heiligen Willen
[275] ſchicken und nicht bloß in den unſerer mit uns ge¬
peinigten Brüder und Schweſtern im Jammer, in der
Noth und in der Hitze, Kälte und Näſſe dieſer Erden.“


Aber nicht weit von dem Ort, wo ſie wieder auf
den erſten Gefallenen aus der Rabenſchlacht auf dem
Odfelde geſtoßen waren, ſtieß auch der Magiſter Buchius
einen Schrei aus, jammervoller als der der ſchönen
Mademoiſelle Selinde, und wahrlich mit größerer Be¬
rechtigung als ſie dazu. Und mit ihm ſchrieen die
beiden Mädchen kreiſchend auf, und Knecht Heinrich
ſtürzte mit einem heulenden Klagelaut und einem Fluche
vorwärts auf die Knie zwiſchen die herbſtlichen Ginſter¬
büſche, die Binſen und das Haidekraut des Odfeldes:


„Unſer Junker! unſer Junker! Herr Magiſter,
Herr Magiſter, unſer Thedel, unſer liebſter, junger Herr!
Herr Magiſter, iſt's denn die Möglichkeit, daß ſo der
Teufel die Oberhand unter unſeres Herrgotts Regiment
behält? Es iſt unſer Junker von Münchhauſen; —
greift Alle mit an, daß wir den Gaul von ihm weg¬
heben.“


Ja, ſie mußten Alle mit zugreifen: der alte Schul¬
meiſter mit ſeinen hageren zitternden Pfoten, die
wunderſchöne Mamſell Selinde Fegebanck, und das gute
Wieſchen. Er, der Junker Thedel von Münchhauſen
lag mit einem letzten im Tode erſtarrten luſtigen Lachen
auf dem Knabengeſicht unter dem ſchweren englän¬
diſchen Reiterpferd. Man ſah es ihm an, daß er noch
ſein fröhlich Theil an der Franzoſenjagd genommen
18*[276] hatte und weggenommen war von der Erde im vollſten
Triumphe, die Elliots gut geführt und ſie nach beſtem
Wiſſen und Kräften und zur Zufriedenheit Seiner
Durchlaucht des Herzogs Ferdinand heute noch einmal
an den Feind gebracht zu haben. Der Magiſter Buchius
kniete wortlos unter den Leichnamen von Menſchen und
Vieh auf dem Odfelde und hielt das Haupt ſeines
böſeſten und beſten Schülers, ſeines liebſten, liebſten
Schülers in den Armen; und mit einem Male fing er
an, bitterlich zu weinen, als ob Alles, was er an
Kummer und Verdruß in ſeinem langen Leben und am
heutigen kurzen Tage ſtill hinuntergeſchluckt hatte, in
Einem Strom ſich Bahn breche aus ſeiner tiefſten Seele
heraus.


Dadurch brachte er natürlich auch die zwei Mädchen
zu hellem Geſchrei und vorzüglich die zärtliche Mamſell
Selinde, die da ſtand und untröſtlich die Hände rang,
wie ſie ſie gleicherweiſe untröſtlich im Stillen gerungen
hatte, als man den ſchönen, höflichen, luſtigen Lieute¬
nant Seraphin von den himmelblauen Dragonern auf
den Gewehrläufen in das Thor von Kloſter Amelungs¬
born trug. Ihn, der auch „wie ein Engel“ gegen ſie
geweſen war in den Wochen vor dem Gefecht bei Erichs¬
burg, als er beim Herrn Onkel in Quartier lag.


„O Gott, o Gott, ſo jung und ſo ein guter Junge
und um ſolch' eine Dummheit, die ihn doch garnichts
anging! und ſo ein lieber, lieber Junge!“ ...


Knecht Heinrich Schelze ſtand auch und faßte ſein
[277] Wieſchen am Oberarm und brummte gröblich: „Schrei'
doch nicht ſo!“ und dann legte er grimmig und voll
zarten Mitgefühls zum erſtenmal in ſeinem Leben dem
Herrn Magiſter Buchius — ſeinem liebſten Herrn Ma¬
giſter die Hand auf die Schulter: „Herr, Herre, lieber
Herre, Schlimmeres hätte auch mir heute nicht paſſiren
können, ausgenommen wenn ich nicht mein Mädchen
bei Leben, geſunden Gliedern und bei Ehren hätte be¬
halten können. So reden der Herr Magiſter doch nur Ein
Wort! Ach Gott, ſo ein junger Herr und Menſchenſohn!
Was iſt es uns für ein Troſt, daß es ihm doch noch
beſſer zu Theil geworden iſt als tauſend Andern heute?
Guck, da richtet ſich wieder Einer im Röhricht auf und
jammert nach uns herüber auf engelländiſch, ohne daß
wir ihm nach Hauſe helfen können.“


„Nach Hauſe!“ murmelte Magiſter Buchius.


„Ja, nach Hauſe!“ rief Knecht Heinrich, ſeine Pudel¬
mütze zwiſchen den harten Fäuſten zerknillend. „Ein
ſchönes Nach-Hauſe für Alles, was heute hier um den
Ith herum gern nach Hauſe möchte aus Frankreich, Eng¬
land, Bückeburg und dem Heſſiſchen, Braunſchweig, und
Allem, was ſonſt ſo zu uns ortsangeborenem deut¬
ſchen Volke gehört. Herr Magiſter, lieber Herr Ma¬
giſter, da haben der Herr Junker doch wieder ihren
Willen gekriegt. Die wollten immerdar nur von Hauſe
weg — von Schulen und von Hauſe weg — und ſie
haben einen ſanften Tod gehabt, liebſter, beſter Herr
Magiſter, und brauchen ſich nicht mehr zu ſorgen
[278] wie wir Andern, was ihnen zu Hauſe für den Abend
aufgehoben iſt, liebſter, beſter Herr Magiſter. Ach, laſſe
Er mich Ihm wieder aufhelfen, lieber Herre!“


„Ach Gott ja, es hilft ja nun weiter nichts; laſſe
Er uns doch nur Ihm wieder aufhelfen, liebſter Herr
Magiſter,“ ſchluchzte auch das Wieſchen.


Magiſter Buchius ließ das Haupt Thedels von
Münchhauſens ſanft aus ſeinem Schooße in das triefende
Gras und Kraut des Odfeldes niederſinken:


„Du biſt freilich jetzt zu Hauſe, mein wilder, guter
Sohn, und brauchſt nicht mehr auf der Welt Schul¬
bänken auf und ab zu rücken. Dir iſt es wahrlich
einerlei, ob die Katheder von Kloſter Amelungsborn
noch ſtehen, oder ob ſie übereinander geſtürzt worden
ſind.“

[[279]]

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Der Novemberwind pfiff ſchärfer und ſchneidender
über das zerzauſte, zerſtampfte Götter-, Geiſter- und
Blutfeld. Die Sonne, die nur einen kurzen Moment
über dem Butzeberge durch das Gewölk geblickt und
„Waſſer gezogen“ hatte, war jetzt ſchon hinter den
Berg hinabgeſunken. Es neigete ſich der Tag wieder
dem Abend zu.


„Herr,“ ſagte Knecht Heinrich, „wenn wir's wüßten,
wie wir's zu Hauſe in Amelungsborn finden werden,
ſo trügen wir ihn wohl mit nach Hauſe zwiſchen uns
Auch die Jungfern faßten wohl mit an bei den Füßen;
aber —“


„Aber wir haben vielleicht nicht, wo wir ihn nieder¬
legen könnten,“ ſprach troſtlos der alte Mann. „Wir
finden keine Stätte, wo er beſſer ruhete als wie hier,
Heinrich „wo“ —


„Wo er ſich ſelber nach ſeinem tollen Sinn den
Platz ausgeſucht hat!“ jammerte Mademoiſelle. „O
Thedel, mein Thedel, mein lieber Junge, vergebe Er
mir, Junker von Münchhauſen, um alter Zeiten im
[280] grünen Frühjahr und Blumenſommer und um ſeines
jetzigen blutigen Todes willen, was ich Ihm heute je in
Verdruß und Elend mal geſagt und angethan habe! Wer
hätte denn dies auch denken können, Herr Magiſter, daß
ich auch ihm das kühle Grab in ſeiner jüngſten Jugend
mit Rosmarin beſtecken müßte? Und wieder um ſolch'
eine ungeforderte Dummheit und lieben Muthwillen,
liebſter Herr Magiſter!“


Für Magiſter Buchius ſprach die thränenüberſtrömte
Schöne vollkommen in den Wind. Er vernahm und ver¬
ſtand kein Wort von den was ſie ſchrie. Er ſagte zu des
Todten guten Amelungsborn'ſchen Wald- und Feld-
Kameraden:


„Wir finden wohl heute Abend keine Stätte in
Amelungsborn, wo er beſſer ruhte als wie hier, wo
er ſie ſich ſelber geſucht hat als ein junger deutſcher
Edelmann und Kriegsmann. Der Herr Vetter iſt über
ihn hingeſtoben mit den Reitern und hat ihn auch
liegen laſſen müſſen. Nun wollen wir ihn ein wenig
zurecht legen in ſeiner Glorie aus dem Krieg um das
deutſche Vaterland — hier auf dem Odfelde bei unſern
Vorfahren ſeit Anbeginn. Und wir ſelber wollen zu¬
ſehen, was nur ſelber für eine Stätte zu Amelungs¬
born finden und wie uns bereitet iſt, wo wir unſer
Haupt im Leben für dieſe Nacht niederlegen. Kommet
ſtill und nehmet euer Bett ein, wie der allmächtige
Gott es bereitet hat.“


Sie thaten ſo. Sie legten auch Thedeln von
[281] Münchhauſen chriſtlich-ſarggerecht zurecht auf Wodans
Felde, auf dem Odfelde unter den Gefallenen aus der
Rabenſchlacht und der Schlacht des guten Herzogs
Ferdinand von Braunſchweig und der Herren von Brog¬
lin, Poyanne und Rohan-Chabot. Sie zogen auch
noch dem nächſten Nachbar im Elend, dem Reiters¬
mann von den Elliots das Bein unter dem Gaul
hervor und deckten dem Sterbenden den Mantel über.
„Good night, Mary,“ murmelte er, und ſie gingen und
ließen Odins Kriegs-, Jagd- und Opferfeld dem Abend
und der Nacht: freilich im ſchweren Zweifel, ob ſie es
zu Hauſe beſſer finden würden als wie ſie hier draußen
es hatten, zwiſchen dem Quadhagen, dem Weirsberge
und dem Butzeberge.


Der Weg war nicht mehr allzu weit, wie Jeder¬
mann, der bis hierhin geleſen hat, nun ſchon weiß. Der
Kriegsſturm hatte ſich nach Oſten und Südoſten hin
verzogen, die Flüchtlinge erreichten ungefährdet, ſchlep¬
penden Schrittes die alten mönchiſchen Umfaſſungsmauern
und das zertrümmerte Thor von Kloſter Amelungs¬
born. Der alte Schulmeiſter, ſchwer ſich auf den Arm
des guten Heinrichs ſtützend, die zwei Mädchen an
einander geklammert, Alle ohne noch ein Wort zu ſagen.
Wenn ſich Heinrich von Zeit zu Zeit mit dem Jacken¬
ärmel über die Augen wiſchte, ſo murmelte er gewöhn¬
lich dazu ein Wort, das mehr Fluch als Segen war;
aber auch ihm wurde die Sünde nicht angerechnet.


Sie kamen auf den Hof, und Bruder Philemon
[282] vom Orden des heiligen Bernhards von Clairvaux und
Herr Theodorus Berkelmann, Abt von Amelungsborn,
im Wort und Glauben Doctor Martin Luthers hätten aus
ihrem Frieden dreiſt aufſtehen und um ſich deuten
können: „Sehet, ſo ſahen wir es auch. So ſpürten wir
es auf der Haut und bis in das Mark der Gebeine
und ſprachen: Herr, zähle meine Flucht, faſſe meine
Thränen in Deinen Sack.“


Die Erſte, die ſich aber faßte, war Mamſell Selinde,
des Herrn Amtmanns Vetterstochter, und die rief:


„Jeſes, da ſitzt ja noch mein Schlingel von Franzoſe
von heute Morgen! Der, dem mein — unſer junger
Liebling, unſer Herr von Münchhauſen um meinetwillen
die Naſe eingeſchlagen hat! Da ſitzt er an der Wand
auf dem Stroh und hat ſein ſchlechtes Leben behalten,
und unſer Thedel hat ſeines hergeben müſſen. Und
guck, das ſind ja wohl wieder welche von Unſern, die
bei ihm auf dem Stroh liegen wie Kamerad bei
Kameraden. Da hört es doch auf!“


Es konnte von Mademoiſelle nicht verlangt werden,
daß ſie alle Uniformen der kriegführenden Heere kenne.
Es waren jetzt Nachzügler von dem Corps des Herrn
Generallieutenants von Hardenberg, welches jetzt endlich
bei Stadtoldendorf Poſto gefaßt hatte. Fußlahme oder
ſonſt Marode des Herrn von Hardenberg, die im
Kloſterhof von Amelungsborn ihre Gewehre an die
Mauer gelehnt und ſich auf den Boden geworfen
hatten. Aber es war kaum noch ein halb Dutzend
[283] von ihnen und ſie ſahen kaum auf, wenn Einer über
ſie weg trat, weil ſie ihm im Wege lagen.


„Jeſes, auch unſer Schimmel,“ rief Wieſchen. „Da
ſteht er und kaut dem Franzos das Stroh unterm Leibe
weg und Keiner kümmert ſich um ihn. Auch der Herr
Amtmann nicht!“


Es ſah Niemand mehr viel nach dem Andern in Kloſter
Amelungsborn: auch der Herr Amtmann nicht. Es
konnte Jeder ſtehen, ſitzen und liegen wie er wollte;
ſie hatten Alle wieder die Fauſt des Krieges auf der
Stirn geſpürt und dießmal gröber denn je. Sie gingen,
ſtanden, ſaßen und lagen Alle in ſtumpfſinniger Be¬
täubung: Freund und Feind, Knecht, Magd und Vieh,
Herr und Diener — „ach Gott, und die Frau Amt¬
männin und die Kinder auch!“ rief das gute Wieſchen,
den Arm Mademoiſells von ſich ſtoßend und über den
verwüſteten Hof auf die Treppe des Amtshauſes zu¬
laufend. „Wo ſind unſere Kinder? guten Abend, Frau
Amtmann! Kinder, lebt ihr denn noch? ach Gott, Frau
Amtmann, unſer Junker, unſer junger Herr von Münch¬
hauſen liegt draußen ja todt auf dem Odfelde unter
den Franzoſen und Engländern und dem Herrn Magiſter
ſeinem Vorſpuk und Rabenvolk!“


„Schelze,“ ſagte der Amtmann, „Heinrich, der
Schimmel, der da in den Hof gekommen iſt — gehört
er — zu den Engländern oder zu den Franzoſen? —
was thut das Vieh als ob's hier zu Hauſe wäre?
Guck doch mal hin nach ihm, Heinrich; manchmal
[284] kommt's mir vor, als hätten wir ihn im Stall gehabt;
— o der Herr Magiſter Buchius! Sie auch noch?
Nehmen der Herr Magiſter die Unconrtoiſie uns nicht
übel, daß ich nicht aufſtehe vom Stuhl. Wir haben
heute einen faſt zu ſchweren Tag gehabt in Ame¬
lungsborn.“


„Wir auch, mein Herr Amtmann — draußen auf
dem Odfelde und im Eingeweide der Erde, in der
Erdhöhle im Ith. Der junge Herr von Münchhauſen
liegt todt auf dem Odfelde; aber Mademoiſelle Nichte
habe ich glücklich und in Ehren wieder nach Amelungs¬
born geführet.“


Den Kloſteramtmann bewegten beide Benachrich¬
tigungen wenig in ſeinem Stupor, die letzte aber am
wenigſten.


„Hat er ſich zuletzt den Hals gebrochen? .. Sieh,
ſieh, Sie Linienfliegerſche iſt nicht in die weite Welt
gegangen mit den Huſaren, Dragonern und Küraſſern,
mit Preußen und Franzoſen, Jungfer Allewelt? ...
Nu, Schelze, wie iſt es mit dem Schimmel?“


„Es iſt unſerer. Dem Herrn Amtmann Seiner iſt's.“


„Er kam mit dem Herrn Generallieutenant von
Hardenberg in's Thor. Alſo der Satansjunge, der
Münchhauſen iſt auch hinüber? Nehmen der Herr
Magiſter es nicht für ungut, aber mir iſt ſo konfuſe,
daß mir Alles vor dem Auge ſchwimmt, daß ich von
Gott und Welt nichts mehr weiß und mich auf Weib
und Kind erſt beſinnen muß. Das iſt mein erſter Troſt
[285] jetzt, daß unſer Magiſter Buchius heute nicht auch für
ewig verloren gegangen iſt. Da hat man doch wieder
einen Menſchen in Amelungsborn, der Einem ein ver¬
nünftig Wort ſagen und an den man ſich halten kann!

Magiſter Buchius, vor dem an Leib und Seele zer¬
brochenen Manne ſtehend, ſchüttelte nur ſeufzend den
Kopf und dachte ſich das Seinige, nicht ſeines Ausganges
aus Kloſter Amelungsborn am heutigen Morgen, ſondern
wehmüthig-getröſtet, ſeines Eingangs und langen Aufent¬
halts in Kloſter Amelungsborn gedenkend.


„Gehen Sie zu meiner Frau, Jungfer Nichte, und
frage ob ſie noch eine Ihr anſtändige Beſchäftigung für
Sie weiß. Alſo es iſt mein eigener, Schelze? Ich
kann mich nicht aus dem Stuhl rühren; ſieh zu, Heinrich,
ob Du noch einen Halfterſtrick für ihn finden kannſt.
Ein ſchwerer, ſchwerer Tag, Herr Magiſter — leere
Ställe, leere Krippen, Hab und Gut zerſchlagen und
durcheinander geworfen! Gebe der Herr mir doch Seine
Hand, es iſt mir als habe ich Ihm noch für Allerlei
und ſonſt Was meine Abbitte zu leiſten. Aber mir iſt zu
konfuſe in den Sinnen; vergebe Er mir was zwiſchen uns
paſſirt ſein mag. Es iſt mir ein wirklicher Troſt, daß
Er ſich wieder eingefunden hat und uns nicht verlaſſen
will in unſerer Verwirrung. Wollen der Herr Magiſter
aber doch nicht lieber noch bei währendem Tageslicht
nachſehen, wie Ihm auch das Seinige heute von der
Sündfluth verſchwemmt worden iſt? Ich habe in dem
Tumult von Nichts was ab und zu Nichts was zu
[286] thun können. Ein ſchwerer, ſchwerer Tag, Herr Magiſter;
und alſo der junge Satan, der arme junge Kerl, Sein
Junker Thedel liegt mit gebrochenem Genick draußen
auf dem Odfelde? Die Raben! die Raben! Geſtern
Abend auf dem Odfelde die Rabenbataille. Ein Prä¬
ſagium nannte Er's ja wohl? Ja, aber wem hat's
das Aergſte vorausgeſagt? Dem Junker — unſerm
Thedel Münchhauſen nicht! Wer aus dem Elend heraus
iſt, der ſoll ja ſtille ſein und ruhig liegen bleiben. Das
ſage ich ihm heute — der Kloſteramtmann von Ame¬
lungsborn!“......

[[287]]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel.

Ehe Magiſter Buchius, wie der Kloſteramtmann
von Amelungsborn angerathen hatte, noch bei währendem
Tageslicht nach dem Seinigen ſah, ſahe er doch noch
erſt nach der Frau Amtmännin und ihren Kindern.
Wie eine Klucke mit ihren Küken, über denen der Habicht
geweſen iſt, fand er ſie in einer andern Ecke des Amts¬
hauſes kümmerlich in einen Haufen zuſammengedrückt,
und die Frau Amtmännin auch nicht mehr im Stande,
ihm das Leben in der Zelle des Bruders Philemon
ſaurer zu machen als es nöthig war.


„Mein Gott, o du lieber Gott, da iſt ja unſer
armer Herr Magiſter noch! O Gott ſei Dank!“ ächzte
die brave Frau, die ihm ſonſt gewöhnlich etwas ganz
Anderes nach ſeinem Altentheil hin beſtellen ließ, wenn
ſie es ihm nicht, mehr oder weniger durch die Blume,
ſelber ſagte. „O das iſt ja das Erſte, was Einem
wieder einen Troſt giebt! O wo haben denn der Herr
Magiſter eine beſſere Unterkunft gefunden, daß Sie uns
ſo alleine gelaſſen haben?“ ſchluchzte, ſie dem alten,
[288] ſonſt ſo überleidigen Hausgenoſſen beide Hände hin¬
haltend.


Und Magiſter Buchius ergriff ſie beide, während
die Kinder alle an ſeinen zerfetzten ſchwarzen Rock¬
ſchößen hingen, um ſeine Kniee ſich klammerten und
ihm die Beine faſt unterm Leibe wegzogen.


„Liebſte, beſte Frau,“ ſtammelte er, „Kinderchen,
armes kleines Volk, arme liebe Schelme, es iſt wohl
gleich geweſen, wo wir uns heute verkrochen haben: ob
über der Erde, ob unter ihr. Des Herrn Hand hat
uns doch gefunden und herausgezogen unter die Ge¬
wappneten und uns hingeworfen unter ihren Fuß und
Huf; aber ſeine Güte hat auch bis dahin gereichet: er
hat uns aufbehalten und bewahret Einen für den
Andern bis auf Einen. Den hat er hingenommen und
weggeführet in ſeiner Jugend: — er wird es ja wohl
wiſſen, was das Beſte für Den war. Kinderchen und
Frau Amtmännin, draußen liegt er auf dem Odfelde
in ſeinem eignen Blute, der letzte, der ſchlimmſte, der
beſte Primus der Prima der alten echten wirklichen
großen Schule zu Kloſter Amelungsborn!“


„Himmel, Herr Magiſter, doch nicht der Schlingel
der Thedel?“ rief die Frau Kloſteramtmännin!


„Der letzte Münchhauſen aus Bevern! Seine Durch¬
laucht, Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Bevern
haben ihn mit dem Herrn Vetter von Bodenwerder
unter den engliſchen Reitern gegen den Franzoſen ge¬
ſchickt und er hat den letzten Schlag auf ihn heute
[289] gethan. Frau Amtmann, er iſt der Einzige von uns,
der heute einen vergnügten Tag, einen Tag nach ſeinem
Herzen erlebt hat, und er liegt mit einem Lachen auf
dem Geſicht draußen auf dem Odfeld unter den Völkern
und Präſagio vom geſtrigen Abend!“


„Du liebſter Gott! Das hätte ich ihm doch nicht
gewünſcht, ſelbſt wenn er uns hier im Amthauſe den
Kopf am heißeſten machte! So jung — und hat nun
in ſeiner ganzen Tollheit und in allen ſeinen Dumm¬
heiten davon gemußt!“ ſeufzte die Frau kopfſchüttelnd;
doch die eigenen, den Tag über beſtandenen Bedräng¬
niſſe laſteten noch zu ſchwer; es war nicht zu ver¬
wundern, daß ſie nicht allzuviel Zeit und Mitgefühl
für den wilden Junker von Münchhauſen übrig hatte.


„Wir wollen in’s Künftige beſſer zuſammenhalten,
lieber Herr Magiſter, wenn uns Gott in ſeiner Barm¬
herzigkeit noch einmal aus dieſem Schreckniß heraus¬
hilft,“ ſeufzte ſie, und das war ſchon etwas bei dem
böſen Verhältniß, wie es bis zum letzten zwiſchen dem
Kloſteramt und der Kloſterſchule zu Amelungsborn ge¬
herrſcht hatte.


„Hm, hm, hm,“ murmelte Magiſter Buchius, als
er durch das verwüſtete, geplünderte Amthaus, in dem
kaum noch ein Fenſter heil und ganz war, hinſchwankte,
als er ſich durch die von Feind und Freund mit
Trümmern und Unflath erfüllten Gänge taſtete und
auf den mit allem ſchlüpfrigen Erdreiche von Gottes
Boden zwiſchen dem Solling, der Weſer und Ame¬
Raabe, Das Odfeld. 19[290] lungsborn bei jedem dritten Schritte ausglitt und
ſtolperte. „Hm, hm, wenn der Knabe nicht draußen
unter den Todten läge, möchte ich wohl ſagen, daß
mir der Raben Bataille über dem Odfelde nicht bloß
zum böſen Zeichen für die künftigen Tage gewieſen
worden ſei.“


Auch er ſchüttelte das Haupt und trotz ſeines
ſchweren Kummers mußte er lächeln:


„Ei, ei, wie reden wir doch? wie laufen unſere
Gedanken! der Menſch auf Erden kann doch keine Ein¬
bildung in ſich verhindern, ob ſie ſchlimm oder gut
ſei! ... aber er kann ſich faſſen und zuſammennehmen
in chriſtlicher und heidniſcher Weisheit und kann ſagen:
Buchius, es kommt für dich Alten nicht mehr darauf
an, wie Du heut' Abend die Stelle findeſt, allwo Dein
Bette geſtanden hat, auf welchem Du nur zu oft in
boshaften Gedanken und ärgerlichen Einbildungen Dich
um und um gewendet haſt. Kehre bei Dir ſelber ein,
Menſchenkind, und lege Dich da, wo Du Deine Stätte
zugerichtet findeſt.“


Er fand das Stück von Kloſter Amelungsborn, wo
ihm ſeine Stätte bereitet war, wahrlich ebenfalls ſauber
zugerichtet. Wie die wilden Thiere hatten ſie auch da
gewirthſchaftet, Feind und Freund. Was in den alten
ſchon ſo verſtörten Auditorien von der alten gelehrten
Herrlichkeit und Würde ſich noch bis geſtern erhalten hatte,
das war jetzo ganz hin. Das letzte Subſellium, das
letzte Katheder war in Feuer aufgegangen, dem fremden
[291] wie dem einheimiſchen Kriegsvolk die Suppen zu kochen
und die verklommenen Gliedmaßen zu wärmen. Was
von dem Durchmarſch in den früheren Schulſtuben von
Kloſter Amelungsborn zurückgeblieben war, das war eitel
ſcheußlicher Unrath, teufliſcher Hohn, Stanck und Muth¬
willen — ein Spott auf alle klöſterliche und pädago¬
giſche Zucht und Reinlichkeit. Magiſter Buchius wendete
ſchaudernd den Blick nach Oben und hielt trotz allem,
was er ſchon in ſeinem Leben und vor allem am heu¬
tigen Tage hatte riechen müſſen, die Naſe zu.


Er wäre faſt umgekehrt am Fuße der letzten leiter¬
artigen Stiege, die zu ſeinem Winkel unter dem Dache
führte; aber ſein tapfer Herz litt es denn doch nicht,
daß der ſchwache Leib nachgab.


„Er liegt draußen im Sumpf und Moraſt, der letzte
Schüler der großen Schule zu Amelungsborn. Er der
Decurio, der Erſte unter Zehnen — was ſage ich: Er,
Primus e viginti — Er der Centurio, der Oberſte
unter Hunderten — der ſchlimmſte und der beſte von
Allen. Schäme Er ſich, alter überflüſſiger ludimagister,
alter ungebraucht verbrauchter Schulmeiſter, daß Er heute,
heute — heute noch ein Grauen und einen Ekel verſpüren
kann und ſich mit Kummer um Seine Impedimenta,
Sein armſelig Lebensgepäck, Seine thörichten Sieben¬
ſachen das Herz beſchweren will! Buchius, jetzo iſt
Seine Zeit. Nun gedenke Er der Stoa, nun zeige Er,
daß ihm der Titan, der hohe Prometheus aus dem beſſern
Leimen das Herz knetete, zeige Er ſich erlauchter Ahnen
19*[292] werth und ſorge Er in chriſtlichem Vertrauen nicht
darum: was werdet ihr eſſen, was weidet ihr trinken,
wo werdet ihr euer Haupt niederlegen und was wird
die Schlacht der Raben auf dem Odfelde von euren
vergänglichen Habſeligkeiten und unerſetzlichen Pretioſen
und Curioſitäten übrig gelaſſen haben nach eingetretener
und eingeſchlagener Thüre!“


Nun ſtand er in dem höchſten Korridor des alten
Gemäuers der Ordensleute des heiligen Bernhard von
Clairvaux, und, wie er es ſich gedacht hatte: das letzte
Tageslicht fiel auch hier nicht bloß durch die einge¬
ſchlagenen Fenſter, ſondern auch durch die eingeſtoßenen
Pforten der verwaiſeten Zellen der Brüder Ciſtercienſer
in den Gang unter dem Dache. Nun machte der Gang
einen Haken und Magiſter Buchius ſtand vor des Bruders
Philemon und ſeiner Thür im dunkeln Winkel.


Zu!


Magiſter Buchius legte die Hand auf den Griff.


Verſchloſſen! Die Kniee bebten unter dem alten
Manne.


Er griff in der Dämmerung an der Thürfüllung
umher. Er rüttelte am Schloß; — es blieb kein Zweifel
übrig: es gehörte ſelbſt an dieſem Abend des fünften
Novembers 1761, nach der Schlacht über dem Odfelde
und am Ith, immer noch ein Schlüſſel dazu, um hier
Einlaß zu gewinnen!


Magiſter Buchius ſchlug erſt in keuchender Aufregung
die bebenden Hände zuſammen, griff dann mit beiden
[293] Händen an den Hoſen herunter, fuhr mit der linken
wie mit der rechten Hand in die Taſche und holte ihn
hervor, den Schlüſſel — ſeinen Schlüſſel — den Schlüſſel
zu ſeiner Stube und Kammer. Vor der nicht einge¬
ſchlagenen Thür hatte er allein im Kloſter Amelungs¬
born nach dem Stubenſchlüſſel in der Hoſentaſche zu
ſuchen! ...


Es koſtete ihm nicht ohne Grund einige Mühe, das
Schlüſſelloch dießmal zu finden.


Das altgewohnte Gekreiſch der Haſpen und Angeln
— Alles, wie er's verlaſſen hatte! Alles, als ob es
dem guten Herzog Ferdinand und dem böſen Herzog
von Broglio nicht im Traum eingefallen ſei, ſich auch
in dieſer Gegend um den Weg über Einbeck nach Braun¬
ſchweig zu raufen! Alles, als ob Kloſter Amelungs¬
born nicht ſein Theil von der Schlacht abbekommen
habe! Alles, als ob nicht der Junker Thedel von
Münchhauſen draußen auf Odins Felde mit unter den
Todten von den Elliots liege! ... Der alte Herr
und Schulmeiſter, der Magiſter Buchius, ſtand un¬
gläubig, zweifelnd, ſeinen Sinnen nicht trauend. Er
ſtand ſtarr, ſah an den vier Wänden herum, nach der
alten ſchwarzen Balkendecke hinauf und zu dem Gips¬
boden, den ſchon der Fuß des Bruders Philemon im
dreißigjährigen Kriege beſchritten haben mochte, hinab
und — — das Weinen war ihm näher als das Lachen:


„Großer Gott! guter Gott, mir Das? mir alleine
Solches?“

[294]

Er ſaß, an allen Gliedern zitternd, nieder auf dem
Stuhl neben dem Tiſche, auf dem geſtern Abend Knecht
Heinrich mit ſeiner Kreide den Lauf der Weſer und die
Stellung der kriegführenden Partheien hingemalt hatte.
Er ſaß hin in ſeinem nur durch ein Wunder unan¬
getaſtet verbliebenen Altentheil:


„Iſt es denn die Möglichkeit? Rundum auf Meilen
und Meilen Weges Alles ruinirt und mir — mir —
o mir allein ſolche Gnade und Barmherzigkeit! Herr,
womit habe ich armer unnützer Sünder dieſe Ausneh¬
mung und Verſchonung verdient?“


Er erhob ſich wieder vom Stuhl, ſtand inmitten
ſeines Gemachs und ſchlug die Hände zuſammen wie
ein ſich verwunderndes Kind. Doch nun traf im
letzten Tageslicht ſein Auge auf Zeichen, daß doch
Jemand, trotz verſchloſſen gebliebener Thür, im Muſeo
anweſend geweſen ſei und nicht ganz ſo beſcheiden und
zierlich gehauſet habe, wie es ſich für einen höflichen
und frommen Gaſt gezieme. Es lag der Suppennapf
aus der Küche der Frau Kloſteramtmännin in Scherben
am Boden, ebenſo der Teller, auf dem der letzte Häring
aus der Speiſekammer von Amelungsborn gelegen hatte.
Ein Buch lag in Fetzen zerriſſen unter dem Tiſche und
einzelne Blätter daraus waren durch die ganze Zelle
verſtreuet.


Magiſter Buchius bückte ſich natürlich zuerſt nach
dem Buche; und mit jeder Einzelnheit ſtand ihm
nunmehr der vergangene Abend, der Abend des
[295] vierten Novembers 1761 vor der Seele und im Ge¬
dächtniß.


Auch das Titelblatt war ausgeriſſen worden; aber
Magiſter Buchius wußte doch, was er wieder in den
zitternden Händen hielt; nämlich den Wunderbaren
Todesboten, oder die ſchrift- und vernunftmäßige Unter¬
ſuchung, was zu halten ſei von ꝛc. — an's Licht ge¬
geben von Theodoro Kampf, Schloßpredigern zu Iburg:

„O mein Sohn Diedericus! mein Thedel! mein
armer Thedel von Münchhauſen. So bin ich alter
unnützer Knecht unverdientermaaßen erhalten in meinem
Eigenthum und Du liegeſt draußen auf dem Odfelde
in Deinem erſtarrten jungen Blut, und wenn ich
morgen reden will von Dir, werden ſie mir den Mund
verbieten und ſprechen: Du habeſt Dein Theil nur
verdientermaaßen empfangen, habeſt nur Das erhalten,
was Du gewollt habeſt!“


Er hielt ein Blatt aus dem zerriſſenen wunder¬
lichen Buch und entzifferte, ſchwimmenden Auges, noch
Eine Zeile beim letzten Abendgrauen:

Bringet mir Dieſen zur Ruhe!“

In dieſem Augenblick fuhr er heftig erſchrocken zu¬
ſammen, er, der den halben Tag über das Krachen
des Kleingewehrs und den Donner des groben Geſchützes
aus der Schlacht am Ith im Ohr gehabt hatte. Und
es zupfte ihn doch nur Jemand unten am Rock, und
hackte in ſeine Schuhſchnallen und ſagte:

„Krah!“.....


[296]

Da ſtand er, der den ganzen Tag über den ein¬
zigen ſichern Platz in Kloſter Amelungsborn und weit
rundum für ſich allein gehabt hatte und doch nicht
darin mit ſeinem Schickſal zufrieden geweſen war.
Inmitten der von ihm angerichteten Verwüſtung ſtand
zwiſchen den Beinen des Magiſters Buchius der ſchwarze
Kämpfer aus der Schlacht auf dem Wodansfelde,
Wodans — Odins Vogel, geiſterhaft, geſpenſtiſch frech
und unbefangen, aber deſſenungeachtet ſo wenig mit
Triumphatorgefühlen wie die zwei großen Feldherren
von Braunſchweig und von Broglio in ihren Haupt¬
quartieren zu Wickenſen und zu Einbeck am heutigen
Abend.


Er war grimmig hungrig, ob er von Hugin oder
ob er von Munin ſtammte, der dunkle Bote Wodans,
und er ſperrte den Schnabel darnach auf und ſchrie
empor zum guten alten Magiſter Buchius. Papier
ſättigt nicht, und der Spukvogel vom Odfeld hatte
ſeinen Magen höchſtens voll von Papier — Papier
aus des Iburgiſchen Schloßpredigers Theodori Kampf's
gelehrten Unterſuchungen über das, was von Eulen-
und Leichhühner-Schreien, von ſeines eigenen ſchwarz¬
geflügelten Geſchlechtes Geſchrei und andern Anzei¬
gungen des Todes zu halten ſei.


„Du biſt es?“ ſprach der Magiſter, ſein letztes
Erſchrecken bezwingend und ſeines Grauens noch ein¬
mal Herr werdend. „Du? Du? Du? O Geſpenſt,
meldeſt Du Dich nun wieder und zerreſt an mir und
[297] frageſt: ob Du Deine Botſchaft wohl ausgerichtet habeſt
als Bote des höchſten barmherzigen Gottes, des Herrn
Zebaoths oder — als hölliſcher Gaukler ſeines Affen
des leidigen Satans? O Kreatur, ach Rab, Rab,
wohl iſt Dein Zeichen Wahrheit geworden! Sie liegen
bei Deinen Kameraden in Campo Odini und weit
rundum verſtreut meine Brüder und unter ihnen meiner
Seele Sohn im jammerhaften Säkulo. O Vieh, ich
habe Dich im Tuch vom Schlachtfeld, von Wodans
Felde hereingetragen und in Sicherheit gebracht; aber
ich habe meinen lieben Knaben, meinen tapfern Thedel,
meinen Thedel von Münchhauſen liegen laſſen müſſen
unter den Erſchlagenen auf dem Odfelde!“


Der ſchwarze Vogel hatte einen grimmigen Hunger,
er hüpfte ein paar Schritte auf dem Fußboden hin und
her und ſchrie mit heiſerer Stimme ſeine Noth und
ſeinen Grimm aus und hackte in einen Gegenſtand, der
in der Dämmerung genau einem Menſchenarm glich.


Und es war auch einer; aber aus Holz geſchnitzet;
der Arm der heiligen Jungfrau Maria, des Wunder¬
bildes von Kloſter Amelungsborn. Das hatte heute
keine Wunder verrichten können, und der unheimliche
Gaſt des Magiſters Buchius wurde auch nicht ſatt von
ihm; aber dem — dem Gaſt des Magiſters Buchius
konnte freilich bei ſo glorioſen Zeitläuften leicht ge¬
holfen werden.


„I Du Halunke! Beſtia, Verwüſter!“ rief der alte
Herr, ſich jetzt genauer auf dem Fußboden und an den
[298] Wänden ſeines Muſeums umſchauend und trotz allem
heute Erlebten von Augenblick zu Augenblick ärger¬
licher werdend. „Den Hals ſollte man dem Ungethier
umdrehen! Iſt das der Lohn für Hospitalität, Thei¬
lung des letzten Biſſens? Böſewicht, bei genauerer In¬
ſpectio könnte es nicht ſchlimmer hier in meiner Stube
ausſehen, wenn ſie ihre Bataille in ihr ausgefochten
hätten und nicht zwiſchen dem Ith und den Stadt¬
oldendorfer Hohlwegen. Spitzbube, Schurke, Halunk,
hatteſt Du noch nicht genug an Eurem Gerauf über
Odins Felde? Nun ſieh mal, guck mal, guck nur mal
an, wie Du hier bei intimerer Beſichtigung gehauſet
haſt. Da liegen die kurieuſen Töpfe der Vorfahren,
da liegen ihre Knochen! Das halbe Raritätenkabinet
vom Brett geſtoßen — Zettel abgeriſſen, und — hier
— ſehe Er einmal hier, Er Erzſchweinigel! gehet man
ſo mit den Cimelien eines Büchervorraths um? Nun
ſage Er ſelber, was ich mit Ihm anfangen, was ich
Ihm anthun ſoll für Seinen Mißbrauch des Gaſt¬
rechts? Wenn die ganze Schule von Amelungsborn ſich
hier in meiner Abweſenheit einen Jokus erlaubt hätte,
könnte es nicht ärger bei mir ausſehen.“


„Krah! krah!“ ſchrie der ſchwarze Geſpenſtervogel
und Gaſtfreund des Magiſter Buchius, den Schnabel
immer gieriger, immer unwirrſcher aufſperrend, grade
als wiſſe er ganz genau, was für eine leckere wohl¬
beſtellte Tafel ihm draußen rund um das Odfeld und
auf demſelben wiederum gedeckt worden ſei.


[299]

„Die Thür ſoll ich Dir öffnen, das Fenſter ſoll ich
Dir aufmachen?“ murmelte der alte Schulmeiſter, all¬
gemach über ſeine Kurioſitäten hinaus wieder zu andern
Bildern, Vorſtellungen, Gedanken und Gefühlen kommend.
„Du großer Gott, wer wird mir helfen, ſeinen jungen
Leib zur Ruhe zu betten? Das Aufgebot der Bauern?
wie neulich bei Wellinghauſen — zweitauſend Mann
drei Tage und drei Nächte durch?“


„Krah!“ rief der Vogel, als wolle er bemerken,
daß er noch immer da ſei. Und er flatterte auf und
ungeduldig in der Zelle des Bruders Philemon im
Kreiſe umher und ſchlug noch einen letzten germaniſchen
Aſchenkrug dem Gaſtfreund vom Brette. Man merkte
es ihm wahrlich nicht mehr an, daß er geſtern ſeiner¬
ſeits eine Wunde aus der Schlacht über dem Odfelde
davongetragen habe.


„Du? Du? Du?“ murmelte der Magiſter Buchius.
„Du willſt hinaus? Du willſt helfen von der Weſer
bis zum Hils? Du willſt mir, mir helfen auf dem
Odfelde?“


Er hielt den Fenſterriegel wie um ihn gegen Gott,
Teufel und Welt feſtzuhalten und das Fenſter zu.
Und er reichte in ſeinem Grauen mit ſeiner Kraft doch
nicht aus. Der wilde, ſchwarze Bote und Streiter
Wodans wurde immer ungebehrdiger, wurde wie toll
in ſeinem Willen. Er flog gegen den Kopf des Ma¬
giſters, er ſtieß mit ſeinem Kopf gegen die kleinen
runden Scheiben, daß ſie in ihren Bleieinfaſſungen er¬
[300] klirrten. Vergebens wehrte ſich der alte Schulmeiſter
der weiland großen Schule von Amelungsborn mit
vorgehaltenem linken Arm und Ellenbogen: das Thier
ſetzte ſeinen Willen durch.


„Fahre zu!“ ächzte der Greis, das Fenſter öffnend
und ſeinem dunkeln Gaſt den Ausgang aus ſeiner Zelle
freigebend. „Ich weiß nicht von wannen Du ge¬
kommen biſt, ich weiß nicht wohin Du gehſt; aber gehe
denn — in Gottes Namen, — auch nach dem Odfelde.
Im Namen Gottes, des Herrn Himmels und der Erden
fliege zu, fliege hin und richte ferner aus, wozu Du
mit uns Andern in die Angſt der Welt hineingerufen
worden biſt.“

[][][]
Notes
*)

Mr. le marquis de Voyer d'Argenson.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Odfeld. Das Odfeld. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnsp.0