pſychologiſcher Roman.
bei Friedrich Maurer.
Mit dem Schluß dieſes Theils heben
ſich Anton Reiſers Wanderungen,
und mit ihnen der eigentliche Roman
ſeines Lebens an. Das in dieſem
Theil enthaltne iſt eine getreue Darſtel¬
lung der Scenen ſeiner Juͤnglings-Jahre,
welche andern, denen dieſe unſchaͤtzbare
Zeit noch nicht entſchluͤpft iſt, vielleicht
zur Lehre und Warnung dienen
kann. Vielleicht enthaͤlt auch dieſe
[...][] Darſtellung manche, nicht ganz unnuͤtze
Winke fuͤr Lehrer und Erzieher, woher
ſie Veranlaſſung nehmen koͤnnten, in der
Behandlung mancher ihrer Zoͤglinge be¬
hutſamer, und in ihrem Urtheil uͤber
dieſelben gerechter und billiger zu
ſeyn!
[[1]]
Auf die Weiſe brachte er zwoͤlf ſchreckliche Wo¬
chen ſeines Lebens zu, bis ihn endlich der Pa¬
ſtor M. . . durch die dritte Hand ſelbſt wiſſen
ließ, daß er ſich ſeiner wieder annehmen wolle,
ſobald er ſich zur ernſtlichen Abbitte und Reue
uͤber ſein Betragen bequemte.
Diß erweichte endlich ſein Herz, da er uͤber¬
dem ſeines hartnaͤckigen Trotzes und des darauf
folgenden langwierigen Elendes muͤde war. Er
ſetzte ſich hin, und ſchrieb einen langen Brief an
den Paſtor M. . ., worin er ſich ſelbſt mit der
groͤßten Erbitterung gegen ſich herabſetzte —
ſich als den unwuͤrdigſten Menſchen ſchilderte,
den je die Sonne beſchienen habe — — und ſich
kein beſſer Schickſal prophezeite, als daß er der¬
einſt vor Armuth und Duͤrftigkeit unter freiem
Himmel das Ende ſeines Lebens finden wuͤr¬
de — —
Kurz, dieſer Brief war in den uͤberſpannte¬
ſten Ausdruͤcken der Selbſtverachtung und
Selbſtherabwuͤrdigung, die man ſich nur denken
3r Theil. A[2] kann, abgefaßt, und war doch nichts weni¬
ger, als Heuchelei —
Reiſer hielt ſich wirklich damals fuͤr ein Un¬
geheuer von Bosheit und Undankbarkeit; und
ſchrieb den ganzen Brief an den Paſtor M. . .
mit einer Erbitterung gegen ſich ſelbſt nieder, wie
ſie vielleicht nur bei irgend einem Menſchen
moͤglich iſt — — er dachte nicht daran, ſich zu
entſchuldigen, ſondern ſich noch immer mehr an¬
zuklagen —
Indes ſahe er doch ſo viel ein, daß die Wuth,
Romanen und Komoͤdien zu leſen und zu ſehen,
die naͤchſte Veranlaſſung ſeines gegenwaͤrtigen
Zuſtandes war — aber wodurch ihm das Leſen
von Romanen und Komoͤdien zu einem ſo noth¬
wendigen Beduͤrfniß geworden war — alle
die Schmach, und die Verachtung, wodurch er
ſchon von ſeiner Kindheit aus der wirklichen, in
eine idealiſchen Welt verdraͤngt worden war —
darauf zuruͤckzugehen hatte ſeine Denkkraft da¬
mals noch nicht Staͤrke genug, darum machte er
ſich nun ſelbſt unbilligere Vorwuͤrfe, als ihm
vielleicht irgend ein anderer wuͤrde gemacht ha¬
ben — in manchen Stunden verachtete er ſich
[3] nicht nur, ſondern er haßte und verabſcheuete
ſich —
Die Beichte, welche er daher dem Paſtor
M... in dem an ihn gerichteten Briefe ableg¬
te, war ſchrecklich und einzig in ihrer Art —
ſo daß der Paſtor M... erſtaunte, da er ſie
laß — denn vielleicht war ihm in ſeinem Leben
nie ſo gebeichtet worden —
Da Reiſer dieſen Brief abgegeben hatte, ſo
wartete er nur darauf, wann er bei dem Paſtor
M... wuͤrde vorgelaſſen werden; und es wurde
ihm ein Tag beſtimmt, welchem er nun mit
ſonderbaren, vermiſchten Empfindungen, von
Furcht und Hoffnung, und reſignirter Verzwei¬
flung, entgegen ſahe. —
Er hatte ſich dabei auf eine ſehr theatraliſche
Scene gefaßt gemacht, die ihm aber gaͤnzlich mi߬
lang. — Er wollte nehmlich dem Paſtor M...
zu Fuͤßen fallen, und ſeinen ganzen Zorn auf ſich
herab erbitten. — Die ganze Anrede an ihn
hatte er ſich ſchon in ſeinen Gedanken entworfen,
und nun trug er ſich beſtaͤndig mit dieſer Idee
herum, wo er ging und ſtund, bis zu dem Tage,
A 2[4] wo er bei dem Paſtor M. . . ſollte vorgelaſſen
werden. —
Allein waͤhrend der Zeit ereignete ſich fuͤr ihn
ein hoͤchſtverdrießlicher Umſtand. — Sein Vater
hatte von ſeinem Zuſtande gehoͤrt und war nach
H. . . heruͤbergekommen, um Fuͤrbitte fuͤr ihn ein¬
zulegen, welches Reiſern deswegen hoͤchſtunan¬
genehm war, weil er keiner fremden Fuͤrſprache
zu beduͤrfen glaubte, ſondern ſich ſelbſt ſchon fuͤr
faͤhig genug hielt, durch ſeine affektvolle Anrede,
die er ſich erlernt hatte, das Herz des Paſtor
M. . . zu ruͤhren. —
Endlich erwachte er zu dem wichtigen Tage,
wo er den Paſtor M. . . ſprechen ſollte und
ſeine Phantaſie ging nun mit lauter großen Din¬
gen ſchwanger, — wie er voll Reue und Ver¬
zweiflung ſich dem Paſtor M... zu Fuͤßen wer¬
fen, — und dieſer ihn dann geruͤhrt aufheben, —
und ihm verzeihen wuͤrde. —
Und da er nun endlich in das Haus des Pa¬
ſtor M. . . kam, und ſich dieſem ſo lange vorbe¬
reiteten Auftritte mit ſchauervoller Sehnſucht
naͤherte; indem er draußen wartete, bis man
ihn hereinrufen wuͤrde, kam endlich der Bediente
[5] heraus, und ſagte ihm, er ſolle nur herein kom¬
men, ſein Vater, ſei ſchon bei dem Paſtor
M. . .
Dieſe Nachricht war ein Donnerſchlag fuͤr
ihn — er ſtand eine Weile, wie betaͤubt da —
in dem Augenblick ſcheiterte ſein ganzer Plan —
er wollte den Paſtor M. . . ohne Zeugen ſpre¬
chen — denn nur ohne Zeugen fuͤhlte er ſich im
Stande, die ganze Scene mit dem Niederknieen
vor dem Paſtor M. . ., und der ruͤhrenden und
pathetiſchen Anrede an ihn, zu ſpielen. — In
Gegenwart eines Dritten, und vorzuͤglich nun
in Gegenwart ſeines Vaters vor dem Paſtor
M. . . niederzuknieen, war ihm unmoͤglich. —
Er ſchickte den Bedienten wieder herein, und
ließ ſagen, er muͤßte den Paſtor M. . . nothwen¬
dig allein ſprechen. — Diß Geſpraͤch wurde ihm
abgeſchlagen, und ſtatt der glaͤnzenden und ruͤh¬
renden Scene, die er zu ſpielen dachte, mußte er
nun, indem er hereintrat, ohne ein einziges
Wort von ſeiner ganzen laͤngſtentworfenen An¬
rede vorbringen zu koͤnnen, durch die Gegenwart
ſeines Vaters bis zur Verachtung gedemuͤthigt,
wie ein Miſſethaͤter, daſtehen. —
[6]
Es bemaͤchtigte ſich ſeiner hiebei ein Gefuͤhl,
das er in ſeinen Leben noch nicht gekannt hatte
— ſeinen Vater neben ſich in bittender
Stellung vor dem Paſtor M... ſtehen zu
ſehen, war ihm unertraͤglich — alles in der
Welt haͤtte er darum gegeben, daß dieſer in dem
Augenblick hundert Meilen weit entfernt geweſen
waͤre. — Er fuͤhlte ſich in ſeinem Vater doppelt
gedemuͤthigt und beſchaͤmt — und dann kam der
Verdruß dazu, daß ihm die ganze Fußfallsſcene
mißlungen war — alles ging nun ſo kalt, ſo
gemein, ſo gewoͤhnlich zu — — Reiſer ſtand
ſo unausgezeichnet, wie ein ganz gemeiner, all¬
taͤglicher Boͤſewicht da, dem man uͤber ſein Be¬
tragen die verdienten Vorwuͤrfe macht — und er
wollte ſich doch ſelbſt, als einen recht großen Boͤ¬
ſewicht ſchildern, und ſelbſt die haͤrteſte Strafe
fuͤr ſein Verbrechen nun auf ſich herab erbit¬
ten. —
Allein kein Zufall in ſeinem Leben fuͤgte ſich
vielleicht mehr zu ſeinem wahren Vortheil, als
eben dieſer — Waͤre es ihm dißmal mit der an¬
gelegten Scene gelungen, wer weiß, wozu er in
der Folge noch geſchritten, und was fuͤr Rollen
[7] er wuͤrde geſpielt haben. — Vielleicht war diß
eben der entſcheidende Augenblick, wo ſein Schick¬
ſal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden,
oder ein aufrichtiger und ehrlicher Menſch [bleiben]
ſollte, auf der Spitze ſtand. —
Die ganze Fußfallſzene waͤre doch im Grun¬
de, obgleich nicht offenbare Heuchelei und Ver¬
ſtellung, doch wenigſtens Affektation geweſen,
und der Uebergang von der Affektation zur Heu¬
chelei und Verſtellung, wie leicht iſt der! —
Es war gewiß eine wahre Wohlthat fuͤr Rei¬
ſern, daß der Paſtor M. . . alle die uͤberſpannten
Ausdruͤcke in ſeinem Briefe keiner Aufmerkſam¬
keit wuͤrdigte, und ſtatt dadurch geruͤhrt zu ſeyn,
ſie laͤcherlich fand, und ſie fuͤr die unreife Ge¬
burt einer durch Romanen und Komoͤdienlektuͤre
erhitzten Phantaſie erklaͤrte; mit dem Beifuͤgen,
wenn Reiſer wirklich ſolch ein Boͤſewicht waͤre,
als er ſich in dem Briefe geſchildert haͤtte, ſo
wuͤrde er ſich nicht das mindeſte mehr um ihn
bekuͤmmern, ſondern ihn, als ein Ungeheuer,
verabſcheuen. —
Und ſtatt ſich nun weiter in Erklaͤrungen
einzulaſſen, daß ihm das Vergangene verziehen
A 4[8] ſein ſolle, wenn er kuͤnftig ſich anders betruͤge
und dergleichen, kam der Paſtor M. . ., auf eine
gar nicht empfindſame Art, ſogleich auf Reiſers
zerrißene Schuhe und Struͤmpfe, und auf die
Schulden, die er gemacht hatte, und wie dieſe
nun bezahlt, und ſeine zerrißenen Kleidungs¬
ſtuͤcken wieder hergeſtellt werden ſollten. —
Nicht einmal zu feierlicher Angelobung kuͤnftiger
Beſſerung oder ſo etwas Ruͤhrendem ließ er Rei¬
ſern kommen. — Sein ganzes Benehmen gegen
ihn, ob er ſich gleich ſeiner nun wieder annahm,
war rauh und hart — aber eben diß rauhe und
harte Betragen war es, was Reiſern aus ſeinem
Schlummer weckte, und ihn aus ſeiner idealiſchen
Romanen- und Komoͤdienwelt wieder in die wirk¬
liche Welt verſetzte, insbeſondere, da ihm ſein
Roman, den er mit dem Paſtor M. . . zu ſpie¬
len gedachte, mißlungen war, und er doch nun
auch wieder aus ſeinem ſchrecklichen Zuſtande,
durch keine leere Phantaſie, ein Bauer zu wer¬
den, und dergleichen, ſondern wirklich heraus¬
geriſſen werden ſollte. —
Unzaͤhlige gute Vorſaͤtze und Entſchlieſſungen
draͤngten ſich nun mit dieſer Wendung ſeines
[9] Schickſals in ſeiner Seele wieder empor, die
mißlungene [Fußfallsſcene] ſchmerzte ihn zwar noch
immer; endlich aber ſoͤhnte er ſich auch daruͤber
mit dem Schickſal aus — und ſo fing nun eine
neue Epoche ſeines Lebens an. —
Er zog von dem Buͤrſtenbinder aus und
wurde bei einem Schneider eingemiethet, bei
dem er in derſelben Stube wohnen, und auf dem
Boden ſchlafen mußte. — Die Frau F. . . und
der Hofmuſikus, welche in demſelben Hauſe
wohnten, nahmen ſich ſeiner wieder an, indem
ſie ihm woͤchentlich einmal zu eſſen gaben. —
Die Frau F. . . ließ ihn das kleine Maͤdchen,
welches ſie bei ſich hatte, im Schreiben und im
Katechismus unterrichten — er beſuchte die
Schule wieder regelmaͤßig, man ſchoͤpfte wie¬
der neue Hoffnung von ihm — ſelbſt der Prinz
ließ ihn zu ſich kommen, und ſprach ihn in Ge¬
genwart des Paſtor M. . ., der das Geld zu ſei¬
ner Unterſtuͤtzung vom Prinzen fuͤr ihn in Em¬
pfang nahm, und damit ſeine Schulden tilgte.
So ging nun alles wieder ſo weit gut — und
er fing nun an wieder fleißig zu ſeyn — obgleich
ſeine aͤußere Situation auch hier ſeinem Studieren
A 5[10] eben nicht zu guͤnſtig war — denn in der Stube
des Schneiders hatte er nichts, wie ſein ange¬
wieſenes Plaͤtzchen, wo ſein Klavier ſtand, das
ihm zugleich zum Tiſche diente, und unter wel¬
chem er zugleich ſeine ganze Bibliothek in ein
kleines Buͤcherbrett aufgeſtellt hatte. — Wenn er
nun fuͤr ſich las und arbeitete, ſo konnte er um
ſich her nicht Stille gebieten; und ſo lange der
Winter dauerte, war er doch genoͤthigt, in der
Stube ſeines Wirths zu bleiben — im Sommer
zog er mit ſeinem Klavier und Buͤchern auf den
Boden, wo er ſchlief, und einſam und ungeſtoͤrt
war. —
Er war kaum einige Wochen aus ſeinem vo¬
rigen Logis, und von ſeinen vorigen Stubenge¬
ſellſchaftern G. . . und M. . . weggezogen, ſo er¬
eignete ſich ein fuͤrchterlicher Vorfall, der ihn
die Groͤße und Naͤhe der Gefahr, in welcher er
geſchwebt hatte, ſehr lebhaft empfinden ließ. —
G. . . wurde nehmlich eines Tages, da er im
Chore ſang, auf oͤffentlicher Straße in Verhaft
genommen, und ſogleich geſchloſſen in eines der
tiefſten Gefaͤngniſſe auf dem . . . . Thore gebracht,
[11] welches nur fuͤr die aͤrgſten Miſſethaͤter be¬
ſtimmt iſt. —
Reiſern ergrif Beben und Entſetzen, da er
ihn hinfuͤhren ſahe — und was das ſonderbarſte
war, ſo machte der Gedanke, man moͤchte ihn etwa
fuͤr einen Mitſchuldigen des noch unbekannten
Verbrechens ſeines ehemaligen Stubengeſell¬
ſchafters halten, daß ſich gerade ſolche Merk¬
male der Schaam und Verwirrung bei ihm
aͤußerten, als wenn er wirklich ein Mitſchul¬
diger geweſen waͤre — ſo daß ſeine Angſt bei¬
nahe ſo groß wurde, als ob er wirklich ſelbſt ein
Verbrechen begangen hatte. Diß war eine na¬
tuͤrliche Folge ſeines von Kindheit an unterdruͤck¬
ten Selbſtgefuͤhls, das damals nicht ſtark genug
war, den Urtheilen anderer von ihm zu wieder¬
ſtehen — haͤtte ihn jedermann fuͤr einen offen¬
baren Verbrecher gehalten, ſo wuͤrde er ſich zuletzt
vielleicht auch dafuͤr gehalten haben. —
Endlich kam es denn heraus, daß ſein ehe¬
maliger Stubengeſellſchafter G. . . einen Kir¬
chenraub begangen, Treffen von Altardecken
bei der Nacht entwendet, und um die in den
Stuͤhlen verwahrten mit Silber beſchlagenen
[12] Geſangbuͤcher zu ſtehlen, ſogar Schloͤſſer aufge¬
brochen hatte.
Das waren denn die Projekte geweſen, auf
welche er ganze Tage hindurch auf dem Bette
liegend, geſonnen und gegruͤbelt hatte.
Den eigentlichen Kirchenraub aber hatte er
erſt veruͤbt, nachdem Reiſer ſchon von ihm weg¬
gegangen war, ob er gleich vorher ſich ſchon ver¬
ſchiedener Diebereien ſchuldig gemacht hatte.
Auf ſein Verbrechen ſtand nun eigentlich der
Strang — und Reiſern wandelte immer die
Furcht vor einem aͤhnlichen Schickſal an, ſo oft
er dachte, wie nahe er dieſem Menſchen geweſen
war, und wie leicht er Stufenweiſe von ihm zu
einem Wagſtuͤck nach dem andern haͤtte verfuͤhrt
werden koͤnnen, da mit der Expedition auf der
Kirſcheninſel ſchon ein ſo heroiſcher Anfang gemacht
worden war. — Reiſer wuͤrde in dem naͤchtlichen
Kirchenraube immer auch mehr Heroiſches als
Niedertraͤchtiges gefunden haben, und es wuͤrde
G. . . vielleicht nicht ſchwerer geworden ſein, ihn
zur Theilnehmung an einer ſolchen Expedition,
als zu der auf der Kirſcheninſel, zu bereden.
[13]
Wer weiß, ob nicht auch dieſe Reflexion, oder
diß dunkle Bewußtſein, mit zu Reiſers Ver¬
wirrung beitrug, ſo oft von G... geſprochen
wurde — es daͤuchte ihm nur noch ein ſo
kleiner Schritt zwiſchen ihm, und dem Verbre¬
chen, zu dem er haͤtte verleitet werden koͤnnen;
daß es ihm ging, wie einem, dem vor einem Ab¬
grunde ſchwindelt, von welchem er noch weit genug
entfernt iſt, um nicht hereinzuſtuͤrzen, der ſich
aber dennoch, ſelbſt durch ſeine Furcht, un¬
aufhaltſam hin gezogen fuͤhlt, und ſchon in
dem Abgrunde zu verſinken glaubt. —
Die leichte Moͤglichkeit, an G...s Verbre¬
chen Theil zu nehmen, welche Reiſer bei ſich
empfand, erweckte bei ihm faſt ein aͤhnliches Ge¬
fuͤhl, als ob er wirklich daran Theil genommen
haͤtte, woraus ſich alſo ſeine Angſt und Verwir¬
rung ſehr gut erklaͤren laͤßt.
Indes kam es mit G... ſo weit nicht, daß er ge¬
hangen wurde, ſondern nachdem er einige Monathe
im Gefaͤngniß geſeſſen hatte, ward ſein Urtheil da¬
hin gemildert, daß er uͤber die Grenze gebracht und
des Landes verwieſen wurde. — Reiſer hat von
ſeinem Schickſale nachher nichts weiter erfahren
[14] koͤnnen. — So endigte es ſich alſo mit dem ei¬
gentlichen ſterbenden Sokrates, von welchem
Reiſer ſo lange den Spottnahmen tragen mußte,
da er doch nicht den ſterbenden Sokrates ſelbſt,
ſondern nur einen unbedeutenden Freund deſſelben,
vorgeſtellt haͤtte, der nicht viel mehr that, als
daß er in einem Winkel ſtand und weinte, indes
der ſterbende Sokrates zur Ruͤhrung aller Zu¬
ſchauer den Giftbecher trinken und ſich auf dem
Todtbette noch in dem glaͤnzendſten Lichte zeigen
konnte.
Reiſer hatte damals ſchon ſeit laͤnger als einem
Jahre angefangen, ſich ein Tagebuch zu machen,
worin er alles, was ihm begegnete, aufſchrieb. —
Diß Tagebuch gerieth denn ziemlich ſonderbar,
weil er keinen einzigen Umſtand ſeines Lebens,
und keinen einzigen von den Vorfallenheiten des
Tages, er mochte ſo unbedeutend ſeyn, wie er
wollte, darin ausließ. — Da er nun nur
lauter wirkliche Begebenheiten, und ſeine Phan¬
taſieen, die er den Tag uͤber hatte, nicht mit
aufſchrieb, ſo mußten die Erzaͤhlungen von den
Begebenheiten des Tages, eben ſo kahl und ab¬
geſchmackt, und ohne alles Intereſſe ſein, wie
[15] dieſe Begebenheiten ſelbſt waren. — Reiſer lebte
im Grunde immer ein doppeltes, ganz von einan¬
der verſchiedenes inneres und aͤußeres Leben, und
ſein Tagebuch ſchilderte gerade den aͤußern Theil
deſſelben, der gar nicht der Muͤhe werth war,
aufgezeichnet zu werden. — Den Einfluß der
aͤußern — wuͤrklichen Vorfaͤlle auf den innern
Zuſtand ſeines Gemuͤths zu beobachten, verſtand
Reiſer damals noch nicht; ſeine Aufmerkſamkeit
auf ſich ſelbſt hatte noch nicht die gehoͤrige Rich¬
tung erhalten. —
Indes verbeſſerte ſich doch ſein Tagebuch mit
der Zeit, indem er anfing, nicht nur ſeine Bege¬
benheiten, ſondern auch ſeine Vorſaͤtze und Ent¬
ſchlieſſungen, darin aufzuzeichnen, um nach eini¬
ger Zeit zu ſehen, was er davon in Erfuͤllung
gebracht hatte. — Er machte ſich ſchon damals
ſelber Geſetze, die er in ſeinem Tagebuche auf¬
ſchrieb, um ſie in Erfuͤllung zu bringen. — Auch
that er ſich ſelbſt zuweilen feierliche Geluͤbde,
z. B. fruͤh aufzuſtehen, den Tag ſeine Stunden
ordentlich einzutheilen, und dergleichen mehr. —
Aber es war ſonderbar — gerade die feier¬
lichſten Vorſaͤtze, welche er faßte, pflegten ge¬
[16] meiniglich am ſpaͤteſten und kaͤlteſten in Erfuͤllung
zu gehen — wenn es zur Ausfuͤhrung im Klei¬
nen kam, ſo war das Feuer der Phantaſie erlo¬
ſchen, womit er ſich die Sache im Ganzen und
mit allen ihren angenehmen Folgen zuſammen
genommen gedacht hatte — wenn er ſich hingegen
alles ſchlechtweg und ohne allen Prunk und Feier¬
lichkeit vornahm, ſo ging die Ausfuͤhrung oft
weit eher und beſſer von ſtatten. —
An guten Vorſaͤtzen war er unerſchoͤpflich —
Diß machte ihn aber auch beſtaͤndig mit ſich ſel¬
ber unzufrieden, weil der guten Vorſaͤtze zu viele
waren, als daß er ſich ſelber jemals haͤtte ein Ge¬
nuͤge thun koͤnnen. —
Drei Tage, wo er einmal ununterbrochen
mit ſich zufrieden geweſen war, zeichnete er als
eine große Merkwuͤrdigkeit in ſeinem Leben auf,
welche es auch wirklich fuͤr ihn war — denn
dieſe drei Tage waren faſt ſo lange er denken
konnte, die einzigen in ihrer Art. — Es war
aber gerade dieſe drei Tage uͤber ein gluͤcklicher
Zuſammenfluß von Umſtaͤnden, heiteres Wetter,
geſundes Blut, freundliche Geſichter bei denen
Perſonen, zu denen er kam, und wer weiß, was
mehr,[17] mehr, wodurch ihm die Ausfuͤhrung ſeiner guten
Vorſaͤtze nun merklich erleichtert wurde. —
Er nahm uͤbrigens zu allerlei Mitteln ſeine
Zuflucht, um ſich fromm und tugendhaft zu er¬
halten. — Vorzuͤglich ſuchte er alle Morgen
edle und gute Geſinnungen in ſich zu erwecken,
indem er Popens allgemeines Gebet, das er
ſich engliſch aufgeſchrieben, und auswendig ge¬
lernt hatte, herſagte, und wirklich, ſo oft er es
ſagte, dadurch geruͤhrt und zu guten Vorſaͤtzen
und Entſchlieſſungen aufs neue belebt wurde. —
Dann hatte er eine Anzahl Lebensregeln aus
einem Buche ausgeſchrieben, die er des Tages
uͤber zu gewiſſen beſtimmten Zeiten laß — und
ein paar Chorarien, welche etwas zur Tugend
und Froͤmmigkeit vorzuͤglich Anfmunterndes hat¬
ten, wurden ebenfalls taͤglich zu beſtimmten
Stunden ſehr gewiſſenhaft von ihm geſungen. —
Waͤren nun hiebei ſeine aͤußern Verhaͤltniſſe
nur etwas guͤnſtiger und aufmunternder gewor¬
den, ſo haͤtte Reiſer mit dieſen Vorſaͤtzen und
Beſtrebungen, die doch bei einem jungen Men¬
ſchen in ſeinem Alter (er war damals etwas uͤber
3r Theil. B[18] ſechzehn Jahr) wohl ſehr ſelten ſind, ein Muſter
von Tugend werden muͤſſen.
Aber dies war es, was ihn immer wieder
niederſchlug, die Meinung der Menſchen von
ihm, welche er mit Gewalt nicht umaͤndern
konnte, und die doch ohnerachtet aller ſeiner Be¬
ſtrebungen, ein beßrer Menſch zu werden, ſich
nicht ganz wieder zu ſeinem Vorthell lenken
wollte — er ſchien es nun einmal zu ſehr ver¬
dorben und zu ſehr die Erwartung aller von ihm
getaͤuſcht zu haben, als daß er ſich je die vorige
Achtung und Liebe der Menſchen haͤtte wieder
erwerben koͤnnen. —
Insbeſondre war ein Verdacht auf ihn gefal¬
len, der ihn ſehr unverdienter Weiſe traf, —
dies war der Verdacht der Luͤderlichkeit, weil
er bei einen ſo luͤderlichen Menſchen, wie G...
war, gewohnt hatte. — Reiſer war ſo weit hie¬
von entfernt, daß ihm drei Jahre nachher, da er
zufaͤlliger Weiſe ein anatomiſches Buch zu ſehen
bekam, uͤber gewiſſe Dinge ein Licht aufging,
wovon damals ſeine Begriffe noch ſehr dunkel
und verworren waren.
[19]
Sein Leſen aber bei dem Buͤcherantiquarius
und ſein Komoͤdiengehn wurde ihm am ſchlimm¬
ſten ausgeleget, und immer noch fuͤr ein unver¬
zeihliches Vergehen gehalten. —
Nun fuͤgte es ſich gerade, daß eine Geſellſchaft
Luftſpringer nach H... kam, und weil ein Platz
nur eine Kleinigkeit koſtete, ſo ging er einen ein¬
zigen Abend hin, um dieſe halsbrechenden Kuͤnſte
mit anzuſehen — man hatte ihn erblickt — und
weil diß nun auch eine Art von Komoͤdie war,
ſo hieß es, ſein alter Hang ſei nun wieder er¬
wacht, und es gehe kein Abend hin, daß er nicht
den Schauplatz bei den Luftſpringern beſuchte;
da truͤge er nun wieder ſein Geld hin — man
ſehe hieraus ſchon, daß doch nun nichts aus ihm
werden wuͤrde. —
Seine Stimme war viel zu ohnmaͤchtig, um
ſich gegen die Ausſage derer zu erheben, die ihn
alle Abend bei den Luftſpringern wollten geſehen
haben — kurz, der einzige Abend, an welchem
er hier her ging, brachte ihn wieder weiter
in der Meinung der Menſchen zuruͤck, als ihn
ſein ganzer bisheriger Fleiß und regelmaͤßiges
Betragen darin hatte vorwaͤrts bringen koͤnnen.
[20]
Hiezu kamen nun noch einige Sachen, die
ihn ſehr niederſchlugen. Das Neujahr kam
wieder heran, und er freute ſich ſchon darauf,
daß er nun bei dem Aufzug mit Fackeln und Mu¬
ſik, doch wieder die Vorrechte ſeines Standes
genieſſen, in Reihe und Glied mit den uͤbrigen
gehen, und auch nun nicht mehr, wie das vorige
mal, einer der letzten in der Ordnung ſeyn
wuͤrde. —
Um nun aber die Fackel und ſeinen Antheil
zur Muſik und ſonſtigen Koſten bezahlen zu koͤn¬
nen, wartete er nur auf die Austheilung des
Chorgeldes, das er ſich mit ſaurer Muͤhe im Froſt
und Regen hatte erſingen muͤſſen, und indem er
nun zum Direktor kam, um es in Empfang zu
nehmen, war es den Konrektor eingefallen, fuͤr
die Privatſtunden, die Reiſer in Sekunda bei
ihm gehabt, und nicht bezahlt hatte, Beſchlag
darauf zu legen. — Reiſer ging zu dem Konrek¬
tor hin, und bat ihn flehentlich, ihm nur die
Haͤlfte von dem Chorgelde zu laſſen; allein dieſer
war unerbittlich; und da Reiſer wieder zum Di¬
rektor kam, ſo machte ihm auch der die bitterſten
Vorwuͤrfe, daß er aufs neue in der Komoͤdie bei
[21] den Luftſpringern geweſen waͤre, und ſich ſogar
auf dem Markte vor der Schule Honig und
Brodt gekauft, und das auf der Straße gegeſſen
habe. — Eine Sache, die Reiſer fuͤr ſehr etwas
unſchuldiges und auch nicht fuͤr erniedrigend
hielt, die ihm aber jetzt als die groͤßte Nieder¬
traͤchtigkeit ausgelegt wurde, und woruͤber ihn
der Direktor einen ſchlechten Buben ſchalt, der
weder Ehre noch Scham hatte, und mit dem er
ſich nicht weiter befaſſen wollte. —
Nicht leicht war Reiſer wohl in ſeinem ganzen
Leben trauriger und niedergeſchlagener geweſen, als
da er jetzt vom Direktor zu Hauſe ging. Er achtete
Wind und Schneegeſtoͤber nicht, ſondern irrte
wohl anderthalb Stunden auf dem Wall und in
der Stadt umher, und uͤberließ ſich ſeinem Gram
und ſeinen lauten Klagen. —
Denn alles war ihm nun auf eimnal fehlge¬
ſchlagen; ſein Beſtreben, ſich bei dem Direktor
durch ſein Betragen wieder in Gunſt zu ſetzen;
ſeine Hoffnung, ein gutes Chorgeld zu erhalten,
welches ohnedem zu Neujahr immer am betraͤcht¬
lichſten zu ſeyn pflegte; und ſein ſehnlicher
Wunſch am morgenden Tage, dem Aufzuge mit
D 3[22] Fackeln und Muſik beizuwohnen, und dort oͤf¬
fentlich mit in Reihe und Gliede zu gehn. —
Was ihn aber am meiſten ſchmerzte, war
doch im Grunde das letzte — und diß war ſehr
natuͤrlich; denn durch ſeine Theilnehmung an
dem Aufzuge fuͤhlte er ſich gleichſam in alle
Rechte ſeines Standes, die ihm ſo ſehr verleidet
waren, wieder eingeſetzt — davon ausgeſchloſſen
zu bleiben, daͤuchte ihm eine der groͤßten Wider¬
waͤrtigkeiten, die ihm nur begegnen konnte. —
Das war auch die Urſach, weswegen er den Kon¬
rektor um Erlaſſung der Haͤlfte von dem Chor¬
gelde ſo flehentlich gebeten hatte, welches zu
thun er ſich ſonſt nie wuͤrde erniedrigt haben.
Alle ſein Sinnen und Denken, Geld zu be¬
kommen, half nichts; er konnte ſich keine Fackel
kaufen, und mußte den folgenden Abend, waͤh¬
rend daß alle ſeine Mitſchuͤler, im glaͤnzenden
Pomp, unter einer Menge von Zuſchauern, uͤber
die Straße zogen, traurig an ſeinem Klavier zu
Hauſe ſitzen — er ſuchte ſich zu troͤſten, ſo gut
er konnte; aber da er von fern die Muſik hoͤrte,
ſo that diß eine ſonderbare Wirkung auf ſein Ge¬
muͤth — er dachte ſich lebhaft den Glanz der
[23] Fackeln, die Menge der Zuſchauer, das Getuͤm¬
mel, und ſeine Mitſchuͤler als die Hauptperſonen
dieſes prachtvollen Schauſpiels — und ſich nun
ausgeſchloſſen, einſam und von aller Welt ver¬
laſſen — diß verſetzte ihn in eine Wehmuth,
die derjenigen voͤllig aͤhnlich war, da ſeine
Eltern ihn oben auf der Stube allein gelaſſen
hatten, waͤhrend daß ſie unten bei dem Wirth
bei einer Gaſterei waren, von welcher das frohe
Gelaͤchter und Klingen mit den Glaͤſern zu ihm
hinauf erſchallte, und er ſich da auch ſo einſam
und von aller Welt verlaſſen fuͤhlte, und ſich
aus den Liedern der Madame Guion troͤ¬
ſtete. —
Dergleichen Vorfaͤlle draͤngten ihn dann im¬
mer wieder aus der Welt in die Einſamkeit —
er war nicht vergnuͤgter, als wenn er allein bei
ſeinem Klavier ſitzen, und fuͤr ſich leſen und ar¬
beiten konnte — und wuͤnſchte nichts ſehnli¬
cher, als daß es bald Sommer ſeyn moͤgte, um
auf dem Boden, wo ſein Bette ſtand, den gan¬
zen Tag allein zubringen zu koͤnnen.
Und da nun dieſer ſehnlich gewuͤnſchte Som¬
mer kam, ſo genoß er nun auch zu allererſt die
B 4[24] Wonne des einſamen Studirens. Er liehe ſich
ſeit einiger Zeit wieder Buͤcher vom Antiqua¬
rius; aber ſein Geſchmack fiel nun auf lauter
wiſſenſchaftliche Buͤcher. — Seine Romanen
und Komoͤdienlektuͤre hatten ſeit jener ſchreckli¬
chen Epoche ſeines Lebens gaͤnzlich aufgehoͤrt. —
Sobald die Luft nun anfing, warm zu wer¬
den, eilte er auf ſeinen Boden, und brachte da
die vergnuͤgteſten Stunden ſeines Lebens mit
Leſen und Studiren zu. —
Er hatte ſich von dem Buͤcherantiquarius un¬
ter andern Gottſcheds Philoſophie geliehen,
und ſo ſehr auch in dieſem Buche die Materien
durchwaͤſſert ſind, ſo gab doch diß ſeiner Denk¬
kraft gleichſam den erſten Stoß — er bekam da¬
durch wenigſtens eine leichte Ueberſicht aller phi¬
loſophiſchen Wiſſenſchaften, wodurch ſich die
Ideen in ſeinem Kopfe aufraͤumten. —
Sobald er diß merkte, nahm auch ſein Eifer,
die Sache bald zu uͤberſehen, mit jedem Tage
zu. — Er ſah, daß das bloße Leſen nichts half —
er fing alſo an, ſich auf kleinen Blaͤttchen ſchrift¬
liche Tabellen zu entwerfen, wo er das Detail
immer dem Ganzen gehoͤrig unterordnete, und
[25] und ſich auf die Weiſe einen anſchaulichen Begriff
davon zu machen ſuchte. —
Das ſimple Abſchreiben des Hauptinhalts
brachte fuͤr ihn ſchon ein vorzuͤgliches Intereſſe
in die Sache — denn indem er nun das Blatt,
auf welches er die in dem Buche enthaltenen
Materien niedergeſchrieben hatte, beim Leſen des
Buches vor ſich hinlegte, erhielt er dadurch den
Vortheil, daß er bei dem Einzelnen nie das
Ganze aus den Augen verlohr, welches doch
beim philoſophiſchen Denken immer ein Haupt¬
erforderniß iſt, und auch die groͤßte Schwierig¬
keit macht. —
Alles was er noch nicht durchdacht hatte, lag
auf dieſer Charte wie ein unbekanntes Land vor
ihm, welches genauer kennen zu lernen, er eine
ordentliche Sehnſucht empfand. —
Die Umriſſe, das Fachwerk war durch die
allgemeine Ueberſicht des Ganzen einmal in ſeiner
Seele gemacht, er ſtrebte nun von den Luͤcken,
die er erſt jetzt empfinden konnte, eine nach der
andern auszufuͤllen. — Und dasjenige, was ihm
erſt bloße leere Nahmen geweſen waren, wur¬
den nun allmaͤlig vollgefuͤllte deutliche Begriffe,
B 5[26] und wenn er nun eben den Nahmen wieder laß,
oder wieder dachte, und ihm auf einmal alles ſo
licht und helle wurde, was ihm vorher dunkel
und verworren geweſen war, ſo bemaͤchtigte ſich
ſeiner ein ſo angenehmes Gefuͤhl dabei, als er
noch nie empfunden hatte — er ſchmeckte zuerſt
die Wonne des Denkens. —
Die immerwaͤhrende Begierde, das Ganze
bald zu uͤberſchauen, leitete ihn durch alle Schwie¬
rigkeiten des Einzelnen hindurch. — In ſeiner
Denkkraft ging eine neue Schoͤpfung vor. — Es
war ihm, als ob es erſt in ſeinem Verſtande
daͤmmerte, und nun allmaͤlig der Tag anbraͤche,
und er ſich an dem erquickenden Lichte nicht ſatt
ſehen konnte. —
Er vergaß hieruͤber faſt Eſſen und Trinken,
und alles was ihn umgab, und kam unter dem
Vorwande von Kraͤnklichkeit, in einer Zeit von
ſechs Wochen faſt gar nicht von ſeinem Boden
herunter — in dieſer Zeit ſaß er vom Morgen
bis an den Abend mit der Feder in der Hand bei
ſeinem Buche, und ruhete nicht eher, bis er vom
Anfang bis zum Ende durch war. —
[27]
Was hierbei ſeinen Eifer nie erloͤſchen ließ,
war, wie ſchon geſagt, das beſtaͤndige vor
Augen halten des Hauptinhalts — und das
immerwaͤhrende Unterordnen und Klaſſifiziren
der Materien in ſeinem Kopfe ſowohl als auf dem
Papiere. —
Er brachte alſo dieſen Sommer, ohngeachtet
ſeine aͤußern Verhaͤltniſſe ſich eben nicht ſehr ver¬
beſſert hatten, doch ziemlich vergnuͤgt zu. —
Wenigſtens mußte er die einſamen Stunden,
welche er auf dem Boden zubrachte, immer unter
die gluͤcklichſten ſeines Lebens zaͤhlen. — Auch
war er uͤberhaupt von nun an, minder ungluͤck¬
lich, weil ſeine Denkkraft angefangen hatte, ſich
zu einwickeln. —
Wo er ging und ſtund, da meditirte er jetzt,
ſtatt daß er vorher bloß phantaſirt hatte —
und ſeine Gedanken beſchaͤftigten ſich mit den er¬
habenſten Gegenſtaͤnden des Denkens — mit den
Vorſtellungen von Raum und Zeit, von der hoͤch¬
ſten vorſtellenden Kraft, u. ſ. w. —
Allein ſchon damals war es ihm oft, wenn
er ſich eine Weile im Nachdenken verlohren hatte,
als ob er ploͤtzlich an etwas ſtieße, das ihn
[28]hemmte, und wie eine bretterne Wand, oder
eine undurchdringliche Decke auf einmal ſeine
weitere Ausſicht ſchloß — es war ihm dann, als
habe er nichts gedacht — als Worte —
Er ſtieß hier an die undurchdringliche
Scheidewand, welche das menſchliche Den¬
ken von dem Denken hoͤherer Weſen ver¬
ſchieden macht, an das nothwendige Be¬
duͤrfniß der Sprache, ohne welche die
menſchliche Denkkraft keinen eignen
Schwung nehmen kann — und welche
gleichſam nur ein kuͤnſtlicher Behelf iſt, wodurch
etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir
dereinſt vielleicht gelangen werden, aͤhnliches,
hervorgebracht wird. —
Die Sprache ſchien ihm beim Denken im
Wege zu ſtehen, und doch konnte er wieder ohne
Sprache nicht denken. —
Manchmal quaͤlte er ſich Stunden lang, zu
verſuchen, ob es moͤglich ſey, ohne Worte
zu denken — Und dann ſtieß ihm der Begriff
vom Daſeyn als die Grenze alles menſchlichen
Denkens auf — da wurde ihm alles dunkel und
oͤde — da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer
[29] ſeiner Exiſtenz, und der Gedanke oder vielmehr
Ungedanke vom Nichtſeyn, erſchuͤtterte ſeine
Seele — es war ihm unerklaͤrlich, daß er jetzt
wirklich ſey, und doch einmal nicht geweſen ſeyn
ſollte — ſo irrte er ohne Stuͤtze und ohne Fuͤhrer
in den Tiefen der Metaphyſik umher. —
Manchmal, wenn er itzt im Chore ſang, und
ſtatt daß ſeine Mitſchuͤler ſich miteinander un¬
terredeten, einſam vor ſich weg ging, und dieſe
dann hinter ihm ſagten: da geht der Melancho¬
likus! ſo dachte er uͤber die Natur des Schalles
nach, und ſuchte zu erforſchen, was ſich dabei
mit Worten nicht ausdruͤcken ließ. — Diß
trat nun in die Stelle ſeiner vorigen romanti¬
ſchen Traͤume, womit er ſich ſonſt ſo manche
truͤbe [Stunde] verphantaſirt hatte, wenn er an
einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen
im Chore ſang. —
Er liehe ſich nun von dem Buͤcherantiquarius
Wolfs Metaphyſik, und las auch die nach
der einmal angefangenen Weiſe durch — und
wenn er nun zu dem Schuſter S. . . kam, ſo
war der Stoff zu ihren philoſophiſchen Geſpraͤ¬
chen weit reichhaltiger, wie vorher — und ſie ka¬
[30] men von ſelbſt auf alle die verſchiedenen Syſte¬
me, welche von den Weltweiſen der alten und
neuern Zeiten vorgetragen, und immer von einer
unzaͤhligen Menge nachgebetet ſind.
Waͤhrend der Zeit war nun auch der Direktor
B..., von deſſen Freundſchaft Reiſer ſo viel ge¬
hofft hatte, und ſo ſehr in ſeiner Hoffnung ge¬
taͤuſcht war, nach einer kleinen Stadt nicht weit
von H... als Superintendent befoͤrdert worden,
und ein andrer Nahmens S... an deſſen Stelle
gekommen. —
Dieſe Veraͤnderung intereſſirte Reiſern eben
nicht ſehr, der damals an nichts, als an ſeine
Methaphyſik dachte. — Der neue Direktor war
ein alter Mann, welcher aber Kenntniſſe und
viel Geſchmack beſaß, und von Pendanterei,
welches bei alten Schulmaͤnnern ein ſo ſeltener
Fall iſt, ziemlich frei war.
Waͤhrend dieſer Veraͤnderung fielen eine große
Menge Schulſtunden ohnedem aus. — Reiſers
Verſaͤumniß wurde alſo eben ſo merklich nicht —
Und wenn nun ja eine Verſaͤumniß von oͤffent¬
lichen Schulſtunden gut genutzt worden iſt, ſo
war es die ſeinige — in welcher er in Zeit von ein
[31] paar Monathen mehr that, und ſein Verſtand
mit weit mehr Begriffen, als ſeine ganzen akade¬
miſchen Jahre hindurch, bereichert wurde. —
Nie hoͤrte er wenigſtens den ganzen Kurſus
der Philoſophie ſo ausfuͤhrlich wieder vortragen,
als er ihn damals fuͤr ſich durchdacht hatte —
auch die uͤbrigen Wiſſenſchaften, als Dogma¬
tik, Geſchichte u. ſ. w. hoͤrte er nie auf der Uni¬
verſitaͤt ſo ausfuͤhrlich wieder, als er ſie zum Theil
in H. . . auf der Schule gehoͤrt hatte. —
Er hatte in ſeiner Jugend keinen Unterricht,
als im Rechnen und Schreiben genoſſen, welcher
itzt faſt gaͤnzlich fuͤr ihn verlohren ging, weil er
das Rechnen nicht zu uͤben Gelegenheit hatte,
und ſeine Hand durch das Nachſchreiben ver¬
darb. — Nun fuͤgte es ſich, daß er einige In¬
formation im Schreiben bekam, die ihm zwar
wenig oder gar nichts einbrachte, wobei er aber
doch merklich ſeine Hand uͤbte; da er nun wieder
anfing, die Schularbeiten mitzumachen, und
dem Rektor ſeine Exercitien brachte, ſo wunderte
ſich dieſer ſehr uͤber die Verbeſſerung ſeiner Hand,
und gab ihm ſogleich etwas abzuſchreiben, welches
aber dort im Hauſe geſchehen mußte, ſo daß er
[32] auf die Weiſe wieder Zutritt zu dem Rektor er¬
hielt; welches ihn denn auch mit einiger Hoff¬
nung, ſich wieder in Kredit zu ſetzen, belebte,
die aber bald niedergeſchlagen wurde, da ſein
Vater einmal nach H. . . heruͤber kam, und der
Paſtor M. . . demſelben keinen andern Troſt gab,
als daß ſein Sohn ein Schl. . .l ſey, aus dem
nie etwas werden wuͤrde. —
Da ſein Vater wieder wegreißte, begleitete
er ihn bis vors Thor hinaus, und hier war es,
wo ihm derſelbe die troͤſtlichen Worte des Pa¬
ſtor M. . . hinterbrachte, und ihm dabei die
bitterſten Vorwuͤrfe machte, daß er die Wohl¬
thaten, welche man ihm erwieſen, ſo ſchlecht er¬
kennte, wobei er ihn zugleich auf den Rock,
den er trug, verwieß, und ihm dieſen als ein
unverdientes Geſchenk von ſeinen Wohlthaͤtern
ſchilderte. — Diß letztere brachte Reiſern auf;
denn der Rock, welcher von groben grauen Tuch
war, das ihm ein voͤlliges Bedientenanſehen gab,
war ihm immer verhaßt geweſen, und er ließ
ſich daher gegen ſeinen Vater verlauten, daß ein
ſolcher Bedientenrock, den er zu ſeinem Aerger
[33] tragen muͤſſe, eben kein großes Gefuͤhl von Dank¬
barkeit bei ihm erwecken koͤnne. —
Daruͤber gerieth ſein Vater, dem die Grund¬
ſaͤtze von der Demuͤthigung und Ertoͤdtung
alles Stolzes und Eigenduͤnkels aus den Schrif¬
ten der Mad. Guion heilig waren, in eine Art
von Wuth — drehte ſich ſchnell von ihm, und
gab ihm ſeinen Fluch auf den Weg. — Reiſer
wurde ebenfalls hiedurch in einen Zuſtand ver¬
ſetzt, worin er ſich noch nie befunden hatte, alles,
was er bisher von ſeinem widrigen Schickſal ge¬
litten und geduldet hatte, und daß nun auch
ſein Vater ſogar ihn von ſich ſtieß, und ihm
ſeinem Fluch gab, fuhr ihm auf einmal durch
die Seele. —
Er ſtieß, indem er nach der Stadt zuruͤck¬
ging, laute Gotteslaͤſterungen aus, und war
der Verzweiflung nahe — er wunſchte ſich wirk¬
lich vom Erdboden verſchlungen zu ſeyn — und
der Fluch ſeines Vaters ſchien ihn im Ernſt zu
verfolgen.
Diß hemmte wieder auf eine Weile alle ſeine
guten Vorſaͤtze, und ſeinen bisher freiwillig un¬
unterbrochenen Fleiß.
Theil[34]
Der Sommer ging nun zu Ende — und ein
anhaltender koͤrperlicher Schmerz fing nun oͤfter
wieder an, ſeinen Geiſt niederzudruͤcken. Er
hatte von dieſer Zeit an unaufhoͤrliches Kopfweh,
welches ein ganzes Jahr anhielt, ſo daß faſt kein
Tag und keine Stunde dazwiſchen ausfiel, wo
er ſich von dieſem fortdaurenden Schmerz befreit
gefuͤhlt haͤtte. —
Der Schneider, bei dem er nun ein Jahr ge¬
wohnt hatte, ſagte ihm auch das Logis auf, und
er zog in einer abgelegenen Straße bei einem
Fleiſcher ins Haus, wo noch einige Schuͤler,
nebſt ein paar gemeinen Soldaten im Quartier
lagen. —
Er mußte ſich hier auch mit unten in der
Stube aufhalten, und ſeine Einrichtung mit dem
Klavier und dem Buͤcherbrette darunter blieb,
wie vorher — ſtatt des Bodens aber erhielt er
oben ein kleines Kaͤmmerchen, wo er mit noch
einem Chorſchuͤler ſchlief, und im Sommer,
wenn es warm war, jeder fuͤr ſich allein ſeyn
konnte.
Der Umgang mit ſeinem Wirth dem Flei¬
ſcher, mit den beiden Soldaten, die dort im
[35] Quartier lagen, und ein paar luͤderlichen Chor¬
ſchuͤlern, die noch nebſt ihm da wohnten, konn¬
te zur Bildung und Verfeinerung ſeiner Sitten
eben nicht viel beitragen. —
Alles verſammlete ſich im Winter des Abends
in der Stube, und weil er bei dem Geraͤuſch und
Lermen doch nicht arbeiten konnte, ſo miſchte er
ſich lieber mit unter den Hauffen, und amuͤſirte
ſich mit den Leuten, die nun einmal den naͤch¬
ſten Kreis um ihn her ausmachten, ſo gut er
konnte.
Ohngeachtet ſeiner immerwaͤhrenden Kopf¬
ſchmerzen, arbeitete er doch auch ſo oft er nur
ein wenig in Ruhe ſeyn konnte, fuͤr ſich, und
lernte auf die Weiſe in Zeit von einigen Wochen
franzoͤſiſch, indem er ſich einen lateiniſchen Terenz
mit der franzoͤſiſchen Ueberſetzung liehe, und ſich
taͤglich ununterbrochen ſelbſt eine Lektion gab; er
kam dadurch wenigſtens ſo weit, daß er von der
Zeit an jedes franzoͤſiſche Buch ziemlich verſtehen
konnte.
Da ſich indes ſein aͤußerer Zuſtand nicht ver¬
beſſerte, und uͤberdem noch koͤrperlicher Schmerz
ihn unaufhoͤrlich druͤckte, ſo verſetzte ihn diß in
C 2[36] eine Seelenſtimmung, wo ihm Youngs Nacht¬
gedanken, die er damals zufaͤlligerweiſe erhielt,
eine hoͤchſt willkommene Lektuͤre waren — es daͤuch¬
te ihm, als faͤnde er hier alle ſeine vorigen Vorſtel¬
lungen von der Nichtigkeit des Lebens, und der
Eitelkeit aller menſchlichen Dinge wieder. — Er
konnte ſich nicht ſatt in dieſem Buche leſen, und
lernte die Gedanken und Empfindungen, welche
darin herrſchen, beinahe auswendig.
Die einzige Linderung bei ſeinen Kopfſchmer¬
zen war, wenn er ausgeſtreckt ruͤcklings auf dem
Bette liegen konnte — in dieſer Stellung blieb
er denn oft ganze Tage lang, und las — diß war
der einzige ihm uͤbrig gebliebene Genuß des Le¬
bens, an dem er ſich noch feſthielt, da ſonſt die
toͤdtendſte Langeweile ihm das elende Leben, was
er noch fortſchleppte, unertraͤglich gemacht haben
wuͤrde. —
Um ſich nun zuweilen dem Geraͤuſch, das
ihn umgab, zu entziehen, ſcheute er manchmal
weder Regen noch Schnee, ſondern machte des
Abends, wenn es dunkel wurde, und er ſicher
war, daß er von niemanden geſehen, noch von
irgend einem Menſchen wuͤrde angeredet werden,
[37] einen Spatziergang auf dem Walle, um die
Stadt; und bei dieſen Spatziergaͤngen war es,
wo ſich ſein Geiſt immer etwas wieder ermannte,
und ein Funke von Hoffnung, ſich aus ſeinem
ſchrecklichen Zuſtande herauszuarbeiten, in ſeiner
Seele wieder emporglimmte. —
Wenn er dann auf den Straßen, die an den
Wall grenzten, in den Haͤuſern Licht angeſteckt
ſahe, und ſich nun dachte, daß in jeder erleuchte¬
ten Stube, deren in einem Hauſe oft ſo viele
waren, eine Familie, oder ſonſt eine Geſellſchaft
von Menſchen, oder ein einzelner Menſch lebte,
und daß eine ſolche Stube alſo in dem Augen¬
blick die Schickſale und das Leben und die Ge¬
danken eines ſolchen Menſchen, oder einer ſolchen
Geſellſchaft von Menſchen in ſich faßte; und daß
er auch nun nach dem vollendeten Spatziergange
in eine ſolche Stube wieder zuruͤckkehren wuͤrde,
wo er gleichſam hingebannt, und wo der eigent¬
liche Fleck ſeines Daſeyns waͤre; ſo brachte diß
bei ihm zuerſt eine ſonderbare demuͤthigende
Empfindung hervor, als ſey nun ſein Schickſal,
unter dieſem unendlichen verwirrten Haufen ſich
einander durchkreuzender, menſchlicher Schick¬
C 3[38] ſale gleichſam verlohren, und werde dadurch
klein und unbedeutend gemacht. — Dann er¬
hoben aber auch eben dieſe Lichter in den ein¬
zelnen Stuben in den Haͤuſern am Walle, zu¬
weilen ſeinen Geiſt wieder, wenn er einen Ueber¬
blick des Ganzen daraus ſchoͤpfte, und ſich aus
ſeiner eigenen kleinen einengenden Sphaͤre, wo¬
durch er ſich unter allen dieſen im Leben unbe¬
merkten und unausgezeichneten Bewohnern der
Erde mitverlohr, herausdachte, und ſich ein be¬
ſonderes ausgezeichnetes Schickſal prophezeite,
wovon die ſuͤße Vorſtellung, indem er dann mit
ſchnellen Schritten vorwaͤrts ging, ihn aufs
neue mit Hoffnung und Muth belebte.
Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in ei¬
nem fremden ihm unbekannten Hauſe, wo er ſich
eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben
und Schickſalen er eben ſo wenig, als ſie von
den ſeinigen wußte, hat nachher beſtaͤndig ſon¬
derbare Empfindungen in ihm erweckt — die
Eingeſchraͤnktheit des einzelnen Menſchen
ward ihm anſchaulich.
[39]
Er fuͤhlte die Wahrheit: man iſt unter ſo
vielen Tauſenden, die ſind und geweſen ſind,
nur einer.
Sich in das ganze Seyn und Weſen eines
andern hineindenken zu koͤnnen, war oft ſein
Wunſch — wenn er ſo auf der Straße zuweilen
dicht neben einem ganz fremden Menſchen her¬
ging — ſo wurde ihm der Gedanke der Fremd¬
heit dieſes Menſchen, der gaͤnzlichen Unbe¬
wußtheit des einen von dem Nahmen und
Schickſalen des andern, ſo lebhaft, daß er ſich,
ſo dicht es der Wohlſtand erlaubte, an eineu
ſolchen Menſchen andraͤngte, um auf einen Au¬
genblick in ſeine Atmoſphaͤre zu kommen, und
zu verſuchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬
dringen koͤnnte, welche die Erinnerungen und
Gedanken dieſes fremden Menſchen von den ſei¬
nigen trennte. —
Noch eine Empfindung aus den Jahren ſei¬
ner Kindheit iſt vielleicht nicht unſchicklich hier
heran gezogen zu werden — er dachte ſich damals
zuweilen, wenn er andere Eltern, als die ſeinigen
haͤtte, und die ſeinigen ihn nun nichts angingen,
ſondern ihm ganz gleichguͤltig waͤren. — — Ueber
C 4[40] den Gedanken vergoß er oft kindiſche Thraͤnen —
ſeine Eltern mochten ſeyn, wie ſie wollten, ſo
waren ſie ihm doch die liebſten — und er haͤtte
ſie nicht gegen die vornehmſten und guͤtigſten
vertauſcht. — Aber zugleich kam ihm auch
ſchon damals das ſonderbare Gefuͤhl von dem
Verlieren unter der Menge, und daß es noch
ſo unzaͤhlig viele Eltern mit Kindern, außer den
ſeinigen gab, worunter ſich dieſe wieder ver¬
lohren — —
So oft er ſich nachher in einem Gedraͤnge
von Menſchen befunden hat, iſt eben diß Ge¬
fuͤhl der Kleinheit, Einzelnheit, und faſt dem
Nichts gleichen Unbedeutſamkeit in ihm er¬
wacht — — Wie viel iſt des mir gleichen Stoffes
hier! welch eine Menge von dieſer Menſchen¬
maſſe, aus welcher Staaten und Kriegesheere,
ſo wie aus Baumſtaͤmmen Haͤuſer und Thuͤrme
gebauet werden! —
Das waren ohngefaͤhr die Gedanken, die
damals ein dunkles Gefuͤhl in ihm hervorbrachten,
weil er ſie nicht in Worte einzukleiden, und ſie
ſich nicht deutlich zu machen wußte.
[41]
Einmal da vier Miſſethaͤter auf dem Raben¬
ſteine vor H... gekoͤpft wurden, ging er unter
der Menge von Menſchen mit hinaus, und ſahe
nun vier darunter, welche aus der Zahl der
uͤbrigen ausgetilget und zerſtuͤckt werden ſoll¬
ten. — Diß kam ihm ſo klein, ſo unbedeutend
vor, da der ihn umgebenden Menſchenmaſſe
noch ſo viel war — als ob ein Baum im Walde
umgehauen, oder ein Ochſe gefaͤllt werden ſollte.
— und da nun die Stuͤcken dieſer hingerichteten
Menſchen auf das Rad hinaufgewunden wur¬
den, und er ſich ſelbſt, und die um ihn her ſte¬
henden Menſchen eben ſo zerſtuͤckbar dachte —
ſo wurde ihm der Menſch ſo nichtswerth und
unbedeutend, daß er ſein Schickſal und alles in
dem Gedanken von thieriſcher Zerſtuͤckbarkeit
begrub — und ſogar mit einem gewiſſen Vergnuͤ¬
gen wieder zu Hauſe ging, und ſeinen Haarteich
auf dem Wege verzehrte — denn es war damals
gerade ſein ſchreckliches Vierteljahr, wo er man¬
che Tage bloß von dieſem Teige lebte. — Nah¬
rung und Kleidung war ihm gleichguͤltig, ſo wie
Tod und Leben — ob nun eine ſolche bewegliche
Fleiſchmaſſe, deren es eine ſo ungeheure Anzahl
C 5[42] gibt, auf der Welt mehr umher geht, oder
nicht! — Denn er konnte ſich nicht enthalten,
ſich immer an den Platz der zerſtuͤckten und in
Stuͤcken auf das Rad gewundenen hingerichteten
Miſſethaͤter zu ſtellen — und dachte dabei, was
ſchon Salomo gedacht hat: Der Menſch iſt
wie das Vieh; wie das Vieh ſtirbt, ſo
ſtirbt er auch. —
Wenn er von dieſer Zeit an ein Thier ſchlach¬
ten ſahe, ſo hielt er ſich immer in Gedanken da¬
mit zuſammen — und da er es bei dem Schlaͤch¬
ter auch ſo oft zu ſehen Gelegenheit hatte, ſo
ging eine ganze Zeitlang ſein bloßes Denken da¬
hin — den Unterſchied zwiſchen ſich und einem
ſolchen Thiere, das geſchlachtet wird, auszumit¬
teln. — Er ſtand oft Stundenlang, und ſah ſo
ein Kalb, mit Kopf, Augen, Ohren, Mund,
und Naſe, an; und lehnte ſich, wie er es bei
fremden Menſchen machte, ſo dicht wie moͤg¬
lich an daſſelbe an, oft mit dem thoͤrichten Wahn,
ob es ihm nicht vielleicht moͤglich wuͤrde, ſich nach
und nach in das Weſen eines ſolchen Thieres
hineinzudenken — es lag ihm alles daran, den
Unterſchied zwiſchen ſich und dem Thiere zu wiſ¬
[43] ſen — und zuweilen vergaß er ſich bei dem an¬
haltenden Betrachten deſſelben ſo ſehr, daß er
wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art
des Daſeyns eines ſolchen Weſens empfunden
zu haben. — Kurz, wie ihm ſeyn wuͤrde, wenn
er z. B. ein Hund, der unter Menſchen lebt,
oder ein anderes Thier waͤre — das beſchaͤftigte von
Kindheit auf ſchon oft ſeine Gedanken. — Und
da er ſich nun den Unterſchied zwiſchen
Koͤrper und Geiſt gedacht hatte, ſo war ihm
nichts wichtiger, als zugleich irgend einen weſent¬
lichen Unterſchied zwiſchen ſich und dem Thiere
aufzufinden, weil er ſich ſonſt nicht uͤberreden
konnte, daß das Thier, welches ihm in ſeinem
Koͤrperbau ſo aͤhnlich war, nicht eben ſo wie er
einen Geiſt haben ſollte. —
Und wo blieb nun der Geiſt nach der Zerſtoͤ¬
rung und Zerſtuͤckelung des Koͤrpers? — Alle
die Gedanken von ſo viel tauſend Menſchen, die
vorher durch die Scheidewand des Koͤrpers bei
einem jeden von einander abgeſondert waren,
und nur durch die Bewegung einiger Theile die¬
ſer Scheidewand einander wieder mitgetheilt
wurden, ſchienen ihm nach dem Tode der Men¬
[44] ſchen in eins zuſammen zu fließen — da war
nichts mehr, das ſie abſonderte und von einan¬
der trennte — er dachte ſich den uͤbrig geblie¬
benen und in der Luft herumfliegenden
Verſtand eines Menſchen, der bald in ſeiner
Vorſtellungskraft zerftatterte. —
Und dann ſchien ihm aus der ungeheuren
Menſchenmaſſe wieder eine ſo ungeheure un¬
foͤrmliche Seelenmaſſe zu entſtehen — wo er
immer nicht einſahe, warum gerade ſo viel
und nicht mehr und nicht weniger da waͤ¬
ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬
zugehen ſchien, das einzelne endlich faſt ſo
unbedeutend wienichtswurde.
Dieſe Unbedeutſamkeit, diß Verlieren
unter der Menge, war es vorzuͤglich, was ihm
oft ſein Daſeyn laͤſtig machte.
Nun ging er einmal eines Abends traurig
und mißmuthig auf der Straße umher — es war
ſchon in der Daͤmmerung, aber doch nicht ſo
dunkel, daß er nicht von einigen Leuten haͤtte ge¬
ſehen werden koͤnnen, deren Anblick ihm uner¬
traͤglich war, weil er ihnen ein Gegenſtand des
Spottes und der Verachtung zu ſeyn glaubte. —
[45]
Es war eine naßkalte Luft und regnete und
ſchneiete durch einander — ſeine ganze Kleidung
war durchnetzt — ploͤtzlich entſtand in ihm das
Gefuͤhl, daß er ſich ſelbſt nicht entfliehen
konnte. —
Und mit dieſem Gedanken war es, als ob ein
Berg auf ihm lag — er ſtrebte ſich mit Gewalt
darunter empor zu arbeiten, aber es war, als ob
die Laſt ſeines Daſeyns ihn darnieder druͤckte —
Daß er einen Tag wie alle Tage mit ſich
aufſtehen, mit ſich ſchlafen gehen — bei je¬
dem Schritte ſein verhaßtes Selbſt mit ſich fort¬
ſchleppen mußte. —
Sein Selbſtbewußtſeyn mit dem Gefuͤhl
von Veraͤchtlichkeit und Weggeworfenheit
wurde ihm eben ſo laͤſtig, wie ſein Koͤrper mit
dem Gefuͤhl von Naͤſſe und Kaͤlte; und er haͤtte
dieſen in dem Augenblick eben ſo willig und gerne
wie ſeine durchnetzten Kleider abgelegt — haͤtte
ihm damals ein gewuͤnſchter Tod aus irgend ei¬
nem Winkel entgegen gelaͤchelt. —
Daß er nun unabaͤnderlich er ſelbſt ſeyn
mußte, und kein anderer ſeyn konnte; daß er
in ſich ſelbſt eingeengt, und eingebannt war —
[46] das brachte ihn nach und nach zu einem Grade
der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Fluſ¬
ſes fuͤhrte, welcher durch einen Theil der Stadt
ging, wo daſſelbe mit keinem Gelaͤnder verſehen
war. —
Hier ſtand er zwiſchen dem ſchrecklich¬
ſten Lebensuͤberdruß, und der inſtinktmaͤßt¬
gen unerklaͤrlichen Begierde fortzuathmen,
kaͤmpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬
lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬
ſtamm niederſank, der nicht weit vom Ufer lag.
Hier ließ er ſich noch eine Weile gleichſam der
Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis
das Gefuͤhl einer fieberhaften Kaͤlte, und das
Klappern ſeiner Zaͤhne ihn wieder zu ſich ſelbſt
brachte, und ihm zufaͤlliger Weiſe einfiel, daß er
den Abend bei ſeinem Wirth dem Fleiſcher, fri¬
ſche Wurſt zu eſſen bekommen wuͤrde — und
daß die Stube ſehr warm geheitzt ſeyn wuͤrde. —
Dieſe ganz ſinnlichen und thieriſchen Vorſtel¬
lungen friſchten die Lebensluſt in ihm aufs neue
wieder an — er vergaß ſich, ſo wie er ſich nach
der Hinrichtung der Miſſethaͤter vergeſſen hatte,
ganz als Menſch, und kehrte in ſeinen Ge¬
[47] ſinnungen und Empfindungen als Thier wieder
heim. —
Als Thier wuͤnſchte er fortzuleben; als
Menſch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer
ſeines Daſeyns unertraͤglich geweſen.
Allein wie er ſich ſchon ſo oft aus ſeiner wirk¬
lichen Welt in die Buͤcherwelt gerettet hatte,
wenn es aufs aͤußerſte kam, ſo fuͤgte es ſich auch
dißmal, daß er ſich gerade vom Buͤcherantiqua¬
rius die Wielandſche Ueberſetzung vom Schake¬
ſpear liehe — und welch eine neue Welt eroͤfnete
ſich nun auf einmal wieder fuͤr ſeine Denk- und
Empfindungskraft! —
Hier war mehr als alles, was er bisher ge¬
dacht, geleſen und empfunden hatte. — Er laß
Makbeth, Hamlet, Lear, und fuͤhlte ſeinen
Geiſt unwiederſtehlich mit emporgeriſſen — jede
Stunde ſeines Lebens, wo er den Schakeſpear
laß, ward ihm unſchaͤtzbar. — Im Shakeſpear
lebte, dachte und traͤumte er nun, wo er ging
und ſtund — und ſeine groͤßte Begierde war, das
alles, was er beim Leſen deſſelben empfand, mit¬
zutheilen — und der naͤchſte, dem er es mitthei¬
len konnte, und welcher Gefuͤhl dafuͤr hatte,
[48] war ſein Freund Philipp Reiſer, der in einer
abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er
ſich eine neue Werkſtaͤtte angelegt hatte, und
Klaviere zimmerte, — dabei ſang er noch immer
im Chore mit, aber nicht in dem, worin ſich
Anton Reiſer befand. — ſie waren alſo durch
ihre aͤußern Verhaͤltniſſe eine lange Zeit, ohnge¬
achtet ihrer erſten vertrauten Freundſchaft, von
einander getrennt worden. —
Nun aber, da Anton Reiſer ſeinen Shake¬
ſpear unmoͤglich fuͤr ſich allein genießen konnte,
ſo wußte er zu keinem beſſern damit zu eilen, als
zu ſeinem romantiſchen Freunde. —
Dieſem nun ein ganzes Stuͤck aus dem Sha¬
keſpear vorzuleſen, und auf alle deſſen Empfin¬
dungen und Aeußerungen dabei mit Wohlgefallen
zu merken, war die groͤßte Wonne, welche Rei¬
ſer in ſeinem Leben genoſſen hatte. —
Sie widmeten ganze Naͤchte zu dieſer Lektuͤ¬
re, wo Philipp Reiſer den Wirth machte, um
Mitternacht Kaffee kochte, und Holz im Ofen
nachlegte — dann ſaßen ſie beide bei einer kleinen
Lampe an einem Tiſchchen — und Philipp Reiſer
hatte ſich mit langem Halſe heruͤbergebeugt, ſo
wie[49] wie Anton Reiſer weiter laß, und die ſchwellende
Leidenſchaft mit dem wachſenden Intereſſe der
Handlung ſtieg. —
Dieſe Shakeſpearnaͤchte gehoͤren zu den
angenehmſten Erinnerungen in Reiſers Leben. —
Aber wenn auch durch irgend etwas ſein Geiſt
gebildet wurde, ſo war es durch dieſe Lektuͤre,
wogegen alles, was er ſonſt dramatiſches geleſen
hatte, gaͤnzlich in Schatten geſetzt und verdun¬
kelt wurde. Selbſt uͤber ſeine aͤußern Verhaͤlt¬
niſſe lernte er ſich auf eine edlere Art hinweg¬
ſetzen — ſelbſt bei ſeiner Melancholie nahm ſeine
Phantaſie einen hoͤhern Schwung. —
Durch den Shakeſpear war er die Welt der
menſchlichen Leidenſchaften hindurch gefuͤhrt —
der enge Kreis ſeines idealiſchen Daſeyns hatte
ſich erweitert — er lebte nicht mehr ſo einzeln und
unbedeutend, daß er ſich unter der Menge ver¬
lohr — denn er hatte die Empfindungen Tau¬
ſender beim Leſen des Shakeſpear mit durchem¬
pfunden. —
Nachdem er den Shakeſpear, und ſo wie er
ihn geleſen hatte, war er ſchon kein gemeiner und
alltaͤglicher Menſch mehr — es dauerte auch nun
3r Theil. D[50] nicht lange, ſo arbeitete ſein Geiſt unter allen ſei¬
nen aͤußern druͤckenden Verhaͤltniſſen, unter allem
Spott und Verachtung, worunter er vorher er¬
lag, empor — wie der Verfolg dieſer Geſchichte
zeigen wird. —
Die Monologen des Hamlet hefteten ſein Au¬
genmerk zuerſt auf das Ganze des menſchlichen
Lebens — er dachte ſich nicht mehr allein, wenu
er ſich gequaͤlt, gedruͤckt, und eingeengt fuͤhlte;
er fing an, diß als das allgemeine Looß der
Menſchheit zu betrachten. —
Daher wurden ſeine Klagen edler als vorher
— die Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken hat¬
te diß zwar auch ſchon gewiſſermaſſermaſſen be¬
wirkt, aber durch den Shakeſpear wurden auch
Youngs Nachtgedanken verdraͤngt — der Sha¬
keſpear knuͤpfte zwiſchen Philipp Reiſern und
Anton Reiſern das loſe Band der Freundſchaft
feſter. — Anton Reiſer bedurfte jemanden, an
den er alle ſeine Gedanken und Empfindungen
richten konnte, und auf wen ſollte wohl eher
ſeine Wahl gefallen ſeyn, als auf denjenigen, der
einmal ſeinen angebeteten Shakeſpear mit durch¬
empfunden hatte! —
[51]
Das Beduͤrfniß, ſeine Gedanken und Em¬
pfindungen mitzutheilen, brachte ihn auf den
Einfall, ſich wieder eine Art von Tagebuch zu
machen, worin er aber nicht ſowohl ſeine aͤußern
geringfuͤgigen Begebenheiten, wie ehemals, ſon¬
dern die innere Geſchichte ſeines Geiſtes auf¬
zeichnen, und das, was er aufzeichnete, in Form
eines Briefes an ſeinen Freund richten wollte. —
Dieſer ſollte denn wiederum an ihn [ſchrei¬
ben], und diß ſollte fuͤr beide eine wechſelſeitige
Uebung im Stil werden. — Dieſe Uebung bil¬
dete Anton Reiſern zuerſt zum Schriftſteller; er
fing an, ein unbeſchreibliches Vergnuͤgen daran
zu empfinden, Gedanken, die er fuͤr ſich gedacht
hatte, nun in anpaſſende Worte einzukleiden, um
ſie ſeinem Freunde mittheilen zu koͤnnen — ſo
entſtanden ihm unter den Haͤnden eine Anzahl
kleiner Aufſaͤtze, deren er ſich zum Theil auch in
reifern Jahren nicht haͤtte ſchaͤmen duͤrfen. —
Die Uebung war zwar einſeitig, denn Phi¬
lipp Reiſer blieb mit ſeinen Aufſaͤtzen zuruͤck —
aber Anton Reiſer hatte doch nun jemanden,
dem er Gefuͤhl und Geſchmack zutrauete, deſſen
Beifall oder Tadel ihm nicht gleichguͤltig war,
D 2[52] und an den er denken konnte, ſo oft er etwas
niederſchrieb. —
Nun war es ſonderbar; wenn er im Anfang
etwas niederſchreiben wollte, ſo kamen ihm im¬
mer die Worte in die Feder: was iſt mein Da¬
ſeyn, was mein Leben? Diefe Worte ſtan¬
den daher auch auf mehreren kleinen Stuͤckchen
Papiere, die er hatte beſchreiben wollen, und
dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf. —
Seine dunkle Vorſtellung vom Leben und
Daſeyn, das wie ein Abgrund vor ihm lag,
draͤngte ſich immer zuerſt in ſeiner Seele empor
— er fuͤhlte ſich gedrungen, erſt dieſen wichtig¬
ſten Punkt ſeiner Zweifel und Beſorgniſſe zu be¬
richtigen, ehe er irgend etwas anders zum Ge¬
genſtande ſeines Denkens machte. — Es war
alſo ſehr natuͤrlich, daß ihm, wider ſeinen Wil¬
len, dieſe Worte immer wieder in die Feder ka¬
men, wenn er ſich bemuͤhte, Gedanken nieder¬
zuſchreiben. —
Endlich arbeitete ſich denn doch der Aus¬
druck durch die Gedanken durch — und
das erſte, was ihm in ziemlich paſſende Worte
[53] einzukleiden gelang, war etwas metaphyſiſches uͤber
Ichheit und Selbſtbewußtſeyn. —
Denu da er nun weiter denken, und Gedan¬
ken niederſchreiben wollte, ſo lag ihm natuͤrlicher
Weiſe nichts naͤher, als diß: er wollte erſt mit
ſich ſelbſt gleichſam in Richtigkeit ſeyn, ehe er zu
etwas anderm ſchritte. —
Nun fing er an, den Begriff des Indivi¬
duums zu verfolgen, der ihm ſchon ſeit einigen
Jahren, da er zuerſt etwas von Logik gehoͤrt
hatte, vorzuͤglich wichtig geworden war, — und
da er nun endlich auf den hoͤchſten Grad des
Beſtimmtſeyns von allen Seiten, und des voll¬
kommen ſich ſelbſt gleich ſeyns ſtieß — ſo
war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob
er ſich ſelbſt entſchwunden waͤre — und ſich
erſt in der Reihe ſeiner Erinnerungen an
das Vergangene wieder ſuchen muͤßte. — Er
fuͤhlte, daß ſich das Daſeyn nur an der Kette die¬
ſer unumterbrochnen Erinnerungen feſthielt. —
Die wahre Exiſtenz ſchien ihm nur auf das
eigentliche Individuum begrenzt zu ſeyn —
und außer einem ewig unveraͤnderlichen, alles
D 3[54]mit einem Blick umfaſſenden Weſen, konnte
er ſich kein wahres Individuum denken. —
Am Ende ſeiner Unterſuchungen duͤnkte ihm
ſein eignes Daſeyn, eine bloße Taͤuſchung,
eine abſtrakte Idee — ein Zuſammenfaſſen
der Aehnlichkeiten, die jeder folgende Moment in
ſeinem Leben mit dem entſchwundenen hatte. —
Durch dieſe Begriffe von ſeiner eignen Einge¬
ſchraͤnktheit, veredelten ſich ſeine Begriffe von
der Gottheit — er fing an, nun in dieſem großen
Begriffe, ſein eignes Daſeyn zu fuͤhlen, das ihm
ohnedem unter den Haͤnden zu verſchwinden,
ohne Zweck, abgeriſſen, und zerſtuͤckt zu ſeyn
ſchien. — —
Aus dieſen Reflexionen bildete ſich der erſte
ſchriftliche Aufſatz, den er entwarf, und dem er
die Form eines Briefes an ſeinen Freund gab,
mit welchem er ſich uͤber dieſe Materie oft zu un¬
terreden pflegte, und der ihn wenigſtens immer
zu verſtehen ſchien. — —
Dabei dauerten ſeine Kopfſchmerzen immer
fort — allein er gewoͤhnte ſich zuletzt ſo daran,
daß ihm ſein Zuſtand ordentlich gefaͤhrlich oder
[55] unnatuͤrlich vorkam, wenn er einen Tag ein¬
mal keine Kopfſchmerzen hatte. —
Seine Zuſammenkuͤnfte mit Philipp Reiſern
wurden nun immer haͤufiger — und er erhielt
unvermutheter Weiſe zu dieſem noch einen
Freund; diß war der Sohn des Kantors, Nah¬
mens W..., einer ſeiner Mitſchuͤler, gegen deſſen
Miene und Geſichtsbildung er faſt immer eine
Art von Antipathie gehegt, und ſich zugleich von
ihm verachtet geglaubt hatte. —
Dieſer wußte von ſeinem Vater, daß Anton
Reiſer einmal Verſe gemacht hatte, und weil er
nun ſelbſt fuͤr jemanden ein Gedicht auf einen
Geburtstag zu machen verſprochen hatte, ſo
ſuchte er Reiſern auf, und bat ihn um die Ver¬
fertigung dieſes Gedichts, das er ſelbſt auszuarbei¬
ten nicht Luſt oder Zeit hatte. — Diß war fuͤr
Reiſern die erſte Veranlaſſung, ſeine ganz vernach¬
laͤſſigte Poeſie wieder hervorzuſuchen. —
Das kleine Gedicht gelang ihm nicht uͤbel —
W... beſuchte ihn von der Zeit an oͤfter, und
verſprach ihm einſtmals, daß er ihm die Bekannt¬
ſchaft eines merkwuͤrdigen Mannes verſchaffen
wolle, der uͤbrigens ganz im Dunkeln lebe, und
D 4[56] nichts weiter, als ein Eſſigbrauer ſey — Rei¬
ſer war ſehr begierig auf dieſe Bekanntſchaft —
es zog ſich aber noch eine ganze Weile damit
hin. —
Durch die Verſe, welche ihm fuͤr W. . . ge¬
lungen waren, war ſeine ſchlummernde Neigung
fuͤr die Poeſie wieder aufgeweckt — allein ſeine
Traͤgheit zog ihn zu der harmoniſchen Proſa zu¬
ruͤck, wozu ſich ſein Ohr durch die wiederhohlte
Lektuͤre der vortrefflichen Ebertſchen Ueberſetzung
von Youngs Nachtgedanken gewoͤhnt hatte —
und nun fehlte es nur an einer aͤußern Veran¬
laſſung, die ſeiner Einbildungskraft einen unge¬
woͤhnlichen Schwung zu geben vermochte. —
Dieſe Veranlaſſung ereignete ſich an einem
truͤben und regnigten Sonntagnachmittage —
wo er im Chore ſang — er hatte erſt mit W. . .
geſprochen, und dieſer erkundigte ſich unter an¬
dern nach ſeiner Lektuͤre, und wunderte ſich, daß
er ihn beſtaͤndig leſend getroffen habe. — Reiſer
antwortete ihm, das ſey ja noch das einzige, wo¬
durch er ſich wegen der Verachtung, der er ſo
allgemein in der Schule und im Chore aus¬
[57] geſetzt waͤre, einigermaßen ſchadlos halten
koͤnnte. —
Durch diß Geſpraͤch mit W..., da er in kur¬
zem ſeine Situation uͤberdachte, war ſein Herz ein¬
mal lebhaften Eindruͤcken geoͤfnet worden — und
nun fuͤgte es ſich gerade, daß eben der V..., mit
dem er einſt nebſt G... den ſterbenden Sokrates
aufgefuͤhrt hatte, ihn zum Gegenſtande ſeines
groben Witzes machte, und durch allerlei Anſpie¬
lungen ihn bei ſeinen Mitſchuͤlern wieder laͤcher¬
lich zu machen ſuchte, die denn auch bald mit
einſtimmten, ſo daß Reiſer faſt eine halbe Stunde
lang das Ziel ihrer witzigen Einfaͤlle war. —
Er ſagte auf alles diß kein Wort, und kraͤnkte
ſich, indem er einſam vor ſich weg ging, inner¬
lich daruͤber; und ob er ſich gleich bemuͤhte, ſeine
Kraͤnkung in Verachtung zu verwandeln, ſo
wollte es ihm doch nicht recht damit gelingen;
bis er ſich endlich unvermerkt in eine bittere
menſchenfeindliche Laune hinein phantaſirte, die
durch nichts, als das Andenken an ſeinen Phi¬
lipp Reiſer wieder gemildert wurde. — Da nun
auch der Vorſatz, ſeine Empfindungen und Ge¬
danken an ihn niederzuſchreiben, herrſchend ge¬
D 5[58] worden war, ſo behielt derſelbe auch dißmal
ſelbſt uͤber ſeinen Verdruß und ſeine Kraͤnkung
zuletzt die Oberhand; er ſuchte ſich das Kraͤn¬
kende, was er empfunden hatte, und noch em¬
pfand, in Worte einzukleiden, um es ſeiner Ein¬
bildungskraft deſto lebhafter vorſtellen zu koͤn¬
nen. — Und ehe das Chorſingen noch geendigt
war, war auch ſchon der Auſſatz, den er zu
Hauſe niederſchreiben wollte, unter allen Ge¬
raͤuſch und Spott und Hohngelaͤchter, das ihn
umgab, voͤllig vollendet — und die Freude dar¬
uͤber erhob ihn gewiſſermaßen uͤber ſich ſelbſt und
ſeinen eigenen Kummer. — Sobald er zu Hauſe
kam, ſchrieb er mit einer ſonderbaren gemiſchten
wehmuͤthigen Empfindung, voll Schmerz uͤber
ſeinen Zuſtand, und voll Freude, daß es ihm ge¬
lungen war, durch die Sprache ein lebhaftes
Bild von ſeinem Zuſtande zu entwerfen, fol¬
gende Worte nieder:
An R...
Wie traurig iſt doch das Daſeyn der Men¬
ſchen — und dieſes nichtige Daſeyn, machen wir
uns noch ſelbſt einander unertraͤglich, ſtatt daß wir
[59] durch vertrauliche Geſelligkeit uns in dieſer Wuͤ¬
ſte des Lebens einander unſre Laſt erleichtern
ſollten. — —
Iſt es nicht genug, daß wir im beſtaͤndigen
Wahn und Irrthum, wie in einem bezauberten
Lande herumirren?
Muͤſſen uns auch noch Ungeheuer an¬
ſchreien? — Muß auch noch ein boshafter
Satyr uns mit ſeinem Hohngelaͤchter die Seele
durchbohren?
Wie oͤde, wie traurig iſt hier alles um mich
her! — Und ich muß verlaſſen und einſam
hier herumirren — keine Stuͤtze, kein
Fuͤhrer! —
Wohl mir! einen Haufen erblick' ich dort;
Menſchen, mir gleich, auch dieſe Wuͤſte durch¬
irrend —
„O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich
„auf, daß ich mit euch dieſe Wuͤſte durchzie¬
„he; und ſie wird mir zur gruͤnenden Aue
„werden!“
Sie nehmen mich auf — wohl mir! — —
Weh mir! — was ſeh ich? — Sind das
noch die Menſchen, meine Bruͤder? —
[60]
Ach, ihre Larve faͤllt ab — und Teufel
ſinds — und zur Hoͤlle wird mir nun die
Wuͤſte —
Ich fliehe, und ihr Hohngelaͤchter heulet
mir nach — —
„So habt ihr mich betrogen, menſchliche
„Larven? — Ha, keine Larve ſoll mich wieder
„betruͤgen! — Nun ſey mir willkommen Nacht,
„und du Einſamkeit, und du, ſchwaͤrzeſte Me¬
„lancholei. — Alle ihr lachenden Scherze, und
„alle ihr tobenden Freuden, Larven des Todes,
„ſeyd auf ewig von mir verbannt!“ —
So ging ich, und dachte, und finſterer Gram
erfuͤllte meine Seele —
Als ploͤtzlich ein Juͤngling vor mir ſtand —
den Freund verkuͤndigte ſein Blick — Empfin¬
dung ſprach ſein ſanftes Auge — ſchleunig wollt'
ich entfliehn — aber er faßte ſo vertraulich
meine Hand — und ich blieb ſtehn — er um¬
armte mich, ich ihn — unſre Seelen floſſen
zuſammen —
Und um uns ward's Elyſium. —
[61]
Reiſer haͤtte wirklich kein wahreres Bild als
dieſes von ſeinem damaligen Zuſtande entwerfen
koͤnnen — in allem, was er ſagte, war nichts
Uebertriebenes — denn die Menſchen, mit denen
er zunaͤchſt durchs Leben ging, wurden wirklich
fuͤr ihn quaͤlende Geiſter — und zu den an¬
ſchreienden Ungeheuern gehoͤrte vorzuͤglich V. . .,
deſſen grober und doch boshafter Witz Reiſern
den Sonntagnachmittag bis tief in die Seele
gekraͤnkt hatte, da dieſer V. . . doch ſonſt im¬
mer von ihm ein Freund hatte ſeyn wollen
— wenigſtens war er, und der Landesverwieſene
G. . . noch die einzigen, die nach der Auffuͤhrung
der Komoͤdie mit Reiſern umgingen, weil ſie mit
ihm ein gleiches Schickſal des Haſſes und der
Verachtung aller ihrer Mitſchuͤler theilten — und
ſelbſt dieſer V. . . ſtellte ſich nun mit auf die
Seite derer, welchen Reiſer ein Gegenſtand des
Spottes war — und veranlaßte dieſen Spott
ſogar durch ſeine groben Witzeleien, womit er
ſich auf Reiſers Koſten luſtig machte. — Diß
alles vereinigte ſich nun, ihn in die menſchen¬
feindliche Laune zu verſetzen, worin er den vor¬
hergehenden Aufſatz entwarf. — Durch das An¬
[62] denken an Philipp Reiſern, und weil doch auch
der Sohn des Kantors, ſein ehemaliger Feind,
anfing ſein Freund zu werden, milderte diß ſchon
ſeine bittere Laune ſo weit, daß er am Schluß
ſeines Aufſatzes einlenkte, und den ſanftern Em¬
pfindungen wieder Gehoͤr gab. —
Auf die Weiſe hatte er nun in ſeinem Tage¬
buche ſchon verſchiedene kleine Auſſaͤtze an ſeinen
Freund entworfen, als der Fruͤhling wieder heran
kam, und zu Oſtern die gewoͤhnliche oͤffentliche
Schulpruͤfung gehalten wurde, wobei er denn
auch erſchien. —
Aber wie ſehr wurde ſein Muth niederge¬
ſchlagen, da er ſich gegen die uͤbrigen betrachtete,
und ſich gerade unter allen am ſchlechteſten ge¬
kleidet ſahe — er ſaß da, wie verlohren; auf
ihn wurde gar keine Ruͤckſicht genommen —
keine einzige Frage an ihn gethan. —
Den Vormittag hielt er es aus — aber als
er den Nachmittag wieder hinging, und ſich aufs
neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie
verlohren ſahe — konnte er es nicht laͤnger aus¬
halten — er ging wieder fort, ehe noch die Pruͤ¬
fung anging. —
[63]
Und nun eilte er gerade zum Thore hinaus —
es war ein truͤber neblichter Himmel — und
ging auf ein kleines Waͤldchen zu, das nicht weit
von H. . . liegt. —
Sobald er aus dem Gewuͤhle der Stadt war,
und die Thuͤrme von H... hinter ſich ſah, be¬
maͤchtigten ſich ſeiner tauſend abwechſelnde Em¬
pfindungen. — Alles ſtellte ſich ihm auf einmal
aus einem andern Geſichtspunkte dar — er
fuͤhlte ſich aus alle den kleinlichen Verhaͤltniſ¬
ſen, die ihn in jener Stadt mit den vier Thuͤr¬
men, einengten, quaͤlten, und druͤckten, auf einmal
in die große offene Natur verſetzt, und athmete
wieder freier — ſein Stolz und Selbſtgefuͤhl
ſtrebte empor — ſein Blick ſchaͤrfte ſich auf das,
was hinter ihm lag, und faßte es in einem klei¬
nen Umfange zuſammen. —
Er ſahe da die Prieſter mit ihren ſchwarzen
Maͤnteln und Kragen die Treppe hinaufſteigen,
und ſeine Mitſchuͤler verſammlet, und Praͤmien
unter ſie austheilen, und dann wie ein jeder
wieder nach Hauſe ging, und ſich alles ſo im
Cirkel drehte — und in dem Umfange der
Stadt, die nun hinter ihm lag, und von der er
[64] ſich immer weiter entfernte, alles das ſich durch¬
kreuzende Gewimmel. — Alles ſchien ihm da ſo
dicht, ſo klein in einander zu laufen, wie
der zuſammengedraͤngte Haufen Haͤuſer, den er
noch in der Ferne ſahe — und nun dachte er ſich
hier auf dem freien Felde die Stille, und daß
ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine haͤmi¬
ſche Mine machte — und dort das lermende Ge¬
wuͤhl, das Raſſeln der Wagen, denen er aus
dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menſchen,
die er ſcheute — das alles mahlte ſich in ſeiner
Einbildungskraft im Kleinen, und erweckte ein
wunderbares Gefuͤhl in ihm, wie am Abend
der Tag ſich von der Daͤmmerung ſcheidet, und
die eine Haͤlfte des Himmels noch vom Abend¬
roth erhellt iſt, indes die andere ſchon im Dun¬
kel ruht. —
Er fuͤhlte ungewoͤhnliche Kraft in ſeiner See¬
le, ſich uͤber alles das hinwegzuſetzen, was ihn
darnieder druͤckte — denn wie klein war der Um¬
fang, der alle das Gewirre umſchloß, in welches
ſeine Beſorgniſſe und Bekuͤmmerniſſe verflochten
waren, und vor ihm lag die große Welt. —
[65]
Aber dann kehrte wieder das wehmuͤthige
Gefuͤhl zuruͤck: wo ſollte er nun in dieſer großen
oͤden Welt feſten Fuß faſſen, da er ſich aus allen
Verhaͤltniſſen herausgedraͤngt ſahe? — Da wo
auf einem kleinen Fleck der Erde die menſch¬
lichen Schickſale zuſammenlaufen, war er nichts,
gar nichts! —
Ihm fiel ein, daß verdraͤngt zu werden von
Kindheit an ſein Schickſal geweſen war — wenn
er bei irgend etwas zuſehen wollte, wobei es
darauf ankam, ſich hinzuzudraͤngen, ſo war jeder
andere dreiſter wie er, und draͤngte ſich ihm vor
— er glaubte, es ſollte etwa einmal eine Luͤcke
entſtehen, wo er, ohne jemanden vor ſich hin¬
wegzudraͤngen, ſich in die Reihe mit einfuͤgen
koͤnnte — aber es entſtand keine ſolche Luͤcke —
und er zog ſich von ſelbſt zuruͤck, und ſahe nun
in der Ferne dem Gedraͤnge zu, indem er einſam
da ſtand. —
Und wenn er nun ſo einſam da ſtand, ſo gab
ihm der Gedanke, daß er dem Gedraͤnge nun ſo
ruhig zuſehen konnte, ohne ſich ſelbſt hinein zu
miſchen, ſchon einigen Erſatz fuͤr die Entbehrung
desjenigen, was er nun nicht zu ſehen bekam —
3r Theil. E[66] allein fuͤhlte er ſich edler und ausgezeichneter,
als unter jenem Gewimmel verlohren. — Sein
Stolz, der ſich emporarbeitete, ſiegte uͤber den
Verdruß, den er zuerſt empfand — daß er an
den Haufen ſich nicht anſchließen konnte, draͤngte
ihm in ſich ſelbſt zuruͤck — und veredelte und er¬
hob ſeine Gedanken und Empfindungen. —
Diß war nun auch der Fall bei dem einſamen
Spatziergange au dem truͤben und regnigten
Nachmittage, wo er den haͤmiſchen Blicken ſeiner
verſammleten Mitſchuͤler, und der gaͤnzlichen
Vernachlaͤſſigung und dem unertraͤglichen Nicht¬
bemerktwerden, das ihm bevorſtand, entfloh,
indem er aus dem Thore von H. . . dem einſamen
Walde zueilte. —
Dieſer einſame Spatziergang entwickelte auf
einmal mehr Empfindungen in ſeiner Seele, und
trug mehr zur eigentlichen Bildung ſeines Geiſtes
bei — als alle Schulſtunden, die er je gehabt
hatte, zuſammengenommen. —
Dieſer einſame Spatziergang war es, welcher
Reiſers Selbſtgefuͤhl erhoͤhte, ſeinen Geſichts¬
kreis erweiterte, und ihm eine anſchauliche Vor¬
ſtellung von ſeinem eignen wahren, iſolirten
[67] Daſeyn gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine
Verhaͤltniſſe mehr geknuͤpft war, ſondern in ſich
und fuͤr ſich ſelbſt beſtand. —
Indem er einen Blick auf das Ganze des
menſchlichen Lebens warf, lernte er zuerſt
das Große im Leben von deſſen Detail
unterſcheiden.
Alles was ihn gekraͤnkt hatte, ſchien ihm
klein, unbedeutend, und nicht der Muͤhe des
Nachdenkens werth. —
Aber nun ſtiegen andre Zweifel, andre Be¬
ſorgniſſe in ſeiner Seele auf — die er ſchon lange
bei ſich genaͤhrt hatte — uͤber den in undurch¬
dringliches Dunkel gehuͤllten, Urſprung und
Zweck, Anfang und Ende ſeines Daſeyns —
uͤber das Woher und Wohin bei ſeiner Pilgrimm¬
ſchaft durchs Leben — die ihm ſo ſchwer ge¬
macht wurde, ohne daß er wußte, war¬
um? — Und was nun endlich aus dem allen
kommen ſollte. —
Diß erregte in ihm eine tiefe Melancholie. So
wie er muͤhſam uͤber die duͤrre Heide vor dem
Walde im gelben Sande forwanderte, umzog
ſich der Himmel immer truͤber, indes ein feines
E 2[68] Staubregen ſeine Kleider durchnetzte — als er
in den Wald kam, ſchnitt er ſich einen Dorn¬
ſtock, und wanderte weiter fort — da kam er an
ein Dorf, und machte ſich eben allerlei ſuͤße Vor¬
ſtellungen von den ſtillen Frieden, der in dieſen
laͤndlichen Huͤtten herrſchte, als er ſich in einem
der Haͤuſer ein paar Leute, die wahrſcheinlich
Mann und Frau waren, zanken, und ein Kind
ſchreien hoͤrte. —
Alſo iſt uͤberall Unmuth und Mißvergnuͤgen
und Unzufriedenheit, wo Menſchen ſind, dachte
er, und ſetzte ſeinen Stab weiter fort — Die
einſamſte Wuͤſte wurde ihm wuͤnſchenswerth —
und da ihn endlich auch in dieſer die toͤdtliche
Langeweile quaͤlte, ſo blieb das Grab ſein letzter
Wunſch — und weil er nun nicht einſah, warum
er ſich die Jahre ſeines Lebens hindurch, in der
Welt von allen Seiten hatte muͤſſen druͤcken,
ſtoßen, und wegdraͤngen laſſen, ſo zweifelte er
endlich an einer vernuͤnftigen Urſach ſeines Da¬
ſeyns — ſein Daſeyn ſchien ihm ein Werk des
ſchrecklichen blinden Ohngefaͤhrs. —
Es wurde fruͤher wie gewoͤhnlich Abend,
weil der Himmel truͤbe war, und es ſtaͤrker an
[69] fing zu regnen — und da er zu Hauſe wieder an¬
langte, war es ſchon voͤllig dunkel — er ſetzte
ſich bei ſeiner Lampe nieder, und ſchrieb an Phi¬
lipp Reiſern:
„Vom Regen durchnetzt und von Kaͤlte er¬
„ſtarrt kehr' ich nun zu dir zuruͤck, und wo
„nicht zu dir — zum Tode — denn ſeit dieſem
„Nachmittage iſt mir die Laſt des Lebens, wovon
„ich keinen Zweck ſehe, unertraͤglich. — Deine
„Freundſchaft iſt die Stuͤtze, an der ich mich
„noch feſthalte, wenn ich nicht unaufhaltſam
„in dem uͤberwiegenden Wunſche der Vernich¬
„tung meines Weſens verſinken will.“ —
Und nun erwachte auf einmal wieder der
Gedanke, ſich den Beifall ſeines Freundes
durch den Ausdruck ſeiner Empfindungen
zu erwerben. — Diß war gleichſam die neue
Stuͤtze, woran ſich ſeine Lebensluſt wieder feſt¬
hielt — und da den Nachmittag alle ſeine Em¬
pfindungen ſo aͤußerſt ſtark und lebhaft geweſen
waren, ſo wurde es ihm nicht ſchwer, ſie wie¬
der zuruͤckzurufen — Er hub alſo an:
[70]
Dieſer Anfang bezog ſich zum Theil auf Phi¬
lipp Reiſers verliebte Launen, womit ihn dieſer
oft quaͤlte, indem er ihm alle die allmaͤligen
Fortſchritte erzaͤhlte, die er in der Gunſt ſeines
Maͤdchens gethan hatte, — und ſeine Hoffnun¬
gen und Auſſichten, die ſich alle auf die Errei¬
chung der Gegengunſt ſeines Maͤdchens be¬
ſchraͤnkten. — Wofuͤr nun Anton Reiſer gar kei¬
nen Sinn hatte, dem es nie eingefallen war,
ſich die Liebe eines Maͤdchens zu erwerben, weil
er es fuͤr ganz unmoͤglich hielt, daß ihm bei ſeiner
ſchlechten Kleidung, und bei der allgemeinen
Verachtung, der er ausgeſetzt war, je ein ſolcher
Verſuch gelingen wuͤrde. —
Denn ſo wie er die Verachtung, welche auf
ſeinen Geiſt fiel, gleichſam mit zu ſich ſelber rech¬
nete, ſo rechnete er auch die ſchlechte Kleidung
[71] mit zu ſeinem Koͤrper, der ihm denn eben ſo we¬
nig liebenswuͤrdig, als ſein Verſtand achtungs¬
wuͤrdig vorkam. — Kurz, es war ihm der unge¬
reimteſte Gedanke von der Welt, daß er je von
einem Frauenzimmer geliebt werden ſollte. —
Denn von den Helden, die in den Romanen und
Komoͤdien, die er geleſen hatte, von Frauenzim¬
mern geliebt wurden, machte er ſich ein ſo hohes
Ideal, das er nie zu erreichen im Stande zu
ſeyn glaubte. — Die eigentlichen Liebesgeſchich¬
ten waren ihm daher auch hoͤchſtlangweilig, und
am langweiligſten die Erzaͤhlungen von den Lie¬
besabentheuern, womit ihn ſein Freund Phi¬
lipp Reiſer unterhielt, und die er manche Stunde
bloß aus Gefaͤlligkeit fuͤr ihn anhoͤrte. —
Uebrigens fielen dieſe Erzaͤhlungen ſeines
Freundes immer ſehr ins Romanhafte. — Die
ganze Prozedur vom erſten freundſchaftlichen
Haͤndedruck bis zur eigentlichen wechſelſeitigen
Liebeserklaͤrung, mit allen Zweifeln, Beſorgniſ¬
ſen, und allmaͤligen Fortſchritten, die dazwiſchen
liegen, ging ihren vorgeſchriebenen Gang, wie
in den Romanen — und was nun Anton Reiſer
in den Romanen gaͤnzlich uͤbergeſchlagen, oder
E 4[72] doch nur fluͤchtig durchgeleſen hatte, das mußte
er ſich jetzt von ſeinem Freunde der Laͤnge nach
erzaͤhlen laſſen. —
Der Gedanke, daß ihn z. B. nicht hoff¬
nungsloſe Liebe, ſondern ganz andre Dinge kraͤnk¬
ten, war alſo der natuͤrlichſte Eingang zu dem
Gedicht an Philipp Reiſern.
Seine Zweifel und Beſorgniſſe wegen ſeines
aͤngſtlichen zweckloſen Daſeyns waren es, die ihn
niederdruͤckten, und er fuhr fort:
[73] Nun kam das Gefolge: die Sorgen, der Gram:
Nun ſank die Melodie der auf einander folgen¬
den Empfindungen wieder in ſanftes Mitleid
mit ſich ſelber zuruͤck.
Hievon erhob ſich der Gang der Ideen zu allge¬
meinen Betrachtungen uͤber das Leben, die ſich
aber zuletzt wieder in eben den ſchrecklichen
Zweifeln endigten, von welchen die Melodie
ausgegangen war:
Diß Gedicht floß gleichſam aus ſeiner Seele
— Selbſt der Reim und das Versmaß machte
ihm nur wenige Schwierigkeit, und er ſchrieb es
in weniger als einer Stunde nieder. — Nachher
fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um
Gedichte zu machen, und diß gelang ihm nie ſo
gut. —
Aber der Fruͤhling und Sommer des Jahres
1775 verfloß ihm nun ganz poetiſch. — Die an¬
genehmen Shakeſpearnaͤchte, welche er im Win¬
ter mit Philipp Reiſern zugebracht hatte, wur¬
den nun durch noch angenehmere Morgenſpa¬
tziergaͤnge verdraͤngt. —
Nicht weit von H. . ., wo der Fluß einen
kuͤnſtlichen Waſſerfall bildet, iſt ein kleines Ge¬
hoͤlz, welches man nicht leicht irgendwo ange¬
nehmer und einladender finden kann. —
[75]
Hierher wurden Wallfahrten noch vor Son¬
nenaufgang angeſtellt — die beiden Wanderer
nahmen ſich ihr Fruͤhſtuͤck mit, und wenn ſie
nun im Walde angelangt waren, ſo beraubten
ſie eine Menge Baumſtaͤmme ihres Mooſes,
und bereiteten ſich einen weichen Sitz, worauf
ſie ſich lagerten, und wenn ſie ihr Fruͤhſtuͤck ver¬
zehrt hatten, ſich einander wechſelsweiſe vorla¬
ſen. — Hierzu wurden beſonders Kleiſts Ge¬
dichte ausgewaͤhlt, die ſie bei dieſer Gelegenheit
beinahe auswendig lernten.
Wenn ſie dann am andern Tage wieder hin¬
kamen, ſo ſuchten ſie im ganzen Waͤldchen erſt
ihren geſtrigen Platz wieder, und fanden ſich
nun hier wie zu Hauſe in der großen freien Na¬
tur, welches ihnen eine ganz beſondere herzerhe¬
bende Empfindung war. — Alles in dieſem
großen Umkreiſe um ſie her, gehoͤrte ihren Au¬
gen, ihren Ohren, und ihrem Gefuͤhl — das
junge Gruͤne der Baͤume, der Geſang der Voͤgel
und der kuͤhle Morgenduft.
Wenn ſie dann wieder heimkehrten, ſo ging
Philipp Reiſer in ſeine Werkſtatt, und machte
Klaviere, indes Anton Reiſer die Schule beſuchte,
[76] wo nun groͤßtentheils ſchon eine ganz andere Ge¬
neration ſeiner Mitſchuͤler war, ſo daß er auch
hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. —
In manchen Stunden ſuchte dann Anton
Reiſer auch ſeine geliebte Einſamkeit wieder, ob
er nun gleich einen Freund hatte — und wenn
irgend ein ſchoͤner Nachmittag war, ſo hatte er
ſich auf einer Wieſe vor H. . . laͤngſt dem Fluſſe
ein Plaͤtzchen ausgeſucht, wo ein kleiner klarer
Bach uͤber Kieſel rollte, der ſich zuletzt in den
vorbeigehenden Fluß ergoß. — Diß Plaͤtzchen
war ihm nun, weil er es immer wieder beſuchte,
auch gleichſam eine Heimath in der großen ihn
umgebenden Natur geworden; und er fuͤhlte ſich
auch wie zu Hauſe, wenn er hier ſaß, und war
doch durch keine Waͤnde und Mauern einge¬
ſchraͤnkt, ſondern hatte den freien ungehemmten
Genuß von allem, was ihn umgab. — Diß
Plaͤtzchen beſuchte er nie, ohne ſeinen Horaz
oder Virgil in der Taſche zu haben. — Hier laß
er Blanduſiens Quell, und wie die eilende Fluth
Obliquo laborat trepidare rivo,
Von hier ſaͤhe er die Sonne untergehen, und be¬
trachtete die ſich verlaͤngernden Schatten der
[77] Baͤume. — An dieſem Bache vertraͤumte er man¬
che gluͤckliche Stunde ſeines Lebens — Und hier
beſuchte ihn auch zuweilen die Muſe, oder viel¬
mehr, er ſuchte ſie — Denn er bemuͤhte ſich jetzt,
ein großes Gedicht zu Stande zu bringen, und
weil er dißmal bloß dichten wollte, um zu dich¬
ten, ſo gelang es ihm nicht, wie vorher; der
Wunſch, ein Gedicht zu machen, war dißmal
eher bei ihm da, als der Gegenſtand, den er be¬
ſingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gu¬
tes zu folgen pflegt. —
Die Gedanken waren dißmal geſucht, oder
gemein — man ſahe, was er ſchrieb, hatte ſollen
ein Gedicht werden — Indes ſchimmerte auch
durch dieſe ſchlechten Verſe allenthalben ſeine
ſchwermuͤthige Laune durch — jedes lachende
und angenehme Bild war gleichſam mit einem
Flor uͤberzogen — Die Blaͤtter faͤrbten ſich nur
mit jungem Gruͤn, um wieder zu verwelken
— Der Himmel war nur heiter, um ſich wie¬
der zu truͤben. —
Philipp Reiſer ertheilte dieſem Gedichte ſeinen
Beifall nicht; und doch hatte Anton Reiſer, bei
jedem Reime, den er muͤhſam herſetzte, darauf
[78] gerechnet. — Aber ſein Freund war ein ſtrenger
und unpartheiiſcher Richter, der nicht leicht einen
matten Gedanken, einen geſuchten Reim, oder
ein Flickwort ungeahndet ließ. — Beſonders
machte er ſich uͤber eine Stelle in Anton Reiſers
Gedicht luſtig, die hieß:
Leben ab,
Grab —
Philipp Reiſer konnte nicht aufhoͤren, uͤber
dieſe Stelle, die er in einem komiſchen Tone de¬
klamirte, ſeinen Witz ſpielen zu laſſen. — Er
nannte ſeinen Freund ſeinen lieben Hans
Sachs — und machte ihm mehr dergleichen
Lobſpruͤche, die eben nicht allzuaufmunternd wa¬
ren. — Indes ließ er ihn doch nicht ganz ſinken
— ſondern hob einige ertraͤgliche Stellen aus
dem Gedicht heraus, denen er denn ſeinen Bey¬
fall nicht ganz verſagte. —
Durch eine ſolche wechſelſeitige Mittheilung
und fruchtbare Kritik, wurde nun das Band
zwiſchen dieſen beiden Freunden immer feſter ge¬
[79] knuͤpft, und Anton Reiſers Streben, er mochte
Verſe oder Proſa niederſchreiben, ging unab¬
laͤſſig dahin, ſich den Beifall ſeines Freundes zu
erwerben. —
Damals ereignete ſich nun ein Vorfall, der
Anton Reiſers Herzen eben nicht viel Ehre zu ma¬
chen ſcheint, ob er gleichwohl in der Natur der
menſchlichen Seele gegruͤndet iſt. —
Der Sohn des Paſtor M. . ., welcher waͤh¬
rend der Zeit die Univerſitaͤt bezogen hatte, und
von dort ſchwindſuͤchtig wieder zuruͤckgekommen
war, wurde, nachdem man alle moͤglichen Mittel
vergeblich angewandt, von den Aerzten aufgege¬
ben, die in dieſem Fruͤhjahr ſeinen Tod als gewiß
prophezeyten; und Reiſers erſte Gedanken, da er
diß hoͤrte, waren, wie er auf dieſen Vorfall ein
Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und
Beifall und auch vielleicht die Gunſt des Paſtor
M. . . wieder zuwege braͤchte. Kurz, er hatte
das Gedicht ſchon acht Tage vorher ange¬
fangen, ehe der junge M. . . ſtarb. —
Statt nun, daß er diß Gedicht haͤtte machen
ſollen, weil er uͤber dieſen Vorfall betruͤbt war,
[80] ſuchte er ſich vielmehr ſelbſt in eine Art von Be¬
truͤbniß zu verſetzen, um auf dieſen Vorfall ein
Gedicht machen zu koͤnnen. — Die Dichtkunſt
machte ihn alſo dißmal wirklich zum Heuch¬
ler. —
Allein der junge M. . . hatte ſich auch die
letzte Zeit um Reiſern eben nicht viel bekuͤmmert,
und ſich ſeiner gegen die Spoͤttereien und Belei¬
digungen ſeiner Mitſchuͤler nicht angenommen —
ſondern, ſo wie es zuweilen kam, wohl ſelbſt mit
eingeſtimmt. — Daß Reiſern alſo ſein Gedicht
auf den jungen M. . . mehr am Herzen lag, als
der junge M. . . ſelbſt, war wohl ſehr natuͤrlich,
obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er
Empfindungen log, die er nicht hatte — er war
auch dabei nicht ganz einig mit ſich ſelber, ſon¬
dern ſein Gewiſſen machte ihm haͤufige Vorwuͤr¬
fe, die er denn dadurch uͤbertaͤnbte, daß er ſich
ſelbſt zu uͤberreden ſuchte, er empfinde wirklich
eine ſolche Wehmuth uͤber den fruͤhen Tod des
jungen M. . ., der in der Bluͤthe ſeiner Jahre
allen Hoffnungen und Auſſichten auf die Zukunft
dieſes Lebens entriſſen ward. —
[81]
Weil nun diß Gedicht im Grunde Heuchelei
war, ſo gelang es ihm auch wiederum nicht, und
erhielt auch den Beifall ſeines Freundes nicht,
der faſt an jeder Zeile etwas zu tadeln fand —
auch der Paſtor M. . ., dem er das Gedicht uͤber¬
reichen ließ, nahm keine beſondere Ruͤckſicht dar¬
auf, und er erreichte alſo ſeinen Zweck dadurch
gar nicht. —
Aber es ereignete ſich bald darauf ein Vorfall,
der ihm Veranlaſſung gab, ſich auf eine weniger
affektirte Art in poetiſche Begeiſterung zu verſetzen.
Es fuͤgte ſich nehmlich im Anfang des Sommers,
daß ein junger Menſch von neunzehn Jahren,
der anſehnliches Vermoͤgen beſaß, und ein ſehr
guter Freund von Philipp Reiſern war, beim
Baden im Fluſſe ertrank. —
Philipp Reiſer trug bei dieſer Gelegenheit
ſeinem Freunde auf, daß er auf dieſen Vorfall
ein Gedicht, ſo gut es nur in ſeinen Kraͤften
ſtuͤnde, verfertigen ſollte — er wollte es drucken
laſſen, und wenn es auch nicht gedruckt wuͤrde,
ſo wuͤrde es doch immer, wenn es gut geriethe,
als ein Produkt des Geiſtes ſchaͤtzbar ſeyn.
Theil[82]
Dieſer Auftrag von ſeinem Freunde machten
Anton Reiſers ganzen Ehrgeitz rege; er ſuchte
ſich den Vorfall ſo lebhaft, wie moͤglich,
vors Auge zu bringen, und nachdem er andert¬
halb Tagelang Ausdruck gegen Ausdruck abge¬
wogen, und ſeine Seelenkraͤfte angeſtrengt
hatte, um ſich den Beifall ſeines Freundes zu
verdienen, waren ihm am Ende folgende Stro¬
phen gelungen:
Das letztere bezog ſich auf den Umſtand, daß
ein junges ſchoͤnes Frauenzimmer, die eine nahe
[85] Anverwandtin von dem Ertunkenen war, und
mit deren Bruder ſich dieſer eben gebadet hatte,
auf die erhaltene Nachricht von dem ungluͤckli¬
chen Vorfall, ſogleich aus der Stadt herbeieilte,
und bei der Menge Menſchen, die am Fluſſe
ſtanden, ihre Thraͤnen nicht verbarg, welches
Anton Reiſer mit Ruͤhrung bemerkte, ſo daß er
den Todten faſt beneidet haͤtte, um den ſolche
Thraͤnen floſſen. —
Reiſer war nehmlich auch in der Abſicht ſich
zu baden an den Fluß gegangen, und eben da er
hinkam war der junge Menſch ertrunken, deſſen
Gefaͤhrte ſich noch nicht einmal wieder ange¬
kleidet hatte; er ſahe darauf die gleichguͤltigen
und bei der Sache unintereßirten Zuſchauer ſich
allmaͤlig verſammlen, ſahe den Koͤrper des jun¬
gen Menſchen, den er ſelbſt durch Philipp Rei¬
ſern ſehr gut gekannt hatte, herausziehen, und
alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen,
vergeblich anwenden, — diß alles machte einen ſo
lebhaften Eindruck auf ihn, daß das Gedicht, welches
er auf dieſenVorfall verfertigte, eine gewiſſe Wahr¬
heit im Ausdruck erhielt, und ſich dadurch von
F 3[86] dem Gedicht auf den Tod des jungen M... ſehr
merklich unterſchied.
Diß Gedicht fand nun, einige Haͤrten
ausgenommen, Philipp Reiſers Beifall wie¬
der, welches fuͤr Anton Reiſern ſo aufmun¬
ternd war, daß er nun auch ohne Veran¬
laſſung, durch eigne Aufſaͤtze in Proſa und in
Verſen, ſich ſeines Freundes Beifall zu erwerben
ſuchte. —
Allein die Aufſaͤtze und Gedichte ohne eigent¬
liche Veranlaſſung, wollten ihm nie recht gelin¬
gen — er quaͤlte ſich vierzehn Tage lang mit ei¬
nem Gegenſtande, den er ſich zu beſingen vor¬
genommen hatte; diß war eine Gegeneinander¬
ſtellung des Weltmanns, deſſen Hoffnung ſich
mit dieſem Leben endigt, und des Chriſten, der
eine frohe Ausſicht auf die Zukunft jenſeits des
Grabes hat. — Dieſe Idee war ein Ueberbleib¬
ſel ſeiner Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken,
und da ihm der Gegenſtand, woruͤber er Verſe
machen wollte, gleichguͤltig war, indem er keine
beſondre Veranlaſſung zum Dichten, als ſeine
Neigung und das Streben nach dem Beifall ſei¬
nes Freundes hatte, ſo draͤngte ſich ihm das Re¬
[87] ſultat ſeiner Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken
am erſten auf, dem er noch eine ziemlich ver¬
nuͤnftige Wendung gab, indem er ſeinen Chriſten
alle erlaubten Freuden des Weltmanns genießen
ließ, und ihm dennoch den Vortheil einer fro¬
hen Ausſicht in die Ewigkeit dazu gab, ſo daß er
gegen den Weltmann auf allen Seiten gewinnen
mußte. — Aus dieſer zwar richtigen aber zu ge¬
ſuchten und gekuͤnſtelten Idee entſtand denn
folgendes zweite Gedicht, das wiederum Reiſers
Beifall nicht erhielt, und womit er auch ſelbſt,
ohngeachtet der Muͤhe, die es ihm gekoſtet hatte,
nie zufrieden war:
Der Weltmann und der Chriſt.
Dieſer Sommer war alſo fuͤr Anton Reiſer ein
recht poetiſcher Sommer. — Seine Lektuͤre mit
dem Eindruck, den die ſchoͤne Natur damals auf
ihn machte, zuſammengenommen, that eine
wunderbare Wirkung auf ſeine Seele; alles er¬
ſchien ihm in einem romantiſchen bezaubernden
Lichte, wohin ſein Fuß trat. —
Aber ohngeachtet ſeines genauen Umganges
mit Reiſern liebte er dennoch vorzuͤglich die ein¬
[89] ſamen Spatziergaͤnge. — Nun war vor dem
neuen Thore in H. . ., der Gang auf der Wieſe,
laͤngſt dem Fluſſe, nach dem Waſſerfall zu, be¬
ſonders einladend fuͤr ſeine romantiſchen Ideen.
Die feierliche Stille, welche in der Mittags¬
ſtunde auf dieſer Wieſe herrſchte; die einzelnen
hie und da zerſteuten hohen Eichbaͤume, welche
mitten im Sonnenſchein, ſo wie ſie einſam
ſtanden, ihren Schatten auf das Gruͤne der Wieſe
hinwarfen. — Ein kleines Gebuͤſch, in welchem
man verſteckt das Rauſchen des Waſſerfalls in
der Naͤhe hoͤrte — am jenſeitigen Ufer des Fluſ¬
ſes, der angenehme Wald, in welchem er mit
Reiſern des Morgens in der Fruͤhe ſpatziren ge¬
gangen war — in der Ferne weidende Heerden;
und die Stadt mit ihren vier Thuͤrmen, und dem
umgebenden mit Baͤumen bepflanzten Walle,
wie ein Bild in [einem] optiſchen Kaſten. — Diß
zuſammengenommen verſetzte ihn allemal in je¬
ne wunderbare Empfindung, die man hat, ſo oft
es einem lebhaft wird, daß man in dieſem Au¬
genblick nun gerade an dieſem Orte, und an kei¬
nem andern iſt; daß diß nun unſere wirkliche
F 5[90] Welt iſt, an die wir ſo oft als an eine bloß idea¬
liſche Sache denken. —
Es faͤllt einem ein, daß man ſich bei der Lek¬
tuͤre von Romanen immer wunderbarere Vor¬
ſtellungen von den Gegenden und Oertern ge¬
macht hat, je weiter man ſie ſich entfernt dachte.
Und nun denkt man ſich, mit allen großen und
kleinen Gegenſtaͤnden, die einen jetzt umgeben,
z. B. in Vorſtellung eines Einwohners von
Pecking — dem diß alles nun eben ſo fremd, ſo
wunderbar daͤuchten muͤßte — und die uns umge¬
bende wirkliche Welt bekommt durch dieſe Idee
einen ungewohnten Schimmer, der ſie uns eben
ſo fremd und wunderbar darſtellt, als ob wir in
dem Augenblick tauſend Meilen gereiſt waͤren,
um dieſen Anblick zu haben. — Das Gefuͤhl der
Ausdehnung und Einſchraͤnkung unſers We¬
ſens draͤngt ſich in einen Moment zuſammen,
und aus der vermiſchten Empfindung, welche
dadurch erzeugt wird, entſteht eben die ſonder¬
bare Art von Wehmuth, die ſich unſerer in ſol¬
chen Augenblicken bemaͤchtigt. —
Reiſer fing ſchon damals an, uͤber dergleichen
Erſcheinungen bei ſich ſelber nachzudenken, und
[91] zu unterſuchen, wie die Gegenſtaͤnde ſolche Ein¬
druͤcke auf ihn machen koͤnnten — allein die
Eindruͤcke ſelbſt waren noch zu lebhaft, als daß
er kaltbluͤtige Reflexionen daruͤber haͤtte anſtellen
koͤnnen — auch war ſeine Denkkraft noch nicht
geuͤbt und nicht ſtark genug, ſich die aufſteigen¬
den Bilder der Phantaſie gehoͤrig unterzuordnen
— dazu kam eine gewiſſe Traͤgheit und Hinſin¬
ken in der Behaglichkeit des Genuſſes, wodurch
ebenfalls ſeine Reflexionen wieder gehemmt
wurden. —
Demohngeachtet aber hatte er ſchon ſeit dem
vorigen Sommer im Sinn gehabt, einen Auf¬
ſatz uͤber die Liebe zum Romanhaften zu ſchreiben,
und dieſen in das H. . .ſche Magazin einruͤcken zu
laſſen — er ſammlete hiezu beſtaͤndig Ideen, und
hatte genug Gelegenheit, ſie zu ſammlen, weil
ſeine eigene Erfahrung ſie ihm taͤglich an die
Hand gab. — Allein mit dem ganzen Aufſatze
kam er doch nicht zu Stande.
Auch konnte er damals nicht begreiffen, war¬
um die einzelnen auf der Wieſe hin und her zer¬
ſtreuten hohen Baͤume mit ihrem Schatten in
der Mittagsſonne einen ſo wunderbaren Eindruck
[92] auf ihn machten — er fiel nicht darauf, daß eben
der einſame Stand derſelben in großen und
unregelmaͤßigen Zwiſchenraͤumen, der Ge¬
gend das majeſtaͤtiſche feierliche Anſehn gab, wo¬
durch ſein Herz immer ſo geruͤhrt wurde. —
Dieſe einſamen Baͤume machten ihm ſeine eigne
Einſamkeit, indem er unter ihnen umherwandelte,
gleichſam heilig und ehrwuͤrdig — ſo oft er unter
dieſen Baͤumen ging, lenkten ſich ſeine Gedanken
auf erhabene Gegenſtaͤnde, ſeine Schritte wur¬
den langſamer, ſein Haupt geſenkt, und ſein
ganzes Weſen ernſter und feierlicher — dann
verlohr er ſich in dem naheliegenden niedri¬
gen Gebuͤſch, und ſetzte ſich in den Schatten ei¬
nes Geſtraͤuchs, wo er denn beim Geraͤuſch des
nahen Waſſerfalls ſich entweder in angenehmen
Phantaſien wiegte, oder laß. —
Es ging auf die Weiſe faſt kein Tag hin, wo
ſeine Phantaſie nicht mit neuen Bildern aus der
wirklichen ſowohl als aus der idealiſchen Welt
genaͤhrt worden waͤre. —
Zu dieſem allen kam nun noch, daß gerade in
dieſem Jahre die Leiden des jungen Wer¬
thers erſchienen waren, welche nun zum Theil
[93] in alle ſeine damaligen Ideen und Empfin¬
dungen von Einſamkeit, Naturgenuß, pa¬
triarchaliſcher Lebensart, daß das Leben
ein Traum ſey, u. ſ. w. eingriffen.—
Er bekam ſie im Anfange des Sommers
durch Philipp Reiſern in die Haͤnde, und von
der Zeit an, blieben ſie ſeine beſtaͤndige Lektuͤre,
und kamen nicht aus ſeiner Taſche. — Alle die
Empfindungen, die er an dem truͤben Nachmit¬
tage auf ſeinem einſamen Spatziergange gehabt
hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reiſern
veranlaßten, wurden dadurch wieder lebhaft in
ſeiner Seele. — Er fand hier ſeine Idee vom
Nahen und Fernen wieder, die er in ſeinen
Aufſatz uͤber die Liebe zum Romanhaften bringen
wollte — ſeine Betrachtungen uͤber Leben und
Daſeyn fand er hier fortgeſetzt — „Wer kann
ſagen, das iſt, da alles mit Wetterſchnelle
vorbeiflieht?“— Das war eben der Gedanke,
der ihm ſchon ſo lange ſeine eigne Exiſtenz wie
Taͤuſchung, Traum, und Blendwerk vorge¬
mahlt hatte. —
Was aber nun die eigentlichen Leiden Wer¬
thers anbetraf, ſo hatte er dafuͤr keinen rechten
[94] Sinn. — Die Theilnehmung an den Leiden der
Liebe koſtete ihm einigen Zwang — er mußte
ſich mit Gewalt in dieſe Situation zu verſetzen
ſuchen, wenn ſie ihn ruͤhren ſollte, — denn
ein Menſch der liebte und geliebt ward, ſchien
ihm ein fremdes ganz von ihm verſchiedenes We¬
ſen zu ſeyn, weil es ihm unmoͤglich fiel, ſich ſelbſt
jemals, als einen Gegenſtand der Liebe von einem
Frauenzimmer zu denken. — Wenn Werther
von ſeiner Liebe ſprach, ſo war ihm nicht viel
anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiſer von
den allmaͤligen Fortſchritten, die er in der Gunſt
ſeines Maͤdchens gethan hatte, oft Stundenlang
unterhielt. —
Aber die allgemeinen Betrachtungen uͤber Le¬
ben und Daſeyn, uͤber das Gaukelſpiel menſch¬
licher Beſtrebungen, uͤber das zweckloſe Gewuͤhl
auf Erden; die dem Papier lebendig eingehauchten
aͤchten Schilderungen einzelner Naturſzenen, und
die Gedanken uͤber Menſchenſchickſal und Men¬
ſchenbeſtimmung waren es, welche vorzuͤglich
Reiſers Herz anzogen. —
Die Stelle, wo Werther das Leben mit ei¬
nem Marionettenſpiel vergleicht, wo die Puppen
[95] am Drath gezogen werden, und er ſelbſt auf die
Art mit ſpielt oder vielmehr mit geſpielt wird,
ſeinen Nachbar bei der hoͤlzernen Hand ergreift,
und zuruͤckſchaudert — erweckte bei Reiſern die
Erinnerung an ein aͤhnliches Gefuͤhl, das er oft
gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab.
Durch die taͤgliche Gewohnheit vergißt man am
Ende, daß man einen Koͤrper hat, der eben ſo
wohl allen Geſetzen der Zerſtoͤrung in der Koͤr¬
perwelt unterworfen iſt, als ein Stuͤck Holz;
das wir zerſaͤgen oder zerſchneiden, und daß er
ſich nach eben den Geſetzen, wie jede andere von
Menſchen zuſammengeſetzte koͤrperliche Maſchine
bewegt. — Dieſe Zerſtoͤrbarkeit und Koͤrperlich¬
keit unſers Koͤrpers wird uns nur bei gewiſſen
Anlaͤſſen lebhaft — und macht daß wir vor uns
ſelbſt erſchrecken, indem wir ploͤtzlich fuͤhlen, daß
wir etwas zu ſeyn glaubten, was wir wirklich
nicht ſind, und ſtatt deſſen etwas ſind, was wir
zu ſeyn uns fuͤrchten. — Indem man nun einem
andern die Hand gibt, und bloß den Koͤrper
ſieht und beruͤhrt, indem man von deſſen Gedan¬
ken keine Vorſtellung hat, ſo wird dadurch die
Idee der Koͤrperlichkeit lebhafter, als ſie es bei
[96] der Betrachtung unſeres eignen Koͤrpers wird,
den wir nicht ſo von den Gedanken, womit wir
ihn uns vorſtellen, trennen koͤnnen, und ihn
alſo uͤber dieſe Gedanken vergeſſen.
Nichts aber fuͤhlte Reiſer lebhafter, als wenn
Werther erzaͤhlt, daß ſein kaltes freudenloſes
Daſeyn neben Lotten in graͤßlicher Kaͤlte
ihn anpackte. — Diß war gerade, was Reiſer
empfand, da er einmal auf der Straße ſich ſelbſt
zu entfliehen wuͤnſchte, und nicht konnte, und
auf einmal die ganze Laſt ſeines Daſeyns fuͤhlte,
mit der man einen und alle Tage aufſtehen und
ſich niederlegen muß. — Der Gedanke wurde
ihm damals ebenfalls unertraͤglich, und fuͤhrte
ihn mit ſchnellen Schritten an den Fluß, wo er
die unertraͤgliche Buͤrde dieſes elenden Daſeyns
abwerfen wollte — und wo ſeine Uhr auch
noch nicht ausgelaufen war. —
Kurz, Reiſer glaubte ſich mit allen ſeinen
Gedanken und Empfindungen, bis auf den
Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden.
— „Laß das Buͤchlein deinen Freund ſeyn, wenn
du aus Geſchick oder eigner Schuld keinen naͤ¬
hern finden kannſt.“ — An dieſen Worten
dachte[97] dachte er, ſo oft er das Buch aus der Taſche zog
— — er glaubte ſie auf ſich vorzuͤglich paſſend. —
Denn bei ihm war es, wie er glaubte, theils
Geſchick, theils eigne Schuld, daß er ſo verlaſſen
in der Welt war; und ſo wie mit dieſem Buche
konnte er ſich doch auch ſelbſt mit ſeinem Freun¬
de nicht unterhalten. —
Faſt alle Tage ging er nun bei heiterm Wet¬
ter mit ſeinem Werther in der Taſche den Spa¬
tziergang auf der Wieſe laͤngſt dem Fluſſe, wo
die einzelnen Baͤume ſtanden, nach dem kleinen
Gebuͤſch hin, wo er ſich wie zu Hauſe fand,
und ſich unter ein gruͤnes Geſtraͤuch ſetzte, das
uͤber ihm eine Art von Laube bildete — weil er
nun denſelben Platz immer wieder beſuchte, ſo
wurde er ihm faſt ſo lieb, wie das Plaͤtzchen am
Bache — und er lebte auf die Weiſe bei heiterm
Wetter mehr in der offenen Natur, als zu Hauſe,
indem er zuweilen faſt den ganzen Tag ſo zu¬
brachte, daß er unter dem gruͤnen Geſtraͤuch den
Werther, und nachher am Bache den Virgil
oder Horaz laß. —
Allein die zu oft wiederholte Lektuͤre des Wer¬
thers brachte ſeinen Ausdruck ſowohl als ſeine
3r Theil. G[98] Denkkraft, um vieles zuruͤck, indem ihm die
Wendungen und ſelbſt die Gedanken in dieſem
Schriftſteller durch die oͤftere Wiederhohlung ſo
gelaͤufig wurden, daß er ſie oft fuͤr ſeine eigenen
hielt, und noch verſchiedene Jahre nachher bei
den Aufſaͤtzen, die er entwarf, mit Reminiſcen¬
zien aus dem Werther zu kaͤmpfen hatte, welches
der Fall bei mehrern jungen Schriftſtellern ge¬
weſen iſt, die ſich ſeit der Zelt gebildet haben. —
Indes fuͤhlte er ſich durch die Lektuͤre des Wer¬
thers, eben ſo wie durch den Shakeſpear, ſo oft
er ihn laß, uͤber alle ſeine Verhaͤltniſſe erhaben;
das verſtaͤrkte Gefuͤhl ſeines iſolirten Daſeyns,
indem er ſich als ein Weſen dachte, worin Him¬
mel und Erde ſich wie in einem Spiegel dar¬
ſtellt, ließ ihn, ſtolz auf ſeine Menſchheit, nicht
mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Weſen
ſeyn, das er ſich in den Augen andrer Menſchen
ſchien. — Was Wunder alſo, daß ſeine ganze
Seele nach einer Lektuͤre hing, die ihm, ſo oft er
ſie koſtete, ſich ſelber wiedergab! —
Nun fiel auch in dieſen Zeitpunkt gerade die
neue Dichterepoche, wo Buͤrger, Hoͤlty, Voß, die
Stollberge u. ſ. w. auftraten, und ihre Gedichte
[99] zuerſt in den Muſenalmanachen drucken ließen,
die damals ihren Anfang genommen hatten. —
Der dißjaͤhrige Muſenalmanach enthielt vorzuͤg¬
lich vortreffliche Gedichte von Buͤrger, Hoͤlty,
Voß u. ſ. w.
Die beiden Balladen Leonore von Buͤrger,
und Adelſtan von Hoͤlty, lernte Reiſer ſo¬
gleich auswendig, wie er ſie laß — und dieſe
beiden auswendig gelernten Balladen ſind ihm
nachher auf ſeinen Wanderungen oft ſehr zu ſtat¬
ten gekommen. Schon damals verſammlete er
oͤfters in der Daͤmmerung des Abends, entweder
bei ſeinem Wirth zu Hauſe, oder bei ſeinem
Vetter, dem Perukenmacher, einen Cirkel um ſich
her, und deklamirte Leonore oder Adelſtan
und Roͤßchen — und theilte auf die Weiſe mit
den Verfaſſern das Vergnuͤgen des Genuſſes von
dem Beifall, den ihre Werke erhielten — denn
ſo gut war er geſinnt, daß er dieſen Beifall im¬
mer in ihrer Seele fuͤhlte, und ſie ſich in den¬
ſelben Zirkel wuͤnſchte. — Aber ſeine Verehrung
gegen die Verfaſſer ſolcher Werke, wie die Lei¬
den des jungen Werthers, und verſchiedene
Gedichte im Muſenalmanach waren, fing auch
G 2[100] nun an, ausſchweifend zu werden — er vergoͤt¬
terte dieſe Menſchen in ſeinen Gedanken, und
wuͤrde es ſchon fuͤr eine große Gluͤckſeligkeit ge¬
halten haben ,nur einmal ihres Anblicks zu genießen
— Nun lebte Hoͤlty damals in H..., und ein
Bruder deſſelben war Reiſers Mitſchuͤler — und
haͤtte ihn leicht mit dem Dichter bekannt machen
koͤnnen — Aber ſo weit ging damals noch Rei¬
ſers Selbſtverkennung, daß er es nicht einmal
wagte, Hoͤltys Bruder dieſen Wunſch zu ent¬
decken, und ſich ſelbſt mit einer Art von bitterm
Trotz diß ihm ſo naheliegende und ſo ſehr ge¬
wuͤnſchte Gluͤck verſagte — indes ſuchte er jede
Gelegenheit auf, mit Hoͤltys Bruder zu ſprechen,
und jede Kleinigkeit, welche dieſer ihm von dem
Dichter erzaͤhlte, war ihm wichtig — und wie
oft beneidete er dieſen jungen Menſchen, daß er
der Bruder desjenigen war, welchen Reiſer faſt
unter die Weſen hoͤherer Art zaͤhlte; daß er mit
ihm vertraulich umgehn, ihn ſo oft er wollte
ſprechen, und ihn du nennen konnte.
Dieſe ausſchweifende Ehrfurcht gegen Dich¬
ter und Schriftſteller nahm nachher mehr zu als
ab; er konnte ſich kein groͤßeres Gluͤck denken,
[101] als dereinſt einmal in dieſem Zirkel Zutritt zu
haben — denn er wagte es nicht, ſich ein ſol¬
ches Gluͤck anders, als im Traume vorzuſpie¬
geln. —
Seine Spatziergaͤnge wurden ihm nun immer
intereſſanter; er ging mit Ideen, die er aus der
Lektuͤre geſammlet hatte, hinaus, und kehrte mit
neuen Ideen, die er aus der Betrachtung der
Natur geſchoͤpft hatte, wieder herein — Auch
machte er wieder einige Verſuche in der Dicht¬
kunſt, die ſich aber immer um allgemeine Be¬
griffe herumdrehten, und ſich wieder zu ſeiner
Spekulation hinneigten, die doch immer ſeine
Lieblingsbeſchaͤftigung war. —
So ging er einmal auf der Wieſe, wo die hin
und her zerſtreuten hohen Baͤume ſtanden, und
ſeine Ideen ſtiegen auf einer Art von Stuffen¬
leiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor
— Dadurch verwandelte ſich ſeine Spekulation
in eine Art von poetiſcher Begeiſterung, wozu
ſich denn die Begierde, den Beifall ſeines Freun¬
des zu erhalten, geſellte — er dachte ſich ein
Ideal eines Weiſen, eines Menſchen, der ſo viel
Ideen hat, als einem Sterblichen nur moͤglich
G 3[102] ſind — und der dennoch immer eine Luͤcke in
ſich fuͤhlt, die nur durch die Idee vom Unend¬
lichen ausgefuͤllt werden kann, und ſo brachte er
dann wieder, mit einigem Zwang wegen des Aus¬
drucks, folgendes Gedicht zuwege:
Die Seele des Weiſen.
So wie er nun den Begriff von Gott in
ein Gedicht gezwaͤngt hatte, ſuchte er auch
den Begriff von der Welt in Verſe zu bringen.
— So lief ſeine ganze Dichtkunſt auf allgemei¬
ne Begriffe hinaus. — Das Detail der Natur
in und außer dem Menſchen zu ſchildern, dahin
zog ihn ſeine Neigung nie — Seine Einbildungs¬
kraft arbeitete beſtaͤndig, die großen Begriffe von
Welt, Gott, Leben, Daſeyn, u. ſ. w. die er
mit ſeinem Verſtande zu umfaſſen geſucht hatte,
nun auch in poetiſche Bilder zu kleiden — und
dieſe poetiſchen Bilder ſelbſt waren immer das
Große in der Natur, als Wolken, Meer,
Sonne, Geſtirne u. ſ. w.
[104]
Das Gedicht uͤber die Welt, war weit mehr
Spekulation als Gedicht, und wurde daher das
Gezwungenſte, was man ſich denken kann, es
hub ſich an:
Philipp Reiſer tadelte diß Gedicht durch¬
weg, ausgenommen folgenden Vers, den er er¬
traͤglich fand:
Reiſers Phantaſie lag jetzt mit ſeiner Denk¬
kraft im Kampfe; ſie wollte bei jeder Gelegen¬
heit in das Gebiet derſelben eingreifen, und die
allerabſtrakteſten Begriffe wieder in Bilder huͤl¬
ken — Diß war fuͤr Reiſern oft ein aͤngſtlicher
qualvoller Zuſtand — und in einem ſolchen Zu¬
ſtande hatte er das Gedicht uͤber die Welt her¬
[105] vorgebracht, das weder eigentliche Spekula¬
tion noch Poeſie, ſondern ein verungluͤcktes Mit¬
telding von beiden war.
Da nun eine Zeitlang regnigtes Wetter ein¬
fiel, ſo wich Reiſer dennoch nicht von ſeiner ein¬
ſamen poetiſchen Lebensart ab.
Er ſchloß ſich in ſeine Kammer ein, wo er
ein altes baufaͤlliges Klavier, fuͤr ſich ſelbſt, ſo gut
er konnte, wieder zurecht brachte, und es mit
vieler Muͤhe ſtimmte — Bei dieſem Klaviere
ſaß er nun den ganzen Tag, und lernte, da er
die Noten kannte, faſt alle Arien aus der Jagd,
aus dem Tod Abels u.ſ.w. fuͤr ſich ſelber ſingen
und ſpielen — dazwiſchen laß er den Tom Jons
von Fielding, und Hallers Gedichte ver¬
ſchiedenemal durch, und brachte einige Wochen
in dieſer Einſamkeit faſt eben ſo vergnuͤgt zu, als
die, wo er in ſeinem vorigen Logis auf dem Bo¬
den Philoſophie ſtudirte. — Hallers Gedichte
konnte er beinahe auswendig.
Hier beſuchte ihn Philipp Reiſer einmal ei¬
nes Nachmittags und gab ihm den Auftrag, eine
Chorarie zu verfertigen, die er alsdann in Muſik
ſetzen wolle. — Diß war fuͤr Anton Reiſern ein
G 5[(54) [(106)]] ſo ehrenvoller und ermunternder Auftrag, daß
er ſich, ſobald er allein war, zum Dichten hin¬
ſetzte, und indem er immer einen Akkord auf
dem Klavier dazwiſchen anſchlug, in weniger
als einer Stunde folgende Verſe hervorgebracht
hatte:
[107]
Philipp Reiſer ſetzte alſo dieſe Verſe in Mu¬
ſik und ſie wurden nun wirklich im Chore geſun¬
gen, ohne daß jemand den Verfaſſer wußte. —
Das neue Stuͤck fand viel Beifall, und jeder¬
mann war beſonders mit dem Text zufrieden —
es ſchmeichelte auch Anton Reiſern nicht wenig,
da er ſeine eignen Worte von ſeinen Mitſchuͤlern,
die ihn ſo verachteten, ſingen, und ſie ihren Bei¬
fall daruͤber bezeigen hoͤrte, — aber er ſagte kei¬
nem einzigen, daß die Verſe von ihm waͤren —
ſondern genoß lieber bei ſich ſelbſt des ſtillen
Triumpfs, den ihm dieſer ungeſuchte Beifall ge¬
waͤhrte —
Seine Gedanken waren es doch, die jetzt zu
ſo oft wiederhohlten malen, als das neue Stuͤck
geſungen wurde, die Aufmerkſamkeit einer An¬
zahl Menſchen die ſangen, und derer die zuhoͤr¬
ten, beſchaͤftigte — wenn irgend etwas faͤhig iſt,
der Eitelkeit eines Menſchen, der Verſe macht,
Nahrung zu geben, ſo iſt es, wenn man die Ge¬
[108] danken und Ausdruͤcke deſſelben fuͤr wuͤrdig haͤlt,
in Muſik geſetzt zu werden. — Jedes Wort
ſcheint dadurch gleichſam einen hoͤhern Werth zu
erhalten — und die Empfindung, welche Anton
Reiſern daruͤber anwandelte, wenn er ſeine
Arien ſingen hoͤrte, mag vielleicht bei einem jeden,
der einmal ſein eigenes Singeſtuͤck vollſtimmig,
und bei einer betraͤchtlichen Anzahl Zuſchauer
auffuͤhren hoͤrte, ſich im Innern ſeiner Seele
geregt haben; auch hat man lebende Beiſpiele
davon, was dergleichen Triumphe fuͤr unerhoͤrte
Ausbruͤche der Eitelkeit bei gewiſſen Perſonen
veranlaßt haben. —
Anton Reiſers Triumph dauerte nicht lange
— denn ſobald man erfuhr, wer der Verfaſſer die¬
ſer Verſe ſey, ſo fand man daran allerlei zu tadeln,
und einige von den Chorſchuͤlern, welche Kleiſts
Gedichte geleſen hatten, behaupteten gradezu,
daß ſie aus dem Kleiſt ausgeſchrieben waͤren. —
Nun mochten freilich wohl Reminiſzenzien darin
ſeyn, aber der letzte Gedanke, von dem was
Gott zum Seyn erleſen habe, drehte ſich wie¬
der um Reiſers metaphyſiſche Spekulation, in
wie fern nur den lebenden und denkenden Ge¬
[109] ſchoͤpfen eigentliches Daſeyn zugeſchrieben werden
koͤnne. — Philipp Reiſer war mit dieſem Ge¬
dichte auch in ſo weit zufrieden, bis auf die Na¬
tur, die wie eine Dame, vor Gott nieder¬
knieen ſollte — welches zu gewagte Bild er
tadelte. —
Waͤhrend daß Philipp Reiſer alſo Klaviere
machte, um zu leben, beſchaͤftigte ſich Anton
Reiſer damit Verſe zu machen, welche jener ihm
kritiſiren mußte, der ſelbſt nie einen Vers zu
machen verſucht hatte, und alſo auch nicht eifer¬
ſuͤchtig auf ihn war — vielmehr gab er ihm zu¬
weilen ſelbſt ein Thema zu bearbeiten — wie un¬
ter andern einmal, daß er Philipp Reiſers Zu¬
ſtand, ſeine verliebten Leiden, ſein Emporarbei¬
ten, und wieder Sinken, in deſſen Nahmen be¬
ſingen ſollte — und ohne daß damals noch an
den Mond ſo viele Seufzer und verliebte Klagen,
wie nachher im Siegwart, und unzaͤhligen Lie¬
dern, gerichtet waren, hub Reiſer ſeinen Ge¬
ſang an:
Und dann in einem derfolgenden Verſe, in Bezie¬
hung auf Reiſers Zuſtand:
Bei dieſem allen verſaͤumte auch Anton Rei¬
ſer damals ſeine oͤffentlichen Schulſtunden nicht,
wo der neue Direktor, der wie ſchon erwaͤhnt
iſt, bei ein wenig Pedanterie, doch im Grunde
ein Mann von Geſchmack ſowohl als Kenntniſſen
war, Deklamationsuͤbungen anſtellte, die Rei¬
ſers ganzen Ehrgeiz rege machten. —
Allein derjenige, welcher nun zum Deklami¬
ren oͤffentlich auftreten wollte, mußte wenigſtens
ein gutes Kleid haben, welches Reiſern fehlte,
der außer ſeinem Kleide von bedientenmaͤßigen
grauen Tuche, nichts als einen alten Ueberrock
hatte, und in keinem von beiden wagte er es auf¬
zutreten. — Seine ſchlechte Kleidung war es
[111] alſo, welche ihm hier aufs neue im Wege ſtand,
und ſeinen Muth niederſchlug.
Endlich wurde denn doch auch diß Hinderniß
gehoben, indem der Prinz wieder ſo viel fuͤr ihn
hergab, daß ihm ein gutes Kleid konnte geſchaft
werden. —
Und nun ging alle ſein Denken und Trach¬
ten dahin, wie er ein Gedicht verfertigen wolle,
daß er fuͤr wuͤrdig hielt, es oͤffentlich zu dekla¬
miren. —
Nun war es gar nicht gewoͤhnlich, daß ir¬
gend jemand ein Gedicht, welches er deklamiren
wollte, ſelbſt verfertigte, ſondern ein jeder ſchrieb
ſich irgendwo eins aus, und legte beim Deklami¬
ren das Papier vor ſich hin, oder gab es dem
Direktor, welcher nachlaß. —
Reiſer hatte ſich nun aber einmal darauf ge¬
ſetzt, das Gedicht, welches er zuerſt deklamiren
wollte, ſelbſt verfertigt zu haben — er war nun
nur noch um einen wuͤrdigen Stoff verlegen,
vorzuͤglich wuͤnſchte er einen ſolchen Stoff zu
bearbeiten, wobei ſich viel Deklamation anbrin¬
gen ließe. —
[112]
Und da er nun einmal an einem ſchoͤnen
Abend, bei hellem Mondſchein, ganz voll von
dieſem Gedanken, um den Wall ſpatzieren ging,
ſo erinnerte er ſich an ein Gedicht, gegen die
Gottesleugner, das er ein paar Jahre vorher,
wegen des deklamatoriſchen Ausdrucks, der darin
herrſchte, faſt auswendig gelernt hatte, das ihm
aber in Anſehung der Gedanken jetzt hoͤchſt ab¬
geſchmackt vorkam — indes wurde dieſer Gegen¬
ſtand ihm in den Augenblick ſo lebhaft — daß er
noch einmal den Spatziergang um den Wall
machte, und waͤhrend dieſer Zeit, ſein Gedicht,
der Gottesleugner, in ſeinem Kopfe vollendet
hatte. —
Seine Gedanken hatten eine eigne Wendung
genommen, welche von der alltaͤglichen in dem
Gedichte, das er auswendig wußte, ganz ver¬
ſchieden war. — Er dachte ſich den Gottesleug¬
ner, als den Sklaven des Sturmwindes, des
Donners, der tobenden Elemente, der Krank¬
heit, und der Verweſung, kurz als den Sklaven
aller der unvernuͤnftigen lebloſen Weſen, die
ſtaͤrker ſind als er, und die nun ſeine Herren ge¬
worden ſind, da er den Geiſt voll ewger Huld
nicht[113] Huld nicht verehren will. — Das Beduͤrfniß,
einen Gott zu glauben, erwachte bei dieſer Gele¬
genheit, da er erſt bloß damit umging, ein Ge¬
dicht zu verfertigen, und zu deklamiren, ſo maͤch¬
tig in Reiſers Seele, daß er gegen den, der
dieſen Troſt ihm rauben wolle, gleichſam eine
Art von gerechter Erbitterung fuͤhlte, und ſich in
dieſem Feuer erhalten konnte, bis ſein Gedicht
vollendet war, das ſich mit der frohen Ueberzeu¬
gung von dem Daſeyn einer vernuͤnftigen Urſach
aller Dinge, welche ſind und geſchehn, anhub
und endigte, und bei aller Unregelmaͤßigkeit, und
dem oftmals Gezwungnen im Ausdruck, doch
ein Ganzes von Empfindungen ausmachte,
welches Reiſern bis jetzt hervorzubringen noch
nicht gelungen war. — Die Mittheilung dieſes
Gedichts wird daher in dieſer Ruͤckſicht nicht
uͤberfluͤßig ſeyn, wenn es gleich um ſein ſelbſt
willen keine Aufbewahrung verdiene:
Der Gottesleugner.
Durch die Empfindungen, welche waͤhrend
der Zeit, daß er diß Gedicht verfertigte, in ihm
abwechſelten, war wirklich ſeine ganze Seele er¬
ſchuͤttert — er bebte vor dem ſchrecklichen Ab¬
grunde des blinden Ohngefaͤhrs, an deſſen Rande
er ſchon ſtand, mit Schaudern und Entſetzen zuruͤck,
und ſchmiegte ſich gleichſam mit allen ſeinen Gedan¬
ken und Empfindungen in die troͤſtende Idee von
dem Daſeyn eines alles regierenden und lenken¬
den guͤtigen Weſens hinein —
Da nun diß Gedicht auch ſeines Freundes voͤl¬
ligen Beifall fand, ſo lernte es auswendig, und
den naͤchſten Tag in der Woche, da Deklama¬
tionsuͤbung war, nahm er ſich vor, es zu dekla¬
miren. — Er erſchien hierbei mit ſeinem neuan¬
geſchaften Kleide, das ſich ziemlich gut ausnahm,
und das erſte feine Kleid war, welches er in ſei¬
nem Leben trug — das war ein nicht unbedeu¬
H 3[118] tender Umſtand bei ihm. — Das neue Kleid,
wodurch er ſich nun ſeinen Mitſchuͤlern, von de¬
nen er ſo lange durch ſeine ſchlechte Kleidung
ausgezeichnet geweſen war, wieder gleich geſetzt
ſahe, floͤßte ihm Muth und Zutrauen zu ſich ſel¬
ber ein; und was das ſonderbarſte war, ſo ſchien
es ihm auch mehr Achtung bei andern zu erwer¬
ben, die nun erſt mit ihm ſprachen, da ſie ſich
vorher gar nicht um ihm bekuͤmmert hatten. —
Und da er nun vollends in dem Hoͤrſaale, wo
er ſo lange ein Gegenſtand der allgemeinen Ver¬
achtung geweſen war, auf dem Katheder vor ſei¬
nen verſammleten Mitſchuͤlern oͤffentlich auftrat,
um ſein von ihm ſelbſt verfertigtes Gedicht zu
deklamiren, ſo erhob ſich ſein niedergedruͤckter
Geiſt zum erſtenmale wieder, und es erwachten
wieder Hoffnungen und Ausſichten auf die Zu¬
kunft in ſeiner Seele. —
Er hatte dem Direktor eine Abſchrift von dem
Gedichte zum Nachleſen gegeben, die ihm dieſer
wieder zuruͤckgab, ohne daß Reiſer in Verſuchung
gerieth, ihm zu ſagen, daß er das Gedicht ſelbſt
verfertigt habe — er war mit dem innern Be¬
wußtſeyn davon zufrieden, und es war ihm an¬
[119] genehm, wenn ſeine Mitſchuͤler ſich bei ihm er¬
kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt
haͤtte, ſtuͤnde, und er ihnen dann irgend einen
Dichter nannte, woraus er es abgeſchrieben
habe. —
Reiſer bat ſich vom Direktor die Erlaubniß
aus, in der kuͤnftigen Woche nocheinmal dekla¬
miren zu duͤrfen, und da er dieſe erhielt, aͤnderte
er das Gedicht an Philipp Reiſern
Dir Freund will ich mein Leiden
klagen
etwas um, und gab ihm die Ueberſchrift: die
Melancholie. — Er ließ diß Gedicht nun
anfangen:
Die letzte Strophe:
H 4[120] deklamirte er mit einem wirklichen Pathos, das er
in Stimme und Bewegung aͤußerte, und blieb,
nachdem er ſchon ſtillgeſchwiegen hatte, noch ei¬
nen Augenblick mit emporgehobnen Arm ſte¬
hen, der gleichſam ein Bild ſeines fortdaurenden
unaufgeloͤßten ſchrecklichen Zweifels blieb.
Da er nun von dem Direktor die Abſchrift
ſeines Gedichts wieder znruͤckerhielt, gab ihm die¬
ſer ſeinen Beifall mit ſeiner Deklamation zu er¬
kennen, und ſagte zugleich, die beiden Gedichte,
welche er deklamiret haͤtte, waͤren ſehr gut aus¬
gewaͤhlt. —
Diß war denn doch zu viel fuͤr Reiſern, als
daß er laͤnger der Verſuchung haͤtte wiederſtehen
koͤnnen, den Direktor wiſſen zu laſſen, daß die
Gedichte von ihm ſelber waͤren, und den Beifall,
der jetzt nur ſeine Auswahl traf, fuͤr ſeine Arbeit
einzuerndten.
Indes ſchwieg er jetzt noch ſtille, und wartete
ein paar Tage, bis er ohnedem zu dem Direktor
gehen mußte, um ihm einen lateiniſchen Aufſatz,
den er, ſo wie ſeine Mitſchuͤler, woͤchentlich zur
Uebung im Stiel verfertigen mußte, zur Durch¬
ſicht zu bringen; und bei dieſer Gelegenheit uͤber¬
[121] reichte er denn dem Direktor eine Abſchrift von
den beiden Gedichten, die er deklamirt hatte,
und ſagte ihm, daß er ſelbſt der Verfaſſer da¬
von waͤre. —
Des Direktors Minen, der ihn ſonſt ziem¬
lich gleichguͤltig angeſehen hatte, heiterten ſich
ſichtbar gegen ihn auf, da er dieß ſagte, und von
dem Augenblick an ſchien dieſer Mann ſein Freund
zu werden — er ließ ſich mit ihm in ein Ge¬
ſpraͤch uͤber die Dichtkunſt ein, erkundigte ſich nach
ſeiner Lektuͤre, und Reiſer ging mit freudenvollen
Herzen uͤber die gute Aufnahme ſeiner Gedichte
zu Hauſe. —
Den andern Tag verkuͤndigte er Philipp Rei¬
ſern ſein Gluͤck, der ſich aufrichtig mit ihm daruͤ¬
ber freute, daß man nun einmal aufhoͤren wuͤrde,
ihn zu verkennen, und nun vielleicht gluͤcklichere
Tage auf ihn warteten. —
Nun fuͤgte es ſich, daß Reiſer in der fol¬
genden Woche am Montag Morgen etwas
ſpaͤt in die erſte Lehrſtunde kam, welche der Di¬
rektor hielt, und in welcher er die lateiniſchen
Aufſaͤtze ohne Nennung der Nahmen oͤffentlich
zu beurtheilen pflegte. — Und da er nun in den
H 5[122] Hoͤrſaal trat, hoͤrte er den Anfang ſeines Gedichts
der Gottesleugner vom Direktor, der auf
dem Katheder ſaß, ableſen, und Zeile vor Zeile
kritiſiren.— Reiſer konnte erſt kaum ſeinen Ohren
trauen, da er diß hoͤrte — ſobald er hereintrat,
waren aller Augen auf ihn gerichtet — denn dieſe
oͤffentilche Kritik war die erſte in ihrer Art. —
Der Direktor miſchte ſo viel aufmunterndes
Lob unter ſeinen Tadel, und bezeigte uͤber die
beiden Gedichte, die Reiſer deklamirt hatte, im
Ganzen genommen, ſo ſehr ſeinen Beifall, daß
dieſer von dem Tage an, die Achtung ſeiner Mit¬
ſchuͤler, deren Spott er ſo lange geweſen war,
erhielt, und auf die Weiſe eine neue Epoche ſei¬
nes Lebens anfing. —
Sein poetiſcher Ruhm breitete ſich bald in
der Stadt aus — er bekam von allen Seiten
Auftraͤge Gelegenheitsgedichte zu machen — und
ſeine Mitſchuͤler wollten alle von ihm in der
Poeſie unterrichtet ſeyn, und das Geheimniß,
wie man Verſe machen koͤnne, von ihm lernen.
— Auch wurden dem Direktor nun ſo viele
Verſe ins Haus gebracht, daß dieſer es endlich
[123] unterſagen mußte — auch hat er nachher nie
wieder oͤffentlich Verſe kritiſirt. —
Was Reiſern am meiſten bei der Sache freu¬
te, war der merkliche Fortſchritt, den er ſeit ei¬
nem Jahre in Anſehung der Bildung ſeines Ge¬
ſchmacks gethan zu haben glaubte, da ihm vor
einem Jahre das Gedicht an die Gottesleugner,
welches er jetzt hoͤchſt abgeſchmackt fand, noch ſo
ſehr gefallen hatte, daß er es der Muͤhe werth
hielt, es auswendig zu lernen. — Aber in diß
Jahr hatte ſich auch die Lektuͤre des Shakeſpear,
des Werthers, und der vielen vorzuͤglichen Ge¬
dichte in den neuen Muſenalmanachen, nebſt ſei¬
nem Studium der Wolfiſchen Philoſophie, zuſam¬
mengedraͤngt, wozu noch die Einſamkeit, und
der ſtille ungeſtoͤrte Naturgenuß kam, wodurch
ſein Geiſt zuweilen in einem Tage mehr, als
vorher in ganzen Jahren, an Kultur gewann.—
Man fing nun auch an, wieder auf ihn aufmerk¬
ſam zu werden, und diejenigen, welche bisher
geglaubt hatten, daß nichts aus ihm werden
wuͤrde, fingen nun wieder an zu glauben, daß
doch noch wohl etwas aus ihm werden
koͤnnte. —
[124]
Bei dieſer beſſern Wendung ſeines Schickſals
behielt Reiſer demohngeachtet noch immer ſeine
ſchwermuͤthige Laune bei, woran er nun einmal
ein beſonderes Behagen fand; und ſelbſt an dem
Tage, da ihm die unerwartete Ehre der oͤffent¬
lichen Kritik ſeiner Gedichte wiederfahren war,
ging er den Nachmittag einſam und ſchwermuͤ¬
thig, bei dem truͤben und regnigten Wetter in
der Stadt umher — und wollte am Abend zu
Philipp Reiſern gehen, um dieſem ſein Gluͤck zu
ſagen. — Da er nun hinkam, fand er ihn nicht
zu Hauſe, und alles war ihm nun ſo todt, ſo
oͤde — er konnte ſich ſeines Gluͤcks, die Achtung
der Menſchen, die ihn zunaͤchſt umgaben, in ge¬
wißer Maaße gewonnen zu haben, nicht recht
freuen, weil er es ſeinem Freunde nun nicht
hatte erzaͤhlen koͤnnen. —
Und da er nun traurig vor ſich hin, wieder
nach Hauſe kehrte, verfolgte er die Idee des
Nichtzuhauſefindens, des Ruͤckkehrens mit kum¬
merbeladenem Herzen, wenn er ſeinem Freunde
ein Leiden haͤtte klagen wollen, bis zu dem
fuͤrchterlichen Gedanken, daß er ihn todt gefun¬
den habe, und nun verzweiflungsvoll ſelbſt ſein
[125] Gluͤck verwuͤnſchte, weil er das groͤßtt Gluͤck des
Lebens, einen treuen Freund, verlohren hatte. —
Daraus bildeten ſich denn wieder folgende Verſe,
die er aufſchrieb, als er zu Hauſe kam —
Um dieſe Zeit machte er nun auch durch den
Sohn des Kantors W. . . eine ſehr intereſſante
Bekanntſchaft mit dem philoſophiſchen Eſſig¬
brauer, womit ihn dieſer ſchon vor einem halben
Jahre hatte bekannt machen wollen, und immer
nicht dazu gekommen war. —
W. . . hohlte ihn alſo eines Abends ab, und
Reiſer war voller Erwartung — unterwegs un¬
terrichtete ihn W. . ., wie er ſich bei dem Eſſig¬
brauer nehmen, daß er nicht guten Abend, und
wenn er wegginge nicht gute Nacht ſagen ſolle.
— Dann kamen ſie auf der langen Oſterſtraße
die voller altfraͤnkiſchen Haͤuſer iſt, durch den
großen Thorweg uͤber einen langen Hof in das
Brauhaus, wo der Eſſigbrauer hinten hinaus
ſein abgeſondertes Revier hatte, in welchem die
Faͤſſer in einem großen Verſchlage, wo beſtaͤndig
eingeheitzt iſt, Reihenweiſe nebeneinanderſtanden‚
[127] ſo daß ſie eine Art von langen Gaͤngen bildeten,
in welchen man ſich verlieren konnte. — Wenn
man hier ſprach, ſo ſchallte es dumpf wieder. —
Da nun hier niemand zu ſehen war, ſo fing
W. . . an zu rufen ubi? — und eine Stimme in
der Ferne antwortete hic! — ſie gingen darauf
in das eigentliche Brauhaus, dicht neben dem
Revier, wo die Faͤſſer ſtanden, und der Eſſig¬
brauer, in ſeinem weiſſen Kamiſol, und blauen
Schuͤrze, mit aufgeſtreiften Armen, ſtand am
Fenſter und ſchrieb — er waͤre gleich fertig, ſagte
er, darauf gab er an W. . . ein Papier, worauf
einige lateiniſche Verſe ſtanden, die er ſo eben
fuͤr ihn verfertigt hatte. —
Der Eſſigbrauer ſchien Reiſern ein Mann
von ohngefaͤhr dreiſſig Jahren zu ſeyn — in jeder
Bewegung ſeiner Muskeln, in dem zuckenden
Blick ſeiner Augen, ſchien ſich in ſich ſelbſt zu¬
ruͤckgedraͤngte Kraft zu aͤußern. — Gleich der
erſte Anblick des Eſſigbrauers floͤßte Reiſern Ehr¬
furcht ein — dieſer aber ſchien ſich erſt gar nicht
um ihn zu bekuͤmmern, ſondern ſprach mit W. . .
uͤber einige neue Muſikalien und andere Sachen,
wobei er kein Wort anders als platdeutſch
[128] ſprach, und ſich doch dabei ſo richtig und edel
ausdruͤckte, daß ſelbſt das groͤbſte platdeutſch in
ſeinem Munde einen gewiſſen Reitz gewann, der
verurſachte, daß man mit Vergnuͤgen und Be¬
wunderung, wenn er ſprach, an ſeinen Lippen
hing, wie Reiſer nachher oft erfahren hat, wenn
dieſer Eſſigbrauer zwiſchen ſeinen Faͤſſern Weis¬
heit lehrte. —
Weil es ſchon ein ziemlich kalter Herbſtabend
war, ſo fuͤhrte der Eſſigbrauer ſeine beiden Gaͤ¬
ſte in ſeinen geheizten Prunkſaal, wo die langen
Reihen Faͤſſer ſtanden, und wo er ihnen eine Art
von ſuͤßem ſehr wohlſchmeckenden Bier vorſetzte,
wobei denn das Geſpraͤch allgemein wurde; und
da die Rede auf einem gemeinſchaftlichen Be¬
kannten, einen alten Mann fiel, der ſehr viel
Drollichtes und Sonderbares an ſich hatte, fing
der Eſſigbrauer an, den ganzen Charakter dieſes
Mannes mit Sterniſcher Laune bis auf das
kleinſte Detail zu ſchildern. — Hernach laß er
etwas aus dem Tom Jones mit ſolchem Ausdruck
und einer ſo wahren und richtigen Deklamation
vor, daß Reiſer nicht leicht irgendwo eine beſſere
Unterhaltung gefunden hatte, und dem jungen
W...[129] W. . . beim Weggehen ſein Vergnuͤgen uͤber dieſe
Bekanntſchaft nicht genug beſchreiben konnte. —
Er beſuchte von nun an, entweder in W...s
Geſellſchaft oder allein den Eſſigbrauer faſt alle
Abend, und fand ſich hier, wenn ſie bei der han¬
genden Lampe zwiſchen den Faͤſſern, am warmen
Ofen, auf ihren hoͤlzernen Schemeln ſaßen, und
im Tom Jones laſen, oder Charakterſchilderun¬
gen machten, ſo gluͤcklich und vergnuͤgt, als er
noch nie, ausgenommen mit Philipp Reiſern,
geweſen war — allein in dem Umgange mit dem
Eſſigbrauer fuͤhlte er ſich allemal erhoben und
geſtaͤrkt, ſo oft er bei ſich erwog, daß ein Mann
von ſolchen Kenntniſſen und Faͤhigkeiten ſich mit
ſolcher Geduld und Standhaftigkeit der Seele,
ſeinem Schickſale unterwarf, welches ihn von
allem Umgange mit der feinern Welt, und von
aller Nahrung des Geiſtes, die ihm daraus haͤtte
zuſtroͤmen koͤnnen, gaͤnzlich ausſchloß. — Und
eben der Gedanke, daß ein ſolcher Mann ſo ver¬
ſteckt und in der Dunkelheit lebte, machte Rei¬
ſern den Werth deſſelben noch auffallender —
ſo wie ein Licht in der Dunkelheit ſtaͤrker zu
3r Theil. J[130] leuchten ſcheint, als wenn ſein Glanz ſich unter
der Menge andrer Lichter verliert. —
Als Eſſigbrauer war K. . ., ſo hieß er, wirk¬
lich ein großer Mann, das er vielleicht auch als
Gelehrter, nur nicht in dem Maaß, geweſen
waͤre — weil ohne dieſen Kampf mit ſeinem
Schickſale, die erhabene duldende Kraft ſeiner
Seele nicht ſo haͤtte geuͤbt werden koͤnnen. —
Es mochte wohl keine menſchenfreundliche Tu¬
gend geben, welche ihm in ſeiner Lage auszuuͤben
moͤglich war, und die er nicht ausgeuͤbt haͤtte. —
Von ſeinem ſauererworbenen Verdienſt er¬
ſparte er immer ſo viel, daß er einige junge Leute,
zu deren Bildung beizutragen die Freude ſeines
Lebens machte, zuweilen des Abends an ſeinem
Tiſche bewirthen, und auch wohl manchmal ei¬
nen Spatziergang mit ihnen machen konnte,
wobei er ſich allemal das Vergnuͤgen machte, zu
bezahlen, was ſie verzehrten. — Auch unterſtuͤtzte
er noch uͤberdem eine arme Familie taͤglich mit
einem Groſchen, den er ſich von ſeinem geringen
Verdienſt abzog — denn er war eigentlich nur
Knecht in dieſer Brauerei, worin ſein Vetter, ein
[131] alter abgelebter Greis, fuͤr den er die Arbeit mit
verrichtete, Meiſter war. —
W. . . und Philipp Reiſer und der Eſſig¬
brauer waren jetzt Reiſers vorzuͤglichſter Um¬
gang, wozu noch ein junger Menſch kam, der
durch Reiſers Beiſpiel aufgemuntert, ohngeach¬
tet der Armuth ſeiner Eltern, auch den Ent¬
ſchluß gefaßt hatte, zu ſtudieren. — Auch dieſen
ſuchte der Eſſigbrauer durch W. . . an ſich zu zie¬
hen, um zu der Bildung ſeines Geiſtes beizutra¬
gen. — Seine Unterredungen waren groͤßten¬
theils wahre ſokratiſche Geſpraͤche, die er oft mit
dem feinſten Spott uͤber die kindiſche Thor¬
heit oder Eitelkeit ſeiner jungen Geſellſchafter
wuͤrzte. —
Da nun der Winter herankam‚ wiederfuhr
Reiſern eine Aufmunterung, die noch mehr als
alles Vorhergehende wieder ſeinen Muth beleb¬
te. — Er erhielt nehmlich vom Direktor den eh¬
renvollen Auftrag, auf den Geburtstag der Koͤ¬
nigin von England, welcher im Januar eintraf,
eine deutſche Rede zu [verfertigen], die er bei die¬
ſer Feierlichkeit halten ſollte.
[132]
Diß war nun das hoͤchſte und glaͤnzendſte
Ziel, wornach ein Zoͤgling dieſer Schule nur ſtre¬
ben konnte, und wozu nur ſehr wenige gelang¬
ten: denn gemeiniglich wurden ſonſt die Reden
an des Koͤniges und der Koͤnigin Geburtstage
nur von jungen Edelleuten gehalten. — Bei die¬
ſer Feierlichkeit pflegten der Prinz und die Mi¬
niſter, nebſt allen uͤbrigen Honoratioren der Stadt
zugegen zu ſein — welche einem ſolchen jungen
Menſchen, der nun als die Hoffnung des Staats
betrachtet wurde, nach geendigter Rede ordent¬
lich Gluͤck wuͤnſchten — ein Anblick der Reiſern
oft niederſchlug, wenn er dachte, daß er zu ſo
etwas Glaͤnzendem nie in ſeinem Leben gelan¬
gen wuͤrde. —
Und nun fuͤgte es ſich ſo ploͤtzlich, da er noch
im Anfange deſſelben Jahres allgemein verachtet
und hindangeſetzt war, daß ihm ohne ſein Zu¬
thun ein ſo ermunternder Auftrag geſchahe, zu
deſſen Ausfuͤhrung er nun auch gleich mit dem
groͤßten Eifer ſchritte.
Er nahm ſich vor, ſeine deutſche Rede in
Hexametern zu verfertigen: nun hatte ihm der
Direktor die Litteraturbriefe geliehen, und ſie
[133] ihm zur ſorgfaͤltigſten Lektuͤre empfohlen — da
ſtieß er denn auch unter andern auf die Rezen¬
ſion, wo Zachariaͤ's Ueberſetzung von Miltons
verlohrnem Paradieſe, wegen der ſchlechten
Hexameter, getadelt, und zugleich uͤber den Bau
des Hexameters, ſeine Einſchnitte u. ſ. w. viel
vortrefliches geſagt wird. — Diß faßte Reiſer
auf, und ſuchte nun ſeinen Hexameter mit der
groͤßten Sorgfalt auszufeilen. — Manchen Tag
kam er kaum mit drei bis vier Verſen zu Stan¬
de — jeden Abend ging er dann zu Philipp Rei¬
ſern, und ließ ſeine Verſe noch einmal deſſen
Kritik paßiren, wobei ſie denn zuſammen alle
Baͤnde der Litteraturbriefe miteinander durch¬
laſen, und auch in dieſem Winter ihre Shake¬
ſpearnaͤchte wieder erneuerten. —
Im November war Reiſer ohngefaͤhr mit der
Haͤlfte ſeiner Rede fertig und ging damit zum
Direktor, um ſie ihm zur Kritik zu zeigen. —
Dieſer bezeigte ihm ſeinen großen Beifall uͤber
ſeine Arbeit, kuͤndigte ihm aber zugleich an, daß
er die Rede nicht oͤffentlich wuͤrde halten koͤnnen,
weil diß verſchiedene Koſten erforderte, die Rei¬
ſer wohl nicht wuͤrde aufbringen koͤnnen. — —
I 3[134] Kein Donnerſchlag haͤtte Reiſern mehr zu Bo¬
den ſchlagen koͤnnen, als dieſe Nachricht — alle
ſeine glaͤnzenden Auſſichten, womit er ſich waͤh¬
rend der Verfertigung ſeiner Rede geſchmeichelt
hatte, waren auf einmal wieder verſchwunden,
und er fiel wieder in ſein voriges Nichts zuruͤck.
— Der Direktor ſuchte ihn hieruͤber zu troͤſten —
aber er ging mit ſchwerem Herzen und melan¬
choliſchen Gedanken, daß er zur ewigen Dunkel¬
heit beſtimmt ſey, von dem Direktor weg, und
nun fielen ihm die Verſe ein, die er fuͤr Philipp
Reiſern gemacht hatte, und die ſich jetzt auf ſei¬
nen Zuſtand paßten:
Und als an einem andern Tage im Chore unter
andern in einer Arie die Worte geſungen
wurden:
ſo deutete er dieß ebenfalls auf ſich, und kam
ſich auf einmal wieder ſo verlaſſen, ſo veraͤcht¬
[135] lich, ſo unbedeuteud vor, daß er ſelbſt Plilipp
Reiſern nicht einmal von ſeinem neuen Kummer
etwas ſagen mochte, und lieber nicht zu ihm ging,
um nicht von ſeinem Schickſal mit ihm reden zu
duͤrfen, das nun anfing ihm wieder verhaßt zu
werden, und der Muͤhe des Nachdenkens nicht
mehr werth zu ſcheinen. —
Da er ſich indes hieruͤber endlich ſatt gequaͤlt
hatte, ſo dachte er auf ein Mittel, wie er doch
noch ſeinen Zweck erreichen koͤnnte — und diß
bot ſich ihm, da er nur erſt daruͤber nachdachte,
ſehr bald dar — er durfte nur zu dem Paſtor
M. . . gehen, welcher doch wieder Hoffnung von
ihm zu ſchoͤpfen angefangen hatte, und durfte
dieſen nur bitten, ihm bei dem Prinz ſo viel, als
zur Anſchaffung eines guten Kleides und uͤbri¬
gens zur Beſtreitung der Koſten bei Haltung
der Rede erfordert wurde, auszuwirken, worin
auch der Paſtor M. . . ſogleich willigte, und Rei¬
ſern ſchon im Voraus einen guten Erfolg ver¬
ſprach. — Reiſers Beſorgniſſe waren alſo nun
auf einmal wieder gehoben, und er konnte nun
die angefangene Rede mit frohem Herzen vollen¬
den, um ſie am Geburtstage der Koͤnigin zu
J 4[136] zu halten. — Da es nun aber wieder anfing zu
frieren, ſo konnte er oben auf ſeiner Kammer
nicht mehr allein ſeyn, ſondern mußte wieder des
Abends unten bei den Wirthsleuten in der Stube
ſitzen, wo die einquartirten Soldaten nebſt dem
Wirth ihn mit zu ihren Spielen noͤthigten, mit
denen ſie ſich die langen Winterabende vertrie¬
ben. — Hier verfertigte er nun groͤßtentheils des
Nachmittags und des Abends in der Daͤmme¬
rung, indem er ſich mit dem Kopf an den Ofen
legte, ſeine Rede. — Und nun hatte er auch
ein ſchoͤnes Mittel gegen ſeine ſchwermuͤthige
Laune gefunden; ſo oft er nehmlich merkte, daß
ſie anfing, ſeiner Herr zu werden, ging er im
groͤßten Regen und Schnee des Abends, wenn
es ſchon dunkel war, aus, und einmal um den
Wall ſpatzieren, und es fehlte ihm niemals, daß
ſich nicht, ſo wie er mit ſchnellen Schritten vor¬
waͤrts ging, neue Ausſichten und Hoffnungen
unvermerkt in ſeiner Seele entwickelt haͤtten, von
welchen freilich die glanzendſte ihm am naͤchſten
lag. — Bei dieſen Spatziergaͤngen um den Wall
gelangen ihm auch die beſten Stellen in ſeiner
Rede, und Schwierigkeiten in Anſehung des
[137] Versbaues, die ihm oft, wenn er ſich mit dem
Kopf am Ofen gelehnt hatte, unuͤberwindlich
ſchienen, hoben ſich hier wie von ſelbſt. —
Der Wall um H. . . war von ſeiner Kindheit
an der vorzuͤglichſte Schauplatz ſeiner angenehm¬
ſten Phantaſie und romanhafteſten Ideen gewe¬
ſen — denn er ſahe hier die dichtineinander ge¬
baute Stadt und die laͤndliche offene Natur, mit
Gaͤrten, Aeckern und Wieſen, ſo nahe aneinan¬
dergraͤnzend, und doch ſo außerordentlich ver¬
ſchieden, daß dieſer Kontraſt einer lebhaften Wir¬
kung auf ſeine Phantaſie nie verfehlen konnte —
Dann draͤngten ſich auch in die Umgehung des
Ortes, der ſeine meiſten Schickſale gleichſam in
ſeinen Umfang einſchloß, immer tauſend dunkle
Erinnerungen an die Vergangenheit in ſeiner
Seele empor, welche mir ſeiner gegenwaͤrtigen Lage
zuſammengehalten, gleichſam mehr Intereſſe in
ſein Leben brachten, — und vorzuͤglich des
Abends machte der Anblick von den auf den
Zimmern hin und her zerſtreuten Lichtern in den
dicht an dem Wall grenzenden Haͤuſern alle¬
mal die ſchon vorherbeſchriebene Wirkung auf
ihm. —
[138]
Seitdem er nun die Verſe deklamirt hatte,
hatte, wurde er faſt von allen ſeinen Mitſchuͤ¬
lern geachtet. — Das war ihm ganz etwas
Ungewohntes — er hatte in ſeinem Leben ſo et¬
was noch nicht erfahren — ja er glaubte kaum,
daß es moͤglich ſey, daß man ihn noch achten
koͤnne — nach allen den bisherigen Erfahrungen
bildete er ſich ein, es muͤſſe wohl etwas in ſeiner
Perſon oder ſeinen Minen liegen, wodurch er
vielleicht ſo lange er lebte laͤcherlich und ein Ge¬
genſtand des Spottes ſeyn wuͤrde. — Dieſe Em¬
pfindung der Achtung erhoͤhte ſein Selbſtbewußt¬
ſeyn, und ſchuf ihn zu einem andern Weſen um
— ſein Blick, ſeine Mine verwandelte ſich —
ſein Auge wurde kuͤhner — und er konnte, wenn
jemand ſeiner ſpotten wollte, ihm jetzt ſo lange
gerade ins Auge ſehen, bis er ihn aus der Faſ¬
ſung brachte. —
Seine ganze aͤußere Lage aͤnderte ſich auch
nun auf einmal. — Durch die Verwendung des
Rektors und des Paſtor M..., die nun beide
wieder die beſte Hoffnung von ihm geſchoͤpft
hatten, bekam er bald ſo viele Unterrichtsſtun¬
den, daß ihm eine fuͤr ſeine damaligen Beduͤrf¬
[139] niſſe ziemlich betraͤchtliche monathliche Einnah¬
me daraus erwuchs, welche ihm denn freilich
auch eine ganz ungewohnte Sache war, womit
er nicht gehoͤrig umzugehen wußte. —
Keiner ſeiner reichen und angeſehenen Mit¬
ſchuͤler ſchaͤmte ſich nun mehr mit ihm umzuge¬
hen, und ihn in ſeiner ſchlechten Wohnung zu
beſuchen. — Er ſahe ſich auch noch in dieſem
Jahre gedruckt, indem er verſchiedene kleine
Neujahrwuͤnſche in Verſen fuͤr einen Buch¬
drucker verfertigte, welcher dergleichen gedruckte
Wuͤnſche verkaufte — ob nun gleich ſein Nahme
nicht hiebei bemerkt war, und niemand wußte,
daß die Verſe von ihm waren, ſo machte ihm
doch der Anblick dieſer erſten gedruckten Zeilen
von ſeiner Hand, ein unbeſchreibliches Vergnuͤ¬
gen, ſo oft er ſie anſah. — Und als nun gar
einige Tage vorher, ehe die Rede gehalten wur¬
de, auf einem lateiniſchen Anſchlagbogen ſein
Nahme, nebſt den Nahmen noch zweier ſeiner
Mitſchuͤler von den angeſehenſten Eltern, oͤffent¬
llch gedruckt ſtand; und er nun auf dieſem An¬
ſchlagbogen wirklich Reiſerus hieß, wie ihn der
vorige Direktor einſt genannt hatte; und die
[140] Zwiſchenzeit zwiſchen jener muͤndlichen und dieſer
gedruckten Benennung Reiſerus, mit alle dem,
was er darin verſchuldet oder unverſchuldet ge¬
litten hatte, ſich ihm lebhaft darſtellte — ſo
preßte ihm diß Thraͤnen der Freude und der
Wehmuth aus — denn von dieſer ploͤtzlichen
Wendung ſeines Schickſals hatte er ſich vor ei¬
nem Jahre, vor einem halben Jahre noch nichts
traͤumen laſſen. — Dieſer lateiniſche Bogen mit
ſeinem Namen war nun am ſchwarzen Brette
vor der Schule und an den Kirchthuͤren oͤffent¬
lich angeſchlagen, ſo daß Leute, die vorbeigingen,
ſtill ſtanden, um ihn zu leſen. —
Nun war es uͤblich, daß die jungen Leute,
welche bei dergleichen Vorfaͤllen Reden hielten,
die Honoratiores der Stadt ſelbſt einige Tage
vorher dazu einladen mußten. — Welch eine
Veraͤnderung, da Reiſer, den ſonſt wegen ſeiner
ſchlechten Kleider ſelbſt ſeine Mitſchuͤler nicht
einmal auf der Straße anzureden oder mit ihm
zu gehen wuͤrdigten — nun mit dem Hut unterm
Arm und den Degen an der Seite, ordentlich
ſeine Cour bei dem Prinz machte, und ihn zu
der Feier des Geburtsfeſtes ſeiner Schweſter,
[141] der Koͤnigin von England, einlud — und wie er
nun bei dieſem Einladungsgeſchaͤft, ſich den vor¬
nehmſten Einwohnern der Stadt zeigen konnte,
und von allen mit den aufmunterndſten Hoͤflich¬
keitsbezeigungen aufgenommen ward. —
Er hatte alſo, ehe er ſichs verſah, und da er
ſchon gaͤnzlich Verzicht darauf gethan hatte, das
ehrenvollſte Ziel erreicht, nach welchem ein Pri¬
maner in H. . . nur ſtreben konnte, und welches
nur von wenigen erreicht wurde. —
Dieſe den jungen Leuten ſelbſt uͤbertragene
Einladungen haben wirklich etwas ſehr Aufmun¬
terndes und ſind in mancher Abſicht zur Nach¬
ahmung zu empfehlen. . — Reiſer ward durch
dieſe Einladungen, waͤhrend einer Zeit von weni¬
gen Tagen, in eine Welt gefuͤhrt, die ihm bisher
ganz unbekannt geweſen war — er unterhielt ſich
mit Miniſtern, Raͤthen, Predigern, Gelehrten,
kurz, mit Perſonen aus allerlei Staͤnden, die er
bisher nur in der Entfernung angeſtaunt hatte,
Mund gegen Mund; und alle dieſe Perſonen
ließen ſich mit [Hoͤflichkeitsbezeugungen] zu ihm
herab, und ſagten ihm etwas Angenehmes und
Aufmunterndes, ſo daß Reiſers Selbſtgefuͤhl in
[142] dieſen wenigen Tagen mehr, als vorher in Jah¬
ren gewann. — Er lud auch den Dichter Hoͤlty
ein, den er aber bei dieſer Gelegenheit nur wenig
kennen lernte; denn Reiſers Schuͤchternheit
konnte nur durch eine gewiſſe Zutraulichkeit, die
man ihm bewieß, gehoben werden, und dieſe war
Hoͤlty's Sache nicht, der bei der erſten Unterre¬
dung mit einem Unbekannten allemal etwas ver¬
legen war. — Reiſer nahm dieſe Verlegenheit
fuͤr Verachtung, die ihn deſtomehr kraͤnkte, je
groͤßer ſeine Achtung fuͤr Hoͤlty war, und ſo
wagte er es nicht, ihn wieder zu beſuchen. —
Wenn er nun den Tag uͤber ſeine glaͤnzende
Rolle ausgeſpielt hatte, ſo ging er des Abends
zu ſeinem Eſſigbrauer, wo denn auch Philipp
Reiſer, und W. . ., und der andre junge Menſch,
den ſein Beiſpiel zum Studiren aufgemuntert
hatte, waren, die ihn mit offenen Armen em¬
pfingen — und denen er von ſeinen Beſuchen,
und den Perſonen, die er kennen gelernt hatte,
erzaͤhlte — und auf die Weiſe die Freude uͤber
ſeinen Zuſtand mit ihnen theilte. —
Die Frau F. . ., und ſein Vetter, der Peru¬
quenmacher, und alle die Leute, welche ihm Frei¬
[143] tiſche gegeben hatten, bewetteiferten ſich nun,
ihm ihre Freude und Theilnehmung zu bezeigen.
— Seine Eltern, die lange nichts von ihm ge¬
hoͤrt und ihre Hoffnung auf ihn ſchon laͤngſt auf¬
gegeben hatten, waren ganz erfreut, da ſie dieſe
ploͤtzliche guͤnſtige Wendung ſeines Schickſals ver¬
nahmen, und den lateiniſchen Anſchlagbogen er¬
hielten, worauf der Nahme ihres Sohnes mit
großen Buchſtaben gedruckt ſtand. —
Bei allen dieſem aͤußern Glanze blieb nun
Reiſer immer noch in ſeiner alten Wohnung, wo
ſein Wirth der Fleiſcher, deſſen Frau und Magd,
und ein paar Soldaten, die dort im Quartier
lagen, ſeine Stubengeſellſchaft ausmachten. —
Wenn ihn nun, ohngeachtet dieſer ſchlechten
Wohnung, einer von ſeinen reichen und angeſe¬
henen Mitſchuͤlern beſuchte, ſo machte ihm dieß
ein geheimes Vergnuͤgen — daß er auch, ohne
ein einladendes Logis oder ſonſt aͤußere Vorzuͤge
zu haben, bloß um ſein ſelbſt willen geſucht wuͤr¬
de. — Dieß machte, daß er zuweilen auf ſeine
ſchlechte Wohnung ordentlich ſtolz war. —
Endlich kam nun der Tag ſeines Triumphes
heran, wo er auf die auffallendſte Art, die nur
[144] In ſeiner Lage moͤglich war, oͤffentlich Ehre und
Beifall einerndten ſollte — aber eben dieß er¬
weckte bei ihm eine ganz beſondre ſchwermuͤthige
Empfindung — auf dieſen Punkt war nun bis¬
her alle ſein Wuͤnſchen und Trachten geſpannt
geweſen — bis auf dieſen Punkt heftete ſich die
Aufmerkſamkeit eines großen Theils von Men¬
ſchen auf ihn — und wenn nun dieß vorbei waͤre,
ſo ſollte das alles nachlaſſen, und die ganz all¬
taͤglichen Scenen des Lebens ſollten dann
wieder kommen. — Dieſer Gedanke erweckte in
Reiſern ſehr oft den ſonderbaren im Ernſt ge¬
meinten Wunſch, daß er am Ende ſeiner Rede
hinfallen und ſterben moͤchte. — Nun fuͤgte es
ſich, daß gerade an dem Tage, da die Rede ge¬
halten wurde, eine außerordentliche Kaͤlte ein¬
fiel, wodurch mancher zuruͤckgehalten wurde,
ſo daß die Anzahl der Zuhoͤrer etwas kleiner wie
gewoͤhnlich, aber die Verſammlung doch immer
noch glaͤnzend genug war. — Indes kam Reiſern
an dieſem Tage alles ſo todt, ſo oͤde vor; die
Phantaſie mußte zuruͤcktreten — das Wirk¬
liche war nun da — und eben daß nun dieß,
wovon er ſo lange getraͤumt hatte, ſchon wirk¬
lich[145] lich und nichts weiter als dieß war, machte
ihn nachdenkend und traurig — denn nach die¬
ſem Maßſtabe maß er nun die ganze Zukunft des
Lebens ab — alles war ihm hier, wie im Trau¬
me, wie in dunkler Entfernung — er konnte es ſich
nicht recht vors Auge bringen — mit melancholi¬
ſchen Gedanken beſtieg er den Katheder — und
waͤhrend daß die Muſik ertoͤnte, ehe er noch an¬
fing zu reden, dachte er an ganz etwas anders,
als an ſeinen gegenwaͤrtigen Triumph — er
dachte und fuͤhlte die Nichtigkeit des Lebens —
die angenehme Vorſtellung ſeines gegenwaͤrtigen
wirklichen Zuſtandes ſchimmerte nur wie durch
einen truͤben Flor durch. —
Um die Fortſchritte, welche er damals in An¬
ſehung des Ausdrucks ſeiner Gedanken gemacht
hatte, zu bezeichnen, iſt es vielleicht nicht un¬
zweckmaͤßig, aus der Rede, die er hielt, einige
Stellen herauszuheben. Sie hub an:
Wonnegefilden
ne der Gottheit? — —
3r Theil. K[146]
ſie wallen
und flammen — u. ſ. w.
gluͤckten
Lied! Denn vergebens
gen — ſo wagts oft
erheben,
Wolken empor, duͤnkt
Schneckenflug immer
ſchwand — welche Toͤne
gens erhabner
nachzubilden? — u. ſ. w.
[147]
den Gipfel
ſeiner Voͤlker,
tert vom Donner
mit ihrem wohlthaͤtgen
und der Sturmwind verſchwendet
ihr laubigtes Haar. — So
umdonnern
Doch du getreues
und weine!
ſich auflehnt
entgegen
der es auch wagte
denn von fern rauſcht
Koͤnigin heute
Charlotte!
hallen: ſie lebe!
Reiſer hatte ſich bei Verfertigung dieſer Rede ein
Ideal in ſeinem Kopfe gebildet, das ihn wirklich
begeiſterte — wozu denn das kam, daß er von
dieſen Gegenſtaͤnden oͤffentlich reden ſollte. —
Der Gedanke fuͤllte gleichſam die Luͤcken aus, wo
ſeine Begeiſterung aufhoͤrte, oder ermattete. —
Da er aber nun freilich von ſeinem Gegen¬
ſtande wenig oder gar nichts wußte, ſo bemuͤhte
er ſich, eine Anzahl Lobreden, die auf den Koͤnig
und die Koͤnigin ſchon gehalten waren, in die
[149] Haͤnde zu bekommen; dieſe laß er durch, und
abſtrahirte ſich daraus ſein Ideal, ohne ſonſt
aus einer einzigen, ſich auch nur eines Ausdrucks
zu bedienen — dieß vermied er ſo ſorgfaͤltig, als
er nur immer konnte; denn vor dem Plagiat
hatte er die entſetzlichſte Scheu — ſo daß er ſich
ſogar des Ausdrucks am Schluß ſeiner Rede,
daß Wald und Gebuͤrg' es wiederhallen,
ſchaͤmte, weil einmal in Werthers Leiden der
Ausdruck ſteht: daß Wald und Gebuͤrg' er¬
klang — ihm entſchluͤpften zwar oft Remini¬
ſzenzien, aber er ſchaͤmte ſich ihrer, ſobald er ſie
bemerkte. —
An dem Tage nun, da er die Rede gehalten
hatte, war er, wie ich ſchon bemerkt, niederge¬
ſchlagener, wie jemals — denn alles war ihm
doch ſo todt, ſo leer — und es war nun vorbei
— womit ſeine Einbildungskraft ſich ſo lange be¬
ſchaͤftigt hatte. —
Den Nachmittag wurde er nebſt den andern
beiden, die Reden gehalten hatten, bei dem erſten
Buͤrgermeiſter, der zugleich Scholarch war, zum
Kaffee gebeten, dieß war ihm eine ganz unge¬
wohnte Ehre — er wußte ſich nicht recht dabei
K 3[150] zu nehmen — und wurde nicht eher wieder hei¬
ter, als bis er ſein ſchoͤnes Kleid ausgezogen
hatte, und des Abends wieder zu ſeinem Eſſig¬
brauer kam, wo W... und S... und Philipp
Reiſer auch ſchon waren, die ſich ſeines Gluͤcks
nun wirklich freuten, und deren Theilnehmung
ihm mehr werth war, als alle das Glaͤnzende
dieſes Tages. —
Reiſer erhielt nun noch mehr Unterrichts¬
ſtunden, wodurch ſich ſeine Einnahme ſo ver¬
beſſerte, daß er ſich ein beßres Logie miethen,
zuweilen einige ſeiner Mitſchuͤler zum Kaffee bit¬
ten, und fuͤr einen Primaner auf einen ganz an¬
ſehnlichen Fuß leben konnte — nun aber daͤuchte
ihm das Geld, was er einnahm, gegen ſeine ſon¬
ſtigen Einkuͤnfte und Beduͤrfniſſe gehalten ſo
viel, daß ihm die Koſtbarkeit deſſelben, und die
Nothwendigkeit des Zuſammenhaltens auch nicht
im mindeſten einleuchtete — er wurde auf die
Weiſe durch ſeine ſtaͤrkere Einnahme aͤrmer, als
er vorher war; und eben das, was eine Wirkung
ſeines guͤnſtigen Gluͤcks war, wurde in der Folge
wieder die Quelle ſeines Ungluͤcks. —
[151]
Da er nun aber die Achtung aller derer,
die ihn kannten, und derer, von welchen ſein
Gluͤck abhing, ſo ploͤtzlich und ſo unerwartet
wieder gewonnen hatte, ſo machte dieß natuͤr¬
licher Weiſe einen Eindruck auf ſein Gemuͤth, der
ihn zu einem edlen Beſtreben anſpornte, dieſe
Achtung immer mehr zu verdienen — er fing
an, die Stunden des oͤffentlichen Unterrichts
ſorgfaͤltiger wie jemals zu nutzen, und vorzuͤglich
durch Aufſchreiben, ſich, ſo viel er nur konnte,
davon zu eigen zu machen. —
Die Uebungen im Deklamiren waͤhrten fort
— und Reiſer verfertigte zu dieſem Endzweck
noch ein Gedicht uͤber die Maͤngel der Ver¬
nunft — ein Thema, das der Direktor zur
Ausarbeitung aufgegeben hatte. — Reiſer brachte
hier alle ſeine Zweifel hinein, die er ſchon ſo lange
mit ſich herumgetragen hatte. —
Die Begriffe Alles und Seyn, als die hoͤch¬
ſten Begriffe des menſchlichen Verſtandes, gnuͤgten
ihm nicht — ſie ſchienen ihm eine enge und aͤngſt¬
liche Einſchraͤnkung zu ſeyn — daß nun damit
alles menſchliche Denken aufhoͤren ſollte — ihm
fielen die Worte des ſterbenden alten Tiſchers
K 4[152] ein — alles, alles, alles! — daß er gleichſam
da, wo ſich ein neues Daſeyn von dem alten
ſcheidet, dieſen hoͤchſten, Grenzbegriff ſo oft
wiederhohlte — die Scheidewand ſollte gleichſam
durchgebrochen werden — Alles und Daſeyn
mußten wieder untergeordnete Begriffe von einem
noch hoͤhern, vielumfaſſendern Begriffe werden
— alles was iſt — muß noch etwas neben ſich
leiden, etwas — das zugleich mit allem was iſt,
unter etwas Hoͤherem, etwas Erhabenerem,
begriffen wird — warum ſoll unſer Denken die
letzte Grenze ſeyn? — wenn wir nichts hoͤheres
ſagen koͤnnen, als alles was da iſt, ſoll denn
eine hoͤhere und die hoͤchſte Denkkraft auch nichts
hoͤheres ſagen koͤnnen? — Der ſterbende Tiſcher
wollte vielleicht mehr ſagen, als er ſein alles
zweimal wiederhohlte, aber ſeine Zunge oder ſeine
Gedanken verſagten ihm — und er ſtarb. —
Dieß waren die ſonderbaren Ideen, die Rei¬
ſer in ſein Gedicht uͤber die Maͤngel der Vernunft
brachte, das unter andern die Worte enthielt:
erſchwingt,
[153]
raph ringt? —
Zuletzt endigte ſich denn das Gedicht auf eine
ſehr orthodoxe Weiſe, daß man alſo doch zu dem
Licht der Offenbarung am Ende ſeine Zuflucht
nehmen muͤſſe:
Schatten geht,
es verſchmaͤht! —
Den Schluß billigte der Direktor ſehr; das
Ganze des Gedichts aber hielt er, wie auch ſehr
natuͤrlich war, fuͤr unverſtaͤndlich. —
Ein andermal arbeitete Reiſer wieder ein Ge¬
dicht uͤber die Zufriedenheit — gleichſam zu ſeiner
eignen Belehrung, oder zur eignen Richtſchnur
ſeines Lebens, aus — nachdem er nun aber alle
Beruhigungsgruͤnde bei den Widerwaͤrtigkeiten
des Lebens durchgegangen war, und ſich gleichſam
in eine ſanfte Stille eingewiegt hatte, ſo erwachte
doch am Ende wieder ſeine ſchwarze Melancho¬
lie — und er beſchloß die Reihe der ſanften Em¬
pfindungen, welche in dieſem Gedicht ausgedruͤckt
K 5[154] waren, doch vm Ende mit folgenden Ausdruͤcken
der Verzweiflung:
Indem er einem ſolchen Gedanken nachhing,
empfand er oft eine Art von qualenvoller Wonne,
wenn es dergleichen geben kann. —
Dieß Gedicht war gleichſam ein Gemaͤhlde
aller ſeiner Empfindungen, die, wenn ſie auch
ſanft und ruhig anhuben, ſich doch gemeiniglich
auf die Weiſe zu endigen pflegten. — Zu dieſem
Gange der Empfindungen war nun einmal,
durch alle die unzaͤhligen Kraͤnkungen und De¬
muͤthigungen, die er von Jugend auf erlitten
hatte, ſein Gemuͤth geſtimmt — bei der heiter¬
ſten lachendſten Ausſicht zog ſich das ſchwarze
Melancholiſche immer wieder wie eine Wolke
vor ſeine Seele. —
[155]
Sobald ſich auch ſein Ausdruck dahin lenkte,
wurde er natuͤrlich und wahr. — Wie er denn
einmal den Auftrag erhielt, fuͤr jemanden ver¬
liebte Klagen zu dichten. — Eine Situation,
in welche er ſich mit aller Anſtrengung nicht ver¬
ſetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß
er von einem Frauenzimmer je geliebt werden
koͤnnte — indem er ſein ganzes Aeußre einmal
fuͤr ſo wenig empfelend hielt, daß er gaͤnzlich
Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; ſo
konnte er ſich nie in die Lage eines ſolchen ſetzen,
der daruͤber klagt, daß er nicht geliebt wird —
was er alſo hievon wußte, das dachte er ſich
bloß, ohne es je empfinden zu koͤnnen. — Dem¬
ohngeachtet geriethen ihm die verliebten Kla¬
gen, die er entwarf, nicht ganz uͤbel, weil er
das kurz darin zuſammendraͤngte, was er aus
Romanen und Philipp Reiſers Unterredungen
wußte. — Zuletzt aber dachte er ſich nun den
Liebhaber in [einem] Zuſtande, wo er vom Ueber¬
reſt ſeiner Leiden niedergedruͤckt der Verzweiflung
nahe iſt, und ohne nun ferner auf die Urſach der
Verzweiflung Ruͤckſicht zu nehmen, dachte er ſich
nun den Verzweiflungsvollen, und konnte ſich
[156] wieder in ſeine Stelle verſetzen. — Der letzte
Vers dieſer verliebten Klagen ſchien ihm daher
auch unter den Haͤnden zu gerathen. —
Zuweilen fing ihm nun auch ſogar das zaͤrtliche
an, zu gelingen, wenn es mit einer gewiſſen
ſanften Schwermuth vergeſellſchaftet war — ſo
machte er z. B. fuͤr jemanden ein Abſchiedsgedicht
an deſſen Geliebte — das ſich, nach einer bittern
Klage uͤber die Trennung, ſchloß:
nen —
Und in ſeiner Rede an der Koͤnigin Geburtstage
war folgende Stelle, die ich vorher nicht mit
ausgezogen habe, eigentlich diejenige, wobei
er am meiſten und am wahrſten empfunden
hatte —
jauchzen —
die Zaͤhre,
laͤcheln, und ſegnen
zum Troſt gab. —
Auch er rechnete ſich in Gedanken mit unter
dieſe Zahl der Traurigen, die den truͤben Blick
zur Freude aufheitern. — Und er fand weit mehr
Suͤßigkeit darin, ſich unter der Zahl der Trau¬
rigen, als unter der Zahl der Froͤlichen zu den¬
ken. — Dieß war wiederum the Joy of grief
(die Wonne der Thraͤnen) wohin von Kindheit
an ſein Herz hing. —
So brachte er nun den Winter ziemlich gluͤck¬
lich zu — aber da nun einmal ſeine Phantaſie ſo
[158] lebhaft angeregt, und ſein Gemuͤth durch ſo
viele ſich durchkreuzende Wuͤnſche und Hoffnun¬
gen bis auf den ſtaͤrckſten Grad in Bewegung
geſetzt war, ſo mußte er nothwendig anfangen,
das Einfoͤrmige in ſeiner Lage zu empfinden. —
Er war in ſeinem neunzehnten Jahre — fuͤnf
Jahre hatte er ſchon die Schule beſucht, und
wußte noch nicht, wann er die Univerſitaͤt wuͤrde
beziehen koͤnnen. — Es fing an, ihm wieder ſo
enge in H... zu werden, beinahe, wie damals,
da ihm die Reiſe nach B... zu dem Hutmacher
bevorſtand. — Alle ſeine Gedanken fingen all¬
maͤlig an, ins weite zu gehn — er traͤumte ſich
in eine romanhafte Zukunft hin. —
Und da nun der Fruͤhling heran kam, ſo er¬
wachte auf einmal eine ſonderbare Begierde zum
Reiſen in ihm, die er bis dahin noch nie in dem
Grade empfunden hatte. —
Bremen liegt zwoͤlf Meilen von H..., und
bis an den Ort, wo Reiſers Eltern wohnten,
war grade die Haͤlfte Weges bis nach Bremen —
und nun von Bremen die Weſer hinunter bis
nach der See zu fahren — das war das große
Projekt, womit ſich Reiſer ſchon ſeit einigen Wo¬
[159] chen trug — und ſeine Einbildungskraft ſpiegelte
ihm Wunderdinge von dieſer Reiſe vor. —
Der Anblick der Weſer — der Schiffe —
einer Handelsſtadt — beſchaͤftigten ſeine Seele
im Wachen und im Traume. — Er ließ ſich von
einem ſeiner Mitſchuͤler, an deſſen Bruder, wel¬
cher in Bremen ein Kaufmannsdiener war, einen
Brief mitgeben, und trat nun mit einem Dukaten
in der Taſche ſeine Reiſe zu Fuße an. —
Dieß war nun die erſte ſonderbare roman¬
hafte Reiſe, welche Anton Reiſer that, und von
der Zeit fing er eigentlich an, ſeinen Nahmen
mit der That zu fuͤhren. —
Er hatte ſich zu dieſer Reiſe mit einer Spe¬
cialcharte von Niederſachſen — einem tragbaren
Dintenfaß — und einem kleinen Buche von
weißen Papier verſehen, um uͤber ſeine Reiſe
unterwegs ein ordentliches Journal fuͤhren zu
koͤnnen. —
Mit jedem Schritte, den er that, nachdem
er aus den Thoren von H. . . war, wuchs gleich¬
ſam ſeine Erwartung und ſein Muth — und er
war von ſeiner Reiſe ſo begeiſtert, daß er ſchon
ein paar Meilen von H. . . ſich auf einem Huͤgel
[160] an der Landſtraße ſetzte, ſein Dintenfaß, das mit
einem Stachel verſehen war, vor ſich in die Erde
pflanzte, und auf dieſe Weiſe halbliegend anfing,
in ſeinem Journal zu ſchreiben — es fuhren un¬
ten einige Kutſchen vorbei, und die Leute, denen
ein ſchreibender Menſch auf einem Huͤgel an der
Landſtraße freilich ein ſonderbarer Anblick ſeyn
mußte, lehnten ſich weit aus dem Schlage, um
ihn zu betrachten — dieß beſchaͤmte ihn etwas —
aber er erhohlte ſich bald wieder von der unan¬
genehmen Wirkung, die dieß neugierige Angaffen
zuerſt auf ihn that, indem er ſich in Anſehung
dieſer Menſchen, die ihn nicht kannten, ſeine
Exiſtenz hinwegdachte — er war fuͤr dieſe
Menſchen gleichſam todt — darum ſchloß er
auch den Aufſatz, welchen er auf dem Huͤgel an
der Landſtraße in ſein Taſchenbuch ſchrieb, mit
den Worten:
Und nun ſetzte er ſeinen Stab weiter fort, kam
am Abend in der Daͤmmerung vor dem Dorfe,
wo ſeine Eltern wohnten, dicht vorbei, erkun¬
digte ſich nach dem naͤchſten Dorfe, das auf dem
Wege[161] Wege nach Bremen zu lag, und da es nur noch
eine Viertelmeile weit war, ſo ging er bis dahin,
und uͤbernachtete in dieſem Dorfe. —
Den andern Tag wanderte er denn uͤber die
oͤde duͤrre Heide fort, und erfragte ſich den Weg
von einem Dorfe zum andern — konnte aber
Bremen nicht erreichen — ſondern mußte noch
einmal in einem Dorfe, welches das letzte von
Bremen war, uͤbernachten — und den dritten
Tag erreichte er denn ſeinen ſehnlichſten Wunſch
— er erblickte die Thuͤrme von Bremen — ſahe
nun das wirklich vor ſich, womit ſeine Phantaſie
ſich ſchon ſo lange beſchaͤftigt hatte. — Er hatte
außer H. . . und B. . . noch keine betraͤchtliche
Stadt geſehen — und Bremen war ihm ſchon
durch den Klang des Nahmens ſo merkwuͤrdig
geworden — ſeine Phantaſie hatte der Stadt
ein graues ſchwaͤrzliches Anſehen gegeben — er
war nun aͤußerſt begierig, die Stadt inwendig
zu betrachten — und wagte es ohne Paß ins
Thor zu gehen, indem er ſich auf Befragen, wer
er waͤre, fuͤr einen Einwohner der Stadt, und
da man noch genauer fragte, fuͤr einen von
den Leuten des Prinzipals von dem Kaufmanns¬
3r Theil. L[162] diener ausgab, an den er einen Brief abzugeben
hatte, worauf man ihm denn paſſiren ließ. —
Sobald er nun in der Stadt war, durchwan¬
derte er erſt ein paarmal die Straßen, und dann
war ſein erſtes, daß er ſich erkundigte, ob nicht
etwa einer von den großen Kaͤhnen, die auf der
Weſer lagen, nach der Muͤndung ſchiffen wuͤrde,
wo noch zu Bremerlehe die heßiſchen Truppen
lagen, die nach Amerika beſtimmt waren, und
damals gerade abſegeln ſollten. —
Es fuͤgte ſich, daß gerade eine von den Kaͤh¬
nen abging, und Reiſer begab ſich nun zum er¬
ſtenmale in ſeinem Leben zu Schiffe — und fuhr
noch an demſelben Tage bis ſechs Meilen jenſeit
Bremen, wo angelegt, und in einem Dorfe
uͤbernachtet wurde. —
Dieſe Schiffahrt, oh es gleich ſtuͤrmiſches
und regnigtes Wetter war, machte Reiſern un¬
endliches Vergnuͤgen, indem er mit ſeiner Land¬
karte in der Hand auf dem Verdeck ſtand, und
die Oerter an beiden Ufern, deren Nahmen er
nun wußte, die Muſterung vor ſich vorbei paßi¬
ren ließ — er aß und trank mit den Schiffern,
[163] und kehrte am Abend mit ihnen in die Herberge
ein. —
Von da wollte er den andern Morgen mit
einem andern Schiffe weiter bis an die Seekuͤſte
fahren, er ſah ſchon in Gedanken die ungeheuren
Waſſerfluthen vor ſich, und ſeine Einbildungs¬
kraft war gerade bis auf den hoͤchſten Grad ge¬
ſpannt, da ihm ploͤtzlich eine Sache einfiel, die
er die ganze Reiſe uͤber noch nicht reiflich erwo¬
gen hatte, ob nehmlich auch ſeine Boͤrſe zureichen
wuͤrde — und wie erſchrack er, da er ſich von
dem Schiffer ſeine Rechnung machen ließ, und
nachdem er ſie bezahlt hatte, nur noch wenige
Groſchen uͤbrig behielt. —
Er getraute ſich nun den Abend nicht, zu
eſſen, ſondern gab Kopfweh vor, und ließ ſich
ſogleich ſein Bette zeigen — hier machte er faſt
die halbe Nacht Entwuͤrfe, wie er nun mit Ehren
aus dieſem Gaſthofe kommen ſollte, wenn etwa
ſeine Zeche mehr betruͤge, als die wenigen Gro¬
ſchen, die er noch uͤbrig hatte. —
Da er ſich nun am andern Morgen erkun¬
digte, wie viel er bezahlen muͤſſe, ſo langten zu¬
faͤlligerweiſe die wenigen Groſchen, die er noch
L 2[164] hatte, gerade zu, aber er behielt auch nicht einen
Heller uͤbrig, und befand ſich nun achtzehn Mei¬
len von H. . ., zwoͤlf Meilen von dem Ort, wo
ſeine Eltern wohnten, und ſechs Meilen von
Bremen. — Er gab vor, daß er nun nicht nach
der Seekuͤſte mitfahren koͤnne, weil er uͤberlegt
habe, daß es ihn doch zu lange aufhalten wuͤrde,
und ſo wanderte er nun, froh, daß er noch ſo
mit Ehren davon gekommen war, aus ſeiner
naͤchtlichen Herberge den geraden Weg wieder
auf Bremen zu. —
Sein Brief an den Kaufmannsdiener in Bre¬
men war nun noch ſeine einzige Hoffnung —
ohne dieſen war er, zwoͤlf Meilen weit, bis zu
dem Wohnorte ſeiner Eltern, von aller Welt
verlaſſen. —
Er war noch nuͤchtern, wie er ſeine Reiſe an¬
trat, und mußte ſich nun darauf gefaßt machen,
den ganzen Tag ſo zu bleiben. — Der Weg,
welcher anfaͤnglich laͤngſt dem Ufer der Weſer
hinging, war ſandigt, und ermuͤdend — dem
ohngeachtet aber ging er gutes Muths fort, bis
es gegen Mittag kam, und die Sonnenhitze
brennend wurde. —
[165]
Hunger, Durſt und Muͤdigkeit uͤberfielen ihn
zugleich mit dem Gedanken, daß er hier auf dem
oͤden Felde fremd, ohne Geld, und gleichſam von
aller Welt verlaſſen war — er ſuchte ſich einige
Brodkrumen aus der Taſche zuſammen — und
fand bei dieſer Gelegenheit noch zwei ſogenannte
Bremergroten, wovon jeder ohngefaͤhr vier
Pfennige betraͤgt. —
Dieß war ihm unter den Umſtaͤnden ſo lieb,
als haͤtte er einen Schatz gefunden; er rafte alle
ſeine uͤbrigen Kraͤfte zuſammen, um bald nach
dem naͤchſten Dorfe zu kommen, wo er ſich fuͤr
den einen Groten ein wenig Bier geben ließ,
das ihm nun eine ganz ungehoffte Erquickung
war, denn er hatte ſich einmal darauf gefaßt
gemacht, die ſechs Meilen bis Bremen nuͤchtern
zuruͤckzulegen. —
Der Trunk Bier floͤßte ihm wieder neuen
Muth ein, ſo wie das Vierpfennigſtuͤck, das er
doch nun noch in der Taſche hatte. —
Freilich ſtellte ſich auch der Hunger wieder
ein, aber er ſuchte ihn zu uͤberwinden, und blieb
reſignirt. — Ein armer Handwerksburſch ge¬
ſellte ſich unterwegens zu ihm, der in jedem Dorfe
L 3[166] einkehrte, und ſich etwas zuſammenbettelte. —
Und Reiſern machte das ſonderbare Verhaͤltniß
eine Art von Vergnuͤgen, daß dieſer arme Hand¬
werksburſch, der ihn vielleicht als einen wohlge¬
kleideten Menſchen beneiden mochte, doch jetzt
im Grunde reicher, als er war. —
Den Nachmittag erreichte er Vegeſack,
und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was
er noch nie geſehen hatte, eine Anzahl dreima¬
ſtiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. —
Dieſer Anblick ergoͤtzte ihn, ohngeachtet des
mißlichen Zuſtandes, worin er ſich befand, unbe¬
ſchreiblich — und weil er an dieſem Zuſtande
durch ſeine Unbeſonnenheit ſelber ſchuld war, ſo
wollte er es ſich gleichſam gegen ſich ſelber nicht
einmal merken laſſen, daß er nun damit unzu¬
frieden ſey. —
Gegen Abend erreichte er Bremen; aber ehe
er an die Stadt kam, mußte er ſich erſt an das
jenſeitige Ufer der Weſer uͤberſetzen laſſen, wofuͤr
gerade ein Bremergrote bezahlt werden mußte —
daß er nun dieſen gerade noch geſpart hat¬
te, daͤuchte ihm wiederum ein ordentlicher
Gluͤcksfall, weil er ſonſt die Stadt nicht mehr
[167] wuͤrde erreicht haben, woran ihm doch jetzt
alles lag. —
Mit Sonnenuntergang kam er denn endlich
noch an das Stadtthor, und weil er ordentlich
gekleidet war, und das ganze Weſen eines ſpa¬
tzierengehenden annahm, der zuweilen ſtill ſtehet,
und ſich nach etwas umſieht, und dann wieder
ein paar Schritte weiter geht — ſo ließ man ihn
ungehindert durchpaſſiren. —
Er fand ſich alſo auf einmal wieder in dem
Bezirk einer volkreichen Stadt, wo ihn aber
niemand kannte, und er ſo verlaſſen und allein,
indem er traurig uͤber das Gelaͤnder in die Weſer
hinabſahe, auf der Straße da ſtand, als wenn
er auf einer unbewohnten wuͤſten Inſel geweſen
waͤre. —
Eine Weile gefiel er ſich gewiſſermaßen in
dieſem verlaßnen Zuſtande, der doch ſo etwas
ſonderbares romanhaftes hatte. — Da aber
das vernuͤnftige Nachdenken uͤber die Phantaſie
wieder den Sieg erhielt; ſo war freilich ſeine erſte
Sorge, von ſeinem Briefe an den Kaufmanns¬
diener Gebrauch zu machen. —
[168]
Wie groß war aber ſein Erſchrecken, da er
ſich in der Wohnung deſſelben nach ihm erkun¬
digte, und erfuhr, daß er erſt den Abend ſpaͤt zu
Hauſe kommen wuͤrde. — Er blieb auf der
Straße nicht weit von dem Hauſe ſtehen — die
Dunkelheit der Nacht brach herein — in einen
Gaſthof getraute er ſich ohne Geld nicht zu ge¬
hen — alle ſeine romanhaften Ideen, die ihm
vorher dieſen Zuſtand noch erleichtert hatten,
waren verſchwunden, er empfand nichts, als die
grauſame Nothwendigkeit, dieſe Nacht von Hun¬
ger und Muͤdigkeit gequaͤlt, mitten in einer volk¬
reichen Stadt unter freiem Himmel zubringen
zu muͤſſen. —
Indem er nun melancholiſch da ſtand, und
ſich verlegen nach allen Seiten umſah, kam ein
wohlgekleideter Mann dahergegangen, der ihn
genau betrachtete, und ihn mit mitleidiger Miene
fragte, ob er etwa hier fremd ſey? — allein er
konnte ſich nicht uͤberwinden, dieſem Manne
ſeinen Zuſtand zu entdecken — ſondern war ent¬
ſchloſſen, lieber auf alle Faͤlle die Nacht unter
freiem Himmel zuzubringen, welches er auch
wuͤrde gethan haben, wenn nach ſo vielen Wieder¬
[169] waͤrtigkeiten ſich jetzt nicht wiederum ein gluͤck¬
licher Umſtand fuͤr ihn ereignet haͤtte. — Der
Kaufmannsdiener hatte ſich nehmlich aus der
Geſellſchaft, worin er ſich befand, losgeriſſen,
um zu Hauſe etwas nothwendiges zu beſorgen,
und da er hoͤrte, daß jemand einen Brief von
ſeinem Bruder an ihn habe abgeben wollen, den
nachher noch in der Naͤhe am Waſſer ſpatzieren
gegangen waͤre, ſo eilte er gleich, um den Ueber¬
bringer des Briefes, deſſen Anſehen man ihm be¬
ſchrieben hatte, was moͤglich, aufzuſuchen, und
traf auch Reiſern, den er gleich erkannte, wirk¬
lich an, da dieſer ſchon alle Hoffnung aufgegeben
hatte, die Nacht ein Obdach zu finden. —
Sobald der junge Kaufmann nur die Hand¬
ſchrift ſeines Bruders erblickte, war er gegen
Reiſern aͤußerſt freundſchaftlich und gefaͤllig, und
erbot ſich ſogleich, ihn in einen Gaſthof zu fuͤh¬
ren. — Reiſer entdeckte ihm denn ſeinen wahren
Zuſtand, freilich mit einigen Erdichtungen; —
er ſei nehmlich wider ſeiner Gewohnheit zum
Spiel verleitet worden, und habe alle ſeine Baar¬
ſchaft verloren — denn daß er ſich mit zu weni¬
gem Gelde zu dieſer Reiſe verſehen habe, ſchaͤmte
L 5[170] er ſich zu ſagen, weil er dadurch noch mehr in der
Meinung des jungen Menſchen, von dem er
jetzt allein Huͤlfe erwarten konnte, zu verlieren
glaubte. —
Aber nun aͤnderte ſich auf einmal ſein widri¬
ges Schickſal— der Kaufmann erbot ſich ſogleich,
ihm ſo viel vorzuſtrecken, daß es ihm an nichts
fehlen ſollte — er fuͤhrte ihn in einen angeſehe¬
nen Gaſthof, wo Reiſer auf ſeine Empfehlung
auf das beſte bewirthet wurde, und nun den
Abend ſo vergnuͤgt zubrachte, daß ihm alle Be¬
ſchwerden des Tages vielfaͤltig erſetzt wurden. —
Einige Glaͤſer Wein, die er noch in Geſell¬
ſchaft des Kaufmannsdieners trank, thaten nach
der Ermuͤdung und Entkraͤftung eines ganzen
Tages, eine ſo außerordentliche Wirkung auf
ſeine Lebensgeiſter, daß er faſt die ganze Geſell¬
ſchaft, die ſich alle Abend hier zu verſammlen
pflegte, mit Anekdoten von H. . . und luſtigen
Einfaͤllen, die ihm ſonſt gar nicht gewoͤhnlich
waren, unterhielt, und ſich den Beifall aller der
Perſonen in dieſem kleinen Zirkel erwarb, wor¬
unter ſich auch derjenige mit befand, der ihn den
Abend traurig und verlaſſen auf der Straße ſte¬
[171] hen ſah, und unter allen den voruͤbergehenden
Leuten, der einzige geweſen war, dem ein ganz
fremder Menſch, welcher traurig und verlaſſen da
ſtand, wichtig genug ſchien, daß er ſich um ihn
bekuͤmmerte und ihn anredete. — Reiſer gewann
dadurch eine außerordentliche Zuneigung zu die¬
ſem Manne, denn ein ſolches Anreden und Be¬
ſorgtſeyn um den Zuſtand eines ganz fremden
Menſchen, der wie verlaſſen und huͤlfebeduͤrftig
zu ſeyn ſcheint, iſt doch eigentlich die allgemeine
Menſchenliebe, woran man den frommen
Samariter von dem voruͤbergehenden Prieſter
und Leviten unterſcheiden kann. —
Reiſer hat nicht leicht in ſeinem Leben einen
Abend vergnuͤgter zugebracht, als dieſen, wo er
ſich in einer fremden Stadt, in einem ganz frem¬
den Zirkel von Menſchen, geachtet ſahe, ins Ge¬
ſpraͤch gezogen, und mit aufmunterndem Beifall
angehoͤrt wurde. —
Der Kaufmannsdiener noͤthigte ihn nun
ſelbſt, ſich noch einige Tage in Bremen aufzu¬
halten, zeigte ihm die Merkwuͤrdigkeiten der
Stadt, und Reiſer fand nun an eben dem Or¬
te, wo er erſt fremd, von keinem Menſchen be¬
[172] merkt, einſam und verlaſſen auf der Straße
ſtand, ſo viele Menſchen, die ſich fuͤr ihn in¬
tereſſirten, mit ihm ſich unterredeten, und mit
ihm ausgingen, daß er an dieſe Perſonen, die
ihm ſo viele zuvorkommende gutmuͤthige Hoflich¬
keit und Freundſchaftsbezeigungen erwieſen, eine
Art von Anhaͤnglichkeit bekam, welche es ihm ſchwer
machte, ſich nach einer ſo kurzen Zeit ſchon wieder
auf immer von ihnen zu trennen. —
Er ſpeißte des Mittags in einer anſehnlichen
Tiſchgeſellſchaft, wo ihm als einen Fremden im¬
mer mit ausgezeichneter Hoͤflichkeit begegnet wur¬
de, — eine Behandlung, die er bis jetzt noch
eben nicht gewohnt geweſen war. — Der Kauf¬
mannsdiener ſtreckte ihm ſo viel vor, daß er nicht
nur ſeine Rechnung im Gaſthofe bezahlen, ſon¬
dern auch mit Bequemlichkeit wieder nach H. . .
zuruͤckreiſen konnte, welches er nun freilich zu
Fuſſe that. —
Und da ihm nun dißmal ſein unbeſonnener
Anſchlag ſo gut gelang, ſo bildete ſich zuerſt un¬
vermerkt der Keim zu dem Gedanken in ihm, ſein
Gluͤck nicht laͤnger in ſeiner bisherigen einge¬
ſchraͤnkten Lage abzuwarten, ſondern es in der
[173] weiten Welt, die ihm offen ſtand, ſelbſt auf¬
zuſuchen. —
Er hatte in einer fremden Stadt eine ganze
Anzahl Menſchen gefunden, die ſich um ihn be¬
kuͤmmerten, Theil an ihm nahmen, und ihm ſei¬
nen Aufenthalt angenehm machten lauter Sa¬
chen, die er in H. . . nie gewohnt geweſen war.
— Er hatte Abentheuer uͤberſtanden, und in
einem kurzen Zeitraum den ſchnellſten Gluͤcks¬
wechſel erfahren — indem er kaum eine Stunde
vorher noch von aller Welt verlaſſen, und unmit¬
telbar darauf ſich in einem Zirkel von Menſchen
befand, die alle auf ihn aufmerkſam waren, und
ihn in ihre Geſpraͤche zogen. —
Was Wunder, daß nun dadurch der Gedanke
bei ihm rege wurde, die traurige Einfoͤrmigkeit
ſeines bisherigen Aufenthalts, und ſeiner bishe¬
rigen Verhaͤltniſſe mit dergleichen Abwechſelun¬
gen zu vertauſchen — wodurch er, ohnge¬
achtet aller Beſchwerlichkeiten, die er daruͤber
erdulden mußte, doch ſeine Seele auf eine ange¬
nehme, vorher noch nie empfundene Art erſchuͤt¬
tert fuͤhlte. —
[174]
Selbſt die Wehmuth, die er empfand, da
ihm nun die Thore der Stadt, in welcher er
noch geſtern mit einer Anzahl ihm wohlwollender
Menſchen vertraulich an einem Tiſche geſeſſen
hatte, aus den Augen ſchwanden, und er alſo
nun ſogar die letzten hervorragenden Spuren,
dieſes ihm in der kurzen Zeit ſo lieb gewordenen
Ortes, aus ſeinem Geſichtskreiſe verlohren hatte
— ſelbſt dieſe Wemuth hatte einen nieempfun¬
denen Reiz fuͤr ihn — er kam ſich ſelber groͤßer
vor, weil er eigenmaͤchtig, ganz ohne irgend ei¬
nen aͤußern Antrieb — nun zum erſtenmale eine
Reiſe nach einer ganz fremden Stadt gethan
hatte, in der er binnen ein paar Tage mehr
Menſchen fand, die ihm wohl wollten, als er
in H. . . ganze Jahre hindurch nicht hatte finden
koͤnnen. —
Das Wandern fing ihm an, ſo lieb zu wer¬
den — er phantaſirte ſich durch tauſend ange¬
nehme Vorſtellungen die Ermuͤdung hinweg —
wenn es dunkel wuͤrde, ſo betrachtete er den
vor ihm ſich hinſchlaͤngelnden Weg, auf den
er beſtaͤndig ſein Augenmerk heften mußte, gleich¬
ſam wie einen treuen Freund, der ihn leitete. —
[175] Dieß wurde ihm denn zuletzt eine dichteriſche
Idee — es wurde Bild, Vergleichung, woran
er tauſend Dinge kettete. — „Wie ſich ein Wan¬
drer an ſeinen Weg haͤlt; ſo getreu, wie der Weg
dem Wandrer — ſo — und ſo —“ Dieß Ideen¬
ſpiel verfolgte er im Gehen — und das Einfoͤr¬
mige der Gegend bei der umgebenden Dunkel¬
heit, und des immerwaͤhrenden Fußaufhebens,
verſchwand ihm unmerklich, und machte ihn nicht
verdrießlich. —
Es war ſchon ganz dunkel, da er zu ſeinen
Eltern kam, die ſich freilich wunderten, daß er
dicht vor ihnen vorbeigegangen, erſt nach Bre¬
men gereißt, und dann zu ihnen gekommen war.
— Demohngeachtet aber nahmen ihn ſeine El¬
tern, wegen der vielen angenehmen Nachrichten,
die ſie von ihm erhalten hatten, dießmal mit
Freuden auf. —
Und Reiſer hatte nun ſo viel Stoff zu my¬
ſtiſchen Unterredungen mit ſeinem Vater ge¬
ſammlet, daß ſie dißmal ſich oft bis in die Nacht
unterhielten. — Reiſer ſuchte nehmlich alle die
myſtiſchen Ideen ſeines Vaters, die er aus den
Schriften der Mad. Guion geſchoͤpft hatte, von
[176] Alles und Eins, vom Vollenden in Eins u. ſ. w.,
metaphyſiſch zu erklaͤren, welches ihm ſehr leicht
wurde — indem die Myſtik und Methaphyſik
wirklich in ſo fern zuſammentreffen, als jene oft
eben das vermittelſt der Einbildungskraft zufaͤl¬
ligerweiſe herausgebracht hat, was in dieſer ein
Werk der nachdenkenden Vernunft iſt. — Rei¬
ſers Vater, der dieß nie in ſeinem Sohne geſucht
hatte, ſchien nun auch eine hohe Idee von ihm
zu bekommen, und ordentlich eine Art von Ach¬
tung gegen ihn zu hegen. —
Die Neigung zur Schwermuth aber behielt
auch hier beſtaͤndig bei Reiſern das Uebergewicht.
— Er ſtand mit ſeiner Mutter an der Thuͤre,
da das Kind eines Nachbars begraben wurde,
und der Vater in tiefer Trauer, mit hangendem
Haar und naſſem Auge folgte. — Wenn ſie mich
nur auch erſt ſo hintruͤgen, ſagte Reiſers Mutter,
die freilich im Leben nicht viel Freude gehabt
hatte, und Reiſer, der ſich doch noch viel Freude
verſprechen konnte, ſtimmte innerlich ſo herzlich
in dieſem Wunſch mit ein, als ob ihm das groͤßte
Herzeleid wiederfahren waͤre. —
[177]
Er nahm dießmal bei ſeiner Abreiſe von ſei¬
ner Mutter und ſeinen Bruͤdern mit mehrerer
Ruͤhrung, wie gewoͤhnlich Abſchied — und wan¬
derte zu Fuß wieder nach H. . . — Da er nun
die vier Thuͤrme wieder erblickte, die er ſchon
unter ſo mancherlei verſchiedenen Verhaͤltniſſen
wieder geſehen hatte, ſo wandelte ihm dießmal
aufs neue ein aͤngſtliches Gefuͤhl an, da er aus
der weiten Welt nun wieder in dieſen kleinen
Umkreis aller ſeiner Verhaͤltniſſe und Verbindun¬
gen zuruͤckkehren ſollte, das Allzubekannte dort
daͤuchte ihm ſo fade. — Aber auf einmal er¬
heiterte ſich ſeine Seele wieder, da er ins Thor
getreten war, und gleich an einer Ecke einen Ko¬
moͤdienzettel angeſchlagen fand. — Dieß uͤber¬
raſchte ihn auf die angenehmſte Weiſe — ſein
erſter Gang war, wie vor drei Jahren, nach dem
Schloſſe, wo das Theater war, und wo der
Hauptzettel mit dem Verzeichniß der Perſonen
angeſchlagen ſtand — man ſpielte den Klavigo,
Brockmann den Beaumarchais, Reinicke den
Klavigo, die aͤlteſte Dem. Ackermann (die
juͤngere war damals ſchon geſtorben) ſpielte die
Maria, Schroͤder den Don Carlos, die
3r Theil. M[178] Reinicken die Schweſter der Maria, Schuͤtz
den Buenko, und Boͤheim den Freund des
Beaumarchais. —
So vortrefflich war Rollenbeſetzung in
dieſem Stuͤck bis auf die unbedeutendſten Neben¬
rollen. — Reiſer kannte alle dieſe vortrefflichen
Schauſpieler — war es wohl zu verwundern,
daß ſeine Erwartung auf das hoͤchſte geſpannt
wurde, aufs neue die Vorſtellung eines Stuͤcks
von ihnen zu ſehen, das er zwar noch nicht gele¬
ſen hatte, wovon er aber wußte, daß es von
dem Verfaſſer der Leiden des jungen Werthers
war? —
Durch dieſem zufaͤlligen Umſtand, vergeſell¬
ſchaftet mit der Ruͤckerinnerung an die Aben¬
theuer, die er auf ſeiner Reiſe gehabt hatte, bil¬
dete ſich eine ſonderbare romantiſche Idee in ſei¬
nem Kopfe, die nun wieder auf einige Jahre
ſeines kuͤnftigen Lebens einen ſehr großen Einfluß
hatte. — Theater — und reiſen — wurden
unvermerkt die beiden herrſchenden Vorſtellungen
in ſeiner Einbildungskraft, woraus ſich denn auch
ſein nachheriger Entſchluß erklaͤrt. —
[179]
Er verſaͤumte nun wieder nicht leicht einen
Abend die Komoͤdie — dadurch aber wurde ſein
Kopf wieder ſo voll von theatraliſchen Ideen,
daß ihm ſeine eigentlichen Geſchaͤfte des beſtaͤn¬
digen Lernens und Lehrens — denn er hatte faſt
den ganzen Tag mit Unterrichtsſtunden beſetzt —
ſchon zuweilen nicht recht mehr zu ſchmecken an¬
fingen, und er ſich dann kein Bedenken machte,
dann und wann eine der Stunden, wo er lehrte
oder lernte, zu verſaͤumen, indem er dann jedes¬
mal rechnete, daß es doch nur eine Stunde
ſey. —
Nun wurden damals die Zwillinge von
Klinger zuerſt aufs Theater gebracht, und frei¬
lich mit aller moͤglichen Kunſt dargeſtellt, indem
Brockmann den Guelfo, Reinicke den alten
Guelfo, die Reinicken die Mutter, die Acker¬
mann die Kamilla, Schroͤder den Grimaldi,
und Lambrecht den Bruder des Guelfo,
ſpielte. —
Dieß ſchreckliche Strck machte eine außeror¬
dentliche Wirkung auf Reiſern — es griff gleich¬
ſam in alle ſeine Empfindungen ein. — Guelfo
glaubte ſich von der Wiege an unterdruͤckt
M 2[180] — das glaubte er von ſich auch — ihm fielen
dabei alle die Demuͤthigungen und Kraͤnkungen
ein, denen er von ſeiner fruͤhſten Kindheit an, faſt
ſo lange er denken konnte, beſtaͤndig ausgeſetzt
worden war. — Er vergaß den Fuͤrſtenſohn, und
alle die Verhaͤltniſſe eines Fuͤrſtenſohnes, und
fand nur ſich in dem unterdruͤckten Guelfo wie¬
der. — Die bittre Lache, die Guelfo in der
Verzweiflung uͤber ſich ſelbſt aufſchlug, grif in
Reiſers innerſte Empfindungen ein — er erin¬
nerte ſich dabei aller der fuͤrchterlichen Augen¬
blicke, wo er wirklich am Rande der Verzwei¬
flung ſtand, und eben eine ſolche Lache uͤber ſich
aufſchlug — indem er ſein eignes Weſen mit
Verachtung und Abſcheu betrachtete, und oft
mit ſchrecklicher Wonne in ein lautſchallendes
Hohngelaͤchter ausbrach. —
Der Abſcheu vor ſich ſelber, den Guelfo em¬
pfand, indem er den Spiegel entzwei ſchlaͤgt,
worin er ſich nach der Mordthat erblickt — und
daß er nun nichts wuͤnſcht, als zu ſchlafen — zu
ſchlafen — das alles ſchien Reiſern ſo wahr,
ſo aus ſeiner eignen Seele, die beſtaͤndig mit
dergleichen ſchwarzen Phantaſien ſchwanger ging,
[181] gehoben zu ſeyn, daß er ſich ganz in die Rolle
des Guelfo hineindachte, und eine Zeitlang mit
allen ſeinen Gedanken und Empfindungen darin
lebte. —
Waͤhrend daß alſo [n]un auf dem Koͤniglichen
Operntheater von der Schroͤderſchen Geſellſchaft
Komoͤdie geſpielt wurde, kam auch die Zeit der
Sommerferien heran; wo die Primaner jaͤhr¬
lich oͤffentlich eine Komoͤdie aufzufuͤhren pfleg¬
ten. —
Reiſer zweifelte nicht, daß man ihm dießmal
eine Rolle antragen wuͤrde, da er doch nun, ſeitdem
er die Rede auf der Koͤnigin Geburtstag gehalten
hatte, einer der angeſehenſten unter ſeinen Mit¬
ſchuͤlern war, und daher auch gar nicht glaub¬
te, daß man ohne ihn die Sache anfangen
wuͤrde. —
Wie ſehr erſtaunte er alſo, da er vernahm,
daß man die Sache dennoch ohne ihn angefan¬
gen, und ſogar ſchon die aufzufuͤhrenden Stuͤcke
beſtimmt, und ihm nicht einmal eine Rolle darin
zugetheilt hatte. — Da er jetzt wirklich viele
Freunde und vielen Anhang unter ſeinen Mit¬
ſchuͤlern hatte, ſo konnte er ſich dieſe Zuruͤckſtellung
M 3[182] erſt gar nicht erklaͤren, bis er denn freilich merk¬
te, daß hier ein ſolcher Rollenneid, und ein ſo
aͤngſtliches Bemuͤhen, einander den Rang abzu¬
laufen, ſtatt fand, daß ein jeder genug fuͤr ſich
zu ſorgen hatte, und wer ſich nicht mit Gewalt
hinzudraͤngte, auch nicht gerufen wurde. —
Reiſer hat ſich nachher oft an dieſen Auftritt
in ſeinem Leben zuruͤckerinnert, und Betrach¬
tungen daruͤber angeſtellt, wie in dieſen kindi¬
ſchen Beſtrebungen nach einer ſo unbedeutenden
Sache, als eine Rolle in einem Stuͤcke war, das
von den Primanern in H. . . aufgefuͤhrt wurde,
ſich doch das ganze Spiel der menſchlichen Lei¬
denſchaften eben ſo vollſtaͤndig entwickelte, als ob
es die allerwichtigſte Angelegenheit betroffen haͤt¬
te; und wie das Streben gegeneinander, dieß
Verdraͤngen und wieder verdraͤngt werden, ein
ſo getreues Bild des menſchlichen Lebens im
Kleinen war, daß Reiſer alle ſeine kuͤnftigen
Erfahrungen hierdurch ſchon gleichſam vorberei¬
tet ſahe. —
Dieß kam nun freilich wohl mit daher, weil
den Primanern die Anordnung der Schauſpiele,
und die Beſetzung der Rollen aus ihrem Mittel
[183] gaͤnzlich uͤberlaſſen war. — Der Geiſt wurde
dadurch gleichſam republikaniſch — es konnten
ſich mehrere Kraͤfte entwickeln — Liſt und Ver¬
ſchlagenheit gebraucht, und Kabalen geſchmiedet
werden; wie es nur irgend bei der Wahl eines
Parlamentsgliedes geſchieht — denn es wurden
uͤber dergleichen oͤffentliche Angelegenheiten, auch
wenn z. B. ein Aufzug mit Muſik und Fackeln
ſollte veranſtaltet werden, ordentlich Stimmen
geſammlet, wodurch einer zum Anfuͤhrer bei dem
Zuge, oder zu ſonſt etwas oͤffentlichem gewaͤhlt
wurde. —
Reiſer ſahe ſich alſo nun auf einmal wieder,
da er es am wenigſten vermuthete, von demje¬
nigen ausgeſchloſſen, woran ſein ganzes Herz
jetzt mehr wie jemals hing, und weswegen er
vordem ſchon ſo viel erduldet hatte. — Er ſuchte
ſich zwar mit dem Gedanken zu troͤſten, daß man
ihn verkenne, daß ihm von ſeinen Mitſchuͤlern
Unrecht geſchehn ſey — aber dieß wollte doch
auf die Laͤnge nicht zureichen — vorzuͤglich kraͤnkte
es ihn, daß ſein Freund W. . . ihm nichts davon
geſagt hatte, der mit von der Geſellſchaft de[r]
M 4[184] Spielenden war, und der es wußte, wie ſehr
ſein Herz an dieſer Sache hing. —
Aber dieſer glaubte ſelbſt in einem zu
unvortheilhaften Lichte zu erſcheinen, wenn
er denjenigen als ein Mitglied in Vor¬
ſchlag braͤchte, auf den die Aufmerkſam¬
keit keines einzigen außer ihm gefallen
war. — W. . . meinte es deswegen uͤbrigens
noch gar nicht boͤſe mit Reiſern, ſondern war
nach wie vor ſein Freund, nur bis auf dieſen
Punkt nicht. — Eine Erfahrung, die mancher
vielleicht in ſeinem Leben oͤfter zu machen Gele¬
genheit gehabt hat. — Es haͤlt ſchwer in der
Freundſchaft Stand zu halten, wenn ſich alles
wider jemanden erklaͤrt — man faͤngt an, ſeinem
eignen Urtheil nicht recht mehr zu trauen, das
immer noch einer Stuͤtze außer ſich zu beduͤrfen
ſcheint, ſey ſie auch ſo klein ſie wolle — wenn die
Sache nur noch von einem einzigen in Regung
gebracht wird, ſo will man gern der zweite ſeyn,
der einſtimmt, nur der erſte ſcheut ſich ein jeder
zu ſeyn — und die Freundſchaft muß ſchon einen
ſehr hohen Grad erreicht haben, wenn ſie hier
[185] der entgegenſtrebenden Politik nicht unterliegen
ſoll. —
W. . . war ſonſt ein ſehr aufrichtiger Menſch —
und da Reiſer ihn fragte, was unter ihm und
einer Anzahl ſeiner Mitſchuͤler, die immer zu¬
ſammen kaͤmen, im Werke ſey, ſo gab ihm W. . .
erſt ohne Umſchweife zu verſtehen; er wolle es
ihm nicht ſagen — bis Reiſer weiter in ihn
drang, und dann doch die ganze Sache erfuhr —
wo dann jener ſich damit aus der Verlegenheit
zog, daß er die ganze Sache als unbedeutend
vorſtellte, und als etwas, das doch wohl ſchwer
lich zu Stande kommen wuͤrde, u. ſ. w.
Dieſe Erfahrung, die Reiſer damals zuerſt
an ſeinem Freunde W. . . machte, hat er nachher
nur zu oft in ſeinem Leben wieder beſtaͤtigt
gefunden. —
Außer Reiſern war nun J. . ., von dem ich
ſchon erwaͤhnt habe, daß er nachher einer der
beliebteſten dramatiſchen Schriftſteller geworden
iſt, derjenige, welcher ſich unter der damaligen
Generation der Primaner in H. . . in Anſehung
ſeines Kopfes am mehrſten auszeichnete — und
an den ſich Reiſer ſchon vor einigen Jahren an¬
M 5[186] zuſchließen geſucht hatte. — Allein die Verſchie¬
denheit ihrer Gluͤcksumſtaͤnde hatte dieſes Anein¬
anderſchließen damals gehindert. —
Da nun aber Reiſer angefangen hatte, ſich
auszuzeichnen, ſo fing J. . . von ſelber an, ſich
an ihn zu ſchließen— und ſie unterredeten ſich oft
bei ihren einſamen Spaziergaͤngen uͤber ihre
kuͤnftige Beſtimmung in der Welt. — J. . . lebte
auch ganz in der Phantaſienwelt, und hatte ſich
damals gerade ein ſehr reitzendes Bild von der
angenehmen Lage eines Landpredigers entwor¬
fen — er war alſo entſchloſſen, Theologie zu ſtu¬
dieren, und unterhielt Reiſern faſt beſtaͤndig mit
der Schilderung jener ſtillen, haͤußlichen Gluͤck¬
ſeligkeit, die er dann im Schooß einer kleinen
Gemeinde, die ihn liebte, in ſeinem Doͤrfchen
genießen wuͤrde. — Reiſer, welcher dergleichen
Spiele der Phantaſie aus eigner Erfahrung
kannte, prophezeite ihm in Voraus, daß er die¬
ſen Entſchluß zu ſeinem eignen Beſten wohl nie
in Erfuͤllung bringen wuͤrde: dem wenn er Pre¬
diger wuͤrde, ſo wuͤrde er wahrſcheinlich ein
großer Heuchler werden — er wuͤrde mit der
groͤßten Hitze des Affekts und mit aller Staͤrke der
[187] Deklamation doch immer nur eine Rolle ſpie¬
len. — Ein geheimes Gefuͤhl ſagte Reiſern, daß
dieß bei ihm ſelber wohl der Fall ſeyn wuͤrde,
darum konnte er jenem ſo gut den Text
leſen. —
I. . . iſt nun freilich nicht Prediger geworden
— aber es iſt doch ſonderbar, jene Ideen von
haͤuslicher ſtiller Gluͤckſeligkeit, die er da¬
mals ſo oft gegen Reiſern geaͤußert hat, ſind
doch nicht verloren gegangen, ſondern faſt in
allen ſeinen dramatiſchen Arbeiten realiſirt,
da er ſie in ſeinem Leben nicht hat realiſiren
koͤnnen. —
Da nun aber die Schauſpieler wieder nach
H. . . kamen, ſo wurden bei I. . . alle jene rei¬
zenden Phantaſieen von ſtiller Gluͤckſeligkeit auf
einem Dorfe, ſehr bald verdraͤngt, und die herr¬
ſchende Idee war nun bei ihm, ſo wie bei Rei¬
ſern, wieder das Theater. —
I. . . war nun einer der vorzuͤglichſten Mit¬
glieder der Geſellſchaft, die ſich zum Auffuͤhren
der Komoͤdie verbunden hatten, aber hier
hatte er dennoch ſeinen Freund Reiſer auch ver¬
geſſen. —
[188]
Dieſe Vernachlaͤſſigung von denen, die er
noch fuͤr ſeine beſten Freunde hielt, bei einer
Sache, die ihm ſo ſehr am Herzen lag, wie die¬
ſe, war ihm aͤußerſt kraͤnkend. — Er ſprach mit
J. . . daruͤber, der ſich damit entſchuldigte, er
habe nicht geglaubt, daß Reiſer zu der Sache
noch Luſt habe. — Und was Reiſern am meiſten
kraͤnkte, war, als er hoͤrte, daß er bei der Rollen¬
austheilung nicht etwa Feinde unter der Geſell¬
ſchaft gehabt, die ihn haͤtten ausſchließen wollen,
ſondern daß man gar nicht einmal an ihn
gedacht, ſeiner nicht einmal erwaͤhnet,
hatte. —
Da er ſich nun indes erklaͤrte, daß er an der
Geſellſchaft Theil nehmen wolle, ſo war man
ihm nicht zuwider, wenn er mit einer von den
Rollen, die noch uͤbrig waren, vorlieb nehmen
wollte. — Er mußte ſich denn hiezu entſchließen,
und erhielt in dem erſten Stuͤck, das aufgefuͤhrt
wurde, in dem Deſerteur aus Kindesliebe
noch die Rolle des Peter, welche ihm freilich
nicht die angenehmſte war, die er doch aber lie¬
ber, als gar keine nahm. —
[189]
Man wird die Erzaͤhlung dieſer anſcheinen¬
den Kleinigkeiten nicht unwichtig finden, wenn
man in der Folge ſehen wird, daß ſie auf ſein
kuͤnftiges Leben einen großen Einfluß hatten, und
daß die Rollenaustheilung bei den Komoͤdien,
die er mit ſeinen Mitſchuͤlern auffuͤhrte, gleich¬
ſam ein Bild von einem Theile ſeines kuͤnftigen
Lebens war. —
Er wollte ſich nicht zudraͤngen, und
war doch wieder nicht ſtark genug, es
zu ertragen, wenn man ihn vernachlaͤſ¬
ſigte. —
Da er nun ein Mitglied der theatraliſchen
Geſellſchaft geworden war, ſo verleitete ihn dieß
zu vielen Ausgaben, die ſeine Einkuͤnfte uͤber¬
ſtiegen, und zu vielen Verſaͤumniſſen, die ſeine
Einkuͤnfte verminderten. — Er mußte die Ge¬
ſellſchaft zuweilen zu ſich bitten, wie es ein jeder
that — und der oͤftern Proben wegen, die an¬
geſtellt wurden, manche ſeiner Unterrichtsſtun¬
den, die er gab, verſaͤumen. — Ueberdem war
ſein Kopf nun wieder beſtaͤndig mit Phantaſien
erfuͤllt — er war zu keinem anhaltenden und
[190] ernſthaften Nachdenken, zu keinem Fleiß im
Studiren mehr aufgelegt. —
Es bildeten ſich nun ſchon Schriftſtellerpro¬
jekte in ſeinem Kopfe — er wollte ein Trauer¬
ſpiel der Meineid ſchreiben. — Er ſah ſchon
den Komoͤdienzettel angeſchlagen, worauf ſein
Nahme ſtand — ſeine ganze Seele war voll von
dieſer Idee — und er ging oft, wie ein Raſender
in ſeiner Stube wuͤthend auf und nieder, indem
er alle die graͤßlichen nnd fuͤrchterlichen Scenen
ſeines Trauerſpiels durchdachte und durchem¬
pfand. — Der Meineid gereute den Meineidigen
zu ſpaͤt, und Mord und Blutſchande war ſchon
die Folge davon geweſen, als er eben im Begriff
war, von unaufhoͤrlicher Gewiſſensangſt getrie¬
ben, den Meineid durch Aufopferung ſeines gan¬
zen Vermoͤgens, daͤs er dadurch gewonnen hatte,
wieder gut zu machen — und der ſchmeichelhaf¬
teſte Gedanke fuͤr Reiſern war, wenn er dieß
Stuͤck noch in ſeinem jetzigen Stande, noch als
Schuͤler vollenden wuͤrde, was man denn fuͤr
Erwartungen von ihm ſchoͤpfen — wie es dann
noch weit mehr ihm zum Ruhm, gereichen
muͤßte. —
[191]
Schon in ſeinem neunten Jahre, da er in
die Schreibſchule ging, hatte er ſich mit einem
ſeiner Mitſchuͤler vorgenommen, daß ſie zuſam¬
men ein Buch ſchreiben wollten — und beide
ſchmeichelten ſich ſchon damals mit der Idee,
wie ihnen dieß zum ewigen Ruhme gereichen
wuͤrde. — Der Knabe, welcher damals den
Entwurf zu dem Buche mit ihm machte, das
ihre beiderſeitigen Lebensgeſchichten enthalten ſoll¬
te, war ein ſehr guter Kopf, der ſich aber nach¬
her durch einen uͤbertriebenen Fleiß zu Grunde
richtete, und im ſiebzehnten Jahre ſtarb. —
Mit dieſem ſpielte er auch ſchon damals zu¬
weilen, ehe die Stunde anging, und wenn der
Lehrer noch nicht da war, Komoͤdie, und fand
immer in dieſer Art von Beluſtigung ein unbe¬
ſchreibliches Vergnuͤgen — ob er gleich damals
noch gar keine Komoͤdie geſehen, ſondern nur
aus Erzaͤhlungen andrer einen ganz dunklen Be¬
griff davon hatte. — Was aber die Verferti¬
gung des Buchs anbetraf, ſo war ihm das da¬
mals ſchon eine ſo erhabene Idee — ein Buch
war ihm eine ſo heilige und wichtige Sache,
deren Hervorbringung er kaum einem Sterb¬
[192] lichen, wenigſtens keinem noch lebenden
Sterblichen zutrauete. —
Ueberhaupt war es ihm noch lange nachher
immer eine ſonderbare Idee, wenn er hoͤrte, daß
die Perſonen, die irgend ein beruͤhmtes Werk
geſchrieben hatten, noch lebten, und alſo aßen,
tranken, und ſchliefen, wie er. —
Da er in ſeinem ſechszehnten Jahre zum er¬
ſtenmale Moſes Mendelſohns Schriften laß, ſo
kam der Nahme, der alte Homerskopf auf dem
Titel, alles zuſammen, um eine ſonderbare Taͤu¬
ſchung bei ihm hervorzubringen, als ob dieſer
Moſes Mendelſohn irgend ein alter Weiſer ſey,
der vor Jahrhunderten gelebt haͤtte, und deſſen
Schriften nun etwa ins Deutſche uͤberſetzt waͤ¬
ren — er trug ſich lange mit dieſem Wahn herum,
bis er einmal zufaͤlliger Weiſe von ſeinem Vater
hoͤrte, daß dieſer Mendelsſohn noch lebe, daß er
ein Jude ſey, auf den die ganze juͤdiſche Nation
ſehr ſtolz waͤre, und daß Reiſers Vater ihn ſelbſt
in Pyrmont geſehen habe, und wie er ausſaͤhe,
u. ſ. w. dieß brachte in Reiſers Ideenzuſtande
auf einmal eine große Veraͤnderung hervor —
ſeine Vorſtellungen vom Alten und Neuen, Ge¬
gen¬[193] genwaͤrtigem und Vergangnen miſchten ſich ſon¬
derbar durcheinander. — Er konnte ſich nur mit
Muͤhe zu dem Gedanken gewoͤhnen, ſich einen
Mann als noch lebend vorzuſtellen, den ſeine
Einbildungskraft ſo lange in die vergangnen
Jahrhunderte zuruͤck verſetzt hatte. — Er dachte
ſich einen ſolchen Mann wie eine unter den Men¬
ſchen wandelnde Gottheit — und ſolche Men¬
ſchen einſt von Angeſicht zu Angeſicht zu ſehen,
mit ihnen ſich zu unterreden, das war der hoͤchſte
ſeiner Wuͤnſche. —
Und nun hatte er ſich doch im Ausdruck ſei¬
ner Gedanken auf verſchiedene Art verſucht; er
fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein
Werk des Geiſtes gelingen wuͤrde, wodurch er
ſich den Weg in jenen glaͤnzenden Zirkel bahnte,
und ſich das Recht erwuͤrbe, mit Weſen umzuge¬
hen, die er bis jetzt noch ſo weit uͤber ſich erhaben
glaubte. — Daher ſchrieb ſich vorzuͤglich mit die
Schriftſtellerſucht, welche ſchon damals anfing,
ihn Tag und Nacht zu quaͤlen. —
Ruhm und Beifall ſich zu erwerben, das war
von jeher ſein hoͤchſter Wunſch geweſen; — aber
der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit lie¬
3r Theil. N[194] gen — er wollte ihn gleichſam aus der er¬
ſten Hand haben, und wollte gern, wie es der
natuͤrliche Hang zur Traͤgheit mit ſich bringt,
erndten ohne zu ſaͤen.— Und ſo griff nun freilich
das Theater am ſtaͤrkſten in ſeinen Wunſch
ein. — Nirgends war jener Beifall aus der
erſten Hand, ſo wie hier zu erwarten. — Er
betrachtete einen Brockmann, einen Reincke im¬
mer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er ſie
auf der Straße gehen ſahe, und was konnte er
mehr wuͤnſchen, als in den Koͤpfen anderer Men¬
ſchen einſt eben ſo zu exiſtiren, wie dieſe in ſeinem
Kopfe exiſtirten. — So wie jene Leute vor einer
ſo großen Anzahl von Menſchen, als ſonſt nur
ſelten oder nie verſammlet ſind, alle die erſchuͤt¬
ternden Empfindungen der Wuth, der Rache,
der Großmuth nach einander durchzugehen, und
ſich gleichſam jeder Nerve des Zuſchauers mitzu¬
theilen. — Das daͤuchte ihm ein Wirkungskreis,
der in Anſehung der Lebhaftigkeit in der Welt
nicht ſeines Gleichen hat. —
Allein er war nun freilich zu ſpaͤt zu der thea¬
traliſchen Geſellſchaft getreten, um eine Rolle,
wie er ſie ſich wuͤnſchte, zu erhalten, welches ihn
[195] außerordentlich kraͤnkte. — Indes freute es ihn
doch wieder, daß er nur noch eine Rolle be¬
kam, da er den Erſatz erhielt, daß ihm die Ver¬
fertigung eines Prologs zu dem Deſerteur aus
Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebſt
dem Perſonen-Verzeichniß gedruckt werden
ſollte. —
Nun wartete man nur darauf, bis die or¬
dentlichen Schauſpieler wieder wegreiſen wuͤrden,
um alsdann ebenfalls auf dem großen Koͤniglichen
Operntheater zu ſpielen, wozu ſich die Primaner
ſelbſt die Erlaubniß erbeten haͤtten — ſo daß
dießmal dieſe dramatiſchen Uebungen ſo glaͤnzend
wurden, wie ſie noch niemals geweſen waren. —
Die ganze Einrichtung war dabei den jungen
Leuten ſelbſt uͤberlaſſen — und da nun Reiſer mit
von der Geſellſchaft war, ſo nahm er doch auch
an allen oͤffentlichen Berathſchlagungen und De¬
batten Theil — eine Sache, die er von Alters
her nie gewohnt geweſen war, und die ihm daher
fremd vorkam — es war ihm ordentlich als
kaͤme es ihm nicht recht zu, wenn man ihn
auch mit in Betrachtung zog. —
[196]
Ob er nun gleich eben keine aͤußere Veran¬
laſſung dazu hatte, ſo war ihm doch die Ein¬
ſamkeit noch immer lieb — und ſeine ver¬
gnuͤgteſten Stunden waren, wenn er etwa
eine Strecke vor das Thor hinaus nach einer
Windmuͤhle ging, wo ringsumher in einem klei¬
nen Bezirk eine romantiſche Abwechſelung von
Huͤgeln und Thaͤlern war, und wo er ſich im
Garten in einer Laube eine Schale Milch geben
ließ, und dabei laß — oder in ſeine Schreibtafel
ſchrieb. — Dieß war ſchon vor mehrern Jahren
einer ſeiner liebſten Spatziergaͤnge, und er war
auch oft mit Philipp Reiſern da geweſen. —
Als Werthers Leiden erſchienen, fiel ihm bei
den reitzenden Beſchreibungen von Wahlheim
ſogleich dieſe Windmuͤhle ein, und die manchen
ſuͤßen Stunden, welche er einſam da genoſſen
hatte. —
Dann war vor dem neuen Thore ein kuͤnſt¬
lich angelegtes ganz kleines Waͤldchen, worin ſo
viele Kruͤmmungen und ſich durchſchlaͤngelnde
Pfade angebracht waren, daß man das Waͤldchen
wenigſtens [fuͤr] ſechsmal ſo groß hielt, als es
war, wenn man darin herumirrte — man hatte
[197] rings umher die Ausſicht auf eine gruͤne Wieſe,
wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen
Baͤumen, unter denen Reiſer ſo gern zu wandern
pflegte, und hinter dem kleinen Gebuͤſch, wo er
ſich ſo oft gelagert hatte, der Fluß hervorſchim¬
merte, mit deſſen Ufern er ebenfalls, durch ſeine
oͤftern Spatziergaͤnge an demſelben, unter ſo
manchen verſchiednen Situationen ſeines Lebens,
vertraut geworden war. — Oft wenn er am
Ende dieſes Waͤldchens auf einer Bank ſaß, und
in die weite Gegend hinaus ſchaute, ſtiegen alle
die vergangnen Scenen ſeines Lebens, der Kum¬
mer und die Sorgen, die er dort an ſo manchem
ſchwuͤlen Sommertage mit ſich herumgetragen
hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran
verſetzte ihn in eine ſtille Wehmuth, der er mit
Vergnuͤgen nachhing. — Er konnte auch in der
Ferne die Bruͤcke ſehn, die uͤber den Bach ging,
an dem er ſo manche Stunde geſeſſen, und ſo
manches geleſen, und gedichtet hatte. — Weil
nun das Waͤldchen ſo nahe vor der Stadt war,
ſo pflegte er oft des Abends im Mondſchein hin¬
auszugehn, und auch wohl mit unter ein wenig
zu ſiegwartiſiren, ohne doch den Siegwart
N 3[198] geleſen zu haben, der erſt ein Jahr nachher
erſchien. —
Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er
neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Sep¬
temberabend ſeinen Geburtstag gefeiert — und
ſich ſelber die heiligſten Geluͤbde gethan, ſein
kuͤnftiges Leben beſſer als das vergangne zu
nutzen. —
Auf dieſen einſamen Spatziergaͤngen verfer¬
tigte er denn auch ſeinen Prolog, der ſich wie ſeine
Rede mit welch ein anfing; denn in das ſanft¬
klingende welch ein hatte er ſich ordentlich ver¬
liebt, es ſchien gleich eine ſolche Fuͤlle von Ideen
zu faſſen, und alles folgende hinein zu fuͤgen —
er konnte ſich keinen vollklingendern Anfang den¬
ken, und hub daher denn auch ſeinen Prolog an:
Dieſer Prolog wurde nun nebſt dem Perſo¬
nenverzeichniß wie ein kleines Buch gedruckt, und
auf dem Titel ſtand, verfaßt von Reiſer, ge¬
ſprochen von I. . . — Reiſer ſah ſich alſo aufs
neue gedruckt, und was noch mehr war, ſo er¬
hielt er von ſeinen Mitſchuͤlern den Auftrag, den
Prinzen ſelbſt zu der Komoͤdie einzuladen, wel¬
ches er denn mit dem Degen an der Seite, und
in ſeinem Gallakleide, worin er die Rede gehal¬
ten hatte, that. —
Die Nobleſſe und Honoratioren der Stadt
wurden nun auch von den jungen Leuten ſelbſt
eingeladen, und Reiſer erhielt hier wiederum Ge¬
legenheit, ſo wie damals, da er die Rede gehal¬
ten hatte, einen Theil der großen Welt in der
Naͤhe zu ſehen, den er vorher nur noch aus ei¬
ner großen Entfernung angeſtaunt hatte — er
ſahe, daß die Miniſter, Grafen, und Edelleute,
N 4[200] mit denen er nun Geſicht gegen Geſicht ſprach,
nicht ſo erſtaunlich von ihm verſchiedene Weſen
waren, ſondern daß ſie in ihren Aeußerungen,
eben ſo wie die gemeinſten Leute, manchmal et¬
was ſonderbares und komiſches hatten, wodurch
der Nimbus um ſie verſchwand, ſobald man ſie
nur reden hoͤrte, und ſich in der Naͤhe mit ihneu
unterhielt. —
So glaͤnzend nun Reiſers Zuſtand ſchien,
wenn er ſo uͤber die Straße paradirte, und in
den erſten Haͤuſern ſeine Kour machte, ſo war
dieſer Zuſtand doch im eigentlichen Verſtande ein
glaͤnzendes Elend zu nennen — denn durch
das ſchlechte Verhaͤltniß ſeiner Ausgaben gegen
ſeine Einkuͤnfte wurden ſeine Umſtaͤnde immer
mißlicher, ſeine Lage immer aͤngſtlicher. — Ue¬
berdem druͤckte ihn das einfoͤrmige ſeiner Lage,
und daß er noch keine Auſſicht vor ſich ſahe, die
Univerſitaͤt mit Anſtand zu beziehen — auch
war ihm nun jener Beifall aus der erſten
Hand, den ein Schauſpieler einerndten kann, ſo
wichtig und ſo lieb geworden, daß ſein Hang im¬
mer mehr nach dem Theater, als nach der Uni¬
verſitaͤt war. —
[201]
Es war wirklich damals gerade die glaͤnzend¬
ſte Schauſpielerepoche in Deutſchland, und es
war kein Wunder, daß die Idee ſich in eine ſo
glaͤnzende Laufbahn, wie die theatraliſche war,
zu begeben, in den Koͤpfen mehrerer jungen Leute
Funken ſchlug, und ihre Phantaſie erhitzte —
das war denn damals auch der Fall bei der dra¬
matiſchen Geſellſchaft in H. . . — ſie hatte gerade
die vortrefflichſten Muſter, einen Brockmann,
Reinicke, Schroͤder, zu einem Zweck der Kunſt
vereinigt, taͤglich Lorbeern einerndten ſehen, und
es war wirklich kein unruͤhmlicher Gedanke, ſol¬
chen Muſtern nachzueifern. —
Und um nun dieſen Endzweck zu erreichen,
brauchte man nicht erſt drei Jahre auf der Uni¬
verſitaͤt ſtudirt zu haben. — Dann kam bei Rei¬
ſern die unwiderſtehliche Begierde zum Reiſen hin¬
zu, welche ſich ſeit der abentheuerlichen Wallfahrt
nach Bremen ſeiner bemaͤchtigt hatte — und der
Gedanke, ſich aus allen ſeinen bisherigen Ver¬
haͤltniſſen, wo ſelbſt das beſte ihm doch immer
nur halb gegluͤckt war, hinaus zu verſetzen, und
ſein Gluͤck in der weiten Welt zu ſuchen, fing
allmaͤlig an, bei ihm der herrſchende zu werden —
N 5[202] es war aber nur noch ein bloßes Spiel ſeiner
Phantaſie; er war noch nicht eigentlich ent¬
ſchloſſen, die Sache ſelbſt ins Werk zu richten. —
Waͤhrend dieſer Zeit beſuchte ihn nun ſein
Vater in H. . ., den er jetzt zum erſtenmale in
ſeiner Stube, die mit ſehr guten Moͤbeln verſe¬
hen, und ſchoͤn austapezirt war, bewirthen konn¬
te. — Seinem Vater ſuchte er nun ſeine Lage
von der angenehmſten und vortheilhafteſten Seite
zu ſchildern, und ſtellte ihm das Auffuͤhren der
Komoͤdie als eine Sache vor, wodurch er nun
ſowohl wegen des gedruckten Prologs, als auch,
weil er den Prinz ſelbſt dazu eingeladen haͤtte,
wieder neue Aufmerkſamkeit auf ſich errege, und
ſich eben ſo, wie durch die Rede an der Koͤnigin
Geburtstage, im auffallenden Lichte wieder zei¬
gen koͤnnte. —
Reiſers Vater aͤußerte bei dieſer Gelegenheit
einen ſehr wichtigen und wahren Gedanken, daß
ſolche Vorfaͤlle, wo einer ſich oͤffentlich zu ſeinem
Vortheil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z. B.
bei der Rede an der Koͤnigin Geburtstage,
gleichſam wie ein Sieg zu betrachten waͤren,
[203]den man verfolgen muͤſſe, weil dergleichen im
Leben ſich nur ſelten ereigne. —
Reiſer begleitete ſeinen Vater bei deſſen Ruͤck¬
reiſe eine Stunde vor das Thor hinaus, und da
ſie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm der¬
ſelbe einſt ſeinen Fluch gegeben hatte, ſo ſtanden
ſie zufaͤlligerweiſe ſtill — es fiel Reiſern nachher
erſt ein, daß dieß derſelbe Fleck wnr — ſie hatten
ſich bis dahin uͤber die wichtigſten und erhaben¬
ſten Gegenſtaͤnde, worin die Myſtik und Meta¬
phiſik zuſammen treffen, unterredet, und nun
ſchloß Reiſers Vater einen Bund mit ſeinem
Sohne, daß ſie von nun gemeinſchaftiich jenem
großen Ziele der Vereinigung mit dem hoͤchſten
denkenden Weſen, naͤher zu kommen ſtreben woll¬
te; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck,
durch Auflegung der Hand, ſeinen Segen er¬
theilte, wo er ihm ehemals ſeinen Fluch gab. —
Reiſer kehrte alſo nun in einer ſehr guten
Stimmung wieder zu Hauſe — und blieb darin,
bis nun wieder eine neue Rollenbeſetzung von
den Stuͤcken, die außer dem Deſerteur aus Kin¬
desliebe noch aufgefuͤhrt werden ſollten, ſeine
Phantaſie erregte, und ſeine durch vernuͤnftiges
[204] Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen
wieder erweckte. —
Die Stuͤcke, die noch aufgefuͤhrt wurden,
waren Klavigo, der Mann nach der Uhr,
und der Edelknabe. — Er hatte im Deſerteur
aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Ne¬
benrolle vorlieb genommen, und rechnete nun
darauf, wenigſtens die Rolle des Klavigo zu
erhalten — ſo wie nun alle Wuͤnſche ſeines Her¬
zens ſich auf das Theater hefteren, ſo waren ſie
insbeſondre auf dieſe Rolle gleichſam geſpannt —
und man theilte ſie nicht ihm, ſondern einem an¬
dern zu, der ſie offenbar ſchlechter ſpielte, wie
Reiſer ſie geſpielt haben wuͤrde. —
Reiſers Kraͤnkung hieruͤber war ſo groß, daß
ihn dieſer Vorfall in eine Art von wirklicher
Melancholie ſtuͤrzte. — Wem dieß unwahrſchein¬
lich oder unnatuͤrlich vorkommt, der erwaͤge, daß
ſein ganzer Wunſch, den er ſchon Jahrelang bei
ſich genaͤhrt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der
Erfuͤllung oder Nichterfuͤllung ſtand, oͤffentlich
vor den verſammleten Einwohnern ſeiner Vater¬
ſtadt, ſeine Talente zu entwickeln, und zeigen zu
koͤnnen, wie tief er empfand, was er ſagte, und
[205] wie maͤchtig er wieder das durch Stimme und
Ausdruck zu ſagen im Stande waͤre, was er ſo
tief empfand — ſolche erſchuͤtternde Empfindun¬
gen wieder bei tauſenden zu erregen, wie Reincke,
der den Klavigo ſpielte, in ihm erregt hatte, das
war fuͤr ihn ein ſo großer, ſtolzer, nnd die Seele
erhebender Gedanke, wie vielleicht nie fuͤr irgend
einen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerſpiel
geweſen ſeyn mag. — Hier waͤre nun alles das
weit uͤber ſeine Erwartung erfuͤllt worden, was
er ſich ſchon vor mehr, als fuͤnf Jahren gewuͤnſcht
hatte. — Denn das Auditorium war hier ſo
glaͤnzend und zahlreich, wie es vielleicht nie ge¬
weſen ſeyn mochte. — Das Schauſpielhaus,
welches einige tauſend Perſonen faßte, war ſo
voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und
unter den Zuſchauern befanden ſich der Prinz,
nebſt dem ganzen Adel, die Geiſtlichkeit und die
Gelehrten und Kuͤnſtler der Stadt. — Vor ei¬
nem ſolchen Auditorium, und dazu in einer
Stadt, die beinahe ſeine Vaterſtadt war, worin
er erzogen, und ſo mancherlei wiederwaͤrtige
Schickſale erlebt hatte, ſich mit aller der Staͤrke
der Empfindung und des Ausdrucks, die er [b][i][s]
[206] jetzt nur fuͤr ſich allein hatte entwickeln koͤnnen,
oͤffentlich zu zeigen — konnte in ſeiner Lage
wohl etwas wuͤnſchenswertheres fuͤr ihn ſeyn.—
Aber vom ſterbenden Sokrates an ſchien
der Genius der Schauſpielkunſt auf ihn zu
zuͤrnen.
Er ſuchte ſich die Rolle des Klavigo zu erbit¬
ten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; ſein
Nebenbuhler ſiegte. —
Dieß griff ihn auf ſeiner verwundbarſten Sei¬
te, auf dem zaͤrtlichſten Fleck ſeines Lebens an —
alles uͤbrige wurde ihm nun dadurch verbittert —
Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Kla¬
vigo abgetreten haͤtte, wuͤrde ſoviel darunter ver¬
lohren haben, als er, daß er ſie nicht erhielt. —
Da ſein eigentlicher gegenwaͤrtiger Lebensfleck
ihm ſo verdunkelt war, ſo zog es ſich auch wieder
uͤber ſein ganzes uͤbriges Leben wie ein Flor; alles
huͤllte ſich ihm in melancholiſche Trauer — er
ſuchte die Einſamkeit wieder, wo er nur konnte
und fing an, ſich in ſeinem aͤußern zu vernach¬
laͤſſigen. —
Philipp Reiſer machte indes auf ſeiner Stube
Klaviere, und nahm an allen dieſen Poſſen kei¬
[207] nen Theil. — Anton Reiſer war ſeit ſeiner Ver¬
bindung mit der dramatiſchen Geſellſchaft ſelten
zu ihm gekommen — jetzt da es ihm ſo wenig
nach Wunſch ging, beſuchte er ihn wieder oͤfter,
hing bei ihm ſeiner Schwermuth nach, ohne ihm
doch den eigentlichen Grund davon zu ſagen —
denn er wollte ſich gegen ſich ſelbſt nicht einmal
recht merken laſſen, daß ſeine Schwermuth bloß
davon herruͤhrte, weil er die Rolle des Klavigo
nicht erhalten hatte, ſondern er wollte ſich lie¬
ber uͤberreden, daß dieſelbe eine Folge von ſei¬
ner Betrachtung des menſchlichen Lebens uͤber¬
haupt ſey. —
Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er
die Rolle des Klavigo nicht erhielt, ſein Aufent¬
halt in H. . . laͤſtig, er fing von der Zeit an, un¬
ſtet und fluͤchtig zu werden. — Sein Jahrelanger
ſehnlichſter Wunſch mußte in Erfuͤllung gebracht
werden, mochte es auch nun ſeyn, wo es wollte
— er mußte irgendwo alles das wirklich ma¬
chen, was bis jetzt durch eine ſo lang anhaltende
Komoͤdienlektuͤre, und ſeinen ſchon ſo lange fort¬
daurenden Hang zum Theater, in ſeiner Phan¬
taſie reif geworden war. —
[208]
Als der Klavigo probirt wurde, hatte er ſich
in eine der Logen verſteckt — und waͤhrend daß
J. . . als Beaumarchais auf dem Theater wuͤthe¬
te, wuͤthete Reiſer, der in der Loge ausgeſtreckt
am Boden lag, gegen ſich ſelber, und ſeine Raſe¬
rel ging ſo weit, daß er ſich das Geſicht mit
Glasſcherben, die am Boden lagen, zerſchnitt,
und ſich die Haare raufte. — Denn die Erleuch¬
tung, die Blicke unzaͤhliger Zuſchauer, alle auf
ihn allein hingeheftet, und ſich, vor allen dieſen
forſchenden Blicken ſeine innerſten Seelenkraͤfte
aͤußernd, durch die Erſchuͤtterung ſeiner Nerven
auf jede Nerve der Zuſchauer wirkend — das
alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwaͤrtig
— und nun ſollte er nichts, wie unter der
Menge verlohren, ein bloßer Zuſchauer ſeyn,
wie er jetzt war, waͤhrend daß ein Dummkopf,
der den Klavigo ſpielte, alle die Aufmerkſamkeit
auf ſich zog, die ihm, dem ſtaͤrker empfindenden,
gebuͤhrt haͤtte. —
Nach alle den vorhergehenden Situa¬
tionen, worin er ſich ſeit Jahren beunden
hatte, war ihm nun die Rolle des Klavigo
gleichſam Zweck ſeines Lebens geworden,
das[209]das durch tauſend druͤckende Lagen ein¬
mal ganz unter die Herrſchaft der Phan¬
taſie zuruͤckgedraͤngt war, die nun uͤber
daſſelbe ihre Rechte ausuͤben wollte. —
— Die Seite war bis zur hoͤchſten Span¬
nung hinaufgewunden und nun ſprang
ſie. —
Als dieſe ſchreckliche Probe vorbei war, ſo
fand ſich Reiſer wieder ganz allein, ohne einen
Feund, ohne einen der ſich ſeiner annahm. —
Er wollte doch jemanden ſeinen Kummer klagen,
und ging zu J. . ., der ſich von dem Augenblick
feſter wie jemals an ihn ſchloß, weil gerade daſ¬
ſelbe Beduͤrfniß bey ihm war, was Reiſern zu
ihm trieb. —
J. . .s Phantaſie war ebenfalls bis auf den
hoͤchſten Grad geſpannt, und ſein Hang zum
Theater uͤberwiegend geworden, er bedurfte ei¬
nen, dem er ſeine geheimſten Wuͤnſche, und ſeinen
Kummer entdecken konnte. —
Nun hatten ſein Vater und ſein aͤlterer Bru¬
der nicht ohne Grund befuͤrchtet, daß der Hang
zum Theater, durch den großen Beifall, den er
ſich durch ſein Spiel erwarb, zu ſehr genaͤhrt
3r Theil. O[210] und am Ende uͤberwiegend werden moͤgte, nnd
ihm daher unterſagt, an den dramatiſchen Ue¬
bungen ferner Theil zu nehmen, wogegen er nun
freilich alle moͤglichen Einwendungen machte,
und eben jetzt noch deswegen mit ſeinem Vater
in Unterhandlung ſtand, — Er machte nun Rei¬
ſern zum Vertrauten von ſeinem Vorſatz, ſich
ganz dem Theater zu widmen, ſo wie er ehmals
mit ihm uͤber ſeinen Entſchluß, ein Dorfprediger
zu werden, geſprochen hatte. — Die Rolle, wel¬
che J. . . ſchon geſpielt hatte, war der Deſerteur
im Deſerteur aus Kindesliebe, und der Jude
im Diamant, der als Nachſpiel zum Deſerteur
gegeben wurde. — Den Juden hatte er ſo mei¬
ſterhaft geſpielt, daß er nachher mit eben dieſer
Rolle unter Eckhofs Augen debuͤtirte, und ſeine
theatraliſche Laufbahn eroͤfnete — ſo wie er ſich
nun durch den Juden im hoͤchſten Komiſchen
gezeigt hatte, ſo zeigte er ſich durch den Beaumar¬
chais im hoͤchſten [Tragiſchen], und ſein Spiel
war wirklich in dieſer letztern Rolle ſo hinreißend,
daß man Brockmann ſelbſt zu hoͤren und zu ſe¬
hen glaubte; und das Vergnuͤgen ſich in dieſer
Rolle oͤffentlich zu zeigen, ſollte ihm nun verleidet
[211] werden. — Er noͤthigte Reiſern, die Nacht bei
ihm auf ſeiner Stube zu bleiben, wo ſie ſich denn
in reitzenden Traͤumen von der Gluͤckſeligkeit, die
der Stand eines Schauſpielers gewaͤhrte, ver¬
lohren, bis ſie beide daruͤber einſchliefen. —
Jetzt waren ſie beide faſt unzertrennlich, und
Tag und Nacht beiſammen. — Und einſt, da
ſie an einem warmen aber truͤben Morgen vors
Thor hinausgingen, ſagte I. . ., dieß waͤre gu¬
tes Wetter, davon zu gehen — und das Wetter
ſchien auch ſo reiſemaͤßig, der Himmel ſo
dicht auf der Erde liegend, die Gegenſtaͤnde
umher ſo dunkel, gleichſam als ſollte die Auf¬
merkſamkeit nur auf die Straße, die man wan¬
dern wollte, hingeheftet werden. — Die Idee
wurde in beider Koͤpfen ſo rege, daß nicht viel
fehlte, ſie haͤtten ſie gleich ins Werk gerichtet —
indes wollte doch I. . . wo moͤglich in H. . . noch
ſeinen Beaumarchais ſpielen — ſie kehrten alſo
nach der Stadt wieder um — ſo ſehr ſich nun
auch I. . . fuͤr Reiſern mit bewarb, ſo war es
doch unmoͤglich, daß dieſer die Rolle des Klavigo
erhalten konnte — ſtatt deſſen trat ihm endlich
der, welcher den Klavigo ſpielte, den Fuͤrſten im
O 2[212] Edelknaben ab — und in dem Manne nach der
Uhr erhielt Reiſer die Rolle des Magiſter Bla¬
ſius. —
Reiſer war nun daruͤber melancholiſch, daß
er den Klavigo nicht ſpielen ſollte, und J. . . daß
er uͤberhaupt nicht mehr mit Komoͤdie ſpielen
ſollte — beide aber ſuchten ſich zu uͤberreden, daß
ſie des Lebens um ſein ſelbſt willen uͤberdruͤſſig
waͤren, und luden ſich einmal des Nachts zwei
Piſtolen, womit ſie faſt die ganze Nacht hindurch
Kurzweil trieben, indem ſie ſeyn oder nicht
ſeyn hertragierten. —
Bei Reiſern ging indes der Lebensuͤberdruß
in der That ſo weit, daß er nicht aus der Stelle
wich, wenn J. . . die geladene Piſtole auf ihn
hielt, und den Finger anlegte, um ſie abzu¬
druͤcken, indes Reiſer eben daſſelbe wieder gegen
ihn that. —
Am andern Tage aber hatte er einen etwas
ernſthaftern Auftritt mit Philipp Reiſern, den
er beſuchte. — Er hatte die Nacht nicht geſchla¬
fen, eine dumme Traͤgheit blickte aus ſeinen
hohlen Augen hervor, der Lebensuͤberdruß ſaß
auf ſeiner Stirne, alle Spannkraft ſeiner Seele
[213] war dahin — er ſagte zu Philipp Reiſern guten
Tag! — und dann ſtand er da, wie ein
Stock. —
Philipp Reiſer, der ihn ſchon oͤfter, aber noch
nie in dem Grade in einem ſolchen Zuſtande der
Erſchlaffung geſehen hatte, und der nun zu fuͤrch¬
ten anfing, daß es wohl gaͤnzlich mit ihm vorbei
ſeyn moͤchte — that ihm im ganzen Ernſt, den
Vorſchlag, daß er ihn todtſchießen wollte,
ehe ein verworfner und ſchlechter Menſch aus
ihm wuͤrde, wie jetzt der Fall waͤre. — Mit
Philipp Reiſern, deſſen Begriffe ebenfalls roman¬
haft und uͤberſpannt waren, war in ſolchen Faͤl¬
len nicht zu ſpaßen. — Anton Reiſer verbat ſich
alſo dieſe Kur noch fuͤr jetzt, und verſicherte, daß
er ſich wohl noch einmal von ſeiner jetzigen Er¬
ſchlaffung wieder erhohlen wuͤrde. —
Indes fing nun ſeine Lage an, immer mi߬
licher zu werden — durch die Ausgaben, welche
ſein Theilnehmen an der Auffuͤhrung der Komoͤ¬
dien erforderte, die ſeine Einkuͤnfte weit uͤber¬
ſtiegen, und durch die Verſaͤumniß der Lehrſtun¬
den, welche er gab, ſtuͤrzte er ſich immer tiefer in
Schulden, und fing bald an den nothwendigſten
O 3[214] Beduͤrfniſſen des Lebens wieder an, Mangel zu
leiden, weil er nicht die Kunſt gelernt hatte, auf
Kredit zu leben. —
Seine Garderobe als Fuͤrſt im Edelknaben,
die er ſich, ſo wie jeder die ſeinige, ſelbſt anſchaf¬
fen mußte, koſtete ihm allein ſo viel, als wovon
er einen Monath lang alle ſeine Ausgaben haͤtte
beſtreiten koͤnnen — und fuͤr dieß alles erreichte
er doch nicht einmal ſeinen Zweck, ſich in einer
auffallenden tragiſchen Rolle zeigen zu koͤnnen,
welches doch eigentlich von jeher ſein Wunſch ge¬
weſen war. —
Von den drei Stuͤcken, die an einem
Abend nacheinander aufgefuͤhrt wurden, war
Klavigo das erſte, der Mann nach der Uhr das
zweite, und der Edelknabe blieb bis zuletzt. —
Waͤhrend daß nun der Klavigo aufgefuͤhrt
wurde, ſuchte Reiſer in der Anziehſtube dicht bei
dem Theater, ſo viel wie moͤglich ſeine Sinne zu
betaͤuben, und ſich die Ohren zu verſtopfen —
jeder Laut, den er vom Theater hoͤrte, war ihm
ein Stich durch die Seele — denn hier war es,
wo nun eben das ſchoͤnſte Gebaͤude ſeiner Phan¬
taſie, woran Jahrelang gebaut worden war,
[215] wirklich ſcheiterte, und er mußte es ſelbſt mit an¬
ſehen, ohne es im mindeſten verhindern zu koͤn¬
nen — er ſuchte ſich mit den beiden Rollen, die
er noch zu ſpielen hatte, zu troͤſten, und alle ſeine
Aufmerkſamkeit darauf zu heften, aber es war
vergeblich — waͤhrend daß die Rolle des Klavigo
nun von einem andern vor einer ſolchen Menge
von Zuſchauern wirklich geſpielt wurden, war
ihm zu Muthe, wie einer der alle ſein Haab und
Gut ohne Rettung in den Flammen aufgehen
ſieht — noch bis zum letzten Tage hatte er immer
gehofft, dieſe Rolle, es koſte auch was es wolle,
zu erhalten — nun aber war alles vorbei. —
Und da nun wirklich alles vorbei, und Kla¬
vigo zu Ende geſpielt war, ſo wurde ihm wieder
etwas leichter. — Aber ein Stachel blieb doch
immer in ſeiner Bruſt zuruͤck. — Er ſpielte nun
im Mann nach der Uhr, worin J. . . den Mann
nach der Uhr machte, die Rolle des Magiſter
Blaſius mit allem Beifall — Aber dieß war
nicht der rechte Beifall, den er ſich gewuͤnſcht
hatte. — Er wollte nicht zum Lachen reitzen, ſon¬
dern durch ſein Spiel die Seele erſchuͤttern. —
Der Fuͤrſt im Edelknaben war nun zwar ein
D 4[216] edle aber doch eine zu ſanfte Rolle fuͤr ihn —
und uͤberdem mißlang es gewißermaßen mit der
ganzen Auffuͤhrung des Stuͤcks — denn da der
Klavigo und den Mann nach der Uhr zu Ende
waren, ſo gingen die meiſten Zuſchauer weg,
weil es ſchon ſehr ſpaͤt war, und es blieb nicht
der dritte Theil da, welche den Edelknaben noch
abwarteten — dieß und der quaͤlende Gedanke
an den Klavigo, den er immer noch nicht unter¬
druͤcken konnte, war Urſach, daß Reiſer den Fuͤr¬
ſten im Edelknaben ſehr nachlaͤſſig, und weit
ſchlechter ſpielte, als er ihn haͤtte ſpielen koͤnnen
— und da nun alles geendigt war, mißvergnuͤgt
und traurig zu Hauſe ging. — Er dachte aber
dabei doch noch dereinſt ſeine Luſt zu buͤßen, ſich
auf dem Theater in einer heftigen und erſchuͤt¬
ternden Rolle zu zeigen, moͤchte es auch koſten,
was es wolle. — Daß ihm zum erſtenmale dieſer
Genuß verſagt war, reitzte ſeine Begierde dar¬
nach nur noch ſtaͤrker — und wie konnte er ſiche¬
rer die Erfuͤllung ſeines hoͤchſten Wunſches hof¬
fen, als wenn er das zum eigentlichen Geſchaͤft
ſeines Lebens machte, woran ohnedem ſchon ſein
ganzes Herz hing. — Der Gedanke, ſich dem
[217]Theater zu widmen, bekam daher, ſtatt nie¬
dergedruͤckt zu werden, noch immer mehr Gewalt
uͤber ihn. —
Allein, ſo wie man immer, zu dem was
man zu thun wuͤnſcht, ſich ſelbſt die drin¬
gendſten Bewegungsgruͤnde zu ſchaffen
ſucht, um ſein Betragen gleichſam gegen
ſich ſelbſt zu rechtfertigen — ſo ſuchte ſich
auch Reiſer die Bezahlung der kleinen Schulden,
die er zu machen verleitet war, als eine ſo un¬
moͤgliche Sache, und die Entdeckung derſelben,
als etwas ſo mißliches vorzuſtellen, daß er ſchon
dieſerwegen ſich aus H. . . entfernen zu muͤſſen
glaubte. — Aber ſeine eigentlichen Bewegungs¬
gruͤnde waren, der unwiderſtehliche Trieb nach
Veraͤnderung ſeiner Lage, und die Begierde,
ſich auf irgend eine Weiſe, ſobald wie moͤg¬
lich, oͤffentlich zu zeigen, um Ruhm und Beifall
einzuerndten, wozu ihm nun freilich nichts be¬
quemer, als das Theater ſcheinen mußte, wo es
einem nicht einmal darf zur Eitelkeit angerechnet
werden, daß er ſich ſo oft wie moͤglich zu ſeinem
Vorteil zeigen will, ſondern, wo die Sucht
nach Beifall gleichſam privilegirt iſt. —
[218]
Indes fingen ſeine kleinen Schulden freilich
auch an, ihn zu druͤcken, wozu noch ein paar
Demuͤthigungen kamen, die ihm vollends ſei¬
nen laͤngern Aufenthalt in H. . . zum Eckel
machten. —
Die eine beſtand darin, daß ein junger Edel¬
mann, den er unterrichtete, und mit dem er ſich,
auf der Stube deſſelben, manchmal noch ein we¬
nig zu unterhalten pflegte, zu ihm ſagte, er habe
die Ehre, ſich ihm zu empfehlen, ehe ſich Rei¬
ſer ſelbſt noch empfohlen hatte. — Es war ſehr
wahrſcheinlich, daß jener wirklich geglaubt hatte,
Reiſer mache Mine zum Weggehen, und alſo
mit dem Abſchiedskomplimente ein wenig zuvor¬
kommend geweſen war — aber eben dieß zuvor¬
kommende war fuͤr Reiſern ſo erſchrecklich auf¬
fallend, und druͤckte auf einmal ſo ſehr ſein gan¬
zes Weſen darnieder, daß er, da er ſchon hinaus
war, noch eine Weile ſtill ſtand, und ihm die
Arme am Koͤrper niederſanken — dieß zuvor¬
kommende ich habe die Ehre mich Ihnen zu
empfehlen, geſellte ſich ploͤtzlich in ſeiner Idee
zu dem dummer Knabe! Des Inſpektors auf
dem Seminarium, zu dem ich meine ihn ja
[219] nicht! Des Kaufmanns, zu dem par nobile
Fratrum der Primaner, und zu dem das iſt ja
eine wahre Dummheit! Des Rektors —
Er fuͤhlte ſich auf einige Augenblicke wie vernich¬
tet, alle ſeine Seelenkraͤfte waren gelaͤhmt. —
der Gedanke des auch nur einen Augenblick laͤ¬
ſtig geweſen ſeyns, fiel wie ein Berg auf ihn
— er haͤtte in dem Moment dieß irgend einem
Geſchoͤpf außer ihm ſo laͤſtige Daſeyn abſchuͤt¬
teln moͤgen. —
Dann ging er aus dem Thore nach dem
Kirchhofe, wo der Sohn des Paſtor M. . . be¬
graben lag, und weinte bei deſſen Grabe die bit¬
terſten Thraͤnen des Unmuths und Lebensuͤber¬
druſſes. — Alles erſchien ihm auf einmal in ei¬
nem traurigen melancholiſchen Lichte — die ganze
Zukunft ſeines Lebens war duͤſter — er wuͤnſchte
mit dem Staube vermiſcht zu ſeyn, den ſein Fuß
betrat, und dieß alles noch, wegen des zuvor¬
kommenden: ich habe die Ehre mich Ih¬
nen zu empfehlen. — Dieſe Worte ließen ei¬
nen Stachel in ſeiner Seele zuruͤck, den er ver¬
geblich wieder herauszuziehen ſuchte — ob er
dieß gleich ſich ſelber nicht eigentlich geſtand, ſon¬
[220] dern ſeinen Unmuth und Lebensuͤberdruß, aus
allgemeinen Betrachtungen uͤber die Nichtigkeit
des menſchlichen Lebens, und die Eitelkeit der
Dinge, herzuleiten ſuchte — freilich fanden ſich
denn auch dieſe allgemeinen Betrachtungen ein,
die aber ohne jene herrſchende Idee nur ſeinen
Verſtand beſchaͤftigt, nicht aber ſein Herz in Be¬
wegung geſetzt haben wuͤrden. — Im Grunde
war es das Gefuͤhl, der durch buͤrgerliche
Verhaͤltniſſe unterdruͤckten Menſchheit, das
ſich ſeiner hiebei bemaͤchtigte, und ihm das Leben
verhaßt machte — er mußte einen jungen Edel¬
mann unterrichten, der ihn dafuͤr bezahlte, und
ihm nach geendigter Stunde auf eine hoͤfliche
Art die Thuͤre weiſen konnte, wenn es ihm be¬
liebte — was hatte er vor ſeiner Geburt verbro¬
chen, daß er nicht auch ein Menſch geworden
war, um den ſich eine Anzahl anderer Menſchen
bekuͤmmern, und um ihn bemuͤht ſeyn muͤſſen
— warum erhielt er gerade die Rolle des Arbei¬
tenden und ein andrer des Bezahlenden? —
Haͤtten ihn ſeine Verhaͤltniſſe in der Welt gluͤck¬
lich und zufrieden gemacht, ſo wuͤrde er allent¬
halben Zweck und Ordnung geſehen haben, jetzt
[221] aber ſchien ihm alles Widerſpruch, Unordnung,
und Verwirrung. —
Da er nun zu Hauſe ging, ſo wurde er auf
der Straße erſtlich von einem ſeiner Glaͤubiger
gemahnet — und da er mit geſenktem Haupte
melancholiſch vor ſich hin ging, ſo hoͤrte er hinter
ſich einen Jungen zum andern ſagen: da geht
der Magiſter Blaſius! — Dieß brachte ihn
ſo auf, daß er dem Jungen auf der Straße ein
paar Ohrfeigen gab, welcher nun hinter ihm
herſchimpfte, bis Reiſer ſeine Wohnung er¬
reichte. —
Von dem Tage an, war Reiſern der Anblick
von den Straßen in H. . . ein Greuel — und vor
allem war die Straße, wo der Junge hinter ihm
hergeſchimpft hatte, ihm am verabſcheuungswuͤr¬
digſten; er vermied es, wo er konnte, durch die¬
ſelbe zu gehen, und wenn er doch durchgehen
mußte, ſo war es ihm, als ob die Haͤuſer auf ihn
fallen wollten — wohin er trat, glaubte er hinter
ſich den ſpottenden Poͤbel, oder einen ungeduldi¬
gen Glaͤubiger zu hoͤren. —
Dieſe Demuͤthigungen waren zu ſchnell nach¬
einander gekommen, als daß er ſich unter dem
[222] Druck, welcher ihm von nun an den Ort ſeines
Aufenthalts verhaßt machte, nocheinmal haͤtte
wieder emporarbeiten koͤnnen. — Der Gedanke,
H. . . zu verlaſſen, und ſein Gluͤck in der weiten
Welt zu ſuchen, wurde von nun an feſter Ent¬
ſchluß, den er aber doch niemanden, als Philipp
Reiſern entdeckte — dieſer war damals ſehr mit
ſich ſelber beſchaͤftigt, weil er wieder einen ver¬
liebten Roman ſpielte, und alle ſeine Aufmerk¬
ſamkeit darauf wandte, wie er ſeinem Maͤdchen
gefallen wollte. — Anton Reiſers Schickſal war
ihm daher etwas weniger wichtig, als es ihm
zu einer andern Zeit wuͤrde geweſen ſeyn. —
Ohngeachtet Anton Reiſer vielleicht in weni¬
gen Tagen H. . . auf immer zu verlaſſen im Be¬
griff war, ſo unterhielt ihn ſein Freund dennoch
mit dem ganzen Detail ſeiner Liebſchaft, als
wenn jener den Erfolg von dem allen haͤtte ab¬
warten koͤnnen. — Dieß aͤrgerte ihn denn zu¬
weilen wohl — aber Philipp Reiſer war doch
einmal ſein naͤchſter Vertrauter — und er hatte
niemanden außer ihm, dem er ſich haͤtte entdecken
moͤgen. —
[223]
Weil er doch aber nun, um ſein Gluͤck in der
weiten Welt zu ſuchen, ſich irgend einen Ort in
der weiten Welt zum Ziel ſeiner Wanderung
machen mußte, ſo waͤhlte er Weimar hierzu, wo
ſich damals die Seilerſche Truppe, uͤber welche
Eckhof die Direktion fuͤhrte, aufhalten ſollte.
— Hier wollte er ſeinen Entſchluß, ſich dem
Theater zu widmen, ins Werk zu richten
ſuchen. —
Waͤhrend nun, daß er mit dieſem Gedanken
umging, erlitt' er noch eine Demuͤthigung, die
ihn vollends in ſeinem Entſchluß beſtaͤrkte. —
Er ging nehmlich eines Nachmittags mit ei¬
ner Anzahl ſeiner Mitſchuͤler, die von der dra¬
matiſchen Geſellſchaft waren, in einem oͤffent¬
lichen Garten vor der Stadt ſpatziren. — Nun
mochten ihm wohl die Gedanken, womit er um¬
ging, ein ſonderbares zerſtreutes Anſehen geben,
wodurch er ſich vor ſeiner Geſellſchaft eben nicht
zu ſeinem Vortheil auszeichnete — und ſeine
Mitſchuͤler fielen, ehe er ſichs verſahe, auf ein¬
mal wieder mit einem ſolchen Spott uͤber ihn
her, daß es ihm auch nicht moͤglich war, gegen
[224] alles, was ſie ſagten, nur ein Wort vorzubrin¬
gen. — Da nun ihr Witz freien Spielraum
fand, ſo war des Witzelns kein Ende — und da
nun uͤberdem ein paar Offiziere in der Naͤhe
ſtanden, die dem Geſpraͤch zuhoͤrten, ſo konnte
Reiſer nicht laͤnger ausdauern — er ſchlich ſich
vom Tiſche weg, bezahlte dem Wirth, was er
fuͤr ſeinen Theil ſchuldig war — und eilte ſo
ſchnell er konnte fort — und ſobald er nun allein
war, brach er aufs neue in laute Verwuͤnſchun¬
gen uͤber ſich und ſein Schickſal aus. — Er
ſpottete uͤber ſich ſelbſt, weil er ſich zum Spott
und zur Verachtung gebohren glaubte. —
Woher kam es denn auch, daß er zum Spott
der Welt gleichſam an der Stirne gebrandtmarkt
war? — was haſtete denn fuͤr ein Mal des Laͤ¬
cherlichen an ihm, das durch nichts konnte aus¬
geloͤſcht werden? — das ihn jetzt, da er doch
von ſeinen Mitſchuͤlern geachtet war, aufs
neue wieder in einer boͤſen Stunde ihrem Ge¬
laͤchter Preis gab? —
Es war die unverantwortliche Seelenlaͤh¬
mung durch das zuruͤckſetzende Betragen ſeiner
[225] eignen Eltern gegen ihn, die er von ſeiner Kind¬
heit an noch nicht hatte wieder vermindern koͤn¬
nen. — Es war ihm unmoͤglich geworden, je¬
manden außer ſich, wie ſeines Gleichen zu
betrachten — jeder ſchien ihm auf irgend eine
Art wichtiger, bedeutender in der Welt, als
er, zu ſeyn — daher daͤuchten ihm Freund¬
ſchaftsbezeigungen von andern gegen ihn immer
eine Art von Herablaſſung — weil er nun
glaubte, verachtet werden zu koͤnnen, ſo
wurde er wirklich verachtet — und ihm ſchien
oft das ſchon Verachtung, was ein anderer, mit
mehr Selbſtgefuͤhl, nie wuͤrde dafuͤr genommen
haben. — Und ſo ſcheint nun einmal das Ver¬
haͤltniß der Geiſteskraͤfte gegeneinander zu ſeyn;
wo eine Kraft keine entgegengeſetzte Kraft vor
ſich findet, da reißt ſie ein und zerſtoͤrt, wie der
Fluß, wenn der Damm vor ihm weicht. — Das
ſtaͤrkere Selbſtgefuͤhl verſchlingt das ſchwaͤchere
unaufhaltſam in ſich — durch den Spott,
durch die Verachtung, durch die Brand¬
markung des Gegenſtandes zum Laͤcher¬
lichen. — Das Laͤcherlichwerden iſt eine Art
von Vernichtung, und das Laͤcherlichmachen
3r Theil. P[226] eine Art von Mord des Selbſtgefuͤhls, die nicht
ihres Gleichen hat. — Von allen außer ſich ge¬
haßt zu werden, iſt dagegen wuͤnſchens und
begehrenswerth. — Dieſer allgemeine Haß wuͤrde
das Selbſtgefuͤhl nicht toͤdten, ſondern es mit
einem Trotz beſeelen, wovon es auf Jahrtauſende
leben, und gegen dieſe haſſende Welt Wuth knir¬
ſchen koͤnnte. — Aber keinen Freund,
haben —
das iſt die wahre Hoͤlle, die alle Qualen der
fuͤhlbaren Vernichtung eines denkenden We¬
ſens in ſich faßt. — Und dieſe Hoͤllenqual war
es, welche Reiſer empfand, ſo oft er ſich aus
Mangel am Selbſtgefuͤhl, fuͤr einen wuͤrdigen
Gegenſtand des Spottes und der Verachtung
hielt — ſeine einzige Wonne war dann, wenn er
fuͤr ſich allein war, in lautes Hohngelaͤchter uͤber
ſich ſelber auszubrechen, und das nun ſelber
gleichſam an ſich zu vollenden, was die Weſen
außer ihm angefangen hatten. —
zerſtoͤren,
[227]
ich,
hoͤren,
Da er nun alſo dem hohnlachenden Cirkel
ſeiner Mitſchuͤler entflohn war — ſo ſchweifte er
in der einſamen Gegend umher und entfernte
ſich immer weiter von der Stadt, ohne ein Ziel
zu haben, wohin er ſeine Schritte richtete. —
Er ging immer querfeldein bis es dunkel wurde
— da kam er an einen breiten Weg, der zu ei¬
nem Dorfe fuͤhrte, das er vor ſich liegen ſahe —
der Himmel fing an, ſich immer duͤſtrer zu um¬
ziehn, und drohte Regenwetter — die Raben
fingen an zu kraͤchzen, und zwei, die immer uͤber
ſeinem Kopfe hinflogen, ſchienen ihm das Geleite
zu geben — bis er an den kleinen engen Kirch¬
hof des Doͤrfchens kam, welcher gleich vorne an
lag, und mit unordentlich uͤbereinandergelegten
Steinen eingefaßt war, die eine Art von Mauer
vorſtellen ſollten. — Die Kirche mit dem kleinen
ſpitzen Thurme, der mit Schindeln gedeckt war,
P 2[228] in der dicken Mauer nach jeder Seite zu mir ein
einziges Fenſterchen, durch welches das Licht
ſchraͤg hereinfallen konnte — die Thuͤre wie
halb in die Erde verſunken, und ſo niedrig, daß
es ſchien, man koͤnne nicht anders als gebuͤckt
hineingehen. — Und eben ſo klein nnd unanſehn¬
lich, wie die Kirche war, ſo enge und klein war
auch der Kirchhof, wo die aufſteigenden Grab¬
huͤgel dichtaneinander gedraͤngt, und mit hohen
Neſſeln bewachſen waren. — Der Horizont war
ſchon verdunkelt; der Himmel ſchien in der truͤben
Daͤmmerung allenthalben dicht auf zu liegen, das
Geſicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den
man um ſich her ſahe, begraͤnzt — das Winzige
und Kleine des Dorfes, des Kirchhofes, und
der Kirche that auf Reiſern eine ſonderbare Wir¬
kung — das Ende aller Dinge ſchien ihm in
ſolch eine Spitze hinauszulaufen — der enge
dumpfe Sarg war das letzte — hierhinter war
nun nichts weiter — hier war die zugenagelte
Bretterwand — die jedem Sterblichen den fer¬
nern Blick verſagt. — Das Bild erfuͤllte Reiſern
mit Eckel — der Gedanke an dieß Auslaufen in
einer ſolchen Spitze, dieß Aufhoͤren ins
[229] Enge, und noch engere, und immer engere
— wohinter nun nichts weiter mehr lag — trieb
ihn mit ſchrecklicher Gewalt von dem winzigen
Kirchhofe weg, und jagte ihn vor ſich her, in
der dunklen Nacht, als ob er dem Sarge, das
ihn einzuſchließen drohte, haͤtte entfliehen wol¬
len. — Das Dorf mit dem Kirchhofe war ihm
ein Anblick des Schreckens, ſo lange er es noch
hinter ſich ſahe — auf dem Kirchhofe war ihm
ein ſonderbarer Schrecken angewandelt — was
er ſo oft gewuͤnſcht hatte, ſchien ihm gewaͤhrt
zu werden, das Grab ſchien ſeine Beute zu for¬
dern, und noch ſtets, ſo wie er flohe, hinter ihm
ſeinen Schlund zu eroͤfnen — erſt da er ein an¬
dres Dorf erreichte, war er wieder ruhiger. —
Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Ge¬
danken des Todes ſo ſchrecklich machte, war die
Vorſtellung des Kleinen, die, ſo wie ſie herr¬
ſchend wurde, in ſeine Seele eine fuͤrchterliche
Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unertraͤg¬
lich war. — Das Kleine nahet ſich dem Hin¬
ſchwinden, der Vernichtung — die Idee des
Kleinen iſt es, welche Leiden, Leerrheit, und
Traurigkeit hervorbringt — das Grab iſt das
P 3[230]enge Hans, der Sarg iſt eine Wohnung, ſtill,
kuͤhl, und klein — Kleinheit erweckt Leer¬
heit, Leerheit erweckt Traurigkeit — Trau¬
rigkeit iſt der Vernichtung Anfang — unend¬
liche Leere iſt Vernichtung. — Reiſer empfand
auf dem kleinen Kirchhofe die Schrecken der
Vernichtung — der Uebergang vom Daſeyn
zum Nichtſeyn, ſtellte ſich ihm ſo anſchaulich
und mit ſolcher Staͤrke und Gewißheit dar, daß
ſeine ganze Exiſtenz nur noch wie an einem Fa¬
den hing, der jeden Augenblick zu zerreiſſen
drohte. —
Nun war alſo auf einmal aller Lebensuͤber¬
druß bei ihm verſchwunden — er ſuchte in ſei¬
ner Seele wieder eine gewiſſe Ideenfuͤlle hervor¬
zubringen, um ſich gleichſam nur vor der gaͤnz¬
lichen Vernichtung zu retten — und da er von
ohngefaͤhr auf die Heerſtraße nach N. . . gerieth,
wo ſeine Eltern wohnten, und ihm nun auf ein¬
mal dieſe ganze Gegend bekannt war — ſo nahm
er ſich erſt vor, die ganze Nacht durch zu gehen,
und ſeine Eltern noch einmal mit einem unver¬
mutheten Beſuch zu uͤberraſchen. — Eine Meile
[231] war er ſchon von H. . . und hatte alſo ohngefaͤhr
noch fuͤnf Meilen zuruͤckzulegen. —
Allein der Gedanke, daß er ſeinen Eltern nichts
von ſeinem Entſchluß haͤtte entdecken duͤrfen,
und doch mit ſchwerem Herzen von ihnen haͤtte
Abſchied nehmen muͤſſen, verleidete ihm dieſen
Vorſatz wieder, da es uͤberdem gegen Mitter¬
nacht ſtark zu regnen anfing. — Er ging alſo
aufs neue mitten im Regen und Dunkel durch
das hohe Korn queerfeldein nach der Stadt zu
— es war eine warme Sommernacht, und der
Regen und die Dunkelheit waren ihm bei dieſer
menſchenfeindlichen naͤchtlichen Wanderung die
angenehmſten Geſellſchafter — er fuͤhlte ſich
groß und frei in der ihn umgebenden Natur —
nichts druͤckte ihn, nichts engte ihn ein — er
war hier auf jedem Fleck zu Hauſe, wo er ſich
niederlegen wollte, und dem Anblick keines
Sterblichen ausgeſetzt. — Er fand zuletzt eine
ordentliche Wonne darin, durch das hohe Korn
hinzugehen, ohne Weg und Steg — durch
nichts, nicht einmal durch ein eigentliches Ziel
gebunden, nach welchem er ſeine Schritte haͤtte
richten muͤſſen. — Er fuͤhlte ſich in dieſer Stille
P 4[232] der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wuͤſte
— die weite Erde war ſein Bette — die ganze
Natur ſein Gebiet. —
So wanderte er die ganze Nacht hindurch
bis der Tag anbrach — und als er die Gegen¬
ſtaͤnde allmaͤlig wieder unterſcheiden konnte, ſo
daͤuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohn¬
gefaͤhr noch eine halbe Meile von H... waͤre —
auf einmal aber befand er ſich, ehe er ſichs ver¬
ſahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die
er ſonſt nie in dieſer Gegend bemerkt hatte —
er nahm alle ſein Nachdenken zuſammen, und
ſuchte ſich zu orientieren, aber es war vergeb¬
lich — er konnte die lange Kirchhofsmauer aus
dem Zuſammenhange der uͤbrigen Gegenſtaͤnde
nicht erklaͤren; ſie war und blieb ihm eine Er¬
ſcheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zwei¬
feln ließ, ob er wache oder traͤume — er rieb
ſich die Augen — aber die lange Kirchhofsmauer
blieb immer da — uͤberdem war auch durch ſein
ſonderbares Nichtwandern, und durch das Wegfal¬
len der gewohnten Pauſe, wodurch die Vorſtellun¬
gen des Tages der Natur gemaͤß unterbrochen
werden, ſeine Phantaſie zerruͤttet — er fing
[233] ſelbſt an, fuͤr ſeinen Verſtand zu fuͤrchten, und
war vielleicht wirklich dem Wahnwitz nahe, als
er endlich die vier Thuͤrme von H. . . wieder
durch den Nebel ſahe, und nun wußte, wo er
war. — Die Morgendaͤmmerung hatte ihn ge¬
taͤuſcht, daß er die Gegend fuͤr eine andre hielt,
die noch eine halbe Meile von H. . . lag, und mit
dieſer, die dicht vor der Stadt war, ſehr viel
Aehnlichkeit hatte. — Der große Kirchhof, in
deſſen Mitte eine kleine Kapelle ſtand, war der
ordentliche Kirchhof, dicht vor H. . ., und Reiſern
war nun auf einmal die ganze Gegend wieder
bekannt — er erwachte wirklich, wie aus einem
Traume. —
Aber wenn irgend etwas faͤhig iſt, jemanden
dem Wahnwitz nahe zu bringen, ſo ſind es wohl
vorzuͤglich die verruͤckten Ovts und Zeitideen,
woran ſich alle unſre uͤbrigen Begriffe feſthalten
muͤſſen. — Dieſer neue Tag war fuͤr Reiſern,
wie kein neuer Tag, weil zwiſchen dieſem und
dem vorhergehenden Tage keine Unterbre¬
chung der Wirkungen ſeiner vorſtellenden Kraft
ſtatt gefunden hatte. — Er ging in die Stadt;
es war noch fruͤhmorgens, und auf den Straßen
P 5[234] herrſchte eine Todtenſtille. — Das Haus, die
Stube, worin er wohnte, alles kam ihm anders,
fremd, und ſonderbar vor. — Dieſe Nachtwan¬
derung hatte eine Veraͤnderung in ſeinem ganzen
Gedankenſyſtem hervorgebracht — er fuͤhlte ſich
in ſeiner Wohnung von nun an nicht mehr zu
Hauſe — die Ortsideen ſchwankten in ſeinem
Kopfe hin und her — er war den ganzen Tag
uͤber, wie ein Traͤumender — bei dem allen
aber war ihm die Erinnerung an die Nachtwan¬
derung angenehm. — Das Kraͤchzen der beiden
Raben, die uͤber ſeinem Kopfe hinflogen, der
kleine Dorfkirchhof, die durchwanderten
Kornfelder, alles draͤngte ſich nun in ſeiner
Einbildungskraft zuſammen, und machte zuſam¬
men eine dunkle Gruppe, ein ſchoͤnes Nachtſtuͤck
aus, woran ſich ſeine Phantaſie noch oft nachher
in einſamen Stunden ergoͤtzt hat. —
Allein ſein Aufenthalt in H. . . wurde ihm
von nun an, wo moͤglich noch verhaßter — und
der Wandergeiſt hatte ſich ſeiner nun ganz be¬
maͤchtigt — dieß war aber auch der Fall bei meh¬
rern von den jungen Leuten, welche mit Komoͤ¬
die geſpielt hatten. — Einer Nahmens T. . .,
[235] der vorher ein aͤußerſt ſtiller, fleißiger, und or¬
dentlicher Menſch war, entdeckte Reiſern im
Vertrauen ſeine Unzufriedenheit mit ſeinem
kuͤnftigen Stande eines Theologen, wozu er be¬
ſtimmt war, und unterredete ſich mit ihm uͤber
die Gluͤckſeligkeit, welche der Schauſpielerſtand
gewaͤhrte, wobei er gegen die Vorurtheile dekla¬
mirte, die dieſen ehrenvollen Stand noch im¬
mer unverdienter Weiſe herabſetzten. —
Dieß Geſpraͤch hielten beide auf einem Spa¬
ziergange nach einem kleinen Dorfe vor H...;
und ſie hatten ſich ſo in ihrer Unterredung ver¬
tieft, daß ſie von der Nacht uͤberfallen, und in
dem Dorfe zu bleiben genoͤthigt wurden. —
Dieß ungewoͤhnliche Uebernachten an einem
fremden Orte, ſetzte beiden noch mehr roman¬
hafte Ideen in den Kopf — es daͤuchte ihnen
ſchon, als ob ſie auf Abentheuer ausgingen, und
Gluͤck und Ungluͤck mit einander theilten. —
Der kuͤhne Vorſatz dieſer beiden Abentheurer,
ſich uͤber alle Vorurtheile der Welt hinwegzu¬
ſetzen, und ihrer Neigung, oder ihrem Beruf,
wie ſie es nannten, zu folgen, blieb denn auch
[236] nicht unausgefuͤhrt. — Reiſer machte den An¬
fang, und T. . . folgte ihm bald, wurde aber
noch gluͤcklich wieder zuruͤckgebracht. —
Reiſer machte indes, ehe er ſeinen Vorſatz
ausfuͤhrte, noch eine naͤchtliche Wanderung mit
I. . ., der ihn des Abends um eilf Uhr mit noch
einem von der dramatiſchen Geſellſchaft beſuchte,
und ihn zu einem Spatziergange nach dem D.,
einem Berge, der drei Meilen von H. . . entfernt
iſt, einlud. — Reiſer, dem dergleichen naͤchtliche
Wanderungen nun ſchon anfingen, eine gewohnte
Sache zu werden, war ſogleich enſchloſſen — es
war eine warme mondhelle Sommernacht. —
Die Unterhaltung unterwegens war ganz poe¬
tiſch, zuweilen etwas affektirt, und dann wieder
wahr, nachdem es fiel. — Wo ſie durch ein
Dorf kamen, duftete ihnen der friſche Heugeruch
entgegen. — Und dieſe Nachtwanderung war
wirklich eine der angenehmſten, die man ſich nur
denken kann, ſo daß ſie recht vom Zufall veran¬
ſtaltet zu ſeyn ſchien, um Reiſers Phantaſie noch
mehr zu erhitzen, und ſeiner einmal angefachten
Luſt zum Wandern das voͤllige Uebergewicht uͤber
die Vernunft zu geben. —
[237]
Die drei Abentheurer erreichten noch vor
Tagesanbruch ein Dorf, das dicht am Fuß des
Berges lag, wo ſie einkehrten, und noch einige
Stunden ſchliefen. — Da ſie aber am andern Mor¬
gen fruͤh aufſtanden, ſo waren alle die ſchoͤnen Bil¬
derchen aus der Zauberlaterne verſchwunden; die
kahle Wirklichkeit mit allen ihren unvermeid¬
lichen Unannehmlichkeiten ſtand wieder vor ihrer
Seele da — ſie ſaßen uͤber eine Stunde einander
gegen uͤber und jaͤhnten ſich an. — Wenn irgend
etwas Reiſern von ſeiner Phantaſie noch haͤtte
heilen koͤnnen, ſo waͤre es dieſer Morgen nach
ſolch einer Nacht geweſen — es war ihnen nun
leid geworden, den Berg zu beſteigen, ſie fuͤhl¬
ten ſich muͤde und matt, und nahmen den naͤch¬
ſten Weg wieder nach der Stadt zuruͤck, der ih¬
nen wegen der brennenden Sonnenhitze ziemlich
beſchwerlich wurde — allein ſie fingen unterwe¬
gens an, Reime zu extemporiren, womit ſie ſich
die Einfoͤrmigkeit des Gehens einigermaßen
erleichterten. —
Reiſer blieb demohngeachtet voͤllig entſchloſ¬
ſen, zu wandern, moͤgte auch ſein Schickſal ſeyn,
was da wollte — er zog alles, was ihm begeg¬
3r Theil O[238] nen konnte, dennoch der traurigen Einfoͤrmig¬
keit, und dem nicht halb und nicht ganz
gluͤcklich ſeyn in H. . . vor. —
Alle ſeine Gedanken gingen nun einmal ins
Weite. — Er ſahe uͤberdem kein Mittel vor ſich,
ſeine Schulden zu tilgen, ohne ſie dem Paſtor
M. . . aufs neue zu entdecken, deſſen Achtung
und Freundſchaft er dann voͤllig zu verlieren ge¬
waͤrtigen mußte. — Auch die verſchiedenen De¬
muͤthigungen, die er ſeit kurzem wieder hatte er¬
tragen muͤſſen, waren ihm noch im friſchen An¬
denken, und machten ihm den Aufenthalt in
H. . . ſowohl, als die Gegenden umher ver¬
haßt. —
Er wußte ſeinem einzigen Vertrauten, Phi¬
lipp Reiſern, ſeine Lage auch ſo mißlich vorzu¬
ſtellen, daß dieſer endlich ſelbſt ſeinen Entſchluß,
H. . . zu verlaſſen, billigte, und ihm die Reiſe¬
route nach Erfurt, ſo wie er den Weg ſelbſt von
dorther bis H. . . zu Fuße gemacht hatte, vor¬
ſchrieb. — Von da wollte denn Anton Reiſer
nach Weimar gehen, um bei der Seilerſchen
oder vielmehr Eckhoffiſchen Schauſpielergeſell¬
ſchaft, als Mitglied angenommen zu werden —
[239] und von da aus, wollte er denn, wenn ihm dieß
gelaͤnge, ſeine Schulden in H... bezahlen, und
ſeinen guten Ruf wieder herzuſtellen ſuchen, in¬
dem er dort gleichſam wieder aufſtaͤnde,
nachdem er hier buͤrgerlich geſtorben waͤre.
— Dieß letzte war ihm insbeſondre eine der
angenehmſten Vorſtellungen, womit er ſich
trug. —
Er brachte nun Philipp Reiſern ſeine weni¬
gen Buͤcher und Papiere, und gab ſie ihm in
Verwahrung — ſeine Kleider hatte er zum Theil
verſetzt, um die Koſten zur Komoͤdie zu beſtrei¬
ten — und ſeine uͤbrigen wenigen Sachen ließ
er ſeinen Wirth zur Schadloshaltung fuͤr die
Miethe. — Dieſem ſagte er, daß ſein Vater
ſehr krank geworden ſey, und daß er um dieſen
zu beſuchen, auf eine Woche verreiſen wuͤrde,
wenn etwa jemand nach ihm fragen ſollte. —
Und nun war er ſo weit in Richtigkeit bis
auf die Baarſchaft, womit er eine Reiſe von
mehr als vierzig Meilen antreten ſollte. — Dieſe
beſtand denn, nach allem, was er hatte auftrei¬
ben koͤnnen, aus einem einzigen Dukaten,
Q. 2[240] womit er Muth genug hatte, ſich auf den Weg
zu machen, ohngeachtet Philipp Reiſer ihm die
Unbeſonnenheit dieſes Unternehmens genug vor¬
ſtellte. — Aber mit Gelde konnte ihn dieſer aus
dem ſehr wichtigen Grunde nicht unterſtuͤtzen,
weil es ihm ſelbſt gemeiniglich und gerade jetzt
gaͤnzlich daran fehlte. —
Anton Reiſer konnte alſo nun im eigent¬
lichen Verſtande von ſich ſagen, daß er alle das
ſeinige mit ſich trug. — Das gute Kleid, worin
er die Rede auf der Koͤnigin Geburtstag gehal¬
ten hatte, nebſt einem Ueberrock war ſeine ganze
Garderobe — dabei trug er einen vergoldeten
Galanteriedegen an der Seite und Schuh und
ſeidene Struͤmpfe. — Ein reines Oberhemde,
nebſt noch ein paar ſeidenen Struͤmpfen, Homers
Odyſſe in Duodez mit der lateiniſchen Verſion,
und der lateiniſche Anſchlagbogen von der Rede¬
uͤbung an der Koͤnigin Geburtstage, worauf ſein
Nahme gedruckt ſtand, war alles, was er in der
Taſche bei ſich trug. —
Es war in der Mitte des Winters, an einem
Sonntagmorgen, den er noch bei Philipp Rei¬
[241] fern zubrachte, wo er ſich voͤllig reiſefertig mach¬
te, um den Nachmittag ſeine Wanderſchaft an¬
zutreten, und, weil die Tage ſchon lang waren,
noch drei Meilen bis zu der naͤchſten Stadt, auf
ſeiner Tour, zuruͤckzulegen. —
Es war heitrer Sonnenſchein — die Leute
gingen in ihrem Sonntagsſchmuck auf der Straße,
und zum Theil vor das Thor ſpatzieren, um am
Abend in ihre Haͤuſer wieder zuruͤckzukehren,
und Reiſer ſollte nun an dieſem Tage auf immer
aus H. . . ſcheiden — dieß machte ihm eine ſon¬
derbare Empfindung, die weder Schmerz noch
Wehmuth, ſondern mehr eine Art von Betaͤu¬
bung war. — Der Abſchied aus H. . . preßte ihm
keine Thraͤne aus, ſondern er war dabei faſt ſo
kalt und unbewegt, als ob er durch eine fremde
Stadt gereißt waͤre, der er nun wieder den Ruͤk¬
ken zukehren mußte, um weiter zu gehen. —
Selbſt der Abſchied von Philipp Reiſern war
mehr kalt als zaͤrtlich. — Philipp Reiſer
machte ſich viel mit einer neuen Kokarde
an ſeinem Hute zu ſchaffen, und unterhielt
dabei ſeinen ſcheidenden Freund, noch in der
letzten Stunde, die ſie zuſammen zubrachten,
Q 3[242] von ſeinem verliebten Romane, den er damals
gerade ſpielte, gleichſam, als wenn Anton Rei¬
ſer den Verfolg davon haͤtte abwarten koͤnnen.—
Kurz, die ganze Unterhaltung war ſo, als ob ſie
am andern Tage wieder zuſammen kommen, und
alles denn nach der alten Weiſe fortgehen wuͤr¬
de. — Was aber Anton Reiſern am meiſten
aͤrgerte, war das Putzen der Hutkokarde,
womit ſich ſein einziger Freund in der letzten Ab¬
ſchiedsſtunde noch ſo eifrig beſchaͤftigen konnte.—
Dieſe Hutkokarde ſchwebte ihm noch lange
nachher vor Augen, und machte ihm allemal eine
verdrießliche Ruͤckerinnerung, ſo oft er daran
dachte. — Auch wurde ihm der Abſchied aus
H. . . von ſeinem einzigen Freunde durch
dieß Putzen der Hutkokarde ſehr erleichtert. —
Philipp Reiſer meinte es aber demohngeachtet
gut mit ihm, nur hatte dießmal ſeine kleine Ei¬
telkeit, und ſeine verliebten Schwaͤrmereien uͤber
die freundſchaftliche Theilnehmung die Oberhand
behalten, und ſeine Hutkokarde, worin er viel¬
leicht ſeiner Schoͤnen gefallen wollte, war ihm
auch ein ſehr wichtiger Gegenſtand geworden, wo¬
fuͤr nun Anton Reiſer freilich keinen Sinn hatte —
[243]
„So kalt, ſo ſtarr an der ehernen Pforte
„des Todes anzuklopfen.“
Dieſe Worte aus Werthers Leiden hatten
Anton Reiſern dieſen ganzen Morgen im Sinne
gelegen, und da ihm Philipp Reiſer den großen
Thorweg oͤfnen wollte, durch den nun doch der
eigentliche Trennungspunkt bewirkt wurde, weil
Philipp Reiſer, um nicht Verdacht zu erwecken,
als ob derſelbe um ſeine Abreiſe wuͤßte, ihn mit
Fleiß nicht begleiten ſollte; ſo blieb er noch eine
Weile inwendig ſtehen, ſahe Philipp Reiſern
ſtarr an, und in dem Augenblick war es ihm, als
klopfte er ſo kalt und ſtarr an der ehernen
Pforte des Todes an. — Er gab Philipp
Reiſern, der ihm kein Wort ſagen konnte, die
Hand, zog darauf den Thorweg hinter ſich zu,
und eilte, um die naͤchſte Ecke zu kommen, damit
ſein nun von ihm geſchiedener Freund ihm nicht
etwa nachſehen moͤgte. —
Darauf ging er ſchnell uͤber den Wall nach
dem Aegidien Thore zu und ſahe noch einmal
ſeitwaͤrts nach ſeiner ehmaligen Wohnung im
Hauſe des Rektors, die er vom Walle aus be¬
merken konnte. — Es war des Nachmittags um
[244] zwei Uhr, und man laͤutete zur Kirche — er
verdoppelte ſeine Schritte, je naͤher er dem
Thore kam. — Es war ihm, als ob das Grab
noch einmal hinter ihm ſeinen Schlund eroͤf¬
nete. — Da er aber nun die Stadt mit ihren
gruͤnbepflanzten Waͤllen im Ruͤcken hatte, und
die Haͤuſer, wie er zuruͤckblickte, ſich immer
dichter zuſammendraͤngten, ſo wurde ihm leich¬
ter, und immer leichter, bis endlich die vier
Thuͤrme, welche den bisherigen Schauplatz aller
ſeiner Kraͤnkungen und Bekuͤmmerniſſe bezeich¬
neten, ihm aus dem Geſichte ſchwanden. —
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Anton Reiser. Anton Reiser. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bns0.0