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Das
Deutſche Reichsſtrafrecht

auf Grund
des Reichsſtrafgeſetzbuchs und der übrigen
ſtrafrechtlichen Reichsgeſetze
unter
Berückſichtigung der Rechtſprechung des Reichsgerichts
ſyſtematiſch dargeſtellt


Berlin und Leipzig.:
Verlag von J. Guttentag.
(D. Collin.)
1881.

[][[V]]

Vorwort.


Das nachſtehende „kurzgefaßte“ Lehrbuch iſt zur Ein-
führung in das Studium des Reichsſtrafrechtes beſtimmt.
Es ſoll die Benützung umfangreicherer Werke nicht überflüſſig
machen, ſondern ermöglichen und erleichtern. Es wendet ſich
an den Studenten, der an die Theorie des Strafrechtes
herantritt, und an den Praktiker, der bei ihr Rat ſucht und
Löſung für die Fragen des täglichen Lebens. Dem einen
wie dem andern ſoll das kleine Buch den Weg weiſen, nicht
ihn ans Ziel führen.


Aber gerade weil das Buch nicht mehr ſein will als
Wegweiſer in’s Strafrecht, mußte ſein Verfaſſer manches
ernſter nehmen, als es ſonſt wohl zu geſchehen pflegt. Ge-
rade die erſte Einführung muß eine ſtreng wiſſenſchaftliche
ſein, d. h. ſie muß mit klaren ſchneidigen Begriffen arbeiten
und dieſe in ein geſchloſſenes Syſtem bringen. Jene Begriffe
und dieſes Syſtem zu gewinnen, ſchien mir Hauptaufgabe
nicht nur, ſondern Exiſtenzberechtigung des Buches. Daß
ich dabei meine eigenen Wege gegangen, wird mir wohl
kaum verargt werden können; daß mir ſelbſt das Syſtem
nicht völlig genügt, brauche ich demjenigen gegenüber, der auf
gleichem Felde gearbeitet hat, nicht zu bemerken.


[VI]Vorwort.

Die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze heranzuziehen, iſt für
ein noch ſo kurz gefaßtes Lehrbuch des Reichsſtrafrechtes
einfach unerläßlich. Freilich ſtehe ich mit dieſer Anſicht ziemlich
allein da; aber ich halte ihre Richtigkeit für ſo unbeſtreitbar,
daß ich ihre Begründung mit Beruhigung dem unausbleib-
lichen Entwickelungsgang unſerer Wiſſenſchaft überlaſſe.


Die Entſcheidungen des Reichsgerichtes ſind bis in die
letzten Tage des Druckes eingehend berückſichtigt worden.
Nicht nur deßhalb, weil dieſe Rückſichtnahme die praktiſche
Brauchbarkeit des Buches erhöht; ſondern darum, weil der
innere Wert der Reichsgerichts-Entſcheidungen es verlangt.
Der höchſte deutſche Gerichtshof hat gethan, was die meiſten
ſeiner partikulären Vorgänger zu thun ſich ſcheuten: er iſt
herangetreten, ſo oft Gelegenheit ſich bot, an die von den
Theoretikern aufgeworfenen Fragen; er hat Stellung ge-
nommen zu ihnen und ihre Löſung verſucht. Und das iſt
ein Verdienſt, das nicht hoch genug angeſchlagen werden kann.
Dabei bleibt der Theorie das Recht der Kritik; ich habe
dem Reichsgericht gegenüber oft von demſelben Gebrauch
gemacht, und wollte gerade deßhalb die eben ausgeſprochene
Bemerkung nicht unterdrücken.


Noch manche Eigentümlichkeit des „Lehrbuchs“, das
in den wichtigſten Fragen ſtatt der Begründung Reſultate
geben muß, würde der Rechtfertigung bedürfen.


Der Raum eines Vorwortes geſtattet es nicht. Möge
das Wohlwollen der Leſer die Kürze und Lückenhaftigkeit der
Darſtellung erläutern und ergänzen.


Gießen, November 1880.


Liszt.


[[VII]]

Inhaltsverzeichnis.


  • Einleitung.
  • I. Die Grundbegriffe.
  • Seite
  • §. 1. Das Strafrecht. I. Strafrecht im objektiven und
    ſubjektiven Sinne. II. Verbrechen und Strafe 1
  • §. 2. Die Strafe. I. Die Strafe als Rechtsgüterſchutz.
    II. Ihre Wirkung. III. Art und Maaß der Strafe;
    ihre Rechtfertigung. Strafrecht und Willensfreiheit 2
  • §. 3. Die Norm. I. Begriff der Norm. II. Ihr Ver-
    hältnis zum Rechtsgut. III. Umfang ihrer impera-
    tiven Kraft 5
  • §. 4. Das Verbrechen. I. Delikt u. Verbrechen. II. Norm
    und Strafgeſetz. III. Civiles und kriminelles Un-
    recht 9
  • §. 5. Urſächlicher Zuſammenhang zwiſchen Ver-
    brechen und Strafe
    . I. Entſtehung und Ent-
    wicklung der Strafe. II. Die Strafrechtstheorien
    im allgemeinen 14
  • §. 6. Die einzelnen Strafrechtstheorien. I. Zweck-
    mäßigkeitstheorien. II. Rechtstheorien. III. Not-
    wendigkeitstheorien. IV. Vereinigungstheorien 16
  • II. Das Strafgeſetz.
  • 1. Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechtes.
  • §. 7. I. Nulla poena sine lege. II. Auslegung. Ana-
    logie insbeſondere. III. Geſetz. Redaktionsverſehen.
    Druckfehler. Materialien. IV. Zweiteilige und ein-
    teilige Strafrechtsſätze 24
  • Seite
  • 2. Die Reichsſtrafgeſetzgebung.
  • §. 8. Entſtehungsgeſchichte des Reichsſtrafge-
    ſetzbuchs
    . I. Das gemeine Recht und die Partikular-
    geſetzgebung. II. Die Vorläufer einer einheitlichen
    Strafgeſetzgebung. III. Das Strafgeſetzbuch für den
    norddeutſchen Bund. IV. Das Reichsſtrafgeſetz-
    buch. V. Die Novelle v. 26. Febr. 1876 27
  • §. 9. Die übrigen Reichsſtrafgeſetze in chronolo-
    giſcher Ueberſicht 35
  • §. 10. Die Litteratur des Reichsſtrafrechtes. I. Kom-
    mentare. II. Lehrbücher. III. Grundriſſe. IV. Prä-
    judizienſammlungen 40
  • 3. Geltungsgebiet der deutſchen Reichsſtrafgeſetze.
  • §. 11. Reichsrecht und Landesrecht. I. Das Prinzip.
    II. Die reichsrechtlich nicht geordneten Materien.
    III. Weitere Beſchränkungen der Landesgeſetzgebung.
    IV. Die Einführungsgeſetze 43
  • §. 12. Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichs-
    ſtrafgeſetze
    . I. Beginn und Ende ihrer Herrſchaft.
    II. Rückwirkende Kraft der Strafrechtsſätze. III. An-
    wendung des „mildeſten“ Geſetzes. IV. Seine Anwen-
    dung in den höheren Inſtanzen. V. Der Zeitpunkt
    der begangenen That 47
  • §. 13. Inländiſches und ausländiſches Recht.
    I. Theoretiſche Grundlegung. II. Die verſchiedenen
    Syſteme. III. Standpunkt der Reichsgeſetzgebung.
    Die Regel. IV. Fortſetzung. Die Ausnahmen.
    V. Auslieferungsverträge. VI. Ort der begangenen
    That 51
  • §. 14. Befreiungen von der Herrſchaft der Straf-
    geſetze
    , I. aus ſtaatsrechtlichen, II. aus völker-
    rechtlichen Gründen 58
  • §. 15. Allgemeine und beſondere Strafgeſetze.
    I. Fixirung des Unterſchiedes. II. Das Militär-
    ſtrafrecht insbeſondere 60
  • §. 16. Friedensrecht und Kriegsrecht. I. Einfüh-
    rungs-Geſetz zum StGB. §. 4. II. Militär-StGB.
    §§. 160 und 155. III. Preßgeſetz §. 36 62
  • Allgemeiner Teil.
  • Erſtes Buch.
  • Das Verbrechen.
  • A.
  • I. Begriff und Einteilung.Seite
  • §. 17. Der Begriff des Verbrechens. I. Das Ver-
    brechen als Handlung; II. als normwidrige,
    III. ſchuldhafte, IV. mit Strafe belegte Handlung 64
  • §. 18. Einteilungen des Verbrechens. I. Aeltere Ein-
    teilungen. Politiſche und nicht politiſche Delikte.
    II. Kriminelles und polizeiliches Unrecht. III. Die
    Dreiteilung in Verbrechen, Vergehen, Ueber-
    tretungen 66
  • B. Die Begriffsmerkmale der verbrecheriſchen Handlung.
  • II. Das Verbrechen als Handlung.
  • §. 19. Der Begriff der Handlung. I. Die Handlung
    im engeren Sinne als willkürliche Körperbewegung.
    II. Die erweiterte Handlungsreihe. Körperbewegung
    und Erfolg. III. Ihre einzelnen Stadien. IV. Zeit
    und Ort der begangenen That 70
  • §. 20. Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange.
    I. Der Begriff der Urſache. II. Unterſchied zwiſchen
    Urſache und Bedingung. III. Mehrere Urſachen
    deſſelben Erfolges. Unterbrechung des Kauſalzu-
    ſammenhanges. IV. Die Zurechnung 76
  • §. 21. Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte.
    I. Unrichtige Konſtruktionen. II. Die ſcheinbare
    Unterlaſſung als Handlung. III. Zeitpunkt der
    begangenen That 79
  • III. Das Verbrechen als rechtswidrige Handlung.
  • §. 22. Ausſchließungsgründe der Rechtswidrig-
    keit im allgemeinen
    . I. Die Norm als Regei
    mit Ausnahmen. II. Einzelne Ausſchließungsgründe 83
  • §. 23. Die Notwehr insbeſondere. I. Definition.
    II. Begriffsmerkmale. III. Ueberſchreitung der Not-
    wehr 88
  • Seite
  • §. 24. Der Notſtand insbeſondere. I. Theoretiſcher
    Begriff. II. Poſitivrechtliche Beſchränkung. III. Cha-
    rakter der Notſtandshandlung. IV. Die außer-
    ſtrafrechtlichen Beſtimmungen über Notſtand.
    V. Die juriſtiſche Behandlung des Nötigers 92
  • IV. Das Verbrechen als ſchuldhafte rechtswidrige Handlung.
  • 1. Die Vorausſetzung der Schuld.
  • §. 25. Die Zurechnungsfähigkeit. I. Sie iſt krimi-
    naliſtiſche Handlungsfähigkeit. II. Ihre Behand-
    lung im poſitiven Recht. III. „Verminderte Zu-
    rechnungsfähigkeit.“ IV. Gerichtliche Feſtſtellung
    der Z. V. Zurechnungsfähigkeit muß im Augenblicke
    der Handlung im eigentlichen Sinne vorhanden
    ſein. Die actiones liberae in causa. VI. Die
    Kollektivperſönlikeit als Deliktsſubjekt 95
  • §. 26. Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit.
    I. Fehlende geiſtige Reife (1. noch nicht abgeſchloſſene,
    2. gehemmte Entwickelung). II. Fehlende geiſtige
    Geſundheit 101
  • 2. Die Schuld ſelbſt und ihre Arten.
  • §. 27. Die Schuld. I. Begriff. II. Die Schuld als
    Deliktsmerkmal. Präſumption der Schuld. III. Die
    Schuld muß im Augenblicke der Handlung im
    eigentlichen Sinne vorhanden ſein. IV. Zurechnung 105
  • §. 28. Der Vorſatz als Schuldart. I. Begriff.
    II. Bewußtſein der Normwidrigkeit als Begriffs-
    merkmal? III. Vorſatz und Abſicht. IV. Konkre-
    tiſierung des Vorſatzes. V. Irrtum. StGB. §. 59,
    error in objecto und aberratio ictus. VI. Ein-
    teilungen des Vorſatzes 108
  • §. 29. Die Fahrläſſigkeit als Schuldart. I. Be-
    griff. II. Irrtum. III. Die reichsrechtlich ſtraf-
    baren Fälle. IV. Einteilungen der Fahrläſſigkeit 117
  • V. Das Verbrechen als mit Strafe belegtes Delikt.
  • §. 30. Die Bedingungen der Strafbarkeit.
    I. Begriff. II. Juriſtiſche Bedeutung. III. Unter-
    ſchied von den Strafaufhebungsgründen, den pro-
    zeſſualen Hinderungsgründen und von den ſubjek-
    tiven Schuldausſchließungsgründen 122
  • Seite
  • §. 31. Der Antrag des Verletzten. I. Die Fälle
    der Antragsdelikte. II. Die beiden verſchiedenen
    Gruppen innerhalb derſelben. III. Poſitivrechtliche
    Behandlung der Antragsdelikte 125
  • C. Die Erſcheinungsformen der verbrecheriſchen
    Handlung.
  • VI. Vollendung und Verſuch.
  • §. 32. Begriffliche Entwickelung. I. Vollendung
    des Delikts, des Verbrechens, der Rechtsgüterver-
    letzung. II. Vollendetes, fehlgeſchlagenes, ver-
    ſuchtes Verbrechen. III. Begriff und Strafbarkeit
    des Verſuchs. IV. Der Verſuch als Irrtum über die
    Kauſalität. V. „Die Tauglichkeit oder Untauglich-
    keit von Mittel oder Objekt.“ 131
  • §. 33. Der Verſuch im poſitiven Recht. I. Be-
    ſchränkung der Strafbarkeit auf die Verletzung
    gewiſſer Normen. II. Begriffliche oder kaſuiſtiſche
    Bezeichnung der Verſuchshandlung. III. Straf-
    rahmen für den Verſuch. IV. Verſuchs- und
    Vorbereitungshandlung 138
  • §. 34. Der Rücktritt vom Verſuch. I. Konſtruktion
    und Fälle. II. Freiwilligkeit des Rücktritts.
    III. Derſelbe iſt Strafaufhebungsgrund. IV. Rück-
    tritt bei als ſelbſtändigen Delikten beſtraften Vor-
    bereitungshandlungen? 143
  • VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
  • §. 35. Die Entſtehung des Begriffs der Teil-
    nahme
    . I. Der Begriff der Teilnahme als Folge
    der poſitiv-rechtlichen Annahme einer Unterbrechung
    des Kauſalzuſammenhanges durch eine freie und
    vorſätzliche Handlung. II. Konſequenzen aus dieſer
    Auffaſſung. III. Die Arten der Teilnahme.
    IV. Die Begünſtigung iſt nicht Teilnahme. V. Mehr-
    fache Beteiligung derſelben Perſon an demſelben
    Verbrechen 146
  • §. 36. Thäterſchaft und Mitthäterſchaft. I. Der
    Thäter. II. Der Mitthäter 150
  • §. 37. Anſtiftung und Beihülfe. I. Der Anſtifter.
    II. Der Gehülfe. III. Einfluß perſönlicher Ver-
    hältniſſe auf die Strafbarkeit der Teilnehmer 152
  • Seite
  • §. 38. Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige
    Delikte
    . I. Allgemeines. II. Die einzelnen Fälle 157
  • VIII. Einheit und Mehrheit der Verbrechenshandlung.
  • §. 39. Die natürliche und die juriſtiſche Einheit
    der Verbrechenshandlung
    . I. Die natürliche
    Einheit. II. Die juriſtiſche Einheit (fortdauerndes;
    fortgeſetztes; gewerbs-, geſchäfts-, gewohnheits-
    mäßiges Verbrechen) 159
  • §. 40. Die Einheit der Verbrechenshandlung
    und die ſogenannte Idealkonkurrenz
    .
    I.Eine Handlung, eine Strafe. II. Die ſog.
    Geſetzeskonkurrenz. III. Die ſog. Idealkonkurrenz.
    IV. Gleichartige Idealkonkurrenz? 163
  • §. 41. Mehrheit der Verbrechenshandlungen.
    Rückfall und Realkonkurrenz
    . I. Rückfall.
    II. Realkonkurrenz 168
  • Zweites Buch.
  • Die Strafe.
  • I. Der Begriff der Strafe.
  • §. 42. Der Begriff der Strafe. I. Definition.
    II. Strafe und Erſatz. III. Rechtsgüterverletzung,
    die nicht gegen den Schuldigen gerichtet iſt.
    IV. Disziplinarſtrafen. V. Prozeßſtrafe. VI. Exe-
    kutivſtrafen. VII. Ordnungsſtrafen und Polizei-
    ſtrafen. VIII. Verwaltungsmaßregeln 171
  • II. Die Strafmittel.
  • §. 43. Im allgemeinen. I. Notwendige Eigenſchaften
    eines guten Strafmittels. II. Würdigung der wich-
    tigſten Strafmittel des modernen Rechts 177
  • §. 44. Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung.
    I. Das Syſtem der Strafmittel. II. Es iſt abſolut
    gemeines Recht. III. Würdigung desſelben 181
  • A. Die Hauptſtrafen.
  • §. 45. 1. Die Todesſtrafe. I. Geſchichtliches. II. An-
    wendungsgebiet. III. Vollziehungsart 183
  • §. 46. 2. Die Freiheitsſtrafen. I. Geſchichte. II. Die
    Freiheitsſtrafen des modernen Rechts. III. Vollzug
    der Freiheitsſtrafen 186
  • Seite
  • §. 47. 3. Die Geldſtrafe. I. Verwertung im heutigen
    Recht. II. Mindeſtmaß und Höchſtmaß. III. Ver-
    wendung der eingezogenen Geldſtrafen 191
  • §. 48. 4. Der Verweis. I. Anwendungsgebiet. II. Voll-
    ſtreckung 193
  • B. Die Nebenſtrafen.
  • §. 49. 1. Nebenſtrafen an der Freiheit. I. Polizeiauf-
    ſicht. II. Arbeitshaus. III. Ausweiſung. IV. Auf-
    enthaltsbeſchränkung. V. Beſchränkung des Haus-
    rechtes 194
  • §. 50. 2. Nebenſtrafen am Vermögen. I. Acceſſo-
    riſche Geldſtrafe. II. Einziehung. III. Unbrauch-
    barmachung. IV. Entziehung der Gewerbebefugnis 198
  • §. 51. 3. Nebenſtrafen an der Ehre. I. Aberkennung
    ſämmtlicher, II. einzelner Ehrenrechte. III. Beſon-
    deres Nachverfahren 200
  • Anhang.
  • §. 52. Die Buße. I. Anwendungsgebiet. II. Charakter
    der Buße 204
  • III. Die geſetzlichen Strafrahmen und ihre Handhabung
    durch den Richter.
  • §. 53. Die normalen Strafrahmen und die Straf-
    zumeſſung
    . I. Abſolut und relativ beſtimmte
    Strafgeſetze. II. Geſichtspunkte bei Aufſtellung der
    Strafrahmen. III. Zumeſſung der Strafe inner-
    halb der Strafrahmen. IV. Notwendigkeit beſon-
    derer Strafrahmen. V. Notwendigkeit der Straf-
    umwandlung und Strafanrechnung; ſowie beſon-
    derer Beſtimmungen für den Fall der Realkon-
    kurrenz 206
  • §. 54. Die beſonderen Strafrahmen und die
    Strafänderung
    . I. Erhöhte Strafrahmen:
    Strafſchärfung (Rückfall; Gewerbs- und Gewohn-
    heitsmäßigkeit; Eintritt eines ſchweren Erfolgs).
    II. Erniedrigte Strafrahmen: Strafmilderung
    (mildernde Umſtände; Jugend; Verſuch und Bei-
    hülfe) 210
  • §. 55. Strafumwandlung und Strafanrechnung
    I. Strafumwandlung. II. Strafanrechnung 213
  • Seite
  • §. 56. Beſtimmung der Strafe im Falle realer
    Konkurrenz
    . I. Notwendigkeit einer Milderung
    des Kumulationsprinzipes. II. Die Geſammtſtrafe
    der Reichsgeſetzgebung. III. und IV. Abweichun-
    gen von derſelben. V. Beſondere Beſtimmungen
    der Nebengeſetze 216
  • IV. Wegfall des ſtaatlichen Strafanſpruchs.
  • §. 57. Allgemeines. Die einzelnen Strafauf-
    hebungsgründe
    . I. Bedeutung und ſyſtematiſche
    Stellung der Strafaufhebungsgründe. II. Der
    Tod des Schuldigen. III. Thätige Reue. IV. Be-
    gnadigung 219
  • §. 58. Die Verjährung insbeſondere. I. Ihre ju-
    riſtiſche Bedeutung. II. Verfolgungsverjährung.
    III. Vollſtreckungsverjährung 223
  • Beſonderer Teil.
  • §. 59. Ueberſicht. I. Einteilungsgrund. II. Delikte gegen
    Rechtsgüter des Einzelnen. III. Delikte gegen das
    Staatsganze. IV. Delikte gegen die rechtlich ge-
    ſchützten Intereſſen des Publikums. V. Delikte
    gegen uneigentliche Rechtsgüter 229
  • Erſtes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen Rechtsgüter des
    einzelnen Staatsbürgers.
  • I.Gegen Leib und Leben.
  • 1. §. 60. Die Tötung. I. Die vorſätzliche Tötung.
    II. Die fahrläſſige Tötung 233
  • 2. §. 61. Die Körperverletzung. I. Begriff. II. Arten.
    III. Strafverfolgung. IV. Buße. V. Retorſion. 236
  • 3. §. 62. Gefährdung von Leib und Leben. I. Die
    Ausſetzung. II. „Vergiftung“. III. Abtreibung.
    IV. Der Raufhandel. V. Der Zweikampf 241
  • II. Gegen die perſönliche Freiheit.
  • §. 63. I. Nötigung. II. Freiheitsberaubung. III. Menſchen-
    raub (Kinderraub, Entführung) 250
  • Seite
  • III. Gegen das Vermögen.
  • A. Gegen das Eigentum.
  • 1. §. 64. Der Diebſtahl. I. Begriff. II. Arten.
    III. Nebenſtrafen 256
  • §. 65. Verwandte Fälle. (StGB. §§. 290, 289,
    291, 370.) 264
  • 2. §. 66. Der Raub. I. Begriff. II. Arten. III. Neben-
    ſtrafe 267
  • 3. §. 67. Die Unterſchlagung. I. Begriff. II. Arten.
    III. Nebenſtrafe 269
  • 4. §. 68. Die Sachbeſchädigung. I. Begriff. II. Arten 272
  • B. Gegen Okkupationsrechte.
  • §. 69. I. Verletzung des Jagdrechtes. II. Unberechtigtes
    Fiſchen und Krebſen 274
  • C. Gegen obligatoriſche Anſprüche.
  • 1. §. 70. Der Bankbruch. I. Begriff. II. Arten.
    III. Teilnahme dritter Perſonen. IV. Stimmen-
    kauf 277
  • 2. §. 71. Die Untreue. I. Begriff. II. Arten 284
  • 3. §. 72. Andere Fälle. I. Exekutionsvereitlung. II. Ver-
    tragsbruch. III. StrGB. §. 297 288
  • D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen überhaupt.
  • 1. §. 73. Der Betrug. I. Begriff. II. Arten 290
  • 2. §. 74. Die Erpreſſung. I. Begriff. II. Arten 296
  • 3. §. 75. Strafbare Ausbeutung Anderer. I. Aus-
    beutung Minderjähriger. II. Wucher 300
  • 4. §. 76. Das Glücksſpiel. I. StGB. §. 360, Ziff. 14.
    II. Gewerbsmäßiges Glücksſpiel. III. StGB.
    §. 285. IV. Oeffentliche Ausſpielung. V. Inhaber-
    papiere mit Prämien 304
  • 5. §. 77. Die Partiererei. I. Begriff. II. Arten 307
  • IV. Verletzung der Individualrechte.
  • 1. §. 78. Verletzung des Autorrechtes. I. Nachdruck.
    II. Unterlaſſung der Quellenangabe. III. Ver-
    breitung von Nachdrucksexemplaren 312
  • 2. §. 79. Die übrigen Fälle. I. — III. Verletzung der
    Urheberrechte. IV. Des Namen-, Firmen-,
    Markenrechtes. V. Des Patentrechtes 316
  • Seite
  • V. Strafbare Handlungen gegen immaterielle Rechtsgüter.
  • 1. §. 80. Gegen die Ehre. I. Begriff der Ehre. II. Die
    Arten ihrer Verletzung. III. Rechtswidrigkeit.
    IV. Buße. V. Strafverfolgung. VI. Retorſion.
    VII. Privatgenugthuung 319
  • 2. §. 81. Die übrigen Verletzungen immaterieller
    Rechtsgüter
    . I. Bedrohung. II. Verletzung
    des Hausrechtes. III. Verletzung des Brief-
    geheimniſſes. IV. Offenbarung von Privat-
    geheimniſſen 329
  • Zweites Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen rechtlich geſchützte
    Intereſſen des Publikums.
  • I. Die gemeingefährlichen Delikte des Strafgeſetzbuchs.
  • §. 82. Allgemeines. Brandſtiftung und Ueber-
    ſchwemmung
    . I. Begriff der Gemeingefährlich-
    keit. II. Brandſtiftung. III. Ueberſchwemmung 332
  • §. 83. Fortſetzung. Die übrigen Fälle. I. StGB.
    §§. 315, 316. II. StGB. §§. 317, 318. III. StGB.
    §. 321. IV. StGB. §. 322. V. StGB. §. 323.
    VI. StGB. §. 324. VII. StGB. §§. 327, 328.
    VIII. StGB. §. 329. IX. StGB. §. 330 338
  • II. Uebertretungen des Nahrungsmittelgeſetzes vom
    14. Mai 1879.
  • §. 84. I. Verletzung der ſtaatlichen Aufſichtsmaßregeln.
    II. Nachmachung und Verfälſchung von Nahrungs-
    mitteln. III. Vergiftung derſelben 343
  • III. Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen Frieden.
  • §. 85. I. Landzwang. II. Landfriedensbruch. III. An-
    ſammeln von Waffen und Streitkräften. IV. Oeffent-
    liche Anreizung zum Klaſſenkampf. V. Kanzelmiß-
    brauch 346
  • IV. Andere gegen die Intereſſen des Publikums gerichtete
    Delikte.
  • §. 86. I. Verleitung zur Auswanderung. II. Uebertre-
    tungen 349
  • Seite
  • Drittes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen uneigentliche Rechts-
    güter (durch die Art des Angriffes charakteriſterte
    Delikte).
  • I. Strafbare Handlungen an Geld.
  • §. 87. I. Begriff. II. Arten 353
  • II. Strafbare Handlungen an Urkunden.
  • §. 88. I. Begriff. II. Arten 357
  • III. Strafbare Handlungen gegen die Religion.
  • §. 89. I. Gottesläſterung. II. Beſchimpfung von Re-
    ligionsgeſellſchaften. III. Beſchimpfender Unfug
    in Kirchen. IV. Hinderung und Störung des
    Gottesdienſtes. V. Frevel an Leichen und Gräbern 364
  • IV. Strafbare Handlungen an Perſonenſtand und Ehe.
  • §. 90. I. Am Perſonenſtande. II. An der Ehe (Ehebe-
    trug, Doppelehe. Ehebruch) 367
  • V. Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit.
  • §. 91. I. Blutſchande. II. Widernatürliche Unzucht.
    III. Unzucht mit Verletzung eines beſonderen
    Vertrauens- oder Gewaltverhältniſſes. IV. Nötigung
    zur Unzucht und gleichgeſtellte Fälle. V. Erſchlei-
    chung des Beiſchlafs. VI. Verführung eines un-
    beſcholtenen Mädchens. VII. Oeffentliches Aerger-
    nis durch unzüchtige Handlungen. VIII. Ver-
    breitung von unzüchtigen Schriften. IX. Kuppelei 370
  • VI. Die Amtsdelikte.
  • §. 92. I. Allgemeines. II. Die einzelnen Amtsdelikte 377
  • Seite
  • Viertes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen das Gemeinweſen.
  • I. Gegen Beſtand und Sicherheit des Staates.
  • 1. §. 93. Der Hochverrat. I. Allgemeines. II. Die
    Arten. III. Vorbereitungshandlungen. IV. Oef-
    fentliche Aufforderung zum Hochverrat. V. Be-
    ſchlagnahme des Vermögens. VI. Hochverrat
    gegen befreundete Staaten 391
  • 2. §. 94. Der Landesverrat. I. Begriff. II. Der
    militäriſche, III. der diplomatiſche Landesverrat.
    IV. Beſchlagnahme des Vermögens 396
  • 3. §. 95. Gefährdung der militäriſchen Sicherheit
    des Staates
    . I. StGB. §. 360 Ziff. 1.
    II. Preßgeſetz §. 15. III. StGB. §. 329 400
  • II. Gegen die Staatsgewalt und ihre Organe.
  • 1. §. 96. Gegen den Monarchen (Majeſtätsbeleidi-
    gung.)
    I. Allgemeines. II. Thätlichkeit. III. Ein-
    fache Beleidigung. IV. Beleidigung gegen
    Monarchen und Repräſentanten befreundeter
    Staaten 401
  • 2. §. 97. Gegen geſetzgebende Verſammlungen und
    deren Mitglieder
    . I. StGB. §. 105.
    II. StGB. §. 106 405
  • 3. §. 98. Strafbare Handlungen in Beziehung auf
    das politiſche Wahl- oder Stimmrecht
    .
    I. Verhinderung an der Ausübung deſſelben.
    II. Fälſchung des Wahlergebniſſes. III. Stimmen-
    kauf 406
  • 4. §. 99. Widerſtand gegen die Staatsgewalt.
    I. Gewalt gegen Beamte. II. Aufruhr und Auf-
    lauf. III. Gewalt gegen Forſt- od. Jagdbeamte
    u. ſ. w. IV. Befreiung von Gefangenen 407
  • 5. §. 100. Die ſtrafbaren Aufforderungen. I. Oeffent-
    liche Aufforderung zum Hochverrat. II. Zum
    Ungehorſam. III. Zu einer ſtrafbaren Handlung.
    IV. Zur Aufbringung von Geldſtrafen. V. StGB.
    §. 49 a. (Duchesne-Paragraph) 413
  • Seite
  • 6. §. 101. Mißachtung der Autorität der Staats-
    gewalt
    . I. Schmähung von Staatseinrichtungen.
    II. Amtsanmaßung. III. Bruch des ſtaatlichen
    Gewahrſams an Urkunden. IV. Beſchädigung
    u. ſ. w. von amtlichen Anſchlägen; V. von Autori-
    täts- oder Hoheitszeichen. VI. Verletzung amt-
    licher Siegel. VII. Arreſtbruch 417
  • III. Gegen den Gang der Staatsverwaltung.
  • 1. §. 102. Gegen die Staatsverwaltung überhaupt:
    die falſche Ausſage
    . I. Allgemeines.
    II. Arten. III. Die unternommene Verleitung
    zum Meineid. IV. Die Verleitung zum Falſcheid.
    V. Strafmilderungs- und Strafaufhebungsgründe.
    VI. Nebenſtrafe 420
  • 2. §. 103. Gegen die Rechtspflege. I. Eidesbruch.
    II. Veröffentlichung von Schriftſtücken eines
    Strafprozeſſes. III. Verletzung der Dingpflicht.
    IV. Nichtanzeige von Verbrechen. V Falſche
    Anſchuldigung. VI. Begünſtigung und Hehlerei 426
  • 3. §. 104. Gegen die Verwaltung des Reichskriegs-
    weſens
    . I. Verleitung von Militärperſonen
    zum Ungehorſam. II. Falſchwerbung. III. Ver-
    leitung zur Deſertion und Beförderung derſelben.
    IV. Untauglichmachung zum Wehrdienſt. V. Arg-
    liſtige Wehrpflicht-Entziehung. VI. Verletzung
    der Wehrpflicht durch Auswanderung. VII. Ueber-
    tretung des Kriegsleiſtungs-Geſetzes vom 13. Juni
    1873. VIII. Uebertretung des Feſtungsrayons-
    Geſetzes vom 21. Dezember 1871 432
  • 4. §. 105. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des
    Geld- und Banknotenumlaufes
    . Ueber-
    tretung I. des Münzgeſetzes vom 9. Juli 1873;
    II. des Reichsbankgeſetzes vom 14. März 1875. 435
  • 5. §. 106. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des
    Geſundheitsweſens
    . I. StGB. §. 327.
    II. Verletzung der zur Verhütung von Viehſeuchen
    getroffenen Anordnungen (StGB. §. 328;
    Rinderpeſtgeſetz vom 21. Mai 1878; Desinfektions-
    geſetz vom 25. Februar 1876; Viehſeuchengeſetz
    vom 23. Juni 1880). III. Uebertretung des
    Reichsimpfgeſetzes vom 8. April 1874 438
  • Seite
  • 6. §. 107. Gegen die ſtaatliche Beaufſichtigung des
    Preßweſens
    (die Preßpolizeidelikte) 442
  • 7. §. 108. Uebertretungen der zum Schutze gegen
    die ſozial-demokratiſche Bewegung ge-
    troffenen ſtaatlichen Anordnungen
    .
    (Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878.) 443
  • 8. §. 109. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des
    Aſſoziationsweſens
    . I. StGB. §. 128.
    II. StGB. §. 129. III. Hülfskaſſengeſetz vom
    7. April 1876. IV. Genoſſenſchaftsgeſetz vom
    4. Juni 1868 446
  • 9. §. 110. Gegen die ſtaatliche Regelung des Ge-
    werbeweſens
    . Uebertretungen der Gewerbe-
    ordnung vom 21. Juni 1869. 448
  • 10. §. 111. Gegen den ſtrafrechtlichen Schutz des
    Eiſenbahn- nnd Poſtweſens
    450
  • 11. §. 112. Gegen den ſtrafrechtlichen Schutz des
    Schiffahrtsweſens
    . I. Uebertretung des
    Bundesflaggengeſetzes vom 25. Oktober 1867.
    II. Verletzung des Regiſtrierungsgeſetzes vom
    28. Juni 1873. III. Uebertretung des Schiffs-
    meldungsgeſetzes vom 25. März 1880.
    IV. StGB. §. 145. V. Verletzung der Ver-
    pflichtungen zur Mitnahme hülfsbedürftiger See-
    leute. (Geſetz vom 27. Dezember 1872.)
    VI. Uebertretung der Strandungsordnung vom
    17. Mai 1876. VII. Uebertretung der Seemanns-
    ordnung vom 27. Dezember 1872. 451
  • 12. §. 113. Strafbare Handlungen gegen das Reichs-
    finanzweſen
    . I. Quellen. II. Die Gruppen
    der hieher gehörenden Delikte. III. Charakte-
    riſtiſche Eigentümlichkeiten derſelben 455
  • Paragraphenregiſter.
  • 1. Reichsſtrafgeſetzbuch 460
  • 2. Die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze 460
  • Regiſter zu den Nebengeſetzen 465
  • Alphabetiſches Sachregiſter 467

[[XXI]]

Abkürzungen.


  • Abſ. = Abſatz.
    Anm. = Anmerkung.
  • E. ſiehe RGR.
  • GA. = (Goltdammer’s) Archiv für ge-
    meines deutſches und für preußiſches
    Strafrecht.
  • Geſ. = Geſetz.
  • GS. = Gerichtsſaal, Zeitſchrift f. Straf-
    recht und Strafprozeß (v. Schwarze).
  • HR. = v. Holtzendorff’s Rechtslexikon,
    3. Aufl.
  • Liszt Preßrecht = Liszt, das deutſche
    Reichspreßrecht. Berlin 1880.
  • R. ſiehe RGR.
  • RGR. = Entſcheidung des Reichsgerichts;
    citiert ſowohl nach der von den Mit-
    gliedern der Reichsanwaltſchaft als
    nach der von Mitgliedern des Reichs-
    gerichts herausgegebenen Sammlung;
    erſtere iſt mit R., letztere mit E. be-
    zeichnet, bei beiden iſt Datum der Ent-
    ſcheidung, Nummer des Bandes und
    Seitenzahl angeführt.
  • RStGB. = Reichsſtrafgeſetzbuch.
  • StrPO. = Strafprozeßordnung.
  • Vdg. = Verordnung.
  • Vgl. = Vergleiche.

Druckfehler.


  • S. 9 Zeile 11 von oben lies zweimal: Verbote ſtatt Gebote.
  • S. 39 letzte Zeile iſt einzufügen: 54 a. Geſ. vom 25. März 1880, betreffend die
    Schiffsmeldungen bei den Konſulaten des deutſchen Reichs.
  • S. 142 Zeile 19 von oben lies: Handlungen ſtatt folgen.
  • S. 189 Zeile 22 nach Vollſtreckung einzufügen: der.
  • S. 237 Anm. 4 Zeile 3 lies vorherſehen ſtatt vorher geſehen.
  • S. 356 am Ende anzufügen: (StGB. §. 152).
  • S. 359 Zeile 6 von oben lies §. 270 ſtatt §. 269.

Der von den Amtsdelikten handelnde §. 92 iſt wiederholt irrigerſeits als
§. 93 citiert.

[[XXII]]

Einleitung.


I. Die Grundbegriffe.


§. 1.
Das Strafrecht.


I.Strafrecht im ſubjektiven Sinneiſt Recht zu
ſtrafen
, jus puniendi. Dieſes Recht ſteht nicht nur dem
Staate, ſondern innerhalb der vom Staate gezogenen aller-
dings ſehr eng geſteckten Grenzen auch dem Einzelindivi-
duum (in Haus und Schule) ſowie den verſchiedenſten
Gruppen von Einzelindividuen zu (Kirchen, Vereinen und
Geſellſchaften, Vertretungs-Körpern uſw.). Wir haben es
in dieſer Schrift nur mit dem ſtaatlichen Strafrecht zu
thun.


Aber giebt es ein ſtaatliches Straf-Recht? Kann von
einem Recht, als der, von der rechtſetzenden Gewalt ge-
währten und gewährleiſteten Willensmacht dort geſprochen
werden, wo der Träger der gewährten Willensmacht zugleich
der Gewährende iſt? Paßt der Begriff des ſubjektiven Rechtes
überhaupt auf die Willensmacht des Staates?


Die Beſeitigung dieſes Einwandes iſt von grundlegender
Bedeutung.


Die an ſich ſchrankenloſe, der juriſtiſchen Faſſung ſpot-
tende Strafgewalt des Staates wird zum ſtaatlichen
Strafrechte durch Selbſtbeſchränkung. Die rechtſetzende
von Liszt, Strafrecht. 1
[2]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
Gewalt ſetzt ſich ſelber Recht, indem ſie Vorausſetzung
und Inhalt ihrer Bethätigung normirt. Das ſtaatliche
Strafrecht im ſubjectiven Sinne iſt die rechtlich begrenzte
Strafgewalt
des Staates. Und der Inbegriff jener
Rechtsſätze, durch welche die Ausübung der an ſich
unbeſchränkten Strafgewalt des Staates nach Vor-
ausſetzung und Inhalt begrenzt wird
, bildet das
Strafrecht im objektiven Sinne.


II. Damit gewinnen wir zwei weitere Grundbegriffe.
Durch die Beſtimmung der Vorausſetzungen, an deren
Vorliegen der Staat die Ausübung ſeiner Strafgewalt knüpft,
entſteht der Begriff des Verbrechens; durch die Beſtim-
mung dieſer Ausübung nach Maß und Inhalt der Begriff
der Strafe (im juriſt. Sinne). Die Klarlegung beider Be-
griffe
bildet die Hauptaufgabe des allgemeinen Theils
der Strafrechtswiſſenſchaft; während dem beſonderen
Theile die Darſtellung der einzelnen Verbrechen und der
an dieſelben geknüpften Strafen zufällt.


In den folgenden Paragraphen ſoll durch kurze, aber
zuſammenhängende Entwicklung der beiden Begriffe — Ver-
brechen und Strafe — die Grundlage für die eigentliche
Darſtellung gewonnen werden.1


§. 2.
Die Strafe.


I. Staat und Recht ſind um der Menſchen willen da.
[3]Die Strafe. § 2.
Das Recht bezweckt den Schutz derjenigen Intereſſen, zu
deren Schutz und Förderung die Einzelnen zur ſtaatlichen
Gemeinſchaft zuſammengetreten ſind; wir können dieſe vom
Recht, dem Geſammtwillen der Gemeinſchaft, geſchützten In-
tereſſen als Rechtsgüter bezeichnen. Das Recht erreicht
ſeinen Zweck, Rechtsgüterſchutz zu ſein, durch den Zwang
in der doppelten Form: des direkten phyſiſchen Zwanges, der
unmittelbaren Gewalt einerſeits; andererſeits des indi-
rekten
pſychiſchen Zwanges, der Motivation.


Auf dem Gebiete des Strafrechtes tritt uns der Zwang
entgegen in der Geſtalt der Strafe. Die Strafe iſt ſtaat-
licher Zwang zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes
.
Und zwar iſt ſie Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterver-
letzung;
indem ſie beſtimmte Rechtsgüter, deren Träger der
Verbrecher iſt, ſchmälert oder vernichtet, ſichert ſie die Rechts-
güter der übrigen. Das iſt der konſtante Beſtandtheil, der
weſenhafte Kern aller jener nach Zeit und Volk wechſelnden
Erſcheinungsformen, welche die Strafe im Laufe der geſchicht-
lichen Entwickelung angenommen hat.


II. Die Strafe erreicht ihren Zweck — Rechtsgüterſchutz
zu ſein — auf zweifachem Wege.


1. Als mittelbarer Zwang oder Motivation durch Ver-
mehrung und Kräftigung der den Einzelnen vom
Verbrechen abhaltenden Motive
; und zwar indem


  • a) die Androhung der Strafe abhaltend (abſchreckend
    und warnend) wirkt;
  • b) der Vollzug der Strafe die Wirkung der Androhung,
    dem beſtraften wie allen anderen gegenüber, ſichert
    oder potenzirt (Spezial- und Generalpräven-
    tion
    );
  • c) der Vollzug der Strafe unter günſtigen Umſtänden
    [4]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
    das labil gewordene ſittliche Gleichgewicht des Ver-
    brechers zu einem ſtabilen macht (Beſſerung).

2. Als unmittelbarer Zwang oder phyſiſche Gewalt durch
dauernde oder vorübergehende Sequeſtrirung des Verbrechers
(Sicherung).


III.Art und Maß der Strafe hat ſich daher lediglich
nach dem im Einzelfalle angeſtrebten Ziele zu richten. Die
Strafe muß eine andere ſein nach Inhalt und Umfang, wenn
ſie präveniren, eine andere wenn ſie beſſern, eine andere
wenn ſie ſichern ſoll. Allerdings huldigt die moderne Straf-
geſetzgebung nur ſelten und meiſt unbewußt dieſem Gedanken;
ſie behandelt den unverbeſſerlichen Gewohnheitsdieb und den
reuezerknirſchten Gelegenheitsverbrecher nach derſelben Scha-
blone.


Aber die ſcharfe Betonung des Zweckmomentes im Recht
überhaupt und in der Strafe insbeſondere findet immer
zahlreichere und immer bedeutendere Anhänger. Und die
Zeit iſt hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft vorüber, in
welcher die Forderung, daß die Staatsgewalt nicht ziel- und
zwecklos die Rechtsgüter der Rechtsgenoſſen vernichte, als
rationaliſtiſcher Dilettantismus abgefertigt werden kann.


Einer weiteren Rechtfertigung der Strafe, als des
Nachweiſes ihrer Tauglichkeit zum Zwecke und ihrer Unent-
behrlichkeit bedarf es nicht. Wer dem Staate den Nachweis
ſeiner Berechtigung zu ſtrafen auferlegt, verkennt, daß der
Begriff des Rechtes aus dem des Staates abzuleiten iſt und
nicht umgekehrt, daß das Recht im ſubjektiven Sinne ein
Wollen-Dürfen iſt, und die Grenzen des Dürfens vom
Staate beſtimmt werden.


Die eben beſprochene Auffaſſung der Strafe entrückt das
Strafrecht dem Streite über die menſchliche Willensfreiheit.
[5]Die Norm. § 3.
Sie ſetzt nicht Freiheit des Wollens, ſondern Beſtimmbar-
keit durch Motive voraus, und dieſe wird von keiner Seite
geleugnet. Die Strafe iſt nach ihr nicht nur verträglich
mit dem Determinismus, der auch die menſchliche Handlung
dem allgemeinen Kauſalgeſetze unterwirft, ſondern erhält erſt
durch ihn ihre feſte praktiſche Grundlage. Denn gerade
wenn die Handlung notwendiges Produkt ihrer Faktoren iſt,
gerade wenn ſie, dem Kräfteparallelogramme gemäß, not-
wendig in der Richtung des ſtärkſten Motives erfolgt, kann
durch Einführung neuer Faktoren in der Geſtalt neuer Mo-
tive, ſowie durch Verſtärkung der in den gegebenen Faktoren
vorhandenen motivirenden Kraft die Richtung der Handlung
beſtimmt werden.1


§. 3.
Die Norm.


I. Wir haben als einen der Wege, auf welchen die
Strafe ihren Zweck, den Schutz der Rechtsgüter, erreicht,
die Androhung der Strafe bezeichnet. Der Geſetzgeber
verbietet oder gebietet bei Strafe gewiſſe Handlungen, deren
Vornahme oder Unterlaſſung einen Angriff auf die zu
ſchützenden Rechtsgüter in ſich ſchließt; er verſtärkt die moti-
virende Kraft ſeiner Imperative durch das Gewicht der
Strafdrohung. Löſen wir die Strafdrohung aus, ſo erhalten
wir einen einfachen, ſei es negativen, ſei es poſitiven Im-
perativ. Dieſen, den Strafrechtsſätzen zu Grunde liegenden,
der Strafdrohung entkleideten, ſtaatlichen Imperativ nennen
wir die Norm. Die Norm gehört durchaus nicht nur dem
[6]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
Gebiete des Strafrechtes an; ſie ſpielt aber allerdings hier
ihre bedeutendſte Rolle. Ohne klare Erkenntnis der Funk-
tionen, welche die Norm auf dem Gebiete des Strafrechtes
zu erfüllen hat, iſt tieferes Verſtändniß des Strafrechtes ſelbſt
kaum möglich. Es iſt Binding’s bleibendes Verdienſt,
nicht zuerſt aber am beſtimmteſten und konſequenteſten die
Bedeutung der Norm betont zu haben.


II. Wir haben an dieſer Stelle zuerſt das Verhältnis
der Normen zu den zu ſchützenden Rechtsgütern
ins
Auge zu faſſen.


1. Der Geſetzgeber kann ſich damit begnügen, ein be-
ſtimmtes Intereſſe einfach unter ſeinen Rechtsſchutz zu ſtellen,
es zu einem Rechtsgute zu erklären. Er verbietet dadurch
— nicht notwendig bei Strafe — jede gegen das Rechtsgut
gerichtete, wie immer geartete, Handlung. So entſtehen die
allgemeinen, immer negativen Normen: Du ſollſt nicht töten,
an fremdem Eigentum Dich nicht vergreifen, die Ehre
Deines Mitbürgers nicht verletzen uſw.


2. Der Geſetzgeber kann aber auch gewiſſe, von ihm
beſtimmt bezeichnete Handlungen verbieten, weil ihre
Vornahme regelmäßig, wenn auch nicht immer, eine Ver-
letzung oder Gefährdung des zu ſchützenden Rechtsgutes im
Gefolge hat. Dann iſt dieſe Handlung verboten, auch wenn
ſie im konkreten Falle die regelmäßige Wirkung nicht nach
ſich zieht. So iſt der Handel mit Gift ohne polizeiliche Er-
laubnis (StGB. §. 367 Nr. 3) im Intereſſe der körperlichen
Sicherheit verboten auch dann, wenn der Handeltreibende
durch die von ihm ergriffenen Vorſichtsmaßregeln jede Ge-
fahr im konkreten Falle ausgeſchloſſen hat. Auch einzelne
der ſog. gemeingefährlichen Delikte — ſo z. B. die Brunnen-
vergiftung des §. 324 StGB. — gehören in dieſe Gruppe.
[7]Die Norm. § 3.
Binding nennt dieſe Normen treffend Ungehorſamsver-
bote
. Wenn wir die unter 1 beſprochenen allgemeinen
Normen als erſte allgemeine Umwallung des Rechtsgutes,
als Hauptwall uns vorſtellen wollen, ſo können wir die
Normen der zweiten Gruppe mit Ravelins vergleichen, die
über den Hauptwall an einzelnen Stellen vorſpringen.


3. Der Geſetzgeber gebietet endlich einzelne beſtimmte
Handlungen, weil ihre Unterlaſſung regelmäßig, wenn
auch nicht immer, eine Verletzung oder Gefährdung des Rechts-
gutes in ſich birgt: Gehorſamsgebote nach Binding.
Bei unſerem Bilde bleibend, könnten wir vielleicht von de-
tachirten Forts ſprechen. Der letzte Abſchnitt des StGB.’s,
die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze des Reichs, ſowie die Polizei-
ſtrafgeſetzgebung der Länder bieten zahlreiche Beiſpiele. Man
denke an das Gebot des Raupens, des Reinigens der Schorn-
ſteine, den Impfzwang, die Verpflichtung zur Desinfektion
bei Eiſenbahnviehtransporten uſw. Es ſei ausdrücklich be-
tont, daß auch dieſe Gebote negative Bedeutung haben,
nicht zur Förderung, ſondern zum Schutze der Rechtsgüter
da ſind.


4. Es geſchieht aber auch häufig, daß der Geſetzgeber
mehrere Rechtsgüter durch eine und dieſelbe Norm
ſchützt. Aus dem bisher Geſagten geht zur Genüge hervor,
daß dies nur durch Normen geſchehen kann, die den unter
2 und 3 beſprochenen Gruppen angehören. Beſondere Beach-
tung verdienen hier diejenigen Normen, durch welche der
Geſetzgeber ſich gegen gewiſſe Arten des Angriffes wendet,
ohne der Richtung des Angriffes auf ein beſtimmtes Rechts-
gut begriffliche Bedeutung beizulegen. So ſind Münzfäl-
ſchung oder Urkundenfälſchung verboten, weil ſie an Münzen
und Urkunden, dieſen wichtigen Trägern des rechtlichen Ver-
[8]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
kehrs, begangen, nach den verſchiedenſten Richtungen hin
ſtörend in die Rechtsgüterwelt eingreifen. So ſind durch
das Verbot von Brandſtiftung und Ueberſchwemmung, alſo
durch je eine Norm, Leben und Eigentum geſchützt.


III.Umfang der imperativen Kraft der
Normen
.


1. Normwidrig iſt jeder der Norm widerſprechende Zu-
ſtand, ohne Rückſicht auf die Urſachen, die ihn herbeigeführt
haben: das ſchuldhafte Unrecht wie das ſchuldloſe Nicht-
Recht
(vgl. unten §. 17 III), und innerhalb des erſteren
die vorſätzliche wie die fahrläſſige Uebertretung der
Norm. Es gibt keine beſonderen Fahrläſſigkeits-
Normen
(vgl. unten §. 29). Und zwar gilt dieſer Satz
gleichmäßig für alle Normen-Gruppen. Dabei ſei ſchon hier
betont (vgl. unten §. 4 I), daß mit der Normwidrigkeit die
Strafbarkeit verbunden ſein kann, nicht muß.


2. Normwidrig iſt aber nicht nur die Herbeiführung
(bez. Hinderung) des Zuſtandes ſelbſt, deſſen Herbeiführung
die Norm verbietet (bez. gebietet), ſondern jede Veränderung
der Außenwelt, welche die Gefahr des Uebertretenwerdens
der Norm in ſich ſchließt. Der Begriff der Gefahr, in
jüngſter Zeit lebhaft angegriffen (von Hertz) iſt für das
Strafrecht unentbehrlich; er iſt aber auch, ſobald wir ſeine
Entſtehung im Auge behalten, ein durchaus wiſſenſchaftlicher
juriſtiſch faßbarer Begriff. Wir nennen — immer im Hin-
blicke auf einen beſtimmten Erfolg — Gefährdung1 jenen
[9]Das Verbrechen. § 4.
Zuſtand, der nach unſerer Erfahrung in der Mehrzahl
der Fälle zum Erfolge führt
. Bei genügender In-
duktion könnten wir die Größe der Gefahr ſogar ziffermäßig
(in Perzenten) beſtimmen. Iſt es ſicher geworden, daß der
Erfolg nicht eintreten werde — der aus dem Fenſter des
3. Stockes Geſtürzte iſt ohne ſchwere Verletzung unten ange-
kommen — ſo können wir, uns in einen früheren Zeitpunkt
zurückverſetzend, die in dieſem vorhandene Gefahr beurteilen.
Wir werden dieſem Begriffe wiederholt begegnen. Hier ge-
nügt die Bemerkung, daß es beſondere Gefährdungs-
gebote nicht giebt
, daß ſie in den Verletzungsgeboten mit
enthalten ſind (a. A. Binding). Das hindert den Geſetzgeber
nicht (unten §. 4 I), nur die Verletzung, das wirkliche Ueber-
tretenſein der Norm, mit Strafe zu belegen.


3. Aber die imperative Kraft der Norm greift noch
weiter. Normwidrig, eine Uebertretung der Norm, iſt jede
auf Verletzung der Norm gerichtete Handlung ohne Rück-
ſicht auf ihren Erfolg. Die verſuchte Normübertretung
iſt Normübertretung, mag ſie auch vom Geſetzgeber nicht
mit Strafe bedroht ſein. Die Normwidrigkeit des Verſuches
einer Normübertretung folgt aus der Exiſtenz dieſer Norm.
Mit a. W.: es giebt keine beſonderen, den Verſuch
verbietenden Normen
und es bedarf keiner ſolchen (vgl.
unten §. 32).


§. 4.
Das Verbrechen.


Formell betrachtet, iſt Verbrechen jener Thatbeſtand, an
welchen das objektive Recht den Eintritt der Strafe als
Rechtsfolge knüpft. Wir haben hier zunächſt das Weſen
dieſer Thatbeſtände und dann den Grund feſtzuſtellen, aus
[10]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
welchem der Geſetzgeber gerade gewiſſe Thatbeſtände zu
Vorausſetzungen für den Eintritt ſeiner Strafgewalt erklärt.


I. Jedes Verbrechen erſcheint zunächſt als eine Ueber-
tretung des der Strafdrohung zu Grunde liegenden Impe-
rativs. Die ſchuldhafte Uebertretung einer ſtaat-
lichen Norm
nennen wir (mit Binding) Delikt. Jedes
Verbrechen iſt alſo Delikt und muß alle Merkmale desſelben
an ſich tragen. Aber noch ein Merkmal mehr: Verbrechen
iſt das mit Strafe belegte Delikt. Nicht jedes Delikt
iſt mithin Verbrechen.1


1. In weitaus den meiſten Fällen bedroht der Geſetz-
geber vielmehr nur die durch irgend einen Umſtand quali-
fizirte
Normübertretung mit Strafe. So iſt jede Kuppelei
Delikt, aber nur die gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz
begangene iſt Verbrechen (StGB. §. 180).


2. In anderen Fällen muß zu der Normübertretung die
Erfüllung einer weiteren, ganz außerhalb dieſer liegenden
Bedingung hinzutreten, um die Strafbarkeit des Deliktes
herbeizuführen: ſo der Antrag des Verletzten, oder die Ver-
bürgung der Gegenſeitigkeit (StGB. §§. 102, 103); Straf-
drohung einer auswärtigen Geſetzgebung (StGB. §. 4 Nr. 3);
Auflöſung oder Scheidung einer Ehe (StGB. §§. 170, 172,
238); Oeffentlichkeit der Verübung (StGB. §. 183 u. A.) uſw.
Es ſind dieß die doppelt bedingten Strafdrohungen, wie
Binding ſie genannt hat.


3. Insbeſondere aber iſt der Umſtand ins Auge zu
faſſen, daß an die Uebertretungen einer und derſelben Norm
je nach der verſchiedenen Qualifikation der Uebertretung ver-
ſchiedene Straffolgen geknüpft ſein können, ſo daß dem einen
[11]Das Verbrechen. § 4.
Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor-
reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der
Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung
auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung
im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver-
brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw.


II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu
Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre
eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein
Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf-
geſetz mit ſich.


Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor
in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding („blinde“
Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen
der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer
Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er-
laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327
u. A. mehr.


III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der
Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge?
Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega-
tive
: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive:
warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes
Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen:
Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt
(das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe
belegten (dem ſog. civilen Unrecht)?2


1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter-
[12]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
verletzung. Der Schutz den ſie gewährt, iſt theuer erkauft.3
Der Staat ſchneidet in ſein eigenes Fleiſch, um ſeine Rechts-
güter zu wahren. Die Strafe iſt, war und wird ſein ein
Uebel nicht nur für den Betroffenen, ſondern auch für die
Gemeinſchaft. Nur dann alſo und nur ſoweit wird dieſe
eigentümliche Art des Rechtsgüterſchutzes gerechtfertigt, d. h.
dem Intereſſe der Gemeinſchaft entſprechend ſein, wenn ſie
und ſoweit ſie unbedingt notwendig iſt zum
Schutze
der bedrohten Rechtsgüter. Sie iſt das äußerſte Mittel,
die ultima ratio des Staates. Daher die von jeher, wenn
auch nicht immer bewußt, hervortretende Tendenz der Geſetz-
gebung, das Gebiet des mit Strafe belegten Unrechts auf
das möglich kleinſte Maß einzuengen.


2. Die Grenzen dieſes Gebietes aber werden beſtimmt
durch die Gefährlichkeit der einzelnen Delikte. Wolge-
merkt: durch ihre Gefährlichkeit in abſtrakto nicht in konkreto.
Verbrechen iſt „die von Seiten der Geſetzgebung
konſtatirte Gefährdung der Lebensbedingungen der
Geſellſchaft
“ (Ihering, Zweck im Recht). Der Geſetz-
geber verbietet jedes Delikt, aber nur das gefährliche ver-
bietet er bei Strafe.


Die Gefährlichkeit kann liegen:


a) In der Unerſetzlichkeit des angegriffenen Rechts-
gutes (das Leben, die Geſchlechtsehre des Weibes).


b) In dem Werte des Rechtsgutes für die betr. Rechts-
gemeinſchaft; richtiger, in der (häufig ſehr ſubjektiven) Wert-
ſchätzung durch die rechtſetzenden Faktoren. Man denke
an die verſchiedene Ausbildung des Strafrechts im theokra-
tiſchen und im Kriegerſtaate, in der despotiſchen Monarchie
[13]Das Verbrechen. § 4.
und dem republikaniſchen Gemeinweſen, im Agrikultur- und
im Induſtrieſtaate uſw.


c) In der Art des Angriffes. Von den beiden
Hauptarten: Trug und Gewalt, fraus und vis, tritt bald
die eine, bald die andere, je nach Volkscharakter und Zeit-
verhältniſſen, als die gefährlichere in den Vordergrund. Man
vergleiche das Verhältnis des Raubes zum Diebſtal nach
altdeutſcher und nach moderner Auffaſſung.


d) In der Häufigkeit des Angriffes. Das Ueber-
handnehmen gewiſſer Delikte (Fälſchung von Nahrungsmit-
teln, ſozial-demokratiſche Umtriebe, Wucher uſw.) kann die
Geſetzgebung veranlaſſen, den ſtrafenden Arm zu erheben.
Nur mag ſie Eines dabei nicht vergeſſen: die Strafe be-
deutet in dieſem Falle ſymptomatiſche Behandlung eines
tieferliegenden ſozialen Leidens; und dieſe iſt auf die Dauer
erfolglos, wenn ſich mit ihr nicht die Bekämpfung der Krank-
heitsurſache verbindet. Hebung des Volkswohlſtandes und der
Volksbildung, freiheitliche Einrichtungen, die das Intereſſe
des Einzelnen mit dem der Geſammtheit inniger verknüpfen,
Entfaltung all’ der poſitiven Kräfte, die der Staatsverwaltung
in ſo reichem Maße zur Verfügung ſtehen: ſie allein können
die Krankheitsurſache beſeitigen und mit ihr die Symptome.


3. Aus dem Geſagten folgt die durch die Geſchichte auf
das Glänzendſte beſtätigte Konſequenz, daß die Grenzlinie
zwiſchen dem kriminellen und dem civilen Unrechte nicht durch
aprioriſtiſche Konſtruktion gefunden und gezogen werden kann;
daß ſie vielmehr eine durch wechſelnde Faktoren beſtimmte
und darum ſchwankende ſein muß. Dieſe Anſicht, zu der ſich
Geib, Wahlberg, Merkel, Heinze, Binding, Geyer,
Thon, Ihering, Dahn
u. A. bekennen, iſt eine der ſchönſten
Errungenſchaften der modernen Strafrechtswiſſenſchaft.


[14]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.

§. 5.
Urſächlicher Zuſammenhang von Verbrechen und Strafe.


I. Wir haben die Strafe aufgefaßt als die bewußte
und durch die Zweckvorſtellung beſtimmte
Reaktion
des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck-
moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen.
Beſtätigt ſich dieſe Anſicht, wenn wir die Geſchichte der
Strafe befragen?


Die Geſchichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen
Anlaß, unſere Anſicht irgendwie zu ändern. Wol aber ge-
währt ſie uns auf unſere Frage einen tiefen, viel zu wenig
beachteten Einblick in die Entſtehung und in die Ent-
wicklung der Strafe.


Das, was ſie heute iſt, war die Strafe nicht immer.
Sie war — und nicht nur in der Urgeſchichte der Menſch-
heit — blinde, inſtinktartige Reaktion gegen äußere
Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be-
reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in
ihren letzten Wurzeln auf dem Rachetrieb (dem ressentiment
Dühring’s),1 der nur eine beſondere Form des Selbſt-
erhaltungstriebes
iſt. Nichts liegt ihr in dieſem Sta-
dium ferner, als Beſtimmbarkeit durch die Zweckvorſtellung.
Die in unſeren Tagen ſo beliebten Analogien mit der Thier-
welt liegen nahe genug; der genetiſche Zuſammenhang mit
ihnen mag dahingeſtellt bleiben. Und auf verwandte Erſchei-
nungen in der anorganiſchen Natur zurückgreifen,2 hieße mit
Worten, nicht mit Begriffen operieren. —


[15]Urſächl. Zuſammenhang von Verbrechen u. Strafe. § 5.

Aber wie im Laufe der Entwicklung des Einzelindividuums
die (unwillkürliche) Reflexbewegung ſich umſetzt in eine will-
kürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Be-
wegung, ſo iſt die Aeußerung des Rachetriebes durch eine
allmählige Summirung von quantitativen Differenzen
zu einem qualitativ Anderen, zur modernen Strafe ge-
worden. Wer die Möglichkeit einer ſolchen Differenzirung
leugnet, verkennt eine der wichtigſten Konſequenzen der Ent-
wicklungslehre.


Wie dieſe Entwicklung vor ſich gegangen, von Stufe zu
Stufe; wie das eigene Intereſſe zur Zügelung des Rache-
triebes zwingt, wie durch die werdende und erſtarkende
Staatsgewalt die Privatrache in immer engere Grenzen ge-
bannt und endlich durch die ſtaatliche Reaktion erſetzt wird;
wie die ſtaatliche Strafgewalt durch Selbſtbeſchränkung ſich
in das Strafrecht des Staates umſetzt; wie durch die vor-
angehende Drohung der Strafe, durch Ausbildung eines
vielgliedrigen Strafenſyſtems, durch rationellen Strafvollzug
das Zweckmoment in der Strafe zu immer weiterer und
immer ſtärkerer Herrſchaft gelangt: das hat nicht unſer
Lehrbuch, das hat die noch nicht geſchriebene Geſchichte der
Strafe zu ſchildern. An dieſer Stelle genügt der einfache
Hinweis auf den Urſprung der Strafe und die allmälige
Wandlung ihres Charakters. Das Lehrbuch hat es wie
bisher, ſo auch fortan nur mit der Strafe in der heutigen
Geſtalt zu thun.


II. Die vorgetragene Anſicht iſt weit davon entfernt,
allgemein anerkannt zu ſein; kaum weniger weit davon ent-
fernt, auf allgemeine Anerkennung zu rechnen. Herrſcht doch
in wenigen Disziplinen geringere Uebereinſtimmung in Bezug
auf Methode und Ausgangspunkt, als auf dem Gebiete der
[16]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
allgemeinen Rechtslehre, die berufen iſt, an Stelle der
„Rechtsphiloſophie“ zu treten.


Man pflegt die Unterſuchungen über Urſprung und
Weſen der Strafe in nicht ganz paſſender Weiſe als Straf-
rechtstheorien
zu bezeichnen. Ihre Zahl iſt überaus groß.
Seit Plato und Ariſtoteles haben Philoſophen und Juriſten an
ihnen mit einer gewiſſen Vorliebe gearbeitet; den engliſch-
franzöſiſchen Rationalismus der Aufklärungsperiode beſchäf-
tigen ſie nicht weniger als die Spekulation zur Blüthezeit
der deutſchen Philoſophie. Und in der That iſt eine theoretiſche
oder praktiſche Handhabung des Strafrechtes ebenſowenig
wie die legislative Geſtaltung desſelben möglich ohne Stellung-
nahme zu den hier aufgeworfenen Fragen.


Im folgenden Paragraphen ſoll eine kurze Ueberſicht über
die wichtigſten Strafrechtstheorien gegeben werden. Wenige
Worte werden genügen, um unſere Stellung ihnen gegen-
über zu beleuchten; zu eingehender Kritik iſt hier nicht der
Ort.3


§. 6.
Die Strafrechtstheorien.1


I.Zweckmäßigkeitstheorien (auch relative Intereſſen-
oder Nutzungstheorien). Die Strafe iſt ihnen Mittel zum
Zweck, zur Bekämpfung der Verbrechen und damit zum
[17]Die Strafrechtstheorien. § 6.
Schutze der Rechtsordnung; mit der Unentbehrlichkeit und
Tauglichkeit des Mittels iſt ihnen die Rechtfertigung des
ſtaatlichen Strafrechts gegeben. Punitur ne peccetur; der
Dieb wird gehängt, nicht weil er geſtohlen hat, ſondern damit
nicht geſtohlen werde. Einig in dieſem Grundgedanken,
weichen die hieher gehörigen Theorien von einander ab in
Bezug auf die Funktion, die ſie der Strafe zuweiſen.


1. Nach der alten, heute allgemein aufgegebenen, Ab-
ſchreckungstheorie
iſt es die Vollziehung der Strafe,
welche, durch ihre abſchreckende Wirkung auf die Ge-
ſammtheit der Staatsbürger
der künftigen Begehung
von Verbrechen entgegenwirken ſoll.


2. Dagegen will die Theorie des pſychiſchen Zwan-
ges
dasſelbe Ziel durch die Androhung der Strafe er-
reichen. Die von dem Geſetze wachzurufende Vorſtellung des
den Verbrecher erwartenden Strafübels ſoll der Vor-
ſtellung der Luſt, welche ſich der Begehrende von der Be-
gehung des Verbrechens verſpricht, gegenübertreten, das zu
dem Verbrechen treibende Motiv ſoll durch ein Gegen-
motiv von gleicher Stärke in ſeiner motivirenden Kraft ge-
hemmt werden. Schon von Ariſtoteles angedeutet, von
Hobbes (de cive 1643, Leviathan 1651) vollſtändig ent-
wickelt, von Sonnenfels und anderen Schriftſtellern der
Aufklärungszeit vertreten, hat dieſer Gedanke in Anſelm
Feuerbach (1775—1833) den glänzendſten und einfluß-
reichſten Vorkämpfer gefunden, ſo daß die Theorie ſelbſt wol
als die Feuerbach’ſche bezeichnet wird.


Eine Abart derſelben iſt die Warnungstheorie
Bauer’s
(1830), nach welcher ſich die Strafdrohung nicht
nur an die ſinnliche, ſondern auch an die ſittliche Natur des
Menſchen wendet.


von Liszt, Strafrecht. 2
[18]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.

3. Die Special-Präventions-Theorie, die Grol-
man
(1799) aufgeſtellt hat, verlegt das Schwergewicht
wieder in die Vollziehung der Strafe, will aber durch die
Beſtrafung des Einen nicht die Uebrigen, ſondern dieſen
ſelbſt von künftiger Begehung ſtrafbarer Handlungen abhalten,
ſeinen verbrecheriſchen Willen unter das Geſetz beugen.


4. Dasſelbe Ziel, aber auf anderem Wege, verfolgt die
Beſſerungstheorie, die, neben Stelzer, Ahrens,
Groos, Schleiermacher
u. A., insbeſondere der vor
Kurzem verſtorbene Röder in einer Reihe von Schriften
verteidigt hat. Sie bezweckt Verhütung künftiger Verbrechen
durch die Beſſerung des Verbrechers bei Vollſtreckung
der Strafe. Die Reform des Strafvollzuges, insbeſondere
des Gefängnisweſens, iſt zum guten Theile den Anhängern
der Beſſerungstheorie zu danken.


Es iſt das große Verdienſt der Zweckmäßigkeitstheorien,
das Zweckmoment in der Strafe betont zu haben. Sie
kranken aber an einem doppelten Fehler. Sie verkennen
einerſeits den hiſtoriſchen Urſprung, andrerſeits die moderne
Geſtaltung der Strafe, die es möglich macht, auf verſchiedenem
Wege dasſelbe Ziel anzuſtreben.


II.Die Rechtstheorien ſuchen das ſtaatliche jus pu-
niendi
zu rechtfertigen, indem ſie dasſelbe einer der vorhan-
denen Rechtsfiguren, einem der allgemein anerkannten Rechts-
ſätze, unterordnen. Dies vereinigt ſie zu einer gemeinſamen
Gruppe, mögen ſie auch ſonſt den Zweckmäßigkeitstheorien
oder den unter IV zu beſprechenden Vereinigungstheorien
nahe ſtehen. Es iſt den Rechtstheorien nicht gelungen, über
ſchiefe Analogien hinauszukommen. Von allen Theorien
haben ſie den geringſten Werth.


1. Die Vertragstheorie, von Hobbes, Beccaria,
[19]Die Strafrechtstheorien. §. 6.
Rouſſeau, Fichte u. A. vertreten, leitet das ſtaatliche
Recht zu ſtrafen ab aus einem Vertragsverhältniſſe. Durch
den „Bürgervertrag“ in ſeinen beiden Beſtandteilen
wird die Grenze für den Gebrauch der individuellen Freiheit
beſtimmt und gegenſeitiger Schutz der Rechte zugeſichert.
Wer den Bürgervertrag bricht, verliert die durch dieſen ihm
zugeſicherten Rechte und müßte aus der Rechtsgemeinſchaft
ausgeſchloſſen werden, hätte er nicht in dem zu dem Bürger-
vertrage hinzutretenden „Abbüßungsvertrag“ das Recht
erlangt, durch Abbüßung einer Strafe ſich des Lebens in der
Geſellſchaft wieder fähig zu machen.


2. Nach der Notwehr- oder Verteidigungs-
theorie
, als deren Anhänger Schulze (1813), Martin,
ſowie eine Reihe von franzöſiſchen und italieniſchen Schrift-
ſtellern zu nennen ſind, leitet der Staat ſein Strafrecht ab
aus der durch jedes Verbrechen erzeugten fortwirkenden Ge-
fährdung
ſeiner Rechtsordnung, und dem durch dieſen
Zuſtand begründeten Notrechte, das Fortbeſtehen des Staates
gegen jene Gefahr zu ſichern.


3. Die Vergütungs- oder Wiederherſtellungs-
theorie Welcker’s
(1790—1869) ſieht den Zweck der
Strafe in der Wiederaufhebung des durch das Ver-
brechen verurſachten intellektuellen Schadens (ſo, wie
der civile Erſatz die Beſeitigung des bewirkten materiellen
Schadens bezweckt), und den Rechtsgrund derſelben einerſeits
in der Verpflichtung jedes Rechtsgenoſſen die von ihm be-
wirkte Rechtsverletzung wieder gutzumachen, andrerſeits in dem
Rechte und der Pflicht der Staatsgewalt, die Bürger eventuell
zwangsweiſe zur Erfüllung dieſer Rechtspflicht anzuhalten.


Eine — wenig gelungene — Umarbeitung der Welcker-
ſchen Ausführungen iſt Hepp’s „Theorie der bürgerlichen
[20]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
Gerechtigkeit“ (1843—5). Auch in Wächter’s Anſichten
(Beilage 17) iſt der Einfluß Welcker’s unverkennbar.


III. Die Notwendigkeitstheorien (Vergeltungs- oder
Gerechtigkeitstheorien). Sie ſtimmen alle darin überein, daß
die Strafe nicht eine vom Staate willkürlich mit dem Verbrechen
verknüpfte politiſche Maßregel, ſondern notwendige Folge
des Verbrechens iſt; daß ſie ganz abgeſehen von ihrer
etwaigen Zweckmäßigkeit eintreten muß; daß geſtraft wird,
weil verbrochen worden und nicht damit nicht verbrochen werde,
und daß mithin die Vergangenheit und nicht die Zukunft
Eintritt, Art und Maß der Strafe beſtimme. Die Vergel-
tungstheorien gruppiren ſich je nach der verſchiedenen Be-
gründung dieſer ihnen gemeinſamen Auffaſſung.


1. Die Strafe iſt ein Poſtulat der Vernunft, das
Strafgeſetz ein kategoriſcher Imperativ; Maßſtab für Qua-
lität und Quantität der Strafe das jus talionis. So Kant
(Kritik der praktiſchen Vernunft 1788 und Metaphyſ. An-
fangsgründe der Rechtslehre 1799). Ihm folgen C. S.
Zachariae (1805) und Henke (1811) in dem vergeblichen
Bemühen, Umfang und Inhalt der von dem Vergeltungs-
prinzipe geforderten Strafe nach anderen für das praktiſche
Leben verwertbareren Grundſätzen zu beſtimmen.


2. Nach Herbart (allgem. praktiſche Philoſophie 1808),
dem ſich Geyer anſchließt, iſt die Strafe eine äſthetiſche
Notwendigkeit
, begründet in unſerem Mißfallen am
Streite, an der durch das Verbrechen hervorgerufenen Un-
gleichheit; Rückgang des gleichen Quantums Weh’ von dem
Verletzten auf den Verletzer, alſo Wiederherſtellung der ge-
ſtörten Gleichheit iſt Weſen und Zweck der Strafe.


3. Die Strafe als dialektiſche Notwendigkeit. Nach
Hegel (Grundlinien der Philoſophie des Rechts 1821) iſt die
[21]Die Strafrechtstheorien. §. 6.
Strafe die Vernichtung des Verbrechens durch die begriff-
liche Macht des Rechts. Das Recht iſt ihm das verwirk-
lichte Reich der Vernunft, die äußere Exiſtenz des vernünftigen
Weſens des Willens. Das Verbrechen, als die Negation
des Rechts, iſt demnach in ſich nichtig, denn der rechtswidrige
Wille iſt im Widerſpruche mit ſich ſelbſt. Die Strafe aber
iſt die Offenbarung dieſer Nichtigkeit des Verbrechens, die
Konſtatirung ſeiner Scheinexiſtenz; die Strafe iſt Negation
der Negation des Rechts (als Negation des Verbrechens),
mithin die Poſition, die Wiederherſtellung des Rechts.
Hegel’s Theorie iſt von beſtimmendem Einfluſſe geweſen auf
Manche der bedeutendſten Kriminaliſten, insbeſondere auf
Köſtlin, Luden, Hälſchner und Berner; aber auch in
v. Bar’s Reprobationstheorie (Grundlagen des Strafrechts
1869), Heinze’s Leiſtungstheorie, Kitz’s Resciſſionstheorie
(1874) laſſen ſich die Einwirkungen Hegel’ſcher Grundge-
danken nachweiſen.


4. Die Strafe als göttliches Gebot. Nach Stahl
(Philoſophie des Rechts) und Anderen iſt der Staat dazu von
Gott geſetzt, um die äußere ethiſche Ordnung auf Erden zu
handhaben. Kraft dieſer Vollmacht übt er die Strafgerech-
tigkeit, ſtellt er dem Verbrechen gegenüber die Herrlichkeit
des Staates, auf dem der Abglanz der Gottheit ruht, wieder
her durch die Niederwerfung desjenigen, der ſich gegen die
ethiſche Ordnung empörte.


5. Scheinbar im diametralen Gegenſatze zu den bis-
herigen Theorien und doch im innerſten Kerne mit ihnen
nahe verwandt iſt die Anſicht derjenigen, welche die Strafe
als Naturnotwendigkeit, als eine, kraft eines Natur-
geſetzes eintretende, notwendige Folge des Verbrechens be-
trachten. Der geiſtvollſte Vertreter dieſer Theorie iſt Düh-
[22]Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
ring (Kurſus der Philoſophie 1875 S. 219—243); ob auch
Schütze (Lehrbuch) hieher zu rechnen, iſt zweifelhaft.
Dühring führt die Strafe zurück auf das ressentiment, den
Rachetrieb, der, Ausfluß des Selbſterhaltungstriebes, nicht
nur den Menſchen zur Reaktion gegen Störungen ſeiner
Integrität treibt.


Mit Dühring ſtimmt die in dieſem Lehrbuche vorge-
tragene Anſicht in dem Ausgangspunkte überein; ſie betont
jedoch im Gegenſatze zu Dühring die im Laufe der Ent-
wicklung vor ſich gegangene Umgeſtaltung der Strafe. Her-
bart
’s Auffaſſung weicht bei genauerer Betrachtung nicht
weſentlich von der Dühring’s ab. Hegel verleiht den Be-
griffen eine Realität, die ſie nicht beſitzen; Kant und Stahl
ſtützen ihre Theorien auf unbewieſene und unbeweisbare
Fundamentalſätze.


IV. Eine letzte Gruppe, die der gemiſchten, ſynkre-
tiſtiſchen
oder Vereinigungstheorien ſucht nach der
Verſöhnung der Gegenſätze, nach einer Verſchmelzung der
widerſtrebenden Anſchauungen. Aus den überaus zalreichen,
hieher gehörenden Theorien können nur einzelne hervorge-
hoben werden.


1. Nach Berner (Lehrbuch) iſt die Strafe Vergeltung,
alſo notwendige Folge des Verbrechens. Aber die von der
Gerechtigkeit geforderte Strafe liegt zwiſchen einem Maximum
und einem Minimum, innerhalb deſſen die von den Zweck-
mäßigkeitstheorien betonten Zwecke der Strafe Berückſichti-
gung finden können und müſſen. Berner’s Anſicht beruht,
wie bereits wiederholt nachgewieſen, auf einem Sophisma:
ſie operiert einmal mit dem Gattungsbegriff des Deliktes, und
dann mit dem konkreten Delikt. Letzterem kann vom Stand-
[23]Die Strafrechtstheorie. §. 6.
punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur eine, ab-
ſolut beſtimmte Strafe entſprechen.


2. Merkel (Krimin. Abhandlungen I) läßt die menſch-
lichen Intereſſen als Werkzeuge im Dienſte einer höheren
ſittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wiſſen und zu
wollen, vollſtreckt die von praktiſchen Geſichtspunkten aus-
gehende menſchliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts
und der Notwendigkeit. Merkel hat ſeine Auffaſſung mehr
angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß-
artigkeit ihrer Weltanſchauung, entzieht ſich aber jeder Beur-
teilung durch den in der Zweckvorſtellung befangenen Men-
ſchengeiſt.


3. Binding (in Grünhut’s Zeitſchrift 1877 und in
ſeinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht
des Staates. Erſteres iſt ihm nur ein verwandeltes Recht
auf Gehorſam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug-
thuung für das Irreparable im Delikte. Das Strafrecht
iſt alſo notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf-
pflicht. Dieſe tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht-
beſtrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel
der Beſtrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver-
letzten Geſetze notwendig wird. Aber Binding’s Anſicht iſt
keine Löſung, ſondern eine Verſchiebung des Problems.
Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzuſtellen
und Gehorſam zu heiſchen, warum dieſes ſtaatliche Recht
auf Gehorſam ſich gerade in die Strafe verwandelt, wird
uns nicht geſagt.


4. Die Vereinigung der Gegenſätze iſt vielmehr nur mög-
lich durch Zurückführung derſelben auf verſchiedene Ent-
wicklungsſtufen
desſelben Betrachtungsobjektes. Darum
iſt die einzige Vereinigungstheorie, deren Methode als die
[24]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
richtige bezeichnet werden muß, die Abegg’s (in ſeinen
Strafrechtstheorien 1835 und an anderen Orten). Auch er
geht von der inſtinktmäßigen Rache aus, wie wir; aber ihm
iſt das ſpäter ſich entwickelnde Zweckmoment in der Strafe
nur Vorſtufe für die Anerkennung der Idee der Gerech-
tigkeit. Abegg
’s Theorie wird widerlegt durch den ganzen
Gang der Entwicklungsgeſchichte der Menſchheit, ſo weit wir
ihn überblicken können: überall liegt der Fortſchritt darin,
daß der Naturtrieb wie die Naturkraft dem Zwecke dienſtbar
gemacht wird. Klarheit des Zieles und zweckentſprechende
Auswahl der Mittel ſind der Maßſtab jeglichen Fortſchrittes.


II. Das Strafgeſetz.


§. 7.
1. Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts.


I. Die einzige Quelle des heutigen deutſchen Straf-
rechtes iſt das Strafgeſetz. Alle Rechtsſätze, deren Inbe-
griff das Strafrecht im obj. Sinne bildet, gehören dem
geſetzten Rechte an. Geſetz iſt der durch das ver-
faſſungsmäßige Zuſammenwirken der geſetzge-
benden Faktoren erklärte, in der verfaſſungsge-
mäßen Form verkündete Wille der Geſammtheit
.1
Ob ein Geſetz in dieſem Sinne vorliegt, hat der Richter ſelb-
ſtändig zu prüfen.2


Strafrecht iſt der Inbegriff der Rechtsſätze über Voraus-
ſetzung und Inhalt der ſtaatlichen Strafgewalt. Wenn das
Strafgeſetz einzige Quelle des Strafrechtes iſt, ſo heißt das:
[25]Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts. §. 7.
die beiden Fragen, ob und wie zu ſtrafen iſt, haben wir
ausſchließlich aus dem Geſetze zu beantworten. Das, nichts
anderes und nicht mehr, ſagt die ſeit der Aufklärungsperiode
in den Strafgeſetzbüchern immer wiederkehrende Rechtsregel:
nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege (RStGB.
§. 2 Abſ. 1).


II. Für die Auslegung der Strafrechtsſätze3 gelten
die allgemeinen, auf allen Gebieten des Rechts zur Anwen-
dung kommenden Regeln.4 Die Beantwortung der vielbe-
ſprochenen Frage nach der Zuläſſigkeit der Analogie auf
dem Gebiete des Strafrechts hängt davon ab, welchen Be-
griff man mit dieſem Worte verknüpft. Zweierlei iſt zu
unterſcheiden. 1. Die Entwicklung eines Rechtsſatzes aus
dem Zuſammenhange der übrigen, alſo das Auffinden
eines ſchon vorhandenen, aber nicht unmittelbar und nicht
ausdrücklich ausgeſprochenen Rechtsſatzes. Will man dies
(Geſetzes-)Analogie nennen, ſo unterliegt die unbeſchränkte
Zuläſſigkeit derſelben auch auf dem Gebiete des Strafrechts
keinem Zweifel. 2. Das Aufſtellen eines neuen weder
unmittelbar noch mittelbar ausgeſprochenen Rechtsſatzes, der
dem Grundgedanken des Geſetzgebers entſpricht und ſich dem
Syſtem der übrigen Rechtsſätze anpaßt; alſo die Ausfüllung
einer Lücke im Geſetze und zwar dem Geiſte desſelben entſpre-
chend. Die Zulaſſung der Analogie in dieſem Sinne wider-
ſpricht dem unter I beſprochenen Grundſatze. Wiſſenſchaft und
Praxis können Straf-Rechtsſätze auffinden, nicht ſchaffen.
Dabei mag zugegeben werden, daß die Scheidung beider
Operationen im einzelnen Falle ſchwierig werden kann.


[26]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

III. Geſetz iſt der erklärte Wille der Geſammtheit;
nicht der nicht erklärte Wille, und nicht die nichtgewollte
Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi-
kation (a. A. Binding), ſondern durch die Abſtimmung
Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die Aus-
fertigung
ſeitens des Kaiſers.


Darnach haben wir die ſog. Redaktionsverſehen zu
beurteilen.5 Von Redaktionsverſehen ſpricht man, wenn der er-
klärte Wille ſelbſt auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte
gewollt und das Gewollte erklärt iſt, liegt ein die Rechtsgenoſſen
bindendes Geſetz vor, das nur durch Geſetz wieder beſeitigt
werden kann.6 Verſchieden davon iſt die Nichtübereinſtim-
mung zwiſchen dem Texte der Kundmachung und jenem der
ſanktionirten Beſchlüſſe.7 Die irrtümlich kundgemachte Be-
ſtimmung iſt nicht Geſetz, aber auch nicht der zwar ſanktio-
nirte aber nicht kundgemachte Beſchluß.8 Doch kann durch
eine neue berichtigende Publikation dieſem Mangel abgeholfen
werden.


Aus dem Geſagten folgt, daß die ſog. „Materialien“ der
Geſetze insbeſ. Motive und Kammerverhandlungen nur mit
äußerſter Vorſicht als Interpretationsmittel verwertet werden
können. Sie ſind nicht erklärter Wille der Geſammtheit,
ſondern geben uns im günſtigſten Falle die Beweggründe,
welche einzelne Mitglieder des einen der geſetzgebenden Fak-
toren zu ihrer Willenserklärung beſtimmt haben.


[27]Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.

IV. Unter den Strafrechtsſätzen ſelbſt können wir zwei
Gruppen
unterſcheiden.


Die erſte — wir können ſie die der eigentlichen Straf-
rechtsſätze nennen — knüpft an das Verbrechen die Strafe.
Die hieher gehörenden Rechtsſätze ſind demnach zweiteilig:
ſie beſtehen aus dem Thatbeſtande einerſeits, alſo der Vor-
ausſetzung, an deren Vorliegen der Eintritt der ſtaatlichen
Strafgewalt gebunden iſt, und aus der Strafe andrerſeits,
die als Rechtsfolge für den Eintritt jener Vorausſetzung an-
gedroht iſt.


Den Rechtſätzen der zweiten Gruppe fehlt jene Zwei-
teilung
. Sie enthalten die näheren Erläuterungen der
eigentlichen Strafrechtsſätze. Sie ſind paſſend begriffsent-
wickelnde
Rechtsſätze9 genannt worden. Sie verknüpfen nicht
Thatbeſtand und Rechtsfolge, hören aber darum nicht auf,
Rechtsſätze zu ſein.


2. Die Reichsſtrafgeſetzgebung.


§. 8.
Das Reichsſtrafgeſetzbuch.
Seine Entſtehungsgeſchichte.


Die einheitliche Strafgeſetzgebung war eine der erſten
Gaben, welche das deutſche Volk dem wiedererſtandenen
deutſchen Reiche zu danken hatte. Aber keine von jenen
Gaben, wie ſie der Liebling des Glücks, mühe- und arbeitslos
aus den Händen der launenhaften Göttin empfängt; die
Frucht, welche das ſich erfüllende Geſchick in überraſchend
kurzer Friſt zur Reife brachte, war das Reſultat harter
[28]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
hundertjähriger Arbeit, an der ſich die Beſten des Volkes
mit ihren beſten Kräften betheiligt hatten.


I. Das alte gemeine deutſche Strafrecht, auf der pein-
lichen Ger.Ordg. Karl’s V (1532) beruhend, durch Theorie
und Praxis, zum kleinſten Teile durch die Geſetzgebung,
weiter gebildet, war ſeit der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts in ſich zuſammengebrochen. Die einzelnen deutſchen
Staaten nahmen die geſetzgebende Thätigkeit auf, für welche
das Reich zu ſchwach und zu träge geweſen. Um 1750
ungefähr beginnt die Periode der Partikulargeſetzgebung auf
dem Gebiete des Strafrechts.1


Dem von Baiern 1751 gegebenen Beiſpiele folgend
ſcheiden die beiden größten deutſchen Staaten, erſt Oeſter-
reich
(1768, 1787, 1803), dann Preußen (1794) noch im
Laufe des 18. Jahrhundertes aus dem Herrſchaftsgebiete des
gemeinen Strafrechtes aus. Einen neuen Anſtoß zu einer
lebhaften und andauernden auf Kodifikation des Strafrechtes
abzielenden Bewegung in den verſchiedenen deutſchen Staaten
gaben das von Feuerbach entworfene bairiſche StGB.
von 1813 einerſeits, der in den Rheinländern eingeführte
code pénal von 1810 andrerſeits. In raſcher Aufeinander-
folge erſcheinen in den 3 Dezennien von 1838 bis 1869
die Geſetzbücher von Sachſen 1838, Württemberg 1839,
Braunſchweig und Hannover 1840, Heſſen-Darmſtadt 1841,
Baden 1845, Thüringen 1850, Preußen 1851, Sachſen
1855, Baiern 1861, Sachſen 1868, Hamburg 1869.
Oeſterreich hatte ſich 1852 damit begnügt, ſein StGB. von
[29]Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.
1803 der reaktionären Zeitſtrömung anzupaſſen. Das weiteſte
Geltungsgebiet hatte das preuß. StGB. von 1851 gewonnen,
welches der Geſetzgebung von Oldenburg (1858) und jener
von Lübeck (1863) zu Grunde gelegt, 1852 in den Hohen-
zollern’ſchen Fürſtenthümern, 1855 in Waldeck, 1867 in den
neu erworbenen Gebietsteilen eingeführt worden war. Ge-
meines
Recht hatte ſich nur in den beiden Mecklenburg, in
Lauenburg, Schaumburg-Lippe und Bremen erhalten. Neben
ihm waren im Jahre 1869 zehn verſchiedene Partikular-
ſtrafgeſetzbücher auf deutſchem Gebiete in Geltung.


II. Die an die Partikulargeſetzgebung gewendete Arbeit
war keine vergebliche. Ohne ſie wäre das Reichsſtrafrecht
nicht in ſo kurzer Zeit geſchaffen worden. Immer und immer
wieder wurden die Grundſätze des Strafrechts geprüft, die
Forderungen der Wiſſenſchaft mit den Ergebniſſen der Praxis
verglichen, das Strafenſyſtem ausgebildet, die Technik ver-
vollkommnet. Allmählich ſammelte ſich ein Schatz von gemein-
ſamen Anſchauungen, ein materiell-gemeines deutſches Straf-
recht, die langſam gewonnene aber ſichere Grundlage für ein
gemeinſames Geſetzbuch.


Wiederholte Anläufe zu einem ſolchen ſcheiterten. Die
von einzelnen Perſonen ausgearbeiteten Entwürfe (K. S.
Zachariae 1826, v. Strombeck 1829, Krug 1857,
v. Kräwel 1862) fanden wenig Beachtung; der §. 64 der
Reichsverfaſſung vom 28. März 1849 veranlaßte das preu-
ßiſche Juſtizminiſterium zur Herſtellung eines Entwurfes
(1849), der, den raſch ſich verſchiebenden Zeitverhältniſſen
zum Opfer fallend, bis auf wenige Exemplare, ohne ausge-
geben zu werden, wieder eingeſtampft wurde. Auch der von
Baiern in Verbindung mit mehreren anderen Regierungen
im Jahre 1859 beim Bundestage geſtellte Antrag, die Mög-
[30]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
lichkeit und Nützlichkeit einer gemeinſamen Civil- und Kri-
minalgeſetzgebung zu erörtern, hatte kein anderes Reſultat,
als daß der Ausſchußbericht vom 12. Auguſt 1861 das Vor-
handenſein eines „ſehr dringenden Bedürfniſſes“ nach einem
allg. deutſchen StGB. in Abrede ſtellte.


III. Es ſcheint, daß dieſelbe Anſicht in den maßgebenden
Kreiſen noch herrſchte, als der Entwurf einer Norddeutſchen
Bundesverfaſſung aufgeſtellt wurde. Der Art. 4 Nr. 13,
welcher Civilprozeßordnung und Konkursverfahren, Wechſel-
und Handelsrecht der gemeinſamen Geſetzgebung unterſtellte,
erwähnte das Strafrecht nicht. Es iſt ein bleibendes Ver-
dienſt Lasker’s, durch ein von ihm geſtelltes und von dem
konſtituirenden Reichstage angenommenes Amendement die
Einbeziehung des Strafrechts in das Gebiet der gemeinſamen
Geſetzgebung veranlaßt zu haben (Art. 4 Nr. 13 der Bundes-
verf. vom 26. Juli 1867).


In kurzer Friſt kam die Angelegenheit in Fluß. Auf
Grund eines von den Abgeordneten Wagner und Planck
geſtellten Antrages beſchloß der Reichstag am 18. April 1868,
„den Bundeskanzler aufzufordern, Entwürfe eines gemeinſamen
Strafrechtes und eines gemeinſamen Strafprozeſſes, ſowie
der dadurch bedingten Vorſchriften der Gerichtsorganiſation
baldthunlichſt vorbereiten und dem Reichstage vorlegen zu
laſſen.“ Nachdem der Bundesrat am 5. Juni 1868 dieſem
Beſchluſſe beigetreten war, erſuchte der Bundeskanzler in dem
Schreiben vom 17. Juni 1868 den preußiſchen Juſtizminiſter
Dr.Leonhardt, die Ausarbeitung des Entwurfs eines
Strafgeſetzbuches zu veranlaſſen.


1. Die Ausarbeitung wurde dem damaligen Geheimen
Oberjuſtizrathe Dr.Friedberg übertragen; Gerichtsaſſeſſor
Dr.Rubo und Kreisrichter Rüdorff wurden als Hülfs-
[31]Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.
arbeiter beigeordnet. Am 31. Juli 1869 konnte der von
Friedberg ausgearbeitete Entwurf (Entwurf I) dem Bun-
deskanzler überreicht und gleichzeitig veröffentlicht werden.
Sehr wertvolle Motive und (vier) Anlagen (Zuſammenſtellung
ſtrafrechtlicher Beſtimmungen aus deutſchen und außerdeutſchen
Geſetzgebungen; Todesſtrafe; Fragen aus dem Gebiete der
gerichtlichen Medizin; höchſte Dauer zeitiger Zuchthausſtrafe)
waren ihm beigegeben. Der Entwurf ſchloß ſich an das
preußiſche StGB. von 1851 als Vorbild an, aber nicht
ohne dasſelbe in einigen wichtigen Materien weſentlich zu
verbeſſern.


2. Zur Prüfung des Entwurfes trat eine vom Bundes-
rate ſchon am 3. Juli 1869 gewählte Kommiſſion von
7 Mitgliedern am 1. Oktober 1869 in Berlin zuſammen.
Sie beſtand aus Leonhardt als Vorſitzendem, Friedberg
als Referenten, Generalſtaatsanwalt Dr. v. Schwarze (Dres-
den) als ſtellvertretendem Vorſitzenden, Senator Dr.Donandt
(Bremen), Rechtsanwalt Juſtizrath Dr.Dorn (Berlin),
Appellationsgerichtsrath Bürgers (Köln), Oberappellations-
gerichtsrath Dr.Budde (Roſtock). Rubo und Rüdorff
waren zu Schriftführern ernannt worden.


Die „Theoretiker“, von welchen keiner der Kommiſſion
beigezogen worden war, beteiligten ſich durch handſchriftlich
überreichte oder gedruckte Gutachen an dem nationalen Werke;
ſo Anſchütz, Beſeler (handſchriftliche Mitteilungen), Ber-
ner, Binding, Geyer, Häberlin, Hälſchner, Heinze,
John
, H. Meyer (gedruckte Gutachten, vgl. Rüdorff
Komm. S. 22), Merkel, Geſſler, Seeger (Verhandlungen
des 9. deutſchen Juriſtentags).


Nach 43 Sitzungen beendete die Kommiſſion ihre Be-
ratung am 31. Dezember 1869, und überreichte am ſelben
[32]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
Tage den gedruckten Entwurf (Entwurf III) dem Bundes-
kanzler (ohne Motive). Der Entwurf wurde nicht veröffent-
licht, aber einzelnen Fachmännern zugeſchickt. Heinze,
Vollert, Wächter (Rüdorff
Komm. S. 23) veröffentlichten
wertvolle Beſprechungen desſelben.


3. Der von der Kommiſſion feſtgeſtellte Entwurf wurde
nunmehr vom Bundesrate in der Zeit vom 4. bis 11. Fe-
bruar 1870 einer kurzen Beratung unterzogen, aus welcher
er mit wenigen Abänderungen (ſo erhielt §. 2 Einf.Geſ. ſeine
jetzige Faſſung) als Entwurf III hervorging.


Am 14. Februar 1870 wurde der Entwurf dem Reichs-
tage vorgelegt. Die 4 Anlagen des Entwurfes I und die
von Friedberg und v. Schwarze theilweiſe umgearbeiteten
Motive zu dieſem waren beigelegt. Leonhardt und Fried-
berg
wurden von Seite der Regierungen mit der Vertretung
des Entwurfes beauftragt.


Die erſte „Leſung“ fand am 22. Februar ſtatt. Der
Antrag v. Schwarze, den Entwurf einer Kommiſſion von
21 Mitgliedern zu überweiſen, wurde verworfen, und auf
Antrag des Abgeordneten Albrecht beſchloſſen, den erſten
(allgem.) Teil ſowie die Abſchn. 1—7 des zweiten Teils
(hauptſächlich die politiſchen Delikte) durch Plenarberatung
zu erledigen, und nur die übrigen Abſchnitte 8—29 des
zweiten Theiles einer kommiſſionellen Vorberatung zu unter-
ziehen.


Am 28. Februar begann die zweite Leſung, die am
8. April 1870 zu Ende geführt wurde.


Hervorzuheben wäre die große Debatte über die Todes-
ſtrafe, deren Beſeitigung mit 118—81 Stimmen beſchloſſen
wurde.


Für den Beginn der 3. Leſung war der 21. Mai 1870
[33]Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.
angeſetzt worden. Hier erklärte Juſtizminiſter Leonhardt
im Auftrage der verbündeten Regierungen, daß dieſe von
der Rücknahme mehrerer der in 2. Leſung gefaßten Beſchlüſſe
das Zuſtandekommen des Geſetzes abhängig machten. In
erſter Linie handelte es ſich um die Wiederherſtellung der
Todesſtrafe. Das von Planck eingebrachte Amendement:
„in denjenigen Bundesſtaaten, in welchen die Todesſtrafe
geſetzlich bereits abgeſchafft iſt, bewendet es hiebei“ führte
zunächſt zu einer Vertagung der weiteren Beratung, und
dann (22. Mai) zu einem Beſchluſſe des Bundesrates,
welcher das Amendement als die einheitliche Rechtsbildung
in einem der wichtigſten Punkte beeinträchtigend für unan-
nehmbar erklärte.


Am 23. Mai wurden die Beratungen wieder aufge-
nommen. Planck zog ſein Amendement zurück; nach einer
großen Rede des Bundeskanzlers wurde die Wiederherſtellung
der Todesſtrafe mit 127 gegen 110 Stimmen beſchloſſen
Das Geſetz ſelbſt gelangte mit den vom Bundesrate ge-
wünſchten Abänderungen am 25. Mai zur Annahme, erhielt
am ſelben Tage die Genehmigung des Bundesrates, am
31. Mai 1870 mit dem Einführungsgeſetze die Ausfertigung
des Bundesoberhauptes, und wurde in der am 8. Juni 1870
ausgegebenen Nr. 16 des RGBl. als StGB. für den nord-
deutſchen Bund publiziert. Der Beginn ſeiner Wirkſamkeit
wurde auf den 1. Januar 1871 feſtgeſetzt.


IV. Noch war jener Termin nicht herangekommen, als
das deutſche Reich gegründet, und damit die Umwandlung
des norddeutſchen in das Reichsſtrafgeſetzbuch angebahnt
wurde.


1. Nach Art. 80 der zunächſt mit Baden und Heſſen
am 15. November 1870 vereinbarten Verfaſſung des deut-
von Liszt, Strafrecht. 3
[34]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
ſchen Bundes trat das StGB. v. 31. Mai 1870 nebſt dem
gleichzeitig erlaſſenen Einf.Geſ.


  • a) in Baden am 1. Januar 1872,
  • b) in Heſſen (ſoweit es nicht zum norddeutſchen Bunde
    gehört hatte) am 1. Januar 1871

in Kraft.


2. Nach dem mit Württemberg am 25. November
1870 abgeſchloſſenen Vertrage begann die Wirkſamkeit des
StGB. mit dem 1. Januar 1872 (Art. 2 Nr. 6).


3. In Baiern erfolgte, entſprechend dem Vertrage v.
23. November 1870, die Einführung des StGB.’s, mit Wir-
kung vom 1. Januar 1872, durch das Geſ. v. 22. April
1871 (betreffend die Einführung Nordd. Bundesgeſetze in
Baiern).


Inzwiſchen hatte §. 2 des Geſ. v. 16. April 1871, die
Verfaſſung des deutſchen Reichs betr., das StGB. zum
Reichsgeſetze erklärt.


Das Geſ. v. 15. Mai 1871, betr. die Redaktion des
StGB.’s für den Nordd. Bund als StGB. für das deutſche
Reich nahm in dem Texte des StGB.’s (nicht des Einf.Geſ.)
die durch die Aenderung der politiſchen Verhältniſſe not-
wendig gewordenen Modifikationen vor.


4. In Elſaß-Lothringen wurde das StGB. (aber
nicht das Einf.Geſ. vom 31. Mai 1870) durch das Geſ. v.
30. Auguſt 1871 (abgeändert durch Geſ. v. 14. Juli 1873)
mit Wirkung vom 1. Oktober 1871 eingeführt.


Demnach begann die Wirkſamkeit des RStGB.


  • 1) am 1. Januar 1871 in den Gebieten des früheren
    Nordd. Bundes und in Heſſen ſüdl. des Main;
  • 2) am 1. Oktober 1871 in Elſaß-Lothringen;
  • 3) am 1. Januar 1872 in Württemberg, Baden, Baiern.

[35]Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.

V. Schon durch das Geſ. v. 10. Dezember 1871 erhielt
das RStGB. einen Zuwachs in dem als §. 130a einge-
fügten ſog. Kanzelparagraphen.


Viel tiefer greifend, wenn auch lange nicht durchgrei-
fend, war die durch die Novelle vom 26. Februar 1876 ge-
ſchaffene Reform des kaum ins Leben getretenen und doch
ſchon vielfach als verbeſſerungsbedürftig bezeichneten Geſetz-
buchs. Die wichtigſten Beſtimmungen der in der Winter-
ſeſſion 1875/76 eingebrachten, nach eingehenden Beratungen
(1. Leſung am 3. Dezember 1875; 2. Leſung vom 14. De-
zember 1875 bis 29. Januar 1876; 3. Leſung 9. u. 10. Fe-
bruar 1876) mit vielen und weſentlichen Veränderungen
angenommenen Vorlage betrafen folgende Punkte:


  • 1. Verſchiedene Redaktionsverſehen wurden verbeſſert;
  • 2. In einer Reihe von Fällen (§§. 176, 177, 240, 241,
    296, 370 Nr. 4) wurde das Antragserfordernis be-
    ſeitigt, in anderen (§§. 263, 292) beſchränkt, und im
    allgemeinen die Unwiderruflichkeit des Antrags als
    Regel aufgeſtellt (§. 64);
  • 3. Die Strafminima wurden erhöht in den §§. 113, 114,
    117; der Umfang der Verantwortlichkeit erweitert in
    §. 4 Nr. 1;
  • 4. Neu eingefügt wurden §. 49 a, §. 103 a, §. 223 a,
    §. 296 a, §. 353 a, §. 366 a, §. 361 Nr. 9; §. 130 a
    2. Abſ.

§. 9.
Die übrigen Reichsſtrafgeſetze.


  • 1867. 1. Geſetz betr. die Erhebung einer Abgabe von Salz
    vom 12. Oktober 1867 §§. 11—18.

[36]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
  • 1867. 2. Geſetz betr. die Nationalität der Kauffahrteiſchiffe
    vom 25. Oktober 1867 §§. 13—15.
    3. Geſetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867
    §§. 3 u. 10.
  • 1868. 4. Geſetz betr. die Erwerbs- und Wirtſchaftsgenoſſen-
    ſchaften vom 4. Juli 1868 §§. 27, 66—68. (Schulze-
    Delitzſch
    1873, Pariſius 1876, v. Sicherer 1877).
    5. Geſetz betr. die Beſteuerung des Branntweins uſw.
    vom 8. Juli 1868 §§. 50—68; nur für einen Teil des
    Bundesgebietes geltend.
    6. Geſetze betr. die ſubſidiariſche Haftung des Brauerei-
    (Brennerei-) Unternehmers für Zuwiderhandlungen gegen
    die Braumalz- (Branntwein-) Steuergeſetze durch Ver-
    walter, Gewerbsgehülfen und Hausgenoſſen vom 8. Juli
    1868.
  • 1869. 7. Geſetz betr. die Maßregeln gegen die Rinderpeſt
    vom 7. April 1869.
    8. Geſetz betr. die Einführung von Telegraphen-Frei-
    marken vom 16. Mai 1869.
    9. Geſetz betr. die Wechſelſtempelſteuer vom 10. Juli
    1869 §§. 15, 17, 23. Abgeändert durch Geſetz vom
    4. Juni 1879.
    10. Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 mit den
    Abänderungsgeſetzen vom 12. Juni 1872, 17. Juli 1878,
    23. Juli 1879 §§. 143—153.
    11. Geſetz betr. die Beſteuerung des Zuckers vom
    26. Juli 1869 §. 4.
    12. Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134—165.
    13. Geſetz betreffend die Sicherung der Zollvereins-
    grenze in den vom Zollgebiete ausgeſchloſſenen Hamburger
    Gebietsteilen vom 1. Juli 1869 Art. 1, 12, 15, 18.

[37]Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.
  • 1870. 14. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 18 ff.
    (Komm. Dambach 1870, Kloſtermann 1871, Wäch-
    ter
    1875).
    15. Geſetz betr. die Kommanditgeſellſchaften auf Aktien
    uſw. vom 11. Juni 1870 §§. 206, 249, 249 a.
  • 1871. 16. Reichsverfaſſung v. 16. April 1871 Artt. 22, 30.
    17. Geſetz betr. die Inhaberpapiere mit Prämien
    vom 8. Juni 1871 §. 6.
    18. Geſetz über das Poſtweſen vom 28. Oktober
    1871 (Dambach 1872, Fiſcher 1876).
    19. Geſetz betr. die Beſchränkung des Grundeigen-
    tums in der Nähe von Feſtungen vom 21. Dez. 1871.
  • 1872. 20. Geſetz wegen Erhebung der Brauſteuer vom
    31. Mai 1872 §§. 27—42; nur für einen Teil des
    Bundesgebietes geltend.
    21. Militärſtrafgeſetzbuch v. 20. Juni 1872 (Keller
    1873, Hecker 1877, Rüdorff-Solms 1878).
    22. Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872,
    §§. 75, 79, 81—103.
    23. Geſetz betr. die Verpflichtung deutſcher Kauffahrtei-
    ſchiffe zur Mitnahme hülfsbedürftiger Seeleute v. 27. De-
    zember 1872 §. 8.
  • 1873. 24. Geſetz über die Kriegsleiſtungen vom 13. Juni
    1873 §. 27.
    25. Geſetz betr. die Regiſtrierung und Bezeichnung der
    Kauffahrteiſchiffe vom 28. Juni 1873 §. 4.
    26. Münzgeſetz vom 9. Juli 1873 Art. 13.
  • 1874. 27. Impfgeſetz vom 8. April 1874 §§. 14—17.
    28. Reichsmilitärgeſetz vom 2. Mai 1874 §§. 18,
    33, 60, 69.
    29. Geſetz betr. die Verhinderung der unbefugten Aus-

    [38]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
    übung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874; enthält
    keine eigentlichen Strafbeſtimmungen.
  • 1874. 30. Geſetz über die Preſſe v. 7. Mai 1874 (Komm.
    von v. Schwarze 1874, Marquardſen 1875, Lehrb.
    von Berner 1876, Liszt 1880).
    31. Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 §. 43.
    32. Geſetz über den Markenſchutz vom 30. Novbr.
    1874 §§. 14—17 (Kloſtermann 1876, Meves 1876).
    33. Geſetz betr. die Ausgabe von Banknoten vom
    21. Dezember 1874.
  • 1875. 34. Bahnpolizeireglement für die Eiſenbahnen Deutſch-
    lands vom 4. Januar 1875.
    35. Geſetz über die Beurkundung des Perſonenſtandes
    und die Eheſchließung vom 6. Februar 1875 §§. 67—69
    (Komm. von Hinſchius 1875, Völk 1876, v. Sicherer
    1878).
    36. Bankgeſetz vom 14. März 1875 §§. 55—59
    (Ströll 1875, Stommel 1875, Soetbeer 1875).
  • 1876. 37. Geſetz betr. das Urheberrecht an Werken der
    bildenden Künſte vom 9. Januar 1876 §. 16 (Bearb.
    v. Wächter 1877).
    38. Geſetz betr. den Schutz der Photographien gegen
    unbefugte Nachbildung vom 10. Januar 1876 §. 9
    (Wächter 1877).
    39. Geſetz betr. das Urheberrecht an Muſtern und
    Modellen v. 11. Januar 1876 §. 14 (Dambach 1876).
    40. Geſetz betr. die Beſeitigung von Anſteckungsſtoffen
    bei Viehbeförderung auf Eiſenbahnen vom 25. Febr.
    1876.
    41. Geſetz über die eingeſchriebenen Hülfskaſſen vom
    7. April 1876 §§. 33, 34.

[39]Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.
  • 1876. 42. Die Not- und Lootſenſignalordnung für Schiffe
    auf See und auf den Küſtengewäſſern v. 14. Auguſt 1876.
    43. Verordnung über das Verhalten der Schiffe nach
    einem Zuſammenſtoß vom 15. Auguſt 1876.
    44. Geſetz betr. die Schonzeit für den Fang von
    Robben vom 4. Dezember 1876.
  • 1877. 45. Konkursordnung v. 10. Febr. 1877 §§. 209—214.
    46. Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §§. 34—40
    (Dambach 1877, Kohler 1878).
  • 1878. 47. Geſetz betr. Zuwiderhandlungen gegen die zur
    Abwehr der Rinderpeſt erlaſſenen Vieh-Einfuhrverbote
    vom 21. Mai 1878.
    48. Geſetz betr. den Spielkartenſtempel v. 3. Juli 8781.
    49. Geſetz gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen
    der Sozialdemokratie v. 21. Oktober 1878 (Komm. von
    v. Schwarze 1879, Gareis in Hirth’s Annalen 1879).
    Dazu Geſetz vom 31. Mai 1880 betr. authentiſche Er-
    klärung und Gültigkeitsdauer.
  • 1879. 50. Geſetz betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln,
    Genußmitteln und Gebrauchsgegenſtänden vom 14. Mai
    1879 (Zinn, Bär, v. Schwarze 1879, Meyer und
    Finckelnburg 1880).
    51. Geſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom
    10. Juli 1879 §. 4.
    52. Geſetz betr. die Beſteuerung des Tabacks vom
    16. Juli 1879 §§. 32—47.
    53. Geſetz über die Statiſtik des Waarenverkehrs
    vom 20. Juli 1879 §. 17 (enthält nur Beſtimmungen
    über Ordnungs- nicht über kriminelle Strafen.
  • 1880. 54. Verordnung zur Verhütung des Zuſammen-
    ſtoßens der Schiffe auf See vom 7. Januar 1880.

[40]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
  • 1880. 55. Geſetz betr. den Wucher vom 24. Mai 1880
    (Reinwald 1880).
    56. Geſetz betr. die Abwehr und Unterdrückung von
    Viehſeuchen vom 23. Juni 1880.

§. 10.
Die Litteratur des Reichsſtrafrechts.


Die Erwartung, daß mit dem Inslebentreten eines ein-
heitlichen Strafgeſetzbuches die Wiſſenſchaft des deutſchen
Strafrechtes eine neue kräftige Anregung zu umfaſſender und
fruchtbringender Thätigkeit erhalten werde, iſt in reichem
Maße in Erfüllung gegangen. Die deutſche kriminaliſtiſche
Litteratur weiſt auf allen ihren Feldern Arbeiten erſten
Ranges auf.


I. Unter den Kommentaren ſind zu nennen:1


  • 1. Oppenhoff. 7. Aufl. 1879, ausgezeichnet durch die
    Verarbeitung eines beinahe überreichen praktiſchen Ma-
    terials, aber allzuſehr in den Feſſeln der früheren preuß.
    Rechtsſprechung befangen.
  • 2. v. Schwarze. 4. Aufl. 1879, reich an geiſtvollen Be-
    merkungen.
  • 3. Rüdorff. 2. Aufl. 1877, der an Unbefangenheit, Klar-
    heit und Beſtimmtheit der Darſtellung alle anderen
    Kommentatoren überragt.
  • 4. Rubo. 1879.
  • 5. Olshauſen. Erſter Band 1880, mit großer Aus-
    führlichkeit und muſterhafter Gründlichkeit gearbeitet.

[41]Die Litteratur des Reichsſtrafrechts. §. 10.

Hierher muß nach dem Titel geſtellt werden:


  • 6. Binding. Die gem. deutſchen StGBücher. Kommentar.
    I. Einleitung. 2. Aufl. 1877. (cit. Binding Einleitung).

II.Lehrbücher.2


  • 1. Berner. 10. Aufl. 1879, mit glänzender Darſtellung
    der allgemeinen Lehren, während der beſondere Teil
    leider der Legalordnung folgt.
  • 2. Schütze. 2. Aufl. 1874. Gedrängte Darſtellung eines
    reichen Materials, treffliche hiſtoriſche Einleitungen; zum
    Teil aber bereits überholt durch die neueren Leiſtungen
    der Wiſſenſchaft.
  • 3. H. Meyer. 2. Aufl. 1877. Mit ausgezeichneter Syſte-
    matik auch des beſonderen Teiles und ſchönen Litteratur-
    angaben.

Hieher gehört:


  • 4. v. Holtzendorff’s Handbuch der d. StR. in Einzel-
    beiträgen von verſchiedenen Verfaſſern. 4 Bde. 1871
    bis 1877. Neben mancher ganz unbedeutenden einige
    Abhandlungen erſten Rauges enthaltend.

III. Ueberaus wertvolle Exkurſe finden ſich


  • 1. in Binding’s Grundriß zur Vorleſung über Gem.
    deutſches Strafrecht. 2. Aufl. 1879.
  • 2. in Wächter’s Beilagen zu Vorleſungen über das d.
    StR. 1877, (leider nur 1. Lieferung erſchienen).

Die Grundriſſe von Lueder (2. Aufl. 1877) und
v. Bar (2. Aufl. 1878) ſind durch ihre Syſtematik von Be-
deutung.


[42]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

IV. Unter den Zeitſchriften ſind von beſonderer Wich-
tigkeit:


  • 1. das Archiv für gem. deutſches und für preuß. Straf-
    recht (herausgegeben früher von Goltdammer, ſpäter
    von Hahn, meiſt nach Erſterem benannt).
  • 2. Der Gerichtsſaal, herausgegeben von v. Schwarze,
    v. Holtzendorff u. A.

V.Präjudikatenſammlungen (abgeſehen von den Zeit-
ſchriften, unter welchen Goltdammer’s Archiv auch hier
von beſonderer Bedeutung iſt):


  • 1. Oppenhoff (ſpäter Generalſtaatsanwaltſchaft) Recht-
    ſprechung des K. Obertribunals in Strafſachen bis
    1879.
  • 2. Die deutſche Strafrechtspraxis. 1. Bd. 1877.
    von Pezold, Stiegele und Höhn. 2. Bd. 1880 von
    Zimmerle. Eine überſichtliche Zuſammenſtellung der
    Entſcheidungen der höchſten deutſchen Gerichte zum
    RStGB.
  • 3. Entſcheidungen des Reichsgerichts in Strafſachen
    (herausgegeben von den Mitgliedern des RGR.’s.)
    Leipzig. Veit \& Comp.
  • 4. Die Rechtſprechung des deutſchen Reichsge-
    richts
    in Strafſachen. Herausgegeben von den Mit-
    gliedern der Reichsanwaltſchaft. München u. Leipzig.
    Oldenburg.

VI. Von den Textausgaben des RStGB.’s iſt die Rü-
dorff’ſche
(10. Aufl. 1879) am meiſten zu empfehlen.


VII. Die Literatur der ſtrafrechtlichen Nebengeſetze des
Reichs iſt in §. 3 angeführt.


[43]Reichsrecht und Landesrecht. §. 11.

3. Geltungsgebiet der deutſchen Reichsſtrafgeſetze.


§. 11.
Geltungsgebiet des Reichsrechtes gegenüber dem Landes-
rechte.
1


I. Nach Art. 2 der Reichsverfaſſung übt das Reich das
Recht der Geſetzgebung nach Maßgabe des Inhaltes der
Verfaſſung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsge-
ſetze den Landesgeſetzen vorgehen
. Die Landesgeſetz-
gebung darf zu den Anordnungen der Reichsgeſetzgebung,
mögen dieſe ausdrücklich oder ſtillſchweigend gegeben ſein,
nicht in Widerſpruch treten; thut ſie es dennoch, ſo ſind
ihre angeblichen Imperative ohne imperative Kraft, ſie ſind
nicht
Geſetz. Es iſt daher einerſeits die bisherige Lan-
desgeſetzgebung beſeitigt, ſoweit die Sätze des Reichsrechtes
mit ihr in Widerſpruch ſtehen, ohne daß es einer ausdrück-
lichen Aufhebung bedürfte; und es iſt auch die künftige Lan-
desgeſetzgebung andrerſeits unter derſelben Vorausſetzung
und in demſelben Umfange wirkungslos.


Widerſpruch iſt aber nur möglich, wenn und ſoweit die
Reichsgeſetzgebung Anordnungen getroffen hat; wo ſie es
nicht gethan hat, iſt auch die Möglichkeit einer Kolliſion aus-
geſchloſſen. Daher können wir den Grundſatz der Reichs-
verfaſſung auch ſo ausdrücken: In den von der Reichs-
geſetzgebung
— ſei es ausdrücklich, ſei es ſtillſchweigend —
geregelten Materien2iſt die Thätigkeit der Lan-
desgeſetzgebung ausgeſchloſſen
. In dieſem Satze
[44]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
liegt das Schwergewicht auf dem Worte „geregelt“, nicht
auf dem Worte „Materie“. Es iſt durchaus verkehrt, die
„Materie“ im Sinne des StGB. juriſtiſch definieren zu
wollen. Die Frage lautet vielmehr in jedem einzelnen Falle:
liegt ein einſchlagender, ſei es poſitiver, ſei es negativer
Satz des Reichsrechtes vor? Dabei darf nicht vergeſſen
werden, daß das Schweigen der Reichsgeſetzgebung eine dop-
pelte Bedeutung haben kann: entweder die einer negativen
und ſtillſchweigenden Anordnung, oder die der Ueberweiſung
der Regelung an die Landesgeſetzgebung. Ob das eine oder
das andere der Fall iſt, haben wir nicht aus der ganz irre-
levanten Entſtehungsgeſchichte des Geſetzes, ſondern aus dem
Geſetze ſelbſt
, aus dem Zuſammenhange der ausdrücklich
ausgeſprochenen Rechtsſätze untereinander zu beantworten.
Die Frage nach dem der Landesgeſetzgebung überlaſſenen
Gebiete, iſt eine Frage der Interpretation der Reichs-
geſetzgebung. Dabei werden wir uns wegen Art. 4 Nr. 13
der Reichsverfaſſung im Zweifel für die Unzuläſſigkeit
landesgeſetzlicher Regelung entſcheiden müſſen.


Beiſpiele. Aus der prinziploſen Zuſammenwürflung
einzelner Uebertretungen in dem letzten Abſchnitte des
RStGB. folgt die Zuläſſigkeit landesgeſetzlicher Thätigkeit
auf dem Gebiete der Polizeidelikte; aus demſelben Grunde
iſt die fortdauernde Geltung des §. 270 des preuß. StGB.
(Abhalten von Bietern bei öffentlichen Verſteigerungen uſw.
aus dem ſyſtemloſen Sammelabſchnitte „ſtrafbarer Eigen-
nutz“) zu behaupten.3 Dagegen ergiebt ſich aus der einge-
henden und ſyſtematiſchen Behandlung des falſchen Zeug-
niſſes im StGB. der Rechtsſatz, daß die nichtbeeidete falſche
[45]Reichsrecht und Landesrecht. §. 11.
Ausſage ſtraflos zu laſſen ſei.4 Die „allgem. Lehren“ des
StGB. beanſpruchen ausſchließliche Geltung, aber (ſoweit
nicht der unten III 1 erörterte Rechtsſatz eingreift) nur be-
züglich der nicht der landesgeſetzlichen Regelung überlaſſenen
Delikte.5


II. In den reichsgeſetzlich nicht geregelten Materien
hat die Landesgeſetzgebung freien Spielraum. Die bisherigen
Landesgeſetze bleiben beſtehen, neue können gegeben werden.
Nur dieſen Satz ſpricht §. 2 Abſ. 2 des EG. zum StGB.
aus, wenn er auch irreleitend die „beſonderen Vor-
ſchriften“ dem StGB. gegenüberſtellt. Die äußere Stellung
eines Rechtsſatzes in einem allgemeinen StGB., bzw. Polizei-
StGB. oder aber in einem ſog. Spezialgeſetze hat für unſere
Frage nicht die geringſte Bedeutung. Nur beiſpielsweiſe
nennt der zit. §. 2: Preßpolizei-, Poſt-, Steuer-, Zoll-,
Fiſcherei-, Jagd-, Forſt- und Feldpolizeigeſetze, Vorſchriften
über Mißbrauch des Vereins- und Verſammlungsrechtes und
über den Holz-(Forſt-)Diebſtahl.6 Auf dieſem Gebiete iſt die
Landesgeſetzgebung auch zum Abweichen von den allge-
meinen
Beſtimmungen des RStGB. befugt; vgl. RGR.
1. Mai 1880, E II 34.


III. Aber auch auf dem an ſich der Landesgeſetzgebung
überlaſſenen Gebiet, alſo in den reichsgeſetzlich nicht geregelten
Materien, ſind jener gewiſſe Schranken gezogen.


[46]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

1. Wenn in Landesgeſetzen auf ſtrafrechtliche Vorſchriften,
welche durch das StGB. für das deutſche Reich außer Kraft
geſetzt ſind, verwieſen wird, ſei es ausdrücklich, ſei es ſtill-
ſchweigend, ſo treten die entſprechenden Vorſchriften des letz-
teren an die Stelle der erſteren (EG. §. 3).


Beiſpiel: An Stelle des §. 268 preuß. StGB., auf
welchen Art. IV der Verordnung v. 25. Juni 1867 ver-
weiſt, iſt §. 286 RStGB. getreten; vgl. RGR. 13. März
1880, E I 274. — So werden wir in dem Schweigen der
partikularen Nebenſtrafgeſetze über die allgemeinen Lehren
eine Verweiſung auf die partikularen StGBücher erblicken
können und darum die allgemeinen Beſtimmungen des
RStGB.’s zur Anwendung zu bringen haben.


2. Vom 1. Januar 1872 (1871) ab darf nur auf die
im RStGB. enthaltenen Strafarten erkannt werden. Aus-
genommen iſt die an Stelle der Gefängnis- oder Geldſtrafe
angedrohte oder nachgelaſſene Forſt- oder Gemeindearbeit
(EG. §. 6).


3. Während die unter 1 und 2 angeführten Beſchrän-
kungen in gleicher Weiſe die bisherige wie die künftige Lan-
desgeſetzgebung treffen, darf, ohne daß die beſtehenden
Landesgeſetze durch dieſe Anordnung irgendwie berührt werden,
in künftigen Landesgeſetzen nur Gefängnis bis zu zwei
Jahren, Haft, Geldſtrafe, Einziehung einzelner Gegenſtände
und die Entziehung öffentlicher Aemter angedroht werden
(EG. §. 5).7


IV. Durch ausdrückliche reichsgeſetzliche Anordnung (EG.
§. 8) wurde der Landesgeſetzgebung das übrigens ſelbſtver-
ſtändliche Recht vorbehalten, durch Uebergangsbeſtim-
[47]Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze. §. 12.
mungen die in Kraft bleibenden Landesſtrafgeſetze mit den
Vorſchriften des RStGB.’s in Uebereinſtimmung zu bringen.
Solche Ausführungsgeſetze ſind in ſämmtlichen Bundesſtaaten
mit Ausnahme von Preußen nebſt Lauenburg und Waldeck
erlaſſen worden. Eine Ueberſicht derſelben findet ſich in
Rüdorff’s Kommentar.8


§. 12.
Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze.


I. Beginn und Ende der Rechtsſätze des Reichsſtraf-
rechtes beſtimmt ſich nach den allgemeinen Regeln.1 Dem-
nach beginnt ihre verbindliche Kraft, ſofern nicht in dem
Geſetze ſelbſt ein anderer Anfangstermin beſtimmt iſt,2 mit
dem 14. Tage nach dem Ablaufe desjenigen Tages, an
welchem das betr. Stück des Reichsgeſetzblattes in Berlin
ausgegeben worden iſt (Reichsverf. Art. 2). Und es endet
die Herrſchaft der Strafrechtsſätze, wenn ſie ſich nicht ſelbſt
die verbindliche Kraft nur bis zu einem beſtimmten Zeit-
punkte3 oder dem Eintritte einer Bedingung beilegen, mit
ihrer ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Aufhebung durch
die geſetzgebende Gewalt.4


Bezüglich der ſtillſchweigenden Aufhebung iſt an dem
Satze feſtzuhalten, daß das ſpätere Geſetz in den von
ihm geregelten Materien
die widerſprechenden Beſtim-
mungen des älteren aufhebt.


[48]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

Dieſer Satz gilt zunächſt für das Verhältnis der ein-
zelnen Reichsſtrafgeſetze zu einander, ohne Rückſicht
darauf, ob das ſpätere oder das frühere Geſetz ein ſog.
Spezialgeſetz oder das StGB. ſelbſt iſt. So iſt §. 23 des
Wechſelſtempelſteuergeſetzes vom 10. Juni 1869, alſo eines
Spezialgeſetzes, beſeitigt durch §§. 275, 276 RStGB.; ſo
iſt umgekehrt §. 287 StGB. erſetzt worden durch §. 14 des
Geſetzes über den Markenſchutz v. 30. November 1874.


Derſelbe Satz gilt ferner für das Verhältnis der Reichs-
ſtrafgeſetze zu den früheren Landesſtrafgeſetzen5 (aber nicht
umgekehrt), und wurde in dieſem Zuſammenhange bereits
beſprochen.6


Er gilt endlich auch für das Verhältnis der Reichs-
ſtrafgeſetzgebung zu dem Civilrechte, ſoweit eine Regelung
der dieſem angehörenden Materien durch jene ſtattgefunden
hat. So ſind die deutſchrechtlichen Inſtitute der Abbitte,
des Widerrufes, der Ehrenerklärung;7 ſo ſind die Privat-
ſtrafen des römiſchen Rechtes,8 ſo ſind die Straffolgen der
unbefugten Selbſthülfe9 beſeitigt worden durch das StGB.


II. Ein Rechtsſatz herrſcht oder gilt, heißt: Die von
ihm an einen Thatbeſtand geknüpften Rechtsfolgen treten
ein, ſobald der Thatbeſtand gegeben iſt. Daraus folgt, daß
jeder Rechtsſatz nur auf die während ſeiner Herrſchaft ent-
ſtandenen Thatbeſtände angewendet werden kann, ſoweit er
nicht ſelbſt auch die hinter ihm liegenden Thatſachen ergreifen
zu wollen erklärt.10


Dieß gilt auch für die Strafrechtsſätze. Auch ſie haben
[49]Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze. §. 12.
keine rückwirkende Kraft,11 ſoweit der Geſetzgeber ſie
ihnen nicht ausdrücklich beilegt.


Daraus folgt die in StGB. §. 2 Abſ. 1 indirekt aner-
kannte Regel: Die Strafrechtsſätze finden Anwen-
dung auf die während, ſie finden keine Anwen-
dung auf die vor oder nach ihrer Geltung began-
genen Delikte
.


Lediglich den Intereſſen einer juriſtiſch nicht zu begrün-
denden aber legislatoriſch zu billigenden Humanität trägt
der Geſetzgeber Rechnung, wenn er von dieſer Regel, ohne
ſie als Regel zu beſeitigen, die folgende Ausnahme zuläßt
(StGB. §. 2 Abſ. 2).


Bei Verſchiedenheit der Geſetze von der Zeit
der begangenen Handlung bis zu deren Aburtei-
lung iſt das mildeſte Geſetz anzuwenden
. Damit iſt
den milderen Strafrechtsſätzen rückwirkende Kraft verliehen.
Von dem einmal eingenommenen Standpunkte aus war es
nur konſequent12 die Berückſichtigung nicht nur a) des zur
Zeit der Begehung und b) die des zur Zeit der Aburteilung
geltenden Geſetzes, ſondern auch der etwaigen Zwiſchenſtraf-
geſetze vorzuſchreiben.


III. Wenn der Richter aus zwei oder mehr Geſetzen das
mildeſte auszuwählen berufen wird, ſo hat er zunächſt den
ihm vorliegenden Fall nach dem einen der in Frage kom-
menden Geſetze, dann nach dem anderen, dann nach den
übrigen etwa noch vorhandenen Geſetzen zu entſcheiden.
(Daher iſt der Thatbeſtand nach allen dieſen Geſetzen feſt-
zuſtellen; RGR. 6. Febr. 1880, E I 191.) Die für den Be-
von Liszt, Strafrecht. 4
[50]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
ſchuldigten günſtigſte Entſcheidung führt ihn zu dem
mildeſten Geſetze. Dabei ſind nicht nur Umfang und
Inhalt der Strafe, ſondern alle relevanten ſtrafrechtlichen
Momente in Betracht zu ziehen. So Nebenſtrafen, der Ein-
fluß erſchwerender und mildernder Umſtände, Beſtimmungen
über Rückfall, thätige Reue, Teilnahme, Verſuch uſw. Auch das
von dem einen oder dem anderen Geſetze geforderte Vorliegen
des Antrages des Verletzten13 oder einer anderen Bedin-
gung der Strafbarkeit14 iſt bei der Abwägung in die Wag-
ſchale zu werfen. Dasſelbe gilt bezüglich der Strafaufhe-
bungsgründe (unten §. 57 I) und insbeſondere der Ver-
jährung
; iſt die Strafklage oder die Vollſtreckungsklage15
nach dem einen oder dem anderen Geſetze verjährt — wobei
als Anfangspunkt des Verjährungslaufes für das frühere
wie für das ſpätere Geſetz die Zeit der begangenen That
anzunehmen iſt16 — ſo muß Freiſprechung erfolgen.17 Da-
gegen ſind etwaige prozeſſuale Hinderniſſe, welche der
Durchführung der Strafklage im Wege ſtehen (unten §. 57
III 2), außer Betracht zu laſſen.


Bei gleicher Milde der in Vergleich zu ziehenden Ge-
[51]Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.
ſetze tritt die allgemeine Regel (ſiehe oben unter I) wieder
in Kraft.


IV. Das mildere Geſetz iſt eventuell noch in den höheren
Inſtanzen zur Anwendung zu bringen, ſoweit es die geſetz-
liche Geſtaltung des eingelegten Rechtsmittels und die etwa
eingetretene teilweiſe oder relative Unabänderlichkeit der unter-
richterlichen Entſcheidung geſtatten.


V. Ueber die Frage, in welchem Zeitpunkte das Delikt
als begangen anzuſehen iſt, vergleiche unten §. 19 IV.


§. 13.
Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze gegenüber dem aus-
ländiſchen Strafrechte.
1


I.Theoretiſche Begründung. Das Strafrecht
bezweckt Rechtsſchutz. Welche Rechtsgüter ſind des
Schutzes durch das heimiſche Strafrecht würdig und
bedürftig
?


1. In erſter Linie die heimiſchen Rechtsgüter; alſo
das inländiſche Gemeinweſen in Beſtand und Sicherheit, in
ſeinen Organen und Funktionen ſelbſt; dann jene Rechts-
güter, deren Träger das inländiſche Gemeinweſen oder aber
der einzelne Bürger desſelben iſt. Dem Bürger iſt der auf
inländiſchem Territorium weilende Fremde als Gaſt gleich-
zuſtellen. Von dieſem Standpunkte aus kann es keinen Un-
terſchied begründen, ob der Angriff von einem Inländer oder
[52]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
einem Ausländer ausgeht; muß es ferner als irrelevant er-
ſcheinen, ob die heimiſchen Rechtsgüter bzw. ihre Träger ſich
im Inlande oder im Auslande befinden.2


Praktiſche Erwägungen können den Staat allerdings be-
ſtimmen, auf den Schutz ſeiner im Auslande befindlichen
Rechtsgüter zu verzichten; ſo einerſeits das Vertrauen auf
den von dem fremden Staate gewährleiſteten Schutz, andrer-
ſeits die Furcht vor internationalen Verwicklungen. Er wird
aber gut thun, dieſen Erwägungen möglichſt geringen Einfluß
zu geſtatten.


2. Weiter zu greifen, hat der Staat nur dann Veran-
laſſung, wenn es ſich um Rechtsgüter von internatio-
nalem Werte
handelt; um ſolche alſo, deren Träger
nicht der einzelne Staat (oder die Bürger desſelben), ſon-
dern die Kulturgemeinſchaft der civiliſierten Staaten iſt.
Die Zahl derſelben dürfte kleiner ſein, als regelmäßig ange-
nommen wird. Die Integrität des Münzverkehrs iſt
eines der wichtigſten dieſer internationalen Rechtsgüter. Das
Rechtsinſtitut des Privateigentums kann internationalen An-
griffen gegenüber vorübergehend internationale Bedeutung
erlangen. Zu uneingeſchränktem Schutze aller, auch der
fremden, Rechtsgüter hat der einzelne Staat weder Veran-
laſſung noch Beruf, ſo lange die ſtrafrechtlichen Anſchauungen
der nächſtgelegenen Kulturnationen — man vergleiche das
deutſche Strafrecht mit dem franzöſiſchen oder engliſchen —
in ſo weſentlicher Beziehung von einander abweichen, wie
dies heute noch der Fall iſt.


3. Von ganz anderen Erwägungen ausgehend, gelangt
der Staat dazu, den Inländer, der im Auslande einen An-
[53]Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.
griff auf ein weder inländiſches noch internationales Rechts-
gut unternommen hat, der Herrſchaft ſeiner Strafgeſetze zu
unterwerfen. Da der Inländer nämlich nach kontinentalem
Grundſatze (anders nach engliſchem Recht) nie zur Beſtra-
fung dem Auslande ausgeliefert wird (StGB. §. 9), würde
der Inländer, der nach im Auslande begangener That ſich
ins Inland geflüchtet hat, ohne dieſe Erweiterung des Gel-
tungsgebietes der heimiſchen Geſetzgebung ſtraflos bleiben.


II. Das Geltungsgebiet des inländiſchen Strafrechts
dem ausländiſchen gegenüber wird von Wiſſenſchaft und Ge-
ſetzgebung in der verſchiedenſten Weiſe beſtimmt. Wir können
die folgenden Syſteme unterſcheiden:


1. Das univerſelle der Weltrechtspflege, nach
welchem jeder einzelne Staat als Repräſentant der Kultur-
gemeinſchaft bei allen wo immer begangenen Verbrechen zur
Ausübung der Rechtspflege berufen iſt.


2. Beſchränkte Syſteme.


a) Das Territorialitätsprinzip, welches den
Staat für berechtigt erklärt, alle auf ſeinem Gebiete be-
gangenen Verbrechen, aber auch nur dieſe, nach ſeinem Straf-
rechte zu ahnden.


b) Das Prinzip der aktiven Nationalität. Der
Staatsbürger wo immer er ſich befinden mag, aber auch nur
er, unterſteht den inländiſchen Strafgeſetzen.


c) Das Prinzip der paſſiven Nationalität. Nach
ihm ſchützt der Staat durch ſein Strafrecht nur die heimi-
ſchen Rechtsgüter, dieſe aber auch dann, wenn ſie ſich im
Auslande befinden.


3. Kombinirende Syſteme. Zu ihnen gehört das
oben aufgeſtellte. In der modernen Geſetzgebung haben ſie
die Herrſchaft. Sie gehen zumeiſt aus von dem Territorial-
[54]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
prinzip, machen aber daneben Anleihen bei den übrigen.
Auch das Syſtem des Reichsſtrafrechts iſt ein kombinirendes.


III. Die Reichsſtrafgeſetzgebung geht aus von dem
Territorialprinzip. Das inländiſche Recht findet An-
wendung auf alle im Inlande begangenen ſtrafbaren
Handlungen
, auch wenn der Thäter ein Ausländer iſt.
(StGB. §. 3.) Nur ſoweit es die eigentümliche Natur ge-
wiſſer Delikte, welche in der Verletzung beſonderer nur dem
Inländer obliegender Pflichten beſtehen, mit ſich bringt, tritt
eine verſchiedene Behandlung der In- und Ausländer ein.
So beim Landesverrat, bei Verletzung der Wehrpflicht
(StGB. §§. 87—91, 140).


In Bezug auf die im Inlande begangenen Handlungen
ſtellt die Reichsgeſetzgebung im Allgemeinen inländiſche und
ausländiſche Rechtsgüter unter den gleichen ſtrafrechtlichen
Schutz; eine allerdings weitgreifende Ausnahme machen die
gegen Beſtand, Organe und Funktion der Staatsgewalt ge-
richteten Delikte, die nur, wenn die inländiſche Staatsge-
walt angreifend, überhaupt mit Strafe oder doch mit der
vollen Strafe bedroht ſind. Vgl. den beſ. Teil. Auch die
Individualrechte (den beſ. Teil) ſind, von beſonderen Staats-
verträgen abgeſehen, nur dann ſtrafrechtlich geſchützt, wenn
ihre Träger Inländer ſind.


Als Inland iſt im Sinne des Reichsſtrafrechtes3 jedes
zum deutſchen Reich gehörige Gebiet zu betrachten (StGB.
§. 8). Die bekannten Sätze des Staats- und Völkerrechtes
finden auch hier Anwendung; demnach gelten Schiffe auf
[55]Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.
offener See als inländiſches Gebiet.4 Durch beſondere
Anordnung5 wird das Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze
auch auf die Konſulargerichtsbezirke ausgedehnt.


IV. Die Reichsſtrafgeſetzgebung iſt aber über dieſes als
Regel (StGB. §. 4 Abſ. 1, §. 6) hingeſtellte Prinzip hin-
ausgegangen. Freilich laſſen die Abweichungen von der
Regel klare Auffaſſung von der Aufgabe der ſtaatlichen
Strafgewalt vielfach vermiſſen. Wir haben zu unterſcheiden.


1. Im Auslande begangene Uebertretungen — ſo-
weit dieſelben überhaupt unter die Reichsgeſetzgebung fallen
— ſind nur dann zu beſtrafen, wenn dies durch beſondere
Geſetze oder durch Verträge von Seiten des Reichs oder
eines Einzelſtaates angeordnet iſt (StGB. §. 6).


2. Bezüglich der im Auslande begangenen Verbrechen
oder Vergehen
unterſcheidet das Geſetz weiter, indem es
den Inländer in einer größeren Zahl von Fällen als den
Ausländer dem inländiſchen Rechte unterwirft; in allen dieſen
Fällen iſt die Verfolgung fakultativ (StGB. §. 4 Abſ. 2).


A. Der Inländer kann nach inländiſchem Rechte ver-
folgt werden:


a)ohne weitere Bedingung, wenn er eine hoch-
oder landesverräteriſche Handlung gegen das Reich oder
einen Bundesſtaat, oder eine Beleidigung gegen einen Bun-
desfürſten, oder ein Münzverbrechen, oder als Beamter des
deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates eine Handlung
begangen hat, die nach den Geſetzen des deutſchen Reichs
(nicht bloß nach dem StGB.) als Verbrechen oder Vergehen
im Amte anzuſehen iſt (StGB. §. 4 N. 1 und 2);


[56]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

b) in anderen Fällen dann, wenn die begangene
Handlung 1. nach den Geſetzen des deutſchen Reichs als
Verbrechen oder Vergehen anzuſehen; 2. durch die Geſetze
des Begehungsortes — ſoweit ſolche beſtehen — mit Strafe
bedroht; 3. von den Gerichten des Auslandes nicht über
die Handlung bereits rechtskräftig erkannt und entweder eine
Freiſprechung erfolgt oder die ausgeſprochene Strafe voll-
zogen;6 4. wenn nicht Strafverfolgung oder Strafvoll-
ſtreckung nach den Geſetzen des Auslandes verjährt oder die
Strafe erlaſſen iſt und 5. wenn der nach den Geſetzen des
Auslandes erforderliche Antrag des Verletzten geſtellt wurde.
Nur wenn alle 5 Bedingungen vorliegen, iſt die Verfolgung
nach inländiſchem Recht zuläſſig (StGB. §. 4 Nr. 3, §. 5).


c) Beſondere Beſtimmungen enthalten StGB. §§. 102
und 298; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872
§. 100; Militär-StGB. vom 20. Juni 1872 §§. 7, 160,
161.7


Für die Entſcheidung der Frage, ob der Thäter Inländer
oder Ausländer iſt, kommt ausſchließlich der Augenblick der
Begehung der That (ſ. unten §. 19 IV) in Betracht.


B. Der Ausländer wird wegen der von ihm im Aus-
lande begangenen Verbrechen und Vergehen


a)ohne Weiteres nach inländiſchem Rechte verfolgt,
wenn es ſich um Hochverrath gegen das deutſche Reich oder
einen Bundesſtaat oder um ein Münzverbrechen handelt, oder
wenn er als Beamter des deutſchen Reichs oder eines Bun-
[57]Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.
desſtaates eine Handlung begangen hat, die nach den Ge-
ſetzen des deutſchen Reichs als Verbrechen oder Vergehen im
Amte anzuſehen iſt (StGB. §. 4 Nr. 1).


b) Dagegen iſt in allen anderen Fällen, mit einer Aus-
nahme, die Verfolgung ausgeſchloſſen.8 Iſt nämlich der
Thäter zwar bei Begehung der Handlung nicht Inländer
geweſen, es aber nachträglich geworden, ſo kann die
Verfolgung gegen ihn eingeleitet werden, wenn die oben
unter a, b 1 und 2 angeführten Bedingungen vorliegen, und
überdies die zuſtändige Behörde des Landes, in welchem die
ſtrafbare Handlung begangen wurde, die Verfolgung bean-
tragt. In dieſem Falle iſt das ausländiſche Strafgeſetz an-
zuwenden, wenn und ſoweit daſſelbe milder iſt (StGB. §. 4
Nr. 3 Abſ. 2).


In allen den unter A und B beſprochenen Fällen muß
eine im Auslande vollzogene Strafe, wenn wegen derſelben
Handlung im Gebiete des deutſchen Reiches abermals eine
Verurteilung erfolgt, auf die zu erkennende Strafe in An-
rechnung gebracht werden (StGB. §. 7). Dadurch kann die
Notwendigkeit herbeigeführt werden (arg. StGB. §§. 44 und
157), eine etwa ſich ergebende Zuchthausſtrafe unter einem
Jahre nach Maßgabe des §. 21 StGB. in Gefängnis zu
verwandeln (vgl. unten §. 55 II 2).


V. Zur Ergänzung der Lücken, die ſich ergeben, ſo lange
das Prinzip der Weltrechtspflege nicht allſeitig angenommen
iſt, dienen die Auslieferungsverträge.9 Deutſchland hat
[58]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
ſolche geſchloſſen mit Amerika, Italien, Großbritannien, der
Schweiz, mit Belgien, Luxemburg, Braſilien, Schweden und
Norwegen und mit Spanien.


VI. Ueber die Frage, welcher Ort als Begehungsort
anzuſehen iſt, vgl. unten §. 19 IV.


§. 14.
Befreiungen von der Herrſchaft der Strafgeſetze.1


I. Aus ſtaatsrechtlichen Gründen ſind von der Herr-
ſchaft der Strafgeſetze befreit:


1. Das Staatsoberhaupt; alſo der Kaiſer, die
Landesherren, der Regent.


2. Die Volksvertreter, und zwar die Mitglieder des
Reichstages nach Art. 30 der Reichsverfaſſung, und die Mit-
glieder eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich
gehörigen Staates nach StGB. §. 11, indem ſie außerhalb
der Verſammlung, zu welcher ſie gehören, weder wegen ihrer
Abſtimmungen noch wegen der in Ausübung ihres Berufes
gethanen Aeußerungen zur Verantwortung gezogen werden
können.


3. Um die uneingeſchränkte Oeffentlichkeit der parlamen-
tariſchen Verhandlungen und damit die fortwährende Wechſel-
wirkung zwiſchen den Volksvertretern und der öffentlichen
Meinung zu ſichern, verfügen Art. 22 Abſ. 2 der Reichs-
verfaſſung und §. 12 StGB,2 daß wahrheitsgetreue
Berichte


[59]Befreiungen von der Herrſchaft der Strafgeſetze. §. 14.
  • a) über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des
    Reichstages,
  • b) über Verhandlungen eines Landtages oder einer Kammer
    eines zum Reiche gehörigen Staates von jeder Ver-
    antwortlichkeit frei bleiben, mithin auch der ſogenannten
    objektiven Verfolgung nicht unterzogen werden können.3

In allen 3 Fällen iſt die Normwidrigkeit des Thuns
ausgeſchloſſen, vgl. unten §. 22.


II. Aus völkerrechtlichen Rückſichten ſind befreit die
exterritorialen Perſonen. Dazu gehören nach §§. 18—21
Ger.Verf.Geſ. die Chefs und Mitglieder der bei dem
deutſchen Reiche beglaubigten Miſſionen, die Familien-
glieder
und das Geſchäftsperſonal derſelben, ſowie
ihre Bedienſteten, ſoferne dieſe nicht Deutſche ſind. Da-
gegen ſind die im deutſchen Reiche angeſtellten Konſuln
der inländiſchen (Straf-)Gerichtsbarkeit unterworfen, ſoweit
nicht in Verträgen des deutſchen Reichs mit anderen Mächten
Vereinbarungen über die Befreiung der Konſuln von der
inländiſchen Gerichtsbarkeit getroffen ſind.


Dieſe Befreiung iſt eine höchſt perſönliche (ein ſubjektiver
Strafausſchließungsgrund, unten §. 30 III 3), ſo daß dritte
Perſonen, die an dem von einem Exterritorialen begangenen
Delikte als Mitthäter, Anſtifter oder Gehülfen beteiligt ſind,
wegen dieſer ihrer Beteiligung zur Verantwortung gezogen
werden können.4


[60]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

§. 15.
Allgemeine und beſondere Strafgeſetze.1


I. Die Einteilung der Strafrechtsſätze in allgemeine und
beſondere hat nur dann Bedeutung, wenn ſie maßgebend
wird für die wiſſenſchaftliche Darſtellung des Strafrechtes,
ſo daß aus dieſer die beſonderen Rechtsſätze ausgeſchieden
werden. Bei der Beſtimmung der Grenzlinie zwiſchen den
allgemeinen und den beſonderen Strafgeſetzen kann man von
einem verſchiedenen Standpunkte ausgehen.


1. Man kann als allgemeine Strafrechtsſätze die in dem
Strafgeſetzbuche ſelbſt, als beſondere die in Spezialge-
ſetzen
enthaltenen betrachten. Dies der gewöhnliche Stand-
punkt der Lehrbücher (mit einer kleinen aber darum um ſo
weniger gerechtfertigten Ausnahme bezüglich des Nachdrucks).
Dieſer Standpunkt iſt durchaus unhaltbar. In den Spe-
zialgeſetzen finden ſich theoretiſch und praktiſch außerordentlich
wichtige Beſtimmungen, ohne deren Berückſichtigung Kenntnis
und Verſtändnis des deutſchen Strafrechts mangelhaft bleiben
müſſen. Dazu kommt, daß die Aufnahme eines Rechtsſatzes
in das Strafgeſetzbuch ſelbſt oder in ein Spezialgeſetz vielfach
durch rein zufällige Umſtände beſtimmt wird; ſo fanden ſich
die Beſtimmungen über Bankbruch früher in dem StGB.,
während ſie jetzt in der Konkursordnung ſtehen.


2. Man könnte als Sonderrecht jene Normen be-
zeichnen, die ſich nicht an alle Staatsbürger wenden, ſon-
dern nur von gewiſſen Gruppen — Beamten, Geiſtlichen,
Militärperſonen, Gewerbetreibenden — Gehorſam heiſchen.
Dieſe Unterſcheidung, prinzipiell gewiß richtig, empfiehlt ſich
[61]Allgemeine und beſondere Strafgeſetze. §. 15.
zur Durchführung nicht, ſo lange die Frage, welcher Kate-
gorie jede einzelne Norm angehört, nicht mit genügender
Sicherheit beantwortet werden kann.


3. Auch jene Unterſcheidung, nach welcher das Sonder-
recht gebildet wird durch die beſonderen Strafdrohungen
für die von gewiſſen Perſonengruppen begangenen Ueber-
tretungen allgemein bindender Normen, kann nicht zur Grund-
lage genommen werden, da die Geſetzgebung ſelbſt ſie ſowol
in ſtrafrechtlicher wie in ſtrafprozeſſualer Beziehung ignoriert.


4. Dagegen können wir das Gebiet des Sonderrechtes
durch ein zwar äußerliches aber klares Merkmal in beſtimmter
Weiſe abgrenzen von dem allgemeinen Recht. Sonderrecht
iſt dasjenige, deſſen Beurteilung nicht den ordentlichen Ge-
richten, ſondern Sondergerichten zugewieſen iſt. In
dieſem Sinne beſchränken wir uns auf die Darſtellung des
allgemeinen Strafrechts.


II. Die hervorragendſte Stelle nimmt innerhalb des
Sonderrechtes das Militärſtrafrecht ein, das dem Ge-
ſagten entſprechend, in dieſem Lehrbuche keine Berückſichtigung
finden wird. Durch §. 7 EG. zum Ger.Verf.Geſ. wurde die
Militärgerichtsbarkeit aufrecht erhalten. Dieſelbe be-
ſchränkt ſich nach §. 39 des Militärgeſetzes vom 2. Mai
1874 auf Strafſachen. Es unterſtehen ihr


1. nur die Delikte der Militärperſonen, alſo2 der
Perſonen des Soldatenſtandes und der Militärbeamten,
welche zum Heer oder zur Marine gehören;


2. nur die militäriſchen Verbrechen und Vergehen
der Militärperſonen, während andere von dieſen begangene
[62]Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
ſtrafbare Handlungen nach den allgemeinen Strafgeſetzen
beurteilt werden (MilitärStGB. §. 3, StGB. §. 10).


§. 16.
Friedensrecht und Kriegsrecht.


I. Die Strafrechtsſätze, die als allgemeine im Sinne
des vorigen Paragraphen den Gegenſtand unſerer Darſtellung
bilden, erleiden zum Teil gewiſſe Modifikationen durch die
Herrſchaft des Kriegsrechtes (EG. §. 4).


Die Modifikationen beſtehen darin, daß an Stelle der
für gewiſſe Fälle des Hoch- und Landesverrates ſowie für
einzelne gemeingefährliche Delikte in den §§. 81, 88, 90,
307, 311, 312, 315, 322, 323, 324 StGB. angedrohten
Strafe des lebenslänglichen Zuchthauſes die Todesſtrafe
tritt.


Die Vorausſetzung dieſer Veränderung der Strafdrohung
iſt gegeben, wenn entweder


1. die genannten Handlungen in einem Teile des
Bundesgebietes
begangen werden, welchen der Kaiſer
nach Art. 68 der Reichsverfaſſung — alſo vorläufig noch
nach den Vorſchriften des Preußiſchen Geſetzes vom 4. Juni
1851 — in Kriegszuſtand erklärt hat; oder


2. wenn ſie während eines gegen das deutſche Reich aus-
gebrochenen Krieges auf dem Kriegsſchauplatze begangen
werden.


Für Baiern hat der beſprochene §. 4 EG. nach §. 7
Abſ. 2 des Geſetzes vom 22. April 1871 „bis auf Weiteres“
keine Geltung.


II. Ferner beſtimmt das MilitärStGB. vom 20. Juni
1872 §. 160, daß die auf dem Kriegsſchauplatze, auch von
[63]Friedensrecht und Kriegsrecht. §. 16.
Nicht-Militärperſonen begangenen Delikte des Kriegsverrates
(MilStGB. §§. 57—59) und der Plünderung von Gefalle-
nen, Verwundeten uſw. (§. 134) nach den Militärſtrafgeſetzen
zu beurteilen ſeien.


Der §. 155 des MilitärStGB. unterwirft alle Perſonen,
welche während eines gegen das deutſche Reich ausgebroche-
nen Krieges ſich in irgend einem Dienſt- oder Vertragsver-
hältniſſe bei dem kriegführenden Heere befinden oder
ſonſt bei demſelben ſich aufhalten oder ihm folgen, dem
Militärſtrafrechte, insbeſondere den Kriegsgeſetzen.


III. Endlich iſt auf §. 30 Abſ. 1 Preßgeſetzes 7. Mai
1874 hinzuweiſen, nach welchem die für Zeiten der Kriegs-
gefahr, des Kriegs, des erklärten Kriegs- oder Belagerungs-
zuſtandes oder innerer Unruhen (Aufruhr) in Bezug auf die
Preſſe beſtehenden beſonderen geſetzlichen Beſtimmungen bis
auf Weiteres in Kraft bleiben.1


[[64]]

Allgemeiner Teil.


Erſtes Buch.
Das Verbrechen.


I. Begriff und Einteilung.


§. 17.
Der Begriff des Verbrechens.

Verbrechen iſt die vom Staate mit Strafe be-
drohte, ſchuldhafte, normwidrige Handlung
; kürzer:
das ſtrafbare Delikt.


I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt Handlung. Es
iſt willkürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen be-
ſtimmte, körperliche Bewegung. Es iſt Verwirklichung
des Willens, wenn wir unter Willen nicht mehr verſtehen,
als jenen pſychiſchen Akt, durch welchen die motoriſchen Ner-
ven unmittelbar in Erregung verſetzt werden.


Wo keine Handlung in dieſem Sinne vorliegt, ſei es,
daß die körperliche Bewegung überhaupt fehlt, ſei es, daß
die gegebene Bewegung nicht auf den Willen zurückgeführt
werden kann, dort kann auch weder von Delikt noch von
Verbrechen die Rede ſein (fehlende Handlung als Grund
für das Nichtvorliegen eines Verbrechens).


[65]Der Begriff des Verbrechens. §. 17.

II. Das Verbrechen iſt wie das Delikt normwidrige
Handlung. Die Körperbewegung hat Veränderungen in der
Außenwelt zur Folge, dieſe Veränderungen ſind im Wider-
ſpruch mit der Norm. Die Handlung bewirkt, was die
Norm verbietet; ſie verhindert, was die Norm gebietet.


Ohne Normübertretung kein Verbrechen. Die irrige An-
nahme der Normwidrigkeit kann das an ſich normgemäße Thun
nicht zu einem normwidrigen machen: das Putativdelikt
oder Wahnverbrechen (vgl. über dasſelbe unten §. 28 I
a. E.) iſt weder Delikt noch Verbrechen.


Das Verbrechen entfällt mit der Norm, alſo in allen
jenen Fällen, in welchen eine Ausnahme von der imperativen
Kraft der Norm eintritt (Ausſchluß der Rechtswidrig-
keit
als Grund für das Nichtvorliegen eines Verbrechens).


III. Das Verbrechen iſt wie das Delikt ſchuldhafte
normwidrige Handlung. Es tritt damit in Gegenſatz zu
dem ſchuldloſen oder objektiven Unrecht, dem Nicht-Recht.1
Vorausſetzung der Schuld iſt die Zurechnungsfähigkeit,
die nur bei dem menſchlichen Individuum gegeben ſein kann.
Die beiden Arten der Schuld ſind im modernen Rechte
Vorſatz und Fahrläſſigkeit.


Ohne Schuld weder Delikt noch Verbrechen; die That
des Zurechnungsunfähigen und die weder vorſätzliche noch
fahrläſſige Handlung des Zurechnungsfähigen ſind ſtrafrecht-
lich irrelevant. (Fehlende Schuld als Grund für das
Nichtvorliegen eines Verbrechens.)


IV. Das Verbrechen iſt im Gegenſatz zum Delikt die
vom Staate mit Strafe bedrohte ſchuldhafte norm-
von Liszt, Strafrecht. 5
[66]Erſtes Buch. I. Begriff und Einteilung.
widrige Handlung; darin liegt das für den Unterſchied des
kriminellen vom civilen Unrecht maßgebende Merkmal. Ohne
Strafdrohung iſt wol Delikt aber nicht Verbrechen denkbar.
(Fehlende Bedingung der Strafbarkeit als Grund für das
Nichtvorliegen eines Verbrechens.) Aber nur das Mit-Strafe-
bedroht-ſein, nicht das Beſtraft-werden iſt von Bedeutung.
Das Verbrechen bleibt Verbrechen, auch wenn ein nachträg-
lich eintretender Strafaufhebungsgrund (thätige Reue,
Begnadigung uſw.) die bereits vorhanden geweſene Straf-
barkeit wieder beſeitigt; es bleibt Verbrechen, auch wenn aus
prozeſſualen Gründen (nach der That entſtehende
Geiſteskrankheit des Thäters uſw.) die Geltendmachung des
ſtaatlichen Strafanſpruches unmöglich wird.


Die hervorgehobenen Merkmale des Verbrechens liefern
zugleich das Gerippe für die Darſtellung der Lehre vom
Verbrechen.


§. 18.
Einteilungen des Verbrechens.

I. Die meiſten der in der älteren Literatur vielbeſproche-
nen Einteilungen der Verbrechen ſind heute teils ohne jede
aktuelle Bedeutung, teils an anderer Stelle zu erörtern.


Auch die an ſich hochwichtige Unterſcheidung von poli-
tiſchen und nicht politiſchen
Verbrechen1 iſt für das
Reichsſtrafrecht als ſolches gegenſtandslos geworden, nachdem
alle dieſen Unterſchied feſthaltenden Reichsgeſetze aufgehoben
[67]Einteilungen des Verbrechens. §. 18.
ſind.2 Nur in den von dem deutſchen Reiche mit dem Aus-
lande geſchloſſenen Auslieferungsverträgen ſpielen die
politiſchen Verbrechen noch eine Rolle. Feſtzuhalten iſt, daß
nicht das dem einzelnen Verbrechen im Allgemeinen zu
Grunde liegende Motiv, ſondern die politiſche Bedeutung
des durch dasſelbe angegriffenen Rechtsgutes für die Ein-
reihung in die Gruppe der politiſchen Verbrechen entſcheidet.3
Demnach haben wir zu den politiſchen Verbrechen diejenigen
zu rechnen, welche gegen Beſtand und Sicherheit des Ge-
meinweſens, ſowie gegen die Organe und die Autorität der
Staatsgewalt nicht aber gegen die Funktionen der Staats-
verwaltung gerichtet ſind.4


II. Die Unterſcheidung des polizeilichen Unrechts von
dem eigentlichen (kriminellen) Verbrechen bietet wohl großes
theoretiſches aber keinerlei praktiſches Intereſſe. Die Reichs-
geſetzgebung hat dieſen Unterſchied ſowohl auf dem Gebiete
des materiellen Strafrechts, wie auf jenem des Strafprozeß-
rechtes unberückſichtigt gelaſſen. Theoretiſch betrachtet wird
das Polizeiunrecht gebildet durch die Uebertretungen jener
Normen, welche als reine Ungehorſamsverbote und Gehor-
ſamsgebote (vgl. oben §. 3 II 2 u. 3) nicht unmittelbar
ſondern mittelbar zum Schutze der Rechtsgüter beſtimmt
ſind.5 Die eigentümliche Natur dieſer Normen hat manche
[68]Erſtes Buch. I. Begriff und Einteilung.
Beſonderheiten des polizeilichen Unrechtes zur Folge, die am
geeigneten Orte dargeſtellt werden ſollen.


III. Eine andere Einteilung der Verbrechen im weiteren
Sinne iſt dagegen auch für das Reichsrecht von größter Be-
deutung. Das RStGB. hat die aus dem franzöſiſchen
Rechte ſtammende und von hier in eine Reihe deutſcher
Partikulargeſetze (insbeſondere Baiern 1813 und Preußen
1851) übergegangene Dreiteilung (Trichotomie) der Ver-
brechen (im weiteren Sinne) je nach der Schwere der
auf ſie geſetzten Strafe
in Verbrechen im engeren
Sinne, Vergehen und Uebertretungen ohne jeden inneren
Grund beibehalten.6


Nach dieſer Einteilung (StGB. §. 1) iſt:


  • 1. Verbrechen (im engeren Sinne) jede mit dem Tode,
    mit Zuchthaus oder mit Feſtungshaft von mehr als
    5 Jahren;
  • 2. Vergehen jede mit Feſtungshaft bis zu 5 Jahren,
    mit Gefängnis oder mit Geldſtrafe von mehr als
    150 Mark;
  • 3. Uebertretung jede mit Haft oder mit Geldſtrafe bis
    zu 150 Mark bedrohte Handlung.7

Gegen die Dreiteilung läßt ſich allerdings nicht geltend
machen, daß ſie die Schwere der ſtrafbaren Handlungen nach
der Strafe und nicht dieſe nach jener beſtimme. Aber die
Geſetzgebung hat damit ohne irgend einen ſtichhaltigen Grund
[69]Einteilungen des Verbrechens. §. 18.
die von jeher dem deutſchen Rechte eigene und allein natur-
gemäße weil einfache Zweiteilung in ſchwere und leichte
Fälle preisgegeben. Die Vorteile, welche §. 1 StGB. in
redaktioneller Beziehung bietet, werden mehr als aufgewogen
durch die vielen und ſchweren Zweifel, welche bei der prak-
tiſchen Handhabung der Dreiteilung unvermeidlich ſind; die
angebliche Vereinfachung der Kompetenzabgrenzung iſt, wie
ein Blick auf das Gerichtsverfaſſungsgeſetz lehrt, nicht ein-
getreten; und die oft (auch von Meyer) behauptete Not-
wendigkeit einer Mittelſtufe wird durch den Umſtand als
nicht vorhanden erwieſen, daß die Geſetzgebung ſelbſt, wenn
ſie Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen in der Behand-
lung unterſcheidet,8 den Vergehen in weitaus den meiſten
Fällen (Ausnahme beim Verſuch, aber gerade hier in durch-
aus verfehlter Weiſe) keine ſelbſtändige Stellung einräumt,
ſondern dieſelben entweder mit den Verbrechen oder mit
den Uebertretungen der Herrſchaft derſelben Grundſätze
unterwirft.


Für die Anwendung der Dreiteilung ſind folgende (faſt
ohne Ausnahme beſtrittene) Regeln zu merken:


1. Maßgebend iſt nicht die zu erkennende, ſondern die
angedrohte Strafe; und zwar bei alternativer Strafdrohung
die ſchwerſte der angedrohten Strafen (eine mit „Gefäng-
nis oder Haft“ bedrohte Handlung iſt immer Vergehen).
Bei den, als Vielfaches eines abſolut beſtimmten Betrages
(insbeſondere in den Zoll- und Steuergeſetzen) angedrohten
Geldſtrafen entſcheidet das im konkreten Fall ſich er-
gebende Maximum.


[70]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.

2. Bei Erweiterungen des Strafrahmens wegen mil-
dernder oder erſchwerender Umſtände iſt das Maximum des
erweiterten Strafrahmens für alle — normale, leichtere,
ſchwerere — Fälle maßgebend. Handelt es ſich dagegen um
ſelbſtändige privilegirte oder qualifizirte Unterarten derſelben
ſtrafbaren Handlung, ſo ſind die Strafrahmen ſowohl des
Normalfalles, wie jene der Unterarten beſonders ins Auge
zu faſſen.9


3. Die reduzirten Strafrahmen bei Verſuch, Beihilfe,
Jugend ſind als Erweiterungen des normalen Strafrahmens
zu betrachten.


II. Das Verbrechen als Handlung.


§. 19.
Der Begriff der Handlung.1

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt Handlung, d. h.
willkürliche körperliche Bewegung
. Genauer be-
ſtimmt: willkürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtel-
lungen beſtimmte
körperliche Bewegung; oder die durch
einen pſychiſchen Akt hervorgerufene, von der Vorſtellung
ihres Inhaltes begleitete Muskelerregung. Das iſt der
engere und eigentliche, immer im Auge zu behaltende Begriff
der Handlung. Ohne Handlung in dieſem Sinne iſt Delikt
wie Verbrechen undenkbar.


[71]Der Begriff der Handlung. §. 19.

Daher ſind niemals Verbrechen:


1. Wegen mangelnder Körperbewegung die Ge-
danken
. Cogitationis poenam nemo patitur ſagt Ulpian
in l. 18 Dig. 48, 19; und dieſer Satz muß um ſo entſchie-
dener betont werden, als in jüngſter Zeit (Binding) dem
Entſchluſſe an ſich die Bedeutung verurſachender deliktiſcher
Thätigkeit beigelegt worden iſt.


2. Wegen fehlenden pſychiſchen Aktes.


a) die paſſiven Bewegungen, welche ohne Ver-
mittlung der motoriſchen Nerven durch eine von Außen
her unmittelbar auf
die Muskeln wirkende Kraft her-
vorgerufen werden. Abſolute Gewalt: ein Dritter führt ge-
waltſam meine Hand zur Brandlegung; auf ſchmalem Alpen-
pfade ſtrauchelnd, ſtürze ich meinen Begleiter in den Ab-
grund.


b) Die Reflexbewegungen, bei welchen ein auf die
Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver-
mittlung des Willens, die korreſpondierenden Bewegungs-
nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dienſtmagd
nieſt heftig und zertrümmert das koſtbare Service.


3. Wegen Mangels der Vorſtellung (der Bewußt-
heit, nicht des Bewußtſeins) alle Bewegungen, die nicht
ins Bewußtſein treten
. Der Zerſtreute nimmt den
fremden Regenſchirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur-
kunde uſw. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im All-
gemeinen
eine bewußte war, mögen auch die Details, wie
dies nicht nur häufig, ſondern regelmäßig der Fall, ſich dem
Bewußtwerden entziehen.


II. Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kauſalitäts-
geſetzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man
nennt dieſe Folgen Erfolg, und rechnet denſelben zur
[72]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
Handlung im weiteren Sinne. Die Vorſtellung des durch
die Körperbewegung hervorzurufenden Erfolges iſt das we-
ſentliche Merkmal im Begriffe des Vorſatzes; einem Be-
griffe, der mit dem des Willens nicht verwechſelt werden
darf.


Je nach der Verſchiedenheit der durch die Handlung
übertretenen Normen geſtaltet ſich der Erfolg äußerlich ver-
ſchieden.


a) Bei Uebertretung der allgemeinen, das Rechtsgut un-
mittelbar ſchützenden negativen Normen (vgl. oben §. 3 II 1)
beſteht der Erfolg nicht nur in dem Uebertretenſein der
Norm, ſondern auch in der Verletzung, Gefährdung oder
dem Angegriffenſein des geſchützten Rechtsgutes.


b) Bei den zum mittelbaren Rechtsgüterſchutze dienenden
Gehorſams- und Ungehorſamsnormen dagegen (vgl. oben
§. 3 II 2 und 3) beſteht der Erfolg der normwidrigen
Handlung weſentlich nur darin, daß die Norm über-
treten
, ein von derſelben nicht gewollter Zuſtand herbeige-
führt iſt.


Man hat nach dieſer Verſchiedenheit des Erfolges wohl
zwiſchen Erfolgs- und Nichterfolgsdelikten, Rechts- und Ge-
ſetzesverbrechen, materiellen und formellen Delikten unter-
ſchieden. Doch haben alle dieſe Unterſcheidungen wenig
Wert.


III. Wir können demnach bei der Handlung im weiteren
Sinne (der „erweiterten Handlungsreihe“ nach Zitelmann)
drei — allerdings nicht immer ſcharf von einander zu tren-
nende — Stadien unterſcheiden, von welchen jedes nach
einer anderen Richtung hin von ſtrafrechtlicher Bedeu-
tung iſt:


1. den Zeitpunkt, in welchem die körperliche Bewe-
[73]Der Begriff der Handlung. §. 19.
gung vorgenommen wird; Begehung der eigentlichen Hand-
lung
: wichtig für die Frage nach dem Vorliegen der Schuld
(S. unten §. 25 V).


2. Den Zeitpunkt, in welchem der Erfolg eintritt: Voll-
endung des Verbrechens.


3. Den Zeitraum zwiſchen den beiden Zeitpunkten, das
Abrollen des durch die körperliche Bewegung in Bewegung
geſetzten Kauſalzuſammenhanges: die Begehung der Handlung
im weiteren, uneigentlichen Sinne, genauer: des Deliktes.
Da aber jene Zeitpunkte keine mathematiſchen ſind, ſondern
kleinere Zeiträume, müſſen wir näher abgrenzen. Der mitt-
lere Zeitraum reicht von dem letzten körperlichen Akte bis
zu dem Augenblicke, in welchem der Kauſalzuſammen-
hang das Objekt trifft
(die Kugel in den fremden Körper
eindringt, der beleidigende Brief von dem Adreſſaten geleſen
wird). Dies führt uns auf die früher ausgeſetzte (vgl. oben
§. 12 V und 13 VI) Beantwortung der Frage nach dem
Ort und der Zeit der begangenen That.2


IV. Die nach dem Kauſalitätsgeſetze wirkenden Naturkräfte
ſind das Werkzeug in der Hand des Menſchen, das Mittel
zur Verwirklichung ſeiner Zwecke. Der Menſch handelt
(das Wort im weiteren Sinne genommen), ſo lange dieſe
Kräfte wirken; er hat gehandelt, ſo bald ſie ihr Ziel
erreichten
. Freilich wirken die Naturkräfte vielleicht noch
in dem getroffenen Objekte fort; die tödtliche Wunde führt
[74]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
langſam zum Tode: aber von jenem Augenblicke an hat der
Thäter das Werkzeug aus der Hand gelegt, um paſſiv das
Reſultat abzuwarten. Das Verbrechen wird alſo begangen
während der ganzen Dauer des oben unter III 3 bezeich-
neten Zeitraumes; es iſt begangen (Perfektum) in dem
Augenblicke in welchem, an dem Orte an welchem die
ablaufende Kauſalitätsreihe das bedrohte Objekt trifft.
Dasſelbe meint wohl auch das RGR., wenn es (13. März
1880, E I 274) jenen Ort als Thatort bezeichnet, an welchem
die von dem Thäter durch die von ihm benutzten oder in
Bewegung geſetzten Kräfte „erzielte Wirkſamkeit mit ſeinem
Willen in die Erſcheinung tritt“. Beiſpiele: A in Paris
ſchickt am 1. Januar 1880 einen beleidigenden Brief an B
in Berlin, den dieſer am 3. Januar 1880 erhält und lieſt;
Berlin iſt Begehungsort, der 3. Januar der Zeitpunkt der
Begehung. A hat am 1. Januar 1880 diesſeits der deut-
ſchen Grenze ſtehend einen jenſeits derſelben befindlichen
Franzoſen durch einen Schuß verwundet; der Getroffene
ſtirbt in einem deutſchen Spitale am 8. Januar 1880; die
That iſt am 1. Januar 1880 und zwar in Frankreich be-
gangen. Beſonders bei fahrläſſigen Delikten iſt ein ſolches
Auseinanderfallen des erſten und des letzten Gliedes der
kauſalen Kette in zeitlicher wie in örtlicher Beziehung häufig.3


Einzelanwendungen.


1. Anſtiftung und Beihülfe ſtehen unter der allge-
meinen Regel. Dort wo der Anzuſtiftende den Rat uſw.,
wo der Thäter die Hülfeleiſtung empfängt, und in dem Augen-
blicke, in welchem dies geſchieht, dort und dann iſt Anſtif-
[75]Der Begriff der Handlung. §. 19.
tung und Beihülfe begangen. Z. B. A in Paris beſtimmt
durch einen am 1. Januar 1880 abgeſchickten, am 3. Januar
1880 eingetroffenen Brief den B in Berlin zur Ermordung
des in London befindlichen C; wenn die That in London am
1. Februar 1880 ausgeführt wird, ſo iſt die Anſtiftung in
Berlin am 3. Januar begangen (quod nunc demum apparuit).


2. Dagegen entſcheidet bei Begehung der That durch
einen Anderen
, mag dieſer zurechnungsunfähig oder ge-
täuſcht oder gezwungen ſein, Ort und Zeit der Handlung
des Werkzeuges. Wenn ich durch einen Blödſinnigen einen
jenſeits der Grenze befindlichen Gegenſtand wegnehmen laſſe,
ſo habe ich ihn jenſeits der Grenze weggenommen. Die
verſchiedene Entſcheidung der beiden Fälle hat ihren Grund
darin, daß Anſtiftung und Beihülfe Teilnahme an dem
Thun eines Andern, Handeln durch ein Werkzeug dagegen
eigenes Handeln iſt (vgl. unten §. 35).


3. Trifft die Handlung das Objekt überhaupt nicht,
ſo iſt ſie dort und dann begangen, wo und wann das letzte
Glied der Kette abbricht; es entſcheidet der letzte Vorberei-
tungs- oder Verſuchsakt uſw.


4. Eine als juriſtiſche Einheit zu betrachtende Hand-
lungsreihe, z. B. das fortgeſetzte oder das fortdauernde De-
likt (vgl. unten §. 39 II) darf auch in Bezug auf unſere
Frage nicht in ſeine unſelbſtändigen Teile auseinander ge-
riſſen werden. Es iſt überall dort begangen, wo ein ſolcher
Teil geſetzt worden, und während der ganzen Dauer der
Handlungsreihe. Eine dadurch veranlaßte Kolliſion zwiſchen
fremdem und einheimiſchem Rechte iſt zu Gunſten des letz-
teren, zwiſchen ſpäterem und früherem Rechte zu Gunſten
des milderen zu entſcheiden (die mehreren Gerichtsſtände ſind
gleichberechtigt).


[76]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
§. 20.
Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange.1

I. Der Erfolg muß Folge der körperlichen Bewegung,
dieſe muß ſeine Urſache ſein; Handlung und Erfolg müſſen
im Kauſalzuſammenhange ſtehen. Wann iſt dies der Fall?
wann kann der Erfolg auf eine menſchliche Thätigkeit als
ſeine Urſache zurückgeführt werden?


Im ſtrengen Sinne iſt Urſache die Geſammtheit (die
Totalität, nicht die Summe) aller Faktoren, durch deren
Zuſammenwirken der Erfolg herbeigeführt wurde;

oder, da man jeden einzelnen dieſer Faktoren Bedingung
nennt, die Geſammtheit der Bedingungen des Er-
folges. Die Zahl der einzelnen Bedingungen iſt eine un-
endliche, räumlich und zeitlich unbegrenzte. Dieſer Begriff
der Urſache iſt demnach für die praktiſche Betrachtung, auch
für die juriſtiſche, unbrauchbar; ſie hält ſich an einzelne
Bedingungen
, und meint dieſe, wenn ſie von Urſache
ſpricht. Für die Auswahl dieſer „Urſache“ aus den Be-
dingungen iſt lediglich der Standpunkt des Beobachters
maßgebend; mit anderen Worten: ein objektiver realer Unter-
ſchied zwiſchen den verſchiedenen Bedingungen exiſtiert nicht,
keine von ihnen iſt an ſich, ſondern immer nur im Zuſam-
[77]Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. §. 20.
menwirken mit allen übrigen kauſal. Alle Bedingungen ſind
objektiv gleichwertig; eine Verſchiedenheit exiſtiert nur in un-
ſerer ſubjektiven Vorſtellung. So gelangen wir zu dem
(nur ſcheinbar dem Begriffe der Urſache widerſprechenden)
Reſultate: jede Bedingung iſt kauſal. Und mit Rück-
ſicht auf die menſchliche Handlung: wer immer durch
ſeine Körperbewegung eine Bedingung zu dem
eingetretenen Erfolge geſetzt hat, hat denſelben
mit bewirkt
.


II. Die praktiſchen Konſequenzen dieſes Satzes werden
wir ſofort kennen lernen. Aber vorher iſt eine ſcheinbare
Abſchweifung nötig.


Je nach dem Standpunkte unſerer Betrachtung iſolieren
wir eine oder die andere Bedingung und nennen ſie Urſache.
Wir gelangen zur Wahl, indem wir entweder


1. eine Anzahl von Bedingungen, weil regelmäßig vor-
handen, als gegeben vorausſetzen, und nun die ausnahms-
weiſe hinzutretende als Urſache bezeichnen; oder


2. indem wir uns die günſtigen und ungünſtigen Be-
dingungen als ſich das Gleichgewicht haltend vorſtellen,
ſo daß uns die hinzutretende das Gleichgewicht ſtörende Be-
dingung als Urſache erſcheint.


Auf dem erſten Wege gelangt v. Bar, auf dem
zweiten Binding zu ſeiner Definition des Urſachenbegriffes.
Beide Definitionen ſind nicht nur identiſch ſondern auch an
ſich gleich richtig. Beide werden gleich unrichtig, ſobald man
glaubt, daß dieſer „Urſache“ reale Exiſtenz zukommt, und
darauf weitere Schlüſſe baut. Wenn die beiden regelmäßig
vorhandenen Kräfte a und b den Punkt M nach N bewegen,
und nun durch das Hinzutreten der Kraft c eine Bewegung
nach N′ eintritt, oder wenn die gleich ſtark gedachten Kräfte-
[78]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
maſſen + a und — b den Punkt M im Gleichgewichte halten
und nun die hinzutretende Kraft c den Punkt nach N′ be-
wegt, ſo können wir (ungenau) in beiden Fällen die Kraft c
als die Urſache der Bewegung von M nach N′ bezeichnen;
aber nie dürfen wir vergeſſen, daß die Bewegung in Wahr-
heit durch das Zuſammenwirken der drei Kräfte a und
b und c verurſacht worden iſt.


III. Daraus ergiebt ſich die außerordentlich wichtige
Konſequenz, daß ein und derſelbe Erfolg aufmehrere
menſchliche Handlungen als ſeine Urſachen zurück-
geführt werden kann,
einerlei, ob ihr Zuſammenwirken
ein gleichzeitiges oder ein ſucceſſives iſt. Insbeſondere kann
der unmittelbar durch das Handeln des B herbeigeführte
Erfolg mittelbar auf das (vorſätzliche oder fahrläſſige) Thun
des A zurückgeführt werden. Eine „Unterbrechung des Kauſal-
zuſammenhanges“ wie man ſich möglichſt ſchief ausdrückt,
genauer ein (juriſtiſches) Zurückführen des Erfolges auf die
nächſte Urſache (die Handlung des B) findet nur ſoweit kraft
poſitivrechtlicher Anordnung ſtatt, als dieſe nächſte Ur-
ſache die freie (d. h. nicht im Notſtande StGB. §§. 52
und 54 begangene) von der Vorſtellung ihrer Kau-
ſalität begleitete
Handlung eines Zurechnungsfähi-
gen
iſt. Insbeſondere ſteht der Annahme des Kauſal-
zuſammenhanges die eigene Fahrläſſigkeit des Beſchädigten
nicht entgegen, RGR. 12. April 1880, E I 373, R I 578.


Beiſpiel. Wenn A dem B ein geladenes Gewehr mit
der Aufforderung in die Hand giebt, auf den C loszudrücken,
und B in der Meinung es ſei nicht geladen dies thut, ſo
kann B wegen fahrläſſiger und neben ihmA wegen vor-
ſätzlicher oder fahrläſſiger Tötung des C zur Verantwortung
gezogen werden (ſo auch meiſt die Praxis gegen die Anſicht
[79]Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. §. 21.
der Mehrzahl der Theoretiker). Hat dagegen B die Kauſa-
lität ſeiner Handlung gekannt, ſo kann A nur, wenn Vorſatz
bei ihm vorliegt, als Anſtifter ſtrafbar gemacht werden; hat
er fahrläſſig gehandelt, ſo bleibt er ſtraflos. (Vgl. darüber
das Nähere unten §. 35.)


IV.Zurechnen (vgl. unten §. 27 IV) heißt einen Erfolg
auf die Schuld eines Menſchen zurückführen. Daraus folgt
ein Doppeltes. Bei mangelndem Kauſalzuſammenhang iſt
Zurechnung ausgeſchloſſen. Iſt dagegen der Kauſalzuſammen-
hang konſtatiert, ſo muß überdies Schuld (Vorſatz oder
Fahrläſſigkeit) vorliegen, damit der Erfolg zugerechnet werden
kann. Die Kauſalitätsfrage und die Schuldfrage
ſind ſtrenge zu trennen
(anders v. Bar); mit dieſer
Trennung entfallen auch alle Bedenken, die gegen die im
Texte vertretene „laxe“ (ſoll heißen: ſtreng-logiſche) Faſſung
des Urſachenbegriffes erhoben zu werden pflegen.


§. 21.
Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte.1

I. Wir haben das Verbrechen als Handlung definiert;
wie verhalten ſich dieſer Definition gegenüber die Unter-
laſſungsd
elikte? Wenn ſie keine Handlungen ſind, ſo war
unſere Definition, weil zu eng, falſch und bedarf der Kor-
[80]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man
von Unterlaſſungen? —


Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega-
tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und
durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen
Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein
pſychiſcher Akt.2 Aber abgeſehen davon, daß wir damit den
nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als
eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der „Entſchluß“
nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an
der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen
Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht
vorliegt.


Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter-
laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug,
Glaſer, Merkel
das gethan; damit rettet man den Be-
griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig,
und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit
dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: „die Schuld muß
im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein“ — in
unlösbaren Widerſpruch.


II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum
von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt.
Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwasnicht
thun;
das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde.
Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be-
ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon-
[81]Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. §. 21.
dern ein Andershandeln.3 Man kann nie ſagen: er hat
unterlaſſen, ſondern immer nur: er hat dies oder jenes
unterlaſſen. Damit iſt der Charakter der Unterlaſſungen
als poſitiver Handlungen, die wie alle anderen kauſal
ſein können, nachgewieſen. Und nur die eine Frage erhebt
ſich: warum bezeichnen wir als Juriſten gerade ein gewiſſes
Andershandeln nach ſeiner negativen Seite? Die Antwort
lantet: weil wir gerade ein beſtimmtes Thun erwartet
haben. Zu dieſer Erwartung ſind wir aber nur dann be-
rechtigt,
wenn der zu Beurteilende zu jenem beſtimmten
Thun verpflichtet war. Somit lautet die Frage: Wann
tritt die Verpflichtung zu einem beſtimmten poſi-
tiven Thun ein?
Die Exiſtenz dieſer Pflicht macht die
„Unterlaſſung“ nicht erſt kauſal, ſondern ſtrafbar, macht ſie
nicht erſt zur Handlung, ſondern berechtigt uns, das Anders-
handeln nur von ſeiner negativen Seite ins Auge zu faſſen.


1. Bei den durch Strafdrohung ſanktionirten Geboten
des Rechts entſteht die Pflicht, eine beſtimmte Handlung vor-
zunehmen, unmittelbar durch die Gebote ſelbſt. Man
nennt die Uebertretungen dieſer Gebote echte Unterlaſſungs-
oder Omiſſivdelikte.


2. Bei den negativen pönaliſirten Imperativen, den Ver-
boten,
muß dagegen die Pflicht zu einem beſtimmten kon-
kreten Thun anderweitig begründet ſein. Nur durch dieſen
Umſtand, nicht aber in ſeiner inneren Struktur unterſcheidet
ſich das ſog. unechte Unterlaſſungsdelikt, das delictum per
von Liszt, Strafrecht. 6
[82]Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
omissionem commissum von der unter 1 beſprochenen Gruppe.
Die Pflicht zum Handeln aber kann liegen:


a) in einer Rechtsnorm, die einem anderen als dem
ſtrafrechtlichen Gebiete angehört (Pflicht der Eltern zur Er-
nährung der Kinder, die vertragsmäßige Verpflichtung des
Eiſenbahnperſonales, die Dienſtpflicht des Gefangenaufſehers,
die Amtspflicht des Beamten uſw.);


b) in der vorhergegangenen Uebernahme oder An-
maßung der Herrſchaft über den Ablauf der Kau-
ſalitätsreihe,
ſo daß das ſpätere „Unterlaſſen“ als Auf-
geben dieſer Herrſchaft, als ein Fahrenlaſſen der ergriffenen
Zügel erſcheint.4 Die gewöhnlichen Beiſpiele: der gute
Schwimmer A hat den ſchlechten Schwimmer B durch das
Verſprechen eventueller Hülfeleiſtung zu einer Schwimmpartie
beſtimmt; in dem Augenblicke als B’s Kräfte nachlaſſen, faßt
A den Tötungsvorſatz, und läßt B unterſinken. Oder:
der Kutſcher läßt die Pferde über den im Wege liegenden
Betrunkenen hinweg gehen.


Alle dieſe Fälle — Gruppe I und Gruppe II a und b
— ſind ihrem innerſten Weſen nach gleich; ſcheinbar „Un-
terlaſſungen“ ſind ſie in Wahrheit Handlungen. Ihr Unter-
ſchied liegt einzig und allein in dem verſchiedenen Grunde
der Verpflichtung zu einem ganz beſtimmten Handeln. Sie
wären kauſal auch ohne die Pflicht; aber ſie wären für den
Kriminaliſten dann nicht ſtrafbare Unterlaſſungen, ſon-
dern rechtlich indifferente Handlungen.


III. Eine nach dem Geſagten ſelbſtverſtändliche Konſe-
[83]Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.
quenz ſei ausdrücklich betont: Im Augenblicke des Unter-
laſſens, d. h. in dem Augenblicke, in welchem das beſtimmte
Thun vorzunehmen war, muß Schuld — d. h. Zurechnungs-
fähigkeit einerſeits, Vorſatz oder Fahrläſſigkeit andrerſeits —
vorgelegen haben. Zurückbeziehung auf einen früheren Zeit-
punkt iſt hier wie überall unbedingt unzuläſſig.


III. Das Verbrechen als rechtswidrige Handlung.


§. 22.
Die Ausſchließungsgründe der Rechtswidrigkeit
im allgemeinen.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt rechtswidrige
Handlung;
genauer: willkürliche Körperbewegung mit rechts-
widrigem Erfolge. Die Handlung führt herbei oder ver-
hindert, was die Norm vermieden oder bewirkt wiſſen will.
Der Erfolg muß alſo der Norm widerſprechen.


Die Norm iſt aber eine Regel mit Ausnahmen. Sie
verlangt nicht unbedingt und in allen Fällen Gehorſam, ſon-
dern verzichtet unter gewiſſen Vorausſetzungen auf ihre bin-
dende Kraft und hört damit, da ein nicht imperativer Im-
perativ nicht denkbar iſt, auf, Norm zu ſein. Der Erfolg
darf mithin nicht einer Ausnahme von der Herrſchaft der
Norm entſprechen.


Solche Ausnahmen ſind im modernen Rechte meiſt aus-
drücklich, hie und da aber auch — leider — ſtillſchweigend
ausgeſprochen. Sie finden ſich teils im Strafgeſetzbuch
ſelbſt, teils auf anderen Rechtsgebieten.


Das StGB. behandelt die Lehre von der Normwidrig-
keit ohne jede innere Folgerichtigkeit. Es hebt bei einer ein-
[84]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
zelnen ſtrafbaren Handlung (Beleidigung §. 193) eine ganze
Reihe von Umſtänden ausdrücklich hervor, die nicht nur hier,
ſondern überall die Rechtswidrigkeit ausſchließen; es nimmt
bei einer Anzahl von ſtrafbaren Handlungen das Merkmal
der Rechtswidrigkeit in den beſonderen Thatbeſtand auf, um
damit bei dieſen (und nur bei dieſen) Delikten das Bewußt-
ſein der Rechtswidrigkeit als zum Vorſatze weſentlich zu be-
zeichnen (vgl. unten §. 28 II); es regelt endlich in ſeinem
allgemeinen Teile die Behandlung der Notwehr und des
Notſtandes, durch deren Vorliegen die Rechtswidrigkeit
des in Frage ſtehenden Thuns ausgeſchloſſen wird.


Ohne Rechtswidrigkeit des Handelns kann weder von De-
likt noch von Verbrechen die Rede ſein. Es iſt daher ſtraf-
bare Teilnahme an einer ſolchen Handlung nicht möglich
(vgl. unten 35 II), während allerdings dritte Perſonen,
welchen gegenüber die Gründe für die Ausſchließung nicht
zutreffen, durch ihre Beteiligung ſich (als Thäter) eines
ſtrafbaren Thuns ſchuldig machen können. Wohl aber iſt die
an ſich nicht rechtswidrige Handlung, ſobald ſie über das
eng umgrenzte Gebiet der ausnahmsweiſen Nichtherrſchaft der
Norm hinausgreift, bezüglich dieſes Uebermaßes (ſoweit das-
ſelbe ausgeſchieden werden kann) den allgemeinen Regeln
unterworfen. Auch ſteht die irrige Subſumption der That
unter eine der Ausnahmen der irrigen Nichtſubſumption
unter die Regel juriſtiſch durchaus gleich. (Vgl. unten
§. 35 II 3).


II. Unter den nicht im StGB. ſelbſt enthaltenen Aus-
nahmen von der regelmäßigen Herrſchaft der Normen ſind
(abgeſehen von den bereits oben §. 14 I beſprochenen Fällen)
die folgenden von größerer Wichtigkeit.


1. Pflichtgemäße Ausübung eines öffentlichen
[85]Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.
Amtes ſchließt die Rechtswidrigkeit des Thuns aus. Man
denke an Hausdurchſuchungen, Beſchlagnahme, Verhaftungen,
Vollſtreckung von rechtskräftig erkannten Strafen uſw. Jede
Ueberſchreitung der Amtsbefugniſſe dagegen macht die Hand-
lung bezüglich dieſes Uebermaßes zu einer rechtswidrigen.


Da blinder Gehorſam gegenüber Befehlen des Vorge-
ſetzten, von ausdrücklichen geſetzlichen Anordnungen (z. B.
Mil. StGB. §. 47) abgeſehen, in der Amtspflicht nicht be-
gründet iſt, ſo wird durch ſolchen Gehorſam an dem rechts-
widrigen Charakter der Handlung nichts geändert.


2. Die Handlung iſt keine rechtswidrige, wenn ſie kraft
einer beſonderen Berechtigung und innerhalb der Grenzen
derſelben vorgenommen wurde. Die verſchiedenſten Fälle ge-
hören hieher. Zu erwähnen ſind:


a) Erlaubte Selbſthülfe. Ueber die deutſchrechtliche
Privatpfändung vgl. die bei Windſcheid §. 123 Note 7
angeführte Litteratur.


b)Erziehungs- und Disziplinargewalt; ſoweit
eine ſolche den Eltern gegenüber den Kindern, dem
Lehrer gegenüber ſeinen Schülern (vgl. RGR. 14. April
1880, R I 593, E II 10),1 dem Lehrherrn gegenüber dem
Lehrling (Gewerbe-Ordnung vom 21. Juni 1869 §. 119),
dem Schiffer gegenüber der Bemannung des Schiffes (See-
mannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 79 Abſ. 2), dem
Ehemanne etwa nach Landesrecht2 gegenüber der Ehefrau
(München 17. April 1875), der Kirche gegenüber ihren An-
gehörigen, der Dienſtherrſchaft gegenüber dem Geſinde3 uſw.
eingeräumt iſt. Zu beachten iſt, daß die Ausübung dieſes
[86]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
Rechtes, dauernd oder vorübergehend, von dem Berechtigten
dritten Perſonen (von den Eltern dem Dienſtmädchen) über-
tragen, daß ferner in manchen Fällen (Züchtigung eines
mutwilligen Knaben durch beläſtigte Vorbeigehende) die Zu-
ſtimmung des Berechtigten vorausgeſetzt werden kann.


c) Die in der StPO. §. 127 ausgeſprochene Ermächti-
gung zur vorläufigen Feſtnahme eines auf friſcher That
betroffenen oder verfolgten Verbrechers.


d) Die aus der geſetzmäßigen Ausübung eines öffent-
lichen Berufes
ſich ergebende Berechtigung zu Vornahme der-
jenigen Handlungen, welche nach den Regeln der betreffenden
Kunſt oder Wiſſenſchaft im konkreten Falle geboten ſind.
Nach dieſem Geſichtspunkte ſind chirurgiſche Operationen
überhaupt, iſt insbeſ. die vielbeſprochene Perforation4 (Zerſtück-
lung der Frucht im Mutterleibe) zu beurteilen. Doch wäre
gerade für dieſe Fälle geſetzliche Abgrenzung die Berechtigung
dringend wünſchenswert.


3. Die von dem Träger eines Rechtsgutes gegebene
Einwilligung zur Verletzung desſelben ſchließt die Rechts-
widrigkeit der Verletzung nur dann und nur ſoweit aus,
wenn und ſoweit die öffentliche Rechtsordnung dem Träger
des Rechtsgutes die Dispoſition über dasſelbe eingeräumt
hat.5 Sie wird die Dispoſition verſagen, wenn ſie dem
betreffenden Rechtsgute eine über die Perſon ſeines Trägers
hinausreichende Bedeutung beilegt. Ob ſie es gethan, iſt
aus dem ganzen Zuſammenhange der geſetzlichen Beſtim-
mungen, nicht nur aus den Verbrechens-Definitionen zu ent-
nehmen. So bleibt die Tötung, auch wenn der Getötete
[87]Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.
ſie ernſtlich und ausdrücklich verlangt hat, rechtswidrige wenn
auch milder beſtrafte Handlung (StGB. §. 216), während
Beleidigung, Verletzung der weiblichen Geſchlechtsehre, Be-
ſchränkung der perſönlichen Freiheit, Eingriffe in fremde
Vermögensrechte uſw. (unter gewiſſen Vorausſetzungen) durch
die Einwilligung des Verletzten den deliktiſchen Charakter
verlieren. Der Satz volenti non fit injuria, abgeleitet von
l. 1 §. 5 Dig. 47, 10 iſt in dieſer Allgemeinheit nach römi-
ſchem wie nach heutigem Rechte unrichtig.


4. Die von dem Träger eines Rechtsgutes ſelbſt
vorgenommene Verletzung desſelben
6 ſollte principiell
ebenſo beurteilt werden, wie die mit Einwilligung des Ver-
letzten von einem Dritten ausgehende Handlung. Doch hat
das poſitive Recht, von ſekundären Geſichtspunkten geleitet,
die Grenzlinie dort vielfach anders beſtimmt als hier. Bei-
ſpiele bietet die im modernen Rechte ziemlich allgemein an-
genommene Beurteilung des Selbſtmordes, der Selbſtbe-
fleckung, Selbſtkaſtration uſw. Die Selbſtverſtümmlung iſt
nur ausnahmsweiſe (StGB. §. 142 Vereitlung der Wehr-
pflichterfüllung) als Delikt behandelt.


5. Soweit das poſitive Recht eine totale oder par-
tielle Rechtloſigkeit
kennt, ebenſoweit ſchließt dieſe die
Rechtswidrigkeit aller oder gewiſſer Verletzungen aus. Dem
heutigen Rechte iſt eine ſolche Auffaſſung völlig fremd. Die
unbefugte Tötung des zum Tode verurteilten Verbrechers
unterliegt den allgemeinen Regeln. Anders dachte das ältere
Recht: man erinnere ſich an die römiſche sacratio capitis,
die germaniſche Friedloſigkeit, die Oberacht des mittelalter-
lich deutſchen Rechtes; an die Rechtloſigkeit der Zigeuner
[88]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
nach zahlreichen Reichsgeſetzen des 16. Jahrhunderts,7 die
Ehrloſigkeit der Gottesläſterer nach den Reichspolizeiord-
nungen von 1548 und 1577 uſw.


§. 23.
Die Notwehr.1

I. Notwehr iſt die zur Abwehr eines gegenwärti-
gen rechtswidrigen Angriffes erforderliche Vertei-
digung durch Verletzung des Angreifers
. Sie iſt
Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterverletzung; Aufrechthaltung
der bedrohten Rechtsordnung durch den oder die einzelnen
Staatsbürger, Die Notwehrhandlung iſt zu allen Zeiten
und bei allen Völkern, wenn auch in verſchiedenem Umfange,
als eine nicht nur nicht ſtrafbare, ſondern als eine nicht
rechtswidrige Rechtsgüterverletzung anerkannt worden; die
Rechtsordnung hat von jeher — in entwickelteren Rechten
durch ausdrückliche Anordnung — die von dem Einzelnen
ausgehende Abwehr des unmittelbar drohenden Unrechtes in
der Geſtalt der Notwehr ſanktionirt. Auf dieſer ſtaat-
lichen Sanktion
und nicht etwa auf einem „angeborenen“
Rechte (Cicero: non scripta sed nata lex) beruht die
Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung.


II.Begriffsmerkmale (StGB. §. 53).


1. Der Angriff muß


  • a) ein rechtswidriger, d. h. nicht berechtigter (vgl.
    oben §. 22) ſein. Daher iſt Notwehr nicht möglich
    [89]Die Notwehr. §. 23.
    gegenüber dem in rechtmäßiger Amtsausübung be-
    findlichen Beamten, gegenüber der Handhabung eines
    Disziplinarrechtes uſw.; nicht möglich gegenüber der
    Notwehrhandlung ſelbſt oder der Notſtandshandlung
    (vgl. unten §. 24 III). Wohl aber wird ſie in dem
    Augenblicke berechtigt, in welchem eine Ueberſchreitung
    den an ſich rechtmäßigen Angriff zu einem rechts-
    widrigen macht, alſo auch gegenüber einem Exceſſe der
    Notwehr. Auch gegen den von einem Tiere oder
    oder einem Zurechnungsunfähigen ausgehenden Angriff
    iſt Notwehr möglich;2 denn dieſer Angriff kann zwar
    kein deliktiſcher (ſchuldhafte Rechtswidrigkeit) wohl
    aber ein nicht berechtigter (objektive Rechtswidrigkeit)
    ſein. Die entgegengeſetzte Anſicht würde die Vertei-
    digung in einem ſolchen Falle auf gegen Leib und
    Leben (StGB. §. 54) gerichtete Angriffe einſchränken
    müſſen.
    Ob der Angriff ein vorhergeſehener war oder
    nicht, ob er von dem Angegriffenen verſchuldet
    worden oder nicht, iſt nach dem heutigen Rechte irre-
    levant.
    3
  • b) Der Angriff muß ferner ein gegenwärtiger ſein,
    d. h. unmittelbar bevorſtehen oder bereits begonnen
    haben. Es braucht daher einerſeits der Beginn des An-
    griffes nicht abgewartet zu werden, während andrerſeits
    auch der bereits begonnene aber noch fortgeſetzte
    [90]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
    Angriff abgewehrt werden kann. Ausgeſchloſſen iſt
    Notwehr dagegen
    • α) gegenüber einem erſt in der Zukunft drohen-
      den
      Angriffe. Schutzmaßregeln gegen künftige
      Verletzungen, wie Fußangeln, Selbſtgeſchoſſe,
      Wolfsgräben, ſind, wenn ſie erſt im Augenblicke
      des Angriffes funktioniren ſollen, geſtattet, ſoweit
      ſie nicht (was allerdings meiſt der Fall ſein wird)
      die Grenzen der erforderlichen Verteidi-
      gung
      überſchreiten.4
    • β) Gegenüber dem beendeten Angriffe. Da der
      Diebſtahl nicht ſchon mit der Ergreifung der
      Sache ſondern erſt mit dem Bruche des Gewahr-
      ſams vollendet wird, iſt Notwehr gegen den
      flüchtigen Dieb (aber ex continenti non ex inter-
      vallo l. 3 §. 9 Dig.
      43, 16) allerdings unter
      Umſtänden zuläſſig.5
  • c) Der Angriff muß gegen irgend ein Rechtsgut, d. h.
    gegen ein rechtlich geſchütztes Intereſſe gerichtet ſein.
    Das Geſetz macht unter den Rechtsgütern keinen Unter-
    ſchied. Auch zum Schutze politiſcher Rechtsgüter iſt
    Notwehr zuläſſig.

2. Die Verteidigung darf


  • a) die Grenzen des unbedingt Notwendigen nicht über-
    ſchreiten. Das Maß der „erforderlichen“ Verteidigung
    liegt in der Intenſität des Angriffes.6 Iſt die Ab-
    wehr des Angriffes auf andere Weiſe nicht möglich,
    [91]Die Notwehr. §. 23.
    ſo kann auch das unbedeutendſte Rechtsgut durch Tötung
    des Angreifers geſchützt werden.7 Die Anſicht, nach
    welcher die Möglichkeit einer unſchimpflichen Flucht,
    des Anrufens fremder Hülfe uſw. die Rechtmäßigkeit
    der Notwehrhandlung ausſchließen ſoll, kann als eine
    heute allgemein aufgegebene bezeichnet werden.
  • b) Die Notwehr iſt nicht nur zum Schutze eigener, ſon-
    dern als Nothülfe auch zum Schutze fremder Rechts-
    güter geſtattet. Die Beſchränkung auf eine Bedrohung
    der „Angehörigen“ (wie beim Notſtande StGB.
    §§. 52 u. 54) iſt hier unſerem Rechte fremd.

III. Sobald die Grenzen der erforderlichen Verteidigung
überſchritten ſind, unterliegt die weitere Verteidigung als
rechtswidrige Rechtsgüterverletzung den allgemeinen Re-
geln. Doch bleibt nach §. 53 StGB. die durch Beſtür-
zung, Furcht oder Schrecken
herbeigeführte Ueberſchrei-
tung ſtraflos; es liegt hier zwar eine objektiv ſtrafbare Hand-
lung, zugleich aber auch ein ſubjektiver Strafausſchließungs-
grund (unten §. 30 III 3) vor.


Die irrige Annahme der Notwehr iſt als irrige Sub-
ſumption der That unter eine Ausnahme von der Herrſchaft
der Norm nach den allgemeinen Grundſätzen (vgl. unten
§. 28 II) zu beurteilen. Dasſelbe gilt von dem Eintritte
des Erfolges bei einem anderen als dem vorgeſtellten Objekte
(aberratio ictus oder error in objecto; vgl. unten
§. 28 V).8


[92]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
§. 24.
Der Notſtand.1

I. Notſtand iſt — wenn wir vorläufig von den Beſchrän-
kungen des Begriffes durch das poſitive Recht abſehen —
ein Zuſtand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es
keine andere Rettung giebt, als die Uebertretung
einer Norm;
mag dieſer Zuſtand durch Naturkräfte, mag
er durch den Angriff eines Dritten herbeigeführt worden
ſein. Beiſpiele: Um das Waſſer zum Löſchen eines ausge-
brochenen Brandes zu holen, eilen die Bedrohten quer über
ein fremdes Saatfeld zum Fluſſe; der von Räubern über-
fallene Poſtillon liefert dieſen den Geldbriefbeutel aus; von
zwei durch ein Seil verbundenen Bergſteigern hackt der eine,
der den abgeſtürzten aber noch am Seile hängenden Be-
gleiter nicht länger zu halten vermag, das Seil ab uſw.


Wie die Notwehr, ſo iſt auch die Notſtandshandlung
Rechtsgüterverletzung zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes;
aber dort gerichtet gegen den Angreifenden, hier gegen einen
unbeteiligten Dritten; dort Kampf für das Recht gegen das
Unrecht, hier Kampf für das eigene Intereſſe gegen fremde
gleichberechtigte, aber im Einzelfalle kollidierende Intereſſen.


II. Den theoretiſchen Begriff des Notſtandes hat die
Reichsgeſetzgebung vielfach — und nur zum Teile mit Recht
— eingeengt.


1. Zunächſt hat das poſitive Recht in durchaus unge-
rechtfertigter Weiſe den einheitlichen Begriff des Notſtandes
zerriſſen in Nötigung (StGB. §. 52 „durch unwiderſteh-
[93]Der Notſtand. §. 24.
liche Gewalt2 oder Drohung“) und in den eigentlichen Not-
ſtand
(StGB. §. 54).


2. Das Geſetz verlangt ferner in beiden Fällen gegen-
wärtige, auf andere Weiſe nicht abwendbare Gefahr für
Leib oder Leben, verſagt alſo bei Gefahr für alle an-
deren Rechtsgüter (z. B. auch für die perſönliche Freiheit,
deren Beſchränkung doch gewiß von größerer Bedeutung iſt
als eine geringfügige Körperverletzung) dem Notſtande ſeine
Anerkennung. Doch iſt (ein dem Notſtand verwandter Fall)
beabſichtigter Eigentumsſchutz bei der Herbeiführung einer
Ueberſchwemmung (StGB. §. 213) Strafmilderungsgrund.


3. Nur zur eigenen Rettung und zur Rettung der
nächſten Angehörigen (aufgezählt ſind dieſelben im 2. Abſ.
§. 52) wird die Notſtandshandlung geſtattet.


4. Es muß endlich der Notſtand im engeren Sinne
(StGB. §. 54) ein unverſchuldeter, d. h. ein nicht von
dem Gefährdeten ſelbſt vorſätzlicher oder fahrläſſiger Weiſe
herbeigeführter ſein.


III. Der Notſtand (im Sinne der unter II beſprochenen
geſetzlichen Beſtimmungen) ſchließt die Rechtswidrigkeit,
nicht bloß die Strafbarkeit, der zur Rettung aus demſelben
unternommenen Handlung aus. Das Recht verzichtet auf
die Befolgung ſeiner Normen,
weil es unter den ge-
gebenen Umſtänden auf ihre Befolgung ohnehin nicht rechnen
kann und die Beſtrafung daher keinen Zweck hätte.3 Eine
Norm aber ohne imperative Kraft iſt keine Norm. Das
Recht verzichtet jedoch auf die bindende Kraft ſeiner Impe-
[94]Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
rative jenen Perſonen gegenüber nicht, deren Beruf größere
als die durchſchnittliche Standhaftigkeit in Leibes- und Le-
bensgefahr bedingt; dem Soldaten (Milit.StGB. §. 49
Abſ. 1 vgl. mit §§. 84—88), dem Schiffsmann (See-
mannsordnung von 1872 §. 32) iſt die Berufung auf den
Notſtand ausdrücklich abgeſchnitten.


Iſt aber einmal Notſtand gegeben, dann beſteht kein
weiterer Unterſchied innerhalb der Notſtandshandlungen; der
Satz, daß nur das höhere Recht auf Koſten des niederen
ſich erhalten dürfe, iſt aus den Motiven nicht in das Geſetz
übergegangen.


IV. Die §§. 52 und 54 StGB. ſind die einzigen Quellen
für die ſtrafrechtliche Behandlung des Notſtandes. Die
Spezialbeſtimmungen des Handelsgeſetzbuchs (A. 702 und
708 über die große Haverei) und der Seemannsordnung
(§. 75) haben keine über das Gebiet dieſer Geſetze hinaus-
reichende Geltung. Auch die Anordnungen des römiſchen
Rechtes4 oder partikularer Civilgeſetze ſind für das Straf-
recht ohne Bedeutung. Ihre analoge Anwendung5 iſt ſchon
darum unmöglich, weil Analogie die Ausfüllung einer Lücke,
nicht aber Beſeitigung eines Widerſpruches in dem Syſteme
des Rechts zur Aufgabe hat.


V. Der Nötiger (StGB. §. 52) iſt nach den ſpäter
(vgl. unten §. 36 I) zu beſprechenden Grundſätzen eventuell
als Urheber der von dem Genötigten vorgenommenen Rechts-
verletzung zu betrachten.


[95]Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.

IV. Das Uerbrechen als ſchuldhafte rechtswidrige
Handlung.


1. Die Vorausſetzung der Schuld.

§. 25.
Die Zurechnungsfähigkeit.1

I. Zurechnungsfähigkeit iſt ſtrafrechtliche Handlungs-
fähigkeit
.2 Handlungsfähigkeit aber im juriſtiſchen Sinne iſt
die Fähigkeit, juriſtiſch relevante Handlungen3 vorzunehmen,
d. h. ſolche Handlungen, an welche als Thatbeſtand das objektive
Recht den Eintritt von Rechtsfolgen knüpft. Mithin iſt Zu-
rechnungsfähigkeit die Fähigkeit, ſtrafrechtlich relevante, d. h.
den Eintritt der Straffolge nach ſich ziehende Handlungen
vorzunehmen; die Fähigkeit alſo, ſtrafrechtlich verant-
wortlich gemacht zu werden
.


Die Zurechnungsfähigkeit beſteht aus einer Summe von
elementaren Fähigkeiten.4 Sie ſetzt voraus Selbſtbewußtſein
und Bewußtſein der Außenwelt; Einſicht in die Stellung
des Ich zu dieſer überhaupt und zur Rechtswelt insbeſon-
dere; Kenntnis des Kauſalgeſetzes; eine Summe von ethi-
ſchen, religiöſen und rechtlichen Vorſtellungen uſw. Sie iſt
der allmählich in der Schule des Lebens erworbene normale
geiſtige Beſitz des geiſtig reifen und geiſtig geſunden
Menſchen.5 Sie fehlt dem geiſtig unreifen; ſei es, daß
die Entwicklung noch nicht abgeſchloſſen iſt, ſei es, daß
[96]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
gehemmte Entwicklung vorliegt; ſie fehlt dem geiſtig kranken
Individuum, mag es ſich um vorübergehende Stö-
rungen oder länger dauernde Erkrankungen oder end-
lich um den Verfall (Degenerationszuſtände) der Pſyche
handeln.


Die Zurechnungsfähigkeit ſetzt normales Zuſammen-
wirken der pſychiſchen Funktionen voraus; alſo nicht bloß
normale Zahl und Klarheit der Vorſtellungen, ſondern auch
normales Betonungsverhältnis der Vorſtellungen unter-
einander, ſo daß ſie ausgeſchloſſen werden kann durch anormale
Betonung einer einzelnen Vorſtellung (Zwangsvorſtellung).
Sie iſt mit andern Worten nicht nur ein Kennen (Wiſſen),
ſondern auch ein Können6 (Wollen).


Wie die geiſtige Reife auf den verſchiedenen Gebieten
des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit demſelben Augen-
blicke eintritt, ſondern hier längere dort kürzere Entwicklung
vorangehen muß, ſo wird auch die rechtliche Handlungsfähig-
keit auf den verſchiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches
Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B.
Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in demſelben
Lebensſtadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete
des Strafrechtes bei demſelben Individuum in demſelben
Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange-
nommen werden müſſen, je nachdem dieſe oder jene Gruppe
von ſtrafbaren Handlungen in Frage ſteht (man denke an
Tötung einerſeits, politiſche Delikte andrerſeits).


II. Die Reichsſtrafgeſetzgebung hat davon abge-
[97]Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.
ſehen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit feſtzuſtellen;
ſie hat die Löſung dieſer Aufgabe den Bemühungen der ju-
riſtiſchen und pſychologiſchen Wiſſenſchaft überlaſſen und
ſich damit begnügt, dieſer und der Praxis einzelne leitende
Geſichtspunkte an die Hand zu geben. Sie erſchöpft den
Begriff der Zurechnungsfähigkeit nicht und will ihn nicht
erſchöpfen, wenn ſie hier (StGB. §. 51) die „freie Willens-
beſtimmung“ und dort (StGB. §§. 56—58) die „zur Er-
kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einſicht“ hervorhebt.
Sie konnte das um ſo leichter thun, als Zurechnungsfähig-
keit der normale Zuſtand iſt.


III.Innerhalb der Zurechnungsfähigkeit, alſo
nach Ausſchluß des ganzen Gebietes der Zurechnungsunfähig-
keit, ſind unendliche Abſtufungen, wie innerhalb der
körperlichen Geſundheit, von dem eben noch hinreichenden
Minimum bis zur höchſten erreichbaren Vollkommenheit mög-
lich. Es fragt ſich nun: ſoll der Geſetzgeber dieſe Abſtu-
fungen berückſichtigen, wenn er die Straffolgen an den ſtraf-
baren Thatbeſtand anknüpft? Das Minimum liegt ja tief
unter dem Durchſchnittsmaße der geiſtigen Befähigung, und
dieſes noch viel tiefer unter dem Maximum; ſoll der Geſetz-
geber vielleicht einen doppelten Strafrahmen aufſtellen, den
einen für die unterdurchſchnittliche, den anderen für die
überdurchſchnittliche Zurechnungsfähigkeit? Man hat die
Frage verwirrt, indem man die über das Minimum ſich er-
hebende, aber unter dem Durchſchnittsniveau zurückbleibende
Zurechnungsfähigkeit als verminderte Zurechnungsfähigkeit7
bezeichnete, und dadurch vielfach den Glauben erweckte, als
handle es ſich um einen Geiſteszuſtand, der weniger ſei als
von Liszt, Strafrecht. 7
[98]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Zurechnungsfähigkeit. Gegen die Bejahung der aufgeworfenen
Frage ſpricht die Weite der Strafrahmen der deutſchen
Strafgeſetze, insbeſondere ihr äußerſt geringes Minimum;
für dieſelbe aber die auf dieſem Felde noch weit verbreitete
und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine geſetzliche Regelung
der Frage dringend wünſchenswert macht. In einem Falle
— bezüglich der jugendlichen Thäter (StGB. §. 57) —
hat übrigens das StGB. ſelbſt der „verminderten“ Zurech-
nungsfähigkeit Rechnung getragen.


IV. Die Zurechnungsfähigkeit iſt Vorausſetzung der Schuld.
Sie muß, wie alle relevanten Umſtände, von Amtswegen
feſtgeſtellt werden. Ausdrücklicher Feſtſtellung im Urteile
bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor-
handenſein im Laufe der Verhandlung beſtritten worden war.
Eine Ausnahme von dieſer Regel tritt nur ein, wenn es ſich
um einen jugendlichen oder taubſtummen Thäter handelt:
hier muß — eventuell durch eine an die Geſchworenen ge-
richtete Nebenfrage — in allen Fällen poſitiv feſtgeſtellt
werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er-
kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einſicht beſeſſen
habe.8


V. Die Zurechnungsfähigkeit muß bei Begehung der
That vorhanden geweſen ſein. Später eintretende Zurech-
nungsunfähigkeit kann nur prozeſſuale Folgen nach ſich
ziehen. Maßgebend iſt dabei (vgl. oben §. 19 III 1) jener
Augenblick, in welchem die den Naturkauſalismus in Bewe-
gung ſetzende körperliche Bewegung ſelbſt vorgenommen
wurde; irrelevant der Geiſteszuſtand des Thäters in dem
Augenblicke, in welchem der Kauſalismus das angegriffene
[99]Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.
Objekt trifft oder der Erfolg eintritt. Wer einen Brunnen
vergiftet und dann ſich berauſcht, iſt verantwortlich, wenn,
während er ſich im Zuſtande der Volltrunkenheit befindet,
die von ihm in Ausſicht genommenen Perſonen aus dem
vergifteten Brunnen trinken. Wer einen Wahnſinnigen zu
einem Verbrechen beſtimmt, hat im Zuſtande der Zurech-
nungsfähigkeit gehandelt, wenn auch der Wahnſinnige das
Verbrechen ausführt, während der geiſtige Urheber der That
im tiefſten Schlafe liegt.


Wir haben nur dieſe allgemeine Regel konſequent zur
Anwendung zu bringen, um die berühmte Schulſtreitfrage
nach der Beurteilung der ſog. actiones liberae in causa
zu entſcheiden.9 Sie liegen vor, wenn ein im Zuſtande der
Zurechnungsunfähigkeit geſetztes Thun veranlaßt wurde durch
einen im Zuſtande der Zurechnungsfähigkeit gefaßten Ent-
ſchluß oder eine in dieſem Zuſtande begangene Fahrläſſigkeit.
Beiſpiele: der Eiſenbahnwächter betrinkt ſich, um beim Heran-
nahen des Eilzuges die Weichen nicht zu ſtellen; die Mutter,
die wiſſen ſollte, daß ſie im Schlafe ſich unruhig hin und
her wirft, hat fahrläſſiger Weiſe ihr Kind zu ſich ins Bett
genommen und erdrückt. Wenn wir daran feſthalten, daß
auch die menſchliche That (bezüglich des Zurechnungsun-
fähigen wird dies ja allgemein zugegeben) unter dem Kau-
ſalitätsgeſetze ſteht, ſo iſt in dieſen Fällen im entſcheidenden
Augenblicke — und das iſt jener, in welchem der Anſtoß
zum Abrollen des Kauſalismus gegeben wurde — Zurech-
nungsfähigkeit vorhanden geweſen. Im nüchternen Zuſtande
hat der Wächter, wachend die Mutter die Urſache zu dem
[100]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
eingetretenen Erfolge geſetzt. Liegt nun außerdem der Kau-
ſalzuſammenhang ſelbſt und auf der ſubjektiven Seite wirk-
lich Vorſatz (vgl. unten §. 28 IV) oder Fahrläſſigkeit vor,
ſo ſteht der Zurechnung des Erfolges zur Schuld nichts im
Wege.10


VI. Da die Zurechnungsfähigkeit eine Art der Hand-
lungsfähigkeit
iſt, ſo kann nur der Menſch Subjekt
eines Deliktes ſein.11 Und zwar nach poſitivem Rechte nur
das Einzelindividuum, nicht aber die Kollektivper-
ſönlichkeit
. Societas delinquere non potest. Immer können
nur die einzelnen handelnden Vertreter, nicht aber der ver-
tretene Geſammtkörper zur Verantwortung gezogen werden.
Die nach den ſtrafrechtlichen Nebengeſetzen des Reiches auch
den Kollektivperſönlichkeiten vielfach auferlegte ſubſidiäre
Haftung für die zunächſt den Schuldigen treffenden Geld-
ſtrafen (vgl. unten §. 42 III 2) iſt keine Strafe, wenn
ſie auch in ihren Wirkungen einer ſolchen durchaus gleich-
kommt.


Dabei ſei jedoch ausdrücklich betont, daß die Beſtrafung
„juriſtiſcher Perſonen“ nicht nur rechtlich möglich,12 ſondern
auch innerhalb gewiſſer Grenzen nach dem von der engliſch-
amerikaniſchen Praxis gegebenen Beiſpiele de lege ferenda
[101]Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit. §. 26.
empfehlenswert wäre. Sie iſt rechtlich möglich: Denn
einmal ſind die Vorausſetzungen für die Handlungsfähigkeit
der Kollektivperſönlichkeit auf dem Gebiete des Strafrechtes
prinzipiell keine anderen als auf jenem des Civilrechtes13
oder (was regelmäßig überſehen wird) auf dem des öffent-
lichen Rechtes (wer Verträge ſchließen kann, der kann auch
betrügeriſche oder wucheriſche Verträge ſchließen, oder die
geſchloſſenen Lieferungsverträge — StGB. §. 329! — nicht
halten),14 und andrerſeits iſt die Kollektivperſönlichkeit auch
Trägerin von Rechtsgütern (Vermögensrechte, Exiſtenz), die
ſtrafweiſe geſchmälert oder vernichtet werden können. Und
ſie iſt empfehlenswert, da es den Grundſätzen des Straf-
rechtes widerſpricht, das Organ fremden Willens mit der
vollen und ausſchließlichen Verantwortlichkeit zu belegen.


§. 26.
Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit.

Die Zurechnungsfähigkeit, als der normale Geiſteszuſtand
des geiſtig reifen und geiſtig geſunden menſchlichen Indivi-
duums, iſt nicht vorhanden:


I.bei fehlender geiſtiger Reife.


Dieſe kann wieder eine doppelte Urſache haben:


[102]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.

1. Noch nicht abgeſchloſſene Entwicklung, Straf-
unmündigkeit des Thäters.1


Während das franzöſiſche Recht und ihm folgend Preußen
(StGB. 1851) und Baiern (StGB. 1861) eine einzige ſtraf-
rechtlich relevante Altersgrenze (16 Jahre) aufſtellten, um
unterhalb derſelben Prüfung der Zurechnungsfähigkeit in jedem
einzelnen Falle, oberhalb derſelben aber volle Zurechnung
eintreten zu laſſen, hat das RStGB.,2 im Anſchluſſe an die
das römiſch-kanoniſche und gemein-deutſche Recht beherr-
ſchenden Grundſätze, eine doppelte Altersgrenze gezogen.


  • a) Kindheit; bis zum vollendeten 12. Jahre (StGB.
    §. 55). Unbedingte und ausnahmsloſe Zurechnungs-
    unfähigkeit. Infolge dieſes Grundſatzes Ausſchluß
    jeder ſtrafgerichtlichen Unterſuchung. Als polizeiliche
    Maßregel iſt die Unterbringung in eine Erziehungs-
    oder Beſſerungsanſtalt zugelaſſen, wenn die Vormund-
    ſchaftsbehörde die Begehung einer ſtrafbaren Hand-
    lung feſtgeſtellt und die Unterbringung für zuläſſig er-
    klärt hat. Die Aufſichtsperſonen können nach StGB.
    §. 361 Nr. 9 wegen unterlaſſener Aufſicht, oder nach
    dem unten §. 36 I zu beſprechenden Grundſatze als
    Selbſtthäter, nie aber als Teilnehmer (da ein Delikt
    nicht vorliegt) zur Verantwortung gezogen werden.3
  • b) Jugendliches Alter vom vollendeten 12. bis zum
    vollendeten 18. Lebensjahr. Prüfung der Zurechnungs-
    [103]Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit. §. 26.
    fähigkeit überhaupt, der zur Erkenntnis der Straf-
    barkeit der begangenen That erforderlichen Einſicht ins-
    beſondere
    (die letztere muß poſitiv, eventuell durch die
    Geſchworenen — StPO. §. 298 — feſtgeſtellt werden)
    in jedem einzelnen Falle.
    • α) Fehlt die Fähigkeit, ſo tritt Freiſprechung ein
      (StGB. §. 56). In dem Urteile kann die Unter-
      bringung in eine Erziehungs- oder Beſſerungs-
      anſtalt ausgeſprochen werden. Bezüglich dritter
      Perſonen gilt das oben unter a geſagte.
    • β) Wird die Zurechnungsfähigkeit feſtgeſtellt, ſo tritt
      in Berückſichtigung der „verminderten“ Zurech-
      nungsfähigkeit eine Reduktion der den Erwachſe-
      nen treffenden Strafrahmen ein (StGB. §. 57;
      vgl. unten §. 54 II 2).

Einen ſingulären ſubjektiven Strafausſchließungsgrund
(§. 30 III 3) enthält StGB. §. 173 (Blutſchande) für Ver-
wandte und Verſchwägerte abſteigender Linie unter 18 Jahren.


2. Gehemmte Entwicklung.


Auch hier muß die Zurechnungsfähigkeit überhaupt, die
zur Erkenntnis der Strafbarkeit der begangenen That er-
forderliche Einſicht insbeſondere in jedem einzelnen Falle ge-
prüft und letztere poſitiv feſtgeſtellt werden (StGB. §. 58).
Bei konſtatierter Zurechnungsfähigkeit tritt jedoch eine Re-
duktion der normalen Strafrahmen nicht ein, obwohl ſie
auch hier ohne Zweifel angezeigt wäre.


Wenn auch das Geſetz nur von Taubſtummen aus-
drücklich ſpricht, ſo ſind doch dieſe Beſtimmungen auf alle
Fälle von Entwicklungshemmung gleichmäßig anzuwenden
(man denke an geringeren Cretinismus, an Angehörige wilder
Völkerſtämme, in völliger Abgeſchloſſenheit aufgewachſene
[104]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Menſchen uſw.). Dabei handelt es ſich durchaus nicht um
einen auf dem Wege der Rechtsanalogie gewonnenen neuen
Rechtsſatz, ſondern um eine Konſequenz aus dem von uns
aus den geſetzlichen Beſtimmungen abgeleiteten allgemeinen
Begriff der Zurechnungsfähigkeit.


II.Bei fehlender geiſtiger Geſundheit.4


Die geiſtigen Funktionen des in den Vollbeſitz der geiſti-
gen Reife gelangten Individuums können kürzere oder längere
Zeit gehemmt, geſtört oder allmähliger Vernichtung
entgegengeführt werden. Sowie aber nicht jede Störung
der vollen körperlichen Geſundheit als Krankheit bezeichnet
werden kann, ſo wird auch nicht durch jede Störung in dem
Spiele der geiſtigen Funktionen die Zurechnungsfähigkeit aus-
geſchloſſen; das Minimalmaß, mit dem ſich das Recht über-
haupt begnügen muß, bildet auch hier die untere Grenze.
Darum verlangt StGB. §. 51, auch hier lediglich eine Seite
in dem Inhalte der Zurechnungsfähigkeit beſonders (aber
durchaus nicht ausſchließlich) betonend, einen ſolchen Zuſtand,
durch welchen „die freie Willensbeſtimmung des
Thäters ausgeſchloſſen“ war. Eine erſchöpfende Aufzählung
und entſprechende Bezeichnung dieſer verſchiedenen Hemmungs-,
Störungs- und Degenerationszuſtände konnte bei dem heu-
tigen Stande der Wiſſenſchaft nicht, wollte auch von dem
Geſetze nicht gegeben werden. Die Ausdrücke des §. 51:
„Bewußtloſigkeit“ einerſeits, „krankhafte Störung der Geiſtes-
thätigkeit“ andererſeits, die überhaupt keinen erſchöpfenden
Gegenſatz enthalten, ſind daher nicht zu betonen. Zu jener
werden wir neben Fieberdelirium, Betäubungen, Trunkenheit,
Ohnmachten, epileptiſchen Anfällen uſw. auch Schlaf, Schlaf-
[105]Die Schuld. §. 27.
trunkenheit, Schlafwandel u. dgl., zu dieſen neben den eigent-
lichen Geiſteskrankheiten auch die mehrerwähnten Degenera-
tionszuſtände zu rechnen haben.


Ob Zurechnungsfähigkeit im einzelnen Falle vorliegt oder
nicht, hat auch bei dieſen Fällen der Richter zu entſchei-
den, eventuell unter Zuziehung von Sachverſtändigen, deren
Ausſpruch ihn hier ebenſowenig bindet wie ſonſt.5


2. Die Schuld ſelbſt und ihre Arten.

§. 27.
Die Schuld.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt, ſchuldhafte
normwidrige Handlung. Nicht jede normwidrige Handlung
des Zurechnungsfähigen iſt Delikt; nur unter gewiſſen
Vorausſetzungen
knüpft das objektive Recht die Delikts-
folgen an die normwidrige Handlung. Dieſe ſubjektiven Vor-
ausſetzungen
nun, an deren Vorliegen der Eintritt
der Deliktsfolgen geknüpft iſt
nennen wir Schuld.
Die rechtliche Schuld hat demnach mit der ethiſchen oder reli-
giöſen Schuld nichts als — leider! — den Namen gemein.


Durch dieſe Faſſung des Schuldbegriffes iſt uns zugleich
der Weg gewieſen, auf dem wir zur Erkennntnis ſeines In-
haltes gelangen können. Jede aprioriſtiſche Konſtruktion ver-
meidend, müſſen wir die Vorausſetzungen für den Eintritt
der Deliktsfolgen, alſo die unbeſtrittenen Schuldfälle aus
[106]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
dem poſitiven Rechte kennen zu lernen ſuchen.1 Die augen-
fälligſte Deliktsfolge, die Strafe, dient uns als Führer auf
dieſem Wege. Die Betrachtung lehrt uns, daß jene Vor-
ausſetzungen durch Vorſatz und Fahrläſſigkeit erſchöpft
werden; dieſe ſind die beiden einzigen Schuldarten. Durch
eine Zuſammenfaſſung der beiden Begriffe würde, wenn eine
ſolche möglich wäre, der gemeinſchaftliche höhere Begriff der
Schuld entſtehen. Die genauere Unterſuchung zeigt jedoch
die Unmöglichkeit einer ſolchen Zuſammenfaſſung. Beim
Vorſatz (ſ. unten §. 28 I) liegt das Schuldmoment, d. h.
jener Umſtand, welcher die Deliktsfolgen nach ſich zieht, ledig-
lich in der objektiven Normwidrigkeit der Handlung; bei der
Fahrläſſigkeit dagegen in der pflichtwidrigen Nichtanwen-
dung der anzuwendenden Sorgfalt. Der Vorſatz als ſolcher
iſt noch nicht Schuld, ſondern findet ſich in gleicher Weiſe
bei dem normgemäßen wie bei dem normwidrigen Handeln;
die Fahrläſſigkeit dagegen iſt an ſich ſchon Schuld (wenn
auch nicht immer ſtrafbare Schuld), und iſt auf anderem
Gebiete als dem des normwidrigen Handelns gar nicht denk-
bar. Beide Artbegriffe haben nichts gemein als ihre Wir-
kung; daher kann der Gattungsbegriff auch nur nach dieſer
beſtimmt werden.2


II. Wir haben Vorſatz und Fahrläſſigkeit als die beiden
[107]Die Schuld. §. 27.
einzigen Schuldarten bezeichnet und dieſes Reſultat als ein
aus dem poſitiven Rechte abgeleitetes hingeſtellt. Dieſer Be-
hauptung widerſprechen nicht die zahlreich in den ſtrafrecht-
lichen Nebengeſetzen ſich findenden Präſumptionen der Schuld.3
Denn wenn das objektive Recht bis zu dem Beweiſe des
Gegenteils die Schuld — Vorſatz oder Fahrläſſigkeit — als
erwieſen annimmt, vielleicht auch den Gegenbeweis dem An-
geſchuldigten aufbürdet, ſo anerkennt es ja gerade dadurch,
daß ohne Vorſatz oder Fahrläſſigkeit eine Beſtrafung nicht
eintreten kann und ſoll. Durch die Präſumption einer
Thatſache wird ja gerade deren rechtliche Bedeutung beſon-
ders betont.4


Unſerem Satze, daß Vorſatz und Fahrläſſigkeit die ein-
zigen Schuldarten ſeien und daß es ohne Schuld weder
Delikt noch Verbrechen gebe, widerſprechen auch nicht jene
Anordnungen, welche die Schwere der Strafe für das an
ſich ſchuldhafte Thun
abſtufen nach der Größe des ver-
urſachten Schadens, unabhängig davon, ob gerade in Bezug
auf die Verurſachung dieſes ſchwereren Erfolges Schuld
vorliegt (vgl. unten §. 54 I 3). Denn die beſtrafte Hand-
[108]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
lung iſt auch in dieſen Fällen eine ſchuldhafte; mit anderen
Worten: Verurſachung eines gewiſſen Erfolges ohne Rück-
ſicht auf Schuld in Bezug auf dieſen Erfolg iſt im
Reichsſtrafrecht immer nur Strafſchärfungsgrund, nicht
aber Deliktsmerkmal oder Bedingung der Strafbarkeit.


III. Die Schuld muß, ſei ſie Vorſatz, ſei ſie Fahrläſſig-
keit, im Augenblicke der willkürlichen Körperbewegung vor-
handen ſein. Späterer Eintritt, ſowie ſpäteres Entfallen
der Schuld iſt ohne juriſtiſche Bedeutung. Vgl. das oben
§. 25 V bezüglich der Zurechnungsfähigkeit Geſagte.


IV. Die Erklärung, daß die Handlung eines Zurech-
nungsfähigen auf deſſen Vorſatz oder Fahrläſſigkeit beruhe,
heißt Zurechnung oder Imputation. Die betreffende
Handlung wird als zurechenbar bezeichnet. Es giebt
alſo zurechenbare und nicht zurechenbare Handlungen eines
Handlungsfähigen, während die Handlungen eines Zurech-
nungsunfähigen, ſoweit er überhaupt willkürlicher körperlicher
Bewegungen fähig iſt, nie zurechenbar ſind.


§. 28.
Der Vorſatz.1

I. Vorſatz iſt der Wille (in dem oben §. 17 I ange-
gebenen Sinne) als Urſache einer Handlung im engeren
Sinne (oben §. 19 I) begleitet von der Vorſtellung
der Kauſalität derſelben
; d. h. begleitet von der Vor-
ſtellung jener Veränderungen (oben §. 19 II), welche
die Handlung in der Außenwelt hervorruft, und von der
[109]Der Vorſatz. §. 28.
Vorſtellung, daß dieſe Veränderungen durch die Hand-
lung
hervorgerufen werden würden.2


Der Begriff des Vorſatzes iſt auf dem Gebiete
des normgemäßen und des normwidrigen, des
rechtlich bedeutſamen wie des rechtlich indifferenten
Handelns ein und derſelbe
. Man ſpricht von dem
vorſätzlichen Abſchießen eines Gewehres, mag es ſich um die
Tötung eines Menſchen, um Ausübung des Jagdrechtes oder
lediglich darum handeln, daß die Ladung aus dem Rohre
entfernt werde. Allerdings iſt der Sprachgebrauch kein kon-
ſtanter; Abſicht und Vorſatz werden nebeneinander, der
erſtere Ausdruck noch häufiger gebraucht. Aber dasſelbe
Schwanken zeigt ſich in der Strafgeſetzgebung; auch dieſe
gebraucht neben andern Synonimen für Vorſatz auch das
Wort Abſicht3 (alſo Abſicht = Vorſatz: erſte Bedeutung von
Abſicht).


Nur die objektive Normwidrigkeit der Hand-
lung macht den Vorſatz
zum ſchuldhaften Vorſatz.


II. Daraus ergiebt ſich eine wichtige Konſequenz. Das
Bewußtſein der Normwidrigkeit gehört nicht zum Be-
griffe des Vorſatzes an ſich. Freilich könnte die Geſetzge-
bung durch ausdrückliche oder ſtillſchweigende Anordnung den
Eintritt der Deliktsfolgen bei der vorſätzlichen normübertre-
tenden Handlung abhängig machen von dem Bewußtſein
dieſer Eigenſchaft der Handlung; dann wäre der ſchuld-
hafte Vorſatz der bewußt rechtswidrige Wille. Aber die
[110]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Geſetzgebung hat dies nicht gethan.4 Nur ausnahmsweiſe
hat ſie das an ſich ſelbſtverſtändliche Merkmal der Rechts-
widrigkeit
in den beſonderen Thatbeſtand einzelner Delikte
aufgenommen und damit erklärt, daß die allgemeine Regel
des §. 59 StGB., nach welcher die Vorſtellung alle Merk-
male des beſonderen Thatbeſtandes umfaſſen muß (vgl. unten V)
ausnahmsweiſe auch auf das Moment der Rechtswidrig-
keit ausgedehnt werden ſolle.5 Man vgl. StGB. §§. 123,
124, 239, 240, 291, 339, 353 a u. A. Und zwar handelt
es ſich hier durchaus um ſolche Normen, deren als Regel
gedachte Herrſchaft durch zahlreiche Ausnahmen durchbrochen
wird, ſo daß ein Zweifel darüber, ob ein konkreter Fall
unter die Regel oder unter eine der Ausnahmen zu ſubſu-
mieren ſei, leicht möglich iſt und Berückſichtigung verdient.


Abgeſehen von dieſen Ausnahmen iſt das Bewußtſein
der Normwidrigkeit nur bei der Strafzumeſſung von Be-
deutung. Vorſatz liegt alſo vor nicht nur bei irriger Nicht-
ſubſumption
der That unter die Norm, ſondern auch
bei irriger Subſumption derſelben unter eine Ausnahme
von der Norm (irriger Annahme eines Notſtandes, der Not-
wehr, einer ſubjektiven Berechtigung uſw.).6


[111]Der Vorſatz. §. 28.

Verſchieden von dem Mangel des Bewußtſeins der Norm-
widrigkeit iſt der ſog. Verbrecherwahn, bei welchem
der Verbrecher die Normwidrigkeit ſeines Thuns kennt, aber
vermeintlich höheren Pflichten gehorchend, ſich bewußt über
dieſelbe hinwegſetzt (vgl. Militär-StGB. §. 48).


Und das gerade Gegenſtück zu dem mangelnden Bewußt-
ſein der Normwidrigkeit bildet das Wahnverbrechen oder
Putativdelikt, bei welchem der Handelnde ſich den Er-
folg ſeines Thuns richtig vorſtellt, dieſen aber irrig unter
eine nicht exiſtirende Norm ſubſumirt, oder unter eine gege-
bene Ausnahme von der Norm nicht ſubſumirt. Beiſpiel:
irrige Annahme, daß ſcharfe Invektiven gegen einen Regenten
des 16. Jahrhunderts Majeſtätsbeleidigung ſeien; irrige
Nichtannahme eines Notſtandes uſw. Hier kann die fehlende
Normwidrigkeit nicht durch die Vorſtellung derſelben erſetzt
werden.


III. Es genügt zum Begriffe des Vorſatzes das Vor-
handenſein der Vorſtellung, daß die Handlung kauſal ſein
werde; es iſt nicht erforderlich, daß dieſe Vorſtellung
gerade treibendes Motiv geweſen, daß der Thäter um
dieſer Veränderungen willen die Handlung unternommen
hat.7 Wir können die Vorſtellung als treibendes Motiv
Abſicht nennen (2. Bedeutung dieſes Wortes) und dem Vor-
ſatze entgegenſtellen. In der That wird in der Reichsgeſetz-
gebung das Wort „Abſicht“ (ſelten) auch in dieſem Sinne ge-
braucht (z. B. StGB. §. 225 u. A.).


Es genügt ferner die Vorſtellung der nächſten unmittel-
6
[112]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
baren Folgen der Handlung; die entfernteren mittelbaren
Folgen brauchen regelmäßig nicht vorgeſtellt zu werden.
Die Vorſtellung dieſer entfernteren Folgen wird auch wohl
Abſicht8 genannt (3. Bedeutung des Wortes). Sie iſt
mittelbarer Vorſatz, alſo nicht notwendig treibendes Motiv.
Wo ſie von dem Geſetzgeber bei einzelnen Delikten zum
Thatbeſtandsmerkmal (man denke an die Zueignungsabſicht
beim Diebſtahl; die Abſicht, ſich oder einem Dritten einen
Vermögensvorteil zu verſchaffen, beim Betrug uſw.) oder
zum ſtraferhöhenden Umſtande gemacht wird, geht ſie in dem
Vorſatz auf, d. h. es müſſen einerſeits in dieſem Falle auch
die weiteren Folgen vorgeſtellt ſein, und es genügt andrer-
ſeits das Vorhandenſein dieſer Vorſtellung.


IV. Die Vorſtellung von den durch die Handlung
zu verurſachenden Veränderungen und dieſe Veränderungen
ſelbſt müſſen ſich decken; „nicht wie zwei kongruente Dreiecke“
(Binding), aber in allen weſentlichen Punkten. Decken
ſie ſich in einem weſentlichen Punkte nicht, ſo liegt bezüglich
dieſes Punktes Vorſatz nicht vor. Irrtum9bezüglich
eines weſentlichen Punktes ſchließt alſo den Vor-
ſatz aus
.10 Welche Punkte ſind aber weſentliche in der
den ſtrafrechtlichen Vorſatz begleitenden Vorſtellung?


Ehe wir dieſe Frage beantworten, müſſen wir die Vorfrage
erledigen: auf welche Punkte muß ſich überhaupt die Vorſtellung
erſtrecken, um als individualiſierte Vorſtellung in Betracht zu
[113]Der Vorſatz. §. 28.
kommen? Die Vorſtellung muß beſtimmt ſein nach Ob-
jekt
und Mittel; genauer: ſie muß ſich durch Beziehung
auf ein beſtimmtes Rechtsgut bez. deſſen Träger, auf die
vorzunehmende körperliche Bewegung, und auf den
Kauſalzuſammenhang zwiſchen dieſer und dem vorge-
ſtellten Erfolge ſpezialiſiert haben.11 Ich muß wiſſen, ob ich
töten, ſtehlen[oder]brandſtiften will, ehe von einem
Vorſatze die Rede ſein kann; ich muß wiſſen, wen ich töten
will und auf welche Weiſe. Dieſe Spezialiſierung kann
nun eine mehr oder weniger genaue ſein; alle Menſchen die
aus dieſem Brunnen trinken, der mir unbekannte anonyme
Einſender einer mich beleidigenden Zeitungsannonce, der eben
des Weges daherkommende Wandersmann, die in dem zu
erbrechenden Schranke befindlichen Gegenſtände, ſie alle ſind
genügend ſpezialiſierte Objekte meines Vorſatzes. Die Mi-
nimalgrenze
der Spezialiſierung, welche die Vorſtellung
erreicht haben muß, läßt ſich durch allgemeine Regeln nicht
fixieren; über dieſe Grenze hinaus kann die Vorſtellung und
mit ihr der Vorſatz mehr oder weniger beſtimmt ſein.


Mit Rückſicht auf dieſen möglichen Unterſchied in der
Spezialiſierung der Vorſtellung hat man Arten des Vor-
ſatzes
unterſcheiden wollen, ſobald es ſich um genügende
aber nicht ganz genaue Vorſtellung des Erfolges handelt.
So den dolus generalis, wenn mehrere Erfolge, den
dolus alternativus, wenn zwei Erfolge in gleicher Linie,
den dolus eventualis, wenn in erſter Linie der eine, in
zweiter Linie der andere Erfolg vorgeſtellt waren; ihnen allen
gegenüber den genau ſpezialiſierten dolus determinatus.
von Liszt, Strafrecht. 8
[114]Erſt. Buch. VI. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Allein bei richtiger Auffaſſung des Vorſatzbegriffes ſind alle
dieſe Einteilungen wertlos oder gefährlich. Jeder der vor-
geſtellten Erfolge iſt vom Vorſatze erfaßt; der ſchwerſte
derſelben daher, ob eingetreten oder nicht, für die ſtrafrecht-
liche Beurteilung des Thäters maßgebend12 (vgl. auch unten
§. 32 IV 2).


V. Und nun können wir zu der Beantwortung der oben
aufgeworfenen Frage zurückkehren, die mit der eben erledigten
durchaus nicht identiſch iſt. Welche Punkte in der ſpeziali-
ſierten
Vorſtellung ſind von ſolcher Wichtigkeit, daß Nicht-
übereinſtimmung des Erfolges mit der Vorſtellung die Zu-
rechnung zum Vorſatze ausſchließt?


1. Die nächſte Antwort giebt uns das poſitive Recht in
§. 59 Abſ. 1 StGB.13 Es bezeichnet als weſentlich „That-
umſtände, welche zum geſetzlichen Thatbeſtande ge-
hören oder die Strafbarkeit erhöhen
“; alſo That-
beſtandsmerkmale und erſchwerende Umſtände. Aber nur die
Merkmale des beſonderen Thatbeſtandes, alſo jene Merk-
male, die den Begriff des einzelnen Verbrechens konſtituiren,
nicht die zum allgemeinen Thatbeſtande gehörenden, bei
jedem Verbrechen wiederkehrenden Merkmale wie Zurech-
nungsfähigkeit, Schuld, Widerrechtlichkeit uſw. Doch können
auch Merkmale des allgemeinen Thatbeſtandes durch Auf-
nahme in den Verbrechensbegriff den beſonderen Thatbeſtands-
[115]Der Vorſatz. §. 28.
merkmalen gleichgeſtellt werden (vgl. das oben unter II bez.
der Widerrechtlichkeit Geſagte).


Es liegt alſo vorſätzlicher Diebſtahl nicht vor, wenn ich
die Eigenſchaft der Sache als einer fremden; es liegt Aſcen-
dententodſchlag nicht vor, wenn ich die Eigenſchaft des Er-
ſchlagenen als meines Aſcendenten nicht kannte.


2. Es kann aber ein Umſtand auch dadurch zu einem
weſentlichen werden, daß er, unter Ausſchluß aller an-
deren korreſpondierenden Umſtände aus der Vor-
ſtellung
, mit vollſter Beſtimmtheit in die ſpezialiſierte Vor-
ſtellung aufgenommen wurde.


Wenn der Erfolg daher bei einem ganz außerhalb der
Vorſtellung liegenden Objekte oder auf einem außerhalb
derſelben liegenden Wege (Kauſalzuſammenhang) oder end-
lich wenn an dem vorgeſtellten Objekte ein außerhalb der
Vorſtellung liegender Erfolg eingetreten iſt:14 ſo kann der
Erfolg nicht zum Vorſatze zugerechnet werden.


Aus dem Geſagten folgt, daß die Möglichkeit der Nicht-
übereinſtimmung zwiſchen Vorſtellung und Erfolg in weſent-
lichen Punkten mit der größeren Spezialiſierung der Vor-
ſtellung im geraden Verhältniſſe ſteht.


Dabei kann es der richtigen Anſicht nach keinen Unter-
ſchied machen, ob der Eintritt des Erfolges bei einem an-
deren als dem vorgeſtellten Objekte zurückzuführen iſt auf
äußere Umſtände (ſog. aberratio ictus) oder auf einen Irrtum
des Thäters über die Identität des Objektes (ſog. error in
objecto
oder in persona). Es iſt gleich unrichtig, die Zu-
rechnung zum Vorſatz bei der aberratio immer ausſchließen,
[116]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
als ſie bei dem error in persona immer annehmen zu
wollen.15


VI. Die alten Einteilungen des Vorſatzes haben bis auf
Eine heute nur mehr dogmengeſchichtliches Intereſſe. Der
dolus generalis, alternativus und eventualis wurden bereits
beſprochen. Der dolus indirectus (Feuerbach’sculpa
dolo determinata
) iſt kein Vorſatz, denn die Vorherſehbarkeit
kann den nicht vorgeſtellten Erfolg auch dann nicht zu einem
vorgeſtellten machen, wenn derſelbe durch eine ſtrafbare
Handlung veranlaßt wurde. Und der dolus subsequens
widerſpricht dem Satze (vgl. oben §. 27 III), daß im Augen-
blicke der That die Schuld, ſei es als Vorſatz, ſei es als
Fahrläſſigkeit, vorhanden ſein muß.


Dagegen iſt die Einteilung in überlegten und nicht
überlegten
Vorſatz nicht nur pſychologiſch richtig, ſondern
auch ſtrafrechtlich von Bedeutung. Das RStGB. hat den
Gegenſatz von Mord und Todſchlag auf dieſen Unterſchied
gebaut, und damit ſeine allgemeine Bedeutung wenigſtens
für die Strafzumeſſung anerkannt. Ueberlegter Vorſatz,
dolus praemeditatus, liegt vor, wenn die auftauchende Vor-
ſtellung von der Kauſalität der vorgeſtellten Handlung nicht
unmittelbar zur That führte, ſondern die kontraſtierenden
Vorſtellungen Gelegenheit hatten, zur Geltung zu gelangen;
nicht überlegter oder Affektvorſatz, dolus repentinus, wenn
dies nicht der Fall war, ſondern die auftauchende Vorſtellung,
[117]Die Fahrläſſigkeit. §. 29.
alle kontraſtierenden Vorſtellungen gleichſam überrennend, ſo-
fort ſich in That umſetzte. Dabei iſt das „ſofort“ nicht
zeitlich, ſondern nach der Einheitlichkeit der pſychiſchen Vor-
gänge zu beſtimmen.


§. 29.
Die Fahrläſſigkeit.1

I. Fahrläſſigkeit, die zweite der beiden Schuldformen
des heutigen Rechts, iſt der Wille als Urſache einer
von der Vorſtellung ihrer Kauſalität
(vgl. oben
§. 28 I) nicht begleiteten Handlung mit rechts-
widrigem Erfolge, wenn der Handelnde
a) bei
Vornahme der Handlung die von der Norm gebo-
tene und nach Lage der konkreten Umſtände erfor-
derliche Sorgfalt
(objektiver Maßſtab) außer Acht
gelaſſen hat, und wenn er
b) den Erfolg hätte
vorherſehen, d. h. die Vorſtellung von der Kau-
ſalität ſeines Thuns hätte gewinnen können
(ſub-
jektiver Maßſtab).


1. Die ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit beſteht nach dieſem,
aus dem poſitiven Recht abgeleiteten, Begriffe nicht ledig-
lich in einer pflichtwidrigen Unachtſamkeit
, in der
Außerachtlaſſung der erforderlichen Sorgfalt. Die Uebertre-
tungen des §. 366 Ziff. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 StGB.
(z. B. Stehenlaſſen von Pferden auf öffentlichen Wegen
„mit Vernachläſſigung der erforderlichen Sicherheitsmaß-
regeln“) ſind keine fahrläſſigen Delikte. Die pflichtwidrige
[118]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Unachtſamkeit kommt als ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit nur
dann in Betracht, wenn ſie die Urſache eines weiteren rechts-
widrigen Erfolges wurde, wenn alſo z. B. die vernachläſſigten
Pferde ausgeriſſen ſind und ein Kind beſchädigt haben. Das
Maß der anzuwendenden Sorgfalt beſtimmt ſich dabei ledig-
lich nach der objektiven Natur der vorgenommenen Hand-
lung, nicht aber nach dem Charakter des Handelnden.


2. Der eingetretene Erfolg muß ein für den unvorſichtig
Handelnden vorherſehbarer geweſen ſein. Genauer: es
muß dem Handelnden möglich geweſen ſein, die Vorſtellung
von der Kauſalität ſeines Thun’s zu gewinnen. Bei der
Beurteilung dieſer Frage ſind die geiſtigen Fähigkeiten des
Handelnden, ſein größerer oder geringerer Scharfblick zu
Grunde zu legen. Alſo nicht unachtſames Verhalten mit
rechtswidrigem Erfolg, ſondern ſolches Verhalten mit indi-
viduell vorherſehbarem rechtswidrigem Erfolge bildet das
Weſen der Fahrläſſigkeit im heutigen Rechte.


3. Immer aber muß das fahrläſſige Delikt Handlung
(mit Einſchluß der ſog. Unterlaſſungen; vgl. oben §. 21) d. h.
willkürliche körperliche Bewegung ſein, zurückgeführt werden
können auf den Willen, als den die motoriſchen Nerven
unmittelbar erregenden pſychiſchen Akt. Nur iſt zu beachten,
daß gerade bei dem fahrläſſigen Delikte die Handlung (im
engeren Sinne) und der Erfolg zeitlich und räumlich weit
ab von einander liegen können; z. B. der in Belgien 1879
erzeugte und nach Berlin verkaufte Dampfkeſſel explodiert
daſelbſt im Jahre 1881 in Folge ſchleuderhafter Konſtruktion
der Sicherheitsventile. Für die Frage nach der Schuld des
Thäters iſt hier wie immer (oben §. 27 III) der Augenblick
der körperlichen Bewegung maßgebend; Zeit und Ort der
Begehung des Deliktes
richtet ſich nach den allgemeinen
[119]Die Fahrläſſigkeit. §. 29.
Regeln (vgl. oben §. 19 IV), ſo daß in unſerem Beiſpiele
das Delikt in Berlin und in dem Augenblicke begangen iſt,
in welchem der Dampfkeſſel in der Fabrik zu funktionieren
beginnt; die Vollendung des Verbrechens endlich be-
ſtimmt ſich nach dem Eintritte des rechtswidrigen Erfolges.
Ueber die Beteiligung Mehrerer an demſelben fahrläſſigen
Delikte iſt das oben §. 20 III über den Kauſalzuſammen-
hang und das unten §. 35 II 1 über die Teilnahme Ge-
ſagte zu vergleichen.


II. Die Fahrläſſigkeit beruht auf einem Irrtume über
die Kauſalität der Handlung
; die Vorſtellung von
dem Erfolge und der Erfolg ſelbſt decken ſich in einem weſent-
lichen Punkte nicht. Inſofern bildet die Fahrläſſigkeit das
Gegenbild des Vorſatzes; und von der Entſcheidung der
Frage, welche Punkte in dem Inhalte der Vorſtellung als
weſentliche zu betrachten ſeien (vgl. oben §. 28 V) wird
die Grenzbeſtimmung zwiſchen dem Gebiete des Vorſatzes
und jenem der Fahrläſſigkeit abhängen. Aber dieſe iſt nicht
das reine Gegenbild des Vorſatzes; nicht jeder, ſondern nur
der (kurz geſagt) verſchuldete Irrtum iſt Fahrläſſigkeit.
Nicht mehr will der gänzlich überflüſſige und darum ver-
wirrende 2. Abſatz des §. 59 StGB. ſagen.


III. Alle Normen ſind an ſich der fahrläſſigen Uebertre-
tung fähig. Aber nicht jede fahrläſſige Normübertretung
wird von dem poſitiven Rechte mit Strafe belegt. Es bildet
im Gegenteile nach Reichsrecht die Beſtrafung fahrläſſiger
Delikte eine Ausnahme, die nur dann als gegeben anzu-
nehmen iſt, wenn der Wille, auch die fahrläſſige Uebertretung
zu beſtrafen, ausdrücklich im Geſetze ausgeſprochen oder aus
dem Zuſammenhange der geſetzlichen Beſtimmungen mit
Sicherheit zu entnehmen iſt. Ausdrücklich droht das Geſetz
[120]Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Strafe auch der fahrläſſigen Begehung in folgenden
Fällen:


StGB. § 186 üble Nachrede; §§. 222 und 230
Tötung und Körperverletzung; §§. 121 und 347 Ent-
weichenlaſſen von Gefangenen; 163 Falſcheid; 259 Par-
tiererei (vgl. unten IV a. E.); 309, 311, 314, 316, 318,
326, 329 gemeingefährliche Delikte; 345 Vollſtreckung einer
nicht zu vollſtreckenden Strafe.


Nebengeſetze: die Urhebergeſetze vom 11. Juni 1870
§§. 18, 20, 24; 9. Januar 1876 §. 16, 10. Januar 1876
§. 9, 11. Januar 1876 §. 14; Seemannsordnung vom
27. Dezember 1872 §§. 94 und 97; Preßgeſetz vom
7. Mai 1874 §. 21;2 Geſetz betreffend Beſeitigung von
Anſteckungsſtoffen bei Viehbeförderung vom 25. Februar
1876 §. 5 (intereſſant für den Begriff der Fahrläſſigkeit);
Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §§. 11 und 14;
Geſetz betreffend Zuwiderhandlungen gegen die zur Ab-
wehr der Rinderpeſt erlaſſenen Vieheinfuhrverbote vom
21. Mai 1878 §§. 3 u. 4 (das Impfgeſ. v. 8. April 1874
§. 17 gehört nur ſcheinbar hieher).


IV.Grade der Fahrläſſigkeit. Das poſitive Recht
hat in zwei Fällen die Fahrläſſigkeit als eine qualifizierte
behandelt, wenn der Thäter zu der von ihm außer Acht
gelaſſenen Sorgfalt „vermöge ſeines Amtes, Berufes oder
Gewerbes beſonders verpflichtet war“ (StGB. §§. 222 und
230 Tötung und Körperverletzung).


Von dieſer beſonderen Anordnung des Geſetzes abgeſehen,
ſind zwei Stufen der Strafbarkeit innerhalb der Fahrläſſig-
keit zu unterſcheiden:


[121]Die Fahrläſſigkeit. §. 29.

1. Der Thäter hatte die (irrige) Vorſtellung, daß
die Handlung nicht kauſal ſein werde
; der leichtere
Fall.


2. Der Thäter hat (blind drauf los) gehandelt, ohne
überhaupt zu irgend einer Vorſtellung über die
Kauſalität ſeines Thuns zu gelangen
; der ſchwerere
Fall (die luxuria des römiſchen Rechts, vgl. Windſcheid
§. 101 Note 10).


Dieſe Einteilung fällt mit der durchaus unhaltbaren
herrſchenden Einteilung in bewußte und unbewußte Fahr-
läſſigkeit3 (die auf einer ganz abweichenden Faſſung des
Begriffes der Fahrläſſigkeit beruht) nicht zuſammen.


Endlich muß noch auf die ganz ſinguläre Beſtimmung
in §. 259 StGB. aufmerkſam gemacht werden, nach welcher
Partiererei auch dann anzunehmen iſt, wenn der Thäter zwar
nicht wußte, aber den Umſtänden nach annehmen mußte,
daß die von ihm verheimlichte uſw. Sache durch eine ſtraf-
bare Handlung erlangt ſei. Es liegt hier ein beſonderer
Fall der Fahrläſſigkeit vor;4 nicht beſonders ſchwere Fahr-
läſſigkeit:5 denn immer liegt das Weſen derſelben in dem
mangelnden und doch durch die Umſtände nahegelegten Be-
wußtſein der Kauſalität; ſondern ein ſpeziell hervorge-
hobener
Fall der Fahrläſſigkeit, ſo daß jede andere fahr-
läſſige Herbeiführung desſelben Erfolges6 nicht geſtraft
werden kann.


[122]Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.

V. Das Verbrechen als das mit Strafe
bedrohte Delikt.


§. 30.
Die Bedingungen der Strafbarkeit im Allgemeinen.

I. Nicht jede ſchuldhafte normwidrige Handlung, nicht
jedes Delikt iſt Verbrechen (vgl. oben §. 17 IV). In vielen,
wenn auch lange nicht in allen Fällen, müſſen außer dem
Vorliegen der Normübertretung noch andere Vorausſetzungen
gegeben ſein, damit die Strafbarkeit des Thuns eintritt.
Eine Reihe von Fällen, die ſich leicht verdreifachen läßt,
wurde bereits in der Einleitung §. 4 I erwähnt, andere
werden wir im beſonderen Teile zur Genüge kennen lernen.
Man ſpricht hier poſitiv von Bedingungen der Straf-
barkeit
, oder wenn man negativ das Fehlen dieſer Be-
dingungen bezeichnen will, von Strafausſchließungs-
gründen
. So kann man das Fehlen des Antrages bei
den Antragsdelikten, die nicht erfolgte Auflöſung der Ehe
bei den Verbrechen der §§. 170, 172, 238 StGB., den
Mangel der verbürgten Gegenſeitigkeit in den Fällen der
§§. 102 und 103 StGB. uſw. als Strafausſchließungs-
gründe bezeichnen. Doch iſt dabei zu beachten: einmal, daß
dieſer Ausdruck nicht immer in der in dem vorliegenden
Lehrbuche feſtgehaltenen engeren Bedeutung gebraucht wird;
und ferner, daß eine Verwechſelung dieſer objektiven die
That ergreifenden Strafausſchließungsgründe mit den unter
III 3 zu beſprechenden ſubjektiven Strafausſchließungen nahe
liegt. Daher verdient der Ausdruck: „Bedingungen der
Strafbarkeit“ den Vorzug.


[123]Die Bedingungen d. Strafbarkeit im Allgemeinen. §. 30.

II. Fehlt eine der Bedingungen der Strafbarkeit, ſo kann
wohl ein Delikt, nie aber ein Verbrechen vorliegen. Der
nicht aus dem Delikte ſondern aus dem Verbrechen dem
Staate gegen den Verbrecher erwachſende Strafanſpruch
entſteht nicht
, wenn und ſo lange die Bedingungen ſeines
Entſtehens nicht gegeben ſind. So lange der Antrag nicht
geſtellt, iſt das ſogenannte Antragsdelikt nicht Verbrechen.
Eben darum kann auch vor Eintritt der Bedingung (z. B.
der rechtskräftigen Scheidung der Ehe im Falle des §. 172
StGB.) weder die Verfolgung eingeleitet, noch auch nur der
Antrag auf Einleitung derſelben mit rechtlicher Wirkung
geſtellt werden. RGR. 3. Januar 1880, E I 44, R I 180;
23. März 1880, R I 505, E II 62. Ebenſo iſt — um bei
dem Beiſpiele zu bleiben — Begünſtigung des Ehebruches
nur ſtrafbar, wenn die Scheidung der Ehe erfolgt; der Vor-
wurf eines Ehebruchs nur unter der gleichen Bedingung
falſche Anſchuldigung im Sinne des §. 164 StGB. uſw.
Wenn aber die Bedingung eintritt, dann wird ihre Wirkung
zurückbezogen auf den Zeitpunkt der Begehung der deliktiſchen
Handlung; die nachträglich eingetretene Bedingung wirkt nicht
ex nunc ſondern ex tunc, der Anſpruch gilt als entſtanden
in dem Augenblicke der begangenen Handlung. Tritt die
Bedingung dagegen nicht ein, ſo liegt ein Verbrechen über-
haupt nicht vor. An einer ſolchen normwidrigen, aber nicht
ſtrafbaren Handlung iſt ſtrafbare Teilnahme nicht möglich
(vgl. unten §. 35 II 3); und ebenſo ſind alle objektiven
Maßregeln, die eine „ſtrafbare Handlung“ zur Voraus-
ſetzung haben, ausgeſchloſſen.1


[124]Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.

III. Eben darum ſind nach Begriff und Wirkung ſtrenge
von den Bedingungen der Strafbarkeit zu ſcheiden:


1. Die Strafaufhebungsgründe, durch welche die
bereits eingetretene Strafbarkeit nachträglich beſeitigt, der
bereits entſtandene Strafanſpruch wieder vernichtet wird
(vgl. darüber unten §. 57 I).


2. Die der prozeſſualen Geltendmachung des An-
ſpruches in ihrem Beginn oder in ihrer Durchführung im
Wege ſtehenden Hinderniſſe. Die genauere Abgrenzung
dieſer Fälle von den Strafausſchließungs- und den Straf-
aufhebungsgründen iſt bisher von Wiſſenſchaft und Geſetz-
gebung arg vernachläſſigt worden. Das Nähere gehört in
das Strafprozeßrecht. Hier ſei nur erwähnt, daß außer der
Flucht des Thäters oder einer nach begangener That ein-
tretenden Störung ſeiner Zurechnungsfähigkeit insbeſondere
der Fall der ſogenannten Ermächtigungsdelikte (StGB.
§§. 99, 101, 197), bei welchen die Verfolgung von der
„Ermächtigung“ der beleidigten Perſon oder Körperſchaft
abhängig gemacht iſt, in die Gruppe: Hinderniſſe der Straf-
verfolgung zu ſtellen iſt. Die wichtigſten Konſequenzen dieſer
Auffaſſung ſind Teilbarkeit und Nicht-Rücknehmbarkeit der
„Ermächtigung“. Das Gleiche gilt von der Zugehörigkeit
des Thäters zu einer geſetzgebenden Verſammlung,2 einer
landesherrlichen Familie uſw.


3. Und endlich ſind von den Bedingungen der Straf-
barkeit oder den eigentlichen (objektiven) Strafausſchließungs-
gründen jene Fälle zu unterſcheiden, in welchen der Geſetz-
geber nicht die Strafbarkeit der That, wol aber die des
Schuldigen abhängig macht von dem Nichtvorliegen gewiſſer
[125]Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.
Umſtände. So bleiben nach StGB. §. 173 (Blutſchande)
Verwandte und Verſchwägerte ſtraflos, wenn ſie das 18. Le-
bensjahr nicht erreicht haben; ſo iſt die perſönliche Begün-
ſtigung nach §. 257 StGB. ſtraflos, wenn ſie dem Thäter
oder Teilnehmer von einem Angehörigen gewährt worden
iſt; das Gleiche gilt von dem Diebſtahl und Unterſchlagung,
die von Aſcendenten an Deſcendenten oder zwiſchen Ehe-
gatten begangen werden (StGB. §. 247) uſw. Ich werde
dieſe Umſtände, in Ermangelung eines beſſeren Ausdruckes,
ſubjektive Strafausſchließungsgründe nennen. Sie
berühren — und das iſt das Weſentliche — die Strafbar-
keit der That an ſich nicht, ſchließen daher die Strafbarkeit
der Teilnehmer trotz der Strafloſigkeit des Hauptthäters
nicht aus.


§. 31.
Der Antrag des Verletzten insbeſondere.1

I. In einer rapid anſchwellenden Zahl von Fällen hat
die moderne Geſetzgebung die Strafverfolgung von dem An-
trag des Verletzten abhängig gemacht. Es bewahrheitete
ſich der alte Erfahrungsſatz, daß gerade die unklarſten, un-
ausgedachteſten geſetzgeberiſchen Gedanken die meiſte Ausſicht
auf allgemeinen Beifall haben. Hat auch die Novelle vom
26. Februar 1876 mit den gröbſten Mißſtänden aufgeräumt
(vgl. oben §. 8 V), ſo bleibt doch eine gründliche Reviſion
der ganzen Lehre von den Antragsdelikten durch die Reichs-
geſetzgebung ein dringendes Bedürfnis.


Die Antragsfälle des RStGB.’s ſind: §§. 102, 103,
[126]Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.
104 (ſtafbare Handlungen gegen befreundete Staaten), 170,
172, 179, 182 (Eheerſchleichung, Ehebruch, Erſchleichung
des Beiſchlafs, Verführung eines jungen Mädchens), 189,
194—196, 232 (Beleidigung und Körperverletzung), 236,
237 (Entführung), 247, 263 (Diebſtahl, Unterſchlagung, Be-
trug gegen Angehörige), 288, 289, 292, 293, 299, 300—
303 (Fälle „ſtrafbaren Eigennutzes“ und Sachbeſchädigung),
370 Ziff. 5 u. 6 (Genußmittel- und Futterdiebſtahl).


Dazu kommen noch einzelne Fälle in den Nebengeſetzen;
ſo im Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 19 Ziff. 3; Nach-
drucksgeſetze vom 11. Juni 1870 §. 27, (ebenſo in den Ge-
ſetzen vom 9., 10., 11. Januar 1876); §. 14 Markenſchutz-
geſetz v. 30. November 1874; §. 34 Patentgeſetz v. 25. Mai
1877; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 81
und 84.


II. Bei genauerer Betrachtung müßten die Antragsdelikte
in zwei, nach Inhalt und Behandlung weſentlich von ein-
ander verſchiedene Gruppen zerlegt werden.


1. Gewiſſe Rechtsgüterverletzungen erſcheinen nur dann
als ſolche, ſind nur dann für die öffentliche Rechtsordnung
von Bedeutung, wenn der Verletzte ſie als Verletzung em-
pfindet, und, daß er dies thut, in vorgeſchriebener beſtimmter
Form (durch den „Antrag“ auf Verfolgung) erklärt. Die
unzüchtige Berührung eines Mädchens kann von der Be-
rührten als Liebkoſung oder als tiefſte Entehrung empfunden
werden. Hier iſt die Stellung des Antrages Bedingung
der Strafbarkeit; die Befriſtung des Antrages hat guten
Grund; die Rücknahme müßte (etwa bis zu Beginn der
Hauptverhandlung) geſtattet, die Teilbarkeit ausgeſchloſſen
ſein, Fehlen des Antrages müßte Freiſprechung mit definitiver
Erledigung der Strafſache zur Folge haben; die Berech-
[127]Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.
tigungen mehrerer Verletzten wären als von einander unab-
hängig zu betrachten, bei Idealkonkurrenz (vgl. unten §. 40 III)
mit einem von Amtswegen zu verfolgenden Verbrechen könnte
dieſes auch bei mangelndem Antrage verfolgt werden uſw.


2. Bei der weitaus größeren Gruppe der Antragsfälle
liegt die Sache durchaus anders. Man denke an die Not-
zucht, die bis zur Novelle von 1876 Antragsdelikt war.
Hier iſt das Intereſſe des Staates an der Verfolgung vom
Anfange an gegeben; aber ihm ſteht das Intereſſe des Ver-
letzten an der Nichtverfolgung (da die Unterſuchung und Ver-
handlung der Sache für ihn nur eine neue und vielleicht die
erſte an Schwere übertreffende Verletzung wäre) ſchroff ge-
genüber. Und der Staat verzichtet dem Verletzten zu Liebe
auf die Geltendmachung ſeines Strafanſpruches, ſo lange
der Verletzte nicht durch die Stellung des „Antrages“ er-
klärt, daß das bei ihm vom Staate vorausgeſetzte Intereſſe
im Einzelfalle nicht vorliege. Hier iſt der Antrag nicht Be-
dingung der Strafbarkeit der That, ſondern Vorausſetzung
der prozeſſualen Geltendmachung des ſtaatlichen Strafan-
ſpruches; ſein Mangel nicht Strafausſchließungsgrund, ſon-
dern Hindernis der Strafverfolgung in dem oben §. 30
III 3 beſprochenen Sinne; und die ganze Lehre von dieſen
Antragsdelikten würde gar nicht ins Strafrecht, ſondern in
das Strafprozeßrecht gehören. Die verſchiedene prinzipielle
Auffaſſung würde dann auch bezüglich der oben unter 1 be-
ſprochenen Konſequenzen in weitaus den meiſten Punkten zu
ganz anderen Reſultaten führen.


Der Gegenſatz kann hier nicht weiter verfolgt werden,
da er im poſitiven Recht keine Anerkennung gefunden hat.
Eben darum iſt aber auch die ſyſtematiſche Stellung, die in
dem Lehrbuche den Antragsdelikten gegeben wurde (ebenſo
[128]Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.
wie jede andere Stellung derſelben) eine nur teilweiſe rich-
tige. Unhaltbar aber iſt in dieſer Allgemeinheit die vom
RGR. 17. April 1880, R I 615 ausgeſprochene Anſicht, nach
welcher der Strafantrag nicht zum Thatbeſtande gehöre,
ſondern Vorausſetzung der Verfolgung ſei.


III. Poſitivrechtliche Behandlung der Antragsdelikte.


1. Berechtigt zur Antragsſtellung iſt


  • a) Derjenige, dem der Geſetzgeber in gewiſſen Fällen
    ausdrücklich dieſe Berechtigung zuweiſt; vgl.
    StGB. §§. 102 Nr. 3, 104, 170, 182, 189, 196,
    288 uſw.; §. 28 Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870.
  • b) In Ermangelung beſonderer Anordnung der durch das
    Verbrechen Verletzte, genauer geſprochen: der Träger
    des durch die ſtrafbare Handlung unmittelbar2 ange-
    griffenen Rechtsgutes; ſo der Eigentümer bei der Sach-
    beſchädigung, der Inhaber der befriedeten Räume beim
    Hausfriedensbruch uſw. Doch muß der Verletzte, um
    antragsberechtigt zu ſein, das 18. Lebensjahr zurück-
    gelegt haben (StGB. §. 65 Abſ. 1).
  • c) Der geſetzliche Vertreter ſtatt des Verletzten, wenn
    dieſer noch nicht 18 Jahre alt, geiſteskrank oder taub-
    ſtumm, oder aber eine Kollektivperſönlichkeit iſt (StGB.
    §. 65 Abſ. 2 u. 3; vgl. mit StPO. §. 414).
  • d) Neben dem Verletzten der geſetzliche Vertreter,3
    wenn Erſterer über 18 Jahre alt aber noch minder-
    jährig iſt (StGB. §. 65 Abſ. 2), der Gatte und
    Vater
    nach §. 195 (232), der amtlich Vorge-
    ſetzte
    nach §. 196 (232).

[129]Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.

Die Stellung des Antrages kann auch durch einen Spe-
zialbevollmächtigten
erfolgen; aber auch Generalvoll-
macht iſt als genügend zu betrachten, wenn und ſoweit im ein-
zelnen Falle angenommen werden kann, daß die Stellung des
Antrages dem Willen des Berechtigten entſpricht; und insbe-
ſondere gilt dies von ſtrafbaren Eingriffen in vermögensrecht-
liche Intereſſen, mit deren Wahrung der Bevollmächtigte
betraut iſt RGR. 20. April 1880, E I 387, R I 620. Ja
ſelbſt ein Nichtbevollmächtigter wird zur Antragſtellung zu-
zulaſſen ſein, wenn ſtillſchweigender Auftrag oder Einver-
ſtändnis des Verletzten angenommen werden kann RGR.
17. Dezember 1879, R I 163.


Mehrere Antragsberechtigungen, mögen dieſe mehreren
Verletzten oder aber dem Verletzten und den Nebenberech-
tigten zukommen, ſind von einander unabhängig (StGB.
§. 62; vgl. mit StPO. §. 415).


2. Das Antragsrecht iſt befriſtet. Es erliſcht (StGB.
§. 61), wenn der zum Antrage Berechtigte es unterläßt, den
Antrag binnen drei Monaten zu ſtellen. Die Friſt beginnt
mit dem Tage, ſeit welchem der zum Antrage Berechtigte
von der Handlung und von der Perſon des Thäters Kenntnis
gehabt hat. Ebenſo nach §. 35 Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni
1870. Die Friſt iſt demnach, wenn die Kenntnis z. B. am
12. Februar erlangt worden, mit Beginn des 12. Mai be-
reits abgelaufen (RGR. 22. Dezember 1879, E I 40). Iſt
die Strafbarkeit der That von einer zu ihrer Normwidrig-
keit hinzutretenden Bedingung abhängig, ſo beginnt die An-
tragsfriſt erſt mit dem Eintritte der Bedingung zu laufen,
vgl. oben §. 30 II.


Eine weſentliche Veränderung erleidet dieſe Friſt in dem
Falle wechſelſeitiger Beleidigungen und Körperverletzungen
von Liszt, Strafrecht. 9
[130]Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.
(StGB. §§. 198 und 232; StPO. §. 426) indem hier der
Geklagte einerſeits bei Verluſt ſeines Rechtes verpflichtet iſt,
den Antrag auf Beſtrafung ſpäteſtens bis zur Beendigung
der Schlußvorträge in erſter Inſtanz zu ſtellen, hiezu aber
auch dann berechtigt bleibt, wenn zu jenem Zeitpunkte die
dreimonatliche Friſt bereits abgelaufen iſt. Eine beſondere
Beſtimmung der Friſt findet ſich in §. 84 der Seemanns-
ordnung vom 27. Dezember 1872 (bis zur Abmuſterung).
Neben der Rügefriſt läuft die Verjährung des Verbrechens
durchaus ſelbſtändig (vgl. unten §. 58).


3. Der Antrag iſt unteilbar. Die Verfolgung findet
nach StGB. §. 63 gegen ſämmtliche an der Handlung Be-
teiligte (Thäter und Teilnehmer) ſowie gegen den Be-
günſtiger ſtatt, auch wenn nur gegen eine dieſer Perſonen
auf Beſtrafung angetragen iſt; und die Rücknahme des An-
trags gegen den Einen hat Einſtellung des Verfahrens über-
haupt zur Folge. Dasſelbe muß aber auch von dem Ver-
ſchweigen der Antragsfriſt gegen Einen der Schuldigen gelten
(entgegengeſetzt RGR. 17. April 1880, R I 615). Aus-
nahmsweiſe iſt die Teilbarkeit des Antrages ausgeſprochen
in den §§. 247 und 289 StGB.; eine Ausnahme, die auf
die §§. 263, 292, 303 nicht ausgedehnt werden darf.


4. Die Zurücknahme des Antrages iſt ſeit der No-
velle vom 26. Februar 1876 nur mehr in den geſetzlich be-
ſonders vorgeſehenen Fällen und nur bis zur Verkündigung
eines auf Strafe lautenden Urteils zuläſſig (StGB. §. 64).
Dieſe beſonders vorgeſehenen Fälle ſind:


StGB. §§. 102—104, 194, 232, 247, 263, 292, 303,
370; Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 27.


Die Zurücknahme der Privatklage hat mit der des An-
trages nichts zu thun (vgl. StPO. §. 431).


[131]Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.

5. Der Antrag muß die Abſicht, die Verfolgung herbei-
zuführen, beſtimmt zum Ausdrucke bringen.4 Verzicht auf
den Antrag iſt juriſtiſch ohne Bedeutung;5 Widerruf der
Rücknahme des geſtellten Antrages unzuläſſig. Der Antrag
ergreift die Klagthatſachen, nicht aber ihre juriſtiſche Qua-
lifikation.


VI. Vollendung und Verſuch des Verbrechens.


§. 32.
Begriffliche Entwicklung.1

I. 1. Das Delikt iſt vollendet, ſobald jener Zuſtand
herbeigeführt, bez. vereitelt iſt, den herbeizuführen die Norm
verbietet bez. gebietet, alſo mit dem Uebertretenſein der
Norm
.


2. Von der Vollendung des Deliktes haben wir die
Vollendung des Verbrechens zu unterſcheiden. Das Ver-
brechen iſt vollendet mit der Herbeiführung desjenigen norm-
widrigen Zuſtandes, an deſſen Vorliegen (als Thatbeſtand)
der Geſetzgeber den Eintritt der Strafe (als Rechtsfolge)
geknüpft hat. Deckt ſich jener Thatbeſtand mit dem Inhalte
der Norm, dann fallen Vollendung des Deliktes und Voll-
endung des Verbrechens in denſelben Zeitpunkt. Decken ſie
ſich nicht, ſo fallen auch beide Vollendungspunkte ausein-
ander. So kann insbeſondere der Geſetzgeber den Eintritt
[132]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
der Strafe an einen der Vollendung des Deliktes vorher-
gehenden Zeitpunkt knüpfen. Er thut dies in zahlreichen
Fällen: das Delikt der Münzfälſchung wäre vollendet mit
dem In-Verkehr-Bringen der falſchen Münzen; das Ver-
brechen der Münzfälſchung iſt nach §. 146 StGB. ſchon
mit dem Fälſchen der Münze vollendet. Andere Beiſpiele
bieten StGB. §§. 131, 229, 234, 253, 258, 298 ff. Vgl.
auch die unten §. 33 III 2 zuſammengeſtellten Fälle. Um-
gekehrt liegt ſcheinbar die Sache in allen Fällen, in welchen
zur Normübertretung weitere Bedingungen hinzutreten müſſen,
um die Strafbarkeit herbeizuführen (vgl. oben §. 30). So
beim Ehebruch die Scheidung der Ehe und der Antrag des
verletzten Ehegatten. Allein hier fallen Vollendung des De-
liktes und Vollendung des Verbrechens nur ſcheinbar aus-
einander: denn bei Eintritt der Bedingung iſt die Straf-
barkeit ex tunc und nicht ex nunc begründet (oben §. 30 II).


3. Aus der verſchiedenen Stellung der Norm und des
aus ihr gebildeten Verbrechen-Thatbeſtandes zu dem zu
ſchützenden Rechtsgute (oben §. 3 II) folgt, daß Vollendung
der Rechtsgüterverletzung weder mit der Vollendung
des Deliktes noch mit jener des Verbrechens zuſammenzu-
fallen braucht. Es genügt, auf dieſen vielfach überſehenen
Gegenſatz aufmerkſam zu machen. Wir werden, wenn das
Gegenteil nicht ausdrücklich bemerkt iſt, im folgenden nur
das Verbrechen in ſeiner Vollendung oder Nicht-Vollendung
ins Auge faſſen.


II. Um zu dem Begriffe des Verſuches zu gelangen, be-
trachten wir, im Anſchluſſe an das oben §. 19 II Geſagte,
die einzelnen Stadien der erweiterten Handlungsreihe und
die ſich dabei ergebenden Komplikationen.


[133]Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.

Wir können folgende Fälle unterſcheiden:2


a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber
noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New-
York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu
werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage
erhoben uſw.


b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem
ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein
Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der
zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be-
ginnt langſam zu ſinken.


c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das
vorgeſtellte Objekt zu treffen
: der Poſtdampfer iſt mit
der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber
hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B.


d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht,
aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein
Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage
verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla-
fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.


e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei-
digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll-
endung
.


Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben:
ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die
[134]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
Kauſalitätsreihe gar nicht ihr Objekt trifft; ad d, wenn der
Erfolg nicht eintritt. Die Vollendung iſt (definitiv) unter-
blieben im Falle c.


Will man dieſe Fälle durch beſondere Benennungen aus-
einanderhalten, ſo kann man


1. von fehlgeſchlagenen Verbrechen ſprechen, wenn
die auf den Erfolg gerichtete Handlung erfolglos vollzogen
iſt. Hieher gehört dann Fall c, in welchen Fall b über-
gehen kann; ſowie Fall d bei Ausbleiben des Erfolges.


2. Von ſuſpendiertem Erfolge, wenn der Erfolg
ſicher, aber noch nicht eingetreten iſt; Fall d kann dieſe Ge-
ſtalt annehmen.


3. Von beendetem Verſuche, wenn die körperliche
Bewegung abgeſchloſſen iſt, der Handelnde aber noch die
Möglichkeit hat, den Eintritt des Erfolges abzuwenden,
Fall b und d, nicht aber a und e gehören möglicherweiſe
hieher.


4. Von nichtbeendetem Verſuche, wenn die körper-
liche Bewegung ſelbſt nicht abgeſchloſſen iſt: Fall a.3


III. Während die außerdeutſche Wiſſenſchaft fehlgeſchla-
genes und verſuchtes Verbrechen mit Recht ſtrenge von ein-
ander ſcheidet, zwingt uns der Stand der deutſchen Geſetz-
gebung, beide unter einen gemeinſamen Begriff zu bringen.
Demnach nennen wir Verſuch jede auf Herbeiführung
des Erfolges gerichtete, dieſen aber nicht herbei-
führende Handlung
. In dieſer Definition bedeutet Er-
folg
: den Thatbeſtand, an welchen der Eintritt der Strafe
geknüpft iſt; Richtung auf den Erfolg: den Vorſatz des
[135]Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.
Thäters (oben §. 28 I), alſo deſſen (irrige) Vorſtellung von
der Kauſalität ſeines Thuns. Ueber die ſcheinbare Ein-
ſchränkung dieſes Begriffes im poſitiven Recht vgl. unten
§. 33 IV.


Die Strafbarkeit des Verſuches, d. h. die Berechtigung
des Staates ihn mit Strafe zu belegen, folgt aus ſeiner
Normwidrigkeit (oben §. 3 III 3) verbunden mit dem Vor-
liegen der ſchwereren Schuldart, des Vorſatzes. Es bedarf
keiner beſonderen Norm, wohl aber (ſelbſtverſtändlich) eines
beſonderen Strafgeſetzes, um den Verſuch ſtrafen zu können.


IV. Der Verſuch beruht immer auf einem Irrtum
des Thäters über die Kauſalität ſeines Thuns
.
Sein Thun war begleitet von der Vorſtellung, daß die Hand-
lung gewiſſe Veränderungen in der Außenwelt hervorrufen,
daß ſie einen beſtimmten normwidrigen Erfolg
verurſachen werde
. Aber die Handlung verurſacht den
vorgeſtellten Erfolg nicht; Erfolg und Vorſtellung des Er-
folges decken ſich in einem weſentlichen Punkte nicht.


Die Beziehung des Verſuches zur Fahrläſſigkeit iſt ſomit
eine unläugbare: hier Zurechnung des eingetretenen nicht vor-
geſtellten Erfolges; dort Zurechnung des vorgeſtellten nicht
eingetretenen Erfolges.


Aus dem Geſagten folgt:


1. daß wohl Verſuch eines vorſätzlichen, nicht aber
Verſuch eines fahrläſſigen Verbrechens möglich iſt, da dieſes
begrifflich mangelnde Vorſtellung der Kauſalität des Thuns
erfordert; ſowie ferner, daß der Verſuch ſelbſt weder ein
vorſätzlicher noch ein fahrläſſiger ſein kann, da er ein von
beiden Begriffen verſchiedenes Verhältnis von Erfolg und
Vorſtellung vorausſetzt; und endlich, daß die Möglichkeit
eines Verſuches jener qualifizierten Verbrechensfälle ausge-
[136]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
ſchloſſen iſt, bei welchen (vgl. unten §. 54 I 3) die objektive
wenn auch nicht verſchuldete (oben §. 27 II) Thatſache des
Eintrittes eines beſtimmten ſchwereren Erfolges zum Straf-
ſchärfungsgrund gemacht iſt.


2. Daß auch bei generellem Vorſatze Verſuch möglich
iſt;4 der ſchwerſte der vorgeſtellten nicht eingetretenen Erfolge
giebt den Ausſchlag (vgl. oben §. 28 IV a. E.).


V. Der Verſuch beruht immer auf einem Irrtume
über die Kauſalität des Thuns, d. h. auf der (irrigen) An-
nahme, daß eine zur Herbeiführung des vorge-
ſtellten Erfolges untaugliche Handlung zur Her-
beiführung tauglich ſei
.


Es iſt mithin eine ganz ſchiefe Anwendung an ſich nur
relativer Begriffe, wenn man zwiſchen Verſuch mit untaug-
lichem Mittel und Verſuch an untauglichem Objekt unter-
ſcheiden will. Nur die Tauglichkeit der Handlung, als
des Mittels zum Zwecke, ſteht zur Frage. Ferner: eine
beſtimmte vorgenommene Handlung kann zur Herbeiführung
eines beſtimmten vorgeſtellten Erfolges immer nur tauglich
oder nicht tauglich, d. h. kauſal oder nicht kauſal ſein, nicht
aber mehr oder weniger nicht kauſal; die Unterſcheidung
zwiſchen abſoluter und relativer Untauglichkeit des Mittels
(oder des Objektes) iſt daher eine grobe Verkennung des
Urſachenbegriffes. Und endlich: Wenn das Weſen des
Verſuches in dem Irrtume über die Kauſalität des Thuns
beſteht, ſo kann dieſer Irrtum keinen Grund abgeben, um
einzelne Verſuchsfälle nicht ſtrafen zu wollen.


In der Terminologie der herrſchenden Anſicht hieße das:
auch der Verſuch mit abſolut untauglichem Mittel
[137]Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.
oder an abſolut untauglichem Objekte iſt ſtrafbar,5
(d. h. kann vom Geſetzgeber geſtraft werden).


Wir müſſen dieſem Satze aber doch wohl eine Ein-
ſchränkung beifügen. Der Geſetzgeber hat die Frage nach
der Strafbarkeit des Verſuches bei „Untauglichkeit des Mit-
tels oder Objektes“ nicht ſelbſt gelöſt, ſondern die Löſung
der Wiſſenſchaft überlaſſen. Daraus folgt, daß wir die
Löſung nicht im Geſetze ſuchen, die Frage nicht aus dem
Wortlaute des Geſetzes heraus entſcheiden dürfen.
Wir müſſen zurückkehren auf den legislativen Grund der
Strafbarkeit des Verſuches. Und dieſer liegt m. E. darin,
daß jede normwidrige Handlung eine Gefahr für die
Rechtsgüterwelt in ſich birgt. Der Begriff der Gefahr
wurde oben §. 3 III 2 beſprochen. Nicht Gefähr-
dung
, ſondern Herbeiführung einer Gefahr im Sinne
unſerer Terminologie bildet den Grund für die Strafbar-
keit des Verſuches
. Dieſe entfällt mithin, wenn eine
Gefahr nicht herbeigeführt worden iſt
, alſo wenn
die Konſtellation, die der Thäter bewirkte, eine ſolche war,
daß in einem verſchwindend kleinen Perzentſatz von Fällen
der Erfolg einzutreten pflegt. Hieher würden die bekannten
Schulfälle gehören: das Totbeten, Neſtelknüpfen, Verhexen;
der Verſuch, den B, der auf einem in Kanonenſchußweite
vom Ufer entfernten Schiffe ſich befindet, mittelſt einer Piſtole
vom Ufer aus zu töten; Mordverſuch mit ungeladenem Ge-
wehr, mit Zucker uſw. Beſondere, ganz außergewöhnliche
[138]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
Komplikationen können auch in dieſen Fällen den Erfolg herbei-
führen (man denke an die durch die Handlung hervorgerufene
pſychiſche Erregung des Bedrohten). Bei weiterem Eingehen
auf die Frage würde die Verſchiedenheit der Normen (oben
§. 3 II), ihre nähere oder entferntere Beziehung zu dem zu
ſchützenden Rechtsgute von Bedeutung werden. Für unſere
Zwecke genügt das Geſagte. Nochmals ſei aber betont:


1. Jeder Verſuch iſt normwidrig und könnte daher ge-
ſtraft werden; nicht jeder iſt poſitiv-rechtlich ſtrafbar.


2. Wir ſagen nicht: ſtrafbar iſt der gefährliche Verſuch,
ſondern: nicht ſtrafbar iſt der ungefährliche Verſuch. Daß
der Begriff der Gefahr ein relativer, iſt kein Einwand gegen
die Richtigkeit dieſes Satzes, der ſich bemüht, das in uns
allen vorhandene Rechtsgefühl zur Klarheit eines juriſtiſchen
Gedankens zu erheben.


§. 33.
Der Verſuch im poſitiven Recht.

Jede verſuchte Normübertretung iſt an ſich normwidriges
Handeln, mithin Delikt, und darum geeignet die Straffolgen
nach ſich zu ziehen. Aber der Staat hat keine Veranlaſſung
in allen Fällen ſchon die verſuchte Normübertretung mit
Strafe zu belegen.


I. Der Geſetzgeber kann und wird ſich darauf beſchränken,
nur die verſuchte Uebertretung gewiſſer Normen unter
Strafe zu ſtellen. Prinzipiell würde es ſich empfehlen, die
Unterſcheidung zwiſchen den allgemeinen Normen und den
Gehorſamsnormen (vgl. oben §. 3 II) zu Grunde zu legen,
und die verſuchte Uebertretung der letzteren ſtraflos zu laſſen.
Anders das poſitive Recht.


[139]Der Verſuch im poſitiven Recht. §. 33.

Das RStGB. geht in §. 43 von der Dreiteilung der
ſtrafbaren Handlungen aus:


Der Verſuch eines Verbrechens wird immer, der
eines Vergehens ausnahmsweiſe
in den beſonders aus-
gezeichneten Fällen,1der einer Uebertretung nie ge-
ſtraft
.


Dagegen macht das Geſetz — im Prinzipe wenigſtens —
keinen Unterſchied zwiſchen Geboten und Verboten.2
Daß auch bei der Uebertretung eines Gebotes, alſo bei dem
ſogenannten echten Unterlaſſungsdelikte, Verſuch möglich iſt,
ſoweit es ſich um doloſe Unterlaſſung handelt, kann bei rich-
tiger Auffaſſung der Unterlaſſungsdelikte (vgl. oben §. 21 II)
keinem Zweifel unlerliegen.3


II. Das poſitive Recht kann ferner entweder einzelne
Handlungen
, die ſich als verſuchte Uebertretung einer be-
ſtimmten Norm darſtellen, herausgreifen, und nur dieſe
Verſuchshandlungen mit Strafe bedrohen; oder aber jeden
Verſuch der Uebertretung einer beſtimmten Norm unter
Strafe ſtellen. Letzteres iſt, ſeitdem einmal der allgemeine
Begriff des Verſuchs durch die italieniſche Jurisprudenz des
Mittelalters ausgebildet worden war, der regelmäßig von
der Geſetzgebung eingeſchlagene Weg. Nur ganz ausnahms-
weiſe und nur wenn entfernte Verſuchshandlungen (ſogen.
Vorbereitungshandlungen) in Frage ſtehen, entſchließt ſich der
Geſetzgeber dazu, dieſe Fälle des ſtrafbaren Verſuches durch
[140]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
individuelle Bezeichnung vor allen anderen hervorzuheben.
Vgl. StGB. §§. 83—85, 151, 201; teilweiſe hieher ge-
hörend §. 49 a. Durch die beſondere Bezeichnung dieſer
Handlungen wird ihre Verſuchsnatur nicht geändert; daraus
folgt, daß Verſuch derſelben, der als Verſuch in zweiter Po-
tenz erſcheinen würde, nicht möglich iſt.4


III. Der Geſetzgeber kann weiter entweder für die ver-
ſuchte und die vollendete ſtrafbare Handlung einen gemein-
ſchaftlichen
, oder für jede einen beſonderen Strafrahmen
aufſtellen. Das letztere hat die Reichsgeſetzgebung gethan.
Nach StGB. §. 44 iſt das verſuchte Verbrechen oder
Vergehen milder zu beſtrafen als das vollendete
,
und zwar nach der folgenden Reduktionsſkala:


Iſt das vollendete Verbrechen mit dem Tode oder mit
lebenslänglichem Zuchthaus bedroht, ſo tritt Zuchthausſtrafe
nicht unter drei Jahren ein, neben welcher auf Zuläſſigkeit
von Polizeiaufſicht erkannt werden kann. Lebenslängliche
Feſtungshaft wird durch Feſtungshaft nicht unter drei Jahren
erſetzt. In allen übrigen Fällen kann die Strafe bis auf
¼ des Mindeſtbetrages der auf das vollendete Verbrechen
oder Vergehen angedrohten Freiheits- oder Geldſtrafe er-
mäßigt werden. Iſt hiernach Zuchthausſtrafe unter einem
Jahre verwirkt, ſo iſt dieſelbe nach Maßgabe des §. 21
StGB. in Gefängnis zu verwandeln.


Das Prinzip der milderen Beſtrafung des Verſuches
wird jedoch durch eine wenn auch unbedeutende Zahl von
Ausnahmen durchbrochen.


1. Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Zu-
läſſigkeit der Polizeiaufſicht kann unter denſelben Voraus-
[141]Der Verſuch im poſitiven Recht. §. 33.
ſetzungen bei dem verſuchten, wie bei dem vollendeten Ver-
brechen oder Vergehen ausgeſprochen werden (StGB. §. 45).


2. In einer Reihe von Fällen iſt das „Unternehmen
einer ſtrafbaren Handlung ihrer Vollendung in der Beſtra-
fung gleichgeſtellt. Vgl. StGB. §§. 81, 82, 105, 114,
122 Abſ. 1, 159, 357; Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober
1867 §. 11, Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134
und 135, Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §§. 32 und
38, uſw. Durch dieſe Gleichſtellung in der Beſtrafung wird
der Verſuchscharakter des „Unternehmens“ nicht berührt;
damit entfällt die Möglichkeit eines ſtrafbaren Verſuchs des-
ſelben, der auch hier Verſuch in zweiter Potenz wäre.


3. Soweit Vorbereitungshandlungen beſtraft werden,
fallen ſie nicht unter den reduzirten, ſondern unter einen
beſonderen Strafrahmen. StGB. §§. 83—86, 151, 201,
teilweiſe 49 a.


4. Endlich beſtraft §. 80 StGB. den hochverräteriſchen
Mordverſuch wie den Mord ſelbſt mit dem Tode; auch
§. 153 Gew. Ordg. ſtellt Verſuch und Vollendung in der
Strafe einander gleich.


IV. Auch der Verſuch iſt Handlung im engeren Sinne,
alſo willkürliche körperliche Bewegung, mag auch dieſelbe
ihren Abſchluß nicht gefunden haben. Die Handlung kann
aber auch aus einer ganzen Reihe von einzelnen, durch die
einheitliche Zweckvorſtellung zu einer Geſammtheit verbunde-
nen körperlichen Bewegungen beſtehen, die von der abſchlie-
ßenden Bewegung mehr oder weniger entfernt ſind. Jede
von ihnen, auch die entfernteſte, iſt bereits normwidriges
Thun, iſt, wenn auf den Erfolg gerichtet, bereits verſuchte
Normübertretung. Kriminalpolitiſche Erwägungen, unter
welchen die Schwierigkeit der Beweisführung (für die Rich-
[142]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
tung auf einen beſtimmten Erfolg) die erſte Rolle ſpielt,
machen es wünſchenswert, nur die näheren, nicht ſchon die
entfernteren Verſuchshandlungen zu beſtrafen. So entſteht
der Unterſchied zwiſchen ſtrafloſen Vorbereitungs- und
ſtrafbaren (eigentlichen) Verſuchshandlungen
. Statt
nun, wie es am zweckmäßigſten wäre, die Einteilung einer
in Frage ſtehenden konkreten Handlung in die eine oder die
andere Kategorie dem Ermeſſen der Praxis im Einzelfalle
zu überlaſſen, hat die Reichsgeſetzgebung im Anſchluſſe an
das franzöſiſche Recht es unternommen, die Grenzlinie ein
für allemal zu ziehen. Dieſem Beſtreben verdanken wir die
ſcheinbare5 Verſuchsdefinition im StGB. §. 43: Verſuch iſt
Bethätigung des Entſchluſſes, ein Verbrechen oder Vergehen
zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang
der Ausführung dieſes Verbrechens oder Ver-
gehens enthalten
. Die Grenzlinie zwiſchen Vorberei-
tung und Verſuch im engeren Sinne (ſtrafbarem Verſuch)
bildet demnach der Anfang der Ausführung, mit an-
deren Worten: Verſuchshandlungen ſind jene Folgen,
welche bereits wirklicher Beſtandteil der im Geſetze

mit Strafe bedrohten That ſind.6 Beiſpiele: Der ſtraſ-
bare Verſuch der Doppelehe beginnt erſt mit dem Akte der
(zweiten) Eheſchließung, der Verſuch des Meineids erſt mit dem
Beginne des Schwuraktes; der Verſuch der Entführung, des
Diebſtahls erſt in dem Augenblicke, in welchem die Schutz-
gewalt, der Gewahrſam des Machthabers geſtört wird uſw.


[143]Der Rücktritt vom Verſuche. §. 34.

Die Ausführungshandlung ſelbſt muß begonnen
haben
. Daß dieſe Beſchränkung den Bedürfniſſen der
Rechtsordnung nicht genügt, bedarf wohl kaum eines Nach-
weiſes.


Nur ausnahmsweiſe hat der Geſetzgeber auch Vorbe-
bereitungshandlungen
unter Strafe geſtellt. Hieher ge-
hören die oben unter III 2 und 3 angeführten Fälle.7


Die Beſchränkung des ſtrafbaren Verſuches auf den Be-
ginn der Ausführungshandlung ergiebt die Unmöglichkeit
eines ſtrafbaren Verſuches in jenen Fällen, in welchen die
Ausführungshandlung ſelbſt ſchon im erſten Zeitteilchen ihrer
Verwirklichung dem geſetzlichen Thatbeſtande voll und ganz
entſpricht. Ein Beiſpiel bieten die durch Verbreitung von
Druckſchriften begangenen ſtrafbaren Handlungen.8


§. 34.
Der Rücktritt vom Verſuche.

I. In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwiſchen
den ſtrafloſen Vorbereitungshandlungen und dem ſtrafbaren
Verſuche überſchritten wird, in demſelben Augenblicke iſt die
auf den Verſuch geſetzte Strafe verwirkt. Das normwidrige
Thun hat aufgehört, nur Delikt zu ſein, es iſt Verbrechen
geworden. Dieſe Thatſache kann nicht mehr geändert, nicht
„nach rückwärts annulliert“, nicht aus der Welt geſchafft
werden. Wohl aber kann die Geſetzgebung aus kriminal-
politiſchen Gründen dem bereits ſtraffällig gewordenen Thäter
[144]Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.
eine „goldene Brücke“ zum Rückzuge bauen. Sie hat es
gethan, indem ſie den freiwilligen Rücktritt zum Straf-
aufhebungsgrunde
machte (StGB. §. 46).1


Der freiwillige Rücktritt iſt unmöglich, wenn die Herr-
ſchaft über die That und ihre Folgen bereits dem Thäter
entriſſen iſt, alſo ſowohl beim ſuſpendierten Erfolg wie beim
fehlgeſchlagenen Verbrechen (vgl. oben §. 32 II 1 und 2).
Er iſt dagegen möglich:


1. Bei dem nichtbeendeten Verſuche (oben §. 32
II 4) durch Nichtvollendung der Handlung (StGB. §. 46
Nr. 1). Der Thäter läßt den zum Schlage erhobenen Arm
ſinken; die nach dem Giftbecher ausgeſtreckte Hand zieht ſich
zurück.2


2. Bei dem beendeten Verſuche (oben §. 32 II 3)
durch Abwenden des Erfolges, alſo durch direktes Eingreifen
in das bereits rollende Rad des Kauſalzuſammenhanges
(StGB. §. 46 Nr. 2): der abgeſendete Brief wird während
des Poſtlaufes zurückverlangt, die Wirkung des Giftes durch
Gegengift paralyſiert.


II. In beiden Fällen verlangt das Geſetz Freiwillig-
keit
des Rücktritts.3 Ihren Gegenſatz bildet die thatſäch-
liche oder angenommene Unmöglichkeit der Vollendung des
Verbrechens. Im zweiten Falle iſt die ſtrafaufhebende Wir-
kung des Rücktrittes an die weitere Bedingung geknüpft, daß
die Handlung noch nicht entdeckt, d. h. noch Niemandem
[145]Der Rücktritt vom Verſuche. §. 34.
außer den an der That beteiligten Perſonen bekannt war.
Auch Kenntnisnahme durch denjenigen, gegen den die Hand-
lung gerichtet war, ſchließt die Annahme der Freiwilligkeit
aus; bei denjenigen Delikten, bei welchen die Erzielung dieſer
Kenntnisnahme zur Ausführungshandlung gehört (z. B. Er-
preſſung) iſt demnach §. 46 Nr. 2 überhaupt nicht anwendbar;
RGR. 12. März 1880, E I 307, R I 453.


III. Den freiwilligen Rücktritt behandelt das RStGB.
als Strafaufhebungsgrund; nicht mehr iſt, wie im
preußiſchen und anderen partikularen Strafgeſetzbüchern, die
Nichtfreiwilligkeit der Nichtvollendung Bedingung der Straf-
barkeit des Verſuches. Das heißt: der Rücktritt beſeitigt die
bereits verwirkte Strafe, aber er ändert nichts an dem Ver-
brechenscharakter der Verſuchshandlung. Und daraus folgt:


1. Der Rücktritt des Thäters macht weder den Mit-
thäter noch den Anſtifter oder Gehülfen ſtraffrei;4 denn die
Thatſache, daß ſie ſich an einer ſtrafbaren Handlung betei-
ligt haben, bleibt beſtehen.


2. Aber die Teilnehmer können ſich ſelbſt der Wohl-
that des Geſetzes teilhaft machen: Anſtifter und Gehülfe
allerdings nicht durch Nichtvollendung der Handlung nach
§. 46 Nr. 1, denn hatten ſie ihre Handlung noch nicht
beendet, ſo waren ſie überhaupt noch nicht ſtrafbar geworden
(vgl. unten §. 37 I 2 a und II 2); wohl aber durch ſelbſtän-
dige Abwendung des Erfolges nach §. 46 Nr. 2.


3. Nur die Strafe der verſuchten Handlung entfällt
(§. 46: „der Verſuch als ſolcher bleibt ſtraflos“), nicht
aber die Strafbarkeit der etwa in der Verſuchshandlung ge-
legenen vollendeten anderweitigen Normübertretung. So
von Liszt, Strafrecht. 10
[146]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
bleibt trotz Abwendung des Erfolges beim Giftmordverſuch
die Beibringung des Giftes nach StGB. §. 229 ſtrafbar.


IV. Wenn Vorbereitungshandlungen mit beſonderer
Strafe bedroht ſind oder das unternommene dem vollendeten
Verbrechen in der Beſtrafung gleichgeſtellt iſt (vgl. oben
§. 32 III 2 und 3), ſo entſpricht es wohl am meiſten der
Abſicht des Geſetzes, hier die ſtrafaufhebende Wirkung des
Rücktrittes auszuſchließen. Wir ſind berechtigt, dies zu thun,
weil jene Wirkung nicht aus dem Begriffe der Verſuchshand-
lung folgt, ſondern auf beſonderer poſitiv-rechtlicher Anord-
nung beruht.5


VII. Chäterſchaft und Teilnahme.1


§. 35.
Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme.

I. Knüpfen wir an das oben in der Lehre vom Kauſal-
zuſammenhange Geſagte an. Könnten wir den theoretiſch
allein richtigen Satz, daß jeder, der durch ſeine ſchuldhafte
Handlung eine Bedingung für den Eintritt des Erfolges ge-
ſetzt hat, für dieſen als Urſacher verantwortlich zu machen
iſt, konſequent durchführen, dann wären Thäterſchaft und
Verurſachung identiſche Begriffe, die Lehre von der Teilnahme
hätte keine oder nur eine untergeordnete Stelle im Syſteme
des Strafrechts. Aber das poſitive Recht hat, wie bereits
[147]Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme. §. 35.
bemerkt (oben §. 20 III) dieſen Satz durch eine hochwichtige
Ausnahme durchbrochen.


Liegt zwiſchen einer Bedingung und dem einge-
tretenen Erfolge eine freie
(d. h. nicht im Notſtande
begangene) und vorſätzliche (d. h. von der Vorſtellung ihrer
Kauſalität begleitete) menſchliche Handlung als Zwi-
ſchenurſache in der Mitte, ſo betrachtet das poſitive
Recht nur dieſe letzte Handlung als Urſache des
Erfolges
. Das Setzen jener Bedingung kann daher nur
als Bedingung dieſer Handlung, wenn überhaupt, in
Betracht gezogen werden; nicht aber als mittelbare Urſache
des letzteingetretenen, durch dieſe Handlung herbeigeführten
Erfolges. So entſteht der juriſtiſche Begriff der Teil-
nahme
: das Setzen einer Bedingung für den Eintritt des
durch weitere Zwiſchenurſachen vermittelten Erfolges, aufge-
faßt nicht als Bedingung des Erfolges, ſondern als Be-
dingung der Zwiſchenurſache.2 Durch dieſen Gegenſatz ge-
winnt der Begriff der Thäterſchaft prägnantere Geſtalt und
engere Bedeutung.


Die beiden Formen der Teilnahme ſind Anſtiftung
und Beihülfe: erſtere die Hervorrufung des Entſchluſſes
zur That, letztere die Unterſtützung der Ausführung der
That.


II. Aus dem Geſagten ergiebt ſich eine Reihe von Kon-
ſequenzen.


1. Teilnahme (in den beiden Formen der Anſtiftung und
[148]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
Beihülfe) iſt nur möglich bei vorſätzlichem, ausge-
ſchloſſen bei fahrläſſigem Handeln des Thäters
;
denn nur jenes, nicht dieſes wird von dem Geſetzgeber als
„Unterbrechung des Kauſalzuſammenhanges“ aufgefaßt. Iſt
die letzte Zwiſchenurſache eine fahrläſſige Handlung, ſo tritt
der allgemeine uneingeengte Begriff der Thäterſchaft wieder
in Geltung: Thäter iſt Jeder, der verurſacht, d. h. eine Be-
dingung zum Erfolge geſetzt hat (vgl. das oben §. 20 III
angeführte Beiſpiel); mit anderen Worten: der Unterſchied
zwiſchen Thäterſchaft und Teilnahme verſchwindet hier wieder.


2. Fahrläſſige Teilnahme an vorſätzlichem Thun
muß ſtraflos bleiben
; auch hier iſt mit der vom Geſetze
angenommenen Unterbrechung des Kauſalzuſammenhanges
der Begriff der Thäterſchaft unvereinbar, der Begriff der
Teilnahme aber nach poſitiv-rechtlicher Anordnung nicht
anwendbar.3


3. Teilnahme iſt Beteiligung an dem Verbrechen
eines Anderen
. Sie erhält ihren ſtrafrechtlichen Charakter
durch die That des Thäters; ſie entfällt daher, wenn es
zu einem Thun des Thäters überhaupt nicht gekommen oder
wenn dieſes kein verbrecheriſches im Sinne des Geſetzes iſt
(ſei es wegen fehlender Handlung, fehlender Normwidrigkeit,
fehlender Schuld, Mangels einer Bedingung der Strafbar-
keit); ſie bleibt aber beſtehen trotz des Vorliegens eines
Strafaufhebungsgrundes, eines ſubjektiven Strafausſchlie-
[149]Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme. §. 35.
ßungsgrundes, oder eines nur den Thäter berührenden Hin-
derniſſes der Strafverfolgung (vgl. §. 17 und §. 30 III).


4. Teilnahme an der Teilnahme iſt wegen der un-
ſelbſtändigen Natur der letzteren nur als mittelbare Teil-
nahme an der Haupthandlung ſtrafbar.


5. Mehrfache Teilnahme an derſelben Hauptthat iſt
immer nur ein Verbrechen; bei Teilnahme an mehreren
Hauptthaten durch dieſelbe Handlung (z. B. ein anſtiftendes
Wort) iſt wegen der unſelbſtändigen, von der Hauptthat
beſtimmten Natur der Teilnahme, reale Konkurrenz eben-
ſovieler Verbrechen anzunehmen.


III. Die Abgrenzung der Thäterſchaft von der Anſtiftung
iſt eine einfache und klare: dieſe iſt die Urſache jener.
Schwieriger ſind Thäterſchaft und Beihülfe auseinander zu
halten; es bedarf hier poſitivrechtlicher Anordnung. Das
Geſetz verwendet zur Abgrenzung den bereits oben §. 33
IV beſprochenen Begriff der Ausführungshandlung.
Thäter
iſt derjenige, der die Ausführungshandlung ſetzt;
Gehülfe derjenige, der in anderer Weiſe an der That be-
teiligt iſt. Aber dieſe Unterſcheidung genügt dem Geſetze
noch nicht, und ſo bildet es den Begriff der Mitthäter-
ſchaft
als Zwiſchenglied. Mitthäter iſt derjenige, der einen
Teil der Ausführungshandlung
begangen hat; Thäter
derjenige, der die ganze Ausführungshandlung geſetzt hat.


Und damit haben wir das von der R. Geſetzgebung auf-
geſtellte Schema gewonnen:


  • 1. Thäterſchaft;
  • 2. Teilnahme:
    • a) Mitthäterſchaft,
    • b) Anſtiftung,
    • c) Beihülfe.

[150]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.

IV. Die Begünſtigung iſt, weil dem Eintritte der
Vollendung zeitlich nachfolgend, nie Setzen einer Bedingung
zum Erfolge, mithin nie Teilnahme; wir haben daher
keinen Grund, von der durchaus ſachgemäßen Auffaſſung des
Geſetzgebers, der ſie in den beſonderen Teil geſtellt hat, ab-
zuweichen.


V. Bei mehrfacher Beteiligung derſelben Perſon an
demſelben Delikte wird die ſchwerere Form der Beteiligung
durch die leichtere konſumiert, wie ja auch Vorbereitung und
Verſuch neben der Vollendung des Verbrechens nicht mehr
in Betracht kommen. Vgl. unten §. 40 II. Wenn der An-
ſtifter ſich ſpäter an der Ausführung des Verbrechens als
Thäter oder aber als Gehülfe beteiligt, behandelt ihn das
Strafrecht im erſten Falle nur als Thäter, im zweiten nur
als Anſtifter.


Daß dieſer Satz auf das Verhältnis der Teilnahme zur
Begünſtigung keine Anwendung findet, bedarf nach dem oben
unter IV Geſagten keines Beweiſes.


§. 36.
Thäterſchaft und Mitthäterſchaft.

I. Thäter iſt derjenige, der die ganze Ausführungs-
handlung begeht
, den geſetzlichen Thatbeſtand des Ver-
brechens voll und ganz verwirklicht; Notzüchter alſo z. B.
derjenige, der nötigt und geſchlechtlich mißbraucht; Räuber
derjenige, der Gewalt anwendet und die Sache wegnimmt.
Dabei macht es keinen Unterſchied, ob der Erfolg lediglich
durch eigene körperliche Thätigkeit, oder durch Benutzung der
Naturkräfte, eines Werkzeuges, eines Thiers, eines Zurech-
nungsunfähigen herbeigeführt wurde; die Benutzung der
[151]Thäterſchaft und Mitthäterſchaft. §. 36.
Handlung eines Zurechnungsfähigen dagegen ſchließt nur
dann die Thäterſchaft nicht aus, wenn der Gebrauchte ent-
weder unfrei (d. h. genötigt) oder unvorſätzlich (d. h. ohne
die Vorſtellung der Kauſalität ſeines Thuns) gehandelt hat.1
Man ſpricht in ſolchen Fällen (nicht ganz genau) von fin-
gierter
Thäterſchaft. Dieſe mittelbare Begehung ermöglicht
die Annahme der Thäterſchaft auch dort, wo körperliche oder
überhaupt unmittelbare Begehung unmöglich wäre: ſo kann
ſich eine Frauensperſon der Notzucht oder der Päderaſtie,
ein Nichtverwandter der Blutſchande, ein Nichtbeamter eines
eigentlichen Amtsdeliktes auf dem Wege der fingierten Thäter-
ſchaft ſchuldig machen. Das Geſetz hat dieſen ziemlich all-
gemein anerkannten Satz nur in §. 160 StGB. (Verleitung
zum Falſcheide) verleugnet. Dagegen unterbricht die freie
und vorſätzliche Handlung eines Zurechnungsfähigen den Kau-
ſalzuſammenhang (vgl. RGR. 17. Januar 1880, E I 146).2


II. Mitthäter iſt derjenige, der in Gemeinſchaft mit
einem Andern vorſätzlich einen Teil der Ausfüh-
rungshandlung
ſetzt (StGB. §. 47).3 Eine Handlung,
die nicht Ausführungshandlung iſt, d. h. nicht in den Kreis
des vom Geſetze mit Strafe bedrohten Thuns hineinfällt,
kann nie Mitthäterſchaft begründen.4 So ſind A und B Mit-
thäter, wenn A die Frauensperſon C vergewaltigt oder den
D mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht
und B die C mißbraucht oder dem D die Brieftaſche weg-
[152]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
nimmt: denn Gewalt und Drohung ſind Thatbeſtandsmerk-
male für Notzucht und Raub. Wenn aber A Wache ſtand,
während B einen Einbruchsdiebſtahl verübte, ſo iſt A nicht
Mitthäter ſondern Gehülfe; denn das Wacheſtehen iſt nicht
Ausführungshandlung beim Diebſtahl. Mitthäterſchaft iſt
eine Form der Teilnahme, mithin (oben §. 35 II 1) nur
beim vorſätzlichen Verbrechen möglich; beim fahrläſſigen Ver-
brechen iſt Jeder, der eine Bedingung zum Erfolge ſchuld-
haft geſetzt hat, nicht Mitthäter, ſondern Thäter. Das
praktiſche Reſultat iſt übrigens das gleiche: Jeder Mitthäter
wird als Thäter beſtraft.


§. 37.
Anſtiftung und Beihülfe.

I.Die Anſtiftung.


1. Anſtiftung iſt die vorſätzliche Beſtimmung eines
Anderen zu der von ihm vorſätzlich begangenen
ſtrafbaren Handlung
(StGB. §. 48), mag dieſe Ver-
brechen, Vergehen oder Uebertretung ſein. Durch welche
Mittel der Andere beſtimmt wurde, iſt für den Begriff der
Anſtiftung irrelevant; auch Zwang und Irrtumserregung
ſind geeignete Mittel, ſolange der erſtere nicht in Nötigung
übergeht, und der Irrtum nicht die Vorſätzlichkeit des Thuns
ausſchließt.


2. Die Anſtiftung ſetzt als Form der Teilnahme eine
zum Mindeſten verſuchte ſtrafbare Handlung auf
Seiten des Angeſtifteten voraus. Sie bleibt mithin ſtraflos,
wenn es auf Seiten des Thäters zu einem ſtrafbaren Ver-
ſuche nicht gekommen
iſt. Daher iſt


  • a) die verſuchte oder mißlungene Anſtiftung ſtraflos
    [153]Anſtiftung und Beihülfe. §. 37.
    (als ſolche erſcheint auch die Anſtiftung des ſog. alias
    facturus,
    d. h. des ſchon vor der Einwirkung zur That
    Entſchloſſenen). Doch beſtraft unſere Geſetzgebung in
    einzelnen Fällen ausnahmsweiſe auch die erfolglos ge-
    bliebene Anſtiftung; ſo StGB. §§. 111, 141, 159,
    210, 357; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872
    §. 88; vgl. auch die unten §. 38 II erwähnten Fälle.
  • b) Der Anſtifter bleibt ferner ſtraflos, wenn er ſelbſt das
    Zuſtandekommen der ſtrafbaren Handlung verhindert
    hat, ſei es durch pſychiſche, ſei es durch phyſiſche Ein-
    wirkung (daß „Widerruf“ nicht genügt, ſollte wohl
    ſelbſtverſtändlich ſein). Dieſer Satz ergiebt ſich aus
    der acceſſoriſchen Natur der Anſtiftung, und iſt nicht
    als Rücktritt vom Verſuche nach StGB. §. 46 Nr. 1
    zu konſtruieren (vgl. auch oben §. 34 III 2).
  • c) Wenn der Geſetzgeber Verſuchs- oder Vorbereitungs-
    handlungen als delicta sui generis unter beſondere
    Strafe geſtellt hat, ſo iſt Anſtiftung zu dieſen ſelb-
    ſtändig ſtrafbaren Handlungen möglich.

3. Der Anſtifter haftet nur für die von ihm vorſätzlich
(d. h. mit dem Bewußtſein der Kauſalität ſeines Thuns)
hervorgerufene Handlung. Decken ſich Handlung des An-
geſtifteten und Anſtiftervorſatz in einem weſentlichen Punkte
nicht, ſo liegt diesbezüglich Anſtiftung nicht vor. Die oben
§. 28 IV, V für den Vorſatz überhaupt gegebenen Regeln
beanſpruchen auch hier durchgreifende Geltung. Hiernach iſt
der ſog. excessus mandati (ganz ſchiefer Ausdruck), hiernach
ſind aberratio ictus und error in objecto, die dem Ange-
ſtifteten begegnen, zu beurteilen. Iſt in Folge einer der beiden
letztgenannten Eventualitäten der Vorſatz des Hauptthäters
ausgeſchloſſen, ſo entfällt damit nach allgemeiner Regel die
[154]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
Anſtiftung; doch kann hier auf Seiten des ſcheinbaren An-
ſtifters (fingierte) Selbſtthäterſchaft vorliegen.


4. Die Strafe des Anſtifters iſt nach demjenigen Ge-
ſetze zu beſtimmen, welches auf die Handlung Anwendung
findet, zu welcher er wiſſentlich angeſtiftet hat.


5. Von dem Anſtifter verſchieden iſt der „Anführer
oder „Rädelsführer“ (ein nicht-techniſcher Begriff), der
von der Geſetzgebung an manchen Stellen — ſo StGB.
§§. 115, 125; Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 146
und 147; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §§. 89,
91 u. A. — erwähnt wird.1


II.Die Beihülfe.


1. Beihülfe iſt die vorſätzliche Unterſtützung des
von einem Anderen begangenen vorſätzlichen Ver-
brechens oder Vergehens
(StGB. §. 49). Die Unter-
ſtützung der fremden Handlung kann eine pſychiſche oder
phyſiſche ſein („Rat oder That“), ſie kann auch in der vor
der That gegebenen Zuſage nachträglicher Begünſtigung der-
ſelben beſtehen (StGB. §. 257 Abſ. 3). Nie aber darf ſie
Teil der Ausführungshandlung ſelbſt ſein.


2. Auch die Beihülfe ſetzt als Form der Teilnahme eine
zum Mindeſten verſuchte ſtrafbare Handlung auf Seiten
des Hauptthäters voraus. Will die Geſetzgebung die Bei-
hülfe zu einem an ſich ſtrafloſen Thun (z. B. Beihülfe zum
Selbſtmorde) unter Strafe ſtellen, ſo bedarf dies ausdrück-
licher Erklärung. Das StGB. hat dies in den §§. 120,
121, 180, 285, 347, 355 gethan. Im übrigen findet das
oben unter I 2 Geſagte auch auf die Beihülfe mit der Mo-
[155]Anſtiftung und Beihülfe. §. 37.
difikation Anwendung, daß der Verſuch der Beihülfe nur
im Falle des §. 347 StGB. mit Strafe belegt iſt.


3. Auch für den Gehülfen iſt der ſtrafrechtliche Cha-
rakter der Hauptthat nur inſoweit maßgebend, als die Vor-
ſtellung der Kauſalität ſeines Thuns ſich auf jene erſtreckte.
Vgl. oben I 3.


4. Die Strafe des Gehülfen iſt nach demjenigen Geſetze
zu beſtimmen, welches auf die Handlung Anwendung findet, zu
welcher er wiſſentlich Hülfe geleiſtet hat, jedoch nach den
über die Beſtrafung des Verſuches aufgeſtellten Grundſätzen
(vgl. oben §. 33 III) zu ermäßigen. Liegt Beihülfe zum
Verſuche vor, ſo iſt zweimalige Reduktion des Strafrahmens
nötig.


Nur ausnahmsweiſe droht das Geſetz dem Gehülfen
gleiche Strafe wie dem Thäter in StGB. §. 143. Einen
beſonderen Strafrahmen für die Beihülfe enthalten StGB.
§§. 203 und 219; Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869
§. 15 (gegen Makler und Unterhändler, welche wiſſentlich
unverſteuerte Wechſel verhandelt haben). Ausnahmsweiſe
belegt §. 18 Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878 die
Beihülfe (Hergeben von Räumlichkeiten zu verbotenen Ver-
einen und Verſammlungen) mit ſchwererer Strafe als die
Thäterſchaft (Beteiligen an ſolchen Vereinen):


5. Eine beſondere Form der Beihülfe enthält §. 92 der
Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872: Verweigerung
des Gehorſams gegenüber ſolchen Befehlen des Vorgeſetzten,
welche ſich auf Abwehr oder Unterdrückung von Nötigung
und Widerſtand beziehen.


III.Einfluß perſönlicher Verhältniſſe auf
die Strafbarkeit der Anſtiftung und der Beihülfe

(StGB. §. 50).


[156]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.

1. Strafſchärfungs- und Strafmilderungsgründe,
die in perſönlichen Eigenſchaften oder Verhältniſſen des Han-
delnden ihren Grund haben, ſind nur auf diejenigen
Teilnehmer zur Anwendung zu bringen, bei welchen ſie vor-
liegen
. Mit dieſem Satze, der bezüglich des Mitthäters
ſelbſtverſtändlich und nur bezüglich des Anſtifters und des
Gehülfen wirklich von Bedeutung iſt, hat der Geſetzgeber
eine der wichtigſten Konſequenzen aus ſeiner prinzipiellen
Auffaſſung, daß Teilnahme die Beteiligung an dem Ver-
brechen eines Anderen und nicht mittelbare Selbſtbege-
hung des Verbrechens ſei, mit aller Entſchiedenheit (und mit
vollem Rechte) abgelehnt. Beiſpiele: Wenn der Nichtver-
wandte B den Sohn A des Vaters C, oder die Mutter A
des neugeborenen Kindes C zur Tötung des Vaters oder
Kindes C beſtimmt hat; oder wenn umgekehrt der Sohn A
oder die Mutter A dem extraneus B zur Tötung des Vaters
oder des Kindes C Hülfe geleiſtet haben: ſo iſt in beiden
Fällen der Fremde B nach den Beſtimmungen über gemeine
Tötung, der Sohn A nach jenen über Aſcendententodſchlag,
die Mutter A nach jenen über Kindestötung zu beurteilen.
Die Anordnung der Geſetzgebung iſt ſchon darum richtig,
weil nur verſchieden qualifizierte Uebertretungen der einen
Norm: Du ſollſt nicht töten! vorliegen (vgl. oben §. 4 I 3).


2. Handelt es ſich dagegen um perſönliche Eigenſchaften
oder Verhältniſſe, welche ein an ſich ſtrafloſes Thun erſt zu
einem ſtrafbaren machen, welche die Strafbarkeit alſo
erſt begründen, nicht erhöhen oder vermindern (Bedingungen
der Strafbarkeit in dem oben §. 30 erörterten Sinne): ſo
ſind ſie, wenn beim Thäter vorliegend, dem Anſtifter und
Gehülfen zuzurechnen; fehlt es an einer ſolchen Bedingung
in der Perſon des Thäters, ſo liegt eine ſtrafbare Haupt-
[157]Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige Verbrechen. §. 38.
that überhaupt nicht vor, und es kann daher auch von Teil-
nahme an einer ſolchen keine Rede ſein.


Beiſpiel: Anſtiftung und Beihülfe zu einem reinen Amts-
verbrechen ſind nach den für dieſes gegebenen Beſtimmungen
zu beurteilen, während wenn der Beamte Anſtifter oder Ge-
hülfe, ein Nichtbeamter aber Thäter iſt, ein Verbrechen über-
haupt nicht vorliegt; denn der Nichtbeamte kann nur als
fingierter, nicht aber als unmittelbarer Thäter ein Amtsdelikt
begehen (vgl. oben §. 36 I).


3. Strafaufhebungsgründe (vgl. unten §. 57 I), pro-
zeſſuale Hinderniſſe der Strafverfolgung und ſubjektive Straf-
ausſchließungsgründe (oben §. 30 III) wirken immer nur
für denjenigen, in deſſen Perſon ſie vorliegen, ſchließen daher
die Möglichkeit einer Teilnahme an der objektiv ſtrafbaren
Handlung nicht aus.


§. 38.
Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige Verbrechen.

I. Der Vollſtändigkeit wegen und zur Vermeidung von
Mißverſtändniſſen ſei ausdrücklich erwähnt, daß der Geſetz-
geber in einzelnen Fällen Handlungen, die als Teilnahme-
handlungen erſcheinen könnten, wenn ſie in Beziehung zu
einem beſtimmten begangenen Verbrechen gebracht würden,
wegen ihres an ſich für die Rechtsordnung gefährlichen Cha-
rakters als ſelbſtändige Verbrechen aufgefaßt und unter
beſondere Strafe geſtellt hat. Dieſe Auffaſſung des Geſetz-
gebers iſt auch für die Wiſſenſchaft bindend. Die Grund-
ſätze, welche ſie in der Lehre von der Teilnahme entwickelt,
haben für dieſe ſelbſtändigen Verbrechen keine Geltung. So
ſind ſie ohne Rückſicht auf eine ſtrafbare Handlung des
[158]Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
Hauptthäters ſtrafbar und die Möglichkeit des Verſuchs wie
der Teilnahme richtet ſich nach den allgemeinen Grundſätzen.
Hier genüge die Ueberſicht über die wichtigſten Fälle; wir
werden dieſen und anderen im beſonderen Teile wieder be-
gegnen.


II. Es gehören hieher


1. Die öffentlichen Aufforderungen in StGB.
§§. 85, 110 (nicht 111), 130, Preßgeſetz vom 7. Mai 1874
§. 16.


2. Die Aufreizung in StGB. §. 112.


3. Der Duchesne-Paragraph 49a StGB.


4. Das Komplott oder die Verabredung zur Begehung
eines oder mehrerer beſtimmter Verbrechen;1 in StGB. §. 83
als ſelbſtändiges Verbrechen, ſonſt wohl auch — Vereins-
zollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 146 u. 147; Seemannsord-
nung vom 27. Dezember 1872 §§. 87 u. 91 — als Straf-
ſchärfungsgrund behandelt.


5. Dagegen iſt die Bande, das iſt die auf die Begehung
mehrerer noch nicht individuell beſtimmter Verbrechen gerichtete
Verbindung, in der Reichsgeſetzgebung — StGB. §§. 248
Nr. 6, 250 Nr. 2; Vereinszollgeſetz §. 146 — nur mehr
als Strafſchärfungsgrund von Bedeutung.


6. Endlich iſt die ſogenannte Konvenienz des Amts-
vorgeſetzten
StGB. §. 357 hier zu erwähnen.


[159]Natürliche u. juriſtiſche Einheit d. Handlung. §. 39.

VIII. Einheit und Mehrheit der Verbrechens-
handlung.1


§. 39.
Die natürliche und die juriſtiſche Einheit der Handlung.

I.Die natürliche Einheit der Handlung. Wenn
Handlung im weiteren Sinne die willkürliche Körperbewegung
mit dem durch ſie verurſachten Erfolge iſt, ſo kann die na-
türliche Einheit dieſer erweiterten Handlungsreihe gegeben ſein:


1. Durch die Einheit der Körperbewegung trotz
Mehrheit des Erfolges. Wenn ein Wort mehrere Menſchen
beleidigt, ein Schuß mehrere Jagdvögel trifft uſw., liegt
immer nur eine Handlung vor. Daran kann ſelbſt die
Art-Verſchiedenheit der eingetretenen mehreren Erfolge nichts
ändern. Hat der geſchleuderte Stein einen Menſchen ge-
tötet, den zweiten verletzt und außerdem eine Scheibe zer-
trümmert, ſo können wir nur von einer Handlung mit meh-
reren Erfolgen, nie aber von mehreren Handlungen ſprechen.
Eine durch poſitivrechtliche Anordnung geſchaffene Ausnahme
von dieſem Satze haben wir oben in §. 35 II 5 kennen
gelernt.


2. Durch die Einheit des Erfolges trotz Mehrheit
der Körperbewegungen. Sechs Schüſſe aus dem ſechsläufigen
Revolver treffen den B und töten ihn durch ihr Zuſammen-
wirken; der Dieb entwendet die ſämmtlichen, demſelben Eigen-
tümer gehörenden Wertgegenſtände, indem er ſie der Reihe
[160]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.
nach dem auf der Straße harrenden Genoſſen durchs Fenſter
zuwirft uſw.


Dagegen kann von einer natürlichen Einheit der Hand-
lung dann nicht mehr geſprochen werden, wenn ſowohl Mehr-
heit der Körperbewegungen als auch Mehrheit der Erfolge
vorliegt; wenn alſo z. B. durch die aus dem ſechsläufigen Re-
volver abgefeuerten Schüſſe 6 Perſonen getötet werden, oder
die mit mehreren diebiſchen Griffen entwendeten Gegenſtände
verſchiedenen Perſonen gehören.


II.Die juriſtiſche Einheit der Handlung. Der Be-
griff der Einheit iſt ein relativer, von dem Standpunkte des
Betrachters abhängiger. Nichts hindert uns, auch eine Mehr-
heit von Handlungen zu einer juriſtiſchen Einheit zuſammen-
zufaſſen. Die wichtigſten Fälle einer ſolchen künſtlich ge-
ſchaffenen Verbrechenseinheit ſind:


1. Das fortdauernde Verbrechen, d. i. die konti-
nuierliche (ununterbrochene) Verwirklichung eines Verbrechens-
begriffes. Beiſpiel: eine durch Wochen oder Monate an-
dauernde Freiheitsentziehung. Nicht zu verwechſeln mit dem
fortdauernden iſt das Zuſtandsverbrechen, welches durch
eine einmalige Handlung einen dauernden rechtswidrigen Zu-
ſtand erzeugt; hieher gehört z. B. die Doppelehe, der Dieb-
ſtahl uſw. Der rechtswidrige Zuſtand kommt als weitere
Folge der völlig abgeſchloſſenen Handlung ſtrafrechtlich nicht
in Betracht.


2. Das fortgeſetzte Verbrechen, d. i. die nicht kon-
tinuierliche, ſtoßweiſe Verwirklichung des Verbrechensbegriffes;
eine Mehrheit von Handlungen, juriſtiſch zuſammengehalten
durch die Gleichartigkeit der Schuld, der Körperbewegung
und des Erfolges. Wann dieſe Gleichartigkeit vorliegt, wann
nicht, läßt ſich durch eine allgemeine Regel hier ebenſowenig
[161]Natürliche u. juriſtiſche Einheit d. Handlung. §. 39.
wie in all’ den anderen Fällen entſcheiden, in welchen die
Rechtswiſſenſchaft mit dem Begriffe der Gleichartigkeit ar-
beitet. Deshalb das „fortgeſetzte“ Verbrechen überhaupt
leugnen wollen, heißt die Grenzlinie zwiſchen Theorie und
Praxis verkennen. Beiſpiele: Das ehebrecheriſche Verhältnis
des A mit der C führt zu einer Reihe von Beiſchlafsakten;
der Diener nimmt ſich täglich eine Cigarre aus dem Ci-
garrenkiſtchen ſeines Herrn; Verausgaben des auf einmal
ſich verſchafften falſchen Geldes in Teilbeiträgen RGR.
4. Dezember 1879, E I 25, R I 114; wiederholt in meh-
reren aufeinanderfolgenden Nächten mit demſelben Knaben
getriebene widernatürliche Unzucht RGR. 10. Juli 1880,
E I 450.


3. Das gewerbs-, geſchäfts-, gewohnheitsmä-
ßige Verbrechen
;2 eine durch die Jurisprudenz geſchaffene
künſtliche Einheit von begangenen oder von begangenen und
beabſichtigten Handlungen, die als Einheit vom Geſetzgeber
bald zum ſtrafbarmachenden (vgl. oben §. 4 I), bald zum ſtraf-
ſchärfenden (vgl. unten §. 54 I 2) Momente erhoben wird.


  • a) Die Gewerbsmäßigkeit charakteriſiert ſich einerſeits
    durch die auf öftere Wiederholung gerichtete Abſicht,
    andrerſeits durch die Abſicht des Thäters, ſich durch
    dieſe Wiederholung eine, wenn auch nicht regelmäßig
    oder dauernd fließende Einnahmsquelle zu ver-
    ſchaffen.3 Vgl. StGB. §§. 260, 284, 294, 302 d,
    360 Ziff. 6; Münzgeſetz vom 9. Juli 1873 §. 13;
    Reichsbankgeſetz vom 14. März 1875 §. 57 Abſ. 2;
    Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §. 4.

von Liszt, Strafrecht. 11
[162]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.
  • b) Die Geſchäftsmäßigkeit teilt mit der Gewerbs-
    mäßigkeit die auf regelmäßige Wiederholung gerichtete
    Abſicht, dagegen fehlt die Abſicht, ſich eine ſtändige
    Einnahmsquelle zu eröffnen. Ob die einzelnen Hand-
    lungen honoriert werden oder nicht, iſt gleichgültig.
    Vgl. StGB. §. 144, Sozialiſtengeſetz §. 22.
    In beiden Fällen genügt das Vorliegen einer Hand-
    lung, die mit den beabſichtigten weiteren Handlungen
    zu der juriſtiſchen Einheit zuſammengefaßt wird.
  • c)Gewohnheit läßt ſich am anſchaulichſten definieren als
    der Zuſtand des labilen pſychiſchen Gleichgewichtes, in
    welchem ein dem Durchſchnittsmenſchen gegenüber nicht
    motivierender Reiz die Kraft eines Motives erlangt;
    oder als abnorm geſchwächte Widerſtandskraft gegen-
    über gewiſſen Reizen. Mit der Spezialiſierung ſteigt
    die Macht der Gewohnheit. Der Gewohnheitsver-
    brecher im Allgemeinen iſt ein theoretiſcher, der Ge-
    wohnheits-Dieb oder -Betrüger uſw. ein ſehr praktiſcher
    Begriff, von dem das poſitive Recht, vielfach eingeengt
    durch die gangbaren falſchen Anſchauungen über Schuld
    und Strafe einen viel zu beſcheidenen Gebrauch macht.
    Vgl. StGB. §§. 150, 180, 260, 302d; Münzgeſetz
    vom 9. Juli 1873 §. 13. Beim gewohnheitsmäßigen
    Verbrechen wird die jetzt begangene mit den früher be-
    gangenen Handlungen zu einer Einheit zuſammenge-
    faßt; dieſe müſſen normwidrig, brauchen aber nicht
    notwendig ſtrafbar zu ſein.

In allen Fällen, in welchen die Rechtswiſſenſchaft eine
Mehrheit von Handlungen zu einer juriſtiſchen Einheit zu-
ſammenfaßt, muß dieſe Einheit als ſolche in allen juriſtiſchen
Beziehungen betrachtet und behandelt werden. Das juriſtiſch
[163]Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.
einheitliche Verbrechen iſt demnach überall dort begangen,
wo, und in jedem der Augenblicke, in welchen eine der Hand-
lungen begangen wurde; bei einem Wechſel der Geſetzgebung
kommt immer das mildere, bei einer Kolliſion des einheimiſchen
und des fremden Rechtes immer das erſtere zur Anwendung.
Iſt auch nur eine der Einzelhandlungen qualifiziert, ſo er-
greift dieſe Qualifikation auch die übrigen Handlungen.
Die Verjährung beginnt nicht, ehe die letzte der Handlungen
geſetzt wurde uſw.


§. 40.
Die Einheit des Verbrechens und die ſogenannte Ideal-
konkurrenz.

I. Das Strafgeſetz verknüpft Verbrechen und Strafe;
das Vorliegen eines Verbrechens iſt Bedingung für den Ein-
tritt der Strafe. Faſſen wir das Verbrechen als norm-
widrige, mit Strafe bedrohte Handlung, ſo kann ein Ver-
brechen — mag die Einheit eine natürliche oder eine ju-
riſtiſche ſein — immer nur eine Strafe nach ſich ziehen.
Der einmalige Eintritt der Bedingung kann nur einmal die
Folge erzeugen. Die Richtigkeit dieſes Satzes dürfte keinem
Zweifel unterliegen. Aber nach einer anderen Richtung hin
erheben ſich Schwierigkeiten. Welche der Vorausſetzungen
des Strafeintrittes hat der Thäter erfüllt; welche Strafe
hat er verwirkt? Mit andern Worten: es kann äußerſt
zweifelhaft ſein, unter welchen der verſchiedenen Verbrechens-
thatbeſtände die konkrete in Frage ſtehende That zu ſubſu-
mieren iſt; zweifelhaft darum, weil mehrere jener Ver-
brechensthatbeſtände auf dieſe Handlung paſſen. Für die
Löſung dieſer Schwierigkeiten ſtehen uns 2 Regeln zu Gebote.


[164]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.

II. Zunächſt iſt derjenige Verbrechensthatbeſtand
als gegeben anzunehmen, der den konkreten Fall
am erſchöpfendſten berückſichtigt
. Es ſind bei dieſer
Prüfung die verſchiedenen Strafgeſetze in ihrem Verhältniſſe
zu der übertretenen Norm, die verſchiedenen Normen in
ihrem Verhältniſſe zu dem durch ſie zu ſchützenden Rechts-
gute
ins Auge zu faſſen (vgl. oben §. 4 I und 3 II). Dieſe
Regel ſchließt eine Reihe von Fällen in ſich.


a)Die beſondere Beſtimmunglex specialis
geht der allgemeinen — der lex generalisvor. So
fällt Majeſtätsbeleidigung immer unter §. 95 StGB., nie
unter §. 185; ſo iſt Fälſchung eines Legitimationspapieres
zum Zwecke beſſeren Fortkommens immer nach §. 363 StGB.,
nie als Urkundenfälſchung im Sinne des §. 267 zu behan-
deln. In den Nebengeſetzen iſt dies zum Teil ausdrücklich
angeordnet; vgl. Gewerbeordnung vom 21. Juni 1867 §§. 147,
148.1 Nur dann, wenn die Sonderbeſtimmung nur eine
beſondere Seite des Falles berückſichtigt, kommt neben ihr
die allgemeine Anordnung zur Geltung: ſo Vereinszollgeſetz
vom 1. Juli 1869 §§. 158, 159 u. A.2 Der Satz ne bis
in idem
erleidet hier eine ſcheinbare Ausnahme; ſcheinbar
darum, weil nicht dieſelbe Handlung mehrmals, ſondern
verſchiedene Seiten derſelben je einmal in Betracht gezogen
werden.


b) Wenn das poſitive Recht die Möglichkeit einer mehr-
fachen Bedeutung derſelben Handlung für die Rechtsordnung
dadurch berückſichtigt, daß es zuſammengeſetzte Ver-
[165]Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.
brechensthatbeſtände bildet, ſo iſt die konkrete Handlung nur
unter dieſen zuſammengeſetzten Thatbeſtand, nicht aber unter
deſſen Elemente zu ſubſumieren. So iſt der Begriff des
Raubes aus Diebſtahl und Nötigung, der der Erpreſſung
aus Nötigung und Verletzung der Geſchlechtsehre des Weibes
zuſammengeſetzt; gewaltſame Sachentziehung, erzwungener
Beiſchlaf ſind darum immer nur als Raub oder Notzucht
aufzufaſſen.


c)Die qualifizierte Normübertretung abſor-
biert die einfache, die ſchwerere vernichtet die
leichtere
. Einbruchsdiebſtahl iſt nur nach §. 243 StGB.
zu beurteilen; wer die falſchen Schlüſſel geliefert und dann
mit dem Andern ſelbſt geſtohlen hat, kommt nur als Mit-
thäter, nicht auch als Gehülfe in Betracht (vgl. oben §. 35
V); vollendeter Zweikampf ſchließt die Anwendung des
§. 201 StGB.; vollendeter Hochverrath die der §§. 83—86
StGB. aus; umgekehrt wird beim ſog. Verſicherungsbetrug
StGB. §. 265 durch die ſchwere Vorbereitungshandlung
(Brandſtiftung) die etwa ſpäter eintretende Vollendung des
Betruges abſorbiert.


d) Wenn zwei zum Schutze desſelben Rechtsgutes be-
ſtimmte Normen zu einander in dem Verhältniſſe von all-
gemeiner Norm (oben §. 3 II 1) und Gehorſamsnorm (oben
§. 3 II 2 u. 3) ſtehen, und dieſelbe Handlung beide Normen
verletzt, ſo iſt nur die Uebertretung der allgemeinen Norm
ins Auge zu faſſen. Wer z. B. durch ſchnelles Fahren einen
Menſchen getötet hat, iſt nur nach §. 222, nicht auch nach
§. 366 Ziff. 2 StGB. zu beſtrafen.


III. Dieſe Regel aber läßt uns in all’ den zahlreichen
Fällen im Stiche, in welchen keiner der in Frage kommenden
Thatbeſtände dem konkreten Falle gerecht wird, keine ihn er-
[166]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.
ſchöpfend berückſichtigt. In Ermangelung beſonderer geſetz-
licher Anordnung bleibt uns hier ein einziger Ausweg: wir
wenden jenen Verbrechensthatbeſtand an, deſſen
Strafe durch ihre größere Schwere uns die Be-
rückſichtigung des konkreten Falles, wenn auch
nicht vollſtändig, ſo doch annäherungsweiſe ge-
ſtattet
. So iſt die Notzucht an der eigenen Tochter, die
ſowohl unter §. 173, als unter §. 177 StGB. fallen würde,
nach dem letzteren Paragraphen zu beſtrafen. Dieſe ſubſidiäre
Aushülfsregel und nicht mehr ſpricht §. 73 StGB. aus:
Wenn eine und dieſelbe Handlung mehrere Strafgeſetze ver-
letzt, ſo kommt nur dasjenige Geſetz, welches die ſchwerſte
Strafe, und bei ungleichen Strafarten dasjenige Geſetz,
welches die ſchwerſte Strafart androht, zur Anwendung.


Man ſpricht in dieſen Fällen von „idealer Konkurrenz
der Verbrechen
“, in den unter II erörterten Fällen da-
gegen von „Geſetzeskonkurrenz“. Es iſt gegen dieſen
Sprachgebrauch ſo lange nichts einzuwenden, als es ſich eben
nur um eine Auseinanderhaltung der beiden Gruppen, nicht
aber um die Betonung eines — in Wahrheit gar nicht
exiſtierenden — begrifflichen Gegenſatzes zwiſchen ihnen
handelt.


Hier wie dort paßt dieſelbe eine Handlung unter mehrere
Strafgeſetze, und hier wie dort können wir nur eines von
ihnen zur Anwendung bringen. Der Unterſchied liegt nur
darin, daß wir dort (ad II) im Geſetze einen ſicheren An-
haltspunkt zu ſachgemäßer Entſcheidung haben, während hier
jeder andere Anhaltspunkt als der rein äußerliche: Schwere
der angedrohten Strafe, fehlt. Für den Richter ergiebt ſich
in dem letzteren Falle die Notwendigkeit, urteilsmäßig feſt-
zuſtellen — eventuell durch Befragung der Geſchworenen —
[167]Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.
daß die Handlung unter beide Strafgeſetze fällt, und was
ihn bei der Auswahl geleitet.3 Hat er aber die Wahl einmal
getroffen, ſo iſt das mildere Strafgeſetz in keiner Weiſe
mehr zu berückſichtigen; es kann mithin auch nicht etwa ſpäter
die Annahme eines Rückfalls auf jene Feſtſtellung gegründet
werden. Welches Strafgeſetz als das mildere anzuſehen, iſt
nach den oben §. 12 III angegebenen Regeln zu beurteilen.


IV. Die herrſchende Anſicht teilt die „ideale Konkurrenz“
(eine Handlung, mehrere Verbrechen)4 in gleichartige und
ungleichartige. Erſtere ſoll vorliegen, wenn durch eine
Handlung verſchiedene Strafgeſetze, letztere wenn durch
jene dasſelbe Geſetz mehrfach übertreten iſt. Dieſe Ein-
teilung eines an ſich unhaltbaren Begriffes iſt doppelt verkehrt.
Hat ein Schuß mehrere Menſchen verletzt, ein Wort mehrere
Perſonen beleidigt, ein diebiſcher Griff mehrere Eigentümer
geſchädigt, ſo iſt die Handlung unzweifelhaft als Körperver-
letzung, Beleidigung, Diebſtahl aufzufaſſen und ein anderer
Verbrechensbegriff kommt gar nicht in Frage. Damit ent-
fällt die einzige Vorausſetzung, die uns berechtigt, von idealer
Konkurrenz zu ſprechen. Es iſt die übertretene Norm auch
nicht mehrmals, ſondern nur einmal, wenn auch in verſchie-
denen Trägern des durch die Norm geſchützten Rechtsgutes
verletzt. Die Strafrahmen der Reichsgeſetzgebung ſind groß
genug, um die Berückſichtigung dieſes Umſtandes zu geſtatten.
Von idealer Konkurrenz aber kann keine Rede ſein. Damit
[168]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.
iſt auch die vielbeſprochene Frage, ob auf dieſe Fälle §. 73
StGB. analog anzuwenden ſei — eine Frage, die bei rich-
tiger Faſſung des Konkurrenzbegriffes gar nicht aufgeworfen
werden kann — erledigt. Zur Anwendung gelangt hier
vielmehr nur die allgemeine, nirgends ausdrücklich im Ge-
ſetze ausgeſprochene, weil ſelbſtverſtändliche Regel, daß eine
Handlung nur unter ein Strafgeſetz ſubſumiert werden und
nur eine Strafe nach ſich ziehen kann; eine Strafe, bei
deren Bemeſſung (vgl. unten §. 53 II 1 und III) die Aus-
breitung der einen Rechtsverletzung allerdings in Anſchlag
zu bringen iſt.


§. 41.
Mehrheit der Uerbrechen. Rückfall und Realkonkurrenz.

Mehrere Verbrechen desſelben Thäters ſtehen nicht not-
wendig in juriſtiſcher Beziehung zu einander. Wir haben
im Gegenteile, von beſonderer geſetzlicher Anordnung abge-
ſehen, die mehreren Verbrechen desſelben Thäters ebenſo
ſelbſtändig zu behandeln, wie mehrere Handlungen verſchie-
dener Thäter. Eine ſtrafrechtlich relevante Beziehung der meh-
reren Handlungen desſelben Thäters untereinander entſteht
nur durch poſitivrechtliche, von ſekundären Geſichtspunkten
beeinflußte Anordnung des Geſetzgebers. Nach geltendem
Rechte kann dieſe Beziehung ſein:


I.Rückfall; d. i. Begehung eines gleichen oder gleich-
artigen Verbrechens nach gänzlicher oder teilweiſer Ver-
büßung oder Erlaſſung der wegen eines früher begangenen
gleichen oder gleichartigen Verbrechens zuerkannten Strafe;
vorausgeſetzt, daß nicht ſeit Verbüßung oder Erlaß der frü-
heren Strafe bis zur Begehung des neuen Verbrechens ein
[169]Mehrheit der Verbrechen. Rückfall u. Konkurrenz. §. 41.
gewiſſer Zeitraum (ſogenannte Rückfallsverjährung) ver-
ſtrichen iſt, der die ſtrafrechtliche Beziehung zwiſchen beiden
Handlungen als zerriſſen erſcheinen läßt.


Der Rückfall wird nach Reichsrecht nur in einzelnen
Fällen und zwar immer nur als Strafſchärfungsgrund ver-
wendet (vgl. unten §. 54 I 1).


II. Sogenannte reale Konkurrenz oder Zuſammen-
treffen
mehrerer ſtrafbarer Handlungen. Die konſequente
Durchführung des prinzipiell unſtreitigen richtigen Gedankens,
daß bei Begehung mehrerer Verbrechen durch denſelben
Thäter jede der verbrecheriſchen Handlungen mit der ihr
entſprechenden Einzelſtrafe, die Summe jener Handlungen
daher mit der Summe dieſer Einzelſtrafen zu belegen ſei,
führt nach der heute in der Geſetzgebung herrſchenden Auf-
faſſung zu unerträglichen Härten (vgl. darüber das Nähere
unter §. 56 I). Die geſetzliche Anordnung der Milderung
dieſer Härten erheiſcht die geſetzliche Fixierung der Voraus-
ſetzungen, unter welchen die Abweichung von dem Prinzipe
ſtattfinden ſoll, und führt ſomit zu der Aufſtellung des Be-
griffes der Realkonkurrenz. Der Begriff verdankt mithin
lediglich den Bedürfniſſen der Strafanwendungspolitik ſeine
Entſtehung.1 Vorausſetzungen der Realkonkurrenz ſind: einer-
ſeits die, wenn auch thatſächlich vereitelte, rechtliche Mög-
lichkeit gleichzeitiger Aburteilung
, andrerſeits die
thatſächliche Möglichkeit nachträglicher Berück-
ſichtigung jener rechtlichen Möglichkeit
. Genauer
geſprochen: Realkonkurrenz iſt die Begehung mehrerer ver-
brecheriſcher Handlungen durch denſelben Thäter, wenn


[170]Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. -Mehrheit.

1. die mehreren Handlungen begangen waren, ehe wegen
einer von ihnen das Urteil geſprochen worden iſt (Rechts-
kraft des Urteils nicht erforderlich). Beiſpiel: Die Verbrechen
a, b, c ſind am 1. Januar, 1. Februar, 1. März begangen;
Realkonkurrenz liegt vor, wenn die Aburteilung wegen a, b
und c am 15. März erfolgt; aber auch dann, wenn am
15. März lediglich über das Verbrechen a geſprochen wurde
und die Verbrechen b und c erſt nachträglich zum Vorſchein
kommen. Dagegen ſteht das am 16. März begangene Ver-
brechen d nicht mehr in Realkonkurrenz mit a, b und c
(StGB. §. 74).


2. Bei nicht gleichzeitiger Aburteilung iſt Realkonkurrenz
nur dann anzunehmen, wenn die nachträgliche Entſcheidung
über das ſpäter entdeckte Verbrechen ſtattfindet, ſo lange eine
Verbeſſerung des früheren Urteils noch möglich iſt, ſo lange
alſo die in dem früheren Urteile ausgeſprochene Strafe noch
nicht vollſtändig verbüßt, verjährt oder erlaſſen iſt (StGB.
§. 79). Beiſpiel: Iſt der Verbrecher wegen a am 15. März
zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden, ſo iſt Real-
konkurrenz von b und c mit a anzunehmen, wenn b und c
vor dem 15. Juni zur Aburteilung kommen, nicht aber wenn
an dem Tage, an welchem das Urteil wegen b und c ge-
fällt werden ſoll, die wegen a erkannte Strafe bereits ver-
büßt, verjährt oder erlaſſen iſt.


[[171]]

Zweites Buch.
Die Strafe.


I.


§. 42. Der Begriff der Strafe.

I. Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter-
verletzung, vom Staate, als dem Träger und
Schirmer der öffentlichen Rechtsordnung
(als In-
haber der öffentlichen Zwangsgewalt), gegen den Ueber-
treter eines ſtaatlichen Imperatives aus Anlaß
dieſer Uebertretung durch ſeine gerichtlichen Or-
gane verhängt
.


Das iſt der formale Begriff der Strafe. Alle einzelnen
Merkmale müſſen gegeben ſein, um ihn zu erfüllen. Eine
Rechtsfigur, der eines dieſer Merkmale fehlt, kann mit der
Strafe verwandt, ſie kann aber nie Strafe ſein.


II. Die Strafe iſt Rechtsgüterverletzung („Einbuße
an Rechtsgütern“ ſagt Binding); ſie iſt ein malum passionis.
Dadurch unterſcheidet ſie ſich weſentlich von dem Schadens-
erſatz, mag ſie auch mit ihm unter den gemeinſamen höheren
Begriff der Reaktion gegen das Unrecht gebracht werden
können. Denn Schadenserſatz iſt Beſeitigung der Rechtsgüter-
verletzung; er heilt die Wunde, während die Strafe eine
[172]Zweites Buch. Die Strafe.
neue Wunde ſchlägt.1 Es iſt jedoch dabei vor einem weit
verbreiteten Irrtume zu warnen. Erſatz des Schadens iſt
ein weiterer Begriff als Erſatz des pekuniären Schadens;
jedes Rechtsinſtitut, das die Heilung der durch das Unrecht
geſchaffenen Rechtsverletzung bezweckt, können wir unter jenen
Begriff bringen, auch wenn die Verletzung der Abſchätzung
in Geld nicht zugänglich iſt. Paſſend bezeichnet man den
Erſatz des ideellen, d. h. pekuniär nicht abſchätzbaren, Scha-
dens als Genugthuung. Sie iſt nach dem Geſagten in
begrifflichem Gegenſatze zur Strafe. Fälle der Genug-
thuung ſind:


1. Die Buße, die ſich im RStGB., wie in den die In-
dividualrechte ſchützenden Nebenſtrafgeſetzen findet (vgl. unten
§. 52); das Gleiche gilt von dem Schmerzensgelde, das
eben darum, ſoweit das Gebiet der Buße reicht, als aufge-
hoben zu betrachten iſt.2


2. Die Ausfertigung des verurteilenden Erkenntniſſes
an den Verletzten, ſowie die öffentliche Bekanntmachung des-
ſelben auf Koſten des Verurteilten.3


Eine ganz ſinguläre Verbindung von Erſatz und Strafe,
von Schadenserſatz und pönalem Element enthält §. 55 Nach-
drucksgeſetz vom 11. Juni 1870, nach welchem die Entſchä-
digung des Verletzten gebildet wird durch den ganzen Be-
trag der Einnahme von jeder unbefugten öffentlichen Auf-
[173]Der Begriff der Strafe. §. 42.
führung eines dramatiſchen uſw. Werkes ohne Abzug der
auf dieſelbe verwendeten Koſten
.


III. Strafe iſt Verletzung eines Rechtsgutes, deſſen Träger
der Normübertreter iſt. Trifft die Verletzung einen
Dritten, ſo liegt nicht Strafe im eigentlichen Sinne vor.
Daher ſcheiden aus dem Begriffe der Strafe aus:


1. Objektive Maßregeln, wie die Auflöſung einer
Verſammlung, das Schließen eines Vereines, einer Kaſſe;
ferner die Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung von
Gegenſtänden in zwei Fällen:


  • a) Wenn die Einziehung uſw. ſelbſtändig, d. h. unab-
    hängig von der Verfolgung oder Verurteilung einer be-
    ſtimmten Perſon [ausgeſprochen] werden kann;4
  • b) Wenn die Einziehung uſw. zwar an die Verurteilung
    einer beſtimmten Perſon geknüpft iſt, ſich aber auch
    auf ſolche Gegenſtände erſtrecken kann, die weder dem
    Thäter, noch einem der Teilnehmer gehören.5

2. Die ſubſidiäre Haftung dritter Perſonen für die
von dem Schuldigen verwirkten Geldſtrafen, die ſich in vielen
Reichs- und Landes-Nebenſtrafgeſetzen ausgeſprochen findet.6
[174]Zweites Buch. Die Strafe.
Doch iſt die Natur dieſes Rechtsinſtitutes keine unzweifel-
hafte. Für ſeine Auffaſſung als Strafe würde ſprechen,
daß die Haftung mit dem Nachweiſe entfällt, die Uebertretung
ſei ohne Vorwiſſen des Haftpflichtigen begangen worden.
Am intereſſanteſten iſt in dieſer Beziehung §. 38 Brauſteuer-
geſetz vom 31. Mai 1872, nach welchem der Gewerbsinhaber
für ſeine Verwalter, Gehülfen, Hausgenoſſen nur dann
haftet, wenn er bei Auswahl, Anſtellung, Beaufſich-
tigung
dieſer Perſonen fahrläſſig, d. h. nicht mit der
Sorgfalt eines ordentlichen Geſchäftsmannes
zu
Werke gegangen iſt.7


Weſentlich verſchieden von dieſer ſubſidiären, nicht ſtraf-
rechtlichen Haftung iſt die primäre rein ſtrafrechtliche Haf-
tung des Gewerbeinhabers, die nicht im Reichsrechte, wohl
aber partikularrechtlich (z. B. preußiſche Steuerordnung vom
8. Februar 1819) ſich findet. Vgl. RGR. 28. Mai 1880,
E II 70.


Dagegen iſt die in §. 151 Gewerbe-Ordnung beſtimmte
Mithaftung des verfügungsfähigen Vertretenen, mit deſſen
Vorwiſſen
der Stellvertreter die Uebertretung begangen
hat, als eigentliche Strafdrohung (für Mitthäterſchaft) zu
betrachten.


IV. Die Rechtsgüterverletzung muß von dem Staate als
dem Inhaber der öffentlichen Zwangsgewalt, als dem
Träger und Schirmer der öffentlichen Rechtsordnung ver-
[175]Der Begriff der Strafe. §. 42.
hängt werden. So wie die Beſtrafung in Haus und Schule,
in Kirche und Vereinigung nicht Strafe im techniſchen Sinne
iſt (vgl. oben §. 1), ſo iſt auch die Beſtrafung, die zwar vom
Staate, aber nicht kraft der ihm zukommenden öffentlichen
Zwangsgewalt ausgeht, keine eigentliche Strafe. Dies iſt
der Grund, warum die ſtaatliche Disziplinarſtrafe, die
der Staat im Intereſſe des internen Dienſtes verhängt, nicht
Strafe im engeren Sinne iſt.8 Konſequenzen: Ihre Ver-
hängung iſt, weil nicht Strafſache, nicht Sache der ordent-
lichen Strafgerichte; dieſelbe Normübertretung kann Diszi-
plinarſtrafe und überdies eigentliche Strafe nach ſich ziehen
(anerkannt u. A. in §. 95 der Seemannsordnung vom 27. De-
zember 1872) uſw.


V. Nachteile, die auf die Nichtbeachtung eines nicht
imperativen
Rechtsſatzes geſetzt ſind, ſind nicht Strafe.
So die ſogenannten Prozeßſtrafen aller Art; die pro-
zeſſualen Vorſchriften heiſchen nicht unbedingten Gehorſam,
wie die ſtaatlichen Imperative, ſie ſtellen vielmehr die Wahl
zwiſchen zwei Alternativen frei.


VI. Die Strafe iſt an die begangene Rechtsverletzung
geknüpft und wenn ſie auch durch ihre Zweckbeſtimmung in
die Zukunft reicht, ſo hat ſie doch nicht einzelne konkrete
Handlungen und Unterlaſſungen, ſondern dieſe Handlungen
und Unterlaſſungen in abstracto im Auge. Dadurch
unterſcheidet ſie ſich vom Strafzwange, der auf die Her-
beiführung einer konkreten Handlung oder Unterlaſſung
durch Rechtsgüterverletzung gerichtet iſt. Wichtig iſt die
Unterſcheidung für das Prozeßrecht: Strafzwang zur Reali-
[176]Zweites Buch. Die Strafe.
ſierung der Zeugnispflicht neben der Strafe für Nichterfüllung
dieſer Pflicht (StPO. §§. 69 u. 50, CPO. §§. 355 u. 345;
vgl. auch Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 38). Auch
ſonſt wird der Strafzwang vielfach in der Reichsgeſetzgebung
verwertet; man vgl. das „durch Ordnungsſtrafen anhalten“
im Handelsgeſetzbuch, in §. 66 des Genoſſenſchaftsgeſetzes
vom 4. Juni 1868, §. 33 Geſetz 7. April 1876 über die ein-
geſchriebenen Hülfskaſſen; die „exekutoriſchen Geldſtrafen“ in
§. 40 des Tabackſteuergeſetzes vom 16. Juli 1879.


VII. Begrifflich mit der eigentlichen Strafe ſich deckend
ſind dennoch von derſelben kraft poſitiv geſetzlicher Anord-
nung zu unterſcheiden jene kleinen Strafen für geringfügigere
Rechtsverletzungen, welche die Reichsgeſetzgebung mit dem
Namen der Ordnungsſtrafen bezeichnet.9 (Beſonders
häufig in den Zoll- und Steuergeſetzen10). Dagegen iſt die
ſogenannte Polizeiſtrafe, von beſonderer geſetzlicher An-
ordnung abgeſehen, von der Strafe im engeren Sinne nicht
verſchieden, ſelbſt wenn zwiſchen dem kriminellen und dem
polizeilichen Unrecht eine prinzipielle Verſchiedenheit beſtehen
ſollte11.


VIII. Endlich ſind von der Strafe zu unterſcheiden die
[177]Die Strafmittel im allgemeinen. §. 43.
Verwaltungsmaßregeln, die unabhängig von der ge-
richtlichen Konſtatierung einer ſtrafbaren Handlung von den
Organen der Staatsverwaltung verhängt werden können.
Als Beiſpiele ſeien erwähnt die in dem Freizügigkeitsgeſetz
vom 1. November 1867, dem Jeſuitengeſetz vom 4. Juli
1872, dem Geſetz betr. die Verhinderung der unbefugten
Ausübung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874 uſw. an-
gedrohten Nachteile.


II. Die Strafmittel.


§. 43.
Im allgemeinen.1

I. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterver-
letzung. Sie iſt Mittel zum Zweck. Jenes Strafmittel
wird darum das geeignetſte ſein, das den Zweck (Rechts-
güterſchutz) am ſicherſten, am vollſtändigſten und zugleich am
billigſten (durch möglichſt geringe Rechtsgüterverletzung) er-
reicht. Wir werden daher de lege ferenda folgende Anfor-
derungen an die in Frage kommenden Strafmittel zu ſtellen
haben.


1. Da die Strafe, je nach Lage der Umſtände verſchie-
dene Zwecke verfolgt (vgl. oben §. 2 II), ſo müſſen wir jenem
Strafmittel den Vorzug geben, das am geeignetſten iſt, ſich
den verſchiedenen Strafzwecken je nach Bedürfnis
anzupaſſen
; jenem, mit dem wir bald drohen und ab-
ſchrecken, bald beſſern, bald die Rechtsordnung ſchützen und
von Liszt, Strafrecht. 12
[178]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
ſichern können. Darum muß das unſeren höchſten Anforde-
rungen entſprechende Strafmittel nach Inhalt und Umfang
abſtufbar ſein, nach Intenſität und Extenſität eine Reihe von
Graden zulaſſen, verſchiedene Arten des Strafvollzuges ge-
ſtatten. Strafmittel, mit welchen wir nur den einen oder
den anderen der Strafzwecke — es iſt gleichgültig, welcher
von ihnen es iſt — zu verfolgen in der Lage ſind, werden
hinter dehnbareren und teilbareren Strafmitteln zurückſtehen
müſſen.


2. Das Strafmittel darf nicht die günſtige Wir-
kung, die es nach der einen Richtung hin erzielt, pa-
ralyſieren durch ungünſtige Wirkung nach einer an-
deren Richtung hin
. Es darf, wenn es beſſern will,
nicht zugleich die abſchreckende oder ſichernde Wirkung der
Strafe vernichten; nicht, wenn es die beiden letztgenannten
Zwecke verfolgt, die Maſſen entſittlichen, und damit der
Strafe ein wichtiges Moment ihrer motivierenden Kraft ent-
ziehen. Die verſtümmelnden und beſchimpfenden Strafen,
öffentlicher Vollzug grauſam verſchärfter Hinrichtungen uſw.
einerſeits; die ſchablonenhafte „Humanität“ unſerer modernen
Muſterſtrafanſtalten andrerſeits mögen als warnende Bei-
ſpiele dienen.


3. Wir werden jene Strafmittel verwerfen müſſen oder
doch nur im Notfalle acceptieren können, die den Strafzweck
nur mit Aufwand unverhältnismäßig draſtiſcher Mittel zu
erreichen in der Lage ſind. Vernichtung der phyſiſchen, öko-
nomiſchen, ethiſchen Perſönlichkeit (Todesſtrafe, Vermögens-
konfiskation, Ehrloſigkeit) ſind als Mittel zum Zwecke des
Rechtsgüterſchutzes zurückzuweiſen, ſo lange wir denſelben
Zweck mit geringerem Kraftaufwande erreichen können.


4. Da ein einziges Strafmittel wohl kaum für die voll-
[179]Die Strafmittel im allgemeinen. §. 43.
ſtändige Erreichung ſämmtlicher Strafzwecke ausreichend iſt,
wir mithin eine Zahl von Strafmitteln mit einander kombi-
nieren müſſen, um zum Ziele zu gelangen, entſteht die wei-
tere an das Strafmittelſyſtem zu ſtellende Anforderung,
daß die verſchiedenen Strafmittel untereinander in einem
klaren, einfachen, Abſchätzung und ſtufenweiſen Uebergang
zulaſſenden Verhältniſſe zu einander ſtehen. Man kann
dieſe Eigenſchaft als die Kommenſurabilität der Strafmittel
bezeichnen.


II. 1. Aus dem eben Geſagten folgt die unbeſtreitbare
Berechtigung der Freiheitsſtrafe, weitaus die erſte Stelle
im Strafenſyſteme der Neuzeit einzunehmen. Sie iſt ſchmieg-
ſam, wie kein anderes Strafmittel; ſie kann von ſtunden-
langem Stubenarreſt bis zu lebenslanger Kettenſtrafe ſteigen;
ſie geſtattet dem unbefangenen Strafvollzug, die ſämmtlichen
denkbaren Strafzwecke mit größtmöglicher Sicherheit anzu-
ſtreben; ſie läßt Verbindung mit den anderen Strafmitteln
und nicht-unvermittelte Abgrenzung von denſelben (den meiſten
von ihnen wenigſtens) zu. Freilich verlangt die Freiheits-
ſtrafe, um ihre ſegensreiche Wirkung entfalten zu können,
klarere Einſicht in Weſen und Zweck der Strafe, als ſie
heute in den tonangebenden Kreiſen vorhanden zu ſein pflegt.
Aber wenn die Freiheitsſtrafe in den alten Strafanſtalten
plan- und ziellos gebraucht, in den neuen im Dienſte einer
durchaus einſeitigen „Beſſerungs“-Theorie mißbraucht wird,
ſo wird doch durch dieſen Umſtand die Anſicht derjenigen
nicht gerechtfertigt, welche in unſeren Tagen (Mittelſtädt)
mit gleicher Einſeitigkeit die zufälligen Fehler des Straf-
vollzuges als weſentliche Fehler des Strafmittels aufgefaßt,
und die Stellung der Freiheitsſtrafe in dem modernen Straf-
mittelſyſteme angefochten haben.


[180]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.

2. Der Todesſtrafe haften die meiſten jener Eigen-
ſchaften an, die ein zweckentſprechendes Strafmittel nicht
beſitzen ſoll. Sie paralyſiert ihre abſchreckende und ſichernde
Wirkung durch das Mitleid für den Hingerichteten, das ſie
in den Maſſen, durch das äſthetiſche. Mißbehagen, das ſie
in den Gebildeten wachruft; ſie vernichtet eine Exiſtenz, die
vielleicht noch den Zwecken der Gemeinſchaft hätte dienſtbar
gemacht werden können; ſie ſteht ohne jede Vermittlung
neben den übrigen Strafmitteln, von welchen es keinen Ueber-
gang zu ihr giebt; ſie zwingt zu abſoluten Strafdrohungen
und verwandelt das Begnadigungsrecht der Krone in ein
Hinrichtungsrecht. Auch iſt es falſch, daß ihre abſchreckende
und ſichernde Wirkung auf anderem Wege nicht erreicht
werden könnte. Aber heute, wo der Freiheitsſtrafe dieſe
abſchreckende und ſichernde Wirkung gänzlich abhanden ge-
kommen iſt, muß die Todesſtrafe als unentbehrlich be-
zeichnet werden. Die Reform des Gefängnisweſens — nicht
im Sinne der heute tonangebenden Reformatoren — wird
auch die Frage der Todesſtrafe zur befriedigenden Löſung
bringen.


3. Die Vermögensſtrafe iſt teilbar und dehnbar,
paßt ſich den übrigen Strafmitteln leicht an, hält die Trieb-
feder zu einer Reihe von Verbrechensarten nieder; geſtattet
aber keine irgendwie ins Gewicht fallenden Modifikationen
des Strafvollzuges. Sie iſt daher trefflich geeignet, eine
zweite Rolle im Strafenſyſteme zu ſpielen, und beſonders
als Nebenſtrafe von großem Werte; darf aber auch nicht
zu mehr, als zur zweiten Rolle berufen werden.


4. Große Gefahren birgt die Ehrenſtrafe. Auch in
ihren mildeſten Formen nimmt ſie der geſunkenen ethiſchen
Perſönlichkeit den letzten Halt. Ausſchluß jeder immer
[181]Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung. §. 44.
dauernden Ehrenſtrafe, ſo lange der Staat den Verbrecher
nicht gänzlich aufgegeben hat, iſt mithin dringend geboten.


§. 44.
Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung.

I. In dem Syſteme der Reichsgeſetzgebung haben wir
Haupt- und Nebenſtrafen zu unterſcheiden. Erſtere
jene, die auch allein; letztere jene, die (regelmäßig) nur in
Verbindung mit einer Hauptſtrafe verhängt werden können.


Ein weiterer Einteilungsgrund ergiebt ſich, wenn wir die
Rechtsgüter des Verbrechers ins Auge faſſen, deren Ver-
letzung der Staat zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes vor-
nimmt. Es ſind: Leben, Freiheit, Vermögen, Ehre.


Darnach gewinnen wir folgendes Syſtem:


A.Hauptſtrafen.


  • 1. Am Leben: die Todesſtrafe.
  • 2. An der Freiheit: Zuchthaus, Gefängnis, Feſtungs-
    haft, Haft.
  • 3. Am Vermögen: die Geldſtrafe.
  • 4. An der Ehre: der Verweis.

B.Nebenſtrafen.


  • 1. Am Leben: fehlt.
  • 2. An der Freiheit:
    • a) Stellung unter Polizeiaufſicht.
    • b) Ueberweiſung an die Landespolizeibehörde.
    • c) Ausweiſung aus dem Reichsgebiet.
    • d) Beſchränkung des Aufenthaltes.
    • e) Beſchränkung des Hausrechtes.
  • 3. Am Vermögen:
    • a) Die acceſſoriſche Geldſtrafe.
    • b) Die Einziehung einzelner Gegenſtände.
    • c) Die Unbrauchbarmachung von Schriften u. dgl.
    • d) Die Entziehung der Gewerbebefugnis.
  • 4. An der Ehre: Die vollſtändige oder teilweiſe Ab-
    erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte.

C.Beſondere, außerhalb des Strafenſyſtems ſtehende
Strafübel enthalten: StGB. §. 161 dauernde Unfähigkeit
als Zeuge oder Sachverſtändiger eidlich vernommen zu wer-
den; StGB. §. 319 Unfähigkeit zu einer Beſchäftigung im
Eiſenbahn- oder Telegraphendienſte oder in beſtimmten
Zweigen dieſer Dienſte; Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai
1879 §. 16 Bekanntmachung der Verurteilung auf Koſten
des Schuldigen; Viehſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880 §. 63
Wegfall des Entſchädigungsanſpruches für getötete Thiere;
§. 11 Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 Verluſt des
Anſpruchs auf ſteuerfreien Salzbezug.


Im Uebrigen iſt das oben §. 42 über die Abgrenzung
der Strafe von anderen verwandten Inſtituten des Reichs-
rechts Geſagte zu vergleichen.


II. Die Beſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuchs über das
Strafenſyſtem ſind abſolut gemeines Recht. Sie binden die
Landesgeſetzgebung auch auf jenen Gebieten, auf welchen dieſe
im Uebrigen autonom iſt. Vgl. Einf. G. zum StGB. §. 6
und oben §. 11 III 2.


III. Wenn wir von der durchaus ungenügenden Rege-
lung des Vollzugs der Freiheitsſtrafe abſehen, entſpricht das
Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung allen billigen Anforderun-
gen. Freilich benimmt jene Lücke im Syſtem dem Syſteme
ſelbſt den größten Teil ſeines Wertes.


[183]Die Todesſtrafe. §. 45.
A. Die Hauptſtrafen.

1.
§. 45. Die Todesſtrafe.1

I. Die Todesſtrafe, einſt die peinliche Strafe des ge-
meinen Rechtes, iſt nach Inhalt und Umfang, ſeit der Be-
ſeitigung der grauſam geſchärften Arten der Todesſtrafe und
ſeit ihrer Beſchränkung auf wenige Ausnahmsfälle, in dem
Syſteme des modernen Strafrechts neben der Freiheitsſtrafe
völlig in den Hintergrund getreten.


Der Kampf, den die Schriftſteller der Aufklärungsperiode
(vor Allen Beccaria und Sonnenfels 1764) gegen die
Todesſtrafe eröffneten, hatte zunächſt nur geringen Erfolg:
Abſchaffung der Todesſtrafe in Toscana 1786, in Oeſterreich
1787 (bis 1795). In ſeinen weiteren Wirkungen aber führte
er, in Verbindung mit der ſeit den 70er Jahren des vorigen
Jahrhunderts beginnenden Gefängnisreform, zur allmähligen
Beſeitigung der qualifizierten und zur allmähligen Einſchrän-
kung der Todesſtrafe überhaupt auf eine geringe Anzahl von
Straffällen.


In Folge des §. 9 der deutſchen Grundrechte von 1848
wurde die Todesſtrafe in einer Reihe von deutſchen Staaten
(nicht aber in Oeſterreich, Preußen, Baiern, Sachſen) beſei-
tigt; doch führte in den meiſten dieſer Staaten die Herr-
ſchaft der Reaktion zur Wiederherſtellung der Todesſtrafe.
Nur Oldenburg, Anhalt, Bremen hielten an der Beſeitigung
feſt; Sachſen fand es noch im Jahre 1868, als die Geſetz-
[184]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
gebung des Bundes in Strafſachen vor der Thüre ſtand,
für angezeigt, zur Abſchaffung der Todesſtrafe zu ſchreiten.
So ſtand die Frage, als die Beratung des norddeutſchen
Strafgeſetzbuchs in Angriff genommen wurde. Die harten
parlamentariſchen Kämpfe, die mit der Beibehaltung (bez.
Wiedereinführung) der Todesſtrafe endeten, ſind bereits oben
§. 8 III (S. 32 f.) geſchildert worden.


II.Anwendungsgebiet der Todesſtrafe. Wenn
wir von dem MilitärStGB. abſehen, das die Todesſtrafe in
10 Fällen abſolut, in 8 Fällen alternativ androht,2 findet
ſich dieſelbe in der Reichsgeſetzgebung:


1. Als Strafe des vollendeten Mordes nach StGB.
§. 211.


2. Als Strafe des Mordes und Mordverſuchs an
dem Kaiſer, dem eigenen Landesherrn und dem
Landesherrn des Aufenthaltsſtaates
StGB. §. 80
(Antrag v. Kardorff).


In beiden Fällen kann die Todesſtrafe geſchärft werden
(StGB. §. 32) durch die Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte (vgl. unten §. 51 I); in beiden Fällen wird ihr An-
wendungsgebiet beſchränkt durch die im StGB. (§§. 49 und
57) vorgeſchriebene Reduktion der Strafrahmen bei Verſuch,
Beihülfe und jugendlichem Alter des Thäters (vgl. oben §. 33
III, §. 37 II 4, unten §. 54 II 2).


3. Eine weſentliche Erweiterung des Anwendungsgebietes
der Todesſtrafe hat der Eintritt des Kriegsrechtes zur
Folge. Vgl. darüber oben §. 16 I.


III.Vollzug der Todesſtrafe. Die Todesſtrafe iſt
nach StGB. §. 13 durch Enthaupten, nach §. 14 Mil.-
[185]Die Todesſtrafe. §. 45.
StGB. durch Erſchießen zu vollſtrecken, wenn ſie wegen
eines militäriſchen, im Felde auch dann, wenn ſie wegen
eines nicht militäriſchen Verbrechens erkannt worden iſt.


Nach der StPO. (§. 485) iſt die Vollſtreckung der
Todesſtrafe erſt zuläſſig, wenn der Träger des Begnadi-
gungsrechtes (unten §. 57 IV 3 und 4) erklärt hat, von
demſelben keinen Gebrauch machen zu wollen. Geiſteskrank-
heit oder Schwangerſchaft hemmt die Vollſtreckung.


Durch die StPO. (§. 486) iſt ferner die ſogenannte
Intramuranhinrichtung3 (Vollſtreckung in einem um-
ſchloſſenen Raume bei beſchränkter Oeffentlichkeit) Reichsrecht
geworden. Bei der Hinrichtung müſſen zwei Mitglieder des
Gerichtes erſter Inſtanz, ein Beamter der Staatsanwaltſchaft,
ein Gerichtsſchreiber und ein Gefängnisbeamter gegenwärtig
ſein. Der Gemeindevorſtand des Ortes, an welchem die
Hinrichtung ſtattfindet, iſt aufzufordern, 12 Perſonen aus
den Vertretern oder aus anderen achtbaren Mitgliedern der
Gemeinde abzuordnen, um der Hinrichtung beizuwohnen.
Außerdem iſt einem Geiſtlichen von dem Religionsbekennt-
niſſe des Verurteilten, dem Verteidiger und nach Ermeſſen
des die Vollſtreckung leitenden Beamten auch anderen Per-
ſonen der Zutritt zu geſtatten. Ueber den Hergang iſt ein von
dem ſtaatsanwaltſchaftlichen Beamten und dem Gerichtsſchreiber
zu unterzeichnendes Protokoll aufzunehmen. Der Leichnam
des Hingerichteten iſt den Angehörigen auf ihr Verlangen
zur einfachen, ohne Feierlichkeiten vorzunehmenden Beerdi-
gung zu verabfolgen.


Von dieſen Beſtimmungen abgeſehen, iſt die Vollſtreckung
[186]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
der Todesſtrafe (durch Fallbeil, Fallſchwert, eigentliche Ent-
hauptung) landesrechtlich geordnet.


2.
§. 46. Die Freiheitsſtrafe.1

I. Die Freiheitsſtrafe gehört als eigentliche peinliche
Strafe der Neuzeit an. Noch der peinlichen Ger.Ordnung
Karl’s V iſt ſie in dieſer Bedeutung fremd; und die ſeit
dem Ende des 16. und dem Anfange des 17. Jahrhunderts
allmählich auftauchenden Zuchthäuſer (in Amſterdam 1595,
Lübeck 1613, Hamburg 1618 uſw.), für Landſtreicher und
Arbeitsſcheue, für Bettler und liederliche Dirnen, für ſtörriges
Geſinde und ungeratene Kinder beſtimmt, waren alles An-
dere eher als Strafanſtalten im modernen Sinne. Erſt all-
mählich dringt die Freiheitsſtrafe in wechſelnden, häufig noch
ganz embryonalen Formen in das Strafenſyſtem ein. Ihr
Sieg war entſchieden, als man in der Gemeinſchaft der
Häftlinge den Krebsſchaden des bisherigen Strafvollzuges
erkannt und damit zugleich den Weg zur Beſeitigung der
gröbſten Mißſtände gefunden hatte.


Mit dem 1775 eröffneten Zuchthauſe zu Gent beginnt
die Aera der Gefängnisreform. Der hier wenigſtens teil-
weiſe durchgeführte Gedanke der Einzelhaft wird durch
Howard († 1790) und Blackſtone († 1780) nach England,
durch Benjamin Franklin († 1790) nach Amerika ver-
[187]Die Freiheitsſtrafe. §. 46.
pflanzt. Hier entwickeln ſich (in den 20 er Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts) zwei rivaliſierende Syſteme; das
Auburn’ſche Schweigſyſtem und das Penſylvaniſche Pöni-
tentiar-Syſtem. Von Amerika flutet die Bewegung, die dort
eine ſtark pietiſtiſche Färbung angenommen hatte, zurück nach
Europa; allenthalben entſtehen, meiſt nach dem Muſter von
Petonville (1842) Zellengefängniſſe, in dem von Bentham
(† 1832) erdachten panoptiſchen Syſteme erbaut.


Aber noch während die Zellenhaft ihren Siegeszug durch
Europa hielt, war ihr ein gefährlicher Gegner entſtanden in
dem von Walter Crofton aufgeſtellten, 1857 in Irland,
1864 teilweiſe in England eingeführten Progreſſivſyſtem.
Auf dem Gedanken allmählicher Wiederherſtellung des ſitt-
lichen Gleichgewichts im Sträflinge, allmählicher Wiederein-
führung desſelben in die bürgerliche Geſellſchaft aufgebaut,
beſteht dasſelbe im Weſentlichen aus folgenden, von dem
Verurteilten zu durchlaufenden Stadien: a) ſtrenge 9 mo-
natliche Einzelhaft; b) gemeinſame Arbeit in 4 progreſſiven
Abteilungen; c) Aufenthalt in der Zwiſchenanſtalt (interme-
diate prison
), in welcher dem Sträfling freierer Verkehr mit
der Außenwelt geſtattet iſt; d) bedingte Entlaſſung mit der
Möglichkeit des Widerrufes.


Daß das ſogenannte iriſche Syſtem, ſoweit es ſich um
beſſerungsfähige und beſſerungsbedürftige Verbrecher handelt,
glänzende Erfolge aufzuweiſen hat, kann nicht in Abrede ge-
ſtellt werden; den Abſchreckungs- oder Sicherungszweck zu er-
reichen, iſt es ungeeignet.


II.Die Freiheitsſtrafen der Reichsgeſetzgebung
ſind Zuchthaus, Gefängnis, Feſtungshaft und Haft. Sie
unterſcheiden ſich in folgenden Punkten.


1. Art der Verwendung. Zuchthaus iſt die Ver-
[188]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
brechensſtrafe; Gefängnis die Vergehens-, Haft die
Uebertretungsſtrafe. Doch findet ſich Haft ausnahmsweiſe
(StGB. §. 185 ſowie in §. 147 der Gew.Ordnung)
auch bei Vergehen. Die Feſtungshaft ſoll ſowohl Zucht-
haus als auch Gefängnis erſetzen, und wird wahlweiſe mit
dieſen beiden Strafen bei einer Reihe politiſcher Delikte, aus-
ſchließlich bei Zweikampf angedroht.


2. Dauer. Zuchthaus und Feſtungshaft ſind
lebenslange oder zeitige, Gefängnis und Haft immer
zeitige Freiheitsſtrafe. Das Maximum beträgt bei den beiden
erſten
15 Jahre, bei Gefängnis 5 Jahre (Ausnahmen
in StGB. §§. 57 und 74), bei Haft 6 Wochen (Ausnahmen
in §§. 77 und 78 StGB.). Der Mindeſtbetrag iſt bei
Zuchthaus 1 Jahr, ſo daß Bruchteile eines Jahres in
Gefängnis umgewandelt werden müſſen (vgl. darüber unten
§. 55 I 2); bei den übrigen Freiheitsſtrafen 1 Tag. Vgl.
StGB. §§. 14—18.


3. Die Bemeſſung der Zuchthausſtrafe erfolgt nach
vollen Monaten,2 die der übrigen Freiheitsſtrafen nach
vollen Tagen. StGB. §. 19.


4. Arbeitszwang iſt mit Zuchthaus obligatoriſch
verbunden (StGB. §. 15); Außenarbeit bei Trennung von
freien Arbeitern geſtattet. Die zu Gefängnis Verurteilten
(StGB. §. 16) können auf eine ihren Fähigkeiten und Ver-
hältniſſen angemeſſene Weiſe beſchäftigt werden; auf ihr
Verlangen ſind ſie in dieſer Weiſe zu beſchäftigen; Außen-
arbeit iſt nur mit ihrer Zuſtimmung zuläſſig. Bei Feſtungs-
haft
(StGB. §. 17) iſt Arbeitszwang ausnahmslos ausge-
[189]Die Freiheitsſtrafe. §. 46.
ſchloſſen; bei Haft findet er nur ganz ausnahmsweiſe (StGB.
§. 362, 361 Z. 3—8 gegen Landſtreicher, Bettler, Müſſig-
gänger, Arbeitsſcheue, Proſtituirte, Erwerbsloſe) ſtatt.


5. Neben Zuchthaus tritt der Verluſt gewiſſer Ehren-
rechte
von Rechtswegen ein (StGB. §. 31); neben Zucht-
haus
und (unter gewiſſen Vorausſetzungen) neben Ge-
fängnis
kann vollſtändige, neben letzterem und (in
gewiſſen Fällen) neben der Feſtungshaft teilweiſe Ab-
erkennung der Ehrenrechte ſtattfinden (StGB. §§. 32 ff.);
neben Haft iſt die Aberkennung ausgeſchloſſen. Vgl. das
Nähere unten §. 51.


6. Einzelhaft und bedingte Entlaſſung (StGB.
§§. 22 ff.) finden bei Zuchthaus und Gefängnis, nicht aber
bei Feſtungshaft und Haft Anwendung. Vgl. unten III 1
und 2.


III.Die Vollſtreckung der Freiheitsſtrafe iſt nur
zum kleinſten Teile durch die bisherige Reichsgeſetzgebung
geordnet, zum weitaus größten Teile der landesrechtlichen
Beſtimmung überlaſſen. Die Reſolution des Reichstages
vom 4. März 1870, in welcher der Wunſch nach reichsge-
ſetzlicher Regelung ausgeſprochen wurde, hat bisher nur zur
Ueberreichung eines Geſetzentwurfes über die Vollſtreckung
Freiheitsſtrafen an den Bundesrath geführt.3 Die Unklar-
heit über Weſen und Zweck der Freiheitsſtrafe, die aus den
wichtigſten Beſtimmungen dieſes Entwurfes ſpricht, läßt in-
deſſen nur geringe Hoffnung auf eine halbwegs befriedigende
Löſung der brennenden Reformfrage aufkommen.


Die bereits vorhandenen reichsgeſetzlichen Beſtimmungen
über den Vollzug der Freiheitsſtrafen betreffen:


[190]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.

1. Die Einzelhaft (StGB. §. 22).4 Zuchthaus- und
Gefängnisſtrafe können ſowohl für die ganze Dauer, wie für
einen Teil der erkannten Strafzeit in der Weiſe in Einzel-
haft vollzogen werden, daß der Gefangene unausgeſetzt von
anderen Gefangenen geſondert gehalten wird. Die Einzel-
haft darf ohne Zuſtimmung des Gefangenen die Dauer von
drei Jahren nicht überſteigen.


2. Die vorläufige (bedingte) Entlaſſung (Beurlau-
bung (StGB. §§. 23—26). Die zu einer längeren (zei-
tigen) Zuchthaus- oder Gefängnisſtrafe Verurteilten
können, wenn ſie drei Vierteile, mindeſtens aber ein Jahr
der ihnen auferlegten Strafe verbüßt, ſich auch während dieſer
Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zuſtimmung vorläufig
entlaſſen werden.


Iſt die feſtgeſetzte Strafzeit abgelaufen, ohne daß ein
Widerruf der vorläufigen Entlaſſung erfolgt iſt, ſo gilt die
Freiheitsſtrafe als verbüßt.


Dagegen hat der Widerruf — zuläſſig bei ſchlechter
Führung des Entlaſſenen, ſowie wenn derſelbe den ihm auf-
erlegten Verpflichtungen zuwiderhandelt — die Wirkung, daß
die ſeit der vorläufigen Entlaſſung bis zur Wiedereinliefe-
rung verfloſſene Zeit auf die feſtgeſetzte Strafdauer nicht ein-
gerechnet wird.


Entlaſſung und Widerruf liegen in der Hand der oberſten
Juſtizaufſichtsbehörde; die vorläufige Feſtnahme Entlaſſener
kann auch von der Ortspolizeibehörde verfügt werden.


3. Die gegen jugendliche Perſonen erkannten Frei-
heitsſtrafen ſind in beſonderen nur für dieſen Zweck be-
ſtimmten Anſtalten oder Räumen zu vollziehen.


[191]Die Geldſtrafe. §. 47.
3.
§. 47. Die Geldſtrafe.1

I. Die Geldſtrafe iſt die einzige Vermögens-Hauptſtrafe
im Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung. Sie hat hier
reiche — vielleicht zu reiche — Verwendung gefunden. Sehen
wir von den Fällen ab, in welchen Geldſtrafe neben Frei-
heitsſtrafe cumulativ angedroht, in welchen ſie alſo Neben-
ſtrafe iſt, ſo tritt ſie uns bei den einzelnen Delikten bald als
ausſchließlich, bald als mit der Freiheitsſtrafe alternierend
und zwar bald an erſter bald an zweiter Stelle angedrohte
Strafe entgegen.


II. Der Mindeſtbetrag der Geldſtrafe iſt bei Ver-
brechen und Vergehen drei Mark, bei Uebertretungen eine
Mark.


Der Höchſtbetrag der Geldſtrafe iſt im allgemeinen
Teile des StGB.’s nicht angegeben; im beſonderen Teile
überſteigt er 6000 Mark nicht, nur in dem durch das Wucher-
geſetz vom 24. Mai 1880 eingefügten §. 302 d kann bis auf
15 000 Mark erkannt werden. Weit höher reicht die Geld-
ſtrafe in den Nebengeſetzen, wo ſie in zahlreichen Fällen als
Vielfaches oder quoter Teil der hinterzogenen Abgaben, des
defraudirten Portos uſw. auftritt. Außer zahlreichen Zoll-
und Steuergeſetzen ſeien als Beiſpiele erwähnt: Geſetz betr.
die Inhaberpapiere mit Prämien vom 8. Juni 1871 §. 6:
Geldſtrafe, welche dem 5. Teile des Nennwertes der den
Gegenſtand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleich-
kommt, mindeſtens aber 100 Thaler betragen ſoll;


Bankgeſetz vom 14. März 1875 §. 55: Geldſtrafe, welche
[192]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
dem Zehnfachen des Betrages der unbefugt ausgegebenen
Wertzeichen gleichkommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt;


Wechſelſtempelſteuergeſetz vom 10. Juni 1869 §. 15:
Geldbuße, welche dem 50fachen Betrage der hinterzogenen
Abgabe gleichkommt;


Geſetz betr. Ausgabe von Banknoten vom 21. Dezember
1874 Art. II §. 2: 4fache Betrag der geſetzwidrig ausgege-
benen Banknoten, mindeſtens aber 1000 Mark.


Die Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 rechnet
in den §§. 83 und 84 nach dem Betrage der Monatsheuer.


III. Die Geldſtrafe wird vom Staate eingezogen und
für öffentliche Zwecke verwendet, die in einzelnen Nebenge-
ſetzen beſonders bezeichnet ſind. Vgl. z. B. Perſonenſtands-
geſetz vom 6. Februar 1875 §. 70, nach welchem die hier
angedrohten Geldſtrafen jenen Gemeinden zufließen, welche die
ſächlichen Koſten der Standesämter zu tragen haben; Nah-
rungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 17, nach welchem
jene Kaſſen bezugsberechtigt ſind, welchen die Unterhaltung
der zur techniſchen Unterſuchung von Nahrungs- und Ge-
nußmitteln beſtimmten Anſtalten obliegt; Gewerbe-Ordnung
§. 146 (Hülfskaſſe, andere zum Beſten der Arbeiter beſtehende
Kaſſen, eventuell Ortsarmenkaſſe, Gewerbe-Ordnung §. 116);
Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 33 (Poſtarmen- oder
Unterſtützungskaſſe); Tabackſteuergeſetz vom 16. Juli 1879
§. 46 (Fiskus desjenigen Staates, von deſſen Behörden die
Strafentſcheidung erlaſſen iſt); Waarenverkehrs-Statiſtik-Ge-
ſetz vom 20. Juli 1879 §. 17 (ebenſo); Wechſelſtempelgeſetz
vom 10. Juni 1869 §. 17 (ebenſo); Spielkartenſtempelgeſetz
vom 3. Juli 1878 §. 19 (ebenſo); Seemannsordnung vom
27. Dezember 1872 §. 107 (Seemannskaſſe bez. Ortsarmen-
kaſſe des Heimathshafens des Schiffes).


[193]Der Verweis. §. 48.

Die Vollſtreckung der Geldſtrafen erfolgt nach den
Vorſchriften über die Vollſtreckung der Urteile der Civil-
gerichte (StPO. § 495). Ueber die Vollſtreckung in den
Nachlaß des Verurteilten (StGB. §. 30) vgl. unten §. 57
II; über die Umwandlung der Geldſtrafe in Freiheitsſtrafe
(StGB. §§. 28 und 29) unten §. 55 I 1.


4.
§. 48. Der Verweis.1

I. Der Verweis, ſchon im gemeinen Recht und in mehre-
ren deutſchen Partikularſtrafgeſetzbüchern als Strafmittel an-
erkannt, findet ſich in der Reichsgeſetzgebung in einem ein-
zigen Falle (StGB. §. 57 Ziff. 4): Hat ein jugendlicher
Thäter ein Vergehen oder eine Uebertretung begangen, ſo
kann in beſonders leichten Fällen auf Verweis erkannt
werden.


II. Der Verweis iſt eigentliche Strafe, und zwar die
einzige Hauptſtrafe an der Ehre. Er kann daher erſt erteilt
werden, wenn das auf ihn erkennende Urteil rechtskräftig
geworden iſt. Ueber den Vollzug dieſer Strafart fehlt
es — auch in der StPO. — an ausdrücklichen Anord-
nungen; es ſind daher die übrigen Beſtimmungen der
StPO. zur analogen Anwendung zu bringen. So hat
z. B. die Erteilung des Verweiſes gemäß §. 483 StPO.
durch die Staatsanwaltſchaft auf Grund einer von dem Ge-
richtsſchreiber zu erteilenden, mit der Beſcheinigung der Voll-
von Liszt, Strafrecht. 13
[194]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
ſtreckbarkeit verſehenen, beglaubigten Abſchrift der Urteils-
formel zu geſchehen. Wo die Analogie der Beſtimmungen
der StPO. nicht ausreicht, iſt landesgeſetzliche Regelung
notwendig und maßgebend.


B. Die Nebenſtrafen.

1.
§. 49. Nebenſtrafen an der Freiheit.1

Daß wir es hier mit wirklichen Nebenſtrafen, nicht
aber mit polizeilichen Maßregeln zu thun haben, ergiebt ſich
aus dem oben §. 42 beſprochenen Begriffe der Strafe. Die
richtige Auffaſſung der Strafe, nach welcher ſie Rechtsgüter-
ſchutz durch Rechtsgüterverletzung iſt, nach welcher Art und
Maß der Strafe lediglich beſtimmt wird durch das Be-
dürfnis nach Schutz der Rechtsgüter, hat gerade in dieſen
Nebenſtrafen an der Freiheit, freilich ohne daß der Geſetz-
geber ſich klar geworden wäre über die theoretiſche Trag-
weite ſeiner Anordnungen, prägnanten geſetzlichen Ausdruck
gefunden. Zielbewußte Erweiterung dieſer Einrichtungen
und Verſchmelzung derſelben mit den Hauptſtrafen bildet
die Aufgabe künftiger rationeller Strafgeſetzgebung.


Es gehören hieher


I.Das gerichtliche Erkenntnis auf Zuläſſig-
keit von Polizeiaufſicht
, das neben der Freiheitsſtrafe,
und zwar regelmäßig neben Zuchthaus, ausnahmsweiſe
(StGB. §§. 180, 262, 294) auch neben Gefängnis, aber
[195]Nebenſtrafen an der Freiheit. §. 49.
nur in den durch das Geſetz ausdrücklich vorgeſehenen Fällen,
dem richterlichen Ermeſſen anheimgegeben iſt (StGB. §. 38).
Dieſe vorgeſehenen Fälle ſind: StGB. §§. 115, 116 (Auf-
ruhr und Auflauf), 122 (Meuterei von Gefangenen), 125
(Landfriedensbruch), 146, 147 (Münzverbrechen), 180, 181
(Kuppelei), 248 (Diebſtahl und Unterſchlagung), 256 (Raub
und Erpreſſung), 262 (Hehlerei), 294 (gewerbsmäßige Wild-
dieberei), 325 (Reihe von gemeingefährlichen Delikten), 49 a
(Aufforderung und Erbieten zu Verbrechen); ferner bei dem
Verſuch eines mit Tod oder lebenslangem Zuchthaus be-
drohten Verbrechens und der Beihülfe zu einem ſolchen
(StGB. §§. 44 und 49); Nahrungsmittelgeſetz 14. Mai
1879 §. 13.


Iſt Polizeiaufſicht neben der Strafe des vollendeten Ver-
brechens oder Vergehens zuläſſig, ſo gilt Gleiches bei der
Verſuchsſtrafe (StGB. §. 45); iſt ſie wegen einer von
mehreren real konkurrierenden ſtrafbaren Handlungen zuläſſig,
ſo kann auf ſie auch neben der Geſammtſtrafe erkannt werden
(StGB. §. 76).


Dem jugendlichen Thäter gegenüber darf Zuläſſigkeit der
Polizeiaufſicht nicht ausgeſprochen werden (StGB. §. 57 Ziff. 5).


Durch ein ſolches Erkenntnis erhält die höhere Landes-
polizeibehörde die Befugnis, nach Anhörung der Gefängnis-
verwaltung den Verurteilten auf die Dauer von höchſtens
5 Jahren unter Polizeiaufſicht zu ſtellen. Dieſe Zeit wird
von dem Tage berechnet, an welchem die Freiheitsſtrafe ver-
büßt, verjährt oder erlaſſen iſt (StGB. §. 38).


Die Polizeiaufſicht hat folgende Wirkungen:


  • a) dem Verurteilten kann der Aufenthalt an einzelnen
    beſtimmten Orten von der höheren Landespolizeibehörde
    unterſagt werden;

[196]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
  • b) die höhere Landespolizeibehörde iſt befugt, den Aus-
    länder aus dem Bundesgebiete zu verweiſen;
  • c) Hausſuchungen unterliegen keiner Beſchränkung hin-
    ſichtlich der Zeit, zu welcher ſie ſtattfinden dürfen.

Weitere Folgen enthält die StPO. in den §§. 103, 104,
106, 113.


Zuwiderhandlungen gegen dieſe Beſchränkungen fallen
unter StGB. §. 361 Ziff. 1 und 2.


II.Die Ueberweiſung an die Landespolizeibe-
hörde
. Neben der Verurteilung zur Haft wegen der in
§. 361 StGB. Ziff. 3—8 bedrohten Delikte (gegen Land-
ſtreicher, Bettler, Müßiggänger, Proſtituirte, Arbeitsſcheue,
Erwerbsloſe) kann zugleich erkannt werden, daß die verur-
teilte Perſon nach verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde
zu überweiſen ſei. Dieſe erhält dadurch die Befugnis, den
Verurteilten entweder bis zu zwei Jahren in ein Arbeits-
haus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu ver-
wenden. Im Falle des §. 361 Ziff. 4 (Bettel) iſt dies je-
doch nur dann zuläſſig, wenn der Verurteilte in den letzten
drei Jahren wegen dieſer Uebertretung mehrmals rechts-
kräftig verurteilt worden iſt, oder wenn derſelbe unter Dro-
hungen oder mit Waffen gebettelt hat. Gegen Ausländer
kann an Stelle der Unterbringung in ein Arbeitshaus Ver-
weiſung aus dem Bundesgebiete eintreten (StGB. §. 362).
Man ſpricht hier auch wohl von „korrektioneller Nachhaft“
oder „Anhang“.


III.Die Ausweiſung aus dem Reichsgebiete iſt
als Nebenſtrafe nur gegen Ausländer zuläſſig, und zwar
in folgenden Fällen:


  • 1. Bei gewerbsmäßigem Betriebe des Glücksſpiels StGB.
    §. 284.

[197]Nebenſtrafen an der Freiheit. §. 49.
  • 2. An Stelle der Polizeiaufſicht oder der Unterbringung in
    ein Arbeitshaus StGB. §§. 39 Ziff. 2 u. 362 Abſ. 3.
  • 3. Gegen Perſonen, welche ſich die Agitation für ſozial-
    demokratiſche Beſtrebungen zum Geſchäfte machen, hier
    an Stelle der Verſagung des Aufenthaltes. Sozial.-
    Geſetz vom 21. Oktober 1878 §. 22.

Zuwiderhandlungen fallen unter §. 361 Ziff. 2 StGB.,
bez. unter §. 22 des Sozial.Geſetzes.


IV.Aufenthaltsbeſchränkung2 als Verwaltungs-
maßregel häufig, als Nebenſtrafe nur im Sozial.Geſetz
(§. 22) angedroht. Bei geſchäftsmäßiger Agitation für ſozial-
demokratiſche Beſtrebungen kann neben der Freiheitsſtrafe
wegen gewiſſer Uebertretungen des Sozial.Geſetzes auf die Zu-
läſſigkeit
der Einſchränkung des Aufenthaltes erkannt
werden. Die Landespolizeibehörde erhält dadurch das Recht,
dem Verurteilten den Aufenthalt in beſtimmten Bezirken oder
Ortſchaften zu verſagen; in ſeinem Wohnſitze jedoch nur
dann, wenn er denſelben nicht bereits ſeit 6 Monaten inne
hat. Ausländer können ausgewieſen werden.


V.Beſchränkung des Hausrechts trifft nach §. 3
Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 die auf Grund der
§§. 10, 12, 13 dieſes Geſetzes zu einer Freiheitsſtrafe ver-
urteilten Perſonen inſofern, als die Polizei durch die Ver-
urteilung die Berechtigung erhält, in den zu Herſtellung,
Aufbewahrung, Verkauf der Nahrungsmittel uſw. beſtimmten
Räumlichkeiten Reviſionen vorzunehmen. Die Befugnis
beginnt mit der Rechtskraft des Urteils und erliſcht mit dem
Ablaufe von drei Jahren von dem Tage an gerechnet, an
welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt, verjährt oder erlaſſen iſt.


[198]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
2.
§. 50. Nebenſtrafen am Vermögen.1

I.Die acceſſoriſche Geldſtrafe, überaus häufig,
beſonders bei den aus Gewinnſucht hervorgegangenen Ver-
brechen, in der Reichsgeſetzgebung angedroht.


II.Die Einziehung der instrumenta und pro-
ducta sceleris,
d. i. derjenigen Gegenſtände, welche durch
ein vorſätzliches Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht
oder welche zur Begehung eines ſolchen gebraucht oder be-
ſtimmt ſind. Die Einziehung iſt im Urteile auszuſprechen
(StGB. §. 40). Nur ausnahmsweiſe iſt ſie auch bei Ueber-
tretungen
[zuläſſig]: StGB. §§. 360, 367, 369 Ziff. 2.


Regelmäßig iſt der Ausſpruch der Einziehung dem Er-
meſſen des Gerichtes anheimgeſtellt; in einzelnen Fällen
(StGB. §§. 152, 295, 296 a, 335, 369 Ziff. 2) muß jedoch
auf Einziehung erkannt werden.


Die Einziehung verliert den Charakter der Strafe, ſo-
bald ſie nicht den Verurteilten, ſondern dritte Perſonen trifft,
oder unabhängig von der Verfolgung oder Verurteilung einer
beſtimmten Perſon ausgeſprochen werden kann. Vgl. oben
§. 42 III 1.


Sehr häufig findet ſich die Einziehung in den Nebenge-
ſetzen. Man vgl. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 21
und 25, die Urhebergeſetze vom 9., 10., 11. Januar 1876,
Markenſchutzgeſetz vom 30. November 1874 §. 17, Reichs-
flaggengeſetz vom 25. Oktober 1867 §§. 13—15, die Zoll-
und Steuergeſetze, Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878
§. 20, Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 15, Vieh-
[199]Nebenſtrafen am Vermögen. §. 50.
ſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880 §§. 65 und 66 uſw. Sehr
eingehende Beſtimmungen über Konfiskation enthält das Ver-
einszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134, 135, 147, 154 bis
157; zu bemerken iſt, daß, wenn die Konfiskation ſelbſt
nicht vollzogen werden kann, an ihre Stelle die Zahlung
einer Geldſumme tritt (§§. 155 und 147 letzter Abſatz).


III.Die Unbrauchbarmachung von Schriften
u. dgl. Wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder
Darſtellung ſtrafbar iſt, ſo iſt im Urteile auszuſprechen, daß
alle Exemplare, ſowie die zu ihrer Herſtellung beſtimmten
Platten und Formen unbrauchbar zu machen ſind. Die
Vorſchrift bezieht ſich jedoch nur auf die im Beſitze des
Verfaſſers, Druckers, Herausgebers, Verlegers oder Buch-
händlers befindlichen und auf die öffentlich ausgelegten oder
öffentlich angebotenen Exemplare. Iſt nur ein Teil der
Schrift, Abbildung oder Darſtellung ſtrafbar, ſo iſt, inſofern
eine Ausſcheidung möglich iſt, auszuſprechen, daß nur die
ſtrafbaren Stellen und derjenige Teil der Platten und Formen,
auf welchem ſich dieſe Stellen befinden, unbrauchbar zu machen
ſind2 (StGB. §. 41).


IV.Dauernder oder zeitiger Verluſt der Be-
fugnis zum Gewerbebetrieb
. Obwohl nach §. 143 der
Gew.Ordnung vom 21. Juni 1869 (vgl. mit §. 4 des Preß-
geſetzes vom 7. Mai 1874) die Berechtigung zum Gewerbe-
betriebe weder durch richterliche noch durch adminiſtrative
Entſcheidung entzogen werden kann, ſo iſt dieſer Satz von
der Reichsgeſetzgebung doch nicht ausnahmslos durchgeführt
worden.


1. So findet ſich der Verluſt der Gewerbeberechtigung
[200]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
als Strafe in manchen Steuergeſetzen angedroht, man vgl.
z. B. Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 52 u. 53;
Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 14.


2. Nach §. 23 des Sozial.Geſetzes vom 21. Oktober 1878
kann gegen ſozialdemokratiſche Agitatoren neben der Verur-
teilung zu Freiheitsſtrafe wegen gewiſſer Uebertretungen des
Sozial.Geſetzes auf Unterſagung des Gewerbebetriebes er-
kannt werden, wenn es ſich um Gaſtwirte, Schankwirte, mit
Branntwein oder Spiritus Kleinhandel treibende Perſonen,
Buchdrucker, Buchhändler, Leihbibliothekare und Inhaber von
Leſekabineten handelt (vgl. auch §§. 24, 25 Sozial.Geſetz).


3.
§. 51. Uebenſtrafen an der Ehre.1

Die Nebenſtrafen an der Ehre beſtehen nach der Reichs-
geſetzgebung nicht etwa in einer Vernichtung oder Schmäle-
rung des Rechtsgutes der Ehre, ſondern in der gänzlichen
oder teilweiſen Aberkennung gewiſſer vom Geſetze genau be-
zeichneter „Ehrenrechte“, d. h. von Rechten und Fähigkeiten,
welche ſich auf die öffentliche, nicht aber auf die privatrecht-
liche oder ſoziale Stellung des Verurteilten beziehen.


I.Die Aberkennung ſämmtlicher Ehrenrechte.
Sie umfaßt:


1. den dauernden Verluſt der aus öffentlichen Wahlen
für den Verurteilten hervorgegangenen Rechte, ingleichen den
[201]Nebenſtrafen an der Ehre. §. 51.
dauernden Verluſt der öffentlichen Aemter,2 Würden, Titel,
Orden und Ehrenzeichen (nicht des Adels). StGB. §. 33.


2. Die Unfähigkeit, während der im Urteile
beſtimmten Zeit


  • a) die Landeskokarde zu tragen;
  • b) in das deutſche Heer oder in die kaiſerliche Marine
    einzutreten;
  • c) öffentliche Aemter, Würden, Titel, Orden und Ehren-
    zeichen zu erlangen;
  • d) in öffentlichen Angelegenheiten zu ſtimmen, zu wählen
    oder gewählt zu werden oder andere politiſche Rechte
    auszuüben;
  • e) Zeuge bei Aufnahme von Urkunden zu ſein;
  • f) Vormund, Nebenvormund, Kurator, gerichtlicher Bei-
    ſtand oder Mitglied eines Familienrates zu ſein, es
    ſei denn, daß es ſich um Verwandte abſteigender Linie
    handele und die obervormundſchaftliche Behörde oder
    der Familienrat die Genehmigung erteile (StGB.
    §. 34).3

Die Dauer der Unfähigkeit beträgt neben zeitiger Zucht-
hausſtrafe mindeſtens 2 und höchſtens 10 Jahre, neben Ge-
fängnisſtrafe mindeſtens 1 und höchſtens 5 Jahre (StGB.
§. 32). Die Wirkung der Aberkennung tritt mit der Rechts-
kraft des Urteils ein; die Zeitdauer der Unfähigkeit wird von
dem Tage berechnet, an dem die Freiheitsſtrafe, neben welcher
[202]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
jene Aberkennung ausgeſprochen wurde, verbüßt, verjährt
oder erlaſſen iſt (StGB. §. 36).


Die Aberkennung der ſämmtlichen Ehrenrechte iſt regel-
mäßig dem Ermeſſen des Gerichtes überlaſſen; obligatoriſch
vorgeſchrieben iſt ſie nur in den §§. 161 (Meineid), 181
(ſchwere Kuppelei), 302 d (Wucher nach dem Geſetz vom
24. Mai 1880) StGB.


Neben Todes- und neben Zuchthausſtrafe kann ſie
ohne weiteres, neben Gefängnisſtrafe aber nur dann
ausgeſprochen werden (StGB. §. 32), wenn die Dauer der
erkannten Strafe drei Monate erreicht und entweder das
Geſetz den Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte ausdrücklich
zuläßt oder die Gefängnisſtrafe wegen Annahme mildernder
Umſtände an Stelle von Zuchthausſtrafe ausgeſprochen wurde.


Die Fälle, in welchen das Geſetz den Verluſt ausdrück-
lich zuläßt, ſind die §§. 49 a, 108, 109, 133, 142, 143,
150, 160, 161, 164, 168, 173, 175, 180, 183, 248, 256,
262, 263, 266, 280, 284, 289, 294, 302, 302 a, b, c (Wucher
nach dem Geſetz vom 24. Mai 1880), 304, 329, 333, 350;
Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 12; Seemanns-
ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 97.


Bei Verſuch (StGB. §. 45) iſt die Aberkennung zu-
läſſig oder geboten, wenn ſie es neben der Strafe des voll-
endeten Deliktes wäre (die Verſuchsſtrafe muß alſo bei Ge-
fängnis mindeſtens 3 Monate betragen); ebenſo neben der
Geſammtſtrafe, wenn ſie auch nur neben einer der ver-
wirkten Einzelſtrafen zuläſſig oder geboten iſt (StGB. §. 76).
Gegen den jugendlichen Thäter darf ſie nie ausgeſprochen
werden (StGB. §. 57 Ziff. 5).


II.Die Aberkennung (der Verluſt) einzelner
Ehrenrechte
. Hier haben wir mehrere Fälle zu unterſcheiden:


[203]Nebenſtrafen an der Ehre. §. 51.

1. Die Verurteilung zur Zuchthausſtrafe hat die dauernde
Unfähigkeit zum Dienſte in dem deutſchen Heere

und der deutſchen Marine, ſowie die dauernde Unfähigkeit
zur Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen zur
Folge (StGB. §. 31).


2. Neben einer Gefängnisſtrafe, mit welcher die Ab-
erkennung überhaupt hätte verbunden werden können, kann
auf die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter
auf die Dauer von 1 bis zu 5 Jahren erkannt werden
(StGB. §. 35).


3. Auf den dauernden Verluſt der bekleideten öffent-
lichen Aemter und der aus öffentlichen Wahlen her-
vorgegangenen Rechte
kann erkannt werden in den
Fällen der §§. 81, 83, 84, 87—91, 94, 95 StGB., und
zwar nach §. 95 neben der Gefängnisſtrafe, in den übrigen
Fällen neben der Feſtungshaft, die hier ausnahmsweiſe mit
einer Minderung der Ehrenrechte verbunden ſein kann.


4. Nach den §§. 128, 129, 358 StGB. kann (nach den
§§. 128 u. 129 nicht aber nach §. 358 nur gegen Beamte,
die ſich dieſer Delikte ſchuldig gemacht haben) auf Verluſt
der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die
Dauer von 1 bis zu 5 Jahren erkannt werden.


Für die Berechnung der Dauer der zeitigen Unfähigkeit
gilt auch hier das oben ad I Geſagte.


III. Iſt ein Deutſcher im Auslande wegen eines Ver-
brechens oder Vergehens beſtraft worden, das nach den Ge-
ſetzen des deutſchen Reiches den Verluſt der bürgerlichen
Ehrenrechte überhaupt oder einzelner bürgerlicher Ehrenrechte
zur Folge hat oder zur Folge haben kann, ſo iſt ein neues
Strafverfahren
zuläſſig, um gegen den in dieſem Ver-
[204]Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
fahren für Schuldig Erklärten auf jene Folgen zu erkennen
(StGB. §. 37 vgl. mit §. 5 Nr. 1 u. 3).


Anhang.

§. 52. Die Buße.1

I.Anwendungsgebiet. Die Buße findet ſich ſowohl
im Strafgeſetzbuch ſelbſt als auch in einzelnen Nebengeſetzen.
Die Fälle, in welchen auf Buße erkannt werden kann, ſind
die folgenden:


1. StGB. §. 188. Ueble Nachrede und Verleumdung
(StGB. §§. 186 u. 187), wenn die Beleidigung nachteilige
Folgen für die Vermögensverhältniſſe, den Erwerb oder das
Fortkommen des Beleidigten mit ſich bringt. Maximum
6000 Mark.


2. StGB. §. 231. Körperverletzung in allen Fällen.
Maximum 6000 Mark.


3. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 18, 43,
45. Bei vorſätzlichem wie bei fahrläſſigem Nachdruck.
Maximum 6000 Mark.


4. Urheberrechtsgeſetze vom 9. Januar 1876 §. 16,
10. Januar 1876 §. 9, 11. Januar 1876 §. 14. Wie
unter 3.


5. Markenſchutzgeſetz vom 30. November 1874 §. 15.
Maximum 5000 Mark.


6. Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §. 36. Maximum
10000 Mark.


In allen Fällen iſt der Zuſpruch der Buße durch das
[205]Die Buße. §. 52.
im ſtrafprozeſſualen Verfahren zu ſtellende Verlangen des
Verletzten (StPO. §§. 443—446) bedingt; iſt die Buße an
den Verletzten zu entrichten, ſchließt die erkannte Buße die
Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungsanſpruches
aus; haften die zur Buße Verurteilten als Geſammtſchuld-
ner;2 darf auf einen höheren Betrag der Buße als den
beantragten nicht erkannt werden (StPO. §. 445); kann der
Anſpruch des Verletzten von deſſen Rechtsnachfolgern nicht er-
hoben oder fortgeſetzt werden (StPO. §. 444 Abſ. 4); erfolgt
die Eintreibung nach den Vorſchriften der CPO. (StPO. §. 495).


II.Charakter der Buße. Das Weſen der Buße iſt
lebhaft beſtritten; bald wird ſie als Strafe, bald als Ent-
ſchädigung, bald als ein aus beiden Elementen zuſammen-
geſetztes Inſtitut betrachtet. Wenn wir im Auge behalten,
daß der Begriff der Entſchädigung durch den Erſatz vermö-
gensrechtlicher Nachteile nicht erſchöpft wird, ſondern auch
die dem Verletzten gebührende Genugthuung für den von
ihm erlittenen Eingriff in ſeine Rechtsſphäre überhaupt in
ſich ſchließt (vgl. oben §. 42 II), ſo werden wir gegen die
Auffaſſung der Buße als reiner Entſchädigung, beſſer viel-
leicht: als Genugthuung keine Bedenken erheben können.
Dieſe Auffaſſung ſchließt nicht aus, daß der Anſpruch auf
Buße ein höchſt perſönlicher, nur dem Verletzten, nicht aber
ſeinen Erben zuſtehender iſt. Direkte Beſtätigung findet der
Genugthuungscharakter der Buße in den Nebengeſetzen (verb.
ſtatt der Entſchädigung kann auf Buße erkannt werden“).
Von dieſem Standpunkte aus können wir die meiſten der
an die Buße anknüpfenden Kontroverſen erledigen. So iſt
[206]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
weder der Nachweis eines pekuniären Nachteils,3 noch ein
ſolcher Nachteil überhaupt Bedingung für das Entſtehen
des Anſpruchs; daher iſt auch bei verſuchtem Delikte Buße
zuzuſprechen; daher iſt die Buße in jenen zahlreichen Fällen
ausgeſchloſſen (vgl. unten §. 54 I 3), in welchen der
Eintritt einer nicht verſchuldeten Körperverletzung ſtrafſchärfend
wirkt; daher verjährt der Anſpruch auf Buße nach den
Grundſätzen des Civilrechtes, wenn auch ſeine Geltend-
machung im Strafprozeſſe durch die ſtrafrechtliche Verjährung
des Deliktes thatſächlich unmöglich gemacht wird; daher
wird die zuerkannte Buße durch Begnadigung nicht berührt,
während die Abolitien (vgl. unten §. 57 IV 2 c) allerdings
mit dem Strafverfahren auch die Geltendmachung des Buß-
anſpruches verhindert. Daher iſt endlich das Schmerzens-
geld
, das in ſeinem innerſten Kerne mit der Buße ſich
deckt, beſeitigt,4 ſoweit das Anwendungsgebiet der Buße
reicht.


III. Die geſetzlichen Strafrahmen und ihre Hand-
habung durch den Richter.1


§. 53.
Die normalen Strafrahmen und die richterliche Bemeſſung
der Strafe.

I. In dem Weſen des ſtaatlichen Strafrechtes, als der
Selbſtbeſchränkung der an ſich unbeſchränkten Strafgewalt
[207]Die normalen Strafrahmen ꝛc. §. 53.
(oben §. 1 I), liegt es, daß das Strafgeſetz nicht nur den
Eintritt, ſondern auch Art und Maß der Strafe beſtimmt;
daß der zweite Teil der eigentlichen Strafgeſetze mehr ent-
hält, als die nur dem primitivſten Rechtszuſtande ent-
ſprechenden Worte: der ſoll geſtraft werden (abſolut unbe-
ſtimmte Strafgeſetze).


Bei Feſtſtellung der Art und des Maßes der Strafe
kann der Geſetzgeber entweder das richterliche Ermeſſen
ganz ausſchließen oder demſelben einen gewiſſen Spielraum
geſtatten. Im 1. Falle entſtehen die ſog. abſolut be-
ſtimmten
Strafgeſetze, die in dem modernen Strafrechte
eine ganz untergeordnete Rolle ſpielen (vgl. StGB. §§. 80,
211) und ihre Exiſtenz nur noch der Beibehaltung der
Todesſtrafe verdanken. Meiſt ſchlägt der Geſetzgeber unſerer
Tage den zweiten Weg ein: er ſtellt relativ beſtimmte
Strafgeſetze auf. Die Relativität kann liegen:


1. Darin, daß der Geſetzgeber dem Richter innerhalb
derſelben Strafart einen gewiſſen Spielraum zwiſchen einem
Minimal- und einem Maximalbetrage läßt. In dieſem Falle
iſt nicht nur der Abſtand zwiſchen Minimum und Maximum,
ſondern auch die durch die Art der Berechnung (vgl. z. B.
oben §. 46 II 3) beſtimmte Zahl der dazwiſchen liegenden
Strafgrößen zu beachten. So enthält „Zuchthaus bis zu
15 Jahren“ 169; „Gefängnis bis zu 5 Jahren“ 1826;
„Feſtungshaft bis zu 15 Jahren“ 5478; „Haft bis zu
6 Wochen“ 42 Strafgrößen.


2. Darin, daß der Geſetzgeber dem Richter die Wahl
läßt zwiſchen zwei oder ſogar mehreren (wieder durch
Minimum und Maximum begrenzten) Strafarten. Vgl.
StGB. §. 185: „Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Haft
oder Gefängnis bis zu einem Jahre“. In dieſem Falle
[208]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
hat der Richter in leichteren Fällen die leichtere Strafart;
wenn Zuchthaus und Feſtungshaft zur Wahl geſtellt ſind,
Zuchthaus nur bei feſtgeſtellter ehrloſer Geſinnung des Thä-
ters zu wählen (StGB. §. 20).


3. Darin, daß es dem richterlichen Ermeſſen in vielen
Fällen überlaſſen wird, ob die Hauptſtrafe allein, oder neben
derſelben eine Nebenſtrafe einzutreten hat.


Nur den relativ beſtimmten Strafgeſetzen gegenüber iſt
der Ausdruck Strafrahmen paſſend.


II. Welche Geſichtspunkte haben den Geſetzgeber
bei Aufſtellung ſeiner Strafrahmen zu leiten? Die richtige
Antwort auf dieſe Frage liegt in dem Zweck der Strafe ſo
klar wie möglich ausgeſprochen: das Bedürfnis der Rechts-
ordnung nach Schutz ihrer Rechtsgüter iſt der erſte und
wichtigſte Maßſtab; der zweite ergiebt ſich daraus, daß Mittel
und Zweck im richtigen Verhältniſſe zu einander ſtehen müſſen,
daß das Mittel nicht tiefere Wunden ſchlagen darf als die
Vereitelung des Zweckes. Die weitere Durchführung dieſes
Gedankens gehört umſoweniger hieher, als er im heutigen
Recht nur in einzelnen Fällen und ohne daß der Geſetzgeber
ſich klar darüber würde, die Aufſtellung der Strafrahmen
beeinflußt. Der Geſetzgeber ſteht vielmehr unter dem Banne
jener Anſicht, die den Maßſtab der Strafe in dem began-
genen Verbrechen ſieht, jener Anſicht, die zwiſchen Unrecht
und Strafe eine Gleichung herzuſtellen ſucht. Darum ſtuft
der Geſetzgeber ſeine Strafſätze im Weſentlichen nach zwei
Geſichtspunkten ab:


1. Nach der objektiven Bedeutung des Unrechtes, alſo
nach Tiefe und Umfang der durch dasſelbe bewirkten Störung
der Rechtsordnung;


[209]Die normalen Strafrahmen (Strafzumeſſung). §. 53.

2. nach der ſubjektiven Bedeutung des Unrechtes, alſo
nach der Schwere der Schuld des Verbrechers.


III. Innerhalb der geſetzlichen Strafrahmen hat der
Richter die Strafe für das einzelne konkrete Verbrechen
zu bemeſſen; im Einzelfalle die Aufgabe zu löſen, die der
Geſetzgeber im allgemeinen zu löſen hatte. Dieſer ſteht dem
Diebſtahle, jener dieſem Diebſtahle gegenüber. Eben darum
hat er innerhalb des ihm gelaſſenen Spielraumes dieſelben
Geſichtspunkte zu beachten, die den Geſetzgeber bei der Auf-
ſtellung ſeiner Strafrahmen geleitet haben. Dieſe Beſtim-
mung der Strafe innerhalb des Strafrahmens heißt Straf-
zumeſſung
; die den Richter bei derſelben leitenden Ge-
ſichtspunkte Strafmehrungs- (oder Straferhöhungs-) und
Strafminderungsgründe.


IV. Wenn auch der Geſetzgeber die Strafrahmen für die
einzelne Verbrechensart hinlänglich weit bemißt, ſo daß ſie
der objektiven und ſubjektiven Schwere der meiſten Fälle dieſer
Verbrechensart entſprechen, ſo können doch Fälle vorkommen,
denen gegenüber der normale Strafrahmen ſich als zu eng
erweiſt, in welchen alſo ein Hinaufgehen über das Maximum,
ein Herabgehen unter das Minimum als angezeigt erſcheint.
Für dieſe Fälle ſtellt der Geſetzgeber beſondere, ſei es
ſchwerere ſei es leichtere, Strafrahmen auf. Nicht ganz
korrekt ſpricht man hier von Strafänderung (als ob es
ſich um eine richterliche und nicht um eine geſetzgeberiſche
Thätigkeit handelte), zerfallend in Strafſchärfung und
Strafmilderung
.


V. Thatſächliche oder rechtliche Unanwendbarkeit an ſich
anzuwendender Strafarten führt zur Strafumwandlung
(unten §. 55 I); die Kolliſion zwiſchen früheren und ſpä-
teren in derſelben Sache notwendig werdenden Entſcheidungen
von Liszt, Strafrecht. 14
[210]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
zur Strafanrechnung (unten §. 55 II). Endlich ſind
noch die beſonderen Beſtimmungen ins Auge zu faſſen,
welche der Geſetzgeber für den Fall der Realkonkurrenz
getroffen hat (unten §. 56).


§. 54.
Die beſonderen Strafrahmen (ſog. „Strafänderung“).

Die regelmäßige Weite der von der Reichsgeſetzgebung
verwendeten normalen Strafrahmen geſtattet es, die Auf-
ſtellung von beſonderen Strafrahmen auf ein verhältnis-
mäßig kleines Gebiet zu beſchränken.


I.Erhöhte Strafrahmen (Strafſchärfung).


1. Den Rückfall (den Begriff ſ. oben §. 41 I) verwendet
der Geſetzgeber nur in einzelnen Fällen und in durchaus in-
konſequenter Weiſe als Strafſchärfungsgrund. So in dem
StGB. ſelbſt in den §§. 244, 245 (Diebſtahl), 250 Z. 5
(Raub), 261 (Hehlerei), 264 (Betrug). Ferner in einzelnen
Nebengeſetzen, beſonders in den Zoll- und Steuergeſetzen.
Man vgl. Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 12;
Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 52, 53; Ver-
einszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 140—143; Rübenzucker-
ſteuergeſetz vom Mai 1870 (Vrdg. von 1846 §§. 19, 20,
25); Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 28; Brauſteuer-
geſetz vom 31. Mai 1872 §§. 33, 34; Tabakſteuergeſetz vom
16. Juli 1879 §§. 37—39. (Dagegen Nachdrucksgeſetz vom
11. Juni 1870 §. 23.)


2. In einzelnen Fällen wird für die gewerbs- oder
gewohnheitsmäßige Begehung
des Deliktes (Begriff
oben §. 39 II 3) ein erhöhter Strafrahmen aufgeſtellt; vgl.
StGB. §§. 260, 294, 302 d (Wucher); vgl. auch Vereins-
[211]Die beſond. Strafrahmen (ſog. „Strafänderung“). §. 54.
zollgeſetz vom 1. Juli 1860 §. 141 2. Abſ. Andere Schär-
fungsgründe wie die Oeffentlichkeit der Verübung, der Ge-
brauch einer Waffe, Richtung der Handlung gegen einen
Aſcendenten, Begehung um des eigenen Vorteils willen uſw.
werden wir im beſonderen Teile kennen lernen; Anſpruch auf
allgemeinere Bedeutung haben ſie nicht.


3. Erwähnung verdienen nur noch die zahlreichen Fälle,
in welchen der Eintritt eines ſchwereren Erfolgs
Strafſchärfung bewirkt. Man vgl. StGB. §§. 178, 220,
221, 226, 227, 229, 239, 251, 312, 315, 321—324 uſw.
Zu bemerken iſt, daß in all’ dieſen Fällen der Erfolg nicht
ſchuldhaft (alſo weder vorſätzlich noch fahrläſſig) herbeige-
führt ſein braucht, daß er demnach jedem Teilnehmer zuzu-
rechnen, ſowie endlich, daß ein Verſuch dieſer ſchwereren
Fälle nicht möglich und denkbar iſt, weil bei Nichteintritt
des ſchwereren Erfolges eben nur der einfache Fall, bei Ein-
tritt desſelben aber ſofort Vollendung des ſchwereren Ver-
brechens vorliegt. (vgl. oben §. 27 II, §. 32 IV 1.)


II.Erniedrigte Strafrahmen (Strafmilderung).


1. Bei zahlreichen Verbrechen hat der Geſetzgeber für
den Fall „mildernder Umſtände“, die er nicht näher ſpezia-
liſiert und die im ſchwurgerichtlichen Verfahren durch Be-
fragung der Geſchworenen feſtzuſtellen ſind (StPO. §. 297),
einen beſonderen niederen Strafrahmen aufgeſtellt. Dabei
weiſt er in den meiſten Fällen den Richter beſtimmt an, ſich,
wenn mildernde Umſtände vorliegen, dieſes milderen Straf-
rahmens zu bedienen; in anderen Fällen (ſo StGB. §§. 187,
246, 263, 333, 340 nicht aber 228) dagegen läßt er dem
Richter trotz Feſtſtellung des Vorliegens mildernder Um-
ſtände die Wahl, ob er ſich des normalen oder des ernie-
drigten Strafrahmens bedienen will. Nicht zu verwechſeln
[212]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
mit den mildernden Umſtänden ſind die „leichteren“, „minder
ſchweren Fälle“ in StGB. §§. 57 Ziff. 4, 94, 96; hier liegt
in der That nur ein Strafrahmen vor.


2. Die verminderte Zurechnungsfähigkeit (vgl.
oben §. 25 III) hat der Geſetzgeber nur beim jugendlichen
Alter
, hier aber als allgemeinen (für alle von jugendlichen
Perſonen begangenen ſtrafbaren Handlungen) Strafmil-
derungsgrund verwertet. Vgl. StGB. §. 57.


  • a) Iſt die Handlung mit dem Tode oder mit lebensläng-
    lichem Zuchthaus bedroht, ſo lautet der erniedrigte
    Strafrahmen: Gefängnis von 3—15 Jahren.
  • b) Bei lebenslänglicher Feſtungshaft: Feſtungshaft von
    3—15 Jahren.
  • c) In allen übrigen Fällen iſt die Strafe zwiſchen dem
    geſetzlichen Mindeſtbetrage der angedrohten Strafart
    und der Hälfte des Höchſtbetrages der angedrohten
    Strafe zu beſtimmen. Dies gilt auch für diejenigen
    Fälle, in welchen (vgl. oben §. 47 II) die Geldſtrafe
    dem Erwachſenen gegenüber als Vielfaches eines ab-
    ſolut beſtimmten Betrages zu bemeſſen iſt, ſo daß auch
    hier die in §. 27 StGB. angegebenen Minimalbeträge
    maßgebend ſind; RGR. 24. März 1880, E I 334.
    An Stelle von Zuchthaus tritt Gefängnisſtrafe von
    gleicher Dauer.
  • d) Wegen Vergehen oder Uebertretungen kann in beſon-
    ders leichten Fällen auf Verweis erkannt werden.
  • e) Auf Verluſt ſämmtlicher oder einzelner Ehrenrechte
    ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht iſt nicht zu
    erkennen.

Die mildere Behandlung der Kindestötung iſt dagegen
nicht auf verminderte Zurechnungsfähigkeit zurückzuführen.


[213]Strafumwandlung und Strafanrechnung. §. 55.

3. Verſuch und Beihülfe (StGB. §§. 44 und 49;
vgl. oben §§. 33 III und 37 II 4) ſind ebenfalls allgemeine
Milderungsgründe. Hat ein jugendlicher Thäter ſich des
Verſuches oder der Beihülfe ſchuldig gemacht, ſo iſt zuerſt
die Reduktion des Strafrahmens nach §. 44, und dann die
nach §. 57 StGB. vorzunehmen (ſehr beſtritten); jedenfalls
findet zweimalige, eventuell dreimalige Erniedrigung des
normalen Strafrahmens ſtatt.


§. 55.
Strafumwandlung und Strafanrechnung.

I.Strafumwandlung.1


1. Eine nicht beizutreibende Geldſtrafe iſt in
Freiheitsſtrafe umzuwandeln
(StGB. §§. 28, 29, 78;
StPO. §. 491). Und zwar tritt an Stelle der Geldſtrafe:


  • a) regelmäßig Gefängnis.
  • b) Haft bei Uebertretungen, ferner bei Vergehen, gegen
    welche Geldſtrafe allein oder an erſter Stelle oder
    wahlweiſe neben Haft angedroht iſt, dann, wenn die
    erkannte Strafe nicht den Betrag von 600 Mark und
    die an ihre Stelle tretende Freiheitsſtrafe nicht die
    Dauer von 6 Wochen überſteigt.
  • c) Zuchthaus. War neben der Geldſtrafe auf Zucht-
    haus erkannt, ſo iſt die an deren Stelle tretende Ge-
    fängnisſtrafe in Zuchthaus umzurechnen.

Maßſtab der Umwandlung. Bei den wegen eines
[214]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
Verbrechens oder Vergehens erkannten Geldſtrafen iſt irgend
ein Betrag zwiſchen 3 und 15 Mark, bei den wegen einer
Uebertretung erkannten Geldſtrafen irgend ein Betrag zwiſchen
einer und 15 Mark einer eintägigen Freiheitsſtrafe gleich-
zuachten.


Grenzen der ſubſtituierten Freiheitsſtrafe.
Der Mindeſtbetrag derſelben iſt ein Tag, der Höchſtbetrag
bei Haft 6 Wochen, bei Gefängnis 1 Jahr. (Dieſer Haft-
betrag kann überſchritten werden im Falle realer Konkurrenz,
StGB. §. 78 Abſ. 2, vgl. unten §. 56 III 1.) Wenn eine
neben der Geldſtrafe wahlweiſe angedrohte Freiheitsſtrafe
ihrer Dauer nach den vorgedachten Höchſtbetrag nicht erreicht,
ſo darf die ſubſtituierte Freiheitsſtrafe den angedrohten Höchſt-
betrag jener Freiheitsſtrafe nicht überſteigen.


Der Verurteilte kann ſich durch Erlegung des Strafbe-
trages, ſoweit dieſer durch die erſtandene Freiheitsſtrafe noch
nicht getilgt iſt, von der letzteren frei machen.


Vielfach von dem eben Geſagten abweichende Beſtim-
mungen enthalten die Nebengeſetze. So ſchließen ſie teil-
weiſe die Umwandlung in Freiheitsſtrafe überhaupt aus;
vgl. Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 15; Nach-
drucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 24. Oder ſie ſtellen einen
anderen Umwandlungsfuß auf; ſo Nachdrucksgeſetz vom
11. Juni 1870 §. 18 Abſ. 3, die Gewerbeordnung nach dem
Geſetz vom 12. Juni 1872 §§. 145 ff., Vereinszollgeſetz vom
1. Juli 1869 §. 162, die Salz-, Branntwein-, Tabak-,
Rübenzucker-, Brau-Steuergeſetze, Poſtgeſetz vom 28. Oktbr.
1871 §. 31 uſw. Hieher gehören auch StPO. §§. 50, 69,
77; CPO. §§. 345, 355, 374.


2. Die Umwandlung einer Freiheitsſtrafe in
eine andere
kann aus rechtlichen Gründen notwendig werden.
[215]Strafumwandlung und Strafanrechnung. §. 55.
So nach den §§. 44, 49, 157, 158 StGB., wenn nach dem
erniedrigten Strafrahmen Zuchthausſtrafe unter einem Jahre
(vgl. oben §. 46 II 2) verwirkt wäre; bei Feſtſtellung der
Geſammtſtrafe nach §. 74 StGB. (vgl. unten §. 56 II);
endlich wenn an Stelle der Geldſtrafe Zuchthaus treten
ſoll, StGB. §. 28 (vgl. oben unter 1). In dieſen Fällen
können auch Tage und Wochen Zuchthaus ausgeworfen
werden (vgl. oben §. 46 II 3), da es ſich hier um ein
rechnungsmäßig ſich ergebendes Reſultat handelt.


Maßſtab der Umrechnung (StGB. §. 21): 8 Mo-
nate Zuchthaus gleich 12 Monate Gefängnis; 8 Monate
Gefängnis gleich 12 Monate Feſtungshaft.


II.Strafanrechnung.


1. Eine erlittene Unterſuchungshaft kann als
Strafverbüßung betrachtet und bei Fällung des Urteils auf
die erkannte Strafe (die im Urteilstenor ihrem vollen Be-
trage nach anzugeben iſt) ganz oder teilweiſe angerechnet
werden (StGB. §. 60). Die Anrechnung iſt bei Freiheits-
und Geldſtrafe, nicht bei Verweis oder Todesſtrafe, nie bei
den Nebenſtrafen geſtattet.


2. Eine im Auslande vollzogene Strafe iſt, wenn
wegen derſelben Handlung im Gebiete des deutſchen Reichs
abermals eine Verurteilung erfolgt, auf die zu erkennende Strafe
in Anrechnung zu bringen (StGB. §. 7 vgl. mit §§. 3 u. 4).


In den Fällen der Anrechnung iſt Zuchthaus wie regel-
mäßig (oben §. 46 II 3) nach vollen Monaten zu berechnen.


3. Als einen der Strafanrechnung verwandten Fall haben
wir die in den §§. 199 und 233 StGB. enthaltene Beſtim-
mung (die ſog. Retorſion) zu konſtruieren. An Stelle der er-
littenen Strafe wird hier die erlittene Beleidigung oder
Körperverletzung zur Anrechnung gebracht.


[216]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
§. 56.
Die Beſtimmung der Strafe im Falle realer Konkurrenz
mehrerer Verbrechen.
1

I. Liegen mehrere ſelbſtändige Verbrechen desſelben Thä-
ters zur ſtrafrechtlichen Beurteilung vor, ſo wäre die lo-
giſch notwendige Folge aus der Selbſtändigkeit der einzelnen
Verbrechen die Selbſtändigkeit der denſelben ent-
ſprechenden Einzelſtrafen
.2 Aber die Kumulierung
der Einzelſtrafen bei der Strafvollſtreckung führt nach der
in der heutigen Strafgeſetzgebung herrſchenden Anſicht, wenn
es ſich um gewiſſe Strafmittel handelt, zu unverhältnis-
mäßigen Härten. Mit dem Umfange der in der Strafe
liegenden Rechtsgüterverletzung wächſt deren Intenſität; ſoll
daher die kumulierende Strafvollſtreckung nur die wirkliche
Summe der einzelnen Strafübel zufügen, ſo muß ſie dieſen an
Umfang nehmen, was ſie durch die Kumulierung an Intenſität
gewinnen. So gelangen wir zu der Forderung einer Mil-
derung des Kumulationsprinzipes bei realer Kon-
kurrenz
; einer Milderung, die nur ſcheinbar eine ſolche, in
Wahrheit aber eine Wiederherſtellung des urſprünglichen
Gleichmaßes zwiſchen Einzelverbrechen und Einzelſtrafe iſt;
einer Milderung, die aber nur dort und nur ſoweit ange-
meſſen iſt, wo und ſoweit die Kumulierung jenes urſprüng-
liche Gleichmaß ſtört. Dies iſt der Grundgedanke der in den
§§. 74 ff. RStGB. niedergelegten Beſtimmungen.


II. Die Milderung der Kumulierung iſt im RStGB.
[217]Realkonkurrenz. §. 56.
zum Ausdrucke gelangt in der Geſtalt der Geſammt-
ſtrafe. Sie findet aber nur dort Anwendung, wo durch
mehrere (gleichnamige oder ungleichnamige) Verbrechen
oder Vergehen mehrere zeitige Freiheitsſtrafen

verwirkt wurden; denn nur hier würde nach Anſicht des
Geſetzgebers der kumulierende Strafvollzug eine von ihm
nicht gewollte Schärfung jeder Einzelſtrafe bedeuten.


Die Geſammtſtrafe beſteht in einer Erhöhung der
verwirkten ſchwerſten Strafe
. Es werden zunächſt die
ſämmtlichen Einzelſtrafen ausgeworfen.3 Die ſchwerſte der-
ſelben (bei gleichartigen die der Dauer, bei ungleichartigen
die der Art nach ſchwerſte) bildet die Einſatzſtrafe, welche
unverkürzt beizubehalten iſt; die übrigen Einzelſtrafen werden
verhältnißmäßig gekürzt und dann zu der Einſatzſtrafe hin-
zugerechnet. Die Geſammtſtrafe darf den Betrag der ver-
wirkten Einzelſtrafen nicht erreichen, und 15jähriges Zucht-
haus, 10jähriges Gefängnis oder 15jährige Feſtungshaft
nicht überſteigen (StGB. §. 74).


III. Soweit es ſich um realkonkurrierende Uebertre-
tungen
oder um das Zuſammentreffen ſolcher mit Ver-
brechen oder Vergehen handelt; ſoweit ferner nicht zeitige
Freiheitsſtrafe untereinander, ſondern ſolche mit anderen
Strafmitteln
oder andere Strafmittel untereinander zu-
ſammentreffen, findet die Geſammtſtrafe keine Anwendung.
Doch wird das Prinzip der Kumulierung auch hier nicht
rein durchgeführt.


1. So iſt zwar auf Geldſtrafen, welche wegen meh-
rerer ſtrafbarer Handlungen allein oder neben einer Frei-
heitsſtrafe verwirkt ſind, ihrem vollen Betrage nach zu
[218]Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
erkennen; allein bei Umwandlung derſelben in Freiheitsſtrafe
dürfen 2 Jahre Gefängnis und, wenn die mehreren Geld-
ſtrafen nur wegen Uebertretungen erkannt ſind, 3 Monate
Haft
nicht überſchritten werden (StGB. §. 78 vgl. mit §. 29).


2. Die Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte
und der Ausſpruch der Zuläſſigkeit von Polizei-
aufſicht
iſt zwar neben der Geſammtſtrafe zuläſſig oder
geboten, auch wenn ſie nur neben der Verurteilung zu einer
der konkurrierenden Einzelſtrafen zuläſſig oder geboten ſind4
(StGB. §. 76); aber das für dieſe Nebenſtrafen an ſich
vorgezeichnete Höchſtmaß (vgl. oben §. 51) darf auch in dem
Falle der Realkonkurrenz nie überſchritten werden. Mit
anderen Worten: beim Zuſammentreffen dieſer Nebenſtrafen
abſorbiert die ſchwerſte aus ihnen alle gleichartigen
Nebenſtrafen, ohne durch das Zuſammentreffen mit den zur
Geſammtſtrafe vereinigten zeitigen Freiheits - Hauptſtrafen
irgend wie berührt zu werden.


IV. Aber auch innerhalb des Gebietes der zeitigen Frei-
heitsſtrafen erleidet das Prinzip der Geſammtſtrafe weſent-
liche Einſchränkungen.


1. Trifft Haft mit einer anderen Freiheitsſtrafe zu-
ſammen, ſo iſt auf die erſtere geſondert zu erkennen. Auf
eine mehrfach verwirkte Haft iſt ihrem Geſammtbetrage nach,
jedoch nicht über die Dauer von drei Monaten zu erkennen
(StGB. §. 77).


2. Trifft Feſtungshaft nur mit Gefängnis zuſammen,
ſo iſt auf jede dieſer Strafarten geſondert zu erkennen. Iſt
[219]Die Strafaufhebungsgründe. §. 57.
Feſtungshaft oder Gefängnis mehrfach verwirkt, ſo iſt hin-
ſichtlich der mehreren Strafen gleicher Art ſo zu verfahren,
als wenn dieſelben allein verwirkt wären. Doch darf die
Geſammtdauer der Strafen in dieſen Fällen 15 Jahre nicht
überſteigen (StGB. §. 75).


V. Abweichende Beſtimmungen finden ſich vielfach in
den Nebengeſetzen. Man vgl. z. B. Braumalzgeſetz vom
4. Juli 1868 §. 35, Gewerbeordnung §. 150 u. A. Ganz
eigentümlich das Spielkartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878,
welches in mehreren Strafdrohungen die Strafe nach der
Zahl der einzelnen feilgehaltenen, erworbenen, gebrauchten
uſw. Spiele bemißt.


IV. Der Wegfall des ſtaatlichen Strafanſpruchs.


§. 57.
Allgemeines. Die einzelnen Strafaufhebungsgründe.

I. Die prinzipielle Bedeutung der Strafaufhebungsgründe,
ihr Unterſchied von den Hinderniſſen, die ſich der Geltend-
machung des ſtaatlichen Strafanſpruches in den Weg ſtellen,
von den Bedingungen der Strafbarkeit, und den ſubjektiven
Strafausſchließungsgründen wurde bereits oben §. 30 III
erwähnt. Strafaufhebungsgründe ſind nach Begehung
einer ſtrafbaren Handlung eintretende Umſtände,
welchen das poſitive Recht die Wirkung beilegt,
den bereits entſtandenen Strafanſpruch zu ver-
nichten
. Ihre Darſtellung gehört zum Teile, ſoweit ſie
durch prozeſſuale Handlungen (wie rechtskräftige Entſcheidung
über den erhobenen Anſpruch, Rücknahme des geſtellten
Strafantrages oder der Privatklage) begründet werden, dem
[220]Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
Strafprozeßrechte an. Alle übrigen Strafaufhebungs-
gründe ſind materiell rechtlicher Natur. Zu erwähnen ſind:


  • 1. der Tod des Schuldigen;
  • 2. thätige Reue;
  • 3. Begnadigung;
  • 4. Verjährung.

II.Der Tod des Schuldigen1 tilgt nach heute all-
gemein angenommener Anſicht nicht das Verbrechen, wohl
aber den Strafanſpruch. Dieſer kann und ſoll auf die
ſchuldloſen Rechtsnachfolger des Verſtorbenen nicht übergehen;
der Ausſpruch oder Vollzug von Strafübeln gegen den Ver-
ſtorbenen ſelbſt aber widerſpricht unſern modernen An-
ſchauungen, ſo daß der Strafe ihre motivierende Kraft fehlen
würde. Eben darum iſt es eine nicht zu billigende Ano-
malie, wenn das StGB. in §. 30 ausnahmsweiſe die
Vollſtreckung von Geldſtrafen in den Nachlaß an-
ordnet, ſoferne das Urteil bei Lebzeiten des Verurteilten
rechtskräftig geworden war.


III. Der thätigen Reue2 legt unſere Geſetzgebung
aus guten Gründen nur ausnahmsweiſe die Bedeutung eines
Strafaufhebungsgrundes bei. Sie will in dieſen Fällen dem
Verbrecher die Möglichkeit des Rückzuges offen laſſen, und ſo
das durch ihn bedrohte Rechtsgut vor Verletzung überhaupt
oder doch vor größerer Verletzung ſchützen. Außer dem be-
reits beſprochenen Rücktritte vom Verſuche (oben §. 34)
gehören hieher:


  • a) Widerruf der fahrläſſigen falſchen Ausſage StGB.
    §. 163;

[221]Die Strafaufhebungsgründe. §. 57.
  • b) Abſtehen vom Zweikampfe und Bemühung um Ver-
    hinderung desſelben StGB. §§. 204 und 209;
  • c) Rechtzeitiges Löſchen des bereits ausgebrochenen Bran-
    des StGB. §. 310.

IV. 1. Die Begnadigung.3 Der Verzicht des Straf-
anſpruchs-Berechtigten auf den ihm erwachſenen Anſpruch iſt
im modernen Strafrechte in ziemlich planloſer Weiſe zur
Ausgleichung des abſtrakten Rechts mit der Billigkeit im
konkreten Falle verwertet. Träger des Begnadigungsrechtes
iſt nach dieſer Auffaſſung der Anſpruchsberechtigte, mithin in
allen Fällen (auch in jenen der Antragsdelikte und der Pri-
vatklage) der Staat. Dieſer übt das Begnadigungsrecht
aus durch den Souverän; alſo das Reich durch den Kaiſer,
die einzelnen Bundesſtaaten durch ihre Monarchen, bez. die
Senate von Bremen, Hamburg, Lübeck.


2. Man unterſcheidet:


  • a) Völligen und teilweiſen Verzicht auf den Anſpruch
    (Nachlaß oder Milderung der Strafe).
  • b) Einzelbegnadigung und die mehrere, perſönlich
    oder ſachlich umgrenzte Gebiete umfaſſende Amneſtie.
  • c) Abolition: Niederſchlagung der Strafverfolgung;4
    Begnadigung im engeren Sinne: Erlaß der rechts-
    kräftig erkannten Strafe; Reſtitution: gänzlicher
    oder teilweiſer Erlaß der Ehrennebenſtrafe.

3. Dem Kaiſer ſteht das Begnadigungsrecht (nicht die
Abolition, wohl aber auch die Reſtitution) zu in folgenden
Fällen:


[222]Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
  • a) Nach der StPO. §. 484 in Sachen, in welchen das
    Reichsgericht in erſter und letzter Inſtanz erkannt hat
    (vgl. GVG. §. 136 Z. 1).
  • b) Nach dem Geſetz vom 10. Juli 1879 betr. die Kon-
    ſulargerichtsbarkeit §. 42 in Sachen, in welchen der
    Konſul oder das Konſulargericht in erſter Inſtanz er-
    kannt hat.
  • c) In Elſaß-Lothringen nach §. 3 des Geſetzes vom
    9. Juni 1871 betr. die Vereinigung von Elſaß-Loth-
    ringen mit dem deutſchen Reiche.5

4. In allen übrigen Fällen ſind die Einzelſtaaten in der
Perſon ihres Souveräns Träger des Begnadigungsrechtes.
Doch iſt die Abolition in den meiſten Bundesſtaaten durch
Verfaſſungsbeſtimmungen beſchränkt oder beſeitigt,6 und die
Begnadigung überhaupt darf in manchen Fällen, ſo insbe-
ſondere in den Fällen der Miniſteranklage, nur unter ge-
wiſſen Vorausſetzungen ausgeübt werden.7


Bei Kolliſionen der partikularen Begnadigungsrechte
untereinander iſt davon auszugehen, daß es ſich um Kolli-
ſionen der Strafanſprüche handelt, ohne welche ein Be-
gnadigungsrecht überhaupt nicht denkbar iſt. In Bezug
auf Entſtehung und Geltendmachung der Strafanſprüche
ſtehen aber die deutſchen Staaten zu einander in demſelben
Verhältniſſe, wie die verſchiedenen Gerichte desſelben Staates.
Es kann dieſer Satz geradezu als der Grundgedanke der
[223]Die Verjährung. §. 58.
heutigen Gerichtsverfaſſung Deutſchlands bezeichnet werden.
Daraus folgt:


  • a) Iſt nur ein Anſpruch entſtanden, aber zugleich zweifel-
    haft, für welchen Staat (weil die verſchiedenen als
    untereinander gleichberechtigt konkurrierenden Gerichts-
    ſtände in verſchiedenen Staaten gelegen ſind), ſo wird
    durch die Entſcheidung über den Gerichtsſtand (nach
    den Vorſchriften der StPO. §§. 7 ff.) auch über den
    Anſpruch zu Gunſten des einen der kollidierenden Ein-
    zelſtaaten entſchieden. Nur dieſer Staat kann daher
    das Begnadigungsrecht ausüben, und eine von einem
    anderen Staate ausgehende, etwa bereits vor dieſer
    Entſcheidung in der Geſtalt der Abolition erfolgte
    Begnadigung iſt ohne jede juriſtiſche Bedeutung.
  • b) Werden mehrere Anſprüche mehrerer Einzelſtaaten
    (z. B. im Falle der Konnexität) in demſelben Verfahren
    vereinigt, ſo berührt dieſe rein prozeſſuale Vereinigung
    die Anſprüche ſelbſt in keiner Weiſe. Das Begnadi-
    gungsrecht bleibt, auch nach rechtskräftiger Entſchei-
    dung, jedem Einzelſtaat für ſeinen Strafanſpruch vor-
    behalten.8

§. 58.
Fortſetzung. Die Verjährung.1

I. Alles objektive Recht beſteht darin, daß es an gewiſſe
Thatſachen andere Thatſachen als deren Rechtsfolge knüpft.
[224]Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
Eine Rechtsfolge ohne rechtſchaffende und als ſolche vom
objektiven Rechte anerkannte Thatſache iſt keine Rechtsfolge.
Aber die Macht der Thatſachen ſpottet nur zu oft der Im-
perative des Rechts; ſie ſetzt ſich ſelbſt die Folgen, die das
Recht ihr nicht gewähren will; und ſie findet in der Achtung,
die allem Beſtehenden entgegengetragen wird, einen Erſatz
für die mangelnde Sanktion des objektiven Rechts. Dieſen
Zwieſpalt zwiſchen Recht und Thatſachen kann das Recht
nur dadurch beſeitigen, daß es die Thatſachen zu Recht an-
erkennt, die von ihnen erzeugten Folgen zu Rechtsfolgen
erhebt. Das iſt der Grundgedanke aller Verjährung. Nicht
die Zeit ſchafft das Recht: aber das Recht ſelbſt leiht
ſeine Sanktion den Thatſachen, die eine gewiſſe Zeit hindurch
ſich zu behaupten ſtark genug waren. Sekundäre Geſichts-
punkte, insbeſondere die Schwierigkeiten, die der Feſtſtellung
des Sachverhaltes in den Weg treten, wenn ein längerer
Zeitraum ſeit ſeinem Entſtehen verfloſſen iſt, fördern die all-
gemeine Anerkennung und umfaſſende Wirkung des Rechts-
inſtituts der Verjährung, in welchem der Bruch des Rechts
durch die Thatſachen rechtliche Geſtalt und Bedeutung
gewinnt.


So tilgt die Zeit auch den ſtaatlichen Strafanſpruch;
die thatſächliche Strafloſigkeit des Schuldigen wird vom po-
ſitiven Rechte zum Strafaufhebungsgrunde geſtempelt. Selbſt
eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Anerkennung des
ſtaatlichen Strafanſpruches hemmt wohl, hindert aber nicht
ſeinen Untergang. Das moderne Recht kennt neben der
Verfolgungsverjährung (Verjährung der actio ex delicto)
auch die Vollſtreckungsverjährung (Verjährung der actio
judicati
).


[225]Fortſetzung. Die Verjährung. §. 58.

II.Die Verfolgungsverjährung.


1. Die Strafklage verjährt (StGB. §. 67):


  • a) bei Verbrechen in 20 Jahren, wenn ſie mit dem Tode
    oder mit lebenslänglichem Zuchthauſe; in 15 Jahren,
    wenn ſie im Höchſtbetrage mit einer Freiheitsſtrafe von
    einer längeren als 10 jährigen Dauer;2 in 10 Jahren, wenn
    ſie mit einer geringeren Freiheitsſtrafe bedroht ſind.
  • b) bei Vergehen in 5 oder 3 Jahren, je nachdem ſie
    im Höchſtbetrage mit einer längeren als dreimonat-
    lichen Gefängnisſtrafe, oder aber mit einer milderen
    Strafe bedroht ſind.3
  • c) Bei allen Uebertretungen in 3 Monaten.

Für die Berechnung iſt das Höchſtmaß des Strafrahmens
maßgebend; im Einzelnen gelten auch hier die oben §. 18
III aufgeſtellten Grundſätze.


Beſondere Verjährungsfriſten finden ſich in zahlreichen
Nebengeſetzen; ſo Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 17
(5 Jahre), Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 §. 145
(3 Monate), Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §. 164
(3 Jahre), Rübenzuckerſteuergeſetz vom 2. Mai 1870 [Vrdg.
von 1846 §. 30] (5 Jahre), Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni
1870 §§. 33 ff. (3 Jahre bez. 3 Monate), Braumalzſteuergeſetz
vom 31. Mai 1872 §. 40 (3 Jahre), Preßgeſetz vom 7. Mai
1874 §. 22 (6 Monate), Spielkartenſtempelgeſetz vom 3. Juli
1878 §. 20 (3 Jahre), Patentgeſetz vom 25. Mai 1877
§. 38 (3 Jahre), Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §. 45
(3 Jahre). Vgl. auch Einf. Geſ. z. StGB. §. 7, nach
von Liszt, Strafrecht. 15
[226]Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
welchem Zuwiderhandlungen gegen die Vorſchriften über die
Entrichtung der Branntweinſteuer, der Bierſteuer und der
Poſtgefälle in 3 Jahren verjähren.


2. Der Friſtenlauf beginnt mit dem Tage, an welchem
die Handlung begangen iſt, ohne Rückſicht auf den Zeitpunkt
des eingetretenen Erfolges. Ueber den Zeitpunkt der be-
gangenen That vgl. das oben §. 19 IV Geſagte. Daraus
folgt, daß der Beginn der Verjährung unabhängig iſt von
dem Eintritte der etwa noch erforderlichen Bedingungen der
Strafbarkeit, wie z. B. Antrag des Verletzten, Scheidung
der Ehe uſw. Doch kann unter Umſtänden das Ausſtehen
einer ſolchen Bedingung ein Ruhen der Verjährung (unten
unter 4) zur Folge haben. Eine Summe von Einzelhand-
lungen, welche das Recht zu einer juriſtiſchen Einheit zu-
ſammenfaßt (vgl. oben §. 39 II), iſt auch in Bezug auf den
Beginn der Verjährung als ſolche zu betrachten: die Ver-
jährung kann nicht beginnen, ehe die Handlung abgeſchloſſen
iſt (anerkannt in §. 34 des Nachdrucksgeſetzes vom 11. Juni
1870). Beſondere Beſtimmungen: Nach §. 100 der
Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 beginnt die
Verjährung mit dem Tage, an welchem das Schiff zuerſt
ein Seemannsamt erreicht. Intereſſant Nachdrucksgeſetz vom
11. Juni 1870: nach §§. 33 und 37 beginnt die Verjährung
des Nachdrucks und des durch unterlaſſene Quellenangabe
begangenen Deliktes mit dem Tage der erſten Verbreitung,
obwohl ſchon mit der Herſtellung des erſten Exemplares nach
§. 22 das Vergehen vollendet war. Die Verjährung der
Wechſelſtempelhinterziehungen beginnt nach §. 17 des Geſetzes
v. 10. Juni 1869 mit dem Tage der Ausſtellung des Wechſels.


3. Die Verjährung wird unterbrochen durch jede Hand-
lung des Richters, welche wegen der begangenen That gegen
[227]Fortſetzung. Die Verjährung. §. 58.
den Thäter gerichtet iſt (StGB. §. 68). Doch hat die StPO.
in den §§. 453 und 459 auch der polizeilichen Straffeſtſetzung
und dem Strafbeſcheide der Verwaltungsbehörden die unter-
brechende Wirkung beigelegt. Nach dem Wechſelſtempelgeſetz
vom 10. Juni 1869 §. 17 unterbricht jede amtliche Handlung
die Verjährung. Nur die gegen den Thäter als Thäter ge-
richteten Handlungen unterbrechen die Verjährung; es genügt
alſo nicht die Vorladung als Zeugen, ſelbſt wenn der Vorgela-
dene ſich bei dieſer Gelegenheit ſchuldig bekennt und darum nicht
beeidet wird (RGR. 24. November 1879, E I 231, R I 94).


Die Unterbrechung findet nur rückſichtlich desjenigen ſtatt,
auf welchen die Handlung ſich bezieht.


Nach der Unterbrechung beginnt eine neue Verjährung.


4. Die Verjährung ruht (StGB. §. 69), wenn der
Beginn oder die Fortſetzung des Strafverfahrens von einer
Vorfrage abhängig iſt, deren Entſcheidung in einem anderen
Verfahren erfolgen muß. (Man vgl. StGB. §§. 164, 170
—172, 191; Einf. Geſ. z. GVG. §. 11 uſw.)


5. Wirkung der Verjährung iſt die Beſeitigung des
Strafanſpruchs, nicht die des Verbrechens. Eben darum
kann die Verjährung gegenüber einem von mehreren Teil-
nehmern eingetreten ſein, während die übrigen noch ſtrafbar
ſind; vgl. oben §. 37 III 3.


III.Die Vollſtreckungsverjährung.4


1. Die Vollſtreckung rechtskräftig erkannter Strafen ver-
jährt (StGB. §. 70):


  • a) wenn auf Tod oder lebenslängliches Zuchthaus oder
    lebenslängliche Feſtungshaft erkannt iſt, in 30 Jahren;
  • b) wenn auf Zuchthaus oder Feſtungshaft von mehr als
    10 Jahren erkannt iſt, in 20 Jahren;

[228]Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
  • c) wenn auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs-
    haft von 5—10 Jahren oder Gefängnis von mehr
    als 5 Jahren erkannt iſt, in 15 Jahren;
  • d) wenn auf Feſtungshaft oder Gefängnis von 2—5 Jah-
    ren oder auf Geldſtrafe von mehr als 6000 Mark
    erkannt iſt, in 10 Jahren;
  • e) wenn auf Feſtungshaft oder Gefängnis bis zu 2 Jahren
    oder auf Geldſtrafe von mehr als 150 bis 6000 Mark
    erkannt iſt, in 5 Jahren;
  • f) wenn auf Haft oder Geldſtrafe bis zu 150 Mark er-
    kannt iſt, in 2 Jahren.

2. Die Verjährung beginnt mit dem Tage, an welchem
das Urteil rechtskräftig geworden iſt (StGB. §. 70).


3. Die Verjährung wird unterbrochen durch jede auf
Vollſtreckung der Strafe gerichtete Handlung derjenigen Be-
hörde, welcher die Vollſtreckung obliegt, ſowie durch die zum
Zwecke der Vollſtreckung erfolgende Feſtnahme des Verur-
teilten. Nach der Unterbrechung beginnt eine neue Verjäh-
rung (StGB. §. 72).


4. Die Vollſtreckung einer wegen derſelben Handlung
neben einer Freiheitsſtrafe erkannten Geldſtrafe verjährt mit
der Freiheitsſtrafe (StGB. §. 71). Ebenſo verjähren auch die
übrigen Nebenſtrafen mit der Hauptſtrafe. Eine Ausnahme
ſtellt das Geſetz für die zeitigen Nebenſtrafen an der Ehre
(StGB. §. 36) und für die Nebenſtrafe der Polizeiaufſicht
(StGB. §. 38) auf. Bei beiden beginnt die Wirkung des
gerichtlichen Erkenntniſſes gerade mit der Verjährung der
Hauptſtrafe. Dasſelbe gilt von der oben §. 49 V be-
ſprochenen, nach §. 3 Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai
1879 eintretenden, Nebenſtrafe an der Freiheit.


[[229]]

Beſonderer Teil.


§. 59.
Ueberſicht.


I. Den natürlichen, heute allgemein in den ſyſtematiſchen
Darſtellungen des Strafrechtes verwendeten, Einteilungs-
grund
des beſonderen Teiles unſerer Wiſſenſchaft bildet die
Verſchiedenheit des durch die Strafe geſchützten, durch das
Delikt bedrohten Rechtsgutes, alſo jener Intereſſen,
die rechtlichen und zwar ſtrafrechtlichen Schutz durch die mo-
derne Geſetzgebung genießen.


Auch die Normentheorie muß dieſen Einteilungsgrund
anerkennen; denn weitaus die größte Zahl der ſtrafrechtlich
relevanten Normen gehört zu der oben §. 3 II 1 beſprochenen
Klaſſe, ſteht zu dem zu ſchützenden Rechtsgute in unmittel-
barer und unverkennbarer Beziehung, ſtellt ſich bei genauerer
Betrachtung einfach als die negative Seite der ſtaatlichen Er-
klärung dar: Dieſes Intereſſe ſoll meines Schutzes teilhaftig,
es ſoll ein Rechtsgut bleiben oder werden.


Legen wir der Einteilung des beſonderen Teiles die
Verſchiedenheit der Rechtsgüter zu Grunde, ſo gewinnen wir
ſofort zwei, ſcheinbar abſchließende, Gruppen von ſtrafbaren
Handlungen. Die erſte Gruppe umfaßt die gegen den
Einzelnen; die zweite die gegen die Geſammtheit ge-
richteten Delikte. Wie das Recht überhaupt entweder die
[230]Beſonderer Teil.
Beziehungen der Einzelnen untereinander oder aber die Be-
ziehungen der Einzelnen zur Geſammtheit regelt, ſo ſchützt auch
das Strafrecht entweder dieſe oder aber jene Beziehungen.


II. Die erſte Gruppe bietet mehrfache Unterabteilungen.
Alle Rechtsgüter des Einzelnen laſſen ſich in letzter Linie als
Intereſſe an ungeſtörter Bethätigung zuſammenfaſſen.
Aber je nachdem ſich dieſe Bethätigung materialiſiert, eine in
Geld abſchätzbare, von dem Individuum trennbare und über-
tragbare Herrſchaft begründet, oder aber zu dieſer Verdichtung
nicht gelangt und nur als höchſtperſönliche Vollexiſtenz des
Individuums erſcheint: können wir zwiſchen den Vermö-
gensrechten
einerſeits und den immateriellen Rechts-
gütern
andererſeits unterſcheiden. Zwiſchen dieſe beiden
Unterabteilungen treten die Individualrechte, die zwar
abſchätzbar und (in ihrer Verwertung) übertragbar geworden
ſind, aber die volle Loslöſung von dem Individuum nicht
zulaſſen. Eigentum und Ehre und zwiſchen ihnen das
Autorrecht mögen an Stelle nicht hieher gehörender wei-
terer Ausführungen das Geſagte beleuchten. Aber die Be-
thätigung der Perſönlichkeit iſt nicht möglich ohne den Schutz
ihres phyſiſchen Lebens wie ihrer freien Bewegung im
Raum
; Leben und Bewegung, beim Thiere die ganze Bethä-
tigung des Individuums erſchöpfend, ſind beim Menſchen nicht
Bethätigung ſelbſt, ſondern Vorausſetzung derſelben. So
zerfallen die Delikte gegen den Einzelnen in folgende Klaſſen:


  • 1. gegen Leib und Leben;
  • 2. gegen die perſönliche Freiheit;
  • 3. gegen das Vermögen;
  • 4. gegen die Individualrechte;
  • 5. gegen die immateriellen Rechtsgüter.

III. Schwieriger geſtaltet ſich die Einteilung der zweiten
[231]Ueberſicht. §. 59.
Gruppe. Die Bethätigung der Geſammtheit als ſolcher re-
präſentiert uns der Gang der Staatsverwaltung, der ar-
beitende Geſammtorganismus. Vorausſetzung dieſer Be-
thätigung iſt Beſtand und Sicherheit des Staatsganzen.
Aber auch das Lebensprinzip des ſtaatlichen Organismus’, die
Kraft, welche das Ganze zuſammenhält und die einzelnen Glieder
in Bewegung ſetzt: die Staatsgewalt als Abſtraktum wie in
ihren Organen, bedarf des rechtlichen Schutzes. Damit gewinnen
wir folgende Einteilung der in die 2. Gruppe gehörenden Delikte
(wobei allerdings die Grenzlinien vielfach zweifelhafte ſind):


  • 1. gegen Beſtand und Sicherheit des Staates;
  • 2. gegen die Staatsgewalt und ihre Organe;
  • 3. gegen den Gang der Staatsverwaltung.

IV. Aber nur ſcheinbar erſchöpfen die bisher beſprochenen
beiden Gruppen alle möglichen Fälle. Einer ganzen Reihe
von ſtrafbaren Handlungen iſt es eigentümlich, daß ſie zwar
gegen jene Rechtsgüter gerichtet ſind, die wir als rechtlich ge-
ſchützte Intereſſen des Einzelnen bezeichnet haben, aber nicht
gerichtet ſind gegen einen einzelnen oder mehrere einzelne
Träger jener Rechtsgüter; daß ſich vielmehr ihre Wirkungen
erſtrecken auf einen weder ziffermäßig noch indi-
viduell geſchloſſenen Kreis von Einzelnen
. Es ſind
die gemeingefährlichen Delikte im weiteren Sinne; ge-
richtet nicht gegen einzelne Staatsbürger und nicht gegen das
Staatsganze, ſondern, wie wir kurz ſagen können, gegen das
Publikum. Es gehören hieher:


  • 1. die gemeingefährlichen Delikte im engeren Sinne;
  • 2. die Verletzungen des Nahrungsmittelgeſetzes;
  • 3. die gegen den öffentlichen Frieden gerichteten ſtrafbaren
    Handlungen;
  • 4. eine Reihe anderer Fälle von meiſt polizeilichem Charakter.

[232]Beſonderer Teil.

V. Wir müſſen aber endlich noch eine letzte Reihe von
ſtrafbaren Handlungen ins Auge faſſen, bei welchen unſer
Einteilungsgrund uns vollſtändig im Stiche läßt; bei welchen
nicht die Natur des angegriffenen Rechtsgutes, ſondern die
Art des Angriffes maßgebend war für die Aufſtellung
der Strafdrohung; die gefährlich ſind oder ſein können in
gleicher Weiſe für den Einzelnen, für das Publikum und für
das Staatsganze. Die Mittel, welche die Rechtsordnung
geſchaffen hat zur Erreichung ihrer Zwecke, ſind in der Hand
des Verbrechers ebenſoviele Mittel zum Angriffe auf die
Rechtsordnung; wie die Naturkräfte, ſo kann er Geld und
Urkunden, ſo kann er ſeine amtliche Stellung mißbrauchen
zur Rechtsverletzung. Dieſem Mißbrauch ſucht der Geſetz-
geber durch beſondere Normen (vgl. oben §. 3 II 4) vorzu-
beugen; und er ſchafft, indem er das thut, eine Reihe von
eigenartigen Verbrechen. Er ſchafft damit nicht neue Rechts-
güter, ſondern er will die vorhandenen ſchützen, indem er
den Mißbrauch ſeiner Rechtsinſtitutionen zu rechtswidrigen
Zwecken verpönt. Nur um dieſen Gegenſatz und zugleich
die Beziehung zu der Rechtsgüterwelt auszudrücken, können
wir die Integrität dieſer Rechtsinſtitutionen und dann dieſe
ſelbſt als uneigentliche Rechtsgüter bezeichnen, wobei
der Ton auf dem Adjektiv, nicht auf dem Subſtantiv liegt.
In dieſe Gruppe von ſtrafbaren Handlungen gehören:


  • 1. die Delikte an Geld;
  • 2. die Delikte an Urkunden;
  • 3. die Delikte gegen die Religion;
  • 4. die Delikte an Perſonenſtand und Ehe;
  • 5. die Delikte gegen die Sittlichkeit (die ſtaatliche Regelung
    des Geſchlechtstriebes);
  • 6. die Delikte im Amte.

[[233]]

Erſtes Buch.
Strafbare Handlungen gegen Rechtsgüter
des einzelnen Staatsbürgers.


I. Gegen Leib und Leben.


1.
§. 60. Die Tötung.1

I.Die vorſätzliche Tötung und zwar:


1. Mord (StGB. §. 211), wenn die Tötung mit Ueber-
legung
ausgeführt worden, d. h. wenn der Tötungsvorſatz
überlegter Vorſatz (oben §. 28 VI) war.2Strafe:
Der Tod.


2. Todſchlag (StGB. §. 212), wenn die Tötung nicht
mit Ueberlegung ausgeführt worden, der Tötungsvorſatz
alſo ein nicht überlegter war. Strafe: Zuchthaus von
5—15 Jahren.


Privilegiert iſt der Todſchlag (StGB. §. 213), wenn
der Thäter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem
Angehörigen (StGB. §. 52 Abſ. 2) zugefügte Mißhandlung oder
ſchwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt
und hiedurch auf der Stelle (d. h. in continenti, ſo lange
die durch die Kränkung hervorgerufene Gemütsbewegung
[234]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
fortdauert) zur That hingeriſſen worden, oder wenn andere
mildernde Umſtände vorhanden ſind. Strafe: Gefängnis
nicht unter 6 Monaten. Auch hier bleibt der Todſchlag
Verbrechen (oben §. 18 III); der Verſuch iſt daher ſtrafbar.


Qualifizierte Fälle:


  • a) Tötung bei Unternehmung einer ſtrafbaren
    Handlung
    (StGB. §. 214), um ein der Ausführung
    derſelben entgegentretendes Hindernis zu beſeitigen oder
    um ſich der Ergreifung auf friſcher That zu ent-
    ziehen. Strafe: Zuchthaus von 10—15 Jahren
    oder lebenslängliches Zuchthaus.
  • b) Tötung eines Verwandten aufſteigender Linie
    (StGB. §. 215). Strafe wie zu a.

3. Vorſätzlich (überlegte oder nicht überlegte) Tötung, zu
welcher der Thäter durch das ausdrückliche und
ernſtliche Verlangen des Getöteten beſtimmt
worden iſt
(StGB. §. 216).3Strafe: Gefängnis von
3—5 Jahren. Vergehen, daher Verſuch ſtraflos.


4. Vorſätzliche (überlegte oder nicht überlegte) Tötung
eines unehelichen Kindes
in oder gleich nach der Ge-
burt durch die Mutter (StGB. §. 217).4 Objekt iſt das Kind,
mithin ein menſchliches Weſen im Gegenſatz zum Fötus, der
ungeborenen Leibesfrucht, die das charakteriſtiſche Objekt der
Abtreibung iſt. Kindestötung iſt demnach erſt möglich, ſo-
bald der Geburtsakt begonnen hat, die Leibesfrucht mit
irgend einem Körperteile, wenn auch nicht gerade mit dem
Kopfe, aus dem Mutterleibe in die Außenwelt getreten iſt
(RGR. 8. Juni 1880, E I 446, R II 41).


[235]Die Tötung. §. 60.

Der legislative Grund für die mildere Behandlung der
Kindestötung liegt einerſeits in der Stärke der die unehelich
Gebärende zur Tötung treibenden Motive, andrerſeits in
der durch den Gebärakt hervorgerufenen Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit (oben §. 25 III). Ob dieſe Gründe
eine ſoweit gehende Berückſichtigung verdienten, mag hier
dahingeſtellt bleiben. Jedenfalls tritt, den Anſchauungen
des Geſetzgebers entſprechend, die mildere Behandlung der
Kindestötung ein, mag die Kindesmutter in der Form der
Thäterſchaft, mag ſie in der Form der Teilnahme, zu dem
Eintritte des Erfolges mitwirken, während etwa beteiligte
dritte (Thäter oder Teilnehmer) wegen gemeiner Tötung zu
beſtrafen ſind (RGR. 8. Mai 1880, E II 154; vgl. auch
oben §. 37 III 1). Strafe: Zuchthaus nicht unter 3 Jahren,
bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 2 Jahren.
Vgl. auch StGB. §. 367 Zif. 1.


II. Die fahrläſſige Tötung (StGB. §. 222). Strafe:
Gefängnis bis zu 3 Jahren; wenn der Thäter zu der von
ihm aus den Augen geſetzten Aufmerkſamkeit vermöge ſeines
Amtes, Berufes oder Gewerbes beſonders5 verpflichtet
war, Gefängnis bis zu 5 Jahren.


Nicht bloß bei der Kindestötung, ſondern in allen6
Fällen der Tötung richtet ſich die Höhe der Strafbarkeit
mehrerer Beteiligter nach der in §. 50 StGB. (vgl. oben
§. 37 III 1) ausgeſprochenen Regel.


[236]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
2.
§. 61. Die Körperverletzung.1

I.Begriff. Das Geſetz unterſcheidet in nichts weniger
als zutreffender Weiſe: a) körperliche Mißhandlung
und b) Beſchädigung an der Geſundheit. Letz-
tere
ſetzt eine Verletzung der Körperſubſtanz voraus
(auch das Zopfabſchneiden gehört hieher), und umfaßt die
Beſchädigung der körperlichen wie der geiſtigen (im Sinne
des gewöhnlichen Sprachgebrauchs) Geſundheit; erſtere
liegt vor bei jeder ſtörenden Einwirkung auf die körperlichen
Funktionen (z. B. Erregen von Schmerz, Unbehagen, Ekel,
Schrecken), welche nicht von einer Verletzung der Körper-
ſubſtanz begleitet iſt.


Ueber die Widerrechtlichkeit der Handlung und deren
Wegfall gelten die allgemeinen, oben §. 22 beſprochenen,
hier beſonders praktiſch wichtigen Regeln.


II.Arten.


1. Die vorſätzliche Körperverletzung.


  • a) Leichte Körperverletzung (StGB. §. 223). Strafe:
    Gefängnis bis zu 3 Jahren oder Geldſtrafe bis
    1000 Mark; wenn gegen Verwandte aufſteigender
    Linie begangen, Gefängnis nicht unter einem Monate;
    doch tritt hier bei mildernden Umſtänden der regel-
    mäßige Strafſatz wieder ein (StGB. §. 228).
  • b) Qualifizierte Körperverletzung (StGB. §. 223 a),
    wenn mittels einer Waffe,

    2

    insbeſondere eines Meſſers
    [237]Die Körperverletzung. §. 61.
    oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges,3 oder
    mittels eines hinterliſtigen Ueberfalls,4 oder von meh-
    reren gemeinſchaftlich5 oder mittels einer das Leben
    gefährdenden Behandlung begangen. Bezüglich aller
    dieſer qualifizierenden Umſtände iſt Vorſatz des Thä-
    ters, d. h. Bewußtſein der Kauſalität ſeines Thuns
    erforderlich (dagegen RGR. 14. Juni 1880, R II 68,
    E II
    S. 107; richtig bez. der gemeinſchaftlichen Be-
    gehung RGR. 8. Mai 1880, R I 742). Strafe:
    Gefängnis nicht unter 2 Monaten; bei mildernden
    Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis bis zu drei
    Jahren oder Geldſtrafe bis 1000 Mark.
  • c) Schwere Körperverletzung (StGB. §. 224), wenn
    dieſelbe zur Folge hat, daß der Verletzte ein wichtiges
    Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder
    beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeu-
    gungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weiſe dauernd
    entſtellt wird, oder in Siechtum, Lähmung oder
    Geiſteskrankheit verfällt. Strafe: Zuchthaus bis zu
    5 Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahre;
    bei mildernden Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis
    nicht unter einem Monate.
    2
    [238]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
    Die Strafe tritt ein, auch wenn in Bezug auf den
    ſchweren Erfolg weder Vorſatz noch Fahrläſſigkeit auf
    Seiten des Thäters vorliegt (vgl. oben §. 27 II a. E.);
    eben darum iſt aber auch die Verſuchsſtrafe ausge-
    geſchloſſen und nur eventuell Beſtrafung wegen ein-
    facher oder qualifizierter Körperverletzung zuläſſig,
    wenn die Abſicht des Thäters auf Herbeiführung des
    ſchweren Erfolges gerichtet geweſen, dieſer aber nicht
    eingetreten
    iſt (vgl. oben §. 32 IV 1). War da-
    gegen eine der eingetretenen Folgen beabſichtigt, ſo
    iſt (StGB. §. 225) auf Zuchthaus von 2—10 Jahren
    zu erkennen.
  • d) Körperverletzung mit tötlichem Ausgang (StGB.
    §. 226). Strafe: Zuchthaus nicht unter 3 Jahren
    oder Gefängnis nicht unter 3 Jahren; bei mildernden
    Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis nicht unter
    3 Monaten.

2. Fahrläſſige Körperverletzung (StGB. §. 230).
Strafe: Geld bis 900 Mark oder Gefängnis bis 2 Jahren;
bei Verletzung einer beſonderen Amts-, Berufs- oder Ge-
werbspflicht (vgl. oben §. 60 Note 5) kann die Strafe auf
3 Jahre Gefängnis erhöht werden.


3. Körperverletzung, begangen im Amte (StGB. §. 340)
ſ. unten §. 92 II 4 c.


III. Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein
(StGB. §. 232), wenn es ſich um leichte vorſätzliche
(StGB. §. 223, nicht aber §. 223 a) oder um nicht-
qualifizierte
(StGB. §. 230 1. Abſ.) fahrläſſige Körper-
verletzungen handelt. Rücknahme des Antrages iſt zuläſſig,
wenn das Vergehen gegen einen Angehörigen (StGB. §. 52
Abſ. 2) verübt worden.


[239]Die Körperverletzung. §. 61.

Antragsberechtigt iſt der Verletzte (bez. deſſen Ver-
treter; vgl. oben §. 31 III 1).


Abweichungen von dieſem Satze:


1. Sind Ehefrauen oder unter väterlicher Gewalt ſte-
hende Kinder beleidigt worden, ſo haben ſowohl die Belei-
digten, als deren Ehemänner und Väter das Recht, auf
Beſtrafung anzutragen (StGB. §. 232 mit §. 195); und zwar
auch noch nach dem Tode des Verletzten (RGR. 9. De-
zember 1879, E I S. 29).


2. Iſt die ſtrafbare Handlung gegen eine Behörde,
einen Beamten (Begriff unten §. 92 I 2), einen Religions-
diener oder ein Mitglied der bewaffneten Macht, während
ſie in der Ausübung ihres Berufes begriffen ſind, oder in
Beziehung auf ihren Beruf begangen worden, ſo ſteht das
Antragsrecht nicht nur den Verletzten, ſondern auch deren
amtlich Vorgeſetzten zu (StGB. §. 232 mit §. 196). —


Eine Erweiterung, bez. Beſchränkung der Antragsfriſt
(vgl. oben §. 31 III 2) tritt bei wechſelſeitigen Körper-
verletzungen, d. h. dann ein, wenn der klagende Verletzte
den beklagten Verletzer ebenfalls verletzt hat. Einzige Vor-
ausſetzung iſt mithin die prozeſſuale Stellung beider Teile,
mögen auch die beiderſeitigen Verletzungen weder in zeitlichem
noch in urſächlichem Zuſammenhange ſtehen (RGR. 4. Juni
1880, E II 87). In dieſem Falle iſt nämlich, wenn von
einem Teile auf Beſtrafung angetragen worden, der andere
Teil bei Verluſt ſeines Rechtes verpflichtet, den Antrag auf
Beſtrafung ſpäteſtens bis zur Beendigung der Schlußvorträge
in 1. Inſtanz (StPO. §. 428) zu ſtellen, hiezu aber auch
dann berechtigt, wenn zu jenem Zeitpunkte die dreimonatliche
Friſt bereits abgelaufen iſt (StGB. §. 232 mit §. 198).
Auf den Fall, in welchem Körperverletzung und Beleidigung
[240]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
einander gegenüberſtehen, iſt dieſe Beſtimmung nicht anzu-
wenden.6


IV. In allen Fällen der Körperverletzung kann auf
Verlangen des Verletzten neben der Strafe auf eine an den-
ſelben zu erlegende Buße bis zum Betrage von 6000 Mark
erkannt werden. Die Zuerkennung der Buße ſchließt die
Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungsanſpruchs aus
(StGB. §. 231).


V.Retorſion (StGB. §. 233). Wenn leichte Körper-
verletzungen (StGB. §. 223, nicht 223 a; RGR. 28. Oktober
1879, R I S. 23) mit ſolchen, Beleidigungen mit leichten
Körperverletzungen oder letztere mit erſteren auf der Stelle
(d. h. in continenti, ſo lange die durch die Kränkung her-
vorgerufene Gemütsbewegung fortdauert) erwidert werden,
ſo kann der Richter für beide Angeſchuldigte, oder für einen
derſelben eine der Art oder dem Maße nach mildere oder
überhaupt keine Strafe eintreten laſſen. Es handelt ſich
dabei um eine Erweiterung des dem Richter bei Be-
ſtimmung der Strafe zugewieſenen Spielraumes, nicht aber
um die Gewährung eines dem civilrechtlichen Kompenſations-
rechte analogen Anſpruches für den Schuldigen. Dem
Richter ſoll die Gelegenheit geboten werden, einerſeits den
Affekt des zuerſt Angegriffenen, andererſeits die Thatſache,
daß dieſer bereits ſelbſt ſich Sühne genommen, in um-
faſſendſter Weiſe in Betracht zu ziehen. Dieſe Erweiterung
des richterlichen Ermeſſens geht bis zur Geſtattung der
Strafumwandlung und der Verſchonung von aller Strafe;
ſie ſetzt aber die Konſtatierung ſtrafbarer Handlungen auf
beiden Seiten,7 mithin die Verurteilung beider Ange-
[241]Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.
klagten voraus, kann daher nie zu einer Freiſprechung von
der That führen, und iſt ausgeſchloſſen, wenn auf einer
Seite wegen mangelnder Schuld (Zurechnungsfähigkeit), feh-
lender Normwidrigkeit8 uſw. eine ſtrafbare Handlung über-
haupt nicht vorliegt.


3.
§. 62. Gefährdung1von Leib und Leben.

I.Die Ausſetzung2 (StGB. §. 221). Dieſer Begriff
umfaßt zwei Thatbeſtände:


1. Das Ausſetzen (im eigentlichen Sinne) einer
wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit
(hieher gehören auch die durch übermäßigen Alkoholgenuß
herbeigeführten Zuſtände) hülfloſen Perſon, d. h. das Ver-
ſetzen aus dem bisherigen Zuſtand in einen andern:
vollendet mithin, ſobald jene Beziehungen zur Außenwelt,
in welchen der Verletzte ſich bisher befunden, gelöſt
worden ſind.


2. Das Verlaſſen einer ſolchen Perſon in hülfloſer
Lage, ſtrafbar nur dann, wenn der Verlaſſene unter der
Obhut des Thäters ſtand, oder wenn dieſer für die Unter-
bringung, Fortſchaffung oder Aufnahme des Verlaſſenen zu
ſorgen hatte (es genügt obligatio ex re z. B. begründet
durch das Aufnehmen eines ausgeſetzten Kindes von Seiten
eines unbeteiligten Dritten). Ein Verſetzen in andere
Lage iſt hier nicht erforderlich.


von Liszt, Strafrecht. 16
[242]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.

Die Ausſetzung iſt regelmäßig Vergehen: der Strafſatz
beträgt Gefängnis von 3 Monat bis 5 Jahren; wenn von
den leiblichen Eltern gegen ihr Kind begangen, Gefängnis
nicht unter 6 Monaten. Die Schwere des (wenn auch
weder vorſätzlich noch fahrläſſig herbeigeführten) Erfolges
macht die Ausſetzung zum Verbrechen: iſt eine ſchwere
Körperverletzung (StGB. §. 224) der ausgeſetzten oder ver-
laſſenen Perſon verurſacht worden, ſo tritt Zuchthaus bis zu
10 Jahren, und wenn der Tod verurſacht worden, Zuchthaus
von 3—15 Jahren ein.


In den beiden erſten Fällen iſt der Verſuch wegen der
Vergehensnatur der ſtrafbaren Handlung ſtraflos, bei den
letzteren aus dem oben §. 32 IV 1 angegebenen Grunde
nicht möglich. Darum3 tritt Strafloſigkeit ein, wenn der
Ausſetzende in der Nähe des Ausgeſetzten verborgen wartet,
bis dieſer etwa durch eine dritte Perſon aufgenommen wird.


II.Die ſogenannte Vergiftung4 (StGB. §. 229) d. i.
das in der Abſicht (Abſicht hier gleich treibendes Motiv;
vgl. oben §. 28 III) die Geſundheit zu beſchädigen er-
folgende Beibringen von Gift oder anderen Stoffen, welche
die Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind (Stoffe, von
welchen ſich das Gift nur dadurch unterſcheidet, daß es
ſchon in kleineren Doſen die geſundheitzerſtörende Wirkung
zu äußern im Stande iſt). Das Weſen des Deliktes beſteht
demnach in der, in Verletzungsabſicht begangenen, Ge-
fährdung
von Leib und Leben.


[243]Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.

Mit dem Beibringen iſt das Verbrechen vollendet;
etwaige Anwendung von Gegengiften ſchließt daher die Be-
ſtrafung aus §. 229 StGB. nicht aus.


Strafe: regelmäßig Zuchthaus bis zu 10 Jahren; wenn
durch die Handlung eine ſchwere Körperverletzung (StGB.
§. 224) verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren;
wenn der Tod verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter
10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Auch hier iſt
(vgl. oben §. 27 II a. E.) der höhere Strafſatz lediglich
durch den Eintritt der, wenn auch weder vorſätzlich noch
fahrläſſig herbeigeführten, ſchweren Erfolge bedingt; bei
Nichteintritt derſelben, auch wenn ſie beabſichtigt waren,
daher der einfache Strafſatz anzuwenden (vgl. oben §. 32
IV 1).


Auf Buße iſt in allen Fällen der Vergiftung zu erkennen
(StGB. §. 231), auch wenn eine Körperverletzung nicht ein-
getreten iſt (vgl. oben §. 52 II).


III.Die Abtreibung5 (StGB. §§. 218—220) ſetzt
als Objekt eine noch nicht geborene Leibesfrucht (vgl. oben
§. 60 I 4) voraus, und umfaßt zwei weſentlich verſchiedene
Thatbeſtände:


1. Die Abtreibung im engeren Sinne, nämlich das
(rechtswidrige) Bewirken einer Frühgeburt, mag auch die
Abſicht des Thäters nicht auf Tötung der Leibesfrucht ge-
richtet geweſen ſein;6


2. die Tötung der Frucht im Mutterleibe.


Das Geſetz ſchützt in den Strafparagraphen gegen Ab-
treibung in erſter Linie die Exiſtenz des Embryo, in zweiter
16*
[244]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
die körperliche Integrität der Schwangeren, läßt aber wegen
des in abstracto gefährdenden Charakters der Abtreibung
die Strafe auch dann eintreten, wenn im konkreten Falle
eine Gefährdung weder der Schwangeren noch des Embryo
eingetreten iſt.


Arten der Abtreibung:


1. Einfacher Fall (StGB. §. 218); Abtreibung:
a) durch die Schwangere ſelbſt; b) durch einen Dritten mit
Einwilligung der Schwangeren. Doch muß im Falle b. der
Dritte, damit ihn die volle Strafe (§. 218, 3. Abſatz) treffe,
nach den allgemeinen Grundſätzen als Thäter oder Mitthäter
erſcheinen (das Geſetz verlangt, daß er „die Mittel zur Ab-
treibung bei der Schwangeren angewendet oder ihr bei-
gebracht
hat)“; bloßes Verſchaffen der Mittel würde als
Beihülfe zu dem Delikte a. unter den reduzierten Strafrahmen
fallen.7 Die Schwangere kann im Falle b. als Mitthäterin
oder aber auch als Teilnehmerin nach den allgemeinen
Grundſätzen erſcheinen.8


Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; bei mildernden Um-
ſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.


2. Die Lohnabtreibung9 (StGB. §. 219). Schwerere
Strafe — Zuchthaus bis zu 10 Jahren — trifft denjenigen,
der einer Schwangeren, die ihre Frucht abgetrieben hat,
gegen Entgelt die Mittel hiezu verſchafft, bei ihr ange-
wendet oder ihr beigebracht hat.


Der Lohnabtreibung kann ſich die Schwangere ſelbſt nie,
auch nicht als Gehülfin, ſchuldig machen;10 der Dritte da-
[245]Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.
gegen fällt unter den Strafrahmen des §. 219 auch dann,
wenn er nur durch Verſchaffen der Mittel,11 alſo nur
durch eine Beihülfehandlung, zu dem eingetretenen Erfolge
mitgewirkt hat.


Eintritt des Erfolges iſt Bedingung für die Anwend-
barkeit des §. 219; ſind die angewendeten, beigebrachten, ver-
ſchafften Mittel ohne Erfolg geblieben, ſo kann nur aus
§. 218 geſtraft werden.12


3. Abtreibung durch einen Dritten ohne Einwilligung
der Schwangeren
(StGB. §. 220). Strafe: Zuchthaus
nicht unter 2 Jahren; iſt durch die Handlung der Tod der
Schwangeren verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter
10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Auch hier gilt
für den qualifizierten Fall in Bezug auf Schuld und Verſuch
das oben unter II Geſagte.


IV. Der Raufhandel (StGB. §. 227); vorliegend,
wenn durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren
gemachten Angriff der Tod eines Menſchen oder eine ſchwere
Körperverletzung (StGB. §. 224) verurſacht worden iſt.


Der „Raufhandel“ umfaßt zwei weſentlich von einander
verſchiedene Fälle:


1. Die einfache Beteiligung an einer Schlägerei
oder an einem Angriff, die von den erwähnten Folgen be-
gleitet geweſen ſind, vorausgeſetzt, daß der Angeklagte nicht
ohne ſein Verſchulden hineingezogen worden iſt. Strafe:
Gefängnis bis zu 3 Jahren. Die Strafbarkeit der Beteiligung
wird dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß der Urheber der
ſchweren oder tötlichen Verletzung bekannt iſt; wohl aber kann
[246]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
nach der oben §. 40 II d gegebenen Regel nicht dieſelbe
Perſon mit Rückſicht auf denſelben Erfolg zugleich nach
§. 227 und nach §§. 224 ff. geſtraft werden: es tritt vielmehr
in dieſem Falle Konſumption des Deliktes des §. 227 ein.


2. Iſt eine der vorbezeichneten Folgen mehreren (vor-
ſätzlichen) Verletzungen zuzuſchreiben, welche dieſelbe nicht
einzeln, ſondern nur durch ihr Zuſammentreffen ver-
urſacht haben, ſo wäre nach den allgemeinen Grundſätzen
(vgl. oben §. 20 III) jede derjenigen Perſonen, welcher eine
dieſer Verletzungen zur Laſt fällt, mit der vollen Strafe der
§§. 224—226 zu belegen. In ganz ungerechtfertigter und
nur aus hiſtoriſchen Reminiscenzen erklärbarer Weiſe ſtellt
der Geſetzgeber für dieſen Fall einen beſonderen Straf-
rahmen
auf: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden
Umſtänden (StGB. §. 228) ſogar Gefängnis nicht unter
einem Monate.


V. Der Zweikampf (StGB. §. 201—210).13


1. Begriff. Nicht als Störung des öffentlichen
Friedens, nicht als eigenmächtiger Eingriff in die ſtaatliche
Rechtspflege, ſondern als ein ſtrafbares Auf’s-Spiel-
Setzen von Leib und Leben
erſcheint das Delikt des
Zweikampfes, deſſen Exiſtenz einen unwiderleglichen Vorwurf
gegen die, unſer modernes (überſpanntes, weil durchaus ſub-
jektives) Ehrgefühl nicht befriedigende, Behandlung der Ehr-
verletzungen in der modernen Geſetzgebung bildet. In
ſyſtematiſcher Beziehung nimmt der Zweikampf unter den
Delikten gegen Leib und Leben dieſelbe Stellung ein, wie
das Glücksſpiel unter den ſtrafbaren Handlungen gegen das
Vermögen.


[247]Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.

Zweikampf iſt der verabredete, den hergebrachten
oder vereinbarten Regeln entſprechende, Kampf
mit tötlichen Waffen zwiſchen zwei Perſonen
.
Den Begriff der Waffe haben wir hier (im Gegenſatze zu
dem oben §. 61 Note 2 Geſagten) im engeren Sinne zu
nehmen: er umfaßt alle zu Angriff und Verteidigung be-
ſtimmten
und zur Zufügung von Verletzungen geeigneten
Werkzeuge.14Tötliche Waffen aber ſind diejenigen, die bei
beſtimmungsgemäßem Gebrauche und unter den gegebenen
Umſtänden tötliche Verletzungen herbeizuführen geeignet ſind.
Dabei müſſen, wie bei Anwendung aller relativen Begriffe
des Strafrechtes, ganz außergewöhnliche Komplikationen
außer Betracht gelaſſen werden. Demnach ſind ſtudentiſche
Schlägermenſuren, wenn unter Anwendung der regel-
mäßigen Vorſichtsmaßregeln vor ſich gehend, zwar als ein
vielleicht ſtrafwürdiges (poſitiv-rechtlich ſtrafloſes) Auf’s-
Spiel-Setzen der körperlichen Integrität, nicht aber als
Kampf mit tötlichen Waffen zu betrachten.15 Die An-
wendung der ſtrafgeſetzlichen Beſtimmungen über Körper-
verletzung und Raufhandel iſt durch die Natur dieſer Men-
ſuren als eines vereinbarten und geregelten Kampfes aus-
geſchloſſen. Die akademiſchen Vorſchriften über
Studentenduelle ſind durch das RStGB. als Straf-, nicht
aber als Disziplinargeſetze (vgl. oben §. 42 IV) beſeitigt
worden.


Das ſogenannte amerikaniſche Duell oder die Loſung
um’s Leben iſt weder Zweikampf noch Anſtiftung zum Selbſt-
morde, ſondern wie der Zweikampf ein Glücksſpiel um Leib
[248]Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.
und Leben, und obgleich ſtrafwürdiger wie dieſer, nach poſi-
tivem Rechte nicht ſtrafbar.


2. Der Geſetzgeber hat ſich nicht damit begnügt, den
Zweikampf ſelbſt unter Strafe zu ſtellen, ſondern bedroht
auch gewiſſe Vorbereitungshandlungen, nämlich die Her-
ausforderung
zum Zweikampf und die Annahme einer
ſolchen, mit Strafe; und zwar regelmäßig (StGB. §. 201)
mit Feſtungshaft bis zu 6 Monaten; wenn aber bei der
Herausforderung die Abſicht, daß einer von beiden Teilen
das Leben verlieren ſoll, entweder ausgeſprochen iſt oder aus
der gewählten Art des Zweikampfes erhellt (StGB. §. 202),
mit Feſtungshaft von 2 Monaten bis zu 2 Jahren.


Die Natur dieſer delicta sui generis als Vorbereitungs-
handlungen ſchließt die Möglichkeit eines ſtrafbaren Ver-
ſuches
derſelben aus (vgl. oben §. 33 Note 4), geſtattet
aber die ſtrafbare Teilnahme dritter Perſonen (vgl. oben
§. 37 I 2 c). Einen Fall der Teilnahme hebt der Geſetz-
geber beſonders hervor, indem er (in §. 203) diejenigen,
welche den Auftrag zu einer Herausforderung übernehmen
und ausrichten (die Kartellträger) mit Feſtungshaft bis
6 Monaten bedroht.


Die Strafe der Herausforderung und der Annahme der-
ſelben, ſowie die Strafe der Kartellträger fällt weg
(StGB. §. 204), wenn die Parteien den Zweikampf vor
deſſen Beginn freiwillig aufgegeben haben. Entgegen der
allgemeinen Regel (vgl. oben §. 37 III 3), daß Straf-
aufhebungsgründe nur demjenigen zu Gute kommen, in deſſen
Perſon ſie ſich ereignen, wirkt hier die „thätige Reue“ der
Hauptthäter zu Gunſten aller Beteiligten.


Kommt der Zweikampf wirklich zu Stande, ſo wird da-
durch nach dem oben §. 40 II c Geſagten die Strafbarkeit
[249]Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.
der Vorbereitungshandlungen für die beiden Parteien kon-
ſumirt; die übrigen Beteiligten, auch die Kartellträger (arg.
StGB. §. 209) haften nach den allgemeinen Grundſätzen
über Teilnahme; aber nunmehr wegen ihrer Beteiligung am
Zweikampfe ſelbſt.


3. Die Strafe des Zweikampfes iſt im Geſetze ver-
ſchieden abgeſtuft:


  • a) Regelmäßiger Strafrahmen (StGB. §. 205): Feſtungs-
    haft von 3 Monaten bis zu 5 Jahren.
  • b) Wer ſeinen Gegner im Zweikampfe durch eine vor-
    ſätzlich zugefügte Verletzung tötet (StGB. §. 206),
    wird mit Feſtungshaft nicht unter 2 Jahren, und wenn
    der Zweikampf den Tod des einen von Beiden herbei-
    führen ſollte, mit Feſtungshaft nicht unter 3 Jahren
    beſtraft.
  • c) Iſt eine Tötung oder Körperverletzung mittelſt vor-
    ſätzlicher Uebertretung der vereinbarten oder herge-
    brachten Regeln des Zweikampfes bewirkt worden, ſo
    iſt der Uebertreter (StGB. §. 207), ſofern nicht nach
    den oben erwähnten Beſtimmungen eine härtere Strafe
    verwirkt iſt, nach den allgemeinen Vorſchriften über
    das Verbrechen der Tötung und der Körperverletzung
    zu beſtrafen. Das ſinguläre dieſer im übrigen ſelbſt-
    verſtändlichen Anordnung liegt darin, daß die Zwei-
    kampfſtrafen, wenn höher, eintreten ſollen, obwohl der
    Zweikampf in dem Augenblick aufgehört hat, Zweikampf
    zu ſein, in welchem die Ueberſchreitung der Kampfes-
    regeln ſtattgefunden hat.
  • d) Hat der Zweikampf ohne Sekundanten ſtattgefunden,
    ſo kann die verwirkte Strafe bis um die Hälfte, jedoch
    nicht über 15 Jahre erhöht werden (StGB. §. 208).

[250]Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.

Die Behandlung der Teilnehmer richtet ſich nach den
allgemeinen Regeln. Einen Fall hat auch hier der Geſetz-
geber als delictum sui generis beſonders hervorgehoben
(StGB. §. 210), und damit für unabhängig von den
ſonſtigen Vorausſetzungen der Teilnahme (vgl. oben §. 35 II)
erklärt. Wer einen Andern zum Zweikampf mit einem
Dritten abſichtlich, insbeſondere durch Bezeigung oder An-
drohung von Verachtung anreizt, wird, falls der Zweikampf
(wenn auch nicht in Folge ſeiner Aufreizung) ſtattgefunden
hat, mit Gefängnis (alſo nicht mit Feſtungshaft, der poena
ordinaria
des Zweikampfes) nicht unter 3 Monaten beſtraft.


Straflos bleiben (StGB. §. 209) Kartellträger, welche
ernſtlich bemüht geweſen ſind, den Zweikampf zu verhindern,16
Sekundanten,17 ſowie zum Zweikampf zugezogene Zeugen,
Aerzte und Wundärzte.18


II.


§. 63. Strafbare Handlungen gegen die perſönliche
Freiheit.
1

Das durch die hieher gehörenden Delikte angegriffene
Rechtsgut iſt die Freiheit der Bewegung im Raume, die
Freiheit des Handelns, nicht die des Entſchließens (nicht
die ſogenannte Willensfreiheit).


[251]Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.

I. Die partielle Verletzung (Beſchränkung) der perſön-
lichen Freiheit, oder die Nötigung.


1. Die Nötigung des R StGB. (§. 240), d. h. die
Nötigung zu irgend einer Handlung, Duldung oder Unter-
laſſung, wenn durch gewiſſe Mittel bewirkt. Dieſe Mittel
ſind:


  • a) phyſiſche Gewalt,2 nicht notwendig an der Perſon
    des zu Nötigenden (in homine), aber gegen den-
    ſelben
    (Vergewaltigung anderer Perſonen oder Ge-
    walt an Sachen) gerichtet (in hominem), als Mittel,
    ſeine Entſchließung zu beſtimmen.
  • b) pſychiſche Gewalt oder Bedrohung, und zwar: Be-
    drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen. Die
    Drohung braucht keine ernſtlich gemeinte, d. h. die
    Ausführung derſelben braucht nicht beabſichtigt zu
    ſein, ſie muß aber dem Bedrohten als eine ernſtliche
    erſcheinen.3 Die Drohung muß gegen den zu Nö-
    tigenden gerichtet, d. h. zur Beeinfluſſung ſeiner Ent-
    ſchließung beſtimmt und geeignet ſein; nicht erforderlich
    iſt, daß das angedrohte Verbrechen oder Vergehen an
    dem zu Nötigenden begangen werden ſoll. Die Dro-
    hung kann ſich vielmehr, ganz wie die Gewalt, auf andere
    Perſonen oder auf Sachen beziehen. Sie kann aus-
    drücklich ausgeſprochen oder durch ſymboliſche Hand-
    lungen (Erheben der Fauſt, Anlegen des Gewehrs uſw.)
    angedeutet ſein.

Das an ſich ſelbſtverſtändliche Merkmal der Wider-
rechtlichkeit
der Nötigung iſt in den Thatbeſtand auf-
[252]Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.
genommen; mithin zum Vorſatze Bewußtſein derſelben er-
forderlich (vgl. oben §. 28 II). Durch die Berechtigung zur
Nötigung an ſich wird die Berechtigung zur Nötigung durch
die vom Geſetze verpönten Mittel, durch Gewalt oder Be-
drohung mit Verbrechen oder Vergehen ſelbſtverſtänd-
lich nicht gegeben.4


Die Vollendung der Nötigung tritt erſt mit der erzwun-
genen Handlung, Duldung, Unterlaſſung ein; der Verſuch,
der hier trotz der Vergehensnatur des Deliktes ſtrafbar iſt,
beginnt ſchon mit der Anwendung von Gewalt oder Drohung,
als der Mittel zur Herbeiführung der Handlung uſw.


Strafe: Gefängnis bis zu 1 Jahr oder Geld bis zu
600 Mark.


2. Einen beſonderen Fall der Nötigung enthält §. 153
der Gewerbeordnung: Wer andere durch Anwendung
körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrver-
letzung
, oder durch Verrufserklärung beſtimmt oder zu
beſtimmen verſucht
, an Verabredungen zum Behufe der
Erlangung günſtigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbe-
ſondere mittels Einſtellung der Arbeit oder Entlaſſung der
Arbeiter, teilzunehmen oder ihnen Folge zu leiſten, oder An-
dere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern ver-
ſucht
, von ſolchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit
Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft, ſofern nach dem all-
gemeinen Strafgeſetz nicht eine härtere Strafe eintritt. Die
Erweiterung des Kreiſes der ſtrafbarmachenden Nötigungs-
mittel ſowie die Gleichſtellung von Verſuch und Vollendung
unterſcheiden — ganz abgeſehen von dem Inhalt der Nö-
tigung — dieſen Thatbeſtand von dem des §. 240 StGB.


[253]Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.

II. Die totale (wenn auch vorübergehende)5 Verletzung
(Entziehung) der perſönlichen Freiheit oder die Freiheits-
beraubung
(StGB. §. 239: „wer einen Menſchen ein-
ſperrt6 oder auf andere Weiſe des Gebrauches der perſön-
lichen Freiheit beraubt“)7 Auch hier iſt das Merkmal der
Widerrechtlichkeit in den Thatbeſtand aufgenommen (vgl.
oben § 28 II). Die Vollendung tritt mit der Entziehung
der Freiheit ein; länger dauernde Freiheitsentziehung be-
gründet ein fortdauerndes Delikt (vgl. oben §. 39 II 1).


Strafe:


  • a) Normalſatz: Gefängnis von 1 Tag bis zu 5 Jahren.
  • b) Wenn die Freiheitsentziehung über eine Woche ge-
    dauert hat, oder wenn eine ſchwere Körperverletzung
    (StGB. §. 224) des der Freiheit Beraubten durch die
    Freiheitsentziehung oder die ihm während derſelben
    widerfahrene Behandlung verurſacht (oben S. 237 c)
    worden iſt: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildern-
    den Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Monat.
  • c) Iſt auf die zu b angegebene Weiſe der Tod verurſacht
    worden, Zuchthaus nicht unter 3 Jahren, bei mil-
    dernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Mo-
    naten.
  • d) Ueber das Amtsdelikt des §. 341 vgl. unten §. 93
    II 4d.

[254]Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.

III. Die qualifizierte totale Entziehung der per-
ſönlichen Freiheit oder der Menſchenraub. Das qualifi-
zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie-
den damit, dem Verletzten den Gebrauch ſeiner perſönlichen
Freiheit entzogen zu haben, ſich eine poſitive und unmittel-
bare Herrſchaft, eine Verfügungsgewalt über denſelben
anmaßt. Es gehören hierher:


1. Der eigentliche Menſchenraub (StGB. §. 234);
Objekt: jeder Menſch; die Erlangung der Herrſchaft
(„Bemächtigung“ ſagt das Geſetz) muß erfolgen durch a) Ge-
walt
(vgl. oben §. 63 I 1a); b) Drohung (vgl. oben
§. 63 I 1b), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver-
brechen oder Vergehen zu ſein braucht; c) Liſt, d. i. Täu-
ſchung des zu Verletzenden über die Kauſalität der von ihm
vorzunehmenden Handlung. Die Abſicht (hier gleich er-
weiterter Vorſatz oben §. 28 III) muß darauf gerichtet ſein,
den Angegriffenen in hülfloſer Lage auszuſetzen oder in
Sklaverei, Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegs- oder
Schiffsdienſte zu bringen. Das Verbrechen iſt vollendet
mit der (poſitiven) Erlangung der Herrſchaft; der Verſuch
beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die perſönliche Frei-
heit. Strafe: Zuchthaus.


2. Kinderraub (StGB. §. 235) begangen dadurch,
daß eine minderjährige Perſon ihren Eltern oder ihrem
Vormund durch Gewalt, Drohung, Liſt entzogen wird. An-
gegriffen iſt die perſönliche Freiheit des Minderjährigen;
aber die Dispoſitionsbefugnis über dieſes Rechtsgut ſteht
nicht ihm, ſondern den Eltern oder dem Vormunde zu.
Darum ſchließt die Einwilligung der letztgenannten Perſonen
die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min-
derjährigen ſelbſt irrelevant iſt. Vollendet iſt das Delikt,
[255]Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.
ſobald die Gewalt der Machthaber gebrochen und eine
fremde Gewalt begründet iſt; der Verſuch beginnt mit dem
erſten dieſer beiden Stadien. Strafe: regelmäßig Gefängnis;
wenn die Handlung in der Abſicht geſchieht (Abſicht gleich
erweiterter Vorſatz oben §. 28 III), die Perſon zum Betteln
oder zu gewinnſüchtigen oder unſittlichen Zwecken oder Be-
ſchäftigungen zu gebrauchen, Zuchthaus bis zu 10 Jahren.


3. Frauenraub oder Entführung8 (StGB. §§. 236 bis
238), charakteriſiert einerſeits durch das Objekt, andrerſeits
durch die geſchlechtliche Abſicht. Das Geſetz unterſcheidet
zwei Arten:


  • a) Entführung der Frauensperſon gegen ihren Willen
    durch Liſt, Drohung, Gewalt, um ſie entweder zur
    Unzucht (Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren) oder zur
    Ehe zu bringen (Strafe: Gefängnis). Abſicht auch
    hier gleich erweiterter Vorſatz (oben §. 28 III). Voll-
    endet
    mit der Begründung der Herrſchaft des Ent-
    ührers (StGB. §. 236).
  • b) Entführung einer minderjährigen, unverehelich-
    ten
    Frauensperſon mit ihrem Willen, aber ohne
    Einwilligung der Eltern oder des Vormun-
    des
    , um ſie zur Unzucht oder zur Ehe zu bringen.
    Strafe: Gefängnis. Auch iſt hier die perſönliche
    Freiheit der Entführten das angegriffene Rechtsgut;9
    daran wird durch den Umſtand nichts geändert, daß
    die Dispoſition über das Rechtsgut einer andern
    Perſon als dem Träger desſelben zuſteht. Auch der
    Diebſtahl ändert ſeinen Charakter nicht, wenn er mit
    Einwilligung des nicht verfügungsfähigen Eigentümers
    [256]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    begangen wird. Jedes Mittel genügt; Liſt, Drohung,
    Gewalt ſind nicht erforderlich. Die Entführte ſelbſt
    kann, als Trägerin des angegriffenen Rechtsgutes,
    nicht Teilnehmerin an dem Delikte ſein. Ueber Voll-
    endung gilt das zu a Geſagte (StGB. §. 237).

Die Entführung iſt in beiden Fällen Antragsdelikt:
antragsberechtigt im erſten Falle die Entführte, im zweiten
der Gewalthaber. Hat der Entführer die Entführte gehei-
ratet, ſo findet die Verfolgung nur ſtatt (StGB. §. 238),
nachdem die Ehe für ungültig erklärt worden iſt. Dieſe
Erklärung iſt Bedingung der Strafbarkeit in dem oben §. 30
angegebenen Sinne.


III. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen.


A. Gegen das Eigentum.

1.

§. 64. Der Diebſtahl.1

I.Begriff.


1. Diebſtahl iſt Eigentumsverletzung durch rechts-
widrige Aneignung einer fremden beweglichen
Sache, wenn letztere zu dieſem Zwecke erſt in den
Gewahrſam des Thäters gebracht werden muß
.
Das letzterwähnte Moment unterſcheidet Diebſtahl und
Unterſchlagung. Nach dieſer Definition wären Diebſtahl und
Unterſchlagung erſt mit der Aneignung vollendet. Das
[257]Der Diebſtahl. §. 64.
poſitive Recht hat aber den Zeitpunkt der Vollendung zurück-
geſchoben (vgl. oben §. 32 I 2); Diebſtahl iſt demnach (StGB.
§. 242): Wegnahme einer fremden beweglichen
Sache in der Abſicht rechtswidriger Aneignung
.


2. Objekt iſt eine bewegliche oder beweglich gemachte
Sache, mag dieſe auch keinen Tauſchwert haben; und zwar
eine fremde, d. h. in dem Eigentume eines Anderen
ſtehende Sache. An Sachen, die in niemandes Eigentum
ſtehen, an herrenloſen, derelinquierten uſw. Sachen iſt Dieb-
ſtahl nicht möglich, mag auch ein ausſchließliches Okkupations-
recht auf dieſelben vorhanden ſein; wohl aber an Wild im
eingefriedeten Gehege, Fiſchen in Privatteichen, an den der
Leiche in’s Grab mitgegebenen Gegenſtänden (wenn ſie nicht
als derelinquierte zu betrachten ſind) uſw. Diebſtahl wird
unmöglich, wenn der Eigentümer das Eigentum ganz auf-
giebt oder dem Thäter überträgt; dagegen ſchließt die Ein-
willigung des Eigentümers in die Wegnahme der Sache
den Diebſtahlsbegriff nicht aus. Der Eigentümer ſelbſt kann
ſich des Diebſtahls an der eigenen Sache nicht ſchuldig
machen, wohl aber der Miteigentümer an der ihm nicht
ausſchließlich gehörenden.


3. Die Handlung beſteht in dem Wegnehmen, d. h.
in dem Brechen des fremden und der Begründung des
eigenen Gewahrſams. Gewahrſam (nicht gleich Beſitz im
civilrechtlichen Sinne) bedeutet aber die Möglichkeit über die
Sache thatſächlich zu verfügen, verbunden mit dem Willen
dieſe Möglichkeit aufrecht zu erhalten.2 Diebſtahl kann dem-
nach nicht begangen werden an Sachen, die in keines
Menſchen Gewahrſam ſtehen, wie an vom Hochwaſſer fort-
von Liszt, Strafrecht. 17
[258]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
geſchwemmten oder verlorenen Gegenſtänden, wohl aber an
vergeſſenen oder verlegten Sachen. Durch Aufgeben des
Gewahrſams3 von Seiten des Gewahrſams-Inhabers wird
die Möglichkeit des Diebſtahls ausgeſchloſſen; nicht not-
wendig aber ſchon durch Einwilligung in die Ergreifung der
Sache. Der Gewahrſams-Inhaber ſelbſt kann ſich des
Diebſtahls nicht (wohl aber der Unterſchlagung) ſchuldig
machen; der Mitgewahrſams-Inhaber begeht Diebſtahl,
wenn er ſich rechtswidrig die ausſchließliche Verfügungsgewalt
verſchafft (vgl. das zu 2 über den Miteigentümer Ge-
ſagte). Der letzte Satz iſt von großer praktiſcher Bedeutung,
da in zahlreichen Fällen mehrfacher Gewahrſam an derſelben
Sache — ſei es gleichgeſtellten, ſei es einander untergeord-
neten Perſonen zuſtehend — vorkommt.4 Demnach iſt die
Aneignung mitvermieteter Sachen durch den Mieter eines
meublierten Zimmers als Diebſtahl zu betrachten, da der
Thäter nur Mit-Gewahrſamsinhaber iſt.5


4. Nicht erfolgte, wohl aber beabſichtigte Aneignung
der Sache gehört zu den Merkmalen des Diebſtahls-
begriffes. Aneignung aber beſteht darin, daß die Sache,
gleichſam als wäre ſie Eigentum, den Zwecken des Thäters
dauernd und ausſchließlich dienſtbar gemacht wird. Sofortige
Vernichtung der Sache iſt nicht Aneignung, ebenſowenig
vorübergehender Gebrauch derſelben; eben darum iſt Ver-
pfändung der Sache nicht Aneignung, wenn die Abſicht und
[259]Der Diebſtahl. §. 64.
zugleich die gegründete Ausſicht rechtzeitiger Wiedereinlöſung
beſteht.6 Auch die Ausübung eines vermeintlichen Retentions-
rechtes kann nicht als Aneignung betrachtet werden.7


Die Abſicht (auch hier gleich erweiterter Vorſatz, oben
§. 28 III) muß auf rechtswidrige Zueignung gehen. Dieb-
ſtahl liegt alſo nicht vor, wenn ein Anſpruch auf Uebertra-
gung des Eigentums an der Sache ſelbſt beſteht, wohl aber
dann, wenn ein anderer Anſpruch durch die weggenommene
Sache geſichert werden ſoll;8 Wegnahme von Geld, um ſich
für eine begründete Geldforderung bezahlt zu machen, iſt
demnach nur dann nicht Diebſtahl, wenn, was zu den
ſeltenſten Fällen gehören dürfte, ein Anſpruch auf Ueber-
tragung gerade der weggenommenen Geld ſtücke beſtand.9


Gewinnſüchtige Abſicht, alſo Abſicht auf Erlangung
eines Vermögensvorteils (animus lucri faciendi) iſt nach
heutigem Recht nicht erforderlich. Der Diebſtahl iſt kein
Bereicherungsdelikt.


5. Der Diebſtahl iſt vollendet mit der vollendeten
Wegnahme, alſo ſobald der eigene Gewahrſam an der Sache
durch den Thäter begründet iſt. Die alten zum Teil ab-
weichenden Anſichten — Kontrektations-, Ablations-, Ap-
prehenſions-Theorien — ſind heute allgemein aufgegeben.
Der Verſuch — ſtrafbar, auch wenn der Diebſtahl Ver-
gehen iſt — beginnt mit dem Brechen des fremden Ge-
wahrſams; daher in verſchiedenen Zeitpunkten je nach der
verſchiedenen Erſcheinung und Sicherung dieſes Gewahr-
ſams;10 mit dem Einbrechen, Einſteigen, Einſchleichen bei
17*
[260]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
Sachen, die ſich in umſchloſſenen Räumen befinden; erſt mit
der Ergreifung von Vieh auf der Weide, geſchlagenem Holz
im Forſte; mit dem Ausſtrecken der Hand, wenn damit ſchon
die Herrſchaft des Eigentümers beeinträchtigt wird11 uſw.


6. Beim Diebſtahl bildet die Verletzung des einen Rechts-
gutes — des Gewahrſams — das Mittel zur Verletzung
des anderen: des Eigentums. Halten wir an dem theoretiſchen
Begriffe des Diebſtahls feſt (oben unter 1), ſo erſcheinen
Eigentümer wie Gewahrſams-Inhaber als Verletzte im
Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Verletzter im tech-
niſchen Sinne des Wortes (oben §. 31 III 1) aber iſt nur
der Träger des unmittelbar angegriffenen Rechtsgutes: mithin
der Gewahrſams-Inhaber.12 Noch ſicherer iſt dieſes
Reſultat von dem Standpunkte des poſitiven Rechtes aus,
welches die Verletzung des Gewahrſams ſo ſehr in den
Vordergrund ſtellt, daß es ſogar die bloß beabſichtigte
Eigentumsverletzung zum Begriffe des Diebſtahls genügen
läßt. Eine wichtige Anwendung dieſes Satzes ſiehe unten.


II.Arten des Diebſtahls.


1. Einfacher Diebſtahl (StGB. §. 242). Strafe:
Gefängnis.


2. Qualifizierter Diebſtahl (StGB. §. 243) in
folgenden Fällen:


  • a) Wenn aus einem zum Gottesdienſte beſtimmten
    Gebäude Gegenſtände geſtohlen werden, welche dem
    Gottesdienſte gewidmet ſind.

[261]Der Diebſtahl. §. 64.
  • b)13 Wenn aus einem Gebäude oder umſchloſſenen (d. h.
    von der Außenwelt14 in einer das Eindringen ab-
    haltenden Weiſe getrennten, wenn auch nicht mit der
    Bodenfläche verbundenen15) Raum mittels Einbruchs
    (gewaltſamer Beſeitigung der Hinderniſſe), Einſtei-
    gens
    (Umgehen der Hinderniſſe durch Eindringen auf
    einem nicht dazu beſtimmten Wege16) oder Erbrechens
    von Behältniſſen
    17 geſtohlen wird.
  • c) Wenn zur Eröffnung eines Gebäudes oder der Zu-
    gänge eines umſchloſſenen Raumes, oder zur Eröffnung
    der im Innern befindlichen Thüren oder Behältniſſe
    falſche Schlüſſel oder andere zur ordnungsmäßigen
    Eröffnung nicht beſtimmte Werkzeuge angewendet
    werden.
  • d) Wenn auf einem öffentlichen (d. h. zum Gebrauche
    des Publikums beſtimmten) Wege, einer Straße, einem
    öffentlichen Platze, einer Waſſerſtraße oder einer Eiſen-
    bahn (mit Naturkräften, wenn auch nicht gerade mit
    Dampf betrieben, nicht aber Pferde-Eiſenbahnen; hier
    nur öffentliche nicht private Eiſenbahnen), oder in
    einem Poſtgebäude oder dem dazu gehörigen Hofraume,
    oder auf einem Eiſenbahnhofe eine zum Reiſegepäck
    oder zu anderen Gegenſtänden der Beförderung
    [262]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    gehörende Sache mittels Abſchneidens oder Ablöſens
    der Befeſtigungs- oder Verwahrungsmittel, oder durch
    Anwendung falſcher Schlüſſel oder anderer zur ord-
    nungsmäßigen Eröffnung nicht beſtimmter Werkzeuge
    geſtohlen wird.
  • e) Wenn der Dieb oder einer der Teilnehmer bei Be-
    gehung der That Waffen (in dem oben §. 62 Note 14
    angegebenen engeren Sinne) bei ſich führt. Abſicht von
    denſelben zu Angriff und Verteidigung Gebrauch zu
    machen, iſt nicht erforderlich; es genügt, wenn der
    Beſtohlene dieſe Abſicht als vorhanden annimmt (vgl.
    das oben §. 63 Note 3 bezüglich der Drohung Ge-
    ſagte).
  • f) Wenn zu dem Diebſtahle Mehrere mitwirken (oben
    §. 61 Note 5), welche ſich zur fortgeſetzten Begehung
    von Raub oder Diebſtahl verbunden haben (Bande,
    vgl. oben §. 38 II 5).
  • g)18 Wenn der Diebſtahl zur Nachtzeit (d. i. die Zeit
    der Nachtruhe) in einem bewohnten Gebäude, in
    welches ſich der Thäter in diebiſcher Abſicht einge-
    ſchlichen
    , oder in welchem er ſich in gleicher Abſicht
    verborgen hatte, begangen wird, auch wenn zur Zeit
    des Diebſtahls Bewohner in dem Gebäude nicht an-
    weſend ſind. Einem bewohnten Gebäude werden der
    zu einem ſolchen gehörende umſchloſſene Raum und
    die in einem ſolchen befindlichen Gebäude jeder Art,
    ſowie Schiffe, welche bewohnt werden, gleich geachtet.

Strafe in allen Fällen: Zuchthaus bis zu 10 Jahren,
bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten.


[263]Der Diebſtahl. §. 64.

3. Diebſtahl im 2. Rückfall19 (StGB. §§. 244 und
245). Vorausſetzung: zweimalige frühere Beſtrafung im In-
lande
20 wegen Diebſtahl, Raub, räuberiſchen Diebſtahls und
räuberiſcher Erpreſſung und Hehlerei. Die Vorſtrafen müſſen
ganz oder teilweiſe verbüßt oder erlaſſen ſein. Ein 10jäh-
riger Zeitraum von Verbüßung oder Erlaß der letzten21
Strafe bis zur Begehung des neuen Diebſtahls ſchützt vor
der Rückfallsſtrafe (ſogenannte Rückfallsverjährung).
Die Strafe beträgt:


  • a) für einfachen Diebſtahl (StGB. §. 242) Zuchthaus
    bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis
    nicht unter 3 Monaten;
  • b) für ſchweren Diebſtahl (StGB. §. 243) Zuchthaus
    nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Umſtänden Ge-
    fängnis nicht unter einem Jahre.

4. Räuberiſcher Diebſtahl (StGB. §. 252), wenn
der Dieb auf friſcher That betroffen, gegen eine Perſon (in
hominem
) Gewalt verübt (vgl. oben §. 63 I 1 a) oder Dro-
hungen (vgl. oben §. 63 I 1 b) mit gegenwärtiger Gefahr
für Leib oder Leben anwendet, um ſich im Beſitze des ge-
ſtohlenen Gutes zu erhalten.


Strafe: die des Raubes (vgl. unten §. 66).


5. Privilegierte Fälle22 (StGB. §. 247):


  • a) Diebſtahl von Verwandten aufſteigender Linie gegen
    Verwandte abſteigender Linie oder zwiſchen Ehegatten
    begangen (§. 257 Abſ. 2), bleibt ſtraflos (ſubjektiver
    Strafausſchließungsgrund, vgl. oben §. 30 III 3);

[264]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Diebſtahl gegen Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2),
    Vormünder oder Erzieher; Diebſtahl an Sachen von
    unbedeutendem Werte gegen Perſonen, zu welchen der
    Thäter im Lehrlingsverhältniſſe ſteht oder in deren
    häuslicher Gemeinſchaft er als Geſinde ſich befindet:
    auf Antrag zu verfolgen; Antrag rücknehmbar (§. 247
    Abſ. 1). Maßgebend iſt hier lediglich die Eigenſchaft
    des Beſtohlenen, d. i. nach dem oben I 6 Geſagten
    des Gewahrſams-Inhabers, nicht die des Eigentü-
    mers.23 Der Diebſtahl bleibt Antragsdelikt, wenn auch
    die vom Sohne bei ſeinem Vater geſtohlenen Gegen-
    ſtände Eigentum eines Dritten ſind.

Beide Beſtimmungen (a und b) finden auf Teilnehmer
oder Begünſtiger, welche nicht in einem der vorbezeichneten
Verhältniſſe ſtehen, keine Anwendung (StGB. §. 247 Abſ. 3).


III. Neben der wegen Diebſtahls erkannten Gefängnis-
ſtrafe kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte;
neben der Zuchthausſtrafe auf Zuläſſigkeit von Polizei-
aufſicht
erkannt werden (StGB. §. 248).


§. 65.
Dem Diebſtahl verwandte Fälle.

Aus dem Begriffe des Diebſtahls haben ſich im Laufe
der hiſtoriſchen Entwicklung eine Reihe von Delikten losgelöſt
und ſelbſtändige Bedeutung erlangt, die hier der beſſeren
Ueberſicht wegen zuſammengeſtellt und dem Diebſtahle ange-
ſchloſſen werden ſollen, wenn ſie auch, einzeln betrachtet, eine
andere Stellung im Syſteme des beſonderen Teiles bean-
[265]Dem Diebſtahl verwandte Fälle. §. 65.
ſpruchen könnten. Es ſei betont, daß wir es hier mit
ſelbſtändigen Deliktsbegriffen zu thun haben, auf welche
daher das über den Diebſtahl Geſagte nicht ohne weiteres
Anwendung findet.


1. Das ſogenannte furtum usus, richtiger Gebrauchs-
anmaßung, wegen fehlender Aneignung nicht Diebſtahl, iſt nach
Reichsrecht nur in dem einen beſonderen Falle (StGB. §. 290)
ſtrafbar, wenn öffentliche Pfandleiher die von ihnen in Pfand
genommenen Gegenſtände unbefugt (vgl. oben §. 28 II) ge-
brauchen. Strafe: Gefängnis bis einem Jahre, das nach
Ermeſſen mit Geldſtrafe bis 900 Mark verbunden werden
kann.


2. Das ſogenannte furtum possessionis (StGB.
§. 289), Wegnahme der eigenen beweglichen Sache oder einer
fremden beweglichen Sache zu Gunſten des Eigentümers der-
ſelben, aus dem Gewahrſam des Nutznießers, Pfandgläu-
bigers oder des Gebrauchs- oder Retentionsberechtigten,1 in
rechtswidriger Abſicht.2Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren
(daneben nach Ermeſſen Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte)
oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark. Verſuch ſtrafbar. An-
tragsdelikt. StGB. §. 247 Abſ. 2 und 3 (oben §. 64 II 5)
findet auch hier Anwendung.


3. Der Forſt- und Felddiebſtahl, durch Einfüh-
rungsgeſetz §. 2 der Partikular-Geſetzgebung überlaſſen (vgl.
oben §. 11 Note 6).


4. Die widerrechtliche Zueignung von bei den Uebungen
der Artillerie verſchoſſener Munition oder von Bleikugeln
[266]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
aus den Kugelfängen der Truppen-Schießſtände (StGB.
§. 291). Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre oder
Geldſtrafe bis zu 900 Mark.


5. Unbefugte Verringerung eines fremden Grundſtücks,
eines öffentlichen oder Privatweges oder eines Grenzrains
durch Abgraben oder Abpflügen (StGB. §. 370 Ziff. 1)
Strafe: Geld bis 150 Mark oder Haft.


6. Unbefugte Wegnahme von Erde, Steinen, Raſen aus
öffentlichen oder Privatwegen; Graben von Erde, Lehm,
Sand, Grand, Mergel aus fremden Grundſtücken; Hauen von
Plaggen oder Bülten; Wegnahme von Raſen, Steinen,
Mineralien aus fremden Grundſtücken, zu deren Gewinnung
es einer Verleihung, einer Konzeſſion oder einer Erlaubnis
einer Behörde nicht bedarf oder von ähnlichen Gegenſtänden
(StGB. §. 370 Ziff. 2).


Strafe: wie zu 5.


7. Entwendung von Nahrungs- oder Genußmitteln von
unbedeutendem Werte oder in geringer Menge zum alsbal-
digen Gebrauche (ſogenannter Mundraub StGB. §. 370
Ziff. 5). Tabak, Cigarren, Parfüms, Saatkartoffeln;3 nicht
aber Brennmaterialien gehören hierher. Strafe: wie zu 5.
Antragsdelikt; Rücknahme zuläſſig. Entwendungen von Ver-
wandten aufſteigender gegen Verwandten abſteigender Linie
und zwiſchen Ehegatten bleiben ſtraflos.


8. Der ſogenannte Futterdiebſtahl (StGB. §. 370
Ziff. 6): Wegnahme von Getreide oder anderen zur Fütte-
rung des Viehs beſtimmten oder geeigneten Gegenſtänden
wider Willen des Eigentümers, um deſſen Vieh damit zu
füttern.


Strafe: wie zu 5. Antragsdelikt; Rücknahme zuläſſig.


[267]Der Raub. §. 66.
2.

§. 66. Der Raub.1

I.Begriff (StGB. §. 249).


Raub iſt gewaltſamer Diebſtahl. Er hat alle
Merkmale des Diebſtahlsbegriffes: Wegnahme einer fremden
beweglichen Sache in der Abſicht rechtswidriger Zueignung
(vgl. das oben §. 64 über dieſe Merkmale Geſagte); unter-
ſcheidet ſich aber von dem Diebſtahle durch die Mittel der
Wegnahme. Dieſe ſind:


  • a) Gewalt gegen eine Perſon (oben §. 63 I 1 a), ſei
    es gegen die Perſon des Gewahrſamsinhabers ſelbſt
    oder gegen eine andere den Gewahrſam des Inhabers
    ſchützende Perſon;
  • b) Anwendung von Drohungen (oben §. 63 I 1 b)
    mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
    Leben
    .

Gewalt und Drohung ſind Mittel der Wegnahme, d. h.
der Begründung des eigenen Gewahrſams auf Seiten des
Thäters, mag dieſe unmittelbar durch den Thäter oder durch
Vermittlung einer Entſchließung von ſeiten des Angegriffenen
erfolgen; vorausgeſetzt, daß dieſe Entſchließung nicht als
eine freie und vorſätzliche (oben §. 20 III) den Kauſalzu-
ſammenhang zwiſchen dem Handeln des Thäters und dem
eingetretenen Erfolge aufhebt. Ueber das Verhältnis des
Raubes zur Erpreſſung vgl. das unten §. 74 bei dieſer
Geſagte.


Der Raub iſt vollendet (wie der Diebſtahl) mit der
[268]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
vollendeten Wegnahme der Sache; der ſtrafbare Verſuch
beginnt bereits mit der Anwendung von Gewalt oder Dro-
hung.


II.Fälle des Raubes.


1. Einfacher Raub (StGB. §. 249). Strafe:
Zuchthaus; bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter
6 Monaten.


2. Qualifizierter Raub (StGB. §. 250):


  • a) Wenn der Räuber oder einer der Teilnehmer am
    Raube bei Begehung der That Waffen bei ſich führt
    (oben §. 64 II 2 e).
  • b) Wenn zu dem Raube Mehrere mitwirken, welche ſich
    zur fortgeſetzten Begehung von Raub oder Diebſtahl
    verbunden haben (oben §. 64 II 2 f).
  • c) Wenn der Raub auf einem öffentlichen Wege, einer
    Straße, einer Eiſenbahn, einem öffentlichen Platze,
    auf offener See oder einer Waſſerſtraße begangen
    wird (Straßenraub).
  • d) Wenn der Raub zur Nachtzeit in einem bewohnten
    Gebäude (StGB. §. 247 Ziff. 3) begangen wird, in
    welches ſich der Thäter zur Begehung eines Raubes
    oder Diebſtahls eingeſchlichen oder ſich gewaltſam Ein-
    gang verſchafft oder in welchem er ſich in gleicher
    Abſicht verborgen hatte.
  • e) Wenn der Räuber bereits einmal als Räuber oder
    wegen räuberiſchen Diebſtahls (StGB. §. 252) oder
    räuberiſcher Erpreſſung (StGB. §. 255) im Inlande
    beſtraft worden iſt (Raub im erſten Rückfall). StGB.
    §. 245 findet auch hier Anwendung (oben §. 64
    II 3).
    Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; bei
    [269]Die Unterſchlagung. §. 67.
    mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem
    Jahre.
  • f) Schwerſter Fall (StGB. §. 251): Raub, bei dem
    ein Menſch gemartert oder bei dem durch die verübte
    Gewalt eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224)
    oder der Tod eines Menſchen verurſacht (oben §. 61
    II 1 c) worden iſt; gleichgültig, ob die gemarterte,
    verletzte, getötete Perſon der Beraubte ſelbſt oder ein
    Dritter iſt.
    Strafe: Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder
    lebenslängliches Zuchthaus.

III. Neben der Zuchthausſtrafe kann in allen Fällen auf
Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB. §. 256).


3.

§. 67. Die Unterſchlagung.1

I.Begriff.


Unterſchlagung iſt Eigentumsverletzung durch rechts-
widrige Aneignung einer fremden beweglichen
Sache, welche der Thäter bereits in ſeinem Ge-
wahrſame hat
. Durch letzteres Merkmal unterſcheidet ſich
die Unterſchlagung vom Diebſtahl, mit dem ſie die übrigen
Begriffs-Elemente gemein hat. Es iſt daher das oben
§. 64 I Geſagte auch hier anzuwenden. Dazu ſei noch Fol-
gendes bemerkt.


1. Eine fremde Sache iſt auch hier Objekt des Deliktes.
Durch den Uebergang des Eigentums an den Gewahrſams-
[270]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
inhaber wird demnach die Möglichkeit einer Unterſchlagung
unbedingt ausgeſchloſſen, mag auch eine (obligatoriſche) Ver-
pflichtung zur Rückgabe2 oder zur Verwendung nach einer
ganz beſtimmten Richtung hin3 beſtehen. Wichtig wird
dieſer Satz bei Uebergabe von Geld oder anderen vertret-
baren Sachen.


An einem Schatze iſt Unterſchlagung durch den Finder
dann möglich, wenn nach dem maßgebenden Civilrecht4
durch das Finden ſelbſt einem Dritten (dem Eigentümer des
Grundſtückes oder dem Staate) ſofort Eigentum an einem
Teile des Schatzes, nicht bloß ein Anſpruch auf Herausgabe
erworben wird. Für das Gebiet des preußiſchen Rechts
nimmt Unterſchlagung an: RGR. 17. November 1879, R I
78, E I
16.


An Forderungen kann Unterſchlagung ebenſowenig
wie Diebſtahl begangen werden; vgl. StGB. §. 266 Ziff. 2,
(unten §. 71 II 1).


2. Der Thäter muß die Sache in ſeinem Gewahr-
ſam
haben. Auf welche Weiſe er dieſen erlangt, ob durch
Zufall, durch ein Anvertrauen von ſeiten des bisherigen
Gewahrſamsinhabers oder durch eine ſtrafbare Handlung,
iſt gleichgültig. Doch wird in dem letzten dieſer Fälle, in
Anwendung des oben §. 40 III über Geſetzeskonkurrenz Ge-
ſagten, die Aneignung regelmäßig hinter dem ſtrafbaren In-
den-Gewahrſam-Bringen zurücktreten. Auch die Fund-
verhehlung
(unrichtig ſprach man früher von Funddiebſtahl)
iſt Unterſchlagung.


[271]Die Unterſchlagung. §. 67.

3. Die deliktiſche Thätigkeit beſteht in dem Aneignen.
Das Geſetz ſieht von einer kaſuiſtiſchen Beſchreibung dieſes
Begriffes ab. Jeder (äußere oder innere) Akt, durch welchen
die Sache, als wäre ſie Eigentum, den Zwecken des Thäters
dauernd und ausſchließlich dienſtbar gemacht wird, gehört
hieher; Beiſeiteſchaffen, Ableugnen des Beſitzes, Veräußern,
Verbrauchen, Verpfänden5kann Aneignung ſein. Die An-
eignung muß auch hier eine rechtswidrige ſein.


4. Die Vollendung tritt ein mit der geſchehenen An-
eignung (anders beim Diebſtahl). Der Verſuch — trotz
der Vergehensnatur ſtrafbar — beginnt mit der beginnenden
Aneignung.


5. Verletzt iſt der Eigentümer, und nur er, nicht etwa
derjenige, der die Sache dem Thäter übergeben (anvertraut)
hatte.


II.Arten der Unterſchlagung:


  • 1. Einfache Unterſchlagung. Strafe: Gefängnis
    bis zu 3 Jahren; bei mildernden Umſtänden Geld-
    ſtrafe bis zu 900 Mark.
  • 2. Die Veruntreuung oder Unterſchlagung anver-
    trauter
    , d. h. auf Grund eines Rechtsgeſchäftes mit
    der Verpflichtung zur Rückgabe oder Weiterbeförde-
    rung6 übernommener Sachen.
    Strafe: Gefängnis bis zu 5 Jahren; bei mil-
    dernden Umſtänden Geld bis zu 900 Mark.
  • 3. Privilegierte Fälle (StGB. §. 247); dieſelben wie
    [272]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    beim Diebſtahl; vgl. oben §. 64 II 5. Entſcheidend
    hier immer die Qualität des verletzten Eigentümers.
  • 4. Die Unterſchlagung im Amte (StGB. §§. 250
    und 251, vgl. unten §. 93 II 7).

III. Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürger-
lichen Ehrenrechte
erkannt werden (StGB. §. 248).


4.

§. 68. Die Sachbeſchädigung.1

I.Begriff.


1. Sachbeſchädigung iſt Eigentumsverletzung durch
rechtswidrige Verletzung oder Vernichtung der
Sachſubſtanz
(Beſchädigung oder Zerſtörung der Sache,
die auch als Sachganzes in Betracht kommen kann). Bei-
ſpiele: Zerlegen einer Maſchine, Fliegenlaſſen eines Bienen-
ſchwarmes, Ausſtrömenlaſſen von Gas, Ueberſtreichen eines
Gemäldes. Gebrauchsentziehung — ſelbſt dauernde — gehört
nicht hieher (Ausfliegenlaſſen eines Vogels; Verſenken in
die See).


2. Objekt iſt auch hier eine fremde bewegliche Sache
(vgl. oben §. 64 I 2); daß ſie Tauſchwert beſitze, iſt nicht
erforderlich.2


3. Die Rechtswidrigkeit iſt Begriffsmerkmal; da-
her Bewußtſein derſelben zum Vorſatz erforderlich (oben
§. 28 II).


4. Verletzt im techniſchen Sinne des Wortes (vgl.
[273]Die Sachbeſchädigung. §. 68.
oben §. 31 III 1 b), daher eventuell antragsberechtigt, iſt
immer nur der Eigentümer.3


5. Die Vollendung tritt mit der erfolgten Beſchädigung
oder Zerſtörung der Sache ein; der Verſuch iſt — auch
wenn Vergehen — ſtrafbar.


II.Arten.


1. Die einfache Sachbeſchädigung (StGB. §. 303).
Strafe: Geld bis zu 1000 Mark oder Gefängnis bis zu
2 Jahren. Antragsdelikt. Antrag rücknehmbar, wenn gegen
Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2) verübt.


2. Beſchädigung oder Zerſtörung von res sacrae
religiosae publicae
(StGB. §. 304). Das Geſetz nennt:
Gegenſtände der Verehrung einer im Staate beſtehenden Re-
ligionsgeſellſchaft; Sachen, die dem Gottesdienſte gewidmet
ſind; Grabmäler, öffentliche Denkmäler; Gegenſtände der
Kunſt, Wiſſenſchaft, des Gewerbes, welche in öffentlichen
Sammlungen aufbewahrt werden oder öffentlich ausgeſtellt
ſind; Gegenſtände, welche zum öffentlichen Nutzen oder zur
Verſchönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen
(mögen ſie auch nicht gerade zu dieſem Zwecke beſtimmt ſein4).
Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren oder Geld bis zu
1500 Mark. Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden.


Nur des Zuſammenhanges wegen — es ſei dies aus-
drücklich betont — iſt dieſer Fall mit der einfachen Sach-
beſchädigung unter den Eigentumsdelikten zu behandeln; die
Richtung gegen den Einzelnen tritt völlig, die gegen das
von Liszt, Strafrecht. 18
[274]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
Eigentum hinter der Verletzung des öffentlichen Gebrauchs-
rechtes zurück.


3. Gänzliche oder teilweiſe Zerſtörung (nicht
Beſchädigung) von in fremdem Eigentum ſtehenden Gebäuden,
Schiffen, Brücken, Dämmen, gebauten Straßen, Eiſenbahnen
(oben §. 64 II 2 d5) oder anderen Bauwerken6. Strafe:
Gefängnis nicht unter 1 Monat. Hier iſt der Charakter der
einfachen Sachbeſchädigung als eines gegen den Einzelnen
gerichteten Eigentumsdeliktes vollſtändig gewahrt; zugleich
aber bildet dieſer Fall den Uebergang von der Sachbeſchädi-
gung zu den gemeingefährlichen Delikten.


4. In einer ganzen Reihe von Fällen tritt die Bedeutung
der Sachbeſchädigung als eines Eigentumsdeliktes ſo ſehr in
den Hintergrund, daß die Einreihung dieſer Fälle unter andere
Deliktsbegriffe oder ihre ſelbſtändige Behandlung angezeigt
erſcheint. Vgl. StGB. §§. 90 Ziff. 2, 133 ff., 168, 265,
274, 315 ff.; Forſt- und Feldfrevel uſw.


B.

§. 69. Strafbare Handlungen gegen Okkupationsrechte.1

I.Verletzung des Jagdrechtes.


1. Begriff.


Jagdrecht iſt das Recht auf ausſchließliche Okkupation
jagdbarer Tiere. Diebſtahl und nicht Verletzung des Jagd-
[275]Strafbare Delikte gegen Okkupationsrechte. §. 69.
rechtes iſt anzunehmen, wenn die Tiere — wie bei Wild
im umſchloſſenen Gehege — bereits okkupirt ſind2.


Die Verletzung erfolgt durch unbefugte (Begriffsmerkmal!
vgl. oben §. 28 II) Ausübung der Jagd. Dieſer Begriff
umfaßt ein Doppeltes.


  • a) Schon das einfache dem-Wilde-Nachſtellen (Auf-
    dem-Anſtande-ſtehen; Anſchleichen; das Schlingen-
    legen uſw.). Schon mit dieſen Handlungen iſt die
    Vollendung des Deliktes eingetreten.
  • b) Die wirkliche Okkupation jagdbarer Tiere (auch von
    Fallwild, nicht aber von abgeworfenen Hirſchſtan-
    gen u. dgl.; auch die Jagdfolge uſw.). Mit der Okku-
    pation, d. h. der Begründung des eigenen Gewahr-
    ſams, alſo nicht notwendig erſt mit dem Herausſchaffen
    aus dem Forſte3, tritt hier die Vollendung ein.

2. Arten.


  • a)Einfacher Fall (StGB. §. 292). Strafe: Geld
    bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten.
    Antragsdelikt, wenn gegen einen Angehörigen (StGB.
    §. 52 Abſ. 2) begangen. Antrag rücknehmbar.
  • b)Qualifizierter Fall (StGB. §. 293), wenn dem
    Wilde nicht mit Schießgewehr oder Hunden, ſondern
    mit Schlingen, Netzen, Fallen oder anderen Vorrich-
    tungen nachgeſtellt, oder wenn das Vergehen während
    der geſetzlichen Schonzeit, in Wäldern, zur Nachtzeit
    (Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) oder
    gemeinſchaftlich von Mehreren (oben §. 61 Note 5) be-
    gangen wird. Strafe: Geld bis zu 600 Mark oder Ge-
    [276]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    fängnis bis zu 6 Monaten. Antrag nicht erforderlich
    (beſtritten).
  • c)Wilddieberei (StGB. §. 294): gewerbsmäßiges
    (Begriff oben §. 39 II 3) Betreiben des unberechtigten
    Jagens. Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten,
    neben welchem auf Verluſt der bürgerlichen Ehren-
    rechte ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt
    werden kann.

In allen 3 Fällen iſt (StGB. §. 295) auf Einziehung
des Gewehrs, des Jagdgerätes und der Hunde, welche der
Thäter bei ſich geführt hat, ingleichen der Schlingen, Netze,
Fallen und anderen Vorrichtungen zu erkennen, ohne Unter-
ſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben
§. 50 II), und ohne Unterſchied ferner, ob dieſe Gegenſtände
zur Jagdausübung beſtimmt waren oder nicht4.


  • d) Vgl. noch StGB. §. 368 Ziff. 10 u. 11: Geldſtrafe
    bis zu 60 Mark oder Haft bis zu 14 Tagen trifft
    denjenigen, der
    • α) ohne Genehmigung des Jagdberechtigten oder ohne
      ſonſtige Befugnis auf einem fremden Jagdgebiete
      außerhalb des öffentlichen, zum gemeinen Gebrauche
      beſtimmten Weges, wenn auch nicht jagend, doch
      zur Jagd ausgerüſtet, betroffen wird;
    • β) denjenigen, der unbefugt Eier oder Junge von
      jagdbarem Federvieh (oder von Singvögeln) aus-
      nimmt.

II.Verletzung des Rechts zur Okkupation von
Fiſchen und Krebſen
(auch die Perlmuſchelfiſcherei gehört
hierher).


[277]Der Bankbruch. §. 70.

1. Einfaches unberechtigtes Fiſchen oder Krebſen
(StGB. §. 370 Ziff. 4). Strafe: Geld bis zu 150 Mark
oder Haft.


2. Unberechtigtes (Begriffsmerkmal! oben §. 28 II) Fiſchen
oder Krebſen zur Nachtzeit (wie oben I 2) oder unter An-
wendung ſchädlicher oder explodierender Stoffe (StGB.
§. 296). Strafe: Geld bis zu 600 Mark oder Gefängnis
bis zu 6 Monaten.


3. Ausländer, welche in den deutſchen Küſtengewäſſern
unbefugt fiſchen, trifft die unter 2. angegebene Strafe, auch
wenn keiner der erſchwerenden Umſtände des §. 296 vorliegt
(StGB. §. 296 a).


C. Strafbare Handlungen gegen obligatoriſche
Anſprüche.

1.

§. 70. Der Bankbruch.1

Geregelt durch die §§. 209—212 der Konk.-Odg., die an
Stelle der §§. 281—283 StGB. getreten ſind. Ueber das
Verhältnis des Reichsrechtes zum Landesrechte vgl. Einf. Geſ.
zur Konk.-Odg. §§. 4 u. 5.


I.Begriff.


Der Bankbruch gehört zu denjenigen Delikten, deren be-
griffliche Entwicklung eben im Fluſſe begriffen iſt, ohne daß
Geſetzgebung und Wiſſenſchaft zu abſchließenden Reſultaten
gelangt wären. Eben darum bietet er der juriſtiſchen Kon-
[278]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
ſtruktion wie der praktiſchen Anwendung der geſetzlichen Be-
ſtimmungen größere Schwierigkeiten als andere, zu endgülti-
ger Geſtaltung gelangte, Verbrechensbegriffe.


1. Bankbruch iſt — wenn wir vom poſitiven Rechte ab-
ſehen — Gefährdung der obligatoriſchen Anſprüche
der Gläubiger durch Mißbrauch des Kredites
. Die
Geſammtforderungen der Gläubiger ſind das nächſte Angriffs-
objekt des Bankbruches, mag er auch in ſeinen Folgewir-
kungen, über die Vermögensintereſſen der Nächſtbeteiligten
hinausgreifend, eine Erſchütterung der publica fides, der
Sicherheit des Kreditweſens in weiteren, nicht abgegrenzten
und nicht abzugrenzenden Kreiſen herbeiführen. Der Miß-
brauch des Kredites aber würde bei dieſer Faſſung des Be-
griffes in jeder Vernachläſſigung derjenigen Sorgfalt beſtehen,
zu welcher der Kreditnehmer dem Kreditgeber gegenüber,
wenn auch nicht rechtlich, ſo doch als gewiſſenhafter Haus-
wirt, verpflichtet iſt. Allerdings hätte dieſem erweiterten
Begriffe gegenüber der Name „Bankbruch“ nur mehr hiſto-
riſche Berechtigung.


2. Im poſitiven Rechte iſt der Begriff des Bankbruches
weſentlich eingeſchränkt.


  • a) Das Geſetz macht die Zahlungseinſtellung oder
    die Eröffnung des Konkursverfahrens zur Be-
    dingung der Strafbarkeit (in dem oben §. 30 angege-
    benen Sinne). Es bedarf nach Anſicht des Geſetz-
    gebers einer ſcharfen, greifbaren Bezeichnung des Augen-
    blickes, in welchem die Intereſſen der Gläubiger als
    definitiv gefährdet anzuſehen ſind. Zahlungseinſtellung
    aber iſt die Nichterfüllung einer fälligen Ver-
    pflichtung auf Grund wirklicher, vermeint-
    licher oder fingierter Zahlungsunfähigkeit
    ,
    [279]Der Bankbruch. §. 70.
    daher zu unterſcheiden einerſeits von der wirklichen
    Unfähigkeit zur Erfüllung der ſchwebenden Verbind-
    lichkeiten, andrerſeits von der Ueberſchuldung, dem
    Ueberſtiegenſein der Paſſiva durch die Aktiva.
  • b) Das Geſetz hebt in kaſuiſtiſcher Weiſe, jedes andere etwa
    gleichwertige Verhalten ausſchließend, jene Handlungen
    des Schuldners hervor, in welchen regelmäßig (nicht not-
    wendig immer) ein Mißbrauchen des Kredites gelegen iſt;
    die regelmäßig, wenn auch nicht notwendig im Einzelfalle,
    zur eingetretenen Zahlungseinſtellung, mithin zu der vom
    Geſetze in dieſer erblickten Gefährdung der Vermögens-
    intereſſen der Gläubiger, in kauſaler Beziehung ſtehen.
  • c) Nach dieſer Einengung des Begriffes konnte das Geſetz
    davon abſehen, ob die — im Allgemeinen vorhandene
    Gefährdung der Gläubigeranſprüche auch im
    konkreten Falle eingetreten iſt oder nicht.

So erhält der Begriff des Bankbruches eine weſentlich
veränderte Geſtalt. Er liegt vor, wenn ein Schuldner:


  • 1. ſeine Zahlungen eingeſtellt (den Konkurs eröffnet) und
  • 2. gewiſſe vom Geſetze bezeichnete Handlungen begangen hat.

3. Trotz dieſer veränderten Geſtalt behält unſere ur-
ſprüngliche Definition ihre Bedeutung. Immer liegt in der
auf beſtimmte Weiſe herbeigeführten, in einem beſtimmten
Augenblicke als gegeben angenommenen Gefährdung der ver-
mögensrechtlichen Anſprüche der Gläubiger der Kern des De-
liktes. Die Geſammtheit der an derſelben Zahlungseinſtellung
beteiligten Gläubiger iſt Trägerin des angegriffenen Rechts-
gutes. Daraus folgt:


  • a) Wenn ein Schuldner mit Rückſicht auf dieſelbe
    Zahlungseinſtellung
    (Konkurseröffnung) mehrere
    der vom Geſetze bezeichneten Handlungen begangen hat
    [280]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    (z. B. Differenzſpiel und Vernichtung der Handels-
    bücher), ſo liegt nur eine ſtrafbare Handlung, nicht
    Realkonkurrenz mehrerer vor.2
  • b) So lange es ſich um dieſelbe Zahlungseinſtel-
    lung
    (Konkurseröffnung) handelt, können nicht zwei
    Bankbrüche angenommen werden, mag auch der That-
    beſtand des einfachen wie der des qualiſizierten Falles
    vorliegen; der Schuldner hat ſich vielmehr nur eines
    Bankbruches und zwar des ſchwereren Falles ſchuldig
    gemacht.3

In beiden Fällen iſt mit der Einheit des Erfolges die
Einheit der Handlung, und zwar nicht eine nur juriſtiſche, ſon-
dern eine natürliche Handlungseinheit (oben §. 39 I 2) gegeben.


4. Die vom Geſetze bezeichneten Handlungen können der
Zahlungseinſtellung (Konkurseröffnung) zeitlich vorangehen
oder ihr nachfolgen; im erſten Falle iſt das Delikt mit der
Zahlungseinſtellung, im letzteren mit der Vornahme der be-
treffenden Handlung vollendet. Dieſe Möglichkeit, Bank-
bruch anzunehmen, obwohl die Zahlungseinſtellung voraus-
gegangen iſt, tritt erſt damit ein, daß in dem poſitiv-recht-
lichen Begriffe des Bankbruches von dem Vorliegen des Kauſal-
zuſammenhanges zwiſchen den einzelnen Handlungen und der
Zahlungseinſtellung im konkreten Falle abgeſehen iſt.


5. Subjekt des Deliktes iſt nach der Konkursordnung
jeder Schuldner, nicht bloß der Kaufmann. Auch Mitglieder
[281]Der Bankbruch. §. 70.
des Vorſtandes einer Aktiengeſellſchaft oder eingetragenen
Genoſſenſchaft, ſowie die Liquidatoren einer Handelsgeſellſchaft
oder eingetragenen Genoſſenſchaft, welche ihre Zahlungen ein-
geſtellt hat oder über deren Vermögen das Konkursverfahren
eröffnet worden iſt, können ſich des Bankbruches ſchuldig
machen, wenn ſie in dieſer Eigenſchaft die mit Strafe be-
drohten Handlungen begangen haben (Konk.-Odg. §. 214).


6. Ort der begangenen That iſt — auch hier wird unſere
theoretiſche Definition von Wichtigkeit — nicht derjenige, an
welchem die einzelnen im Geſetze bezeichneten Handlungen be-
gangen ſind, ſondern derjenige, an welchem der Schuldner
im Augenblicke der Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung
ſeinen wirtſchaftlichen Wohnſitz hat (vgl. oben §. 19
IV); Schuld dagegen muß auf ſeiten des Angeklagten in dem
Augenblicke vorliegen, in welchem er die Einzelhandlungen ge-
ſetzt hat (oben §. 19 III 1).


II.Arten.


1. Der einfache Bankbruch (Konk.-Odg. §. 210). Er
liegt, die Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung voraus-
geſetzt, vor, wenn der Schuldner:


  • a) durch Aufwand, Spiel oder Differenzhandel mit Waaren
    oder Börſenpapieren (nicht bloß das eigentliche Diffe-
    renzgeſchäft, ſondern auch effektive Lieferungsgeſchäfte,
    wenn auf unſolider Spekulation beruhend, gehören
    hieher)4 übermäßige Summen verbraucht hat oder
    ſchuldig geworden iſt;
  • b) wenn er Handelsbücher zu führen unterlaſſen hat, deren
    Führung ihm geſetzlich oblag, oder dieſelben verheim-
    [282]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    licht, vernichtet oder ſo unordentlich geführt hat, daß
    ſie keine Ueberſicht des Vermögenszuſtandes gewähren;
  • c) wenn er es gegen die Beſtimmung des Handelsgeſetz-
    buchs unterlaſſen hat, die Bilanz ſeines Vermögens in
    der vorgeſchriebenen Zeit zu ziehen.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.


Ganz verkehrt iſt es, dieſen Fall des Bankbruchs als
fahrläſſigen Bankbruch zu bezeichnen. Die einzelnen Hand-
lungen müſſen vielmehr alle vorſätzlich, d. h. mit dem Be-
wußtſein ihrer Kauſalität begangen ſein. Der Schuldner
muß wiſſen, daß er Handelsbücher zu führen hat, daß er ſie
vernichtet uſw.


2. Der ſogenannte betrügeriſche Bankbruch (Konk.-
Odg. §. 209). Zu der Thatſache der Zahlungseinſtellung
oder Konkurseröffnung muß — außer den vom Geſetz be-
zeichneten Handlungen — die Abſicht, die Gläubiger zu
benachteiligen
, d. h. in ihren Anſprüchen zu ſchädigen,
hinzutreten. Das Schema dieſes Falles wäre alſo: Ge-
fährdung in Verletzungsabſicht
, wie wir dasſelbe oben
§. 62 II bei der Vergiftung gefunden haben. Erreichung der
Abſicht iſt ebenſowenig wie Eintritt der Gefährdung im kon-
kreten Falle erforderlich.


Die Strafe — Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden
Gefängnis nicht unter 3 Monaten — trifft jenen Schuldner,
welcher:


  • a) Vermögensſtücke verheimlicht oder bei Seite geſchafft,
    d. h. den Gläubigern entzogen hat. Auch Veräußerung
    von unbeweglichen Sachen gehört hierher;5

[283]Der Bankbruch. §. 70.
  • b) Schulden oder Rechtsgeſchäfte anerkannt oder aufge-
    ſtellt hat, welche ganz oder teilweiſe erdichtet ſind;
  • c) Handelsbücher zu führen unterlaſſen hat, deren Füh-
    rung ihm geſetzlich oblag;
  • d) ſeine Handelsbücher (auch wenn er zur Führung nicht
    verpflichtet war) vernichtet, verheimlicht oder ſo geführt
    oder verändert hat, daß dieſelben keine Ueberſicht des
    Vermögensſtandes gewähren.

3. Die ſogenannte Gratifikation (Konk.-Odg. §. 210).
Gefängnis bis zu 2 Jahren trifft jenen Schuldner, welcher
— Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung vorausgeſetzt
— obwohl er ſeine Zahlungsunfähigkeit kannte, einem Gläu-
biger in der Abſicht, ihn vor den übrigen zu begünſtigen,
eine Sicherung oder Befriedigung gewährt hat, welche der-
ſelbe nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu
beanſpruchen hatte.


III. Die Teilnahme dritter Perſonen wird zunächſt
nach den allgemeinen Grundſätzen behandelt. Doch hat das
Geſetz (Konk.-Odg. §. 212) gewiſſe Fälle als delicta sui
generis
unter beſondere Strafe geſtellt und damit von den
ſonſtigen Vorausſetzungen der Teilnahme losgelöſt: mit Zucht-
haus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden mit Ge-
fängnis oder mit Geld bis zu 6000 Mark wird beſtraft, wer:


  • 1. im Intereſſe des Schuldners — Zahlungseinſtellung
    oder Konkurseröffnung auch hier vorausgeſetzt — Ver-
    mögensſtücke desſelben verheimlicht oder bei Seite ge-
    ſchafft hat; oder
  • 2. im Intereſſe eines ſolchen Schuldners, oder um ſich
    oder einem andern einen (nicht notwendig rechtswidrigen)
    Vermögensvorteil6 zu verſchaffen, in dem Verfahren er-
    [284]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    dichtete Forderungen im eigenen Namen oder durch
    vorgeſchobene Perſonen geltend gemacht hat.
    Verſuch und Teilnahme an dieſem ſelbſtändigen De-
    likte ſind der allgemeinen Regel gemäß möglich.

IV. An den Bankbruch des Schuldners reiht das Geſetz
ein beſonderes Delikt des Konkurs gläubigers an (Konk.-Odg.
§. 213): Ein Gläubiger, welcher ſich von dem Gemein-
ſchuldner oder anderen Perſonen beſondere Vorteile dafür hat
gewähren oder verſprechen laſſen, daß er bei den Abſtim-
mungen der Konkursgläubiger in einem gewiſſen Sinne ſtimme,
wird mit Geldſtrafe bis zu 3000 Mark oder mit Gefängnis
bis zu einem Jahre beſtraft.


Bevorſtehende Abſtimmung iſt vorausgeſetzt; mit dem Ge-
währen oder Verſprechen tritt die Vollendung ein, mag auch
die ſpätere Abſtimmung der Verabredung nicht entſprechen;
Teilnahme dritter Perſonen iſt möglich.


2.

§. 71. Die Untreue.1

I.Begriff.


Von der Untreue gilt das oben §. 70 vom Bankbruch
Geſagte in erhöhtem Maße. Wir finden in der modernen
Geſetzgebung nur ſchwache, meiſt kaſuiſtiſche, Anſätze zu be-
grifflicher Entwicklung dieſes Deliktes, das zur Ausfüllung
einer der fühlbarſten Lücken unſeres Strafrechtes berufen iſt.


Auch die Untreue iſt gerichtet gegen obligatoriſche, aus
Verträgen oder vertragsähnlichen Verhältniſſen ent-

[285]Die Untreue. §. 71.
ſpringende Anſprüche. Sie gehört darum zweifelsohne
zu den Delikten gegen das Vermögen, wenn wir dieſes
als die Geſammtheit der dinglichen und perſönlichen An-
ſprüche auffaſſen. Daß die in Frage ſtehenden Anſprüche
der Abſchätzung in Geld nicht immer zugänglich ſind, iſt kein
Grund gegen die Richtigkeit der ſyſtematiſchen Stellung, die
wir hier der Untreue gegeben haben.


Aber nicht alle obligatoriſchen Anſprüche ſind der Ver-
letzung durch Untreue fähig, ſondern nur jene, welche auf
gewiſſenhafte Geſchäftsführung oder überhaupt
auf gewiſſenhafte Wahrnehmung fremder Inter-
eſſen gehen
.


Somit gewinnen wir den Begriff: Untreue iſt die Ver-
letzung der aus Verträgen oder vertragsähnlichen
Verhältniſſen entſpringenden Pflicht zur Wahr-
nehmung anvertrauter fremder Intereſſen
.


II. Das Geſetz beſtraft die Untreue in folgenden Fällen.


1. Untreue im engeren Sinne (StGB. §. 266). Ge-
fängnis mit fakultativer Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte trifft:


  • a) Vormünder, Kuratoren, Güterpfleger, Sequeſter, Maſſen-
    verwalter, Vollſtrecker letztwilliger Verfügungen und Ver-
    walter von Stiftungen, wenn ſie abſichtlich (Abſicht
    gleich Vorſatz,2 nicht gleich Motiv; oben §. 28 III) zum
    Nachteile der ihnen anvertrauten Perſonen oder Sachen
    handeln.
  • b) Bevollmächtigte, welche über Forderungen oder andere
    Vermögensſtücke des Auftraggebers abſichtlich zum Nach-
    teile deſſelben verfügen.

[286]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • c) Feldmeſſer, Verſteigerer, Mäkler, Güterbeſtätiger, Schaff-
    ner, Wäger, Meſſer, Bracker, Schauer, Stauer und
    andere zur Betreibung ihres Gewerbes von der Obrig-
    keit verpflichtete Perſonen, wenn ſie bei den ihnen über-
    tragenen Geſchäften abſichtlich diejenigen benachteiligen,
    deren Geſchäfte ſie beſorgen.

Die Untreue iſt qualifiziert — neben Gefängnis fakul-
tativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark — wenn ſie begangen wird,
um ſich oder einem Anderen einen rechtswidrigen Vermögens-
vorteil zu verſchaffen (über dieſen Begriff vgl. unten §. 73
I 3).


2. Nach dem Geſetz über eingeſchriebene Hülfs-
kaſſen
vom 7. April 1876 §. 34 unterliegen Mitglieder des
Vorſtandes oder des Ausſchuſſes, welche abſichtlich zum Nach-
teile der Kaſſe gehandelt haben, der Strafbeſtimmung des
§. 266 StGB.


3. Die ſogenannte Prävarikation des Rechtsfreun-
des
, im Geſetz (StGB. §. 356) unrichtig unter die Amts-
delikte geſtellt. Gefängnis nicht unter 3 Monaten trifft den
Advokaten, Anwalt oder anderen Rechtsbeiſtand, der bei den
ihm vermöge ſeiner amtlichen (?) Stellung anvertrauten An-
gelegenheiten in derſelben Rechtsſache beiden Parteien durch
Rat oder Beiſtand pflichtwidrig dient. Handelt er im Ein-
verſtändniſſe mit der Gegenpartei zum Nachteile ſeiner Partei,
ſo tritt Zuchthaus bis zu 5 Jahren ein.


4. Das Geſetz vom 11. Juni 1870, die Kommandit-
geſellſchaften auf Aktien und die Aktiengeſellſchaf-
ten
betreffend, enthält mehrere ſtrafbare Handlungen, die
zum Teile allerdings als gegen die ſtaatliche Oberaufſicht
gerichtet erſcheinen, mithin dem 3. Abſchnitte des beſonderen
Teiles einzureihen wären, zum Teile aber den Charakter der
[287]Die Untreue. §. 71.
ſtrafbaren Untreue, der Vernachläſſigung anvertrauter Inter-
eſſen tragen.


Es gehören hieher:


  • a) Art. 206. Die perſönlich haftenden Mitglieder und
    die Mitglieder des Aufſichtsrates einer Kommandit-
    geſellſchaft auf Aktien
    werden mit Gefängnis bis
    zu 3 Monaten beſtraft:
    • 1. Wenn ſie vorſätzlich behufs Eintragung des Ge-
      ſellſchaftsvertrages in das Handelsregiſter falſche
      Angaben über Zeichnung oder Einzahlung des Ka-
      pitals der Kommanditiſten machen.
    • 2. Wenn durch ihre Schuld (Fahrläſſigkeit genügt)
      länger als 3 Monate die Geſellſchaft ohne Auf-
      ſichtsrat geblieben iſt, oder in dem letzteren die
      zur Beſchlußfähigkeit erforderliche Zahl von Mit-
      gliedern gefehlt hat.
    • 3. Wenn ſie in ihren Darſtellungen, in ihren Ueber-
      ſichten über den Vermögensſtand der Geſellſchaft
      oder in den in der Generalverſammlung gehal-
      tenen Vorträgen wiſſentlich den Stand der Ver-
      hältniſſe der Geſellſchaft unwahr darſtellen oder
      verſchleiern.

    Bei mildernden Umſtänden in den Fällen 2 und 3
    tritt Geldſtrafe bis zu 3000 Mark ein.
  • b)Art. 249. Unter den gleichen Vorausſetzungen trifft
    die gleiche Strafe die Mitglieder des Aufſichtsrates
    und des Vorſtandes einer Aktiengeſellſchaft.
  • c)Art. 249a. Mitglieder des Vorſtandes einer Aktien-
    geſellſchaft werden mit Gefängnis bis zu 3 Monaten
    beſtraft, wenn ſie der Vorſchrift des Art. 240 HGB.
    zuwider dem Gericht die Anzeige zu machen unter-
    [288]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    laſſen, daß das Vermögen der Geſellſchaft nicht mehr
    die Schulden deckt. Die Strafe tritt nicht ein, wenn
    von ihnen nachgewieſen wird (vgl. oben §. 27
    Note 3), daß die Anzeige ohne ihr Verſchulden unter-
    blieben iſt. Fahrläſſigkeit genügt alſo auch hier.

3.

§. 72. Andere Fälle.

I.Die Exekutionsvereitlung (StGB. §. 288),
vorliegend, wenn jemand bei einer ihm drohenden Zwangs-
vollſtreckung, in der Abſicht (gleich Vorſatz1 oben §. 28 III)
die Befriedigung des Gläubigers (aus dieſer Zwangsvoll-
ſtreckung, nicht notwendig überhaupt2) zu vereiteln, Beſtand-
teile ſeines Vermögens veräußert oder bei Seite ſchafft
(oben §. 70 II 2 a). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.
Antragsdelikt.


Die Zwangsvollſtreckung iſt eine drohende, ſobald der
Gläubiger Schritte zur gerichtlichen Eintreibung ſeiner For-
derung gemacht hat; Klagerhebung kann genügen, Beginn
des Vollſtreckungsverfahrens iſt nicht erforderlich.3


II. Der einfache Vertragsbruch4 iſt, wenn wir von
dem gemeingefährlichen Delikte des §. 329 StGB. abſehen,
[289]Andere Fälle. §. 72.
nach dem, noch immer von falſchen Vorſtellungen über die
Natur des kriminellen Unrechtes beherrſchten, Reichsſtrafrecht
nur in einem einzigen Falle unter Strafe geſtellt. Es iſt
dies der Bruch des Heuervertrages. Dieſer wird:


  • 1. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft, wenn die
    Heuer bereits gegeben war, und der Schiffsmann mit
    derſelben
    entläuft oder ſich verborgen hält, um ſich
    dem übernommenen Dienſte zu entziehen, und zwar
    ohne Unterſchied, ob das Vergehen im Inlande oder
    im Auslande begangen iſt (StGB. §. 298). Durch
    den letzteren Zuſatz wird der Eintritt der Strafe un-
    abhängig gemacht von der ſonſt nach §. 4 StGB. er-
    forderlichen Strafbarkeit der Handlung am Orte der
    That (vgl. oben §. 13 S. 56). Der geſetzgeberiſche
    Grund liegt in der Strafloſigkeit dieſes Deliktes nach
    engliſchem und amerikaniſchem Recht.
  • 2. Die anderen Fälle des Bruches des Heuervertrages
    werden nach §. 81 Seemannsordnung vom 27. De-
    zember 1872 auf Antrag des Schiffers mit Geldſtrafe
    bis zu 300 Mark (bez. 60 Mark) oder Gefängnis bis
    zu 3 Monaten beſtraft.

III. Nach StGB. §. 297 trifft den Reiſenden oder
Schiffsmann, welcher ohne Vorwiſſen des Schiffers, in-
gleichen den Schiffer, welcher ohne Vorwiſſen des Rheders
Gegenſtände an Bord nimmt, welche das Schiff oder die
Ladung gefährden, indem ſie die Beſchlagnahme oder Ein-
ziehung des Schiffes oder der Ladung veranlaſſen können,
Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.


von Liszt, Strafrecht. 19
[290]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen
überhaupt.

1.

§. 73. Der Betrug.1

I.Begriff.


Betrug iſt Vermögensbeſchädigung in Bereiche-
rungsabſicht, herbeigeführt durch argliſtige Er-
regung und Unterhaltung eines Irrtums
. Der zu
Beſchädigende handelt ſelbſt, aber ohne ſich der Kauſalität
ſeines Thuns bewußt zu ſein; juriſtiſch betrachtet (oben
§. 20 III) iſt es alſo nicht der Beſchädigte, der ſich ſelbſt,
ſondern der Täuſchende, der einem Anderen die Beſchädigung
zufügt. Die Merkmale des Betrugsbegriffes bedürfen der
näheren Erläuterung.


1. Die argliſtige Täuſchung beſteht in der Vorſpiege-
lung falſcher oder in der Entſtellung oder Unter-
drückung wahrer Thatſachen
als Mittel zur Erregung
und Unterhaltung des Irrtums.


Thatſache iſt Alles, was der Gegenwart oder Ver-
gangenheit, nicht aber was der Zukunft angehört; Vorgänge
der Außenwelt und im Inneren des Täuſchenden, phyſiſche
wie pſychiſche Thatſachen ſtehen einander gleich.2 Auch Täu-
ſchung über Anſichten und Abſichten des Thäters, nicht aber
[291]Der Betrug. §. 73.
z. B. über die Ausſichten des ins Leben zu rufenden Unter-
nehmens gehören hieher.


2. Die Erregung und die Unterhaltung des Irr-
tums ſtehen einander gleich. Beide können durch Verſchwei-
gen
von Thatſachen begangen werden. Dieſes Nichtreden
iſt aber nur dann dem Reden gleichwertig, wenn der Ge-
täuſchte berechtigt war, das Reden zu erwarten;3 wenn alſo
eine Verpflichtung zum Reden beſtand, die nicht notwendig
eine Rechtspflicht zu ſein braucht,4 ſondern auch in den ge-
ſchäftlichen Gewohnheiten begründet ſein oder aber auch aus
dem vorhergegangenen poſitiven Verhalten folgen kann.5 Es
gelten hier ohne Ausnahme dieſelben Grundſätze, die oben
§. 21 über die Bedeutung der ſcheinbaren Unterlaſſungen
überhaupt entwickelt wurden.


Nach dem Geſagten iſt auch der ſogenannte Kredit-
betrug
, d. h. die Erſchleichung des Kredites durch einen
Zahlungsunfähigen, zu beurteilen. Nur dann liegt argliſtige
Täuſchung vor, wenn der Getäuſchte die Benachrichtigung
von der vorhandenen Zahlungsunfähigkeit zu erwarten be-
rechtigt war.6


3. Die Täuſchung muß erfolgen in Bereicherungs-
abſicht
, d. i. in der Abſicht (gleich erweiterter Vorſatz, oben
§. 28 III) ſich oder einem Dritten einen rechtswi-
drigen Vermögensvorteil
7zu verſchaffen.


[292]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.

Vermögensvorteil iſt nicht bloß die Vermehrung
des Vermögens, alſo die Gewinnung eines neuen dinglichen
oder perſönlichen Anſpruches, ſondern jede Verbeſſerung
der Vermögenslage, alſo die Sicherung oder Erweiterung der
vorhandenen Anſprüche oder die Abwehr einer ihnen drohenden
Schädigung.8 Erlangung des Beſitzes,9 eines Darlehns10
gehört hieher; ebenſo die Sicherung eines bereits erlangten
Vorteils.11 Erwirkung der Zahlung oder Verbürgung durch
einen Dritten kann unter Umſtänden Vermögensvorteil
ſein.12


Rechtswidrig aber iſt jeder Vorteil, auf welchen der
Handelnde keinen rechtlich begründeten Anſpruch hatte;13 nicht
nur der dem Geſetze zuwiderlaufende Vermögensvorteil gehört
hieher, ſondern die ganze, überaus große und praktiſch hoch-
wichtige Gruppe der dem Rechte indifferenten Vermögens-
vorteile. Rechtswidrig hat demnach nicht poſitive, ſondern
rein negative Bedeutung; am entſprechendſten wäre der Aus-
druck „nicht rechtlich begründet“. Der Betrug entfällt alſo
nur dann, wenn die argliſtige Täuſchung das Mittel zur
Durchſetzung eines wohl erworbenen und bereits fälligen An-
ſpruchs iſt.


[293]Der Betrug. §. 73.

Es iſt gleichgültig, ob der Thäter den Vorteil ſich oder
einem Dritten
zuwenden will; die beabſichtigte Zuwendung
an die Armenkaſſe z. B. würde die Strafbarkeit nicht be-
ſeitigen.14


4. Der vollendete Betrug ſetzt eingetretene Vermö-
gensbeſchädigung
voraus. Vermögensbeſchädigung iſt
aber nicht nur die Verminderung des Vermögens, alſo
der Verluſt eines dinglichen oder perſönlichen Anſpruches,
ſondern jede Verſchlechterung der Vermögenslage. So
die Ceſſion einer unſicheren Hypothek an Zahlungsſtatt;15 die
Prolongation eines Wechſels16 uſw. Vereitelung zu erwar-
tenden Gewinnes gehört nur dann hieher, wenn bereits ein
Anſpruch auf denſelben vorhanden war.17 Die Vermögens-
beſchädigung kann eine bleibende oder vorübergehende ſein;
durch die Möglichkeit künftiger Ausgleichung wird der Begriff
nicht ausgeſchloſſen.


5. Die Täuſchung muß das Mittel der Vermögens-
beſchädigung ſein; beide müſſen im Kauſalzuſammenhange zu
einander ſtehen.18 Der Täuſchende iſt es ja, der ſelbſt das
Vermögen des Getäuſchten beſchädigt. Dies ſchließt die Mög-
lichkeit mehrerer als Mittel benutzter Zwiſchenglieder nicht aus;
wie des Beſchädigten ſelbſt, ebenſo kann ſich der Betrüger
ſchon nach allgemeinen Grundſätzen (oben §. 20 III) auch
anderer Perſonen als Mittel für ſeine Zwecke bedienen. Mit
anderen Worten: Identität der getäuſchten und der be-
[294]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
ſchädigten Perſon iſt nicht erforderlich. Insbeſondere
kann die Beſchädigung des Prozeßgegners durch eine Täuſchung
des Richters herbeigeführt werden; vorausgeſetzt, daß es ſich
nicht um einfach unwahre, durch Vernehmung der Gegen-
partei in dieſer Eigenſchaft erkennbare, Parteibehauptungen,
ſondern um ein Fälſchen der Beweismittel handelt.19


Das Erſchleichen von Liberalitäten iſt nur dann Be-
trug, wenn ſie durch eine wirkliche Irreführung des Schenk-
gebers erlangt wurden; nicht aber dann, wenn der Kauſal-
zuſammenhang fehlt und nicht die Täuſchung, ſondern der
Wunſch den läſtigen Bewerber loszuwerden oder Gutmütigkeit
uſw. die Urſache waren, welche den der Kauſalität ſeines
Thuns ſich bewußten
Schenkgeber zur Schenkung be-
ſtimmten.


6. Der Verſuch — der auch, wenn Vergehen, ſtrafbar
— beginnt bereits mit der Vorſpiegelung, Entſtellung, Unter-
drückung der Thatſachen. Iſt die angeſtrebte Vermögens-
beſchädigung auf dem vom Thäter gewählten Wege nicht
zu erreichen, ſo liegt Verſuch mit untauglichem Mittel vor,
der nach den allgemeinen Regeln (oben §. 32 V) zu beur-
teilen iſt.20


II.Die Arten des Betruges.


1. Der einfache Betrug (StGB. §. 263). Strafe:
Gefängnis; daneben fakultativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark,
ſowie Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte. Bei mildernden
Umſtänden kann ausſchließlich auf Geldſtrafe erkannt werden.
[295]Der Betrug. §. 73.
Antragsdelikt, wenn gegen Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2)
Vormünder oder Erzieher begangen; Antrag rücknehmbar.


2. Betrug im 2. Rückfall (StGB. §§. 264 und 245)
Vorausſetzungen:


  • a) Zwei inländiſche Vorſtrafen wegen Betrugs.
  • b) Gänzliche oder teilweiſe Verbüßung oder Erlaſſung
    dieſer Strafen.
  • c) Nichteintritt der (10 jährigen) Rückfallsverjährung.21

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren und zugleich
Geldſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark, bei mildernden Um-
ſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten, daneben fakultativ
Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.


3. Der ſogenannte Verſicherungsbetrug (StGB.
§. 265) vorliegend, wenn Jemand in betrügeriſcher Abſicht
eine gegen Feuersgefahr verſicherte Sache in Brand ſetzt, oder
ein Schiff, welches als ſolches oder in ſeiner Ladung oder
in ſeinem Frachtlohn verſichert iſt, ſinken oder ſtranden macht.
Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren und zugleich Geld-
ſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark, bei mildernden Umſtänden
Gefängnis nicht unter 6 Monaten, daneben fakultative Geld-
ſtrafe bis zu 3000 Mark.


Betrügeriſche Abſicht bedeutet den Vorſatz, auf Grund
des Geſchehenen an dem Verſicherer einen Betrug zu be-
gehen. Vom Standpunkte der Betrugsdefinition in StGB.
§. 263 erſcheint die Brandlegung uſw. als Vorbereitungs-
handlung
zum Betrug, die hier — wie in anderen Fällen,
vgl. oben §. 33 IV — vom Geſetzgeber als beſonderes Delikt
unter Strafe geſtellt iſt, ſo daß wir getreu der allgemeinen
Regel (oben §. 33 II) auch hier die Unmöglichkeit eines ſtraf-
[296]Erſtes Buch. III. Delikte gegeu das Vermögen.
baren Verſuches, ebenſo wie die Möglichkeit ſtrafbarer Teil-
nahme (§. 37 I 2 c und II 2) behaupten müſſen. Wird der
geplante Betrug wirklich ausgeführt, ſo kann nach dem oben
§. 40 II c Geſagten nicht etwa Konkurrenz von Verſicherungs-
betrug und einfachem Betrug angenommen werden; die auf
die Vorbereitungshandlung geſetzte Strafe iſt, der Betrugsſtrafe
gegenüber, eine ſo hohe, daß wir vielmehr zu dem Reſultate
gelangen müſſen, die Ausführungshandlung komme der Vor-
bereitungshandlung gegenüber ſtrafrechtlich gar nicht mehr
in Betracht.


2.

§. 74. Die Erpreſſung.1

I.Begriff.


1. Erpreſſung iſt Vermögensbeſchädigung in Be-
reicherungsabſicht durch Nötigung
. Das Mittel der
Vermögensbeſchädigung ſcheidet die Erpreſſung vom Betrug.
Negativ: hier aber nicht dort das mangelnde Bewußtſein
von der Kauſalität des Thuns auf Seiten des Beſchädigten;
poſitiv: dort aber nicht hier das Bewußtſein von der Un-
freiwilligkeit des Thuns. Das Vorhalten einer nicht gela-
denen Piſtole, die Behauptung Vertreter einer gefürchteten
Räuberbande zu ſein uſw., können als Mittel der Erpreſſung
wie des Raubes, nicht des Betruges, in Betracht kommen.


2. Das poſitive Recht hat den Begriff der Erpreſſung
teilweiſe abweichend geſtaltet.


  • a) Es hat die Vermögensbeſchädigung aus der Delikts-
    definition entfernt, und ſich mit der Bereicherungs-
    [297]Die Erpreſſung. §. 74.
    abſicht begnügt. Demnach iſt Erpreſſung: Nötigung
    in Bereicherungsabſicht
    .
  • b) Die Nötigung als Erpreſſung und die Nötigung als
    ſelbſtändiges Delikt (StGB. §. 240; oben §. 63 I)
    decken ſich nicht. Erſteres iſt der weitere Begriff.
    Erpreſſung iſt Nötigung zu Handlung, Duldung,
    Unterlaſſung, begangen
    • 1. durch Gewalt (wie bei der Nötigung) und zwar
      gegen eine, nicht notwendig an einer, Perſon;
    • 2. durch Drohung irgend welcher Art, alſo nicht
      notwendig mit ſtrafbaren oder auch nur rechts-
      widrigen2 Handlungen; während zur Nötigung als
      ſelbſtändigem Delikte Drohung mit Verbrechen
      oder Vergehen erforderlich iſt.

3. Zu den einzelnen Begriffsmerkmalen vgl. das oben
§. 63 I bei der Nötigung und §. 73 I beim Betrug Ge-
ſagte. Die Vollendung tritt mit der erzwungenen Hand-
lung, Duldung, Unterlaſſung ein; Verſuch immer ſtrafbar.


4. Das Verhältnis der Erpreſſung zum Raube
bedarf noch einiger Bemerkungen.


  • a) Die Erpreſſung iſt Vermögensdelikt überhaupt, der
    Raub Eigentumsdelikt. Der letztere iſt auf Wegnahme
    fremder beweglicher Sachen gerichtet, der erſteren iſt
    eine ſolche Beſchränkung fremd. Nach dieſer Richtung
    erſcheint der Betrugsbegriff als der ſpeziellere, und
    geht mithin in der Anwendung dem der Erpreſſung
    vor (vgl. oben §. 40 I a).
  • b) Der Raub charakteriſiert ſich als Wegnehmen, mithin
    als unmittelbare oder mittelbare Selbſtthätigkeit des
    [298]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
    Räubers; die Erpreſſung dagegen als Nötigung,
    mithin nicht notwendig als Selbſtthätigkeit des Er-
    preſſers, ſondern — und zwar ſogar regelmäßig —
    als Herbeiführung der Entſchließung und Thätigkeit
    des zu Beſchädigenden. Auch nach dieſer Richtung
    hin erſcheint mithin der Raub als der engere Begriff.
    Dieſem Unterſchiede entſprechen die Mittel zur Bege-
    hung der beiden Delikte.
    • 1. Gewalt iſt beim Raube Mittel der Wegnahme,
      bei der Erpreſſung möglicherweiſe Mittel der
      Selbſtthätigkeit des Erpreſſers, regelmäßig aber
      Mittel der Einwirkung auf den zu Beſchädigenden.
    • 2. Die Drohung muß beim Raube ſo geartet ſein,
      um die Handlung des Beraubten (Herausgabe)
      als eine unfreie, mithin (vgl. oben §. 20 III) als
      eine den Kauſalzuſammenhang zwiſchen dem Thun
      des Räubers und dem Enderfolge nicht unter-
      brechende erſcheinen zu laſſen; demgemäß verlangt
      das Geſetz beim Raube „Drohung mit gegen-
      wärtiger Gefahr für Leib und Leben“, während
      bei der Erpreſſung die Drohung dieſen Grad
      von Intenſität nicht zu erreichen braucht und
      regelmäßig auch nicht erreicht (vgl. aber unten
      die „räuberiſche Erpreſſung“).

Faſſen wir das unter a und b Geſagte zuſammen,
ſo ergiebt ſich:


    • 1. Erpreſſung liegt vor, wenn es ſich nicht um
      Wegnahme einer fremden beweglichen Sache
      handelt
      , mag auch Gewalt oder Drohung den
      Mitteln des Raubes entſprechen, alſo Selbſt-
      handeln auf Seiten des Thäters gegeben ſein.
    • 2. Erpreſſung liegt vor, auch wenn es ſich um
      Wegnahme einer fremden beweglichen Sache han-
      delt, wenn Gewalt und Drohung dieſem Er-
      forderniſſe nicht entſprechen.
    • 3. Raub iſt nur dann anzunehmen, wenn α) die
      Wegnahme einer fremden beweglichen Sache vor-
      liegt und β) Gewalt oder Drohung die Erlan-
      gung der Sache als eigene Handlung des Thäters
      erſcheinen laſſen.

II. Die Arten der Erpreſſung.


1. Die einfache Erpreſſung (StGB. §. 253).
Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monat.


2. Die qualifizierte Erpreſſung (StGB. §. 254),
wenn durch Bedrohung mit Mord, Brandſtiftung oder Ueber-
ſchwemmung begangen. Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren.


3. Die räuberiſche Erpreſſung (StGB. §. 255),
von der einfachen durch die Intenſität der Mittel, vom
Raube dadurch unterſchieden, daß es ſich nicht um Wegnahme
einer fremden beweglichen Sache handelt (während die Mittel
denen des Raubes entſprechen). Die Mittel ſind:


  • a) Gewalt an3einer Perſon (in homine vgl. oben
    §. 63 I 1 a) wenn auch nicht gerade an der Perſon
    des Genötigten.

[300]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
    Leben.

Strafe: die des Raubes.


4. Ueber die Erpreſſung im Amte (StGB. §. 339)
vgl. unten §. 93 II 4 b.


Neben der wegen Erpreſſung erkannten Gefängnisſtrafe
(in den Fällen 1 und 3) kann auf Verluſt der bürgerlichen
Ehrenrechte; neben der Zuchthausſtrafe (in den Fällen 2
und 3) auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden
(StGB. §. 256).


3.

§. 75. Strafbare Ausbeutung Anderer.

Als Mittel der Vermögensbeſchädigung kennt die Reichs-
geſetzgebung ferner die Ausbeutung des Leichtſinns, der
Unerfahrenheit oder der Notlage Anderer
. Auch in
dieſen Fällen iſt, mag auch eine ſcheinbar freie und bewußte
Handlung des Beſchädigten ſelbſt dazwiſchen liegen, der ein-
getretene Erfolg auf Rechnung des Thäters zu ſetzen; Uner-
fahrenheit und Leichtſinn ſchließen nach Anſicht des Geſetz-
gebers das Bewußtſein von der Kauſalität der Handlung
auf Seite des Beſchädigten, die Notlage ſchließt die Freiheit
ſeiner Beſtimmung, ganz oder wenigſtens teilweiſe, aus. Der
Geſetzgeber nimmt ſomit kraft einer durchaus berechtigten
Analogie Kauſalzuſammenhang zwiſchen dem Thun des Thäters
und der erfolgten Vermögensbeſchädigung an, wo derſelbe,
bei ſtrengem Feſthalten des allgemeinen Grundſatzes (oben
§. 20 III) eigentlich in Abrede geſtellt werden müßte. Er
thut dies aber nur unter beſonderen, genau bezeichneten,
[301]Strafbare Ausbeutung Anderer. §. 75.
Vorausſetzungen, und verwendet die angedeutete Konſtruk-
tion zur Bildung von nur zwei, eng umſchriebenen Delikts-
begriffen.


I.Vermögensbeſchädigung in Bereicherungs-
abſicht durch Benutzung des Leichtſinns und der
Unerfahrenheit Minderjähriger
. Ueber die Bereiche-
rungsabſicht ſiehe oben §. 73 I 3. An Stelle der in unſere
Definition aufgenommenen „Vermögensbeſchädigung“ führt
das Geſetz die einzelnen Handlungen ausſchließend auf, in
welchen es ein für allemale und ohne ſich in eine Unterſuchung
des konkreten Falles einzulaſſen, dieſelbe erblicken zu wollen
erklärt. Demnach liegt das fragliche Delikt vor:


1. Wenn Jemand in gewinnſüchtiger Abſicht1 und unter
Benutzung des Leichtſinnes und der Unerfahrenheit eines
Minderjährigen ſich von demſelben Schuldſcheine, Wechſel,
Empfangsbekenntniſſe, Bürgſchaftsinſtrumente oder eine an-
dere, eine Verpflichtung enthaltende Urkunde aus-
ſtellen oder auch nur mündlich ein Zahlungsver-
ſprechen erteilen läßt
(StGB. §. 301). Strafe: Ge-
fängnis bis zu 6 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 1500 Mark.
Antragsdelikt.


2. Wenn Jemand in gleicher Abſicht und auf gleiche
Weiſe ſich von dem Minderjährigen unter Verpfändung der
Ehre, auf Ehrenwort, eidlich oder unter ähnlichen Ver-
ſicherungen oder Beteuerungen
die Zahlung einer Geld-
ſumme oder die Erfüllung einer anderen, auf Gewährung
geldwerter Sachen gerichteten Verpflichtung aus einem Rechts-
geſchäfte verſprechen läßt (StGB. §. 302). Strafe: Ge-
fängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.
[302]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
Neben Gefängnis Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
zuläſſig. Antragsdelikt.


Gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher ſich eine For-
derung, von der er weiß, daß deren Berichtigung ein Minder-
jähriger in der vorbezeichneten Weiſe verſprochen hat, abtreten
läßt. Antragsdelikt.


II.Wucher,2 ſtrafbar nach dem Geſetz vom 24. Mai 1880;
ausgegeben am 31. Mai 1880; in Kraft vom 14. Juni 1880.


Wucher liegt vor, wenn Jemand unter Ausbeutung der
Notlage, des Leichtſinns oder der Unerfahrenheit eines
Anderen
3 für ein Darlehen oder im Falle der
Stundung einer Geldforderung
ſich oder einem Dritten
Vermögensvorteile verſprechen oder gewähren läßt, welche den
üblichen Zinsfuß dergeſtalt überſchreiten, daß nach den Um-
ſtänden des Falles die Vermögensvorteile in auffäl-
ligem Mißverhältniſſe zu der Leiſtung ſtehen
.


Fälle des Wuchers.


1. Einfacher Fall (StGB. §. 302 a). Gefängnis bis
zu 6 Monaten und Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. Ab-
erkennung der Ehrenrechte fakultativ.


2. Qualifizierter Fall (StGB. §. 302 b); vorliegend,
wenn Jemand ſich oder einem Dritten die wucherlichen Ver-
mögensvorteile verſchleiert oder wechſelmäßig oder unter Ver-
pfändung der Ehre, auf Ehrenwort, eidlich oder unter ähn-
lichen Verſicherungen oder Beteuerungen verſprechen läßt.
Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre und Geldſtrafe bis
zu 6000 Mark. Aberkennung der Ehrenrechte fakultativ.


[303]Strafbare Ausbeutung Auderer. §. 75.

3. Gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger (Begriffe
oben §. 39 II 3) Wucher (StGB. §. 302 d). Strafe:
Gefängnis nicht unter 3 Monaten und Geldſtrafe von 150
bis zu 15000 Mark. Aberkennung der Ehrenrechte obliga-
toriſch (vgl. oben §. 51 I S. 202).


4. Die unter 1 und 2 angeführten Strafen treffen auch
denjenigen, welcher mit Kenntnis des Sachverhaltes eine
(wenn auch vor dem 14. Juni 1880 entſtandene) Forderung
der angegebenen Art (nach dem 14. Juni 1880) erwirbt und
entweder a) dieſelbe weiter veräußert, oder b) die wucherlichen
Vermögensvorteile geltend macht4 (StGB. §. 302 c).


5. Im Zuſammenhange mit den Strafbeſtimmungen gegen
Wucher ſteht §. 360 Ziff. 12 StGB. in der neuen, durch
das Geſetz vom 24. Mai 1880 beſtimmten Faſſung:


Wer als Pfandleiher oder Rückkaufshändler bei Aus-
übung ſeines Gewerbes den darüber erlaſſenen Anordnungen
zuwiderhandelt, insbeſondere den durch Landesgeſetz oder
Anordnung der zuſtändigen Behörde beſtimmten Zinsfuß
überſchreitet
, wird mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder
Haft beſtraft.5


[304]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
4.

§. 76. Das Glücksſpiel.

Als eine Gefährdung eigenen und fremden Ver-
mögens
reiht ſich das Glücksſpiel an die übrigen Ver-
mögensdelikte. Der Geſetzgeber wacht über den Vermögens-
intereſſen der Staatsbürger, wenn dieſe ſelbſt die nötige
Vorſicht aus den Augen laſſen. Aber, ſich wohl bewußt, daß
es ſich dabei um eine polizeiliche Bevormundung der freien
Selbſtbeſtimmung Mündiger handle, bedroht das moderne
Recht nicht das einfache Selbſtſpielen, ſondern — wenn wir
von der Beſtrafung des gewerbsmäßigen Glücksſpiels abſehen
— nur die Gewährung der Gelegenheit zum Glücks-
ſpiel durch dritte Perſonen unter gewiſſen Vorausſetzungen
mit Strafe. Strafbar iſt:


I. Das unbefugte Halten von Glücksſpielen auf
einem öffentlichen Wege, einer Straße, einem öffentlichen
Platze oder in einem öffentlichen Verſammlungsorte (StGB.
§. 360 Ziff. 14). Strafe: Geld bis zu 150 Mark oder Haft;
Einziehung der auf dem Spieltiſche oder in der Bank be-
findlichen Gelder, ohne Unterſchied, ob ſie dem Verurteilten
gehören oder nicht, fakultativ (vgl. oben §. 50 II).


II. Das gewerbsmäßige (Begriff oben §. 39 II c)
Glücksſpiel (StGB. §. 284). Strafe: Gefängnis bis zu
2 Jahren, daneben fakultativ Geldſtrafe von 300 bis zu
6000 Mark und Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte. Iſt der
Verurteilte ein Ausländer, ſo iſt die Landespolizeibehörde
befugt, denſelben aus dem Reichsgebiete auszuweiſen (oben
§. 49 III); Rückkehr des Verwieſenen iſt (nach StGB. §. 361
Ziff. 2) ſtrafbar.


[305]Das Glücksſpiel. §. 76.

III. Der Inhaber eines öffentlichen Verſamm-
lungsortes
, welcher Glücksſpiele daſelbſt geſtattet oder
zur Verheimlichung ſolcher Spiele mitwirkt (StGB. §. 285).
Strafe: Geld bis zu 1500 Mark.


IV. Das öffentliche Veranſtalten von Ausſpie-
lungen
beweglicher oder unbeweglicher Sachen ohne obrig-
keitliche Erlaubnis; insbeſondere das Veranſtalten von öffent-
lichen Lotterien,1 d. i. das Ausſpielen von Geldpreiſen
(StGB. §. 286). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren oder
Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.


Die Ausſpielung iſt eine öffentliche, wenn die Betei-
ligung einer, wenn auch ziffermäßig abgegrenzten Zahl von
individuell nicht beſtimmten Perſonen zugänglich iſt.2


Eine Ausſpielung liegt auch dann vor, wenn der Preis
für den Hoffnungskauf mit dem Preis für eine wirkliche
Gegenleiſtung in eine einheitliche Summe zuſammengeſchmolzen
iſt; z. B. Verbindung der Ausſpielung mit einer Theater-
vorſtellung,3 mit der Subſcription auf ein Lieferungswerk uſw.


Auch die durch Beteiligung an einer anderen (vielleicht
ſogar geſtatteten) Lotterie erworbene Gewinnſthoffnung kann
zum Gegenſtande weiterer (ſtrafbarer) Ausſpielung gemacht
werden (Partialſcheine, Promeſſen u. dgl.).4


Bewußtſein der Rechtswidrigkeit im Allgemeinen
iſt auch hier nicht erforderlich (oben §. 28 II), wohl aber
das Bewußtſein, ohne obrigkeitliche Genehmigung eine öffent-
liche Lotterie zu veranſtalten.


Das Delikt iſt vollendet in dem Augenblicke, in
von Liszt, Strafrecht. 20
[306]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
welchem die Anteilsſcheine dem Publikum zugänglich gemacht
ſind.5


Die landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche das
Spielen in auswärtigen6 Lotterien, das Auffordern hiezu,
das Ankündigen derſelben uſw. mit Strafe bedrohen, ſind
durch die, durchaus nicht abſchließende Regelung dieſer Ma-
terie im RStGB. (oben §. 11 I) nicht berührt worden.
So bleiben z. B. in Kraft die preußiſchen Verordnungen
vom 5. Juli 1847 (für die alten) und vom 25. Juni 1867
Art. IV (für die neuen Provinzen).7 Ueber den Begehungs-
ort dieſer Delikte vgl. oben §. 19 IV.


V. Das Geſetz vom 8. Juni 1871 betreffend die In-
haberpapiere mit Prämien
verbietet in §. 6:


1. Das Ausgeben von auf den Inhaber lautenden
Schuldverſchreibungen, in welchen allen Gläubigern oder
einem Teile derſelben außer der Zahlung der verſchriebenen
Geldſumme eine Prämie dergeſtalt zugeſichert wird, daß durch
Ausloſung oder durch eine andere auf den Zufall geſtellte
Art der Ermittlung die zu prämiirenden Schuldverſchrei-
bungen und die Höhe der ihnen zufallenden Prämie be-
ſtimmt werden ſollen, innerhalb des deutſchen Reiches,
wenn das Ausgeben nicht auf Grund eines Reichs-
geſetzes
und zum Zwecke der Anleihe eines Bundes-
ſtaates oder des Reiches
erfolgt.


Strafe: Geldſtrafe, welche dem 5. Teile des Nenn-
[307]Die Partiererei. §. 77.
wertes der den Gegenſtand der Zuwiderhandlung bildenden
Papiere gleichkommt, mindeſtens aber 300 Mark betragen ſoll.


2. Das Weiterbegeben ſolcher Papiere, welche


  • a) im Inlande nach Verkündigung des Geſetzes vom
    8. Juni 1871,
  • b) im Auslandenach dem 30. April 1871

ausgegeben worden ſind. Gleichgeſtellt iſt der Fall, wenn
ſolche Papiere an den Börſen oder an anderen zum Ver-
kehre mit Wertpapieren beſtimmten Verſammlungsorten zum
Gegenſtande eines Geſchäfts oder einer Geſchäftsvermittlung
gemacht werden.


Strafe: wie zu 1.


3. Das Weiterbegeben von ſolchen Papieren, die im
Auslande vor dem 1. Mai 1871 ausgegeben und nicht ab-
geſtempelt ſind. Derſelbe Fall wie zu 2 gleichgeſtellt. Die
Strafbarkeit beginnt mit dem 14. Juli 1871.


Strafe: wie zu 1.


4. Die öffentliche Ankündigung, Ausbietung,
Empfehlung
von den unter 2 und 3 angeführten Pa-
pieren ſowie die Notierung derſelben zur Feſtſtellung eines
Kurswertes.


Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis
bis zu 3 Monaten.


5.

§. 77. Die Partiererei.1

I.Begriff.


1. Von der Reichsgeſetzgebung in eine durchaus unge-
rechtfertigte Verbindung mit der Begünſtigung — durch Auf-
[308]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
ſtellung des Zwitterbegriffs der Hehlerei — gebracht, bean-
ſprucht die Partiererei ſelbſtändige Stellung unter den Ver-
mögensdelikten. Sie iſt Perpetuierung, in den meiſten
Fällen ſogar Vertiefung, einer rechtswidrigen Ver-
mögenslage
.


Sie tritt zu einer bereits erfolgten Vermögensbeſchädigung2
hinzu, ſetzt dieſe begrifflich voraus, bringt aber das dem Be-
rechtigten entzogene Vermögensobjekt in noch weitere Ent-
fernung von ſeiner Verfügungsgewalt.


2. Die Partiererei (StGB. §. 259) beſteht entweder in
dem Verheimlichen,3Ankaufen, Zum-Pfande-Neh-
men, An-Sich-Bringen von mittels einer ſtraf-
baren Handlung erlangten Sachen um des eigenen
Vorteils
4 (nicht notwendig, wenn auch regelmäßig Ver-
mögensv
orteils) willen, oder aber darin, daß in gleicher
Abſicht zu deren Abſatz bei Anderen mit gewirkt wird.


Das Delikt erſtreckt ſich lediglich auf jene individuell be-
ſtimmten Sachen, die unmittelbar durch die betreffende ſtraf-
bare Handlung erlangt wurden;5 nicht aber auf andere an
deren Stelle getretene Sachen, wie den aus denſelben gewonnenen
Erlös,6 oder Forderungen, deren Ceſſion z. B. durch Betrug
bewirkt worden uſw.


Die Sachen müſſen durch eine ſtrafbare Handlung
erlangt ſein
, ſie müſſen den Charakter ihres ſtrafbaren
[309]Die Partiererei. §. 77.
Erwerbes bereits an ſich tragen, dieſe ſtrafbare Erwerbungs-
Handlung muß demnach zeitlich der Partiererei vorangehen.7


Die Natur der ſtrafbaren Handlung iſt gleichgültig; ſie
kann Eigentumsdelikt oder irgend ein anderes Vermögens-
delikt ſein; ſie braucht aber überhaupt nicht gegen das Ver-
mögen gerichtet ſein (z. B. Verheimlichung von durch einen
Mord erlangten Sachen). Feſtſtellung der ſtrafbaren Hand-
lung, wenigſtens der Gattung nach, im Urteile iſt ſelbſtver-
ſtändlich erforderlich.8


Iſt die Sache durch ein Antragsdelikt erlangt worden,
ſo haben wir die Bedeutung des Antrages als einer Be-
dingung der Strafbarkeit (oben §. 31) im Auge zu behalten.
Wird der Antrag nicht geſtellt, ſo liegt eine durch eine ſtraf-
bare
Handlung erlangte Sache nicht vor, mithin auch keine
Partiererei; wird er nachträglich geſtellt, ſo iſt die Er-
langungshandlung ex tunc eine ſtrafbare, und eben darum
das in der Zwiſchenzeit erfolgte Verheimlichen als ſtrafbare
Partiererei zu betrachten.


3. Die Partiererei kann vorſätzlich oder fahrläſſig
begangen werden:


  • a) Der Vorſatz beſteht in dem Bewußtſein von der
    Kauſalität des Thuns; der Thäter muß wiſſen, nicht
    nur daß er Sachen verheimlicht, verkauft uſw., ſondern
    auch daß dieſe Sachen durch eine ſtrafbare Handlung
    erlangt ſind. Kenntnis dieſer Handlung nach Art und
    Umſtänden kann dagegen nicht gefordert werden.9

[310]Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Auch die fahrläſſige Partiererei iſt ſtrafbar. Aber
    nicht jede Fahrläſſigkeit, auch nicht nur die culpa lata10
    fällt unter das Geſetz; ſondern nur ein ganz beſtimmter
    Fall des fahrläſſigen Verhaltens: „wenn der Thäter
    den Umſtänden nach annehmen muß
    , daß die
    Sache durch eine ſtrafbare Handlung erlangt iſt“.
    Straflos bliebe z. B. derjenige, der nicht weiß, daß er
    zum Abſatze der (wie ihm bekannt) geſtohlenen Sache
    mitwirkt, obwohl er bei einiger Aufmerkſamkeit dies
    hätte bemerken können.11

4. Die Partiererei iſt vollendet, ſobald eine der im
Geſetze angeführten Thätigkeiten geſetzt iſt, ſobald die Sache
einen weiteren Schritt aus dem Machtbereiche des Be-
rechtigten gemacht hat. Die folgenden Kreuz- und Quer-
läufe der Sache ſind juriſtiſch irrelevant. Wenn alſo A eine
geſtohlene Sache am 1. Januar in Frankreich angekauft und
am 1. Juli in Deutſchland weiter verkauft hat, ſo kann er
nur wegen jenes Ankaufes, nicht wegen dieſes Verkaufes
zur Verantwortung gezogen werden.12


II.Die Arten der Partiererei.


1. Die einfache Partiererei (StGB. §. 259). Strafe:
Gefängnis.


[311]Die Partiererei. §. 77.

2. Die gewerbs- oder gewohnheitsmäßige (Be-
griff oben §. 39 II 3) Partiererei (StGB. §. 260). Strafe:
Zuchthaus bis zu 10 Jahren.


3. Partiererei im 2. Rückfall (StGB. §. 261).
Strafe:


  • a) Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Um-
    ſtänden Gefängnis nicht unter einem Jahre, wenn ſich
    die letzte Handlung auf einen ſchweren Diebſtahl
    (StGB. §. 243), einen Raub, oder ein dem Raube
    gleich zu beſtrafendes Verbrechen (räuberiſcher Diebſtahl,
    räuberiſche Erpreſſung) bezieht.
  • b) Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Um-
    ſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten in allen
    anderen Fällen.

In Bezug auf die Vorſtrafen ſtehen Partiererei und
Hehlerei einander gleich. Im Uebrigen iſt das oben §. 64
II 3 Geſagte (StGB. §. 245) auch hier anzuwenden.


4. Ein der Partiererei verwandtes Delikt bedroht StGB.
§. 370 Ziff. 3: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft trifft
denjenigen, der von einem zum Dienſtſtande gehörenden Unter-
offizier oder Gemeinen des Heeres oder der Marine ohne
ſchriftliche Erlaubnis des vorgeſetzten Kommandeurs Mon-
tierungs- oder Armaturſtücke kauft oder zum Pfande nimmt.


[312]Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.

IV. Verletzung der Individualrechte.1


1.

§. 78. Verletzung des Autorrechtes.

Quelle: Geſetz betreffend das Urheberrecht an Schrift-
werken, Abbildungen, muſikaliſchen Kompoſitionen und drama-
tiſchen Werken vom 11. Juni 1870.


Das Geſetz findet Anwendung (§. 61) 1. auf alle Werke
inländiſcher Urheber, mögen ſie im Inlande oder Aus-
lande erſchienen2 oder überhaupt noch nicht veröffentlicht
ſein; 2. auf Werke ausländiſcher Urheber, wenn ſie bei
Verlegern erſcheinen, die im Gebiete des deutſchen Reiches
ihre Handelsniederlaſſung haben (vgl. oben §. 13 III).


I.Der eigentliche Nachdruck.


1. Nachdruck iſt die mechaniſche Vervielfältigung
a) eines Schriftwerkes;b) geographiſcher, topographi-
[313]Verletzung des Autorrechtes. §. 78.
ſcher, naturwiſſenſchaftlicher, architektoniſcher, techniſcher und
ähnlicher Zeichnungen und Abbildungen, welche nach
ihrem Hauptzwecke nicht als Kunſtwerke zu betrachten ſind;
c) muſikaliſcher Kompoſitionen; ohne Genehmigung
des Berechtigten, in der Abſicht
, den Nachdruck inner-
halb oder außerhalb des deutſchen Reiches zu verbreiten
(§§. 4—7, 18; 43 f., 45 ff.).


Dem Nachdrucke ſteht gleich die unbefugte öffentliche
Aufführung eines dramatiſchen, muſikaliſchen
oder dramatiſch-muſikaliſchen Werkes
, mag die
Aufführung eine vollſtändige ſein oder mit unweſentlichen
Aenderungen vor ſich gehen (§§. 50 und 54).


2. Strafbar iſt die vorſätzliche oder fahrläſſige
Veranſtaltung
eines Nachdrucks (Thäterſchaft), ſowie die
vorſätzliche oder fahrläſſige Veranlaſſung (Anſtif-
tung) eines Anderen zur — ſei es vorſätzlichen oder fahr-
läſſigen, ſei es ſchuldloſen — Veranſtaltung eines Nachdrucks
(§§. 18, 20, 54). Daß wir es hier mit einer durchaus
ſingulären Abweichung von den allgemeinen Grundſätzen
über Teilnahme zu thun haben (fahrläſſige Anſtiftung einer-
ſeits, Anſtiftung zu fahrläſſigem Delikt andererſeits), wurde
bereits oben §. 35 Note 3 bemerkt.


3. Strafe für Veranſtaltung wie Veranlaſſung: Geld-
ſtrafe bis zu 3000 Mark, die im Falle der Uneinbringlichkeit
nach Maßgabe der allgemeinen Strafgeſetze in eine entſpre-
chende Freiheitsſtrafe bis zu 6 Monaten umzuwandeln iſt.
Rückfallsſchärfung iſt ausgeſchloſſen (§. 23).


4. Der Veranſtalter bleibt ſtraffrei, wenn er auf Grund
entſchuldbaren, thatſächlichen oder rechtlichen Irrtums in
gutem Glauben gehandelt hat (§. 18 Abſ. 2). Somit ſchließt
auch der Mangel des Bewußtſeins der Rechtswidrigkeit,
[314]Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.
wenn derſelbe auf einem entſchuldbaren Irrtume beruht, die
Strafbarkeit aus (vgl. oben §. 28 II).


5. Statt der Entſchädigung kann neben der Strafe auf
Verlangen des Beſchädigten auf eine an dieſen zu erlegende
Geldbuße bis zum Betrage von 6000 Mark erkannt
werden. Die zu derſelben Verurteilten haften als Geſammt-
ſchuldner. Zuerkennung der Buße ſchließt die Geltend-
machung eines weiteren Entſchädigungsanſpruches aus (§§. 18
und 54).


Dagegen beſteht die Entſchädigung, welche dem Berech-
tigten im Falle der unbefugten öffentlichen Aufführung eines
dramatiſchen uſw. Werkes zu gewähren iſt, in dem ganzen
Betrage der Einnahme von jeder Aufführung ohne Abzug
der auf dieſelbe verwendeten Koſten (§. 55); vgl. oben §. 42
II a. E.).


6. Die vorrätigen Nachdrucksexemplare und die zur
widerrechtlichen Vervielfältigung ausſchließlich beſtimmten
Vorrichtungen unterliegen der Einziehung (§. 21), und
ſind nachdem auf dieſe rechtskräftig erkannt worden iſt,
entweder zu vernichten oder ihrer gefährdenden Form zu
entkleiden und alsdann dem Eigentümer zurückzugeben. Die
Einziehung erſtreckt ſich auf alle Exemplare und Vorrichtungen,
die ſich im Eigentume des Veranſtalters des Nachdruckes,
des Druckers, der Sortimentsbuchhändler, der gewerbsmäßigen
Verbreiter und desjenigen, der den Nachdruck veranlaßt hat,
befinden.


Die Einziehung tritt auch dann ein, wenn der Veran-
ſtalter oder Veranlaſſer des Nachdruckes weder vorſätzlich noch
fahrläſſig gehandelt hat. Sie erfolgt auch gegen die Erben
desſelben.


[315]Verletzung des Autorrechtes. §. 78.

Der Antrag auf Einziehung iſt ſo lange zuläſſig (§. 36),
als ſolche Exemplare oder Vorrichtungen vorhanden ſind.


7. Das Vergehen des Nachdruckes iſt vollendet, ſobald
ein Nachdrucksexemplar hergeſtellt worden iſt (§. 22). Im
Falle des Verſuches tritt weder Beſtrafung noch Entſchä-
digungsverbindlichkeit ein. Die Einziehung der Vorrichtungen
erfolgt jedoch auch in dieſem Falle.


8. Der Nachdruck iſt Antragsdelikt. Antrag rück-
nehmbar bis zur Verkündigung eines auf Strafe lautenden
Erkenntniſſes (§. 27). Antragsberechtigt iſt jeder in ſeinem
Urheber- oder Verlagsrechte Beeinträchtigte (§. 28). Das
Antragsrecht entfällt, wenn der Antrag nicht binnen 3 Mo-
naten nach erlangter Kenntnis von dem begangenen Ver-
gehen und von der Perſon des Thäters geſtellt wird (§. 36).


9. Das Vergehen des Nachdruckes verjährt in 3 Jahren,
von dem Tage, an welchem die Verbreitung der Nachdrucks-
exemplare zuerſt ſtattgefunden hat (§. 33).


II. Vorſätzliche oder fahrläſſige Unterlaſſung der
Quellenangabe
(§. 24), ſoweit dieſe bei geſtattetem Ab-
drucke bereits veröffentlichter Schriften vorgeſchrieben iſt
(§. 7 a), wird an dem Veranſtalter und Veranlaſſer des Ab-
druckes mit Geldſtrafe bis zu 60 Mark geahndet. Um-
wandlung in Freiheitsſtrafe ausgeſchloſſen (vgl. oben §. 55
I a. E.). Eine Entſchädigungspflicht tritt nicht ein. An-
tragsdelikt
; das oben I 8 Geſagte findet auch hier An-
wendung. Das Delikt verjährt in 3 Monaten von dem
Tage, an welchem der Abdruck zuerſt verbreitet worden
iſt (§. 37).


III. Das vorſätzliche Verbreiten von Nachdrucks-
exemplaren
(das gewerbsmäßige Feilhalten, Verkaufen uſw.).
Strafe: wie oben I 3; Geldbuße wie oben I 5. Ein-
[316]Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.
ziehung findet auch dann ſtatt, wenn der Verbreiter nicht
vorſätzlich gehandelt hat. Veranſtalter und Veranlaſſer des
Nachdruckes trifft Entſchädigungspflicht und Strafe, wenn ſie
nicht ſchon als ſolche entſchädigungspflichtig und ſtrafbar
ſind (§. 25).


Antragsdelikt: wie oben I 8. Die Verjährung
tritt in 3 Jahren von dem Tage ein, an welchem die Ver-
breitung zuletzt ſtattgefunden hat.


2.

§. 79. Die übrigen Fälle.

I.Verletzung des Urheberrechtes an Werken
der bildenden Künſte
, nach dem Geſetz vom 9. Januar
1876 §. 5 begangen durch unbefugte Nachbildung eines ſolchen
Werkes in der Abſicht, dieſelbe zu verbreiten. Das oben
§. 78 I 2—9, II und III Geſagte, findet auch hier An-
wendung (§. 16).


II.Verletzung der Urheberrechtes an Photo-
graphien
, nach dem Geſetz vem 10. Januar 1876 §. 3
begangen durch unbefugte mechaniſche Nachbildung eines pho-
tographiſchen Werkes in Verbreitungsabſicht. Auch hier gelten
die oben §§. 78 I 2—9, II und III angeführten Grundſätze
(§. 9).


III.Verletzung des Urheberrechtes an Muſtern
und Modellen
, nach dem Geſetz vom 11. Januar 1876
§. 5 begangen durch unbefugte Nachbildung eines Muſters
oder Modelles in Verbreitungsabſicht. Das oben §. 78 I
2—9, II
und III Geſagte iſt auch hier anzuwenden (§. 14).


IV.Verletzung des Namen-, Firmen- oder
[317]Die übrigen Fälle. §. 79.
Markenrechtes.1 Nach §. 14 des Geſetzes vom 30. No-
vember 1874, der an Stelle des §. 287 StGB. getreten iſt,
wird derjenige, welcher:


  • a) Waaren oder deren Verpackung wiſſentlich mit einem
    nach Maßgabe dieſes Geſetzes zu ſchützenden Waaren-
    zeichen
    , oder mit dem Namen oder der Firma
    eines inländiſchen Produzenten oder Handeltreibenden
    widerrechtlich bezeichnet, oder
  • b) dergleichen widerrechtlich bezeichnete Waaren in Ver-
    kehr bringt oder feilhält
    ,

mit Geldſtrafe von 150 bis zu 3000 Mark oder mit Ge-
fängnis bis zu 6 Monaten beſtraft.


Die Verfolgung tritt nur auf Antrag des verletzten
Produzenten oder Handeltreibenden ein.2


Statt der Entſchädigung kann neben der Strafe auf Ver-
langen des Beſchädigten auf eine an dieſen zu erlegende
Buße bis zum Betrage von 5000 Mark erkannt werden.
Die zu derſelben Verurteilten haften als Geſammtſchuldner.
Die Zuerkennung ſchließt die Geltendmachung eines weiteren
Entſchädigungsanſpruches aus (§. 15).


In dem verurteilenden Erkenntniſſe iſt (§. 17) auf Antrag
des Verletzten bezüglich der im Beſitze des Verurteilten be-
ſindlichen Waaren auf Vernichtung der Zeichen auf
der Verpackung oder den Waaren, oder wenn die Beſeitigung
der Zeichen in anderer Weiſe nicht möglich iſt, auf Ver-
[318]Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.
nichtung der Verpackung oder der Waaren ſelbſt
zu erkennen
.


Ferner iſt (§. 17) dem Verletzten die Befugnis zuzu-
ſprechen, die Verurteilung auf Koſten des Verurteilten öf-
fentlich bekannt zu machen
. Die Art der Bekannt-
machung und die Friſt zu derſelben iſt in dem Urteile zu be-
ſtimmen (vgl. oben §. 42 II 2).


V. Die Verletzung des Patentrechtes.3 Geſetz vom
25. Mai 1877. Die Erteilung eines Patentes (ſie findet
nach §. 1 ſtatt für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche
Verwertung geſtatten) hat die Wirkung, daß niemand befugt
iſt, ohne Erlaubnis des Patentinhabers den Gegenſtand der
Erfindung gewerbsmäßig herzuſtellen, in Verkehr zu bringen
oder feilzuhalten, bez. das erfundene Verfahren anzuwenden
oder den Gegenſtand der Erfindung zu gebrauchen (§. 4).


1. Wer unbefugt und wiſſentlich eine patentierte Erfindung
in Gebrauch nimmt, wird (§. 34) mit Geldſtrafe bis zu
5000 Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft.
Antragsdelikt.


Oeffentliche Bekanntmachung der Verurteilung (§. 35)
wie oben unter IV. Statt der Entſchädigung kann (§. 36)
auf Buße bis zu 10000 Mark erkannt werden. Weiterer
Entſchädigungsanſpruch in dieſem Falle ausgeſchloſſen. Mehrere
Verurteilte haften als Geſammtſchuldner.


Die Klagen wegen Verletzung des Patentrechtes ver-
jähren
(§. 38) rückſichtlich jeder einzelnen dieſelbe begrün-
denden Handlung in drei Jahren.


2. Nicht als die Verletzung eines Individualrechtes, ſon-
dern als eine Gefährdung der Intereſſen des Pu-
[319]Delikte gegen die Ehre. §. 80.
blikums haben wir die — nur des Zuſammenhanges wegen
an dieſer Stelle behandelte — Simulierung des Patent-
ſchutzes
(§. 40) zu betrachten. Mit Geldſtrafe bis zu
150 Mark oder Haft wird beſtraft:


  • a) Wer Gegenſtände oder deren Verpackung mit einer Be-
    zeichnung verſieht, welche geeignet iſt, den Irrtum zu
    erregen, daß die Gegenſtände durch ein Patent geſchützt
    ſeien;
  • b) wer in öffentlichen Anzeigen, auf Aushängeſchildern,
    auf Empfehlungskarten oder in ähnlichen Kundgebungen
    eine Bezeichnung anwendet, welche geeignet iſt, den
    gleichen Irrtum zu erregen.

V. Strafbare Handlungen gegen immaterielle
Rechtsgüter.


1.

§. 80. Gegen die Ehre.1

I.Begriff.


Ehre als Rechtsgut iſt das rechtlich geſchützte In-
tereſſe des Einzelindividuums oder der Indivi-
duengruppe, als die eingenommene Stellung voll-
kommen ausfüllend betrachtet und behandelt zu
werden
.


In dieſer Definition liegt — im Gegenſatze zu der herr-
ſchenden Anſicht — ausgedrückt, daß Ehre im Rechtsſinne
und „Menſchenwürde“ oder „bürgerliche Achtung“ nicht
[320]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
identiſche Begriffe ſind. Die Ehre trägt vielmehr einen höchſt-
perſönlichen, durchaus individuellen Charakter; und gerade in
dieſer ſubjektiven Baſis unſeres modernen Ehrgefühles (welche
durch eine gewiſſe Ueberſpannung desſelben bedingt iſt und
umgekehrt wieder dieſe fördert) liegt der charakteriſtiſche Unter-
ſchied des heutigen Ehrbegriffes gegenüber der römiſchen
Bürgerehre wie der germaniſchen Genoſſenehre. Der Inhalt
der Ehre iſt nach der hier vertretenen Auffaſſung ein anderer,
wenn es ſich um den Bauer oder den Handwerker, den Of-
fizier oder den Fabriksherrn, den Staatsmann oder den Ge-
lehrten, den Beamten oder den Studenten handelt. Mit Recht
hat das RGR. (1. November 1879, R I 28) in der Aeußerung
über eine Rede Bismarcks: „eine ſolche Rede könne jeder
Schornſteinfeger halten“ eine Beleidigung des Reichskanzlers
erblickt, ohne damit der Menſchenwürde oder bürgerlichen
Ehrenhaftigkeit der Schornſteinfeger nahezutreten.


Die Ehre iſt ein Rechtsgut, aber kein ſubjektives Recht.
Der Rechtsſchutz der Ehre erſchöpft ſich in dem Schutze gegen
Verletzung. Der Ehre ſteht rechtlich kein poſitiver Anſpruch
auf Achtung, ſondern nur ein negativer Anſpruch auf Nicht-
ausdruck
der Nichtachtung, auf Nichtverletzung gegen-
über. Sie iſt in Geld nicht abſchätzbar (die Buße iſt Ge-
nugthuung für den Angriff, nicht Wiederherſtellung der ver-
minderten Ehre), nicht negoziabel: ein rein immaterielles
Rechtsgut
.


Das poſitive Recht ſchützt regelmäßig, von beſonderer An-
ordnung abgeſehen, nur die Ehre des Einzelindividuums,
nicht die der Individuengruppen.2 Ausnahmen finden ſich:


[321]Delikte gegen die Ehre. §. 80.
  • 1. StGB. §§. 196, 197 Beleidigung von Behörden
    und politiſchen Körperſchaften;
  • 2. StGB. §. 187 Gefährdung des Kredits von Handels-
    geſellſchaften
    ;
  • 3. StGB. §. 189 Schutz der Familienehre.

II.Arten der ſtrafbaren Handlungen gegen die
Ehre
.


1. Die Ehrverletzung (StGB. §. 185) oder die Be-
leidigung im eigentlichen Sinne; der Ausdruck der Nichtachtung,
mag derſelbe in der Form eines Urteils oder in der Form
einer das Urteil in ſich ſchließenden Thatſachenbehauptung er-
folgen.


Der Vorſatz (fahrläſſige Beleidigung iſt denkbar, aber
nicht ſtrafbar) beſteht auch hier lediglich in dem Bewußtſein
von der Kauſalität des Thuns; eine darüber hinausgehende
Abſicht, ein ſogenannter animus injuriandi, iſt nicht er-
forderlich.3


Die Beleidigung iſt vollendet, ſobald der Ausdruck der
Nichtachtung zur Kenntnis des Beleidigten oder einer dritten
Perſon gelangt iſt. Der Verſuch iſt nicht ſtrafbar. War der
gewählte Ausdruck nicht geeignet, das Auszudrückende aus-
zudrücken, ſo würde nur (ſtrafloſer) Verſuch vorliegen. Dabei
muß aber die Anſchauungsweiſe der betreffenden Kreiſe, darf
nicht etwa ein objektiver Maßſtab zu Grunde gelegt werden.4


Strafe:


  • a) Geldſtrafe bis zu 600 Mark, oder Haft oder Gefängnis
    bis zu einem Jahre;

von Liszt, Strafrecht. 21
[322]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
  • b) wenn mittels einer Thätlichkeit, d. h. mittels eines
    unmittelbar gegen den Körper des zu Beleidigenden
    gerichteten, wenn auch fehlgeſchlagenen Angriffes be-
    gangen, Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis
    bis zu 2 Jahren. Der verſchiedene Vorſatz ſcheidet die
    Realinjurie und die Körperverletzung; iſt — was wohl
    in der Regel der Fall ſein dürfte — das Bewußtſein
    vorhanden, daß die Handlung nach beiden Richtungen
    hin kauſal ſein werde, ſo giebt nach dem oben §. 40
    III Geſagten der höhere Strafſatz den Ausſchlag.

2. Die Gefährdung der Ehre durch üble Nachrede
(StGB. §. 186), d. i. das Behaupten oder Verbreiten von
nicht erweislich wahren Thatſachen („Thatſache“ vgl. oben §. 73
S. 290) in Beziehung auf einen Anderen, welche denſelben ver-
ächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herab-
zuwürdigen geeignet ſind. Die üble Nachrede iſt nicht Ver-
letzung, ſondern Gefährdung der Ehre; nicht Ausdruck der
Nichtachtung, ſondern Mitteilung des Materiales, das An-
dere
zur Nichtachtung veranlaſſen kann. Sie kann daher
nicht gegenüber dem Betroffenen,5 ſondern nur in Bezug
auf ihn gegenüber dritten Perſonen, begangen werden; und iſt
vollendet mit der Behauptung oder Verbreitung der That-
ſachen. Daher iſt ferner — im Gegenſatze zu dem oben unter 1
Geſagten — nicht die Anſchauung derjenigen Kreiſe, für
welche die Aeußerung zunächſt berechnet iſt, ſondern die des ob-
jektiv urteilenden Publikums maßgebend.6 Der Vorſatz muß
auch das Bewußtſein, die Thatſachen ſeien nicht erweislich
wahr
umfaſſen. Hält der Behauptende die Thatſachen für
[323]Delikte gegen die Ehre. §. 80.
erweislich wahr, während ſie es in Wirklichkeit nicht ſind, ſo
kann Fahrläſſigkeit vorliegen, die nach der Faſſung des
§. 186 ebenfalls ſtrafbar iſt.


Strafe:


  • a) Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Haft oder Gefängnis
    bis zu einem Jahre;
  • b) wenn
    • α) öffentlich, d. i. vor unbeſtimmt welchen und
      unbeſtimmt wie vielen Perſonen oder
    • β) durch Verbreitung von Schriften, Abbil-
      dungen oder Darſtellungen 7 begangen,

    Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu
    2 Jahren.

3. Die Gefährdung der Ehre durch Verleumdung
(StGB. §. 187), von der üblen Nachrede unterſchieden:


  • a) dadurch, daß an Stelle der „nicht erweislich wahren“
    Thatſachen „unwahre“ Thatſachen treten;
  • b) durch das Hinzukommen der mala fides, des Wiſſens
    von der Unwahrheit der behaupteten oder verbreiteten
    Thatſachen (kann daher nur vorſätzlich begangen
    werden).

Im Uebrigen deckt ſich der Thatbeſtand der Verleumdung
mit jenem der üblen Nachrede.


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren; wenn die oben
zu 2 b angeführten Qualifikationen vorliegen, Gefängnis nicht
unter einem Monate. Bei mildernden Umſtänden kann die
Strafe bis auf einen Tag Gefängnis ermäßigt, oder auf
Geldſtrafe bis zu 900 Mark erkannt werden.


4. Die Gefährdung des Kredites durch Verleum-
[324]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
dung (StGB. §. 187), d. i. die wider beſſeres Wiſſen in
Bezug auf einen Anderen erfolgende Behauptung oder Ver-
breitung von Thatſachen, welche deſſen Kredit zu gefährden
geeignet ſind. Der perſönliche Kredit iſt nichts als die
wirtſchaftliche Seite der Ehre, das Intereſſe desjenigen,
deſſen Stellung das Kreditnehmen mit ſich bringt, als zah-
lungsfähig und zahlungswillig betrachtet und behandelt zu
werden. Daß dieſe Seite der Ehre auch in Bezug auf
Handelsgeſellſchaften, alſo Kollektivperſönlichkeiten, durch
§. 187 StGB. geſchützt werden ſoll, wird allgemein zuge-
geben.


Strafe wie zu 4.


5. Gefährdung der Familienehre durch Ver-
leumdung Verſtorbener
(StGB. §. 189), d. h. Be-
ſchimpfung des Andenkens eines Verſtorbenen durch wider
beſſeres Wiſſen erfolgende Behauptung oder Verbreitung von
Thatſachen, welche denſelben bei ſeinen Lebzeiten verächtlich
zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen
geeignet geweſen wären. Der Tote iſt nicht mehr Rechts-
ſubjekt; er kann in ſeiner Ehre ebenſowenig wie in ſeinem
Leben verletzt werden, da er jene ebenſowenig mehr beſitzt
wie dieſe. Aber die Intereſſen der Familie als einer In-
dividuengruppe, einer Kollektivperſönlichkeit erſtrecken ſich über
das Leben der einzelnen Generation hinaus. Die Fa-
milienehre
wird verletzt durch Beſchimpfung eines ver-
ſtorbenen Gliedes, und dieſe Familienehre ſchützt der Geſetz-
geber.8 Daher die Antragsberechtigung der Angehörigen
[325]Delikte gegen die Ehre. §. 80.
(Eltern, Kinder, Ehegatten), daher die Beſchränkung des
rechtlichen Schutzes auf jene wenigen Generationen, die als
im unmittelbaren Zuſammenhange mit dem Verſtorbenen
befindlich betrachtet werden können, die daher durch das
Urteil über den Verſtorbenen mit berührt werden.


Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten, bei mildernden
Umſtänden Geldſtrafe bis zu 900 Mark.


III. Die allgemeinen Grundſätze über Rechtswidrigkeit
und Wegfall derſelben (oben §. 22) beanſpruchen unein-
geſchränkte Geltung auch auf dem Gebiete der Beleidigungen.
Hatte der Handelnde ein Recht zur Vornahme der Handlung,
ſo liegt eben kein Delikt vor. Der Geſetzgeber wollte dieſe
allgemeine Regel dem Richter gerade hier ins Gedächtnis
rufen und zugleich durch Beiſpiele illuſtrieren, hat aber gerade
dadurch die Praxis vielfach irregeführt. Die hieher gehörigen
Beſtimmungen ſind:


1. StGB. §. 193. Tadelnde Urteile über wiſſenſchaft-
liche, künſtleriſche oder gewerbliche Leiſtungen, ingleichen
Aeußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von
Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Intereſſen9 ge-
macht werden, ſowie Vorhaltungen und Rügen der Vorge-
ſetzten gegen ihre Untergebenen, dienſtliche Anzeigen oder Ur-
teile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle ſind nur
inſofern ſtrafbar
, als das Vorhandenſein einer Beleidigung
aus der Form der Aeußerung oder aus den Umſtänden,
8
[326]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
unter welchen ſie geſchah, hervorgeht. Dieſer letzte Zuſatz
ſagt nur, daß mit dem Ueberſchreiten der Grenzen der Be-
rechtigung die Rechtswidrigkeit beginnt.10 Falſch iſt es, die
Abſicht zu betonen und dieſe als etwas vom Vorſatze ver-
ſchiedenes aufzufaſſen.11


2. Mit dem Beweiſe der Wahrheit entfällt ohne
Weiteres die Annahme der in den §§. 186, 187, 189 (oben
II 2—5) enthaltenen Delikte, welche begrifflich Unwahrheit
oder wenigſtens Nicht-Beweisbarkeit der behaupteten
oder verbreiteten Thatſachen erfordern. Aber auch im Falle
des §. 185 (oben II 1) ſchließt die Wahrheit der Thatſachen
(ſoweit ſolche überhaupt in Frage ſtehen) die Rechtswidrigkeit
aus; es ſei denn, daß die durch das Recht die Wahrheit zu
ſagen gezogenen Grenzen überſchritten wurden, und der
Thäter dem Vorbringen der Thatſachen etwas Weiteres, eine
Beleidigung enthaltendes, hinzugefügt hat. Dies und nichts
Anderes ſagt §. 192 mit den Worten: „Der Wahrheits-
beweis ſchließt die Beſtrafung nach §. 185 nicht aus, wenn
das Vorhandenſein einer Beleidigung aus der Form der Be-
hauptung oder Verbreitung oder aus den Umſtänden, unter
welchen ſie geſchah, hervorgeht.“


Iſt die Thatſache eine ſtrafbare Handlung, ſo iſt (§. 190
StGB.) der Wahrheitsbeweis:


  • a) als erbracht anzuſehen, wenn der Beleidigte
    wegen dieſer Handlung rechtskräftig verurteilt;

[327]Delikte gegen die Ehre. §. 80.
  • b) ausgeſchloſſen, wenn er wegen derſelben vor der
    Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigeſprochen
    worden iſt.12

IV. Auf Buße bis zu 6000 Mark kann (StGB. §. 188)
auf Verlangen in den Fällen der §§. 186 und 187 (oben
II, 2, 3, 4) erkannt werden, wenn die Beleidigung nach-
teilige Folgen für die Vermögensverhältniſſe, den Erwerb
oder das Fortkommen des Beleidigten mit ſich bringt. Da-
mit iſt die Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungs-
anſpruches ausgeſchloſſen.


V. Die Beleidigung iſt Antragsdelikt (StGB. §. 194).
Rücknahme des Antrages zuläſſig. Antragsberechtigt im Falle
des §. 189 (oben II 5) ſind die Eltern, Kinder und der
Ehegatte des Verſtorbenen; im übrigen gelten die allgemeinen
Regeln (oben §. 31 II 1). Ueber das ſelbſtändige Antrags-
recht des Vaters und Ehemannes im Falle des §. 195
StGB.’s, ſowie des Amtsvorgeſetzten im Falle des §. 196
vgl. oben §. 61 III 1 und 2. Nicht Antrags-, ſondern Er-
mächtigungsdelikt
(oben §. 30 III 2) iſt die Beleidigung
(StGB. §. 197), wenn dieſelbe begangen worden iſt gegen
eine geſetzgebende Verſammlung des Reichs oder eines
Bundesſtaats oder gegen eine andere politiſche Körperſchaft.


Die Modifikationen der Antragsfriſt bei wechſelſeitigen
Beleidigungen
ſiehe oben §. 61 III.


VI.Retorſion (§. 199 StGB.). Wenn eine Beleidi-
gung auf der Stelle erwidert wird, ſo kann der Richter
beide Beleidiger oder einen derſelben für ſtraffrei erklären.
Vgl. auch hier das oben §. 61 V Geſagte.


[328]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.

VII. Neben der Buße kennt das Geſetz (StGB. §. 200)
bei der Beleidigung noch zwei andere Formen der Privat-
Genugthuung
(oben §. 42 II 2), die an Stelle der auf-
gehobenen Inſtitute der Abbitte, des Widerrufes, der Ehren-
erklärung getreten ſind:


1. Die Ausfertigung des Schuldurteiles an den
Beleidigten auf Koſten des Verurteilten (obligatoriſch in allen
Fällen).


2. Die Befugnis der Beleidigten13zur öffentlichen
Bekanntmachung der Verurteilung
auf Koſten des
Verurteilten.


Dieſe iſt zuzuſprechen bei öffentlich oder durch Verbrei-
tung von Schriften, Darſtellungen, Abbildungen 14 begangenen
Beleidigungen. Art der Bekanntmachung und Friſt zu der-
ſelben iſt im Urteile zu beſtimmen. Erfolgte die Beleidigung
in einer Zeitung oder Zeitſchrift, ſo iſt der verfügende
Teil des Urteils auf Antrag 15 des Beleidigten durch die
öffentlichen Blätter bekannt zu machen, und zwar wenn
möglich durch dieſelbe Zeitung oder Zeitſchrift und mit der-
ſelben Schrift, wie der Abdruck der Beleidigung geſchehen. 16


[329]Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter. §. 81.
2.

§. 81. Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter.

I. Die Störung der Rechtsſicherheit des Einzelnen
(ſeines Vertrauens auf ungeſchmälerten Genuß der ihm zu-
ſtehenden Rechtsgüter) durch Bedrohung mit der Be-
gehung eines
unmittelbar oder mittelbar gegen ihn ge-
richteten Verbrechens (StGB. §. 241). 1 Zur Vollendung
iſt Kenntnisnahme des Bedrohten 2 und thatſächlich er-
folgte Störung in ſeiner Rechtsſicherheit 3 erforderlich; ſollte
es daran fehlen, ſo läge nur (ſtrafloſer) Verſuch vor.
Vgl. über Drohung im übrigen das oben §. 63 S. 251
Geſagte.


Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten, oder Geldſtrafe
bis zu 300 Mark.


II.Verletzung des Hausrechtes, das iſt des recht-
lich geſchützten Intereſſes an ungeſtörter Bethätigung des
eigenen Willens in der eigenen Wohnung, durch Hausfriedens-
bruch 4 (StGB. §§. 123 und 124). Als die Objekte, auf
welche das Hausrecht ſich erſtreckt, nennt das Geſetz: die
Wohnung, die Geſchäftsräume, das befriedete5
Beſitztum des Einzelnen; es ſtellt ihnen gleich: abge-
ſchloſſene
6Räume, die zum öffentlichen Dienſte
beſtimmt ſind
.


[330]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.

Das Hausrecht ſteht dem Inhaber der Wohnung, bez.
ſeinen Stellvertretern zu; bei Räumen, welche wie Flure,
Treppen, Vorräume u. dgl. zur Benutzung der Inhaber
mehrerer Wohnungen beſtimmt ſind, jedem von dieſen; 7 be-
züglich der öffentlichen Räume demjenigen, der über dieſe zu
verfügen berechtigt iſt.


Die Fälle des Hausfriedensbruches.


1. Der einfache Hausfriedensbruch (StGB. §. 123
1. Abſ.) begangen entweder


  • a) durch widerrechtliches (oben §. 28 II) 8Eindringen
    in die genannten Räume; oder
  • b) dadurch, daß derjenige, der in ſolchen Räumen ohne
    Befugnis verweilt, ſich trotz Aufforderung des Berech-
    tigten nicht entfernt. 9

Antragsdelikt. Antragsberechtigt iſt der Träger des
Hausrechtes; und zwar auch dann, wenn er in der Perſon
ſeines Stellvertreters in ſeinem Hausrechte verletzt worden iſt.


Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe
bis zu 300 Mark.


2. Qualifizierter Fall (StGB. §. 123 3. Abſ.);
vorliegend, wenn eine der unter 1 angeführten Handlungen
von einer mit Waffen verſehenen (vgl. oben §. 64 II 2 e)
Perſon oder von Mehreren gemeinſchaftlich (oben
§. 61 Note 5) begangen wird.


[331]Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter. §. 81.

Von Amtswegen zu verfolgen. Strafe: Gefängnis von
einer Woche bis zu einem Jahre.


3. Gewaltſamer Hausfriedensbruch (StGB.
§. 124). Wenn ſich eine Menſchenmenge öffentlich zuſammen-
rottet und in der Abſicht, Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen
oder Sachen mit vereinten Kräften zu begehen, in die oben
genannten Räume widerrechtlich eindringt, ſo wird jeder,
welcher an dieſen Handlungen teilnimmt, mit Gefängnis
von einem Monat bis zu zwei Jahren beſtraft. — Zu-
ſammenrottung
iſt die durch gemeinſame rechtswidrige
Abſicht zuſammengehaltene, nach außen als geſchloſſene
Gruppe hervortretende, räumliche Vereinigung mehrerer
Menſchen (vgl. RGR. 1. Juni 1880, E II 80, R II 5).


Oeffentlich erfolgt die Zuſammenrottung, wenn der
Anſchluß dem Publikum, alſo unbeſtimmt wie vielen und un-
beſtimmt welchen Perſonen, freiſteht.


Auf Seiten des Teilnehmers muß Vorſatz vorliegen,
d. i. hier das Bewußtſein, Teil einer ſtrafbare Zwecke ver-
folgenden Zuſammenrottung zu ſein (RGR. 1. Juli 1880,
R II 150).


4. Ueber das Amtsdelikt des §. 342 StGB. vgl. unten
§. 93 II 4 e.


III.Verletzung des Brief- und Urkundenge-
heimniſſes
(StGB. §. 299), begangen durch unbefugte
(oben §. 28 II) Eröffnung eines verſchloſſenen Briefes
oder einer anderen verſchloſſenen Urkunde, 10 die nicht zur
Kenntnisnahme des Thäters beſtimmt iſt. Erfolgte oder
auch nur beabſichtigte Kenntnisnahme iſt nicht erforderlich.
[332]Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
Antragsdelikt; antragsberechtigt iſt der Abſender, ſo lange
er über die Sendung zu verfügen in der Lage iſt; ſpäter
der Adreſſat. Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder
Gefängnis bis zu 3 Monaten. Ueber das Amtsdelikt
des §. 354 StGB. vgl. unten §. 93 II 10.


IV. Unbefugte (oben §. 28 II) Offenbarung von
Privatgeheimniſſen
durch Rechtsanwälte, Advokaten,
Notare, Verteidiger in Strafſachen, Aerzte, Wundärzte,
Hebammen, Apotheker, ſowie die Gehülfen dieſer Perſonen,
wenn ihnen dieſe Geheimniſſe kraft ihres Amtes, Standes
oder Gewerbes anvertraut ſind (StGB. §. 300). Vorſatz
erforderlich. 11Antragsdelikt; antragsberechtigt iſt der-
jenige, deſſen Geheimnis in Frage ſteht, d. h. derjenige,
der das Geheimnis anvertraut hat, oder, wenn es an einem
ſolchen fehlt, derjenige, den es betrifft.


Strafe: Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis
bis zu 3 Monaten.


[[333]]

Zweites Buch.
Strafbare Handlungen gegen rechtlich ge-
ſchützte Intereſſen des Publikums.


I. Die gemeingefährlichen Delikte des Strafgeſetz-
buches.


§. 82.
Allgemeines. Brandſtiftung und Ueberſchwemmung.

I. Das ſcheinbar charakteriſtiſche Merkmal dieſer Gruppe,
die durch die hieher gehörigen Delikte herbeigeführte Ge-
fährdung von Leib, Leben, Eigentum des Publi-
kums
kommt auch anderen ſtrafbaren Handlungen zu. Den-
noch empfiehlt es ſich aus praktiſchen Gründen, die Bezeich-
nung „gemeingefährliche Delikte“ auf die im 27. Abſchnitt
des StGB.’s enthaltenen Fälle zu beſchränken.


Jenes Merkmal erfordert im Einzelnen:


1. Gefährdung, d. i. (in dem oben entwickelten Sinne)
die Herbeiführung eines Zuſtandes, der nach unſerer Erfah-
rung in der Mehrzahl der Fälle zu dem rechtswidrigen
Erfolge führt.


2. Gefährdung von Leib, Leben, Eigentum; nicht
aber der übrigen privaten oder öffentlichen Rechtsgüter. Es
entſpricht dem gewöhnlichen Sprachgebrauche der Geſetzgebung
nicht, z. B. auch die Preß-Delikte als gemeingefährliche zu
bezeichnen.


[334]Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

3. Gemeingefährdung, d. i. Herbeiführung eines Zu-
ſtandes, in welchem nicht ein einzelner Träger der genannten
Rechtsgüter, oder mehrere, nach Zahl und Individualität
beſtimmte Träger derſelben, ſondern das Publikum, die
Oeffentlichkeit, ein nach Zahl und Individualität nicht ab-
geſchloſſener Perſonenkreis, als gefährdet erſcheint. Darum
gehört insbeſondere die rechtswidrige Entfeſſelung der Natur-
kräfte, deren Wirkung jeder Berechnung wie jeder Beherr-
ſchung ſpottet, die der Thäter, hat er ſie einmal gerufen,
nicht mehr bannen kann — in die Gruppe der gemeingefähr-
lichen Delikte.


Das genannte Merkmal wird vom Geſetzgeber in ver-
ſchiedener Weiſe zur Bildung der einzelnen Deliktsbegriffe
verwertet.


  • a) In manchen Fällen iſt der regelmäßige, wenn auch
    im konkreten Falle nicht gegebene, Charakter der
    Handlung für den Geſetzgeber maßgebend; dann iſt
    die Gemeingefährlichkeit nicht Begriffsmerkmal. Bei-
    ſpiel: Die Brandſtiftung.
  • b) In anderen Fällen hat der Geſetzgeber die Gemein-
    gefährlichkeit, wie bei der Ueberſchwemmung, zum Be-
    griffsmerkmal erhoben, und ſomit ihr Vorliegen im
    konkreten Falle zur Bedingung für den Eintritt der
    Strafbarkeit gemacht.
  • c) Endlich finden ſich Fälle — ein Beiſpiel bietet §. 323
    StGB., — in welchen die regelmäßige Gemein-
    gefährlichkeit genügt, die konkrete Handlung alſo dieſe
    Eigenſchaft nicht an ſich zu tragen braucht, wohl
    aber die Gefährdung eines oder mehrerer Einzelner
    (nicht Gemeingefährdung) Bedingung der Straf-
    arkeit iſt.

[335]Allgemeines. Brandſtiftung u. Ueberſchwemmung. §. 82.

Bei der Handhabung der einzelnen Deliktsbegriffe iſt
dieſe verſchiedene Verwertung des Merkmals der Gemein-
gefährlichkeit wohl ins Auge zu faſſen.


II. Den erſten Rang unter den gemeingefährlichen De-
likten nimmt die Brandſtiftung1 ein. Sie unterſcheidet
ſich durch ihre Gemeingefährlichkeit von der Sachbeſchädi-
gung
. Aber nicht jede im konkreten Falle gemeingefährliche
Sachbeſchädigung durch Brandlegung iſt Brandſtiftung im
Sinne des Geſetzgebers; dieſer hat vielmehr die Fälle der
gemeingefährlichen Brandſtiftung ausſchließend aufgezählt,
und damit die Unterſuchung nach dem Vorliegen jenes Merk-
males im Einzelfalle einfürallemale abgeſchnitten.


Die Brandſtiftung iſt vollendet, ſobald nicht nur der
Zündſtoff oder ein Teil des Brandobjektes in Brand geſetzt,
ſondern das Feuer ausgebrochen, d. h. ein ſolcher Brand
entſtanden iſt, der die Gefahr eines wenigſtens teilweiſen
Abbrennens in ſich ſchließt, und erhöhte Kraftanſtrengung,
ſowie fremde Hülfe zur Bewältigung fordert. 2


Die thätige Reue (oben §. 57 III) iſt als Strafauf-
hebungsgrund anerkannt (StGB. §. 310). Sie liegt vor,
wenn der Thäter, ſei es auch durch Herbeirufung fremder
Hülfe, 3 den Brand wieder gelöſcht hat, bevor derſelbe ent-
deckt 4 und ein weiterer als der durch die bloße Inbrand-
ſetzung bewirkte Schade entſtanden iſt.


[336]Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

Fälle der Brandſtiftung.


A.Vorſätzliche.


1. Mit (abſtrakter) Gemeingefahr für das Leben.


  • a) Einfacher Fall (StGB. §. 306): wenn in Brand
    geſetzt wird:
    • 1. Ein zu gottesdienſtlichen Verſammlungen be-
      ſtimmtes Gebäude;
    • 2. ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche
      zur Wohnung von Menſchen dienen;
    • 3. eine Räumlichkeit, welche zeitweiſe zum Aufent-
      halte von Menſchen dient, und zwar zu einer
      Zeit, während welcher Menſchen in derſelben ſich
      aufzuhalten pflegen.

    Strafe: Zuchthaus.
  • b) Qualifizierter Fall (StGB. §. 307).
    • 1. Wenn der Brand den Tod eines Menſchen da-
      durch verurſacht (oben §. 61 II 1 c) hat, daß
      dieſer zur Zeit der That in einer der in Brand
      geſetzten Räumlichkeiten ſich befand;
    • 2. wenn die Brandſtiftung in der Abſicht (gleich-
      treibendes Motiv, oben §. 28 III) begangen worden
      iſt, um unter Begünſtigung derſelben Mord oder
      Raub zu begehen oder einen Aufruhr zu erregen;
    • 3. wenn der Brandſtifter, um das Löſchen des
      Feuers zu verhindern oder zu erſchweren, Löſch-
      gerätſchaften entfernt oder unbrauchbar gemacht
      hat.

    Strafe: Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder
    lebenslängliches Zuchthaus.

2. Mit (abſtrakter) Gemeingefahr für Eigentum oder
Leben
(StGB. §. 308); wenn Gebäude, Schiffe, Hütten,
[337]Allgemeines. Brandſtiftung u. Ueberſchwemmung. §. 82.
Bergwerke, Magazine, Waarenvorräte, welche auf dazu be-
ſtimmten öffentlichen Plätzen lagern, Vorräte von landwirt-
ſchaftlichen Erzeugniſſen 5 oder von Bau- oder Brenn-
materialien, Früchte auf dem Felde, Waldungen oder Torf-
moore in Brand geſetzt werden, und dieſe Gegenſtände ent-
weder a) fremdes Eigentum ſind, oder b) zwar dem Brand-
ſtifter eigentümlich gehören, jedoch ihrer Beſchaffenheit und
Lage nach geeignet ſind, das Feuer einer der im §. 306
Nr. 1—3 bezeichneten Räumlichkeiten oder einem der vor-
ſtehend bezeichneten fremden Gegenſtände mitzuteilen.


Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden
Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.


B.Fahrläſſige Brandſtiftung (StGB. §. 309), wenn
an einem der in den §§. 306 und 308 bezeichneten Gegen-
ſtände begangen. Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre,
oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark; wenn durch den Brand
der Tod eines Menſchen verurſacht worden, Gefängnis von
einem Monate bis zu 3 Jahren.


Neben Zuchthaus kann in allen Fällen der Brandſtiftung
auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB.
§. 325).


C. Der Brandſtiftung iſt gleichgeſtellt (StGB. §. 311)
die gänzliche oder teilweiſe Zerſtörung einer Sache durch den
Gebrauch von Pulver oder anderen explodierenden
Stoffen
.


III. Die Herbeiführung einer Ueberſchwem-
mung
. 6


von Liszt, Strafrecht. 22
[338]Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

1. Vorſätzliche.


  • a) Mit Gemeingefahr (im konkreten Fall) für Menſchen-
    leben
    (StGB. §. 312). Strafe: Zuchthaus nicht
    unter 3 Jahren; wenn der Tod eines Menſchen ver-
    urſacht (oben §. 61 II 1 c) worden, Zuchthaus nicht
    unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus.
  • b) Mit Gemeingefahr (im konkreten Falle) für das
    Eigentum (StGB. §. 313). Strafe: Zuchthaus;
    wenn die Abſicht des Thäters nur auf Schutz ſeines
    Eigentums gerichtet geweſen (vgl. oben §. 24 II 2),
    Gefängnis nicht unter einem Jahre.

2. Fahrläſſige (StGB. §. 314) Ueberſchwemmung mit
konkreter Gemeingefahr für Leben oder Eigentum. Strafe:
Gefängnis bis zu einem Jahre; wenn der Tod eines Men-
ſchen verurſacht worden, Gefängnis von einem Monate bis
zu 3 Jahren.


Neben Zuchthaus kann auf Polizeiaufſicht erkannt werden
(StGB. §. 325).


§. 83.
Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährlichen Delikte des
Strafgeſetzbuches.

I.Gefährdung des Eiſenbahn-Transportes1
(StGB. §§. 315 und 316) durch Beſchädigung von Eiſen-
bahnanlagen, Beförderungsmitteln oder ſonſtigem Zubehör,
durch Bereitung von Hinderniſſen mittels falſcher Zeichen
oder Signale oder auf andere Weiſe (Gemeingefahr in ab-
stracto
).


[339]Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährl. Delikte. §. 83.

1. Vorſätzlich begangen (§. 315). Strafe: Zuchthaus
bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung (oben §. 61 II 1 c)
einer ſchweren Körperverletzung (StGB. §. 224) Zuchthaus
nicht unter 5 Jahren; bei Verurſachung des Todes nicht
unter 10 Jahren oder lebenslänglich. Polizeiaufſicht kann
erkannt werden (§. 325).


2. Fahrläſſig begangen (§. 316). Strafe: Ge-
fängnis bis zu einem Jahre; bei Verurſachung des Todes
Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.


3. Die unter 2 bezeichnete Strafe trifft die zur Leitung
der Eiſenbahnfahrten und zur Aufſicht über Bahn und Be-
förderungsbetrieb angeſtellten Perſonen, wenn ſie durch
Vernachläſſigung der ihnen obliegenden Pflichten2
einen Transport in Gefahr ſetzen.


II.Verhinderung oder Störung der Benutzung
einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Tele-
graphenanſtalt
(Gemeingefahr in abstracto).


1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 317). Strafe:
Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.


2. Fahrläſſig begangen (§. 318). Strafe: Ge-
fängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark.


3. Die zu 2 bezeichnete Strafe trifft die zur Beauf-
ſichtigung und Bedienung der Telegraphenanſtalten und ihrer
Zubehörungen angeſtellten Perſonen, wenn ſie durch
Pflichtvernachläſſigung die Benutzung der Anſtalt verhindern
oder ſtören.


Zu I und II.


Die wegen einer der angeführten Handlungen verurteilten
[340]Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.
Angeſtellten (I 3 und II 3) können zugleich für unfähig zu
einer Beſchäftigung im Eiſenbahn- oder Telegraphendienſte
oder in beſtimmten Zweigen dieſer Dienſte erklärt werden
(StGB. §. 319).


Die Vorſteher der Eiſenbahngeſellſchaft oder Tele-
graphenanſtalt, welche nicht ſofort nach Mitteilung des rechts-
kräftigen Erkenntniſſes die Entfernung des Verurteilten bewir-
ken, werden mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis
zu 3 Monaten beſtraft. Gleiche Strafe trifft den für unfähig
Erklärten, der ſich nachher wieder anſtellen läßt, ſowie
diejenigen, die ihn trotz Kenntnis der Unfähigkeitserklärung
wieder angeſtellt haben.


III.Zerſtörung oder Beſchädigung von Waſſer-
leitungen, Schleuſen, Wehren, Deichen, Dämmen oder anderen
Waſſerbauten; von Brücken, Fähren, Wegen, Schutz-
wehren; von Bergwerksvorrichtungen zur Waſſerhaltung,
Wetterführung, zum Ein- und Ausfahren der Arbeiter;
Störung des Fahrwaſſers in ſchiffbaren Strömen,
Flüſſen oder Kanälen: wenn dadurch Gefahr für Leben
oder Geſundheit Anderer
herbeigeführt wurde (Gefähr-
dung, wenn auch nicht Gemein gefährdung im konkreten
Fall erforderlich).


1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 321). Strafe:
Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei Verurſachung einer
ſchweren Körperverletzung (StGB. §. 224) Zuchthaus bis
zu 5 Jahren; des Todes, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren.
Neben Zuchthaus Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).


2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: Bei
Verurſachung eines Schadens, Gefängnis bis zu einem Jahre;
bei Verurſachung des Todes, Gefängnis von einem Monat
bis zu 3 Jahren.


[341]Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährl. Delikte. §. 83.

IV. Strafbare Handlungen an zur Sicherung der
Schiffahrt beſtimmten Feuerzeichen oder anderen
zu dieſem Zwecke aufgeſtellten Zeichen
; und zwar
Zerſtören, Wegſchaffen, Unbrauchbarmachen, Auslöſchen,
dienſtpflichtwidriges Nicht-Aufſtellen; Aufſtellen eines falſchen
Zeichens, welches geeignet iſt, die Schiffahrt unſicher zu
machen; insbeſondere nächtliches Anzünden von Feuer auf
der Strandhöhe, welches die Schiffahrt zu gefährden geeignet
iſt (abſtrakte Gemeingefährdung genügt).


1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 322). Strafe:
Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung der Stran-
dung eines Schiffes, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; des
Todes eines Menſchen, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren
oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht fakultativ
(§. 325).


2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: wie oben
zu III 2.


V.Bewirkung des Strandens oder Sinkens
eines Schiffes
, wenn dadurch Gefahr für das Leben
eines anderen herbeigeführt wird (konkrete Gefährdung, nicht
aber Gemeingefährdung erforderlich).


1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 323). Strafe:
Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; bei Verurſachung des
Todes eines Menſchen, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren
oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht fakultativ
(§. 325).


2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe wie oben
zu III 2.


VI.Vergiftung von Brunnen oder Waſſerbe-
hältern
, die zum Gebrauche Anderer dienen; Vergiftung
von Gegenſtänden, welche zum öffentlichen Verkaufe oder
[342]Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.
Verbrauche beſtimmt ſind, oder Beimiſchung von Stoffen,
von welchen dem Thäter bekannt iſt, daß ſie die menſchliche
Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind; wiſſentliches Ver-
kaufen, Feilhalten, In-Verkehr-Bringen ſolcher vergifteter oder
mit gefährlichen Stoffen vermiſchter Sachen mit Verſchwei-
gung dieſer Eigenſchaft. 3 (Abſtrakte Gemeingefährdung ge-
nügt).


1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 324). Strafe:
Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung des Todes
Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslänglich Zucht-
haus. Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).


2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: wie oben
III 2.


VII.Verletzung der zur Verhütung von an-
ſteckenden Krankheiten oder Viehſeuchen getroffe-
nen Vorſichtsmaßregeln
(StGB. §. 327 und 328).
Siehe darüber unten §. 107 I und II.


VIII.Nichterfüllung (oder Erfüllung nicht zur be-
ſtimmten Zeit oder nicht in der vorbedungenen Weiſe) von
mit einer Behörde geſchloſſenen Lieferungsver-
trägen
:


  • a) über Bedürfniſſe des Heeres oder der Marine zur Zeit
    eines Krieges; oder
  • b) über Lebensmittel zur Abwendung oder Beſeitigung
    eines Notſtandes (StGB. §. 329; abſtrakte Gemein-
    gefährlichkeit genügt).

1. Vorſätzlich begangen. Strafe: Gefängnis nicht
unter 6 Monaten; Ehrverluſt fakultativ.


[343]Uebertretungen des Nahrungsmittel-Geſetzes.

2. Fahrläſſig begangen. Strafe: wenn durch die
Handlung ein Schaden verurſacht worden, Gefängnis bis zu
2 Jahren.


Dieſelben Strafen finden auch gegen Unterlieferanten,
Vermittler und Bevollmächtigte des Lieferanten

Anwendung, welche mit Kenntnis des Zweckes der Lieferung
die Nichterfüllung vorſätzlich oder fahrläſſig verurſachen.


IX.Verletzung der allgemein anerkannten Re-
geln der Baukunſt
bei Leitung oder Ausführung eines
Baues, wenn dadurch für andere eine (nicht notwendig ge-
meine
) Gefahr entſteht (StGB. §. 330).


Strafe: Geldſtrafe bis zu 900 Mark oder Gefängnis
bis zu einem Jahre.


II. Uebertretungen des Geſetzes vom 14. Mai 1879,
betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genutß-
mitteln, Gebrauchsgegenſtänden. 1


§. 84.

Das Geſetz bezieht ſich (§. 1) auf Nahrungs- und
Genußmittel
, ſowie auf Spielwaren, Tapeten,
Farben, Eß-, Trink- und Kochgeſchirr und Petro-
leum
, und ſchließt ſich mit dem ſchwerſten von ihm mit
Strafe bedrohten Falle unmittelbar an den Thatbeſtand des
§. 324 StGB. an.


[344]Zweites Buch. II. Uebertretungen d. Nahrungsmittel-Geſ.

I. Der Verkehr mit den genannten Gegenſtänden iſt der
ſtaatlichen Beaufſichtigung unterſtellt (§§. 1—4).
Widerſtand gegen dieſelbe (Verweigerung des Eintrittes in
die Geſchäftsräumlichkeiten, der Entnahme von Proben, der
Reviſion gegenüber den zuſtändigen Polizeibeamten) unterliegt
(§. 9) einer Geldſtrafe von 50—150 Mark oder der Strafe
der Haft. Ueberdies iſt dem Kaiſer (mit Zuſtimmung des
Bundesrates) ein weitgehendes Verordnungsrecht zum
Schutze der Geſundheit
eingeräumt (§§. 5—7), kraft
deſſen Herſtellung, Aufbewahrung, Verpackung, Verkauf,
Verwendung gewiſſer Gegenſtände verboten werden kann.
Uebertretung dieſer Verordnungen wird mit Geldſtrafe bis
zu 150 Mark oder mit Haft beſtraft (§. 8).


II. 1. Die Nachmachung oder Verfälſchung von
Nahrungs- oder Genußmitteln zum Zwecke der Täuſchung
im Handel und Verkehr;


2. Das Verkaufen von verdorbenen, nachge-
machten, verfälſchten
Nahrungs- oder Genußmitteln unter
Verſchweigung dieſes Umſtandes, ſowie das Feilhalten der-
ſelben unter einer zur Täuſchung geeigneten Bezeichnung
wird (§. 10) mit Gefängnis bis zu 6 Monaten und
Geldſtrafe bis zu 1500 Mark, oder mit einer dieſer
Strafen; die fahrläſſige Begehung der unter 2 be-
zeichneten Handlungen aber (§. 11) mit Geldſtrafe bis zu
150 Mark oder mit Haft beſtraft.


III. 1. Herſtellung von Gegenſtänden, welche beſtimmt
ſind, Anderen als Nahrungs- oder Genußmittel zu dienen,
in ſolcher Weiſe, daß der (beſtimmungsgemäße) 2 Genuß
[345]Uebertretungen des Nahrungsmittel-Geſetzes.
derſelben die menſchliche Geſundheit zu beſchädigen geeignet
iſt; ſowie das Verkaufen, Feilhalten, In-Verkehr-
Bringen
von Gegenſtänden, deren Genuß die menſchliche
Geſundheit zu beſchädigen geeignet iſt, als Nahrungs- oder
Genußmittel;


2. Die Herſtellung von Bekleidungsgegenſtänden, Spiel-
waren, Tapeten, Eß-, Trink- und Kochgeſchirr oder Petro-
leum in einer ſolchen Weiſe, daß der beſtimmungsgemäße
oder vorauszuſehende Gebrauch derſelben die menſchliche Ge-
ſundheit zu beſchädigen geeignet iſt; ſowie das Verkaufen,
Feilhalten, In-Verkehr-Bringen
ſolcher Gegenſtände.


Strafe:


  • a) Vorſätzliche Begehung.
    • α) Einfacher Fall (§. 12): Gefängnis mit fakulta-
      tivem Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar. Bei Ver-
      urſachung einer ſchweren Körperverletzung (StGB.
      §. 224) oder des Todes, Zuchthaus bis zu fünf
      Jahren.
    • β) Schwerer Fall (§. 13), vorliegend, wenn der
      Genuß oder Gebrauch der genannten Gegenſtände
      die menſchliche Geſundheit zu zerſtören geeignet,
      und dieſe Eigenſchaft dem Thäter bekannt war.
      Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung
      des Todes Zuchthaus nicht unter 10 Jahren
      oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht
      fakultativ.
  • b) Fahrläſſige Begehung (§. 14). Geldſtrafe bis zu
    1000 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten; bei

    2


    [346]Zweites Buch. III. Delikte gegen den öffentlichen Frieden.
    Verurſachung eines Schadens an der Geſundheit eines
    Menſchen, Gefängnis bis zu einem Jahre; des Todes,
    Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren.

Einziehung der fraglichen Gegenſtände iſt in
den unter III behandelten Fällen ohne Unterſchied ob ſie
dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 42 III 1 b)
neben der Strafe obligatoriſch, als objektive Maßregel (vgl.
oben §. 42 III 1 a) fakultativ. In den übrigen Fällen
(unter I und II) kann neben der Strafe auf Einziehung
erkannt werden (§. 15).


Die öffentliche Bekanntmachung der Verur-
teilung
(hier Nebenſtrafe, vgl. oben §. 44 I C) auf
Koſten der Schuldigen kann, die der Freiſprechung auf
Koſten der Staatskaſſe, bez. des Anzeigers, muß auf An-
trag der Freigeſprochenen, angeordnet werden (§. 16).


Ueber die Verwendung der Geldſtrafen (§. 17)
vgl. oben §. 47 III.


III. Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen
Frieden.1


§. 85.

I. Störung des öffentlichen Friedens durch Landzwang,
d. i. durch Bedrohung mit einem gemeingefährlichen2 Ver-
brechen (StGB. §. 126).3 Vollendet, ſobald die Bedrohung
zu öffentlicher Kenntnis gelangt iſt.


[347]Delikte gegen den öffentlichen Frieden. §. 85.

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.


II.Landfriedensbruch (StGB. §. 125):4 Teilnahme
an einer öffentlichen Zuſammenrottung, wenn von der zu-
ſammengerotteten Menſchenmenge mit vereinten Kräften Ge-
waltthätigkeiten an Perſonen oder Sachen begangen werden.5


Der Unterſchied von dem gewaltſamen Haus friedens-
bruch (StGB. §. 124; oben §. 81 II 3) liegt in einem
Doppelten:


  • a) Beim Hausfriedensbruch, nicht aber hier, iſt Ein-
    dringen
    in fremde Wohnräume erforderlich;
  • b) Beim Hausfriedensbruch genügt die auf Begehung
    von Gewaltthätigkeiten gerichtete Abſicht, hier iſt
    wirkliche Begehung von ſolchen erforderlich.

Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten; die Rä-
delsführer
(vgl. oben §. 37 I 5) ſowie diejenigen, welche
Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen begangen oder Sachen
geplündert, vernichtet oder zerſtört haben, trifft Zuchthaus
bis zu 10 Jahren mit fakultativer Stellung unter Polizei-
aufſicht, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter
6 Monaten.


III.Anſammeln von Waffen und Streitkräften.


Strafbar iſt:


  • a) Wer unbefugter Weiſe einen bewaffneten Haufen bildet
    oder befehligt, oder eine Mannſchaft, von der er
    weiß, daß ſie ohne geſetzliche Befugnis geſammelt iſt,
    mit Waffen oder Kriegsbedürfniſſen verſieht (StGB.
    §. 127 Abſ. 1). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.
  • b) Wer ſich einem ſolchen bewaffneten Haufen anſchließt
    [348]Zweites Buch. III. Delikte gegen den öffentlichen Frieden.
    (StGB. §. 127 Abſ. 2); Strafe: Gefängnis bis zu
    einem Jahre;
  • c) wer außerhalb ſeines Gewerbebetriebes heimlich oder
    wider das Verbot der Behörde Vorräte von Waffen
    oder Schießbedarf aufſammelt (StGB. §. 360 Ziff. 2);
    Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.
    Einziehung zuläſſig, ohne Rückſicht darauf, ob die
    Gegenſtände dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl.
    oben §. 50 II).

IV. Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffent-
liche Anreizung
verſchiedener Klaſſen der Bevölkerung,
d. i. verſchiedener durch gemeinſame Intereſſen mit einander
verbundener und von anderen deutlich abgegrenzter Perſonen-
kreiſe,6 zu Gewaltthätigkeiten gegen einander (StGB.
§. 130).7


Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis
bis zu 2 Jahren.


V. Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Miß-
brauch der geiſtlichen Stellung
(in Ausübung oder in
Veranlaſſung der Ausübung des Berufes als Religionsdiener);
begangen (StGB. §. 130 a)


1.8 durch


  • a) öffentlich vor einer Menſchenmenge, oder
  • b) in einer Kirche oder einem anderen zu religiöſen Ver-
    ſammlungen beſtimmten Orte vor Mehreren

[349]Delikte gegen andere Intereſſen des Publikums. §. 86.

erfolgende Verkündigung oder Erörterung von Angelegen-
heiten des Staates;


2.9 durch Ausgabe oder Verbreitung von Schriftſtücken,
in welchen ſolche Angelegenheiten zum Gegenſtande einer
Verkündigung oder Erörterung gemacht ſind.


Strafe (zu 1 und 2): Gefängnis oder Feſtungshaft bis
zu 2 Jahren.


IV. Andere gegen die Intereſſen des Publikums
gerichtete ſtrafbare Handlungen.


§. 86.

I. Die geſchäftsmäßige (Begriff oben §. 39 II 3 b)
Verleitung von Deutſchen zur Auswanderung
unter Vorſpiegelung falſcher Thatſachen (Begriff oben §. 73
I 2) oder mit wiſſentlich unbegründeten Angaben oder durch
andere auf Täuſchung berechnete Mittel (StGB. §. 144).
Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren.
Wie aus der Faſſung des §. 144 (Geſchäftsmäßigkeit; Deutſche
im Plural) ſowie aus ſeiner Stellung im Syſteme des
StGB. (Verletzung der öffentlichen Ordnung) zur Genüge
hervorgeht, haben wir es mit einem gegen das Publikum
und nicht mit einem gegen den Einzelnen gerichteten Delikte
zu thun.


II. Es gehört hieher ferner eine große Anzahl der im
letzten (29.) Abſchnitte des Reichsſtrafgeſetzbuches enthaltenen
Uebertretungen.


So §. 360 Ziff. 10: verweigerte Hülfeleiſtung bei Un-
[350]Zweites Buch. IV. Delikte geg. and. Intereſſen d. Publikums.
glücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not (dazu Stran-
dungsordnung vom 17. Mai 1874 §. 9).


§. 360 Ziff. 11: ruheſtörender Lärm und grober Unfug;1


§. 360 Ziff. 13: Tierquälerei.


§. 361: Uebertretung der in Folge der Stellung unter
Polizeiaufſicht auferlegten Beſchränkungen;2 Rückkehr Ausge-
wieſener;3 Landſtreicherei, Bettelei, Spiel, Trunk, Müſſiggang;
Proſtitution;4 Arbeitsſcheu; Unterſtandsloſigkeit;5 Nichtabhal-
tung der Gewaltuntergebenen von der Begehung von Dieb-
ſtählen und gewiſſen anderen Delikten;6


§. 365: Ueberſchreitung der Polizeiſtunde;


§. 366 Ziff. 1: Verletzung der Sonntagsfeier;


§. 366 Ziff. 2—9: ſchnelles und unvorſichtiges Fahren
und Reiten; Nichtbeaufſichtigen von Tieren; Hetzen von
Hunden; Werfen von Steinen; unvorſichtiges Aufhängen,
Aufſtellen, Ausgießen, Auswerfen, Liegenlaſſen;


§. 366 Ziff. 10: Verletzung der zur Erhaltung von
Sicherheit, Bequemlichkeit, Reinlichkeit, Ruhe an öffentlichen
Orten erlaſſenen Anordnungen;


§. 366 a: Uebertretung der zum Schutze der Dünen,
Fluß- und Meeresufer erlaſſenen Verordnungen;


§. 367: vorzeitige oder heimliche Beerdigung von Leich-
[351]Delikte gegen andere Intereſſen des Publikums. §. 86.
namen; unbefugter Handel mit Gift; unbefugte Zubereitung
von explodierenden Stoffen; Unvorſichtigkeit bei Zubereitung,
Aufbewahrung, Verkauf von Giftwaren, Schießpulver u. dgl.,
beim Legen von Selbſtgeſchoſſen, Gebrauch von Feuergewehr;
unbefugtes Führen von Waffen; unbefugtes oder unvorſich-
tiges Halten wilder oder bösartiger Tiere; Unvorſichtigkeit in
Bezug auf Brunnen, Keller, Gebäude und dgl.


§. 368: Nicht-Schließung der Weinberge; Unterlaſſung
des Raupens; Unvorſichtigkeit in Bezug auf feuergefährliche
Gegenſtände und Anlagen; unberechtigtes Betreten fremder
Gärten, Weinberge, Wieſen, Aecker uſw.


§. 369 Ziff. 1: unbefugtes Anfertigen von Schlüſſeln,
Verabfolgen von Nachſchlüſſeln oder Dietrichen;


§. 369 Ziff. 3: Uebertretung der Vorſchriften über An-
legung, Verwahrung, Benützung von Feuerſtätten durch in
Feuer arbeitende Gewerbetreibende.


[[352]]

Drittes Buch.
Strafbare Handlungen gegen „uneigentliche“
Rechtsgüter (durch die Art des Angriffes
charakteriſierte Delikte).


I. Strafbare Handlungen an Geld.1


§. 87.

I.Begriff.


Das Angriffsobjekt für die hieher gehörigen Delikte
bilden:


1. Geld; und zwar Metallgeld wie Papiergeld; in-
ländiſches wie ausländiſches Geld (StGB. §. 146);


2. die im StGB. §. 149 angeführten geldvertretenden
Wertzeichen
; nämlich auf den Inhaber lautende Schuld-
verſchreibungen, Banknoten, Aktien oder deren Stelle ver-
tretende Interimsſcheine oder Quittungen, ſowie die zu dieſen
Papieren gehörenden Zins-, Gewinnanteils- oder Erneuerungs-
ſcheine (Coupons und Talons); wenn von dem Reich, dem
norddeutſchen Bunde, einem Bundesſtaate oder fremden
Staate oder von einer zur Ausgabe ſolcher Papiere be-
rechtigten Gemeinde, Korporation, Geſellſchaft oder Privat-
perſon ausgeſtellt.


[353]I. Delikte an Geld. §. 87.

Die an Geld oder geldvertretenden Wertzeichen begangenen
ſtrafbaren Handlungen (regelmäßig wenn auch viel zu eng
Münz delikte genannt) ſind als ſolche, ohne jede Rückſicht
auf ihre konkrete Richtung gegen ein beſtimmtes Rechtsgut,
ſtrafbar. Die Norm, durch welche ſie verboten werden, ge-
hört zu den oben §. 3 II 4 erwähnten Normen, welche zum
mittelbaren Schutze nicht eines, ſondern verſchiedener
Rechtsgüter beſtimmt, durch die Art des Angriffes nicht
durch ſeine Richtung Charakter und Inhalt bekommen. Die
Münzhoheit des Staates, das Intereſſe des Publi-
kums
an Sicherheit des rechtlichen Verkehrs und die Ver-
mögensintereſſen des Einzelnen verlangen in gleich ge-
bieteriſcher Weiſe nach ſtrafrechtlichem Schutze für die Inte-
grität der Geldzeichen. So entſtehen die allen konkurrie-
renden Intereſſen Genüge leiſtenden Normen zum Schutze
der Geldzeichen, deren Uebertretungen uns hier beſchäftigen.
Falſch iſt es, die ſogenannten Münzdelikte als lediglich gegen
den Staat, oder bloß gegen das Publikum, oder nur gegen
das Privatvermögen gerichtet, aufzufaſſen; bequem aber be-
denklich, den kriminaliſtiſchen Nothelfer aus allen ſyſtematiſchen
Bedrängniſſen, die publica fides, anzurufen; denn der Staat
und die Einzelnen ſind ebenſo intereſſiert wie das „Publikum“;
ſchief endlich, die „Integrität der Geldzeichen“ ſelbſt zu einem
Rechtsgute zu erheben, als ſchütze der Staat das Geld um
des Geldes und nicht um anderer Rechtsgüter willen. In
einem lediglich das „Rechtsgut“ und nicht zugleich die „Norm“
berückſichtigenden Syſteme kann den Münzdelikten kein ihnen
entſprechender Platz angewieſen werden.


Die internationale Bedeutung der Geldzeichen der mo-
dernen Kulturſtaaten hat das StGB. in §. 4 Ziff. 1 aner-
kannt: Münzverbrechen werden, auch wenn im Auslande,
von Liszt, Strafrecht. 23
[354]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
ſei es von einem Inländer, ſei es von einem Ausländer be-
gangen, ohne weiteres nach heimiſchem Recht beſtraft.


II.Die Arten.


1. Die eigentliche Münzfälſchung (StGB. §. 146);
und zwar;


  • a) das Nachmachen2 von unechtem Gelde (Falſchmün-
    zerei);
  • b) das Verfälſchen von echtem Gelde, d. h. die Vor-
    nahme einer ſolchen Veränderung an den Geldzeichen,
    durch welche echtem Gelde der Schein höheren Wertes
    oder verrufenem Gelde das Anſehen eines noch gel-
    tenden gegeben wird;

beides (a und b) in Verbreitungsabſicht, d. h. in
der Abſicht, das nachgemachte oder verfälſchte Geld als echtes
zu gebrauchen oder ſonſt als echtes3 in Verkehr zu bringen.


Die Vollendung tritt nicht erſt mit dem Verbreiten,
ſondern ſchon mit dem Fälſchen ein.


Strafe: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, mit fakul-
tativer Polizeiaufſicht; bei mildernden Umſtänden Gefängnis.


2. Das Verbreiten gefälſchten (nachgemachten oder
verfälſchten) Geldes; und zwar:


  • a) wenn die Fälſchung von dem Verbreiter ſelbſt, aber
    ohne Verbreitungsabſicht vorgenommen worden;
  • b) wenn der Verbreiter ſich das gefälſchte Geld ander-
    weitig verſchafft hat.
    [355]I. Delikte an Geld. §. 87.
    In beiden Fällen iſt die Vollendung erſt mit der
    Verbreitung gegeben. Strafe: wie zu 1 (StGB.
    §. 247).
  • c) Wenn der Thäter das gefälſchte Geld als echtes em-
    pfängt, und nach erkannter Unechtheit weiter giebt
    (StGB. §. 148). Vollendet mit der Verbreitung;
    Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geld-
    ſtrafe bis zu 300 Mark; Verſuch ſtrafbar.

3. Das Einführen von gefälſchtem Gelde aus
dem Auslande zum Zwecke der Verbreitung
(§. 147
StGB.). Vollendet mit der Einfuhr. Strafe wie zu 1.


4. Das In-Verkehr-Bringen von echten, zum Um-
laufe beſtimmten Metallgeldſtücken, die durch Beſchneiden,
Abfeilen oder auf andere Art verringert ſind
, als
vollgültigen (das „Kippen und Wippen“); wenn der Thäter:


  • a) die Verringerung ſelbſt vorgenommen hat, oder
  • b) die von einem anderen verringerten Münzen gewohn-
    heitsmäßig oder
  • c) im Einverſtändniſſe mit dem Verringerer in Verkehr
    bringt (StGB. §. 150).

Strafe: Gefängnis, daneben fakultativ Geldſtrafe bis
zu 3000 Mark, ſowie Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar.


5. Das Anſchaffen oder Anfertigen von Stempeln,
Siegeln, Stichen, Platten oder anderen zur Anfertigung
von Geldzeichen dienlichen Formen
zum Zwecke eines
Münzverbrechens wird (StGB. §. 151) mit Gefängnis
bis zu 2 Jahren beſtraft. Das Geſetz ſtellt hier gewiſſe
Vorbereitungshandlungen als delictum sui generis
unter beſondere Strafe, es wird daher durch die Begehung
des geplanten Münzverbrechens ſelbſt die Strafbarkeit jener
Handlungen konſumiert (vgl. oben §. 40 II c).


[356]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.

In allen bisher erwähnten Fällen iſt auf Einziehung
des gefälſchten Geldes, ſowie der unter 5 bezeichneten Gegen-
ſtände zu erkennen, auch wenn die Verfolgung oder Ver-
urteilung einer beſtimmten Perſon nicht ſtattfindet (StGB.
§. 152; vgl. oben §. 50 II).


6. Im Zuſammenhange mit den eigentlichen Münz-
delikten ſtehen die im §. 360 Ziff. 4, 5, 6 StGB. enthal-
tenen Uebertretungen (Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark
oder Haft); nämlich


  • a) die Anfertigung der oben unter 5 genannten Ge-
    genſtände ohne ſchriftlichen Auftrag einer Behörde oder
    die Verabfolgung derſelben an einen andern als
    die Behörde;
  • b) das Unternehmen eines Abdruckes von dieſen
    Gegenſtänden oder des Druckes von Formularen
    zu derartigen Papieren ohne ſchriftlichen Auftrag der
    Behörde, oder die Verabfolgung von Abdrücken an
    Andere als die Behörde;
  • c) die Anfertigung oder Verbreitung von Druck-
    ſachen oder Abbildungen, welche in Form oder Ver-
    zierung den Geldzeichen ähnlich ſind; ſowie das
    Anfertigen von Formen, welche zur Erzeugung der-
    artiger Druckſachen oder Abbildungen dienen können.

Auf Einziehung der Vervielfältigungsmittel, Abdrücke,
Abbildungen kann neben der Strafe erkannt werden, ohne
Unterſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht.


[357]II. Delikte an Urkunden. §. 88.

II. Strafbare Handlungen an Urkunden.1


§. 88.

I.Begriff.


1. Urkunde im ſtrafbaren Sinne iſt jeder der Sin-
nenwelt angehörige Gegenſtand
(nicht bloß Schrift-
ſtück), der zur Feſtſtellung rechtlich erheblicher That-
ſachen beſtimmt iſt (Eignung
dazu iſt begrifflich weder
genügend noch erforderlich).2


Die Urkunden zerfallen in öffentliche und private.
Oeffentliche Urkunden ſind nach §. 380 CPO. diejenigen,
welche von einer öffentlichen Behörde innerhalb der
Grenzen ihrer Amtsbefugniſſe oder von einer mit öffent-
lichem Glauben verſehenen Perſon
innerhalb des ihr
zugewieſenen Geſchäftskreiſes in der vorgeſchriebenen Form
aufgenommen ſind. Alle übrigen Urkunden ſind private.


Auch die öffentliche Urkunde muß Urkunde ſein, alſo
der obigen Definition entſprechen. Damit iſt ſie aber auch
ohne weiteres unter den Schutz des Strafgeſetzes geſtellt.
Anders bei Privaturkunden. Dieſe genießen den vollen
Schutz des Geſetzes nur dann, wenn ſie zum Beweiſe
von Rechten oder Rechtsverhältniſſen von Erheb-
lichkeit ſind
. Es iſt dies kein in dem Begriffe der Ur-
kunde liegendes, ſondern ein zu den Begriffsmerkmalen
hinzutretendes Merkmal. Ein zur Feſtſtellung einer
Thatſache beſtimmter Gegenſtand kann dennoch für den
Beweis dieſer Thatſache durchaus unerheblich ſein; die
[358]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
Geſtaltung des Prozeßverfahrens (freie Beweiswürdigung!)
kann dieſen Gegenſatz auf wenige Fälle einſchränken, ohne ihn
ganz zu beſeitigen.3


2. Die ſtrafbaren Handlungen an Urkunden teilen den
oben §. 87 I erörterten Charakter der Münzdelikte. Mög-
licher Weiſe (in abstracto) gerichtet gegen die Sicherheit des
öffentlichen (im Sinne von publicus) Rechtsverkehrs, gegen
die verſchiedenſten (nicht bloß das Vermögen bildenden) Rechts-
güter des Einzelnen oder gegen die Staatsverwaltung
(insbeſondere die ſtaatliche Rechtspflege) ſind ſie wegen dieſer
möglichen Beziehung unter Strafe geſtellt ohne Rückſicht
darauf, ob im konkreten Falle eine dieſer Beziehungen und
welche gegeben iſt. Auch hier entſcheidet die Art und nicht
die Richtung des Angriffes; auch hier müſſen wir es ver-
meiden, von einer Verletzung der „publica fides“ zu ſprechen,
außer wenn es uns eben darum zu thun iſt, durch den Ge-
brauch eines möglichſt dehnbaren Ausdruckes uns tieferes
Eindringen in die Natur dieſer Delikte zu erſparen.


II. Die Arten.


1. Die eigentliche Urkundenfälſchung, zerfallend
in die Nachmachung einer unechten, und die Verfälſchung
einer echten Urkunde. Gleich geachtet wird es (StGB. §. 269),
wenn Jemand einem mit der Unterſchrift eines Anderen ver-
ſehenen Papiere ohne deſſen Willen oder deſſen Anordnungen
zuwider durch Ausfüllung einen urkundlichen Inhalt giebt.


Das Gebrauchmachen zum Zwecke der Täuſchung,
[359]II. Delikte an Urkunden. §. 88.
ſei es a) (StGB. §. 267), daß der Thäter ſelbſt die Ur-
kunde in rechtswidriger Abſicht (d. h.4 in der Abſicht,
von ihr zum Zwecke einer Täuſchung Gebrauch zu machen),
gefälſcht hat; ſei es b) daß er wiſſentlich von einer durch ihn
ſelbſt ohne dieſe Abſicht oder durch einen Dritten gefälſchten
Urkunde Gebrauch macht (StGB. §. 269), bildet nach poſi-
tivem Recht den Kern der eigentlichen Urkundenfälſchung.
Erſt mit dem Gebrauchen (d. h. mit dem Vorzeigen der
Urkunde, um durch die ihr innewohnende Beweiskraft auf den
Anderen zu wirken)5 tritt die Vollendung ein. Der ſtraf-
bare Verſuch beginnt dagegen im Falle a ſchon mit dem
Beginne des Fälſchens, im Falle b erſt mit dem Beginne
des Gebrauchens. Daß der zu Täuſchende und der zu Be-
ſchädigende nicht identiſch zu ſein brauchen, dürfte zweifel-
los ſein.


Strafe: Gefängnis.


Erhöhte Strafe tritt ein (StGB. §. 268), wenn die
Fälſchung in der Abſicht (gleich erweiterter Vorſatz, oben
§. 28 III) begangen wird, ſich oder einem Anderen einen nicht
notwendig rechtswidrigen6Vermögensvorteil (Begriff
oben §. 73 I 3) zu verſchaffen, oder einem Anderen Schaden
(nicht notwendig an ſeinem Vermögen) zuzufügen; und zwar:


[360]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
  • a) bei Privaturkunden Zuchthaus bis zu 5 Jahren mit
    fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark;
  • b) bei öffentlichen Urkunden Zuchthaus bis zu 10 Jahren
    mit fakultativer Geldſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark.

Bei mildernden Umſtänden zu a Gefängnis nicht
unter 1 Woche, zu b nicht unter 3 Monaten; daneben
fakultative Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.


Neben Gefängnis iſt Ehrverluſt fakultativ (§. 280).


2. Die Bewirkung einer materiell unrichtigen
öffentlichen Beurkundung
, d. h. der Beurkundung von
Erklärungen oder Thatſachen, welche für Rechte oder Rechts-
verhältniſſe von Erheblichkeit ſind, in öffentlichen (zur Feſt-
ſtellung im öffentlichen Intereſſe, nicht bloß im Intereſſe des
inneren Dienſtes7 beſtimmten) Büchern, Urkunden, Regiſtern
als abgegeben oder geſchehen, während ſie überhaupt
nicht oder in anderer Weiſe oder von einer Perſon in einer
ihr nicht zuſtehenden Eigenſchaft8 oder von einer anderen
Perſon9 abgegeben oder geſchehen ſind.


Der Beamte, der die falſche Beurkundung wiſſentlich vor-
nimmt, macht ſich eines Amtsdeliktes (StGB. §. 348; unten
§. 93 II 6) ſchuldig;10 der Nichtbeamte wird, abgeſehen von
einer etwaigen Teilnahme an dem Amtsdelikte, beſtraft,
wenn er:


  • a) die falſche Beurkundung bewirkt (StGB. §. 271) oder

[361]II. Delikte an Urkunden. §. 88.
  • b) von einer ſolchen falſchen Beurkundung zum Zwecke
    einer Täuſchung Gebrauch macht (§. 273).

Strafe in beiden Fällen: Gefängnis bis zu 6 Monaten
oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark; wenn in Bereicherungs-
oder Schadensabſicht (wie oben §. 73 I 3) begangen, Zuchthaus
bis zu 10 Jahren mit fakultativer Geldſtrafe von 150 bis zu
6000 Mark, oder bei mildernden Umſtänden Gefängnis mit
fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark (StGB. §§. 272
und 273).


3. Vernichtung, Beſchädigung,11Unterdrückung12
einer Urkunde,13 die dem Thäter nicht oder nicht aus-
ſchließlich gehört, in der Abſicht, einem Anderen Nachteil zu-
zufügen (StGB. §. 274 Ziff. 1).


Strafe: Gefängnis mit fakultativer Geldſtrafe bis zu
3000 Mark. Ehrverluſt fakultativ (§. 280).


4. Die Grenzverrückung (StGB. §. 274 Ziff. 2),
d. i. das Wegnehmen, Vernichten, Unkenntlichmachen, Ver-
rücken oder fälſchlich Setzen von Grenzſteinen oder anderen
zur Bezeichnung einer Grenze oder eines Waſſerſtandes14 be-
ſtimmten Merkmalen in Schädigungsabſicht. Als Spezial-
[362]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
fall vom Geſetze beſonders hervorgehoben, obwohl die ge-
nannten Merkzeichen unter den allgemeinen Begriff der Ur-
kunden fallen.


Strafe: wie zu 3.


5. Strafbare Handlungen an und mit Stempel-
papier, Stempelmarken, Stempelblanketten, Stem-
pelabdrücken, Poſt- oder Telegraphenfreimarken,
geſtempelten Briefcouverts
und zwar:


  • a) das Nachmachen und Verfälſchen in Gebrauchsabſicht,15
    ſowie das Gebrauchen von gefälſchten Gegenſtänden
    dieſer Art, mag auch die Fälſchung nicht von dem
    Thäter herrühren (§. 275).
    Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten, daneben
    Ehrverluſt fakultativ (§. 280).
  • b) Die wiſſentliche Wiederverwendung verwen-
    deter Stempel
    16 (von Marken, Blanketten, Papier,
    Abdrücken) zu ſtempelpflichtigen Schriftſtücken (StGB.
    §. 276).
    Strafe (neben der Defraudationsſtrafe): Geld-
    ſtrafe bis zu 600 Mark.
  • c) Das wiſſentliche Veräußern oder Feilhalten
    von bereits verwendetem Stempelpapier nach Ent-
    fernung der darauf geſetzten Schriftzeichen, ſowie von
    bereits verwendeten Stempelmarken, Stempelblanketten,
    ausgeſchnittenen oder ſonſt abgetrennten Stempelab-
    drücken (StGB. §. 364). Strafe: Geldſtrafe bis zu
    150 Mark.

[363]II. Delikte an Urkunden. §. 88.
  • d)Anfertigung von Formen, welche zur Erzeugung von
    Stempelpapier uſw. dienen können, ohne ſchriftlichen
    Auftrag der Behörde, oder Verabfolgung an einen
    anderen als die Behörde (StGB. §. 360 Ziff. 4).
    Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.
  • e) Das unbefugte Unternehmen oder Verabfolgen
    eines Abdruckes
    von den unter d genannten Formen
    (StGB. §. 360 Ziff. 5). Strafe: wie zu d.

Einziehung zu d und e, ohne Unterſchied, ob die Gegen-
ſtände dem Verurteilten gehören oder nicht, fakultativ.


6. Strafbare Handlungen an und mit Legitimations-
papieren
(StGB. §. 363 nennt: Päſſe, Militärabſchiede,
Wanderbücher oder ſonſtige Legitimationspapiere; Dienſt- und
Arbeitsbücher oder ſonſtige auf Grund beſonderer Vorſchriften
auszuſtellende Zeugniſſe; Führungs- und Fähigkeitszeugniſſe)
in der Abſicht, Behörden oder Privatperſonen zum Zwecke
eigenen oder fremden beſſeren Fortkommens
,
und zwar:


  • a) Fälſchung derſelben;
  • b) wiſſentliches Gebrauchmachen von denſelben;
  • c) Gebrauch machen von echten, aber für einen Anderen
    ausgeſtellten Papieren;
  • d) Ueberlaſſen ſolcher Papiere an Andere.

Spezialdelikt gegenüber der eigentlichen Urkunden-
fälſchung.


Strafe: Haft oder Geldſtrafe bis zu 150 Mark.


7. Uebertretung der Vorſchriften über Maß- und Ge-
wichtspolizei
(StGB. §. 369 Ziff. 2). Strafe: Geld
bis zu 100 Mark oder Haft bis zu 4 Wochen.


8. Strafbare Handlungen in Bezug auf Geſund-
heitszeugniſſe
.


[364]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
  • a)Ausſtellung von unrichtigen Zeugniſſen durch Aerzte
    und andere approbierte Medizinalperſonen
    wider beſſeres Wiſſen
    zum Gebrauche bei einer
    Behörde oder Verſicherungsgeſellſchaft (§. 278).
    Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu zwei
    Jahren mit fakultativem Ehrverluſt (§. 280).
  • b)Ausſtellung von Zeugniſſen über eigenen oder frem-
    den Geſundheitszuſtand unter der dem Thäter
    nicht zuſtehenden Bezeichnung
    als Arzt oder als
    eine andere nicht approbierte Medizinalperſon; oder
    unberechtigte Ausſtellung unter dem Namen dieſer
    Perſonen; oder Verfälſchung echter Geſundheits-
    zeugniſſe: wenn der Thäter von denſelben zur Täu-
    ſchung von Behörden oder Verſicherungsgeſellſchaften
    Gebrauch macht17 (StGB. §. 277). Strafe:
    Gefängnis bis zu einem Jahre mit fakultativem Ehr-
    verluſt (§. 280).
  • c) Das Gebrauchen von Zeugniſſen der unter a und
    b bezeichneten Art zum Zwecke der Täuſchung von
    Behörden oder Verſicherungsgeſellſchaften (§. 279).
    Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre mit fakulta-
    tivem Ehrverluſt (§. 280).

III. Strafbare Handlungen gegen die Religion.1


§. 89.

Die Religion wird von dem modernen Staate nicht als
ſolche, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern um anderer Intereſſen
[365]III. Delikte gegen die Religion. §. 89.
willen geſchützt. Das ſtaatliche Intereſſe an dem Vorhanden-
ſein der richtigen ſtaatsbürgerlichen Geſinnung, als deren
Fundament religiöſer Sinn von maßgebender Seite betrachtet
wird; das Recht der Religionsgenoſſenſchaften auf ungeſtörte
Religionsübung; das Intereſſe des Einzelnen und des Publi-
kums an Nichtverletzung des religiöſen Gefühles: alle dieſe
verſchiedenen Intereſſen hat der Staat im Auge, wenn er
Angriffe auf die Religion unter Strafe ſtellt. Um jener
eigentlichen Rechtsgüter willen erhebt er die Religion zum
uneigentlichen, juriſtiſchen Rechtsgut. Nach Reichsrecht iſt
ſtrafbar:


I. Die Erregung eines Aergerniſſes (d. i. die
Verletzung des religiöſen Gefühls,2 wobei nicht der Stand-
punkt der Zuhörenden, ſondern der objektive Maßſtab des
Richters entſcheidet) durch öffentlich3 (unbeſtimmt wie
vielen und unbeſtimmt welchen Perſonen zugänglich) und in
beſchimpfenden Aeußerungen erfolgende Läſterung
Gottes
(StGB. §. 166). Dabei iſt der Gottesbegriff im
Sinne der anerkannten Religionsgeſellſchaften, alſo im ſtreng
konfeſſionellen Sinne zu interpretieren.4 Mangelnde Rechts-
widrigkeit (man denke z. B. an wiſſenſchaftliche Unterſuchungen)
ſchließt die Annahme eines Deliktes hier wie überall aus.


[366]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren.


II.Oeffentliche (wie zu I) Beſchimpfung einer der
chriſtlichen Kirchen oder einer anderen mit Korporations-
rechten innerhalb des Bundesgebietes beſtehenden
Religionsgeſellſchaft
als ſolcher ſowie ihrer Einrichtungen
oder Gebräuche, von welchen die Glaubensſätze einerſeits,
die einzelnen konkreten hiſtoriſchen Vorgänge andererſeits zu
unterſcheiden ſind.5 (StGB. §. 166.) Berechtigter Kritik
fehlt das Merkmal der Rechtswidrigkeit.6Strafe: wie
zu I.


III. Die Verübung beſchimpfenden Unfugs in
Kirchen
oder in einem anderen zu religiöſen Verſammlungen
(nicht nur der anerkannten, ſondern aller beſtehenden Reli-
gionsgeſellſchaften) beſtimmten Orte (StGB. §. 166).


Strafe: wie zu I.


IV. Durch Thätlichkeit7 oder Drohung8 begangene Hin-
derung eines Anderen an der Ausübung des
Gottesdienſtes
einer im Staate beſtehenden Religions-
geſellſchaft; ſowie die vorſätzliche Verhinderung oder
Störung des Gottesdienſtes
oder einzelner gottesdienſt-
licher Verrichtungen einer ſolchen Religionsgeſellſchaft durch
Erregung von Lärm oder Unordnung
in einem der
oben III genannten Orte (StGB. §. 167). Strafe: wie
zu I. Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB. vgl.
unten §. 93 II 4 b.


V.Frevel an Leichen und Gräbern (StGB. §. 168);
und zwar:


[367]IV. Delikte an Perſonenſtand und Ehe. §. 90.
  • a) Unbefugte Wegnahme einer Leiche aus dem Ge-
    wahrſame der dazu berechtigten Perſon (Wegnahme
    von Leichenteilen iſt nach §. 367 Ziff. 1 als Ueber-
    tretung ſtrafbar);
  • b) unbefugte Zerſtörung oder Beſchädigung von
    Gräbern
    ;9
  • c)Verübung beſchimpfenden Unfugs an einem
    Grabe
    .10

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativem
Ehrverluſt.


IV. Strafbare Handlungen an Perſonenſtand und Ehe.


§. 90.

Der Perſonenſtand einer Perſon beſtimmt deren Stellung
im öffentlichen wie im Privatrechte nach allen Richtungen;
das Intereſſe des Beteiligten ſelbſt und das aller übrigen
Rechtsgenoſſen, ſowie das Intereſſe des Staates verlangen
gebieteriſch die Integrität des Perſonenſtandes. Er iſt kein
eigentliches aber eines der wichtigſten uneigentlichen Rechts-
güter. Das Gleiche gilt von dem Rechtsinſtitute der Ehe.


I. Der ſtrafrechtliche Schutz des Perſonenſtandes.


1. Das Geſetz vom 6. Februar 1875 über die Beur-
kundung des Perſonenſtandes und die Eheſchließung

bedroht im §. 68 mit einer Uebertretungsſtrafe (Geldſtrafe
bis zu 150 Mark oder Haft) die Verletzung der in den
§§. 17—20, 22—24, 56—58 dieſes Geſetzes begründeten
Anzeigepflichten. Doch tritt die Strafverfolgung nicht ein,
[368]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
wenn die Anzeige, obwohl nicht von den zunächſt Ver-
pflichteten
, doch rechtzeitig gemacht worden iſt: ein ganz
ſingulärer Strafaufhebungsgrund.


Ueber die in den §§. 67 und 69 desſelben Geſetzes ent-
haltenen Amtsdelikte vgl. unten §. 93 II. 3 a. Eine be-
ſondere Beſtimmung über die Verwendung der Geld-
ſtrafen
(vgl. oben §. 47 III) enthält §. 70 des Geſetzes.


2. Die vorſätzliche Veränderung oder Unter-
drückung des Perſonenſtandes eines anderen
1 (nicht
alſo des Thäters ſelbſt); insbeſondere die Unterſchiebung
oder vorſätzliche Verwechslung eines Kindes
(StGB.
§. 169).2 Abſicht, Andere zu ſchädigen, iſt, da es ſich um ein
uneigentliches Rechtsgut handelt, nicht erforderlich; wohl aber
die, wenn auch nicht dauernde, Herbeiführung eines Zuſtandes,
die Begründung eines status, als der Baſis der rechtlichen
Stellung des Individuums, ſo daß alſo das einmalige, nur
für den konkreten Fall erfolgende Sich-Ausgeben für einen
Anderen nicht hieher gehört.


Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; wenn in gewinn-
ſüchtiger Abſicht (Abſicht, ſich oder einem Anderen einen rechts-
widrigen Vermögensvorteil zu verſchaffen)3 begangen, Zucht-
haus bis zu 10 Jahren. Verſuch ſtrafbar.


II. Strafrechtlicher Schutz der Ehe.


1. Der Ehebetrug (StGB. §. 170), begangen durch
argliſtige4 Verſchweigung eines geſetzlichen Ehehinderniſſes bei
[369]IV. Delikte an Perſonenſtand und Ehe. §. 90.
Eingehung einer Ehe dem anderen Teile gegenüber; oder
durch argliſtige Verleitung des anderen Teiles zur Ehe-
ſchließung mittels einer ſolchen Täuſchung, welche den Ge-
täuſchten berechtigt, die Gültigkeit der Ehe anzufechten. Auf-
löſung der Ehe aus einem dieſer Gründe iſt Bedingung
der Strafbarkeit
(vgl. oben §. 30).


Antragsdelikt; die Antragsfriſt beginnt zu laufen
erſt mit dem die Ehe löſenden rechtskräftigen Erkenntniſſe
(vgl. oben §. 30 II). Dagegen läuft die Verjährungs-
friſt
ſchon von dem Tage, an welchem die Handlung be-
gangen iſt, alſo von dem Tage der Eheſchließung (vgl. oben
§. 58 II 2).


2. Die Bigamie oder Doppelehe (StGB. §. 171);5
begangen durch Schließung einer Ehe von einem oder mit
einem6 Ehegatten, bevor die frühere Ehe aufgelöſt, für un-
gültig oder nichtig erklärt worden iſt. Vollendet mit der
vollendeten Eheſchließung; der ſtrafbare Verſuch beginnt mit
dem Beginne des Eheſchließungsaktes.


Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden
Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.


Die Verjährung beginnt, kraft ſingulärer, aus allge-
meinen Grundſätzen nicht abzuleitender, daher auf andere
Fälle nicht auszudehnender, Vorſchrift des Geſetzes erſt mit
dem Tage, an welchem eine der beiden Ehen aufgelöſt, für
ungültig oder nichtig erklärt worden iſt.


von Liszt, Strafrecht. 24
[370]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.

3. Der Ehebruch (StGB. §. 172),7 begangen nur
durch eigentlichen Beiſchlaf, d. i. die naturgemäße Ver-
einigung der Geſchlechtsteile; nicht durch beiſchlafsähn-
liche Handlungen
, d. i. durch Mißbrauch des Körpers
eines Andern zur Befriedigung des eigenen Geſchlechts-
triebes; nicht durch unzüchtige, d. i. auf Erregung des
Geſchlechtstriebes gerichtete Handlungen. Der Ehebruch iſt
Antragsdelikt. Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten.


Scheidung der Ehe wegen des betreffenden Ehebruches
iſt Bedingung der Strafbarkeit; erſt mit ihr beginnt
daher der Lauf der Antragsfriſt,8 während die Ver-
jährung
der Strafverfolgung nach allgemeiner Regel (vgl.
oben §. 58 II 2) ſchon mit der Begehung des Ehebruches
beginnt, allerdings aber nach §. 69 StGB. während der
Dauer des Scheidungsverfahrens ruht (vgl. oben §. 58 II 4).


V. Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit.


§. 91.

Auch die Sittlichkeit iſt ein uneigentliches Rechtsgut. Sie
iſt kein rechtlich geſchütztes Intereſſe des Staates, ſie iſt auch
im modernen Rechte kein Rechtsgut des Einzelnen, wenn wir
nicht, gewiſſen Sittlichkeitsdelikten wie der Notzucht gegen-
über, die Sittlichkeit auffaſſen wollen als das Rechtsgut der
perſönlichen Freiheit in ihrer Bethätigung nach einer be-
1
[371]V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.
ſtimmten, die Vornahme oder Duldung geſchlechtlicher Akte
umfaſſenden, Richtung. Wohl aber haben der Staat, der
Einzelne, das Publikum ein indirektes, mittelbares Intereſſe
daran, daß die Ausübung des Geſchlechtstriebes in geregelter
Weiſe, innerhalb gewiſſer Schranken erfolgt und ſo wird
auch die Sittlichkeit, nicht um ihrer ſelbſt ſondern um an-
derer Intereſſen willen, nicht als ſelbſtändiges Rechtsgut
ſondern anderen Rechtsgütern zu Liebe unter Strafſchutz ge-
ſtellt. Die Sittlichkeit, die im Sinne des modernen Straf-
rechtes nicht mehr bedeutet, als die Vermeidung jener Aus-
ſchreitungen, die das Geſetz als ſolche bezeichnet hat. Dieſe
ſtrafbaren Ausſchreitungen ſind:


I. Der Inceſt oder die Blutſchande (StGB. §. 173),
d. i. der Beiſchlaf (Begriff oben S. 370):


  • 1. zwiſchen Verwandten auf- und abſteigender Linie;2
  • 2. zwiſchen Verſchwägerten, auf- und abſteigender
    Linie (mag auch die das Schwägerſchaftsverhältnis be-
    gründende Ehe gelöſt ſein);3
  • 3. zwiſchen Geſchwiſtern.

Strafe:


  • zu 1. Zuchthaus bis zu 5 Jahren gegen die Ascen-
    denten; Gefängnis bis zu 2 Jahren gegen die Des-
    cendenten;
  • zu 2. und 3. Gefängnis bis zu 2 Jahren.

In allen Fällen Ehrverluſt fakultativ. Verwandte ab-
ſteigender Linie bleiben ſtraflos, wenn ſie das 18. Lebensjahr
nicht vollendet haben (ſubjektiver Strafausſchließungsgrund
in dem oben §. 30 III 3 erörterten Sinne).


[372]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.

II. Die widernatürliche Unzucht (StGB. §. 175),
d. h. Beiſchlaf oder beiſchlafsähnliche Handlungen4 zwiſchen
Perſonen desſelben Geſchlechtes oder von Menſchen mit Tieren
vorgenommen.


Strafe: Gefängnis mit fakultativem Verluſt der Ehren-
rechte.


III. Unzucht mit Verletzung eines beſonderen
Vertrauens- oder Gewaltverhältniſſes
(StGB.
§. 174); nämlich Vornahme unzüchtiger Handlungen (Begriff
oben S. 370):


1. von Vormündern mit ihren Pflegebefohlenen,
Adoptiv- und Pflegeeltern mit ihren Kindern, Geiſt-
lichen, Lehrern, Erziehern
mit ihren minderjährigen
Schülern oder Zöglingen;


2. von Beamten5 mit Perſonen, gegen welche ſie eine
Unterſuchung zu führen haben oder welche ihrer Obhut an-
vertraut ſind;


3. von Beamten, Aerzten oder anderen Medi-
zinalperſonen
, welche in Gefängniſſen oder in öffentlichen,
zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hülfloſen be-
ſtimmten Anſtalten beſchäftigt oder angeſtellt ſind, mit den in
das Gefängnis oder die Anſtalt aufgenommenen Perſonen.


Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden
Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.


IV.Nötigung zur Unzucht und gleichgeſtellte Fälle
(StGB. §. 176):


[373]V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.

1. Nötigung einer Frauensperſon zur Duldung un-
züchtiger Handlungen
(vgl. oben S. 370) durch Ge-
walt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Ge-
fahr für Leib oder Leben
.6


Strafe:


  • a) für den einfachen Fall: Zuchthaus bis zu 10 Jahren,
    bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Mo-
    naten.7
  • b) Als beſonderen Deliktsbegriff hebt das Geſetz (§. 177)
    aus den hieher gehörigen Fällen die auf die angege-
    bene Art bewirkte Nötigung zur Duldung des
    außerehelichen Beiſchlafes
    oder die Notzucht
    hervor. Strafe: Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden
    Gefängnis nicht unter einem Jahre.
  • c) Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches
    Zuchthaus tritt (StGB. §. 178) in den Fällen a wie
    b ein, wenn durch die Handlung der Tod der verletzten
    Perſon verurſacht (oben §. 61 II 1 c) worden iſt.

2. Mißbrauch einer in einem willenloſen oder be-
wußtloſen Zuſtande befindlichen
oder einer geiſtes-
kranken
Frauensperſon zum außerehelichen Beiſchlaf.8


Strafe:


  • a) für den einfachen Fall: wie oben 1 a;
  • b) wenn der Thäter die Frauensperſon mißbraucht, nach-
    dem er ſie zu dieſem Zwecke in einen willenloſen
    oder bewußtloſen Zuſtand verſetzt hat, ſo liegt
    (StGB. §. 177) Notzucht vor und tritt die oben 1 b
    bezeichnete Strafe ein.

[374]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
  • c)Qualifizierter Fall wie oben 1 c.

3. Vornahme unzüchtiger Handlungen mit Perſonen
unter 14 Jahren
, oder Verleitung derſelben zur Duldung
ſolcher Handlungen; wegen des vom Geſetze angenommenen
Mangels der Verfügungsfähigkeit dieſer Perſonen den Nö-
tigungsfällen gleichgeſtellt.


Strafen: wie 1 a und c.


V. Die Erſchleichung des Beiſchlafes (StGB.
§. 179), d. i. die Verleitung einer Frauensperſon zur Ge-
ſtattung des Beiſchlafes durch Vorſpiegelung einer Trauung
oder durch Erregung oder Benutzung eines anderen Irrtums,
in welchem ſie den Beiſchlaf für einen ehelichen hielt. Voll-
endet mit dem Beiſchlaf, nicht mit der ihm etwa zeitlich
vorangehenden „Geſtattung“. Antragsdelikt.


Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden
Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.


VI.Verführung eines unbeſcholtenen Mäd-
chens
, welches das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, zum
Beiſchlafe (StGB. §. 182). Unbeſcholtenheit darf dabei nicht
als gleichbedeutend mit Jungfräulichkeit genommen werden;
dieſe kann vorhanden ſein, während jene fehlt und umgekehrt.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der Eltern oder des
Vormundes der Verführten ein.


Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.


VII. Das öffentliche9Geben eines Aergerniſſes10
[375]V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.
(d. i. Verletzung des Sittlichkeitsgefühles) durch unzüch-
tige Handlungen
11 (StGB. §. 183). Auch mündliche
Aeußerungen ſind unbedenklich hieher zu rechnen (beſtritten).


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren, oder Geldſtrafe
bis zu 500 Mark; neben Gefängnis Aberkennung der Ehren-
rechte fakultativ.


VIII. Das Verbreiten von unzüchtigen Schriften,
Abbildungen, Darſtellungen12 (StGB. §. 184). Verbreiten
ſetzt Zugänglichmachen für das Publikum, alſo für einen nicht
abgeſchloſſenen Kreis individuell nicht beſtimmter Perſonen
voraus;13 das Geſetz ſelbſt nennt „Verkaufen, Verteilen oder
ſonſt Verbreiten; ſowie Ausſtellen oder Anſchlagen an Orten,
welche dem Publikum zugänglich ſind.“


Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis
bis zu 6 Monaten.


IX. Die Kuppelei, oder die Vorſchubleiſtung zur Un-
zucht durch Vermittlung oder durch Gewährung oder Ver-
ſchaffung von Gelegenheit. Dabei haben wir als Unzucht zu
betrachten: a) den außerehelichen Beiſchlaf überhaupt;
b) die von dem Geſetze mit Strafe bedrohten beiſchlafs-
ähnlichen oder einfach unzüchtigen Handlungen.


Die Kuppelei iſt nicht als Teilnahme im Sinne des
Strafrechts, ſondern als ſelbſtändiges Delikt aufzufaſſen.
Denn:


  • a) ſie ſetzt keine ſtrafbare Handlung, zu welcher Hülfe ge-
    leiſtet wird, voraus;

[376]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
  • b) die Strafbarkeit der Kuppelei iſt, auch wenn die unter-
    ſtützte Unzuchtshandlung ſelbſt vom Geſetze mit Strafe
    bedroht ſein ſollte, durchaus unabhängig von dem
    Vorliegen einer Schuld auf Seiten derjenigen, welche
    dieſe Unzuchtshandlung vorgenommen haben;
  • c) nicht jede Hülfeleiſtung (z. B. Rat) zur Unzucht, ſon-
    dern nur die Vermittlung, die Gewährung oder Ver-
    ſchaffung von Gelegenheit, d. i. die Herbeiführung eines
    ſolchen Zuſtandes, welcher der Ausübung der Unzucht
    günſtigere Bedingungen bietet als früher vorhanden
    waren,14 iſt Kuppelei.
  • d) Die Kuppelei iſt vollendet mit dem Vermitteln uſw.,
    mag es auch zu einem Unzuchtsakte ſelbſt nicht ge-
    kommen ſein15 (eine Ausnahme ſiehe unten). Kuppelei
    kann liegen in dem Vermieten von Wohnungen an
    Proſtituierte;16 ſie liegt in dem Halten von Bordellen,
    und daran wird durch polizeiliche Konzeſſionierung der
    Bordelle nicht das Geringſte geändert, ſo lange Reichs-
    recht nicht durch Landesrecht, Geſetz nicht durch Verfügung
    der adminiſtrativen Gewalt gebrochen werden kann.17

Die Kuppelei iſt nicht an ſich, ſondern nur bei dem
Hinzutreten gewiſſer Umſtände, die wir als Bedingungen
[377]V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.
der Strafbarkeit (vgl. oben §. 30) aufzufaſſen haben, vom
Geſetze mit Strafe bedroht.


Dieſe Umſtände ſind:


1. Gewohnheitsmäßiges (Begriff oben §. 39 II 3)
oder aus Eigennutz18 erfolgendes Betreiben der Kuppelei
(StGB. §. 180).


Strafe: Gefängnis; Ehrverluſt und Polizeiaufſicht fa-
kultativ.


2. Anwendung hinterliſtiger Kunſtgriffe, um der
Unzucht Vorſchub zu leiſten; gleichgeſtellt iſt der Fall, wenn
Eltern ihre Kinder, Vormünder ihre Pflegebefohlenen,
Geiſtliche, Lehrer, Erzieher die von ihnen zu unter-
richtenden oder zu erziehenden Perſonen verkuppelt haben
(StGB. §. 181). In dieſem letzterwähnten Falle muß es,
damit die Kuppelei ſtrafbar wird,19 zur Vornahme unzüch-
tiger Handlungen gekommen ſein.


Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; Aberkennung der
bürgerlichen Ehrenrechte obligatoriſch (vgl. oben §. 51 I
S. 202); Polizeiaufſicht fakultativ.


[378]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.

VI. Die Amtsdelikte.1


§. 92.

I.Allgemeines.


1. Die Amtsdelikte charakteriſieren ſich, ebenſo wie die in
den vorhergehenden Paragraphen beſprochenen Gruppen von
ſtrafbaren Handlungen, nicht durch die Richtung des An-
griffes gegen beſtimmte Rechtsgüter, ſondern durch die Art,
durch das Mittel des Angriffes. Der Mißbrauch der
Amtsgewalt
zur Begehung ſtrafbarer Handlungen iſt das
gemeinſame Merkmal, das die ſämmtlichen Amtsdelikte zu
einer Gruppe vereinigt. Damit iſt die ihnen hier gegebene
Stellung gerechtfertigt. Wollte man die Natur des ange-
griffenen Rechtsgutes als maßgebenden Einteilungsgrund be-
trachten, ſo würden die Amtsdelikte als einheitliche Gruppe
verſchwinden.


2. Amtsdelikte ſind die öffentlich-ſtrafbaren, alſo
nicht bloß disziplinar zu ahndenden (oben §. 42 VI)2Hand-
lungen der Beamten
, alſo nicht die Delikte im Amte,
ſondern die Delikte der Beamten im Amte. Die Begriffe
Amt (oben §. 51 Note 2) und Beamter decken ſich nicht.
Beamter iſt derjenige,3 der auf Grund ſtaatlicher Be-
ſtallung als Organ der Staatsgewalt
(mithin unter
ſtaatlicher Autorität) für Staatszwecke thätig zu ſein be-
rufen iſt. StGB. §. 359 giebt keine Definition, wenn er es
für gleichgültig erklärt, ob es ſich um den unmittelbaren oder
[379]VI. Die Amtsdelikte. §. 92.
mittelbaren Dienſt des Reiches oder eines Bundesſtaates; um
vorläufige oder definitive, zeitweilige oder lebenslange An-
ſtellung handle; ob der Angeſtellte einen feſten Gehalt oder
ausſchließlich Gebühren beziehe; ob ein Dienſteid geleiſtet
worden oder nicht.4 Wohl aber rechnet er ausdrücklich, über
unſeren Begriff hinausgreifend, auch die Notare zu den
Beamten, ohne Rückſicht auf die landesrechtliche Verſchiedenheit
ihrer Stellung. Advokaten und Anwälte, Geſchworene,
Schiedsrichter und Schöffen ſind keine Beamten, wenn auch
die drei letztgenannten Perſonen ein Amt im Sinne des Ge-
ſetzes (StGB. §. 31, Abſ. 2) ausüben.5


3. Man teilt die Amtsdelikte ein in eigentliche und
uneigentliche, je nach dem die Beamten-Eigenſchaft als
Bedingung der Strafbarkeit (oben §. 30), oder aber als
Strafſchärfungsgrund erſcheint. Zu den uneigentlichen Amts-
delikten gehören auch die in StGB. §§. 128, 129, 174,
222, 230, 300 behandelten Fälle. Die Einteilung iſt von
Wichtigkeit für die Behandlung der Teilnahme dritter Per-
ſonen; es ſei in dieſer Beziehung auf das oben §. 37 III
Geſagte verwieſen.


4. Die im Auslande, ſei es von Inländern, ſei es
von Ausländern, begangenen Amtsdelikte können ohne weiteres
nach inländiſchem Rechte verfolgt werden (vgl. oben §. 13 IV).


5. Die Beamtenqualität muß im Augenblicke der That
(oben §. 19 III 1) vorhanden ſein (RGR. vom 9. Juli 1880,
R II 181).


6. Neben der wegen einer Reihe von Amtsdelikten (StGB.
[380]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
§§. 331, 339—341, 352—355, 357) erkannten Gefängnis-
ſtrafe kann, wenn dieſelbe auch die Dauer von drei Monaten
nicht erreicht, gegen Beamte (nie gegen etwa beteiligte Nicht-
beamte) auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Aemter
auf die Dauer von 1 bis zu 5 Jahren
erkannt werden (StGB. §. 358; vgl. oben §. 51 II 4).


II.Die einzelnen Amtsdelikte.


1. Geſchenkannahme in Amtsſachen (Beſtechung).6


  • a) Das Annehmen, Fordern oder Sichverſprechenlaſſen von
    Geſchenken oder anderen (nicht notwendig Vermögens-)
    Vorteilen von Seiten eines Beamten für eine an ſich
    nicht pflichtwidrige
    Amtshandlung (StGB. §. 331).7
    Das Geſchenk muß Aequivalent für die Amtshand-
    lung ſein; wird es gegeben, um einem allgemeinen
    Gebrauche zu entſprechen (wie Trinkgelder, Neujahrs-
    geſchenke), um beſondere nicht in das Amt einſchla-
    gende Gefälligkeiten zu entlohnen, oder um dem Ge-
    fühle perſönlicher Dankbarkeit oder Verehrung Ausdruck
    zu geben uſw., ſo liegt Beſtechung nicht vor.8 Die
    Praxis hat hier im Einzelfalle die richtige Grenze zu
    ziehen.
    Strafe: Geld bis zu 300 Mark oder Gefängnis
    bis zu 6 Monaten.
    Der Geſchenkgeber kann nicht nach §. 331 beſtraft
    werden: arg. §§. 333 und 334 Abſ. 2; doch trifft

    [381]VI. Die Amtsdelikte. §. 92.
    ihn nach einzelnen Nebengeſetzen9eine Ordnungs-
    ſtrafe.
  • b) Das Annehmen, Fordern, Sichverſprechenlaſſen von
    Geſchenken oder anderen Vorteilen von Seiten eines
    Beamten für eine Handlung, die eine Verletzung
    einer Amts- oder Dienſtpflicht
    10enthält
    (StGB. §. 332). Strafe: Zuchthaus bis zu fünf
    Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis.
    Wer einem Beamten oder einem Mitgliede der
    bewaffneten Macht
    Vorteile anbietet, ver-
    ſpricht, oder gewährt
    , um ihn
    11zu einer ſolchen
    Handlung zu beſtimmen, wird nach §. 333 mit Ge-
    fängnis (mit fakultativem Ehrverluſt), bei mildernden
    Umſtänden mit Geldſtrafe bis zu 1500 Mark beſtraft.
  • c) Das Annehmen, Fordern, Sichverſprechenlaſſen von
    Geſchenken oder anderen Vorteilen von Seiten eines
    Richters, Schiedsrichters, Geſchworenen oder
    Schöffen
    ,12 um eine Rechtsſache, deren Leitung
    oder Entſcheidung ihm obliegt, zu Gunſten oder zum
    Nachteile eines Beteiligten zu entſcheiden (StGB. §. 334).
    Strafe: Zuchthaus.
    Denjenigen, der die Geſchenke oder Vorteile anbietet,
    verſpricht oder gewährt, trifft ebenfalls Zuchthaus,
    an deſſen Stelle jedoch bei mildernden Umſtänden
    Gefängnis treten kann.

    [382]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
    In allen Fällen (a—c) iſt im Urteile das Em-
    pfangen oder der Wert desſelben für dem Staate
    verfallen zu erklären (StGB. §. 335).

2. Die Beugung des Rechts zu Gunſten oder zum
Nachteile einer Partei durch einen Beamten oder Schieds-
richter 13 bei Leitung oder Entſcheidung einer Rechtsſache
(StGB. §. 336). Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren.


3. Strafbare Handlungen bei Trauung und Ehe-
ſchließung
.


  • a) Ein Geiſtlicher oder Religionsdiener, 14 welcher zur
    Trauung ſchreitet, bevor ihm nachgewieſen worden iſt,
    daß die Ehe vor dem Standesbeamten geſchloſſen ſei,
    wird mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder mit Ge-
    fängnis bis zu 3 Monaten beſtraft (§. 67 des Per-
    ſonenſtandsgeſetzes vom 6. Februar 1875; an Stelle
    des §. 337 StGB. getreten).
  • b) Zuchthaus bis zu 5 Jahren trifft den Religionsdiener
    oder Perſonenſtandsbeamten, welcher, wiſſend daß eine
    Perſon verheiratet iſt, eine neue Ehe derſelben ſchließt
    (StGB. §. 338; vgl. oben §. 90 II 2).

4. Mißbrauch der Amtsgewalt zur Bedrückung
Privater
.


  • a) Widerrechtliche Nötigung zu einer Handlung, Dul-
    dung, Unterlaſſung durch Mißbrauch der Amtsgewalt
    oder durch Androhung eines beſtimmten Mißbrauches
    derſelben (StGB. §. 339; vgl. oben §. 63 I). Strafe:
    Gefängnis. Verſuch ſtrafbar.
  • b) Der Thatbeſtand gewiſſer Delikte, die ſich als Spezial-
    fälle dem allgemeinen Begriffe der Nötigung gegenüber-
    [383]IV. Die Amtsdelikte. §. 92.
    ſtellen laſſen (es ſind die §§. 106, 107, 167, 253
    StGB.; vgl. unten §. 98, oben §. 89 IV, §. 74), er-
    fährt durch §. 339 Abſ. 3 inſofern eine Erweiterung,
    als Mißbrauch der Amtsgewalt oder Andro-
    hung eines beſtimmten Mißbrauches derſelben
    ,
    wenn von einem Beamten ausgehend, für an ſich ſchon
    geeignete Begehungsmittel erklärt werden.
  • c) Körperverletzung, die der Beamte in Ausübung
    oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines Amtes vor-
    ſätzlich begeht oder begehen läßt 15 (StGB. §. 340;
    vgl. oben §. 61). 16
    Strafe:
    • 1. Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei mil-
      dernden Umſtänden Gefängnis von einem Tage
      bis zu fünf Jahren oder Geldſtrafe bis zu
      900 Mark;
    • 2. wenn die Körperverletzung eine ſchwere (StGB.
      §. 224) war, Zuchthaus nicht unter 2 Jahren;
      bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter
      3 Monaten.
  • d) Beſchränkung der perſönlichen Freiheit durch
    Verhaftung, vorläufige Ergreifung und Feſtnahme oder
    Zwangsgeſtellung, die der Beamte vorſätzlich und wider-
    rechtlich vornimmt oder vornehmen läßt, 17 oder durch
    [384]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
    vorſätzliche und widerrechtliche Verlängerung der Dauer
    einer Freiheitsentziehung (StGB. §. 341; vgl. oben
    §. 63 II).
    Strafe: die des §. 239 StGB. (oben §. 63 II);
    mindeſtens aber Gefängnis von 3 Monaten.
  • e) Hausfriedensbruch durch einen Beamten in Aus-
    übung oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines
    Amtes (StGB. §. 342; vgl. oben §. 81 II). Strafe:
    Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu
    900 Mark. 18

5. Mißbrauch der Amtsgewalt im Strafver-
fahren
.


  • a) Die Anwendung (oder das Anwendenlaſſen) 19 von
    Zwangsmitteln, um Geſtändniſſe oder Aus-
    ſagen zu erpreſſen
    (StGB. §. 343). Strafe:
    Zuchthaus bis zu 5 Jahren.
  • b) Vorſätzliche Beantragung oder Beſchließung der Er-
    öffnung oder Fortſetzung einer Unterſuchung

    zum Nachteile einer Perſon, deren Unſchuld dem be-
    treffenden Beamten bekannt iſt (StGB. §. 344).
    Strafe: Zuchthaus.
  • c) Das Vollſtreckenlaſſen20einer Strafe, von
    welcher der Beamte weiß, daß ſie überhaupt nicht oder
    nicht der Art oder dem Maße nach vollſtreckt werden
    darf (StGB. §. 345).
    Strafe:
    • 1. bei vorſätzlicher Begehung, Zuchthaus;
    • 2. bei fahrläſſiger Begehung Gefängnis oder Feſtung
      [385]VI. Die Amtsdelikte. §. 92.
      bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu
      900 Mark.
  • d) Begünſtigung von Verbrechern; und zwar: die
    Unterlaſſung der Verfolgung einer ſtrafbaren Hand-
    lung; oder die Begehung einer Handlung, die geeignet
    iſt, eine Freiſprechung oder eine dem Geſetze nicht ent-
    ſprechende Beſtrafung zu bewirken; oder das Nichtbe-
    treiben der Vollſtreckung einer ausgeſprochenen Strafe;
    oder endlich die Vollſtreckung einer gelinderen als der
    ausgeſprochenen Strafe: wenn von einem vermöge
    ſeines Amtes zur Mitwirkung bei Ausübung der Straf-
    gewalt oder bei Vollſtreckung der Strafe berufenen
    Beamten in der Abſicht begangen, Jemanden der ge-
    ſetzlichen Strafe rechtswidrig zu entziehen (StGB.
    §. 346). 21
    Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; bei mil-
    dernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Mo-
    nate.
  • e) Das Entweichenlaſſen, die Bewirkung oder Be-
    förderung 22 der Befreiung eines Gefangenen durch den
    Beamten, deſſen Beaufſichtigung, Begleitung oder Be-
    wachung der Gefangene anvertraut iſt (StGB. §. 347;
    vgl. unten §. 100 IV). 23
    Strafe:
    • 1. bei vorſätzlicher Begehung Zuchthaus bis zu
      5 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis
      nicht unter einem Monate;
    • 2. bei fahrläſſiger Begehung Gefängnis bis zu
      6 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 600 Mark.

6. Strafbare Handlungen in Beziehung auf
Urkunden
(StGB. §. 348).


  • a) Die vorſätzliche Falſch-Beurkundung einer rechtlich
    erheblichen Thatſache, oder das Falſch-Eintragen einer
    ſolchen in öffentliche Regiſter oder Bücher durch einen
    zur Aufnahme 24 öffentlicher Urkunden befugten Beamten
    innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit (vgl. oben §. 88 II 2).
    Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monate.
  • b) die vorſätzliche Vernichtung, Bei-Seite-Schaffung,
    Beſchädigung oder Verfälſchung einer dem Beamten
    amtlich anvertrauten oder zugänglichen Urkunde durch
    dieſen. Urkunde iſt auch hier (vgl. oben §. 88 I) jeder
    zur Feſtſtellung rechtlich erheblicher Thatſachen be-
    ſtimmte 25 Gegenſtand; Privaturkunden gehören auch
    dann hieher, wenn ſie nicht beweiserheblich ſind.
    Strafe: wie zu a.

In beiden Fällen (a und b) tritt Zuchthaus bis zu
10 Jahren mit obligatoriſcher Geldſtrafe von 150 bis zu
3000 Mark ein (StGB. §. 349), wenn der Thäter die
Handlung in der Abſicht begangen hat, ſich oder einem An-
deren einen Vermögensvorteil zu verſchaffen oder einem An-
deren Schaden zuzufügen. 26


7. Die Amtsunterſchlagung, alſo die von einem
Beamten begangene Unterſchlagung (vgl. oben §. 67) von
[387]VI. Die Amtsdelikte. §. 92.
Geldern oder anderen Sachen, die er in amtlicher Eigen-
genſchaft, 27 wenn auch mit Ueberſchreitung der Grenzen ſeiner
Zuſtändigkeit, 28 empfangen oder in Gewahrſam hat (StGB.
§. 350). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten mit
fakultativem Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar.


Die Strafe wird geſchärft (Zuchthaus bis zu 10 Jahren;
bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Mo-
naten), wenn der Beamte in Beziehung auf die Unterſchla-
gung die zur Eintragung oder Kontrolle der Einnahmen
oder Ausgaben beſtimmten Rechnungen, Regiſter oder Bücher
unrichtig geführt, verfälſcht oder unterdrückt, oder unrichtige
Abſchlüſſe oder Auszüge aus dieſen Rechnungen, Regiſtern
oder Büchern, oder unrichtige Belege zu denſelben vorgelegt
hat, oder wenn in Beziehung auf die Unterſchlagung auf
Fäſſern, Beuteln oder Paketen der Geldinhalt fälſchlich be-
zeichnet iſt (StGB. §. 351).


8. Erhebung von Gebühren, Abgaben, Steuern,
Vergütungen, von welchen der Erhebende weiß, daß der Zah-
lende ſie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrage
ſchuldet; 29 und zwar:


  • a) wenn von einem Beamten, Advokaten, Anwalt oder
    ſonſtigen Rechtsbeiſtand 30 vorgenommen, der Gebühren
    uſw. für amtliche Verrichtungen zu ſeinem Vorteile
    zu erheben hat (StGB. §. 352). Strafe: Geld-
    [388]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
    ſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu einem
    Jahre. Verſuch ſtrafbar.
  • b) Wenn von einem Beamten begangen, der Gebühren
    uſw. für eine öffentliche Kaſſe zu erheben hat,
    ſofern er das rechtswidrig Erhobene ganz oder zum
    Teile nicht zur Kaſſe bringt (StGB. §. 353).
    Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

Gleiche Strafe (wie zu b) trifft den Beamten, welcher
bei amtlichen Ausgaben an Geld oder Naturalien dem
Empfänger vorſätzlich und rechtswidrig Abzüge macht und
die Ausgaben als vollſtändig geleiſtet in Rechnung ſtellt
(StGB. §. 353 Abſ. 2).


9. Strafbare Handlungen im diplomatiſchen
Dienſt des deutſchen Reichs
(StGB. §. 353a; „Arnim-
paragraph“).


  • a) Verletzung der Amtsverſchwiegenheit durch
    widerrechtliche Mitteilung von ihm amtlich anvertrauten
    oder zugänglichen Schriftſtücken, oder von ihm durch
    ſeinen Vorgeſetzten erteilten Anweiſungen oder von
    deren Inhalt an Andere. Strafe: Gefängnis oder
    Geldſtrafe bis zu 5000 Mark.
  • b) Vorſätzlicher Ungehorſam gegen amtlich erteilte An-
    weiſungen des Vorgeſetzten; Strafe: wie zu a.
  • c) Berichtung von erdichteten oder entſtellten
    Thatſachen
    an den Vorgeſetzten, in der Abſicht (hier
    gleich Motiv), dieſen in ſeinen amtlichen Handlungen
    irre zu leiten; Strafe: wie zu a.

10. Widerrechtliche Eröffnung oder Unterdrückung31
[389]VI. Die Amtsdelikte. §. 92.
von der Poſt anvertrauten Briefen32oder Paketen
durch Poſtbeamte. Gleichgeſtellt iſt die Geſtattung der Vor-
nahme einer ſolchen Handlung durch Andere ſowie die Bei-
hülfe 33 hiezu (StGB. §. 354). Strafe: Gefängnis nicht
unter 3 Monaten.


11. Strafbare Handlungen von Telegraphen-
beamten
oder anderen mit der Beaufſichtigung und Be-
dienung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen-
anſtalt betrauten Perſonen (StGB. §. 355).


  • a) Verfälſchung von der Anſtalt anvertrauten De-
    peſchen;
  • b) Widerrechtliche Eröffnung oder Unterdrückung der-
    ſelben;
  • c) Benachrichtigung Anderer von dem Inhalte der De-
    peſchen.

Gleichgeſtellt iſt auch hier 34 die Geſtattung der Vornahme
ſolcher Handlungen durch Dritte ſowie die Hülfeleiſtung dazu.


Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten.


12. Die ſogenannte Konnivenz des Amtsvorgeſetzten
(StGB. §. 357). Sie liegt vor:


  • a) wenn der Amtsvorgeſetzte ſeinen Untergebenen zu einer
    ſtrafbaren Handlung im Amte 35 vorſätzlich verleitet 36
    oder zu verleiten unternimmt; 37

[390]Drittes Buch. Delikte gegen „uneigentliche“ Rechtsgüter.
  • b) wenn er eine ſolche Handlung ſeiner Untergebenen
    wiſſentlich geſchehen läßt; 38
  • c) wenn die von einem anderen Beamten begangene
    ſtrafbare Handlung die zur Aufſicht oder Kontrolle des
    Angeklagten gehörenden Geſchäfte betrifft. 39

Als Strafe für die Konnivenz gilt die auf jene Hand-
lung, zu welcher die Konnivenz geleiſtet wurde, geſetzte
Strafe.


[[391]]

Viertes Buch.
Strafbare Handlungen gegen das
Gemeinweſen.


I. Gegen Beſtand und Sicherheit des Staates.


1.

§. 93. Hochverrat.1

I. 1. Hochverrat — im Gegenſatze zum Landesverrate
— iſt der Angriff auf Beſtand und Sicherheit des Staates
als eines Einzelindividuums. Die hochverräteriſchen
Handlungen würden ihren Charakter nicht verlieren, auch
wenn der Staat, gegen welchen ſie gerichtet ſind, der einzige
auf Erden beſtehende wäre.


2. Objekt des Hochverrates im eigentlichen Sinne iſt
aber nur das inländiſche Staatsganze, d. h. dasjenige,
deſſen Geſetzgebung in Frage ſteht; für uns das deutſche
Reich, und jeder einzelne deutſche Bundesſtaat. 2 Es bedarf
beſonderer Anordnung, wenn Beſtand und Sicherheit auch
ausländiſcher Gemeinweſen unter ſtrafrechtlichen Schutz
geſtellt werden ſoll (vgl. StGB. §. 102 und unten II); 3 zur
[392]Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.
Gewährung ſolchen Schutzes wird die heimiſche Geſetzgebung
nicht nur durch ihr Intereſſe an Aufrechthaltung freundnach-
barlicher Beziehungen beſtimmt, ſondern in erſter Linie durch
die immer ſtärker werdende Intereſſengemeinſchaft ſämmtlicher
Kulturſtaaten, welche jede Erſchütterung des einen Gemein-
weſens auf alle übrigen zu reflektieren droht.


3. Andererſeits kommt dem Hochverrate gegenüber das
inländiſche Strafrecht zur Anwendung, auch wenn die ſtraf-
bare Handlung im Auslande, ſei es von einem Inländer,
ſei es von einem Ausländer begangen wurde (StGB. §. 4
Ziff. 1, vgl. oben §. 13 III).


II. Die Reichsgeſetzgebung bezeichnet in kaſuiſtiſcher Weiſe,
mit Ausſchluß aller übrigen etwa gleichwertigen, jene Hand-
lungen, in welchen ſie einen Angriff auf Beſtand und
Sicherheit des Staates erblickt. Darnach iſt Hochverrat im
Sinne des poſitiven Rechtes:


1. Mord und Mordverſuch an dem Kaiſer, an dem
eigenen Landesherrn oder während des Aufenthaltes in einem
Bundesſtaate an dem Landesherrn dieſes Staates verübt.
Strafe: der Tod (StGB. §. 80).


2. Das Unternehmen, einen Bundesfürſten (abgeſehen
von dem Falle unter 1) zu töten, gefangen zu nehmen, in
Feindes Gewalt zu liefern oder zur Regierung unfähig zu
machen (StGB. §. 81 Ziff. 1).


3. Das Unternehmen, die Verfaſſung des deutſchen
Reichs oder eines Bundesſtaates oder die in demſelben be-
ſtehende Thronfolge gewaltſam zu ändern (StGB. §. 81
Ziff. 2).


4. Das Unternehmen, das Bundesgebiet einem fremden
Staate oder das Gebiet eines Bundesſtaates einem
anderen Bundesſtaate ganz oder teilweiſe gewaltſam einzu-
[393]Hochverrat. §. 93.
verleiben; oder einen Teil des Bundesgebietes oder des Ge-
bietes eines Bundesſtaates vom Ganzen loszureißen (StGB.
§. 81 Ziff. 3 und 4). 4


Strafe zu 2—4: lebenslängliches Zuchthaus oder lebens-
längliche Feſtungshaft, bei mildernden Umſtänden Feſtungs-
haft nicht unter 5 Jahren; neben Feſtungshaft kann auf
Verluſt der bekleideten öffentlichen Aemter, ſowie der aus
öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden
(vgl. oben §. 51 II 3).


III. 1. Im Falle 1 unter II iſt Verſuch und Vollendung
in der Beſtrafung gleichgeſtellt (vgl. oben §. 33 III 4); in
den Fällen 2—4 gilt dasſelbe von dem Unternehmen
(vgl. oben §. 33 III 3). StGB. §. 82 giebt uns eine,
nicht notwendig über das Gebiet des Hochverrates hinaus
anzuwendende, Definition dieſes Unternehmens: „jede Hand-
lung, durch welche das Vorhaben unmittelbar
zur Ausführung gebracht werden ſoll
.“ Alſo nicht
die beginnende Ausführungshandlung (oben §. 33 IV)
ſelbſt, ſondern die dieſen Beginn unmittelbar vorbereitende
Handlung. 5 Mit anderen Worten: das „Unternehmen“
umfaßt ein weiteres Gebiet als der Verſuch; umſchließt
auch Vorbereitungshandlungen; aber nur jene, die un-
mittelbar an das Verſuchsgebiet angrenzen. Die §§. 81 und
82 laſſen alſo den bei weitem größeren Teil der Vorberei-
tungshandlungen ſtraflos.


2. Dieſe Lücke füllen die folgenden Paragraphen aus.
Auch die Vorbereitungshandlungen zum Hochverrat
[394]Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.
ſind unter Strafe geſtellt; und zwar in der Weiſe, daß ge-
wiſſe beſonders gefährliche Vorbereitungshandlungen unter
beſondere höhere, alle übrigen unter gemeinſamen niederen
Strafrahmen fallen.


  • a) Das hochverräteriſche Komplott (die Verabredung
    der Ausführung eines hochverräteriſchen Unternehmens
    zwiſchen Mehreren; vgl. oben §. 38 II 4) wird nach
    StGB. §. 83 mit Zuchthaus oder Feſtungshaft nicht
    unter 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden mit Feſtungs-
    haft nicht unter 2 Jahren beſtraft. Neben Feſtungs-
    haft iſt teilweiſer Ehrverluſt fakultativ zugelaſſen (vgl.
    oben §. 51 II 3).
  • b) Dieſelbe Strafe trifft (StGB. §. 84) denjenigen, welcher
    zur Vorbereitung eines Hochverrates
    • α) ſich mit einer auswärtigen6Regierung
      einläßt
      , oder
    • β) die ihm vom Reiche oder einem Bundesſtaate
      anvertraute Macht mißbraucht, oder
    • γ) Mannſchaften anwirbt oder in den
      Waffen einübt
      .
  • c) Jede andere, ein hochverräteriſches Unternehmen vor-
    bereitende Handlung wird (StGB. §. 86) mit Zucht-
    haus oder Feſtungshaft bis zu 3 Jahren, bei mil-
    dernden Umſtänden mit Feſtungshaft von 6 Monaten
    bis zu 3 Jahren beſtraft.

IV. Die öffentliche Aufforderung zum Hochverrat
(StGB. §. 85) ſiehe unten §. 101 I.


V. In den Fällen der §§. 80, 81, 83, 84 StGB. (oben
[395]Hochverrat. §. 93.
II 1—4, III 2 a und b) kann bei Eröffnung der Unter-
ſuchung das Vermögen, welches der Angeſchuldigte beſitzt
oder welches ihm ſpäter anfällt, bis zur rechtskräftigen Been-
digung des Verfahrens mit Beſchlag belegt werden (StGB.
§. 93, vgl. mit StPO. §§. 480, 333 ff.).


VI. Wird eine der vorbezeichneten (II 2—4, III und V)
Handlungen gegen ein ausländiſches Gemeinweſen begangen,
ſo liegt, wie bereits (oben I) bemerkt, zwar nicht eigentlicher
Hochverrat, wohl aber ein dieſem nächſtverwandtes Delikt
vor, das unter gewiſſen Vorausſetzungen (StGB. §. 102) die
Thätigkeit der inländiſchen Strafgewalt wachruft. Dieſe
Vorausſetzungen ſind:


1. Verbürgte Gegenſeitigkeit (nicht notwendig durch
Staatsvertrag; ein die Gewähr künftiger Feſthaltung bie-
tender Gerichtsgebrauch genügt).


2. Während der deutſche Unterthan ſowohl im In-
lande wie im Auslande und hier ohne die Beſchränkungen
der §§. 4, 5 StGB. (oben §. 13 III) für die Begehung
derartiger Handlungen verantwortlich gemacht wird, haftet
der Ausländer nur während ſeines Aufenthaltes
im Inlande
, 7 alſo nur als subditus temporarius.


3. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der aus-
wärtigen Regierung ein
; der Antrag iſt rücknehmbar.


Strafe:


  • a) In den oben II 2—4, III 2 a und b angeführten
    Fällen Feſtungshaft von einem bis zu 10 Jahren,
    bei mildernden Umſtänden von 6 Monaten bis zu
    10 Jahren;

[396]Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.
  • b) in den oben III 2 c und IV angeführten Fällen
    Feſtungshaft von einem Monat bis zu 3 Jahren.

2.

§. 94. Landesverrat.

I. 1. Landesverrat iſt der Angriff auf Beſtand und
Sicherheit des Staates als eines Gliedes der Völker-
familie
. Er wird — im Gegenſatze zum Hochverrat —
erſt möglich durch das Nebeneinanderbeſtehen mehrerer Ge-
meinweſen. Nicht die Benachteiligung des eigenen Gemein-
weſens, ſondern die damit verbundene Unterſtützung eines
fremden Staates bildet ſein charakteriſtiſches Merkmal.
Der Staatsbürger wird nicht nur zum Feinde, er wird zu-
gleich zum Verräter des Vaterlandes. 1


2. Dieſer Charakter des Landesverrates, der ihm zu
Grunde liegende qualifizierte Treubruch, bringt es mit ſich,
daß der Kreis der möglichen Subjekte dieſes Deliktes eine
Einſchränkung erleidet. Der Deutſche haftet zwar auch,
wenn er im Auslande einen Landesverrat gegen das deutſche
Reich oder einen Bundesſtaat begeht, ohne weiteres nach in-
ländiſchem Rechte (StGB. §. 4 Ziff. 2, vgl. oben §. 13 III);
aber der Ausländer kann ſich des in §. 88 StGB. be-
drohten Falles (unten II 2) gar nicht, der übrigen Fälle
nur als subditus temporarius (während ſeines Aufenthaltes
innerhalb des Bundesgebietes unter dem Schutze des deutſchen
[397]Landesverrat. §. 94.
Reiches oder eines Bundesſtaates) ſchuldig machen, und iſt im
übrigen nach Kriegsgebrauch zu behandeln (StGB. §. 91).


3. Das inländiſche Recht gewährt nur den inländi-
ſchen
Gemeinweſen (dem Reiche und ſeinen Gliedern) den
Schutz ſeiner Strafgewalt.


4. Man teilt den Landesverrat ein in den militä-
riſchen
und den diplomatiſchen. Erſterer beſteht in der
kriegeriſchen, letzterer (unter poſitiv-rechtlicher Beſchränkung
der Strafbarkeit auf gewiſſe Fälle) in jeder anderweitigen
Unterſtützung einer auswärtigen Macht.


II.Der militäriſche Landesverrat.


1. Die Konſpiration („Sich-Einlaſſen“ StGB. §. 87)
mit einer ausländiſchen (nicht deutſchen) Regierung,
um dieſelbe zu einem Kriege gegen das deutſche
Reich zu veranlaſſen
.


Strafe:


  • a) Zuchthaus nicht unter 5 Jahren, bei mildernden Um-
    ſtänden Feſtungshaft von 6 Monaten bis zu 5 Jahren;
  • b) wenn der Krieg ausgebrochen iſt, lebenslängliches Zucht-
    haus, bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht
    unter 5 Jahren.

Neben Feſtungshaft kann auf Verluſt der bekleideten
öffentlichen Aemter, ſowie der aus öffentlichen Wahlen her-
vorgegangenen Rechte erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 3).


2. Dienſt in der feindlichen Kriegsmacht wäh-
rend eines gegen das deutſche Reich ausgebrochenen Krieges,
oder Waffentragen gegen das deutſche Reich oder deſſen
Bundesgenoſſen (StGB. §. 88).


Strafe:


  • a) wenn der Thäter ſchon vor Ausbruch des Krieges in
    fremden Kriegsdienſten ſtand, Zuchthaus von 2 bis zu
    [398]Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.
    10 Jahren, oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei
    [mildernden] Umſtänden Feſtungshaft bis zu 10 Jahren;
  • b) wenn dies nicht der Fall, lebenslängliches Zuchthaus
    oder lebenslängliche Feſtungshaft, bei mildernden Um-
    ſtänden Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren.

Neben Feſtungshaft iſt Aberkennung der bekleideten öffent-
lichen Aemter, ſowie der aus öffentlichen Wahlen hervorge-
gangenen Rechte zuläſſig (vgl. oben §. 51 II 3).


3. Vorſätzliche Begünſtigung („wer … Vorſchub
leiſtet“ StGB. §. 89) einer feindlichen Macht2 während
eines gegen das deutſche Reich ausgebrochenen Krieges, oder
Benachteiligung der Truppen des deutſchen Reichs
oder der Bundesgenoſſen desſelben.


Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs-
haft von gleicher Dauer, bei mildernden Umſtänden Feſtungs-
haft bis zu 10 Jahren. Teilweiſer Ehrverluſt wie oben zu 2.


4. Aus dem in §. 89 StGB. (oben 3) aufgeſtellten Be-
griffe hebt §. 90 gewiſſe beſonders ſchwere Fälle hervor, um
ſie einer verſchärften Strafe zu unterwerfen. Lebenslängliches
Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht
unter 5 Jahren (teilweiſer Ehrverluſt wie oben zu 2) trifft
den Deutſchen, welcher während eines gegen das deutſche
Reich ausgebrochenen Krieges vorſätzlich


  • a) Feſtungen, Päſſe, beſetzte Plätze oder andere Ver-
    teidigungspoſten, ingleichen deutſche oder verbündete
    Truppen oder einzelne Offiziere oder Soldaten in
    feindliche Gewalt bringt;

[399]Landesverrat. §. 94.
  • b) Feſtungswerke, Schiffe oder andere Fahrzeuge der Kriegs-
    marine, Kaſſen, Zeughäuſer, Magazine oder andere
    Vorräte von Waffen, Schießbedarf oder anderen Kriegs-
    bedürfniſſen in feindliche Gewalt bringt oder dieſelben,
    ſowie Brücken und Eiſenbahnen zum Vorteile des
    Feindes zerſtört oder unbrauchbar macht;
  • c) dem Feinde Mannſchaften zuführt oder Soldaten des
    deutſchen oder verbündeten Heeres verleitet, zum Feinde
    überzugehen;
  • d) Operationspläne oder Pläne von Feſtungen oder feſten
    Stellungen dem Feinde mitteilt;
  • e) dem Feinde als Spion dient oder feindliche Spione
    aufnimmt, verbirgt oder ihnen Beiſtand leiſtet; oder
  • f) einen Aufſtand unter den deutſchen oder verbündeten
    Truppen erregt.

III. Der diplomatiſche Landesverrat; nach StGB.
§. 92 vorliegend, wenn Jemand vorſätzlich


1. Staatsgeheimniſſe oder Feſtungspläne, oder ſolche Ur-
kunden, Aktenſtücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß
ihre Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für
das Wohl des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates
erforderlich iſt, dieſer Regierung mitteilt oder öffentlich be-
kannt macht;


2. zur Gefährdung der Rechte des deutſchen Reichs oder
eines Bundesſtaates im Verhältnis zu einer anderen Re-
gierung die über ſolche Rechte ſprechenden Urkunden oder
Beweismittel vernichtet, verfälſcht oder unterdrückt;


3. ein ihm von Seiten des deutſchen Reichs oder eines
Bundesſtaates aufgetragenes Staatsgeſchäft mit einer anderen
Regierung zum Nachteil deſſen führt, der ihm den Auftrag
erteilt hat.


[400]Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.

Strafe: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden
Umſtänden Feſtungshaft nicht unter 6 Monaten.


IV. In allen Fällen des Landesverrates kann (StGB.
§. 93) Beſchlagnahme des Vermögens des Beſchul-
digten in der oben §. 93 V angegebenen Weiſe ſtattfinden.


3.

§. 95. Gefährdung der militäriſchen Sicherheit des
Staates.

Die hieher gehörenden Delikte charakteriſieren ſich negativ
durch den fehlenden animus hostilis (bei deſſen Vorliegen
ſie in Landesverrat übergehen können), poſitiv durch die
ihnen im allgemeinen (nicht notwendig im konkreten Falle)
innewohnende Gefährdung der militäriſchen Intereſſen des
Staates.


I. Das unbefugte Aufnehmen oder Veröffent-
lichen von Feſtungsriſſen
oder Riſſen einzelner Feſtungs-
werke wird nach StGB. §. 360 Ziff. 1 als Uebertretung
(mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft) beſtraft. Ein-
ziehung
der Riſſe zuläſſig, ohne Unterſchied, ob ſie dem
Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 50 II).


II.Veröffentlichungen (in der Preſſe) über Trup-
penbewegungen oder Verteidigungsmittel
in Zeiten
der Kriegsgefahr oder des Krieges trotz des öffentlich bekannt
gemachten Verbotes des Reichskanzlers (Preßgeſetz §. 15).1


Strafe: (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1): Geldſtrafe bis zu
1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.


III. Auch die Nichterfüllung von Lieferungsver-
[401]Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung. §. 96.
trägen, die mit einer Behörde über Bedürfniſſe des Heeres
oder der Marine zur Zeit eines Krieges geſchloſſen wurden
(StGB. §. 329), könnte hieher geſtellt werden, wurde aber
von uns des Zuſammenhanges wegen bereits an anderer
Stelle (vgl. oben §. 84 VIII) behandelt.


II. Strafbare Handlungen gegen die Staatsgewalt
und ihre Organe.


1.

§. 96. Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung.

I. 1. Die Ehre des Trägers der ſtaatlichen Souverä-
nität iſt begrifflich keine andere als die des Privatmannes;
der Ehrbegriff ſelbſt, richtig gefaßt (vgl. oben §. 80 I) iſt
dehnbar genug, um ſich jeder Lebensſtellung des Individuums
anzupaſſen. Wir bewegen uns innerhalb der allgemeinen
Definition der Beleidigung, wenn wir die Majeſtätsbeleidi-
gung beſtimmen als die Verletzung der dem Souverän
(nicht als Menſchen, ſondern eben als dem Repräſentanten
der Souveränität) geſchuldeten Achtung; und es bedarf
nach dem oben §. 80 I Geſagten keiner weiteren Ausfüh-
rungen darüber, daß dieſe Achtung nach Inhalt und Umfang
die dem Privatmanne geſchuldete ebenſoweit überragt, als
die Stellung des Souveräns im ſtaatlichen Leben die des
Privatmannes. Die Aufſtellung des beſonderen Deliktes
Majeſtätsbeleidigung in der modernen Geſetzgebung hat dem-
nach, wenn wir von den veränderten, der Schwere wie der
politiſchen Natur des Deliktes rechnungtragenden Straf-
rahmen abſehen, juriſtiſche Bedeutung nur nach der Richtung
von Liszt, Strafrecht. 26
[402]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
hin, als die für die gewöhnliche Beleidigung gegebenen be-
ſonderen (alſo nicht aus dem Begriffe des Verbrechens fol-
genden) Beſtimmungen, ſo jene über Antragserfordernis,
Buße, Retorſion uſw., auf die Majeſtätsbeleidigung keine
Anwendung finden.


2. Nur der monarchiſche Träger der Souveränität,
ſowie die Mitglieder ſeiner Familie und ſein Repräſentant
(der Regent) können nach heutigem deutſchen Rechte Objekt
der Majeſtätsbeleidigung ſein; die Träger der Souveränität
in den republikaniſchen Gemeinweſen Deutſchlands ent-
behren des erhöhten ſtrafrechtlichen Schutzes ihrer Ehre. Der
ſtaatsrechtlichen Geſtaltung des deutſchen Reiches entſprechend,
hebt das Geſetz den Kaiſer, den Landesherrn des Hei-
matsſtaates
und jenen des Aufenthaltsſtaates des
Thäters aus den übrigen Bundesfürſten hervor;1 eigentüm-
licher Weiſe kommt die Familie des Kaiſers (insbeſondere
der deutſche Kronprinz) nur als landesherrliche Familie
(Kronprinz von Preußen) in Betracht.


3. Eigentliche Majeſtätsbeleidigung iſt nur gegen einen
deutſchen Monarchen poſitiv rechtlich möglich; doch ge-
nießen auch die Landesherren und Regenten, ſowie die diplo-
matiſchen Repräſentanten ausländiſcher Staatsweſen
unter gewiſſen Vorausſetzungen eines — geringeren —
Schutzes durch das deutſche Strafrecht (vgl. unten IV).


4. Die Strafen ſtufen ſich ab, je nachdem es ſich um
eine Thätlichkeit (Begriff oben §. 80 S. 322) oder um eine
einfache Beleidigung handelt. Als Beleidigung haben wir
hier wohl die oben §. 80 II 1, 2, 3, 4 (StGB. §§. 185,
[403]Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung. §. 96.
186, 187)2 angeführten Fälle, nicht aber den Fall des
§. 189 StGB. (oben §. 80 II 5) zu betrachten.


5. Von einem Deutſchen im Auslande gegen einen
Bundesfürſten (nicht gegen eine landesherrliche Familie
oder gegen den Regenten eines Bundesſtaates) begangenen
Beleidigungen ſind ohne weiteres nach inländiſchem Straf-
rechte zu beſtrafen (StGB. §. 4 Ziff. 2; vgl. oben §. 13 III).


II.Thätlichkeit


1. gegen den Kaiſer, gegen die Landesherren des
Thäters oder während deſſen Aufenthalts in einem
Bundesſtaate gegen den Landesherrn dieſes Staa-
tes
: lebenslängliches Zuchthaus oder lebenslängliche Feſtungs-
haft, in minder ſchweren Fällen (oben §. 54 II 1) Zuchthaus
nicht unter 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer;
neben Feſtungshaft teilweiſer Ehrverluſt (oben §. 51 II 3)
zuläſſig; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht unter
5 Jahren (StGB. §. 94);


2. gegen ein Mitglied des landesherrlichen Hauſes
oder den Regenten des Heimats- oder Aufenthalts-
ſtaates
: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren oder Feſtungshaft
von gleicher Dauer; in minder ſchweren Fällen (oben §. 54
II 1) Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft von
gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von
einem Jahre bis zu 5 Jahren (StGB. §. 96);


3. gegen einen anderen Bundesfürſten: Zuchthaus
von 2 bis zu 10 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher
Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von 6 Monaten
bis zu 10 Jahren (StGB. §. 98);


4. gegen ein Mitglied des landesherrlichen Hauſes
[404]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
oder den Regenten eines anderen Bundesſtaates:
Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher
Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von einem
Monate bis zu 3 Jahren (StGB. §. 100).


III.Einfache Beleidigung


1. gegen die oben II 1 genannten Perſonen:
Gefängnis nicht unter 2 Monaten oder Feſtungshaft von
2 Monaten bis zu 5 Jahren; neben Gefängnis teilweiſer
Ehrverluſt (oben §. 51 II 3) fakultativ (StGB. §. 95);


2. gegen die oben II 2 genannten Perſonen:
Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren oder Feſtungs-
haft von gleicher Dauer (StGB. §. 97);


3. gegen die oben II 3 genannten Perſonen:
Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren oder Feſtungs-
haft von gleicher Dauer; Verfolgung nur mit Ermächtigung
des Beleidigten (StGB. §. 99);


4. gegen die Regenten (nicht gegen die Mitglieder
des landesherrlichen Hauſes) der oben II 4 genannten
Staaten
: Gefängnis von einer Woche bis zu 2 Jahren
oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; Verfolgung nur mit
Ermächtigung des Beleidigten (StGB. §. 101).


IV. 1. Thätliche oder einfache Beleidigung gegen den
Landesherrn oder den Regenten eines nicht zum
deutſchen Reiche gehörenden Staates
; wird, ſofern in
dieſem Staate dem deutſchen Reiche die Gegenſeitigkeit ver-
bürgt iſt (vgl. oben §. 93 VI), nach StGB. §. 103 mit Ge-
fängnis von einer Woche bis zu 2 Jahren oder mit Feſtungs-
haft von gleicher Dauer beſtraft. Antragsdelikt; antrags-
berechtigt die auswärtige Regierung; Antrag rücknehmbar.


2. Beleidigung (thätliche oder einfache) gegen einen bei
dem Reich, einem bundesfürſtlichen Hofe oder bei dem Senate
[405]Delikte gegen geſetzgebende Verſammlungen ꝛc. §. 97.
einer der freien Hanſeſtädte beglaubigten Geſandten oder
Geſchäftsträger
wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre
oder mit Feſtungshaft von gleicher Dauer beſtraft (StGB.
§. 104). Antragsdelikt; Antrag rücknehmbar.


2.

§. 97. Strafbare Handlungen gegen geſetzgebende Verſamm-
lungen und deren Mitglieder.

I. Das Unternehmen, den Senat oder die Bürgerſchaft
einer der freien Hanſeſtädte, oder eine geſetzgebende Verſamm-
lung des Reiches oder eines Bundesſtaates1


  • 1. auseinanderzuſprengen;
  • 2. zur Faſſung oder Unterlaſſung von Be-
    ſchlüſſen zu nötigen
    ;
  • 3. Mitglieder aus ihnen gewaltſam zu entfer-
    nen
    (StGB. §. 105).

Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren oder Feſtungs-
haft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungs-
haft nicht unter einem Jahre.


II. Die durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer
ſtrafbaren Handlung2 begangene Verhinderung eines Mit-
gliedes einer der unter I bezeichneten Verſammlungen,


  • 1. ſich an den Ort der Verſammlung zu begeben, oder
  • 2. zu ſtimmen (StGB. §. 106).

Poſitiver Zwang, insbeſondere zur Abgabe der Stimme
gehört nicht hieher, ſondern fällt eventuell unter StGB.
§. 240 (oben §. 63 I).


[406]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft
von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft
bis zu 2 Jahren.


Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB. vgl.
oben §. 92 II 4 b.


3.

§. 98. Strafbare Handlungen in Beziehung auf das
politiſche Wahl- oder Stimmrecht.

I. Durch Gewalt oder durch Bedrohung1 mit einer ſtraf-
baren Handlung begangene Verhinderung (nicht poſitiver
Zwang) eines Deutſchen,2 in Ausübung ſeiner ſtaats-
bürgerlichen Rechte3 zu wählen oder zu ſtimmen (StGB.
§. 107).


Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten oder Feſtungs-
haft bis zu 5 Jahren. Verſuch ſtrafbar.


Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB.
vgl. oben §. 92 II 4 b.


II. Vorſätzliche Herbeiführung eines unrichtigen
Ergebniſſes bei Wahlhandlungen in öffentlichen
Angelegenheiten, oder Verfälſchung des Wahler-
gebniſſes
(StGB. §. 108).


Strafe:


  • 1. Wenn der Thäter mit der Sammlung von Wahl-
    oder Stimm-Zetteln oder -Zeichen oder mit der Führung
    [407]Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.
    der Beurkundungsverhandlung beauftragt war, Ge-
    fängnis von einer Woche bis zu 3 Jahren;
  • 2. wenn dies nicht der Fall, Gefängnis bis zu zwei
    Jahren.

In beiden Fällen kann auf Verluſt der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.


III.Kauf oder Verkauf von Wahlſtimmen in
einer öffentlichen Angelegenheit
(StGB. §. 109).
Der civilrechtliche Begriff des Kaufes findet dabei keine An-
wendung; wohl aber iſt eine, wenn auch nicht ausdrückliche
Vereinbarung über Abgabe der Stimme in einem beſtimmten
Sinne einerſeits und über die Gegenleiſtung andererſeits er-
forderlich. Mit dieſer Vereinbarung iſt das Vergehen voll-
endet, mag es auch gar nicht zur Abgabe der Stimme ge-
kommen oder dieſe nicht der Verabredung gemäß erfolgt
ſein. Beſtechung zum Zweck der Wahlenthaltung fällt
nicht hieher.


Strafe: Gefängnis von einem Monate bis zu zwei
Jahren; auch kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte
erkannt werden.


4.

§. 99. Widerſtand gegen die Staatsgewalt.1

I.Gewalt gegen Beamte.2


1. Durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt3
geleiſteter Widerſtand gegen einen Beamten, welcher
[408]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
zur Vollſtreckung von Geſetzen, von Befehlen und Anord-
nungen der Verwaltungsbehörden, oder von Urteilen oder
Verfügungen der Gerichte berufen, und in der rechtmäßigen
Ausübung ſeines Amtes begriffen iſt (StGB. §. 113).


Der Begriff des Beamten iſt aus dem oben §. 92 I 2
Geſagten zu entnehmen; doch ſtellt das Geſetz (StGB. §. 113
Abſ. 3) den Beamten gleich: jene Perſonen, welche zur Unter-
ſtützung des Beamten zugezogen waren; Mannſchaften der
bewaffneten Macht; endlich Mannſchaften einer Gemeinde-,
Schutz- oder Bürgerwehr.


Die Amtsausübung muß eine rechtmäßige ſein; ſie iſt
es, wenn die Amtshandlung nicht nur innerhalb der Grenzen
der allgemeinen Zuſtändigkeit des Beamten ſich bewegt, ſon-
dern auch im Einzelfalle ihre Vornahme bei pflichtgemäßer
Berückſichtigung der dem Beamten im Augenblicke vorliegenden
Umſtände als geboten erſcheint, mag ſie ſich auch nachträglich,
bei Klärung der Sachlage, als überflüſſig oder ſogar unge-
rechtfertigt darſtellen.4


Irrige Annahme der Rechtmäßigkeit von Seiten des
Beamten kann den Mangel derſelben nicht erſetzen.


Da das Vergehen des §. 113 StGB. nur vorſätzlich be-
gangen werden kann, iſt das Bewußtſein des Thäters von
der Rechtmäßigkeit der Amtsausübung unerläßlich;5 ſein
Mangel, ſollte er auch auf grober Fahrläſſigkeit beruhen,
ſchließt die Strafbarkeit des Widerſtandes aus.


Strafe: Gefängnis von 14 Tagen bis zu 2 Jahren;
bei mildernden Umſtänden Gefängnis bis zu einem Jahre oder
Geldſtrafe bis zu 1000 Mark.6


[409]Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.

2. Thätlicher Angriff7 auf eine der unter 1 ge-
nannten Perſonen, während ſie in der rechtmäßigen Aus-
übung ihres Amtes oder Dienſtes begriffen iſt (StGB.
§. 113). Strafe wie unter 1.


3. Das Unternehmen, durch Gewalt oder Drohung eine
Behörde oder einen Beamten zur Vornahme oder Unter-
laſſung einer Amtshandlung zu nötigen
(StGB.
§. 114).8


Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei mil-
dernden Umſtänden Gefängnis bis zu 2 Jahren.


II.Aufruhr und Auflauf.


1. Aufruhr.9 Die Teilnahme an einer öffentlichen
Zuſammenrottung,10 bei welcher eine der unter I bezeichneten
Handlungen mit vereinten Kräften begangen wird (StGB.
§. 115).11


Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten; gegen die
Rädelsführer (oben §. 37 I 5) ſowie diejenigen Perſonen,
welche eine der unter I bezeichneten Handlungen begangen
haben, Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Polizei-
aufſicht, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter
6 Monaten.


2. Auflauf: rechtswidriges Verweilen in einer auf
6
[410]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen verſammelten
Menſchenmenge, welche von dem zuſtändigen Beamten oder
Befehlshaber der bewaffneten Macht dreimal aufgefordert
worden ſich zu entfernen (StGB. §. 116).


Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe
bis zu 1500 Mark.


Iſt bei einem Auflaufe gegen die Beamten oder die be-
waffnete Macht mit vereinten Kräften thätlicher Widerſtand
geleiſtet oder Gewalt verübt worden, ſo treten gegen die-
jenigen, welche an dieſen Handlungen teilgenommen, die
Strafen des Aufruhrs ein.


III.Gewalt gegen Forſt- oder Jagdbeamte,
Waldeigentümer, Forſt- oder Jagdberechtigte oder
gegen einen von dieſen beſtellten Aufſeher
(StGB.
§§. 117—119). Der Autorität der Staatsgewalt iſt hier die
Autorität gewiſſer Privatperſonen wegen des Bedürfniſſes
derſelben nach intenſiverem ſtrafrechtlichen Schutze gegen An-
griffe gleichgeſtellt. Zwei Fälle gehören hieher:


1. Durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt
geleiſteter Widerſtand gegen die genannten Perſonen, wenn
ſie in der rechtmäßigen12 Ausübung ihres Amtes oder Rechtes
begriffen ſind;


2. der thätliche Angriff gegen dieſelben während der
Ausübung ihres Amtes oder Rechtes.


Daß die rechtswidrige Handlung innerhalb des be-
treffenden Revieres oder zwar außerhalb desſelben, aber in
unmittelbarem Zuſammenhange mit einer innerhalb des Re-
vieres vorgenommenen Amtshandlung oder Rechtsausübung
ſtattgefunden habe, iſt zum Thatbeſtande des Vergehens nicht
[411]Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.
erforderlich; es genügt die Richtung der Handlung gegen die
genannten, eines höheren ſtrafrechtlichen Schutzes bedürftigen
Perſonen.13 Ebenſowenig läßt ſich bei dem klaren Wortlaute
des Geſetzes die14 Anſicht rechtfertigen, daß nicht die Aus-
übung des Jagdrechtes oder anderer den angeführten Privat-
perſonen zuſtehender Rechte, ſondern nur die zum Schutze
der Waldungen und Jagden gegen Forſt- und Jagd-
frevler
vorgenommenen Handlungen in §. 117 gemeint ſeien.


Die Strafe iſt vielfach abgeſtuft.


  • a) Regelmäßiger Strafrahmen: Gefängnis von 14 Tagen
    bis zu 3 Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis
    bis zu einem Jahre (StGB. §. 117);
  • b) wenn der Widerſtand oder der Angriff unter Drohung
    mit Schießgewehr, Aexten oddr anderen gefährlichen
    Werkzeugen erfolgt oder mit Gewalt an der Perſon15
    begangen worden iſt: Gefängnis nicht unter 3 Mo-
    naten, bei mildernden Umſtänden nicht unter einem
    Monate (StGB. §. 117);
  • c) wenn durch den Widerſtand oder den Angriff eine
    Körperverletzung deſſen, gegen welchen die Handlung
    begangen iſt, verurſacht worden: Zuchthaus bis zu
    10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht
    unter 3 Monaten (StGB. §. 118);
  • d) wenn eine der Handlungen von Mehreren gemein-
    ſchaftlich16 begangen worden iſt, ſo kann die Strafe
    (a—c) bis um die Hälfte des angedrohten Höchſtbe-
    [412]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
    trages, die Gefängnisſtrafe jedoch nicht über 5 Jahre
    erhöht werden (StGB. §. 120).

IV.Die Befreiung von Gefangenen (StGB.
§§. 120—122)17 vorausſetzend, daß der „Gefangene“ (Unter-
ſuchungs- wie Strafgefangene, der in civilprozeſſualer wie in
polizeilicher Haft Befindliche) ſich bereits thatſächlich in der
Gewalt der Obrigkeit befunden hat, nicht erſt in dieſelbe ge-
bracht werden ſoll, charakteriſiert ſich durch den Bruch dieſer
Gewalt und nicht durch den — allerdings auch in ihr ge-
legenen — Eingriff in die ſtaatliche Rechtspflege, gehört
mithin nicht zu den unten §. 103 behandelten Delikten, ſon-
dern an jene Stelle, welche auch die Syſtematik des RStGB.
ihr angewieſen hat.


1. Die Selbſtbefreiung, regelmäßig ſtraflos, iſt nach
dem RStGB. §. 122 nur18 ſtrafbar als Meuterei:


  • a) wenn die Gefangenen ſich zuſammenrotten19 und mit
    vereinten Kräften
    • α) die Anſtaltsbeamten oder die mit der Beaufſich-
      tigung Beauftragten angreifen, oder
    • β) denſelben Widerſtand leiſten, oder
    • γ) es unternehmen, ſie zu Handlungen oder Unter-
      laſſungen zu nötigen; oder wenn
  • b) Gefangene ſich zuſammenrotten und mit vereinten
    Kräften einen gewaltſamen Ausbruch unternehmen.

Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten; gegen die-
jenigen Meuterer, welche Gewaltthätigkeiten gegen die An-
ſtaltsbeamten oder gegen die mit der Baufſichtigung Beauf-
[413]Die ſtrafbaren Aufforderungen. §. 100.
tragten verüben, Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer
Polizeiaufſicht.


2. Die vorſätzliche Befreiung eines Gefangenen aus
der Gefangenanſtalt oder aus der Gewalt der bewaffneten
Macht, des Beamten oder desjenigen, unter deſſen Beauf-
ſichtigung, Begleitung oder Bewachung er ſich befindet (StGB.
§. 120). Gleichgeſtellt iſt die vorſätzliche Beihülfe zu der,
wenn auch an ſich ſtrafloſen Selbſtbefreiung (vgl. oben §. 37
II. 2).


Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; Verſuch ſtrafbar.


3. Das vorſätzliche Entweichenlaſſen20 eines Gefangenen
oder die vorſätzliche oder fahrläſſige Beförderung ſeiner Be-
freiung durch eine mit der Beaufſichtigung oder
Begleitung des Gefangenen beauftragte Perſon
.


Strafe (StGB. §. 121):


  • a) bei vorſätzlichem Handeln Gefängnis bis zu 3 Jahren;
  • b) bei fahrläſſiger Beförderung der Befreiung Gefängnis
    bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark.

Ueber das Amtsdelikt des §. 347 StGB. vgl. oben
§. 92 II 5 e.


5.

§. 100. Die ſtrafbaren Aufforderungen.

I. Die öffentlich1 vor einer Menſchenmenge oder durch
Verbreitung oder öffentlichen Anſchlag oder öffentliche Aus-
ſtellung von Schriften oder anderen Darſtellungen erfolgte
[414]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
Aufforderung zu einem hochverräteriſchen Unter-
nehmen
(StGB. §. 85).2


Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs-
haft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungs-
haft von einem Jahre bis zu 5 Jahren.


II. Die auf dem unter I bezeichneten Wege erfolgte
Aufforderung zum Ungehorſam gegen Geſetze oder
rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit
innerhalb ihrer Zuſtändigkeit getroffenen Anordnungen (StGB.
§. 110).3


Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis
bis zu 2 Jahren.


III. Die auf dieſelbe Weiſe erfolgte Aufforderung
zu einer
(wenn auch nur landesrechtlich) ſtrafbaren
Handlung
(StGB. §. 111).


Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis
zu einem Jahre; doch darf die Strafe, der Art und dem
Maße nach, keine ſchwerere ſein, als die auf die Handlung
ſelbſt, zu welcher aufgefordert wurde, angedrohte. Wenn die
Aufforderung die ſtrafbare Handlung oder einen ſtrafbaren
Verſuch derſelben zur Folge gehabt hat, ſo iſt der Auffor-
dernde gleich einem Anſtifter zu beſtrafen. Er iſt da-
gegen Anſtifter im techniſchen Sinne des Wortes und nicht
nach §. 111, ſondern §. 48 StGB. ſtrafbar, wenn die Merk-
male des Anſtiftungsbegriffes (Richtung des Vorſatzes auf
Herbeiführung einer beſtimmten, individualiſierten
Handlung durch eine beſtimmte Perſon oder durch mehrere
ſolche) gegeben ſind; er wird „gleich einem Anſtifter“ nach
[415]Die ſtrafbaren Aufforderungen. §. 100.
§. 111 StGB. beſtraft, wenn eines dieſer Merkmale fehlt,
wenn alſo z. B. die ausſchließlich auf Einſchüchterung der
Regierung berechnete und nur ihr gegenüber ernſt gemeinte
Aufforderung die vom Thäter nicht vorhergeſehene und noch
weniger beabſichtigte Begehung der ſtrafbaren Handlung durch
einen Dritten zur Folge gehabt hat.


IV. Die öffentliche Aufforderung mittels der Preſſe
zur Aufbringung der wegen einer ſtrafbaren Hand-
lung erkannten Geldſtrafen und Koſten
, ſowie die
öffentliche Beſcheinigung mittels der Preſſe über den Empfang
der zu ſolchen Zwecken gezahlten Beiträge4 (Preßgeſetz §. 16).5


Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder
Gefängnis bis zu 6 Monaten (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1).
Das zufolge ſolcher Aufforderung Empfangene oder der
Wert desſelben iſt der Armenkaſſe des Orts der Sammlung
für verfallen zu erklären.


V. Neben die öffentlichen Aufforderungen iſt ſeit der
Novelle vom 26. Februar 1876 das in StGB. §. 49 a (in
dem, dem belgiſchen Geſetze vom 7. Juli 1875 nachgebil-
deten, Duchesne-Paragraphen) mit Strafe bedrohte ſelbſtän-
dige (nicht als verſuchte Anſtiftung zu konſtruierende) Delikt
getreten.6 StGB. §. 49 a umfaßt:


1. Die Aufforderung eines Anderen zur Begehung
eines Verbrechens (im engeren Sinne) oder zur Teilnahme
[416]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
an einem Verbrechen, ſowie die Annahme einer ſolchen Auf-
forderung.


2. Das Sich-Erbieten zur Begehung eines Verbrechens
oder zur Teilnahme an einem Verbrechen, ſowie die An-
nahme eines ſolchen Erbietens.


Es wird jedoch das lediglich mündlich ausgedrückte Auf-
fordern oder Erbieten, ſowie die Annahme eines ſolchen nur
dann beſtraft, wenn die Aufforderung oder das Erbieten an
die Gewährung von Vorteilen irgend welcher Art (nicht not-
wendig pekuniärer Natur) geknüpft worden, und dadurch die
Ernſtlichkeit desjenigen, der die Initiative ergreift, be-
wieſen iſt.7


Auch abgeſehen von dieſer ausdrücklichen Anordnung des
Geſetzes iſt Ernſtlichkeit der Aufforderung und des Er-
bietens zur Strafbarkeit notwendig, bei Mangel derſelben auch
die Annahme ſtraflos. Aufforderung und Erbieten müſſen
der Ausdruck eines (bedingt gefaßten) Entſchluſſes ſein, der
durch die Annahme zu einem unbedingten wird.8


Strafe:


  • a) Wenn das geplante Verbrechen mit dem Tode oder
    mit lebenslänglichem Zuchthauſe bedroht iſt, Gefängnis
    nicht unter 3 Monaten;
  • b) wenn es mit einer geringeren Strafe bedroht iſt, Ge-
    fängnis bis zu 2 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher
    Dauer.

Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehren-
rechte, ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden.


[417]Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt. §. 101.
6.

§. 101. Mitzachtung der Autorität der Staatsgewalt.1

I. Die öffentliche wiſſentliche Behauptung oder
Verbreitung von erdichteten oder entſtellten That-
ſachen
,2 um dadurch Staatseinrichtungen (d. i.
dauernde Beſtandteile der Staatsverfaſſung oder Staatsver-
waltung,3 nicht aber die allgemeinen Rechtsinſtitute der Ehe,
des Eigentums uſw.) oder Anordnungen der Obrigkeit
verächtlich zu machen
4 (StGB. §. 131).


Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis
bis zu 2 Jahren.


II. Die unbefugte Ausübung eines öffentlichen
Amtes
5 oder die Vornahme einer Handlung, die nur kraft
eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf6 (ſoge-
nannte „Amtsanmaßung“; StGB. §. 132).


Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe
bis zu 300 Mark.7


III. Die vorſätzliche Vernichtung, Bei-Seite-Schaf-
fung oder Beſchädigung
von Urkunden, Regiſtern, Akten
von Liszt, Strafrecht. 27
[418]Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.
oder anderen Gegenſtänden, welche ſich zur amtlichen
Aufbewahrung an einem dazu beſtimmten Orte be-
finden
, oder welche einem Beamten oder einem Dritten
amtlich übergeben worden ſind (StGB. §. 133).


Zu dem Amtsdelikte des §. 348 StGB. (oben §. 92
S. 386) verhält ſich dieſes Vergehen ungefähr ſo, wie Diebſtahl
zur Unterſchlagung; §. 133 ſetzt den Bruch eines fremden,
§. 348 den Mißbrauch des eigenen Gewahrſams voraus.
Derjenige Beamte, der den Gewahrſam hat, kann ſich daher
des in §. 133 StGB. enthaltenen Vergehens nicht ſchuldig
machen.


Strafe: Gefängnis; wenn die Handlung in gewinn-
ſüchtiger Abſicht begangen worden, Gefängnis nicht unter
3 Monaten mit fakultativem Ehrverluſt.


IV. Das böswillige Abreißen, Beſchädigen oder
Verunſtalten von öffentlich angeſchlagenen Be-
kanntmachungen, Verordnungen, Befehlen oder
Anzeigen von Behörden oder Beamten
(StGB.
§. 134). „Böswillig“ bezeichnet die auf Herbeiführung der
Rechtsverletzung gerichtete Abſicht als Motiv der Handlung
(oben §. 28 III); dieſe muß erfolgen zu dem Zwecke, um die
Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt an den Tag zu
legen.


Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis
bis zu 6 Monaten.


V.Die böswillige Wegnahme, Zerſtörung oder
Beſchädigung von öffentlichen Zeichen der ſtaat-
lichen Autorität
(Zeichen, durch welche die Thatſache
der Herrſchaft der Staatsgewalt öffentlich kenntlich gemacht
werden ſoll, wie Grenzpfähle u. dgl.) oder von Hoheits-
zeichen
(Symbolen der Staatsgewalt, wie Fahnen,
[419]Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt. §. 101.
Wappen u. dgl.) oder die Verübung an beſchimpfendem
Unfug an dieſen Gegenſtänden.


Strafe:


  • 1. Wenn gegen die inländiſche Staatsgewalt gerichtet,
    nach StGB. §. 135 Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder
    Gefängnis bis zu 2 Jahren.
  • 2. Wenn gegen einen nicht zum deutſchen Reiche gehörenden
    Staat gerichtet, nach §. 103a die gleiche Strafe.

Der unbefugte Gebrauch der Abbildung des kaiſerlichen
Wappens, oder der Wappen von Bundesfürſten oder eines
Landeswappens iſt in StGB. §. 360 Ziff. 7 mit einer
Uebertretungsſtrafe (Geldſtrafe bis 150 Mark oder Haft)
bedroht.


VI. Das vorſätzliche Erbrechen, Ablöſen oder
Beſchädigen eines amtlichen Siegels
, welches von
einer Behörde oder einem Beamten angelegt iſt, um Sachen
zu verſchließen, zu bezeichnen oder in Beſchlag zu nehmen,
oder die Aufhebung des durch ein ſolches Siegel bewirkten
amtlichen Verſchluſſes (StGB. §. 136).8


Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten.


VII.Arreſtbruch. Wer Sachen (nicht Forderungen),
welche durch die zuſtändigen Behörden oder Beamten ge-
pfändet oder in Beſchlag genommen worden ſind (Subhaſta-
tion, Sequeſtration, Obſervation,9 Arreſt, Veräußerungs-
verbot uſw. gehören hieher) vorſätzlich, d. h. in Kenntnis
der amtlichen Beſchlagnahme,10 bei Seite ſchafft, zerſtört
[420]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
oder in anderer Weiſe der Verſtrickung ganz oder teilweiſe
entzieht,11 wird nach StGB. §. 137 mit Gefängnis bis zu
einem Jahre beſtraft.


III. Strafbare Handlungen gegen den Gang der
Staatsverwaltung.


1.

§. 102. Gegen die Verwaltung überhaupt: die falſche
Ausſage.
1

I.Allgemeines.


1. Nach Reichsrecht iſt die falſche Ausſage nicht an ſich
und ohne weitere Vorausſetzung, ſondern nur dann ſtrafbar,
wenn ſie


  • 1. durch Eid oder eine andere, dieſem gleichgeſtellte oder
    angereihte Beteuerungsform bekräftigt2 und
  • 2. vor einer zur Abnahme dieſer Beteuerungsformen zu-
    ſtändigen Behörde abgelegt wurde.

Beide Momente müſſen zu der an ſich normwidrigen
falſchen Ausſage hinzutreten, ohne daß dieſe dadurch auf-
hören würde falſche Ausſage zu ſein. Durch das Erfordernis
der Bekräftigung wird das Weſen des Deliktes nicht ver-
[421]Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.
ändert; wird der Mißbrauch der Beteuerungsform, der nur
Strafbarkeitsmerkmal iſt, nicht zum Normwidrigkeitsmerkmal
geſtempelt. Und andererſeits iſt damit zugleich nachgewieſen,
daß die inkorrekt ſogenannten Eidesdelikte ihren Platz im
Syſteme des Strafrechtes nicht neben Urkunden- und Münz-
fälſchung haben können; denn während dieſe ſtrafbar ſind
ohne jede weitere Rückſichtnahme auf ihre Richtung gegen
ein beſtimmtes Rechtsgut, iſt der Mißbrauch des Eides und
der verwandten Beteuerungsformen nur ſtrafbar, wenn hinzu-
tretend zu einer falſchen Ausſage vor Gericht oder vor einer
anderen öffentlichen Behörde. Dieſe falſche bekräftigte Aus-
ſage aber hat unverkennbar die Richtung gegen ein be-
ſtimmtes Rechtsgut: ſie gefährdet die Sicherheit nicht bloß
der Rechtspflege, ſondern des Ganges der Staatsverwaltung
überhaupt, ſoweit dieſe ihren Entſcheidungen die Ausſagen
der Staatsbürger zu Grunde legt. Selbſt wenn alſo die
„publica fides“ ein Rechtsgut wäre — thatſächlich iſt ſie ein
Wort, hinter dem ein Begriff nicht ſteckt, — wäre die falſche
Ausſage nicht als unmittelbar gegen ſie gerichtet aufzu-
faſſen.3


2. Unter den eben beſprochenen, ſofort näher zu erläu-
ternden Vorausſetzungen iſt die falſche beeidete oder bekräf-
tigte Ausſage ſtrafbar. Sind ſie gegeben, ſo darf weder
die Rechtsgültigkeit der Beteuerungsform,4 noch die Beach-
tung der für den Gebrauch derſelben vorgezeichneten Forma-
litäten, noch auch die Erheblichkeit der einzelnen Ausſage5
[422]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
als Bedingung der Strafbarkeit gefordert werden. Selbſt
die Nichtzuſtändigkeit der Behörde im Einzelfalle hindert die
Strafbarkeit der falſchen Ausſage nicht,6 wenn die Behörde
nur zur Entgegennahme von Verſicherungen der fraglichen
Art im allgemeinen berechtigt war.


II.Die Arten.


A.Vorſätzliche falſche Ausſage.


1. Der eigentliche Meineid.


  • a) In eigener Sache, als zugeſchobener, zurückgeſcho-
    bener oder auferlegter Eid im Civilprozeß (StGB.
    §. 153).
    Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren.
  • b) In fremder Sache, als eidlich bekräftigtes falſches
    Zeugnis oder falſches Gutachten, vor einer zur Ab-
    nahme von Eiden zuſtändigen Behörde abgelegt
    (StGB. §. 154), mag die Beeidigung der Ausſage
    vorangehen oder ihr nachfolgen.

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren; wenn die falſche
Ausſage in einer Strafſache zum Nachteile eines Angeſchul-
digten abgegeben und dieſer zum Tode, zu Zuchthaus oder
zu einer anderen mehr als 5 Jahre betragenden Freiheits-
ſtrafe verurteilt worden iſt, Zuchthaus nicht unter 3 Jahren.


2. Gleichgeſtellte Fälle (StGB. §. 155).


  • a) Falſche Ausſage des Mitgliedes einer Religionsgeſell-
    ſchaft, welcher das Geſetz den Gebrauch gewiſſer Be-
    teuerungsformeln an Stelle des Eides geſtattet, unter
    der Beteuerungsformel ſeiner Geſellſchaft
    ;

5


[423]Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.
  • b) falſche Ausſage einer Partei, eines Zeugen oder Sach-
    verſtändigen unter Berufung auf den bereits
    früher in derſelben Angelegenheit geleiſteten
    Eid
    ;
  • c) falſche Ausſage eines Sachverſtändigen, welcher als
    ſolcher ein- für allemal vereidet iſt, unter Berufung
    auf dieſen Eid
    ;
  • d) falſche amtliche Ausſage eines Beamten unter Be-
    rufung auf ſeinen Dienſteid
    .

Strafe: wie unter 1 a und b.


3. Falſche Ausſage vor einer zur Abnahme von Verſiche-
rungen an Eidesſtatt zuſtändigen Behörde unter Verſiche-
rung an Eidesſtatt oder unter Berufung auf eine
ſolche
(StGB. §. 156).


Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu 3 Jahren.


B.Fahrläſſige Begehung einer der unter 1 bis 3 ge-
nannten Handlungen (StGB. §. 163). Notwendig iſt hier:
a) objektive Unwahrheit der Ausſage; b) Unkenntnis des
Ausſagenden über dieſe Unwahrheit; c) die Unkenntnis muß
durch Fahrläſſigkeit verſchuldet, Einſicht bei pflichtgemäßer
Sorgfalt möglich geweſen ſein.7


Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.


III. Während im allgemeinen die erfolglos gebliebene
Anſtiftung ſtraflos bleibt (vgl. oben §. 37 I 2 a), bedroht
§. 159 StGB. die unternommene Verleitung zur
falſchen Ausſage als ſelbſtändiges Delikt, an welchem mithin
ſtrafbare Teilnahme möglich iſt (oben §. 37 I 2 c und II 2),
mit Strafe, und zwar:


[424]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
  • 1. wenn es ſich um eigentlichen Meineid oder um einen
    gleichgeſtellten Fall handelt (oben II A 1 und 2 mit
    Zuchthaus bis zu 5 Jahren;
  • 2. wenn dagegen eine falſche Verſicherung an Eides-
    ſtatt (oben II A 3) in Frage ſteht, mit Gefängnis bis
    zu einem Jahre.

IV. Die Verleitung zur falſchen Ausſage (Vorſatz
vorhanden beim Verleitenden, fehlend beim Schwörenden) iſt
in der Reichsgeſetzgebung, mit Durchbrechung der allgemeinen
Regeln über fingierte Thäterſchaft (vgl. oben §. 36 I) eben-
falls zum ſelbſtändigen Delikte gemacht (StGB. §. 160),
und damit ein theoretiſch wie praktiſch gleich verkehrtes
Privilegium zu Gunſten der Herbeiführung einer falſchen
Ausſage geſchaffen worden.


Strafe:


  • 1. bei Verleitung zum Falſcheid (oben II A 1 und 2)
    Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativem Verluſt
    der bürgerlichen Ehrenrechte;
  • 2. bei Verleitung zur falſchen Verſicherung an Eidesſtatt
    (oben II A 3) Gefängnis bis zu 6 Monaten.

Der Verſuch iſt ſtrafbar.


V.Strafmilderungs- und Strafaufhebungs-
gründe
.


1. Bei vorſätzlicher falſcher Ausſage des Zeugen oder
Sachverſtändigen (oben II A 1 b, 2 und 3) iſt die an ſich
verwirkte Strafe auf die Hälfte bis ein Viertel zu ermäßigen
(StGB. §. 157), wobei Zuchthaus unter einem Jahre in
Gefängnis umgerechnet werden muß (vgl. oben §. 55 I 2;
§. 46 II 3), wenn


  • a) die Angabe der Wahrheit gegen den Ausſagenden eine
    [425]Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.
    Verfolgung wegen eines Verbrechens oder Vergehens
    nach ſich ziehen konnte; oder
  • b) der Ausſagende die falſche Ausſage zu Gunſten einer
    Perſon, rückſichtlich welcher er die Ausſage ablehnen
    durfte, erſtattet hat, ohne über ſein Recht, die Aus-
    ſage ablehnen zu dürfen, belehrt worden zu ſein.

2. Die gleiche Strafermäßigung tritt ein (StGB. §. 158),
wenn derjenige, welcher ſich einer vorſätzlichen falſchen Aus-
ſage (oben II A 1—3, auch in eigener Sache) ſchuldig gemacht
hat, bevor eine Anzeige gegen ihn erfolgt oder eine Unter-
ſuchung gegen ihn eingeleitet und bevor ein Rechtsnachteil
für einen Anderen aus der falſchen Ausſage entſtanden iſt,
dieſe bei derjenigen Behörde, bei welcher er ſie abgegeben
hat, widerruft.


3. Bei der fahrläſſigen falſchen Ausſage (oben II B) iſt
dem rechtzeitigen Widerruf unter den zu 2 angegebenen
Vorausſetzungen die Wirkung eines Strafaufhebungs-
grundes
beigelegt (StGB. §. 163 Abſ. 2).


VI. Bei jeder Verurteilung wegen vorſätzlicher falſcher
Ausſage (oben II A 1—3, nicht aber III oder IV)8 iſt, ſo-
weit nicht Strafmilderung aus den oben V 1 und 2
angeführten Gründen eintritt, auf Verluſt der bürgerlichen
Ehrenrechte (obligatoriſch, vgl. oben §. 51 I S. 202) und
außerdem auf die dauernde Unfähigkeit des Verurteilten, als
Zeuge oder Sachverſtändiger eidlich vernommen zu werden,
zu erkennen (StGB. §. 161 Abſ. 1).


In den Fällen der §§. 156—159 StGB. (oben II A 3;
V
1 und 2, III) kann neben Gefängnis auf Ehrverluſt er-
kannt werden (StGB. §. 161 Abſ. 2).


[426]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
2.

§. 103. Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege.

I. Der Eidesbruch, d. i. das vorſätzliche Zuwider-
handeln gegen eine durch eidliches Angelöbnis vor Gericht
beſtellte Sicherheit oder gegen das in einem Offenbarungs-
eide gegebene Verſprechen (StGB. §. 162).


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.


II. Die mittels der Preſſe erfolgende Veröffentlichung
der Anklageſchrift oder anderer amtlicher Schrift-
ſtücke eines Strafprozeſſes
, bevor dieſelben in öffent-
licher Sitzung kundgegeben worden ſind oder das Verfahren
ſein Ende erreicht hat (Preßgeſetz §. 17).1


Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder
Gefängnis bis zu 6 Monaten (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1).


III.Verletzungen der Dingpflicht (der Pflicht, Recht
zu ſprechen und des Rechtes zu helfen).


1. Das Vorſchützen unwahrer Thatſachen als
Entſchuldigung durch denjenigen, der als Zeuge, Geſchwo-
rener oder Schöffe berufen oder als Sachverſtändiger zum
Erſcheinen geſetzlich verpflichtet iſt (StGB. §. 138).


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Monaten.


2. Einfache Nichterfüllung der Dingpflicht.2


  • a) Durch Schöffen, Geſchworene, Vertrauens-
    [427]Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.
    männer des zur Wahl derſelben berufenen Aus-
    ſchuſſes (Ger.-Verf.-Geſ. §§. 56 und 96). Ordnungs-
    ſtrafe
    von 5—1000 Mark.
  • b) Nichterſcheinen des ordnungsmäßig geladenen Zeugen
    (StPO. §. 50, CPO. §. 345). Geldſtrafe bis zu
    300 Mark, bei Uneinbringlichkeit derſelben Haft bis zu
    6 Wochen; bei wiederholtem Ausbleiben kann die
    Strafe noch einmal erkannt werden.
  • c) Verweigerung der Zeugenausſage oder der
    Eidesleiſtung
    durch den Zeugen (StPO. §. 69,
    CPO. §. 355). Strafe wie zu b, aber ohne die Zu-
    läſſigkeit abermaliger Verhängung derſelben.
  • d) Nichterſcheinen des Sachverſtändigen oder
    Verweigerung der Erſtattung des Gutachtens

    (StPO. §. 77, CPO. §. 374). Geldſtrafe bis zu
    300 Mark, bei wiederholtem Ungehorſam bis zu
    600 Mark.3

IV.Unterlaſſung der rechtzeitigen Anzeige von
dem Vorhaben gewiſſer Verbrechen
4 (eines Hoch-
verrates, Landesverrates, Münzverbrechens, Mordes, Raubes,
Menſchenraubes, gemeingefährlichen Verbrechens) bei der Be-
hörde oder bei der durch das Verbrechen bedrohten Perſon,
vorausgeſetzt, a) daß der Unterlaſſende zu einer Zeit, in
welcher die Verhütung des Verbrechens möglich iſt, von dem
Vorhaben glaubhafte Kenntnis erhielt, und b) daß das Ver-
brechen oder ein ſtrafbarer Verſuch desſelben begangen worden
iſt (StGB. §. 139).5 Die Verpflichtung zur Anzeige obliegt
[428]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
auch, trotz §. 257 Abſ. 2 StGB. den Angehörigen des
Thäters.6


Strafe: Gefängnis.


V. Die falſche Anſchuldigung,7 d. i. die Anzeige
bei einer Behörde, durch welche der Anzeigende wider beſſeres
Wiſſen Jemanden der Begehung einer ſtrafbaren Handlung
oder der Verletzung einer Amtspflicht beſchuldigt (StGB.
§. 164).


Die Anzeige ſetzt voraus, daß ein Straf- oder Diszi-
plinarverfahren wegen der angeſchuldeten Handlung gegen den
Beſchuldigten noch nicht eingeleitet iſt, und unterſcheidet ſich
eben dadurch von dem falſchen Zeugniſſe, das in einem be-
reits eingeleiteten Verfahren zu Ungunſten des Angeſchuldigten
oder Angeklagten abgelegt wird; ſie muß — das liegt in dem
Worte „Anzeige“ — mit dem Bewußtſein erfolgen, daß ſie
die Einleitung des Verfahrens zur Folge haben werde. In der
Ueberreichung der Privatklage kann eine Anzeige im Sinne
des Geſetzes gelegen ſein.8


Anſchuldigung einer ſtrafbaren Handlung liegt auch
dann vor, wenn der ſtaatliche Strafanſpruch infolge des
Eintrittes eines Strafaufhebungsgrundes untergegangen iſt;9
ſie liegt nicht vor, wenn der Strafanſpruch wegen des Mangels
einer Bedingung der Strafbarkeit (vgl. oben §. 30 II) gar
nicht zur Entſtehung gelangte.


Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monat mit fakul-
tativem Ehrverluſt. Als Privatgenugthuung (oben §. 43
[429]Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.
II 2) iſt im Falle der Verurteilung des Anzeigers (StGB.
§. 165)


  • 1. dem Verletzten die Befugnis zuzuſprechen, das Schuld-
    urteil auf Koſten des Schuldigen öffentlich bekannt zu
    machen (die Art der Bekanntmachung, ſowie die Friſt
    zu derſelben iſt in dem Urteile zu beſtimmen);
  • 2. dem Verletzten auf Koſten des Schuldigen eine Aus-
    fertigung des Urteils zu erteilen.

So lange ein in Folge der gemachten Anzeige einge-
leitetes Verfahren anhängig iſt, ſoll mit dem Verfahren und
mit der Entſcheidung über die falſche Anſchuldigung innege-
halten werden (§. 164 2. Abſ. StGB.).


VI.Begünſtigung und Helerei.10Begünſti-
gung
(StGB. §. 257)11 iſt die wiſſentliche, nach Begehung
eines Verbrechens oder Vergehens dem Thäter oder Teil-
nehmer gegenüber zu dem Zwecke erfolgende Beiſtandleiſtung,
um entweder


  • a) den Schuldigen der Beſtrafung zu entziehen12 (perſön-
    liche Begünſtigung), oder
  • b) demſelben die Vorteile des Verbrechens oder Vergehens
    zu ſichern (ſachliche Begünſtigung).

Die Begünſtigung erſcheint in ihren beiden Formen als
eine Hemmung der ſtaatlichen Rechtspflege; ſie hindert, mag
ſie als perſönliche der ſtrafenden Gerechtigkeit in die Arme
fallen, mag ſie als ſachliche die civilrechtliche Ausgleichung
[430]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
unmöglich zu machen trachten, den Eintritt der Rechtsfolgen,
welche der Staat an die Begehung des Verbrechens oder
Vergehens geknüpft hat. Dieſer Charakter beſtimmt ihre
Stellung im Syſteme des beſonderen Teils; die Begünſtigung
iſt nicht Teilnahme an dem begangenen Delikte, weil nicht
Setzen einer Bedingung zu dem eingetretenen Erfolge (vgl.
oben §. 35 IV); ſie hat aber auch mit der Partiererei
(vgl. oben §. 77), die reines Vermögensdelikt iſt, prinzipiell
nichts gemein. Poſitiv rechtlich iſt ſie freilich mit dieſer durch
den verunglückten Mittelbegriff der Hehlerei in Verbindung
gebracht.


Die Begünſtigung ſetzt die Begehung eines Verbrechens
oder Vergehens voraus, und da ſie nur als vorſätzlich be-
gangene ſtrafbar iſt, die Kenntnis dieſes Umſtandes auf Seiten
des Thäters.13


Iſt die Hauptthat Antragsdelikt, ſo kann auch die Be-
günſtigung nur auf Antrag verfolgt werden; arg. StGB.
§§. 63 und 247 Abſ. 2 und 4.14


Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis
bis zu einem Jahre; wenn der Thäter den Beiſtand ſeines
Vorteils wegen leiſtet, Gefängnis; doch darf die Strafe, der
Art und dem Maße nach, keine ſchwerere ſein, als die auf
die Handlung ſelbſt angedrohte.


Die Begünſtigung bleibt ſtraflos (ſubjektiver Strafaus-
ſchließungsgrund in dem oben §. 30 III 3 beſprochenen
Sinne), wenn ſie dem Thäter oder Teilnehmer von einem
Angehörigen gewährt worden iſt, um ihn der Beſtrafung zu
entziehen (StGB. §. 257 Abſ. 2).


[431]Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.

„Die Begünſtigung iſt als Beihülfe zu beſtrafen, wenn
ſie vor Begehung der That zugeſagt worden iſt. Dieſe Be-
ſtimmung leidet auch auf Angehörige Anwendung“ (StGB.
§. 257 Abſ. 3). Die Bedeutung dieſer Anordnung wird
vielfach mißverſtanden. Sie erweitert nicht den Begriff der
Beihülfe und verengert nicht den Begriff der Begünſtigung.
Leiſtung des ſchon vorher zugeſagten Beiſtandes wäre Beihülfe
und Begünſtigung in realer, unter Umſtänden in idealer
Konkurrenz; dieſe Konſequenz weiſt §. 257 Abſ. 3 zurück:
nicht Begünſtigung und Beihülfe, ſondern nur Beihülfe
iſt anzunehmen. Darum ſagt das Geſetz nicht: „Die Be-
günſtigung iſt Beihülfe,“ ſondern: „ſie iſt als Beihülfe zu
beſtrafen.“15


2. Hehlerei (StGB. §. 258): Begünſtigung (perſön-
liche oder ſachliche) um des eigenen Vorteils16willen,
wenn mit Bezug auf gewiſſe Eigentumsdelikte (Dieb-
ſtahl, Unterſchlagung, Raub, räuberiſchen Diebſtahl, räuberiſche
Erpreſſung) begangen.


Strafe:


  • a) wenn der Begünſtigte einen einfachen Diebſtahl oder
    eine Unterſchlagung begangen hat, Gefängnis;
  • b) wenn er einen ſchweren Diebſtahl, einen Raub oder
    ein dem Raube gleich zu beſtrafendes Verbrechen be-
    gangen hat, Zuchthaus bis zu 5 Jahren.

Sind mildernde Umſtände vorhanden, ſo tritt Gefängnis
nicht unter 3 Monaten ein.


Die Hehlerei bleibt ſtrafbar, auch wenn der Hehler ein
Angehöriger des Begünſtigten iſt.


[432]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

In Bezug auf die gewerbs- oder gewohnheitsmäßige
Hehlerei (StGB. §. 260), die Hehlerei im zweiten Rückfalle
(StGB. §. 261), die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
und die Stellung unter Polizeiaufſicht iſt das oben §. 77
von der Partiererei Geſagte auch auf die eigentliche Hehlerei
anzuwenden.


3.

§. 104. Strafbare Handlungen gegen die Verwaltung des
Reichskriegsweſens.
1

I. Die Aufforderung oder Anreizung (StGB.
§. 112):2


  • 1. einer Perſon des Soldatenſtandes,3 ſei es des
    deutſchen Heeres, ſei es der kaiſerlichen Marine, zum
    Ungehorſam gegen Befehle des Oberen;
  • 2. einer Perſon des Beurlaubtenſtandes4 zum Un-
    gehorſam gegenüber der Einberufung zum Dienſte.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.


II. Die Falſchwerbung (StGB. §. 141), d. i. die
Anwerbung eines Deutſchen zum Militärdienſte einer aus-
ländiſchen Macht, oder die Zuführung an die Werber einer
ſolchen.


Strafe: Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren;
Verſuch ſtrafbar.


III. Die vorſätzliche Verleitung eines deutſchen Sol-
daten zur Deſertion oder die Beförderung derſelben
[433]Delikte geg. die Verwaltung des Reichskriegsweſens. §. 104.
(StGB. §. 141). Deſertion iſt nach Mil. StGB. §. 69 die
unerlaubte Entfernung in der Abſicht, ſich der geſetzlichen
oder übernommenen Verpflichtung zum Dienſte dauernd zu
entziehen.


Beförderung der Deſertion (Beihülfe und nicht Begünſti-
gung) iſt nur möglich, ſo lange dieſe ſelbſt nicht als voll-
endetes Delikt vorliegt, ſo lange alſo der Flüchtling nicht die
von ihm beabſichtigte Flucht von dem Dienſtorte an einen
anderen Ort vollendet hat.5


Strafe: Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren;
Verſuch ſtrafbar.


IV. Die vorſätzliche Untauglichmachung zur Erfüllung
der Wehrpflicht; mag ſie von dem Wehrpflichtigen an ſich
ſelbſt durch Selbſtverſtümmelung oder auf andere Weiſe, mag
ſie durch einen Dritten an dem Wehrpflichtigen auf deſſen
Verlangen begangen ſein (StGB. §. 142). In dem letzt-
erwähnten Falle erſcheinen der Wehrpflichtige wie der Un-
tauglichmachende als Thäter (nicht als Mitthäter); mit an-
deren Worten: es nimmt das Geſetz hier ausnahmsweiſe
(vgl. oben §. 35 I) Unterbrechung des Kauſalzuſammen-
hanges nicht an, obwohl der als Zwiſchenurſache handelnde
Dritte das Bewußtſein von der Kauſalität ſeines Thuns hat.


Strafe: Gefängnis nicht unter einem Jahre mit fakul-
tativem Ehrverluſt.


V. Die Anwendung von auf Täuſchung berech-
neten Mitteln
, in der Abſicht ſich der Erfüllung der Wehr-
pflicht ganz oder teilweiſe zu entziehen (StGB. §. 143).


Strafe: Gefängnis mit fakultativem Ehrverluſt.


Thäterſchaft und Teilnahme (mit Einſchluß der Beihülfe)
von Liszt, Strafrecht. 28
[434]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
ſind hier ausnahmsweiſe in der Beſtrafung einander gleich-
geſtellt (vgl. oben §. 37 II 4).


VI.Verletzung der Wehrpflicht durch Aus-
wanderung
.


1. Auswanderung eines Wehrpflichtigen im Widerſpruche
mit einer vom Kaiſer für die Zeit eines Krieges oder einer
Kriegsgefahr erlaſſenen und öffentlich bekannt gemachten be-
ſonderen Anordnung
(StGB. §. 140 Ziff. 3).


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativer
Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. Verſuch ſtrafbar.


2. Verlaſſen des Bundesgebietes ohne Erlaubnis durch
einen Wehrpflichtigen in der Abſicht (gleich Motiv) ſich
dem Eintritte in den Dienſt des ſtehenden Heeres oder der
Flotte zu entziehen; oder das Verbleiben außerhalb des
Bundesgebietes nach erreichtem militärpflichtigen Alter in
gleicher Abſicht (StGB. §. 140 Ziff. 1). Strafe: Geld-
ſtrafe von 150 bis 3000 Mark oder Gefängnis von einem
Monate bis zu einem Jahre; Verſuch ſtrafbar.


3. Auswanderung eines Offiziers oder im Offiziersrange
ſtehenden Arztes des Beurlaubtenſtandes ohne Erlaubnis
(StGB. §. 140 Ziff. 2; wiederholt im RMil.G. vom 2. Mai
1874 §. 60 Ziff. 2). Strafe: Geldſtrafe bis zu 3000 Mark
oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten. Verſuch
ſtrafbar.


In allen drei Fällen kann das Vermögen des Ange-
ſchuldigten, inſoweit als es nach dem Ermeſſen des Richters
zur Deckung der den Angeſchuldigten möglicherweiſe treffenden
höchſten Geldſtrafe und der Koſten des Verfahrens erforderlich
iſt, mit Beſchlag belegt werden (StGB. 140 Abſ. 3).


  • 4. a) Auswanderung eines beurlaubten Reſerviſten oder
    Wehrmannes der Land- oder Seewehr ohne Erlaubnis;

[435]Delikte gegen das Geld- u. Banknotenweſen. §. 105.
  • b) eines Erſatzreſerviſten I. Klaſſe ohne vorhergehende An-
    zeige an die Militärbehörde (StGB. §. 310 Ziff. 3;
    vgl. mit RMil.G. vom 2. Mai 1874 §. 69 Ziff. 8).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.6,7


VII. Uebertretung der auf Grund des Geſetzes vom
13. Juni 1873 über die Kriegsleiſtungen hinſichtlich der
Anmeldung und Stellung der Pferde zur Vormuſterung,
Muſterung oder Aushebung getroffenen Anordnungen (§. 27
des Geſetzes). Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark.


VIII. Uebertretungen des Geſetzes vom 21. Dezember
1871, betreffend die Beſchränkungen des Grundeigentums in
der Umgebung von Feſtungen (Feſtungsrayonsgeſetz
§. 32). Strafe: Geldbuße bis 15 bez. 150 Mark.


4.

§. 105. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber-
wachung des Geld- und Banknotenumlaufes.
1

I. Nach Art. 13 des Münzgeſetzes vom 9. Juli 1873
iſt der Bundesrat befugt, den Wert zu beſtimmen, über welchen
hinaus fremde Gold- und Silbermünzen nicht in Zahlung
angeboten und gegeben werden dürfen, ſowie den Umlauf
fremder Münzen gänzlich zu unterſagen.


Gewohnheits- oder gewerbsmäßige (vgl. oben §. 39 II 3)
Zuwiderhandlungen gegen die vom Bundesrate nach dieſer
Richtung hin getroffenen Anordnungen werden mit Geldſtrafe
bis zu 150 Mark oder mit Haft beſtraft.


[436]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

II. Uebertretungen des Reichsbankgeſetzes vom
14. März 1875.


1. Die unbefugte2Ausgabe von Banknoten oder
ſonſtigen auf den Inhaber lautenden unverzinslichen Schuld-
verſchreibungen (§. 55). Strafe: Geldſtrafe, welche dem
Zehnfachen des Betrages der ausgegebenen Wertzeichen gleich
kommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt.


2. Nach §. 43 des Geſetzes dürfen Noten einer Bank,
die ſich bei Erlaß des Geſetzes im Beſitze der Befugnis zur
Notenausgabe befand, außerhalb desjenigen Staates,
welcher ihnen dieſe Befugnis erteilt hat, zu Zahlungen
nicht gebraucht werden
. Der Umtauſch ſolcher Noten
gegen andere Noten, Papiergeld oder Münzen unterliegt
dieſem Verbote nicht. Zuwiderhandlungen werden nach §. 56
mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark beſtraft.


3. Ausländiſche Banknoten oder ſonſtige auf den
Inhaber lautende unverzinsliche Schuldverſchreibungen aus-
ländiſcher Korporationen, Geſellſchaften oder Privaten dürfen,
wenn ſie ausſchließlich oder neben anderen Wertbeſtim-
mungen in Reichswährung oder in einer deutſchen
Landeswährung ausgeſtellt ſind
, innerhalb des Reichs-
gebietes zu Zahlungen nicht gebraucht werden (§. 11). Die
Verletzung dieſer Anordnung wird (§. 57) mit Geldſtrafe von
50 bis zu 5000 Mark, bei gewerbsmäßiger Verwendung
(oben §. 39 II 3) nebenbei mit Gefängnis bis zu einem
Jahre beſtraft. Verſuch ſtrafbar.


4. Den Notenbanken iſt nicht geſtattet (§. 7):


  • a) Wechſel zu acceptieren;

[437]Delikte gegen das Geld- u. Banknotenweſen. §. 105.
  • b) Waaren oder kurshabende Papiere für eigene oder
    für fremde Rechnung auf Zeit zu kaufen oder auf Zeit
    zu verkaufen, oder für die Erfüllung ſolcher Kaufs-
    oder Verkaufsgeſchäfte Bürgſchaft zu übernehmen.

Die Mitglieder des Vorſtandes, welche dieſer Beſtimmung
zuwiderhandeln, werden (§. 58) mit Geldſtrafe bis zu
5000 Mark beſtraft.


5. Banken, welche bei Erlaß des Geſetzes ſich im Be-
ſitze der Befugnis zur Notenausgabe befanden, dürfen (§. 42)
außerhalb desjenigen Staates, welcher ihnen dieſe Be-
fugnis erteilt hat, Bankgeſchäfte durch Zweiganſtalten
weder betreiben, noch durch Agenten für ihre Rechnung
betreiben laſſen, noch als Geſellſchafter an Bank-
häuſern
ſich beteiligen.


Die Uebertretung dieſer Anordnung wird (§. 58) an den
Vorſtehern der Zweiganſtalt, an den Agenten und Geſell-
ſchaftern der Bank und an den Mitgliedern des Bankvor-
ſtandes mit Geldſtrafe bis zu 5000 Mark beſtraft.


6. Wiſſentlich unwahre Darſtellung oder Ver-
ſchleierung des Standes der Bankverhältniſſe
in
den (durch §. 8) vorgeſchriebenen Veröffentlichungen. Strafe
(gegen die Mitglieder des Vorſtandes): Gefängnis bis zu
3 Monaten (§. 59 Ziff. 1).


7. Wenn die Bank mehr Noten ausgiebt als ſie
auszugeben befugt iſt; oder wenn eine Korporation, welche
das Recht zur Ausgabe von auf den Inhaber lautenden un-
verzinslichen Schuldverſchreibungen beſitzt, mehr ſolche Geld-
zeichen ausgiebt, als ſie auszugeben befugt iſt, ſo trifft (§. 59
Ziff. 3) die Mitglieder des Vorſtandes eine Geldſtrafe, welche
dem Zehnfachen des zuviel ausgegebenen Betrages gleich-
kommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt.


[438]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
5.

§. 106. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber-
wachung des Geſundheitsweſens.

Die Reichsgeſetzgebung hat die Befolgung ſowohl der
von den Einzelſtaaten, als der von ihr ſelbſt kraft Art. 4
Nr. 15 R.Verf.1 erlaſſenen, das Geſundheitsweſen betreffenden
Anordnungen durch Androhung von teilweiſe ſehr ſtrengen
Strafen zu ſichern geſucht.


Es gehören hieher:


I. Die wiſſentliche Verletzung der Abſperrungs-
oder Aufſichtsmaßregeln oder Einfuhrverbote
,
welche von der zuſtändigen Behörde zur Verhütung des Ein-
führens oder Verbreitens einer anſteckenden Krankheit
angeordnet werden (StGB. §. 327).2


Vorausgeſetzt ſind nicht ſtändige Einrichtungen, ſondern
ad hoc, mit Rückſicht auf eine beſtimmte bereits ausgebrochene
oder drohende Epidemie, erlaſſene Anordnungen.


Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren; wenn in Folge
dieſer Verletzung ein Menſch von der Krankheit ergriffen
worden, Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren.


II.Verletzung der Anordnungen zur Verhütung
des Einführens oder Verbreitens von Vieh-
ſeuchen
.


[439]Delikte gegen das Geſundheitsweſen. §. 106.

1. Wiſſentliche Verletzung der von der zuſtändigen3
Behörde ad hoc (vgl. oben unter I) angeordneten Ab-
ſperrungs- oder Aufſichtsmaßregeln oder Ein-
fuhrverbote
(StGB. §. 328).


Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre; wenn in Folge
der Verletzung Vieh von der Seuche ergriffen worden, Ge-
fängnis von einem Monat bis zu 2 Jahren.


2. Einen ſpeziellen Fall hebt das Geſetz vom 21. Mai
1878, betreffend Zuwiderhandlungen gegen die zur Abwehr
der Rinderpeſt erlaſſenen Vieheinfuhrverbote durch er-
höhte Strafdrohungen, und teilweiſe Erweiterung des That-
beſtandes beſonders hervor, ſo daß §. 328 StGB. ſubſi-
diär
anwendbar bleibt.


  • a) Die vorſätzliche Uebertretung der auf Grund des
    Geſetzes vom 7. April 1869 erlaſſenen Beſchränkungen
    oder Verbote der Einfuhr4 lebender Widerkäuer (§. 1).
    Strafe: Gefängnis von einem Monate bis zu zwei
    Jahren. Verſuch ſtrafbar.5
  • b) Qualifizierter Fall (§. 2); wenn in der Abſicht
    (gleich erweiterter Vorſatz; oben §. 28 III) begangen,
    ſich oder einem Anderen einen (nicht notwendig rechts-
    widrigen) Vermögensvorteil6 zu verſchaffen oder
    einem Anderen (nicht notwendig an deſſen Vermögen)
    [440]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
    Schaden zuzufügen. Strafe: Zuchthaus bis zu fünf
    Jahren oder Gefängnis nicht unter 6 Monaten.
  • c) Fahrläſſige Uebertretung der unter a genannten
    Beſchränkungen oder Verbote (§. 3).7Strafe: Geld
    bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten.
    Bei Perſonen, welche nicht weiter als 15 Kilometer
    von der Grenze ihren Wohnſitz oder gewöhnlichen
    Aufenthalt haben, oder welche mit den betroffenen
    Tieren gewerbsmäßig Handel treiben, iſt die Un-
    kenntnis
    der Verbote als durch Fahrläſſigkeit
    verſchuldet anzunehmen, wenn ſie nicht den
    Nachweis führen
    , daß ſie ohne ihr Verſchulden
    durch beſondere Umſtände verhindert waren, von den-
    ſelben Kenntnis zu erlangen (vgl. oben §. 27 Note 3).
  • d) Iſt in Folge der Zuwiderhandlung Vieh von der
    Seuche
    ergriffen worden, ſo iſt (§. 4)
    • im Falle a auf Gefängnis nicht unter 3 Monaten;
    • im Falle b auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder
      Gefängnis nicht unter einem Jahre;
    • im Falle c auf Geldſtrafe bis zu 2000 Mark oder
      Gefängnis bis zu einem Jahre

    zu erkennen.

3. Vernachläſſigung der den Eiſenbahnverwaltungen
obliegenden Verpflichtung zur Desinfektion bei Vieh-
beförderungen auf Eiſenbahnen
wird nach §. 5 des
Geſetzes vom 25. Februar 1876 an denjenigen Perſonen,
welchen vermöge ihrer dienſtlichen Stellung oder eines ihnen
erteilten Auftrages die Anordnung, Ausführung oder Ueber-
wachung der Desinfektion obliegt, mit Geldſtrafe bis zu
[441]Delikte gegen das Geſundheitsweſen. §. 106.
1000 Mark; und wenn in Folge der Vernachläſſigung Vieh
von der Seuche ergriffen worden, mit Geldſtrafe bis zu
3000 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft.


4. Das Geſetz vom 23. Juni 1880 (ausgegeben 30. Juni
1880, in Kraft vom 1. April 1881) betreffend die Abwehr
und Unterdrückung von Viehſeuchen
(mit Ausnahme
der Rinderpeſt) hat eine Reihe von Anordnungen getroffen,
deren Befolgung, ſoweit nicht nach den beſtehenden geſetz-
lichen Vorſchriften eine höhere Strafe verwirkt iſt, mit Ueber-
tretungsſtrafen bedroht wird. Die Bedeutung des Geſetzes
gegenüber §. 328 StGB. liegt darin, daß Kenntnis der
erlaſſenen Anordnungen nicht Thatbeſtandsmerkmal iſt, mithin
auch fahrläſſig verſchuldete Unkenntnis unter die Strafdrohung
fällt. Die vom Geſetzgeber beliebte Ausſcheidung der Rin-
derpeſt hat zur Folge, daß die Uebertretung der zum Schutze
gegen dieſe erlaſſenen Anordnungen, die nicht Beſchränkungen
oder Verbote der Einfuhr ſind, nur wenn wiſſentlich
übertreten, beſtraft werden können (!).


III. Die Verletzungen des Reichsimpfgeſetzes vom
8. April 1874 durch Eltern, Pflegeeltern, Vormünder, Schul-
vorſteher, ſowie Denjenigen, der unbefugt Impfungen vor-
nimmt, unterliegen Uebertretungsſtrafen. Vergehensſtrafe
(Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Mo-
naten) trifft (§. 17) Denjenigen, der bei Ausführung einer
Impfung fahrläſſig8 handelt.


[442]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
6.

§. 107. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Regelung
des Preßweſens: die Preßpolizeidelikte.
1

Quelle: Geſetz über die Preſſe vom 7. Mai 1874.


I. Verletzung der Verpflichtung zur Nennung von
Namen und Wohnort des Druckers und des Ver-
legers
(oder beim Selbſtvertriebe des Verfaſſers oder Heraus-
gebers) auf jeder Druckſchrift; des verantwortlichen (mit
den vom Geſetze geforderten Eigenſchaften ausgeſtatteten)
Redakteurs außerdem auf jeder periodiſchen Druckſchrift
(§§. 6—8):


  • 1. durch wiſſentlich falſche Angaben (§. 18 Ziff. 2), wobei
    der Verleger einer periodiſchen Druckſchrift ſchon dann
    haftet, wenn er die fälſchliche Angabe des Redakteurs
    wiſſentlich „geſchehen läßt“;
  • 2. auf andere Weiſe (§. 19 Ziff. 1).
  • Strafe: zu 1 Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft
    oder Gefängnis bis zu 6 Monaten;
  • zu 2 Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.

II. Die Verletzung der Verpflichtung zur Ab-
lieferung der Pflichtexemplare
von jeder Nummer
einer periodiſchen Druckſchrift gleichzeitig mit dem Beginne
der Austeilung oder Verſendung (§. 9).


Strafe (§. 19 Ziff. 2): wie oben I 2.


III. Verletzung der Verpflichtung zur Aufnahme
amtlicher Bekanntmachungen
in periodiſchen Druck-
ſchriften (§. 10).


[443]Delikte gegen das Sozialiſtengeſetz. §. 108.

Strafe (§. 19 Ziff. 3): wie oben I 2. Antrags-
delikt
. Mit der Verurteilung, bei unberechtigter Verwei-
gerung der Aufnahme in gutem Glauben mit der Frei-
ſprechung, iſt die Aufnahme des Schriftſtückes in die nächſt-
folgende Nummer anzuordnen.


IV. Verletzung der Verpflichtung des verantwort-
lichen Redakteurs
einer periodiſchen Druckſchrift, Be-
richtigungen mitgeteilter Thatſachen
auf Verlangen
eines Beteiligten ohne Einſchaltungen und Weglaſſungen auf-
zunehmen (§. 10).


Strafe (§. 19 Ziff. 3): wie oben I 2. Antrags-
delikt
. Anordnung der Aufnahme wie oben III.


V.Verbreitung ausländiſcher periodiſcher Druck-
ſchriften gegen das vom Reichskanzler auf Grund des
§. 14 des Preßgeſetzes erlaſſene Verbot.


Strafe (§. 18 Ziff. 1): wie oben I 1.


VI.Vorſätzliche Verbreitung oder Wiederabdruck
von in Beſchlag genommenen Druckſchriften
(§. 28).


Strafe: Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis
bis zu 6 Monaten.


Eine beſondere Verjährungsfriſt für die Preßpolizei-
delikte ordnet §. 22 des Preßgeſetzes an (vgl. oben §. 58 II 1).


7.

§. 108. Strafbare Handlungen gegen das Sozialiſtengeſetz.1

Quelle: Reichsgeſetz vom 21. Oktober 1878 gegen die
gemeingefährlichen Beſtrebungen der Sozialdemokratie; ge-
nauer (§. 1 des Geſetzes) gegen ſozialdemokratiſche, ſozia-
[444]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
liſtiſche oder kommuniſtiſche, auf den Umſturz der beſtehenden
Staats- oder Geſellſchaftsordnung gerichtete Beſtrebungen.


I. 1. Die Beteiligung an einem verbotenen ſozia-
liſtiſchen Vereine
als Mitglied oder durch irgend eine
Thätigkeit im Intereſſe des Vereines; oder die Teilnahme an
einer verbotenen oder aufgelöſten ſozialiſtiſchen
Verſammlung
(§. 17). Strafe: Geldſtrafe bis zu
500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten; gegen die
Vorſteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner, Kaſſierer des
Vereins oder der Verſammlung, ſowie gegen diejenigen, welche
zu der Verſammlung auffordern, Gefängnis von einem Mo-
nate bis zu einem Jahre. Das Hergeben von Räumlichkeiten
für verbotene Vereine oder Verſammlungen wird (§. 18)
ebenfalls mit Gefängnis von einem Monate bis zu einem
Jahre beſtraft (vgl. oben §. 37 II 4).


2. Die Verbreitung, Fortſetzung, der Wiederabdruck einer
verbotenen oder einer von der vorläufigen Be-
ſchlagnahme betroffenen Druckſchrift
(§. 19).2


Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Gefängnis
bis zu 6 Monaten.


3. Das Einſammeln von Beiträgen zur Förderung
der oben genannten Beſtrebungen, ſowie die öffentliche Auf-
forderung zur Leiſtung ſolcher Beiträge trotz öffentlich bekannt
gemachten polizeilichen Verbotes (§. 20).


Strafe: Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis
bis zu 3 Monaten. Auch iſt das zu Folge der verbotenen
Sammlung oder Aufforderung Empfangene der Armenkaſſe
des Orts der Sammlung für verfallen zu erklären.


In allen dieſen Fällen hat der Strafrichter nicht die
[445]Delikte gegen das Sozialiſtengeſetz. §. 108.
materielle, wohl aber die formelle Richtigkeit des polizeilichen
Verbotes zu prüfen.3


II. Wer eine der unter I genannten Handlungen nach
erfolgter Bekanntmachung des Verbotes durch den Reichs-
anzeiger, aber ohne Kenntnis desſelben, begeht, iſt mit
Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft zu beſtrafen
(§. 21).


III. Ueber die bei Verurteilung ſogenannter Agitatoren
wegen einer der unter I bezeichneten Handlungen zuläſſigen
Nebenſtrafe der Aufenthaltsbeſchränkung vgl. oben
§. 49 IV. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis von
einem Monate bis zu einem Jahre beſtraft (§. 22).


IV. 1. Unterſagung des Gewerbebetriebes kann
(§. 23) als Nebenſtrafe (ſiehe oben §. 50 IV 2) gegen ge-
wiſſe Gewerbetreibende erkannt werden.


2. Perſonen, welche entweder ſich die Agitation für ſozia-
liſtiſche Beſtrebungen zum Geſchäfte machen, oder auf Grund
einer Beſtimmung des Sozialiſten-Geſetzes rechtskräftig zu einer
Strafe verurteilt ſind, kann (§. 24) von der Landespolizei-
behörde die Befugnis zur gewerbsmäßigen oder nicht ge-
werbsmäßigen öffentlichen Verbreitung von Druck-
ſchriften
ſowie die Befugnis zum Handel mit Druck-
ſchriften im Umherziehen entzogen werden
.4


Zuwiderhandlungen gegen jenes Urteil (§. 23; oben 1)
oder dieſe Verfügung (§. 24; oben 2) werden mit Geldſtrafe
bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu ſechs
Monaten beſtraft (§. 25).


V. Wer die bei Verhängung des ſogenannten kleinen
[446]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
Belagerungszuſtandes (§. 28) getroffenen Anordnungen mit
Kenntnis derſelben oder nach erfolgter öffentlicher Bekannt-
machung derſelben auch ohne Kenntnis derſelben5 übertritt
(§. 28 Abſ. 4), wird mit Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder
mit Haft oder mit Gefängnis bis zu 6 Monaten beſtraft.


8.

§. 109. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber-
wachung des Aſſoziationsweſens.

I. Die Teilnahme an einer Verbindung, deren Daſein,
Verfaſſung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim
gehalten werden ſoll, oder in welcher gegen unbekannte
Obere
Gehorſam oder gegen bekannte Obere unbedingter
Gehorſam
verſprochen wird (StGB. §. 128).


Strafe: gegen die Mitglieder Gefängnis bis zu 6 Mo-
naten; gegen Stifter und Vorſteher der Verbindung Ge-
fängnis von einem Monate bis zu einem Jahre. Gegen
Beamte kann auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Aemter auf die Dauer von einem Jahre bis zu
5 Jahren erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 4).


II. Die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken
oder Beſchäftigungen es gehört, Maßregeln der Verwal-
tung oder die Vollziehung von Geſetzen durch un-
geſetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften

(StGB. §. 129).


Strafe: gegen die Mitglieder Gefängnis bis zu einem
Jahre; gegen die Stifter und Vorſteher der Verbindung
Gefängnis von 3 Monaten bis zu 2 Jahren; gegen Beamte
[447]Delikte gegen das Aſſoziationsweſen. §. 109.
kann auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher
Aemter auf die Dauer von einem Jahre bis zu 5 Jahren
erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 4).


III. Zuwiderhandlungen gegen die (im öffentlichen Inter-
eſſe getroffenen) Anordnungen des Geſetzes vom 7. April 1876
über die eingeſchriebenen Hülfskaſſen werden (§. 34)
an den Mitgliedern des Vorſtandes oder des Ausſchuſſes
mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark beſtraft.


IV. Uebertretungen des Geſetzes vom 4. Juni 1868, be-
treffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und
Wirtſchaftsgenoſſenſchaften
.


1. Geldſtrafe bis zu 600 Mark trifft (§. 27 Abſ. 2) die
Mitglieder des Vorſtandes, wenn ihre Handlungen auf an-
dere als die in §. 1 des Geſetzes erwähnten geſchäftlichen
Zwecke (Förderung des Kredits, des Erwerbs oder der
Wirtſchaft der Mitglieder mittels gemeinſchaftlichen Geſchäfts-
betriebes) gerichtet ſind, oder wenn ſie in der Generalver-
ſammlung die Erörterung von Anträgen geſtatten oder nicht
hindern, welche auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet ſind,
deren Erörterung unter die Landesgeſetze über das Vereins-
und Verſammlungsrecht fällt.


2. Unrichtigkeiten in den nach dem Geſetze dem Vor-
ſtande obliegenden Anzeigen oder ſonſtigen amtlichen An-
gaben werden (§. 67) gegen Vorſtandsmitglieder mit Geld-
buße bis zu 60 Mark geahndet.


[448]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
9.

§. 110. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Regelung
des Gewerbeweſens.

Quelle: Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869.


I. Aus den in der Gew.-Odg. §§. 143—153 mit Strafe
bedrohten Handlungen ſeien die folgenden hervorgehoben:


1. Verletzung der Verpflichtung der Gewerbetreibenden
(§. 115), die Löhne ihrer Arbeiten bar in Reichswährung
auszuzahlen (§. 146 Ziff. 1: Verbot des Truckſyſtems).


2. Uebertretung der in den §§. 135, 136 oder auf Grund
der §§. 139, 139 a getroffenen Verfügungen über die Ver-
wendung von jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen in
den Fabriken (§. 146 Ziff. 2); Verletzung der den Gewerbe-
Unternehmern obliegenden Verpflichtung (§. 120), auf Ge-
ſundheit und Sittlichkeit, ſowie auf die weitere Fortbildung
ihrer Arbeiter unter 18 Jahren die erforderliche Rückſicht zu
nehmen, und jene Einrichtungen zu treffen, welche zu thun-
lichſter Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Geſundheit
notwendig ſind — trotz Aufforderung der Behörde (§. 147
Ziff. 4) —; Verletzung der geſetzlichen Pflichten gegen die Lehr-
linge (§. 148 Ziff. 9 und 10).


3. Betrieb eines Gewerbes, Errichtung einer gewerblichen
Anlage ohne obrigkeitliche Genehmigung, ſoweit eine ſolche
erforderlich iſt (§. 147 Ziff. 1 und 2);1


4. Unbefugte Bezeichnung als Arzt oder Beilegung eines
ähnlichen Titels, durch den der Glauben erweckt wird, der
[449]Delikte geg. die ſtaatl. Regelung d. Gewerbeweſens. §. 110.
Inhaber desſelben ſei eine geprüfte Medizinalperſon (§. 147
Ziff. 3).


5. Gewerbebetrieb ohne die vorgeſchriebene Anzeige oder
den erforderlichen Legitimationsſchein (§. 148 Ziff. 1—3, 7);
Gewerbebetrieb trotz Unterſagung desſelben (§. 148 Ziff. 4);
gewerbsmäßige öffentliche Verbreitung von Druckſchriften ohne
polizeiliche Erlaubnis (§. 148 Ziff. 5); Verletzung der Vor-
ſchriften über das Aufſuchen von Waarenbeſtellungen (§. 148
Ziff. 6); Ueberſchreitung der Taxordnungen (§. 148 Ziff. 8).


6. Verletzung der geſetzlichen Anordnungen über das
Mit-Sich-Führen des Legitimationsſcheines (§. 149).


7. Verletzung der geſetzlichen Vorſchriften über die Ar-
beitsbücher (§. 150).


II. Die Strafe beträgt:


  • 1. im Falle des §. 146: Geldſtrafe bis zu 2000 Mark
    und im Unvermögensfalle (oben §. 55 I 1) Gefängnis
    bis zu 6 Monaten;
  • 2. im Falle des §. 147: Geldſtrafe bis zu 300 Mark
    bez. Haft;
  • 3. im Falle des §. 148: Geldſtrafe bis zu 150 Mark
    bez. Haft bis zu 4 Wochen;
  • 4. im Falle des §. 149: Geldſtrafe bis zu 30 Mark bez.
    Haft bis zu 8 Tagen;
  • 5. im Falle des §. 150: Geldſtrafe bis zu 20 Mark bez.
    Haft bis zu 3 Tagen.

III. Ueber die Verjährungsfriſt (§. 145) vgl. oben §. 58
II; über die Idealkonkurrenz der Uebertretungen der Ge-
werbeordnung mit Zuwiderhandlungen gegen die Steuergeſetze
(§§. 147 und 148) vgl. oben §. 40 II a; über die Mit-
haftung des verfügungsfähigen Gewerbe-Inhabers, mit deſſen
Vorwiſſen ſein Stellvertreter eine ſtrafbare Handlung be-
von Liszt, Strafrecht. 29
[450]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
gangen hat (§. 151) oben §. 43 III a. E.; endlich über
Nötigung bei Arbeitseinſtellungen oben §. 63 I 2.


10.

§. 111. Strafrechtlicher Schutz des Eiſenbahn-1und
Poſtweſens.
2

I. Zuwiderhandlungen


  • 1. gegen die in den §§. 53—61 des Bahnpolizei-
    Reglements
    vom 4. Januar 1875 enthaltenen „Be-
    ſtimmungen für das Publikum“ (Verpflichtung zum
    Gehorſam gegenüber der Bahnverwaltung und den
    Bahnpolizeibeamten, Verbot den Bahnkörper zu be-
    treten, Anlagen und Betriebsmittel zu beſchädigen, den
    Betrieb zu ſtören, eigenmächtiges Oeffnen der Thüren,
    Ein- und Ausſteigen während des Fahrens);
  • 2. gegen die in §. 62 daſelbſt angeführte Beſtimmung des
    Eiſenbahn-Betriebsregelments vom 11. Mai 1874
    (Verbot des Mitnehmens feuergefährlicher Gegenſtände
    in die Perſonenwagen)

werden nach §. 62 daſelbſt mit Geldſtrafe bis zu 30 Mark
beſtraft.


II. Verletzung der „beſonderen Vorrechte der
Poſten
“ (Verbot der Pfändung, Verpflichtung zum Aus-
weichen, zum Oeffnen der Thore und Schlagbäume, zur Be-
wirkung der Ueberfahrt) werden nach dem Poſtgeſetze vom
28. Oktober 1871 (§§. 18, 19, 23) mtt Geldſtrafe (von
höchſtens 60 Mark) bedroht.


[451]Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens. §. 112.
11.

§. 112. Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens.1

I. Verletzung der Vorſchriften des Geſetzes vom 25. Ok-
tober 1867, betreffend die Nationalität der Kauf-
fahrteiſchiffe und ihre Befugnis zur Führung der
Bundesflagge
(vgl. R.Verf. Art. 54 und 55).


1. Unberechtigte Führung der Bundesflagge (§. 13);
Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Mo-
naten; Konfiskation des Schiffes zuläſſig.


2. Führung der Bundesflagge vor Eintragung in das
Schiffsregiſter oder Ausfertigung des Certifikats (§. 14);
Geldſtrafe bis zu 300 Mvrk oder verhältnismäßiges Ge-
fängnis. Präſumption der Schuld (vgl. oben §. 27 Note 3).


3. Nichtanmeldung der zum Schiffsregiſter anzumeldenden
Thatſachen (§. 15). Strafe wie zu 2. Sie wird verdoppelt,
wenn die Verpflichtung auch binnen 6 Wochen nach dem
erſten Schuldurteile nicht erfüllt iſt.


II. Verletzung des Geſetzes vom 28. Juni 1873, be-
treffend die Regiſtrierung und Bezeichnung der Kauf-
fahrteiſchiffe
(das Schiff muß ſeinen Namen auf jeder
Seite des Bugs, ſeinen Namen und den Namen des Hei-
matshafens am Heck tragen). Strafe: Geldſtrafe bis zu
150 Mark oder Haft.


III. Verletzung des Geſetzes vom 25. März 1880 (und
der dazu gehörigen Verordnung vom 28. Juli 1880), be-
treffend die Schiffsmeldungen bei den Konſulaten
des deutſchen Reichs
. Geldſtrafe bis zu 200 Mark.2


[452]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

IV. Uebertretung


1. der vom Kaiſer zur Verhütung des Zuſammen-
ſtoßens der Schiffe auf See
erlaſſenen Verordnung vom
7. Januar 1880,3 in Kraft vom 1. September 1880 (über
das Führen von Lichtern, Schallſignalen und Mäßigung der
Geſchwindigkeit bei Nebel, über das Ausweichen der Schiffe
uſw.);


2. der vom Kaiſer über das Verhalten der Schiffer
nach einem Zuſammenſtoße von Schiffen auf See

erlaſſenen Verordnung vom 15. März 1876 (jeder Schiffer
hat dem Anderen den zur Abwendung oder Verringerung der
nachteiligen Folgen des Zuſammenſtoßes erforderlichen Bei-
ſtand zu leiſten, ſoweit er dazu ohne erhebliche Gefahr für
das eigene Schiff und die darauf befindlichen Perſonen im
Stande iſt; und ihm unter derſelben Vorausſetzung die nö-
tige Auskunft über Namen und Heimat wie Kurs des eigenen
Schiffes zu geben);


3. der kaiſerlichen Not- und Lootſen-Signalord-
nung
für Schiffe auf See und auf den Küſtengewäſſern vom
14. Auguſt 1876.


Strafe nach §. 145 StGB.: Geldſtrafe bis zu
1500 Mark.


V. Verletzung der durch das Geſetz vom 27. Dezember
1872, betreffend die Verpflichtung deutſcher Kauf-
fahrteiſchiffe zur Mitnahme hülfsbedürftiger See-
leute
, getroffenen Anordnungen. Strafe: Geldſtrafe bis
zu 150 Mark oder Haft.


VI. Uebertretung der Beſtimmungen der Strandungs-
ordnung
vom 17. Mai 1876.


[453]Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens. §. 112.

1. Unterlaſſene Anzeige eines Falles von Seenot (§. 7);


2. Nichtanzeige der Bergung von an das Land getrie-
benen Stücken des Schiffes, ſeiner Ladung uſw. oder Nicht-
Ablieferung dieſer Gegenſtände (§. 13);


3. Nichtanzeige der Bergung von Seeauswurf, ſtrand-
triftigen, verſunkenen oder ſeetriftigen Gegenſtänden (§§. 20
und 21);


4. Bergung oder Hülfeleiſtung gegen den Willen des
Schiffers (§§. 7 und 12).


Strafe (nach §. 43): Geldſtrafe bis zu 150 Mark
oder Haft.


VII. Strafbare Uebertretungen der Seemannsord-
nung
vom 27. Dezember 1872.


1. Bruch des Heuervertrages (§§. 81, 82, Uebertretungs-
ſtrafe; vgl. ob. S. 289);


2. Dienſtesentziehung (§. 83): Geldſtrafe bis zum Be-
trage einer Monatsheuer;


3. Gröbliche Verletzung der Dienſtpflicht durch den
Schiffsmann (§. 84): Geldſtrafe bis zum Betrage einer
Monatsheuer;


4. Verweigerung des Gehorſams gegenüber wiederholten
Befehlen des Vorgeſetzten (§. 86): Gefängnis bis zu drei
Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark. Qualifiziert
bei gemeinſchaftlicher verabredeter Verweigerung durch zwei
oder mehrere Perſonen der Schiffsmannſchaft (§. 87); mil-
dernde Umſtände hier zugelaſſen.


5. Unternommene Nötigung des Schiffsvorgeſetzten zur
Vornahme oder zur Unterlaſſung einer dienſtlichen Verrich-
tung; unternommener gewaltſamer Widerſtand gegen denſelben
oder thätlicher Angriff auf ihn (§§. 89 und 90). Strafe:
Gefängnis bis zu 2 Jahren, bei mildernden Umſtänden
[454]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
Geldſtrafe bis zu 600 Mark. Qualifiziert, wenn von meh-
reren auf Verabredung gemeinſchaftlich begangen (§. 91).
Mildernde Umſtände in allen Fällen zugelaſſen. Als Ge-
hülfe wird derjenige beſtraft (§. 92), der den auf Abwehr
oder Unterdrückung dieſer Handlungen gerichteten Befehlen
des Vorgeſetzten den Gehorſam verweigert (vgl. oben §. 37
II 5).


6. Aufforderung zweier oder mehrerer Perſonen der
Schiffsmannſchaft zur Begehung einer der unter 4 und 5
angeführten Handlungen (§. 88). Strafe: wenn die Auf-
forderung Erfolg gehabt, die der Anſtiftung; wenn nicht, bei
Aufforderung zu den unter 4 angeführten Handlungen Geld-
ſtrafe bis zu 300 Mark, bei Aufforderung zu den unter 5
angeführten Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis
zu einem Jahre.


7. Entſtellung, Unterdrückung, Vorſpiegelung von That-
ſachen bei Verhandlungen vor dem Seemannsamte; Unter-
laſſung der Stellung zur Muſterung; Unterlaſſung des Aus-
weiſes über ein dem Dienſtantritte entgegenſtehendes Hindernis
gegenüber dem Seemannsamte (§. 93). Uebertretungsſtrafe.


8. Vorſätzliches oder fahrläſſiges Vorbringen einer auf
unwahre Behauptungen geſtützten Beſchwerde über Seeun-
tüchtigkeit des Schiffes oder Mangelhaftigkeit des Proviantes
bei einem Seemannsamte, wenn auf Grund dieſer Behaup-
tungen eine Unterſuchung eingeleitet wurde (§. 94). Strafe:
Bei vorſätzlicher Begehung Gefängnis bis zu 3 Monaten,
bei fahrläſſiger, Geldſtrafe bis zu 300 Mark.


9. Mißbrauch der Disziplinargewalt durch den Schiffs-
vorgeſetzten (§. 96): Geldſtrafe bis zu 900 Mark oder
Gefängnis bis zu einem Jahre.


10. Mangelhafte Verproviantierung des Schiffes (§. 97).


[455]Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.

Strafe:


  • a) wenn vorſätzlich begangen, Gefängnis mit fakultativer
    Geldſtrafe bis zu 1500 Mark und fakultativem Ehr-
    verluſt;
  • b) wenn fahrläſſig begangen, und wenn in Folge deſſen
    der Schiffsmannſchaft die gebührende Koſt nicht ge-
    währt werden kann, Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder
    Gefängnis bis zu einem Jahre.

11. Zurücklaſſung eines Schiffsmannes im Auslande
ohne Genehmigung des Seemannsamtes (§. 98 vgl. mit
§. 71). Geldſtrafe bis zu 300 Mark, Haft oder Gefängnis
bis zu 3 Monaten.


12. Verſchiedene kleinere Pflichtverletzungen von Seiten
des Schiffers ſind in §. 99 mit Uebertretungsſtrafe belegt.


Dieſe Beſtimmungen (1—12) finden auch dann Anwen-
dung (§. 100), wenn die ſtrafbaren Handlungen außerhalb
des Bundesgebietes begangen ſind (vgl. oben §. 13 III A c).
Ueber den Beginn der Verjährung in dieſem Falle vgl oben
§. 58 II 2.


12.

§. 113. Strafbare Handlungen gegen das Reichsfinanzweſen.

I. Als Quellen kommen in Betracht:


1. Salzſteuergeſetz vom 28. Oktober 1867 §§. 11—14;


2. Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 50
bis 68;


3. Geſetz betreffend die Einführung von Telegraphen-
freimarken
vom 16. Mai 1869, §. 2;


4. Wechſelſtempelſteuergeſetz vom 10. Juni 1869
§§. 15—17;


[456]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

5. Zuckerſteuergeſetz vom 26. Juni 1869 §. 4;


6. Vereins-Zollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134
bis 164;


7. Rübenzuckerſteuergeſetz vom 2. Mai 1870 (Verord-
nung vom 7. Auguſt 1846 §§. 17—30);


8. Reichspoſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §§. 27—33;


9. Brauſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §§. 27—40;


10. Reichsbankgeſetz vom 14. März 1875 §. 59 Ziff. 2;


11. Spielkartenſtempelſteuergeſetz vom 3. Juli 1878
§§. 10—20;


12. Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §§. 32—45;


13. Waarenverkehrsſtatiſtikgeſetz vom 20. Juli 1879
§. 17.


II. Die in dieſen Geſetzen mit Strafe bedrohten Hand-
lungen laſſen ſich in folgende Kategorien bringen:


1. Die Kontrebande, d. i. nach der in §. 134 Vereins-
zollgeſetz gegebenen Definition das Unternehmen, Gegen-
ſtände, deren Ein-, Aus- oder Durchfuhr verboten
iſt, dieſem Verbote zuwider ein-, aus- oder durch-
zuführen
.


2. Die Defraudation, oder die einfache Hinter-
ziehung
der ſchuldigen Abgabe, wobei meiſt ſchon das
„Unternehmen“ mit der vollen Strafe der Vollendung belegt
iſt. Hieher gehört auch die Verwendung entwerteter Poſt-
oder Telegraphen-Freimarken, ſowie die Umgehung des Poſt-
zwanges.


3. Die Erſchleichung einer Steuer- oder Zoll-Rück-
vergütung
, die überhaupt nicht, oder nicht in der geforderten
Höhe beanſprucht werden durfte; vgl. die oben I unter 5
und 12 angeführten Geſetze.


4. Die Verletzung derjenigen Anordnungen, die zum
[457]Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.
Zwecke der Ueberwachung und Einhebung getroffen ſind (in
vielen Fällen nur mit Ordnungsſtrafen belegt).


Wenn die in Frage ſtehende That ſowohl unter einen
der eben erwähnten Deliktsbegriffe als auch unter einen der
im StGB. enthaltenen fällt, ſo gehen die Steuergeſetze als
lex specialis nach der oben §. 40 II a gegebenen Regel in
der Anwendung vor. Paßt der Thatbeſtand dagegen nur
unter das StGB., nicht unter einen jener Deliktsbegriffe, ſo
iſt eben das StGB. zur Anwendung zu bringen.1


III. Die Zoll- und Steuergeſetze des Reichs bieten in
ihren ſtrafrechtlichen Beſtimmungen gar manche Eigentüm-
lichkeit. Hervortreten der rein fiskaliſchen Intereſſen; die Be-
tonung des Abſchreckungsprinzipes und doch andererſeits
wieder das Streben, zwiſchen Verbrechen und Strafe eine
wenn möglich ziffermäßig auszudrückende Gleichung aufzu-
ſtellen; der Anſchluß an ältere geſetzgeberiſche Vorbilder und
die damit zuſammenhängende Neigung, durch kaſuiſtiſche Be-
ſtimmungen das freie richterliche Ermeſſen zu beſchränken:
all’ dieſe zuſammenwirkenden Umſtände machen die fraglichen
Geſetze zu einer Fundgrube intereſſanter ſtrafrechtlicher Sonder-
beſtimmungen. Näheres Eingehen auf dieſelben iſt hier nicht
möglich; doch ſollen die wichtigſten Eigentümlichkeiten zur
Ueberſicht zuſammengeſtellt werden. Als Paradigma kann
das Vereinszollgeſetz dienen.


1. Der Thatbeſtand, mit welchem die ſtrafbare Handlung
[458]Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
„als vollbracht angenommen wird“, iſt vielfach in der de-
taillierteſten Weiſe geſchildert; man vgl. §. 136 Vereins-
Zollgeſetz mit ſeinen 9 Ziffern, die wieder mehrfach unter-
geteilt ſind.


2. Häufig begegnen Schuldpräſumptionen (vgl. oben
§. 27 Note 3); die „Thatſachen“ ſollen genügen, um die
Strafe herbeizuführen, und dem Angeklagten obliegt es, durch
die Führung des Beweiſes ſeiner Unſchuld ſich die Straf-
freiheit oder doch die Erſetzung der kriminellen Strafe durch
eine Ordnungsſtrafe zu ſichern.


3. Die regelmäßig an erſter Stelle verwendete Geldſtrafe
wird als Vielfaches oder als quoter Teil der im Einzelfalle
hinterzogenen Abgabe bemeſſen (vgl. auch oben §. 47 II).
Die Umwandlung in Freiheitsſtrafe, in einem Falle (Wechſel-
ſtempelgeſetz) ausgeſchloſſen, findet häufig nach einem anderen
als dem im StGB. aufgeſtellten Maßſtabe ſtatt (oben
§. 55 I 1).


Die Nebenſtrafe der Konfiskation wird reichlichſt ver-
wendet, und ihre Anwendung durch detaillierte Beſtimmungen
geregelt (z. B. Vereinszollgeſetz §§. 154—157; vgl. auch
oben §. 50 II).


Auch die Nebenſtrafe der Entziehung der Gewerbeberech-
tigung ſpielt hier eine gewiſſe Rolle (vgl. oben §. 50 IV).


4. Eines der für den konſtruierenden Theoretiker inter-
eſſanteſten Rechtsinſtitute iſt die regelmäßig wiederkehrende
ſubſidiäre Haftung dritter unſchuldiger Perſonen für die von
dem Schuldigen verwirkte Geldſtrafe (vgl. oben §. 42 III 2).


5. Mit größter, wir können ſagen: dem ganzen Syſteme
der Reichsgeſetzgebung gegenüber anormaler Strenge wird
der Rückfall getroffen: die Geldſtrafe verwandelt ſich in
[459]Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.
Freiheitsſtrafe, die Maxima der Strafrahmen werden vervier-
facht uſw. (vgl. oben §. 54 I 1).


6. Aber auch ſonſt tritt das Streben, der richterlichen
Tendenz zur Milde zu begegnen, in der Verwendung zahl-
reicher Schärfungsgründe hervor. Auch nach dieſer Richtung
hin bildet das Vereinszollgeſetz in den §§. 144—148 ein
lehrreiches Beiſpiel.


7. Beſondere Beſtimmungen über die Behandlung der
idealen Konkurrenz vgl. oben §. 40 II a; der realen Kon-
kurrenz oben §. 56 V.


8. Endlich ſind die Verjährungsfriſten regelmäßig ab-
weichend vom StGB. bemeſſen (oben §. 58 II 1); und ſelbſt
über Beginn und Unterbrechung der Verjährung beſondere
Anordnungen getroffen (oben §. 58 II 2 und 3).

Appendix A

[[460]][461][462][463][464]

Appendix B

[[465]][466]

Appendix C

[[467]][468][469][470][471][472][473]

Appendix D

[]

Appendix E

Buchdruckerei von Guſtav Schabe (Otto Francke) in Berlin N.

[][][][]
Notes
1.
Vgl. dazu insbeſ. Binding
die Normen; Thon Rechtsnorm
und ſubjektives Recht; Ihering
der Zweck im Recht; ſowie über-
haupt die durch dieſe Werke hervorgerufene Literatur. Aus
jüngſter Zeit Hertz das Unrecht
und die allgem. Lehren des
Strafrechts.
1.
Vgl. unten §. 25 die Lehre
von der Zurechnungsfähigkeit. Dazu Hertz das Unrecht uſw.
I S. 119 ff.
1.
Feſte Terminologie iſt un-
erläßlich. Ich nehme Gefähr-
dung als größere Gefahr. Ge-
fahr würde vorliegen, wenn auch
nur in einem kleinen Perzent- ſatze von Fällen, Gefährdung
dann, wenn ſagen wir in über
50 % der Fälle der Erfolg ein-
zutreten pflegte.
1.
Zum Folgenden vgl. Binding Normen.
2.
Vgl. insbeſ. Merkel krim.
Abhandlungen 1867; die übrige Literatur bei Meyer Lehrb.
S. 1 Note 1.
3.
Wahlberg krimin. u. nationalökon. Geſichtspunkte. 1872.
1.
Kurſus der Philoſophie.
1875.
2.
Schütze Lehrbuch (Elaſti-
zität).
3.
Treffliche Darſtellungen bei
Berner Lehrbuch, Heinze in
H. H. I, Wächter Beilagen,
Binding Grundriß. Bei letz-
terem S. 91 Litteraturangaben.
Dazu etwa noch Jellinek die
ſozial-ethiſche Bedeutung von
Recht, Unrecht, Strafe. 1878.
1.
Ich ſchließe mich in Bezug
auf die Einteilung der Straf-
rechtstheorien größtenteils an
Heinze an. Bei dieſem ſiehe
die Gründe gegen die gewöhnliche
Einteilung in abſolute, relative
und gemiſchte Theorien.
1.
Vgl. RVerf. Artt. 2, 5, 17.
2.
Lit. bei Windſcheid Pan- dekt. §. 14. A. A. Zorn Staatsr.
S. 116.
3.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 61.
4.
Beiſpiel einer authent. In- terpretation (des §. 28 Nr. 3
Sozialiſt. Geſ.) in dem Geſ. v.
31. Mai 1880 RGB. Nr. 12.
5.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 41.
6.
Die Novelle v. 26. Febr.
1876 hat eine Anzahl ſolcher RV.
beſeitigt.
7.
Der Ausdruck „Druckfehler“
iſt zur Bezeichnung dieſer Fälle
zu eng.
8.
A. A. Binding Grundr.
S. 42.
9.
Vgl. überhaupt Windſcheid §. 27.
1.
Vollſtändige Ueberſichten
bei Binding die gemeinen
deutſchen Strafgeſetzbücher. 2.
Aufl. 1877; Wächter Beilagen zu Vorleſungen über d. StR.
1877; Berner Strafgeſetzge-
bung in Deutſchland v. 1751
bis zur Gegenwart. 1867.
1.
Sie werden im Folgenden
citiert mit dem Namen der Ver- faſſer und nach den behandelten
§§. des StGB.’s.
2.
citiert nach Namen und Seitenzahl der hier angeführten
Auflagen.
1.
Vgl. insbeſondere Heinze
ſtaatsrechtliche und ſtrafrechtliche
Erörterungen 1870. Weitere Lit. bei Binding Grundriß
S. 43.
2.
Vgl. EG. z. StGB. §§. 2 u. 5.
3.
Ebenſo Rüdorff u. Merkel gegen das OT.
4.
Vgl. OAG. Dresden
27. Septbr. 1872 im Anſchluſſe
an Heinze. Dagegen Meyer
S. 587.
5.
Sehr beſtritten. Vielfach
wird ganz allgemeine Geltung
behauptet.
6.
Auch die Anführung des Holzdiebſtahls iſt eine lediglich
beiſpielsweiſe; er iſt eben —
und war es von jeher — etwas
weſentlich anderes als Diebſtahl,
mit dem er nur den Namen
gemein hat. Vgl. Binding
Normen I S. 73.
7.
Dazu Heinze GS. XXX.
8.
S. 61. Vgl. auch Kayſer
in HH. IV S. 5 ff.
1.
Vgl. Windſcheid §. 31.
2.
Ueber das RStGB. vgl.
oben §. 8 IV a. E.
3.
Man denke an das ſog.
Sozialiſtengeſetz.
4.
Das Geſetz iſt einzige
Quelle des Unterganges wie der
Entſtehung der Reichsſtrafrechts-
ſätze. Vgl. oben §. 7 I.
5.
EG. §. 2 Abſ. 1 u. 2.
6.
Vgl. oben §. 11 I.
7.
Vgl. Meyer S. 423,
Windſcheid §. 472 Note 8.
8.
Vgl. Windſcheid §. 326
mit der Lit.
9.
Windſcheid §. 123.
10.
Vgl. Windſcheid §. 32.
11.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 47.
12.
A. A. die Meiſten.
13.
Sehr beſtritten; die richtige
Anſicht — gegen dieſelbe die
Praxis des OT. — hat jetzt
Ausdruck gefunden im Art. III
der Novelle v. 26. Febr. 1876.
14.
Vgl. oben §. 4 I 2; unten
§. 30.
15.
Bezügl. der letzteren a. A.
München 20. April 1877.
16.
Unbegründet iſt die An-
ſicht, nach welcher der Beginn
der Geltung des ſpäteren Ge- ſetzes als Anfangspunkt für den
Lauf der nach dieſem zu berech-
nenden Verjährung gilt.
17.
Die proportionale Berech-
nung, für das Civilrecht ange-
meſſen, weil es ſich hier um
billigen Ausgleich zwiſchen gleich-
berechtigten Intereſſen handelt,
paßt nicht für das Strafrecht,
welches einſeitig den Beſchul-
digten begünſtigen will.
1.
Recht unpaſſend bezeichnet
man die in dieſem §. behandelten
Rechtsſätze als internationales
Strafrecht. Ein ſolches giebt es
heute noch nicht. — Lit. beiBinding Grundr. S. 49, ins-
beſ. Rohland das internat.
Strafrecht. 1877. Dazu Hamm
GA. XXVI, Hälſchner GS.
XXX, Geyer HR. „Ausland“.
2.
Vgl. Entw. der Novelle v. 26. Febr. 1876 u. Motive dazu.
3.
Alſo nicht, ſoweit es ſich
um fortgeltende landesrechtliche
Strafgeſetze (z. B. Verbot des
Spieles in auswärtigen Lotte- rien) handelt; RGR. 24. Febr.
1880, E I 219; 13. März 1880,
E I 274.
4.
§. 10 StPO., der nur den
Gerichtsſtand regelt, hat mit
dieſer Frage gar nichts zu thun.
5.
Geſetz über die Konſular-
gerichtsbarkeit vom 10. Juli
1879 §. 4.
6.
Doch iſt in dieſem Falle
ein beſonderes Nachverfahren
(StGB. §. 37) zum Zwecke der
Aberkennung der bürgerl. Ehren-
rechte zuläſſig. Vgl. unten §. 51.
7.
Nicht aber §. 61 des Nach-
druckgeſ. v. 11. Juni 1870, der
regelmäßig biehergeſtellt wird.
8.
Ueber die Behandlung der
ausländiſchen, bei dem krieg-
führenden Heere zugelaſſenen,
Offiziere und der Kriegsgefan-
genen vgl. Milit. StGB. §§. 157
—159.
9.
Aufgezählt in der Rü-
dorff
’ſchen Textausgabe u. den
Kommentaren zu §. 9 StGB.
Vgl. Bulmerincq in HR.
„Aſylrecht“ u. „Auslieferungs-
verträge“.
1.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
§. 22; dazu Bulmerincq HR.
„Exterritorialität.“
2.
Ueber Grund und Trag- weite dieſer Anordnung vgl.
Liszt Reichspreßrecht §. 45
(daſelbſt auch die Lit. des Jahres
1879).
3.
Vgl. Liszt Preßrecht §. 55 I.
4.
Ebenſo OT. 14. Juni 1877.
1.
Vgl. dazu Binding Grundriß S. 47.
2.
Milit. StGB. vom 20. Juni
1872 §. 4; vgl. Wehrgeſetz vom 9. Novbr. 1867, Militärgeſetz
vom 2. Mai 1874.
1.
Vgl. Liszt Preßr. §. 12.
1.
Vgl. darüber Meyer Lehr-
buch S. 16 Anm. 10 mit Lit.,Thon Rechtsnorm u. ſubjekt.
Recht S. 71 ff.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 54; dazu Wahlberg
in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VII,TeichmannRevue de droit
international XI.
2.
So Reichswahlgeſetz vom
31. Mai 1869 §. 3 (beſtritten, vgl.
Laband Staatsr. I S. 527;
Zorn Staatsr. I S. 171 insbeſ.
Note 6); Rechtshülfegeſetz v. 21.
Juni 1869 § 27; Geſetz über die
Organiſation der Bundeskonſu-
late vom 8. Novbr. 1867 §. 22.
3.
So Binding, Wahl-
berg
u. A.
4.
Vgl. Wahlberg a. O.
S. 9.
5.
Dieſe Unterſcheidung fällt
zuſammen mit der von mate-
riellem und formellem Unrechte
bei Binding, Hälſchner,
Merkel
; Lit. und Zuſammen-
ſtellung der verſchiedenen An
ſichten bei Meyer Lehrbuch
S. 136 ff.
6.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 55; dazu Dochow HR.
„Einteilung.“
7.
Ueber den vom Geſetzgeber
begangenen Rechnungsfehler (er
behandelt als gleichwertig 5 Jahre oder 60 Monate Gefängnis;
5 Jahre Feſtung oder 40 Mo-
nate Gefängnis; 12 Monate
Zuchthaus oder 18 Monate Ge-
fängnis) vgl. Binding Grund-
riß S. 55.
8.
Vgl. StGB. §§. 4, 6, 37;
40; 57 Nr. 4; 43, 49, 257; 27, 29; 67; 74; 126, 240, 241;
151; 157 Nr. 1.
9.
Die Grenzlinie iſt eine ſehr
beſtrittene. Die Milderung der
verwirkten Meineidſtrafe nach
StGB. §§. 157 u. 158 gehört
nicht hieher.
1.
Vgl. zum Folgenden die im pſycholog. Teile ausgezeich-
neten Ausführungen von Zitel-
mann
Irrtum u. Rechtsgeſchäft
1879. Treffliche Darſtellung
ſchon bei Bekker Theorie des
Strafrechts.
2.
Eine der beſtrittenſten Fra-
gen. Aehnlich wie im Texte
Haeberlin in GA. Bd. XXV.
Lehrbb. und Kommentare des
Strafr. u. StProzeßrechts be-
handeln die Frage bei der Lehre von der räumlichen und zeit-
lichen Herrſchaft der Strafge-
ſetze, bez. vom Gerichtsſtande
der begangenen That. Vgl. auch
Hälſchner GS. XXX.
3.
Bezügl. der vielbeſprochenen Preßdelikte vgl. mein Reichs-
preßrecht §. 41.
1.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 178 Note 1. Insbeſondere
die Schriften von v. Bar,
v. Buri, Binding
. Dazu
Buri GS. XXIX.Cohn Zur
Lehre vom verſuchten u. unvoll.
Verbr. I 1880 S. 488 ff. Hertz
Das Unrecht und die allgem. Lehren des Strafr. I. Bd. 1880.
S. 167 ff. Der Text nähert
ſich am meiſten der v. Buri-
ſchen Auffaſſung. Seine phil.
Begründung ſ. bei John Stuart
Mill in deſſen Syſtem der
Logik I. Bd.
1.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 182 Note 1. Schriften von
Luden, Krug, Glaſer, Mer-
kel, v. Bar, v. Buri, Ort-
mann, Binding.
Dazu
neuerdings Cohn S. 533 ff.,
Hertz S. 196 ff., Schwalbach GS. XXXI. Am beſten immer
noch die Ausführungen von
Luden. Binding’s Behand-
lung der Unterlaſſungsdelikte iſt
mir der ſicherſte Beweis für die
Unhaltbarkeit ſeines Urſachen-
begriffes.
2.
Im Grunde genommen iſt
die Binding’ſche Konſtruktion
der ſog. unechten Unterlaſſungs- delikte auf dieſen Gedanken
zurückzuführen.
3.
Vgl. Luden Abhandlgn.
II S. 221; v. Bar Kauſal-
zuſammenhang S. 97. Zu dem-
ſelben Reſultate gelangt übrigensBinding ſelbſt (Normen II
S. 447 ff.) bezüglich der ſogen.
echten Unterlaſſungsdelikte.
4.
Aehnlich Binding Normen
II S. 259 ff. Auch Merkel
(krimin. Abhandlgn. I) verlangt,
daß der Thäter „die Intereſſen Anderer in zurechenbarer (?)
Weiſe auf die Vornahme ent-
ſprechender Handlungen geſtellt
habe.“
1.
Vgl. v. Schwarze GS.
XXIX.
2.
Ueber das gem. Recht vgl.Windſcheid §. 490 Note 11.
3.
Vgl. RGR. 12. April 1880,
R I 573, E II 7.
4.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 246 N. 8, dazu Janka
Notſtand S. 262.
5.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 153.
6.
Lit. bei Binding Grundriß S. 152.
7.
Vgl. Binding Grundriß
S. 153.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 154. Dazu v. Buri
GS. XXX.
2.
Anders die herrſchende An-
ſicht, die, das Wort „rechts-
widrig“ unrichtig auslegend, in
einem ſolchen Falle Notſtand annimmt. Lit. bei Binding
Grundriß S. 155.
3.
Intereſſante Kaſuiſtik bei
Binding Normen II S. 201 ff.
4.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 250 Note 9.
5.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 250 Note 10.
6.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 251 Note 12.
7.
Treffende Bemerkungen ge-
gen die abweichende Anſicht der
älteren Schriftſteller in Ihe-
ring’s
Kampf ums Recht.
Dagegen verwahrt ſich Geyer
(zuletzt in v. Holtzendorff’s Handb. IV S. 94) gegen dieſe
„Totſchlägermoral“.
8.
Gerade dieſe Fälle werden
in der Praxis vielfach unrichtig
entſchieden.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 156; insbeſondere Ar- beiten v. Janka u. Stamm-
ler
. Dazu v. Buri GS. XXX.
2.
Dieſe ſchließt als phyſiſche
(vis absoluta) den Begriff der
„Handlung“ aus (oben §. 19 I
2a
), gehört alſo gar nicht hieher.
3.
Ueber die verſchiedenen Not-
ſtandstheorien vgl. die bei
Meyer Lehrb. S. 253 angef.
Lit.
4.
Vgl. Windſcheid §. 455
Note 11.
5.
Empfohlen von Meyer,
Stammler
, insbeſondere aber
Binding Grundriß S. 157.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 57.
2.
Scharf betont von Bin-
ding
Normen II S. 46.
3.
Vgl. Windſcheid §. 71.
4.
Binding Normen II
S. 54.
5.
Vgl. Motive zu §. 51 StGB.
6.
So von den Kriminaliſten
inbeſondere Meyer, Wahl-
berg u. Geyer
; der Pſychologe
v. Volkmann, der Pſychiater v. Krafft-Ebing u. A. Da-
gegen die Hegelianer; auch
Schütze u. A.
7.
Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 326.
8.
Eigentümliche Anſicht bei Meyer S. 143 f.
9.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 60; ſchöne Darſtellung
bei demſelben Normen II S. 195 ff. Dazu Hertz das
Unrecht uſw. I S. 189 ff.
10.
Die Meinungen gehen weit
auseinander. Meiſt wird in
ganz einſeitiger Weiſe nur die
Frage nach dem Vorliegen des
Kauſalzuſammenhanges beſpro-
chen. Zuſammenſtellungen der
verſchiedenen Anſichten bei Bin-
ding
a. O.
11.
Ueber die abweichenden An-
ſichten des älteren Rechts vgl.
Geib Lehrb. II S. 197.
12.
Die entgegengeſetzte Anſicht
iſt nicht nur die herrſchende,
ſondern die beinahe ausſchließ-
lich bei Kriminaliſten wie Ci-
viliſten herrſchende. Für die
juriſtiſche Möglichkeit der Be-
ſtrafung haben ſich Beſeler,
Bluntſchli. Ziebarth
, in
jüngſter Zeit Felix Dahn Ver-
nunft im Recht S. 168 ausge-
ſprochen.
13.
Freilich iſt die Handlungs-
fähigkeit der juriſtiſchen Per-
ſonen auch auf civilrechtlichem
Gebiete beſtritten. Man vgl.
z. B. Windſcheid §. 59.
14.
Man vgl. die intereſſante
Faſſung in §. 35 des Genoſſen- ſchaftsgeſetzes v. 4. Juni. 1868:
„Wenn eine Genoſſenſchaft ſich
geſetzwidriger Handlungen oder
Unterlaſſungen ſchuldig macht,
durch welche das Gemeinwohl
gefährdet wird .... ſo kann
ſie aufgelöſt werden.“
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 58. Dazu Ullmann
GS. XXXI, Geyer HR. „Al-
tersſtufen“.
2.
Nach §. 50 des MilStGB.
iſt — mit Rückſicht auf die ſchon
mit dem vollendeten 17. Lebens- jahre beginnende Waffenfähigkeit
— das Alter des Thäters ohne
Einfluß auf die Beſtrafung
militäriſcher Verbrechen und
Vergehen.
3.
Die entgegenſtehende OT.
3. Mai 1872 iſt gewiß unrichtig.
4.
Lit. bei Binding Grundriß S. 58 u. 60.
5.
Uebrigens kann dem Juriſten
das Studium pſychiatriſcher Werke nicht dringend genug ans
Herz gelegt werden.
1.
Strengſtes Feſthalten an
der induktiven Methode iſt un-
bedingt notwendig, wollen wir
die Grundbegriffe der juriſtiſchen
Wiſſenſchaft dem Auf- und Ab-
wogen ſubjektiver Anſchauungen
entziehen.
2.
Anders die herrſchende An-
ſicht. Doch beweiſt mir insbe- ſondere Binding’s Schuld-
lehre in den „Normen“, daß
der Verſuch, zuerſt den Begriff
der Schuld und dann aus die-
ſem den der Schuldarten zu be-
ſtimmen (ſtatt umgekehrt) ſchei-
tern muß, ſobald er konſequent
durchgeführt wird.
3.
Man vgl. außer den Zoll-
und Steuergeſetzen: Geſetz betr.
die Nationalität der Kauffahrtei-
ſchiffe vom 25. Oktober 1867
§. 14; Aktiengeſetz vom 11. Juni
1870 §. 249 a; Preßgeſetz vom
7. Mai 1874 §. 21 (nicht §. 20);
Rinderpeſtgeſetz vom 21. Mai
1878 §. 3 Abſ. 2; Spielkarten-
ſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878
§. 10 Abſ. 3. Ueber dieſe Prä-
ſumptionen Binding Normen
II S. 612 ff.
4.
Die einzige Ausnahme, bei
der es ſich alſo nicht um eine
Präſumption der Schuld ſondern
um Ignorierung derſelben han-
delt, bietet §. 137 Abſ. 1 des
Vereinszollgeſetzes vom 3. Juli
1869, aber auch dieſer nur in-
ſoweit weder der 2. Abſ. ein-
greift, noch auch die Wortfaſſung
des bezogenen §. 136 das Ge-
genteil ergiebt.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 65, Normen II Note 614. Dazu Ortmann GS. XXX,
Geyer in HR. „dolus“.
2.
Dadurch unterſcheidet ſich
der Vorſatz von dem Wunſch,
welcher die Vorſtellung künfti-
ger Veränderungen, aber nicht
die Vorſtellung der Kauſalität
der gegenwärtig vorgenommenen Handlung für dieſelben in ſich
ſchließt.
3.
Zuſammenſtellung der Sy-
nonima für Vorſatz bei Bin-
ding
Normen II Noten 669
u. 671.
4.
Der von Binding Nor-
men II S. 356—486 angetretene
Gegenbeweis aus dem poſitiven
Rechte iſt m. E. mißlungen.
Der Beweis aus dem allgemei-
nen Begriffe der Schuld aber
fällt mit dieſem. Theorie und
Praxis ſchwanken. Ueber letztere
vgl. Binding Normen II
Note 724. Die richtige Anſicht
vertritt RGR. 29. Januar 1880,
R I 291, E I 88 (für StGB.
§. 180); 17. März 1880, E I 272, R I 448 (für StGB.
§. 137); (bedenklich RGR. 24.
Oktober 1879, R I 16). Vgl.
für die richtige Anſicht auch
RGR. 9. Dezember 1879, R I
132.
5.
Gerade dieſe Ausnahmen
beweiſen die Regel. Die Geg-
ner — auch Binding — müſſen
jene für geradezu ſinnlos er-
klären.
6.
A. A. Meyer Lehrbuch
S. 242 und die daſelbſt Note 5
7.
Anders die herrſchende An-
ſicht der Theoretiker. Für die
im Texte vertretene Auffaſſung
die Praxis.
6.
Angeführten. Gegen die im
Text vertretene Anſicht ſcheint
RGR. 28. Oktober 1879, R I
23 ſich auszuſprechen.
8.
Ueber die verſchiedene Be-
deutung des Wortes Abſicht
vgl. auch Binding Normen I
Note 873.
9.
Lit. über den Einfluß des
Irrtums bei Binding Grund- riß S. 62. Vgl. auch Zitel-
mann
Irrtum u. Rechtsgeſchäft
1879.
10.
Fahrläſſigkeit kann jedoch
gerade wegen des Irrtums vor-
liegen.
11.
Vgl. die intereſſanten Aus-
führungen bei Binding Nor- men II S. 412 ff. und Zitel-
mann
S. 433 ff. (S. 524).
12.
Zu anderem Reſultate ge-
langt Binding a. O. — Die
Beweisfrage iſt ſelbſtverſtändlich
mit der theoretiſchen Entſchei-
dung nicht zu verwechſeln.
13.
Beſondere Beſtimmung im
Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni
1870 §. 18 Abſ. 2: „Beſtrafung bleibt ausgeſchloſſen, wenn der
Veranſtalter des Nachdrucks auf
Grund entſchuldbaren, thatſäch-
lichen oder rechtlichen Irrtums
in gutem Glauben gehandelt
hat.“ Ebenſo in den drei Ur-
heber-Geſetzen vom 9., 10.,
11. Januar 1876.
14.
Man vgl. mit dem Geſagten Binding Normen II
S. 434.
15.
Wie dies die herrſchende
Anſicht thut. Lit. bei Meyer
Lehrb. S. 165 f., auch bei Zi-
telmann
Note 410. Die rich-
tige Anſicht iſt auf dem Gebiete
des Civilrechtes die herrſchende; man vgl. z. B. Windſcheid
§. 76. Uebrigens iſt die ganze
Unterſcheidung zwiſchen ab. i.
und error in p. ohne Wert.
Vgl. v. Buri Kauſalität S. 83.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 68. Dazu Geyer in
HR. „eulpa“.
2.
Daß es ſich hier um den
gewöhnlichen Begriff der Fahr- läſſigkeit handelt. ſ. bei Liszt
Preßrecht §. 51 f.
3.
Lit. bei Meyer S. 174
Note 17.
4.
So auch RGR. 28. April
1880, R I 691.
5.
Dies die Anſicht des RGR.
in der eben cit. E., welche die
Beſtimmung nicht auf culpa ſchlechthin, ſondern auf culpa
lata
bezieht.
6.
Z. B. der Thäter merkt
nicht, daß ſeine Handlung ein
Verheimlichen der betreffen-
den Sachen in ſich ſchließt.
1.
Vgl. Liszt Reichspreßrecht §. 55.
2.
Art. 31 RVerf., Einf.Geſ. zur StPO. §. 6.
1.
Die (wenig fördernde) Lit.
bei Binding Grundriß S. 51. Dazu Medem GS. XXIX,
Samuely GS. XXXII.
2.
Vgl. RGR. 16. April 1880,
E I 370, R I 607.
3.
Nach dem Civilrecht zu be- ſtimmen, vgl. die in Anm. 2
angef. E des RGR. bezügl. der
Stellung der unehelichen Mutter.
4.
Ueber die Form vgl. StPO.
§. 156.
5.
ROHG. vom 13. Oktober
1876.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 73. Dazu Cohn Zur
Lehre vom verſuchten und un-
vollendeten Verbrechen I 1880.
2.
Der Einfachheit wegen habe
ich Beiſpiele gewählt, bei wel-
chen Vollendung des Verbrechens
und Vollendung der Rechts-
güterverletzung ſich decken. Es
bedarf aber wohl nur eines Hin-
blickes auf den unten §. 36 I erörterten Begriff der fingierten
Thäterſchaft, um ſich zu über-
zeugen, daß bei jedem Ver-
brechen unter Umſtänden dieſe
Stadien auseinanderfallen kön-
nen.
3.
Die Terminologie iſt eine
ſehr ſchwankende; wichtig iſt es
nur, die verſchiedene Struktur der einzelnen Fälle im Auge
zu behalten.
4.
Lit. bei Binding Grundriß S. 75.
5.
Stand der Anſichten bei
Meyer Lehrb. S. 200 Note 8.
Lit. bei Binding Grundriß S.
76. Dazu Scherer GS. XXIX.
Im Weſentlichen mit dem Texte
übereinſtimmend die hochinter- eſſante RGR. 24. Mai 1880
(verein. Strafſenate), E I 439.
Ebenſo bez. des Verſuchs am
„abſolut untauglichen Objekte“
RGR. 10. Juni 1880, E I 451
1.
Es ſind dies §§. 107, 120,
140, 141, 148, 150, 160, 169, 240,
242, 246, 253, 263, 289, 303
—305, 339, 350, 352 StGB.;
Nahrungsmittelgeſetz v. 14. Mai
1879 §. 12, Geſetz gegen Rinder-
peſt 21. Mai 1878 §. 1, Bank- geſetz 14. März 1875 §. 57
Abſ. 2.
2.
Allerdings iſt bei keinem
Gebote die verſuchte Uebertre-
tung unter Strafe geſtellt.
3.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 75.
4.
Lit. bei Meyer S. 193 Note 14. A. A. Cohn S. 383 ff
5.
Denn der §. 43 ſoll nicht
den Verſuch definieren, ſondern
den ſtrafbaren Verſuch abgrenzen.
6.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 195 Note 2. Die im Texte vertretene Anſicht (ſie ſchließt
ſich möglichſt eng an die von
Zachariae empfohlene Formu-
lierung) iſt ſehr beſtritten.
7.
Unternehmen iſt m. E. ein
weiterer Begriff als Verſuch im
engeren Sinne. Daran wird
auch durch §. 82 StGB. nichts geändert. Doch iſt die Frage
kontrovers.
8.
Vgl. Liszt Preßrecht
§§. 41, 42.
1.
Lit. bei Meyer S. 202.
Dazu Binding Normen II
S. 234, 250 f., Cohn S. 612 ff.
2.
Mit der Beendigung der
Verſuchshandlung entfällt dem-
nach die Anwendbarkeit des §. 46 Nr. 1, RGR. 12. März
1880, E I 307, R I 453.
3.
Worin dieſe beſteht iſt be-
ſtritten. Lit. bei Meyer S. 226
Note 23.
4.
Vgl. Meyer S. 203.
5.
A. A. Binding Grundriß
S. 80. Lit. bei Meyer S. 202
Note 3.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 83 f. und Geyer in HR. „Anſtiftung“ und „Bel-
hülfe“. Dazu Cohn Zur Lehre
vom verſuchten u. unvollendeten
Verbrechen I 1880 S. 642 ff.,
Hertz Unrecht S. 172.
2.
Dieſe von der gewöhnlichen
allerdings weit abliegende Auf-
faſſung ſtützt ſich auf das po-
ſitive Recht, ſie ſucht aus dieſem
den Begriff der Teilnahme zu gewinnen, nicht aus einem
aprioriſtiſch gefundenen Begriffe
heraus das poſitive Recht zu
interpretieren.
3.
Von den unter II 1 u. 2
beſprochenen Grundſätzen weicht
ab §. 18 des Nachdruckgeſetzes
vom 11. Juni 1870 (geltend
auch für die Geſetze vom 9.,
10., 11. Januar 1876): „Wer
vorſätzlich oder aus Fahr- läſſigkeit einen anderen zur
Veranſtaltung eines Nachdrucks
veranlaßt uſw., wird beſtraft,
mag dieſer Andere vorſätzlich
oder fahrläſſig oder ſchuldlos ge-
handelt haben.
1.
Vgl. RGR. 5. März 1880,
R I 429.
2.
Ueber die eigentümliche
Konſtruktion und Präſumption
der Thäterſchaft des Redakteurs
in §. 20 Abſ. 2 Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 vgl. Liszt Preß-
recht §§. 49 und 50.
3.
Lit. bei Meyer Lehrbuch
S. 213 Note 1.
4.
Von der Praxis häufig
überſehen.
1.
Vgl. auch die Hervorhebung
der Vorſteher, Leiter, Ordner,
Agenten, Redner, Kaſſierer in ſozialdemokratiſchen Vereinen u.
Verſammlungen §. 17 Sozial.
Geſetz 21. Oktober 1878.
1.
Lit. bei Meyer S. 231 Note 4.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 144 f. Dazu v. Buri Einheit und Mehrheit der Ver-
brechen 1879.
2.
Vgl. v. Lilienthal Beiträge
zur Lehre von den Kollektivde-
likten 1879.
3.
RGR. 24. April 1880,
E I 654.
1.
In §. 147 iſt die Gew.-
Ordg., in §. 148 ſind die Steuer-
geſetze als lex specialis be-
zeichnet.
2.
Branntweinſteuergeſetz vom
8. Juli 1868 §. 67; Spielkarten-
ſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878
§. 12 Abſ. 2.
3.
Vgl. RGR. 27. April 1880,
R I 681.
4.
Nach der im Texte vertre-
tenen Anſicht liegt immer nur
ein Verbrechen vor, und es
handelt ſich nur um die Ent-
ſcheidung der Frage: welches. Dabei kann dahingeſtellt bleiben,
ob die durch §. 73 StGB.
ſanktionierte zweite Regel nicht
durch eine ſachgemäßere geſetz-
liche Anordnung erſetzt werden
könnte.
1.
Wer aber deshalb von
Strafenkonkurrenz ſtatt von
Verbrechenskonkurrenz ſprechen wollte, würde den Grund mit
der Folge verwechſeln.
1.
Vgl. über dieſe vielbeſprochene
Frage beſonders Binding Nor-
men I S. 166; Merkel Ab-
handlungen I S. 57, Heinze
H. H. I S. 337.
2.
Vgl. Windſcheid §. 455
Note 31.
3.
StGB. §§. 165 und 200; §. 17 Markenſchutzgeſetz vom
30. November 1874; §. 35 Pa-
tentgeſetz vom 25. Novbr. 1877.
Siehe dagegen einen Fall, in
dem die Veröffentlichung des
Urteils Neben ſtrafe iſt, unten
§. 44 I C; §. 16 Nahrungs-
mittelgeſetz vom 14. Mai 1879.
4.
StPO. §. 477 ff. regelt das
beſondere hier eintretende „ob-
jektive“ Verfahren. Hieher ge-
hören: StGB. §§. 42 u. 152;
Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni
1870 §§. 21, 22 u. 25, und
die Urheberrechtsgeſetze vom 9.,
10., 11. Januar 1876; Spiel-
kartenſtempelgeſetz vom 3. Juli
1878 §. 10; Nahrungsmittel-
geſetz vom 14. Mai 1879 §. 15.
Vgl. unten §. 50 II u. III.
5.
StGB. §§. 41, 152, 295,
296a, 367, 369; Nahrungs- mittelgeſetz vom 14. Mai 1879
§. 15; Viehſeuchengeſetz vom
23. Juni 1880 §§. 65 und 66.
Vgl. unten §. 50 II u. III.
6.
Vgl. die Reichsgeſetze vom
8. Juli 1868; §. 153 Vereins-
zollgeſetz vom 1. Juli 1869;
§. 18 Spielkartenſtempelgeſetz v.
3. Juli 1878; §. 43 Tabackſteuer-
geſetz v. 16. Juli 1879; Waaren-
verkehrsſtatiſtikgeſetz v. 20. Juli
1879 §. 17; die landesrechtl.
Feld- u. Forſtpolizeigeſetze uſw.
7.
Iſt der Haftpflichtige ſelbſt
mit einer derjenigen Perſonen,
für die er zu haften hat, an dem
begangenen Delikte ſtrafrechtlich
beteiligt, ſo kann ihn die Zah-
lung zweimal treffen: einmal als Strafe, dann als Haftung für
für ſeinen Genoſſen. A. A.
RGR. 24. März 1880, E I
334, R I 508, aber ohne über-
zengende Begründung.
8.
Lit. über dieſe ſehr beſtrittene
Frage bei Laband Staatsr. I S. 448, Binding Grundriß
S. 112, Zorn Staatsr. S. 243.
9.
Zu unterſcheiden auch von
den unter VI erwähnten „Ord-
nungsſtrafen“, die nicht Strafe
ſondern Zwang ſind. §. 40
Tabackſteuergeſetz vom 16. Juli
1879 nennt beide Arten neben-
einander.
10.
Vgl. z. B. Salzſteuerge-
ſetz v. 12. Oktober 1867 §§. 13,
15; Zuckergeſetz von 1869 §. 4;
Vereinszollgeſetz vom 1. Juli
1869 §§. 151, 152; Rübenzucker- ſteuergeſetz vom 2. Mai 1870
(Vrdg. v. 1846 §. 17); Brau-
ſteuergeſetz vom 31. Mai 1872
§§. 32, 35, 36; auch Ger.Verf.-
Geſ. §§. 56, 96, 179 ff.; Spiel-
kartenſtempelgeſetz vom 3. Juli
1878 §§. 11, 16; Tabackſteuer-
geſetz §§. 34, 40—42; Geſetz
betr. die Statiſtik des Waaren-
verkehrs v. 20. Juli 1879 §. 17.
11.
Vgl. über dieſe Frage oben
§. 18 II.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 115. InsbeſondereWahlberg Krimin. u. natio-
nalökon. Geſichtspunkte 1872.
1.
Lit. bei Meyer S. 260 Anm. 1.
2.
Vgl. Binding Kommentar S. 107.
3.
Vgl. Ullmann GS. XXXI.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 116. Beſonders wichtig
die Protokolle der internationalen
Gefängniskongreſſe von London
(1872) und Stockholm (1878). Aus neueſter Zeit Schriften von
Almquiſt 1879 (über Schwe-
den), Streng 1879 (Nürn-
berg), Mittelſtädt 1879, von
Schwarze
1880, Fulda 1880.
2.
Dies gilt nicht bei Um-
wandlung wohl aber bei der Anrechnung; vgl. unten §. 55
I 2 u. II.
3.
Ueber denſelben Tauffer GS. XXXI.
4.
Holtzendorff HR. „Einzelhaft“.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 129. Dazu Kronecker
GA. XXVII u. XXXVIII.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 124. Dazu die Dar-
ſtellungen des Strafprozeßrechts bei der Lehre von der Straf-
vollſtreckung.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 123.
2.
Vgl. Leuthold in HR. „Aufenthaltsbeſchränkung“.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 130.
2.
Das Nähere bei Liszt Reichspreßrecht §§. 54 ff.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 124 u. Teichmann in
HR. „Ehrenſtrafen“.
2.
Darunter ſind Advokatur,
Anwaltſchaft, Notariat ſowie
Geſchwornen- u. Schöffendienſt
mitbegriffen. §. 106 Verluſt der Fähigkeit,
ſich mit der Anleitung von Ar-
beitern unter 18 Jahren zu
befaſſen.
3.
Vgl. auch noch GewOrdg.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 131; Windſcheid Pan- dekten §. 326; Dochow HR.
„Buße“.
2.
Wenn auch nur für die
Fälle unter 2—6 ausdrücklich
im Geſetze ausgeſprochen, gilt dieſer Satz doch auch in gleicher
Weiſe für Fall 1.
3.
Anerkannt RGR. 18. März
1880, E I 328, R I 493.
4.
Vgl. Windſcheid §. 455
N. 32.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 133 f.
1.
Lit. bei Binding Grundriß S. 141.
1.
Lit. bei Binding Grundriß
S. 144 f. Dazu Herzog GS.
XXX, Thomſen GS. XXXI.
2.
Vgl. über den Begriff der
Realkonkurrenz oben §. 41 II.
3.
RGR. 28. November 1879, R I 102.
4.
Es kann daher Aberkennung
der bürgerl. Ehrenrechte neben
Gefängnis nach §. 32 StGB.
[nur] dann ausgeſprochen werden, wenn eine der Einzelſtrafen
3 Monate erreicht. RGR. 5. Fe-
bruar 1880, R I 321.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 159.
2.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 159.
3.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 167. Dazu Geyer
HR. „Begnadigung“.
4.
Alſo Verzicht auf den mög-
licherweiſe
vorhandenen Straf-
anſpruch und ſchon darum irra-
tionell.
5.
Nicht hieher gehört das Ge-
ſetz über die Rechtsverhältniſſe
der Reichsbeamten v. 31. März
1873 §. 118, das von krimi-
neller Strafe (und nur mit
dieſer haben wir es thun) über-
haupt nicht ſpricht.
6.
Vgl. Binding Grundriß
S. 168.
7.
Vgl. Binding Grundriß
S. 169. Hauke Lehre v. d.
Miniſterverantwortlichkeit 1880
S. 145 ff. mit Lit.
8.
Anders die herrſchende An-
ſicht (Meyer, Löwe, Bin-
ding
), nach welcher immer je-
nem Staat das Begnadigungs-
recht zuſteht, deſſen Gericht in erſter Inſtanz erkannt hat. Ge-
ſetzliche Regelung wäre dringend
wünſchenswert.
1.
Lit. bei Binding Grund-
riß S. 160.
2.
Hieher gehört auch die vom
Geſetze vergeſſene lebenslängliche
Feſtungshaft.
3.
Alſo immer, wenn Geld-
ſtrafe angedroht iſt, mag auch die ihr entſprechende Freiheits-
ſtrafe 3 Monate überſteigen
(RGR. 27. Januar 1880, E I
167, R I
280).
4.
Lit. bei Binding Grundriß S. 166.
1.
Lit. bei Meyer S. 367
Note 2.
2.
Die entgegengeſetzte Anſicht,
welche zwiſchen Ueberlegung beim Beſchließen u. Ueberlegung beim
Ausführen unterſcheidet, beruht
auf einem pſychologiſchen Irr-
tum.
3.
Lit. bei Meyer S. 377
Note 1. Dazu Ortmann GA.
XXVI.
4.
Lit. bei Meyer S. 378
Note 1.
5.
Vgl. RGR. 23. April 1880,
R I 649; auch RGR. 11. Fe-
bruar 1880, E I 203, R I 341;
4. Mai 1880, R I 726.
6.
beſtritten bez. des Verhält-
niſſes zwiſchen Mord u. Tod-
ſchlag.
1.
Lit. bei Meyer S. 382
Note 1. Dazu Herbſt GA.
XXVI.
2.
Waffe (vgl. Kries GA.XXV) iſt hier jedes zur (an-
griffs- oder verteidigungsweiſen)
Zufügung von Verletzungen
geeignete Werkzeug, ohne Rück-
3.
Zugeklapptes Taſchenmeſſer
je nach der Art des Gebrauchs
(RGR. 15. Mai 1880, R I 781).
4.
Setzt voraus, daß der An-
griff nicht vorhergeſehen und daß dieſes Nichtvorhergeſehen durch
den Thäter bewirkt wurde (RGR.
31. Mai 1880, E II 74, R I
844).
5.
In der Form der Mitthäter-
ſchaft oder der Nebenthäterſchaft
(„zufälligen Mitthäterſchaft“ vgl.
oben §. 35), vgl. RGR. 8. Mai
1880, R I 742.
2.
ſicht auf Beſtimmung und ge-
wöhnliche Verwendung (RGR.
10. März 1880, R I S. 442),
alſo auch z. B. ein Bierglas,
ein Stock uſw.
6.
Beſtritten.
7.
Ebenſo RGR. 16. Auguſt
1880, E II 181.
8.
Anwendbarkeit des §. 193;
vgl. die in Note 7 cit. RGR.
16. Auguſt 1880.
1.
Begriff der Gefährdung
oben §. 3 Note 1.
2.
Lit. bei Meyer S. 396
Note 1; dazu Platz, Verbrechen
der Ausſetzung 1876.
3.
Die herrſchende Anſicht —
auch RGR. 21. April 1880, R
I
639, E II 15 — erblickt in
dem angeführten Falle überhaupt
keine „Ausſetzung“; doch liegt (ſtrafloſer) Verſuch einer ſol-
chen gewiß vor.
4.
Lit. bei Meyer S. 399
Note 1; dazu Thomſen GS.
30.
5.
Lit. bei Meyer S. 393
Note 1. Dazu Kornfeld in
H. R. „Abtreibung“.
6.
Beſtritten.
7.
Ebenſo RGR. 11. März
1880, E I 270, R I 450.
8.
Ebenſo RGR. 25. Februar
1880, E I 263, R I 394.
9.
Vgl. Pfizer GS. XXVIII.
10.
a. A. RGR. 10. April 1880,
E I 350, R I 568.
11.
Intellektuelle Beihülfe u.
Anſtiftung ſind nach §. 218 zu
beſtrafen.
12.
RGR. 9. Februar 1880.
E I 194, R I 326; 10. April
1880 (oben Anm. 10).
13.
Lit. bei Meyer S. 403
Note 1. Dazu Zimmermann GS. XXX (vgl. denſelben im
hiſtor. Taſchenbuch 1879).
14.
Vgl. RGR. 2. Juni 1880,
E I 445, R II 14.
15.
Die eben cit. RGR. hat dieſe Frage, als zur Kompetenz
des Erſtrichters gehörig, nicht
entſchieden.
16.
Thätige Reue als Straf-
aufhebungsgrund, oben §. 57.
17.
Subjektiver Strafausſchlie-
ßungsgrund; vgl. oben §. 30
III 3.
18.
Selbſtverſtändlich, weil eine Beteiligung an der ſtrafbaren
Handlung hier überhaupt nicht
vorliegt.
1.
Lit. bei Meyer S. 410
Note 1.
2.
Vgl. Wanjek GA. XXVII;
auch RGR. 17. Juni 1880, E
II
184, R II 81.
3.
Vgl. RGR. 24. Dezember
1879, R I 173; 9. Februar
1880, R I 325.
4.
Vgl. RGR. 21. Oktober
1879, E I 5, R I 9; 26. Juni 1880, R II 124.
5.
RGR. 7. Juli 1880, R II
167.
6.
Ihn in einem umſchloſſenen
Raume feſthält.
7.
Die Mittel, welche der
Thäter anwendet, ſind an ſich
gleichgültig; doch muß das Ver-
halten des der Freiheit Be- raubten durch dieſe Mittel her-
beigeführt ſein und darf nicht
als deſſen freies und vorſätzliches
Thun (oben §. 19 III) erſcheinen.
Zu weit geht RGR. 7. Juli
1880, R II 167 (in den Grün-
den). Die Sache liegt hier eben
anders als bei der Nötigung.
8.
Vgl. Wahlberg H. R.
„Entführung“.
9.
Beſtritten.
1.
Lit. bei Meyer S. 444
Anm. 1. Dazu Merkel in HR.
„Diebſtahl“; Bachem, der Unterſchied zwiſchen dem Furtum
des römiſchen Rechts und dem
Diebſtahl nach RStGB. 1880.
2.
Vgl. RGR. 24. Mai 1880,
E II 65, R I 818 (bedenkliche Anwendung des richtigen Satzes).
3.
Innehaben und Aufgeben
des Gewahrſams durch einen
Wahnſinnigen hat (mit Recht)
RGR. 19. Juni 1880, R II 85
als nach Umſtänden möglich
angenommen.
4.
RGR. 5. April 1880, R I
540, E II
1 (Entwendung von
Ladenvorräten durch einen im
Geſchäfte angeſtellten Verkäufer).
5.
Dagegen (aber ohne über-
zeugende Motivierung) RGR.
12. Juli 1880, R II 184.
6.
RGR. 22. April 1880, R
I
659 u. 664, E II 22.
7.
Vgl. RGR. 5. Mai 1880,
E II 48.
8.
RGR. 9. Februar 1880, E
I
193.
9.
A. A. RGR. 17. Juni 1880,
E II 184, R II 73.
10.
Beſtritten.
11.
Vgl. den Fall bei RGR.
9. Juli 1880, R II 142 (in
der Begründung wohl zu weit
gehend).
12.
Vgl. GA. XXV S. 177.
Damit ſei das oben §. 31 III
1 b
Geſagte berichtigt.
13.
Vgl. Haager GS. XXX.
14.
Alſo nicht aus einzelnen
abgeſchloſſenen Räumen im In-
nern eines Gebäudes (RGR.
23. Februar 1880, R I 379, E
I
216.)
15.
RGR. 21. Januar 1880,
R I 252.
16.
RGR. 13. März 1880, R I 470; 27. April 1880, R I
685; 9. Juni 1880, R II 47.
17.
Aufſchneiden eines Sackes:
RGR. 29. Mai 1880, R I 832;
Erbrechen eines Behältniſſes,
in dem ſich der zum Diebſtahl
notwendige Schlüſſel befindet:
RGR. 26. Auguſt 1880, R II
102.
18.
Vgl. Haager GS. XXIX.
19.
Begriff oben §. 41 I. Be-
handlung oben §. 54 I 1.
20.
Begriff oben §. 13 III.
21.
Der zwiſchen der erſten
und zweiten Verurteilung ver- ſtrichene Zeitraum iſt gleichgül-
tig: vgl. RGR. 4. März 1880,
R I 425, E I 246; 29. Mai
1880, R I 833.
22.
Vgl. Voitus GS. XXX.
23.
Dagegen RGR. 29. Mai 1880, E II 73, R I 839.
1.
Ausräumung der invecta
et illata
gegen das Verbot des
Vermieters: RGR. 8. Mai 1880,
E I 429, R I 748.
2.
D. h. in der Abſicht, das
Innehabungsrecht des Berech-
tigten zu verletzen: RGR.
28. Juni 1880, R II 131.
3.
Vgl. RGR. 24. Februar 1880, R I 385, E I 223.
1.
Lit. bei Meyer S. 477 Anm. 1.
1.
Lit. bei Meyer S. 483
Note 1. Dazu Kapff, die Unterſchlagung 1879.
2.
Vgl. RGR. 10. März 1880,
E II 132; 2. April 1880, R I
530, E I
343; 24. Mai 1880,
E II 65, R I 815.
3.
Vgl. RGR. 16. Januar
1880, E I 75; 8. Mai 1880,
R I 745.
4.
Ueber das römiſche Recht
vgl. Windſcheid §. 184.
5.
Diskontierung von in Ver-
wahrung übernommenen Wech-
ſeln: RGR. 20. Mai 1880, R
I
808.
6.
Vgl. RGR. 12. Januar
1880, E I 61 (Uebergabe zur
Prüfung der Ehrlichkeit).
1.
Lit. bei Meyer S. 440
Anm. 1.
2.
Vgl. RGR. 21. April 1880,
R I 640.
3.
Dagegen RGR. 12. März
1880, E I 306, welches auch
den zum Gebrauche der Sache perſönlich Berechtigten für ver-
letzt, bez. antragsberechtigt erklärt.
4.
Vgl. RGR. 10. Dezember
1879, R I 134.
5).
Doch ſind hier den öffent-
lichen die privaten Zwecken die-
nenden Eiſenbahnen gleichzu-
ſtellen.
6.
Kaſuiſtik: RGR. 30. Juni 1880, R II 140. (Herausreißen
eines feſt mit dem Boden ver-
bundenen Hofthores.)
1.
Lit. bei Meyer S. 491
Note 1.
2.
Vgl. RGR. 6. Dezember
1879, R I 120.
3.
A. A. RGR. 13. April 1880,
R I 589.
4.
Vgl. RGR. 6. Dezember 1879, R I 119, E I 28.
1.
Lit. bei Meyer S. 520
Note 1; dazu Merkel HR. „Bankrutt“.
2.
Beſtritten. Richtige Anſicht:
RGR. 15. November 1879, R
I
77, E I 101; 20. April 1880,
R I 627. Vgl. auch RGR.
5. Juni 1880, R II 32) mehr-
facher Unterlaſſung der Bilanz-
ziehung).
3.
Beſtritten. Lit. bei Meyer
S. 529 Note 1. RGR. 22. Juni
1880, E II 198 hat die Frage
prinzipiell nicht entſchieden, aber
Unmöglichkeit realer Konkurrenz
zwiſchen §. 209 Ziff. 3 bez. 4 u.
§. 210 Ziff. 2 bez. 3 angenommen.
4.
Vgl. RGR. 31. März 1880,
R I 526, E I 282; 10. April 1880, R I 563.
5.
RGR. 22. Juni 1880, E II 118, R II 97.
6.
Begriff unten §. 73 I 3.
1.
Lit. bei Meyer S. 545 Note 1.
2.
Vgl. RGR. 28. Januar
1880, E I 172, R I 287; 23. März 1880, E I 329;
2. Juli 1880, R II 155.
1.
Daher liegt §. 288 vor, auch
wenn die Abſicht (gleich trei-
bendes Motiv, oben §. 28 III)
auf Befriedigung eines an-
deren
Gläubigers gerichtet war:
RGR. 5. November 1879, E I
96, R I 37.
2.
Vgl. RGR. 8. April 1880,
E I 560.
3.
Vgl. RGR. 1. November
1879, R I 31; 16. Dezember
1879, E I 37, R I 151; 1. Mai
1880, E II 145; 25. Mai 1880,
E II 67, R I 824.
4.
Lit. — insbeſondere über
die Strafbarkeit des Arbeiter-
kontraktsbruches — bei Meyer
S. 516 Note 1 u. 518 Note 4.
1.
Lit. bei Meyer S. 498
Note 1. Dazu Zimmermann
GS. XXIX.Merkel HR.
„Betrug“.
2.
Sehr beſtritten. Die rich- tige Anſicht vertritt: RGR.
24. Januar 1880, R I 272;
8. März 1880, E I 305; 3. April
1880, R I 535; 10. Auguſt
1880, R II 54.
3.
Richtig RGR. 13. März
1880, E I 309.
4.
Rechtspflicht verlangt RGR.
4. November 1879, R I 36.
5.
Dieſes vorhergegangene Ver-
halten giebt nicht etwa dem
Schweigen die Bedeutung des
Sprechens, ſondern läßt es eben als ein unberechtigtes erſcheinen.
Schief RGR. 15. März 1880,
E I 314.
6.
Vgl. RGR. 7. April 1880,
R I 558, E II 5.
7.
Vgl. darüber Waag GS.
XXXI.
8.
Beſeitigung eines ungün-
ſtigen Civilprozeßurteils: RGR.
5. Februar 1880, E I 186.
Auch Abwendung der Zahlung
einer Schuld, ſelbſt wenn dieſe
als Geldſtrafe aus einem De-
likte entſpringt; dagegen RGR.
1. Mai 1880, E II 34, R I
713 (aber ohne überzeugende
Begründung).
9.
RGR. 10. Januar 1880,
E I 55.
10.
RGR. 3. Mai 1880, R I
716.
11.
RGR. 7. Mai 1880, E
II
53.
12.
RGR. 17. März 1880, E
I 318, R I
481.
13.
Sehr beſtritten. Für die
richtige Anſicht hat ſich ausge-
ſprochen: RGR. 10. November
1879, R I 49; 22. Januar 1880,
R I 261; 17. März 1880, E I
318.
14.
RGR. 19. März 1880, R
I
495.
15.
RGR. 13. März 1880, E
I 267, R I
444.
16.
RGR. 21. Oktober 1879,
R I 12.
17.
Dagegen ſtellt RGR. 14. Ja-
nuar 1880, E I 68 das lucrum
cessans
dem damnum emergens
durchaus gleich.
18.
Vgl. darüber Feige GA.
XXVI.
19.
Der richtigen Anſicht folgt
RGR. 25. Februar 1880, E I
227, R I
387; 17. März 1880,
R I 479; 22. Mai 1880, R I
808; 8. Juni 1880, E II 91.
20.
Ueberſehen in RGR. 8. Mai
1880, R I 744; richtig (mit
Bezug auf StGB. §. 268) RGR.
5. Februar 1880, E I 186.
21.
Vgl. überhaupt das oben §. 64 II 3 Geſagte.
1.
Lit. bei Meyer S. 512 Note 1. Dazu Katz GS. XXXI.
2.
RGR. 12. Februar 1880, E I 205, R I 345.
3.
Ich nehme, um zu dieſem
Reſultate zu gelangen, zwei Text-
änderungen im Geſetze vor, die
mir dem Sinne des Geſetzes
vollkommen zu entſprechen ſchei-
nen. Ich ſage a) in §. 253
ſtatt „Gewalt“: „Gewalt gegen
eine Perſon
“ (da es gar keine
andere für die Nötigung rele- vante Gewalt giebt, iſt dieſe
Aenderung unbedenklich); b) in
§. 255 ſtatt „Gewalt gegen
eine Perſon“: „Gewalt an
einer Perſon.“ Die ganze Frage
nach dem Verhalten zwiſchen
einfacher und räuberiſcher Er-
preſſung iſt übrigens äußerſt
beſtritten.
1.
Soviel wie Bereicherungsabſicht.
2.
Vgl. v. Lilienthal Jahrb.
f. Nationalökonomie 1880. Da-
ſelbſt die Litt.
3.
Feſtſtellung der Bereiche-
rungsabſicht hier nicht erforder-
lich, weil aus den übrigen Be-
griffsmerkmalen folgend.
4.
Die Faſſung des Geſetzes
iſt eine unglückliche. Zu beach-
ten außer dem im Texte Ge-
ſagten: a) Wer eine vor dem
14. Juni 1880 von einem An-
deren erworbene wucherliche
Forderung nach dem 14. Juni
1880 geltend macht, kann nicht
nach §. 302 c geſtraft werden.
b) Die Beſtimmung bezieht ſich
nur auf die von einem An-
deren
erworbenen Forderungen; Geltendmachung einer vor dem
14. Juni 1880 entſtandenen
wucherlichen Forderung durch
den Wucherer ſelbſt fällt wenn,
auch nach dem 14. Juni 1880
ſtattfindend, nicht unter das
Geſetz.
5.
Ueber die civilrechtl. Nicht-
Wirkſamkeit wucherlicher Ge-
ſchäfte vgl. Art. 3 des Geſetzes
vom 24. Mai 1880.
1.
Vgl. die Artt. „Lotterie“
von Gareis u. Liszt in HR.
2.
RGR. 20. April 1880, E
I 357, R I
576.
3.
RGR. 9. Januar 1880,
E I 53, R I 205.
4.
RGR. 5. Januar 1880, E
I 133, R I
194.
5.
RGR. 20. April 1880, E
I 357, R I
576.
6.
Ausland iſt hier auch ein
Bundesſtaat dem anderen gegen-
über (vgl. oben §. 13 Note 3).
7.
RGR. 10. Januar 1880,
R I 209; 24. Februar 1880,
E I 219, R I 380; 13. März
1880, E I 274, R I 460.
1.
Lit. bei Meyer S. 533 Note 1.
2.
Die durchaus nicht Vermö-
gensdelikt im eigentlichen Sinne
zu ſein braucht.
3.
So viel wie unterdrücken,
beiſeiteſchaffen; alſo der Verfü-
gung des Berechtigten entziehen.
4.
Es genügt der gewöhnliche,
durch den Geſchäftsbetrieb er- zielte Vorteil, außergewöhnlich
großer Vorteil iſt nicht erforder-
lich: RGR. 28. Mai 1880, R
I
830.
5.
RGR. 6. Juli 1880, R II
164.
6.
Dagegen RGR. 16. Juni
1880, R II 72.
7.
RGR. 28. Mai 1880, E
II 69, R I
831.
8.
RGR. 31. Januar 1880,E I 180; 5. April 1880, R I
537.
9.
RGR. 5. April u. 8. April
1880, R I 537.
10.
Dies die Anſicht von RGR.
28. April 1880, R I 691, E II
140; vgl. überhaupt das oben
§. 29 a. E. Geſagte.
11.
Der Einwand, daß ſolche
Fälle praktiſch nicht vorkommen,
trifft nicht die Richtigkeit der im
Texte verſuchten Konſtruktion;
wohl aber beweiſt er die prak- tiſche Wichtigkeit der Kontro-
verſe: nach Anſicht des RGR.
iſt nur culpa lata, nach der im
Texte vertretenen jede ſtrafrecht-
liche relevante culpa in weitaus
den meiſten praktiſch vorkom-
menden Fällen ſtrafbar.
12.
RGR. 15. März 1880, E
I 279, R I
471.
1.
Ueber dieſen Begriff vgl.
Gareis Grundriß zu Vorle-
ſungen über das deutſche bür-
gerliche Recht 1877. §§. 40 ff., u.
die hier angeführte Lit. — Die
Individualrechte bilden das Mit-
telglied zwiſchen den reinen Ver-
mögensrechten und den rein im-
materiellen Rechtsgütern. Mit
erſteren haben ſie gemein nicht
nur die Abſchätzbarkeit in Geld,
ſondern vor Allem die Ausbil-
dung zu ſubjektiven Rechten
und die Negoziabilität. Aber
damit iſt ihre Bedeutung nicht erſchöpft: es iſt die ſichbethäti-
gende Perſönlichkeit ſelbſt,
die ſchaffende Individuali-
tät
, die in ihnen geſchützt wird.
2.
Erſcheinen iſt ſoviel wie
Ausgeben; vgl. darüber Liszt
Preßrecht §. 42 V. Wenn das-
ſelbe Werk zuerſt im Auslande
und ſpäter im Inlande erſcheint,
ſo liegen juriſtiſch zwei ſelb-
ſtändige Werke vor, deren zweites
den Schutz des Geſetzes genießt.
A. A. (gewiß unrichtig) RGR.
12. Juni 1880, E II 180, R
II
62.
1.
Vgl. Merkel HR. „Fa-
briks- und Waarenzeichenfäl-
ſchung“.
2.
Schon dies beweiſt, daß der
Geſetzgeber in erſter Linie den
Schutz des Individualrechtes
und nicht jenen des Publikums im Auge hat, daß es alſo un-
richtig iſt, hier von einem
Fälſchungs-Delikte zu ſpre-
chen, und die Verletzung der
publica fides an erſter Stelle
zu betonen.
3.
Vgl. Ernſt Meier HR. „Erfinderpatente“.
1.
Lit. bei Meyer S. 420
Note 1. Dazu Freudenthal
Syſtem des Rechts der Ehren- kränkungen. 1880. John HR.
„Beleidigung“.
2.
Vgl. Zimmermann GA.
XXV;Bolze GA. XXVI.
Die herrſchende Anſicht vertritt auch RGR. 31. Januar 1880,
E I 178, R I 302.
3.
Ueber dieſe Frage herrſcht
noch vielfache, durch §. 193
StGB. geſteigerte Unklarheit.
Auch die einſchlagenden Ent-
ſcheidungen des RGR. enthalten manche recht bedenkliche Bemer-
kung.
4.
RGR. 22. April 1880, E
I
390.
5.
RGR. 24. Oktober 1879,
R I 14.
6.
Vgl. RGR. 23. Januar 1880, E I 161 (zunächſt mit
Bezug auf §. 131 StGB. ge-
fällt).
7.
Vgl. Liszt Preßrecht §. 42.
8.
Die Konſtruktion des §. 189
StGB. iſt eine ſehr beſtrittene.
Für meine Auffaſſung ſcheint
mir nicht nur Stellung und Faſſung des §. 189, ſondern
auch das natürliche Gefühl zu
ſprechen. Die Solidarität der
Intereſſen der Familienglieder
9.
Durch den Berechtigten ſelbſt
oder durch einen zur Wahrneh- mung derſelben berufenen
Dritten; vgl. RGR. 24. De-
zember 1879, E I 128, R I
171; 22. Januar 1880, R I
260.
8.
kann wohl nicht geleugnet werden,
und ſie iſt es, welche die Fa-
milie hier wie ſonſt zur Kollek-
tivperſönlichkeit erhebt.
10.
Bei dieſer Auffaſſung des
§. 193 kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß derſelbe auch
auf die Fälle der Verleumdung
prinzipiell anzuwenden iſt.
Freilich wird Berechtigung
zur Verleumdung nur ganz aus- nahmsweiſe (z. B. im Notſtande)
vorliegen.
11.
Bedenklich RGR. 5. De-
zember 1879, R I 116; 16. März
1880, E I 317, R I 475;
30. April 1880, E I 406.
12.
Es handelt ſich hier nicht
um eine Beſchränkung der freien
Beweiswürdigung, ſondern um eine ſolche des Beweis-
thema’s (der beweispflichtigen
oder beweisfähigen Thatſachen).
13.
Auch den ſelbſtändig An-
tragsberechtigten (StGB. §. 195
und §. 196) iſt dieſe Befugnis
zuzuſprechen: RGR. 18. Februar
1880, R I 360.
14.
Ueber dieſe Begriffe ſiehe
oben S. 323.
15.
Der Antrag kann auch im Vollſtreckungsverfahren geſtellt
werden.
16.
Es bedarf keiner Feſtſetzung
dieſer beſonderen Art der Be-
kanntmachung im Urteile: RGR.
14. April 1880, R I 598. Vgl.
im Uebrigen Liszt Preßrecht
§. 27 III.
1.
Lit. bei Meyer S. 536
Note 1.
2.
Ebenſo RGR. 15. Novem-
ber 1879, R I 73.
3.
Dagegen RGR. 15. No-
vember 1879, R I 73.
4.
Lit. bei Meyer S. 537
Note 1.
5.
Nicht abgeſchloſſene,
ſondern als von dem Haus-
rechte ergriffen bezeichnete
Räume: RGR. 6. April 1880,
E I 547.
6.
Begriff oben §. 64 bei
Note 14.
7.
RGR. 3. November 1879,
R I 33; 10. Dezember 1879,
E I 121, R I 138.
8.
Ueberſchreitung einer gegebe-
nen Berechtigung hat die Wider-
rechtlichkeit des Plus zur Folge:
RGR. 24. November 1879, E
I 21, R I
92.
9.
Kündigung der Wohnung,
des Dienſtes uſw. macht das
Verweilen in den bisher inne-
gehabten Räumen nicht notwen-
dig zu einem widerrechtlichen:
RGR. 24. Februar 1880, E I
222; 27. April 1880, E I 398.
10.
Urkunde hat hier nicht tech-
niſche Bedeutung (unten §. 89I 1), ſondern umfaßt jedes
Schriftſtück.
11.
Beſtritten; auch Fahrläſſigkeit ſoll nach Manchen ge-
nügen.
1.
Lit. bei Meyer S. 555
Note 1. Dazu Ullmann GS.
XXX;Wanjek GS. XXX;
John HR. „Brandſtiftung“.
2.
RGR. 3. Mai 1880, E I
375, R I
720.
3.
RGR. 3. Mai 1880, E I
375, R I
720.
4.
Nach derſelben RGR. iſt
Entdeckung nicht anzunehmen,
wenn nur der zur Hülfeleiſtung
Herbeigerufene allein die Brand-
ſtiftung wahrgenommen hat.
5.
Düngerhaufen gehören we-
gen der eingetretenen Verände-
rung der urſprünglichen Beſtand-
teile derſelben (Stroh uſw.) nicht hieher; RGR. 19. Juni 1880,
R II 82.
6.
Wanjek GS. XXXI.
1.
Begriff oben §. 64 II 2 d.
2.
Alſo auch, wenn nicht durch Beſchädigung von Eiſenbahnan-
lagen uſw.
3.
Vgl. Nahrungsmittelgeſetz
im nächſten §. Dieſes iſt
Spezialgeſetz mit Bezug auf ge- wiſſe Gegenſtände, und geht
ſomit dem §. 324 StGB. vor.
1.
Außer den oben §. 9 Nr. 50
angeführten Kommentaren zu
vgl. v. Schwarze GS. XXXI
(daſelbſt S. 83 Lit.); Lieb-
reich
Bemerkungen 1879; Hof- mann in der deutſchen Viertel-
jahrsſchrift für öffentliche Ge-
ſundheitspflege XI. Die Ma-
terialien in GA. XXVII.
2.
Nicht übermäßige. Ent-
ſpricht Genuß einer größeren
Menge, oder wiederholter Genuß der Beſtimmung und Natur des
Gegenſtandes, ſo iſt der ſtraf-
bare Thatbeſtand gegeben, auch
2.
wenn der nur einmalige Genuß
einer geringeren Menge eine Gefahr nicht herbeiführt (RGR.
9. Juni 1880, E II 178).
1.
Es handelt ſich um dasſelbe
Rechtsgut, wie in dem oben
§. 81 I angeführten Falle; aber
als Träger desſelben erſcheint
hier nicht ein Einzelner oder
eine Summe von ſolchen, ſon- dern das Publikum in dem
uns bekannten Sinne.
2.
StGB. 27. Abſchnitt.
3.
Lit. bei Meyer S. 605
Note 1.
4.
Lit. bei Meyer S. 602
Note 1.
5.
Ueber den Begriff der Zu-
ſammenrottung ſ. oben §. 81 II 3.
6.
Z. B. die Bourgeoiſie, die
Infallibiliſten, die Nationallibe-
ralen, die Großgrundbeſitzer uſw.
7.
Lit. bei Meyer S. 607
Note 3.
8.
Erſter Abſ. des ſog. Kan-
zelparagraphen, aufgenommen
durch Geſetz vom 10. Dezember
1871.
9.
Zweiter Abſ., aufgenommen durch die Novelle vom 26. Fe-
bruar 1876.
1.
Daß hier öffentliche Inter-
eſſen, nicht ſolche einzelner Per-
ſonen oder individuell begrenzter
Perſonenkreiſe in Frage ſtehen,
betont RGR. 27. April 1880,
E I 400, R I 677.
2.
Vgl. oben §. 49 I.
3.
Vgl. oben §. 49 II.
4.
Daß es ſich hier im Sinne
der Reichsgeſetzgebung um den
Schutz der Geſundheit, der öffentlichen Ordnung, des öffent-
lichen Anſtandes, nicht aber um
den der Sittlichkeit handelt,
ſollte der Faſſung des §. 361
Ziff. 6 gegenüber nicht bezwei-
felt werden.
5.
Ueber das in den Fällen
des §. 361 Nr. 3—8 zuläſſige
Arbeitshaus vgl. §. 49 II.
6.
Vgl. oben §. 26 I 1.
1.
Lit. bei Meyer S. 572 Note 1.
2.
Ein gewiſſer Grad von
Aehnlichkeit, ſo daß die Mög-
lichkeit einer, wenn auch kurzen
Cirkulation gegeben iſt, muß
gefordert werden.
3.
Doch genügt hier im Urteil
die Feſtſtellung der Abſicht „in Verkehr zu bringen“; die Worte
„als echt“, die als ſelbſtverſtänd-
lich im Geſetze fehlen, brauchen
nicht ausdrücklich feſtgeſtellt zu
werden; RGR. 30. April 1880,
E I 408, R I 703.
1.
Lit. bei Meyer S. 591
Note 1.
2.
Beſtritten.
3.
Ein Punkt, der allgemein
überſehen wird. — Kaſuiſtik
über „Beweiserheblichkeit“ in
RGR. 20. Januar 1880, E 1
159; 15. Januar 1880, R I 233; 4. Februar 1880, E I
293; 8. Mai 1880, R I 751;
24. Mai 1880, R I 810; 3. Juni
1880, E II 174, R II 26.
4.
Häufig anders gefaßt; mit
der Faſſung des Textes über-
einſtimmend RGR. 3. Juni 1880,
E II 174. (Gebrauch eines ge-
fälſchten Beweismittels zum
Zwecke der Ausübung eines dem
Thäter zuſtehenden Rechts.) Bei-
ſpiele in RGR. 4. Februar 1880,
E I 293; 12. Februar 1880, R
I
350; 1. Mai 1880, E II 34,
R I 713.
5.
Vgl. RGR. 28. Februar
1880, E I 230, R I 400. Das
Aufgeben eines Telegramms
unter falſchem Namen iſt daher
nicht Urkundenfälſchung: RGR.
15. Mai 1880, R I 793; 31. März
1880, R 1 513.
6.
RGR. 3. Mai 1880, E II
41.
7.
RGR. 23. Dezember 1879,
E I 42, R I 168; 13. März
1880, E I 312, R I 458.
8.
Abgabe der Vaterſchaftser-
klärung vor dem Standesamte
durch den Nicht-Vater: RGR.
10. November 1879, E I 9, R
I
55.
9.
Strafantritt für den Ver-
urteilten; Erſcheinen ſtatt des
Angeklagten (RGR. 27. April
1880, R I 686).
10.
Vgl. auch Seemannsord-
nung vom 27. Dezember 1873
§§. 93 Ziff. 1, 99 Ziff. 2.
11.
Beeinträchtigung der Be-
weiskraft
, mag auch die Sub-
ſtanz der Urkunde unverletzt ge-
blieben ſein (z. B. Durchſtreichen
der Unterſchrift: RGR. 29. Juni
1880, R II 135).
12.
D. h. Entziehung aus der
Verfügungsgewalt des Berech-
tigten, mag auch die Abſicht,
ſelbſt gelegentlich von der Ur-
kunde Gebrauch zu machen, vor-
handen ſein; dagegen RGR.
22. Januar 1880, E I 159, R
I
258.
13.
Begriff: oben am Eingang
dieſes §. Beweiserheblichkeit iſt
hier nicht erforderlich, wohl aber
nach dem Begriffe der Urkunde Be-
weisbeſtimmung; RGR. 23. Ja-
nuar 1880, E I 162, R I 263
im erſten Punkt derſelben, im
zweiten anderer Anſicht; vgl.
auch OT. 20. Oktober 1875,
c. Arnim.
14.
Sei es dauernd oder nur
proviſoriſch: RGR. 22. Mai
1880, R I 811.
15.
Die Vollendung tritt hier
— im Gegenſatze zu der eigent-
lichen Urkundenfälſchung — ſchon
mit der Fälſchung ein.
16.
Wiederverwendung von
Poſt- und Telegraphen-
zeichen
unterliegt nur der De-
fraudationsſtrafe; vgl. unten
§. 114.
17.
Vollendet erſt mit dem Ge-
brauchen.
1.
Lit. bei Meyer S. 632
Note 1. Dazu Villnov GS.
XXXI.
2.
RGR. 12. Juli 1880, E
II 196, R II
183 (bez. §. 183
StGB.).
3.
Nicht Erregung eines öffent-
lichen Aergerniſſes, ſondern Er-
regung eines Aergerniſſes durch
öffentliche Läſterung bildet den
Thatbeſtand des Deliktes. Wenn
daher zur Vollendung auch ge-
fordert werden muß, daß irgend jemand thatſächlich Aergernis
genommen hat, in ſeinem re-
ligiöſen Gefühle verletzt worden
iſt, ſo genügt es doch, wenn
dies nur bei einer einzigen Per-
ſon der Fall war (RGR. 12. Juli
1880, E II 196, R II 183).
4.
Läſterung Jeſu iſt Gottes-
läſterung: RGR. 13. Dezember
1879, R I 144.
5.
RGR. 31. März 1880, R
I
521.
6.
RGR. 31. März 1880, R
I
521.
7.
Ueber dieſen Begriff ſiehe
oben §. 80 II 1 b.
8.
Begriff oben §. 63 I 1 b.
9.
Ueber Sachbeſchädigung
an Grabdenkmälern ſiehe oben
§. 68 II 2.
10.
Ueber Diebſtahl aus
Gräbern uſw. ſiehe oben §. 64
I 2.
1.
Auch eines Verſtorbenen.
Darin liegt zugleich ein ſicherer
Beweis, daß die Richtung gegen
Rechtsgüter Einzelner das
Weſen dieſes Deliktes nicht er-
ſchöpft: denn der Verſtorbene
iſt nicht mehr Rechtsſubjekt.
2.
Lit. bei Meyer S. 540
Note 1.
3.
Ueber die hier in Frage
kommenden Begriffe ſiehe oben
§. 73 I 3.
4.
Begriff der Argliſt oben
§. 73 I 2.
5.
Lit. bei Meyer S. 612
Note 1. Dazu Wahlberg
HR. „Bigamie“.
6.
Wer wiſſentlich mit einem
Ehegatten eine Ehe ſchließt, be-
geht das Delikt als Thäter. Im Uebrigen finden die Grund-
ſätze über Teilnahme uneinge-
ſchränkte Anwendung. Ueber
das Amtsdelikt des §. 338
StGB. vgl. unten §. 92 II 3 b.
7.
Lit. bei Meyer S. 615
Note 7. Dazu Wahlberg HR.
„Ehebruch“, Roſenthal, die
Rechtsfolgen des Ehebruchs 1880
(hiſtoriſch).
8.
Ebenſo RGR. 31. Januar
1880, E I 44, R I 180; 23. März 1880, R I 505. Vgl. auch oben
§. 30 II, und Fiſcher GS.
XXXI.
1.
Lit. bei Meyer S. 610
Note 1. Dazu Villnow GS.
XXX.
2.
Ehelichkeit der Verwandt-
ſchaft nicht erforderlich: RGR.
21. 9. 80, R II 223.
3.
RGR. 7. April 1880, R I
548.
4.
Begriff oben S. 370. Vgl.
auch RGR. 23. April 1880, E I
395, R I
652; 24. April 1880,
R I 662; 20. 9. 80, R II 220.
Wenn leibliche Eltern mit ihren
Kindern einfach unzüchtige Hand- lungen vornehmen, ſo können
ſie weder nach §. 173 noch nach
§. 174 geſtraft werden.
5.
Nicht im techniſch-juriſtiſchen
Sinne; vgl. unten §. 92 I 2.
6.
Ueber dieſe Begriffe vgl.
oben §. 63 I 1 a und b.
7.
Goeb GA. XXVII.
8.
Jeſſen GS. XXXI.
9.
d. h. ſo vorgenommen, daß
die Handlung von unbeſtimmt
wie vielen und unbeſtimmt wel-
chen Perſonen wahrgenommen
werden konnte; RGR. 10. Fe-
bruar 1880, E I 199, R I 327.
10.
Vgl. oben S. 365. Auch hier iſt nicht „öffentl. Aergernis“
gefordert; es genügt, wenn eine
Perſon Anſtoß genommen hat,
mag dies auch derjenige ſein,
gegen den die unzüchtige Hand-
lung gerichtet war (RGR. 12.
Juli 1880, E II 196, R II 183.
11.
Ueber den Begriff vgl. oben
S. 370. u. RGR. 28. Februar
1880, R I 404.
12.
Ueber Ankündigung von
Preſervativs, Specialitäten uſw. vgl. RGR. 15. Dezember 1879,
R I 149.
13.
Das Nähere über den Be-
griff der Verbreitung bei Liszt
Preßrecht §. 42.
14.
Sehr beſtritten. Wenn
RGR. 15. Mai 1880, E II 164,
R I
782 zum Begriffe des
„Verſchaffens von Gelegenheit“
die Erklärung von Seiten des
Dritten, zur Benützung dieſer
Gelegenheit geneigt zu ſein, for-
dert, ſo kann dem nicht beige-
treten werden.
15.
Ebenſo RGR. 15. Mai 1880,
E II 164, R I 782.
16.
Vgl. RGR. 28. Februar
1880, R I 402; 27. April 1880,
R I 680; 28. Mai 1880, R I
828.
17.
Im gleichen Sinne iſt dieſe
berühmte Kontroverſe entſchieden
worden in RGR. 29. Januar
1880, E I 88, R I 291.
18.
d. h. in der Abſicht, ſich
oder einem Dritten einen Ver-
mögensvorteil (oben §. 73 I 3)
zu verſchaffen. (RGR. 28. Mai
1880, R I 828).
19.
Oder damit, da §. 181 zu-
gleich dem §. 180 gegenüber als
qualifizierter Fall erſcheint, gegen
gewerbsmäßige oder eigennützige
Kuppelei auf die ſchwerere Strafe
des §. 181 erkannt werden kann.
1.
Lit. bei Meyer S. 693
Note 1; dazu Schütze HR.
„Amtsverbrechen“.
2.
Zu der dort angeführten Lit. vgl. noch Zorn Staatsrecht
S. 243.
3.
Vgl. Zorn Staatsrecht
S. 225.
4.
Vgl. RGR. 13. November
1879, R I 64; 19. Januar 1880,
E I 153; 18. März 1880, E I
327, R I 494; 24. Juni 1880,R II 109; 1. Juli 1880, E II
189, R II
144.
5.
Vgl. noch Mil. StGB. §. 145.
6.
Vgl. Teichmann HR.
„Beſtechung“; Zorn Staats-
recht S. 238.
7.
Vgl. auch Mil.StGB.
§. 140; Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 17; Brannt-
weinſteuergeſetz v. 8. Juli 1868
§. 68.
8.
Vgl. RGR. 19. November
1879, R I 83, E II 129.
9.
Vereinszollgeſetz v. 1. Juli
1869 §. 160; Brauſteuergeſetz
vom 31. Mai 1872 §. 36; Tabak-
ſteuergeſetz vom 16. Juli 1879
§. 41.
10.
Auch Mißbrauch des freien Ermeſſens gehört hierher: RGR.
29. April 1880, E I 404.
11.
Es ſtehen mithin hier nur
künftige Handlungen in Frage.
12.
Das Geſetz greift hier weit
über den Begriff des Beamten
hinaus.
13.
Vgl. vorige Anmerkung.
14.
Vgl. Anmerkung. 12.
15.
Das „Begehenlaſſen“ um-
faßt ein Doppeltes: a) das
(paſſive) Geſchehenlaſſen, wobei
einfach die oben §. 21 II a ge-
gebene Konſtruktion der Unter-
laſſungsdelikte zur Anwendung
zu bringen iſt; b) das (poſitive)
Anordnen der Vollziehung, wo- bei, mag der Vollziehende das
Bewußtſein der Kauſalität ſeines
Thuns haben oder nicht (vgl.
oben §. 35 I), immer der Beamte
als Thäter aufgefaßt wird.
16.
Vgl. noch Mil. StGB.
§§. 122, 123, 148.
17.
Vgl. Anmerkung 15.
18.
Vgl. Vereinszollgeſetz vom
1. Juli 1869 §. 126.
19.
Vgl. oben Anmerkung 15.
20.
Vgl. oben Anmerkung 15.
21.
Vgl. Mil.StGB. §§. 118,
119.
22.
Hier iſt Verſuch der Bei- hülfe (Beförderung) ſtrafbar;
vgl. oben §. 37 II 2.
23.
Vgl. Mil.StGB. §. 144.
24.
Aufnahme (verſchieden von
der Ausſtellung) der Urkunde iſt
die beweiskräftige Feſtſtellung
der Thatſache: RGR. 13. März
1880, E I 312, R I 458.
25.
RGR. 23. Januar 1880,E I 162, R I 263 hält die
Eignung für dieſen Zweck für
genügend und erforderlich.
26.
Ueber dieſe Begriffe vgl.
oben §. 73 I 3.
27.
Alſo nicht als beſonders
vertrauenswürdige Privatperſon:
RGR. 3. Juni 1880, E II 84,
R II
22.
28.
Ebenſo RGR. 17. De-
zember 1879, E I 124, R I
159; 19. Januar 1880, E I
153, R I
247.
29.
Vorausgeſetzt wird auf
Seiten des Zahlenden die Mei-
nung, es handle ſich um eine
beſtehende Verpflichtung; anderen
Falls kann Beſtechung vorliegen:
RGR. 24. Juni 1880, R II 109.
30.
Ueberſchreitung des Beam-
tenbegriffes.
31.
Unterdrückung iſt jede,
wenn auch nur vorüberge-
hende
Entziehung aus dem Poſtverkehr; RGR. 8. Dezember
1879, E I 124, R I 114.
32.
Auch Poſtanweiſungen ſind
Briefe: RGR. 8. Dezember 1879,
E I 124, R I 114.
33.
Ausnahme von der oben
§. 37 III 2 aufgeſtellten Regel:
obwohl nicht der Thäter, ſondern
nur der Gehülfe Beamte iſt,
liegt dennoch ein eigentliches
Amtsdelikt vor.
34.
Vgl. oben Anmerkung 15.
35.
Nicht bloß die im 28. Abſchn.
StGB. enthaltenen „Amtsde-
likte“.
36.
Vorauszuſetzen iſt das Nicht-
vorliegen einer Anſtiftung;
ſonſt wäre nicht §. 357, ſondern
§. 48 StGB. anzuwenden.
37.
Vgl. oben §. 37 I 2 a.
38.
Hier liegt, da die Ver-
pflichtung zur Verhinderung
vorhanden war, ein Unter- laſſungsdelikt aus der oben §. 21
II a beſprochenen Gruppe vor.
39.
Auch hier gilt das in der
vorigen Anmerkung Geſagte
1.
Lit. bei Meyer S. 639
Note 1; Zorn Staatsrecht
S. 276 ff.
2.
Soweit es ſich nicht um
Angriffe auf den Monarchen
handelt, iſt kein Unterſchied ge-
macht zwiſchen Reich und Ein- zelſtaat, kein Unterſchied zwiſchen
den Einzelſtaaten unter einander.
Gegen jede derartige Unter-
ſcheidung vom ſtaatsrechtlichen
Standpunkte aus (wohl mit Un-
recht) Zorn a. O.
3.
Vgl. oben §. 13 III S. 54.
4.
Das Unternehmen, das ganze
Gebiet eines Bundesſtaates ge-
waltſam zum Reichslande zu
machen, könnte nicht als Hoch- verrat betrachtet werden: Folge
der kaſuiſtiſchen Faſſung des
Geſetzes.
5.
Sehr beſtritten.
6.
Es iſt dies auch die Regie-
rung eines deutſchen Bundes- ſtaates gegenüber der eines an-
deren Bundesſtaates.
7.
Der Aufenthaltsort des
Thäters und der Begehungsort
des Verbrechens (oben §. 19 IV) brauchen nicht notwendig zu-
ſammenzufallen. Nur der erſtere
iſt maßgebend.
1.
Nur hier, nicht beim Hoch-
verrat, kann von einer Ver-
letzung der dem Staate ſchuldi-
gen Treue, als dem charakteri-
ſtiſchen Merkmale des Deliktes geſprochen, die Unterſcheidung
zwiſchen Inländern und Aus-
ländern gebilligt werden. A. A.
Zorn Staatsrecht S. 276 ff.
2.
Beteiligung an einer Kriegs-
anleihe des Gegners kann ge-
wiß hieher gehören. Der Vor- ſatz beſteht auch hier nur in dem
Bewußtſein von der Kauſalität
des Thuns.
1.
Vgl. Liszt Preßr. §. 46 II.
1.
Gegen dieſe Unterſcheidungen Zorn Staatsrecht S. 276 ff.
2.
Soweit dieſe §§. nicht ſchwerere Strafe androhen.
1.
Ausländiſche Verſammlun-
gen ſind nicht geſchützt.
2.
Ueber dieſe Begriffe oben
§. 63 I 1 a und b.
1.
Siehe oben §. 63 I 1 a
und b.
2.
Der Ausländer iſt nicht ge-
ſchützt.
3.
Nicht bloß zu oder in den
im vorigen Paragraphen auge-
führten Verſammlungen.
1.
Nur die inländiſche
Staatsgewalt wird geſchützt. Zum
Beweiſe dient, abgeſehen von dem
oben §§. 93 VI, 96 IV, 97 Note 1,
98 Note 1 Geſagten, insbeſ. §.
103 a StGB. (unten S. 419).
2.
Lit. bei Meyer S. 664
Note 2. Dazu Kirchenheim
GS. XXX.
3.
Ueber dieſe Begriffe oben
§. 63 I 1 a und b.
4.
Kaſuiſtik: RGR. 5. De-
zember 1879, E I 26, R I 116;
RGR. 3. Juni 1880, E II 82.
5.
Dagegen RGR. 22. April
1880, R I 642.
6.
Beſondere Beſtimmungen
7.
Begriff oben S. 322.
8.
Kaſuiſtik: RGR. 13. Mai
1880, R I 770.
9.
Lit. bei Meyer S. 670
Note 1; dazu Teichmann
HR. „Aufruhr“.
10.
Begriff oben S. 331.
11.
Vgl. Milit.StGB. §§. 9
Ziff. 3, 103, 106—110.
6.
vielfach in den Nebengeſetzen; ſo
Vereinszollgeſetz vom 1. Juli
1869 §§. 148, 161; Salzſteuer-
geſetz vom 12. Oktober 1867
§. 17; Brau- und Branntwein-
ſteuergeſetz vom 4. u. 8. Juli
1868 §§. 37 u. 68; Braumalz-
ſteuergeſetz vom 31. Mai 1872
§. 36; Tabakſteuergeſetz vom
16. Juli 1879 §. 41. Häufig ſind insbeſondere ergänzende
Ordnungsſtrafen angedroht.
12.
Begriff oben I.
13.
Ebenſo — im Gegenſatze
zur früheren preußiſchen Praxis
— RGR. 15. Mai 1880, E
II
167, R I 789.
14.
Vom RGR. 29. Mai 1880,
E II 170, R I 835 aufgeſtellte.
15.
in homine, vgl oben §. 63
I 1 a.
16.
Vgl. oben §. 61 Note 5.
17.
Vgl. auch Mil.StGB.
§§. 58 Ziff. 11, 79, 80, 144,
159.
18.
Anders Mil.StGB. §§. 79,
80, 159.
19.
Begriff oben S. 331.
20.
Hier bleibt Fahrläſſigkeit
ſtraflos.
1.
Zur „Oeffentlichkeit“ (oben S. 323) muß das weitere Merk-
mal „vor einer Menſchenmenge“
hinzutreten.
2.
Vgl. StGB. §. 102 und
oben §. 93 III.
3.
Vgl. Mil. StGB. §§. 99 bis
102.
4.
Vgl. Liszt Preßr. §. 46 III.
5.
Es iſt hier die Aufforderung
zu einer nicht einmal immer
rechtswidrigen Handlung unter
Strafe geſtellt. Deutlicher als
bei den übrigen öffentlichen Auf-
forderungen tritt hier als ſtraf- begründender Umſtand ihr de-
monſtrativer Charakter gegen-
über der Staatsgewalt in den
Vordergrund.
6.
Vgl. Geyer HR. „Auffor-
derung“ mit Lit.
7.
Daß er ſelbſt einen genau
beſtimmten Vorteil gewähren
werde, braucht nicht in Ausſicht geſtellt worden zu ſein (RGR.
2. Juli 1880, R II 153).
8.
Vgl. RGR. 31. März 1880,
E I 338, R I 515.
1.
Nur die inländiſche Staats-
gewalt wird — von dem Falle
in StGB. §. 103 a abgeſehen
— geſchützt.
2.
Thatſachen: vgl. oben §. 73
S. 290. Dagegen RGR. 14. Juli
1880, R II 197.
3.
Z. B. der Bundesrat, die
allgemeine Wehrpflicht, das
Reichskanzleramt uſw.
4.
Maßgebend die Anſchauun-
gen unbefangener Kreiſe; vgl.
oben §. 80 Note 6.
5.
Begriff des „Amtes“ hier
weder nach §. 31 noch nach
§. 359 StGB., ſondern nach
den Landesgeſetzen zu beſtimmen.
6.
Vgl. Zimmermann GS.
XXX; RGR. 7. Juli 1880, R
II
167.
7.
Vgl. §. 2 des Geſetzes zur
Verhinderung der unbefugten
Ausübung von Kirchenämtern
vom 4. Mai 1874; auch StGB.
§. 360 Ziff 8.
8.
Vgl. Vereinszollgeſetz vom
1. Juli 1869 §§. 144, 151;
Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober
1867 §. 15.
9.
RGR. 2. April 1880, E I
287.
10.
Vgl. RGR. 16. April 1880,
E I 368, R I 610.
11.
Thäter kann ſowol der
Eigentümer oder der Gepfän-
dete als auch ein Dritter, ja
ſelbſt der Gläubiger ſein, zu
deſſen Gunſten die Beſchlag-
nahme erfolgte (RGR. 1. Mai
1880, R I 705). — Vgl. noch
RGR. 16. Sept. 1880, R II 213.
1.
Lit. bei Meyer S. 578
Note 1; dazu Jagemann GS.
XXIX.
2.
Daß die landesrechtlichen
Strafdrohungen gegen die un-
beeidete falſche Ausſage beſeitigt
ſind, wurde bereits oben §. 11
Note 4 bemerkt.
3.
Ich habe keine Veranlaſſung,
von dieſer ſchon 1877 in meiner
„falſchen Ausſage“ vertretenen
Anſicht abzugehen.
4.
Ebenſo RGR. 23. Februar
1880, E I 217.
5.
Auch falſche Beantwortung
der Generalfragen kann ſtrafbar
machen, wenn ſich die Beteue-
6.
A. A. RGR. 25. Juni 1880,
E II 123, R II 110.
5.
rung auch auf dieſe erſtreckte;
in der Entſcheidung, nicht aber
in der Begründung richtig RGR.
5. Mai 1880, E II 45, R I 732.
7.
Beiſpiele in RGR. 13. No-
vember 1879, E I 99, R I 61; 21. Juni 1880, R II 89; 24. Juni
1880, R II 104.
8.
Jetzt auch vom RGR. 10.
Juni 1880, E II 93, R II 46 anerkannt, und damit wohl de-
finitiv entſchieden.
1.
Vgl. Liszt Preßr. §. 46 IV.
2.
Ich führe der Vollſtändig-
keit wegen alle hieher gehörigen
Fälle an, wenn auch Ger.-Verf.-
Geſ. §. 56 ausdrücklich von
einer Ordnungsſtrafe (oben §. 43VII) ſpricht und auch in den
übrigen Fällen die Auffaſſung
des angedrohten Uebels als einer
Ordnungsſtrafe eine gewiſſe Be-
rechtigung hat.
3.
Vgl. §. 38 Poſtgeſetz vom
28. Oktober 1871, welches die
Vorladung vor die Poſtbehörde
der gerichtlichen Vorladung gleich-
ſtellt.
4.
Vgl. Wolff GA. XXVII.
5.
Vgl. auch Mil. StGB.
§§. 60 (Nichtanzeige als Mit-
thäterſchaft), 77, 104.
6.
RGR. 15. Mai 1880, E
II 57, R I
785.
7.
Lit. bei Meyer S. 542
Note 1.
8.
RGR. 7. November 1879,
R I 44.
9.
Bezüglich der Verjährung
ausgeſprochen von RGR. 25. Fe-
bruar 1880, E I 229, R I 393.
10.
Lit. bei Meyer S. 236
Note 1; dazu Gretener Be-
günſtigung und Hehlerei 1879;
Geyer HR. „Begünſtigung“.
11.
Vgl. auch Vereinszollgeſetz
vom 1. Juli 1869 §. 149.
12.
Z. B. Verbüßung der
Freiheitsſtrafe oder Zahlung der
Geldſtrafe unter dem Namen
eines Anderen, falſche Angaben
in einem Zeugniſſe oder Gna-
dengeſuche uſw.
13.
Dagegen die herrſchende
Anſicht.
14.
Vgl. übrigens noch das
oben §. 77 Geſagte.
15.
Die Analogie mit dem oben
§. 35 V beſprochenen Rechtsſatze
liegt auf der Hand.
16.
Nicht notwendig Vermö-
gensvorteil.
1.
Vgl. Laband Staatsrecht
III;Zorn Staatsrecht I.
2.
Vgl. Mil. StGB. §. 99 ff.
3.
Wehrgeſetz vom 9. Novem- ber 1867 §§. 6, 7, 15; Mil.-
StGB. §§. 4—6.
4.
Wehrgeſetz §. 15; Militär-
geſetz vom 2. Mai 1874 §. 56.
5.
RGR. 31. März 1880, R I 511.
6.
Ueber das Prozeßverfahren
in den Fällen 1—4 vgl. StPO.
§§. 470—476.
7.
Vgl. noch die in RMil. Geſ. vom 2. Mai 1874 §§. 33 und 69
Ziff. 6 enthaltenen Uebertretungen.
1.
Vgl. R.Verf. Art. 4 Ziff. 3
und 4.
2.
Hieher gehört auch die Aus-
gabe von Banknoten, die auf einen Betrag unter 100 Mark
lauten.
1.
Der Beaufſichtigung ſeitens
des Reichs und der Geſetzgebung
desſelben unterliegen .... die
Maßregeln der Medizinal- und
Veterinärpolizei.
2.
Vom StGB. unter die ge-
meingefährlichen Delikte geſtellt
(oben §. 84), richtiger, da es ſich
um Uebertretung konkreter An-
ordnungen handelt, hier im
Zuſammenhange zu behandeln.
3.
Beſtimmt ſich nach den
Landesgeſetzen: RGR. 21. Ok-
tober 1879, E I 1, R I 5;
4. Mai 1880, E II. 151, R I
724.
4.
D. h. aus dem Auslande
ins Reich, oder aus einem Bun-
desſtaat in den andern; nicht
aber Transport von einem Orte an einen anderen desſelben
Bundesſtaates: RGR. 15. Juni
1880, E II 114; doch kann hier
der Thatbeſtand des §. 328
StGB. gegeben ſein.
5.
Im Falle des §. 328 bleibt
der Verſuch ſtraflos.
6.
Ueber dieſen Begriff oben
§. 73 I 3.
7.
StGB. §. 328 bedroht nur die wiſſentliche Uebertretung.
8.
Es liegt hier nicht Fahr-
läſſigkeit in dem techniſchen Sinne
des Strafrechts (oben §. 29) vor,
da nicht ein rechtswidriger Er-
folg vorausgeſetzt, ſondern die
Unvorſichtigkeit bei der Impfung beſtraft wird (nicht „fahrläſſige
Impfung“, ſondern Fahrläſſig-
keit — der Ausdruck wäre beſſer
vermieden worden — bei Aus-
führung
der Impfung).
1.
Das Nähere bei Liszt Preßrecht. Daſelbſt auch die Litteratur.
1.
Vgl. Bunſen GS. XXX.
2.
Liszt Preßrecht §§. 33 u. 39.
3.
RGR. 2. Dezember 1879,
E I 23, R I 130; 14. Juli
1880, R II 193.
4.
Vgl. Liszt Preßrecht §. 18
(iſt keine Nebenſtrafe, ſondern
eine polizeiliche Maßregel).
5.
RGR. 13. April 1880, E I 363, R I 584.
1.
Vgl. auch StGB. §. 360 Ziff. 9.
1.
Vgl. R.Verf. Art. 4 Ziff. 8,
Art. 8 Ziff. 5.
2.
Vgl. R.Verf. Art. 4 Ziff. 10.
1.
Vgl. R.Verf. Art. 4 Ziff. 7
und Art. 54.
2.
In der Ueberſicht über die
Nebengeſetze (oben §. 9) noch
nicht erwähnt.
3.
Damit iſt die Verordnung vom 23. Dezember 1871 beſeitigt.
1.
Die entgegengeſetzte Anſicht
in RGR. 26. Juni 1880 R II
114, daß die auf Steuerhinter-
ziehung gerichteten Handlungen
nur dann nach dem StGB.
beurteilt werden dürfen, wenn das betreffende Steuergeſetz aus-
drücklich auf dieſes verweiſt oder
überhaupt nicht erſchöpfend die
Materie regeln will — kann
nicht als richtig betrachtet werden.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Liszt, Franz von. Das deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichsstrafgesetzbuchs und der übrigen strafrechtlichen Reichsgesetze. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnrk.0