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Muͤnchhauſen.

Eine Geſchichte in Arabesken


Non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem
Cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat,
Antiphatem, Scyllamque et cum Cyclope Charybdim.

(Horatius.)

Erſter Theil.

Duͤſſeldorf,:
Verlag von J. E. Schaub.
1838.
[][[1]]

Erſtes Buch.
Muͤnchhauſens Debuͤt.


Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 1
[[2]][[3]]

Eilftes Capitel.
Worin der Freiherr ſeinen Abſcheu vor
dem Laſter des Lügens nicht allein aus-
ſpricht, ſondern auch bethätigt
.


Was für ein ſchändliches Laſter iſt das Lügen!
Denn erſtens kommt es leicht heraus, wenn Einer
zu arg flunkert, und zweitens kann Jemand, der
ſich’s angewöhnt hat, auch einmal die Wahrheit
ſprechen, und Keiner glaubt ſie ihm dann.


Daß mein Ahnherr, der Freiherr von Münch-
hauſen auf Bodenwerder einmal in ſeinem Leben
die Wahrheit ſagte, und Niemand ihm glauben
wollte, das hat bei dreihundert Menſchen das
Leben gekoſtet.


Wie? riefen der Baron und ſeine Tochter aus
einem Munde.


Geſchätzte Freunde und liebe Wirthe, mäßiget
Euer Erſtaunen, verſetzte der Gaſt, indem er, wie
1*
[4] ein Kaninchen, die Naſenflügel zitternd bewegte,
und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte.
Nichts natürlicher, als das. Hört nur zu. Der
beſagte Ahnherr war leider Gottes, wie Ihr wißt,
ein ungemeiner und erſchrecklicher Lügenſack. Wer
erinnert ſich nicht der zwölf Enten, die er mit
einem Stücke Schinkenſpeck fing, nicht ſeines
halbirten Roſſes, welches in dieſem Zuſtande der
Halbheit dennoch eine Nachkommenſchaft zu erzielen
vermögend war, nicht des tollgewordnen Jagdpel-
zes, nicht der im Poſthorn eingefrornen Töne, und
— und — o! o! o! — —


Das blaue Auge des Enkels weinte, ſein
braunes blitzte von tugendhaftem Zorne, er konnte
nicht weiter reden. Dem alten Baron und ſeiner
Tochter gelang es endlich, ihn zu beruhigen.
Der edle Redner ſchluchzte noch ein Weniges,
dann fuhr er ſo fort: Es iſt meiner Treu recht
ſchlecht von mir, daß ich von meinem in Gott
ruhenden Ahnherrn Uebles rede, aber Ehrlich
währt am längſten. Dieſer Menſch und Lügner
hat die hiſtoriſche Wahrheit auf Jahrhunderte hin
vergiftet, und die nachgebornen Geſchlechter gewiſ-
ſermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahn’s
[5] gegeben, der ſeitdem in der Welt auftrat. Ja,
um mich eines Gleichniſſes aus einer ſeiner abge-
ſchmackten Fabeln zu bedienen, es erging der
Menſchheit nachmals mit jedem falſchen Propheten
wie dem Bären, den der Ahnherr an die honigbe-
ſchmierte Wagenſtange lockte, und der ſich durch
und durch auf ſelbige hinaufleckte. Denn es
mochte den Leuten etwas noch ſo Unglaubliches
vorgeſchwätzt werden, ſie riefen immer: Das muß
wahr ſeyn; Münchhauſen hat ganz andre Sachen
erfahren! So leckten ſich die Leute vor fünfzig
bis ſechszig Jahren auf den Eiszapfen der Auf-
klärung hinauf, und als ſie mit Mühe und Noth
von dieſem wieder heruntergeſchroben waren, und
die grimmige Erkältung noch in ihren Einge-
weiden raſſelte, da kamen die Franzoſen und hiel-
ten ihnen den Freiheitsbaum vor, mit einer
Miſchung von Sirup und Cognac beſtrichen, und
die Narren leckten wieder ſo tapfer darauf los,
daß ſie bald Alle mit Schmerzen an dem ſtach-
lichten Stamme feſtſaßen, und Napoleon mit
leichter Mühe ſie daran hinter ſich herziehen
konnte. Nun, dieſe Begeiſterung nahm denn endlich
auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig …


[6]

Gegenwärtig? fragte der Baron erwartungs-
voll. Gegenwärtig, verſetzte der Freiherr bedächtig,
werden ſo viele und verſchiedenartige Stangen,
Bäume und Zapfen, worunter ſich auch einige
Eiſenſchienen befinden, mit Honig beſtrichen, daß ſich
noch nicht entſcheiden läßt, welches dieſer Fang-
mittel die Meiſten zu feſſeln im Stande ſeyn
werde.


Aber das Wort der Wahrheit, durch welches
Ihr Ahnherr an die dreihundert Menſchen töd-
tete! rief das Fräulein Emerentia ſanft und
dringend.


Recht ſo, meine Gnädige, erwiederte der Freiherr.
Allegorie und Phantaſieſpiele ſind aus der Mode,
gehören der Ramlerſchen Zeit an; Stoff! Stoff!
Stoff! ruft die nach Realitäten hungrige Welt.
Hier iſt der meinige. Münchhauſen, der Ahnherr,
war trotz ſeines gräulichen Laſters eine ſelten-
begabte Natur. Er hatte mit Caglioſtro in Ver-
bindung geſtanden, zu ſeiner Zeit Gold gemacht,
von der Sorte, die man Knallgold nennt, man
verſicherte, er höre, nicht im figürlichen, ſondern
im buchſtäblichen Sinne, das Gras wachſen, kurz,
er hatte tiefe Blicke in ſo manches Naturgeheimniß
[7] gethan. Beſonders war an ihm ein ſcharfes
Ahnungsvermögen für eigne Körperzuſtände ausge-
bildet worden, und Alles, was nachmals in dieſem
Betreff von nervöſen oder ſomnambülen Perſonen
erzählt worden iſt, war Kleinigkeit gegen das, was
glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berich-
tet haben. Er wußte an ſich ſelbſt jede Befin-
densveränderung, wie die Homöopathen die Krank-
heiten nennen, vorauszuſpüren, und trug, ſo zu
ſagen, ſeine ganze ſomatiſche Zukunft, im Geruch
vorgebildet, mit ſich umher. Daß Einer merkt,
wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug iſt, will
nicht viel bedeuten; aber durch den Schnupfen
hindurch die ſpäteren Uebel, die ihn noch betreffen
ſollen, zu merken, iſt allerdings nicht Jedem gege-
ben. Theophilus, ſagte der Ahnherr eines Tages
zu dem Manne, der mein Vater vor der Welt
heißt, Theophilus, ich kriege morgen einen rech-
ſchaffenen Schnupfen, wenn der vorüber iſt, giebt’s
ein kaltes Fieberchen, und darnach wird der Reſt
der böſen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß
fahren. Und richtig, ſo kam es. Er hatte durch den
Schnupfen hindurch das kalte Fieber, durch dieſes
hindurch das Podagra an ſich abgewittert.


[8]

Sie haben gewiß von jenem ſüdamericaniſchen
Indianerſtamme im Gebiete Apapurincaſiquinitſch-
chiquiſaqua gehört?


A … pa … pu … rin … buchſtabirte der
alte Baron. Ja wohl, ja wohl haben wir von
dieſem Stamme gehört, fuhr er nach einigem
Beſinnen fort. Wer ſollte auch davon nicht gehört
haben!


Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua, flüſterte das
Fräulein ſchwärmeriſch vor ſich hin.


Dieſer Indianerſtamm, ſagte der Freiherr,
wohnt dreiundſechszigdreiviertel Meilen ſüdlich vom
Aequator auf einem Bergplateau zweitauſendfünf-
hundert Fuß über der Meeresfläche. Von den
ſchneeigten Pics der Cordilleras rings geſchützt,
leben jene Menſchen ein einfaches Ur- und Natur-
leben hin. Nie ſuchte die Habſucht und Grau-
ſamkeit der Conquiſtadoren ſie hinter ihren beſchir-
menden Felſenwällen heim. Bäume giebt es nicht
auf Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua wegen ſeiner
hohen Lage, aber unendliche Flächen dehnen ſich
an den ſonnebeſchienenen Abhängen der Pics aus,
ſmaragdgrün von einer Grasart, in deren breiten,
fächerartigen Blättern der Weſtwind, welcher da
[9] beſtändig weht, ein melodiſches Säuſeln zu erwecken
nicht müde wird. Zahlreiche Heerden von phirſich-
blüthenen Kühen und Stieren, (ſo lieblich ſcherzt
dort die Natur in Farben) weiden in den grünen
Grasweiden; die feurigen Kälber ſind goldgelb,
erſt nach und nach nehmen ſie jenen kälteren Far-
benton an. Dieſes Rindvieh iſt der einzige
Reichthum der unſchuldigen Apapurincaſiquinitſchchi-
quiſaquaner. Sie leben faſt nur von der ſauren
oder ſogenannten Schlippermilch, welche ihre ſchönen
Jungfrauen, vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln
tättowirt, mit den feinen, roth und gelbbemalten
Fingern den ſtrotzenden Eutern der Kühe entziehn.


Ihr himmliſchen Mächte, wie reizend! ſagte
das Fräulein, in Gefühl ſchwelgend.


Das heißt, erinnerte der Baron, und rieb ſich
die Stirn, aus den Eutern gewinnen ſie ſüße
Milch, und nachher machen ſie den ſauren Schlipper
daraus.


Nein! antwortete der Freiherr. Der ſaure
Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau
von der Kuh, und nur, wenn er lange geſtanden
hat, und dem Zuſtande der Verderbniß ſich nähert,
dann geht er in Süßigkeit über.


[10]

Hm! Hm! Hm! Ja … aber — — murmelte
der Alte und ſchüttelte den Kopf.


Erſtaunen Sie nicht, hören Sie mich ruhig
aus. Iſt nicht alles Urſprüngliche ſauer? Wie
ſchmeckt die wilde und unverbildete Caſtanie?
Kannſt du in den jugendgrünen Apfel beißen,
ohne das Geſicht verzerren zu müſſen, oder in
die kindliche harte Pflaume? Geben Trauben,
die der buhleriſche Strahl der Sonne noch nicht
um ihre Unſchuld betrog, etwas Anderes,
als Eſſig? Pindar ſingt: Das Fürnehmſte iſt
Waſſer; ich aber ſage: Das Urſprüngliche iſt
ſauer.


O, das Urſprüngliche! ſeufzte Emerentia.


Sauer iſt daher die Milch jener Natur-Kühe.
Alle Hausthiere verlieren bekanntlich durch den
Umgang mit Menſchen viel von ihrer urſprünglichen
Ausſtattung; Hund und Katze, die in der Wild-
niß zottige, energiſche Beſtien ſind, werden in
unſern Stuben kleine glatte Schmeichler, und ſo
giebt denn auch unſer Hornvieh, weil es in alle
Widerſprüche abſchwächender Cultur mit einging,
einen Saft, von welchem wir zwar glauben, er
ſei das Ergebniß unverſtimmter Kräfte, welcher
[11] aber gleichwohl in ſeiner ſüßen Schlaffheit nur die
herabgekommne Conſtitution der zahmen oder Kunſt-
Kuh anzeigt. Erſt wenn dieſe ſogenannte ſüße,
eigentlich aber entnervte Milch eine Zeitlang
geſtanden hat, beſinnt ſie ſich wieder auf ihre ver-
ſcherzte Urſprünglichkeit, fährt in Reue und
Schaam zu den klaren Molken und dem gehalt-
vollen Schlipper auseinander, den die Leute in
Niederſachſen auch wohl Waddicke nennen, und
nun, in dieſem biedern Zuſtande, wird ſie von allen
reinen Seelen in der holden Einſamkeit eines
bäuerlichen Düngerhofes mit Wolluſt verſchlürft.
Aber Reue iſt keine Unſchuld, und unſre Schlip-
permilch nicht die, welche auf den Höhen von
Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua warm von der Kuh
gezogen wird. — O tränke wieder jeder deutſche
Mann ſaure Milch …


Und rauchte dazu ſeine Pfeife Tobak … fiel
der alte Baron mit Wärme ein.


… ginge dann zwiſchen Gemüſebeeten auf
und nieder ſpazieren! … rief der Freiherr.


Und hörte nichts, als: Alle Neun! oder Sand-
haſe! von der benachbarten Kegelbahn — ſeufzte
der alte Baron.


[12]

Dann wäre Germanien wahrhaft reſtaurirt!
ſchloß der Gaſt mit Emphaſe.


Aber um der Götter willen, rief ein hagrer
Mann, welcher während dieſer Geſpräche einge-
treten war, wir erfahren ja noch immer das
Wort der Wahrheit nicht, wodurch Ihr Ahnherr
dreihundert Menſchen vom Leben zum Tode brachte!


Der Freiherr ſah auf ſeine Uhr, und ſagte
mit dem Tone geiſtiger Ueberlegenheit, welcher
ihm eigen war: Es möchte dazu heute zu ſpät
ſeyn. Auf morgen alſo, wenn Sie vergönnen. Er
ſtand auf, nahm eine Kerze, und verließ, Allen
eine gute Nacht wünſchend, das Zimmer.


Warum fielt Ihr ihm in die Rede, Schul-
meiſter? ſagte der alte Baron verdrießlich zu dem
Hagern. Einen ſolchen Mann, mit einem ſo Welt-
umfaſſenden Geſichtskreiſe muß man nie im Fluſſe
der Worte ſtören, es kommt immer dabei etwas
zum Vorſchein, was unterhält und belehrt, und
am Ende wären wir doch wohl noch zu dem
Worte der Wahrheit ſeines Ahnherrn gediehen,
wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet.


Schelten Sie mich nicht, mein Gönner, um
dieſen Freiherrn von Münchhauſen, der uns da ſo
[13] unverſehens in das Schloß geworfen iſt; erwie-
derte der Hagre. Er kann den an Kürze und
Laconismus Gewöhnten ſchon ungeduldig machen,
dieſer endloſe Redner und Erzähler, denn er ver-
fällt immer aus dem Hundertſten in das Tauſendſte.
Kürze aber, die körnige Kürze der Sparter, iſt wie ein
Köcher, darin gar viele Pfeile ſtecken; indem erſtens …


Es iſt ſchon gut, Schulmeiſter, fiel ihm der
Alte in die Rede, indem er ihn mit einem zwei-
deutigen Blicke maaß. Warum kommt Ihr heute
ſo ſpät? Wir haben Alles aufgeſpeiſt.


Der Schulmeiſter Ageſilaus ließ ſeine Augen
in die Ecke des Zimmers dringen, worin ein klei-
ner Tiſch ſtand, ärmlich gedeckt. Die Knochen eines
verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verſtreut.
Es wollte ſich in der Eile nicht des Schilfes
genug für mein Nachtlager ſchneiden laſſen, ver-
ſetzte er. So bin ich denn hier nach dem Mahle
erſchienen, und werde mich zu Hauſe mit ſchwar-
zer Suppe verköſtigen müſſen. Er zündete ſeine
Blendlaterne an, ſchlug den groben, zerrißnen
Mantelkragen, den er ſtatr des Rockes trug, feſter
um ſich, und entfernte ſich nach höflicher Verbeu-
gung gegen den Baron und das Fräulein.


[14]

Der Alte ſah ſich um und murrte: Kein zweiter
Leuchter mehr hier? Er nahm aus dem Wand-
ſchranke ein Lichtſtümpfchen, ſteckte es in den
Hals einer Flaſche, und ging mit dieſer Vorrich-
tung aus dem Stegreife davon, in tiefen Gedan-
ken über die Erzählungen des Gaſtes, ohne der
Tochter weiter zu achten.


Dieſe hatte von allen ſeitherigen Verhandlun-
gen nichts bemerkt, weil ſich nach der Schilderung
jenes glückſeligen Bergplateaus die romantiſche Träu-
merei ihrer bemächtigt hatte, in die ſie nicht ſelten
verſinken konnte. Jetzt fuhr ſie aus dieſen Ent-
zückungen der Abweſenheit empor, und rief: Gro-
ßes, ungeheures Naturbild! Das Smaragdgrün
der Wieſen am Abhange der Pics, vermiſcht mit
dem Phirſichroth der Kühe und dem Goldgelb der
Kälber, ſich abhebend von dem Schneeweiß der
Cordillerasgipfel im Hintergrunde! O wäre ich
auf Apapur … auf Apapur … auf der Berg-
ebene mit dem unausſprechlichen Namen!


Ein Windſtoß warf das Fenſter auf, deſſen
einer Flügel, nur noch morſch in ſeinen Nägeln
hangend, zu Boden fiel, und klirrend zertrümmerte.
Das Fräulein aber achtete dieſes Umſtandes nicht
[15] ſonderlich, ſondern hob eine Tiſchplatte ab, ſtellte
ſie gegen die Lücke, und begab ſich dann, gleich
den übrigen Perſonen, zur Ruhe, um von der
Bergebne, mit deren langen Namen ich meine
Zuhörer ſchon ſo oft habe behelligen müſſen, wei-
ter zu träumen.


[16]

Zwoͤlftes Capitel.
Der Freiherr bringt zwar die angefangne
Geſchichte nicht zu Ende, handelt aber von
andern außerordentlichen Dingen
.


Münchhauſen hob am folgenden Abende ohne Vor-
rede alſo an: Der ſüdamericaniſche Indianerſtamm,
welcher uns geſtern beſchäftigte, bringt es bei ſei-
ner ſauren Milchnahrung meiſtens zu einem ſehr
hohen Alter. Es iſt unter ihnen gar nicht ſelten,
daß Männer und Frauen das hundertſte Jahr zurück-
legen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer
in der unmittelbarſten Gemeinſchaft mit der Natur
verblieben, ſo wiſſen ſie auch durch ein richtiges
Gefühl, wenn die Natur ſich ihr Ziel geſetzt hat.
Ein ſolcher Sterbegreis ſagt daher ganz genau
Stunde, Minute und Augenblick ſeines Todes vor-
aus, flicht ſich die Strohflaſche, worin er ſich zu
beſtatten gedenkt …


[17]

Die Strohflaſche? fragte der Schulmeiſter
Ageſilaus.


Die Strohflaſche, erwiederte der Freiherr
kaltblütig. Wenn man mir von Anfang an zu-
gehört hätte, ſo würde manche Frage zu ſparen
ſeyn. Holz haben ſie nicht, das ſagte ich ſchon
geſtern, Särge können ſie folglich nicht zimmern,
ſie müſſen ſich mit getrocknetem Graſe oder Stroh
helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein
ſolches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts,
worin der Maraſchino von Trieſt verſchickt wird,
länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas
engeren Halſe. Dahinein kriecht nun der Sterbe-
greis, nachdem er von ſeinen Angehörigen Abſchied
genommen hat, und endet pünktlich in dem vorher-
geſagten Augenblicke. Sobald er verſchieden iſt,
binden ſie eine Blaſe über die Mündung, und dann
ſetzt ſich die ganze Familie im Kreiſe um das
Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtniß des
Verewigten ſaure Milch. Hierauf tragen ſie die
Strohflaſche nach der Felſenbank Pipirilipi, dem
allgemeinen Begräbnißorte des Volks. Dort wird
ſie zu den Uebrigen geſtellt. Ich habe jene Ruhe-
ſtatt ſelbſt geſehen; ſie gewährt einen ſchönen An-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 2
[18] blick. Wie auf Rayolen in einem wohlverſehenen
Keller ſtehen dort auf der Felſenbank viele tauſend
Flaſchen neben einander, die Vorzeit des Volks
iſt ſo zu ſagen auf Stroh abgezogen.


Sie waren auch auf dem ſmaragdgrünen Pla-
teau? fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.


Liebe Seele, wo wäre ich nicht geweſen! ant-
wortete lächelnd der Freiherr. Ich war vor eini-
gen Jahren Europamüde, warum? weiß ich ſelbſt
nicht, denn es hatte mir Niemand etwas zu Leide
gethan, aber ich war Europamüde, wie man
gegen Eilf Uhr Abends Schlafmüde wird. Be-
ſchloß alſo, zu reiſen, ſo weit weg, wie möglich.
Weil aber heut zu Tage jeder Menſch, der in
Betrachtung kommen will, abſonderlich unterweges,
intereſſant ſeyn und den Spleen haben muß, reiſte
ich erſt nach Berlin und ließ mich dort im Inte-
reſſantſeyn unterrichten; dafür zahlte ich zwei Frie-
drichsd’or Honorar. Dann ging ich nach London,
und lernte dort bei einem Maſter den Spleen;
der Tauſendſaſſa war aber theuer, ich mußte ihm,
Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig
Guineen entrichten, und außerdem ſchwören, das
Geheimniß nicht verrathen zu wollen.


[19]

Nachdem ich ſo das Intereſſante und den Spleen
weg hatte, glückte es mir überall recht ſehr. Ich
trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche,
zuweilen lag ich als Dame auf dem Sopha und
hatte Migraine; dabei redete ich ein Kauderwälſch
von Franzöſiſch und Deutſch, wie es zu Anfang
des Achtzehnten Jahrhunderts während der großen
Sprachverderbniß Mode war. In jenen wechſelnden
Coſtümen, und in dieſem Deutſch, gorge — de —
pigeon,
beſtand das Intereſſante; was aber den
Spleen angeht, ſo führte ich immer Kampher bei mir,
um das Geheimniß friſch zu erhalten. Davon bekommt
man nämlich eine blaſſe Couleur; ich ſah bald aus, als
hätte ich ſchon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich
mich eines Tages in meinem Toilettenſpiegel, deren ich
damals, wo ich der Eitelkeit fröhnte, ſtäts mehrere
beſaß, zu Geſichte bekam, und meine bleiche Farbe
erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf.
Sehe ich nicht wie eine Leiche aus? ſagte ich zu
mir ſelber. Ich will mich den Verſtorbenen nen-
nen. Geſagt, gethan! Dieſer Einfall hat Wun-
der gewirkt. Einen Verſtorbenen hatten die Deut-
ſchen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Ver-
ſtorbener, der ſo traulich mit ihnen zu plaudern
2*
[20] wußte, und ihnen tauſend Geſchichtchen erzählte,
die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatſchzim-
mer der Societät hätte auftreiben können! Jung
und Alt, Männer und Weiber, Gelehrte und
Idioten drängten ſich zu den Leichenſpuren des
Verſtorbenen; die alte Fabel wurde wieder neu,
welche das Volk hinter einem geſchmückten Ver-
weſ’ten jubelnd herwandern läßt. Geheime Künſte
haben es aus der Gruft emporbeſchworen, die
Menge zu locken. Die Jünglinge drängen ſich be-
gehrlich heran, mit der buntgeſchminkten Frau
Venus zu tanzen; immer weiter lockt die Peſt-
dampfende Schönheit, welche ihnen wie Zibeth und
Ambra riecht, die Lüſternen; endlich auf einem
Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden
Gebeinen ab, und ein ſcheußliches Skelett faucht
ihnen den Spruch zu: Sic transit gloria mundi.
Aber mit mir kam es nicht ſo weit, vielmehr blieb
ich, obgleich ein duftender Verſtorbener, recht in-
mitten der Gloria Mundi. Nachdem ich ſo be-
rühmt geworden war, ſtrich ich durch die ganze
Welt, kam auch im Vorbeigehen durch Africa; in
Algier wurde ich Arabiſch mit allen Formalitäten,
hatte dann gutes Logis bei Vicekönigs von Egypten.
[21] Er wurde mein Dutzbruder, und ich mußte ihm
tauſend Sachen erzählen, die er mir alle geglaubt
hat. Weiter oberhalb nach Nubien zu, unfern der
großen Katarakte, ſtieß mir ein hübſches Aben-
theuer mit einem Nilpferde auf. Ich ſitze am
Strom im Schilf, in naturalibus, wie mich der
Herr geſchaffen hat, denn anders bin ich in Africa
nie gegangen; eſſe mein Mittagsbrod in guter
Ruhe, ſiehe da, ſchießt eine Beſtie von Hippopo-
tamos auf mich zu, und hat mich im Rachen, ehe
ich noch rufen kann: Qui vive! Ich indeſſen nehme
in der Geſchwindigkeit mein Bischen Geiſtesgegen-
wart zuſammen, ſchreie in dem Rachen, als das
Vieh mich eben verſchlucken will: Monsieur! Mon-
sieur! avec permission, je suis son Altesse
telle et telle
! Was geſchieht? Sie mögen es mir
glauben oder nicht: Die gute Seele von Nilpferd
ſpuckt mich auf der Stelle aus, wiſcht ſich die
Thränen aus den Augen …


Womit? Womit? rief der Baron.


… mit einem Palmblatte, welches die ehr-
liche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt; erröthet,
und rennt beſchämt davon. So weit haben es
Vicekönigs ſchon in Egypten gebracht, daß ſelbſt
[22] die Hippopotamoi vor literariſchen Sommitäten
Reſpect bezeigen.


Ich meine, das Nilpferd nähre ſich nur von
Vegetabilien, nicht von Fleiſch, wandte das Fräu-
lein beſcheiden ein.


Es iſt vermuthlich kurzſichtig geweſen, und hat
mich für eine Pflanze angeſehen, antwortete der
Freiherr. Ich weiß, was ich weiß; ich habe im
Rachen drin geſteckt. Wahrheit muß Wahrheit
bleiben, und Ehrlich währt am längſten. Wo blieb
ich ſtehen? Ja, in Africa. Warum ſoll ich Sie
aber mit ſolchen Kleinigkeiten aufhalten? Ich war
bald Africamüde, wie ich Europamüde geweſen
war, beſchloß daher nach America zu reiſen, vor-
her aber einen Abſtecher nach Deutſchland und
England zu machen, wohin mich verſchiedne Gründe
zuvor riefen.


Erſtens hatte ich das Intereſſante und den
Spleen etwas verlernt, und wollte daher wieder
in Berlin und in London meinen Curſus machen.
In Africa ſind die Leute gar nicht intereſſant, der
Koran begünſtigt dieſe Richtung nicht, eine ara-
biſche Schnauze iſt wie die andre, und was den
Spleen betrifft, ſo vertreibt den der Vicekönig
[23] von Egypten durch die Vaſtonade; es giebt kein
efficaceres Mittel gegen Schwermuth, als ſie.
Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouillirt,
wie das unter Freunden wohl kommen kann; da
dachte ich an die möglichen Folgen für die Fuß-
ſohlen, und von dem Gedanken ſchon war aller
Spleen weg, ſelbſt bis auf die Erinnerung. Es
kam zum Glück nicht zu jenen Folgen, wir ver-
ſöhnten uns und aßen noch denſelben Mittag Sauer-
kraut mit Schweineohren zuſammen, denn er iſt
ein aufgeklärter Türke, und will nächſtens in einer
Schrift beweiſen, daß Mahomet ein Product der
Gläubigen ſei. Wo blieb ich ſtehen? Ja ſo; bei
dem Spleen. Nun, das Intereſſante hatte ich
aus Mangel an Anſchauungen in meiner Umgebung
ebenfalls wieder eingebüßt. Ich mußte alſo ſchon
deßhalb nach Deutſchland und England.


Dießmal war ich genöthigt, in Berlin für den
Unterricht im Intereſſanten eine Bonne zu nehmen,
die Mere Oye, der es im Rückblick auf Perſonen
und Zuſtände nicht gegangen war, wie Loths Weibe
bei einer ähnlichen Gelegenheit. Denn, anſtatt
zur Salzſäule zu erſtarren, war ſie nur immer
geſprächiger und mercurialiſcher geworden. Viele
[24] Leute wollten der guten Mere und Commere etwas
am Zeuge flicken; ſie ſagten, all ihr Geiſtreicheln
und Intereſſantiſiren ſei doch purer Waſchſchaum,
aber ich muß die Mere Oye vertheidigen. Auf
hohe Ziele hat ſie es überhaupt nicht abgeſehen;
ſie gedenkt nur ihrer Ahnmütter, die urlängſt
durch Schnattern das Capitol retteten. Und da
übt ſie nun mittlerweile ihr Organ, um bei
Stimme zu ſeyn, wenn dermaleinſt das Capitol
des plattirten-Liberalismus in Deutſchland gefährdet
werden ſollte.


Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten
Lehrer? fragte der Baron.


Der ſaß in Paris dazumal und las Altfranzö-
ſiſche Manuſcripte. Ich reiſte von Algier über
Toulon und jene Hauptſtadt, und traf ihn auf der
Bibliothek. Da ſah ich nun ein wahres Wunder
jetziger Bücherſchnellfabrication oder Schnellbücher-
fabrication. Denn es iſt gewiß; Sie mögen mir
es glauben, oder nicht, mit der linken Hand
ſchlug er die Blätter des pergamentenen Folianten
um, der vor ihm lag, und mit der rechten ſchrieb
er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus, ſo
daß, wenn er links in Folio fertig geleſen hatte,
[25] ihm rechts ein Octavband abgegangen war. Da-
zwiſchen dictirte er noch ein ſpirituelles Billet an
eine Comödiantin, und unterhielt ſich mit einem
Arrondiſſementscommiſſair gründlich über das Pari-
ſer Griſettenweſen. Er blieb folglich nur drei
Stadien hinter Cäſar’s Vielſeitigkeit zurück.


Was aber der zweite Grund meines Abſtechers
nach Deutſchland war, ich wollte mir dort wieder
einen guten Bedienten miethen. Meinen bisherigen
hatte ich abſchaffen müſſen; er wollte auch intereſ-
ſant ſeyn, und hielt deßhalb beſtändig Maulaffen
feil. Als Intereſſanter von Diſtinction glaubte
ich Einſpruch thun zu dürfen, aber da die Gewerbe-
freiheit überall herrſchte, ſo war in der Sache
nichts zu machen; jeder Lump durfte intereſſant
ſeyn.


Nur aus Deutſchland wollte ich mir den Erſatz-
bedienten holen, denn jedes Land hat ſeine eigenthüm-
lichen Producte, die man nirgends anders ſo gut be-
kommt. Spanien hat ſeine Weine, Italien den Geſang,
England die Conſtitution, Rußland den feſteſten Juch-
ten, Frankreich die Revolution, und in Deutſch-
land gerathen die Bedienten am beſten.


[26]

Dreizehntes Capitel.
Der Freiherr beginnt eine hiſtoriſche No-
velle von ſechs verbundnen Kurheſſiſchen
Zöpfen zu erzählen, wird aber von dem
Ausbruche der Verzweiflung bei dem Schul-
meiſter Ageſilaus unterbrochen, und ver-
ſpricht geordnetere Mittheilungen
.


Da, wo die buſchichten Anhöhen des Habichtwal-
des gegen Abend, die Hügelketten des Reinhartwal-
des gegen Mitternacht, der felſichte Sörewald gegen
Mittag zu einem weiten Thale auseinandertreten,
durch welches die Fulda in mannigfachen Krümmun-
gen von Mittag nach Mitternacht ihre Fluthen wälzt,
gegen Morgen aber eine lachende Ebne ſich auf-
thut, über welcher in weiter Ferne der majeſtäti-
ſche Meißner ſein blaues Haupt erhebt, liegt Caſſel …


O Ihr heiligen und gerechten Götter, wohin
ſoll denn nun das wieder führen? ſtöhnte der
Schulmeiſter Ageſilaus, den die Erzählungen des
[27] Freiherrn in einen Zuſtand verſetzt hatten, welcher
ſich ſchwer beſchreiben läßt.


… liegt Caſſel, die Hauptſtadt des Kurfür-
ſtenthums Heſſen. Reinliche, breite Straßen durch-
ſchneiden die obere oder Neuſtadt, deren Gebäude
faſt alle von regelmäßiger Bauart ſind, während
die untere oder Altſtadt mehr dem Schmutze und
der Krümme anheimgefallen iſt. Mehrere ſchöne
öffentliche Plätze verſchönern jenen ſchöneren Theil
der Stadt, unter allen jedoch iſt der Friedrichs-
platz der ſchönſte, an welchem ſich das prachtvolle
Schloß mit ſeinen langen Fenſterfluchten erhebt.


Es war um die Zeit, als nach der glücklichen
Herſtellung der alten Verhältniſſe Kurfürſt Wilhelm
in die Hallen ſeiner Väter zurückgekehrt war,
und unter mehreren früheren bewährten Einrich-
tungen auch jene Verlängerung des Haarwuchſes
wieder eingeführt hatte, welche man im Deutſchen
mit dem Namen Zopf zu belegen pflegt. Auch
dieſe Zeit iſt längſt vorüber, die Kunde von ihr
klingt faſt wie die Mähr von dem verſunkenen
Eilande Atlantis; der hiſtoriſchen Dichtung aber
ziemt es, nichts in der Geſchichte verloren geben zu
laſſen, nicht einmal den ehemaligen Kurheſſiſchen Zopf.


[28]

Es war ſpät Abends und Caſſels Bewohner
ſchliefen ſchon, oder legten ſich zu Bett. Auf
dem Schloſſe aber war es im Cabinett des Für-
ſten noch hell. Die Soirée war zwar geen-
digt, jedoch hielt der alte würdige Herrſcher noch
einige ſeiner Auserwählten um ſich verſammelt.
Man hatte ſich auf die gewohnte Weiſe von der
Zwiſchenregierung und von dem wunderbaren
Umſchwunge der Dinge unterhalten. Der Kurfürſt,
welcher ſeine Gardeuniform, Klappenweſte und
ſteife Stiefeln trug, ſtand feſt auf das ſpaniſche
Rohr mit goldnem Knopfe geſtützt, und ſagte:
Es bleibet dabei, Ich agnoſcire Nichts von dem,
was Mein Verwalter Jerome inzwiſchen angeordnet
hat. Wer darunter leidet, mag ſich an Meinen
Verwalter halten, dem Wir nicht die Macht gege-
ben hatten, auf ſeinen Kopf neue Sachen einzu-
führen, und der mithin bei derartigen Thathandlungen
Mandatum excediret hat. Wir wiſſen wohl, daß
Wir dieſerwegen der Cenſur etlicher unruhiger
Köpfe unterliegen, aber das läßt Uns völlig unan-
gefochten in Unſrem Gewiſſen, und Wir vertrauen
hierinnen gänzlich der göttlichen Providentz, die
Uns nach kurzer Ueberwältigung in Unſre Erb-
[29] ſtaaten zurückgeführet, und deutſche Treue und
Redlichkeit auch auf Unſrem Territorio retabliret
hat. Habt Ihr das Edict verfaſſet, wodurch den
Domainen-Ankäufern alle und jegliche Hoffnung,
ſich in ihrem unrechtfertigen Beſitze zu mainteniren,
entzogen wird?


Das ließ ich meine eiligſte Sorge ſeyn, ver-
ſetzte der Angeredete, der Geheimerath Vellejus
Paterculus. Es war in der That hohe Zeit, daß
deutſche Treue und Redlichkeit bei uns retablirt
wurde.


Man kennet Mich noch nicht gehörig, fuhr der
alte kräftige Fürſt mit erhobener Stimme fort.
Ich habe ſchon einmal die Gaſſenkehrer zur Correc-
tion der Weichlinge und Schwelger in neumodiſchen
franzöſiſchen Kleidern die Straßen fegen laſſen,
und es dürfte paſſiren, daß ſich Gleiches oder
Aehnliches abermalen ereignete, wenn man Uns
zu viel Aergerniß giebt. Dieſes Caſſel war unter
der Wirthſchaft Meines Verwalters ein liederlicher
Ort geworden, und alle Zucht und Sitte hatte
Abſchied genommen.


Eine Dame näherte ſich dem Fürſten, und
ſagte mit ſchmeichelndem Tone: Ereifre dich
[30] nicht, Väterchen, du haſt ja beides, Zucht und
Sitte, hier wieder eingeführt.


Sie und der Geheimerath Vellejus Paterculus
wurden hierauf entlaſſen. Nur der Baron von
Rothſchild verblieb noch bei dem Fürſten. Er
war nach Caſſel gekommen, um mit ſeinem
erlauchten Geſchäftsfreunde Abrechnung zu halten,
und hatte jetzt zu vernehmen, daß der Kurfürſt
die in des Barons Händen beruhenden Fonds
ihm nicht länger zu ſieben Procent laſſen könne,
ſondern auf dem achten fortan beſtehen müſſe.


Der Baron von Rothſchild war durch dieſe
Nachricht und Eröffnung im Tiefſten erſchüttert.
Er ſchwor bei dem Gotte Abrahams, Iſaaks und
Jakobs, daß ihn eine ſolche Maaßregel in das
Verderben ſtürze, da aber ſein hoher Gläubiger
feſt darauf beſtand, und ihn für den Fall des
Weigerns mit der Kündigung bedrohte, ſo gab
der Baron endlich mit blutendem Herzen nach und
erwog zu ſeinem Troſte im Stillen, daß in ſeiner
Bank das Pfund mit zwanzig Procent wuchre,
ihm ſonach allerdings zwölf noch übrig verblieben.


Der Fürſt hatte bei der ganzen Verhandlung
ſeine Haltung unerſchütterlich bewahrt. Jetzt ſtieß
[31] er das Fenſter auf, ſah in die ſternenklare Nacht
und ſagte: Wenn Ich conſiderire, daß Ich
wieder hier im Palais bin, und welche Intereſſen
Mir die Engliſchen Gelder, die Ich dazumal für
das Americaniſche Corps erhielt, in Seinen Hän-
den getragen haben, Rothſchild, ſo muß Ich ſpre-
chen: Der alte Gott lebet noch und läſſet nicht
zu Schanden werden.


Der Baron erwiederte etwas verſtimmt: Warum
ſoll nicht leben der alte Gott, da noch leben Eur’
Hoheit? Wie kann man werden zu Schanden
mit acht Procent?


Während ſich dieſe Begebenheiten im Innern
des Schloſſes zutrugen, erzählten unten in der
Wachtſtube die ſechs Gebrüder Piepmeyer ihren
Cameraden Geſpenſtergeſchichten. Die ſechs Gebrü-
der Piepmeyer waren die ſechs Söhne des Kaſtel-
lans Piepmeyer auf der Löwenburg. Dieſer Mann
hatte, wie es bei ſolchen Aufſehern herrſchaftlicher
Schlöſſer der Fall zu ſeyn pflegt, die loyalſten
Geſinnungen, und in denſelben auch ſeine Söhne
erzogen. Man konnte daher von dieſer Familie
behaupten, daß in ſieben Individuen nur ein und
daſſelbe heſſiſche Herz ſchlage. Vater Piepmeyer
[32] war derjenige geweſen, welcher ſich bei dem Ein-
zuge des Kurfürſten auf einen Eckſtein geſtellt,
jubelnd ſeinen durch alle Verführungen der Fremd-
herrſchaft hindurch geretteten Zopf geſchwungen
und gerufen hatte: Durchlaucht! Durchlaucht!
meiner ſitzt noch! was dem alten Herrn die erſte
wahre Regentenfreude in ſeinen Staaten bereitet
haben ſoll. Sobald nun die ſechs Söhne Piep-
meyer, welche zwei Paar Drillinge waren, die
Mutter Piepmeyer in zwei nach einander folgenden
Jahren ihrem Gatten geſchenkt hatte, in das
Soldatenalter traten, ließ Vater Piepmeyer alle
ſechs an einem und demſelben Tage in die Kur-
fürſtliche Zopf- und Stiefeletten-Garde eintreten.
Sie hatten alle ſechs daſſelbe Maaß, nämlich ſechs
Fuß, drei Striche; hielten auf die völlige Iden-
tität ihrer Stiefeletten und Zöpfe, und ſahen
einander überhaupt zum Verwechſeln gleich, ſo
daß der Commandeur ſie mit verſchiedenfarbigen
Strichen über der Naſe bezeichnen laſſen mußte,
um ſie im Dienſt unterſcheiden zu können. Karl
Piepmeyer bekam einen gelben, Heinrich Piepmeyer
einen blauen, Ferdinand Piepmeyer einen rothen,
Guido Piepmeyer einen orangefarbnen, Chriſtian
[33] Piepmeyer einen grünen, Romeo Piepmeyer einen
ſilbergrauen und Peter Piepmeyer einen ſchwarzen
Strich über der Naſe. Aber außer dem Dienſte,
wo ſie ſich als Menſchen fühlten, wiſchten ſie die
Striche ab.


Dieſe ſechs Brüder von der Löwenburg erzähl-
ten den andern Heſſiſchen Wachtmannſchaften
folgende Geſchichte: Ihr mögt es nun glauben
oder nicht, aber ſo iſt der alte Herr alle Jahre,
während er in der Fremde war, an ſeinem
Geburtstage jedesmal droben auf der Burg gewe-
ſen. An dieſem Tage war es von früh Morgens
an ſchon immer unruhig droben, es that ſich ein
Schwirren in den ſeidnen Gardinen hervor, die
Gardinenbetten knackten, die Harniſche in der
Rüſtkammer raſſelten, der Wetterhahn auf dem
Thurme hat unaufhörlich mit den Flügeln geſchla-
gen. Schon als Knaben bemerkten wir alles
Dieſes und noch Mehreres, aber wir achteten
deſſen nicht, bis uns der Vater, nachdem wir
fünfzehn Jahre alt und confirmirt worden waren,
bei Seite nahm und uns das Burggeheimniß ent-
deckte, welches in nichts Anderem beſtand, als daß
der Kurfürſt, wiewohl weit entfernt im Böhmiſchen
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 3
[34] Lande, dennoch auf ſeiner Burg ſeinen Geburtstag
feire. Er komme nämlich um ſechs Uhr Abends
gerade zur Stunde, wo vor Zeiten an der Stän-
detafel die Geſundheit ausgebracht worden ſei,
und man die Kanonen vor der Aue gelöſt habe,
in das gelbe Commodenzimmer, worin der alte
Fritz als kleiner Junge abgemalt hängt, gegan-
gen, und verluſtire ſich dort eine halbe Stunde
lang.


Das nächſte Jahr gab uns der Vater die
Sache zu ſchauen. Nämlich, wir ſteckten uns mit
ihm ſacht hinter den grünen Vorhang im gelben
Commodenzimmer. Was geſchieht? Wie die
Glocke auf dem Schloßthurm ſechs ſchlägt, hören
wir auf dem langen Rittergange, der zum Zimmer
führt, Thüre nach Thüre aufklappen, endlich
ſpringt auch die vom gelben Commodenzimmer auf,
und herein tritt der Herr, wie er leibt und lebt,
ſteife Stiefeln, gekollerte Hoſen, Montirung, drei-
eckichter Hut, Klebelocken, kurz Alles und Jedes.
Setzt ſich an das Fenſter, was nach dem Garten
ſieht, macht ſich eine Pfeife Taback an, raucht,
daß der Dampf davon geht, kuckt unterweilen in
den Garten, klopft, wie die Pfeife zu Ende
[35] geraucht iſt, dieſelbige aus, daß wir nachmals noch
die Aſche auf dem Getäfel gefunden haben, erhebt
ſich dann, geht ſtill aus dem gelben Commoden-
zimmer und ſo weiter, wo wir denn die Thuren
im langen Rittergange nach einander wieder zuklap-
pen hören. Das ganze gelbe Commodenzimmer
war voll Rauch, Varinas linker Hand oben, wir
haben alle ſieben, wir ſechs Brüder und unſer
Vater, deutlich die Sorte gerochen.


Als die Gebrüder Piepmeyer dieſe Geſchichte
ihren Cameraden erzählt hatten, erhob ſich in der
Wachtſtube ein hitziger Streit; denn …


Aber der Freiherr konnte ſeine Geſchichte nicht
weiter führen, denn es erhob ſich auch in dem
Zimmer, worin die Geſellſchaft verſammelt war,
ein heftiger Lärmen. Bei dem Schulmeiſter Age-
ſilaus brach nämlich in dieſem Augenblicke die
Verzweiflung, in welche ihn die Erzählungen des
Freiherrn verſetzt hatten, auf die gewaltſamſte
Weiſe aus. Er warf ſeinen groben und zerriſſenen
Mantelkragen ab, und rannte in der kurzen wollnen
Jacke, die er unter demſelben trug, mit den
Gebärden eines Verlornen im Zimmer auf und
nieder. Nein, was zu viel iſt, iſt zu viel, und
3*
[36] der menſchlichen Geduld ſind ihre Grenzen geſteckt!
rief er ſchluchzend aus. Meine hochverehrten
Gönner, ich bitte zehntauſendmal wegen dieſer
meiner Unhöflichkeit um Vergebung, aber ich kann
mir nicht helfen, ich muß mir Luft machen, ſonſt
bin ich ruinirt mit Kind und Kindeskind! Münch-
hauſens Lügen, Homöopathie, Kurheſſiſche Zöpfe,
ſaure Milch, Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua, Manna
Gans, Rhinoceroſſe, Verſtorbne, Vicekönigs von
Egypten, Altfranzöſiſche Manuſcripte, Griſetten,
Juchten, Rothſchild, Varinas linker Hand oben — —
wer dabei den Verſtand behalten will, der muß
einen weniger geordneten Kopf haben, als ich
leider beſitze. Herr von Münchhauſen beginnen
zu erzählen, dann fangen wieder andere Perſonen
an, in dieſen Erzählungen zu erzählen; wenn man
nicht ſchleunig Einhalt thut, ſo gerathen wir
wahrhaftig in eine wahre Untiefe des Erzählens
hinein, worin unſer Verſtand nothwendig Schiff-
bruch leiden muß. Bei den Frauen, die mit
Schachteln handeln, ſtecken oft vierundzwanzig in
einander, ſo kann es fürwahr auch hier mit den
Geſchichten gehen, denn wer ſchützt uns davor, daß
alle ſechs Gebrüder Piepmeyer ſich wieder von
[37] ſechs Wachtcameraden ſechs Geſchichten vorplau-
dern laſſen, und daß ſolchergeſtalt ſich die hiſtoriſche
Perſpective in das Unendliche verlängert? Herr
von Münchhauſen wollten uns das Wort der
Wahrheit vertrauen, wodurch Ihr Ahnherr an drei-
hundert Menſchen tödtete; ſtatt deſſen werden
wir auf die Cordilleras und von da nach Africa
gehetzt, und jetzt ſind wir wieder in Heſſencaſſel,
und wiſſen nicht, warum wir da ſind. Herr von
Münchhauſen, ich halte Sie für einen großen,
wunderbar begabten Mann, aber ich bitte Sie um
die einzige Gnade, erzählen Sie etwas geordneter
und ſchlichter. Sie wollen, wie ich vernehme,
unſrem Herrn Baron länger die Ehre Ihres
Beſuchs ſchenken; es muß Ihnen daher ſelbſt daran
liegen, uns nicht ſchon in den erſten Tagen außer
Faſſung zu ſetzen und geiſtig zu vernichten.


Nach dieſer Rede entſtand eine bedeutende
Pauſe. Der Wirth ſah verlegen, der Gaſt groß
vor ſich hin, das Fräulein warf einen Blick des
Zorns auf den Schulmeiſter, einen Blick der begei-
ſtertſten Hingebung auf den Freiherrn. Der
Schulmeiſter ſtand athmend in einer Ecke, und
ſchien ſehr angegriffen zu ſeyn.


[38]

Zuerſt redete der Freiherr wieder und ſagte:
Daß ich ſo brüsk unterbrochen worden bin, thut
mir leid. Ich kann verſichern, daß ich meinen
Stoff beherrſche, und daß in meinen Geſchichten,
wie in meinem Geiſte, Alles zuſammenhängt. Ich
würde Sie aus der heſſiſchen Wachtſtube wieder
zu den Indianern auf der ſmaragdgrünen Berg-
ebne …


O die ſmaragdgrüne Bergebne! rief das Fräu-
lein enthuſiaſtiſch.


… auf der ſmaragdgrünen Bergebne zurück-
zuführen im Stande geweſen ſeyn, und Sie würden
bald eingeſehen haben, in welcher Verbindung die
ſechs verbundenen Kurheſſiſchen Zöpfe mit dem
Worte der Wahrheit ſtehen, durch welches mein
Ahnherr an die dreihundert Menſchen vom Leben
zum Tode brachte. Freilich für Manche ſind
manche Combinationen zu hoch.


Ja wohl! rief das Fräulein ſcharf und bitter.
Caviar iſt nicht für das Volk. Anders als ſonſt
in Menſchenköpfen, malt ſich in dieſem Kopf die
Welt.


Da ſich keine behagliche Unterhaltung wieder
machen wollte, ſagte endlich der alte Baron, der
[39] dem Schulmeiſter eigentlich im Stillen beiſtimmte:
Das Schlimmſte wäre nun, wenn wir Ihrer fer-
neren, ſo ſehr intereſſanten Mittheilungen verluſtig
gingen, lieber Münchhauſen.


Mein Geiſt hat die Eigenheit, erwiederte dieſer,
daß er, wie ein Räderwerk, ſofort ſtill ſteht, wenn
auch nur ein Zahn, nur ein Federchen gebrochen wird.
Alles, was den Vorfällen in der Wachtſtube zu
Caſſel folgte, die ganze Ideenverbindung zwi-
ſchen dieſen Ereigniſſen und meines Ahnherrn
Worte der Wahrheit, von welchem ich ausging, iſt
nun für immer verloren und bleibt Ihnen auf
ewig verhüllt; das Einzige, was ich zuſagen kann,
beſteht darin, daß ich die Geſchichte von den ſechs
verbundenen Zöpfen zu Ende erzähle. Dann muß
ich, wenn Sie mich noch weiter hören mögen, auf
andre Materien übergehen.


Der alte Baron rückte ihm freundlich näher,
und flüſterte ihm ſchmeichelnd ins Ohr: Und
bei dieſen Materien haltet Ihr Euch mehr an der
Stange, nicht wahr, trauteſtes Münchhauſenchen? Ich
bitte Euch nicht der Sache halber darum, die iſt
gewiß ſo am beſten verſorgt, wie Ihr ſie gegriffen habt;
es iſt nur wegen unſrer ſchwachen Fähigkeiten, zu
[40] denen Ihr Euch herablaſſen müßt, wenn wir durch
Euch aufgeklärt werden ſollen.


Ich will alles Fernere herunter erzählen,
trocken wie die Zeitung, erwiederte der Freiherr.
Uebrigens kann ich verſichern, daß ich mich nach
den beſten jetztlebenden Muſtern gebildet habe,
und meine Darſtellung ſo einrichtete, wie die
Autoren, welche das Zeitalter und die Nation
gegenwärtig entflammen und hinreißen, es mich
gelehrt haben.


[41]

Vierzehntes Capitel.
Die angefangene hiſtoriſche Novelle
kommt glücklich, wenn auch auf uner-
wartete Weiſe zu Ende
.


Nach der Erzählung der ſechs Gebrüder Piep-
meyer entſtand, wie ich ſagte, in der Wachtſtube
zu Caſſel ein großer Streit. Einige Heſſen woll-
ten die Wahrheit derſelben bezweifeln, und mein-
ten, daß Niemand bei lebendigem Leibe umgehn
könne. Ein Skeptiker aus Witzenhauſen ſagte, kein
Geiſt rauche Taback, und noch viel weniger bleibe
von ſeiner Pfeife Aſche nach, das Ganze ſei daher
eine „Einbildungskraft“ der Gebrüder Piepmeyer,
wie er ſich ausdrückte.


Dagegen ſagten vier Gardiſten aus Schaumburg,
mit Potentaten verhielte es ſich anders, als wie
mit Particuliers, die hätten etwas voraus, ſie
könnten überall und doch nirgends ſeyn. Zwei
[42] Ziegenhainer riefen: Wenn er da war und ſich
verluſtiren wollte, ſo that er rauchen, und wenn
er rauchen that, ſo that Rauch und Aſche darnach
kommen. Einer aus Hofgeismar drehte dieſe Sätze
um, und folgerte alſo: Weil Piepmeyers Aſche finden
thaten, ſo hat er rauchen gethan, und weil er rauchen
gethan hat, ſo hat er auf der Löwenburg ſeyn gethan.


Es nahmen immer mehrere Wachtmannſchaf-
ten an dieſen Debatten Theil, und der Lärmen
wuchs von Minute zu Minute. Da rief der
commandirende Fähnrich, ein junger Herr von
Zinzerling, aus einer der erſten Familien des Lan-
des, mit ſeiner hohen Discantſtimme in das Ge-
töſe hinein: Ihr Sacramenter, in dreier Teufel
Namen, raiſonnirt nicht weiter! — Jede Unter-
ſuchung hörte demnächſt auf, und alle Wachtmann-
ſchaften enthielten ſich aus Subordination ſelbſt
der ſtillen Gedanken über den Gegenſtand.


Die Nacht hatte inzwiſchen den erſten Strah-
len des Frühlichts Raum gegeben, welche den
Ofen und die Bänke der Wachtſtube mit gelbröth-
lichen Streifen ſäumten. Unvergleichlich war die
Wirkung eines ſcharfen Schlaglichtes am oberen
Zinnrande eines Bierkrugs, von welchem ein ſelt-
[43] ſamer, aber verſtandner Reflex den Knopf des
Feldwebelſtocks traf, welcher darüber am dritten
Haken hing. Ueberall tiefe, ſatte Farbentone, klare,
durchſichtige Schatten! Die Wachtſtube ſchien keine
wirkliche Wachtſtube zu ſeyn, ſie war heute mehr,
ſie war eine gemalte.


Was Piepmeyers betrifft, ſo hatten ſie ihre
Poſtenſtunden abgeſtanden, ſie durften ſich nun
einem kurzen Schlafe überlaſſen. Ruhig lagen ſie
neben einander auf der Pritſche und ſchnarchten.
Hinter der Pritſche hingen ihre ſechs Zöpfe ein-
trächtig herunter, damit der Wachtfriſeur dieſelben
auch während ihres Schlummers neu einflechten
könne.


Um dieſe Zeit ereignete ſich folgende wunder-
würdige Begebenheit. Nämlich der Wachtfriſeur
Iſidor Hirſewenzel trat in die Wachtſtube.


Darin ſehe ich denn eben kein großes Wunder!
fuhr der alte Baron unwillkührlich heraus.


Alles in der Natur und in der Geſchichte hängt
zuſammen, ſagte der Freiherr mit Würde. Man
höre mich ohne Unterbrechung an, das Wunder
folgt dem Kurheſſiſchen Wachtfriſeur Iſidor Hirſe-
wenzel auf der Ferſe.


[44]

Dieſer Iſidor iſt doch nicht … ſagte das Fräu-
lein ſchüchtern.


Der nämliche Hirſewenzel, welcher ſeither die
deutſche Bühne mit einer ſo unermeßlichen Anzahl
von Stücken bedacht hat, verſetzte der Freiherr. Unſer
Mann und Held, aus einem guten aber herabgekom-
menen Geſchlechte in Olgendorf, einem Flecken in
der Nähe der Lüneburger Haide entſproſſen, hat
einen ſonderbaren Lebenslauf gehabt. Dramatiker
wurde er erſt ſpät; von der Natur war er durch-
aus zum Lederhändler beſtimmt. Der erſte Laut,
den ſein kindlicher Mund von ſich gab, klang wie:
Leder! Kein Spielzeug von Holz oder Blech ver-
gnügte den heranwachſenden Knaben, die muntre
braun und gelbbemalte Erbſenflinte war ihm ein
Gräuel, mit Abſcheu ſtieß er das gefällig conſtruirte
grüne Nürnberger Wägelchen, das ſchuldloſe Weih-
nachtsſchaaf mit den ſinnigen rothen Lackaugen
zurück, dagegen begannen ſeine Blicke zu leuchten,
wenn er der Peitſche anſichtig wurde, und der
fünfgeflochtenen Schnur, wenn er das Leder-über-
zogene Hottpferd beſteigen durfte, wenn man ihm
die kleine Scherzpatrontaſche umhing. Später war
er oft halbe Tage lang aus der väterlichen Woh-
[45] nung verſchwunden, und wo fand man ihn wie-
der? In irgend einer der Gerbereien, welche dem
Städtchen die Hauptnahrung gaben. Ja, einmal
war er, kecken Jugendmuthes voll, ſelbſt in eine
Lohgrube geſprungen, um zu verſuchen, ob er nicht
noch lebend ſeine Haut in den ſo heiß verehrten
Zuſtand bringen möchte; leider zog man ihn zu
früh heraus, als die Ledrification erſt halb vor
ſich gegangen war. Unentwickelt blieb demnach der
höhere Zuſtand ſeiner Bedeckungen, indeſſen woll-
ten die Kundigen verſichern, er habe nach jenem Ver-
ſuche denn doch immerdar ein dickes Fell behalten.


O Ihr Väter und Erzieher, die Ihr die hei-
lige Aufgabe habt, die Keime der Euch anvertrau-
ten Pflanzen in die Blüthe zu fordern, hieher
tretet, und lernt an einem furchtbaren Beiſpiele
vor den Folgen ſchaudern, wenn Ihr die Stimme
der Natur mißachtet, und die Gerte, welche rechts
hinaus wachſen will, links hinüber zwingt. Nicht
allein macht Ihr den Baum zum brandigen Krüppel,
nein! er wird auch ſeine Nebenſtämme anſtecken,
das Ungeziefer, welches die krankende Krone aus-
brütet, wird die Verwüſtung viel weiter tragen,
als Ihr ahnen und berechnen könnt!


[46]

Iſidor Hirſewenzel von Olgendorf hätte für
Deutſchland ein Lederhändler werden können, wie
wir ihn noch nicht beſeſſen haben. Möglich, daß
in der Tiefe ſeiner Seele Gedanken ſchlummerten,
wodurch der Dampf vom Throne des neunzehnten
Jahrhunderts geſtoßen, und die gegerbte Haut
zur Weltbeherrſcherin erhoben worden wäre! Aber
der Vater verſtand den Sohn nicht. Er verſtand
nicht die zukunftſchwangern Regungen des Geiſtes,
der über Bälgen, über Alaun und Lohbereitung,
über Sämiſch- und Kalkgerberei erfindungengebä-
rend brütete. Du biſt ein Narr, Dorus, ſagte
der harte Vater zu ihm, Leder kann aus der Mode
kommen, die Menſchenliebe iſt ſo hoch geſtiegen,
daß ſie ſich unverſehens auf das Vieh werfen kann;
woher aber ſoll Leder kommen, wenn jeder Hund
und Ochs unſer Bruder, jedes Schaf unſre Schwe-
ſter wird, und wir des verwandtſchaftlichen Lebens
ſchonen? Du alſo wirſt das werden, mein Sohn,
wozu ich dich beſtimmt habe.


Iſidor weinte, verzweifelte, aber ſeine Thränen
und Seufzer verfingen gegen den eiſenfeſten Vater
nichts; Iſidor mußte Perückenmacher werden. Das
heißt: Vor der Welt wurde er ſimpler Friſeur
[47] in der Stille aber errichtete er zu ſeiner Tröſtung,
um ſeinem Triebe zum Compacten zu folgen, um
ſich durch das zerſtreute Haar, durch die charakter-
ſchwache Pomade, durch den geſinnungsloſen Puder
dem Zaͤhen, Ledernen wenigſtens anzunähern, jene
wunderbaren Haargebilde, welche die Welt längſt
über Schwedenkopf und Naturſcheitel vergeſſen zu
haben ſchien.


Ich will kurz ſeyn. So wie der alte Heſſen-
fürſt zurückgekeyrt war, entſtand über ſeinen Wunſch,
oder vielmehr Befehl, die größte Verlegenheit.
Die Novella I. de capillis pudrandis zopfi-
ficandisque
war erlaſſen, aber es ging mit dieſer,
wie mit ſo mancher Inſtitution, ſie hatte ihr Da-
ſeyn vorläufig nur auf dem Papiere, und das
war die Hauptfrage: Konnte der Zopf eine Wahr-
heit werden? Denn man wußte Niemand, der
jene Haarformationen der Urwelt noch zu bereiten
verſtand. Der alte Herr beſaß zwar ſeinen in
dieſen Dingen ergrauten Künſtler, allein es wider-
ſprach der Rangordnung und Etiquette durch-
aus, daß dieſelbe Hand, welche um die Majeſtät
beſchäftigt war, ſich gemeinen Köpfen widmen
ſolle.


[48]

In dieſer Noth und Bedrängniß ſprang unſer
Meiſter aus ſeinem Puderdunſte, wie Aeneas aus
der Wolke. Er verſtand zu friſiren, Toupé’s ein-
zuſalben und aufzuſteifen, Zöpfe von allen Längen-
und Dickenmaaßen zu flechten. Er wurde präſen-
tirt, tentirt, approbirt, placirt. Der Staat konnte
hiemit für organiſirt erachtet werden.


Nun alſo, dieſer Mann betrat die Wachtſtube
… ſagte das Fräulein, welche bei aller Begeiſte-
rung für den Erzähler ſich doch nach einem raſche-
ren Fortſchritte der Geſchichte ſehnte.


Noch nicht, meine Gnädige, verſetzte Münch-
hauſen kalt, ſo weit ſind wir noch nicht. Die
hiſtoriſche Darſtellung erheiſcht langſame Entfal-
tung; auf den Landſtraßen ſind Eilwagen einge-
führt, aber, Sie wiſſen es ja ſelbſt, unſre Roman-
ciers fahren in ihren Geſchichten noch mit der
Sächſiſchen gelben Kutſche, welche ſich ehemals zwi-
ſchen Leipzig und Dresden bewegte, und zur Vol-
lendung dieſer Reiſe drei Tage gebrauchte, vor-
ausgeſetzt nämlich, daß der Weg gut war.


In unſrem Iſidor war während ſeiner Lehrjahre
eine große pſychiſche Revolution vorgegangen. Man
ſah ihn einſam durch die Wälder ſtreifen, er floh
[49] der Brüder wilde Reihn, aber ach! das Schönſte
ſuchte er nicht auf den Fluren, womit er ſeine
Liebe ſchmückt’! Die Liebe erſtarb in dieſem Buſen,
eine ſiniſtre Falte des Unmuths lagerte ſich auf
der denkenden Stirn, Entſchlüſſe reiften in ihm,
die zum Schrecken des Geſchlechts finſtre Thaten
wurden. Haarſcheerer durch Beſtimmung, dem in-
neren Berufe nach Lederhändler, Perückenmacher
aus Reſignation, wurde er Tragiker aus Menſchen-
haß, dem leider die Reue bis jetzt nicht gefolgt
iſt. Ja, meine Freunde, alle jene Trauerſpiele,
worin entweder der Held die Stiefeln ſeines Bru-
ders zu putzen hat, die Geliebte aber ihn auf jene
Welt vertröſtet, in welcher er nicht mehr nach
Wichſe riechen wird, oder worin der Landrath
Friedrich Barbaroſſa ſeine Dienſtleiden erzählt, der
Steuerexecutor Heinrich der Sechſte ſich mit Bei-
treibung der Gefälle-Reſte plagt, oder der biedre,
aufgeklärte Paſtor Friedrich der Zweite aus Giels-
dorf wegen Rationalismus verdammte Scherereien
mit dem Lyoner Conſiſtorium hat, die ſtuhlſetzen-
den Kämmerlinge jedoch, alſo die Abräumer, eigent-
lich die einzigen handelnden Perſonen ſind, ja meine
Freunde, alles das, und o Gott! wie unendlich
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 4
[50] viel mehr hat nur die Miſanthropie Hirſewenzels
geboren. Wir wären damit verſchont geblieben,
wenn er ſeinem wahren Berufe hätte folgen dürfen.


Könnte man denn nicht noch jetzt dem Fort-
ſchritte des Unheils Einhalt thun? fragte das
Fräulein, ſonderbar verlegen.


O, meine Gnädige! rief Münchhauſen begeiſtert;
es bleibt doch ewig wahr, das Wort unſres
Schiller: Was kein Verſtand der Verſtändigen
ſieht, das über in Einfalt ein kindlich Gemüth!
Sie haben da in Ihrer Einfalt einen großen Ge-
danken gefunden. Ja, wir wollen, da gegenwärtig
auf ſo Vieles ſubſcribirt wird, eine Subſcription
durch ganz Deutſchland eröffnen, zu dem Ende-
mit vereinten Nationalkräften für Hirſewenzel eine
Gerberei in Schleſien unter den Waſſerpolacken
anzupachten, ihm ſo einen heitern Abend des Le-
bens zu ſchaffen, die Bühne aber von ihm zu be-
frein. Ich bin überzeugt, ſelbſt unſre Fürſten,
denen ja Poeſie und Literatur ſo ſehr am Herzen
liegen, geben etwas dazu, einen Gulden oder einen
Thaler, je nachdem ſie über Gulden- oder Tha-
lerland herrſchen. Doch für jetzt nur weiter in
meinem Texte.


[51]

Als in Iſidor der Gedanke an ſein verfehltes
Daſeyn einmal recht zum Durchbruch gekommen
war, da rief er aus: Weil Ihr mich im Leben
nicht habt zum Leder kommen laſſen, ſo will
ich Euch, da ich Euch leider nicht an’s Leben
ſelbſt kommen kann, wenigſtens das Bild des Le-
bens, die Bühne ruiniren.


........ Die Welt

Iſt noch auf einen Abend mein. Ich will

Ihn nützen, dieſen Abend, daß nach mir

Kein Pflanzer mehr in zehen Menſchenaltern

Auf dieſer Brandſtatt ernten ſoll.

Meine Vorgänger im Geſchäft, Iffland und
Kotzebue, machten die Miſere zu Helden; ich will
die Sache umkehren, und Helden zu miſerabeln
Perſonen machen. Müllner wirkte durch Schuld
und Blut, Houwald durch alte Camillen und
Bilder, die an den Galgen gehören, ich will durch
Langeweile wirken. Ich will die Langeweile zur
dramatiſchen Dynamis erheben, der Sandmann in
den Augen der Helden ſoll meine Kataſtrophen
bewirken. Meine Helden ſollen lieber ſterben, oder
ſonſt ein Unglück erleben, als daß ſie noch länger
meine Redensarten abhaspeln. Ich will Euch ein
Stück ſchreiben, Namens König Enzian, ein Stück,
4*
[52] deſſen Perſpective nicht der Stern der Hoffnung
über dem Grabe, nicht die Nacht des Tartarus
unter den Füßen des hinſinkenden Frevlers, nicht
die reinliche Entſagung der Wüſte oder des Klo-
ſters ſeyn ſoll, ſondern eine Chambre garnie im
Felſen bei Zwielicht, oben mit einem Deckel ver-
ſehen, worin der gähnende Miethsmann mit ſeiner
gähnenden Geliebten bei hinlänglichem Eſſen und
Trinken nichts zu thun hat, als Kinder zeugen,
die bei der Geburt, anſtatt zu ſchrein, auch ſchon
gähnen. Wahrlich, wahrlich, ich ſage Euch, es
wird eine Krankheit über unſern Welttheil herauf-
ziehn, geheißen die Cholera. Hin und her werden
die Aerzte rathen, woher das Miasma gekommen,
welches die Seuche fortleitete, und man ſoll nicht
errathen, daß es aus der Grube aufſtieg, in welche
ich den König Enzian verſpündete. Wehe über
dich Sand-Jeruſalem, die du die Juden begünſtigeſt,
und kreuzigeſt immerdar die Propheten; du ſollſt
zweimal die Cholera kriegen, weil du meinen En-
zian ſo oft wirſt haben ſpielen laſſen! Ich will
Einundzwanzigmillionen dreihundertauſend und einen
halben Vers, folglich einen halben Vers mehr
machen als Lope de Vega; Alle ſollen parallel
[53] neben einander herlaufen, wie die Lombardiſchen
Pappeln zu beiden Seiten der Chauſſee von Halle
nach Magdeburg, und dieſes Wunder ſoll nur von
dem Wunder der Kühnheit übertroffen werden,
womit ich verſichern will, daß ich nie einen un-
ſchönen Vers verfertiget habe. Nicht durch Fehler
und Ausſchweifungen will ich die Bretter reizen;
nein, ich will das Theater nivelliren, entnerven
und abmergeln. Es ſoll aus meiner Feder Nichts
kommen, was ſelbſt der Cenſur von China ver-
dächtig werden könnte, ich will ein völlig etats-
mäßiger Poet werden, gleichwohl aber will ich von
mir behaupten, ich ſei durch große Geſchichtsepochen,
die von keinem Etat etwas wußten, zu Thränen
der Rührung hingeriſſen worden, denn Klingeln
gehört zum Handwerk. Wahrlich, wahrlich, ich
ſage Euch, es wird die Zeit kommen, da die
Schauſpieler meine Rollen im Schlaf abſpielen,
das Auditorium ſchläft, und der Kritiker Gottſched
am folgenden Tage während ſeines Nachmittags-
ſchläfchens eine Recenſion in die velinpapiernen
Blätter ſtiftet, worin er ſagt, das neuſte geniale
Werk aus meiner unermüdlichen Feder habe das
Publicum zum Enthuſiasmus hingeriſſen. Mit
[54]einem Worte: Ich will Ich ſeyn, und nur mir
ſelber gleich!


Wie Iſidor Wort gehalten hat, das wiſſen die
blaſirten Hofräthe, Juſtizräthe, Geheimen-Secre-
tarien und Papierjuden von Sand-Jeruſalem, aus
welchen gegenwärtig das dortige Theaterpublicum
allein noch beſteht. Kein Mädchen ſchleicht ſich
mit einem Bande ſeiner dramatiſchen Werke „ernſter
oder komiſcher Gattung“ (ich weiß nicht, warum
er den bezeichnenden Ausdruck: Sorte, verſchmäht
hat?) frühmorgens oder gegen Abend in die duf-
tende Fliederlaube hinten im Garten, wo das
gelbe Naſturtium blüht, und der Convolvulus auf
ſeinen Ranken den Falter wiegt und den goldgrün-
glänzenden Käfer, und lieſ’t ſich an ſeinen Sachen
heimlich-glühend in die Bekanntſchaft mit ihrem
pochenden Herzchen hinein; kein Student, der dro-
ben auf dem Weinberge am Fluſſe von ſeinem
Jugendbruder Abſchied nimmt, und mit ihm das
Stammbuchblatt wechſelt, ſchreibt einen Vers von
Iſidor hinein, keinen Künſtler haben ſeine ſogenann-
ten Geſtalten zu einem Bilde entzündet. Wer um
ſechs Uhr Abends noch eine Spur von Stimmung
in ſeiner Seele fühlt, ja, wer auch nur die Aus-
[55] ſicht auf einen Robber Whiſt hat, der meidet das
Haus, worin Iſidor ſeine dramatiſche Suppenanſtalt
für Arme errichtet hat, und den Gottſched befrie-
digt, und die Blaſirten von Jeruſalem abfüttert.
Es iſt ihm gelungen, ſeine dämoniſche Drohung
in Erfüllung zu ſetzen. Ja, ſie dreſchen nunmehr
das dreimal gedroſchne leere Stroh und worfeln
die Spreu, die nicht einmal der Gaſtwirth Angely
ſeinen vierfüßigen Gäſten vorgeſetzt hätte. Die
Bühne kam nach dem etwas derben Ausdrucke der
Jugend durch Iſidor auf den Hund. Er, er
hat es verſtanden, wie man die Deutſchen be-
handeln ſoll. Denn nicht durch Blitze des Genius
iſt dieſe ſogenannte Nation zu entzünden — wie
kann man naſſe Wolle in Brand ſtecken? — ſondern
man muß immerfort daſſelbe thun, es mag aus-
fallen, wie es will; dann ſagen ſie: Der muß es
doch verſtehn. Es iſt ihnen überhaupt nur daran
gelegen, daß das Inventarium in allen literariſchen
Wirthſchaftsrubriken vollſtändig ſei; denn ſie ſind
gute Haushälter. Sie würden, wenn Hirſewenzel
ſich nicht gefunden hätte, auch einen zweiten Cro-
negk, oder Gellert oder Weiße wieder aufgenom-
men haben. Iſidor, hundertmal Abends kritiſch
[56] todtgeſchlagen, feierte am andern Morgen ſeine
Auferſtehung mit drei neuen mittelmäßigen Stücken,
die wie ein Echo die ihm vorgerückten Albernhei-
ten wiederholten. Die Leute aber ſagten: Der
verſteht es, ſo muß man es machen. Selbſt der
Heroismus erlahmte endlich an dieſer Beharrlich-
keit der Induſtrie; man ließ die Fabrik zuletzt
ſpulen und ſchnurren, ohne ferner Eingriffe in ihre
thranduftigen Räder zu verſuchen. — Aber in die
Walhalla kommt er doch nicht, wenn ſie fertig
wird und ihre Beſtimmung behält, und nicht mit
der Zeit vielleicht in ein Bräuhaus verwandelt
wird. Der Graf von Platen kommt hinein, und
der gehört auch hinein, trotz aller ſeiner Thorheiten
und Mißgriffe, aber Hirſewenzel kommt nicht hin-
ein und ſchriebe er auch noch Einundzwanzigmil-
lionen Verſe mehr. Doch iſt es freilich noch un-
gewiß, ob er überhaupt ſterben, und ob nicht
vielmehr der Tod jedesmal einnicken wird, ſo oft
er ihn ſieht.


Nun, Gott beßre das deutſche Theater!


Melpomene ſitzt, von der Scene verſcheucht,
unten im Keller, da wo die Arbeitsleute an den
Verſenkungen und Verwandlungen handthieren, der
[57] Dolch iſt ihrer entkräfteten Hand entfallen und
roſtet im Moder, im Moder liegt die Maske, welche
die gemeinen menſchlichen Züge verſchönernd be-
decken ſoll; Schimmel überzieht dieſelbe, und Einer
der Theaterarbeiter hat ihr die Naſe platt getreten.
Droben aber über ihrem Haupte, auf dem Po-
dium, ſcharrwerkt der lärmende Emporkömmling
mit ſeinen breitgerührten und doch hölzern geblie-
benen Jamben. Ach, die Arme! Nicht einmal
weinen kann ſie mehr. Iſidor hat ſie mit dem
Stockſchnupfen angeſteckt, und verlangt nun grauſam
ſpottend von ihr, ſie ſolle Macuba ſchnupfen lernen,
dadurch helfe er ſich in allen Nöthen.


Das Alles iſt weltbekannt. Nicht ſo bekannt
iſt aber der Umſtand, daß der Tragöde alle die
Stücke, die ſeitdem wie ein nie verſiegender Spü-
licht zwiſchen den Couliſſen hervorgebrodelt ſind,
bereits während ſeiner Beſchäftigung mit Zöpfen
und Friſuren in müßigen Nebenſtunden verfertigte.
Ja, meine Freunde, er hat ſie ſämmtlich auf den
Vorrath gearbeitet; die Manuſcripte lagen in ſeinem
Haaratellier geordnet zwiſchen den übrigen Fabri-
caten und Sachen, ungefähr ſo: Ein Zopf; die
Erdennacht, eine Perücke; Genoveva, Pomade;
[58] Rafaële, der Puderbeutel; die Schule des Lebens,
und ſo weiter. Daher es ihm leicht war, her-
nachmals den Markt von Sand-Jeruſalem mit
ſeiner Waare zu überführen.


Doch meine Farben reichen bei dieſem Bilde
nicht aus und mein Pinſel iſt zu ſtumpf; ich fühle
das wohl. Solche tiefſinnige aeſthetiſch-poetiſche
Seelenentwickelungsgemälde abzuwickeln, daß ſie
Jedem ſo klar werden, wie baumwollnes Garn,
müßte ich Hotho ſeyn, der in den „Vorſtudien des
Lebens und der Kunſt“ an ſeiner eignen Geſchichte
„aufgewieſen“ hat, daß man den Don Ramiro
ſchreiben, an den aeſthetiſchen Artikeln der Jahr-
bücher für wiſſenſchaftliche Kritik, herausgegeben
von der Societät für wiſſenſchaftliche Kritik, mit-
arbeiten, und dennoch ſich wichtig vorkommen kann.


Man ſang vor Zeiten, als Don Ramiro
zur Welt gebracht wurde:


Don Ramiro, Don Ramiro!

Langes Leben ſpinn’ dir Clotho;

Rühmen werden dich die Weiſen,

Und dich leſen wird Herr Hotho.

Ich ahme dieſem Volksliede nach und ſinge:


[59]
Don Ramiro, Grand zu Hotho,

Du allein, du könnteſt ſchildern

Hirſewenzels trag’ſches Werden

Dir gemäß mit Hegels Bildern.

Iſidor näherte ſich den ſechs Gebrüdern Piep-
meyer mit Kamm und Nadel bewaffnet. Er kniete
nieder, löſete die Bänder, welche die ſechs Haar-
wüchſe feſſelten, ſo daß ſie in ſechs Fluthen von
ſechs Nacken herniederwallten, und nachdem er
mit ſeinem Geräthe in dieſem Sechsgelock Ordnung
geſtiftet hatte, ging er daran, zu ſtrählen und
zu flechten.


In dieſem Augenblicke empfing er in ſeiner
melancholiſch-humoriſtiſchen Weltanſchauung die
Geſtalt des Till.


Sie erinnern ſich gewiß dieſer wunderſamen
Figur, mit welcher unſer damaliger Wachtfriſeur,
nunmehriger Dichter, ſo vielen genialen Spaß aus-
zurichten ſich bemüht hat. Meiſtens hat der Till
es mit einem Barbierer, Namens Schelle, er ver-
ſchmäht aber auch Räthinnen und Polizeidirectoren
nicht, nein! es iſt zum Todtlachen, was für
Späße der Till angiebt, der durchtriebne Vogel,
[60] der Till … und wenn ich an den Till denke, und
an Till und Schelle, und Schelle und Till …
und an Tell und Schille … und an alle die
Späße von dem Till, ſo — — ſo — —


Der Freiherr brach bei der lebhaften Erinne-
rung an Tills Späße in ein convulſiviſches Lachen
aus, welches ſo klang, als wenn hölzerne Klötz-
chen in einer Büchſe von Blech hin und herge-
ſchüttelt werden. Der alte Baron klopfte ihm
den Nacken, Münchhauſen erholte ſich wieder und
fuhr fort:


… ſo kann ich nur bedauern, daß die „Meer-
rettiche,“ die der Dichter auch in ſechs Paar Tri-
logien auf ſeinem Krautfelde ziehen wollte, nicht fertig
geworden ſind. Doch vielleicht kommen ſie noch nach,
denn bei Hirſewenzel iſt nichts unmöglich. Bis nun
der Meerrettich zum Rindfleiſch abgeſotten ſeyn wird,
müſſen wir uns mit dem Till behelfen, dem ich
wohl eine Peterſilie wünſchen möchte, das gäbe
eine Mariage von Küchenkräutern, worüber jeder
Köchin das Herz im Leibe poppern würde.


Ich habe immer, wenn ich die Tille ſah, an
einen Menſchen denken müſſen, den ich einmal in einem
Dorfe zwiſchen Jüterbogk und Treuenbrietzen, mich
[61] dünkt, es hieß Knippelsdorf, oder ſo ungefähr,
kennen lernte. Die Gegend um Knippelsdorf iſt
etwas unfruchtbar, nur bei großen Ueberſchwem-
mungen werden die Felder grün, dann giebt es
große Feſtlichkeiten, wobei ſich die Leute in Grütze
ſatt eſſen. Aber hübſche Kiefern haben ſie da,
und Windhafer, ſo viel ihr Herz begehrt. Die
Achſe war mir am Wagen gebrochen; ich mußte
ein Paar Stunden im Kruge ſitzen, bis der
Stellmacher ſie, nämlich die Achſe, reparirt hatte.
Dieſer Aufenthalt zeigte mir „Knippelsdorfer Zu-
ſtände.“ Es war Neun Uhr Morgens, und ein
ſchöner heißer Julius, indeſſen ſchien der Tag
durch die runden Fenſter der Krugſtube nicht
abſonderlich hell, ſie waren gar zu verſchmaucht.
In der Stube gingen die Hühner ſpazieren, unei-
gennützig, denn zu eſſen gab es da nichts, wie ich
erfuhr, als ich nachfragte. Zu trinken konnte ich
bekommen, wenn ich bis zum folgenden Tage blei-
ben wollte, da würden ſie Dünnbier von Zahne
holen, ſagten ſie. Es roch abſcheulich in der
Stube, aber auf Reinlichkeit hielten ſie doch, denn
eine Magd im Negligè mit fliegendem Haar wiſchte
gehörig den langen Tiſch ab, und nachher mit
[62] demſelben Tuche die irdenen Teller. Eine Anzahl
von Fliegen ſummte in der Stube, und die ſchlug
ein höhniſcher, blaſſer, verdroſſen-ſchläfriger Menſch
todt, derſelbe eben, an den ich mich nachmals
immer bei den Tillen erinnerte. Er trug eine
Nachtmütze ſchief über’m Ohr, den thönernen Stum-
mel hatte er im Munde, in herabgetretnen Pan-
toffeln ſchlorrte er auf und nieder. So oft er
eine Fliege mit der Klatſche erlegt hatte, verzog
er die ſchlaffen Lippen zu einem unangenehmen
Lächeln und machte einen Spaß über die todte
Fliege. Man konnte ſich darauf verlaſſen, auf
jede todte Fliege kam ein Spaß; ich habe ſie
aber ſämmtlich vergeſſen. Die Magd lachte nicht
darüber, ich konnte auch nicht darüber lachen.
Sie ſagte mir, als ich mich nach ihm erkundigte,
er ſei der jüngere Bruder des Krugwirthes und
habe nicht gut thun wollen, deßhalb müſſe er
jetzt das Gnadenbrod eſſen. Seine einzige Beſchäf-
tigung ſei, ſich über die Fliegen aufzuhalten, die
er todtgeſchlagen habe.


Der Till alſo ging dem Hirſewenzel, wie
geſagt, auf, als er die ſechs Zöpfe der Gebrüder
Piepmeyer einflechten wollte. Halt, dachte er, hier
[63] kannſt du ſofort für dieſen komiſchen Heros die
Studien nach dem Leben machen. Laß uns eine
Verwickelung bilden, die an grenzenloſer Luſtigkeit
und kühner Laune Alles hinter ſich läßt, was Sha-
kespeare, Holberg und Moliere erſonnen haben.
Ich werde die Zöpfe der Piepmeyers unentwirrbar
zuſammenflechten, und wenn ſie dann aufſtehn, und
nicht von einander können, und bei dem Ziehen
und Zerren unter Schmerzen Geſichter ſchneiden,
o welche Fülle von komiſchen Anſchauungen werde
ich dann haben, ich ſehe ſchon ganze Dutzende
von Tilliaden fertig. Geſagt, gethan; er flocht
Peter mit Romeo, Romeo mit Chriſtian, Chriſtian
mit Guido, Guido mit Ferdinand, Ferdinand
mit Heinrich, Heinrich mit Karl zuſammen, ſo
daß vier Piepmeyers, ein Jeder doppelſeitig, linker
und rechter Flügel aber einſeitig gefeſſelt waren.
Als Iſidor ſein Werk vollbracht hatte, ſteckte er
ſich hinter den Wachtofen, um die Wirkung dieſer
Intrigue zu beobachten.


Ruhig ſchliefen die Opfer Hirſewenzelſcher Ko-
mik, träumten von Brod und Fleiſch und doppel-
tem Tractament und hatten kein Arg. Als nun
der Tag höher zu ſteigen begann, und die Strah-
[64] len der Sonne den Ordensſtern an der Bildſäule
Landgraf Friedrichs des Zweiten auf dem Platze
vor dem Schloſſe vergoldeten, mit einem Worte,
als es Sechs geſchlagen hatte, trat der Feldwebel
zu der Piepmeyerſchen Pritſchabtheilung, um die
Farbenſtriche über den Naſen der Brüder aus
ſeinem Vorrathe zu erneuen, denn die ganze
Strenge des Dienſtes ſollte nun bald wieder
beginnen. Als er indeſſen einen Blick über die
Pritſche hinaus in ihr Jenſeits that, und die ſelt-
ſame Verflechtung der brüderlichen Hinterhaupt-
haare wahrnahm, da entſank ihm vor Erſtaunen
der aufgehobene Malerpinſel und er ſtarrte die
Erſcheinung einige Secunden lang lautlos an.
In der That war dieſe auch verwunderlich genug
anzuſchaun; Piepmeyers ſahen von hinten aus wie
ein Kurheſſiſcher Garderattenkönig.


Indeſſen kommt ein Feldwebel immer bald
wieder zu ſich ſelber. Auch der unſrige gewann
nach kurzer Rathloſigkeit ſeine ganze Faſſung ſich
zurück, und fuhr die Verbündeten mit den wackern
Worten an: Kerls! Euch ſoll ja ein Kreuzſtern-
ſchockmillion-Donnerwetter ſechstauſend Klafter tief
unter den Winterkaſten in die Erde ſchlagen!


[65]

Von dieſem biedern Zurufe des tüchtigen
Manns fuhren Piepmeyers gleichzeitig aus dem
Schlummer auf, und wollten ſich gleichzeitig erhe-
ben. Da ihnen aber dies Schmerzen verurſachte,
ſo ſanken ſie zurück, taſteten gleichzeitig nach ihren
Zöpfen, entdeckten die Urſache der Schmerzen und
ſagten gleichzeitig wie aus einem Munde, kalten
Blutes: Herr Feldwebel, es muß ſich, derweil
wir ſchliefen, ein dummer Junge in die Wacht
geſchlichen und einen Jux mit uns verübt haben. —
Auf Ehre, ſo iſt es, ſprach der Fähnrich von
Zinzerling, der herzugetreten war. Feldwebel,
machen Sie den einen Mann los, und der kann
wieder ſeinen Brüdern helfen. Wo bleibt der
Schelm, der Hirſewenzel? —


Der Feldwebel löſ’te Karl Piepmeyer von
Heinrich Piepmeyer ab, Karl trennte demnächſt
Heinrich von Ferdinand, Heinrich ſchied Ferdinand
von Guido, Ferdinand dismembrirte Guido und
Chriſtian, Guido ſetzte Chriſtian mit Romeo aus-
einander, Chriſtian endlich ſtellte den Dualismus
zwiſchen Romeo und Peter her. Nachdem die
ſechs Brüder ſolchergeſtalt wieder in das Fürſich-
ſeyn getreten waren, vollendeten ſie ihre reale
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 5
[66] Exiſtenz durch wechſelſeitige Herſtellung von ſechs
ſchlechthin geſonderten Zopfindividualitäten. Hie-
mit hatte das Ereigniß ſeinen Kreis abſolut mit
Inhalt erfüllt, war der Begriff des Vorfalls zum
Von-Sich-Wiſſen gekommen, oder deutlicher zu
reden, das Ding hatte nun ein Ende. Denn
dem Feldwebel, welcher ſich an den Fähnrich mit
der Frage, ob der Vorfall gemeldet werden ſolle?
wendete, erwiederte von Zinzerling gedankenvoll:
Nein! Wir leben in bewegten Zeiten, und wollen
die Gährung nicht fortleiten. Der dient den
Königen nicht, der ihrem Argwohne dient. Die
Sache bleibt ungemeldet, und ich nehme die Ver-
antwortung auf mich.


Wie Hirſewenzel unbemerkt hinter dem Ofen
entkommen, iſt Wachtgeheimniß geblieben.


[67]

Fuͤnfzehntes Capitel.
Zwei Zuhörer ſind in ihren Erwartungen
ſo getäuſcht, wie die Leſer, der dritte
Zuhörer fühlt ſich dagegen höchſt befrie-
digt. Der Freiherr theilt einige dürftige
Familiennachrichten mit
.


Der Schulmeiſter Ageſilaus hatte ſchon während
des letzten Theils dieſer Erzählung deutliche Zeichen
hergeſtellter Zufriedenheit von ſich gegeben. Ver-
gnügt hatte er ſeine Hände gerieben, ſich auf dem
Stuhle hin und hergewiegt, ein Hm! Hm! Ja!
Ja! So! So! Ei! Ei! dazwiſchen geworfen, und
den Freiherrn mit einer Schalkhaftigkeit angeſehen,
welche eine Schattirung von Tiefſinn durchſchimmern
ließ. Nachdem nun Münchhauſen zu Ende gekom-
men war, ſprang der Schulmeiſter auf, lief zu dem
Erzähler, ſchüttelte ihm die Hand, und rief: Ver-
zeihung, mein hochzuverehrender Gönner, daß ich
die Standesunterſchiede nicht achte, und Ihnen ſo
5*
[68] geradezu mich nähere, aber wie Noth kein Gebot
hat, ſo achtet die Begeiſterung keiner Schranke.
Erlauben Sie mir, Ihnen auszuſprechen, wie mich
Ihre dießmalige Diatribe, in die Form einer
hiſtoriſchen Novelle gegoſſen, erquickt hat. So fah-
ren Sie fort, dann ſind Sie des Dankes aller
Edeln gewiß. Endlich doch einmal Nahrung für
Geiſt und Herz!


Ich verſtehe Sie nicht, verſetzte ernſthaft der
Freiherr.


O! O! O! aber ich verſtehe Sie, mein Hoch-
geſchätzter, rief der Schulmeiſter. Ja, Ja, Erleuch-
teter, das kommt bei den Uebertreibungen heraus!
Das haben wir davon, daß wir Alles auf die
Spitze ſtellen, von Allem und Jeglichem das
Höchſte, Ueberſchwänglichſte begehren! Nicht wahr,
mein Verehrteſter, Sie wollten mit Ihrer anſchein-
lichen Ironie gegen jenen ſo oft verkannten und
angefeindeten Mann ſagen: Seht, zu ſolchen maaß-
loſen Extravaganzen gelangt man, ſo überſpringt
der Spott ſich ſelbſt, ſo fallen die ſtärkſten Hiebe,
wenn Leidenſchaft ſie führt, immer über den zu
Hauenden hinaus in das Leere, und darum lernt
Euch begnügen, Ihr Leute, mit dem Vorhandenen,
[69] geht zwiſchen Haß und Enthuſiasmus die Mittel-
ſtraße, die von den Weiſen aller Zeiten immer
die goldne genannt wurde! Dieſe und ähnliche
Lehren wollten Sie durch Ihren ausſchweifenden
Angriff einſchärfen, wenn ich ſonſt, nicht oberflächlich
an der Oberfläche Ihrer Reden haftend, deren
inneren Sinn richtig aufgefaßt habe.


Auf dieſe Anrede erwartete der Schulmeiſter
etwas Schmeichelhaftes. Der Freiherr ſah ihn
jedoch nur mit weitgeöffneten Augen ſtarr an,
und ſagte nach einem langen Schweigen nichts, als:
Herr Profeſſor, Sie ſollten uns doch auch noch einen
Commentar über den Fauſt ſchreiben. — Dann
wandte er ihm den Rücken und ſuchte die Blicke
des Fräuleins auf, die ihn aber mieden.


Dieſe liebte eigentlich im Stillen den Helden der
Novelle, weßhalb ihr auch der Vorſchlag, ſeiner uner-
ſchrocknen Wirkſamkeit ein Ziel zu ſetzen, nicht vom
Herzen gekommen war. Sie pflegte ſich in ihren erreg-
teſten Stunden ſeine lombardiſchen Chauſſeepappel-
verſe zu ihrer Aufrichtung laut vorzuſagen. Nun hatte
ſie jedoch auch, wie alle Damen, eine unglaubliche
Furcht vor dem Lächerlichen, und da ſie denn doch wäh-
rend Münchhauſen’s Erzählung ſich mit ihrem Lieb-
[70] linge in dieſer Beleuchtung zu einer Gruppe
vereinigt ſah, ſo fühlte ſie ſich in ihrem Bewußt-
ſeyn völlig vernichtet, und rang vergebens nach
einem Anker für ihre rathloſe Seele. Zugleich
aber ängſtigte ſie das Schweigen, welches nach den
Verhandlungen zwiſchen dem Freiherrn und dem
Schulmeiſter in der Geſellſchaft entſtanden war,
und nicht weichen wollte. Denn ihr Vater ſchnitzte,
wie er zu thun pflegte, wenn er gänzlich verſtimmt
war, mit ſeinem Federmeſſer Einkerbungen in den
ſchlechten hölzernen Tiſch, um welchen Alle ſaßen,
und murrte nur halblaut vor ſich hin: Der Schul-
meiſter ſchnappt noch gar über! Es war ja die
pure, blanke Gottes-Satire auf den Hirſeſchwenzel,
oder Schmirſehenzel, oder wie der Menſch ſonſt heißen
mag! Denn Dichterei und Romanenweſen iſt meine
Sache nicht, ſondern Natur- und Völkerkunde.


Der Schulmeiſter aber ſaß ſchweigend und
zornroth da. Er hatte zwar Münchhauſen’s Ant-
wort nicht eben ganz verſtanden, fühlte jedoch, daß
darin ein Stich liegen müſſe. In dieſem Punkte
war nun nicht mit ihm zu ſcherzen, denn ſeine
Eitelkeit war nur ſeiner unbegrenzten Vorliebe für
die Sitten der alten Sparter gleich.


[71]

Wer hat nicht einmal die Laſt ſolcher Wind-
ſtillen in der Geſellſchaft erfahren? Die geſammte
Societät ſitzt wie eine Flotte, die ſich auf dem
unbewegten Meeresſpiegel nicht zu rühren vermag.
Schlaff hangen die Segel herab, verzweiflungsvoll
ſchaun alle Blicke nach ihnen hinauf, ob nicht ein
friſches Lüftchen ſie endlich ſchwellen wolle. Um-
ſonſt! Das iſt, als ob ein Rad in der Schöpfung
gebrochen, und die ganze Maſchine mit Sonne,
Mond und Fixſternen in Stockung gerathen ſei.
So ſucht eine in Windſtille verſetzte Geſellſchaft
auch verzweiflungsvoll nach einem Gedanken, nach
einer Vorſtellung, ja nur nach einer Redensart,
um ſie in die Segel der Converſation zu hauchen;
vergebens! Nichts will über die Lippen, Nichts
hörbaren Laut gewinnen. Der Mythus ſagt, in
ſolchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer,
aber nach der Länge derartiger Pauſen zu urtheilen,
müſſen zuweilen auch Engel dieſe Flugübungen
anſtellen, deren Gefieder aus der Uebung gekommen
iſt. Endlich pflegt Einer ſich zum Opfer für das
Gemeinweſen darzubringen, er fährt mit einer un-
geheuren Dummheit heraus, und damit iſt der
Zauber gelöſet, das Band der Zungen entfeſſelt;
[72] die Ruder klatſchen, die Segel ſauſen, der Kiel
ſchwirrt luſtig durch das Meer von Kunſt, Stadt-
neuigkeiten, Politik, Krankheits- und Geſundheits-
umſtänden, Religion und Carnevalsbällen.


Nachdem das Schweigen in der Geſellſchaft, von
welcher hier die Rede iſt, etliche Minuten gedauert
hatte, und die verſchiednen Affecte der Schweigen-
den in die heiße Sehnſucht, ein menſchliches Wort
zu vernehmen, übergegangen waren, ſagte das Fräu-
lein zu Münchhauſen plötzlich, wie von einem
guten Geiſte erleuchtet: Es pflegt doch immer im
Sommer ſchöneres Wetter zu ſeyn, als im Winter.


Nach dieſer Exploſion athmeten Alle frei auf
und fühlten ſich von dem Zauber erlöſet, der
über ihnen gelaſtet zu haben ſchien, nachdem
von unſrem Nationaltragöden ſo viel die Rede
geweſen war. Münchhauſen aber küßte dem Fräu-
lein die Hand und verſetzte: Sie haben da eine
tiefſinnige Wahrheit ausgeſprochen, meine Gnädigſte,
und ich kenne außer Ihnen nur noch eine Dame,
welche dieſe großartige Naturbetrachtung feſt im
ſchönen Gemüthe ergriffen hat, und ſie einem Dichter
zu äußern pflegt, jederzeit, wo er das Glück hat,
ihr zu nahn. Vergebens, daß der Dichter Manches
[73] ausgehen ließ, was der Welt nicht unbekannt blieb,
daß man überhaupt mit ihm von Allem und Jedem
ſprechen kann, weil er ſo ziemlich für Alles und
Jedes ſich intereſſirt, und über die Dinge, von
denen er nichts verſteht, gern Belehrung empfängt
— vergebens alles dieſes, ſage ich — die Dame
äußert, ſo oft er das Glück hat, ihr zu nahen,
nur ihre Ueberzeugung, daß im Sommer das
Wetter ſchöner zu ſeyn pflege, als im Winter.


Unmöglich! rief der alte Baron.


Vielleicht unmöglich, aber gewiß wahr, verſetzte
Münchhauſen. Der Dichter iſt mein Freund und
hat mir die Thatſache bei ſeinem Ehrenworte
betheuert. — Münchhauſen fuhr heiter fort: Ich
wollte Ihnen einige kurze Nachrichten über meine
Familie geben; hier ſind ſie. Der ſogenannte
Lügenmünchhauſen iſt mein Großvater, wenn unſer
Stammbaum in Bodenwerder Recht hat. Adolph
Schrötter in Düſſeldorf hat ihn jüngſt gemalt, wie
er unter Jägern und Pachtern ſein Pfeifchen
ſchmaucht, und dieſen Leuten ſeine Geſchichten
erzählt. Ein dicker Mann ſitzt ihm gegenüber und
hat den Rock ausgezogen, um beſſer zuhören zu
konnen, in ſeinem Geſichte ſpricht ſich die gläubigſte
[74] Hingebung aus, und ſein großer Hund, der neben
ihm liegt, ſieht ihm ſehr ähnlich.


Adolph Schrötter hat meinen Großvater getrof-
fen, wie kein Anderer vor ihm. Das iſt aber auch
kein Wunder, denn mein Großvater iſt ihm im
Traume erſchienen, er hat eine Viſion von ihm
gehabt. Die frommen Maler haben nicht allein
Viſionen, nein! die Andern haben die ihrigen auch.
Es malt Keiner ein Paar Kinder, die von zwei
ſchlechten Kerlen todtgemacht werden ſollen, oder
eine Kegelbahn, oder auch nur ein Portrait, ohne
daß er eine Viſion von dieſen Dingen gehabt
hätte. Und das iſt der Vortheil dieſer weltlichen
Geſichte: Man kann immer da die Vergleichung
anſtellen, und urtheilen, ob die Erſcheinungen richtig
geweſen ſind, denn überall giebt es unſchuldige
Kinder und ſchlechte Kerle und Kegelbahnen, und
Leute, die ſich portraitiren laſſen; aber bei den
frommen Viſionen kann man das nie, und man weiß
daher auch nicht, ob die lieben Engelein und Heiligen
und die Mütter Gottes ſo ausgeſehen haben, wie die
Leute behaupten, daß ſie ihnen vorgekommen ſeien.


Daß Adolph Schrötter eine richtige Viſion
gehabt, beſtätigte noch letzthin ein alter eisgrauer
[75] Jäger von Bodenwerder, der jetzt mit Ratten- und
Mäuſepulver handeln geht, und der denn endlich
auch an den Rhein gewandert war. Er kam auf
die Kunſtausſtellung, weil er glaubte, dort Geſchäfte
machen zu können und rief, als er das Bildchen
ſah: Das iſt der alte Herr, wie er leibte und
lebte, wenn er von den zwölf Enten erzählte! —
Das Bildchen ſoll jetzt, Figuren über Lebensgröße,
al fresco für * * * * * * * * ausgeführt werden.


Meinem Vater that die Abſtammung von dieſem
Manne Zeit ſeines Lebens den größten Schaden.
Wenn er Geld erborgen wollte und auf Cavalier-
parole die Rückzahlung verſprach, ſobald ſie ſich
thun laſſe, ſagten die Wucherer, mit denen er
unterhandelte: Wir bedauern ſehr, aber wir konnen
nicht dienen, denn Sie ſind der Herr von Münch-
hauſen. Er trat in Kriegsdienſte und machte als
Stabsrittmeiſter einſt einen allerdings unwahr-
ſcheinlich lautenden Rapport; der General glaubte
ihm nicht, und davon war die Folge, daß eine
große Schlacht verloren ging. Cabale über Cabale
wurde gegen ihn geſpielt; man drehte die Sache
ganz herum, er erhielt in Ungnaden ſeinen Abſchied.
Nun widmete er ſich dem Finanzfache, da entdeckte
[76] er ein geheimes Mittel, die edeln Metalle zu
vervielfältigen, wollte es dem Staate verkaufen,
aber der Staat wies ihn zurück und ſagte, es ſei
ſchon gut, man wiſſe, daß er Münchhauſen heiße.
Auch aus dem Finanzfache wurde er ungnädig
dimittirt, weil er ein Schwindler ſei, wie es in
dem Entlaſſungsreſcripte hieß. Was hat der Staat
von ſeiner Zurückweiſung gehabt? Papiergeld
mußte er machen.


Mein Vater aber hatte von ſeinem Geheim-
mittel auch nichts; er konnte es für ſich nicht in
Anwendung bringen, die Koſten der erſten Auslagen
waren für einen Privatmann zu bedeutend. Bei zwölf
Fräuleins hielt er nach einander um ihre Hand an, aber


Die Erſte ſagte ſcheu,

Die Zweit’ — ein Leu —

Die Dritte ſpitzig,

Die Vierte witzig,

Die Fünfte hitzig,

Die Sechſte Zornwinkend,

Die Siebente Borntrinkend,

Die Achte Stickeiferig ſehr,

Die Neunte Blickſchweiferig mehr,

Die Zehnte Rückſteiferig-hehr,

[77]
Die Eilft’, ein Bärbchen, ſchnipp’ſch, zwar

weichend, doch gütig,

Die Zwölft’, ein Körbchen hübſch darreichend,

hochmüthig:

Herr von Münchhauſen, wir danken für die uns
zugedachte Ehre; Sie führen uns doch nur an.


So ſchlugen alle meine zwölf projectirten
Mütter dem armen Manne ſein Begehr ab, bloß
wegen ſeines Namens und wegen der Erinnerung
an den Großvater. Ich wäre ohne Mutter geblie-
ben, wenn er nicht zuletzt noch bei einer Dreizehnten
Gehör gefunden hätte, bei einer Denkerin, die in
des Großvaters Lügenbuche einen geheimen Sinn
ahnete, und Alles allegoriſch und theoſophiſch aus-
legte. Sie gab meinem Vater ihr Jawort, nicht
aus Liebe zu ihm, wie ſie ihm bei der Verlobung
offen ſagte, ſondern aus Achtung für den Großvater.


Ueber dieſe Ehe darf ich mich nicht aus-
ſprechen. Sie birgt Geheimniſſe, die wieder tief
in andre Geheimniſſe meines tiefſten Seyns ver-
flochten ſind, und welche mit mir zu Grabe gehen
werden. Nur ſo viel mag ich Ihnen vertrauen:
Eine Ehe aus Achtung für den Vater des Gatten
iſt für dieſen die unglückſeligſte unter den unglück-
[78] ſeligen Ehen. Die unglückliche Ehe aus Delicateſſe
von Schröder bedeutet gar nichts dagegen, und die
Heirath durch ein Wochenblatt gründet ein Para-
dies, mit der Achtungs-Ehe verglichen.


Theophilus, Freiherr von Münchhauſen, (ſo
heißt der Mann, welcher vor der Welt mein
Vater heißt;) ergab ſich ganz den ernſteſten Stu-
dien, nachdem es ihm im Leben und in der Ehe
ſo äußerſt ſchlecht gegangen war. Er wurde ein
großer Waſſertrinker, und ich habe ihn, während ich
in Bodenwerder verweilte, nur dreimal lächeln ſehen.


Meine früheſte Jugend verlebte ich durch eine
ſeltſame Verkettung von Zufall, Schickung und
Leidenſchaft unter dem Vieh, und zwar bei einer
Ziegenheerde am Oeta. Was ich da erfahren,
will ich Ihnen ſpäterhin erzählen, für jetzt nur ſo
viel, daß ich meine Knabenjahre, abermals durch
eine ſeltſame Verkettung von Zufall, Schickung
und Leidenſchaft im väterlichen Hauſe zubringen
durfte. Da trieb ich denn nun Alles und Jedes mit dem
Manne, dem ich, die Geheimniſſe mögen nun ſeyn,
welche ſie wollen, doch immer meine Tage verdanke.


  • Vormittags: Philologie, Geographie, Alchymie,
    Technologie, Specialhiſtorie, Generalhiſtorie,
    [79] Phyſik, Mathematik, Statik, Hydroſtatik,
    Aeroſtatik;
  • Nachmittags: Literatur, Poeſie, Muſik, Plaſtik,
    Draſtik, Phelloplaſtik, gemeinnützige Kennt-
    niſſe;
  • Abends: Gymnaſtik, Hippiatrik, Medicin, inſon-
    derheit Anatomie, Phyſiologie, Pathologie,
    Semiotik, Biotik, Materia medica;
  • Nachts repetirten, experimentirten, disputir-
    ten wir.

Bei dieſem Lehrplane konnte ich denn allerdings
Manches aufſchnappen.


Und wann ſchliefen Sie? fragte das Fräulein.


Hin und wieder eine Viertelſtunde bei den
leichteren Doctrinen, verſetzte der Freiherr. Ich
war Schnellſchläfer, wie man Schnellläufer hat.
In wenige Minuten konnte ich den Gehalt von
Schlafſtunden gewöhnlicher Menſchen zuſammen
drängen. Von Schlaf kann überhaupt für Jemand,
der ſich auf der Höhe des Jahrhunderts halten
will, nach der großen Ausdehnung, welche die
Wiſſenſchaft gewonnen hat, heut zu Tage wohl
nicht mehr viel die Rede ſeyn. — Neben dieſer
intellectuellen Bildung, die ich auf Bodenwerder
[80] erhielt, wurde mein Charakter, mein Gemüth nicht
verabſäumt. Ganz beſonders brachte mir mein
ſogenannter Vater den heftigſten moraliſchen Wider-
willen gegen das Lügen bei, weil der Großvater
durch dieſes Laſter das ganze Familienglück zerſtört
hatte. Er folgte in manchen Dingen ſeinen eigenen
Grundſätzen, mein ſogenannter Vater, und hielt
erſtaunlich viel auf die Gewalt der erſten ſinnlichen
Eindrücke in der Jugend. Ich bekam daher alle
Sonn- und Feiertage eine allegoriſche Figur der
Wahrheit, aus Honigkuchenteig gebacken, zu verzeh-
ren, nämlich, eine unbekleidete Perſon, die Augen
zwei Roſinen, die Naſe eine Bamberger Pflaume,
auf der Bruſt eine Sonne von Mandelkernen.
Hatte ich nun dieſe Allegorie mit Wolluſt ver-
ſpeiſet, ſo wurde mir dabei unaufhörlich wieder-
holt: Süß, wie der Honigkuchen, iſt die Wahrheit.
Wenn ich mir aber den Magen verdorben hatte,
und Rhabarber einnehmen mußte, ſo hieß es im
einſchärfendſten Tone: Das iſt der bittre Trank
der Lüge.


Die Richtigkeit der Methode bewährte ſich an
mir. Ich bekam wirklich einen unbeſieglichen Ab-
ſcheu gegen das Lügen und kann wohl ſagen, daß
[81] aus meinem Munde nie ein unwahres Wort gegan-
gen iſt, mit einer einzigen Ausnahme, die aber
ſofort ſich bitter an mir rächte. Lange Zeit konnte
ich der Wahrheit oder gewiſſer Wahrheiten nicht
denken, ohne daß mir Honigkuchen, Roſinen und
Mandelkerne und Bamberger Pflaumen einfielen,
endlich erhob ich mich freilich zu gereinigteren
Vorſtellungen.


Was aber die einzige Lüge meines Lebens, und
ihre Folgen betrifft, ſo ging es damit folgender-
maßen zu. Ich ſitze eines Tages in meinem
Zimmer am Schreibepult und habe eine ſehr noth-
wendige Arbeit vor. Der Bediente meldet mir
einen Beſuch. Geh’ hinaus, ſage ich, ich wäre
nicht zu Hauſe. Der Herr wäre nicht zu Hauſe,
ſagt er draußen. So wie der Menſch ſeine Bot-
ſchaft ausgerichtet hat, und ich höre, daß mein
Beſuch abzieht, ſpüre ich eine Unruhe, die mich
am Pult nicht weilen läßt; ich muß aufſpringen,
es wird mir heiß, es wird mir kalt, jetzt wird
mir ſo, dann wird mir ſo; der Rhabarber fällt
mir ein aus meinen Jugendjahren und deſſen alle-
goriſche Deutung, die Phantaſie tritt in ihre unge-
heuren Rechte, die geheimen Bezüge zwiſchen Seele
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 6
[82] und Leib fangen an zu ziehen, immer weſenhafter,
creatürlicher wächſt die Idee des Rhabarbers in
mir, bald bin ich vom Kopf bis zur Fußzehe
jeder Zoll Rhabarber, die Natur folgt der Vor-
ſtellung, das Uebel bricht aus — — Sie errathen
das Uebrige! —


Die Folgen meiner Lüge, durch Rhabarber-
Allegorie-Erinnerung bedingt, treten mit einer
Stärke auf, vor welcher die Wiſſenſchaft ſcheu
zurückweicht. Vierundzwanzig Aerzte gab es in
der Stadt; Alle kommen nach und nach zu der
leidenden Creatur. Vierundzwanzig Anſichten
werden laut, vierundzwanzig verſchiedene und ent-
gegengeſetzte Mittel werden verordnet. Der Erſte
hält die Krankheit für eine Schwäche, der Zweite
für Hyperſthenie, der Dritte für eine neue Form
der Schwindſucht. Der Vierte verſchreibt Sina-
pismen, der Fünfte Cataplasmen, der Sechſte
Bähungen; der Siebente Adſtringentia, der Achte
Mitigantia, der Neunte Corroborantia; Ipecacu-
anha! ruft der Zehnte, Nein, Hyosciamus! ſchreit
der Eilfte; keines von beiden, ſondern Meerzwiebel,
ſagt ruhig der Zwölfte; Dreizehn, Vierzehn, Fünf-
zehn, Sechszehn, Siebenzehn operiren, ſcarificiren,
[83] amputiren, evacuiren, trepaniren; Nummer Acht-
zehn hat in der Diagnoſe Recht, Nummer Neunzehn
findet die Prognoſe ſchlecht; der Zwanzigſte giebt
Borax, der Einundzwanzigſte Storax, der Zwei-
undzwanzigſte findet des Uebels Sitz im Thorax;
der Dreiundzwanzigſte mir Frankenwein bot, der
Vierundzwanzigſte macht mich Kranken ſcheintodt.


Aus dieſem Zuſtande erweckt mich ein Homö-
opath mit Gran Arſenik. Herr Medi-
cinalrath, flüſtre ich ihm, entkräftet von vierund-
zwanzigfacher allopathiſcher Behandlung zu, Herr
Medicinalrath, ich hab’s vom Lügen! — Vom Lügen?
verſetzt er. Nichts leichteres dann, als die Hei-
lung. Similia similibus. Sie müſſen verläumden
d. h. lügen mit feindſeliger Abſicht, denn giebt
ſich die Krankheit ſofort.


Ein Blitz fährt durch meine Seele. Nach
Schwaben! rufe ich; nach Stuttgart! Doctor
Nachtwächter iſt ein Menſchenfreund, er wird mir
die Liebe erzeigen, und mich zu meiner Herſtellung
einige Zeit lang am Literaturblatte mitarbeiten
laſſen. — Ich werde in Betten eingepackt, in den
Wagen geſetzt, erreiche Stuttgart halbſterbend.
Der Herausgeber des Literaturblattes kommt eben
6*
[84] aus der Ständekammer, worin er von dem Drucke,
unter dem die Kirche ſchmachte, redete, bei der
Berathung der Kammer über das Moſtſteuergeſetz.
Edler Mann, ſage ich, Sie, aus deſſen Antlitz
Güte und Redlichkeit leuchten, Nachtwächter Sie
Germaniens, der immer abtutet, wie hoch es an
der Zeit ſei, wenn die Stunde vorüber iſt, ſo und
ſo geht mir’s. Ich erzähle ihm den Caſus und
trage ihm mein Anliegen vor. Gern gewährt,
verſetzt Nachtwächter, was ſchiert mich die Litera-
tur? Er ertheilt mir ſeine Inſtructionen für
einen Artikel des Blattes, ich fange d [...][n]ach an
zu ſchreiben. Bei der erſten Seite verſpüre ich
ſchon Linderung, bei der zweiten Minderung, bei
der dritten ſammle ich Kräfte, bei der vierten
beſſern ſich meine Säfte, mit der fünften kommt
den abgemagerten Gliedern die vorige Rundheit,
und die ſechſte ſchenkt mir die vollkommene Geſund-
heit, ſo daß ich nicht nöthig hatte, von Autoren
und Büchern, denen etwas verſetzt werden ſollte,
weiter zu ſchreiben, und Nachtwächtern die Vollen-
dung des Artikes überließ.


So half mir das Stuttgarter Literaturblatt ho-
möopathiſch von den durchſchlagenden Wirkungen der
[85] Lüge. Nachtwächter muß in ſeiner Jugend keinen
Rhabarber eingenommen haben, oder keine Imagi-
nation beſitzen, ſonſt wäre er an ſeinem Blatte
längſt verſchieden. Ich aber werde mich wohl
hüten, zum zweitenmale gegen das Geſetz der
Wahrhaftigkeit zu ſündigen, denn Nachtwächter
hilft mir nicht wieder, das weiß ich. Er ſchreit
über Undank; ich hätte an ſeinem Heerde geſeſſen,
er hätte mich aufgenommen, gaſtfrei, wie der
Capitain Rolando den Gil Blas in ſeiner Spe-
lunke aufnahm, und doch wäre ich ſo pflichtvergeſſen
geweſen, nicht weiter für ihn lügen zu wollen,
als ich mich auscurirt hätte.


Auf dieſe und ähnliche Anklagen führt nun freilich
ein alter Vers die Vertheidigung, welche alſo lautet:


Die Wahrheit nur verknüpft, die Lüge hält nicht Stich;
Betrügeſt du die Welt, betrügt der Lügner dich.


[86]

Eine Correſpondenz des Herausgebers
mit ſeinem Buchbinder
.


I.
Der Herausgeber an den Buchbinder.


Aber, lieber Herr Buchbinder, was für Streiche
machen Sie in jüngſter Zeit! Neulich ſchicke ich
Ihnen: Zur Philoſophie der Geſchichte. Von Karl
Gutzkow. Sie aber ſetzen hinten auf den Titel:
Zur Philoſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow,
ſo, als ob dieſes Buch eine innere Geſchichte des
Autors enthalte, ungeachtet er doch darin von
den todten Kräften und den natürlichen Voraus-
ſetzungen in der Geſchichte, vom abſtracten und
concreten Menſchen, von Mann und Weib, von der
Leidenſchaft, vom Staat, von Krieg und Frieden,
von den Uebergangszeiten, von Revolutionen, und
endlich vom Gott in der Geſchichte handelt; mithin
[87] das ganze Gebiet des hiſtoriſchen Nachdenkens in
ſeinem Werke durchwandert. Heute aber bekomme
ich von Ihnen das erſte Buch meiner Münchhau-
ſenſchen Denkwürdigkeiten zurück, und da ſehe ich,
daß Sie die zehn erſten Capitel gänzlich verheftet,
ſie hinter die Capitel Eilf bis Fünfzehn gebracht
haben. Ich erſuche Sie unter Rückgabe des
Buches eine Umheftung vorzunehmen.


Der ich übrigens mit Achtung u. ſ. w.


II.
Der Buchbinder an den Herausgeber.


Ew. Wohlgeboren haben mir ſchmerzliche Vor-
würfe gemacht, die ich ſo nicht auf mir ſitzen
laſſen kann. Ich bin lange genug im Geſchäft,
und weiß, was es damit auf ſich hat. Heut zu
Tage muß, wenn der Autor ſich verpudelt hat,
ein ordentlicher Buchbinder ein bischen auf das
Verſtändniß wirken, durch Winke auf den Rücken-
titeln, oder, wo ſie ſonſt ſich anbringen laſſen.


[88]

Die Schriftſteller ſind etwas confuſe geworden.
Die jungen Leute leſen und lernen zu wenig, aber
Unſereins, dem ſo zu ſagen, die ganze Literatur
unter das Beſchneidemeſſer kommt, und der alle
die Nachrichten „für den Buchbinder“ durchſtudiren
muß, deshalb aber genöthigt iſt, noch rechts und
links von den Nachrichten ſich umzuſchauen, o der
gewinnt ganz andre Ueberſichten. Da muß man
denn helfen, ſo gut man kann, und oft läßt ſich
der rechte Geſichtspunct für ein Buch feſtſtellen,
blos dadurch, daß man einen Punct oder ein
Comma wegläßt, oder zuſetzt, wie denn gerade die
Sachen ſich verhalten.


Bei dem Buche von Karl Gutzkow that es die
Weglaſſung des Punctes hinter „Geſchichte.“
Ew. Wohlgeboren! Ich habe Spittler eingebunden
und Schlözer, und Herders Ideen zur Philoſophie
der Geſchichte der Menſchheit ſind mir wenigſtens
hundertmal unter’m Falzbein geweſen, und jetzt
binde ich Ranke viel ein — ich ſage Ihnen, die
Männer ſchrieben ſo ſchöne dicke Bücher, und ſo
viele Noten und Citate ſtehen in den Büchern,
daß man ſieht, wie die Verfaſſer ſich’s haben ſauer
werden laſſen mit der Philoſophie und der
[89] Geſchichte — ich ſage Ihnen, es iſt rein unmöglich,
daß man auf 305 Seiten, wie Karl Gutzkow
gethan, den Gott, und die Revolutionen und den
Teufel und ſeine Großmutter in der Geſchichte
abhandeln kann. Aber das iſt auch gar nicht
ſeine Abſicht geweſen, wie ſich aus dem Vorworte
ergiebt, welches ich leſen mußte, weil ich einen
Carton einzulegen hatte. Denn darin ſagt der
Autor, er habe keine anderen Quellen zur „Philo-
ſophie der Geſchichte“ benutzen können, als höchſtens
einige an die Wand gekritzelte Verwünſchungen der
Langenweile, oder einige in die Fenſterſcheiben
geſchnittne Wahlſprüche zahlloſer unbekannter Na-
mensinſchriften. Wenn er nun das Buch, was
er vermuthlich auch nur ſchrieb, um ſich die Lange-
weile zu vertreiben, dennoch herausgab, ſo konnte
das nur in der einzigen Abſicht geſchehen, Memoiren
über ſeine ſchlechten und mangelhaftigen Studien
zu liefern, und der Titel, wie ich ihn mit goldenen
Lettern ſetzte, iſt ganz richtig, nämlich: Zur Phi-
loſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow.


Warum ich aber die letzten Capitel Ihres
Buches zu den erſten machte, das ſollen Sie auch
gleich vernehmen. Sie hatten die Münchhauſenſchen
[90] Geſchichten wieder ſo ſchlicht angefangen, wie Ihre
Manier iſt: „In der deutſchen Landſchaft, worin
ehemals das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag,
erhebt ſich eine Hochebne“ u. ſ. w. hatten dann von
dem Schloſſe und ſeinen Bewohnern berichtet, und
waren endlich nach und nach auf den Helden dieſer
Erzählungen gekommen.


Ew. Wohlgeboren, dieſer Stylus mochte zu
Cervantes Zeiten gut und erſprießlich ſeyn, wo
die Leſer ſo ſacht und gelind in eine Erzählung
hinein kommen wollten, wie in eine Zaubergrotte,
von der die Mährlein ſingen, daß eine ſchöne Elfe
davor ſitzt, und den Ritter mit wunderleiſen
Klängen in die karfunkelleuchtenden Klüfte lockt.
Sie ſtößt auch nicht in die Trompete, oder bläſ’t
die Baßpoſaune, oder macht Pizzicato, ſondern ſie
hat eine kleine goldne Laute im Arm; aus deren
Saiten quellen unſchuldige, naive Töne, wie harm-
loſe Kinder, die um den Ritter Blumenfeſſeln
ſchlingen, und eh er ſich’s verſieht, iſt er umſpon-
nen und durch den Grotten-Eingang gezogen, und
ſteht mitten in dem Reiche der Wunder, bevor er
nur gemerkt hat, daß er aus der Welt da draußen
hinweggegangen iſt.


[91]

Aber heut zu Tage paßt die Magie eines ſol-
chen ſüßfeſſelnden Styls gar nicht mehr.


Ew. Wohlgeboren, heut zu Tage müſſen Sie
noch mehr thun, als die Baßpoſaune blaſen, Sie
müſſen den Tam-Tam ſchlagen, und die Ratſchen
in Bewegung ſetzen, womit man in den Schlacht-
muſiken das Klein-Gewehrfeuer macht, oder falſche
Quinten greifen, oder vor die Diſſonanz die Con-
ſonanz ſchieben, wenn Sie die Leute „packen“
wollen, wie es genannt wird.


Ew. Wohlgeboren, die ordentliche Schreibart
iſt aus der Mode. Ein Jeder Autor, der etwas
vor ſich bringen will, muß ſich auf die unordentliche
verlegen, dann entſteht die Spannung, die den
Leſer nicht zu Athem kommen läßt, und ihn par
force bis zur letzten Seite jagt. Alſo nur Alles
wild durcheinander geſtopft und geſchoben, wie die
Schollen beim Eisgange, Himmel und Erde weg-
geläugnet, Charaktere im Ofen gebacken, die nicht
zu den Begebenheiten ſtimmen, und Begebenheiten
ausgeheckt, die ohne Charaktere umherlaufen, wie
Hunde, die den Herrn verloren haben! Mit einem
Worte: Confuſion! Confuſion! — Ew. Wohlge-
[92] boren, glauben Sie mir, ohne Confuſion richten
Sie heut zu Tage nichts mehr aus.


Ich habe, ſoweit ich vermochte, in dieſem
Stücke bei den Münchhauſianis für Sie geſorgt,
und ein bischen Confuſion geſtiftet, ſo viel es ſich
thun ließ, damit die benöthigte Spannung entſtehe.
Sehen Sie, ſo wie jetzt das Heft gebunden iſt,
[...]ann kein Menſch bisher errathen, woran er iſt,
wer der alte Baron iſt, und das Fräulein und
der Schulmeiſter, und wo ſich die Sache zuträgt?
Hat ſich aber ein tüchtiger Leſer erſt durch einige
Capitel hindurchgewürgt, dann würgt er ſich auch
weiter, denn es geht den Leſeleuten ſo, wie man-
chem Zuſchauer in der Comödie. Er ärgert ſich
über das ſchlechte Stück, er gähnt, er möchte vor
Ungeduld aus der Haut fahren, aber dennoch
bleibt er ſitzen, weil er einmal ſein Entree-Geld
gegeben hat, und dafür auch ſeine drei Stunden
abſitzen will.


Alſo, Ew. Wohlgeboren, ich dächte, Sie ſtänden
von dem Verlangen nach Umheftung ab. Der ich
übrigens u. ſ. w.


[93]

III.
Der Herausgeber an den Buchbinder.


Lieber Herr Buchbinder, Sie haben mich über-
zeugt. Ach, ich laſſe mir jetzt von Jedermann
rathen in meinem Metier, ſelbſt von Ihrem Jungen,
wenn er mir etwa Vorſchläge über das neue Buch
machen kann. Es hat mir ſchon ſo mancher Junge
Zurechtweiſungen ertheilt, und ich habe ſie nicht
befolgt und ſchwer darob büßen müſſen.


Es ſoll alſo bei der Verheftung bleiben, und
wenn Sie oder Ihr Junge in der Folge merken, daß
ich wieder gegen die Spannung, oder die unordent-
liche Schreibart geſündigt habe, dann heften Sie
nur nach Gutdünken die Capitel durcheinander,
und verbeſſern auf ſolche Weiſe das Buch. Ich
glaube ſogar, daß ich nicht der Erſte in ſolchem
Verfahren bin; Herr Steffens hat gewiß bei ſeinen
Novellen von Walſeth und Leith und den vier
Norwegern und Malcolm dem Buchbinder eine
gleiche Vergünſtigung eingeräumt.


[94]

Vor ein ſieben, acht Jahren hätte mir noch
Keiner ſo etwas bieten dürfen, aber ich bin — —


— — müde geworden, hatte ich geſchrieben,
lieber Herr Buchbinder, und recht im Vertrauen
auseinandergeſetzt, warum man in der Welt jetzt
ſo müde werden kann.


Zwei Damen aber, denen ich den Brief vorlas,
ſagten, das dürfe durchaus nicht ſtehen bleiben;
der müde und weinerliche Ton zieme ſich platter-
dings nicht für mich.


Sie haben Recht. Mag die Welt uns Alles
verſagen, die Geſchichte und die Natur kann ſie
uns nicht verſperren. Ich will die Buben heulen
und greinen laſſen über das Elend, welches ſie
doch eben hauptſächlich machen helfen.


Nein, Herr Buchbinder, unſere Augen ſollen
wacker bleiben, und die Wunden ſollen uns
ſchön ſtehen.


Aber was halten Sie von dem Münchhauſen,
und was meinen Sie, das aus ihm werden wird?


[95]

IV.
Der Buchbinder an den Herausgeber.


Ew. Wohlgeboren, aus dem Münchhauſen wird
nichts; da Sie denn doch meine Meinung wiſſen
wollen. Dieſes thut indeſſen nichts. Ein Buch,
aus dem nichts wird, mehr oder weniger in der
Welt, verſchlägt nichts. Und dann können wir
den einzelnen Abſchnitten doch noch in etwa nach-
helfen. Für dieſen erſten habe ich ſchon ſo ein
Hausmittelchen in Gedanken. Der ich übrigens u. ſ. w.


V.
Der Herausgeber an den Buchbinder.


Welches Hausmittelchen, lieber Herr Buch-
binder? Ich bin äußerſt geſpannt auf Ihre ferneren
Mittheilungen. Mit Achtung u. ſ. w.


[96]

VI.
Der Buchbinder an den Herausgeber.


Ew. Wohlgeboren, Briefwechſel ſind jetzt beliebt,
wenn ſie auch nur Nachrichten von Schnupfen- und
Huſtenanfällen der Correspondenten enthalten.
Laſſen Sie unſern Briefwechſel im erſten Buche
mit abdrucken; der hilft ihm auf.


VII.
Der Herausgeber an den Buchbinder.


Auch unſre letzten Zettel?


VIII.
Der Buchbinder an den Herausgeber.


Ja wohl.


[97]

IX.
Der Herausgeber an den Buchbinder.


Wohl!


X.
Der Buchbinder an den Herausgeber.


(Couvert um die Briefe des Herausgebers.)


Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 7
[98]

Erſtes Capitel.
Von dem Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr
und ſeinen Bewohnern
.


In der deutſchen Landſchaft, in welcher ehemals
das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag, erhebt
ſich eine Hochebne, von braunem Haidekraute
überwachſen. Hin und wieder ſticht aus dieſer
dunkeln Fläche ein ſpitziges Geſtein hervor, mit
weißſtämmigen Birken oder dunkeln Tannen umſäumt.
Nach Mitternacht rücken die Steinlager ſo nahe
aneinander, daß ſie für eine kleine Gebirgskette
gelten können. Verſchiedne Fußpfade laufen durch
die Ebne, vereinigen ſich aber in der Nähe der bei-
den höchſten Felſen zu einem breiteren Wege, der
zwiſchen dieſen Felſen ſacht bergan führt. Nach
einigen Windungen fällt derſelbe in eine Straße,
welche ehemals bepflaſtert geweſen ſeyn mag,
[99] nun aber durch ausgeriſſene Steine und grundloſe
Geleiſe mehr das Anſehen eines gefährlichen Klippen-
weges erhalten hat. Nichts deſto weniger iſt dieſem
holprichten und halsbrechenden Wege bis auf die
neuſten Zeiten der Name der Schloßſtraße verblieben.
Denn man ſieht oder ſah, kurz nachdem man ſie
betreten, das Schloß, welches die Ueberſchrift
dieſes Capitels nennt, auf einem ziemlich kahlen
Hügel liegen.


Je näher man demſelben kommt, oder kam,
denn am heutigen Tage iſt davon nur noch ein
Trümmerhaufen übrig, deſto deutlicher ſpringt, oder
ſprang die ungemeine Baufälligkeit des Schloſſes
in das Auge. Was zuvörderſt die Pforte betrifft,
oder betraf, ſo ſtanden zwar deren beide ſteinerne
Pfeiler noch, und auf dem rechten hatte ſich ſogar
der ſtatuariſche Löwe als Wappenhalter zu behaup-
ten gewußt, während ſein Partner von dem linken
Pfeiler hinab in das hohe Gras geſunken war, allein
das eiſerne Pfortengegitter ſelbſt war längſt wegge-
brochen und zu andern Zwecken verwendet worden.
Die Gefahr, welche hieraus für das Gebäude von
räuberiſchen Ueberfällen zu beſorgen ſtand, war
aber nur bei trocknem Wetter vorhanden. Wenn
7*
[100] es regnete, (und es pflegt oft in jener Gegend zu
regnen;) ſo verwandelte ſich bald der Burghof
in einen undurchwatbaren Sumpf, auf welchem,
wenn die Geſchichte nicht Lügen berichtet, zuweilen
ſelbſt Schnepfen ſich hatten betreten laſſen.


Völlig entſprechend dieſem Zugange war das
Aeußere und Innere des Schloßgebäudes ſelbſt.
Die Wände hatten ihre Tünche, ja zum Theil
ihren Bewurf verloren. Nach einer Seite hin
war die Giebelwand bedeutend ausgewichen und
durch einen Balken geſtützt worden, der aber am
unteren Ende auch ſchon zu morſchen begann, und
daher nur eine geringe Zuverſicht gewährte. Ließ
man ſich nun durch dieſen Anblick nicht abſchrecken,
in das Gebäude eintreten zu wollen, ſo bot die
Thüre immer noch ein großes Hinderniß dar.
Denn die Feder war in dem alten verroſteten
Schloſſe längſt unthätig geworden, und die Klinke
gab nur wiederholtem und gewaltſamem Drücken
nach, bei welchem ſie aber nicht ſelten aus ihrer
Mutter fuhr und dem Klinkenden in der Hand
ſitzen blieb. Die Bewohner pflegten ſich daher auch
mehr eines nach und nach ſehr erweiterten Loches
in der Wand zum Ein- und Ausgange zu bedienen,
[101] und dieſes nur für die Nachtzeit durch vorgeſetzte
Tonnen und Kaſten zu verſperren.


Wenn man die Fenſter die Augen eines Hauſes
nennen darf, ſo konnte man dieſes ſogenannte
Schloß mit gutem Rechte zum Theil erblindet
heißen. Denn nur vor wenigen und den noth-
wendigſten Zimmern waren jene Augen noch
erſichtlich, viele andere Gelaſſe waren für immer
durch die zugemachten Läden in Dunkelheit verſetzt
worden, weil ſich die Scheiben nach und nach aus
den Rahmen verloren hatten.


Zwiſchen ſo morſch gewordnen vier Pfählen
und in kahlen, vernutzten Zimmern hauſte noch vor
wenigen Jahren ein bejahrter Edelmann, den ſie
in der ganzen Gegend nur den alten Baron nannten,
mit ſeiner gleichfalls verblühten nachgerade vierzig-
jährigen Tochter Emerentia. Er gehörte zu dem
weitläuftigen Geſchlechte derer von Schnuck, welches
weit umher in dieſen Landſchaften ſeine Beſitzungen
hatte, und ſich in folgende Linien, Zweige, Aeſte
und Nebenäſte ſpaltete, nämlich in die


  • I. Aeltere, oder graumelirte Linie — Linie
    Schnuck-Muckelig; geſtiftet von Paridam, Herrn
    auf und zu Schnuck-Muckelig.
    [102]
    • 1. Aelterer oder aſchgraumelirter Zweig—Zweig
      Schnuck-Muckelig-Pumpel.
    • 2. Jüngerer oder ſilbergraumelirter Zweig —
      Zweig Schnuck-Muckelig-Pimpel.
  • II. Jüngere oder violette Linie — Linie
    Schnuck-Puckelig, geſtiftet von Geyſer, Burgman-
    nen auf und zu Schnuck-Puckelig.
    • 1. Aelterer oder violetter Zweig mit Schütt-
      gelb. Zweig Schnuck-Puckelig-Schimmel-
      ſumpf.
      • a. Aſt Schnuck-Puckelig-Schimmelſumpf-
        Mottenfraß.
      • b. Aſt Schnuck-Puckelig-Schimmelſumpf,
        genannt aus der Rumpelkammer.

      (NB. Stand nur auf vier Augen.)
    • 2. Jüngerer oder violetter Zweig, genannt im
      Grützfelde. Zweig Schnuck-Puckelig-Erb-
      ſenſcheucher.
      • a. Aſt Schnuck-Puckelig-Erbſenſcheucher von
        Donnerton.
      • b. Aſt Schnuck-Puckelig-Erbſenſcheucher in
        der Boccage.

Davon der Nebenaſt: Schnuck-Puckelig-Erb-
ſenſcheucher in der Boccage zum Warzentroſt.


[103]

Von dieſem Nebenaſte war unſer alter Baron
entſproſſen.


Die vielfältige Theilung des Geſchlechts derer
von Schnuck hatte eine bedeutende Theilung des
Stamm-Erbes zur Folge gehabt, und namentlich
in der jüngeren Linie, welche von jeher durch
große Fruchtbarkeit ausgezeichnet war, die Güter
in eines jeden Erbherrn Händen merklich gemindert.
Man war daher zu der Erfindung überzugehen
genöthigt geweſen, daß denen von Schnuck alle
Kirchenpfründen und alle Kriegsämter im Fürſten-
thume von Rechtswegen gehören; eine Erfindung,
die um ſo eher bei den Fürſten von Hechelkram
Glauben fand, als die Schnucks, wie geſagt, über
das ganze Land verbreitet waren, und Vetter Botho
ſagte, es ſei ſo, Vetter Günther behauptete, es
ſei ſo am beſten, Vetter Achaz einfließen ließ, die
Schnucks und ihr Anhang bildeten die eherne
Mauer um den Thron, Vetter Vartholomäus fol-
gerte, weil es nothwendig ſei, daß die Schnucks
exiſtirten, ſo müßten ſie auch die Mittel zu ihrer
Exiſtenz, d. h. Pfründen und Aemter haben, ſechs-
unddreißig andre Schnucks aber noch ſechsunddreißig
andre Gründe für die Richtigkeit der Erfindung
[104] zum Vorſchein brachten. Die Fürſten, welche nur von
Schnucks umgeben waren, und von dieſen nichts
Anderes hörten, als vorgedachte Reden, mußten wohl
endlich an die Richtigkeit der Erfindung glauben.
Bedeutend wirkte auch auf die Stärkung dieſes Glau-
bens der Umſtand ein, daß nach der Verfaſſung von
Hechelkram der jedesmalige Fürſt ſeine jedesmalige
Geliebte aus dem Geſchlechte derer von Schnuck zu
beziehen hatte. Dieſe Damen waren aber, wie ſich
von ſelbſt verſteht, im agnatiſchen Intereſſe thätig.


Die Erfindung war daher bald feſtbegründet,
und gelangte als Anhang in den Landes-Catechis-
mus. Nun konnten die von Schnuck unbeſorgt
hinleben und ihren Saamen mehren, wie Sand
am Meere. Wenn ſie das Ihrige verzehrt hatten,
ſo zehrten ſie als Generale auf Regiments-Unkoſten
weiter, und die Söhne, außer Einem, ließen ſie
Prälaten oder Geheime-Räthe im höchſten Collegio
werden. Denn ich habe die Erfindung nicht ganz
vollſtändig vorgetragen: Nach derſelben war jeder
Schnuck, wenn er den Civildienſt wählte, geborner
Geheimer-Rath im höchſten Collegio. — —


„Sie ſtocken … Sie ſeufzen … Herr Heraus-
geber?“


[105]

Ach, meine Gnädige, iſt es nicht ein Unglück
für einen armen Erzähler, daß er immerfort die
alten Geſchichten wieder aufwärmen muß? Die
Sachen, die ich da berichte, ſchienen ſchon vor
fünfzig Jahren durch die Romanenſchreiber jener
Zeiten ſo verbraucht zu ſeyn! Und ich muß den
längſtgekochten Kohl doch wieder zum Feuer rücken!


„Sie erzählen ja von der Vergangenheit, Herr
Herausgeber, und dahinein gehören allerdings ſolche
alte Geſchichten.“


Ich danke Ihnen tauſendmal für dieſe Erinne-
rung, meine Gnädige. Ja wohl, ich erzähle von
der Vergangenheit, von Dingen, die ab und todt
ſind, wie die weiland in der Schmiede geweſene
Adelskette. Meine Phantaſie riß mich nur hin,
daß ich mir die Erfindung derer von Schnuck als
der Gegenwart oder nächſten Zukunft angehörig
vorſtellen mußte. Nein, ſie wird nicht wieder
aufkommen, dieſe Erfindung; gegen ſie ſpricht
wirklich eine ungeheure Majorität, die Majorität
aller rechtlichen Leute, die es ſich haben ſauer
werden laſſen in der Welt. Alſo nur ohne
Stocken und Seufzen weiter in dieſen Sagen der
Vorzeit!


[106]

Unſer alter Baron hatte in ſeinen jungen Tagen
von dem Herrn Vater nur das Schloß Schnick-
Schnack-Schnurr ererbt, welches früherhin ein
Pachthof geweſen, und erſt ſpäterhin zu ſeinem
Ehrentitel gediehen war. Es warf jährlich etwa
zweitauſend Gulden ab, oder höchſtens zweitauſend-
fünfhundert. Der ſelige Vater hatte das Wohn-
haus wohl in Fach und unter Dach erhalten, die
Wappenlöwen ſtanden recht majeſtätiſch auf den bei-
den Pfeilern, zwiſchen denen ſich eine eiſerne Pforte
befand, wie ſie nur ſeyn mußte, der Hof war
damals auch noch gepflaſtert, und in den Zimmern
hingen ſchöne bunte Familienbilder, ſtanden röthlich-
lackirte Stühle und Commoden mit goldnen Leiſten.
Hinter dem Schloſſe aber hatte der Vater einen
Garten in ſtreng-franzöſiſchem Geſchmack anlegen
und Schäfer und Liebesgötter von Sandſtein hin-
einſetzen laſſen.


Zweitauſend oder zweitauſendfünfhundert Gulden
jährlich ſind zwar nur ein ſchmales Einkommen für
einen Edelmann, allein unſer alter Baron hätte
ſich damit in ſeiner ländlichen Abgeſchiedenheit doch
wohl aufrecht zu erhalten vermocht, wenn er nur
nicht mit dem Gedanken aufgewachſen wäre, er
[107] ſei geborner Geheimer-Rath im höchſten Collegio.
Aber ſeit ſeinem vierzehnten Jahre legte er ſich
mit dieſer Vorſtellung nieder, und ſtand mit der-
ſelben Morgens wieder auf; ſie gab ihm eine
Sicherheit des Bewußtſeyns, welche nichts zu
erſchüttern vermochte. Gelernt hatte er, die
Wahrheit zu ſagen, wenig oder nichts, ſein Herr
Vater war dagegen, und der Meinung geweſen, viel
wiſſen ſei für einen Cavalier unanſtändig.


Er hatte eine freie, ſorgloſe und gutmüthige
Sinnesart; es vergnügte ihn, Andern mitzutheilen,
und ſein eignes Vergnügen liebte er nicht minder.
Er gab gern Gaſtereien, ging gern mit einem
Dutzend guter Freunde auf die Rehjagd, und hielt
nach dieſer Anſtrengung ein, wo möglich hohes
Spielchen mit ſeinen Waidgenoſſen für die beſte
Erholung. Auch wenn er allein war, ſpeiſte er
nicht gern unter ſechs Schüſſeln, wozu, wie ſich
von ſelbſt verſteht, alter Rheinwein vom Beſten
gehörte. In Kleidern hielt er ſich ſauber, Diener
unterhielt er nicht übermäßig viele, etwa fünf oder
ſechs für ſich und ſeine Gemahlin, die aus der
älteren, oder graumelirten Linie, aus der Linie
Schnuck-Muckelig-Pumpel entſproſſen war; nebſt
[108] einer Kammerjungfer und einer Garderobiere für
dieſe ſeine Gemahlin. Letztere hatte nun wieder
ihr hauptſächliches Vergnügen an Brillanten, Perlen,
Roben und Spitzen, und ihr Gemahl verſagte ihr
in Beziehung auf ſolche Gegenſtände keinen ihrer
Wünſche; denn, ſagte er, wenn das Zeug auch viel
koſtet, ſo gehört es einmal zu unſerm Stande,
und was ſtandesmäßig iſt, koſtet nie zu viel.


Ermüdete unſern alten Baron die häusliche
Einformigkeit, ſo machte er mit Gemahlin, Kam-
merjungfer, Garderobiere, mit den fünf oder ſechs
Dienern und dieſem oder jenem Hausfreunde,
welcher auch der Erholung bedürftig war, und ihn
um Mitnahme anſprach, intereſſante Reiſen in die
benachbarten fremden Länder, von denen er dann
neugeſtärkt zu ſeinen Gaſtereien, Jagden und Spie-
len zurückkehrte. Dieſe ſtillen Familienfreuden
mundeten ihm nach ſolchen Ausflügen immer dop-
pelt wohl.


Der Himmel hatte ſeine Ehe mit einer einzigen
Tochter geſegnet, welche in der heiligen Taufe den
Namen: Emerentia erhielt. Dieſes Kind war von
jeher ausnehmend ſchwärmeriſcher Art, es verdrehte
ſchon als Säugling die Augen auf eine wunderbare
[109] Weiſe. Als die kleine Emerentia größer wurde,
hörte ſie ihre Mutter faſt von nichts Andrem er-
zählen, als von den Damen der Linien Schnuck-
Muckelig und Schnuck-Puckelig, welche die Geliebten
der Fürſten von Hechelkram geweſen waren. Die
Mutter zeigte auch dem Kinde dieſe Damen unter
den Familienbildniſſen; lauter ſchöne Frauenzimmer
mit hohen Friſuren, gelben, grünen oder rothen
Adriennen, großen Blumenſträußen und entblößten
Schultern! Da ſie nun immerfort von den Ge-
liebten hörte, und die Frauenzimmerbildniſſe ihr
gar zu wohl gefielen, ſo ſetzte ſie ſich in den
Kopf, daß ſie ebenfalls zu einem ſolchen Berufe
auserſehen ſei, ein Gedanke, der noch mehr be-
feſtigt wurde, als der Fürſt Xaverius Nicodemus
der Zweiundzwanzigſte von Hechelkram das Schloß
beſuchte. Er nahm die damals dreizehnjährige
Emerentia auf den Schooß, liebkoſte ihr zärtlich,
und fragte ſie: Willſt du mein Bräutchen wer-
den? Sie bedachte ſich nicht lange, ſondern ver-
ſetzte raſch: Ja, wie alle die Damen, die da
hangen. Der Fürſt hob die Kleine vom Schooße
und ſagte lächelnd zu ihrer Mutter: Ah, la petite
Ingenue!


[110]

Die Zeit verwiſchte zwar den Fürſten Xaverius
Nicodemus den Zweiundzwanzigſten, da ſie ihn
nicht wieder ſah, allgemach aus ihrem Herzen, da-
gegen ſetzte ſich in ihr die Standesvorſtellung, die
Vorſtellung an ſich, daß ſie beſtimmt ſei, mit einem
Hechelkramiſchen Fürſten in zärtliche Verhältniſſe
zu treten, immer feſter in ihr, wobei ſie ſich durch-
aus nichts Arges dachte, woran ſie aber mit ſolcher
Innigkeit hing, wie ihr Vater an ſeinen Geheimen-
raths-Gedanken. Weil nun das Herz nicht in das
Leere ſeinen Drang verſenden mag, ſondern gern
an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht, ſo hatte
ihre ſchwärmende Phantaſie nach einigem Umher-
ſchweifen im leeren Raume auch bald den ſichtbaren
Gegenſtand gefunden, der ihr den künftigen Lieb-
haber unter den Fürſten von Hechelkram vorbilden
mußte. In der That war dieſer Gegenſtand ganz
geeignet, die Einbildungskraft eines fühlenden
Mädchens zu entzünden. Von ſchöner, gedrungner,
proportionirlicher Geſtalt, ſprach ſich in allen ſeinen
Gliedern männliche Kraft aus, aus ſeinem glän-
zenden, hellrothen Geſichte mit breiten, feſten
Kinnbacken leuchtete der Entſchluß, auch die härteſte,
vom Geſchick ihm vorgelegte Nuß zu knacken, der
[111] Mund wollte zwar ſeines Berufes wegen für die
Geſetze reiner Verhältniſſe etwas zu groß erſcheinen,
aber ein ſchwarzer Schnurbart von wunderbarer
Fülle, welcher über den Lippen hing, machte dieſen
Uebelſtand wieder gut. Die großen, grellen, him-
melblauen Augen blickten ſanft und grade vor ſich
hin, und ließen auf eine Seele vermuthen, in
welcher die Milde bei der Stärke wohnte.


Bekleidet war dieſer idealiſch-ſchöne Nußknacker
mit einer rothlackirten Uniform und weißem Unter-
zeuge; auf dem Haupte aber trug er einen impo-
nirenden Federhut. Emerentia hatte ihn zu ihrem
Namenstage geſchenkt bekommen. Sobald ſie ſeiner
anſichtig wurde, erzitterte ſie, erſeufzte ſie, erröthete
ſie. Niemand verſtand ihre Regung. Sie aber
trug den Nußknacker auf ihr einſames Zimmer,
ſtellte ihn auf den Kamin, blickte ihn lange glühend
und weinend an, und rief endlich: Ja, ſo muß
der Mann ausſehen, dem ſich dieſes volle Herz
zu eigen ergeben ſoll! Von der Zeit an war
der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter. Sie
hielt mit ihm die zärtlichſten Zwiegeſpräche, ſie
küßte ſeinen ſchwarzen Schnurbart, ſie hatte dem
ganzen Verhältniſſe eine ſo tiefe Beſeelung gegeben,
[112] daß ſie jederzeit des Abends, wenn ſie ſich zum
Schlafengehen entkleiden wollte, ſchamhaft zuvor
ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit
einem Tuche verhüllte. Nußknacker ließ ſich das
Alles gefallen, ſtand zuverſichtlich auf ſeinen Füßen,
und blickte mit den großen, blaugemalten Augen
mildkräftig vor ſich hin.


Emerentien hatte dieſe ſchöne Liebe raſch gereift.
Von der Natur war ſie, wenn auch nicht mit
Reizen, doch mit blühenden Geſichtsfarben und
runden Armen ausgeſtattet worden; es konnte
ihr daher an Verehrern unter den benachbar-
ten Landjunkern nicht fehlen. Aber ſie ſchlug
alle Bewerbungen von der Hand und ſagte, ſie
folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an.
Unter dem Ideal verſtand ſie den auf dem Kamin
und unter der Zukunft einen Hechelkramiſchen
Fürſten.


Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand. Sie
ſagten, in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-
Puckelig ſeien alle Gefühle ſeit Jahrhunderten der
heraldiſch-richtigen Bahn gefolgt. Es laſſe ſich
alſo nichts daran ändern und modeln, was ihre
Tochter empfinde.


[113]

Um die Zeit der vielfältigſten und heißeſten
Bewerbungen machte ihr Vater mit den Seinigen
eine der obengedachten Erholungsreiſen zur Stär-
kung auf die Beſchwerden der Jagd und des Spiels.
Der Ausflug war diesmal in die Bäder von Nizza
gerichtet. Die Familie reiſte unter fremdem Na-
men, denn ſechs feurige Landjunker hatten geſchworen,
dem Fräulein nachzueilen bis an das Ende der
Welt, und ſie wollte allein ſeyn, allein mit ihrem
Nußknacker, dem heiligen Meer und den ewigen
Alpen gegenüber.


Die Familie hieß in Nizza die von Schnur-
renburg-Mixpickelſche. Eines Tages gehen Schnur-
renburg-Mixpickels am Strande ſpazieren; das
Fräulein geht etwas voran, den Freund im Ridi-
cüle. Plötzlich ſehen die Eltern ſie wanken; der
Vater ſpringt zu, und empfängt die Tochter in
ſeinen Armen. Bleich iſt ihr Antlitz, aber von
Entzücken ſtrahlen ihre Augen, ſie liegt wie eine
Selige am Buſen des Vaters. Ihre Blicke
dringen ſchüchtern in die Ferne, und kehren dann
wie mit goldnen Schätzen der Wonne beladen, in
ſich zurück. Auch die Eltern erſtaunen, als ſie
den Blicken der Tochter in die Ferne folgen.
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 8
[114] Denn von der andern Seite des Strandes ſchreitet
ihnen eine Geſtalt entgegen, Nußknacker im Großen,
weiße Unterkleider, rothe Uniform, Federhut, grell-
blaue, und doch milde Augen, hellroth-glänzendes
Geſicht, wie lackirt, breiter Mund, verborgen von
der wunderbaren Fülle des ſchwarzen Schnurbarts,
eine ſchöne gedrungne Geſtalt, Kraft in allen Glie-
dern, kurz Nußknacker in jeder Miene, Form, Falte.


Beſorgt tritt er hinzu und fragt, was der
Dame fehle? Der Vater fragt ihn ſeinerſeits:
Mit wem er die Ehre habe …? Ich bin, ver-
ſetzt der Fremde, indem er die Naſenflügel zit-
ternd bewegt, und mit den Augen zwinkert,
Signor Rucciopuccio, von Geburt ein Saneſe, in
Kriegsdienſten Seiner Majeſtät, des Kaiſers aller
Birmanen, bei den Truppen auf Europäiſche Art,
Commandeur der ſechſten Elephantencompagnie.


Ei der Tauſend, da ſind Sie wohl verteufelt
weit her? fragte der alte Baron. Es geht noch,
erwiederte der Fremde, indem er ſich in den Hüften
zurechtrückte, daß die Gelenke knackten.


Der Alte fragte ihn über die Birmanen aus,
die Mutter muſterte die Stickerei an ſeinem Kra-
gen, Emerentia flüſterte, in einen Abgrund von
[115] Glück verloren, nichts als: O Rucciopuccio! …
So kamen ſie in das Hotel der Familie, wo
ſich der Fremde nach kurzem Verweilen beurlaubte
mit der Bitte, ſeine Beſuche wiederholen zu dürfen,
und nachdem er die Augen nochmals bedeutend-
zwinkernd auf Emerentia geworfen hatte.


Laßt mich von ihr ſchweigen! Der Traum iſt
Wahrheit geworden, das Herz hat ſich ſeinen
Wunſch verkörpert, und in die Sichtbarkeit ausge-
ſchaffen! Am andern Tage läßt ſich der Comman-
deur der ſechſten Birmaniſchen Elephantencompag-
nie wieder anmelden. Wo das Schickſal geſprochen
hat, ſind die Menſchen über Worte hinweggehoben.
Er tritt in die eine Thüre, ſie tritt in die Andre;
er zupft am Schnurbart, ſie zupft am Schnupf-
tuch; heut wird er blaß, und ſie wird roth, er
breitet die Arme aus, ſie breitet die Arme aus,
er neigt ſich zu ihr, ſie neigt ſich zu ihm, und:
Für einander geſchaffen! iſt der erſte Laut, den
ihre glühenden Lippen nach der Wonne des erſten
Kuſſes finden. Für einander geſchaffen! wiederholt
Rucciopuccio betheuernd, indem er abermals mit
den Augen zwinkert und die Naſenflügel zitternd
bewegt.


8*
[116]

Aber dieſem raſcherblühten Lenze der Liebe folgte
ein verheerender Sturm, der alle Roſen jäh-
lings zu knicken drohte. In Emerentien erwachte
nämlich die ganze Dialektik feinfühlender weiblicher
Herzen, wenn ſie nicht wiſſen, was ſie wollen.
Die Arme fühlte ſich durch einen ſcharfen Conflict
der Gefühle zerſpalten. Der Nußknacker war ihr
Ideal, ein Fürſt von Hechelkram ihre Zukunft, der
Birmane Rucciopuccio aus Siena die Gegenwart
und Wirklichkeit. Sollte ſie dem Ideale und der
Zukunft untreu werden um Gegenwart und Wirk-
lichkeit? Sollte ſie Wirklichkeit und Gegenwart
opfern und bei Ideal und Zukunft vielleicht eine
alte Jungfer werden? Böſe Wahl, ſchreckliche
Kämpfe, die alle Götter und Dämonen ihres
Buſens aus dem Schlummer weckten! Eine weib-
liche Feder wird in einem Anhange zu den gegen-
wärtigen Erzählungen dieſen Theil von Emerentia’s
Geſchichte ausmalen. Nur eine Schriftſtellerin
verſteht ſich auf die Entzaſerung aller der gehei-
men Faſern und Zaſern, welche das Gewebe ſol-
cher Nöthe bilden.


Endlich ſiegten Gegenwart und Wirklichkeit
über Zukunft und Ideal. Das Schickſal räumte
[117] nämlich zuvörderſt das Ideal hinweg, indem es
die Hand der Mutter leitete. Dieſe ergriff, als
ſie einmal ſich von der Tochter unbemerkt wußte,
den Nußknacker, und ließ ihn auf den Kehricht
hinter dem Hotel werfen. Dahin gehörte er auch,
nachdem er ſeine Miſſion erfüllt, und die Idee,
deren hölzerner Träger er geweſen war, volles
geſchichtliches Leben in Rucciopuccio gewonnen hatte.
Rucciopuccio aber ſchwor, als er bei ſeiner Gelieb-
ten auf den Grund des Kummers gedrungen war,
ihr mit heiligen Eiden bei dem Affen Hannemann:
Er ſei eigentlich ein Hechelkramiſcher Fürſt, ein
vertauſchter Knabe, durch teufliſche Cabale nach
Siena gebracht, und von dort zu den Birmanen
verſchlagen. Bald werde er nach Hechelkram zurück-
kehren, ſein väterliches Reich unter Vorlegung
authentiſcher Urkunden in Anſpruch zu nehmen.


[118]

Zweites Capitel.


[figure]

Emerentia’s Liebe glaubte, was Rucciopuccio’s
Liebe beſchworen hatte, beſonders da der Eid auf
den Affen Hannemann abgelegt worden war, der
in Hindoſtan eines noch größeren Anſehens genießt,
als je einem Affen in Europa, wo ſie doch auch
viel gelten, zu Theil geworden iſt. Alles hatte
ſich nun in den ſchönſten Einklang geſetzt; die
Beſtimmung der Töchter aus dem Geſammthauſe
Schnuck, das Nußknacker-Ideal und der Fürſt
von Hechelkram unter der Hülle des Kaiſerlich
Birmaniſchen Kriegsbeamten aus Siena. Man
konnte in dieſem Falle ſagen, die Erfüllung habe
die Erwartung überflügelt.


War Emerentia in das tiefſte Geheimniß
ihres Rucciopuccio eingedrungen, ſo konnte ſie ſich
[119] dagegen nicht entſchließen, ihm ihren wahren
Namen zu entdecken. Der Geliebte war arglos
und ſchwatzhaft; das merkte ſie nach kurzer Bekannt-
ſchaft. Wie leicht war es möglich, daß er das Geheim-
niß ausplauderte, daß es über die Alpen zu den ſechs
feurigen Landjunkern drang, daß dieſe ihr Wort
löſ’ten, und nachgeſprengt kamen, und dann —
ade, du ſtilles Himmelsglück in Nizza! Für Ruccio-
puccio blieb Emerentia daher die Freiin von Schnur-
renburg-Mixpickel, und hieß Marcebille, weil ihr die-
ſer Taufname beſonders ſüß und romantiſch klang.


Es waren nun für beide Liebende die herr-
lichen Tage angebrochen, in welchen die Leute ein-
ander beſtändig beim Kopfe haben, Lippen auf
Lippen preſſen, in welchen, wenn die Geliebte
nieſet, der Liebende Aeolsharfen und Engelsgeſang
zu vernehmen meint, und wenn der Geliebte ein
Gähnen verbirgt, die Liebende einen neuen himm-
liſchen Ausdruck in ſeinen theuren Zügen entdeckt,
in welchen, luſtwandeln ſie mit einander, Sonne,
Mond und Sterne beſchworen werden, auf ihr
Glück herabzuſchauen, wenn ſie ſonſt nichts zu
ſprechen wiſſen. Rucciopuccio und Emerentia
machten alle dieſe Kriſen der Liebe gründlich
[120] durch; beſonders gingen ſie viel mit einander ſpa-
zieren. Er führte ſie an das Meer, er führte
ſie auf die Alpen, er führte ſie in Gärten, er
führte ſie in Olivenwäldchen, er führte ſie bei
Tage, er führte ſie bei Nacht, und zärtlich rief ſie
oft, noch nie ſei ſie ſo anmuthig geführt worden.


Ein leichtes Wölkchen am Horizonte ihrer
Freuden war es, daß der Prätendent von Hechel-
kram nie Geld hatte. Er verſicherte ſie, er habe
ſo und ſo viel tauſend Lack Rupien vom Birmanen-
Kaiſer an rückſtändigem Solde zu beziehen, die
jeden Poſttag eintreffen könnten; indeſſen bis
zum Eingange dieſer Zahlung mußte ſie ihm frei-
lich mit ihrer Sparbüchſe aushelfen. Als dieſe
erſchöpft war, ſagte er, es müſſe nun durchaus
ein Wechſel des Schickſals vor der Thür ſtehen,
und um dieſem gleichſam ſymboliſch vorzuarbeiten,
wolle er kleine Papierſtreifen beſchreiben, die in
der Welt auch Wechſel genannt würden, weil ſie
die wunderlichſten Abwechſelungen von Freiheit
und Nothwendigkeit hervorzubringen pflegten.


So floſſen abermals einige Wochen in Liebes-
glück und Wechſelverfertigung hin. Eines Abends
gingen ſie wieder in einer paradieſiſchen Gegend
[121] ſpazieren, angeweht von jenen Lüften dort, welche
in die Bruſt des Kranken wie Balſam dringen,
und der Wange des Geſunden gleich ſeidnen Händchen
ſchmeicheln. Sie hatten ſich ganz in hohe Ahnun-
gen über Gott und Unſterblichkeit verloren, ſie
ſprachen, daß es gleich in den Stunden der Andacht
hätte abgedruckt werden können, da ſtanden plötz-
lich acht Juden und ſechszehn Häſcher, denn jeder
Jude hatte ſich zwei Häſcher auf den Leib gemie-
thet, vor dem ſeligen Paare. Die Juden hielten
Rucciopuccio’n ganze Hände voll ſymboliſcher Pa-
pierſtreifen unter die Augen, und die Häſcher riefen
auf Italiäniſch: Marſch! indem ſie ihre Spieße
wie Wegweiſend ausſtreckten.


Um alle Heiligen, Geliebter! rief Emerentia,
was iſt dieſes? Nichts, meine Theuergeſchätzte,
als eine hölliſche Cabale, Wechſelarreſt geheißen,
verſetzte Rucciopuccio, der keinen Augenblick ſeine
Faſſung verlor. Der Kaiſer aller Birmanen iſt
ein Tyrann. Ein Tyrann, ſage ich; ein ſchmäh-
licher Tyrann! Er kann mich nicht entbehren, er
reclamirt mich; ich ſoll ihm auch die ſiebente, achte
und neunte Elephantencompagnie, die er inzwiſchen
gebildet hat, organiſiren helfen. Auf gradem Wege
[122] ſetzt er es nicht durch, da ſpielt er denn mit den
ruppigen Juden unter einer Decke, (o wie klein
für einen Kaiſer!) die müſſen mich hier in Wech-
ſelarreſt ſetzen, und von da komme ich auf den
Schub von Gefängniß zu Gefängniß, bis nach
Hinterindien; ich ſehe es voraus. O Fürſtendienſt!
Fürſtendienſt! * * * * * * * * * * Verlaſſet
Euch nicht * * * * auf die Kinder der Menſchen,
weil bei ihnen kein Heil zu hoffen iſt!


Rucciopuccio hob bei dieſen Worten die Augen
gen Himmel und legte die Hand auf ſein Herz,
wie der Graf von Strafford, als man ihm ankün-
digte, daß Karl Stuart es ſich gefallen laſſen wolle,
daß er, Strafford, ſich für den König köpfen laſſen
wolle.


Emerentia aber näherte ſich ihm zitternd, und
rief: Du verläſſeſt mich, da — — Sie flüſterte
ihm etwas in das Ohr. Ueber das hellrothglän-
zende Antlitz Rucciopuccio’s legte ſich eine Todten-
bläſſe, worauf ein Farbenſpiel in demſelben ſichtbar
ward, welches von allen ſonſt in menſchlichen
Geſichtern vorkommenden Färbungen ſo ſehr abwich,
daß ſelbſt die Juden und Häſcher erſtaunt zurück-
traten, und Emerentia außer ſich hätte gerathen
[123] müſſen, wäre ſie nicht mit ſich und ihrem Geſchick
zu ſehr beſchäftigt geweſen.


Rucciopuccio erholte ſich aber bald wieder, und
ſagte zu Emerentien mit ruhiger Freundlichkeit:
Dieſes ſind natürliche Folgen natürlicher Urſachen,
die kein weiſer Mann beſtaunt. Verlaſſe dich auf
mich, Marcebille, ich ſprenge die Ketten des Tyran-
nen, ich komme wieder als Hechelkramiſcher Fürſt,
und hole dich ab von dem Schloſſe deiner Väter zu
Schnurrenburg. Der Geiſt legt mir ein Troſtlied
auf die Lippen, bewahre es im tiefſten Schrein
des Herzens als heiliges Gemüthsgeheimniß; daran
wollen wir uns einſt wiedererkennen:


Einſt liebteſt du den Nußknacker,

Nach dem Nußknacker liebteſt du mich;

Nun holet das Schickſal, der Racker,

Erſt den Nußknacker, dann holt es mich!

Der Nußknacker ſank auf den Kehrich,

Und mich rauben die wilden Birmanen;

Nußknacker kehrt nicht, aber kehr’ ich,

Hol’ ich ab dich vom Schloß deiner Ahnen!

Die Häſcher verhinderten die Fortſetzung dieſer Ode,
indem ſie ihn abführten. Emerentia ſank in Ohn-
macht. Zwei Juden brachten ſie ihren beſtürzten
Eltern.


[124]

Drittes Capitel.
Weitere Nachrichten von dem alten Baron
und ſeinen Angehörigen
.


Als die Eltern nach einer ziemlich trübſeligen
Reiſe mit Emerentien wieder auf dem Schloſſe
Schnick-Schnack-Schnurr angekommen waren, woll-
ten die feurigen Landjunker ihre unterbrochnen Wer-
bungen erneuern, aber das verſtimmte Fräulein
wies ſie jetzt noch entſchiedner zurück, als früher-
hin. Ihre Geſundheit hatte offenbar durch den
Kummer gelitten, die Züge des Geſichtes nahmen
oft einen ſeltſamen Ausdruck an, die Speiſen
machten ihr Widerwillen, ſie befand ſich hin und
wieder ſehr übel. Der alte Baron ließ einen Arzt
kommen; der Arzt ſprach mit dem Fräulein unter
vier Augen, kam mit einem länglichten Geſichte
aus dem Zimmer und ſagte zu den Eltern: Die
Luft von Nizza iſt ihr zu nahrhaft geweſen, das
[125] iſt eine Luft für Schwindſüchtige, aber nicht für
Vollblütige, es entſtand eine Ueberfüllung von
Säften in ihr, ſie muß in eine zehrende Luft, in
ein anderes Bad, da kommt Alles wieder in das
Gleichgewicht. Auch allein muß ſie reiſen, damit
ſie Trübſal hat und Sehnſucht, dann zehrt ſie um
ſo eher ab. Die Eltern glaubten dem guten ver-
ſtändigen Arzte, und ließen Emerentien in ein
anderes Bad, worin eine zehrende und abmagernde
Luft wehte, reiſen, ganz allein ließen ſie ſie reiſen,
weil der Arzt es ſo haben wollte.


Die Kur mußte ſehr gründlich und nachhaltig
vorgenommen werden, wenn ſie anſchlagen ſollte;
das Fräulein blieb deßhalb viele Monate lang im
Bade. Dann kam ſie zurück, geſünder und wohler,
als ſie je zuvor geweſen war. Auch ihre Stimmung
hatte ſich ganz wieder erheitert; ſie lebte in dem
feſten Vertrauen, daß Signor Rucciopuccio als glück-
licher Prätendent von Hechelkram eines Tages ankom-
men werde, ſie aus dem Schloſſe abzuholen. Die
Mutter ſagte: Wenn das iſt, ſo ſteht Alles wohl,
dann haſt du in Nizza nur deine Beſtimmung erfüllt.


Viele Jahre verfloſſen ſeitdem. Der alte
Baron war nun wirklich ein alter Baron,
[126] Fräulein Emerentia eine alte Jungfer geworden,
die alte Baroneſſe aber inzwiſchen an einem erbli-
chen Familienübel des Zweiges Schnuck-Muckelig-
Pumpel geſtorben. Die Jahre hatten das Alter
gemehrt und die Gelder gemindert, woraus ſich aber
der Baron wenig machte. Sagte ihm ſein Rentmei-
ſter: Herr Baron, die Pächte und die Zinſen reichen
nicht zu, ſo war die Erwiederung: Thut nichts,
wenn Alles aufgezehrt iſt, gehe ich in das höchſte
Collegium, und lebe von meiner Beſoldung; ich
bin geborner Geheimer-Rath. Geld muß ich haben,
alſo verkauft nur einige liegende Gründe, lieber
Rentmeiſter.


Der Rentmeiſter achtete ſich nach dieſen Wor-
ten, und verzettelte nach und nach alle liegenden
Gründe, die zum Schloſſe gehörten, Felder, Wie-
ſen, Triften, Holzungen. Als er das letzte Stück
losgeſchlagen hatte, trat er wieder zu dem alten
Baron in das Zimmer und ſagte: Ew. Gnaden,
mit den liegenden Gründen wären wir nun fertig;
ich begehre meinen Abſchied, denn wo keine Renten
ſind, da iſt kein Rentmeiſter mehr vonnöthen.


Sehr wahr! verſetzte der alte Baron, ſo wahr,
als wie, daß zweimal zwei Vier thun; ich will
[127] Euch ein Atteſt ſchreiben über wohlgeführte Admi-
niſtration; was mich betrifft, ſo gehe ich jetzt in
das höchſte Collegium und werde Geheimer-Rath.


Ach! aber als er nach dem höchſten Collegio
fragte, ſo war ein ſolches nicht mehr vorhanden,
und als er nach den Fürſten von Hechelkram
fragte, ſo ſagte man ihm, die hätten längſt aufge-
hört zu regieren, und als er ſich bei dem Reichs-
tage erkundigen wollte, wie er ſeine wohlherge-
brachten Anſprüche durchzuſetzen habe, ſo hörte er,
das deutſche Reich wäre ſchon vor ſo und ſo vielen
Jahren einmal unverſehens dem Kaiſer unter den
Händen weggekommen. Sonderbar! rief der alte
Baron, wie iſt das nur zugegangen? Er verſank
in tiefes Nachdenken, und dachte mehrere Jahre
lang darüber nach, wie nur das deutſche Reich
habe wegkommen, der Hechelkramiſche Fürſtenſtamm
aufhören können, zu regieren, und wie es möglich
ſeyn ſollte, daß er nicht mehr geborner Geheimer
Rath im höchſten Collegio ſei? Für die beiden
erſten Probleme fand er zuletzt noch eine Löſung,
aber das Letzte, das Geheimeraths-Problem blieb
ihm unlösbar, und deßhalb kam er endlich auf den
Gedanken, die gegenwärtigen Verhältniſſe ſeien nur
[128] ein kurzer Uebergang, die alte, gute Zeit ſtehe
ſchon wieder vor der Thüre, und werde bald anklo-
pfen. Mit dieſem Gedanken erhielt er ſeine ganze
Heiterkeit zurück. Er nahm ſich vor, in der dar-
aus entſpringenden Ueberzeugung zu leben und zu
ſterben.


Inzwiſchen waren die Brillanten, Perlen, Ro-
ben und Spitzen der ſeligen gnädigen Frau
vertrödelt worden, dann wurde das eiſerne Git-
terwerk von der Pforte abgebrochen und, benebſt
den Pflaſterſteinen des Hofplatzes, ſammt allen ent-
behrlichen Hausmobilien, nach und nach in Geld um-
geſetzt. Derweilen biß auch der Wappenlöwe in das
Gras, darauf bröckelte der Bewurf von den Wän-
den, und dann wich die Giebelmauer gefährlich
aus ihrer lothrechten Stellung, ohne daß eine
Reparatur verſucht werden konnte, weil die rohen
Handwerksleute nur, wenn ſie Geld ſehen, Hand
und Fuß regen.


[129]

Viertes Capitel.
Die blonde Lisbeth.


In dem nach und nach ſothanerweiſe herab-
gekommenen ſogenannten Schloſſe Schnick-Schnack-
Schnurr mußte ſich der alte Baron mit ſeiner
Tochter Emerentia, die ſeit dem Eintritte in die
ſtehenden Jahre ſo ſehr an Fülle zunahm, wie die
Mittel abnahmen, kümmerlich und einſam behelfen.
Die Jagd hatte natürlich aufgehört, weil die
Waldgründe verſchwunden waren, in denen dieſes
Vergnügen ſich betreiben läßt, und an Spiel war
auch nicht mehr zu denken; man hätte um Rechen-
pfennige die Stiche machen müſſen. Allmählig
waren daher auch die Freunde ſeltener geworden,
zuletzt blieben ſie ganz aus, waren auch wohl zum
Theil geſtorben. Vater und Tochter hätten ſich am
Ende den Kaffee und die ſpärlichen Mahlzeiten
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 9
[130] ſelbſt bereiten müſſen, denn auch die Bedienten
und Mägde ſchlichen ſich allgemach aus Mangel
der Bezahlung weg, wäre dieſem dürftigen und
zuſammenſinkenden Haushalte nicht eine Stütze in
der blonden Lisbeth erwachſen, welche, ſobald ſie
die Hände zu Dienſtleiſtungen zu regen im Stan-
de war, dem alten Baron und dem Fräulein wie
die geringſte Magd aufwartete, kochte, wuſch, ſäu-
berte, dabei aber immer hold und freundlich aus-
ſah, und wenn ſie das Schwerſte verrichtet hatte,
ſo that, als habe ſie nichts gethan.


Die blonde Lisbeth war ein Findelkind. Ein
altes Weib hatte einſt vor Jahren eine große
Schachtel, mit kleinen Löchern verſehen, auf das
Schloß gebracht, ſie einem Bedienten übergeben,
und ihm geſagt, darin ſei ein Geſchenk für den
Herrn, welches ein guter Freund ſchicke. Indem
nun der Bediente die Schachtel zu dem gnädigen
Herrn hineintrug, fing das Geſchenk darin an, ſich
zu regen, und ein feines Geſchrei zu erheben.
Der Menſch hätte es bald vor Schreck zu Boden
fallen laſſen, beſann ſich indeſſen doch, und ſetzte
die Schachtel vorſichtig auf einen Tiſch in des gnä-
digen Herrn Zimmer. Der alte Baron öffnete
[131] den Deckel, und ein kleines Mägdlein von höch-
ſtens ſechs Wochen ſtreckte ihm aus den Lümpchen,
womit der arme Wurm kümmerlich bekleidet war,
wie hülfeflehend die Aermchen entgegen, indem die
kleine Kehle ſich wacker in den erſten Lauten übte,
welche die Menſchheit von ſich giebt.


Uebrigens lag das Kindlein weich in Baum-
wolle gebettet. Sonſt aber fanden ſich durchaus
keine Amulete, Kleinodien, Kreuze, verſiegelte Pa-
piere, welche auf den Urſprung des kleinen Weſens
hindeuteten, und ohne welche ein wohlconditionirter
Romanenfindling ſich eigentlich gar nicht ſehen laſ-
ſen darf. Kein Maal unter der linken Bruſt, kein
eingebranntes, oder eingeätztes Zeichen am rechten
Arme, von welchem ſich dermaleinſt im Schlafe
das Gewand verſchieben konnte, daß Jemand, der
zufällig die Schlafende ſieht, Soupçon bekommt, und
weiter nachfragt, wie? oder wann? und ſo fort
— kurz nichts, gar nichts, ſo daß mir ſelbſt um
die Wiedererkennung bange wird.


Nur ein graues Blatt Papier lag in der
Schachtel, mit der Nachricht beſchrieben, daß das
kleine Mädchen chriſtlich getauft ſei und Eliſabeth
heiße. Die Worte waren kaum leſerlich; der
9*
[132] Schreiber hatte offenbar ſeine Hand verſtellt.
Rings umher in den Ecken des Blattes wimmelte
es von Buchſtaben, Krähen- und Krackelfüßen, die
aber trotz aller Bemühungen, ſie zuſammenzuſtellen,
ſich denſelben eben ſo wenig fügten, als die Cha-
raktere, welche auf dem Papiergelde ſich zerſtreut
vorzufinden pflegen. Dieſes Blatt war um einen
Cylinder geſchlungen, welcher zwei optiſche Gläſer
einfaßte. Der alte Baron nahm den Cylinder,
blickte durch das Ocularglas, richtete das Perſpec-
tiv gegen das Freie, um ſich die Erläuterung des
Fundes aus der Luft zu holen, aber ſo viel er
auch richtete und durchblickte, er bekam nichts, als
blaue Luft und verworrenſchwimmende Gegenſtände
zu ſehen.


Ueber dieſen vergeblichen Anſtrengungen, die
Krackelfüße zuſammenzuſtellen, und durch das op-
tiſche Glas die Wahrheit zu entdecken, war wohl
eine halbe Stunde vergangen, während welcher der
Baron noch gar nicht dazu gekommen war, ſich
nach dem Geber der vor ihm liegenden Gottesga-
be zu erkundigen. Auch der Bediente, der mit auf-
geſperrtem Munde bald das Kind, bald die An-
ſtrengungen ſeines Gebieters betrachtete, hatte
[133] bisher verabſäumt von dem alten Weibe zu reden.
Endlich verfiel der alte Baron auf die unter den
obwaltenden Umſtänden ſo natürliche Frage, der
Bediente gab die Auskunft, die er ertheilen konnte,
wurde der Spitzbübin nachgeſandt, rannte einen
halben Tag lang in allen Richtungen umher, kam
aber unverrichteter Sache zurück, denn er hatte
weder das alte Weib geſehen, noch Jemand ge-
troffen, der ſie geſehen hätte.


Inzwiſchen waren die Frauen, die alte Ba-
roneſſe, welche damals noch lebte, und Fräulein
Emerentia, in das Zimmer getreten, und der alte
Baron, der mit ſeiner eigenen Verwunderung noch
zu ſchaffen hatte, mußte jetzt dem Sturme von
Ausrufungen und Fragen Rede ſtehn, welcher
über die Lippen der Gemahlin und Tochter ſtrich.
Eine Dienerin war gefolgt und ſorgte, während
die Herrſchaften über die Exegeſe des Ereigniſſes
verhandelten, für die nothdürftige Fütterung und
Stillung des noch immer ſchreienden Kindes.


Als dieſes ſtill, lächelnd und ſchlummernd wie-
der in ſeiner Schachtel lag, ſetzte ſich die Familie
um den Tiſch, worauf letztere ſtand, zu einer Be-
rathung nieder, was mit dem Findlinge zu begin-
[134] nen ſei. Der Haus- und Schloßherr, deſſen Thor-
heiten nur von ſeiner unverwüſtlichen Gutmüthig-
keit übertroffen wurden, war ſofort der Meinung,
daß das Kind zu behalten, und wie ein eignes auf-
zuziehen ſei. Seine Gemahlin leiſtete ihm einigen
Widerſtand, bequemte ſich indeſſen doch bald zum
milderen Entſchluſſe, da ihr einfiel, daß der ältere
Zweig der graumelirten Linie, der Zweig Schnuck-
Muckelig-Pumpel ſelbſt mütterlicherſeits von
einem Findlinge abſtamme, in welchem eine Toch-
ter hoher Herkunft geſteckt habe. Den heftig-
ſten Einſpruch hatte er von Emerentien zu erlei-
den. Das Fräulein war nach ihrer zweiten Ba-
dereiſe ſo überaus tugendſam, zartſinnig und ver-
ſchämt geworden, daß auch die entfernteſte Be-
ziehung auf die Verhältniſſe, durch welche wir ent-
ſtehen und werden, ſie tief verletzen konnte. Sie
mochte die Blumen nicht mehr leiden, ſeitdem ihr
ein durchreiſender Profeſſor die Bedeutung der
Staubfäden auseinandergeſetzt hatte, ſie war vom
Tiſche aufgeſtanden, als man erzählte, daß die
braune Diane ſechs Junge geworfen habe, und
hatte vor ihrem Fenſter Scheuchanſtalten beſonde-
rer Art gegen die Sperlinge anbringen laſſen, um
[135] die Schnäbeleien nicht mit anſehen zu dürfen, wo-
mit dieſe Thiere nach der Lebhaftigkeit ihres Na-
turells leider gegen einander nur zu freigebig ſind.


In dem Findlinge ahnete ſie nun, wie ſie ſagte,
(und die Ahnung der Frauen iſt ſtäts ſicher und
wahr) eine Frucht verbotener Liebe. Worte, die
ſie vor Schaam kaum hervorzubringen vermochte!
Sie erklärte, daß ſie eine ſolche nur mit Abſcheu
anzuſehen vermöge, daß ihr das Verbleiben der
Creatur unerträglich ſeyn werde. Sie beſchwor
ihren Vater, das Kind einer öffentlichen An-
ſtalt zu übergeben. Aber der alte Baron blieb feſt
bei ſeinem Vorſatze, und da die Mutter, wie ſchon
berichtet worden iſt, auch auf ſeine Seite getreten
war, ſo mußte ſich Emerentia endlich, wiewohl
mit großem Widerwillen, fügen.


Dieſen ließ ſie aber in der Folge auf jede
Weiſe an dem Kinde aus, und ſelbſt, als die blon-
de Eliſabeth, oder Lisbeth, wie ſie im Schloſſe ge-
nannt wurde, heranwuchs, und das beſte, zuthätig-
ſte Weſen wurde, mochte ſie ſich ſelten dazu ver-
ſtehen, ihr einen gütigen Blick zu gönnen. Lisbeth
dagegen war durch nichts in den ſonderbaren Nei-
gungen, die ihr die Natur vorgezeichnet zu haben
[136] ſchien, irre zu machen. An dem Fräulein, die ihr
ſo übel begegnete, hing ſie mit einer unglaublichen
Zärtlichkeit, ſie verrichtete freudig das Schwerſte
für ſie, ließ ſich von ihr ſchelten, und lächelte da-
nach noch eins ſo freundlich, wogegen ſie dem al-
ten Baron, der doch eigentlich ihr alleiniger Be-
ſchützer und Wohlthäter war, nur eine Empfin-
dung widmete, welche die Gränzen der Dankbar-
keit nicht überſchritt.


[137]

Fuͤnftes Capitel.
Der alte Baron wird Mitglied eines
Journal-Leſecirkels
.


In ihm war, als Jagd, Spiel und Gaſtereien
für ihn aufgehört hatten, und nur die Schwal-
ben oder Fledermäuſe, welche durch die Mauerlü-
cken ſchlüpften, in den unbewohnten Zimmern des
ſogenannten Schloſſes zu niſten, allenfalls noch für
Beſuche gelten konnten, eine große Langeweile ent-
ſtanden, die anfangs auf keine Weiſe ſich beſchwich-
tigen laſſen wollte. Zwar malte er ſich zur Un-
terhaltung ſeine Erwartung beſtens aus, wie er
bald als Geheimer-Rath im höchſten Collegio ſitzen
werde, neben ſich den Herrn von ſo und ſo und
den Herrn von da und da auf der Adelsbank, er
ſtellte ſich den Präſidenten lebhaft vor, und alle
Beſonderheiten des alterthümlichen Conferenzſaals,
[138] er entwarf das Bild des Seſſionstiſches mit den
großen Haufen von Schriften und Papieren dar-
auf, die er mit ſeinen Herrn Nachbarn nicht zu
leſen habe, ſondern welche von gelehrten und bür-
gerlichen Beiſitzern durchzuſtudiren ſeien; aber als
dieſes Gemälde von ihm zum hundertſten und
aber hundertſten Male im Stillen vollendet und
ſeinen zwei Angehörigen beſchrieben worden war,
wurde es ihm doch zu eintönig, und er ſehnte ſich
nach anderer Beſchäftigung. Dieſe verſuchte ihm
nun ſeine Tochter Emerentia zu gewähren, indem
ſie ihrerſeits eine Schilderung zu liefern begann,
wie Fürſt Hechelkram, pſeudonym Rucciopuccio ge-
heißen, plötzlich eines Tages in einem rothlackirten
Wagen mit ſechs Iſabellen beſpannt, ankommen,
einen ſchottiſchquarrirten Läufer mit Blumenhut
und ſeidenem goldbefranztem Schurz hereinſchicken
und anfragen laſſen werde, ob Marcebille oder
Emerentia, nach der er ſo lange das ganze Schnur-
renburg-Mixpickelſche Geſchlecht vergebens hindurch
gefragt habe, bis er endlich zufällig erfahren, ſie
ſei eine geborne Schnuck-Puckelig — ob ſie, Eme-
rentia, noch an die Stunde denke, die Stunde der
Andacht in Nizza? Wie ſie ſich für dieſen Fall
[139] ſchon ihre Antwort ausgedacht, alſo lautend: Gnä-
digſter Herr! In den Blüthentagen der Jugend
opferten wir der Leidenſchaft auf dem Altare un-
ſerer Herzen! Für dieſes Opfer iſt uns der Weih-
rauch ausgegangen. Aber der Altar blieb ſtehen;
laſſen Sie uns auf demſelben der Freundſchaft ein
Opfer entzünden, für welches ich ewig, Ihnen ge-
genüber, Vorrath beſitzen werde! — Wie ſie dann, mit
dem großen goldenen Stiftskreuze begnadiget, ein
Schloß in der Nähe ſeiner Reſidenz beziehen, nur
ſeine Freundin im reinſten platoniſchen Sinne ſeyn,
ihn nie anders als vor Zeugen ſprechen, ihn mit ſeiner
Gemahlin verſohnen, überhaupt der ſegnende Genius
des Fürſtenhauſes und des Landes werden wolle.


Allein den alten Baron unterhielt dieſe Schil-
derung auch nicht; er hielt ſie für ein „Carmen“
wie er ſich ausdrückte, und womit er Gedicht ſa-
gen wollte. Von Gedichten war er aber nie ein
ſonderlicher Liebhaber geweſen. Endlich fiel er
auf den Gedanken, zu leſen, da er gehört hatte,
daß damit ſo viele Menſchen ihre Zeit hinbrächten.
Indeſſen wollten auch die Bücher, deren eine klei-
ne Sammlung von ſeinem Vater her noch auf
dem Speicher ſtand, und unter denen er auf gut
[140] Glück jetzt wählte, wenig Troſt gewähren. Die
Sachen wurden ihm darin alle zu lang und aus-
geſponnen abgehandelt; der Autor ſagte oft erſt
auf der vierundzwanzigſten Seite, was er mit
der erſten gemeint hatte, pflegte überhaupt die
Forderung an den Leſer zu ſtellen, daß er ſeine
Gedanken zuſammenhalten ſolle, und dazu konnte
ſich der alte Baron in ſeinen vorgerückten Jahren
nicht mehr bequemen. Er wollte Abwechſelung,
Zerſtreuung, Mancherlei, wie vorlängſt in ſeinen
grünen und luſtigen Tagen.


Alles dieſes fand er auf einmal, da ihm der
gute Einfall wurde, in einen Journalcirkel einzu-
treten, der alle Wißbegierige auf dem Flächen-
raume der umliegenden vier Quadratmeilen mit
Geiſtesnahrung verſorgte, und deſſen Reichhaltig-
keit ihm ſchon lange geprieſen worden war. Der
Unternehmer hatte, um die Nebenbuhler in der
erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar danieder-
zuſchlagen, nicht weniger als ſämmtliche Zeitſchrif-
ten des deutſchen Vaterlandes in ſeinen Mappen
verſammelt. Es fanden ſich ſonach darin nicht
nur die Morgen- die Abend- die Nachmittags- und
Mitternachtblätter, ſondern auch die Boten für
[141] Weſt, Oſt, Süd, Nord, Nordweſt und Südſüdoſt;
der Geſellſchafter und der Eremit; die groben und
die eleganten Journale; die Leſefrüchte und die
Extracte aus den Leſefrüchten; die liberalen, die
ſervilen, die rationaliſtiſchen, feudaliſtiſchen, ſupra-
naturaliſtiſchen, conſtitutionellen, ſuperſtitionellen,
dogmatiſchen, kritiſchen Organe; die Fabelweſen:
Phönix, Minerva, Hesperus, Iſis; das Ausland,
das Inland; Europa, Aſien, Africa, America und
die Stimmen aus Hinterpommern; der Komet,
der Planet, das Weltall — kurz, im Ganzen vierund-
achtzig Hefte, ſo daß jeder Theilnehmer am Cirkel
die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesſtun-
den ein Journal zu leſen bekam.


Dieſe Unterhaltung war ganz nach dem Sinne
des alten Barons. Endlich, rief er fröhlich aus,
als er ſich mit dem Umfange der ihm neu eröff-
neten Vorrathskammern bekannt gemacht hatte, end-
lich doch Gedrucktes, welches Einen belehrt, ohne
zu beſchweren! In der That gewannen ſeine Vor-
ſtellungen durch das Leſen der Journale bald
eine außerordentliche Bereicherung. Hatte ihm das
eine Blatt eine kurze Notiz von dem großen Gift-
baume Boan Upas in Indien gegeben, der die
[142] Atmosphäre auf tauſend Schritte hin anſteckt, ſo
lehrte ihn das folgende, wie die Kartoffeln im
Winter vor Froſt zu bewahren ſeien; in dieſer
Minute las er von Friedrich dem Großen, in der
nächſten von der Gräfenberger Waſſercur, aber
nicht lange, denn gleich darnach erzählte Einer
die Geſchichte der neuen Entdeckungen im Monde.
Eine Viertelſtunde war er in Europa, dann ſpa-
zierte er wieder, wie von Fauſt’s Mantel entrückt,
unter Palmen; bald hatte er einen hiſtoriſchen
Chriſtus, bald einen mythiſchen, bald gar keinen;
Vormittags fiel er mit der äußerſten Linken die
Miniſter an, Nachmittags war er abſolutiſtiſch geſinnt,
Abends wußte er nicht, wo ihm der Kopf ſtand,
und ging als Jüſte-Milieu zu Bette, um Nachts
vom Taſchenſpieler Janchen von Amſterdam zu
träumen.


Er hätte nie geglaubt, noch ſo glücklich werden
zu können. Daß ſeine Umſtände indeſſen immer-
mehr ſich verſchlimmerten, und daß er endlich nur
auf einen kleinen Lehnsſtamm, der ihn eben vor
dem äußerſten Mangel ſchützte und unangreifbar
war, beſchränkt ward, kümmerte ihn wenig. Sagte
ihm die blonde Lisbeth, das Haus bekomme nach
[143] der Giebelwand zu Riſſe, und könne über Nacht
einmal einſtürzen, ſo pflegte er zu erwiedern: Laß
mich zufrieden. Ich habe noch ſechs Hefte durch-
zuſtudiren. Wurde ſie dringender, ſo rief er ärger-
lich: Ehe das Schloß einſtürzt, bin ich Geheimer-
Rath! und ſie mußte unverrichteter Sache weichen.


Freilich entſtand durch das unendliche Material,
welches er täglich zu verarbeiten hatte, in ſeinem
Kopfe eine große Verwirrung der Vorſtellungen,
und er mußte zuweilen das Haupt in beide
Hände nehmen, um ſich zu beſinnen, ob er noch
in unſerem, oder in einem fremden Welttheile, oder
ob er überhaupt nur noch auf der Erde und nicht
ſchon längſt im Sirius ſei? Auch begann er
von jetzt an, Alles zu glauben, was er hörte,
und wenn man ihm geſagt hätte, die Vögel ſängen
nach Noten. Denn, pflegte er oft gegen die Sei-
nigen zu äußern, es kann heut zu Tage nichts
Dümmeres geben, als den Kopfſchüttler und Zwei-
felmüthigen zu machen; man muß nur Mitglied
unſres Journal-Leſecirkels geworden ſeyn, um zu
erfahren, daß nichts ſo wunderbar iſt, was nicht
jetzo vorfällt; die Menſchen und die Sachen und
die Erfindungen ſind in einem erſchrecklichen Fort-
[144] ſchritte, und wenn er noch zunimmt, ſo erleben
wir, daß das Waſſer Balken bekommt, und daß
man mit Extrapoſt von hier direct nach London
fährt.


Konnte etwas ſeine Stimmung trüben, ſo war
es der Mangel eines Freundes, dem er ſich hätte
erſchließen, mit dem er ſeine Ideen hätte austau-
ſchen mögen. Die Sehnſucht nach einem Gleich-
geſtimmten, nach einem fördernden Umgange wurde
oft ſehr groß in ihm. Seine Tochter konnte die-
ſem Verlangen nicht genügen, ſie hing nur ihren
empfindſamen, ideellen Richtungen nach, und hegte
für Realkenntniſſe wenig Sinn; Lisbeth aber hatte
ein für allemal, da er mit ihr von den Dingen,
die ihn ſo mannigfach beſchäftigten, reden wollen,
ablehnend erwiedert: Sie wolle ſich nichts in den
Kopf ſetzen laſſen.


[145]

Sechstes Capitel.
Wie der Dorfſchulmeiſter Ageſel durch
eine deutſche Sprachlehre um ſeinen Ver-
ſtand gebracht wurde, und ſich ſeitdem
Ageſilaus nannte
.


Einigermaßen, wenn auch nicht genügend, wurde
die Sehnſucht des alten Barons befriedigt, ſie
erhielt ſo zu ſagen, wie das Sprichwort lautet,
eine Birne für den Durſt, als der Schulmeiſter
Ageſilaus in ſeine Nähe kam. Dieſer Mann, wel-
cher früher Ageſel geheißen hatte, und ein alter
Bekannter des Barons war, bekleidete bis zu dem
Umſchwunge in ſeinem Schickſale das Amt, die
Jugend eines benachbarten Dörfchens im Leſen
und Schreiben zu unterrichten. Er wohnte in
einer Hütte von Lehmwänden, die außer der Schul-
ſtube nur ſein Schlafkämmerchen faßte, hatte drei-
ßig Gulden jährlichen Gehalt, außerdem das Schul-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 10
[146] geld; zwölf Kreuzer für den Knaben und ſechs
für das Mädchen, einen Grasfleck für ein Rind
und das Recht, zwei Gänſe in die Gemeindeweide
mit einzutreiben. Er verſah ſeinen Dienſt ohne
Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier,
ſo wie ſie im Dorfe ſeit hundert und mehreren
Jahren gebräuchlich war, buchſtabiren: G-e-, Ge,
ſ-u-n-d, ſund, h-e-i-t heit; Geſundheit — B-e-t, Bet,
t-e-l, tel, Bettel, ſ-a-ck, ſack; Bettelſack u. ſ. w.
und brachte die fähigſten Köpfe nicht ſelten ſoweit,
daß ſie Gedrucktes ohne ſonderliche Anſtrengung
leſen lernten. Was das Schreiben anlangte, ſo
ging auch aus ſeinen Händen Dieſer und Jener
hervor, der den eignen Namen zu Stande zu
bringen wußte, wenn man ihn nicht übereilte, ſon-
dern ihm die nöthige Zeit ließ.


In dieſem Syſteme war unſer Schulmeiſter
fünfzig Jahre alt geworden. Da ereignete es ſich,
daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters
auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen,
der bis zu den Dorfſchulmeiſtern umbildend durch-
greifen ſollte. Seine Vorgeſetzten ſchickten ihm
ein Lehrbuch der deutſchen Sprache zu, eines von
denen, welche die A B C-Wiſſenſchaft tiefſinnig
[147] und philoſophiſch begründen wollen, und ertheilten
ihm die Weiſung, ſeine bisherige rohe Empirie zu
rationaliſiren, ſich ſelbſt zuvörderſt aus dem Buche
zu unterrichten, und dann danach die veränderte
Belehrung der Jugend anzufangen.


Der Schulmeiſter las das Buch durch, er las
es noch einmal durch, er las es von hinten nach
vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht,
was er geleſen hatte. Denn es war darin gehan-
delt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf-
In- und Umlauten; er ſollte daraus die Laute
trüben und verdünnen lernen, er ſollte durch
Säuſeln, Ziſchen, Preſſen, durch Näſeln und Gur-
geln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß
die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln,
er erfuhr endlich daraus, daß das J der reine
Urlaut ſei, und daß deſſen Erzeugung durch ſtar-
kes Zuſammendrücken des Kehlkopfes nach dem
Gaumen hin geſchehe.


Er bat Gott um Erleuchtung in dieſen Finſter-
niſſen, aber ſein Flehen prallte zurück von dem ehernen
Himmel. Er ſetzte ſich wieder vor das Buch, mit der
Brille auf der Naſe, um ſchärfer zu ſehen, wiewohl er
bei Tageslicht wohl noch ohne Gläſer fertig werden
10*
[148] konnte. Ach, nur deutlicher traten ſeinen bewaffneten
Augen die furchtbaren Räthſel des Daſeyns, die Sau-
ſe- Ziſch- Preß- Naſen- und Gurgellaute entgegen!
Darauf legte er das Buch weg, fütterte ſeine
Gänſe und gab einem Jungen, der gerade dazukam
und ſagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht
zahlen, zwei derbe Maulſchellen, um durch das
praktiſche Leben Aufſchluß für die Theorie zu ge-
winnen. Umſonſt. Er aß eine Knackwurſt, ſich
körperlich zu ſtärken. Vergebens. Er leerte einen
ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieſes
Gewürz ſchärfe den Verſtand. Eitles Bemühen!


Er legte das Buch Abends vor dem Schlafen-
gehen unter ſein Kopfkiſſen. Leider fühlte er am
andern Morgen, daß weder die Wurzeln, noch die
Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren.
Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom
Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichſten
Leibſchmerzen hin, verſchlungen, wäre er dadurch
des Inhaltes Meiſter geworden; aber welche Hoff-
nungen konnte er nach dem Bisherigen von einem
ſo gewagten Verſuche hegen?


Die Schule ſtand ſtill, die Kinder fingen Mai-
käfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die
[149] Alten aber ſchüttelten den Kopf und ſagten: Mit
dem Schulmeiſter hat es ſeine Richtigkeit nicht.
Eines Tages, nachdem er ſich wieder in ſeinen
verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der
Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er:
Wenn ich dieſer Beſtie von Buch nur erſt an
einem Flecke beigekommen bin, ſo giebt ſich
vielleicht das Uebrige von ſelbſt! — Er nahm
ſich vor, zuvörderſt den reinen Urlaut J nach
der Anweiſung des Buchs zu erzeugen.


Er ſetzte ſich daher auf ſeinen Grasfleck zum
Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle
Lauterzeugung, empiriſch brummte, ſtemmte die
Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf ſtark
nach dem Gaumen hin, und ſtieß nun die Töne
hervor, welche ſich auf ſolche Weiſe veranſtalten
laſſen wollten. Sie waren höchſt ſonderbar, und
ſo auffallend, daß ſelbſt das Rind vom Graſe
emporblickte und ſeinen Herrn mitleidig anſah.
Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezo-
gen; ſie ſtanden neugierig und verwundert um den
Schulmeiſter her. Gevattern! rief dieſer und ruhte
einen Augenblick von ſeiner Anſtrengung aus;
paßt einmal auf, ob es der reine Urlaut J wird?
[150] Darauf gab er ſich wieder an die Kehlkopf-Gau-
mendrückung. Gott behüte! riefen die Bauern,
und gingen nach Hauſe, der Schulmeiſter iſt über-
geſchnappt, er quiekt ſchon wie ein Ferkel.


Und wirklich ſtand der arme Schulmeiſter nahe
an der Grenze, über welche die Bauern ihn bereits
geſprungen glaubten. Die Friſt war abgelaufen,
welche man ihm zum Selbſtunterrichte geſetzt hatte,
er ſollte jetzt nach dem Buche leſen lernen laſſen,
eine Viſitation ſeiner Schule durch den Herrn
Schulrath Thomaſius nahte heran, die Verzweif-
lung trat ihm zum Herzen, und ſeine Gedanken
begannen zu ſchwärmen. Andre ſind durch das
Brüten über der unbefleckten Empfängniß der Jung-
frau Maria, oder über dem Geheimniſſe der Trinität,
oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt ge-
worden; warum ſollte ein Dorfſchulmeiſterlein nicht
durch eine moderne Sprachlehre den Verſtand ver-
lieren können? Genug, ich erzähle es, und wer
mir nicht glauben will, frage im Dorfe Hackel-
pfiffelsberg nach. Da hat ſich die Geſchichte zuge-
tragen, und jedes Kind weiß dort davon.


Ein reiſender Student kam in jenen Tagen
durch Hackelpfiffelsberg, der kehrte in der Schenke
[151] ein, und vernahm von dem närriſchgewordenen, oder
närriſchwerdenden Schulmeiſter. Es war ein feiner,
denkender Kopf, der ſich beſonders auf Pſycholo-
gie verlegt hatte, und der daher eine große Be-
gierde verſpürte, den Kranken kennen zu lernen.
Er fand ihn in leinenen Aermeln ſitzen, die behaarte
Bruſt offen, eine große weiße Nachtmütze auf dem
Kopfe. Wie geht es, Meiſter? fragte der Stu-
dent. So, ſo, Fremdling, verſetzte der Schul-
meiſter. Nicht wahr, die alten Spartaner waren
Kerle? Keine müßige Gelehrſamkeit, keine Quäle-
rei mit Umlauten, Inlauten, Bruſtlauten! Alles
auf Thatkraft, auf das wirkliche Leben berechnet,
den Körper abgehärtet, den Sinn zugeſpitzt zu
Apophtegmen! Mich ſoll der Henker holen, wenn
ich mir nicht Alles in Zukunft Lacedämoniſch ein-
richte! Meine wackern Vorfahren! Denn was iſt
Ageſel? Ageſel iſt nichts, verſtümmelt, verdorben
aus Ageſilaus, dem tapfern Könige von Sparta.
Die Türken vertrieben die Griechen, darunter
waren natürlich die Nachkommen des Königs Age-
ſilaus auch, und die haben ſich allmählig bis hieher
verzettelt, die Endſylbe iſt aber unterweges verlo-
ren gegangen. O, man müßte nicht von den Wur-
[152] zeln und den Ableitungen die Zeit her die Kränk’
gekriegt haben, wenn man ſo etwas unglaublich
finden wollte!


Hoho, dachte der Student, ſteht es dermaßen
hier? Aber ein anziehender Fall! Ich muß ihn
beobachten. Er blieb den ganzen Tag über bei
dem Schulmeiſter, und merkte durch viele Fragen
aus ſeinen krauſen Antworten endlich ſich ſoviel
ab, daß der Kranke in früheren Jahren eine alte
Schwarte über die Sitten und Gebräuche jenes
griechiſchen Freiſtaates geleſen hatte, ſchon damals
von denſelben höchlich entzückt geweſen war, daß nun
gegenwärtig die gleichſam in Schlummer gelegenen
Vorſtellungen erwachten und ein fieberhaftes Leben
in ihm gewannen. Abends trug der Student fol-
gendes Notizenſchema in ſeinem Tagebuche ein:
Paralyſirung des Denkvermögens in einem beſchränk-
ten Geiſte durch unverdaulichen Denkſtoff.


  • Allmähliges Denk-Nichts.
  • Eintreten einer prägnanten antiken Idee im
    Vacuo.
  • Die Atome des aufgelöſten Denkvermögens
    ſchießen an dieſer Idee an.
  • Zuſtand des Rappelns.

[153]
  • Conſolidation des Rappelns.
  • Fixe Idee.
  • Außerdem vernünftiger Menſch.

NB. Nach der Ferienreiſe weiter auszuführen.


Es mochte ohngefähr ein Vierteljahr nach die-
ſen Vorfällen verſtrichen ſeyn, als der Schulmeiſter,
nur bekleidet mit einem braunen, groben Mantel,
in der Hand eine junge Tanne, vor den alten
Baron trat, der in ſeinem verwilderten Franzoſi-
ſchen Garten hinter dem Schloſſe die freie Luft
genoß. Der Baron wußte im Allgemeinen ſchon
von den Dingen, die ſeinem Bekannten wieder-
fahren ſeyn ſollten, und trat daher drei Schritte
vor ihm zurück, befonders da er ihn mit dem nicht
gerade dünn zu nennenden Tannenſtamme gerüſtet
ſah. Aber der Schulmeiſter lächelte, und legte,
als ob er die Gedanken des Andern erriethe, die
junge Tanne ab. Dann machte er dem Baron
eine höfliche Verbeugung, und ſprach die üblichen
Begrüßungsworte, ohne daß in Ton oder Wendung
etwas Excentriſches hervorgeſprungen wäre. Der
Baron faßte daher Muth, ging auf den Schulmei-
[154] ſter zu, ergriff ſeine Hand und ſagte: Nun, wie
geht’s Euch, alter närriſcher Teufel? Was für
Streiche habt ihr denn angefangen, Ageſel?


Ageſilaus, wenn ich bitten darf, gnädiger Herr,
erwiederte der Schulmeiſter ſanft und höflich. Ich
habe dieſen meinen guten, ehrlichen Stammnamen
wieder angenommen.


Der Baron entfernte ſich nun doch wieder
etwas von ſeinem Beſuche, und ſah ihn mit ſcheuen
Blicken von der Seite an. Der Schulmeiſter aber
fuhr geſetzten Weſens ſo fort: Ich weiß, was
Sie von mir denken, mein Gönner. Sie halten
mich für verrückt. Sie irren ſich, Herr Baron;
ich bin nicht verrückt. Es ſollte mir Leid thun,
wenn ich mich in dieſem Zuſtande befände, denn
dann könnten Sie mir mit Recht dasjenige verſa-
gen, um welches ich Sie dringend anſprechen muß.
Ich habe meine fünf Sinne vollkommen beiſammen,
und weiß, daß ich ein Nachkomme des alten Königs
Ageſilaus bin, daß ich folglich die Verpflichtung
habe, ſpartaniſches Leben und Weſen in mir dar-
zuſtellen, welches wohl überhaupt ein herrliches
Correctivum für dieſe weichliche, abgeſchwächte,
übergelahrte und ſophiſtiſche Zeit ſeyn möchte.


[155]

Der Baron fragte, um nur etwas zu ſagen:
Iſt es denn wahr, was ich gehört habe, daß Ihr
abgeſetzt ſeid, Herr … Herr … Ageſilaus … nicht?
ſo nennt Ihr Euch?


Abgeſetzt allerdings, fortgejagt, wenn Sie ſo
wollen, durch den Schulrath Thomaſius, erwiederte
Ageſilaus ruhig. Nachdem ich das grammatiſche
Fieber, in welches ich durch jene Höllen-Lautlehre
geſtürzt worden war, überwunden hatte, hielt ich
es für meine Schuldigkeit, die mir anvertraute
Dorfjugend Lacedämoniſch zu bilden. Ich wies
ſie daher an, zu ſtehlen und ſich nur nicht betreffen
zu laſſen, um ihre Liſt und Kühnheit zu üben, ich
erregte Streit und Schlägerei unter ihnen, um
ihre Herzhaftigkeit zu prüfen, und ich prügelte
ſie allwöchentlich dreimal ohne Grund ab nach
dem Muſter der Geißelung am Altare der Diana.
Herrlich ſchlug auch meine Methode an. Die Jun-
gen fanden, daß noch nie ſo luſtig Schule gehalten
worden ſei, rauften ſich, daß es eine Art war,
ohne zu muckſen, ſtahlen ihren Eltern die Aepfel
vor der Naſe weg, und ließen ſich nicht erwiſchen,
verſchmerzten ſelbſt die grundloſen Prügel wegen
der ſonſtigen Ergötzlichkeiten, die ſie jetzt unge-
[156] ſtraft hatten. Aber die dummen Bauern konnten
meinen Plan nicht faſſen. Sie ſchrien, daß ich
ihre Brut von Grundaus verderbe, und verklagten
mich. Da hat mich nun der Schulrath — nun,
er iſt auch keiner von den hellſten Köpfen — von
dannen getrieben, und alſo ereilte mich das Fatum.


Ich wundre mich nur, ſagte der Baron, der
ſich noch immer von ſeinem Erſtaunen nicht erho-
len konnte, über alle die gelehrten Anſpielungen,
die Euch da ſo vom Munde ſtäuben, wie Federn
vom Kiſſen, wenn das Bett gemacht wird. Woher
habt ihr das Fatum und die ſophiſtiſche Zeit, und
was Ihr ſonſt noch vorbrachtet?


Es kommt mir alles Dieſes und mehreres
dergleichen, wenn ich es gebrauche, wie durch innere
Eingebung und Erleuchtung, antwortete der Schul-
meiſter. Seit die Urerinnerung an meine tapferen
und unvergleichlichen Vorfahren in mir aufgewacht
iſt, ſtehen meinem Geiſte Dinge zu Gebote, welche
freilich vordem in meinem Dorfleben mir nicht
geläufig waren.


Er trug nun dem Baron ſein Anliegen vor,
welches darin beſtand, ihm Obdach und nothdürf-
tige Leibesnahrung zu gewähren, da er nach ſeiner
[157] Abſetzung von Allem entblößt ſei und nichts beſitze,
als was er um und an ſich trage. Der Baron
nahm Anſtand, einen tollen Menſchen, (denn dafür
hielt er den Schulmeiſter) im Schloſſe zu beher-
bergen, gleichwohl litt es ſein gutes Herz nicht,
einen Dürftigen hungern und frieren zu laſſen.
Er wies ihm daher ein kleines, verfallenes Gar-
tenhäuschen, welches in der entfernteſten Ecke des
franzöſiſchen Gartens auf einem Schneckenberge ſtand,
und ehemals grün angeſtrichen geweſen war, zum
Quartier an. Damit war ſein Schutzbefohlner
vollkommen zufrieden. Er zog ein, nannte den
Schneckenberg das Gebirge Taygetus, und taufte ein
kleines Wäſſerchen, welches ziemlich träge unter
ſogenanntem Entenflott in der Nähe dahinſchlich,
zum Eurotas um. Einmal des Tages kam er
auf das Schloß, mit den Bewohnern ihre kärg-
liche Mahlzeit zu theilen; die zweite hielt er in
ſeiner Behauſung ab. Sie pflegte in der Regel
aus einer Art von Mehlbrei zu beſtehen, den er
auf dem Schneckenberge an Reiſigfeuer zurichtete,
und ſeine ſchwarze Suppe nannte. Außer ſeinem
Mantel hatte er keine Kleidungsſtücke; ſein Getränk
ſchöpfte er vom Brunnen mit einem alten irdenen
[158] Topfe, der ihm den ſpartaniſchen Becher oder Ko-
thon bedeuten mußte, und von welchem er rühmte,
daß er, wie jenes antike Schöpfgefäß, wegen ſeines
eingebognen Randes jegliches Trübe und Unreine
vom Munde abhalte; alle Woche aber holte er
vom Schloſſe ſich friſches Stroh zur Lagerſtatt,
und hieß dieß, ſich Schilf im Eurotos ſchneiden.


Nach einiger Zeit hatte der Baron alle Furcht
vor ſeinem Gaſte verloren. Denn er bemerkte,
daß dieſer über jeden Gegenſtand ſo verſtändig
dachte und redete, wie der geſetzteſte Alltags-
menſch, und daß auch ſeine ſpartaniſchen Vor-
ſtellungen ſich zu einer ſogenannten unſchädlichen
Schrolle, oder zu dem, was man den Wurm bei
einem Menſchen nennt, gemildert hatten. In der
That mußte er geſtehen, daß unter den Ge-
ſetzen Schmalhanſens, des Küchenmeiſters, die
über Schloß und Gartenhäuschen herrſchten, die
lacedämoniſche Einfachheit vollkommen gerechtfer-
tigt war, und daß ihrem Anhänger daher die Zugabe
von der Ahnenſchaft des Königs Ageſilaus wohl
mit durchgehen konnte. Seine Geſellſchaft wurde
ihm nun ſehr lieb; er hatte doch Jemand, mit
dem er in den langen Herbſt- und Winterabenden
[159] plaudern konnte; er durfte nicht mehr befürchten,
an dem Ideenreichthume, den die Journale in ihm her-
vorbrachten, zu erſticken.


Freilich war, wie wir im Anfange dieſes Capi-
tels ſagten, der Schulmeiſter nur eine Birne für den
Durſt. Ueber Geſchichten und Anecdoten konnte ſein
Gönner mit ihm verhandeln, und des lebhafteſten
Geſpräches ſicher ſeyn, wenn er wichtige Punkte der
Hiſtorie zur Sprache brachte, wie zum Beiſpiel: Ob
Brutus Recht gehabt habe, Cäſar’n zu erſtechen, was
aus der Welt geworden ſeyn möchte, wenn die Fran-
zoſen die Revolution nicht zu Stande gebracht
hätten, oder wenn Friedrich der Große und Napo-
leon Zeitgenoſſen geweſen wären, und was der-
gleichen mehr war. Dagegen fehlte dem vermeint-
lichen Abkömmlinge des Königs von Lacedämon
aller Sinn für die Curioſitäten aus der Länder-
und Völkerkunde, und aus dem Gebiete der Erfin-
dungen, Handels- und Gewerbsverhältniſſe, denen
der Baron gerade am leidenſchaftlichſten ſich zuneigte.


Mit dem Fräulein hatte der Schulmeiſter man-
chen Streit und ſie duldete ihn eigentlich nur ihres
Vaters wegen. Er war ihr beſonders durch eine
feurige Rede verhaßt geworden, in welcher er die
[160] Sitte der Spartaner, auch die Jungfrauen bei
den Feſten der Götter nackt tanzen zu laſſen, höch-
lich herausſtrich. Ein Nervenanfall hatte ſie nach
dieſer Rede ergriffen und mehrere Wochen lang
unpäßlich gemacht. Er nahm ſich daher auch ſpäter-
hin eine größere Vorſicht in ſeinen Lieblingsreden
zur Richtſchnur, um den Boden, auf dem er ſeine
Freiſtatt gefunden hatte, nicht zu unterwühlen.
Anderntheils wurde es nach und nach der allge-
gemeine Grundſatz der drei Academiker von Schnick-
Schnack-Schnurr, eine zarte Schonung der gegenſeiti-
gen Schooßneigungen walten zu laſſen.


In dieſen Verhältniſſen lebten der alte Baron,
das Fräulein und der Schulmeiſter ihre ſeltſam-
abgeſchiedenen Tage hin. Eines Abends ſagte der
Schloßherr zu ſeinem Schützlinge: Ihr ſeid jetzt
weit ruhiger und gleichmüthiger, Herr Ageſilaus,
als vor Zeiten, wo es Euch doch im Grunde
beſſer ging, als jetzunder. Damals konntet Ihr
Streckenlang ſehr mürriſch und verdrießlich ſeyn.


Mürriſch und verdrießlich nun woh nicht, mein
Gönner, verſetzte der Schulmeiſter, a er tiefſinnig
und melancholiſch. Wenn ich ſo meine ſchmutzigen
Jungen in einem fort buchſtabiren ließ, eine
[161] Woche nach der Andern, einen Monat nach dem
Andern, und ſich das ohne Reſultate fortſetzte,
diejenigen, welche leſen gelernt hatten, die Schule
verließen, und friſche Rangen, die noch nichts wuß-
ten, wieder hineinkamen, und immer, immerdar
wieder von vorn daſſelbe angefangen werden
mußte, da konnte mir das ganze Leben zuletzt völ-
lig dünn und unzuſammenhangend vorkommen, und
es gab Nächte, worin mir träumte, das menſchliche
Daſeyn ſei nur ein langes, leeres A B C, von
dem die Buchſtaben X Y Z in der Ewigkeit
ſtänden, und aus welchem nie ein verſtändiger
Satz, ja nur ein ſinnvolles Wort würde.
Wollte ich mir dann zu meinem Troſte ſagen, ich
ſei eben nur ein armer Dorfſchulmeiſter, die Trübe
dieſer Meinung entſpringe aus meiner gedrückten
Lage, und glücklichere Menſchen, wie hohe Obrig-
keiten oder gar durchlauchtige Potentaten ſeien
wohl in dem Falle, ihrer Exiſtenz einen Zuſam-
menhang zu geben, ſo war die Beſchwichtigung
doch nicht lange ſtichhaltend. Denn ich mußte
erwägen, daß das Regieren über Land und Leute
doch auch nur ſo ein ödes, langwieriges Buchſta-
biren ſei, und daß, wenn man es an irgend einem
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 11
[162] Zipfel zum Leſenlernen gebracht habe, dieſer ver-
ſchwinde, und an der andern Seite ein neues
Fibelſchützenweſen zu ſtammeln beginne. Aber ſeit
ich meine Ahnen kenne, ſeit ich weiß, welche herr-
liche Erinnerungen in mir ſich fortſetzen, und durch
mich lebendig zu erhalten ſind, iſt Alles in mir
Ruhe und Freudigkeit, haben ſich die Beſtand-
theile des Lebens im Kreiſe um mich her geſtellt,
kurz, bin ich zur Klarheit und zum Bewußtſeyn
durchgedrungen.


Sonderbar! rief der alte Baron vor ſich hin,
als der Schulmeiſter nach dieſer Aeußerung fort-
gegangen war. Wie es ſcheint, muß der Menſch
immer einen Sparren haben, um recht zuſammen-
zuhalten. Die Vernunft iſt wie reines Gold, zu
weich, um Façon anzunehmen; es muß ein tüch-
tig Stück Kupfer, ſo eine Portion Verrücktheit
darunter gethan werden, dann iſt dem Menſchen
erſt wohl, dann macht er Figur und ſteht ſeinen
Mann. Was für ein Gimpel war der Schul-
meiſter ſonſt, und wie geſcheidt ſpricht er jetzt,
ſeitdem es bei ihm rappelt. Das Leben iſt doch
ein curioſes Ding, und wäre ich nicht geborner
Geheimer-Rath im höchſten Collegio, ſo könnte mir
[163] auch vor mir bange werden. Aber da ich der
bin, ſo muß ich natürlich meinen vollen Verſtand
beſitzen.


11*
[164]

Siebentes Capitel.
Der Freiherr von Münchhauſen wird auf
den Boden dieſer Geſchichten geſchleu-
dert
.


Die blonde Lisbeth war in das Gebirge gegan-
gen, Zinſenrückſtände von den Bauern einzutreiben.
Sie hatte dieſelben zufällig in einem alten ver-
geßnen Rentenregiſter, welches unter anderem Gerüll
in einer Polterkammer lag, verzeichnet gefunden.
Ihr Pflegevater war ängſtlich geweſen, das Kind
ſo allein in das Gebirge ziehen zu laſſen, ſie aber
hatte muthig geantwortet: Wer wird mir etwas
thun? Ich ſchaff’ das Geld! hatte ſich an des
Schulmeiſters Eurotas einen Weidenſtecken geſchnit-
ten, ein Reiſetäſchchen voll der nöthigſten Wäſche
umgehängt, Schnürſtiefelchen angezogen, einen Stroh-
hut verwegen auf das kecke Häuptlein geſetzt, und
war ſo fürbaß gewandert.


[165]

Während ihrer Abweſenheit gingen die drei
Zurückgelaſſenen, der Baron, das Fräulein und der
Schulmeiſter eines Nachmittags in dem verwilder-
ten franzöſiſchen Garten ſpazieren. Sie verkehrten
aber nicht mit einander, wie dieß meiſtens bei ſol-
chen Gartenwanderungen zu geſchehen pflegte, ſon-
dern hingen in verſchiedenen Wegen und Stegen
ihren eigenen Gedanken nach. Die Pfade um
das Schloß her waren faſt überall von Dor-
nen verſperrt, oder durch ſumpfiges Erdreich feucht,
der trockne Sand, welcher die Gartenſtege noch
immer einigermaßen bedeckte, verdiente daher ohne
Zweifel den Vorzug, wenn man luſtwandeln wollte.
Damit aber dieſe gemeinſame Erholung einem
Jeden ſeine völlige Freiheit laſſe, und der Stoff
der Geſpräche nicht zu verſchwenderiſch eingezehrt
werde, hatte der alte Baron für die Gartenerho-
lung Aufhebung des geſelligen Verkehrs als Regel
feſtgeſetzt. Sollte eine Ausnahme eintreten, und
Geſpräch herrſchen, ſo war von ihm ein untrüglich
andeutendes Zeichen erfunden worden. Er ſchrieb
nämlich an ſolchen Tagen einem Genius von Sand-
ſtein, der, den Finger auf dem Munde, vor einer
kleinen düſteren Laube ſtand, und zu den noch am
[166] beſten erhaltenen Kunſtwerken des Gartens gehörte,
mit Kreide das Wort: Colloquium auf die Bruſt;
eines von den wenigen lateiniſchen Wörtern, deren
er ſich noch aus ſeinem Jugendunterrichte erinnerte.
So wie daher Jemand von der täglichen Geſell-
ſchaft in den Garten trat, ſah er nur nach der
Bruſt des Genius, und ſchwieg oder redete, jenach-
dem die Meinung des Schloßherrn lautete, denn,
in ſo großer Armuth er ſich befand, alle ſeine
Umgebungen waren gewohnt, ſich pünktlich nach
ſeinen Wünſchen zu richten.


Heute ſtand kein Colloquium auf der Bruſt
des Genius angekreidet. Der alte Baron war
ſchon ſeit einigen Wochen in einer trüben, ſehn-
ſüchtigen Stimmung, welche, gerade heute zu beſon-
derer Verdüſterung erwachſen, ähnlichen Launen bei
dem Schulmeiſter und Emerentien begegnete, ſo
daß Beide mit der ihnen auferlegten Trappiſten-
regel an dieſem Tage beſonders zufrieden waren.
Wie es wohl zu gehen pflegt; lange Zeit bleiben
die eigentlichen Grundempfindungen eines Kreiſes
von Tagestäuſchungen überhüllt; endlich aber drän-
gen ſie ſich doch wie Springfluthen unwiderſtehlich
an die Oberfläche hervor.


[167]

Die Gefühle der drei luſtwandelnden Perſonen
brachen, da letztere weit genug von einander gingen,
um ſich für unbelauſchbar halten zu können, in
Selbſtgeſpräche aus. Der alte Baron ſchritt zwi-
ſchen zwei Taxuswänden auf und nieder, welche
ehemals auf ihrer oberen Fläche die zierlichſte
Abwechſelung von Kreuzen, Pfeilern und Urnen
dargeboten hatten, nun aber längſt aus aller Schur
gewichen waren, und nur noch unförmliche, mißge-
ſtaltete Klumpen grüner Blätter und Aeſte zeigten.
Sein Schritt war heftig, ſein Blick ſchwer. Ja,
rief er aus, wenn ich einen Mann hätte, der mich
verſtände, mit dem ich laut denken könnte, der
Sinn für einen weiten Geſichtskreis beſäße, dann
ließe ſich herrlich und in Freuden leben! Immer
Neues, Wunderbares muß ich haben, die Jour-
nale genügen mir ſchon nicht mehr, ſie fangen an,
mir ſchaal vorzukommen; Hypotheſen, Hypotheſen
begehre ich, eine gewaltiger als die Andre, denn
nur Hypotheſen löſchen den Wiſſensdruſt, wenn
er einmal entflammt worden iſt. Was hilft es
mir, daß ich heute von den Ungeheuern geleſen
habe, die in jedem Waſſertröpfchen leben, mit
Kugelleibern, oder tauſend Füßen, oder Rüſſeln
[168] oder Sägezähnen? Bin ich danach klüger, als
zuvor? Nein. Dümmer im Gegentheil. Wie
entſtehen ſie? Was treiben ſie? Was freſſen ſie?
Wie begatten ſie ſich? Sind es Säugethiere, die
lebendige Junge zur Welt bringen, oder Eier-
legende Fiſche? — O fände ich doch nur einen Mann,
mit dem ich Alles ſo recht durchſprechen könnte,
der eine Erklärung auch für das Dunkelſte gäbe,
gleichviel welche! Der Schulmeiſter iſt ein ehrlicher
Kauz, aber doch im Grunde ein dummer Teufel
mit ſeinen alten Spartaner-Flauſen. Ich habe
mir einen verrückten Menſchen unterhaltender ge-
dacht; der Ageſel beginnt, mich zu langweilen. —


Er trat verſtimmt zu einem ſteinernen Schäfer,
der an dem einen Ende der Taxuswände ſtand,
und vor Zeiten Flöte geblaſen hatte, nun aber
nur noch vergeblich den Mund ſpitzte und die
Arme in der gezwungenen muſicaliſchen Haltung
leer vor ſich hinſtreckte, weil die Flöte ihnen
längſt von der Zeit entführt worden war. Der
alte Mann lehnte ſich düſter an den verſtümmelten
Schäfer; vor ſeinem geiſtigen Geſichte wälzten ſich,
ſchoſſen und kugelten rieſige Infuſionsthiere umher,
bis ihm die Gedanken in das Formloſe zergingen.


[169]

Inzwiſchen umkreiſete Fräulein Emerentia ein
mit Muſcheln eingefaßtes Becken, welches freilich
ſchon ſeit geraumen Jahren ſo trocken lag, wie
das rothe Meer, als die Iſraeliten hindurchgingen.
Ein Delphin ſtreckte in der Mitte dieſes Beckens
ſeine aufgeſtülpte Naſe empor. Er hatte von Glück
zu ſagen, daß er aus Kupferblech beſtand; ohne
dieſe Conſtitution hätte er in ſolcher Trockniß ret-
tungslos verſchmachten müſſen. Auch ein Unbe-
ſchäftigter! Woher ſollte der Waſſerſtrahl ihm zu-
fließen, den er ſonſt aus den Nüſtern in die Höhe
geſendet hatte? — Das Fräulein umſchritt, wie
geſagt, das Becken, und ſah bald auf deſſen Grund,
bald auf den Delphin, bald auf die bunten Kieſel,
welche in Sternen, Rauten und Blumen eingelegt,
den Platz um das Becken zierten, ohne daß ſie
von einem dieſer Gegenſtände Troſt für ihre weh-
müthigen Empfindungen zugeſprochen bekommen
hätte. Hartes Loos, flüſterte ſie ſchwermuthsvoll
vor ſich hin, mit einem reichen Herzen, mit einem
zarten Gemüthe unter kalten, abſtoßenden Naturen
leben zu müſſen! Wer verſteht hier die heilige Sehn-
ſucht, die mich ſo ganz nach Rucciopuccio erfüllt,
dem Fürſten von Hechelkram im Geheimen? Ich
[170] weiß, das Schickſal, welches unſer Leben wendet,
will ſtill erwartet ſeyn, und darum greift kein un-
geſtümes Verlangen im Buſen der Entwickelung der
Tage vor, nein, geduldig harrt der gläubige Sinn
des liebenden Weibes auf den ſeligen Augenblick,
da der goldlackirte Wagen vor dem Schloſſe halten
und der Läufer mit Blumenhut und Schurz in die
Thüre ſpringen wird, fragend nach Emerentien,
die in den Stunden der Andacht zu Nizza Marce-
bille hieß. Aber eine feinfühlende zweite Seele,
ein ſympathetiſches Gemüth wünſcheſt du dir, und
darfſt du dir wünſchen, arme Emerentia, die Qual
des Harrens zu lindern! Nun, wie ſteht es um
die Befriedigung dieſes Verlangens hier? Welche
Perſonen umgeben dich? Wirſt du in deinen Seuf-
zern von irgend Jemandem, mit dem dich dein
Loos verbunden hat, begriffen? Der gute Vater
iſt gut, ſehr gut, aber lacht er nicht, wenn du ihm
die Geheimniſſe deiner Bruſt leiſe und ſchamhaft
enthüllſt? O wie verderblich iſt die einſeitige Ver-
ſtandescultur, welche der Menſch von Journalen
empfängt! Wie höhlt ſie das Herz aus! Und
jener ſpartaniſche Pöbelnarr — — nein, denke
ihn nicht zu Ende, dieſen Narren, deſſen cyniſche
[171] Reden ſchon in der Erinnerung meine keuſche Seele
aus tauſend Wunden bluten machen. O komm,
Menſch, fühlender Mitmenſch, den ich nicht kenne,
aber geſtaltet vor den Augen meines Geiſtes ſehe,
der du mich verſtehen wirſt ohne Wort, wie der
heilige Mond, wenn ich zu ihm aufblicke, dem das
Unausſprechliche in mir klar ſeyn wird, wie ein
Spruch der Einfalt, komm, Tröſter, Paraclet, mir
meine ſüßen Ahnungen auszudeuten, und mich in
dem zu begreifen, worin ich mich ſelbſt nicht faſſe!
— Nach dieſer Rede, die Emerentien gewiß jeder
Leſerin von Gemüth theuer macht, ſetzte ſie ſich dem
Delphin gegenüber auf einen unformlichen Raſen-
hügel, der ehemals eine Bergere geweſen war, und
fuhr fort, herzbrechende Seufzer auszuſtoßen.


Auch der Schulmeiſter war nicht glücklich. Er
kauerte auf ſeinem Gebirge Taygetus, oder Schne-
ckenberge, vor einem Feuer, welches der Wind hin
und herwehte, und kochte ſchwarze Suppe. Denn
es hatte zum Mittagseſſen auf dem Schloſſe Spi-
nat gegeben, das einzige Gericht, welches er, ſonſt
nicht auf Leckerei geſtellt, zu genießen unvermögend
war, weil er behauptete, es ſchmecke nach Rauch-
tabak. Während ſeiner Beſchäftigung polterte und
[172] brummte er folgende Reden heraus: Schlimm!
Schlimm, beim Kuckuk, wenn man mit Ignoranten
zu thun hat! Das Fräulein iſt eine Mondſchein-
prinzeſſin, und der alte Baron, dem übrigens Gott
ſeine Güte an mir vergelten mag, ein Confuſio-
narius! Ich kriege es nicht heraus! Bis nach
Böhmen kann ich die Spuren meiner Vorfahren
verfolgen, als ſie ſich vor den Türken flüchteten,
aber weiter geht’s nicht, von da bis hieher Nacht,
Finſterniß, unwegſame Wüſte! Mein Aeltervater
war aus Buxtehude, alſo haben die Spartaner
einen Haken bis zur Nordſee geſchlagen. Wie
reim’ ich nun dieſen Haken mit der Niederlaſſung
der übrigen Ageſelſchen oder vielmehr Ageſilaus’ſchen
Familie in hieſigen Landen zuſammen? Und doch,
da die Sache ihre Richtigkeit hat, ſo muß ſie ſich
auch beweiſen laſſen. O, ein Gelahrter, ein For-
ſcher, der mir hülfe, die Vermuthungen zuſammen-
ſtellte, und ſelbſt Vermuthungen hätte, wo mir
alle Vermuthungen ausgehn; o, ein ſolcher Mann
fehlt mir nur allzuſehr! — Er rührte heftig in
der ſchwarzen Suppe und ſeine Reden gingen in
einzelne abgebrochne Ausrufungen über, die von
dem Verdruſſe ſeiner Seele zeugten.


[173]

Nach einigen Minuten erſeufzte das Fräulein
am trocknen Waſſerbecken ſo laut, daß ſelbſt ihr
Vater am Flötenbläſer ohne Flöte und der Schul-
meiſter auf dem Taygetus es vernahmen. Aus
Sympathie ſtimmten ſie ihrerſeits ein, ſo ſtark ſie
nur vermochten, und es ſtieg daher ein dreifacher,
gewaltiger Seufzer der Sehnſucht im Garten des
Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr empor. Kaum
war er verklungen, ſo ertonte aus einer Ecke des
Gartens, zunächſt der einfaſſenden Hecke, ein lautes
Geräuſch, wie wenn Jemand von einer nicht unbe-
deutenden Höhe herabfalle, ein Hufſchlag, wie von
einem davoneilenden Pferde, und das Geſpräch
zweier Menſchen, von denen der Eine fragte: Wie
iſt es, mein gnädiger Herr? Haben Sie ſich wehe
gethan? der Andre aber antwortete: Durchaus
nicht, durchaus nicht, du weißt ja, daß mir kein
Sturz etwas thut, auch liegt hier, wie du ſiehſt,
ein weicher Haufen Unkraut und Gras zuſammen-
getrieben, auf den bin ich geſunken, als ich aus
den Lüften herniederſchwebte. Soll ich dem Pferde
nachrennen? fragte die eine Stimme. Nein, ver-
ſetzte die Andre, wir ſind am Ziel, welches das
Schickſal uns wies. Laß die Creatur auch ihrem
[174] Ziele nachlaufen, welches ohne Zweifel in dem
Stalle des Verleihers ſeyn wird, aus dem ich den
Klepper im Städtchen entnahm.


Der alte Baron, das Fräulein und der Schul-
meiſter näherten ſich jetzt dem Orte, wo der Fall
und dieſes Geſpräch erſchollen war, und ſahen zwei
Männer, welche ſie in nicht geringes Erſtaunen
verſetzten. Der Eine war eine ſtämmige Figur,
deren Eigenthümer ſeine vierzig und mehrere
Jahre zählen mochte, mit einem durchaus blaſſen,
aber kräftig musculöſen Geſichte, aus dem zwei
große lebhafte Augen hervorſtrahlten. An ſeiner
Kleidung zeichnete ſich ſonſt nichts aus, dagegen
konnte ein übermäßig großer Strohhut mit fuß-
breiten Krempen auffallend erſcheinen, welcher einige
Schritte von dem Fremden im Sande lag. Dieſer
Strohhut war eigentlich kein Strohhut; ſeine Form
ſchwankte zwiſchen Mütze und Casquett. In Zukunft
ſoll er, wo er noch vorkommt, der Strohhelm heißen.


Der Andere war noch unterſetzter und gedrun-
gener, als der Erſte, ſchien mit ihm in gleichen
Jahren zu ſeyn, hatte aber die gewöhnliche Geſichts-
farbe eines geſunden Menſchen. Seine Augen waren
wo möglich noch greller, als die des Herrn, denn
[175] in dieſem Verhältniſſe mußte wohl der Erſte zu
dem Zweiten ſtehen, da Letzterer in einer eiergel-
ben Livree ſtak, einen lackirten Bedientenhut auf
dem Kopfe trug und ſich um den Erſten mit einer
Kleiderbürſte bemühte, allerhand Erd- und Gras-
ſpuren von dem lichtgrauen Ueberrocke deſſelben zu
tilgen.


Indem die Geſellſchaft vom Schloſſe ſich den
Fremden näherte, blickten dieſe auf, der Erſte
ſagte dem Zweiten etwas in das Ohr, worauf
der Diener den Strohhelm von der Erde erhob und
ſeinem Herrn darreichte. Letzterer trat den Dreien
entgegen und ſagte mit wunderbaren Muskelbewe-
gungen im Antlitz zum alten Baron einige höfliche
Worte der Entſchuldigung, daß er ſo unangemel-
det in ſeinen Garten gefallen ſei. Der Baron ver-
ſetzte, das habe gar nichts zu bedeuten, und der Schul-
meiſter machte dazu eine tiefe Verbeugung. Beide
muſterten erſtaunt die Zubehörungen des Fremdlings,
wie man die Papierhefte, Rollen und Streifen
wohl nennen durfte, welche aus den Seiten-Rücken-
und Bruſttaſchen ſeines Rocks, ja ſogar aus den Oeff-
nungen eines ledernen Ranzens hervorſahen, den er
an einem Querriemen über die Schultern geworfen trug.


[176]

Die Aufmerkſamkeit des Fräuleins war dage-
gen in dieſen erſten [Augenblicken] weit mehr von
dem Bedienten gefeſſelt worden. In der That
zeigte der Aufzug dieſes Menſchen auch ſo manches
von einer gewöhnlichen Livree Abweichende. Denn
um von dem Strauße wilder Feldblumen zu ſchwei-
gen, der an ſeinem Hute duftete, ſo mußte gewiß
Jedem ſonderbar vorkommen, daß er einen großen
bunten Tuch wie einen Schurz ſich um die Hüften
geknüpft hatte.


Der Herr war indeſſen in die Mitte zwiſchen
den Baron und den Schulmeiſter getreten, durch
dieſe Bewegung war auch das Fräulein veranlaßt
worden, ihn achtſamer zu betrachten, und ſich zu
nähern; ſo bildeten die Drei eine Gruppe von
Hörern um den Fremden, welche wie von ſelbſt
entſtanden war. Laſſen Sie uns, geſchätzte drei
Unbekannte, nicht zu lange in einem leeren Erſtau-
nen einander gegenüber ſtehen, hob er mit einer
gewiſſen Feierlichkeit an, welche jedoch die Wie-
derholung jener Muskelbewegungen im Antlitz, auf
die wir ſchon hingedeutet haben, nicht verhinderte.
Ich fühle etwas in mir, welches mir ſagen will,
daß unſer Zuſammentreffen in dieſem verwilderten
[177] franzöſiſchen Garten Folge einer ſideriſchen Con-
junction iſt, welcher die Signatur unſerer vier
Mikrokosmen entſpricht. Iſt dem alſo, ſo würde
alles gehaltloſe Verwundern, und der eitle Apparat
nichtsſagender Complimente, welcher die Vorhalle
unbedeutender Bekanntſchaften auszieren muß, nur
eine Verſchwendung köſtlicher Minuten ſeyn. Haſche
nach Minuten, denn auf ihren Fittichen ruht die
Ewigkeit! ſagt uns ein weiſer Dichter. Die
tiefſte Ahnung meiner Seele ruft mit vernehmli-
cher Stimme: Es war vorbeſtimmt; die Zeit war
dazu reif, daß mein Pferd an jener Hecke bocken,
ſich bäumen und mich zuerſt auf jenen Unkrauthau-
fen ſchleudern, dem zu Folge aber in Ihren freund-
lichen und empfänglichen Kreis befördern mußte.


Sind Sie vom Pferde geſtürzt? fragte der
alte Baron. Ja wohl, verſetzte der Fremde; doch
eigentlicher zu reden, ich flog mehr und beſchrieb
in der Luft eine Curve, deren Berechnung wohl
die Elemente der Ellipſe ergeben möchte. Ich bin
auf einer gelehrten Fußwanderung begriffen, deren
Zweck es iſt, das Mineral zu entdecken, wodurch
man Luft — — — doch ſtill vor der Hand noch
von dieſen Dingen! Weil ich mich aber ermüdet
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 12
[178] fühlte, nahm ich in der Stadt, vier Meilen von
hier, ein Miethpferd zu dem Abſtecher in dieſe
Gegend. Hieher wieſen mich geheime Andeutun-
gen in manchen Schriften, welche die Menge nicht
beachtet, die aber Körner gediegenen Goldes ent-
halten. Auch eigne Combinationen machten es mir
wahrſcheinlich, daß hier ein Stock des Min — —
doch, wie geſagt, ſtill davon! Ich hing auf meinem
Pferde verſchiednen Unterſuchungen nach, wie es
denn meine ziemlich ausgebreiteten Studien mit
ſich bringen, daß das Verſchiedenartigſte mir gleich-
zeitig durch den Kopf zu laufen pflegt. Ich fand,
daß die Infuſionsthiere, deren Oeconomie mich
unter Andrem kürzlich beſchäftigt hat, eigentlich
unentwickelte Karpfen ſind, und Gedächtniß be-
ſitzen …


Können Sie mir mehr von den Infuſions-
thieren ſagen? unterbrach der alte Baron mit
einem ſchwärmeriſchen Eifer den Redner.


So viel Sie begehren; mit dieſen Geſchöpfen
habe ich in dem vertrauteſten Umgange geſtanden,
erwiederte Jener.


Dazwiſchen ſann ich meinen Hypotheſen über
die Vertreibung und Verpflanzung der alten Natio-
[179] nen durch die Völkerwanderung nach, bewies mir,
daß viel griechiſches Blut unter uns rollt, worauf
auch ſchon in der Sprache ſo Manches hinweiſet,
wie z. B. Kater, abſtammend von καϑείρω; rei-
nigen, ſäubern, weil jenes Thier die Häuſer von
Mäuſen reiniget; Katze, von der Präpoſition
κατά, herab, gegen, darauf hin, drüber hin, durch
hin, entlang; denn ſind nicht die Katzen in ihrer
geſchmeidigen und ſtürmiſchen Beweglichkeit gewiſ-
ſermaßen die lebendig gewordene Präpoſition Katà?
Springen ſie nicht unaufhörlich von Dächern und
Bäumen herab? Nicht gegen Mauern? Nicht,
wenn ein Vogel im Laube ſpielt, drauf hin? Nicht,
ſcheint der Mond auf den Söller, drüber hin?
Nicht durch Dick und Dünn hin? Nicht Kornfel-
der entlang? Alſo, griechiſche Rudera, wohin wir
in Deutſchland treten …


Spartaniſche doch insbeſondere auch? fragte der
Schulmeiſter mit funkelnden Augen.


Die werden ſich natürlich ebenfalls ſehr leicht
entdecken laſſen, erwiederte der Fremde.


Der Schulmeiſter drückte dem alten Baron
hinter dem Rücken des Fremden feurig die Hand,
und der Schloßherr, der an die Infuſionsthiere
12*
[180] dachte, und alle Standesunterſchiede vergeſſen hatte,
erwiederte dieſes Zeichen der Begeiſterung mit Wärme.
Der Fremde fuhr fort: Dieſen und vielen andern
Gedanken hing ich auf dem Rücken meines Thieres
mit Bequemlichkeit nach, denn es gehörte zu denen-
welche aufgehört haben, Freunde von Leibesbewe-
gung zu ſeyn, und konnte nur durch die Gerte
meines nachwandelnden Dieners, womit derſelbe
die Schenkel des Läſſigen beſtrich, im nothdürftig-
ſten Gange erhalten werden. Ich erzähle dieſe
Umſtände ſo ausführlich, weil ſie dem nachfolgen-
den Vorfalle erſt ſeine volle Bedeutung geben.
Nämlich, als ich in den Weg einbiege, der ſich
dort entlängſt Ihrer Gartenhecke hinzieht, und
mein Miethroß im geſetzteſten Schritte einherſchleicht,
ich aber an nichts weniger denke, als mit dem
Schloſſe und ſeinen Bewohnern anzuknüpfen, ſcheut
das Pferd, als ſähe es, gleich Bileams Eſelin
eine Erſcheinung, wirft den Kopf in die Höhe,
hebt ſich auf die Vorderfüße, bockt mit einer
unglaublichen Schnellkraft, ſchlägt ſofort auch hin-
ten aus, ſpringt mit einem Seitenſatze in das
Dornengebüſche; ich aber, bügellos geworden, ſchwebe
in der von mir ſchon beſchriebenen Curve, gemäß
[181] dem Parallelogramm der zuſammenwirkenden Kräfte
des Bockens, des Ausſchlagens und des Seiten-
ſatzes über die Gartenhecke auf den Krauthaufen.
Während des Schwebens aber und bei dem Nie-
derprallen entſteht in mir blitzartig eine intel-
lectuelle Anſchauung, die mit ſinnlicher Stärke
vom Kreuze aufwärts durch das Rückenmark in
die Gehirnnerven ſteigt, und in Worte überſetzt,
lautet: Dieß iſt ein großer hiſtoriſcher Moment,
ein Ausgangspunct wichtiger Entwickelungen. Damit
Sie aber erfahren, wer ſo unvermuthet in die
Mitte aller Ihrer Beziehungen geſchleudert wurde,
ſo vernehmen Sie meinen Namen, Stand und Cha-
rakter. Ich bin der Freiherr von Münchhauſen,
Mitglied faſt aller gelehrten Geſellſchaften, in die
Academie der Arcadier zu Rom mit der Bezeich-
nung: Der nie Verwelkende, aufgenommen.


[182]

Achtes Capitel.
Handelt von dem Bedienten Karl Butter-
vogel, und von der freundlichen und
ehrenvollen Aufnahme, welche der Frei-
herr von Münchhauſen im Schloſſe Schnick-
Schnack-Schnurr fand
.


Und ich, ſagte der Diener, dreiſt zu den Herr-
ſchaften herantretend, bin der Bediente Karl But-
tervogel, bürſte meinem Herrn die Kleider aus,
und putze ſeine Stiefeln. Die gnädige Dame da
ſehen verwundert meinen Blumenſtrauß am Hute,
und dieſes Tuch an, welches beinahe wie ein Lau-
ferſchurz läßt; ja, ich wäre ſo ein Laufer, den
jede Schnecke einholen würde; ich habe zu ſchwer
hier an meinem Torniſter zu ſchleppen, worin die
Inſtrumente des gnädigen Herrn ſtecken. Nein,
ich pflückte mir die Blumen aus Langerweile, wäh-
rend mein Herr die Luft unterſuchte, und was
[183] den Schurz betrifft, ſo habe ich mir den umge-
knüpft, meine Unterkleider vor den verdammten
Dornen in Acht zu nehmen, durch die der gnädige
Herr ſich abſolut hindurcharbeiten wollte. Ich
glaube nicht, daß die Schindmähre vor einem hiſto-
riſchen Momente geſcheut iſt, wie Sie ſagen, ſondern
die Dornen riſſen ſie, und davon wurde das Vieh
fuchstoll.


Der alte Baron und der Schulmeiſter hörten
mit Verwunderung dieſen überkecken Reden eines
Dieners zu. Münchhauſen ſuchte mit einem gewich-
tigen Blicke den Vorlauten in ſeine Schranken
zurückzuweiſen, da aber Jener den Blick ertrug,
ohne ſich niederſchlagen zu laſſen, ſo ſenkte der
Herr die Augen, und die Züge ſeines Geſichtes
begannen, ein geheimes geiſtiges Leiden auszuſpre-
chen. In dem Fräulein aber war die heftigſte
Gemüthsbewegung entſtanden. Ihre Wangen hatten
ſich bei den Reden Karl Buttervogel’s in Purpur-
gluth gefärbt, ihre fliegenden Blicke ſchweiften
von dem Herrn zum Diener, und von dieſem zu
jenem, während die Lippen leiſe Fragen an das
Schickſal vor ſich hin flüſterten, welche wie: Lau-
ferſchurz? Blumenhut? lauteten.


[184]

Der alte Baron lud den Freiherrn von Münch-
hauſen auf das Freundlichſte ein, bei ihm ſo lange
vorlieb zu nehmen, als es ihm gefiele, was Münch-
hauſen dankbar annahm. Alle begaben ſich hierauf
aus dem Garten in das Haus, nachdem der
Schloßherr ſeinem Gaſte, der das zerſtörte Gebäude
einigermaßen ſtutzig anblickte, zuvor eröffnet hatte,
die Wirthſchaft ſei in dieſem Augenblicke durch
allerhand Zufälligkeiten etwas in Unordnung gera-
then, auch ſolle gebaut werden. Auf der Treppe,
die vom Hausflure zu dem Wohnzimmer führte,
hätte der Freiherr beinahe wieder ein Unglück
gehabt. Denn eine von den morſchgewordnen
Stufen knackte, als er ſie betrat, und brach. Hier-
auf verlor er das Gleichgewicht, wollte ſich an
dem Geländer halten, faßte aber nur in die dünne
Luft, weil das Geländer vorlängſt zu Brennholz
verwendet worden war. Er wäre gefallen, wenn
ihn nicht der alte Baron am Rockzipfel gehalten
hätte. So aber kam er doch wieder glücklich auf
ſeinen Füßen zu ſtehen, und wurde vorläufig in
das Wohnzimmer geführt, bis ſeine Appartements
in Stand geſetzt waren. Dieſe Einrichtung beſorgte
der Schulmeiſter, da mit dem Fräulein nichts anzu-
[185] fangen war. Sie ſaß verklärten Blicks in einer
Ecke des Zimmers, ſah vor ſich hin, und ihre
Gedanken ſchienen abweſend zu ſeyn. Als der
Vater zu ihr ſagte: Renzel, (ſo nannte er ſie,
wenn er beſonders guter Laune war) wo kriegen
wir den Nachttiſch her für den Fremden? ver-
ſetzte ſie: O Vater, es wird Tag! und als er ſie
bat, die Bettung des Gaſtes zu beſorgen, blickte
ſie ihm ſtarr in das Antlitz und verſtand ihn
nicht. Der Schulmeiſter, welcher unter ſothanen
Umſtänden ſich zum Haushofmeiſter anerbot, bewies
dagegen eine nicht geringe Anſtelligkeit. Er war
während ſeines Dienſtes zu Hackelpfiffelsberg ſich
Knecht und Magd geweſen, und hatte dadurch die
genauſte Kenntniß aller kleinen häuslichen Geſchäfte
erworben. — Flink räumte er von der Vorraths-
kammer, die der Schloßherr zum Gaſtzimmer
beſtimmt hatte, weil ſie das einzige Gelaß war,
welches noch Fenſtern hatte, die getrockneten Aepfel,
die Bohnen und Erbſen hinweg, welche für den
Winterbedarf dort aufgeſchüttet lagen, ſorgte für
das Haupt des Fremden, indem er die loſe Gyps-
bekleidung der Decke mit einer Stange abſtieß,
fegte den Eſtrich rein, verjagte die Spinnen aus
[186] ihren luftigen Schlöſſern, nahm aus den Betten
der Schloßbewohner die noch einigermaßen ent-
behrlichen Stücke, ſtellte verſchiedene Holzfragmente
mittelſt Säge, Hammer und Nägel zu einer Art
von Sponde zuſammen, und wußte ſelbſt noch
einen erträglichen Tiſch und Stuhl für den Frei-
herrn aufzutreiben.


Nach vollbrachtem Werke ging er hinunter und
fand den alten Baron um zehn Jahre verjüngt.
Münchhauſen hatte ihm die Wirthſchaft der Infu-
ſionsthiere mit ſo reizenden Farben geſchildert,
daß ſein Zuhörer in Entzückung gerathen war, er
hatte ihm ganze Idyllen, Epen und Tragödien
vorgetragen, die ſich in jedem Waſſertropfen ſeiner
Verſicherung nach ereigneten. Als der Schulmei-
ſter nun einige Augenblicke mit Münchhauſen allein
gelaſſen wurde, gab ihm dieſer auf Verlangen
ſein Wort, daß er unfern von Buxtehude in einem
Bauerndorfe die deutlichſten Spuren ſpartaniſcher
Sitte und Abkunft angetroffen habe, indem die
Leute dort nichts von den Wiſſenſchaften hielten und
von Schmutz ſtarrten. Der Schulmeiſter ging höchſt
befriedigt von dannen, um ſeine ſchwarze Suppe
zu verzehren, und überließ Emerentien den Freiherrn.


[187]

Nach einer Pauſe, die ſo feierlich war, als die-
jenige zu ſeyn pflegt, welche die Comödianten vor
der großen Scene machen, in welcher die Liebe
dadurch über die Cabale ſiegt, daß Ferdinand ſei-
ner Louiſe Rattenpulver in Limonade eingiebt, nach
einer Pauſe, lang und laſtend, wie die vorſtehende
Periode, ſagte das Fräulein ſchüchtern zum Frei-
herrn: Herr von Münchhauſen, Sie treten wie ein
mythiſches Product unſrer Zuſtände mit innerer
Nothwendigkeit in die Burg meiner Väter. Schon
haben Sie ſich ſelbſt in Ihrer Gartenrede als
einen durch beziehungsvolle Beziehungen mit unſern
Wünſchen und Ausſichten Verknüpften empfunden.
Verargen Sie es daher der ſchüchternen Jungfrau
nicht, wenn ſie, die Geſetze der Zurückhaltung,
welche ſonſt meinem Geſchlechte eignen, brechend,
Sie herzlich und dringend fragt: Giebt es noch
Laufer?


Ja, meine Gnädige, erwiederte der Freiherr
mit ernſter Rührung; es giebt allerdings noch
Laufer.


Pflegen ſich wohl Fürſten dergleichen Laufer
zu halten? fragte das Fräulein, indem ſie eine
Thräne im rechten Auge zerdrückte.


[188]

Nur ein Fürſt iſt deſſen fähig! rief Münch-
hauſen, und führte das Taſchentuch an ſein linkes
weinendes Auge.


Und nun die letzte Frage an Ihr ſchönes Herz,
edler Mann, eine Frage, in der Sie meine Seele
empfangen: Trägt ein Laufer, wo er erſcheint,
Blumenhut und Schurz?


Blumenhut und Schurz bleiben die Zeichen
eines Laufers bis an das Ende der Tage, ſprach
der Freiherr erhaben, und ſtreckte, wie ſchwörend,
den Daumen und die beiden erſten Finger der
rechten Hand empor.


Ich danke Ihnen für dieſe Stunde, ſagte das
Fräulein. Mein Leben beginnt wieder ſeine
Schwingen zu regen. Das Schickſal giebt mir
ein Zeichen; auf die Lippen der Unſchuld, auf die
Lippen Ihres Karl legte es ſein bedeutendes
Wort, wunderſamen Tönen meines Tiefinnerſten
entſprechend, Schätzen des Buſens, die ſich eben
leuchtend dem Dunkel entrungen hatten. Sie aber,
hoher Meiſter, legten zart und weiſe die ſüße
Fabel als ſchlichte, treue Wahrheit aus. O ich
wußte wohl, daß ich hier verſtanden werden
würde!


[189]

Durchaus verſtanden! rief Münchhauſen.


In dieſem Augenblicke trat der alte Baron, der
inzwiſchen die Einrichtung der Gaſtſtube beſichtigt
hatte, wieder in das Zimmer, und lud Münchhauſen
ein, ihm dahin zu folgen, damit er es ſich vor
der Hand etwas bequem machen könne.


Emerentia ſagte, als ſie allein war: Er iſt
erſchienen, der mich ohne Wort verſteht; der Him-
mel hält uns die Verheißungen, die er uns in der
Sehnſucht giebt! Bald, bald wird nun auch Ruccio-
puccio kommen, der Fürſt von Hechelkram, ſeine
Freundin im reinſten Sinne des Worts abzuholen.


[190]

Neuntes Capitel.
Verſtändniſſe und Mißverſtändniſſe, Sehn-
ſucht, Orden, Geſinnungen und Ehrenſtel-
len; Görres und Strauß; die Pücelle
d’Orleans, Zeichen, Wunder und neue
Geheimniſſe
.


In den nächſten Tagen nach der Ankunft des
Fremden ging das ſchwärmende Entzücken der
Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in
den ruhigeren, aber um ſo feſteren Glauben über,
daß in ihm der vom Verhängniß beſtimmte Hei-
land ihrer Wünſche erſchienen ſei. Denn der alte
Baron merkte ſchon am erſten Abende, an welchem
er Münchhauſen’s Unterhaltung genoß, daß mit
den Kenntniſſen, Erfahrungen, Schickſalen, Blicken,
Ideen und Hypotheſen ſeines Gaſtes Niemand
zwiſchen Himmel und Erde ſich zu meſſen vermöge.
Er war, ſeinen Erzählungen zu Folge, faſt in
[191] allen bekannten und unbekannten Gegenden der
Erde geweſen, hatte ſämmtliche Künſte und Wiſ-
ſenſchaften getrieben, zu Weinsberg Blicke in das
Geiſterreich gethan, war durch alle Lagen des
Lebens abwechſelnd als Küchenjunge, Krieger,
Staatsmann, Naturforſcher und Maſchinenbauer
gegangen. Selbſt in außermenſchliche Regionen
war ſein Lebensloos geworfen worden; er ließ
nach den erſten Stunden der Bekanntſchaft merken,
daß er einen Theil ſeiner Tage unter dem Vieh
zugebracht habe.


Der alte Baron hatte hauptſächlich die Abend-
ſtunden, in welchen die Geſellſchaft ſich im Wohn-
zimmer zu verſammeln pflegte, und bei dem Scheine
einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den
kiefernen Tiſch ſaß, ſich zu Mittheilungen erbeten.
Für die Gartenpromenaden war von ihm ein noch
ſtrengeres Silentium feſtgeſetzt worden, als früher-
hin, denn, ſagte er, man muß den Tag zum Nach-
denken frei behalten, darüber, was Münchhauſen am
Abend erzählt; des Stoffes wird ſonſt zu viel,
und wir werden Alle drehend, wie die Schafe,
von der Weisheit dieſes Mannes. — Aus dem
Journalcirkel trat er nun wieder aus; in ſeinem
[192] Gaſte beſaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitſchrift
bieten konnte, der Geiſt aller Journale erſchien
in Münchhauſen verkörpert. Immer ging der
wunderbare Mann bei ſeinen Erzählungen von
etwas Bekanntem und Verbürgtem aus, erhob ſich
aber von dieſer Grundfläche zu den kühnſten und
abentheuerlichſten Schwüngen, ſo daß man wohl
ſagen konnte, er ſtelle recht eigentlich in ſeiner
Perſon den gewaltigen Fortſchritt unſerer Zeit dar.


Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn
nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortre-
tende entgegengeſetzte Beimiſchung. Münchhauſen
redete auch viel von Literatur und Poeſie, und
konnte bei ſolchen Geſprächen leicht ſatiriſch wer-
den. Der alte Baron hatte aber an dieſen Gegen-
ſtänden kein Intereſſe, und haßte die Satire;
weßhalb er denn auch derartigen Converſationen
ſich nur mit einem gewiſſen Unbehagen hingab.
Wirklich verletzt aber fühlte er ſich, wenn Münch-
hauſen, wie er nicht ſelten that, ſeine Meinung
äußerte, alle Menſchen ſeien gleich geboren, und
nur der Wahn, der aber für immer ab und todt
ſei, habe den Einen durch ſeine Geburt zu Vor-
zügen beſtimmt ausgeben können, die nicht auch
[193] das Eigenthum aller ſeiner Mitbrüder geweſen
ſeien.


Mit dem Fräulein geſtaltete ſich das Verhält-
niß des Gaſtes bald gründlich und tief in das
zarte Verſtehen ohne Worte aus, welches unſere
ſinnigen und hochſtehenden Frauen ſo ſehr lieben.
Wenn ſie ihm zuflüſterte, ein unausſprechliches
Etwas durchwoge ſie, ſo verſicherte er, daß
er ſie vollkommen begreife; und konnte ſie für
den Drang ihrer Empfindungen nur Vorderſätze
ohne Nachſätze finden, ſo ließ er ſie ahnen, daß
Letztere in ſeiner verſchwiegenen Seele ausgeſpro-
chen ruhten. Daneben erquickten ſie die glänzenden
Schilderungen, welche er von fremden Gegenden
gab, im Grunde ihres Herzens, und bis zur
Schwärmerei ſtieg ihre Regung, wenn er die vier-
undzwanzigſylbigen Namen, welche in Mexico,
Peru oder Indien gebräuchlich ſind, ausſprach.


Zwar fühlte auch ſie ſich jezuweilen durch ihn
verwundet. In dem Glauben nämlich, ihr dadurch
nur noch um ſo mehr zu gefallen, ſprach er eini-
gemale ſeine Meinung aus, daß nur das Weib
ihren Empfindungen treu bleibe, bei dem Manne
aber der Spruch gelte: Aus den Augen, aus dem
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 13
[194] Sinne! weßhalb denn auf kein von dieſen unbe-
ſtändigen Weſen gegebnes Verſprechen jemals zu
rechnen ſei. Er konnte freilich nicht wiſſen, wie
ungeſtüm ſolche Ausſprüche ihren Erwartungen ent-
gegentraten. Sie pflegte darauf zu verſetzen: Herr
von Münchhauſen, Karls und Ihre Erſcheinung
widerlegt mir im Sinne höherer Ahnung zum Vor-
aus dieſen Satz. Wenn ſie nun das ſagte, ver-
ſtand er ſie wirklich nicht, und war auch nicht ſo
dreiſt, es ihr zu verſichern.


Indeſſen gingen dieſe einzelnen Mißſtimmungen
immer bald in dem Gefühle der Hingebung und
Begeiſterung unter, welches Vater und Tochter ihm
widmeten; ja ſie dienten durch den Contraſt dazu,
dieſem Gefühle nur noch größere Leidenſchaftlichkeit
zu geben. Dagegen war der Schulmeiſter dem
Freiherrn gegenüber in einer eignen Stimmung,
die ſich nur mit den Scherzbildern vergleichen ließ,
welche von der einen Seite angeſehen, ein lächeln-
des Geſicht, von der andern betrachtet, eine ver-
drießliche Fratze zeigen. Die Perſönlichkeit Münch-
hauſens nebſt ſeinen Reden hatte nicht verfehlen
können, auch auf den Schulmeiſter einen tiefen
Eindruck zu machen; wir wiſſen, welche Ausſichten
[195] für die Beſtätigung ſeiner theuerſten Ueberzeugun-
gen auch er an dieſen Mann des Schickſals knüpfte.
Nun aber konnte er ſich ſchon nicht mit der Dar-
ſtellungsweiſe Münchhauſens überall einverſtanden
erklären. Er war von ſeinem Elementarunterrichte
her an Einfachheit gewöhnt; er hatte den Knaben
und Mädchen die Erſchaffung der Welt, den Sün-
denfall, die Opferung Iſaaks, und die Geſchichte
des keuſchen Joſeph, ohne Epiſoden einzumiſchen,
immer ſchlicht heraberzählt. Der Freiherr aber,
überwältigt von ſeinen Erinnerungen, überfüllt mit
Bezügen, Rückblicken und Seitenblicken, ſchachtelte
dermaßen Nebengeſchichten in ſeine Hauptgeſchichten
ein, und verſtieg ſich oft in ein ſolches Labyrinth
dabei, daß dem armen Schulmeiſter, welcher noth-
gedrungen den Theſeus in jenen Irrgängen ſpielen
mußte, der Faden der Ariadne häufig aus den
Händen ſchlüpfte. Außerdem hatte er zu bemerken,
daß Münchhauſen, der ihn für einen untergeord-
neten Miteſſer anſah, wie er es denn in der That
auch war, ihm keinesweges mit der gefälligen Auf-
merkſamkeit begegnete, wie dem alten Baron und
dem Fräulein, ja ſich ſogar vergebens von ihm
anmahnen ließ, die Wanderung der vertriebenen
13*
[196] Spartaner nach dem Fürſtenthume Hechelkram
urkundlich für ihn auseinander zu ſetzen.


Er war daher abwechſelnd böſe auf den Frei-
herrn, und hingeriſſen von ihm. So wahr iſt es,
daß jeder Prophet ſchon in ſeiner erſten Gemeine
den Thomas findet, welcher ihm heute folgt, und
ihn morgen verläugnet.


An einem der Erzählabende ſagte der alte
Baron zu ſeinem Gaſte: Weiß Gott, daß ich nicht
gern an Wunder glaube, und im Grunde auch der
Meinung bin, die Natur ſei ein Haus, worin man
noch immer jeden Tag neue Zimmer und Kammern
entdeckt, aber wenn ich bedenke, wie Ihr, liebſter
Münchhauſen, uns dahergeſchleudert wurdet, juſt,
als wir, wie ich nun von Emerentien und dem
Schulmeiſter herausgebracht habe, gleichzeitig nach
einem Manne, wie Ihr ſeid, das allerlebhafteſte
Verlangen empfanden, und auf einen Schuß
den dicken Sehnſuchtsſeufzer hervorſtießen — ſo
weiß ich wahrhaftig nicht, ob dergleichen mit rech-
ten Dingen zugehen kann.


Und was wäre denn daran ſo wunderbar, wenn
Sie, meine Freunde, mich herangeſeufzt hätten?
rief Münchhauſen. Darüber ſind wir denn doch
[197] nun wohl aufgeklärt, daß dem menſchlichen Geiſte,
wenn er ſich recht in einem Punkte concentrirt,
ein geſteigertes Vermögen beiwohnt, wie denn
z. B. Görres in einem überaus glaubwürdigen
Buche, in ſeiner chriſtlichen Myſtik, erzählt, die hei-
lige Catharina habe einmal wegen leichter Indis-
poſition nicht communiciren können, und deßhalb
während der Altarhandlung in einer entfernten
Ecke der Kirche gekniet; das habe aber gar nichts
zu ſagen gehabt, denn die Hoſtie ſei über das
ganze Schiff der Kirche hinweg ihr in den Mund
geflogen.


Nun ſage ich immer: Was dem Einen recht
iſt, muß dem Andern billig ſeyn. Können die
Frommen ſich das Venerabile von hundert und
mehreren Schritten herbeibeten, ſo haben die Welt-
lichen, wenn ſie nur ihr Verlangen auch energiſch
auf einen Punkt richten, gewiß ebenfalls die Macht,
dieſen Punkt, beſtehe er nun in Geld, Frauen, Ehre,
herbeizuziehn; und jede Parthei kriegt auf ſolche
Weiſe, was ſie wünſcht, die Frommen empfangen
das Eine, was Noth thut, die Weltlichen das
Andre, was hilft. Ich bin alſo überzeugt, daß
Ihre drei Sehnſuchten meinem Miethpferde magi-
[198] ſche Schlingen um die Füße legten, die es in den
Dornenweg entlängſt der Gartenhecke zogen, und
daß es dann vor der myſtiſchen Gewalt Ihrer
Seufzer ſcheute, ſolchergeſtalt aber durch die nach-
folgenden Zwiſchenurſachen hindurch mich zu Ihnen
beförderte.


Ja, Münchhauſen, rief der alte Baron, Ihr
ſeid gleichſam aus der Luft wie ein Donnerkeil
unter uns geſchlagen!


Münchhauſen fuhr fort: Wie käme es denn,
wenn eine ſolche Macht des menſchlichen Willens
nicht beſtände, daß ſo manches gute, ſchöne Mäd-
chen ſich mit den häßlichſten, einfältigſten Tropfe
vermählt? Der Tropf hat es ſich einmal in den
Kopf geſetzt, eine ſchöne Frau zu bekommen; er
richtet ſein ganzes Verlangen auf eine ſolche, und
ſie giebt ihm richtig ihre Hand, ohne ſelbſt zu
wiſſen, wie es zugegangen iſt. Wieder ein Andrer
hat mehr Liebhaberei an Ehrenſtellen und hohen
Poſten; er weiß Nichts, gar Nichts, er kann
eigentlich keinem Schreiberdienſte vorſtehen, aber er
iſt ein Mann von „Geſinnung“ d. h. nach der
Auslegung, die wir Eingeweihten unter uns dem
Worte geben; er beſitzt die ſtärkſte Intenſivität
[199] des Sinns, ſich und ſeinen Herrn Vettern alles
mögliche Gute und noch etwas mehr zu verſchaffen,
überzeugt, daß, wenn es nur ihm und den Herrn
Vettern wohl gehe, es auch mit dem Glücke des
Landes wohl beſtellt ſei.


Louis quatorze ſagte: l’Etat, c’est moi. Wir
haben nun gegenwärtig keinen Louis quatorze, aber
eine Clique haben wir, eine ſchöne, vollſtändig
organiſirte Clique, mit Ober- und Untercliquiers
von dauerhafter Geſinnung und die Clique ſagt:
l’Etat, c’est la clique.


Mais, pour revenir à mes moutons: Ein
Geſinnungsmann ohne Kenntniſſe und Verſtand
wünſcht ſich in der Stille ſo lange mit ſolcher
Inbrunſt zum Statthalter oder Miniſter, bis er
eines Tages, alſo brevetirt, aufſteht. Die Welt
ſchreit von kleinen Intriguen, die geſpielt worden
ſeien; ach, Poſſen! ſie ſollte dafür ſich einen Blick
in große Naturgeheimniſſe anzueignen ſuchen. Die
myſtiſche Kraft der Sehnſucht hat gewirkt, daß dem
Geſinnungsmanne die Statthalterei in den Mund
flog, wie …


Eine gebratene Taube! fiel der alte Baron
ein.


[200]

Die Hoſtie der heiligen Catharina, nach Gör-
res; ſagte Münchhauſen. Ich habe mir im Her-
zogthume Dünkelblaſenheim einmal den Landesorden
erſehnt; d. h. ich habe nicht ſehnſuchtsvoll, wiewohl
vergebens, danach geſeufzt, ſondern ihn realiter
an meinen Rock herbeigeſehnt. Der Herzog iſt
ein guter alter Mann, ſeine Bildung datirt noch
von Gellerts Fabeln, darüber iſt er nicht hinaus-
gekommen, und in heiterer Rückerinnerung an dieſes
kindliche Lehrmittel hat er den Orden vom grünen
Eſel geſtiftet, mit Comthuren, Großkreuzen und
Kleinkreuzen. Der Eſel frißt in einer Umkrän-
zung von Sternen Diſteln, und die Ordensdeviſe
lautet: l’appetit vient en mangeant. Nun, nach
dieſem grünen Eſelorden verlangte ich heftig, denn
man war in Dünkelblaſenheim kaum noch bei’m
Wege angeſehen, wenn man nicht zu den Eſeln
gehörte; ſo wurden die Ritter nach einer abkür-
zenden Redefigur benannt. Eines Morgens kommt
mein damaliger Stiefelputzer Kalinsky vor mein
Bette, hält mir den Frack, der in der Stube
gehangen hatte, ausgeſpreitet unter die Augen und
ruft: Herr von Münchhauſen, Sie ſind über
Nacht auch ein Eſel geworden. Ich ſehe hin und
[201] erſtaune denn doch ein wenig, denn richtig ſitzt im
dritten Knopfloch das changeante Band, und daran
hängt das Kreuz mit dem Diſtelfreunde und der
Deviſe. Ich ſpringe aus dem Bette, erkundige
mich im Hauſe, ob Jemand ſich habe einſchleichen
und den Spaß verüben können? Aber die Thüre
war die ganze Nacht über feſt verſchloſſen geweſen,
Kalinsky war der Erſte, der von außen kam.


Der Orden iſt da, wo aber ſtecken deine Ver-
dienſte? frage ich mich ſelbſt. Haſt du irgend
Verdienſte um Dünkelblaſenheim? Ich prüfte auf
das Ernſteſte mein Gewiſſen; ich löſ’te die letzt-
gedachte Hauptfrage in ſechs Unterfragen auf:


Aber auf alle Fragen und Unterfragen mußte
ich mir mit Nein! antworten. Ich hatte kein
Verdienſt, gar kein Verdienſt, nicht das geringſte
Verdienſt um jenen Staat. Um andere Staaten
habe ich mir Verdienſte erworben, aber nicht um
Dünkelblaſenheim. Ich lüge Ihnen nichts vor, mein
Wahlſpruch iſt: la verité, toute la verité, rien
que la verité.


Und der Orden war doch da. Alſo abermals
eine Erfahrung von der myſtiſchen Kraft der reinen
[202] Sehnſucht. Das Wunderbare bei der Sache, und
was ich mir noch nicht habe erklären können, war,
daß nicht allein das Kreuz von meinem Wunſche
herbeigezogen worden war, ſondern daß es auch
ſeinerſeits auf das changeante Band eingewirkt
hatte, ſo daß dieſes ſich von ſelbſt in das Knopf-
loch knüpfte. Ich verſuchte, den Knoten zu löſen,
aber er war ſo feſt geſchlungen, daß mir dieſes
nur mit der größten Mühe gelang. Auch nachher
blieb das Band untrennbar haften, wie Johanna
Rodriguez nach Görres chriſtlicher Myſtik, Band 2
pagina 569 feſt am Kreuze haften blieb, auf wel-
ches ſie ſich locker gelegt hatte.


O wäre ich Johanna Rodriguez! flötete das
Fräulein.


Dummes Zeug! brummte der Schulmeiſter.


In dieſem Buche von Görres müſſen ja erſtaun-
liche Dinge ſtehen, ſagte der alte Baron.


O, rief Münchhauſen, ganz andere Dinge ſtehen
noch darin! Dem heiligen Filippo Neri ſchwoll,
nach Görres, das Herz vom Beten ſo an, daß es
ihm zwei falſche Rippen zerbrach, nämlich die
vierte und fünfte; der heilige Petrus von Alcan-
tara brannte ſo in Liebesflammen, daß der Schnee
[203] um ihn ſchmolz, und daß er einmal bei Winters-
zeit, um ſich abzulöſchen, in einen gefrornen Teich
ſpringen mußte, worauf das Eis um ihn ziſchte
und kochte, wie in einem Gefäße über großem
Feuer …


Hört auf, hört auf! rief der alte Baron.
Mir ſchwindelt.


Feurig fuhr Münchhauſen fort: Görres ſagt
auch: Die Heiligen röchen ſehr ſchön, beſonders
wenn ſie den Ausſatz hätten. Was aber das Lieb-
lichſte iſt: Sie geben Oel von ſich. Die heilige
Lutgardis drückte ſich das Oel aus den Fingern,
Chriſtina mirabilis hatte es in den Brüſten, und
von der Aebtiſſin Agnes von Monte Pulciano
füllten die Kloſterſchweſtern ganze Krüge ab. Gör-
res hat auch dieſen Oelbildungsproceß ſehr richtig
an den Körper vertheilt, wie er denn überhaupt
Nichts ſo roh und unzugerichtet hinſchreibt, ſondern
alle die Sachen, welche ſich an den Heiligen ereig-
nen, aus der höheren Phyſiologie ableitet. In den
unteren, beſchatteten Regionen des Leibes bilde ſich
das milde oder fette Oel, ſagt Görres …


Verſtehe, verſtehe, eine Art von Baumöl,
Salatöl, rief der alte Baron dazwiſchen und
[204] ſchwenkte ſeine Mütze; wo aber rechte Heiligkeit
herrſcht, grünliches Provenceroel …


O gäbe ich auch Oel von mir! ſchmachtete das
Fräulein.


… Oben jedoch, in den höheren Regionen, alſo
etwa vom Zwerchfelle aufwärts, komme es mehr
zur Production eines flüchtigen Oels, Aroma’s,
ſagt Görres. Zuweilen nun, wenn gerade in der
Luft eine beſondere Beſchaffenheit obwaltet, ſchlägt
ſich dieſes Aroma als Manna in Form eines
Kreuzes nieder, was dann die Gläubigen vom Hei-
ligen abkratzen und aufeſſen. So hat es ſich
nach Görres bei der ſchon erwähnten Aebtiſſin
Agnes von Monte Pulciano zugetragen.


Münchhauſen! Münchhauſen! rief der alte Baron,
blies die Backen auf, und ſtieß einen Strom Luft
aus denſelben hervor, wie er zu thun pflegte, wenn
ihm ein Gedanke zu mächtig wurde — wir leben
in einer großen Zeit. Ueberall, durch das ganze
Reich des Wiſſens hin, ſtiftet ſich Licht und
Zuſammenhang. Was dem Filippo Neri mit
ſeinem Herzen begegnete, iſt ja in einem höheren
Gebiete nur daſſelbe, was ſich tagtäglich in einer
niederen, animaliſchen Sphäre ereignet.


[205]

Wenn doch die Zeiten der Görres’ſchen Wun-
der ganz wiederkehrten, ſo könnte man ja faſt
alle Haushaltungsbedürfniſſe mit einem ſeiner Hei-
ligen beſtreiten, und erſparte hundert Auslagen,
die das Leben jetzt ſo ſehr vertheuern! Ein Gör-
res’ſcher Heiliger heizte uns das Zimmer durch,
gäbe Oel, unten fettes, oben flüchtiges, ein Paar-
mal im Jahre auch eine Schüſſel Manna …


Guter, ſchuldloſer Vater! ſagte Emerentia und
blickte ihren Vater mitleidig an. — Ob es je
dahin wieder kommen wird, weiß ich nicht, ſagte
Münchhauſen, aber mit dem Görres’ſchen Buche
habe ich ſelbſt mein dreifarbiges Wunder erlebt.


Der Schulmeiſter war hinausgegangen. Ihm
machten dieſe Erzählungen große Beſchwerlichkeit,
denn er war entſchiedner Rationaliſt. Der Baron
und ſeine Tochter forderten den Freiherrn dringend
auf, das dreifarbige Wunder zu berichten, und
Münchhauſen hob wieder an:


Geſchätzte Freunde und Zuhörer, wiſſen Sie
hiemit, daß ich das vielbelobte chriſtlich-myſtiſche
Buch auf meinem Bücherbrette neben dem Leben
Jeſu von Strauß ſtehen hatte. Doctis pauca
sufficiunt;
Gelehrten iſt gut predigen, ich brauche
[206] Ihnen, mein würdiger Altvater und Schloßherr,
nicht des Breiteren den Inhalt der letzteren Schrift
auseinander zu ſetzen, denn es iſt Ihnen aus
Ihrer Journallectüre bekannt, daß, wie der chriſt-
liche Myſtiker noch bis auf die neueſte Zeit die
Nägelmaale ſich hat reproduciren laſſen, der Andere
dagegen dem Heilande nicht einmal ſein Daſeyn
in den Evangelien gönnt, ſondern behauptet, die
apoſtoliſche Kirche ſei eine Art von Actiengeſell-
ſchaft geweſen, die ſich den Erlöſer auf gemein-
ſchaftliche Koſten angeſchafft habe, weil ſie ihn
bedurft. — Es war unvorſichtig von mir, daß ich
zwei ſo widerhaarige Bücher zuſammengeſtellt hatte;
ich mußte vorausſehen, daß ſie ſich nicht vertragen
würden. Und ſo kam es auch. Eines Nachts
wache ich von einem ſonderbaren Geräuſch auf,
welches aus meiner Bibliothek tönt. Ich nehme
die Kerze, leuchte hin, und habe einen ſeltſamen
Anblick. Strauß und Görres ſind in wüthendem
Kampfe begriffen, nämlich ſo, daß die beiden ein-
ander zugekehrten Buchdeckel auf einander zu ſchlagen,
wie die Flügel erboſter Truthähne. Der Kirchen-
rath Paulus, Stäudel, Marheineke, ſelbſt Tholuck,
die rechts und links von dieſen beiden Werken
[207] geſtanden hatten, waren ſcheu zur Seite gewichen,
ſo daß die Gegner vollen Raum zur Entfaltung
ihrer Polemik in den Buchdeckeln gefunden hatten.
Dabei gaben ſie ſonderbare Töne zu vernehmen.
Im Leben Jeſu ließ ſich ein feines, nagendes Knis-
pern, wie von freſſenden Mäuſen hören, dagegen
grunzte und grölzte die dicke Myſtik in einer Art
von Strohbaß. Ich nahm meinen armen Görres,
der auch ſchon ganz warm geworden war, wenn
gleich nicht glühend, wie der heilige Petrus von
Alcantara, vom Brette, ſtreichelte ihn, redete ihm
mit guten Worten zu, und brachte es denn endlich
auch dahin, daß ſich das Buch von ſeiner entſetz-
lichen inneren Aufregung beruhigte; während das
Leben Jeſu noch immer mit dem einen Deckel in
die leere Luft hineinfocht, gegen einen Wunderglau-
ben, der ihm gar nicht mehr gegenüber ſtand.


Wie ich nun aber den Einband von Görres unter-
ſuchte, um zu ſehen, ob er in dieſem Strauße mit
Strauß nicht Schaden gelitten habe, da erſchien mir
das dreifarbige Wunder. Ich hatte nämlich den Gör-
res in Purpur binden laſſen, und, was ſagen Sie dazu,
meine Freunde? der Autor hatte vor Alteration
zwiſchen dem Purpur blaue und weiße Streifen
[208] bekommen. In der That, meine Wertheſten, die
chriſtliche Myſtik hatte das alte, wohlbekannte, revo-
lutionaire Coblenzer Blau, Roth und Weiß von
Anno 1793 angelegt. Ein Farbenkundiger ſagte
mir nachmals, dieſe Tricolore ſei die eigentliche
Grundfarbe des Autors und trete bei jeder Erregung,
auch bei der myſtiſchen, aus allen anderen Ueber-
pinſelungen immer wieder ſiegreich an ihm hervor.


Nun, dem ſei, wie ihm wolle. Ich ſtellte
meinen Gorres auf ein andres Brett, hatte ihm
jedoch in der Nachtmüdigkeit abermals einen unſchick-
lichen Platz gegeben, wie ich am folgenden Mor-
gen ſah. Nämlich, neben Voltaires Pucelle hatte
ich ihn geſtellt. Aber dieſem verſchollnen Spotte
gegenüber hat ſich die chriſtliche Myſtik ſehr mäch-
tig und überwältigend erwieſen. Denken Sie ſich,
die Pucelle war in der Nacht von dem frommen
Buche bekehrt worden, wahrſcheinlich durch die ſich
in demſelben entwickelnde fette und aromatiſche
Oelbildung. Sie mögen es glauben, oder nicht,
es liegt mir nichts daran, aber es iſt wahr. Das
frivole Gedicht war in ſich geſchlagen, der Text
verſchwunden, und ich hielt, als ich einen Blick
hineinthat, ein in Halbfranz gebundnes Buch voll
[209] unſchuldigweißer Papierblätter in Händen, ſtatt der
gottesläſterlichen Späße von Charles ſept, Agnes
Sorel, Dünois, Jeanne und ihrem Eſel. Ja,
was noch mehr ſagen will, das Papier ſchämt ſich
ſeiner früheren Sünden, es liegt ein leiſer rother
Schimmer darüber, dem Satze zum Trotz: litterae
non erubescunt.
Ich will es doch gleich herbei-
holen, Sie durch den Augenſchein zu überzeugen.


Münchhauſen lief raſch, wie eine Bachſtelze
hinaus. Der alte Baron ging, mit den Händen
in der Luft fechtend, ſeine Mütze in die Höhe
werfend, und ſie, wie einen Ball wieder auffan-
gend, im Zimmer auf und nieder und rief: Ein
Teufelskerl, der Münchhauſen! Man muß ihm
nach, man mag wollen oder nicht! Im Anfang
ſtemme ich mich jederzeit gegen ſeine Geſchichten,
aber ehe ich mich deſſen verſehe, haben ſie mir
die Schlinge über den Kopf geworfen und nehmen
mich mit fort. Was ſagſt du dazu, Renzel?


Emerentia verſetzte: Ich hoffe, die beſondere
Luftbeſchaffenheit auch noch zu erleben, und aus
meinem Aroma Manna zu erzeugen.


Eine Närrin biſt du, polterte der alte Schloß-
herr, die immer nur an ſich denkt, und nie ihren
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 14
[210] Geſichtskreis erweitern mag! Wenn ich nun eben
ſo wäre, und nichts von heute Abend mir zur
Ausbeute gewänne, als den ſelbſtſüchtigen Wunſch,
mir den grünen Eſel in das Knopfloch zu ſehnen?
Denkſt du, daß dein alter Vater nicht auch noch
gern in ſeinen letzten Tagen einen Orden trüge,
ohne irgend eins der ſechs Verdienſte um Dün-
kelblaſenheim? Aber ich bin nicht ſo enggeſinnt;
mir liegt meine Ausbildung am Herzen, und noch
heute Abend frage ich Münchhauſen über ſeine
zweifarbigen Augen und ſein Ergrünen aus, denn
wir ſtecken einmal mitten in den ſonderbaren und
außerordentlichen Dingen, zudem ſtört uns auch
der Schulmeiſter nicht mit ſeiner einfältigen höh-
niſchen Miene.


[211]

Zehntes Capitel.
Das kürzeſte Capitel dieſes Buches nebſt
einer Anmerkung des Herausgebers
.


Die letzteren Reden zu verſtehen, muß geſagt
werden, bevor Münchhauſen wieder das Zimmer
betritt, daß unter den vielen wunderwürdigen Din-
gen, die den Schloßbewohnern an dem Gaſte auf-
fielen, zwei im vorzüglichſten Grade ihr Erſtaunen
erregten. Er hatte nämlich ein blaues und ein
braunes Auge, welcher Umſtand ſeinem Antlitze
einen ungemein charakteriſchen Ausdruck gab, um
ſo charakteriſtiſcher, als, wenn ſeine Seele voll
gemiſchter Empfindungen war, die verſchiedenen Ele-
mente ſolcher Stimmungen geſondert in den beiden
Augen hervortraten. Fühlte er z. B. eine freudige
Wehmuth, ſo leuchtete die Freude aus dem braunen
Auge, die Wehmuth dahingegen zitterte im blauen.
14*
[212] Denn dieſem blieben die zarten, dem braunen die
ſtarken Gefühle zugewieſen.


Sein Geſicht war, wie ich es ſchon beſchrieben
habe, nämlich bleich, mit einem gelblichen Anfluge,
etwa von der Farbe des Pentheliſchen Marmors,
oder eines in Wachs geſottnen Meerſchaumpfeifen-
kopfes, der ſeinen Raucher noch nicht gefunden
hat. Stiegen in ihm Affecte auf, welche bei uns
Andern ein Erröthen hervorzubringen pflegen, ſo
lief über ſeine Geſichtsfläche ein grüner Farbenton.
Daher hatte der alte Baron auch ſehr richtig den
Ausdruck: Ergrünen, gebraucht, und wir werden
uns deſſelben ebenfalls bedienen müſſen, wenn
Münchhauſen im Verlaufe dieſer Geſchichten in
Affect gerathen und die Farben wechſeln ſollte.


Anfangs hatten die Schloßbewohner dieſe Phä-
nomene mit einem geheimen Schrecken betrachtet.
Bald indeſſen tilgten die großen Eigenſchaften des
Mannes und ſeine hinreißenden Darſtellungen den
Schrecken, und es blieb nur eine ſtarke Neugier
nach, was es mit jenem Farbenſpiele für eine
Bewandniß haben möge? Dieſe Neugier war
begreiflicherweiſe in dem alten Baron am ſtärk-
ſten.


[213]

Aber ſie ſollte auch an dieſem Abende noch
nicht geſtillt werden. Denn nachdem er mit ſeiner
Tochter eine geraume Zeit auf die Rückkunft Münch-
hauſens gewartet hatte, trat ſtatt ſeiner der
Bediente Karl Buttervogel in das Zimmer und
ſagte: Mein Herr läßt ſich entſchuldigen; er kann
das Buch nicht finden. Auch muß er — ſetzte
der Menſch geheimnißvoll und halbleiſe hinzu —
ſeine chemiſchen Mittel brauchen.


Mittel? Chemiſche Mittel? fragte der alte
Baron beſorgt. Iſt ſein Herr krank geworden?


Das nicht, verſetzte Karl Buttervogel, aber
der Lebenspurzeß kam in Abnahme und die Gaſſen
müſſen angewendet werden.


Er will wohl ſagen: Lebensproceß, und: Gaſe?
ſprach der alte Baron nach einigem Beſinnen.
Aber was ſoll denn das bedeuten?


Ich weiß nicht, erwiederte der Bediente mit
einer wichtigen Miene. Es iſt noch nicht aller
Tage Abend und mit meinem Herrn ſteht es ſo ſo.
Ein geſcheidter Herr, ein gelahrter Herr, aber,
aber, ich lobe mir Vater und Mutter!


Der Schloßherr drang vergebens in den Men-
ſchen, ſich näher zu erklären. Das neue Geheimniß
[214] hatte indeſſen nicht Zeit, in den Seelen der
Schloßbewohner Wurzeln zu ſchlagen, denn Münch-
hauſens Reden waren gerade in den Tagen, welche
dieſem Abende folgten, beſonders gehaltreich, ſo
daß der alte Baron ſelbſt die Frage nach den
Urſachen des Farbenſpiels im Antlitze ſeines Gaſtes
eine Zeitlang vergaß.


Wir werden im Folgenden einige dieſer Reden
und Erzählungen zur Kunde der Leſewelt bringen.


Anmerkung.


Hier ſchließen ſich die Capitel Eilf bis Fünf-
zehn an, welche der wohlwollende Buchbinder der
Spannung halber vorgeheftet hat. Ich habe über
die Rathſchläge nachgedacht, welche mir von dieſem
Manne heimlicher Weiſe ertheilt worden ſind,
werde ſie befolgen, und kann dem günſtigen Leſer
in den folgenden Büchern die allerherrlichſten und
koſtbarſten Dinge verſprechen. Der Münchhauſen
wird ein Buch, bei dem man nicht begreift, wie
Gott der Herr, ohne es geleſen zu haben, mit
der Schöpfung fertig geworden iſt.


[215]

Die deutſche Litteratur hebt erſt von meinem
Münchhauſen an. Der günſtige Leſer glaube die-
ſen Verheißungen! Ich hätte mir zu denſelben
wohl eigentlich einen von den jungen Leuten in
Hamburg, Berlin oder Leipzig miethen müſſen, aber
ich dachte zuletzt, eigne oder fremde Fabrik gelte
gegenwärtig in dieſem Artikel gleich viel, und
darum erſparte ich mir den Heuerlohn und die
Complimente.


[216]

Sechszehntes Capitel.
Warum der Freiherr von Münchhauſen
grün anlief, wenn er ſich ſchämte oder in
Zorn gerieth
.


Nach ſo manchen intereſſanten Abenden fiel
dem alten Baron wieder ſeine Frage ein, welche
er vorlängſt hatte thun wollen. Es war eine
ſchöne Stunde des Vertrauens; Münchhauſen hatte
ſeit mehreren Tagen nur Dinge vorgetragen, die
den Schloßherrn und ſeine Tochter auf das Ange-
nehmſte berühren mußten; ſelbſt der Schulmeiſter
ſchien von ſeiner Verſtimmung wieder etwas zurück-
gekommen zu ſeyn.


Der Wirth rückte daher dem Gaſte, nachdem
das ſpärliche Abendeſſen, beſtehend aus Salat und
Eiern, verzehrt worden war, freundlich näher, und
ſagte: Ihr wärt recht gefällig, lieber Münch-
hauſen, wenn Ihr uns heute eine ſtichhaltende
[217] Hypotheſe über Eure zweifarbigen Augen und Euer
Ergrünen zum Beſten gäbet. Unmöglich können
Euch dieſe Naturwunder entgangen ſeyn; nun ſeid
Ihr aber ein Mann, der über Alles nachdenkt, alſo
habt Ihr gewiß auch darüber eine Hypotheſe fertig.


Keine Hypotheſe habe ich darüber fertig, ſondern
ich weiß, wie es damit ſicherlich zuſammenhängt,
verſetzte Münchhauſen und zog die Augenbraunen
in die Höhe, daß das blaue und das braune Auge
noch gewaltiger hervortrat, als gewöhnlich. —
Was die Zwiefarbigkeit meiner Sehorgane betrifft,
ſo leiten ſich dieſe aus Geheimniſſen meiner Erzeu-
gung ab — werden Sie nicht roth, meine Gnädige,
ich berühre dieſen Punkt nicht weiter — die leider
über ganze Regionen meines Daſeyns einen ſchwar-
zen Schatten werfen. Wie oft habe ich den Tage-
löhner beneidet, der im ſauren Schweiße ſeines
Antlitzes, bei dem harten Stücke Schwarzbrod,
welches ſeine Kinnladen zermalmen, doch den ſüßen
Troſt nimmer entbehrt: Du biſt, wie jeder andre
Menſch entſtanden, und fähreſt dahin, wo deine
Väter ruhn. Aber ich … oh! — — Doch den
Schleier über dieſe Abgründe! Sie ſind tief und
ſchrecklich, armer Münchhauſen!


[218]

Meine Freunde, ich kann Ihnen über mein
blaues und braunes Auge nur Folgendes ſagen:
Die Säfte, oder Subſtanzen, oder Materien, oder
Species — — Himmel, wie ſoll ich es anfangen,
Ihnen die Sache deutlich zu machen, ohne meinen
ſogenannten Vater bloßzuſtellen? — —


Oder die Ingredienzien, oder die Simpla — —


Meine Theuren, kennen Sie Miſchungen?


Lieber Meiſter, mühen Sie ſich nicht ferner ab,
ſagte das Fräulein weich und herzlich; ich verſtehe
Sie ganz.


O Gott, welches Glück, einander immer ohne
Wort zu verſtehen! rief Münchhauſen und küßte
dem Fräulein, wie gewöhnlich, die Hand. Ich
brauche alſo von dieſem Gegenſtande nicht weiter
zu reden, und wende mich gleich zu der Erklärung
des Grünwerdens, um —


Ja, dabei verlieren wir aber! riefen der alte
Baron und der Schulmeiſter wie aus einem Mun-
de; denn wir haben Sie durchaus nicht verſtanden.


Münchhauſen räusperte ſich, antwortete und ſprach:


  • Römiſche I. 0,208 Glycerin + 0,558 Waſſer +
    1,010 Kohlenſäure bei 110° getrock-
    net = Blau.

[219]
  • Römiſche II. 0,035 kohlenſaures Natron + 0,312
    Chlorwaſſerſtoffſäure + 0,695 Gly-
    cerin bei 108° getrocknet = Blau,
    zum Nachdunkeln geneigt.

Verſtanden?


Ja, das läßt ſich eher hören! riefen der Baron
und der Schulmeiſter. Dabei kann man doch etwas
denken.


Nun alſo genug von dem blauen und braunen
Auge, ſagte Münchhauſen. Was mein Grünwerden
betrifft, wenn andere Leute erröthen, ſo habe ich
das von einem furchtbartragiſchen Schickſale in der
Liebe wegbekommen. Wenn es Sie nicht ermüdet,
ſo will ich Ihnen einen kurzen Abriß meiner Lie-
besſchickſale liefern.


Münchhauſen, Sie in der Liebe, es muß etwas
Großes geweſen ſeyn! rief das Fräulein mit leuch-
tenden Augen.


Ja, mein Fräulein, es war ein außerordent-
liches Schauſpiel, erwiederte Münchhauſen. Und
beſonders deßhalb war es außerordentlich, weil ich
die Liebe nicht ſo auf das Gerathewohl, wie andere
junge Leute, ſondern nach einem gewiſſen Plane
trieb. Ich bin, ſo lange ich denken kann, immer
[220] klares Bewußtſeyn geweſen; alle Seelenkräfte lagen
geſondert in mir, wie die Species in den Büchſen
einer Apotheke, ich habe Tage erlebt, an welchen
ich zugleich mit dem Verſtande Schlußfolgerungen
machte, mir von der Phantaſie goldene Luftſchlöſſer
vormalen ließ, und in unbeſtimmten Gefühlen
ſchwelgte. So gelang es mir denn auch, den
mächtigſten Affect, der den Menſchen ſonſt überfällt,
wie ein Feuer bei Nacht, aus ſeinen Beſtandtheilen
in mir aufzuerbauen, und mich auf die eigentliche
Hauptleidenſchaft meines Lebens förmlich vorzu-
bereiten. Ich war in die Entwickelungsjahre ge-
treten, und hatte mir klar gemacht, daß die Liebe
aus Sinnlichkeit, Geiſt, Empfindung und Phantaſie,
Selbſtſucht und Hingebung beſtehe. Alſo ſechs
Elemente, die ich nach und nach in mir durchzu-
arbeiten verſuchen mußte.


Ich hielt mich damals, in dieſem Theile meiner
wunderlich umhergeworfenen Jugend im Pallaſte
eines fränkiſchen Prälaten auf, der bei der gewalt-
ſamen Umkehrung der dortigen Verhältniſſe die
Prälatur verloren, die Einkünfte derſelben jedoch
zum größeren Theile behalten hatte, und daher
noch immer ſeine Tage in Wohlleben hinbringen
[221] konnte. Hauptſächlich hielt der alte Herr auf eine
leckere Tafel, und dieſen Genuß ihm vorbereiten zu
helfen war auch ich beſtimmt. Ich entzündete das
Feuer des Heerdes, ich nahm die herkömmlichen
Abwaſchungen der dem Dienſte geweihten Gefäße
vor, ich ſetzte die Maſchine in Gang, mit welcher
der Spieß zuſammenhing, des Bratens Halter;
kurz, denn wozu Umſchreibungen? ich war Küchen-
junge bei dem Prälaten, aber ich war ein denken-
der Küchenjunge.


Der Prälat ging von dem Grundſatze aus, daß
eine jede Köchin nur die ſechs erſten Monate ihres
Dienſtes hindurch gut koche, nachher aber ſich zu
vernachläſſigen pflege. Er ſchaffte daher auch alle
Semeſter eine neue Kochmagd an, und ich erkannte
bald, daß, wenn ich bei ihm nur drei Jahre lang
aushielte, ich alle ſechs Elementarſtudien der Liebe
mit den Köchinnen der ſechs Semeſter werde
durchmachen können. Denn es war in dieſer
Küche hergebracht, daß die Köchin den Küchenjun-
gen lieben mußte. Die Sache hatte alſo keine
Schwierigkeit.


Das erſte Vorſtudium mußte, wie ſich von ſelbſt
verſteht, die Sinnlichkeit ſeyn.


[222]

Das Fräulein wollte ſich erheben. Münchhau-
ſen hielt ſie zurück und ſagte: Fürchten Sie auch
jetzt nichts, meine Verehrte, von der Sinnlichkeit,
ich habe von dieſem Zeitabſchnitte nur zu berichten,
was ſelbſt in einer Mädchenpenſion mit angehört
werden könnte. Es diente damals in der Küche
die alte Wally; wie man ſagte, eine natürliche
Tochter von Lucinde Schlegel. Sie hieß bei dem
Geſinde die Zweiflerin, weil ſie in ihrer Häßlich-
keit und Welkheit daran verzweifelte, noch einen
Mann zu bekommen.


Wenn man ſie reden hörte, ſo hätte man frei-
lich glauben ſollen, daß ſie ein ziemlich freies Leben
geführt habe, denn ihre Aeußerungen klangen frech
und unanſtändig genug. Aber der Kutſcher, der
auf ſeine Weiſe ein Spötter war, behauptete, er
habe ſie von jeher gekannt; ſie ſei alle ihre Lebtage
über eine garſtige Perſon geweſen und ſchon deßhalb
von Sünde frei geblieben. Ihre Zoten ſeien nur
wie die Krankheit der Hühner, wenn ſie anfangen,
zu krähen, ohne gleichwohl durch ſolche Stimmübun-
gen jemals die rechte Hahnenhaftigkeitzu erringen.


Wir hatten bloß ein Titularverhältniß der Küchen-
ordnung gemäß zuſammen; ich glaube, daß wir uns
[223] kaum einmal die Hand gegeben haben. Dennoch
lernte ich von ihr, was Sinnlichkeit ſei, nämlich
der gerade Gegenſatz von Allem, was die alte
Zweiflerin von ſich ſehen und hören ließ. Nachher
hat ſie freilich in der Welt ausgebreitet, wir wären
ſehr zärtlich geweſen; ich hätte, da mein Taufname
zu proſaiſch geklungen, ihr Cäſar geheißen, und
was dergleichen Schnurren noch mehr ſind, woran
kein wahres Wort iſt.


Die Sinnlichkeit hatte ich alſo nun theoretiſch
kennen gelernt, die Wally kam fort, und Seraphine
wurde Köchin. Sie ſchimpfte gewaltig auf ihre
Vorgängerin und ſagte, in ihr erſcheine das wahre
ächte weibliche Weſen, wovon Wally nur ein Zerr-
bild geweſen ſei. Sie trug einen graugelben Um-
ſchlagetuch und befand ſich leider auch im ehernen
Zeitalter, obgleich ſie aus Jung-Deutſchland ſtammte.
Es war ein ſonderbares ächt weibliches Weſen,
dieſer Seraph Seraphine! Ich ſchlug aber mit ihr,
oder mit einer Klappe zwei Fliegen, kriegte näm-
lich bei ihr zugleich den Geiſt und die Empfindung
in der Liebe weg, hatte ſonach großen Profit von
ihr, denn ich ſparte durch ſie ein Semeſter. Unſer
Bündniß kam folgendermaßen zu Stande. Ich
[224] ſpickte juſt einen Haſen auf der einen Seite, und
ſie that es auf der andern Seite. Da ſah ſie ver-
ſchämt auf, warf mir einen ſeelenvollen Blick zu,
daß ſich mir das Herz im Leibe umdrehte, und
fragte: Will Er mich, mit Erlaubniß zu ſagen,
lieben, Musje? Ich verſetzte: Ja, wenn Sie ſo
befehlen, Jungfer Seraphine. Darauf gaben wir
uns über dem Haſen einen Schmatz und ſpickten
den Haſen, trunken von Entzücken, fertig. Wie
ich ſie beſchrieben, ſo war die Form der Bund-
ſchließung in der Prälatenküche. Die Köchin mußte
obſervanzmäßig anfangen, der Küchenjunge durfte
es beileibe nicht, er hätte, wenn er ſich unterſtan-
den, zuerſt den Liebesantrag zu machen, von der
Geliebten die ſchönſten Ohrfeigen gekriegt.


Die Seraphine war auf zwei Tage mit ihren
Gaben eingerichtet. Den einen Tag war ſie näm-
lich voll Geiſt, und den Andern voll Empfindung
und ſo immer regelmäßig einen um den andern
Tag abwechſelnd. Ich bekam alſo von ihr den
Geiſt und die Empfindung in der Liebe. Damit
war es aber folgendermaßen beſtellt. Sie liebte
eine Herzſtärkung in der Stille zu nehmen, konnte
jedoch nicht viel vertragen und wurde leicht duſelig.
[225] In dieſem Zuſtande hatte ſie Geiſt, das heißt, ſie
ſprach Zeug, was kein Menſch verſtand. Den andern
Tag hatte ſie den Katzenjammer, da war ſie voll
Empfindung. Ich machte ihr nun alles Dieſes
nach, um das Verhältniß im Schwunge zu erhal-
ten. Aber unglücklicherweiſe war es gleich in der
Anlage verſehen worden. Ich hatte nämlich an
dem Tage, wo ſie den Katzenjammer ausſtand, der
Flaſche zugeſprochen und war geiſtvoll geworden.
Den folgenden Tag, wo ſie wieder Geiſt bekam,
befand ich mich im Katzenjammer und in der
Empfindung, und ſo ging nun das Verfehlen immer
fort, wir paßten nie auf einander, mein Katzen-
jammer traf auf ihren Geiſt, und mein Geiſt
auf ihre Empfindung. Daraus entſtanden natür-
lich heftige Zänkereien, unter denen die Küchenan-
gelegenheiten litten, ſo daß auch der Prälat ſich
genöthigt ſah, ſie noch vor Ablauf ihres Semeſters
fortzuſchicken. Es war ein Glück. Ich bin nie
der Stärkſte geweſen, und kann wohl ſagen, daß
ich auf dieſer Liebesſtation jämmerlich herunterge-
kommen war.


Die folgende Köchin hieß das Kind, weil ſie
ſich ſelbſt ſo nannte. Warum? weiß ich nicht,
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 15
[226] denn ich glaube ſchwerlich, daß ſie zu denen gehörte,
von denen geſagt worden iſt: So Ihr nicht werdet,
wie dieſe u. ſ. w. Die konnte Einem was zu
rathen aufgeben. Zuweilen war ſie Stundenlang
verſchwunden, und wenn wir ſie ſuchen gingen, fan-
den wir ſie auf dem Dache ſitzen, oder ſie kam
auch wohl ſchäkernd auf einem Beſen den Rauch-
fang herabgefahren. Es kann kein Menſchenwitz
erfinden, was für Zeug das Kind zuſammen zu
flunkern verſtand. Ihr Hauptkunſtſtück aber war —
Ach, gnädiges Fräulein, wenn ich nicht irre, wur-
den Sie draußen gerufen.


Das Fräulein verſtand dieſen zarten Wink und
ging hinaus, mit dem dankbarſten Blicke auf Münch-
hauſen. Er fuhr fort: Das Kind konnte nämlich
Rad ſchlagen, oder Purzelbäume ſchießen, ohne die
Schamhaftigkeit zu verletzen. Wie ſie es möglich
gemacht, weiß ich nicht, aber die Sache iſt richtig;
ſie kehrte ihr Unterſtes zu oberſt, und alle Ken-
ner und Stimmführer, die zuſahen, verſicherten
einſtimmig, ſie habe die weibliche Schamhaftigkeit
dadurch nicht verletzt, vielmehr ſeien ihre Purzel-
bäume eine wahre Bereicherung der höheren Ge-
müthswelt.


[227]

Bei ihr ſtudirte ich die Phantaſie der Liebe.
Unſre Liebe war nämlich pure, klare Phantaſie, wir
konnten einander leiden, wie Hund und Katze;
aber die hochtrabendſten Sachen ſchrieb ſie darü-
ber, wahre Hymnen; und hinterher wußte ſie mir
doch immer ſo einen recht tüchtigen Kniff abzuge-
ben, daß ich hätte aufſchreien mögen. Die gemeine
Sage bleibt wahr, die von den * s, wozu ſie
gehörte, behauptet, dieſe fingen in der Schalkheit
da an, wo andere Schälke aufhörten. Es iſt ein
Buch über das Kind verfaßt worden, worin es
das perſonificirte Mittelalter genannt wird. Nun,
es hatte denn freilich auch ſchon ein mittleres
Alter erreicht, und die Schönheit drückte es eben-
falls nicht ſonderlich mehr, als es ſich auf kindi-
ſche Weiſe der Phantaſie in der Liebe ergab. Ich
war recht vergnügt, als ich des Kindes quitt war,
denn Sie glauben nicht, wie ſehr ſolche Einzelſtu-
dien der Liebe angreifen.


Die folgenden beiden Köchinnen, Jule und
Jette, waren die Beſten von Allen, ſie waren
reine Köchinnen, ohne Geiſt, Empfindung, Phantaſie.
Bei dieſen lernte ich die Selbſtſucht und die Hin-
gebung der Liebe. Nämlich Julen, die den Herrn
15*
[228] betrog, wo ſie konnte, übrigens aber das rechtſchaf-
fenſte, gutherzigſte Ding von der Welt war, nahm
ich alle ihre Schwänzelpfennige, die ſie ſich bei
den Markteinkäufen machte, ab. Sie ſchnellte bloß
für mich; wahrhaftig, ſo that ſie. Ich aber brauchte
Geld, ich wollte mir gern einen neuen Rock kau-
fen und Rumohrs Geiſt der Kochkunſt, um mich
in meinem Fache auszubilden. Ich ſagte immer
zu ihr: Gebe Sie nur her, Geliebte; Geben iſt
ſeliger als Nehmen; ich gönne Ihr die Seligkeit,
und bin mit dem Geringeren, mit dem Gelde
zufrieden. Was hatte ich davon? Meine fünfte
Probegeliebte, die Jette, ein durchtriebener Vogel,
hat mir die ganze Summe wieder gemauſt, als
wir unter Schwüren der Zärtlichkeit ſchieden.
Nun, Hingebung muß auch ſeyn; ich habe es ihr
nicht nachgetragen.


Münchhauſen machte eine Panſe, um ſich zu erho-
len. Das Fräulein war wieder eingetreten. Nach
einigem Schweigen, während deſſen er einen Blick,
in dem die ganze Schwärmerei der Jugend leuchtete,
zum Himmel emporgeſchickt hatte, fuhr er alſo fort:


O, was iſt die gewöhnliche, unbewußte, roh-zu-
täppiſche Liebe gegen die bewußte Liebe, gegen die
[229] Liebe, die nach Principien liebt? Jahre waren
verfloſſen, die Küche lag weit hinter mir. Das
Spiel des Lebens ſah mich heiter an vom grünen
Tiſch, wenn ſtark pointirt wurde, und die Kugel
für die Bank ſprang. Münchhauſen war ein Mann
geworden, ein Mann im vollen Sinne des Worts.
Dennoch trafen auch ihn die Zweideutigkeiten des
Glücks. Ich hatte eine kleine Verdrießlichkeit gehabt,
die mich zwang, incognito zu leben, weit, weit von hier.


Nun muß ich Sie, meine Freunde, mit einer
Eigenſchaft bekannt machen, die mit den Geheim-
niſſen meiner Erzeugung zuſammenhängt. Je rei-
fer ich wurde, deſto mehr entwickelten ſich in mir
gewiſſe mineraliſche, oder genauer zu reden, metal-
liſche Bezüge, ſo daß ich von Geld nicht reden hören
konnte, ohne in ein Zittern der Ekſtaſe zu gera-
then. Da ſah ich in meinem Incognito, welches
ſo ſtreng war, daß ich nur verſtohlen ausgehen
durfte, Die, welche alle ſechs Beſtandtheile der
Liebe zu einem großen Ganzen in mir combinirte.
Sie war nicht ſchön, ſie hatte wenig Verſtand und
keine Eigenſchaften, dennoch — — aber mein gnä-
diges Fräulein, mich dünkt, Sie werden ſchon
wieder draußen gerufen.


[230]

Emerentia ſtand abermals auf, warf von Neuem
einen dankenden Blick auf den Erzähler, und ſagte:
Münchhauſen, ich habe Sie immer verehrt, aber
von heute bete ich Sie an. Darauf ging ſie wie-
der hinaus.


Zum Geier! rief der alte Baron, warum ſchickt
Ihr denn heute meine Tochter immer fort?


Ihr Zartgefühl zu ſchonen, verſetzte der Frei-
herr. O könnten wir ſo alle Frauen zur Literatur
hinausſchicken, die Getauften und die Egyptiſchen
Marquiſen, dann ſollten Sie einmal ſehen, wie bald
Alles kräftig wieder in Witz, Laune und Ironie
aufblühen würde!


Meine Geliebte war alſo nicht ſchön, nicht klug,
nicht angenehm, aber ſie ſagte mir, daß ſie eine
außerordentlich reiche Erbin ſei. Und ſo wie die-
ſes Wort erklungen war, regten ſich in mir die
metalliſchen Bezüge, und, Sie mögen es glauben
oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber es iſt
wahr; es that in mir einen Ruck, daß mir die
Rippen krachten, wie dem Filippo Neri, als ihm
das Herz ſchwoll, und auf einen Schuß, wie
ſechs Roſen von Damascus an einem Stengel,
brachen in mir auf


[231]
    • 1. die Sinnlichkeit
    • 2. der Geiſt
    • 3. die Empfindung
    • 4. die Phantaſie
    • 5. die Selbſtſucht
    • 6. die Hingebung
    in der Liebe.

Mich ſoll der Teufel holen — denn ich werde
allemal lyriſch, wenn die ſelige Rückerinnerung an
dieſe Tage über mich kommt — habe ich meine angeb-
liche reiche Erbin nicht geliebt, wie noch nie eine
Frauensperſon geliebt worden iſt! Ich war ſinn-
lich, aber nie ohne Empfindung, denn ich weinte
immerfort, ſo daß ich mir eine Thränenfiſtel zuzog.
Geiſt ſpendirte ich, daß es nur ſo eine Art hatte;
wie oft rief ich: Arm in Arm mit dir fühle ich
eine Armee in meiner Fauſt! Ich habe Heroen-
muth, den alten Sauerteig des Jahrhunderts weg
zu fegen, und die Käuzlein aus den Höhlen zu
treiben, worin ſie noch immer blinzelnd über ihren
verlegnen faulen Eiern brüten, denen nie eine
lebendige Wirklichkeit entkriechen wird!


Münchhauſen! fuhr der Schloßherr auf; die
Geſchichte nimmt eine unangenehme Wendung. Das
Alte iſt gut, und man muß wohlerworbene Rechte
achten. Auch er ging hinaus.


[232]

Meine Geſchichte muß zu Ende, und da Nie-
mand ſonſt mehr hier iſt, ſo will ich ſie Ihnen
auserzählen, Herr Schulmeiſter, ſagte der Gaſt
des Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr. Hinge-
bung und Selbſtſucht flutheten wie zwei Ströme
durch unſer Verhältniß. Ich gab ihr mein Herz,
mehr werth, als eine Million, und bekam von ihr
manchen Louisd’or. Schöne, freundliche Taille des
Lebens, in welcher Beide einſetzten, gewinnend zu
verlieren! Daß die Phantaſie nicht leer ausginge,
erſann ich ein freundlich Mährchen, ich ſtamme von
Fürſtenblut ab, ſagte ich ihr, ſagte es ihr ſo oft,
daß ich es endlich ſelbſt glaubte.


Der Schulmeiſter warf das Haupt in den Nacken,
als habe er einen Schlag vor die Stirne bekom-
men. Seine Lippen krämpelten ſich zu einer Art
von Wulſt zuſammen; er ſah ſehr verdrießlich aus.


Münchhauſen aber achtete in ſeinem Feuer die-
ſes Umſtandes nicht. Herrlicher Traum! warum
mußte ich aus dir erwachen? rief er. Ich hätte
ja Alles gern dulden wollen, das Erkalten der
Geliebten, die Entdeckung, daß ſie ſchon Andre vor
mir geliebt, und was ſonſt noch Widerwärtiges an
und von ihr? Warum aber mußteſt du mich ſo
[233] hart prüfen, Schickſal? Warum berührteſt du
die Stelle, wo ich ſterblich war, da du doch meine
inneren metalliſchen Bezüge kannteſt?


Es kam der Tag —


o laßt von ihm


Sich Höllengeiſter nächtlich unterreden!


— es kam der Tag, an welchem unheimliche
Geſtalten in mein Leben traten, bedrohliche Gewal-
ten mich umſpannen mit geiſterhaftem Netz und
die grauſe Trennung befahlen. In den Schaudern
jenes Augenblicks ſagte ſie mir unter andern Klei-
nigkeiten, zu denen unſer Verhältniß geführt hatte,
das entſetzliche Wort: Mit der reichen Erbſchaft
werde es kläglich genug ausfallen, denn ſie habe
erfahren, daß ihr Vater arm, wie eine Kirchen-
maus ſei. — Das traf! Ich fühlte meine Säfte
gerinnen, ich fühlte, daß ſie ſich nach neuen chemi-
ſchen Geſetzen miſchten und entmiſchten. Meine
Gebeine ſchlotterten, und obſchon ich bald meine
äußere Faſſung wiedergewann, ſo merkte ich doch,
daß über meine Wangen ein fremdes Etwas lief,
als ich erröthen wollte. Die Elemente in mir
waren in Aufruhr, und aus dieſem Chaos haben
ſich denn ganz neue Humoralgruppen in mir geſtaltet.


[234]

Seit jenem Tage ſah ich immer bleich aus,
und wenn mir nachmals Zorn, Schreck, Freude,
Scham das Blut in das Geſicht trieb, ſo lief ich
grün an. Dieſes Ergrünen kam daher, daß ich
durch die furchtbare Entdeckung meiner ſechſten oder
Hauptgeliebten alle Verwandtſchaft mit edlen Metal-
len einbüßte, und daß daher eines der unedlen,
nämlich cuprum oder Kupfer, mir in das Blut
trat. Kupfer ſteckt in jedem menſchlichen Körper
nach den neueſten Unterſuchungen; bei meiner Ent-
ſtehung aber war etwas zuviel davon verwendet
worden, und der Ueberſchuß ging mir ins Blut.
Wenn ich mir zur Ader laſſe, kriegt der Cruor eine
ganz grüne Haut. Alle mögliche Mittel habe ich
gebraucht, um die Sache wieder in das Geſchick
zu bringen, jedoch vergebens. Es iſt immer ange-
nehmer, roth zu werden, als grün. Ich bin durch
die Cuproſität meines Blutes in ſo manchen unſchul-
digen Freuden gehemmt. So darf ich nichts Sau-
res genießen, keine Gabelſpitze Sallat, denn, habe
ich mich einmal in dieſer Beziehung vergeſſen, gleich
ſchlägt der Grünſpan mir an allen Gliedern aus,
wie das Manna an der Aebtiſſin Agnes von Monte
Pulciano. Es iſt ſehr läſtig. Berzelius in Stock-
[235] holm, der mich vielfach analyſirt hat, warnte mich
vor Zinn- und Zinkgruben, weil Zinn und Kupfer
Glockenſpeiſe, Zink aber damit vermiſcht, Tombach
giebt, und die Ausdünſtungen in jenen Gruben
mir leicht eine abermalige metalliſche Compoſition
zuziehen könnten. Sie ermeſſen, wie unange-
nehm mir bei meiner Wißbegierde und Reiſeluſt
ſolche Beſchränkungen vorkommen mußten, und noch
dazu, da ich gerade den Rammelsberg bei Goslar,
wo ſie auf Zink bauen, beſuchen, und von da nach
den Zinnbergwerken von Cornwall reiſen wollte.
Ich ſchlug nachher die Warnung in den Wind
und befuhr dennoch die Zinkgrube am Rammels-
berge bei Goslar. Es waren böſe Wetter darin,
mir wurde heiß und ſchwül. Als ich mit mei-
nem Steiger wieder an das Tageslicht gekom-
men war, ſah er mich verwundert an, und ſagte:
Mein Herr, Sie müſſen an Mennige gekommen
ſeyn, denn Sie ſind orangegelb im Geſicht gewor-
den. Er wollte mich abwiſchen; mir aber fiel
die Warnung ein, ich ließ mir einen kleinen Hand-
ſpiegel reichen, und ſiehe da! ich war wirklich im
Antlitz hochgelb, wie eine reife Pomeranze. Mein
Blut war in der Zinkgrube tombachen geworden.
[236] Ich ſchämte mich vor dem Steiger, ſagte ihm, ich
wiſſe nicht, was es ſei, aber abwiſchen helfe nichts.
Recht beſchämt ging ich von dem Grubenhäuschen
fort, aus dem mir der Steiger mit allen alten
und jungen Burſchen, Zimmerheuern und Pochjun-
gen, die gerade zu Tage waren, verwundert und
lächelnd nachſah.


Das Bischen Zink wurde ich zwar glücklicher-
weiſe wieder los durch eine Schmelzcur, aber die
Reiſe nach Cornwall mußte ich zu meinem größten
Leidweſen aufgeben. Was wäre daraus geworden,
wenn mich die Zinndämpfe noch gar in Glocken-
ſpeiſe umgeſetzt, und wenn ich angefangen hätte,
ohne Privilegium zu läuten?


Solche metalliſche Naturſpiele im Menſchen
bleiben alſo immer höchſt verdrießlich. Kupfer im
Blute iſt ſo ſchlimm, als Kupfergeld in der Taſche.
Nicht leicht ward ein Sterblicher gleich mir in
der Liebe gezüchtigt. Ich habe aber auch durch
dieſes Schickſal einen ſolchen Widerwillen gegen
die Leidenſchaft bekommen, daß ich mich nachher nie
wieder dazu verſtehen wollte, obgleich ich Gräfin-
nen, Fürſtinnen und Prinzeſſinnen die Hülle und
die Fülle haben konnte. Vornehme Damen haben
[237] häufig den ſeltſamſten Geſchmack in der Liebe.
Daher mochte es rühren, daß die ganze vornehme
weibliche Welt hinter mir her war, wo ich erſchien.
Sie wandten den ſchönſten Adoniſſen in Dolman,
Uhlanencollet und Legationsfrack den Rücken, wenn
ich, der ſchlichte Particulier, der unſcheinbare Pri-
vatgelehrte, dahertrat mit dem Pentheliſchen Mar-
morcolorit und grün anlief. Was für Erklärungen
habe ich anhören, was für Winke überhören müſ-
ſen, welches Unheil habe ich geſtiftet! In Dün-
kelblaſenheim machte ich grüne Schminke Mode,
weil die regierende Herzogin geſagt hatte, in mir
ſei der ewiggrüne Gott der Jugend erſchienen,
und die ganze höhere Welt die Andeutung ver-
ſtand. Sie waren eben einmal wieder ganz aſch-
grau geworden in Dünkelblaſenheim; nun ſtrichen
ſie ſich grün an und meinten, ſie hätten die Jugend
damit. — An einem andern Orte fiel mir die
Prinzeſſin von Mezzo Cammino da Napoli di Roma-
nia zu Füßen und bat mich um Gotteswillen, ihr
nur wenigſtens eine Exſpectanz auf mein Herz zu
geben. Sie that mir in der Seele weh — ſie war
eine ſchöne Perſon — aber gebrannte Kinder ſcheuen
das Feuer! Ich hob ſie höflich auf, führte ſie zum
[238] Sopha und ſagte: Durchlaucht, es geht nicht. Ich
habe einmal Unglück in der Liebe und wer weiß,
was durch Sie bei mir in Confuſion gebracht
würde. Sie dauern mich, liebe Durchlaucht, aber
jeder Menſch iſt ſich ſelbſt der Nächſte.


Den höchſten Abſcheu empfinde ich vor meiner
ehemaligen ſechsten oder Hauptgeliebten. Ich habe
mir tauſendmal geſagt: Sie konnte ja nichts dafür,
daß ſie keine reiche Erbin war, aber — die Natur
läßt ſich nicht zwingen. Immer und immer durch
Grünſpan an die Enttäuſchung über ſeine ſchönſten
Hoffnungen erinnert zu werden, iſt am Ende auch
keine Kleinigkeit! Der Menſch bleibt Menſch. Ich
glaube, daß, wenn ich die Hauptgeliebte wieder-
ſähe, ich mich nicht würde faſſen können, ich, der
ich doch ſonſt ſo ziemlich mich zu beherrſchen weiß.


[239]

Siebenzehntes Capitel.
Die drei Schloßbewohner ertheilen dem
Freiherrn von Münchhauſen vernünftigen
Rath; er aber bleibt auch für den Bedien-
ten Karl Buttervogel theilweiſe ein
Räthſel
.


Nachdem Münchhauſen ſeine Erzählung vollen-
det hatte, fragte er den Schulmeiſter, warum der
alte Baron fortgegangen ſei, und noch immer nicht
wiederkomme?


Herr von Münchhauſen, verſetzte Ageſilaus,
Sie haben zwar auf eine eben nicht freundliche
Weiſe in Ihrer Liebesgeſchichte meiner theuerſten
Ueberzeugungen geſpottet, indeſſen iſt meine Sin-
nesart nicht ſo beſchaffen, Andern etwas nachzu-
tragen, und ich kann ganz gerne Unrecht leiden,
ohne mich dafür zu rächen. Ich will Ihnen, trotz
[240] Ihrer ſatiriſchen Anſpielungen auf mich, in Betreff
unſres alten Herrn einen wohlgemeinten Rath
ertheilen.


Welche ſatiriſche Anſpielungen auf Sie, Herr
Schulmeiſter?


Sie beliebten zu ſagen, daß Sie jenem Frauen-
zimmer eine fürſtliche Abſtammung vorgelogen hätten.
Ich aber erlaube mir, Ihnen zu verſichern, daß,
wenn ich eine ähnliche Abſtammung von mir aus-
ſage, damit keinesweges Lügen vorbringe, welche
ich überhaupt herzlich verabſcheue.


Ich betheure, Herr Schulmeiſter, daß meine
Seele nicht an Sie gedacht hat. Großer Gott,
kann denn ein Erzähler nicht einmal in dieſer Ein-
öde den Deutungen entgehen?


Wohl, dieſe Angelegenheit bleibe, wie manches
Andere, vor der Hand auf ſich beruhen, ſagte der
Schulmeiſter. Der Rath, den ich Ihnen ertheilen
wollte, iſt folgender. Unſer alter Herr hat ſich
die Rückkehr früherer Verhältniſſe, und die Hoff-
nung auf das Amt, welches er ſein angebornes
nennt, ſteif und feſt in den Kopf geſetzt. In die-
ſer Beziehung iſt er toll, und ſchon lange quält
mich die Beſorgniß, daß aus der Geheimeraths-
[241] Idee, wenn wir ſie nicht ſo ſehr ſchonten, einmal
plötzlich der völlig ausgewachſene Wahnſinn her-
vorſpringen wird. Sie aber rühren unvorſichtig
— verzeihen Sie meine Freimüthigkeit, Herr von
Münchhauſen — nur zu oft daran, wie es denn
heute Abend auch noch geſchehen iſt. Und es wäre
doch ſchlimm, wenn der ſonſt ſo vortreffliche und
geiſtesgeſunde Mann muthwilligerweiſe von uns
andern Vernünftigen um ſeine Beſinnung gebracht
würde.


Die menſchliche Seele hat, wie der Körper,
nur ein beſtimmtes Maaß von Kräften des Wachs-
thums, fuhr der Schulmeiſter fort. Ward dieſes
erſchöpft, ſo bleibt der Menſch geiſtig ſtehen,
wie er nach dem zwanzigſten Jahre nicht mehr
leiblich wächſt. Deßhalb begreift das Alter die
Jugend nicht, und ungewöhnliche Ereigniſſe finden
darum immer nur bei Denen Anklang, die noch
im geiſtigen Wachsthum ſtehen. Kann ſich nun der
Menſch mit allen ſeinen Seelenkräften vollſtändig
in die von der Natur ihm beſtimmte Länge und
Breite legen, ſo wird er nicht verrückt, ſondern
er bleibt an einem Ziele ſtehen, andernfalls aber
geht es ihm wie Einem, der in der Entwickelungs-
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 16
[242] zeit eine ſtarke Hemmung erleiden muß; der Ueber-
ſchuß von Kräften ſchlägt ihm als Krankheit nach
Innen und er bekommt einen Stich. Unſer alter
Herr war durchaus beſtimmt, Geheimerrath auf
der Adelsbank zu werden, da wäre er ſtehen, oder
vielmehr ſitzen geblieben, und als vollig vernünf-
tiger Mann zu ſeinen Vätern verſammelt worden.
Weil er aber bis dahin nicht vordringen konnte,
ſo ſetzte ſich ihm der Geheimerath gewiſſermaßen
als Knoten in die Seele, der, nicht gereizt, viel-
leicht ein ruhiges Lebensende herankommen läßt,
gerieben und entzündet aber, einen unheilbaren
Brand auch über die noch geſunden Theile des
Geiſtes verbreiten möchte.


Der Freiherr wunderte ſich über die Weisheit
des Schulmeiſters und gelobte, ſeinem Rathe Folge
zu leiſten. Darauf zündete Ageſilaus ſeine Hand-
laterne an und ging nach dem Gebirge Taygetus,
überzeugt, ein gutes Werk gethan zu haben.


Münchhauſen ſuchte den alten Baron auf und
fand ihn draußen im Mondſchein hinter dem Schloſſe
wandeln. Er wollte ihn um Entſchuldigung bitten,
der Andere fiel ihm aber in die Rede und ſagte:
Laßt doch die Narrenpoſſen; ich habe Euch den
[243] Hieb lange vergeben, da ich weiß, daß Ihr mich
nicht abſichtlich beleidigen wolltet. Zudem könnt
Ihr Andern auch gar nicht faſſen, was es bedeutet,
durch die Geburt zu einer Ehre, oder einem Vor-
zuge, oder einem Amte, wie der Geheimerathspo-
ſten iſt, beſtimmt zu ſeyn. Ihr redet alſo über
ſolche Sachen, wie der Blinde von der Farbe, und
man muß Euch Euer Geſchwätz darüber nicht ſo
übel nehmen. Nein, ich blieb nur hier draußen,
weil ich, aufrichtig geſagt, an Liebesſachen keinen
ſonderlichen Antheil nehme und dachte, Ihr würdet
wohl ſo gütig ſeyn, mir einmal unter vier Augen
ohne Umſchweif das Ergrünen zu erklären. Ueber-
haupt wünſchte ich, beſter Münchhauſen, meiner
Tochter wegen, Ihr ſprächet von Romanenangele-
genheiten wenig oder gar nicht mehr.


Meine Tochter hat in dieſem Puncte einen
Sparren, fuhr der Alte mit leiſerer Stimme fort,
indem er dicht zu Münchhauſen trat. Es iſt immer
ſchlimm, wenn die Frauenzimmer nicht heirathen,
oder keine Kinder bekommen, denn auf Zärtlichkeit
ſind denn doch nun einmal die armen Dinger durch-
aus geſtellt, und die verſetzt ſich ihnen dann leicht,
daß ſie entweder langweilige, empfindſame Bücher
16*
[244] ſchreiben, oder mit Papagaien und Schooßhunden
quängeln, unerträglich für Andere. Meine Tochter
hält ſich nun weder Schooßhund noch Papagai,
dagegen einen Gedanken- und Erinnerungsliebha-
ber, mit dem ſie verkehrt, wie mit einer lebendigen
Mannsperſon. Beſonders im Mondſchein, wie jetzo,
iſt ſie immer ſehr aufgeregt, und deßhalb hütet
Euch, Freund, dieſen Zuſtand zu ſteigern; bedenkt,
was für ein Elend für mich alten Mann es wäre,
wenn ihre Krankheit aus dieſem ſtillen und ſonſt
unſchädlichen Faſeln in einen lauten Raptus über-
ginge!


Münchhauſen fehlte die Zeit, dem Vater beru-
higende Verſicherungen zu geben, denn in der Taxus-
laube hinter dem Genius des Schweigens entſtand
ein Geräuſch und hervor trat Fräulein Emerentia,
die in der Laube der ganzen Rede zugehört hatte.
Zum Henker, rief der alte Baron, das habe ich
ſauber gemacht! Er entfernte ſich eilig in das
Schloß.


Emerentia näherte ſich Münchhauſen und ſprach
mit ſanfter Stimme: Es iſt eine zu alte Erfah-
rung, daß die höherſtehende Natur von ihren Umge-
bungen für wahnwitzig gehalten wird, als daß mich
[245] die Worte des Vaters verletzen könnten. Verge-
bung daher ihm, und ferne ſei es von mir, das
Recht der Wiedervergeltung zu üben und Sie auf
ſeine Einbildungen aufmerkſam zu machen.


Aber Dank bin ich Ihnen ſchuldig, theurer
Meiſter, für die unvergleichliche Zartheit, mit wel-
cher Sie mich heute zweimal aus dem Zimmer
ſendeten. Eine ſo rückſichtsvolle Behandlung thut
unendlich wohl. Ich muß Ihnen meinen Dank
durch eine Warnung bethätigen. Hüten Sie ſich
vor dem Schulmeiſter, reizen Sie ſeine Ihnen
bekannte Verrücktheit nicht durch hingeworfene
Aeußerungen, welche er auf ſich und ſeine fixe Idee
beziehen kann. Ich habe Urſache, zu glauben, daß
die Krankheit dieſes Mannes im Steigen iſt; denn
er kocht ſchon die ſogenannte ſchwarze Suppe, ohne
ihrer benöthigt zu ſeyn und ſchläft zuweilen im
Freien auf dem lächerlichen Gebirge Taygetus —
Zeichen gewiß einer innerlichen Gährung. Wel-
ches Unglück, wenn er plötzlich wüthend würde,
den Vater, wie leicht möglich, anſteckte, und Beide
die Rieſenkraft der Raſerei entfalteten! Wir
Vernünftigen wären ſchwerlich im Stande, ſie zu
bewältigen, ja nur uns vor ihnen zu retten.


[246]

Das Fräulein fuhr fort: In den Stunden,
in welchen ich der Empfindung nicht nachhing, habe
ich viel über den Wahnſinn nachgedacht und bin
auf folgendes Reſultat gekommen. Aller Wahn-
ſinn iſt eigentlich eine krankhafte Richtung der
Natur, das Individuum in das Maaßloſe zu erwei-
tern, und über die Schranken hinaus, welche die
Selbſtverläugnung und eine edle Ergebung in die
Beſchlüſſe des Schickſals ihm ſetzt, ihm Güter,
Gefühle und Genüſſe anzueignen. Deßhalb iſt die
geiſtige Krankheit auch verhältnißmäßig häufiger bei
Perſonen aus den geringen Ständen, die ſo vieles
entbehren müſſen, und ſchafft bei ihnen die Einbil-
dung, daß ſie Könige, Kaiſer, ja Gott ſeien, oder
daß ſie große Schätze beſitzen. Auch die Furcht vor
Feinden und Verfolgern, welche nicht ſelten als Aeu-
ßerung des Wahnſinns auftritt, und auf den erſten
Anblick meiner Erklärung zu widerſprechen ſcheint,
beſtätigt ſie doch nur. Solche arme und unange-
ſehene Leute haben nicht ſelten das geheime, nagende
Gefühl ihrer Unbedeutendheit; nun kann nur ein
Zufall, ein Mißgeſchick ihre Seele erſchüttern, ſo
fangen ſie an, eine erträumte Wichtigkeit in der
Menge von geheimen Feinden, welche ihnen die
[247] ſchwärmende Phantaſie vergaukelt, zu genießen. Da-
her kommt es denn auch im Gegentheil, daß Für-
ſten und vornehme Perſonen, wenn ſie ihren Ver-
ſtand verlieren, in Stumpfſinn und Hinbrüten zu
verfallen, oder ſich ganz alberne Ideen einzubilden
pflegen, wie z. B. daß ſie von Glas ſeien, einen
Sperling im Kopfe tragen und was dergleichen
mehr iſt. Natürlich; ſie haben ſchon Alles, was das
menſchliche Herz begehrt, deßhalb muß die kranke
Seele entweder über dem Ungeſtalteten brüten,
oder ſich mit den abentheuerlichſten, von Wunſch
und Begehren ganz fernen Vorſtellungen nähren.


Die Anwendung dieſer allgemeinen Bemerkun-
gen auf den Schulmeiſter zu machen, iſt ſehr leicht.
Die Natur hatte ihm eine Beimiſchung von Selbſt-
gefühl gegeben, welche mit ſeinem geringen Amts-
berufe nicht in Einklang ſtand, und dieſen Einklang
hat er ſich nun durch ſeine ſtolze Träumerei von
der ſpartaniſchen Abkunft luftſchloßartig geſtiftet
und erbaut.


Münchhauſen erſtaunte noch mehr über dieſe
Rede, als über die der andern Perſonen, welche
er heute Abend hatte ſprechen hören. Er ging
auf ſein Zimmer, roch in die Luft hinaus, wie er
[248] oft zu thun pflegte, um die Beſchaffenheit derſel-
ben für ſeine Zwecke zu erkunden, ſetzte ſich auf
ſein Bett, und ließ ſich vom Bedienten Karl But-
tervogel, welcher inzwiſchen mit dem Waſchwaſſer
hereingekommen war und ſeinem Herrn die Nacht-
mütze aufgeſetzt hatte, die Stiefeln ausziehen.


Karl, ſagte Münchhauſen, wir ſind hier in
einem Tollhauſe. Der alte Baron, das Fräulein,
der Schulmeiſter ſind ſämmtlich verrückt. Jeder
von ihnen hat merkwürdigerweiſe einen klaren Blick
in den Zuſtand des Andern, und was noch merk-
würdiger iſt, ſie reflectiren äußerſt geſcheidt über
den Wahnſinn. Aber nimm dich doch in Acht;
denn ſolche Zuſtände können durch die geringſte
Veranlaſſung geſteigert werden.


Ich werd’ ſchon, verſetzte Karl Buttervogel,
indem er ſeinem Herrn die Beinkleider abſtreifte.
Dem Fräulein hab’ ich lang’ was angeſehen, ſie
ſchießt zuweilen ſo verzwickte Blicke auf mich.
Aber gnädiger Herr, warum ſind wir denn ſo fort-
gegangen, wo uns die drei Herren ſo reichlich in
Allem unterhielten, und Sie nichts zu thun hatten,
als ſich ein Paar Stunden von ihnen ſtudiren zu
laſſen? Und warum kriechen wir hieher in dieſes
[249] verwunſchene Schloß, wo ſich wahrhaftig keine Maus
ſatt freſſen kann? Ich liege in einem dunkeln
Loche, weder von Sonne noch Mond beſchienen,
und will ein Hallunke ſeyn, wenn ich ſeit drei
Tagen Fleiſch gerochen habe! Dazu ſind die Wan-
zen in meiner Spelunk’, jeden Morgen bin ich zerbiſ-
ſen, als hätte ich mich mit ſechs Jagdhunden her-
umgebalgt! Laſſen Sie uns je eher, je lieber fort,
gnädiger Herr, denn ſo gern ich Ihnen diene,
hier halte ich es nicht lange aus.


Hier bleibe ich, ſo lange die Urſache dauert,
welche mich hergeführt hat; erwiederte der Freiherr
mit Anſehn.


Die Urſache, welche hergeführt hat, ſagte Karl
Buttervogel, iſt doch nur, daß Sie vom Pferde
fielen, und dieſe hat aufgehört.


O du Thor und Kurzſichtiger, rief Münchhau-
ſen zornig, der du immer nur den Sturz vom
Pferde erkennſt und nicht wahrnimmſt — —


Was, mein gnädiger Herr?


Nichts! verſetzte Münchhauſen barſch, warf ſich
auf ſein Bette, daß die Noth- und Hülfsſponde,
welche der Schulmeiſter roh zuſammengefügt, knackte,
und ſchlief ſogleich ein.


[250]

Karl Buttervogel ſtand mitten im Zimmer, die
Kleidungsſtücke ſeines Herrn auf dem Arme, und
ſagte, als er ihn ſchnarchen hörte: Es iſt wahr-
haftig recht ſchlecht von meinem Herrn, daß er
mir nicht ſagen will, warum wir hier in dem ver-
maledeiten Neſte bleiben? Keinen Lohn kriegt man
von ihm, ſondern wird ewig vertröſtet auf die
Zeit, wo er die Luft wird feſtmachen können, wie
ſie’s in Paris thun, und dennoch kein ganzes
Zutrauen! Ich weiß doch, daß er nicht mit rech-
ten Dingen in die Welt gekommen iſt, warum
ſagt er mir denn nicht, was er hier vorhat?


[[251]]

Zweites Buch.
Der wilde Jaͤger.


[[252]][253]

Erſtes Capitel.
Der Hofſchulze.


Im Hofe zwiſchen den Scheuren und Wirth-
ſchaftsgebäuden ſtand mir aufgekrämpten Hemd-
ärmeln der alte Hofſchulze und ſchaute achtſam in
ein Feuer, welches zwiſchen Steinen und Kloben
am Boden entzündet, luſtig flackerte. Er rückte
einen kleinen Amboß, der daneben ſtand, zurecht,
legte ſich Hammer und Zange zum Griffe bereit,
prüfte die Spitzen einiger großen Radnägel, die er
aus dem Bruſtſtücke des vorgebundenen Schurzfells
zog, legte die Nägel auf das Bodenbrett des Lei-
terwagens, deſſen Rad er ausbeſſern wollte, und
drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück
Schiene abgebrochen war, achtſam nach oben, wor-
auf er durch untergeſchobene Steine das Rad in
ſeiner Stellung feſtigte.


Nachdem er wieder ein Paar Augenblicke in
das Feuer geſehen hatte, ohne daß ſeine hellen
[254] und ſcharfen Augen davon zu blinzeln begannen,
fuhr er raſch mit der Zange hinein, hob das roth-
glühende Stück Eiſen heraus, legte es auf den
Amboß, ſchwang den Hammer darüber, daß die
Funken ſprühten, ſchlug das noch immer Gluth-
röthliche um das Rad, da wo die Schiene fehlte,
ſchlug und ſchweißte es mit zwei gewaltigen Schlä-
gen feſt, und trieb dann die Nägel, welche es in
ſeiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht hin-
durchließ, an ihre Plätze.


Einige der ſtärkſten und heftigſten Schläge gaben
dem eingefügten Stücke das letzte Geſchick. Der
Schulze ſtieß mit dem Fuße die vor das Rad
gelegten Steine hinweg, faßte den Wagen bei der
Stange, um das geflickte Rad zu prüfen, und zog
ihn ungeachtet ſeiner Schwere ohne Anſtrengung quer
über den Hof, ſo daß die Hühner, Gänſe und
Enten, welche ſich ruhig geſonnt hatten, mit gro-
ßem Geſchrei vor dem raſſelnden Wagen entflohen,
und ein Paar Schweine aus ihrem eingewühlten
Lager grunzend auffuhren.


Zwei Männer, von denen der Eine ein Pfer-
dehändler, der Andre ein Rendant oder Receptor
war, hatten, unter der großen Linde am Tiſche vor
[255] dem Wohnhauſe ſitzend und ihren Trunk verzeh-
rend, der Arbeit des alten, rüſtigen Mannes zuge-
ſehen. Das muß wahr ſeyn, rief jetzt der Eine,
der Pferdehändler, Ihr hättet einen tüchtigen Schmidt
abgegeben, Hofſchulze!


Der Hofſchulze wuſch in einem Stalleimer voll
Waſſer, welcher neben dem kleinen Amboße ſtand,
ſich Hände und Geſicht, goß dann das Feuer aus,
und ſagte: Ein Narr, der dem Schmidt giebt,
was er ſelbſt verdienen kann. Er nahm den Am-
boß, als ſei er eine Feder, auf, und trug ihn
nebſt Hammer und Zange unter einen kleinen
Schoppen zwiſchen Wohnhaus und Scheure, in wel-
chem Hobelbank, Säge, Stemmeiſen, und was ſonſt
zu Zimmer- und Schreinergewerk gehört, bei
Holz und Brettern mancher Art ſtand, lag oder
hing.


Indem der Alte ſich unter dem Schoppen noch
zu ſchaffen machte, ſagte der Pferdehändler zu dem
Receptor: Wollen Sie glauben, daß der auch alle
Pfoſten, Thüren und Schwellen, die Kiſten und
Kaſten im Hauſe mit eigner Hand flickt, oder, wenn
das Glück gut iſt, auch neu zuſchneidet? Ich
meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunſt-
[256] ſchreiner vorſtellen und würde einen richtigen Schrank
zu Wege bringen.


Da ſeid ihr im Irrthum, ſprach der Hofſchulze,
der das Letzte gehört hatte und, das Schurzfell
jetzt abgethan, im weißleinenen Kittel aus dem
Schoppen trat. Er ſetzte ſich zu den beiden Män-
nern an den Tiſch, eine Magd brachte ihm auch
ein Glas, er that ſeinen Gäſten Beſcheid und fuhr
dann fort: Zu einem Pfoſten, zu einer Thüre
und Schwelle gehören nur ein Paar geſunde
Augen und eine firme Fauſt, aber ein Schreiner
braucht mehr. Ich habe mich einmal vom Hoch-
muth verleiten laſſen, und wollte, wie Ihr es nennt,
einen richtigen Schrank zu Wege bringen, weil mir
Hobel und Meißel und Reißſchiene auch bei dem
Zimmerwerk durch die Hände gegangen waren.
Ich maaß und zeichnete und ſchnitt die Hölzer zu,
auf Fuß und Zoll hatte ich Alles abgepaßt; ja,
als es nun an das Zuſammenfügen und Leimen
gehen ſollte, war Alles verkehrt. Die Wände
ſtanden windſchief und klafften, die Klappe vorne
war zu groß, und die Kaſten für die Oeffnungen
zu klein. Ihr könnt das Gemächt noch ſehen, ich
habe es auf dem Sill ſtehen laſſen, mich vor Ver-
[257] ſuchung künftig zu wahren, denn es thut dem
Menſchen immer gut, wenn er eine Erinnerung an
ſeine Schwachheit vor Augen hat.


In dieſem Augenblicke ließ ſich ein luſtiges
Wiehern aus dem Pferdeſtalle gegenüber verneh-
men. Der Pferdehändler räusperte ſich, ſpuckte
aus, ſchlug ſich Feuer an, blies dem Receptor eine
ſtarke Dampfwolke in das Geſicht, ſah ſehnſüchtig
nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor ſich
nieder. Hierauf ſpuckte er nochmals aus, nahm
den lackirten Hut vom Kopfe, ſtrich mit dem
Arme über die Stirn und ſagte: Noch immer
eine ſchwüle Witterung. — Dann ſchnallte er ſeine
lederne Geldkatze vom Leibe, warf ſie mit Getöſe
auf den Tiſch, daß der Inhalt klang und klirrte,
löſete die Riemen und zählte zwanzig blanke Gold-
ſtücke hin, bei deren Anblicke die Augen des Recep-
tors zu funkeln anfingen, und nach denen der alte
Hofſchulze gar nicht hinſah. Hier iſt das Geld!
rief der Pferdehändler, die Fauſt geballt auf den
Tiſch ſtemmend, krieg’ ich die braune Stute dafür?
Sie iſt, weiß Gott, nicht einen Heller mehr werth.


Dann behaltet Euer Geld, damit Ihr nicht
zu Schaden kommt, verſetzte der Hofſchulze kalt-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 17
[258] blütig. Sechsundzwanzig, wie ich geſagt habe, und
keinen Stüber darunter. Ihr kennt mich nun die
Jahre her, Herr Marx, und ſolltet daher wiſſen,
daß das Dringen und Feilſchen bei mir nicht
verſchlägt, weil ich nie von meiner Sprache abgehe.
Ich begehre, was mir eine Sache werth iſt und
thue niemalen vorſchlagen, und ſo könnte ein Poſau-
nenengel vom Himmel dahergefahren kommen, er
kriegte die Braune nicht unter Sechsundzwanzig.


Aber Gott’s Sackerlot, ſchrie der Pferdehänd-
ler erboſ’t, aus Fordern und Bieten beſteht doch
der Handel, und meinen eignen Bruder überfrage
ich, und wenn kein Vorſchlagen mehr in der Welt
iſt, ſo hört alles Geſchäft auf!


Im Gegentheil, erwiederte der Hofſchulze, das
Geſchäft koſtet dann weit weniger Zeit und iſt
ſchon um deßhalb profitlicher, aber auch außerdem
haben beide Theile von einem Handel ohne Vor-
ſchlagen vielen Nutzen. Ich habe es immer erlebt,
daß, wenn vorgeſchlagen wird, ſich die Natur erhitzt,
und zuletzt Niemand mehr recht weiß, was er
redet oder thut. Da läßt denn der Verkäufer, um
nur dem Gehader ein Ende zu machen, die Waare
oft unter dem Preiſe, den er im Stillen bei ſich
[259] feſtſetzte, und der Käufer ſeinerſeits in der Begierde
und Brunſt des Bietens verthut ſich eben ſo oft-
mals. Iſt aber gar keine Rede von Ablaſſen,
dann bleiben Beide ſchön ruhig, und wahren ſich
vor Schaden.


Da Ihr ſo vernünftig redet, ſo werdet Ihr meinen
Antrag jetzt beſſer erwogen haben, hob der Recep-
tor an. Wie geſagt, die Regierung will alle Korn-
gefälle der Höfe in hieſiger Gegend in Geld
umwandeln. Sie hat allein den Schaden davon,
denn Korn bleibt Korn, aber Geld iſt heute ſo
viel und morgen ſo viel werth, indeſſen iſt es nun
einmal ihr Wille, um der Laſt des Aufſpeicherns
quitt zu werden. Ihr thut mir alſo den Gefallen,
und unterſchreibt dieſe neue, auf Geld lautende
Urkunde, die ich da zu dieſem Behufe ſchon mitge-
bracht habe.


Durchaus nicht, antwortete der Hofſchulze eifrig.
Es iſt ein alter Glaube hier zu Lande, daß wer
ſeinem Hofe eine Laſt auflegt, dafür zur Strafe
nach ſeinem Tode auf dem Hofe umgehen muß.
Ich weiß nicht, wie es damit beſchaffen iſt, aber
das weiß ich: Vom Oberhofe ſind ſeit vielen hun-
dert Jahren nur Körner an die Gotteszelle gegeben
17*
[260] worden, und damit wolle ſich alſo das Rentamt
begnügen, wie das Stift ſich damit begnügt hat.
Wächſt Geld auf meinem Acker? Nein. Korn wächſt
darauf. Woher wollen Sie alſo das Geld nehmen?


Ihr ſollt ja nicht übervortheilt werden! rief
der Receptor.


Es muß Alles bei’m Alten bleiben, ſagte der
Hofſchulze feierlich. Das war noch eine gute Zeit,
als die Tafeln mit den Verzeichniſſen der Laſten
und Abgaben der Bauerſchaft in der Kirche hingen.
Dazumalen ſtand Alles feſt, und kein Gezänk hat
ſich nimmer darüber begeben, wie neuerdings nur
gar zu oft. Hernacher hieß es, die Tafeln mit
den Hühnern und Eiern und Maltern und Süm-
mern ſchadeten der Andacht, und ſie wurden hin-
weggethan. Im Gegentheil, ſie hatten immer zu
Predigt und Geſang gehört, wie Amen und Segen;
ich für mein Theil, wenn ich ſie anſah, beſonders
beim dritten Theile oder der Nutzanwendung, hatte
die erbaulichſten Gedanken bekommen, zum Exempel:
Ueberhebe dich nicht, denn da ſteht geſchrieben,
wie viel Zinsroggen und Schloßhafer du geben mußt,
oder auch ſo: Wenn du draußen Laſten zu tragen
haſt, hier im Gotteshauſe biſt du frei, und was
[261] dergleichen mehr war. Nun aber, als man auf
die leeren Stellen ſah, gingen die Gedanken immer
wandern und ſuchen nach den Tafeln, und es
dauerte geraume Zeit, ehe und bevor die Menſch-
heit wieder recht nach dem Paſtor hinhörte.


Er ging in ſein Haus. — Das iſt ein alter
Racker! rief der Pferdehändler, als er ſeinen
Handelsfreund nicht mehr ſah, indem er den lackir-
ten Hut verdrießlich wieder auf den Kopf ſtülpte.
Wenn der nicht will, ſo bringt ihn der Teufel
nicht herum. Das Schlimmſte iſt, daß der Kerl
die beſten Pferde in der Gegend zieht, und ſie im
Grunde ſo zu ſagen billig genug losſchlägt.


Ein ſtarres, widerhaariges Volk hier zu Lande,
ſagte der Receptor. Ich bin erſt vor Kurzem aus
Sachſen herverſetzt, und merke den Abſtand. Dort
wohnen die Leute beiſammen und deßhalb müſſen ſie
ſchon höflich und nachgiebig und bethulich mit einan-
der ſeyn. Aber hier ſitzt ein Jeder auf ſeinem Kampe,
hat ſein Holz, ſein Feld, ſeinen Wieſewachs um
ſich, als gäbe es ſonſt nichts in der Welt. Darum
halten ſie auch auf ihre alten Schnurren und
Faxen ſo ſteif, die anderwärts überall abgekom-
men ſind. Was für Mühe habe ich ſchon mit
[262] den andern Bauern wegen der dummen Um-
ſchreibereien gehabt, aber dieſer hier iſt doch der
Schlimmſte.


Das kommt daher, Herr Receptor, weil er ſo
reich iſt, bemerkte der Pferdehändler. Mich wun-
dert, daß Sie es mit den Andern in der Bauerſchaft
ohne ihn durchgeſetzt haben, denn der hier iſt
ihr General und Advocat und Alles, ſie richten
ſich in jeglicher Sache nach ihm. Er bückt ſich
vor Keinem. Vor’m Jahre kam ein Prinz hier
durch; wie er den Hut vor dem abnahm, war es
wahrhaftig, als wollte er ſagen: Du biſt der
und ich bin der. Der Miſtfink! Für die Stute
ſechsundzwanzig Piſtolen haben zu wollen! Aber
das iſt das Unglück, wenn der Bauer zu viel Ver-
mögen kriegt. Wenn Sie dort durch das Eich-
holz hindurch ſind, gehen Sie eine geſchlagene halbe
Glockenſtunde durch ſeine Felder. Und Alles beſtellt,
daß es nur ſo eine Art hat. Ich bin mit mei-
ner Koppel vorgeſtern durch den Roggen und
Waizen geritten, und Gott ſtrafe mich, wenn was
Anderes als die Köpfe von den Pferden über die
Aehren hinüberſahen. Ich dachte, ich würde er-
ſaufen.


[263]

Woher hat er’s denn? fragte der Receptor.


O! rief der Pferdehändler, da liegen hier meh-
rere ſolcher Höfe herum, man heißt ſie Oberhöfe;
wenn die nicht manchen Edelmann ausſtechen, ſo
will ich nicht Marx heißen. Das Erdreich iſt von
uralter Zeit zuſammengeblieben. Und ſparſam
und fleißig iſt der Nichtsnutz von jeher geweſen,
das muß man ihm laſſen. Sie ſahen ja, wie er
ſich abäſcherte, nur um dem Schmidt die paar
Groſchen Verdienſt zu nehmen. Jetzt freit ſeine
Tochter einen andern jungen Geldſchlingel; die
kriegt mit! Ich bin an der Leinwandkammer durch-
gegangen, der Flachs und das Garn, das Gebild,
die Wäſche und alle mögliche Kramerei iſt bis
unter die Decke geſtopft. Und dazu giebt ihr der
alte Schabhals noch baare ſechstauſend Thaler mit.
Blicken Sie nur um ſich; iſt es nicht hier, als ob
man bei einem Grafen wäre?


Während der letzten Reden hatte der verdrieß-
liche Pferdehändler ſacht in die Geldkatze gegriffen
und den zwanzig Goldſtücken, gleichſam gleichgül-
tig thuend, noch ſechs hinzugefügt. Der Hof-
ſchulze trat wieder in die Thüre, und der Andre
ſagte brummend, ohne ihn anzuſehen: Da lie-
[264] gen die Sechsundzwanzig, weil es einmal nicht
anders ſeyn ſoll.


Der alte Bauer lächelte ſchalkhaft und ſprach:
Ich wußte wohl, daß Ihr das Pferd kaufen wür-
det, Herr Marx, denn Ihr ſucht für den Rittmeiſter
in Unna eins zu dreißig Piſtolen, und mein Bräun-
chen paßt Euch dazu, wie beſtellt. Ich ging auch
nur in das Haus, um die Goldwage zu holen,
und konnte vorher ſehen, daß Ihr Euch unterdeſſen
beſonnen haben würdet.


Der Alte, welcher in ſeinen Bewegungen bald
etwas ungemein Raſches, bald wieder die größte
Bedächtigkeit zeigte, jenachdem das Geſchäft war,
was er trieb, ſetzte ſich an den Tiſch, wiſchte lang-
ſam und ſorgfältig ſeine Brille ab, ſpannte ſie über
die Naſe und fing nun an, die Goldſtücke genau
zu wägen. Zwei oder drei muſterte er als zu leicht
aus, worüber der Pferdehändler ein heftiges Ge-
zeter erhob, welchem der Hofſchulze ſchweigend und
kaltblütig, die Wage in der Hand behaltend,
zuhörte, bis der Andre ſtatt der verworfenen voll-
wichtige hervorholte. Endlich war die Sache been-
digt, der Verkäufer packte bedächtig das Geld
in ein Papier und ging mit dem Pferdehänd-
[265] Pferdehändler nach dem Stalle, um ihm das Pferd
zu überliefern.


Der Receptor wartete die Rückkunft der Beiden
nicht ab. Mit ſolchem Klotz iſt nichts anzufangen,
ſagte er, aber wenn du uns nur nicht ſo ordentlich
auf die Termine bezahlteſt, wir wollten dich — Er
fühlte nach ſeinen urkundlichen Papieren in der
Taſche, merkte an ihrem Knittern, daß ſie noch
darin ſeien, und ſchlich vom Hofe.


Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der
Schulze und ein Knecht, welcher zwei Pferde, das
des Roßkammes und die erkaufte braune Stute
hinter ſich herführte. Der alte Schulze ſagte, indem
er die Letztere zum Abſchiede ſtreichelte: Es thut
Einem immer Leid, wenn man eine Creatur, die
man aufzog, losſchlägt, aber wer kann dawider?
— Nun, halte dich brav, Bräunchen! rief er und
gab dem Thiere einen herzhaften Schlag auf die
runden, glänzenden Schenkel.


Der Pferdehändler war indeſſen aufgeſtiegen
und ſah mit ſeiner langen Figur und der kurzen
Schooßjacke unter dem breitkrämpigen lackirten Hute,
mit ſeinen erbſengelben Hoſen über den dürren
Lenden und den hochhinaufreichenden ledernen Kama-
[266] ſchen, mit ſeinen Pfundſpornen und mit ſeiner
Peitſche wie ein Wegelagerer aus. Er ritt,
ohne Lebewohl zu ſagen, fluchend und wetternd
davon, die Braune am Leitzaum nachziehend. Kei-
nen Blick wandte er nach dem Gehöfte zurück,
die Braune dahingegen drehte mehreremale den
Hals um und wieherte wehmüthig, als wollte
ſie klagen, daß ihre gute Zeit nun vorüber ſei.
Der Hofſchulze blieb, die Arme in die Seite
geſtemmt, mit dem Knechte ſtehen, bis der
Zug durch den Baumgarten verſchwunden war.
Dann ſagte der Knecht: Das Vieh grämt ſich.
Warum ſollte es nicht? erwiederte der Hofſchulze,
grämen wir uns doch auch. Komm auf den Fut-
terboden, wir wollen Hafer meſſen.


[267]

Zweites Capitel.
Rath und Antheil
.


Indem er ſich mit dem Knechte dem Hauſe
zuwandte, ſah er, daß der Platz unter den Linden
ſchon wieder von neuen Gäſten eingenommen war.
Dieſe hatten aber ein ſehr verſchiedenartiges Anſe-
hen. Denn es ſaßen da drei bis vier Bauern,
ſeine nächſten Nachbarn, und neben ihnen ſaß ein
bildſchönes Mädchen. Dieſes bildſchöne Mädchen
war die blonde Lisbeth, welche im Oberhofe genächti-
get hatte.


Ich werde mich nicht vermeſſen, ihre Schönheit
zu beſchreiben; es käme dabei doch nur auf rothe
Wangen und blaue Augen hinaus, und dieſe aller-
liebſten Dinge, ſo friſch ſie ſich in der Wirklichkeit
halten, ſind ſchwarz auf weiß etwas abgeſtanden.
Es denke ſich daher jeder Leſer ſeine jetzige oder
ehemalige Geliebte, und jede Leſerin blicke in den
[268] Spiegel, oder erinnere ſich, wie ſie an ihrem Braut-
tage ausgeſehen hat, ſo wird die Lisbeth vor allen
Leuten daſtehen, wie ſie leibt und lebt.


Der Hofſchulze ging, ohne ſich vorläufig um
die langhaarigen, bekittelten Nachbarn zu kümmern,
auf ſeinen blühenden Gaſt zu und ſagte: Nun?
Gut geſchlafen, Mamſellchen?


Prächtig, verſetzte Lisbeth.


Was haben Sie denn am Finger? Sie tragen
ihn ja verbunden? fragte der Alte.


Nichts, antwortete das junge Mädchen und
errothete. Sie wollte eine andere Unterredung
anfangen. Der Hofſchulze ließ ſich aber nicht irren,
ergriff ihre Hand, an welcher ſie den Finger ver-
bunden trug und rief: Es iſt doch nicht ſchlimm?


Nicht der Rede werth, verſetzte Lisbeth. Als
ich Eurer Tochter geſtern Abend nähen half, fuhr
mir die Nadel in den Finger, und da hat er
geblutet, das iſt Alles.


Ei! Ei! ſagte der Hofſchulze ſchmunzelnd,
und wie ich ſehe, iſt es ſogar der Ringfinger; das
bedeutet was Gutes. Wiſſen Sie wohl, daß wenn
eine Jungfer einer Braut hilft am Brautlinnen
nähen und verwundet ſich am Ringfinger, ſie
[269] noch im nämlichen Jahre auch Braut wird? Nun, ich
gratulir’ ſchönſtens zum ſchmucken Freiersmann.


Die Bauern lachten; die blonde Lisbeth ließ
ſich nicht aus der Faſſung bringen, ſondern rief
frohlich: Und wißt Ihr auch meinen Spruch, den
ich von der Spröden gelernt habe? Er lautet:


So weit der Herr die Lilien kleidet,

Und auch die jungen Raben weidet,

Geht mein Hab’ und Gut;

Drum, wer nach mir fragen thut,

Der ſoll thun nach mir fragen

Mit vier Pferden vor’m Wagen!

Und — fiel der Hofſchulze ein —


Er ſoll mich fangen, wie die Maus

Und angeln, wie einen Fiſch,

Und ſchießen, wie ein Reh —

Ein Schuß fiel in der Nähe. Sehen Sie, Mam-
ſellchen, das trifft zu, rief der Alte.


Laßt jetzt Eure loſen Reden, Hofſchulze, ſagte
das junge Mädchen. Ich bin darum bei Euch
eingekehrt, um von Euch Rath wegen der Gülten
zu bekommen, und den gebt mir alſo nun auch
ohne Scherz und Poſſen.


Der Hofſchulze ſetzte ſich, um zu hören und
zu reden, in Poſitur, die Lisbeth zog ein Schreib-
täflein heraus und las die Namen der Bauern
[270] ab, bei welchen ſie in den Tagen zuvor umherge-
wandert war, um die Rückſtände der Zinſen für
ihren Pflegevater einzutreiben. Sie erzählte dabei
dem Hofſchulzen, daß und unter welchen Vorwän-
den ſie ſich geweigert hätten, ihre Schuld abzuſto-
ßen. Der Eine wollte längſt bezahlt haben, der
Andere hatte geſagt, er ſei neu auf dem Hofe,
der Dritte wußte von gar nichts, der Vierte hatte
gethan, als höre er nicht gut, und ſo fort, ſo daß
das arme Mädchen, wie ein Vöglein, das bei Win-
terszeit nach Futter fliegt und kein Körnlein aufzu-
picken findet, von Thür zu Thür leer abgewieſen
worden war. Wer aber glaubt, daß dieſe vergeb-
liche Mühe ſie in Kümmerniß geſtürzt habe, der irrt;
ihr konnte nichts etwas anhaben, ſie erzählte ihre
beſchwerlichen Wanderungen mit heitrem Munde.


Der Hofſchulze ſchrieb mehrere der ihm genann-
ten Namen mit Kreide auf den Tiſch und ſagte,
als ſie ihre Liſte geſchloſſen hatte: Was die Andern
betrifft, ſo wohnen die nicht bei uns, über die
habe ich keine Macht, und wenn ſie ſo ſchlecht ſind,
ihre Pflicht und Schuldigkeit zu verläugnen, ſo
ſtreichen Sie die Schelme nur aus, denn mit Pro-
zeſſen kriegt man nichts vom Bauer. Aber die in
[271] unſerer Gemarke wohnen, gegen die werde ich Ihnen
zu Ihrem Rechte helfen, dazu haben wir noch Mittel.


Oho! ſagte einer der Bauern halb laut zu ihm;
thut Ihr doch, Schulte, als hättet Ihr immer
das Strop *) im Rockärmel bei Euch. Wann ſoll die
Heimlichkeit vor ſich gehen?


Schweigt, Baumſchulte, denn ſolche ſpöttliche
Worte möchten Euch zu Schaden werden, verſetzte
der Alte mit Ernſt.


Der Angeredete wurde betreten, ſchlug die
Augen nieder und erwiederte kein Wort. Lisbeth
dankte dem Alten für die zugeſagte Hülfe und
fragte nach den Wegen und Stegen zu den Andern,
die ſie noch in der Schreibtafel hatte. Der Hof-
ſchulze bezeichnete ihr den Pfad zu dem nächſten
Hofe über die Pfaffenwieſe, an den drei Mühlen
vorbei, durch die Hollenberge. Als ſie ihren Stroh-
hut aufgeſetzt, ihren Stecken genommen, für gute Be-
wirthung gedankt, und ſich ſolchergeſtalt zum Gehen
gerüſtet hatte, bat er ſie, bei der Wiederkehr ſich
ſo einzurichten, daß ſie die Hochzeit über und bis
zum zweiten Tage nach derſelben im Hofe bleibe,
[272] dann hoffe er ihr die Verſicherung über die Zinſen
oder dieſe ſogar vielleicht ſelbſt zugleich nach Hauſe
mitgeben zu können.


Als die ſchlanke und edle Geſtalt des jungen
Mädchens hinter den letzten Wallnußbäumen des
Baumgartens verſchwunden war, ſagte einer der
Bauern: Wenn der alte Herr Baron die früher
zur Schaffnerin gehabt hätte, ſo wäre er nicht ſo
heruntergekommen und hätte nicht zu beſorgen, daß
ihm das Haus einmal über dem Kopfe zuſammen-
ſtürzt. — Uebrigens iſt es unrecht, daß ſie das
Kind allein im Lande herumlaufen laſſen.


Daran ſehe ich eben kein Unrecht, erwiederte
der Hofſchulze. Ich habe noch nicht erlebt, daß
einem ordentlichen Mädchen Schlechtigkeiten wider-
fahren wären. Eine reine Jungfer kann unter Räu-
ber und Mörder gehen, unter Geſindel und Be-
trunkne, ſie thun ihr ſo leicht nichts. Vorigen Herbſt,
als hier nebenan das Volk auf der Haide im Lager
ſtand, hatte ſich meine Tochter bei einem Gange
über Feld unter einen marſchirenden Trupp verlo-
ren. Ja, von Niemand war ſie angetaſtet worden;
ſie hatten ſie, weil ſie müde geworden war, ganz
ſauber auf einen von ihren Vorſpannwagen gehoben,
[273] und ſo wurde ſie hier am Hofe richtig abgeſetzt.
Ein Frauenzimmer, was die Mannsleute angreifen,
pflegt von Hauſe aus angreifiſche Waare zu ſeyn.


Die Bauern ſprachen jetzt von dem Gegenſtande,
welcher ſie zu dem Hofſchulzen geführt hatte. Eine
neue Straßenanlage, die mit der großen Chauſſee
Verbindung ſtiften ſollte, bedrohte ſie mit dem Ver-
luſte einiger kleinen Wieſenſtücke, über welche der
Weg nothwendig zu legen war, wenn er zu Stande
kommen ſollte. Gegen dieſen Verluſt ſuchten ſie
ſich nun, obgleich die Anlage zum Vortheil aller
umliegenden Bauerſchaften gereichte, auf jede Weiſe
zu ſchützen, und wie er abzuwenden ſeyn möchte,
darüber wollten ſie ſich bei dem Beſitzer des Ober-
hofes Raths erholen. Wirklich zeigte ſich auch der
Hofſchulze in dieſer Angelegenheit ſehr eifrig und
gab ihnen die beſten Mittel und Wege an die Hand,
wie ſie der Forderung des Staates unter dem
Schutze buchſtäblicher Vorſchriften der Geſetze ent-
gehen, oder doch wenigſtens das Nachgeben hinzö-
gern könnten. Sie möchten nur ſagen, die Stücke
ſeien ihnen ganz nothwendig, wenn ſie nicht zu
Grunde gehen ſollten, möchten einen übermäßigen
Preis auf ſie ſetzen, den und den angehen, welcher
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 18
[274] in der Sache abzuſprechen habe und welcher, wenn
ſie ihn recht zu behandeln wüßten, ſchon ein Zeug-
niß ausſtellen werde, daß die Straße auch anders
gelegt werden könne, und was dergleichen mehr
war, welches freilich auf eine ganz andere Sinnes-
weiſe hinauszulaufen ſchien, als die mir ſchon von
dem Hofſchulzen in ſeinem Verkehre mit Menſchen
kennen gelernt haben.


Indeſſen wurde aus ſeinem Geſpräche mit den
Nachbarn klar, daß dieſe Bauern ſich den Heiſchun-
gen des Staats zum öffentlichen Nutzen gegenüber
im Zuſtande des Krieges glaubten, welcher bekannt-
lich alle Mittel, die zum Zweck führen, gutheißt.
Wir werden ſchon unſre Frucht einfahren und zu
Markte führen können, wie bisher, ohne große Stra-
ßen nöthig zu haben, und was geht uns alles
Uebrige an? ſagte der Hofſchulze im Verlaufe der
Unterredung. Mogen ſie bauen und graben, was
ſie wollen, ſie ſollen uns aber ungeſchoren laſſen.
Wenn es nach denen ginge, ſo wären wir bald vom
Erb von wegen des gemeinen Nutzens, wie es
heißen würde, fügte er hinzu.


Guten Tag, wie geht’s? rief eine hier wohl-
bekannte Stimme. Ein Fußwanderer, ein Mann
[275] in anſtändiger Kleidung, aber von den grauen Kama-
ſchen bis zur grünen Schirmkappe beſtaubt, war durch
den Thorweg eingetreten und hatte ſich dem Tiſche
genähert, ohne von den Redenden anfänglich bemerkt
zu werden. Ei, Herr Schmitz, ſieht man Sie auch ein-
mal wieder? ſagte der alte Bauer ſehr freundlich
und ließ für den Ermüdeten durch den Knecht das
Beſte, was ſich im Keller befand, herbeiholen.


Die Bauern rückten vor dem neuen Ankömm-
linge höflich zuſammen. Er wurde zum Sitzen
genöthigt und bewerkſtelligte dieſe ſeine Niederlaſ-
ſung mit bedachtſamer Vorſichtigkeit, um nicht, was
er bei ſich trug, zu zerbrechen. In der That war
ein ſolches Verhalten auch nothwendig, denn der
Mann war bepackt wie ein Laſtwagen, und die
Umriſſe ſeiner Geſtalt glichen einem Conglomerate
zuſammengeſchnürter Ballen. Nicht allein, daß die
Rocktaſchen, mit manchem Runden, Viereckten, Läng-
lichten befrachtet, in ſonderbarer Bauſchung weit
vom Leibe abſtanden, auch Bruſt- und Seitenbehäl-
ter, zu gleichen Zwecken verwendet, bildeten man-
nigfach geformte Wülſte und Erhöhungen, die um
ſo ſchärfer hervortraten, als der Sammler, um
nichts von ſeinen Schätzen zu verlieren, den Rock,
18*
[276] ungeachtet der herrſchenden Sommerwärme, feſt zu-
geknöpft trug. Selbſt das Innere der Kappe hatte
zur Aufbewahrung kleinerer Gegenſtände dienen
müſſen und erhielt von dieſem Inhalte ein kürbiß-
artiges Anſehen. Er ſchlürfte den ihm vorgeſetzten
guten Wein mit ſichtbarem Behagen, das ältliche,
von Wandern und Hitze aufgedunſene und gerö-
thete Antlitz gewann allmählich ſeine ihm natür-
liche Farbe und Form wieder. Gute Geſchäfte
gemacht, Herr Schmitz? fragte der Hofſchulze
lächelnd. Dem Anſcheine nach ſollte man es glauben.


Es geht noch, verſetzte der Sammler. In der
lieben Erde ſteckt ein rechter Segen. Nicht allein
Korn und Gewächſe bringt ſie immerdar hervor
und wird nicht müde; auch Alterthümer erndtet ein
aufmerkſamer Forſcher ihr fortwährend ab, ſoviel
auch danach ſchon geſcharrt und gegraben worden
iſt. Ich habe denn einmal wieder ſo mein Gän-
gelchen durch das Land gehalten, kam dieſes-
mal bis an die Grenze vom Siegenſchen. Nun
bin ich auf dem Rückmarſch, will heute noch
zur Stadt, mußte aber unterweges bei Euch,
Schulze, mich etwas ausruhen, denn müde ward ich
freilich.


[277]

Was bringen Sie denn mit? fragte der Hof-
ſchulze.


Der Sammler klopfte ſacht und freundlich auf
alle Erhöhungen und Wülſte ſeiner verſchiedenen
Taſchen und ſagte: Ei nun, Liebes und Gutes,
allerhand Siebenſachen. Eine Streitaxt, ein Paar
Donnerkeile, Kattenringe, prächtig mit grünem Roſt
überzogen, Aſchenkrüglein, Thränenflaſchen, drei
Götzen und ein Paar koſtbare Lampen. Dann ſchlug
er mit der umgewandten Hand an ſeinen Nacken
und fuhr fort: Und ein ganz complett erhaltenes
Stück korinthiſchen Erzes habe ich mir hier, weil
ich ſonſt keinen andern Platz mehr hatte, hier im
Rücken unter dem Rocke feſtgebunden. Nun, es
wird ſich denn wohl leidlich machen, wenn es Alles
erſt geſäubert iſt und in Reihe und Glied ſteht.


Die Bauern bezeugten ihre Neugier nach eini-
gen der Sachen; der alte Schmitz erklärte ſich aber
unfähig, dieſelbe zu befriedigen, weil die Alter-
thümer ſo ſorgfältig verpackt und mit ſo ausgeklü-
gelter Benutzung jedes Räumchen’s eingeſenkt ſeien,
daß es ſchwer halte, die ganze Befrachtung, wenn
ſie gelöſet worden, wieder zu Stande zu bringen.
Der Hofſchulze ſagte ſeinem Knechte etwas in das
[278] Ohr; dieſer ging in das Haus. Inzwiſchen erzählte
der Sammler ausführlich von dem Fundorte der
verſchiedenen Erwerbungen, rückte dann ſeinem Gaſt-
freunde näher und ſagte vertraulich: Was aber die
allerwichtigſte Entdeckung dieſer Reiſe iſt; ich habe
nun wahr und wahrhaftig den Ort gefunden, wo
Hermann den Varus ſchlug.


Ei, Ei, Ei, verſetzte der Hofſchulze und ſchob
ſeine Mütze hin und her.


Alle ſind ſie auf dem falſchen Wege geweſen,
Cloſtermeier, Schmid, und wie ſie heißen mögen,
die darüber geſchrieben haben! rief der Sammler
feurig. Immer wollten ſie den Varus in der Rich-
tung auf Aliſo, wovon doch auch noch kein Menſch
ausgeforſcht hat, wo es eigentlich gelegen — genug
aber Mitternachtwärts — ſich zurückziehen laſſen,
und demnach ſollte die Schlacht zwiſchen den Quel-
len der Lippe und Ems, bei Detmold, Lippſpringe,
Paderborn und Gott weiß wo noch? vorgefallen
ſeyn —


Der Hofſchulze ſagte: Ich glaube, der Varus
mußte aus allen Kräften ſuchen, nach dem Rhein
zu kommen, und das konnte er nur, wenn er ins
offene Land gelangte. Drei Tage ſoll die Bataille
[279] gedauert haben, darin läßt ſich ſchon ein Stück
marſchieren, und ſo bin ich vielmehr der Meinung,
daß die Attaque in den Bergen, die unſre Börde
einſchließen, alſo gar nicht weit von hier vorge-
fallen iſt.


Falſch! Falſch, Hofſchulze! rief der Sammler.
Hier unterwärts war Alles beſetzt und verſtopft von
Cheruskern, Katten und Sicambrern. Nein, weit
mehr nach Mittag iſt die Schlacht geweſen, der
Ruhrgegend nahe, nicht weit von Arnsberg. Varus
mußte ſich durch das Gebirg hindurchworgen, er hatte
nirgends einen Ausweg, und ſeine Gedanken ſtanden
auf den Mittelrhein, wohin der Weg quer durch das
Sauerland geht. So dachte ich es mir immer, ſo,
und jetzt habe ich die untrüglichſten Beſtätigungs-
zeichen entdeckt. Dicht an der Ruhr fand ich das
korinthiſche Erz und kaufte die drei Gotzen, und
da ſagte mir ein Mann aus dem Dorfe, daß kaum
eine Stunde davon im Walde zwiſchen den Bergen
eine Stelle liege, wo Knochen in ungeheurer Anzahl
zwiſchen dem Sand und Kies aufgeſchichtet ſeien.
Hui! rief ich, es wird Tag. Ging mit einigen
Bauern hinaus, ließ nachgraben, und ſiehe da,
wir fanden Knochen, wie ich ſie nur wünſchte.
[280] Das iſt alſo der Platz, wo Germanicus ſechs
Jahre nach der Teutoburger Schlacht die Ueber-
reſte der römiſchen Legionen beſtatten ließ, als er
ſeine letzten Züge wider Hermann machte, und
folglich habe ich dort das richtige Schlachtfeld ent-
deckt.


An die tauſend und mehrere Jahre pflegen ſich
Knochen nicht zu erhalten, ſagte der Schulze und
bewegte zweifelmüthig das Haupt.


Sie haben ſich verſteinert in den Mineralien
dort, ſprach der Sammler zorneifrig. Ich muß
Euch nur den Glauben in die Hand geben, da iſt
Einer, den ich mitgebracht habe.


Er zog einen großen Knochen aus dem Buſen
und hielt denſelben ſeinem Widerpart unter die
Augen. He, was iſt das? fragte er triumphirend.


Die Bauern ſtarrten den Knochen verdutzt an.
Der Hofſchulze antwortete, nachdem er ihn prüfend
betrachtet hatte: Ein Kuhknochen, Herr Schmitz.
Sie ſind auf einen Schindanger geſtoßen und nicht
auf das teutoburger Schlachtfeld.


Grimmig ſteckte der Sammler das beſcholtene
Alterthum wieder an ſeinen Platz und ſtieß einige
heftige Reden aus, denen der alte Bauer in der-
[281] ben Weiſe zu begegnen wußte. Es ſah daher nach
einem Zanke zwiſchen beiden Männern aus; indeſſen
hatte es damit nicht viel zu bedeuten. Denn es
war ſchon hergebracht, daß ſie über ſolche und ähn-
liche Dinge aneinander geriethen, wenn ſie zuſam-
menkamen. Immer aber blieben ſie trotz dieſer
Streitigkeiten gute Freunde. Der Sammler, der
ſich das Brod am Munde abſparte, um ſeine Lieb-
haberei zu befriedigen, pflegte ſich das Jahr hin-
durch wochenlang bei den gefüllten Fleiſchtöpfen
des Oberhofes auszufüttern und half wieder ſei-
nerſeits dem Gaſtfreunde mit allerhand Schreibe-
reien in deſſen Geſchäften; denn er war ſeines
Zeichens ein ehemaliger Kaiſerlicher geſchworner
und immatriculirter Notarius.


Endlich ſagte der Hofſchulze nach vielem nutz-
loſen Hin- und Herreden von beiden Seiten: Ich
will mit Ihnen über den Wahlplatz nicht ſtreiten,
obgleich ich dabei verbleibe, daß Hermann den Va-
rus hier herum geſchlagen hat. Es liegt mir aber
überhaupt nicht viel daran, die Sache iſt mehr für
die Herrn Gelehrten, denn wenn der andere römi-
ſche General ſechs Jahre darauf, wie Sie mir oft-
malen erzählt haben, ſchon wieder mit einer Armee
[282] in hieſigen Gegenden ſtand, ſo hat die ganze Ba-
taille wenig zu bedeuten gehabt.


Davon verſteht Ihr nichts, Hofſchulze! fuhr
der Sammler auf. Auf der Hermannsſchlacht
beruht das geſammte deutſche Weſen. Wenn Her-
mann der Befreier nicht geweſen wäre, ſo ſäßet
Ihr nicht ſo breit hier zwiſchen Euren Hecken und
Pfählen. Aber Ihr Leute lebt nur von einem Tage
zum Andern und Geſchichte und Alterthümer ſind
Euch nichts nütze.


Oho, Herr Schmitz, da thun Sie mir doch groß
Unrecht! verſetzte der alte Bauer ſtolz. Weiß
Gott, was für Plaiſir es mir macht, bei Win-
terszeit die Chroniken und Hiſtorienbücher zu le-
ſen, und Sie ſelbſt wiſſen, daß ich mit dem
Schwerte von Carolus Magnus, (der Alte ſprach
die zweite Sylbe lang aus;) welches nun ſeit tau-
ſend und mehreren Jahren im Oberhofe aufbe-
wahrt wird, umgehe, wie mit meinem Augapfel,
folglich …


Das Schwert Karls des Großen! ſagte der
Sammler höhniſch. Freund, iſt es denn nicht mög-
lich, Euch dieſe Grillen aus dem Kopfe zu bringen?
Hört doch nur —


[283]

Und ich ſage und behaupte, daß es das ächte
und aufrichtige Schwert Caroli Magni iſt, womit
er hier auf dem Oberhofe den Freiſtuhl geſetzet
und eingerichtet hat. Und das Schwert wirket und
vollbringet noch heut zu Tage ſein Amt, obgleich
davon nicht weiter geredet werden darf. Der Alte
ſprach dieſe Worte mit einem Ausdrucke in den
Mienen und mit einer Gebärde, die etwas Erha-
benes hatten.


Und ich ſage und behaupte, daß das eitel Thor-
heiten ſind, eiferte der Sammler. Ich habe den
alten Flederwiſch an die hundertmale unterſucht,
er hat kein halb Jahrtauſend erlebt und rührt viel-
leicht aus der Soeſter Fehde her, wo ihn ein
Reiſiger des Erzbiſchofs, der ſich hier in den Bü-
ſchen verkrochen, mag haben ſtehen laſſen.


Daß dich! rief der Hofſchulze und ſchlug mit
der Fauſt auf den Tiſch. Dann murmelte er vor
ſich hin: Nun warte! Dafür ſollſt du heute deine
Strafe kriegen.


Der Knecht trat aus der Thüre. Er trug ein
Gefäß aus gebrannter Erde, von bedeutendem Um-
fange und fremdartigem Anſehen, es ſteif und acht-
ſam mit beiden Händen an den Henkeln gefaßt.


[284]

Ei Gott! rief der Sammler, als es ihm näher
zu Geſichte kam, das iſt ja eine prächtige große
Amphora! Woher ſtammt denn die?


Ich habe, verſetzte der Hofſchulze gleichgültig,
den alten Topf vor acht Tagen in meiner Kies-
grube gefunden, als Grand ausgeſtochen wurde.
Es ſtand noch mehr des Zeuges umher, was aber
die Leute mit den Grabſcheiten zerſchlagen haben.
Der Topf allein iſt erhalten worden. Ich wollte
doch, daß Sie ihn ſähen, da Sie einmal hier ſind.


Mit feuchten Blicken betrachtete der Sammler
das große, wohlerhaltene Gefäß. Endlich ſtammelte
er: Iſt darüber kein Handel zu machen?


Nein, verſetzte der alte Bauer kalt, ich will den
Topf mir ſelber aufheben. Er gab dem Knechte
einen Wink, dieſer wollte die Amphora in das Haus
zurücktragen, wurde aber daran von dem Sammler
gehindert, welcher, die Augen nicht von dem Gefäße
wendend, den Eigenthümer mit den mannigfaltig-
ſten und beweglichſten Wendungen anging, ihm den
erſehnten Weinkrug abzuſtehen. Es war indeſſen
Alles vergebens; der Hofſchulze verblieb den ein-
dringlichſten Bittworten gegenüber in unerſchütter-
licher Seelenruhe und machte auf dieſe Weiſe den
[285] unbewegten Mittelpunkt der Gruppe, um welchen
die Bauern, die dem Handel mit aufgeſperrten
Mäulern zuhorchten, der Knecht, der das Gefäß an
den Henkeln gefaßt, dem Hauſe zuſtrebte, und der
Alterthümler, welcher daſſelbe am untern Ende
feſthielt, die aufgeregten Seiten- und Nebenfiguren
bildeten. Zuletzt ſagte der Hofſchulze, daß er in
Willens geweſen ſei, ſeinem Gaſte den Topf, wie
ſo manches früher aufgefundene Stück zu ſchenken,
weil er ſelbſt ſeine Freude daran habe, die alten
Sachen auf den Brettern der Sammlung an den
Wänden ringsherum in Ordnung geſtellt, zu ſehen,
daß ihm aber die beſtändigen Angriffe auf das
Schwert Caroli Magni verdrießlich ſeien, und daß
er deßhalb auch mit dem Topfe ſeinen Willen behal-
ten wolle.


Kleinlauten Tons verſetzte hierauf der Sammler
nach einer Pauſe, daß Irren menſchlich wäre, daß
die Waffen des Mittelalters ſich nach den Zeital-
tern oft nicht genau unterſcheiden ließen, daß er
auf dieſe Ueberbleibſel ſich weniger, als auf Romer-
ſachen verſtände, und daß allerdings Manches an
dem Schwerte auf ein höheres, über die Soeſter
Fehde hinausreichendes Alter zu deuten ſchiene.
[286] Worauf der Hofſchulze entgegnete, daß ihm der-
gleichen allgemeine Redensarten nichts frommen könn-
ten, daß er den Zwiſt und den Zweifel an ſeinem
Schwerte einfürallemal abgethan wiſſen wollte, und
daß es nur ein Mittel gäbe, in den Beſitz des
alten Topfes zu kommen, nämlich, wenn der Herr
Schmitz auf der Stelle eine Schrift von ſich gäbe,
worin das im Oberhofe aufbewahrte Schwert förm-
lich für das wahre Schwert Caroli Magni aner-
kannt würde.


Nach dieſer Eröffnung hatte der Alterthümler
freilich einen harten Kampf zwiſchen ſeinem anti-
quariſchen Gewiſſen und ſeiner antiquariſchen Be-
gierde zu kämpfen. Er warf die Lippe auf und
trommelte mit den Fingern auf der Stelle umher,
wo er den Knochen vom teutoburger Schlachtfelde
ſtecken hatte. Sichtlich war ſein Beſtreben, über
die Anmahnungen des ihn zur Unwahrheit verlocken-
den Geluſtes Herr zu werden. Endlich aber erhielt
dennoch die Leidenſchaft, wie dieſes immer zu geſche-
hen pflegt, die Oberhand. Haſtig forderte er Feder
und Papier und ſtellte mit fliegender Eile, zuwei-
len ſeitwärts nach der Amphora ſchielend, ein
unumwundenes Bekenntniß aus, daß er nach oft-
[287] maliger Beſichtigung des Schwertes im Oberhofe
ſolches für das des Kaiſers Karls des Großen
erkannt und befunden habe.


Dieſe Urkunde ließ der Hofſchulze von den bei-
den Bauern als Zeugen mit unterſchreiben, und
ſteckte dann das Papier, mehrmals zuſammenge-
ſchlagen, zu ſich. Der alte Schmitz aber faßte hef-
tig nach der auf Koſten ſeines beſſeren Bewußtſeyns
erkauften Amphora. Der Hofſchulze ſagte, er wolle
ihm den Topf andern Tages nach der Stadt ſchicken;
wie hätte aber ein Sammler wohl jemals auch nur
einen Augenblick lang die körperliche Innehabung
eines theuer erworbenen Beſitzſtückes entbehrt?
Entſchieden lehnte der Unſrige jeden Verzug ab,
ließ ſich eine Schnur geben, zog dieſe durch die
Henkel, und hing ſich daran das große Weinge-
fäß über die Schulter. Sie ſchieden demnächſt
im beſten Einvernehmen, nachdem der Samm-
ler noch zur Hochzeit gebeten worden war. Er
gewährte mit ſeinen Winkeln, mit den bau-
ſchig abſtehenden Rockſchößen und der hin und
her wackelnden Amphora an der linken Seite ei-
nen abentheuerlichen Anblick, als er von dannen
zog.


[288]

Die Bauern boten ihrem Rathgeber die Zeit, ver-
ſprachen, ſich ſeinen Rath merken zu wollen und
gingen dann, ein Jeder zu ſeinem Gehöfte. Der
Hofſchulze, dem im Laufe einer Stunde mit allen
Menſchen, die ſich bei ihm zuſammengefunden hatten,
jegliches Vornehmen geglückt war, trug erſt die
erwonnene Anerkennungsurkunde auf die Kammer,
worin er das Schwert Caroli Magni verwahrte,
dann ging er mit dem Knechte auf den Futterbo-
den, um den Hafer für die Pferde ihm zuzumeſſen.


[289]

Drittes Capitel.
Der Oberhof.


„Weſtphalen beſtund aus einzelnen Höfen, deren
jeder ſeinen eigenthümlichen und freien Beſitzer
hatte. Mehrere ſolcher Höfe machten eine Bauer-
ſchaft aus, die gewöhnlich den Namen des älteſten
und vornehmſten Hofes führte. Es gründet ſich
in der erſten Anlage der Bauerſchaften, daß der
älteſte Hof auch der erſte im Range bleiben und
der vornehmere werden mußte, wo von Zeit zu Zeit
die davon ausgegangenen Kinder, Enkel, Hausge-
noſſen zuſammenkamen und einige Tage feuerten
und zechten. Der Anfang, oder das Ende des
Sommers war die gewöhnliche Zeit dazu, wo jeder
Hofbeſitzer etwas von ſeinen gezogenen Früchten
und auch wohl ein junges Stück Vieh zum Bauer-
mahl mitbrachte. Man beſprach ſich über man-
nichfaltige Gegenſtände und nahm Rückſprache, Hei-
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 19
[290] rathen wurden da geſchloſſen, Todesfälle angezeigt,
und der Sohn als eingetretenes Haupt ſeines väter-
lichen Erbes erſchien dann gewiß mit volleren Hän-
den und ausgeſuchterem Viehe bei ſeinem erſten
Eintritt in die Verſammlung. An Zwiſten konnte
es bei ſolchen Freudentagen nicht fehlen, dann trat
der Vater als Haupt des älteſten Hofes in die
Mitte und legte mit Einſtimmung der Uebrigen
den Zank bei. Wurden einige Hofbeſitzer während
der andern Jahrszeit irgend einer Urſache halber
uneins, ſo brachten Beide bei der nächſten Ver-
ſammlung ihre Beſchwerde vor, und Beide waren
damit zufrieden, was ihre Mitgenoſſen für gut oder
recht fanden. War Alles aufgezehrt, der zur Feier
beſtimmte Baum ausgebrannt, ſo hatte das Feſt,
die Verſammlung ein Ende. Jeder kehrte dann
zurücke, erzählte ſeinen zu Hauſe ſchon wartenden
Hausgenoſſen die Begebenheiten des Feſtes und
ward mit ihnen lebendige und ſtäts fortdauernde
Urkunde aller Vorfälle ihrer Bauerſchaft.


Dergleichen Zuſammenkünfte hießen Sprachen,
Bauerſprachen, weil ſämmtliche Hofbeſitzer einer
Bauerſchaft, um ſich zu beſprechen, zuſammenkamen,
und Bauergerichte, weil hier die Irrungen der
[291] ſchon ſtillſchweigend in einen Verein getretenen
Männer beigelegt oder zurückgewieſen wurden. Da
die Bauerſprachen und Bauergerichte bei’m älteſten
oder vornehmſten Hofe gehalten wurden, ſo hieß
ſolcher Hof auch Richthof, und die Bauergerichte
und Bauerſprachen auch Hofſprachen und Hofge-
richte, welche bis auf heutigen Tag noch nicht
ganz verſchwunden ſind. Der älteſte Hof, der Richt-
hof ward nun im vorzüglicheren Sinne Hof genannt,
womit man den Haupthof oder Oberhof in der
Bauerſchaft und deſſen Beſitzer als das Haupt oder
den Hauptmann der Uebrigen bezeichnete.


So hätten wir ungefähr die Entſtehung von
dem erſten Vereine und den erſten Gerichtsanſtalten
der Weſtphäliſchen Höfe oder Bauerſchaften. Sie
kann uns um deſto weniger befremden, wenn man
bedenket, daß Weſtphalens ehemalige Geſtalt nur
eine langſame Bevölkerung und allmähligen Anbau
verſtattete, und dieſes allmählige Fortſchreiten ge-
rade ſo zu den ſimpeln und einförmigen Einrich-
tungen, als zu der gleichen Bildung, Sitte und
Gewohnheit führte, die wir bei Weſtphalens alten
Bewohnern antreffen.“


19*
[292]

Dieſe Stelle aus Kindlinger’s Münſteriſchen
Beiträgen führt uns auf den Schauplatz der Hand-
lung. Sie verdeutlicht uns den Helden der Letz-
teren, den Hofſchulzen. Er war der Beſitzer eines
der größten und reichſten Haupt- oder Oberhöfe,
welche in den dortigen Gegenden, freilich jetzt bis
zu geringer Anzahl zuſammengeſchmolzen, liegen.


Ueber dieſe uralten Wehren freier Männer iſt
der Athem der Zeiten Markenverrückend und Rech-
tetilgend hingefahren. Die anfängliche germaniſche
Genoſſenſchaft, in welche Jeder nur eintrat, Leibes
und Lebens ſicher zu werden, nicht, Leib und Leben
zu verlieren, iſt längſt zerſtört; der Vaſallendienſt
hat an der Freiheit gerüttelt, die Miniſterialität
hat daran gerüttelt, und endlich ſind die Trümmer
eigenartiger Selbſtſtändigkeit in den großen Noth-
und Bergehafen des modernen Staats getrieben
worden. In dieſem ſchwimmen ſie, (um dem
Gleichniſſe treu zu bleiben,) ſtoßen und prallen an
einander an, oder ſind auch wohl, ſeitwärts auf
das Trockne geworfen. Dort verwittern ſie, mit
Tang, Flechten und Schneckenhäuſern beſetzt, nach
und nach, während jener Ueberzug den Schein eines
neuen Gebildes fortſetzt.


[293]

Aber es iſt etwas Merkwürdiges um die erſten
Stammerinnerungen, und die Völker haben ein ſo
langes Gedächtniß, wie die einzelnen Menſchen,
denen ja auch die Eindrücke der früheſten Kinder-
zeit bis in das höchſte Alter hinauf getreu zu blei-
ben pflegen. Erwägt man nun, daß eines Menſchen
Leben Neunzig währen kann und darüber, daß der
Völker Jahre aber Jahrhunderte ſind, ſo iſt es
weiter nicht zu verwundern, daß in den Gegenden,
in welche ſich unſere Geſchichte nunmehr begeben
hat, Manches noch hin und wieder aufſtößt, welches
nach der Zeit zurückweiſ’t, in welcher der große
Frankenkaiſer die eigenſinnigen Saſſen mit Feuer
und Schwert zu bekehren wußte.


Weckt alſo die Natur da, wo ſonſt der oberſte Rich-
ter und Erbe der Gegend wohnte, wieder einmal beſon-
dere Eigenſchaften in einem Menſchen auf, ſo kann an
den Jahrtauſendalten Erinnerungen und zwiſchen den
Grenzen und Gräben, die doch noch erkennbar ſind, eine
Geſtalt erwachſen, wie unſer Hofſchulze, eine Geſtalt,
deren Geltung zwar von den Mächten der Gegen-
wart nicht anerkannt wird, welche aber für ſich ſelbſt
und bei ihres Gleichen einen längſtverſchwundenen
Zuſtand auf einige Zeit wiederherſtellt.


[294]

Doch das klingt für dieſe Arabeskengeſchichte
zu ernſthaft. Sehen wir uns lieber im Oberhofe
ſelbſt um! Wenn das Lob der Freunde immer ein ſehr
zweideutiges bleibt, ſo darf man dagegen dem Neide
der Feinde vertrauen, und am glaubwürdigſten iſt ein
Pferdehändler, der die guten Umſtände eines Bauern
herausſtreicht, mit welchem er nicht des Handels
einig werden konnte. Zwar ließ ſich von dem Hofe
nicht, wie der Roßkamm Marx ſagte, behaupten, es
ſei darin, als ob man ſich bei einem Grafen befinde,
dagegen nahm man, wohin man blickte, bäuriſchen
Wohlſtand und einen Segen wahr, welcher dem
hungrigſten Menſchen zurufen mußte: Hier kannſt
du dich mit ſatt eſſen, die Schüſſel iſt immerdar voll.


Der Hof lag ganz allein an der Grenze der
fruchtbaren Börde, da wo ſie in das Hügel- und
Waldland übergeht. Die letzten Felder des Hof-
ſchulzen ſtiegen ſchon ſacht die Anhöhen hinauf, und
eine Meile von dort war Gebirg. Der nächſte
Nachbar der Bauerſchaft wohnte eine Viertelſtunde
vom Hofe. Um dieſen breitete ſich alles Beſitz-
thum, welches eine große ländliche Wirthſchaft
nöthig hat, aus; Feld, Wald, Wieſe, unzerſtückelt,
in geſchloſſenem Zuſammenhange.


[295]

Von der Anhöhe herab liefen die Felder durch
die Ebene, beſtens beſtellt. Es war aber um die
Zeit der Roggenblüthe; der Rauch ging von den
Aehren und wallte in den warmen Sommerlüften,
ein Opfer der Scholle. Einzelne Reihen hoch-
ſtämmiger Eſchen oder knorrichter Rüſtern, zu bei-
den Seiten der alten Grenzgräben gepflanzt, faßten
einen Theil der Kornfelder ein und bezeichneten,
von Weitem her kenntlich, die Marken des Erbes,
beſtimmter als Steine und Pfähle vermögen. Ein
tiefer Weg zwiſchen aufgeworfenen Erdwällen führte
quer durch die Felder, mündete rechts und links
an verſchiedenen Orten in Seitenpfade aus und
führte, wo das Getraide aufhörte, in ein kräftig
beſtandenes Eichenwäldchen, unter welchem ſich erd-
gelagerte Säue gütlich thaten, deſſen Schatten aber
auch für den Menſchen erquicklich waren. Dieſer
Kamp, welcher dem Schulzen ſein Holz lieferte,
drang bis wenige Schritte vom Gehöfte vor, um-
faßte es von beiden Seiten und gab ſo zugleich
gegen die Oſt- und Nordwinde Schutz.


Nur mit Stroh war das Wohnhaus, welches
ſich in ſeinen weiß und gelb angeſtrichenen Wänden
von Fachwerk zweiſtöckig erhob, gedeckt, aber da
[296] dieſe Bedeckung immer ſehr wohl in Stand erhal-
ten ward, ſo hatte ſie nichts Dürftiges, verſtärkte
im Gegentheil den behaglichen Eindruck, den das
Gehöft machte. Das Innere lernen wir ſchon
bei Gelegenheit kennen; jetzt ſei nur geſagt, daß
auf der andern Seite des Hauſes um einen geräu-
migen Hof Ställe und Scheunen liefen, an denen
auch das ſchärfſte Auge keine ſchadhafte Stelle
an Mauer und Bewurf erſpähen konnte. Große
Linden ſtanden vor der Hofthüre, und dort, nicht
nach der Waldſeite zu waren auch, wie wir ſchon
erfahren haben, die Ruheſitze angebracht. Denn
der Hofſchulze wollte, ſelbſt wenn er raſtete, ſeine
Wirthſchaft im Auge behalten.


Gerade dem Wohnhauſe gegenüber ſah man durch
ein Gitterthor in den Baumgarten. Dort breite-
ten ſtarke und geſunde Obſtſtämme ihre belaubten
Zweige über friſchem Graswuchs, Gemüſe- und Sal-
latſtücken aus; hier und da ernährte ein ſchmales Beet
dazwiſchen rothe Roſen und gelbe Feuerlilien. Doch
waren ſolcher Beete nur wenige. In einer äch-
ten Bauerwirthſchaft bleibt der Boden dem Bedürf-
niſſe gewidmet, ſelbſt wenn dem Eigenthümer
ſeine Umſtände Luxus mit der Natur verſtatten.
[297] Deßhalb haben wir in ſolchen Höfen eine Empfin-
dung froher Ruhe aller Sinne, wie ſie Prachtgär-
ten, Parks und Villen nicht zu erregen vermögen.
Denn das aeſthetiſche Landſchaftsgefühl iſt ſchon
ein Product der Ueberfeinerung, weßhalb es denn
auch nie in eigentlich robuſten Zeiten auftritt.
Dieſe halten vielmehr die Stimmung zur Mutter
Erde, als zu der Allernährerin feſt, wollen und
verlangen nichts von ihr, als die Gabe des Feldes,
der Viehweide, des Fiſchteiches, des Wildforſtes.


So weit das Auge über den Baumgarten hin-
ausblickte, ſah es auch nur Grün. Denn jenſeits
des Gartens lagen die großen Wieſen des Ober-
hofes, auf welchen der Schulze Raum und Futter
für ſeine Pferde beſaß. Ihre Zucht, mit Fleiß
betrieben, gehörte zu den einträglichſten Nahrungs-
quellen des Erbes. Auch dieſe grünen Grasflächen
waren von Hecken und Gräben umſchloſſen; eine
derſelben faßte einen Weiher ein, in welchem aus-
gefütterte Karpfen zugweiſe umherſchwammen.


Auf dieſem reichen Hofe zwiſchen vollen
Scheuern, vollen Böden und Ställen handthierte
der alte, weit und breit angeſehene Hofſchulze.
Beſtieg man aber den höchſten Hügel, zu dem ſich
[298] ſeine Felder hinauf erſtreckten, ſo erblickte man von dort
die Thürme dreier der älteſten Städte Weſtphalens.


Es ging zu der Zeit, von welcher ich rede,
auf Eilf Uhr Vormittags, und der ganze weit-
läufige Hof war ſo ſtill, daß ſich faſt nur das
Rauſchen der Lüfte in den Baumwipfeln des Kamps
vernehmen ließ. Der Schulze maaß dem Knechte
Hafer zu, womit dieſer, den Sack über der Schul-
ter, langſamen Schrittes nach dem Pferdeſtalle ging,
die Tochter zählte in der Linnen- und Garnkam-
mer ihre Ausſtattung nach, eine Magd beſorgte die
Küche. Was ſonſt von Menſchen im Hofe lebte,
lag und ſchlief, denn es ging gegen die Ernte, in
welcher Zeit es bei den Bauern am wenigſten zu
thun giebt, und die Arbeiter jede Minute zu benut-
zen pflegen, um gewiſſermaßen auf Rechnung der
herannahenden ſchweiß- und mühevollen Tage in
voraus zu ſchlafen. Ueberhaupt können die Land-
leute, wie die Hunde, zu allen Stunden bei Tage
und bei Nacht ſchlafen, wann ſie wollen.


[299]

Viertes Capitel.
Worin der Jäger einem Menſchen, Na-
mens Schrimbs oder Peppel ſeinen Be-
gleiter nachſendet, und ſelbſt auf den
Oberhof kommt
.


Aus den Hügeln, welche die Felder des Hof-
ſchulzen begrenzten, traten zwei Männer von ver-
ſchiedenem Anſehen und Alter. Der Eine, im
grünen Jagdcollet, die kleine Mütze über das locki-
ge Haupt geworfen, die leichte Lütticher Flinte
im Arme, war ein blühendſchöner Jüngling, der
Andere, in ſtillere Farben gekleidet, ein ältlicher
Mann von treuherziger Miene. Der Jüngere
ſchritt raſch wie ein Edelhirſch dem Aelteren voran,
der ſeines Orts mehr den langſamen Gang eines
ausgedienten, aber dem Herrn noch ſtäts anhänglich
nachſchleichenden Jagdhundes hatte. Als ſie auf
einen freien Platz vor den Hügeln getreten waren,
[300] ſetzten ſie ſich auf einen großen Stein, der dort
nebſt mehreren Andern lag, im Schatten einer
mächtigen Linde. Der Jüngere gab dem Alten
Geld und Schriften, deutete ihm die Richtung an,
in welcher er nun ſeinen Weg fortſetzen müſſe,
und ſagte zu ihm: Jetzt Jochem, geh und ſei
geſcheidt, daß wir des vermaledeiten Schrimbs oder
Peppel habhaft werden, der ſolche abſcheuliche Lügen
ausgedacht hat. Und ſobald du ihn entdeckt haſt,
gieb mir Nachricht.


Ich werd’ g’ſcheidt ſeyn, erwiederte der alte
Jochem. Ich frage immer ſo ſacht und unter der
Hand in den Flecken und Städten nach Einem, der
ſich Schrimbs oder Peppel ſchreibt, und es müßte
mit dem Henker zugehen, wenn ich den Gauch
nicht ausfindig machen wollte. Sie halten ſich der-
weile incognito-verborgen, bis Sie von mir ein
Weiteres vernehmen.


Wohl, ſagte der junge Mann, und nur immer
äußerſt vorſichtig und bedachtſam gehandelt, Jochem,
denn wir ſind nicht mehr im lieben Schwabenland,
ſondern dahaußen unter Sachſen und Franken.


Die wüſten Kerl’! verſetzte der alte Jochem. Sie
haben halt lang von Schwabenſtreichen geſprochen,
[301] ſie ſollen verſpüren, daß der Schwab auch ein fei-
ner Vogel ſeyn kann, wann’s Noth thut.


Immer rechts dich gehalten, mein Jochem, denn
dahin weiſen die letzten Spuren von dem Schrimbs
oder Peppel, ſagte der junge Mann, indem er auf-
ſtand, und dem Alten zum Abſchiede herzlich die Hand
ſchüttelte. Immer rechts, verſteht ſich, erwiederte
Dieſer, gab dem Andern die vollgeſtopfte Waidtaſche,
die er bis jetzt getragen hatte, lupfte den Hut,
und ging dann zwiſchen den Kornfeldern einen
Seitenpfad rechts nach der Gegend zu hinab, wo
man in der Ferne eine der im vorigen Capitel
angedeuteten Thurmſpitzen ragen ſah.


Der junge Mann mit der Jagdflinte ging dage-
gen gerade gegen den Oberhof hinunter. Er mochte
etwa hundert Schritte weit gegangen ſeyn, als er
etwas keuchend hinter ſich herkommen hörte und
ſich umdrehend ſah, daß ſein alter Begleiter ihm
folgte. Ich wollte Sie noch um Eins gebeten
und erſucht haben, rief Dieſer, thun Sie, da Sie
nun allein und ſich ſelbſt überlaſſen ſind, das Schieß-
gewehr von ſich, denn Sie treffen doch nichts und
richten, weiß Gott, noch einmal ein Unglück an,
wie neulich ſchon beinahe geſchehen wäre, da Sie
[302] nach dem Haſen zielten und beinahe das Kind
niedergeſchoſſen hätten.


Ja, es iſt verwünſcht, immer zu zielen und
nimmer zu treffen! rief der junge Mann. Ich
will mich auch wahrhaftig überwinden, ſo ſchwer
es mir fallen wird, denn du weißt ja, daß es mir
von meiner ſeligen Mutter her anklebt, allein ich
will mich, wie geſagt, überwinden, und es ſoll kein
Schrotkorn aus dieſen Läufen fliegen, ſo lange ich
von dir entfernt bin.


Der Alte bat ihn um das Gewehr. Dem aber
weigerte ſich der junge Mann, indem er ſagte, daß
es ohne Gewehr ja gar keine Ueberwindung koſte,
das Schießen zu laſſen, und ſeine Handlungsweiſe
dann alles Verdienſt einbüße. Das iſt auch wahr,
erwiederte der Alte und ging nun getroſt, ohne
einen zweiten Abſchied zu nehmen, da der Erſte
noch vorhielt, ſeine ihm angewieſene Straße zurück.
Der junge Mann blieb ſtehen, ſetzte das Gewehr
auf den Boden, ſtieß den Ladeſtock in den Lauf
und ſagte: Es wird hart halten, den Schuß her-
auszubringen, und er darf doch nicht darin bleiben.
Dann warf er es wieder über die Schulter und
ſchritt auf den Eichenkamp des Hofſchulzen zu.


[303]

Dicht vor demſelben von einem ſchmalen Raine
ging eine Kette Feldhühner mit ſchmetterndem Flü-
gelſchlage und Geſchrei auf. Jauchzend riß der
junge Mann das Gewehr von der Schulter, rief:
Da werde ich ja gleich der Schüſſe quitt! ſchlug
an, es knallte zweimal aus dem Doppelgewehre,
die Vogel flogen unverſehrt davon, der Jäger ſah
betroffen ihnen nach, ſagte: Dießmal, meinte ich,
müßte ich was getroffen haben, nun will ich mich
aber auch gewiß überwinden; und ſetzte ſeinen
Weg durch das Eichenwäldchen nach dem Hofe fort.


Als er zur Thüre eintrat, ſah er in einem
geräumigen, hohen Flure, welcher den ganzen mitt-
leren Theil des Hauſes einnahm, den Hofſchulzen
mit Tochter, Knechten und Mägden bei dem Mit-
tagseſſen ſitzen. Er bot mit ſeiner ſonoren, wohl-
klingenden Stimme freundlichen Gruß; der Hof-
ſchulze ſah ihn achtſam, die Tochter verwundert an,
was die Knechte und Mägde betrifft, ſo ſahen ihn
dieſe gar nicht an, ſondern aßen, ohne ſeiner zu
achten, weiter. Der Jäger trat zu dem Hofwirthe
und erkundigte ſich nach der Entfernung der näch-
ſten Stadt und dem Wege dahin. Anfangs ver-
ſtand der Schulze dieſe ihm fremdklingende Sprache
[304] nicht, die Tochter aber, welche kein Auge von dem
ſchönen Jäger verwandte, half ihm den Sinn ent-
decken, und er gab darauf richtigen Beſcheid. Dieſen
verſtand wieder der Jäger ſeinerſeits erſt nach
dreimaligem Fragen, brachte aber endlich doch her-
aus, daß die Stadt auf dem ſchwer zu findenden
Fußwege unter zwei ſtarken Stunden nicht zu
erreichen ſei.


Die Mittagshitze, der Anblick des vor ihm
ſtehenden reinlichen Mahls und ſein eigner Hunger
riefen in dem Jäger die Frage auf: Ob er nicht
hier für Geld und gute Worte Eſſen und Trinken
und bis zur Abendkühle Obdach erhalten könne? —
Für Geld nicht, verſetzte der Hofſchulze, für ein
gutes Wort aber Mittagseſſen und Abendbrod dazu
und Raſt, ſo lange es dem Herrn beliebt; ließ
einen ſpiegelblanken zinnernen Teller, Meſſer, Gabel
und Löffel, eben ſo blank wie der Teller, aufſetzen
und nöthigte den Gaſt zum Sitzen. Dieſer ſprach
dem kräftigen gekochten Schinken, den großen Boh-
nen, den Eiern und Würſten, woraus die Mahlzeit
beſtand, mit allem Appetite der Jugend zu, und
fand, daß die weit und breit als böotiſch ver-
ſchrieene Landeskoſt gar ſo übel nicht ſei.


[305]

Geredet wurde von den Wirthen wenig, denn
der Bauer ſpricht während des Eſſens nicht gern,
doch erfuhr der Jäger von dem Hofſchulzen auf
Befragen, daß hier herum in der ganzen Gegend
kein Menſch, Namens Schrimbs oder Peppel, bekannt
geworden ſei. Die Knechte und Mägde, welche
geſondert von den Herrenplätzen am andern Ende
der langen Tafel ſaßen, waren ganz ſtumm und
blickten nur auf die Schüſſel, aus welcher ſie mit
ihren Löffeln die Speiſe zum Munde führten.


Nachdem ſie aber abgegeſſen und ſich die Mäu-
ler gewiſcht hatten, trat Eines nach dem Andern
vor den Herrn und ſagte: Baas, *) meinen
Spruch. — Der Hofſchulze theilte hierauf Jedem
eine ſprichwörtliche Redensart oder eine Bibelſtelle
mit. So ſagte er zum erſten Knechte, einem roth-
haarigen Kerl: Jach ſeyn zum Hader, zündet
Feuer an, und jach ſeyn zu zanken, vergießt Blut;
zum Zweiten, einem dicken, langſamen Menſchen:
Gehe hin zur Ameiſe, du Fauler, ſieh ihre Weiſe
an und lerne; zum Dritten, einem kleinen ſchwarz-
äugichten verwogen blickenden Geſellen: Beſſer ein
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 20
[306] Sperling in der Hand, als ein Reiher auf dem
Dache. — Die erſte Magd empfing den Spruch:
Haſt du Vieh, ſo warte ſein, und trägt dir’s Nutzen,
ſo behalte es; und zur Zweiten ſagte er: Es iſt
nichts ſo fein geſponnen, es kommt endlich an die
Sonnen.


Nachdem Jeder auf ſolche Weiſe bedacht worden
war, gingen Alle zu ihren Arbeiten, der Eine gleich-
gültig, der Andere betroffen ausſehend. Die zweite
Magd war von ihrem Spruche blutroth geworden.
Der Jäger, welcher allgemach den ortsüblichen
Dialect verſtehen lernte, hatte dieſem Unterrichte
mit Erſtaunen zugehört und fragte nach deſſen
Beendigung, was er bezwecke?


Daß ſie darüber nachdenken, ſagte der Hof-
ſchulze. Wenn ſie heute Abend hier wieder zuſam-
menkommen, ſo ſagen ſie mir, was ſie ſich bei den
Sprüchen gedacht haben. Die meiſte Arbeit auf
dem Lande iſt der Art, daß die Leute nebenbei
noch allerhand Gedanken haben können, und da
fallen ihnen denn alle die ſchlechten Sachen ein,
die hernachmals in Liederlichkeit, Lug und Trug aus-
brechen. Bei’m Pferdefüttern denken ſie, wie ſie
Hafer auf die Seite bringen können, und wenn
[307] die Magd die Kuh melkt, ſo ſteht ihr immer der
Liebſte vor Augen. Kriegt aber der Menſch ſo
einen Spruch auf zu rathen, ſo ruht er nicht ehen-
der, als bis er die Moral davon heraus hat, und
derweile iſt die Zeit vergangen, ohne daß ihm
etwas Uebles in den Sinn kam.


Ihr ſeid ja ein wahrer Weltweiſer und Prieſter!
rief der Jäger, deſſen Verwunderung hier mit
jedem Augenblicke zunahm.


Es läßt ſich viel mit dem Menſchen ausrichten,
wenn man ihm die Moral beibringt, ſagte der
Hofſchulze bedächtig. Die Moral ſteckt aber in
kurzen Sprüchen beſſer, als in langen Reden und
Predigten. Meine Leute halten ſich viel länger,
ſeitdem ich auf die Moral verfallen bin. Freilich
das ganze Jahr hindurch geht es mit den Sprüchen
nicht; während der Beſtellzeit und in der Ernte
hört alles Nachdenken auf. Dann thut es aber
auch nicht Noth, denn ſie haben zu Schlechtigkeiten
keine Zeit.


Ihr macht alſo förmliche Abſchnitte in Eurem
Unterrichte? fragte der Jäger.


Bei Winterszeit gehen die Sprüche gemeiniglich
nach dem Dreſchen an und dauern bis zum Säen,
20*
[308] verſetzte der Hofſchulze. Im Sommer aber wer-
den ſie von Walpurgis bis gegen die Hundstage
zugetheilt. Das ſind die Zeiten, wo es bei dem
Bauer am wenigſten zu verrichten giebt.


Der Jäger erkundigte ſich, was für eine Be-
wandniß es mit dem Rothwerden des einen Mäd-
chens gehabt habe, und erhielt darauf folgende
Antwort: Die hat etwas auf dem Gewiſſen,
und in ſolchen Fällen iſt es meine Manier, einen
Spruch anzubringen, woraus das räudige Schaf
ſieht, daß ich um den Fehler weiß. Wir wollen
abwarten, ob er bis heute Abend gewirkt haben
wird.


Er ließ den jungen Mann allein, und dieſer
ſah ſich in Haus, Hof, Baumgarten und Wieſen
um. Mehrere Stunden brachte er in dieſer Be-
ſchauung zu, da jedes Einzelne ihn anzog. Die
ländliche Stille, das Wieſengrün, die Wohlhaben-
heit, die aus dem ganzen Hofe ihm entgegenſtrotzte,
machte den angenehmſten Eindruck auf ihn und
regte in ihm den Wunſch an, lieber in ſo weiter
Naturfreiheit, als in den engen Gaſſen einer klei-
nen Stadt die acht oder vierzehn Tage zuzubringen,
welche bis zum Empfange der Nachrichten vom
[309] alten Jochem verſtreichen konnten. Da er ſein
Herz auf der Zunge trug, ſo ging er auf der
Stelle zu dem Hofſchulzen, der im Eichenkampe
ein Paar Bäume zum Fällen anſchlug, und ſprach
ſein Begehr aus. Er erbot ſich dagegen zu Allem,
worin er ſeinem Wirthe nützlich werden könne.


Die Schönheit iſt eine gar gute Mitgift. Sie
iſt ein Schlüſſel, der wie jener kleine goldne, ſie-
ben Schlöſſer, von denen keins dem Andern ähnlich
ſah, zauberiſch öffnet. Ein Paß iſt ſie, auf den
der Träger, ohne daß in den Nachtquartieren Viſa’s
genommen zu werden brauchen, frei durch alle
Welt geht; in Romanen und Novellen ſpannt ſich
die Schönheit über alle Klüfte und Abgründe der
Unwahrſcheinlichkeit hinweg, wie die ſiebenfarbige
Brücke der Iris.


Wäre der Jäger nicht ſo ſchön geweſen, was
für weitläuftige Motive hätte ich erſinnen und
erſpinnen müſſen, um den Hofſchulzen zur Gewäh-
rung des Quartiers an ihn willig zu machen! So
jedoch brauche ich nur zu ſagen, daß der Alte die
ſchlanke und doch kräftige Geſtalt, das ehrliche und
dabei vornehmprächtige Antlitz des Jünglings eine
Zeit lang betrachtete, erſt zwar nachhaltig den Kopf
[310] ſchüttelte, dann aber freundlich werdend nickte und
zuletzt ihm ſeine Bitte erfüllte. Er wies dem
Jäger ein Eckſtübchen im obern Stocke des Hauſes
an, von wo man nach der einen Seite über den
Eichenkamp nach den Hügeln und Bergen, nach
der Andern über weite Wieſenflächen und Kornfel-
der ſah.


Freilich mußte der Gaſt anſtatt des Miethzin-
ſes die Erfüllung einer ſonderbaren Bedingung
verſprechen. Denn der Hofſchulze ließ auch der
Schönheit nicht gern etwas ganz unentgeltlich
zufließen.


[311]

Fuͤnftes Capitel.
Der Jäger verdingt ſich zum Wildſchützen,
und des Abends erzählen Knechte und
Mägde die Ergebniſſe ihres Nachdenkens
über die moraliſchen Sprüche
.


Er fragte nämlich den jungen Mann, ehe und
bevor er ihm Quartier zuſagte, ob er, wie ſein
grüner Anzug, das Gewehr und die Waidtaſche zu
lehren ſcheine, ein Liebhaber von der Jagd ſei?
Jener erwiederte darauf, daß, ſo lange er denken
könne, er mit Leidenſchaft, ja mit einer wahren
Raſerei gepirſcht habe, wobei er denn freilich ver-
ſchwieg, daß durch ſein Pulver und Blei außer
einem Sperlinge, einer Krähe und einer Katze noch
kein Gottesgeſchöpf vom Leben zum Tode gebracht
worden war. Wirklich verhielt es ſich ſo. Er
konnte nicht leben, ohne nicht des Tages einige-
male geknallt zu haben, ſchoß aber regelmäßig vor-
[312] bei und hatte nur in ſeinem achtzehnten Jahre
einen Sperling, in ſeinem Zwanzigſten eine Krähe,
in ſeinem Vierundzwanzigſten eine Katze erlegt; das
war Alles. Ein ſonderbares Ereigniß vor ſeiner
Geburt mochte ihm die bei ſo wenigen Erfolgen
ſonſt unbegreifliche Neigung, wie ein Maal, aufge-
drückt haben. Wenigſtens hielt er ſelbſt dafür,
daß aus dieſer Signatur der Hang abzuleiten ſei,
über den er in beſonnenen Stunden höchſt ver-
drießlich werden konnte.


Nachdem der Hofſchulze die bejahende Antwort des
Gaſtes empfangen hatte, rückte er mit ſeinem Antrage
hervor, welcher dahin ging, daß der Jäger täglich
ein Paar Stunden gegen das Wild im Felde lie-
gen ſolle, welches ſeinen Kornbreiten, beſonders den
die Hügel hinanſteigenden manchen Schaden zufüge.
Dort in den Bergen, ſagte der alte Bauer, ſind die
großen Jagden der Edelleute; die Creaturen haben
mir ſchon in den vergangenen Jahren Saat genug
abgeatzt und daniedergewälzt, aber in dieſem iſt
es erſt recht ſchlimm geworden, denn der junge
Graf drüben iſt auch ein ſcharfer Jäger und hat
ſeinen Wildſtand vermehrt, ſo daß die Hirſche und
Rehe wie die Schafe aus dem Walde treten und
[313] mein’ Mühe und Schweiß verruiniren. Ich ver-
ſtehe mich nicht auf die Sache und den Knechten
mag ich es nicht gerne erlauben, weil ſie unter
dem Vorwande, ſich auf den Anſtand zu ſtellen,
mir leicht unordentlich werden können, darum haben
die Beſtien mitunter gewirthſchaftet, daß ſich Einem
das Herz im Leibe umwenden mußte. Nun kommen
Sie mir gerade zu Paß, und wenn Sie mir dieſe
vierzehn Tage bis zur Ernte die Höllenteufel aus
dem Korne halten, ſo ſollen Sie damit Ihr Quartier
bezahlt haben.


Was? Ich ein Wildſchütz? Ich ein Wilddieb?
rief der junge Mann und lachte ſo herzlich und
ſchallend auf, daß er den Hofſchulzen anſteckte.
Noch lachend ſtrich dieſer über das feine Tuch, aus
welchem die Kleidung ſeines Gaſtes gemacht war,
und ſagte: Eben darum, weil es bei Ihnen wohl
keine ſonderliche Gefahr haben wird, wenn Sie
auch attrapirt werden. Sie werden ſich ſchon eher
loszumachen wiſſen, als ſo ein armer Knecht. Die
Fliegen fangen ſich in den Spinnweben, die Wes-
pen ſchlüpfen durch. Doch was iſt das überhaupt
ein Verbrechen, ſein Eigenthum gegen die Unge-
thüme, die es freſſen und zu Grunde richten, zu
[314] verdefendiren! rief er, indem plötzlich der lachende
Ausdruck ſeines Geſichts in den des loderndſten
Zornes überging. Die Stirnadern ſchwollen ihm
an, das Blut trat dunkelroth in ſeine Wangen,
die Augäpfel verloren ihr Weißes und wurden röth-
lich; man hätte vor dem Alten erſchrecken können.


Ihr habt Recht, Vater, es giebt nichts Unvernünf-
tigeres, als die ſogenannten Jagdgerechtſame, ſagte
der Jäger, um ihn zu beruhigen. Deßhalb will
ich die Sünde über mich nehmen, zum Frommen
Eures Gutes am Wildbann der hieſigen Edelleute
zu freveln, obgleich ich eigentlich dadurch — —


Er wollte etwas hinzuſetzen, brach aber ſchnell
ab und ging auf andere gleichgültige Gegenſtände
über.


Wer aber glaubt, daß die Unterhaltung dieſes
weſtphäliſchen Hofſchulzen und ſchwäbiſchen Jägers
ſo flüſſig von Statten gegangen ſei, wie meine
Autorfeder ſie niedergeſchrieben hat, der irrt ſich.
Vielmehr waren noch oft mehrmalige Wiederho-
lungen nöthig, ehe und bevor ein nothdürftiges
Verſtändniß zwiſchen ihnen eintrat. Hin und wie-
der mußte ſelbſt die Finger- und Zeichenſprache zu
Hülfe genommen werden. Denn der Hofſchulze
[315] hatte in ſeinem Leben nichts von einem: ch hinter
dem: ſ gehört, auch brachte er alle Töne hinten
aus der Gurgel, oder wenn man will, aus dem
Rachen hervor. Dagegen war dem Jäger das gött-
liche Geſchenk, welches uns von den Thieren unter-
ſcheidet, ganz zwiſchen die Lippen und Vorderzähne
gelegt worden, von wo denn die Laute mit wun-
derſamer ſchwerträchtiger Fülle und ſauſendem Zi-
ſchen ausbrachen. Aber durch dieſe fremden Schaa-
len hindurch hatten der alte und der junge Mann
bald an einander Behagen gefunden. Da ſie Beide
vom ächteſten Schrot und gewichtigſten Korn waren,
ſo mußten ſie wohl Einer des Andern Kern erkennen.


Auf ſeiner Eckſtube hatte jedoch der Jäger
auch Schaalen entdeckt, die ihn nach ihrem Kerne
verlangen machten. Er ſah nämlich, als er ſeine
leichten Habſeligkeiten und ſchweren Goldrollen aus
der Jagdtaſche nahm, um ſich häuslich einzurichten,
in der Ecke des Zimmers ein Nachthäubchen, ein
Tüchlein und ein Röckchen ſauber über die Lehne
eines Stuhles gehängt. Alle dieſe Stücke waren,
wie der Augenſchein lehrte, getragen, dennoch leuch-
teten ſie von Schneeweiße. Ei! rief der Jäger,
hat hier vor mir ein hübſches Maidel gehauſt?
[316] Da werde ich ſchon Glück haben. Er wollte in
einer Laune, die ihn plötzlich anſtieß, ſich das Nacht-
häubchen aufſetzen, es war aber viel zu klein für
ſein Haupt. Er maaß an der Zerknitterung der
Bänder das Oval des Geſichtes ab und fand dieſes
ohne Tadel. Das Röckchen deutete auf den zier-
lichſten Leib und das Tüchlein ließ nach den Fal-
ten und nach der Beugung, die es behalten, ver-
muthen, daß unter ihm ein junger, runder Buſen
geſchlagen habe. Plötzlich aber erröthete er unter
dieſen Spielereien bis hoch hinauf zu den Schläfen,
er ſchämte ſich ihrer, die ihn freventlich bedünken
wollten, er ſtellte den Stuhl mit den Kleidungs-
ſtücken hinter einen Schirm, um ſie nicht ferner
zu ſehen, und ſetzte ſich zum Schreiben nieder, die
ſchweifenden Gedanken in Ordnung zu bringen.


Als er Abends in den Flur hinunter zum
Eſſen gerufen wurde, fand er die Knechte und
Mägde, die ihr Abendbrod ſchon früher genoſſen
hatten, im vollen Erzählen um den Hofſchulzen.


Dieſer hatte auch bereits ſeinen Sallat verzehrt,
hörte zu, und beſtätigte oder beſtritt, was ſeine
Moralſchüler vorbrachten. Der rothhaarige Knecht,
welcher die Warnung vor dem Zanken erhalten
[317] hatte, ſagte: Das iſt ein rechtes Glück, Baas,
daß Ihr mir gerade heute die Lehre gegeben habt,
denn ich begegnete, wie ich die Pferde in die Nacht-
weide trieb, dem Pitter vom Bandkotten, auf den
ich ſchon längſt fuchsfalſch bin, und da habe ich ihm
die Naſe braun und blau geſchlagen.


Dieſes ging ja aber ſchnurſtraks gegen die Ver-
mahnung! rief der Hofſchulze.


Behüte Gott, verſetzte der Rothhaarige. Als
zum Beiſpiel, ſo führte ich einen Zaunpfahl bei mir,
um damit die Pferde einzutreiben, und wie ich nun
den Pitter anſichtig wurde und ihn niedergeſchmiſſen
hatte, ſo dachte ich, du willſt dem Hund mit dem
Pfahl Eins verſetzen, daß er auf Lebenszeit genug
hat, weil er nämlich an allen Mädchen herumca-
reſſirt, ſo daß man gar nicht mehr ankommen kann.
Aber da dachte ich auch, daß ich ſo viel darüber
nachgedacht hatte: „Jach ſeyn zum Hader, zündet
Feuer an, und jach ſeyn zum Zanken, vergießt
Blut,“ und gab ihm bloß einen Puff auf die Naſe
und damit gut, und dann noch einen Tritt in’s
Kreuz und ließ ihn laufen.


Nun inſofern mag es gut ſeyn, aber künftig
kannſt du auch das Puffen und Treten unterlaſſen,
[318] wenn du über den Spruch nachgedacht haſt, erwie-
derte der Hofſchulze.


Der kleine Schwarzäugige, Verwegne ſagte:
Meiner Treu, es iſt und bleibt wahr, daß ein
Sperling in der Hand beſſer iſt, als ein Reiher auf
dem Dache. Darum habe ich die Gedanken auf die
Gertrud drüben eingeſtellt, weil ſie gar zu hoffähr-
tig iſt, und auf Michael einen Verſpruch mit dem
Wicht *) von Hölſcher’s gethan, die ich kriegen konnte.


Magſt du ſie denn leiden? fragte der Hofſchulze.


Ne, erwiederte der Kleine, es wird aber doch
ſchon gehen.


Der dicke Langſame, welcher zur Ameiſe geſchickt
worden war, ihre Weiſe anzuſehen, erklärte, dabei
nichts gelernt zu haben, denn, ſagte er, ich bin
auf keine Ameiſe geſtoßen. Dagegen ſagte die
erſte Magd: Euer Spruch, Baas, trifft nicht zu.
„Haſt du Vieh, ſo warte ſein, und trägt dir’s
Nutzen, ſo behalte es.“ Denn ich habe die Kühe
zu Abend gehörig gemelkt und abgewartet, und
Nutzen würden ſie mir auch tragen, aber behalten
darf ich ſie darum doch nicht.


[319]

Der Spruch geht auf eine eigene Wirthſchaft,
und wenn du eine bekommſt, ſo wird er eintreffen,
antwortete der Hofſchulze. Ja ſo, ſagte das Mäd-
chen. — Aber Ihr habt eine eigene Wirthſchaft,
Baas, und das Vieh trägt Euch Nutzen und Ihr
behaltet es, und doch wartet Ihr nicht ſein.


Es iſt ein Spruch für Frauenzimmer, nicht
für Mannsleute, antwortete der Hofſchulze etwas
barſch. Und nun laß dein Fragen und ſchließ die
Milchkammer zu.


Das Mädchen, welches am Mittage von dem
Spruche: „Es iſt nichts ſo fein geſponnen, es
kommt endlich an die Sonnen,“ roth geworden war,
hatte bisher ſeitwärts und in ſich gekehrt geſeſſen,
an ihrer Schürze gezupft und ſcheu vor ſich nieder
geblickt.


Als nun die übrigen Knechte und Mägde gegan-
gen waren, ſchlich ſie ſich zu ihrem Herrn, zupfte
ihn verſtohlen am Rock und ging mit ihm vor die
Thüre in’s Freie. Nach einiger Zeit kam der
Hofſchulze allein zurück und ſagte zu ſeiner Tochter:
Es iſt richtig, die Gitta *) hat mir’s eben geſtan-
[320] den, ſie hat ſich mit dem Matthies vergangen.
Sprich du weiter mit ihr und ſag ihr, wenn ſie
ſich ſonſt ordentlich halte, wolle ich ſorgen, daß der
Matthies an ihr ſeine Schuldigkeit thue.


Ich habe mir’s gleich gedacht, antwortete die
Tochter, ohne über die Entdeckung und den ihr
ertheilten Auftrag verlegen zu werden.


Nach ihrer Entfernung ſprach der Jäger ſeine
Verwunderung über die Gewalt aus, welche er
ſeinen Wirth in dieſem Falle hatte üben ſehen. Das
iſt ganz leicht, verſetzte der Hofſchulze. Ein Jeder
weiß, daß er nicht bei mir in Dienſt bleibt, wenn
ich auf ihn einen Argwohn habe, und er nicht
bekennt und zu Kreuz kriecht. Thut er das aber,
ſo vergebe ich ihm oder nehme mich ſeiner an.
Da es mir meine Umſtände zulaſſen, bei allem Lohn
einen Thaler mehr zu geben, als meine Nachbaren,
ſo mag Keiner vom Oberhof herunter. Kriege ich
nun von etwas Wind, ſo ziele ich darauf mit einem
Spruche hin, und gemeiniglich wird dann gebeichtet,
weil nämlich der Sünder weiß, daß außerdem ihm
der Dienſt aufgeſagt iſt.


Sie wünſchten einander gute Nacht, und der
Jäger ging auf ſein Zimmer. Er entkleidete ſich,
[321] ſchlug die Decke des Bettes zurück und ſah an
kleinen Fältchen der übrigens blendend weißen
Leintücher, daß die Leute nicht für nöthig gefunden
hatten, dieſelben nach dem letzten Beſuche, welcher
auf dieſer Stube geherbergt, zu wechſeln. Eine
wunderbare Empfindung durchrieſelte ihn; er hatte
das Mädchen, welches hier geruht, ſchon ganz ver-
geſſen gehabt, nun fiel ihm das Nachthäubchen wie-
der ein, er nahm es vom Stuhl, maaß abermals
an der Zerknitterung das Oval des Geſichtes ab,
drückte es an ſeine Wange, wie um ſie zu kühlen,
und brach plötzlich in heftige Thränen aus. Denn
in dieſer jungen, ſaftſchwangern Natur lagen noch
alle Widerſprüche des Ernſten und Närriſchen,
welche das Leben ſpäter bis zur Gleichgültigkeit
abdämpft, chaotiſch neben einander.


Seine Unruhe, als er ſich zwiſchen den Decken
ausgeſtreckt hatte, wurde vermehrt, als er ſich auf
einmal erinnerte, daß er bei dem Abſchiede von
dem alten Jochem dieſem ja gar nicht geſagt habe,
wo er während deſſen Spürfahrt verweilen wolle.


Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 21
[322]

Sechstes Capitel.
Der Jäger ſchreibt an ſeinen Freund Ernſt
im Schwarzwalde
.


„Mentor, mein Mentor, dem leider der ver-
ſtändige Jüngling Telemachos fehlt, was wirſt du
ſagen, wenn du meine Hand und die Ueberſchrift
des Briefs zu ſchauen bekommſt? Du, unter deinen
Tannen und Uhrmachern, wirſt mich nach Reiſen
und Fahrten aller Art endlich weich und ſtill auf
meiner Alm im Schloſſe meiner in Gott ruhenden
Väter wiſſen und ausrufen, nachdem du Gegen-
wärtiges geleſen: Unſer Wiſſen iſt eitel Stückwerk!
Du wirſt dir einbilden und wohlgefällig (du Treuer!)
dir ſagen, wenn du Abends in der Schreibtafel
die Agenda durchſtreichſt, weil ſie Nummer für
Nummer Acta geworden ſind: Endlich wird er
nun ſich zur Decke geſtreckt haben, des Feldbau’s
warten, oder eine nützliche Anlage, etwa eine Papier-
mühle, machen, und das heiße Blut höchſtens an
[323] den Sauen und Hirſchen ſeines Wildbanns aus-
laſſen, und iſt von allem dem nicht ein Tüttelchen
wahr, obgleich ich auch hier, Gott ſei es geklagt,
auf die Jagd gehe, aber im Dienſte eines Weſtphä-
liſchen Bauern als Wilddieb gegen meine Herrn
Standesgenoſſen.


Ich bitte dich, verliere die Geduld nicht;
denn wenn ſeltſame Dinge von der Seele her-
untergebeichtet werden ſollen, ſo darf der Sün-
der ſchon etwas ſtocken und zaudern, und der
Beichtvater muß es ſich gefallen laſſen, das Tüchel
lange vor dem Antlitz zu halten. In der Ohren-
beicht aber fühle ich mich trotz meines guten Tübin-
ger Proteſtantismus immer dir gegenüber, wenn
ich etwas habe auslaufen laſſen, was nicht inner-
halb der Schnur war. Die Sünde kann ich nicht
verſchwören, aber, iſt ſie begangen, ſo verſpüre
ich wie ein Glaubiger der allgemeinen Kirche ein
wahres Reinigungsbedürfniß in der Seele, und
mein moraliſcher Reiniger biſt du. Du haſt mich
in hundert Nöthen der Art ſchon losgeſprochen —
— ach nein! das haſt du nicht, du haſt immer
bitter gezankt und geſcholten, aber es iſt nun ein-
mal mein Schickſal; ich kann die Laſt nicht bei
21*
[324] mir verſchließen, ich lege ſie an die Schwelle des
Tempels der Athene, heißt des wohlbekannten Ober-
amtmannshauſes unfern der Hölle (bei Donaue-
ſchingen) nieder, und habe dann neue Kraft und
friſchen Muth zu Gutem und Böſem. — Alſo:
Iterum confiteor ohne auf’s absolvo zu rechnen.


Confiteor … aber was?


Seit vierzehn Tagen aus Schwaben, liege ich
ſeit Acht hier in einem ſogenannten Oberhofe
unweit — —


Ich mußte geſtern abbrechen, denn nachdem ich
geſchrieben, wo ich ſei, fehlte mir auf einmal die
Brücke zu der Eröffnung, warum und weßwegen
ich hergekommen? Ich muß alſo die Sache auf
eine andere Weiſe einleiten. Trotz der bunten
Schreibart, die vielleicht noch mit unterlaufen wird,
bin ich ernſt, klar und in mir gefaßt. Daher ſollen
dir Dinge entdeckt werden, die du wenigſtens in
dieſer beſtimmten Geſtalt noch nicht von mir ver-
nommen haſt.


Die Geſchichtſchreiber pflegen an die Spitze
ihrer Werke zuweilen allgemeine Sätze zu ſtellen,
[325] in denen ſich der innerſte Sinn der Begebenheiten,
welche ſie ſchildern wollen, ausprägen ſoll. Einige
ſolcher Betrachtungen werde ich jetzt meiner Ge-
ſchichtserzählung voranſchicken, weil ſie dir dadurch
vielleicht faßlicher wird.


Nach der ſcharfſinnigen und fruchtbaren Hypo-
theſe eines tiefblickenden Naturlehrers entſpringen
die Inſtincte der Thiere aus traumartigen Vorſtel-
lungen von den Dingen, welche der Inſtinct
erſtrebt. Der Zugvogel träumt von den fernen
Gegenden, in welche er wandert, in traumartigen
Umriſſen ſieht die ſibiriſche Waldſchnepfe die deut-
ſchen Sumpfſtrecken, die Schwalbe den Küſten-
ſaum Africa’s. Traumartig ſchweben der Spinne
die Umriſſe und Radien ihres Netzes, der Biene
die Sechsecke ihres Stockes vor. Es iſt eine
Hyotheſe, aber ich nannte ſie ſinnreich und frucht-
bar, weil ſie die Creatur gerade in dem, was ihre
bedeutendſte Thätigkeit iſt, aus der Region des
Maſchinenmäßigen in ein Gottdurchleuchteteres Ge-
biet hebt.


Wir armen bewußten Menſchen ſcheinen nun von
dieſer göttlichen Sicherheit des Angreifens und Faſſens
alles Stoffes entblößt zu ſeyn. Aber es iſt nur ſchein-
[326] bar. Alles Genie und Talent iſt nichts weiter als
Inſtinct. Nenne mir den Künſtler, den Dichter,
der beides nicht aus ſogenanntem dunklem Drange
geworden wäre! Wir Andern haben freilich ſo
beſtimmte Fingerzeige nicht in uns, indeſſen ſind faſt
jedem Menſchen — vielleicht jedem — auch ganz feſte
Richtungen, unverrückbare Puncte eingeboren, welche
außen oft als Launen, Grillen, Seltſamkeiten, Lieb-
habereien erſcheinen, dennoch aber vielleicht auf das
allerfeſteſte Geſetz der Seele hindeuten. Es ſind die-
ſes nicht die ſogenannten Grundſätze, Maximen, Le-
bensweiſen, Gewöhnungen — das Alles kann angebil-
det und angelernt werden — nein, was ich meine, iſt
etwas ganz Anderes, aber freilich ſchwer zu beſchreiben.


Dieſe Lichter des innern Menſchen ſind Halb-
träume des Inſtincts. Von dem nüchternen Tages-
ſcheine des Verſtandes entſcheucht, von der wühlenden
Hand der Selbſtbeſchauung zerſchlagen, wirken ſie
nicht ſo ſiegreich, wie bei dem Wandervogel und
bei der Biene das unwiderſtehliche Muß, glücklich
iſt aber derjenige, der die Stimme jener Träume
hört und ihr folgt.


Das Genie wird geboren, ſagt man, und dar-
über iſt Jeder einverſtanden Ich füge hinzu:
[327] Nicht Alle werden als Genies, aber dazu wird
Jeder geboren, ſich ſein Schickſal zu machen. Selbſt
die willkührlichſcheinenden Grillen ſind zuweilen
feſte Wegweiſer zum Glück. Erinnerſt du dich
noch des armen Tagelöhners in Ludwigsburg, wel-
cher, ſonſt verſtändig und fleißig, ſich ſteif und feſt
einbildete, im Park lägen Granaten, und der zu
jeder Freiſtunde in den Alleen danach ſuchte, Kieſel
und Quarz aufhob und betrachtete? Die Leute
hielten ihn für verrückt, und eines Abends fand
er in einem der dunkelſten Gänge, eifrigſt auf Gra-
naten erpicht, eine vollgeſpickte Brieftaſche, die er
ehrlich genug war, dem Verlierer einzuhändigen.
Dieſer belohnte ihn mit einem Geſchenke, welches
ſeine Umſtände auf Lebenszeit verbeſſerte. Das
Sonderbarſte war, daß, ſobald jener Fund gethan
war, ſein Suchetrieb in ihm verſiegte.


Ich habe nun auch in mir ganz beſtimmte
Inſtincte, denn ich will ſie nur geradezu ſo bei mir
nennen. Meine Jagdluſt mag ich nicht anführen,
denn es bleibt mit der abentheuerlichen Seite der
Region, welche ich dir bezeichnete, allerdings immer
etwas Mißliches, obgleich ich nicht berge, daß ich
des Gedankens nicht Meiſter werden kann, mein
[328] beſtändiges Schießen und Fehlen müſſe doch irgend
einen, mir freilich nicht begreiflichen Zweck haben.
Aber laſſen wir dieſen waidmänniſchen Inſtinct,
der mir den Spitznamen; der wilde Jäger, bei
Euch zugezogen hat, vor der Hand auf ſich beruhen!


Aber ein Zweites in mir iſt etwas Ernſteres,
und doch kein Vorſatz, keine Ueberzeugung, keine
Leidenſchaft — ſondern ein wahrer Inſtinct. Es
iſt ein unbeſchreibliches Gefühl für die Frauen.
So lange ich denken kann, wohnt es mir bei. Ich
kann es dir eigentlich nicht ſchildern. Mich durch-
ſäuſelt die Ahnung einer unendlich milden Löſung
aller Schmerzen, das Vorempfinden des überſchwäng-
lichſten Erfüllens und Ergänzens, ſehe ich eine
Frau. Und nicht bloß Jugend und Schönheit,
Reiz und Anmuth bewegen meine Seele in einem
Bade ſo erquickender Fluthen, ſondern in der Un-
ſcheinbarſten gewahre ich etwas Göttliches, wenn
ſie mir begegnet. Oft hat mich ein ſolches zufäl-
liches und gleichgültiges Treffen von trüben leiden-
ſchaftlichen Aufregungen wie mit einem Zauberſchlage
geheilt; oft habe ich mich auch ſcheu vor allen
weiblichen Cirkeln zurückgehalten, weil in mir etwas
vorgegangen war, was ich unter Frauen zu bringen
[329] für unerlaubt hielt. Seit einiger Zeit habe ich
angefangen, meine Blicke auf die Verwickelungen
der Welt und Zeit zu richten. Da muß ich dir
nun geſtehen, daß unter allen den Dingen, nach
deren Rückkehr die Menſchen ſeufzen, mir die
Herſtellung des wahren und beſeligenden Verhält-
niſſes zwiſchen den beiden Geſchlechtern als das
ſehnenswertheſte erſchienen iſt. Aber freilich mag
dieſer Friede wohl der Lohn ſeyn, welcher andern,
erſt in den übrigen Puncten zum Frieden gelangten
Zeiten aufbewahrt wird.


Dich werden dieſe Bekenntniſſe überraſchen,
denn du haſt mich nicht gar zu ſelten rauh und
tölpiſch im Umgange mit Frauen geſehen, auch
war ich noch nie verliebt. Vielleicht werd’ ich es
auch nie. Das ſchlimmſte Unrecht thäteſt du mir,
wenn du glaubteſt, daß aus mir noch gar ein Süß-
ling werden könnte. Nein, dazu paſſen wir über-
haupt bei uns zu Lande nicht. Nimm meine Worte,
wie ſie geſchrieben ſind — ſie ſtammeln von einem
Naturgeheimniß.


Nun genug der Reflexion und jetzt eine ſchlichte
Hiſtorie. Als ich eben nach den Gütern zurückge-
[330] kehrt war, lernte ich in der Nachbarſchaft meine
Verwandte, Baroneß Clelia kennen, die ſich früher
in Wien aufgehalten hatte. Ich benahm mich gegen
ſie, wie es einem ſchwäbiſchen Vetter geziemte, ſie
deßgleichen, wie meinem Mühmchen zukam. Keines
von Beiden dachte an eine Verbindung, wohl aber
mochte der Verwandtſchaft eine ſolche gar paßlich
vorgekommen ſeyn, denn aus freundlichen Blicken,
geſelligen Aufmerkſamkeiten und zwei oder drei
Händedrücken, wie ſie ein unbefangenes Wohlwollen
giebt und nimmt, war bald für uns ein Netz zuſam-
mengeſtrickt worden, aus welchem wir ſchlechterdings
als Braut und Bräutigam hervorgucken ſollten;
und der alte Oheim fragte mich eines Tages ganz
naiv, wann denn die öffentliche Erklärung vor ſich
gehen werde.


Wir waren gewaltig betroffen, und wie zwei
Leute ſonſt alles Mögliche anwenden, um einander
habhaft zu werden, ſo ließen wir nichts unverſucht,
in der Meinung der Sippſchaft von einander zu
kommen, was in der freundlichſten Einigkeit von
beiden Seiten geſchah. Mühmchen Clelia hatte bei
dieſen Lockerungsbeſtrebungen ein noch größeres
Intereſſe, als ich, denn es ließ ſich bald vermerken,
[331] daß ihr Herz ihr nach Schwaben nur an einem Faden
gefolgt war, den ein ſchöner Cavalier in den oeſter-
reichiſchen Erblanden hielt.


Bei den Anſtrengungen, die wir ſolcherweiſe
machten, fielen die lächerlichſten Scenen vor, ins-
beſondere von meiner Seite, der ich für dieſe ſpitz-
findigen Combinationen der Verhältniſſe gar nicht
zugerichtet bin. Ich wollte alle Schuld, daß ein
Schein von Neigung entſtanden war, auf mich neh-
men, verwickelte mich darüber in die unſinnigſten Erklä-
rungen, bekannte mich endlich für ſchon anderweit im
Auslande verlobt, widerrief dieſe Lüge im nächſten
Augenblicke — kurz, ich ſtellte bei der ganzen Sache
den Helden einer ziemlich luſtigen Novelle dar.


Indeſſen würde dieſe nur im Kreiſe der näch-
ſten Bekanntſchaft angeklungen und verklungen ſeyn,
wenn ſich nicht ein fremder Störenfried herbeige-
macht und ſie zur Befriedigung ſeines ſchlechten
Witzes gemißbraucht hätte.


Es hielt ſich nämlich damals ſeit einiger Zeit
bei uns ein Menſch auf, Namens Schrimbs, oder
Peppel, wie er anderer Orten geheißen hat. Der
Himmel weiß, wie viel Namen er überhaupt in
der Welt geführt haben mag und noch führt!
[332] Schon das Aeußere dieſes Menſchen war höchſt
auffallend, er ſah im Geſichte ganz verwittert aus,
und dennoch konnte man kein rechtes Alter an ihm
abnehmen, denn trotz der Runzeln auf Wangen
und Stirn war unter ſeinen Haaren kein weißes
zu entdecken, und ſeine Haltung ungebeugt, ſein
Muskelfleiſch ſtraff, ſein Benehmen jugendlich-petu-
lant. Ich weiß nicht, wie ich dir dieſen Schrimbs
oder Peppel beſchreiben ſoll; er war Alles und
Jedes. Wie der Aal entſchlüpfte ſein Geiſt jegli-
chem Bemühen, ihn in einer beſtimmten Lage feſt-
zuhalten, wie Queckſilber zerrann dieſes kalte, ſchwere,
und doch unendlich flüchtige und trennbare Weſen
unter der leiſeſten Berührung in lauter perlende
Kügelchen, die denn doch immer wieder zu einer
größeren coagulirten. Du mußt von ihm gehört
haben, denn er war nach und nach in vielen Städ-
ten unter den verſchiedenſten Geſtalten. Vielleicht
iſt er ſogar in deine Nähe gekommen. In Tübin-
gen machte er den Magiſter und focht ſich theolo-
giſch herum, in Stuttgart abwechſelnd den Politiker
und lyriſchen Dichter, in Weinsberg half er unſerem
alten Juſtinus noch mehr Geiſter ſehen, als dieſer
ſchon mit ſeinen zwei Augen erblickt.


[333]

Dieſer Menſch hatte eine Gabe zu fabuliren
und zu ſchwadroniren, wie ich ſie noch nimmer bei
Jemand wahrgenommen habe. Er beſaß einen
ariſtophaniſchen Witz, eine gaukelnde Einbildungs-
kraft und eine unerſchöpfliche Laune, vor allem aber
eine Luſt und Freude am Lügen, die wirklich auch
genial war. Keiner achtete ihn und doch war er
überall eingeführt; unſre geſchloſſenen Geſellſchaften
thaten ihre Thüren vor ihm auf, unſre Familien-
Wein- und ſonſtigen Kränzchen flochten ihn ſich
als Blume ein, denn du weißt wohl, daß, ſo
ſchwerfällig und abgeſondert wir uns halten, es
doch noch von je alle Charlatane bei uns mit uns
durchgeſetzt haben. Man hielt ihn für nichts Beſ-
ſeres, als für ein Stück honnetten Gauners und
doch blickte man ſehnſüchtig nach ihm aus, ließ er
einmal auf ſich warten. Obgleich ich überzeugt bin,
daß er eigentlich ſchlechte Streiche nirgends begangen
hat, denn ſonſt würde er leiſer, verſteckter, künſtlicher
aufgetreten ſeyn. Eine gewiſſe theoretiſche Unwahr-
haftigkeit war in ihm zur andern Natur geworden;
gegen die Geſetze wird er ſich nicht verfehlt haben.


Du fragſt: Wodurch feſſelte er Euch denn?
Ja, wodurch? Durch tolle Mährchen, die er uns
[334] erzählte, durch Sarcasmen, Luftſprünge. In ſeinen
Mährchen griff er mit unerhörter Dreiſtigkeit das
Nächſte auf, oder eine öffentliche Perſon, und drehte
und wendete und drillte ſie ſo lange, bis ſie unter
ſeinen Händen ein phantaſtiſcher Popanz wurde,
der dann, wenn man ihm näher in das Geſicht
ſah, in Blaſen auseinanderplatzte. Mir war oft
bei ſeinen Geſchichten zu Muthe, als ſehe ich eine
Waſſerhoſe entſtehen, wandeln, ſich auflöſen. Eine
ſchwache Wolke ſchwebt über dem Meere, dieſe
faßt mit einem langen, feinen Finger in den unend-
lichen Ocean, aufwärts kocht, wirbelt und tanzt
das emporgeſtörte Waſſer, es pfeift und ziſcht;
Nebel und Schaum rings umher, und Blitz ohne
Donner! ſo rückt das Phantom, welches nicht Dunſt
und nicht Woge mehr iſt, ſprungweiſe vor, bis es
plätſchernd zerbricht.


Ich ſagte zuweilen für mich: In dieſem Erzwind-
beutel hat Gott der Herr einmal alle Winde des Zeit-
alters, den Spott ohne Geſinnung, die kalte Iro-
nie, die gemüthloſe Phantaſterei, den ſchwärmenden
Verſtand einfangen wollen, um ſie, wenn der Kerl
crepirt, auf eine Zeitlang für ſeine Welt ſtille
gemacht zu haben. Dieſer Schrimbs oder Peppel,
[335] dieſer geiſtreiche Satiricus, Lügenhans und humo-
riſtiſch-complicirte Allerwelts-Haſelant iſt der Zeit-
geiſt in persona; nicht der Geiſt der Zeit, oder
richtiger geſagt; der Ewigkeit, der in ſtillen Klüf-
ten tief unten ſein geheimes Werk treibt, ſondern
der bunte Pickelhäring, den der ſchlaue Alte unter die
unruhige Menge emporgeſchickt hat, auf daß ſie, abge-
zogen durch Faſtnachtspoſſen und Sycophanten-Decla-
mation von ihm und ſeiner unergründlichen Arbeit,
nicht die Geburt der Zukunft durch ihr dummdrei-
ſtes Zugucken und Zupatſchen ſtöre. Denn zweier-
lei war das Merkwürdigſte an dem Vagabunden:
Erſtens, er trug nicht reine Mährchenpoeſie vor,
ſondern die grotesken Erfindungen und Geſtalten
wurden von ihm mit ſolcher Ruhe, Ueberzeugung
und Ernſthaftigkeit hingeſtellt, ſie ſaßen ihm ſo in
Fell und Fleiſch feſt, daß man in währender Er-
zählung zu keinem dichteriſchen Behagen gelangte,
man mußte ihn entweder für verrückt halten, oder
an ſeinen Sachen, wie unſinnig ſich das ausnahm,
auf eine Stunde glauben. Zweitens, wenn er
auch meiſtens in ſeinen mileſiſchen Fabeln die Tho-
ren und Schächer der Zeit durchnahm, ſo fühlte
man bald — wenigſtens ich hatte die Empfindung
[336] nach kurzer Bekanntſchaft — daß der Hohn nicht
aus einer tugendhaft-erzürnten Seele quoll, ſondern
aus einem Sinne, dem eigentlich das Verkehrte
lieb, nothwendig, Bedürfniß und Stoff des Daſeyns
war. Und darin kennſt du nun meine Grundſätze.
Ich halt’ mich an’s Poſitive. Begeiſterung und
Liebe iſt die einzigwürdige Speiſe edler Seelen.
Einen Schwank mag ich wohl leiden. Aber das
Spötteln, Nergeln und Grinſeln um den Kehricht
her, dem ſchon viel zu viel Ehre geſchieht, wenn
er nur genannt wird, iſt mir im innerſten Muthe
zuwider.


Als ich zurückkam, fand ich ihn in unſerm gan-
zen Kreiſe eingebürgert. Die alten Oehme und
Vettern wollten ſich ausſchütten über ſeine Einfälle
oder ſperrten den Mund ſo weit auf, als die Mus-
keln es vertragen wollten, wenn er ihnen ihre eige-
nen hausbackenen Perſonen, in wunderbaren Capric-
cio’s dieſe zurückſpiegelnd, zeigte. Ich hörte mit
zu, war wechſelsweiſe von ſeinen Reden berauſcht
und unangenehm ernüchtert. Es kann ſelbſt ſeyn,
daß ich mich Clelien nicht ſo genähert haben würde,
hätte ich nicht bei den verzwickten Schnurren ein
doppeltes Bedürfniß nach einer einfachen, wahren
[337] Geſelligkeit empfunden. — Zu den Abentheuerlich-
keiten des Schrimbs oder Peppel gehörte auch,
daß er ſich regelmäßig des Tages drei Stunden
über mit drei jungen Leuten einſchloß, die kurz
nach ihm eingelaufen waren und die Unbefriedig-
ten hießen. Sie ſprachen nämlich nie ein anderes
Wort, als; ſie fühlten ſich unbefriedigt, und ſahen
immer ſtarr und ſonderbar vor ſich hin. Woher
die gekommen waren, wußte auch Niemand, da ſie
aber ſtill und nüchtern lebten, ſo konnten ſie nicht
verdächtig erſcheinen. Mit den drei Unbefriedigten
ſchloß ſich alſo Schrimbs, wie geſagt, täglich drei
Stunden lang ein. Was ſie zuſammen trieben,
erfuhr Keiner. Aber weder ein Geſchäft, noch
eine Einladung, noch ein Spaziergang mit andäch-
tigen Zuhörern, noch ſonſt etwas, konnte ihn abhal-
ten, wenn die Stunde des Einſchließens kam, Alles
aufzugeben, und in das Haus zu gehen, worin
die geheimnißvollen Zuſammenkünfte Statt fanden.
Wollte man ihn darüber ausforſchen, ſo pflegte er
mit ſeiner abſcheulichen Ruhe und Würde zu ſagen,
die Unbefriedigten ſtudirten ihn; wollte man den
Sinn dieſes räthſelhaften Ausdrucks kennen lernen,
ſo verſetzte er gemeiniglich, es ſei ihrer Studien
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 22
[338] wegen, daß ſie ihn ſtudirten, und fragte man ihn,
was für Studien dieſe ſeien, ſo war die Aus-
kunft; diejenigen, weßwegen ihn die Unbefriedigten
ſtudirten.


Nun zum Schluß der Geſchichte. Unſere ganze
Nicht-Liebesnovelle, Clelia’s und meine, hatte er
mit durchgelebt, ſchien indeſſen nicht ſehr darauf
geachtet zu haben. Als die Sache aber allmählig
wieder in das Gleiche kam, bringt mir, wie ich mich
zum Beſuch in der Stadt aufhalte, Freund Pfleide-
rer beſtürzt ein lithographirtes Blatt, worauf unſer
ganzes Verhältniß, alle unſere Wendungen und
Schritte, um ohne Aufſehen in eine gleichgültige
Ferne auseinanderzurücken, zur wildeſten Bamboc-
ciade verſtellt zu leſen ſind. Sie hieß: Geſchichte
von Gänſerich und Gänschen, die ſich in ihren
Herzen irrten.


Er ſagte mir, daß das Ding vom Abentheurer
herrühre, was auch nach den erſten Sätzen zu
erkennen war. Der habe es in einer Geſellſchaft
erzählt, es ſei allerliebſt befunden worden, ein
ſchnellfaſſender und ſchreibender Kopf habe es auf-
gezeichnet und auf allgemeines Begehren der lieben
Schadenfreude zum Frommen für die Mitglieder
[339] der Geſellſchaft lithographiren laſſen. Jeder theile
es im Vertrauen ſeinen nächſten Bekannten mit,
und ſo mache es ſchon die Runde durch die halbe
Stadt.


Ich las und las, und was mich darin betraf,
hätte ich verſchmerzen können, ja ich geſtehe, daß
ich über Manches lachen mußte. Aber auch Cle-
lia war natürlich nicht darin verſchont.


Und das verſetzte mich in einen Zorn, der
mich taub und blind und raſend machte. Ich ſchwor
dem Schelme die ſchrecklichſte Rache. Nun hätte
ich, um dieſe zu kühlen, mich in ſeiner Wohnung
auf Lauer legen ſollen. Aber da ſiehſt du den
dummen Streich, der ſich immer meinem Han-
deln beizumiſchen pflegt! Einſiegelte ich das litho-
graphirte Blatt und ſchrieb dem Urheber, ich
werde dann und dann mich bei ihm melden und
Genugthuung fordern, kurz, eine formliche Kriege-
erklärung. Als ich zur beſtimmten Stunde nach
ſeiner Wohnung ging, fand ich das leere Neſt;
Hals über Kopf war er abgereiſt. Ich hielt es
für eine Finte, ſtürzte nach dem Hauſe, worin die
geheimnißvollen Zuſammenkünſte gefeiert wurden,
weil ich ihn dort vermuthete, aber da ſaßen die
22*
[340] drei Unbefriedigten und jammerten, daß ihnen der
Meiſter, wie ſie den Gauch nannten, entſchwunden
ſei. Vielfältige Nachfragen zeigten mir endlich
eine Spur des Flüchtigen. Sie wies hieher, nach
Rorden, nach Niederland. In den Wagen geſetzt,
mit dem alten Jochem, der noch verwirrter iſt, als
ich, und von Stadt zu Stadt nachgeſprengt, bis
ich denn hier vorläufig vor Anker gegangen bin.
Ich habe nämlich den Jochem allein weiter ſpüren
laſſen, denn vor allen Dingen iſt Incognito nöthig,
wenn wir ihn entdecken wollen, und mich erkannten
die Leute überall für das, was ich war. Weiß
Gott, wie es zuging, da ich mir doch alle Mühe
gab, mich zu verſtellen. Des Incognito’s wegen
iſt auch der Wagen in Coblenz ſtehen gelaſſen wor-
den. Von da fuhren wir per Poſt, oder gingen
auch Streckenweiſe.


Ich freue mich, wie ein Kind, daß ich die
Geſchichte vom Herzen heruntergebeichtet habe, denn
nun darf ich von Dingen ſchreiben, die angenehmer
ſind. Nicht ſagen kann ich dir, wie wohl mir hier
zu Muthe geworden iſt in der Einſamkeit der
[341] weſtphäliſchen Hügelebene, wo ich bei Menſchen
und Vieh ſeit acht Tagen einquartirt bin. Und
zwar recht eigentlich bei Menſchen und Vieh, denn
die Kühe ſtehen mit im Hauſe zu beiden Seiten
des großen Flurs, was aber gar nichts Unange-
nehmes oder Unreinliches hat, vielmehr den Ein-
druck patriarchaliſcher Wirthſchaft vermehren hilft.
Vor meinem Fenſter rauſchen Eichenwipfel, und
neben denen hin ſehe ich auf lange, lange Wieſen
und wallende Kornfelder, zwiſchen denen ſich dann
wieder jezuweilen ein Eichenkamp mit einem einzel-
nen Gehöfte erhebt. Denn hier geht es noch zu, wie
zu Tacitus Zeiten. „Colunt discreti ac diversi,
ut fons, ut campus, ut nemus placuit.“
Darum
iſt denn auch ſo ein einzelner Hof ein kleiner Staat
für ſich, rund abgeſchloſſen, und der Herr darin ſo
gut König, als der König auf dem Throne.


Mein Wirth iſt ein alter prächtiger Kerl. Er
heißt Hofſchulze, obgleich er gewiß noch einen andern
Namen führt, denn jener bezieht ſich ja nur auf
den Beſitz ſeines Eigenthums. Ich höre aber, daß
dieß überall hier ſo gehalten wird. Nur der Hof
hat meiſtentheils einen Namen, der Name des
Beſitzers geht in dem der Scholle unter. Daher
[342] das Erdgeborne, Erdzähe und Dauerbare des hie-
ſigen Geſchlechtes. Mein Hofſchulze mag ein Mann
von etlichen ſechszig Jahren ſeyn, doch trägt er
den ſtarken großen knochichten Körper noch ganz
ungebeugt. In dem rothgelben Geſichte iſt der
Sonnenbrand der fünfzig Ernten, die er gemacht
hat, abgelagert, die große Naſe ſteht wie ein Thurm
in dieſem Geſichte, und über den blitzenden blauen
Augen hangen ihm weiße ſtruppige Brauen, wie
ein Strohdach. Er gemahnt mich, wie ein Erz-
vater, der dem Gotte ſeiner Väter von unbehaue-
nen Steinen ein Mal aufrichtet und Trankopfer
darauf gießt und Oel, und ſeine Füllen erzieht,
ſein Korn ſchneidet, und dabei über die Seinigen
unumſchränkt herrſcht und richtet. Nie iſt mir eine
compactere Miſchung von Ehrwürdigem und Ver-
ſchmitztem, von Vernunft und Eigenſinn vorgekom-
men. Er iſt ein rechter uralter freier Bauer im
ganzen Sinne des Worts; ich glaube, daß man
dieſe Art Menſchen nur noch hier finden kann, wo
eben das zerſtreute Wohnen und die altſaſſiſche
Hartnäckigkeit, nebſt dem Mangel großer Städte
den primitiven Charakter Germania’s aufrecht erhal-
ten hat. Alle Regierungen und Gewalten ſind
[343] darüber hingeſtrichen, haben wohl die Spitzen des
Gewächſes abbrechen, aber die Wurzeln nicht aus-
rotten können, denen dann immer wieder friſche
Schößlinge entſproſſen, wenn gleich ſich dieſe nicht
mehr zu Kronen und Wipfeln zuſammenſchließen
dürfen.


Die Gegend iſt durchaus nicht, was man eine
ſchöne nennt, denn ſie beſteht lediglich aus wellen-
den Hebungen und Senkungen des Erdreichs, und
das Gebirge ſieht man nur in der Ferne; ’s iſt
dieſes auch mehr eine finſtre Berglehne, als eine
ſchönliniirte Kette. Aber eben ihre Anſpruchs-
loſigkeit, daß ſie ſich nicht aufgeputzt Einem gegen-
über ſtellt, fragend: Wie gefall’ ich dir? ſondern
bis in die kleinſten Partikeln als fromme Schaffnerin
dem Aubau durch menſchliche Hände dient, macht ſie
mir doch ſehr werth, und ich habe gute Stunden auf
meinen einſamen Streifereien genoſſen. Vielleicht
thut der Umſtand auch das ſeinige, daß mein Herz ein-
mal wieder ganz ungeſtört ſeine Pendelſchwingungen
ausſchwingen darf, ohne daß vernünftige Leute am
Uhrwerke rücken und drehen.


Poetiſch bin ich ſogar geworden, was ſagſt du dazu,
mein alter Ernſt? Hab’ etwas hingeworfen, wozu
[344] mich ein göttlichſchöner Sonnentag, den ich vor
Zeiten in den Waldgründen des Speſſart ver-
lebte, zuerſt anſpornte. Ich glaube, es wird dir
gefallen. Es heißt: Die Wunder des Speſ-
ſart.


Am liebſten ſitze ich droben auf dem Hügel
an einem ſtillen Platze zwiſchen den Kornfeldern
des Hofſchulzen, die dort zu Ende gehen. Man
hat eine geräumige mit Kraut und Brombeerge-
büſch bewachſene Einſenkung des Bodens vor ſich;
rings im Kreiſe um ſie her liegen große Steine,
einer, gerade dem Felde gegenüber, iſt der größte,
über dem ſpannen drei alte Linden ihre Zweige
aus. Dahinter rauſcht der Wald. Die Stelle
iſt unendlich einſam und beſchloſſen und heimlich,
beſonders jetzt, wo man im Rücken das manns-
hohe Korn hat. Da droben bin ich viel. Freilich
nicht immer in ſentimentaler Naturbetrachtung, es
iſt auch mein gewöhnlicher abendlicher Anſtandsort,
von wo ich dem Schulzen die Reh’ und Hirſch’
aus dem Korn ſchieße.


Sie nennen den Platz den Freiſtuhl. Vermuth-
lich hat alſo dort vor Alters das Vehmgericht im
Schrecken der Nacht ſeine Verdicte ausgebrütet.
[345] Als ich meinem Schulzen ihn lobte, ging eine
Freundlichkeit über ſein Geſicht. Er verſetzte nichts,
nahm mich aber nach einiger Zeit ohne Veranlaſ-
ſung mit auf eine Kammer im obern Stock des
Hauſes, öffnete dort einen eiſenbeſchlagenen Koffer
und zeigte mir in demſelben ein altes roſtiges
Schwert liegend. Mit Feierlichkeit ſagte er: Das
iſt eine große Rarität; es iſt das Schwert Caroli
Magni, ſeit tauſend und mehreren Jahren bei’m
Oberhofe aufbewahrt, und noch in voller Kraft
und Gewalt. Ohne weitere Erklärungen hinzuzu-
fügen, klappte er den Deckel wieder zu. Ich hätte
um Alles ſeinen Glauben an dieſes Heiligthum
nicht zerſtören mögen, obgleich mich mein flüchtiger
Blick lehrte, daß der Flamberg kaum ein paar
hundert Jahre alt ſein könne. Er zeigte mir
aber ein förmliches Atteſt über die Aechtheit der
Waffe, von einem gefälligen Provincialgelehrten
ihm ausgeſtellt.


Hier will ich denn nun unter den Bauern blei-
ben, bis mir der alte Jochem Nachricht von dem
Schrimbs oder Peppel giebt. Es iſt zwar die
achtzig Meilen her kühler in mir geworden, denn
gar viel thut’s, wenn vierzehn Tage zwiſchen dem
[346] Vorſatz und der Ausführung liegen, auch ſteht
nun die Frage, welche Rache ich eigentlich an ihm
nehmen ſoll? aber das wird ſich ſchon Alles finden.


Dieſer Brief, wie ich ihn überleſe, kommt mir
ganz poſſirlich vor. Vorn ſtehen recht hübſche
Bemerkungen, hinten dergleichen, ich brauche mich
ihrer gar nicht zu ſchämen, und in der Mitte iſt’s,
als ob ein dummer Bub’ ſeine Eulenſpiegelei
erzählt.


Nun, ich werd’ ja endlich auch klug werden. —
Wenn Einen die Leut’ nur verſtänden in der
Fremde! Alles muß man dreimal ſagen, bevor’s
gefaßt wird. Und wenn man nicht gar ein Stock-
ſchwab iſt, ſondern im Gegentheil in der Welt
umhergekommen, und Andere vielfältig hat reden
hören, ſo kann man ſich ſelbſt durch unſer Ziſchen
und Praſſeln hin und wieder beſchwert fühlen. Wir
haben doch Geiſt, ſo viel wie die Uebrigen, warum
können wir denn das Wort nicht gelind, ſanft und
zart von uns geben, ſondern ſprechen immer:
Keeſcht? Aber ich denke, aus: Keeſcht kann
allezeit durch Abſchwächen und Filtriren: Geiſt
werden, nicht aber umgekehrt aus Geiſt, Keeſcht.
Und ſo wird’s der Herr in dieſem Punct, wie
[347] in allen Andern wohl mit uns brav gemeint ha-
ben.


Mentor, hoffentlich hörſt du bald mehr von
deinem Nicht-Telemach.


Schilt ihn aber tüchtig aus, darum bitt’ ich dich.


[348]

Siebentes Capitel.
Worin der Jäger dem Hofſchulzen eine
alte Geſchichte von ſeinen Eltern er-
zählt
.


Mehrere Tage gingen im Oberhofe auf die
gewohnte ſtille und einförmige Weiſe hin. Der alte
Jochem ließ noch immer weder von ſich noch von dem
entwichenen Abentheurer hören, und ſeinen jungen
Gebieter wollte doch nach gerade eine ſtille Unruhe
beſchleichen. Denn ſo umſpinnt uns Alle die jetzige
geregelte Zeit, daß Niemand, und ſei er noch ſo
ungebunden, lange ausdauern kann ohne den Rücken
an ein Geſchäft, oder an ein Verhältniß zu lehnen.


Mit dem Hofſchulzen verkehrte er zwar, ſo oft
er konnte, und die originelle Eigenthümlichkeit des
Mannes behielt für ihn ihre ganze Anziehungskraft,
welche ſie am erſten Tage der Bekanntſchaft über
ihn ausgeübt hatte, aber theils war der Alte mei-
ſtens in ſeiner Wirthſchaft ſehr beſchäftigt, theils
[349] hatte er viel mit Andern abzureden, da täglich
Menſchen im Hofe einſprachen, die ihn um Rath
oder Hülfe angingen. Bei dieſen Gelegenheiten
bemerkte der Jäger, daß der Hofſchulze im eigent-
lichen Sinne des Worts nie etwas umſonſt that.
Er war gegen Nachbarn, Gevattern und Freunde
zu Allem bereit, aber ſie mußten ihm immer etwas
dagegen leiſten, und wäre es nur die unentgelt-
liche Ausrichtung eines Auftrags nach einer in der
Nähe belegenen Bauerſchaft, oder eines andern klei-
nen Dienſtes dieſer Art geweſen.


Täglich wurde geknallt, freilich immer vorbei,
ſo daß der Alte, der ſtäts in’s Schwarze traf, er
mochte zielen, worauf er wollte, über dieſe frucht-
loſen Bemühungen verwunderte Augen zu machen
begann.


Es war ein Glück für unſern Jäger, daß gerade
um jene Zeit der zunächſtwohnende Gutsbeſitzer
ſich mit ſeiner Familie und Dienerſchaft auf einer
Reiſe befand, ſonſt würden ihn wahrſcheinlich doch
einmal die zünftigen Schützen oben am Freiſtuhl
ertappt haben.


Gern wäre der junge Schwabe in Manches
eingedrungen, was ihm verhüllt blieb. Der erſte
[350] Knecht fragte den Schulzen eines Tages, ob das
Korn droben am Stuhl nicht angeſchnitten werden
ſolle, da es vollkommen reif ſei? erhielt aber von
ſeinem Herrn den Beſcheid, daß es bis nach der
Hochzeit ſtehen bleiben müſſe. Dieſe Worte wür-
den dem Jäger nicht weiter aufgefallen ſeyn, wenn
er damit nicht unwillkührlich den Inhalt eines
Geſprächs in Verbindung geſetzt hätte, deſſen unbe-
merkter Ohrenzeuge er kurz zuvor geworden war.


Zwei benachbarte Hofbeſitzer, welche ſeinen
Wirth beſuchten, hatten ihn nämlich, ſo daß der
Jäger es hörte, befragt: Wann das Geding ſeyn
ſolle? und zur Antwort erhalten: Am zweiten
Tage nach der Hochzeit, mit dem Hinzufügen, daß
dann zugleich der Schwiegerſohn die Looſung empfan-
gen werde. Der junge Mann brachte dieſe Reden
mit der Schonung des reifen Korns am Freiſtuhl
in Zuſammenhang, ohne gleichwohl die eigentliche
Bedeutung ſich klar machen zu können.


Seinerſeits ſagte der Hofſchulze einmal zum
Jäger, als dieſer wieder mit leerem Pulverhorn
und leerer Waidtaſche in den Hof zurückkehrte:
Wie iſt das, junger Herr? Sie treffen ja nie-
malen was?


[351]

Der Jäger war gerade in einer verdrießlichen
Stimmung, die zuweilen am offenſten macht. Er
verſetzte daher kurzweg: Daß ich nichts treffe, iſt
nicht meine Schuld, und daß ich dennoch immerdar
ſchießen muß, liegt auch nicht an mir, das hängt
mir von Mutterleib an.


Wie? Von Mutterleib? fragte der Hofſchulze.


Ich kann es nicht anders nennen, erwiederte
der Jäger. Ihr ſeid ein ſo verſtändiger Mann,
daß ich keinen Grund habe, Euch eine Geſchichte
vorzuenthalten, welche Euch meine Jägerei, über
die Ihr, wie ich ſehe, ſchon ſeit einiger Zeit den
Kopf ſchüttelt, einigermaßen erklärlich machen wird.
Man hat Muttermäler in Form von Sternen,
Kreuzen, Kronen, Schwertern, weil die Frau, welche
den Menſchen trug, ſich an einem großen Orden, an
einem Kirchenzuge, an einer Krönung verſah, oder
unter Kriegsgetümmel ihre Schwangerſchaft abhielt;
warum ſollte Einer nicht Jäger von Mutterleib
aus ſeyn können?


Der Hofſchulze nöthigte ſeinen jungen Gaſt an den
Tiſch unter den Linden vor der Thüre, ließ eine Fla-
ſche ſehr trinkbaren Weins bringen, und der Jäger
begann hierauf folgendergeſtalt ſeine Erzählung.


[352]

Meine Mutter hatte ſich mit meinem Vater
erſt nach einem trauer- und thränenvollen Braut-
ſtande verbinden dürfen. Die Verwandten und
viele Umſtände waren gegen die Heirath geweſen,
indeſſen hatte die Liebe, welche Beide zu einander
trugen, doch endlich obzuſiegen gewußt, und die
Ringe durften gewechſelt werden. Die Folge jenes
langen Hinderns und Zurückhaltens war nicht, wie
es oft zu geſchehen pflegt, ein raſches Erkalten
nach gewonnenem Beſitze, ſondern eine äußerſt zärt-
liche Ehe geweſen, ſo daß alſo in dieſem Falle der
Wunſch der Leidenſchaft ſein Recht darwies. Noch
in jetzigen Tagen erzählen bejahrte Leute, welche
meine Eltern in den erſten Jahren ihrer Ehe gekannt
haben, von dem ſchönen Paare, das immerfort
wie Liebhaber und Geliebte mit einander umgegan-
gen ſei. Die Zärtlichkeit meiner Mutter äußerte
ſich nun auch in einer Sorge um das Leben und
die Geſundheit des Vaters, welche freilich oft in
das Uebertriebene ging. Blieb er von einem Spa-
ziergange oder einem Beſuche in der Nachbarſchaft
einige Minuten über die beſtimmte Zeit aus, ſo
ſchickte ſie ängſtlich nach ihm; war ſeine Farbe
nicht ganz ſo munter, wie gewöhnlich, gleich fürch-
[353] tete ſie eine ſchwere Krankheit und wollte den Arzt
herbeigeholt wiſſen, um Alles hätte ſie ihn nicht
in der Nacht reiſen laſſen, und wo er ging oder
ſtand, mußte er ſich vor Zugluft in Acht nehmen.
Während ſie für ihre eigene Perſon hart, unbeküm-
mert und muthig blieb, ſah ſie in Jeglichem, was
meinen Vater umgab, Schreck und Gefährde.


Ja, Ja, murmelte der Hofſchulze vor ſich hin,
die vornehmen Leute haben zu dergleichen Zeit.
Bei uns Bauern kommt es auf einen Puff nicht an.


Am inſtändigſten flehte ihn meine Mutter an,
ſich der Jagd zu enthalten. Sie hatte in den
erſten Jahren ihrer Ehe einen verworrenen Traum,
von dem ſie ſich beim Erwachen nur einer ſchönen
grünen Uniform, worin ſie meinen Vater geſehen'
und daß ihn in derſelben ein Unglück betroffen,
zu erinnern wußte. Nun fielen ihr alle die Ge-
ſchicke, die ſich auf Jagden ereignen können; ſcheu-
gewordene Pferde, unvermuthet losgegangene Schüſſe,
Eber, die den Schützen anrennen, und was der-
gleichen mehr war, ein, und ſie ließ ſich daher von
meinem Vater das Wort geben, nie dieſem ver-
hängnißvollen Genuſſe wieder fröhnen zu wollen.
Er willfahrte ihr gern, denn er ſah ihre Liebe zu
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 23
[354] ihm, und war überhaupt dem Waidwerke nicht lei-
denſchaftlich ergeben, obſchon er es, wie ihm ſonſt
nach ſeinen Verhältniſſen zukam, getrieben hatte.


Mehrere Jahre der Ehe blieben kinderlos.
Endlich fühlte meine Mutter ihren Schooß geſeg-
net. Sonſt pflegt, wie man mir geſagt hat, in
dieſem Zuſtande die Neigung der Frau zu dem
Manne abzunehmen, und ſich der verborgenreifenden
Frucht zuzuwenden, meine Mutter machte aber von
dieſer Regel eine Ausnahme. Ihre Liebe zu dem
Vater wuchs noch, wenn ſie eines Wachsthums
fähig war. Zugleich ſtellte ſich die Erinnerung an
den früher gehabten und ſeitdem faſt vergeſſenen
Traum wieder bei ihr mit Heftigkeit ein, deſſen
eigentliche Bilder ihr jedoch nicht deutlich werden
wollten, obgleich ſie ſtundenlang ſich damit abmühte,
ſie hervorzurufen. Nochmals mußte mein Vater
ſein früheres Gelübde in ihre Hand wiederholen.


Inzwiſchen rückte der Sanct Hubertustag heran,
an welchem der Fürſt, mit dem mein Vater eng
zuſammenhing, die jährliche große Jagd zu veran-
ſtalten pflegte. Es war in ſeiner Umgebung ſchon
verwundernd viel davon geſchwätzt worden, warum
mein Vater ſich in den Jahren zuvor unter aller-
[355] hand Vorwänden von den Jagden zurückgehalten habe,
endlich hatte man den wahren Grund aufgeſpürt,
und der etwas rohe und leichtfertige Kreis mag
ſich trefflich über den gehorſamen Ehemann luſtig
gemacht haben. Der Fürſt, derb und zufahrend,
wie er war, nahm ſich vor, den Gehorſam zu
Falle zu bringen. Es war ſo Sitte, daß ſchon an
dem Tage vor Hubertus ein luſtiges Banquett auf
dem Jagdſchloſſe gegeben wurde. Der Saal, in wel-
chem es Statt fand, war an den Wänden mit Hirſch-
geweihen, Armbrüſten und alten Jagdſpießen ausge-
ziert. Da wurde denn, wie man bei uns zu ſagen
pflegt, tapfer gebürſtet, d. h. gezecht, und wer an
dem Banquette Theil nahm, konnte ſich natürlich
von der Hubertusjagd nicht losſagen.


Mein Vater würde alſo um keinen Preis einen
Partner des Schmauſes abgegeben haben, wenn
ihn nicht der Fürſt durch eine Liſt nach dem Jagd-
ſchloſſe zu ziehen gewußt hätte. Er ließ ihn näm-
lich unter dem Vorwande eines Geſchäfts berufen
und hielt ihn in langen Geſprächen hin, bis der
Lakai meldete, daß ſervirt ſei. Da wollte mein
Vater fortreiten, aber ein zweiter Lakai brachte,
ausgeſandt, die Nachricht, der Reitknecht habe ver-
23*
[356] ſtanden, der Herr bleibe zur Tafel, und ſei bis
auf den Abend mit den Pferden nach Hauſe gerit-
ten. Nun, da es ſo iſt, laß dir’s gefallen und
nimm hier vorlieb, ſagte der Fürſt. Du kannſt
doch nicht die zwei Stunden zu Fuß nach Hauſe
gehen. — Was ſollte mein Vater beginnen? So
unlieb es ihm war, er mußte bleiben. Bei Tafel,
als es ziemlich lärmend zu werden anfing, warf
Einer die Frage hin, ob er morgen mit zur Jagd
komme?


Ohne ſeine Antwort abzuwarten, rief ein Ande-
rer: Nein, er darf nicht, ſeine Frau hat es ihm
ſtreng verboten. — Iſt es wahr, fragte der Fürſt
laut über die ganze Tafel hin, daß dir deine Frau
befohlen hat, kein Gewehr mehr abzudrücken?
Wenn dem ſo iſt, und du gehorchſt, ſo biſt du ja
ein wahrer Muſtermann für Stadt und Land.
Ein ſchallendes Gelächter folgte dieſen Worten,
obgleich darin nicht viel Lachenswerthes ſteckte.


Mein Vater ärgerte ſich, nahm ſich aber zuſam-
men und verſetzte, daß dem nicht ſo ſei; wie man
denken könne, daß ſeine Frau ihm ſo etwas befeh-
len werde? und dergleichen mehr, was ein Jeder
in ſeiner Lage und in einer ſo wilden Geſellſchaft
[357] entgegnet haben würde. — Topp! rief der Fürſt,
das iſt recht, ſo hilfſt du uns alſo morgen Sanct
Hubert Devotion erzeigen — und als mein Vater
ſich mit einer Reiſe, mit Beſuch, mit Unpäßlichkeit
entſchuldigen wollte — Oho! die Frau Gemahlin
ſteckt doch dahinter! Nun, der Sache müſſen wir
auf den Grund kommen! Erinnert mich das näch-
ſtemal, wo ich mit der Geſtrengen zuſammentreffe,
daß ich ernſtlich danach bei ihr anfrage.


In dieſem Augenblicke faßte mein Vater ſeinen
Entſchluß. Er hielt es für nöthig, der Mutter
einen ärgerlichen Auftritt, wie er von des Fürſten
Derbheit immer zu beſorgen ſtand, zu erſparen,
und ſagte daher: Damit Jedermänniglich ſehe,
daß an all dem Argwohn nichts ſei, ſo werde ich
die Jagd morgen mitmachen. Ein Beifallsklatſchen
erſcholl, unter Getöſe wurde die Tafel aufgehoben;
der Fürſt rief mit etwas ſchwerer Zunge: Biſt
du aber morgen nicht um ſechs Uhr am Verſamm-
lungsplatze, ſo holen wir Alle dich in corpore aus
den Federn. — Mein Vater nahm kurz und trocken
ſeinen Urlaub, fuhr den lügneriſchen Lakaien, der
draußen im Vorgemache ihn verſchmitzt lächelnd
befragte, ob er nun die Pferde befehle? barſch an,
[358] und ging die Treppe hinunter über den Hof ſelbſt
nach dem Stalle, wo er den Reitknecht mit den
Pferden fand, der ſich keinen Augenblick vom Jagd-
ſchloſſe entfernt hatte.


Hieraus erſah nun mein Vater, daß das Ganze
ein angelegter Plan geweſen ſei. Beim Heimreiten
überlegte er den ſeinigen. Sich von dem gegebe-
nen Worte zurückzuziehen, war unmöglich, denn dann
hätte er wirklich am nächſten Morgen den ganzen
Schwarm vor dem Hauſe gehabt zu Aengſten
und Schrecken der Mutter. Er beſchloß daher die
Jagd wirklich mitzumachen, jedoch ſobald als nur
möglich ſich zu entfernen, und um ſein Abſeyn
eine Zeitlang vor den Uebrigen zu verbergen, ſei-
nen guten Freund, den Oberjägermeiſter, deſſen fin-
ſteres Geſicht Mißbilligung der getriebenen Scherze
ausgedrückt hatte, zu erſuchen, daß ihm der ent-
fernteſte Stand angewieſen werde, von dem er bei
günſtiger Gelegenheit entkommen zu können hoffte.
Um aber für die Zukunft dem Fürſten und der
ganzen Geſellſchaft Reſpect einzuflößen, ſollten Tags
darauf ſchriftliche Erklärungen an die ärgſten Schreier
des Jagdſchloſſes abgehen, welche dieſe entweder
einſtecken, oder worauf ſie zu Piſtolen greifen mußten.


[359]

Zu Hauſe zog er einen alten verſchwiegenen
Diener in ſein Vertrauen, ließ die prächtige Jagd-
uniform, in welcher jeder Cavalier bei den großen
Hofjagden erſcheinen mußte, heimlich aus dem
Schranke nehmen, und verſpürte, wie er ſelbſt lange
Jahre nachher, wenn dieſe Geſchichte wieder auf
das Tapet kam, zu erzählen pflegte, trotz ſeines
Mißmuths ein geheimes Behagen, als er das grüne,
ſchimmernde Collet mit den blitzenden Knöpfen,
der goldenen, reichen Stickerei, den Achſelſchnüren,
den ſchweren Epauletts aus dem umgelegten Sei-
denpapier, und das prächtige Couteau mit glänzen-
den Steinen am Griff aus dem Futteral hervor-
kommen ſah, nachdem er ſo lange den Anblick die-
ſer Gegenſtände entbehrt hatte. Meiner Mutter
ſagte er irgend einen gleichgültigen Grund, weßwe-
gen er den folgenden Tag über von Hauſe entfernt
ſeyn werde. Es gelang ihm, ſie zu täuſchen; ſie
legte ſich ruhig an ſeiner Seite ſchlafen.


In der Nacht aber hatte ſie den früheren ängſt-
lichen Traum, auf deſſen Einzelheiten ſie ſich ſeither
im Wachen nicht zu beſinnen vermocht hatte. Sie
ſah meinen Vater ſich vom Lager erheben, einen
Blick der Bekümmerniß auf ſie, die Schlafende,
[360] werfen, leiſe auf den Zehen aus dem Zimmer ſchlei-
chen. Der Traum führte ſie hierauf nach der Garde-
robe. Dort legte mein Vater Stück vor Stück die
prächtige grüne Uniform an. Sie konnte ſich nicht
ſatt an ihm ſehen, er kam ihr gar zu ſchön vor, und
doch beſchwor ſie ihn inſtändigſt und mit der äußer-
ſten Herzensangſt, von ſeinem Vorhaben abzuſtehen.
Er ließ ſich aber nicht hindern, ſchnallte das Cou-
teau um, und in dem Augenblicke wieherte ein
Pferd. Nun zerbrach blitzſchnell das bisherige
Traumgeſicht, und mit Entſetzen ſah ſie meinen
Vater blutigen Hauptes unten im Hofe auf dem
Pflaſter liegen. Ehe ſie noch ſich zu ihm helfend
hinbeugen konnte, wieherte das Pferd, welches ſie
wunderbarerweiſe nicht ſah, zum zweitenmale, und
— ſie erwachte, wie es ihr vorkam, von einem
wirklichen Pferdewiehern aus den Schreckniſſen des
Traumes geweckt. Schlaftrunken taſtete ſie umher,
um des Vaters Wange ſich zur Beruhigung zu
ſtreicheln, aber der Taumel ihrer Sinne wich der
angſtvollſten Ermunterung, denn das Bett neben
ihr war verlaſſen, die Decke zurückgeſchlagen. Sie
ſchellte dem Mädchen, fragte, wo der Herr ſei?
Dieſe, welche ihn im Gange verſtohlen an ſich
[361] hatte vorüberſchlüpfen ſehen, antwortete zögernd:
In der Garderobe. Nun war ſie nicht länger zu
halten, eiligſt warf ſie ein Nachtgewand über und
begab ſich mehr laufend als gehend nach der Gar-
derobe. Dort die Thüre geöffnet, hatten beide
Eltern vor einander den gleichen Schreck und mein-
ten zu Boden ſinken zu müſſen. Der Vater ſtand,
wie ihn die Mutter geträumt hatte, prächtig ge-
ſchmückt, in ſeinem Glanz und Flimmer von der
rothen Morgenſonne umſpielt, und ſchnallte eben
das Couteau an. Es folgte ein heftiges Fragen
und Erklären, die Mutter wollte ihn durchaus
nicht ziehen laſſen, bis er auf die eindringlichſte
Weiſe ihr erwieſen hatte, daß für dieſesmal ſchlech-
terdings an dem Vorhaben nichts zu ändern ſei.
Indem ſie noch mit einander ſtritten, wieherte des
Vaters geſattelt ſtehendes Reitpferd unten vom
Hof herauf zum drittenmale. Sie ſtürzte an das
Fenſter, ſah das feurige Thier in den Boden hauen
und ſich heben, das böſe Ende ihres Traums trat
ihr vor die Augen, ſie beſchwor meinen Vater bei dem
Lebendigen unter ihrem Herzen, wenigſtens nicht zu
reiten, da ſie die beſtimmte Ahnung habe, daß ihm
heute damit ein Unglück begegnen werde, ſich vielmehr
[362] des leichten Wagens zu bedienen. Höchſt ver-
ſtimmt rief er dem Bedienten zu: So laß anſpan-
nen! drückte die Mutter ſanft nach der Thüre zu
und bat ſie um Gotteswillen, ſich doch nur wieder
niederzulegen, da ſie ja in ihrem leichten Gewande
von der Morgenkälte ſchwer krank werden könne,
und ſprang dann, als er ſie auf dem Wege nach
dem Schlafcabinet glaubte, raſch die Haupttreppe
hinunter, um nur zu Roß und an dieſem vermale-
deiten Tage vom Hofe zu kommen.


Aber meine Mutter, einmal argwöhniſch gemacht,
ſchlüpfte eine kleine Seitentreppe hinab, die eben-
falls auf den Hof führte, um ſich zu verſichern, ob
auch der Wagen genommen werde. Indem ſie nun
unten anlangte, ſah ſie, daß mein Vater ſchon zu
Pferde ſaß, und mit dem Thiere, welches er in
ſeinem Verdruſſe heftig behandelt und dadurch unru-
hig gemacht hatte, kaum zurecht kommen konnte.
Mit einem lauten Geſchrei flog ſie durch die Thüre
auf den Hof; das Pferd, von der plötzlich erſchei-
nenden weißen Geſtalt bis zur Wuth geſteigert,
drehte ſich wie toll auf den Hinterfüßen um, gerieth
auf eine ſchlüpfrig-abſchüſſige Stelle, rutſchte aus
und ſtürzte. Nun lag mein Vater wirklich mit
[363] blutendem Kopfe auf dem Pflaſter, meine Mutter
aber konnte ihm nicht helfen, denn auch ſie ſank
ohnmächtig an der Thüre zuſammen.


Der Jäger hielt athmend inne, bewegt von
ſeiner eigenen Erzählung, deren Einzelheiten, wie
er nach einer Pauſe ſagte, ihm ſo lebhaft vor-
ſchwebten, weil der Vorfall mit den kleinſten Zügen
von den Dabeigeweſenen ihm mehr als hundertmal
berichtet worden ſei. — Er ſei die Haus- und Fa-
miliengeſchichte geworden. Sein Zuhörer ſtrich ſich
die Haare bedächtig aus der Stirn und ſagte nach
einer Weile: Daß die Sache keine ſchlimmen
Folgen gehabt hat, ſtellt ſich dar, denn Sie ſitzen
da ganz friſch und geſund, junger Herr.


Glücklicherweiſe war der Schreck das Aergſte
dabei geweſen, erwiederte der Jäger. Mein Vater
hatte ſich ſchnell bügellos zu machen gewußt, ſein
Epaulett war ihm, von der heftigen Bewegung
gelöſt, unter den Kopf gefahren und ſchützte vor
einem zu harten Aufſchlagen; er kam mit eine
leichten Wunde davon. Auch meiner Mutter, für
welche das Schlimmſte zu befürchten ſtand, half
ihre überaus kräftige Natur. Sie erholte ſich und
dauerte ihre Zeit aus, obgleich die Gedanken an
[364] an jenen Morgen ſie keinen Augenblick verlie-
ßen.


Und daher, meinen Sie, rühre Ihre Jagdluſt?
fragte der Hofſchulze.


Ich kam einige Monate nach dem Ereigniſſe
zur Welt mit einem Maale unter dem Herzen in
der Form eines Hirſchfängers. Sobald ich zum
Buben erwachſen war, hielt mich keine Vermah-
nung und Züchtigung ab, mit den Jägern umher-
zulaufen. Und ſo iſt das fortgegangen bis auf
den heutigen Tag, ohne daß ich, wie Ihr ja leider
nun auch gemerkt habt, zu dieſem Treiben durch
Beute und Erfolg irgend eine Anreizung empfinge.


Wenn Ihre Frau Mutter von den Jagdſachen
einen ſolchen Schreck bekommen hat, ſo müßte ſie
Ihnen ja ehender einen Abſcheu davor eingeimpft
haben, ſagte der Hofſchulze.


Nein! rief der junge Jäger, und ſeine Augen
begannen in dunklerem Feuer zu leuchten, wie immer
der Fall war, wenn ſich die Rede auf ſolche Gegen-
ſtände wandte. Davon verſteht Ihr nichts, Hofſchulze.
Kann ein menſchliches Weſen unwillkührlich auf ein
Andres durch Blut, Seele und Sympathie wirken, ſo
fällt dieſe Wirkung auch ganz in der dunkeln Kam-
[365] mer vor, darin die Kräfte nach ihren eigenen Rech-
ten hin- und herfahren, ſauſen und weben, und
Gebild ſchaffen, deſſen Figur kein Verſtand vorher-
ſieht und auf welches Niemand gefaßt iſt. Abſcheu
kann Luſt, Furcht kann Muth, Sehnſucht Ekel
erzeugen, und iſt Niemand, der den Stammbaum die-
ſer und ähnlicher Zeugungen aufzurichten vermöchte.


Davon verſtehe ich wirklich nichts, und geht
mich auch nichts an, ſagte der Hofſchulze. Aber
aus der Geſchichte, welche Sie da ſo plaiſirlich
erzählt haben, ziehe ich eine dreifache Moral.


Ihr haltet ſehr viel auf Moral.


Die Moral unterſcheidet uns von dem Vieh,
verſetzte der Hofſchulze feierlich. Das Vieh hat
eigentlich Alles beſſer als die Menſchencreatur, es
findet den Weg ſicherer, es hat ſein ihm gewieſe-
nes Futter und lüſtert nicht nach Anderem, es
trägt ſeinen Rock anerſchaffen auf ſeinem Leibe,
es fürchtet ſich nicht vor dem Tode, es treibt keine
unnütze Wolluſt, aber Moral hat das Vieh nicht;
Moral hat nur der Menſch.


Und in meiner Geſchichte ſtecken drei Moralen?


Drei. Die will ich Ihnen jetzt auch nicht vor-
enthalten, junger Herr Jäger.


[366]

Achtes Capitel.
Worin der Hofſchulze eine dreifache Mo-
ral aus der Geſchichte des Jägers zieht
.


Erſtens, ſagte der Hofſchulze, lehret die Ge-
ſchichte, daß, wenn Ihre Paſſion wirklich von Ihrer
Frau Mutter ſich herſchreibt, der Herr noch jetzun-
der ſeinen Spruch wahr macht, welcher lautet: Ich
will die Sünden der Väter heimſuchen an den
Kindern bis in das dritte und vierte Glied. Denn
an und vor ſich iſt die Jägerei eine erlaubte und
luſtige Sache. Nun aber ſündiget der Menſch
jederzeit, wenn er ſich wider etwas ſetzt, was
Herkommens iſt bei ſeinesgleichen, dadurch kriegt
die Gleichgültigkeit ein Gewicht und hat Folgen,
wie Peſtilenz darnach kam, als David ſein Volk
zählen ließ, weil das nicht Herkommens bei den Ju-
den war. Ihre Frau Mutter nun verfiel in Sünde,
weil ſie den Herrn Vater nicht auf die Jagd gehen
[367] laſſen wollte, da das zu ſeinem Stande gehörte,
und darum iſt an Ihnen eine Thorheit geſetzt, das
Schießen ohne Treffen. Sie ſollten aber ſuchen,
mit der Gewalt davon los zu kommen, weil ſolche
Neigungen nicht aus den Wirkungen in der dunkeln
Kammer, nicht aus den Kräften und den eigenen
Rechten, wie Sie es nannten, herrühren, ſondern
einzig und allein aus der Thorheit, durch welche
Sie groß Unglück anrichten können. Auch die
Mädchen haben mitunter das Gelüſt, Feuer anzu-
legen, ſie laſſen es aber wohl bleiben, wenn ſie
ſcharf zuſammengenommen werden. Es kann und
ſoll aber der Menſch, über den kein Anderer geſetzt
worden, an ihm ſelber der Herr und Zuchtmeiſter ſeyn.


Zweitens thut die Geſchichte lehren, daß im
Eheſtande gar zu viel Liebe ſchädlich iſt. Denn
Ihr Herr Vater würde mit dem Pferde nicht
geſtürzt ſeyn, wenn Ihre Frau Mutter nicht ſo be-
ſorgt aus der Thüre geſprungen wäre. Sie wollte
ihn vor Gefahr hüten und brachte ihn eben recht
in Gefahr. Wie leicht konnte ihn Einer von den
Herrn niederſchießen, an die er nach der Jagd
Briefe ſchreiben wollte! Im Eheſtande muß Alles
moderirt ſeyn, auch die Liebe, weil die Sache für
[368] die Hitze und den Eifer zu lange währt. Vorher
kann der Menſch thun, was er will, danach kommt
nichts, aber der Eheſtand macht einen Abſchnitt
und giebt ein Exempel, da muß der Menſch ſich
zuſammennehmen, denn auf Eheleute ſieht ein Jeder,
und Aergerniß, welches durch ſie kommt, iſt doppelt
Aergerniß. Mit einem losledigen Menſchen haben We-
nige Verkehr, aber auf den Haus- und Eheſtand ver-
läßt ſich aller Handel und Wandel, Nachbarhülfe und
Anſprache, Chriſtenthum, Kirchen- und Schulzucht,
Haus und Hof, Rind und Kind, und wie ſollen
nun alle dieſe Sachen in gehöriger Ordnung und Ver-
faſſung bleiben, wenn die Eheleute ſelbſt ſich wie
die Gecken betragen? Bei uns Bauern kommt der
Fehler weniger vor, aber bei den Stadtleuten, mit
denen ich vielfältig hier und dahaußen verkehre,
und deren Gebräuche ich daher kenne, will mir in
dem Puncte Manches ſchlimm gefallen. Wenn
ein Mann ſein Weib ſchlägt, oder angrunzt ohne
Noth, ſo giebt er Aergerniß, denn der Apoſtel
ſchreibt, daß die Männer ihre Weiber lieben ſollen,
wie der Herr Chriſtus ſeine Gemeine liebt, aber
wenn ein Weib ihren Mann ſo unterkriegt mit
Careſſen und ſüßen Reden, daß er zwiſchen guten
[369] Freunden vor Angſt nicht mehr zu bleiben weiß,
wenn die Stunde ſchlägt, da er hat nach Hauſe
kommen ſollen, oder daß er ſich von Allem zurück-
halten muß, was ihm das Herze fröhlich macht,
ſo giebt ſie auch Aergerniß, denn der Apoſtel Pau-
lus ſchreibt nicht minder, das Weib ſolle den Mann
fürchten. Die Furcht aber beſteht mit ſolchem Ver-
halten nicht, vielmehr treibet ſie dahin, daß dem
Manne ſein freier Wille gelaſſen werde, denn der
Eheſtand ſoll den Mann erbauen, nicht aber ihn
daniederreißen, weil abermals der nämliche Apoſtel
Paulus an die Corinther ſchreibt: Der Mann iſt
nicht vom Weibe, ſondern das Weib iſt vom Manne.


Ich habe hier jezuweilen bei guter Witterung
große Geſellſchaft von Stadtleuten, die für Plaiſir
den Tag im Freien zubringen, und gegen Abend
wieder heimfahren. Da ſehe ich nun mitunter,
daß die Neugeheiratheten, die etwa erſt im zweiten
Jahre Mann und Frau ſind, denn ſpäterhin hört
dieſes Weſen gemeiniglich auf, mit einander ein
Anblicken und Anblinzeln, Löffeln und Schlecken
treiben, als ſeien ſie mutterſeelenallein und Nie-
mand außer ihnen um ſie und neben ihnen. Darin
ſtecken nun wieder drei Aergerniſſe.


Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 24
[370]

Schade, unterbrach ihn der Jäger lachend, daß
Euch kein Philoſoph von Profeſſion anhört, Hof-
ſchulze. Er würde die architectoniſche Symmetrie
Eures Gedankenbau’s loben. Drei Aergerniſſe, ent-
ſprechend drei Moralen!


Der Schulze fuhr, ohne ſich ſtören zu laſſen,
fort: Erſtens ſind immer in der Geſellſchaft Leute,
die gerne freien möchten und nicht können, und in
denen ſtiftet ſo ein öffentliches Liebesweſen gehei-
men Neid und ſtille Abgunſt, wovor der Menſch
ſeinen Nächſten bewahren ſoll. Dieſes iſt das erſte
Aergerniß. Zweitens läßt, wenn ſie ſich vor ſo
vielen Leuten nicht ſcheuen, das zu thun, was in
die Verborgenheit gehört, vermuthen, daß ſie da-
heim eine Brinneiferigkeit haben, welche die Geſund-
heit ruinirt, und drittens denkt Dieſer und Jener
in der Geſellſchaft: Was dem Einen recht, iſt
dem Andern billig, genirt Ihr Euch nicht, genir’
ich mich auch nicht, dürft Ihr ſchmatzen, darf ich
kratzen; läßt nun alle geheimen Würmer und Ottern-
gezüchte, welche er im Herzen trägt und ſonſt bei ſich
behielte, los, die ſchlechten, ſpöttiſchen Reden, die
Schraubereien und Verläumdungen, welche denn wie-
der von Andern aufgefangen und erwiedert werden,
[371] ſo daß das ganze Plaiſir zu Grunde geht. Auf
dieſe Weiſe habe ich es erlebt, daß durch ſo ein öffent-
lich löffelndes Ehepaar lauter Zank und Hader in
eine Geſellſchaft kam, der immer mehr ſtieg, je
mehr die Eheleute mit einander careſſirten.


Dagegen iſt es eine wahre Freude, bisweilen
vernünftige junge Leute zu ſehen, die beſcheiden
und anſtändig ſich betragen; das Frauchen ſitzt da,
und der Mann da, Jedes discurirt höflich mit ſei-
nen Nachbarn, Keines ſcheint auf das Andere zu
achten, von Handgeben und Küſſen iſt nun gar
nicht die Rede, und doch ſieht man den rothen,
muntern Geſichtern an, daß ſie zu Hauſe Glück
und Segen mit einander haben; gleichſam zwei
Aepfel ſind ſie an einem Zweige, die auch nicht
nach einander umgucken und doch zuſammen wachſen,
gedeihen und reifen. Der Eheſtand iſt ein Segens-
ſtand, aber er will mit Vernunft und Geſchick und
Manierlichkeit angegriffen ſeyn, ſonſt macht er, wie
der Wein im Uebermaaß, trunken, dumm und unge-
ſund. Er iſt wie der grüne Zweig am Apfelbaum;
was darauf zum Gedeihen kommen ſoll, muß hübſch
ſtill und ruhig ſich daran halten bei Sonnenſchein
und Regen.


24*
[372]

Eure Moralien klingen zwar ziemlich hausbacken,
aber es liegt doch etwas Wahres darin, ſagte
der Jäger. Der geſunde Menſchenverſtand behält
immer Recht, obſchon er ſelbſt nicht das letzte
Recht iſt. Was meine Eltern betrifft, ſo ſpricht
deren nachheriges Verhältniß auch gewiſſermaaßen
für Eure Sätze. Meine Mutter iſt nach dem ent-
ſetzlichen Schreck wie umgewandelt geweſen, er
hatte auf ſie wie ein Sturzbad gewirkt, der Vater hat
ſpäterhin gehen, kommen, ſich kleiden dürfen, wie,
vornehmen können, was er gewollt, und von der
Zeit an, wo ich ſelbſt zum Bewußtſeyn gelangte,
erinnere ich mich der Ehe meiner Eltern, als einer
zwar liebevollen, aber freien und ruhigen.


Ja, Ja, ſprach der Hofſchulze, ſo mußte es ſich
wenden. Allzuſcharf macht ſchartig, der Bogen,
welcher zu ſehr geſpannt wird, bricht, und hinter
heißem Wetter kommt kühles. Aber Ihnen will ich
doch eine gute Lehre geben, junger Herr. Wenn Sie
incognito bleiben, und wie Sie ſich mir verkündiget
haben, für den Sohn von Bürgersleuten gelten wol-
len, ſo müſſen Sie mir keine Geſchichte erzählen von
Jagdſchlöſſern und fürſtlichen Banquetten und golde-
nen Uniformen und Bedienten und Reitknechten.


[373]

Ach, die Lehre kommt zu ſpät! rief der junge
Jäger luſtig. Das Verſtellen hilft mir nichts, ich
ſehe es wohl ein, und wenn ich auch wie der Vo-
gel Strauß den Kopf wegſtecke, man erblickt mich
dennoch. Verrathet mich aber nicht; ich habe
meine Gründe zu der Bitte, die Ihr mit gutem
Gewiſſen erfüllen könnt, denn ein Verbrechen habe
ich nicht begangen.


Nein, das ſoll wohl ſeyn, Sie ſehen nicht danach
aus, ſagte der Hofſchulze lächelnd.


Jetzt nehmt von meiner Seite eine Lehre an.
Ihr ſeid ein alter, geſetzter Mann, dem mehr
daran liegen muß, ſeine Abſichten für ſich zu behal-
ten, als mir. Wenn Ihr Eure Geheimniſſe, welche
Ihr zweifelsohne habt, vor mir und meinem Nach-
ſpüren bewahren wollt, ſo müßt Ihr meine Auf-
merkſamkeit nicht ſelbſt rege machen, müßt mir nicht
das Schwert Karls des Großen mit ſo feierlicher
dunkler Rede zeigen.


Der Hofſchulze richtete ſich in die Höhe. Seine
große Geſtalt ſchien noch zu wachſen, und der Mond,
welcher inzwiſchen aufgegangen war, warf ſeinen
Schatten lang in den Hof. Er ſagte mit tiefem
Tone und mit einem Nachdruck, der dem Andern
[374] durch Mark und Bein ging: Wehe dem, welcher
die Geheimniſſe des Schwertes Caroli Magni ſieht
oder hört, wenn es dergleichen giebt! — Darauf
ſetzte er ſich nieder, ſchenkte ſeinem Gaſte das letzte
Glas ein, und that, als ob nichts vorgefallen ſei.


Dieſer ſchwieg verlegen. Er merkte, daß mit
dem Alten in manchen Dingen nicht zu ſcherzen
ſei. Um wieder ein Geſpräch in Gang zu bringen,
ſagte er endlich: Ihr verſpracht drei Moralen
aus meiner Geſchichte, habt aber bis jetzt mir nur
zwei mitgetheilt.


Die dritte, verſetzte der Hofſchulze, iſt keine
Rede, ſondern eine Handlung und Verrichtung.
Mit dieſen Worten deren Sinn er nicht weiter
aufklärte, ging er in das Haus.


[375]

Neuntes Capitel.
Der Jäger erneuert eine alte Bekannt-
ſchaft
.


Am folgenden Tage zur Mittagsſtunde hörte
der Jäger unter ſeinem Fenſter ein Geräuſch, ſah
hinaus und bemerkte, daß viele Menſchen vor
dem Hauſe ſtanden. Der Hofſchulze trat in ſonn-
täglichem Putze ſo eben aus der Thüre, gegenüber
aber hielt am Eichenkampe ein zweiſpänniger Kar-
ren, auf welchem ein Mann in ſchwarzen Kleidern,
anſcheinend ein Geiſtlicher, zwiſchen mehreren Kör-
ben ſaß. In einigen derſelben ſchien Federvieh zu
flattern. Etwas hinterwärts ſaß eine Frauens-
perſon in der Tracht des Bürgerſtandes, welche
ſteif vor ſich hin auf dem Schooße ebenfalls einen
Korb hielt. Vorn bei den Pferden ſtand ein
Bauer mit der Peitſche, den Arm über den Hals
[376] des einen Thier’s gelegt. Neben ihm hielt ſich
eine Magd, auch einen Korb, mit ſchneeweißer
Serviette überlegt, unter dem Arme.


Ein Mann in weitem, braunem Oberrocke, deſ-
ſen bedächtiger Gang und feierliches Antlitz ohne
Widerſpruch den Küſter erkennen ließ, ſchritt mit
Würde von dem Wagen dem Hauſe zu, ſtellte ſich
vor den Hofſchulzen hin, lupfte den Hut und gab
folgenden Reimſpruch von ſich:


Wir ſind allhier vor Eurem Thor,

Der Küſter und der Herr Paſtor,

Des Küſters Frau, die Magd daneben,

Die Gift und Gabe zu erheben,

So auf dem Oberhofe ruht;

Die Hühner, Ei’r, die Käſe gut.

So ſagt uns an, ob Alles bereit,

Was fällig wird zur Sommerszeit.

Der Hofſchulze hatte bei Anhörung dieſes
Spruchs den Hut tief abgenommen. Nach dem-
ſelben ging er zum Wagen, verbeugte ſich vor dem
Geiſtlichen, half ihm in ehrerbietiger Stellung her-
unter und blieb dann mit ihm ſeitwärts ſtehen,
mancherlei Reden wechſelnd, welche der Jäger nicht
hören konnte, während die Frau mit dem Korbe
auch abſtieg und ſich nebſt dem Küſter, dem Bauer
[377] und der Magd wie zu einem Zuge hinter jenen
beiden Hauptperſonen aufſtellte. Der Jäger ging,
um den Zuſammenhang dieſes Auftritts zu erfah-
ren, hinunter, ſah im Flur weißen Sand geſtreut,
und die daranſtoßende beſte Stube mit grünen
Zweigen geſchmückt. Die Tochter ſaß darin, eben-
falls ſonntäglich geputzt, und ſpann, als wolle ſie
noch heute ein ganzes Stück Garn liefern. Sie
ſah hochroth aus und blickte von ihrem Faden
nicht auf. Er ging in das Zimmer und wollte
eben bei ihr Erkundigung einziehen, als ſchon der
Zug der Fremden mit dem Hofſchulzen die Schwelle
vom Flure aus betrat. Voran ging der Geiſtliche,
hinter ihm der Küſter, dann der Bauer, dann die
Küſterfrau, dann die Magd, zuletzt der Hofſchulze;
Alle einzeln und ungepaart. Der Geiſtliche trat
auf die ſpinnende Tochter, welche noch immer nicht
emporſah, zu, bot ihr freundlichen Gruß und ſagte:
So recht, Jungfer Hofſchulze, wenn die Braut
noch ſo fleißig ihr Rädchen dreht, da kann ſich der
Liebſte volle Kiſten und Kaſten erwarten und ver-
hoffen. Wann ſoll denn die Hochzeit ſeyn? — Auf
Donnerstag über acht Tage, Herr Diaconus, wenn
es erlaubt iſt, verſetzte die Braut, wurde wo mög-
[378] lich noch röther, als zuvor, küßte dem Geiſtlichen,
welcher noch ein jüngerer Mann war, demüthig die
Hand, nahm ihm Hut und Stock ab und reichte
ihm zum Willkomm einen Erfriſchungstrunk. Die
Andern, nachdem ſie Reihe herum die Braut eben-
falls mit Handſchlag und Glückwunſch bedacht
hatten und durch einen Trunk erquickt worden wa-
ren, verließen die Stube und gingen auf den Flur,
der Geiſtliche aber unterhielt ſich mit dem Hof-
ſchulzen, der beſtändig ſeinen Hut in der Hand,
in ehrerbietiger Stellung vor ihm ſtand, über
Gemeinde-Angelegenheiten.


Gern hätte der junge Jäger, welcher, von den
Uebrigen unbeachtet, aus einer Ecke der Stube
den Auftritt mit angeſehen hatte, ſchon früher den
Geiſtlichen begrüßt, wenn es ihm nicht unbeſcheiden
vorgekommen wäre, die Anreden und Antworten
der Fremden und Hofesgenoſſen, welche trotz der
bäuerlichen Scene etwas Diplomatiſches hatten,
zu ſtören. Denn in dem Diaconus war von ihm
mit Erſtaunen und Freude ein ehemaliger acade-
miſcher Bekannter wiedergefunden worden. Jetzt
verließ der Hofſchulze auf einen Augenblick das
Zimmer und nun ging der Jäger zum Diaconus,
[379] ihn bei ſeinem Namen begrüßend. Der Geiſtliche
ſtutzte, fuhr mit der Hand über die Augen, erkannte
jedoch auch den Andern ſogleich wieder und freute
ſich nicht weniger, ihn zu ſehen. Aber — fügte
er den erſten Grußworten hinzu — jetzt und hier
iſt keine Zeit zur Unterhaltung, kommen Sie nach-
her mit, wenn ich vom Hofe abfahre, dann wollen
wir zuſammen plaudern; hier bin ich ein öffentli-
cher Charakter und ſtehe unter dem Banne des
gebietendſten Ceremoniells. Wir dürfen von ein-
ander keine Notiz nehmen, fügen auch Sie ſich
paſſiv dem Ritual; vor allen Dingen, lachen Sie
über nichts, was Sie ſehen, das würde die guten
Leute auf das höchſte beleidigen. Und dieſe alten,
feſten Sitten, ſo ſeltſam ſie ausſehen mögen, haben
doch auch immer ihr Ehrwürdiges. — Sorgen Sie
nicht, verſetzte der Jäger, aber ich möchte doch
wiſſen … Alles nachher! flüſterte der Geiſtliche,
nach der Thüre blickend, durch welche ſo eben der
Hofſchulze wieder hereinkam. Er trat vor dem
Jäger, wie vor einem Fremden, zurück.


Der Hofſchulze und ſeine Tochter trugen die
Speiſen auf dem Tiſche, welcher in dieſer Stube
gedeckt ſtand, ſelbſt auf. Da kam eine Hühner-
[380] ſuppe, eine Schüſſel grüner Bohnen mit einer lan-
gen Mettwurſt, Schweinsbraten mit Pflaumen, But-
ter, Brod und Käſe, wozu eine Flaſche Wein geſtellt
wurde. Alles dies wurde zu gleicher Zeit auf den
Tiſch geſtellt. Der Bauer war von den Pferden
ebenfalls hereingekommen. Als Alles ſtand und
dampfte, lud der Hofſchulze den Diaconus höflich
ein, es ſich gefallen zu laſſen.


Es war nur für zwei Perſonen dort gedeckt;
der Geiſtliche, nachdem er ein Tiſchgebet geſprochen,
ſetzte ſich und etwas von ihm entfernt der Bauer.
Eſſe ich hier nicht mit? fragte der Jäger. Ei
behüte, antwortete der Hofſchulze, und die Braut
ſah ihn verwundert von der Seite an. — Hier ißt
bloß der Herr Diaconus und der Colonus, Sie
ſetzen ſich draußen bei dem Küſter zu Tiſche. Der
Jäger ging in ein anderes, gegenüberliegendes Zim-
mer, nachdem er noch zu ſeiner Verwunderung
bemerkt hatte, daß der Hofſchulze und ſeine Toch-
ter auch die Bedienung jenes erſten und vornehmſten
Tiſches ſelbſt übernahmen.


In dem andern Zimmer traf er den Küſter,
die Küſterin und die Magd um den dort gedeckten
Tiſch ſtehen, und, wie es ſchien, mit Ungeduld
[381] ihres vierten Genoſſen warten. Auch auf dieſem
Tiſche dampfte dieſelbe Speiſe, wie auf der Paſtors-
tafel, nur fehlte Butter und Käſe, auch zeigte ſich
dort ſtatt des Weines Bier. Mit Würde trat
der Küſter an den Oberplatz und ließ die Augen
in den Schüſſeln, abermals folgenden Spruch ver-
nehmen:


Alles, was da fleucht und kreucht auf der Erden,

Ließ Gott der Herr für den Menſchen erſchaffen

werden;

Hühnerſuppe, Bohnen, Wurſt, Schweinsbraten,

Pflaumen ſind allerwegen

Gottesgaben, gieb, o Herr, dazu uns deinen Segen!

Worauf die Geſellſchaft Platz nahm, der Küſter
obenan. Dieſer wurde von ſeiner Gravität nicht
verlaſſen, wie die Küſterin nicht von ihrem Korbe,
den ſie dicht neben ſich hinſtellte. Dagegen hatte
die Paſtorsmagd den ihrigen anſpruchslos bei Seite
geſetzt. Bei dem Mahle, welches aus wahren Ber-
gen auf den Schüſſeln beſtand, wurde kein Wort
geſprochen; der Küſter verſchlang in ernſter Hal-
tung ungeheuer zu nennende Portionen, und die
Frau blieb wenig hinter dem Manne zurück; am
beſcheidenſten zeigte ſich in dieſem Puncte auch
wieder die Magd. Was den Jäger betrifft, ſo
[382] beſchränkte er ſich faſt nur auf das Zuſehen; das
heutige Ceremonialeſſen war nicht nach ſeinem
Geſchmack.


Nach beendigtem Mahle ſagte der Küſter zu
den beiden Mägden, welche dieſen Tiſch bedient
hatten, feierlich ſchmunzelnd: Jetzt wollen wir
denn, geliebt es Gott, die allhier erfallende Ge-
bühr und den guten Willen in Empfang nehmen.
Die Mägde hatten vorher ſchon den Tiſch abge-
räumt und gingen jetzt hinaus, der Küſter aber
ſetzte ſich auf einen Stuhl mitten in der Stube,
die beiden Frauensperſonen, die Küſterin und die
Magd, ſetzten ſich ihm rechts und links zur Seite,
vor ſich die neugeöffneten Körbe. Nachdem die
Erwartung, welche dieſe Drei ausdrückten, einige
Minuten gedauert hatte, traten die beiden Mägde,
begleitet von ihrem Herrn, dem Hofſchulzen, wie-
der ein. Die Erſte trug einen Korb mit weit-
läuftigem Flechtwerk oben, in welchem Hühner
ängſtlich gackerten und mit den Flügeln pluhſterten.
Sie ſtellte ihn vor den Küſter hin und dieſer ſagte,
hineinſchauend und nachzählend: Eins, Zwei, Drei,
Vier, Fünf, Sechs; es iſt ganz richtig. Darauf
zählte die zweite Magd aus einem großen Tuche
[383] ein Schock Eier in den Korb der Paſtorsmagd,
und ſechs Stück runde Käſe, nicht ohne genaues
Nachzählen des Küſters. Dieſer ſagte, als es ge-
ſchehen war: So, nunmehro hätten der Herr Dia-
conus das Ihrige; jetzunder käme der Küſter. —
Ihm wurden in den Korb ſeiner Ehehälfte drei-
zehn Eier und ein Käſe zugetheilt. Sie prüfte
jedes Ei durch Schütteln und Geruch, ob es auch
friſch ſei, und merzte zwei aus. Nach dieſen Ver-
handlungen erhob ſich der Küſter und ſprach zum
Hofſchulzen: Wie iſt es, Herr Hofſchulze, von
wegen des zweiten Käſes, welchen Küſterei annoch
vom Hofe zu gewärtigen hat? — Ihr wißt ſelbſt,
Küſter, daß der zweite Käſe vom Oberhofe nimmer
anerkannt worden iſt, verſetzte der Hofſchulze. Die-
ſer angebliche zweite Käſe ruhte auf dem Bau-
mannserbe, welches vor hundert und mehreren Jahren
mit dem Oberhofe in einer Hand vereinigt war.
Hernachmalen iſt die Trennung wieder eingetreten,
und es haftet demnach hier auf dem Hofe nur ein
Käſe.


Ueber des Küſters rothbräunliches Geſicht hatten
ſich die ſtärkſten Falten gelagert, welche daſſelbe
nur aufzutreiben vermögend geweſen war, und
[384] zerlegten es in mehrere bedenkliche Abſchnitte von
viereckter, rundlichter, winklichter Geſtalt. Er ſprach:
Wo iſt das Baumannserbe? Zerſplittert und zer-
ſpellt wurde es in den unruhigen Zeitläuften.
Soll Küſterei darunter leiden? Dem ſei nicht ſo.
Jedennoch, unter ausdrücklichem Vorbehalt aller
und jeder Rechtszuſtändigkeiten wegen des ſeit hun-
dert und mehreren Jahren ſtrittigen, vom Oberhofe
erfallenden zweiten Käſes, empfange ich und nehme
ich hiemit an auch den einen Käſe. Sonach wäre
die Zinsgebühr an Paſtor und Küſter abgeſtattet-
und es käme nunmehr der gute Wille.


Dieſer beſtand in friſchgebackenen Rollkuchen,
wovon ſechs in den Paſtorskorb und zwei in den
des Küſters gelegt wurden. Hiemit war das
ganze Empfangsgeſchäft beendigt. Der Küſter trat
dem Hofſchulzen näher und ſagte folgenden dritten
Spruch her:


Die Hühner waren alle ſechs richtig,

Und die Käſe alle vollwichtig;

Die Eier ſind befunden worden friſch,

Und was ſich gebührte, ſtand auf dem Tiſch.

Deßhalb der Herr Euren Hof bewahr’

Vor Hungersnoth und Feuersgefahr!

Bei Gott und Menſchen iſt beliebt,

Wer Gift und Gaben richtig giebt.

[385]

Der Schulze machte darauf eine dankende Ver-
beugung. Die Küſterin und die Magd trugen die
Körbe hinaus und packten ſie auf den Wagen. Zu
gleicher Zeit ſah der Jäger, daß die eine Hofes-
magd aus dem Zimmer, worin der Geiſtliche geſpeiſt
hatte, Schüſſeln und Teller auf den Flur trug,
und ſie, indem Jener auf die Schwelle des Zim-
mers trat, vor ſeinen Augen wuſch. Nachdem ſie
dieſe Reinigung verrichtet, näherte ſie ſich dem
Geiſtlichen, er holte aus einem Papiere eine kleine
Münze und gab ſie ihr.


Der Küſter ließ ſich indeſſen den Eaffee ſchmecken,
und da auch für den Jäger eine Taſſe hingeſtellt
worden war, ſo ſetzte ſich dieſer zu ihm. Ich bin
hier fremd, ſagte der junge Mann, und verſtehe
zum Theil die Gebräuche nicht, welche ich heute
geſehen habe; wollen Sie mir dieſelben nicht erklä-
ren, Herr Küſter? Iſt es eine Verpflichtung, daß
die Bauern den Herrn Diaconus in Naturalien
unterhalten müſſen?


Verpflichtung in Betreff der Hühner, Eier und
Käſe, nicht der Rollkuchen, welche der gute Wille
ſind, jedoch auch jederzeit unweigerlich abgeſtattet
werden, erwiederte der Küſter höchſt ernſthaft.
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 25
[386] Zum Diaconat oder zur Oberpfarre in der Stadt
ſind drei Bauerſchaften als Filiale eingepfarrt,
und ein Theil der Pfarr- und Küſtereieinkünfte
beſtehet in der Zinsgebühr, welche von den einzel-
nen Hofesſtellen alljährlich erfället. Dieſe nun,
wie ſie überall ſeit undenklichen Zeiten feſtſteht,
einzuſammeln, halten wir per Jahr zwei Gänge,
oder Fahrten, nämlich die gegenwärtige Sommer-
oder kleine Fahrt, und dann die Winter- oder
große Fahrt, kurz nach Advent. Bei der Sommer-
fahrt erfallen die Zinshühner, die Zinseier und
Zinskäſe, an dem einen Hofe ſo viel, an dem andern
ſo viel; erſtere Rubrik, nämlich die der Hühner,
erfället jedoch nur pro Diaconatu, Küſterei hat
ſich mit Eiern und Käſen zu begnügen. — Im
Winter erfallen die Kornzinſen an Gerſte, Hafer
und Roggen; da kommen wir mit zwei Karren, weil
eine die Säcke nicht zu faſſen vermöglich wäre.
So halten wir denn zweimal per Jahr die Rund-
fahrt durch die drei Bauerſchaften.


Und wohin geht die Reiſe von hier? fragte
der Jäger.


Directe nach Hauſe, verſetzte der Küſter, knöpfte
ſeinen Oberrock los und zog ein Federkiſſen hervor,
[387] welches er, ungeachtet der warmen Witterung zum
Schutze ſeines Magens aufgelegt hatte. Nunmehr
aber, nach der ſtarken Mahlzeit mochte ihm daſſelbe
doch beſchwerlich fallen. — Gegenwärtige Bauer-
ſchaft iſt die letzte, und gegenwärtiger Oberhof der
letzte Hof in ſelbiger, auf welchem denn auch das
herkömmliche Zinseſſen vor ſich geht, ſagte er.


Der Jäger bemerkte, daß, wie es ihm vorge-
kommen, in der Mahlzeit, bei den Begrüßungen,
bei der Empfangnahme der Lebensmittel, ja ſogar
bei dem Waſchen der Teller und Schüſſeln eine
vorherbeſtimmte Ordnung geherrſcht habe, worauf
ſich der würdige Küſter, wie folgt, weiter verneh-
men ließ: Allerdings; in Jeglichem bei dieſen Zins-
fahrten iſt eine Obſervanz und ein ſtrictes Recht,
von welchem nicht abgewichen werden darf. Mor-
gens um ſechs Uhr rücken wir aus der Stadt aus,
der Herr Diaconus, ich, meine Frau und die
Paſtorsmagd. Vom Reymannskotten wird, jedoch
auf höfliches Suchen und Erbitten, die Karre geſtellt,
welche das liebe Gut läd’t, und der Colonus geht
mit und verläßt den Herrn Diaconus nun und
nimmer, ſetzt ſich auch, wie Sie geſehen haben,
einzig und allein mit ihm zu Tiſch. Den erſten
25*
[388] Hühnerkorb nahmen wir aus der Stadt mit, da
dieſer aber bei dem erſten Hofe ſchon voll wird,
ſo leihet nunmehr letzterer einen neuen für den
zweiten, und ſofort bis hieher. Der Colonus füt-
tert hier ſeine Pferde mit einem Scheffel Hafer,
der vom Balſtrup erhoben und mitgenommen wor-
den iſt, und die Magd, welche die Teller und
Schüſſeln vor den Augen des Herrn Diaconus
wieder rein waſchen muß, erhält dafür ihre drei
und einen halben Stüber, gleichfalls heute zu dieſem
Zweck und Ende erfallen und empfangen auf dem
kleinen Beek, Bauerſchaft Branſtedde.


Und die Sprüche, die Sie ſo laut und ver-
nehmlich vortrugen, Herr Küſter, rühren dieſe auch
von Alters her? fragte der Jäger.


Ja freilich, verſetzte der Küſter. Indeſſen,
fuhr er wohlgefällig fort, habe ich Einiges, was
darin an die finſtern Zeiten erinnerte, weggelaſſen
oder verbeſſert, wie es ſich für die Gegenwart
ſchicken will. So lautet der Text in der Dankſa-
gungsrede eigentlich zum Schluß:


Wenn Ihr aber uns verkürzen wollen,

So ſoll Euch Alle der Teufel hohlen,

Und fehlt am Käs ein einzig Loth,

So kriegt Ihr gar die ſchwere Noth!

[389]

Dieſe unſchicklichen Reime habe ich nach und
nach eingehen laſſen, indem ich Jahr für Jahr einen
nach dem Andern bei mir behielt, oder ſo that,
als ob ich den Huſten dabei kriegte, und was der-
gleichen Anſchläge mehr waren, denn mit den
Bauern muß man freilich bei allen Neuerungen
langſam zu Werke gehen. Es hat doch Wider-
ſpruch abgeſetzt, und Einige von den Dorfmicheln
wollen durchaus dieſe Grobheiten nicht fahren laſſen,
weil ſie ſagen, daß ſelbige einmal dazu gehören.
Sie entrichten die Zinsgebühr nicht, wenn ich ihnen
den Teufel und die ſchwere Noth nicht anwünſche;
der Hofſchulze iſt darin vernünftiger.


Der Küſter wurde abgerufen, denn die Karre
war angeſpannt, und der Geiſtliche nahm von dem
Hofſchulzen und ſeiner Tochter, die jetzt eben ſo
ehrerbietig und freundlich vor ihm ſtanden, wie
bei allen übrigen Verhandlungen dieſes Tages, mit
herzlichen Händedrücken und Worten Abſchied. Nun
ſchwankte der Zug einen andern Weg, als den er
gekommen war, zwiſchen Kornfeldern und hohen
Wallhecken fort. Der Colonus mit der Peitſche vor
ſeinen Pferden, die Karre langſam hinterdrein be-
wegt, auf ihr jetzt außer den beiden Frauensperſonen
[390] der Küſter ſitzend zwiſchen den Körben, und der
Fürſorge wegen wieder das Federkiſſen vor die
Magengegend geſtopft.


Der Jäger hatte ſich bei der Abfahrt beſchei-
dentlich zurückgehalten, war aber, als die Zinskarre
ſich eine Strecke weit entfernt hatte, mit raſchen
Sprüngen nachgeeilt, und fand den Diaconus, wel-
cher ebenfalls hinter ſeinem eingeſammelten Gute
zurückgeblieben war, auf einem anmuthigen Baum-
platze ſchon ſeiner harren. Hier, frei vom Cere-
moniell des Oberhofes, umarmten ſie einander, und
der Diaconus rief lachend: Das hätten Sie wohl
nicht gedacht, in Ihrem ehemaligen Bekannten, der
in jener großen Stadt ſeinen jungen ſchwediſchen
Grafen ſo ſäuberlich auf dem ſchlüpfrigen Boden
der Wiſſenſchaft und des eleganten Lebens umher-
führte, eine Figur wiederzufinden, welche Sie an
Ehrn-Lopez in dem ſpaniſchen Pfarrer von Fletcher
erinnern muß?


Ihr Küſter iſt, wenn auch kein luſtiger Diego,
doch ein ganzer Mann, verſetzte der Jäger. Er
hat mir wie ein wahrer Ceremonienmeiſter der
Zinspflicht das ganze Ritual ausgelegt, und ſich bei
dem Empfangen, Verwahren und Spruchſprechen
[391] mit ſolcher Würde und Klugheit benommen, daß
ich ihn jedem bevollmächtigten Miniſter, welcher
eine verwickelte Angelegenheit ſeines Hofes zu
ſchlichten hat, als Muſter empfehlen möchte.


Ja, ſagte der Geiſtliche, das iſt heute ſein Eh-
rentag, auf den er ſich ſchon ſechs Wochen vorher
freut. Ueberhaupt giebt es unter den Küſtern noch
viele komiſche Figuren, welche ſonſt ſo ſehr jetzt
abnehmen. Das beſtändige Anhören hoher und
erbaulicher Worte von ihrem Standpuncte der
Dienſtbarkeit dabei, das Läuten, das Anſagen der
Geburten und Sterbfälle giebt ihrem Weſen einen
wunderſamen Schwung, mit welchem nun wieder
ihr glücklicher Appetit, oder beſſer zu ſagen, ihre
maaßloſe Freßgier ſeltſam contraſtirt. Denn da ſie
zu Hauſe nicht viel zu beißen und zu brechen haben,
ſo verſorgen ſie ſich auf Kindtaufen, Hochzeiten
und Leichenſchmäuſen für ganze Wochen, und ver-
ſchlingen die außerordentlichſten Portionen, aber
immer mit einem Anſtriche von Salbung, und nicht
ſelten die hellen Thränen der Mitfreude oder Mit-
trauer in den Augen. Der meinige hat nun zu
allen dieſen Standeseigenſchaften noch den Privat-
charakter der Feigheit; er iſt ein ausgemachter
[392] Poltron und ich habe mit ihm auf einſamen nächt-
lichen Wanderungen zu Kranken oder Sterbenden
ſchon die luſtigſten Scenen erlebt.


Doch laſſen wir den Küſter und ſeine Narrhei-
ten. Was die Procedur betrifft, welcher Sie heute
beiwohnten, ſo iſt es unumgänglich nothwendig, daß
ich mich ihr in Perſon unterziehe; mein ganzes
Verhältniß zu den Leuten wäre gebrochen, wenn ich
zu ekel wäre, die alte Sitte mitzumachen. Mein
Vorgänger im Amte, der nicht aus hieſiger Gegend
war, ſchämte ſich der terminirenden Fahrten, und
wollte ſchlechterdings nichts damit zu thun haben.
Was war die Folge davon. Er gerieth in die
übelſten Zwiſtigkeiten mit dieſen Landgemeinen,
welche ſelbſt auf den Verfall des Kirchlichen und
des Schulweſens Einfluß hatten. Zuletzt mußte
er gar um ſeine Verſetzung einkommen und ich nahm
mir gleich vor, als ich die Pfarre erhielt, in allen
Dingen mich nach Ortsgebrauch zu verhalten. Hie-
bei habe ich mich denn bisher ſehr wohl befunden,
und weit gefehlt, daß der Schein der Abhängigkeit,
welchen mir dieſe Fahrten geben, meinem Anſehen
ſchaden ſollte; es wird vielmehr dadurch erhöht und
befeſtiget.


[393]

Wie ſollte es auch anders ſeyn! rief der Jäger.
Ich muß Ihnen geſtehen, daß bei dem ganzen Ein-
hergange, ungeachtet alles Komiſchen, was Ihr
Küſter darüber auszubreiten wußte, mich ein Gefühl
der Rührung nicht verließ. Ich ſah in dieſem
Empfangen der einfachſten leiblichen Gaben einer-
ſeits, und in der Ehrfurcht, womit ſie anderſeits
dargeboten wurden, gewiſſermaßen das frömmſte,
ſchlichteſte Bild der Kirche, welche zu ihrem Beſtande
des täglichen Brodes nöthig hat, und das Bild
der Glaubigen, welche ihr das irdiſche Bedürfniß
in der demüthigen Ueberzeugung, daß ſie damit ſich
ein Höchſtes und Ewiges erhalten, darreichen, ſo
daß weder auf der einen noch auf der andern
Seite eine Knechtſchaft, vielmehr bei Beiden nur
die Innigkeit des vollkommenſten Wechſelbezuges
entſteht.


Es freut mich, rief der Diaconus, und drückte
dem Jäger die Hand, daß Sie die Sache ſo anſe-
hen, über welche vielleicht ein Anderer geſpöttelt
haben würde, daher es mir, wie ich Ihnen nun
geſtehen darf, im erſten Augenblicke auch gar nicht
recht war, in Ihnen unvermuthet einen Zeugen
jener Scenen zu finden.


[394]

Gott bewahre mich, daß ich über etwas, was
ich in dieſem Lande geſehen, ſpöttelte! verſetzte der
Jäger. Ich freue mich jetzt, daß mich ein toller
Streich zwiſchen dieſe Wälder und Felder geſchleu-
dert hat, denn ſonſt würde ich die Gegend wohl
nicht kennen gelernt haben, da ſie auswärts wenig
in Ruf ſteht, und in der That auch nichts Anzie-
hendes für abgeſpannte und überreizte Touriſten
haben kann. Aber mich hat hier die Empfindung
ſtärker, als ſelbſt in meiner Heimath angefaßt:
Das iſt der Boden, den ſeit mehr als tauſend
Jahren ein unvermiſchter Stamm trat! Und die
Idee des unſterblichen Volkes wehte mir im Rau-
ſchen dieſer Eichen und des uns umwallenden
Fruchtſegens faſt greiflich möchte ich ſagen, ent-
gegen.


Es ergaben ſich aus dieſer Aeußerung Reden zwi-
ſchen dem Diaconus und dem Jäger, welche Beide
führten, indem ſie der Karre langſam folgten.


[395]

Zehntes Capitel.
Von dem Volke und von den höheren
Ständen
.


Das unſterbliche Volk! rief der Diaconus. Ja,
dieſer Ausdruck beſagt das Richtige. Ich ver-
ſichere Ihnen, mir wird allemal groß zu Muthe,
wenn ich der unabſchwächbaren Erinnerungskraft,
edr nicht zu verwüſtenden Gutmüthigkeit und des
geburtenreichen Vermögens denke, wodurch unſer
Volk ſich von jeher erhalten und hergeſtellt hat.
Rede ich aber von dem Volke in dieſer Beziehung,
ſo meine ich damit die Beſten unter den freien
Bürgern und den ehrwürdigen, thätigen, wiſſenden,
arbeitſamen Mittelſtand. Dieſe alſo meine ich,
und Niemand anders vor der Hand. Aus ihnen
aber, und aus dieſer ganzen Maſſe haucht es mich
wie der Duft der aufgerißnen ſchwarzen Ackerſcholle
im Frühling an, und ich empfinde die Hoffnung
[396] ewigen Keimens, Wachſens, Gedeihens aus dem
dunkeln, ſegenbrütenden Schooße. In ihm gebiert
ſich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und
die Herrlichkeit der Nation, die es ja nur iſt durch
ihre Sitte, durch den Hort ihres Gedankens und
ihrer Kunſt, und dann durch den ſprungweiſe her-
vortretenden Heldenmuth, wenn die Dinge einmal
wieder an den abſchüſſigen Rand des Verderbens
getrieben worden ſind. Dieſes Volk findet, wie ein
Wunderkind, beſtändig Perlen und Edelſteine, aber
es achtet ihrer nicht, ſondern verbleibt bei ſeiner
genügſamen Armuth, dieſes Volk iſt ein Rieſe, wel-
cher an dem ſeidenen Fädchen eines guten Wortes ſich
leiten läßt, es iſt tiefſinnig, unſchuldig, treu, tapfer,
und hat alle dieſe Tugenden ſich bewahrt unter
Umſtänden, welche andere Völker oberflächlich, frech,
treulos, feige gemacht haben.


Ich werde nicht, wie Le Vaillant die Tugen-
den der Hottentotten auf Koſten der europäſchen
Civiliſation herausſtrich, den Lobredner idylliſcher
Ruſticität und kleinbürgerlicher Enge machen, ich
fühle ſehr wohl, daß uns Allen durch den Um-
ſchwung der Zeiten die Neigung zu glänzenden,
geſchmackvollen Dingen, zu einer Art von Ariſto-
[397] cratie des Daſeyns mitangeboren iſt, welche außer-
halb der Mittelverhältniſſe liegt, und von der wir
uns, ohne an der Natürlichkeit unſeres Weſens
Einbuße zu leiden, nicht losmachen können, aber
ich muß doch Folgendes aus meiner eigenen Ge-
ſchichte hier anführen. Ich war, da ich jenen jun-
gen Vornehmen zu führen hatte, während ich noch
ſelbſt der Führung gar ſehr bedürftig war, unter
allen den geiſtreichen, eleganten, ſchillernden und
ſchimmernden Geſtalten der Kreiſe, die mir durch
mein damaliges Amt zugewieſen waren, eben ſo
geiſtreich, halbirt, kritiſch und ironiſch geworden,
wie Viele; genial in meinen Anſprüchen, wenn
auch nicht in dem, was ich leiſtete, unbefriedigt
von irgend etwas Vorkommendem, und immer in
eine blaue Weite ſtrebend; kurz ich war dem ſchlim-
meren Theile meines Weſens zu Folge, ein Neuer,
hatte Weltſchmerz, wünſchte eine andere Bibel,
ein anderes Chriſtenthum, einen andern Staat,
eine andere Familie, und mich ſelbſt anders mit
Haut und Haar. Mit einem Worte, ich war auf
dem Wege zum Tollhaus, oder zur inſipideſten Phi-
liſterei; denn dieſe beiden Ziele liegen meiſtens
vor den Füßen der modernen Wanderer. Und da
[398] bin ich denn doch erſt hier zwiſchen den wunder-
lichen aber achtbaren Originalen meiner Mittelſtadt
und unter dieſen ländlichen Wehrfeſtern wieder zu
mir ſelbſt gekommen, habe Poſto gefaßt, den Schaum
der Zeit von mir weichen ſehen und Muth bekom-
men, mir ein liebes häusliches Verhältniß zu grün-
den. Denn in dem Volke ſind die Grundbezüge
der Menſchheit noch wach, da iſt das richtige
Verhältniß der Geſchlechter noch feſt ausgeprägt,
da gilt das Geſchwätz noch nichts, ſondern das
Gewerbe und der Beruf, den Jeder hat, da folgt
der Arbeit in gemeſſener Ordnung die Ruhe, da iſt
von den Vergnügungen das Vergnügen noch nicht
verbannt. Hören Sie den Jubel in der Stadt
oder auf dem Lande bei ſonntäglichen Tänzen, bei
Hochzeiten und Scheibenſchießen, und urtheilen Sie,
ob der Spaß ſobald in der Welt ausſterben wird,
wie die grämlichen Jünglinge der Gegenwart mei-
nen? Es giebt Müßiggänger, ſchlechte Ehen und
böſe Weiber auch hier in Stadt und Land, aber
ſie heißen bei ihren und nicht bei vornehm umge-
bogenen Namen. Jene Miſchungen von Langeweile
und Begeiſterung endlich, wie ſie mir einſt ein
Freund treffend nannte, aus denen in den ſubli-
[399] mirten Kreiſen der Geſellſchaft manches Perverſe
hervorgeht, und aus deren einer derſelbe Freund
auch die blutige That der armen, ſchönen, bejam-
mernswerthen Frau ableitete, deren Unglück darin
beſtand, einen mittelmäßigen Dichter und großen
Selbſtling geheirathet zu haben, liegen dem Volke
ganz fern. Das ganze potenzirte und deſtillirte
Genre, der Hermaphroditismus des Geiſtes und
Gemüthes, welchen die Muße eines langen Friedens
hie und da erzeugt hat, wird dem Stock und Stamm
der Gemeinſchaft immer fremd bleiben.


In dieſer orthopädiſchen Anſtalt gerader und
normaler Verhältniſſe legten ſich denn meine etwas
verbogenen Glieder auch wieder zurecht. Freilich
muß man in der Stille und Abgeſchiedenheit von
den brauſenden Strömungen der Gegenwart auf
ſich wachen, denn die Gefahr des Verbauerns
ſteht auch nahe, indeſſen noch hange ich durch ſtille
aber feſte Fäden mit dem Weltganzen zuſammen,
nur mit dem Unterſchiede, daß ſie ſich jetzt bloß um
die Gegenſtände ſchlingen, zu denen mich ein geiſti-
ges Bedürfniß hinweiſt, während ich mir früher
manches geiſtige Bedürfniß, wie es ſo Manche
unſerer Zeitgenoſſen machen, einzubilden wußte.


[400]

Der Jäger ging nach dieſer Rede des Diaco-
nus ſchweigend und mit geſenktem Haupte neben
ihm her. Was iſt Ihnen? fragte ſein Bekannter
nach einer Pauſe.


Ach, ſagte Jener, Ihr Bild vom deutſchen
Volke iſt wahr, und es macht mich nur traurig,
daß theilweiſe über dieſer Grundfläche ein ſo wenig
entſprechender Gipfel ſteht. Dieſes tüchtige Volk
würde bei weitem mehr ausrichten, es würde weit
entſchiedener Front machen, wenn in den höheren
Ständen eine gleiche Tüchtigkeit lebte! Schlimm,
daß ich, ich ſelbſt ſagen muß: Dem iſt nicht ſo.


Leider, erwiederte der Diaconus, ſind unſre
höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben,
um es kurz und deutlich auszuſprechen. Daß es
viele höchſt ehrenwerthe Ausnahmen von dieſer Regel
gebe, wer wollte es läugnen? Sie befeſtigen aber
eben nur die Regel. Der Stand als Stand hat ſich
nicht in die Wogen der Bewegung, die mit Leſſing
begann und eine grenzenloſe Erweiterung des ge-
ſammten deutſchen Denkens, Wiſſens und Dichtens
herbeiführte, getaucht. Statt daß vornehme Per-
ſonen geboren ſind, die Patrone alles Ausgezeich-
neten und Talentvollen zu ſeyn, halten bei uns
[401] noch viele Große das Talent für ihren natürlichen
Feind, oder doch für läſtig und unbequem, gewiß
aber für entbehrlich. Es giebt ganze Landſtriche
im deutſchen Vaterlande, in welchen dem Adel, ein
Buch zu leſen, noch immer für ſtandeswidrig gilt,
und er ſtatt deſſen lärmende, nichtige Tage abhetzt,
wie in den Zeiten jener Bürgerſchen Parforcejagd-
Ballade. Das Auffallendſte hiebei iſt, daß ſelbſt
nach der ungeheuren Lehre, welche die Weltkriege
den Privilegirten ertheilt hatten, dieſe noch nicht
eingeſehen haben, es ſei mit dem leeren Scheine
nunmehr für immer vorbei, und der erſte Stand
müſſe nothwendig ſich in ſich ſelber gründlich faſſen
und reſtauriren. Es war ſeine erſte Obliegenheit,
dieß zu begreifen, es war die Lebensfrage für ihn,
ob er ſich mit dem Heiligthume deutſcher Geſin-
nung und Geſittung nunmehr inniglich verbünden,
allem wahrhaftquellenden geiſtigen Leben der Ge-
genwart Schirm und Schutz geben möchte, damit
das Zauberbad dieſes Lebens ſeine altersſtarren
Glieder verjünge. Er hat ſeine Stellung und dieſe
Frage nicht verſtanden, hat in allerhand kleinen
Hausmittelchen ſeine Erkräftigung geſucht, und iſt
darüber obſolet geworden. Nie und zu keiner Zeit
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 26
[402] hat ein Stand anders als durch Ideen exiſtirt.
Auch den erſten haben Ideen geſchaffen und erhal-
ten, anfänglich die der Kampfestapferkeit und Lehns-
treue, demnächſt die der beſondern Ehre. Gegen-
wärtig iſt durch die Errettung des Vaterlandes,
welche von allen Ständen ausging, die höchſte
Ehre ein Gemeingut geworden; weßhalb denn die
oberen Stände das Protectorat des Geiſtes hätten
übernehmen müſſen, wenn ſie wieder etwas Beſon-
deres ſeyn und vorſtellen wollten.


Ich habe, ſagte der Jäger kleinlaut, in einer
hohen und vornehmen Familie, die ich vor Kurzem
auf meinen Streifereien kennen lernte, die zwan-
zigjährigen Töchter auf gut Schwäbiſch mit der
Iphigenie bekannt machen müſſen, welche ſie noch
nie geleſen hatten, weil die Eltern Goethe für einen
jugendverführeriſchen Schriftſteller hielten.


Und wer weiß, ob das Haupt dieſer Familie,
welche ich übrigens nicht kenne, nicht einer von
den Figuren iſt oder ſeyn wird, welcher man Bahnen
der Cultur anvertraut? ſagte der Diaconus. Der
unbefangene Beobachter hat in dieſer Hinſicht zu-
weilen die erſchreckendſten Contraſte anzuſchauen.
Nun müſſen Sie einräumen, daß ein franzöſiſcher
[403] Marquis oder Düc, von dem eine gleiche Barbarei
gegen einen Claſſiker ſeiner Nation verlautete, in
der Pariſer Societät für Lebenszeit verloren wäre.


Das Beiſpiel von Frankreich fordert hier von
ſelbſt zur Frage auf, ſagte der Jäger. Wie kommt
es nur, daß ſich dort ganz natürlich gemacht hat,
was bei uns nie zu Stande kommen will, nämlich;
ein beſtändiger Contact der Großen mit den Gei-
ſtern und mit dem Geiſte der Nation, eine zarte
Achtung vor dem geiſtigen Ruhme der Nation, und
eine unbedingte Anerkennung der Literatur, als
der eigentlichen Habe der Nation?


Die franzöſiſche Nation, ihr Geiſt und ihre
Literatur haben und ſind Esprit, verſetzte der
Diaconus. Der Esprit iſt ein Fluidum, welches
die Natur unter den zu ſeiner Erzeugung günſtigen
Vorausſetzungen an ganze Länder und Völker aus-
theilen kann. Es iſt alſo dort in Frankreich eine
natürliche Brücke von dem Volksgeiſte und von der
Literatur zu dem Geiſte der vornehmen Claſſen
geſchlagen, Letztere ergreifen in ihrem Intereſſe
ohne Anſtrengung nur das ihnen Gleichartige. Wir
haben keinen Esprit. Unſere Literatur iſt ein Pro-
duct der Speculation, der freiwaltenden Phantaſie,
26*
[404] der Vernunft, des myſtiſchen Puncts im Menſchen.
Die Gaben dieſer von Grundaus gehenden Arbeit
des Geiſtes ſich anzueignen ſind eben nur wieder
Geiſter, welche die Arbeit ſtählte, vermögend. Mit
Leichtfertigkeit iſt deutſcher Art nicht beizukommen.
Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern, ſie ziehen
es bekanntlich vor, zu ernten, wo ſie nicht geſäet
haben. Deßhalb iſt es wieder natürlich — wenn
auch das Verwerfungsurtheil über die Barbarei des
erſten Standes bei Kräften ſtehen bleibt — daß er
locker mit deutſchem Geiſte zuſammenhängt; zu
einem näheren Bündniſſe hätte er ſich über Gebühr
anſtrengen müſſen.


Zu läugnen iſt doch auch nicht, daß gerade
durch die Abſonderung des deutſchen Geiſtes von
dem Athem der hohen Societät ihm manche Tugen-
den erhalten worden ſind, ſagte der Jäger; ſeine
Friſche, ſeine eigenſinnige herbe Jungfräulichkeit, ſein
rückſichtsloſes Um- und Vorgreifen. Denn jede Erfin-
dung der ſchaffenden Seele, welche vor Augen haben
muß, mit gewiſſen Forderungen der Geſellſchaft zu-
ſammenzutreffen, wird nothwendigerweiſe mechani-
ſirt. Unſere Wiſſenſchaft, unſere Philoſophie, unſere
Literatur ſind Töchter Gottes und der Natur; mit
[405] welchen andern möchten ſie einen Tauſch ſolches
Stammbaum’s eingehen?


Hier wurden dieſe Geſpräche von einem hef-
tigen Schreien, ja Brüllen unterbrochen, welches
ſich an der Zinskarre erhob. Hinzueilend ſahen ſie
den Küſter in entſetzter Stellung, die Arme wie
Wegweiſer ausgebreitet, das Geſicht braun und
weiß geſprenkelt, den Mund wie Laocoon aufge-
ſperrt. Um ihn her ſtanden die Frauensperſonen
und der Colonus, der ſeine Karre zum Stehen
gebracht hatte. Die Küſterin klopfte dem Küſter
den Rücken, die Magd hatte ihm den Rock halb
aufgeknöpft, aus welchem das Federkiſſen gefähr-
lich hervorhing. Der Diaconus forſchte nach der
Urſache des Auftritts und erfuhr von ſeiner Magd,
(denn der Küſter war noch immer ſprachlos) daß
der Küſter von der Karre abgeſtiegen ſei, um, wie er
geſagt, der lieben Verdauung wegen etwas zu gehen,
da ſei ein großer ſchwarzer Hund dicht an ihm vorbei
quer über den Weg hinübergeſchoſſen, der Küſter habe
aber ſofort jenes Geſchrei oder Gebrüll erhoben, ſo
daß beinahe die Pferde ſcheu geworden ſeien.


In dieſem Augenblicke gab die Küſterin ihrem
Manne, bei dem das Klopfen nicht verfangen
[406] wollte, mit den Worten: Wenn Alles bei der
Maulſperre vergebens iſt, ſo hilft das! aus Lei-
beskräften eine Ohrfeige. Alſobald flogen die
Kinnbacken des entſetzten Mannes zuſammen wie
Thorflügel, er wiſchte ſich die Thränen aus den
Augen und ſagte zu ſeiner Frau: Ich danke dir,
Gertrud, für dieſe Backpfeife, durch welche du
mich von ſchweren Leiden curirt haſt. Und zum
Diaconus ſich wendend: Ja, Herr Diaconus, ein
wüthender, ein toller Hund! Schweif eingeklemmt,
rothe und dabei triefende Augen, Schaum vor der
Schnauze, blaue Zunge, heraushängend, taumeln-
der Gang, kurz alle Kennzeichen der waſſerſcheuen
Wuth!


Um Gotteswillen, wo hat er Euch gebiſſen?
rief der Diaconus erblaſſend.


Nirgend, mein Herr Diaconus, verſetzte der
Küſter feierlich, nirgend; dem Allmächtigen ſei
Dank dafür. Aber wie leichtlich hätte er mich
beißen können. Ich habe das Ungeheuer, wie An-
dere einen grimmen Wolf durch Geigenſpiel in die
Flucht ſchlugen, durch den Ton meiner Stimme,
die mir Gott gegeben, verſcheuchet und verjaget,
als es eben im Anſpringen auf mich begriffen war.
[407] Es ſtutzete und ſchwang ſich ſeitwärts die Wallhecke
hinauf. Mir aber blieben von der übermenſchlichen
Anſtrengung jenes heilſamen Angſtrufes die Kinn-
backen in der Maulſperre verfangen und verfeſtiget,
bis meine gute Ehefrau, wie Sie geſehen, mir die
wirkſame Backpfeife verordnete. Das iſt ein Zins-
tag, an welchen ich gedenken werde!


Der Diaconus und der Jäger hatten Mühe,
ein Lachen zu verbeißen. Die Magd ſagte, ſie glaube
nicht, daß der Hund toll geweſen ſei, er möge
wohl nur ſeinen Herrn verloren gehabt haben, in
welchem Falle die Creaturen ſich immer ſehr un-
gebärdig anſtellten. Wirklich ſah man den Hund
in einiger Entfernung auf einem Feldwege ruhig
und ſchweifwedelnd hinter einem Packenträger her-
gehen. Der Küſter, dem dieſe Bemerkung mitge-
theilt wurde, ließ ſich nicht aus der Faſſung brin-
gen, ſondern ſprach ernſthaft: Wie leichtlich hätte
der Hund toll ſeyn können!


Der Diaconus ließ ihn und ſein Fuhrwerk ſich
wieder in Bewegung ſetzen, und trennte ſich an
dieſer Stelle von dem Jäger, da, wie er ſagte,
ihr Geſpräch doch geſtört ſei, und der Colonus
es ihm verdenken werde, wenn er deſſen Geſell-
[408] ſchaft auf dem ganzen Heimwege meide. Bei dem
Abſchiede mußte der junge Schwabe ſeinem Be-
kannten das Verſprechen geben, ihn auf einige
Tage in der Stadt zu beſuchen. Darauf gingen
ſie nach verſchiedenen Richtungen aus einander.


[409]

Eilftes Capitel.
Die fremde Blume und das ſchöne Mäd-
chen. Die gelehrte Geſellſchaft
.


Die Sonne ſtand noch hoch am Himmel, und
dem Jäger war es nicht gelegen, ſo früh in den
Oberhof zurückzukehren. Er trat auf eine der
höchſten Wallhecken, ſah ſich in der Gegend um und
meinte, daß er eine Hügelgruppe, welche in gerin-
ger Entfernung ihre buſchichten Häupter erhob, wohl
noch durchſtreifen und doch vor ſpät Abends wieder
in ſeinem Quartiere ſeyn könne. Das Wiederfinden
des Diaconus und ſein Geſpräch hatte manche
Erinnerungen der früheren Zeiten in ihm aufgeweckt;
er war unruhig und ſehnte ſich in dieſer Stim-
mung nach Pfaden, die er noch nicht betreten, nach
Bergen und Bäumen, an deren Anblick er ſich noch
nicht gewöhnt hatte. Tief, tief ſeine heiße Seele
[410] in das kühle Waldesdunkel, in den feuchten Dunſt
bemooſter Felſen, in den begeiſteten Schaum ſprin-
gender Quellen zu tauchen, danach lechzte er; danach
ſchmachtete er aus der brütenden Wärme der Korn-
felder.


Der Anblick des Diaconus hatte ihm wohl und
wehe gemacht; ihre erſte Bekanntſchaft war durch
die unerſchrockene Gymnaſtik des Geiſtes, in wel-
cher die Jugend ihre erſten überſchwellenden Kräfte
zu tummeln liebt, bezeichnet geweſen. Jener, älter,
und wie erwähnt worden, ſchon Führer eines jun-
gen vornehmen Schweden, hatte ſich dennoch als
ein immer fertiger Disputant und Opponent zu
den Studenten gehalten, und manche Stunde der
Mitternacht war dem Jäger mit ihm in eifrigem
Kämpfen und Ringen vergangen. — Ja, rief er,
indem er immer fürbaß den Hügeln zuſchritt, du,
mein deutſches Vaterland, bleibſt doch der ewig
geweihte Heerd, die Geburtsſtätte des heiligen Feu-
ers! Ueberall, auf jedem Fleckchen in dir wird dem
Dienſte des Unſichtbaren geopfert, und der Deut-
ſche iſt ein Abraham, der dem Herrn den Altar
baut allerwege, wo er auch nur die Nacht über geraſ-
tet hat. — Er gedachte der Reden ſeines Bekannten
[411] und der Situation, in welcher ſie vorgefallen
waren. — Das wird auch anderwärts nicht vorkom-
men, daß ein armer Paſtor, hinter ſeiner Hühnerkarre
herſchreitend, ſich an der unſterblichen Idee der Nation
begeiſtert, ſagte er. Lächerlich und erhaben! Lächer-
lich, weil das Erhabene auch durch das Aermlichſte
und Kleinſte bei uns hindurchſieht und die Formen
des Geringen ſiegreich zerbricht! Wie reich biſt
du, mein Vaterland!


Sein Fuß betrat friſches, feuchtes Wieſengrün,
beſäumt von Büſchen, unter denen ein klares Waſ-
ſer rann. Dieſer vollen, geſunden, jungen Seele
thaten noch ſymboliſche Handlungen Noth, ſich und
ihrem Drange zu genügen. In kurzer Entfernung
zeigten ſich kleine Felſen, über die ein ſchmales,
ſchlüpfriges Pfädchen lief. Er ging hinüber,
klomm zwiſchen den Klippen nieder, ſtreifte den
Aermel auf, ritzte das Fleiſch ſeines Armes und
ließ das Blut in das Waſſer rinnen, indem er ein
ſtilles, frommes Gelübde ohne Worte ſprach. Er
legte den Arm in das Waſſer, die Fluth kühlte
ihm mit anmuthigem Schauder das heiße Blut ab.
So, halb knieend, halb ſitzend an den feuchten,
dunkeln, umklippten Orte blickte er ſeitwärts in
[412] das Offene; da wurden ſeine Augen von einer
prachtvollen Erſcheinung gefangen genommen. Zwi-
ſchen den Gräſern waren alte Baumtrümme ver-
weſet und ſtarrten ſchwarz aus dem umgebenden
luſtigen Grün. Einer derſelben war ganz ausge-
höhlt, in ſeinem Inneren hatte ſich der Moder zu
brauner Erde niedergeſchlagen, und aus dieſer und
aus dem Trumm, wie aus einem Crater, blühte
die herrlichſte Blume empor. Ueber dem Kranze
ſanfter runder Blätter erwuchs ein ſchlanker Sten-
gel, der große Kelche von unnennbar ſchöner Röthe
trug. Tief in den Kelchen ſtand ein geflammtes
zartes Weiß, welches in leichten grünen Aederchen
nach dem Rande zu auslief. Es war offenbar
keine hieſige, es war eine fremde Blume, deren
Samenkorn, wer weiß, welcher? Zufall in den
durch die Verweſungskräfte der Natur bereiteten
Gartenboden getragen, und eine günſtige Sommer-
ſonne auch hier zum Wachſen und Blühen gebracht
hatte.


Der Jäger erquickte ſein Auge an dieſem rei-
zenden Anblicke, der ihn belohnte, als er das Ge-
lübde gethan hatte, mit Leib und Seele dem Vater-
lande angehören und Zeitlebens keine Götter
[413] haben zu wollen, als die heimiſchen. Trunken von
der Magie der Natur lehnte er ſich zurück und
ſchloß in ſüßen Träumereien die Augen. Als
er ſie wieder öffnete, hatte ſich die Scene ver-
ändert.


Ein ſchönes Mädchen in einfachem Gewande,
den Strohhut über den Arm gehängt, kniete vor
der Blume, hielt deren Stengel zärtlich, wie den
Hals des Geliebten umſchlungen, und blickte, die
holdeſte Freude der Ueberraſchung in den Augen,
tief in einen der rothen Kelche. Sie mußte, wäh-
rend der Jäger zurückgebeugt lag, leiſe herbeige-
kommen ſeyn. Ihn ſah ſie nicht; die Klippen
verdeckten ihn, und er hütete ſich wohl, eine Bewe-
gung zu machen, welche ihm die Erſcheinung ver-
ſcheuchen konnte. Aber, als ſie nach einer Weile
athmend von dem Kelche emporſchaute, fiel ihr
Blick ſeitwärts in das Waſſer, und ſie gewahrte
den Schatten eines Mannes. Nun ſah er ſie ſich
verfärben, die Blume aus ihren Händen entlaſſen,
übrigens aber regungslos auf den Knieen bleiben.
Er erhob ſich mit halbem Leibe zwiſchen den Klip-
pen, und vier junge, unſchuldige Augen trafen
einander mit feurigen Strahlen. Nur einen Au-
[414] genblick! denn alſobald ſtand das Mädchen, Gluth
im Antlitz, auf, warf den Strohhut über das
Haupt und war mit drei raſchen Schritten hinter
den Büſchen verſchwunden.


Er kam nun auch aus den Klippen hervor
und ſtreckte den blutigen Arm nach den Büſchen
aus. War der Geiſt der Blume lebendig gewor-
den? Er ſah dieſe wieder an, ſie wollte ihm nicht
mehr ſo ſchön bedünken, wie wenige Augenblicke
zuvor. Eine Amaryllis, ſagte er kalt, ich erkenne
ſie jetzt, ich habe ſie im Gewächshauſe. Sollte
er dem Mädchen nachfolgen? Er wollte es, eine
geheime Scheu feſſelte aber ſeinen Fuß. Er
faßte an ſeine Stirne; geträumt hatte er nicht,
das wußte er, und das Ereigniß, rief er endlich
mit einer Art von Anſtrengung, iſt auch ſo abſon-
derlich nicht, daß es geträumt werden müßte!
Ein hübſches Mädchen, die des Weges daherkommt
und ſich auch an einer hübſchen Blume erfreut, das
iſt das Ganze!


Er ſtrich zwiſchen unbekannten Bergen, Thälern
Geländen umher, ſo lange ihn die Füße tragen
wollten. Endlich mußte er an den Rückweg den-
ken. Spät, im Dunkeln, und nur mit Hülfe eines
[415] zufällig gefundenen Führers erreichte er den Ober-
hof.


In dieſem brummten die Kühe, der Hofſchulze
ſaß auf dem Flure mit Tochter, Knechten und
Mägden zu Tiſche und wollte moraliſche Geſpräche
beginnen. Aber dem Jäger war es unmöglich,
darauf einzugehen, es kam ihm Alles verwandelt,
roh und ungefüge vor. Er ſuchte raſch ſeine
Stube, nicht wiſſend, wie er noch länger in
das Ungewiſſe hin hier werde verweilen können.
Ein Brief, den er oben von ſeinem Freunde Ernſt
aus dem Schwarzwalde fand, vermehrte noch ſein
Mißbehagen.


In dieſer Stimmung, welche einen Theil der
Nacht dem Schlummer raubte und die ſich ſelbſt am
folgenden Morgen noch nicht verloren hatte, war
es ihm ſehr erwünſcht, daß ihm der Diaconus ein
kleines Wägelchen ſchickte, ihn nach der Stadt
abzuholen.


Schon von weitem zeigten Zinnen, hohe Mauern
und Baſtionen, daß der Ort, einſt ein mächtiges
Glied im Bunde der Hanſa, ſeine große, wehrhafte Zeit
gehabt habe. Der tiefe Graben war noch vorhanden,
wenn gleich zu Baumpflanzungen und Küchengärten
[416] verwendet. — Sein Fuhrwerk bewegte ſich, nachdem
das dunkle, gothiſche Thor durchfahren war, etwas
mühſam auf dem zerſchrotenen Steinpflaſter und
hielt endlich vor einer freundlichen Wohnung, an
deren Schwelle ihn ſchon der Diaconus empfing.
Er trat in einen heitern, behaglichen Haushalt
ein, belebt von einer munteren, hübſchen Frau,
und einem Paar lebhafter Knaben, die ſie ihrem
Eheherren geboren hatte.


Nach dem Frühſtück machten ſie einen Gang
durch die Stadt. Die Straßen waren ziemlich
menſchenleer. Zwiſchen alten Schwiebbögen, Thürm-
chen, Kragſteinen, Fragmenten von Steinfiguren zeig-
ten ſich [nicht ſelten] Sumpfſtellen, Baumplätze, Gras-
flecke. Um ein altes Gebäude, mit vier zierlichen
Spitzſäulen an den Ecken und einer Kränzung von
Rauten und Roſen aus Sandſtein ſprang ein muth-
williges Wäſſerchen; Epheu und wilder Wein
hatte ſich in den Ritzen des Mauerwerks einge-
niſtet. Ringsumher die tiefſte Einſamkeit. Iſt
es nicht, als ob man den Geiſt der Geſchichte leib-
haftig weben und ſpinnen ſieht? ſagte der Jäger
an dieſer oder einer anderen ihr ähnlichen Stelle.
Ja, verſetzte der Diaconus, man wird hier, wie
[417] von ſelbſt, zum Alterthume hingeführt, und eine
erinnernde Stimmung bemächtigt ſich der Seele.
Dazu kommt, daß auch ein Theil der Bevölkerung
aus menſchlichen Ruinen beſteht.


Wie ſo? fragte der Jäger.


Weil es hier ſehr wohlfeil leben iſt, ferner
wegen der Stille des Orts und vielleicht auch we-
gen ſeiner dem menſchlichen Alter ähnlichen Phy-
ſiognomie ziehen ſich hieher viele bejahrte Leute
aus Amt und Geſchäft zurück, ihre letzten Tage
unter dieſem verwitternden Gemäuer zuzubringen,
ſagte der Diaconus. Greiſer Beamten und Offi-
ziere, welche hier ihre Penſionen verzehren, betagter
Rentner, welche das Comptoir jüngeren Händen
überlaſſen haben, giebt es hier eine Menge. Wenn
nun auch Viele dieſer Ausruhenden nur langwei-
lige alte Tröpfe ſind, ſo ſtößt man doch auch auf
Manchen, der ſich umgethan hat, einen reichen
Schatz von Erfahrung bewahrt und von dem man
Dinge zu hören bekommt, die nicht ſo allgemein
bekannt ſind. So erzählen gewiſſermaßen die ſtei-
nernen Trümmer Geſchichte und die Menſchentrüm-
mer, welche darunter umherwanken, Memoiren.
Hier ſollen Sie gleich ein ſolches Fragment kennen
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 27
[418] lernen, einen alten Hauptmann; nur bitte ich Sie,
widerſprechen Sie ihm in nichts, denn Widerſpruch
kann er nicht ertragen.


Er klingelte an der Thüre eines ziemlich gut
ausſehenden Hauſes, welches hinter Kaſtanien
beſchattet lag, ein Diener öffnete und führte mit
ſteifer militairiſcher Haltung den Beſuch in ein
Zimmer, welches von Sauberkeit glänzte. Dann
ging er den Herrn zu rufen, welcher, wie er ſagte,
die Hühner füttere. Der Diaconus blickte ſich
flüchtig im Zimmer um und ſagte dann raſch zum
Jäger: Der Hauptmann iſt heute Franzöſiſch, alſo
um Gotteswillen keine patriotiſche deutſche Auf-
wallung, er mag vorbringen, was er will! Der
Jäger hatte ſich gleichfalls im Zimmer umgeſehen.
Alles athmete darin das Andenken an die Thaten
des Empire. Napoleon ſtand als ganze Figur im
bekannten Oberrocke, die Arme gekreuzt, auf dem
Schreibſchranke, außerdem war er mehrmals in
Büſten und Medaillons vorhanden. Da hing Mü-
rat in dem bekannten Theatercoſtüme zu Roß, Eugen,
Ney, Rapp. Es fehlte nicht der General bei dem
Beſuche der Peſtkranken zu Jaffa, der erſte Conſul
zu St. Cloud und der Kaiſer bei dem Abſchiede
[419] von den Garden zu Fontainebleau. Viele, dieſen
gemäße Darſtellungen reihten ſich ihnen an. In
einer Ecke des Zimmers ſah der Jäger ein Bücher-
brett mit den Werken von Segur, Gourgaud, Fain,
LasCaſes und Andern, welche zu dieſer Autoren-
Reihe gehörten.


Dennoch hatte er die Mahnung ſeines Beglei-
ters nicht ganz verſtanden und wollte ihn eben
um nähere Erläuterung bitten, als der Hauptmann
das Zimmer betrat. Es war ein ältlicher Herr in
blauem Oberrock, das rothe Band im Knopfloch.
Durch das hagere Geſicht zogen ſich unzählige
Runzeln und auch einige Schmarren. Er begrüßte
ſeine Gäſte mit trockener Höflichkeit, lud ſie zum
Sitzen und ließ ſich den Namen der Jägers nen-
nen, den der Diaconus ohne Arg ausſprach, ehe ſein
Träger es verhindern konnte. Ich habe, ſagte der
Hauptmann, indem er nachſann, Einen dieſes Na-
mens bei den Würtembergern in Rußland gekannt.
Der Zufall führte uns mehrmals zuſammen, bei
Smolensk geriethen wir beide in Gefangenſchaft,
halfen uns aber bald wieder heraus.


Das war mein Oheim, erwiederte der Jäger. —
Dieſe Entdeckung gab ihm ſogleich einen näheren
27*
[420] Bezug zu dem Hauptmann, deſſen ganzes Geſicht
ſich erheiterte. Er drückte dem Neffen ſeines alten
Cameraden die Hand und ließ ſich nun in ſeinen
Kriegeserinnerungen bis zur Schlacht von Leipzig
ungemeſſen gehen. Dort aber bekamen ſie einen Halt
und ſtockten, ſo zu ſagen, hinter einem Schlagbaume,
über den ſie nicht hinwegſprangen. Am Schluſſe ſeiner
Erzählungen ſagte er: Es iſt um einen großen Mann
eine eigene Sache, und die Menſchheit ſchaufelt ſein
Bild aus dem Schutte hervor, mag das Unglück
dieſen noch ſo hoch über ihm aufgethürmt haben.
Was haben alle die Siege, die zweimal nach
Paris führten, den Siegern in Betreff des Nach-
ruhmes geholfen? Nichts. Es ſind Thatſachen
geblieben, die alle Welt kalt anhört und weiter
erzählt, aber der Kaiſer, der Kaiſer bleibt die ein-
zige Geſtalt jener Tage. Er hat die Menſchen
gequält, und dennoch vergöttern ſie ihn, ei, ein
wenig Qual iſt dem Menſchengeſchlechte nützer als
allzuſchlaffes Wohlleben! Wahrlich, wahrlich, ich
ſage Euch: An den gußeiſernen Monumenten mit
den ſpitzigen Kirchendächern werden die Invaliden
wachen und die Gegitter den reiſenden Englän-
dern aufſchließen, aber nur an der Vendomeſäule
[421] werden jeden fünften Mai friſche Immortellen
liegen.


Der Diaconus erhob ſich; der Hauptmann
fragte, ob er den Fremden nicht noch anderweit
zu ſehen bekomme, was der Diaconus bejahte, da,
wie er hinzufügte, ſein junger Freund ihm das
Vergnügen machen werde, an der gelehrten Geſell-
ſchaft Theil zu nehmen. In ihr hoffen wir dieß-
mal ſtark auf Sie, liebſter Hauptmann, ſagte er. —
Ich werde Euch aus den Papieren meines ſeligen
Freundes einen Beitrag liefern, welcher Euch zei-
gen ſoll, welche Jüngelchen den großen Kaiſer
geſchlagen haben wollen, verſetzte der Hauptmann
ironiſch.


Das iſt ja ein wüthender Bonapartiſt, ſagte
der Jäger draußen zum Diaconus. Tageweiſe, ver-
ſetzte dieſer. Johann, können Sie uns nicht das
preußiſche Zimmer zeigen? mit dieſen Worten
wandte er ſich an den begleitenden Diener. Der
Menſch ſah ſich ängſtlich um, nach einigem Schwei-
gen antwortete er: Der Herr wird wohl gleich
ausgehen; treten Sie nur ſacht hinein, ich will
hier auf Poſten bleiben. — Der Diaconus ging mit
ſeinem Gaſte über den Flur nach der andern Seite
[422] des Hauſes und that ihm ein Zimmer auf, vor
deſſen Fenſtern Weinranken einen grünen Schim-
mer verbreiteten und welches eine anmuthige Aus-
ſicht auf blühende Gartenbeete hatte. Das Erſte,
was dem Jäger auffiel, weil es der Thüre ge-
rade gegenüber ſtand, war ein Tropäon auf hohem
Poſtamente, zuſammengefügt aus Kanonen, Waffen,
Fahnen, Kriegesgeräth. An dem Poſtamente glänz-
ten in goldenen Ziffern die Jahreszahlen 1813,
1814, 1815 und über dem Tropäon an der Wand
prangten in einer Einfaſſung von goldenen Sternen
die Namen der Befreiungsſchlachten auf weißem
Grunde. Die Wände dieſes Zimmers waren von
den Büſten der verbündeten Herrſcher und ihrer
Feldherrn geſchmückt. Da ſah man den Abſchied
der Freiwilligen, Blücher und Gneiſenau in ihren
Regenmänteln nach der Schlacht an der Katz-
bach über die Haide reitend, den Einzug in
Paris, die Plane von Leipzig und Belle-Alliance.
Und um den ſymmetriſchen Gegenſatz zu dem
franzöſiſchen Zimmer zu vollenden, ſo fehlte
auch hier eine kleine Sammlung von Kriegsbü-
chern nicht, von Deutſchen in deutſchem Sinne
geſchrieben.


[423]

Nun ſagen Sie mir, was bedeutet das? fragte
der Jäger, welcher die Gegenſtände umher mit
Verwunderung betrachtete. Iſt Ihr Hauptmann
ein Amphibium? — Ein Stück davon, erwiederte
der Diaconus. Ich höre eben die Thüre klinken,
er hat das Haus verlaſſen, ich kann Ihnen mit
Muße die Contraſte auslegen, über welche Sie
erſtaunen.


Er nöthigte ſeinen Gaſt auf ein Canapé, dann
fuhr er ſo fort: Unſer Hauptmann iſt ein recht-
winklichter, ſchroffer und unvermiſchter Charakter.
Deßhalb haben ſich ſeine Erinnerungen wie zwei
mathematiſche Figuren aus einander gelegt. Er
diente bei den Franzoſen mit großer Auszeichnung;
Sie haben geſehen, daß ihm unter jenen Adlern das
rothe Band zu Theil geworden iſt. Nach der Schlacht
von Leipzig wurde ſein Corps aufgelöſt, er war als
Deutſcher ſich ſelbſt und den vaterländiſchen Verhält-
niſſen zurückgegeben. Indem nun das Kriegsgetüm-
mel weiter raſte, und alle Welt gen Frankreich zog,
wäre es unnatürlich geweſen, wenn der alte Degen
hätte zurückbleiben ſollen; er nahm daher preußi-
ſche Dienſte, und kämpfte mit ſo vielen andern
Tauſenden nun auf derſelben Seite, welche er noch
[424] vor wenigen Monaten zu vernichten ſich beſtrebt
hatte. Auch unter dieſen Fahnen war ſeine
Tapferkeit belobt, namentlich ſoll er ſpäterhin in
den mörderiſchen niederländiſchen Schlachten wie
ein Löwe geſtritten haben. Er empfing zu dem Kreuze
der Ehrenlegion das eiſerne, jenem ſo feindlich
gewordene.


Nach dem Frieden blieb er nur noch kurze Zeit
im Heere; ſeine Strapazen und Wunden hatten
ihn mürbe gemacht. Hieher zog er ſich mit ſeiner
Penſion zurück, welche ihm ein anſtändiges Aus-
kommen gewährte. Indem nun Jedermann um
ihn her in den wiedererworbenen weſtlichen Theilen
des Vaterlandes ſich mit ſeinen Gefühlen einzu-
richten wußte, die Sympathien des geſtürzten Reichs
und der neuen Deutſchheit amalgamirte, oder we-
nigſtens zuſammenſchweißte und löthete, wollte es
unſerem armen ſtörrigen Hauptmann nicht ſo wohl
gelingen. Den Degen in der Fauſt hatte er ohne
Reflexion darauf losgeſchlagen, für oder wider;
aber in der Muße und im Nachdenken des Frie-
dens überfiel ihn eine Spaltung und Verwirrung,
welche ihn faſt toll machte. Er konnte es nicht
in ſich beherbergen, daß er binnen Jahresfriſt ein
[425] tapferer Franzoſe und ein tapferer Preuße geweſen
ſeyn ſollte, daß er bis zum October „la perfidie
du cabinet de Berlin“
habe züchtigen und nach
dem October das Vaterland retten helfen. Mit
ſeltſamen Blicken betrachtete er die beiden Orden,
die ſtreitbaren Löwen, welche wie friedliche
Lämmer neben einander auf ſeiner Bruſt ruhten.
Er ſtieß Reden aus und verübte Handlungen, die
ſeinen Bekannten bange um ihn machten.


Ich weiß von dieſen Dingen nur durch Andere,
denn ich war damals noch nicht hier. Möglich,
daß der Zuſtand durch die Nachwirkung ſeiner Kopf-
wunden und des ruſſiſchen Eiſes befördert worden
iſt, doch bin ich überzeugt, daß die Urſache deſſel-
ben im Geiſtigen, in dem Leiſten- und Fachartigen
ſeines ehrenwerthen Sinnes gelegen hat. Endlich
nahm ſich ein Fieber ſeiner an, machte ihm Leib
und Seele frei. Unmittelbar nach der Herſtellung
richtete er die ſonderbare Lebensweiſe ſich ein,
deren Zeichen und Spuren Ihnen aufgefallen ſind,
und in dieſer habe auch ich ihn erſt kennen gelernt.


Er ſtiftete nämlich militairiſche Ordnung in
ſeinen Erinnerungen und theilte ſie, ſo zu ſagen,
in zwei abgeſonderte Corps ein, die für ſich agiren.
[426] Eine Zeitlang iſt er Franzoſe und ganz verſenkt
in die Herrlichkeit der Napoleoniſchen Zeit, dann
wird er wieder eine Zeitlang eben ſo entſchiedener
Preuße und Lobredner des Aufſchwungs jener gro-
ßen Epoche der Volksbewegung. Dieſe Phaſen
treten abwechſelnd ein, jenachdem ihn eine Vorſtel-
lung, die dem einen oder andern Kreiſe angehört,
in Beſchlag nimmt, und ſie dauern ſo lange, bis
der Stoff der Vorſtellung ſich abgeſponnen hat.
Es verſteht ſich, daß er auch immer nur einen
Orden, entweder den Preußiſchen, oder den Fran-
zöſiſchen trägt. Dieſem Turnus gemäß hat er
denn auch die beiden abgeſonderten Wohngelaſſe
ſich ausgerüſtet, und neben jedem ein beſonderes
Schlafgemach. Drüben unter den Marſchällen bringt
er zu, wenn er Franzoſe iſt, und hier bei den Tro-
päon verweilt er, wenn er die preußiſchen Tage hat.
Nicht wahr, wir beſitzen hier zu Lande gute Ori-
ginale?


In der That, verſetzte der Jäger, man fühlt
ſich bei Ihnen wie in der Welt des Triſtram
Shandy. Uebrigens kann ich nicht ſagen, daß mir
die Manier des guten Hauptmanns, ſo barock ſie
auch ausſieht, gerade unvernünftig vorkäme. Man-
[427] cher Deutſche, welcher eine geraume Zeit lang
ſelbſt nicht gewußt hat, was er eigentlich war,
Franzoſe oder Deutſcher, würde durch ſie ſeinen
Charakter reiner und einfacher erhalten haben. —
Wie das Gemüth ihm unbewußt einen Streich
ſpielte! Zu dem vaterländiſchen Zimmer erwählte
er das beſtgelegene mit grüner lieblicher Ausſicht,
während das Franzöſiſche unerquicklich an der kah-
len, öden Straße liegt.


In einem Puncte iſt der Hauptmann höchſt
achtbar, ſagte der Diaconus, in dem, daß, wenn
auch ſeine Fantaſie Tage- und Wochenweiſe an
den fremden Erinnerungen haftet, dennoch nie der
leiſeſte Wunſch nach der Zeit des allgemeinen Elends
in ihm aufkeimt. Für unſere gelehrte Geſellſchaft
iſt er vom größten Nutzen, denn er beſitzt einen
wahren Schatz an einem Hefte perſönlicher Denk-
würdigkeiten eines verſtorbenen, ihm innigſt ver-
bunden geweſenen Freundes, eines Offiziers.


Man lernt aus denſelben das Kleinleben des
Krieges kennen, was die eigentlichen Geſchichtsbü-
cher, Schlachtbeſchreibungen und militairiſchen Be-
richte gar nicht enthalten, und weil ein Menſch
von hinreißendem Gefühl und treuer Beobachtungs-
[428] gabe jene unbefangenen Notizen aufgeſchrieben hat,
ſo iſt mir nicht ſelten bei einzelnen Parthien zu
Muthe geworden, als rolle ſich vor mir eine neue
Ilias und Odyſſee ab. Wenigſtens leidet und
handelt darin der Einzelne trotz des paſſiven Ge-
horſams und der mechaniſchen Kriegsführung unſerer
Tage, wie ein homeriſcher Held. Von dieſen Denk-
würdigkeiten lieſt nun zuweilen der Hauptmann in
unſerer Geſellſchaft Abſchnitte vor.


Der Jäger erkundigte ſich nach der gelehrten
Geſellſchaft, deren Daſeyn er in dieſer Stadt nicht
vermuthet hatte, und der Diaconus erzählte ihm,
indem er ihn aus dem Hauſe des Hauptmanns
weiter durch die Stadt führte, lächelnd und heiter
von ihrer eigenthümlichen Geſtalt, ihren Geſetzen
und ihren productivſten Mitgliedern, unter denen
außer einem Dichter ein Sammler und ein Rei-
ſender von Profeſſion vorkamen. Er ſagte ihm,
daß er ihm ſchon deßhalb heute den Wagen geſchickt
habe, damit er einer Sitzung beiwohnen könne, die
auf den Abend beſtimmt worden ſei und ihm viel-
leicht einige angenehme Stunden bereite.


Unter dieſen Geſprächen waren ſie zu einem
geräumigen Wieſenplatze gekommen, welcher aber
[429] gleichwohl noch innerhalb der Ringmauern der Stadt
lag. Auf demſelben erhob ſich eine alte gothiſche
Kirche, grün wie die Wieſe. Der Jäger konnte
an ihrem Anblicke ſein Auge nicht erſättigen.
Theils war ſchon die Farbe des Sandſteins, wie
ſie bezeichnet worden, äußerſt eigen; theils aber
hatte die Natur auch ihr willkührlichſtes Spiel
mit dem lockeren und mürben Material getrieben,
und in dem reichen Pfeiler- und Schnitzwerk, an
den Kanten und Ecken durch Regenſchlag und Näſſe
ganz neue Figurationen hervorgebracht, ſo daß das
Gebäude wenigſtens ſtellenweiſe ausſah, als ſei
es nicht aus des Menſchen, ſondern aus ihrer Hand
hervorgegangen. — Wie ſonderbare Symbole wer-
den oft um uns hergeſtellt! rief der Jäger. Hier
ſteht die Kirche, an welcher, mindeſtens an deren
Ornamenten ſich nicht unterſcheiden läßt, was davon
der Baumeiſter gewollt, und was Zeit und Wetter
hinzugefügt haben, und geſtern erſchien mir an
einer Blume im Walde ein ſchönes Mädchen.


Der Diaconus fragte näher nach, und der Jä-
ger erzählte ihm mit glänzenden Augen und beweg-
ter Stimme ſein Waldabentheuer. Nach Ihrer
Beſchreibung zu urtheilen, ſind Sie mit der blonden
[430] Lisbeth zuſammengetroffen, ſagte Jener. Das liebe
Kind ſtreift im Lande umher, ihrem alten faſeln-
den Pflegevater Geld zu verſchaffen; ſie war auch
bei mir vor einigen Tagen, wollte ſich aber nicht
verweilen. Wenn ſie es war, ſo hat Ihnen die
Natur wirklich ein Symbol gezeigt, denn auch das
Mädchen iſt in Moder und Verfall aufgeblüht, wie
Ihre Wunderblume aus dem alten Baumtrumm.
Ueber ihr halten ſchirmende Geiſter die Hände, ſie
iſt das liebenswürdigſte Aſchenbrödel und ich wün-
ſche ihr nur den Prinzen, der ſich in ihren kleinen
Schuh verliebt.


Auf dem Rückwege ſollten der Sammler und
der Reiſende beſucht werden, Beide waren aber
nicht zu Hauſe. In der Wohnung des Diaconus
hatten ſich dagegen bei der Frau mehrere Freun-
dinnen eingefunden, anſcheinend zufällig, eigentlich
jedoch wohl in der Abſicht, den jungen hübſchen
Fremden in Augenſchein zu nehmen. Sein mun-
teres trauliches Weſen brachte ihn bald mit allen
den Frauenzimmern, unter denen keine einzige Häß-
liche war, in naive Berührung, und es ſchadete
ihm bei ihnen nicht, daß ſie hin und wieder über
ſeine Ziſchlaute heimlich lächeln mußten.


[431]

Er hatte ſich bei Tiſche ſeiner Verſchwiegenheit
gerühmt. Als man aufgeſtanden war, zog ihn die
Wirthin raſch bei Seite und flüſterte ihm zu:
Sagen Sie den Beiden — ſie zeigte auf zwei
ihrer Freundinnen, welche zum Eſſen geblieben
waren — nichts vom heutigen Abende, es ſoll
daraus eine Ueberraſchung für ſie geſponnen wer-
den. — Sie meinen, verſetzte er, die gelehrte
Geſellſchaft des heutigen Abends. — Dieſelbe,
erwiederte die Frau ſchalkhaft, und verſchweigen
Sie, wenn Sie ſich auch ſonſt verſchnappen ſollten,
wenigſtens den Ort der Zuſammenkunft, wie heißt
er doch nur gleich?


Er nannte ihr harmlos den Ort, den er zufäl-
lig auch bereits vom Diaconus erfahren hatte.
Richtig! rief die Frau, eilte zu ihren Freundinnen,
und alle Drei verließen flüſternd und lachend das
Zimmer.


[432]

Zwoͤlftes Capitel.
Brief und Antwort.


Der Oberamtmann Ernſt an den Jäger.


„Wenn du mich Mentor nennſt, ſo ſteckt Pallas
Athene in mir, und wenn ich dann trotz meiner
Göttlichkeit immer noch an dem unfolgſamen Tele-
mach hange, ſo muß wohl das unerbittliche Schick-
ſal daran Schuld ſeyn, dem Götter und Menſchen
ſich beugen.


Sage mir, was biſt du? Wo fängt bei dir
die Vernunft an, und wo hört die Thorheit auf —
Miſchweſen? Willſt du ewig ein Kind bleiben?
Kommt es denn immer in dir nur zu Blüthen
und ſetzen ſich nie Früchte ab? Ich dächte, man
würde Alles müde, abſonderlich dummer Streiche,
und du hätteſt den Reiz der Neuheit in dieſer
Materie allgemach überwunden.


[433]

Allerdings glaube ich, daß der Menſch von dun-
keln Inſtincten Manches zu erdulden hat, und in-
ſonderheit mag deinem Blute durch die ſchwärmende
und übertriebene Zärtlichkeit deiner Eltern, welcher
du deine Entſtehung verdankſt, der Kitzel einge-
impft worden ſeyn, von Abentheuern zu Abentheu-
ern fortzuſtrudeln. Wenn du aber meinſt, daß
aus ſolchen inſtinctelirenden Anſtößen irgend etwas
Großes, ja daß nur etwas Gutes und Geſcheidtes
daraus hervorgehen könne, ſo biſt du gewaltig im
Irrthum, ich habe immer die Handlungen der Men-
ſchen erſt anfangen ſehen, wo dieſe Region dämm-
riger Willkührlichkeiten hinter ihren Füßen lag.
Von der Geſchichte deines Ludwigsburger Grana-
tenſuchers haſt du das Ende vergeſſen. Der
Menſch gewöhnte ſich nach dem kleinen Glücke,
welches ihm ſein Raptus gebracht, das Trinken
an, ging oder taumelte einmal bei ſpäter Abend-
zeit in der Gegend umher und fiel in den Neckar,
aus dem man am andern Morgen ſeine Leiche zog.
Ihr Ritter der Nachtſeite der Natur greift aber
immer aus den Thatſachen nur das heraus, was
in Euren Kram paßt, und woran Ihr kapuzinerhaft
Euren Spruch demonſtriren könnt.


Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 28
[434]

Dein Umherſchweifen hat dir manche ſchöne
Stunde und viele tauſend Gulden unnütz ge-
raubt, mit deinem verwünſchten Schießen wirſt
du einmal übel ankommen; was deine Verehrung
der Frauenzimmer betrifft, ſo iſt dieſe Andacht
für mich eine neue Bekanntſchaft, ich hatte bis
etzt in der Hinſicht nichts Abſonderliches an dir
verſpüren können. — Beinahe krank bin ich aber
von deinem Briefe geworden, denn es giebt nichts
Verhängnißvolleres, als wenn ein Menſch in dei-
nen Jahren und Verhältniſſen noch Streiche macht,
die man kaum einem heimathloſen Studenten ver-
zeiht. Die Leute glauben nicht an die Thorheit,
ſie ſuchen und finden in ſolchen Eulenſpiegeleien
Gründe und Abſichten. Was die deinige zur Fol-
ge gehabt hat, will ich dir kurz und practiſch vor-
halten. Man ſteht bei deinem einmal hingeworfenen
Worte feſt, du ſeiſt ſchon im Auslande verſprochen,
man ſetzt deine Reiſe mit dieſem Geſchwätz in
Verbindung, ſagt, du habeſt nur einen Vorwand
ergriffen, um zu entrinnen, und werdeſt unverſehens
mit einem aufgeleſenen alten academiſchen Liebchen
wiederkehren. Fräulein Clelia iſt durch deine Rit-
terſchaft auf’s äußerſte bloßgeſtellt und ganz troſt-
[435] los. So erzählte mir Pfleiderer, der von Stutt-
gart hier durchreiſte. Außerdem hat die Sache
verblümt ſchon im Mercur geſtanden, und was der
Mercur weiß, das weiß bekanntlich ganz Schwaben.


Ich habe mich nun kurz reſolvirt. Deiner
ſeligen Mutter verſprach ich einſt, für dich Sorge
tragen zu wollen bei allen Exceſſen, zu denen dich
dein ſtürmiſches Temperament verleiten möchte;
und als guter Geſchäftsmann will ich mein Wort
halten. Die Sommerferien ſtehen vor der Thür,
eine Bewegung thut mir auf die ewige Schreiberei
auch Noth, der Aerger, wenn ich dich treffe, wird
die Motion verſtärken — kurz, in acht Tagen
ſchließ’ ich mein Oberamt zu, reiſe den Rhein hinab,
biege nach deiner Tacitiſchen Germania, wo du
unter Bohnen, Schweinen und Bauern ſo genuß-
reiche Tage verlebſt, hinüber, faſſe dich, wo ich
dich finde, und will dann ſehen, ob du mich wirſt
allein zurückreiſen laſſen.


Uebrigens bin ich, wie immer


Dein Freund Ernſt.“


28*
[436]

Der Jäger an den Oberamtmann Ernſt.


„Ich ſende dir dieſe Zeilen nach Stuttgart
entgegen, wo ſie in Wilhelms Händen für dich
beruhen bleiben, denn du wirſt als ein wahrer
Glaubiger gewiß erſt in unſerer National-Kaaba
dein Gebet verrichten, bevor du hinausziehſt in
die Fährlichkeiten des falſchen Auslandes.


Nun iſt mir erſt wohl. Du haſt mir die Lec-
tion gegeben, und ſo ſteht Alles in gehöriger Ord-
nung. Daß du mir nachrennſt, entzückt mich,
denn ich ſehe daraus, daß Thorheit anſteckt und
mächtiger iſt, denn Vernunft. Wenn du kommſt,
will ich mit dir, geduldig wie ein Lamm heimreiſen,
ſofern ſich nicht inzwiſchen der Schrimbs oder
Peppel noch findet, wozu freilich wenig Anſchein.
Könnte ich nur des alten Jochem erſt wieder hab-
haft werden! Wer weiß, wo der arme Kerl
umherrennt? Ich habe ſchon in verſchiedenen
öffentlichen Blättern nach ihm Erkundigung gethan,
jedoch bis jetzt vergebens.


[437]

Hier in dieſer alterthümlichen Stadt verweile
ich ſeit mehreren Tagen bei einem guten Bekannten,
den ich unverſehens wiedergefunden habe. Eine
gar hübſche Häuslichkeit und ein angenehmer Kreis
umgiebt ihn. Auch hier habe ich närriſche Son-
derlinge kennen gelernt, welche doch dabei gute,
ſchätzbare, unterrichtete Menſchen ſind, ſo daß man
über ſie lächeln und ihnen zugleich von Herzen
zugethan ſeyn kann. Welche Maſſe von Bildung,
Wiſſen und Eigenartigkeit iſt bei uns überallhin
verbreitet! Wenn dieſe Reiſe auch weiter keinen
Nutzen hat, ſo wird ſie mir ſchon dadurch, daß ſie
mir jene Ueberzeugung recht in die Hand gab,
heilſam ſeyn.


Der Gipfel unſerer Geſelligkeit war der vor-
geſtrige Abend, wo ihre gelehrte Geſellſchaft (lache
nicht!) eine Sitzung hielt. Sie haben eine Aca-
demie zuſammen geſtiftet, in welcher die verſchieden-
artigſten Aufſätze vorgeleſen werden. Dieſe ſind
aber ſtatutenmäßig bis auf Weiteres aller Veröf-
fentlichung durch den Druck ſtreng entzogen. Jeder
muß Strafe zahlen, der ſich zur Unterſtützung einer
vorgetragenen Meinung auf eine Flugſchrift oder
ein Zeitblatt beruft, und von den Zuſammenkünften
[438] bleiben die Frauen ausgeſchloſſen. In dieſer
Geſellſchaft brachte ich einen wahrhaft platoniſchen
Abend zu, denn wenn wir Alle auch lange nicht
ſo ſchön redeten, wie die Griechen, ſo kam doch
ſo viel Urtheil, Beobachtung, Scherz und Laune
zum Vorſchein, daß du dich verwundern wirſt.
Ich ſchreibe nämlich in den Morgenſtunden die
Geſchichte dieſes Abends unter dem Titel: Ein
Gaſtmahl, für dich nieder. Eine unvermuthete
Wendung hatte ich der Sache zubereitet, indem
ich in meiner Unſchuld gegen die Frauen zum
Verräther der Zuſammenkunft geworden war, und
dieſe dem Abende einen phantaſievoll humoriſtiſchen
Abſchluß gaben.


Ach, Lieber! es iſt mir zu Muthe, als ſtehe
mir die Poeſie des Lebens ſo nahe, daß ich ſie
hinter jedem Buſche jetzt und jetzt werde mit Hän-
den greifen, aus jedem Blumenkelche in mich
hineinſaugen können! Da, dort, überall guckt
die Elfe hervor und ſieht mich mit Liebesaugen
an. Ward denn jegliches Daſeyn beſtimmt, wie
eine der verwickelten algebraiſchen Gleichungen
nur annäherungsweiſe ein Analogon von Auflö-
ſung darzubieten, oder giebt es nicht auch ſchlichte,
[439] plane Exiſtenzen, die aus Sehnſucht und Erfüllung
ein reines Facit ziehen? — Und was denkſt du
dir bei dieſen geſchraubten Worten, die da unwill-
kührlich meiner Feder entfloſſen ſind?


Ich bin ſo wenig ein Dichter, als du ein
ſchwarzwälder Uhrmacher biſt, aber bisweilen
bricht die Poeſie aus Jedem, wie die Thräne aus
der Rebe im Lenz. Das ſind dann ſchickſals-
ſchwangere Momente, Momente, in denen unſere
Sterne ſich rühren, und dadurch die Kräfte unſres
kleinen Selbſtes rühren und regen. Ich ſchrieb dir
von dem Speſſarter Mährchen, welches ich da hin-
geworfen, und nun iſt’s ſonderbar, daß ſich einzelne
Elemente dieſer Erfindung, z. B. das unvermuthete
Treffen eines Freundes, ein curioſes Waldaben-
theuer, körperlich hinſtellen, freilich ganz verſchieden
von meinem Poem, aber im innerſten Sinne doch
verwandt, ſo daß es iſt, als wollten mich meine
Speſſarter Zauberfiguren mit Wirklichkeit necken.


Hiebei mußt du dir gar nichts Beſonderes
vorſtellen; es giebt nur ſo wunderbare Stimmungen,
in denen man mehr ſeine Gedanken, als ſein Leben
lebt. So will mir das Waldgefühl nicht aus dem
Sinn, es fluthet grün und kühl mit friſchem Bor-
[440] kengeruch durch meine Seele, und gelbe Funken
kreuzen den ſtillen, tröſtlichen Schein.


In Leben und Tod, mein alter Ernſt,


Dein Narr.


N. S. Die arme Clelia dauert mich herzlich.
Wie ſchlecht, daß ich ihrer erſt jetzt gedenke! Was
mich betrifft, ſo mögen ſie von mir ſchwätzen,
was ſie wollen.“


[441]

Dreizehntes Capitel.
Der Jäger ſchießt und trifft.


Immer wurde unſer junger Schwabe von ſeinen
ſchwärmeriſchen Empfindungen wieder durch einen
äußeren Eindruck abgezogen, der ihm etwas Neues
zuführte. So beſuchte er den Sammler, den wir
auf dem Oberhofe kennen gelernt haben, einige
Tage, nachdem er den Brief an ſeinen Freund
geſchrieben hatte. Der alte Schmitz hatte ihm
ſchon hin und wieder ein ſaures Geſicht gemacht,
daß ſeine Schätze noch nicht früher in Augenſchein
genommen worden waren, indeſſen erheiterte ſich
dieſes jetzt bald, als der Jäger, angelegentlich
fragend, in der kleinen, engen und dunkeln Woh-
nung mit ihm durch die aufgeſtapelten alten
Kloſterbilder, Pergamenthaufen, Waffen, Urnen und
Gefäße hindurchwanderte, und den gelegentlich
erfolgenden Auseinanderſetzungen: Wo Hermann
[442] den Varus geſchlagen? ein aufmerkſames Ohr lieh.
— Der Jäger ſah manches ihm Neue und würde
von der ganzen Beſchauung noch mehr Nutzen gehabt
haben, wenn ihm ſein Führer Muße gelaſſen hätte,
die einzelnen Stücke genauer zu betrachten. Allein,
ſobald er einige Secunden lang bei einem verweilt
hatte, riß ihn der Ungeduldige mit ſchreienden
Worten zu einem andern hin, in der Beſorgniß,
daß irgend etwas überſehen bleiben möchte.


Er lebte, nach Sammlermanier, ganz einſam
und nur ſeinen Seltenheiten hingegeben. Ein
großer, ſchwarzer Kater, welcher ihm treu anhing,
machte ſeine ganze Hausgenoſſenſchaft aus. Dieſer
ging denn auch heute, wie es ſeine Gewohnheit
war, ernſthaft durch die Zimmer hinter den beiden
menſchlichen Beobachtern, wie ein dritter Alterthums-
freund einher.


Der Alte war eigentlich in Folge einer unglück-
lichen Liebe Sammler geworden. In ſeiner Jugend
hatte er einem ſchönen Mädchen ſein Herz zuge-
wandt, welche, zu früh elternlos, unter der Obhut
oder vielmehr Nichtobhut eines ſchwachen, nach-
läſſigen Vormundes ſtand und bei ihrem Leichtſinn
zu unabhängig war, um verſtändig bleiben zu können.
[443] Nachdem ſie den treuen Verehrer vielfältig durch
Grillen und Zweideutigkeiten gekränkt hatte, ſetzte
ſie ihrem Benehmen durch offenbare Untreue die
Krone auf. Der Himmel ſtrafte ſie aber doppelt
dafür; er ließ ſie ihr Herz an einen Unwürdigen
hängen und bald hernach in eine ſchwere Krankheit
verfallen, von welcher ſie nicht wieder erſtand.
Auf dem Todtenbette trat die Reue ihren wankel-
müthigen Buſen an, ſie ſchickte nach dem Verlaſſenen,
es erfolgte eine Ausſöhnung, und ſie ſetzte ihn zum
Erben ihres Nachlaſſes ein. Unter dieſem befand
ſich eine Menge goldener, ſilberner, emaillirter,
ſeidner Kleinigkeiten, die das lebhafte Ding zuſam-
mengekauft, erbettelt, erſtoppelt hatte, da ihr
Auge, wie das der Elſtern, an allen glänzenden
Dingen hing, und ihre Hand beſitzen mußte, was
ihrem Auge gefiel. Der Hinterbliebene ſtellte nun
daraus ein kleines Cabinet ſehr ordentlich zuſam-
men, aber bald wollte ihm das Vorhandene nicht
mehr genügen, die Medaillen, die Figürchen, die
gemalten Portefeuilles und Mappen forderten
Geſellſchaft, und er gab ſie ihnen durch Münzen,
Metallſachen, Siegelkapſeln, ſchöngeſchriebene Per-
gamenturkunden. Dergleichen greift aber immer
[444] weiter um ſich, es zieht gewiſſermaßen magnetiſch
das Gleichartige an, und ehe er es ſich verſah,
hatte daher ſeine Umgebung und ſein Leben die
nachherige Geſtalt bekommen. Da nun die Lieb-
haberei bei ihm gefühlvollen Urſprungs war, ſo
gab ſie ihm auch nicht das Trockene und Lebloſe,
wodurch die Sammler in der Regel der Abdruck
ihrer Sachen werden; er behielt vielmehr eine
freundliche und milde Sinnesart.


Der Jäger hatte neben einigem Guten viel
Geringes beſichtigen müſſen. Jetzt fiel ſein Blick
in eine Ecke, worin die uns bekannte Amphora
mehr verſteckt als gewieſen ſtand. — Wie? Und
dieſes herrliche Gefäß zeigen Sie mir nicht? Das
iſt ja leicht das ſchönſte Ihrer ganzen Sammlung!
rief er erſtaunt.


Eine Traurigkeit beſchattete das Antlitz des
Sammlers, ſeine geläufige Zunge ſtockte, er ging
in die Ecke, ſtreichelte die Amphora, wie ein
Vater ſein krankes Kind ſtreichelt, und erzählte
dem Jäger zutraulich die Geſchichte ihrer Erwer-
bung. — Seit der Zeit nun, fuhr er fort, daß
ich gegen mein Gewiſſen dem Hofſchulzen ein Atteſt
über ſein falſches Karls ‒ des ‒ großen ‒ Schwert aus-
[445] ſtellte und mir durch dieſe Unwahrheit die Amphora
zueignete, macht mir oft die ganze Sammlung
keine rechte Freude mehr. Denn bei Alterthümern
beruht Alles auf der Wahrheit, und wer für ein
fremdes gelogen hat, der kann auch leicht den
Glauben an ſeine eigenen verlieren. Es geht mir
ſchon hin und wieder ſo; ich ſehe die Donnerkeile
zweifelnd an, ich habe bereits geträumt, meine ſo
ſchönen Bracteaten ſeien nachgemachte Scharteken.
Das Ende vom Liede wird wohl ſeyn, daß ich die
Amphora zurückgebe und mir mein falſches Atteſt
wieder aushändigen laſſe, wenn ich gleich nicht
weiß, wie ich den Verluſt des prächtigen Gefäßes
werde überſtehen können.


Der Jäger mußte ungeachtet des kummervollen
Geſichtes, welches der alte Mann machte, lächeln,
und ſagte: Mit Ihrer Gewiſſenhaftigkeit wäre nie
ein Muſäum zu Stande gebracht worden. — Aber
ſagen Sie mir, was für eine Bewandniß hat es
eigentlich mit dem Schwerte, auf welches der Hof-
ſchulze einen ſo außerordentlichen Werth legt?


Hierauf gab der Sammler dem Jäger folgende
wunderſame Auskunft. Daß hier auf unſerer rothen
Erde der geweihte Boden der Freigerichte, welche
[446] man nur ſehr uneigentlich Vehmgerichte genannt
hat, war, wiſſen Sie, ſagte er. Freigerichte waren
ſie, und Freigerichte blieben ſie trotz aller ſpäteren
Entſtellungen und Mißbräuche, nämlich die Gerichte
der urſprünglich freien Markengenoſſen, die ſo
unbeſchränkt auf ihrer Wehr ſaßen, als der König
in ſeiner Pfalz. Das aber werden Sie nicht
wiſſen, daß in mehreren Diſtricten und ſo auch
nahe hiebei manche Höfe, welche das Freiſchöffen-
recht hatten, immer noch die Tradition dieſes
Beſitzes erhalten, und daß dieſelbe vom Vater auf
den Sohn, vom Sohn auf den Enkel fortgepflanzt
wird. Natürlich iſt jetzt die Sache zu einer bloßen
Spielerei herabgeſunken. Aber Wiſſende giebt es
wirklich noch immer, die von Zeit zu Zeit ſich bei
den alten Freiſtühlen verſammeln, und durch Mit-
theilung der geheimen Erkennungszeichen und des
Rituals neue Wiſſende machen. Anfangs nahmen
einige Behörden von dem Hokuspokus Notiz, woll-
ten in die Myſterien eindringen, aber das gelang
ihnen nicht, die Bauern trieben ihr Weſen nur um
ſo vorſichtiger und blieben gegen alle Anmuthungen,
den Sinn der Loſung zu verrathen, ſtandhaft.
Seitdem bekümmert man ſich nicht mehr darum.


[447]

Der Oberhof gehört nun recht eigentlich zu
den alten Freiſchöffengütern. Nach dem Bauern-
glauben war es Karl der Große, der die Gerichte
einſetzte, und das Gewaffen, was in dem Hofe
aufbewahrt wird, gilt für das Richtſchwert, welches
der Kaiſer zum Zeichen der Inveſtitur dem erſten
Beſitzer gegeben habe. Der Hofſchulze, der ein
gar ſchlauer Vogel iſt, hat, ſein Anſehen zu ſtei-
gern, ſich dieſen Glauben zu Nutze gemacht, und
ſpielt nun eine Art von Freigrafen. Er ſoll nicht
ſelten mit den Schöffen der umliegenden großen
Höfe am Freiſtuhl zuſammenkommen. Ja man
ſpricht, daß durch ihn in die leeren Poſſen wieder
ein Gehalt gebracht worden ſei, daß ſie über
manche Sachen wirklich ihre geheimen Urtheile
fällen. So viel iſt wenigſtens gewiß, daß die
Gerichte ſich ſelbſt über die wenigen Streitigkeiten
wundern, die aus jener Gegend vor ſie gebracht
werden, obgleich unſer Land ſonſt die Heimath
der Prozeßkrämer iſt.


Aber wie iſt das möglich, da ihnen ja jede
Macht der Ausführung fehlt? fragte der Jäger,
den dieſe ſeltſame Entdeckung ganz träumeriſch
bewegte.


[448]

Nun, ſagte der Sammler, ſie können freilich
keinen Wiederſpänſtigen mehr am Baume aufknü-
pfen, aber wenn ſie ihm nun Hülfe, Beiſtand,
Vorſchub verſagten, es durch ihren Einfluß, da ſie
die Reichſten in der Gegend ſind, dahin brächten,
daß ihn auch die Andern mieden, Keiner mit ihm
im Kruge tränke, Knecht und Magd nicht [...] ihm
aushielte; wie dann? Wäre das nicht auch ein
Zwang, zwingend genug? Was vermag nicht die
Meinung von Standesgenoſſen über den Menſchen?
Es werden mitunter dort umher Einzelne in auf-
fallender Art Freunde- und Genoſſenlos, das dauert
eine Weile, dann nähert ſich ihnen wieder Alles.
Man ſpricht, dieſe ſeien Verfehmte, und nur
ihre Nachgiebigkeit hebe den Bann wieder von
ihrem Hauſe.


Der Jäger reimte nunmehr ſich Manches zuſammen,
was ihm bisher unverſtändlich geblieben war. Er
theilte ſeine Vermuthung, daß binnen Kurzem am Frei-
ſtuhl etwas vorgehen werde, dem Sammler mit, und
fragte ihn eifrig, ob es nicht möglich zu machen ſei,
einem ſolchen heimlichen Gerichte aus der Verborgen-
heit zuzuſchauen? Damit wollte indeſſen der Sammler
als mit einer gefährlichen Sache nichts zu thun haben.


[449]

Der Fuhrmann trat ein, welcher den Jäger
nach dem Oberhofe befördern ſollte und ſagte,
daß der Wagen vor der Thüre ſtehe. Der Jäger
hatte nämlich mit dem Diaconus die Abſprache
genommen, ſich in der Stadt einquartieren zu
wollen, hielt es jedoch für ziemlich, ſeinem alten
Wirthe [...] Perſon Dank und Lebewohl zu ſagen.
Einen Theil des Weges über hatte er weder auf
dieſen, noch auf das Fuhrwerk Acht, da ſeine
Gedanken um den Freiſtuhl und die Geheimniſſe
des Vehmgerichtes ſchwebten, die noch immer ſchat-
tenartig in der Gegenwart fortlebten. Sonderbares
Land, rief er für ſich, in welchem Alles ewig zu
ſeyn ſcheint! Wie kommt es, daß aus dir noch
kein großer Dichter hervorgegangen iſt? Dieſe
Erinnerungen, welche von dem Boden nicht weichen
wollen, dieſe alten Sitten und Gebräuche mußten
doch wohl im Stande ſeyn, eine Einbildungskraft
zu entzünden! Er überſah, daß das Talent keine
Feldfrucht iſt, ſondern wie das Manna in der
Wüſte vom Himmel fällt.


Als er auf die Außendinge wieder zu merken
begann, nahm er wahr, daß ſein Wäglein ſich
ſchneckenartig fortbewegte, weil das eine Pferd
Immermanns’ Münchhauſen. 1. Th. 29
[450] ſtark lahmte. Er entſchloß ſich kurz, ließ das
Fuhrwerk heimgehen und machte den übrigen Weg
zu Fuß. Freilich konnte er nun nicht, wie er
gewollt, am nämlichen Tage zur Stadt zurückkehren,
mußte ſich vielmehr bequemen, die Nacht auf dem
Lande zuzubringen.


Er fand den Hofſchulzen an einem Scheuren-
thore zimmern. Als dieſer von ſeiner Arbeit die
blitzenden Augen unter den weißen Brauen gegen
ihn emporhob, kam er ihm nach den erhaltenen
Aufſchlüſſen wie der Alte vom Berge vor. Der
Jäger meldete ihm ſeinen bevorſtehenden Abzug.
Jener erwiederte: Das iſt mir lieb, das Frauen-
zimmerchen, welches vor Ihnen die Stube hatte,
ließ mir ſagen, ſie würde heute oder morgen zurück-
kommen; der müßten Sie doch weichen, und ich
könnte Sie nur unbequem logieren.


Der ganze Hof ſchwamm in dem beginnenden
rothen Abendlichte. Eine reine Sommerwärme
durchdrang die von keinem Dunſte beſchwerten
Lüfte. Es war ganz einſam zwiſchen den Gebäu-
den; alle Knechte und Mägde mußten wohl noch
auf dem Felde zu thun haben. Auch im Hauſe
ſah er Niemand, als er nach ſeinem Zimmer ging.
[451] Dort ordnete er, was er an dieſem Orte zuwei-
len aufgeſchrieben hatte, packte ſeine wenigen
Sachen zuſammen und ſah ſich dann nach dem
Gewehre um.


Dieſes war jedoch verſchwunden. Er begriff
nicht, wer es ihm fortgenommen haben könne, und
ging, bei dem Hofſchulzen Erkundigung einzuziehen,
über den Gang nach der Treppe zu. In einem
Gelaſſe ſeitwärts glaubte er ein Geräuſch zu ver-
nehmen — vielleicht iſt eine Magd darin, die dir
es auch nachweiſen kann — dachte er und klinkte
die Thür auf. Er war aber in die Schlafkammer
der Tochter gerathen und ſah erſchreckt eine unzwei-
deutige Gruppe. Herzklopfend ſchritt er raſch nach
ſeinem Zimmer zurück; der Bräutigam, ein junger
ſtarker Bauer, folgte ihm dahin nach. Das müſſen
Sie nicht für übel nehmen, ſagte dieſer. Denn das
zweite Aufgebot iſt geweſen, und nächſten Donner-
ſtag iſt die Hochzeit, und wenn es ſo weit iſt, ſo
hat ſich Keiner um ſo etwas zu bekümmern, und
der Paſtor und der eigene Vater fragt nichts dar-
nach. Es wird dieſe Nacht bei uns im Hofe Korn
geſackt, deshalb mußte ich meine Braut heut zu
Nachmittage beſuchen.


29*
[452]

Mich geht das nichts an, antwortete der Jäger
verwirrt, wenn ich nur wüßte, wo mein Gewehr
iſt. Dieſes will ich Ihnen ſagen, antwortete der
junge Bauer, der Schwiegervater hat es heimlich
weggenommen und dort hinter dem großen Schranke
verſteckt, denn er ſagte, der dritte Choral aus
Ihrer Geſchichte wäre —


Was? Choral? Ihr wollt wohl Moral ſagen?


Ja wohl. Alſo der dritte Choral aus Ihrer
Geſchichte wäre, daß man einem Fehlſchützen von
Mutterleib aus kein Schießgewehr unter Händen
laſſen müſſe. Ein gewöhnlicher Fehlſchütz wäre
wenig zu aeſtimiren, aber ein Fehlſchütz von Mut-
terleib könnte großen Schaden anrichten.


Der Jäger hörte nicht länger auf dieſe Reden
hin, warf vielmehr ſeine Waidtaſche um, eilte nach
dem Schranke, zog hinter demſelben das Gewehr
hervor, lud, und war mit zwei Schritten aus dem
Hofe nach dem Freiſtuhl, ſich die unruhig wogen-
den Bilder aus der Seele zu ſchießen. Schon im
duftigen goldenen Dämmer des Eichenkamps hatte
er ſeine Lebensgeiſter wieder beiſammen. — Nun das
muß wahr ſeyn, rief er, die Idyllenſchreiber haben
uns die Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die
[453] ſchäferlich-zarten, als die knolligen Kartoffelpoeten.
Sie iſt eine Sphäre, ſo mit derber Natur, wie
mit Sitte und Ceremonie ausgefüllt, und gar
nicht ohne Anmuth und Zierlichkeit, nur liegt letz-
tere wo anders, als wo ſie in der Regel geſucht
wird. Iſt der Burſch aus Unenthaltſamkeit vor
der Zeit in ſein Recht getreten? Gewiß nicht.
Es iſt ſo Herkommen, lieblicher, luſtiger Brauch,
und ſein Mädchen würde ſich vielleicht für verach-
tet halten, wenn er ihn nicht mitmachte.


Droben auf dem Hügel am Freiſtuhl ward
ihm ſehr wohl. Das Korn wiegte ſäuſelnd die
Aehren, ſchwer von Segen, des Vollmondes große
glührothe Scheibe ſtieg am Oſtrande des Himmels
auf und noch wirkte der Wiederſchein der in Weſten
abgeſchiedenen Sonne. Die Atmoſphäre war ſo
rein, daß dieſer Wiederſchein gelbgrün glänzte. — Er
empfand ſeine Jugend, ſeine Geſundheit, ſeine
Hoffnungen. Hinter einen großen Baum am
Waldrande ſtellte er ſich; heute will ich doch
erproben, ſagte er, ob das Geſchick nicht zu beugen
iſt. Ich ſchieße nur, wenn mir etwas bis auf drei
Schritte vor dem Rohre nahe kommt, und da müßte
es ja mit Zauberei zugehen, wenn ich fehlen ſollte.


[454]

Im Rücken hatte er den Forſt, vor ſich die
Senkung mit den großen Steinen und Bäumen
des Freiſtuhls, gegenüber umſchloſſen die gelben
Kornfelder den einſamen Ort. In den Wipfeln
über ihm gurrten noch einzelne verlorne Töne der
Turteltaube, durch die Aeſte der Bäume am
Freiſtuhle fingen die wilden Lindenſchwärmer an
mit den grün-rothen Flügeln zu ſchwirren. All-
gemach begann es auch im Walde am Boden ſich
zu rühren. Ein Igel kroch ſchläfrig durch das
Laub; ein Wieſelchen zog den geſchmeidigen Leib
aus einer Steinſpalte, nicht breiter, als der Kiel
einer Feder, hervor. Buſchhäslein ſprangen mit
vorſichtigen Sätzen, zwiſchen jedem innehaltend,
ſich duckend und die Löffel legend, ins Freie,
bis ſie, muthiger geworden, auf dem Rain am
Kornfelde ſich emporhoben, tänzelten, mit ein-
ander ſpielten, und die Vorderläufe zu ſcherzenden
Schlägen brauchten.


Der Jäger hütete ſich wohl, dieſes Haſenvolk
zu ſtören. Endlich trat ein ſchlankes Reh aus dem
Walde. Klug die Naſe in den Wind ſtreckend,
links und rechts aus den großen, braunen Augen
umherſchauend, ſchritt das Thier auf den feinen
[455] Füßen mit leichter Grazie einher. Jetzt war das
Zarte, Wilde, Flüchtige dem Geſchoſſe des Ver-
ſteckten gegenüber angelangt, es war ſo nahe, daß
es faſt nicht gefehlt werden konnte, er wollte ab-
drücken, da ſchreckte das Reh zuſammen, that einen
Sprung in veränderter Richtung gerade auf den
Baum zu, hinter welchem der Jäger ſtand, ſein
Schuß ging los, das Wild ſetzte in gewaltigen
Sprüngen unverwundet waldein, zwiſchen dem
Korne aber war ein Schrei erſchollen, und wenige
Augenblicke nachher kam eine weibliche Geſtalt auf
einem ſchmalen Pfade, der in der Linie des Schuſſes
lag, aus den Feldern hervorgewankt.


Der Jäger warf die Flinte weg, ſtürzte auf
die Geſtalt zu und meinte vergehen zu müſſen,
als er ſie erkannte. Es war das ſchöne Mädchen
von der Blume im Walde. Sie hatte er ſtatt des
Rehes getroffen. Sie hielt die eine Hand auf
der Gegend zwiſchen Schulter und linker Bruſt,
dort quoll unter dem Tuche reichlich das Blut
hervor. Ihr Antlitz war bleich und etwas von
Schmerz verzogen, doch nicht entſtellt. Sie holte
dreimal tief Athem und ſagte dann mit ſanfter
und matter Stimme: Gottlob, es muß nichts ge-
[456] fährlich verletzt ſeyn, denn ich kann Athem holen,
wenn es mir auch Schmerzen macht. — Ich will
verſuchen, fuhr ſie fort, den Oberhof zu erreichen,
zu dem ich auf dieſem Richtwege gelangen wollte,
wo mich nun das Unglück treffen mußte. Geben
Sie mir Ihren Arm. — Er führte ſie einige Schritte
hügel-abwärts, da zuckte ſie zuſammen und ſagte:
Es geht doch nicht, die Schmerzen ſind zu heftig,
ich könnte unterweges ohnmächtig werden. Wir
müſſen ſchon an dieſem Orte aushalten, bis Leute
herbeikommen und eine Tragbahre verſchaffen
können.


Trotz ihrer Wundſchmerzen hielt ſie ein Päckchen
feſt in der linken Hand, dieſes reichte ſie ihm
jetzt und ſagte: Verwahren Sie es mir, es iſt
das Geld, welches ich für den Herrn Baron ein-
geſammelt habe, ich möchte es verlieren. — Wir
müſſen auf längeres Bleiben uns gefaßt machen,
fügte ſie hinzu. Wenn es Ihnen möglich wäre,
mir ein Lager zu bereiten und etwas Wärmendes
zu geben, daß die Kälte nicht zur Wunde ſchlägt!


So hatte ſie die Beſonnenheit für ſich und ihn.
Er ſtand ſprachlos, bleich und ſtarr, wie eine
Bildſäule; die Verzweiflung wühlte in ſeinem Her-
[457] zen und ließ kein lautes Wort über die Lippen.
Jetzt gab ihm ihre Aufforderung Bewegung, er
eilte nach dem Baume, hinter dem er ſeine Waid-
taſche abgelegt hatte. Dort ſah er auch das un-
glückliche Gewehr liegen. Wüthend ergriff er es
und ſchlug es mit ſolcher Kraft gegen einen Stein,
daß der Schaft zerſplitterte, die Läufe ſich bogen.
und die Schlöſſer von ihren Schrauben losſpran-
gen. Er verwünſchte den Tag, ſich, ſeine Hand.
Zu dem Mädchen zurückgeſtürzt, welches ſich auf einen
Stein des Freiſtuhls geſetzt hatte, fiel er ihr zu
Füßen und flehte, den Saum ihres Kleides küſ-
ſend, unter heftigen Thränen, die nun aus ſeinen
Augen mit Gewalt brachen, ſie um ihre Verge-
bung an. Sie bat ihn, doch nur aufzuſtehen, er
habe ja nicht dafür gekonnt, die Wunde ſei gewiß
nicht bedeutend, er möge ihr nur jetzt helfen. Er
richtete ihr nun einen Sitz auf dem Steine zu
indem er die Waidtaſche auf denſelben legte. Um
ihren Hals band er ſein Tuch, um ihre Schultern
legte er locker und loſe ſeinen Rock. Sie ſetzte
ſich auf den Stein, er nahm neben ihr Platz und
bat ſie, zu ihrer Erleichterung ihr Haupt an ſeine
Bruſt zu neigen. Sie that es.


[458]

Der Mond war in völliger Klarheit über einen
Theil des Himmels gedrungen und beſchien faſt
taghell die beiden durch einen rohen Zufall einan-
der ſo Nahegerückten. In der vertraulichſten Nähe
ſaß der Fremde mit der Fremden, ſie ſtieß leiſe
Schmerzenstöne an ſeiner Bruſt aus, und von
ſeinen Wangen floſſen unaufhaltſame Thränen.
Rings aber um ſie her verbreitete ſich nach und
nach das Schweigen und die Einſamkeit der Nacht.


Endlich wollte es das Glück, daß ein ſpäter
Wanderer durch die Kornfelder ging. Der Ruf
des Jägers erreichte ſein Ohr, er eilte herzu und
wurde nach dem Oberhofe geſchickt. Bald darauf
ließen ſich Fußtritte hügelan-Kommender verneh-
men; es waren die Knechte, welche einen Trag-
ſeſſel mit Kiſſen brachten. Der Jäger hob die
Verwundete ſanft hinein und ſo gelangte ſie ſpät in
der Nacht unter das Obdach ihres alten Gaſt-
freundes, der ſich freilich ſehr verwunderte, die
Erwartete in dieſem Zuſtande ankommen zu ſehen.

[][][]
Notes
*)
So heißt in manchen Gegenden ein Strick.
*)
Ausdruck für Brodherr.
*)
Provincialismus für: Mädchen.
*)
Abgekürzt für: Brigitta.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Münchhausen. Münchhausen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnr5.0