[][][][][][][[I]]
Briefe eines Verſtorbenen.

Zweiter Theil.
[[II]]
[][]
[figure]
[[III]]
Briefe
eines
Verſtorbenen
.

Ein
fragmentariſches Tagebuch
aus
England, Wales, Irland und Frankreich,
geſchrieben in den Jahren
1828 und 1829.

Zweiter Theil.

Muͤnchen: .
F. G. Franckh.
1830.

[[IV]][[V]]

Inhaltsverzeichniß
des
zweiten Theils
.


BriefXXXIV.


Wer Samiel eigentlich war. Rückwanderung nach Ken-
mare. Ein irländiſcher Bote. Einladun O’Connels.
Ritt nach ſeinem verwünſchten Schloſſe. Reiſe-Abentheuer.
Die Brücke der ſchwarzen Waſſer. Letzte Bäume daſelbſt.
Von nun an das Chaos. Schauervolle Küſte. Der Weg
endet im Meer. Guter Rath theuer. Ein Schmuggler
hilft mir aus der Noth. Paſſirung des Gebirgspaſſes
[VI] in ſchwarzer Nacht. Udolphos Geheimniſſe. Derrinane
Abbey. Licht. Ein Mann im Schlafrock. O’Connel der
große Agitator. Verſchiednes über ihn. Vater Leſtrange,
ſein Beichtvater. O’Connel als Chieftain, ſeinen Unter-
thanen Recht ſprechend. Seine religiöſe Toleranz. Ab-
reiſe von Derrinane. O’Connel begleitet mich. Neuer Ju-
piter in Stiergeſtalt. Däniſche Forts. Abſchied. Irlän-
diſche Transportmittel. Liebenswürdigkeit des Volks-
Charakters. Nachgeholte Begebenheit. Die Wirthstochter
zu Kenmare. Hungryhill und ſein maieſtätiſcher Waſſer-
fall. Der Adler O’Rourcke’s. Der moderne Ganymedes.
Seehunde unter meinem Fenſter. Ihre Liebe zur Muſik.
Häuslicher Gottesdienſt. Frommes Geſpräch über die
Sündfluth, den jüngſten Tag und die Apokalypſe. Anprei-
ſung der herrlich en Gegend, um hier Hütten zu bauen.


Seite 1.


BriefXXXV.


Bienen-Kämme in freier Luft. Egyptiſcher Lotus. Be-
ſuch bei einem Adlerpaar. Ihre romantiſche Wohnung
und ihr ſeltſamer Inſtinkt. Der hieſige wilde Jäger. Die
Höhlen des Sugarloaf. Spur des Wagens der Geiſter-
Königinn. Gefahrvolle Jagden in dieſen Bergen. Die
[VII] Nebel, die Sümpfe und wilden Stiere. Die Bezähmung
eines Solchen. Ein Volksmährchen.


Seite 40.


BriefXXXVI.


Abgötterei mit dem Sonntag in England. Wunderbare
Bekehrung eines Proteſtanten zum Katholicismus. Kar-
renfahrt. Die Whiteboys. Macroom. Die naive Mama
und das verzogne Kind im Gingle. Der ſtarke Dänen-
König. Cork. Fahrt auf dem Meer nach Cove. Herr-
liche Entrée von der Seeſeite. Folko’s Seeburg. Monks-
town. Seltſame Beleuchtung mit zwei vollſtändigen Re-
genbogen auf einmal. Das Amphitheater der Stadt Cove.
Getäuſchte Erwartung auf Fiſche. Illuminirte Nachtaus-
ſicht. Die Sterne. Abreiſe in der Mail. Michaelstown
und ſein Schloß. Novellen-Stoff. Außerordentliches Wet-
ter für Irland. Der Soldat von O’Connels Miliz. Die
Galtees. Cahir. Andres Schloß König Johann’s. Schö-
ner Park des Lord Glengall. Des Prinzen Equipage in
Cashel. Macht der Gewohnheit — Geheimniß aller Er-
ziehung. Clubdiner.


Seite 54.


[VIII]

BriefXXXVII.


Rock of Cashel, eine der merkwürdigſten Ruinen in Ir-
land. Der Teufelsbiß. Altſächſiſche Baukunſt. Inqui-
ſitions-Klingel. S. Patricks Statue und der Thron von
Scone. Hore-Abbey und die von Atthaſſil. Zuſtand der
Katholiken in Fipperari. Lächerlicher Zeitungs-Artikel,
mich betreffend. Meine Nothrede.


Seite 82.


BriefXXXVIII.


Ueber die Naturgeſchichte des Schwans. Holycroß, und
ſeine Denkmäler. Diné mit 18 Geiſtlichen. Converſation
dabei. Wenden und Irländer. Liſte der katholiſchen und
proteſtantiſchen Gemeinden in der Diocös Cashel. Curienſe
Details, und Vemerkungen darüber. Gutgemeinter Exor-
cismus. Halsbrechende Jagd. Der wandelnde Sumpf.
Pferde-Thaten. Landjunkerleben. Seltſame Parlaments-
Rede. Die Burg im Himmel. Potheen-Euthuſiasmus.
Die Vornehmen in Irland. Gute Regel.


Seite 93.


[IX]

BriefXXXIX.


Das Brüderpaar. Materielles Leben. Devils. Die
hübſche Wirthin. Der Piper. Die Räuber. Der ange-
führte Advocat. Auſter-Geheimniſſe. Johny’s Abentheuer
in Holicroß. Die Ermordung Baker’s. Der Couſin R …
Sergeant Scully. Der bewegungsloſe Hahn. Fitzpatrick
und ſeine Bag pipe.


Seite 161.


BriefXL.


Der Feengarten. Romantiſches Schilderhaus. Rückkehr
nach der Stadt. Frau von Sevigné. Lord Byron’s Ge-
witter. Diné beim Lord Lieutenant. Der Marquis von
Angleſea. Gottesdienſt in der katholiſchen Kapelle. Un-
ſichtbare Muſik. Der heilige Chriſtoph. Vergleich des
katholiſchen und engliſch-proteſtantiſchen Cultus. Allego-
rie. Londner Tagebuch. Unterſchied zwiſchen engliſchen
und deutſchen Anſichten. Zwei Normal Miſſes. Ihre
Geſchichte. Allgemeine Bemerkung über die Engländerin-
[X] nen. Malahide. 700 Jahr alte Möbel. Herzogin von
Portsmouth. Carl der I. am ſpaniſchen Hofe. Howth
Caſtle. Ducrow’s lebendige Statuen. Der ruſſiſche Cou-
rier, und Pony als alte Frau.


Seite 144.


BriefXLI.


Abend bei Ladi M … Ihre Niecen. Seltſame Conver-
ſation. Der Gemal. Noch mehr Theologiſches. Die
Nachtigallen. Alles Korn Europa’s. Die Nationalſcene.
Die häuslichen Tableaus. Das Autor-Boudoir. Die
Perlmutter. Der Diminutive Napoleon. The Catholie
Aſſociation. Shiel, Lawleß und Andere. Naives. Ritt
ins Gebürge. Sentimentalität eines Dandy.


Seite 162.


BriefXLII.


B. H. über die Religioſität unſrer Zeit. O’Connel in
der Allongen-Perücke. Der Don Quixotte und der Dandy
[XI] der Aſſociation. Sprüchwörter-Spiel bei Lady M …
Miß Oneil. Ihr Spiel.


Seite 192.


BriefXLIII.


Büreau der todten Briefe. 3000 Pf. St. Incognito.
Der Arzt. Der Lungenmeſſer. Die Allerwelts-Sprütze.
Weibliche Wetterpropheten. Die Bank. Banknotenmetall.
Gymnaſtik. Stuben-Philoſophie. Paradoxen.


Seite 205.


BriefXLIV.


Gunft Neptuns. Der Traum. Ueberfahrt. Der junge
Erbe. Nacht in der Mail. Shrewsbury. Die Tret-
mühle. Gelbe Sträflinge. Die Kirche. Seltſame alte
Häuſer. Straßenneugierde. Der kleine Schüler. Roß.
Der River Wye. Schloß Goderich. Erzwungene Höflich-
keit. Die Jakobsleiter. Abwechſelnde Anſichten. Drei
[XI[XII]] Grafſchaften auf einmal. Wiege Heinrich des V. Groteske
Felſen. Ein verunglückter Touriſt. Kopf des Druiden.
Monmouth. Heinrichs Schloß, jetzt ein Gänſeſtall. Buch-
händler-Familie. Diebſtahl. Güte einfacher Naturen.
Bunte Feuerblumen. Die Zinnwerke. Tintern Abbey.
Epheu-Allee. Die Sturm-Klippe. Erhabne Ausſicht.
Schloß von Chepſtow. Cromwell und Heinrich der VIII.
als Landſchafts-Verſchönerer. Entdeckung.


Seite 235.


BriefXLV.


Der Königsmörder Martin. Des Mädchens Erklärung.
Beſteuerung der Reiſenden. Der Beſitzer von Piercefield.
Paſſage des Channel. Menſchen und Pferde pêle mêle.
Recapitulation. Maler und Pinſel. Natur-Gemälde.
Das ſchönſte Gebäude. Briſtol. Die Feudal-Kirchen.
Unintereſſirte Frömmigkeit. Des Maire’s Equipage. Cooks
folly. Lord Clifford’s Park. Ruſſiſche Flottille. Das
Dorf-Ideal. Dante’s umgekehrte Höllen-Inſchrift. Cliſton.
Das weiß und ſchwarze Haus. Chirurgen-Empfindſamkeit.
Bath. Der König von Bath. Die Abteykirche. Eigen-
thümliche Ausſchmückung. König Jakob’s Heldenthat.
Der Sonderling. Beckford. Der bei Licht gebaute Thurm.
Beſondre Art ſpazieren zu reiten. Der Beſuch über die
Mauer. Gothiſche Baukunſt. Der Weihnachts-Markt.
Sapziergänge bei Tag und Nacht. Die Feuersbrunſt.


Seite 260.


[XIII]

BriefXLVI.


Die Wittwe. Lebendige Todtenköpfe. Angenehmere Rei-
ſegeſellſchaft. Examina. Stonehenge. Unheimliche Begeg-
nung und Unglück. Die Cathedrale. Monumente darin.
Der Thurm. Halsbrechendes Hinaufſteigen. Der Habicht
auf dem Kreuz, und des Herrn Biſchoffs Tauben. His
Lordship und ſeine Beſchäftigungen. Frommer Wunſch
fürs Vaterland. Spiegel der Vergangenheit und Zukunft.
Schloß Wilton. Die ritterliche Caſtellanin. Antiken,
Gemälde. Tempel, von Holbein erbaut. Talent engliſcher
Damen. Eingangs-Liſt. Langford Park. Vorzügliche Bil-
der. Egmont, Alba, Oranien. Thron Kaiſer Rudolph’s.
Boxingmatch. Der wettende Kutſcher. Neuengliſche Mo-
ral der Großen. March of Intellect. Militair-Schule.
Beroutirte Fuchsjagd. National-Pflicht. Zum neuen
Jahr. London. Die nicht gefundne Hündin. Regenten-
leben. Dom zu Canterbury. Der ſchwarze Prinz. Far-
benpracht. Der Erzbiſchof. Schadhafter Boiler. Das
Fort zu Dover. Kurze Ueberfahrt. Nationelle Ungenirt-
heit. Frankreichs Lüfte. Die Jettée. Engliſche Kinder.
Der alte, große Bandi. Anekdoten.


Seite 286.


BriefXLVII.


Fränkiſche Diligence. Der Napoleoniſche Gardiſt. Deut-
ſche Plinzen. La Mechanique. Werth der Freiheit. Pa-
[XIV] ris. Reviſion des Altbekannten. Schlechtes Neue. Thea-
tre de Madame
. Der tugendhafte Martin. La charte
pour les Caffés
. Roſſini hat die wilden Thiere gezähmt.
Wohlfeilheit in Paris. Burlesker Tod des Fürſten Ponia-
tofsky. Lobenswerthes Enſemble bei den hieſigen Bühnen.
Aehrenleſe im Muſeum. Der deplacirte Sphynx. Mephi-
ſtopheles-Walzer. Himmel und Hölle.


Seite 521.


BriefXLVIII.


Aeſthetiſcher Spaziergang. Einiges über die Familie
Napoleons. Spaniſche Galanterie. Der Henker von Am-
ſterdam. Der Mercure Galant. Wie er ſich verflüchtigt.
Omnibus. Thierpolizei. Gedanken im Innern einer Dame
Blanche. Diavolo. Sing-Nüancen. Pariſer Annehmlich-
keiten. La Morne. Ablaß. Der Eisbär. Deſaixs Monu-
ment. Getäuſchte Hoffnung. Die Ama’s. Abſchied.


Seite 352.

[[1]]

Vier und dreißigſter Brief.



Geliebte Freundin!

War es alſo der Teufel oder nicht? fragſt Du.
Ma foi, je n’en sais rien. Jedenfalls hatte er in
dem erwähnten Augenblick eine ſehr recommendable,
wenn gleich gefährliche, Geſtalt [erwählt], nämlich die
eines hübſchen Mädchens, die in ihrem dunkelblauen,
vom Regen noch ſchwärzer gemachten, langen Man-
tel eingehüllt, und der rothen Mütze von Kerry auf
dem Kopfe, barfuß, und vor Kälte ſchauernd, bei
mir vorbeigehen wollte, als ich ſie anhielt, und frug,
warum ſie hinke, und wie ſie in dieſem Wetter hier
ſo allein umher irre? Ach, rief ſie, in halb verſtänd-
lichem patois, auf ihren verbundenen Fuß zeigend
ich gehe blos nach dem nächſten Dorfe, habe mich
verſpätet, bin bei dem abſcheulichen Wetter gefallen,
und habe mir recht wehe gethan! Hierbei ſah ſie
ganz ſchalkhaft und loſe aus (am Ende war doch
etwas nicht ganz Geheures dabei) und zeigte ſo viel
Briefe eines Verſtorbenen. II. 1
[2] von dem ſchön gerundeten, verwundeten Bein, daß
meine Laune abermals wechſelte, et je crois que le
diable n’y perdit rien
. — Wir theilten von nun
an die Beſchwerden des Wegs, halfen uns gegenſei-
tig, und fanden endlich im Thal, zuerſt beſſeres
Wetter, dann ein erholendes Obdach, und endlich
einen labenden Trunk friſcher Milch.


Neu geſtärkt wanderte ich in der Nacht weiter,
und als ich in Kenmare anlangte, hatte ich die vier
deutſchen Meilen in etwas über 6 Stunden zurückge-
legt. Aber ich war auch herzlich müde, und ſobald
ich in mein Schlafzimmer trat, ſprach ich mit Pathos,
und Wallenſtein: Ich denke einen langen Schlaf zu
thun!



Dies geſchah denn auch, und ich hatte Zeit dazu,
denn das Wetter war ſo abſcheulich, daß ich bis 3
Uhr Nachmittags auf beſſeres wartete, aber leider
vergebens. Ich hatte, den Abend vorher den zu
Herrn O’Connel abgeſchickten, und unbeſonnener
Weiſe, vorausbezahlten Boten, ohne Antwort und
mit zerbrochenem Schlüſſelbein im Gaſthof wieder
vorgefunden, denn da er Geld in ſeiner Taſche ge-
fühlt, ſo hatte er auch dem Whiskey nicht länger
widerſtehen können, in Folge deſſen er mit ſeinem
Pferde in der Nacht einen Felſen herabgeſtürzt war!
[3] Er hatte indeß doch den verſtändigen Einfall gehabt,
einen guten Freund unterwegs weiter zu expediren,
und bei meinem Erwachen, fand ich daher eine ſehr
artige Einladung des großen Agitator’s glücklich vor.


Ich habe bereits geſagt, daß ich mich erſt um drei
Uhr auf den Weg machte, und obgleich ich ſieben
Stunden lang im heftigſten Regen, mit dem Winde
im Geſicht, reiten mußte, und in dieſer Wüſte, wo
nicht einmal das Obdach eines Baumes anzutreffen
iſt, nach der erſten halben Stunden ſchon kein Faden
meiner Kleidung mehr trocken war — ſo möchte ich
doch um vieles nicht den heutigen, ſo beſchwerlichen
Tag, in meinem Lebensbuche miſſen.


Der Anfang war allerdings ſchwer. Zuerſt konnte
ich lange keine Pferde bekommen, denn das nach
Glengariff gebrauchte, hatte ſich den Fuß verſtaucht.
Endlich erſchien ein alter ſchwarzer Karrengaul, der
für mich beſtimmt war, und ein Katzenartiges Thier-
chen, das der Führer beſtieg. Auch mit meiner Toi-
lette war ich brouillirt. Die entwichene Galloſche
war nicht wieder gefunden worden, und der Regen-
ſchirm ſchon auf dem Hexenberge aus ſeinen Fugen
gewichen. Ich erſetzte den erſten durch einen großen
Pantoffel des Wirths, den zweiten band ich, ſo gut
es gehn wollte, zuſammen, und ihn dann, gleich
einem Schilde vorhaltend, die Tuchmütze, mit einem
Stücke Wachsleinwand bedeckt, auf dem Kopfe, gal-
lopirte ich, Don Quixotte nicht unähnlich, und oben-
1*
[4] drein mit einem ächten Sancho Panſa verſehen,
neuen Abentheuern zu.


Schon eine Viertelmeile von der Stadt machte ein
zerſtörender Windſtoß dem Regenſchirm, einſt die
Zierde New Bondſtreets, und der ſeitdem ſo man-
ches Ungemach mit mir getragen, ein klägliches Ende!
Alle ſeine Bande lösten ſich, und ließen nur ein zer-
riſſenes Stück Tafft, und ein Bündel Fiſchbein in
meiner Hand zurück. Ich gab dem Führer die Reſte,
und mich fortan dem Wetter ſorglos Preis, mit
der beſten Laune tragend, was nicht zu ändern war.


So lange wir die Bay von Kenmare cotoyirten,
ritten wir ſo ſchnell als möglich, da der Weg ganz
leidlich war. Bald aber wurde er ſchwieriger. Den
Eintritt in das rauhere Gebürge bezeichnete eine
hundert Fuß hohe und pittoreske Brücke „the black
water’s bridge“
(Brücke der ſchwarzen Waſſer) ge-
nannt. Hier war eine mit Eichen beſetzte Schlucht,
die letzten Bäume, die ich ſeitdem geſehen. Ich be-
merkte, daß mein Mantelſack, den der Führer auf
ſeinem Pferde vor ſich aufgebunden hatte, ebenfalls
gänzlich durchnäßt zu werden anfing, und befahl da-
her dem Manne, ſich in einer nahgelegnen Hütte wo
möglich eine Decke oder Matte zu verſchaffen, um ſie
darüber zu breiten. Dieſe Unvorſichtigkeit hatte ich
nachher Urſache, recht ſehr zu bereuen, denn wahr-
ſcheinlich mochte auch ihn der Whiskey dort gefeſſelt
haben, wenigſtens bekam ich ihn, obgleich öfters an-
haltend, um ihn zu erwarten, erſt kurz vor Ende
[5] der Reiſe wieder zu ſehen, welches mich ſpäter einer
großen Verlegenheit ausſetzte. Der nun allmählig
immer mehr ſich verſchlimmernde Weg führte größ-
tentheils dem Meer, das der Sturm prachtvoll durch-
wühlte, entlang; bald über öde Moorflächen, bald an
Schluchten und tiefen Abgründen hin, oder durch
weite chaotiſche Gefilde, wo die Felſen ſo phantaſtiſch
übereinander geworfen ſind, daß man glauben ſollte:
hier ſey es, wo die Giganten den Himmel geſtürmt.
Zuweilen erſcheinen Gebilde, die gleich einem ver-
ſteinten Spiel der Wolken, Menſchen und Thieren
ähnliche Figuren aufſtellten. Als ganz beſonders zier-
lich fiel mir, mitten in der allgemeinen Wildheit, eine
Felſenwand auf, die durch ihre Fugen in vollkommen re-
gelmäßige Quadrate, wie ein Schachbrett, abgetheilt
war. Dreierlei Arten Erica, gelbe, hochrothe und
violette waren in den Spalten gewachſen, und mar-
kirten die ſcharfen Linien auf das überraſchendſte.


Nur ſelten begegnete ich von Zeit zu Zeit einem
einſamen zerlumpten Wanderer, und konnte manch-
mal nicht umhin, daran zu denken, wie leicht es ſey,
mich in dieſer Gegend anzufallen und zu berauben,
ohne daß ein Menſch davon Notiz nehmen würde —
denn mein ganzes Reiſevermögen ruht in der Bruſt-
taſche meines Rockes — wie der griechiſche Weiſe
führe ich omnia mea mit mir. Doch weit entfernt
von räuberiſchen Gedanken, grüßte das gutmüthige,
arme Volk, mich immer ehrerbietig, obgleich mein
Aufzug nichts weniger als imponirend war, und in
[6] England keinen Gentleman verrathen haben würde.
Mehrmal war ich in großer Ungewißheit, welchen der
halb unſichtbaren Stege ich einſchlagen ſollte, wählte
aber glücklicherweiſe, mich dem Meere ſtets ſo nahe
als möglich haltend, keinen ganz unrechten, wenn
gleich wahrſcheinlich nicht immer den nächſten. In-
deſſen die Zeit verging — und wenn ich in langen
Intervallen einem menſchlichen Weſen wieder begeg-
nete und frug: Wie weit noch zu Mr. O’Connel?
ſo ſegneten ſie zwar immer den Vorſatz dieſes Be-
ſuchs mit: God bless Your honour, die Meilenzahl
ſchien ſich aber eher zu vermehren als zu vermindern.
Dies ward mir erſt nachher begreiflich, da ich erfuhr,
daß ich dennoch einen, mehrere Meilen abkürzenden,
Weg verfehlt, und dadurch einen unnützen Zeitver-
luſt erlitten hatte.


So fing es endlich an zu dunkeln, als ich einen
Theil der Küſte betrat, der gewiß wenig ſeines Glei-
chen hat. Fremde Reiſende ſind wahrſcheinlich noch
nie in dieſen verlaſſenen Winkel der Erde verſchlagen
worden, welcher Eulen und Seemöven mehr als den
Menſchen angehört, von deſſen furchtbarer Wildniß
es aber ſchwer iſt, einen genügenden Begriff zu geben.
Gewundene, zerriſſene, kohlſchwarze Felſen, mit tie-
fen Höhlen, in welche das Meer unaufhörlich don-
nernd einbricht, und ſeinen weißen Schaum Thurm-
hoch wieder daraus hervorſprüht, der nachher an vie-
len Stellen trocknet, und dann vom Winde, wie
wollene compakte Flocken ausſehend, bis auf die höch-
[7] ſten Punkte des Gebürges geſchleudert wird; das
klägliche, gellend den Sturm durchtönende Geſchrei
der ängſtlich umherflatternden Seevögel; das unauf-
hörliche Geheul und Brauſen der unterminirenden
Wogen, die zuweilen bis an meines Pferdes Huf
jähling heranklommen, und dann ziſchend wieder hin-
abſanken; die troſtloſe Abgeſchiedenheit endlich von
aller menſchlichen Hülfe; dazu der raſtlos fallende
Regen, und die einbrechende Nacht auf ungewiſſem,
gänzlich unbekanntem Wege — es fing mir wirklich
an unheimlich zu Muthe zu werden — ganz ernſt-
lich — nicht im halben Scherz wie am Tage vorher.
Die Sucht nach dem Romantiſchen wird Dir dies-
mal wahrſcheinlich eben ſo ſchlecht bekommen, als
dem berühmten Ritter, dachte ich ganz bedenklich, und
trieb mein müdes Pferd zu möglichſter Eile. Es ſtol-
perte jeden Augenblick über die loſen Steine, und
mit großer Mühe brachte ich es endlich in einen
ſchwerfälligen Trabb. Meine Beſorgniß vermehrte
ſich durch die Erinnerung an O’Connels Brief, der
mir geſchrieben: daß der eigentliche Zugang zu ſei-
nem Beſitzthum von der Seite von Killarney her
ſtatt finde, Wagen jedoch nur zu Waſſer ganz heran
kommen könnten, der Weg von Kenmare aber der
ſchwierigſte ſey, und ich daher ja einen ſichern Führer
mitnehmen [möchte], um keinen Unfall zu erleben.
Auch fiel mir, wie es denn geht, wenn man einmal
eine Gedankenrichtung angeſtrengt verfolgt, ein kürz-
lich geleſenes Volksmährchen von Crokes ein, wo es
heißt: „Kein Land beſſer als die Küſte von Iveragh,
[8] „um im Meere zu erſaufen, oder, wenn man das
„vorziehen ſollte, den Hals zu Lande zu brechen!“
Noch dacht ich’s . . . . da ſtutzte plötzlich mein Pferd,
und drehte, ſcheuend, mit einem Satze um, den ich
der alten Mähre kaum zugetraut hätte. — Ich be-
fand mich in einer engen Schlucht, es war noch hell
genug, mehrere Schritte ganz deutlich vor mir zu ſe-
hen, und ich konnte nicht begreifen, was die Urſach
dieſes paniſchen Schreckens meines Gaules war. Wi-
derſtrebend, und nur durch den gekauften Shileila
bezwungen, ging es endlich wieder vorwärts; nach
wenigen Schritten ſah ich aber ſchon mit Staunen,
daß der hier ziemlich gebahnte Weg mitten im Meer
aufhörte, und beinahe glitt mir der Zügel aus der
Hand, als eine ſchäumende Welle, vom Sturm ge-
jagt, jetzt auf mich wie ein Ungeheuer zufuhr, und
weit hinein die enge Schlucht mit ihrem weißen Gei-
fer beſprützte. Hier war guter Rath theuer! Schroffe
ungangbare Klippen ſtarrten mich auf allen Seiten
an, vor mir brauste die See … es blieb nur der
Rückweg offen. Aber war ich verirrt, wie ich vermu-
then mußte, ſo konnte ich, ſelbſt beim Zurückreiten,
nicht darauf rechnen, meinen Führer wieder anzutref-
fen, und wo dann die Nacht zubringen? Außer O’Con-
nels unfindbarem alten Felſenſchloß war auf zwan-
zig Meilen keine Spur eines Obdaches zu erwarten,
ich fieberte jetzt ſchon vor Näſſe und Kälte, gewiß
hielt meine Natur den Bivouac einer ſolchen
Nacht nicht aus — ich hatte in der That Urſache, be-
ſtürzt zu ſeyn. Was half jedoch alles Sinnen, ich
[9] mußte zurück, das war klar, und zwar ſo ſchnell als
möglich. Mein Pferd ſchien dieſelben Reflexionen ge-
macht zu haben, denn, wie mit neuen Kräften be-
gabt, trug es mich, faſt gallopirend, davon. Aber,
glaubſt Du es wohl? eine ſchwarze Geſtalt war
abermals beſtimmt, mir aus der Verlegenheit zu hel-
fen. Vous direz que c’en est trop — mais ce n’est
pas ma faute. Le vrai souvent n’est pas vraisem-
blable
. Kurzum, ich ſah eine ſchwarze Geſtalt wie
einen undeutlichen Schatten über den Weg gleiten,
und ſich hinter den Felſen verlieren. Mein Rufen,
meine Bitten, meine Verſprechungen blieben vergeb-
lich, — war es ein Schmuggler, die an dieſer Küſte
beſonders ihr Weſen treiben ſollen, oder ein aber-
gläubiſcher Bauer, der mich ärmſten Revenant für ei-
nen Geiſt anſah? — jedenfalls ſchien er ſich nicht
herauswagen zu wollen, und ich verzweifelte faſt
ſchon an der gehofften Hülfe — als ſein Kopf plötz-
lich dicht neben mir aus einer Steinſpalte hervor-
lugte. Nun gelang es mir bald ihn zu beruhigen;
auch erklärte er mir das [Räthſel] des im Meere auf-
hörenden Weges. Dieſer war nämlich nur für die
Dauer der Ebbe eingerichtet — um dieſe Zeit, ſagte
er, iſt die halbe Fluth ſchon heran, eine Viertelſtunde
ſpäter iſt der Durchgang unmöglich, jetzt aber will ich
Sie für ein gutes Trinkgeld noch hinüberzubringen
verſuchen, doch dürfen wir keinen Augenblick verlie-
ren. Mit dieſen Worten war er mit einem Satze
hinter mir auf dem Pferde, und was es vermochte,
eilten wir der, mit jedem Moment höher ſchwellenden
[10] Fluth wieder zu. Es war mir doch ganz ſonderbar
zu Muthe, als wir uns jetzt in die ſtürmiſche See
förmlich zu verſenken ſchienen, und durch die wei-
ßen Wogen und Felſen, die bei dem matten Zwielicht
gleich Geſpenſtern aufzutauchen ſchienen, uns mühſam
Bahn brechen mußten. — Auch hatten wir die größte
Noth mit dem Pferde; der ſchwarze Mann kannte
aber das Terrain ſo genau, daß wir, obgleich bis faſt
unter die Arme in Salzwaſſer gebadet, unverſehrt
die gegenüberſtehende Küſte erreichten. Unglücklicher-
weiſe ſcheute ſich hier noch einmal das geängſtete
Thier, vor einer hervorſtehenden Klippe, und brach
beide morſche Sattelgurte mitten entzwei, ſo daß der
Schade hier nicht mehr zu repariren war. Ich hatte,
nach allen ausgeſtandnen Nöthen, nun noch die an-
genehme Perſpective vor mir, die letzten ſechs Meilen,
auf loſem Sattel balancirend, weiter reiten zu müſ-
ſen. Der Schwarze hatte mich zwar für die Fort-
ſetzung der Reiſe beſtens inſtruirt, aber es ward bald
ſo dunkel, daß man kein Merkzeichen mehr erblicken
konnte. Der Weg ging, wie es mir ſchien, durch ei-
nen weiten Moor, und war anfänglich recht eben.
Nach einer halben Stunde holprigen Trabens, nach
Möglichkeit die Kniee zuſammen ſchließend, um den
Sattel nicht zwiſchen den Beinen zu verlieren, be-
merkte ich, daß ſich die Straße wieder rechts in das
höhere Gebürge wandte, denn das Steigen ward im-
mer ſteiler und anhaltender. Hier fand ich eine Frau,
die bei ihren Schweinen oder Ziegen die Nacht zu-
brachte. Der Weg theilte ſich in zwei Arme und ich
[11] frug, welchen ich einſchlagen müſſe, um nach Derri-
nane zu kommen? O! beide führen dahin, ſagte ſie,
der linke iſt aber zwei Meilen näher. Natürlich ſchlug
ich dieſen ein, überzeugte mich aber bald zu meinem
Schaden, daß er nur für Ziegen gangbar ſey. Ich
verwünſchte die alte Hexe und ihre trügeriſche Aus-
kunft, vergebens mattete ſich das Pferd ab, durch die
Steinblöcke zu klimmen, und halb ſtolpernd, halb
fallend warf es endlich Sattel und mich zugleich ab.
Auch war es nicht möglich den Sattel allein darauf
zu erhalten, er rutſchte immer von neuem herunter,
und ich mußte mich zuletzt bequemen, ihn ſelbſt auf
die Schultern zu laden, und das Pferd dazu zu füh-
ren. Bis hierher hatte ich mich noch ziemlich guter Dinge
erhalten, der Geiſt war auch jetzt noch willig, aber
das Fleiſch fing an ſchwach zu werden — der Mann
am Meer hatte geſagt: ſechs Meilen noch, und Sie
ſind da, und nachdem ich eine halbe Stunde ſcharf
geritten, war die vorher befragte Frau dennoch wie-
der dabei geblieben, es ſey noch ſechs Meilen auf dem
kürzeſten Wege bis Derrinane. Ich fing an zu fürch-
ten, daß dieſes geſpenſtiſche Bergſchloß gar nicht zu
erreichen ſeyn möchte, und ein Kobold mich nur dem
andern zuwerfe. Ganz muthlos ſetzte ich mich auf
einen Stein, von Hitze und Froſt gleich peinlich durch-
ſchauert, als, wie die tröſtende Stimme des Engels
in der Wüſte, ein Ruf meines Führers erſchallte,
und ich bald darauf den Hufſchlag ſeines Pferdes
vernahm. Er hatte einen ganz andern Weg durch
das innere Gebürge eingeſchlagen, bei dem die See-
[12] paſſage vermieden ward, und glücklicherweiſe von der
Frau erfahren, welche Direktion ich genommen. Im
koſtbaren Gefühl der nunmehrigen Sicherheit, vergaß
ich alles Schmälen, belud den Rettungsengel mit
meinem Sattel und naſſen Mantel, übergab ihm das
nackte Pferd, und ſetzte mich auf das ſeinige, zu mög-
lichſter Eile antreibend. Wir hatten wirklich noch
fünf Meilen zu reiten, und zwar, wie mir der Füh-
rer ſagte, durch einen mit Abgründen eingefaßten
Bergpaß — ich kann jedoch nichts weiter über den
zurückgelegten Weg berichten. Die Dunkelheit war
ſo groß, daß ich nur mit der äußerſten Anſtrengung,
der Figur des Mannes vor mir, wie einen undeut-
lichen Schatten, folgen konnte. Ich merkte wohl an
dem häufigen Stolpern der Pferde, daß wir uns auf
unebnem Boden befanden, ich fühlte, daß es unauf-
hörlich ſteil bergauf oder hinunter ging, daß wir
zwei Bergſtröme durch tiefe Furthe paſſirten — aber
das war auch Alles — nur zuweilen abnete ich
mehr, als ich ſah, daß eine ſchroffe Felswand mir
zur Seite ſtand, oder das tiefere Schwarz unter mir
verrieth, daß ein jäher Abhang nahe war — das
Ganze aber vergegenwärtigte mir ſo lebhaft Miſtriß
Anna Radcliff’s Romane, daß ich mich beinah für
einen ihrer Helden gehalten hätte, der eben im Be-
griff ſey, Udolpho’s Geheimniſſe zu entdecken. End-
lich! endlich — brach heller Lichtſchimmer durch das
Dunkel — der Weg ward ebner, ein Paar Spuren
von Hecken wurden ſichtbar, und in wenigen Minu-
ten hielten wir vor einem alten Gebäude, das auf
[13] dem felſigen Seeufer ſtand, und freundliche goldne
Lichter durch die Nacht ſtrahlte. Es ſchlug auf dem
Thurm grade 11 Uhr, und ich geſtehe es, mir ward
ſchon bange für mein diné, als ich nichts Lebendes,
außer am obern Fenſter einen Mann im Schlafrocke,
erblickte. Bald indeß wurde es geräuſchvoller im
Haus, ein eleganter Bedienter erſchien mit ſilbernen
Leuchtern, und öffnete mir ſeitwärts eine Thüre, wo
ich mit Verwunderung eine Geſellſchaft von fünfzehn
bis zwanzig Perſonen an einer langen Tafel, beim
Wein und Deſſert ſitzen ſah. Ein ſchöner, großer
Mann, von freundlichem Anſehn, kam mir entgegen,
entſchuldigte ſich, daß er ſo ſpät mich nicht mehr er-
wartet hätte, bedauerte meine Reiſe in ſo furchtba-
rem Wetter, präſentirte mich vorläufig ſeiner Fami-
lie, die mehr als die [Hälfte] der Geſellſchaft aus-
machte, und führte mich dann in mein Schlafzimmer.
Dies war der große O’Connel. — Eine kurze Toilette
reſtaurirte mich ſchnell, während man unten für
meine, allerdings nach ſolcher Tour nicht zu verſchmä-
hende, Beköſtigung ſorgte.


Als ich wieder in den Saal trat, fand ich noch den
größten Theil der Geſellſchaft verſammelt. Man be-
wirthete mich ſehr gut, und es wäre undankbar, nicht
Herrn O’Connels alten Wein zu loben, der in Wahr-
heit vortrefflich war. Nachdem die Damen uns ver-
laſſen hatten, ſetzte er ſich zu mir, und es konnte
nicht fehlen, daß Irland der Gegenſtand des Ge-
ſprächs werden mußte. Sahen Sie ſchon viele ſeiner
[14] Merkwürdigkeiten? frug er; waren Sie ſchon im
Norden, um den giants causoway (der Rieſenſteg)
zu bewundern? „O nein“, erwiederte ich lächelnd, „ehe
ich Irlands Rieſenſteg beſuche, wünſchte ich zuerſt
Irlands Rieſen zu ſehen“, und damit trank ich ihm
und ſeinem hohen Beginnen von Herzen ein Glas
ſeines guten Clarets zu.


Daniel O’Connel iſt wahrlich kein gemeiner Mann,
wenn gleich der Mann des Volks. Seine Gewalt
in Irland iſt ſo groß, daß es in dieſem Augenblick
unbedingt nur von ihm abhängen würde, von einem
Ende der Inſel zum andern, die Fahne der Empö-
rung aufzupflanzen, wenn er nicht viel zu ſcharfſich-
tig, viel zu ſehr ſeiner Sache auf gefahrloſere Art
ſicher wäre, um einen ſolchen Ausgang herbeiführen
zu wollen. Gewiß hat er auf eine merkwürdige
Weiſe, im Angeſicht der Regierung, und auf geſetzli-
chem offenkundigem Wege, geſchickt den Moment und
die Stimmung der Nation benutzend, ſich dieſe Macht
über dieſelbe verſchafft, welche, ohne Armee und Waf-
fen, dennoch der eines Königs gleicht, ja ſie gewiß
in vielen Dingen noch übertrifft — denn wie [wäre]
es z. B. je Sr. M. Georg dem IV. möglich geweſen,
vierzig Tauſend ſeiner treuen [Irländer] drei Tage
vom Whiskey-Trinken abzuhalten, wie es doch O’Con-
nel, bei der denkwürdigen Wahl für Clare, zu be-
werkſtelligen gewußt hat. Der Enthuſiasmus erreichte
dort einen ſolchen Grad, daß das Volk ſelbſt, unter
ſich, eine Strafe auf das Betrunkenſeyn ſetzte. Dieſe
[15] beſtand darin, daß der Delinquent in eine ſeichte
Stelle des Fluſſes geworfen, und dort zwei Stunden,
mit mehrmaligem Untertauchen, feſtgehalten wurde.


Am andern Tage hatte ich noch mehr Gelegenheit,
O’Connel zu beobachten. Im Ganzen übertraf er
meine Erwartung. Sein Aeußeres iſt einnehmend,
und der Ausdruck von geiſtvoller Güte in ſeinem
Geſicht, mit Entſchloſſenheit und Klugheit gepaart,
äußerſt gewinnend. Er hat vielleicht noch mehr
Suada, als wahre großartige Veredſamkeit, und man
bemerkt oft zuviel Abſicht und Manier in ſeinen
Worten, demohngeachtet muß man der Kraft ſeiner
Argumente mit Intereſſe folgen, an ſeinem martia-
liſchen Anſtand Gefallen finden, und oft über ſeinen
Witz lachen. Gewiß iſt es, daß er weit eher einem
General aus Napoléons régime, als einem Dubliner
Advokaten ähnlich ſieht. Dieſe Aehnlichkeit wird da-
durch noch auffallender, daß er vortrefflich franzöſiſch
ſpricht, denn er iſt in den Jeſuiter-Collegien zu Do-
nai und St. Omer erzogen. Seine Familie iſt alt,
und wahrſcheinlich früher ſehr bedeutend im Lande
geweſen. Seine Freunde behaupten ſogar, er ſtamme
von den ehemaligen Königen von Kerry ab, und
beim Volke vermehrt dies ohne Zweifel ſein Anſehn.
Er ſelbſt erzählte mir, nicht ganz ohne Prätenſion,
daß einer ſeiner Vettern, Comte O’Connel und Cor-
don rouge in Frankreich ſey, der andere, Baron in
Oeſterreich, General und kaiſerlicher Kammerherr,
er aber ſey der Chef der Familie. Soviel ich ſehen
[16] konnte, wurde er von den anweſenden Mitgliedern
dieſer, faſt mit religieuſem Enthuſiasmus vermehrt.
Er iſt jetzt [ohngefähr] 50 Jahre alt und ſehr wohl
konſervirt, obgleich er eine blonde Perücke trägt.
Uebrigens hat er eine ziemlich geräuſchvolle Jugend
durchlebt. Unter anderm machte ihn ein Duell, ſchon
vor 10 Jahren, gewiſſermaßen berühmt. Die Pro-
teſtanten hatten gegen ihn, deſſen Talente ihnen be-
reits gefährlich wurden, einen gewiſſen Deſterre,
einen Schläger und Bretteur von Profeſſion aufge-
ſtellt, der durch alle Gaſſen Dublins mit einer Jagd-
peitſche ritt, um, wie er ſagte, dieſe einmal an des
Königs von Kerry Schultern zu legen. Die [natür-
liche]
Folge war eine Zuſammenkunft am nächſten
Morgen, wo O’Connel ſeine Kugel in Deſterre’s
Herz niederlegte, während deſſen Schuß ihm nur
den Hut durchlöcherte. Dies war ſein erſter Sieg
über die Orangemen, denen ſo viele wichtigere ge-
folgt ſind, und noch hoffentlich folgen werden. Sein
Ehrgeiz ſchien mir unbegränzt, und ſollte er die
Emancipation durchſetzen, woran ich nicht zweifele,
ſo wird er damit ſeine Carriere keineswegs ſchließen,
ſondern ſie wahrſcheinlich dann erſt recht beginnen.
Uebrigens liegt auch das Uebel in Irland, und über-
haupt in der ganzen Verfaſſung Großbrittaniens, zu
tief, um durch die bloße Emancipation der Katholi-
ken gründlich gehoben werden zu können. Doch dies
würde mich zu weit führen. Auf O’Connel zurückzu-
kommen, muß ich noch erwähnen, daß er auch von
der Natur das für ein Partheihaupt werthvolle Ge-
[17] ſchenk eines herrlichen Organ’s verliehen erhalten hat,
verbunden mit einer guten Lunge und einer ſtarken
Conſtitution. Sein Verſtand iſt ſcharf und ſchnell
und ſeine Kenntniſſe, auch außer ſeinem Fach, nicht
unbedeutend. Dabei ſind, wie ſchon geſagt, ſeine
Formen gewinnend und populair, obgleich etwas
vom Schauſpieler darin bemerkbar iſt, und bei einer
ſichtbaren großen Meinung von ſich ſelbſt, zuweilen
auch ein wenig, was die Engländer „Vulgarity“
nennen, mitunter läuft. Wo wäre ein Gemälde
ganz ohne Schatten!


Noch ein andrer intereſſanter Mann, und eben-
falls ein (wiewohl mehr im Stillen wirkendes) Haupt
der Katholiken, war hier gegenwärtig, derſelbe
Mann, den ich bei meiner Ankunft im Schlafrocke
geſehen — Vater Leſtrange, ein katholiſcher Friar,
der zugleich O’Connels Beichtvater iſt. Er kann
als der eigentliche Stifter jener Katholik-Aſſociation
angeſehen werden, über die man in England ſoviel
geſpottet hat, und die dennoch, ſo zu ſagen, blos
mit negativen Kräften, durch gewandte Thätigkeit
im Verborgenen, durch allmählige Organiſirung und
Bildung des Volkes zu einem beſtimmten Zweck, *)
Briefe eines Verſtorbenen. II. 2
[18] eine unumſchränkte Autorität über daſſelbe erlangt
hat, die faſt der Hierarchie im Mittelalter gleicht,
nur mit dem Unterſchiede, daß dieſe dort für Scla-
verei und Dunkel, jene hier für Freiheit und Licht
benutzt wird. Es iſt auch dies einer der Aus-
brüche jener zweiten großen Revolution, welche
blos und allein durch intellektuelle Mittel, ohne
irgend eine Beimiſchung von phyſiſcher Gewalt, be-
werkſtelligt zu werden anfängt, und deren faſt ein-
zigen, aber unwiderſtehlichen Waffe, die Redner-
bühne und die Druckerpreſſe ſind. Leſtrange iſt ein
Mann von philoſophiſchem Geiſt, und unerſchütter-
licher Ruhe. Seine Formen ſind die eines vollende-
ten Weltmanns, der in mannichfachen Geſchäften
Europa durchreist hat, die Menſchen gründlich kennt,
und bei aller Sanftmuth doch einen ſcharfen Zug
von großer Schlauheit nicht immer ganz verbergen
kann. Ich möchte ihn das Ideal eines wohlmeinen-
den Jeſuiten nennen.


Da O’Connel beſchäftigt war, machte ich früh mit
dem Friar eine Promenade nach einer wüſten Inſel,
trocknen Fußes über den, von der Ebbe entblösten,
glatten Meerſand ſchreitend. Hier ſtehen die eigent-
lichen Ruinen der alten Abtey Derrinane, wovon
O’Connels Haus nur ein appendix iſt. Sie ſoll
*)
[19] einſt von der Familie wieder hergeſtellt werden,
wahrſcheinlich wenn gewiſſe Hoffnungen erſt erfüllt
ſind.


Als wir zurückkamen, fanden wir O’Connel, wie
einen Chieſtain, auf der Schloß-Terraſſe, von ſeinen
Vaſallen und andern Volksgruppen umringt, die ſich
Verhaltungsbefehle holten, oder denen er Recht
ſprach. Da er Juriſt und Advokat iſt, wird ihm
dies um ſo leichter — Niemand würde es aber auch
wagen, von ſeinen Entſcheidungen zu appelliren.
O’Connel und der Pabſt ſind hier gleich infaillible.
Prozeſſe exiſtiren daher nicht in ſeinem Bereich, und
dies dehnt ſich nicht blos auf ſeine eigne tenants,
ſondern, wie ich glaube, auch auf die ganze Umge-
gend aus. Ich verwunderte mich nachher, ſowohl
O’Connel als Leſtrange in religieuſer Hinſicht ohne
alle Bigotterie, ja mit ſehr philoſophiſchen und tole-
ranten Anſichten zu finden, ohne deshalb aufhören
zu wollen, gläubige Katholiken zu ſeyn! Ich
wünſchte, ich hätte einige jener wüthenden Imbecil-
les unter den engliſchen Proteſtanten, wie z. B.
Herrn L …, hier herzaubern können, welche die
Katholiken für ſo unvernünftig und bigott aus-
ſchreien, während ſie ſelbſt allein, im wahren Sinne
des Worts, dem fanatiſchen Glauben ihrer poli-
tiſch-religieuſen Parthei anhängen, und im Voraus
feſt entſchloſſen ſind: vor Vernunft und Menſchlich-
keit ſtets ihre langen Ohren zu verſchließen.


2*
[20]

Im Lauf des Tages ſollte eine Parforce-Jagd auf
Haſen ſtatt finden, (denn Hr. O’Connel hält eine
kleine Meute) die in den Bergen, und an den wei-
ten kahlen Abhängen hin, gewiß ein ſehr maleriſches
Schauſpiel abgegeben haben würde; die ſchlechte Wit-
terung ließ es aber nicht dazu kommen. Mir be-
hagte auch Ruhe, und die höchſt intereſſante Geſell-
ſchaft, der ich gar manche lehrreiche Berichtigung
verdankte, weit beſſer.



Obgleich man mich, mit ächt irländiſcher Gaſtfrei-
heit, dringend einlud, noch eine Woche bis zu einem
großen Feſte, das bereitet wurde, und zu dem man
noch viele Gäſte erwartete, hier zu bleiben, glaubte
ich doch dies nicht ganz à la lettre nehmen zu dür-
fen, und ſehnte mich auch zu ſehr nach Glengariff,
um länger, als es für meinen Zweck nöthig war,
hier zu verweilen. Ich empfahl mich daher an die-
ſem Morgen der Familie, mit dem aufrichtigſten
Danke für ihre freundliche Aufnahme. Herr O’Con-
nel gab mir das Geleite, bis an die [Gränze] ſeiner
Domainen, und ritt einen ſchönen großen Schimmel,
auf dem er ſich noch militairiſcher als in ſeinem
Hauſe ausnahm. Der rauhe Weg, obgleich ganz
von Vegetation entblöst, bot doch viele erhabne
Ausſichten dar, theils auf die Felſen landeinwärts,
[21] theils auf das Meer voller Klippen und Inſeln, von
denen einige ganz iſolirt, als hohe, ſpitze Berge aus
dem Waſſer ſteil empor ſteigen. Herr O’Connel
machte mich auf eine derſelben aufmerkſam, und er-
zählte, daß er vor einigen Jahren einen Ochſen dort
hinſchiffen und ausſetzen ließ, damit er ſich auf der
guten und ungeſtörten Weide recht fett mäſten möge.
Dies Thier nahm aber ſchon nach einigen Tagen ſo
decidirten Beſitz von der Inſel, daß es wüthend
ward, ſobald irgend Jemand den Verſuch machte,
dort zu landen, und ſelbſt die Fiſcher, die ihre Netze
am Ufer ausſtellen wollten, attakirte und verjagte.
Oft ſah man es, gleich Jupiter in Stiergeſtalt, mit
erhobenem Schweif und feuerſprühenden Augen, im
wilden Lauf, die Runde ſeiner Domaine machen,
rekognoscirend, ob irgend Einer ſich noch zu nahen
wage. Der emancipirte Ochſe wurde zuletzt ſo unbe-
quem und gefährlich, daß man ihn todtſchießen
mußte. Dies ſchien mir eine ganz gute Satyre auf
die Freiheitsliebe überhaupt, die mit erlangter Macht
gewöhnlich ſofort wieder in Herrſchſucht ausartet, und
die Ideen-Aſſociation mußte daher grade jetzt wider
Willen komiſche Bilder in mir erwecken.


Später kamen wir an eine merkwürdige Ruine,
eins der ſogenannten „däniſchen Forts“ an der Küſte,
die wohl nicht den Dänen, ſondern der Vertheidi-
gung gegen die Dänen ihren Urſprung verdanken.
Sie ſind über tauſend Jahr alt, und die untern
Mauern, obgleich ohne Mörtel zuſammengefügt,
[22] dennoch ſehr wohl erhalten und feſt. Bei einer, von
einem angeſchwollenen Bergſtrom zertrümmerten
Brücke, hielt O’Connel an, um mir das letzte Lebe-
wohl zu ſagen, und ich konnte nicht umhin, dem
Kämpfer für die Rechte ſeiner Mitbürger zu wün-
ſchen, daß, wenn wir einſt uns wiederſähen, das
Zwangs-Gebäude engliſcher Intoleranz eben ſo durch
ihn und ſeine Gehülfen zertrümmert ſeyn möge, als
jene morſchen Mauern, durch den ſich Bahn bre-
chenden Strom. So ſchieden wir. *)


Da ich größtentheils denſelben Weg wieder zurück-
kehrte, den ich gekommen, kann ich nicht viel Neues
darüber ſagen, ausgenommen daß er mich, ohnge-
achtet der Tag ſchön war, doppelt ſo ſehr ermüdete
als das erſtemal — wahrſcheinlich weil der Geiſt ſich
in geringerer Spannung befand. Nicht weit von
Kenmare begegnete ich mehrern Transporten von
Steinen, Brettern, Bolen, Bier und Butter. Alles
wurde zu Pferde fortgeſchafft. Die [Irländer] ſind
ſehr ingenieus in Transportmitteln. Ihre vortreff-
lichen Carrs, mit denen ein Pferd ſo bequem fünf
bis ſechs Perſonen fortbringt, habe ich Dir ſchon be-
ſchrieben — eben ſo zweckmäßig ſind ihre Trans-
[23] portkarren für Heu, Holz ꝛc., wo auch ein Pferd
dieſelbe Arbeit thut, zu der bei uns drei gebraucht
werden. Das Gleichgewicht, in welchem die Laſt, ſo
zu ſagen, balancirt wird, macht dies allein möglich.
Ein Karren wird, z. B. mit langem Bauholz, ſo
aufgeladen, daß man das Pferd kaum ſehen kann,
welches ganz vom Holze eingehüllt iſt, deſſen
Stämme viele Ellen hinter dem Wagen und vor
dem Pferde hinausragen. Die Vertheilung des
Gewichts auf beiden Seiten iſt dadurch ſo voll-
kommen hervorgebracht, daß die Stämme nur
auf einem Punkte aufliegen, und daher das
Pferd nur wenig im [Verhältniß] zu ziehen hat.
Bergauf und herab hilft der Führer leicht nach,
durch Heben oder Niederdrücken der Enden, welche
die geringſte Kraft ſchon in Bewegung ſetzt. Eben
ſo werden fünf bis ſechs ſchwere eichne Bohlen auf
plattem Sattel über ein Pferd gelegt, das ſie, wie
eine Balancierſtange, ohne große Beſchwerde fort-
trägt, obgleich es unter derſelben Laſt, in einem
andern Volumen, z. B. in einer Kiſte enthalten,
erliegen müßte. Auch um Steine, über dem Sattel
hängend, zu transportiren, haben ſie eine ſinnreiche
Vorrichtung, gleich hölzernen Körben, die auf einer
dicken Strohunterlage über des Pferdes Rücken befe-
ſtigt werden.


Die frohe Laune und gutmüthige Höflichkeit der
Leute, denen ich begegnete, fand ich ſehr einneh-
mend. Kein Volk, das ich kenne, erſcheint in ſeinen
[24] untern Claſſen weniger egoiſtiſch, und dabei dankba-
rer für das geringſte freundliche Wort, deſſen ein
Gentleman es würdigt, ohne damit die mindeſte
Idee von Intereſſe zu verbinden. Ich wüßte daher
auch wirklich kein Land, wo ich lieber ein großer
Grundbeſitzer ſeyn möchte, als hier. So würde ich
z. B. mit dem, was ich am andern Orte gethan,
und dafür nur Undank geerndtet, und Hinderung
aller Art gefunden — mir hier gewiß nicht nur
10—12,000 Untergebne auf Leib und Leben zu eigen
gemacht, ſondern ich würde auch, mit weit gerin-
geren Koſten und Zeit, ein unendlich höheres Reſul-
tat gewonnen haben, da hier mit Natur und Men-
ſchen alles, überhaupt Ausführbares zu erreichen iſt.
Das Volk vereinigt im Allgemeinen, bei aller ſeiner
Rohheit die Biederkeit und poetiſche Gemüthlichkeit
der Deutſchen, mit der Lebhaftigkeit und ſchnellen
Conception der Franzoſen, und beſitzt als Zugabe,
alle Natürlichkeit und Unterwürfigkeit der Italiäner.
Man kann mit vollem Recht von ihm ſagen, daß es
ſeine Fehler nur andern, ſeine Tugenden aber allein
ſich ſelbſt zu verdanken hat. Ich muß in dieſer Hin-
ſicht noch eine, an ſich unbedeutende, Begebenheit
erzählen, die ich früher überging, die aber als ein
nationeller Zug doch der Erwähnung verdient.


Als ich vor vier Tagen von Killarney nach Ken-
mare fuhr, begegneten wir fortwährend Leute, die
auf dem Markt im letzten Ort Vieh gekauft hatten,
und es jetzt nach Hauſe trieben. Sie ritten gewöhn-
[25] lich auf, ebenfalls erſt gekauften, Füllen, ohne Zü-
gel, und da Menſchen und Vieh ſich einander noch
fremd waren, ſo konnten ſie ihre Thiere nur ſchlecht
regieren. Wir wurden dadurch mehreremal gezwun-
gen, ſtill zu halten. Dies langweilte mich endlich,
und bei der dritten oder vierten rencontre dieſer Art,
rief ich den Leuten barſch zu: ich hätte nicht Zeit,
ihrer Ungeſchicklichkeit wegen, den halben Tag auf
der Straße zuzubringen, und befahl, etwas übereilt,
dem Kutſcher nur drauflos zu fahren. Sogleich
machten zwei Füllen mit ihren Reutern links um,
vor dem Wagen hergallopirend, und die ganze Heerde
zertheilte ſich ſcheu in die Berge. Meine Raſchheit
that mir jetzt leid, und ich ließ ſogleich wieder an-
halten. Es waren im Ganzen vier bis fünf Trei-
ber, die ich ſo deroutirt hatte, alles rüſtige junge
Kerle, und der Streich, den ich ihnen geſpielt, ge-
wiß einer der unangenehmſten, da voraus zu ſehen
war, daß ſie wenigſtens eine halbe Stunde brauchen
würden, um ihr zerſprengtes Vieh wieder zu ſam-
meln. Deutſche, Engländer oder Franzoſen würden
einem Reiſenden, der mit einem zerlumpten Kutſcher,
in einem elenden Einſpänner fuhr, und ihnen unbe-
ſonnen dieß bot, gewiß mit gehöriger Grobheit zu-
geſetzt, und vielleicht gar ihn feſtzunehmen verſucht
haben, um den etwaigen Schaden zu erſetzen. Ganz
anders war das Betragen dieſer guten Leute, witzig
und reſpectvoll zugleich. O murther, murther!
ſchrie der Eine, während das widerſpenſtige Füllen
noch einen Verſuch machte, den Berg hinan zu ſprin-
[26] gen, und ihn beinahe abwarf: God bless Your ho-
nour, but every Gentleman in England and
Ireland get’s out of the way of cattle! Oh for
God’s sake stop now, Your honour, stop!
(O Mord,
Mord! *) Gott ſegne Euer Ehren, aber jeden Gent-
leman
in England und Irland geht doch Vieh
aus dem Wege! — Oh um Gotteswillen, haltet an,
Euer Ehren, haltet an!) Als ich nun angehalten
hatte, und die armen Teufel die größte Mühe ge-
habt, einen Theil des am weiteſten zurück gelaufnen
Viehs wieder einzuholen, kamen ſie nochmals an
meinen Wagen, um mir mit abgezogner Mütze und
„Long life to Your honour!“ für meine Güte zu
danken, worauf ſie luſtig das Einfangen, und ich
meinen Weg fortſetzte. Ich mußte mir ſelbſt ge-
ſtehen, daß ihr Betragen lobenswerther war als das
meine, und verbeſſerte es, ſo gut ich konnte, durch
ein anſehnliches Trinkgeld.



Obgleich peinlich müde, konnte ich geſtern Abend
doch nicht einſchlafen, und frug daher beim Wirth
an: ob er irgend ein Buch beſitze? Man brachte mir
[27] eine alte engliſche Ueberſetzung von Werther’s Leiden.
Du weißt wie hoch und innig ich unſern Dichter-
fürſten verehre, und wirſt mir es daher kaum glau-
ben wollen, wenn ich Dir ſage: daß ich dieſes be-
rühmte Buch nie geleſen. — Der Grund möchte
auch Vielen ſehr kindiſch vorkommen. Als ich es
nämlich zuerſt in die Hände bekam, erweckte mir die
Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben
„die Rotznaſe wiſcht“ einen ſolchen Eckel, daß ich
nicht weiter leſen konnte, und dieſer unangenehme
Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal
machte ich mich jedoch ernſtlich an die Lectüre, und
fand es dabei ſeltſam, Werther zum erſtenmal, in
fremder Sprache, mitten in den wüſteſten Gebürgen
von Irland zu leſen. Ich konnte aber auch hier,
aufrichtig geſtanden, den veralteten Leiden keinen
rechten Geſchmack mehr abgewinnen — das viele
Butterbrod, die kleinſtädtiſchen, nicht mehr üblichen
Sitten und ſelbſt die, (gleich den zu Gaſſenhauern
herabgeſunknen ſchönen Mozartſchen Melodieen) jetzt
auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu
waren — endlich die unwillkührliche Erinnerung an
Potiers köſtliche — Parodie — es war mir nicht
möglich in die rechte Communionsſtimmung, wie
Fr. v. Frömmel ſagt, hinein zu kommen. Aber ſo
viel habe ich, Scherz bei Seite, wenigſtens einge-
ſehn, daß das Buch einſt furore machen mußte —
denn es iſt eine ächt deutſche Stimmung, an der
Werther untergeht, und deutſche Gemüthlichkeit fing
damals eben an, ſich in dem zu materiell gewordnen
[28] Europa Bahn zu brechen. Freilich durchſchritt es
Meiſter, und vielmehr nachher noch Fauſt mit ganz
andern Rieſenſchritten! Der Werther-Periode ſind
wir, glaube ich, entwachſen, an dem Fauſt aber
kaum herangekommen, und kein Zeitalter wird, ſo
lange es Menſchen giebt, ihm entwachſen können.


In der Tragödie Fauſt iſt wie im Shakspeare des
Menſchen ganzes Innere abgeſpiegelt, und in der
Hauptfigur nur der Menſchheit ewiges räthſelhaftes
Sehnen perſonificirt, das nach einem unbekannten
Etwas raſtlos ringt, welches dennoch hier nie er-
reicht werden kann; daher auch das Drama offenbar
nie ein völlig abſchließendes Ende haben könnte,
wenn es auch noch durch viele Akte ausgedehnt
würde. Wie aber eben der edlere Menſchengeiſt
hier eine ſchwindelnde Straße betritt, gleich der
Brücke des Koran, ſo iſt er auch auf ihr dem Bo-
denloſen Falle jeden Augenblick näher, als der Thier-
menſch, der ruhig auf der ſichern Ebne — weidet.


Ein Vetter des Herrn O’Connel, der Parforce-Jag-
den am See von Killarney hält, hatte mir eine ſolche
für morgen verſprochen, — ich habe aber eine wahre
Antipathie, etwas ſchon Geſehenes wieder zu be-
ſuchen, ſo lange ich noch Neues vor mir
habe
, und eine ſehr große [Veränderung] können
Hunde und Jäger der mir bereits bekannten Scene
doch nicht geben. Dagegen erwarteten mich in
Glengariff liebenswerthe Menſchen, und gar viel
[29] Neues; — ich zog alſo das Letztere vor, ritt wieder
über den Teufelsberg, diesmal bei Tage, und be-
finde mich ſeit einer Stunde hier, in einem niedli-
chen Zimmer etablirt, und alle Pracht der Bey vor
meinem Fenſter ausgebreitet. Ehe ich Kenmare ver-
ließ, wurde meine Eitelkeit noch auf eine empfind-
liche Probe geſetzt. Die irländiſche Naivetät der
Wirthstochter hatte mich, beim jedesmaligen Zurück-
kommen nach ihres Vaters Gaſthof, ſo angenehm
angeſprochen, daß ich mich faſt allein mit ihr unter-
hielt, und dadurch ihre Gunſt gewann. Sie hatte
ihre Berge nie verlaſſen, und war ſo unbekannt mit
der Welt, als es nur denkbar iſt. Scherzend frug
ich ſie, ob ſie mich wohl nach Cork begleiten wolle?
Ach nein, rief ſie, da würde ich mich doch fürchten,
ſo weit mit Ihnen zu gehen! ſagen Sie mir nur,
wer Sie eigentlich ſind? daß Sie ein Jude ſind,
weiß ich ſchon. — Was, biſt Du toll, woher ſoll ich
denn ein Jude ſeyn? Nun das werden Sie doch
nicht leugnen, haben Sie nicht einen langen ſchwar-
zen Bart rund ums Kinn, und fünf bis ſechs goldne
Ringe an den Fingern? und waſchen Sie ſich nicht
immer früh eine Stunde lang, und machen Ceremo-
nieen dabei, wie ich ſie doch ſonſt noch nie von ei-
nem Chriſtenmenſchen geſehn habe! Nicht wahr,
geſtehen Sie es nur, Sie ſind ein Jude? — Mein
Depreciren half nichts, ſie blieb dabei; endlich meinte
ſie doch gutmüthig, wenn ich denn durchaus keiner
ſeyn wolle, ſo wünſche ſie mir wenigſtens, to be-
come as rich as a Jew
(ſo reich zu werden wie ein
[30] Jude, eine engliſche Redensart.) Dies bekräftigte
ich gern mit einem chriſtlichen: Amen!



Eben komme ich von einer ſechzehnmeiligen Pro-
menade mit C..l W… zurück, nach Hungryhill, ei-
nem erhabenen Bergfelſen am Ende von Bantry
Bay, merkwürdig durch ſeinen Waſſerfall, und durch
Thomas Orourche’s Reiſe nach dem Monde, auf des
Adlers Rücken, die von hier aus ſtatt fand, und
ſeitdem in Proſa und Verſen ſo vielfach beſungen
wurde. Auch in Deutſchland iſt das amüſante Mär-
chen wiederholt überſetzt worden, wo es Dir viel-
leicht vorgekommen ſeyn mag. Der Held der Ge-
ſchichte iſt ein faſt immer betrunkner Garde-chasse des
Lord B .... der noch lebt, und den mir Mr. W…
beim Zuhauſefahren, im Gaſthofe präſentirte. Er iſt
jetzt ſehr ſtolz auf ſeine Berühmtheit, und ſchien mir,
als ich ihn ſah, gerade wieder im Begriff, eine Mond-
reiſe anzutreten.


Für die Waſſerfälle iſt der viele Regen dieſer Tage
ſehr vortheilhaft geweſen. Der Fall am Hungryhill
verſchwindet faſt ganz in trocknem Wetter, übertrifft
aber, nach heftigen Regengüſſen, auf einige Stun-
den, den Staubbach und Terni. Hungryhill (der
Hungerberg) iſt gegen 2000 Fuß hoch, und eine faſt
[31] ganz kahle ungeheure Felſenmaſſe. Von der Land-
ſeite bildet er zwei ſteile Abſätze, zwiſchen welchen
ſich, auf dem Plateau, ein See befindet, den man
natürlich von unten nicht ſieht, wo das Ganze nur
die fortlaufende Linie zwei coloſſaler Terraſſen dar-
bietet. Die obere beſteht aus ganz kahlem Stein,
und wird in der Mitte, durch eine vertikale, wie
von der Kunſt tief gegrabne Rinne getrennt; die
untere Terraſſe, obgleich auch ohne ſehr ſichtbare
Unebenheit, iſt doch an ihrem Abhang mit Haiden
und grobem Graſe bedeckt, wo gewöhnlich Hunderte
von Ziegen weiden.


In der erwähnten obern Rinne nun, ergießt ſich,
von der höchſten Spitze des Bergs, die Waſſermaſſe
herab, fällt in den, auf dem Abſatz befindlichen,
See, und ſtürzt ſich dann, dieſen überfüllend, in
vier getrennten Fällen von neuem, in ſo großen Bo-
gen, auf die Thalwieſe nieder, daß die Ziegen ruhig
darunter fortweiden können, [während] die Waſſer-
ſtröme das Wieſenthal in der Tiefe bald auch in ei-
nen temperairen See verwandeln.


Da man unten ſtehend, die Trennung des obern
und der untern Fälle, nebſt den zwiſchen liegenden
See, wie ſchon bemerkt, nicht ſehen kann, erſcheint
dem Auge das Ganze, nur wie ein ungeheurer
Sturz, deſſen Wirkung alle Beſchreibung überſteigt.
Obriſt W. verſicherte mich, bei höchſtem Waſſer-
ſtande, die Bogen des Falles ſo weit abgeſchleudert
[32] geſehen zu haben, daß, nach ſeinem eignen Ausdruck,
ein Regiment darunter hätte aufmarſchirt ſtehen kön-
nen, ohne benetzt zu werden, wozu der betäubende
Lärm, wie er ſagte, nahen Kanonendonner gut dar-
geſtellt hätte.


In einer der Schluchten nebenan fand die, in Ir-
lands fabelhafter Geſchichte merkwürdige Schlacht,
zwiſchen dem großen O’Sullivan und O’Donnivan
ſtatt, und man zeigt noch die Ueberreſte eines ural-
ten Arbutus-Stammes, an welchem, der Sage nach,
O’Donnivan aufgehangen wurde. Geld und Koſt-
barkeiten ſind wirklich in dieſem Bezirk noch vor
Kurzem, tief in der Erde vergraben, aufgefunden
worden.


Die Adler dieſer Gebürge, welche auf ganz [unzu-
gänglichen]
Felſen horſten, ſpielen eine große Rolle in
allen [Mährchen] des Volks. Sie ſind außerordentlich
groß und ſtark, und es iſt erwieſen, daß ſie zuwei-
len ſelbſt Kinder rauben. Vor einiger Zeit entführte
ein ſolches Raubthier einen dreijährigen Knaben,
und deponirte ihn, weil er ihm doch wahrſcheinlich
zu ſchwer ward, faſt unverſehrt, wenigſtens lebend,
auf einem Felſenabſatz, wohin man ſogleich nach-
kletterte, und den Knaben glücklich rettete. Der
neue Ganymedes — als Corpus delicti exiſtirt noch
im beſten Wohlſein. Ein ähnlicher Fall dieſer Art
trug ſich erſt vor wenig Monaten zu. Der Adler
nahm ein ganz kleines Mädchen, vor des Vaters
Augen, vom Boden auf, und verſchwand mit ihm
[33] in den Felſen, ohne daß man die geringſte Spur
von dem armen Kinde mehr hat auffinden [können].



Col. W ..... iſt ein eben ſo großer Parkomane
als ich, aber nicht ganz ſo gourmet, et sa càve s’en
ressent un peu.
Dagegen verſchafft die Jagd, zu
Lande und im Waſſer, der Tafel mehrere Delika-
teſſen. Die Berghühner ſind unter andern vortreff-
lich, und die Auſterbank im Park, liefert tellergroße,
und beſonders ſchmackhafte Geſchöpfe dieſer Art.
Uebrigens wimmelt die Bay von Fiſchen und See-
hunden. Ein ſolcher ſaß heut früh auf einer hervor-
ragenden Klippe, grade meinem Fenſter gegenüber,
und ſchien mit großem Vergnügen und faſt tanzen-
der Bewegung, der Muſik eines Piper zuzuhören,
deſſen bag pipe vom nahen Gaſthof herüberſchallte.
Dieſe Thiere ſollen die Muſik ſo leidenſchaftlich lie-
ben, daß ſie, bei Waſſerparthien auf der Bay, den
Böten der Muſikanten zu 20 — 30 folgen, und ſich
auch vom [Jäger] auf dieſe Weiſe überall hinlocken
laſſen. Es iſt wirklich grauſam, ihren Kunſtſinn
ſo zu mißbrauchen!


Leider regnete es heute den ganzen Tag, ſo daß ich
gezwungen war, zu Haus zu bleiben. Früh wohnte
ich dem täglichen Privatgottesdienſt der Familie
bei, deren weibliches Perſonal zwar etwas bigott in
Briefe eines Verſtorbenen. II. 3
[34] der Form, aber, wie mir ſchien, doch auch ächt fromm
in der That iſt. Wir ſetzten uns Alle im Kreiſe hin,
dann las die Mutter einen Satz aus dem engliſchen
Prayerbook, die älteſte Tochter den nächſten, und ſo
fortdauernd vice versa, Prediger und Küſter in der
Kirche nachahmend. Hierauf begann die Tochter,
welche etwas Verſchloſſenes und Schwärmeriſches hat,
ein beſonderes, ſehr langes Gebet, das wohl eine
Viertelſtunde dauerte, [während] welchem alle Andere
(ich natürlich auch) ſich ſchamhaft gegen die Wand
kehren, vor ihrem Stuhl auf die Kniee fallen, und
das Geſicht in die Hände legen mußten. Die Mut-
ter ſeufzte und ſtöhnte, der Hausherr ſchien ein we-
nig ennuyirt, die jüngſte Tochter (ein allerliebſtes
Mädchen, die ein gutes Theil mondainer als die äl-
teſte geſinnt iſt) hatte hie und da Zerſtreuungen, der
Sohn aber es gar, für beſſer gehalten, ſich ganz zu
abſentiren. Ich, bei dem jeder nach innen gerichtete
Gedanke zu jeder Tageszeit ein Gebet zu Gott iſt,
glaubte, ohne unfromm zu ſeyn, hier ein wenig nach
außen beobachten zu dürfen.


Nachdem die Geſellſchaft wieder aufgeſtanden war,
die Knie abgewiſcht, und die Röcke heruntergezupft
hatte, denn der engliſche Enthuſiasmus vergißt ſich
nicht ſo leicht, wurde eine Geſchichte aus dem Evan-
gelio von der Mutter geleſen. Man hatte diesmal
die Mahlzeit gewählt, wo 6000 Mann mit zwei Fi-
ſchen und drei Brodten, wenn ich nicht irre, geſättigt
wurden, und noch gar viel übrig blieb.


[35]

Glücklicherweiſe wurde uns das Mittagseſſen nicht
mit gleicher Sparſamkeit zugemeſſen, und die Gottes-
gaben dabei durch die heiterſte Unterhaltung gewürzt.
Einmal beging ich jedoch einen unwillkührlichen Ver-
ſtoß. Ich ſprach nämlich ſcherzend von dem Kometen
im Jahr 32, der der Erde oder Erdbahn näher als
die bisher bekannten kommen ſoll, und bemerkte, daß,
nach Lalande’s Berechnung, ein Komet, der ſich auf
50,000 Meilen der Erde näherte, eine ſolche Attrak-
tionskraft auf ſie ausüben müßte, daß er die Meeres-
fluthen bis über die Spitze des Chimboraſſo ziehen
würde. Kommt der Zwei und dreißiger uns ſo nahe,
ſetzte ich hinzu, ſo ertrinken wir wenigſtens alle auf
einmal. „Verzeihen Sie, das iſt jedenfalls unmög-
lich,“ erwiederte Miſtriß W .... ſehr ernſthaft, „denn
das wäre ja eine zweite Sündfluth, und Sie ſcheinen
ganz vergeſſen zu haben, daß uns in der Bibel ver-
ſprochen iſt, eine zweite Sündfluth ſolle nicht ſtatt-
finden, aber zum letztenmal die Erde durch Feuer
zerſtört werden. (Il faut avouer, que la faveur n’est
pas grande
.) Daß dieſe Zerſtörung aber wohl nahe
ſeyn mag,“ fuhr ſie ſeufzend fort, „glaube ich ſelbſt,
denn die Unterrichtetſten unſerer heiligen Männer
kommen jetzt darin überein, daß wir uns wahrſchein-
lich im ſiebenten Reich der Offenbarung Johannis
befinden, in welcher der Welt Ende prophezeit iſt,
und wo unſer Heiland kommen wird uns zu richten.“
Wie ſonderbar ſind nun die Frommen! Ueber dieſe
Aeußerung geriethen Mutter und Tochter in ſo hef-
tigen und zuletzt erbitterten Streit, daß ich, unwür-
3*
[36] diger Laye, mich für ihre Verſöhnung bemühen mußte.
Dieſer Streit entſpann ſich darüber, ob bei der er-
wähnten Cataſtrophe die Menſchen ſofort gerichtet
und dann verbrannt, oder erſt verbrannt und dann
gerichtet werden würden. Die Tochter fragte entrüſtet
(et je vous jure que je ne brode pas), ob unſer Hei-
land, wenn er käme, mit dem Richten erſt warten
ſolle bis die Welt verbrannt ſey? es ſtünde deutlich
in der Schrift: daß er kommen würde zu richten über
die Lebenden und die Todten, was nicht möglich
ſey, wenn vorher Alle ſchon verbrannt worden [wären]!
Die Welt würde alſo offenbar erſt nachher, wenn Alle
gerichtet wären, verbrannt. Die Mutter erklärte dies,
eben ſo heftig, als einen wahren nonsense, Menſchen
müßten nothwendig erſt ſterben, ehe ſie ſelig oder
verdammt werden könnten, und die angeführte Stelle
bezöge ſich, wo ſie von Lebenden und Todten ſpräche,
nur, eines Theils auf die, welche bei der Ankunft des
Feuers noch lebten, und andrerſeits auf die, ſchon
längſt vorher im Grabe Liegenden. Sie blieb alſo
dabei: erſt verbrannt und dann gerichtet! Beide
wünſchten nun meine Meinung zu wiſſen, um ſich,
durch meinen Beitritt, im Kampfe zu verſtärken. Ich
wagte zu antworten: daß ich in dieſen Details nicht
allzugut bewandert wäre, und daß mir ihr Streit faſt
ſo vorkäme, als der, bei Madame du Déffant, über
den heiligen Dionyſius: ob dieſer nämlich eine, oder
ſechs Meilen ohne Kopf gegangen ſey? worauf Frau
von Deffant bekanntlich entſchied: dans ces sortes de
choses, il n’y a que le premier pas qui coute.

[37] Uebrigens hätte ich ſelbſt mich in der Chriſtuslehre
immer am meiſten an die Vorſchriften der Pflicht-
erfüllung, Zuverſicht auf Gott, Sanftmuth und Näch-
ſtenliebe zu halten geſucht, obgleich es mir leider nur
zu ſelten damit nach Wunſche gelungen — glaubte
aber doch, in Folge deſſen, unbekümmert darüber ſeyn
zu können, ob wir erſt gerichtet und dann verbrannt,
oder erſt verbrannt und dann gerichtet würden. Alles
was Gott thue, ſey jedenfalls wohlgethan. Ich müßte
aber geſtehen, daß ich mich während meines hieſigen
Lebens eben ſo gut in Gottes Hand, und eben ſo
nahe ſeiner Macht, betrachte, als nach meinem irdi-
ſchen Ende, oder ſelbſt nach dem Ende der kleinen
Erde, die wir Welt zu nennen pflegen. Das Welt-
gericht daure, meiner Meinung nach, ewig, gleich dem
Weltengeiſt. — Dieſe Erklärung verſöhnte die Käm-
pfenden glücklich, — indem ſie ſie beide gegen mich
vereinigte. Doch gelang mir noch zuletzt ein geſchick-
ter Rückzug, ohne ganz ihre Gunſt zu verlieren.


Gegen Abend hatten wir, zwiſchen Streifregen,
Dämmerung und Sonnenuntergang, noch eine herr-
liche Beleuchtung. Unſer Waſſerfall im Park, war
ſo angeſchwollen, daß er ſich auch etwas zu donnern
erlaubte, und Gras und Buſch hatte ſich gar artig
mit bunten Sonnenſtrahlen illuminirt. Wir ſpazier-
ten bis in die Nacht umher, ſahen den hohen Su-
garloaf nach und nach vom Dunkelblau in’s Roſa
übergehen, und ergötzten uns am klaren Spiegel des
Meers, am Hüpfen der Fiſche auf ſeiner Oberfläche,
[38] und den friedlichen Spielen der Fiſchottern, bis die
grauſamen Fiſcherlichter in der Bay das Feſt mit
einem allgemeinen Kriegstanz beſchloſſen.


Alles iſt hier ſchön, ſelbſt die Luſt, welche wegen
ihrer Salubrität berühmt iſt. *) Inſekten plagen die
Menſchen auch nicht, da die Bay eine ſolche Tiefe
hat, daß die Ebbe faſt nirgends den Boden entblößt,
und der ſtete, ſanfte Luftzug des Thals ihnen wahr-
ſcheinlich auch nicht behaglich iſt. Das Clima bleibt
ſich faſt immer gleich, weder zu warm noch zu kalt,
und die Vegetation iſt ſo üppig, daß nur eine Sache
mehr, und eine weniger da zu ſeyn brauchte, um
den größten Theil der kahlen Berge, und auch die
Felſen, in ihren Zwiſchenräumen, mit den ſchönſten
Wäldern zu bekleiden, nämlich — Pflanzer und
Ziegen. Den Erſten fehlt es an Geld zur Auslage,
oder an der Luſt es hier anzulegen, die zweiten
laſſen nichts, das nicht doppelte Mauern ſchützen, auf-
kommen. Ehemals ſollen die meiſten dieſer Gebürge
mit Hochwald bedeckt geweſen ſeyn, aber die Englän-
der, welche immer nur daran dachten, ſo viel Geld
als möglich in Irland zu machen, ſchlugen alles nie-
der, zum Verkohlen und zum Gebrauch der Eiſen-
hämmer, die ſeitdem eingehen mußten, deren Rudera
man aber noch an mehreren Orten findet. Ein an-
derer Vorzug dieſer Gegend iſt, nach meinem Ge-
[39] ſchmack, ihre Abgeſchiedenheit. Ein Wagen kann ſie
kaum erreichen und, wenige neugierige Reiſende von
meiner Art ausgenommen, wird keiner verſucht, die
ſchwierigen Approſchen zu beſiegen. Ein gutmüthi-
ges Volk wohnt hier, nicht in Dörfern vereinigt,
ſondern einzeln im Gebürge zerſtreut, und führt,
unverdorben vom Gewühl der Städte ein patriarcha-
liſches Leben. Es iſt auch nicht ſo widerlich arm,
als in andern Theilen des Landes. Die Bedürfniſſe
dieſer Leute ſind gering; Torf zum Feuern dürfen
ſie holen, wo es ihnen gutdünkt, Gras für ihre Kühe
ebenfalls in den Sümpfen, und Fiſche zur Nahrung
liefert ihnen das Meer, mehr als ſie bedürfen. Für
den mit Schaffungsluſt ausgerüſteten Beſitzer, eröff-
net ſich hier ein unerſchöpfliches Feld. Wäre ich ein
Capitaliſt, hier ließe ich mich nieder. —


Mein freundlicher Wirth ſorgt für die ſchnelle Be-
förderung dieſes Briefes. Der Himmel gebe, daß er,
in froher Stimmung geſchrieben, auch Dich in froher
Stimmung antreffe. Erinnere Dich immer des Wahl-
ſpruchs meiner Ahnfrau: Coeur content, grand ta-
lent!


Dein treu ergebener L ....


[[40]]

Fuͤnf und dreißigſter Brief.



Liebe Julie!

Morgen reiſe ich ab, et bien à regrêt. Ich nehme
aber ein liebes Andenken mit mir, eins der wenigen
durchaus freundlichen Bilder meiner Lebenswan-
derung.


Auf meinem Morgenſpaziergang fand ich heute ſo
luxurieuſe Ericken von den Felſen herabhängen, daß
eine Staude derſelben zehn Fuß in der Länge maß.
Der Gärtner, der mich begleitete, machte mich noch
auf eine andere Merkwürdigkeit aufmerkſam. An
einem verborgnen Ort, nicht weit von der hübſchen,
ganz ländlichen Dairy, hatten Bienen in freier Luft
große Honigkämme, blos an Brombeeräſten hängend,
im Dickicht gebaut. Die Schwere des Honigs bog
den Strauch bis auf die Erde, und ſie arbeiteten
noch rüſtig darin, als ich ſie betrachtete. Die Dairy
iſt mit Erde und rother, darauf angewachſener, Haide
[41] gedeckt, und das Dach von unten in ſechs Spitzen
ausgeſchnitten, was nicht übel ausſieht. Ein klarer
Quell fließt mitten hindurch, an deſſen Ufern der
ägyptiſche Cotus vortrefflich gedeiht, und den Winter
auch aushält.


Nachmittags ritt ich mit Col. W… aus, um ein
Adlerneſt zu beſehen. Zuerſt paſſirten wir den Be-
zirk, in welchem Lord B … ’s ſchönes Jagdhaus ſteht,
durchwateten dann dreimal den angeſchwollenen Fluß,
und erreichten nach einigen Stunden Wegs eine wilde
Einöde, wo, unter einer ſenkrechten Felſenwand, zwei
einzelne Hütten ſtehen. Ohngefähr 500 Fuß über
dieſen, horſten die Adler, in einer mit Epheu über-
rankten Spalte. Zu der Zeit wenn ſie Junge haben,
ſieht man ſie fleißig mit Hühnern, Haſen, Lämmern
u. ſ. w. angeflogen kommen, um den häuslichen Tiſch
zu verſorgen; ein ſonderbarer Inſtinkt aber iſt es,
der ſie lehrt, nie etwas von den beiden unter ihnen
wohnenden Familien zu rauben, und dadurch gleich-
ſam die Gaſtfreundſchaft zu ehren, welche jene ihnen
beweiſen. Ich bin ſehr unzufrieden, daß noch keiner
dieſer Felſenkönige mir die Attention bewies, ſich
ſehen zu laſſen; auch heute waren beide entfernt.


Ueber die Höhlen des Sugarloaf’s kehrten wir zu-
rück. Hier giebt es einen wilden Jäger, und
kein Tallyho der Menſchen darf da erklingen, wo ſein
Jagdrevier angeht. Sonſt ſtürmt er mit dem gan-
zen wilden Heer herbei, und reißt in deſſen Wirbel
die Unvorſichtigen mit ſich fort. Bei alle dem iſt er
[42] von ganz anderer Natur, als ſein deutſcher Kame-
rad. Es iſt ein Elfenkönig, klein wie Däumling, in
Smaragdgrün prächtig gekleidet, und von einem Ge-
folge begleitet, das auf Pferden, nicht größer wie
Ratten, über die Felſen, wie über das Meer, mit
Windesſchnelle gallopirt. Sugarloaf ſelbſt iſt der
große Sammelplatz aller irländiſchen Feen. Die Höh-
len ſind voller Seemuſcheln und phantaſtiſcher Stein-
geſtaltungen, welche die Neugierde des Beſuchers rei-
zen, in denen aber, für alle Schätze der Welt, kein
Eingeborner die Nacht zubringen würde. — Von der
Spitze des Berges, oder beſſer Felſen, bis gegen dieſe
Höhlen herab, unterſcheidet man bei klarem Wetter
ein eignes Naturſpiel: zwei gewundene aber ſtets in
gleicher Weite laufende Rinnen, die in der Ferne
vollkommen einem Wagengleiſe gleichen. Was könnte
dies anders ſeyn, als die Spur von der Fairy Köni-
gin Wagen? worin ſie auch mancher alte Bergbe-
wohner bei Sonnen Auf- oder Untergang in über-
irdiſchem Pomp hinauffahren ſah, um das Jahresfeſt
mit ihrer Gegenwart zu ſchmücken. Gewiß wird der
Alte bereit ſeyn, mit jedem beliebigen Schwur die
Wahrheit ſeiner Ausſage zu bekräftigen, denn er
glaubt daran, und das eben giebt den Mährchen
dieſes Volks einen ſo verführeriſchen Reiz, daß man
ſelbſt davon angeſteckt wird.


Col. W …, der früher ein leidenſchaftlicher Jäger
war, kennt Fuß und Gipfel eines jeden Berges im
ganzen Diſtrikt genau, und erzählte mir, chemin fai-
[43] sant,
ſo viel Intereſſantes davon, daß mein Brief
nicht enden würde, wenn ich ein getreues Echo aller
dieſer Geſchichten aus ihm machen wollte. Hier iſt
die Jagd noch mit Gefahren verbunden, und dieſe
wahrlich keine Kleinigkeit! Mancher verliert ſein Le-
ben dabei. Sie ſind dreierlei Art: zuerſt, mitten in
den Felſen von einem jener Winternebel überfallen
zu werden, welche hier öfters ſtattfinden, und faſt
plötzlich den Wanderer mit dunkler Nacht und eiſiger
Kälte umfangen, wo ihm dann, wenn er den Aus-
weg nicht findet, nur die Alternative bevorſteht, das
Leben durch Erſtarrung (denn oft halten die Nebel
ganze Tage und Nächte in den Schluchten feſt) oder
durch den Sturz in unſichtbare Abgründe zu verlie-
ren. Wollen ihm die Fairy’s wohl, ſo kömmt er ir-
gend wo glücklich wieder an’s Licht, wehe aber denen,
die ſich ihre Ungnade zugezogen haben; — zerſchmet-
tert oder erfroren, finden ſie ſicher die Freunde am
nächſten Morgen. Die zweite Gefahr iſt von ganz
anderer Art. Auf den weiten, unabſehbaren Berg-
ebenen, die, gleich dem Meere, mit dem Horizont zu-
ſammenfließen, ohne daß auch nur der kleinſte Buſch
ihre erhabene Einförmigkeit unterbricht, ſind weite
Sümpfe, welche das verfolgte Wild (die Grouſe, eine
Art Feld- oder Birkhuhn, den engliſchen Inſeln eigen-
thümlich) als Lieblingsaufenthalt wählt. Dieſe Süm-
pfe ſind voll kleiner Erhöhungen, die durch Heide-
kraut gebildet werden, und, wie ſo viel Maulwurfs-
hügel, in geringer Entfernung von einander darin
vertheilt ſind. Nur, indem man von einer dieſer
[44] Erhöhungen auf die andere ſpringt, kann man den
Sumpf paſſiren. Verfehlt man ſie in der Hitze der
Jagd, und findet nicht gleich eine andere in der
Nähe, ſo iſt man ſicher, in dem grundloſen Moraſte
zu verſinken. Das einzige Rettungsmittel bleibt zu-
letzt noch, ſchnell die Arme auszubreiten, oder ſich mit
dem horizontalliegenden Gewehr zu halten, bis end-
lich Hülfe kommt, oder es Einem gelingt, den näch-
ſten Hügel zu erfaſſen.


Schlimmer und gefährlicher als alles dies aber iſt
es, von einem der, faſt wild zu nennenden Stiere
des Gebürges attaquirt zu werden. In dieſem Fall
befand ſich Herr W .... öfters, entkam jedoch immer
glücklich, wiewohl auf verſchiedene Weiſe. Einige-
mal erſchoſſen er ſelbſt oder ſeine Begleiter, den
Bullen, ehe er noch nahe kam, ein anderesmal rettete
er ſich in einen der eben beſchriebenen Sümpfe, wo-
hin das wüthende Thier zwar nicht folgen konnte,
ihn aber doch länger als eine Stunde förmlich darin
belagerte. Die Geſchichte des letzten Anfalls aber
ſchien mir beſonders merkwürdig, und beweist, daß
ein Menſch, mit Kraft, Muth und Gewandtheit aus-
gerüſtet, wohl jedem andern lebenden Geſchöpfe, allein
widerſtehen mag. Obriſt W .... war nur von einem
Freunde und einem Eingebornen begleitet, welcher
den Hund führte, und mit einem langen weißen Sta-
be, wie ſie hier gebräuchlich ſind, verſehen war. Des
Obriſten Freund ſchoß eine Grouſe, und in demſel-
ben Moment ſahen ſie, in der Diſtanz von ohngefähr
[45] achtzig Schritt, einen Stier mit Wuth auf ſie zuſtür-
zen. W. rief ſeinem Freunde zu, ſchnell zu laden,
während er den erſten Schuß thue, und legte an,
als der Spürer rief: Verſprecht ihr mir ein Glas
Whiskey extra zu geben, ſo will ich allein mit dem
Stier fertig werden. Indem drückte W. ſein Gewehr
ab, fehlte aber, ſein Freund war noch nicht mit La-
den fertig, und kaum hatte er Zeit dem Manne zu-
zurufen: Ein Dutzend Flaſchen ſollſt Du haben —
als ſie dieſen Helden der Berge auch ſchon, in dem-
ſelben Tempo, mit dem der Stier auf ſie zuſtürzte,
ihm ſelbſt entgegenrennen ſahen. Im Nu waren
beide aneinander. Mit der größten Gewandtheit er-
griff der junge Mann eins der Hörner des Bullen,
deſſen Kopf die Erde ſtreifte, ſchwenkte ſich einen
Schritt ſeitwärts, und denſelben Schritt dann wäh-
rend des Sprungs ſeines Gegners mit Blitzesſchnelle
wieder zurückthuend, faßte er mit beiden Händen des
Bullen Schweif, ohne deshalb ſeinen weißen Stock
fahren zu laſſen. Alles dies war mit der Geſchwin-
digkeit des Gedankens verrichtet worden — und nun
begann der ſeltſamſte Wettlauf, den man je geſehen.
Der Stier wandte alles an, die an ſeinem Schweif
hängende Laſt abzuſchütteln, aber vergebens. Berg
auf, bergab, über Felſen und Waldbäche rannte er,
wie raſend, umher, doch ſein Begleiter, gleich einem
Kobold, ſchwang ſich mit ihm über jedes Hinderniß,
oft an des Schweifes Spitze mehr in der Luft ſchwe-
bend, als laufend. In kurzer Zeit ward das Thier
von Angſt und Rennen ermattet, und ſank endlich
[46] am Fuß eines weiten Raſenabhanges, grade unter
dem Ort, wo Mr. W … und ſein Freund erſtaunt
dem Ausgang entgegenſahen, völlig erſchöpft und
kraftlos nieder. Jetzt aber begann erſt ſeine regel-
mäßige Strafe, und wahrſcheinlich ward dieſes In-
dividuum an dem Tage, für immer von ſeiner wil-
den Laune kurirt. Denn nun gebrauchte der Hirt
ſeinen, mit Blei ausgegoſſenen, und mit einer Eiſen-
ſpitze verſehenen Stab, den er zu dieſem Ende wohl-
weislich beibehalten hatte, als Correktionsmittel, und
damit den widerſpenſtigen Bullen faſt lebendig ger-
bend, zwang er ihn den Berg ſich wieder hinanzu-
ſchleppen, wo er zuletzt, zu Mr. W … Füßen, die
Zunge weit aus dem Halſe ſtreckend, zum zweiten-
male lechzend niederſank, und in dieſem Zuſtande
gänzlicher Machtloſigkeit von ihnen verlaſſen wurde.
Der junge Bauer, den Mr. W … als ein Wunder
jugendlicher Kraft und Agilität beſchrieb, ſchien ſei-
nerſeits nicht im Geringſten von der Jagd ermüdet,
noch eitel auf ſeine That, ſondern, ruhig den wegge-
worfenen Pulverſack und die Hundeleine wieder auf-
ſuchend, verlor er kein Wort weiter über das Ver-
gangene, als dem Obriſten, indem er vergnügt mit
den Augen winkte, zuzurufen: Now Master, don’t
foryet the bottles!
(Nun Herr, vergeßt die Flaſchen
nicht!)


Herrlich muß eine Hetzjagd ſich in dieſen Felſen
ausnehmen! bald auf der Höhe oder an ihren Seiten
hinſtürmend, bald Fuchs und Hunde über Abgründe
[47] ſetzend, oder Alles plötzlich, wie ein Schattenbild, in
der Bergſchlucht verſchwindend. Col. W … ſah einſt
eine ſolche Hungry-Hill, wo die ganze Meute unter
dem Waſſerfall durchjagte, ihr Heulen und Bellen mit
dem Brauſen der Waſſer wild vermiſchend — bis zu-
letzt Reinecke daſſelbe Schickſal hatte, welches drei bis
vier Hunde ſchon vorher betroffen, nämlich, von den
glatten Felſen abzuglitſchen, und unter der Jäger
Gejubel, die unten im Wieſenkeſſel auf einem vor-
ſtehenden Felſen der Jagd bequem zuſahen, viele
Hundert Fuß zu ihren Füßen herabzuſtürzen, wo alle
ſeine Liſt und alle ſeine Noth ein Ende fand.


Soll ich nun noch mehr erzählen?


Wohlan — noch einmal Hexen! ſattelt mir den
Pony — und dann Valet dem Lande der Mährchen,
der Felſen und der ſeit Jahrtauſenden an ihnen
nagenden, noch immer ihre weißen Zähne fletſchen-
den, Wogen. —


Sitze dann auf mit mir Julie! en croupe wie ein
irländiſches Mädchen, und folge mir ſchnell durch die
Lüfte, zurück nach Iveragh, der Wildniß O’Connel’s.
Freilich iſt es ein Land der Adler und Geyer, ſtür-
mender Wellen und abgeriſſener Felſen! aber dennoch
giebt es dort einen Platz in Ballinskellig-Bay, ohn-
fern O’Connel’s Schloßabtei, wo in alter Zeit mancher
Tanz getanzt, und manche Heirath geſchloſſen wurde.
Denn ruhig und lieblich war der einſame Fleck mit
ſeinem ſammtnen Boden, hohe Felswände ſchützten
[48] ihn vor dem Sturm, und glatter Sand, wie Atlas,
ſenkte ſich bei der Ebbe nach dem Meere hinab, das
in der hellen Mondſcheinnacht, gleich dem Reſte der
Schöpfung, zu ſchlummern ſchien, ſeine kleinſten Wel-
len nur ſelten, vom Hauch des Zephyrs berührt, wie
im Traume ſich regend und kräuſelnd.


In einer ſolchen Nacht war es, daß Maurice Adair,
der Piper *) ſeinem Dudelſack die einladendſten Töne
entlockte, und die Jugend von Iveragh das Feſt ihres
Heiligen, luſtiger als je, mit Tanz und Frohſinn
feierte. Maurice war ein ſchöner und rüſtiger jun-
ger Burſche — aber blind. Der Aermſte hatte nie
der Sonne Licht geſehen, und Tag und Nacht war
ihm gleich. Seiner Phantaſie ſchwebten aber dennoch
undeutliche Bilder von [Schönheit] und herzbewegen-
den Reizen vor, wenn ſein Ohr die ſüßen Stimmen
der [Mädchen] vernahm, oder ſeine Hand einen wei-
chen Schwanenhals fühlte, oder auch, gleich Blumen-
duft, ein roſiger Athem ſeine Wange berührte. Mau-
rice war verliebt, aber noch ohne Gegenſtand — und
ſein Sehnen wußte ſich nur in Melodien zu ergießen,
die im einſamen Geſang, oder den Lauten ſeiner bag
pipe
**) gar anmuthig ertönten. Maurice’s Muſik
[49] aber konnte noch weit mehr bewirken. Er hatte in
ſeinem Inſtrumente einen Ton — der wunder-
volle Ton
genannt, und wie man glaubte, von
einem Elfen erſt hineingebannt — einen Ton, der,
gleich Hüons Horn und gewiß von derſelben Abſtam-
mung, Niemand hören konnte, ohne ſogleich ſeine
Tanzluſt zur unwiderſtehlichen Leidenſchaft anwachſen
zu fühlen. Wie manches junge Mädchen in der Stadt,
das eben ihrem erſten Balle beiwohnt, und keinen
ſolchen Stimulus bedarf, würde doch viel darum
geben, im Beſitz jenes Tones zu ſeyn, um die trägen
Dandee’s zu ermuntern, von denen einer nach dem
andern ſich wegſchleicht, oder auf dem Sopha liegt,
dem dolce far niente hingegeben, ſtatt ſich mit ihr
im Cottillon herumzudrehen. Hier, auf der mondbe-
glänzten Wieſe, bedurften jedoch die aufgeweckten
Bauerburſche keines fremden, unwiderſtehlichen Rei-
zes. Hinlänglich war die Anregung ihrer eignen Luſt,
und Maurice, unermüdlich aufſpielend, ergötzte ſich
ſelbſt, in ſeinen lüſternen Gedanken, an dem, was
die Andern in der Wirklichkeit, und deshalb vielleicht
weniger innig genoſſen. Doch fing auch er endlich
an, ſich nach einiger Realität zu ſehnen, und da Mu-
ſikanten nicht nur verliebter, ſondern auch durſtiger
Natur zu ſeyn pflegen, irländiſche Muſikanten aber
ohne Zweifel beide Bedürfniſſe in doppeltem Maße
empfinden, ſo verſäumte auch Maurice nicht, die an-
genehmen Bilder ſeiner Phantaſie gar fleißig mit
heißem Whiskeypunſch zu erfriſchen. Bald ſchien es
ihm, als drehe ſein Kopf ſich noch ſchneller als die
Briefe eines Verſtorbenen. II. 4
[50] wirbelnden Paare, ja ganz Iveragh ſchaukelte unter
ſeinen Füßen. O, noch ein Glas, Kitty! und einen
Kuß dazu, rief er ſtammelnd — aber Kitty, bange
für des Tanzes Ende, wenn der Whiskey die bag
pipe
des Piper’s Händen entriſſe, verſagte ſtandhaft
den Labetrank. Immer heftiger beſtand dieſer auf
ſeinem Begehren — doch Kitty blieb unerbittlich.
„Wer ſoviel trinkt, braucht nicht zu küſſen, und über-
„dem mußt Du ſpielen, ſagte ſie, damit wir tan-
„zen, und kaum kannſt Du ja mehr die Finger rüh-
„ren.“ Ich nicht mehr die Finger rühren? ſchrie
Maurice entrüſtet — nun ſo ſollſt Du, und ihr Alle,
tanzen, bis ihr genug habt, und Euch mehr nach
einem Tropfen Waſſer ſehnt, als ich jetzt nach einem
Glaſe geſegneten Whiskeypunſches! Im Zorne hier-
auf die bag pipe an ſich drückend, erſchallte laut und
ſchmetternd — der wunderbare Ton — und
augenblicklich, in wildem Getümmel, wirbelte alt und
jung durcheinander. Aber ſieh! das ſchlafende Meer
ſelbſt erwacht, und hervor kommen Krabben und See-
krebſe, eine zierliche Menuet auf dem glatten Sande
executirend. Die Meerſpinne tanzt vor, unnachahm-
liche Pas mit ihren langen Beinen vollbringend, und
Codfiſch und Steinbutt, Schellfiſch und Sohle balan-
ciren auf ihren Schwänzen mit aller Grazie, die
ihnen zu Gebote ſteht. Seehunde ſelbſt verſuchen
den neueſten Gallopwalzer, und Auſtern, ihre Scha-
len öffnend, gleiten dahin, mit dem Anſtand einer
Pariſerin, die, die Ellenbogen ründend, beide Seiten
ihrer Robe zierlich emporhebt. Staunend wurden
[51] dieſe ganz neuen Tänzer tanzend empfangen, unter
denen ſich Maurice, fortwährend blaſend, und nichts
von allem gewahrend, ſchadenfroh mit herumdrehte.
Doch, da theilen ſich nochmals die Fluthen, und her-
vorſchwebt, in wollüſtig reizendem Tanz, die ſchönſte
der Meerjungfrauen. — Friſch wie der junge Morgen
war ihr Antlitz, ihr langes Haar ſtrömte herab über
den ſchneeweißen Buſen, gleich durchſichtigen Wellen,
röther blühten die Lippen als des Oceans feurigſte
Corallen, blendender glänzten die Zähne als ſeine
koſtbarſten Perlen. Ihr ſilbernes Gewand aber ſchien
gewebt aus dem Schaume der Wogen, mit unbe-
kannten Seeblumen geſchmückt, reicher ſchimmernd in
brennenden Farben als Indiens funkelndſter Edel-
ſtein.


Man ſah ihr an, daß Damen, unter wie über dem
Waſſer, viel Sorge auf ihre Toilette verwenden, be-
ſonders wenn ſie eine Eroberung beabſichtigen. Der
Ausſage der Augenzeugen nach, hatte man nie einen
verführeriſcheren, coquetterern Anzug geſehen, als den
ihrigen, der ſo gut Schönes zu enthüllen, und noch
viel beſſer errathen zu laſſen wußte. Nur der arme
Maurice ſah von alle dem nichts, und doch war er
es, auf den allein die Seekönigin es abgeſehen hatte,
denn wenige Augenblicke nur waren vergangen, als in
der Verwirrung des Tanzes, ihre Arme ihn ſanft
umfingen, und eine melodiſche Stimme in ſüßen
Tönen ihm zurief:


4*
[52]
Mein Reich iſt das Meer,

Und prachtvoll mein Schloß.

Komm Maurice Adair,

Komm ſchwing dich auf’s Roß.

Das Seepferd, horch! ſchnaubet,

Und harret auf Dich,

Der das Herz mir geraubet

Nun herrſcht über mich!

So komm denn, und eile,

Geſchmückt iſt der Saal, —

Nicht länger mehr weile —

Und ſey mein Gemahl! —

Es ſcheint, daß Maurice dieſer eindringenden Ein-
ladung mit nicht weniger Empreſſement entgegen kam,
denn, obgleich ſeine alte Mutter, die ebenfalls ſeit
einer halben Stunde, wie raſend, umherſpringen
mußte, und ſchon beide Holzſchuhe, nebſt mehreren
der weſentlichſten Kleidungsſtücke verloren hatte —
ihren letzten Athem anſtrengte, ihm kläglich nachzu-
rufen, doch um Gottes und St. Patricks Willen kei-
nen Fiſch zu heirathen, — obgleich ſie, als letztes
Argument, ſelbſt anführte, daß ſie ja künftig nicht
einmal mehr Stockfiſch mit zerlaſſener Butter eſſen
könne, ohne fürchten zu müſſen, vielleicht ihren eignen
Enkel zu verſpeiſen — ſo war doch Alles umſonſt!
— „halb zog ſie ihn, halb ſank er hin“ und als der
wundervolle Ton
verhallte, und alle Tänzer er-
mattet Luft ſchöpften, hatte bereits eine hohe Welle,
welche während der ganzen Zeit hinter ihnen geſtan-
den (wahrſcheinlich das erwähnte Leibroß der Köni-
[53] gin) beide verſchlungen, und nur ein leiſes: „Lebewohl
Mutter!“ das der Wind herübertrug, war der letzte
Laut — den man je von Maurice dem Piper ver-
nahm.


Auch mein Brief ſchließt hiermit, liebe Julie; noch
weiß ich nicht, woher ich Dir den nächſten adreſſiren
werde, aber wenn Du meiner gedenkſt, ſo ſage Dir
nur, daß ich mich nie wohler, und froher befand.


Dein ewig treuer L ....


[[54]]

Sechs und dreißigſter Brief.



Geliebte Theure!

Das Scheiden ward mir ſchwer — Du jedoch, die
mich ganz wo anders hinwünſcheſt, wirſt gewiß ſagen,
daß ich ſchon viel zu lange geblieben — und ſo riß
ich mich denn los, von den guten Leuten, und ihrem
romantiſchen Wohnſitz. Es war grade Sonntag, und
die alte Dame konnte ſich nicht enthalten, ohngeach-
tet ihrer ſichtlichen Herzlichkeit für mich, ſtrafend aus-
zurufen: Aber wie iſt es möglich, daß ein guter
Menſch wie Sie, an einem Sonntag eine Reiſe
antreten kann! Du weiſt, daß die engliſchen Prote-
ſtanten ſchon von Jacob des I. Zeiten an, wo dieſe
Vergötterung des Sonntags anfing, und bald wüthen-
de Partheiſache wurde, jetzt faſt allgemein dieſen Tag
zu einem wahren Todtentage geſtempelt haben, an
[55] dem Tanz, Muſik und Geſang verpönt ſind, ſo daß
ganz Fromme ſelbſt die Kanarienvögel verhängen,
damit ihnen kein Singlaut in der heiligen Zeit ent-
fahre. Auch darf kein Brod gebacken und kein nütz-
liches Geſchäft überhaupt verrichtet werden, — wohl
aber mögen Trinken und andere Laſter noch üppiger
als an Wochentagen blühen, denn niemals liegen die
Straßen mehr voller Betrunkenen als am Sonntag,
und niemals ſind, den Polizei-Ausſagen nach, gewiſſe
Häuſer voller mit Beſuchern angefüllt. Viele Eng-
länder halten das Tanzen am Sonntage unbedingt
für eine größere Sünde als blos etwas zu ſtehlen
oder dergleichen, und ich las ſogar in einer Geſchichte
von Whitby gedruckt, daß die dortige einſt reiche
Abtey habe untergehen müſſen, weil die Mönche nicht
nur jedes Laſter, Mord und Nothzucht nicht ausge-
nommen, ſich erlaubt, ſondern ihr verbrecheriſcher
Abt, ſelbſt am heiligen Sonntage habe arbeiten,
und den Bau des Kloſters fortſetzen laſſen.


Von dieſem Wahne war denn auch die gute Mi-
ſtriß W .... angeſteckt, und es ward mir ziemlich
ſchwer, die begangene Sünde mit der dringendſten
Nothwendigkeit zu entſchuldigen. Um ſie jedoch völ-
lig zu beſänftigen, fuhr ich vorher noch mit der gan-
zen Familie, auf der Bay, zur Kirche nach B ....,
welche nicht ſehr außer meinem Wege lag. Ich er-
zählte ihnen bei dieſer Gelegenheit die ſeltſame Viſion
eines der Söhne meines früheren gütigen Wirthes,
des Capitains B ....., der dadurch zum Uebergang zu
[56] der katholiſchen Kirche vermocht wurde. Er war, wie
er mir ſelbſt ſagte, ein eben ſo eifriger Proteſtant,
als Orangemann, und ging eines Tags, in Dublin,
in die katholiſche Kirche, mehr um ſich über die dort
ſtatt findenden Ceremonien luſtig zu machen, als aus
einem andern Grunde. Dennoch rührte ihn wider
Willen die ſchöne Muſik, und als er jetzt den Blick
auf den Hochaltar zurückwarf, ſiehe — da ſtand der
Erlöſer ſelbſt leibhaftig vor ihm, mit Engelsmilde
das Auge feſt auf ihn gerichtet, lächelte ihn freund-
lich an, winkte mit der Hand, und ſchwebte dann
langſam ihn fortwährend feſt anblickend, zur Kuppel
empor, bis er dort, von Engeln getragen, verſchwand.
Von dieſem Augenblick an war B ..... überzeugt,
ein beſonderer Liebling Gottes zu ſeyn, und wenige
Tage darauf trat er zu einer andern alleinſeligma-
chenden Kirche über (denn die orthodoxe engliſch pro-
teſtantiſche glaubt dieſes Privilegium auch zu be-
ſitzen). Wie philoſophiſch urtheilten meine gläubigen
Freunde über dieſe Bekehrung! Iſt es möglich, rie-
fen ſie, welcher craſſe Aberglaube! gewiß, das war
entweder eine Fieberphantaſie oder der Menſch iſt ein
Heuchler und hatte andere Gründe; entweder iſt er
toll, oder er erfand das Mährchen nur zu ſeinem
Vortheil.


O Menſchen, Menſchen! wie recht hat Chriſtus,
wenn er ſagt: Ihr ſeht den Splitter im fremden
Auge, und den Balken im eignen nicht! Gewiß, es
geht uns Allen ſo, mehr oder weniger, und ich neh-
[57] me ſicherlich Deinen armen Freund nicht von der all-
gemeinen Regel aus.


Wir trennten uns endlich, nicht ohne gegenſeitige
Rührung; worauf mich (deſſen excentriſche Art zu
reiſen übrigens den jungen Damen ſehr gefiel) ein
Bergkarren aufnahm, mit einem Gaule beſpannt, der
keineswegs eine glänzende apparence hatte. Die be-
ſtimmte Tagereiſe betrug 30 Meilen, und begann äu-
ßerſt langſam. Nach einiger Zeit ward das elende
Pferd beim Bergſteigen ſogar ſtetiſch, was mich ei-
nigemal zwang, den Wagen zu verlaſſen, um nicht
etwa in irgend einem Abgrund begraben zu werden.
Das entetirte Thier mußte nun [fortwährend] am Zau-
me geführt werden, oder es weigerte ſich einen Schritt
weiter zu gehen. Eine ganze Weile trabte der Kut-
ſcher rüſtig daneben her, konnte es aber am Ende
nicht länger aushalten, und der Himmel weiß, was
aus uns geworden wäre, wenn wir nicht zum Glück
einen Reiter begegnet hätten, der einwilligte, ſein
Pferd ſtatt des unſrigen einzuſpannen, mit welchem
ich denn Macroom erſt ſpät Abends erreichte. Unter-
wegs ſtieß mir nichts Merkwürdiges auf, als der ſo-
genannte Glen, ein langer und tiefer Felſenpaß, in
dem, zu der Zeit der Verſchwörung der white boy’s,
Lord B. und Col. W .... von dieſen, welche die
Höhen beſetzt hatten, überfallen wurden, und ihnen
nur mit genauer Noth entgingen. Die white boy’s
hatten ihre Maaßregeln ſehr gut getroffen, und wäh-
rend der Nacht einen großen Felsblock abgelöst, den
[58] ſie beim Anmarſch der Truppen plötzlich mitten in den
Weg herabrollen ließen, wodurch das gegen ſie geſen-
dete Cavallerie-Detachement nicht nur unvermuthet
am weitern Vordringen gehindert wurde, ſondern ſich
zugleich, von hinten abgeſchnitten, in einer verzweif-
lungsvollen Lage ſah. Sehr viele kamen dabei um,
die beiden genannten Gentlemens aber, welche vor-
treffliche Hunters ritten, entkamen glücklich durch ihre
Hülfe, indem ſie ſich einen faſt impractikabeln Weg
an den Felsabhängen bahnten, während ein unun-
terbrochner Kugelregen auf ſie herabſauste. Obriſt
W .... wurde jedoch nur leicht am Arme verwundet,
Lord B. blieb ganz unverſehrt.


In der überaus wilden Gegend liegt, ohnfern von
hier, ein großer See mit einer bebuſchten Inſel in
ſeiner Mitte. Hier ſteht eine heilige Capelle, zu der
alljährlich große Wallfahrten angeſtellt werden. Die
[vorgerückte] Tageszeit erlaubte mir jedoch nicht, ſie
näher zu beſichtigen.


Macroom iſt ein recht freundlicher Ort, mit einem
ſchönen Schloß, dem Onkel der reizenden Afrikanerin
(dem ihres Mannes eigentlich) gehörig. Sie hatte
mir einen Brief an ihn mitgegeben, ich machte aber
keinen Gebrauch davon, um nicht noch mehr Zeit zu
verlieren.


[59]

Sehr früh verließ ich Macroom, in einem Gingle,
eine Art bedeckter Diligence mit zwei Pferden. Es
regnete und ſtürmte wieder; denn, gute Julie, ich
befinde mich überhaupt nicht mehr, wie die Irländer
hübſch ſagen: „an der Sonnenſeite des Lebens.“


Drei Frauenzimmer waren mit mir im Wagen,
und ein fünfjähriger großer Bengel, der ſich ſehr
unnütz machte, und von ſeiner ſonſt recht hübſchen
und lebhaften Mama entſetzlich verzogen wurde. Ob-
gleich er eine große Semmel und ein gleiches Stück
Kuchen vor ſich hatte, an denen er fortwährend ſpeiste,
und den Wagen mit Krumen und Brocken anfüllte,
wurde doch ſeine üble Laune bei jeder Gelegenheit
rege. Das Geſchrei, welches er dann erhob, und das
Getrampel ſeiner Füße, das er oft, ganz unbeküm-
mert, auf den meinigen ſpielen ließ; die Begütigun-
gen der Mutter und ihr zu Hülferufen des Mannes,
der auf der Imperiale ſaß; dann ihre beſtändigen
Bitten, doch einen Augenblick anzuhalten, weil dem
armen Wurme vom Fahren übel geworden ſey, oder
weil er trinken, oder noch etwas anders thun müſſe;
zuletzt gar eine ſich verbreitende mephytiſche Luft,
welche die Mama ſelbſt zwang die Fenſter zu öffnen,
die ſie bisher, aus Furcht, der Kleine möchte ſich,
ohngeachtet ſeines Pelzes, erkälten, ſtets hermetiſch
zugehalten hatte; — es war eine wahre Gedulds-
probe! Auch für ſich ſchien die junge Frau eben ſo
[60] ängſtlich als für ihr Kind, denn ſo oft der Wagen
etwas auf die Seite hing, fing ſie an zu ſchreien,
und klammerte ſich, mir faſt um den Hals fallend,
mit beiden Händen an mich an. Dies war noch das
erträglichſte meiner Leiden, und es beluſtigte mich
deshalb, ihre Angſt oft ein wenig zu vermehren. In
den Zwiſchenakten erklärte ſie mir mit vielem Patrio-
tismus die Merkwürdigkeiten der Gegend, machte
mich auf die ſchönen Ruinen aufmerkſam, und er-
zählte mir ihre Geſchichte. Zuletzt zeigte ſie mir
einen, mitten im Felde ſtehenden, ſpitzen und thurm-
artigen Stein, und ſagte, daß dieſen ein Dänenkönig
von dort über den See geworfen habe, um ſeine
Stärke zu zeigen. Auch ihr Mann mußte von der
Imperiale herunter, um dieſen Stein zu bewundern,
wobei ſie ihm ſpottend verwies, daß die jetzigen
Männer, wie er z. B., nur elende [Schwächlinge] gegen
jene Rieſen [wären]. Zugleich übergab ſie ihm den
Jungen, um ihn bei Seite zu tragen. Der Aermſte
machte ein langes Geſicht, zog die Nachtmütze über
die Ohren und folgte geduldig dem Befehl.


Das Land wird jetzt ſehr fruchtbar, voll reicher
Feldfluren; hie und da ſieht man ſtattliche Landſitze.
Cork ſelbſt liegt in einer tiefen Schlucht, höchſt male-
riſch, am Meer. Es hat ein alterthümliches Anſehn,
welches noch origineller durch die Bekleidung vieler
Häuſer über und über mit ſchuppenartigen Schiefer-
panzern wird. Prachtvolle Gebäude ſind die beiden
neuen [Gefängniſſe], das der Stadt, und das der Graf-
[61] ſchaft, wovon das eine im antiken Geſchmack, das
andere im gothiſchen Styl aufgeführt iſt, und einer
großen Feſtung ähnlich ſieht.


Nachdem ich gefrühſtückt, und mehrere kleine Häus-
lichkeiten beſorgt hatte, miethete ich ein ſogenanntes
Wallfiſchboot (ſchmal und ſpitz an beiden Enden, und
daher ſicherer und ſchneller als andere) und ſegelte
bei gutem Winde, in der Bay, welche the river of
Cork
genannt wird, nach Cove, wo ich mir vornahm,
zu Mittag zu ſpeiſen. Ein Theil dieſer, ohngefähr
eine Viertelſtunde breiten Bucht, bildet für Cork,
von der Meerſeite, eine der ſchönſten Entreen in der
Welt! Beide Ufer beſtehen aus ſehr hohen Hügeln,
die mit Palläſten, Villen, Landhäuſern, Parks und
Gärten bedeckt ſind. Auf jeder Seite bilden ſie, in
ungleicher Höhe ſich erhebend, die reichſte, ſtets ab-
wechſelnde Einfaſſung. Nach und nach tritt dann,
in der Mitte des Gemäldes, die Stadt langſam her-
vor, und endet auf dem höchſten Berge, der den Ho-
rizont zugleich ſchließt, mit der imponirenden Maſſe
der Militairbaracken. So iſt der Anblick von der
See aus. Nach Cove zu, verändert er ſich öfters,
nachdem die Krümmungen des Canals die Gegen-
ſtände anders vorſchieben. Die eine dieſer Ausſichten
ſchloß ſich ungemein ſchön mit einem gothiſchen Schloß,
das auf den, hier weit hervorſpringenden Felſen, mit
vielem Geſchmack von der Stadtcommune erbaut
worden iſt. Durch die vortreffliche Lage gewinnt es
nicht nur an Bedeutung, ſondern es erſcheint, wenn
[62] ich mich ſo ausdrücken darf, wie natürlich dort, wäh-
rend dergleichen, an andern Orten, ſo oft nur als
ein unangenehmes hors d’oeuvre auffällt. Obwohl
ich glaube, daß wir den Engländern in der edlern
Baukunſt überlegen ſind, ſo fehlen wir doch darin,
daß wir bei unſern Gebäuden viel zu wenig die Um-
gebung und die Landſchaft umher berückſichtigen. Dieſe
aber iſt es grade, welche größtentheils für den zu
wählenden Styl entſcheiden ſollte.


Die Burg hier ſchien für irgend einen alten See-
helden beſtimmt, denn der Eingang war blos vom
Meer aus angebracht. Ein coloſſales Thor, mit Wap-
pen verziert, in das die Fluthen bis an den Fuß der
Treppe drangen, wölbte ſich über der ſchwarzen Oeff-
nung. Ich dachte mir Folko mit den Geyerflügeln,
wie er eben von einem gewonnenen Seetreffen hier-
her zurückkehrt, und belebte mir das Meer mit Phan-
taſiebildern aus Fouque’s Zauberring.


Wir ſegelten hierauf mit gutem Winde bei Paſſage,
einem Fiſcherdorf, und Morkstown vorbei, das ſei-
nen Namen (Mönchsſtadt) von einer, im Walde dar-
über liegenden, Kloſterruine herſchreibt. Hier fing
der, eine Zeit lang unterbrochne Regen, wieder an,
gab aber diesmal Gelegenheit zu einer herrlichen
Naturſcene. Wir wandten uns, bei der Inſel Ar-
boulen, in die enge Bay von Cove, die einen ſehr
ſchönen Anblick gewährte, denn ihren Eingang bildet
links eine hohe Küſte mit Häuſern und Gärten,
rechts die genannte Berginſel, auf der ein Fort, weit-
[63] läuftige Marinegebäude und Storehäuſer ſtehen, die
das Material für die Seemacht enthalten; vor uns
aber, in der Bay ſelbſt, lagen mehrere Linienſchiffe
und Fregatten der königlichen Flotte, nebſt einem
zweiten Deportirtenſchiff vor Anker, und hinter dieſen
erhob ſich die Stadt Cove, ſtufenweiſe am Berge auf-
gebaut. Indem wir dies alles eben anſichtig wur-
den, trat, an einem feuergelben Fleck des Himmels
hinter uns, die dem Untergehen nahe Sonne, unter
den regnenden Wolken hervor, während vorn ſich ein
Regenbogen, ſo vollſtändig und tiefgefärbt, als ich
ihn nie mich erinnere geſehen zu haben, über den
Eingang der Bay ſpannte, aus dem Meere empor
wachſend und wieder in daſſelbe herabſinkend, gleich
einer Blumenpforte, Himmel und Erde zu verbinden
beſtimmt. Innerhalb ſeines rieſenhaften Halbkreiſes
erſchien das Meer und die Schiffe, die ein Berg in
unſern Rücken ſchon vor der Sonne deckte, ganz
ſchwarz, wogegen die abendlichen Strahlen, über das
höhere Amphitheater von Cove, eine ſolche Glorie
von Licht ergoſſen, daß die darin ſchwebenden See-
möven wie klares Silber ſchimmerten, und jedes Fen-
ſter in der, den Felſen hinanſteigenden, Stadt, wie
glitzerndes Gold erglänzte. Dieſer unbeſchreiblich
ſchöne Anblick hielt nicht nur in derſelben Beleuch-
tung aus, während wir einfuhren, ſondern, kurz vor
dem Landen, verdoppelte ſich der Regenbogen ſogar,
beide Bögen in gleicher Schönheit der Farben bren-
nend, worauf aber auch beide, als wir noch kaum
den Fuß ans Ufer geſetzt, faſt im Augenblick ver-
ſchwanden.


[64]

Ich etablirte mich nun ſehr vergnügt am Fenſter
des kleinen Gaſthofs, in der Hoffnung, eine vortreff-
liche Faſtenmahlzeit mit den delikateſten friſchen
Fiſchen zu machen. Es blieb aber blos beim Fa-
ſten
, denn auch nicht ein Fiſch, noch Auſter, oder
Muſchel war zu bekommen. In den kleinen Fiſcher-
orten am Meer begegnet dies häufiger, als man
glaubt, weil alles Disponible ſogleich zum Verkauf in
die großen Städte gebracht wird. In dieſer Hinſicht
war alſo mein Zweck ſchlecht erreicht, und ich mußte
mich mit den gewöhnlichen, in engliſchen [Gaſthäu-
ſern]
unſterblichen, „mutton chops“ begnügen. Doch
ließ ich mir meine Laune dadurch nicht verderben,
las ein Paar alte Zeitungen, deren ich lange nicht
geſehen, zum kärglichen Male, und trat, nach ſchon
eingebrochner Dunkelheit, meinen Rückweg zu Lande
an. Ein offner Karren mit Strohſitz war Alles was
ich mir verſchaffen konnte; der Wind blies kalt und
heftig, und ich war genöthigt, mich dicht in meinen
Mantel zu hüllen. Wir cotogirten das Meer in
ziemlicher Höhe, und die vielen Lichter der Schiffe
und Marinegebäude unter uns, glichen einer reichen
Illumination. Fünf flackernde Flammen tanzten wie
Irrwiſche auf dem ſchwarzen Schiffe der Deportirten,
und ein Kanonenſchuß, der vom Wachtſchiff gefeuert
wurde, donnerte dumpftönend durch die Stille der
Nacht.


Als dieſe Ausſicht verſchwand, wendete ich meine
Aufmerkſamkeit erſt auf den ungemein klaren Stern-
[65] himmel. Wer kann lange in die hehre Pracht dieſer
flimmernden Weltkörper blicken, ohne von den tiefſten
und ſüßeſten Gefühlen durchdrungen zu werden! Es
ſind die Charaktere, mit denen Gott von jeher am
deutlichſten mit den Menſchenſeelen geſprochen hat.
Und doch hatte ich der himmliſchen Lichter nicht ge-
dacht, ſo lange noch die irdiſchen glänzten! aber ſo
geht es immer auf der Erde — erſt wo dieſe uns
verläßt, ſuchen wir den Himmel auf. Sie liegt uns
ja auch näher, und ihre Autorität bleibt für uns die
[mächtigſte] — grade wie der Bauer mehr von der
Perſon des Amtmanns, als der des Königs, in Zaum
gehalten wird; der Soldat ſich mehr vor ſeinem
Lieutenant fürchtet, als dem General en chef; der
Hofmann mehr dem Günſtling, als dem Monarchen
die Cour macht, und endlich der Fromme .... doch
wir wollen darüber nicht weiter philoſophiren, liebe
Julie, denn Dir brauche ich es ja nicht zu wiederho-
len: qu’il ne faut pas prendre le valet pour le Roi. —.



Wie ich aus den Zeitungen ſehe, trübt ſich der po-
litiſche Himmel immer mehr. O, wäre ich jetzt dort!
in jenen von den unſern ſo verſchiedenen Regionen,
mitkämpfend in den Reihen der bisherigen Arriere-
Garde der Civiliſation, welche ſich nun umdreht, um
als Avantgarde ſie den Barbaren mit dem Schwerdt
in der Fauſt zuzubringen, und im Lehren immer
Briefe eines Verſtorbenen. II. 5
[66] beſſer ſelbſt lernend, vielleicht ſich bald an die Spitze
des ganzen alternden Welttheils ſtellen wird. Nicht
zu berechnende Folgen kann, muß dieſer Krieg ha-
ben. — Es iſt kein gewöhnlicher Türkenkrieg mehr.
Alle Zeichen verkünden in ihm den Beginn einer
neuen Weltepoche, und ſollte auch das europäiſche
Intereſſe ſchwerlich jetzt noch keine Hauptcriſis geſtat-
ten, ſo wird er doch der erſte der magnetiſchen Striche
ſeyn (das baquet bilden die ruſſiſchen Kanonen) von
denen der, ſeit ſo vielen Jahrhunderten, wie im unbe-
weglichen Grabe ſchlummernde Orient, zum Hellſe-
hen zu erwachen beſtimmt iſt. Wie unermüdlich wird
hier Wirkung und Wechſelwirkung ſeyn, und welche
Geheimniſſe wird der Magnetiſirte dem Magnetiſeur
verrathen!


In Europa aber nimmt Cultur und Politik einen
ſolchen Weg, daß hier der letzte Akt des Dramas unſ-
rer Zeit ſich wahrſcheinlich nur mit einem allgemeinen
commerziellen Kampf gegen England ſchließen kann,
dem ſtolzen England, deſſen Handels-Univerſal-Mo-
narchie ſchwereren Tribut von uns erhebt, als aller
militairiſche Druck weiland Napoleons. Gewiß hatte
dieſer Heros bei ſeinem Continental-Syſteme die rich-
tige Anſicht gefaßt, woran es eigentlich Europa Noth
thue. Er glich nur einem zu gewaltſamen Arzte, der
vorläufig ſeinem Patienten [Hände] und Füße bindet,
um ihm die, ſeiner Meinung nach, heilſame Medizin
ſofort bongré malgré einzuflößen. Es war daher
ſehr natürlich, daß ſich der Patient, ſobald er konnte,
[67] losgeriſſen, und den Arzt zur Thüre hinausgeworfen
hat. — ob er aber dennoch in der Folge die Cur nicht
auf dieſe oder jene Art von neuem und freiwillig wird
wieder anfangen müſſen, iſt eine andere Frage. Eng-
land hat uns in der Civiliſation vorgeleuchtet, und
iſt dadurch größer und mächtiger als Alle geworden,
aber grade deshalb trägt es auch, nach den unwan-
delbaren Geſetzen der Natur, die hier Vollkommen-
heit des Einzelnen nicht geſtattet, wieder den Keim
früheren Verwelkens in ſich. Unverträgliche alte und
neue Elemente von gleicher Gewalt, die ſich in ihm
bekämpfen, müſſen es über kurz oder lang von dem
Gipfel herabziehen, auf dem es jetzt noch glänzt. Es
wird dann, im Laufe der Civiliſation, Andern zum
Schemel dienen, (ja vielleicht geſchah es ſchon) die
nächſte Stufe zu erklimmen, nachdem es lange ſelbſt
auf der höchſten wohnte, denn alles Irdiſche hat ſeine
zugemeſſene Zeit. Iſt der Culminationspunkt ein-
mal erreicht, ſo geht ohnfehlbar die Rückkehr an —
und faſt ſcheint es, als ſey die Epoche von Waterlow
und der Sturz Napoleons ein ſolcher für England
geweſen.


Sonderbar bleibt es immer, daß von jenen Inſeln
her die mächtigſte Quelle der Freiheit und Aufklä-
rung uns zuſtrömte, und wir dennoch fremde Des-
potie grade dort zuletzt werden bekämpfen müſſen.
Dieſe ſcheinbare Undankbarkeit herrſcht aber faſt
überall in der Geſchichte. Einiges Nachdenken er-
klärt und rechtfertigt ſie.


5*
[68]

Um vier Uhr Nachmittags verließ ich geſtern Cork,
in der Mail, neben dem Kutſcher ſitzend, deſſen vier
Pferde ich gelegentlich dirigirte. Bis eine Stunde
von der Stadt iſt die Gegend pittoresk, nachher ſchien
ſie ziemlich unintereſſant, auch ward es bald dunkel.
Nach einigen Stationen verließen uns die meiſten
Paſſagiere, und ich ſetzte mich in den Wagen, wo
mir ein dreiſtündiges tête à tête mit einer Dame
beſcheert wurde — leider war ſie indeſſen ſiebenzig
Jahre alt, und eine Puritanerin, aber wie es ſchien
keine Puriſtin. Dieſe unangenehme Geſellſchaft, ſo
wie die Lobeserhebungen, welche ein früherer Reiſe-
gefährte mir von dem neu erbauten gothiſchen Schloſſe
zu Michelstown gemacht, bewogen mich, mitten in
der Nacht, die Mail zu verlaſſen, und hier den Mor-
gen zu erwarten. Um 7 Uhr weckte man mich, um
das geprieſene Wunderwerk in Augenſchein zu neh-
men. Ich fand mich aber ſehr getäuſcht, ſo wie ei-
nige andere Fremde, die derſelbe Zweck hierher ge-
führt hatte. Man zeigte uns allerdings einen großen
und koſtbaren Steinhaufen, der dem Beſitzer 50,000
Pf. St. aufzuführen gekoſtet hatte, ein Hauptingredienz
war aber dabei vergeſſen worden, nämlich guter Ge-
ſchmack. Das Gebäude iſt erſtens viel zu hoch für
ſeine Ausdehnung, hat nur Confuſion im Styl, ohne
Varietät, eine ſchwerfällige Außenlinie, und machte
überhaupt einen kleinen Effekt mit großer Maſſe.
Dazu ſtand es kahl auf dem Raſen, ohne irgend eine
[69] maleriſche Unterbrechung, welche Schlöſſer im gothi-
ſchen oder verwandten Styl grade am meiſten be-
dürfen; auch der unanſehnliche Park beſaß weder
eine ſchöne Baumgruppe, noch eine erwähnungswer-
the Ausſicht.


Ich habe ſo viel Worte über dieſes manquirte
Werk verloren, weil es, des Namens des Beſitzers,
und der großen Koſten ſeines Baues wegen, eine ge-
wiſſe Reputation in Irland hat. Wie unendlich über-
legen iſt ihm jedoch die, vielleicht mit dem achten
Theil dieſer Mittel ausgeführte, Anlage meines gu-
ten Col. W . . . ., welche niemand kennt.


Die innere Verzierung des Schloſſes glich ſeinem
Aeußern; in fünf Minuten hatten wir völlig genug
daran, und da man zwar von einer ſchönen Ausſicht
auf der Höhe des Thurms ſprach, aber den Schlüſſel
dazu nicht finden konnte, ſo kehrten wir Alle verdrüß-
lich in den Gaſthof zurück. Hier erzählte mir beim
Frühſtück einer der Fremden allerlei Intereſſantes
über die hieſige Gegend und Menſchen. Lord K …,
ſagte er, unter anderm, hat ſelbſt und in ſeiner Fa-
milie ungewöhnliche Avantüren erlebt. Er iſt jetzt
als einer der eifrigſten Orangemen mehr gefürchtet
als geliebt. Sein Vater wurde, erſt zwölf Jahr alt,
mit der zehnjährigen Erbin alles des jetzt von der
Familie beſeſſenen Vermögens vermählt, wobei Hof-
meiſter und Gouvernante die Inſtruction erhielten,
die jungen Eheleute wohl bewachen, und vor
jedem tête à tête bewahren zu laſſen. Indeſſen „So-
[70] mehow or other“
wie mein Irländer ſagte, kamen
ſie drei Jahr ſpäter dennoch einmal zuſammen, und
der jetzige Lord war das Reſultat dieſer kleinen equi-
pée.
In der Folge bekamen ſie noch mehrere Kinder,
von denen ich, beiläufig geſagt, einen Sohn in Wien
kannte. Er war ein ausgezeichnet ſchöner Mann,
und berühmt durch ſeine bonnes fortunes; damals
der erklärte Liebhaber der Herzogin von . . . . die
er mit ſo wenig gêne behandelte, daß, als er mich
einſt in dem Hotel, wo beide wohnten, zum Früh-
ſtück eingeladen hatte, ich die Herzogin allein dort
antraf, während er ſelbſt erſt ſpäter, aus ſeiner, oder
ihrer, Schlafſtube, ich weiß nicht welcher, im Schlaf-
rock und Pantoffeln eintrat.


Das jüngſte Kind des Lord’s war eins der reizend-
ſten Mädchen in Irland geworden. Sie zählte erſt
ſechzehn Jahr, als ſich ein Vetter von mütterlicher
Seite, ein verheiratheter Mann, mit Namen F …,
ebenfalls in dem Ruf ein unwiderſtehlicher Weiber-
verführer zu ſeyn, in ſie verliebte, und auch dieſen
Ruf ſo glänzend bei ihr beſtätigte, daß er ſie, die
angebetete Tochter des mächtigen Grafen, vermochte
— nicht nur ihm ihre Unſchuld zu opfern, ſondern
ſogar als förmliche Maitreſſe nach England zu beglei-
ten, wo er beinahe ein Jahr lang, erſt verborgen,
mit ihr lebte, zuletzt aber die Effronterie hatte, ſie
nach einem der beſuchteſten Badeörter zu bringen.
Hier wurde natürlich ihr Aufenthalt entdeckt, und ſie
zum zweitenmal, aber diesmal auf Befehl ihres Va-
[71] ters, entführt, und im Norden Englands in ſichern
Verwahrſam gebracht. F . . . ., vielleicht nur durch
den erfahrenen Widerſtand der Familie angeregt, be-
ſchloß, ſie, es koſte was es wolle, wieder in ſeine
Gewalt zu bekommen, und da er glaubte, man habe
ſie auf die väterlichen Beſitzungen zurückgebracht,
eilte er unverzüglich, durch eine Verkleidung gänzlich
entſtellt, nach Irland. Hier logirte er ſich in dem-
ſelben Gaſthof ein, in dem wir jetzt eben frühſtück-
ten, und ſuchte den Aufenthalt ſeiner Geliebten zu
erſpähen. Seine gelegentlichen Erkundigungen, ſein
ganzes geheimnißvolles Benehmen, und der unglück-
liche Umſtand, daß ein früherer Bekannter von ihm
äußerte, er habe nie eine größere Aehnlichkeit geſe-
hen, als zwiſchen dem Fremden und dem berüchtigten
F … ſtatt finde — erweckten den Argwohn des
Wirths, welcher ſogleich ſich aufmachte, um Lord
K . . . . ſeinen Verdacht mitzutheilen. Dieſer em-
pfing die Mittheilung ſcheinbar ganz gelaſſen, und
empfahl dem Angeber blos die größte Verſchwiegen-
heit. Dann frug er, zu welcher Zeit der bewußte
Fremde gewöhnlich aufzuſtehen pflege, und als er
vernahm, daß dies nie vor acht Uhr der Fall ſey —
entließ er den Wirth mit einem Geſchenk, und
ſetzte hinzu, daß er morgen früh um ſechs Uhr ſelbſt
die Sache unterſuchen werde, wo er ihn bäte, ſeiner
allein zu warten. Der Morgen kam, und mit
ihm pünktlich der Graf. Ohne weitere Umſtände,
ſtieg er, in Begleitung des Wirths, die Treppe hin-
an, und verlangte von des Fremden Diener, ihm
[72] augenblicklich das Zimmer ſeines Herrn zu öffnen;
als dieſer ſich weigerte, brach er ſelbſt die Thüre
mit einem kräftigen Fußſtoße ein, ging dann zum
Bette, wo F …, vom Lärm aufgeſchreckt, ſich eben
aufrichtete, ſah ihn feſt an, zog, als er an ſeiner
Identität keinen Zweifel mehr hegte, ein Piſtol aus
der Taſche — und zerſchmetterte ganz ruhig dem mo-
dernen Don Juan den Kopf, deſſen Leichnam ohne
einen Laut in das Bett zurückſank. — Die Folge be-
weiſt, wie leicht es in England die Geſetze einem
Vornehmen und Mächtigen machen, ſich ihnen zu
entziehen, wenn kein noch Größerer da iſt, der ein
Intereſſe hat, Rechenſchaft von ihm zu fordern. Lord
K … wurde zwar in Unterſuchung gezogen — da
er aber Sorge getragen, ſich mit den einzigen beiden
Zeugen zu arrangiren und ſie in Folge deſſen zu ent-
fernen, ſo ward er, wegen Mangel eines Klägers
und Beweiſes freigeſprochen. Für dieſelbe Sache darf
nun in England Niemand, der einmal „aquitted“
(freigeſprochen) iſt, von neuem in Anſpruch genom-
men werden. Es war daher von dieſem Augenblick
an, ohngeachtet des ganz offenkundigen Mordes,
alle Gefahr einer Beſtrafung für den Grafen
vorüber. Das junge Mädchen ſoll bald nachher
ganz verſchollen oder geſtorben ſeyn, Lord K . . . .
überlebte ſie aber lange, im ſpäten Alter noch dafür
berüchtigt, die ſchönſten Maitreſſen zu haben, von de-
nen er auf jeder ſeiner Beſitzungen Eine hielt. Die
Folge dieſer Unregelmäßigkeiten war endlich eine
Trennung von ſeiner Gemahlin, und die erbitterte-
[73] ſten Streitigkeiten zwiſchen ihm und ihr, die bis zu
ſeinem Tode dauerten. Unterdeſſen hatte ſein älteſter
Sohn, der jetzige Earl, ſich, gegen des Vaters Wil-
len, noch unmündig in Sizilien verheirathet, bereits
drei Kinder mit ſeiner jungen Frau gezeugt, und
gänzlich von ſeinem Vaterlande getrennt, als plötzlich
eine höchſt liebreiche Einladung des alten Lords, die
alles Vergangne zu vergeben und zu vergeſſen ver-
ſprach, bei ihm eintraf und ihn mit ſeiner ganzen Fa-
milie zur Rückkehr bewog. Kaum angekommen in-
deß, ward durch ſeines Vaters Einfluß ſeine Ehe
für ungültig erklärt, und caſſirt, die Mutter zu
Hauſe geſchickt, und über die Kinder, als uneheliche,
in England disponirt. Der Sohn ſcheint ſich, wider
Erwarten, ohne viele Mühe den Anſichten ſeines
Vaters gefügt zu haben, denn nicht lange darauf
heirathete er gleichfalls eine reiche Erbin, und führte,
nach des alten Grafen Tode, einen noch erbitterte-
ren Prozeß mit ſeiner Mutter als jener, um ſogleich,
in den, ihm von ihr verweigerten Beſitz, ihrer Güter
zu treten. Er konnte jedoch ſeinen Willen hierin
nicht durchſetzen, eben ſo wenig wie ſie ſpäter den
ihrigen, ihn gänzlich zu enterben.


Welches Sittengemälde der Vornehmen des achtzehn-
ten Jahrhunderts!


[74]

Der kommunikative Fremde ſetzte die Reiſe mit mir
bis Caſhel fort. Das Wetter war leidlich, d. h. es
regnete nicht — und das war in dieſem naſſen Lande
hinlänglich, den guten Freund neben mir einmal über
das andere ausrufen zu machen: What a delight-
ful day! vohat levely weather!
*) Ich zog vor,
einen Theil des Wegs zu Fuß zu gehen, wobei ein
großer, achtzehnjähriger, comme de raison zerlump-
ter, Burſche, mir zum Führer diente. Er ging ſehr
beſchwerlich, in einer Art Pantoffeln; und ſchien an
den Füßen verwundet, als ich ihn aber deshalb be-
fragte, antwortete er: O nein, ich habe blos Schuhe
angezogen, weil ich Militair werden will, und ich
mich daher ſachte daran gewöhnen muß, Schuhe zu
tragen. Es geht ſich aber ſo verzweifelt ſchlecht in
den Dingern, daß ich gar nicht fortkommen kann!


Nach meiner Art, die keine Auskunft verſchmäht,
oft aber, ſelbſt in der Unterhaltung mit dem Ge-
meinſten, einige brauchbare Aehren aufliest, erkun-
digte ich mich bei meinem Führer nach dem jetzigen
Zuſtande der Provinz. „Ja,“ ſagte er, „hier iſt es
noch ruhig, aber in Tipperary, wo wir jetzt bald
hinkommen werden, beſonders weiter hin nach Nor-
den, da wiſſen ſie den Orangemen wohl die Spitze
[75] zu bieten. Dort haben uns O’Connel und die Aſſo-
ciation ordentlich wie Truppen organiſirt. Ich ge-
höre auch dazu, und habe auch zu Hauſe meine Uni-
form. Wenn ihr mich ſo ſähet, würdet ihr mich
kaum wieder kennen; vor drei Wochen waren wir
alle dort, über 40,000 Mann zuſammen, um Revue
über uns halten zu laſſen. Wir hatten alle grüne
Jacken an, die ſich jeder anſchaffen muß, ſo gut er
kann, und mit der Inſchrift auf dem Arm: „King
George and O’Connel.“
Unſre Offiziere haben wir
ſelbſt gewählt; die exerziren uns, und wir können
ſchon marſchieren und ſchwenken wie die Rothröcke.
Waffen hatten wir freilich nicht, aber . . . . . . die
würden ſich auch wohl finden — wenn O’Connel nur
wollte. Fahnen hatten wir, und wer ſie verließ,
oder ſich betrank, den warfen wir ins Waſſer, bis
er wieder nüchtern wurde. So was iſt aber ſelten
vorgekommen. Man nennt uns nur O’Connels
Miliz.“


Das Gouvernement hat ſeitdem weislich dieſe
Heerſchau verboten, und mein angehender Volks-
ſoldat war wüthend auf Lord K . . . . . . der alle
ſeine tenants (kleine Pächter, die in Irland, faſt
mehr als Leibeigne, von Lords abhängig ſind) welche
bei der Revue gegenwärtig geweſen waren, hatte ar-
retiren laſſen. „Aber,“ fügte er hinzu, „jede Stunde,
die ſie im Gefängniß ſitzen, ſoll dem Tyrannen be-
zahlt werden, den wir lieber todt wie lebendig ſähen.
Wären ſie hier in Cork nur nicht ſolche zahme
[76] Schaafe! in Tipperary hätten ſie ihm längſt das
Handwerk gelegt. O’Connel kömmt auch nie hier
durch, wenn es auch ſein nächſter Weg iſt, denn er
kann Lord K . . . .’s Geſicht nicht vor ſeinen Augen
leiden.“


So arbeitet überall der Partheigeiſt, und ſo wohl
unterrichtet von ſeinen Affairen iſt das
bettelnde Volk
!


Die Fahrt bis Cahir war von geringem Intereſſe.
Die Straße führt zwar zwiſchen zwei Bergketten hin,
den Galteés und den Knockmildown ‒ mountains,
da aber die weite Ebne, welche ſie trennt, nur we-
nig Bäume und Abwechſelung bietet, ſo ſind die
Ausſichten ohne Reiz. Mein Reiſegefährte zeigte mir
einen hohen Pik der Galteés, wo man den renomirteſten
Sporſtman *) der Gegend mit ſeinem Hunde und
ſeiner Flinte auf dem höchſten Gipfel begraben hat.
Nicht weit davon ſind unterirdiſche Höhlen, voller
Stalaktiten, die eine noch unergründete Ausdehnung
haben ſollen. Sie werden aber nur in der heißeſten
Jahreszeit beſucht, da ſie während den übrigen zu
ſehr mit Waſſer angefüllt ſind.


In Cahir, dem Lord Glengall gehörig, welchem
die Londner Carrikaturen voriges Jahr ſo übel mit-
[77] ſpielten, iſt ein ſehr ſchöner Park. Er beginnt mit
der impoſanten Ruine eines Schloſſes König Jo-
hanns, auf deſſen verfallnem Thurm Lord Glengall
jetzt ſeine Fahne hat aufſtecken laſſen. Am andern
Ende des Parks findet man den Contraſt zur Ruine,
nämlich eine cottage ornée, in welcher der Beſitzer,
wenn er hier iſt, wohnt. Die Lage dieſer Cottage
iſt ſo reizend, und gut gewählt, daß ſie eine etwas
nähere Beſchreibung verdient. Der ganze Park wird
nämlich, von der Stadt und Johanns-Schloß an-
fangend, durch ein ſehr langes, und verhältnißmäßig
nicht breites Thal gebildet, mit einem Fluße, der
ſich durch die Wieſen windet. Baumgruppen und
Wäldchen wechſeln auf dieſen letztern lieblich mitein-
ander ab, und zwei Wege führen an beiden Seiten
dem Fluß entlang. Die das Thal einſchließenden
Bergrücken ſind ganz mit Wald bewachſen, in wel-
chem ebenfalls Wege angebracht ſind. Gegen das
Ende des Parkes, der ohngefähr eine Stunde lang
iſt, öffnet ſich die Schlucht, und erſchließt eine ſchöne
Ausſicht auf das höhere Galteé-Gebürge. Bevor
man aber dahin gelangt, ſteht, grade in der Mitte
des Thals, ein iſolirter langer Hügel auf dem Wie-
ſengrunde. Auf dieſen iſt die Cottage erbaut, mehr
als Zweidrittel derſelben vom Walde verborgen, wel-
cher den ganzen Berg bedeckt. In dieſen Gebüſchen
iſt der pleas ureground,*) und alle Gärten ange-
[78] bracht, nebſt blumenreichen Promenaden, die auf
beiden Seiten die ſchönſten Ausſichten des Thales
entfalten. Auf den entfernten hohen Bergen werden
mehrere Schloß- und Abteiruinen ſichtbar, in der
Nähe aber iſt alles Ruhe, ländliche Stille und
freundlicher Blüthen-Schmuck, ſelbſt noch im
Winter
.


Als ich zum Eſſen in den Gaſthof zurückkehrte, er-
zählte mir der Wirth, als eine große Neuigkeit, daß
in Caſhel der Wagen eines fremden Prinzen mit
ſeinen Leuten ſchon ſeit 14 Tagen auf ihn warte, der
Prinz aber eine geheime Reiſe, man ſage zu O’Con-
nel, angetreten, und daß die ganze Gegend in Auf-
ruhr und voller Neugierde deshalb ſey. Viele mein-
ten, er ſey vom Könige von Frankreich mit geheimen
Aufträgen an O’Connel geſchickt; einige aber hätten
ihn ſelbſt ſchon in Limmerick geſehen, und behaupte-
ten, es ſey ein Sohn von Napoleon.


Während der Wirth dieſes und noch mehreren Un-
ſinn dieſer Art debitirte, ohne zu ahnen, daß er
mit der personnage ſelbſt ſpräche, die eben auf einem
Karren angekommen war, meldete er mir zugleich,
daß der zweite Karren (die einzige Art hier fortzu-
kommen) eben angeſpannt werde, um mich weiter zu
*)
[79] befördern. Ich machte mich alſo auf, und hatte bald
nachher Gelegenheit zu neuen philoſophiſchen Betrach-
tungen, indem ich an dem Pferde, das mich zog, die
wunderbare Macht der Gewohnheit ſtudirte. Es
war ein ſehr williges und gutes Thier, aber ſobald
es den Ort erreichte, wo es ſeit 15 Jahren ge-
tränkt wird, hielt es an der beſtimmten Stelle plotz-
lich von ſelbſt an, und Feuer hätte es nicht eher zu
einem Schritt weiter vermocht, bis es ſeinen Trunk
Waſſer erhalten hatte. Dann bedurfte es keiner wei-
tern Antreibung, daſſelbe Manöuvre wiederholte es
ſpäter, als wir dem Retourkarren begegneten, wo
immer angehalten zu werden pflegt, um Nachrichten
auszutauſchen. Wie plötzlich gelähmt, parirte es auf
der Stelle, und ging ſogleich von ſelbſt weiter, ſo-
bald die Kutſcher ſich hinter ihm die Hände geſchüt-
telt. Wirklich, dies iſt das ganze große Geheimniß
der Erziehung beim Menſchen und Vieh — Gewohn-
heit, voilà tout. Die Chineſen ſind ein Beiſpiel da-
von, und ich erinnere mich, daß mir einmal in Lon-
don der bekannte Ambaſſadeur einer großen Nation
ſehr weitläuftig auseinander ſetzte, daß dieſe chine-
ſiſche Staatsverfaſſung eigentlich die beſte und zweck-
mäßigſte ſey, weil dort ſtets Alles beim Alten bliebe.
C’est plus commode poura ceux qui rêgnent, il n’y
a pas de doute
.


Um ſieben Uhr erreichte ich Caſbel und paſſirte
vorher den Suir, einen Fluß, der die Blume Ir-
lands genannt wird, denn an ſeinen Ufern liegen
[80] die reichſten Fluren, und die ſchönſten Landgüter.
Ich fand im Gaſthofe einen entſetzlichen trouble,
weil eben einer der liberalen Clubbs „meeting“ und
folglich auch dinner hatte. *) Man ließ mir kaum
Zeit, meine Stube zu betreten, als auch ſchon der
Präſident in propria persona nebſt einer Deputa-
tion ankam, um mich einzuladen, dem diné beizu-
wohnen. Ich bat inſtändig, mich mit der Ermüdung
von der Reiſe und einem heftigen Kopfweh zu ent-
ſchuldigen, verſprach aber beim Deſſert zu erſcheinen,
weil ich ſelbſt neugierig war, ihr Treiben von nahem
zu ſehen. Der Clubb hatte einer recht vernünftigen
Abſich[t] ſein Entſtehen zu verdanken, denn er war
aus Katholiken und Proteſtanten zugleich zuſammen-
geſetzt, die ſich vorgenommen, an der Verſöhnung
beider Theile zu arbeiten, und zugleich für Erlan-
gung der „Emancipation“ nach Kräften mitzuwirken.
Als ich eintrat, fand ich ohngefähr 80—100 Perſonen
an einer langen Tafel ſitzend, die alle aufſtanden,
während der Präſident mich an die Spitze des Ti-
ſches führte. Ich hielt ihnen eine dankende kleine
Anrede, worauf meine Geſundheit getrunken wurde,
die ich erwiederte. Unzählige andere folgten, immer
von Reden begleitet. Die Beredſamkeit der Spre-
[81] chenden war jedoch nicht ſehr ausgezeichnet, und die-
ſelben Gemeinplätze wurden fortwährend, nur mit
andern Worten, wiederholt. Nach einer halben
Stunde nahm ich daher einen günſtigen Moment
wahr, um mich zu beurlauben. Geſtatte mir das-
ſelbe, da ich ſehr ermüdet bin. Von Dir habe ich
nun ſchon ſehr lange nichts mehr gehört, und finde
Deine Briefe erſt wieder in Dublin. Bleibe nur ge-
ſund, das iſt die Hauptſache für Dich — und höre
nicht auf, mich zu lieben, denn das iſt die Haupt-
ſache für mich. —


Dein treuſter L . . . . .


II.
[[82]]

Sieben und dreißigſter Brief.



Geliebte Gute!

Der „rok of Cashel“ mit ſeiner berühmten, herr-
lichen Ruine iſt einer der größten „Lions“ *) von
Irland, und war mir nebſt der Abtei von Holycroß,
von Walter Scott ſelbſt, als das Sehenswertheſte
in Irland empfohlen worden. Es iſt ein ganz frei
ſtehender Felſen, mitten in der Ebne. Seltſam ge-
nug ſieht man von dem Kamme einer der fernen
Berge ein Stück, von derſelben Größe als der Fel-
ſen, wie ausgebiſſen — der Legende nach: ein Biß,
[83] den der Teufel that, aus Aerger über eine Seele,
die ihm beim Transport nach der Hölle entwiſchte.
Als er hierauf über die Gegend von Cafhel flog,
ſpukte er dort das abgebißene Stück wieder aus.
[Später] erbaute darauf M. C’Omack, König und
Erzbiſchof
von Caſhel ſein Schloß mit einer Ka-
pelle, welche beide noch merkwürdig wohl erhalten
ſind. Mit ihnen vereinigte ſich die Kirche und Ab-
tei, welche im 12ten Sec., glaube ich, von Donald
O’Bryen hinzugefügt wurde. Das Ganze bildet die
prachtvollſte Ruine, in der beſonders alle Details
der [aötſächſiſchen] Baukunſt
mit großem In-
tereſſe ſtudirt werden können. Dies iſt ſeit einigen
Monaten, durch die Bemühungen des Schwieger-
ſohnes des jetzigen Erzbiſchoffs, Dr. Cotton, noch
ſehr erleichtert worden, indem dieſer erſt Comack’s
Kapelle völlig von Schutt, Schmutz und ſpätern
Uebertünchungen hat reinigen, und überhaupt, nicht
ohne Koſten, die ganze Ruine beſuchbarer machen
laſſen. Nichts kann fremdartiger, ich möchte ſagen,
barbariſch-eleganter ſeyn, als dieſe barocken, phan-
taſtiſchen, oft aber meiſterhaft angeführten Zieraten.
Viele der im Schutt und unter dem Boden aufge-
fundenen Sarkophage und Monumente, bieten inte-
reſſante Räthſel dar. Man möchte glauben, daß
die furchtbaren Fratzen, den indiſchen Göttern gleich,
einem früheren Götzendienſt angehört haben müßten,
wenn man nicht wüßte, daß nur ſehr langſam und
ſchwer das Heidenthum und Chriſtenthum wich, und
noch weicht!
So beſitze ich ſelbſt eine Klingel, die
6*
[84] einer meiner Vorfahren aus den Gefängniſſen der
Inquiſition entführte, und auf der die heilige Maria,
ſtatt Engeln, von Affen umgeben iſt, deren einige
die Violine ſpielen, während andere ſich dazu mit
Burzelbäumen in den Wolken überſchlagen.


Ich beſah Alles ſehr gründlich, und war noch auf
der höchſten acceſſiblen Thurmſpitze, als die Sonne
über dem Teufelsbiſſe unterging. Der Erzbiſchof
hatte die Güte gehabt, mir ſeinen Bibliothekar zu
ſchicken, um mir die Ruine zu zeigen. Von dieſem
erfuhr ich, daß der berühmte, oft citirte, in iriſcher
Sprache geſchriebene Pſalter, der in jedem guide des
voyageurs
als ſtehende Merkwürdigkeit Caſhels auf-
geführt wird, eine bloße Fabel ſey, wenigſtens hier
nie exiſtirt habe. Dies intereſſirte mich jedoch we-
nig, aber wahrhaft erſchreckt ward ich, als ich hörte,
daß die Katholiken mit der Idee umgingen, die
Kirche wieder herzuſtellen und neu auszubauen,
wenn ſie das Grundſtück zu aquiriren im Stande
wären. Der Himmel beſchütze doch vor dieſen From-
men die heilige Ruine!


Auf dem freien Platz vor der Kirche ruht S. Pa-
trick’s mütilirte uralte Statue, auf einem Piedeſtal
von Granit. Neben dieſem ſah man ſonſt den Krö-
nungsſeſſel, der angeblich aus Portugal hierher ge-
bracht, dann zur Krönung des ſchottiſchen Königs
Fergus nach Scone geſendet wurde, von wo ihn zu-
letzt Edward I. nach Weſtminſter entführte. Dort
befindet er ſich noch jetzt.


[85]

Am Fuße des Rock’s of Caſhel ſtehen die eben-
falls ſehr ſehenswerthen Ruinen von Hore Abbey,
die, wie man ſagt, früher durch einen unterirdiſchen
Gang mit dem Schloß zuſammen hing. Man be-
wundert hier vorzüglich die ſchönen Proportionen und
vollendeten Zieraten eines großen Fenſters, das die
Kapelle beleuchtet.



Einer der Gentlemen, die ich geſtern kennen ge-
lernt, Capt. S . . . ., ein Mann von angeſehener
Familie und verbindlichem Benehmen, bot mir ſeine
Pferde an, um die Ruinen der Abtei von Athaſſil
und des reichen Karl of Landaff Park und Schloß
zu beſehen. Die vortrefflichen Hunters brachten uns
bald an Ort und Stelle, die Gegenſtände blieben
aber unter meiner Erwartung. Die Abtei iſt zwar
an ſich eine ſchöne und weitläuftige Ruine, aber
ihre Lage, in einem Sumpfe mitten im bebauten
Felde, ohne Baum und Strauch, zu unvortheilhaft,
um einen maleriſchen Effekt machen zu können.
Der Park des Lords iſt ebenfalls, zwar von außer-
ordentlichem Umfang, nämlich 2800 Acres groß,
aber ohne irgend etwas Ausgezeichnetes. Der Baum-
wuchs iſt nicht der beſte, Waſſer fehlt ſo gut wie
ganz, und das modern gothiſche, lichtblau ange-
ſtrichne Schloß ſchien mir abſcheulich. Der Beſitzer
ſelbſt iſt ein, noch im ſiebzigſten Jahre ſchöner, und
[86] intereſſanter Mann, der das in Irland ſo große
Verdienſt hat, oft in ſeinem Eigenthum zu reſidiren.
Wir fanden ihn, der in der Welt durch ein in der
Fremde polirtes Betragen zu glänzen weiß, hier als
ächter Landmann, in Waſſerſtiefeln und Waterproof-
Mantel, im Regen ſtehen, und ſeine Arbeiter an-
weiſen, was mir wohl gefiel, und Du erräthſt
leicht warum. —


Auf dem Rückweg theilte mir Capt. S . . . . .
mehrere intereſſante Details über die wörtlich him-
melſchreiende Unterdrückung mit, unter der die Ka-
tholiken hier ſeufzen, ein Zuſtand, welcher, die ört-
lichen Verhältniſſe gehörig in Betracht gezogen, här-
ter iſt als die Sclaverei, welche die Türken über die
Griechen verhängen. Die Katholiken dürfen z. B.
ihre Gotteshäuſer nicht Kirchen, ſondern nur Ka-
pellen nennen, keine Glocken darin haben — an ſich
unbedeutende, aber in der Meinung entehrende
Dinge. Kein Katholik kann bekanntlich im Parla-
ment ſitzen, noch General in der Armee, noch Mi-
niſter des Königs, Richter u. ſ. w. werden. *) Ihre
Prieſter dürfen keine Ehe einſegnen, wo ein Theil
proteſtantiſch iſt, und ihre Titel werden vom Geſetz
nicht anerkannt. Das Schlimmſte aber iſt, daß die
Katholiken den proteſtantiſchen Klerus ungeheuer be-
zahlen, den ihrigen aber, von dem der Staat keine
[87] Notiz nimmt, noch außerdem unterhalten müſſen,
ein Hauptgrund der bodenloſen Armuth des Volks
Wie unverträglich muß dies ſchon in einem Lande
wie Irland erſcheinen, wo mehr als Zweidrittel der
Einwohner im Allgemeinen, der katholiſchen Reli-
gion mit dem größten Eifer zugethan ſind. Im Süden
iſt das Verhältniß jedoch noch viel ungleicher. In der
Grafſchaft Tipperary befinden ſich ohngefähr 400,000
Katholiken und nur 10,000 Proteſtanten. Demohn-
geachtet koſtet den Einwohnern die proteſtantiſche
Geiſtlichkeit jährlich folgende Summen: 1) Der Erz-
biſchof 25,000 Lſt.; 2) der Dean 4000; 3) für ohn-
gefähr fünfzig pariches (Pfarren) im Durchſchnitt jede
1500 Lſt., welche Ausgaben faſt alle den Katholiken
allein zur Laſt fallen. Die meiſten dieſer Pfründer
leben gar nicht einmal in Irland, ſondern ſtellen
arme Teufel mit 40 — 50 Lſt. jährlich hier an (die
berühmten Vicar’s) die ihre Geſchäfte verrichten;
eine Sache die bald abgethan iſt, da es hier Ge-
meinden giebt, die nicht mehr als zehn Mitglieder
zählen, ja in einerparichgar kein Proteſtant
vorhanden iſt — auch keine Kirche, ſondern nur eine
alte Ruine, wo jährlich die farce einer Predigt für
leere Wände abgeſpielt wird, und wobei ein ge-
mietheter Katholik
den Küſterdienſt verſieht!
Während dem tritt der Geiſtliche Jahr aus Jahr
ein das Londner und Pariſer Pflaſter, und führt ein
ſo ungeiſtliches Leben als möglich. So las ich z. B.
noch neulich in einer engliſchen Zeitung ſelbſt, daß
ein engliſcher Geiſtlicher in Boulogne, eine große
[88] Summe im Spiel verloren, darauf Händel bekom-
men, und ſeinen Gegner im Duell erſchoſſen habe,
weshalb er genöthigt geweſen ſey, den Ort ſchnell zu
verlaſſen, um ſich auf ſeine Pfründe zurückzuziehen.
Selbſt die [höheren] Geiſtlichen, die wenigſtens zum
Theil auf ihren Biſchofs- und Erzbiſchofs-Sitzen ge-
genwärtig ſeyn müſſen, laſſen nichts von dem Sün-
dengelde (denn man muß es unter ſolchen Umſtänden
wohl ſo nennen) wieder unter die armen Leute kom-
men, da ſie größtentheils nach [Kräften] ſparen, um
ihre Familien zu bereichern. Zu dieſem Ende iſt ſo-
gar eine Art Betrug in der engliſchen Kirche geſetz-
lich geworden (eben ſo wie der Verkauf der Stellen
durch die, im Beſitz des Verleihungs-Rechts, ſich be-
findenden Adelichen, der öfters ganz öffentlich ſtatt
findet, denn umſonſt vergeben werden die Pfründen
nur im Politiſchen- oder Familien-Intereſſe). Es
iſt nämlich geſtattet, daß diejenigen, welche Kirchen-
güter benutzen, im Voraus, und ehe der Termin zur
neuen Verpachtung derſelben eintritt, ſich ein für
allemal mit einem Pauſchquantum von den Inha-
bern bis dahin abfinden laſſen dürfen, was natür-
lich, wenn der Geiſtliche bald darauf ſtirbt, ſeinen
Nachfolger um das ihm Gebührende bringt. Kann
man ſich wundern, daß ſolche Inſtitutionen ſchon
mehrmals das unglückliche Volk zur Verzweiflung
und Empörung brachten! jedesmal indeſſen ſind ihre
Ketten nur ſchärfer angezogen, und blutiger ins
Fleiſch ſchneidend geworden. Wo man ein ſchönes
Gut, und fruchtbares Land ſieht, und ſich nach dem
[89] Beſitzer erkundigt, heißt es gewöhnlich, this is for-
feited land
(verwirktes Eigenthum), immer einſt den
Katholiken, jetzt den Proteſtanten zugehörig. O’Con-
nel ſagte mir, daß, noch vor nicht gar langer Zeit,
ein Geſetz in Gültigkeit war, des Inhalts: daß kein
Katholik in Irland Landeigenthum haben dürfe,
und könne ein Proteſtant bei einem Gerichtshofe be-
weiſen, daß dies dennoch irgend wo der Fall ſey, ſo
habe ihm der Richter dieſes Eigenthum zuzuſpre-
chen. Das einzige Mittel blieben nun Scheinkäufe;
demohngeachtet wurden, nach O’Connels Verſiche-
rung, Millionen an Werth auf dieſe Weiſe in die
Hände der Proteſtanten gebracht. Iſt es nicht merk-
würdig, daß Proteſtanten, die von den Catholiken,
eben wegen ihrer Habſucht und Intoleranz in einer
barbariſchen Zeit, abfielen, jetzt in der aufgeklärte-
ſten, in demſelben Fehler beharren, und dadurch,
verhältnißmäßig, eine größere Schuld auf ſich laden,
als ſie früher tragen mußten! Wird denn, möchte
man fragen, dieſes Religionsungeheuer *) (Geburt
der Despotie und Heuchelei) welches von der Welt
ſo lange mit Blut und Thränen gefüttert werden
mußte, nie von erleuchteteren Generationen vernich-
tet werden? Wahrſcheinlich wird man dann auf die
jetzigen Zeiten mit eben dem Mitleid blicken, als wir
auf das Dunkel des Mittelalters.


[90]

Nachmittags beſuchte mich der catholiſche dean, ein
höchſt liebenswürdiger Mann, der lange auf dem
Continent gelebt, und Caplan des vorigen Pabſtes
geweſen iſt. Seine eben ſo freie als aufgeklärte
Sprache ſetzte mich in Verwunderung, weil wir im-
mer zu denken pflegen: ein Katholik müſſe auch ein
[Abergläubiger] ſeyn. Er ſagte mir unter anderm:
Glauben Sie mir, dieſes Land iſt dem Unglück ge-
weiht. Hier giebt es faſt keine Chriſten mehr, Katho-
liken und Proteſtanten haben nur eine und dieſelbe
Religion — die des Haſſes!


Einige Zeit ſpäter brachte mir Capt S. die letzte
Zeitung, worin bereits mein Beſuch in der beſchrie-
benen Verſammlung, und die von mir dort geſag-
ten Worte nebſt den übrigen Reden, mit aller der
in England üblichen Charlatanerie, drei oder vier
Seiten füllten. Um Dir einen échantillon von die-
ſem Genre zu geben, und zugleich mit meiner eignen
Beredſamkeit gegen Dich ein wenig zu prunken, über-
ſetze ich den Anfang des mich betreffenden Artikels,
wo ich in eben dem Ton angeprieſen wurde, wie ein
Wurm-Doctor ſeinen Pillen, oder ein Roßkamm ſei-
nen Pferden, nie beſeſſne Eigenſchaften andichtet.
Höre:


„Sobald man die Ankunft des ........ erfahren
hatte, begab ſich der Präſident mit einer Deputa-
tion auf das ........ Zimmer, um denſelben einzu-
laden, unſer Feſt mit ſeiner Gegenwart zu beeh-
ren ꝛc. Bald darauf trat der ........ ins Zimmer.
[91] Sein Anſehen iſt befehlend und grazieus (comman-
ding and graceful
). Er trug einen Schnurbart, und
obgleich von ſehr blaſſer Farbe, iſt doch ſein Geſicht
außerordentlich gefällig und ausdrucksvoll (excee-
dingly [pleasing] and expressif
). Er nahm ſeinen Platz
am obern Ende der Tafel, und ſich gegen die Ge-
ſellſchaft verneigend, ſprach er deutlich, und mit al-
lem gehörigen Pathos (with proper emphasis) aber
etwas fremdem Accent, folgende Worte: Gentlemen!
Obgleich krank und ſehr ermüdet, fühle ich mich doch
zu ſehr durch Ihre gütige Einladung geſchmeichelt,
um ſie nicht mit Dank anzunehmen, und Ihnen per-
ſönlich auszudrücken, welchen lebhaften Antheil ich
an Ihrem Beſtreben für das Wohl Ihres Vater-
landes nehme. Möge Gott dieſen ſchönen und reich-
begabten Theil der Erde ſegnen, der jedem gefühl-
vollen Fremden ſo vielfachen Genuß darbietet, in dem
ich aber beſonders, mit tiefer Dankbarkeit, die Güte
und Gaſtfreundſchaft anerkennen muß, die mir
überall zu Theil ward. Möge der Himmel, ſage ich,
dieſes ſchwergeprüfte Land ſegnen, wie jeden ächten
Irländer, er ſey Katholik oder Proteſtant, der,
fern von Partheigeiſt, nur das Wohlſein ſeines Va-
terlandes wünſcht — ein Wohlſein, das nur erreich-
bar ſeyn kann, durch Friede, Duldung und bürger-
liche wie religiöſe Freiheit (civil and religious li-
berty,
das große Stichwort der Aſſociation). Gent-
lemen! füllen Sie Ihre [Gläſer], und erlauben Sie
mir Ihnen einen Toaſt zu geben. Es lebe der Kö-
nig, und Erin go Bragh! (dies iſt das altiriſche
[92] Motto, welches auch auf der Medaille des Libera-
tor-Ordens ſteht, und bedeutet: Heil Erin!)“


Der Präſident: Gentlemen! Theilen Sie meine
Gefühle, und empfangen Sie den Ausdruck des Fol-
genden von mir. Möge unſer erlauchter Gaſt (il-
lustrisus guest),
auf deſſen Wohl wir jetzt unſre
Gläſer füllen, ſollte er je zu uns [zurückkehren], uns
im Genuß gleicher Geſetze und gleicher Privilegien
finden, und ihm Beſitz jenes Landfriedens im In-
nern, den zu erlangen wir allein uns vereint haben.
Dreimal drei. Der ......: — „Ich wiederhole Ihnen
meinen Dank für die Ehre, die Sie mir eben durch
das Trinken meiner Geſundheit erzeigt haben. Nichts
könnte mich glücklicher machen, als ſelbſt noch ein-
mal Augenzeuge von der Erfüllung aller Ihrer und
meiner Wünſche, in dieſem Lande ſeyn zu können,
das ich wie mein eignes liebe, und nur mit innigem
Bedauern verlaſſe ꝛc.


Nun liebe Julie, wie rezenſirſt Du mich — kann
ich nicht Gemeinplätze, ſo gut wie ein Anderer, an-
einanderreihen, wenn es ſeyn muß? Der Wahrheit
bin ich übrigens in nichts zu nahe getreten. Was
aber kein Gemeinplatz iſt, wenn er ſich auch am
Ende jedes meiner Briefe wiederholt, iſt die Ver-
ſicherung meiner zärtlichen Liebe für Dich, mit der
ich jetzt bin und ewig ſeyn werde


Dein Freund L.....


[[93]]

Acht und dreißigſter Brief.



Theuerſte Freundin!

Warum ſchreibe ich Dir ſo gern? Gewiß weil ich
denke, daß es Dir Freude macht, aus der Ferne von
mir zu hören — aber auch, weil Du nur mich immer
verſtandeſt, und Niemand ſonſt! dies allein wäre
hinreichend, mich auf immer an Dich zu feſſeln, denn
ich lebe mitten in der Welt, doch nur mit Dir — ſo
einſam als auf einer wüſten Inſel. Tauſende von
andern Geſchöpfen wimmeln zwar um mich her —
ſprechen kann ich aber nur mit Dir. Verſuche ich es
mit andern, ſo bekömmt mir ſchon die Gewohnheit
und Neigung, immer wahr zu ſeyn, oft theuer zu
ſtehen! oder ich ſtoße durch etwas anderes an —
denn Lebensklugheit wurde meiner Natur eben ſo
beſtimmt und unerreichbar verſagt, als es dem Schwane,
[94] der im Winter auf dem See vor Deinem Fenſter
ſchwerfällig hinwatſchelt, unmöglich iſt, mit den vor-
beigleitenden Schlittſchuhfahrern Wette zu laufen,
aber — ſeine Zeit kömmt auch, wenn er mit ſtolz ge-
krümmtem Halſe die Fluthen zertheilt, oder im blauen
Aether allein und majeſtätiſch durch die Lüfte ſchwebt.
Dann erſt iſt er, er ſelbſt.


Doch zurück zu Caſhel. Ich benutzte heute meines
guten Freundes Pferde, die mir täglich zu Gebote
ſtehen, zu einer zweiten Excurſion, nach der ſechs
Meilen entfernten Ruine von Holycroß (heiligen
Kreuz) der würdigen Rivalin des Teufels-Felſens.
Zuerſt beluſtigten wir uns, querfeldein zu reiten, und
einige Mauern zu überſpringen, dann gelangten wir
auf eine Anhöhe, von der ſich der „rock“, wie er
hier kurzweg genannt wird, am imponirendſten aus-
nimmt. Der Kranz entfernter blauer Berge, die ſich
rund um den, einzeln in der fruchtbaren Ebene ſte-
henden, Felſen lagern, Burg, Abtei und Cathedrale,
die, ein großes Ganze bildend, ſtumm und großartig,
von ihm herab die Geſchichte auf einander folgender
Jahrhunderte, verkünden, und endlich die Stadt am
Fuße, ſo ärmlich, obgleich ſie der Sitz zweier Erzbi-
ſchöfe (eines proteſtantiſchen und katholiſchen) iſt, die
auch eine ſtumme Sprache ſpricht, über die jetzige
Zeit! — erwecken gar mancherlei widerſprechende Ge-
fühle. —


[95]

Von ganz anderem Charakter iſt Holycroß. Caſhel
ſteht in einſamer Größe da, Alles Felſen und Steine,
Alles kahl und ſchwarz, — nur hie und da ſcheint
ein verlornes Epheupflänzchen ſchüchtern an einer
Spalte hinanzukriechen. — Holicroß dagegen liegt im
Thal, an den Ufern des Suir, in Laubholz begraben,
und von ſolchen wuchernden Epheuſtämmen umſchlun-
gen und umrankt, daß man kaum eine Mauer vor
ihnen erblicken kann; und ſelbſt das hohe Kreuz, das
letzte welches der Abtei noch übrig bleibt, *) iſt ſo
inbrünſtig von ihnen umklammert, als wollten ſie es
vor jeder profanen Berührung ſchützen. Im Innern
ſieht man mehrere prachtvolle gewölbte Decken, das
zierliche Monument auf dem Grabe Donough O’Bry-
ens, Königs von Limmerick, der im Anfang des
zwölften Jahrhunderts die Abtei erbaute, und einen
wunderſchön gearbeiteten Steinbaldachin, unter wel-
chem die Leichen der geſtorbenen Aebte ausgeſtellt
wurden — ſämmtlich ſo gut erhalten, daß ihnen mit
wenig Ausbeſſerung das Anſehn der Neuheit gege-
ben werden könnte. Die Ausſicht vom Thurme iſt
ſehr freundlich. Man iſt hier dem Teufelsbiß ganz
nahe, deſſen groteske Form freilich zu auffallend war,
[96] als daß die Irländer ſie nicht hätten zu einer Legende
benutzen ſollen, ſie, die für jede Naturſeltenheit ihr
Mährchen ſtets bereit haben.


Wir eilten früher zurück als mir lieb war, da mich
der katholiſche dean zu einem Diné eingeladen hatte,
bei dem ich nicht zu ſpät eintreffen durfte. Ich ſollte
den Erzbiſchof und ſechzehn andere Geiſtliche dort an-
treffen; kein Laie, außer mir, war zugegen. Das
Diné machte übrigens einem Caplane des römiſchen
Pontifex Ehre. „Sie haben wohl niemals einer
Mahlzeit beigewohnt,“ ſagte der Erzbiſchof zu mir,
„wo die Gäſte aus lauter Geiſtlichen beſtanden?“
Doch, Mylord, erwiederte ich: und was noch mehr
iſt, ich war ſelbſt vor kurzem noch eine Art Biſchof.
„Wie iſt das möglich,“ rief er verwundert. Ich er-
klärte ihm, daß ich . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . Wir ſind alſo, fuhr ich fort, hier achtzehn
Geiſtliche, ganz unter uns, und dabei kann ich noch
verſichern, daß ich keinen Unterſchied zwiſchen Katho-
liken und Proteſtanten mache, ſondern in beiden nur
Chriſten ſehe.


Mit großer Freiheit und Partheiloſigkeit wurde
nachher über religieuſe Gegenſtände geſprochen, nir-
gends bemerkte ich die geringſte Spur von Bigotte-
rie, noch der widrigen Affektation des Heiligthums.
Beim Deſſert gaben ſogar mehrere, die gut ſangen,
Nationallieder zum Beſten, deren Inhalt zuweilen
[97] nichts weniger als devot war. Als der neben mir
Sitzende eine leichte Verwunderung darüber bei mir
bemerkte, ſagte er mir ins Ohr: Hier vergeſſen wir
jetzt den fremden . . . . . . . ., den Erzbiſchof und
die Geiſtlichen — hier bei Tiſch ſind wir alle Gentle-
men, und freuen uns des Lebens. Dieſer Mann
war der unbeſtrittene Abkömmling eines alten iriſchen
Königgeſchlechts, und obgleich es ihm jetzt keine Aus-
zeichnung mehr verlieh, ſo war er doch nicht wenig
ſtolz darauf. „Eine ſeltſame Wohnung habe ich dazu
für einen Geiſtlichen,“ ſagte er zu mir. „Wenn Sie
Irland je wieder beſuchen, gönnen Sie mir vielleicht
die Ehre, Ihnen die Honneurs davon zu machen. Sie
liegt gerade unter dem Teufelsbiß — und eine ſchö-
nere Ausſicht als von dieſem Biß bietet ganz Irland
nicht.“ Er machte nachher noch die Bemerkung, daß:
katholiſch zu ſeyn, in dieſem Königreich ſchon für ein
Adelsdiplom gelten könne, denn nur neue Familien
ſeyen proteſtantiſch, die Katholiken müßten nothwen-
dig alt ſeyn, da ſie, ſchon ſeit der Reformation,
keine Proſelyten mehr machten. Die Melodieen der
Lieder welche man ſang, hatten eine auffallende Aehn-
lichkeit mit denen der Wenden, wie ich überhaupt
zwiſchen beiden Völkern viel gleiche Beziehungen finde.
Beide fabriciren und lieben ausſchließlich reinen Korn-
branntwein (Whiskey), und leben faſt allein von Kar-
toffeln; beider Nationalmuſik kennt nur den Dudel-
ſack, ſie lieben leidenſchaftlich Geſang und Tanz, und
doch ſind ihre Melodieen ſtets melancholiſch; beide
ſind unterdrückt durch eine fremde Nation, und ſpre-
Briefe eines Verſtorbenen. II. 7
[98] chen eine immer mehr ſich verlierende Sprache, die
reich und poetiſch iſt, ohne daß ſie doch eine Litera-
tur in derſelben beſitzen; beide verehren unter ſich
noch immer die Abkömmlinge ihrer alten Fürſten,
und haben den Grundſatz, daß: was nicht aufgege-
ben iſt, auch noch nicht ganz verloren ſey; beide ſind
abergläubiſch, ſchlau, und in ihren Erzählungen zur
Uebertreibung geneigt, revolutionair wo ſie können,
aber etwas kriechend gegen decidirte Macht; beide
gehen gern zerlumpt, wenn ſie ſich auch beſſer klei-
den könnten, und endlich ſind beide bei elendem Le-
ben, dennoch großer Anſtrengung [fähig], obgleich ſie
am liebſten faullenzen, und dabei auch beide gleich
fruchtbarer Natur, welches ein wendiſches Sprüch-
wort: den Braten der armen Leute, nennt. Die
beſſern Eigenſchaften beſitzen die Irländer allein.


Ich benutzte die heute gemachten Bekanntſchaften,
um mich noch näher von dem hier herrſchenden Ver-
hältniß zwiſchen Katholiken und Proteſtanten zu un-
terrichten, wobei ich alles früher Gehörte völlig be-
ſtätigt fand, und noch einige Details mehr erhielt.
Unter andern, die offizielle Liſte eines Theils der ge-
genwärtigen Pfarreien und Gemeinden in der Diö-
ces von Caſhel, die zu merkwürdig iſt, um ſie Dir
nicht mitzutheilen, wenn gleich der Gegenſtand zu
den trocknen gehört, und faſt zu pedantiſch für unſre
Correſpondenz ſcheinen dürfte.


[99]

Jeder dieſer Diſtrikte hat nur einen katholiſchen
Pfarrer, aber oft vier bis fünf proteſtantiſche Pfründ-
ner, ſo daß im Durchſchnitt auf eine proteſtantiſche
Gemeinde kaum zwanzig Perſonen kommen. Kil-
kummin iſt eben der angeführte Ort, wo die prote-
ſtantiſche Gemeinde gar nicht exiſtirt, und der Gottes-
dienſt, welcher nach dem Geſetz wenigſtens einmal
im Jahre ſtattfinden muß, mit Hülfe eines katholi-
ſchen Küſters in der Ruine abgehalten wird. In
einem andern Bezirk, mit Namen Tollamane, wo
ebenfalls kein Proteſtant iſt, findet dieſelbe Farce
ſtatt; nichts deſtoweniger müſſen den abweſenden
Pfründnern bei Heller und Pfennig ihre Zehnten und
andere Abgaben verabfolgt werden, und nichts wird
unerbittlicher eingetrieben, als Kirchenrevenüen. Hier
7*
[100] findet kein Erbarmen, wenigſtens hinſichtlich der Ka-
tholiken, ſtatt. Wer den proteſtantiſchen Geiſtlichen
den Decem oder die Pacht des Kirchenlandes nicht
zahlen kann, ſieht unabänderlich ſeine Kuh und Schwein
(Meubles, Betten ꝛc. hat er ſchon längſt nicht mehr)
verkaufen, und ſich ſelbſt nebſt Frau, und gelegent-
lich ein Dutzend Kindern, (car rien n’engendre com-
me les pommes de terre et la misère
) auf die
Straße geſtoßen, wo er der Gnade Gottes überlaſſen
bleibt, der die Vögel [nährt] und die Lilien kleidet.
Quelle excellente chose qu’une religion d’etat! So
lange dergleichen noch exiſtiren, und nicht, wie in den
vereinigten Staaten, Jedem erlaubt iſt, Gott auf die
ihm beliebige Art zu verehren, ohne des halb ſich
im bürgerlichen Leben zurückgeſetzt zu
ſehen
— ſo lange hat auch das Zeitalter der Bar-
barei noch nicht aufgehört. Einſt muß im Staat das
Geſetz allein regieren, wie in der Natur. Reli-
gion wird Troſt im Unglück, und noch höhere Stei-
gerung des Glücks, nach wie vor, gewähren, aber
herrſchen und regieren darf ſie nicht. Nur das Ge-
ſetz übe unabänderlichen Zwang, überall ſonſt aber
walte [unbeſchränkte]Freiheit. Dies kann der ge-
bildete Theil der Menſchheit auf der Stufe fordern,
auf welcher er angelangt iſt, und die er durch ſo viel
Blut und Jammer erkauft hat. Welcher Wahnſinn,
den Menſchen vorſchreiben zu wollen, was ſelbſt nach
ihrem Tode aus ihnen werden, oder was ſie darüber
glauben ſollen? Schlimm genug, daß hier auf Erden
die beſten Inſtitutionen, ſelbſt die weiſeſten Geſetze,
[101] noch mangelhaft bleiben müſſen, man laſſe wenigſtens
die unſichtbare Zukunft Jeden nach ſeinem eignen
Ermeſſen ſich ausbilden. Und doch haben große, kluge
und gute Männer ſich zu ſolchem geiſtigen Despotis-
mus berechtigt geglaubt! Dies aber iſt die menſch-
liche Gebrechlichkeit. Derſelbe Menſch kann in eilf
Dingen erhaben, und im zwölften als ein Idiot er-
funden werden! Während ſo z. B. ein großer Krie-
ger, in Schlachten, die Europa in Staunen verſetzten,
den Weltenſtürmer bezwang — fürchtete er ſich heim-
lich vor einem jungen Elephanten, mit dem er nieder-
kommen zu müſſen glaubte, weshalb ſeine Adjutanten
manchen ſchweren Moment mit ihm zu verleben hatten.
Während der Cardinal Richelieu allen Zeiten das
Ideal eines großen und klugen Miniſters aufſtellte,
hatte für ihn nur der Glaube Werth, ein großer Dich-
ter zu ſeyn, und er quälte ſich, elende Tragödien zu
ſchreiben, die mit ſeinem Tode zu Makulatur wurden.
Der große Ludwig, den man den abſoluten Kö-
nig par excellence
nennen könnte, hatte die
unbegreifliche Dummheit, nach der Schlacht von Mal-
plaquet, ganz ernſthaft auszurufen: Et Dieu a-t-il
donc oublié ce que j’ai fait pour lui?
Cromwell,
zugleich Schwärmer und der kühnſte wie der liſtigſte
Betrüger, nachdem er Mord auf Mord, Zerſtörung
auf Zerſtörung gehäuft, fand ſein Gewiſſen beruhigt,
als, auf ſeine Anfrage, ein Prieſter ihm verſicherte,
daß, wer einmal ſich nur im Zuſtande der Gnaden-
verzückung beſunden, ſelig werden müſſe, er möge
ſonſt gethan haben was er wolle. „Dann bin ich
[102] gerettet,“ rief froh der Protector, „denn einmal we-
nigſtens weiß ich es beſtimmt, daß ich mich im Zu-
ſtande der Gnade befunden!“ So ſind die Menſchen,
und daher wird mir auch nie eine Menſchenauto-
rität imponiren, wenn meine eigne Anſicht ihr, nach
reiflichem Nachdenken, ſo weit es meine Faſſungskraft
vermag, nicht entſpricht — ja wären morgen alle
Menſchen der entgegengeſetzten Meinung, ſo würde
ich doch deshalb die meinige nicht ändern. Gottlob!
wir ſind alle individuelle Geiſter, und keine Schaaf-
heerde, die dem Leithammel folgen muß. Und was
iſt denn allgemeine Meinung? man ſollte glauben,
ſie ſey nur ein fortlaufender Irrthum, weil ſie faſt
alle Jahrhunderte ſich ändert. Von Ort und Zeit
ſcheint ſie allein abzuhängen. Biſt Du in Conſtan-
tinopel geboren, ſo ſchwörſt Du auf Mohammed, im
übrigen Europa, auf Chriſtus oder Moſes, in Indien
auf Brama. Kamſt Du einſt, ein Unterthan des
Auguſtus zur Welt, ſo warſt Du ein Heide, im
Mittelalter hielteſt Du das Fauſtrecht für das Recht,
und heute verlangſt Du die Freiheit der Preſſe, *)
[103] als eine Sache ohne die Du nicht mehr exiſtiren zu
können glaubſt. Du ſelbſt in Deinem kurzen Leben,
was denkſt und biſt Du, als Kind — als Jüngling
— als Greis! Herder hat wohl Recht zu ſagen:
Kein Waſſertropfen gleicht dem andern, und Ihr wollt
allen Menſchen einen Glauben geben! und man
könnte hinzuſetzen: kein Atom bleibt unverändert,
und Ihr wollt die Menſchheit ſtill ſtehen heißen!


Ehe der Erzbiſchof ſich retirirte, ſagte er noch ſehr
verbindlich zu mir: „Sie ſind, wie Sie uns erzählt,
ein Biſchof, folglich dem Erzbiſchof Gehorſam ſchul-
dig. Ich benutze alſo dieſe Autorität zu dem Befehl,
morgen wieder mit mir und Ihrem Collegen, dem
Biſchof von Limmerick, den wir heute erwarten, hier
zu ſpeiſen, ſtatuire aber keine Entſchuldigung.“ Ich
erwiederte, den Scherz aufnehmend, daß ich gern zu-
geben müſſe, wie es mir nicht gezieme, der Disciplin
der Kirche zu widerſtehen, und da Euer Gnaden,
ſetzte ich hinzu (Your grace iſt der Titel der prote-
ſtantiſchen Erzbiſchöfe in England, den höfliche Leute,
aus Courtoiſie, auch den katholiſchen geben, obgleich
ihnen, nach dem engliſchen Geſetz, gar kein Rang zu-
ſteht) und der dean die Pflicht ſo ſehr zu verſüßen
wiſſen, ſo ſubmittire ich mich um ſo lieber.


Den Abend brachte ich noch in der Geſellſchaft des
. . . . . zu. Ich habe nur ſelten proteſtantiſche Geiſt-
liche ſo aufrichtig gefunden als dieſen katholiſchen.
Wir kamen bald darin überein, daß man entweder
von Hauſe aus blindlings das glauben und anneh-
[104] men müſſe, was die Kirche vorſchreibe, ohne ſich im
Geringſten in Unterſuchungen einzulaſſen, oder, wenn
man dies nicht könne, ſeine eigne religieuſe Anſicht
ſich ausbilden, als das Reſultat individuellen Den-
kens und individueller Gefühle — was man mit
Recht, die Religion eines Philoſophen, nennen möge.
Der . . . . . ſprach franzöſiſch, was ihm am geläufig-
ſten war, ich citire ihn daher mit ſeinen eigenen
Worten: Heureusement, ſagte er, on peut en quel-
que sorte combiner l’un et l’autre, car au bout du
compte, il faut une religion positive au peuple. Et
dites surtout,
erwiederte ich, qu’il en faut une aux
Rois et aux prêtres — car aux uns, elle fournit le
„par la grace de Dieu“ et aux autres de la puis-
sance, des honneurs et des richesses — le peuple
se contenterait peut être de bonnes lois et d’un gou-
vernement libre
.


Ah! unterbrach er mich, vous pensez comme Vol-
taire:


Les prêtres ne sont pas ce qu’un vain peuple pense

Et sa crédulité fait toute notre science.

Ma foi, lui dis je, si tous les prêtres vous ressemblaient,

Je penserai bien autrement.

[105]

Ich habe leider meinem freundlichen Amphytrion nicht
Wort halten können. Eine Migraine zwang mich den
ganzen Tag das Bett zu hüten. Der Herr Erzbiſchof
ließ mir zwar ſagen, daß er mich kuriren wolle, und,
wenn ich nur feſten Glauben mitbrächte, gewiß ſey,
durch wohl applizirten Exorcismus den Kopfwehteufel
auszutreiben — ich mußte ihm aber entgegenſetzen,
daß dieſer Teufel einer der unbezwinglichſten ſey, und
Niemand reſpectire als die Natur, die ihn ſende und
abberufe wie ſie Luſt habe, welches indeß ſelten vor
vier und zwanzig Stunden Leiden ſtatt finde. Ich
muß Dich alſo, beſte Julie, dieſen Abend auch nur
mit wenigen Worten verabſchieden.



Après la pluie le soleil! der heutige Tag ent-
ſchädigte mich für den geſtrigen. Schon um ſieben
Uhr ſaß ich zu Pferde, um mich zum Frühſtück auf
auf Capt. S. Landhaus zu begeben, wo das Jagd-
rendezvous für die heutige Haſenhetze beſtimmt war.
Ich fand ſechs bis ſieben rüſtige Landjunker dort
verſammelt, die nicht viel denken, aber ein deſto heit’-
reres und ſorgloſeres Leben führen. Nachdem wir
die heterogenſten Dinge, Kaffee, Thee, Whiskey, Wein,
Eyer, Beafſteaks, Honig, rognons de mouton, Ku-
chen und Butterbrod, alles untereinander, hatten
[106] einnehmen müſſen, ſetzte ſich die Geſellſchaft auf zwei
große Carrs, und nahm ihre Richtung nach den
Galtee-Bergen, wo, etwa in der Entfernung von
acht Meilen, Hunde und Pferde auf uns warten
ſollten. Das Wetter war ſchön, und die Fahrt ſehr
angenehm; einem Bergrücken entlang, mit der vollen
Ausſicht der fruchtbaren Ebene, vom Gebürge ge-
ſchloſſen, und reich variirt durch eine Menge Land-
ſitze und Ruinen, die über die ganze Fläche zerſtreut
lagen. Von dieſen Schönheiten profitirte ich jedoch,
wie gewöhnlich, allein; die Jäger hatten nur Jagd
und Haſen im Kopfe. Man zeigte mir eine Stelle,
wo vor zehn Jahren ein merkwürdiges Naturereig-
niß ſtatt fand. Ein hoch liegender Sumpfmoor,
wahrſcheinlich durch unterirdiſche Quellen empor ge-
trieben, riß ſich vom Boden los, und wanderte, in
einer Maſſe von ſechzehn Fuß Höhe und drei bis
vier Morgen Ausdehnung, davon. Er ging, nach
Maßgabe der Gegenſtände, denen er begegnete, im
fortwährenden Zickzack, und legte ſo neun Meilen zu-
rück, ehe er den nahe liegenden Fluß erreichte, in
dem er ſich nur langſam auflöste und eine Ueber-
ſchwemmung deſſelben veranlaßte. Die Schnelligkeit
ſeines Marſches war ohngefähr zwei Meilen in einer
Stunde, aber vernichtend für Alles was er antraf.
Häuſer wurden bei ſeiner Berührung ſogleich der
Erde gleich gemacht, Bäume ſämmtlich entwurzelt,
die Felder aufgewühlt und alle Vertiefungen mit
Moor angefüllt. Eine unermeßliche Menge Menſchen
hatten ſich gegen das Ende ſeines Laufs eingefunden,
[107] ohne jedoch dem [majeſtätiſch] verheerenden Natur-
Phänomen auch nur den geringſten Widerſtand ent-
gegenſetzen zu können.


Als wir an der beſtimmten Stelle des Jagd-rendez-
vous
ankamen, waren wohl die Pferde, aber keine
Hunde da. Dagegen hatten ſich noch mehrere Gent-
lemen eingefunden, und anſtatt Haſen zu jagen,
durchzogen wir nun Alle die Felder, in lang ausge-
dehnter Linie, um wo möglich die verirrten Hunde
aufzuſuchen. Von dem Reiten, was hierbei ſtatt
fand, macht man ſich bei uns kaum einen Begriff.
Obgleich die meiſten Felder von Mauern umſchloſſen
werden, die drei bis ſechs Fuß hoch, und abwechſelnd,
entweder nur von Feldſteinen loſe aufgeſchichtet, oder
ordentlich mit Kalk gemauert ſind, andere aber durch
ſogenannte Ditches begränzt werden — feſte Erd-
wälle von Lehm und Feldſteinen, die oben ſpitz zu-
laufen, fünf bis ſieben Fuß Höhe haben und noch
mit einem Graben auf der andern Seite, zuweilen
auf beiden Seiten, verſehen ſind — ſo darf dies alles
den Reitern doch kein Hinderniß ſeyn, ihre Linie zu
behaupten. Wie außerordentlich die hieſigen Pferde
ſpringen, habe ich Dir ſchon einmal beſchrieben, wenn
ich nicht irre; ihre Sagacität iſt aber auch zu be-
wundern, mit der ſie ſogleich eine loſe Mauer von
einer feſten, einen eben aufgeworfenen weichen Wall
von einem durch die Zeit gehärteten zu unterſcheiden
wiſſen, die loſen mit einem Satz überſpringen
(„clear them,“ wie der Kunſtausdruck heißt) bei
[108] den feſten, es ſich bequemer machend, oben noch ein-
mal aufſetzen. Alles dies geſchieht eben ſo wohl im
ſchnellſten Rennen, als auch mit der größten Ruhe
im Schritt, oder mit einem nur ganz kurzen Anlauf.
Einige Herren ſtürzten, wurden aber nur ausgelacht,
denn wer ſich nicht den Hals bei ſolcher Gelegenheit
auf der Stelle bricht, darf, ſtatt Beileid, hier nur
auf Verſpottung rechnen. Andre ſtiegen bei üblen
Stellen ab, und ihre abgerichteten Pferde ſprangen,
mit herunter hängendem Zügel, noch vor ihnen leer
hinüber, und erwarteten dann ihre Reiter, ruhig gra-
ſend. Ich kann Dir verſichern, daß ich gar oft dachte,
dieſem Beiſpiel folgen zu müſſen, aber Capt. S …,
der ſein vortreffliches Pferd, welches ich ritt, kannte,
und mir immer zur Seite war, encouragirte mich,
ſtets nur ganz ſicher dem Thiere zu vertrauen, ſo
daß ich am Ende des Tages eine wahre Reputation
unter den foxhunters erhielt. Gewiß iſt es, daß man
in Irland nur ſieht, was Pferde zu leiſten im
Stande ſind, die engliſchen können es ihnen hierin
durchaus nicht gleich thun. Wo ein Menſch hinüber
konnte, machte es mein Pferd auch möglich, auf eine
oder die andere Manier hinüberſpringend, kriechend
oder kletternd, ſelbſt durch Sumpfſtellen, wo es bis
an den Leib hineinſank, arbeitete es ſich, ohne die
geringſte Uebereilung, langſam und bedächtig hindurch,
wo ein zu lebhaftes und ängſtliches, wenn auch noch
ſo kräftiges Thier, beſtimmt nicht wieder herausge-
kommen wäre. Ein ſolches Schlachtroß im Kriege iſt
unſchätzbar, aber nur Abrichtung von Kindheit an,
[109] verbunden mit der Güte der Raçe, kann es hervor-
bringen. Daß aber die, Jahrhunderte fortgeſetzte Er-
ziehung, auch bei den Thieren, die angezognen Eigen-
ſchaften zuletzt faſt zu angeborenen, oder zur andern
Natur werden läßt, lehrt die Erfahrung. Ich ſah
in England Hühnerhunde, die, ohne alle Abrichtung,
beim erſten Ausgang, vor den Hühnern ſo feſt ſtan-
den, als wären ſie mit dem Corallenhalsband dreſ-
ſirt worden.


Die Preiſe dieſer vortrefflichen Pferde waren, noch
vor einem Jahrzehend, [verhältnißmäßig] äußerſt mä-
ßig, ſeit aber die Engländer angefangen haben, ſie
für ihre eignen Jagden aufzukaufen, hat ſich dies ganz
verändert, und ein Irländiſcher Hunter von der
Qualität deſſen, den ich heute ritt, wird nicht unter
einhundert fünfzig bis zweihundert Guineen verkauft;
miſcht ſich Liebhaberei hinein, ſo gilt er wohl auch
vier bis fünfhundert. Auf dem Wettrennen bei Gall-
way ſah ich einen Vollblut-Schimmelhengſt, ein be-
rühmtes Jagdpferd, welches Lord Cl . . . . für die-
ſen Preis gekauft hatte. Dieſer Hengſt hatte jede
Steeplechace gewonnen, die er gelaufen, war eben ſo
leicht als kräftig, ſchnell wie der Wind, von einem
Kinde zu regieren, und bis jetzt ihm noch keine über-
ſpringbare Mauer zu hoch, kein Graben zu breit ge-
weſen.


Endlich fanden wir die Hunde, deren Führer ſich
total betrunken hatten, und endeten unſere Jagd nicht
eher, als bei einbrechender Dunkelheit. Es war em-
[110] pfindlich kalt geworden, und das flackernde Kamin-
feuer, mit dem gedeckten Tiſch davor, leuchtete uns
gar angenehm durch die Fenſter entgegen, als wir
wieder auf Capt. S. Landhauſe ankamen. Ein äch-
tes Jagd- und Junggeſellenmahl folgte. Auf Ele-
ganz und Prunk war es nicht abgeſehen. Gläſer,
Schüſſeln und Beſtecke waren von allen Formen
und Zeitaltern vereinigt; Einer trank ſeinen Wein
aus Liqueur-, der Andere aus Champagner-, der
Durſtigſte aus Biergläſern; Dieſer ſpeiste mit des
Urgroßvaters Meſſer und Gabel, Jener mit dem
neuen grünen Beſteck, das der Bediente wahrſchein-
lich erſt geſtern auf dem Caſhel’er Markt eingekauft
hatte. Hunde waren dabei eben ſo viel im Zimmer
als Gäſte, bedienen that ſich ein jeder ſelbſt, und
Eſſen und [Getränk] ſchleppte eine alte Magd und ein
plumpfäuſtiger Reitknecht reichlich herzu. Die Haus-
mannskoſt war übrigens gar nicht zu verachten, eben
ſo wenig der Wein, und der ächte, in den Bergen
heimlich bereitete „Potheen,“ den ich hier zum erſten-
mal ganz unverfälſcht koſtete. Um einen Pudding
zu zuckern, wurden zwei große Stücken Zucker darü-
ber gehalten, und an einander gerieben, wie die Wil-
den Feuer zu machen pflegen, indem ſie Holz ſo
lange reiben, bis es zu brennen anfängt. Daß da-
bei ungeheuer getrunken wurde, kann man voraus-
ſetzen. Obgleich indeß Mehrere zuletzt nur noch ſtam-
melten, beging doch keiner etwas [Unanſtändiges], und
die wenigen vom Wein Bezwungenen, erhöhten die
Luſtigkeit durch manches gute Bonmot und drollige
[111] Erzählungen. Einer von ihnen, welcher früher lange
in England gelebt hatte, behauptete Augenzeuge von der
letzten Erſcheinung Georg des III. im Parlament ge-
weſen zu ſeyn, die er folgendermaßen erzählte: Be-
vor der letzte König (hochſelige würden wir Deutſche
ſagen, die ſelbſt im Himmel noch die Seligen ein Ti-
telchen mit [einſchwärzen] laſſen) völlig und auf immer
von der Geiſteskrankheit überwältigt wurde, die ihn
nachher ſo lange unfähig machte, an den Regierungs-
geſchäften Antheil zu nehmen, trat die Epoche der
Eröffnung des Parlaments ein, und der König, wel-
cher zwar bedenkliche Anfälle, aber doch noch mehr
lucida intervalla hatte, beſtand darauf, das Parla-
ment in Perſon zu eröffnen, und die übliche Rede
ſelbſt abzuleſen, welche immer mit den Worten an-
fängt: Mylords, and Gentlemen of the house of
Commons
! Der König ſchien ganz vernünftig, und
die Miniſter, obgleich nicht wenig beſorgt, mußten
ſich ſeinem ſo beſtimmt ausgeſprochnen Willen fügen.
Man mag ſich aber ihren Schreck vorſtellen, als der
[König], die Geſellſchaft lange und verwirrt fixirend,
mit großem Pathos deutlich ſo anfing: Mylords and
woodcocks, with their tails cocked up
. . . . (My-
lords, und Waldſchnepfen, die ihr den Schweif em-
porreckt) hierauf aber, ohne weitere Zeichen von Ge-
ſtörtheit, die Ableſung ſeiner Rede mit dem beſten
Anſtand fortſetzte. Dieſer Contraſt, fügte der Erzäh-
ler hinzu, war das Lächerlichſte, und die Mienen der
Parlamentsglieder, die nicht wußten, ob ſie ihren
Ohren trauen durſten, oder geträumt hätten, das
[112] unterdrückte Lachen Einiger, und das Staunen An-
derer, die mit offenem Munde ſtehen blieben, war für
den Zuſchauer ein höchſt amüſantes Schauſpiel. Als
man, nach dieſer Erfahrung, Seine Majeſtät glück-
lich zu Hauſe gebracht, ward keine weitere Probe ge-
ſtattet, und er bis nach ſeinem Tode dem Publiko
nicht mehr gezeigt.


Die große Zuvorkommenheit, ja ich könnte ſagen, den
Enthuſiasmus, mit dem man mich hier aufnimmt,
habe ich allein meinem Beſuch bei dem „Manne des
Volks“ zu verdanken, mit dem man mich, blos Neu-
gierigen, in Gott weiß welchem Rapport glaubt. Wo
ich durch ein Dorf reite, wird mir ein Hurrah ge-
bracht, und in Caſhel iſt jeden Tag der Markt, an dem
ich wohne, früh ſchon mit Menſchen angefüllt, um
mich, ſobald ich ausgehe, mit einem gleichen Geſchrei
zu empfangen. Mehrere drängen ſich dabei herzu,
und bitten, mir die Hand (verzweifelt derb) ſchütteln
zu dürfen, ganz glücklich, wenn ſie dies bewerkſtelligt
haben.


Sehr ſpät brachen wir erſt von Tiſch auf, worauf
ich, bei eiskaltem Nebel, mit noch einem Herrn in
des Wirths carr eingepackt wurde, um nach Caſhel
zurückzukehren. Alles lief mit hinaus, um mir be-
hülflich zu ſeyn. Der Eine zog mir ein Paar Filz-
ſchuhe über, der Andere gab mir einen Pelz um,
der Dritte band mir einen Foulard um den Hals,
Jeder wollte wenigſtens einen kleinen Dienſt lei-
ſten, und mit vielen: God bless his Higness, ward
[113] ich endlich entlaſſen. Der Gentleman neben mir,
Mr. O. R., war von Allen der Originellſte und auch
der Betrunkenſte. Von gleich guter Meinung für
mich, wie die Uebrigen, beſeelt, wollte er mir ſtets
etwas helfen, indem er das Uebel immer ärger machte;
bald knöpfte er mir den Pelz auf, ſtatt zu, riß mir
das Tuch ab, ſtatt es feſter zuzubinden, und fiel mir
auf den Schoß, wenn er mir mehr Platz machen
wollte. Seine poetiſche Gemüthlichkeit zeigte ſich eben
ſo charakteriſtiſch, als wir uns dem rock von Caſhel
[näherten]. Es war entſetzlich kalt, und der wolkenloſe
Sternenhimmel blinkte und flimmerte, wie ſoviel
Diamanten; zwiſchen der Straße aber und dem Rock
hatte ſich ein dichter Nebel auf die Erde gelagert,
der auch die ganze Umgegend verhüllte, ſich aber nicht
höher, als bis zum Fuß der Ruine, erſtreckte. Dieſe
erſchien nun, da ihre Baſis unſichtbar war, wie auf
einer Wolke gebaut, im blauen Aether, mitten unter
den Sternen, ſtehend. Ich hatte ſchon eine geraume
Zeit dies Schauſpiel ſtill bewundert, als mein Nach-
bar, den ich ſchlafend glaubte, plötzlich laut aufſchrie:
Ah! there is my glorious rock! look — how
grand! and above all! sacred place, where all my
ancestors repose, and where I-too shall lie in peace
!
— (Ha! da iſt mein erhabner Felſen! ſieh — wie
grandios! und erhaben über Alles! heiliger Ort!
wo alle meine Vorfahren ruhen, und wo auch ich
einſt in Frieden liegen werde!) — Nach einer Pauſe
verſuchte er, in erhöhter Extaſe, aufzuſtehen, worüber
er indeß, ohne mich, wahrſcheinlich vom Wagen ge-
Briefe eines Verſtorbenen. II. 8
[114] fallen wäre. Als er feſten Fuß gefaßt, nahm er den
Hut tief ab, und mit einer rührenden, wenn gleich
burlesken, Frömmigkeit, rief er mit Thränen im
Auge: God bless almighty God, and Glory tohim
(Gott ſegne den allmächtigen Gott, und Glorie ſey
ihm!) Ohngeachtet des Unſinns, den die verdoppelte
Kraft des Rauſches ohne Zweifel verurſachte (Gott
ſegne Gott) ſo ergriff mich doch auch das innige
Gefühl, und dieſem wenigſtens ſtimmte ich von
ganzer Seele bei.



Lord H . . . ., den ich in London gekannt, und
der eine ſchöne Beſitzung hier in der Nähe hat, lud
mich ein, einige Tage bei ihm zuzubringen, was ich
nicht annehmen mochte, aber heute bei ihm zu Mit-
tag ſpeiste. Der gut gehaltne pleasureground, und
das Ausgraben eines Sees, mit dem man eben be-
ſchäftigt war, erinnerten mich zu lebhaft an das
Schloß, wo Du meine Theure, jetzt hauſeſt, um ohne
Bewegung darauf blicken zu können. Wann werden
wir dort uns wiederſehen, wann wieder unter den
drei Linden häuslich mit den Schwänen frühſtücken,
die uns ſo zutraulich ihr Futter aus der Hand nah-
men, während zahme Tauben die Broſamen auflaſen,
und der kleine Coco, verwundert und eiferſüchtig, die
zudringlichen Vögel mit den klugen Augen anblin-
zelte — ländliches Bild, über das der verknorpelte
[115] Weltmann höhnend die Achſeln zuckt, das uns aber
in aller ſeiner Einfachheit das Herz bewegt!


Lord H. iſt einer von den irländiſchen Vornehmen,
die zwar ihre Revenuen nicht ganz ihrem Vaterlande
entziehen, und zuweilen daſelbſt reſidiren, aber doch
ihren eignen Vortheil ſo übel verſtehen, daß ſie ſich
mit dem Volk in Oppoſition ſetzen, ſtatt ſich an
ſeine Spitze zu ſtellen. Der Erfolg bleibt nicht aus.
Der Earl of Landaff, auch ein Proteſtant, iſt ge-
liebt, Lord H … gehaßt, obgleich er perſönlich
es mir durchaus nicht zu verdienen ſcheint. Man
erzählte mir zwar viel von ſeinen, gegen Catholiken
ausgeübten Grauſamkeiten, und ich war ſelbſt Zeuge
ſeiner leidenſchaftlichen Stimmung in dieſer Hinſicht,
glaube aber, daß hier, wie ſo oft in der Welt, eine
bloße Aenderung der eignen Anſicht
auch die ganzen Verhältniſſe verändern
würde
. Dies iſt eine Hauptregel praktiſcher Le-
bensphiloſophie, und der Effekt ſicher, denn die Ob-
jekte ſind nur Stoff; wie ſie das Subjekt verſteht
und formt, darauf kömmt Alles an. Wie manche
Lage kann man auf dieſe Weiſe aus ſchwarz in ro-
ſenroth übergehen ſehen, ſobald man nur durch Wil-
lenskraft entweder die ſchwarze Brille abnimmt, oder
die roſenrothe aufſetzt. — Mit welcher Brille wirſt
Du meinen Brief leſen? — ich höre die Antwort
von hier, und küſſe Dich dafür. Der Himmel behüte
Dich, und erhalte Dir dieſe Geſinnungen.


Dein treu ergebner L . . . .



[[116]]

Neun und dreißigſter Brief.



Liebſte Julie!

Seit geſtern befinde ich mich zum Beſuch in einem
hübſchen gothiſchen Schlößlein, am Fuß des Gebür-
ges. Aus einem Fenſter ſehe ich fruchtbare Fluren,
aus dem andern Wald, See und Felſen. Der
Hausherr iſt Mr. O. R . . . . . s Bruder, und, außer
ſeinem Schloß, auch der Beſitzer einer ſehr hübſchen
Frau, der ich ein wenig die Cour mache, denn die
Herrn jagen und trinken mir doch zu viel. Das Fa-
miliengut hätte eigentlich meinem drolligen Freunde
gebührt, weil er aber ſtets ein lockerer Zeiſig war,
der von Jugend auf Whiskeypunſch und gutem Le-
ben zu ergeben ſchien, ſo vermachte der Vater, der
die Dispoſition hatte, das Gut dem jüngſten Sohne.
Beide Brüder ſind dennoch die beſten Freunde, und
die harmloſe, gutmüthige Natur des Aeltern findet
durchaus keinen Wermuth in dem Wein, den er bei
[117] ſeinem Bruder trinkt; ſo wie auch auf der andern
Seite der Jüngere das Unglück ehrt, und ſeinen
eben ſo herzensguten und amüſanten, als alle Abend
betrunkenen Senior, es an nichts fehlen läßt. Ein
ſolches [Verhältniß]macht Beiden Ehre, um ſo mehr
da, bei des Vaters Tode, die Advokaten meinten,
daß der Fall ſich gar ſehr zum Prozeße eigne, Beide
haben gewiß eben ſo klug als gut gethan, ihn zu un-
terlaſſen, und die Auſter für ſich zu behalten, ſtatt
ſie wie in der Carrikatur, vom Advokaten verzehren,
und ſich ſelbſt mit den beiden Schalen abſpeiſen zu
laſſen.


Wir brachten den ganzen Tag mit Spazierengehen in
den herrlichen Bergpromenaden, Andere mit Schnepfen-
ſchießen, zu, und ſaßen Abends bis 2 Uhr Mor-
gens
beim Mittags-Tiſch. Gleich nach aufgeſtell-
tem Deſſert verließen uns, nach alter Art, die Da-
men und nun ging das Weintrinken an. Dann
wurde ganz ſpät der Caffee bei Tiſch gereicht, und
ihm folgte, faſt auf dem Fuße, ein ercitirendes Soupé,
aus Devils *) aller Art, friſchen Auſtern und Pick-
les beſtehend. Dieſe bildeten das Präludium zum
[118] Potheenpunſch, von dem Mancher 12—16 große
Tumblers zu ſich nahm, [während] O. R . . . . die
ganze Geſellſchaft, mit unerſchöpflichem Witz und
Narrenspoſſen, in einem „roar of laughter“ er-
hielt. Ueberdieß mußte jeder ein Lied ſingen, auch
ich ein deutſches, von dem zwar niemand etwas
verſtand, Alle aber höflichſt erbaut waren. Um 2
Uhr retirirte ich mich, die Andern blieben aber noch
Alle, und lange konnte ich vor ihrem Lärm und La-
chen, in meiner unglücklicherweiſe grade über ihnen
liegenden Stube, nicht einſchlafen.



Du wirſt Dich über das etwas gemeine Leben ver-
wundern, das ich hier führe — und aufrichtig ge-
ſtanden, ich ſelbſt wundere mich darüber, aber es iſt
genuine, d. h. bei den Leuten ächt natürlich und
nicht etwas Angenommenes — das hat immer eine
Art Reiz, wenigſtens für mich. Ueberdem iſt die
Frau vom Hauſe wirklich allerliebſt, lebhaft und gra-
zieus, wie eine Franzöſin, und einem Füßchen, wie
Zephyr, das ich ſchon oft geküßt, wenn ich ihr, wäh-
rend die andern tafelten, eine kurze Abendviſite
machte, und mich anſtellen durfte, als ſey mir der
ungewohnte Punſch ein wenig zu Kopfe geſtiegen.


[119]

Dieſen Morgen hetzten wir Haſen, wobei wieder
mancher kühne Sprung gemacht werden mußte, und
Abends produzirte man uns den berühmteſten Piper
Irlands, Keans Fitzpatrick, der König der Piper ge-
nannt, den auch His gracious Majesty, King Ge-
orge the fourth
, mit ſeinem Beifall beehrt hat.
In der That ſind die Melodieen, die er ſeinem ſon-
derbaren Inſtrumente abgewinnt, oft eben ſo über-
raſchend als angenehm, und ſeine Fertigkeit, wie der
höchſt gebildete und noble Anſtand des blinden Man-
nes, eines Virtuoſen würdig. Dieſe Pipers, welche
faſt Alle blind ſind, und ſich aus weitem Alterthum
herſchreiben, ſangen jetzt an immer mehr zuſammen-
zuſchmelzen, denn das Alte — muß vergehen.



Im Laufe des Tages begegneten wir heute zwei
Leuten, von ſehr verdächtigem Aeußern, im Walde,
die meine Begleiter mir ganz unbefangen, als be-
kannte [Räuber] deſignirten, die ſich, theils durch Liſt,
theils durch die Furcht die ſie einflößen, bis jetzt im-
mer frei zu erhalten gewußt hätten; ein Zeichen
mehr wie mangelhaft das Gouvernement, und ganz
verdorben der Zuſtand der Geſellſchaft hier iſt, zwei
Dinge, wodurch leider Irland characteriſirt wird.
Beide Leute, die ſich Pächter (farmers) nennen, weil
[120] ſie ein Stück Kartoffelfeld in Pacht genommen, wa-
ren von höchſt auffallendem und recht nationalem
Anſehen. Der Eine, ein ſchlanker, etwa 40jähriger,
ſchöner Mann, mit einer wilden, aber imponirenden
Phyſiognomie, ſtellte, ſelbſt in ſeinen Lumpen, noch
ein höchſt pittoreskes Bild dar. Verachtung jeder
Gefahr war auf ſeiner edlen Stirn ausgedrückt,
Gleichgültigkeit gegen jede Schande ſpielte höhniſch
um den frechen Mund. Seine Geſchichte beſtätigte
dieſe Sprache ſeiner Züge. Er trug drei bis vier
Militair-Medaillen, die er als Soldat in Spanien
und Frankreich erworben. Wegen vielfach bewieſener
Tapferkeit hatte man ihn ſchon einmal zum Unter-
offizier avancirt, wegen lüderlicher Streiche aber wie-
der degradirt; darauf hatte er zum zweitenmale ge-
dient, ſich wieder ausgezeichnet, war aber auch von
neuem aus demſelben Grunde verabſchiedet worden,
ohne daß man jedoch im Stande geweſen, ihn eines
Capital-Verbrechens zu überführen. Jetzt hat man
ihn im ſtrengſten Verdacht, der Anführer der Räu-
berbanden zu ſeyn, welche das Galtee-Gebürge ſo
ſehr beunruhigen, und bereits verſchiedene Mordtha-
ten begangen haben. Sein Gefährte war äußerlich
ganz das Gegentheil — für einen irländiſchen Far-
mer ſelten „wohl gekleidet“ d. h. nichts Zerriſſenes
tragend, 60 Jahre alt, kurz und unterſetzt, und im
Benehmen faſt einem [Quäcker] ähnlich. In den ſchein-
heiligen Zügen lauſchte aber dennoch ein ſolcher Grad
von Liſt und ſchonungsloſer Entſchloſſenheit, daß er
viel furchtbarer noch als der Andre erſchien. Vor
[121] zwei Jahren wurde dieſer Mann der Verfertigung
falſcher Banknoten angeklagt, und war bereits ſo
gut als überwieſen, als ein geſchickter Rabuliſt, dem
er ſich vertraute, ihn, gegen das Verſprechen einer
reichen Belohnung, noch glücklich vom Galgen be-
freite. Thränen der Dankbarkeit vergießend, ſteckte
er ſeinem Erretter 50 Pfund in die Hand, ihn ſchluch-
zend um die übliche Quittung bittend. Dieſe wurde
ausgeſtellt, und vergnügt über das gute Geſchäft,
füllte der Advokat ſeine Brieftaſche. Wie groß war
aber ſein Aerger, als er, bei näherer Unterſuchung,
ſich überzeugen mußte, daß ihn Paddi mit ähnlichen
falſchen Noten bezahlt, für deren Verſertigung er
dem Galgen ſchon anheim gefallen war. Wenn die
Irländer ſich auf die ſchlechte Seite wenden, (und
zu verwundern iſt es, daß ſie es nicht Alle thun) ſo
ſind ſie gefährlicher als Andere, weil ihre hervor-
ſtehenden Eigenſchaften, Muth, Leichtſinn und
Schlauheit, ihnen mehr als zu behülflich ſind, Alles
zu wagen, und Vieles mit Erfolg auszuführen.


Während wir beim Soupé unſre Auſtern verzehr-
ten, die an der weſtlichen und Südküſte Irlands
vortrefflich ſind, gab uns ein Herr aus dieſer Ge-
gend, der ſelbſt Auſterzucht auf ſeinem Gute übt,
einige Details über ihre Behandlung und Naturge-
ſchichte, die mir ganz neu waren. Je vous les com-
munique, mème au risque de vous ennûyer
. Für’s
Erſte mußt du alſo wiſſen: daß dreijährige Auſtern
zum eſſen die beſten ſind, weil ſie dann erſt, völlig
[122] ausgewachſen, die gehörige Größe und Korpulenz
erreichen; ſpäter aber werden ſie Coriace. Der ge-
ſchickte Auſternökonom hat Bänke von jedem Alter,
und nach Beſchaffenheit des Bodens, Auſtern von
verſchiedenem Geſchmack und Flavour. In den von
der Kunſt ungeſtörten Plätzen, wo ſich die Auſtern
im Naturzuſtande vermehren, erreichen ſie nie die
höchſte Vollkommenheit. Auf folgende Art kömmt
man ihnen zu Hülfe. Man fiſcht die Jungen, wenn
ſie nicht größer ſind als ein Viergroſchen-Stück, und
[ſähet] ſie, wie Korn, in eine nicht zu weit vom Ufer
entfernte Stelle des Meeres, deren Boden ein wei-
cher Schlamm ſeyn muß, und die nicht mehr als
höchſtens 14 Fuß Tiefe haben darf. Nach drei Jah-
ren fiſcht man ſie wieder heraus, und [ſähet] dann von
neuem andere aus der Mutterbank. Natürlich hat
man mehrere ſolche Schlammbänke im Gange, um
jedes Jahr eine reif gewordene leeren zu können.
Es ſcheint, daß die Auſtern ſehr alt ſeyn müſſen,
ehe ſie ſich vermehren, da in den eben beſchriebenen
artificiellen Colonieen nie neue Geburten ſtatt fin-
den. Die Art dieſer Geburt iſt übrigens ſonderbar,
ein neues Beyſpiel der unendlichen Mannichfaltigkeit
der Natur. Wahrſcheinlich iſt die Auſter ein Her-
maphrodit, da keine Verſchiedenheit des Geſchlechts
bemerkt werden kann, und ſie ſich nur dadurch fort-
pflanzt, daß, außerhalb ihrer Schale, ſich 15 — 16
kleine Auſtern, wie Warzen, bilden, und wenn ſie
gehörige Conſiſtenz erlangt haben, abfallen. Die
Hervorbringung dieſer 16 Kinder greift die alte Ma-
[123] maauſter dergeſtalt an, daß, wenn man ſie nachher
aufmacht, nichts wie ein wenig ſchlammiges Waſſer
in ihr gefunden wird, und gleich nachdem die Klei-
nen abgefallen ſind, gräbt ſie ſich 6 — 7 Zoll unter
den Schlamm ein. Hier bringt ſie ein ganzes Jahr
zu, ehe ſie ſich genug erholt hat, um von neuem ans
Zeugen zu denken. Deshalb kann man in dieſer Zeit
die Jungen bequem fiſchen, ohne den Alten zu nahe
zu kommen, die ruhig in der Tiefe ſchlafen oder
träumen! Das Fiſchen der Auſtern geſchieht vermöge
eines Inſtruments, denen ähnlich, mit welchen man
Schlamm aus den Flüßen heraufbringt, und beim
Säen werden ſie in ein Segeltuch geworfen, und,
wie ſchon geſagt, wie Getreide ausgeſäet. Sehr alte
Mütter werden endlich unfruchtbar, indem ihre
Schale eine ſolche Dicke erreicht, daß Liebe nicht
mehr durchdringen kann — grade wie die Menſchen-
Herzen.



Nachmittag fuhren wir hierher zurück, nach eini-
gen, recht luſtig, wiewohl nicht eben geiſtig, verleb-
ten Tagen. Um meine intellektuellen Kräfte nicht
ganz einſchlafen zu laſſen, will ich mich bemühen,
Dir ein Volksmährchen genießbar zu machen, das
mir eine alte Frau in Holy Croß erzählt hat.


[124]

Johny Curtin war ein armer Schüler, einer dun-
keln Sage nach, der Abkömmling eines in alter Zeit
hohen und mächtigen Geſchlechts, deſſen Glanz indeß
längſt verloſchen, deſſen Reichthümer verſchwunden
und deſſen Nachkommen, immer tiefer hinabſinkend,
ſeit vielen Jahren, ihres eignen Urſprungs ungewiß,
genöthigt geweſen waren, das Handwerk „mit gold-
nen Boden“ zu ergreifen, das zuletzt immer ſicher,
wenn auch nicht reichlich [nährt]. Johny’s Vater und
Mutter aber hatte der Tod hingerafft, ehe er ſelbſt
für ſich zu ſorgen im Stande war, und eine hülfloſe
Waiſe, lebte er nun allein von der Großmuth ſei-
nes Verwandten, eines Pächters in der Nähe der
Ruinen von Holycroß, wo er jetzt eben auch die
Schulferien zubrachte; denn Johny war fleißig und
wißbegierig, und der Oheim gutmüthig genug, ihn
bei der Arbeit oft zu entbehren, um ihm Zeit zu
laſſen, auf der Schule zu erlernen was dort zu er-
lernen war.


Lernen und Wiſſen erweitert unſre Exiſtenz, ge-
biert aber auch manche Sorge, manches nur einge-
bildete Uebel, das im einfacheren Wirkungskreiſe un-
bekannt bleibt. Johny kannte die Geſchichte ſeines
Vaterlandes, wußte wie die alte Größe faſt überall
gebeugt worden war, und die eigentlichen Fürſten des
Bodens Fremdlingen weichen mußten, die, wie
Pilze aufgeſchoſſen, den edleren Pflanzen die Nah-
rung entzogen, bis die unerbittliche Zeit endlich Al-
les verwandelte, und die, deren Vorfahren Könige
[125] waren, zu nichts Beſſerem als Sclaven geſtempelt
hatte. Er ſelbſt ſah ſich in vollem Maße für einen
Solchen an, und die geringen Freuden, deren ſeine
Lage fähig war, wurden nur zu oft durch ſelbſtpei-
nigende Gedanken dieſer Art getrübt.


In dieſer Stimmung waren die ſtolzen Ueberreſte
verhallter Jahrhunderte, die Tipperary’s Fluren,
gleich einem großen Kirchhof, bedecken, das gewöhn-
liche Ziel ſeiner einſamen Wanderungen, und der
Lieblingsaufenthalt des ſchwärmenden Jünglings.
Manche Sommernacht brachte er in der verwitterten
Cathedrale zu, die auf Caſhels Felſen, in nackter
Erhabenheit, thront, durchirrte in der Mittagsſonne
die ſumpfigen Wieſen, in die ſeit acht Jahrhunderten
Athaſſil’s Abtei immer tiefer verſinkt, oder ruhte im
Schatten des Raubſchloſſes von Golden, deſſen zehn
Fuß dicke Mauern der Zeit noch trotzten, wie ſie ſo
lange manchem Feinde getrotzt. Doch vor Allem
theuer waren ihm die prächtigen, von Epheu einge-
hüllten, Ruinen des Kloſters von Holycroß, wo der
Fremde noch jetzt das wunderbar erhalt’ne Grab des
großen O’Bryan’s, Königs von Limmerick, bewun-
dert, und wo auch, im beſcheidnen Winkel, Johny’s
Eltern ſchliefen. Vor ſeiner Phantaſie aber bevöl-
kerte es ſich noch mit andern wunderbaren Geſtalten,
unter denen die Geiſter ſeiner großen Vorfahren,
die, wie er oft gehört, ihre Ruheſtätte hier gefun-
den, den erſten Rang einnahmen. Möglich, daß
ſeine Vermuthung ihn nicht betrog, denn, der poeti-
[126] ſchen Sitte ſeines Volks gemäß, wird nicht der Platz
um die ärmliche Kapelle, in der die Bedrückten jetzt
ihren kaum geduldeten Gottesdienſt feiern, gewählt,
ſondern die erhabnen Ruinen ihrer alten Kirchen
und Klöſter vertreten die Stelle zum Begräbniß für
hoch und niedrig, daher ſieht man hier den Boden
auch überall von aufrecht ſtehenden Grabſteinen wim-
meln, untermiſcht mit Knochenhaufen und Schädeln,
die, um den neuen Ankömmlingen Platz zu machen,
ſorglos ausgeſchaufelt wurden. Hier, in einer Fen-
ſterniſche ſitzend, verträumte Johny Stunden auf
Stunden, bis die Sonne über dem majeſtätiſchen
Galtee-Gebürge herabſank, deſſen dunkle Rieſen al-
lein unverändert jedes Jahrhundert und jede Um-
wälzung überlebt hatten.


Eines Abends, wo er ſich mehr bewegt als je ge-
fühlt, ſehnſüchtig in die Vergangenheit und troſtlos
in die Zukunft geblickt, und ihm endlich gedäucht,
daß immer hörbarer die Geiſter der Abgeſchiednen in
ſeiner Nähe gerauſcht — verſank er, die Augen noch
von wehmüthigen Thränen naß, in einen tiefen
Schlummer. Wie lange er geſchlafen, wußte er nicht;
ob er nachher geträumt, oder wirklich geſehen was
ihm erſchienen, blieb ein nie mehr zu enthüllendes
Räthſel. Genug, er glaubte mitten in der Nacht
zu erwachen, und jeden Raum der weiten Kirche,
bis in die entfernteſten Winkel, von einem überirdi-
ſchen Lichte erleuchtet zu ſehen, das mit der Klar-
heit des Tages den Silberſchein des Mondes und
[127] den roſigen Schimmer der Abendröthe verband. Vor
ihm aber ſtand ein weibliches Weſen, in ein ſchloh-
weißes Gewand, wie eine wallende Wolke, gehüllt,
und zwei Augen funkelten ihm aus der Wolke ent-
gegen, gleich Sternen in einer Decembernacht. Eine
Stimme, deren Ton Johny nie genügend beſchreiben
konnte, deren Zaubermelodie aber jede Nerve zu
ſtärken, jede Furcht zu beſchwichtigen, und frohen Le-
bensmuth, wie Feuer, in jede Ader zu ſtrömen
ſchien, rief ihm freundlich, in ſanft verhallenden Tö-
nen zu: Mein Sohn! weißt Du wo Du biſt? „Wo
ich bin —“ erwiederte Johny, ſich die Augen rei-
bend. Gewiß — in Holycroß. „Weißt Du auch, daß
hier im grauen Alterthume Deine Väter herrſchten,
und alles Land, was Deine Augen oft von jenem
Thurme überblickten, einſt ihr Eigenthum war?“
Ha! ich ahnete es — o! warum konnten ſie es
nicht beſſer bewahren, auf daß ihr Enkel nicht heute
in Armuth und Sorge ſein ſaures Brod von frem-
der Gnade betteln müßte. „Johny!“ fuhr die Stimme
fort, „laß die Vergangenheit ruhen — von Dir allein
wird es abhängen, ſo groß zu werden als unſre
Voreltern waren, wenn Du Muth mit Klugheit ver-
bindeſt. Dein Glücksſtern brachte Dich grade dieſe
Nacht in die Mauern der Abtey, wo ich, die einſt
hier gebot, jetzt alle hundert Jahr nur einmal noch
erſcheinen darf. Wiſſe denn — daß ein unermeßli-
cher Schatz, unſrer Familie angehörig, hier vergra-
ben liegt, der, wenn du ihn erhebſt, dich reicher als
einen König machen wird. Doch John Curtin!
[128] merke wohl auf was ich dir ſage, denn ich kam heute
zu deinem Heil, wenn du es zu nützen verſtehſt;
aber nie ſiehſt du mich auf dieſer Welt wieder. —
Du kennſt den Hügel über der Abtey, den geſegne-
ten Fleck, wo der Splitter des heiligen Kreuzes bei
der Abteyglocke ſüßem Klange herabfiel, und wo die
gute Alte ihrem Sohn begegnete, als er von Jeru-
ſalem zurückkam. Du kennſt den uralten Tarus-
Baum, der dort einſam ſteht, nahe am Wege, auf
der Erhöhung von Erde und Steinen. Dort grabe
6 Fuß weit vom Baum, in der graden Linie des
Abteythurms, und grabe 6 Fuß tief. Das Werk muß
in der todten Stunde der Nacht vollbracht, und —
ſey deſſen wohl eingedenk! — kein Wort dabei ge-
ſprochen werden, oder wehe denen, die es unter-
nahmen!“


Hier ſchien ein lichter Blitz durch die Kirche zu
zucken, und ein heiſres Lachen an ſein Ohr zu ſchla-
gen; Johny fuhr auf wie aus einem Traume, aber
tiefe Dunkelheit umfing ihn, und unüberwindliche
Schlafſucht drückte ihm von neuem die Augen zu.
Als er erwachte, war er nicht wenig erſtaunt, ſich
auf ſeinem Strohlager bei Dick Caſſidy, ſeinem Vet-
ter, zu finden, ohne alle Erinnerung wie er zu Hauſe
gekommen. Hatte er wirklich nur [geträumt]? war
alles blos ein Gaukelſpiel ſeiner erhitzten Phan-
taſie? — es mußte wohl ſo ſeyn, denn der Wahr-
heit zu Ehren darf man nicht verbergen, daß Johny,
ehe er ſeiner Lieblings-Ruine zuwandelte, bei einem
[129] guten Kameraden den Mittag verbracht, und den
Whiskey-Punſch nicht geſchont hatte, ja Bridget, die
Hausmagd, behauptete ſogar, ſie habe, als Johny
ſo ſpät zu Hauſe kam, gleich gemerkt, daß der
Potheen-Geiſt mächtig in ihm ſey, und dieſer Geiſt
iſt Manchem ſchon nachher in den ſeltſamſten Varia-
tionen und Formen wieder erſchienen, wenn er ein-
mal mit ihm in Gemeinſchaft getreten. So ſprach
Johny zu ſich ſelbſt, aber die kältere Vernunft mochte
anführen, was ſie wollte, immer richteten ſich ſeine
Schritte nach der Gegend der Abtei, und wenn er
den einſamen Taxus-Baum nur von fern erblickte,
ſchlug ihm das Herz ſtärker, das Blut ſchoß ihm in
die Wangen, und Bilder künftiger Größe gaukelten
vor ſeinem innern Auge, immer bunter und glänzen-
der, umher. Der Dämon der Begehrlichkeit hatte
Beſitz von ſeiner Seele genommen. — Er beſchloß
endlich ſeinen Verwandten, der ein bedächtiger und
verſtändiger Mann war, zum Vertrauten zu machen,
und ſeinem Ermeſſen die Sache anheim zu ſtellen.
Wider Vermuthen nahm Dyk die Eröffnung weit
gläubiger auf, als Johny gehofft, und Habſucht und
Aberglauben, von denen auch der Alte nicht frei war,
entſchieden beide ſchnell zur That. Man kam über-
ein, daß der Verſuch ſo ſchleunig als möglich ge-
macht, und der Schatz, ſobald er gehoben, treulich
unter Beide vertheilt werden ſolle.


Nach einem guten Abendeſſen, und mehr als einem
Glaſe blessed Whiskey zur Herzſtärkung, machte
Briefe eines Verſtorbenen. II. 9
[130] ſich Dyk und Johny auf den Weg. Sie mußten
nahe unter den Mauern von Holycroß vorüber, und
der Wind, der ſich ſtürmiſch zu erheben begann,
ſchüttelte die Aeſte der alten Eſchen ſo ſchaurig,
rauſchte ſo hohl und dumpf durch den dicht verſchlun-
genen Epheu, und warf mit ſolcher Gewalt große
Steine von den Mauern hinab in ihren Weg, daß
beiden immer übler zu Muthe ward. Indeß nah-
men ſie ſich zuſammen, und ſchnell über die Brücke
eilend, die hier [über] den Suir führt, richteten ſie
ihre Schritte eiligſt nach dem angezeigten Baum.
Sobald ſie ihn erreicht, verlor Dyk keinen Augen-
blick länger, warf ſeinen Rock ab, maß ſorgfältig die
ſechs Schritte vom Erdhaufen nach dem Abteithurm,
und begann aufs emſigſte zu graben. Johny folgte
ſchweigend ſeinem Beiſpiel, und nachdem ſo unter
manchem innerlichen Stoßgebet und Zeichen des heili-
gen Kreuzes, eine Stunde verfloſſen ſeyn mochte,
fühlte Dyk zuerſt ſeinen Spaten auf etwas Hartes
ſtoßen. Die loſe Erde wegſchaufelnd, fanden ſie,
daß ein platter breiter Stein vor ihnen lag. Lange
quälten ſie ſich vergebens, ihn von der Stelle zu
bringen, und nur nach unſäglicher Anſtrengung ge-
lang es ihnen endlich, denſelben ein wenig zu lüften,
und dann mit Hülfe eiſerner Hebel, die ſie vorſichtig
mitgenommen, völlig umzukippen. Sie wurden da-
durch eine ſchmale Treppe gewahr, und ermuthigt
durch die jetzt gewonnene Ueberzeugung, daß die Er-
ſcheinung ſie nicht betrogen, zündeten ſie ihre Blend-
laternen an, und ſtiegen voller Zuverſicht, wenn
[131] gleich nicht ohne einigem Schauer, Einer nach dem
Andern, langſam hinab. Die Stufen führten in
eine lange Gallerie, an deren Ende ein ſchweres
eiſernes Thor allem weitern Vordringen ein Ende
zu machen ſchien. Näher kommend, fanden ſie je-
doch einen goldnen Schlüſſel darin ſtecken, der es
auch mit Leichtigkeit aufſchloß. Sie ſchritten nun in
dem ſich gleich darauf wendenden Gange kühn weiter,
und bemerkten bald ein anderes Thor, über dem, in
Bruſthöhe, ein durchſichtiges Gitter ihre Blicke auf
ſich zog. Johny erhob die Laterne, um Dyk hin-
durch ſehen zu laſſen, doch kaum hatte dieſer einen
Blick hineingeworfen, als er voller Freuden aufſchrie:
Hurrah, bei Noonans Geiſt! wir ſind gemachte
Leute! — Das letzte Wort ſchwebte noch auf ſeinen
Lippen, als ein furchtbarer Donner krachend das
Gewölbe zuſammen brach — ein ſauſender Wirbel-
wind ſchlug die Laterne zu Boden, und Johny,
flach auf ſein Antlitz ſtürzend, verlor in unnennba-
rem Graus Gedächtniß und Beſinnung. Als er wie-
der zu ſich kam, lag er unter dem einſamen Tarus-
baum und eine hohe Flamme ſpielte, gleich einem
rieſigen Irrlicht, auf dem Thurme der Abtei. Eine
ſchwarze Figur ſchien luſtig darin zu tanzen, und
ſtärker erſcholl, dicht neben ihm, daſſelbe heiſere
Lachen, das er in der Ruine zu hören geglaubt.
Wie er aber, von Schrecken bleich, ſich nach ſeinem
Vetter umſah, lag, von der Flamme grell erleuchtet,
Dyk, mit umgedrehtem Halſe, neben ihm, die blau
9*
[132] geſchwollnen Züge ſchauderhaft verzerrt, und die
ſtarren Augen feſt auf Johny gerichtet.


Herzens Julie, ich fürchte, das materielle Leben
dieſer Tage hat mich ein wenig dumpfſinnig gemacht,
und meine Geſchichte trägt die Farbe davon. Sie
ſieht in der That wie der Traum einer Indigeſtion
aus. Nach einigem Faſten produzire ich Dir indeß
vielleicht eine beſſere.


En et[t]endant wünſche ich Dir gute Nacht, und
angenehmere Träume als dem armen Johny.



Ich hatte die Hospitalität der guten Landjunker
hier ſo oft in Contribution geſetzt, daß ich en con-
science
ſie einmal erwiedern mußte, und lud daher
vor meiner Abreiſe heute Alle zu einem kleinen Feſt
bei mir ein. Früh gab ich ihnen ein Hahnengefecht,
car il faut hurler avec les loups, dann Conzert
des großen Piper’s, einen Spazierritt auf ihren eig-
nen Pferden, und zuletzt grand festin, grande chair
et bon feu.
Während unſres Rittes kamen wir an
eine Stelle, wo vor drei Jahren ein Magiſtrat, mit
Namen Baker, erſchoſſen wurde. Dies war ein
Charakter, vollkommen dem der Iffländiſchen Amt-
männer gleich, nur leider ohne eine, ihm entgegen-
[133] arbeitende, edle Seele. Den Tag vor ſeinem Tode
hatte er noch zu einem Manne, den er, auf vor-
gegebnen Verdacht revolutionairer Umtriebe, ſechs Wo-
chen in Ketten legen laſſen, indem er ihn endlich
frei ließ, ganz [öffentlich] geſagt: Vorigen Monat
ſchickte ich zu Euch und verlangte Euch zu ſprechen.
Ihr kamt nicht, — dafür habe ich Euch jetzt die
kleine Lektion gegeben, die Euch künftig, wie ich
hoffe, etwas geſchmeidiger machen wird. Iſt es nicht
der Fall, ſo ſollt ihr in ſechs Wochen baumeln, dar-
auf verlaßt Euch! Die Grafſchaft war nämlich da-
mals, nach einer partiellen Empörung, unter martial
law
(Kriegsgeſetz) geſtellt, und den Behörden ſo lange
faſt unumſchränkte Macht eingeräumt, weshalb ſie
ſich Alles erlauben durften. Die Urſache von
Bakers Ermordung war von der Art, daß man ihn
kaum bemitleiden kann. Er ſchuldete einem Milch-
händler 500 Lſt., theils für gelieferte Waare, theils
für baar hergeliehenes Geld, und hatte verſprochen,
die Summe zu bezahlen, ſobald der Mann ſeine
Tochter verheirathen würde, für welche dieſelbe als
Ausſtattung beſtimmt war. Der Fall trat nach eini-
gen Jahren ein, und der Milchhändler bat beſchei-
den um ſein Geld. Da indeß Baker ihn immer mit
Ausflüchten hinhielt, und er nichts als vague Ver-
ſprechungen von ihm erhalten konnte, drohte er end-
lich mit einer gerichtlichen Klage, und reiste auch
nach Cork, um ſich deshalb mit einem Rechtsgelehr-
ten zu beſprechen. Dieſe Abweſenheit benutzend, er-
ſchien Baker ſchon des andern Tages in ſeinem
[134] Hauſe, von einem Detachement Soldaten gefolgt,
und frug gleiſneriſch die, mit ihrem ſiebenten Kinde
eben ſchwanger gehende Frau, ob ſie etwas von im
Hauſe verſteckten Waffen wiſſe, da eine ſchwere An-
klage gegen ihren Mann gemacht worden ſey. Dieſe
verſicherte gutes Muths, daß ſo etwas in ihrem
Hauſe gewiß nicht exiſtire, da ihr Mann nie ſich
dergleichen Umtriebe zu Schulden kommen laſſen, wie
er ja ſelbſt, als ſein alter Bekannter, am beſten wiſ-
ſen müſſe. Gebt wohl acht, was ihr ſagt, rief
Baker, denn findet man etwas und ihr habt es ver-
läugnet, ſo verurtheilt Euch das Geſetz ohne Gnade
zur lebenslänglichen Transportation. Die Frau blieb
bei ihrer Ausſage. „Nun wohlan, auf Eure Ge-
fahr! Soldaten!“ befahl er, „durchſucht Haus und
Scheune aufs genauſte, und bringt mir Rapport,
was ihr gefunden.“ Man fand nichts — als aber
unter Bakers eigner Anführung eine zweite Nach-
ſuchung gehalten ward, brachte Jemand eine geladne
Piſtole hervor, die angeblich unter dem Stroh ver-
ſteckt geweſen ſeyn ſollte, von der man aber immer
vermuthet hat, daß Baker ſie ſelbſt dahin praktizirte.
Die Frau wurde ſogleich fortgeſchleppt, und durch
das Corpus delicti bereits als überführt betrachtet,
nach kurzem Prozeß zur Transportation verdammt.
Ihr Mann kam wenige Tage darauf zurück und
ſuchte Himmel und Erde für ihre Freiheit zu bewe-
gen. Vergebens flehte er, daß man wenigſtens ihn
an die Stelle der unglücklichen Frau, einer ſchwan-
gern Mutter von ſechs Kindern, nach Botanybay
[135] ſchicken möge. Er offerirte auch das Geſchenk der
500 Lſt. Aber Baker blieb unerbittlich, den Ver-
zweifelnden höhniſch erinnernd, „daß er dies Geld
ja brauche, die Tochter auszuſtatten, welche,“ ſetzte
er hinzu, „ihm jetzt die Wirthſchaft führen könne,
wenn er anders, in Folge der eingeleiteten Unter-
ſuchung, noch eine Wirthſchaft behielte. Für das
Reiſegeld ſeiner Frau brauche er aber nicht zu ſor-
gen, denn dies übernähme großmüthig das Gouver-
nement.“ Das Geſetz hatte wirklich ſeinen Lauf, die
arme Frau wurde transportirt, und iſt vielleicht noch
in Port Jackſon. Aber die zur Wuth gebrachten
Menſchen, ihr Mann, Bruder und noch zwei andere,
rächten ihr trauriges Schickſal, kurze Zeit darauf,
durch Bakers grauſame Ermordung, den ſie mitten
im freien Felde anfielen, gleich einem Wilde hetzten,
und endlich mit mehrern Schüſſen langſam erlegten.
Alle wurden ergriffen und gehangen.


Solche Schaudergeſchichten waren damals in dem
unglücklichen Lande [alltäglich], und noch jetzt kom-
men ähnliche vor. Daß aber ein ſolcher Contraſt
zwiſchen England und Irland, unter demſelben Gou-
vernement ſtatt finden, und ſo lange fortbeſtehen
kann, iſt für jeden Menſchenfreund wahrhaft betrü-
bend, um ſo mehr, wenn man bedenkt, daß nux un-
bezwingliche Bigotterie und frühere Raubſucht, deren
Beute man nicht wieder herausgeben will, die Ur-
ſache, 6,000,000 Menſchen aber die Opfer davon ſind.


[136]

Von meinem Feſte ſage ich nichts. Es glich den
andern, und dauerte mehr als zu lange. Nur zweier
Anekdoten will ich erwähnen, aus Venus und Bacchus
Reiche entlehnt, weil ſie mir bemerkenswerth, und die
Sitten gut ſchildernd erſcheinen. Ich bitte im Voraus
um Verzeihung, wenn die erſte Dir ein wenig zu
frei vorkömmt, aber man kann ohnmöglich wie Du,
ſo vielen Gelagen in der Provinz beiwohnen, ohne
auch einmal etwas Verfängliches zu hören. Uebrigens
iſt das Ganze eine öffentlich verhandelte Kriminal-
Geſchichte, und in ſo fern wohl auch einem vertrau-
ten Briefe einzuverleiben.


Man neckte einen der Gäſte mit ſeinen Liebesge-
ſchichten, und Jemand meinte, er wäre wohl auch
im Stande, es ſeinem Couſin R ..... nachzuthun.
Ich frug, was dieſer Couſin gethan, und erhielt fol-
gende Auskunft: Voriges Jahr, ſagte mein Bericht-
erſtatter, brach der Gentleman, von dem die Rede
iſt, den Hals auf einer Fuchsjagd, was gewiß manche
Tugend gerettet hat, und auch vielleicht ihn ſelbſt
vor einem ſchlimmern Tode bewahrt, dem er ſchon
einmal ganz nahe war. Die Sache hat in unſrer
Criminal-Geſchichte nicht wenig Aufſehen gemacht,
und möchte nicht ſo leicht einen Nachahmer finden.


M. R., ſchon berühmt durch vielfache Avantüren,
ſtellte lange vergebens der hübſchen Tochter eines
[Pächters] nach, ohne daß es ihm gelingen wollte, ſie
zu einem rendez-vous zu bringen, oder ſonſt allein
zu treffen. Endlich begegnete er ihr einmal, ohnfern
[137] ihres Vaters Haus, wie ſie eben zum Brunnen ging,
zwei Waſſerkannen über die Schultern gehangen, und
ſie mit beiden Händen haltend, wie es hier die Land-
mädchen zu thun pflegen. Eine Weile mit ihr ſcher-
zend und allerlei zärtliche Poſſen treibend, benutzte
er plötzlich ihre vertheidigungsloſe Stellung und —
enfin, es gelang ihm, halb wenigſtens gewiß mit
Gewalt, alles von ihr zu erlangen, was ſie geben
konnte. Von den engliſchen Geſetzen wird ſo etwas
nicht nach der Kaiſerin Catharine oder Königin Eli-
ſabeth Prinzip beurtheilt, ſondern als criminelle
Gewaltthätigkeit angeſehen, und der Delinquent,
wenn er durch Zeugen überführt iſt, ohne Weiteres
gehangen. M. R ..... ’s Schreck war alſo nicht
gering, als er, noch das weinende Mädchen tröſtend,
ſich aufrichtete, und ihre jüngere Schweſter hinter
derſelben ſtehen ſah, die in der gleichen Abſicht Waſ-
ſer zu holen hergekommen war, und das Ganze mit
angeſehen zu haben ſchien. „Oh for shame!“ (O der
Schande!) rief ſie entrüſtet, muß ich das von dir er-
leben, Schweſter! gleich ſollen Vater und Mutter al-
les erfahren!“ Die arme Maria war bei dieſer Dro-
hung mehr todt als lebendig, ihr Liebhaber jedoch
wußte, mit ſeltner Faſſung und ſeltner Thatkraft,
der Sache eine ganz unerwartete Wendung zu geben.
Scheinbar wüthend zog er ſein Meſſer, und ſtürzte
auf die jüngere Schweſter zu, als wolle er ihr augen-
blicklich den Mund für immer verſiegeln. Halb ohn-
mächtig vor Schreck ſank dieſe, um Erbarmen flehend,
kraftlos zu ſeinen Füßen hin. — Hier ward ihr das-
[138] ſelbe Schickſal zu Theil, das einige Minuten früher
ihre Schweſter betroffen. Beide hielten nun zwar
reinen Mund, beide aber zwang einige Zeit nachher
die Natur zum Geſtändniß, denn beide wurden
ſchwanger, und gebaren einen Knaben und ein Mäd-
chen. Die Eltern machten die Sache anhängig, ſie
war klar — das jüngſte der Mädchen überdies erſt
13 Jahr alt, und man hielt Hrn. R ...... für
verloren. Wider alles Vermuthen erklärte ihn indeß
die mitleidige Jury (que tant de valeur sans doute
avait désarmé)
für not guilty (nicht ſchuldig) weil,
auf eingefordertes Gutachten, der Stadtarzt gefällig
[erklärt] hätte: daß der Fall unmöglich ſey. Voilà
une belle occasion de disputer pour les Juriscon-
sultes et les mêdecins.
Die mauvais plaisans be-
haupteten, daß vor dieſem Prozeß Mr. R ......
den Weibern gefährlich geweſen, nachher aber unwi-
derſtehlich geworden ſey.


Nun zur zweiten Erzählung:


Vor ohngefähr zehn Jahren gab Lord L .....,
der damals faſt für unüberwindlich vis à vis einer
Batterie Whiskey-Punſch-Gläſer gehalten wurde, ein
großes diné, deſſen Hauptzweck effrenirtes Trinken
war, eine Mode, die jetzt, im Verhältniß wenig-
ſtens, immer mehr abgenommen hat. Es war da-
mals etwas ganz Gewöhnliches, ſich mit einem Faſſe
Wein und einer luſtigen Geſellſchaft einzuſchließen,
und das Gemach nicht eher zu verlaſſen, bis der
letzte Tropfen geleert war. Burrington ſpricht in ſei-
[139] nen Memoiren von einer ähnlichen Partie, die in
einem Jagdhauſe ſtatt fand, wo erſt den Tag vorher
die Wand mit Mörtel bekleidet worden war, der noch
nicht zum Trocknen Zeit gehabt hatte. Hier ſchloß
man ſich auf dieſe Weiſe mit einer Tonne, eben von
Frankreich angekommenen Claret’s, ein, und als am
Morgen die gegen die Wand getaumelten Mitglieder
aus ihrem Rauſche erwachten, fanden ſie ſich ſo feſt
mit derſelben identificirt, daß ſie ſpäter davon abge-
ſchnitten werden mußten, einige mit Verluſt ihres
Haars, andere ihrer Kleider.


Ein Diné in ähnlichem Genre, gab auch Lord
L ..... Die ſehr zahlreiche Geſellſchaft ward bald
überaus luſtig und geräuſchvoll, und nachdem die
Augen weniger ſcharf und die Zungen ſtammelnder
geworden waren, hörte Lord L..... mehreremal vom
untern Ende der Tafel rufen: O Serjeant Scully!
that won’t do! Fair play Mr. Scully!
(O Sergeant
Scully, das geht nicht an! Ehrlich Spiel Herr Scully!)
Dieſer Scully war Sergeant in dem Milizcorps der
Gutsbeſitzer, das Lord L..... kommandirte, und ſonſt
als ein ſehr determinirter Trinker bekannt. Lord L....
alſo, der glaubte, er weigere ſich ſein Glas weiter
zu füllen, ward höchſt entrüſtet, und rief ihm laut
über den Tiſch zu: Schämt Euch Scully! Euch ſo
nöthigen zu laſſen! Allons, gleich füllt Euer Glas!
Irland für immer. O Mylord, ertönten hier meh-
rere klägliche Stimmen, Euer Herrlichkeit ſind ganz
im Irrthum. Sergeant Scully hat zwei Gläſer
[140] vor ſich ſtehen, die er beſtändig füllt, während wir
nur eins erhalten; ſolche Bevortheilung wollen wir
aber nicht länger dulden!


Seitdem iſt es in ganz Irland zum Sprüchwort
geworden, wenn einer mehr als alle Andern thut,
oder doppelten Vortheil aus einer Sache zieht, zu
ſagen: Er nimmt ſich ein Beiſpiel an Sergeant
Scully.


Als man keine Anekdoten mehr zu erzählen wußte,
wurden allerlei Kunſtſtücke und tours de force ge-
macht, worunter ich Eins noch nie geſehen hatte.
Es iſt nur ein Experiment mit einem Hahn, das
jeder nachmachen kann, aber doch ziemlich ſonderbar.
Das wildeſte und böſeſte Thier dieſer Art wird näm-
lich ſogleich bewegungslos, und vermocht, ſo lange
man will, in todtenähnlicher Ruhe auf dem Tiſche
liegen zu bleiben, den Schnabel vor ſich hingeſtreckt
und die Augen keinen Augenblick von einer weißen
Linie verwendend, die vor ihm hingezeichnet iſt. Man
thut weiter nichts, als dieſe grade Linie vorher auf
dem Tiſche mit Kreide zu zeichnen, den Hahn dann
mit beiden Händen zu faſſen und mit dem Schnabel
auf der Linie fortzuſchieben. Dann drückt man ihn
auf den Tiſch auf, und er wird ſo lange liegen blei-
ben, ohne ſich zu rühren, bis man ihn wieder weg-
nimmt. Das Experiment kann jedoch nur bei Licht
gemacht werden.


Voilà de grandes bagatelles, mais à la gôerre
comme à la gôerre.


[141]

Da Fitzpatrick der Piper, den ich für geſtern hatte
kommen laſſen, noch heute in der Stadt blieb, be-
nutzte ich dies, um ihn während des Frühſtücks pri-
vatim in meiner Stube ſpielen zu laſſen, und dabei
ſein Inſtrument genauer zu betrachten. Es iſt, wie
Du ſchon weißt, Irland eigenthümlich, und eine ſelt-
ſame Miſchung alter und neuer Jahrhunderte darin
ſichtbar. Der urſprüngliche, einfache Dudelſack hat
ſich in ihm mit der Flöte, der Hoboe, und einzelnen
Orgel- und Baſſontönen, vermählt. Alles zuſammen
bildet ein fremdartiges, aber ziemlich vollſtändiges
Concert. Der kleine elegante Blaſebalg, der damit
verbunden iſt, wird vermöge eines ſeidenen Bandes
am linken Arme befeſtigt, und der, zwiſchen ihm und
dem Sack communizirende, Windſchlauch, über den
Leib gelegt, [während] die Hände auf einem, mit Lö-
chern, gleich einem Flageolet, verſehenen, aufrecht
ſtehenden Rohre ſpielen, welches das Ende des In-
ſtrumentes bildet, und mit fünf bis ſechs andern kür-
zeren, die einer coloſſalen Papagenoflöte ähnlich ſind,
in Verbindung ſteht. Während des Spiels geht der
rechte Arm unaufhörlich vom Körper ab und zu, um
den Blaſebalg in Athem zu erhalten. Das Oeffnen
einer Klappe bringt einen tiefen, ſummenden Ton
hervor, der während dem übrigen Spiel unisono
mit fortgeht, und dem Forte-Zug des Piano’s ähn-
lich wirkt. Durch das Agitiren des ganzen Körpers,
ſo wie des vorher beſchriebenen Rohres brachte Fitz-
[142] patrick Laute hervor, die kein andres Inſtrument be-
ſitzt. Der Anblick des Ganzen, wozu Du Dir den
ſchönen alten Mann mit einem vollen weißen Locken-
kopf hinzudenken mußt, iſt wirklich ſehr originell, ſo
zu ſagen: tragikomiſch. Seine bag pipe war übri-
gens beſonders prächtig verziert, die Röhren aus
Ebenholz mit Silber beſchlagen, das Band wie ge-
ſtickt, und der Sack mit feuerfarbner Seide und ſil-
bernen Frangen umgeben.


Ich ließ mir die älteſten irländiſchen Melodieen
aufſpielen, wilde Compoſitionen, die gewöhnlich trau-
rig und melancholiſch, wie die Geſänge der ſlaviſchen
Völker, anfangen, zuletzt aber dennoch in einen Gigg,
dem irländiſchen Nationaltanz, oder einer kriegeri-
ſchen Muſik endigen. Eine dieſer Melodieen gab das
ſehr täuſchende fac simile einer Fuchsjagd, und eine
andere glaubte ich aus dem [Jägerchor] im Freiſchützen
entlehnt; ſie war aber 500 Jahr älter. Les beaux
esprits de rencontrent dans tous les âges.


Nach einiger Zeit hörte der Piper plötzlich auf, und
ſagte lächelnd, mit vieler Anmuth: Es muß Ihnen
ſchon bekannt ſeyn, [gnädiger] Herr, daß die irländiſche
bag pipe nüchtern keinen guten Ton hat — ſie ver-
langt den Abend, oder die Stille der Nacht, heitere
Geſellſchaft und den lieblichen Duft dampfenden Whis-
key-Punſches. Erlauben Sie alſo, daß ich mich jetzt
beurlaube.


[143]

Ich belohnte den guten Alten reichlich, der mir im-
mer als ein wahrer [Repräſentant] iriſcher [Nationali-
tät]
vorſchweben wird.


Mit Fitzpatrick nehme auch ich Abſchied von Dir,
liebſte Julie, um mich nach der langen Tour wieder
nach Dublin zurück zu begeben, von wo ich meinen
nächſten Brief an Dich abzuſenden gedenke.


Dein treuer L.....


[[144]]

Vierzigſter Brief.



Gute, theure Freundin!

Wenn man ſo lange ein halb wildes Leben ge-
führt, kömmt Einem die Zahmheit der Stadt ganz
ſonderbar vor! Ich kann mir jetzt beinah das Heim-
weh der Indianer erklären, von denen ſelbſt die Ge-
bildeteſten doch am Ende in ihre [Wälder] wieder zu-
rücklaufen. Die Freiheit hat einen zu großen Reiz!


Geſtern Nachmittag verließ ich Caſhel, und nahm
in meinem Wagen den Bruder des Capt. S. mit.
So lange es Tag war, ſahen wir gewiß an zwanzig
verſchiedene Ruinen, fern und nah, liegen. Eine der
ſchönſten ſteht am Fuß eines iſolirten Hügels, Kil-
lough Hill, der Garten Irlands, genannt, weil auf
ihm, der Sage nach, alle in Irland einheimiſche
Pflanzen wachſen. Der Grund dieſer Fruchtbarkeit
iſt, daß Killoughhill einſt der Sommeraufenthalt der
[Feenkönigin] war, deren Gärten hier prangten. Der
[145] überirdiſch magnetiſirte Boden behält daher noch im-
mer einen Theil ſeiner wunderbaren Kräfte. Die er-
wähnte Ruine hat abermals einen jener räthſelhaften,
ſchmalen, runden Thürme ohne Oeffnung, die von
fern einem, von allen Neunen allein ſtehen gebliebe-
nen, ungeheuren Königskegel gleichen. Bei einigen
wenigen, ſieht man zwar die Oeffnung einer Thüre,
aber nicht unten, ſondern in der Mitte. Kein ro-
mantiſcheres Schilderhaus [hätte] für die Wache des
Feenhügels gewählt werden können. Das Wetter
war außerordentlich mild und ſchön, und der Voll-
mond ſo lichtſtrahlend, daß ich bequem in meinem
Wagen leſen konnte. Demohngeachtet verſchliefen wir
einen guten Theil der Nacht.


In Dublin fand ich einen Brief von Dir vor.
Tauſend Dank für alles Liebe und Gute, das er für
mich enthält. Aengſtige Dich aber nicht zu ſehr über
die Lage Deiner Freundin. Sage ihr, ſie ſolle han-
deln wie es die Noth erfordere, abwenden was mög-
lich ſey, unvermeidliches Uebel aufſchieben, ſo lange
ſie könne, aber immer ruhig tragen was da ſey.
Das wenigſtens iſt meine Philoſophie. Deine Ci-
tation aus der Sevigné hat mich ſehr amüſirt. Ge-
wiß, dieſe Briefe ſind merkwürdig! durch viele Bände
immer das Nämliche, und an ſich ziemlich Leere, mit
ſtets neuen Wendungen unterhaltend, ja oft bezau-
bernd zu ſagen; Hof, Stadt und Land mit gleicher
Grazie zu ſchildern, und eine etwas affectirte Liebe
gegen die inſignifikanteſte Perſon zum Hauptthema
Briefe eines Verſtorbenen. II. 10
[146] des Ganzen zu wählen, ohne dennoch je dadurch zu
ermüden — das waren gewiß Aufgaben, die außer
ihr, noch niemand hat löſen können. Sie iſt nichts
weniger als romantiſch, war auch im Leben nicht
außerordentlich hervorſtehend, aber ohne Zweifel das
wohlerzogenſte Ideal du ton le plus parfait. Gewiß
beſaß ſie auch „temper,“ von der Natur gegeben,
und durch Kunſt veredelt und erhöht. Kunſt iſt we-
nigſtens überall ſichtbar, und wahrſcheinlich waren
auch ihre Briefe, von denen ſie wußte: daß Viele ſie
mit Begeiſterung laſen — wohl eben ſo ſehr für die
Geſellſchaft als für ihre Tochter berechnet, ja gefeilt,
denn die bewunderungswürdige Leichtigkeit ihres
Styls verräth eben weit mehr Sorgfalt als das
épanchement des Augenblickes geſtattet. Das, was
am leichteſten ausſieht, iſt von jeher am ſchwerſten
zu erringen geworden. Die Schilderung damaliger
Sitten thut heut zu Tage das Ihrige für das In-
tereſſe der Briefe, ich bezweifle aber, daß ähnliche, jetzt
geſchrieben, gleichen Succeß haben würden. Man iſt
zu ernſt und geiſtig dazu geworden. Les jolis riens
ne suffisent plus.
Das Gemüth auch will erregt,
und heftig erregt ſeyn. Wo ein Gigant, wie Lord
Byron auftritt, verſchwinden die niedlichen Kleinen.


Eben las ich in ſeinen Werken (denn noch ging ich
nicht aus). Ich ſtieß auf die Schilderung einer Scene,
wie ich ſelbſt in den letzten Tagen deren ſo häufig
ähnliche erlebt. Wie erhaben fand ich meine Gefühle
ausgedrückt! Erlaube mir das Bruchſtück Dir in
[147] einer poetiſchen Proſa, ſo gut ich kann, und ſo wört-
lich als möglich, zu überſetzen.


„Der Himmel wandelt ſich! — Welch ein Wechſel! O
Nacht —
Und Sturm und Finſterniß, wohl ſeyd ihr wundermächtig!
Doch lieblich Eure Macht — dem Lichte gleich,
Das aus dem dunklen Aug des Weibes bricht. — Weithin
Von Gipfel zu Gipfel, die ſchmetternden Felſen entlang
Springt der eilende Donner. Nicht die einſame Wolke allein,
Jeder Berg hat eine Zunge gefunden,
Und Jura ſendet durch den Nebelvorhang Antwort
Zurück, dem lauten Zuruf der jubelnden Alpen.
Das iſt eine Nacht! — o herrliche Nacht!
Du wurdeſt nicht geſandt für Schlummer. Laß auch mich
Ein Theilnehmer ſeyn an Deiner wilden, fernhin ſchallen-
den Freude
Ein Theil vom Sturme — und ein Theil meiner ſelbſt —
Wie der See erleuchtet glänzt — gleich dem phosphori-
ſchen Meer!
Und die vollen Regentropfen — wie ſie herabtanzen auf
ſeine Wellen!
Und nun wird Alles wieder ſchwarz — und von neuem
Hallt der Berge Chorus wieder, in lauter Luſt,
Als ſäng’ er Triumph über eines jungen Erdbebens Geburt!


Iſt das nicht ſchön, wahrhaft dichteriſch gefühlt!
Wie ſchade daß wir ſogar keine guten Ueberſetzungen
ſeiner Werke haben. Nur Göthe vielleicht wäre fähig,
ihn genügend wiederzugeben — wenn er nicht leich-
ter und lieber, gleich Herrliches ſelbſt ſchüfe.


10*
[148]

Ich machte geſtern dem Lord Lieutenant meinen
Beſuch im Phönirpark, der mich auf heute zu Tiſche
einlud, wo ich eine ziemlich glänzende Geſellſchaft an-
traf. Er iſt beliebt in Irland, weil er partheilos
verfährt, und die Emancipation zu wünſchen ſcheint.
Seine Thaten als Feldherr ſind bekannt, Niemand
aber repräſentirt auch beſſer, und ein künſtlicher ge-
machtes falſches Bein als das ſeine, ſah ich auch noch
nie. Der Marquis, obgleich nicht mehr jung, iſt noch
immer ſehr ſchön gewachſen, und das falſche Bein,
wie der Fuß, rivaliſiren mit dem ächten à s’y mé-
prendre.
Nur beim Gehen bemerkt man einige
Schwierigkeit. Im Ganzen kenne ich wenig Englän-
der, die eine ſo gute tournôre haben, als der jetzige
Lord Lieutenant Irlands. Wenn er in der Stadt
reſidirt, wird eine ganz ſtrenge Etikette, wie an einem
kleinen Hofe aufrecht erhalten, auf dem Lande aber
betrachtet er ſich als Privatmann. Macht und An-
ſehn eines Lord Lieutenants ſind ziemlich groß, da
er den König repräſentirt, obgleich ſie das Miniſte-
rium [gehörig] beſchneidet. Er darf unter andern Ba-
ronets machen, und es iſt ſchon in früheren Zeiten
vorgekommen, daß Gaſtwirthen, und noch weniger
Qualificirten, dieſe Ehre zu Theil geworden iſt. Hö-
ren ſeine Funktionen auf, ſo giebt ihm ihre frühere Aus-
übung keinen fernern erhöhten Rang. [Während] der
Amtsführung beläuft ſich die Beſoldung des Lord
Lieutenants auf 50,000 Pfd. Sterl. [jährlich], und dem
[149] frei gehaltenen Hofſtaat, ſo daß er recht gut ſeine
eigenen Revenüen ökonomiſiren kann, was jedoch der
jetzige nicht thun ſoll, deſſen Haus ich vortrefflich ein-
gerichtet fand. Er iſt auch von einigen intereſſanten
Leuten umgeben, die einen ſehr guten Ton mit Ge-
nialität verbinden, und der politiſchen Parthei der
Mäßigung und Vernunft anzuhängen ſcheinen. Man
kann unter ſolchen Umſtänden faſt vorausſetzen, daß
Lord Angleſea ſich nicht lange hier halten wird, auch
hörte ich Anſpielungen darauf. Da er an der ſchmerz-
lichen Krankheit des tic douloureux ſehr leidet, em-
pfahl ich ihm H ..... das ſich ſo efficace dagegen
gezeigt hat, und übergab ſeinem Hausarzt das Buch,
welches davon handelt. Der Marquis ſagte lächelnd:
„Urlaub wird man mir wohl nicht verweigern,“ in-
dem er ſeinen confidentiellen Sekretair bezeichnend
dazu anblickte. Dies beſtätigt meine eben geäußerte
Vermuthung; es [wäre] aber gewiß ein großes Un-
glück für Irland, das zum erſtenmal ſich des Segens
erfreut, einen Statthalter zu beſitzen, der die abge-
ſchmackten Religionshändel mit philoſophiſchem Auge
betrachtet.


Ehe ich nach dem Phönixpark fuhr, wohnte ich dem
Gottesdienſte in der katholiſchen Capelle bei. Es iſt
dies ein ſchönes Gebäude. Das Innere, ein großer,
ovaler Saal mit einer ringsum laufenden Colonnade
ioniſcher Säulen, einer ſchönen Kuppel und einem
vortrefflichen hautrelief, in der halben Wölbung der
Decke, die ſich über dem, am Ende des Saales ſtehen-
[150] den Altar befindet. Es ſtellt des Erlöſers Himmel-
fahrt dar. Vortrefflich iſt beſonders die Figur und
der Ausdruck des Heilands, den man ſich ſo denken
muß, wenn auch der Künſtler nur aus der Phantaſie
ſchuf. Die Katholiken behaupten freilich wirkliche
Portraits von Chriſtus zu beſitzen, wie ich auch ein-
mal, in Süddeutſchland, eine Sammlung wahrhaf-
ter
Abbildungen des heiligen Gottes, angekündigt
fand.


Der Hauptaltar ſteht ganz frei, iſt von einfach
ſchöner Form, und aus weißem Marmor in Italien
verfertigt. Die obere Platte und der Sockel ſind
von dunklerm Marmor. Die vordere Facade iſt in
drei Felder getheilt, worauf, im Mittelfelde, das Bild
einer Monſtranz von Goldbronce, auf den beiden
andern, die Basreliefs zweier anbetenden Engel ſich
befinden. Oben ſteht, auf der Mitte des Altars, ein
prachtvoller Tempel aus koſtbaren Steinen und Gold,
in dem die wirkliche Monſtranz aufbewahrt wird,
und neben ihm zwei eben ſo prächtige Goldleuchter.
An beiden Seiten des Altars ſtehen außerdem noch
zwei Gueridons von Bronce, die von Engeln, welche
ihre Flügel zuſammenſchlagen, getragen werden; auf
den obern Platten derſelben befinden ſich die heili-
gen Oblate und der Wein. Alle Details ſind im
beſten Geſchmack ausgeführt, und die edelſte Simpli-
zität überall vorherrſchend. Von der Decke hängt an
einer ſchweren ſilbernen Kette eine antike Lampe von
gleichem Metall herab, die fortwährend brennt. Es
[151] iſt gewiß einer der ſchönſten katholiſchen Gebräuche,
daß gewiſſe Kirchen den Gläubigen bei Tag und bei
Nacht für das Bedürfniß der Andacht ſtets offen
ſtehen. In Italien begab ich mich faſt nie zur Ru-
he, ohne vorher eine ſolche Kirche beſucht, und den
wunderbaren Effekt betrachtet zu haben, den es her-
vorbrachte, wenn in der Stille der Nacht die einzelne
röthliche Lampe die hohen [Gewölbe] ſparſam und
phantaſtiſch erleuchtete. Immer fand ich eine oder
die andere betende einſame Geſtalt vor einem der
Altäre hingeworfen, nur mit ihrem Gott und ſich
beſchäftigt, ohne die mindeſte Rückſicht auf das zu
nehmen, was um ſie her vorging. In einer dieſer
Kirchen ſtand das Rieſenbild des heiligen Chriſtoph,
an den mittelſten Pfeiler gelehnt, und mit dem Kopf
an das Gewölbe ſtoßend; auf ſeiner Schulter das
ſchwere Chriſtuskindlein, und in ſeiner Hand als
Wanderſtab, einen ausgewachſenen Baumſtamm, mit
friſchen grünen Aeſten, der monatlich erneuert wurde.
Das Licht der hochhängenden Lampe umgab das
Kindlein wie mit einer Glorie und warf, wie ſeg-
nend, einzelne Strahlen herab auf den frommen
Rieſen.


Wenn ich den hieſigen katholiſchen Gottesdienſt
mit dem engliſch-proteſtantiſchen vergleiche, muß ich
dem erſteren unbedingt den Vorzug geben. Mögen
gleich einige Ceremonieen zu viel, und ſelbſt an’s
Burleske ſtreifend ſeyn, z. B. das Umherwerfen der
Räucherfäſſer, das fortwährende Anlegen anderer
[152] Kleidungsſtücke ꝛc., ſo hat dieſer Kultus doch eine
Art antiker Größe, welche imponirt und befriedigt.
Die Muſik war vortrefflich, ſehr gute Sänger, und
dieſe, was den Effekt ungemein vermehrte, unſicht-
bar. Einige Proteſtanten nennen das zwar eine
Beſtechung der Sinne, ich kann aber nicht einſehen,
warum das Ohren zerreiſſende Geſchrei einer un-
muſikaliſchen lutheriſchen Gemeinde frömmer ſeyn
ſoll, als die Anhörung guter Muſik, von Leuten aus-
geführt, die ſie auszuführen gelernt haben. *)
Auch die Betrachtung des Inhalts der Predigt war
hier ganz zum Vortheil des katholiſchen Kultus.
Während die engliſch-proteſtantiſche Gemeinde in
Tuam, als ich zugegen war, nur von Wundern,
Schweinen und böſen Geiſtern unterhalten wurde,
war hier die Lehre nur rein moraliſch und praktiſch.
Der Redner ſprach hauptſächlich vom Neid, und ſagte
unter anderm ſehr treffend: Wollt Ihr wiſſen, ob
Ihr von dieſem, der Menſchenliebe ſo nachtheiligen,
und das Individuum ſelbſt ſo erniedrigenden Laſter
ganz frei ſeyd, ſo prüft Euch nur genau, ob Ihr nie,
bei der ſich immer ſteigernden Prosperität eines An-
dern, ein unbehagliches Gefühl in Euch entdeckt, oder


[153]

Ihr nie, bei der Nachricht, daß einem Glücklichen
etwas mißlang, wie bei dieſem oder jenem Unfall
Anderer, eine leiſe Befriedigung gefühlt? Dies iſt
eine ernſte Frage, und Wenige werden ſie ſich ohne
Nutzen vorlegen. —


Die Art wie Jeder hier für ſich ſtill in ſeinem
Gebetbuch liest, während die herrliche Muſik den
Geiſt erhebt, und vom irdiſch Alltäglichen abzieht,
ſcheint mir auch dem lauten Herleiern und Ableſen
der Gebete in jener Kirche weit vorzuziehen. Wäh-
rend dieſer Zeit ſtiller Andacht merkt man nur we-
nig auf die Ceremonieen, Kleiderwechſelungen und
Räucherungen der Prieſter am Altar, die Einem faſt
wie eine häusliche Toilette vorkommen, um die man
ſich nicht weiter bekümmert. Aber ſelbſt dieſe letztere
kleine Schattenſeite mitgenommen, ſieht man in der
catholiſchen Kirche doch immer etwas Ganzes,
durch Alter und Conſequenz Ehrwürdiges — in der
engliſch proteſtantiſchen dagegen nur unzuſammen-
hängendes Stückwerk. Beide mit der deutſchen Kirche
(aber dieſe nur im Sinne unſrer Krug und Pau-
lus) könnten mit drei Individuen verglichen werden,
die ſich an einem prächtigen Ort befanden, der man-
chen Genuß, manchen werthvollen Unterricht darbot,
aber von Gottes Sonne und ſeiner herrlichen freien
Natur durch eine hohe Mauer geſchieden war. Der
Erſte der drei, war mit dem Glanz der Juwelen und
des Kerzenlichts zufrieden, und ſah nie ſehnſüchtig
nach den wenigen Spalten der Mauer, die eine Ah-
[154] nung des Tageslichts hineinließen. Die andern Bei-
den aber wurden unruhig; ſie fühlten, es gäbe noch
etwas Beſſeres und Schöneres außerhalb, und ent-
ſchloſſen ſich endlich die hohe Mauer, es koſte was
es wolle, zu überſteigen. Wohlverſehen auf lange
mit Allem, was ſie nöthig zu haben glaubten, be-
gannen ſie die große Unternehmung. Viele Gefahr,
vieles Ungemach mußten ſie ausſtehen, — doch end-
lich erreichten ſie glücklich die Höhe. Hier gewahrten
ſie nun zwar der Sonne glänzendes Geſtirn, aber
Wolken verbargen es oft, und auch das ſchöne Grün
der Wieſen unter ihnen ward oft unterbrochen, durch
Unkraut und ſtachlichtes Gebüſch, wo wilde gefahr-
volle Thiere lauſchend umherſchlichen. Doch nichts
konnte den Zweiten der Drei entmuthigen, noch von
ſeinem Vornehmen abſchrecken; die innere Geiſtes-
ſtimme beſiegte alle Furcht und jeden Zweifel. Wohl-
gemuth ließ er ſich hinab, in die neue Welt, und da
er, um ganz ungehindert zu ſeyn, alles Mitgenommene
zurück gelaſſen hatte, verſchwand er, leichten Fußes,
bald in dem heiligen Hain. Aber der Dritte — der
ſitzt noch immer auf der Mauer, zwiſchen Himmel
und Erde, von der mitgebrachten Nahrung zehrend,
und ſich an dem mitgebrachten Flitter weidend, von
dem er ſich nicht losreißen kann, obgleich die Strah-
len der Sonne, die jetzt ungehindert auf den falſchen
Tand fallen, ihn ſchon weit unſcheinlicher gemacht.
Wie das Thier der Fabel ſchwankt er zwiſchen den
zwei Heubündeln, ohne zu wiſſen, welchem er ſich
gänzlich zuwenden ſoll. Zurück kann er nicht mehr,
[155] vorwärts fehlt ihm der Muth, oben aber erhalten
ihn die Fleiſchtöpfe Canaan’s *) — ſo lange ſie dauern
werden.



Wenn ich nicht Allotria treiben will, d. h. von Din-
gen reden, die meiner Reiſe und dem hieſigen Auf-
enthalt nichts angehen, ſo macht das Leben in der
Welt meine Briefe recht leer. Ich könnte ein Schema
in Steindruck dazu anfertigen laſſen, mit einigen
Ausfüllungen ad libitum, ohngefähr ſo: „Spät auf-
geſtanden, und verdrießlich. Viſiten gegangen, ge-
ritten, oder gefahren. Dinirt bei Lord, oder Mr …,
gut oder ſchlecht. Converſation: Gemeinplätze. Abends
eine langweilige Geſellſchaft, rout, Ball oder gar Di-
lettanten-Concert. NB. Die Ohren thun mir noch
davon weh!“ In London könnte man ein für alle-
mal noch hinzuſetzen: „Die Foule erdrückte mich bald,
und die Hitze war ärger wie auf der oberſten Bank
im ruſſiſchen Dampfbad. Körperliche Anſtrengung
war am heutigen Tage = 5 Grad, (eine Fuchsjagd
zu 20 gerechnet) geiſtige Ausbeute = O. Reſultat:
Diem perdidi.“


[156]

Hier iſt es nun nicht ganz ſo arg; man wird in
dieſer Jahreszeit nicht [ſtärker] fatiguirt, als in einer
deutſchen großen Stadt, aber immer noch zuviel ein-
geladen, ohne daß man es füglich ausſchlagen kann.
Denn wohl mag ich mit dem engliſchen Dichter aus-
rufen: „Wie verſchieden ſind die Gefühle der Gäſte
in jener Welt, die man die große und heitere nennt!
von allen die melancholiſcheſte und langweiligſte, wenn
man ihre Heiterkeit nicht theilt.“



Eben komme ich von einem etwas kleinſtädtiſchen,
aber nicht weniger pretentieuſen diné, vom Lande
zurück. Einiges war komiſch, aber das wenige Lachen
muß nur immer mit ſo viel langer Weile erkauft
werden! das Feſt fand bei zwei ſehr häßlichen und
magern, aber wie man ſagt, ſehr reichen Miſſes ſtatt.
Iſt dies der Fall, ſo müſſen ſie zugleich ſehr geizig
ſeyn, denn die Mahlzeit war eine wahre Myſtifica-
tion für einen Gourmet, und Haus und Park eben
ſo mesquin. Mein guter Stern brachte mich indeß
bei Tiſche neben Lord P …, einem berühmten po-
litiſchen Charakter, der ſeine Partey auf der edlen
und guten Seite genommen hat, und ſtets der Sache
der Emancipation treu geblieben iſt. Es freute mich
ſehr, ihn mit den, von mir ſelbſt an Ort und Stelle
gefaßten Anſichten, ſo übereinſtimmend zu finden.
[157] Eine ſeiner Aeußerungen aber frappirte mich ihrer
Naivetät wegen. Ich bemerkte gegen ihn, daß, nach
allem was ich ſähe, ſelbſt die Emancipation hier
nicht viel helfen könne, denn das eigentliche Uebel
beſtehe darin, daß der meiſte Grund und Boden und
alle Reichthümer des Landes, einem Adel gehörten,
deſſen Hauptintereſſe ihn immer zwingen würde, in
England zu leben, [hauptſächlich] aber in den Summen
läge, welche die armen catholiſchen Irländer jährlich
der proteſtantiſchen Geiſtlichkeit opfern müßten. So
lange dies nicht geändert würde, könnte auch kein
feſter und blühender Zuſtand der Dinge eintreten.
„Ja“, erwiederte er, „das zu ändern iſt unmöglich;
ohne dieſe Reichthümer würde die engliſche Geiſtlich-
keit ihr ganzes Anſehn verlieren.“ Wie könnte das
geſchehen, ſagte ich lachend, iſt es denkbar, daß Tu-
gend, milde Lehre und frommer Eifer im Amte, auch
bei einem nur mäßigen Einkommen, den vornehmſten
Prieſter nicht ehrwürdiger machen ſollten, als ein
übertriebener weltlicher Luxus, oder ſollten wirklich
20,000 Pf. St. Revenüen unumgänglich nöthig ſeyn:
to make a Bishop or Archbishop appear decentey
in society?
(einen Biſchof oder Erzbiſchof decent in
Geſellſchaft zu produziren) „My dear Sir, antwortete
Lord Plun … Such a thing may exist, and main-
tain itseef abroad — but will never do in old Eng-
land, where above all, money, and much money
is required and necessary, to obtain respectability
and consideration.
(So etwas könnte vielleicht auf
dem Continent exiſtiren und ſich erhalten, aber nim-
[158] mer in England, wo über alles, Geld, und viel
Geld
, nöthig iſt, Reſpectabilität und Hochachtung
zu erlangen.“ Die Ariſtokratie kam bei dieſer Be-
merkung zwar nicht in Conſideration, aber wahr iſt
es, daß auch ſie, ohne Geld, bald nichts mehr ſeyn
würde, obgleich ſie jetzt, mit nicht geringem Dünkel,
in England die adliche Geburt hoch über bloßen
Reichthum geſtellt hat.


Lady M ...., die auch zugegen war, unterhielt
wie gewöhnlich die Geſellſchaft mit vielem Witz, nach-
her erzählte ſie mir eine ſpaßhafte Anekdote von den
Wirthinnen ſelbſt. Nur die eine derſelben, ſagte ſie
(ich weiß nicht mehr recht ob die größere oder klei-
nere) beſitzt das große Vermögen, die andre kaum
ein Drittheil davon; um aber wo möglich beides an
den Mann zu bringen, begaben ſich die Schweſtern
vor vielen Jahren ſchon nach London. Einem frem-
den Ambaſſadeur wurde die gute Partie, vielleicht
im geheimen Auftrag der Damen ſelbſt, vorgeſchla-
gen, und, wie Fama ſagt, ſoll er ſeinen Antrag ohne
Zaudern gemacht haben. Er wurde mit Verwunde-
rung, aber höchſt erfreut angenommen, denn er hatte,
ganz unerwartet, die Aermere gewählt und ſich
ſchon mehreremal mündlich von ihren Reizen völlig be-
ſiegt erklärt. Dies hatte jedoch ſeinen Grund nur
in einem ihm gemachten irrigen Bericht, und ganz
kurz vor Thorſchluß, ward ihm erſt die Wahrheit
kund. Entrüſtet über das gefährliche qui pro quo,
ſchrieb er ſogleich den Damen, daß er ſich in ſeinen
[159] Gefühlen geirrt, und nach reiflicher Ueberlegung über-
zeugt ſey, daß nicht die Große wie er früher geglaubt,
ſondern nur die Kleine ſein Glück machen könne,
um deren Hand er daher hiermit ergebenſt bitte.
Nach langem Kampf ſiegte der weibliche Stolz über
den conventionellen, und Beide deprecirten die hohe
Allianz. Seitdem gehen ſie nun zwar noch jeden
Winter nach London, geben zu eſſen und zu trinken,
überbieten das Pariſer Modejournal in ihren Toi-
letten, ſprechen viel von Landgütern und Bankobli-
gationen, wozu die Eine Klavier hämmert, die Andre
ohne Stimme ſingt — ſind aber dennoch bis jetzt le-
dig geblieben. Ueberhaupt iſt es ſonderbar, daß
man nirgends, auch nur die [Hälfte] ſo viel alter
Jungfern antrifft, als in England, und ſehr häufig
ſind ſie reich. Die übertriebene Eitelkeit auf ihr
Geld, die damit nie Größe und Rang genug zu er-
langen glaubt, oder die überſpannt romanhafte Er-
ziehung der Mädchen, welche durchaus und allein um
ihrer ſelbſt Willen geliebt werden wollen (woran
z. B. eine Franzöſin ſich gar nicht kehrt, weil ſie
ganz richtig meint: dies werde ſchon in der Ehe
kommen, wenn überhaupt Stoff dazu da wäre, ſey
aber dies nicht der Fall, würde es doch nicht blei-
ben
, ſelbſt wenn es der Zukünftige, jetzt zu fühlen
glaube) — ſind die Hauptgründe dieſer Erſcheinung.
Die Engländer halten übrigens, als wahre Türken,
ihre Mädchen und Weiber ſo beſchränkt in intellek-
tueller Hinſicht als möglich, weil ſie glauben, ſich
dadurch mehr ihren eigenthümlichen Beſitz zu ver-
[160] ſchaffen, und dies gelingt ihnen auch in der Regel
vollkommen. Ein Fremder dient den Engländerinnen
wohl zur Unterhaltung und Spielſache, aber flößt ih-
nen dabei immer auch einige Furcht und Scheu ein.
Höchſt ſelten werden ſie ihm daſſelbe Vertrauen als
einem Landsmann ſchenken. Für einen halben Athei-
ſten oder craſſen Baals-Anbeter halten ſie nun ſchon
einmal jeden Ausländer ganz gewiß — zuweilen
amüſirt ſie daher auch das Bekehrungsgeſchäft. Von
den Lond’ner Excluſiven ſpreche ich hier nicht — dieſe
geben daſſelbe Reſultat, als wenn man alle Farben
zuſammenreibt — wo nemlich zuletzt gar keine mehr
übrig bleibt.



Das ſchöne Wetter lockte mich hinaus ins Freie.
Ich ritt den ganzen Tag umher, und ſah ein Paar
merkwürdige Schlöſſer, Malahide und Howth Caſtle.
Beide haben eine ſeltne Eigenſchaft. Sie ſind näm-
lich ſeit 900 Jahren immer im Beſitz derſelben Fa-
milien geblieben, was ſich, ſo viel ich weiß, kein ein-
ziger Wohnſitz des engliſchen hohen Adels rühmen
kann. Malahide iſt auch noch hiſtoriſch merkwürdig;
denn es gehört den Talbots, und ſelbſt des berühm-
ten Feldherrn Rüſtung, mit einem Partiſanen-Stoß
in der Bruſt, wird noch hier aufbewahrt. Die eine
Hälfte des Schloſſes iſt uralt, die andere von Crom-
well zerſtört, und nachher im Styl des alten wieder
[161] neu aufgebaut worden. In dem erſten Theile zeigte
man mir 500 Jahr alte Stühle, ja ſogar ein Zim-
mer, in dem die ſchwarz eichne, reiche boiserie, ge-
ſchnitzte Decke und Boden 700 Jahre zählten. Der
neue Schloßtheil enthält mehrere intereſſante Ge-
mälde. Ein Portrait der Herzogin von Portsmouth
war ſo lieblich, daß ich Carl II., noch im Grabe
darum beneidet haben würde, ſie einſt zur Herzogin
erheben zu dürfen, wenn ich mich nicht noch zur rech-
ten Zeit der Predigt des catholiſchen Geiſtlichen er-
innert hätte. Eine alte Abbildung der Maria Stuart,
obgleich in reiferem Alter dargeſtellt, beſtätigte mir
dennoch die Aehnlichkeit des, in der Grafſchaft Wick-
low geſehenen, Bildes dieſer unglücklichen und ſchö-
nen Königin, und mit Intereſſe betrachtete ich eine
Scene am Hofe zu Madrid, mit den Portrait’s des
Königs, gravitätiſch im rothen Scharlachrock daſitzend;
Carl’s I. als Kronprinzen, der ziemlich legèrement
eine Menuet mit der Infantin tanzt, und des ver-
führeriſchen Buckingham, der, prächtig gekleidet, eine
hübſche Hofdame ſehr angelegentlich zu unterhalten
ſcheint.


Howth Caſtle, der Familie St. Lawrence gehörig,
und von Lord Howth bewohnt, (der kein Abſentee
iſt, ſondern wohlthätig ſeine Einkünfte im Lande ver-
zehrt) iſt mehr im Laufe der Zeiten moderniſirt wor-
den, und zwar nicht glücklich, da ein griechiſches Por-
tal ſich ſonderbar zu den kleinen gothiſchen Fenſtern
und hohen Zinnen in Treffle-Form ausnimmt. Auch
Briefe eines Verſtorbenen. II. 11
[162] hier wird das Schwerdt und die Rüſtung eines be-
rühmten Vorfahren, mit abentheuerlichem Namen,
aufbewahrt. Er hieß Sir Armoricus Tristram und
lieferte, Anno 1000, den Dänen eine Schlacht in die-
ſer Gegend, in der er, glaube ich, auch ſein Leben
verlor. Die alterthümlichen [Ställe] waren voll herr-
licher Jagdpferde, und Lord Howth Hunde (hounds)
werden eben ſo ſehr gerühmt.


Bei meiner Zurückkunft ging ich in’s Theater, wo
der engliſche Franconi-Ducrow — die Equilibriſterei
veredelt, indem er auf bewunderungswürdige Weiſe
bewegliche Statuen darſtellt. Dies iſt ein wahrer
Kunſtgenuß, und den ſogenannten Tableaux weit
vorzuziehen. Du ſiehſt, wenn der Vorhang aufgeht,
in der Mitte der Bühne, ein unbewegliches Stand-
bild, auf einem hohen Poſtamente, ſtehen. Dies iſt
Ducrow, und kaum begreiflich, wie Tricot ſo dicht
überall anliegen, und ſo täuſchend Marmor, hie und
da von einer bläulichen Ader unterbrochen, darſtellen
kann. Ich glaube auch, daß er größtentheils auf der
bloßen Haut gemalt war, und nur da, wo unſere
Sitten keine Nacktheit erlauben, mit Tricot ſich ge-
holfen hatte. Ueberdem erſchien er zuerſt als ruhen-
der
Herkules, wo das Löwenfell ihm alle Verlegen-
heit erſparte. Mit großer Kunſt und Präciſion ging
dann der Mime, [allmählig] ſeine Stellung verlaſſend,
in eine andere über, von Gradation zu Gradation,
zu immer erhöhter Kraftäußerung fortſchreitend, in
den Hauptmomenten aber, (wo die berühmteſten
Statuen darzuſtellen waren) plötzlich von neuem, wie
[163] zu lebloſem Marmor ſich verſteinernd. Helm, Schwerdt
und Schild, das ihm jetzt gereicht wurde, verwan-
delte ihn im Augenblick in den zornigen Achilleus,
Ajax und andere griechiſche und trojaniſche Helden.
Dann kam der Schleifer, der Discus-Werfer u. ſ. w.
an die Reihe, immer gleich gelungen und wahr. Er
ſchloß mit den verſchiedenen Stellungen des Fechters;
zuletzt, der meiſterhaften Darſtellung des Sterbenden.
Dieſer Mann müßte ein vortreffliches Modell für
Maler und Bildhauer abgeben, da er tadellos ge-
wachſen iſt, und jede Stellung mit ſolcher Leichtig-
keit annehmen kann. Auch fiel mir ein, wie ſehr das
nichts ſagende Tanzen veredelt werden könnte, wenn
man, ſtatt des unſinnigen Hüpfens und Springens,
etwas, dem eben Beſchriebenen Aehnliches, einführte.
Es that mir faſt weh, ſpäter denſelben Künſtler (denn
dieſen Namen verdient er durchaus) in der Reitbahn,
als chineſiſchen Zauberer neun Pferde auf einmal
reiten, als ruſſiſcher Courier [zwölf] auf einmal fah-
ren, und ſich endlich, mit einem Pony, der als alte
Frau angezogen war, zu Bett legen zu ſehen.


Was das Letztere allein betrifft, werde ich übrigens
jetzt ſeinem Beiſpiel folgen, und ſage Dir daher gute
Nacht, zugleich Valet für einige Tage, da Morgen
früh dieſer Brief mit der Poſt abgeht.


Dein treuſter L …



[[164]]

Ein und vierzigſter Brief.



Beſte Julie.

O welche Vorwürfe! aber drei Briefe auf einmal,
das macht Alles wieder gut. Ich habe mich einmal
faſt ſatt an heimiſchen Nachrichten leſen können! und
weiß Dir meine Dankbarkeit dafür kaum genug aus-
zudrücken ...............
..................
..................
..................
..................


Wohl haſt Du Recht, daß ein ſolcher Bundesge-
noſſe wie Du, eine große Wohlthat für mich geweſen
wäre. Gouvernante Proſa hätte die Poeſie beſſer
auf dem Boden erhalten, und der nie alternde El-
[165] fen-Knabe, deſſen Natur es iſt, mit bunten Seifen-
blaſen zu ſpielen, während er ſich auf einer Blume
ſchaukelt, würde, vom weiſen Mentor gezügelt, viel-
leicht, ſtatt der farbigen Kugeln, eine conſiſtentere
irdiſche Frucht zu pflücken verſucht und auch wohl
erlangt haben. Mais tout ce qui est — est pour
le mieux.
Dieſes Axiom laß uns nie vergeſſen.
Voltaire hat Unrecht darüber zu ſpotten, und Pang-
los wirklich Recht. Nur dieſe Ueberzeugung kann
über Alles tröſten, und was mich betrifft, geſtehe ich,
daß es die Eſſenz meiner Religion iſt.


Dein Brief Nr. 1 iſt die Weisheit und Güte ſelbſt
— aber gute Julie, in Hinſicht auf die erſte, iſt,
fürchte ich, Hopfen und Malz an mir verloren. Ich
bin zu ſehr — wie nenn’ ichs doch? .... ein Ge-
fühlsm
enſch, und ſolche werden nie weiſe, d. h.
lebensklug. Deſtomehr wirkt freilich Güte auf mich,
nur die Deinige ausgenommen, denn davon iſt
das Maas ſchon bei mir ſo voll, daß auch kein
Tropfen mehr in mein Herz kann. Mit dieſem vol-
len Herzen mußt Du Dich nun ein für allemal be-
gnügen — mehr kann Dein armer Freund Dir nicht
geben! Iſt es aber wo möglich, daß Du dabei immer
noch Befürchtungen Raum geben kannſt, als hätten
die zwei vergangenen Jahre Abweſenheit mich gegen
Dich verändern können! als würde ich in Dir nicht
mehr das finden, was ich früher gefunden u. ſ. w.
Weißt Du, wie die Engländer dergleichen nennen? —
Nonsense. — Daß ich übrigens nichts ſehnlicher wünſchen
[166] würde, als Dich wieder zu ſehen, ſollteſt Du unver-
ſichert ſchon einem ſo unermüdeten Korreſpondenten
zutrauen, doch vergißt Du ganz daß ......
...................
...................
...................
...................
.............. Wie oft habe
ich Dir auch nicht ſchon geſagt, daß ich für die Welt
nicht paſſe. Meine Mängel, wie meine Vorzüge, ja
ſelbſt die geiſtigere Natur, die Du an mir finden
willſt, ſind nur ſo viel Steine des Anſtoßes in mei-
nem Wege. Geiſtig, etwas poetiſch, gutmüthig und
wahr — macht in der Regel nur unbehülflich und
verdroſſen in der Alltagsgeſellſchaft. Gleichmäßig mit
allen denen, wie ein engliſcher Schriftſteller ſagt,
deren Gefühle und Neigungen ihr Urtheil paraly-
ſiren, finde auch ich nie eher als zu ſpät, wie ich mich
mit Klugheit [hätte] benehmen ſollen — „eine kunſtloſe
Dispoſition, fährt der Engländer fort, die übel dar-
auf berechnet iſt, mit der Argliſt und dem kalten
Egoismus der Welt in die Schranken zu treten.“
Ich kenne einen mir hundertfach überlegnen berühm-
ten Mann, dem es in dieſer Hinſicht doch beinahe
eben ſo geht, und der fortwährend bedauert, aus
einem Dichter ein Staatsmann geworden zu ſeyn.
„Ich hätte mein Leben enden ſollen, wie ich es an-
gefangen, ſagte er, unbekannt in der Welt umher-
ſtreifend, und mich ungeſtört an Gottes Herrlichkeit
erfreuend — oder von den Menſchen fern, in meiner
[167] Stube verſchloſſen, allein mit meinen Büchern, mei-
ner Phantaſie und meinem treuen Hunde.“ *)



Ich verbrachte heute einen ſehr angenehmen Abend
bei Lady M ..... n. Die Geſellſchaft war nur
klein, aber geiſtreich, und belebt durch die Gegen-
wart zweier ſehr hübſchen Freundinnen unſrer
Wirthin, die mit der beſten italieniſchen Methode
ſangen. Ich ſprach viel mit Lady M ..... n über
mancherlei Gegenſtände, und ſie hat Geiſt und Ge-
fühl genug, um durch ihre Unterhaltung immer leb-
haft zu intereſſiren. Im Ganzen habe ich Dir in
meinem früheren Briefe nicht Gutes genug über ſie
geſagt. Jedenfalls kannte ich an ihr damals noch nicht
die liebenswürdige Eigenſchaft: zwei ſo hübſche
Buſen-Freundinnen zu beſitzen.


Die Converſation kam einmal auf ihre Werke und
ſie frug mich, wie mir Salv. R .. gefiele? den
[168] habe ich nicht geleſen, erwiederte ich, weil ich, ſetzte
ich, mich, tant bien que mal, entſchuldigend hinzu,
Ihre Fiktionen ſo liebe, daß ich nichts Geſchichtliches
von der genialſten Romanen-Dichterin habe leſen
mögen. O das iſt auch nur ein Roman, rief ſie,
leſen Sie ihn in dieſer Hinſicht ohne Gewiſſensbiſſe.
„Sehr wohl,“ dachte ich, „wahrſcheinlich eben ſo wie
Ihre Reiſebeſchreibungen,“ hütete mich aber doch es
zu ſagen. Ach, meinte ſie nachher, glauben Sie
mir, nur der ennui bringt alles Schreiben bei mir
zu Wege, unſer Menſchen-Loos iſt ſo elend in dieſer
Welt, daß ich es ſchreibend zu vergeſſen ſuche.“
(Wahrſcheinlich hatte ſie der Lord Lieutenant nicht
eingeladen, oder ſonſt ein Großer ihr faux boud ge-
macht, denn ſie war ganz melancholiſch.) „Welches
ſchreckliche Räthſel iſt die Welt!“ fing ſie wieder an;
„giebt es einen Gott oder keinen? und wenn er all-
mächtig iſt — und böſe wäre! wie furchtbar!“ Aber
ums Himmels willen, ſagte ich, wie kann eine geiſt-
reiche Frau wie Sie, nehmen Sie mir es nicht übel,
ſolchen Unſinn ſprechen? — „Ach! ich weiß [längſt]
Alles,“ fuhr ſie fort, „was Sie mir darüber ſagen
wollen. Gewißheit giebt mir doch kein Menſch!“
Dieſe Unklarheit bei dem ſcharfſinnigſten Beobach-
tungsgeiſte war mir, ſelbſt an einer Dame (ne vous
en fachez point, Julie
), beinahe unbegreiflich. Lady
M .... ’s Gemahl, früher Arzt, jetzt Philoſoph
und unbekannter Schriftſteller, übrigens was man
im Franzöſiſchen un bon homme nennt, dabei Gut-
ſchmecker und Wichtigthuer, ſchenkte mir ein Buch
[169] von ſeiner Arbeit, ein ganz materielles philoſophiſches
Syſtem enthaltend, das aber dennoch manchen guten
Gedanken enthält, und mehr werth iſt, als ich dem
Autor eigentlich zugetraut hätte. Die Lektüre deſ-
ſelben hat mich heute die halbe Nacht be ſchäftigt, ich
merkte aber wohl an der Haltloſigkeit des Ganzen,
daß entweder Lady M. ein gutes Theil davon ſelbſt
gemacht, oder wenigſtens durch dieſe unverdauten
Anſichten ſo irre und ungewiß geworden iſt, daß ſie
ſich einbildete, „der liebe Gott [könnte] zufällig wohl
böſe ſeyn!“ Die berühmten Leute ſind auch Men-
ſchen, das weiß der Himmel! Gelehrte wie [Staats-
männder]
— und faſt bei jeder neuen Bekanntſchaft
dieſer Art mahnt es mich an Oxenſtjerna, dem ſein
noch ſehr junger Sohn, da er als Geſandter zum
Congreß nach Münſter reiſen ſollte, Bedenklichkeiten
äußerte, welche Rolle er, ſo weiſen und großen Män-
nern gegenüber, ſpielen würde? Ach mein Sohn,
ſagte der Vater lächelnd, ziehe hin in Frieden und
ſiehe welche Menſchen es ſind, die die Welt re-
gieren!



Les catholiques me font la cour ici. Der E . .
B … ließ mir heute durch eine Dame ſagen, daß
ich mich, da ich ihre Kirchenmuſik liebe, doch heute
in der Kapelle einfinden möge, wo man das Sänger-
[170] Perſonal beſonders vollſtändig gemacht habe; auch
werde er ſelbſt fungiren. In der That hörte ich
eine herrliche Vokalmuſik (hier ſind auch weibliche
Sänger geſtattet), nur von einzelnen Tönen der
mächtigen Orgel begleitet. Es war ein hoher Ge-
nuß, dieſer Sphärengeſang, der mit ſüßer Wonne
die Seele füllte, und auf den Fittigen der Melodie
den Sorgen des Alltäglichen enthob, während die
ganze Gemeinde andächtig und betend [auf] den Knieen
lag.


Du wirſt am Ende glauben, liebe Julie, daß ich
im Begriffe bin, es dem Herzog von C. nachzuma-
chen, und katholiſch zu werden. — Nun ſo ganz
ohne Grund kann ich die Anſicht, die dazu verleitet,
nicht finden. Der Proteſtantismus, wie ihn gar
viele ausüben, iſt eben nicht viel vernünftiger, und
bei weitem weniger poetiſch und ſchön, ſinnlich ge-
ſprochen. Ich glaube aber immer, ein neuer Luther
oder gar ein neuer Chriſtus iſt nah, und wird uns
dann Allen über die Mauer helfen, — dann bedarf
es kein [Rückwärtsblicken] mehr; bis dahin jedoch, fin-
den Manche vielleicht — wenigſtens mehr Conſequenz,
im katholiſchen Kultus! Es iſt kein halber, ſon-
dern ein vollſtändiger Götzendienſt, deſſen Stufenlei-
ter der göttlich gemachten Geſchöpfe mit den Heili-
gen aufhört, dieſen lieben theilnehmenden Heiligen
beiderlei Geſchlechtes, die uns ſo nahe ſtehen, und
unſre menſchlichen Wünſche, Regungen und Leiden-
ſchaften ſo gut kennen! . . . . . . . . . . .
[171] . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . Wenn die Prieſter und
Chorjungen, wie ich erwähnt, die Räucherfäſſer um-
herwerfen, dem Biſchof jeden Augenblick ein andrer
geſtickter Rock, Kragen oder Tuch umgegeben wird,
er ſelbſt vor dem Hochaltar bald feſt ſteht, bald vor-
wärts, bald rückwärts läuft, ſich mit dem Antlitz
auf die Erde niederwirft, und zuletzt ſich mit der
Monſtranz, wie eine Windfahne, umdreht, und die
Augen auf ſie, wie auf ein Microscop, geheftet
hält, ꝛc. — ſo bin ich vollkommen darauf vorbereitet,
nachher von 7000 Mann ſprechen zu hören, die mit
vier Brodten und drei Fiſchen nicht nur ſatt gemacht
worden, ſondern noch ſo viele Körbe Krumen und
Gräten übrig behalten haben — oder vom jüngſten
Tage, und Chriſti Sitz neben Gott dem Vater, wo
er Platz nehmen wird, um alle Diejenige zu ewigen
Martern zu verdammen, welche nicht an ihn ge-
glaubt haben. — Wenn aber ein ſchlichter, ſich ver-
nünftig anſtellender Mann, mir zuerſt von Duldung,
Tugend, ewiger Wahrheit und Liebe ſpricht, dann
aber vom Gott der Gerechtigkeit und Liebe und einem
ſeiner edelſten Verkünder auf Erden, dergleichen
Mährchen und Atrocitäten, die den geſunden Men-
ſchenverſtand beleidigen, erzählt, und ſie für etwas
Heiliges und Göttliches ausgeben will — ſo wende
ich mich mit Widerwillen von ſolcher Heuchelei oder
Thorheit ab. Ein Cagot wird mir hierauf antwor-
ten wollen: Euer geſunder Menſchenverſtand iſt kein
Maßſtab für Gott — worauf ich ihm erwiedere:
[172]Euer Gott iſt aber ein Menſch — und unſer Ver-
ſtand und unſere Vernunft iſt, mit der Erkenntniß
der äußern Natur, und daraus abſtrahirten Erfah-
rung, eben die einzige wahre und ächte Offenba-
rung Gottes, deren wir theilhaftig geworden ſind,
und die Niemand bezweifeln kann. Der Menſch iſt
allerdings ſeiner Natur nach dazu beſtimmt, ſich mit
dieſen Mitteln, durch ſich ſelbſt immer weiter fort-
zubilden, und ſo war das Chriſtenthum auch eine
Folge dieſer fortſchreitenden Civiliſation, wie früher
(um bei dieſem Zweig der Ausbildung ſtehen zu blei-
ben) das moſaiſche Geſetz, ſpäter die Reformation,
und ihr zweiter Akt die franzöſiſche Revolution; end-
lich die hieraus allgemeiner erwachſende Denk- und
Preß-Freiheit, und Alles was ſich jetzt, ruhiger, aber
deſto ſicherer, durch dieſe Letztere bereitet. — Wir
finden alſo überall nur die Reſultate derſelben
allmähligen Civiliſation
, von der Niemand
wiſſen kann, wo ſie ſtehen bleiben wird, — aber
welchen Grad ſie auch erreiche, immer kann und
ſoll ſie hier nur menſchlich ſeyn, und durch menſch-
liche
Mittel befördert werden.



Mein letzter und längſter Beſuch an dieſem Mor-
gen galt den lieblichen Mädchen, die ich bei Lady
M . . . . . . kennen gelernt. Ich brachte ihnen ita-
[173] lieniſche Muſik mit, die ſie ſangen wie Nachtigallen,
und doch dabei eben ſo anſpruchslos als natürlich
blieben. Ihr Vater iſt ein hochgeſchätzter Arzt, und
wie hier die meiſten Doktoren von Bedeutung, Ba-
ronet oder Sir, ein Titel der, beiläufig geſagt, in
England gar nicht zum Adel gerechnet wird, ob-
gleich ſehr alte und angeſehene Familien ſich darunter
befinden, aber auch Creti und Pleti, wie bei unſerm
niedrigen Adel. Ein ſolcher Sir wird gewöhnlich
nicht bei ſeinem Familien- ſondern Vornamen ge-
nannt, als z. B. Sir Charles, Sir Anthony, wie
man in Wien: Graf Tinterle, Fürſt Muckerle u. ſ. w.
zu ſagen pflegt. Der ärztliche Ritter, von dem ich
jetzt ſpreche, hat dieſen Titel für die Anlegung einer
ſehr guten Badeanſtalt erhalten, die ſich in ſeinem
Hinterhauſe befindet, und iſt dabei ein intereſſanter
Mann. Noch geiſtreicher ſcheint mir ſeine Frau, die
ihrer berühmten Verwandtin in richtigem Takt und
Urtheil überlegen iſt, und ein großes Nachahmungs-
Talent beſitzt, mit deſſen komiſcher Anwendung ſie
ſelbſt ihre eigene Familie nicht immer verſchont. Die
Töchter, obgleich ganz verſchieden, ſind doch beide ſehr
originell, die eine im ſanften, die andere im wilden
genre, weshalb ich ſie auch nur: Lady M . . . . s
wild 1rish girl, zu nennen pflege, alle drei aber zei-
gen eine charakteriſtiſche Nationalität, *) haben auch
Irland nie verlaſſen.


[174]

Abends erzählte mir Lady M . . . ., daß ihr die
ſchlechten, und oft ganz Sinn entſtellenden Ueber-
ſetzungen ihrer Werke viel Verdruß machten. So
habe man in ihren Briefen über Italien, wo ſie von
den Genueſern ſagt: They bought the scorn of all
Europe
(wörtlich: ſie erkauften ſich den Hohn des
ganzen Europas) für scorn, corn (Korn) geleſen,
und friſchweg überſetzt: Genes dans ce tems achetait
tout le blé de l’Europa
. Dies iſt ein guter pendant
zu der „Nation der Haid-Schnuken.“



Als ich früh aufſtand, und ans Fenſter trat, bot
ſich meinen Blicken mitten in den Straßen der Haupt-
ſtadt wieder einmal eine ächt iriſche Scene dar, wie
ſie ſonſt nur das Land zu zeigen pflegt. Mir gegen-
über ſaß eine alte Frau, Aepfel verkaufend, und be-
haglich ihre Cigarre ſchmauchend. Näher dem Hauſe
machte ein Mann in Lumpen, allerlei Kunſtſtücke,
unterſtützt von ſeinem Affen. Ein regelmäßiger Kreis,
vier bis fünf Mann hoch, war um ihn geſchloſſen,
*)
[175] und bei jedem neuen Spaß ertönte lauter Jubel,
mit einem ſolchen Demonſtriren, Geſchrei und Ge-
ſtikuliren verbunden, daß man ſchon glaubte, Streit
ſey entſtanden, und auf irgend Jemand würde es
bald Prügel regnen. Das neue Angehen des Schau-
ſpiels brachte aber jedesmal wieder Todtenſtille her-
vor. Jetzt konnte indeß die Lebhafteſte der Geſell-
ſchaft ſich nicht länger mehr mit bloßen Zuſchauen
begnügen. Sie muß ſelbſt agiren, und in unbe-
zwinglicher Luſtigkeit ſpringt ſie in den magiſchen
Kreis, ergreift den erſchrocknen Affen, und überbietet
ihn in Poſſen, Sprüngen und Grimaſſen aller Art,
die das verdoppelte Lachen und Jauchzen der erfreu-
ten Menge belohnt. Die Darſtellungs-Wuth wirkt
aber anſteckend — mehrere geſellen ſich zu der erſten
Aktrice, die bisherige Ordnung fängt an, ſich immer
mehr in Wirrwarr zu verkehren, der Künſtler, be-
ſorgt für die Sicherheit ſeines Affen, oder um ihn
nicht durch übles Beiſpiel verführen zu laſſen, bricht
ſchleunigſt auf; ſeine Retirade gleicht ſchon einer
übereilten Flucht, der ganze Haufen ſtürzt ihm
ſchreiend nach, jeder will der erſte hinter ihm ſeyn,
Einige ſchimpfen, und verſchiedene Syileilas, die die
vorige Luſt in der Scheide erhielt, werden ſichtbar,
Andere nehmen die Parthei des fliehenden Künſtlers,
dieſer entwiſcht indeſſen, und ehe man ſich’s verſieht,
endet die Verfolgung in einem allgemeinen Gefecht
der Verfolger.


Ein garcon-diné bei Lord S . . . ., dem ich nach-
her beiwohnte, endigte, beinahe eben ſo geräuſchvoll,
[176] wenn auch nicht ſo empfindlich, meinen Tag, und
hielt mich bis mitten in der Nacht wach. Voilà tont
ce que j’ai à vous conter d’aujourdhui
.



Ich bringe fortwährend mein Leben bei den klei-
nen Nachtigall-Engeln zu, ſehe öfters Lady M....
und vermeide, ſoviel ich kann, die übrige Geſell-
ſchaft. Die Mädchen führen ein burleskes Journal,
wo ſie, mit den extravaganteſten Zeichnungen dane-
ben, eine Chronik unſrer täglichen Fata verfaſſen,
die höchſt beluſtigend iſt. Nachher ſingen, ſchwatzen
wir, oder ſtellen Tableaux dar, wobei die Mutter,
mit ihrem Schauſpielertalent, uns aufs ſchönſte mit
den heterogenſten Dingen drappirt. Du würdeſt
wenigſtens haben lächeln müſſen, wenn Du heute
geſehen hätteſt, wie die wild irish giel ſich einen
Schnurbart und Favoriten mit Kohle malte, einen
Ueberrock ihres Vaters anzog, und Schnupftuch und
Stöckchen in der Hand, als meine Karikatur herein-
trat, um ihrer Schweſter, nach meiner Art, wie ſie
ſagte, die Cour zu machen. Dieſe Mädchen haben
eine unerſchöpfliche gar nicht engliſche, aber ächt ir-
ländiſche Grazie und Luſtigkeit, und man erlaubt
mir glücklicherweiſe, von der in dieſen Ländern übli-
chen Etiquette etwas abgehend, alle Abende hier zu-
zubringen (ſonſt darf dies in England nur gebeten
[177] geſchehen, da Viſiten allein Vormittags geſtattet ſind)
welches mir den Aufenthalt in Dublin weit angeneh-
mer macht, als ich hoffen durfte. Um Mitter-
nacht werde ich zwar immer ſehr geſchmält, viel
zu lange geblieben zu ſeyn, aber dem Unver-
beſſerlichen wird doch jedesmal nachher wieder ver-
ziehen.


Nach den Tableaux magnetiſirte ich die Aelteſte,
welche öfters an Kopfweh leidet. Du weißt, daß
mir ſchon oft dieſe Curen gelungen ſind. An der
Verwandtſchaft des Magnetismus mit der Elektrizi-
tät zweifelte ich wahrlich nicht, wenn ich mit den
Fingerſpitzen den Saum ihres Kleides berührte, oder
über die äußerſten Enden ihrer ſeidnen Locken ſtrich,
die kniſternden Funken von ſich zu ſprühen ſchienen.
Dieſe Aelteſte, affligee de 18. aug. hat braune
Augen und Haare von einem ganz ſeltſamen Aus-
druck, und Beſchaffenheit. Die Letztern participi-
ren vom Feurigen ohne roth zu ſeyn, und in
den erſten ruht eine feuchte Gluth, über die
ſich gleichfalls oft ein wahrer röthlicher Feuer-
ſchein hinzieht, doch immer bleibt es nur Gluth,
kein aufflackerndes Flammenblitzen, wie es die fun-
kelnden Augen der kleinen Wilden oft erleuchtet.
Denn bei dieſer iſt alles Flamme, und unter dem
mädchenhaften Erröthen bricht oft die Determinirt-
heit und der Muth eines Knaben hervor. Unvor-
ſichtig und vom Augenblick hingeriſſen, erlaubt ſie
ſich ſogar manchmal zu große Vivacitäten, die aber,
Briefe eines Verſtorbenen. II. 12
[178] durch ihr allerliebſtes Naturel und ihre unnachahm-
liche Grazie, den ſeltnen Reiz des Mädchens nur
vermehren. Als man heute meinen Wagen anmel-
dete, rief ich ſeufzend: Ah! que cette voiture vient
mal à propos! „Eh! bien“,
rief ſie, „noch im Män-
ner-Coſtume daſtehend, wie ein wahrer kleiner Hu-
ſar: Envoyez la au diable!“ Ein höchſt ſtrenger
und mißbilligender Blick der Mama, und das Er-
ſchrecken der Schweſter, überzog ſogleich alles, was
von dem Geſichtchen hinter dem Schnurbart zu
ſehen war, mit Scharlach über und über. Sie ſchlug
beſchämt die Augen nieder, und war dabei ſo un-
widerſtehlich hübſch, daß ich ....... ja was? gute
Julie, fülle Dir die Phraſe ſelbſt aus — und damit
gute Nacht.



Lady M .... empfing mich heute früh in ihrem
Autorboudoir, wo ſie im eleganten Coſtume, mit
einer Feder aus Perlmutter und Gold in der Hand,
nicht ohne Coquetterie an ihren Werken ſchreibt.
Sie war mit einem neuen Buch beſchäftigt, zu dem
ſie einen ganz guten Titel erfunden hat: Memoiren
von mir und für mich. Sie frug, ob ſie „von mir“
oder „für mich“ zuerſt ſetzen ſollte? Ich entſchied
für das Erſte als folgerechter, weil ſie erſt ſchreiben
[179] müßte, ehe ſie für ſich geſchrieben haben könnte,
worüber wir in einen ſcherzhaften Streit geriethen,
indem ſie mir meine deutſche Pedanterie vorwarf,
und behauptete, daß von jeher bonnet blanc und
blanc bonnet einerlei geweſen ſey, was ich lachend
zugeben mußte. Das von ihr gewählte Motto war:
Je n’enseigne pas, je raconte (Montaigne). Sie
las mir Einiges vor, was ich vortrefflich fand. Mit
der Feder in der Hand wird dieſe, ſonſt ziemlich ſu-
perficiell erſcheinende Frau, ein ganz andres Weſen.
Man könnte ſagen: der Perlmutter-Feder entfallen
ächte Perlen, die Mutter bleibt als kalte Schale
zurück.


Sie ſagte mir, daß ſie den Winter nach Paris
ginge, und von da nach Deutſchland reiſen möchte,
hatte aber eine große Furcht vor der öſterreichiſchen
Polizei. Ich rieth ihr Berlin zu wählen. „Werde
ich da nicht auch verfolgt werden?“ rief ſie lebhaft.
Gott bewahre, tröſtete ich, in Berlin betet man Ta-
lente an, nur rathe ich Ihnen wenigſtens Eine Ih-
rer hübſchen Freundinnen mitzunehmen, die gut und
gern tanzt, damit Sie Beide auf die Hofbälle gebe-
ten werden, und die liebenswürdige militairiſche Ju-
gend kennen lernen, was der Mühe werth iſt, und
Ihnen ſonſt vielleicht nicht zu Theil werden würde.
Hier kam der Mann hinzu, und bat mich ſein philo-
ſophiſches Buch doch in Deutſchland überſetzen zu
laſſen, damit er, nicht blos als Adjudant ſeiner
Frau, ſondern mit eignen Flügeln angeflogen kom-
12*
[180] men könne. Ich verſprach alles was man wollte,
machte jedoch bemerklich, daß dermalen ein neues Ge-
betbuch mehr Glück machen würde, als ein neues phi-
loſophiſches Syſtem, deren wir ohnehin genug hätten.


Abends nahm ich für die jungen Damen, die noch
ſehr wenig ausgehen dürfen, eine Loge im Pferde-
Theater, wohin ich ſie begleitete. Ihr naives Ver-
gnügen an den vielfachen Künſten der Roſſebändiger
war ergötzlich anzuſehen. Die kleine [Sechzehnjährige]
verwandte kein Auge von Ducrow’s halsbrechenden
Manöuvres, und hielt, vor Angſt und Begierde zit-
ternd, die ganze Zeit ihre Händchen feſt zuſammen-
geballt; die Aeltere betrachtete ſchon, ſtill erröthend
die ſchönen Formen und üppigen Stellungen der ge-
wandten Reiter.


Es war ein wunderſchönes Kind bei der Geſell-
ſchaft, welches, erſt ſieben Jahre alt, bereits auf dem
Pferde tanzte, eine Menge Rollen mit ungemeiner
Grazie ſpielte, und beſonders, als Napoleon ange-
zogen, wo das winzige Mädchen, die ſchroffen Ma-
nieren des Kaiſers höchſt poſſirlich nachahmte, immer
den [rauſchendſten] Beifall [einärndtete]. Meine jun-
gen Freundinnen wünſchten dies Kind von Nahem
zu ſehen, und ich begab mich daher auf’s Theater,
wo der kleine Engel eben ausgekleidet wurde, und
ganz nackt, wie ein leibhaftiger Amor, vor dem
Spiegel ſtand. Ihre Rolle war für heute ausge-
ſpielt, und ſobald die neue Toilette beendet war,
nahm ich ſie auf den Arm, und brachte „l’enfant
[181] prodige“
wie ſie auf dem Zettel genannt wurde,
im Triumph herauf. Nach den erſten Liebkoſungen
ward die Kleine, von uns Allen, die aufmerkſamſte
Zuſchauerin des Schauſpiels, obgleich man hätte
glauben ſollen, ſie habe [täglich] genug daran. Nur
eine Düte mit Süßigkeiten, die ich ihr präſentirte,
konnte ſie eine Zeit lang davon abwendig machen,
und wir mußten alle über ihr naives und drolliges
Benehmen herzlich lachen, als ſie, auf Miß S....
Schooße ſitzend, die Hälfte der Bonbons in ihren
Buſen ſchüttete, und dann wieder mit den Samt-
händchen darnach langend, der ſie Abwehrenden zu-
rief: Let me alone, that is my favourite cake (Laß
mich, das iſt mein Lieblings-Bonbon) Miß S.....
die über die Aeußerung und Beharrlichkeit der Klei-
nen roth wurde, ſchob ſie endlich mit etwas Ueber-
eilung von ſich, ſo daß das Kind ſich an einer her-
vorſtehenden Nadel blutig ſtach. Wir fürchteten ſie
würde weinen, aber der Diminutiv-Napoleon wurde
nur böſe, ſchlug die Beleidigerin ſo derb als mög-
lich, und rief entrüſtet: Fy, for shame! You stung
me like a bee!
(Pfui, ſchäme Dich, haſt mich wie
eine Biene geſtochen) und damit voltigirte ſie auf
den Schoos der Schweſter, legte ihre Aermchen über
das Logenbrett, und ſah von neuem mit ungeſtörter
Aufmerkſamkeit der Belagerung von Saragoſſa zu.
Im Entreacte ſagte ihr Lady C..... (auf das lä-
cherliche qui pro quo in Limerick anſpielend, das ich
ihr erzählt hatte) ich ſey Napoleon’s Sohn. Sie ſah
mich ſchnell an, fixirte mich eine Weile, und rief
[182] dann mit der ernſthafteſten Grandezza: „O! Ich
habe ſelbſt Ihren Herrn Vater mehrmals geſpielt,
und immer außerordentlichen Beifall mit ihm erwor-
ben.“ So natürlich, drollig, und ohne alle Verlegen-
heit machte die liebliche Kleine unſer Aller Erobe-
rung, und wir ſahen mit Bedauern das Ende der
Vorſtellung heranrücken, wo wir ſie wieder abliefern
mußten. Sie wollte ſich nur von mir wieder herun-
tertragen laſſen, weil ich ſie heraufgebracht, und als
ich mit ihr hinter den Couliſſen ankam, wo alles
voller Pferde ſtand, und ich ſchon ganz beſorgt war,
wie ich mich da durchdrängen ſollte, ſchrie ſie gleich
mit großer Lebhaftigkeit, und ungeduldig auf mei-
nem Arme zappelnd: „Nun fürchteſt Du Dich? nur
vorwärts, ich werde die Pferde ſchon in Ordnung
halten, und damit theilte ſie rechts und links, Klapſe
auf die Naſen der alten Bekannten aus, die auch
folgſam wichen, bis wir hindurch waren. „Jetzt laß
mich herunter!“ rief ſie, und kaum berührten ihre
Füße den Boden, als ſie mit der Behendigkeit eines
Häschen’s über den Hintergrund der Bühne floh,
und ſchnell im Getümmel verſchwand. — Kinder ſind
gewiß die anmuthigſten Geſchöpfe, wenn ſie nicht
durch Verziehung verkrüppelt ſind, ſelten aber mag
ſoviel Natürlichkeit auf den Brettern, noch ſeltener
vielleicht, auf dem höhern Theater der großen Welt
gedeihen.


[183]

Daß ich O’Connel hier wieder getroffen, vergaß
ich Dir zu melden. Ich hörte ihn ſchon einigemal in
der Catholik-Aſſociation, dem jetzigen irländiſchen Na-
tionalparliament, welches ich heute zum zweitenmal
beſuchte. Man empfing mich, als einen gut geſinn-
ten Fremden, mit Applaudiren, und H. O’Connel
machte mir ſogleich Platz, zwiſchen ſich und einem
Lord C.... Der Saal iſt nicht zu groß, und eben
ſo unreinlich als der des Unterhauſes in England.
Auch hier behält jeder den Hut auf dem Kopf, aus-
genommen wenn er ſpricht, auch hier giebt es gute
und ſchlechte Redner, aber allerdings zuweilen we-
niger anſtändige Sitte als dort. Die Hitze war
ſtickend, und ich mußte demohngeachtet 5 Stunden
aushalten, die Debatten waren aber ſo intereſſant, daß
ich die Unbequemlichkeit kaum bemerkte. O’Connel
ſprach, ohne Zweifel, am beſten. Obgleich vom größ-
ten Theile vergöttert, ward er doch auch von Man-
chen ſehr hart bedrängt, und vertheidigte ſich mit
eben ſo vieler Mäßigung als Gewandtheit, dagegen
er ohne alle Schonung, und meines Erachtens nach,
mit zu ſtarken Ausdrücken, die Miniſter und das
engliſche Gouvernement angriff. Daß viel Intrigue
und feſt verbundene, im Voraus beſtimmte, Par-
theien, hier ſo gut wie bei andern Körpern dieſer
Art herrſchen, und daher die Diskuſſion oft nur
Spiegelfechterei bleibt, war leicht zu erſehen; die
Führer aber haben wenigſtens ihr Handwerk ſehr
[184] gut einſtudirt. Die drei hervorſtechendſten Red-
ner ſind O’Connel, Shiel und Lawles, auch Mr.
Fin und M. Ford ſprechen gut und mit vielem per-
ſönlichen Anſtande. Shiel iſt ein Mann von Welt
mit noch mehr Unbefangenheit und Aiſance in der
Geſellſchaft als O’Connel, aber als Redner erſchien
er mir viel zu affectirt, zu künſtlich, und prä-
parirt in dem was er ſagte, dabei ganz Schau-
ſpielermäßig, ohne alles wahre Gefühl in der deli-
very
ſeiner Rede, wie es die Engländer bezeichnend
nennen. Es wundert mich nicht, daß er, ohngeach-
tet ſeines nicht unbedeutenden Talents, ſo viel we-
niger populair iſt, als O’Connel. Beide Männer ſind
ſehr eitel — die Eitelkeit O’Connels iſt aber offner,
vertrauender und bereits zufriedener geſtellt, die von
Shiel hingegen peinlich, wund und finſter. Der
Eine iſt daher, die eigne Parthei betreffend, ſo zu
ſagen, in Honig, der Andere in Galle getaucht, und
der Letzte, obgleich für dieſelbe Sache ſtreitend,
ſichtlich eiferſüchtig auf den Kollegen, den er mit
Unrecht zu überſehen glaubt. Herr C…s dagegen
iſt nur der Don Quixotte der Aſſociation. Sein
[ſchöner] Kopf, ſein weißes Haar, ſein wilder, aber
edler, Anſtand und ein herrliches Organ, laſſen,
wenn er auftritt, Außerordentliches erwarten, aber
bald löst ſich die ernſt begonnene Rede in die un-
glaublichſten Extravaganzen, und oft ganz verwirr-
ten Unſinn auf, welcher Freund und Feind mit glei-
cher Wuth angreift. Man achtet ihn daher wenig,
lacht ihn oft aus, wenn er, wie König Lear, raſet,
[185] unachtſam auf das Publikum, oder was um ihn vor-
geht. Die dominirende Parthei gebraucht ihn aber,
wo nöthig, als Schreier. Heute verflog er ſich ſo
ſehr, mit unaufhaltſamem Schwunge, daß er plötzlich
mitten in der katholiſchen und archikatholiſchen
Aſſociation, die Fahne des Deismus aufpflanzte,
vielleicht auch nur um O’Connel Gelegenheit zu
geben, ihn mit Indignation zur Ordnung zu rufen,
und dabei eine fromme Tirade anbringen zu [können];
denn auf der Rednerbühne, wie auf dem Böttgerfaß,
auf dem Throne, wie auf der Marionettenbude —
gehört Klappern zum Handwerk. Am gewöhnlichen
Orte ruhte ich Abends aus. Tableaus waren wieder
an der Tagesordnung. Nach einander mußte ich als
Brutus, orientaliſcher Jude, François premier, oder
Saladdin erſcheinen. Miß J … war als Student
von Alkala ein verführeriſcher Wildfang, und ihre
ältere Schweſter, als Sklavin des Serails, eine will-
kommene Gefährtin für Saladin, und als die ſchöne
Rebekka Walter Scott’s, auch nicht übel mit dem
orientaliſchen Juden gepaart. Alle dieſe Metamor-
phoſen bewerkſtelligte die Mutter nur mit vier Lich-
tern, zwei Spiegeln, einigen Shawls, bunten Tü-
chern, einem am Licht gefärbten Korkſtöpſel, einem
Schminktopf und verſchiedenen Haartouren. Dennoch
hätte Talma den Brutus nicht beſſer drapiren kön-
nen, und täuſchender die Phyſiognomieen verändern,
als dieſe geringen Mittel es, unter der geſchickten
Leitung von Lady C …, vermochten. Zuletzt wur-
den Carrikaturen gezeichnet, und auf meine Bitte
[186] verſuchte jede Schweſter das Portrait der andern zu
malen. Beide gelangen ſehr gut, und befinden ſich
bereits in der Gallerie meiner Lebensbilder.



Ich ſah mich heute zu etwas Unangenehmem ge-
nöthigt, was ich ſchon lange aufgeſchoben, und mußte
endlich mein großes Mittel anwenden, um meine
Abneigung zu beſiegen. Du wirſt lachen, wenn ich
Dir es nenne, aber mir hilft es, für Großes und
Kleines. In der That giebt es wenig Menſchen,
die nicht zuweilen leichtſinnig, noch öfter ſchwan-
kend
wären. Da es mir nicht beſſer geht, ſo habe
ich ein eignes Mittel erfunden, mir in Dingen, die
mir ſchwer ankommen, künſtlich Entſcheidung, und
den Halt zu verſchaffen, der mir ſonſt vielleicht feh-
len könnte, und den der Menſch einmal durch irgend
etwas außerhalb Hingeſtelltes bedarf. *) Ich gebe
nämlich in ſolchem ſpeziellen Falle ganz feierlich mir
ſelbſt
mein Ehrenwort darauf, dies oder jenes
zu thun, oder zu laſſen. Ich bin natürlich ſehr vor-
[187] ſichtig damit, und überlege nach Kräften, ehe ich mich
dazu entſchließe, iſt es aber einmal geſchehen, und
hätte ich mich dann auch geirrt oder übereilt, ſo halte
ich es beſtimmt, wäre ſelbſt gewiſſer Untergang
die Folge. Und ich befinde mich ſehr wohl und ruhig
dabei, einem ſo [unabänderlichen] Geſetz unterworfen
zu ſeyn. Könnte ich es brechen, ſo würde ich, nach
dem einmal hineingelegten Sinn, von dem Moment
an, alle Achtung für mich ſelbſt verlieren, und wel-
cher denkende Menſch müßte, bei einer ſolchen Alter-
native, nicht unbedenklich den Tod vorziehen. Denn
ſterben iſt doch nur eine Naturnothwendigkeit, und
folglich nichts Uebles — es ſcheint uns nur ſo, in
Bezug auf unſre hieſige Exiſtenz, d. h. der Selbſt-
erhaltungstrieb muß den Tod fürchten, die Vernunft
aber, die ewig iſt, ſieht ihn in ſeiner wahren Geſtalt,
als einen bloßen Uebergang von einem Zuſtand zum
andern — ſich aber von eigner, unbeſieg-
barer Schwäche überzeugen
, iſt ein Gefühl,
deſſen Stachel wenigſtens dieſes Leben fortwährend
verbittern müßte! Daher iſt es jedenfalls beſſer, im
Colliſionsfall, mit innerm Triumph für diesmal auf-
zuhören, als im Seelen-Lazareth fortzuvegetiren. Ich
werde alſo keineswegs abhängig durch dieſes Wort,
ſondern grade durch daſſelbe bleibe ich unabhängig.
So lange meine Ueberzeugung nicht ganz feſt ſteht,
wird, wie ſchon geſagt, die myſterieuſe Formel ohne-
dies nicht ausgeſprochen, dann aber darf, für
das Heil meiner Seele, keine Veränderung der An-
ſicht, nichts mehr meinen Willen brechen, als die
[188] phyſiſche Unmöglichkeit. Indem ich mir aber hier-
durch in den äußerſten Fällen eine ſichere
Stütze
ſchaffe, ſiehſt Du ein, daß ich zugleich eine
furchtbare Waffe zum Angriff erhalte, wenn ich
gezwungen würde, ſie anzuwenden, ſo kleinlich auch
das Mittel Manchem dünken mag. Ich dagegen
finde es ſchön: daß der Menſch ſolche Dinge ſich aus
nichts, oder dem Trivialſten, ſelbſt ſchaffen kann, nur
durch ſeinen hierin wahrhaft allmächtig zu nennen-
den Willen!


Ob Du, gute Julie, dies Raiſonnement nicht ver-
wegen und tadelnswerth finden wirſt, mag ich nicht
verbürgen, ja für ein Weib wäre es auch nicht ge-
macht, und ein ganz[kräftiger] Geiſt [hätte] es viel-
leicht eben ſo wenig nöthig. Jeder muß ſich aber
nach ſeiner Natur einrichten, und ſo wie noch Nie-
mand das Geheimniß erfand, ein Rohr wie eine
Eiche, oder einen Kohlkopf wie eine Ananas wachſen
zu laſſen, ſo werden auch Menſchen ſich immer, wie
das gemeine, aber gute, Sprüchwort ſagt: nach ihrer
Decke ſtrecken müſſen. Wohl dem, der ſich nicht mehr
zutraut als er kann! Ohne es übrigens ſo tragiſch
zu nehmen, dient das große Mittel auch ganz vor-
trefflich bei Kleinigkeiten. Z. B. unerträglich lang-
weilige Geſellſchaftspflichten als gelaſſenes Opfer zu
erfüllen — die Faulheit zu beſiegen, um eine immer
aufgeſchobene Arbeit endlich gewaltſam zu erledigen
— ſich eine wohlthätige Enthaltſamkeit aufzulegen,
um nachher deſto beſſer zu genießen — und viel,
[189] viel dergleichen mehr, wie es das zuweilen erhabne,
und noch öfter kindiſche, Leben darbietet.


Nachmittags ritt ich, die Grillen zu vertreiben,
weit in das Land hinein, dem Gebürge zu. Nach
ohngefähr zwölf Meilen kam ich in eine ganz kahle
Gegend wellenliniger Torfmoore ohne Ende, die ſich
nach allen Richtungen ausdehnten. Man hätte ſich
hundert Meilen von einer Hauptſtadt entfernt ge-
glaubt. Der Eindruck war nicht wild, nicht ganz ſo
öde wie Sandflächen, aber ſchauerlich leer, einſam
und monoton. Eine einzige elende Hütte ſtand dar-
auf, aber in Ruinen, ohne Bewohner, und, wie ein
großer Wurm ſchlängelte ſich ein weißer Fußweg an
ihr hin, ſich mühſam durch das braune Heidekraut
windend. Das Ganze war mit ein wenig Schnee
gepudert, und der Wind auf den kahlen Höhen eiſig
kalt. Demohngeachtet zog mich das Melancholiſche
der Scene ſo an, daß ich nur nothgedrungen mein
Pferd wieder rückwärts wendete. Näher an Dublin,
fand ich auf einer iſolirten Bergſpitze eine eigne Spie-
lerei ausgeführt, nämlich ein Haus, das in Geſtalt
eines nachgemachten Felſen gebaut war, ſo täuſchend
in der That, daß man es für einen wirklichen anſah,
bis man vor dem Eingang ſtand. Erſt bei Mond-
ſchein langte ich, mit von der ſcharfen Luft brennen-
dem Geſicht, in meinem Gaſthofe zum Mittagseſſen
an, zu dem ich Vater Leſtrange gebeten hatte, car
j’aime les prêtres, comme Voltaire la Bible, malgré
tout ce que j’en dis
.


[190]

Ich fand auch einen Brief von Dir, klage aber
daß Du mir zu wenig Details ſchreihſt! Bedenke
doch, daß jede Kleinigkeit von dort mir werth iſt.
Ob mein Lieblingspferd wohl iſt, meine ſüße Freun-
din (die perruche) noch zuweilen meinen Namen
ruft, Dein Haustyrann Fancy mehr oder weniger
unartig, die Papageyen in good spirits, die neuen
Pflanzungen gut gewachſen, die Badegäſte fröhlich
geweſen ſind, alles das hat, ein paar hundert Meilen
weit, bedeutendes Intereſſe. Um aber davon etwas
zu erfahren, ſehe ich wohl ein, daß ich Dich einmal,
wenn auch nur auf einen Tag lang, überraſchen muß.
Du weißt, ich haſſe Scenen und Feierliches, alſo auch
geräuſchvollen Empfang, wie alles Abſchiednehmen —
un beau matin alſo, wirſt Du mich in Deinem Früh-
ſtücks-Sallon etablirt finden, wo ich Dich ſcherzend
und neckend empfangen will, als ſey die lange Reiſe
nur ein Traum geweſen, et toute la vie hélas! est
elle autre chose?
Ganz im Ernſt, man ſollte alle
ſolche Dinge weit gleichgültiger und behaglicher neh-
men, als man thun zu können glaubt. Ein engli-
ſcher Dandy diene Dir darin zum Muſter. Sein
beſter Freund und Regimentskamerad ging nach In-
dien, und als dieſer, gerührt von ihm Abſchied neh-
mend, in hoher Bewegung ſeine beiden Hände ergrei-
fen wollte, um ſie zum letztenmal vielleicht zu ſchüt-
teln, hielt der Incroyable ihm, halb abwehrend, nur
die Fingerſpitzen hin, indem er lächelnd lispelte:
„Sonderbare und höchſt fatiguante engliſche Gewohn-
[191] heit, ſich gegenſeitig die Körper zu pumpen, indem
man ihre Schwengel auf und ab bewegt!“


Dein Portrait hat mir nicht ſo viel Freude ge-
macht als es ſollte. Die Züge ſind viel zu hart, und
müſſen erſt geſanftet (softed) werden, ehe ich ſie als
Stellvertreter des Originals gelten laſſen kann, deſſen
Bild übrigens lebhaft genug in meinem Herzen lebt,
um daß es keines andern zur Auffriſchung bei mir
bedarf.


Dein ewig treuer L....


[[192]]

Zwei und vierzigſter Brief.



Geliebte Freundin!

Ich ſehe hier oft einen Mann, B … H ...., deſſen
Geſellſchaft von hohem Intereſſe für mich wurde.
Er iſt, obgleich geiſtlichen Standes, einer von den
wenigen unabhängigen Denkern, die fähig ſind, die
Tyrannei früherer Eindrücke und alter Gewohnhei-
ten abzuſchütteln, und beim Lichte der Vernunft oder
mit andern Worten, der göttlichen Offenbarung, allein
zu ſehen. Auch ſeiner Meinung nach iſt eine Criſis
in dem Gebiete der Religion nicht allzufern. Die
religieuſen Gebäude, wie ſie noch größtentheils be-
ſtehen, ſagte er heute, ſind offenbar die ſeltſamſten
Mißgeburten von Erhabenem und Lächerlichem, von
ewiger Wahrheit und dunkler Unwiſſenheit, von ächter
Philoſophie und Götzendienſt. Je mehr die Menſchen
lernen, je mehr die Wiſſenſchaft uns die Natur
[193] außer uns, und die unſres eigenen Weſens durch er-
gründete Thatſachen verſtehen lehrt, je milder, je
moraliſcher werden unſre Sitten, wie unſere Regie-
rungen. Langſamer folgen die Religionen!
Selbſt die chriſtliche, obgleich in ihrem Urſprung einer
der [mächtigſten] Schritte, den tiefes Denken und gründ-
liche Erkenntniß des reinſten Herzens gethan, hat
doch ſeitdem, wie uns die Geſchichte ihrer Kirche faſt
auf jeder Seite zeigt, hundertmal die Welt mit Blut
getränkt und den wahnwitzigſten Unſinn fortwährend
geboren und auch wieder begraben, während Philo-
ſophie und Wiſſenſchaft ſtets, gleich mildernd, fort-
wirkten, ohne je ähnliche Opfer zu verlangen, noch
ähnliche Verſtöße zu begehen. Es iſt die Frage, ob
Newton, als er das Geheimniß der Himmel auf-
deckte, der Erfinder des Compaſſes und der Buch-
druckerkunſt, der Menſchheit nicht mehr genutzt haben,
das heißt, ihre Civiliſation mehr befördert, als ſoviel
Stifter von Religionen, die verlangen, daß man zu
ihrer Fahne ausſchließlich ſchwöre. Ja es könnte
wohl einmal eine Zeit kommen, wo Religion und
Poeſie als Schweſtern betrachtet würden, und man
es eben ſo lächerlich fände — eine Staatsreligion als
eine Staatspoeſie zu haben? Wäre ich ein Türke, ſo
würde ich mir ſagen: Es iſt gewiß unendlich ſchwer,
die Vorurtheile der Kindheit und den Aberglauben
früherer Lehre ſo gänzlich los zu werden, um auch
die Ueberzeugung von Millionen mit feſter Seele als
thöricht anzuerkennen. Demohngeachtet will ich, da
ich es eingeſehen, kein Türke bleiven. Als Chriſt
Briefe eines Verſtorbenen. II. 13
[194] aber ſage ich: An die reine Lehre will ich mich
halten, die meine Vernunft verehren kann, den un-
poetiſchen Mährchenwuſt aber, ſowie alle Entſtellun-
gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und
gehäſſige Heidenthum der Nachfolger, will ich den
Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000
auf fremde Autorität wirklich im Innerſten für hei-
lig annähmen. Aus demſelben Prinzip handelte Lu-
ther, als er den erſten Schritt der Reform that, aber
das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich
des Putzens von neuem gar ſehr, und Ehre
dem Manne der Kirche, der groß genug ſeyn wird,
zu dieſem Amte ſich berufen zu fühlen, und es ohne
Rückſicht und Menſchenfurcht auszuführen, wenn
gleich viel Zeter über ihn geſchrieen werden wird,
denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt
ihm zu deutlich die Geſchichte. Waren es nicht im-
mer grade die Wenigen nur, die das Beſſere und
Wahre anerkannten, und die ſie verfolgten die Menge?
war es etwa die fanatiſche Heerde, die Sokrates den
Giftbecher reichte, oder die, welche Chriſtus kreuzigte,
oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die
Wahrheit ſtand? Nein, erſt nach Jahrhunderten
nahm dieſe Menge ſelbſt der Geopferten Meinung
an, und verſteinerte ſich von Neuem eben ſo ortho-
dox für dieſelbe als früher dagegen. Das reli-
gieuſe Bedürfniß iſt gewiß eins der ſtärkſten im Men-
ſchen, beſonders wo noch Geſetze und Inſtitutionen
in der Kindheit ſind. Wer es ſich daher ſelbſt nicht
geſtalten kann, muß die Form von andern entneh-
[195] men. Wenige ſind in dem erſten, die Mehrheit ſtets
im andern Falle. Dies erklärt leicht, wie ſich die
Macht der Kirche und Prieſter bilden mußte, und
daß auf dieſe Weiſe Menſchen Jahrhunderte, ja Jahr-
tauſende lang am Gängelbande gleich Kindern [ge-
führt]
werden können. Aber wenn dies gelingen ſoll,
muß das Wiſſen zugleich zu Gunſten des Glau-
bens
unterdrückt werden. Wo die Forſchung frei
wird, da verſchwindet endlich, wenn gleich langſam,
ein Betrug nach dem andern, das Licht erleuchtet zu-
letzt auch den entfernteſten Winkel. Iſt ein ſolches
Ziel aber einmal erreicht, ſo hört auch der Gewiſſens-
zwang auf, und ein Jeder verlangt unbeſchränktes
Feld für ſeinen Glauben, wie für ſein Recht. Frei-
lich, abſolute Sultane, fette Derwiſche, und ſtolze
Satrapen fallen dann miteinander zu Boden, wie
der todte Satz im edlen Wein! Wie jämmerlich neh-
men ſich aber, bei der [Morgendämmerung] einer ſo
herannahenden Zeit, Diejenigen aus, welche die Sonne
am Aufgang verhindern zu können glauben, indem
ſie ihr den Rücken kehren, und ihrem Glanze den
veralteten, morſchen und wurmſtichigen Schirm vor-
halten, der ſelbſt dem Mondlichte nicht mehr wider-
ſtehen könnte. Im Trüben zu fiſchen wird ihnen
noch eine Weile dabei gelingen, aber aufhalten kön-
nen ſie das Geſtirn des Tages nicht — im Gegen-
theil, ihre eben ſo leidenſchaftliche als ſchwache Reak-
tion, iſt der ſicherſte Vorbote ſeiner gewiſſen An-
näherung.“


13*
[196]

In Vielem muß ich B … H … beiſtimmen, ob
aber ſeine ſanguiniſchen Hoffnungen ſich ſobald, oder
überhaupt auf dieſer Erde realiſiren möchten, iſt eine
andere Frage. Daß jeſuitiſche Grundſätze nicht mehr
die Welt regieren werden, und daß Freiheit der Preſſe,
wenn ſie erhalten wird, unberechenbare Wunder thut
und thun muß — das bin ich wohl überzeugt, aber
Menſchen werden dennoch Menſchen bleiben, und
folglich die Mächte der Gewalt und Liſt immer,
fürchte ich, allgemeiner herrſchen als die Kraft der
Vernunft.


Mit Vater Leſtrange beſuchte ich Vormittags die
Gerichtshöfe, um den militairiſchen O’ Connel in der
gepuderten Allongenperücke, ſchwarzem Talar und
Bäffchen plaidiren zu ſehen, und ging nachher in die
Aſſociation, um dort den großen Agitator wieder in
einer ganz andern Geſtalt zu beobachten. Die Si-
tzung war heute ſehr ſtürmiſch. Herr L … s ſprach
wie ein Verwirrter, und griff ſelbſt O’ Connel ſo ſtark
an, daß dieſer faſt ſeine gewohnte Dignität darüber
verlor. Er hielt dann zwar eine vortreffliche Gegen-
rede, baſchte jedoch zu ſehr nach Witz, der zuweilen
auch nicht vom beſten Geſchmack war. Später ſpra-
chen zehne zugleich, der Sekretair rief zur Ordnung,
hatte aber nicht [Autorität] genug, ſich Gehorſam zu
verſchaffen. Kurzum, die Scene ward etwas unſchick-
lich, bis zuletzt ein hübſcher junger Mann, mit un-
geheurem Bart und in outrirter Kleidung (der Dan-
dy der Aſſociation, wie L .... s ihr Don Quixotte),
[197] auf einen Tiſch ſprang, eine fulminante Rede hielt,
die großen Applaus erlangte, und ſo die Ruhe wie-
der herſtellte.


Bei Lady M ..... aß ich zu Mittag. Sie hatte
mich durch ein Billet eingeladen, wie ich deren wohl
ein Dutzend während meines Aufenthalts von ihr
bekam, und die ich als charakteriſtiſch anführen muß,
da ich nie in meinem Leben von einer Dame calli-
graphiſch ſchlechter geſchriebene, und im Styl vernach-
läßigtere Billets geſehen habe. Offenbar zeigte ſich
hier die Abſichtlichkeit der großen Schriftſtellerin, die
möglichſte insouciance, den vollſtändigſten abandon im
gewöhnlichen Leben zu bekunden, wie die großen
Solotänzer in Paris, während dem pantomimiſchen
Theil ihres Auftretens, affektiren, einwärts zu gehen,
um den Tänzer von Profeſſion nicht zu verrathen.
Bei Tiſch machte Lady M … mit ihrem ſchon er-
wähnten Adjutanten K. Cl. die Hauptfrais alles
obligaten Witzes, auch Herr Shiel zeigte ſich aimable,
und als Mann von Welt. Am amüſanteſten aber
fand ich Lady M … und ihre Schweſter Abends im
Sprüchwörterſpiel, das beide vortrefflich in franzöſi-
ſcher Sprache extemporirten. So ſtellten ſie unter
andern, Love me, love my dog, (Liebſt Du mich,
ſo liebſt Du meinen Hund) folgendermaßen dar.
Perſonen: Lady M ..... eine alte Coquette, Lady C.
ein irländiſcher fortune hunter (Glücksjäger), ihre
älteſte Tochter die franzöſiſche Kammerjungfer,
und die jüngſte Tochter ein Garde-Capitaine, Lieb-
[198] haber der alten Dame. Zuerſt ſieht man Lady M …
mit ihrem Kammermädchen bei der Toilette. Ver-
traulicher Rath Joſephinens, verſchiedene lächerliche
Toilettengeheimniſſe betreffend; Jammer der Coquette
über die ankommenden Runzeln; endlich Verſicherun-
gen der Abigail, daß, bei Abend, dennoch Niemand
ſchöner ſey. Als Beweis werden die verſchiedenen
Anbeter angeführt, und Liebesgeſchichten alter Zei-
ten erzählt. La Comtesse convient de les conquê-
tes,
und macht mit vieler Laune ein Gemählde ihrer
Triumphe. Shut! ruft die Kammerjungfer, j’eutends
le Capitaine.
Dieſer, ein Exclusive, erſcheint mit
fracas, einen kleinen Hund im Arme haltend, und
erklärt nach einigen zärtlichen Complimenten, daß er,
genöthigt ſich zu ſeinem Regiment zu begeben, ihr
Fidèle zurücklaſſen wolle, damit die ſchöne Gräfin
nie vergeſſe, ihmfidêle zu bleiben. Burleske Be-
theurungen, Schluchzen, Umarmung, Abſchied. Kaum
iſt der Capitaine fort, ſo erſcheint der Irländer und
bringt ſogleich einen Heirathskontrakt mit, in dem
die Gräfin ihr ganzes Vermögen ihm verſchreiben
ſoll. Als guter Weiberkenner behandelt er ſie rüde,
und doch leidenſchaftlich, ſo daß, nach ſchwacher Ver-
theidigung, und einer kleinen Scene, beide endlich
einig werden. Indem bemerkt der Irländer den
fremden Hund, und frägt befremdet, wo dieſer her
ſey? Man ſtottert verlegen einige Entſchuldigungen
her. Oconnor Mac Farlane ſpielt nun den in Wuth
gerathenen Eiferſüchtigen. Vergebens ſuchen die Wei-
ber ihn zu beruhigen — er tobt, und beſteht auf
[199] augenblicklicher Entfernung des Eindringlings. Die
Gräfin verſucht in Ohnmacht zu fallen, aber Alles
iſt vergebens; ſelbſt Joſephine, die ſchon vorher, bei
Gelegenheit des Ehekontrakts, eine volle Börſe hinter
dem Rücken ihrer Gebieterin erhielt, nimmt die Par-
thei des Bramarbas, und dieſer, mit der einen Hand
ſeine Dame zurückhaltend, ergreift endlich mit der
andern den kleinen Unglücklichen und wirft ihn zur
Thüre hinaus. Aber o weh! in demſelben Augen-
blicke kömmt der Capitaine noch einmal zurück, um
das vergeſſene Halsband zu bringen, und Fidêle
fliegt in ſeine Arme. Die erſchrockenen Damen er-
greifen die Flucht, die Männer meſſen ſich mit den
Augen, Oconnor Mac Farlane ſtößt ſchreckliche Dro-
hungen aus, aber der Capitaine zieht den Degen,
und Bramarbas ſpringt zum Fenſter hinaus. Dies
Skelett iſt mager; aber Luſtigkeit, Laune und Witz
machten es höchſt unterhaltend. Die Unvollkommen-
heit der Coſtüme vermehrten das Pikante, denn die
Damen z. B. waren nur bis zur Mitte Männer, der
Reſt blieb Dame, d. h. ſie hatten blos Rock und
Weſte über ihre Kleider gezogen, und einen Hut auf-
geſetzt; ihr Degen war eine Reitgerte, und Fidèle
ein Muff.


Lady M .... erzählte mir nachher viel intereſſante
Details über die berühmte Miß Oneil, die ich, wie
Du weißt, für das größte dramatiſche Talent halte,
das ich je zu bewundern Gelegenheit gehabt. Sie
ſagte, daß dieſe, von Anfang an, mit dem erhaben-
[200] ſten Genie begabte Künſtlerin, am hieſigen Theater,
wo ſie lange ſpielte, ganz vernachläßigt blieb, ja faſt
für nichts geachtet wurde! dabei war ſie ſo arm, daß
ſie, wenn ſie, nach angeſtrengtem Spiel, Abends zu
Haus kam, dort nichts zur Erfriſchung, als eine
Schüſſel Kartoffeln fand, und ein elendes Bett, das
ſie mit drei Geſchwiſtern theilte. Lady M .... be-
ſuchte ſie einmal, und fand das arme Mädchen ihre
zwei paar alten Strümpfe ſtopfen, die ſie täglich
wuſch, um darin reinlich auf dem Theater erſcheinen
zu können. Lady M .... verſchaffte ihr hierauf aller-
lei Kleidungsſtücke, und nahm ſich überhaupt ein
wenig ihrer Toilette an, die bisher in allen Stücken,
wo ſie ſpielte, ganz vernachläßigt worden war. Seit-
dem erhielt ſie etwas mehr, doch nur geringen Bei-
fall. Um dieſe Zeit kam zufällig einer der Direktoren
der Londner Theater nach Dublin, ſah ſie, und enga-
girte ſie, als ein beſſerer Kenner, ſogleich für die
Hauptſtadt. Hier machte ſie ſchon beim erſten Er-
ſcheinen furore, und ward im Augenblick, von einem
ungekannten armen Schauſpielermädchen, das, ganz
England überſtrahlende, erſte Geſtirn an ſeinem
Theaterhimmel. Noch immer erinnere ich mich mit
Entzücken ihrer Darſtellungen in London. Nie habe
ich ſeitdem die Rolle der Juliet, von einer andern
Schauſpielerin, ſelbſt unſern beſten, ertragen können.
Alles ſchien mir nur Manier, Affektation, Unnatur.
Man mußte ſehen, wie in den wenigen Stunden ſich
das ganze Leben der Shakeſpear’ſchen Juliet — ſo
naturwahr vor den Zuſchauern abſpann. Zuerſt er-
[201] blickle man allein das harmloſe, jugendlich fröhliche,
unbefangene tändelnde Kind; dann, wie die Liebe er-
wachte, ſchien eine neue Sonne über ſie aufzugehen,
alle ihre Bewegungen wurden üppiger, ihre Miene
ſtrahlender, es war die, mit allem Feuer des Südens,
ſich ganz dem Geliebten hingebende Jungfrau. So
erſchloß ſie ſich in der lieblichſten, reichſten Blüthe —
aber Sorge und Unglück reifte bald vor unſern Au-
gen die edle Frucht. Impoſante Würde, die höchſte
Zärtlichkeit für den Gemahl, der feſteſte Entſchluß in
der Noth, nahm jetzt die Stelle der glühenden Lei-
denſchaft ein, des leichten, genußbegierigen Sinns —
und wie ward die Verzweiflung dargeſtellt, am Ende
— als Alles verloren! — Wie furchtbar, wie herz-
zerreißend, wie wahr, und dennoch immer ſchön,
wußte ſie hier bis zum letzten Moment zu ſteigern!
Ihrer Sache gewiß, erlaubte ſie ſich zuweilen bis an
die äußerſte Grenze des Darſtellungsfähigen zu ſtrei-
fen, was keine Andere hätte wagen dürfen, ohne in
das Lächerliche zu fallen. Bei ihr wirkten jedoch
grade dieſe Effekte, wie ein elektriſcher Schlag. Ihr
Wahnſinn und Sterben in Belvedeira unter andern *)
hatte eine ſo ſchaudervolle phyſiſche Wahrheit, daß
der Anblick kaum zu ertragen war, und doch blieb
es immer nur der Seelenſchmerz, durch den körper-
lichen auf’s Höchſte veranſchaulicht, der ſo mächtig,
ja vernichtend auf den Zuſchauer wirkte. Ich wenig-
[202] ſtens erinnere mich wohl, daß ich mich nach jenem
Abend lange keinem ſinnlichen Eindruck mehr über-
laſſen konnte, *) und noch den andern Morgen, als
ich erwachte, heiße Thränen über Belvedeira’s Schick-
ſal vergoß. Ich war allerdings damals ſehr jung,
aber Viele theilten mein Gefühl, und es war auf-
fallend, daß Deutſche, wie Franzoſen und Italiener,
gleich enthuſiaſtiſch über ſie urtheilten, da man ſich
doch ſonſt immer erſt an das Nationelle etwas ge-
wöhnen muß, um von einem Schauſpieler ſich ganz
befriedigt zu fühlen. Sie hatte aber keine Spur
von Manier, es war nur das ächte und edelſte Men-
ſchenbild, das wieder zum innerſten Menſchen ſprach.
Man konnte ſie eigentlich nicht ſchön nennen, obgleich
ſie eine edle Geſtalt, herrliche Schultern und Arme
und ſchönes Haar hatte. Ihr Geſicht beſaß aber
jenen undefinirbaren tragiſchen Ausdruck, der beim
erſten Anblick die tiefſten Gefühle der Seele auf-
wühlt. Man glaubt in ſolchen Zügen die Spur aller
Leidenſchaften zu leſen, über welche dennoch überirdi-
ſche Ruhe, wie eine Eisdecke über einen Vulkan, ge-
breitet iſt.


Gegen ſo viel Genie und Talent waren die Du-
bliner blind geblieben — als aber das Jahr darauf,
[203] die berühmte, gefeierte, vergötterte Miß Oneil von
London zurückkam, um einige Gaſtrollen zu geben
— war auch ſogleich der durch ſie verbreitete Zauber
ſo groß, daß nicht nur das ganze Publikum ſich wie
im Rauſch und Taumel befand, ſondern mehrere Da-
men ohnmächtig hinausgetragen werden mußten, und
Eine, über den Anblick der Raſerei Belvedeira’s
wirklich närriſch wurde, und im Toll-
hauſe ſtarb
. *) Wahrlich, bei ſolchen Erfahrun-
gen wird Einem der Enthuſiasmus der Menge faſt
ekelhaft!


Dieſe große Schauſpielerin zeichnete ſich auch im-
mer durch einen höchſt liebenswürdigen Charakter
aus, und erhielt fortwährend allein ihre Familie,
ſelbſt zur Zeit ihrer größten Dürftigkeit. Auf einem
kleinen Privattheater in der Provinz war ſie zum
erſtenmale aufgetreten. Dieſes ſollte geſchloſſen und
dabei noch eine feierliche Vorſtellung, von den vor-
züglichſten Dilettanten, gegeben werden, deren Ertrag
für die Armen der Provinz beſtimmt war. Man
ſchrieb an Miß Oneil nach England, und bat ſie, die
hier zuerſt ihre Kräfte verſucht, auch die letzte Dar-
ſtellung durch ihre, jetzt von allen drei Königreichen
bewunderte Kunſt, zu verherrlichen; jede Bedingung
die ſie mache, werde man eingehen. Miß Oneil er-
[204] wiederte, daß ſie ſich ungemein von dem Antrage ge-
ſchmeichelt und geehrt fühle, aber weit entfernt, eine
Belohnung für ſich anzunehmen, werde ſie mit Freu-
den eine Gelegenheit ergreifen, der Wiege ihres ſchwa-
chen Talents den ſchuldigen Tribut zu bringen. Nur
unter dieſer Bedingung, und daß es ihr freiſtehen
möge, auch ihren Beitrag für ihre armen Lands-
leute beifügen zu dürfen, würde ſie am beſtimmten
Tage eintreffen. Augenzeugen haben mich verſichert,
daß ſie nie eine vollendetere Darſtellung geſehen, als
die von Shakeſpear’s unſterblichem Meiſterſtück an
dieſem Tage. Nie [wäre] Miß Oneil beſſer unterſtützt
worden, und nie habe ſie ſich ſelbſt mehr übertroffen.
Eine eigne Schickung war es, daß ſich an demſelben
Tage ein ſehr reicher junger Baronet in ſie verliebte,
und ſie ganz kurze Zeit darauf heirathete. Er be-
ging einen großen Raub am Publikum, aber wer
kann ihn deshalb verdammen! Miß Oneil hat jetzt
mehrere Kinder, iſt noch immer reizend, wie man be-
hauptet, lebt glücklich auf dem Landgute ihres Man-
nes, hat aber nie mehr, weder eine öffentliche, noch
eine Privatbühne betreten.


(Der Schluß dieſes Briefes, welcher, wie aus dem
Anfang des Folgenden ſcheint, die Schilderung eini-
ger öffentlichen Feſte und Vorfälle dabei enthielt, iſt
abhanden gekommen.)


[[205]]

Drei und vierzigſter Brief.



Liebe Julie!

Die Schilderungen der public dinners, und der
albernen Perfidie des Sir Charles M … haben
nun ein Ende, und ich führe Dich dafür zu einem
Frühſtück auf die Poſt, wo uns, nebſt einer Menge
eleganter Damen, der Chef, der es gab, ein ſehr ge-
bildeter und artiger Mann, Sir Edward Lee, vorher
in den verſchiednen Bureaux herumführte, pour nous
faire gagner de l’appetit
. In einem derſelben, das
der „dead Letters“ (todten Briefe) genannt, ereig-
nete ſich während unſres Daſeyns ein ſonderbarer
Vorfall. Alle Briefe nämlich, auf denen die Adreſſe
ganz unverſtändlich iſt, oder wo die Perſonen, an die
ſie gerichtet ſind, nicht ausgemittelt werden können,
kommen in dieſes Bureau, wo ſie ſchon nach vierzehn
Tagen aufgemacht, und wenn ſie nichts Wichtiges
enthalten, verbrannt werden. Mir ſcheint dies eine
ziemlich barbariſche Mode, da wohl ein Herz davon
[206] zu Grunde gehen könnte, was einem Poſtoffizianten
doch ohne Wichtigkeit ſchiene. Es iſt aber einmal ſo,
und wir fanden drei Leute fleißig mit der Operation
beſchäftigt. Mehrere von uns ergriffen neugierig ei-
nige dieſer zum Opfer beſtimmten Briefe und durch-
blätterten ſie, als der Beamte, neben dem ich ſtand,
ein ziemlich ſtarkes Schreiben in die Hand bekam,
auf dem ſich gar keine Adreſſe befand, ſondern blos
der Poſtſtempel einer irländiſchen Provinzialſtadt.
Wie groß war aber ſeine und Aller Verwunderung,
als er beim Aufmachen zwar keine Buchſtaben, aber
2700 Pf. St. Banknoten in natura darin fand. Dies
wenigſtens ſchien Allen wichtig, und es wurde ſogleich
Ordre gegeben, nach jener Stadt zu ſchreiben, um
die Sache [aufzuklären].


Als ich Abends meine Nachtigallen beſuchen wollte,
fand ich ſie ausgeflogen und nur den Herrn Vater
zu Hauſe, mit dem ich mich daher, feaute de mieux,
wiſſenſchaftlich unterhielt. Er zeigte mir mehrere in-
tereſſante, neu erfundene Inſtrumente, unter Andern
Eins, das ſehr genau den Kraftgrad der Lunge an-
giebt, und daher zur Erkenntniß ſchwindſüchtiger
Krankheiten unſchätzbar ſeyn ſoll. Ein vornehmer
hieſiger Beamter, erzählte Sir A …, war an un-
heilbarer Lungenſucht im vorigen Jahre von allen
Aerzten Dublins aufgegeben worden. Seiner nahen
Auflöſung ſelbſt entgegenſehend, war er im Begriff,
ſein Amt aufzugeben, und nach Monpellier abzurei-
ſen, um wo möglich den unvermeidlichen Tod noch
einige Monate aufzuſchieben. Sir A. wurde zuletzt
[207] auch noch conſultirt, und kam auf den Gedanken,
hier ſeine, eben von London angekommene, Maſchine
zu verſuchen. Kaum traute er ſeinen Augen, als er
bei dieſem Experiment fand, daß des Kranken Lunge
zwei Grad mehr Kraft zeige als ſeine eigne, die ſich
doch ungemein wohl befindet. Man erkannte nun
eine Leberkrankheit, mit allen Symptomen des
letzten Grades der Schwindſucht, und der Patient
war in vier Monaten gänzlich geheilt, mit Beibehal-
tung ſeines reichlich beſoldeten Amtes, das er auf-
zuopfern ſchon im Begriff geweſen war. Eine andere
ſehr compakte kleine Maſchine diente zum Aderlaſſen
und Scarifiziren, als Magenpumpe, Ohrſprütze und
Kl … Spr … alles zu gleicher Zeit. Man muß
geſtehen, daß man das Compendiöſe nicht weiter trei-
ben kann! Die übrigen Marter-Inſtrumente will ich
Dir nicht beſchreiben, tant pis pour l’humanité, qu’il
en faut tant!
Anmuthiger erſchien mir ein Barome-
ter, durch die Figur einer Dame dargeſtellt, die, bei
Annäherung des ſchlechten Wetters, ihren Parapluie
ergreift, bei ſtarkem Regen ihn aufſpannt, und bei
beſtändiger Schönheit der Witterung ihn als Spazier-
ſtock gebraucht. Eine Dame als ſtets wechſelnder
Wetterprophet zu gebrauchen! Quelle isolence!


[208]

Sir A … der eine Stelle bei der Bank bekleidet,
zeigte mir dieſe am heutigen Morgen. Das Lokal
iſt ſchön, und diente ehemals zum Verſammlungsort
der beiden Häuſer des ſo ſehr zurückgewünſchten ir-
ländiſchen Parlaments. Am ſehenswertheſten iſt die
Druckerei der Banknoten. Eine prächtige Dampfma-
ſchine treibt das Ganze, und eine zweite kleinere da-
neben füllt auch die Keſſel mit Waſſer und die Oefen
mit Kohlen, ſo daß hier für Menſchen beinahe nichts
zu thun übrig bleibt. Im erſten Zimmer wird die
Druckerſchwärze bereitet, in den nächſten Sälen er-
halten die Banknoten, mit großer Schnelligkeit, ihre
verſchiedenen Ornamente und Zeichen. Nur ein
Mann iſt bei jeder Druckmaſchine beſchäftigt, und
[während] er die leeren Papiere, Eins nach dem An-
dern, unter den Stempel bringt, markirt ſich in ei-
ner verſchloſſnen Büchſe daneben die Quantität der
bedruckten Noten. Im nächſten Saal werden ſie
numerirt. Dies geſchieht auf einem kleinen Kaſten,
und die Maſchinerie in dieſem Behältniß numerirt
von ſelbſt, wie durch unſichtbare Hände, von 1 —
100,000. Der dabei beſchäftigte Arbeiter hat nichts
weiter zu thun, als die hervorkommenden Zahlen
mit Druckerſchwärze zu betupfen, und die Noten in
gehörige Ordnung zu legen. Das Uebrige verrichtet
die Maſchine allein.


Jede Note, die nach der Ausgabe wieder zur Bank
zurückkehrt, wird ſogleich zerriſſen, und dann noch
[209] ſieben Jahre aufgehoben, ehe man ſie verbrennt.
Bei dieſer letzten Operation bildet ſich, aus dem Pa-
pier und der eigens componirten Druckerſchwärze,
ein Reſiduum von Indigo, Kupfer- und dem Pa-
pierſtoff, welches wie Metall ausſieht, und glänzend
alle Farben des Regenbogens ſpielt. Natürlich ge-
hören viele Centner Noten zu einem Loth dieſer
Subſtanz, von der ich mir ein ſchönes Stück ver-
ſchaffte.


Nachher ſtiegen wir noch auf die, eine Welt im
Kleinen bildenden Zinkdächer des großen Gebäudes
hinauf, wo wir Trepp auf Trepp ab, gleich dem
diable boiteux, zwar in verſchiedne andre Häuſer
hineinſehen konnten, uns aber zuletzt ſelbſt ſo verirr-
ten, daß wir kaum ohne Ariadne’s Faden wieder her-
ausgekommen wären. Ich langte deshalb zu ſpät
auf einem großen diné bei Sir E. L. an, eine Sache
die man in England indeß nicht ſo übel aufnimmt,
als bei uns.



Lord Howth hatte mich zu einer Hirſchjagd einge-
laden, von der ich, ſo befriedigt als ermüdet, eben
zurückgekommen bin. Meine Lectionen in Caſhel
kamen mir heute gut zu ſtatten, denn Lord Howth
iſt einer der beſten und determinirteſten Reiter in
England. Man hatte mir ein ſehr gutes Pferd
Briefe eines Verſtorbenen. II. 14
[210] gegeben, und ohngeachtet ich zweimal ſtürzte, was
Lord Howth auch einmal arrivirte, folgte ich ihm ſo
gut auf dem Fuße, daß ich unſrer Cavallerie keine
Schande gemacht zu haben glaube. Zuletzt waren
von den fünfzig Rothröcken mehr als Zweidrittheil
verloren gegangen. Bemerkenswerth erſchien mir ein
Offizier, der nur noch einen Arm hatte, und dennoch
ſtets unter den erſten war, ohne daß ſein vortreffli-
ches Pferd auch nur einen Sprung verſagt, oder
mankirt hätte.


Von Zeit zu Zeit iſt dieſe Jagd ein hübſches Ver-
gnügen; wie man aber jedes Jahr ſechs Monate
hindurch, und wöchentlich dreimal, ſich dieſer, doch
ſehr geiſtarmen, Unterhaltung widmen, und ſie im-
mer mit gleicher Leidenſchaft treiben kann, bleibt mir
unbegreiflich. Was überdem die Hirſchjagd in Eng-
land für mich weit weniger angenehm macht, als
anderswo, iſt, daß die dazu gebrauchten Hirſche nur
zahme ſind, die man wie Rennpferde völlig dazu
trainirt. In einen Kaſten geſperrt, werden ſie auf
den Platz des Jagd-rendezvous gebracht, und dort
erſt herausgelaſſen. Wenn ſie einen gehörigen Vor-
ſprung haben, geht die Jagd an, und ehe man ſie
endigt, werden die Hunde abgerufen, und das Thier
wieder im Kaſten aufbewahrt. Iſt das nicht entſetz-
lich proſaiſch, und kaum durch das Agrément aufge-
wogen, daß man ſich den Hals über einen breiten
Graben brechen, oder den Kopf an einer hohen
Mauer einſtoßen kann?


[211]

Seit einigen Wochen beſuche ich oft die gymnaſtiſche
Akademie, eine Beluſtigung, die in Großbritannien
und Irland ſehr Mode geworden iſt. Gewiß, für
die Erziehung der Jugend ſind dieſe Uebungen un-
ſchätzbar — es iſt ein ſehr potenzirtes Turnen, aber
ohne Politik. Wenn man bedenkt, welche Mittel
jetzt für phyſiſche, wie geiſtige Erziehung zu Gebote
ſtehen, wie ſelbſt die Mißgeſtaltetſten, in Eiſenſchie-
nen geſpannt, zu Apollo’s umgeſchaffen, wie Naſen
und Ohren creirt, und täglich in den Zeitungen Er-
ziehungsanſtalten angeprieſen werden, wo man die
gründlichſten Gelehrten in drei Jahren zu bilden ver-
ſpricht, *) ſo möchte man gleich ſelbſt wieder ein
Kind werden, um auch ſeinen Theil davon zu be-
kommen. Es ſcheint, das Geſetz der Schwerkraft
wirke im Moraliſchen wie im Phyſiſchen, und die
Kultur (the march of intellect) vermehre ſich jetzt
in ſteigender Progreſſion, wie die Schnelligkeit einer
fallenden Kugel. Nur noch ein Paar politiſche Umwäl-
zungen in Europa, gänzliche Vervollkommnung des
Dampfweſens für Seele und Körper, und Gott weiß
wo wir, ſelbſt ohne die Direktion des Luftballons
gefunden zu haben, noch hingelangen? Doch um auf
14*
[212] das Gymnaſium zurückzukommen, ſo iſt deſſen
Nützlichkeit wenigſtens unbezweifelt. Es kräftigt die
Natur ſo ſehr, und verſchafft dem Körper ſolche Ge-
wandtheit, daß man dadurch ſeine Exiſtenz wahrhaft
verdoppelt, und verdreifacht. Selbſt im wörtlichen
Sinne genommen, iſt das wahr, denn ich ſah einen
jungen Mann, deſſen Bruſt, nach ununterbrochen
fortgeſetzter dreimonatlicher Uebung, ſieben Zoll in
ihrer Wölbung zugenommen hatte. Die Muskeln
der Arme und Schenkel treten dabei wie hartes Eiſen
in dreifachem Volumen hervor. Aber auch ältere,
ja ſechszigjährige Leute, wenn ſie gleich nicht dieſelben
Vortheile erlangen können, ſind immer noch im
Stande, ſich durch mäßige Uebung im Gymnaſio
ſehr bedeutend zu kräftigen. Ich fand täglich Meh-
rere von dieſem Alter, die es ſehr gut mit den Jün-
gern aufnahmen, welche erſt kurze Zeit den Unter-
richt genoſſen hatten. Es gehört aber einige Aus-
dauer dazu, denn je älter man iſt, je ſchmerzlicher
und ermüdender iſt der Anfang. Manche fühlen ſich
Monate lang davon wie gerädert, oder mit einem
allgemeinen Rheumatismus behaftet. Ein Franzoſe
dirigirt jetzt das Ganze, nachdem ſein Vorgänger
ſich vor zwei Jahren pro patria geopfert hatte. Die-
ſer Mann, mit Namen Beaujeu, wollte zweien
Damen (denn auch für weibliche Gymnaſten dient
die Anſtalt) zeigen, wie leicht das Exercitium Nr. 7
ſey. Die Stange brach, und er beim Herabfallen das
Rückgrat. Schon nach wenigen Stunden ſtarb er,
und mit einer Begeiſterung, die einer größeren Sache
[213] würdig geweſen wäre, ſtieß er blos die klagenden
Worte aus: „Voilà le coup de gráce pour la Gym-
nastique en Irlande!
Seine Befürchtung iſt jedoch
nicht in Erfüllung gegangen, denn Herren und Da-
men ſind gymnaſtiſcher geſinnt als je.



Da ich dieſe Tage über unwohl war, und nicht
ausgehen konnte, ſo bin ich nicht im Stande, Dir
irgend etwas Intereſſantes zu melden. Nimm da-
her mit einigen detachirten Gedanken vorlieb, wie ſie
die Einſamkeit gebiert, oder laß ſie auch, wenn ſie
Dich langweilen, ungeleſen.


Stuben-Philoſophie.


Was iſt Glück und Unglück? Da mir das erſte
nicht viel zu Theil ward, ſo habe ich mir die Frage
oft aufgeworfen. Blind und zufällig iſt es gewiß
nicht, ſondern nothwendig und folgerecht, wie alles
Andere in der Welt, obgleich die Urſachen deſſelben
nicht immer von uns abhängen. In wie fern wir
aber es wirklich ſelbſt herbeiführen, wäre für Jeden
eine ſehr heilſame Unterſuchung. Glückliche und [un-
glückliche]
Gelegenheiten bieten ſich im Laufe des Le-
bens wohl Jedem dar, und dieſe geſchickt zu benutzen
oder abzuwenden, iſt, in der Regel, das, was dem
Menſchen überhaupt den Ruf eines Glücklichen oder
[214] Unglücklichen verſchafft, aber man kann doch nicht
läugnen, daß bei manchen Menſchen, durch das, was
wir Zufall nennen, fortwährend die kräftigſten und
klügſten Combinationen ſcheitern, ja es giebt ſogar
eine gewiſſe Ahnung, die uns im Voraus, entweder
beim verwickeltſten Zutrauen, oder auch beim an-
ſcheinbar leichteſten ſchon das dunkle Gefühl giebt,
daß es dennoch nicht gelingen werde. Manchmal bin
ich verſucht, zu glauben, daß Glück und Unglück
blos eine Art ſubjektiver Eigenſchaften ſind, die man
mit auf die Welt bringt, wie Geſundheit, [Körper-
ſtärke]
, beſſer organiſirtes Gehirn u. ſ. w. und deſſen
überwiegender Kraft ſich, wo es da iſt, die Umſtände
magnetiſch fügen müſſen. Wie alle Eigenſchaften,
kann man auch dieſe ausbilden oder ſchlafen laſſen,
vermehren oder vermindern. Der Wille thut dabei
viel — drum ſagt man: wagen gewinnt, und Kühn-
heit gehört zum Glück. Man bemerkt zugleich, daß
das Glück in der Regel, wie andere Sinne, mit den
Jahren, d. h. mit der Kräftigkeit des Materiellen
abnimmt. Es iſt dies durchaus nicht immer die
Folge von ſchwächeren oder ungeſchickteren geiſtigen
Maßregeln, ſondern ſcheint wirklich das Ergebniß
einer geheimnißvollen Fähigkeit an ſich zu ſeyn, die,
ſo lange ſie jung und ſtark iſt, das Glück bannt,
ſpäter aber es nicht mehr zu halten im Stande iſt.
Beim großen Spiel macht man hierüber ſehr gute
Studien, und es iſt dies zugleich die einzige poeti-
ſche Seite dieſer gefährlichen Leidenſchaft, die oft ſehr
anziehen kann, da nichts ein ſo treues Bild des Le-
[215] bens giebt, als das hohe Hazard-Spiel, nichts ſo-
gar eine beſſere Maßgabe für den Beobachter, um
ſeinen eignen und den Charakter Anderer zu ergrün-
den. Alle Regeln, die im Kampf des Lebens gelten,
gelten auch in dieſem, und die Einſicht mit Charak-
ter-Stärke verbunden, iſt jedenfalls ſicher, wenn nicht
zu ſiegen, doch ſich mit Erfolg zu vertheidigen. Iſt
ſie aber mit der Glücksfähigkeit gepaart, ſo wird ein
Spiel-Napoleon daraus, ein Eroberer am Pharao-
Tiſche! Von den filous, qui corrigent la fortune,
ſpreche ich nicht. Aber auch hier bleibt das Gleich-
niß treu, denn wie oft begegneſt Du nicht in der
Welt Solchen, die das Glück bannen durch Betrug
— beiläufig geſagt, die unglücklichſten aller Speku-
lanten. Ihre Beſchäftigung iſt das wahre Waſſer-
ſchöpfen mit einem Sieb, das Aufſammeln ſtets leerer
Nüſſe. Denn was iſt Genuß ohne Sicherheit, und
wie kann äußeres Glück helfen, wo das innere
Gleichgewicht fehlt!


Es giebt Menſchen, die, obgleich mit ausgezeichne-
ten Geiſteseigenſchaften begabt, doch damit nicht in
der Welt fortzukommen wiſſen, wenn ſie nicht durch
das Schickſal von Hauſe aus an ihren wahren Platz
geſtellt worden ſind. Mit eignen Kräften wiſſen ſie
dieſen nie zu erreichen, weil eine zu weibliche Phan-
taſie, in die ſich fortwährend fremde Formen ein-
drücken, ſie verhindert, die Wirklichkeit zu ſehen, wie
[216] ſie iſt, und ſie ewig nur unter ſchwankenden Bildern
leben läßt. Mit Feuer und Geſchick beginnen ſie
zwar ihre Pläne, aber noch ſchneller verfolgt dieſel-
ben ihre Phantaſie auf dichteriſchem Roß, und führt
ſie ohne Verzug im Traumreiche ſo glänzend und
genügend an das Ziel, daß ſie die langſamen Müh-
ſeligkeiten des wirklichen Weges nachher nicht mehr
überſtehen mögen. So laſſen ſie denn ein Projekt
nach dem andern freiwillig fallen, ehe es zur Reife
gedieh. Wie Alles in der Welt hat jedoch auch dieſer
nachtheilige Zuſtand ſeine Kehrſeite. Er verhindert
zwar daran, ſein Glück zu machen, wie man es zu
nennen pflegt, giebt aber einen unermeßlichen Troſt
im [Unglück], und eine Elaſtizität des Gemüths, die
nichts ganz vernichten kann, denn das Reich Genuß-
ſpendender Phantaſie-Bilder bleibt zu jeder Zeit un-
erſchöpflich. Eine ganze Stadt ſpaniſcher Schlöſſer
ſteht Sterblichen dieſer Art immer zu Gebot, und
ſie genießen mit der Hoffnung, im ewigen Wechſel,
unzähliche Wirklichkeiten im Voraus. Solche Leute
können bei alle dem, für Andere, Beſonnenere, mehr
Praktiſche, oft als die größten Hülfsmittel dienen,
wenn dieſe den Enthuſiasmus jener zu erregen
verſtehen. Ihr Scharfſinn erhält dann durch eine
poſitive, ſie beherrſchende Zuneigung, und daraus
entſtehendem Zwang, die Ausdauer, welche das
eigne Intereſſe ihnen nicht geben kann, und ihr
Eifer iſt bleibender für Andere als für ſich. Aus
demſelben Grunde wird, wenn eine höhere Macht
ſie gleich Anfangs auf des Berges Spitze geſtellt, auch
[217] Großes von ihnen ſelbſt ausgehen können, denn in
dieſem Falle iſt ihnen der mannichfaltigſte großartige
Stoff, und mit ihm der Enthuſiasmus, deſſen ſie
bedürfen, ſchon gegeben und fixirt. Es iſt auch
nichts völlig Neues, Schwankendes, Ungewiſſes erſt
zu gründen, das unter ihnen Liegende nur mit
künſtleriſchem Scharfſinn aufs Höehſte zu benutzen,
zu verbeſſern, zu erheben, zu verſchönern. — Hier
wird dann ihr genialer Blick, von tauſend ausfüh-
renden Köpfen und Händen unterſtützt, und durch
das innere poetiſche Auge gekräftigt, von der Höhe,
ihrem eigentlichen Element, weiter tragen, als der
gewöhnlicher Naturen. — Am Fuße und Rande des
Berges aber hilft ihnen die Schärfe dieſes Blickes
nichts, weil ihr Horizont dort verdeckt iſt, und hin-
auf, zum mühvollen Klimmen, tragen die indolen-
ten Glieder ſie nicht, noch können ſie den gaukelnden
Geſtalten widerſtehen, die ſie unterwegs bald dahin,
bald dorthin, von ihrem Pfade verlocken. Sie leben
und ſterben daher am Berge, ohne je ſeinen Gipfel
zu erreichen, folglich ihrer eignen Kraft ganz inne
geworden zu ſeyn. Bei einem Menſchen dieſer Art
kann man das bekannte Wort umdrehen, und mit
Recht ſagen: Tel brille au premier rang, qui
s’celipse au second
.


[218]

So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu-
gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl
der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die
allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz-
liche
ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi-
gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum
umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht
zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän-
dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die
ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt-
ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden
Erndte verhindert habe — deſſen Tugend wird
wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter
alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find,
was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer
und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge-
geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald
die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen —
nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver-
faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum
die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es
nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße
höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer
Zeiten [gänzlich] befreite, Religionszwang unter die
Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als
eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell-
ſchaft innern und [äußern] Nothwendigkeit, klar er-
kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po-
litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent-
ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-
[219] ſelben durch heilſame Gewohnheit, gewiſſermaßen
zwänge — ſo wäre das Paradies gefunden.


Die bloßen Strafgeſetze für hier und dort, ohne
dieſe innere Ueberzeugung, alle weltliche Politik, im
Sinne geſchickter Gauner; alle Propheten, göttlich-
menſchliche Extra-Offenbarungen, Himmel, Hölle und
Prieſter werden es aber ſchwerlich ſo weit bringen,
— ja ſo lange dieſe in den Speichen hängen, möchte
das Rad der [Aufklärung] ſich nur gar ſchwierig und
langſam umdrehen. *) Daher arbeiten auch ſo Viele
mit allen Kräften einem ſolchen Reſultat entgegen,
ja ſelbſt Proteſtanten proteſtiren rückwärts, und
Manche möchten ſogar eine neue Continental-Sperre
etabliren, gegen fremde Lichtſtrahlen.


Uebrigens kann man Niemand verdenken, „quil
prêche pour sa paroisse.“
Von einem engliſchen
Erzbiſchof mit 50,000 Lſt. Revenuen z. B. zu ver-
langen, daß er aufgeklärt ſeyn ſolle, wäre eben ſo
abgeſchmackt, als vom Schach von Perſien zu erwar-
ten, daß er ſich aus eigner Neigung zum konſtitutio-
nellen Monarchen umſchaffe. Wenig Individuen
werden freiwillig verſchmähen, eine reiche und pracht-
volle Sinecure zu genießen, bei der nichts weiter
[220] von ihnen verlangt wird, als den Leuten ein wenig
Staub in die Augen zu ſtreuen, oder ein Deſpot
ſeyn zu dürfen, der blos nach ſeiner Laune Millio-
nen dirigirt. Die Sache der menſchlichen Geſell-
ſchaft
iſt es aber, es wo möglich ſo einzurichten,
daß wir Alle, auch mit dem beſten Willen dazu,
eine ſolche Sinecure weder erlangen, noch ſolche
Deſpoten werden können.


Sonſt, als Kind, geſchah es mir oft, daß ich keine
Ruhe über das Schickſal Hannibal’s finden konnte,
oder in Verzweiflung über die Schlacht von Pultava
war; heute jammerte ich über Columbus! Wir ſind
dem geiſtreichen Amerikaner Waſhington Irving viel
Dank für dieſe Geſchichte ſchuldig. Es iſt ein ſchö-
ner Tribut, dem großen Seefahrer aus dem Lande
dargebracht, das er der civiliſirten Welt geſchenkt,
und das beſtimmt ſcheint, die letzte Station zu ſeyn,
die der Cyclus menſchlicher Perfektibilität durchläuft.


Welch ein Mann, dieſer erhabne Dulder! der zu
groß für ſeine Zeit, ihr vierzig Jahre lang nur als
ein Narr erſchien, und den Reſt ſeines Lebens ihrer
Feindſchaft preis gegeben war, der er auch zuletzt in
Noth und Kummer unterliegen mußte! Aber ſo iſt
die Welt, und es wäre darüber ſelbſt närriſch zu
werden, wenn man ſich nur beim Einzelnen auf-
hielte, und uns Nachdenken nicht bald belehrte: daß
[221] für die weiſe Natur, das Individuum nichts, die
Spezies Alles iſt. Wir leben für und durch die
Menſchheit und in ihrem großen Ganzen compen-
ſirt
ſich auch Alles. Dies kann jeden Vernünftigen
vollkommen beruhigen, denn jede Saat geht auf,
wenn gleich nicht immer für dieſelbe Hand, die ſie
in die Erde legte, doch ſchlimme wie gute, der
Menſchheit geht keine verloren. Und was iſt der
Zweck von Allem? Leben — ewig alt und ewig
neu, an dem auch wir immer fort Theil haben.
Darum behaupte ich: was iſt, kann nur vollkommen
und nothwendig ſeyn, ſonſt wäre es nicht. Was
geſchieht, muß geſchehen, nicht weil es Willkühr ſo
vorher beſtimmt, wie die Fataliſten annehmen, ſon-
dern weil die Kette der Folgen nothwendig aus der
Kette der Urſachen entſpringen muß. Relativ, und
in den einzelnen Verhältniſſen des Weltall-Lebens
entſchwindet jedoch dieſe eiſerne Nothwendigkeit dem
Auge, und giebt tauſend ungewiſſen Beziehungen
Raum, ohne die das ganze Lebensſpiel ja gleich zu-
ſammenfiele. Es hat dies die größte Aehnlichkeit mit
den Werken der Kunſt, oder iſt vielmehr ihr Vor-
bild. Lear auf dem Theater, jeder Held, den der
wahre Dichter uns vorführt, ergreift uns tief, und
vielleicht mehr, als er es in der Wirklichkeit thun
würde, und doch wiſſen wir, alles was wir ſehen
und hören, ſey Täuſchung. Der Ausdruck: das Thea-
ter der Welt, hat einen tiefern Sinn, als man ſich
gewöhnlich dabei denkt, und Alles was lebt, ſpielt
in Wahrheit: eine göttliche Komödie!


[222]

Daß eine gewiſſe, nöthige Täuſchung unſer wirk-
liches Element ſey, wenigſtens die Bedingung unſres
irdiſchen Lebens, zeigt ſich in Allem. Wir ſehnen
uns nach der Vergangenheit, ſchwelgen in Bil-
dern der Zukunft und kennen keine Gegenwart.
Das einzig Wahre — der Geiſt — bildet freilich den
unſichtbaren Kern, und an ihm bildet ſich die bunte
Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei
Goethe’s tiefem Wort „Wahrheit und Dichtung“ —
Geiſt und Erſcheinung.


Was mich oft und bitter verdrießen kann, iſt, die
Leute über das elende Leben hier klagen, und die
Welt ein Jammerthal nennen zu hören. Dies iſt
nicht nur die himmelſchreiendſte Undankbarkeit (menſch-
lich geſprochen) ſondern auch die wahre Sünde gegen
den heiligen Geiſt. Iſt nicht offenbar Genuß und
Wohlſeyn durch die ganze Welt der poſitive Normal-
Zuſtand, Leiden, Böſes, Verkrüppeltes nur die nega-
tive Schattenſeite? Iſt nicht das Leben ein ewiges
Feſt für das geſunde Auge, im Anſchauen deſſen und
ſeiner Herrlichkeit, man anbetend ſelig werden kann!
Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und
der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen
und Blüthen, und der tauſend Blumen Schmelz, der
Vögel Jubelgeſang und aller Geſchöpfe üppige Fülle
und reiche Sinnenluſt — es [wäre] ſchon viel, um ſich
des Lebens zu freuen — aber welches mehr wunder-
[223] bare Reich entfaltet in unerſchöpflichen Schätzen unſer
eignes Gemüth, welche Fundgruben öffnet Liebe,
Kunſt, Wiſſenſchaft, die Beobachtung und die Ge-
ſchichte unſres eignen Geſchlechts, und in der tiefſten
Tiefe, das fromme, ahnende Anſchauen Gottes und
ſeines Weltalls! Wahrlich, wir wären nicht ſo un-
dankbar, wenn wir weniger glücklich wären, und
Leiden bedürfen wir oft nur zu ſehr, um dies recht
gewahr zu werden. Man könnte die Dispoſition da-
zu unſern ſechsten Sinn nennen, durch den wir
das Glück erkennen. Wer davon recht überzeugt
iſt, der wird zwar immer noch zuweilen klagen,
gleich andern unbeſonnenen Kindern, ſchneller aber
zur Beſinnung kommen, denn das innige Gefühl
des Glückes: zu leben, ruht wie ein roſiger Grund
in ſeinem Innern, von dem auch die ſchwärzeſten
Figuren, welche das Schickſal darauf erſcheinen läßt,
wie die Adern vom Blute, ſanft durchſchimmert
werden.


Paradoxen meines Freundes B. H.


„Ja gewiß, der Geiſt waltet in uns, und wir in
ihm, und iſt ewig, und derſelbe, der durch alle Wel-
ten waltet — aber das, was wir unſre menſchliche
Seele nennen, das ſchaffen wir hier uns ſelbſt.
Das ſcheinbare Doppelweſen in uns, wovon das
Eine dem Sinnen-Impuls folgen will, das Andere
[224] darüber reflectirt und jenes zurück hält, entſteht
ſchon ganz natürlich aus der, ſo zu ſagen, doppelten
Natur und Beſtimmung des Menſchen, [nämlich], in-
dem er zugleich als Individuum, und auch als ein
integrirender Theil der Geſellſchaft leben ſoll und
muß. Zur letztern Exiſtenz war die Gabe der Sprache
nöthig, oder ſie konnte gar nicht ins Leben treten,
nicht werden. Der einzelne Menſch, iſolirt hinge-
ſtellt, iſt durchaus, und bleibt, nichts als das mit
dem beſten Intellekt begabte Thier; er hat nicht
mehr Seele als dieſes. Der Verſuch kann noch täg-
lich wiederholt werden. So wie dieſer Menſch aber
gemeinſchaftlich mit andern zu leben anfängt, und
durch Sprache ein Austauſch von Wahrnehmungen
möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne ſich
zu ſeinem eignen Beſten dem Ganzen, der Geſell-
ſchaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren
Beſtehen Opfer bringen muß, und hier erſt, könnte
man ſagen, entſteht die Eſſenz der Seele, das Mo-
ralprinzip. Das Gefühl ſeiner Schwäche und Un-
wiſſenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl
Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu-
manität treten nun in jenen fortwährenden Anta-
gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un-
erforſchliche Räthſel des Lebens nennt, da mir der
ausgeſprochnen Anſicht gemäß, nichts folgerechter und
natürlicher erſcheint. Die Aufgabe für den Men-
ſchen wird demnach nur ſeyn, zwiſchen beiden Po-
len das gehörige Gleichgewicht herzuſtellen. Je
vollſtändiger dies erreicht wird, je wohler befindet
[225] ſich fortan der Menſch, die Familie, der Staat.
Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, iſt
nachtheilig. Das Individuum, welches ſich egoiſtiſch
allein gelten laſſen will, unterliegt der Gewalt der
Mehrheit — die romanhafte Schwärmerei, welche
ſelbſt verhungert um Andere zu [ernähren], wird zwar
von den Menſchen, die jedes ihnen gebrachte Opfer
billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen,
edel oder närriſch genannt werden, demohngeachtet
aber nicht allgemein zu beſtehen im Stande ſeyn,
und daher auch nie eine Norm der Nachahmung,
eine Pflicht, werden können. Märtyrer, die ſich
für die heilige Zahl drei braten, oder zur Ehre Bra-
ma’s, die Nägel der einen Hand durch die andere
wachſen laſſen, gehören zu derſelben Klaſſe, wiewohl
zu der niedrigſten Stufe derſelben, und erhalten
ebenfalls, nach der Beſchaffenheit der jedesmaligen
Anſicht, die verſchiedenen Namen von Heiligen oder
Wahnſinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Ab-
normitäten. Nicht daß ich damit in Abrede ſtellen
wollte, daß eine vernunftgemäße Verläugnung und
das Opfer ſeiner ſelbſt zum Beſten Anderer, etwas
Schönes und Erhabnes ſeyn könne. Keineswegs,
es iſt dann allerdings ein ſchönes, d. h. ein der
Menſchheit wohlthätiges, Beiſpiel vom Siege des
geſellſchaftlichen Prinzips über das individuelle, wel-
ches eben ſo gut vorkommen muß, als ſein nur all-
zuhäufiger Gegenſatz in denen, die nur ſich im
Auge behalten wollen, und ſo endlich ſchonungs-
und mitleidsloſe Verbrecher werden, die der Geſell-
Briefe eines Verſtorbenen. II. 15
[226] ſchaft einen ewigen Krieg erklären. Da wir indeſſen,
von Hauſe aus, uns ſelbſt immer ein wenig näher
ſtehen als der Geſellſchaft, (weil zu unſrem Beſtehen
das Naturgeſetz der Selbſterhaltung das ſtärkſte ſeyn
muß) ſo ſind Egoiſten häufiger als Humane, mehr
Sünder wie Tugendhafte. Die Erſteren ſind die
wahrhaft Rohen, die zweiten nur, die Gebilde-
ten
(beiläufig eine Lehre für alle Regierungen, die
im Dunkel herrſchen wollen). Da aber auch bei dem
Gebildeteſten immer noch eine rohe Unterlage blei-
ben muß, gleich wie der beſtpolirteſte Marmor, wenn
er unter der Politur abgebrochen wird, wieder gro-
bes Korn zeigt, ſo kann auch die Humanität ſelbſt
nicht verläugnen, daß ſie aus Egoismus hervorge-
wachſen, ja eigentlich nichts iſt, als ein auf die
ganze Menſchheit ausgedehnter Egoismus. Wo ſich
dieſer Letztere daher, ſelbſt einſeitig, d. h. in Bezug
auf den Nutzen des Individuums allein, auf eine
ſehr großartige Weiſe ausbildet, erzwingen ſolche
Sterbliche, große Männer und Eroberer genannt,
die Bewunderung ſelbſt derjenigen, die ihr Verfahren
mißbilligen; ja die Erfahrung lehrt uns, daß ſie,
deren Nichtachtung des Wohles Anderer eine unge-
heure Zahl von irdiſchen Leiden ihren Mitbrüdern
aufbürdete, dennoch, weil ſie dabei eine ſehr große
und überwiegende, vom Glück begünſtigte, herr-
ſchende Kraft an den Tag legten, ſtets hoch von
der durch ſie leidenden Menſchheit verehrt wurden.
Hier zeigt ſich alſo wieder, was ich früher ſagte,
daß Nothwendigkeit und Furcht die erſten Keime in
[227] der menſchlichen Geſellſchaft ſind, daher auch die
[mächtigſten] Hebel in allen Verhältniſſen bleiben, und
Kraft zuletzt immer am allermeiſten imponirt.
Alexander und [Cäſar] erſcheinen größer in der Ge-
ſchichte als Hor. Cocles und Regulus, wenn auch
die Geſchichte der Letzteren keine Fabel [wären]. Un-
eigennützigkeit, Freundſchaft, Nächſtenliebe, Groß-
muth, entwickeln ſich in der Regel erſt [ſpäter], und
als ſeltnere Blumen mit feinerem, und ſchon raffi-
nirterem Duft, eben ſo wie für die Spekulation ſich
zuletzt die höchſte Kraft nur im Ideal des Guten
zeigt, und Aufopferung zuletzt für das Individuum
ſelbſt, höchſter Genuß wird. Ein anderer, wie mir
däucht, ſchlagender Beweis, daß, was wir Moral
nennen, nur aus dem Geſellſchaftsleben hervorgehe,
iſt meines Erachtens, daß wir noch heute kein ſol-
ches Prinzip, in Bezug auf andere Geſchöpfe anzu-
erkennen ſcheinen. Wir würden, wenn wir könnten,
zum Behuf unſrer Wiſſenſchaft, uns unbedenklich ei-
nen Stern zur Inſpektion herunterlangen, und
mit einem Engel in unſrer Gewalt nicht viel Um-
ſtände machen, ſobald wir ihn nicht mehr zu fürch-
ten hätten. Daß wir mit den Thieren (zum Theil
auch noch mit den Negern) ganz als Egoiſten um-
gehen, und ſchon ein hoher Grad von Cultur dazu
gehört, um ſie nur nicht unnütz zu quälen, oder
leiden zu laſſen, liegt am Tage. Ja was noch mehr
iſt, Menſchen unter ſich ſelbſt, heben ſofort
das poſitive Moralprinzip auf, ſobald eine, von ih-
nen für competent angeſehene Macht, das Geſell-
15*
[228][ſchaftsverhältniß] partiell aufhebt. So wie der Krieg
erklärt iſt, mordet der tugendhafteſte Soldat ſeinen
Mitbruder ex officio, wäre es auch nur im gezwun-
genen Dienſt eines Despoten, den er im Herzen
für einen Abſchaum der Menſchheit anſieht. Oder —
der Pabſt entbindet, Kraft der Religion der Liebe,
von allen Gefühlen der Treue, des Rechts, und der
Menſchlichkeit. Sofort brennt, ſengt, mordet,
lügt
der Fromme con amore, und ſtirbt zufrie-
den
und ſelig, mitten in der Erfüllung ſeiner
Pflicht, und zu Gottes Ehre!


Das Thier, welches nur für ſich zu leben beſtimmt
iſt, kennt keine Tugend, und hat daher keine Seele,
ſagt man mit Recht, dennoch bemerkt man im Haus-
thiere, ohngeachtet des ſchwachen Grades ſeines
Denkvermögens, in Folge ſeiner Erziehung und der
Art von Geſelligkeit, in der es mit dem Men-
ſchen lebt, auch ſchon eine ſehr ſichtliche Spur
von Moralität, und wie nach und nach ein deutli-
ches Gefühl für Recht und Unrecht bei ihm ent-
ſteht. Man ſieht es uneigennützige Liebe fühlen,
ja ſogar Opfer, ohne das Motiv der Furcht, brin-
gen. Kurzum, es fängt an ganz denſelben Weg,
wie der Menſch, zu gehen, ſeine Seele beginnt zu
tagen, und hätten die Thiere die Facultät der
Sprache, ſo wäre es wohl möglich, daß ſie eben ſo
weit wie wir kämen. Da ſie uns aber an phyſiſchen
Kräften überlegen ſind, ſo würde wahrſcheinlich der
erſte Gebrauch, den ſie von ihrer neu erlangten Seele
machten — unſre Vernichtung ſeyn.


[229]

Das Beſte für uns [wäre], dahin zu kommen, uns
zu ſehen wie wir ſind, und warum wir ſo ſind —
ohne Hypotheſen und Ueberſchwenglichkeiten — dies
iſt das einzige Mittel zu wahrer und dauernder Auf-
klärung, und folglich zum wahren Glück. Hat die
deutſche Philoſophie nicht einen etwas zu poetiſchen
Weg [gewählt], und gleicht ſie nicht, ſtatt einem
wohlthätig erleuchtenden und erwärmenden Feuer,
mehr einer Girandole, die prachtvoll in tauſend Glüh-
funken bis zum Himmel emporſteigt, ſich den Ster-
nen zu aſſimiliren ſcheint, bald aber unter ihnen in
Nichts verſchwindet. Wieviel excentriſche Syſteme
dieſer Art haben, ſeit Kant bis Hegel, einen Augen-
blick dort geglänzt, und ſind dann entweder ſchnell
verſtorben, oder leben in Stücke geſchnitten, wie
der Regenwurm, einzeln fortwuchernd weiter. Es
iſt ſehr problematiſch, ob ſie der Geſellſchaft ſo viel
praktiſchen Nutzen gewährt haben, als die jetzt ſo
ſehr geringgeſchätzten franzöſiſchen Philoſophen, die
ſich ans Nächſte hielten, und mit ihrem ſcharfen
Operationsmeſſer für’s Erſte der poſitiv exiſtirenden
Boa des kirchlichen Aberglaubens den Hauptnerv
ſo ausſchnitten, daß ſie ſeitdem nur noch entkräftet
umher ſchleichen kann. Ja, auch der Philoſoph
ſoll durch ſeine Lehren ins Leben eingreifen (der
Größte von allen Weiſen war eben ſo praktiſch als
allgemein verſtändlich) und Männer, welche auf dieſe
Weiſe aufklären, ſtehen gewiß in der Geſchichte [hö-
her]
, als die wunderbarſten der [erwähnten] Feuer-
werker.


[230]

Der wirkliche und einzige Gegenſtand der Philo-
ſophie iſt ohne Zweifel Erforſchung der Wahrheit,
NB. ſolcher Wahrheit die zu erforſchen iſt, denn die-
ſes Beſtreben nur kann Früchte bringen. Etwas
Unerforſchliches ſuchen, heißt leeres Stroh dreſchen.
Der richtigſte Weg auf welchem man aber zu der
auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines
Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Ariſtoteles
nur der der Erfahrung und Wiſſenſchaft bleiben.
Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht
ſagen zu dürfen: Weil das Geſetz ſo iſt, muß die
Erfahrung meine Folgerung beſtätigen, aber nur
auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch
erſt dieſes Geſetz gefunden. Lalande konnte daher
ſehr wohl a priori behaupten, daß es ſich mit den
Verhältniſſen gewiſſer Sterne ſo und nicht anders
verhalten müße, obgleich dem Anſehen nach richtige
Beobachtungen das Gegentheil zu beweiſen ſchienen,
weil er die unwandelbare Regel ſchon wußte, aber
ohne Newton’s fallenden Apfel u. ſ. w., d. h. ohne
die frühere und fortgeſetzte Beobachtung einzelner
Erſcheinungen der Natur, und hierdurch gefun-
dene
Wahrheiten, wären die Geheimniſſe des Him-
mels uns noch ein Buch mit ſieben Siegeln.


Soll nun die Philoſophie die Wahrheit erforſchen,
ſo muß ſie es gewiß vor Allen in Bezug auf den
Menſchen verſuchen. Geſchichte der Menſchheit im
weiteſten Sinne, und was daraus zum Behuf der
Gegenwart und Zukunft abzuleiten iſt, wird alſo
[231] immer ihr Hauptvorwurf ſeyn. Nur in dieſer Rich-
tung mag es uns dann fort und fort glücken, aus
dem was geſchah und iſt, zu der Erkenntniß der
Urſachen zu kommen, warum die Dinge ſich ſo und
nicht anders geſtalteten, und von Factum zu Factum
zurückgehend den Grund-Geſetzen uns zu nähern,
hieraus aber auch die Norm für die Folge aufzufin-
den. Muß nun auch die erſte Urſache alles Seyns
unerforſchlich bleiben, ſo wäre es ja wohl hinläng-
lich, wenn wir nur klar und deutlich ergründeten,
was die [Kräfte]unſres Weſens [urſprünglich] wa-
ren, was ſie ſchon geworden, und welcher Richtung
ſie beim fernern Werden nachzuſtreben haben. Hier
wird ſich nun vor allem der Gedanke aufdringen,
daß nur im Element der Freiheit, beim ungehinder-
ten Austauſch der Idee weitere Ausbildung gedeihen
kann. Zu dieſem Behuf war ohne Zweifel die glück-
lichſte Erfindung, von und für uns, die der Buch-
druckerkunſt, lebendig geboren, weil die ſchon hin-
länglich gereifte Stimmung der Menſchheit ſich ſo-
gleich des unermeßlichen Hülfsmittels zu den größten
Zwecken bedienen konnte. Sie allein hat es ſeitdem
möglich gemacht, jene ungeheure Macht ins Leben
zu rufen, der auf die Länge nichts mehr wird wider-
ſtehen können: die allgemeine Meinung. Un-
ter dieſer verſtehe ich nicht: den Wahn Vieler, ſon-
dern die Meinung der Beſten, die ſich, indem ſie
ein Organ gefunden, zu Allen zu dringen, am Ende
Bahn brechen muß, um jeden Wahn zu [zerſtören].
Ohne die Buchdruckerkunſt gab es keinen Luther —
[232] und hat denn wirklich das Chriſtenthum bis zu die-
ſer Epoche ſich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit
des [dreißigjährigen] Krieges, zur Zeit der engliſchen
Maria, die ſchwangere Weiber verbrennen ließ, welche
in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui-
ſition, horribile dictu! ſchon die Sitten gemildert,
die Menſchen barmherziger, ſittlicher, liebender ge-
macht? Ich ſehe wenig Spuren davon. Freiheit der
Preſſe war der große Schritt, der uns dem Zwecke
allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich
näher gebracht, und den Begebenheiten einen ſolchen
Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend
jetzt mehr erleben, als unſre Vorfahren in einem
Jahrhundert. Nur die Maſſe der Einſicht, die hier-
durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der
Menſchheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es
große, vielleicht unübertreffbare, einzelne Men-
ſchen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das
Ganze nicht verloren war, konnten ſie doch gewöhn-
lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und
partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten
ſchnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das
höchſte Beiſpiel, Chriſtus, der noch obendrein unter
den möglichſt günſtigſten Umſtänden erſchien, wie
unſer Gibbon ſo klar gezeigt hat. Wie viel Millio-
nen nannten und nennen ſich nun nach ihm, und
wieviel davon ſind wahre Chriſten? Er der freiſin-
nigſte und liberalſte der Menſchen, mußte dem Des-
potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr-
[233] tauſende zum Schilde dienen, und einem neuen Hei-
denthume ſeinen hohen Namen leihen!


Alſo nur die Maſſe der Erkenntniß ſage ich, die
Intelligenz welche eine ganze Nation durchdrungen
hat, iſt im Stande, bleibende, ſolid und geſund er-
wachſene Inſtitutionen zu begründen, durch die die
Geſammtheit wie der Einzelne beſſer und glücklicher
werden ſoll. Dahin aber eben ſtrebt jetzt die Welt.
Politik in [höchſter] Bedeutung iſt die Religion unſrer
Tage. Für ſie blüht der Enthuſiasmus der Menſch-
heit, und ſoll es neue Kreuzzüge geben, für ſie allein
werden ſie ſtatt finden. Die Vorſtellung konſtitutio-
neller Kammern elektriſirt heut zu Tage mehr als
die einer regierenden Kirche, und ſelbſt der Ruhm
des Kriegers fängt an, vor dem des großen Staats-
bürgers zu erbleichen.“


Prüfet Alles, und nur das Beſte behaltet!


Aber nun trêve de bavardage. In den Bergen
hätte ich Dich nicht mit ſo viel davon ennuyirt, in
den düſtern Stadtmauern geht es mir wie Fauſt in
ſeiner Studierſtube. Indeſſen ein Bischen Feuerluft
iſt ſchon fertig. Ich breite den Mantel aus, und
von Morgen an, ſoll wieder friſcherer Wind meine
Segel ſchwellen. Doch überall, im Kerker wie unter
dem blauen Himmel, bin und bleibe ich ewig
Dein treuer herzergebner L . . . .


P. S. Dies iſt mein letzter Brief aus Dublin. Ich
habe meinen Wagen einpacken, und nach S . . . .
[234] ſchicken laſſen, meine Engländer verabſchiedet, und
werde mit einem ehrlichen irländiſchen Bedienten,
unter dem bekannten nom de guerre, jetzt „roman-
tiſch“ über Bath nach Paris gehen, ohne mich zu
übereilen, noch länger als nöthig aufzuhalten. Der
Abſchied von Freunden und Freundinnen — immer
der ſchwerſte — iſt ſchon genommen, und nichts [hält]
mich mehr zurück.


[[235]]

Vier und vierzigſter Brief.



Theure und Treue!

Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob-
ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank,
liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange
wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln
uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei-
len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer
nach Freude. C’est là l’essentiel. So mußt Du
mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar-
ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne
Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch
Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem
Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu
erreichen
, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang
Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena
zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut
erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der
Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-
[236] gegränzt angeben. Der oſtenſible iſt immer nur ein
Theil davon, oft blos das Mittel zum Zweck, und
der wahre ſelbſt ändert und motivirt ſich gar vielfach
im Verfolg deſſelben. So ging es auch mir. Man
hat aber auch Nebenzwecke, und oft werden dieſe,
weil ſie beſſer munden, die Hauptſache. So ging es
abermals mir. Au bout du compte bin ich zufrie-
den, und was kann man mehr erreichen!


Neptun muß mich beſonders liebhaben, denn er
hält mich jedesmal, wenn er mich in ſeine Gewalt
bekömmt, ſo lange darin zurück als er kann. Der
Wind war uns wieder grade entgegen, und blies mit
der erbittertſten Heftigkeit. Auf dem Waſſer und auf
den hohen Bergen wirkt meine Glücksfähigkeit ſehr
ſchwach, denn faſt noch nie hatte ich günſtigen Wind
auf dem Meer, und gar ſelten einen klaren Himmel,
wenn ich ihm ſo viel tauſend Fuß näher kam.


Geſtern Abends um eilf Uhr verließ ich Dublin in
einer Poſtchaiſe, bei einer ſchönen, hellen Mondnacht;
die Luft war lau und milde wie im Sommer. Ich
rekapitulirte ein wenig die vergangenen zwei Jahre,
und ließ alles von Neuem die Revüe paſſiren. Das
Reſultat mißfiel mir nicht. Ich habe zwar hie und da
geirrt, aber finde mich im Ganzen feſter und klarer
geworden. Im Einzelnen habe ich auch Einiges ge-
wonnen und gelernt, meine phyſiſche Maſchine dabei
nicht verſchlechtert, und endlich im Lebensatlas eine
Menge intereſſanter Erinnerungsbilder niedergelegt.
Friſchen Muth und Lebensluſt aber fühle ich zehnfach
[237] gekräftigt gegen den ſchwächlichen Seelenzuſtand ge-
halten, in dem ich Dich verließ, und da dies mehr
werth iſt, als äußere Dinge, ſo ſah ich, nach vollen-
detem Selbſtverhör, der unbekannten Zukunft heiter
entgegen, und ergötzte mich ſogleich behaglich an der
Gegenwart. Dieſe beſtand vor der Hand in dem
vollſten Jagen des halbbetrunkenen Poſtillons; denn
einem hohen Meerdamme entlang, im blaſſen Mon-
denlicht gings „hop, hop, hop, dahin im ſauſenden
Gallop“ bis wir einen ſehr eleganten Gaſthof in
Howth erreichten, wo ich die Nacht ſchlief. Ein ſchö-
ner, ungeheurer New Foundland Hund leiſtete mir
Abends beim Theetrinken Geſellſchaft, und frühſtückte
am andern Morgen desgleichen mit mir. Ganz weiß,
mit einer ſchwarzen Schnauze, ſah das coloſſale Thier
einem Eisbär ganz ähnlich, der (wie im Bär und
Baſſa) aus Diſtraktion den ſchwarzen Kopf eines
Landbären aufgeſetzt hat. Ich wollte ihn kaufen, er
war aber dem Wirth durchaus nicht feil.


In der Nacht hatte ich einen ſonderbaren Traum.
Ich fand mich in politiſche Affairen verwickelt, in
Folge deren man meiner Perſon nachſtellte, und mein
Leben auf alle Weiſe bedrohte. Zuerſt entging ich
auf einer großen Jagd mit genauer Noth dem Tode,
indem vier bis fünf verkleidete Jäger mich mitten
im dichteſten Walde anfielen und ihre Büchſen auf
mich abfeuerten, ohne mich jedoch treffen zu kön-
nen. Nachher verſuchte man mich zu vergiften, und
ſchon hatte ich das grüne Pulver, welches mir als
[238] Medizin gegeben worden war, verſchluckt, als der
Herzog von Wellington hereintrat, um mir ganz
kaltblütig zu ſagen: Es ſey nichts von Bedeutung,
er habe eben daſſelbe bekommen, hier ſey das Gegen-
gift. Nach dieſem Genuß begann die gewöhnliche
Operation der Gegengifte, (wahrſcheinlich ſchon die
Anticipation im Traume des morgenden Zuſtandes
auf der See —) in Kurzem ward mir jedoch wohler
als je. Alles ging überdem in meinen Geſchäften
nach Wunſch, ich reiste ab, und war bereits dem
Ziele in jeder Hinſicht nahe. Da überfallen mich
Räuber, reißen mich aus dem Wagen, und ſchleppen
mich durch Geſtrüpp und Ruinen auf eine thurmhohe
ſchmale Mauer, auf der wir haſtig fortſchreiten, wäh-
rend ſie, von Alter zerbröckelt, unter unſern Füßen
zu wanken ſcheint. Der Marſch will kein Ende fin-
den, und außer der Angſt quält mich, wie die [Räu-
ber]
gleichfalls, ein nagender Hunger. Sie rufen mir
endlich wüthend zu, ich ſolle ihnen Nahrung ſchaffen,
oder ſie würden mich ſelbſt ſchlachten. In dieſer
Noth däucht es mir, eine leiſe Stimme zu hören, die
mir zuruft: Weiſe ihnen jene Thür. Ich blicke auf,
und erblicke ein hohes kloſterartiges Gebäude, mit
Epheu überwachſen, an welches ſchwarze Tannen ſich
ſchmiegen, ohne Fenſter noch Thüre, ausgenommen
eine verſchloſſene porte cochère von Bronce, hoch ge-
nug um ein Haus hineinzuſchieben. Schnell gefaßt,
rufe ich nun den Räubern zu: Ihr Narren, was
verlangt ihr von mir Nahrung, wenn das große
Magazin gerade vor Euch liegt! — Wo? brüllt der
[239] Hauptmann? Oeffnet dieſes Thor, erwiederte ich
ſpöttiſch. Als würde die ganze Bande es erſt jetzt
gewahr, ſtürzt nun Alles darauf los, der Haupt-
mann voran — doch ehe er es noch berührt, [öffnen]
ſich ſchon ſchweigend und langſam die ungeheuren
Pforten. Ein ſeltſamer Anblick erſchließt ſich. Wir
ſeben in einen tiefen, tiefen Saal hinein, der uns
endlos dünkt; in ſchwindelnder Höhe wölbt ſich die
Decke; prachtvoll iſt alles verziert mit farbigem trans-
parentem Gold, kunſtvollen Basreliefs und Gemäl-
den, die alle Leben und Bewegung zu haben ſcheinen.
Auf beiden Seiten aber erſtreckt ſich an den [Wänden] hin,
eine unabſehbare Reihe grimmig ausſehender Holz-
figuren, mit grob gemalten Geſichtern, in Gold und
Stahl gekleidet, Schwert und Lanze gezückt, und auf
ausgeſtopften Pferden reitend. In der Mitte ſchließt
die Perſpektive ein ſchwarzes Rieſenroß, das einen
Ritter trägt, dreimal größer und dreimal furchtbarer
als die übrigen. Vom Scheitel bis zur Zehe iſt auch
er in ſchwarzes Eiſen gehüllt. — Wie inſpirirt rufe
ich aus: Ha, Rüdiger, du biſt’s, ehrwürd’ger Ahn-
herr, rette mich! Die Worte hallten, wie lauter Don-
ner, hundertfach in den Gewölben wieder, und wir
glaubten die Holzfiguren wie ihre Pferdebälge die
Augen gräßlich verdrehen zu ſehen. Alle ſchauderten
— da plötzlich ſchleudert der Rieſe ſein furchtbares
Schlachtſchwert, wie einen Blitz in die Höhe, und
ſchon iſt uns ſein Roß, in entſetzlichen Sätzen vor-
wärts ſpringend, ganz nahe, als eine Glocke mit
dröhnenden Schlägen ertönt, und der Rieſe wieder
[240] felſenfeſt vor uns ſteht. Wir aber, von Grauſen
überwältigt, flohen insgeſammt, ſo ſchnell uns unſre
Beine tragen wollten. Ich muß zu meiner Schande
geſtehen, daß ich nicht zurückblieb. Ich war indeß
unter altes [Gemäuer] gerathen, die Angſt machte
meine Gebeine zu Blei. Jetzt erblickte ich eine Sei-
tenthüre, und will eben hindurch, als eine gellende
Stimme mir dicht in’s Ohr ſchreit: half past seven!
(halb acht Uhr.) Vor Schreck bin ich im Begriff zu
Boden zu ſinken, eine ſtarke Hand erfaßt mich — ich
ſchlage betäubt die Augen auf, und — mein irländi-
ſcher Bedienter ſteht vor mir — blos um zu melden,
daß, wenn ich nicht bald aufſtünde, das Dampfboot
ohnfehlbar ohne mich abſegeln werde. Du ſiehſt,
Julie, ſo wie ich mich auf die Reiſe begebe, ſtellen
ſich auch wieder kleine Abentheuer ein, wäre es auch
nur im Schlafe.


Auf dem Schiff fand ich die Leute noch beſchäftigt,
einen ſchönen, und faſt noch mit mehr Ueberflüßig-
keiten und Bequemlichkeiten bepackten Wagen, als
ich mit mir führe, wenn ich auf dieſe Art reiſe, ein-
zuſchiffen. Der Kammerdiener und Bediente waren
emſig und reſpektvoll dabei beſchäftigt, während ein
kleiner Menſch mit einem blonden ſorgfältig [gekräu-
ſelten]
Lockenkopf, ganz ſchwarz, aber ſehr elegant ge-
kleidet, und ohngefähr zwanzig Jahre alt, mit aller
Indolenz eines engliſchen fashionable, auf dem Ver-
deck hin und her ſchlenkerte, ohne von ſeinem Eigen-
thum, und der Mühe ſeiner Leute die geringſte Notiz
[241] zu nehmen. Wie ich nachher erfuhr, war er eben zu
einer Erbſchaft in Irland von 20,000 Pfd. Sterl.
Revenüen gelangt, und nun im Begriff, es unter die
Leute zu bringen. Er eilte nach Neapel, und ſchien
ſo guter Dinge, daß ſelbſt die Seekrankheit ſeine gute
Laune nicht verdarb. Indem ich mit ihm ſprach,
dachte ich mir, uns Beide innerlich betrachtend: Voilà
le commencement et la fin!
Einen den die Welt
ausſendet und zu ihm ſagt: Genieße mich
und einen den ſie zu Hauſe ſchickt, und zu ihm ſagt:
Verdaue mich. — Der Himmel erhalte mir nur
meinen guten Magen dazu! doch dieſe melancholiſchen
Anſichten entſtanden nur aus den qualms des
Dampfkeſſels und der Seekrankheit, und nach einiger
Ueberlegung freute ich mich an dem Anblick der hoff-
nungsreichen Jugend, als wenn ich es ſelbſt wäre,
dem ſie noch Illuſionen machte.


Heute Abend gedenke ich mit der Mail weiter zu
gehen, und hoffe, daß ein gutes Diné der Ekelkur
ein Ende machen wird, welche die Nachwehen der
Ueberfahrt noch zurückgelaſſen hat.



Es ging mir nicht ganz ſo wohl als ich erwartete.
Das Diné war keineswegs gut, ſondern ſehr ſchlecht,
und die Folgen der See gaben mir Migraine, mit
Briefe eines Verſtorbenen. II. 16
[242] der ich um Mitternacht abfahren mußte. Glücklicher-
weiſe waren wir nur zwei Perſonen in dem beque-
men, vierſitzigen Wagen, ſo daß Jeder eine ganze
Seite einnehmen konnte. Ich ſchlief daher leidlich,
und die Luft, wie die ſanfte Bewegung, wirkten ſo
wohlthätig, daß gegen ſieben Uhr, als ich erwachte,
das Kopfweh ziemlich vergangen war. Die Holyhead-
Mail muß, allen Aufenthalt mit eingerechnet, zwei
deutſche Meilen in der Stunde zurücklegen, daher nie
Schritt, meiſtens Gallop gefahren wird.*) Zum
Frühſtück trafen wir ſchon hier ein, wo ich blieb, um
mir die Stadt zu beſehen. Ich beſuchte zuerſt das
Schloß, größten Theils ein uraltes Gebäude, von
rothen Sandſteinquadern aufgeführt, inwendig aber
etwas moderniſirt. Die Ausſicht von dem alten
„Keep,“ wo jetzt ein Sommerhäuschen ſteht, über den
Fluß, und eine üppig bewachſene und fruchtbare Ge-
gend iſt ſehr freundlich. Nahe dabei iſt das Stadt-
gefängniß, wo ich die armen Teufel in der Tretmühle
arbeiten ſah. Sie waren alle in gelbes Tuch geklei-
det, ſoviel ſächſiſchen Poſtillonen ähnlich, deren Phleg-
ma eine gleiche Aufregung manchmal zu gönnen wäre.
Von dieſer neumodiſchen Erziehungsanſtalt, wanderte
[243] ich (mich ſchnell acht hundert Jahre zurückverſetzend)
nach den Ueberreſten der alten Abtei, von der nur
noch die ſchöne Kirche erhalten und im Gebrauch iſt.
Die Glasfenſter darin ſind, wie überall in England,
von den verrückten Fanatikern unter Cromwell zer-
ſtört, aber hier mit neugemaltem Glas außerordent-
lich gut reſtaurirt worden. Der Erbauer dieſer Abtei,
Rodger Montgomery, erſter Graf von Shrewsbury,
und einer der Feldherren Wilhelm des Eroberers,
liegt in der Kirche, unter einem ſchönen Monumente
begraben. Daneben ein Templer, ganz dem in Wor-
ceſter ähnlich, nur nicht in Farben. Er liegt auch
mit übergeſchlagenen Beinen auf dem Steine ausge-
ſtreckt, wie jener, welche beſondere Stellung eine Ei-
genthümlichkeit auf den Gräbern der Templer gewe-
ſen zu ſeyn ſcheint. Der Graf von Shrewsbury
baute nicht nur die Abtei und dotirte ſie, ſondern
ſtarb auch ſelbſt als Mönch darin, um ſeine Sünden
zu büßen. So wußte die [Elaſtizität] des menſchlichen
Verſtandes der rohen Gewalt der Ritter mit über-
legener Schlauheit bald geiſtlichen Zaum und Gebiß
anzulegen.


Die Stadt iſt ſehr merkwürdig wegen der Menge
ihrer alten Privathäuſer, alle von der ſeltſamſten
Form und Bauart. Ich blieb oft in den Straßen
ſtehen, um einige auf meiner Schreibtafel abzuzeich-
nen, was immer eine Menge Volks um mich ver-
ſammelte, das mir verwundert zuſah — und mich
nicht ſelten ſtörte. Die Engländer dürfen ſich alſo
16*
[244] nicht ſo ſehr wundern, wenn es ihnen in der Türkei
und Aegypten eben ſo ergeht.



Es iſt nicht zu [läugnen], daß man, nach einiger
Zeit der Entbehrung, den engliſchen comfort immer
mit Vergnügen wieder findet. Abwechſelung iſt über-
haupt die Seele des Lebens, und giebt jedem Dinge,
dans son tour, wieder erneuten Werth. Die guten
Gaſthöfe, die reinlich ſervirten breakfeasts und din-
ners,
die geräumigen, und ſorgfältig gewärmten Bet-
ten, die höflichen und gewandten Kellner — fielen
mir, nach dem irländiſchen Mangel, ſehr angenehm
auf, und verſöhnten mich bald mit den höheren Prei-
ſen. Um zehn Uhr früh verließ ich Shrewsbury, wie-
derum mit der Mail, und erreichte Hereford um acht
Uhr Abends. Da es nicht kalt war, ſaß ich außer-
halb, und cedirte meinem Bedienten den Platz in der
Kutſche. Zwei bis drei unbedeutende [Männer], und
ein bübſcher, aufgeweckter Knabe von eilf Jahren
formirten meine Geſellſchaft auf der Impériale, wo
gewaltig politiſirt wurde. Der Knabe war der Sohn
wohlhabender Gutsbeſitzer, der von ſeiner, hundert
Meilen entfernten, Erziehungsanſtalt zur Chriſtmaß
ganz allein zu Hauſe reiste. Dieſe Gewohnheit Kin-
der ſo früh ſchon, auf ihre eignen [Kräfte] anzuweiſen,
giebt ihnen gewiß für das folgende Leben die ver-
[245] mehrte Selbſtſtändigkeit und Sicherheit, welche die
[Engländern] vor andern Nationen, namentlich den
Deutſchen voraushaben. Die Freude und bewegliche
Unruhe des Kindes, je mehr es ſich dem väterlichen
Hauſe näherte, rührte und ergötzte mich. Es war ſo
etwas Natürliches und Inniges darin, das mich un-
willkührlich an meine eigne Kinderjahre erinnerte —
dies unſchätzbare, und zu ſeiner Zeit [ungeſchätzte],
Glück, das wir nur im Rückblick zu erkennen im
Stande ſind!



Gute Julie, heute habe ich wieder einen jener ro-
mantiſchen Tage erlebt, die ich lange entbehrt, einen
von den Tagen, deren mannichfache Bilder, wie Feen-
mährchen in der Kindheit, erfreuen. Der berühmten
Scenery des Fluſſes Wye verdanke ich ſie, die, ſelbſt
im Winter, auf den Namen einer der ſchönſten Ge-
genden Englands Anſpruch machen kann.


Ehe ich Hereford verließ, beſah ich noch ſehr früh
die Cathedrale, die, außer einem ſchönen Portico,
nicht viel Sehenswerthes darbietet, hätte aber bald
darüber die Mail verſäumt, welche in England auf
Niemand wartet. Sie war bereits im vollen Trabe,
und ich fing ſie wörtlich im Fluge auf. Nur für die
dreizehn Meilen bis Roß, die wir außerordentlich
[246] ſchnell, obgleich mit vier blinden Pferden,
zurücklegten, bediente ich mich des Wagens, dann
nahm ich ein Boot, ſchickte es fünf Meilen voraus
nach dem alten Schloß Goderich, und ſchlug ſelbſt
meinen Weg dahin zu Fuß ein. Er führte mich zu-
erſt auf einen hochgelegenen Kirchhof mit prachtvoller
Ausſicht, dann durch eine üppige Gegend, wie am
Luganer See, bis zur Ruine, wo ich das kleine Boot
mit zwei Rudern und meinem Irländer ſchon vor-
fand. Ich mußte über den Fluß ſetzen, der hier
ziemlich reißend iſt, um zu dem, mit der alten Burg
gekrönten, Berg zu gelangen. Das Steigen auf dem
ſchlüpfrigen Raſen war ziemlich beſchwerlich. Als ich
in den hohen Thorweg trat, nahm mir ein Luftſtoß
die Mütze vom Kopfe, als wolle der Berggeiſt mir
mehr Reſpekt für die Schatten der verblichenen Rit-
ter einflößen. Die Ehrfurcht und Bewunderung
konnte aber nicht vermehrt werden, mit der ich die
dunklen Gänge, die geräumigen Höfe durchirrte, und
auf die verfallenen Treppen hinaufkletterte. Im Som-
mer und Herbſt wird der River Wye von Reiſenden
nicht leer, da aber wahrſcheinlich nie ein methodiſcher
[Engländern] die Reiſe auch im Winter unternahm, ſo
ſind auch die Leute nicht darauf eingerichtet, und ich
fand den ganzen Tag lang nirgends weder Führer,
noch irgend eine Sorgfalt zum Behuf der Touriſten.
So war auch die Leiter, welche nöthig iſt, um zu der
abgebrochenen Treppe des Hauptthurms zu gelangen,
nicht vorhanden, ſondern bereits in die Winterquar-
tiere gebracht. Mit Hülfe der Bootsleute und mei-
[247] nes Dieners, etablirte ich jedoch eine Jakobslei-
ter
, auf deren Rücken ich mich hinaufſchwang. Man
überſieht von der Zinne eine unermeßliche Strecke
Landes, und die Raubritter, wenn es ſolche hier gab,
konnten Reiſende von hier ſchon Meilen weit ankom-
men ſehen. Nachdem ich Alles gehörig durchkrochen
hatte, und den Berg auf der andern Seite wieder
hinabgeſtiegen, frühſtückte ich behaglich im Boote,
während dieſes geſchäftig von den ſchnell ſtrömenden
Wellen fortgetragen wurde. Das Wetter war ſchön,
die Sonne ſchien hell, ein ſehr ſeltner Fall in dieſer
Jahreszeit, und die Luft war ſo warm, wie an einem
angenehmen Aprilstag bei uns. Die [Bäume] hatten
freilich kein Laub, da ſie aber ungemein dicht in
Aeſten, auch mit vielem Immergrün untermiſcht wa-
ren, und das Gras dabei weit grüner und heller
[glänzte] als im Sommer, ſo verlor die Landſchaft
durch die Jahreszeit weit weniger als man erwartet
hätte. Der Boden iſt ungemein fruchtbar, die ſanf-
ten Hügel von oben bis unten bewachſen, wenig Fel-
der, meiſtens Wieſen zwiſchen den Büſchen, und jeden
Augenblick erſcheint ein Thurm, Dorf oder Schloß,
das die fortwährenden Krümmungen des Fluſſes in
den verſchiedenartigſten Anſichten zeigen. Eine Zeit
lang ſchwammen wir an den Gränzen dreier Graf-
ſchaften hin, Monmouth zur rechten, Hereford zur
linken, und Glouceſter vor uns. An einer maleri-
ſchen Stelle, Eiſenhämmern gegenüber, deren Flam-
men auch bei Tage ſichtbar waren, erhebt ſich ein
Landſitz, der halb den neuen Stempel unſrer Zeit,
[248] halb den des grauen Alterthums trägt — dies iſt
die Wiege Heinrich des V., denn hier verbrachte er
ſeine Kindheit unter Aufſicht der Gräfin von Salis-
bury. Tiefer unten im Thal ſteht noch dieſelbe un-
anſehnliche kleine Kirche, in der er getauft, und ſeine
Pflegerin begraben ward. Agincourt und Falſtaff,
Mittelalter und Shakeſpeare wurden lebendig vor
meiner Phantaſie, bis die noch ältere und grö-
ßere Natur ſelbſt
, mich bald alles Uebrige ver-
geſſen ließ. Denn nun gleitete unſer Kahn in die
Felſenregion hinein, wo der ſchäumende Fluß, und
ſeine kühnen Umgebungen den impoſanteſten Charak-
ter annehmen. Es ſind verwitterte und zerbröckelte
Sandſteinwände, von [rieſenhaften] Dimenſionen, alle
ſchroff und perpendikulair abfallend, aus Eichenwäl-
dern hervorſtehend, und mit hundertfachen Feſtons
von Epheu überhangen. Die Regen und Stürme
vieler Jahrtauſende haben die weiche Maſſe in ſo
phantaſtiſche Formen verwaſchen und gemodelt, daß
man künſtliches Menſchenwerk zu ſehen glaubt.
Schloſſer und Thürme, Amphitheater und Mauern,
Zinnen und Obelisken, äffen den Wanderer, der ſich
in die Ruinen einer Dämonenſtadt verſetzt wähnt.
Oft löſen ſich einzelne dieſer Gebilde bei Unwettern
ab, und ſtürzen verheerend, von Felſen zu Felſen ab-
prallend, mit Donnergetöſe in die hier unergründliche
Tiefe des Stroms. Man zeigte mir die Ueberbleibſel
eines dieſer Blöcke, und das Monument des armen
Portugieſen, den er in ſeinem Falle begrub. Dieſe
ſeltſame Felſenformation erſtreckt ſich, faſt acht Mei-
[249] len weit, bis eine Stunde vor Monmouth, wo ſie
mit einem einzeln ſtehenden Coloſſe ſchließt, welcher
der Kopf des Druiden genannt wird. Von einem
gewiſſen Puncte geſehen, zeigt er nämlich das ſchöne,
antike Profil eines Greiſes, der in tiefem Schlaf ver-
ſunken ſcheint. — Als wir vorbeifuhren, ſtieg eben
der Mond über ihn empor, und gab ihm einen er-
greifenden Ausdruck. Wie lange, dachte ich, ſind
dieſes Schläfers Augen ſchon geſchloſſen, wie oft mag
ſeitdem der Mond ſein bleiches Antlitz beſtrahlt, und
was mag in uralten Zeiten ſein Auge geſehen haben,
wenn es je offen ſtand! Ich zweifelte daran in die-
ſem Augenblick gar nicht, der Glaube war über mich
gekommen und hatte mich ſelig gemacht, denn der
heilige Auguſtin hat ganz recht, wenn er ſagt: Eben
deswegen glaube ich es, weil es kindiſch und
unmöglich iſt! Ja, es war ſo, der todte Stein
hatte für mich mehr Leben gewonnen, als alle wirk-
lich lebenden Figuren um mich her.


Eine kurze Zeit lang fuhren wir nun zwiſchen
verengten, dicht vom Waſſer bis zur Spitze bewal-
deten Ufern, hin, bis eine große kahle Felſenplatte
ſichtbar wurde, die König Arthurs Ebne genannt
wird, weil der fabelhafte Held hier ſein Lager aufge-
ſchlagen haben ſoll. Eine halbe Stunde darauf lang-
ten wir in Monmouth an, einer kleinen alterthümli-
chen Stadt, in der Heinrich der V. geboren wurde.
Seine hohe Statue prangt auf dem Dache des Rath-
hauſes; von dem Schloße aber, in dem er das Licht
[250] der Welt zuerſt erblickte, iſt nur noch ein gothiſch
verziertes Fenſter und ein Hof übrig, in dem Trut-
hühner, Gänſe und Enten gemäſtet werden. Dies
paßte freilich beſſer zum Geburtsort Falſtaff’s.


Um einen ſchriftlichen Wegweiſer zu kaufen, ging
ich in einen Buchladen, wo ich unerwartet die Be-
kanntſchaft einer ſehr liebenswürdigen Familie machte.
Sie beſtand aus dem alten Buchhändler, ſeiner Frau,
und zwei hübſchen Töchtern, die unſchuldigſten Land-
mädchen, die mir je vorgekommen. Ich traf ſie bei
ihrem Abendthee, und der Vater, ein gutmüthiger,
aber für einen Engländer ſeltſam ſprachſeliger
Schwätzer, nahm mich förmlich feſt und gefangen,
um mir die ſonderbarſten Fragen über den Continent
und die Politik vorzulegen. Die Töchter, die mich,
wahrſcheinlich aus Erfabrung, bedauerten, wollten
ihn abhalten — ich ließ ihn aber gewähren, und gab
mich de bonne grace eine halbe Stunde Preis, wo-
durch ich die Gewogenheit der ganzen Familie in
ſolchem Grade gewann, daß alle mich auf das drin-
gendſte einluden, doch einige Tage hier in der ſchö-
nen Gegend zu verweilen, und bei ihnen zu wohnen.
Als ich endlich ging, wollten ſie für das gekaufte
Buch durchaus nichts annehmen, und ich mußte es
bongré malgré als Geſchenk behalten.


Solche ſchlichte Eroberungen freuen mich, weil ihre
Ergebniſſe nur vom Herzen kommen können.


[251]

Als ich früh angezogen war, und nach ſchnell ge-
nommenem Frühſtück abreiſen wollte, bemerkte ich,
nicht ohne unangenehme Ueberraſchung, daß mir meine
Börſe und Taſchenbuch fehlten, die ich immer bei
mir zu tragen pflege. Ich erinnerte mich ganz genau,
ſie geſtern Abends, als ich im Coffeeroom, wo ich
mich ganz allein befand, gegeſſen und an Dich ge-
ſchrieben hatte, vor mir hingelegt zu haben, weil ich
aus dem Taſchenbuch Noten für meinen Brief ent-
nahm, und die Börſe gebrauchte, um die Schiffer zu
bezahlen. Ohne Zweifel hatte ich ſie dort liegen
laſſen, und der Kellner ſie ſich zu Gemüthe geführt.
Ich ließ ihn ſogleich rufen, rekapitulirte das ange-
gebne Factum, und fragte, ihn ſcharf dabei anſehend,
ob er wirklich nichts gefunden? Der Menſch ward
blaß und verlegen, und ſtammelte, er habe nichts
geſehen, als ein einzelnes beſchriebenes Blatt Papier,
was, wie er glaube, noch unter dem Tiſche liege.
Ich ſah nach, und fand es in der That an der be-
zeichneten Stelle. Alles dies ſchien mir immer ver-
dächtiger, ich machte daher dem Wirth, einem höchſt
widrig ausſehenden baumlangen Kerl, Vorſtellungen,
die zugleich einige Drohungen enthielten, er aber
antwortete kurz: Er kenne ſeine Leute, ein Dieb-
ſtahl ſei bei ihm ſeit dreißig Jahren nicht vorgefallen,
mein Vorgeben ſei ihm daher höchſt auffallend — er
werde zwar, wenn ich es wolle, ſogleich nach einem
Magiſtrat ſchicken, alle ſeine Leute ſchwören, ſein
[252] ganzes Haus unterſuchen laſſen — dann aber ſetzte
er höhniſch hinzu, vergeſſen Sie nicht, daß auch Ihre
Sachen bis auf die größte Kleinigkeit unterſucht
werden müſſen, und wenn man bei uns nichts fin-
det, Sie die Koſten, und mir Entſchädigung bezahlen
werden. Qu’allai-je faire dans cette galère! dachte
ich, und ſah wohl, das Beſte ſey, meinen Verluſt,
von ohngefähr zehn Pfund, zu verſchmerzen, und ab-
zuziehen. Ich nahm daher friſche Noten aus mei-
nem Mantelſack, bezahlte die ziemlich billige Rech-
nung, und glaubte bei dem mir herausgegebenen
Gelde, ganz deutlich einen meiner eignen Sovereigns
wieder zu erkennen, der einen kleinen Riß über das
allerhöchſte Auge Georg des IV. hatte. Ueberzeugt
daß Wirth und Kellner unter einer Decke ſteckten,
ſchüttelte ich den Staub von meinen Füßen, und
hatte, als ich das Haus in einer Poſtchaiſe verließ,
das Gefühl eines Menſchen, der eben einer Räuber-
höhle entronnen iſt.


Um aber doch künftigen Reiſenden einen Dienſt zu
erzeigen, ließ ich den Wagen, ſo wie ich um die Ecke
war, halten, und ging zu Fuß zu dem geſtern er-
wähnten [Buchhändler], ihm mein Mißgeſchick mitzu-
theilen. Das Erſtaunen und Bedauern Aller war
gleich groß — bald darauf fingen die Töchter indeß
an mit der Mutter zu ziſcheln, machten ſich Zeichen,
nahmen dann den Vater bei Seite, und nach kurzer
Deliberation kam die Jüngſte wieder verlegen auf
mich zu, und fragte erröthend: ob der eben gehabte
[253] Verluſt mir nicht vielleicht „atemporary embarras-
ment“
verurſachte, und ob ich nicht ein Darlehn von
fünf Pfund annehmen wolle, was ich ihnen bei mei-
ner Rückkehr wiedererſtatten könne? dabei wollte ſie
mir die Note gleich in die Hand ſtecken. — Dieſe
Güte rührte mich wirklich tief — ſie hatte etwas ſo
Zartes und Uneigennütziges, daß die größte Wohlthat
mir vielleicht, unter andern Umſtänden, weniger
Dank eingeflößt haben würde, als dieſer gute Wille.
Du kannſt denken, wie herzlich ich dankte. Gewiß,
ſagte ich, würde ich, wenn ich es im Geringſten nö-
thig hätte, nicht zu ſtolz geweſen ſeyn, ein ſo gut
gemeintes Darlehn anzunehmen, da dies aber in kei-
ner Art der Fall ſey, ſo würde ich, ihre Großmuth
auf eine andere Weiſe in Anſpruch nehmen, und
bäte mir daher aus, von jeder der zwei hübſchen
Monmoutherinnen einen Kuß mit nach dem Conti-
nent nehmen zu dürfen. Dies geſchah unter vielem
Lachen, und mit freundlicher Hingebung, worauf ich,
ſo befrachtet, meinen Wagen wieder aufſuchte. Da
ich geſtern auf dem Waſſer geſchifft, zog ich heute den
Weg zu Lande vor, der ebenfalls immer längs des
Fluſſes nach Chepſtow führt. Die Gegend bleibt von
derſelben Art; reich, dunkelwaldig und Wieſengrün,
hier aber noch vielfach durch Hochöfen, Zinn- und
Eiſenwerke belebt, deren Feuer in gelb, roth, blau
und grünlichen Farben ſpielen, und aus thurmhohen
Feuereſſen lodern, wo ſie zuweilen ganz die Form
großer glühender Blumen annehmen, wenn Feuer
und Rauch, von der Atmosphäre niedergedrückt, lange
[254] Zeit in dichter unbeweglicher Maſſe verweilen. Ich
ſtieg aus, um eins der Zimmerwerke zu beſehen. Es
wurde nicht, wie gewöhnlich, von einer Dampfma-
ſchine, ſondern von einem ungeheuern haushohen
Waſſerrade getrieben, das wiederum drei oder vier
kleinere in Bewegung ſetzte. Dieſes Rad hatte die
Kraft von achtzig Pferden, und die reißende Ge-
ſchwindigkeit, mit der es ſich drehte, der grauſende
Lärm, der im Moment, wo es angelaſſen ward, er-
tönte, die Funken ſprühenden Feuerheerden rund um-
her, wo das Eiſen glühte, und die halb nackten
ſchwarzen Figuren dazwiſchen, die mit Hämmern und
Keulen wild hantirten, und die rothziſchenden Tafeln
umherwarfen — es paßte Alles vortrefflich zu einem
Bilde der Schmiede Vulkan’s.


Die Manipulation beginnt damit, daß geſchmiedete
Eiſenbarren oder Stäbe von einem halben Zoll Dicke
und acht Fuß Länge, unter ein ſelbſt agirendes Meſ-
ſer gehalten werden, das ſie in fußlange Stücke
ſchneidet, mit einer Grazie und Leichtigkeit, als lei-
ſteten ſie nicht mehr Widerſtand wie friſche Butter.
Das abgeſchnittene Stück wird ſogleich einem andern
Arbeiter zugeworfen, der es in ein hölliſches Feuer
ſchiebt, wo es in wenigen Augenblicken glühend wird.
Er holt es dann mit einer Zange wieder heraus, und
wirft es, eine Station weiter, auf den ſandigen Bo-
den. Hier hebt es ein Dritter auf, und ſchiebt es
unter eine Walze, die es nach mehrmaligem ſchnellen
Umdrehen in eine viermal größere und eben ſo viel
[255] dünnere Platte verwandelt. Dieſe Platte geht nun
denſelben Weg wieder ins Feuer zurück, wird dann
von Neuem gewalzt, und ſo fort, bis ſie ſo dünn wie
Papier iſt. Nun werden die Platten erſt in die ih-
nen beſtimmte definitive Form geſchnitten, hierauf
geſchlagen, und gereinigt, welches noch einmal Feuer,
nebſt gewiſſen andern Zuthaten, erfordert. Dann
kommen ſie in ein zweites Haus, wo ſie in Vitriol
und Sand gewaſchen, nachber in das mit Fett flüßig
erhaltne Zinn getaucht, und zuletzt von Weibern mit
Kley ſauber gereinigt und ſo ſchön polirt werden,
daß man ſich darin ſpiegeln kann. Eine ſolche Fabrik
iſt wie eine Welt im Kleinen. Man ſieht, hier wie
dort, das Höchſte und Niedrigſte zugleich beſtehen,
und doch auch den mühſamen Durchgang eines Je-
den durch alle Grade, und wie nach und nach das
Grobe zum Feinſten wird.


Auf halbem Wege verwandelte ſich, wie geſtern, die
freundliche Gegend, in ernſtere Felſen, und da, wo
ſich ein tiefer Keſſel verſchieden geformter Berge bil-
det, erblickten wir in deſſen Mittelpunkt, hart über
dem ſilbernen Strome ſich erhebend, die berühmte
Ruine von Tintern Abbey. Eine vortheilhaftere Lage
und impoſantere Ueberreſte eines weiten, alten Klo-
ſters, laſſen ſich kaum denken, ja der Eintritt in die-
ſelben gleicht ganz einer phantaſtiſchen Theaterdeco-
ration. Die große Kirche ſteht faſt noch ganz erhal-
ten, nur einige ihrer Pfeiler und das Dach fehlen.
Die Gebäude ſind von menſchlicher Hand grade
[256] aus einer Wald- und Bergſchlucht hervorbricht, ſich
in einem weiten Bogen [nähert], eine Gärten ähnliche
grüne Halbinſel, die einen mit Boskets bedeckten
Hügel bildet, umfließt; dann rechts an einer unge-
heuern Felsmauer, die mit Deinem Standpunkt faſt
gleiche Höhe hat, ſich ſchäumend durcharbeitet, und
zuletzt bei der, einer verfallnen Stadt ähnlichen,
Ruine des Schloßes von Chepſtow, ſich in den Kanal
von Briſtol ergießt, wo Alles im Ocean in nebelhaf-
ter Ferne verdämmert.


Jenſeits des Fluſſes, vor Dir, erſtreckt ſich, faſt
durch die ganze zu überſehende Gegend hin, der
ſcharfe Kamm eines langen Bergrückens, mit dichtem
Walde bedeckt, aus deſſen Baumgewühl eine fortlau-
fende, mit Epheu feſtonirte Felswand, maleriſch her-
vor bricht. Ueber dieſem Gebürgsſtamm ſiehſt Du
von Neuem Waſſer, die 5 Meilen breite Severn,
welche von hundert weißen Segeln wimmelt, und an
ihren jenſeitigen Ufern erblickſt Du noch zwei ſich
über einander lagernde, blaue Hügelreihen voll Frucht-
barkeit und reichem Anbau.


Die Gruppirung dieſer Ausſicht bildet ein
vollendetes Ideal, und ich kenne keine ſchönere. Un-
erſchöpflich an Details, von unabſehbarem Umfang,
und dennoch von ſo hervorſtehenden, grandioſen
Hauptzügen, daß dadurch die Verwirrung und Leere,
welche ein ſehr weit umfaſſender Horizont gewöhnlich
verurſacht, gänzlich vermieden wird. Der Park von
Piercefield, der von Windoliff bis Chepſtow die Fels-
[257] und Bergrücken einnimmt, iſt daher ohne Zweifel
einer der herrlichſten in England, wenigſtens was ſeine
Lage betrifft. Er beſitzt Alles was die Natur nur
geben kann, hohen Wald, prächtige Felſen, den
fruchtbarſten Boden, ein mildes günſtiges Klima für
Vegetationen aller Art, einen reißend ſtrömenden
Fluß, das nahe Meer, Einſamkeit, und aus ihrer
Ruhe die Ausſicht in dieſe reiche Gegend, die ich ge-
ſchildert, gehoben vom Anblick einer der erhabenſten
Burgruinen, welche nur des Malers Pinſel erfinden
konnte, ich meine das über dem Fluß hängende,
mehr als 6 Morgen Landes bedeckende, Schloß von
Chepſtow, welches nach der Stadt zu den Park be-
gränzt, obgleich es nicht als Eigenthum dazu ge-
hört.


Faſt alle Schloßruinen in England verdanken wir
Cromwell, ſo wie die zerſtörten Kirchen und Klöſter
Heinrich dem VIII. Die Erſtern wurden mit
Feuer und Schwerdt verheert, die andern blos auf-
gehoben
, und dem nagenden Zahne der Zeit, wie
dem Eigennutze der Menſchen überlaſſen. Beide Po-
tenzen haben vollkommen gleich gewirkt, und die bei-
den großen Männer dadurch einen Effekt hervorge-
bracht, den ſie freilich nicht bezweckten, der aber dem
gleich iſt, den ihre Perſonen ſelbſt in der Geſchichte
zurückgelaſſen, nämlich ein pittoresker. Ich wan-
derte durch den Park zu Fuß, und ließ den Wagen
auf der Landſtraße folgen. Erſt bei halber Dämme-
rung erreichte ich die Ruine, was ihren großartigen
17*
[258] Eindruck auf mich nur noch vermehrte. Das Schloß
hat vier weitläuftige Höfe nebſt einer Kapelle, und
iſt zum Theil noch gut erhalten. Hohe Nuß- und
Taxus-Bäume, Obſtplantagen und ſchöner Raſen
zieren das Innere, wilde Wein- und Schlingpflan-
zen aller Art bedecken die Mauern. In dem am
beſten conſervirten Theile des Schloßes, wohnt eine
Frau mit ihrer Familie, die dem Beſitzer, dem Her-
zog von Beaufort, eine Rente für die Erlaubniß
zahlt, die Ruine Fremden zu zeigen, welche einen
Schilling dafür erlegen müſſen. Du ſiehſt, qu’en
Angleterre on fait flêche de tout bois,
und daß
ein dortiger Herzog mit 60,000 Pf. St. Einkünſte, weder
den Heller der Wittwe verſchmäht, noch ſich ſcheut,
Fremde regelmäßig in Contribution ſetzen zu laſſen.
Es giebt zwar leider deutſche Souverainchen, die es
nicht anders machen.


Eben ſowohl mit meinem durchlebten Tage zufrie-
den als müde vom Klettern, und [durchnäßt] vom
Regen, der ſich in der letzten Stunde wieder einge-
ſtellt hatte, eilte ich in den Gaſthof, in mein
Negligee, und zum Eßtiſch. Da fühlte ich etwas
Ungewöhnliches in der Taſche meines Schlafrocks —
verwundert brachte ich es heraus, und beſchämt be-
trachtete ich es — die geſtohlen geglaubte Börſe nebſt
Taſchenbuch! jetzt erſt fiel es mir bei, daß ich ſie am
vorigen Abend an dieſem ungewöhnlichen Ort ver-
wahrt, aus Beſorgniß, ſie ſpäter auf dem Tiſche zu
vergeſſen. Dies ſoll mir wenigſtens eine Lehre ſeyn,
[259] nicht mehr zu leicht auf den bloßen Schein hin, und
auf die Verlegenheit des Angeklagten zu verdam-
men, denn, bei Menſchen von reizbarem Nerven-
ſyſtem und regem Ehrgefühl bringt leicht der bloße
Gedanke: daß Andere einen ſolchen Verdacht haben
könnten — dieſelben Symptome, wie bei Sündern
das Bewußtſeyn der Schuld hervor. Meinem guten
Herzen wirſt Du zutrauen, daß ich ſogleich einen
Brief an meinen Freund, den Buchhändler, expedirte,
um Wirth und Kellner zu disculpiren, und als
Schmerzengeld für den Letzteren zugleich zwei Pfund
beilegte, die ich an ihn, mit meiner Bitte um Ver-
zeihung, abzugeben erſuchte. Hierauf ſchmeckte mir
in Wahrheit das Eſſen noch beſſer, da ich nach Kräf-
ten Uebles wieder gut gemacht.


Dein treuer L ....


[[260]]

Fuͤnf und vierzigſter Brief.



Gute Julie.

Ich hoffe, Du folgſt mir auf der Carte, was Dir
meine Briefe beſſer verſinnlichen wird, wenn Du auch
dort keine der ſchönen Ausſichten mit genießen kannſt,
welche ich ſah, die ich Dir aber alle in meinen Le-
bens- und Erinnerungs-Bildern in getreuer Copie
mitbringe.


Ich beſuchte früh noch einmal das herrliche Schloß,
wo mich dieſen Morgen ein blühendes Mädchen her-
um führte, die einen ſehr anmuthigen Contraſt mit
den verbrannten Thürmen, dem ſchauerlichen Ge-
fängniſſe des Königsmörders Martin, und dem dunk-
len Burgverließ abgab, in das wir zuſammen viele
Stufen hinabſtiegen. Dann beſuchte ich eine Kirche
[261] mit beſonders zierlichem altſächſiſchen Portal und
einem ſehr ſchön gearbeiteten Taufbecken in demſelben
Styl. Hier liegt auch der arme Martin begraben.
Er war einer der Richter Carl des I. und ſaß 40
Jahre im Schloſſe zu Chepſtow gefangen, ohne doch
je, wie man behauptet, dort ſeine gute Laune ganz
zu verlieren. Nach den erſten Jahren ſcheint über-
haupt ſeine Haft milder geworden zu ſeyn, und man
ihn auch nach und nach immer etwas beſſer logirt zu
haben, denn Carl II. war nicht grauſam. Wenig-
ſtens zeigte mir das Mädchen heute früh drei Ge-
mächer, wovon das unterſte freilich ein ſchauderhaftes
Loch war, und ciceroniſirte dabei in folgenden Wor-
ten: „Hier ſteckte man Martin zuerſt hinein, als er
noch böſe war; da er aber hernach in ſich ging, kam
er einen Stock höher, und endlich, als er religieus
wurde, bekam er das Zimmer mit der ſchönen Aus-
ſicht oben.“


Um zwei Uhr fuhr ich mit einer ſehr vollen Stage
coach,
wo ich, ohngeachtet des heftigen Regens, nur
mit Mühe noch einen Platz auf dem Bocke bekam,
nach Briſtol. Wir paſſirten den Fluß auf einer ſchö-
nen Brücke, die zugleich den beſten Standpunkt zur
Anſicht des Schloßes bietet, welches ſich unmittelbar
über den, ſenkrecht nach dem River Wye herabfallen-
den, Felſen erhebt, und beſonders dadurch einen ſo
[äußerſt] maleriſchen Anblick gewährt. Wir behielten
dann noch lange den Park von Piercefield und ſeine
Felſenwände, jenſeits des Fluſſes, im Angeſicht. Ich
[262] ſagte zu dem Herrn der Stage, der ſelbſt fuhr, der
Beſitzer dieſes ſchönen Parks müſſe ein glücklicher
Mann ſeyn! Keineswegs, erwiederte er, der arme Teufel
iſt voller Schulden, hat eine zahlreiche Familie, und
wünſcht gar ſehr, einen guten Käufer für Piercefield
zu finden. Vor drei Monaten war ſchon Alles rich-
tig, mit einem reichen Kaufmann aus Liverpool, der
das ſchöne Gut für ſeinen jüngſten Sohn beſtimmte.
Doch ehe noch abgeſchloſſen wurde, verheirathet ſich
dieſer Sohn heimlich mit einer Schauſpielerin, der
Vater enterbt ihn, und ſo wurde der Kauf rück-
gängig. Das hätte wahrlich Stoff zu einigen mora-
liſchen Betrachtungen gegeben! Das Wetter wurde
unterdeſſen immer abſcheulicher, und artete zuletzt in
einen völligen Sturm aus. Wir hatten ihn zwar im
Rücken, dennoch war die Fahrt über den Channel
höchſt unangenehm. Die vier Pferde, alles Gepäck,
und die Paſſagiere wurden pèle mêle in ein kleines
Boot gepackt, ſo voll und gepreßt, daß man ſich kaum
darin rühren konnte. Der Poſten neben den Pferden
war wirklich gefährlich, da ſie ſich zuweilen vor den
Segeln ſcheuten, beſonders wenn dieſe gewandt wur-
den. Ein Herr fiel bei einer ſolcher Gelegenheit,
ſammt der Kiſte, auf der er ſaß, grade unter ſie,
wurde aber von den gutmüthigen Thieren nur ein
wenig getreten, glücklicherweiſe aber nicht geſchlagen,
wie es ihm leicht hätte arriviren können. Das
Boot, heftig vom Sturm getrieben, lag ganz auf
einer Seite, und unaufhörlich ſpritzten die Wellen
über, und durchnäßten uns von Kopf bis zu Fuß. Als
[263] wir endlich anlangten, war das Debarkiren auch eben
ſo mühſam als ſchmutzig, und ich verlor dabei, zu
meinem großen Mißvergnügen einen Theil der Werke
Lord Byron’s. Man ſagte mir, daß dieſe Ueberfahrt,
der häufigen Stürme, des ſeichten Grunds und der
vielen Klippen wegen, oft Unglücksfälle herbeiführe.
Vor ſechs Monaten ſcheiterte das Schiff mit der
Mail, und mehrere Perſonen verloren das Leben da-
bei. Wir konnten das gewöhnliche Landungshaus
auch diesmal nicht erreichen, und mußten daher an
der Küſte debarkiren, von wo wir, auf einem Strand
von roth- und weißgeſtreiftem Marmor, bis zum
Gaſthof zu Fuß gingen. Hier beſtiegen wir eine an-
dere Stage oder Landboot, mit zwanzig Perſonen
gefüllt, und fuhren (aber nicht ſo ſchnell als mit der
Mail) nach Briſtol, von deſſen geprieſener Lage ich
für heute nur die hellen Glaslaternen und wohl ver-
ſehenen, bunten Läden gewahr wurde.



Wenn ich in der Erinnerung aufſuche, was den
River Wye ſo ſchön macht, und vor ſo vielen an-
dern Flüſſen den Vorzug giebt, ſo finde ich, daß es
vorzüglich ſeine beſtimmt gezeichneten Ufer ſind, die
ſich nie in undeutliche Linien verflachen, noch eine
nichtsſagende Mannichfaltigkeit ohne Charakter dar-
[264] bieten, ferner, daß ihn faſt immer Wald, Felſen oder
Wieſen, durch Gebäude belebt, ſelten nur Felder und
bebaute Fluren begränzen, denn dieſe letztern ſind
zwar eine nützliche Sache, aber nicht maleriſch. Die
vielen und kühnen Krümmungen machen, daß auch
die Ufer ſich [unaufhörlich] verſchieben, und ſo aus
denſelben [Gegenſtänden] hundert verſchiedne Schön-
heiten ſich entfalten, wie die Stimme, nach mehreren
Seiten gewandt, ein vielfaches Echo hervorruft. Bei-
läufig geſagt, iſt dies auch der Hauptgrund, warum
Landſchaftsgärtner gekrümmte Wege den graden vor-
zogen. Dieſen Gedanken hatten die Maler; nur
die Pinſel machten gewundene Korkzieher daraus,
indem ſie glaubten, daß ihre imaginaire Schönheits-
linie, nicht die verſchiedene Anſicht der Land-
ſchaft
, damit bezweckt werde.


Da die Gegenſtände, die ſich den River Wye ent-
lang darbieten, faſt immer nur Wenige in großen
Maſſen ſind, ſo bilden ſie ſchöne Gemälde, weil
Gemälde eine kürzere Abgränzung verlangen. Die
Natur ſchafft nach einem Maaßſtabe, den wir, in
ſeinem Totaleffekt, gar nicht beurtheilen können, deſſen
höchſte Harmonie uns daher verloren gehen muß
— die Kunſt alſo ſtrebt darnach, nur einen Theil
derſelben als ein für Menſchen verſtändliches Ganze
idealiſch zu formen, und dies iſt meines Erachtens
nach, die auch der Landſchaftsgärtnerei zum Grunde
liegende Idee. Doch die Natur ſelbſt bietet für die-
ſen Zweck oft ſchon einzeln vollendete Muſter dar,
[265] einen landſchaftlichen Microcosmus, und ſelten findet
man deren in kurzen Räumen mehr vereinigt als auf
dieſer Fahrt, wo jede neue Wendung des Fluſſes, ſo
zu ſagen, einen neuen Kunſt -Genuß darbietet;
Pope ſingt irgendwo ſchön von dieſer Gegend:


Pleas d’Vaga echoes thro ’its winding bounds,

And rapid Severn hoarse applause resounds.

Die deutſche Sprache hat, bei allen ihrem Reich-
thum, etwas Unbehülfliches [für] die Ueberſetzung, be-
ſonders bei Uebertragungen aus der engliſchen, der
dagegen ihre Zuſammenſetzung aus ſo vielen Spra-
chen, eine ganz eigenthümliche Leichtigkeit giebt,
fremde Gedanken auszudrücken. Mir iſt daher auch
die erwähnte Strophe faſt unüberſetzbar erſchienen.
So oft ich es verſuchte, verlor der Gedanke ſeine
Grazie, vielleicht war aber auch meine eigne Unbe-
hülflichkeit daran Schuld.


Daß zwei der ſchönſten Ruinen in der Welt am
River Wye liegen, iſt ebenfalls kein kleiner Vorzug,
und nie wurde es mir klarer als hier, daß Prophe-
ten in ihrem Vaterlande nichts gelten, denn wie
würden ſonſt ſoviel tauſend Engländer weit hinweg-
ziehen, um oft über viel geringere Schönheiten in
Enthuſiasmus zu gerathen, als ihr eignes Vaterland
darbietet. Noch eine Frage möchte ich aufwerfen,
warum überhaupt Ruinen ſo viel mehr die menſch-
liche Seele ergreifen, als es kaum die höchſten voll-
endeten architektoniſchen Kunſtwerke vermögen? Es
[266] ſcheint faſt, als ob dieſe Menſchenwerke erſt ihre
Vollkommenheit erreichten, wenn die Natur ſie wie-
der corrigirt hat — und doch iſt es gut, wenn zu-
letzt der Menſch nochmals eingreift, in den Zeit-
punkt, wo die Natur anfängt, ſeine Spur gänz-
lich
zu verwiſchen. Eine grandioſe und wohl er-
haltne
Ruine iſt darum das ſchönſte Gebäude.


Ich erwähnte ſchon, daß die Umgegend von Briſtol
ebenfalls, und mit Recht, einen hohen Ruf hat. An
Reichthum, Ueppigkeit der Vegetation und Frucht-
barkeit, kann ſie von keiner übertroffen werden, an
maleriſchen Schönheiten gewiß nicht von vielen. C’est
comme la terre promise;
Alles was man ſieht, (und
als gourmand ſetze ich hinzu) auch alles was man
genießt, iſt in hoher Vollkommenheit.


Briſtol, eine Stadt von 100,000 Einwohnern, liegt
in einem tiefen Thal; Clifton, das ſich am Berge
teraſſenförmig unmittelbar darüber erhebt, ſcheint
nur ein andrer Theil derſelben Stadt. Daß durch
dieſe Lage außerordentliche Effekte hervorgebracht
werden müſſen, kann man ſich leicht vorſtellen. Aus
dem verworrenen Gewühl der Häuſermaſſe der alten
Hauptſtadt im Thale ragen drei verwitterte gothiſche
Kirchen empor. Gleich ſtolzen Ueberreſten der Feudal-
und Mönchsherrſchaft (denn beide gingen, obgleich
als feindliche Brüder, Hand in Hand) ſchienen ſie,
im Gefühl der alten Größe, noch ihre greiſen Häup-
ter nicht beugen zu wollen vor dem aufgeſchoßnen
Pflanzendickicht neuerer Zeit. Beſonders eine der-
[267] ſelben, Radcliffchurch, iſt ein ganz wunderbarer
Bau; leider hat der Sandſtein, aus dem ſie ausge-
führt iſt, ſo ſehr von der Zeit gelitten, daß alle Zier-
arten, wie angenagt, erſcheinen. Ich trat während
des Orgelſpiels hinein, und obgleich ich, mit ſchuldi-
ger Schicklichkeit, und großer Ehrerbietung, mich nur
in eine Ecke ſtellte, von wo ich das Innere verſtoh-
len überblicken konnte, wollte mir doch die Illibera-
lität des engliſch-proteſtantiſchen Cultus dies nicht
gönnen, und der Prediger ſendete eine alte Frau an
mich ab, um mir anzudeuten, daß ich mich ſetzen
müſſe. Da man in katholiſchen Kirchen die Gläubi-
gen nicht ſo leicht ſtört, ſelbſt wenn man, ohne alle
Rückſicht, nur hineingeht, um die Sehenswürdigkeiten
zu betrachten, und ſich gar nicht an den Cultus kehrt,
ſo wunderte ich mich mit Recht, daß die engliſch-pro-
teſtantiſche Frömmigkeit ihrer eignen [Schwäche] ſo
wenig zutraue, um ſo zu ſagen von einem Hauch
ſchon umgeblaſen zu werden — man löste mir aber
nachher das Räthſel. Ich hätte für den Sitz be-
zahlen
müſſen, und der halbe Schilling war
das eigentliche fromme Motiv. Ich hatte indeß ſchon
genug geſehen, und verließ die Mummerei *) ohne
zu bezahlen.


[268]

In den Gaſthof zurückgekehrt, ließ ich nun ſchnell
eine Poſtchaiſe anſpannen, ſetzte mich auf den Bock,
(nicht als den höchſten Ehrenplatz, wie der Kaiſer
von China, ſondern als höchſter Aufſichtsplatz—) und
begann meine Excurſionen in der Umgegend. Zuerſt
beſah ich die warmen Bäder der Stadt, wo an den
Ufern des Severn ein felſiges Thal beginnt, das viel
Aehnliches mit dem Plauiſchen Grunde bei Dresden
hat, nur daß die Felſen höher, und die Waſſermaſſe
weit reicher iſt. Wir begegneten hier dem Maire,
in ſeiner Staatsequipage, prachtvoller als die unſrer
Könige auf dem Continent. Sie ſtach ſonderbar mit
der einſamen Felſengegend ab. Als ſie eben vorbei-
kam, zeigte mir der Poſtillon einen entfernten ver-
fallenen Thurm, Cook’s folly genannt, auch eines
Maire und reichen Kaufmanns Beſitzung, der ſich
damit ruinirte, und in einer Ruine nun fort-
lebt. Das gothiſche Schloß, das er in einer der herr-
lichſten Lagen aufbauen wollte, konnte er nicht voll-
enden. Es blieb aber in dieſem Stande wahrſchein-
lich nur eine deſto größere Zierde der Gegend. Aus
dem Felſengrund wieder emporſteigend, gelangten wir
auf eine weite Bergebne, die zu den hieſigen Wett-
rennen dient, und von hier, durch ſtrotzendes Land,
zu Lord Clifford’s Park, deſſen entrée ſehr ſchön iſt.
Man fährt nämlich, über eine halbe Stunde Wegs,
an einer hohen Berglehne in einer gewundnen Allee
uralter Eichen hin, die weit genug von einander ge-
pflanzt ſind, um ſich vollkommen nach allen Seiten
ausbreiten zu können, ehe ſie ſich erreichen. Unter
[269] ihren Aeſten enthüllen ſich die herrlichſten Ausſichts-
punkte auf das reiche Thal von Briſtol, ſo daß, gleich
einer Bildergallerie, faſt unter jedem Baum ein neues
Gemälde erſcheint. Rechts aber zeigt ſich, an dem
anſteigenden Berge, der dunkle Saum des pleasure
ground
hinter der Wieſenfläche, wo Pflanzungen von
Lorbeer, Arbutus und anderm Immergrün den Weg
begränzen, bis bei einer Biegung, Schloß und Blu-
mengarten plötzlich mit geſchmücktem Glanz hervor-
treten! Am Ende dieſes Parks liegt ein grünes
Vorgebürge, auf deſſen ſchmalem Kamm man eine
Weile hinfährt, und dann eine ſchöne Seeausſicht
findet. Hier lag eben eine kleine ruſſiſche Flotille zu
unſern Füßen vor Anker, die, nach dem Mittelmeere
beſtimmt, in den Stürmen der vorigen Woche, dem
Scheitern hier nur mit großer Noth entgangen. Den
Engländern nach ſollte blos die Unwiſſenheit der
Mannſchaft daran Schuld geweſen ſeyn. Ich machte
ſpäter die perſönliche Bekanntſchaft des Capitains und
fünf anderer Offiziere. Sie ſprachen zu meiner Ver-
wunderung durchaus keine fremde Sprache, nur
ruſſiſch, weshalb ſich unſre Unterhaltung auch auf
bloße Zeichen beſchränken mußte. Es ſchienen ſonſt
artige und civiliſirte Leute.


Nicht weit von dem erwähnten Park, befindet ſich
ein intereſſantes Etabliſſement, the cottages, ge-
nannt. Hier hat der Beſitzer, Mr. Harford, das
Ideal eines Dörfchens zu realiſiren geſucht. Ein
ſchöner grüner Platz, mitten im Walde, iſt von einem
[270] rings umher geſchlängelten Wege umgeben und neun
Wohnungen daran gelehnt, alle von verſchiedener
Form, und aus verſchiednem Material erbaut; eine
aus Feldſteinen, die andere aus Quadern, dieſe aus
Ziegeln, jene von Holz u. ſ. w., eine mit Stroh, die
andre mit Schindeln, Schiefer u. ſ. w. gedeckt; jede
mit andern Bäumen umpflanzt, und von verſchiednen
Sorten Climatis, Roſen, Je länger je lieber oder
Wein umrankt. Die abgeſonderten, und doch zu
einem Ganzen verbundenen Wohnungen haben auch
ihre beſondern Gärten, und einen gemeinſchaftlichen
Brunnen, der auf der Mitte des Raſenplatzes ſteht,
und den mehrere alte Baumgruppen beſchatten. Die
durch niedliche Zäune getrennten Garten, bilden ſo
einen friſchen Gemüſe- und Blumenkranz um das
ganze Dörfchen; die Bewohner aber beſtehen, was
der ganzen Anlage die Krone aufſetzt, nur aus armen
Familien, denen die Häuſer von dem großmüthigen
Beſitzer unentgeldlich überlaſſen worden ſind. Kein
anmuthigerer, kein paſſenderer Fleck konnte dem Un-
glücke eingeräumt werden; die völlige Abgeſchieden-
heit und Heimlichkeit deſſelben, athmet nur Ruhe
und Vergeſſenheit der Welt.


Blos dem Walde gegenüber ragte von fern aus
alten Eichen ein modernes gothiſches Schloß ſtattlich
hervor. Ich wollte es, ſowie den umliegenden Park,
beſichtigen, erhielt aber keinen Einlaß. Wenn an
einem engliſchen Park die Landſtraße vorüberführt,
iſt immer ein Theil der Mauer durch ein Aha, oder
[271] durchſichtiges Eiſengitter erſetzt, damit man den demü-
thig neugierigen Blick in die verbotne Herrlichkeit
werfen möge. Aber hiermit iſt auch die Liberalität
des engliſchen Beſitzers erſchöpft. Da es nun heute
überdies noch Sonntag war, ſo gab ich gleich alle
Hoffnung auf, den mürriſchen Portier zur Aus-
nahme zu bewegen, denn auf ſeiner Stirn war deut-
lich, Dante’s umgekehrte [Hölleninſchrift] zu leſen:
Voi che venite — di entrare lasciate ogni spe-
ranza!


Meinen Rückweg nahm ich über die Bergſtadt
Clifton, aus der man Briſtol, wie in einem Abgrun-
de, unter ſich liegen ſieht. Die Scene wurde über-
dem ſehr heiter ſtaffirt durch die, in bunten Farben
ſchillernde, Menge der Kirchgänger beiderlei Ge-
ſchlechts, welcher ich auf allen Gaſſen begegnete.
Stark kontraſtirte dagegen ein großes, ganz ſchwarz
angeſtrichenes Haus mit weißen Fenſtern, einem un-
ermeßlichen Catafalke ähnlich. Man ſagte mir, es
ſey das Stadthoſpital, und ein Herr erbot ſich, es
mir zu zeigen. Das Innere war weit anziehender
als der äußere Anſtrich. Große Geräumigkeit, freund-
liche Säle, und die ausgezeichnetſte Reinlichkeit, müſ-
ſen es zu einem ſehr troſtreichen Aufenthalt für
Kranke machen. Nirgends auch ſpürte ich den min-
deſten üblen Geruch, außer in der Apotheke, nach
Pillen und Rhabarber. Die rechte Seite des Hauſes
nahmen die männlichen, die linke die weiblichen Pa-
tienten ein, und in dieſen beiden, den untern Theil
Briefe eines Verſtorbenen. II. 18
[272] diejenigen Kranken, welche des Arztes, den obern,
die des Chirurgus bedurften. Das Operationszim-
mer war beſonders elegant, und mit mehreren Robi-
nets in den Wänden und darunter ſtehenden Mar-
morbecken verſehen, um auf allen Seiten das Blut
ſogleich abwaſchen zu können. Eine Mahagoni-Stel-
lage in der Mitte, mit Saffiankiſſen, iſt für die zu
Schneidenden beſtimmt. Es war in der That Alles
für Liebhaber ſo einladend als möglich gemacht. So
wohlthätig übrigens dieſes Handwerk iſt, ſo werden
doch in der Regel die Chirurgen dadurch ein wenig
fühllos. Der welcher mich begleitete, machte davon
keine Ausnahme. So bemerkte ich unter anderm, in
einem der Säle eine Frau, die ſich ganz mit einem
Tuche zugedeckt hatte, und frug ihn leiſe, was ihr
fehle? „O“, erwiederte er ganz laut, „die iſt inkurabel
an einer Pulsadergeſchwulſt; ſobald dieſe berſtet
muß ſie ſterben.“ An dem Zucken und leiſen [Stöh-
nen]
unter dem Tuche, konnte ich wohl abnehmen,
wie ſchmerzlich die Nachricht wirkte, und bereuete
meine Frage. Als wir nachher zu den Männern
kamen, ſah ich Einen davon, ſchlohweiß und völlig
wie eine Marmorſtatüe, im Bette liegen, und da wir
diesmal noch weit entfernt waren, erkundigte ich mich
abermals nach der Beſchaffenheit dieſer Krankheit.
„Ich weiß es ſelbſt nicht“, rief er, „werde ihn aber gleich
fragen.“ Um’s Himmelswillen nicht, bat ich, er war
aber ſchon fort, fühlte des Mannes Hand, der ſich
nicht rührte, und kam dann lachend wieder, indem er
ſagte: „der iſt kurirt, denn er iſt todt.“


[273]

Gegen Abend fuhr ich, in einer der kleinen Kut-
ſchen, die nur zwiſchen Bath und Briſtol gehen, nach
erſterem Orte. Ich war allein, und ſchlief den gan-
zen Weg über. Als ich von der Sieſte erwachte, er-
blickte ich beim Mondſchein einen [weiläuftigen], er-
leuchteten Palaſt, auf einer ganz kahlen Höhe, und
erfuhr, auf meine Frage, daß dies die milde Stiftung
eines bloßen Privatmannes ſey, und für fünfzig arme
Wittwen beſtimmt, die hier in Wohlhabenheit, ja
Ueberfluß, leben. Bald darauf erglänzten am Hori-
zont noch vielfache andere Lichterreihen, und in wenig
Minuten rollten wir über das Pflaſter von Bath.



Seit dem Tage, wo ich Dir die wichtige Begeben-
heit meldete, daß die Sonne geſchienen — habe ich
die Wohlthätige nicht wieder geſehen. Doch trotz
Nebel und Regen wanderte ich den ganzen Tag in
dieſer wunderbaren Stadt herum, die, im Grunde
des tiefen und ſchmalen Bergkeſſels erbaut, nach und
nach alle ſeine hohen Ränder erſtiegen hat. Die
Pracht der Palläſte, Gärten, Straßen, Terraſſen und
halbmondförmigen Plätze, Crescents genannt, die von
dieſen Bergabhängen herabglänzen, iſt imponirend
und engliſchen Reichthums würdig. Deſſen ohnge-
achtet, und obgleich auch die Natur hier ſchön iſt,
18*
[274] hat die Mode dennoch Bath verlaſſen, um ſich dem
nichts ſagenden, baumloſen und überproſaiſchen
Brighton mit fieberhafter Wuth hinzugeben. Des-
halb iſt jedoch Bath keineswegs von Badegäſten ver-
laſſen, und ſchon die 40,000 wohlhabenden Einwoh-
ner machen es lebendig — nur die faſhionable Welt
ſieht man nicht mehr hier. Der ſonſt ſo berühmte
„König von Bath“ ehemals der far famed Nash,
hat von ſeinem Nimbus noch mehr verloren, als
ſeine übrigen Collegen. Der, welcher jetzt ſein Amt
verrichtet, geht, ſtatt ſich nie anders als mit ſechs
Pferden und einem Gefolge von Dienern, wie jener,
öffentlich zu zeigen, ſehr beſcheiden zu Fuße, und wird
keine Herzogin von Queensbury mehr vom Balle
ſchicken, weil ſie nicht probemäßig angezogen war.


Einen großen Eindruck machte auf mich die alte
Abteikirche. Ich ſah ſie zuerſt prächtig erleuchtet,
welches den eigenthümlichen Anblick ihres Innern
freilich noch ſehr erhöhte. Ich habe ſchon [öfters] er-
wähnt, daß alle engliſchen alten Kirchen durch ein-
zelne moderne Monumente entſtellt ſind, hier aber
ſind deren ſo viele, und mit einer ſolchen originellen
Art von Symmetrie aufgeſtellt, daß der volle Con-
traſt mit der einfachen und erhabnen Architektur einen
ganz eignen neuen Genre von maleriſchem Effekt her-
vorbringt. Denke Dir eine herrliche, ſchlanke gothi-
ſche Kirche mit den ſchönſten Verhältniſſen, hell er-
leuchtet, und in der Mitte durch einen rothen, herab-
gelaſſenen Vorhang in zwei Hälften getheilt. Die
[275] Hälfte welche Du überſiehſt, bietet einen ganz leeren
Raum, ohne Stuhl, Bank, noch Altar, nur der Bo-
den bildet eine fortlaufende Moſaik eingelaſſener
Grabſteine mit Inſchriften, und eben ſo ſind die
Wände, bis zu einer gewiſſen Höhe, wo eine hori-
zontale Linie abſchneidet, dicht und ohne Zwiſchen-
raum, mit Büſten, Statüen, eingelaſſenen Marmor-
tafeln und Monumenten aller Art bedeckt, bald von
glänzend ſchwarzem, oder weißem Marmor, bald aus
Porphyr, Granit oder andern bunten Steinarten ge-
fertigt — das Ganze dem Ausſehen eines Saales
gleich, den ein Kunſtliebhaber, wie ein Muſeum, deko-
rirt, und die Wände mit allerlei verſchiedenen Ge-
genſtänden bedeckt hat. Bis zu der Linie, mit der
die Monumente abſchneiden, war alles im hellſten
Licht, weiter oben verlor ſich die Helle nach und nach,
und unter dem Laubwerk der Gewölbe ward ſie zur
undeutlichen Dämmerung. Ich und der Küſter wa-
ren ganz allein in dieſem Raum, [während] noch grö-
ßerer Lichtglanz hinter dem rothglühenden Vorhang
zu ſchimmern ſchien, und von dort, aus der andern
Hälfte der Kirche, der gedämpfte Geſang der Ge-
meinde, wie aus unſichtbarem Heiligthume, zu uns
herübertönte.


Viele intereſſante Leute liegen hier begraben, unter
andern auch der berühmte Witzling Quin, für den
Garrik eine Marmorbüſte und poetiſche Inſchrift her-
geliefert hat. Am Monumente Waller’s fehlt die
Naſe, und man behauptet, Jakob II. habe ſie ſelbſt,
[276] mit ſeinem Degen, in einer Anwandlung von Bigot-
terie abgeſchlagen, als er die Kirche, kurz nach ſeiner
Krönung beſuchte.



Haſt Du wohl von dem Sonderling Beckfort je
gehört, eine Art Lord Byron in Proſa, der das
prachtvollſte Schloß in England baute, ſeinen Park
aber mit zwölf Fuß hohen Mauern umgeben ließ,
und eben ſo viel Jahre lang Niemand den Eintritt
darin verſtattete? Nun dieſer Mann verauktionirte
plötzlich jenes Wunderhaus, Fonthill Abbey, (deſſen
großer Thurm, an dem man, die Nächte durch, bei
Fackelſchein gemauert, bald darauf einfiel,) mit Allem
was darin war,*) und zog nach Bath, wo er eben
ſo einſam lebt. In der Nähe der Stadt hat er
abermals einen ſonderbaren Thurm, mitten im Felde,
gebaut, dem als Dach eine genaue Copie des dimi-
nutiv Tempels in Athen, den man die Laterne des
Diogenes nennt, (Denkmal des Lyſicrates) aufgeſetzt
iſt. Dahin fuhr ich heute, und konnte mir wohl
denken, daß auf dieſem Platze die gerühmte Ausſicht
[277] merkwürdig ſeyn müſſe, Einlaß wurde mir jedoch
nicht, und ich war genöthigt, blos mit meinem Phan-
taſiebilde derſelben wieder umzukehren. Der Thurm
iſt noch unvollendet, ſehr hoch, und ſteht in der offnen,
grenzenloſen Einſamkeit einer Bergebne, wie ein Ge-
ſpenſt da! Der Beſitzer ſoll früher ein Vermögen
von drei Millionen Pfund beſeſſen haben, und noch
ſehr reich ſeyn. Man [erzählte] mir von ihm, daß er
ſich nur ſehr ſelten ſehen laſſe, wenn er aber zuwei-
len ausreite, geſchehe es folgendermaßen: Ein eis-
grauer Haushofmeiſter reite voran. Zwei Reitknechte
mit langen Hetzpeitſchen hinter ihm. Dann folgt er
ſelbſt, von fünf bis ſechs Hunden umgeben. Den
Schluß machen wiederum zwei Reitknechte mit Peit-
ſchen verſehen. So wie, während des Rittes, einer
der Hunde ſich unfolgſam zeigt, hält die ganze Cara-
vane an, und die Strafe wird ſogleich mit der Hetz-
peitſche applizirt — dieſer Edukationskurſus aber
[während] der ganzen Promenade fortgeſetzt, bis man
wieder zu Hauſe angelangt iſt. Früher hat Herr
Beckford einen, zwar ſehr ſeltſamen, aber doch geiſt-
reichen Roman in franzöſiſcher Sprache geſchrieben,
der auch mit vielem Beifall in’s Engliſche über-
ſetzt worden iſt. Ein großer Thurm ſpielt auch
darin eine Hauptrolle, und der Teufel holt zuletzt
Alles.


Noch eine andere drollige Anekdote von dieſem
Beckford. Als er in Fonthill wohnte, plagte die
Neugierde dies zu ſehen, einen benachbarten Lord ſo
[278] ſehr, daß er in der Nacht eine Leiter an die hohe
Parkmauer legen ließ, und darauf hineinſtieg. Er
wurde jedoch bald entdeckt, und vor Herrn Beckford
gebracht, der ihn, nach Nennung ſeines Namens,
wider Vermuthen, ſehr artig aufnahm, ſelbſt am
Morgen überall herumführte, hierauf fürſtlich be-
wirthen ließ, und dann erſt ſich zurückzog, indem er
beim Abſchied ſich dem Lord noch auf das verbind-
lichſte empfahl. Dieſer wollte nun, ganz vergnügt,
über den ſo wohl gelungenen Zweck, zu Hauſe eilen,
fand aber alle Thore verſchloſſen, und Niemand da,
ſie zu öffnen. Als er deshalb zurückkehren mußte,
und ſich im Schloſſe Hülfe erbat, ſagte man ihm,
Herr Beckford ließe ihn erſuchen da herauszugehen,
wo er hineingekommen wäre, die Leiter ſtand noch
am bewußten Orte angelehnt. Der Lord äußerte ſich
zwar ſehr anzüglich, es half aber nichts, er mußte
ſich bequemen, die Stelle ſeiner verbotnen Entrée
wieder aufzuſuchen, und die Leiter wieder hinauf zu
klettern. Unter Verwünſchungen des boshaften Men-
ſchenfeindes verließ er, für immer von der Neu-
gierde, Fonthill zu beſuchen, geheilt, das verbotne
Paradies.


Als Fonthill verkauft worden war, hielt ſich Herr
Beckford eine Zeit lang in London auf, wo er in
einer Vorſtadt verborgen wohnte. In ſeiner Nähe
befand ſich der Garten eines ſeiner Blumenzucht we-
gen berühmten Handelsgärtners. Dort ging er täg-
lich ſpazieren, und bezahlte wöchentlich fünfzig Gui-
[279] neen für die Erlaubniß: während ſeiner Spazier-
gänge ſoviel Blumen abzupflücken, als ihm beliebte.


Abends beſuchte ich das Theater, und fand ein
recht hübſches Haus, darin aber ein deſto ſchlechteres
Schauſpiel. Man gab Rienzi, eine elende, moderne
Tragödie, die, bei der Uebertreibung und Unbehol-
fenheit der Spieler, weder Weinen noch Lachen, ſon-
dern nur Widerwillen und Langeweile erregte. Ich
verließ daher Melpomene’s entweihten Tempel bald,
und beſuchte meinen Freund, den Abteiküſter, um
mir die Erlaubniß zu erbitten, die Kirche bei Mond-
ſchein zu beſehen. Sobald er ſie mir geöffnet, ſchickte
ich ihn fort, und wie ein einſamer Schatten unter
den Pfeilern und Gräbern noch lange umherſchwär-
mend, ließ ich die ernſtere Tragödie des Lebens vor
mir aufſteigen, von den Schauern der Nacht und des
Todes umweht.



Das Wetter iſt noch immer ſo ſchlecht, und hängt
eine ſolche Drapperie über alle entfernte Dinge, daß
ich keine Exkurſionen machen kann, und mich auf die
Stadt beſchränken muß, die ſich indeß, durch die
Menge und Mannichfaltigkeit ihrer Proſpekte, ganz
zu den intereſſanteſten Promenaden eignet. Mit
meiner Lieblings-Grabeskirche, fange ich jedesmal an,
[280] und höre damit auf — wie das Menſchenleben —
das auch vom Tode ausgeht und damit endet. Der
Architekt, welcher dieſen prächtigen Dom baute, hat
in Zierarten und Verhältniſſen ſich ganz vom Ge-
wöhnlichen entfernt. So ſteigen z. B., von außen,
neben dem Portal, zwei Jakobsleitern, mit hinan-
klimmenden Engeln, bis an das Dach empor, wo ſich
die Kleinen hinter den Giebeln verlieren. Gar lieb-
lich ſind die emſigen Himmelsſtürmer anzuſehen, und
wie mich dünkt, ganz im Geiſte jener phantaſiereichen
Architektur erfunden, die das Kindlichſte mit dem
Erhabenſten, die ausgeführteſten Zierarten mit dem
grandioſeſten Effekt der Maſſen zu verbinden wußte,
und ſo zu ſagen, die ganze irdiſche Natur, mit Wald-
Coloſſen und Blumen, mit Felſen und Edelſteinen
(die bunten Fenſter) mit Menſchen und Thieren ab-
bilden wollte, hierdurch aber am ſicherſten die heilige
Stimmung nach jenſeits hervorrief. — Mir iſt ſie
immer als die ächt romantiſche, i. e.[ächt] deutſche,
Bauart vorgekommen, aus unſerm eigenſten Gemüth
entſproſſen. Doch glaube ich, ſind wir ihr jetzt ent-
fremdet, da eine mehr ſchwärmeriſche Zeit dazu [ge-
hört]
. Wir können ſie wohl noch einzeln bewundern
und lieben, aber nichts mehr der Art ſchaffen, was
nicht den nüchternſten Stempel der Nachahmung
trüge. Dampfmaſchinen und Conſtitutionen gerathen
dagegen jetzt beſſer, als überhaupt alle Kunſt. Jedem
Zeitalter das Seine. —


Da ich die Contraſte liebe, ſo begab ich mich heute
Abend, aus dem inhaltſchweren Tempel, unmittelbar
[281] auf den, in andrer Art eben ſo wohlgefüllten, und
gleich ſtark illuminirten Stadtmarkt — wo unter be-
deckten Gallerieen alle Arten Viktualien verkauft wer-
den. Alles iſt hier einladend, und elegant, der Ge-
genſtand für tauſend Meiſterſtücke flämiſcher Pinſel,
und ein genußreicher Anblick für den Gaſtronomen,
der hier ſeine Natur ſchönheiten bewundert. Enor-
mere Stücken Beef, ſaftroth in goldnem Fette zit-
ternd, beſſer gemäſtetes, wie mit Eiderdaun geſtopf-
tes Geflügel, ſtolzeres Gemüſe, ſchöngelbern Butter,
ſaftigere Früchte und einladendere Fiſche ſah mein er-
ſtauntes Auge nie! Alles war vom Glanze hundert
bunter Lichter verherrlicht, und mit Lorbeer und
rothbeerigtem Holly aufgeputzt. Statt eines Weih-
nachtstiſches, waren hundert aufgeſtellt, und die
Carrikaturen der verkaufenden Weiber glichen vor-
trefflich den Pfefferkuchenpuppen, wir Käufer aber
den neugierigen und erſtaunten Kindern. Schwerlich
hätte die brillanteſte Geſellſchaft mich beſſer amüſiren
können. Wenn ich einen gravitätiſchen Schöps an-
ſah, der in jeder Pfote ein Inſeltlicht hielt, und ſich
ſo ſelbſt erleuchtete, oder eine hängende Poularde,
der man einen rothen Wachsſtock auf die Kehrſeite
gepflanzt hatte, einen Kalbskopf mit einer Laterne
zwiſchen den Zähnen, neben einem großen Gänſe-
rich, dem zwei Kirchenlichter vorleuchteten, oder einen
Ochſenſchwanz, durch den eine Gasröhre ging, die
pretentiös im Flammenbüſchel endigte — ſo machte
ich mir die ergötzlichſten Vergleiche mit einer assem-
blée
in der Heimath, und fand die Aehnlichkeiten
[282] oft frappanter als die Portraits der berühmten Maler
W. und S . . . . .


Man lebt hier weit wohlfeiler als in andern Städ-
ten Englands, beſonders in den ſogenannten boar-
dinghouses,
wo man für zwei bis drei Guineen
wöchentlich, ganz vortrefflich bewirthet, und gut logirt
wird, auch eine angenehme und ungenirende Geſell-
ſchaft findet. Equipage braucht man nicht, da Porte-
chaiſen üblich ſind.



Acht und „vierzig Stunden“ haben endlich
den Himmel verſöhnt, und der heutige Tag war,
was man hier „a glorious day“ nennt, nämlich ein
ſolcher, an dem zuweilen die Sonne hinter den Wol-
ken hervortritt. Du ahneſt ohne Zweifel, daß ich
ihn nicht unbenutzt ließ. Ich erſtieg einen Berg neben
der Stadt, von dem man das ganze Weichbild der-
ſelben, und faſt jedes einzelne Haus überſehen kann.
Die Abteikirche liegt, wie der Kern, in der Mitte;
nach allen Seiten ſteigen die Straßen gleich Strah-
len in die Höhe, und im tiefſten Grunde ſchlängelt
ſich das Silberband des Avon durch ſie hin. Hier-
auf ſetzte ich meinen Weg, auf einer ſchönen Prome-
nade, bis Prior-Park fort, eine große und ehemals
glänzende Beſitzung, die ein ſtolzer Lord erbaut hat,
[283] jetzt aber ein demüthiger Quäker inne hat, der das
Schloß leer ſtehen läßt, und, der Conſequenz ſeiner
Lehre getreu, im alten Stalle wohnt.


So ging der Vormittag hin; bei Dämmerung und
Mondſchein richtete ich einen zweiten Spaziergang
nach der andern Seite der Stadt, und fand dort den
Anblick in der Stille der hellen Nacht noch pracht-
voller. Der Himmel ſchimmerte in blaßgrüner Farbe,
und an der rechten Hälfte deſſelben waren Maſſen
ſchwarzer, tief ausgezackter Wolken gelagert. Die
gegenüber liegenden Berge ſchnitten dagegen ihre
ſanft gerundeten Linien, unter dem Mondlicht, ſcharf
gegen den klaren Himmel ab, [während] das ganze
Thal ein blauer Nebel füllte, durch den man nur
Tauſende von Gaslampen flimmern ſah, ohne die
Häuſer ſelbſt zu erblicken. Es ſchien ein Dunſtmeer,
aus dem ſich unzähliche Sterne in verdoppeltem Feuer
wiederſpiegelten.


Ich beſchloß den Tag mit einem heißen Bade in
der Haupt-Badeanſtalt, und fand die Einrichtung
überall ſehr bequem, reinlich und ſelbſt wohlfeil, auch
die Bedienung prompt und beſcheiden.


[284]

Die üble Angewohnheit im Bett zu leſen, hat mir
dieſe Nacht ein lächerliches Unglück zugezogen. Mein
Haar nämlich fing unbemerkt Feuer, und ich mußte
den Kopf in die Bettdecken wickeln, um es zu löſchen.
Schrecklich iſt der angerichtete Schaden, denn die
ganze eine Kopfhaarhälfte iſt vernichtet, ſo daß ich
mich über und über faſt kahl habe ſcheeren laſſen
müſſen. Glücklicherweiſe beſteht meine[Stärke] nicht
in den Haaren.


Ein Brief von Dir tröſtete mich beim Erwachen.
Deine Fabel von der Nachtigall iſt herrlich. Hätte
L . . . . das bedacht, und ſich im zwanzigſten Jahre
geſagt: Sey todt für die Welt bis zu Deinem fünf
und dreißigſten, wie glänzend und glücklich könnte er
jetzt (NB. nach dem Maßſtabe der Welt) darin auf-
treten! Auch ich habe im Lauf dieſer Zeit und noch
jetzt oft die Welt und Andere angeklagt, aber bei
Licht beſehen, *) iſt dies doch eben ſo thöricht als
ungerecht. Die Welt iſt und bleibt einmal die Welt,
und ihr alles Ueble, das uns daraus entgegen kommt,
zurechnen zu wollen, iſt dem Kinde zu vergleichen,
welches das Feuer beſtrafen will, weil es ſich die
Finger daran verbrannt hat. L . . . ſoll alſo nichts
[285] bereuen, denn hätte er fünfzehn Jahr als Murmel-
thier vegetirt, ſo hätte er dieſe Zeit eben nicht gelebt,
und folglich nicht erkannt. Es bleibt immer dabei
„que tout est pour le mieux dans ce meilleur des
mondes.“


Indem ich Dir herzlich wünſche, dies gleichfalls im-
mer einzuſehen, empfehle ich mich Dir für diesmal
zärtlichſt, und bin wie immer


Dein treuer L . . . .


[[286]]

Sechs und vierzigſter Brief.



Geliebte Freundin!

Geſtern Abend ſieben Uhr verließ ich Bath, wie-
derum mit der Mail, für Salisbury. Ich fand mich
allein im Wagen mit einer Wittwe in tiefer Trauer,
demohngeachtet hatte ſie ſich ſchon wieder einen Lieb-
haber angeſchafft, der vor dem Thore, als blinder
Paſſagier, (aber kein Amor, ſondern ächter John
Bull) Einlaß erhielt. Er unterhielt uns, wenn er
nicht von der Landwirthſchaft ſprach, mit gräßlichen
Tagesneuigkeiten, die die Engländer ſo ſehr lieben,
daß ihre Zeitungscolonnen [täglich] damit angefüllt
ſind. Zwei junge Leute, erzählte er unter anderm,
Arbeiter in einer Tuchfabrik in Exeter, fielen vor
acht Tagen, mit einander [ſchäkernd] und ſich jagend,
in eine kochende Maſſe, welche viele Grade heißer als
[287] hoch ſiedendes Waſſer iſt. Obgleich beide nach vor-
wärts fielen, ſprangen doch auch beide im Nu wie-
der heraus, rannten aber, wie wahnſinnig, gegen die
vorſtehende Wand, wo ſie in Convulſionen verſchieden.
Ihr Anblick ſollte, nach Ausſage der Augenzeugen,
über alle Beſchreibung furchtbar geweſen ſeyn, weil
in der ungeheuern Hitze alles, von den Kleidern un-
geſchützte Fleiſch, im Augenblicke gänzlich conſumirt
worden war, und ſie daher, mit noch lebenden
Todtenſchädeln auf den Schultern, aus der Pfanne
hervorſtürzten. Vielleicht war auch der Mann, der
uns ſolche furchtbare Dinge mittheilte, nur ein Acci-
dentmaker,
denn er hörte nicht auf mit Schreckens-
geſchichten, und behauptete nachher, die Holyheadmail,
dieſelbe mit der ich gekommen, ſey einige Tage dar-
auf, bei einem Wolkenbruch weggeſchwemmt worden,
und Pferde und Kutſcher nebſt einem der Paſſagiere
dabei ertrunken. Iſt es wahr, ſo freue ich mich aller-
dings, ſo viel paſſendere Zeit zu ihrem Gebrauch ge-
wählt zu haben. Nach einigen Stunden verließ mich
das zärtliche Paar, in einem Orte wo die Wittwe
einen Gaſthof beſaß (wahrſcheinlich der wirkliche
Gegenſtand von John Bulls Zärtlichkeit), und ich
blieb nun ganz allein. Es dauerte aber nicht lange,
ſo bat ein ſehr hübſches junges Mädchen, die wir in
der Dunkelheit einholten, ſie bis Salisbury mitzu-
nehmen, da ſie ſonſt die Nacht im nächſten Dorfe
zubringen müſſe. Ich ertheilte die Erlaubniß ſehr
gern und verſprach ſogar dem Kutſcher die Bezah-
lung zu übernehmen, worauf ich von der Dankbaren
Briefe eines Verſtorbenen. II. 19
[288] vernahm, daß ſie eine Putzmacherin ſey, und zur
Chriſtmaß ſich bei ihren Aeltern etwas über die Zeit
verſpätet, aber gleich auf die Durchfahrt der Mail
gerechnet habe. Die Unterhaltung war jedenfalls an-
genehmer als neulich mit der [ſiebenzigjährigen] Pu-
ritanerin, ſo daß ich die Zeit ſehr kurz vergangen
fand, als wir um Mitternacht die Stadt erreichten,
wo ich ein gutes Soupé, dann aber nur ein rauchen-
des und kaltes Schlafzimmer zur Nachtruhe erhielt.



Schon früh am Morgen weckte mich das eintönige
Geplätſcher eines [ſanften] Landregens, ſo daß ich noch
immer (es iſt bereits Mittag) leſend beim Frühſtück
ſitze. Ein gutes Buch iſt doch eine wahre Elektriſir-
maſchine! die eignen Gedanken ſprühen dabei auch
manchmal wie ein Feuerwerk; ſie verlöſchen aber ge-
wöhnlich eben ſo ſchnell, denn wollte man die Funken
gleich mit Feder und Tinte fixiren, ſo hörte der Ge-
nuß auf, und, wie beim Traume, wäre es nachher
der [Mühe] doch vielleicht nicht werth. Das Buch, von
dem ich mich heute magnetiſiren ließ, iſt eine ſehr in-
genieuſe, und admirabel zum Selbſtunterricht einge-
richtete, fortlaufende Verbindung von Geſchichte,
Geographie und Aſtronomie, in ihren Grundzügen.
Dieſe kleinen Encyclopädieen ſind eine große Be-
quemlichkeit unſrer Zeit. Freilich kömmt wahrer
[289] Nutzen immer erſt mit dem Studium der Details,
indeſſen müſſen die Mauern doch erſt hingeſtellt
ſeyn, ehe man die Gemächer ausſchmücken kann. Bei
einem wie dem andern Studium aber, halte ich
Selbſtunterricht für den Erfolgreichſten, wenigſtens
war er es bei mir — gewiß iſt es jedoch, daß manche
Menſchen überhaupt, und auf keine Art etwas wahr-
haft lernen können. Studiren ſie z. B. Geſchichte,
ſo macht ſie ihnen nie das Ewige und Wahre an-
ſchaulich; es bleibt für ſie nur eine Chronik, die ihr
vortreffliches Gedächtniß an den Fingern abzählt.
Jede andre Wiſſenſchaft wird von ihnen ebenfalls
nur mechaniſch erlernt, und bleibt bloßes Buchſtaben-
werk. Dennoch wird in der Regel grade dies gründ-
liches Wiſſen genannt, ja die meiſten Examinato-
ren von Profeſſion verlangen nichts mehr. Das Un-
weſen, das in dieſer Hinſicht noch an manchen Orten ge-
trieben wird, würde zu ergötzlichen Anecdoten Anlaß
geben, wenn man es [näher] beleuchtete. Ich kenne
unter andern einen jungen Mann, dem, im diploma-
tiſchen Examen, welches erſt kürzlich in einer gewiſſen
Reſidenz eingeführt worden war, die Frage vorgelegt
wurde: Wieviel wiegt ein Kubikfuß Holz? Schade
daß er nicht antwortete: Wieviel wiegt ein Gold-
ſtück, oder wieviel Gehirn hat ein Dummkopf? Ei-
nen Andern vom Militairfach frug man daſelbſt:
welches die merkwürdigſte Belagerung ſey? Ohne zu
ſtocken erwiederte dieſer, (ein in Deutſchland natio-
naliſirter Ausländer): die Belagerung von Jericho,
weil die Mauern mit Trompeten [eingeblaſen] wurden.
19*
[290] Man könnte Cannondrum’s davon machen, und ich
glaube faſt, daß dieſe langweilige Spielerei ſich von
dergleichen Examinirungen herſchreibt. Viele Geiſt-
liche fragen jetzt wieder: Glauben Sie an den Teu-
fel? Ein mauvais plaisant, der ſich vor dem Repuls
nicht eben allzuſehr fürchtete, antwortete neulich:
Samiel hilf!



Gegen drei Uhr klärte ſich der Himmel ein wenig
auf, und da ich nur darauf gewartet, eilte ich in
den, ſchon im Voraus beſprochnen, Gig zu ſteigen,
und fuhr mit einem alten Hunter im Gallop nach
Stonehenge, dem großen Druidentempel, Grabmal,
oder Opferaltar. Die Gegend um Salisbury iſt ſehr
fruchtbar, aber leer von Bäumen, und in keiner Art
pittoresk. Auch das wunderbare Stonehenge ſteht
nur auf einem weit ausgedehnten kahlen Wieſenhü-
gel. Die feuerrothe Sonnenkugel ohne Wolken, be-
rührte in demſelben Augenblick den Horizont, als ich,
erſtaunt über das [unerklärliche] Denkmal, das vor
mir lag, an den erſten Druidenſtein trat, den die
untergehenden Strahlen mit ſchönem Roſa färbten.
Kein Wunder iſt es, daß dieſes Monument vom
Volke dämoniſchen Kräften zugeſchrieben wird, denn
kaum würde, ſelbſt in unſern Zeiten, mit allen Hülfs-
mitteln der Mechanik, ein ſolches Werk zum zweiten-
[291] mal zu Stande zu bringen ſeyn. Wie wurde es alſo
einem faſt wilden Volke möglich, ſolche Maſſen auf-
zurichten, und dreißig Meilen weit (denn näher be-
findet ſich kein Steinbruch) herzutransportiren? Das
Ganze bildet einen unregelmäßigen Kranz, theils noch
aufrecht ſtehender, theils umgeworfner, halb in die
Erde wieder verſunkner Cromlechs (zwei aufgerichtete
Steine, über die ein dritter gelegt iſt). Mehrere von
dieſen beſtehen aus einzelnen Maſſen von fünf und
zwanzig Fuß Länge und zehn Fuß Breite, wahre
Felſen, ſo daß Manche behauptet haben, Stonehenge
ſey nur ein Spiel der Natur, was jedoch keinem
Augenzeugen zu glauben einfallen wird. Ich war
nicht der einzige Beſchauer. Ein einſamer Fremder
wurde mehrmals ſichtbar, der, ohne von mir Notiz
zu nehmen, ſchon ſeit einer Viertelſtunde beſtändig
zählend unter den Steinen umherging, und ſehr un-
geduldig etwas zu betrachten ſchien. Ich nahm mir
daher die Freiheit, ihn, als er eben wieder hervortrat,
mit einer Frage über ſein ſonderbares Benehmen zu
ſtören, worauf er mir auch ſogleich höflich erwiederte,
„man habe ihm geſagt, Niemand könne dieſe Steine
richtig zählen, jedesmal käme eine andere Zahl heraus,
und dies ſey ein Trick (Schabernack), den Satanas,
der Erbauer dieſes Werks, den Neugierigen ſpiele.
Er habe nun ſchon ſieben mal, ſeit zwei Stunden,
die Erfahrung beſtätigt gefunden, und werde gewiß
noch närriſch werden, wenn er ſie weiter fortſetze.“
Ich rieth ihm daher, lieber davon abzuſtehen, und
ſich zu Hauſe zu begeben, da es ohnedem dunkel
[292] werde, ſonſt könne ihm am Ende Satanas einen noch
viel üblern Streich vorbehalten haben. Er fixirte
mich ſatyriſch, mit ganz unheimlichen Augen, ſah ſich
wie nach Jemand um, rief dann mit einemmal:
Good bye Sir, und zog ohne Schatten wie Schlehmil
(die Sonne war freilich untergegangen) mit wahren
Siebenmeilen-Schritten über die Wieſe, wo er unter
dem Hügel plötzlich verſchwand. Ich cilte nun auch
von meiner Seite, mich zur Rückkehr zu rüſten, und
trabte bald dem hohen Thurme von Salisbury wie-
der zu, den ſchon die Dämmerung verdeckte. Kaum
war ich indeß eine Meile ſcharf gefahren, als der
morſche, hohe Gig zuſammenbrach, und der Kutſcher
wie ich ſelbſt, ziemlich unſanft auf den Raſen gewor-
fen wurden. Der alte Gaul aber lief mit der abge-
lösten Gabel, luſtig wiehernd, und in verſtärkterem
Tempo der Chauſſee und Stadt zu. Während wir
uns mühſam aufrichteten, hörten wir auch Pferde-
getrappel hinter uns — es war der Fremde, der auf
einem ſchönen, ſchwarzen Roß vorbeigallopirte, und
mir lächelnd zurief: Der Teufel läßt ſchönſtens grü-
ßen, verehrter Herr! A revoir! und damit ſprengte
er, wie ein Wirbelwind, davon. Dieſer Hohn war
wirklich ärgerlich. O, Sie unzeitiger Spaßmacher,
ſchrie ich ihm ſcheltend nach, helfen Sie uns lieber,
ſtatt Ihrer Fadaiſen! Aber nur das Echo ſeiner
Hufſchläge antwortete uns durch die einbrechende
Dunkelheit. Mein Kutſcher lief zwar dem entflohenen
Klepper eine Meile nach, kam aber bald unverrichte-
ter Sache zurück. Es half nichts, wir mußten uns
[293] entſchließen, da auch nicht eine Hütte ſich auf unſerm
Wege befand, die übrigen ſechs Meilen zu Fuße zu
gehen. Nie ſchien mir ein Weg langweiliger, und
wenig nur entſchädigten mich die Wundergeſchichten,
die mir der Kutſcher unterwegs von ſeinem Hunter
erzählte, als derſelbe vor zwanzig Jahren noch der
Leader (Anführer) der Salisburyſchen Hunt gewe-
ſen ſey.



Ich benutzte den heutigen Tag ſehr gut, trug aber,
wahrſcheinlich noch als Nachwehen von der geſtrigen
Nachtpartie, Abends ein derbes Kopfweh davon. Da
es indeſſen nur rheumatiſcher Natur iſt, kehre ich
mich nicht daran, ſetze meine Füße in Senf, Salz
und heißes Waſſer, und beginne.


Salisbury’s weitberühmte Cathedrale rühmt ſich
des höchſten Thurms in Europa. Er iſt vierhundert
und zehn Fuß hoch, welches fünf Fuß höher iſt, als
der Strasburger Münſter, wenn ich nicht irre, doch
iſt jener wenigſtens weit ſchöner. Das Aeußere des
großen Doms zeichnet ſich vorzüglich durch ein auf-
fallendes Anſehn von Neuheit und Nettigkeit aus,
ſo wie durch ſeine [gänzliche] Vollendung in jedem
Detail. Er verdankt dies zwei Hauptreparaturen, die
im Laufe der Zeit mit ihm vorgenommen wurden,
die erſte unter Chriſtoph Ween, die zweite unter
[294] Wyatt’s Aufſicht. Auch die Lage dieſer Kirche iſt eigen-
thümlich, da ſie, wie ein Modell, ganz frei auf einem
ſchön gehaltenen Platze kurzen Raſens ſteht, den auf
der einen Seite des Biſchoffs-Pallaſt und die Cloiſters,
auf der andern hohe Linden umgeben. Der Thurm
endet in einer Obeliskenartigen Spitze mit einem
Kreuze, auf dem, omineus genug, eine Wetterfahne
befeſtigt iſt. Dieſer geſchmackloſe Gebrauch ſchändet
die meiſten gothiſchen Kirchen in England. Der
Thurm ſteht fünf und zwanzig Zoll aus dem Lothe,
ohne daß man es jedoch bemerkt, nur im Innern
ſieht man die weichende Biegung der Pfeiler, die zu
ſeiner Stütze beſtimmt ſind. Dies Innere des heh-
ren Tempels iſt äußerſt impoſant, und von Wyatt’s
Genie noch mehr hervorgehoben. Eine vortreffliche
Idee war es, die merkwürdigen alten Monumente
von den Wänden und Winkeln abzulöſen, und frei
zwiſchen die prachtvolle doppelte Pfeilerallee aufzuſtel-
len, deren, durch nichts unterbrochne, ſchlanke Höhe
faſt Schwindel erregt. Nichts kann ſich ſchöner aus-
nehmen, als dieſe lange Reihe von gothiſchen Sar-
kophagen, auf denen die Rieſenfiguren der Ritter und
geiſtlichen Fürſten ausgeſtreckt in ihrem ewigen
Schlafe liegen, während die Stein- und Metallrüſtun-
gen von den bunten Glasfenſtern mit allen Regen-
bogenfarben überglänzt werden. Unter Templern und
andern Rittern liegt hier auch „Richard Langſchwerdt“
begraben, der mit dem Eroberer nach England kam;
neben ihm eine Rieſengeſtalt in Alabaſter, der
Schwerdtträger Heinrich des VII., der bei Bosworth-
[295] Field blieb und ſtets mit zwei langen Schwertern,
eins rechts, eins links, focht, mit denen er auch hier
abgebildet iſt.


Die Klöſter ſind ebenfalls ſehr ſchön. Lange, kunſt-
reiche Gallerieen führen im Viereck, um den Capitel-
ſaal, welchen letztern nur eine einzige [Säule] in der
Mitte ſtützt, wie den Remter in Marienburg. Die
Basreliefs, die in breiten Bändern den Saal umga-
ben, ſcheinen von ſehr guter Arbeit zu ſeyn, ſind
aber zu Cromwells Zeit halb zerſtört worden. In der
Mitte ſteht noch ein halb vermoderter Tiſch von Ei-
chenholz aus dem 13ten Jahrhundert, auf den, nach
ziemlich glaubwürdigen Nachrichten, die Arbeiter am
Kirchbau jeden Abend ausgezahlt worden ſein ſollen,
und dies zwar damals mit einem Pfennig pro Tag.
Die Beſteigung des Thurms iſt ſehr beſchwerlich.
Die letzte Hälfte muß man, wie beim Stephansthurm
in Wien, auf ſchmalen Leitern hinan klimmen. End-
lich kommt man an eine kleine Dachthüre, dreißig
Fuß unter dem Knopfe. Aus dieſer Thüre ſteigt der
Mann, welcher die Thurmfahne wöchentlich öhlt, auf
eine ſo gefährliche Art heraus, daß es beinahe unbe-
greiflich ſcheint, wie der ſiebzigjährige Greis, der die-
ſen Poſten bekleidet, es auszuführen im Stande iſt.
Ueber dem Fenſter hat, wie geſagt, die ſchmale
Thurmſpitze noch dreißig Fuß Höhe, wo nichts als
eiſerne Klammern außerhalb zum Hinaufklettern be-
feſtigt ſind. Der Alte muß nun rückwärts aus
der kleinen Lucke ſteigen, ſich, wegen des Regendaches,
[296] mit dem Oberleibe tief aus derſelben herabbiegen,
und ſo nach der erſten Klammer darüber tappen,
ohne ſie noch ſehen zu können. Hat er ſie durch
das Gefühl endlich erreicht und feſt gefaßt, ſo ſchwingt
er ſich, an ihr in der Luft hängend, daran hinauf,
und ſucht, während dem, mit den Füßen das Regen-
dach zu gewinnen, von dem er dann von Klammer
zu Klammer hinaufſteigt. Gewiß wäre es leicht, eine
bequemere und weniger gefährliche Vorrichtung an-
zubringen, aber der Thürmer iſt es einmal ſo von
ſeiner Kindheit an gewöhnt, und will es nicht anders
haben. Selbſt bei Nacht iſt er ſchon dieſen hals-
brechenden Weg gegangen, und freut ſich, daß nur
ſelten ein Fremder, ſelbſt Matroſen, die ſonſt überall
hinklettern, es gewagt hat, ihm zu folgen.


Als wir zur erſten, frei um den Thurm führenden,
Gallerie wieder herabkamen, zeigte mir der Führer
einen Habicht, der nur zwanzig bis dreißig Fuß über
uns ſchwebte. Seit vielen Jahren, ſagte er, hält ſich
ein Paar dieſer Vögel auf dem Thurm auf, und
nährt ſich von des Herrn Biſchoffs Tauben. Ich
ſehe oft einen oder den andern, fuhr er fort, über
dem Kreuz ſich wiegen, und dann plötzlich auf die
Vögel unten ſtoßen; manchmal läßt er ſie auch auf
das Kirchdach oder die Gallerie wieder herabfallen,
geht aber nie ein zweitesmal nach einer ſo verlornen
Beute, und läßt ſie gewiß dort verfaulen, wenn ich
ſie nicht weghole. Des Biſchoffs Pallaſt und Garten
breiteten ſich maleriſch unter uns aus, und alle
[297] Schornſteine rauchten freudig, denn His Lordship
waren eben angekommen, präparirten ſich aber auch
ſchon wieder zu einer neuen Badereiſe. In der
Kirche, meinte mein Führer, ſähe man den Herrn
Biſchoff kaum zwei bis dreimal des Jahres. Predi-
gen thäten Hochdieſelben nie. Ihr heiliges Geſchäft
beſtehe blos darin, 15,000 Pf. St. mit ſo viel Ge-
ſchmack zu verzehren, als Ihnen der liebe Gott ver-
liehen habe — die Arbeit aber werde hinlänglich von
Subalternen verrichtet. Dieſe ſchöne Einrichtung iſt
das Einzige was uns noch auf dem Continent fehlt,
um ganz glücklich zu ſeyn, das Einzige was der
Mühe werth wäre, aus England nachzuahmen. Auf
dem Rückweg ſpazierte ich in dem dämmernden Dome
noch eine Weile, unter den herrlichen Monumenten
und den alten Rittern umher, die meine Einbildungs-
kraft von Neuem aus ihren Gräbern citirte — denn
alles dies, gute Julie, haben wir ja auch früher mit-
erlebt, und betrachten jetzt mit Verwunderung unſre
eignen alten Bilder, wie wir einſt als Nachkommen,
in tauſend Jahren, wieder die jetzigen anſtaunen
werden. —


Ich hatte Sorge getragen, mir für heute einen ſo-
lideren Wagen als den geſtrigen zu verſchaffen, und
fuhr nun in dieſem recht gemächlich nach Wilton,
dem ſchönen Schloſſe des Grafen Pembroke. Hier
iſt eine werthvolle Antiken-Sammlung, die von dem
verſtorbnen, kunſtliebenden Grafen ſehr geſchmackvoll
aufgeſtellt worden iſt. Sie befindet ſich in einer brei-
[298] ten, rund um den innern Schloßhof laufenden Galle-
rie, die mit ſämmtlichen Appartements des erſten
Stockes communicirt, und ihr reichliches Licht nur
von einer Seite erhält. Winter und Sommer ge-
währt ſie daher den intereſſanteſten Spaztergang,
und wird mit wenigen Schritten aus jedem Zimmer
erreicht. In den Fenſtern hat man die bunten Wap-
pen aller Familien angebracht, mit denen die Pem-
brokes im Lauf der Zeiten durch Heirath alliirt
wurden, eine reiche Sammlung, unter der ſich auch
das Königlich Engliſche Wappen befindet. In der
Halle aber ſind die Rüſtungen der alten Kriegshel-
den aus der eignen Familie aufgeſtellt, und Die ih-
rer vornehmſten Gefangnen, als der Connetable von
Montmorency, ein franzöſiſcher Prinz von Geblüt,
und mehrere Andere. Gewiß, dieſe alten Erinnerun-
gen einer hohen und machtigen Ariſtokratie haben
ihre poetiſche Seite.


Die Caſtellanin, welche mich herumführte, ſchien
ſelbſt aus einer jener coloſſalen Rüſtungen hervorge-
krochen zu ſeyn, denn ſie war ihre volle ſechs Fuß
hoch, und mit einem Schnurbart geſchmückt, deſſen
ſich der alte Connetable nicht zu [ſchäumen] gehabt
hätte. Auch konnte man nicht beſſer in der Geſchichte
des Mittelalters bewandert ſein; dagegen mißhandelte
ſie die Namen römiſcher Kaiſer und griechiſcher Phi-
loſophen auf eine barbariſche Weiſe, erklärte aber
ohne Scheu einige ſehr leichtfertige Darſtellungen
ganz richtig, und mit ſehr drolligen Kennerausdrücken.


[299]

Einer der anſtoßenden Säle iſt abermals mit Fa-
milienportraits angefüllt, die jedoch mehr Glanz
durch Holbein und Vandyk, als durch die dargeſtell-
ten Perſonen erhalten. Nach einiger Zeit überſtralt
in der Regel der Kunſtadel den angebornen,
comme de raison. Das Schloß enthält außerdem
noch mehrere Bilder von Bedeutung, unter denen
mir eine Grablegung von Albrecht Dürer, mit gro-
ßem Detail in Waſſerfarben ausgeführt, am auffal-
lendſten war. Ein Garten der Gräfin, auf den ſich
die Bibliothek-Thüren öffnen, iſt im altfranzöſiſchen
Geſchmack angelegt, und wird durch einen kleinen,
ſehr reichlich verzierten Tempel geſchloſſen, der eine
beſondere Merkwürdigkeit an ſich trägt. Er iſt näm-
lich vom Maler Holbein erbaut, darum aber um
nichts geſchmackvoller, ſondern im Gegentheil ein häß-
lich überladnes Monument. Deſto niedlicher iſt der
Garten, und es gereicht den engliſchen Frauen von
Rang zur Ehre, daß ſich die meiſten durch eine ganz
überlegne Kunſtfertigkeit in dieſer Hinſicht auszeich-
nen. Man würde ſich ſehr irren, wenn man hoffte,
daß irgend ein engliſcher Gärtner im Stande wäre,
Meiſterſtücke von Gartenausſchmückung, wie ich Dir
in meinen früheren Briefen viele geſchrieben *), an-
zulegen. Dieſe verdanken alle ihr Daſeyn nur dem
Kunſtſinn und der liebenswürdigen Häuslichkeit der
Beſitzerinnen.


[300]

Ich hätte dieſes Schloß nicht zu ſehen bekommen,
da es durchaus verboten war, irgend einen Frem-
den, ohne eine ſchriftliche Erlaubniß des Beſitzers,
einzulaſſen, wenn ich nicht die unſchuldige Liſt ge-
braucht hätte (welche der Herr des Hauſes wenn er
es erfahren, mir nun wohl verziehen haben wird)
mich bei der ritterlichen Caſtellanin für einen ruſſi-
ſchen Verwandten der Familie auszugeben, mit ei-
nem, für ſie unlesbaren und unausſprechbaren, Na-
men. Es iſt zu unangenehm 4 Meilen gefahren zu
ſeyn, eines ſolchen Zweckes halber, und dann un-
verrichteter Sache wieder zurückkehren zu müſſen,
daher lade ich meine Nothlüge auf die Schuld der
inhumanen engliſchen Sitten, denn bei uns iſt man
nicht ſo grauſam, und nie wird hier einem Englän-
der mit gleicher Illiberalität vergolten.


Auf der andern Seite der Stadt liegt eine zweite
intereſſante Beſitzung, Langford, dem Grafen Rad-
nor gehörig, ein weiter Park und ſehr altes Schloß,
von ſonderbarer dreieckiger Form mit ungeheuer
dicken Thürmen, deren Mauern Moſaik nachahmen.
In unanſehnlichen, niedrigen und ſchlecht meublirten
Zimmern fand ich hier eine der koſtbarſten Gemälde-
ſammlungen, ausgeſuchte Bilder der größten Meiſter,
wie es deren ſo viele bei engliſchen Privatperſonen
giebt, verborgene Schätze, die Niemand ſieht, und
Niemand kennt. Ein Sonnen-Auf- und Untergang
von Claude Lorrain ſtehen oben an. Der Morgen
zeigt uns Aeneas mit ſeinem Gefolge am glücklichen
Strande Italiens landend, und man beneidet die
[301] Ankömmlinge um das Landſchaftsparadies, das ſich
vor ihnen erſchließt. Auf dem Abendbilde ver-
goldet die ſinkende Sonne prächtige Ruinen verwach-
ſener Tempel und Pallaſte, die eine einſame, ver-
wilderte Gegend umgiebt. Auf- und Untergang des
römiſchen Reichs ſollten dadurch allegoriſch darge-
ſtellt werden. Waſſer, Wolken, Himmel, [Bäume],
die durchſichtige zitternde Sonnenatmosphäre — es iſt,
wie immer bei Claude, die Natur ſelbſt, die man nur
wie neu geſchaffen ſieht. Es iſt gewiß ſchwer zu begrei-
fen, wie ein Mann im fünf und dreißigſten Jahre noch
Koch und Farbenreiber ſeyn, und im fünf und vierzig-
ſten die Welt mit ſolchen nie erreichten Meiſterſtücken
beſchenken konnte! Der [wunderſchöne] Kopf einer Mag-
dalena von Guido, deren thränende Augen, und
heißer, halb geöffneter Roſenmund freilich mehr zu
tauſend Küſſen als zur Reue einladen, eine in aller
Pracht des Colorits glänzende Santa famiglia von
Andrea del Sarto, und mehrere andere Meiſter-
ſtücke andrer gefeierter Meiſter hielten mich noch meh-
rere Stunden hier feſt. Ein Portrait des Grafen Eg-
mont hätte ſchlecht zum Titelkupfer vor Göthes Tra-
gödie gepaßt, denn der lebensluſtige Schwärmer er-
ſchien hier als ein ziemlich corpulenter Vierziger mit
einer Platte auf dem Kopf, und einer wahren All-
tags-Phyſiognomie auf dem Geſicht. Ein ganz an-
ders geiſtvolles Antlitz zeigte ſein neben ihm hängen-
der Freund von Oranien. Zwiſchen Beiden ſaß der
finſtere, die Grauſamkeit als Luxus treibende, Alba
zu Pferde.


[302]

Außer den Gemälden und einigen Antiken enthält
das Schloß noch eine andre ſeltne Koſtbarkeit, einen
Stuhl oder Thron von Stahl, den die Stadt Augs-
burg dem Kaiſer Rudolph II.ſchenkte, die Schwe-
den unter Guſtav Adolph erbeuteten, und ein
Vorfahr des Grafen Radnor in Stockholm kaufte.
Die Arbeit iſt bewunderungswürdig. Wie ſchwinden
vor dieſem Kunſtwerk alle Zierlichkeiten unſrer Tage,
von Birmingham, der Berliner Eiſenfabrik ꝛc., zu
elenden Spielereien und wahrem Tand! Man glaubt
ein Werk Benvenuto Cellini’s vor ſich zu ſehen,
und weiß nicht was man mehr bewundern ſoll, ob
die herrliche Ausführung und Grazie der Details,
oder die geſchmackvolle und künſtleriſche Anordnung
des Ganzen?



Den geſtrigen Tag mußte ich meinem Erbfeinde,
der Migraine, opfern; heute reiste ich in fortwäh-
rendem Regenwetter nach der Metropolis, und ſetze
morgen früh meinen Weg nach Frankreich fort. Die
Gegend bot wenig Anziehendes dar, deſto animirter
war das Geſpräch [auf] unſrer Imperiale und rou-
lirte, faſt den ganzen Tag, über einen berühmten
Boxing Match, wobei, wie es ſchien, ein Jankee
den John Bull angeführt, und durch Beſtechung des
[303] Haupt-Boxers wie man ſagte, 10,000 Pf. St. ge-
wonnen hatte. Dieſe Betrügereien bei allen Arten
von Sport, ſind ſo gäng und gebe in England,
unter den niedrigſten wie den höchſten Klaſſen, ge-
worden, wie es das falſche Spiel zu den Zeiten des
Grafen von Grammont war. Viele rühmen ſich faſt
öffentlich damit und ich habe nie gefunden, daß
Solche, die als die „most Knowing ones“*) be-
kannt ſind, dadurch an ihrer Reputation in der Ge-
ſellſchaft gelitten hätten — au contraire, ſie paſſir-
ten für geiſtreicher als die übrigen, und man warnte
nur hier und da lächelnd, ſich vor Denen in Acht
zu nehmen. Einige der erſten Mitglieder der Ari-
ſtokratie ſind in dieſer Hinſicht ganz notoriſch, und
ich weiß, daß der Vater eines ſolchen Nobleman,
dem man die Beſorgniß äußerte, daß ſein Sohn doch
einmal von einem Blackleg (Betrüger) angeführt
werden könne, antwortete: Ich bin dabei weit mehr
für die Blacklegs, als für meinen Sohn beſorgt! —
Ländlich, ſittlich! Was auch, wiewohl auf einer un-
tern Stufe, England charakteriſirte, war, daß der
Kutſcher, der uns fuhr, in dem beſagten unglückli-
chen Match ebenfalls 200 Pf. St. verloren hatte,
und darüber nur lachte, indem er zu verſtehen gab,
er würde ſchon eine andere Dupe finden, die es ihm
mit Intereſſen wieder einbrächte! Wie weit wird der
Briefe eines Verſtorbenen. II. 20
[304]march of intellect auf dem Continent noch wandern
müſſen, ehe die Poſtillone des Fürſten von Turn
und Taxis und die [Eilwagenführer] des Herrn von
Nagler dergleichen Wetten mit den Reiſenden unter-
nehmen [können].


Einige Stunden von Windſor kamen wir durch
eine in England ſeltene Gegend, die blos aus Sand
und Kiefern beſteht. Hier hat man ein prachtvolles
Palais mit Park und Gärten erbaut, die neue Mi-
litair-Schule, welche mit allem Luxus einer fürſtli-
chen Beſitzung ausgeſtattet iſt. Die Kiefern erſchie-
nen mir heimathlich, der Pallaſt nicht. Während ich
noch mit den erſten liebäugelte, car à toute âme
bien née la patrie est chère,
erblickten wir einen
altersgrauen Fuchs, der mit nachſchleppender Ruthe,
über das Haidekraut hergallopirt kam. Der wettlu-
ſtige Kutſcher ſah ihn zuerſt, und ſchrie: „By God
a fox, a fox!“ It’s a dog,
behauptete ein Anderer.
„I bet You five ponuds to four, it is a fox!“
erwiederte der Roſſebändiger. „Done!“ rief der
Zweifler, und mußte gleich darauf zahlen, denn es
war wirklich ein nicht mehr zu bezweifelnder Fuchs,
wiewohl von ſeltner Größe. Jetzt erſchienen meh-
rere verlaufene Jagdhunde, die die Spur verloren
hatten, und auch einzelne Rothröcke wurden in dem
Kieferdickicht ſichtbar. Alles ſchrie ihnen von der
Mail zu, wohin der Fuchs gelaufen, ohne es ihnen
jedoch verſtändlich machen zu können. Die Zeit der
Mail iſt ſtreng gemeſſen, und jeder unnöthige Auf-
[305] enthalt verpönt, aber hier war ein nationales Un-
glück im Spiel — denn die meute und Jäger hat-
ten den Fuchs verloren! Der Kutſcher hielt an,
und Mehrere ſprangen herab, dem Troß, der nun
ſich mit jedem Augenblick vermehrte, den rechten
Weg zu zeigen. Nicht eher wurden wir wieder flott,
bis wir von Neuem die Jagd in vollem Gange ſahen,
wozu wir die Hüte ſchwenkten und „Tallyho!“ rie-
fen. Sobald unſer Gewiſſen hiernach gänzlich be-
ruhigt war, und der Fuchs in der Plaine ſeinem
unvermeidlichen Schickſal überliefert, peitſchte der
Kutſcher in die Pferde, die Verſäumniß nachzuholen,
und den Reſt des Weges jagten wir im ſauſenden
Gallop davon, als wenn der wilde Jäger ſelbſt hin-
ter uns wäre.


Aber 12 Uhr hat’s geſchlagen und bald hätte ich
vergeſſen, nach guter alter Sitte, Dir zu gratuli-
ren — denn


Ein neues Jahr beginnt,

Schon Sand auf Sandkorn rinnt!

Wird’s Glück bedeuten,

Oder Unheil bereiten?

Im wachenden Traume erſcheint mir das Bild
meines räthſelvollen Lebens —


Die Wolken zieh’n, die Stürme ſauſen,

Der Donner rollt, die Fluthen brauſen,

Gefahrvoll iſt das Schiff zu ſchauen,

Wer mag dem falſchen Meere trauen!

20*
[306]
Doch hinter jenem ſchwarzen Schleier

Erhellt die Nacht ein goldner Blick —

Iſt es der Mond in ſanfter Feier,

Oder der Sonne Abſchiedsblick?


Der Bock der Mail iſt mein Thron geworden, von
dem ich auch zuweilen regiere, und die Zügel vier ra-
ſcher Roſſe ſehr gut zu führen weiß. Stolz über-
ſchaue ich dann das Land, flüchtig eile ich vor-
wärts,
(was nicht alle Regierer von ſich rühmen
können) und dennoch wünſche ich mir manchmal Flü-
gel — nur um noch ſchneller bei Dir zu ſeyn.


In London that ich den ganzen Morgen nichts
als, Deinem Befehl gemäß, eine würdige Gema-
lin — für Francis aufzuſuchen, aber die ächten
Blenheim-Spaniels ſind verzweifelt rar. Was ich
auch ſah, es paßte nicht. — Entweder waren die
Ohren zu lang, oder zu kurz; die Beine zu krumm,
oder zu auswärts; das Fell zu bunt, oder nicht
reich genug gefleckt; der Humor zu biſſig, oder zu
ſchläfrig — kurzum, ich mußte bald von der unnützen
Jagd abſtehen.


Als ich in Canterbury ankam, flaggten alle Thürme
zum Neujahrstage, ich aber feierte ihn noch herrli-
cher in der ſtolzeſten und ſchönſten aller engliſchen
[307] Cathedralen. Dieſer romantiſche Bau, der von den
Sachſen angefangen, von den Normanen fortgeſetzt,
und neuerlich mit Verſtand reſtaurirt worden iſt,
bildet eigentlich drei ganz verſchiedene, aber zuſam-
menhängende Kirchen, mit vielen unregelmäßigen
Seiten-Kapellen und Treppen, auf und niederſtei-
gendem ſchwarz und weiß gegatterten Steinboden,
und einem Wald von Pfeilern darauf, in harmoni-
ſcher Verwirrung. Auch die gelbliche Farbe des
Sandſteins wirkt ſehr vortheilhaft, beſonders in dem
normänniſchen Theil der Kirche, wo er mit ſchwar-
zen Marmorſäulen abwechſelt. Hier liegt das Bild
in Erz des ſchwarzen Prinzen auf ſeinem Stein-
Sarkophage. Ueber ihm hängt ſein halb vermoder-
ter Handſchuh, nebſt dem Schwerdte und Schild von
Poitiers. Eine Menge andrer Monumente zieren
außerdem die Kirche, unter andern das Heinrich des
IV. und des Thomas a Becket, welcher in einer der
Seitenkapellen ermordet ward. Ein großer Theil
der alten bunten Fenſter iſt erhalten, und von unge-
meiner Schönheit der Farben. Einige bieten bloße
Muſter und Arabesken, gleich durchſichtigen Sammt-
tapeten, dar, andere ſcheinen, wie Juwelierarbeit,
aus Edelſteinen aller Farben zuſammengeſetzt. Hi-
ſtoriſche Gemälde ſtellen nur wenige dar. Was die-
ſem grandioſen Dom einen beſondern Vorzug vor
den übrigen in England giebt, iſt, daß hier der ſtö-
rende Schirm in der Mitte nicht exiſtirt, und man
die ganze Ausdehnung des Schiffes von 4 — 500
Schritt Länge mit einem Blicke überſieht. Die Or-
[308] gel iſt in einer der obern Galleriebögen verſteckt an-
gebracht, und macht von da aus, wenn ſie ertönt,
einen zauberiſchen Effect. Ich traf es ſo [glücklich],
daß, eben als ich gehen wollte, ſchon halb im Dunkeln,
die Sänger und Muſiker eine Uebungsſtunde hielten,
und ihre ſchönen unſichtbaren Himmels-Chöre zu glei-
cher Zeit den Dom erfüllten, als die letzten Sonnen-
ſtralen im Saphir-Blau und Rubin-Roth der Fen-
ſter erglühten. Der Erzbiſchoff von Canterbury iſt
Primat von England und der einzige Unterthan, in
Großbritannien, der, außer dem Königlichen Blut,
die Fürſtenwürde hat, jedoch nur in ſeinem Erzbi-
ſchoffs-Sitz, nicht in London, ſo viel ich weiß. Die-
ſer proteſtantiſche Geiſtliche hat 60,000 Pf. St. Re-
venüen, und darf heirathen. Weiter wüßte ich eben
nichts, was ihn von den katholiſchen Kirchenfürſten
unterſchiede.



Endlich ſehe ich mich wieder in dem geliebten
Frankreich! So wenig vortheilhaft auch der erſte
Contraſt auffällt, doch begrüßte ich, faſt mit dem
Gefühl eines aus langer Gefangenſchaft Zurückge-
kehrten, den halb heimiſchen Boden, die reinere Luft,
die ungezwungenere, freundlichere, vertraulichere
Sitte.


[309]

Um 5 Uhr waren wir ſchon in Dover geweckt wor-
den, und hatten in völliger Dunkelheit das Packet-
boot erklettert. Wir wandelten bereits eine halbe
Stunde darin auf und ab, ohne daß man Miene
zum Abſegeln machte. Mit einemmal verbreitete ſich
das Gerücht, der Boiler (Dampfkeſſel) ſey ſchadhaft
geworden. Die Furchtſamſten retteten ſich ſogleich
auf den Quai, die Uebrigen ſchrieen nach dem Ca-
pitain, dieſer war aber nirgends zu finden; endlich
ſchickte er jemand, der uns ankündigte, man könne
ohne Gefahr nicht ſegeln, und die Sachen würden
auf einen franzöſiſchen Steamer gebracht werden,
der um 8 Uhr abginge. Ich benutzte daher dieſen
Zwiſchenraum, um die Sonne von dem Fort auf-
gehen zu ſehen, das die hohen Kalkfelſen über der
Stadt krönt. Die Engländer, welche Geld genug
beſitzen, um jeden nützlichen Plan auszuführen, ha-
ben, ſtatt eines äußern Weges, ein Tunnel durch
den Felſen geſprengt, der eine Art Trichter bildet,
in welchem zwei Wendeltreppen 240 Fuß hoch hin-
aufführen. Der Anblick von oben iſt höchſt pittoresk,
und die Sonne ſtieg über die weite Ausſicht, faſt
wolkenlos, aus dem Meer empor. Ich hätte indeß
über die Extaſe, der ich mich überließ, bald die Ab-
fahrt des Schiffes verſäumt, das würklich grade mit
dem Moment meiner Ankunft abſegelte. In 2 ½
Stunde warf uns der heftige Wind binüber. Dies-
mal war die Seekrankheit zu ertragen, und ein vor-
treffliches Diné, wie es kein engliſcher Gaſthof bie-
tet, reſtaurirte mich in Calais vollkommen. Dies Ho-
[310] tel (Bourbon) iſt aber auch, was die Küche betrifft,
eins der beſten Frankreichs.


Als wir die, überall gehäſſigen, Paß- und Polizei-
Geſchäfte beſeitigt hatten, und dem Innern der
Stadt zueilten, war ich Zeuge einer [lächerlichen]
Scene, die mich gleich, in medias res, nach Frank-
reich verſetzte. (Verzeih. die naturalia, weil ſie non
sunt turpia,
was Dir der Superintendent überſetzen
wird.) Alſo mein Begleiter, ein Engländer, trat,
aus einer leicht zu errathenden Urſache, in einen
nichts weniger als reinlichen Seitenhof. Kaum war
er indeß dort [geſchäftig], als eine ſehr gut gekleidete
junge Dame aus der Thüre ſprang, und anſtatt, wie
eine Engländerin in gleichem Fall gethan haben
würde, erſchrocken und mit vor dem Geſicht gehalt-
nen Händen eine ſchnelle Flucht zu ergreifen, ſogleich
der Gefahr in die Augen ſah, höchſt erzürnt auf den
Eindringling losging, und ihm mit der eigenthüm-
lichen franzöſiſchen Volubilität zurief: Comment Mon-
sieur, quelle insolence de p. … dans notre mai-
son! Est ce que la rûe n’est pas assez grande
pour cela? Vous êtes un grand poliçon! Maman,
Maman, voilà un Monsier qui p . . . . . dans notre
maison!
Der Zorn der kleinen Virago, und die Con-
fuſion des beſtürzten Engländers waren maleriſch,
erreichten aber den höchſten Grad, als nun auch die
herbeigerufene Maman, eine würdige Marrone, er-
ſchien, ſich ebenfalls vor den Unglücklichen hinſtellte,
die Arme übereinander ſchlug, ihn, ohne ſich an den
[311] Zuſtand ſeiner Toilette zu kehren, von oben bis un-
ten mit durchdringenden Blicken maß, und dann mit
bedächtiger und ernſter Miene ironiſch fragte: Eh
bien Monsieur, est ce que vous ne finirez point?
— Monsieur, permettez moi de vous dire qu’on
ne p . . pas ainsi chez les personnes, on p . . . . dans
la rûe Monsieur. „Vraiment, je crois, qu’il se mo-
que de nous Maman
— unterbrach ſie die Tochter
jetzt halb weinend, l’insolent il ne bouge pas. —
Was weiter daraus geworden iſt, weiß ich nicht,
denn ich überließ, von Herzen lachend, den die beiden
Damen noch immer anſtierenden Engländer ſeinem
Schickſal, und Jene den jetzt ſchwierig hergeſtammel-
ten Entſchuldigungen des verblüfften Sünders.



Der erſte Morgen-Spaziergang in Frankreich be-
hagte mir köſtlich. Dieſer permanente Sonnenſchein,
der klare Himmel, den ich lange nicht mehr geſehen,
und endlich wieder eine Stadt, deren Häuſer und
Dächer man von keinem Nebel und Kohlenrauch ge-
trübt, klar in der Luft ſich abſchneiden ſehen konnte.
— Alles wurde von mir wahrhaft angeſtaunt. Ich
fühlte mich wieder zu Haus, und wandelte jetzt nach
dem Hafen, um den letzten Abſchied vom Meere zu
nehmen. Da lags vor mir, ſpiegelglatt und blau,
[312] endlos überall, außer an der engliſchen Küſte, deren
Daſeyn ein ſchwarzes Wolken-Gebürge, (wahrſchein-
lich die compact gewordnen Nebel jener Inſel) ver-
rieth. Ich folgte der jettée (einer Art Holzdamm)
die wohl eine Viertelſtunde in die See hineinführt,
und fand mich am Ende derſelben bald ganz allein,
nichts Lebendes mehr erblickend, als einen Waſſer-
vogel, der mit Blitzesſchnelle vor mir in der Silber-
fluth umherſchwamm, oft plötzlich untertauchte und
dann, erſt nach Minuten, an einer weit entferntern
Stelle wieder zum Vorſchein kam. Dies Spiel ſetzte
er lange fort, und ſo gewandt und luſtig war das
Thier dabei, daß man hätte glauben ſollen, es wolle
mir abſichtlich alle ſeine Künſte vormachen. Ich war
ſchon im Begriff, allerhand Phantaſieen an dies
Schauſpiel zu knüpfen — da hörte ich aber die Tritte
und das Geſpräch einer engliſchen Familie hinter
mir, und ſchnell entflohen wir beide, der Vogel
und ich.


Auf dem Stadtwall begegnete ich einem franzö-
ſiſchen Hausmädchen mit zwei wunderhübſchen eng-
liſchen Kindern, ſehr elegant in Coquelicot Cache-
mire und weiß gekleidet. Die Kleinſte hatte ſich feſt
an einen Baum geklammert, und refüſirte, mit eng-
liſcher Freiheitsliebe, auf das beſtimmteſte, zu Hauſe
zu gehen. Die arme Franzöſin radebrechte umſonſt
alle engliſche Schmeicheleien und Drohungen, deren
ſie nur habhaft werden konnte, alles blieb vergebens:
Mon darling come allons, rief ſie wehmüthig.
[313]I won’t — war die lakoniſche Antwort. Der kleine
Trotzkopf intereſſirte mich ſo ſehr, daß ich gefällig
mich ſelbſt zum Baume begab, um ebenfalls mein
Heil bei ihr zu verſuchen. Es gelang mir auch beſ-
ſer, denn nach einigen engliſchen Späßen folgte ſie
mir glücklich, und ich führte ſie triumphirend der
Bonne zu. Als ich mich aber nun ſelbſt entfernen
wollte, packte mich der kleine Dämon mit allen Kräf-
ten beim Rock, und ſagte laut lachend: No, no,
You shant go now. You forced me arvay from
the tree, and I’ll force You to remain with us.

Und ich kam wirklich nicht eher fort, immer ſtreng
feſtgehalten, bis wir unter Schäckern und Streiten
beim Hauſe der Eltern angelangt waren. Now
I have done with You,
ſchrie die Kleine, indem ſie
mich los ließ, und jubelnd ins Haus rannte. O
You little flirt!
rief ich ihr nach — an Dir wird die
franzöſiſche Erziehung auch wenig Früchte bringen.


In die Stadt zurückgekehrt, beſuchte ich den be-
rühmten Br. . . . . Ich ſehe, Du ſchlägſt verge-
bens den Dictionnaire historique und des Contem-
porains
auf, und kannſt dieſen berühmten Namen
nicht finden. Hat er ſich in der Revolution, oder
einer Contre-Revolution ausgezeichnet, iſt es ein
Krieger, ein Staatsmann? Vous n’y êtes pas. —
Er iſt viel mehr und viel weniger, wie man es an-
ſehen will. — Mit einem Wort, es iſt einer der berühm-
teſten, und ſeiner Zeit mächtigſten Dandees, die Lon-
don je gekannt. Br. . . . . beherrſchte einſt durch
[314] den Schnitt ſeines Rockes eine ganze Generation,
und lederne Beinkleider kamen außer Gebrauch, weil
ein Jeder verzweifelte, ſie in der Vollkommenheit
der ſeinigen nachahmen zu können. Als er aber aus
wichtigen Gründen endlich Großbritannien den
Rücken kehrte, hinterließ er ſeinem Vaterlande noch,
als letztes Geſchenk, das unſterbliche Geheimniß der
mit Stärke geſteiften Halsbinden, deſſen Unergründ-
lichkeit vorher die Elegants der Hauptſtadt ſo ge-
quält batte, daß, nach der litterary gazette, zwei
davon aus Verzweiflung wirklich ſelbſt Hand an ſich
gelegt haben ſollen, und ein junger Herzog vor
Kummer darüber an einem „broken heart“ jämmer-
lich verſtarb. Der Anfang dieſer Krankheit war je-
doch ſchon früher bei ihm dadurch gelegt worden, daß
er, bei einer feierlichen Gelegenheit Br. . . . . ſchüch-
tern um ſein Urtheil über den eben anhabenden
Rock gebeten; dieſer aber, ihn nur flüchtig anblickend,
mit Verwunderung gefragt hatte: Do You call this
thing a coat?
(Nennt Ihr das Ding einen Rock?)
Sein Ehrgefühl blieb hierdurch unwiederbringlich
verletzt.


Obgleich nun heut zu Tage es die Kleidung nicht
mehr iſt, womit man in London den Ton angiebt,
ſo iſt doch nur das Vehikel, die Sache ſelbſt aber
keineswegs geändert. Den Einfluß, welchen Br. . . .,
ohne Vermögen und Geburt, ohne eine ſchöne
Geſtalt, oder hervorſtechenden Geiſt, blos durch eine
edle Dreiſtigkeit, einige drollige Originalität, Luſt
[315] an der Geſelligkeit und Talent im Anzug, in Lon-
don viele Jahre lang auszuüben wußte, giebt noch
immer einen vortrefflichen Maaßſtab für das Weſen
jener Geſellſchaft, und da ich Dir in meinen vorigen
Briefen Diejenigen [hinlänglich] geſchildert habe, welche
jetzt (wiewohl mit weit geringerer Machtvollkommen-
heit) Br. . . . . ’s Stelle einnehmen, ſo wirſt Du
vielleicht mit mir einverſtanden ſeyn, daß er derſel-
ben immer noch mit mehr Genialität ſowohl, als
größerer Unſchuld der Sitten vorſtand. Es war eine
freiere, mehr ein originelles und zugleich harmloſe-
res Ganze bildende Thorheit, die ſich zu der
jetzigen ohngefähr ſo verhält, wie die Komik und
Moralität in Holberg’s Luſtſpielen zu denen des
Kotzebue.


Der Gewalt der Mode kann man es freilich nur
zuſchreiben, wenn man es witzig fand, daß Br. …
einem Landjunker, der ihn fragte: Do Yon like
green peas?
antwortete: I once eat one. Ergötz-
licher aber ſind ſeine Streitigkeiten mit dem Prinzen
von W . . . . ., dem er, zuerſt von ihm in die
Mode eingeführt, nachher den Scepter derſelben aus
der Hand wand, und ſogar ſpäter ſeinen Vorſatz:
to cut the Prince, mit großem Erfolg ausführte.
Lange hatte ſich Br. . . . der höchſten Gunſt dieſer
erlauchten Perſon erfreut, behandelte ſie aber zuletzt
mit ſo wenig égard, daß dadurch ein Bruch herbei-
geführt wurde. Eines Tags nämlich vergaß er ſich
ſo weit, dem Prinzen nach Tiſch zuzurufen: Pray
[316] G . . . ., will Yon ring the bell for me!
(Bitte
G . . . . klingeln!) der Prinz von dem indiscreten
Lachen der Geſellſchaft, wie der impertinenten
Familiarität des Avanturier’s tief beleidigt, ſtand ge-
laſſen auf und klingelte — als aber der Diener her-
eintrat, ſagte er, mit den Fingern auf Br. . . . . .
weiſend: This person want’s his carriage (dieſe
Perſon
verlangt ihren Wagen). Br. . . . . verlor
die Faſſung nicht, ſondern erwiederte lachend: Capi-
tal G … y! (Bravo kleiner G . . . .!) aber bei
Gott, ich vergaß ganz, daß die ſchöne Herzogin auf
mich wartet! Ich mache alſo aus Spaß Ernſt und
verlaſſe Euch. So good bye to Y. R. H. Von die-
ſem Augenblick ſah ihn der Prinz nicht mehr in ſei-
nem Hauſe. Dies that jedoch ihm ſelbſt in der
faſhionablen Welt der damaligen Zeit beinahe mehr
Schaden als Br. . . . ., der die Sache zu tourniren
wußte, als habe er mit dem Prinzen gebrochen. Er
pflegte zu ſeinen intimen Freunden zu ſagen: That
fellow has first ruined me in Champain, won my
money afterwards, and now he think’s he can cut
me!
(Der Burſche hat mich erſt in Champagner rui-
nirt, mir dann mein Geld im Spiel abgewonnen,
und nun denkt er, er kann thun als kenne er mich
nicht.) Einige Tage darauf wollte es der Zufall, daß
Br. … dem Prinzen mit einigen berühmten Mode-
herrn in New Bondſtreet begegnete. Dieſer that als
wenn er ihn nicht [ſähe], Br. … aber näherte ſich,
mit aller ihm eignen aisance und effronterie, dem
Obriſten P … einem der Geſellſchaft, und zugleich
[317] einem der damaligen Coryphäen der eleganten Welt
und indem er ihm mit jener impertinenten Herab-
laſſung, in der er Meiſter war, die Hand geſchüttelt,
ergriff er ſein quizzing glass, und den Prinzen da-
mit fixirend, flüſterte er dem Obriſten allgemein ver-
ſtändlich zu: Who the devil, Colonel, is Your fat
old friend, You were just talking to?
(Wer Teu-
fel, Obriſter iſt Euer alter fetter Freund dort, mit
dem Ihr eben ſpracht?) Hiermit ließ er die conſter-
nirte Geſellſchaft ſtehen, beſtieg ſein Pferd, und ritt
lachend davon. Dieſe Anekdoten wurden mir aus
ganz authentiſcher Quelle von einem Augenzeugen
mitgetheilt, weniger gewiß weiß ich, ob es wahr iſt,
daß früher, wie man erzählt, bei einem diner, wo
man ſchon über das Maaß getrunken hatte, der
Prinz auf eine ſarkaſtiſche Bemerkung den neben ihm
ſitzenden Br., dieſem, im halben Rauſche, ein Glas
Wein ins Geſicht goß. Br., der ſolches an der Per-
ſon des Prinzen nicht erwiedern konnte, ergriff ſo-
gleich mit großer Geiſtesgegenwart ſein eignes Glas,
und es dem andern Nachbar über den Rock ſchüt-
tend, rief er mit Laune: der Prinz hat befohlen,
daß es links weiter gehen ſoll!


Noch lange fuhr Br. . . . . nachher fort, in Lon-
don zu regieren, und ſeinen hohen Antagoniſten zu
verdunkeln, ja in dieſer ſelben Zeit war es, wo ſein
Genie den höchſten Flug nahm, und er, um dem
Prinzen, der dafür berühmt war, ſein Halstuch in
einen unnachahmlichen Knoten zu knüpfen, den em-
[318] pfindlichſten Stoß zu verſetzen — den Gebrauch der
Stärke und Hauſenblaſen für die Cravatten erfand.
Von dieſem memorablen Augenblick an war Br. . . .’s
Sieg entſchieden, und Jahre lang marterten ſich,
wie ſchon erwähnt, die Dandees vergeblich ab, die
Halsbinde wie er zu tragen. Endlich vollbrachte das
Spiel, was dem Prinzen mißglückt war, nämlich
Br. . . . . aus der excluſiven Geſellſchaft zu ver-
drängen. Br. . . . . verlor Hab und Gut, und
mußte flüchten — auf ſeinem Schreibtiſch aber hin-
terließ er dem Vaterland ein verſiegeltes Paket.
Als man es aufmachte, fand man nichts als fol-
gende, mit großen Buchſtaben geſchriebene, Worte
darin: My friends! starch is the thing. — (Freunde!
Stärke iſt das Ding. —)


Und wie große Männer in ihren Werken noch fort-
leben, wenn ſie ſelbſt auch längſt verſchollen ſind, ſo
bleibt auch Br . . . . . ’s Stärke noch immer am
Halſe jedes fashionable ſichtbar, und verkündet ſei-
nen hohen Genius. Er ſelbſt aber lebt ſeitdem in
Calais, wohin ſeiner Gläubiger Autorität nicht reicht,
und jeder Zugvogel aus der großen Welt, der ſeinen
Weg hier durch nimmt, trägt dem ehemaligen Pa-
triarchen den Tribut einer Viſite, oder der Einla-
dung zu einem Diné pflichtſchuldigſt ab.


Dies that auch ich, wiewohl unter einem angenom-
menen Namen. Leider war mir hinſichtlich des
Diné’s ſchon ein andrer Fremder zuvorgekommen,
und ich kann daher nicht einmal davon urtheilen,
[319] wie ein coat eigentlich ausſehen müſſe, oder ob der
lange Aufenthalt in Calais, nebſt dem herannahen-
den Alter, den Anzug des ehemaligen Königs der
Mode weniger claſſiſch gemacht haben — denn ich
fand ihn bei meinem Beſuch noch bei der zweiten
Toilette (drei ſind deren früh nöthig) im geblümten
Schlafrocke, einer Samtmütze mit Goldquaſten auf
dem Kopf, und türkiſchen Pantoffeln an den Füßen,
ſich ſelbſt raſirend, und nachher, mit den beliebten
rothen Wurzelſtückchen, ſorgfältig die Reſte ſeiner
[Zähne] putzend. Das Ameublement um ihn her war
ziemlich elegant, ja zum Theil noch ganz reich zu
nennen, wiewohl bedeutend fanirt, und ich kann
nicht läugnen, ſein ganzes Benehmen ſchien mir da-
mit übereinzuſtimmen. Obgleich gedrückt von ſeiner
jetzigen Lage, zeigte er indeß noch immer einen ziem-
lichen Fond von Humor und Gutmüthigkeit. Sein
Benehmen war das der guten Geſellſchaft, einfach
und natürlich, und von größerer Urbanität als die
jetzigen Dandees aufzuweiſen im Stande ſind. Lä-
chelnd zeigte er mir ſeine Pariſer Perücke, die er ſehr
auf Koſten der engliſchen rühmte, und nannte ſich
ſelbſt: le cidevant jeune homme, qui passe sa vie
entre Paris et Londres
. Er ſchien hinſichtlich
meiner etwas neugierig, frug mich über geſellſchaft-
liche Verhältniſſe in London aus, ohne jedoch die
gute Lebensart durch irgend eine Art von Zudring-
lichkeit irgend zu verläugnen, und ließ es ſich dann
ſichtlich angelegen ſeyn, mich zu überzeugen, daß er
noch immer von allem, was in der engliſchen Mode-
Briefe eines Verſtorbenen. II. 21
[320] welt wie der Politiſchen vorginge, ſehr wohl unter-
richtet ſey. „Je suis au fait de tout, rief er, mais
à quoi cela me sertil? On me laisse mourir de
faim ici. — J’espêre pourtant que mon aucien Ami,
le Duc de W., enverra un beau jour le Consul
d’ici à la Chine, et qu’ ensuite il me nommera à
sa place. Alors je suis sauvé . . . . .“
und wirk-
lich die engliſche Nation ſollte billig etwas für den
thun, der die geſtärkten Halsbinden erfand! Wie
manche ſah ich in London, mit ſchwer wiegenden
Sinecuren, die weit weniger für ihr Vaterland
gethan haben. —


Als ich Abſchied nahm und die Treppe hinunter
ging, rief er mir noch, die Thüre öffnend, nach,
„J’espêre que vous trouverez votre chemin, mon
Suisse n’est pas là, je crains.“ — Helas
! dachte
ich, point d’argent, point de Suisse. —


Um Dich nicht zu lange ohne Nachricht zu laſſen,
ſende ich dieſen Brief von hier ab. Vielleicht folge
ich ihm bald ſelbſt. Jedenfalls will ich mich jedoch
vierzehn Tage in Paris aufhalten, und auch dort alle
Deine Aufträge beſorgen. Gedenke mein indeſſen
ſtets mit der alten Liebe.


Dein treuer L . . . .


[[321]]

Sieben und vierzigſter Brief.



Meine theure, geliebte Freundin!

Ich konnte Dir geſtern nicht ſchreiben, da die Di-
ligence von Calais bis Paris zwei Tage und eine
Nacht braucht, und ſich alle zwölf Stunden nur eine
halbe zum Eſſen aufhält. Die Fahrt iſt nicht die
angenehmſte. Etwas todt, etwas elend und ſchmutzig
kommt Einem allerdings das ganze Land, wie auch
die Hauptſtadt, gegen den wogenden Wirrwarr, den
Glanz und die Nettigkeit Englands vor. Der Con-
traſt iſt, in ſo geringer Entfernung, doppelt auffal-
lend. Wenn man auf der Reiſe die groteske Ma-
ſchine betrachtet, in der man ſitzt, die ſchlecht geſchirr-
ten Karrengäule, von denen man langſam fortge-
ſchleppt wird, und ſich der zierlich leichten Kutſchen,
der ſchönen, mit blankem Meſſing und Glanzleder-
21*
[322] Geſchirr geſchmückten Poſtzüge der engliſchen Eilwa-
gen erinnert, ſo denkt man, im Traume 1000 Meilen
weiter verſetzt worden zu ſeyn. Die ſchlechten Stra-
ßen, dürftigen und unreinlichen Städte erwecken daſ-
ſelbe Gefühl, dagegen ſind vier Dinge dennoch im
Volksleben offenbar beſſer: Clima, Küche und Keller,
Wohlfeilheit und Geſelligkeit. Mais commencons
par le commencement
.


Nachdem ich meinen Incognitopaß gegen einen
gleichen proviſoriſchen, und nur bis Paris gültigen,
auf der Mairie umgetauſcht, wobei ich, auf Befragen
wie ich hieße, mich meines neuen Namens beinahe
nicht erinnert hätte, näherte ich mich dem wunderba-
ren Bau, den man in Frankreich eine Diligence
nennt. Das Ungethüm hatte die Länge eines Hau-
ſes, und beſtand eigentlich aus vier verſchiedenen,
wie an einander gewachſenen Wagen, die Berline in
der Mitte, eine Kutſche nebſt Gepäckkorb hinten, ein
Coupé vorn, und an dieſem noch das Cabriolet, wo
der Conducteur ſitzt, und neben welchem auch ich
meinen Platz genommen hatte. Dieſer Conducteur,
ein alter Soldat der Napoleoniſchen Garde, war, wie
ein Kärrner, in eine blaue Blouze gekleidet, mit ei-
ner geſtickten Mütze aus demſelben Zeuge auf dem
Kopf, der Poſtillon ſah aber noch origineller aus,
und wirklich halb einem Wilden ähnlich. Auch er
trug zwar eine Blouze, mit ungeheuren, über und
über mit Koth beſpritzten Stiefeln darunter, aber zu-
gleich auch eine Schürze von ſchwarzen Schaaffellen,
[323] die auf beiden Seiten über ſeine Schenkel herabhing.
Er dirigirte allein 6 Pferde zu 3 und 3 geſpannt,
und dieſe zogen ohngefähr 6000 Pfund Bagage, auf
einer ſehr ſchlecht unterhaltnen Chauſſée. Die ganze
Straße von Calais nach Paris iſt überhaupt eine
der traurigſten und unintereſſanteſten, die man ſehen
kann. Ich würde alſo meine meiſte Zeit mit Leſen
zugebracht haben, wenn mich nicht die Unterhaltung
des Conducteurs noch beſſer ſchadlos gehalten hätte.
Seine und der Garden Heldenthaten gaben ihm ein
unerſchöpfliches Thema, und unbedenklich verſicherte
er: que les trente mille hommes, dont il faisait
partie dans le tems,
wie er ſich ausdrückte, auraient
été plus que suffisans pour conquérir toutes les
nations de la terre, et que les autres, n’avaient
fait que gâter l’affaire
. Er ſeufzte jedesmal, wenn
er ſeines Empereur gedachte. „Mais c’est sa faute,“
rief er, ah s. d. il serait encore empereur si, dans
les ceut jours, il avait seulement voulû employer
de jeunes gens, qui desiraient faire for-
tune
, au lieu de ces vieux Maréchaux qui etaient
trop riches, et qui avaient tous peur de leurs fem-
mes. N’etaient ils pas tous gros et gras comme
des monstres? ah . . . . . parlez moi d’un jeune Co-
lonel, comme nous en avions! C [...]lui là vous aurait
flanqué ça de la jolie manière. — Mais apres tout,
l’Empereur aurait dû se faire tuer à Waterloo,
comme notre Colonel. Eh bien Monsieur, ce brave
Colonel avait recû trois coups de feu, un à la
jambe et deux dans le corps, et pourtant il nous
[324] menait encore à l’attaque, porté par deux grena-
diers. Mais quand tout fût en vain, et tout fini
pour nous — Camerades, dit il: Jai fait à que
j’ai pù, mais nous voilà . . . . . . Je ne puis plus
rendre service à l’Empereur, à quoi bon de vivre
plus long tems? Adieu donc mes Camerades —
vive l’Empereur! et le voilà qu’il tire son pistolet,
et le décharge dans sa bouche. C’est ainsi, ma
foi, que l’Empereur aurait dû finir aussi.“


Hier wurden wir durch ein hübſches Mädchen un-
terbrochen, die aus einem unanſehnlichen Hauſe an
den Wagen ſprang, und nach uns herauf rief (denn
wir ſaßen wenigſtens 8 Ellen vom Boden): Ah ça
Monsieur le Conducteur! oubliez vous les Crai-
pes?“ Oho! es tu là mon enfant?
. . . . und ſchnell
kletterte er die gewohnte, ſonſt halsbrechende, Hüh-
nerſteige hinab, ließ den Poſtillon halten und ver-
ſchwand im Hauſe. Nach wenigen Minuten kam er
indeß ſchon wieder mit einem Packet heraus, ließ
ſich neben mir behaglich niederfallen, und entfaltete
eine reichliche Quantität noch heiß dampfender deut-
ſcher Plinzen, ein Gericht das er, wie er mir er-
zählte, in Deutſchland kennen gelernt und ſo lieb ge-
wonnen habe, daß er es in ſein Vaterland einge-
führt. Man ſieht alſo, daß Eroberungen doch auch
zu etwas gut ſind. Mit franzöſiſcher Artigkeit bot
er mir ſogleich an, ſein gouté, wie er es nannte, zu
theilen, und ſchon aus Vaterlandsliebe nahm ich es
mit Vergnügen an, mußte auch geſtehen, daß kein
[325] Pächter oder Bauer in Deutſchland ſeine National-
Speiſe beſſer zubereiten könne. Wir verzehrten ſie
auf Napoleons Wohl, wo er auch ſeyn möge!


Viel Noth verurſachte dem ſonſt ſehr kräftigen
Manne eine ſonderbare Maſchine, die ſich, ohngefähr
in der Form einer Plumpe, neben ſeinem Sitze be-
fand, und mit der er ſich ewig zu ſchaffen machte,
bald aus Leibeskräften daran pumpend, ſie richtend,
ſchraubend, oder vor- und rückwärts drehend. Auf
meine Frage erfuhr ich, dieß ſey eine ganz vortreff-
liche neu erfundene Maſchinerie, welche dazu diene,
die Diligence-Arche beim Herabfahren ohne Hemm-
ſchuh zu retardiren, und bergauf ihren Lauf zu be-
ſchleunigen. Der Conducteur war äußerſt ſtolz auf
dieſe Vorrichtung, nannte ſie nie anders als sa me-
canique,
und behandelte ſie mit eben ſo viel Liebe
als Wichtigkeit. Unglücklicherweiſe brach jedoch die-
ſes Wunderwerk ſchon am erſten Tage entzwei, und
da wir uns deshalb noch langſamer fortſchleppten
als bisher, mußte der arme Krieger von den Paſſa-
gieren viel Neckereien wegen ſeiner ſchadhaften me-
canique
ausſtehen, ſo wie über den Namen ſeines
unermeßlichen Wagens, der l’Hirondelle hieß, und
freilich dieſe Benennung nur der bitterſten Ironie
zu verdanken ſchien.


Es war ſehr drollig, bei jedem neuen Relais den
armen Teufel zu hören, wie er den Poſtillon regel-
mäßig von dem geſchehenen Unglück avertirte, wel-
ches mit wenig Abänderung ſtets folgenden Dialog
[326] hervorbrachte: „Mon enfant, il faut que tu saches
que je n’ai plus de mécanique.“ Comment s . . d . .
plus de mécanique? „Ma mécanique fait encore
un peu, vois tû-mais c’est bien peu de chose, le
principal brancheron est au diable.“ „Ah diable!“


Man konnte nicht ſchlechter ſitzen, nicht unbeque-
mer und langſamer fortkommen, als ich hier in mei-
nem himmelhohen Cabriolet; überhaupt war es nun
ſchon eine geraume Zeit, daß ich der meiſten gewohn-
ten Bequemlichkeiten entbehrte. Demohngeachtet war
nie, weder meine Stimmung noch meine Geſundheit,
beſſer als auf dieſer ganzen Reiſe. Ich bin ununter-
brochen heiter und zufrieden geweſen, weil ich immer
ganz frei war. O großes Gut der Freiheit! Dich
[ſchätzen] wir noch lange nicht genug! Wenn ſich jeder
Menſch nur recht deutlich machen wollte, was er
grade mit ſeiner Individualität eigentlich zum Glück
und zur Zufriedenheit braucht, und nun unbedingt
das [wählte], was dieſem Zweck am meiſten entſpräche,
das andere aber herzhaft wegwürfe (denn Alles kann
man doch einmal auf der Welt nicht zuſammen ha-
ben) wieviel Mißgriffe würden erſpart, wie viel klein-
licher Ehrgeiz beſeitigt, wie viel wahrer Frohſinn be-
fördert werden! Alle würden ein großes Uebermaß
von Wohlſeyn im Leben finden, ſtatt bis ans Grab
ſich mit Unluſt und Unzufriedenheit zu quälen. —


Ich will Dich mit keinen ferneren Details unſrer
ſo wenig intereſſanten Reiſe ermüden. Sie glich dem
Melodram „ein Uhr“, und war eben ſo langweilig,
[327] denn nachdem wir früh Calais verlaſſen, machten wir
um ein Uhr Halt zum Eſſen, um ein Uhr in der
Nacht ſoupirten wir; den andern Tag ward eben-
falls Frühſtück und Diné um ein Uhr in Beauvais
vereinigt, wo uns ein hübſches Mädchen, die ſervirte,
und ein Freund Bolivar’s der uns viel von der Un-
eigennützigkeit des Befreiers erzählte, die ſchnelle Ab-
reiſe regrettiren machten — und wiederum um ein
Uhr in der Nacht hatten wir endlich auf der Douane
in Paris um unſre Sachen zu [kämpfen]. Mein Be-
dienter lud dann die meinigen auf eine Charette, die
ein Menſch vor uns herzog, und uns zugleich durch
die dunkeln und ſchmutzigen Straßen den Weg nach
dem Hôtel St. Maurice zeigte, wo ich jetzt in einer
kleinen Stube ſchreibe, die ich mir beſcheiden gewählt,
und wo der kalte Wind durch alle Thüren und Fen-
ſter ſaust, ſo daß das lodernde Kaminfeuer mich nur
auf einer Seite erwärmen kann. Die ſeidnen Tape-
ten, ſo wie der ſie bedeckende Schmutz, die vielen
Spiegel und die großen Holzſtücken am Kamin auf-
geſchichtet, ſo wie das Ziegel-Parquet — alles erin-
nert mich lebhaft, daß ich in Frankreich, und nicht
mehr in England bin.


Ein Paar Tage will ich mich hier ausruhen und
meine Empletten machen, dann eile ich in Deine
Arme, ohne wo möglich hier auch nur einen Be-
kannten zu ſehen, car cela m’entrainerait trop. Er-
warte daher auch nichts Neues von mir über das
alte Paris zu hören. Ein Paar detachirte Tagebuch-
Bemerkungen wird alles ſeyn, was ich Dir bieten
kann.


[328]

Um der heftigen Kälte einigermaßen zu begegnen,
die ich von jeher in Frankreich und Italien wegen
Mangels an Vorkehrungen dagegen am empfindlich-
ſten fand, mußte ich heut früh alle Spalten meines
kleinen Logis mit Bourlets garniren laſſen. Dann
eilte ich hinaus, den gewöhnlichen erſten Spaziergang
der Fremden, nach den Boulevards, Palais royal,
Tuilerien ꝛc., denn ich war doch neugierig zu ſehen,
was ſich ſeit ſieben Jahren dort geändert haben
möge. Auf den Boulevards fand ich Alles beim
Alten, im Palais royal hat der Herzog von Orleans,
dieſer in jeder Hinſicht ausgezeichnete Prinz, ange-
fangen, die ſchmäligen Holzgallerieen, und andere
Winkel durch neue Steingebäude und einen eleganten
Glasgang zu erſetzen, welches, wenn alles erſt ganz
fertig iſt, gewiß dies Palais zu einem der anſehnlich-
ſten machen wird, wie es bereits eins der eigen-
thümlichſten und auffallendſten iſt, vielleicht ſchon der
Seltenheit wegen, einen Königlichen Prinzen daſſelbe
Haus mit mehreren hundert F … Mädchen nebſt
eben ſo viel Krämern bewohnen, und von dieſen,
wie von Spiel und Boutiken, ſoviel Revenuen bezie-
hen zu ſehen, um mehr als ſeine menûs plaisirs, da-
mit decken zu können. In England würde ein Edel-
mann dergleichen ſich in ſeinem Hauſe nicht als mög-
lich denken können, [wäre] es aber der Fall, ſo würde
man wenigſtens gewiß dafür ſorgen, es reinlicher zu
halten — denn man muß geſtehen, die Götzen Venus
[329] und Merkur ſind hier, bei allem Prunk des Ausge-
hängten, gar ſchmutzig umgeben.


Am Pallaſt der Tuilerien und der neben an lau-
fenden Straße Rivoli waren ziemlich alle angefange-
nen Bauwerke noch in demſelben Zuſtande, wie ſie
Napoleon verlaſſen. In dieſer Hinſicht hat Paris an
der kaiſerlichen Dynaſtie verloren, die es in zwanzig
Jahren zu einer wahren Prachtſtadt umgeſchaffen ha-
ben würde, welchem Luxus des Schönen, die Rein-
lichkeit wohl auch endlich hätte folgen müſſen. Auch
auf dem place de Louis XV. ſtehen noch immer die
Gerüſte um die projektirte Statue, der Triumphbo-
gen de l’étoile, wird, wie der Thurm zu Babel, ab-
wechſelnd aufgebaut und eingeriſſen, der temple de
la victoire,
jetzt unendlich paſſender für die ſiegende
Kirche beſtimmt, iſt auch noch nicht fertig, und auf
dem pont de Louis XVI. möchte man wünſchen, daß
nichts geſchehen wäre, da die lächerlich theatraliſchen
und, im Verhältniß zur Brücke, wenigſtens doppelt
zu großen Statuen, die man dort auf die Pfeiler
poſtirt hat, welche ſie eindrücken zu wollen ſcheinen,
mehr ſchlechten Acteurs de province, als den fran-
zöſiſchen Helden gleichen, die ſie darſtellen ſollen.


Da Köche auch zu den franzöſiſchen Helden gehö-
ren, einmal wegen ihrer unübertroffnen Geſchicklich-
keit, zweitens auch wegen ihres Ehrgefühls (erinnere
Dich nur an den Koch Peregrine Pickle’s, und Va-
tel, der ſich wegen nicht angekommner Fiſche erſtach)
ſo komme ich hier ganz natürlich auf die Pariſer-
[330] Reſtaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte-
ſten, den ich heute beſuchte, urtheilen darf, etwas
degenerirt ſcheinen. Ihre, ſchon ſonſt ziemlich langen
Carten, haben ſich zwar ſeitdem in elegant gebundne
Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte
und Weine hat in demſelben Maße abgenommen.
Ich eilte nach dieſer traurigen Erfahrung zu dem
ehemals berühmten Rocher de Cancale. Aber auch
„Baleine“ iſt ins Meer der Ewigkeit zurückgeſchwom-
men, und wer ſich künftig auf den Cancaliſchen Fel-
ſen verläßt, hat auf Sand gebaut. Sic transit glo-
ria mundi!


Alles Lob mußte ich dagegen dem Theatre de Ma-
dame
ſpenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon-
tine Fay iſt eine allerliebſte Schauſpielerin, und ein
beſſeres ensemble kann nirgends gefunden werden.
Da ich grade von England kam, ſo frappirte mich
um ſo mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay,
in Malvina, die in England erzogne Franzöſin mei-
ſterhaft wiedergab, ohne daß durch dieſe Nüance dem
übrigen Charakter der mindeſte Abbruch geſchah. In
ihrem künſtleriſchen Spiel iſt keine Copie der Made-
moiſelle Mars zu entdecken, und dennoch ſieht man,
auf andre Weiſe, ein eben ſo treues und zartes Na-
turbild dargeſtellt. Das zweite Stück, eine Poſſe,
wo ein provinzieller Onkel ſeine kleine Stadt, in der
er eben zum Mitgliede eines Tugendvereins
aufgenommen werden ſoll, ſchleunig verläßt, um ſei-
nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend-
[331] ſten Nachrichten erhalten, von einer liederlichen Le-
bensart zu couriren, ſtatt dem aber, von deſſen an-
geſtellten Freunden, ſelbſt zu allen möglichen Leicht-
fertigkeiten verführt wird, ward ebenfalls mit aller
der komiſchen Laune und Gewandtheit dargeſtellt, die
dieſe franzöſiſchen Riens ſo anmuthig und amüſant
in Paris, ſo leer und abgeſchmackt in der deutſchen
Ueberſetzung erſcheinen laſſen. Denn ſo albern es ei-
gentlich iſt, wenn, nachdem Mamſell Minette den al-
ten Martin, gleich im Anfang des Stücks, durch ihre
Coquetterieen dahin gebracht hat, ihr einen Kuß zu
geben, und in dem Augenblick ihr Liebhaber, der
Kellner, mit einem Schweinskopf hereintritt, dieſer
ſprachlos ſtehen bleibt, und indem er ruft: N’y-a-t’il
pas de quoi perdre la tête!
die Schüſſel mit dem
Schweinskopf langſam aus den Händen gleiten läßt,
ſo muß man doch ſehr ſtoiſch geſinnt ſeyn, um bei
dem vortrefflich natürlichen Spiel nicht von Herzen
mit zu lachen. Die Folge iſt eben ſo ergötzlich Mar-
tin, voller Schreck, auf einer ſolchen Avantüre ertappt
worden ſeyn, tröſtet ſich am Ende damit, daß man
ihn ja hier nicht kenne, und nimmt, in ſeinem em-
barras,
des dazu gekommenen Dorval’s Einladung
zu einem dejeuner fogleich an, welches auch bald
darauf auf dem Theater ſtatt findet. Im Anfang
bleibt Martin ſehr [mäßig], die Trüffel und Delikateſ-
ſen tentiren ihn jedoch zuletzt, et puis, il faut abso-
lument les arroser d’un peu de Champagne.
Nach
vielem Nöthigen entſchließt er ſich endlich, immer
noch moraliſirend, ein Glas à la vertû zu trinken.
[332]Helas! il n’y-a que le premier pas qui coute. Ein
zweites Glas wird der piété getrunken, ein drittes
der miséricorde, und ehe die Gäſte aufſtehen, hören
wir Martin betrunken und jubelnd in den Toaſt ein-
ſtimmen: Vivent les femmes et le vin! Spiel
kömmt nun auch an die Reihe, er will ſich jedoch nur
zu einer Partie Piquet verſtehen, wobei er einige
drollige Couplets ſingt, die mit dem Refrain endigen:
L’amour s’envole, mais le piquet dûre. Um es kurz
zu machen, Martin wird vom Piquet zum écarté
und endlich zum Hazard-Spiel verleitet, verliert eine
große Summe, und erfährt zuletzt, pour le combler
de confusion,
daß er und ſein Plan von Hauſe aus
verrathen worden, und ſein Neffe ihn geprüft habe,
ſtatt ſich von ihm prüfen zu laſſen, wobei er ihn
aber leider viel zu leicht befunden. Er accordirt mit
Freuden Alles was man will, pourvû qu’on lui garde
le secret,
und das Stück ſchließt, indem ſein alter
Freund mit Extrapoſt ankömmt, um ihm zu melden,
daß Martin geſtern, unter allgemeinem Hurrah, zum
Präſidenten des Tugendbundes in ſeiner
Vaterſtadt erwählt worden ſey.



Ohngeachtet der bourlets und eines brennenden
Scheiterhaufens im Kamin, fahre ich dennoch fort in
meinem entresol recht empfindlich zu frieren. Dabei
[333] herrſcht darin ein fortwährendes clair obscûr, ſo daß
ich die Schriftzüge vor mir nur wie hinter einem
Schleier ſehe. Die kleinen Fenſter und hohen gegen-
über liegenden [Häuſer] laſſen es nicht anders zu, ſo
daß ich um Verzeihung bitten muß, wenn ich noch
unleſerlicher als gewöhnlich ſchreibe. Du wirſt übri-
gens bemerkt haben, daß das, zu choquant theure,
Porto in England auch mich gelehrt hat, ſorgfältiger,
und beſonders enger, zu ſchreiben, ſo daß jetzt ein
Schriftlavater aus meinen Briefen an Dich einen
großen Theil meines Charakters ſtudiren könnte, blos
durch’s Anſehen, meine ich, ohne ſie zu leſen. Es
geht darin, wie im Leben ſelbſt her, wo ebenfalls
oft mit guten Vorſätzen der Verengung, i. e. Be-
ſchränkung aller Art angefangen und eine Weile fort-
gefahren wird, bald aber die Zeilen wieder unwill-
kührlich weiter werden, und ehe man es ſich verſieht,
die unmerklich wirkende Macht der Gewohnheit zur
alten Latitude wieder zurückführte.


Ich habe Dir ſchon geſagt, daß die Carten der
Reſtaurateurs ſich in Bücher verwandelt haben, von
der Dicke eines Fingers, und reich in Maroquin und
Gold eingebunden. Einem engliſchen Offizier, den ich
heute im Caffée anglais fand, imponirte dies ſo ſehr,
daß er mehrmals vom erſtaunten garçon, la charte,
ſtatt la carte verlangte, vielleicht in der Meinung,
daß im liberalen Frankreich eine ſolche, auch für die
Caffees, eingeführt worden ſey. Obgleich die Fran-
zoſen ſelten auf die Sprachquiproquos der Fremden
[334] achten, ſo ſchien dieſes Allarmwort doch nicht ohne
ein Lächeln von Mehrern vernommen zu werden, ich
aber dachte: wie gern würden Manche es umdrehen,
und den Franzoſen ſtatt der Charte wieder Carten,
— zum Spielen geben.


Sehr überraſcht wurde ich Abends in der franzö-
ſiſchen Oper, die ich noch als eine Art Tollhaus ver-
laſſen hatte, wo einige Raſende in Verzuckungen
ſchrieen, als wenn ſie am Spieße ſteckten — und
jetzt dort ſüßen Geſang, die beſte italieniſche Methode
und ſchöne Stimmen mit ſehr gutem Spiele verei-
nigt fand. Roſſini, der, wie ein zweiter Orpheus,
die Oper alſo gezähmt, iſt hierdurch der wahre Wohl-
thäter muſikaliſcher Ohren geworden, und Einheimiſche
wie Fremde danken ihm gerührt ihr Heil.


Ich ziehe dieſes Schauſpiel jetzt, obgleich es weni-
ger Mode iſt, unbedenklich der italieniſchen Oper vor,
da es faſt Alles vereinigt, was man ſich nur vom
Theater wünſchen kann — [nämlich] außer dem ge-
nannten guten Geſang und Spiel, prächtige und
friſche Decorationen und das beſte Ballet in der
Welt. Wären die Opernterte auch Meiſterſtücke, ſo
wüßte ich nicht, was noch verlangt werden [möchte],
aber ſchon wie ſie ſind, kann man, z. B. mit der
Muette de Portici, die ich heute ſah, recht ſehr zu-
frieden ſeyn, Mademoiſelle Noblet iſt eine noble
Stumme, Grazie und Leben in ihrem Spiel, ohne
alle Uebertreibung, und Nourrit der Aeltere ein vor-
trefflicher Maſaniello, obgleich er allein noch zuweilen
[335] etwas zu ſehr ſchreit. Die Coſtüme waren muſter-
haft, aber der feuerſpeiende Veſuv mißrieth, und die
Rauchwolken, welche in die Erde verſanken, ſtatt dar-
aus hervorzuſteigen, waren ein Phänomen, das ich
wenigſtens nicht ſo glücklich geweſen bin zu erleben,
als ich dem wirklichen Ausbruch des Veſuvs bei-
wohnte.



Ein franzöſiſcher Schriftſteller ſagt irgendwo: „L’on
dit que nous sommes des enfans — oui, pour les
faiblesses, mais pas pour le bonheur.“
Das kann
ich Gottlob von mir keineswegs ſagen. Je le suis
pour l’un et pour l’autre,
ohngeachtet der überſtie-
genen drei Dutzend Jahre. So amüſire ich mich hier,
in der Einſamkeit der großen Stadt, außerordentlich
gut, und kann mir noch, ganz wie ein Jüngling ein-
bilden, ich träte eben in die Welt, und alles dies ſey
mir noch neu. Des Morgens beſehe ich Merkwür-
digkeiten, wandle im Muſeum auf und ab, oder gehe
Schopping (dies Wort bedeutet in den Buden um-
herlaufen und Bagatellen kaufen, deren der Luxus
in Paris und London [fortwährend] neue erfindet).
Hundert kleine Geſchenke habe ich Dir dort bereits
geſammelt, ſo daß mein hieſiges, ſo wenig geräumi-
ges, Logis ſie kaum zu faſſen im Stande iſt, und
dennoch kaum achtzig Pfund dafür ausgegeben, denn
in England iſt die Theuerkeit koſtbar, hier ver-
Briefe eines Verſtorbenen. II. 22
[336] führt nur die Wohlfeilheit, und ich muß manch-
mal lachen, wenn ich ſehe, daß ein pfiffiger franzö-
ſiſcher Kaufmann einen der ſteifen Inſulaner tüchtig
angeführt zu haben glaubt, und dieſer blos erſtaunt
hinausgeht, dieſelbe Waare grade ſechs mal wohlfei-
ler als in London gekauft zu haben.


Mittags fahre ich in der wiſſenſchaftlichen Prüfung
der Reſtaurateurs fort, und Abends in der der Thea-
ter, obgleich ich weder den Curſus der einen noch
der andern [gänzlich] zu vollenden Zeit haben werde.


Während dem „Schopping“ bemerkte ich heute im
palais royal ein Aushängeſchild, auf dem die wun-
derbare
Expoſition des Todes des Prinzen Ponia-
towsky bei Leipzig angekündigt war. Dergleichen Na-
tionellem gehe ich nicht gern vorüber, und ſtieg da-
her, das Wunder zu ſehen, eine elende dunkle Treppe
hinauf, wo ich in einer noch dunklern Kammer ohne
Fenſter, einen dürftig gekleideten Mann bei einer
halb verlöſchten Lampe ſitzen fand. Ein großer Tiſch,
der vor ihm ſtand, ward von einem ſchmutzigen Tuche
bedeckt. Sobald ich eintrat, eilte er ſogleich noch
drei andre Lampen anzuſtecken, die jedoch nicht recht
brennen mochten, worauf er laut und heftig zu de-
clamiren anfing. Ich glaubte, die Explication beginne
ſchon, und frug, da ich nicht recht acht gegeben, was
er geſagt habe? Oh rien! war die Antwort, je parle
seulement à mes les lampes, qui ne brulent pas
clair.
Nachdem dieſe Converſation mit den Lampen
endlich ihren Zweck erreicht, ward das verdeckende
[337] Tuch hinweggezogen, und ließ nun ein Kunſtwerk
erblicken, das einer Nürnberger Spielſache mit klei-
nen beweglichen Figuren glich, durch die Erklärungen
des Beſitzers aber reichlich den Eintrittspreis vergü-
tigte. In einem näſelnd ſingenden Tone begann er
folgendermaßen: Voilà le fameux Prince Poniatofsky,
se tournant avec grace vers les officiers de son
corps, en s’écriant! Quand on a tout perdû, et
qu’on n’a plus d’espoir, la vie est un opprobre et
la mort un devoir. Remarquez bien Messieurs
(er
redete mich immer im Plural an) comme le cheval
blanc du Prince se tourne aussi lestement qu’un
cheval véritable. Voyez-pan à droite — pan à
gauche — mais le voilà qui s’élance, se cabre se
précipite dans la rivière, et disparait.
— Dies ge-
ſchah, indem die Figur an einem Faden unter dem
Tiſche, erſt rechts und links, dann vorwärts gezogen
wurde, und hierauf durch Hinwegziehung eines, im
gemalten Waſſer angebrachten Schiebers darunter in
einen Schubkarren fiel. Ah bien! voilà le Prince
Poniatofsky noyé. Il est mort .. C’est la première
partie — maintenant Messieurs vous allez voir tout
à l’heure la chose, la plus surprenante qui ait ja-
mais été montrée en France. Tous ces petits soldats
innombrables que vous apercevez devant vous
(es
waren ohngefähr ſechszig bis ſiebzig) sont tous vrai-
ment
habillés — habits, gibernes, armes, tout
peût s’ôter et remettre à volonté. Les canons ser-
vent comme des canons véritables, et sont admirés
par tous les officiers du génie qui viennent ici.

22*
[338] Um dies ad oculos zu demonſtriren, wurde die vor-
derſte kleine Kanone von der Lavette gehoben, und
dem erſten Soldaten ſein Degengehenke abgenom-
men, welches als [hinlänglicher] Beweis für die ge-
machte Angabe galt. Ah, bien! vous allez mainte-
nant, Messieurs, voir manoeuvres cette petite ar-
mée, comme sur le champ de bataille. Chaque sol-
dat, et chaque cheval feront séparément les mou-
vemens propres, voyez ....
Hier geſchah nun wei-
ter nichts als daß ſämmtliche Püppchen, die im er-
ſten Akt wahrſcheinlich aus Reſpekt vor dem Fürſten
Poniatowsky, ſich nicht gerührt hatten, beim Lärm
einer Trommel, die ein kleiner Junge unter dem
Tiſche ſchlug, nun gemeinſchaftlich zwei anhaltende,
taktförmige Bewegungen machten, die bei den Sol-
daten im Heben und wieder Niederfallen ihrer Arme,
bei den Pferden im Bäumen und Ausſchlagen be-
ſtanden. Unterdeſſen rezitirte der [Erklärer] mit ver-
mehrtem Pathos das franzöſiſche Bulletin jener Af-
faire, worauf der zweite Akt ſchloß. Ich glaubte
daß es kaum mehr beſſer kommen könnte, und da
unterdeſſen einige Zuſchauer mehr eingetreten waren, ich
auch den üblen Geruch zweier ausgegangenen Lampen
nicht [länger] ertragen mochte, ſo flüchtete ich für meine
Perſon vom Schlachtfelde, und allen ſeinen Wundern.
Tragiſch war es aber doch, dem ſich einſt ſo heroiſch
aufopfernden Helden jetzt ſo mitſpielen zu ſehen!


In der Oper vergnügte ich mich ſehr am Comte
Ory, den der jüngere Nourrit ſang. Die Kenner
[339] mögen noch ſo viel gegen Roſſini ſchreien — wahr
bleibt es doch, daß auch hier wieder Ströme von
Melodie das Ohr entzücken, bald in Liebestönen
ſchmelzend, im Gewitter donnernd, beim Banquet der
Ritter jubelnd, oder beim Gebet ſich feierlich gen
Himmel erhebend. Seltſam genug iſt es freilich, daß
in dieſer, faſt mehr als leichtfertigen Oper, das, nur
als Heuchelei dargeſtellte, Gebet der Ritter daſ-
ſelbe
iſt, welches Roſſini früher für Karl X. Krö-
nungsfeierlichkeit componirt hatte. Madame Cinti
ſang die Rolle der Gräfin ſehr gut, Mademoiſelle
Javoureck zeigte, als Page des Grafen, ſehr ſchöne
Beine, und auch der Baſſiſt war vortrefflich.


Das Ballet, dächte ich, hätte gegen ehemals ein
wenig verloren; Albert und Paul werden durch die
Jahre nicht leichter, und außer den Damen Noblet
und Taglioni zeichnet ſich kaum eine Tänzerin aus.


Ich bemerkte während der Oper, daß derſelbe Akteur,
welcher in der Muette eine der Hauptrollen ſpielt,
heute unter dem Corps der Ritter eine ganz unbe-
deutende Stelle einnahm. Aehnliches geſchieht hier
oft, und iſt eine höchſt nachahmungswerthe Einrich-
tung, da nur, wenn auch die Beſten zum ensemble
conkurriren müſſen, die Rolle mag groß oder klein
ſeyn, ein wahrhaft gutes Ganze hervorgebracht wer-
den kann.


Für dieſes ensemble wird überhaupt in Frank-
reich weit mehr als bei uns gethan, wo oft die Täu-
[340] ſchung an Kleinigkeiten ſcheitert, welche die Bequem-
lichkeit der Direktion oder der Schauſpieler vernach-
läßigt. Der ſelige Hoffmann (nicht der Seelen Ver-
theilende, ſondern Seelen Ergreifende) pflegte zu
ſagen, daß von allem Grauſenhaften ihm nichts un-
heimlicher vorgekommen ſey, als wenn er, im Berli-
ner Theater, einen [Iffländer] Geheimerath zuerſt ſo
proſaiſch ſich gehaben, und dann plötzlich ſtatt menſch-
lich durch die Thüre abzugehen, wie der leibhaftige
Gott ſey bei uns, durch die Wand fahren geſehen
habe, als ſey es bloße Luft. —



Es iſt freudig auffallend, das Muſeum, nach Allem
was reſtaurirt werden mußte, doch noch ſo über-
ſchwenglich reich zu finden! Die neuen [Säle] Denon’s
geben nun auch dem größten Theile der Standbilder
einen würdigen Aufenthaltsort; es iſt nur ſchade,
daß man die alten Säle nicht auch in ähnlichem Style
einrichtet. Zuviel würde, bei Demolirung der Decken-
gemälde, nicht verloren gehen, da ſie an ſich keinen
großen Werth haben, und Gemälde überhaupt ſich
in Verbindung mit Statüen ſo ſchlecht ausnehmen.
Sculptur und Malerei ſollte man wohl nie ver-
einigen.


[341]

Ohne mich bei den bekannten Meiſterſtücken auf-
zuhalten, laß mich einiger Kunſtwerke [erwähnen], die
mich beſonders anſprachen, und die ich mich früher
nicht geſehen zu haben erinnere. Erſtens eine ſchöne
Venus, in Milo erſt vor einigen Jahren gefunden,
und vom Duc de Rivière dem Könige geſchenkt.
Sie iſt als victrix dargeſtellt, nach der Meinung
der Antiquare, urſprünglich entweder den Apfel vor-
zeigend, oder mit beiden Händen das Schild des
Mars haltend. Da die beiden Arme fehlen, ſo bleibt
dies Hypotheſe. Aber wie ſchön iſt der vom Gürtel
an nackte Körper! Welches Leben, welche zarte Weich-
heit und reizende Form! der triumphirende, ſtolze
Ausdruck des Geſichts iſt weiblich wahr, und doch
auch göttlich erhaben.


Zweitens. Eine weibliche, in weite Gewande ge-
hüllte Figur (image de la Providence im Catalog
genannt) ein herrliches, ideales Weib, Sanftmuth
und Güte im Antlitz, himmliſche Ruhe in der gan-
zen Geſtalt. Die Draperie iſt von höchſter Grazie
und Vollendung.


Drittens. Amor und Pſyche, aus der Villa Borg-
heſe. Die Letztere fleht Amors Verzeihung an, auf
ihre Kniee geſunken, und das ſüße Lächeln Amors
zeigt, daß ihr Flehen ſchon innerlich erhört ſey.
Wollüſtige Formen, und der lieblichſte Ausdruck der
Geſichter beſtechen wenigſtens den Laien! Die Gruppe
iſt ſo gut erhalten, daß nur die eine Hand des Lie-
besgottes als reſtaurirt erſcheint.


[342]

Viertens. Eine ſchlafende Nymphe. Die Alten,
welche Alles unter den ſchönſten Geſichtspunkt zu
bringen verſtanden, pflegten häufig mit ſolchen Figu-
ren, als bloßen Emblemen des Todes, ihre Sarko-
phage zu ſchmücken. Der Schlaf, ſieht man, iſt tief
— aber die Stellung dennoch beinahe üppig, und rei-
zend die Glieder, an die ſich eine ſchöne Draperie,
nur halb verbergend, anſchließt. Sie erinnert mehr
an neues junges Leben, als an den vorhergehenden
Tod. *)


Fünftens. Eine Zigeunerin (angeblich), merkwür-
dig durch die Miſchung von Stein und Bronce. Von
letzterem iſt die Figur, von erſterem der lacedämoni-
ſche Mantel. Der Kopf iſt zwar modern, aber von
einem höchſt [gefälligen], ſchalkhaften Ausdruck, der
ganz einer ächten Zingarella angehört, wie ſie Ita-
lien liefert.


Sechstens. Die prächtige Statüe einer Anbeten-
den. Der Kopf und Hals, von weißem Marmor, hat
die ſtreng ideale Schönheit der beſten Antiken, und
der Faltenwurf, vom härteſten Porphyr, könnte in
Sammt und Seide nicht leichter und freier fallen.


[343]

Siebentes. Die coloſſale Melpomene giebt einem
der neuen Säle den Namen, und unter ihr faßt ein
elegantes Broncegeländer ganz vorzüglich gelungene
Nachahmungen antiker Moſaik, vom Profeſſor Bel-
loni, ein. Dies iſt eine höchſt intereſſante Erfindung,
von der es mich wundert, ſie von den Reichen noch
ſo wenig benutzt zu ſehen.


Achtens. Die Büſte des jungen Auguſtus. Ein
ſchöner, milder, kluger Kopf — ſehr verſchieden im
Ausdruck, wiewohl mit denſelben äußern Umriſſen
der Züge, von der Statüe, die den Kaiſer in ſpä-
terem Alter darſtellt, wo die Gewalt der Umſtände
und der Einfluß der Parteien ihn zu ſo mancher
Grauſamkeit hinrißen, bis zuletzt doch wieder, mit
der unumſchränkten Macht, die angeborne ſanftere
Natur die Oberherrſchaft erhielt.


Neuntens. Sein großer Feldherr Agrippa. Nie
ſah ich eine charakteriſtiſchere Phyſiognomie in edlerer
Form! Es iſt ſeltſam, daß die Stirn und das Obere
der Augen eine große Aehnlichkeit mit einem Manne
zeigen, der auch, obwohl in ganz anderem Wir-
kungskreiſe, zu den großen gehört — ich meine Ale-
xander v. Humbold. In den andern Theilen des
Geſichts verſchwindet übrigens dieſe Aehnlichkeit völlig.
Je mehr ich dieſen Eiſenkopf anſchaute, je mehr über-
zeugte ich mich, daß ein Solcher grade dem weichen
Auguſtus [nöthig] war, um Herr der Welt werden zu
können, und zu bleiben.


[344]

Zehntens. Das Letzte, und zugleich Intereſſanteſte
für mich war eine Büſte Alexanders, nach Denon’s
Ausſpruch, die einzige authentiſche welche exiſtirt;
ein wahres Studium für den Phyſiognomiſten und
Cranologen, denn die Treue der alten Künſtler bil-
dete mit gleicher Sorgfalt alle Theile, genau nach
dem Vorbilde der Natur. Wirklich hat dieſer Kopf
alle Wahrheit des Porträts, ganz vom Idealiſir-
ten entfernt, nicht eben ausgezeichnet ſchön in den
Zügen, aber, in ſeinen [merkwürdigen] Verhältniſſen
und Ausdruck, der Geſchichte des großen Originals
durchaus entſprechend. Den, zuweilen leichtſinnigen,
abandon des Charakters verräth ſehr gut der gra-
zieus etwas zur Linken geneigte Hals, wie der wol-
lüſtige Zug um den Mund; Stirn und Kinnladen
ſind auffallend gleich Napoleon, ſo wie auch die
ganze volle Form des Schädels, hinten und vorn
(thieriſch und intellektuell), ſich wie bei Napoleon
gleich vollſtändig ausgebildet zeigt.*) Die Stirne
iſt nicht zu hoch (keinen Ideologen verrathend) ſon-
dern gedrängt und [metallkräftig]. Die Züge im All-
gemeinen ſind zwar regelmäßig und wohlgebildet,
aber wie ſchon erwähnt, nicht idealiſch ſchön zu nen-
nen. Um Auge und Naſe thront von einer erhab-
nen Schlauheit, wenn ich mich ſo ausdrücken darf,
umſpielt, Schärfe des Geiſtes mit dem entſchloſſen-
[245[345]] ſten Muth, und zugleich jener ſinnigen Gemüthlich-
keit der Seele gepaart, die Alexander zu einem eben
ſo unbeſiegbaren, als liebenswürdig poetiſchen,
Jünglingshelden machte, wie er einzig in der Ge-
ſchichte daſteht. Mit dem gleichen Complex von Ei-
genſchaften begabt, würden, weder Carl der XII.
noch Napoleon, ihren Untergang in Rußland ge-
funden haben, und jetzt der Eine nicht als ein
Don Quixotte, der Andere als ein blos tyranniſch
berechnender Kraft- und Verſtandesmenſch angeſehen
werden. Das Ganze bildet ein Weſen, deſſen An-
blick in hohem Grade anzieht und, obgleich impo-
nirend, dennoch in dem Beſchauer ſelbſt Muth, Liebe
und Vertrauen hervorruft. Man fühlt ſich, im Wi-
derſchein dieſer Züge, behaglich und ſicher, und ſieht
ein, daß ein ſolcher Mann in allen Zeiten, in allen
Lagen des Lebens, Bewunderung und Enthuſias-
mus erregen, und mit ſich fortreißend habe wirken
müſſen.


Noch will ich eines lieblichen Basreliefs und eines
originellen Altars [erwähnen]. Das Basrelief (auch
aus der Borgheſiſchen Sammlung, die Frankreich,
mit ſo Vielem, Napoleon verdankt) ſtellt Vulkan
vor, wie er das Schild des Aeneas ſchmiedet. Cyclo-
pen um ihn, alle mit wahren Silen- und Faunge-
ſichtern, ſind ſehr ergötzlich abgebildet, gar herzig
aber erſcheint, mitten unter ihnen, ein kleiner, lieb-
licher Cupido, der, bald ſich hinter einer Thüre ver-
ſteckend, dem Einen der Cyclopen die Mütze escamo-
[346] tirt. Alles in der niedlichen Compoſition iſt voll
Leben, Laune und Bewegung, und die Wahrheit
der Formen und Korrektheit der Zeichnung mei-
ſterhaft.


Der Altar, zwölf Göttern zugleich gewidmet, ſieht
einem chriſtlichen Taufbecken ähnlich. Die Hautre-
liefs der zwölf Gottheitsbüſten umgeben den Rand
des Beckens, gleich einem ſchönen Kranz. Die Ar-
beit iſt vorzüglich, und die Erhaltung läßt wenig zu
wünſchen übrig. Die Götter ſind in folgender Ord-
nung gereiht: Jupiter, Minerva, Apollo, Juno,
Neptun, Vulcan, Mercur, Veſta, Ceres, Diana,
alle einzeln, zuletzt Mars und Venus vereinigt durch
Amor. Es wundert mich, daß man dieſe geſchmack-
volle Idee noch nicht im Kleinen für die Bazars der
Damen, in Alabaſter, Porcellain oder Criſtall aus-
geführt hat, wie die bekannten Tauben und andere
Kunſtgegenſtände. Nichts könnte ſich beſſer dazu
eignen, und doch war nicht einaml bei Jaquet, (dem
Nachfolger Getti’s mouleur du Musée) ein Gypsab-
guß davon zu finden, eben ſo wenig wie von den
meiſten der angeführten Werke, blos weil dieſe nicht
zu den berühmteſten gehören, unter welchen berühm-
teſten doch einige recht wenig anziehende ſind. Die
Menſchen ſind gar zu ſehr comme les moutons de
Panurge.
Sie folgen blos der Autorität, und laſ-
ſen ſich von dieſer nur vorſchreiben, was ihnen
gefallen ſoll.


In der Gemäldegallerie würden die erzwungenen
Reſtitutionen ebenfalls weniger bemerkbar ſeyn, wenn
[347] man nicht ſo viel Gemälde der neueren franzöſiſchen
Schule darin aufgeſtellt fände, die, ich geſtehe es,
ſehr wenige ausgenommen, oft nur wie halbe Karri-
katuren auf mich wirken. Dieſe theatraliſche Verzer-
rung, dieſer Bretteranſtand, welche ſelbſt Davids
Figuren nicht ſelten zur Schau tragen, und die ſtets
übertriebenen Leidenſchaften erſcheinen ſchülermäßig
gegen die edle Naturwahrheit der Italiener, und
laſſen auch die gewinnende Gemüthlichkeit der Deut-
ſchen und [niederländiſchen] Schule gänzlich vermiſſen.
Unter dieſen berühmten Neuern mißfiel mir Girodet
am meiſten, und gewiß kann kein geſunder Kunſtſinn
ſeine Sündfluth ohne Widerwillen betrachten, auch
Horace Vernet glänzt nur in Genre-Stücken,
aber Gerards Einzug Heinrich des IV. ſcheint mir
ein Bild, deſſen Ruf dauern wird.


Die vielen Rubens und Leſueur die man, um die
Lücken zu decken, aus dem Palais Luxemburg her-
gebracht hat, erſetzten ebenfalls nur ſchlecht die ver-
ſchwundenen Raphaels, Leonardo da Vinci’s und
Van Eyk’s. Kurz alles Neue und Alte, ſeit der
Reſtauration hierhergekommene, macht keinen günſti-
gen Eindruck, wohin die ſchlechten Malerbüſten
auch noch gehören, die man in gewiſſen Diſtancen
in der Gallerie unter Säulen aufgeſtellt hat, und
die ſich, auch wenn ſie beſſer gearbeitet wären, in
einen Gemälde-Saal nie gut paſſen würden. Wie
immer bildet aber auch noch jetzt die prächtige, lange
Gallerie, den angenehmſten Spaziergang im Win-
[348] ter, und die Liberalität, welche den Zugang ſtets
offen läßt, iſt nicht genug zu loben.


Wenn ich bedenke, wie noch erbärmlicher es um
die Malerei in England ſteht, wie Italien und Deutſch-
land ebenfalls nichts Großes mehr bieten, *) ſo
möchte man fürchten, daß es mit dieſer Kunſt bald
wie mit der Glasmalerei gehen wird, ja ihr tiefſtes
Geheimniß wirklich ſchon verloren gegangen ſey. Die
Fülle, Kraft, Wahrheit und Leben der alten Maler,
wie ihre techniſche Farbenkenntniß — wo werden ſie
noch angetroffen? Thorwaldſen, Rauch, Danneker,
Canova wetteifern mit der Antike, aber welcher Ma-
ler iſt auch nur neben die Künſtler zweiten Ranges
aus der Blüthezeit der Malerei zu ſtellen? Nur die
ſchon erwähnte Genre-Arbeit prosperirt, obgleich
auch in ihr die forgſame, treue Natur-Copie der
Niederländer nie entfernt erreicht wird.


In einem Seitenhofe des Muſeums ſteht jetzt
der coloſſale Sphynx aus Drovettis Sammlung,
für den Hof des Louvre beſtimmt. Er iſt aus ro-
ſenfarbnem Granit und von eben ſo grandio-
ſer Sculptur, als ſtupender Maſſe, auch ganz in-
takt, bis auf die Naſe, welche man eben durch
eine weiße Gypsnaſe erſetzte, die noch nicht die letzte
[349] Couche und ihre Farbe erhalten hatte. Dieſer An-
blick machte mich unwillkührlich lachen, und an die
ſonderbaren Verkettungen der Umſtände denkend, die
auch dieſen Rieſen endlich hiehergebracht, rief ich in
meinem Innern: Was willſt Du, großer Aegypti-
ſcher Naſeweis, hier im neuen Babylon nach drei
tauſend Jahren, wo kein Sphynx mehr ein Räthſel
verbirgt, und wo die Verſchwiegenheit überhaupt nie
zu Hauſe war.


Abends wählte ich mir unter den Theatern die
Porte St. Martin, um Fauſt zu ſehen, der ſchon zum
80ſten oder 90ſten male die ſchauluſtige Welt anzieht.
Der Culminationspunkt dieſes Melodramas iſt ein
Walzer, den Mephiſtopheles mit Martha tanzt, und
in der That, man kann nicht teufliſcher walzen! In
der noch hübſchen Tänzerin ſieht man das hölliſche
Feuer bald ſchreckend, bald die Adern mit Liebes-
gluth erfüllend, deutlich agiren, und beide Motive
bringen bei der franzöſiſchen Martha doch nur wol-
lüſtige Bewegungen hervor, eine Sache, welche die
ſüdlichen Tänzerinnen aber noch beſſer verſtehen.
Dieſer Walzer verfehlt nie den rauſchendſten Bei-
fall hervorzurufen, und verdient es, da die Panto-
mime durchaus ſprechend, anziehend, ja in manchen
Momenten faſt ergreifend iſt, ohngefähr wie eine
mit Poſſen untermiſchte Geſpenſtergeſchichte. Me-
phiſtopheles, obgleich häßlich, hat doch den Anſtand
eines vornehmen Mannes, was unſern deutſchen
Teufeln ſtets abgeht.


[350]

Unter den Decorationen zeichnet ſich der Blocks-
berg mit ſeinen Gräueln aus, die die Wunder der
Wolfsſchlucht weit hinter ſich zurücklaſſen. Durch
grauſende Lichter aller Farben erleuchtet, die hinter
ſchwarzen Tannen und Windbrüchen hervorblitzten,
wimmelte es von lebenden Gerippen, ſchillernden
Lindwürmern, furchtbaren Mißgeburten, geköpften
oder zerfleiſchten, blutenden Körpern, gräßlichen He-
xen, coloſſalen, glühenden Rieſenaugen, die aus den
Zweigen lugten, Menſchengroßen Kröten, giftge-
ſchwollenen Schlangen, halbvermoderten Leichnamen
und vielen andern lieblichen Bildern dieſer Art.
Im letzten Akt verſtieg ſich jedoch die Decora-
tion zuweit, indem ſie Himmel und Hölle zu-
gleich
darzuſtellen ſich vermaß. Der Himmel, wel-
cher natürlich den obern Theil der Bühne einnahm,
glänzte zwar ſehr ſchön in lichtblauem Brillantfeuer,
dies war aber dem Teint von Gretchen’s Seele ſo-
wohl, als den um ſie her pirouettirenden Engeln
dergeſtalt ungünſtig, daß ſie ſämmtlich mehr den
Leichnamen des Blocksberges als Seligen ähnlich
ſahen. Ein weit beſſeres Colorit hatten dagegen, die
unmittelbar unter dem hölzernen Himmelsboden tan-
zenden Teufel, die auch ihre rothen Backen durch
den Eifer verdienten, mit dem ſie Fauſts Puppe
unverdroſſen zu zerreißen beſchäftigt waren, bis der
Vorhang fiel. — (Es iſt eigentlich hübſch, wenn
große Menſchen ſolche Kinder ſind!)


Der Saal des Theaters ſelbſt iſt geſchmackvoll de-
korirt: Bunte Malerei und Gold auf einem weißen
[351] Atlasgrund. Die farbigen Blumen, Vögel und
Schmetterlinge nehmen ſich gar freundlich darauf
aus. Das Innere der Logen iſt lichtblau, und die
Brüſtung ahmt rothen Sammt nach. Außer dem
ſtörenden Geſchrei der Limonadenverkäufer, die für
ein deutſches Ohr die Worte: Orgeat, Limonade und
Glace, in ſo ſeltſamer Abkürzung ausrufen, wan-
delte auch ein Jude mit Theater-Lorgnetten umher,
die er für 10 Sol das Stück für die Dauer der Vorſtellung
vermiethete—eine Induſtrie, die ich mich früher nicht
bemerkt zu haben erinnere, und die recht bequem dient,
wenn man kein eignes Glas bei der Hand hat.


Dieſer Brief gelangt wahrſcheinlich auf Schlitten
zu Dir, denn wir haben, ſeit ich hier bin, ein ganz
ruſſiſches Klima, aber leider keine ruſſiſchen Oefen.
Der Himmel verleihe Dir eine beſſere Temperatur
in B …


Dein treuer L ....


II.
[[352]]

Acht und vierzigſter Brief.



Geliebte Julie.

Es iſt gewiß eine ſchöne Sache in Paris, einen
ſolchen Spaziergang, wie das Muſeum bietet, täg-
lich zu ſeiner Dispoſition zu haben und, um dem
Regen oder Schnee zu entgehen, in den Sälen der
Götter und unter den Schöpfungen des Genius um-
her wandeln zu dürfen! Vive le Roi! für dieſe Li-
beralität gegen Alle.


Nachdem ich meinen Vormittag in den Prachtſälen
zugebracht, und auch das neue Aegyptiſche Muſeum
geſehen, von dem ich Dich ſpäter unterhalten werde,
fand ich zufällig, beim Eſſen, eine intereſſante Ge-
ſellſchaft an einem General de l’Empire, deſſen
Unterhaltung ich dem Theater heute vorzog. Er er-
zählte mir als Augen- und Ohrenzeuge eine Menge
[253[353]] Anekdoten, die ein lebhafteres Bild, und zum Theil
einen tiefern Blick in die ganzen Verhältniſſe jener
Zeit zuließen, als es Memoiren vermögen, in denen
man die Wahrheit nie ganz ohne Schminke ent-
falten kann. Es würde zu [weitläuftig] ſeyn, Dir
hier viel davon zu erzählen, und obendrein dieſe
Mittheilung des belebenden Colorits des Worts zu
ſehr entbehren müſſen, weshalb ich das Meiſte für
mündliche Unterhaltung aufbewahre. Nur einige
Züge zur Probe.


Es iſt nicht zu läugnen, ſagte mein Berichterſtat-
ter, daß im Innern der Familie Napoleons viele ge-
meine Verhältniſſe ſtatt fanden, welche die Roture
verriethen (worunter keineswegs die nicht vornehme
Geburt, ſondern eine mangelhafte und würdeloſe
Erziehung zu verſtehen iſt). Namentlich herrſchte
der größte Haß und die elendeſten gegenſeitigen In-
triguen zwiſchen der Familie Napoleons und der
Kaiſerin Joſephine, welche auch zuletzt das Opfer
davon ward. Napoleon nahm früher ſtets die Par-
tie ſeiner Frau, und wurde von ſeiner Mutter des-
halb oft ins Angeſicht, mit den Namen eines Tyran-
nen, Tiber, Nero, und noch weniger claſſi-
ſchen
Ausdrücken geſcholten. Uebrigens habe Ma-
dame oft gegen ihn geäußert, ſagte der General,
daß Napoleon ſchon als kleines Kind ſtets habe al-
lein herrſchen, immer nur ſich und das Seinige
ſchätzen wollen. Seine Brüder wären von Anfang
an von ihm tyranniſirt worden, nur mit Ausnahme
23*
[354] Lucien’s, der nie die geringſte Beleidigung unge-
rächt gelaſſen. Es errege daher oft ihr Erſtaunen,
wie gleich ſich, durch die ganze Folgezeit, der beider-
ſeitige Charakter der Brüder geblieben. Der Gene-
ral behauptete, daß Madame Lätitia die feſte Ueber-
zeugung gehabt, Napoleon werde übel enden, und
kein Geheimniß daraus gemacht, daß ſie nur für
dieſe Cataſtrophe ſpare. Lucien theilte dieſe Ueber-
zeugung und ſagte dem General ſchon 1811 die merk-
würdigen Worte: L’ambition de cet homme est in-
satiable, et vous vivrez peutêtre, pour voir sa
carcasse et toute sa famille jettées dans les égouts
de Paris.


Bei der Krönung Napoleons hatte die Kaiſerin
Mutter, bei welcher der General, nach verlaſſenem
Militairdienſte, eine Hofcharge inne hatte, (er ſagte
mir nicht welche) ihm aufgetragen, genau Achtung
zu geben, wieviel Fauteuils, Stühle und Tabourets
für die kaiſerliche Familie aufgeſtellt worden wären,
und ſo wie ſie hereinträte, ihr unbemerkt ſeinen
Rapport darüber abzuſtatten. Der General, damals
mit Hofſitten ziemlich unbekannt, wunderte ſich über
den ſeltſamen Auftrag, richtete ihn aber pünktlich
aus, und meldete, er habe nur zwei Fauteuils, einen
Stuhl und ſo und ſo viel Tabourets gezählt. „Ah!
je le pensais, bien,
rief Madame Mére, roth vor
Zorn, la chaise est pour moi — mais ils se trom-
pent dans leur calcûl!
Schnell auf den omineuſen
Stuhl zuſchreitend, frug ſie den dienſtthuenden Kam-
[355] merherrn mit bebenden Lippen, wo ihr Sitz ſey?
dieſer wies mit einer tiefen Verbeugung auf den
Stuhl — die Tabourets waren ſchon von den Kö-
niginnen und Schweſtern eingenommen. Den Stuhl
ergreifen, ihn dem Kammerherrn auf die Füße ſtoßen,
der vor Schmerz beinah laut auſſchrie, und in das
Kabinet eindringen, wo der Kaiſer und Joſephine
warteten, war für die empörte Couſin das Werk ei-
nes Augenblicks. Hier folgte nun die indecenteſte
Scene, [während] er die Kaiſerin Mutter in den
ſtärkſten Ausdrücken erklärte, daß, wenn ihr nicht
augenblicklich ein Fauteuil gegeben werde, ſie den
Saal verlaſſen, und vorher laut den Grund ihrer
Handlungsweiſe angeben wolle. Napoleon, obgleich
wüthend, mußte bonne mine à mauvais jeu machen,
und half ſich dadurch, daß er die ganze Sache den
armen Grafen Segur, als eine Bevüe, die von ihm
allein herrühre, ausbaden ließ „et on vit bientôt,
ſetzte der General hinzu, le digne Comte arriver
tout effaré, et apporter lui même un fauteuil a sa
Majesté l’Imperatrice mère.
Charakteriſtiſch, und
ein Beweis, daß keineswegs Joſephine, ſondern der
Kaiſer ſelbſt Schuld an dem Vorfall war, iſt, daß
bei der Heirath mit Maria Louiſe ſich genau dieſelbe
Sache wiederholte, und die, nun ſchon zu ſehr ein-
geſchüchterte, und gedemüthigte Mutter nicht mehr
den Muth hatte zu widerſtreben.


Napoleon war bigott erzogen worden, und ob-
gleich zu ſcharfſichtig, um ſo zu bleiben, oder es
[356] vielleicht je ernſtlich zu ſeyn, hatte doch die Gewohn-
heit wie bei Allem, mehr oder weniger, auch auf
ihn einen ſo ſtarken Einfluß, daß er ſich von den
erſten Eindrücken nie ganz frei machen konnte. Es
arrivirte ihm ſogar zuweilen, wenn etwas ihn plötz-
lich frappirte, unwillkührlich das Zeichen des Kreuzes
zu machen, ein Gêsté, der den ſceptiſchen Kindern
der Revolution, bei einem Manne wie der Kaiſer,
höchſt befremdend vorkam. *)


Nun noch zuletzt ein artiger trait Carl des [IV.],
dem man kaum ſo etwas Zartes zutrauen wird, ob-
gleich die, welche ihn perſönlich kannten, wiſſen, daß
dieſer unendlich liberale und gute, wenn gleich höchſt
ſchwache und ungebildete Prinz, als Menſch viel mehr
werth war, denn als König.


Als Lucien nach Spanien ging, um dort den Po-
ſten eines Ambaſſadeur der Republik einzunehmen,
[357] begleitete ihn der General als Geſandtſchafts-Se-
kretair. Der vorige Geſandte hatte alle Grobheit
der republikaniſchen Sitten zum höchſten Scandal
des etikettenreichſten und förmlichſten Hofes der
Welt, affichirt, und man fürchtete vom Bruder des
franzöſiſchen Staats-Oberhauptes, eine noch größere
Arroganz. Lucien hatte indeſſen le bon esprits,
grade das Gegentheil zu thun, erſchien ſogar in
Schuhen und Haarbeutel, und erfüllte alle Ceremo-
niel- und Hofpflichten mit ſolcher Pünktlichkeit, daß
man vor Freuden und Dankbarkeit darüber am Hofe
in wahres Entzücken gerieth. Lucien wurde nicht
nur höchſt populair, ſondern der wahre Liebling
der ganzen königlichen Familie. Er erwiederte, wie
mein Erzähler verſicherte, dieſe Freundſchaft aufrich-
tig, und warnte oft den König wie den Friedens-
Fürſten ernſtlich, eben ſo ſehr vor der Treuloſigkeit,
*)
[358] als dem unerſättlichen Ehrgeiz ſeines Bruders, über
den er, bei jeder Gelegenheit ganz ohne Rückhalt,
ſprach. Das Zutrauen des alten Königs pour son
grand ami,
wie er Napoleon nannte, blieb jedoch
bis zum letzten Augenblick unerſchütterlich.


Vor ſeinem Abgang ſetzte Lucien ſeiner Populari-
tät noch durch ein prachtvolles Feſt die Krone auf,
deſſengleichen man in Spanien nie geſehen und wel-
ches gegen 400,000 Franken gekoſtet haben ſoll. Die
höchſten Perſonen des Hofs, viele Grands, und die
ganze königliche Familie beehrten es mit ihrer Ge-
genwart, und Letztere namentlich ſchien dem Ambaſ-
ſadeur nicht genug Verbindliches darüber ſagen zu
können. Wenige Tage darauf erhielten alle Mitglie-
der der Geſandtſchaft prächtige Geſchenke, nur der
Ambaſſadeur ging leer aus, und die republikaniſche
Familiarität erlaubte ſich daher, im Palais des Ge-
ſandten, mehrere deshalb an ihn gerichtete Necke-
reien. Indeß war die Abſchieds-Audienz vorüber
gegangen, Luciens Abreiſe auf den nächſten Tag
beſtimmt, und alle Hoffnung auf das erwartete Prä-
ſent nun ganz aufgegeben, als ein Offizier der wal-
loniſchen Garden mit Escorte im Hotel ankam, und
dem Geſandtſchafts-Sekretaire ein in eine Kiſte ge-
packtes, großes Gemälde, als ein Andenken des Kö-
nigs für den Bruder Napoleons, überbrachte. Als
man Lucien dies meldete, äußerte er, es ſey ohne
Zweifel die Venus von Titian, die er mehreremal in
des Königs Beiſeyn gerühmt, und allerdings ein
[359] Gemälde von Werth, indeſſen ſey ihm doch jetzt die-
ſer Transport unbequem, und er müſſe geſtehen, er
hätte etwas Anderes lieber geſehen. Nichts deſto-
weniger ward der Offizier mit großer Artigkeit be-
dankt und entlaſſen, bei welcher Gelegenheit ihm
Lucien ſeine eigne koſtbare Buſennadel anzunehmen
bat. Hierauf befahl der Geſandte, daß das Gemälde
aus der Kiſte genommen, der Rahmen hier gelaſſen,
und es ſo aufgerollt werde, daß man es auf die
Imperiale eines Wagens packen könne. Der Sekre-
tair that wie ihm geboten; kaum hatte man aber
die umgebende Leinwand weggeſchoben, als ihm
ſtatt der geprieſenen Venus das, nichts weniger als
ſchöne, Geſicht des Königs freundlich entgegen lä-
chelte. Schon wollte er, ſchadenfroh über das komi-
ſche Quiproquo zum Geſandten eilen, um es ihm
ſcherzend mitzutheilen, als, beim völligen Hinweg-
nehmen der Enveloppe, ihn eine noch viel größere
Ueberraſchung zurückhielt. Das ganze Gemälde war
nämlich, gleich einer Miniature, mit großen Dia-
manten eingefaßt, die Lucien ſpäter für 4,000,000
Franken in Paris verkaufte. Dies war doch eine
wahrhaft königliche Ueberraſchung, und der Ambaſ-
ſadeur hatte Recht, einen ſolchen Rahmen nicht, wie
er früher befohlen, zu Hauſe zu laſſen.


In Badajoz wurde, nach der Behauptung des
Generals, Lucien ſehr intim mit der Königin von
Portugal bekannt, welche ihm dort ein politiſches Ren-
dezvous gegeben hatte, und meinte er D. … M …
[260[360]] könnte wohl die Folge davon ſeyn. Gewiß iſt es,
und ich ſchrieb Dir es bereits von London, daß die-
ſer Prinz Napoleon auffallend gleicht.



Die Gaité kam bei meiner heutigen Theater-In-
ſpection an die Reihe, und ich wage zu bekennen:
daß ich mich ſehr gut dort unterhielt. Dieſe kleinen
Melodramen- und Poſſen-Theater ſind jetzt, die
Franzoſen mögen noch ſo vornehm dagegen thun,
doch ihre eigentlichen National-Bühnen, welche ſogar
an dem ſo auffallenden Uebergang des Publikums
zur Romantik nicht ganz unſchuldig ſeyn mögen —
denn die Menſchen waren der magern Koſt herz-
lich müde geworden, des ...... pathos tragique.
Qui long tems ennuya en termes magnifiques.


Neulich als ich Dir den Theaterbericht des einen
Abends ſchuldig blieb, geſchah es deswegen, weil
ich mich im théàtre français auf eine wahrhaft
widrige Weiſe gelangweilt hatte. Mademoiſelle Mars
ſpielte nicht, und ich fand den Schauplatz der einſti-
gen Größe Talma’s und Fleury’s, zur größten Er-
bärmlichkeit herabgeſunken. Ich will Dir jetzt eine
ganz kurze Skizze beider Vorſtellungen geben, von
dem National- und dem Vorſtadt-Theater, und
obgleich bei dem letztern nur von einem Melodrame,
[361] folglich von grob aufgetragenen Farben, leichter Ar-
beit und Theater-Coups die Rede ſeyn kann, ſo
überlaſſe ich Dir doch zu entſcheiden, ob der klaſ-
ſiſchen oder melodramatiſchen Vorſtellung der Vor-
zug zu geben ſey. Ich fange mit dem Melodram
der Gaité an, und bemerke nur im Allgemeinen
voraus, daß die Schauſpieler gewandt, die Koſtume
zweckmäßig, Dekorationen, ſo wie alle ſceniſchen An-
ordnungen, ſehr gut, und das Enſemble, (wie faſt
auf den meiſten Pariſer-Theatern, ausgenommen
dem Théâtre français) vortrefflich waren.


Das Stück beginnt mit Tanz und Fröhlichkeit.
Matroſen und Fabrikarbeiter feiern ein Feſt im Gar-
ten ihres Prinzipals, des Herren Vandryk, eines
ſehr reichen Partikuliers, der ſeit ſechs Jahren, wo
er aus der neuen Welt hier angekommen, der Wohl-
thäter der holländiſchen Landſtadt geworden iſt, in
der er ſich niedergelaſſen. Man hört jedoch, daß er
ſich dadurch auch die Eiferſucht und den Neid der
Regierung zugezogen, deren erſter Juſtiz-Beamter
namentlich, verſchiedner Demüthigungen wegen die
ihm die Liebe des Volks zu Vandryk zugezogen, ſein
Todfeind geworden ſey. Während der Beluſtigungen
erſcheint Vandryk ſelbſt mit ſeiner lieblichen Tochter,
welche vom Sohne des Senators und Barons von
Steewens, dem jungen Friedrich, geführt wird.
Jubel und Vivatrufen empfängt ſie, Vandryk theilt
Geſchenke unter die Verdienteſten aus, und trägt
einer Tochter mit dem jungen Baron auf, ſeine
[362] Kinder nun zum Gaſtmal zu führen, das im Neben-
hauſe bereitet ſey. Sinnend bleibt er ſelbſt ſtehen,
und ſein Monolog verräth uns, daß alles Glück,
alle Ehre und Liebe, die ihn umgäben, den Fluch der
ihn verfolge, doch nicht heben könnten, ja ihn nur
noch empfindlicher machten! Er überläßt ſich dem
tiefſten Kummer, deſſen Urſache aber unbekannt
bleibt. Sein alter Diener tritt ein, und in einer
kurzen Unterhaltung erfährt man, daß dieſer allein
um alles Vergangne wiſſe, die Befürchtungen ſeines
Herren aber für chimäriſch halte, indem er ihn mit
der Verſicherung zu beruhigen ſucht, daß ſein Ge-
heimniß ja ganz ſicher, und jede Entdeckung faſt
unmöglich ſey. Die Tochter kehrt jetzt mit ihrer
Amme zurück, und bittet den Vater um Erlaubniß,
auch ihre Freundinnen zum Feſte abholen zu dürfen.
Eine zärtliche Scene folgt, wo der Vater ſich an den
ſo herrlich aufgeblühten Reizen der Tochter weidet,
und ſie endlich mit einer feierlichen Umarmung ent-
läßt, in einer Bewegung, die nur dem alten Diener
[verſtändlich] iſt. Noch in der Thür begegnet ſie dem
Vater des jungen Barons der, reich gekleidet und
von ſeinem Gefolge begleitet, erſcheint. Vandryk
empfängt ihn mit großer Ehrfurcht, die Familiarität
und Freundſchaft des Barons faſt abwehrend, bis
dieſer ſeine Lobeserhebungen und Achtungsbezeigun-
gen gegen Vandryk damit beſchließt, daß er, ob-
gleich er einer der reichſten und angeſehenſten Edel-
leute im Lande iſt, für ſeinen Sohn um Vandryk’s
Tochter anhält. Dieſer erklärt in der höchſten Agi-
[363] tation, eine ſolche Verbindung ſey unmöglich, und
vergebens dringt der Baron in ihn, obgleich er ihm
deutlich merken ließ, daß das junge Paar bereits
einig, und ſchon durch die innigſte Zärtlichkeit ver-
bunden ſey. „Dies fehlte noch zu meinem Elend!“
ruft Vandryk faſt in Verzweiflung aus, als die
Thüre aufgeriſſen wird, und ſeine Tochter, mit der
Amme an der Hand, athemlos hereinſtürzt, verfolgt
von einem glänzenden jungen Wüſtling, der beim
Anblick des Barons und Vandryk’s zwar einen
Augenblick betroffen ſtehen bleibt, ſich aber ſchnell
faßt, und mit der Geiſtesgegenwart eines Mannes
von Welt ſein Betragen zu entſchuldigen ſucht. Der
Baron fragt verächtlich, wer er ſey? worauf der
junge Mann mit ſtolzem Anſtand antwortet: Mein
Name iſt Ritter Vathek, erſter Sekretair des Raths-
Penſionairs von Holland, Grafen von Aſſefeldt,
der ſo eben hier angekommen iſt, um den Zuſtand
der Provinz zu unterſuchen. Iſt der Graf ſchon
hier? frägt der Baron, mit mehr Höflichkeit, dann
muß ich ja eilen, ihn zu bewillkommen, da er mir
die Ehre erzeigt, bei mir zu wohnen, denn ich bin
Baron Steewes und dieß Herr Vandryk, der Vater
der jungen Dame, die .... Vathek verbeugt ſich
unterbrechend, und nähert ſich Vandryk, um auch
ihm ſeine Entſchuldigung zu wiederholen, bleibt aber
ſprachlos ſtehen, als er deſſen Geſicht erblickt. Doch
bezwingt er ſich augenblicklich, ſchiebt ſeine Ver-
wirrung auf die Verlegenheit ſeiner Lage, und eilt
nach einigen Gemeinplätzen davon. In der Thür
[364] wendet er ſich noch einmal unbemerkt von den Uebri-
gen um, wirſt einen ſorgſamen Blick auf den mit
ſeiner Tochter beſchäftigten Vandryk, und mit den
Worten: beim Himmel, er iſt’s! verläßt er das Haus.


Die Scene verändert ſich.


Wir ſehen ein reiches Gemach, in welches Graf
Aſſefeldt vom Baron geführt wird. Nach einiger
Converſation über den Zuſtand der Provinz, erwähnt
der Baron Vandryks, ſeiner Verdienſte um das
Land, und fügt hinzu, daß er deſſen Tochter erſt
heute für ſeinen Sohn verlangt, überzeugt, daß Van-
dryk’s Tugend, ſein Einfluß, ſein Reichthum und
die Würde ſeines Charakters ihn jedem Edelmanne
gleich ſtellen müßten. Man ſieht während dieſer
Aeußerung den jungen Sekretair höhniſch lächeln,
der jetzt vortritt, um die Behörden der Stadt anzu-
melden. Dieſe kommen dem Raths-Penſionaire ihre
Ehrfurcht zu bezeigen, wobei der Zuſchauer zugleich
erfährt, daß ihr Chef, jener erwähnte Feind Van-
dryk’s des jungen Ritters Onkel iſt. In dem Rap-
port, den dieſer nun dem Grafen Aſſefeldt macht,
beſchuldigt er Vandryk öffentlich, nur ein raffinirter
Ruheſtörer zu ſeyn, der unter der Maske eines Fa-
brikherrn das Volk zu verführen ſuche, appügirt da-
bei auf die ganz räthſelhafte Unbekanntheit ſeiner
Familie, die gänzliche Ungewißheit, woher er ſelbſt
komme, wer er, und was ſeine Endabſicht ſey, und
giebt endlich zu verſtehen, daß er wohl als Spion
im Solde einer fremden Macht ſtehen könne. Graf
[365] Aſſefeldt zeigt ſich ruhig und kalt, aber wohlwollend,
ermahnt zur Einigkeit und gemeinſchaftlichem Eifer
für das allgemeine Beſte, entläßt die Behörden nebſt
dem Baron, und wendet ſich nun mit Strenge an
ſeinen Sekretair, dem er die Unanſtändigkeit ſeines
Vetragens an dieſem Morgen, worüber der Baron
Klage geführt, nachdrücklich verweiſt. Der Ritter
bittet, mit verbißnem Aerger, um Verzeihung, fügt
aber hinzu, daß ſein, allerdings tadelnswerthes Be-
tragen dennoch zu einer merkwürdigen Entdeckung
geführt habe, nämlich, wer der verehrte Herr Van-
dryk eigentlich ſey. „Nun, und wer iſt er?“ fragt
der Graf geſpannt. „Der Henker von Amſterdam.“
— Der Graf ſchlägt erſtaunt die [Hände] zuſammen,
und der Ritter fährt in ſeiner Erklärung fort: „Als
ſiebenjähriges Kind,“ ſagte er, „entwendete ich, in
unbewußter Spielerei, meiner Mutter einen koſtba-
ren Diamantring. Er ward lange vergebens geſucht,
und um mich nachher für immer von einer ſo üblen
Gewohnheit zu heilen, fiel meine Mutter auf das
ſonderbare Mittel, den Scharfrichter nebſt ſeinem Er-
ben und geſetzlichen Nachfolger, den älteſten ſeiner
Söhne kommen zu laſſen, beide in ihrer furchtbaren
Amtskleidung und dem breiten Schwerdte in der
Hand. Der Jüngſte ergriff mich, und indem er das
Schwerdt ſchwenkte, rief er mir zu: dies kalte Eiſen
würde mir den Tod geben, wenn ich mich je wieder
dem ſchändlichen Verbrechen des Stehlens überließe.
Eine wohlthätige Ohnmacht befreite mich hier von
aller ferneren Angſt, aber nie kam mir ſeitdem das
[366] für mich ſo ſchreckliche Antlitz des jungen Mannes
aus dem Gedächtniß, und ſelbſt nach 20 Jahren er-
kannte ich es heute, nicht ohne innerliches Schau-
dern, auf den erſten Blick.


Der Graf bleibt ungläubig, hebt die Unwahrſchein-
lichkeit hervor, daß eine Erinnerung der erſten Kind-
heit nach zwanzig Jahren noch ſo zuverläßig ſeyn
könne, und gebietet ſeinem Secretair vor der Hand
jedenfalls das tiefſte Schweigen.


Wir werden nun wieder in das Haus Vandryks
zurückgeführt, wo ſeine Tochter ihm ihre Liebe zu
Friedrich geſteht, und ehe ſie ihn [verläßt], dringend
um ſeine Einwilligung fleht. Der Vater theilt in
der [nächſten] Scene Alles dem treuen Diener mit,
welcher ihm ſo lange zuredet und die Unmöglichkeit
der Entdeckung ſeines Geheimniſſes ſo plauſibel
macht, daß er endlich ſelbſt äußert, ſich noch nie be-
ruhigter und ſicherer gefühlt zu haben, und mit Thrä-
nen väterlicher Liebe den Befehl giebt, das junge
Brautpaar zu holen, um ihnen ſeinen beſten Segen
zu ertheilen. Freude und Glück Aller ſcheint voll-
kommen, und der alte Baron, der ebenfalls hinzukömmt,
theilt ihr Entzücken. Er ladet Vater und Tochter
vorläufig zu einem Feſte ein, das er dem Grafen
Aſſefeldt heut gebe, wobei er die beſte Gelegenheit
finden würde, ſeine künftige Schwiegertochter und
Vandryk dem Raths-Penſionair vorzuſtellen, und
ſeinem Wohlwollen zu empfehlen.


[367]

Alle gehen ab, und das Theater verwandelt ſich in
eine Bildergallerie mit einem anſtoßenden prächtigen
Saale, den man von einer zahlreichen Geſellſchaft
angefüllt, hinter einer Säulengallerie, erblickt. Der
Graf im Vordergrunde unterhält ſich noch mit den
Regierungsbeamten, welche reſpektvoll Platz machen,
als der Baron Steevens erſcheint, um die Familie
Vandryk vorzuſtellen, welche er laut die Wohlthäter
der Provinz nennt. Der Graf, ſich [höflich] gegen die
Tochter verneigend, ſagt mit Bedeutung: Eine ſolche
Tugend ziert Jeden, und den Vater fixirend, ſetzt
er hinzu — von welchem Stande er auch ſey — wor-
auf er ihm ſchnell den Rücken kehrt. Vandryk ver-
räth ängſtliche Verlegenheit, während der ſeitwärts
ſtehende Vathek kein Auge von ihm verwendet, und
ſeine Tochter ihn ängſtlich fragt, ob ihm nicht wohl
ſey, da er ſo plötzlich erblaſſe? Nichts, nichts, ſtam-
melt er, ich folge gleich, und legt ihre Hand in die
Friedrichs, der ſie zögernd in den Saal führt. Alle
gehen ab, bis auf Vandryk, der, noch halb bewußt-
los die Hand an die Stirne gehalten, ſtehen bleibt,
und Vathek, der, in einen Winkel zurückgezogen,
wie ein Tiger auf ſeine Beute zu lauern ſcheint.
Plötzlich tritt der Ritter hervor, drückt den Hut auf
den Kopf, und Vandryk auf die Schulter ſchlagend,
ruft er mit lauter Stimme: Unverſchämter! der erſte
Magiſtrat Hollands verbietet Euch, ſich in ſeiner
Gegenwart zu Tiſch zu ſetzen. Dieſe Scene iſt von
ergreifender Wirkung. Der Unglückliche ſinkt außer
Briefe eines Verſtorbenen. II. 24
[368] aller Faſſung in die Knie, und ruft Gnade!
doch ſchon iſt Vathek verſchwunden, und läßt ihn
vernichtet zurück. Gerechter Gott, ruft er mit dem
Schmerz der Verzweiflung: Iſt denn Cains Zeichen
auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde ſelbſt
darauf meine Schande leſen müſſen! Jetzt eilt ſeine
Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelaſſen, aus
dem Saale wieder herbei, und beſchwört ihn, ihr
die Urſache ſeiner unbegreiflichen Bewegung mitzuthei-
len; doch ehe ihr noch Andere folgen können, reißt
er ſie mit ſich fort: Laß uns fliehen, meine Tochter,
[flüſtert] er ihr ins Ohr, nur Flucht und Nacht kann
uns vor den Menſchenaugen verbergen. Er ſtürzt
mit ihr aus der Thür, und der Vorhang fällt.


Nach den Geſetzen Hollands war das Amt des
Scharfrichters zu Amſterdam erblich, und der zu ſei-
nem Nachfolger deſignirte Sohn konnte ſich, ohne
ein Krüppel zu ſeyn, demſelben nicht entziehen. Die
Familie wurde als Leibeigne des Staats betrachtet,
und ihre Flucht als Felonie beſtraft. Auf Vandryk
ruhte alſo die doppelte Laſt der damals allgemein
angenommenen Unehrlichkeit ſeines Handwerks, und
des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu ſeyn.
Durch ſeltnes Glück in allen ſeinen Unternehmungen
begünſtigt, hatte er im Auslande ein großes Ver-
mögen gewonnen, und nach ſo langer Zeit erſt zu-
rückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und ſein Le-
ben im Vaterlande beſchließen zu [können], doch hatte
[369] das Bewußtſeyn ſeines Elends *) ihm nie einen
Augenblick Ruhe gegönnt.


Alle dieſe Details erfahren wir in einer Unterredung
Vandryk’s mit ſeinem alten Diener, im verſchloßnen
Hauſe, wo er Alles zur Flucht vorbereitet. Seine
Tochter erſcheint in [Thränen], und beſchwört ihren
Vater um Erklärung aller Räthſel, die ſie umgeben.
Die Scene, welche ſehr erſchütternd iſt, endet mit
dem Geſtändniß, das der Vater nicht auszuſprechen
Kraft findet, und auf ein Blatt Pavier ſchreibt. Mit
Zittern ergreift es die Tochter, öffnet es langſam,
und das furchtbare Wort leſend, ruft ſie erſt, ſeine
Füße umklammernd, in Schmerzenstönen, Vater! dann
zuſammenſinkend ſtammelt ſie bewußtlos: Henker!
und fällt ohnmächtig zu Boden. Ihr Vater, der den
Anblick nicht ertragen kann, entflieht durch die Thür.
Als ſie in den Armen des treuen Dieners wieder zu
ſich kömmt, winkt ſie ihm, ſie allein zu laſſen. Sie
betet, wirft ſich dann auf einen Stuhl, ſtützt den
Kopf in beide Hände, und weint bitterlich. Ein
ſtarkes Geräuſch am Fenſter ſchreckt ſie von Neuem
auf. Mit Erſtaunen ſieht ſie einen Mann, in einen
rothen Mantel vermummt, herabſpringen. Es iſt
Vathek. Sie will um Hülfe rufen, doch dieſer bittet
ehrfurchtsvoll nur um einen Augenblick Gehör, um
ihres Vaters willen. Eine feurige Liebeserklärung
folgt, er erbietet ſich mit ihr zu fliehen, ſie und
24*
[370] ihren Vater für immer in Sicherheit zu bringen,
wenn ſie ſein werden wolle, droht aber Verderben
jeder Art im Verweigerungsfalle. Da er indeß nur
mit eben ſo viel Kälte als Würde zurückgewieſen
wird, ſagt er ihr zuletzt mit losbrechender Wuth:
Er wiſſe ſehr wohl, wer ihm eigentlich im Wege
ſtünde, aber auch Friedrich ſolle ihm nicht entgehen,
und ſein Tod, ehe noch wenig Stunden vergingen,
ihr Werk ſeyn. Jetzt ruft die Geängſtete um Hülfe,
Diener und Fabrikarbeiter Vandryks ſprengen die
Thüre, doch Vathek zieht ſein Schwerdt, und den
Mantel als Schild gebrauchend, gewinnt er, ſich
durchſchlagend, das Freie.


Wir ſehen jetzt eine Gallerie im Pallaſt des Ba-
rons. Es iſt Nacht, nur ſpärlich von einer einſa-
men Lampe erleuchtet. Friedrich geht unruhig auf
und ab, überlegend was er thun ſolle. Er kann
ſich die plötzliche Flucht Vandryk’s und ſeiner Toch-
ter nicht erklären, und verliert ſich in Hypotheſen.
Indem klopft eine leiſe Hand an ſeine Thüre. Er
öffnet verwundert, und Maria’s Amme tritt ver-
hüllt ein, mit einer Botſchaft ihrer Gebieterin, die
Friedrich beſchwört, in den Garten herabzukommen,
da ein furchtbares Schickſal ſie zwinge, alle Rück-
ſichten aus den Augen zu ſetzen, um ihn noch ein-
mal zu ſprechen. Immer mehr erſtaunt folgt er der,
eben ſo befremdenden als lieben, Einladung — die
Dekoration verändert ſich, und eine ſchöne Mondbe-
leuchtung zeigt uns einen ſorgfältig unterhaltnen
[371] holländiſchen Garten mit Buchsbaum-Figuren und
Blumenbeeten, wo Maria in Reiſekleidern ängſtlich
ihres Bräutigams harrt. Friedrich tritt ein, und
nachdem ſie unter vielen Thränen und geheimnißvol-
len Worten auf ewig von ihm Abſchied genommen,
ſagt ſie, der Hauptzweck ihres Beſuchs ſey, ihn vor
Vathek zu warnen, der ſeinen Tod geſchworen.
Friedrich glaubt jetzt, Vathek ſey die Urſache ihrer
Trennung, und vielleicht nicht ganz unbegünſtigt von
der Familie. Er [überhäuft] die unglückſelige Maria
noch mit Vorwürfen, und ſein Zorn erreicht den
höchſten Gipfel, als jetzt Vathek ſelbſt hinter einer
Hecke hervortritt, und den Degen ziehend ihm ſpöt-
tiſch zuruft: Gieb Maria auf, oder ſtreite um ſie
wie ein Ritter! Maria und ihre Amme ſchreien um
Hülfe, [währendn] die Jünglinge auf Tod und Leben
kämpfen. Der Baron und Graf Aſſefeldt in
Nachtkleidung, eilen mit einigen Dienern und Fa-
ckeln herbei, kommen aber nur in dem Augenblick
an, als Vathek, tödtlich getroffen, niederſinkt. Sich
und ſeinen Mörder verfluchend, erklärt er noch im
Sterben, daß er von Friedrich meuchlings überfal-
len worden ſey, aber, ſchließt er: Vandryk wird mich
an meinem Mörder [rächen] — Vandryk Polder, der
Henker von Amſterdam! Friedrich und der Baron
ſchaudern entſetzt zurück, Maria liegt ohnmächtig in
den Armen ihrer Amme, und Vathek ſtirbt. Hier
fällt der Vorhang zum zweitenmale.


Einige Tage ſcheinen vergangen. Die Scene zeigt
uns einen Gerichtsſaal, deſſen Thüren das Volk
[372] belagert. Friedrich wird zum letztenmal verhört, und
des Mordes als überwieſen erklärt, worauf ihn die
Richter, unter dem Vorſitz von Vathek’s Onkel ein-
ſtimmig zum Tode verurtheilen. Der gegenwärtige
Graf Aſſefeldt kann, obgleich tief betrübt, den Lauf
des Geſetzes nicht aufhalten. Das empörte Volk
ſprengt zwar die Pforten, um Friedrich zu befreien,
der Graf bezähmt aber die Meuterer durch eine [wür-
devolle]
Anrede, bei deren Schluß er ihnen ſagt: daß
das Geſetz über ihnen Allen ſtehen müſſe, daß aber
dennoch jede Hoffnung noch nicht verloren ſey, da der
General-Statthalter das Recht der Begnadigung
üben könne, zu welchem er daher auch bereits, von
dem Ausgang des Spruches unterrichtet, den Baron
Steevens nach dem Haag abgeſchickt habe. Vandryk’s
Feind benutzt jedoch den Aufruhr, um die Beſchleu-
nigung der Hinrichtung anzuordnen, und ſetzt den
Vorſtellungen des Grafen keck ſeine Pflicht als Ma-
giſtrat entgegen, die er zu verantworten wiſſen
werde. Hier tritt Vandryk, oder vielmehr Polder
ein, und bittet den Grafen [fußfällig] um Gnade für
den Unglücklichen und der Ausſage ſeiner Tochter
nach, eben ſo unſchuldigen Baron. Dieſer beklagt
jedoch, daß das Zeugniß ſeiner Tochter unter den
obwaltenden Umſtänden keine Gültigkeit gegen die
deutliche Anklage des Sterbenden haben könne,
Friedrich jedenfalls, es ſey nun auf welche Art es
wolle, Vathek’s Tod verſchulde, und ſeine, des Gra-
fen, Autorität nicht ſo weit gehe, den Lauf der Ge-
ſetze hemmen zu können. Alles hänge jetzt nur von
[373] der erſten Magiſtrats-Perſon, dem Onkel des Ge-
tödteten ab, der hier vor ihm ſtehe. Dieſer fixirt
den Geängſteten mit teufliſchem Lächeln, und als er
ſich vor ihm niederwirft, ſagt er freundlich: Wohlan,
lieber Polder, Ihr erſcheint hier, wie gerufen! Ich
höre, daß Ihr Euer Meiſterſtück noch nicht abgelegt
habt, und requirire Euch hiermit im Namen der
Regierung, und in Ermangelung jedes Andern, der
Euer Amt verrichten könnte, zu der bevorſtehenden
Execution. Polder, ſtumm vor Entſetzen und
Wuth, ſtarrt zuerſt ſeinen unmenſchlichen Feind
lange ſchweigend an, und bricht dann in glühende
Worte aus, die ſich einigemal faſt zur tragiſchen
Würde erheben. Endlich ruft er: „Ich habe noch
nie das Blut eines Nebenmenſchen vergoſſen und
werde es nie, aber müßte ich es, ſo ſollte es doch
nur das Deinige ſeyn, Unmenſch! Doch, wie plötz-
lich inſpirirt und umgewandelt, ſetzt er nach einer
Pauſe hinzu: Verzeiht! der Schmerz nahm mir die
Sinne. Es ſey — ich gehorche dem Befehl. Er-
laubt mir nur eine kurze Vorbereitung. Mit Ver-
wunderung und erſchüttert ſehen ihm beide nach,
und folgen ihm ſchweigend.


Wir finden jetzt Friedrich in ſeinem Kerker, wo
Graf Aſſefeldt eben eintritt, um den Verurtheilten
zu fragen, ob er ihm noch in irgend etwas dienen
könne? Friedrich verlangt blos zu wiſſen, ob eine
ſchnell vollzogene Verbindung mit Maria, und ihre
Einſetzung zu der Erbin ſeines Namens und Ver-
[374] mögens, unter den jetzigen Umſtänden gültig ſey?
Allerdings,“ antwortet der Graf, „aber — der wah-
re Namen und Stand müſſen in dem Document
deutlich und richtig ausgedrückt ſeyn.“ Friedrich ſchau-
dert, bleibt aber ſeinem Vorſatz getreu. Der Graf
verläßt ihn um Maria zu rufen, die, ein Bild troſt-
loſer Verzweiflung, hereingeführt wird. Hierbei muß
ich bemerken, daß die Schauſpieler in Frankreich da-
für ſorgen, bei ſolchen Gelegenheiten ſo auszuſehen,
wie es ihre Gemüthsſtimmung mit ſich bringen
muß, und nicht, wie ich es in Deutſchland ſo oft er-
blickte, in der Todesangſt und Verzweiflung mit ro-
then Pausbacken erſcheinen, oder gar in dieſem blü-
henden Zuſtande ſterben. Friedrich und Marie bie-
ten ein treues Bild des höchſten Schmerzes dar. Er
dringt in ſie, ihm zu ſeiner Beruhigung die Gewäh-
rung einer Bitte zuzuſchwören. „Sein Wort,“ ruft
ſie eifrig „ſey ihr Gebot!“ und fällt weinend auf
ihre Knie, um ſeine Vergebung anzuflehen. Sie
aufhebend ſagt er: „Was hätte ich Dir zu verzeihen!
Dir allein Maria danke ich das wenige Glück, deſſen
ich genoß! In wenig Minuten wirſt Du mein Weib,
in wenigen Stunden meine Wittwe ſeyn. Vergiß
dann die Vergangenheit ganz, und lebe ein neues
glücklicheres Leben!“ Die traurige Ceremonie geht in
Gegenwart des Grafen vor ſich. Eine Ordonnanz
tritt gleich darauf ein und bringt einen Brief des
alten Barons. „Gottlob,“ ruft der Graf, auf die
Begnadigung des Statthalters hoffend. Im Leſen
aber verhüllt er ſein Geſicht: „der unglückliche junge
[375] Mann,“ ſagt er, tief ſeufzend, „jetzt iſt er verloren!“
denn der Baron ſchreibt, daß er den Statthalter
nicht im Haag gefunden, ihm zwar ſogleich nachge-
reist ſey, aber noch nicht wiſſe, wo er ihn antreffen
werde. Er [beſchwört] daher um Aufſchub, den der
Graf leider nicht im Stande iſt zu gewähren, ohne
die Einwilligung des Onkels Vatheks, welche nicht
zu hoffen ſteht. Die Wache erſcheint jetzt, und Fried-
rich wird abgeführt. Die ſich verwandelnde Scene
führt uns in eine freie Landſchaft mit belebten Ka-
nälen im Hintergrunde. Haufen Volks verſammeln
ſich, die Execution mit anzuſehen, ſtoßen aber dabei
wilde Drohungen gegen die grauſamen Richter aus,
welche zuletzt in Empörung ausarten. Das Schaffot
wird geſtürmt und zertrümmert, Soldaten rücken an,
Tumult und Gefecht füllt das Theater. Vatheks
Onkel, an der Spitze des Militairs, ſtellt jedoch die
Ordnung wieder her, und befiehlt, da das Schaffot
zertrümmert ſey, den Balkon eines nahen Hauſes
zur Hinrichtung einzurichten. Man hört, ſeitwärts
der Bühne, die Arbeiter beſchäftigt, während Graf
Aſſefeldt vergebens ſeine Bitten um Aufſchub mit
ernſten Drohungen vermiſcht. Der Zug erſcheint.
Friedrich, gefeſſelt in der Mitte, und Polder im ro-
then Gewande ſeines Amts, das breite Schwerdt
entblößt in der Hand haltend, ziehen in Hintergrund
der Bühne vorüber. Soldaten mit gefälltem Bajo-
net wehren der empörten Menge. Langſam ver-
ſchwindet der Zug, der Graf bleibt allein, in höch-
ſter Bekümmerniß, mit einem Diener zurück. Wie
[376] in der Jungfrau von Orleans, giebt der Diener, der
auf eine Erhöhung geſtiegen iſt, dem Grafen, der
ſich voll Abſcheu abgewendet hat, Nachricht von dem
was vorgeht. Endlich ruft der Späher von oben
herab: jetzt kniet der junge Herr Baron nieder .....
ſie verbinden ihm die Augen — der Scharfrichter
naht ſich ihm . . . . O mein Gott! . . . . . und
hier hört man einen dumpfen Schlag hinter der
Scene, wie von einem Schwert, das auf den Block
fällt. Der Graf verhüllt ſein Geſicht, und tritt
ſchaudernd zurück, als Polder leichenblaß in ſeinen
Mantel gehüllt, von zwei Bürgern unterſtützt herbei-
geführt wird, [während] lautes Getöſe hinter der
Scene erſchallt. „Gerechter Himmel! was habt Ihr
gethan!“ ruft der Graf. „Seht hier, was ich ge-
than,“ erwiedert Polder mit ſchwacher Stimme, und
den Mantel aufſchlagend, hält er ihm den verbunde-
nen Stumpf ſeines rechten Armes hin, von dem er
ſich eben die Hand ſelbſt abgehauen. „Mein junger
Freund,“ ſetzt er matt hinzu, „iſt nun wenigſtens auf
mehrere Stunden ſicher.“ Das Volk ſtrömt in
dumpfer Betäubung herbei, aber mit ihnen auch
Vandryks Onkel, der wüthend befiehlt, den pflichtlo-
ſen Scharfrichter ſogleich in das tiefſte Gefängniß
zu werfen. Doch indem er noch ſpricht, erſchallt von
fern ein ängſtliches Rufen, man hört den Gallop ei-
nes Pferdes, und ſieht Baron Steevens, vom ſchäu-
menden Roß ſpringend, den Pardon des Statthal-
ters hoch empor halten, laut Gnade! Gnade! rufen,
und dann erſchöpft den Umſtehenden in die Arme
[377] ſinken. Graf Aſſefeldt öffnet das Papier, liest laut
die Begnadigung Friedrichs, und kündigt zugleich
dem erſten Magiſtrat vorläufige augenblickliche Dis-
penſation ſeines Amtes an. Tief gerührt umarmt
er den Befreiten, und der Vorhang fällt. —


Ich weiß recht gut, welche lange Litaney Kunſtrich-
ter hier hören laſſen können, von gemeinen Verhält-
niſſen, Theater-Coups, Unwahrſcheinlichkeiten u. ſ. w.
Man bedenke, ich wiederhole es, daß nur von einem
Melodram die Rede iſt, an das man keine großen
Forderungen machen darf, aber dennoch bin ich über-
zeugt, daß kein unbefangner friſcher Sinn dieſe Vor-
ſtellung ohne lebhaft erregtes Intereſſe ſehen wird.
Laß uns um zu dem théâtre français übergehen,
das ich, der Bekanntheit der Stücke wegen, kürzer
abfertigen kann.


Nach einem griechiſch-franzöſiſchen Trauerſpiel, in-
dem die antiken Gewänder vergebens Franzoſen zu
Griechen ſtempeln ſollten, der alte Held der Provin-
zen, Joanny, vergebens eine ſchwache Copie des gött-
lichen Talma aufzuſtellen verſuchte, und auch die
(wahrlich jetzt au del à de la permission häßliche)
Duchesnois mit weinerlicher, veralteter und verſtei-
nerter Manier am Ende jeder Phraſe vergebens mit
den Händen in der Luft, ebenfalls à la Talma, ge-
zittert, die Uebrigen aber eine wahrhaft troſtloſe
Mittelmäßigkeit abgehaspelt hatten, wurde, zum
Schluß, der Mercure galant aufgeführt. Die abge-
tragenen geſtickten Seidenkleider verriethen die längſt
[378] vergangene Zeit, in der dieſes Stück ſpielt, eben ſo
ſehr, als es die Unbehülflichkeit that, mit der dieſe
Tracht von den neuen Schauſpielern getragen wurde.
Die Damen hatten es ſich dagegen bequem gemacht,
und waren nach der neueſten heutigen Mode geklei-
det. Die Comödie iſt ganz ohne Intrigue, nur ein
damaliges Gelegenheitsſtück, das jetzt zu geben faſt
abſurd iſt. Als Hauptpointe erſcheint ein alter Herr,
der, kurz vor der Hochzeit, das Verhältniß mit ſeiner
jungen Braut abbricht, und als er, vor dem jungen
Mädchen und ihrer Freundin, darüber vom Bruder
zur Rede geſtellt wird, ganz einfach antwortet: C’est
tout simple, j’ai peur d’être Cocû,
worauf er ein
Paar Hundert Verſe rezitirt, die dieſes Thema ins
grellſte Licht ſetzen. Das Stück ſchließt mit der
Aufgabe eines Räthſels. Niemand kann es errathen,
der Autor enthüllt es alſo ſelbſt. Was iſt es? un
pêt. Ah,
ruft die junge Dame, il fallait avoir bon
néz pour deviner cela
— und mit dieſem claſſiſchen
Witz fällt der Vorhang. Ce pauvre pêt me semblait,
en vérité, le dernier souffle du théâtre français!


Abgerechnet „que tous les genres sont bon hors
le genre ennuyeux,
möchte der Inhalt dieſer letzten
Pieçe ſich doch wohl beſſer für ein Winkelgäßchen der
Vorſtadt geſchickt haben. Was aber noch merkwür-
diger erſcheint, iſt, daß auf dieſem hochtrabenden,
claſſiſchen Nationaltheater ſelbſt nothgedrungen jetzt
auch Melodramen, (wenigſtens dem Inhalt nach,
wenn auch ohne Muſik), gegeben werden, und nur
dieſe noch Zuſchauer herbeiziehen, wie das einzige
dermalige Caſſenſtück, der Spion, zur Genüge beweist.


[379]

So pflanzt ein Theater nach dem andern die ro-
mantiſche Fahne, mehr oder weniger glücklich, auf,
und Tragödien und Schauſpiele, à la Shakespeare,
wie die Franzoſen ſagen, erſcheinen daſelbſt täglich,
die, ohne fernere Gewiſſensbiſſe des Autors und Pub-
likums, alle verehrten Einheiten über den Haufen
werfen.


Die Revolution hat die Franzoſen in jeder Art
neu geboren; — auch ihre Poeſie wird eine neue wer-
den, und das nimmer neidiſche Deutſchland ruft ih-
nen freudig zu: Glück auf!



Ich beſah heute einige neue Gebäude, unter an-
dern die, mit ſtattlichen Colonnaden umgebene Börſe,
deren Größe und Totaleindruck impoſant iſt; doch
nehmen ſich die langen, ſchmalen gewölbten Fenſter
hinter den Säulen ſehr häßlich aus. Die modernen
Bedürfniſſe harmoniren oft gar zu ſchlecht mit dem
antiken Styl. Das Innere iſt ebenfalls grandios,
und die Täuſchung der Deckenmalerei in der Haupt-
halle vollkommen. Man ſchwört, darauf Basreliefs
zu ſehen, obgleich ſchlechte.


Auf den Boulevards hat man, wie ich heute erſt
bemerkte, gute Verbeſſerungen durch Wegnahme meh-
rerer Häuſer bewerkſtelligt, und die Porte St. Denis
[380] und St. Martin nehmen ſich nun weit beſſer aus als
ehemals. Ludwig der XIV. verdient dieſe Monu-
mente, ſchon um ſeiner Verſchönerung der Hauptſtadt
willen, denn in der That, was man in Paris Schö-
nes und Großes ſieht, Ludwig der XIV. oder Na-
poleon gründeten es. Die Alleen hat man glücklicher-
weiſe ſorgfältig geſchont, und nicht, wie ſie in Berlin
unter den Linden und auf dem Dönhofsplatz, die gro-
ßen Bäume abgehauen, um kleine aſtloſe Knüppel
ſtatt ihrer hin zu pflanzen. Einen ſeltſamen Anblick
gewähren die vielen Dames blanches und Omnibus,
Wagen, die zwanzig bis dreißig Perſonen halten, die
Boulevards fortwährend von einem Ende bis zum
andern durchfahren, und jeden müden Fußgänger für
beſtimmte, ſehr billige Preiſe darin aufnehmen. Mel-
det ſich einer, ſo zieht der hinten ſitzende Conducteur
eine Klingel und der Kutſcher hält. Eine fliegende
Treppe ſinkt herab und in wenigen Secunden geht
es wieder vorwärts. Nur drei unglückliche Roſſe zie-
hen dieſe ſchweren Wagen, ſo daß ich, bei der jetzigen
Glätte, oft ſämmtliche Pferde neben einander hinſtür-
zen ſah. Man ſagt, England ſey eine Hölle für die
Pferde, ſollte indeß die Metempſycoſe wahr ſeyn, ſo
bitte ich mir doch jedesmal aus, lieber ein engliſches
Pferd zu werden als ein franzöſiſches. Wie man
dieſe unglücklichen Thiere hier oft behandelt, iſt wahr-
lich empörend! und es wäre zu wünſchen, daß die
Polizey ſie, wie in England, beſchützte. Ich erinnere
mich, daß ich einſt in London eine ähnliche Mißhand-
lung eines armen Cabrioletpferdes durch einen Fiacre
[381] mit anſah. Kommen Sie, ſagte der mich begleitende
Engländer; wenn Sie eine Stunde Zeit haben, ſol-
len Sie ſofort der Beſtrafung dieſes Menſchen bei-
wohnen. Er rief den Mann nun ganz gelaſſen
heran, ſtieg mit mir ein, und befahl ihm auf’s Po-
lizei-Büreau zu fahren. Dort brachte er ſeine Klage
an, daß der Kutſcher ſein Pferd unnütz gepeinigt und
gemißhandelt habe. Ich bezeugte es, und der Kerl
war genöthigt, ſogleich eine ziemlich bedeutende Geld-
ſtrafe zu erlegen, worauf er uns noch wieder zurück-
fahren mußte. Du kannſt Dir ſeinen guten Humor
dabei vorſtellen.


Auch in andern Theilen der Stadt ſind ſolche
Omnibus im Gange, und die längſte Courſe koſtet
doch nur einige Sols. Es iſt höchſt amüſant, Abends
dergleichen Fahrten, auch ohne beſtimmten Zweck, zu
machen, nur der ſonderbaren Carricaturen wegen,
die man hier antrifft, und der originellen Converſa-
tionen, die man mit anhört. Man glaubt oft einer
Vorſtellung der Variétés beizuwohnen, und findet
Brunets und Odry’s Originale getreu hier wieder.
Du weißt, wie gern ich auf dieſe Art beobachtend
unter Menſchen bin, und überhaupt dazu die Mittel-
ſtände am meiſten liebe, die auch heut zu Tage al-
lein noch etwas Eigenthümliches haben, und auch
die glücklichſten ſind, denn wahrlich — die Medaille
hat ſich ganz und gar umgekehrt. Die Mittelſtände,
bis zum Handwerker herab, ſind jetzt die wirklich be-
günſtigten, durch Sitten und Zeitumſtände. Die hö-
[382] heren Claſſen finden ſich mit ihren Rechten oder
Prätenſionen zu fortwährender Oppoſition und Deh-
müthigung verdammt. Unterſtützt hinlängliches Geld
ihre Anforderungen, ſo geht es noch leidlich, obgleich
auch hierin, der Oſtentation wegen, der Erbſünde der
Reichen, wenn es nicht Geiz iſt, ihnen Geld weit
weniger reellen Genuß gewähren kann, als es ein
Paar Stufen tiefer verleiht. — Hält aber den Rang
kein Vermögen empor, ſo iſt der ſo Geſtellte ganz
gewiß von allen ſeinen Mitbürgern, den Verbrecher
ausgenommen, der Beklagenswertheſte, unmittelbar
nach dem, welcher wirkliche Hungersnoth leidet.


Daher ſollte Jeder, wie ich ſchon einmal, glaube
ich, gegen Dich äußerte, ſeine Lage in der Welt ge-
nau erwägen, und der Ambition oder Eitelkeit (ich
ſchließe hiervon nur die Ambition des wahren Ver-
dienſtes
aus, welche ſich durch ihr Wirken ſelbſt,
und nur durch dies allein belohnt findet) nichts auf-
opfern, denn keine Epoche der Welt war einer ſolchen
weniger günſtig. Wir Vornehme werden jetzt wirk-
lich wohlfeil zu weiſer Enthaltſamkeit und praktiſcher
Philoſophie jeder Art hingeführt, und dem Himmel
ſey Dank dafür!


Mit dieſen Gedanken, im Innern der Dame blan-
che
kam ich bei Franconi’s Theater an, das auch ein
Blinder, nur dem Pferdegeruch nachgehend, ſchon
auffinden kann. Was hier getrieben wird, iſt aller-
dings eine abſcheuliche Geſchmackloſigkeit, und ein
Publikum, das nichts Andres zu ſehen [bekäme], müßte
[383] am Ende ſelbſt zu halbem Vieh werden. Ich ſpreche
von den ganz ſinnloſen Schauſpielen, die hier darge-
ſtellt werden — die einzelnen equilibriſtiſchen Uebun-
gen ſind dagegen oft recht ſehenswerth. Beſonders
erfreute mich der Seilſchwinger, Diavolo betitelt, der
gewiß alle ſeine Mitbewerber ſo ſehr überflügelt, als
Vestris einſt ſeine Collegen. Eine ſchönere Geſtalt,
größere Gewandtheit, Sicherheit und vollendetere
Grazie ſcheinen in dieſer Art kaum denkbar. Er iſt
der fliegende Merkur, der von Neuem eine menſch-
liche Form angenommen hat; die Luft ſcheint ſein
wahres Element, und das Seil nur ein Luxusartikel,
um ſich damit, wie mit einer Guirlande, zu drapi-
ren. Im wildeſten Schwunge ſieht man ihn, haus-
hoch, ganz frei und unangebunden auf dem Seile
liegen, jetzt dicht vor den Logen mit dem claſſiſchen
Anſtand einer Antike vorüberſchweben, und gleich
darauf, wie eine Marionette, mit dem Kopf unten,
und den Beinen nach oben, ein entrechat in den
Wolken des Theaterhimmels ausführen. Daß er ſich
wie ein Rad, vor- und rückwärts, mit der Schnellig-
keit eines Uhrwerks, umdrehen, unangebunden ſich
in der Länge des Seils hinlegen, oder nur mit ei-
nem Fuß daran hängend umherſchwenken kann, ver-
ſteht ſich von ſelbſt. Er verdient ſeinen Namen durch
die That. Je Diavolo non puo far meglio.


Briefe eines Verſtorbenen. II. 25
[384]

Als Zugabe zu meinem geſtrigen Briefe habe ich
Dir ſchnell eine Dame blanche, gefüllt mit — Bon-
bons gekauft, und als nachfolgendes Weihnachtsge-
ſchenk für Mademoiſelle H . . . . eine Bronze pen-
dule
beigefügt, mit laufendem Springbrunnen am
Fuße und einem arbeitenden Telegraphen auf der
Spitze. Sage ihr, daß ſie den letzten ſehr gut gebrau-
chen möge, um durch ſeine Hülfe öffentliche Geſpräche
zu halten, die doch kein Unberufner verſtehen könne.
An ſolchen Spielereien iſt Paris unerſchöpflich, ſie
ſind aber hauptſächlich nur auf die Fremden berech-
net, denn die Franzoſen kaufen ſie ſelten und finden
ſie, nicht ganz mit Unrecht, de mauvais gout.


Um mit den Theatern zu endigen, beſuchte ich heute
drei auf einmal. Zuerſt im théâtre français zwei
Akte aus der neueren, höchſt elenden Tragödie, Isa-
belle de Bavière
. Auch diesmal fand ich meine frü-
heren Eindrücke beſtätigt, und nicht allein die Schau-
ſpieler (Joanny ausgenommen, der die Rolle Carl
des VI. nicht ſchlecht ſpielt, wenn er gleich Talma
nicht verglichen werden kann) waren die Mittelmä-
ßigkeit ſelbſt, ſondern auch Coſtumes, Dekorationen
und aller übrige Apparat unter dem letzten Boule-
vards-Theater. Das Pariſer Volk wurde unter an-
dern durch ſieben Männer und zwei Weiber, die
Pairs von Frankreich aber durch drei oder vier Sta-
tiſten, in wahre Lumpen gehüllt und mit goldpapier-
nen Kronen auf den Köpfen, wie in der Puppen-
[385] Comödie, repräſentirt. Der Saal war leer, und die
[Kälte] kaum auszuhalten. Ich fuhr alſo ſchnell nach
dem Ambigucomique, wo ich ein hübſches neues
Haus fand, mit ſehr friſchen Dekorationen. Man gab
zum Zwiſchenſpiele eine Art Ballet, welches die deut-
ſche Landwehr gar nicht übel parodirte, und alſo we-
nigſtens nicht langweilig war. Es wunderte mich
übrigens, daß es den Franzoſen nicht mit der Land-
wehr und den Preußiſchen [Hörnern] geht, wie den
Burgundern mit den Alpenhörnern der Schweizer, de-
ren Ton ſie ſich nicht gern zurückrufen ließen, denn,
wie die Chronik ſagt, à Granson les avoient trop
ouis!


Das italieniſche Theater beſchloß meinen Abend.
Hier findet man das gewählteſte Publikum, es iſt
die Modebühne. Der Saal iſt ſehr artig dekorirt,
die Erleuchtung brillant und der Geſang entſpricht
der Erwartung. Sonderbar bleibt es aber doch, daß
ſelbſt ein, ganz aus Italienern beſtehendes, Perſonal,
im Auslande nie ſo ſingt, nie das köſtliche Ganze
darſtellt, wie es in Italien der Fall iſt. Ihr Feuer
ſcheint in der fremden Region zu erkalten, ihre Laune
zu vertrocknen, da ſie wiſſen, daß ſie zwar beklatſcht
werden, aber mit dem Publikum nicht mehr eine
Familie ausmachen, der Buffo, wie der erſte Sänger
doch nur halb verſtanden, und wohl auch muſikaliſch
nur halb empfunden werden. In Italien iſt die
Oper Natur, und ich möchte ſagen nothwendiges Be-
dürfniß, in Deutſchland, England und Frankreich nur
Kunſtgenuß und Zeitvertreib.


25*
[386]

Madame Mallibran Garcia (man gab Ceneren-
tola) erreicht in dieſer Rolle, meines Erachtens, die
Sontag nicht; ſie hat aber einen ihr eignen genre,
der immer mehr anzieht, je länger man ihn hört,
und ich zweifle nicht, daß auch ſie Rollen hat, in
denen ihr die Palme vor allen andern gebühren
würde. Sie hat einen Amerikaner geheirathet, und
auch ihr Geſangſtyl kam mir ganz amerikaniſch vor,
d. h. frei, kühn und republikaniſch, während die
Paſta, wie ein Ariſtokrat, oder gar ein Autokrat,
despotiſch mit ſich fortreißt, und die Sontag ſchmel-
zend und mezza voce, wie im himmliſchen Reiche,
flötet. Der Tenor Bordogni hatte die ſchwere Auf-
gabe ohne Stimme zu ſingen, und er that unter die-
ſen Umſtänden was er vermochte; Zuchelli war, wie
immer, vortrefflich, und Santini ſein würdiger
Rival. Spiel und Geſang hatten überhaupt, faſt
durchgängig, Leben, Kraft und Grazie, mehr als
auf andern ausländiſch-italieniſchen Bühnen.


Als ich in mein Hotel zurückkam, wurde ich mit
einer der Pariſer Annehmlichkeiten überraſcht, die
doch einer ſolchen Stadt wahrhaft zur Schande ge-
reichen. Ich glaubte, obgleich mein Hotel ein ange-
ſehenes iſt, und im belebteſten Stadttheile liegt, in
eine Cloake gerathen zu ſeyn, denn man hatte eben
das Ausräumen gewiſſer Fundgruben begonnen, mit
welcher Operation die Häuſer hier zweimal des Jah-
res verpeſtet werden.


[387]

Ein Dutzend Paſtillen habe ich bereits verbrannt,
kann aber immer noch keine gründliche Reaktion er-
regen.



Schon früh ſaß ich heute im Cabriolet, um eine
weitere tournée als gewöhnlich, und alten Bekann-
ten einen Beſuch zu machen. Ich dirigirte den Kut-
ſcher zuerſt nach Notredame und bedauerte unter-
wegs, als ich auf dem pont neuf ankam, daß man
der Statüe Heinrich des IV. dieſe Stelle angewieſen
hat, wo ſie ſo [unzweckmäßig] auf die kahle Baſis
des Obelisken geſetzt iſt, welchen Napoleon früher
projektirt hatte, und für den der Platz gewiß mit
großer Sagacität ausgeſucht war, während jetzt,
dicht unter den weiten und hohen Häuſermaſſen,
welche den Hintergrund der kleinen Statüe umgeben
und ſich in einem koloſſalen Dreieck gegen ſie ſchlie-
ßen, das [bäumende] Pferd von weitem nur den Effekt
eines hüpfenden Inſekts macht. Indem ich noch bei
mir dieſe Betrachtungen verfolgte, und was aus
Paris geworden wäre, wenn Napoleon fortregiert,
rief der Cabriolet-Führer plötzlich: Voilà la morne.
Ich ließ halten, (car j’aime les emotions lugûbres)
und betrat das bisher noch nie geſehene Leichenhaus,
wo, wie Du weißt, alle unbekannte, Todtgefundene
ausgeſtellt werden. Hinter einem hölzernen Gitter
[388] erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht
ſchwarz angeſtrichnen hölzernen Bahren in Reihe und
Glied geſtellt, das Kopfende der Wand zugekehrt,
das untere gegen die Zuſchauer gerichtet. Die Tod-
ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und
Effekten derſelben hinter ihnen an der weißen Wand
aufgehangen, ſo daß Jeder leicht daraus das ihm
Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann,
mit einer ächt nationellen Franzoſen-Phyſiognomie,
Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz
freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu-
ſchend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer
Miene, als hätte er eben ſeinem Nachbar noch eine
Prieſe anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt.
Seine Kleider waren gut — superbes, wie ein zer-
lumpter Kerl neben mir ſagte, der ſie mit ſehnſüchti-
gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge-
waltſame Verletzung zu ſehen, ſo daß den Alten
wahrſcheinlich der Schlag in einem entfernten Theile
der Stadt, ſeinen Verwandten noch unbewußt, ge-
troffen hatte, denn Elend ſchien hier nicht ſtatt ge-
funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir
ein ſonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter
die ſich Erſäufenden, welches in Paris jetzt die
faſhionable Methode iſt, ſich ums Leben zu bringen,
um zwei Drittel ſeltener ſind, als im Sommer.
Der Grund kann doch, ſo lächerlich es klingen mag,
kein andrer ſeyn, als weil im Winter das Waſſer zu
kalt iſt (denn zugefroren iſt die Seine nur ſehr ſel-
ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen
[389] Dinge die großen Begebenheiten im Leben weit mehr
regieren, als man glaubt, ſo ſcheinen ſie auch noch
im Tode ihre Macht auszuüben, und die Verzweif-
lung ſelbſt bleibt noch douillet, und von Sinnlich-
keit befangen.


Du erinnerſt Dich der drei Portale von Notre Dáme
mit den eichenen Pforten, die mit herrlichen Bronze-
blumen und Arabesken verziert ſind, und wie die
ganze in ihren Details intereſſante Façade, einen
originellen Anblick gewähren; aber, gleich dem ehe-
maligen Tempel zu Jeruſalem, wird auch Notre
Dáme
durch Buden und Verkäufer entſtellt, die ſich
bis ins Innere der Kirche eingeniſtet haben. Dieſes
Innere, das dem Aeußern überhaupt ſo wenig ent-
ſpricht, iſt durch einen neuen Anſtrich noch unbedeu-
tender geworden.


In der Fortſetzung meiner Promenade ſtieg ich
auch einen Augenblick beim Pantheon aus. Es iſt
Schade, daß die Lage und Umgebung dieſes Tempels
ſo ſehr unvortheilhaft ſind. Auch im Innern erſchien
er mir immer faſt zu einfach und zierlos, was zu
dieſem Styl nicht paßt, und der neue Plafond von
Girodet iſt ohne Theater-Lorgnette kaum zu ent-
decken. Die Oeffnung der Kuppel iſt zu klein und
hoch, um irgend etwas von dem Gemälde deutlich
auffaſſen zu können. An einem Pfeiler ſah ich ein
detachirtes Stück Teppich hängen, und erfuhr auf
Nachfrage, es ſey dies eine Arbeit der unglücklichen
Marie Antoinette, und von Madame der Kirche ge-
[390] ſchenkt worden. Ueber dem Seitenaltar ſtand: Autel
privilegié
— d. h. Ablaß ertheilend! die Ideen-Aſſo-
ciation, welche dieſer Anblick hervorbrachte, rief mir
die nahe Menagerie ins Gedächtniß, und ich fuhr
nach dem Jardin des plantes, wo es den Thieren
zu kalt geworden war, daher ich auch alle, lebende
und todte, verſchloſſen fand, und nur einen großen
Eisbären beſuchen konnte. Dieſer kehrte, als ich
kam, ohne ſich ſtören zu laſſen, wie ein Tagelöhner,
mit großer Geduld und Ruhe ſeinen Zwinger mit
den Vordertazzen, deren er ſich als eines Beſens
bediente, brachte dann das Stroh und den trocknen
Schnee in ſeine Höhle, um ein weiches Lager daraus
zu bereiten, worauf er ſich zuletzt auch, behaglich
murrend, langſam ausſtreckte. Auch ſein Nachbar
Martin, der Landbär, welcher einſt eine Schildwache
fraß, befindet ſich noch wohl, war aber heute nicht
viſible. Auf dem Rückweg beſuchte ich noch eine
dritte Kirche, St. Euſtache, die im Innern grandio-
ſer erſcheint als Notre Dáme und Pantheon, auch
durch einige bunte Fenſter und Gemälde belebt wird.
Von den Letztern war ſogar, zu irgend einem Feſte,
eine Art Ausſtellung in der Kirche veranſtaltet, die
jedoch den Kunſtſinn nicht ſonderlich anſprach. An-
genehmer war die ſchöne Muſik, bei der mehrere
Poſaunen ergreifend wirkten. Warum wendet man
ein ſo erhabnes Inſtrument nicht weit öfter bei un-
ſerer Kirchenmuſik an?


Als ich über die place des victoires fuhr, ſchickte
ich einen Stoßſeufzer gen Himmel, über die Nich-
[391] tigkeit des Ruhms und ſeiner Monumente. Auf
dieſem Platz ſtand, wie Du Dich noch erinnern wirſt,
einſt Deſaix’s Statüe, die er wahrlich um Frankreich
verdient hatte. Jetzt iſt ſie weggeworfen, und ein
[römiſch] gepanzerter Ludwig der XIV., mit der Al-
longen-Perücke auf dem Haupte, deſſen Roß einem
großen hölzernen Steckenpferd ähnlich ſieht, hat
ſeine Stelle eingenommen. Mit Mühe tröſtete ich
mich über die traurigen moraliſchen Betrachtungen,
die dieſer Anblick bei mir erweckte, durch ſinnlichere
Eindrücke im sallon des frêres provencaux, ver-
möge guter Trüffeln, und der Lektüre eines weniger
guten Mode-Romans. Ja ich bedurfte einer ganzen
Bouteille Champagner, um endlich mit Salomo aus-
rufen zu können: Alles iſt eitel! und dann hinzuzu-
ſetzen: Drum genießt den Augenblick, ohne zuviel
darüber nachzudenken! In dieſer guten Stimmung
durchſtrich ich hierauf zum letztenmal das Palais
royal,
wo ſo viel bunte Colifichets, und neue Er-
findungen mir aus den hellerleuchteten Buden entge-
genglänzten, daß ich am cryſtallnen Nachthimmel
den Vollmond, der, ganz klein und eydottergelb, an
einer der Feuereſſen gegenüber zu hängen ſchien, bei-
nahe auch für eine ganz neu erfundene Spielſache
angeſehen, und mich gar nicht ſehr gewundert haben
würde, wenn der Mondmann, oder Mademoiſelle
Garnerin daraus hervorgeſtiegen, und im Innern
von Very’s Feuereſſe verſchwunden wären. Da aber
Alles beim Alten blieb, ſo ließ ich mir wenigſtens
von dem, die dunkeln Oehllampen ſehr überſtrahlen-
[392] den, Geſtirn nach den Varietés leuchten, poury finir
ma digestion en riant
. Dieſer Zweck gelang auch
vollkommen, denn das kleine Theater hat zwar Po-
tier, aber mit ihm nicht allen ſeinen Lachreiz ver-
loren. Gewonnen hat es dagegen (für die Augen
wenigſtens) eine allerliebſte kleine Schauſpielerin,
Mademoiſelle Valerie, und ein viel beſſeres und fri-
ſcheres Aeußere als ſonſt. Zu den glücklichen Neuerun-
gen gehört es, daß der Vorhang nicht wie gewöhn-
lich, nur eine gemalte Draperie, ſondern von wirk-
lich in Falten drapirten, dunkelblauem Zeuge iſt, was
ſich zu dem Cramoiſi, weiß und gold des Saales,
ſehr gut ausnimmt. Er wird nun auch nicht mehr
ſo unbeholfen und ſteif in die Höhe gerollt, wie die
andern, ſondern zieht ſich grazieus, beim Beginn
des Spiels, von beiden Seiten zurück. Die größeren
Bühnen ſollten dies nachahmen.


[393]

Sonſt waren die Ana’s Mode, jetzt ſind es die
Ama’s, et le change est pour le mieux, denn die
erſten erinnerten unwillkührlich an Eſel, die zweiten
dagegen an Liebe, obgleich mit den erſten große
Männer gemeint waren, und die zweiten nur der
Wiſſenſchaft- und Kunſt-Liebe angehören. Durch
die gewöhnlich darin herrſchende [ägyptiſche] Finſter-
niß aber gewähren ſie doch auch Amor zuweilen ei-
nigen Spielraum.


Ich widmete dieſen Ama’s den heutigen ganzen
Morgen, und fing mit dem Ama der Geographie,
dem Georama an. Hier ſieht man ſich auf einmal
in der Mitte der Erdkugel, wohin Herr Dr. Nürn-
berger mit ſeinem projectirten Schacht noch nicht ge-
langt iſt, wo ſich aber ſogleich die andere Hypotheſe
eines Lichtmeers im Innern der Erde [beſtätigte],
denn es iſt hier ſo licht, daß die ganze Erdkruſte da-
von transparent wird, und man von innen heraus
ſogar die politiſchen Ländergrenzen deutlich er-
kennen kann. Unglücklicherweiſe hat man den Nord-
pol über ſich, durch den heute ein ſo verzweifelt kal-
ter Luftzug hereindrang, daß der kleine eiſerne Ofen,
unten im Südpol, durchaus mit ſeiner Wärme nicht
durchdringen konnte. Dies ſchwächte meine Neu-
gierde ſehr, weshalb ich Dir auch nur ſagen kann,
[394] daß kein Globus die Geographie ſo anſchaulich macht,
als das Georama, und es zu wünſchen wäre, daß
alle Lankaſterſchen Schulen künftig ebenfalls in ei-
nem ſolchen Bauche der Erde angelegt würden, wo
man ſich bei größerer Geſellſchaft, auch mutuellement
beſſer wärmen könnte. Die Seen erſcheinen hier,
wie in der Wirklichkeit, ſehr hübſch blau und durch-
ſichtig, die feuerſpeienden Berge wie kleine glühende
Punkte, und den ſchwarzen Bergketten folgt man be-
quem mit den Augen. Als etwas Seltſames fiel es
mir auf, daß die großen transparenten Seen in Chi-
na, zugleich die Umriſſe wahrhaft chineſiſcher Fratzen
darſtellten, ganz ihren grotesken Götter-Bildern
ähnlich. Unter andern erſchien der größte, ohne al-
len Effort der Einbildungskraft, als das leibhaftigſte
Bild eines fliegenden Drachen, wie deren ſo [häufig]
auf den chineſiſchen Vaſen und auf dem Bruſtlatz
der Mandarine abgebildet ſind. Auf dieſe neue Ent-
deckung thue ich mir etwas zu Gute, und wer weiß,
ob ſich daraus nicht ein neues Licht über die chineſi-
ſche Mythologie verbreitet. Worüber ich mich dage-
gen ſehr entrüſtet fühlte, war, daß die neuen (nun
ſchon alten) Entdeckungen am Nordpol, in Afrika
und dem Himalaya-Gebürge noch nicht einmal an-
gegeben waren. Es ſchien überhaupt die ganze Sa-
che etwas en décadence zu ſeyn, denn, anſtatt daß
man ſonſt in Paris zu allen Vorſtellungen dieſer
Art durch hübſche Weiber, die am Bureau ſitzen, an-
[395] zulocken ſucht, nahm hier eine furchtbare Perſon, die
den lepreux d’Aosta glich, die Geldſpenden ein.


Das Diorama, eine halbe Stunde weiter auf den
Boulevards, giebt eine Anſicht des Gotthards und
Venedigs. Die erſtere Gegend, auf der italieniſchen
Seite des Gebürges, die ich in natura geſehen, war
ſchön und täuſchend abgebildet, da aber keine Verän-
derungen der Beleuchtung dabei ſtatt finden, wie bei
dem, (weit vorzüglicheren) Diorama in London, ſo
giebt der Anblick weniger Abwechſelung und Genuß.
Venedig war ſchlecht gemalt, und von ſo gelbem
Lichte beſchienen, als wenn es, aus gerechtem Aerger
über die Franzoſen, die einſt ſeine politiſche Exiſtenz
zerſtörten, und es dann nicht einmal behielten — die
jaunisse bekommen hätte.


Beim Neorama ſieht man ſich in die Mitte der
Peterskirche verſetzt, — die Täuſchung iſt aber nur
ſehr mittelmäßig, und die Menge der natürlich unbe-
weglichen Figuren, bei ſo viel Prätenſion zu voll-
kommner Nachahmung, ſtörend. Nur Schlafende
oder Todte ſollte man zur Staffage eines ſolchen
Bildes benutzen. Das Feſt des heiligen Petrus wird
dargeſtellt. Pabſt, [Kardinäle], Gefolge und die päbſt-
liche Garde en haye füllen die Kirche, und ſind da-
bei ſo ſchlecht gemalt, daß Seine Heiligkeit der Pabſt
wie ein vor der alten Jupiter-Statue Petri’s hinge-
worfener Schlafrock ausſahen.


[396]

Mit Uebergehung der bekannten Panorama’s und
Cosmorama’s, bringe ich Dich endlich in das Urano-
rama, im neuen passage Viviene. Dies iſt eine
ſehr ingenieuſe Maſchine, um den Lauf der Planeten
unſers Sonnen-Syſtems anſchaulich zu machen. Ich
mag nicht läugnen, daß ich nie vorher eine ſo klare
Idee vom Grunde der Jahreszeiten, der Mondwech-
ſel u. ſ. w. hatte, als nach einer Stunde, die ich hier
verbrachte. Mündlich werde ich Dich näher davon
unterrichten, ja, wenn Du 1200 Franken daran wen-
den willſt, kannſt Du eine Copie der ganzen Ma-
ſchine im Kleinen erhalten, die in keiner anſehnli-
chen Bibliothek fehlen ſollte.


Ich hatte alſo heute früh mit dem Mittelpunkt
der Erde angefangen, dann die verſchiedenen Herr-
lichkeiten ihrer Oberfläche bewundert und nach einem
flüchtigen Beſuch auf ſämmtlichen Planeten, in der
Sonne aufgehört. Es fehlte nichts als ein letztes
ama, das mir den ſiebenten Himmel und die Houris
gezeigt, ſo wäre meine Reiſe ganz vollſtändig gewe-
ſen, und ich hätte mehr in dieſem Vormittag ge-
ſehen, als der ägyptiſche Derwiſch in den fünf Se-
kunden, die er mit dem Kopf im Waſſereimer zu-
brachte.


Es iſt alſo wohl das Beſte, hiermit auch den Vor-
hang vor meinem fernern Thun und Laſſen herabzu-
ziehen. Wenn er ſich wieder vor Dir aufthut, wird
[397] es nur ſeyn, um daß ich Dir ſelbſt daraus entgegen
trete — denn ſchneller wie Briefe eile ich morgen
der Heimath wieder zu. Erſt, wenn ich dort die
Seelenkräfte von Neuem mir erfriſcht, will ich die al-
ten Pläne vollführen — einen Winter unter Grana-
da’s Orangen- und Oleanderblüthen verträumen, eine
Zeit unter Afrika’s Palmen wandeln, und die altern-
den Wunder Aegyptens zuletzt vom Gipfel ſeiner
Pyramiden betrachten. Bis dahin keinen Brief mehr.


Dein treuſter Freund L . . . . .

Appendix A

Wir hoffen nächſtens den dritten und vierten
Band
, (oder vielmehr den 1ſten und 2ten, vide die
Vorrede) dieſes geiſtreichen Buches der Welt vorle-
gen zu dürfen.
Anmerkung der Verlagshandlung.


Appendix B

Ende.

[]

Appendix C

Druck und Verlag von F. G. Franckh in München.


[][][]
Notes
*)
Alle katholiſchen Kinder in Irland werden ſorgfältig
unterrichter, und können wenigſtens leſen, während
die proteſtantiſchen oft höchſt unwiſſend ſind. Ueber-
haupt iſt der moraliſche Ruf der katholiſchen Geiſt-
lichkeit in Irland überall exemplariſch, wie einſt
der verfolgten Reformiſten in Frankreich. Die unter-
*)
drückte Kirche ſcheint überall die Tugendhafteſte zu
werden, und die Gründe ſind leicht aufzufinden.
A. d. H.
*)
Zum Theil iſt der Wunſch meines ſeligen Freundes
ja nun ſchon erfüllt worden, und mit wie Vielem
geht noch die Zukunft ſchwanger!
Anm. d. H.
*)
Ein irländiſcher Lieblingsſchwur.
A. d. H.
*)
Bis jetzt wird noch keine Taxe davon erhoben.
A. d. H.
*)
Adair wird Adehr, Piper Peiper ausgeſprochen.
**)
Ausgeſprochen: Begpeip, der Dudelſack der Irländer,
dem ſie jedoch weit complizirtere Eigenſchaften zu geben
und ſanftere Töne zu entlocken wiſſen, als die Wen-
den, Polen ꝛc. dem ihrigen.
A. d. H.
*)
Welcher himmliſche Tag, welch liebliches Wetter!
A. d. H.
*)
Sporſtman, ſport, iſt eben ſo unüberſetzbar, wie
Gentleman; es heißt keinesweges blos Jäger, ſondern
einen Mann der alle Vergnügungen dieſer Art, oder
auch nur mehrere davon, mit Leidenſchaft und Ge-
ſchick treibt. Boxen, Pferderennen, Entenſchießen,
Fuchshetzen, Hahnenkämpfe ꝛc., alles iſt ſport.
A. d. H.
*)
Pleas ureground (Vergnügungs-Grund) iſt eine
von Barrieren eingeſchloßene, ſorgfältig gepflegte, und
*)
mit Blumen geſchmückte Partie des Parks, das Mit-
tel zwiſchen dem Park und den eigentlichen Gärten
haltend.
A. d. H.
*)
Ohne dinner geſchieht nichts, irgend Feierliches, in
England, es mag nun religieuſer, politiſcher, belletriſti-
ſcher oder irgend andrer Natur ſeyn, vom königlichen
Gaſtmahl bis zur Henkersmahlzeit herab.
Anm. d. H.
*)
„Lion“ iſt ein Modeausdruck, und bedeutet das Erſte,
Berühmteſte, oder Das, was grade im Augenblick
am meiſten en vogue iſt. Das entgegenſtehende,
gemeinere, heißt „tigre.“ So nennt man z. B. die
jungen Dandee’s in ihren Cabriolets, in der Haupt-
ſtadt Lions, die kleine Jungen aber, welche hinten
aufſtehen, tigres. Auch Stutzer der geringeren So-
cietät werden mit dem letzten Namen bezeichnet.
C’est tout bête comme vous voyez.
A. d. H.
*)
Dies iſt nun bekanntlich erſtritten worden.
A. d. H.
*)
Daß hier nur von falſcher und Afterreligion die Rede
ſeyn kann, verſteht ſich wohl von ſelbſt.
A. d. H.
*)
Es wurde hier ein Theil des wahren Kreuzes Chriſti
aufbewahrt, der dem Kloſter den Namen gab, und
auch jedes einzelne Gebäude war deshalb mit einem
hohen Steinkreuze geſchmückt, von denen nur eins noch
ſich erhalten hat.
A. d. H.
*)
Ein für ſein Land ſehr gebildeter Maure, der ſich
lange in England aufgehalten, ſagte zu dem Capt. L..
Ich möchte nie einem ſo ohnmächtigen Monarchen die-
nen als der König von England iſt. Welches andre
Gefühl giebt es mir, eines Herren Diener zu ſeyn,
deſſen Allmacht Gottes Bild auf Erden iſt, und auf
deſſen Wink tauſend Köpfe fliegen müſſen, wie Spreu
vor dem Winde. — Il ne faut donc pas disputer
des goûts
.
A. d. H.
*)
Dieſe werden, wie mein ſeliger Freund oft rühmte, in
Irland beſonders gut zubereitet, und beſtehen aus
Geflügel, das man theils trocken, mit Cayenne-
Pfeffer grillirt, theils mit einer brennend ſtarken
Sauce, en sauté, ſervirt.
A. d. H. für etwanige Gourmand’s unter den Leſern.
*)
Durch die Einführung der neuen Agende im König-
reich Preußen iſt z. B. zur Verbeſſerung, ich möchte
faſt ſagen, Vermenſchlichung, der Muſik in den Kir-
chen, ſehr viel gethan worden, und der Einfluß auf
die Gemeinden überall auch ſehr wohlthätig geweſen.
A. d. H.
*)
Brauche ich Dir zu erklären, was ich mit den Fleiſch-
töpfen Canaan’s meine? — Die ſo einträglich ge-
machte Chriſtuslehre, welche hier gewiß noch beſſer
nährt, als weiland die Fleiſchtöpfe Aegyptens.
A. d. H.
*)
Wir möchten faſt um Verzeihung bitten, ſolche und
andere verwandte Stellen nicht ganz unterdrückt zu
haben. Wer aber ſo weit geleſen, muß ſich doch eini-
germaßen für oder gegen den Autor intereſſiren — und
in beiden Fällen können dieſe unbefangenen Urtheile
über ſich ſelbſt, dem Leſer, der das Charakteriſtiſche
liebt, nicht ganz unwillkommen ſeyn. Wer ſich nur
an die Sachen hält, der überſchlägt ſie ja leicht.
A. d. H.
*)
Dieſe iſt in der großen Welt hier ſehr ſelten anzu-
*)
treffen, da die tyranniſchen Erforderniſſe engliſcher
Bildung ſehr allgemein in den drei Inſeln wirken,
weshalb Du auch bemerkſt, daß ich gar oft Irländer
und Engländer nur unter dem letzten Namen vereinige.
Ich ſollte ſie eigentlich Britten, oder nach der neueren
Orthographie, Briten nennen.
A. d. H.
*)
Selbſt Religion und Moralität reichen in dem ver-
wickelten Zuſtande der menſchlichen Geſellſchaft nicht
für alle Fälle aus — Beweis die conventionelle Ehre,
welche oft gegen beide ſtreitet, und deren Geſetze doch
von den Beſten befolgt werden.
*)
In: Venice preserved von Otway.
A. d. H.
*)
So erkläre ich mir das Wunder der Speiſung der
6000 Mann, beſſer wie Paulus (ich meine den Con-
ſiſtorialrath).
A. d. H.
*)
Ohne Zweifel als Opfer der Nemeſis, für den frühe-
ren Stumpfſinn der Uebrigen.
A. d. H.
*)
Bildet doch das preußiſche Landwehr-Syſtem auch
vollkommene Soldaten zu Roß und zu Fuß in zwei
Jahren.
A. d. H.
*)
Es iſt der Bemerkung werth, daß zu der Zeit, als
ewige Höllenſtrafen am aufrichtigſten geglaubt wurden, es
mit der Moralität am ſchlechteſten ſtand, und die
Zahl grober Verbrechen gegen jetzt tauſendfältig war.
A. d. H.
*)
Unſere Eilkutſchen werden nur dann den engliſchen
gleich kommen, wenn einmal die Poſt ganz frei gege-
ben wird, dann aber auch eine gleiche Concurrenz
von Reiſenden angeſchafft. Beides ſteht nicht zu
erwarten.
A. d. H.
*)
Mummerei (popish mummery) nennen die engli-
ſchen Proteſtanten den katholiſchen Cultus, der ihrige
verdient aber vollkommen denſelben Namen.
A. d. H.
*)
Die Auktion dauerte mehrere Monate, und nie ſah
man bei ähnlicher Gelegenheit eine reichere Sammlung
der koſtbarſten und geſchmackvollſten Seltenheiten.
A. d. H.
*)
Es ſcheint, die Feuersbrunſt direkt am Haupt, hat
mich mehr als gewöhnlich erleuchtet.
*)
Dieſe Briefe gehören den erſten Theilen an, die noch
nicht publizirt werden konnten. A. d. H.
*)
Solche, die Andere am pfiffigſten anzuführen verſtehen.
A. d. H.
*)
So ſollten wir Alle den Tod betrachten, darſtellen
und behandeln. Nur falſch verſtandenes Chriſtenthum,
vielleicht der jüdiſche Untergrund (wahrlich kein Gold-
grund) hat den Tod ſo lügübre gemacht, und eben ſo
grob ſinnlich als unpoetiſch, Verweſung und Gerippe
zu ſeinem Emblem erwählt.
A. d. H.
*)
Wie Napoleon von ſich ſelbſt ſagte: carré, autant
de base que de hauteus.

A. d. H.
*)
Macht hier nicht München eine ruhmvolle Ausnahme,
wo ein wahrhaft großer Künſtler einen noch größern
Kunſtbeſchützer gefunden hat?
A. d. H.
*)
Mein Freund ſchrieb auch mir damals von jener Un-
terredung, und erwähnte einer komiſchen Particula-
rität, die in den Briefen einer Dame freilich nicht
Platz finden konnte, aber hier in einer Note wohl
hazadirt werden darf, da ſie zugleich den Ton der
Großen jener Zeit und ihres Herren ſo gut ſchil-
dert. *) Napoleon machte nämlich, in Gegenwart
*)
Damen warne ich jedoch im Voraus!
*)
des Erzählers und mehrerer andern Militärs, dem
Marſchall Maſſena ſcherzhafte Vorwürfe, daß er nie
ohne Weiber leben könne. „Ich begreife dies weich-
liche Weſen nicht,“ ſagte der Kaiſer. „So lange ich
in Italien kommandirte, ließ ich mir nie eine Frau
zu nahe kommen, um mich nicht von wichtigeren Din-
gen zu zerſtreuen, mais j’ai ma saison comme les
chiens,
ſetzte er hinzu, ’et j’attends j’usques là.
Der General verſicherte, daß ſeitdem, wenn man bei
Hofe eine beſondere Dispoſition zur Eiferſucht bei
der Kaiſerin Joſephine bemerkte, die Höflinge ſich
lächelnd zuzurufen pflegten: Ah! l’Empereur est
dans sa saison.
*)
Gewiſſen —?

License
CC-BY-4.0
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Pückler-Muskau, Hermann von. Briefe eines Verstorbenen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnsk.0