Geiſterſeher.
aus den Memoires des Grafen von O**.
bey Georg Joachim Göſchen,
1789.
Der Geiſterſeher.
Aus den Papieren
des
Grafen von O**.
A[[2]][[3]]
Erſtes Buch.
Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaub¬
lich ſcheinen wird, und von der ich großentheils
ſelbſt Augenzeuge war. Den wenigen, welche von
einem gewiſſen politiſchen Vorfalle unterrichtet ſind,
wird ſie — wenn anders dieſe Blätter ſie noch am
Leben finden — einen willkommenen Aufſchluß
darüber geben; und auch ohne dieſen Schlüſſel
wird ſie den übrigen, als ein Beytrag zur Geſchich¬
te des Betrugs und der Verirrungen des menſch¬
lichen Geiſtes vielleicht wichtig ſeyn. Man wird
über die Kühnheit des Zwecks erſtaunen, den
die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen im Stan¬
de iſt; man wird über die Mittel erſtaunen,
die ſie aufzubieten vermag, um ſich dieſes Zwecks zu
verſichern. Reine, ſtrenge Wahrheit wird meine
Feder leiten, denn wenn dieſe Blätter an die Welt
treten, bin ich nicht mehr, und nie werde ich ihr
Schickſal erfahren.
Es war auf meiner Zurückreiſe nach Kurland,
im Jahr 17** um die Karnevalszeit, als ich den
Prin¬A 2[4] Prinzen von ** in Venedig beſuchte. Wir hatten uns
in **ſchen Kriegsdienſten kennen lernen, und er¬
neuerten hier eine Bekanntſchaft, die der Friede
unterbrochen hatte. Weil ich ohnedies wünſchte,
das Merkwürdige dieſer Stadt zu ſehen, und der
Prinz nur noch Wechſel erwartete, um nach **
zurück zu reiſen, ſo beredete er mich leicht, ihm
Geſellſchaft zu leiſten, und meine Abreiſe ſo lange
zu verſchieben. Wir kamen überein uns nicht von
einander zu trennen, ſo lange unſer Aufenthalt in
Venedig dauern würde, und der Prinz war ſo ge¬
fällig, mir ſeine eigene Wohnung im Mohren an¬
zubieten.
Er lebte hier unter dem ſtrengſten Incognito, weil
er ſich ſelbſt leben wollte, und ſeine geringe Apa¬
nage ihm auch nicht verſtattet hätte, die Hoheit ſei¬
nes Rangs zu behaupten. Zwey Kavaliere, auf
deren Verſchwiegenheit er ſich vollkommen verlaſ¬
ſen konnte, waren nebſt einigen treuen Bedienten
ſein ganzes Gefolge. Den Aufwand vermied er
mehr aus Temperament als aus Sparſamkeit. Er
floh die Vergnügungen; bis zu ſeinem fünf und
dreyßigſten Jahre hatte er allen Reizungen dieſer
wollüſtigen Stadt widerſtanden. Das ſchöne Ge¬
ſchlecht war ihm gleichgültig. Tiefer Ernſt und eine
ſchwärmeriſche Melancholie herrſchte in ſeiner Ge¬
müthsart. Seine Neigungen waren ſtill, aber
hartnäckig bis zum Uebermaaß, ſeine Wahl lang¬
ſam und ſchüchtern, ſeine Anhänglichkeit warm und
ewig; mitten in einem geräuſchvollen Gewühle von
Menſchen ging er einſam. In ſeine eigene Phan¬
taſien¬[5] taſienwelt verſchloſſen, war er ſehr oft ein Fremd¬
ling in der wirklichen — und weil er wohl wußte,
wie ſchlecht er beobachtete, ſo verbot er ſich jedes Ur¬
theil, und übertrieb die Gerechtigkeit gegen frem¬
des. Niemand war mehr dazu gebohren, ſich be¬
herrſchen zu laſſen, ohne ſchwach zu ſeyn. Dabey
war er unerſchrocken und zuverläſſig, ſobald er
einmal überzeugt war, und beſaß gleich großen
Muth, ein erkanntes Vorurtheil zu bekämpfen und
für ein anderes zu ſterben.
Als der dritte Prinz ſeines Hauſes hatte er kei¬
ne wahrſcheinliche Ausſicht zur Regierung. Sein
Ehrgeiz war nie erwacht. Seine Leidenſchaften
hatten eine andre Richtung genommen.
Zufrieden von keinem fremden Willen abzuhän¬
gen, drang er den ſeinigen niemand zum Geſetze
auf; die geräuſchloſe Ruhe eines zwangloſen Pri¬
vatlebens begränzte alle ſeine Wünſche. Er las
viel, doch ohne Wahl. Eine nachläſſige Erziehung
und frühe Kriegsdienſte hatten ſeinen Geiſt nicht zur
Reife kommen laſſen. Alle Kenntniſſe die er nach¬
her ſchöpfte, vermehrten nur das verworrene Chaos
ſeiner Begriffe, weil ſie auf keinen feſten Grund
gebauet waren.
Er war Proteſtant, wie ſeine ganze Familie —
durch Geburt, nicht nach Unterſuchung, die er nie
angeſtellt hatte, ob er gleich in einer Epoche ſeines
Lebens, Schwärmer darin geweſen war. Maçon
iſt er, ſo viel ich weiß, nie geworden.
EinesA 3[6]
Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in
tiefer Maſke und abgeſondert, auf dem Platze St.
Markus ſpazieren giengen — es fing an ſpät zu
werden, und das Gedränge hatte ſich verloren —
bemerkte der Prinz, daß eine Maſke uns überall
folgte. Die Maſke war ein Armenier und ging al¬
lein. Wir beſchleunigten unſere Schritte und
ſuchten ſie durch öftere Veränderung unſeres We¬
ges irre zu machen — umſonſt, die Maſke blieb
immer dicht hinter uns. „Sie haben doch keine
Intrigue hier gehabt? ſagte endlich der Prinz zu
mir. Die Ehemänner in Venedig ſind gefährlich.“
— Ich kenne keine einzige Dame, gab ich zur
Antwort. „Laſſen Sie uns hier niederſetzen und
deutſch ſprechen, fuhr er fort. Ich bilde mir ein,
man verkennt uns.“ Wir ſezten uns auf eine ſtei¬
nerne Bank und erwarteten, daß die Maſke vor¬
über gehen ſollte. Sie kam gerade auf uns zu,
und nahm ihren Platz dicht an der Seite des Prin¬
zen Er zog die Uhr heraus und ſagte mir laut
auf franzöſiſch, indem er aufſtund: „Neun Uhr
vorbey. Kommen Sie. Wir vergeſſen, daß man
uns im Louvre erwartet.“ Dieß erdichtete er nur,
um die Maſke von unſerer Spur zu entfernen.
„Neun Uhr“ wiederholte ſie in eben der Spra¬
che nachdrücklich und langſam. „Wünſchen Sie
ſich Glück, Prinz (indem ſie ihn bey ſeinem wah¬
ren Namen nannte). Um neun Uhr iſt er
geſtorben.“ — Damit ſtand ſie auf und ging.
Wir ſahen uns beſtürzt an. — „Wer iſt geſtor¬
ben?“ ſagte endlich der Prinz nach einer langen
Stille.[7] Stille. „Laſſen Sie uns ihr nachgehen, ſagte ich,
und eine Erklärung fordern.“ Wir durchkrochen
alle Winkel des Markus — die Maſke war nicht
mehr zu finden. Unbefriedigt kehrten wir nach
unſerm Gaſthof zurück. Der Prinz ſagte mir un¬
terwegens nicht ein Wort, ſondern ging ſeitwärts
und allein, und ſchien einen gewaltſamen Kampf zu
kämpfen, wie er mir auch nachher geſtanden hat.
Als wir zu Hauſe waren, öffnete er zum erſtenma¬
le wieder den Mund. „Es iſt doch lächerlich, ſagte
er, daß ein Wahnſinniger die Ruhe eines Mannes
mit zwey Worten ſo erſchüttern ſoll.“ Wir wünſch¬
ten uns eine gute Nacht, und ſo bald ich auf mei¬
nem Zimmer war, merkte ich mir in meiner
Schreibtafel den Tag und die Stunde wo es ge¬
ſchehen war. Es war ein Donnerſtag.
Am folgenden Abend ſagte mir der Prinz:
„Wollen wir nicht einen Gang über den Markus¬
platz machen, und unſern geheimnißvollen Arme¬
nier aufſuchen? Mich verlangt doch nach der Ent¬
wickelung dieſer Komödie.“ Ich wars zufrieden.
Wir blieben bis eilf Uhr auf dem Platz. Der
Armenier war nirgends zu ſehen. Das nehmliche
wiederholten wir die vier folgenden Abende, und je¬
desmal mit demſelben ſchlechten Erfolge.
Als wir am ſechſten Abend unſer Hotel ver¬
ließen, hatte ich den Einfall — ob unwillkührlich
oder aus Abſicht, beſinne ich mich nicht mehr —
den Bedienten zu hinterlaſſen, wo wir zu finden
ſeyn würden, wenn nach uns gefragt werden ſollte.
DerA 4[8] Der Prinz bemerkte meine Vorſicht, und lobte ſie
mit einer lächelnden Miene. Es war ein großes
Gedränge auf dem Markusplatz, als wir da anka¬
men. Wir hatten kaum dreyßig Schritte gemacht,
ſo bemerkte ich den Armenier wieder, der ſich mit
ſchnellen Schritten durch die Menge arbeitete, und
mit den Augen Jemand zu ſuchen ſchien. Eben
waren wir im Begriff ihn zu erreichen, als der Ba¬
ron von F. aus der Suite des Prinzen athemlos auf
uns zukam, und dem Prinzen einen Brief über¬
brachte. „Er iſt ſchwarz geſiegelt, ſezte er hinzu.
Wir vermutheten, daß es Eile hätte.“ Das fiel
auf mich wie ein Donnerſchlag. Der Prinz war zu
einem Flambeau getreten und fing an zu leſen.
„Mein Kouſin iſt geſtorben,“ rief er. Wann?
ſtürzte ich ihm heftig ins Wort. Er ſah noch ein¬
mal in den Brief. „Vorigen Donnerſtag. Abends
um neun Uhr.“
Wir hatten nicht Zeit, von unſerm Erſtaunen
zurück zu kommen, ſo ſtand der Armenier unter uns.
„Sie ſind hier erkannt, gnädigſter Herr, ſagte er
zu dem Prinzen. Eilen Sie nach dem Mohren.
Sie werden die Abgeordneten des Senats dort fin¬
den. Tragen Sie kein Bedenken, die Ehre anzu¬
nehmen, die man Ihnen erweiſen will. Der Ba¬
ron von F** vergaß, Ihnen zu ſagen, daß Ihre
Wechſel angekommen ſind.“ Er verlor ſich in dem
Gedränge.
Wir eilten nach unſerm Hotel. Alles fand
ſich, wie der Armenier es verkündigt hatte. Drey
Nobili[9] Nobili der Republik ſtanden bereit, den Prinzen
zu bewillkommen, und ihn mit Pracht nach der Aſ¬
ſemblee zu begleiten, wo der hohe Adel, der Stadt
ihn erwartete. Er hatte kaum ſo viel Zeit, mir
durch einen flüchtigen Wink zu verſtehen zu geben,
daß ich für ihn wach bleiben möchte.
Nachts gegen eilf kam er wieder. Ernſt und
gedankenvoll trat er ins Zimmer, und ergriff mei¬
ne Hand, nachdem er die Bedienten entlaſſen hat¬
te. „Graf, ſagte er mit den Worten Hamlets zu
mir, es giebt mehr Dinge im Himmel und auf
Erden, als wir in unſern Philoſophien träumen.“
Gnädigſter Herr, antwortete ich, Sie ſcheinen
zu vergeſſen, daß Sie um eine große Hoffnung rei¬
cher zu Bette gehen.“ (Der Verſtorbene war der
Erbprinz.)
„Erinnern Sie mich nicht daran, ſagte der
Prinz. Und wenn eine Krone für mich wäre ge¬
wonnen worden, ich hätte jezt mehr zu thun, als
dieſer Kleinigkeit nachzudenken. — — Wenn die¬
ſer Armenier nicht bloß errathen hat“ — —
„Wie iſt das möglich, Prinz?“ fiel ich
ein. —
„So will ich Ihnen alle meine fürſtlichen Hoff¬
nungen für eine Mönchskutte abtreten.“
Ich führe dieſes mit Fleiß hier an, weil ich
glaube, daß es zu einem Beweiſe dienen kann, wie
entfernt er noch damals von jeder herrſchſüchtigen
Abſicht geweſen iſt.
A 5Den[10]
Den folgenden Abend fanden wir uns zeitiger,
als gewöhnlich, auf dem Markusplatz ein. Ein
plötzlicher Regenguß nöthigte uns, in ein Kaffee¬
haus einzukehren, wo geſpielt wurde. Der
Prinz ſtellte ſich hinter den Stuhl eines Spaniers,
und beobachtete das Spiel. Ich war in ein an¬
ſtoßendes Zimmer gegangen, wo ich Zeitungen
las. Eine Weile darauf hörte ich Lermen. Vor
der Ankunft des Prinzen war der Spanier unauf¬
hörlich im Verluſte geweſen, jezt gewann er auf
alle Karten. Das ganze Spiel ward auffallend
verändert, und die Bank war in Gefahr, von dem
Pointeur, den dieſe glückliche Wendung kühner ge¬
macht hatte, aufgefordert zu werden. Ein Vene¬
tianer, der ſie hielt, ſagte dem Prinzen mit belei¬
digendem Ton — er ſtöhre das Glück, und er
ſolle den Tiſch verlaſſen. Dieſer ſah ihn kalt an
und blieb; dieſelbe Faſſung behielt er, als der Ve¬
netianer ſeine Beleidigung franzöſiſch wiederholte.
Der leztere glaubte, daß der Prinz beyde Spra¬
chen nicht verſtehe, und wandte ſich mit verach¬
tungsvollem Lachen zu den übrigen: „Sagen Sie
mir doch, meine Herren, wie ich mich dieſem Ba¬
lardo verſtändlich machen ſoll?“ Zugleich ſtand
er auf und wollte den Prinzen beym Arm ergrei¬
fen; dieſen verließ hier die Geduld, er packte den
Venetianer mit ſtarker Hand, und warf ihn un¬
ſanft zu Boden. Das ganze Haus kam in Bewe¬
gung. Auf das Geräuſch ſtürzte ich herein, un¬
willkührlich rief ich ihn bey ſeinem Namen. „Neh¬
men Sie ſich in Acht, Prinz, ſezte ich mit Unbe¬
ſonnen¬[11] ſonnenheit hinzu, wir ſind in Venedig.“ Der
Name des Prinzen gebot eine allgemeine Stille,
woraus bald ein Gemurmel wurde, das mir gefähr¬
lich ſchien. Alle anweſenden Italiener rotteten
ſich zu Haufen, und traten bey Seite. Einer um
den andern verließ den Saal, bis wir uns beide
mit dem Spanier und einigen Franzoſen allein fan¬
den. „Sie ſind verloren, gnädigſter Herr, ſag¬
ten dieſe, wenn Sie nicht ſogleich die Stadt verlaſ¬
ſen. Der Venetianer, den Sie ſo übel behandelt
haben, iſt reich genug, einen Bravo zu dingen.
Es koſtet ihm nur funfzig Zechinen, Sie aus der
Welt zu ſchaffen.“ Der Spanier bot ſich an, zur
Sicherheit des Prinzen Wache zu holen, und uns
ſelbſt nach Hauſe zu begleiten. Daſſelbe wollten
auch die Franzoſen. Wir ſtanden noch, und über¬
legten was zu thun wäre, als die Thüre ſich öffne¬
te und einige Bedienten der Staatsinquiſition her¬
eintraten. Sie zeigten uns eine Ordre der Regie¬
rung, worinn uns beyden befohlen ward, ihnen ſchleu¬
nig zu folgen. Unter einer ſtarken Bedeckung führte
man uns bis zum Kanal. Hier erwartete uns eine
Gondel, in die wir uns ſetzen mußten. Ehe wir
ausſtiegen, wurden uns die Augen verbunden.
Man führte uns eine große ſteinerne Treppe hin¬
auf, und dann durch einen langen gewundenen Gang
über Gewölber, wie ich aus dem vielfachen Echo
ſchloß, das unter unſern Füßen hallte. Endlich
gelangten wir vor eine andere Treppe, welche uns
ſechs und zwanzig Stufen in die Tiefe hinunter
führte. Hier öffnete ſich ein Saal, wo man uns
die[12] die Binde wieder von den Augen nahm. Wir be¬
fanden uns in einem Kreiſe ehrwürdiger alter
Männer, alle ſchwarz gekleidet, der ganze Saal
mit ſchwarzen Tüchern behangen und ſparſam er¬
leuchtet, eine Todtenſtille in der ganzen Verſamm¬
lung, welches einen ſchreckhaften Eindruck machte.
Einer von dieſen Greiſen, wahrſcheinlich der ober¬
ſte Staatsinquiſitor, näherte ſich dem Prinzen, und
fragte ihn mit einer feierlichen Miene, während
man ihm den Venetianer vorführete:
„Erkennen Sie dieſen Menſchen für den nehm¬
lichen, der Sie auf dem Kaffeehauſe beleidigt
hat?“
„Ja,“ antwortete der Prinz.
Darauf wandte Jener ſich zu dem Gefangenen:
„Iſt das dieſelbe Perſon, die Sie heute Abend
wollten ermorden laſſen?“
Der Gefangene antwortete mit Ja.
Sogleich öffnete ſich der Kreis, und mit Ent¬
ſetzen ſahen wir den Kopf des Venetianers vom
Rumpfe trennen, „Sind Sie mit dieſer Genug¬
thuung zufrieden?“ fragte der Staatsinquiſitor.
— Der Prinz lag ohnmächtig in den Armen ſeiner
Begleiter — „Gehen Sie nun,“ fuhr Jener mit
einer ſchrecklichen Stimme fort, indem er ſich gegen
mich wandte, „und urtheilen Sie künftig weniger
vorſchnell von der Gerechtigkeit in Venedig.“
Wer der verborgene Freund geweſen, der uns
durch den ſchnellen Arm der Juſtiz von einem ge¬
wiſſen[13] wiſſen Tode errettet hatte, konnten wir nicht erra¬
then. Starr von Schrecken erreichten wir unſre
Wohnung. Es war nach Mitternacht. Der Kam¬
merjunker von Z** erwartete uns mit Ungeduld
an der Treppe. —
„Wie gut war es, daß Sie geſchickt haben!“
ſagte er zum Prinzen, indem er uns leuchtete. —
„Eine Nachricht die der Baron von F** gleich
nachher von dem St. Markusplatze nach Hauſe
brachte, hatte uns wegen Ihrer in die tödtlichſte Angſt
geſezt.“
„Geſchickt hätte ich? Wann? Ich weiß nichts
davon.“
„Dieſen Abend nach acht Uhr. Sie ließen uns
ſagen, daß wir ganz außer Sorgen ſeyn dürften,
wenn Sie heute ſpäter nach Hauſe kämen.“
Hier ſahe der Prinz mich an. „Haben Sie
vielleicht ohne mein Wiſſen dieſe Sorgfalt ge¬
braucht?“
Ich wußte von gar nichts.
„Es muß doch wohl ſo ſeyn, Ihro Durch¬
laucht,“ ſagte der Kammerjunker — „denn hier
iſt ja Ihre Repetieruhr, die Sie zur Sicherheit mit
ſchickten.“ Der Prinz griff nach der Uhrtaſche.
Die Uhr war wirklich fort, und er erkannte jene
für die ſeinige. „Wer brachte ſie,“ fragte er mit
Beſtürzung.
„Eine unbekannte Maſke, in armeniſcher Klei¬
dung, die ſich ſogleich wieder entfernte.“
Wir[14]
Wir ſtanden und ſahen uns an. — „Was
halten Sie davon? ſagte endlich der Prinz nach
einem langen Stillſchweigen. „Ich habe hier ei¬
nen verborgenen Aufſeher in Venedig.“
Der ſchreckliche Auftritt dieſer Nacht hatte dem
Prinzen ein Fieber zugezogen, das ihn acht Tage
nöthigte, das Zimmer zu hüten. In dieſer Zeit
wimmelte unſer Hotel von Einheimiſchen und Frem¬
den, die der entdeckte Stand des Prinzen herbey
gelockt hatte. Man wetteiferte unter einander,
ihm Dienſte anzubieten, und wir bemerkten mit
Vergnügen, wie immer der nächſtfolgende den weg¬
gehenden verdächtig machte. Liebesbriefe und Ar¬
kana überſchwemmten uns von allen Seiten. Je¬
der ſuchte nach ſeiner Art, ſich geltend zu machen.
Des ganzen Vorgangs in der Staatsinquiſition
wurde nicht mehr erwähnt. Weil der Hof zu **
die Abreiſe des Prinzen noch aufgeſchoben wünſchte,
ſo erhielten einige Banquiers in Venedig Anwei¬
ſung, ihm beträchtliche Summen auszuzahlen. So
ward er wider Willen in den Stand geſetzt, ſeinen
Aufenthalt in Italien zu verlängern, und auf ſein
Bitten entſchloß ich mich auch, meine Abreiſe noch
zu verſchieben.
So bald er ſo weit geneſen war, um das Zim¬
mer wieder verlaſſen zu können, beredete ihn der
Arzt eine Spazierfahrt auf der Brenta zu machen,
um die Luft zu verändern. Das Wetter war helle
und die Parthie ward angenommen. Als wir
eben im Begriff waren in die Gondel zu ſteigen,
ver¬[15] vermißte der Prinz den Schlüſſel zu einer
kleinen Schatulle, die ſehr wichtige Papiere enthielt.
Sogleich kehrten wir um, ihn zu ſuchen. Er be¬
ſann ſich auf das genaueſte, die Schatulle noch den
vorigen Tag verſchloſſen zu haben, und ſeit dieſer
Zeit war er nicht aus dem Zimmer gekommen.
Aber alles Suchen war umſonſt, wir mußten da¬
von abſtehen, um die Zeit nicht zu verlieren. Der
Prinz, deſſen Seele über jeden Argwohn erhaben
war, erklärte ihn für verloren, und bat uns, nicht
weiter davon zu ſprechen.
Die Fahrt war die angenehmſte. Eine mah¬
leriſche Landſchaft, die mit jeder Krümmung des
Fluſſes ſich an Reichthum und Schönheit zu über¬
treffen ſchien — der heiterſte Himmel, der mitten
im Hornung einen Maientag bildete — reizende
Gärten und geſchmackvolle Landhäuſer ohne Zahl,
welche beyde Ufer der Brenta ſchmücken — hin¬
ter uns das majeſtätiſche Venedig, mit hundert aus
dem Waſſer ſpringenden Thürmen und Maſten,
alles dieß gab uns das herrlichſte Schauſpiel von
der Welt. Wir überließen uns ganz dem wohlthä¬
tigen Zauber dieſer ſchönen Natur, unſere Laune
war die heiterſte, der Prinz ſelbſt verlor ſeinen
Ernſt, und wetteiferte mit uns in fröhlichen Scher¬
zen. Eine luſtige Muſik ſchallte uns entgegen, als
wir zwey italieniſche Meilen von der Stadt ans Land
ſtiegen. Sie kam aus einem kleinen Dorfe, wo
eben Jahrmarkt gehalten wurde; hier wimmelte
es von Geſellſchaft aller Art. Ein Trupp junger
Mäd¬[16] Mädchen und Knaben, alle theatraliſch gekleidet,
bewillkommte uns mit einem pantomimiſchen Tanz.
Die Erfindung war neu, Leichtigkeit und Grazie
beſeelten jede Bewegung. Eh der Tanz noch völlig
zu Ende war, ſchien die Anführerinn deſſelben,
welche eine Königinn vorſtellte, plötzlich wie von ei¬
nem unſichtbaren Arme gehalten. Leblos ſtand ſie
und Alles. Die Muſik ſchwieg. Kein Odem war
zu hören in der ganzen Verſammlung und ſie ſtand
da, den Blick auf die Erde geheftet, in einer tie¬
fen Erſtarrung. Auf einmal fuhr ſie mit der Wuth
der Begeiſterung in die Höhe, blickte wild um ſich
her — „Ein König iſt unter uns,“ rief ſie, riß
ihre Krone vom Haupt, und legte ſie — zu den
Füßen des Prinzen. Alles, was da war, richtete
hier die Augen auf ihn, lange Zeit ungewiß, ob
Bedeutung in dieſem Gaukelſpiel wäre, ſo ſehr
hatte der affektvolle Ernſt dieſer Spielerinn ge¬
täuſcht — Ein allgemeines Händeklatſchen des
Beyfalls unterbrach endlich dieſe Stille. Meine
Augen ſuchten den Prinzen. Ich bemerkte, daß
er nicht wenig betroffen war und ſich Mühe gab,
den forſchenden Blicken der Zuſchauer auszuwei¬
chen. Er warf Geld unter dieſe Kinder und eilte,
aus dem Gewühle zu kommen.
Wir hatten nur wenige Schritte gemacht, als
ein ehrwürdiger Barfüßer ſich durch das Volk ar¬
beitete, und dem Prinzen in den Weg trat.
„Herr,“ ſagte der Mönch, „gieb der Madonna
von deinem Gelde, du wirſt ihr Gebet brauchen.“
Er[17] Er ſprach dieß mit einem Tone, der uns betreten
machte. Das Gedränge riß ihn weg.
Unſer Gefolge war unterdeſſen gewachſen. Ein
engliſcher Lord, den der Prinz ſchon in Nizza geſe¬
hen hatte, einige Kaufleute aus Livorno, ein deut¬
ſcher Domherr, ein franzöſiſcher Abbe' mit einigen
Damen, und ein ruſſiſcher Offizier geſellten ſich zu
uns. Die Phyſiognomie des leztern hatte etwas
ganz ungewöhnliches, das unſere Aufmerkſamkeit
an ſich zog. Nie in meinem Leben ſah ich ſo viele
Züge, und ſo wenig Charakter, ſo viel anlo¬
ckendes Wohlwollen mit ſo viel zurückſtoßendem
Froſt in Einem Menſchengeſichte beyſammen woh¬
nen. Alle Leidenſchaften ſchienen darin gewühlt
und es wieder verlaſſen zu haben. Nichts war
übrig, als der ſtille, durchdringende Blick eines
vollendeten Menſchenkenners, der jedes Auge ver¬
ſcheuchte, worauf er traf. Dieſer ſeltſame Menſch
folgte uns von weitem, ſchien aber an allem was
vorging, nur einen nachläſſigen Antheil zu
nehmen.
Wir kamen vor eine Bude zu ſtehen, wo Lotte¬
rie gezogen wurde. Die Damen ſezten ein, wir
andern folgten ihrem Beyſpiel; auch der Prinz fo¬
derte ein Loos. Es gewann eine Tabatiere. Als
er ſie aufmachte, ſah ich ihn blaß zurückfahren. —
Der Schlüſſel lag darin.
„Was iſt das?“ ſagte der Prinz zu mir, als
wir einen Augenblick allein waren. „Eine höhere
Gewalt jagt mich. Allwiſſenheit ſchwebt um mich.
Eind. Geiſterſeher. B[18] Ein unſichtbares Weſen, dem ich nicht entfliehen
kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muß den
Armenier aufſuchen und muß Licht von ihm haben.“
Die Sonne neigte ſich zum Untergang, als wir
vor dem Luſthauſe ankamen, wo das Abendeſſen
ſervirt war. Der Name des Prinzen hatte unſere
Geſellſchaft bis zu ſechzehn Perſonen vergrößert.
Auſſer den oben erwähnten war noch ein Virtuoſe
aus Rom, einige Schweizer und ein Avanturier
aus Palermo, der Uniform trug und ſich für einen
Kapitain ausgab, zu uns geſtoßen. Es ward be¬
ſchloſſen, den ganzen Abend hier zuzubringen, und
mit Fackeln nach Hauſe zu fahren. Die Unterhal¬
tung bey Tiſche war ſehr lebhaft, und der Prinz
konnte nicht umhin, die Begebenheit mit dem
Schlüſſel zu erzählen, welche eine allgemeine Ver¬
wunderung erregte. Es wurde heftig über dieſe
Materie geſtritten. Die meiſten aus der Geſellſchaft
behaupteten dreiſt weg, daß alle dieſe geheimen Künſte
auf eine Taſchenſpielerey hinausliefen; der Abbe',
der ſchon viel Wein bey ſich hatte, foderte das
ganze Geiſterreich in die Schranken heraus; der
Engländer ſagte Blaſphemien; der Muſikus mach¬
te das Kreuz vor dem Teufel. Wenige, worunter
der Prinz war, hielten dafür, daß man ſein Urtheil
über dieſe Dinge zurückhalten müſſe; während deſ¬
ſen unterhielt ſich der ruſſiſche Offizier mit den
Frauenzimmern, und ſchien das ganze Geſpräch
nicht zu achten. In der Hitze des Streits hatte
man nicht bemerkt, daß der Sicilianer hinaus ge¬
gangen[19] gangen war. Nach Verfluß einer kleinen halben
Stunde kam er wieder in einen Mantel gehüllt,
und ſtellte ſich hinter den Stuhl des Franzoſen.
„Sie haben vorhin die Bravour geäuſſert, es mit
allen Geiſtern aufzunehmen — wollen Sie es mit
einem verſuchen?“
„Topp!“ ſagte der Abbé — „wenn Sie es
auf ſich nehmen wollen, mir einen herbey zu
ſchaffen.“
„Das will ich,“ antwortete der Sicilianer (in¬
dem er ſich gegen uns kehrte) wenn dieſe Herren
und Damen uns werden verlaſſen haben.“
„Warum das?“ rief der Engländer. „Ein
herzhafter Geiſt fürchtet ſich vor keiner luſtigen Ge¬
ſellſchaft.“
„Ich ſtehe nicht für den Ausgang,“ ſagte der
Sicilianer.
„Um des Himmels willen! Nein!“ ſchrieen die
Frauenzimmer an dem Tiſche, und fuhren erſchro¬
cken von ihren Stühlen.
„Laſſen Sie Ihren Geiſt kommen,“ ſagte der
Abbe' trotzig, „aber warnen Sie ihn vorher, daß
es hier ſpitzige Klingen giebt,“ (indem er einen
von den Gäſten um ſeinen Degen bat).
„Das mögen Sie alsdann halten, wie Sie
wollen,“ antwortete der Sicilianer kalt, „wenn
Sie nachher noch Luſt dazu haben“ Hier kehrte
er ſich zum Prinzen. „Gnädigſter Herr,“ ſagte er
B 2zu[20] zu dieſem, „Sie behaupten, daß Ihr Schlüſſel in
fremden Händen geweſen — Können Sie vermu¬
then, in welchen?“
„Nein.“
„Rathen Sie auch auf niemand?“
„Ich hatte freylich einen Gedanken“ —
„Würden Sie die Perſon erkennen, wenn Sie
ſie vor ſich ſähen?“
„Ohne Zweifel.“
Hier ſchlug der Sicilianer ſeinen Mantel zurück,
und zog einen Spiegel hervor, den er dem Prinzen
vor die Augen hielt.
„Iſt es dieſe?“
Der Prinz trat mit Schrecken zurück.
„Was haben Sie geſehen?“ fragte ich.
„Den Armenier.“
Der Sicilianer verbarg ſeinen Spiegel wieder
unter den Mantel. „War es dieſelbe Perſon, die
Sie meynen?“ fragte die ganze Geſellſchaft.
„Die nehmliche.“
Hier veränderte ſich jedes Geſicht, man hörte
auf zu lachen. Alle Augen hingen neugierig an
dem Sicilianer.
„Monſieur l'Abbé, das Ding wird ernſthaft,“
ſagte der Engländer, „ich rieth Ihnen, auf den
Rückzug zu denken.“
„Der Kerl hat den Teufel im Leibe,“ ſchrie
der Franzoſe, und flog aus dem Hauſe — die
Frauenzimmer ſtürzten mit Geſchrey aus dem Saal
— der Virtuoſe folgte ihnen — der deutſche
Dom¬[21] Domherr ſchnarchte in einem Seſſel — der Ruſſe
blieb wie bisher gleichgültig ſitzen.
„Sie wollten vielleicht nur einen Großſprecher
zum Gelächter [machen],“ fing der Prinz wieder an,
nachdem jene hinaus waren — „oder hätten Sie
wohl Luſt uns Wort zu halten?“
„Es iſt wahr,“ ſagte der Sicilianer. „Mit
dem Abbe' war es mein Ernſt nicht. Ich habe ihn
beym Wort genommen, weil ich wohl wußte, daß
die Memme es nicht ſo weit würde kommen laſſen.
Die Sache ſelbſt iſt übrigens zu ernſthaft, um bloß
einen Scherz damit auszuführen.“
„Sie räumen alſo doch ein, daß ſie in Ihrer
Gewalt iſt?“
Der Magier ſchwieg eine lange Zeit, und ſchien
den Prinzen ſorgfältig mit den Augen zu prüfen.
„Ja,“ antwortete er endlich.
Die Neugierde des Prinzen war bereits auf
den höchſten Grad geſpannt. Dieß war jederzeit
ſeine Lieblingsſchwärmerey geweſen, und ſeit jener
erſten Erſcheinung des Armeniers hatten ſich alle
Ideen wieder bey ihm gemeldet, die ſeine reifere
Vernunft und eine beſſere Lektüre ſo lange abge¬
wieſen hatten. Er ging mit dem Sicilianer bey
Seite, und ich hörte ihn ſehr angelegentlich mit
ihm unterhandeln.
„Sie haben hier einen Mann vor ſich,“ fuhr
er fort, „der von Ungeduld brennt, in dieſer wich¬
tigen Materie es zu einer Ueberzeugung zu bringen.
Ich würde denjenigen als meinen Wohlthäter, als
meinen erſten Freund umarmen, der hier meine
ZweifelB 3[22] Zweifel zerſtreute, und die Decke von meinen Au¬
gen zöge — Wollen Sie ſich dieſes große Ver¬
dienſt um mich erwerben?“
Was verlangen Sie von mir?“ ſagte der
Magier mit Bedenken.
„Vor jezt nur eine Probe Ihrer Kunſt. Laſſen
Sie mich eine Erſcheinung ſehen.“
„Wozu ſoll das führen?“
„Dann mögen Sie aus meiner nähern Bekannt¬
ſchaft urtheilen, ob ich eines höhern Unterrichts
werth bin.“
„Ich ſchätze Sie über alles, durchlauchtigſter
Prinz. Eine geheime Gewalt in Ihrem Angeſich¬
te, die Sie ſelbſt noch nicht kennen, hat mich
beym erſten Anblick unwiderſtehlich an Sie gebun¬
den. Sie ſind mächtiger als Sie ſelbſt wiſſen.
Sie haben unumſchränkt über meine ganze Gewalt
zu gebieten — aber —
„Alſo laſſen Sie mich eine Erſcheinung
ſehen.“
„Aber ich muß erſt gewiß ſeyn, daß Sie dieſe
Foderung nicht aus Neugierde an mich machen.
Wenn gleich die unſichtbaren Kräfte mir einiger¬
maſen zu Willen ſind, ſo iſt es unter der heiligen
Bedingung, daß ich meine Gewalt nicht mi߬
brauche.“
Meine Abſichten ſind die reinſten. Ich will
Wahrheit.
Hier verließen ſie ihren Platz, und traten zu
einem entfernten Fenſter, wo ich ſie nicht weiter
hören konnte. Der Engländer, der dieſe Unter¬
redung[23] redung gleichfalls mit angehört hatte, zog mich
auf die Seite.
„Ihr Prinz iſt ein edler Mann; es thut mir
leid um ihn. Ich verwette meine Seele, daß er
mit einem Schurken zu thun hat.“
„Es wird darauf ankommen,“ ſagte ich, „wie
er ſich aus dem Handel zieht.“
„Wiſſen Sie was?“ ſagte der Engländer:
„Jezt macht der arme Teufel ſich koſtbar. Er
wird ſeine Kunſt nicht auskramen, bis er Geld
klingen hört. Es ſind unſer Neune. Wir wollen
eine Collekte machen. Das bricht ihm den Hals
und öffnet vielleicht Ihrem Prinzen die Augen.“
„Ich bins zufrieden.“
Der Engländer warf ſechs Guineen auf einen
Teller, und ſammelte in der Reihe herum. Jeder
gab einige Louis; dem Ruſſen beſonders gefiel un¬
ſer Vorſchlag ungemein, er legte eine Banknote
von hundert Zechinen auf den Teller — eine Ver¬
ſchwendung, über welche der Engländer erſchrak.
Wir brachten die Collekte dem Prinzen. „Haben Sie
die Güte,“ ſagte der Engländer, „bey dieſem Herrn
für uns fürzuſprechen, daß er uns eine Probe ſeiner
Kunſt ſehen laſſe und dieſen kleinen Beweis unſrer Er¬
kenntlichkeit annehme.“ Der Prinz legte noch einen
koſtbaren Ring auf den Teller, und reichte ihn dem Si¬
cilianer. Dieſer bedachte ſich einige Sekunden. —
„Meine Herren,“ fing er darauf an, „dieſe Gro߬
muth erniedrigt mich — aber ich gebe Ihrem Ver¬
langen nach. Ihr Wunſch ſoll erfüllt werden, (in¬
dem er eine Glocke zog.) Was dieſes Gold betrifft,
B 4wor¬[24] worauf ich ſelber kein Recht habe, ſo werden Sie
mir erlauben, daß ich es in dem nächſten Benedik¬
tinerkloſter für milde Stiftungen niederlege. Die¬
ſen Ring behalte ich als ein ſchätzbares Denkmal,
das mich an den würdigſten Prinzen erinnern
ſoll.“
Hier kam der Wirth, dem er das Geld ſogleich
überlieferte.
„Und er iſt dennoch ein Schurke,“ ſagte mir
der Engländer ins Ohr. „Das Geld ſchlägt er
aus, weil ihm jezt mehr an dem Prinzen gele¬
gen iſt.
„Was verlangen Sie?“ fragte jezt der Ma¬
gier den leztern.
„Der Prinz beſann ſich einen Augenblick —
„Lieber gleich einen großen Mann,“ rief der Lord.
„Fodern Sie den Pabſt Ganganelli. Dem Herrn
wird das gleich wenig koſten.“
Der Sicilianer biß ſich in die Lippen — „Ich
darf keinen zitiren, der die Weihung empfangen
hat,“
„Das iſt ſchlimm,“ ſagte der Engländer.
„Vielleicht hätten wir von ihm erfahren, an wel¬
cher Krankheit er geſtorben iſt.“
„Der Marquis von Lanoy,“ nahm der Prinz
jezt das Wort, „war franzöſiſcher Brigadier im
vorigen Kriege, und mein vertrauteſter Freund.
In der Bataille bey Haſtinbeck empfing er eine töd¬
liche Wunde, man trug ihn nach meinem Zelte, wo
er bald darauf in meinen Armen ſtarb. Als er
ſchon mit dem Tode rang, winkte er mich noch zu
ſich.[25] ſich.“ „Prinz,“ fing er an, „ich werde mein Va¬
terland nicht wieder ſehen, erfahren Sie alſo ein
Geheimniß, wozu niemand als ich den Schlüſſel
hat. In einem Kloſter auf der flandriſchen Grän¬
ze lebt eine — —“ hier verſchied er. Die
Hand des Todes zertrennte den Faden ſeiner Rede,
ich möchte ihn hier haben und die Fortſetzung
hören.“
„Viel gefodert, bey Gott!“ rief der Englän¬
der. „Ich erkläre Sie für den größten Künſtler
des Erdbodens, wenn Sie dieſe Aufgabe lö¬
ſen.“ —
Wir bewunderten die ſinnreiche Wahl des
Prinzen, und gaben ihr einſtimmig unſern Bey¬
fall. Unterdeſſen ging der Magier mit ſtarken
Schritten auf und nieder, und ſchien unentſchloſſen
mit ſich ſelbſt zu kämpfen.
„Und das war alles, was der Sterbende Ih¬
nen zu hinterlaſſen hatte?“
„Alles.“
„Thaten Sie keine weiteren Nachfragen des¬
wegen in ſeinem Vaterlande?“
„Sie waren alle vergebens.“
„Der Marquis von Lanoy hatte untadelhaft
gelebt? — Ich darf nicht jeden Todten rufen.“
„Er ſtarb mit Reue über die Ausſchweifungen
ſeiner Jugend.“
„Tragen Sie irgend etwa ein Andenken von
ihm bey ſich?“
„Ja.“ (Der Prinz führte wirklich eine Ta¬
batiere bey ſich, worauf das Miniaturbild des Mar¬
B 5quis[26] quis in Emaille war, und die er bey der Tafel ne¬
ben ſich hatte liegen gehabt.)
„Ich verlange es nicht zu wiſſen — — laſſen
Sie mich allein. Sie ſollen den Verſtorbenen
ſehen.“
Wir wurden gebeten, uns ſo lange in den an¬
dern Pavillon zu begeben, bis er uns rufen würde.
Zugleich ließ er alle Meublen aus dem Saale räu¬
men, die Fenſter ausheben, und die Läden auf das
genaueſte verſchließen. Dem Wirth, mit dem er
ſchon vertraut zu ſeyn ſchien, befahl er, ein Gefäß
mit glühenden Kohlen zu bringen, und alle Feuer
im Hauſe ſorgfältig, mit Waſſer zu löſchen. Ehe
wir weggingen, nahm er von jedem insbeſondere
das Ehrenwort, ein ewiges Stillſchweigen über
das zu beobachten, was wir ſehen und hören wür¬
den. Hinter uns wurden alle Zimmer auf dieſem
Pavillon verriegelt.
Es war nach eilf Uhr, und eine Todtenſtille
herrſchte im ganzen Hauſe. Beym hinausgehen
fragte mich der Ruſſe, ob wir geladene Piſtolen
bey uns hätten? — „Wozu?“ ſagte ich - - „Es
iſt auf alle Fälle,“ verſetzte er. „Warten Sie ei¬
nen Augenblick, ich will mich darnach umſehen.“
Er entfernte ſich. Der Baron von F** und ich
öffneten ein Fenſter, das jenem Pavillon gegenüber
ſah, und es kam uns vor, als hörten wir zwey
Menſchen zuſammen flüſtern, und ein Geräuſch,
als ob man eine Leiter anlegte. Doch war das
nur eine Muthmaßung, und ich getraute mir nicht,
ſie für wahr auszugeben. Der Ruſſe kam mit ei¬
nem[27] nem Paar Piſtolen zurück, nachdem er eine halbe
Stunde ausgeblieben war. Wir ſahen ſie ihn ſcharf
laden. Es war beynahe zwey Uhr, als der Ma¬
gier wieder erſchien, und uns ankündigte, daß es
Zeit wäre. Ehe wir hinein traten, ward uns be¬
fohlen, die Schuhe auszuziehen, und im bloßen
Hemde, Strümpfen und Unterkleidern zu erſchei¬
nen. Hinter uns wurde, wie das erſtemal, ver¬
riegelt.
Wir fanden, als wir in den Saal zurück kamen,
mit einer Kohle einen weiten Kreis beſchrieben, der
uns alle zehn bequem faſſen konnte. Rings herum
an allen vier Wänden des Zimmers waren die
Dielen weggehoben, daß wir gleichſam auf einer
Inſel ſtanden. Ein Altar mit ſchwarzem Tuch be¬
hangen, ſtand mitten im Kreis errichtet, unter
welchen ein Teppich von rothem Atlas gebreitet
war. Eine chaldäiſche Bibel lag bey einem Tod¬
tenkopf aufgeſchlagen aus dem Altar, und ein ſil¬
bernes Kruzifix war darauf feſt gemacht. Statt
der Kerzen brannte Spiritus in einer ſilbernen
Kapſel. Ein dicker Rauch von Olibanum verfin¬
ſterte den Saal, davon das Licht beynahe erſtickte.
Der Beſchwörer war entkleidet wie wir, aber bar¬
fuß; um den bloßen Hals trug er ein Amulet an einer
Kette von Menſchenhaaren, um die Lenden hatte er
eine weiße Schürze geſchlagen, die mit geheimen
Chiffern und ſymboliſchen Figuren bezeichnet war.
Er hieß uns einander die Hände reichen, und eine
tiefe Stille beobachten; vorzüglich empfahl er uns,
ja[28] ja keine Frage an die Erſcheinung zu thun. Den
Engländer und mich (gegen uns beyde ſchien er das
meiſte Mißtrauen zu hegen) erſuchte er, zwey bloße
Degen unverrückt und kreuzweiſe, einen Zoll hoch,
über ſeinem Scheitel zu halten, ſo lange die Hand¬
lung dauern würde. Wir ſtanden in einem halben
Mond um ihn herum, der ruſſiſche Offizier dräng¬
te ſich dicht an den Engländer, und ſtand zunächſt
an dem Altar. Das Geſicht gegen Morgen ge¬
richtet, ſtellte ſich der Magier jezt auf den Teppich,
ſprengte Weihwaſſer nach allen vier Weltgegenden,
und neigte ſich dreymal gegen die Bibel. Eine
halbe Viertelſtunde dauerte die Beſchwörung, von
welcher wir nichts verſtanden; nach Endigung der¬
ſelben gab er denen, die zunächſt hinter ihm ſtan¬
den, ein Zeichen, daß ſie ihn jezt feſt bey den Haa¬
ren faſſen ſollten. Unter den heftigſten Zuckungen
rief er den Verſtorbenen dreymal mit Namen, und
das drittemal ſtreckte er nach dem Kruzifixe
die Hand aus — —
Auf einmal empfanden wir alle zugleich einen
Streich, wie vom Blitze, daß unſere Hände aus¬
einander flogen; ein plötzlicher Donnerſchlag er¬
ſchütterte das Haus, alle Schlöſſer klangen, alle
Thüren ſchlugen zuſammen, der Deckel an der
Kapſel fiel zu, das Licht löſchte aus, und an der
entgegenſtehenden Wand, über dem Kamine, zeig¬
te ſich eine menſchliche Figur, in blutigem Hemde,
bleich und mit dem Geſicht eines Sterbenden.
„Wer ruft mich?“ ſagte eine hohle, kaum hör¬
bare Stimme.
„Dein[29]
„Dein Freund,“ antwortete der Beſchwörer,
„der dein Andenken ehret, und für deine Seele
betet,“ zugleich nannte er den Namen des Prinzen.
Die Antworten erfolgten immer nach einem ſehr
großen Zwiſchenraum.
„Was verlangt er?“ fuhr dieſe Stimme fort.
„Dein Bekenntniß will er zu Ende hören, das
du in dieſer Welt angefangen und nicht beſchloſſen
haſt.„
„In einem Kloſter auf der flandriſchen Gränze
lebt — — —
Hier erzitterte das Haus von neuem. Die
Thüre ſprang freywillig unter einem heftigen Don¬
nerſchlag auf, ein Blitz erleuchtete das Zimmer,
und eine andere körperliche Geſtalt, blutig und
blaß wie die erſte, aber ſchrecklicher, erſchien an
der Schwelle. Der Spiritus fing von ſelbſt an
wieder zu brennen, und der Saal wurde helle wie
zuvor. „Wer iſt unter uns?“ rief der Magier
erſchrocken, und warf einen Blick des Entſetzens
durch die Verſammlung — „Dich habe ich nicht
gewollt.“ Die Geſtalt ging mit majeſtätiſchem lei¬
ſem Schritt gerade auf den Altar zu, ſtellte ſich
auf den Teppich, uns gegenüber, und faßte das
Kruzifix. Die erſte Figur ſahen wir nicht mehr.
„Wer ruft mich?“ ſagte dieſe zwote Er¬
ſcheinung.
Der Magier fing an, heftig zu zittern. Schre¬
cken und Erſtaunen hatten uns gefeſſelt. Ich
griff nach einer Piſtole, der Magier riß ſie mir aus
der Hand, und drückte ſie auf die Geſtalt ab. Die
Kugel[30] Kugel rollte langſam auf dem Altar, und die Ge¬
ſtalt trat unverändert aus dem Rauche. Jezt ſank
der Magier ohnmächtig nieder.
„Was wird das?“ rief der Engländer voll Er¬
ſtaunen, und wollte einen Streich mit dem Degen
nach ihr thun. Die Geſtalt berührte ſeinen Arm,
und die Klinge fiel zu Boden. Hier trat der Angſt¬
ſchweiß auf meine Stirn. Baron F** geſtand
uns nachher, daß er gebetet habe. Dieſe ganze
Zeit über ſtand der Prinz furchtlos und ruhig, die
Augen ſtarr auf die Erſcheinung gerichtet.
Ja! Ich erkenne dich,“ rief er endlich voll
Rührung aus, „du biſt Lanoy, du biſt mein Freund
— — Woher kömmſt du?“
„Die Ewigkeit iſt ſtumm. Frage mich aus dem
vergangenen Leben.“
„Wer lebt in dem Kloſter, das du mir bezeich¬
net haſt?“
„Meine Tochter.“
„Wie? Du biſt Vater geweſen?
„Weh mir, daß ich es nicht war!“
„Biſt du nicht glücklich, Lanoy?“
„Gott hat gerichtet.“
„Kann ich dir auf dieſer Welt noch einen Dienſt
erzeigen?“
„Keinen, als an dich ſelbſt zu denken.“
„Wie muß ich das?
„In Rom wirſt du es erfahren.“
Hier erfolgte ein neuer Donnerſchlag — eine
ſchwarze Rauchwolke erfüllte das Zimmer; als ſie
zerfloſſen war, fanden wir keine Geſtalt mehr.
Ich[31] Ich ſtieß einen Fenſterladen auf. Es war
Morgen.
Jezt kam auch der Magier aus ſeiner Betäu¬
bung zurück. „Wo ſind wir?“ rief er aus, als
er Tageslicht erblickte. Der ruſſiſche Offizier ſtand
dicht hinter ihm, und ſah ihm über die Schulter.
„Taſchenſpieler,“ ſagte er mit ſchrecklichem Blick
zu ihm, du wirſt keinen Geiſt mehr
rufen.“
Der Sicilianer drehte ſich um, ſah ihm genauer
ins Geſicht, that einen lauten Schrey und ſtürzte
zu ſeinen Füßen.
Jezt ſahen wir alle auf einmal den vermeintli¬
chen Ruſſen an. Der Prinz erkannte in ihm ohne
Mühe die Züge ſeines Armeniers wieder, und das
Wort, das er eben hervorſtottern wollte, erſtarb
auf ſeinem Munde. Schrecken und Ueberraſchung
hatten uns alle wie verſteinert. Lautlos und un¬
beweglich ſtarrten wir dieſes geheimnißvolle Weſen
an, das uns mit einem Blicke ſtiller Gewalt und
Größe durchſchaute. Eine Minute dauerte dieß
Schweigen — und wieder eine. Kein Odem war
in der ganzen Verſammlung.
Einige kräftige Schläge an die Thür brachten
uns endlich wieder zu uns ſelbſt. Die Thür fiel
zertrümmert in den Saal, und herein drangen
Gerichtsdiener mit Wache. „Hier finden wir ſie
ja beyſammen!“ rief der Anführer, und wandte
ſich zu ſeinen Begleitern. „Im Namen der Re¬
gierung!“ rief er uns zu. verhafte euch.“
Wir hatten nicht ſo viel Zeit uns zu beſinnen; in
wenig[32] wenig Augenblicken waren wir umringt. Der ruſ¬
ſiſche Offizier, den ich jezt wieder den Armenier
nenne, zog den Anführer der Häſcher auf die Sei¬
te, und, ſo viel mir dieſe Verwirrung zuließ, be¬
merkte ich, daß er ihm einige Worte heimlich ins
Ohr ſagte, und etwas ſchriftliches vorzeigte. So¬
gleich verließ ihn der Häſcher mit einer ſtummen
und ehrerbietigen Verbeugung, wandte ſich darauf
zu uns und nahm ſeinen Hut ab. „Vergeben Sie
meine Herren,“ ſagte er, „daß ich Sie mit dieſem
Betrüger vermengen konnte. Ich will nicht fra¬
gen, wer Sie ſind — aber dieſer Herr verſichert
mir, daß ich Männer von Ehre vor mir habe.“
Zugleich winkte er ſeinen Begleitern, von uns ab¬
zulaſſen Den Sicilianer befahl er wohl zu bewa¬
chen und zu binden. „Der Burſche da iſt über¬
reif,“ ſezte er hinzu. „Wir haben ſchon ſieben
Monate auf ihn gelauert.“
Dieſer elende Menſch war wirklich ein Gegen¬
ſtand des Jammers. Das doppelte Schrecken der
zwoten Geiſtererſcheinung und dieſes unerwarteten
Ueberfalls hatte ſeine Beſinnungskraft überwältigt.
Er ließ ſich binden wie ein Kind; die Augen lagen
weit aufgeſperrt und ſtier in einem todtenähnlichen
Geſichte, und ſeine Lippen bebten in ſtillen Zuckun¬
gen, ohne einen Laut auszuſtoßen. Jeden Augen¬
blick erwarteten wir einen Ausbruch von Convulſio¬
nen. Der Prinz fühlte Mitleid mit ſeinem Zuſtand,
und unternahm es, ſeine Loslaſſung bey dem Ge¬
richtsdiener auszuwirken, dem er ſich zu erkennen gab.
„Gnädig¬[33]
„Gnädigſter Herr,“ ſagte dieſer, „wiſſen Sie
auch, wer der Menſch iſt, für welchen Sie ſich ſo
großmüthig verwenden? Der Betrug, den er Ih¬
nen zu ſpielen gedachte, iſt ſein geringſtes Verbre¬
chen. Wir haben ſeine Helfershelfer. Sie ſagen
abſcheuliche Dinge von ihm aus. Er mag ſich noch
glücklich preiſen, wenn er mit der Galeere davon
kommt.“
Unterdeſſen ſahen wir auch den Wirth nebſt ſei¬
nen Hausgenoſſen mit Stricken gebunden über den
Hof führen — „Auch dieſer?“ rief der Prinz.
„Was hat denn dieſer verſchuldet?“ — Er war
ſein Mitſchuldiger und Hehler,“ antwortete der
Anführer der Häſcher, „der ihm zu ſeinen Taſchen¬
ſpielerſtückchen und Diebereyen behülflich geweſen,
und ſeinen Raub mit ihm getheilt hat. Gleich
ſollen Sie überzeugt ſeyn, gnädigſter Herr, (in¬
dem er ſich zu ſeinen Begleitern kehrte.) Man
durchſuche das ganze Haus, und bringe mir ſo¬
gleich Nachricht, was man gefunden hat.“
Jezt ſahe ſich der Prinz nach dem Armenier um
— aber er war nicht mehr vorhanden; in der all¬
gemeinen Verwirrung, welche dieſer Ueberfall
anrichtete, hatte er Mittel gefunden, unbemerkt
zu entkommen. Der Prinz war untröſtlich; gleich,
wollte er ihm alle ſeine Leute nachſchicken; er ſelbſt
wollte ihn aufſuchen und mich mit ſich fortreißen.
Ich eilte ans Fenſter; das ganze Haus war von
Neugierigen umringt, die das Gerücht dieſer Be¬
gebenheit herbey geführt hatte. Unmöglich war es,
d. Geiſterſeher. Cdurch[34] durch das Gedränge zu kommen. Ich ſtellte dem
Prinzen dieſes vor. „Wenn es dieſem Armenier
ein Ernſt iſt, ſich vor uns zu verbergen, ſo weiß
er unfehlbar die Schliche beſſer als wir, und alle
unſre Nachforſchungen werden vergebens ſeyn.
Lieber laſſen Sie uns noch hier bleiben, gnädigſter
Prinz. Vielleicht kann uns dieſer Gerichtsdiener
etwas näheres von ihm ſagen, dem er ſich, wenn
ich anders recht geſehen, entdeckt hat.“
Jezt erinnerten wir uns, daß wir noch aus¬
gekleidet waren. Wir eilten nach unſerm Zimmer,
uns in der Geſchwindigkeit in unſre Kleider zu wer¬
fen. Als wir zurück kamen, war die Hausſuchung
geſchehen.
Nachdem man den Altar weggeräumt, und die
Dielen des Saals aufgebrochen, entdeckte man ein
geräumiges Gewölbe, worin ein Menſch gemäch¬
lich aufrecht ſitzen konnte, mit einer Thüre verſe¬
hen, die durch eine ſchmale Treppe nach dem Keller
führte. In dieſem Gewölbe fand man eine Elek¬
triſiermaſchine, eine Uhr und eine kleine ſilberne
Glocke, welche leztere, ſo wie die Elektriſiermaſchi¬
ne, mit dem Altar und dem darauf befeſtigten
Kruzifixe Communication hatte. Ein Fenſterladen,
der dem Kamine gerade gegenüber ſtand, war
durchbrochen und mit einem Schieber verſehen, um,
wie wir nachher erfuhren, eine magiſche Laterne
in ſeine Oeffnung einzupaſſen, aus welcher die ver¬
langte Geſtalt auf die Wand über dem Kamine ge¬
fallen war. Vom Dachboden und aus dem Keller
brachte[35] brachte man verſchiedne Trommeln, woran große
bleyerne Kugeln an Schnüren befeſtigt hingen,
wahrſcheinlich um das Geräuſche des Donners her¬
vorzubringen, das wir gehört hatten. Als man
die Kleider des Sicilianers durchſuchte, fand man
in einem Etui verſchiedene Pulver, wie auch leben¬
digen Merkur in Phiolen und Büchſen, Phospho¬
rus in einer gläſernen Flaſche, einen Ring, den
wir gleich für einen magnetiſchen erkannten, weil
er an einem ſtählernen Knopfe hängen blieb, dem
er von ohngefähr nahe gebracht worden, in den
Rocktaſchen ein Paternoſter, einen Judenbart,
Terzerole und einen Dolch. „Laß doch ſehen, ob
ſie geladen ſind,“ ſagte einer von den Häſchern,
indem er eines von den Terzerolen nahm, und ins
Kamin abſchoß. „Jeſus Maria!“ rief eine hoh¬
le menſchliche Stimme, eben die, welche wir von
der erſten Erſcheinung gehört hatten — und in
demſelben Augenblick ſahen wir einen blutenden
Körper aus dem Schlot herunter ſtürzen. — „Noch
nicht zur Ruhe, armer Geiſt?“ rief der Englän¬
der, während daß wir andern mit Schrecken zurück
fuhren. „Gehe heim zu deinem Grabe. Du haſt
geſchienen, was du nicht warſt; jezt wirſt du ſeyn,
was du ſchieneſt.“
„Jeſus Maria! Ich bin verwundet,“ wieder¬
holte der Menſch im Kamine. Die Kugel hatte
ihm das rechte Bein zerſchmettert. Sogleich be¬
ſorgte man, daß die Wunde verbunden wurde.
„Aber wer biſt du denn, und was für ein bö¬
ſer Dämon muß dich hieher führen?“
C 2„Ein[36]
„Ein armer Barfüßer,“ antwortete der Ver¬
wundete. „Ein fremder Herr hier hat mir eine
Zechine geboten, daß ich —“
„Eine Formel herſagen ſollte? Und warum
haſt du dich denn nicht gleich wieder davon ge¬
macht?“
„Er wollte mir ein Zeichen geben, wenn ich
fortfahren ſollte; aber das Zeichen blieb aus, und
wie ich hinaus ſteigen wollte, war die Leiter weg¬
gezogen.“
„Und wie heißt denn die Formel, die er dir
eingelernt hat?“
Der Menſch bekam hier eine Ohnmacht, daß
nichts weiter aus ihm herauszubringen war. Un¬
terdeſſen hatte ſich der Prinz zu dem Anführer der
Häſcher gewendet.
„Sie haben uns,“ ſagte er, indem er ihm
zugleich einige Goldſtücke in die Hand drückte, „Sie
haben uns aus den Händen eines Betrügers geret¬
tet, und uns, ohne uns noch zu kennen, Gerech¬
tigkeit widerfahren laſſen. Wollen Sie nun
unſre Verbindlichkeit vollkommen machen, und uns
entdecken, wer der Unbekannte war, dem es nur
ein paar Worte koſtete, uns in Freyheit zu
ſetzen?“
„Wen meynen Sie?“ fragte der Anführer
der Häſcher mit einer Miene, die deutlich zeigte,
wie unnöthig dieſe Frage war.
„Den Herrn in ruſſiſcher Uniform meyne ich,
der Sie vorhin bey Seite zog, Ihnen etwas ſchrift¬
liches[37] liches vorwies und einige Worte ins Ohr ſagte,
worauf Sie uns ſogleich wieder losgaben.“
„Sie kennen dieſen Herrn alſo nicht?“ fragte
der Häſcher wieder. „Er war nicht von Ihrer
Geſellſchaft?“
„Nein,“ ſagte der Prinz — „und aus ſehr
wichtigen Urſachen wünſchte ich näher mit ihm be¬
kannt zu werden.“
„Näher,“ antwortete der Häſcher, „kenn ich
ihn auch nicht. Sein Name ſelbſt iſt mir unbe¬
kannt, und heute hab ich ihn zum erſtenmal in
meinem Leben geſehen.“
„Wie? und in ſo kurzer Zeit, durch ein paar
Worte konnte er ſo viel über Sie vermögen, daß
Sie ihn ſelbſt und uns alle für unſchuldig er¬
klärten?“
„Allerdings durch ein einziges Wort.“
„Und dieſes war? — Ich geſtehe, daß ich
es wiſſen möchte.“
„Dieſer Unbekannte, gnädigſter Herr,“ —
indem er die Zechinen in ſeiner Hand wog — „Sie
ſind zu großmüthig gegen mich geweſen, um Ih¬
nen länger ein Geheimniß daraus zu machen —
dieſer Unbekannte war — ein Offizier der Staats¬
inquiſition.“
„Der Staatsinquiſition! — Dieſer! —“
„Nicht anders, gnädigſter Herr — und da¬
von überzeugte mich das Papier, welches er mir
vorzeigte.“
„Dieſer Menſch, ſagten Sie? Es iſt nicht
möglich.“
C 3„Ich[38]
„Ich will Ihnen noch mehr ſagen, gnädigſter
Herr. Eben dieſer war es, auf deſſen Denuncia¬
tion ich hieher geſchickt worden bin, den Geiſterbe¬
ſchwörer zu verhaften.“
Wir ſahen uns mit noch größerm Erſtaunen
an.
„Da hätten wir es ja heraus,“ rief endlich der
Engländer, warum der arme Teufel von Beſchwö¬
rer ſo erſchrocken zuſammenfuhr, als er ihm
näher ins Geſicht, ſah. Er erkannte ihn für einen
Spion, und darum that er jenen Schrey und
ſtürzte zu ſeinen Füßen.“
„Nimmermehr,“ rief der Prinz. „Dieſer
Menſch iſt alles was er ſeyn will, und alles was
der Augenblick will, daß er ſeyn ſoll. Was er
wirklich iſt, hat keines Menſchen Sohn erfahren.
Sahen ſie den Sicilianer zuſammenſinken, als er
ihm die Worte ins Ohr ſchrie: Du wirſt keinen
Geiſt mehr rufen? Dahinter iſt mehr. Daß man
vor etwas menſchlichem ſo zu erſchrecken pflegt, ſoll
mich niemand überreden.“
„Darüber wird uns der Magier ſelbſt wohl
am beſten zurecht weiſen können, ſagte der Lord,
„wenn uns dieſer Herr (ſich zu dem Anführer der
Gerichtsdiener wendend) Gelegenheit verſchaffen
will, ſeinen Gefangenen zu ſprechen.“
Der Anführer der Häſcher verſprach es uns,
und wir redeten mit dem Engländer ab, daß wir
ihn gleich den andern Morgen aufſuchen wollten.
Jezt begaben wir uns nach Venedig zurück.
Mit[[39]]
gehn,[40] gehn, ließ ſich der Banquier des Prinzen mel¬
den, an den der Auftrag ergangen war, für einen
neuen Bedienten zu ſorgen. Dieſer ſtellte dem
Prinzen einen gut gebildeten und wohl gekleideten
Menſchen in mittlern Jahren vor, der lange Zeit
in Dienſten eines Prokurators als Sekretär geſtan¬
den, franzöſiſch und auch etwas deutſch ſprach, übri¬
gens mit den beſten Zeugniſſen verſehen war.
Seine Phyſionomie gefiel, und da er ſich übrigens
erklärte, daß ſein Gehalt von der Zufriedenheit
des Prinzen mit ſeinen Dienſten abhängen ſollte, ſo
ließ er ihn ohne Verzug eintreten.
Wir fanden den Sicilianer in einem Privatge¬
fängniß, wohin er, dem Prinzen zu Gefallen, wie
der Gerichtsdiener ſagte, einſtweilen gebracht wor¬
den war, ehe er unter die Bleydächer geſetzt wur¬
de, zu denen kein Zugang mehr offen ſteht. Die¬
ſe Bleydächer ſind das fürchterlichſte Gefängniß in
Venedig, unter dem Dach des St. Markuspalla¬
ſtes, worin die unglücklichen Verbrecher von der
dörrenden Sonnenhitze, die ſich auf der Bleyfläche
ſammelt, oft bis zum Wahnwitze leiden. Der Si¬
cilianer hatte ſich von dem geiſtigen Zufalle wieder
erholt, und ſtand ehrerbietig auf, als er den Prin¬
zen anſichtig wurde. Ein Bein und eine Hand waren
gefeſſelt, ſonſt aber konnte er frey durch das Zim¬
mer gehen. Bey unſerm Eintritt entfernte ſich die
Wache vor die Thüre.
„Ich komme,“ ſagte der Prinz, „über zwey
Punkte eine Erklärung von Ihnen zu verlangen.
Die[41] Die eine ſind Sie mir ſchuldig, und es wird Ihr
Schade nicht ſeyn, wenn Sie mich über den andern
befriedigen.“
„Meine Rolle iſt ausgeſpielt,“ verſezte der Si¬
cilianer. „Mein Schickſal ſteht in Ihren
Händen.“
„Ihre Aufrichtigkeit allein iſt es, die es erleich¬
tern kann.“
„Fragen Sie, gnädigſter Herr. Ich bin be¬
reit zu antworten, denn ich habe nichts mehr zu
verlieren.“
„Sie haben mich das Geſicht des Armeniers
in Ihrem Spiegel ſehen laſſen. Wodurch bewirk¬
ten Sie dieſes?“
„Es war kein Spiegel, was Sie geſehen ha¬
ben. Ein bloßes Paſtellgemählde hinter einem Glas,
das einen Mann in armeniſcher Kleidung vorſtellte,
hat Sie getäuſcht. Meine Geſchwindigkeit, die
Dämmerung, Ihr Erſtaunen unterſtützten dieſen
Betrug. Das Bild ſelbſt wird ſich unter den übri¬
gen Sachen finden, die man in dem Gaſthof in
Beſchlag genommen hat.“
„Aber wie konnten Sie meine Gedanken ſo gut
wiſſen, und gerade auf den Armenier rathen?“
„Dieſes war gar nicht ſchwer, gnädigſter
Herr. Ohne Zweifel haben Sie ſich bey Tiſche in
Gegenwart Ihrer Bedienten über die Begebenheit
öfters herausgelaſſen, die ſich zwiſchen Ihnen und
dieſem Armenier ereignet hat. Einer von meinen
Leuten machte mit einem Jäger zufälliger Weiſe in
der Giudecca Bekanntſchaft, aus welchem er nach
undC 5[42] und nach ſo viel zu ziehen wußte, als mir zu wiſ¬
ſen nöthig war.“
„Wo iſt dieſer Jäger?“ fragte der Prinz.
„Ich vermiſſe ihn, und ganz gewiß wiſſen Sie um
ſeine Entweichung.“
„Ich ſchwöre Ihnen, daß ich nicht das gering¬
ſte davon weiß, gnädigſter Herr. Ich ſelbſt hab'
ihn nie geſehen, und nie eine andre Abſicht mit
ihm gehabt, als die eben gemeldete.“
„Fahren Sie fort,“ ſagte der Prinz.
„Auf dieſem Wege nun erhielt ich überhaupt
auch die erſte Nachricht von Ihrem Aufenthalt und
Ihren Begebenheiten in Venedig, und ſogleich ent¬
ſchloß ich mich, ſie zu nützen. Sie ſehen, gnä¬
digſter Herr, daß ich aufrichtig bin. Ich wußte
von Ihrer vorhabenden Spazierfahrt auf der
Brenta; ich hatte mich darauf verſehen, und ein
Schlüſſel, der Ihnen von ungefähr entfiel, gab
mir die erſte Gelegenheit, meine Kunſt an Ihnen
zu verſuchen.“
„Wie? So hätte ich mich alſo geirret? Das
Stückchen mit dem Schlüſſel war Ihr Werk, und
nicht des Armeniers? Der Schlüſſel, ſagen Sie,
wäre mir entfallen?“
„Als Sie die Börſe zogen — und ich nahm
den Augenblick wahr, da mich niemand beobachte¬
te, ihn ſchnell mit dem Fuße zu verdecken. Die
Perſon, bey der Sie die Lotterielooſe nahmen,
war im Verſtändniß mit mir. Sie ließ Sie aus
einem Gefäße ziehen, wo keine Niete zu holen war,
und[43] und der Schlüſſel lag längſt in der Doſe, ehe ſie
von Ihnen gewonnen wurde.“
„Nunmehr begreif' ich's. Und der Barfüßer¬
mönch, der ſich mir in den Weg warf, und mich
ſo feyerlich anredete?“
„War der nehmliche, den man, wie ich höre,
verwundet aus dem Kamine gezogen. Es iſt einer
von meinen Kameraden, der mir unter dieſer Ver¬
hüllung ſchon manche gute Dienſte geleiſtet.“
„Aber zu welchem Ende ſtellten Sie dieſes an?“
„Um Sie nachdenkend zu machen — um einen
Gemüthszuſtand in Ihnen vorzubereiten, der Sie
für das Wunderbare, das ich mit Ihnen im Sinn
hatte, empfänglich machen ſollte.“
„Aber der pantomimiſche Tanz, der eine ſo über¬
raſchende ſeltſame Wendung nahm — dieſer war
doch wenigſtens nicht von Ihrer Erfindung?“
„Das Mädchen, welches die Königinn vorſtellte,
war von mir unterrichtet, und ihre ganze Rolle
mein Werk. Ich vermuthete, daß es Eure Durch¬
laucht nicht wenig befremden würde, an dieſem Or¬
te gekannt zu ſeyn, und, verzeihen Sie mir, gnä¬
digſter Herr, das Abentheuer mit dem Armenier
ließ mich hoffen, daß Sie bereits ſchon geneigt ſeyn
würden, natürliche Auslegungen zu verſchmähen,
und nach höhern Quellen des Außerordentlichen zu
ſpüren.“
„In der That,“ rief der Prinz mit einer Miene
zugleich des Verdruſſes und der Verwunderung,
indem er mir, beſonders einen bedeutenden Blick
gab,[44] gab, „in der That,“ rief er aus, „das habe ich
nicht erwartet.“ *)
„Aber,“ fuhr der Prinz nach einem langen Still¬
ſchweigen wieder fort, „wie brachten Sie die Ge¬
ſtalt[45] ſtalt hervor, die an der Wand über dem Kamine
erſchien?“
„Durch die Zauberlaterne, welche an dem ge¬
genüber ſtehenden Fenſterladen angebracht war, wo
Sie auch die Oeffnung dazu bemerkt haben werden.“
„Aber wie kam es denn, daß kein einziger un¬
ter uns ſie gewahr wurde?“ fragte Lord Sey¬
mour.
„Sie erinnern ſich, gnädigſter Herr, daß ein
dicker Rauch von Olibanum den ganzen Saal ver¬
finſterte, als Sie zurück gekommen waren. Zu¬
gleich hatte ich die Vorſicht gebraucht, die Dielen,
welche man weggehoben, neben demjenigen Fenſter
anlehnen zu laſſen, wo die Laterna magica ein¬
gefügt war; dadurch verhinderte ich, daß Ih¬
nen dieſer Fenſterladen nicht ſogleich ins Geſichte
fiel. Uebrigens blieb die Laterne auch ſo lange durch
einen Schieber verdeckt, bis Sie alle Ihre Plätze
genommen hatten, und keine Unterſuchung im
Zimmer mehr von Ihnen zu fürchten war.“
„Mir kam vor,“ fiel ich ein, „als hörte ich in
der Nähe dieſes Saals eine Leiter anlegen, als ich
in dem andern Pavillon aus dem Fenſter ſah. War
dem wirklich ſo?“
„Ganz recht. Eben dieſe Leiter, auf welcher
mein Gehülfe zu dem bewußten Fenſter empor klet¬
terte, um die Zauberlaterne zu dirigiren.“
„Die Geſtalt,“ fuhr der Prinz fort, „ſchien
wirklich eine flüchtige Aehnlichkeit mit meinem ver¬
ſtorbenen Freunde zu haben; beſonders traf es ein,
daß[46] daß ſie ſehr blond war. War dieſes bloßer Zu¬
fall oder woher ſchöpften Sie dieſelbe?“
„Eure Durchlaucht erinnern ſich, daß Sie über
Tiſche eine Doſe neben ſich hatten liegen gehabt,
auf welcher das Portrait eines Offiziers in **ſcher
Uniform in Emaille war. Ich fragte Sie, ob Sie
von Ihrem Freunde nicht irgend ein Andenken bey
ſich führten? worauf Sie mit Ja antworteten;
daraus ſchloß ich, daß es vielleicht die Doſe ſeyn
möchte. Ich hatte das Bild über Tiſche gut ins
Auge gefaßt, und weil ich im Zeichnen ſehr geübt,
auch im Treffen ſehr glücklich bin, ſo war es mir
ein leichtes, dem Bilde dieſe flüchtige Aehnlichkeit
zu geben, die Sie wahrgenommen haben; und um
ſo mehr, da die Geſichtszüge des Marquis ſehr ins
Auge fallen.
„Aber die Geſtalt ſchien ſich doch zu bewe¬
gen. —“
„So ſchien es — aber es war nicht die Ge¬
ſtalt, ſondern der Rauch, der von ihrem Scheine
beleuchtet war.“
„Und der Menſch, welcher aus dem Schlot her¬
ab ſtürzte, antwortete alſo für die Erſcheinung?“
„Eben dieſer.“
„Aber er konnte ja die Fragen nicht wohl hören.“
„Dieſes brauchte er auch nicht. Sie beſinnen
ſich, gnädigſter Prinz, daß ich Ihnen allen auf
das ſtrengſte verbot, ſelbſt eine Frage an das Ge¬
ſpenſt zu richten. Was ich ihn fragen würde und
er mir antworten ſollte, war abgeredet; und da¬
mit ja kein Verſehen vorfiele, ließ ich ihn große
Pauſen[47] Pauſen beobachten, die er an den Schlägen einer
Uhr abzählen mußte.“
„Sie gaben dem Wirthe Befehl, alle Feuer im
Hauſe ſorgfältig mit Waſſer löſchen zu laſſen; dieß
geſchah ohne Zweifel —“
„Um meinen Mann im Kamine außer Gefahr
des Erſtickens zu ſetzen, weil die Schornſteine im
Hauſe in einander laufen, und ich vor ihrer Suite
nicht ſo recht ſicher zu ſeyn glaubte.“
„Wie kam es aber,“ fragte Lord Seymour,
„daß Ihr Geiſt weder früher noch ſpäter da war,
als Sie ihn brauchten?“
„Mein Geiſt war ſchon eine gute Weile im Zim¬
mer, ehe ich ihn citirte; aber ſo lange der Spiri¬
tus brannte, konnte man dieſen matten Schein
nicht ſehen. Als meine Beſchwörungsformel geen¬
digt war, ließ ich das Gefäß, worin der Spiritus
flammte, zuſammen fallen, es wurde Nacht im
Saal, und jezt erſt wurde man die Figur an der
Wand gewahr, die ſich ſchon längſt darauf reflek¬
tirt hatte.“
„Aber in eben dem Moment, als der Geiſt er¬
ſchien, empfanden wir alle einen elektriſchen Schlag.
Wie bewirkten Sie dieſen?“
„Die Maſchine unter dem Altar haben Sie ent¬
deckt. Sie ſahen auch, daß ich auf einem ſeidnen
Fußteppich ſtand. Ich ließ Sie in einem halben
Mond um mich herum ſtehen und einander die
Hände reichen; als es nahe dabey war, winkte ich
einem von Ihnen, mich bey den Haaren zu faſſen.
Das ſilberne Kruzifix war der Konductor, und Sie
empfin¬[48] empfingen den Schlag, als ich es mit der Hand be¬
rührte.“
„Sie befahlen uns, dem Grafen von O** und
mir,“ ſagte Lord Seymour, „zwey bloße Degen
kreuzweiſe über Ihrem Scheitel zu halten, ſo lan¬
ge die Beſchwörung dauern würde. Wozu nun
dieſes?“
„Zu nichts weiter als um Sie beyde, denen
ich am wenigſten traute, während des ganzen Actus
zu beſchäftigen. Sie erinnern ſich, daß ich Ihnen
ausdrücklich einen Zoll hoch beſtimmte; dadurch,
daß Sie dieſe Entfernung immer in Acht nehmen
mußten, waren ſie verhindert, Ihre Blicke dahin
zu richten, wo ich ſie nicht gerne haben wollte.
Meinen ſchlimmſten Feind hatte ich damals noch
gar nicht ins Auge gefaßt.“
„Ich geſtehe,“ rief Lord Seymour, „daß dieß
vorſichtig gehandelt heißt — aber warum mußten
wir ausgekleidet ſeyn?“
„Bloß um der Handlung eine Feyerlichkeit mehr
zu geben, und durch das Ungewöhnliche Ihre
Einbildungskraft zu ſpannen.
„Die zwote Erſcheinung ließ Ihren Geiſt nicht
zum Wort kommen,“ ſagte der Prinz. „Was hät¬
ten wir eigentlich von ihm erfahren ſollen?“
„Beynahe daſſelbe, was Sie nachher gehört
haben. Ich fragte Eure Durchlaucht nicht ohne
Abſicht, ob Sie mir auch alles geſagt, was Ihnen
der Sterbende aufgetragen, und ob Sie keine wei¬
tere Nachfragen wegen ſeiner in ſeinem Vaterlande
gethan; dieſes fand ich nöthig, um nicht gegen
That¬[49] Thatſachen anzuſtoßen, die der Auſſage meines Gei¬
ſtes hätten widerſprechen können. Ich fragte ge¬
wiſſer Jugendſünden wegen, ob der Verſtorbene
untadelhaft gelebt; und auf die Antwort, welche
Sie mir gaben, gründete ich alsdann meine Er¬
findung.“
„Ueber dieſe Sache,“ fing der Prinz nach eini¬
gem Stillſchweigen an, „haben Sie mir einen be¬
friedigenden Aufſchluß gegeben. Aber ein Haupt¬
umſtand iſt noch zurück, worüber ich Licht von Ih¬
nen verlange.“
„Wenn es in meiner Gewalt ſteht, und —“
„Keine Bedingungen! Die Gerechtigkeit, in
deren Händen Sie ſind, dürfte ſo beſcheiden nicht
fragen. Wer war dieſer Unbekannte, vor dem
wir Sie niederſtürzen ſahen? Was wiſſen Sie von
ihm? Woher kennen Sie ihn? Und was hat es
für eine Bewandtniß mit dieſer zweyten Erſchei¬
nung?“
„Gnädigſter Prinz —“
„Als Sie ihm genauer ins Geſicht ſahen, ſtießen
Sie einen lauten Schrey aus und ſtürzten nieder.
Warum das? Was bedeutete das?“
„Dieſer Unbekannte, gnädigſter Prinz“ — —
Er hielt inne, wurde ſichtbarlich unruhiger, und
ſah uns alle in der Reihe herum mit verlegenen
Blicken an. — „Ja bey Gott, gnädigſter Prinz,
dieſer Unbekannte iſt ein ſchreckliches Weſen.“
„Was wiſſen Sie von ihm? Wie ſteht er mit
Ihnen in Verbindung? — Hoffen Sie nicht, uns
die Wahrheit zu verhehlen.“ —
d. Geiſterſeher. D„Dafür[50]
„Dafür werd' ich mich wohl hüten — denn
wer ſteht mir dafür, daß er nicht in dieſem Augen¬
blicke mitten unter uns ſtehet?“
„Wo? Wer?“ riefen wir alle zugleich, und
ſchauten uns halb lachend, halb beſtürzt im Zim¬
mer um — „Das iſt ja nicht möglich.“
„O! dieſem Menſchen — oder wer er ſeyn mag
— ſind Dinge möglich, die noch weit weniger zu
begreifen ſind.“
„Aber wer iſt er denn? Woher ſtammt er? Ar¬
menier oder Ruſſe? Was iſt das Wahre an dem,
wofür er ſich ausgiebt?“
„Keines von allem, was er ſcheint. Es wird
wenige Stände und Nationen geben, davon er nicht
ſchon die Maſke getragen. Wer er ſey? Woher er
gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand.
Daß er lang' in Aegypten geweſen, wie viele be¬
haupten, und dort aus einer Katakombe ſeine ver¬
borgene Weisheit geholt habe, will ich weder beja¬
hen noch verneinen. Bey uns kennt man ihn nur
unter dem Namen des Unergründlichen. Wie
alt, zum Beyſpiel, ſchätzen Sie ihn?
„Nach dem äußern Anſchein zu urtheilen, kann
er kaum vierzig zurück gelegt haben.“
„Und wie alt denken Sie, daß ich ſey?“
„Nicht weit von funfzig.“
„Ganz recht — und wenn ich Ihnen nun ſage,
daß ich noch ein Burſche von ſiebenzehn Jahren war,
als mir mein Großvater von dieſem Wundermann
erzählte, der ihn ungefähr in eben dem Alter,
worin[51] worin er jezt zu ſeyn ſcheint, in Famaguſta geſehen
hat. —“
„Das iſt lächerlich, unglaublich und über¬
trieben.“
„Nicht um einen Zug. Hielten mich dieſe Feſſeln
nicht ab, ich wollte Ihnen Bürgen ſtellen, deren
ehrwürdiges Anſehen Ihnen keinen Zweifel mehr
übrig laſſen ſollte. Es giebt glaubwürdige Leute,
die ſich erinnern, ihn in verſchiedenen Weltgegen¬
den zu gleicher Zeit geſehen zu haben. Keines De¬
gens Spitze kann ihn durchbohren, kein Gift kann
ihm etwas anhaben, kein Feuer ſengt ihn, kein
Schiff geht unter, worauf er ſich befindet. Die
Zeit ſelbſt ſcheint an ihm ihre Macht zu verlieren,
die Jahre trocknen ſeine Säfte nicht aus, und das
Alter kann ſeine Haare nicht bleichen. Niemand
iſt, der ihn Speiſe nehmen ſah, nie iſt ein Weib
von ihm berührt worden, kein Schlaf beſucht ſeine
Augen, von allen Stunden des Tages weiß man
nur eine einzige, über die er nicht Herr iſt, in wel¬
cher niemand ihn geſehen, in welcher er kein irdi¬
ſches Geſchäft verrichtet hat.“
„So?“ ſagte der Prinz. „Und was iſt dieß
für eine Stunde?“
„Die zwölfte in der Nacht. Sobald die Glocke
den zwölften Schlag thut, gehört er den Lebendi¬
gen nicht mehr. Wo er auch ſeyn mag, er muß
fort, welches Geſchäft er auch verrichtet, er muß
es abbrechen. Dieſer ſchreckliche Glockenſchlag
reißt ihn aus den Armen der Freundſchaft, reißt
ihn ſelbſt vom Altar, und würde ihn auch aus dem
D 2To¬[52] Todeskampf abrufen. Niemand weiß wo er dann
hingehet, noch was er da verrichtet. Niemand
wagt es, ihn darum zu befragen, noch weniger
ihm zu folgen, denn ſeine Geſichtszüge ziehen ſich
auf einmal, ſobald dieſe gefürchtete Stunde ſchlägt,
in einen ſo finſtern und ſchreckhaften Ernſt zuſam¬
men, daß jedem der Muth entfällt, ihm in's Ge¬
ſicht zu blicken, oder ihn anzureden. Eine tiefe
Todesſtille endigt dann plötzlich das lebhafteſte
Geſpräch, und alle, die um ihn ſind, erwarten
mit ehrerbietigem Schaudern ſeine Wiederkunft,
ohne es nur zu wagen, ſich von der Stelle zu he¬
ben, oder die Thüre zu öffnen, durch die er gegan¬
gen iſt.“
„Aber,“ fragte einer von uns, „bemerkt man
nichts außerordentliches an ihm bey ſeiner Zurück¬
kunft?“
„Nichts als daß er bleich und abgemattet aus¬
ſieht, ungefähr wie ein Menſch, der eine ſchmerz¬
hafte Operation ausgeſtanden, oder eine ſchreckliche
Zeitung erhält. Einige wollen Blutstropfen auf
ſeinem Hemde geſehen haben; dieſes aber laſſe ich
dahin geſtellt ſeyn.“
„Und hat man es zum wenigſten nie verſucht,
ihm dieſe Stunde zu verbergen, oder ihn ſo in Zer¬
ſtreuung zu verwickeln, daß er ſie überſehen
mußte?“
„Ein einzigesmal, ſagt man, überſchritt er
den Termin. Die Geſellſchaft war zahlreich, man
verſpätete ſich bis tief in die Nacht, alle Uhren
waren mit Fleiß falſch gerichtet, und das Feuer
der[53] der Unterredung riß ihn dahin. Als die geſezte
Stunde da war, verſtummte er plötzlich, und wur¬
de ſtarr, alle ſeine Gliedmaßen verharrten in der¬
ſelben Richtung, worin dieſer Zufall ſie überraſch¬
te, ſeine Augen ſtanden, ſein Puls ſchlug nicht
mehr, alle Mittel die man anwendete, ihn wieder
zu erwecken, waren fruchtlos; und dieſer Zuſtand
hielt an, bis die Stunde verſtrichen war. Dann
belebte er ſich plötzlich von ſelbſt wieder, ſchlug die
Augen auf, und fuhr in der nehmlichen Sylbe fort,
worin er war unterbrochen worden. Die allgemei¬
ne Beſtürzung verrieth ihm, was geſchehen war,
und da erklärte er mit einem fürchterlichen Ernſt,
daß man ſich glücklich preiſen dürfte, mit dem
bloßen Schrecken davon gekommen zu ſeyn. Aber
die Stadt, worin ihm dieſes begegnet war, verließ
er noch an demſelben Abend auf immer. Der all¬
gemeine Glaube iſt, daß er in dieſer geheimnißvol¬
len Stunde Unterredungen mit ſeinem Genius hal¬
te. Einige meynen gar, er ſey ein Verſtorbener,
dem es verſtattet ſey, drey und zwanzig Stunden
vom Tage unter den Lebenden zu wandeln; in der
lezten aber müſſe ſeine Seele zur Unterwelt heim¬
kehren, um dort ihr Gericht auszuhalten. Viele
halten ihn auch für den berühmten Apollonius von
Thyana, und andre gar für den Jünger Johannes,
von dem es heißt, daß er bleiben würde bis zum
lezten Gericht.“
„Ueber einen ſo außerordentlichen Mann kann
es freylich nicht an abentheuerlichen Muthmaßun¬
gen fehlen. Alles bisherige aber haben Sie bloß
D 3von[54] von Hörenſagen; und doch ſchien mir ſein Beneh¬
men gegen Sie, und das Ihrige gegen ihn auf ei¬
ne genauere Bekanntſchaft zu deuten. Liegt hier
nicht irgend eine beſondre Geſchichte zum Grunde,
bey der Sie ſelbſt mit verwickelt geweſen? Verheh¬
len Sie uns nichts.“
„Der Sicilianer ſah uns mit einem zweifelhaf¬
ten Blick an, und ſchwieg.“
„Wenn es eine Sache betrifft,“ fuhr der Prinz
fort, „die Sie nicht gerne laut machen wollen, ſo
verſichre ich Sie im Namen dieſer beyden Herrn der
unverbrüchlichſten Verſchwiegenheit. Aber reden
Sie aufrichtig und unverhohlen.“
„Wenn ich hoffen kann,“ fing der Mann nach
einem langen Stillſchweigen endlich an, „daß Sie
ſolche nicht gegen mich zeugen laſſen wollen, ſo will
ich Ihnen wohl eine merkwürdige Begebenheit mit
dieſem Armenier erzählen, von der ich Augenzeuge
war, und die Ihnen über die verborgene Gewalt
dieſes Menſchen keinen Zweifel mehr übrig laſſen
wird. Aber es muß mir erlaubt ſeyn, ſezte er hin¬
zu, einige Namen dabey zu verſchweigen.“
„Kann es nicht auch ohne dieſe Bedingung ge¬
ſchehen?“
„Nein, gnädigſter Herr. Es iſt eine Familie
darein verwickelt, die ich Urſache habe zu ehren.“
„Laſſen Sie uns hören,“ ſagte der Prinz.
„Es mögen nun fünf Jahre ſeyn,“ fing der Si¬
cilianer an, „daß ich in Neapel, wo ich mit ziem¬
lichem Glück meine Künſte trieb, mit einem gewiſ¬
ſen Lorenzo del M**nte, Chevalier des Ordens
von[55] von S. Stephan, Bekanntſchaft machte, einem
jungen und reichen Kavalier aus einem der erſten
Häuſer des Königreichs, der mich mit Verbindlich¬
keiten überhäufte, und für meine Geheimniſſe große
Achtung zu tragen ſchien. Er entdeckte mir, daß
der Marcheſe del M***nte, ſein Vater, ein eifri¬
ger Verehrer der Kabbala wäre, und ſich glücklich
ſchätzen würde, einen Weltweiſen (wie er mich zu
nennen beliebte,) unter ſeinem Dache zu wiſſen.
Der Greis wohnte auf einem ſeiner Landgüter an
der See, ungefähr ſieben Meilen von Neapel, wo
er beynahe in gänzlicher Abgeſchiedenheit von Men¬
ſchen das Andenken eines theuern Sohnes beweinte,
der ihm durch ein ſchreckliches Schickſal entriſſen
ward. Der Chevalier ließ mich merken, daß er
und ſeine Familie in einer ſehr ernſthaften Angele¬
genheit meiner wohl gar einmal bedürfen könnten,
um von meiner geheimen Wiſſenſchaft vielleicht ei¬
nen Aufſchluß über etwas zu erhalten, wobey alle
natürlichen Mittel fruchtlos erſchöpft worden wä¬
ren. Er ins beſondere, ſezte er ſehr bedeutungsvoll
hinzu, würde einſt vielleicht Urſache haben, mich
als den Schöpfer ſeiner Ruhe und ſeines ganzen
irdiſchen Glücks zu betrachten. Die Sache ſelbſt
aber verhielt ſich folgender Geſtalt. Dieſer Loren¬
zo war der jüngere Sohn des Marcheſe. weswegen
er auch zu dem geiſtlichen Stand beſtimmt war;
die Güter der Familie ſollten an ſeinen ältern Bru¬
der fallen. Jeronymo, ſo hieß dieſer ältere Bru¬
der, hatte mehrere Jahre auf Reiſen zugebracht,
und kam ungefähr ſieben Jahre vor der Begeben¬
heit.D 4[56] heit, die jezt erzählt wird, in ſein Vaterland zu¬
rück, um eine Heirath mit der einzigen Tochter ei¬
nes benachbarten gräflichen Hauſes von C***tti
zu vollziehen, worüber beyde Familien ſchon ſeit
der Geburt dieſer Kinder übereingekommen
waren, um ihre anſehnlichen Güter dadurch zu ver¬
einigen. Ungeachtet dieſe Verbindung bloß das
Werk der älterlichen Konvenienz war, und die Her¬
zen beyder Verlobten bey der Wahl nicht um Rath
gefragt wurden, ſo hatten ſie ſie doch ſtillſchweigend
ſchon beſchworen. Jeronymo del M**nte und
Antonie C**tti waren mit einander auferzogen
worden, und der wenige Zwang, den man dem
Umgang zweyer Kinder auflegte, die man ſchon da¬
mals gewohnt war, als ein Paar zu betrachten,
hatte frühzeitig ein zärtliches Verſtändniß zwiſchen
beyden entſtehen laſſen, das durch die Harmonie
ihrer Charaktere noch mehr befeſtigt ward, und ſich
in reifern Jahren leicht zur Liebe erhöhte. Eine
vierjährige Entfernung hatte es vielmehr angefeuert
als erkältet, und Jeronymo kehrte eben ſo treu
und eben ſo feurig in die Arme ſeiner Braut zurück,
als wenn er ſich niemals daraus geriſſen hätte.“
„Die Entzückungen des Wiederſehens waren
noch nicht vorüber, und die Anſtalten zur Vermäh¬
lung wurden auf das lebhafteſte betrieben, als der
Bräutigam — verſchwand. Er pflegte öfters
ganze Abende auf einem Landhauſe zuzubringen,
das die Ausſicht auf's Meer hatte, und ſich da zu¬
weilen mit einer Waſſerfahrt zu vergnügen. Nach
einem[57] einem ſolchen Abende geſchah es, daß er ungewöhn¬
lich lang' ausblieb. Man ſchickte Boten nach ihm
aus, Fahrzeuge ſuchten ihn auf der See; niemand
wollte ihn geſehen haben; von ſeinen Bedienten
wurde keiner vermißt, daß ihn alſo keiner begleitet
haben konnte. Es wurde Nacht, und er erſchien
nicht. Es wurde Morgen — es wurde Mittag
und Abend, und noch kein Jeronymo. Schon fing
man an, den ſchrecklichſten Muthmaßungen Raum
zu geben, als die Nachricht einlief, ein algieri¬
ſcher Korſar habe vorigen Tages an dieſer Küſte ge¬
landet, und verſchiedene von den Einwohnern ſeyen
gefangen weggeführt worden. Sogleich werden
zwey Galeeren bemannt, die eben ſegelfertig lie¬
gen; der alte Marcheſe beſteigt ſelbſt die erſte, ent¬
ſchloſſen, ſeinen Sohn mit Gefahr ſeines eigenen
Lebens zu befreyen. Am dritten Morgen erblick¬
ten ſie den Korſaren, vor welchem ſie den Vortheil
des Windes voraus haben; ſie haben ihn bald er¬
reicht, ſie kommen ihm ſo nahe, daß Lorenzo, der
ſich auf der erſten Galeere befindet, das Zeichen
ſeines Bruders auf dem feindlichen Ver¬
deck zu erkennen glaubt, als plötzlich ein Sturm
ſie wieder von einander trennt. Mit Mühe ſtehen
ihn die beſchädigten Schiffe aus; aber die Priſe iſt
verſchwunden, und die Noth zwingt ſie, auf Mal¬
tha zu landen. Der Schmerz der Familie iſt ohne
Grenzen; troſtlos rauft ſich der alte Marcheſe die
eisgrauen Haare aus, man fürchtet für das Leben
der jungen Gräfin.“
„FünfD 5[58]
„Fünf Jahre gehen in fruchtloſen Erkundigun¬
gen hin. Nachfragen geſchehen längs der ganzen
barbariſchen Küſte; ungeheure Preiſe werden für
die Freiheit des jungen Marcheſe geboten; aber
niemand meldet ſich, ſie zu verdienen. Endlich
blieb es bey der wahrſcheinlichen Vermuthung, daß
jener Sturm, welcher beyde Fahrzeuge trennte, das
Räuberſchiff zu Grunde gerichtet habe, und daß
ſeine ganze Mannſchaft in den Fluthen umgekom¬
men ſey.“
„So ſcheinbar dieſe Vermuthung war, ſo fehl¬
te ihr doch noch viel zur Gewißheit, und nichts be¬
rechtigte, die Hoffnung ganz aufzugeben, daß der
Verlorne nicht einmal wieder ſichtbar werden könn¬
te. Aber geſezt nun, er würde es nicht mehr, ſo
erloſch mit ihm zugleich die Familie, oder der
zweyte Bruder mußte dem geiſtlichen Stande entſa¬
gen, und in die Rechte des Erſtgebornen eintreten.
So wenig dieſes die Gerechtigkeit gegen den leztern
zu erlauben ſchien, ſo wenig durfte auf der andern
Seite die Familie durch eine zu weit getriebene Ge¬
wiſſenhaftigkeit der Gefahr des Ausſterbens ausge¬
ſezt werden. Gram und Alter näherten den alten
Marcheſe dem Grabe; mit jedem neu vereitelten
Verſuch ſank die Hoffnung, den Verſchwundenen
wieder zu finden; er ſah den Untergang ſeines Hau¬
ſes, der durch eine kleine Ungerechtigkeit zu verhü¬
ten war, wenn er ſich nehmlich nur entſchließen
wollte, den jüngern Bruder auf Unkoſten des äl¬
tern zu begünſtigen. Um ſeine Verbindungen mit
dem[59] dem gräflichen Hauſe von C***tti zu erfüllen,
brauchte nur ein Name geändert zu werden; der
Zweck beyder Familien war auf gleiche Art erreicht,
Gräfinn Antonie mochte nun Lorenzos oder Jero¬
nymos Gattinn heißen. Die ſchwache Möglich¬
keit einer Wiedererſcheinung des leztern kam ge¬
gen das gewiſſe und dringende Uebel, den gänz¬
lichen Untergang der Familie, in keine Betrachtung,
und der alte Marcheſe, der die Annäherung des
Todes mit jedem Tag ſtärker fühlte, wünſchte mit
Ungeduld [v]on dieſer Unruhe wenigſtens frey zu
ſterben.“
„Wer dieſen Schritt allein verzögerte und am
hartnäckigſten bekämpfte, war derjenige, der das
meiſte dabey gewann — Lorenzo. Ungerührt von
dem Reiz unermeßlicher Güter, unempfindlich ſelbſt
gegen den Beſitz des liebenswürdigſten Geſchöpfs,
das ſeinen Armen überliefert werden ſollte, weigerte er
ſich mit der edelmüthigſten Gewiſſenhaftigkeit, einen
Bruder zu berauben, der vielleicht noch am Leben wäre,
und ſein Eigenthum zurück fodern könnte. Iſt das
Schickſal meines theuern Jeronymo, ſagte er, durch
dieſe lange Gefangenſchaft nicht ſchon ſchrecklich ge¬
nug, daß ich es noch durch einen Diebſtahl verbit¬
tern ſollte, der ihn um alles bringt, was ihm das
theuerſte war? Mit welchem Herzen würde ich
den Himmel um ſeine Wiederkunft anflehen, wenn
ſein Weib in meinen Armen liegt? Mit welcher
Stirne ihm, wenn endlich ein Wunder ihn uns
zurück bringt, entgegen eilen? Und geſezt, er iſt
uns[60] uns auf ewig entriſſen, wodurch können wir ſein
Andenken beſſer ehren, als wenn wir die Lücke
ewig unausgefüllt laſſen, die ſein Tod in unſern
Zirkel geriſſen hat? als wenn wir alle unſre Hoff¬
nungen auf ſeinem Grabe opfern, und das, was
ſein war, gleich einem Heiligthum unberührt
laſſen?“
„Aber alle Gründe, welche die brüderliche De¬
likateſſe ausfand, waren nicht vermögend, den al¬
ten Marcheſe mit der Idee auszuſöhnen, einen
Stamm erlöſchen zu ſehen, der bereits neun Jahr¬
hunderte geblüht. Alles, was Lorenzo ihm abgewann,
war noch eine Friſt von zwey Jahren, ehe er die
Braut ſeines Bruders zum Altare führte. Während
dieſes Zeitraums wurden die Nachforſchungen auf's
eifrigſte fortgeſezt. Lorenzo ſelbſt that verſchiedene
Seereiſen, ſezte ſeine Perſon manchen Gefahren
aus; keine Mühe, keine Koſten wurden geſpart,
den Verſchwundenen wieder zu finden. Aber auch
dieſe zwey Jahre verſtrichen fruchtlos, wie alle vo¬
rigen.“
„Und Gräfinn Antonie?“ fragte der Prinz.
„Von ihrem Zuſtande ſagen Sie uns nichts. Soll¬
te ſie ſich ſo gelaſſen in ihr Schickſal ergeben haben?
Ich kann es nicht glauben.“
„Antoniens Zuſtand war der ſchrecklichſte Kampf
zwiſchen Pflicht und Neigung, Haß und Bewunde¬
rung. Die uneigennützige Großmuth der brüderli¬
chen Liebe rührte ſie; ſie fühlte ſich hingeriſſen,
den Mann zu verehren, den ſie nimmermehr lie¬
ben[61] ben konnte; zerriſſen von widerſprechenden Gefüh¬
len blutete ihr Herz. Aber ihr Widerwille gegen
den Chevalier ſchien in eben dem Grade zu wachſen,
wie ſich ſeine Anſprüche auf ihre Achtung vermehr¬
ten. Mit tiefem Leiden bemerkte er den ſtillen
Gram, der ihre Jugend verzehrte. Ein zärtliches
Mitleid trat unvermerkt an die Stelle der Gleich¬
gültigkeit, mit der er ſie bisher betrachtet hatte;
aber dieſe verrätheriſche Empfindung hinterging
ihn, und eine wüthende Leidenſchaft fing an, ihm
die Ausübung einer Tugend zu erſchweren, die bis
jezt ohne Beyſpiel geweſen war. Doch ſelbſt noch
auf Unkoſten der Liebe gab er den Eingebungen ſei¬
nes Edelmuths Gehör: er allein war es, der das
unglückliche Opfer gegen die Willkühr der Familie
in Schutz nahm. Aber alle ſeine Bemühungen mi߬
langen; jeder Sieg, den er über ſeine Leidenſchaft
davon trug, zeigte ihn ihrer nur um ſo würdi¬
ger, und die Großmuth, mit der er ſie ausſchlug,
diente nur dazu, ihre Widerſetzlichkeit jeder Ent¬
ſchuldigung zu berauben.“
„So ſtanden die Sachen, als der Chevalier
mich beredete, ihn auf ſeinem Landgute zu beſu¬
chen Die warme Empfehlung meines Gönners
bereitete mir da einen Empfang, der alle meine
Wünſche übertraf. Ich darf nicht vergeſſen, hier
noch anzuführen, daß es mir durch einige merk¬
würdige Operationen gelungen war, meinen Na¬
men unter den dortigen Logen berühmt zu machen,
welches mit dazu beytragen mochte, das Vertrauen
des[62] des alten Marcheſe zu vermehren und ſeine Erwar¬
tungen von mir zu erhöhen. Wie weit ich es mit
ihm gebracht, und welche Wege ich dabey gegan¬
gen, erlaſſen ſie mir zu erzählen; aus den Ge¬
ſtändniſſen, die ich Ihnen bereits gethan, können
Sie auf alles übrige ſchließen. Da ich mir alle
myſtiſche Bücher zu nutze machte, die ſich in der
ſehr anſehnlichen Bibliothek des Marcheſe befan¬
den, ſo gelang es mir bald, in ſeiner Sprache mit
ihm zu reden, und mein Syſtem von der unſicht¬
baren Welt mit den abentheuerlichſten Erfindun¬
gen aufzuſtutzen. In kurzem glaubte er was ich
wollte, und hätte eben ſo zuverſichtlich auf die Be¬
gattungen der Philoſophen mit Salamandrinnen
und Sylphiden, als auf einen Artikel des Kanons
geſchworen. Da er überdies ſehr religiös war,
und ſeine Anlage zum Glauben in dieſer Schule zu
einem hohen Grade ausgebildet hatte, ſo fanden
meine Mährchen bey ihm deſto leichter Eingang,
und zulezt hatte ich ihn mit Myſtizität ſo umſtrickt
und umwunden, daß nichts mehr bey ihm Credit
hatte, ſobald es natürlich war. In kurzem war
ich der angebetete Apoſtel des Hauſes. Der ge¬
wöhnliche Inhalt meiner Vorleſungen war die Ex¬
altation der menſchlichen Natur, und der Umgang
mit höhern Weſen, mein Gewährsmann der un¬
trügliche Graf von Gabalis. Die junge Gräfinn,
die ſeit dem Verluſt ihres Geliebten ohnehin mehr
in der Geiſterwelt als in der wirklichen lebte, und
überdieß eine große Miſchung von Melancholie in
ihrem Charakter hatte, fing meine hingeworfenen
Winke[63] Winke mit ſchauderndem Wohlbehagen auf; ja ſo¬
gar die Bedienten des Hauſes ſuchten ſich im Zim¬
mer zu thun zu machen, wenn ich redete, um hie
und da eins meiner Worte aufzuhaſchen, welche
Bruchſtücke ſie alsdann nach ihrer Art an einander
reihten.“
„Ungefähr zwey Monate mochte ich ſo auf die¬
ſem Ritterſitze zugebracht haben, als eines Mor¬
gens der Chevalier auf mein Zimmer trat. Tiefer
Gram mahlte ſich auf ſeinem Geſichte, alle ſeine
Züge waren zerſtört, er warf ſich in einen Stuhl
mit allen Geberden der Verzweiflung.“
„Kapitain, ſagte er, mit mir iſt es vorbey.
Ich muß fort. Ich kann es nicht länger hier aus¬
halten.“
„Was iſt Ihnen, Chevalier? Was haben
Sie?“
„O dieſe fürchterliche Leidenſchaft! (Hier fuhr
er mit Heftigkeit von dem Stuhle auf, und warf
ſich in meine Arme) — Ich habe ſie bekämpft wie
ein Mann — Jezt kann ich nicht mehr.“
„Aber an wem liegt es denn, liebſter Freund,
als an Ihnen? Steht nicht alles in Ihrer Gewalt?
Vater, Familie —“
„Vater! Familie! Was iſt mir das? — Will
ich eine erzwungene Hand, oder eine freywillige
Neigung? — Hab' ich nicht einen Nebenbuhler?
— Ach! Und welchen? Einen Nebenbuhler vielleicht
unter den Todten! O laſſen Sie mich! Laſſen Sie
mich! Ging es auch bis an's Ende der Welt. Ich
muß meinen Bruder finden.“
„Wie?[64]
„Wie? Nach ſo viel fehlgeſchlagenen Verſu¬
chen können Sie noch Hoffnung —“
„Hoffnung! — In meinem Herzen ſtarb
ſie längſt. Aber auch in jenem? — Was liegt
daran, ob ich hoffe? — Bin ich glücklich, ſo
lange noch ein Schimmer dieſer Hoffnung in Anto¬
niens Herzen glimmt? — Zwey Worte, Freund,
könnten meine Marter enden — Aber umſonſt!
Mein Schickſal wird elend bleiben, bis die Ewigkeit
ihr langes Schweigen bricht, und Gräber für mich
zeugen.“
„Iſt es dieſe Gewißheit alſo, die Sie glücklich
machen kann?“
„Glücklich? O ich zweifle, ob ich es je wieder
ſeyn kann! — Aber Ungewißheit iſt die ſchrecklich¬
ſte Verdammniß! (Nach einigem Stillſchweigen
mäßigte er ſich, und fuhr mit Wehmuth fort)
Daß er meine Leiden ſähe! — Kann ſie ihn
glücklich machen dieſe Treue, die das Elend ſeines
Bruders macht? Soll ein Lebendiger eines Todten
wegen ſchmachten, der nicht mehr genießen kann?
— Wüßte er meine Qual — (hier fing er an,
heftig zu weinen, und drückte ſein Geſicht auf mei¬
ne Bruſt) vielleicht — ja vielleicht würde er ſie
ſelbſt in meine Arme führen.“
„Aber ſollte dieſer Wunſch ſo ganz unerfüllbar
ſeyn?“
„Freund! Was ſagen Sie? — Er ſah mich
erſchrocken an.“
„Weit geringere Anläſſe, fuhr ich fort, haben
die Abgeſchiedenen in das Schickſal der Lebenden
ver¬[65] verflochten. Sollte das ganze zeitliche Glück eines
Menſchen — eines Bruders —“
„Das ganze zeitliche Glück! O das fühl' ich!
Wie wahr haben Sie geſagt! Meine ganze Glück¬
ſeligkeit!“
„Und die Ruhe einer trauernden Familie keine
würdige Aufforderung ſeyn? Gewiß! wenn je eine
irdiſche Angelegenheit dazu berechtigen kann, die
Ruhe der Seligen zu ſtören — von einer Gewalt
Gebrauch zu machen —“
„Um Gottes willen, Freund! unterbrach er
mich, nichts mehr davon. Ehmals wohl, ich ge¬
ſteh' es, hegte ich einen ſolchen Gedanken — mir
däucht, ich ſagte Ihnen davon — aber ich hab'
ihn längſt als ruchlos und abſcheulich verworfen.“
„Sie ſehen nun ſchon,“ fuhr der Sicilianer
fort, „wohin uns dieſes führte. Ich bemühte
mich, die Bedenklichkeiten des Ritters zu zerſtreuen,
welches mir endlich auch gelang. Es ward beſchloſ¬
ſen, den Geiſt des Verſtorbenen zu zitiren, wobey
ich mir nur vierzehn Tage Friſt ausbedingte, um
mich, wie ich vorgab, würdig darauf vorzuberei¬
ten. Nachdem dieſer Zeitraum verſtrichen und
meine Maſchinen gehörig gerichtet waren, benuz¬
te ich einen ſchauerlichen Abend, wo die Familie
auf die gewöhnliche Art um mich verſammelt war,
ihr die Einwilligung dazu abzulocken, oder ſie viel¬
mehr unvermerkt dahin zu leiten, daß ſie ſelbſt
dieſe Bitte an mich that. Den ſchwerſten Stand
d. Geiſterſeher. Ehatte[66] hatte man bey der jungen Gräfinn, deren Gegen¬
wart doch ſo weſentlich war, aber hier kam uns
der ſchwärmeriſche Flug ihrer Leidenſchaft zu Hülfe,
und vielleicht mehr noch ein ſchwacher Schimmer
von Hoffnung, daß der Todtgeglaubte noch lebe,
und auf den Ruf nicht erſcheinen werde. Mi߬
trauen in die Sache ſelbſt, Zweifel in meine Kunſt
war das einzige Hinderniß, welches ich nicht zu be¬
kämpfen hatte.“
„Sobald die Einwilligung der Familie da war,
wurde der dritte Tag zu dem Werk angeſezt. Ge¬
bete, die bis in die Mitternacht verlängert werden
mußten, Faſten, Wachen, Einſamkeit und myſti¬
ſcher Unterricht waren, verbunden mit dem Ge¬
brauch eines gewiſſen noch unbekannten muſikali¬
ſchen Inſtruments, das ich in ähnlichen Fällen
ſehr wirkſam fand, die Vorbereitungen zu dieſem
feyerlichen Akt, welche auch ſo ſehr nach Wunſche
einſchlugen, daß die fanatiſche Begeiſterung meiner
Zuhörer meine eigene Phantaſie erhitzte, und die
Illuſion nicht wenig vermehrte, zu der ich mich
bey dieſer Gelegenheit anſtrengen mußte. Endlich
kam die erwartete Stunde —“
„Ich errathe,“ rief der Prinz, „wen Sie uns
jezt aufführen werden — Aber fahren Sie nur
fort — fahren Sie fort —“
„Nein, gnädigſter Herr. Die Beſchwörung
ging nach Wunſche vorüber.“
„Aber wie? Wo bleibt denn der Armenier?“
„Fürch¬[67]
„Fürchten Sie nicht,“ antwortete der Sicilia¬
ner, „der Armenier wird nur zu zeitig erſcheinen.“
„Ich laſſe mich in keine Beſchreibung des Gau¬
kelſpiels ein, die mich ohnehin auch zu weit führen
würde. Genug es erfüllte alle meine Erwartun¬
gen. Der alte Marcheſe, die junge Gräfinn nebſt
ihrer Mutter, der Chevalier und noch einige Ver¬
wandte waren zugegen. Sie können leicht denken,
daß es mir in der langen Zeit, die ich in dieſem
Hauſe zugebracht, nicht an Gelegenheit werde ge¬
mangelt haben, von allem, was den Verſtorbenen
anbetraf, die genaueſte Erkundigung einzuziehen.
Verſchiedne Gemählde, die ich da von ihm vor¬
fand, ſezten mich in den Stand, der Erſcheinung
die täuſchendſte Aehnlichkeit zu geben, und weil ich
den Geiſt nur durch Zeichen ſprechen ließ, ſo konn¬
te auch ſeine Stimme keinen Verdacht erwecken.
Der Todte ſelbſt erſchien in barbariſchem Sklaven¬
kleid, eine tiefe Wunde am Halſe. Sie bemer¬
ken,“ ſagte der Sicilianer, „daß ich hierin von
der allgemeinen Muthmaßung abging, die ihn in
den Wellen umkommen laſſen; weil ich Urſache hat¬
te zu hoffen, daß gerade das Unerwartete dieſer
Wendung die Glaubwürdigkeit der Viſion ſelbſt
nicht wenig vermehren würde; ſo wie mir im Ge¬
gentheil nichts gefährlicher ſchien, als eine zu ge¬
wiſſenhafte Annäherung an das Natürliche.“
„Ich glaube, daß dieß ſehr richtig geurtheilt
war,“ ſagte der Prinz. „In einer Reihe außer¬
ordentlicher Erſcheinungen mußte, däucht mir, juſt
E 2die[68] die wahrſcheinlichere ſtören; die Leichtigkeit,
die erhaltene Entdeckung zu begreifen, würde hier
nur das Mittel, durch welches man dazu gelangt
war, herabgewürdigt haben; die Leichtigkeit, ſie
zu erfinden, dieſes wohl gar verdächtig gemacht [ha¬
ben]; denn wozu einen Geiſt bemühen, wenn man
nichts weiteres von ihm erfahren ſoll, als was
auch ohne ihn, mit Hülfe der bloß gewöhnlichen
Vernunft herauszubringen war? Aber die über¬
raſchende Neuheit und Schwierigkeit der Entdeckung
iſt hier gleichſam eine Gewährleiſtung des Wunders,
wodurch ſie erhalten wird — denn wer wird nun
das Uebernatürliche einer Operation in Zwei¬
fel ziehen, wenn das, was ſie leiſtete, durch na¬
türliche Kräfte nicht geleiſtet werden kann? — Ich
habe Sie unterbrochen,“ ſezte der Prinz hinzu.
„Vollenden Sie Ihre Erzählung.“
„Ich ließ,“ fuhr dieſer fort, „die Frage an
den Geiſt ergehen, ob er nichts mehr ſein nenne
auf dieſer Welt, und nichts darauf hinterlaſſen ha¬
be, was ihm theuer wäre? Der Geiſt ſchüttelte
dreymal das Haupt, und ſtreckte eine ſeiner Hän¬
de gen Himmel. Ehe er wegging, ſtreifte er noch
einen Ring vom Finger, den man nach ſeiner Ver¬
ſchwindung auf dem Fußboden liegend fand. Als
die Gräfinn ihn genauer in's Geſicht faßte, war es
ihr Trauring.“
„Ihr Trauring!“ rief der Prinz mit Befrem¬
dung. „Ihr Trauring! Aber wie gelangten Sie
zu dieſem?“
„Ich[69]
„Ich — — — Es war nicht der rechte,
gnädigſter Prinz — — Ich hatte ihn — — Es
war nur ein nachgemachter. —“
„Ein nachgemachter!“ wiederholte der Prinz.
„Zum Nachmachen brauchten Sie ja den rechten,
und wie kamen Sie zu dieſem, da ihn der Verſtor¬
bene gewiß nie vom Finger brachte?“
„Das iſt wohl wahr,“ ſagte der Sicilianer,
nicht ohne Zeichen der Verwirrung — „aber aus
einer Beſchreibung, die man mir von dem wirkli¬
chen Trauring gemacht hatte —“
„Die Ihnen wer gemacht hatte?“
„Schon vor langer Zeit,“ ſagte der Sicilia¬
ner — — „Es war ein ganz einfacher goldner
Ring, mit dem Namen der jungen Gräfinn, glaub'
ich, — — aber Sie haben mich ganz aus der
Ordnung gebracht —“
Wie erging es weiter?“ ſagte der Prinz mit
ſehr unbefriedigter und zweydeutiger Miene.
„Jezt hielt man ſich für überzeugt, daß Je¬
ronymo nicht mehr am Leben ſey. Die Familie
machte von dieſem Tag an ſeinen Tod öffentlich be¬
kannt, und legte förmlich die Trauer um ihn an.
Der Umſtand mit dem Ringe erlaubte auch Anto¬
nien keinen Zweifel mehr, und gab den Bewerbun¬
gen des Chevaliers einen größern Nachdruck. Aber
der heftige Eindruck, den dieſe Erſcheinung auf ſie
gemacht, ſtürzte ſie in eine gefährliche Krankheit,
welche die Hoffnungen ihres Liebhabers bald auf
ewig vereitelt hätte. Als ſie wieder geneſen war,
beſtand ſie darauf, den Schleyer zu nehmen, wo¬
E 3von[70] von ſie nur durch die nachdrücklichſten Gegenvorſtel¬
lungen ihres Beichtvaters, in welchen ſie ein un¬
umſchränktes Vertrauen ſezte, abzubringen war.
Endlich gelang es den vereinigten Bemühungen die¬
ſes Mannes und der Familie, ihr das Jawort ab¬
zuängſtigen. Der lezte Tag der Trauer ſollte der
glückliche Tag ſeyn, den der alte Marcheſe durch
Abtretung aller ſeiner Güter an den rechtmäßigen
Erben noch feſtlicher zu machen geſonnen war.“
„Es erſchien dieſer Tag, und Lorenzo empfing
ſeine bebende Braut am Altare. Der Tag ging
unter, ein prächtiges Mahl erwartete die frohen
Gäſte im hellerleuchteten Hochzeitſaal, und eine lär¬
mende Muſik begleitete die ausgelaſſene Freude.
Der glückliche Greis hatte gewollt, daß alle Welt
ſeine Fröhlichkeit theilte; alle Zugänge zum Palla¬
ſte waren geöffnet, und willkommen war jeder, der
ihn glücklich pries. Unter dieſem Gedränge
nun —“
Der Sicilianer hielt hier inne, und ein Schau¬
der der Erwartung hemmte unſern Odem — —
„Unter dieſem Gedränge alſo,“ fuhr er fort.
„ließ mich derjenige, welcher zunächſt an mir ſaß,
einen Franziskanermönch bemerken, der un¬
beweglich wie eine Säule ſtand, langer hagrer
Statur und aſchbleichen Angeſichts, einen ernſten
und traurigen Blick auf das Brautpaar geheftet.
Die Freude, welche rings herum auf allen Geſich¬
tern lachte, ſchien an dieſem einzigen vorüber zu
gehen, ſeine Miene blieb unwandelbar dieſelbe, wie
eine Büſte unter lebenden Figuren. Das Außer¬
ordent¬[71] ordentliche dieſes Anblicks, der, weil er mich mit¬
ten in der Luſt überraſchte, und gegen alles, was
mich in dieſem Augenblick umgab, auf eine ſo grel¬
le Art abſtach, um ſo tiefer auf mich wirkte, ließ
einen unauslöſchlichen Eindruck in meiner Seele zu¬
rück, daß ich dadurch allein in den Stand geſezt
worden bin, die Geſichtszüge dieſes Mönchs in der
Phyſionomie des Ruſſen (denn Sie begreifen wohl
ſchon, daß er mit dieſem und Ihrem Armenier eine
und dieſelbe Perſon war) wieder zu erkennen, wel¬
ches ſonſt ſchlechterdings unmöglich würde geweſen
ſeyn. Oft verſucht' ich's, die Augen von dieſer
ſchreckhaften Geſtalt abzuwenden, aber unfreywil¬
lig fielen ſie wieder darauf, und fanden ſie jedes¬
mal unverändert. Ich ſtieß meinen Nachbar an,
dieſer den ſeinigen, dieſelbe Neugierde, dieſelbe
Befremdung durchlief die ganze Tafel, das Ge¬
ſpräch ſtockte, eine allgemeine plötzliche Stille, den
Mönch ſtörte ſie nicht. Der Mönch ſtand unbeweg¬
lich und immer derſelbe, einen ernſten und trauri¬
gen Blick auf das Brautpaar geheftet. Einen je¬
den entſezte dieſe Erſcheinung; die junge Gräfinn
allein fand ihren eigenen Kummer im Geſicht die¬
ſes Fremdlings wi der, und hing mit ſtiller Wol¬
luſt an dem einzigen Gegenſtand in der Verſamm¬
lung, der ihren Gram zu verſtehen, zu theilen
ſchien. Allgemach verlief ſich das Gedränge, Mit¬
ternacht war vorüber, die Muſik fing an ſtiller und
verlorner zu tönen; die Kerzen dunkler und endlich
nur einzeln zu brennen, das Geſpräch leiſer und
immer leiſer zu flüſtern — und öder ward es, und
E 4immer[72] immer öder im trüberleuchteten Hochzeitſaal; der
Mönch ſtand unbeweglich, und immer derſelbe,
einen ſtillen und traurigen Blick auf das Brautpaar
geheftet. Die Tafel wird aufgehoben, die Gäſte
zerſtreuen ſich dahin und dorthin, die Familie tritt
in einen engeren Kreis zuſammen, der Mönch bleibt
ungeladen in dieſem engeren Kreis. Ich weiß
nicht, woher es kam, daß niemand ihn anreden
wollte; niemand redete ihn an. Schon drängen
ſich ihre weiblichen Bekannte um die zitternde Braut
herum, die einen bittenden Hülfe ſuchenden Blick
auf den ehrwürdigen Fremdling richtet; der Fremd¬
ling erwiedert ihn nicht. Die Männer ſammeln
ſich auf gleiche Art um den Bräutigam — Eine
gepreßte erwartungsvolle Stille — „Daß wir un¬
ter einander da ſo glücklich ſind,“ hub endlich der
Greis an, der allein unter uns allen den Unbe¬
kannten nicht zu bemerken, oder ſich doch nicht
über ihn zu verwundern ſchien: „Daß wir ſo
glücklich ſind, ſagte er, und mein Sohn Jerony¬
mo muß fehlen!“ — „Haſt du ihn denn gela¬
den und er iſt ausgeblieben?“ fragte der Mönch.
Es war das erſtemal, daß er den Mund öffnete.
Mit Schrecken ſahen wir ihn an.“
„Ach! er iſt hingegangen, wo man auf ewig
ausbleibt, verſezte der Alte. Ehrwürdiger Herr,
ihr verſteht mich unrecht. Mein Sohn Jeronymo
iſt todt.“
„Vielleicht fürchtet er ſich auch nur, ſich in ſol¬
cher Geſellſchaft zu zeigen, fuhr der Mönch fort —
Wer[73] Wer weiß, wie er ausſehen mag, dein Sohn Je¬
ronymo! — Laß ihn die Stimme hören, die er
zum leztenmal hörte! — Bitte deinen Sohn Lo¬
renzo, daß er ihn rufe.“
„Was ſoll das bedeuten? murmelte alles.
Lorenzo veränderte die Farbe. Ich läugne nicht,
daß mir das Haar anfing zu ſteigen.“
„Der Mönch war unterdeſſen zum Schenktiſch
getreten, wo er ein volles Weinglas ergriff, und
an die Lippen ſezte — „Das Andenken unſers
theuern Jeronymo!“ rief er. „Wer den Verſtor¬
benen lieb hatte, thue mir's nach.“
„Woher ihr auch ſeyn mögt, ehrwürdiger
Herr, rief endlich der Marcheſe. Ihr habt einen
theuern Namen genannt. Seyd mir willkommen!
— Kommt, meine Freunde! (indem er ſich gegen
uns kehrte, und die Gläſer herum gehen ließ)
laßt einen Fremdling uns nicht beſchämen! — Dem
Andenken meines Sohnes Jeronymo!“
„Nie, glaube ich, ward eine Geſundheit mit
ſo ſchlimmen Muthe getrunken.“
„Ein Glas ſteht noch voll da — Warum
weigert ſich mein Sohn Lorenzo, auf dieſen freund¬
lichen Trunk Beſcheid zu thun?“
„Bebend empfing Lorenzo das Glas aus des
Franziskaners Hand — bebend brachte er's an den
Mund — „Meinem vielgeliebten Bruder Jero¬
nymo!“ ſtammelte er, und ſchauernd ſezte er's
nieder.“
„Das iſt meines Mörders Stimme, rief eine
fürchterliche Geſtalt, die auf einmal in unſrer Mit¬
E 5te[74] te ſtand, mit bluttriefendem Kleid und entſtellt von
gräßlichen Wunden.“ — —
„Aber um das weitere frage man mich nicht
mehr,“ ſagte der Sicilianer, alle Zeichen des Ent¬
ſetzens in ſeinem Angeſicht. „Meine Sinne hatten
mich von dem Augenblicke an verlaſſen, als ich die
Augen auf die Geſtalt warf, ſo wie jeden, der zu¬
gegen war. Da wir wieder zu uns ſelber kamen,
rang Lorenzo mit dem Tode, Mönch und Erſchei¬
nung waren verſchwunden. Den Ritter brachte
man unter ſchrecklichen Zuckungen zu Bette; nie¬
mand als der Geiſtliche war um den Sterbenden,
und der jammervolle Greis, der ihm, wenige Wo¬
chen nachher, im Tode folgte. Seine Geſtändniſſe
liegen in der Bruſt des Paters verſenkt, der ſeine
lezte Beichte hörte, und kein lebendiger Menſch hat
ſie erfahren. Nicht lange nach dieſer Begebenheit
geſchah es, daß man einen Brunnen auszuräumen
hatte, der im Hinterhofe des Landhauſes unter wil¬
dem Geſträuche verſteckt, und viele Jahre lang ver¬
ſchüttet war; da man den Schutt durch einander
ſtörte, entdeckte man ein Todtengerippe. Das
Haus, wo ſich dieſes zutrug, ſteht nicht mehr;
die Familie del M**nte iſt erloſchen, und in einem
Kloſter, ohnweit Salerno, zeigt man Ihnen An¬
toniens Grab.“
„Sie ſehen nun,“ fuhr der Sicilianer fort,
als er ſah, daß wir noch alle ſtumm und betreten
ſtanden, und niemand das Wort nehmen wollte,
„Sie ſehen nun, worauf ſich meine Bekanntſchaft
mit[75] mit dieſem Ruſſiſchen Offizier, oder dieſem Fran¬
ziskanermönch, oder dieſem Armenier gründet.
Urtheilen Sie jezt, ob ich Urſache gehabt habe, vor
einem Weſen zu zittern, das ſich mir zweymal auf
eine ſo ſchreckliche Art in den Weg warf.“
„Beantworten Sie mir noch eine einzige Fra¬
ge,“ ſagte der Prinz, und ſtund auf. „Sind Sie
in Ihrer Erzählung über alles, was den Ritter
betraf, immer aufrichtig geweſen?“
„„Ich weiß nicht anders,“ verſezte der Sici¬
lianer.
„Sie haben ihn alſo wirklich für einen recht¬
ſchaffenen Mann gehalten?“
„Das hab' ich, bey Gott, das hab' ich,“ ant¬
wortete jener.
„Auch da noch, als er Ihnen den bewußten
Ring gab?“
„Wie? — Er gab mir keinen Ring — Ich
habe ja nicht geſagt, daß er mir den Ring ge¬
geben.“
„Gut,“ ſagte der Prinz, an der Glocke, zie¬
hend, und im Begriff wegzugehen. „Und den
Geiſt des Marquis von Lanoy, (fragte er, indem
er noch einmal zurück kam) den dieſer Ruſſe geſtern
auf den Ihrigen folgen ließ, halten Sie alſo für
einen wahren und wirklichen Geiſt?“
— — — „Ich kann ihn für nichts anders
halten,“ antwortete jener.
„Kommen Sie,“ ſagte der Prinz zu uns. Der
Schließer trat herein. „Wir ſind fertig,“ ſagte
er[76] er zu dieſem. „Sie, mein Herr, ſollen weiter von
mir hören.“
Die Frage, gnädigſter Herr, welche Sie zulezt
an den Gaukler gethan haben, möchte ich an Sie
ſelbſt thun, ſagte ich zu dem Prinzen, als wir wie¬
der allein waren. Halten Sie dieſen zweyten Geiſt
für den wahren und ächten?
„Ich? Nein, wahrhaftig, das thue ich nicht
mehr.“
Nicht mehr? Alſo haben Sie es doch ge¬
than?
„Ich läugne nicht, daß ich mich einen Augen¬
blick habe hinreißen laſſen, dieſes Blendwerk für
etwas mehr zu halten.“
Und ich will den ſehen, rief ich aus, der ſich
unter dieſen Umſtänden einer ähnlichen Vermu¬
thung erwehren kann. Aber was für Gründe ha¬
ben Sie nun, dieſe Meynung zurück zu nehmen?
Nach dem, was man uns eben von dieſem Arme¬
nier erzählt hat, ſollte ſich der Glaube an ſeine
Wundergewalt eher vermehrt als vermindert
haben.
„Was ein Nichtswürdiger uns von ihm erzählt
hat?“ fiel mir der Prinz mit Ernſthaftigkeit in's
Wort. „Denn hoffentlich zweifeln Sie nun nicht
mehr, daß wir mit einem ſolchen zu thun gehabt
haben? —“
Nein, ſagte ich. Aber ſollte deswegen ſein
Zeugniß — —
„Das Zeugniß eines Nichtswürdigen — ge¬
ſezt, ich hätte auch weiter keinen Grund, es in
Zwei¬[77] Zweifel zu ziehen — kann gegen Wahrheit und
geſunde Vernunft nicht in Anſchlag kommen. Ver¬
dient ein Menſch, der mich mehrmal betrogen, der
den Betrug zu ſeinem Handwerk gemacht hat, in
einer Sache gehört zu werden, wo die aufrichtig¬
ſte Wahrheitsliebe ſelbſt ſich erſt reinigen muß, um
Glauben zu verdienen? Verdient ein ſolcher Menſch,
der vielleicht nie eine Wahrheit um ihrer ſelbſt wil¬
len geſagt hat, da Glauben, wo er als Zeuge ge¬
gen Menſchenvernunft und ewige Naturordnung
auftritt? Das klingt eben ſo, als wenn ich einen
gebrandmarkten Böſewicht bevollmächtigen wollte,
gegen die nie befleckte und nie beſcholtene Unſchuld zu
klagen.“
Aber was für Gründe ſollte er haben, einem
Manne, den er ſo viele Urſachen hat zu haſſen,
wenigſtens zu fürchten, ein ſo glorreiches Zeugniß
zu geben?
„Wenn ich dieſe Gründe auch nicht einſehe,
ſoll er ſie deswegen weniger haben? Weiß ich, in
weſſen Solde er mich belog? Ich geſtehe, daß
ich das ganze Gewebe ſeines Betrugs noch nicht
ganz durchſchaue; aber er hat der Sache, für die
er ſtreitet, einen ſehr ſchlechten Dienſt gethan, daß
er ſich mir als einen Betrüger — und vielleicht
als etwas noch ſchlimmres — entlarvte.“
Der Umſtand mit dem Ringe ſcheint mir frey¬
lich etwas verdächtig.
„Er[78]
„Er iſt mehr als das,“ ſagte der Prinz,
„er iſt entſcheidend. Dieſen Ring empfing er von
dem Mörder, und er mußte in demſelben Augenblick ge¬
wiß ſeyn, daß es der Mörder war. Wer als der
Mörder konnte dem Verſtorbenen einen Ring ab¬
gezogen haben, den dieſer gewiß nie vom Finger
ließ? Uns ſuchte er die ganze Erzählung hindurch
zu überreden, als ob er ſelbſt von dem Ritter ge¬
täuſcht worden, und als ob er geglaubt hätte ihn
zu täuſchen. Wozu dieſen Winkelzug, wenn er
nicht ſelbſt bey ſich fühlte, wie viel er verloren gab,
wenn er ſein Verſtändniß mit dem Mörder ein¬
räumte? Seine ganze Erzählung iſt offenbar
nichts, als eine Reihe von Erfindungen, um die
wenigen Wahrheiten an einander zu hängen, die
er uns preis zu geben für gut fand. Und ich ſoll¬
te größeres Bedenken tragen, einen Nichtswürdi¬
gen, den ich auf zehn Lügen ertappte, lieber auch
noch der eilften zu beſchuldigen, als die Grundord¬
nung der Natur unterbrechen zu laſſen, die ich noch
auf keinen Mißklang betrat?“
Ich kann Ihnen darauf nichts antworten, ſag¬
te ich. Aber die Erſcheinung, die wir geſtern ſa¬
hen, bleibt mir darum nicht weniger unbe¬
greiflich.
„Auch mir,“ verſezte der Prinz, „ob ich gleich
in Verſuchung gerathen bin, einen Schlüſſel dazu
ausfindig zu machen.“
Wie? ſagte ich.
„Erinnern Sie ſich nicht, daß die zwote Ge¬
ſtalt, ſobald ſie herein war, auf den Altar zuging,
das[79] das Kruzifix in die Hand faßte, und auf den Tep¬
pich trat?“
So ſchien mir's. Ja.
„Und das Kruzifix, ſagt uns der Sicilianer,
war ein Konduktor. Daraus ſehen Sie alſo, daß
ſie eilte, ſich elektriſch zu machen. Der Streich,
den Lord Seymour mit dem Degen nach ihr that,
konnte alſo nicht anders als unwirkſam bleiben,
weil der elektriſche Schlag ſeinen Arm lähmte.“
Mit dem Degen hätte dieſes ſeine Richtigkeit.
Aber die Kugel, die der Sicilianer auf ſie abſchoß,
und welche wir langſam auf dem Altar rollen
hörten?
„Wiſſen Sie auch gewiß daß es die abge¬
ſchoſſene Kugel war, die wir rollen hörten? —
Davon will ich gar nicht einmal reden, daß die
Marionette oder der Menſch, der den Geiſt vor¬
ſtellte, ſo gut umpanzert ſeyn konnte, daß er ſchuß-
und degenfeſt war — Aber denken Sie doch
ein wenig nach, wer es war, der die Piſtolen
geladen.“
Es iſt wahr, ſagte ich, — und ein plötzliches
Licht ging mir auf — Der Ruſſe hatte ſie geladen.
Aber dieſes geſchah vor unſern Augen, wie hätte
da ein Betrug vorgehen können?
„Und warum hätte er nicht ſollen vorgehen
können? Sezten Sie denn ſchon damals ein Mi߬
trauen in dieſen Menſchen, daß Sie es für nöthig
befunden hätten, ihn zu beobachten? Unterſuch¬
ten Sie die Kugel, eh' er ſie in den Lauf brachte,
die eben ſo gut eine queckſilberne oder auch nur eine
bemahlte[80] bemahlte Thonkugel ſeyn konnte? Gaben Sie Acht,
ob er ſie auch wirklich in den Lauf der Piſtole, oder
nicht nebenbey in ſeine Hand fallen ließ? Was
überzeugt Sie — geſezt er hätte ſie auch wirklich
ſcharf geladen — daß er gerade die geladenen in
den andern Pavillon mit hinüber nahm, und nicht
vielmehr ein andres Paar unterſchob, welches ſo
leicht anging, da es niemand einfiel, ihn zu beob¬
achten, und wir überdieß mit dem Auskleiden be¬
ſchäftigt waren? Und konnte die Geſtalt nicht in
dem Augenblicke, da der Pulverrauch ſie uns ent¬
zog, eine andre Kugel, womit ſie auf den Noth¬
fall verſehen war, auf den Altar fallen laſſen?
Welcher von allen dieſen Fällen iſt der unmög¬
liche?“
Sie haben Recht. Aber dieſe treffende Aehn¬
lichkeit der Geſtalt mit Ihrem verſtorbenen Freun¬
de — Ich habe ihn ja auch ſehr oft bey Ihnen
geſehen, und in dem Geiſte hab' ich ihn auf der
Stelle wieder erkannt.
„Auch ich — und ich kann nicht anders ſagen,
als daß die Täuſchung auf's höchſte getrieben war.
Wenn aber nun dieſer Sicilianer, nach einigen we¬
nigen verſtohlnen Blicken, die er auf meine Taba¬
tiere warf, auch in ſein Gemählde eine Aehnlich¬
keit zu bringen wußte, die Sie und mich hinter¬
ging, warum nicht um ſo viel mehr der Ruſſe, der
während der ganzen Tafel den freyen Gebrauch
meiner Tabatiere hatte, der den Vortheil genoß,
immer und durchaus unbeobachtet zu bleiben, und
dem ich noch außerdem im Vertrauen entdeckt hatte,
wer[81]wer mit dem Bilde auf der Doſe gemeynt ſey? —
Setzen Sie hinzu — was auch der Sicilianer an¬
merkte — daß das Charakteriſtiſche des Marquis
in lauter ſolchen Geſichtszügen liegt, die ſich auch
im Groben nachahmen laſſen — wo bleibt dann
das Unerklärbare in dieſer ganzen Erſcheinung?“
Aber der Inhalt ſeiner Worte? Der Aufſchluß
über Ihren Freund?
„Wie? ſagte uns denn der Sicilianer nicht,
daß er aus dem wenigen, was er mir abfragte, ei¬
ne ähnliche Geſchichte zuſammengeſezt habe? Be¬
weiſ't dieſes nicht, wie natürlich gerade auf dieſe
Erfindung zu fallen war? Ueberdieß klangen die
Antworten des Geiſtes ſo orakelmäßig dunkel, daß
er gar nicht Gefahr laufen konnte, auf einem Wi¬
derſpruch betreten zu werden. Setzen Sie, daß
die Kreatur des Gauklers, die den Geiſt machte,
Scharfſinn und Beſonnenheit beſaß, und von den
Umſtänden nur ein wenig unterrichtet war — wie
weit hätte dieſe Gaukeley nicht noch geführt wer¬
den können?“
Aber überlegen Sie, gnädigſter Herr, wie
weitläuftig die Anſtalten zu einem ſo zuſammenge¬
ſezten Betrug von Seiten des Armeniers hätten
ſeyn müſſen! Wie viele Zeit dazu gehört haben
würde! Wie viele Zeit nur, einen menſchlichen
Kopf einem andern ſo getreu nachzumahlen, als
hier vorausgeſezt wird! Wie viele Zeit, dieſen un¬
tergeſchobenen Geiſt ſo gut zu unterrichten, daß man
vor einem groben Irrthum geſichert war! Wie vie¬
le Aufmerkſamkeit die kleinen unnennbaren Neben¬
d. Geiſterſeher. Fdinge[82] dinge würden erfordert haben, welche entweder
mithelfen, oder denen, weil ſie ſtören konnten, auf
irgend eine Art doch begegnet werden mußte! Und
nun erwägen Sie, daß der Ruſſe nicht über eine
halbe Stunde abweſend war. Konnte wohl in
nicht mehr als einer halben Stunde alles ange¬
ordnet werden, was hier nur das Unentbehrlichſte
war? — Wahrlich, gnädigſter Herr, ſelbſt nicht
einmal ein dramatiſcher Schriftſteller, der um die
unerbittlichen drey Einheiten ſeines Ariſtoteles ver¬
legen war, würde einem Zwiſchenakt ſo viel Hand¬
lung aufgelaſtet, noch ſeinem Parterre einen ſo ſtar¬
ken Glauben zugemuthet haben.
„Wie? Sie halten es alſo ſchlechterdings für
unmöglich, daß in dieſer kleinen halben Stun¬
de alle dieſe Anſtalten hätten getroffen werden
können?“
In der That, rief ich, für ſo gut als un¬
möglich. —
„Dieſe Redensart verſtehe ich nicht. Wider¬
ſpricht es allen Geſetzen der Zeit, des Raums und
der phyſiſchen Wirkungen, daß ein ſo gewandter
Kopf, wie doch unwiderſprechlich dieſer Armenier
iſt, mit Hülfe ſeiner vielleicht eben ſo gewandten
Kreaturen, in der Hülle der Nacht, von niemand
beobachtet, mit allen Hülfsmitteln ausgerüſtet,
von denen ſich ein Mann dieſes Handwerks ohne¬
hin niemals trennen wird, daß ein ſolcher Menſch,
von ſolchen Umſtänden begünſtigt, in ſo weniger
Zeit ſo viel zu Stand bringen könnte? Iſt es ge¬
radezu undenkbar, und abgeſchmackt zu glauben,
daß[83] daß er mit Hülfe weniger Worte, Befehle oder
Winke ſeinen Helfershelfern weitläuftige Aufträge
geben, weitläuftige und zuſammengeſezte Opera¬
tionen mit wenigem Wortaufwande bezeichnen kön¬
ne? — Und darf etwas anders, als eine hell
eingeſehene Unmöglichkeit gegen die ewigen Geſetze
der Natur aufgeſtellt werden? Wollen Sie lieber
ein Wunder glauben, als eine Unwahrſcheinlich¬
keit zugeben? lieber die Kräfte der Natur umſtür¬
zen, als eine künſtliche und weniger gewöhnliche
Combination dieſer Kräfte ſich gefallen laſſen?“
Wenn die Sache auch eine ſo kühne Folgerung
nicht rechtfertigt, ſo müſſen Sie mir doch eingeſte¬
hen, daß ſie weit über unſre Begriffe geht.
„Beynahe hätte ich Luſt, Ihnen auch dieſes
abzuſtreiten,“ ſagte der Prinz mit ſchalkhafter
Munterkeit. „Wie, lieber Graf ? wenn es ſich,
zum Beyſpiel, ergäbe, daß nicht bloß während
und nach dieſer halben Stunde, nicht bloß in der
Eile und nebenher, ſondern den ganzen Abend und
die ganze Nacht für dieſen Armenier gearbeitet
worden? Denken Sie nach, daß der Sicilianer
beynahe drey volle Stunden zu ſeinen Zurüſtungen
verbrauchte.“
Der Sicilianer, gnädigſter Herr!
Und womit beweiſen Sie mir denn, daß der
Sicilianer an dem zweyten Geſpenſte nicht eben ſo
vielen Antheil gehabt habe, als an dem erſten?„
Wie, gnädigſter Herr?
F 2„Daß[84]
„Daß er nicht der vornehmſte Helfershelfer
des Armeniers war — kurz — daß beyde nicht
mit einander unter einer Decke liegen?“
Das möchte ſchwer zu erweiſen ſeyn, rief ich
mit nicht geringer Verwunderung.
„Nicht ſo ſchwer, lieber Graf, als Sie wohl
meynen. Wie? Es wäre Zufall, daß ſich dieſe
beyden Menſchen in einem ſo ſeltſamen, ſo ver¬
wickelten Anſchlag auf dieſelbe Perſon, zu derſel¬
ben Zeit und an demſelben Orte begegneten, daß
ſich unter ihren beyderſeitigen Operationen eine ſo
auffallende Harmonie, ein ſo durchdachtes Einver¬
ſtändniß fände, daß einer dem andern gleichſam in
die Hände arbeitete? Setzen Sie, er habe ſich des
gröbern Gaukelſpiels bedient, um dem feinern eine
Folie unterzulegen. Er ſchuf ſich einen Hektor,
um ſein Achilles zu ſeyn. Setzen Sie, er habe
jenes vorausgeſchickt, um den Grad von Glauben
auszufinden, worauf er bey mir zu rechnen hätte;
um die Zugänge zu meinem Vertrauen auszuſpä¬
hen; um ſich durch dieſen Verſuch, der unbeſcha¬
det ſeines übrigen Planes verunglücken konnte, mit
ſeinem Subjecte zu familiariſiren; kurz, um ſein
Inſtrument damit anzuſpielen. Setzen Sie, er ha¬
be es gethan, um eben dadurch, daß er meine
Aufmerkſamkeit auf einer Seite vorſetzl ch auf¬
forderte und wach erhielt, ſie auf einer andern,
die ihm wichtiger war, einſchlummern zu laſſen.
Setzen Sie, er habe einige Erkundigungen einzu¬
ziehen gehabt, von denen er wünſchte, daß ſie auf
Rechnung des Taſchenſpielers geſchrieben würden,
um[85] um den Argwohn von der wahren Spur zu ent¬
fernen.“
Wie meynen Sie das?
„Laſſen Sie uns annehmen, er habe einen mei¬
ner Leute beſtochen, um durch ihn gewiſſe geheime
Nachrichten — vielleicht gar Dokumente — zu
erhalten, die zu ſeinem Zwecke dienen. Ich ver¬
miſſe meinen Jäger. Was hindert mich, zu glau¬
ben, daß der Armenier bey der Entweichung dieſes
Menſchen mit im Spiele ſey? Aber der Zufall
kann es fügen, daß ich hinter dieſe Schliche kom¬
me; ein Brief kann aufgefangen werden, ein Be¬
dienter zu plaudern. Sein ganzes Anſehen ſchei¬
tert, wenn ich die Quellen ſeiner Allwiſſenheit ent¬
decke. Er ſchiebt alſo dieſen Taſchenſpieler ein, der
dieſen oder jenen Anſchlag auf mich haben muß.
Von dem Daſeyn und den Abſichten dieſes Men¬
ſchen unterläßt er nicht mir frühzeitig ei¬
nen Wink zu geben. Was ich alſo auch entdecken
mag, ſo wird mein Verdacht auf niemand anders
als auf dieſen Gaukler fallen; und zu den Nachfor¬
ſchungen, welche ihm, dem Armenier, zu gute
kommen, wird der Sicilianer ſeinen Namen geben.
Dieſes war die Puppe, mit der er mich ſpielen
läßt, während daß er ſelbſt, unbeobachtet und un¬
verdächtig, mit unſichtbaren Seilen mich um¬
windet.“
Sehr gut! Aber wie läßt es ſich mit dieſen
Abſichten reimen, daß er ſelbſt dieſe Täuſchung zer¬
ſtören hilft, und die Geheimniſſe ſeiner Kunſt pro¬
fanen Augen preis giebt?
F 3„Was[86]
„Was ſind es für Geheimniſſe, die er mir preis
giebt? Keines von denen zuverläſſig, die er Luſt
hat, bey mir in Ausübung zu bringen. Er hat
alſo durch ihre Profanation nichts verloren —
Aber wie viel hat er im Gegentheil gewonnen,
wenn dieſer vermeyntliche Triumph über Betrug
und Taſchenſpielerey mich ſicher und zuverſichtlich
macht, wenn es ihm dadurch gelang, meine Wach¬
ſamkeit nach einer entgegengeſezten Richtung zu
lenken, meinen noch unbeſtimmt umher ſchweifen¬
den Argwohn auf Gegenſtände zu fixiren, die von
dem eigentlichen Ort des Angriffs am weitſten ent¬
legen ſind ? Er konnte erwarten, daß ich, früher
oder ſpäter, aus eignem Mißtrauen oder fremdem
Antrieb, den Schlüſſel zu ſeinen Wundern in der
Taſchenſpielerkunſt aufſuchen würde. — Was
konnte er beßres thun, als daß er ſie ſelbſt neben
einander ſtellte, daß er mir gleichſam den Maßſtab
dazu in die Hand gab, und, indem er der leztern
eine künſtliche Grenze ſezte, meine Begriffe von den
erſtern deſto mehr erhöhete oder verwirrte. Wie
viele Muthmaßungen hat er durch dieſen Kunſtgriff
auf einmal abgeſchnitten! wie viele Erklärungs¬
arten im voraus widerlegt, auf die ich in der Folge
vielleicht hätte fallen mögen!“
So hat er wenigſtens ſehr gegen ſich ſelbſt ge¬
handelt, daß er die Augen derer, die er täuſchen
wollte, ſchärfte, und ihren Glauben an Wunder¬
kraft durch Entzifferung eines ſo künſtlichen Betrugs
überhaupt ſinken machte. Sie ſelbſt, gnädigſter
Herr,[87] Herr, ſind die beſte Widerlegung ſeines Plans
wenn er ja einen gehabt hat.
„Er hat ſich in mir vielleicht geirret — aber
er hat darum nicht weniger ſcharfſinnig raiſonni¬
ret. Konnte er voraus ſehen, daß mir gerade
dasjenige im Gedächtniß bleiben würde, welches der
Schlüſſel zu dem Wunder werden könnte? Lag es
in ſeinem Plan, daß mir die Kreatur, deren er ſich
bediente, ſolche Blößen geben ſollte? Wiſſen wir,
ob dieſer Sicilianer ſeine Vollmacht nicht weit über¬
ſchritten hat? — Mit dem Ringe gewiß— und
doch iſt es hauptſächlich dieſer einzige Umſtand, der
mein Mißtrauen gegen dieſen Menſchen entſchieden
hat. Wie leicht kann ein ſo zugeſpizter feiner
Plan durch ein gröberes Organ verunſtaltet wer¬
den? Sicherlich war es ſeine Meynung nicht,
daß uns der Taſchenſpieler ſeinen Ruhm im Markt¬
ſchreyertone vorpoſaunen ſollte — daß er uns jene
Mährchen aufſchüſſeln ſollte, die ſich beym leich¬
teſten Nachdenken widerlegen. So zum Beyſpiel
— mit welcher Stirne kann dieſer Charlatan be¬
haupten, daß ſein Wunderthäter auf den Glocken¬
ſchlag Zwölfe in der Nacht jeden Umgang mit
Menſchen aufheben müſſe? Haben wir ihn nicht,
ſelbſt um dieſe Zeit in unſrer Mitte geſehen?“
Das iſt wahr, rief ich. Das muß er ver¬
geſſen haben!
„Aber es liegt im Charakter dieſer Art Leute,
daß ſie ſolche Aufträge übertreiben, und durch das
Zuviel alles verſchlimmern, was ein beſcheidener
und mäßiger Betrug vortrefflich gemacht hätte.“
F 4Ich[88]
Ich kann es demungeachtet noch nicht über
mich gewinnen, gnädigſter Herr, dieſe ganze Sa¬
che für nichts mehr, als ein angeſtelltes Spiel zu
halten. Wie? Der Schrecken des Sicilianers, die
Zuckungen, die Ohnmacht, der ganze klägliche Zu¬
ſtand dieſes Menſchen, der uns ſelbſt Erbarmen
einflößte — alles dieſes wäre nur eine eingelernte
Rolle geweſen? Zugegeben, daß ſich das thea¬
traliſche Gaukelſpiel auch noch ſo weit treiben laſſe,
ſo kann die Kunſt des Akteurs doch nicht über die
Organe ſeines Lebens gebieten.
„Was das anbetrifft, Freund — Ich habe
Richard den Dritten von Garrick geſehen — Und
waren wir in dieſem Augenblicke kalt und müßig ge¬
nug, um unbefangene Beobachter abzugeben?
Konnten wir den Affekt dieſes Menſchen prüfen, da
uns der unſrige übermeiſterte? Ueberdieß iſt die
entſcheidende Kriſe, auch ſogar eines Betrugs, für
den Betrüger ſelbſt eine ſo wichtige Angelegenheit,
daß bey ihm die Erwartung gar leicht ſo ge¬
waltſame Symptome erzeugen kann, als die Ue¬
berraſchung bey dem Betrogenen. Rech¬
nen Sie dazu noch die unvermuthete Erſcheinung
der Häſcher —“
Eben dieſe, gnädigſter Herr — Gut, daß
Sie mich daran erinnern — Würde er es wohl
gewagt haben, einen ſo gefährlichen Plan dem Au¬
ge der Gerechtigkeit bloß zu ſtellen? Die Treue
ſeiner Kreatur auf eine ſo bedenkliche Probe zu
bringen? — Und zu welchem Ende?
„Dafür[89]
„Dafür laſſen Sie ihn ſorgen, der ſeine Leute
kennen muß. Wiſſen wir, was für geheime Ver¬
brechen ihm für die Verſchwiegenheit dieſes Menſchen
haften? — Sie haben gehört, welches Amt er
in Venedig bekleidet — Wie viel wird es ihm
wohl koſten, dieſem Kerl durchzuhelfen, der keinen
andern Ankläger hat, als ihn?“
(Und in der That hat der Ausgang den Ver¬
dacht des Prinzen in dieſem Stück nur zu ſehr ge¬
rechtfertigt. Als wir uns einige Tage darauf nach
unſerm Gefangenen erkundigen ließen, erhielten
wir zur Antwort, daß er unſichtbar geworden
ſey.)
„Und zu welchem Ende, fragen Sie? Auf
welchem andern Weg, als auf dieſem gewaltſamen,
konnte er dem Sicilianer eine ſo unwahrſcheinliche
und ſchimpfliche Beichte abfordern laſſen, worauf
es doch ſo weſentlich ankam? Wer als ein verzwei¬
felter Menſch, der nichts mehr zu verlieren hat,
wird ſich entſchließen können, ſo erniedrigende Auf¬
ſchlüſſe über ſich ſelbſt zu geben? Unter welchen
andern Umſtänden hätten wir ſie ihm geglaubt?“
Alles zugegeben, gnädigſter Prinz, ſagte ich
endlich. Beyde Erſcheinungen ſollen Gaukelſpiele
geweſen ſeyn, dieſer Sicilianer ſoll uns meinethal¬
ben nur ein Mährchen aufgeheftet haben, das ihn
ſein Principal einlernen ließ, beyde ſollen zu einem
Zweck, mit einander einverſtanden, wirken, und
aus dieſem Einverſtändniß ſollen alle jene wunder¬
baren Zufälle ſich erklären laſſen, die uns im Laufe
dieſer Begebenheit in Erſtaunen geſezt haben. Je¬
F 5ne[90] ne Prophezeihung auf dem Markusplatz, das erſte
Wunder, welches alle übrigen eröffnet hat, bleibt
nichts deſto weniger unerklärt; und was hilft uns
der Schlüſſel zu allen übrigen, wenn wir an der
Auflöſung dieſes einzigen verzweifeln?
„Kehren Sie es vielmehr um, lieber Graf,“
gab mir der Prinz hierauf zur Antwort. „Sagen
Sie, was beweiſen alle jenen Wunder, wenn ich
heraus bringe, daß auch nur ein einziges Taſchen¬
ſpiel darunter war? Jene Prophezeihung — ich
bekenn es Ihnen — geht über alle meine Faſſungs¬
kraft. Stunde ſie einzeln da, hätte der Arme¬
nier ſeine Rolle mit ihr beſchloſſen, wie er ſie damit
eröffnete — ich geſtehe Ihnen, ich weiß nicht,
wie weit ſie mich noch hätte führen können. In
dieſer niedrigen Geſellſchaft iſt ſie mir ein klein
wenig verdächtig. — Die Zeit wird ſie aufklä¬
ren oder auch nicht aufklären — aber glauben
Sie mir, Freund (indem er ſeine Hand auf die
meinige legte, und eine ſehr ernſthafte Miene an¬
nahm,) ein Menſch, dem höhere Kräfte zu Gebote
ſtehen, wird keines Gaukelſpiels bedürfen, oder
er wird es verachten.“
So endigte ſich eine Unterredung, die ich dar¬
um ganz hieher geſezt habe, weil ſie die Schwie¬
rigkeiten zeigt, die bey dem Prinzen zu beſiegen
waren; und weil ſie, wie ich hoffe, ſein Andenken
von dem Vorwurfe reinigen wird, daß er ſich blind
und unbeſonnen in die Schlinge geſtürzt habe, die
eine unerhörte Teufeley ihm bereitete. Nicht
alle[91] alle — fährt der Graf von O** fort — die
in dem Augenblicke, wo ich dieſes ſchreibe, viel¬
leicht mit Hohngelächter auf ſeine Schwachheit her¬
abſehen, und im ſtolzen Dünkel ihrer nie angefoch¬
tenen Vernunft ſich für berechtigt halten, den Stab
der Verdammung über ihn zu brechen, nicht alle,
fürchte ich, würden dieſe erſte Probe ſo männlich
überſtanden haben. Wenn man ihn nunmehr auch
nach dieſer glücklichen Vorbereitung deſſen ungeach¬
tet fallen ſieht: wenn man den ſchwarzen Anſchlag,
vor deſſen entfernteſter Annäherung ihn ſein guter
Genius warnte, nichts deſtoweniger an ihm in Er¬
füllung gegangen findet, ſo wird man weniger über
ſeine Thorheit ſpotten, als über die Größe des Bu¬
benſtücks erſtaunen, dem eine ſo wohl vertheidigte
Vernunft erlag. Weltliche Rückſichten können an
meinem Zeugniſſe keinen Antheil haben, denn Er,
der es mir danken ſoll, iſt nicht mehr. Sein
ſchreckliches Schickſal iſt geendigt, längſt hat ſich
ſeine Seele am Thron der Wahrheit gereinigt, vor
dem auch die meinige längſt ſteht, wenn die Welt
dieſes lieſet — aber man verzeihe mir die Thrä¬
ne, die dem Andenken meines theuerſten Freundes
unfreywillig fällt — aber zur Steuer der Gerech¬
tigkeit ſchreib' ich es nieder: Er war ein edler
Menſch, und gewiß wär' er eine Zierde des Thro¬
nes geworden, den er durch ein Verbrechen erſtei¬
gen zu wollen, ſich bethören ließ.
Zweytes[92]
Zweytes Buch.
Nicht lange nach dieſen leztern Begebenheiten —
fährt der Graf von O** zu erzählen fort —
fing ich an, in dem Gemüth des Prinzen eine wich¬
tige Veränderung zu bemerken, die theils eine un¬
mittelbare Folge des leztern Vorfalls war, theils
auch durch den Zuſammenfluß mehrerer zufälliger
Umſtände hervorgebracht worden. Bis jezt nehm¬
lich hatte der Prinz jede ſtrengere Prüfung ſeines
Glaubens vermieden, und ſich damit begnügt, die
rohen und ſinnlichen Religionsbegriffe, in denen er
auferzogen worden, durch die beſſern Ideen, die
ſich ihm nachher aufdrangen, zu reinigen, oder
mit dieſen auszugleichen, ohne die Fundamente ſei¬
nes Glaubens zu unterſuchen. Religionsgegen¬
ſtände überhaupt, geſtand er mir mehrmals, ſeyen
ihm jederzeit wie ein bezaubertes Schloß vorgekom¬
men, in das man nicht ohne Grauen ſeinen Fuß
ſetze, und man thue weit beſſer, man gehe mit ehr¬
erbietiger Reſignation daran vorüber, ohne ſich
der Gefahr auszuſetzen, ſich in ſeinen Labyrinthen
zu verirren. Eine bigotte, knechtiſche Erziehung
war die Quelle dieſer Furcht; dieſe hatte ſeinem
zarten Gehirne Schreckbilder eingedrückt, von de¬
nen[93] nen er ſich während ſeines ganzen Lebens nie ganz
losmachen konnte. Religiöſe Melancholie war eine
Erbkrankheit in ſeiner Familie; die Erziehung, wel¬
che man ihm und ſeinen Brüdern geben ließ, war
dieſer Diſpoſition angemeſſen, die Menſchen, denen
man ſie anvertraute, aus dieſem Geſichtspunkte
gewählt, alſo entweder Schwärmer oder Heuchler.
Alle Lebhaftigkeit des Knaben in einem dumpfen
Geiſteszwange zu erſticken, war das einzige Mittel,
ſich der höchſten Zufriedenheit der fürſtlichen Ael¬
tern zu verſichern. Dieſe ſchwarze nächtliche Ge¬
ſtalt hatte die ganze Jugendzeit unſers Prinzen;
ſelbſt aus ſeinen Spielen war die Freude ver¬
bannt. Alle ſeine Vorſtellungen von Religion hat¬
ten etwas Fürchterliches an ſich, und eben das
Grauenvolle und Derbe war es, was ſich ſeiner
lebhaften Einbildungskraft zuerſt bemächtigte, und
ſich auch am längſten darin erhielt. Sein Gott
war ein Schreckbild, ein ſtrafendes Weſen; ſeine
Gottesverehrung knechtiſches Zittern oder blinde,
alle Kraft und Kühnheit erſtickende Ergebung.
Auf allen ſeinen kindiſchen und jugendlichen Nei¬
gungen, denen ein derber Körper und eine blühen¬
de Geſundheit um ſo kraftvollere Exploſionen gab,
ſtand ihm die Religion im Wege; mit allem, wor¬
an ſein jugendliches Herz ſich hing, lag ſie im
Streite, er lernte ſie nie als eine Wohlthat, nur
als eine Geißel ſeiner Leidenſchaften kennen. So
entbrannte allmählig eine ſtille Indignation gegen
ſie in ſeinem Herzen, welche mit einem reſpektvol¬
len Glauben und blinder Furcht in ſeinem Kopf und
Her¬[94] Herzen die bizarreſte Miſchung machte — einen Wi¬
derwillen gegen einen Herrn, vor welchem er
zitterte.
Kein Wunder, daß er die erſte Gelegenheit er¬
griff, einem ſo ſtrengen Joche zu entfliehen —
aber er entlief ihm wie ein leibeigener Sclave ſei¬
nem harten Herrn, der auch mitten in der Frey¬
heit das Gefühl ſeiner Knechtſchaft herumträgt.
Eben darum, weil er dem Glauben ſeiner Jugend
nicht mit ruhiger Wahl entſagt, weil er nicht ge¬
wartet hatte, bis ſeine reife gereinigte Vernunft
ſich gemächlich davon abgelöſ't hatte, weil er ihm
als ein Flüchtling entſprungen war, auf den die
Eigenthumsrechte ſeines Herrn immer noch fort¬
dauern — ſo mußte er auch, nach ſo großen Di¬
ſtractionen, immer wieder zu ihm zurückkehren.
Er war mit der Kette entſprungen, und eben dar¬
um mußte er der Raub eines jeden Betrügers wer¬
den der ſie entdeckte und zu gebrauchen verſtand.
Daß ſich ein ſolcher fand, wird, wenn man es noch
nicht errathen hat, der Verfolg dieſer Geſchichte
ausweiſen.
Die Geſtändniſſe des Sicilianers ließen in ſei¬
nem Gemüth wichtigere Folgen zurück, als dieſer
ganze Gegenſtand werth war, und der kleine Sieg, den
ſeine Vernunft über dieſe ſchwache Täuſchung davon
getragen, hatte die Zuverſicht zu ſeiner Vernunft
überhaupt merklich erhöht. Die Leichtigkeit, mit
der es ihm gelungen war, dieſen Betrug aufzu¬
löſen, ſchien ihn ſelbſt überraſcht zu haben; in die¬
ſem[95] ſem Kopfe hatten ſich Wahrheit und Irrthum noch
nicht ſo genau von einander geſondert, daß es ihm
nicht oft begegnet wäre, die Stützen der einen mit
den Stützen des andern zu verwechſeln; daher kam
es, daß der Schlag, der ſeinen Glauben an Wun¬
der ſtürzte, das ganze Gebäude ſeines Glaubens
zugleich zum Wanken brachte. Es erging ihm
hier, wie einem unerfahrnen Menſchen, der in der
Freundſchaft oder Liebe hintergingen worden, weil
er ſchlecht gewählt hatte, und der nun ſeinen Glau¬
ben an dieſe Empfindungen überhaupt ſinken läßt,
weil er bloße Zufälligkeiten für weſentliche Kennzei¬
chen derſelben aufnimmt. Ein entlarvter Betrug
machte ihm auch die Wahrheit verdächtig, weil er
ſich die Wahrheit unglücklicher Weiſe durch gleich
ſchlechte Gründe bewieſen hatte.
Dieſer vermeyntliche Triumph gefiel ihm um ſo
mehr, je ſchwerer der Druck geweſen, wovon er
ihn zu befreyen ſchien. Von dieſem Zeitpunkt an
regte ſich eine Zweifelſucht in ihm, die auch das
Ehrwürdigſte nicht verſchonte.
Es halfen mehrere Dinge zuſammen, ihn in
dieſer Gemüthslage zu erhalten, und noch mehr
darin zu befeſtigen. Die Zurückgezogenheit, in
der er bisher gelebt hatte, hörte jezt auf, und
mußte einer zerſtreuungsvollen Lebensart Platz ma¬
chen. Sein Stand war entdeckt. Aufmerkſam¬
keiten, die er erwiedern mußte, Etikette, die er
ſeinem Rang ſchuldig war, riſſen ihn unvermerkt
in den Wirbel der großen Welt. Sein Stand ſo¬
wohl[96] wohl als ſeine perſönlichen Eigenſchaften öffneten
ihm die geiſtvolleſten Zirkel in Venedig; bald ſah'
er ſich mit den hellſten Köpfen der Republik, Ge¬
lehrten ſowohl als Staatsmännern, in Verbin¬
dung. Dieß zwang ihn, den einförmigen, engen
Kreis zu erweitern, in welchem ſein Geiſt ſich bis¬
her bewegt hatte. Er fing an, die Armuth und
Beſchränktheit ſeiner Begriffe wahrzunehmen, und
das Bedürfnis höherer Bildung zu fühlen. Die
altmodiſche Form ſeines Geiſtes, von ſo vielen Vor¬
zügen ſie auch ſonſt begleitet war, ſtand mit den gang¬
baren Begriffen der Geſellſchaft in einem nachtheili¬
gen Kontraſt und ſeine Fremdheit in den bekannte¬
ſten Dingen ſezte ihn zuweilen dem Lächerlichen
aus; nichts fürchtete er ſo ſehr, als das Lächer¬
liche. Das ungünſtige Vorurtheil, das auf ſeinem
Geburtslande haftete, ſchien ihm eine Aufforde¬
rung zu ſeyn, es in ſeiner Perſon zu widerlegen.
Dazu kam noch die Sonderbarkeit in ſeinem Charak¬
ter, daß ihn jede Aufmerkſamkeit verdroß, die er
ſeinem Stande und nicht ſeinem perſönlichen Werth
danken zu müſſen glaubte. Vorzüglich empfand er
dieſe Demüthigung in Gegenwart ſolcher Perſonen,
die durch ihren Geiſt glänzten, und durch perſön¬
liche Verdienſte gleichſam über ihre Geburt trium¬
phirten. In einer ſolchen Geſellſchaft ſich als Prinz
unterſchieden zu ſehen, war jederzeit eine tiefe Be¬
ſchämung für ihn, weil er unglücklicher Weiſe
glaubte durch dieſen Namen ſchon von jeder Con¬
currenz ausgeſchloſſen zu ſeyn. Alles dieſes zuſam¬
mengenommen überführte ihn von der Nothwendig¬
keit,[97] keit, ſeinem Geiſt die Bildung zu geben, die er bis¬
her verabſäumt hatte, um das Jahrfünftel der
witzigen und der denkenden Welt einzuholen, hin¬
ter welchem er ſo weit zurückgeblieben war. Er
wählte dazu die modernſte Lektüre, der er ſich nun mit
allem dem Ernſte hingab, womit er alles, was er
vornahm, zu behandeln pflegte. Aber die ſchlim¬
me Hand, die bey der Wahl dieſer Schriften im
Spiele war ließ ihn unglücklicher Weiſe immer auf
ſolche ſtoßen, bey denen ſeine Vernunft und ſein
Herz wenig gebeſſert waren. Und auch hier wal¬
tete ſein Lieblingshang vor, der ihn immer zu al¬
lem, was nicht begriffen werden ſoll, mit unwider¬
ſtehlichem Reize hingezogen hatte. Nur für das¬
jenige, was damit in Beziehung ſtand, hatte er
Aufmerkſamkeit und Gedächtniß; ſeine Vernunft
und ſein Herz blieben leer, während ſich dieſe Fä¬
cher ſeines Gehirns mit verworrenen Begriffen an¬
füllten. Der blendende Styl des einen riß ſeine Ima¬
gination dahin, indem die Spitzfindigkeiten des an¬
dern ſeine Vernunft verſtrickten. Beyden wurde
es leicht, ſich einen Geiſt zu unterjochen, der ein
Raub eines jeden war, der ſich ihm mit einer ge¬
wiſſen Dreiſtigkeit aufdrang. Eine Lektüre, die
länger als ein Jahr mit Leidenſchaft fortgeſezt wurde,
hatte ihn beynahe mit gar keinem wohlthätigen Be¬
griff bereichert, wohl aber ſeinen Kopf mit Zwei¬
feln angefüllt, die, wie es bey dieſem conſequenten
Charakter unausbleiblich folgte, bald einen unglück¬
lichen Weg zu ſeinem Herzen fanden. Daß ich
es kurz ſage — er hatte ſich in dieſes Labyrinth
d.Geiſterſeher. G
be¬[98] begeben, als ein glaubenreicher Schwärmer, und
er verließ es als Zweifler, und zulezt als ein ausge¬
machter Freygeiſt.
Unter den Zirkeln, in die man ihn zu ziehen
gewußt hatte, war eine gewiſſe geſchloſſene Geſell¬
ſchaft, der Bucentauro genannt, die unter
dem äußerlichen Schein einer edeln vernünftigen
Geiſtesfreyheit die zügelloſeſte Lizenz der Meynungen
wie der Sitten begünſtigte. Da ſie unter ihren
Mitgliedern viele Geiſtliche zählte, und ſogar die
Namen einiger Kardinäle an ihrer Spitze trug, ſo
wurde der Prinz um ſo leichter bewogen, ſich darin
einführen zu laſſen. Gewiſſe gefährliche Wahrhei¬
ten der Vernunft, meynte er, könnten nirgends
beſſer aufgehoben ſeyn, als in den Händen ſolcher
Perſonen, die ihr Stand ſchon zur Mäßigung ver¬
pflichtete, und die den Vortheil hätten, auch die
Gegenparthey gehört und geprüft zu haben. Der
Prinz vergaß hier, daß Libertinage des Geiſts und
der Sitten bey Perſonen dieſes Standes eben darum
weiter um ſich greift, weil ſie hier einen Zügel we¬
niger findet. Und dieſes war der Fall bey dem Bu¬
centauro, deſſen mehreſte Mitglieder durch eine
verdammliche Philoſophie, und durch Sitten, die
einer ſolchen Führerinn würdig waren, nicht ihren
Stand allein, ſondern ſelbſt die Menſchheit be¬
ſchimpften. Die Geſellſchaft hatte ihre geheimen
Grade, und ich will zur Ehre des Prinzen glau¬
ben, daß man ihn des innerſten Heiligthums nie
gewürdigt habe. Jeder, der in dieſe Geſellſchaft
ein¬[99] eintrat, mußte, wenigſtens ſo lange er ihr lebte, ſei¬
nen Rang, ſeine Nation, ſeine Religionsparthey, kurz,
alle conventionelle Unterſcheidungszeichen ablegen,
und ſich in einen gewiſſen Stand univerſeller Gleich¬
heit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der
That ſtreng, weil nur Vorzüge des Geiſts einen
Weg dazu bahnten. Die Geſellſchaft rühmte ſich
des feinſten Tons und des ausgebildetſten Geſchmacks,
und in dieſem Rufe ſtand ſie auch wirklich in ganz
Venedig. Dieſes ſowohl als der Schein von Gleich¬
heit, der darin herrſchte, zog den Prinzen unwi¬
derſtehlich an. Ein geiſtvoller, durch feinen Witz
aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhal¬
tungen, das Beſte aus der gelehrten und politiſchen
Welt, das hier, wie in ſeinem Mittelpunkte zu¬
ſammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Ge¬
fährliche dieſer Verbindung. Wie ihm nach und
nach der Geiſt des Inſtituts durch die Maſke hin¬
durch ſichtbarer wurde, oder man es auch müde
war, länger gegen ihn auf ſeiner Hut zu ſeyn, war
der Rückweg gefährlich, und falſche Schaam ſowohl
als Sorge für ſeine Sicherheit zwangen ihn, ſein
innres Misfallen zu verbergen. Aber ſchon durch
bloße Vertraulichkeit mit dieſer Menſchenklaſſe und
ihren Geſinnungen, wenn ſie ihn auch nicht zur
Nachahmung hinriſſen, ging die reine, ſchöne Ein¬
falt ſeines Charakters und die Zartheit ſeiner mo¬
raliſchen Gefühle verloren. Seine durch ſo wenig
gründliche Kenntniſſe unterſtüzte Vernunft konnte
ohne fremde Beyhülfe die feinen Trugſchlüſſe nicht
löſen, womit man ſie hier verſtrickt hatte, und un¬
G 2ver¬[100] vermerkt hatte dieſes ſchreckliche Corroſiv alles —
beynahe alles verzehrt, worauf ſeine Moralität ru¬
hen ſollte. Die natürlichen und nothwendigen
Stützen ſeiner Glückſeligkeit gab er für Sophismen
hinweg, die ihn im entſcheidenden Augenblick ver¬
ließen, und ihn dadurch zwangen, ſich an den er¬
ſten beſten willkührlichen zu halten, die man ihm
zuwarf.
Vielleicht wäre es der Hand eines Freundes
gelungen, ihn noch zur rechten Zeit von dieſem Ab¬
grund zurück zu ziehen — aber, außerdem daß
ich mit dem Innern des Bucentauro erſt lange
nachher bekannt worden bin, als das Uebel ſchon
geſchehen war, ſo hatte mich ſchon zu Anfang die¬
ſer Periode ein dringender Vorfall aus Venedig ab¬
gerufen. Auch Mylord Seymour, eine ſchätzbare
Bekanntſchaft des Prinzen, deſſen kalter Kopf jeder
Art von Täuſchung unzugänglich war, und der ihm
unfehlbar zu einer ſichern Stütze hätte dienen kön¬
nen, verließ uns in dieſer Zeit, um in ſein Vater¬
land zurück zu kehren. Diejenigen, in deren Hän¬
den ich den Prinzen ließ, waren zwar redliche, aber
unerfahrne und in ihrer Religion äußerſt beſchränkte
Menſchen, denen es ſowohl an der Einſicht in das
Uebel, als an Anſehen bey dem Prinzen fehlte. Seinen
verfänglichen Sophismen wußten ſie nichts, als die
Machtſprüche eines blinden ungeprüften Glaubens
entgegen zu ſetzen, die ihn entweder aufbrachten
oder beluſtigten: er überſah ſie gar zu leicht, und
ſein überlegner Verſtand brachte dieſe ſchlechten
Ver¬[101] Vertheidiger der guten Sache bald zum Schweigen,
wie aus einem Beyſpiele, das ich in der Folge an¬
führen werde, erhellen wird. Den andern, die
ſich in der Folge ſeines Vertrauens bemächtigten,
war es vielmehr darum zu thun, ihn immer tiefer
darein zu verſenken. Als ich im folgenden Jahre
wieder nach Venedig zurück kam — wie anders
fand ich da ſchon alles!
Der Einfluß dieſer neuen Philoſophie zeigte ſich
bald in des Prinzen Leben. Je mehr er zuſehends
in Venedig Glück machte, und neue Freunde ſich er¬
warb, deſto mehr fing er an, bey ſeinen ältern
Freunden zu verlieren. Mir gefiel er von Tag zu
Tage weniger, auch ſahen wir uns ſeltener, und
überhaupt war er weniger zu haben. Der Strom
der großen Welt hatte ihn gefaßt. Nie wurde ſei¬
ne Schwelle leer, wenn er zu Hauſe war. Eine
Luſtbarkeit drängte die andre, ein Feſt das andre,
eine Glückſeligkeit die andre. Er war die Schöne,
um welche alles buhlt, der König und der Abgott
aller Zirkel. So ſchwer er ſich in der vorigen Stille
ſeines beſchränkten Lebens den großen Weltlauf ge¬
dacht hatte, ſo leicht fand er ihn nunmehr zu ſeinem
Erſtaunen. Es kam ihm alles ſo entgegen, alles
war trefflich, was von ſeinen Lippen kam, und
wenn er ſchwieg, ſo war es ein Raub an der Ge¬
ſellſchaft. Man verſtand die Kunſt, ihm die Ge¬
danken mit einer angenehmen Leichtigkeit von der
Seele gleichſam abzulöſen, und durch eine feine
Nachhülfe ihn ſelbſt damit zu überraſchen. Auch
G 3machte[102] machte ihn dieſes ihn überall verfolgende Glück,
dieſes allgemeine Gelingen, wirklich zu etwas
mehr, als er in der That war, weil es ihm Muth
und Zuverſicht zu ihm ſelbſt gab. Die erhöhte Mey¬
nung, die er dadurch von ſeinem eignen Werth er¬
langte, gab ihm Glauben an die übertriebene und
beynahe abgöttiſche Verehrung, die man ſeinem
Geiſt widerfahren ließ, die ihm, ohne dieſes ver¬
größerte und gewiſſermaßen gegründete Selbſtge¬
fühl, nothwendig hätte verdächtig werden müſſen.
Jezt aber war dieſe allgemeine Stimme nur die Be¬
kräftigung deſſen, was ſein ſelbſtzufriedener Stolz
ihm im Stillen ſagte — ein Tribut, der ihm von
rechtswegen gebührte. Unfehlbar würde er dieſer
Schlinge entgangen ſeyn, hätte man ihn zu Athem
kommen laſſen, hätte man ihm nur ruhige Muße
gegönnt, ſeinen eignen Werth mit dem Bilde zu
vergleichen, das ihm in einem ſo lieblichen Spiegel
vorgehalten wurde. Aber ſeine Exiſtenz war ein
fortdauernder Zuſtand von Trunkenheit, von ſchwe¬
bendem Taumel. Je höher man ihn geſtellt hatte,
deſto mehr hatte er zu thun, ſich auf dieſer Höhe
zu erhalten; dieſe immerwährende Anſpannung ver¬
zehrte ihn langſam, ſelbſt aus ſeinem Schlaf war
die Ruhe geflohen. Man hatte ſeine Blößen durch¬
ſchaut, und die Leidenſchaft gut berechnet, die man
in ihm entzündet hatte.
Bald mußten es ſeine redlichen Kavaliers ent¬
gelten, daß ihr Herr zum großen Kopf geworden
war. Ernſthafte Empfindungen und ehrwürdige
Wahr¬[103] Wahrheiten, an denen ſein Herz ſonſt mit aller
Wärme gehangen, fingen nun an, Gegenſtände
ſeines Spotts zu werden. An den Wahrheiten
der Religion rächte er ſich für den Druck, worun¬
ter ihn Wahnbegriffe ſo lange gehalten hatten;
aber weil eine nicht zu verfälſchende Stimme ſeines
Herzens die Taumeleyen ſeines Kopfes bekämpfte,
ſo war mehr Bitterkeit als fröhlicher Muth in ſei¬
nem Witze. Sein Naturell fing an, ſich zu än¬
dern, Launen ſtellten ſich ein. Die ſchönſte Zierde
ſeines Charakters, ſeine Beſcheidenheit, verſchwand;
Schmeichler hatten ſein treffliches Herz vergiftet.
Die ſchonende Delikateſſe des Umgangs, die es ſei¬
ne Kavaliers ſonſt ganz vergeſſen gemacht hatte,
daß er ihr Herr war, machte jezt nicht ſelten einem
gebieteriſchen entſcheidenden Tone Platz, der um ſo
empfindlicher ſchmerzte, weil er nicht auf den äuſ¬
ſerlichen Abſtand, worüber man ſich mit leichter
Mühe tröſtet, und den er ſelbſt wenig achtete, ſon¬
dern auf eine beleidigende Vorausſetzung ſeiner per¬
ſönlichen Erhabenheit gegründet war. Weil er zu
Hauſe doch öfters Betrachtungen Raum gab, die
ihn im Taumel der Geſellſchaft nicht hatten ange¬
hen dürfen, ſo ſahen ihn ſeine eigenen Leute ſel¬
ten anders als finſter, mürriſch und unglücklich,
während daß er fremde Zirkel mit einer erzwunge¬
nen Fröhlichkeit beſeelte. Mit theilnehmendem
Leiden ſahen wir ihn auf dieſer gefährlichen
Bahn hinwandeln, aber in dem Tumult, durch
den er geworfen wurde, hörte er die ſchwache
G 4Stim¬[104] Stimme der Freundſchaft nicht mehr, und war
jezt auch noch zu glücklich, um ſie zu verſtehen.
Schon in den erſten Zeiten dieſer Epoche for¬
derte mich eine wichtige Angelegenheit an den Hof
meines Souverains, die ich auch dem feurigſten
Intereſſe der Freundſchaft nicht nachſetzen durfte.
Eine unſichtbare Hand, die ſich mir erſt lange nach¬
her entdeckte, hatte Mittel gefunden, meine An¬
gelegenheiten dort zu verwirren, und Gerüchte
von mir auszubreiten, die ich eilen mußte, durch
meine perſönliche Gegenwart zu widerlegen. Der
Abſchied vom Prinzen ward mir ſchwer, aber ihm
war er deſto leichter. Schon ſeit geraumer Zeit
waren die Bande gelöſ't, die ihn an mich gekettet
hatten. Aber ſein Schickſal hatte meine ganze
Theilnehmung erweckt; ich ließ mir deswegen von
dem Baron von F*** verſprechen, mich durch
ſchriftliche Nachrichten damit in Verbindung zu er¬
halten, was er auch auf's gewiſſenhafteſte gehal¬
ten hat. Von jezt an bin ich alſo auf lange Zeit
kein Augenzeuge dieſer Begebenheiten mehr; man
erlaube mir, den Baron von F*** an meiner
Statt aufzuführen, und dieſe Lücke durch Auszüge
aus ſeinen Briefen zu ergänzen. Ungeachtet die
Vorſtellungsart meines Freundes F*** nicht im¬
mer die meinige iſt, ſo habe ich dennoch an ſeinen
Worten nichts ändern wollen, aus denen der Leſer
die Wahrheit mit wenig Mühe herausfinden wird.
Baron[105]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Erſter Brief.
May 17**.
Dank Ihnen, ſehr verehrter Freund, daß Sie
mir die Erlaubniß ertheilt haben, auch abweſend
den vertrauten Umgang mit Ihnen fortzuſetzen, der
während Ihres Hierſeyns meine beſte Freude aus¬
machte. Hier, das wiſſen Sie, iſt niemand, ge¬
gen den ich es wagen dürfte, mich über gewiſſe
Dinge herauszulaſſen — was Sie mir auch dagegen
ſagen mögen, dieſes Volk iſt mir verhaßt. Seitdem
der Prinz einer davon geworden iſt, und ſeitdem vol¬
lends Sie uns entriſſen ſind, bin ich mitten in die¬
ſer volkreichen Stadt verlaſſen. Z*** nimmt
es leichter, und die Schönen in Venedig wiſſen ihm
die Kränkungen vergeſſen zu machen, die er zu
Hauſe mit mir theilen muß. Und was hätte er ſich
auch darüber zu grämen? Er ſieht und verlangt
in dem Prinzen nichts, als einen Herrn, den er
überall findet — aber ich! Sie wiſſen, wie nahe
ich das Wohl und Weh unſers Prinzen an meinem
Herzen fühle, und wie ſehr ich Urſache dazu habe.
Sechszehn Jahre ſind's, daß ich um ſeine Perſon
lebe, daß ich nur für ihn lebe. Als ein neunjäh¬
riger Knabe kam ich in ſeine Dienſte, und ſeit die¬
ſer Zeit hat mich kein Schickſal von ihm getrennt.
Unter ſeinen Augen bin ich geworden; ein langer
Umgang hat mich ihm zugebildet; alle ſeine großen
G 5und[106] und kleinen Abentheuer hab' ich mit ihm beſtanden.
Ich lebe in ſeiner Glückſeligkeit. Bis auf dieſes
unglückliche Jahr hab' ich nur meinen Freund, mei¬
nen ältern Bruder in ihm geſehen, wie in einem
heitern Sonnenſchein hab' ich in ſeinen Augen ge¬
lebt — keine Wolke trübte mein Glück, und alles
dieß ſoll mir nun in dieſem unſeligen Venedig zu
Trümmern gehen!
Seitdem Sie von uns ſind, hat ſich allerley
bey uns verändert. Der Prinz von **d** iſt
vorige Woche mit einer zahlreichen und glänzenden
Suite hier angelangt, und hat unſerm Zirkel ein
neues tumultuariſches Leben gegeben. Da er und
unſer Prinz ſo nahe verwandt ſind, und jezt auf ei¬
nem ziemlich guten Fuß zuſammen ſtehen, ſo wer¬
den ſie ſich während ſeines hieſigen Aufenthalts,
der, wie ich höre, bis zum Himmelfahrtsfeſt dauern
ſoll, wenig von einander trennen. Der Anfang
iſt ſchon beſtens gemacht; ſeit zehen Tagen iſt der
Prinz kaum zu Athem gekommen. Der Prinz
von **d** hat es gleich ſehr hoch angefangen,
und das mochte er immer, da er ſich bald wieder
entfernt; aber das Schlimme dabey iſt, er hat unſern
Prinzen damit angeſteckt, weil er ſich nicht wohl
davon ausſchließen konnte, und bey dem beſondern
Verhältniß, das zwiſchen beyden Häuſern obwaltet,
dem beſtrittenen Range des ſeinigen hier etwas
ſchuldig zu ſeyn glaubte. Dazu kommt, daß in
wenig Wochen auch unſer Abſchied von Venedig
heran naht; wodurch er ohnehin überhoben wird,
dieſen[107] dieſen außerordentlichen Aufwand in die Länge fort¬
zuführen.
Der Prinz von **d**, wie man ſagt, iſt
in Geſchäften des *** Ordens hier, wobey er
ſich einbildet, eine wichtige Rolle zu ſpielen. Daß
er von allen Bekanntſchaften unſers Prinzen ſogleich
Beſitz genommen haben werde, können Sie ſich leicht
einbilden. In den Bucentauro beſonders iſt er mit
Pomp eingeführt worden, da es ihm ſeit einiger
Zeit beliebt hat, den witzigen Kopf und den ſtarken
Geiſt zu ſpielen, wie er ſich denn auch in ſeinen
Correſpondenzen, deren er in allen Weltgegenden
unterhält, nur den Prince philoſophe nennen
läßt. Ich weiß nicht, ob Sie je das Glück gehabt
haben, ihn zu ſehen. Ein vielverſprechendes
Aeußre, beſchäftigte Augen, eine Miene voll Kunſt¬
verſtändigkeit, viel Prunk von Lektüre, viel
erworbene Natur, (vergönnen Sie mir dieſes
Wort) und eine fürſtliche Herablaſſung zu Men¬
ſchengefühlen, dabey eine heroiſche Zuverſicht auf
ſich ſelbſt, und eine alles niederſprechende Bered¬
ſamkeit. Wer könnte bey ſo glänzenden Eigenſchaf¬
ten einer K. H. ſeine Huldigung verſagen? Wie
indeſſen der ſtille wortarme und gründliche Werth
unſers Prinzen neben dieſer ſchreyenden Vortreff¬
lichkeit auskommen wird, muß der Ausgang
lehren.
In unſrer Einrichtung ſind ſeit der Zeit viele
und große Veränderungen geſchehen. Wir haben
ein neues prächtiges Haus, der neuen Prokuratie
gegen¬[108] gegenüber, bezogen, weil es dem Prinzen im Moh¬
ren zu eng wurde. Unſre Suite hat ſich um
zwölf Köpfe vermehrt, Pagen, Mohren, Hei¬
ducken, u. d. m. — Alles geht jezt in’s Große. Sie
haben während Ihres Hierſeyns über Aufwand ge¬
klagt — jezt ſollten Sie erſt ſehen!
Unſre innern Verhältniſſe ſind noch die alten —
außer, daß der Prinz, der durch Ihre Gegenwart
nicht mehr in Schranken gehalten wird, wo mög¬
lich noch einſylbiger und froſtiger gegen uns gewor¬
den iſt, und daß wir ihn jezt außer dem An- und
Auskleiden wenig haben. Unter dem Vorwand, daß
wir das Franzöſiſche ſchlecht und das Italieniſche
gar nicht reden, weiß er uns von ſeinen mehre¬
ſten Geſellſchaften auszuſchließen, wodurch er mir
für meine Perſon eben keine große Kränkung an¬
thut; aber ich glaube, das Wahre davon einzuſe¬
hen: er ſchämt ſich unſrer — und das ſchmerzt
mich, das haben wir nicht verdient.
Von unſern Leuten (weil Sie doch alle Klei¬
nigkeiten wiſſen wollen) bedient er ſich jezt faſt ganz
allein des Biondello, den er, wie Sie wiſſen, nach
Entweichung unſers Jägers in ſeine Dienſte nahm,
und der ihm jezt bey dieſer neuen Lebensart ganz
unentbehrlich geworden iſt. Der Menſch kennt
alles in Venedig, und alles weiß er zu gebrauchen.
Es iſt nicht anders, als wenn er tauſend Augen
hätte, tauſend Hände in Bewegung ſetzen könnte.
Er bewerkſtellige dieſes mit Hülfe der Gondoliers,
ſagt er. Dem Prinzen kommt er dadurch ungemein
zu[109] zu Statten, daß er ihn vorläufig mit allen neuen
Geſichtern bekannt macht, die dieſem in ſeinen Ge¬
ſellſchaften vorkommen, und die geheimen Notizen,
die er giebt, hat der Prinz immer richtig befunden.
Dabey ſpricht und ſchreibt er das Italieniſche und
das Franzöſiſche vortrefflich, wodurch er ſich auch
bereits zum Sekretair des Prinzen aufgezwungen
hat. Einen Zug von uneigennütziger Treue muß
ich Ihnen doch erzählen, der bey einem Menſchen
dieſes Standes in der That ſelten iſt. Neulich ließ
ein angeſehener Kaufmann aus Rimini bey dem
Prinzen um Gehör anſuchen. Der Gegenſtand
war eine ſonderbare Beſchwerde über Biondello.
Der Prokurator, ſein voriger Herr, der ein wun¬
derlicher Heiliger geweſen ſeyn mochte, hatte mit
ſeinen Verwandten in unverſöhnlicher Feindſchaft
gelebt, die ihn auch, wo möglich, noch überleben
ſollte. Sein ganzes ausſchließendes Vertrauen
hatte Biondello, bey dem er alle Geheimniſſe nie¬
derzulegen pflegte; dieſer mußte ihm noch am Tod¬
bette angeloben, ſie heilig zu bewahren, und zum
Vortheil der Verwandten niemals Gebrauch davon
zu machen; ein anſehnliches Legat ſollte ihn für die¬
ſe [Verſchwiegenheit] belohnen. Als man ſein Teſta¬
ment eröffnete und ſeine Papiere durchſuchte, fan¬
den ſich große Lücken und Verwirrungen, worüber
Biondello allein den Aufſchluß geben konnte. Die¬
ſer läugnete hartnäckig, daß er etwas wiſſe, ließ
den Erben das ſehr beträchtliche Legat, und be¬
hielt ſeine Geheimniſſe. Große Erbiethungen wur¬
den ihm von Seiten der Verwandten gethan, aber
alle[110] alle vergeblich; endlich um ihrem Zudringen zu ent¬
gehen, weil ſie drohten, ihn rechtlich zu belangen,
begab er ſich bey dem Prinzen in Dienſte. An
dieſen wandte ſich nun der Haupterbe, dieſer Kauf¬
mann, und that noch größre Erbiethungen, als
die ſchon geſchehen waren, wenn Biondello ſeinen
Sinn ändern wollte. Aber auch die Fürſprache
des Prinzen war umſonſt. Dieſem geſtand er
zwar, daß ihm wirklich dergleichen Geheimniſſe an¬
vertraut waren, er läugnete auch nicht, daß der
Verſtorbene im Haß gegen ſeine Familie vielleicht zu
weit gegangen ſey, aber, ſezte er war mein
guter Herr und mein Wohlthäter, und im feſten
Vertrauen auf meine Redlichkeit ſtarb er hin. Ich
war der einzige Freund, den er auf der Welt ver¬
ließ — um ſo weniger darf ich ſeine einzige Hoff¬
nung hintergehen. Zugleich ließ er merken, daß
dieſe Eröffnungen dem Andenken ſeines verſtorbenen
Herrn nicht ſehr zur Ehre gereichen dürften. Iſt
das nicht fein gedacht und edel? Auch können Sie
leicht denken, daß der Prinz nicht ſehr darauf be¬
harrte, ihn in einer ſo löblichen Geſinnung wan¬
kend zu machen. Dieſe ſeltene Treue, die er ge¬
gen einen Todten bewies, hat ihm einen Lebenden
gewonnen!
Leben Sie glücklich — liebſter Freund. Wie
ſehne ich mich nach dem ſtillen Leben zurück, in wel¬
chem Sie uns hier fanden, und wofür Sie uns ſo
angenehm entſchädigten! Ich fürchte, meine gu¬
ten Zeiten in Venedig ſind vorbey, und Gewinn
genug,[111] genug, wenn von dem Prinzen nicht das nehmliche
Wahr iſt. Das Element, worin er jezt lebt, iſt
dasjenige nicht, worin er in die Länge glücklich
ſeyn kann, oder eine ſechszehnjährige Erfahrung
müßte mich betrügen.
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Zweyter Brief.
18. [May].
Hätt' ich doch nicht gedacht, daß unſer Aufenthalt
in Venedig noch zu irgend etwas gut ſeyn würde!
Er hat einem Menſchen das Leben gerettet, ich bin
mit ihm ausgeſöhnt.
Der Prinz ließ ſich neulich bey ſpäter Nacht
aus dem Bucentauro nach Hauſe tragen, zwey
Bediente, unter denen Biondello war, begleiteten
ihn. Ich weiß nicht wie es zugeht, die Sänfte,
die man in der Eile aufgerafft hatte, geht ent¬
zwey, und der Prinz ſieht ſich genöthigt, den Reſt
des Weges zu Fuße zu machen. Biondello geht
voran, der Weg führte durch einige dunkle abge¬
legene Straßen, und da es nicht weit mehr von
Tages Anbruch war, ſo brannten die Lampen dun¬
kel, oder waren ſchon ausgegangen. Eine Vier¬
tel¬[112] telſtunde mochte man gegangen ſeyn, als Biondello
die Entdeckung machte, daß er verirrt ſey. Die
Aehnlichkeit der Brücken hatte ihn getäuſcht, und
anſtatt in St. Markus überzuſetzen, befand man
ſich im Seſtiere von Kaſtello. Es war in einer der
abgelegenſten Gaſſen, und nichts lebendes weit und
breit, man mußte umkehren, um ſich in einer
Hauptſtraße zu orientiren. Sie ſind nur wenige
Schritte gegangen, als nicht weit von ihnen in einer
Gaſſe ein Mordgeſchrey erſchallt. Der Prinz, unbe¬
waffnet wie er war, reißt einem Bedienten den Stock
aus den Händen, und mit dem entſchloſſenen Muth,
den Sie an ihm kennen, nach der Gegend zu, wo¬
her dieſe Stimme erſchallte. Drey fürchterliche
Ke[r]ls ſind eben im Begriff, einen Vierten nieder¬
zuſtoßen, der ſich mit ſeinem Begleiter nur noch
ſchwach vertheidigt; der Prinz erſcheint noch eben
zu rechter Zeit, um den tödtlichen Stich zu hin¬
dern. Sein und der Bedienten Rufen beſtürzt die
Mörder, die ſich an einem ſo abgelegenen Ort auf
keine Ueberraſchung verſehen hatten, daß ſie nach
einigen leichten Dolchſtichen von ihrem Manne ab¬
laſſen und die Flucht ergreifen. Halb ohnmächtig
und vom Ringen erſchöpft, ſinkt der Verwundete
in den Arm des Prinzen; ſein Begleiter entdeckt
dieſem, daß er den Marcheſe von Civitella, den
Neffen des Kardinals A***i, gerettet habe.
Da der Marcheſe viel Blut verlor, ſo machte Bion¬
dello, ſo gut er konnte, in der Eile den Wundarzt,
und der Prinz trug Sorge, daß er nach dem Pallaſt
ſeines Oheims geſchafft wurde, der am nächſten
gelegen[113] gelegen war, und wohin er ihn ſelbſt begleitete.
Hier verließ er ihn in der Stille, und ohne ſich zu
erkennen gegeben zu haben.
Aber durch einen Bedienten, der Biondello er¬
kannt hatte, ward er verrathen. Gleich den fol¬
genden Morgen erſchien der Kardinal, eine alte
Bekanntſchaft aus dem Bucentauro. Der Beſuch
dauerte eine Stunde, der Kardinal war in großer
Bewegung, als ſie heraus kamen, Thränen ſtan¬
den in ſeinen Augen, auch der Prinz war gerührt.
Noch an demſelben Abend wurde bey dem Kranken
ein Beſuch abgeſtattet, von dem der Wundarzt
übrigens das Beſte verſichert. Der Mantel, in
den er gehüllt war, hatte die Stöße unſicher ge¬
macht, und ihre Stärke gebrochen. Seit dieſem
Vorfall verſtrich kein Tag, an welchem der Prinz
nicht in dem Hauſe des Kardinals Beſuche gegeben
oder empfangen hätte, und eine ſtarke Freundſchaft
fängt an, ſich zwiſchen ihm und dieſem Hauſe zu
bilden.
Der Kardinal iſt ein ehrwürdiger Sechziger,
majeſtätiſch von Anſehn, voll Heiterkeit und friſcher
Geſundheit. Man hält ihn für einen der reich¬
ſten Prälaten im ganzen Gebiethe der Republik.
Sein unermeßliches Vermögen ſoll er noch ſehr ju¬
gendlich verwalten, und bey einer vernünftigen
Sparſamkeit keine Weltfreude verſchmähen. Die¬
ſer Neffe iſt ſein einziger Erbe, der aber mir ſeinem
Oheim nicht immer im beſten Vernehmen ſtehen
ſoll. So wenig der Alte ein Feind des Vergnügens
d. Geiſterſeher. Hiſt,[114] iſt, ſo ſoll doch die Aufführung des Neffen auch die
höchſte Toleranz erſchöpfen. Seine freyen Grund¬
ſätze und ſeine zügelloſe Lebensart, unglücklicher
Weiſe durch alles unterſtützt, was Laſter ſchmücken,
und die Sinnlichkeit hinreißen kann, machen ihn
zum Schrecken aller Väter und zum Fluch aller Ehe¬
männer; auch dieſen lezten Angriff ſoll er ſich, wie
man laut behauptet, durch eine Intrigue zugezo¬
gen haben, die er mit der Gemahlinn des **ſchen
Geſandten angeſponnen hatte: anderer ſchlimmen
Händel nicht zu gedenken, woraus ihn das Anſehen
und das Geld des Kardinals nur mit Mühe hat
retten können. Dieſes abgerechnet, wäre lezterer
der beneidetſte Mann in ganz Italien, weil er alles
beſizt, was das Leben wünſchenswürdig machen
kann. Mit dieſem einzigen Familienleiden nimmt
das Glück alle ſeine Gaben zurück, und vergällt
ihm den Genuß ſeines Vermögens durch die im¬
merwährende Furcht, keinen Erben dazu zu
finden.
Alle dieſe Nachrichten habe ich von Biondello.
In dieſem Menſchen hat der Prinz einen wahren
Schatz erhalten. Mit jedem Tage macht er ſich
unentbehrlicher, mit jedem Tage entdecken wir ir¬
gend ein neues Talent an ihm. Neulich hatte ſich
der Prinz erhitzt, und konnte nicht einſchlafen.
Das Nachtlicht war ausgelöſcht, und kein Klingeln
konnte den Kammerdiener erwecken, der außer dem
Hauſe bey einer Operiſtinn ſchlafen gegangen war.
Der Prinz entſchließt ſich alſo, ſelbſt aufzuſtehen,
um[115] Um einen ſeiner Leute zu errufen. Er iſt noch nicht
weit gegangen, als ihm von ferne eine liebliche
Muſik entgegen ſchallt. Er geht wie bezaubert
dem Schall nach, und findet Biondello auf ſeinem
Zimmer auf der Flöte blaſend, ſeine Kameraden
um ihn her. Er will ſeinen Augen, ſeinen Ohren
nicht trauen, und befiehlt ihm fortzufahren. Mit
einer bewundernswürdigen Leichtigkeit extemporirt
dieſer nun daſſelbe ſchmelzende Adagio mit den
glücklichſten Variationen und allen Feinheiten eines
Virtuoſen. Der Prinz, der ein Kenner iſt, wie
Sie wiſſen, behauptet, daß er ſich getroſt in der
beſten Kapelle hören laſſen dürfte.
„Ich muß dieſen Menſchen entlaſſen,“ ſagte er
mir den Morgen darauf, „ich bin unvermögend,
ihn nach Verdienſt zu belohnen,“ Biondello, der
dieſe Worte aufgefangen hatte, trat herzu. Gnä¬
digſter Herr, ſagte er, wenn Sie das thun, ſo
rauben Sie mir meine beſte Belohnung.
„Du biſt zu etwas Beſſerm beſtimmt, als zu
dienen,“ ſagte mein Herr. „Ich darf dir nicht
vor deinem Glücke ſeyn.“
Dringen Sie mir doch kein anderes Glück auf,
gnädigſter Herr, als das ich mir ſelbſt gewählt
habe.
„Und ein ſolches Talent zu vernachläſſigen —
Nein! Ich darf es nicht zugeben.“
H 2So[116]
So erlauben Sie mir, gnädigſter Herr, daß
ich es zuweilen in Ihrer Gegenwart übe.
Und dazu wurden auch ſogleich die Anſtalten
getroffen. Biondello erhielt ein Zimmer, zunächſt
am Schlafgemach ſeines Herrn, wo er ihn mit Mu¬
ſik in den Schlummer wiegen, und mit Muſik dar¬
aus erwecken kann. Seinen Gehalt wollte der
Prinz verdoppeln, welches er aber verbat, mit
der Erklärung: Der Prinz möchte ihm erlauben,
dieſe zugedachte Gnade als ein Kapital bey ihm zu
deponiren, welches er vielleicht in kurzer Zeit nö¬
thig haben würde, zu erheben. Der Prinz er¬
wartet nunmehr, daß er nächſtens kommen werde,
um etwas zu bitten; und was es auch ſeyn möge,
es iſt ihm zum voraus gewährt. Leben Sie wohl,
liebſter Freund. Ich erwarte mit Ungeduld Nach¬
richten aus K***n.
Der[117]
Der Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Dritter Brief.
4. Junius.
Der Marcheſe von Civitella, der von ſeinen Wun¬
den nun ganz wieder hergeſtellt iſt, hat ſich vorige
Woche durch ſeinen Oncle, den Kardinal, bey dem
Prinzen einführen laſſen, und ſeit dieſem Tage folgt
er ihm, wie ſein Schatten. Von dieſem Marcheſe
hat mir Biondello doch nicht die Wahrheit geſagt,
wenigſtens hat er ſie weit übertrieben. Ein ſehr
liebenswürdiger Menſch von Anſehn, und unwider¬
ſtehlich im Umgang. Es iſt nicht möglich, ihm
gram zu ſeyn, der erſte Anblick hat mich erobert.
Denken Sie ſich die bezauberndſte Figur, mit Wür¬
de und Anmuth getragen, ein Geſicht voll Geiſt
und Seele, eine offne einladende Miene, einen
einſchmeichelnden Ton der Stimme, die fließendſte
Beredſamkeit, die blühendſte Jugend mit allen
Grazien der feinſten Erziehung vereinigt. Er hat
gar nichts von dem geringſchätzigen Stolz, von der
feyerlichen Steifheit, die uns an den übrigen No¬
bili, ſo unerträglich fällt. Alles an ihm athmet ju¬
gendliche Frohherzigkeit, Wohlwollen, Wärme des
Gefühls. Seine Ausſchweifungen muß man mir
weit übertrieben haben, nie ſah' ich ein vollkomm¬
neres, ſchöneres Bild der Geſundheit. Wenn er
wirklich ſo ſchlimm iſt, als mir Biondello ſagt, ſo
H 3iſt[118] iſt es eine Sirene, der kein Menſch widerſtehen
kann.
Gegen mich war er gleich ſehr offen. Er ge¬
ſtand mir mit der angenehmſten Treuherzigkeit, daß
er nicht am beſten bey ſeinem Oncle angeſchrieben
ſtehe, und es auch wohl verdient haben möge.
Er ſey aber ernſtlich entſchloſſen, ſich zu beſſern,
und das Verdienſt davon würde ganz dem Prinzen
zufallen. Zugleich hoffe er, durch dieſen mit ſei¬
nem Oncle wieder ausgeſöhnt zu werden, weil der
Prinz alles über den Kardinal vermöge. Es habe
ihm bis jezt nur an einem Freunde und Führer ge¬
fehlt, und beydes hoffe er, ſich in dem Prinzen zu
erwerben.
Der Prinz bedient ſich auch aller Rechte eines
Führers gegen ihn, und behandelt ihn mit der
Wachſamkeit und Strenge eines Mentors. Aber
eben dieſes Verhältniß giebt ihm auch gewiſſe Rech¬
te an den Prinzen, die er ſehr gut geltend zu ma¬
chen weiß. Er kommt ihm nicht mehr von der
Seite, er iſt bey allen Parthien, an denen der
Prinz Theil nimmt, für den Bucentauro iſt er —
und das iſt ſein Glück! bis jezt nur zu jung gewe¬
ſen. Ueberall, wo er ſich mit dem Prinzen ein¬
findet, entführt er dieſen der Geſellſchaft, durch
die feine Art, womit er ihn zu beſchäftigen und
auf ſich zu ziehen weiß. Niemand, ſagen ſie, ha¬
be ihn bändigen können, und der Prinz verdiene
eine Legende, wenn ihm dieſes Rieſenwerk aufbehal¬
ten ſey. Ich fürchte aber ſehr, das Blatt möch¬
te[119] te ſich vielmehr wenden, und der Führer bey ſeinem
Zögling in die Schule gehn, wozu ſich auch bereits
alle Umſtände anzulaſſen ſcheinen.
Der Prinz von **d** iſt nun abgereiſ't, und
zu unſerm allerſeitigen Vergnügen, auch meinen
Herrn nicht ausgenommen. Was ich voraus ge¬
ſagt habe, liebſter O***, iſt auch richtig einge¬
troffen. Bey ſo entgegen geſezten Charakteren,
bey ſo unvermeidlichen Kolliſionen konnte dieſes gu¬
te Vernehmen auf die Dauer nicht beſtehen. Der
Prinz von **d** war nicht lange in Venedig,
ſo entſtand ein bedenkliches Schisma in der ſpi¬
rituellen Welt, das unſern Prinzen in Gefahr ſezte,
die Hälfte ſeiner bisherigen Bewunderer zu verlie¬
ren. Wo er ſich nur ſehen ließ, fand er dieſen
Nebenbuhler in ſeinem Wege, der gerade die ge¬
hörige Doſis kleiner Liſt und ſelbſtgefälliger
Eitelkeit beſaß, um jeden noch ſo kleinen Vor¬
theil geltend zu machen, den ihm der Prinz über
ſich gab. Weil ihm zugleich alle kleinlichen Kunſt¬
griffe zu Gebote ſtanden, deren Gebrauch dem
Prinzen ein edles Selbſtgefühl unterſagte, ſo konn¬
te es nicht fehlen, daß er nicht in kurzer Zeit die
Schwachköpfe auf ſeiner Seite hatte, und an der
Spitze einer Parthie prangte, die ſeiner würdig
war *). Das Vernünftigſte wäre freylich wohl
H 4gewe¬Briefs[120] geweſen, mit einem Gegner dieſer Art ſich in gar
keinen Wettkampf einzulaſſen, und einige Monate
früher wäre dieß gewiß die Parthie geweſen, wel¬
che der Prinz ergriffen hätte. Jezt aber war er
ſchon zu weit in den Strom hingeriſſen, um das
Ufer ſo ſchnell wieder erreichen zu können. Dieſe
Nichtigkeiten hatten, wenn auch nur durch die Um¬
ſtände, einen gewiſſen Werth bey ihm erlangt, und
hatte er ſie auch wirklich verachtet, ſo erlaubte ihm
ſein Stolz nicht, ihnen in einem Zeitpunkte zu ent¬
ſagen, wo ſein Nachgeben weniger für einen frey¬
willigen Entſchluß, als für ein Geſtändniß ſeiner
Niederlage würde gegolten haben. Das unſelige
Hin- und Wiederbringen vernachläßigter, ſchneiden¬
der Reden von beyden Seiten kam dazu, und der
Geiſt von Rivalität, der ſeine Anhänger erhiz¬
te, hatte auch ihn ergriffen. Um alſo ſeine Er¬
oberungen zu bewahren, und ſich auf dem ſchlüpfri¬
gen Platz zu erhalten, den ihm die Meynung der
Welt einmal angewieſen hatte, glaubte er die Ge¬
legenheiten häufen zu müſſen, wo er glänzen und
verbinden konnte, und dieß konnte nur durch einen
fürſtlichen Aufwand erreicht werden, daher ewige
Feſte und Gelage, koſtbare Konzerte, Präſente
und*)[121] und hohes Spiel. Und weil ſich dieſe ſeltſame
Raſerey bald auch der beyderſeitigen Suite und Die¬
nerſchaft mittheilte, die, wie Sie wiſſen, über den
Artikel der Ehre noch weit wachſamer zu halten
pflegt, als ihre Herrſchaft, ſo mußte er dem guten
Willen ſeiner Leute durch ſeine Freygebigkeit zu
Hülfe kommen. Eine ganze lange Kette von Arm¬
ſeligkeiten, alles unvermeidliche Folgen einer einzi¬
gen ziemlich verzeihlichen Schwachheit, von der
ſich der Prinz in einem unglücklichen Augenblick
überſchleichen ließ!
Den Nebenbuhler ſind wir zwar nun los, aber
was er verdorben hat, iſt nicht ſo leicht wieder
gut zu machen. Des Prinzen Schatulle iſt er¬
ſchöpft; was er durch eine weiſe Oekonomie ſeit
Jahren erſpart hat, iſt dahin; wir müſſen eilen,
aus Venedig zu kommen, wenn er ſich nicht in
Schulden ſtürzen ſoll, wovor er ſich bis jezt auf
das ſorgfältigſte gehütet hat. Die Abreiſe iſt auch
feſt beſchloſſen, ſobald nur erſt friſche Wechſel
da ſind.
Möchte indeß aller dieſer Aufwand gemacht
ſeyn, wenn mein Herr nur eine einzige Freude da¬
bey gewonnen hätte! Aber nie war er weniger
glücklich als jezt! Er fühlt, daß er nicht iſt, was
er ſonſt war — er ſucht ſich ſelbſt — er iſt un¬
zufrieden mit ſich ſelbſt, und ſtürzt ſich in neue
Zerſtreuungen, um den Folgen der alten zu entflie¬
hen. Eine neue Bekanntſchaft folgt auf die andre,
H 5die[122] die ihn immer tiefer hinein reißt. Ich ſehe nicht,
wie das noch werden ſoll. Wir müſſen fort —
hier iſt keine andre Rettung — wir müſſen fort
aus Venedig.
Aber, liebſter Freund, noch immer keine Zeile
von Ihnen! Wie muß ich dieſes lange hartnäckige
Schweigen mir erklären?
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Vierter Brief.
12. Junius.
Haben Sie Dank, liebſter Freund, für das Zei¬
chen Ihres Andenkens, das mir der junge B***hl
von Ihnen überbrachte. Aber was ſprechen Sie
darin von Briefen, die ich erhalten haben ſoll?
Ich habe keinen Brief von Ihnen erhalten, nicht
eine Zeile. Welchen weiten Umweg müſſen die ge¬
nommen haben! Künftig, liebſter O***, wenn
Sie mich mit Briefen beehren, ſenden Sie ſolche
über Trient und unter der Addreſſe meines Herrn.
Endlich haben wir den Schritt doch thun müſ¬
ſen, liebſter Freund, den wir bis jezt ſo glücklich
vermieden haben. — Die Wechſel ſind ausgeblie¬
ben, jezt in dieſem dringenden Bedürfniß zum er¬
ſtenmal[123] ſtenmal ausgeblieben, und wir waren in die Noth¬
wendigkeit geſezt, unſre Zuflucht zu einem Wuche¬
rer zu nehmen, weil der Prinz das Geheimniß gern
etwas theurer bezahlt. Das Schlimmſte an dieſem
unangenehmen Vorfalle iſt, daß er unſre Abreiſe
verzögert.
Bey dieſer Gelegenheit kam es zu einigen Er¬
läuterungen zwiſchen mir und dem Prinzen. Das
ganze Geſchäft war durch Biondello's Hände gegan¬
gen, und der Ebräer war da, ehe ich etwas davon
ahndete. Den Prinzen zu dieſer Extremität ge¬
bracht zu ſehen, preßte mir das Herz, und mach¬
te alle Erinnerungen der Vergangenheit, alle Schre¬
cken für die Zukunft in mir lebendig, daß ich frey¬
lich etwas grämlich und düſter ausgeſehen haben
mochte, als der Wucherer hinaus war. Der
Prinz, den der vorhergehende Auftritt ohnehin
ſehr reizbar gemacht hatte, ging mit Unmuth im
Zimmer auf und nieder, die Rollen lagen noch auf
dem Tiſche, ich ſtand am Fenſter, und beſchäftigte
mich, die Scheiben in der Prokuratie zu zählen, es
war eine lange Stille, endlich brach er los.
„F***!“ fing er an: „Ich kann keine finſtern
Geſichter um mich leiden.“
Ich ſchwieg.
„Warum antworten Sie mir nicht? — Seh'
ich nicht, daß es Ihnen das Herz abdrücken will,
Ihren Verdruß auszugießen? und ich will haben,
daß[124] daß Sie reden. Sie dürften ſonſt Wunder glau¬
ben, was für weiſe Dinge Sie verſchwiegen.“
Wenn ich finſter bin, gnädigſter Herr, ſagte
ich, ſo iſt es nur, weil ich Sie nicht heiter
ſehe.
„Ich weiß,“ fuhr er fort, daß ich Ihnen nicht
recht bin — ſchon ſeit geraumer Zeit — daß alle
meine Schritte gemißbilligt werden — daß —
was ſchreibt der Graf von O***?“
Der Graf von O*** hat mir nichts ge¬
ſchrieben.
„Nichts? Warum wollen Sie es läugnen?
Sie haben Herzensergießungen zuſammen — Sie
und der Graf. Ich weiß es recht gut. Aber ge¬
ſtehen Sie mir's immer. Ich werde mich nicht in
Ihre Geheimniſſe eindringen.“
Der Graf von O***, ſagte ich, hat mir
von drey Briefen, die ich ihm ſchrieb, noch den er¬
ſten zu beantworten.
„Ich habe Unrecht gethan,“ fuhr er fort.
„Nicht wahr? (eine Rolle ergreifend). Ich hätte
das nicht thun ſollen?“
Ich ſehe wohl ein, daß dieß nothwendig
war.
„Ich hätte mich nicht in die Nothwendigkeit
ſetzen ſollen?“
Ich ſchwieg.
„Freylich! Ich hätte mich mit meinen Wün¬
ſchen nie über das hinaus wagen ſollen, und
darüber zum Greis werden, wie ich zum Mann
geworden bin! Weil ich aus der traurigen Einför¬
migkeit[125] migkeit meines bisherigen Lebens einmal heraus
gehe und herum ſchaue, ob nicht irgend anderswo
eine Quelle des Genuſſes für mich ſpringt — weil
ich —“
Wenn es ein Verſuch war, gnädigſter Herr,
dann hab' ich nichts mehr zu ſagen — dann ſind
die Erfahrungen, die er Ihnen verſchaft haben
wird, noch mit dreymal ſo viel nicht zu theuer er¬
kauft. Es that mir weh, ich geſtehe es, daß die
Meynung der Welt über eine Frage, wie Sie
glücklich ſeyn ſollen, zu entſcheiden haben ſollte.
„Wohl Ihnen, daß Sie verachten können
die Meynung der Welt! Ich bin ihr Geſchöpf, ich
muß ihr Sklave ſeyn. Was ſind wir anders als
Meynung? Alles an uns Fürſten iſt Meynung.
Die Meynung iſt unſre Amme und Erzieherinn in
der Kindheit, unſre Geſetzgeberinn und Geliebte in
männlichen Jahren, unſre Krücke im Alter. Neh¬
men Sie uns, was wir von der Meynung haben,
und der Schlechteſte aus den unterſten Klaſſen iſt
beſſer daran als wir, denn ſein Schickſal hat ihm
doch eine Philoſophie ſeines Schickſals geſchaffen.
Ein Fürſt, der die Meynung verlacht, hebt ſich
ſelbſt auf, wie der Prieſter, der das Daſeyn eines
Gottes läugnet.“
Und dennoch, gnädigſter Prinz —
„Ich weiß, was Sie ſagen wollen. Ich kann
den Kreis überſchreiten, den meine Geburt um
mich gezogen hat — aber kann ich auch alle
Wahnbegriffe aus meinem Gedächtniß herausreiſ¬
ſen, die Erziehung und frühe Gewohnheit darein
gepflanzt,[126] gepflanzt, und hundert tauſend Thoren von euch im¬
mer feſter und feſter darin gegründet haben? Jeder
will doch gern ganz ſeyn, was er iſt, und unſre Exi¬
ſtenz iſt nun einmal, glücklich ſcheinen.
Weil wir es nicht ſeyn können auf Eure Weiſe,
ſollen wir es darum gar nicht ſeyn? Wenn wir die
Freude aus ihrem reinen Quell unmittelbar nicht
mehr ſchöpfen dürfen, ſollen wir uns auch nicht
mit einem künſtlichen Genuß hintergehen, nicht
von eben der Hand, die uns beraubte, eine ſchwa¬
che Entſchädigung empfangen dürfen?“
Sonſt fanden Sie dieſe in Ihrem Herzen.
„Wenn ich ſie nun nicht mehr darin finde? —
O wie kommen wir darauf? Warum mußten Sie
dieſe Erinnerungen in mir aufwecken? — Wenn
ich nun eben zu dieſem Sinnentumult meine Zuflucht
nahm, um eine innere Stimme zu betäuben, die
das Unglück meines Lebens macht — um dieſe
grübelnde Vernunft zur Ruhe zu bringen, die wie
eine ſchneidende Sichel in meinem Gehirn hin und
her fährt, und mit jeder neuen Forſchung einen
neuen Zweig meiner Glückſeligkeit zerſchneidet?“
Mein beſter Prinz! — Er war aufgeſtanden,
und ging im Zimmer herum, in ungewöhnlicher
Bewegung *).
„Wennent¬[127]
„Wenn alles vor mir und hinter mir verſinkt
— die Vergangenheit im traurigen Einerley wie
ein Reich der Verſteinerung hinter mir liegt —
wenn die Zukunft mir nichts biethet — wenn ich
meines Daſeyns ganzen Kreis im ſchmalen Raume
der Gegenwart beſchloſſen ſehe — wer verargt es
mir, daß ich dieſes magre Geſchenk der Zeit, feu¬
rig und unerſättlich wie einen Freund, den ich zum
leztenmale ſehe, in meine Arme ſchließe? Wenn
ich mit dieſem flüchtigen Gute zu wuchern eile, wie
der achtzigjährige Greis mit ſeiner Tiare? — O
ich hab' ihn ſchätzen lernen den Augenblick! Der
Augenblick iſt unſre Mutter, und wie eine Mutter
laßt uns ihn lieben!“
Gnädigſter Herr, ſonſt glaubten Sie an ein
bleibenderes Gut —
„O[128]
„O machen Sie, daß mir das Wolkenbild hal¬
te, und ich will meine glühenden Arme darum ſchla¬
gen. Was für Freude kann es mir geben, Er¬
ſcheinungen zu beglücken, die morgen dahin ſeyn
werden, wie ich? — Iſt nicht alles Flucht um
mich herum? Alles ſtößt ſich und drängt ſeinen
Nachbar weg, aus dem Quell des Daſeyns einen
Tropfen eilend zu trinken, und lechzend davon zu
gehen. Jezt in dem Augenblick, wo ich meiner
Kraft mich freue, iſt ſchon ein werdendes Leben an
meine Verweſung angewieſen. Zeigen Sie mir ein
Weſen, das dauert, ſo will ich tugendhaft ſeyn.“
Was hat denn die wohlthätigen Empfindungen
verdrängt, die einſt der Genuß und die Richtſchnur
Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu
pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu
dienen —
„Dienen! Dienen gewiß, ſo gewiß als der
unbedeutendſte Mauerſtein der Simmetrie des Pal¬
laſtes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mit¬
befragtes, mitgenießendes Weſen? Lieblicher gut¬
herziger Wahn des Menſchen! deine Kräfte willſt
du ihr widmen? Kannſt du ſie ihr denn weigern?
Was du biſt und was du beſitzeſt, biſt du ja nur,
beſitzeſt du nur für ſie. Haſt du gegeben, was du
geben kannſt, und was du allein ihr geben konn¬
teſt, ſo biſt du auch nicht mehr, deine Gebrechlich¬
keit ſpricht dir das Urtheil, und ſie iſt es auch, die
es vollziehet. Aber wer iſt denn dieſe Na¬
tur, dieſe Ordnung, wider welche ich klage?
Immerhin! Möchte ſie, wie der Griechen Saturn,
ihre[129] ihre eigenen Kinder verzehren, wäre ſie ſelbſt
nur, überlebte ſie auch nur die vergangene Sekun¬
de! — Ein unermeßlicher Baum ſteht ſie da im
unermeßlichen Raume. Die Weisheit und die
Tugend ganzer Generationen rinnen wie Säfte in
ſeinen Röhren, Jahrtauſende und die Nationen,
die darin Geräuſch machten, fallen wie welke Blü¬
then, wie verdorrte Blätter von ſeinen Zweigen,
die er mit innrer und unvergänglicher Zeugungs¬
kraft aus dem Stamme treibt. Kannſt du von ihr
verlangen, was ſie ſelbſt nicht beſitzet? Du eine
Furche, die der Wind in die Meeresfläche bläßt,
deines Daſeyns Spur darin zu ſichern verlangen?“
Dieſe troſtloſe Behauptung widerlegt ſchon die
Weltgeſchichte. Die Namen Lykurg, Sokrates,
Ariſtides haben ihre Werke überdauert.
„Und der nützliche Mann, der den Pflug zu¬
ſammenſezte — wie hieß der? Trauen Sie einer
Belohnerinn, die nicht gerecht iſt? Sie leben
in der Geſchichte, wie Mumien im Balſam, um
mit ihrer Geſchichte etwas ſpäter zu vergehen.“
Und dieſer Trieb zur ewigen Fortdauer? Kann
oder darf ihre Nothwendigkeit verſchwenden?
Durfte in der Kraft etwas ſeyn, dem nichts in
der Wirkung entſpräche?
„O in dieſer Wirkung eben liegt alles. Ver¬
ſchwenden? Steigt nicht auch der Waſſerſtrahl in
der Caſcade mit einer Kraft in die Höhe, die ihn
durch einen unendlichen Raum ſchlendern könnte?
Aber ſchon in erſten Moment ſeines Aufſprungs zieht
die Schwerkraft an ihm, drücken tauſend Luſtſäu¬
d. Geiſterſeher. Jlen[130] len auf ihn, die ihn früher oder ſpäter, in einem
höhern oder niedrigern Bogen, zur mütterlichen Er¬
de zurück treiben. Und ſo ſpät zu fallen, mußte
er mit dieſer üppigen Kraft aufſteigen — gerade
eine elaſtiſche Kraft, wie der Trieb zur Unſterblich¬
keit, gehörte dazu, wenn ſich die Menſchenerſchei¬
nung gegen die heran drückende Nothwendigkeit
Raum machen ſollte. Ich gebe mich überwunden,
liebſter Freund, wenn Sie mir darthun, daß die¬
ſen Trieb zur Unſterblichkeit im Menſchen nicht eben
ſo vollkommen mit dem zeitlichen Zweck ſeines Da¬
ſeyns aufgehe, als ſeine ſinnlichſten Triebe. Frey¬
lich verführt uns unſer Stolz, Kräfte, die wir
nur für, nur durch die Nothwendigkeit haben,
gegen ſie ſelbſt anzuwenden; aber hätten wir wohl
dieſen Stolz, wenn ſie nicht auch von ihm Vor¬
theile zöge? Wäre ſie ein vernünftiges Weſen, ſie
müßte ſich unſrer Philoſophien ungefähr eben ſo
freuen, wie ſich ein weiſer Feldherr an dem Muth¬
willen ſeiner kriegeriſchen Jugend ergötzet, der ihm
Helden im Gefechte verſpricht.“
Der Gedanke diente nur der Bewegung? Das
Ganze wäre todt, und die Theile lebten? Der
Zweck wäre ſo gemein, und die Mittel ſo
edel?
„Zweck überhaupt hätten wir nie ſagen ſollen.
Um in Ihre Vorſtellungsart einzutreten, entlehne
ich dieſen Begriff von der moraliſchen Welt, weil
wir hier gewohnt ſind, die Folgen einer Handlung
ihren Zweck zu nennen. In der Seele ſelbſt geht
zwar[131] zwar der Zweck dem Mittel voran; wenn ihre in¬
nern Wirkungen aber in äußere übergehen, ſo kehrt
ſich dieſe Ordnung um, und das Mittel verhält
ſich zu dem Zwecke wie die Urſache zu ihrer Wir¬
kung. In dieſem lezten Sinne durfte ich mich un¬
eigentlich dieſes Ausdrucks bedienen, der aber auf
unſere jetzige Unterſuchung keinen ſtörenden Einfluß
haben darf. Setzen Sie ſtatt Mittel und Zweck
Urſache und Wirkung — wo bleibt der Unterſchied
von Gemein und Edel? Was kann an der Ur¬
ſache edel ſeyn, als daß ſie ihre Wirkung erfüllet?
Edel und gemein bezeichnen nur das Verhältniß,
in welchem ein Gegenſtand gegen ein gewiſſes
Principium in unſrer Seele ſtehet —
es iſt alſo ein Begriff, der nur innerhalb unſrer
Seele, nicht außerhalb derſelben anzuwenden iſt.
Sehen Sie aber, wie Sie ſchon als erwieſen an¬
nehmen, was wir erſt durch unſre Schlüſſe heraus
bringen ſollen? Warum anders nennen Sie den
Gedanken im Gegenſatz von der Bewegung
edel, als weil Sie das denkende Weſen ſchon als
den Mittelpunkt vorausſetzen, dem Sie die Folgen¬
reihe der Dinge unterordnen? Treten Sie in
meine Gedankenreihe, ſo wird dieſe Rangord¬
nung verſchwinden, der Gedanke iſt Wirkung und
Urſache der Bewegung, und ein Glied der Noth¬
wendigkeit, wie der Pulsſchlag der ihn begleitet.“
Nimmermehr werden Sie dieſen paradoxen un¬
natürlichen Satz durchſetzen. Beynahe überall kön¬
nen wir mit unſerm Verſtande den Zweck der phy¬
J 2ſiſchen[132] ſiſchen Natur bis in den Menſchen verfolgen. Wo
ſehen wir ſie auch nur einmal dieſe Ordnung um¬
kehren, und den Zweck des Menſchen der phyſi¬
ſchen Welt unterwerfen? Und wie wollen Sie die¬
ſe auswärtige Beſtimmung mit dem Glückſelig¬
keitstriebe vereinigen, der alle ſeine Beſtrebungen
einwärts gegen ihn ſelbſt richtet?
„Laſſen Sie uns doch verſuchen. Um mich
kürzer zu faſſen, muß ich mich wieder Ihrer Spra¬
che bedienen. Setzen wir alſo, daß moraliſche Er¬
ſcheinungen nöthig waren, wie Licht und Schall
nöthig waren, ſo mußten Weſen vorhanden ſeyn,
die dieſem beſondern Geſchäfte zugebildet waren,
ſo wie Aether und Luft gerade ſo und nicht anders
beſchaffen ſeyn mußten, um derjenigen Anzahl von
Schwingungen fähig zu ſeyn, die uns die Vorſtel¬
lung von Farbe und Wohlklang geben. Es mu߬
ten alſo Weſen exiſtiren, die ſich ſelbſt in Bewe¬
gung ſetzen, weil die moraliſche Erſcheinung auf
der Freyheit beruhet; was alſo bey Luft und Aether,
bey dem Mineral und der Pflanze die urſprüngliche
Form leiſtet, mußte hier von einem innern
Principium erhalten werden, gegen welches ſich die
Beweggründe oder die bewegenden Kräfte dieſes
Weſens ungefähr eben ſo verhielten, als die bewe¬
genden Kräfte der Pflanze gegen den beſtändigen Ty¬
pus ihres Baues. Wie ſie das bloß organiſche
Weſen durch eine unveränderliche Mechanik lenkt,
ſo mußte ſie das denkendempfindende Weſen durch
Schmerz und Vergnügen bewegen.“
Ganz richtig.
„Wir[133]
„Wir ſehen ſie alſo in der moraliſchen Welt
ihre bisherige Ordnung verlaſſen, ja ſogar mit
ſich ſelbſt in einen anſcheinenden Streit gerathen.
In jedem moraliſchen Weſen legt ſie ein neues Cen¬
trum an, einen Staat im Staate, gleichſam als
hätte ſie ihren allgemeinen Zweck ganz aus den Au¬
gen verloren. Gegen dieſes Centrum müſſen ſich
alle Thätigkeiten dieſes Weſens mit einem Zwange
neigen, wie ſie ihn in der phyſiſchen Welt durch
die Schwerkraft ausübt. Dieſes Weſen iſt auf die
Art in ſich ſelbſt gegründet, ein wahres und wirk¬
liches Ganze, durch dieſen Fall zu ſeinem Centrum
dazu gebildet, eben ſo wie der Planet der Erde
durch die Schwerkraft zur Kugel ward, und als
Kugel fortdauert. Bis hieher ſcheint ſie ſich ſelbſt
ganz vergeſſen zu haben.“
„Aber wir haben gehört, daß dieſes Weſen nur
vorhanden iſt, um die moraliſchen Erſcheinungen
hervor zu bringen, deren ſie bedurfte; die Frey¬
heit dieſes Weſens, oder ſein Vermögen ſich ſelbſt
zu bewegen, mußte alſo dem Zweck unterworfen
werden, zu welchem ſie es beſtimmte. Wollte ſie
alſo über die Wirkungen Meiſter bleiben, die es
leiſtete, ſo mußte ſie ſich des Principiums bemäch¬
tigen, wornach ſich das moraliſche Weſen beweget.
Was konnte ſie daher anders thun, als ihren
Zweck mit dieſem Weſen an das Principium an¬
ſchließen, wodurch es regiert wird, oder mit andern
Worten, ſeine zweckmäßige Thätigkeit zur noth¬
wendigen Bedingung ſeiner Glückſeligkeit ma¬
chen?“
J 3Das[134]
Das begreif ich.
„Erfüllt alſo das moraliſche Weſen die Bedin¬
gungen ſeiner Glückſeligkeit, ſo tritt es eben da¬
durch wieder in den Plan der Natur ein, dem es
durch dieſen abgeſonderten Plan entzogen zu ſeyn
ſchien, eben ſo wie der Erdkörper durch den Fall
ſeiner Theile zu ihrem Centrum fähig gemacht wird,
die Ekliptik zu beſchreiben. Durch Schmerz und
Vergnügen erfährt alſo das moraliſche Weſen jedes¬
mal nur die Verhältniſſe ſeines gegenwärtigen Zu¬
ſtandes zu dem Zuſtande ſeiner höchſten Vollkom¬
menheit, welcher einerley iſt mit dem Zwecke der
Natur. Dieſen Weiſer hat und bedarf das orga¬
niſche Weſen nicht, weil es ſich durch ſich ſelbſt
dem Zuſtand ſeiner Vollkommenheit, d. i. Glückſe¬
ligkeit voraus, mit dieſer aber auch die Warnung,
wenn es davon abweicht, oder das Leiden. Hätte
eine elaſtiſche Kugel das Bewußtſeyn ihres Zuſtan¬
des, ſo würde der Fingerdruck, der ihr eine flache
Form aufdringt, ſie ſchmerzen, ſo würde ſie mit
einem Gefühle von Wolluſt zu ihrer ſchönſten Rün¬
dung zurückkehren.“
Ihre elaſtiſche Kraft dient ihr ſtatt jenes
Gefühles.
„Aber eben ſo wenig Aehnlichkeit die ſchnelle
Bewegung, die wir Feuer nennen, mit der Em¬
pfindung des Brennens, oder die kubiſche Form ei¬
nes Salzes mit ſeinem bittern Geſchmacke hat, eben
ſo wenig Aehnlichkeit hat das Gefühl, das wir
Glückſeligkeit nennen, mit dem Zuſtand unſrer in¬
nern Vollkommenheit, den es begleitet, oder mit
dem[135] dem Zweck der Natur, dem es dient. Beyde,
möchte man ſagen, ſeyen durch eine eben ſo will¬
kührliche Koexiſtenz mit einander verbunden, wie
der Lorbeerkranz mit einem Siege, wie ein Brand¬
mal mit einer ehrloſen Handlung.“
So ſcheint es.
„Der Menſch alſo brauchte kein Mitwiſſer
des Zwecks zu ſeyn, den die Natur durch ihn aus¬
führt. Mochte er immerhin von keinem andern
Principium wiſſen, als dem, wodurch er in ſeiner
kleinen Welt ſich regiert, mochte er ſogar im lieb¬
lichen, ſelbſtgefälligen Wahn die Verhältniſſe dieſer
ſeiner kleinen Welt der großen Natur als Geſetze
unterlegen — dadurch daß er ſeiner Struktur die¬
net, ſind ihre Zwecke mit ihm geſichert.“
Und kann etwas vortrefflicher ſeyn, als daß
alle Theile des großen Ganzen nur dadurch den
Zweck der Natur befördern, daß ſie ihrem eignen
getreu bleiben, daß ſie nicht zu der Harmonie bey¬
tragen wollen dürfen, ſondern daß ſie es müſ¬
ſen? Dieſe Vorſtellung iſt ſo ſchön, ſo hinreißend,
daß man ſchon dadurch allein bewogen wird —
„ſie einem Geiſte zu gönnen, wollen Sie ſa¬
gen? weil der ſelbſtſüchtige Menſch ſeinem Geſchlech¬
te gern alles Gute und Schöne zutragen möchte,
weil er den Schöpfer ſo gern in ſeiner Familie ha¬
ben möchte. Geben Sie dem Kryſtalle das Ver¬
mögen der Vorſtellung, ſein höchſter Weltplan wird
Kryſtalliſation, ſeine Gottheit die ſchönſte Form von
Kryſtall ſeyn. Und mußte dieß nicht ſo ſeyn? Hielt
nicht jede einzelne Waſſerkugel ſo getreu und feſt
anI 4[136] an ihrem Mittelpunkte, ſo würde ſich nie ein Welt¬
meer bewegt haben.“
Aber wiſſen Sie auch, gnädigſter Prinz, daß
Sie bisher nur gegen ſich ſelbſt bewieſen haben?
Wenn es wahr iſt, wie Sie ſagen, daß der Menſch
nicht aus ſeinem Mittelpunkte weichen kann, wo¬
her Ihre eigene Anmaßung den Gang der Natur zu
beſtimmen? Wie können Sie es dann unternehmen,
die Regel feſt ſetzen zu wollen, nach der ſie
handelt?
„Nichts weniger. Ich beſtimme nichts, ich
nehme ja nur hinweg, was die Menſchen mit ihr
verwechſelt haben, was ſie aus ihrer eignen Bruſt
genommen, und durch praleriſche Titel aufge¬
ſchmückt haben. Was mir vorherging und was
mir folgen wird, ſehe ich als zwey ſchwarze un¬
durchdringliche Decken an, die an beyden Gränzen
des menſchlichen Lebens herunter hängen, und wel¬
che noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon
viele hundert Generationen ſtehen mit der Fackel
davor, und rathen und rathen, was etwa dahin¬
ter ſeyn möchte. Viele ſehen ihren eigenen Schat¬
ten, die Geſtalten ihrer Leidenſchaft, vergrößert
auf der Decke der Zukunft ſich bewegen, und fah¬
ren ſchaudernd vor ihrem eigenen Bilde zuſammen.
Dichter, Philoſophen und Staatenſtifter haben ſie
mit ihren Träumen bemahlt, lachender oder fin¬
ſtrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder
heiterer war; und von weitem täuſchte die Perſpek¬
tive. Auch manche Gaukler nüzten dieſe allgemei¬
ne[137] ne Neugier, und ſezten durch ſeltſame Vermum¬
mungen die geſpannten Phantaſien in Erſtau¬
nen. Eine tiefe Stille herrſcht hinter dieſer Decke,
keiner, der einmal dahinter iſt, antwortet hinter
ihr hervor, alles was man hörte, war ein hohler
Wiederſchall der Frage, als ob man in eine Gruft
gerufen hätte. Hinter dieſe Decke müſſen alle, und
mir Schaudern faſſen ſie ſie an, ungewiß, wer
wohl dahinter ſtehe, und ſie in Empfang nehmen
werde, quid fit fit, quod tantum morituri vident.
Freylich gab es auch Ungläubige darunter, die be¬
haupteten, daß dieſe Decke die Menſchen nur narre,
und daß man nichts beobachtet hätte, weil auch
nichts dahinter ſey; aber um ſie zu überweiſen,
ſchickte man ſie eilig dahinter.“
Ein raſcher Schluß war es immer, wenn
ſie keinen beſſern Grund hatten, als weil ſie nichts
ſahen.
„Sehen Sie nun, lieber Freund, ich beſcheide
mich gern, nicht hinter dieſe Decke blicken zu wol¬
len — und das weiſeſte wird doch wohl ſeyn, mich
von aller Neugier zu entwöhnen. Aber indem ich
dieſen unüberſchreitbaren Kreis um mich ziehe, und
mein ganzes Seyn in die Schranken der Gegen¬
wart einſchließe, wird mir dieſer kleine Fleck deſto
wichtiger, den ich ſchon über eiteln Eroberungs¬
gedanken zu vernachläſſigen in Gefahr war. Das,
was Sie den Zweck meines Daſeyns nennen, geht
mich jezt nichts mehr an. Ich kann mich ihm nicht
J 5entzie¬[138] entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen, ich weiß
aber und glaube feſt, daß ich einen ſolchen Zweck
erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das
ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir
zu erfüllen, iſt mir deſto heiliger — es iſt alles,
was mein iſt, meine Moralität nehmlich, meine
Glückſeligkeit. Alles übrige werde ich niemals er¬
fahren. Ich bin einem Bothen gleich, der einen
verſiegelten Brief an den Ort ſeiner Beſtimmung
trägt. Was er enthält, kann ihm einerley ſeyn —
er hat nichts als ſein Bothenlohn dabey zu ver¬
dienen.“
O wie arm laſſen Sie mich ſtehn!
„Aber wohin haben wir uns verirret?“ rief
jezt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Tiſch
ſah' wo die Rollen lagen. „Und doch nicht ſo ſehr
verirret!“ ſezte er hinzu — „denn vielleicht wer¬
den Sie mich jezt in dieſer neuen Lebensart wieder
finden. Auch ich konnte mich nicht ſo ſchnell von
dem eingebildeten Reichthum entwöhnen, die Stützen
meiner Moralität und meiner Glückſeligkeit nicht ſo
ſchnell von dem lieblichen Traume ablöſen, mit
welchem alles, was bis jezt in mir gelebt hatte, ſo
feſt verſchlungen war. Ich ſehnte mich nach dem
Leichtſinne, der das Daſeyn der mehreſten Men¬
ſchen um mich her erträglich macht. Alles, was
mich mir ſelbſt entführte, war mir willkommen.
Soll ich es Ihnen geſtehn? Ich wünſchte zu ſinken,
um dieſe Quelle meines Leidens auch mit der Kraft
dazu zu zerſtören.“
Ich[139]
Ich konnte das Geſpräch noch nicht abgebro¬
chen ſehen.
Gnädigſter Prinz, hub ich von neuem an, hab'
ich Sie auch recht verſtanden? Der lezte Zweck des
Menſchen iſt nicht im Menſchen, ſondern auſſer
ihm? Er iſt nur um ſeiner Folgen willen vor¬
handen?
„Laſſen Sie uns dieſen Ausdruck vermeiden,
der uns irre führt.“
„Sagen Sie, er iſt da, weil die Urſachen ſei¬
nes Daſeyns da waren, und weil ſeine Wirkungen
exiſtiren, oder, welches eben ſo viel ſagt, weil die
Urſachen, die ihm vorhergingen, eine Wirkung ha¬
ben mußten, und die Wirkungen, die er hervor¬
bringt, eine Urſache haben müſſen.“
Wenn ich ihm alſo einen Werth beylegen will,
ſo kann ich dieſen nur nach der Menge und Wichtig¬
keit der Wirkungen abwägen, deren Urſache er iſt?
„Nach der Menge ſeiner Wirkungen. Wich¬
tig nennen wir eine Wirkung bloß, weil ſie eine
größre Menge von Wirkungen nach ſich ziehet.
Der Menſch hat keinen andern Werth als ſeine
Wirkungen.“
Derjenige Menſch alſo, in welchem der Grund
mehrerer Wirkungen enthalten iſt, wäre der vor¬
trefflichere Menſch?
„Unwiderſprechlich.“
Wie? So iſt zwiſchen dem Guten und Schlim¬
men kein Unterſchied mehr! So iſt die moraliſche
Schönheit verloren!
„Das[140]
„Das fürcht' ich nicht. Wäre das, ſo wollte
ich ſogleich gegen Sie verloren haben. Das Gefühl
des moraliſchen Unterſchiedes iſt mir eine weit wich
tigere Inſtanz als meine Vernunft — und nur
alsdann fing ich an die leztere zu glauben, da ich ſie
mit jedem unvertilgbaren Gefühle übereinſtimmend
fand. Ihre Moralität bedarf einer Stütze, die
meinige ruht auf ihrer eigenen Achſe.“
Lehrt uns nicht die Erfahrung, daß oft die wich¬
tigſten Rollen durch die mittelmäßigſten Spieler ge¬
ſpielt werden, daß die Natur die heilſamſten Re¬
volutionen durch die ſchädlichſten Subjekte voll¬
bringt? Ein Mahomed, ein Attila, ein Aurang¬
zeb ſind ſo wirkſame Diener des Univerſums, als
Gewitter, Erdbeben, Vulkane koſtbare Werkzeuge
der phyſiſchen Natur. Ein Deſpot auf dem Thron,
der jede Stunde ſeiner Regierung mit Blut und
Elend bezeichnet, wäre alſo ein weit würdigeres
Glied ihrer Schöpfung, als der Feldbauer in ſei¬
nen Ländern, weil er ein wirkſameres iſt — ja
was das Traurigſte iſt, er wäre eben durch das
vortrefflicher, was ihn zum Gegenſtande unſers
Abſcheues macht, durch die größre Summe ſeiner
Thaten, die alle fluchwürdig ſind — er hätte in
eben dem Grade einen größern Anſpruch auf den
Namen eines vortrefflichen Menſche [...], als er unter
die Menſchheit herabſinkt. Laſter und Tugend —
„Sehen Sie,“ rief der Prinz mit Verdruſſe,
„wie Sie ſich von der Oberfläche hintergehen laſſen,
und wie leicht Sie mir gewonnen gehen! Wie kön¬
nen[141] nen Sie behaupten, daß ein verwüſtendes Le¬
ben ein thätiges Leben ſey? Der Deſpot iſt das
unnützlichſte Geſchöpf in ſeinen Staaten, weil er
durch Furcht und Sorge die thätigſten Kräfte bin¬
det, und die ſchöpferiſche Freude erſtickt. Sein
ganzes Daſeyn iſt eine fürchterliche Negative; und
wenn er gar an das edelſte, heiligſte Leben greift,
und die Freyheit des Denkens zerſtört — hundert¬
tauſend thätige Menſchen erſetzen in einem Jahr¬
hunderte nicht, was ein Hildebrand, ein Phi¬
lipp von Spanien in wenig Jahren verwüſteten.
Wie können Sie dieſe Geſchöpfe und Schöpfer der
Verweſung durch Vergleichung mit jenen wohlthä¬
tigen Werkzeugen des Lebens und der Fruchtbarkeit
ehren?“
Ich geſtehe die Schwäche meines Einwurfs —
Aber ſetzen wir anſtatt eines Philipps einen Peter
den Großen auf den Thron, ſo können Sie doch
nicht läugnen, daß dieſer in ſeiner Monarchie wirk¬
ſamer ſey, als der Privatmann bey dem nehmlichen
Maß von Kräften und aller Thätigkeit, deren er
fähig iſt. Das Glück iſt es alſo doch, was nach
Ihrem Syſteme die Grade der Vortrefflichkeit be¬
ſtimmt, weil es die Gelegenheiten zum Wirken
vertheilet!
„Der Thron wäre alſo nach Ihrer Meynung
vorzugsweiſe eine ſolche Gelegenheit? Sagen Sie
mir doch — wenn der König regieret, was thut
der Philoſoph in ſeinen Reichen?“
Er denkt.
„Und[142]
„Und was thut der König, wenn er regieret?“
Er denkt.
„Und wenn der wachſame Philoſoph ſchläft,
was thut der wachſame König?“
Er ſchläft.
„Nehmen Sie zwey brennende Kerzen, eine davon
ſteht in einer Bauerſtube, die andere ſoll in einem
prächtigen Saale einer fröhlichen Geſellſchaft leuch¬
ten. Was werden ſie beyde?“
Sie werden leuchten. Aber eben das ſpricht
für mich. — Beyde Kerzen, nehmen wir an,
brennen gleich lang und gleich helle, und verwech¬
ſelte man ihre Beſtimmung, ſo würde niemand ei¬
nen Unterſchied merken. Warum ſoll die eine dar¬
um vortrefflicher ſeyn, weil der Zufall ſie begün¬
ſtigte, in einem glänzenden Saale Pracht und
Schönheit zu zeigen, warum ſoll die andre ſchlech¬
ter ſeyn, weil der Zufall ſie dazu verdammte, in einer
Bauernhütte Armuth und Kummer ſichtbar zu ma¬
chen? Und doch folgte dieß nothwendig aus Ihrer
Behauptung.
„Beyde ſind gleich vortrefflich, aber beyde haben
auch gleich viel geleiſtet.“
Wie iſt das möglich? Da die in dem weiten
Saale ſo viel mehr Licht ausgegoſſen hat, als die
andre? Da ſie ſo viel mehr Vergnügen verbreitet
hat, als die andre?
„Erwägen Sie nur, daß hier nur von der er¬
ſten Wirkung die Rede iſt, nicht von der ganzen
Kette. Nur die nächſtfolgende Wirkung gehört
der nächſtvorhergegangenen Urſache; nur ſo viele
Theile[143] Theile der Lichtmaterie, als ſie unmittelbar berühr¬
te, ſezte die brennende Kerze in Schwung. Und
was ſollte nun die eine vor der andern voraus ha¬
ben? Können ſie aus einem jeden Centralpunkt nicht
gleich viel Strahlen ziehen? Eben ſo viel aus Ih¬
rem Augenſterne, als aus dem Mittelpunkte der Er¬
de? Entwöhnen Sie ſich doch, die großen Maſſen,
die der Verſtand nur als ſolche Ganze zuſammen¬
faßt, in der wirklichen Welt auch als ſolche exiſti¬
rende Ganze vorauszuſetzen. Der Feuerfunke, der
in ein Pulvermagazin fällt, einen Thurm in die
Luft ſprengt und hundert Häuſer verſchüttet, hat
darum doch nur ein einziges Körnchen gezündet.“
Sehr gut, aber —
„Wenden wir dieſes auf moraliſche Handlun¬
gen an. Wir gehen ſpazieren, und zwey Bettler
ſollen uns begegnen. Ich gebe dem einen ein Stück
Geld, Sie dem andern ein gleiches; der meinige
betrinkt ſich von dem Gelde, und begeht in dieſem
Zuſtande eine Mordthat, der Ihrige kauft einem
ſterbenden Vater eine Stärkung, und friſtet ihm
damit das Leben. Ich hätte alſo durch eben die
Handlung, wodurch Sie Leben gaben, Leben ge¬
raubet? — Nichts weniger. Die Wirkung mei¬
ner That hörte mit ihrer Unmittelbarkeit, ſo wie
die Ihrige, auf, meine Wirkung zu ſeyn.“
Wenn aber mein Verſtand dieſe Folgenreihe
überſiehet, und nur dieſe Ueberſicht mich zu der
That beſtimmt — wenn ich dem Bettler dieſes
Geld gab, um einem ſterbenden Vater das Leben
damit zu friſten, ſo ſind doch alle dieſe Folgen
mein[144] mein, wenn ſie ſo eintreffen, wie ich ſie mir
dachte.
„Nichts weniger. Vergeſſen Sie nur nie, daß
Eine Urſache nur Eine Wirkung haben kann.
Die ganze Wirkung, die Sie hervorbrachten, war,
das Geldſtück aus Ihrer Hand in die Hand des
Bettlers zu bringen. Dieß iſt von dieſer ganzen
langen Kette von Wirkungen die einzige, die auf
Ihre Rechnung kommt. Die Arzney wirkte als
Arzney u. ſ. f. — Sie ſcheinen verwundert. Sie
glauben, daß ich Paradoxe behaupte, ein einziges
Wort könnte uns vielleicht mit einander verſtändi¬
gen, aber wir wollen es lieber durch unſre Schlüſ¬
ſe finden.
Aus dem bisherigen, ſehe ich wohl, folgt, daß
eine gute That an ihrer ſchlimmen Wirkung nicht
Schuld iſt, und eine ſchlimme That nicht an ihrer
vortrefflichen. Aber zugleich folgt auch daraus,
daß weder die gute an ihrer guten Wirkung, noch
die ſchlimme an ihrer ſchlimmen Schuld iſt, und daß
alſo beyde in ihren Wirkungen ganz gleich ſind. —
Sie müßten denn die ſeltenen Fälle ausnehmen wol¬
len, wo die unmittelbare Wirkung auch zugleich die
abgezweckte iſt.
„Eine ſolche unmittelbare giebt es gar nicht,
denn zwiſchen jede Wirkung, die der Menſch außer
ſich hervorbringt, und deren innere Urſache, oder
den Willen, wird ſich eine Reihe gleichgültiger ein¬
ſchieben, wenn es auch nichts als Muſkularbewe¬
gung wäre. Sagen Sie alſo dreiſt, daß beyde an
ihren Wirkungen durchaus moraliſch einerley, d. i.
gleich¬[145] gleichgültig ſind. — Und wer wird dieſes leug¬
nen wollen? Der Dolchſtich, der das Leben eines
Heinrichs IV. und eines Domitians endigt, ſind
beyde ganz die nehmliche Handlung.“
Recht, aber die Motive —
„Die Motive alſo beſtimmen die moraliſche
Handlung. Und woraus beſtehen die Motive?“
Aus Vorſtellungen.
„Und was nennen Sie Vorſtellungen?“
Innre Handlungen oder Thätigkeiten des den¬
kenden Weſens, die äußern Thätigkeiten corre¬
ſpondiren.
„Eine moraliſche Handlung iſt alſo eine Folge
innrer Thätigkeiten, welche äußern Veränderun¬
gen correſpondiren?“
Ganz richtig.
„Wenn ich alſo ſage, die Begebenheit ABC
iſt eine moraliſche Handlung, ſo heißt dieß ſo viel,
als der Reihe äußrer Veränderungen, welche dieſe
Begebenheit ABC ausmachen, iſt eine Reihe inn¬
rer Veränderungen abc vorhergegangen?“
So iſt es.
„Die Handlungen abc waren alſo bereits be¬
ſchloſſen, als die Handlungen ABC anfingen.“
Nothwendig.
„Wenn alſo ABC auch nicht angefangen hätte,
ſo wäre abc darum nicht weniger geweſen. War
nun die Moralität in abc enthalten, ſo blieb ſie
auch, wenn wir ABC ganz vertilgen.“
Ich verſtehe Sie, gnädigſter Herr — und
ſo wäre dasjenige, was ich für das erſte Glied
d. Geiſterſeher. Kin[146] in der Kette gehalten, das lezte darin geweſen.
Als ich dem Bettler das Geld gab, war meine mo¬
raliſche Handlung ſchon ganz vorbey, ſchon ihr
ganzer Werth oder Unwerth entſchieden.
„So meyn ich's. Trafen die Folgen ein,
wie Sie ſie dachten, d. i. folgte ABC abc, auf ſo
war es nichts weiter als eine gelungene gute
Handlung. In dieſem äußern Strom hat der
Menſch nichts mehr zu ſagen, ihm gehört nichts
als ſeine eigene Seele. Sie ſehen daraus auf's
neue, daß der Monarch nichts vor dem Privatmanne
voraus hat, denn auch er iſt ſo wenig Herr jenes
Stromes als dieſer; auch bey ihm iſt das ganze
Gebieth ſeiner Wirkſamkeit bloß innerhalb ſeiner
eigenen Seele.“
Aber dadurch wird nichts verändert, gnädig¬
ſter Herr; denn auch die böſe Handlung hat ihre
Motive wie die gute, d. i. ihre innern Thätigkei¬
ten, und nur um dieſer Motive willen nennen wir
ſie ja böſe. Setzen Sie alſo den Zweck und den
Werth des Menſchen in die Summe ſeiner Thätig¬
keiten, ſo ſehe ich immer noch nicht, wie Sie die
Moralität aus ſeinem Zwecke heraus bringen, und
meine vorigen Einwürfe kehren zurück.
„Laſſen Sie uns hören. Schlimm oder
Gut, ſind wir übereingekommen, ſeyen Prädi¬
kate, die eine Handlung erſt in der Seele erlange.“
Das iſt erwieſen.
„Laſſen wir alſo zwiſchen die äußre Welt und
das denkende Weſen eine Scheidewand fallen, ſo
erſcheint uns die nehmliche Handlung außerhalb
der¬[147] derſelben gleichgültig, innerhalb derſelben nennen
wir ſie ſchlimm oder gut.“
Richtig.
„Moralität iſt alſo eine Beziehung, die nur
innerhalb der Seele, außer ihr nie gedacht werden
kann, ſo wie z. B. die Ehre eine Beziehung iſt,
die dem Menſchen nur innerhalb der bürgerlichen
Geſellſchaft zukommen kann.“
Ganz recht.
„Sobald wir uns eine Handlung als in der
Seele vorhanden denken, ſo erſcheint ſie uns als
die Bürgerinn einer ganz andern Welt, und nach
ganz andern Geſetzen müſſen wir ſie richten. Sie
gehört einem eigenen Ganzen zu, das ſeinen Mit¬
telpunkt in ſich ſelbſt hat, aus welchem alles fließt,
was es giebt, gegen welchen alles ſtrömt, was es
empfänget. Dieſer Mittelpunkt oder dieſes Prin¬
cipium iſt, wie wir vorhin übereingekommen ſind,
nichts anders als der inwohnende Trieb alle ſeine
Kräfte zum Wirken zu bringen, oder, was eben
ſo viel ſagt, zur höchſten Kundmachung ſeiner Exi¬
ſtenz zu gelangen. In dieſen Zuſtand ſetzen wir
die Vollkommenheit des moraliſchen Weſens, ſo
wie wir eine Uhr vollkommen nennen, wenn alle
Theile, woraus der Künſtler ſie zuſammenſezte, der
Wirkung entſprechen, um derentwillen er ſie zu¬
ſammenſezte, wie wir ein muſikaliſches Inſtrument
vollkommen nennen, wenn alle Theile deſſelben an
ſeiner höchſten Wirkung den höchſten Antheil neh¬
men, deſſen ſie fähig, und um deſſentwillen ſie ver¬
einigt ſind. Das Verhältniß nun, in welchem die
K 2Thätig¬[148] Thätigkeiten des moraliſchen Weſens zu dieſem
Principium ſtehen, bezeichnen wir mit dem Namen
der Moralität; und eine Handlung iſt mora¬
liſch gut, oder moraliſch-böſe, je nachdem ſie
ſich jenem nähert oder von ihm entfernet, es be¬
fördert oder hindert. Sind wir darüber einig?“
Vollkommen.
„Da nun jenes Principium kein andres iſt, als
die vollſtändigſte Thätigkeit aller Kräfte im Men¬
ſchen, ſo iſt eine gute Handlung, wobey mehr
Kräfte thätig waren, eine ſchlimme, wobey weni¬
ger thätig waren?“
Hier, gnädigſter Herr, laſſen Sie uns inne
halten. Dieſem nach käme eine kleine Wohlthat,
die ich reiche, in der moraliſchen Rangordnung
ſehr tief unter das jahrlange Komplott der Bartho¬
lomäusnacht zu ſtehen, oder die Verſchwörung
des Cueva gegen Venedig.
Der Prinz verlohr hier die Geduld. ’Wann
werd' ich Ihnen doch begreiflich machen können,
fing er an, daß die Natur kein Ganzes kenne?
Stellen Sie zuſammen, was zuſammen gehört.
War jenes Komplott eine Handlung, oder nicht
vielmehr eine Kette von hunderttauſenden? —
und von hunderttauſend mangelhaften, gegen
welche Ihre kleine Wohlthat noch immer im Vor¬
theile ſtehet. Der Trieb der Menſchenliebe ſchlief
bey allen, der bey der Ihrigen thätig war. Aber
wir kommen ab. Wo blieb ich?“
Eine gute Handlung ſey, wobey mehr Kräfte
thätig waren, und umgekehrt.
„Und[149]
„Und dadurch alſo, daß weniger Kräfte bey
ihr thätig waren, wird eine ſchlimme Handlung
ſchlimm, und ſo umgekehrt?“
Ganz begreiflich.
„Bey einer ſchlimmen Handlung wird alſo nur
verneinet, was bey einer guten bejahet wird?“
So iſt's.
„Ich kann alſo nicht ſagen, es gehörte ein bö¬
ſes Herz dazu, dieſe That zu begehen, ſo wenig
als ich ſagen kann, es gehörte ein Kind und nicht
ein Mann dazu, dieſen Stein aufzuheben?“
Sehr wahr. Ich ſollte vielmehr ſagen, es
mußte ſo viel gutes Herz fehlen, um dieſe That zu
begehen.
„Laſter iſt alſo nur die Abweſenheit von Tu¬
gend; Thorheit die Abweſenheit von Verſtand, ein
Begriff ungefähr, wie Schatten oder Stille?“
Ganz richtig.
„So wenig alſo, als man logiſch-richtig ſagen
kann, es iſt Leere, Stille, Finſterniß vorhanden, ſo
wenig giebt es ein Laſter im Menſchen, und über¬
haupt alſo in der ganzen moraliſchen Welt?“
Das iſt einleuchtend.
„Wenn es alſo kein Laſter im Menſchen giebt,
ſo iſt alles, was in ihm thätig iſt, Tugend, d. i.
es iſt gut, eben ſo wie alles tönt, was nicht ſtill iſt,
alles Licht hat, was nicht im Schatten ſteht?“
Das folgt.
„Jede Handlung alſo, die der Menſch begeht,
iſt alſo dadurch, daß es eine Handlung iſt, etwas
Gutes?“
K 3Nach[150]
Nach allem Vorhergegangenen.
„Und wenn wir eine ſchlimme Handlung von
einem Menſchen ſehen, ſo iſt dieſe Handlung gerade
das einzige Gute, was wir in dieſem Augenblick
an ihm bemerken.“
Das klingt ſonderbar.
„Laſſen Sie uns ein Gleichniß zu Hülfe neh¬
men. Warum nennen wir einen trüben, neblich¬
ten Wintertag einen traurigen Anblick? Iſt es
darum, weil wir eine Schneelandſchaft an ſich ſelbſt
widrig finden? Nichts weniger; könnte man ſie
in den Sommer verpflanzen, ſie würde ſeine Schön¬
heit erheben. Wir nennen ihn traurig, weil dieſer
Schnee und dieſer Nebelduft nicht da ſeyn könnten,
wenn eine Sonne geſchienen hätte, ſie zu zerthei¬
len, weil ſie mit den ungleich größern Reizen des
Sommers unvereinbar ſind. Der Winter iſt uns
alſo ein Uebel, nicht weil ihm alle Genüſſe man¬
geln, ſondern weil er größere ausſchließt.“
Vollkommen anſchaulich.
„Eben ſo mit moraliſchen Weſen. Wir ver¬
achten einen Menſchen, der aus dem Treffen flie¬
het, und dem Tode dadurch entgeht, nicht weil
uns der wirkſame Trieb der Selbſterhaltung mi߬
fiele, ſondern weil er dieſem Triebe weniger würde
nachgegeben haben, wenn er die herrliche Eigen¬
ſchaft des Muthes beſeſſen hätte. Ich kann die
Herzhaftigkeit, die Liſt des Räubers bewundern,
der mich beſtiehlt, aber ihn ſelbſt nenne ich laſterhaft,
weil ihm die ungleich ſchönere Eigenſchaft der Ge¬
rechtigkeit mangelt. So kann mich eine Un¬
ternehmung[151] ternehmung in Erſtaunen ſetzen, die der Ausbruch
einer jahrelang verhaltenen thätigen Rachſucht iſt,
aber ich nenne ſie verabſcheuungswürdig, weil ſie
mir einen Menſchen zeigt, der ganze Jahre leben
konnte, ohne ſeinen Mitmenſchen zu lieben. Ich
ſchreite mit Unwillen über ein Schlachtfeld hinweg,
nicht weil ſo viele Leben hier verweſen — Peſt und
Erdbeben hätten noch mehr thun können, ohne
mich gegen ſich aufzubringen — auch nicht weil
ich die Kraft, die Kunſt, den Heldenmuth nicht
vortrefflich fände, die dieſe Krieger zu Boden ſtreck¬
ten — ſondern weil mir dieſer Anblick ſo viele tau¬
ſend Menſchen ins Gedächtniß bringt, denen die
Menſchlichkeit fehlte.“
Vortreflich.
„Daſſelbe gilt von den Graden der Morali¬
tät. Eine ſehr künſtliche, ſehr fein erſonnene,
mit Beharrlichkeit erfolgte, mit Muth ausgeführte
Bosheit hat etwas Glänzendes an ſich, das ſchwa¬
che Seelen oft zur Nachahmung reizt, weil man
ſo viele große und ſchöne Kräfte in ihrer ganzen
Fülle dabey wirkſam findet. Und doch nennen wir
dieſe Handlung ſchlimmer, als eine ähnliche bey
einem geringern Maß von Geiſt, und ſtrafen ſie
ſtrenger, weil ſie uns jenen Mangel der Gerech¬
tigkeit in ihrer größern Motivenreihe häufiger er¬
kennen läßt. Wird ſie vollends noch an einem
Wohlthäter verübet, ſo empört ſie darum unſer
ganzes Gefühl, weil die Gelegenheiten, den Trieb
der, Liebe in Bewegung zu ſetzen, in dieſem Falle
K 4häu¬[152] häufiger waren, und wir alſo die Entdeckung, daß
dieſer Trieb unwirkſam geblieben, häufiger dabey
wiederholen.“
Klar und einleuchtend.
„Auf unſre Frage zurück zu kommen. Sie
geben mir alſo zu, daß es nicht die Thätigkeiten
der Kräfte ſind, die das Laſter zum Laſter machen,
ſondern ihre Unthätigkeit.“
Vollkommen.
„Die Motive ſind aber ſolche Thätigkeiten:
es iſt alſo unrichtig geredet, eine Handlung ihrer
Motive wegen laſterhaft zu nennen. Nichts weni¬
ger! Ihre Motive ſind das einzige Gute das ſie
hat, ſie iſt nur böſe um derjenigen willen, die ihr
mangeln.“
Unwiderſprechlich.
„Aber wir hätten dieſen Beweis noch kürzer
führen können. Würde der Laſterhafte aus die¬
ſen Motiven handeln, wenn ſie ihm nicht einen
Genuß gewährten? Genuß allein iſt es, was mo¬
raliſche Weſen in Bewegung ſezt; und nur das Gute,
wiſſen wir ja, kann Genuß gewähren.„
Ich bin befriedigt. Aus dem bisherigen folgt
unwiderſprechlich, daß z. B. ein Menſch von hel¬
lem Geiſt und wohlwollendem Herzen nur darum
ein beſſerer Menſch iſt, als ein andrer von eben ſo
viel Geiſt und einem minder wohlthätigen Herzen,
weil er ſich dem Maximum innrer Thätigkeit mehr
nähert. Aber eine andre Bedenklichkeit ſteigt in
mir auf. Geben Sie einem Menſchen die Eigen¬
ſchaften des Verſtandes, des Muths, der Tapfer¬
keit[153] keit u. ſ. f. in einem vorzüglich hohen Grade, und
laſſen Sie ihm nur die einzige Eigenſchaft, die wir
gutes Herz nennen, mangeln — werden Sie ihn
einem andern vorziehen, der jene Eigenſchaften in
einem niedrigern Grade, dieß leztere aber in ſeinem
größten Umfang beſitzet? Unſtreitig iſt jener ein
weit thätigerer Menſch als dieſer, und da nach
Ihnen die Thätigkeit der Kräfte den moraliſchen
Preis beſtimmt, ſo würde alſo Ihr Urtheil für ihn
ausfallen, und mit dem gewöhnlichen Urtheil der
Menſchen in einem Widerſpruche ſich befinden.
„Es würde unfehlbar ſehr übereinſtimmend
damit ſeyn. Ein Menſch, deſſen Verſtandeskräfte
in einem hohen Grade thätig ſind, wird eben ſo
gewiß auch ein vortreffliches Herz beſitzen, als er
das, was er an ſich ſelbſt liebet, an einem andern
nicht haſſen kann. Wenn die Erfahrung dagegen
zu ſtreiten ſcheint, ſo hat man entweder zu freyge¬
big von ſeinem Verſtande, oder von moraliſcher
Güte zu eingeſchränkt geurtheilt. Ein großer
Geiſt mit einem empfindenden Herzen ſteht in der
Ordnung der Weſen eben ſo hoch über dem geiſt¬
reichen Böſewicht, als der Dummkopf mit einem
weichen, man ſagt beſſer weichlichen, Herzen
unter dieſem ſtehet.“
Aber ein Schwärmer, und einer von der hef¬
tigen Art, iſt doch offenbar ein thätigeres Weſen,
als ein Alltagsmenſch mit phlegmatiſchem Blut und
beſchränkten Sinnen?
K 5„Bey[154]
„Bey einem noch ſo phlegmatiſchen beſchränk¬
ten Alltagsmenſchen kommt doch jede Kraft zum
Wirken, weil keine von der andern verdrängt wird.
Er iſt ein Menſch in geſundem Schlafe; der Schwär¬
mer iſt einem Phrenetiſchraſenden gleich, der ſich
in wüthenden Konvulſionen wirft, wen die Lebens¬
kraft bereits in den äußerſten Arterien aufhört. —
Haben Sie noch eine Einwendung?“
„Ich bin mit Ihnen überzeugt, daß die Mo¬
ralität des Menſchen in dem Mehr oder Weniger
ſeiner innern Thätigkeit enthalten iſt.
„Erinnern Sie ſich nun,“ fuhr der Prinz
fort, „daß wir dieſe ganze Unterſuchung im ge¬
ſchloſſenen Bezirk der menſchlichen Seele angeſtellt
haben, daß wir ſie von der äußern Reihe der Dinge
durch eine Scheidewand getrennt, und innerhalb
dieſes nie überſchrittenen Kreiſes den ganzen Bau
der Moralität aufgeführt haben. Wir haben zu¬
gleich gefunden, daß ſeine Glückſeligkeit vollkom¬
men mit ſeiner moraliſchen Vortrefflichkeit aufgehe,
daß ihm alſo für die leztere eben ſo wenig etwas
zu fordern bleibe, daß ihm auf eine erſt zu errei¬
chende Vollkommenheit eben ſo wenig ein Genuß
voraus zugetheilt werden könne, als daß eine Roſe,
die heute blühet, erſt im folgenden Jahre dadurch
ſchön ſey, als daß ein Mißgriff auf dem Klavier
erſt in das nächſtkommende Spiel ſeinen Mißlaut
einmiſchen kann. Es wäre eben ſo denkbar, daß
der Glanz der Sonne in den hentigen Mittag und
ihre Wärme, in den folgenden fiele, als daß die
Vor¬[155] Vortreflichkeit des Menſchen in dieſe Welt und ſeine
Glückſeligkeit in die andre fallen könnte — Iſt
Ihnen dieſes erwieſen?“
Ich weiß, nichts dagegen zu antworten.
„Das moraliſche Weſen iſt alſo in ſich ſelbſt
vollendet und beſchloſſen, wie das, welches wir
zum Unterſchied davon das organiſche nennen, be¬
ſchloſſen durch ſeine Moralität, wie dieſes durch
ſeinen Bau, und dieſe Moralität iſt eine Beziehung,
die von dem, was außer ihm vorgeht, durchaus
unabhängig iſt.“
Dieß iſt erwieſen.
„Es umgebe mich alſo was da wolle, der mo¬
raliſche Unterſchied bleibt.“
Ich ahnde, wo Sie hinaus wollen, aber —
„Es ſey alſo ein vernünftig geordnetes Ganze,
eine unendliche Gerechtigkeit und Güte, eine Fort¬
dauer der Perſönlichkeit, ein ewiger Fortſchritt —
aus der moraliſchen Welt läßt ſich dieſes wenigſtens
nicht mit größerer Bündigkeit erweiſen, als aus der
phyſiſchen. Um vollkommen zu ſeyn, um glücklich
zu ſeyn, bedarf das moraliſche Weſen keiner neuen
Inſtanz mehr — und wenn es eine erwartet, ſo
kann ſich dieſe Erwartung wenigſtens nicht mehr
auf eine Forderung gründen. Was mit ihm werde,
muß ihm für ſeine Vollkommenheit gleich viel ſeyn,
ſo wie es der Roſe — um ſchön zu ſeyn — gleich
viel ſeyn muß, ob ſie in einer Wüſte oder in fürſtli¬
chen Gärten, ob ſie dem Buſen eines lieblichen
Mädchens oder dem verzehrenden Wurm entgegen
blühet.“
Paßt[156]
Paßt dieſe Vergleichung?
„Vollkommen; denn ich ſage hier ausdrück¬
lich um ſchön zu ſeyn, dort um glücklich zu
ſeyn — nicht um vorhanden zu ſeyn! Dieß
lezte gehört für eine neue Unterſuchung, und ich will
das Geſpräch nicht verlängern.“
Ich kann Sie doch noch nicht ganz los geben,
gnädigſter Prinz. Sie haben — und mir deucht
unumſtößlich — bewieſen, daß der Menſch nur
moraliſch ſey, in ſo fern er in ſich ſelbſt thätig ſey —
aber Sie behaupteten vorhin, daß er nur Morali¬
tät habe um außer ſich zu wirken.
„Sagen Sie, nur auſſer ſich wirkſam ſey, weil
er Moralität hat. Ihre Damit verwirren uns.
Ich kann Ihre Zwecke nicht leiden.“
Hier kommt es auf eins. Es hieße alſo, daß
er nur in ſo fern den Grund der meiſten Wirkun¬
gen außer ſich enthalte, in ſo fern er den höchſten
Grad ſeiner Moralität erreiche. Und dieſen Be¬
weis ſind Sie mir noch ſchuldig.
„Können Sie ihn aus dem Bisherigen nicht
ſelbſt führen? Der Zuſtand der höchſten innern
Wirkſamkeit ſeiner Kräfte, iſt es nicht derſelbe, in
welchem er auch die Urſache der meiſten Wirkungen
außer ſich ſeyn kann?“
Seyn kann, aber nicht ſeyn muß — denn ha¬
ben Sie nicht ſelbſt zugeſtanden, daß eine unwirk¬
ſam gebliebene gute That ihrem moraliſchen Werth
nichts benehme?
„Nicht bloß zugeſtanden, ſondern als höchſt
nothwendig feſt geſezt: — Wie ſchwer ſind Sie
doch[157] doch von einer irrigen Vorſtellung zurück zu brin¬
gen, die ſich einmal Ihrer bemächtigt hat. Die¬
ſer anſcheinende Widerſpruch, daß die äußern Fol¬
gen einer moraliſchen That für ihren Werth höchſt
gleichgültig ſeyn, und daß der ganze Zweck ſeines
Daſeyns dennoch nur in ſeinen Folgen nach außen
liege, verwirrt Sie immer. Nehmen Sie an, ein
großer Virtuoſe ſpiele vor einer zahlreichen aber
rohen Geſellſchaft, ein Stümper komme dazwiſchen
und entführe ihm ſeinen ganzen Hörſaal — Wel¬
chen werden Sie für den Nützlicheren er¬
klären?“
Den Virtuoſen, verſteht ſich; denn derſelbe
Künſtler wird ein andermal feinere Ohren ergötzen.
„Und würde er dieſes wohl, wenn er die Kunſt
nicht beſäße, die damals verloren ging, und die
er damals übte?“
Schwerlich.
„Und wird ſein Nebenbuhler jemals diejenige
Wirkung hervorbringen, die er hervorbrachte?“
Diejenige nicht, aber —
„Aber vielleicht eine größre bey ſeinem größern
Haufen, wollen Sie ſagen. Können Sie im Ernſte
zweifelhaft ſeyn, ob ein Künſtler, der einen Kreis
fühlender Menſchen und geiſtreicher Kenner zu be¬
zaubern gewußt hat, mehr gethan habe, als jener
Stümper in ſeinem ganzen Leben? Daß eine Em¬
pfindung vielleicht, die er erweckte, in einer fei¬
nen[158] nen Seele ſich zu Thaten erhöhte, die nachher für
eine Million nützlich wurden? Daß ſie ſich vielleicht
als das einzige noch fehlende Glied an eine wichtige
Kette anſchloß, und einem herrlichen Vorhaben die
Krone aufſezte? — Auch jener Stümper, das
räume ich ein, kann fröhliche Menſchen — auch
der Menſch, der ſeine moraliſche Krone verlor,
wird noch wirken, eben ſo wie eine Frucht, an
welcher die Fäulniß nagt, noch ein Mahl für Vö¬
gel und Würmer ſeyn kann, aber ſie wird nie
mehr gewürdigt, einen reizenden Mund zu be¬
rühren.“
Laſſen Sie aber jenen Künſtler in einer Wüſte
ſpielen, dort leben und ſterben. Ich darf ſagen,
ſeine Kunſt belohnt ihn; auch wo kein Ohr ſeine
Töne auffängt, iſt er ſein eigner Hörer, und
genießt in den Harmonien, die er hervorbringt,
die noch herrlichere Harmonie ſeines Weſens. Dieß
dürfen Sie aber nicht ſagen. Ihr Künſtler muß
Hörer haben, oder er iſt umſonſt da geweſen.
„Ich verſtehe Sie — aber Ihr gegebener Fall
kann nie Statt finden. Kein moraliſches Weſen
iſt in einer Wüſte; wo es lebet und webet, berührt
es ein umgränzendes All. Die Wirkung, die es
leiſtet, wär' es auch nur dieſe einzige, wiſſen wir,
konnte nur dieſes Weſen und kein andres leiſten,
und es konnte dieſe Wirkung nur vermöge ſeiner
ganzen Beſchaffenheit leiſten. Wenn unſer Vir¬
tuoſe auch nur einmal zum Spielen gelangte, ſo
geſtehen Sie mir doch ein, daß er gerade dieſer
Künſt¬[159] Künſtler ſeyn mußte, der er war, daß er, um
dieſes zu ſeyn, gerade durch ſo viele Grade der
Uebung und Kunſtfertigkeit gegangen ſeyn mußte,
als er wirklich durchwandert hatte, und daß alſo
ſein ganzes vorher gegangenes Künſtlerleben an
dieſem Augenblick des Triumphes Theil nimmt.
War jener erſte Brutus zwanzig Jahre unnützlich,
weil er zwanzig Jahre den Blödſinnigen ſpielte?
Seine erſte That war die Gründung einer Repub¬
lick, die noch jezt als die größte Erſcheinung in
der Weltgeſchichte da ſteht. Und ſo wäre es denk¬
bar, daß meine Nothwendigkeit oder Ihre
Vorſehung einen Menſchen ein ganzes Menſchenal¬
ter lang ſchweigend einer That zubereitet hätte,
die ſie ihm erſt in ſeiner lezten Stunde abfordert.“
So ſcheinbar dieſes klingt — mein Herz kann
ſich nicht an die Idee gewöhnen, daß alle Kräfte,
alle Beſtrebungen des Menſchen nur für ſeinen
Einfluß in dieſer Zeitlichkeit arbeiten ſollen. Der
große, patriotiſche, erfahrene Staatsmann, der
heute vom Ruder geſtürzt wird, trägt alle ſeine
erworbenen Kenntniſſe, ſeine geübten Kräfte, ſeine
zeitigenden Plane in ſein vergeßnes Privatleben
hinein, worin er ſtirbt. Vielleicht hatte er nur
noch den lezten Stein an die Pyramide zu ſetzen,
die hinter ihm zuſammen ſtürzt, die ſeine Nachfol¬
ger ganz von dem unterſten Steine wieder anfan¬
gen müſſen. Mußte er in funfzig Lebens jahren,
mußte er während ſeiner anſtrengenden Reichsver¬
waltung nur für die unthätige Stille ſeines Pri¬
vatlebens ſammeln? Daß er durch dieſe Verwal¬
tung[160] tung ſeine Wirkung erfüllt habe, dürfen Sie mir
nicht antworten. Wenn der Einfluß in dieſe Welt
die ganze Beſtimmung des Menſchen erſchöpft, ſo
muß ſein Daſeyn zugleich mit ſeiner Wirkung auf¬
hören.
Ich verweiſe Sie an das ſprechende Beiſpiel
der phyſiſchen Natur, von der Sie mir doch ein¬
räumen müſſen, daß ſie nur für die Zeitlichkeit
arbeite. Wie viele Keime und Embryonen, die
ſie mit ſo viel Kunſt und Sorgfalt zum künftigen
Leben zuſammenſezte, werden wieder in das Ele¬
mentenreich aufgelöſ't, ohne je zur Entwicklung zu
gedeihen. — Warum ſezte ſie ſie zuſammen? In
jedem Menſchenpaare ſchläft, wie in dem erſten, ein
ganzes Menſchengeſchlecht, warum ließ ſie aus ſo
viel Millionen nur ein einziges werden? So ge¬
wiß ſie auch dieſe verderbenden Keime verarbeitet,
ſo gewiß werden auch moraliſche Weſen, bei de¬
nen ſie einen höhern Zweck zu verlaſſen ſchien, frü¬
her oder ſpäter in denſelbigen eintreten. Ergrün¬
den zu wollen, wie ſie eine einzelne Wirkung durch
die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindiſche
Anmaßung verrathen. Oft, ſehen wir, läßt ſie
den Faden einer That, einer Begebenheit plötzlich
fallen, den ſie drei Jahrtauſende nachher eben
ſo plötzlich wieder aufnimmt, verſenkt in Kalabrien
die Künſte und Sitten des achtzehnten Jahr¬
hunderts, um ſie vielleicht im dreiſſigſten dem
verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt
viele Menſchenalter lang geſund Nomadenhorden
auf den tarlariſchen Steppen, um ſie einſt dem
ermat¬[161] ermattenden Süden als friſches Blut zuzuſenden,
wie ſie auf ihrem phyſiſchen Gange das Meer über
Hollands und Seelands Küſten wirft, um vielleicht
eine Inſel im fernen Amerika zu entblößen! Aber
auch im Einzelnen und im Kleinen fehlt es an ſol¬
chen Winken nicht ganz. Wie oft thut die Mäßig¬
keit eines Vaters, der längſt nicht mehr iſt, an
einem genievollen Sohne Wunder, wie oft ward
ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt um eine
Grabſchrift zu verdienen, die in die Seele eines
ſpäten Nachkömmlings einen Feuerſtral werfen
ſoll! — Weil vor Jahrhunderten ein verſcheuchter
Vogel auf ſeinem Fluge einige Saamenkörner da
niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk
auf einem wüſten Eyland eine Aerndte — und
ein moraliſcher Keim ging in einem ſo fruchtbaren
Erdreich verloren!
O beſter Prinz! Ihre Beredſamkeit begeiſtert
mich zum Kampfe gegen Sie ſelber. So viel Vor¬
treflichkeit können Sie Ihrer fühlloſen Nothwendig¬
keit gönnen, und wollen nicht lieber einen Gott da¬
mit glücklich machen? Sehen Sie in der ganzen
Schöpfung umher. Wo irgend nur ein Genuß
bereitet liegt, finden Sie ein genießendes Weſen —
und dieſen unendlichen Genuß, dieſes Mahl von
Vollkommenheit, ſollte durch die ganze Ewigkeit
leer ſtehen?
„Sonderbar! ſagte der Prinz nach einer tiefen
Stille. Worauf Sie und Andere ihre Hoff¬
nungen gründen, eben das hat die meinigen umge¬
d. Geiſterſeher. Lſtürzt[162] ſtürzt — eben dieſe geahndete Vollkommenheit der
Dinge. Wäre nicht alles ſo in ſich beſchloſſen, ſäh'
ich auch nur einen einzigen verunſtaltenden Split¬
ter aus dieſem ſchönen Kreiſe herausragen, ſo
würde mir das die Unſterblichkeit beweiſen. Aber
alles, alles was ich ſehe und bemerke, fällt zu die¬
ſem ſichtbaren Mittelpunkt zurück, und unſre
edelſte Geiſtigkeit iſt eine ſo ganz unentbehrliche
Maſchine, dieſes Rad der Vergänglichkeit zu
treiben.“
Ich begreife Sie nicht, gnädigſter Prinz. Ihre
eigne Philoſophie ſpricht Ihnen das Urtheil: wahr¬
lich, Sie ſind dem reichen Manne gleich, der bey
allen ſeinen Schätzen darbet. Sie geſtehen, daß
der Menſch alles in ſich ſchließe, um glücklich zu
ſeyn, daß er ſeine Glückſeligkeit nur allein durch
das erhalten könne, was er beſitzet, und Sie ſelbſt
wollen die Quelle ihres Unglücks außer Sich ſuchen.
Sind Ihre Schlüſſe wahr, ſo iſt es ja nicht mög¬
lich, daß Sie auch nur mit einem Wunſche über
dieſen Ring hinausſtreben, in welchem Sie den
Menſchen gefangen halten.
„Das eben iſt das Schlimme, daß wir nur
moraliſch vollkommen, nur glückſelig ſind, um
brauchbar zu ſeyn, daß wir unſern Fleiß, aber
nicht unſre Werke genießen. Hunderttauſend
arbeitſame Hände trugen die Steine zu den Pyra¬
miden zuſammen — aber nicht die Pyramide war
ihr Lohn. Die Pyramide ergötzte das Auge der
Könige, und die fleißigen Sklaven fand man mit
dem[163] dem Lebensunterhalt ab. Was iſt man dem Ar¬
beiter ſchuldig, wenn er nicht mehr arbeiten kann,
oder nichts mehr für ihn zu arbeiten ſeyn wird?
Was dem Menſchen, wenn er nicht mehr zu brau¬
chen iſt?“
Man wird ihn immer brauchen.
„Auch immer als ein denkendes Weſen?“
Hier unterbrach uns ein Beſuch — und ſpät
genug, werden Sie denken. Verzeihung, liebſter
0***, für dieſen ewig langen Brief. Sie woll¬
ten alle Kleinigkeiten des Prinzen erfahren und
darunter kann ich doch wohl auch ſeine Moralphi¬
loſophie rechnen. Ich weiß, der Zuſtand ſeines
Geiſtes iſt Ihnen wichtig, und ſeine Handlungen,
weiß ich, ſind Ihnen nur wegen jenes wichtig.
Darum ſchrieb ich alles auch getreulich nieder, was
mir aus dieſer Unterredung im Gedächtniß geblie¬
ben iſt. Künftig werde ich Sie von einer Neuig¬
keit unterhalten, die Sie wohl ſchwerlich auf ein
Geſpräch, wie das heutige, erwarten dürften.
Leben Sie wohl.
L 2Baron[164]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Fünfter Brief.
1. Julius.
Da unſer Abſchied von Venedig nunmehr mit ſtar¬
ken Schritten herannahet, ſo ſollte dieſe Woche
noch dazu angewandt werden, alles Sehenswürdige
an Gemählden und Gebäuden noch nachzuholen,
was man bey einem langen Aufenthalte immer ver¬
ſchiebt. Beſonders hatte man uns mit vieler Be¬
wunderung von der Hochzeit zu Cana des Paul
Veroneſe geſprochen, die auf der Inſel S. Georg
in einem dortigen Benediktinerkloſter zu ſehen iſt.
Erwarten Sie von mir keine Beſchreibung dieſes
außerordentlichen Kunſtwerks, das mir im Ganzen
zwar einen ſehr überraſchenden, aber nicht ſehr ge¬
nußreichen Anblick gegeben hat. Wir hätten ſo
viele Stunden als Minuten gebraucht, um eine
Kompoſition von hundert und zwanzig Figuren zu
umfaßen, die über dreyßig Fuß in der Breite hat.
Welches menſchliche Auge kann ein ſo zuſammenge¬
ſetztes Ganze erreichen, und die ganze Schönheit,
die der Künſtler darin verſchwendet hat, in Einem
Eindruck genießen! Schade iſt es indeſſen, daß ein
Werk von dieſem Gehalte, das an einem öffentli¬
chen Orte glänzen und von jedermann genoſſen wer¬
den ſollte, keine beſſere Beſtimmung hat, als eine
Anzahl Mönche in ihrem Refektorium zu vergnü¬
gen. Auch die Kirche dieſes Kloſters verdient nicht
weni¬[165] weniger geſehen zu werden. Sie iſt eine der
ſchönſten in dieſer Stadt.
Gegen Abend ließen wir uns in die Giudecca
überfahren, um dort in den reitzenden Gärten
einen ſchönen Abend zu verleben. Die Geſellſchaft,
die nicht ſehr groß war, zerſtreute ſich bald, und
mich zog Civitella, der ſchon den ganzen Tag über
Gelegenheit geſucht hatte, mich zu ſprechen, mit
ſich in eine Boskage.
„Sie ſind der Freund des Prinzen, fing er an,
vor dem er keine Geheimniſſe zu haben pflegt, wie
ich von ſehr guter Hand weiß. Als ich heute in
ſein Hotel trat, kam ein Mann heraus, deſſen Ge¬
werbe mir bekannt iſt — und auf des Prinzen
Stirne ſtanden Wolken, als ich zu ihm herein
trat“ — Ich wollte ihn unterbrechen — „Sie
können es nicht läugnen, fuhr er fort, ich kannte
meinen Mann, ich hab' ihn ſehr gut ins Auge ge¬
faßt — und wär' es möglich? Der Prinz hätte
Freunde in Venedig, Freunde, die ihm mit Blut
und Leben verpflichtet ſind, und ſollte dahin ge¬
bracht ſeyn, in einem dringenden Falle ſich ſolcher
Creaturen zu bedienen? Seyn Sie aufrichtig, Ba¬
ron! — Iſt der Prinz in Verlegenheit? — Sie
bemühen Sich umſonſt, es zu verbergen. Was
ich von Ihnen nicht erfahre, iſt mir bey meinem
Manne gewiß, dem jedes Geheimniß feil iſt.“
Herr Marcheſe —
L 3„Ver¬[166]
„Verzeihen Sie. Ich muß indiskret ſcheinen,
um nicht ein Undankbarer zu werden. Dem Prin¬
zen dank' ich Leben, und was mir weit über das
Leben geht, einen vernünftigen Gebrauch des Le¬
bens. Ich ſollte den Prinzen Schritte thun ſehen,
die ihm koſten, die unter ſeiner Würde ſind, es
ſtünde in meiner Macht, ſie ihm zu erſparen, und
ich ſollte mich leidend dabey verhalten?“
Der Prinz iſt nicht in Verlegenheit, ſagte ich.
Einige Wechſel, die wir über Trient erwarteten,
ſind uns unvermuthet ausgeblieben. Zufällig ohne
Zweifel — oder weil man, in Ungewißheit we¬
gen ſeiner Abreiſe, noch eine nähere Weiſung von
ihm erwartete. Dies iſt nun geſchehen, und bis
dahin —
Er ſchüttelte den Kopf. „Verkennen Sie meine
Abſicht nicht, ſagte er. Es kann hier nicht davon
die Rede ſeyn meine Verbindlichkeit gegen den
Prinzen dadurch zu vermindern — würden alle
Reichthümer meines Onkels dazu hinreichen? Die
Rede iſt davon, ihm einen einzigen unangenehmen
Augenblick zu erſparen. Mein Oheim beſitzt ein
großes Vermögen, worüber ich ſo gut als über
mein Eigenthum disponiren kann. Ein glücklicher
Zufall führt mir den einzigen möglichen Fall entge¬
gen, daß dem Prinzen, von allem, was in meiner
Gewalt ſtehet, etwas nützlich werden kann. Ich
weiß, fuhr er fort, was die Delicateſſe dem Prin¬
zen auflegt — aber ſie iſt auch gegenſeitig — und
es wäre großmüthig von dem Prinzen gehandelt,
mir[167] mir dieſe kleine Genugthuung zu gönnen, geſchäh'
es auch nur zum Scheine — um mir die Laſt von
Verbindlichkeit, die mich niederdrückt, weniger
fühlbar zu machen.“
Er ließ nicht nach, bis ich ihm verſprochen
hatte, mein möglichſtes dabey zu thun; ich kannte
den Prinzen, und hoffte darum wenig. Alle Be¬
dingungen wollte er ſich von dem letztern gefallen
laſſen, wiewohl er geſtand, daß es ihn empfind¬
lich kränken würde, wenn ihn der Prinz auf den
Fuß eines Fremden behandelte.
Wir hatten uns in der Hitze des Geſprächs
weit von der übrigen Geſellſchaft verloren, und
waren eben auf dem Rückweg, als Z*** uns
entgegen kam.
„Ich ſuche den Prinzen bey Ihnen — iſt er
nicht hier? —“
Eben wollen wir zu ihm. Wir vermutheten
ihn bey der übrigen Geſellſchaft zu finden —
„Die Geſellſchaft iſt beyſammen, aber er iſt
nirgends anzutreffen. Ich weiß gar nicht, wie er
uns aus den Augen gekommen iſt.“
Hier erinnerte ſich Civitella, daß ihm vielleicht
eingefallen ſeyn könnte, die anſtoßende Kirche zu
beſuchen, auf die er ihn kurz vorher ſehr aufmerk¬
ſam gemacht hatte. Wir machten uns ſogleich auf
den Weg, ihn dort aufzuſuchen. Schon von wei¬
L 4tem[168] tem entdeckten wir Biondello, der am Eingang der
Kirche wartete. Als wir näher kamen, trat der
Prinz etwas haſtig aus einer Seitenthüre, ſein Ge¬
ſicht glühte, ſeine Augen ſuchten Biondello, den
er herbey rief. Er ſchien ihm etwas ſehr angele¬
gentlich zu befehlen, wobey er immer die Augen
auf die Thüre richtete, die offen geblieben war.
Biondello eilte ſchnell von ihm in die Kirche — der
Prinz, ohne uns gewahr zu werden, drückte ſich
an uns vorbey, durch die Menge, und eilte zur
Geſellſchaft zurück, wo er noch vor uns anlangte.
Es wurde beſchloſſen, in einem offenen Pavillon
dieſes Gartens das Souper einzunehmen, wozu
der Marcheſe ohne unſer Wiſſen ein kleines Konzert
veranſtaltet hatte, das ganz auserleſen war. Be¬
ſonders ließ ſich eine junge Sängerin dabey hören,
die uns alle durch ihre liebliche Stimme wie durch
ihre reitzende Figur, entzückte. Auf den Prinzen
ſchien nichts Eindruck zu machen, er ſprach wenig,
und antwortete zerſtreut, ſeine Augen waren un¬
ruhig nach der Gegend gekehrt, woher Biondello
kommen mußte; eine große Bewegung ſchien in
ſeinem Innern vorzugehen. Civitella fragte, wie
ihm die Kirche gefallen hätte; er wußte nichts da¬
von zu ſagen. Man ſprach von einigen vorzügli¬
chen Gemählden, die ſie merkwürdig machten; er
hatte kein Gemählde geſehen. Wir merkten, daß
unſere Fragen ihn beläſtigten und ſchwiegen. Eine
Stunde verging nach der andern, und Biondello
kam noch immer nicht. Des Prinzen Ungeduld
ſtieg[169] ſtieg auf's höchſte; er hob die Tafel frühzeitig auf,
und ging in einer abgelegenen Allee ganz allein mit
ſtarken Schritten auf und nieder. Niemand be¬
griff, was ihm begegnet ſeyn mochte. Ich wagte
es nicht, ihn um die Urſache einer ſo ſeltſamen
Veränderung zu befragen; es iſt ſchon lange, daß
ich mir die vorigen Vertraulichkeiten nicht mehr
bey ihm heraus nehme. Mit deſto mehr Ungeduld
erwartete ich Biondellos Zurückkunft, der mir dieſes
Räthſel aufklären ſollte.
Es war nach zehn Uhr, als der wieder kam.
Die Nachrichten, die er dem Prinzen mitbrachte,
trugen nichts dazu bey, dieſen geſprächiger zu
machen. Mißmuthig trat er zur Geſellſchaft, die
Gondel wurde beſtellt, und bald darauf fuhren
wir nach Hauſe.
Den ganzen Abend konnte ich keine Gelegen¬
heit finden, Biondello zu ſprechen, ich mußte mich
alſo mit meiner unbefriedigten Neugierde ſchlafen
legen. Der Prinz hatte uns frühzeitig entlaſſen,
aber tauſend Gedanken, die mir durch den Kopf
gingen, erhielten mich munter. Lange hört' ich
ihn über meinem Schlafzimmer auf und nieder
gehen; endlich überwältigte mich der Schlaf.
Spät nach Mitternacht erweckte mich eine Stimme
— eine Hand fuhr über mein Geſicht; wie ich
aufſah, war es der Prinz, der, ein Licht in der
Hand, vor meinem Bette ſtand Er könne nicht
einſchlafen, ſagte er, und bath mich, ihm die
Nacht verkürzen zu helfen. Ich wollte mich in
L 5meine[170] meine Kleider werfen — er befahl mir zu bleiben,
und ſetzte ſich zu mir vor das Bette.
„Es iſt mir heute etwas vorgekommen, fing
er an, davon der Eindruck aus meinem Gemüthe
nie mehr verlöſchen wird. Ich ging von Ihnen,
wie Sie wiſſen, in die *** Kirche, worauf mich
Civitella neugierig gemacht, und die ſchon von
ferne meine Augen auf ſich gezogen hatte. Weil
weder Sie noch Er mir gleich zur Hand waren, ſo
machte ich die wenigen Schritte allein; Biondello
ließ ich am Eingange auf mich warten. Die Kir¬
che war ganz leer — eine ſchaurigkühle Dunkel¬
heit umfing mich, als ich aus dem ſchwülen,
blendenden Tageslicht hinein trat. Ich ſah mich
einſam in dem weiten Gewölbe, worin eine feier¬
liche Grabſtille herrſchte. Ich ſtellte mich in die
Mitte des Doms, und überließ mich der ganzen
Fülle dieſes Eindrucks; allmählich traten die großen
Verhältniſſe dieſes majeſtätiſchen Baues meinen Au¬
gen bemerkbarer hervor, ich verlor mich in ernſter
ergötzender Betrachtung. Die Abendglocke tönte
über mir, ihr Ton verhallte ſanft in dieſem Ge¬
wölbe, wie in meiner Seele. Einige Altarſtücke
hatten von weitem meine Aufmerkſamkeit erweckt;
ich trat näher, ſie zu betrachten; unvermerkt
hatte ich dieſe ganze Seite der Kirche bis zum ent¬
gegen ſtehenden Ende durchwandert. Hier lenkt
man um einen Pfeiler einige Treppen hinauf in eine
Nebenkapelle, worin mehrere kleinere Altäre und
Statuen von Heiligen in Niſchen angebracht ſtehen.
Wie[171] Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete —
höre ich nahe an mir ein zartes Wiſpern, wie wenn
jemand leiſe ſpricht — ich wende mich nach dem
Tone, und — zwey Schritte von mir fällt mir
eine weibliche Geſtalt in die Augen — — Nein!
ich kann ſie nicht nachſchildern, dieſe Geſtalt! —
Schrecken war meine erſte Empfindung, die aber
bald dem ſüßeſten Hinſtaunen Platz machte.“
Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen
Sie auch gewiß, daß ſie etwas lebendiges war,
etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein
Geſicht Ihrer Phantaſie?
„Hören Sie weiter — Es war eine Dame —
Nein! Ich hatte bis auf dieſen Augenblick dieß Ge¬
ſchlecht nie geſehen! — Alles war düſter rings¬
herum, nur durch ein einziges Fenſter fiel der
unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war
nirgends mehr, als auf dieſer Geſtalt. Mit un¬
ausſprechlicher Anmuth — halb knieend, halb
liegend — war ſie vor einem Altar hingegoſſen —
der gewagteſte, lieblichſte, gelungenſte Umriß, ein¬
zig und unnachahmlich, die ſchönſte Linie in der
Natur. In ſchwarzen Mohr war ſie gekleidet,
der ſich ſpannend um den reitzendſten Leib, um die
niedlichſten Arme ſchloß, und in weiten Falten,
wie eine ſpaniſche Robe, um ſie breitete; ihr lan¬
ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten
geſchlungen, die durch ihre Schwere los gegangen
und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,
floß[172] floß in reitzender Unordnung weit über den Rücken
hinab — eine Hand lag an dem Crucifixe, und
ſanft hinſinkend ruhte ſie auf der andern. Aber
wo finde ich Worte, Ihnen das himmliſchſchöne
Angeſicht zu beſchreiben, wo eine Engelſeele, wie
auf ihrem Thronenſitz, die ganze Fülle ihrer Reitze
ausbreitete? Die Abendſonne ſpielte darauf, und
ihr luftiges Gold ſchien es mit einer künſtlichen
Glorie zu umgeben. Können Sie Sich die Ma¬
donna unſers Florentiners zurück rufen? — Hier
war ſie ganz, ganz bis auf die unregelmäßigen
Eigenheiten, die ich an jenem Bilde ſo anziehend,
ſo unwiderſtehlich fand.“
Mit der Madonna, von der der Prinz hier
ſpricht, verhält es ſich ſo. Kurz nachdem Sie ab¬
gereiſet waren, lernte er einen florentiniſchen Mahler
hier kennen, der nach Venedig berufen worden war,
um für eine Kirche, deren ich mich nicht mehr ent¬
ſinne, ein Altarblatt zu mahlen. Er hatte drey
andere Gemählde mitgebracht, die er für die Gal¬
lerie im Kornariſchen Pallaſte beſtimmt hatte. Die
Gemählde waren eine Madonna, eine Heloiſe,
und eine faſt ganz unbekleidete Venus — alle drey
von ausnehmender Schönheit, und bey der höch¬
ſten Verſchiedenheit am Werthe einander ſo gleich,
daß es beynahe unmöglich war, ſich für eines von
den dreyen ausſchließend zu entſcheiden. Nur der
Prinz blieb nicht einen Augenblick unſchlüſſig; man
hatte ſie kaum vor ihm ausgeſtellt, als das Ma¬
donnaſtück ſeine ganze Aufmerkſamkeit an ſich zog;
in[173] in den beyden übrigen wurde das Genie des Künſt¬
lers bewundert, bey dieſem vergaß er den Künſtler
und ſeine Kunſt, um ganz im Anſchauen ſeines
Werks zu leben. Er war ganz wunderbar davon
gerührt; er konnte ſich von dem Stücke kaum los
reißen. Der Künſtler, dem man wohl anſah, daß
er das Urtheil des Prinzen im Herzen bekräftigte,
hatte den Eigenſinn, die drey Stücke nicht trennen
zu wollen, und foderte 1500 Zechinen für alle.
Die Hälfte both ihm der Prinz für dieſes einzige
an — der Künſtler beſtand auf ſeine Bedingung,
und wer weiß, was noch geſchehen wäre, wenn ſich
nicht ein entſchloſſener Käufer gefunden hätte.
Zwey Stunden darauf waren alle drey Stücke
weg; wir haben ſie nicht mehr geſehen. Dieſes
Gemählde kam dem Prinzen jetzt in Erinnerung.
„Ich ſtand,“ fuhr er fort, „ich ſtand in ihren
Anblick verloren. Sie bemerkte mich nicht, ſie
ließ ſich durch meine Dazwiſchenkunft nicht ſtören,
ſo ganz war ſie in ihrer Andacht vertieft. Sie
bethete zu ihrer Gottheit und ich bethete zu ihr —
Ja, ich bethete ſie an — Alle dieſe Bilder der
Heiligen, dieſe Altäre, dieſe brennenden Kerzen
hatten mich nicht daran erinnert; jetzt zum erſten¬
mal ergriff mich's, als ob ich in einem Heiligthum
wäre. Soll ich es Ihnen geſtehen? Ich glaubte
in dieſem Augenblicke felſenfeſt an den, den ihre
ſchöne Hand umfaßt hielt. Ich las ja ſeine Ant¬
wort in ihren Augen. Dank ihrer reitzenden An¬
dacht! Sie machte mir ihn wirklich — ich folgte
ihr nach durch alle ſeine Himmel.“
„Sie[174]
„Sie ſtand auf, und jetzt erſt kam ich wieder
zu mir ſelbſt. Mit ſchüchterner Verwirrung wich
ich auf die Seite, das Geräuſch, das ich machte,
entdeckte mich ihr. Die unvermuthete Nähe eines
Mannes mußte ſie überraſchen, meine Dreiſtigkeit
konnte ſie beleidigen; keines von beyden war in
dem Blicke, womit ſie mich anſah. Ruhe, un¬
ausſprechliche Ruhe war darin, und ein gütiges
Lächeln ſpielte um ihre Wangen. Sie kam aus
ihrem Himmel — und ich war das erſte glückliche
Geſchöpf, das ſich ihrem Wohlwollen anboth.
Sie ſchwebte noch auf der letzten Sproſſe des Ge¬
beths — ſie hatte die Erde noch nicht berührt.“
„In einer andern Ecke der Kapelle regte es ſich
nun auch. Eine ältliche Dame war es, die dicht
hinter mir von einem Kirchſtuhle aufſtand. Ich
hatte ſie bis jetzt nicht wahrgenommen. Sie war
nur wenige Schritte von mir, ſie hatte alle meine
Bewegungen geſehen. Dieß beſtürzte mich — ich
ſchlug die Augen zu Boden, und man rauſchte an
mir vorüber.“
Ueber das letzte glaubte ich den Prinzen be¬
ruhigen zu können.
„Sonderbar, fuhr der Prinz nach einem tiefen
Stillſchweigen fort, kann man etwas nie gekannt,
nie gemißt haben, und einige Augenblicke ſpäter
nur in dieſem Einzigen leben? Kann ein einziger
Moment den Menſchen in zwey ſo ungleichartige
Weſen zertrennen? Es wäre mir eben ſo unmög¬
lich,[175] lich, zu den Freuden und Wünſchen des geſtrigen
Morgens, als zu den Spielen meiner Kindheit zu¬
rück zu kehren. Seit ich das ſah, ſeitdem dieſes
Bild hier wohnet — dieſes lebendige, mächtige
Gefühl in mir: Du kannſt nichts mehr lieben als
das, und in dieſer Welt wird nichts mehr auf
dich wirken!“
Denken Sie nach, gnädigſter Herr, in welcher
reitzbaren Stimmung Sie waren, als dieſe Er¬
ſcheinung Sie überraſchte, und wie vieles zuſam¬
menkam, Ihre Einbildungskraft zu ſpannen. Aus
dem hellen blendenden Tageslicht, aus dem Gewühle
der Straße plötzlich in dieſe ſtille Dunkelheit ver¬
ſetzt — ganz den Empfindungen hingegeben, die,
wie Sie ſelbſt geſtehen, die Stille, die Majeſtät
dieſes Orts in Ihnen rege machte — durch Be¬
trachtung ſchöner Kunſtwerke für Schönheit über¬
haupt empfänglicher gemacht— zugleich allein und
einſam Ihrer Meinung nach — und nun auf ein¬
mal — in der Nähe von einer Mädchengeſtalt
überraſcht, wo Sie Sich keines Zeugen verſahen —
von einer Schönheit, wie ich Ihnen gerne zugebe,
die durch eine vortheilhafte Beleuchtung, eine glück¬
liche Stellung, einen Ausdruck begeiſterter Andacht
noch mehr erhoben ward — was war natürlicher,
als daß Ihre entzündete Phantaſie ſich etwas idea¬
liſches, etwas überirdiſchvollkommenes daraus zu¬
ſammenſetzte?
„Kann die Phantaſie etwas geben, was ſie
nie empfangen hat? — und im ganzen Gebiethe
meiner[176] meiner Darſtellung iſt nichts, was ich mit dieſem
Bilde zuſammenſtellen könnte. Ganz und unver¬
ändert, wie im Augenblicke des Schauens, liegt
es in meiner Erinnerung; ich habe nichts als die¬
ſes Bild — aber Sie könnten mir eine Welt da¬
für biethen!“
Gnädigſter Prinz, das iſt Liebe.
„Muß es denn nothwendig ein Name ſeyn,
unter welchem ich glücklich bin? Liebe! — Ernie¬
drigen Sie meine Empfindung nicht mit einem Na¬
men, den tauſend ſchwache Seelen mißbrauchen!
Welcher andere hat gefühlt, was ich fühle? Ein
ſolches Weſen war noch nicht vorhanden, wie kann
der Name früher da ſeyn, als die Empfindung?
Es iſt ein neues einziges Gefühl, neu entſtanden
mit dieſem neuen einzigen Weſen, und für dieſes
Weſen nur möglich! — Liebe! Vor der Liebe bin
ich ſicher!“
Sie verſchickten Biondello — ohne Zweifel,
um die Spur Ihrer Unbekannten zu verfolgen, um
Erkundigungen von ihr einzuziehen? Was für
Nachrichten brachte er Ihnen zurück?
„Biondello hat nichts entdeckt — ſo viel als
gar nichts. Er fand ſie noch an der Kirchthüre.
Ein bejahrter, anſtändig gekleideter Mann, der
eher einem hieſigen Bürger als einem Bedienten
gleich ſah, erſchien, ſie nach der Gondel zu beglei¬
ten. Eine Anzahl Armer ſtellte ſich in Reihen,
wie ſie vorüber ging, und verließ ſie mit ſehr ver¬
gnüg¬[177] gnügter Miene. Bey dieſer Gelegenheit, ſagt
Biondello, wurde eine Hand ſichtbar, woran eini¬
ge koſtbare Steine blitzten. Mit ihrer Begleiterin
ſprach ſie einiges, das Biondello nicht verſtand;
er behauptet, es ſey griechiſch geweſen. Da ſie
eine ziemliche Strecke nach dem Kanal zu gehen
hatten, ſo fing ſchon etwas Volk an, ſich zu ſam¬
meln, das Außerordentliche des Anblicks brachte
alle Vorübergehende zum Stehen. Niemand kannte
ſie — aber die Schönheit iſt eine geborne Königin.
Alles machte ihr ehrerbietig Platz. Sie ließ einen
ſchwarzen Schleier über das Geſicht fallen, der
das halbe Gewand bedeckte, und eilte in die Gon¬
del. Längs dem ganzen Kanal der Giodecca behielt
Biondello das Fahrzeug im Geſicht, aber es weiter
zu verfolgen, unterſagte ihm das Gedränge.“
Aber den Gondolier hat er ſich doch gemerkt,
um dieſen wenigſtens wieder zu erkennen?
„Den Gondolier getraut er ſich ausfindig zu
machen; doch es iſt keiner von denen, mit denen
er Verkehr hat. Die Armen die er ausfragte,
konnten ihm weiter keinen Beſcheid geben, als daß
Signora ſich ſchon ſeit einigen Wochen und immer
Sonnabends hier zeige, und noch allemal ein Gold¬
ſtück unter ſie vertheilt habe. Es war ein hollän¬
diſcher Ducaten, den er eingewechſelt, und mir
überbracht hat.“
Eine Griechin alſo, und von Stande, wie es
ſcheint, von Vermögen wenigſtens, und wohlthä¬
d. Geiſterſeher. Mtig.[178] tig. Das wäre für's erſte genug, gnädigſter Herr
— genug und faſt zu viel! Aber eine Griechin und
in einer katholiſchen Kirche!
„Warum nicht? Sie kann ihren Glauben ver¬
laſſen haben. Ueberdieß — etwas geheimnißvol¬
les iſt hier immer — Warum die Woche nur Ein¬
mal? Warum nur Sonnabends in dieſe Kirche,
wo dieſe gewöhnlich verlaſſen ſeyn ſoll, wie mir
Biondello ſagt? — Späteſtens der kommende
Sonnabend muß dieß entſcheiden. Aber bis dahin,
lieber Freund, helfen Sie mir dieſe Kluft von Zeit
überſpringen! Aber umſonſt! Stunden gehen ihren
gelaſſenen Schritt, und meine Seele glühet.“
Und wenn dieſer Tag nun erſcheint — was
dann, gnädigſter Herr? Was ſoll dann geſchehen?
„Was geſchehen ſoll? — Ich werde ſie ſehen.
Ich werde ihren Aufenthalt erforſchen. Ich werde
erfahren, wer ſie iſt? — Was kann mich dieſes
bekümmern? Was ich ſah, machte mich glücklich,
alſo weiß ich ja ſchon alles, was mich glücklich
machen kann!“
Und unſere Abreiſe aus Venedig, die auf den
Anfang kommenden Monats feſtgeſetzt iſt?
„Konnte ich im voraus wiſſen, daß Venedig
noch einen ſolchen Schatz für mich einſchließe? —
Sie fragen mich aus meinem geſtrigen Leben. Ich
ſage Ihnen, daß ich nur von heute an bin und
ſeyn will.“
Jetzt[179]
Jetzt glaubte ich die Gelegenheit gefunden zu
haben, dem Marcheſe Wort zu halten. Ich machte
dem Prinzen begreiflich, daß ſein längeres Bleiben in
Venedig mit dem geſchwächten Zuſtand ſeiner Kaſſe
durchaus nicht beſtehen könne, und daß, im Fall
er ſeinen Aufenthalt über den zugeſtandenen Ter¬
min verlängerte, auch von ſeinem Hofe nicht ſehr
auf Unterſtützung würde zu rechnen ſeyn. Bey
dieſer Gelegenheit erfuhr ich, was mir bis jetzt ein
Geheimniß geweſen, daß ihm von ſeiner Schweſter,
der regierenden *** von ***, ausſchließend vor
ſeinen übrigen Brüdern und heimlich, anſehnliche
Zuſchüſſe bezahlt werden, die ſie gerne bereit ſeyn
würde zu verdoppeln, wenn ſein Hof ihn in Stiche
ließe. Dieſe Schweſter, eine fromme Schwärme¬
rin, wie Sie wiſſen glaubt die großen Erſparniſſe,
die ſie bey einem ſehr eingeſchränkten Hofe macht,
nirgends beſſer aufgehoben, als bey einem Bruder,
deſſen weiſe Wohlthätigkeit ſie kennt, und den ſie
enthuſiaſtiſch verehrt. Ich wußte zwar ſchon
längſt, daß zwiſchen beyden ein ſehr genaues Ver¬
hältniß Statt findet, auch viele Briefe gewechſelt
werden, aber weil ſich der bisherige Aufwand des
Prinzen aus den bekannten Quellen hinlänglich
beſtreiten ließ, ſo war ich auf die verborgene Hülfs¬
quelle nie gefallen. Es iſt alſo klar, daß der Prinz
Ausgaben gehabt hat, die mir ein Geheimniß wa¬
ren, und es noch jetzt ſind; und wenn ich aus ſei¬
nem übrigen Charakter ſchließen darf, ſo ſind es
gewiß keine andere, als die ihm zur Ehre gereichen.
Und ich konnte mir einbilden, ihn ergründet zu
M 2haben?[180] haben? — Um ſo weniger glaubte ich nach dieſer
Entdeckung anſtehen zu dürfen, ihm das Anerbie¬
ten des Marcheſe zu offenbaren — welches zu mei¬
ner nicht geringen Verwunderung ohne alle Schwie¬
rigkeit angenommen wurde. Er gab mir Voll¬
macht, dieſe Sache mit dem Marcheſe auf die Art,
welche ich für die beſte hielt, abzuthun, und dann
ſogleich mit dem Wucherer aufzuheben. An ſeine
Schweſter ſollte unverzüglich geſchrieben werden.
Es war Morgen, als wir aus einander gingen.
So unangenehm mir dieſer Vorfall aus mehr als
Einer Urſache iſt und ſeyn muß, ſo iſt doch das
allerverdrüßlichſte daran, daß er unſern Aufent¬
halt in Venedig zu verlängern droht: Von dieſer
anfangenden Leidenſchaft erwarte ich vielmehr gutes
als ſchlimmes. Sie iſt vielleicht das kräftigſte
Mittel, den Prinzen von ſeinen metaphyſiſchen
Träumereyen wieder zur ordinären Menſchheit herab
zu ziehen: ſie wird die gewöhnliche Kriſe haben,
und, wie eine künſtliche Krankheit, auch die alte
mit ſich hinweg nehmen.
Leben Sie wohl, liebſter Freund. Ich habe
Ihnen alles dieß nach friſcher That hingeſchrieben.
Die Poſt geht ſogleich; ſie werden dieſen Brief mit
dem vorhergehenden an Einem Tage erhalten.
Baron[181]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Sechster Brief.
20. Junius.
Dieſer Civitella iſt doch der dienſtfertigſte Menſch
von der Welt. Der Prinz hatte mich neulich kaum
verlaſſen, als ſchon ein Billet von dem Marcheſe
erſchien, worin mir die Sache auf's dringendſte
empfohlen wurde. Ich ſchickte ihm ſogleich eine
Verſchreibung in des Prinzen Namen auf 6000
Zechinen; in weniger als einer halben Stunde
folgte ſie zurück, nebſt der doppelten Summe, in
Wechſeln ſowohl als baarem Golde. In die Er¬
höhung der Summe willigte endlich der Prinz;
die Verſchreibung aber, die nur auf ſechs Wochen
geſtellt war, mußte angenommen werden.
Dieſe ganze Woche ging in Erkundigungen
nach der geheimnißvollen Griechin hin. Biondello
ſetzte alle ſeine Maſchinen in Bewegung, bis jetzt
aber war alles vergeblich. Den Gondolier machte
er zwar ausfindig, aus dieſem war aber nichts
weiter heraus zu bringen, als daß er beyde Damen
auf der Inſel Murano ausgeſetzt habe, wo zwey
Sänften auf ſie gewartet hätten, in die ſie geſtie¬
gen ſeyn. Er machte ſie zu Engländerinnen, weil
ſie eine fremde Sprache geſprochen und ihn mit
Gold bezahlt hätten. Auch ihren Begleiter kenne
er nicht, er komme ihm vor, wie ein Spiegel¬
fabri¬M 3[182] fabrikant aus Murano. Nun wußten wir wenig¬
ſtens, daß wir ſie nicht in der Giudecca zu ſuchen
hätten, und daß ſie aller Wahrſcheinlichkeit nach
auf der Inſel Murano zu Hauſe ſey; aber das
Unglück war, daß die Beſchreibung, welche der
Prinz von ihr machte, ſchlechterdings nicht dazu
taugte, ſie einem Dritten kenntlich zu machen.
Gerade die leidenſchaftliche Aufmerkſamkeit, wo¬
mit er ihren Anblick gleichſam verſchlang, hatte
ihn gehindert, ſie zu ſehen; für alles das, worauf
andere Menſchen ihr Augenmerk vorzüglich würden
gerichtet haben, war er ganz blind geweſen; nach
ſeiner Schilderung war man eher verſucht, ſie im
Petrarch oder Taſſo, als auf einer venetianiſchen
Inſel zu ſuchen. Außerdem mußte dieſe Nachfrage
ſelbſt mit größter Vorſicht geſchehen, um weder
die Dame auszuſetzen, noch ſonſt ein anſtößiges
Aufſehen zu erregen. Weil Biondello außer dem
Prinzen der einzige war, der ſie, durch den
Schleier wenigſtens, geſehen hatte, und alſo wie¬
der erkennen konnte, ſo ſuchte er, wo möglich, an
allen Orten, wo ſie vermuthet werden konnte, zu
gleicher Zeit zu ſeyn, das Leben des armen Men¬
ſchen war dieſe ganze Woche über nichts, als ein
beſtändiges Rennen durch alle Straßen von Vene¬
dig. In der griechiſchen Kirche beſonders wurde
keine Nachforſchung geſpart, aber alles mit gleich
ſchlechtem Erfolge; und der Prinz, deſſen Unge¬
duld mit jeder fehlgeſchlagenen Erwartung ſtieg,
mußte ſich endlich doch noch auf den nächſten Sonn¬
abend vertröſten.
Seine[183]
Seine Unruhe war ſchrecklich. Nichts zerſtreute
ihn, nichts vermochte ihn zu feſſeln. Sein gan¬
zes Weſen war in fieberiſcher Bewegung, für alle
Geſellſchaft war er verloren, und das Uebel wuchs
in der Einſamkeit. Nun wurde er nie mehr von
Beſuchen belagert, als eben in dieſer Woche.
Sein naher Abſchied war angekündigt, alles dräng¬
te ſich herbey. Man mußte dieſe Menſchen be¬
ſchäftigen, um ihre argwöhniſche Aufmerkſamkeit
von ihm abzuziehen; man mußte ihn beſchäfti¬
gen, um ſeinen Geiſt zu zerſtreuen. In dieſem
Bedrängniß verfiel Civitella auf das Spiel, und
um die Menge wenigſtens zu entfernen, ſollte hoch
geſpielt werden. Zugleich hoffte er, bey dem
Prinzen einen vorüber gehenden Geſchmack an dem
Spiel zu erwecken, der dieſen romanhaften
Schwung ſeiner Leidenſchaft bald erſticken, und
den man immer in der Gewalt haben würde, ihm
wieder zu benehmen. „Die Karten, ſagte Civi¬
tella, haben mich vor mancher Thorheit bewahrt,
die ich im Begriff war, zu begehen, manche wie¬
der gut gemacht, die ſchon begangen war. Die
Ruhe, die Vernunft, um die mich ein paar ſchöne
Augen brachten, habe ich oft am Pharotiſch wie¬
der gefunden, und nie hatten die Weiber mehr
Gewalt über mich, als wenn mir's an Geld ge¬
brach, um zu ſpielen.“
Ich laſſe dahin geſtellt ſeyn, in wie weit Civi¬
tella recht hatte — aber das Mittel, worauf wir
gefallen waren, fing bald an, noch gefährlicher
M 4zu[184] zu werden, als das Uebel, dem es abhelfen ſollte.
Der Prinz, der dem Spiel nur allein durch hohes
Wagen einen flüchtigen Reitz zu geben wußte, fand
bald keine Gränzen mehr darin. Er war einmal
aus ſeiner Achſe. Alles, was er that, nahm eine
leidenſchaftliche Geſtalt an; alles geſchah mit der
ungeduldigen Heftigkeit, die jetzt in ihm herrſchte.
Sie kennen ſeine Gleichgültigkeit gegen das Geld;
hier wurde ſie zur gänzlichen Unempfindlichkeit.
Goldſtücke zerrannen die Waſſertropfen in ſeinen
Händen. Er verlor faſt ununterbrochen, weil er
ganz und gar ohne Aufmerkſamkeit ſpielte. Er
verlor ungeheure Summen, weil er wie ein ver¬
zweifelter Spieler wagte. — Liebſter O***, mit
Herzklopfen ſchreib' ich es nieder — in vier Tagen
waren die zwölf tauſend Zechinen — und noch
darüber verloren.
Machen Sie mir keine Vorwürfe. Ich klage
mich ſelbſt genug an. Aber konnt' ich es hindern?
Hörte mich der Prinz? Konnte ich etwas anders,
als ihm Vorſtellung thun? Ich that was in mei¬
nem Vermögen ſtand. Ich kann mich nicht ſchul¬
dig finden.
Auch Civitella verlor beträchtlich, ich gewann
gegen ſechs hundert Zechinen. Das beyſpielloſe
Unglück des Prinzen machte Aufſehen; um ſo we¬
niger konnte er jetzt das Spiel verlaſſen. Civitella,
dem man die Freude anſieht, ihn zu verbinden,
ſtreckte ihm ſogleich die Summe vor. Die Lücke
iſt zugeſtopft, aber der Prinz iſt dem Marcheſe 24000
Zechi¬[185] Zechinen ſchuldig. O wie ſehne ich mich nach dem
Spargelde der frommen Schweſter! — Sind alle
Fürſten ſo, liebſter Freund? Der Prinz beträgt
ſich nicht anders, als wenn er dem Marcheſe noch
eine große Ehre erwieſen hätte, und dieſer —
ſpielt ſeine Rolle wenigſtens gut.
Civitella ſuchte mich damit zu beruhigen, daß
gerade dieſe Uebertreibung, dieſes außerordentliche
Unglück das kräftigſte Mittel ſey, den Prinzen
wieder zur Vernunft zu bringen. Mit dem Gelde
habe es keine Noth. Er ſelbſt fühle dieſe Lücke
gar nicht, und ſtehe dem Prinzen jeden Augenblick
mit noch dreymal ſo viel zu Dienſten. Auch der
Kardinal gab mir die Verſicherung, daß die Ge¬
ſinnung ſeines Neffen aufrichtig ſey, und daß er
ſelbſt bereit ſtehe, für ihn zu gewähren.
Das traurigſte war, daß dieſe ungeheuren
Aufopferungen ihre Wirkung nicht einmal erreich¬
ten. Man ſollte meinen, der Prinz habe wenig¬
ſtens mit Theilnehmung geſpielt? Nichts weniger.
Seine Gedanken waren weit weg, und die Leiden¬
ſchaft, die wir unterdrücken wollten, ſchien von
ſeinem Unglück im Spiele nur mehr Nahrung zu
erhalten. Wenn ein entſcheidender Streich ge¬
ſchehen ſollte, und alles ſich voll Erwartung um
ſeinen Spieltiſch herum drängte, ſuchten ſeine Au¬
gen Biondello, um ihm die Neuigkeit, die er etwa
mitbrächte, von dem Angeſicht zu ſtehlen. Bion¬
dello brachte immer nichts — und das Blatt ver¬
lor immer.
M 5Das[186]
Das Geld kam übrigens in ſehr bedürftige
Hände. Einige Excellenza, die, wie die böſe
Welt ihnen nachſagt, ihr frugales Mittagsmahl
in der Senatormütze ſelbſt von dem Markte nach
Hauſe tragen, traten als Bettler in unſer Haus,
und verließen es als wohlhabende Leute. Civitella
zeigte ſie mir. Sehen Sie, ſagte er, wie vielen
armen Teufeln es zu gute kommt, daß es einem
geſcheuten Kopf einfällt, nicht bey ſich ſelbſt zu ſeyn!
Aber das gefällt mir. Das iſt fürſtlich und kö¬
niglich! Ein großer Menſch muß auch in ſeinen
Verirrungen noch Glückliche machen, und wie ein
übertretender Strom die benachbarten Felder
befeuchten.“
Civitella denkt brav und edel — aber der
Prinz iſt ihm 24000 Zechinen ſchuldig!
Der ſo ſehnlich erwartete Sonnabend erſchien
endlich, und mein Herr ließ ſich nicht abhalten,
ſich gleich nach Mittag in der *** Kirche einzufin¬
den. Der Platz wurde in eben der Kapelle genom¬
men, wo er ſeine Unbekannte das erſtemal geſehen
hatte, doch ſo, daß er ihr nicht ſogleich in die
Augen fallen konnte. Biondello hatte Befehl, an
der Kirchthüre Wache zu ſtehen und dort mit dem
Begleiter der Dame Bekanntſchaft anzuknüpfen.
Ich hatte auf mich genommen, als ein unverdäch¬
tiger Vorübergehender bey der Rückfahrt in der¬
ſelben Gondel Platz zu nehmen, um die Spur der
Unbekannten weiter zu verfolgen, wenn das übrige
mißlingen ſollte. An demſelben Orte, wo ſie ſich
nach[187] nach des Gondoliers Ausſage das vorigemal hatte
ausſetzen laſſen, wurden zwey Sänften gemiethet;
zum Ueberfluß hieß der Prinz noch den Cammer¬
junker von Z*** in einer beſondern Gondel nach¬
folgen. Der Prinz ſelbſt wollte ganz ihrem An¬
blick leben, und wenn es anginge, ſein Glück in
der Kirche verſuchen. Civitella blieb ganz weg,
weil er bey dem Frauenzimmer in Venedig in zu
üblen Rufe ſtand, um durch ſeine Einmiſchung die
Dame nicht mißtrauiſch zu machen. Sie ſehen,
liebſter Graf, daß es an unſer Anſtalten nicht
lag, wenn die ſchöne Unbekannte uns entging.
Nie ſind wohl in einer Kirche wärmere Wün¬
ſche gethan worden, als in dieſer, und nie wur¬
den ſie grauſamer getäuſcht. Bis nach Sonnen¬
untergang harrte der Prinz aus, von jedem Ge¬
räuſche, das ſeiner Kapelle nahe kam, von jedem
Knarren der Kirchthüre in Erwartung geſetzt —
ſieben volle Stunden — und keine Griechin. Ich
ſage Ihnen nichts von ſeiner Gemüthslage. Sie
wiſſen, was eine fehlgeſchlagene Hoffnung iſt —
und eine Hoffnung, von der man ſieben Tage und
ſieben Nächte faſt einzig gelebt hat.
Baron[188]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Siebenter Brief.
Auguſt.
Nein, liebſter Freund. Sie thun dem guten
Biondello unrecht. Gewiß, Sie hegen einen fal¬
ſchen Verdacht. Ich gebe Ihnen alle Italiäner
Preis, aber dieſer iſt ehrlich.
Sie finden es ſonderbar, daß ein Menſch von
ſo glänzenden Talenten und einer ſo exemplariſchen
Aufführung ſich zum Dienen herab ſetze, wenn er
nicht geheime Abſichten dabey habe, und daraus
ziehen Sie den Schluß, daß dieſe Abſichten ver¬
dächtig ſeyn. Wie? Iſt es denn ſo etwas neues,
daß ein Menſch von Kopf und Verdienſten ſich
einem Fürſten gefällig zu machen ſucht, der es in
der Gewalt hat, ſein Glück zu machen? Iſt es
etwa entehrend, ihm zu dienen? Läßt Biondello
nicht deutlich genug merken, daß ſeine Anhänglich¬
keit an den Prinzen perſönlich ſey? Er hat ihm ja
geſtanden, daß er eine Bitte an ihn auf dem Her¬
zen habe. Dieſe Bitte wird uns ohne Zweifel das
ganze Geheimniß erklären. Geheime Abſichten
mag er immer haben, aber können dieſe nicht
unſchuldig ſeyn?
Es befremdet Sie, daß dieſer Biondello in
den erſten Monaten, und das waren die, in denen
Sie uns Ihre Gegenwart noch ſchenkten, alle die
großen[189] großen Talente, die er jetzt an den Tag kommen
laſſe, verborgen gehalten, und durch gar nichts
die Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen habe. Das
iſt wahr; aber wo hätte er damals die Gelegenheit
gehabt, ſich auszuzeichnen? Der Prinz bedurfte
ſeiner ja noch nicht, und ſeine übrigen Talente
mußte der Zufall uns entdecken.
Aber er hat uns ganz kürzlich einen Beweis
ſeiner Ergebenheit und Redlichkeit gegeben, der
alle ihre Zweifel zu Boden ſchlagen wird. Man
beobachtet den Prinzen. Man ſucht geheime Er¬
kundigungen von ſeiner Lebensart, von ſeinen Be¬
kanntſchaften und Verhältniſſen einzuziehen. Ich
weiß nicht, wer dieſe Neugierde hat. Aber hören
Sie an.
Es iſt hier in St. Georg ein öffentliches Haus,
wo Biondello öfters aus- und eingeht, er mag da
etwas liebes haben, ich weiß es nicht. Vor eini¬
gen Tagen iſt er auch da, er findet eine Geſellſchaft
beyſammen, Advokaten und Officianten der Re¬
gierung, luſtige Brüder und alte Bekannte von
ihm. Man verwundert ſich, man iſt erfreut, ihn
wieder zu ſehen. Die alte Bekanntſchaft wird
erneuert, jeder erzählt ſeine Geſchichte bis auf die¬
ſen Augenblick, Biondello ſoll auch die ſeinige zum
Beſten geben. Er thut es in wenig Worten.
Man wünſcht ihm Glück zu ſeinem neuen Etabliſſe¬
ment, man hat von der glänzenden Lebensart des
Prinzen von * * * ſchon erzählen hören, von ſeiner
Freygebigkeit gegen Leute beſonders, die ein Ge¬
heim¬[190] heimniß zu bewahren wiſſen, ſeine Verbindung
mit dem Kardinal A***i iſt weltbekannt, er liebt
das Spiel, u. ſ. f. Biondello ſtutzt — Man ſcherzt
mit ihm, daß er den Geheimnißvollen mache, man
wiſſe doch, daß er der Geſchäftsträger des Prinzen
von *** ſey. Die beyden Advokaten nehmen ihn
in die Mitte; die Flaſche leert ſich fleißig — man
nöthigt ihn zu trinken, er entſchuldigt ſich, weil er
keinen Wein vertrage, trinkt aber doch, um ſich
zum Schein zu betrinken.
„Ja, ſagte endlich der eine Advokat, Bion¬
dello verſteht ſein Handwerk, aber ausgelernt hat
er noch nicht. Er iſt nur ein Halber.“
Was fehlt mir noch? fragte Biondello.
„Er verſteht die Kunſt, ſagte der andere, ein
Geheimniß bey ſich zu behalten, aber die andere
noch nicht es mit Vortheil wieder los zu werden.“
Sollte ſich ein Käufer dazu finden? fragte
Biondello.
Die übrigen Gäſte zogen ſich hier aus dem
Zimmer, er blieb Tete a Tete mit ſeinen beyden
Leuten, die nun mit der Sprache heraus gingen.
Daß ich es kurz mache, er ſollte ihnen über den
Umgang des Prinzen mit dem Kardinal und ſeinem
Neffen Aufſchlüſſe verſchaffen, ihnen die Quelle
angeben, woraus der Prinz Geld ſchöpfe, und
ihnen die Briefe, die an den Grafen von O***
geſchrieben würden, in die Hände ſpielen. Bion¬
dello beſchied ſie auf ein andermal, aber wer ſie
ange¬[191] angeſtellt habe, konnte er nicht aus ihnen heraus
bringen. Nach den glänzenden Offerten, die ihm
gethan wurden, zu ſchließen, mußte die Nachfrage
von einem ſehr reichen Manne herrühren.
Geſtern Abend entdeckte er meinem Herrn den
ganzen Vorfall. Dieſe war anfangs Willens, die
Unterhändler kurz und gut beym Kopf nehmen zu
laſſen, aber Biondello machte Einwendungen. Auf
freyen Fuß würde man ſie doch wieder ſtellen müſ¬
ſen, und dann habe er ſeinen ganzen Credit unter
dieſer Klaſſe, vielleicht ſein Leben ſelbſt in Gefahr
geſetzt. Alle dieſes Volk hange unter ſich zuſam¬
men, alle ſtehen für Einen, er wolle lieber den
hohen Rath in Venedig zum Feind haben, als
unter ihnen für einen Verräther verſchrieen wer¬
den. Er würde dem Prinzen auch nicht mehr nütz¬
lich ſeyn können, wenn er das Vertrauen dieſer
Volksklaſſe verloren hätte.
Wir haben hin und her gerathen, von wem
dieß wohl kommen möchte. Wer iſt in Venedig,
dem daran liegen kann, zu wiſſen, was mein Herr
einnimmt und ausgiebt, was er mit dem Kardinal
A***i zu thun hat, und was ich Ihnen ſchreibe?
Sollte es gar noch ein Vermächtniß von dem Prin¬
zen von **d*** ſeyn? oder regt ſich etwa der
Armenier wieder?
Baron[192]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Achter Brief.
Auguſt.
Der Prinz ſchwimmt in Wonne und Liebe. Er
hat ſeine Griechin wieder. Hören Sie, wie dieß
zugegangen iſt.
Ein Fremder, der über Chiozza gekommen war,
und von der ſchönen Lage dieſer Stadt am Golf
viel zu erzählen wußte, machte den Prinzen neu¬
gierig, ſie zu ſehen. Geſtern wurde dieß ausge¬
führt, und um allen Zwang und Aufwand zu ver¬
meiden, ſollte niemand ihn begleiten als Z***
und ich, nebſt Biondello, und mein Herr wollte
unbekannt bleiben. Wir fanden ein Fahrzeug,
das eben dahin abging, und mietheten uns darauf
ein. Die Geſellſchaft war ſehr gemiſcht, aber
unbedeutend, und die Hinreiſe hatte nichts merk¬
würdiges.
Chiozza iſt auf eingerammten Pfählen gebaut,
wie Venedig, und ſoll gegen vierzig tauſend Ein¬
wohner zählen. Adel findet man wenig, aber bey
jedem Tritte ſtößt man auf Fiſcher oder Matroſen.
Wer eine Perücke und einen Mantel trägt, heißt
ein Reicher; Mütze und Ueberſchlag ſind das Zei¬
chen eines Armen. Die Lage der Stadt iſt ſchön,
doch darf man Venedig nicht geſehen haben.
Wir[193]
Wir verweilten uns nicht lange. Der Patron,
der noch mehr Paſſagiers hatte, mußte zeitig wie¬
der in Venedig ſeyn, und den Prinzen feſſelte
nichts in Chiozza. Alles hatte ſeinen Platz ſchon
im Schiffe genommen, als wir ankamen. Weil
ſich die Geſellſchaft auf der Herfahrt ſo beſchwerlich
gemacht hatte, ſo nahmen wir dießmal ein Zimmer
für uns allein. Der Prinz erkundigte ſich, wer
noch mehr da ſey? Ein Dominikaner, war die Ant¬
wort, und einige Damen, die retour nach Vene¬
dig gingen. Mein Herr war nicht neugierig, ſie
zu ſehen, und nahm ſogleich ſein Zimmer ein.
Die Griechin war der Gegenſtand unſers Ge¬
ſprächs auf der Herfahrt geweſen, und ſie war es
auch auf der Rückfahrt. Der Prinz wiederholte
ſich ihre Erſcheinung in der Kirche mit Feuer;
Plane wurden gemacht und verworfen; die Zeit
verſtrich wie ein Augenblick; ehe wir es uns ver¬
ſahen, lag Venedig vor uns. Einige von den Paſ¬
ſagiers ſtiegen aus, der Dominikaner war unter
dieſen. Der Patron ging zu den Damen, die,
wie wir jetzt erſt erfuhren, nur durch ein dünnes
Bret von uns geſchieden waren, und fragte ſie,
wo er anlegen ſollte. Auf der Inſel Murano, war
die Antwort, und das Haus wurde genannt. —
Inſel Murano! rief der Prinz, und ein Schauer
der Ahndung ſchien durch ſeine Seele zu fliegen.
Eh' ich ihm antworten konnte, ſtürzte Biondello
herein. „Wiſſen Sie auch, in welcher Geſellſchaft
wir reiſen?“ — Der Prinz ſprang auf — „Sie
d. Geiſterſeher. Niſt[194] iſt hier! Sie ſelbſt! fuhr Biondello fort. Ich
komme eben von ihrem Begleiter.“
Der Prinz drang hinaus. Das Zimmer ward
ihm zu enge, die ganze Welt wär' es ihm in die¬
ſem Augenblick geweſen. Tauſend Empfindungen
ſtürmten in ihm, ſeine Knie zitterten, Röthe und
Bläſſe wechſelten in ſeinem Geſichte. Ich zitterte
erwartungsvoll mit ihm. Ich kann Ihnen dieſen
Zuſtand nicht beſchreiben.
In Murano ward angehalten. Der Prinz
ſprang an's Ufer. Sie kam. Ich las im Geſicht
des Prinzen, daß ſie's war. Ihr Anblick ließ mir
keinen Zweifel übrig. Eine ſchönere Geſtalt hab'
ich nie geſehen, alle Beſchreibungen des Prinzen
waren unter ihr geblieben. Eine glühende Röthe
überzog ihr Geſicht, als ſie den Prinzen anſichtig
wurde. Sie hatte unſer ganzes Geſpräch hören
müſſen, ſie konnte auch nicht zweifeln, daß ſie der
Gegenſtand deſſelben geweſen ſey. Mit einem be¬
deutenden Blicke ſah ſie ihre Begleiterin an, als
wollte ſie ſagen: das iſt er! und mit Verwirrung
ſchlug ſie ihre Augen nieder. Ein ſchmales Bret
ward vom Schiff an das Ufer gelegt, über welches
ſie zu gehen hatte. Sie ſchien ängſtlich es zu be¬
treten — aber weniger, wie mir vorkam, weil
ſie auszugleiten fürchtete, als weil ſie es ohne
fremde Hülfe nicht konnte, und der Prinz ſchon
den Arm ausſtreckte, ihr beyzuſtehen. Die Noth
ſiegte über die Bedenklichkeit. Sie nahm ſeine
Hand an, und war am Ufer. Die heftige Ge¬
müths¬[195] müthsbewegung, in der der Prinz war, machte
ihn unhöflich; die andere Dame, die auf den nehm¬
lichen Dienſt wartete, vergaß er — was hätte
er in dieſem Augenblick nicht vergeſſen? Ich erwies
ihr endlich dieſen Dienſt, und dieß brachte mich
um das Vorſpiel einer Unterredung, die ſich zwi¬
ſchen meinem Herrn und der Dame angefangen
hatte.
Er hielt noch immer ihre Hand in der ſeini¬
gen — aus Zerſtreuung, denke ich, und ohne
daß er es ſelbſt wußte.
„Es iſt nicht das erſtemal, Signora, daß —
— daß — Er konnte es nicht heraus ſagen.
„„Ich ſollte mich erinnern, liſpelte ſie —
„In der *** Kirche, ſagte er —
„„In der *** Kirche war es, ſagte ſie —
„Und konnte ich mir heute vermuthen — —
Ihnen ſo nahe —
Hier zog ſie ihre Hand leiſe aus der ſeinigen —
Er verwirrte ſich augenſcheinlich. Biondello, der
indeß mit dem Bedienten geſprochen hatte, kam
ihm zu Hülfe.
Signor, fing er an, die Damen haben Sänf¬
ten hieher beſtellt. Aber wir ſind früher zurück
gekommen, als ſie ſich's vermutheten. Es iſt
hier ein Garten in der Nähe, wo ſie ſo lange ein¬
treten können, um dem Gedränge auszuweichen.
DerN 2[196]
Der Vorſchlag ward angenommen, und Sie
können denken, mit welcher Bereitwilligkeit des
Prinzen. Man blieb in dem Garten bis es Abend
wurde. Es gelang uns, Z*** und mir, die
Matrone zu beſchäftigen, daß der Prinz ſich mit
der jungen Dame ungeſtört unterhalten konnte.
Daß er dieſe Augenblicke gut zu benutzen gewußt
habe, können Sie daraus abnehmen, daß er die
Erlaubniß empfangen hat, ſie zu beſuchen. Eben
jetzt, da ich Ihnen ſchreibe, iſt er dort. Wenn
er zurück kommt, werde ich mehr erfahren.
Geſtern, als wir nach Hauſe kamen, fanden
wir endlich auch die erwarteten Wechſel von unſerm
Hofe, aber von einem Briefe begleitet, der mei¬
nen Herrn ſehr in Flammen ſetzte. Man ruft ihn
zurück, und in einem Tone, wie er ihn gar nicht
gewohnt iſt. Er hat ſogleich in einem ähnlichen
geantwortet, und wird bleiben. Die Wechſel ſind
eben hinreichend, um die Zinſen von dem Kapitale
zu bezahlen, das er ſchuldig iſt. Einer Antwort
von ſeiner Schweſter ſehen wir mit Verlangen
entgegen.
Baron[197]
Baron von F*** an den Grafen
von O***.
Neunter Brief.
September.
Der Prinz iſt mit ſeinem Hofe zerfallen, alle unſre
Reſſourcen von daher abgeſchnitten.
Die ſechs Wochen, nach deren Verfluß mein
Herr den Marcheſe bezahlen ſollte, waren ſchon
um einige Tage verſtrichen, und noch keine Wech¬
ſel weder von ſeinem Couſin, von dem er auf's
neue und auf's dringendſte Vorſchuß verlangt hat¬
te, noch von ſeiner Schweſter. Sie können wohl
denken, daß Civitella nicht mahnte, ein deſto
treueres Gedächtniß aber hatte der Prinz. Geſtern
Mittag endlich kam eine Antwort vom regieren¬
den Hofe.
Wir hatten kurz vorher einen neuen Kontrakt
unſers Hotels wegen abgeſchloſſen, und der Prinz
hatte ſein längeres Bleiben ſchon öffentlich deklarirt.
Ohne ein Wort zu ſagen gab mein Herr mir den
Brief. Seine Augen funkelten, ich las den Inhalt
ſchon auf ſeiner [Stirne].
Können Sie Sich vorſtellen, lieber O***?
Man iſt in **** von allen hieſigen Verhältniſſen
meines Herrn unterrichtet, und die Verläumdung
hat ein abſcheuliches Gewebe von Lügen daraus
geſponnen. „Man habe mißfällig vernommen,
N 3heißt[198] heißt es unter andern, daß der Prinz ſeit einiger Zeit
angefangen habe, ſeinen vorigen Karakter zu verläug¬
nen, und ein Betragen anzunehmen, das ſeiner bishe¬
rigen lobenswürdigen Art zu denken ganz entgegen ge¬
ſetzt ſey. Man wiſſe, daß er ſich dem Frauenzimmer
und dem Spiel auf's ausſchweifendſte ergebe, ſich in
Schulden ſtürze, Viſionnärs und Geiſterbannern ſein
Ohr leihe, mit katholiſchen Prälaten in verdächti¬
gen Verhältniſſen ſtehe, und einen Hofſtaat führe,
der ſeinen Rang ſowohl als ſeine Einkünfte über¬
ſchreite. Es heiße ſogar, daß er im Begriff ſtehe,
dieſes höchſt anſtößige Betragen durch eine Apoſtaſie
zur römiſchen Kirche vollkommen zu machen. Um
ſich von der letztern Beſchuldigung zu reinigen,
erwarte man von ihm eine ungeſäumte Zurückkunft.
Ein Banquier in Venedig, dem er den Etat ſeiner
Schulden übergeben ſolle, habe Anweiſung, ſo¬
gleich nach ſeiner Abreiſe, ſeine Gläubi¬
ger zu befriedigen, denn unter dieſen Umſtänden
finde man nicht für gut, das Geld in ſeine Hände
zu geben.“
Was für Beſchuldigungen und in welchem Tone!
Ich nahm den Brief, durchlas ihn noch einmal,
ich wollte etwas darin aufſuchen, das ihn mildern
könnte; ich fand nichts, es war mir ganz unbe¬
greiflich.
Z*** erinnerte mich jetzt an die geheime Nach¬
frage, die vor einiger Zeit an Biondello ergangen
war. Die Zeit, der Inhalt, alle Umſtände ka¬
men überein. Wir hatten ſie fälſchlich dem Ar¬
menier[199] menier zugeſchrieben. Jetzt war's am Tage, von
wem ſie herrührte. Apoſtaſie! — Aber weſſen
Intereſſe kann es ſeyn, meinen Herrn ſo abſcheu¬
lich und ſo platt zu verläumden? Ich fürchte, es
iſt ein Stückchen von dem Prinzen von * * d * *,
der es durchſetzen will, unſern Herrn aus Venedig
zu entfernen.
Dieſer ſchwieg noch immer, die Augen ſtarr
vor ſich hingeworfen. Sein Stillſchweigen ängſtigte
mich. Ich warf mich zu ſeinen Füßen. Um Got¬
tes willen, gnädigſter Prinz, rief ich aus, be¬
ſchließen Sie nichts gewaltſames. Sie ſollen, Sie
werden die vollſtändigſte Genugthuung haben.
Ueberlaſſen Sie mir dieſe Sache. Senden Sie
mich hin. Es iſt unter Ihrer Würde, Sich gegen
ſolche Beſchuldigungen zu verantworten, aber mir
erlauben Sie, es zu thun. Der Verläumder muß
genannt, und dem * * * die Augen geöffnet werden.
In dieſer Lage fand uns Civitella, der ſich mit
Erſtaunen nach der Urſache unſrer Beſtürzung er¬
kundigte. Z * * * und ich ſchwiegen. Der Prinz
aber, der zwiſchen ihm und uns ſchon lange keinen
Unterſchied mehr zu machen gewohnt iſt, auch noch
in zu heftiger Wallung war, um in dieſem Augen¬
blick der Klugheit Gehör zu geben, befahl uns,
ihm den Brief mitzutheilen. Ich wollte zögern,
aber der Prinz riß ihn mir aus der Hand und gab
ihn ſelbſt dem Marcheſe.
„IchN 4[200]
„Ich bin Ihr Schuldner, Herr Marcheſe, fing
der Prinz an, nachdem dieſer den Brief mit Er¬
ſtaunen durchleſen hatte, aber laſſen Sie Sich das
keine Unruhe machen. Geben Sie mir nur noch
zwanzig Tage Friſt, und Sie ſollen befriedigt
werden.“
Gnädigſter Prinz, rief Civitella heftig bewegt,
verdien' ich dieſes?
„Sie haben mich nicht dringen wollen, ich er¬
kenne Ihre Delikateſſe und danke Ihnen. In
zwanzig Tagen, wie geſagt, ſollen Sie völlig be¬
friedigt werden.“
Was iſt das? fragte Civitella mich voll Be¬
ſtürzung. Wie hängt dieß zuſammen? Ich faß'
es nicht.
Wir erklärten ihm, was wir wußten. Er kam
außer ſich. Der Prinz, ſagte er, müſſe auf Ge¬
nugthuung dringen, die Beleidigung ſey unerhört.
Unterdeſſen beſchwöre er ihn, ſich ſeines ganzen
Vermögens und Kredits unumſchränkt zu bedienen.
Der Marcheſe hatte uns verlaſſen, und der
Prinz noch immer kein Wort geſprochen. Er ging
mit ſtarken Schritten im Zimmer auf und nieder,
etwas außerordentliches arbeitete in ihm. Endlich
ſtand er ſtill, und murmelte vor ſich zwiſchen den
Zähnen. „Wünſchen Sie Sich Glück — ſagte
er — Um Neun Uhr iſt er geſtorben.“
Wir ſahen ihn erſchrocken an.
„Wün¬[201]
„Wünſchen Sie Sich Glück, fuhr er fort;
Glück — Ich ſoll mir Glück wünſchen — Sagte
er nicht ſo? Was wollte er damit ſagen?“
Wie kommen Sie jetzt darauf? rief ich. Was
ſoll das hier?
„Ich habe damals nicht verſtanden, was der
Menſch wollte. Jetzt verſtehe ich ihn — O es iſt
unerträglich hart, einen Herrn über ſich haben!“
Mein theuerſter Prinz!
„Der es uns fühlen laſſen kann! — Ha! Es
muß ſüß ſeyn!“
Er hielt wieder inne. Seine Miene erſchreckte
mich. Ich hatte ſie nie an ihm geſehen.
„Der Elendeſte unter dem Volk fing er wie¬
der an, oder der nächſte Prinz am Throne! Das
iſt ganz daſſelbe. Es giebt nur einen Unter¬
ſchied unter den Menſchen — Gehorchen und
Herrſchen!“
Er ſah noch einmal in den Brief.
„Sie haben den Menſchen geſehen, fuhr er
fort, der ſich unterſtehen darf, mir dieſes zu ſchrei¬
ben. Würden Sie ihn auf der Straße grüßen,
wenn ihn das Schickſal nicht zu Ihrem Herrn ge¬
macht hätte? Bey Gott! Es iſt etwas großes um
eine Krone!“
In dieſem Ton ging es weiter, und es fielen
Reden, die ich keinem Brief anvertrauen darf.
Aber bey dieſer Gelegenheit entdeckte mir der Prinz
einen Umſtand, der mich in nicht geringes Erſtau¬
nenN 5[202] nen und Schrecken ſetzte, und der die gefährlichſten
Folgen haben kann. Ueber die Familienverhält¬
niſſe am *** Hofe ſind wir bisher in einem großen
Irrthum geweſen.
Der Prinz beantwortete den Brief auf der
Stelle, ſo ſehr ich mich dagegen ſetzte und die Art,
wie er es gethan hat, läßt keine gütliche Beyle¬
gung mehr hoffen.
Sie werden nun auch begierig ſeyn, liebſter
O***, von der Griechin endlich etwas poſitives
zu erfahren, aber eben dieß iſt es, worüber ich
Ihnen noch immer keinen befriedigenden Aufſchluß
geben kann. Aus dem Prinzen iſt nichts heraus
zu bringen, weil er in das Geheimniß gezogen iſt,
und ſich, wie ich vermuthe hat verpflichten müſ¬
ſen, es zu bewahren. Daß ſie aber die Griechin
nicht iſt, für die wir ſie hielten, iſt heraus.
Sie iſt eine Deutſche, und von der edelſten Ab¬
kunft. Ein gewiſſes Gerücht, dem ich auf die
Spur gekommen bin, giebt ihr eine ſehr hohe
Mutter, und macht ſie zu der Frucht einer un¬
glücklichen Liebe, wovon in Europa viel geſprochen
worden iſt. Heimliche Nachſtellungen von mächti¬
ger Hand haben ſie, laut dieſer Sage, gezwun¬
gen, in Venedig Schutz zu ſuchen, und eben dieſe
ſind auch die Urſache ihrer Verborgenheit, die es
dem Prinzen unmöglich gemacht hat, ihren Aufent¬
halt zu erforſchen. Die Ehrerbietung, womit der
Prinz von ihr ſpricht, und gewiſſe Rückſichten,
die er gegen ſie beobachtet, ſcheinen dieſer Ver¬
muthung Kraft zu geben.
Er[203]
Er iſt mit einer fürchterlichen Leidenſchaft an
ſie gebunden, die mit jedem Tage wächſt. In der
erſten Zeit wurden die Beſuche ſparſam zugeſtan¬
den; doch ſchon in der zweyten Woche verkürzte
man die Trennungen, und jetzt vergeht kein Tag,
wo der Prinz nicht dort wäre. Ganze Abende ver¬
ſchwinden, ohne daß wir ihn zu Geſicht bekommen;
und iſt er auch nicht in ihrer Geſellſchaft, ſo iſt ſie
es doch allein, was ihn beſchäftigt. Sein gan¬
zes Weſen ſcheint verwandelt. Er geht wie
ein Träumender umher, und nichts von allem,
was ihn ſonſt intereſſirt hatte, kann ihm jetzt nur
eine flüchtige Aufmerkſamkeit abgewinnen.
Wohin wird das noch kommen, liebſter Freund?
Ich zittre für die Zukunft. Der Bruch mit ſeinem
Hofe hat meinen Herrn in eine erniedrigende Ab¬
hängigkeit von einem einzigen Menſchen, von dem
Marcheſe Civitella, geſetzt. Dieſer iſt jetzt Herr
unſrer Geheimniſſe, unſers ganzen Schickſals.
Wird er immer ſo edel denken, als er ſich uns jetzo
noch zeigt? Wird dieſes gute Vernehmen auf die
Dauer beſtehen, und iſt es wohl gethan, einem
Menſchen, auch dem Vortreflichſten, ſo viel Wich¬
tigkeit und Macht einzuräumen?
An die Schweſter des Prinzen iſt ein neuer
Brief abgegangen. Den Erfolg hoffe ich Ihnen
in meinem nächſten Brief melden zu können.
(Der[204]
(Der Graf von O*** zur Fortſetzung.)
Aber dieſer nächſte Brief blieb aus. Drey ganze
Monate vergingen, ehe ich Nachrichten aus Vene¬
dig erhielt — eine Unterbrechung, deren Urſache
ſich in der Folge nur zu ſehr aufklärte. Alle
Briefe meines Freundes an mich waren zurück be¬
halten und unterdrückt worden. Man urtheile von
meiner Beſtürzung, als ich endlich im December
dieſes Jahrs folgendes Schreiben erhielt, das bloß
ein glücklicher Zufall (weil Biondello, der es zu
beſtellen hatte, plötzlich krank wurde) in meine
Hände brachte.
„Sie ſchreiben nicht. Sie antworten nicht.
„Kommen Sie — o kommen Sie auf Flügeln
„der Freundſchaft. Unſre Hoffnung iſt dahin.
„Leſen Sie dieſen Einſchluß. Alle unſre Hoff¬
„nung iſt dahin!
„Die Wunde des Marcheſe ſoll tödtlich ſeyn.
„Der Kardinal brütet Rache, und ſeine Meu¬
„chelmörder ſuchen den Prinzen. Mein Herr —
„o mein unglücklicher Herr! — Iſt es dahin
„gekommen? Unwürdiges, entſetzliches Schick¬
„ſal! Wie Nichtswürdige müſſen wir uns vor
„Mördern und Gläubigern verbergen.“
„Ich ſchreibe Ihnen aus dem *** Kloſter,
„wo der Prinz eine Zuflucht gefunden hat. Eben
„ruht er auf einem harten Lager neben mir und
„ſchläft — ach! den Schlummer der tödtlichſten
„Erſchöpfung, der ihn nur zu neuem Gefühl
„ſeiner Leiden ſtärken wird. Die zehen Tage,
„daß[205] „daß ſie krank war, kam kein Schlaf in ſeine
„Augen. Ich war bey der Leichenöffnung.
„Man fand Spuren von Vergiftung. Heute
„wird man ſie begraben.
„Ach liebſter O***, mein Herz iſt zerriſſen.
„Ich habe einen Auftritt erlebt, der nie aus
„meinem Gedächtniß verlöſchen wird. Ich ſtand
„vor ihrem Sterbebette. Wie eine Heilige ſchied
„ſie dahin, und ihre letzte ſterbende Beredſam¬
„keit erſchöpfte ſich, ihren Geliebten auf den
„Weg zu leiten, den ſie zum Himmel wandelte
„— Alle unſre Standhaftigkeit war erſchüttert,
„der Prinz allein ſtand feſt, und ob er gleich
„ihren Tod dreyfach mit erlitt, ſo behielt er
„doch Stärke des Geiſtes genug, der frommen
„Schwärmerin ihre letzte Bitte zu verweigern.“
In dieſem Brief lag folgender Einſchluß.
An den Prinzen von ***
von ſeiner Schweſter.
„Die allein ſelig machende Kirche, die an dem
„Prinzen von *** eine ſo glänzende Eroberung ge¬
„macht hat, wird es ihm auch nicht an Mitteln
„fehlen laſſen, die Lebensart fortzuſetzen, der ſie
„dieſe Eroberung verdankt. Ich habe Thränen
„und Gebeth für einen Verirrten, aber keine Wohl¬
„thaten mehr für einen Unwürdigen!“
Henriette***.
Ich[206]
Ich nahm ſogleich Poſt, reiſ'te Tag und Nacht,
und in der dritten Woche war ich in Venedig.
Meine Eilfertigkeit nützte mir nichts mehr. Ich
war gekommen, einem Unglücklichen Troſt und
Hülfe zu bringen; ich fand einen Glücklichen, der
meines ſchwachen Beyſtandes nicht mehr benöthigt
war. F*** lag krank, und war nicht zu ſpre¬
chen, als ich anlangte; folgendes Billet überbrachte
man mir von ſeiner Hand. „Reiſen Sie zurück,
liebſter O***, wo ſie hergekommen ſind. Der
Prinz bedarf ihrer nicht mehr, auch nicht meiner.
Seine Schulden ſind bezahlt, der Kardinal ver¬
ſöhnt, der Marcheſe wieder hergeſtellt. Erinnern
Sie Sich des Armeniers, der uns voriges Jahr
ſo zu verwirren wußte? In ſeinen Armen finden
Sie den Prinzen, der ſeit fünf Tagen — — die
erſte Meſſe hörte.“
Ich drängte mich nichts deſto weniger zum
Prinzen, ward aber abgewieſen. An dem Bette
meines Freundes erfuhr ich endlich die unerhörte
Geſchichte.
Ende des erſten Bandes.
Und wahrſcheinlich auch die wenigſten meiner Le¬
ſer. Dieſe zu den Füßen des Prinzen ſo uner¬
wartet und ſo feyerlich niedergelegte Krone mit
der vorhergehenden Prophezeihung des Armeniers
zuſammen genommen, ſcheint ſo natürlich und un¬
gezwungen auf einen gewiſſen Zweck zu zielen,
daß mir beym erſten Leſen dieſer Memoires ſogleich
die verfängliche Anrede der Zauberſchweſtern
im Macbeth: Heil dir Than von Glamis,
der einſt König ſeyn wird! dabey einge¬
fallen iſt; und vermuthlich iſt es mehrern ſo er¬
gangen. Wenn eine gewiſſe Vorſtellung auf eine
feyerliche und ungewöhnliche Art in die Seele ge¬
bracht worden, ſo kann es nicht fehlen, daß alle
darauf folgende, welche nur der geringſten Be¬
ziehung auf ſie fähig ſind, ſich an dieſelbe an¬
ſchließen, und in einen gewiſſen Rapport mit ihr
ſetzen. Der Sicilianer, der, wie es ſcheint,
mit der ganzen Sache nicht mehr und nicht weni¬
ger gewollt hat, als den Prinzen dadurch zu über¬
raſchen, daß er ihn merken ließ, ſein Stand ſey
entdeckt, hat dem Armenier, ohne daran zu den¬
ken, in die Hand gearbeitet: aber ſo ſehr die Sa¬
che auch an Intereſſe verliert, wenn man den hö¬
hern Zweck zurück nimmt, auf welchen ſie anfangs
angelegt ſchien, ſo wenig darf ich doch der hiſtori¬
ſchen Wahrheit zu nahe treten, und ich erzähle
das Factum, wie ich es gefunden.
Anm. d. Herausg.
Das harte Urtheil, welches ſich der Baron von
F*** hier, und in einigen Stellen des erſten
Briefs über einen geiſtreichen Prinzen erlaubt, wird
jeder, der das Glück hat, dieſen Prinzen näher
zu kennen, mit mir übertrieben finden, und es
dem eingenommenen Kopfe dieſes jugendlichen Be¬
urtheilers zu Gute halten.
Anm. des Graf. v. O***.
Ich habe mir Mühe gegeben, liebſter O***,
das wichtige Geſpräch, das ſich jezt zwiſchen uns
entſpann, Ihnen ganz ſo wie es vorfiel, getreu
zu überliefern; aber dieß war mir unmöglich, ob
ich mich gleich noch an demſelbigen Abend daran
machte. Um meinem eigenen Gedächtniß, nachzu¬
helfen, mußte ich die hingeworfnen Ideen des
Prinzen in eine gewiſſe Ordnung binden, die ſie
nicht hatten; und ſo entſtand denn dieſes Mittel¬
ding von freyem Geſpräch und philoſophiſcher Vor¬
leſung, das beſſer und ſchlechter iſt als die Quelle,
aus der ich es ſchöpfte; doch verſichre ich Ihnen,
daß ich dem Prinzen eher genommen, als gegeben
habe, und daß nichts davon mein iſt, als die An¬
ordnung — und einige Anmerkungen, die Sie an
ihrer Albernheit ſchon erkennen werden.
Anmerk. des Baron v. F***.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der Geisterseher. Der Geisterseher. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnrv.0