[]
[figure]
[][][[1]]
Plaſtik.

Einige Wahrnehmungen
uͤber Form und Geſtalt
aus
Pygmalions bildendem Traume.

Τι καλλος; ερωτημα τυφλ
[...].



Riga: ,
bey Johann Friedrich Hartknoch.
1778.
[[2]][[3]]
Geſchrieben groͤßtentheils in den Jahren 1768-70.

Der unvollkommene Anfang zu aͤhnlichen Verſuchen
einer Anaglyphik, Optik, Akuſtik u. f.


en! ille in nubibus arcus
mille trahit varios aduerſo ſole colores.

Virg.

[[4]][[5]]

Erſter Abſchnitt.



1.


Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk-
te a), ſtellte ſich den Sinn des Geſichts
wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa
den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die
fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine
Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer-
fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich
nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel,
eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den
Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich-
tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das
Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und
Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim
Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far-
ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht,
von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars
ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun,
ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in
den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir
hinein ſaͤhen.


A 3So
[6]

So romantiſch und zu philoſophiſch dieſer Be-
richt ſcheint: ſo wird er doch im Grunde von An-
dern beſtaͤrkt, die nicht durch Diderots Auge ſahen.
Der blinde Saunderſon wuſte, Trotz ſeiner Ma-
thematik, ſich von Bildern auf der Flaͤche keinen
Begriff zu machen, ſie wurden ihm nur durch
Maſchienen begreiflich. Mit ſolchen rechnete er
ſtatt Zahlen: Linie und Figuren der Geometrie
erſetzte er ſich durch fuͤhlbare Koͤrper. Selbſt die
Sonnenſtralen wurden in ſeiner Optik ihm feine
fuͤhlbare Staͤbe; und bei dem Bilde, was ſie
machten, was durch ſie auf einer Flaͤche ſichtbar
ward, dachte er nichts, er nahms als den Huͤlfs-
begriff eines fremden Sinnes, einer andern Welt
an. Das Schwerſte der Geometrie, das Ganze
der Koͤrper, ward ihm in der Demonſtration leicht;
was Sehenden das Leichteſte und Anſchaulichſte
iſt, Figuren auf der Flaͤche, ward ihm das Muͤh-
ſamſte: er muſte auf fremde ungefuͤhlte Begriffe
bauen, muſte zu Sehenden reden als waͤren ſie
Blinde. Sich den Wuͤrfel als ſechs zuſammen-
ſchlagende Pyramiden zu denken, war ihm leicht;
ſich ein Achteck auf der Flaͤche vorzuſtellen, ward
ihm nur durch ein koͤrperliches Achteck moͤglich.


Am merkbarſten ward dieſer Unterſchied zwi-
ſchen Geſicht und Gefuͤhl, Flaͤchen- und Koͤrper-
begriffen an dem Blinden, dem Cheſelden das
Geſicht gab. Schon in ſeiner reifen Staarblind-
heit
[7] heit hatte er Licht und Dunkel, und bei ſtarkem
Licht Schwarz, Weiß, Hellroth unterſcheiden koͤn-
nen; aber ſein Geſicht war nur Gefuͤhl. Es
waren Koͤrper, die ſich auf ſein geſchloſſenes Auge
bewegten, nicht Eigenſchaften der Flaͤche, nicht
Farben. Nun ward ihm ſein Auge geoͤfnet, und
ſein Geſicht erkannte nichts, was er voraus durchs
Gefuͤhl gekannt hatte. Er ſah keinen Raum,
unterſchied auch die verſchiedenſten Gegenſtaͤnde
nicht von einander; vor ihm ſtand, oder vielmehr
auf ihm lag eine große Bildertafel. Man lehrte
ihn unterſcheiden, ſein Gefuͤhl ſichtlich erkennen,
Figuren in Koͤrper, Koͤrper in Figuren verwan-
deln; er lernte und vergaß. „Das iſt Katze!
„das iſt Hund! ſprach er, wohl, nun kenne ich
„euch, und ihr ſollt mir nicht mehr entwiſchen„!
ſie entwiſchten ihm noch oft, bis ſein Auge Fertig-
keit erhielt, Figuren des Raums als Buchſtaben
voriger Koͤrpergefuͤhle anzuſehen, ſie mit dieſen
ſchnell zuſammen zu halten, und die Gegenſtaͤnde
um ſich zu leſen. „Wir glaubten, er verſtuͤnde
„ſogleich was die Gemaͤlde vorſtellten, die wir
„ihm zeigten; aber wir fanden, daß wir uns ge-
„irret hatten, denn eben zwei Monathe, nachdem
„der Staar ihm war geſtochen worden, machte
„er ploͤtzlich die Entdeckung, daß ſie Koͤrper, Er-
„hoͤhungen und Vertiefungen vorſtellten. Er
„hatte ſie bisher nur als buntſcheckige Flaͤchen
A 4„ange-
[8] „angeſehen, aber auch alsdenn war er nicht wenig
„erſtaunt, daß ſich die Gemaͤlde nicht anfuͤhlten,
„wie ſie ausſahen, daß die Theile, welche durch
„Licht und Schatten rauh und uneben ausſahen,
„ſich glatt wie die uͤbrigen anfuͤhlen ließen. Er
„fragte: welcher von beiden Sinnen der Betruͤger
„ſei, ob das Geſicht oder das Gefuͤhl? — Man
„zeigte ihm ſeines Vaters Bild in einem Uhr-
„gehaͤnge, und fragte ihn, was es ſei? Er
„erkannte eine Aehnlichkeit, wunderte ſich aber
„ungemein, daß ſich ein großes Geſicht in einem
„kleinen Raum vorſtellen ließe, welches ihm ſo
„unmoͤglich wuͤrde geſchienen haben, als einen
„Scheffel in eine Metze zu bringen. — Erſt
„konnte er gar nicht viel Licht vertragen, und hielt
„Alles, was er ſah, fuͤr ſehr groß; als er aber
„groͤßere Sachen ſah, hielt er die vorhin geſe-
„henen fuͤr kleiner, und konnte ſich keine Linien,
„außer den Grenzen, die er ſah, vorſtellen. Er
„ſagte: daß das Zimmer, in dem er ſich befinde,
„ein Theil des Hauſes ſei, wiſſe er wohl; aber
„er konnte nicht begreifen, daß das Haus groͤßer
„ausſehe, als das Zimmer. — Er kannte von
„keiner Sache die Geſtalt, er unterſchled auch
„keine Sache von der andern, ſie mochte noch ſo
„verſchiedne Geſtalt und Groͤße haben; ſondern,
„wenn man ihm ſagte, was das fuͤr Sachen ſeyn,
„die er zuvor durchs Gefuͤhl gekannt hatte: ſo
„betrach-
[9] „betrachtete er ſie ſehr aufmerkſam, um ſie wie-
„der zu kennen. Weil er aber auf einmal zu viel
„neue Sachen lernen muſte, vergaß er immer
„wieder welche, und lernte, wie er ſagte, in einem
„Tage tauſend Dinge kennen, die er wieder ver-
„gaß u. f. b)„.



2.


Was lehren dieſe ſonderbaren Erfahrungen?
Etwas, was wir taͤglich erfahren koͤnnten,
wenn wir aufmerkten, daß das Geſicht uns nur
Geſtalten, das Gefuͤhl allein, Koͤrper zeige:

daß Alles, was Form iſt, nur durchs taſtende
Gefuͤhl, durchs Geſicht nur Flaͤche
, und zwar
nicht koͤrperliche, ſondern nur ſichtliche Lichtflaͤche
erkannt werde
. — Der Satz wird einigen pa-
radox, andern gemein ſcheinen; wie er aber auch
ſcheine, iſt er wahr, und wird große Folgerun-
gen geben.


Was kann das Licht in unſer Auge mahlen?
Was ſich mahlen laͤßt, Bilder. Wie auf der
weißen Wand der dunklen Kammer, ſo faͤllt auf
die Netzhaut des Auges ein Stralenpinſel von
allem, was vor ihm ſtehet, und kann nichts, als
A 5was
[10] was da ſteht, eine Flaͤche, ein Nebeneinander
aller und der verſchiedenſten ſichtbaren Gegenſtaͤnde
zeichnen. Dinge hinter einander, oder ſolide,
maſſive Dinge als ſolche dem Auge zu geben, iſt
ſo unmoͤglich, als den Liebhaber hinter der dicken
Tapete, den Bauer innerhalb der Windmuͤhle
ſingend zu mahlen.


Die weite Gegend, die ich vor mir ſehe, was
iſt ſie mit allen ihren Erſcheinungen, als Bild,
Flaͤche? Jener ſich herab ſenkende Himmel und
jener Wald, der ſich in ihn verliert, und jenes
hingebreitete Feld, und dies naͤhere Waſſer, und
dieſer Rahme von Ufer, die Handhabe des ganzen
Bildes — ſind Bild, Tafel, ein Continuum
neben einander
. Jeder Gegenſtand zeigt mir
gerade ſo viel von ſich, als der Spiegel von mir
ſelbſt zeigt, das iſt, Figur, Vorderſeite; daß
ich mehr bin, muß ich durch andre Sinnen erken-
nen, oder aus Jdeen ſchließen.


Warum ſolls alſo Wunder ſeyn, daß Blinde,
denen ihr Geſicht gegeben wurde, nichts als ein
Bilderhaus, eine gefaͤrbte Flaͤche richt vor ſich
ſahen? ſehen wir doch alle nichts mehr, wenn wirs
nicht auf andern Wegen faͤnden. Ein Kind ſieht
Himmel und Wiege, Mond und Amme neben
einander, es greift nach dem Monde, wie nach
der Amme, denn alles iſt ihm Bild auf Einer
Tafel.
[11] Tafel. Aus dem Schlafe fahrend, ehe wir unſer
Urtheil ſammeln, iſt uns in der Daͤmmerung der
Nacht, Wald und Baum, Nah und Fernes auf
Einem Grunde: nahe Rieſen, oder entfernte Zwer-
ge, und ſich auf uns bewegende Geſpenſter, bis
wir aufwachen und unſer Urtheil ſammeln. So-
dann ſehen wir erſt, wie wir durch Gewohnheit,
aus andern Sinnen, und inſonderheit durchs
taſtende Gefuͤhl ſehen lernten. Ein Koͤrper, den
wir nie durchs Gefuͤhl als Koͤrper erkannt haͤtten,
oder auf deſſen Leibhaftigkeit wir nicht durch bloße
Aehnlichkeit ſchließen, bliebe uns ewig eine Hand-
habe Saturns, eine Binde Jupiters, d. i. Phaͤ-
nomenon, Erſcheinung. Der Ophthalmit mit
tauſend Augen, ohne Gefuͤhl, ohne taſtende Hand,
bliebe Zeitlebens in Platons Hoͤle, und haͤtte von
keiner einzigen Koͤrpereigenſchaft, als ſolcher,
eigentlichen Begriff.


Denn alle Eigenſchaften der Koͤrper, was
ſind ſie, als Beziehungen derſelben auf unſern Koͤr-
per, auf unſer Gefuͤhl? Was Undurchdringlich-
keit, Haͤrte, Weichheit, Glaͤtte, Form, Geſtalt,
Rundheit ſei? davon kann mir ſo wenig mein
Auge durchs Licht, als meine Seele durch ſelbſt-
ſtaͤndig Denken einen leibhaften, lebendigen Be-
griff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fiſch
hat ihn nicht; der Menſch hat ihn, weil er nebſt
ſeiner Vernunft auch die umfaſſende, taſtende
Hand
[12] Hand hat. Und wo er ſie nicht hat, wo kein Mit-
tel war, daß er ſich von einem Koͤrper durch koͤr-
perliches Gefuͤhl uͤberzeugte: da muß er ſchließen
und rathen und traͤumen und luͤgen, und weiß
eigentlich nichts recht. Je mehr er Koͤrper, als Koͤr-
per, nicht angaffte und betraͤumte, ſondern erfaßte,
hatte, beſaß, deſto lebendiger iſt ſein Gefuͤhl, es iſt,
wie auch das Wort ſagt, Begriff der Sache.


Kommt in die Spielkammer des Kindes,
und ſehet, wie der kleine Erfahrungsmenſch faſ-
et, greift, nimmt, waͤgt, taſtet, mißt mit Haͤn-
den und Fuͤßen, um ſich uͤberall die ſchweren, erſten
und nothwendigſten Begriffe von Koͤrpern, Ge-
ſtalten, Groͤße, Raum, Entfernung u. dgl. treu
und ſicher zu verſchaffen. Worte und Lehren koͤn-
nen ſie ihm nicht geben; aber Erfahrung, Ver-
ſuch, Proben. Jn wenigen Augenblicken lernt er
da mehr und alles lebendiger, wahrer, ſtaͤrker, als
ihm in zehntauſend Jahren Angaffen und Wort-
erklaͤren beibringen wuͤrde. Hier, indem er Ge-
ſicht und Gefuͤhl unaufhoͤrlich verbindet, eins
durchs andre unterſucht, erweitert, hebt, ſtaͤrket —
formt er ſein erſtes Urtheil. Durch Fehlgriffe
und Fehlſchluͤſſe kommt er zur Wahrheit, und je
ſolider er hier dachte und denken lernte, deſto beſ-
ſere Grundlage legt er vielleicht auf die complexe-
ſten Urtheile ſeines Lebens. Wahrlich das erſte
Muſeum der mathematiſch-phyſiſchen Lehrart.


Es
[13]

Es iſt erprobte Wahrheit, daß der taſtende
unzerſtreute Blinde ſich von den koͤrperlichen Ei-
genſchaften viel vollſtaͤndigere Begriffe ſammelt,
als der Sehende, der mit einem Sonnenſtral hin-
uͤber gleitet. Mit ſeinem umfangenen, dunkeln,
aber auch unendlich geuͤbtern Gefuͤhl, und mit der
Methode, ſich ſeine Begriffe langſam, treu und
ſicher zu ertaſten, wird er uͤber Form und lebendige
Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen koͤnnen,
als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es
hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen-
den uͤbertrafen, und ich habe noch nie vom Bei-
ſpiel Eines fehlenden Sinnes gehoͤrt, der ſich nicht
durch andre erſetzt haͤtte, Geſicht durchs Gefuͤhl,
der Mangel an Lichtfarben durch tiefgepraͤgte dau-
rende Geſtalten. Es bleibt alſo wahr: „der
„Koͤrper, den das Auge ſieht, iſt nur Flaͤche, die
„Flaͤche, die die Hand taſtet, Koͤrper„.


Nur da wir von Kindheit auf unſre Sinne in
Gemeinſchaft und Verbindung brauchen: ſo ver-
ſchlingen und gatten ſich alle, inſonderheit der
gruͤndlichſte und der deutlichſte der Sinne, Gefuͤhl
und Geſicht. Die ſchweren Begriffe, die wir
uns langſam und mit Muͤhe ertappen, werden von
Jdeen des Geſichts begleitet: dies klaͤrt uns auf,
was wir dort nur dunkel faßten, und ſo wird uns
endlich gelaͤufig, das mit einem Blick weg zu
haben, was wir uns Anfangs langſam ertaſten
muſten.
[14]muſten. Als der Koͤrper unſrer Hand vorkam,
ward zugleich das Bild deſſelben in unſer Auge
geworfen: die Seele verband beide, und die Jdee
des ſchnellen Sehens laͤuft nachher dem Begriff
des langſamen Taſtens vor. Wir glauben zu
ſehen, wo wir nur fuͤhlen und fuͤhlen ſollten; wir
ſehen endlich ſo viel und ſo ſchnell, daß wir nichts
mehr fuͤhlen, und fuͤhlen koͤnnen, da doch dieſer
Sinn unaufhoͤrlich die Grundveſte und der Ge-
waͤhrsmann des vorigen ſeyn muß. Jn allen die-
ſen Faͤllen iſt das Geſicht nur eine verkuͤrzte
Formel des Gefuͤhls
. Die volle Form iſt
Figur, die Bildſaͤule ein flacher Kupferſtich
worden. Jm Geſicht iſt Traum, im Gefuͤhl
Wahrheit.


Daß dem ſo ſei, ſehen wir in Faͤllen, wo
ſich beide Sinne ſcheiden und ein neu Medium
oder eine neue Formel eintritt, nach der ſie ſich
gatten ſollten. Wenn der Stab im Waſſer gebro-
chen ſcheint und man greift darnach an unrechter
Stelle; ſo iſt wohl hier von keinem Truge der
Sinnen die Frage: denn nach einem Stralen-
bilde
, als ſolchem, muß ich nicht greifen. Was
ich alſo ſah, war wahr, wuͤrkliches Bild auf wuͤrk-
licher Flaͤche; nur, wornach ich griff, war nicht
wahr: denn wer wird nach einem Bilde auf einer
Flaͤche faſſen? — Weil nun aber unſer Geſicht
und Gefuͤhl, als Schweſtern, zuſammen erzogen
wur-
[15] wurden, und von Jugend auf Eine der andern die
Arbeit tragen half oder ſie gar allein uͤbernahm:
ſo geſchahe es auch hier, und Schweſter verfehlte
die Schweſter. Sie hatten ſich ſonſt auf der
Erde verſucht; nun iſt der Fall im Waſſer, einem
andern Element der Stralenbrechung, wo ſie ſich
nicht gegen einander geuͤbt hatten. Ein Waſſer-
mann wuͤrds beſſer getroffen haben.


Abermals ein Beiſpiel der vorigen Geſchichte.
„Cheſeldens Blinder ſah am Gemaͤhlde nur ein
„Farbenbrett; da ſich die Figuren lostrennten
„und er ſie erkannte, griff er darnach als nach
Koͤrpern„. Es ſcheint ſonderbar, iſt aber ſehr
natuͤrlich, und der Fall geſchieht oͤfters. Ein Kind,
ein rohes Auge ſieht am Gemaͤhlde das Farben-
brett oͤfter, als man denket: es kann ſich, ſo lange
die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten,
dieſen Streif nicht erklaͤren; es gaffet. Nun aber
fangen die Figuren an, ſich zu beleben; iſts nicht,
als ob ſie hervorgingen und wuͤrden Geſtalten?
Man ſieht ſie gegenwaͤrtig, man greift um ſie,
der Traum wird Wahrheit. Die hoͤchſte Liebe
und Entzuͤckung macht alſo gerade das, was dort
die Unwiſſenheit that, und eben das iſt der Triumph
des Mahlers! Durch ſeinen Zaubertrug ſollte
Geſicht Gefuͤhl werden, ſo wie bei ihm das Gefuͤhl
Geſicht ward.


3. Jch
[16]

3.


Jch glaube wohl nicht mehr Exempel haͤufen zu
doͤrfen, zum Erweiſe eines Satzes, der ſo
augenſcheinlich iſt: daß „fuͤrs Geſicht eigentlich
„nur Flaͤchen, Bilder, Figuren eines Plans ge-
„hoͤren, Koͤrper aber und Formen der Koͤrper vom
„Gefuͤhl abhangen„. Laſſet uns ſehen, warum
wir der Spekulation ſo lange nachhiengen? und
wozu denn endlich der ganze Unterſchied hilft?


Mich duͤnkt, zu manchem. Denn ein Grund-
geſetz
und abgeſchiednes Reich der Wuͤrkung
zweier verſchiednen und ſich verwirrenden Sinne
kann nie leere Spekulation ſeyn. Waͤren alle un-
ſre Begriffe in Wiſſenſchaften und Kuͤnſten auf
ihren Urſprung zuruͤckgefuͤhrt, oder koͤnnten ſie
dahin zuruͤckgefuͤhrt werden; da wuͤrden ſich Ver-
bindungen ſondern und Sonderungen binden, wie
man ſie in der großen Verwirrung aller Dinge,
die wir Leben nennen, nicht ordnet. Da alle
unſre Begriffe vom Menſchen ausgehen oder auf
ihn kommen: ſo muß nahe dieſem Mittelpunkt
und der Art, wie er ſpinnt und wuͤrkt, die Quelle
der groͤſten Jrrthuͤmer und der ſichtlichſten Wahr-
heit aufgeſpuͤrt werden, oder ſie iſt nirgend. —
Jch bleibe hier nur bei zwei Sinnen und bei Ei-
nem Begriff derſelben Schoͤnheit.


Schoͤn-
[17]

Schoͤnheit hat von Schauen, von Schein
den Namen, und am leichteſten wird ſie auch
durchs Schauen, durch ſchoͤnen Schein erkannt
und geſchaͤtzet. Nichts iſt ſchneller, klaͤrer, uͤber-
leuchtender als Sonnenſtral und unſer Auge auf
ſeinen Fluͤgeln: eine Welt außer und neben ein-
ander wird ihm auf Einen Blick offenbar. Und
da dieſe Welt nicht wie Schall voruͤbergeht, ſon-
dern bleibt und gleichſam ſelbſt zur Beſchauung
einladet, da der feine Sonnenſtral ſo ſchoͤn faͤrbt
und ſo deutlich zeiget; was Wunder, daß unſre
Seelenlehre am liebſten von dieſem Sinne Namen
borget? Jhr Erkennen iſt Sehen, ihr beſtes
Angenehme Schoͤnheit.


Es iſt nicht zu laͤugnen, daß von dieſer Hoͤhe
nicht Viel ſollte uͤberſehen und Vieles des Vielen
ſehr klar, licht und deutlich gemacht werden koͤn-
nen. Das Geſicht iſt der kuͤnſtlichſte, philoſo-
phiſchte Sinn. Es wird durch die feinſten Ue-
bungen, Schluͤſſe, Vergleichungen gefeilt und be-
richtigt, es ſchneidet mit einem Sonnenſtrale.
Haͤtten wir alſo auch nur aus dieſem Sinne eine
rechte Phaͤnomenologie des Schoͤnen und Wah-
ren
: ſo haͤtten wir viel. —


Jndeſſen haͤtten wir mit ihr nicht alles, am
wenigſten das Gruͤndlichſte, Einfachſte, Erſte.
Der Sinn des Geſichts wuͤrkt flach, er ſpielt und
Bglei-
[18] gleitet auf der Oberflaͤche mit Bild und Farbe um-
her; uͤberdem hat er ſo Vieles und ſo Zuſammen-
geſetztes vor ſich, daß man mit ihm wohl nie auf
den Grund kommen wird. Er borgt von andern
und baut auf andre Sinne: ihre Huͤlfsbegriffe
muͤſſen ihm Grundlage feyn, die er nur mit Licht
umglaͤnzet. Dringe ich nun nicht in dieſe Be-
griffe andrer Sinne, ſuche ich nicht Geſtalt und
Form, ſtatt zu erſehen, urſpruͤnglich zu erfaſſen,
ſo ſchwebe ich mit meiner Theorie des Schoͤnen
und Wahren aus dem Geſichte ewig in der Luft,
und ſchwimme mit Seifenblaſen. Eine Theorie
ſchoͤner Formen aus Geſetzen der Optik iſt ſo viel
als eine Theorie der Muſik aus dem Geſchmacke.
„Die rothe Farbe, ſagte jener Blinde, nun be-
„greife ich ſie, ſie iſt wie der Schall einer Trom-
„pete„; und gerade das ſind viele Abhandlungen
der Aeſthetik aus andern in andre Sinne, daß man
zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran iſt?


Man klaſſificirt die ſchoͤnen Kuͤnſte ordent-
lich unter zwei Hauptſinne, Geſicht und Gehoͤr;
und dem erſten Hauptmanne gibt man alles, was
man will, aber er nicht fodert, Flaͤchen, For-
men, Farben, Geſtalten, Bildſaͤulen, Bret-
ter, Spruͤnge, Kleider
. Daß man Bildſaͤu-
len ſehen kann, daran hat niemand gezweifelt;
ob aber aus dem Geſicht ſich urſpruͤnglich beſtim-
men laſſe, was ſchoͤne Form iſt? ob dieſer Be-
griff
[19] griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung
und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht
blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet
ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun-
dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen
und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein
Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und
wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel-
auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit-
tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als
Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form,
Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr-
heit nicht durchs Geſicht erkennen; geſchweige das
Weſen dieſer Kunſt, ſchoͤne Form, ſchoͤne Bil-
dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor-
tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens,
ſondern dargeſtellte, taſtbare Wahrheit iſt.
Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver-
aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie
widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um
den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im-
mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle,
das ſanft verblaſene entzuͤckende Leibhafte bildet,
das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel
weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo
wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade
mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer-
ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:
B 2es
[20] es verwandelt ſie in Ecken und Flaͤchen, bei denen
es viel iſt, wenn ſie nicht das ſchoͤnſte Weſen ihrer
Jnnigkeit, Fuͤlle und Runde in lauter Spiegel-
ecken verwandle; unmoͤglich kanns alſo Mutter
dieſer Kunſt ſeyn.


Seht jenen Liebhaber, der tiefgeſenkt um die
Bildſaͤule wanket. Was thut er nicht, um ſein
Geſicht zum Gefuͤhl zu machen, zu ſchauen als
ob er im Dunkeln taſte? Er gleitet umher,
ſucht Ruhe und findet keine, hat keinen Geſichts-
punkt, wie beim Gemaͤhlde, weil tauſende ihm
nicht gnug ſind, weil, ſo bald es eingewurzelter
Geſichtspunkt iſt, das Lebendige Tafel wird,
und die ſchoͤne runde Geſtalt ſich in ein erbaͤrm-
liches Vieleck zerſtuͤcket. Darum gleitet er: ſein
Auge ward Hand, der Lichtſtral Finger, oder
vielmehr ſeine Seele hat einen noch viel feinern
Finger als Hand und Lichtſtral iſt, das Bild aus
des Urhebers Arm und Seele in ſich zu faſſen.
Sie hats! die Taͤuſchung iſt geſchehn: es lebt,
und ſie fuͤhlt, daß es lebe; und nun ſpricht ſie,
nicht, als ob ſie ſehe, ſondern taſte, fuͤhle. Eine
Bildſaͤule kalt beſchrieben, gibt ſo wenig Jdeen
als eine gemahlte Muſik; lieber laß ſie ſtehen und
gehe voruͤber.


Wenn ich Einem Menſchen ſeine Begeiſte-
rung vergebe, ſo iſts dem Liebhaber der Kunſt,
dem
[21] dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber,
kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo-
dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme,
der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far-
benbrett an ihr gewahr wird, ſind Klecker, nicht
Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand
vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han-
deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo
erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias,
der den Donnergott bildete, als er im Homer las
und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden
Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu
treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe:
Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach-
te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften,
in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias,
als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn
taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe
nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn?
Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der
Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet
im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er-
greifet. — Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge-
genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre
Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her
fuͤhlen, deſto beſchwerlicher wird uns der trennen-
de Raum, deſto mehr wollen wir zu ihm. Wehe
dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe ſeine Ge-
B 3liebte
[22] liebte von fern als ein flaches Bild anſieht und
gnug hat! wehe dem Apollo- dem Herkulesbild-
ner, der nie einen Wuchs Apollo’s umſchlang,
der eine Bruſt, einen Ruͤcken Herkules auch nie
im Traume fuͤhlte. Aus Nichts kann wahr-
lich nichts anders als Nichts, und aus dem
unfuͤhlenden Sonnenſtral nie warme ſchaffende
Hand werden.



4.


Jſts einmal erlaubt, uͤber Werk zu reden und
uͤber Kunſt zu philoſophiren: ſo muß die
Philoſophie wenigſtens genau ſeyn, und wo moͤg-
lich zu den erſten einfachſten Begriffen reichen.
Als das Philoſophiren uͤber ſchoͤne Kunſt einmal
noch Mode war, ſuchte ich lange uͤber dem eigent-
lichen Begriff
, der ſchoͤne Formen und Far-
ben, Bildnerei
und Mahlerei trenne, und —
fand ihn nicht c). Jmmer Mahlerei und Bild-
hauerei in einander, unter Einem Sinne, alſo
unter Einem Organ der Seele, das Schoͤne in
beiden
[23] beiden zu ſchaffen und zu empfinden: alſo auch
dies Schoͤne voͤllig auf Eine Art, durch Einerlei
natuͤrliche Zeichen
, in einem Raume neben ein-
ander wuͤrkend, nur Eins in Formen, das andre
auf der Flaͤche. Jch muß ſagen, ich begriff da-
bei wenig. Zwo Kuͤnſte im Gebiet Eines Sin-
nes muͤſſen auch geradezu ſubjektiv Einerlei Ge-
ſetze
des Wahren und Schoͤnen haben, denn ſie
kommen zu Einer Pforte hinein, wie ſie beide zu
Einer heraus gingen, und ja nur fuͤr Einen Sinn
da ſind. Die Mahlerei muß alſo ſo ſehr ſkulptu-
riren, die Skulptur ſo viel mahlen koͤnnen, als
ſie will, und es muß ſchoͤn ſeyn: ſie dienen ja
Einem Sinne, regen Einen Punkt der Seele;
und nichts iſt doch unwahrer, als dies. Jch ver-
folgte beide Kuͤnſte und fand, daß kein einziges
Geſetz, keine Bemerkung, keine Wuͤrkung der
Einen, ohn Unterſchied und Einſchraͤnkung auf
die andre paſſe. Jch fand, daß gerade je eigner
Etwas Einer Kunſt ſei und gleichſam als einhei-
miſch
derſelben in ihr große Wuͤrkung thue, deſto
weniger laſſe es ſich platt anwenden und uͤbertra-
gen, ohne die entſetzlichſte Wuͤrkung. Jch fand
arge Beiſpiele davon in der Ausfuͤhrung, aber
noch ungleich aͤrgere in der Theorie und Philoſo-
phie dieſer Kuͤnſte, die oft von Unwiſſenden der
Kunſt und Wiſſenſchaft geſchrieben, alles ſeltſam
durch einander gemiſcht, beide nicht als zwo Schwe-
B 4ſtern
[24] ſtern oder Halbſchweſtern, ſondern meiſtens als
ein doppelt Eins betrachtet und keinen Plunder
an der Einen gefunden haben, der nicht auch der
andern gebuͤhre. Daher nun jene erbaͤrmliche
Kritiken, jene armſelige, verbietende und ver-
engernde
Kunſtregeln, jenes bitterſuͤße Geſchwaͤtz
vom allgemeinen Schoͤnen, woran ſich der Juͤn-
ger verdirbt, das dem Meiſter ekelt und das doch
der kenneriſche Poͤbel als Weisheitsſpruͤche im
Munde fuͤhret. Endlich kam ich auf meinen
Begriff, der mir ſo wahr, der Natur unſrer
Sinne, beider Kuͤnſte und hundert ſonderbaren
Erfahrungen ſo gemaͤß ſchien, daß er, als der
eigentliche ſubjektive Grenzſtein, beide Kuͤnſte
und ihre Eindruͤcke und Regeln auf die lindeſte
Weiſe ſcheidet. Jch gewann einen Punkt, zu
ſehen, was jeder Kunſt eigen oder fremde, Macht
oder Beduͤrfniß, Traum oder Wahrheit ſei, und
es war, als ob mir ein Sinn wuͤrde, die Natur
des Schoͤnen da furchtſam von ferne zu ahnden,
wo — doch ich plaudre zu fruͤhe und zu viel.
Hier iſt der nackte Umriß, wie ich glaube, daß
die Kuͤnſte des Schoͤnen ſich zu einander ver-
halten:


Einen Sinn haben wir, der Theile außer ſich
neben einander, einen andern, der ſie nach ein-
ander
, einen dritten, der ſie in einander erfaſſet.
Geſicht, Gehoͤr und Gefuͤhl.


Theile
[25]

Theile neben einander geben eine Flaͤche:
Theile nach einander am reinſten und einfachſten
ſind Toͤne. Theile auf einmal in- neben- bei
einander, Koͤrper
oder Formen. Es gibt alſo
in uns einen Sinn fuͤr Flaͤchen, Toͤne, Formen,
und wenns dabei aufs Schoͤne ankommt, drei
Sinne fuͤr drei Gattungen der Schoͤnheit, die
unterſchieden ſeyn muͤſſen, wie Flaͤche, Ton,
Koͤrper
. Und wenns Kuͤnſte gibt, wo jede in
Einer dieſer Gattungen arbeitet, ſo kennen wir
auch ihr Gebiet von außen und innen, Flaͤche,
Ton, Koͤrper
, wie Geſicht, Gehoͤr, Gefuͤhl.
Dies ſind ſodann Grenzen, die ihnen die Natur
anwies und keine Verabredung; die alſo auch keine
Verabredung aͤndern kann, oder die Natur raͤchet.
Eine Tonkunſt, die mahlen, und eine Mahlerei
die toͤnen, und eine Bildnerei die faͤrben, und eine
Schilderei die in Stein hauen will, ſind lauter
Abarten, ohne oder mit falſcher Wuͤrkung. Und
alle Drei verhalten ſich zu einander, als Flaͤche,
Ton, Koͤrper
, oder wie Raum, Zeit und Kraft,
die drei groͤſten Medien der allweiten Schoͤpfung,
mit denen ſie alles faſſet, alles umſchraͤnket.


Laſſet uns ſogleich Ein Zwei Folgerungen
ſehen, wie ſich Bild- und Mahlerei im Ganzen
verhalten.


Jſt dieſe die Kunſt fuͤrs Auge, und iſts wahr,
daß das Auge nur Flaͤche, und Alles wie Flaͤche,
B 5wie
[26] wie Bild empfindet: ſo iſt das Werk der Mahlerei
tabula, tavola, tableau, eine Bildertafel, auf
der die Schoͤpfung des Kuͤnſtlers wie Traum da
ſteht, in der Alles alſo auf dem Anſchein, auf
dem Nebeneinander beruhet. Hievon alſo muß
Erfindung und Anordnung, Einheit und Mannich-
faltigkeit (und wie die Litanei von Kunſtnamen
weiter heiße) ausgehen, darauf zuruͤckkommen, und
iſt, wie viele Kapitel und Baͤnde davon gefuͤllt
werden, dem Kuͤnſtler ſelbſt aus einem ſehr ein-
fachen Grundſatze
, der Natur ſeiner Kunſt,
mehr als ſichtbar. Dieſe iſt ihm das Eine Koͤ-
nigsgeſetz, außer dem er keines kennet, die Goͤt-
tin, die er verehret. Jn der treuen Behandlung
ſeines Werks muß ihm alle Philoſophie daruͤber in
Grund’ und Wurzel
, und als etwas ſo Ein-
faches
erſcheinen, deſſen alle das vielfache Ge-
ſchwaͤtz nicht werth iſt.


Die Bildnerei arbeitet in einander, Ein
lebendes, Ein Werk voll Seele, das da ſei und
daure. Schatte und Morgenroth, Blitz und Don-
ner, Bach und Flamme kann ſie nicht bilden, ſo
wenig das die taſtende Hand greifen kann; aber
warum ſoll dies deshalb auch der Mahlerei verſagt
ſeyn? Was hat dieſe fuͤr ein ander Geſetz, fuͤr
andre Macht und Beruf, als die große Tafel der
Natur
mit allen ihren Erſcheinungen, in ihrer
großen ſchoͤnen Sichtbarkeit zu ſchildern? und
mit
[27] mit welchem Zauber thut ſies! Die ſind nicht
klug, die die Landſchaftsmahlerei, die Naturſtuͤcke
des großen Zuſammenhanges der Schoͤpfung
verachten, herunter ſetzen, oder gar dem Kuͤnſtler
Affenernſtlich unterſagen. Ein Mahler, und ſoll
kein Mahler ſeyn? Ein Schilderer, und ſoll nicht
ſchildern? Bildſaͤulen drechſeln ſoll er mit ſeinem
Pinſel und mit ſeinen Farben geigen, wie’s ihrem
aͤchten antiken Geſchmacke behagt. Die Tafel der
Schoͤpfung ſchildern, iſt ihnen unedel; als ob nicht
Himmel und Erde beſſer waͤre und mehr auf ſich
haͤtte, als ein Kruͤppel, der zwiſchen ihnen ſchleicht,
und deſſen Konterfeyung mit Gewalt einzige wuͤr-
dige Mahlerei ſeyn ſoll.


Bildnerei ſchafft ſchoͤne Formen, ſie draͤngt
in einander
und ſtellt dar; nothwendig muß ſie
alſo ſchaffen, was ihre Darſtellung verdient, und
was fuͤr ſich da ſteht. Sie kann nicht durch das
Nebeneinander gewinnen, daß Eins dem Andern
aushelfe und doch alſo Alles ſo ſchlecht nicht ſey:
denn in ihr iſt Eins Alles und Alles nur Eins.
Jſt dies unwuͤrdig, leblos, ſchlecht, nichts ſagend;
Schade um Meißel und Marmor! Kroͤte und
Froſch, Fels und Matratze zu bilden, war der Rede
nicht werth, wenn ſie nicht etwa einem hoͤhern Werk
als Beigehoͤrde dienen, und alſo nicht Hauptwerk
ſeyn wollen. Wo Seele lebt und einen edlen Koͤr-
per durchhaucht und die Kunſt wetteifern kann.
Seele
[28] Seele im Koͤrper darzuſtellen, Goͤtter, Menſchen
und edle Thiere, das bilde die Kunſt und das hat
ſie gebildet. — Wer aber mit hoher idealiſcher
Strenge dies Geſetz abermals den Schilderern,
den Mahlern der großen Naturtafel aufbuͤrdet,
der greife ja nach ſeinem Kopfe, wie Er etwa zu
ſchildern waͤre.


Endlich die Bildnerei iſt Wahrheit, die Mah-
lerei Traum: jene ganz Darſtellung, dieſe er-
zaͤhlender Zauber, welch ein Unterſchied! und wie
wenig ſtehen ſie auf Einem Grunde! Eine Bild-
ſaͤule kann mich umfaſſen, daß ich vor ihr knie,
ihr Freund und Geſpiele werde, ſie iſt gegenwaͤr-
tig,
ſie iſt da. Die ſchoͤnſte Mahlerei iſt Roman,
Traum eines Traumes. Sie kann mich mit ſich
verſchweben, Augenblicke gegenwaͤrtig werden und
wie ein Engel in Licht gekleidet, mich mit ſich fort-
ziehn; aber der Eindruck iſt anders als er dort
war. Der Lichtſtral weicht hin, es iſt Glanz,
Bild, Gedanke, Farbe.
— Jch kann mir kei-
nen Theoriſten, der Menſch iſt, vorſtellen, und ſich
die zwo Sachen auf Einem Grunde denket.


Laſſet uns einige andere Fragen ſehen, die als
Alterkationen zwiſchen beiden Kuͤnſten oft aufge-
worfen, zum Theil ſchlecht beantwortet ſind und ſich
aus unſerm Geſichtspunkt ſonnenklar ergeben.




[29]

Zweiter Abſchnitt.



1.


Bildhauerkunſt und Mahlerei, warum beklei-
den ſie nicht mit Einem Gluͤcke, nicht
auf Einerlei Art?


  • Antwort. Weil die Bildnerei eigentlich gar
    nicht bekleiden kann und die Mahlerei im-
    mer kleidet.

Die Bildnerei kann gar nicht bekleiden; denn
offenbar verhuͤllet ſie gleich unter dem
Kleide, es iſt nicht mehr ein menſchlicher
Koͤrper, ſondern ein langgekleideter Block. Kleid
als Kleid kann ſie nicht bilden, denn dies iſt kein
Solidum, kein Voͤlliges, Rundes. Es iſt nur
Huͤlle unſres Koͤrpers der Nothwendigkeit wegen,
eine Wolke gleichſam die uns umgibt, ein Schatte,
ein Schleier. Je mehr es in der Natur ſelbſt
druͤckend wird und dem Koͤrper Wuchs, Geſtalt,
Gang, Kraft nimmt: deſto mehr fuͤhlen wir die
fremde, unweſentliche Laſt. Und nun in der Kunſt
iſt ein Gewand von Stein, Erz, Holz ja im hoͤch-
ſten
[30] ſten Grade druͤckend! Es iſt kein Schatte, kein
Schleier, gar kein Gewand mehr: es iſt ein Fels
voll Erhoͤhung und Vertiefung, ein herabhangen-
der Klumpe. Thue die Augen zu und taſte, ſo
wirſt du das Unding fuͤhlen.


Jn keinem Lande konnte daher die Bildnerei
gedeihen, wo ſolche Steinklumpen nothwendig
waren, wo der Kuͤnſtler, ſtatt ſchoͤner und edler
Koͤrper, Matratzen bilden muſte. Jn Morgen-
lande, wo man aus ſehr guten Gruͤnden die Ver-
huͤllung des Koͤrpers liebte, wo man ihn als Ge-
heimniß betrachtete, von dem nur das Antlitz und
ſeine Boten, Haͤnde und Fuͤße, ſichtbar waͤren, in
ihm war keine Bildnerei moͤglich, ja im juͤdiſchen
Lande gar nicht erlaubt. Bei den Aegyptern ging
ſie daher, Trotz des hohen Mechaniſchen der Kunſt,
einen ganz andern Weg, ſeitwaͤrts ab vom Schoͤ-
nen. Bei den Roͤmern konnte ſie auch wegen der
Toga und Tunica, Thorax und Paludament ſich
der Nation nie einverleiben, um hoͤher zu ſteigen:
ſie blieb Griechiſch, oder ging zuruͤck. Jn der
Geſchichte der Moͤnche und Heiligen konnte ſie
keine Fortſchritte thun, denn Moͤnch und Nonne
waren verſchleiert, der Kuͤnſtler hatte ſtatt Koͤr-
per faltige Steindecken zu bilden. Sowohl der
Spaniſchen als unſrer Tracht mag ſich etwa die
Mahlerei, aber wahrlich nicht die Bildſaͤule er-
freuen. Wir haben die Spaniſche zur Ritter-
Prieſter-
[31] Prieſter- und Narrentracht gemacht; die unſre,
mit Lappen und Flicken, Spitzen und Ecken,
Schnitten und Taſchen muͤſte in Marmor ein wah-
res Goͤttergewand werden. Ein Held in ſeiner
Uniform, allenfalls noch die Fahne in der Hand
und den Hut auf ein Ohr gedruͤckt, ſo ganz in
Stein gebildet, wahrlich das muͤſte ein Held ſeyn!
Der Kuͤnſtler, der ihn machte, waͤre wenigſtens
ein ſchoͤner Kommißſchneider. Betaſte die Statue
in dunkler Nacht, du wirſt an Form und Schoͤn-
heit Wunderdinge in ihr fuͤhlen.


Wie anders die Griechen! Sie, die gebohr-
nen Kuͤnſtler des Schoͤnen. Erzhuͤllen und Stein-
decken warfen ſie ab, und bildeten, was gebildet
werden konnte, ſchoͤne Koͤrper. Apollo, vom
Siege Pythons d), kam er unbekleidet? zerbrach
der Kuͤnſtler ſich den Kopf, um doch hier einer Arm-
ſeligkeit des Ueblichen treu zu bleiben? Nichts!
er ſtellte den Gott, den Juͤngling, den Ueberwin-
der mit ſeinen ſchoͤnen Schenkeln, freier Bruſt
und jungen Baumeswuchſe nackt dar; die Laſt des
Kleides wurde zuruͤckgeſchoben, wo ſie am wenig-
ſten verbarg, wo ſie den Gang des Edlen nicht
hindert, wo ſie vielmehr ſeinem hochmuͤthigen
Stande wohl thut und auch nur als die leichte
Beute des Ueberwinders ſchwebet. Laokoon,
der
[32] der Mann, der Prieſter, der Koͤnigsſohn, bei
einem Opfer, vor dem verſammleten Volke, war
er nackt? ſtand er unbekleidet da, als ihn die
Schlangen umfielen? Wer denkt daran, wenn
er jetzt den Laokoon der Kunſt ſiehet? wer ſoll dar-
an denken? Wer an die vittas denken, ſanie,
atroque cruore madentes,
da die hier nichts thaͤ-
ten, als ſeine leidende Stirn voll Seufzen und
Todtenkampfes zum prieſterlichen Steinpflaſter zu
machen? wer an ein Opfergewand denken, das
dieſe arbeitende Bruſt, dieſe giftgeſchwollenen
Adern, dieſe ringenden und ſchon ermattenden
Vaterhaͤnde zu todtem Fels ſchuͤffe? O der Pe-
danten des Ueblichen, des Wohlanſtaͤndigen, des
ſchoͤnbeſchreibenden Virgils, die ja nur Prieſter-
figuren im Holzmantel ſehen moͤgen! — und im-
mer nur ſolche ſehen ſollten! —


Es war vom Griechen Spruͤchwort, daß er
lieber Fuͤlle als Huͤlle gab, das iſt, ſchoͤne Fuͤlle,
denn ſonſt bekleidete er auch. Philoſophen, Cybelen,
hundertjaͤhrige Matronen konnten immer bekleidet
da ſtehn; auch wo es Gottesdienſt, und Zweck
und Eindruck der Bildſaͤule foderte oder ertrug.
Ein Philoſoph iſt ja nur immer Kopf- oder Bruſt-
bild:
wenn er alſo auch nur, wie Zeno, ſein
Haupt uͤber der Steinhuͤlle zeiget! er muß nicht,
als Juͤngling oder Fechter da ſtehn. Eine Niobe,
dieſe ungluͤckliche Mutter in Mitte ihrer ungluͤck-
lichen
[33] lichen Kinder, die huͤlflos um ſie jammern und
alle in ihren Schoos fliehen moͤchten, wie es die
Juͤngſte thut — ſie kniet weit- und reichbeklei-
det da, denn ſie iſt Mutter, und ihr Todesſtar-
res, gen Himmel gewandtes Geſicht, ſammt der
Tochter in ihrem Schooße, iſt Ausdruck genug,
auf den der Kuͤnſtler hier wuͤrkte und nicht auf
kalte nackte Koͤrperſchoͤnheit. Eine Juno Matro-
na
unbekleidet, waͤre dem entgegen, was ſie iſt,
was ſie ſelbſt vor Paris war; Ehrfurcht ſoll ſie
einfloͤßen, nicht Liebe. Das Haupt der Nym-
phen und Veſtalinnen, die unſterblich ſchoͤne Diana,
muß bekleidet ſeyn, wie es ihr Stand und Cha-
rakter gebietet, und die Kunſt es zulaͤßt. Aber
eine Geſtalt der Schoͤnheit, der Liebe, des
Reizes, der Jugend, Bacchus und Apollo,
Charis und Aphrodite, unter einem Mantel von
Stein waͤre Alles, was ſie ſind, was ſie hier
durch den Kuͤnſtler ſeyn ſollten, verſchleiert und
verlohren. Und man kann uͤberhaupt den Grund-
ſatz aunehmen, „daß wo der Griechiſche Kuͤnſtler
„auf Bildung und Darſtellung eines ſchoͤnen Koͤr-
„pers ausgieng, wo ihm nichts Religioͤſes oder
„Charakteriſtiſches im Wege ſtand, wo feine Fi-
„gur ein freies Geſchoͤpf der Muſe, ein ſub-
„ſtanzielles Kunſtbild, kein Emblem, keine
„hiſtoriſche Gruppe, ſondern Bild der Schoͤn-
„heit ſeyn ſollte, da bekleidete er nie, da ent-
C„huͤllte
[34] „huͤllte er, was er Trotz dem Ueblichen enthuͤl-
„len konnte„.


Wir betrachten hier nicht, was dies Nackte
auf die Sitten der Griechen fuͤr Einfluß hatte,
denn mit ſolchen Spruͤngen von einem Felde
ins andere kommt man nicht weit. Nichts iſt
feinerer Natur, als Zucht und das Wohlanſtaͤn-
dige oder Aergerliche des Auges: es kommt da-
bey ſo viel auf Himmelsſtrich, Kleidungsart,
Spiele, fruͤhe Gewohnheit und Erziehung, auf
den Stand, den beyde Geſchlechter gegen ein-
ander haben, inſonderheit auf den Abgrund von
Sonderbarkeiten an, den man Charakter der
Nation
nennt, daß die Unterſuchung deſſen ein
eigenes Buch werden duͤrfte. Es konnte den
Gothen, die aus Norden kamen, die wuͤrklich
zuͤchtiger und unter ihrem Himmelsſtrich an dich-
tere Kleider gewoͤhnt waren, bey denen das weib-
liche Geſchlecht zum maͤnnlichen uͤberhaupt an-
ders ſtand als bei den Griechen, und die uͤberdem
die Statuen unter einem verderbten Volke fan-
den, das vielleicht ſeinen Untergang mit von
ihnen herhatte; ich ſage, dieſen Gothen konnte
(auch ihre neue Religion unbetrachtet,) der An-
blick der Statuen mit Recht ſehr widrig ſeyn, da-
her die meiſten auch ſo ein ungluͤckliches Ende nah-
men, ohne daß man deshalb von Gothen auf
Griechen geradezu ſchließen muͤſte. Wenn un-
ter
[35] ter uns dies nackte Reich der Statuen ploͤtzlich
auf Weg und Steg gepflanzet wuͤrde, wie einige
neuere Schoͤndenker nicht undeutlich angerathen
haben: ſo muß man von dem Eindruck, den ſie
da und dem Poͤbel (dem Poͤbel von und ohne
Stande) inſonderheit zuerſt, machen wuͤrden,
nicht ſo fort auf ein fremdes Volk ganz andrer
Sitten und Erziehung ſchließen. Ueberhaupt iſt
zuͤchtig ſeyn und geaͤrgert werden, Tugend
ausbreiten
und die Kunſt haſſen, ſchrecklich
verſchieden, wie die Folge noch mehr zeigen wird.
Hier iſt auch dieſe Ausſchweifung ſchon zu lang;
wir reden hier von Kunſt und von Griechen,
nicht von Sitten und Deutſchen. Jch fahre
fort.


Wo auch der Grieche bekleiden muſte, wo
es ihm ein Geſetz auflegte, den ſchoͤnen Koͤrper,
den er bilden wollte, und den die Kunſt allein
bilden kann und ſoll, hinter Lumpen zu ver-
ſtecken; gabs kein Mittel, dem fremden Drucke
zu entkommen, oder ſich mit ihm abzufinden?
zu bekleiden, daß doch nicht verhuͤllt wuͤrde?
Gewand anzubringen, und der Koͤrper doch ſeinen
Wuchs, ſeine ſchoͤne runde Fuͤlle behielte? Wie
wenn er durchſchiene? Jn der Bildnerei, bey
einem Solido kann nichts durchſcheinen: ſie ar-
beitet fuͤr die Hand und nicht fuͤrs Auge. Und
ſiehe, eben fuͤr die Hand erfanden die feinen Grie-
C 2chen
[36] chen Auskunft. Jſt nur der taſtende Finger be-
trogen, daß er Gewand und zugleich Koͤrper
taſte; der fremde Richter, das Auge, muß
folgen. Kurz, es ſind der Griechen naſſe
Gewaͤnder.


Es iſt uͤber ſie ſo viel und ſo viel falſches ge-
ſagt, daß man ſich faſt mehr zu ſagen ſcheuet.
Jedermann wars auffallend, daß ſie in der Bild-
hauerei ſo viel, in der Mahlerei keine Wuͤrkung
thun. Und zugleich ſchienen ſie ſo unnatuͤrlich
ſo unnatuͤrlich und doch ſo wirkſam? ſo wahr
und ſchoͤn in der Kunſt, und in der Natur ſo
haͤßlich? alſo ſchoͤn und haͤßlich, wahr und
falſch — wer giebt Auskunft? — Winkel-
mann
ſagt, daß ſie nichts als Nachbildung der
alten Griechiſchen Tracht in Leinwand ſeyn; ich
weiß nicht, ob die Griechen je naſſe, an der
Haut klebende Leinwand getragen? und hier war
eigentlich die Frage, warum ſie der Kuͤnſtler ſo
kleben ließ und nicht trocknete? fuͤhren wir ſein
Werk, ſeine Kunſt, auf ihren rechten Sinn zu-
ruͤck, ſo antwortet die Sache. Es war nehm-
lich einzige Auskunft, den taſtenden Finger
und das Auge, das jetzt nur als Finger taſtet,
zu betruͤgen: ihm ein Kleid zu geben, das doch
nur gleichſam ein Kleid ſei, Wolke, Schleier,
Nebel — doch nein, nicht Wolke und Nebel,
denn das Auge hat hier nichts zu nebeln; naſſes
Gewand
[37]Gewand gab er ihm, das der Finger durch-
fuͤhle! Das Weſen ſeiner Kunſt blieb der ſchlan-
ke Leib,
das runde Knie, die weiche Huͤfte,
die Traube der jugendlichen Bruſt, und dem
aͤußern Erforderniſſe kam man doch auch nach.
Es war gleichſam ein Kleid, wie die Goͤtter
Homers gleichſam Blut haben; die Fuͤlle des
Koͤrpers, die kein Gleichſam, die Weſen der
Kunſt iſt, war und blieb Hauptwerk.



Ganz anders verhaͤlt ſichs mit der Mahle-
rei, die, wie geſagt worden, nichts als Kleid
iſt, das iſt, ſchoͤne Huͤlle, Zauberei mit Licht
und Farben zur ſchoͤnen Anſicht.
Sie wuͤrkt
auf Flaͤche und kann nichts als Oberflaͤche ge-
ben; zu der gehoͤren auch Kleider. Fuͤr unſer
Auge ſind dieſe die taͤglichen Erſcheinungen der
Wahrheit, des Ueblichen, der Pracht, der
Zierde. Eben der Farbe, des Putzes, des ſchoͤ-
nen Anſcheins wegen werden ſie oft gewaͤhlt und
gemuſtert, ſind der ſchauenden ſchoͤnen Welt ſo
viel mehr als Beduͤrfniß — warum ſollten ſies
nicht auch der ſchauenden ſchoͤnen Kunſt ſeyn?
Mahlerei kann Kleid, als das edelſte, was es
iſt, bearbeiten, als ein gebrochenes Licht, ein
Zauberduft fuͤrs Auge, der alles erhoͤhet, als
Nebel und ſchoͤne Farbe; warum ſollte ſies alſo
C 3nicht
[38] nicht thun? Warum muͤſte ſie den Vorzug ihres
Sinnes dem Mangel eines fremden Sinnes auf-
opfern, mit dem ſie nichts gemein hat? Wuͤrde
unter den Haͤnden des Bildners ein Kleid das,
was es unter ihren Haͤnden, unter dem Zauber-
finger des Lichts iſt, ſo waͤre er Thor, wenn ers
nicht brauchte.


Es ſind alſo ungemein feine Koͤpfe, die der
Mahlerei die nackten Fleiſchmaſſen und wohl gar
die naſſen Gewaͤnder anrathen, weil ſie damit
ihrer aͤltern lieben Schweſter, Bildhauerkunſt,
naͤher komme, und wohl gar antikiſch wuͤrde.
Nackt und ſteif und haͤßlich kann ſie freilich damit
werden, ohne ein Gutes zu erbeuten, was ihre
aͤltere Schweſter mit Naktheit und Naͤſſe erreichet.
Das Beduͤrfniß einer fremden Kunſt zum Weſen
der Seinigen zu machen und daruͤber die Vor-
theile der Seinigen verlieren — ſo etwas kommt
meiſtens aus dem lieben Modeln und Vergleichen.
Juͤngſte Gerichte voll Fleiſch, wie Heu; und
Dianenbaͤder wie Fleiſchmaͤrkte! Nichts iſt laͤ-
cherlicher, als Statuen aufs Brett zu kleben,
und da Kleider gar zu netzen, wo alles bluͤhn
und duften ſoll.


„Aber die alten großen Mahler ahmten doch
„Bildſaͤulen nach: von Raphael hat man ja ſo
„manche Maͤhrchen, daß er„ — das ahmten
ſie
[39] ſie aber nicht nach, was nicht aufs Brett gehoͤrt,
ohne daß es dadurch dreimal Brett wurde. Eben
jene alte große Mahler, welch großes Gefuͤhl
hatten ſie vom Wurf der Kleider! wie eben
hier die Mahlerei in ihrem Zauberlande des ſchoͤ-
nen Truges, in der Werkſtaͤte ihrer Allmacht mit
Licht und Farbe ſei. Daß dieſes Kleid rauſche
und jenes dufte und ſchwebe; daß man hier in
die Falten des Gewandes greift und glaubt, da
es doch nur Flaͤche iſt, ſo tief zu greifen: daß
dieſe Farbe, dieſer Grund jene Figuren ſo himm-
liſch mache, ſo hoͤhe und hebe; jener Wurf, je-
ner Wechſel dem Ganzen Lieblichkeit, Anmuth,
Mannichfaltigkeit gewaͤhre — was ich hier ſo
allgemein, ſo unbeſtimmt ſage, welcher Liebha-
ber, welcher Meiſter hats nicht in tauſend einzel-
nen Faͤllen, mit tauſend Kunſtgriffen und Mei-
ſterzuͤgen erprobet? Mahlerei iſt Repraͤſenta-
tion,
eine Zauberwelt mit Licht und Farben fuͤrs
Auge; dem Sinne muß ſie folgen, und was ihr
der Sinn fuͤr Zauberſtaͤbe gewaͤhrt, darf ſie nicht
wegwerfen.


Selbſt im Reizbaren zur Verfuͤhrung iſt das
Nackte in beiden Kuͤnſten gar nicht daſſelbe. Eine
Statue ſteht ganz da, unter freiem Himmel,
gleichſam im Paradieſe: Nachbild eines ſchoͤnen
Geſchoͤpfs Gottes und um ſie iſt Unſchuld. Win-
kelmann
fagt recht, daß der Spanier ein Vieh
C 4gewe-
[40] geweſen ſeyn muß, den die Statue jener Tugend
zu Rom luͤſtete, die nun die Decke traͤgt; die
reinen und ſchoͤnen Formen dieſer Kunſt koͤnnen
wohl Freundſchaft, Liebe, taͤgliche Sprache, nur
beym Vieh aber Wolluſt ſtiften. — Mit dem
Zauber der Mahlerei iſts anders. Da ſie nicht
koͤrperliche Darſtellung, ſondern nur Schilde-
rung, Phantaſie, Repraͤſentation iſt, ſo
oͤfnet ſie auch der Phantaſie ein weites Feld und
lockt ſie in ihre gefaͤrbte, duftende Wolluſtgaͤrten.
Die kranken Schlemmer aller Zeiten fuͤllten ihre
Kabinette der Wolluſt immer lieber mit unzuͤch-
tigen Gemaͤhlden als Bildſaͤulen: denn in dieſen,
ſelbſt in ſchlummernden Hermaphroditen, iſt ei-
gentlich keine Unzucht. Die Chaͤreen alt und
neu, erbauen ſich lieber an Gemaͤhlden des
Schwans mit der Leda, als an ganzen Vorſtel-
lungen deſſelben. Die Phantaſie will nur Duft,
Schein, lockende Farbe haben; mit der treuen
Natur der ganzen Wahrheit ſind ihr die Fluͤgel
gebunden, es ſtehet zu wahr da. Die Bild-
ſaͤule bleibt immer nackt ſtehen, aber die ſchoͤne
Danae von Titian muß weislich ein Vorhaͤng-
chen decken: es iſt die Zaubertafel fuͤr einen ver-
dorbenen Sinn, der, verlockt, gar keine Gren-
zen kennet.


Auch hieraus ergiebt ſich, warum die Neuen
den Alten in ſchoͤner Form weiter nachbleiben,
als
[41] als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein
kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne
Form und die tiefgefuͤhlte, treue, nackte Wahr-
heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo
viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann
hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem
ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei- und
Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver-
huͤlleten Taͤnzen, Kampf- und Wettſpielen das
Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen
koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben,
die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben-
digen
Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß
einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre
geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un-
ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin-
nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen
Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes
Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ-
ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf
Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben —
und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be-
greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche
Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht
ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen;
vom Himmel und kalten Statuen allein wuͤrde er
ſie nicht bekommen haben. Und doch war Ra-
phael noch kein Praxiteles, kein Liſyppus, der
C 5ohne
[42] ohne Zweifel dieſe Formen ſo urſpruͤnglich erkennen
muſte, als Bildhauerei nicht ſchildert, ſondern
ſchafft und darſtellt. So lange alſo nicht das
Griechiſche Zeitalter der Knaben- und Maͤdchen-
liebe in ſeiner offnen Jugendunſchuld, als Spiel
und Freude zuruͤckkehrt: ſo lange der Kuͤnſtler
ſteife Modelle von Fiſchbeinroͤcken und Schnuͤr-
bruͤſten ſieht, und ja nichts weiter; ſo iſts nur
Thorheit, Griechiſche Bildkunſt erwarten oder
hervorbringen zu wollen. Sein Sinn verſagt
ihm; ſoll er Engelsformen, Apollos- und Hou-
risgeſtalten aus der Luft greifen? daher gegriffen
ſind ſie Schaumblaſen, die zergehen, ehe er ſie
der Hand, vielweniger dem Stein einverleibet.
Mit einem großen Theil der Mahlerei, freilich
nicht mit dem, der auch ſchoͤne Formen enthaͤlt
und als lebendiger Traum zunaͤchſt an jene wa-
chende Wahrheit graͤnzet, iſts anders*).


2. Warum
[43]

2.


Warum wird die Bildſaͤule durch Faͤrbung
nach der Natur und aͤhnliche Anwuͤrfe nicht
ſchoͤn, ſondern haͤßlich? da doch in
der Mahlerei Farbe ſo große
Wuͤrkung thut.


  • Antwort. Weil Farbe nicht Form iſt, weil
    ſie alſo dem verſchloßnen Auge und taſten-
    den Sinne nicht merkbar wird, oder merk-
    bar ſogleich die ſchoͤne Form hindert. Sie
    iſt Sandkorn, Tuͤnche, fremder Anwuchs,
    worauf wir ſtoßen, und der uns vom rei-
    nen Gefuͤhl deſſen, was die Natur ſeyn
    ſollte, wegzeucht.

Die obengeſetzte und oft aufgeworfene Frage
iſt bisher meiſtens anders beantwortet wor-
den: „durch Farbe werde die Aehnlichkeit zu
„groß, die Aehnlichkeit zu aͤhnlich, gar identiſch
„mit der Natur, das ſie nicht ſeyn ſoll. Man
„koͤnne die bemahlte Statue in der Entfernung gar
„fuͤr einen lebendigen Menſchen halten, darauf
„zugehen, u. d. g.„. Wer von dieſen Urſachen
etwas verſteht, oder ſich mit ihnen befriedigen
kann, dem beneide ich ſeine Zufriedenheit nicht.


Man
[44]

Man hat ebenmaͤßig gefraget: „ob Myrons
„Kuh mehr gefallen wuͤrde, wenn man ſie mit
Haaren bekleidete„? und es ſcharfſinnig vernei-
net, weil ſie ſodann einer Kuh zu aͤhnlich waͤre.
Kuh einer Kuh zu aͤhnlich? das iſt Kuh, aber
zu ſehr Kuh? ich antworte gerade hin, weil ſie
ſodann fuͤr die Kunſt gar nicht mehr Kuh, ſon-
dern ein ausgeſtopfter Haarbalg waͤre. Schleuß
das Auge und fuͤhle: da iſt weder Form noch Ge-
ſtalt mehr, geſchweige ſchoͤne Form, ſchoͤne Ge-
ſtalt. Wenn dort der Hirte, Myrons eherne
Kuh wegtreiben wollte, ſo wird dieſe weder
Hirte noch Kuͤnſtler beruͤhren, denn ſie iſt „einer
„Kuh gar zu aͤhnlich und doch nicht Kuh„, das
iſt, Popanz.


Viel feinere Sachen, als Tuͤnche und Kuh-
haut muͤſſen von der Statue wegbleiben, weil ſie
dem Gefuͤhl widerſtehen, weil ſie dem taſten-
den Sinn
keine ununterbrochene ſchoͤne Form
ſind. Dieſe Adern an Haͤnden, dieſe Knorpel
an Fingern, dieſe Knoͤchel an Knien muͤſſen ſo
geſchont, und in Fuͤlle des Ganzen verkleidet
werden; oder die Adern ſind kriechende Wuͤrme,
die Knorpel aufliegende Gewaͤchſe dem ſtillen dun-
keltaſtenden Gefuͤhl. Nicht ganze Fuͤlle Eines
Koͤrpers mehr, ſondern Abtrennungen, losge-
loͤſte Stuͤcke des Koͤrpers, die ſeine Zerſtoͤrung
weiſſagen, und ſich eben daher ſchon ſelbſt ent-
fernten.
[45] fernten. Dem Auge ſind die blauen Adern un-
ter der Haut nur ſichtbar: ſie duften Leben, da
wallet Blut; als Knorpel und Knochen ſind ſie
uns fuͤhlbar und haben kein Blut und duften kein
Leben mehr, in ihnen ſchleicht der lebendige Tod. —
Ganz anders, wie ſich die Adern der Bildſaͤule
beleben, wenn ſie unter den Haͤnden des Kuͤnſtlers
und Liebhabers weicher, lebendiger Thon wird.
Es iſt, als regten ſie ſich und wallen und leben,
aber nicht in aufgelaufenen Stricken; ein himm-
liſcher Geiſt, ſagt Winkelmann, der ſich wie
ein ſanfter Strom ergoſſen, hat den Umfang der
Geſtalt erfuͤllet. Alles alſo lebet, und der ruhige
Sinn in ſeiner dunkeln Umſchraͤnktheit kann, je
weniger er losgebunden und zertheilt fuͤhlet, ſo
mehr im großen Ganzen ahnden.


Die alten Kuͤnſtler ſind in Bildung der
Haare
ſehr beruͤhmt und geprieſen; mehr aber
von Kuͤnſtlern und Literatoren geprieſen als von
Theoriſten verſtanden. Wo und wie haben ſie
Haare gebildet? wo und wie ſie ſich bilden und
auch vom Blinden als Zierde der ſchoͤnen Form
taſten ließen. Das zierende Haupthaar der
Goͤtter und Goͤttinnen (denn ein kahlkoͤpfiger
Roͤmer iſt immer ein duͤrftiges uͤberaltes Ge-
ſchoͤpf) machten ſie zum Koͤrper, ohne daß es
Steinklumpe wuͤrde: es faͤllt in ſchoͤnen ſchweren
Locken herab, oder iſt bey Weibern, wo es zar-
ter
[46] ter ſeyn muſte, aufs Haupt gebunden und nicht
um den Kopf fliegend. Keiner Bacchante flat-
terts, denn es kann ja nicht flattern: dem ſchnell-
gehenden zornigen Apollo iſts „wie die zarten und
„fluͤßigen Schlingen edler Weinreben, gleichſam
„von einer ſanften Luft bewegt, das Haupt um-
„ſpielend„. Bey andern liegts wie eine ſchoͤne
Decke (εξομσια) hinauf, bei andern in tiefen Fur-
chen hinunter. Nie aber faͤhrts, wie einer ge-
mahlten Eva, laͤngelang hinunter, der Geſtalt
den Ruͤcken zu rauben, und ſelbſt bei einer Aphro-
dite aus Muſchel oder Bade, faͤllets, obwohl
naß und Klettenweiſe, doch wohlgeordnet und
nicht waldicht hinab: denn dem Gefuͤhl muͤſſen
die Haare nie Wald, ſondern ſanfte, nachge-
bende Maſſe werden, die ſich endlich ſelbſt ver-
liert. Der Mahlerei ſind ſie Farbe, Schatte,
Schattierung, die kann ſie ſchon freier ordnen. —


Es iſt bekannt, mit welcher Feinheit die
Griechiſchen Kuͤnſtler die Augenbranen ihrer
Statuen angedeutet haben; angedeutet, in einem
feinen, ſcharfen Faden, und nicht in abgetrenn-
ten Haaren oder Haarkluͤmpgen gebildet. Win-
kelmann haͤlt dieſe Andeutung fuͤr Augenbranen
der Gratien und ich halte ſie auch dafuͤr — in
der Kunſt nehmlich. Jn der Natur iſt der
nackte, ſcharfe Faden ganz etwas anders, und
auch Griechiſche Natur war und iſts nicht, wie
kein
[47] kein Reiſebeſchreiber berichtet oder geſagt hat.
Gnug, in der Kunſt ſind ſie Augenbranen der
Gratien, dem ſanften ſtillen Gefuͤhl. Was
ſollten da die Buͤſche (Stupori) oder die ſich ſtraͤu-
benden Bogen? Wer hat nicht geſehen, wie bey
abgenommenen erſten Gipsabdruͤcken eines Ge-
ſichts jedes einzelne Haar ſo widrig und unſanft
thut, als jede Pockengrube oder jede fatale Un-
ebenheit und Lostrennung vom Antlitz. Die ein-
zelnen Haͤrchen ſchauern uns durch, es iſt wie eine
Scharte im Meſſer, nur etwas was die Form
hindert und nicht zu ihr gehoͤrt. Der Griechiſche
Kuͤnſtler deutet alſo nur an: er ſatzte fuͤrs Ge-
fuͤhl die Grenze zwiſchen Stirn und Auge, wie
eine ſanfte Schneide hin, und ließ dem Sinn,
der daruͤber gleitet, das Uebrige ahnden.


Einige Statuen haben Augapfel. Wo es
ertraͤglich ſeyn ſoll, muß er nur angedeutet ſeyn,
und die meiſten und beſten haben keinen. Es
war ſchlimmer Geſchmack der letzten Jahrhun-
derte, da man, ſtatt ſchoͤn zu machen, reich
machte und Glas oder Silber hineinſetzte. Eben
ſo wars Jugend der Kunſt, die noch aus hoͤl-
zernen
Denkmalen hervorging, da man die Sta-
tuen faͤrbte. Jn den ſchoͤnſten Zeiten brauchten
ſie weder Roͤcke noch Farben, weder Augapfel
noch Silber, die Kunſt ſtand, wie Venus, nackt
da und das war ihr Schmuck und Reichthum.


Daß
[48]

Daß fuͤr die Mahlerei dies alles anders ſei,
ſieht jeder. Die iſt fuͤrs Auge und ſpricht fuͤrs
Auge: denn Farbe iſt nur der getheilte Lichtſtral,
die Augenſprache. Jn ihr kann das Haar ſchwe-
ben und duften, und wie Seide ſpielen und ſchlin-
gen und ſich umwinden. Die Werke der Mah-
lerei ſind nicht blind, ſie ſchauen und ſprechen:
das allgegenwaͤrtige Licht kann Einen hellen
Punkt zum Auge, das in die Seele geht, bele-
ben;
es iſt ja Farben-Zauber- und Licht-
tafel.



3.


Wie weit kann die Bildnerei Haͤßlichkeiten
bilden? und die Mahlerei Haͤßlich-
keiten mahlen?


  • Antwort. So weit jeder Kunſt es ihr Sinn
    erlaubet, das Geſicht dem Gemaͤhlde, dem
    Bilde das Gefuͤhl. Beide aber ſtehn mit
    nichten auf Einem Grunde.

Jener Mahler, der einen verweſenden Leich-
nam ſo hinzauberte, daß, nicht wie in
Poußins Gemaͤhlde, der Zuſchauer auf der
Tafel, ſondern jeder leibhafte Zuſchauer ſelbſt,
ſich
[49] ſich die Naſe zuhalten mußte, (wenn anders das
Maͤhrchen wahr iſt) war gewiß ein eckler Mahler.
Der Bildner aber, der einen Leichnam, die ab-
ſcheuliche Speiſe der Wuͤrmer, unſerm Gefuͤhl
alſo grauſend vorbildete, daß dies in uns uͤber-
gienge, uns zerriſſe und mit Eiter und Abſcheu
ſalbte — ich weiß fuͤr den Henker unſres Ver-
gnuͤgens keinen Namen. Dort kann ich mein
Auge wegwenden und mich an andern Gegenſtaͤn-
den erholen; hier ſoll ich mich blind und langſam
durchtaſten, daß alle mein Fleiſch und Gebein ſich
zernagt fuͤhlet, und der Tod durch meine Nerven
ſchauert! —


Ariſtoteles entſchuldigt haͤßliche Vorſtellun-
gen in der Kunſt durch „die Neigung unſrer
„Seele ſich Jdeen zu erwecken und an der Nach-
„ahmung zu vergnuͤgen„; wo beydes geſchehen
kann, und wo das Vergnuͤgen dieſer Jdeener-
werbung das Gefuͤhl der Haͤßlichkeit uͤbergeht,
mag die Entſchuldigung gelten. Nun aber wiſ-
ſen wir alle, das Gefuͤhl iſt zu dieſer betrachten-
den Contemplation und Jdeenweckung der dun-
kelſte, langſamſte, traͤgſte Sinn; da er doch im
Empfinden der ſchoͤnen Form der Erſte und Rich-
ter
ſeyn muß. Er, Jdeen und Nachahmung
vergeſſend, fuͤhlt nur, was er fuͤhlt; dies regt
ſeine innere Sympathie dunkel aber um ſo tiefer.
Eine zerſtoͤrte, haͤßliche, mißgebildete Geſtalt,
Dder
[50] der zerfleiſchte Jtys, ein Hippolytus auf Eu-
ripides Buͤhne, Medea in allen Verzerrungen
ihrer Wuth, Philoktet in den aͤrgſten Zuckun-
gen ſeiner Krankheit, gar ein Sterbender im
Todeskampf, ein Verweſender im Kampf mit
den Wuͤrmern — grauſende Objecte fuͤr die
langſame fuͤhlende Hand, die ſtatt Jdeen Ab-
ſcheu und ſtatt Nachahmung deſſen, was iſt,
ſchreckliche Zerruͤttung deſſen, was nicht mehr
iſt,
wahrnimmt. Grauſame Kunſt! gebildete
Mißbildung! Wenn der heil. Bartholomaͤus
da halbgeſchunden, mit hangender Haut und zer-
fleiſchtem Koͤrper vor mich tritt, und mir zuruft:
non me Praxiteles, ſed Marcus finxit Agrati!
und ich ſoll ſeine ſchrecklich natuͤrliche Unnatur
durchtaſten, durchfuͤhlen; — grauſamer Ge-
genſtand, ſchweig’ und weiche! Kein Praxiteles
bildete dich, denn er wuͤrde dich nie haben bilden
wollen. Dich, wie du biſt, aus dem Steine
hervorzufuͤhlen, hervorzuſchinden, welcher Grie-
che wuͤrde das vermocht haben? —


Nur ſieht jedweder, daß, was von der
Bildhauerei gilt, nicht ſofort von Mahlerei und
von allen ſchoͤnen Kuͤnſten, ſelbſt wenns nur Gem-
men und Muͤnzen waͤren, ſtatt habe. Einige
neue eckle Herren haben uͤber dieſe ſo unterſchie-
dene Dinge aus einem Kopfe das Loos geſchuͤttet,
und zu Haͤßlichkeiten gezaͤhlt, was weder Gott
noch
[51] noch Menſchen dafuͤr erkennen, was ihnen in
ihrer Vornehmheit nur diesmal ſo duͤnkte. Loͤwe
und Tiger, Schlange und Eidere, Nilpferd und
Crocodil, ſind ſie deswegen haͤßlich, weil ſie
ſchrecklich ſind, weil ſie uns Grauſen oder Furcht
erregen? der Loͤwe, welch ein ſchoͤnes Thier iſt
er, auch in der Kunſt des Bildners! die Schlan-
ge, wie ſanft windet ſie ſich den Stab Aeſculaps
hinauf, und die Schildkroͤte, iſt ſie ein unwuͤrdiges
Fußgeſtell fuͤr Gott oder Goͤttin, da ja ſelbſt der
Panzer der Minerva Furcht und Schrecken,
Schlangen und Meduſen darſtellt? Niemand
wirds in den Sinn kommen, ſolche Geſchoͤpfe
fuͤr das Hauptwerk der Kunſt zu halten: der
Menſch thront auf ihrem Altar, ihm iſt die Bild-
ſaͤule heilig. Aber nun, als Beigeraͤth, als Ne-
benwerk, als Fußſchemel, welcher Thor darf da
verbieten und unterſagen, weil das Geſchoͤpf
Gottes ihm haͤßlich duͤnkt und er ſich fuͤr der Spin-
ne fuͤrchtet? Wie manches edle Pferd hat mehr
die Statue verdient, als ſein Reuter! auch hat
Pindar ihm oft und ja unſer Herr Gott ſelbſt ihm
die praͤchtigſte Ehrenſaͤule geſtellet e). Aller-
dings hat jedes Thier, von je ſchoͤnerer, unab-
gebrochener Form es iſt, je mehr es ſich ſchlingt
und windet, je naͤher es endlich Goͤttern und
Menſchen kommt, und zu ihren Fuͤßen dienet,
D 2auch
[52] auch ſo mehr Unrecht auf Bildung von menſch-
lichen Haͤnden;
aber das verſteht ſich von ſelbſt,
und ein treuer Hund, ein ſchoͤnes Pferd wird
ohne Zweifel lieber und mehr gebildet werden,
als ein gepanzertes Nilpferd oder der Knochen-
berg vom Elephanten. Jhrer Natur nach und
an ihrer Stelle iſt aber die Eidexe ſo unhaͤßlich
als Leda’s Schwan oder der Delphin, der ſich
um den Fuß der Meeresgoͤttin ſchmieget. —


Auch hier unterſchieden die Begriffe der Al-
ten feiner und wahrer. Ein Centaur, ein Mi-
notaur,
warum ſollte er nicht gebildet werden?
Siehe, wie ſchoͤne Ueberſchriften die Griechiſche
Anthologie auf beide liefert, wie maͤchtig ſchoͤn
ihr der Menſch aus dem Pferde hervorgeht und
der Menſch ſich mit dem Pferde baͤumet f)! Si-
lenen, Faunen, Satyrs, — wir ecklen Neuern
nennen ſie haͤßliche Mißgeburten, weil ſie keine
Apollos ſind; die Alten nicht alſo. Jhnen war
hier das Schwaͤnzchen, dort der Bockfuß, hier
das Hoͤrnchen nicht eckel, wenn das Bild nur
da ſtand, wohin es gehoͤrte; uns Neuern ſoll
alles Altarblatt im Tempel der heiligen Theoria
werden. Selbſt das Caledoniſche Schwein war
gut und verdiente eine Jnſchrift, wenn es war,
was es ſeyn ſollte. —


Wo
[53]

Wo die Alten Haͤßlichkeit vermieden, war,
wo ſie vermieden werden muß, in Menſchlichen
zumal Goͤttlichen Koͤrpern. Da haben Leſ-
ſing
g) und Winkelmannh) es gnug erwieſen
wie ſie auch in Affekt, im Leiden, im Mißtoné
ſo viel moͤglich, die Mißform vermieden. Sé
waͤhlten den beſten Augenblick, ſtimmten das
Hoͤchſte zum Sanften hinunter, oder miſchten
ein Fremdes als Linderung in die Zuͤge. So
Medea, Niobe, Laokoon. Philoktet hinkte, aber
noch ein Held, der auch alſo geſehen zu werden
verdiente. Alexanders ſchiefen Hals wandte Li-
ſyppus, daß er nach dem Himmel ſah und ſich
als Herren der Welt fuͤhlte. Die Nachahmung
εις το χειρον war bei Strafe verboten. Der
Sieger mußte dreymal geſiegt haben, wenn ihm
die Jkoniſche Statue erlaubt war; eine veredelte
war ihm erlaubt beym erſten Siege. Mich duͤnkt,
dies waren die beſten Wege und die beſten Schran-
ken, Haͤßlichkeit der Formen zu vermeiden:
eine Haͤßlichkeit, die leicht vermieden werden
kann, weil ſie hervorzubringen, hervorzufuͤhlen
Muͤhe koſtet, die aber auch, wenn ſie da iſt,
ewig bleibt, ſich als Natur, als dargeſtellte
Wahrheit unvermerkt eindruͤckt, und Geſchlech-
terhinab Unheil anrichtet. Was Haͤßlichkeit in
D 3For-
[54] Formen fuͤr Wuͤrkung thue und ſelbſt leſend uns
Nervenbau und Gehirn zerreiße, verſuche man
an der Beſchreibung des angenehmſten Reiſe-
beſchreibers von Sicilien i), in der er den
Zauberpallaſt des wahnſinnigſten menſchlicher
Daͤmone mittheilt. —


Es waͤre hart, ein Geſetz, das ſich offenbar
nur und zuerſt auf Form, ganze leibhafte Form
beziehet, ſo fort auf jeden Anſchein, Schatten
und Farbenwinkel einer andern Kunſt auszubrei-
ten, die nichts von Form weiß. Mahlerei iſt
eine Zaubertafel, ſo groß, als die Welt und die
Geſchichte, in der gewiß nicht jede Figur eine
Bildſaͤule ſeyn kann oder ſeyn ſoll. Auch ich liebe
das Schoͤne mehr als das Haͤßliche, und mag
Verzerrungen ſo wenig auf Tafel als in Geſtalt
taͤglich vor den Augen haben; indeſſen ſehe ich
doch ein, daß eine zu große Zaͤrtlichkeit, ein zu
vornehmer Abſcheu uns endlich die Welt ſo enge
macht, als unſer Zimmer und die neueſten, tief-
ſten Quellen der Wahrheit, der Rege, der Kraft,
zuletzt zur elenden Pfuͤtze austrocknet. Jm Ge-
maͤhlde iſt keine einzelne Perſon Alles: ſind ſie
nun alle gleich ſchoͤn, ſo iſt keine mehr ſchoͤn. Es
wird ein mattes Einerley langſchenklichter, ge-
radnaͤſiger, ſogenannter Griechiſchen Figuren,
die
[55] die alle daſtehn und paradiren, an der Handlung
ſo wenig Antheil nehmen als moͤglich, und uns in
wenigen Tagen und Stunden ſo leer ſind, daß
man in Jahren keine Larven der Art ſehen mag.
Jch gebe es gern zu, daß es beſſer ſei, wenn
Gott die Hauptperſon oder Hauptperſonen des
Gemaͤhldes ſchoͤn, als wenn er ſie haͤßlich gemacht
hat; aber nun auch jede Nebenperſon? jeden
Engel, der im Winkel oder hinter der Thuͤr ſteckt?
Und nun, wenn dieſe Luͤge von Schoͤnheit ſogleich
der ganzen Vorſtellung, der Geſchichte, dem
Charakter der Handlung Hohn ſpricht, und dieſe
jene offenbar als Luͤge zeihet? Da wird ein Miß-
ton,
ein Unleidliches vom Ganzen im Gemaͤhl-
de, das zwar der Antikennarr nicht gewahr wird,
aber der Freund der Antike um ſo weher fuͤhlet.
Und endlich wird uns ja ganz unſre Zeit, die
fruchtbarſten Sujets der Geſchichte, die leben-
digſten Charaktere,
alles Gefuͤhl von einzelner
Wahrheit
und Beſtimmtheit hinwegantikiſiret.
Die Nachwelt wird an ſolchen Schoͤngeiſtereien
von Werk und Theorie ſtehen und ſtaunen und
wiſſen nicht, wie uns war? zu welcher Zeit wir
lebten? und was uns denn auf den erbaͤrmlichen
Wahn brachte, zu einer andern Zeit, unter ei-
nem andern Volk und Himmelsſtrich leben zu wol-
len, und dabei die ganze Tafel der Natur und
Geſchichte aufzugeben oder jaͤmmerlich zu ver-
D 4der-
[56]derben. So viel vom großen Geſetz der haͤß-
lichen
Schoͤnheit in einer Kunſt, die Phan-
taſie des Augenſcheins
und eine Tafel der
Welt
iſt.



4.


Wie weit ſind die Formen der Skulptur
oder die Geſtalten der Mahlerei einfoͤrmig
und ewig, oder den Modebegriffen ver-
ſchiedener Zeiten und Voͤlker un-
terworfen und mit ihnen
wandelnd?


  • Antwort. Die Formen der Skulptur ſind ſo
    einfoͤrmig und ewig, als die einfache reine
    Menſchennatur; die Geſtalten der Mahle-
    rei, die eine Tafel der Zeit ſind, wechſeln
    ab mit Geſchichte, Menſchenart und
    Zeiten.

Wenn ein ganzes Land geſpitzte Schnuͤrleiber
und kleine Sineſiſche Fuͤße fuͤr ſchoͤn hielt,
vor ihnen auf Ruhebetten und Sopha’s, wie
vor Altaͤren des Reizes kniete; ſetzet die Fuͤße
als Bildſaͤule aufs Poſtement, und wenn ihr
wollet, die engen Schuhe und Stelzenabſaͤtze
drun-
[57] drunter, und es darf kein Wort mehr uͤber ſie
geſagt werden: ſie ſprechen ſelbſt. Und die ſpitze
Schnuͤrbruſt und der heraufgezwaͤngte Buſen
und der thurmhohe Kopfputz und der breite Zel-
tenrock desgleichen. Jm gemeinen Leben kann
Einiges von dieſen und wenn ihr wollt Alles, durch
Nebenbegriffe, durch fruͤhe und alte oder neue
Gewohnheit gewinnen. Das kleine Geſicht kann
unter dem hohen Kopfputz, der Buſen uͤber dem
Trichter vom Leibe, der kleine Fuß unter dem
breiten Zelt wohl thun, das iſt, wie der große
Montesquieu ſagt, die Jmagination aufwecken,
daß ſie herab- oder herabſchluͤpfe, was doch von
allen ſehr oft Zweck und Abſicht allein iſt. Nun
ſtellet aber die ganze Figur mit Thurm, Zelt
und umgekehrtem Kegel als Bildſaͤule dahin,
und die Jmagination ſchluͤpft wahrlich nicht mehr.
Es iſt ein haͤßliches Unthier von Luͤſternheit und
Gothiſchem Zwange, das den Leib verunſtaltet
und alle gute Formen vernichtet. Hat die Ge-
ſtalt noch Reſt von Gefuͤhl, wie wird ſie ſich die
grobe Taille oder den plumpen Silberfuß einer
Griechiſchen Ceres oder Thetis wuͤnſchen!


Die Bildſaͤule ſteht alſo als Muſter der
Wohlform
da, und auch in dieſem Betracht iſt
Polyklets Regel das bleibendſte Geſetz eines
menſchlichen Geſetzgebers. So wie es einen
Strich auf der Erde giebt, in dem die ſchoͤne
D 5regel-
[58] regelmaͤßige Bildung Natur iſt: ſo gab Gott
Einem Volk dieſes Erdſtrichs Raum und Zeit
und Muße, in ihrer Jugend und Lebensfreude
das Werk, das aus ſeiner Hand kam, ganz und
rein und ſchoͤn ſich zu ertaſten und in daurenden
Denkmahlen fuͤr alle Zeiten und Voͤlker zu bilden.
Dieſe Denkmahle ſind die klaſſiſchen Werke ihrer
fuͤhlenden Hand, wie ihre Schriften des fein-
fuͤhlenden menſchlichen Geiſtes: im ſtuͤrmigen
Meer der Zeiten ſtehn ſie als Leuchtthuͤrme da
und der Schiffer, der nach ihnen ſteuret, wird
nie verſchlagen. Es iſt traurig und ewig uner-
ſetzlich, aber vielleicht gut, daß die Barbaren
viel von ihnen zerſtoͤret haben. Die Menge
koͤnnte uns irre machen und unterdruͤcken, ſo wie
in der Stadt, die noch jetzt die meiſten beſitzt,
es vielleicht den wenigſten Geiſt giebt, der, ihrer
werth, ſie umfange und verneue. Auch ſollen
ſie nur Freunde ſeyn und nicht Gebieter: nicht
unterjochen, ſondern, was auch ihr Name ſagt,
Vorbild ſeyn, uns die Wahrheit alter Zeiten
leibhaft darſtellen und uns in Uebereinſtimmung
und Abweichung auf die Lebensgeſtalten der Un-
ſern weiſen.


Zu bewundern iſt daher auch die große Ein-
fachheit
, mit der ſie daſtehn und ſelbſt dem dun-
kelſten Sinne zeugen. Nichts iſt ungewiß fuͤr
ihn gelaſſen, nichts verworren oder verſtuͤmmelt.
Keine
[59] Keine widrigen Attribute, keine Binde z. E. um
den Mund, da der taſtende Sinn ſtatt Mundes
ein Maultuch findet, keine Hunds- und Hirſch-
koͤpfe, als Allegorien und Embleme, ſelbſt die
nothwendigſten Attribute ſo abgetrennet und abge-
ſetzt, als moͤglich. Herkules Loͤwenhaut iſt
nicht um ihn, hoͤchſtens um ſeinen Arm geſchlun-
gen, oder Er ſelbſt ſtatt Loͤwenfelles und Loͤwens.
Die Goͤttin der Liebe ohne druͤckende Attribute:
ſie ſelbſt iſt Goͤttin der Liebe, in nackte Reize ge-
kleidet. Den Laokoon haben die Drachen um-
ſchlungen, aber nicht wie’s Virgil beſchreibet,
daß er um Hals und Bruſt und Bein dreimal
umwunden, dem Gefuͤhl des Nichtſehenden
mit ihnen zuſammengewachſen, ein grauſer
Menſchen- und Schlangenkoͤrper erſcheine. Er
ſtrebt nur mit Fuͤßen und Haͤnden und auch
von dieſen iſt ſein linker Arm frei und faſſet den
Drachen. So Er und ſeine Kinder: Vater
und Sie ſind Ein Geſchlecht, die Drachen ſind
ihre Feinde, die ſie jetzt nur alle zu Einem bin-
den. — Auch an kleinen Theilen des Koͤrpers
(meiſtens verſtuͤmmelt oder gar nicht zu uns ge-
kommen), ſind die Attribute abgeſetzt, beſtimmt
und deutlich. Die Geſtalt der Goͤtter und Goͤt-
tinnen war den alten Kuͤnſtlern ſo beſtimmt, daß
keine Attribute noͤthig waren, und außer ihnen
war den Bildſaͤulen meiſtens nur die aͤlteſte Hel-
den-
[60] den- und Fabelgeſchichte, inſonderhelt nach Ho-
mer, heilig; das Uebrige mußte Sage und Zu-
ſchrift ausrichten. Kurz, ſie gaben Umriß,
Geſtalt
und Charakter ſo beſtimmt und in ſo
wenigen Zuͤgen
an, daß es nur wie ein Stern-
kreis von Goͤttern und Menſchen ſeyn ſollte, den
die ſchreitende Sonne Jahrab Jahrein durchwan-
dert. Heil euch, ihr Edeln, die dieſe Ruheſtaͤ-
ten und Herbergen an die Veſte des Firmaments
Menſchlicher Formen ſetzten: eure Aſche ruhe
ſanft und eure Werke bleiben! —


Es waͤre uͤbel, wenn es ſich mit der Mahlerei
ſo einfoͤrmig verhielte, denn hier iſt nichts zu faſ-
ſen und zu halten, ſie iſt die ganze Zauberwelt
Gottes auf der Lichttafel
. Nichts als das
Licht macht ihre Einheit, aber große, unaus-
ſprechliche Wundereinheit, bei allem Zauber
des Neuen und Mannichfalten. Die Bildſaͤule
hat kein Licht: ſie ſteht ſich unaufhoͤrlich ſelbſt im
Licht, ſie iſt fuͤr einen andern umfaſſenden Sinn
gearbeitet. Von Einem Lichtpunkt der flachen
Tafel ergießt ſich ein Zaubermeer von allen Sei-
ten, das jeden Gegenſtand, wie in neuer, eigner
Schoͤpfung bindet. Jch weiß nicht, wie man-
che Theoriſten ſo veraͤchtlich und zufaͤllig von
dem, was Haltung, Lichtdunkel heißt, haben
ſprechen koͤnnen; es iſt die Handhabe vom
Genie
eines jeden Schuͤlers und Meiſters, das
Auge,
[61]Auge, mit dem er ſah, das Stralen- und See-
lenmeer
, mit dem er alles begoß, und von dem
ja auch jeder Umriß, jedes geprieſene Angeſicht
abhaͤngt. Wer fuͤr dies geiſtige Lichtmeer der
Gottheit
durch eines Menſchen Antlitz in Ge-
maͤhlde oder Zeichnungen keinen Sinn hat, der
laſſe ſein Kind ſich Farben klecken und ſchaue.
Dies Eine, das Lichtorgan Gottes, die Zauber-
welt der Haltung
iſt in der Mahlerei, obwohl
nach jedes neuen Meiſters Sinne, bleibend;
das andre, ſofern es nicht von der fixen Bild-
hauerkunſt und alſo von Todten borget, iſt eine
Zaubertafel auch in der Verwandlung, ein Meer
von Wellen, Geſchichten und Geſtalten, wo Eine
die Andre abloͤſt. So muß es auch ſeyn und
nur der Geiſt des Kuͤnſtlers und das Organ des
ewigen Schoͤpfers bleibe! —



Dritter
[62]

Dritter Abſchnitt.



Es iſt ein angenommener Satz unter den
Theoriſten der ſchoͤnen Kuͤnſte, daß nur
die beiden feinern Sinne uns Jdeen des
Schoͤnen gewaͤhren, daß es alſo auch nur fuͤr ſie,
fuͤr Auge und Ohr, ſchoͤne Kuͤnſte gebe. Der
Satz iſt demonſtrirt, folglich muß er wahr ſeyn,
und da aus ihm ſo viel andre Saͤtze demonſtrirt
ſind, und das Kartenhaͤuschen der Theorie aller
ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaft doch ſo wohlbe-
ſtallt daſteht, „durch die Staͤbe der Schreiber ge-
meſſen und geordnet“: k) ſo ſoll mein Stab ihnen
mindſtens nicht naͤher kommen, als der Bildſaͤule,
die ich betrachte, Raum zu ſtehen Noth iſt.


Mich duͤnkt, P. Kaſtells Farbenklavier hat
gnug gezeigt, was eine ſchoͤne Kunſt von Farben
fuͤrs Geſicht ſei und was ſie fuͤr Wuͤrkung thue?
Es ſind viel falſche oder Halbgruͤnde angefuͤhrt,
warum dieſe Kunſt nicht gelang? der wahre,
mindſtens der natuͤrlichſte iſt der, daß das Ge-
ſicht ohne Beitrag weſentlicherer Sinne nur eine
Licht- und Farbentafel, mithin das flachſte Ge-
danken-
[63] dankenloſeſte Vergnuͤgen gewaͤhre. Ein Schau-
geſchoͤpf ohne Haͤnde, ohne Gefuͤhl von Formen
und was ſich durch Formen aͤußert, kurz ein Vo-
gelkopf kann ſich daran erbauen; niemand anders.
Auch in der Mahlerei muͤſſen Formen der Dinge
die Grundzuͤge, die Subſtanz der Kunſt wer-
den; nur wie ſie das Licht zeigt, bindet und be-
ſtralet. Da nun Formen aus einem andern Sinn
ſind, ſo muß ja dieſer Sinn auch empfaͤngig
ſeyn der Begriffe des Schoͤnen, weil ja ſelbſt
der hellſte Sinn ohn ihn nichts vermag. Das
Auge iſt nur Wegweiſer, nur die Vernunft der
Hand; die Hand allein gibt Formen, Begriffe
deſſen, was ſie bedeuten, was in ihnen wohnet.
Der Blinde, ſelbſt der blindgebohrne Bildner
waͤre ein ſchlechter Mahler, aber im Bilden gibt
er dem Sehenden nicht nach und muͤßte ihn,
gleich gegen gleich geſetzt, wahrſcheinlich gar
uͤbertreffen — —


„Aber Hogarths Linie der Schoͤnheit„? Dieſe
Linie der Schoͤnheit mit Allem, was daraus ge-
macht iſt, fagt nichts, wenn ſie nicht in Formen
und alſo dem Gefuͤhl erſcheinet. Kritzelt auf die
Flaͤche zehntauſend Reiz- und Schoͤnheitslinien
hin, ſind ſie an keiner Form und alſo in keiner
Bedeutung, ſo thun ſie dem Auge um ein klein
wenig mehr wohl, als jedes Kindergewirre. Und
wenn ſie auch nur an Schnuͤrbruſt oder Topf er-
ſchienen,
[64] ſchienen, ſo erſcheinen ſie doch an Etwas: alſo
einem andern Sinne, alſo urſpruͤnglich nicht dem
Auge. Jch begreife es wohl, daß man die auf-
ſchwebende Lichtflamme nicht taſten und das wal-
lende Meer in jeder Welle nicht als Solidum um-
faſſen kann; daraus folgt aber nicht, daß unſre
Seele ſie nicht umfaſſe, nicht taſte. Kurz, ſo
wie Flaͤche nur ein Abſtraktum vom Koͤrper und
Linie das Abſtrakt einer geendeten Flaͤche iſt; ſo
ſind beide ohne Koͤrper nicht moͤglich.


Es iſt ſonderbar, daß Hogarth, der die
Reiz- und Schoͤnheitslinie, wie man ſagt, erfand,
ſo wenig Reiz und Schoͤnheit mahlte. Seine
Formen ſind meiſtens haͤßliche Carrikatur, aber
voll Charakter, Leidenſchaft, Leben, Wahrheit,
weil dieſe auf ihn drang, weil die ſein Genius le-
bendig erfaßte. Er zeigte thaͤtlich, was die ge-
ſunde Theorie noch mehr beſtaͤrkt, daß alle Um-
riſſe und Linien der Mahlerei von Koͤrper und
lebendigem Leben abhangen, und daß, wenn
dieſe Kunſt nur Anſchein deſſen in einer Flaͤchen-
figur giebt, dies nur daher komme, weil ſie nicht
mehr geben kann. Jhr Sinn und ihr Medium,
Geſicht und Licht verbieten, mehr zu geben; ſie
kaͤmpft aber, ſo viel ſie kann, mit beiden, um
die Figur vom Grunde zu reißen und der Phan-
taſie Flug zu geben, daß ſie nicht mehr ſehe,
ſondern genieße, taſte, fuͤhle. Folglich ſind
alle
[65] alle Reiz- und Schoͤnheitslinien nicht ſelbſtſtaͤn-
dig
, ſondern an lebendigen Koͤrpern, da ſind ſie
her, da wollen ſie hin.


Jch mache nur Eine Anwendung. Was fuͤr
ein Wagſtuͤck alſo, eine flache Linie hin zu mah-
len und auf ſie Dinge zu bauen, die eigentlich
nur aus dem treuſten Genuß und Gefuͤhl und Jn-
newerden des leibhaften Koͤrpers entfpringen
koͤnnen? Vorausgeſetzt, daß dieſe Linie treu iſt
(und wie ſchwer es ſei, einen Koͤrper zur Flaͤche,
ein ganzes Lebende in die Figur einer Linie zu
bringen, weiß jeder, ders verſucht hat) gehoͤrt
nun nicht noch immer der plaſtiſche Sinn dazu,
die Linie wieder in Koͤrper, die platte Figur in
eine runde lebende Geſtalt zu verwandeln? und
wie wenige das koͤnnen, mag Gott und die Phy-
ſiognomik wiſſen! Es koͤnnte uͤber und gegen das,
was Silhouette, Sbozzo, bloßer Umriß, gleich-
ſam ein gezeichnetes Nichts iſt, nie ſo viel Al-
bernes geſagt ſeyn, wenn allen Sehern Sinn bei-
wohnte, dies Nichts erſt in ein treues Etwas
zu verwandeln, ihm gerade nie mehr zu ge-
ben oder minder darinn zu vermuthen, als eben
nur dieſer Umriß, das umſchraͤnkte Nichts zeigt.
Denn eben dazu ſagts ſo wenig, um, was es ſa-
gen ſoll, ſcharf, treu und ganz zu ſagen. Und
eben das iſt das ſicherſte Kennzeichen, daß wir,
was es ſagt, verſtehen, wenn wirs uns koͤrperlich
Emachen
[66]machen koͤnnen, daß die Silhouette als Buſte
da ſteht, daß ſie lebe. Da dies aber ſo ſchwer iſt,
da die Silhouetten ſo ſchrecklich untreu, nachlaͤßig
und unwiſſend gezeichnet werden, da nicht jedes
Geſicht im Profil gleich redend iſt, um eine gute
Silhouette, d. i. gnug Glieder der Verhaͤltniß
zu geben, aus denen die ganze lebende Form er-
helle, da eine beſtochene, fliegende oder feindſelige
Phantaſie im ſchwarzen oder weißen Fleck eines
Schattenbildes eben ſo viel Spielraum findet, al-
les hinein zu ſchreiben, was ihr gefaͤllet; ſo iſt
wohl naͤchſt Gott und dem Gelde im letzten Lu-
ſtrum unſers Jahrhunderts nichts, womit ſo viel
Mißbrauch, Abgoͤtterei, Verlaͤumdung, Betrug
und Thorheit geſpielt wird, als mit den Schat-
tenbildern Menſchlicher Koͤpfe. Der erſte Ver-
ſuch der Mahlerei, den ein liebendes Maͤdchen
machte und der ewig nur liebhabenden Augen und
Haͤnden uͤberlaſſen ſeyn ſollte, die Silhouette iſt
jetzt den ſieben Soͤhnen Sceva’s Preis gegeben, die
alle den Teufel haben, und (wie ſie ſagen, Lavatern
nach
, das iſt, ganz ohne ſeinen Blick, Geiſt und
Herz) aus Silhouetten weiſſagen und richtenl). —
Gebt mir ein, auch nur leidlich treues leibhaftes
Kopf- und Bruſtbild, ſo todt es uͤbrigens ſei
(denn es iſt nur die Larve vom Todten), auch nur
die merkbarſten Scherben davon, und meine lang-
ſame
[67] ſame Einfalt mag euch eure glorificirte Jdeale
und Anubisgeſtalten, ausgemahlte Silhouetten
und ſilhouettiſche Gemaͤhlde noch eine Zeitlang
gern ſchenken. —


Doch gnug geredet. Wir treten an eine Bild-
ſaͤule, wie in ein heiliges Dunkel, als ob wir jetzt
erſt den ſimpelſten Begriff und Bedeutung der
Form
und zwar der edelſten, ſchoͤnſten, reichſten
Form, eines Menſchlichen Koͤrpers, uns erta-
ſten muͤßten. Je einfacher wir dabei zu Werk
gehen, und wie dort Hamlet ſagt, alle Alltags-
Kopien und das Gemahl und Gekritzel von Buch-
ſtaben und Zuͤgen aus unſerm Gehirn wegwi-
ſchenm): deſto mehr wird das ſtumme Bild zu
uns ſprechen und die heilige Kraftvolle Form,
die aus den Haͤnden des groͤßten Bildners kam
und von ſeinem Hauch durchwehet daſtand, ſich
unter der Hand, unter dem Finger unſers innern
Geiſtes beleben. Der Hauch deſſen, der ſchuf,
wehe mich an, daß ich bei ſeinem Werk bleibe,
treu fuͤhle und treu ſchreibe! —



Was im Haupt, unter dem Schaͤdel eines
Menſchen wohne, welche Hand kann es faſſen!
E 2welch
[68] welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab-
grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er-
tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt
hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon
unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die
Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem
Hainen) bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre
Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man
ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ-
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem
Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch-
ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten
kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him-
mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem
Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand,
der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim-
men und der kleine Menſch Begrif und Auszug
der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit
dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an-
derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß-
liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund
wird, den nur Seine Hand umſpannet und
Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich
ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die
Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren
Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der
Stirn;
[69]Stirn; die ewigern Kraͤfte hingegen naͤher
dem Mittelpunkt und endlich den Hintertheil des
Haupts als die Wand fuͤhlten, die dem ganzen
Spiel der Sinnen und Gedanken Ruͤckhalt ver-
lieh und Mauer ſchaffte; obgleich Zufaͤlle und
Krankheiten Vieles hievon zu beſtaͤtigen ſcheinen,
ſo iſt doch offenbar dies innere Gewebe von zu ver-
flochtner feiner Art, als daß man mit Huarteo)
ein Conclave von Cardinalkraͤften zimmern, oder
den innern Bau und Saft des Granatapfels nach
ſeiner aͤußern Schale entwerfen koͤnnte. Ahnden
laͤßt ſich allerdings vieles, und bei einem mit dem
Beil zugehauenen, oder zum waͤßrigen Kuͤrbis
hinaufgeſchoſſenen, oder zur leeren Dunſtkugel ge-
platteten, oder zu einem ſpitzigen Therſiteshoͤcker
hinaufgeſchrobnen p), oder endlich gar zur brennen-
den Vulkanushoͤle cyklopiſirten Kopfe ahndet man
mit Schauer. Mich duͤnkt indeſſen, das um-
faſſende Gefuͤhl fliehe die Linien
. Die kleinſte
Wendung, das mindeſte Weiterhinfuͤhlen kann
uns (ſehr entſchiedne Faͤlle ausgenommen,) den
blos ſonderbaren Menſchen oft zum Gott, oder
den Engel zum Teufel machen. Welcher Menſch
weiß, was im Menſchen iſt, ohne der Geiſt des
Menſchen, der in ihm iſt
? Durch die kleine
E 3Hoͤle,
[70] Hoͤle, Ohr, und durch das, was nur Anſchein ei-
ner Pforte iſt, Auge, kommen zwo Wunderwel-
ten von Licht und Schall, von Wort und Bil-
dern in unſern Himmel von Gedanken und Kraͤf-
ten, die das wartende Meer deſſelben wunderbar
durchweben, es erheben, ſcheiden und theilen, daß
die aͤußere Huͤlle dieſes Schatzes, und waͤre ſie
auch zart wie eine Seifenblaſe, nimmer ſtatt eines
ſichern und ganzen Auslegers ſeyn kann. Wel-
cher Pallaſt oder Kaſte voll Geheimniſſes hat auf-
geſchrieben, was in ihm wohne? und wo das Jn-
nere von der Natur iſt, daß es nicht aufgeſchrie-
ben und von außen bemerkt werden konnte? Und
was waͤre dies eher, als die Wohnung und Werk-
ſtatt der geheimſten Goͤttlichen Kraͤfte? Das
Geſicht iſt Tafel und ſpricht, was es ſprechen ſoll:
was tiefer liegt, was die Gottheit ſelbſt mit Nacht
bedeckte — ſcrutari, ſcire nefas.


Wie bedeutend indeß ſelbſt der Hain dieſes
Olymps, das Haupthaar, iſt, moͤgen uns die
alten Kuͤnſtler in der ſo verſchiedenen Bearbei-
tung deſſelben an ihren Goͤttern und Helden zei-
gen. Ueber Phidias kam Jupiters himmliſcher
Geiſt, als die Ambroſiſche Locke deſſelben im Ho-
mer ſank und Erd und Himmel ſich bewegten.
Wenn ein zornigſchreitender Apollo, der von den
Gipfeln des Olymps kommt,


Χωομενος
[71]

Χωομενος ϰηρ
Τοξ̕ ωμοισιν εχων, αμφηρεφεα τε φαρετρην
Εϰλαγξαν δ̛ αρ̕ οιςοι επ̕ ωμων χωομενοιο
Αυτομ ϰινηϑεντος·


unmoͤglich das Haar Alcides, ſelbſt wenn dieſer
eben ſo zornig mit ſeiner Kaͤule ſchritte; und ei-
ne Diana niemals das Haar der Venus oder
Rhea haben kann; ſo wuͤrde, wenn uns nicht
durch elende Kunſt und Mode hier alle Natur
und Anſicht derſelben genommen waͤre, der taͤg-
liche Augenſchein dieſen reichen Text der alten
Kuͤnſtler erklaͤren. So wie ich noch keinen har-
ten Mann mit weichem Haar, und kein wolle-
nes Schaaf mit Loͤwenmuthe geſehen habe, ſo
wie beim jungen Hamlet, nach dem, was ſein
Name ſagt, ſeine knotty ſoul bis in die Haare
ſteigt und da die combined locks bildet, die
nachher


As the ſleeping ſoldiers in th’ alarm
His bedded hairs, like life in excrements
Start up and ſtand on end
—’
()

ſo iſt auch ihr natuͤrlicher Wuchs, das Fallen
oder Scheiteln oder Wirbeln der Haare von
ſonderbarer Bedeutung. Als Mahomed ins
Paradies kam, ſahe er den Moſes mit Haaren
wie Feuerflamme, den milden Jeſus, als ob
Milch und Waſſer des Lebens ihm auf die
Schultern floͤſſe. Der Vater aller Goͤtter und
E 4Men-
[72] Menſchen, mit krauſem Kopfe, waͤre laͤcherlich,
nicht ehrwuͤrdig: da koͤnnte die ſchwere trefliche
Locke, die vom erhabnen Scheitel herabfaͤllt,
nicht mehr den Olymp erſchuͤttern. Wiederum
gebe man einem Simſon, wenn er die Philiſter-
naͤgel ausreißt, weiches fließendes Haar und ſie
werden wohl ſtecken bleiben. Jch weiß nicht,
welcher Philoſoph es bemerkt hat, daß die Men-
ſchen mit vielen Wirbeln auch krauſer Gedanken
ſind, die ſich nicht eher ordnen und zur Ruhe le-
gen, bis das liebe Alter freilich auch ihr Haar,
wie ihren Sinn, ſchlichtet. Das alte Spruͤch-
wort, kurzer Sinn und langes Haar, iſt be-
kannt, und iſt wahr, wie etwa ein Spruͤchwort
wahr ſeyn kann. Was wiederum ein ausfal-
lendes
, ein fruͤhe bleichendes Haar fuͤr Ein-
druck bei dem, der es hat und der es ſieht, ma-
che, mag die Erfahrung zeigen. Wenn der
Mandelbaum fruͤhe bluͤhet und die Hoͤhe ſich
ſcheuet und kahl wird, ſo iſts wohl Krone, aber
eine nur durch Sorgen errungene Krone. Oft
gluͤhet die Hitze das Haar weg und das Haupt
ſteht, wie ein Berg in den Wolken, der hoͤchſte
und uͤber die andern wegſehend, aber nackt und
traurig. Man ſehe Swifts fuͤrchterlich glaͤn-
zende Glatze. — Wie angenehm und bedeu-
tend iſt an Kindern ihr Haupthaar. Wie bei
Plato Sokrates mit Phaͤdons, ſo ſpielt, duͤnkt
mich,
[73] mich, im Meſſias ein Engel mit Benoni’s Lo-
cke. Bei Weibern iſt das Haar eine Decke der
Zucht, die Schlingen und die Seidenbande der
Amors, in deren jedem nach jenem alten orien-
taliſchen Wahn, Myriaden der Engel wachen
und wohnen. —


Das Haupt ſteht auf dem Halſe: das iſt,
der Olympus auf einer Hoͤhe, die Veſtigkeit
und Freiheit, oder Schwanenſanftheit und Wei-
che zeigt, wo ſie iſt, was ſie ſeyn ſoll: ein
elfenbeinener Thurm, fagt das aͤlteſte und
wahreſte Lied der Liebe. Der Hals iſts, der ei-
gentlich exſeriret, nicht was der Menſch in ſei-
nem Haupt iſt, ſondern wie er ſein Haupt und
Leben traͤget. Hier der freie, edle Stand, oder
das geduldige Vorſtrecken, ein Opferlamm zu
werden, oder die ſtarke Herkulesveſte, oder ſeine
Misgeſtalten, ſeine Kruͤmmen und Verbergun-
gen zwiſchen den Schultern, ſein Baͤrenfett,
ſammt dem Calekutiſchen Unterkinne, und wil-
den Schweinsroͤcheln ſind auch in Charakter, in
That und Wahrheit unſaͤglich. Sowohl, was
die Griechen den ſchoͤnen Nacken, als was die
Ungriechen Gurgel und Adamsapfel nennen, iſt
aͤußerſt bedeutend.


Jch komme zum Antlitz des Menſchen, zur
Tafel Gottes und der Seele. Heilige Decke, ver-
birg mir den Glanz und zeige mir Menſchheit.


E 5Das
[74]

Das Leuchten des Angeſichts zeigt ſich in-
ſonderheit auf der Stirn: da wohnet Licht,
da wohnet Freude: da wohnt dunkler Kum-
mer und Angſt und Dummheit und Unwiſſen-
heit und Bosheit. Kurz, wenn wir Geſin-
nung
des Menſchen im reinſten Verſtande,
(ſo fein ſie weder blos Sinn, noch ſchon Cha-
rakter iſt) meinen, ſo iſt, glaube ich, dieſes
die leuchtende eherne Tafel.


Jch bin zu einfaͤltig, um Philoſophiſche und
Dichteriſche, Politiſch herrſchende oder Politiſch
dienende Stirnen zu ſondern oder ins Kabinet
zu reihen; aber das weiß ich nicht, wie je ei-
nem Anblickenden Eine Stirn gleichguͤltig ſeyn
kann. Hinter dieſer Spaniſchen Wand ſingen
doch einmal alle Grazien oder hammern alle Cy-
klopen, und ſie iſt von der Natur offenbar ſelbſt
gebildet, daß ſie das Angeſicht ſolle leuchten
laſſen oder verdunkeln. Jm obern Theile der
Stirn zeigt ſich unſtreitig entweder jene Stiers-
dummheit, die von Natur ein Brett hat und
nachher ſo oft eherne Mauer genannt wird: jene
Buckeln und Knoten, wie auf Cuchullins oder
Achilles Schilde, nur daß er, vielleicht zwar
ein geerbter Vaͤterſchild, aber nicht mit der Fi-
gurenwelt Vulkanus prangen moͤchte: oft ein
biceps Parnaſſus, auf dem leicht zu ſchlummern
iſt, wenn man drauf iſt. Oder jene flache Auf-
dachung,
[75] dachung, die auf dem Schindeldach gen Him-
mel ſteigt und der es nie an Syſtem mangelt.
Oder endlich jene hohe Furchen Cronions oder
Cronus, die Sorgenvoll uns oft zu Wolken
heben, ohne zu wiſſen, was wir da thun und
treiben ſollen. Oder endlich jene υλη, jenes re-
pertorium univerſale,
das ſich meiſtentheils ſelbſt
nicht findet. Jch liebe mir die jugendliche Grie-
chiſche Stirn, die den Himmel niederdruͤckt und
ihn nicht ins Unermaͤßliche woͤlber. So wie der
lieben Kindheit der Schleier der Haare uͤber die
Stirn faͤllt, daß dahinter der Saame des Le-
bens in Zucht und Friede und ſeliger Dumpfheit
wachſe: ſo gehoͤrte ein Bernini dazu, die per-
frictam frontem
wieder hervorzubringen und
auch den Statuen den Scheitel wegzureißen, der
ja uns freilich minder als die ſeligen Goͤtter klei-
det. Seit es den Klugen der Welt oft ſelbſt
an Licht fehlt, haben ſie den Brettdurchbohren-
den Blick noͤthig, es von der Stirn andrer zu
leſen, die vielleicht gerade fuͤr ſie kein Licht ha-
ben, und ſo hat ſich rechts und links die aufge-
ſtriegelte glatte Mode tief hinunter verbreitet.
Wer in einer Jllumination nicht viel Licht hat,
thut am beſten, wenn er ſein Stuͤmpchen vors
Fenſter ſtellet oder etwa gar ſein Caminfeuer da-
hin traͤgt: ſo gehts oft mit dem Licht unſrer
Stirnen. Sie glaͤnzen, daß man ſich daran
weder
[76] weder freuen noch waͤrmen kann, und das Licht
der Johannswuͤrmer lieber haͤtte. —


Wo ſich die Stirn herunterſenkt, ſcheint
Sinn in den Willen uͤberzugehen. Als Juno
den Herkules im Olymp ſahe, mußte ſie, duͤnkt
mich, zuerſt von dem Knoten ſeiner Stirn ver-
ſoͤhnt werden, den ſie ihm durch alle Sorgen
und Gefahren und Kuͤmmerniſſe ihres weiblichen
Verhaͤngniſſes da aufgeballt hatte. Hier iſts,
wo ſich die Seele zuſammen zieht zum Wider-
ſtande: das ſind die cornua addita pauperi, mit
denen er entweder in ſeliger Dumpfheit blind ge-
het und trift, oder wie jener Jndianiſche Goͤtze,
das verſunkne Geſetz aus dem Schlamme des
Abgrunds hinaufholet. Wenns auch nur Win-
kelmanns Traum waͤre, daß der ſchoͤne Torſo
des Herkules ſich da auf ſeine Keule ſenke und in
die erheiterte Stirn den Traum des muͤhſeligen
Erdenlebens ruffe, — gewiß ſo iſts ein ſchoͤner
Traum, und ich habe noch keinen Ochſen am
Pfluge oder einen Herkules am Ruder des
Staats geſehn, dem dieſe Stuͤtzen ſeiner Ruhe
und dieſe Waffen ſeines Streits gemangelt haͤt-
ten. Oft ſind ſie ſchon an Saͤuglingen da und
praͤgen ihr Schickſal, von dem denn freilich das
aufgeſchlagne Buch, die flache, lichte, runde,
hellumgraͤnzte Stirn kein Wort weiß. —


Unter
[77]

Unter der Stirn ſteht ihre ſchoͤne Grenze, die
Augenbrane: ein Regenbogen des Friedes,
wenn ſie ſanft iſt, und der aufgeſpannte Bogen
der Zwietracht, wenn ſie dem Himmel uͤber ſich
Zorn und Wolken ſendet. Jn beidem Falle al-
ſo Verkuͤndigerin der Geſinnung und Bote
des Himmels zur Erde. Was vom Haar all-
gemein geſagt wurde, gilt von dieſem Faden der
Haare, ſie moͤgen Furie oder Grazie ſeyn, aus-
zeichnend. Hier wohnen gewiß Engel in jedem
friedlichen ſanften Haͤrchen; oder Flammen ſtei-
gen auf ihnen empor. Was an ihnen die Halb-
kugeln, die Jgelborſten, die Wirbel, die Grecq-
Figuren fuͤr Eindruck machen, kann wohl keine
Feder ſchreiben. Und wie ſchwimmt Gegen-
theils Auge und Hand ſo ſanft die linde friedliche
Augenbrane hinunter! ſie gleitet hinab, wie
der Kahn des Lebens in ſchoͤner Morgen- oder
Abendroͤthe. Jch weiß nicht, was fuͤr ein
Wink dem Verſtaͤndigen angenehmer, anziehen-
der ſeyn koͤnne, als hier ein ſcharfer, veſter und
doch ſanfter Winkel zwiſchen Stirn und Auge.
Er gibt dem Profil einen unausſprechlich intereſ-
ſanten Zug und iſt der Huͤgel, auf dem ſich Ge-
nien und Grazien ſonnen, um ſich in die Quel-
le des Schattenumkraͤnzten lieblichen Auges zu
tauchen.


Das
[78]

Das Griechiſche Profil iſt ſo beruͤhmt, daß
ich mich ſcheue, davon zu reden. Jeder Cou-
noiſſeur weiß, daß es der gerade Schnitt von
Stirn zu Naſe ſei, der, weil er Griechiſch iſt,
wohl ſehr ſchoͤn ſeyn muͤſſe. Wenn er ihn nach-
her an lebenden Perſonen ſieht und da nicht ſo
ſchoͤn findet, ſo ſchreibt er etwa, wie jener
Schneider in den Kalender, es ſich in ſeinen
Volkmann oder Richardſon an: „ſchoͤn; aber
„nur an Griechiſchen Statuen, weil ſie Stein
„ſind„; und damit hat ſeine Kennerſchaft ein
Ende. Nothwendig muß in der lebenden Na-
tur
eine Urſache der Schoͤnheit liegen oder ſie iſt
auch nicht in der todten; und wer verkennete ſie
dort? Wer fuͤhlt nicht, daß eine Naſe mit ihrer
Wurzel tief unter die Stirn gebogen, gleichſam
einen duͤrftigen Anfang habe, und daß der Lebens-
othem, der zur Seele kommen ſoll, ſich da wie
durch Hoͤle und Abtritt winde? Wer fuͤhlt nicht
Gegentheils die unzerſtuͤckte Form, und daß ſo
fort unter der Stirn das ganze uͤbrige Geſicht
Erhabenheit, Runde, großen Blick und veſtere
Caͤlatur erhalte, wenn dieſer Bug der Naſe kein
Grabenſprung iſt? endlich und ohn’ alle dieſe
Kuͤnſtelei, wer hat noch nie das Thronmaͤßige
einer Junoniſchen Naſe, oder das unendlich
Freie, Vor ſich ſehende, Hinduftende einer
Naſe des Apollo gemerket? Wie vielleicht nur
Ein
[79] Ein Himmelsſtrich iſt, der dies Profil in Menge
bildet, und der Welſchen Vorwurf nicht ſo ganz
ohne Grund ſeyn mag, daß jenſeit der Alpen
die Schoͤnheit der Form erliege, ob ichs gleich,
wenn die Sache ſelbſt wahr waͤre, mehr auf
Stammcharakter des Volks als auf Einwuͤr-
kung des Landes und Clima gaͤbe: ſo halte ich
doch dafuͤr, daß es bei dem Kuͤnſtler nicht ohne
Veredlung dieſes Zuges abging, wieviel Anlage
derſelbe im Volk um ſich her hatte. Die Naſe
gibt dem ganzen Geſicht Haltung, ſie iſt die
Linie der Veſtigkeit und gleichſam das Scheide-
gebuͤrge an Thaͤlern zu beiden Seiten; die Kunſt
muſte alſo bald gewahr werden, daß mit ihr fuͤr
das Ganze Alles gewonnen oder verlohren ſei.
Und da erhub ſich denn das Profil, das noch
jetzt, nach jener Sprache des Hohenliedes, wie
ein Luſtbau ſtehet, der von der Hoͤhe Libanus
nach den ſchoͤnen Gegenden Damaskus ſchauet.
Nicht der mindeſte Theil dieſes unedlen Gliedes,
das Wir kaum zu nennen wagen, iſt unbedeu-
tend. Die Wurzel der Naſe, ihr Ruͤcken, ihre
Spitze, ihr Knorpel, die Oeffnungen, dadurch
ſie Leben athmet, wie bedeutend fuͤr Geiſt und
Charakter! Nur iſt auch hier das Hinſchreiben
einzelner Zuͤge zu ſehr dem Mißbrauch und Miß-
verſtande unterworfen; deute ſich ſelbſt, wer will
und kann.


Die
[80]

Die Augen betrachte ich hier nur taſtbar als
Glaͤſer der Seele und Brunnen des Lichts und
Lebens. Sie liegen zwiſchen Buͤſchen eingefaßt
und geſchloſſen: und eben das blinde Gefuͤhl ent-
deckts ſchon, daß ihre ſchoͤngeſchliffene Form
nebſt Schnitt und Groͤße nicht gleichguͤltig ſei.
Eben ſo merkwuͤrdig iſts, wie ſich unten der Aug-
knoche ſtarr baͤume oder ſanft verliere? und ob
die Schlaͤfen eingefallene Grabhoͤlen oder zarte
Ruheſtaͤten ſind, auf denen der Finger des
Bluts und Lebens ſchlage? Ueberhaupt iſt die
Gegend, wie Augenbrane, Naſe und Auge ſich
verhaͤlt, die Gegend des Winks der Seele in
unſerm Geſicht, d. i. des Willens und prakti-
ſchen Lebens
.


Den edlen, tiefen, verborgenen Sinn des
Gehoͤrs
hat die Natur Seitwaͤrts geſetzt und
halb verborgen; der Menſch ſollte nicht mit dem
Antlitz fuͤr andre, ſondern mit dem Ohre fuͤr ſich
hoͤren. Auch blieb dieſer Sinn, ſo wohlfoͤrmig
er da ſteht, ungeziert: Zartheit, Ausarbeitung
und Tiefe iſt ſeine Zierde; weh ihm, dem große
Lappen des Elephanten zu beiden Seiten herab-
hangen, oder weiſe Midasbrabevmen zu beiden
Seiten gethuͤrmt ſind: der muß wohl hoͤren und
urtheilen, denn ſeine Ohren ſind groß. — Ue-
brigens uͤberlaſſe ichs den Naturkundigen, ob
dieſer Sinn durchs Anpreſſen und Nichtuͤben
nicht
[81] nicht ſo verlohren habe, wie das Geſicht durchs
Stubenblinzeln und Brillenbrauchen. Jſt dies;
ſo kann, was ſchaͤdlich iſt, niemals ſchoͤn ſeyn.


Endlich komme ich zum Untertheil des Ge-
ſichts, den die Natur beim Maͤnnlichen Ge-
ſchlecht abermal mit einer Wolke umgab, und
mich duͤnkt nicht ohn Urſach. Hier ſind die Zuͤ-
ge zur Nothdurft, oder (welches mit jenem ei-
gentlich Eins iſt) die Buchſtaben der Sinnlich-
keit
im Geſicht, die bei dem Manne bedeckt ſeyn
ſollten. Jedermann weiß, wie viel die Ober-
lippe
uͤber Geſchmack, Neigung, Luſt- und
Liebesart eines Menſchen entſcheide: wie dieſe
der Stolz und Zorn kruͤmme, die Feinheit ſpitze,
die Gutmuͤthigkeit ruͤnde, die ſchlaffe Ueppigkeit
welke: wie an ihr mit unbeſchreiblichem Zuge
Liebe und Verlangen, Kuß und Sehnen hange
und die Unterlippe ſie nur ſchließe und trage:
ein Roſenkuͤſſen, auf dem die Krone der Herr-
ſchaft ruhet. Wenn man Etwas artikulirt nen-
nen kann, ſo iſts die Oberlippe eines Menſchen,
wo und wie ſie den Mund ſchließt: und wenn
dieſer von Ambroſia der Liebe und von Nektar
der Svade duftet, ſo iſt jene gewiß das Zuͤng-
lein der Waage, die ihm die Goͤtterſpeiſe zu-
waͤgt.


Außerordentlich bedeutend iſts bei einem
Menſchen, wie bei ihm die Zaͤhne fallen und
Fwie
[82] wie ſich ſeine Backe ſchließt. Ob er ewig knir-
ſche und grinſe? oder bei jeder Oefnung den ri-
ctum leonis,
das χασμ̕ οδοντων mache, das ei-
ne unausſtehlich freundliche Zerrung iſt? oder
alles ſchlaff hange, und ſtatt einer vollen Lieb-
und Ueberredungduftenden Roſe, ein Mundlap-
pe da ſei? Ein reiner, zarter Mund iſt vielleicht
die ſchoͤnſte Empfehlung des gemeinen Lebens:
denn, wie die Pforte, ſo glaubt man ſei auch
der Gaſt, der heraus tritt, das Wort des Her-
zens und der Seele. Der Ausdruck: an je-
mandes Munde hangen
; die zwo Purpurfaͤ-
den
des Hohenliedes, die ſuͤßen Duft athmen:
das Spruͤchwort vom verſchloßnen und offnen
Munde
iſt, duͤnkt mich, lauter Phyſiſches Le-
ben. Hier iſt der Kelch der Wahrheit, der Be-
cher der Liebe und zarteſten Freundſchaft.


Die Unterlippe faͤngt ſchon an, das Kinn zu
bilden, und der Kinnknochen, der von beiden
Seiten herabkommt, beſchließt es. Es zeigt
viel, wenn ich figuͤrlich reden darf, von der
Wurzel der Sinnlichkeit im Menſchen, ob ſie
veſt oder loſe, rund oder ſchwammig ſei? und
mit welchen Fuͤßen er gleichſam im Erdreich ſte-
he? Da das Kinn die ganze Ellypſe des Ange-
ſichts ruͤndet, ſo iſts, wann es, wie bei den
Griechen, nicht ſpitz, nicht gehoͤlt, ſondern un-
unterbrochen, ganz und leicht herabfließt, der
aͤchte
[83] aͤchte Schlußſtein des Gebaͤudes, und die Miß-
bildung an ihm iſt fuͤrchterlich anzuſchauen.
Wenns hier vorgebogen ſteht, als ob die Natur
den Kopf an dieſer Handhabe gebildet und nach-
her zornig weggeworfen habe: wenn es hier
nichts iſt und ſich verkriecht — doch gnug, und
ſchon zu viel uͤber dieſe Theile geſprochen, die,
da ſie tiefe Sinnlichkeit reden, auch ſo wenig
deutlicher Sprache faͤhig ſind. Die Natur um-
huͤllete ſie beim Manne, und auch unſre Be-
ſchreibung ſoll ſie weiter umhuͤllet laſſen.


Wir ſollten ſtatt deſſen beim Manne vom
Bart reden, von dem wir jetzt aber nichts mehr
reden koͤnnen, als etwa wie oft und ſehr er das
Meſſer ſtumpf macht? Die Juden, in ihrem
alten Buche Sohar, haben viel Geheimniſſe von
ihm, von ſeinen Straßen, Wegen und Win-
keln, hinter denen, wo es nicht mißdeuteter Buch-
ſtabe der Schrift iſt, manches Phyſiſche ſtecken
mag, das wir jetzt nicht verſtehen. Mode und
Lebensart wollens, daß wir, wie die Weiber,
am Kinn ewig Juͤnglinge und Kinder, nur mit
einem Stoppelfelde maͤnnlicher Jahre und auf
dem Haupt ewig gepuderte Greiſe oder kahle
Grindkoͤpfe mit einer Haarmuͤtze ſeyn ſollen.
Als wenn uns die Natur nicht ſo etwas haͤtte
geben oder nehmen koͤnnen, wenn ſies gewollt
haͤtte! —


F 2Bei
[84]

Bei den uͤbrigen Theilen des Menſchlichen
Koͤrpers kann ich kuͤrzer ſeyn, denn das Geſicht
war ſchon ihr Auszug. Wie auf der Stirn
Geſinnung herrſchte, ſo birgt die Bruſt die
edlern Eingeweide und iſt ihrer Zeuge. Ein
Menſch von freier Bruſt wird in aller Welt fuͤr
frei und edel gehalten: man traut ihm etwas
zu, er kann doch athmen. Das pectus hirſu-
tum,
der eherne Panzer um die Seele iſt allen
Nationen und Sprachen Spruͤchwort; dagegen
die eingebogne, zuſammengeklemmte, keuchende,
ſchon von Natur ſich verbergende Therſitesbruſt
auch ein natuͤrliches Omen iſt von eingeſchloſſe-
nem, zuſammengekruͤmmtem, kriechendem Mu-
the. Oft hat der dennoch edle Mann vieles
durch Grundſaͤtze uͤberwunden: Gott hat ihm,
wie der Koran ſagt, Raum in der Bruſt ge-
macht
und Luft verſchafft vor ſeinen Draͤngern;
noch oͤfter aber wird Muth ſimulirt und Politi-
ſche Klugheit ſoll erſetzen, was uns an ihm un-
erſetzlich fehlet. Da bekannt iſt, daß nichts
hiezu ſo ſehr beitraͤgt, als das liebe Sitzleben,
das arbeitende Kriechen auf der Bruſt und nicht
einmal auf dem Bauche: ſo habens auch alle
Barbaren, d. i. alle Nationen, die noch in freier
Natur lebten, erkannt, was dies Leben auf Koͤr-
per und Geiſt wuͤrke. Es verdumpft die Stim-
me und ſtumpft das Auge, noch mehr aber Sinn
und
[85] und Seele. Zagend ſchwebt das Herz in ſeiner
engen verdruͤckten Hoͤle, glaubt jeden Augenblick
zertreten zu werden und kriecht nach Speiſe und
Verlaͤumdung. Welcher Freund, der ſein
Haupt an dieſe Bruſt lehnen und ſagen koͤnnte:
du biſt mein Fels! welcher Huͤlfloſe Unterdruͤck-
te, der ſich an ihr aufrichten koͤnnte und ſagen:
hier wohnt Zuflucht! Deſto weiſer aber ſind
wir im Haupt und geſchaͤftig mit Mund und
Fingern. —


Dem Weibe gab die Natur nicht Bruſt ſon-
dern Buſen, ſchlang alſo, da hier Quellen der
Nothdurft und Liebe fuͤr den zarten Saͤugling
ſeyn ſollten, den Guͤrtel des Liebreizes um ſie
und machte, wie’s ihre muͤtterliche Art iſt, aus
Nothdurft Wolluſt. Des Mannes Bruſt iſt
einfoͤrmiger, ſtaͤrker, edler, vollkommen: der
Buſen des Weibes ward zarter, voͤlliger, ge-
waſchen mit Milch der Unſchuld und gekroͤnt mit
der Roſe der Liebe. So lange dieſe ein Knoͤſp-
chen bluͤhet und der unreife Huͤgel zur Ernte
waͤchſt, ſchlang die Grazie der Jungfrauſchaft
ihren Guͤrtel um dieſelbe, in der, nach der Be-
ſchreibung jenes Dichters Liebe und Verlangen
wohnen. Wenn der Trank der Unſchuld berei-
tet iſt und der Unmuͤndige an den Quellen der
erſten Mutter- und Kindesfreude hanget, und
ſeine kleine Hand ſich an ſie ſchmieget und tap-
F 3pet
[86] pet und gnug hat, und Mutter und Kind ſich
Eins fuͤhlen am Baume des ſuͤßen Lebens: wel-
cher Unmenſch, der hier nicht fuͤhle und ein ver-
lohrnes Paradies der Unſchuld ahnde! —


Wenn ſchon Winkelmann es beklagte, daß
er nicht fuͤr Griechen ſchreibe und alſo vieles
muͤſſe verſchweigen: ſo habe ich dieſe Vorſich-
tigkeit leider! noch mehr noͤthig, kann alſo auch
nur mit wenigen Zuͤgen reden. Wie die Bruſt
die edlern Theile barg und ausdruckte, ſo iſt
von den aͤlteſten Zeiten und Philoſophen an der
Bauch als Sitz der Begierden betrachtet wor-
den. Darauf beziehet ſich jene edle Beſchrei-
bung Winkelmanns von dem, was Bauch des
[Bacchus] heiße: die jugendliche Nuͤchternheit
und Maͤßigkeit und ſanfte, wie aus einem ſchoͤ-
nen Traum erwachte Fuͤlle, deren Gegentheil
eine Form und ein Zuſtand iſt, der ſelbſt in der
Beſchreibung widert. Es war dort Fluch der
Ausſchweifung und Folge des Waſſers der Bit-
terkeiten, daß der Bauch ſchwelle und die Len-
den ſchwinden q); fuͤrs untreue, wohlluͤſtige
Weib gewiß die groͤſte Strafe! Es iſt Beſchrei-
bung des aͤlteſten Liedes der Unſchuld und Lieber):
daß der Bauch ſei ein ſchwebender Weizenhuͤgel,
der Nabel ein runder Becher, dems nimmer an
Getraͤnk mangelt, der nimmer verlechzt und
nimmer
[87] nimmer uͤberſprudelt von Freude; ja die weiſe
Maͤßigkeit und Furcht Gottes ſollte, wie aber-
mals das aͤlteſte Sittenbuch s) ſagt, ſelbſt dem
Nabel geſund ſeyn und erquicken die Gebeine. —
Wir hoͤnen jetzt uͤber dieſe Beſchreibungen der
Einfalt, ſo wahr ſie ſind. Wir machen uns
Schuͤrze von Feigenblaͤttern, wie jene Erſten,
und meiſtens auch aus derſelben Urſach. Jch
ſchweige alſo und ſpreche nur noch Ein Wort von
Ruͤcken, Hand und Fuß.


Wie an allen, ſo haben die Griechen auch an
dieſen Theilen das Schoͤnſte gekannt und gebil-
det. Wenn der ſchoͤne Nacken bei Bacchus
herabfleußt, und Venus aus dem Bade mit ih-
rem gebognen Ruͤcken der Taube herauftritt, und
der ſchoͤne Torſo da ſitzt und ſinnet — doch wie
kann ich beſchreiben? und was hilft beſchreiben,
wenn man nicht ſelbſt ſieht und das ſchoͤne Ge-
buͤrge hinabgleitet? Und wie uͤber der Huͤfte ſich
der Ruͤcken in Weiche verlieret! Prometheus
und Pygmalion, konnten ſie anders als umſchlin-
gend das ſchoͤne Gebilde, das zarte Verfließen
auf jeglicher Stelle gebildet haben? Und die
Huͤften, nach der Sprache jenes alten Buches
der Unſchuld, zwo Spangen von Meiſterhand,
und die Schenkel Apollo’s als Marmorſaͤulen,
und das Knie ohne Todgeloͤſete Knoͤchel, als
F 4waͤre
[88] waͤre es aus weichem Ton geblaſen, und die Wa-
de des Fußes weder hangend und angeklebet noch
duͤrftig; ein ſtrebender Muskel voll Jugendtritt
und Staͤrke. Der Fuß endlich, belebt bis zum
kleinſten Gliede, nicht losgetrennt vom Ganzen
und etwa als der Schuh eines Gewuͤrmes ange-
zogen, ſondern Eins mit Allem, das Ganze
auf ihn hinabfließend und er das Ganze tragend.
Und wie die Schenkel zu Marmorſaͤulen, ſo
wand Mutter Natur, die Arme zu zarten Cy-
lindern und umſchlang ſie mit dem erſten Braut-
kranz der Liebe. Und ſchonte die Spitze des
Bogens, und ließ am Weibe die Hand ſanft
hinabfließen, in kleine Cylinder. Und bepol-
ſterte ſie von innen in jedem ſammetnen Maͤus-
chen und in jedem Blumenbuſche der Fuͤhlbar-
keit, der auf Gefuͤhl wartet, mit dem erſten
Druck der Liebe. Und machte jedes Glied waͤch-
ſern und beweglich und regſam, den Finger faſt
zu einem Sonnenſtral, und die Milchgewaſche-
ne Hoͤhe der Hand zum ungetheilten und Glie-
dervollen Huͤgel voll Rege, voll umfaſſenden Le-
bens. Und wie der Arm des Mannes ſtrebet!
Muskeln ſeine Siegskraͤnze und Nerven ſeine
Bande der Liebe. — Maͤchtig und frey gehn
ſie von den Schultern hervor, die Werkzeuge
der Kunſt und Waffen der Tugend. Sie ſind
da die Bruſt zu ſchuͤtzen, Geliebte, Freund und
Vater-
[89] Vaterland zu umſchlingen, ans Herz zu druͤcken,
und zu vertheidigen. Und die Hand ein Gebilde
voll feinen Gefuͤhls und tauſendfoͤrmiger Orga-
niſcher Uebung. Und wie edel der ganze Bau
da ſteht: Angeſicht, Stirn und Bruſt zeigend
und mit ſeinen Schenkeln ſchreitend. Schauer-
lich groß
ſind wir gebildett), Kunſtreich unſer
Gebein gezaͤhlt
und gefuͤget, und unſre Nerven
geflochten,
und unſre Adern als Lebensſtroͤme
geleitet. Aus Leim gemacht, und wie zarte
Milch gemolken
und wie Kaͤſe ſanft geronnen
und mit Haut bekleidet und mit Othem Got-
tes beſeelet
u). Gebildet (πεπλασμενοι) um
und an,
und unſer Gebilde (πλασμα) Form
von regenden Lebenskraͤften des oberſten Bild-
ners x): kurz die Wahrheit des aͤlteſten Ora-
kels uͤber unſern Urſprung z):


Επλασεν ο Θεος τον ανϑρωπον, χομν απο της
γης. κα [...] ενεφυσησεν εις το προσωπον αυτομ πνοην
ζωης, κα [...] εγενετο ο ανϑρωπος εις ψυχην ζωσαν.



Vier-
[90]

Vierter Abſchnitt.



Die Abſicht des Vorigen iſt wohl weder Lob-
rede der Schoͤnheit, noch Beſchreibung
der Antike, am wenigſten Phyſiognomik
geweſen, da ich weder Kuͤnſtler, noch Antiquar
noch Phyſiognom bin, und allgemeine unbe-
ſtimmte Ausdruͤcke zu keinem von dreien etwas be-
tragen. Der ſimple Satz war meine Abſicht:
daß jede Form der Erhabenheit und Schoͤn-
„heit am menſchlichen Koͤrper eigentlich nur
„Form der Geſundheit, des Lebens, der
„Kraft, des Wohlſeyns in jedem Gliede die-
„ſes kunſtvollen Geſchoͤpfes,
ſo wie hingegen
„Alles Haͤßliche nur Kruͤppel, Druck des Gei-
„ſtes, unvollkommene Form zu ihrem Endzweck
„ſei und bleibe„. Die Wohlgeſtalt des Men-
ſchen iſt alſo kein Abſtraktum aus den Wolken, kei-
ne Kompoſition gelehrter Regeln oder willkuͤhr-
licher Einverſtaͤndniſſe; ſie kann von jedem erfaßt
und gefuͤhlt werden, der, was Form des Lebens,
Ausdruck der Kraft im Gefaͤße der Menſchheit
iſt, in ſich oder im andern fuͤhlet. Nur die
Bedeutung innerer Vollkommenheit iſt Schoͤn-
heit.


Um
[91]

Um Wiederholungen zu vermeiden, laſſet
uns die vorhergezeigte Menſchengeſtalt in Hand-
lung
ſetzen, und wir werden gewahr, jedes Glied
ſpreche und jemehr es ſeinem Zweck entſpricht, um
ſo vollkommener und ſchoͤner ſei es. Bildet ei-
nen Philoſophen und gebet ihm eine Stirn, die
nicht denkt, einen Herkules und ſenkt ihm keine
Kraft zwiſchen die Augenbranen, noch in den
Hals, noch in die Bruſt, noch in den ganzen
Koͤrper: eine Venus, und mit abſcheulichem Pro-
fil,
hangenden Bruͤſten und hangendem Mun-
de:
einen Bacchus der Alten, wie er auf unſern
Weinfaͤſſern ſitzt; jedes gemeine Auge wird hier
in Handlung fuͤhlen, was ein feiner Sinn in
den Geſtalten an ſich, auch ohne Handlung, ge-
fuͤhlt haͤtte, nehmlich, daß ſie ihrem Zweck nicht
entſprechen, daß eine Goͤttin der Liebe ohne Reiz,
eine Diana ohne keuſche Schnelle, ein Apollo
ohne Jugendmuth und Stolz, ein Jupiter ohne
Hoheit und Ehrfurcht abſcheuliche Geſchoͤpfe ſeyn.
Was nun in einzelnen Charakteren und Hand-
lungen zutrift, muß geſammlet auch allgemein
wahr ſeyn: denn alles Allgemeine iſt nur im Be-
ſondern, und nur aus allem Beſondern wird das
Allgemeine. Schoͤnheit iſt alſo nur immer
Durchſchein, Form, ſinnlicher Ausdruck der
Vollkommenheit
zum Zwecke, wallendes Leben,
Menſchliche Geſundheit. Je mehr ein Glied be-
deu-
[92] deutet, was es bedeuten ſoll, deſto ſchoͤner iſts,
und nur innere Sympathie, d. i. Gefuͤhl und
Verſetzung unſeres ganzen menſchlichen Jchs
in die durchtaſtete Geſtalt iſt Lehrerin und Hand-
habe der Schoͤnheit.


Wir finden daher, daß jedesmal, wo Eine
Form, Ein Glied vorzuͤglich bedeuten ſoll, da
trete es natuͤrlich den andern etwas vor: es beut
ſich
gleichſam ſelbſt und zuerſt und vorzuͤglich
der taſtenden Hand dar.
Laſſet eine Figur
denkend, ſinnend, da ſtehn; ſo gleich ſenkt ſich
das Haupt,
das iſt, die untern Theile des Ge-
ſichts ziehen ſich, wie in den Schatten zuruͤck, und
die Stirn wird Haupttheil. Auch ohne Fin-
ger an der Naſe ſagt die Geſtalt: ich denke.
Laßt einen Jmperator vor ſich ſehen, daß ſein Blick
befehle; ſofort wird dieſer Blick das laute Wort
des Geſichts, das Auge wird Haupttheil: da-
her ſind auch an der Juno die Augen ſo ſchoͤn und
groß gebildet, denn es iſt der Koͤnigliche Wink
ihres Daſeyns
aſt ego regina Deum
Laßt einen Apollo Zorn fuͤhlen und ſchreiten: ſo
fort treten die Theile ſeines Koͤrpers hervor, die
edles Selbſtgefuͤhl und Gang zu ſeinem Zwecke
andeuten: die Naſe weht lebenden Othem und
macht Raum vor ſich her: die Bruſt, ein ſchoͤ-
ner Panzer, woͤlbet ſich edel: die muthigen,
laͤn-
[93] laͤngern Schenkel ſchreiten: die andern Glieder
ziehn ſich gleichſam beſcheiden zuruͤck, denn ſie
ſind nicht in der Handlung. Eine Geſtalt ſoll
verlangen, bitten, wuͤnſchen, flehen mit ihrem
Munde; unvermerkt beugt dieſer ſich ſanft vor,
daß auf ihm Hauch, Gebet, Verlangen, Wunſch,
Kuß ſchwebe. Selbſt bis zum Ohre, wenn es
horcht, erſtreckt ſich dieſe feine Bewegung und
Andeutung. Die Form des handelnden
Gliedes
ſpricht immer: ich bin da, ich wuͤrke.
Und iſt dies im ſeinen zarten Geſicht, um ſo
mehr iſts im ganzen Koͤrper. Wie kann die
Hand befehlen, ohne daß ſie ſich erhebe und ihr
Amt andeute? wie kann die Bruſt ſich darbieten
und ſchuͤtzen, ohne daß ſie unvermerkt vortrete
und ſpreche: ich bin gewoͤlbet. Ein ſchoͤner
Bauch blaͤhet ſich nicht: aber natuͤrlich ſinkt Bac-
chus in eine ihm vortheilhafte Stellung: er lehnt
ſich ſanft an mit dem Arme, daß ſeine ſchoͤne
Weiblichkeit in Ruͤcken und Bruſt, in Bauch
und Huͤften in ihrer bedeutenden Sprache rede.
Und dies alles ſind keine Kunſtregeln, keine ſtu-
dirte Uebereinkommniſſe, es iſt die natuͤrliche
Sprache der Seele durch unſern ganzen
Koͤrper,
die Grundbuchſtaben und das Alphabet
alle deſſen, was Stellung, Handlung, Cha-
rakter
iſt und wodurch dieſe nur moͤglich wer-
den. — —


Alſo
[94]

Alſo weiter. Hat die Natur unſre Menſch-
heit nicht zum todten Meer, zum Stillſtande ei-
ner ewigen Unthaͤtigkeit und Gefuͤhlloſen Goͤt-
terruhe, ſondern zu einem bewegten, ewig ſich
regenden Strome voll Kraft und Lebensgeiſtes
machen wollen; ſo ſehen wir, auch von außen
konnte ihr Werk keine plaſtiſche Larve und Maske
einer ſchoͤnen ewigen Unthaͤtigkeit ſeyn, ſondern
Lebenswind muſte die Formen beleben. So-
fort wird die Schoͤnheit Kraft, Bedeutung in
jedem Gliede. Statt des Abſtraks in Wolken,
das kein Auge geſehn und kein Ohr gehoͤrt hat,
wird ſie auch bey Goͤttern und Goͤttinnen Con-
cret d. i. Charakter
dieſes Gottes und keines
andern. Jede ſchoͤne Form an ihm, wird von
dem Lebensgeiſte beſtimmt, der ſein Schif an-
wehet und treibet: mithin wird jedes Glied im
hoͤchſten Maaſſe individuell bedeutend. Und
nur ſo fern es alſo bedeutet, und der Daͤmon,
der Charakter, der Eine Goͤttliche Lebensgeiſt
ganz und allein in dieſem Bilde erſcheint, ſo
fern iſts der ſchoͤne Apollo, die Glorreiche Juno
und Aphrodite. Man darf hier abermals we-
der in Buchſtaben noch in Wolken ſtudiren, ſon-
dern nur ſeyn und fuͤhlen: Menſch ſeyn, blind
empfinden, wie die Seele in jedem Charakter, in
jeder Stellung und Leidenſchaft in uns wuͤrke,
und
[95] und denn taſten. Es iſt die laute Naturſprache,
allen Voͤlkern, ja ſelbſt blinden und Tauben
hoͤrbar.


Nireus, der ſchoͤnſte aller Griechen vor Tro-
ja, thut in der ganzen Jliade nichts und kommt
nicht, als im Verzeichniß der Schiffe, zum Vor-
ſchein: alle, die darinn handeln, ſtehn als einzel-
ne Charaktere, mit veſtbeſtimmten, nicht zer-
fließenden, unwandelbaren Zuͤgen da und ſind,
die ſie ſind.
So der Goͤttliche Agamemnon,
„an Haupt und Blick dem Jupiter gleich, dem
„Mars im Gurte, an Bruſt dem Neptun: er
„ſtand, wie ein Stier da erhaben unter ſeiner
„Heerde„; aber nur im ruhigſten praͤchtigſten
Theil der Jliade vor dem erſten Anfalle ſtand er
ſo, nachher hat Homer nicht Zeit ſeine Schoͤne zu
ſchildern: Agamemnon handelt. Priamus
kann vom Thurm ihn ſchauen und bewundern:
Helena preiſen, Homer preiſet nicht mehr. Vom
ſchoͤnen Achilles, um den ſich das ganze Gedicht
windet, hoͤren wir kein Lob der Schoͤnheit, wir
ſollen ihn nur in ſeinem Zorne ſehen, auf die lieb-
lichſte Weiſe mit Freundſchaft, Liebe, Vertrau-
lichkeit und Saitenſpiel vermaͤhlet. Der Goͤtt-
liche Ulyſſes „mit ſeiner breiten Bruſt und Schul-
„tern, als Agamemnon, der als ein dickwol-
„liger Widder zwiſchen den Reihen der gelagerten
„Heerde auf und abgeht: Menelaus, der, wenn
„er
[96] „er ſtand, mit breiten Schultern dem Ulyſſes
„vorragte, aber wenn beide ſaſſen, ſchien Ulyſſes
„der Anſehnlichere„ — in ſolchen zwei Zuͤgen,
vom muͤſſigen Thurm gezeichnet, ſtehen ſie leib-
haft da und zeigen nachher nur die beſtimmte
Form ihrer Glieder in beſtimmter einzelner
Handlung.
So Homer: und daß nicht blos
der Epiſche Dichter alſo ſchildert, weil ihn die
Handlung fortreißt, ſondern die Griechen ſich nie
Schoͤnheit als in beſtimmter Form dachten, mag
uns ſelbſt Anakreons Bathyllus lehren. Ein
Liedchen der Wohlluſt, denkt man, kann doch
wohl am erſten ein geſammleter Duft, ein ſchwe-
bendes Gewebe, eine Blumenleſe ſeyn von man-
cherlei Traumzuͤgen: es iſts und iſts nicht. Es
ſaugt von vielen Blumen den Honig, aber zu
einer ſehr beſtimmten Geſtalt: der Juͤngling
verwandelt ſich ploͤtzlich in einen Apollo, oder
vielmehr Apollo in den Juͤngling und die Statue
ſteht da.


Ohne Zweifel hat dies außerordentlich Be-
ſtimmte,
treu Erfaßte in der Form jeder Stel-
lung, jeder Leidenſchaft, jedes Charakters den
Griechen zu der Hoͤhe der Kunſt geholfen, die
ſeit der Zeit nicht mehr auf der Erde erſchienen iſt.
Sie ſahen als Blinde und taſteten ſehend: durch
keine Brille des Syſtems oder Jdeals, das et-
wa ein ſchwebend Spinnengewebe der Herbſtluft
zur
[97] zur Seelenform eines Menſchlichen Koͤrpers haͤtte
phantaſiren wollen. Kein Glied von Einem ihrer
Goͤtter kann einen andern Gott, keine Stellung
ihrer Handlung einen andern Charakter bedeuten,
als da ſteht. Ein Geiſt hat ſich uͤber die Sta-
tue ergoßen, hielt die Hand des Kuͤnſtlers, daß
auch das Werk hielt, und Eins ward. Wer
(um ſo gleich ein Schwerſtes anzufuͤhren) wer je
am beruͤhmten Hermaphroditen ſtand und nicht
fuͤhlte, wie in jeder Schwingung und Biegung des
Koͤrpers, in allem, wo er beruͤhrt und nicht be-
ruͤhrt, bacchiſcher Traum und Hermaphroditiſ-
mus herrſchet, wie er auf einer Folter ſuͤßer Ge-
danken und Wolluſt ſchwebt, die ihm, wie ein
gelindes Feuer, durch ſeinen ganzen Koͤrper drin-
get — wer dies nicht fuͤhlte und in ſich gleichſam
unwillkuͤhrlich den Nach- oder Mitklang deſſel-
ben Saitenſpiels wahrnahm; dem koͤnnen meine
nicht und keine Worte es erklaͤren. Eben das iſt das
ſo ungemein Sichere und Veſte bei einer Bildſaͤu-
le, daß, weil ſie Menſch und ganz durchlebter
Koͤrper
iſt, ſie als That, zu uns ſpricht, uns
veſthaͤlt und durchdringend unſer Weſen, das
ganze Saitenſpiel Menſchlicher Mitempfindung
wecket.


Jch weiß nicht, ob ich ein Wort wagen und
es Statik oder Dynamik nennen ſoll, was da
von Menſchlicher Seele in den Kunſtkoͤrper ge-
Ggoſſen,
[98]goſſen, jeder Biegung, Senkung, Weiche,
Haͤrte,
wie auf einer Waage zugewogen, in
jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unſre
Seele in die naͤhmliche ſympathetiſche Stellung
zu verſetzen.
Jedes Beugen und Heben
der Bruſt und des Knies, und wie der Koͤrper
ruht und wie in ihm die Seele ſich darſtellt, geht
ſtumm und unbegreiflich in uns hinuͤber: wir
werden mit der Natur gleichſam verkoͤrpert oder
dieſe mit uns beſeelet. Und daher fuͤhlen wir
auch jede neue Ergaͤnzung doppelt widrig, die,
ſo ſchoͤn ſie auch ſeyn mag, wenn ſie nicht vom
Ganzen des Einen lebendigen Geiſtes beſeelt wird,
uns mit Recht als ein fremdes Flickwerk vor-
kommt. Nichts muß blos erſehen und als Flaͤ-
che behandelt, ſondern vom zarten Finger des in-
nern Sinnes und harmoniſchen Mitgefuͤhls durch-
taſtet ſeyn, als ob es aus den Haͤnden des Schoͤ-
pfers kaͤme. —


Nichts preiſen daher die Zuſchriften der
Griechiſchen Anthologie an den Statuen ſo ſehr,
als dieſe ganze Haltung, dies Durch- und zu
uns Leben,
das aus ihnen gehet. Jch weiß
nicht, ob es eine Zeichnung oder Schilderei erſe-
tze, die nur Schatten auf der Flaͤche gibt und
vom lebendigen Koͤrper doch auch nur entſpringen
muſte; aber das weiß ich, daß, je mehr wir alle
Dinge als Schatten, als Gemaͤhlde und voruͤber-
ſtrei-
[99] ſtreichende Gruppen anſehen, wir dieſer koͤrper-
lichen Wahrheit
immer um ſo ferner bleiben.
Auch hier komme uns geiſtig das Gefuͤhl und die
dunkle Nacht zu Huͤlfe, die mit ihrem Schwam-
me alle Farben der Dinge ausloͤſcht und uns an
das Haben und Halten Einer Sache heftet. Die
Griechen wuſten wenig, aber das Wenige ganz
und gut: ſie erfaßtens und konntens geben, daß
es zu ewigen Zeiten lebe. So wie das Profil
ihres Angeſichts gebildet und nicht gemahlt iſt,
ſo ſinds auch ihre Werke.


Wie weit wir da hinter ihnen ſtehen, mag
eine zukuͤnftige Zeit richten. Was iſt ſeltner in
unſern Tagen, als einen Menſchlichen Charakter
zu erfaſſen, wie er iſt, ihn treu und ganz zu hal-
ten und fortzufuͤhren? Da muß uns immer die
liebe Vernunft und Moral, wie das Licht und
die Farbe, zu Huͤlfe kommen, weil er auf ſeinen
Fuͤßen nicht ſtehen will und ſich von Seite zu Sei-
te, wie ein Geſpenſt, veraͤndert. Das macht,
wir ſehen ſo viel, daß wir gar nichts ſehen und
wiſſen ſo viel, daß gar nichts mehr unſer, d. i.
etwas iſt, was wir nicht gelernt haben konnten,
was mit Tugenden und Fehlern aus unſerm Jch
entſprang. Heilige Nacht, Mutter der Goͤtter
und Menſchen, komme uͤber uns, uns zu er-
quicken und zu ſammeln. Non multa, ſed mul-
tum.
Mit welchem tiefen Verſtande und ſtillen
G 2Durch-
[100] Durchgefuͤhle arbeiteten Raphael und Dome-
nichino
an ihren ewigen Werken. Nicht Ge-
maͤhlde; Daͤdalus Bildſaͤulen ſind ſie, und wan-
deln und leben.


Das wills alſo nicht thun, daß wir unſern
Kindern etwa von Jugend auf, Wachs und
Thon in die Hand geben, obgleich auch damit
ſchon etwas gethan waͤre und vielleicht niemand
zeichnen ſollte, der nicht als Kind lange gebildet
und geſpielt hatte. Alle erſten Zeichnungen der
Kinder ſind Gebilde auch auf dem Papier:
Nachaͤffungen des ganzen lebendigen Dinges,
ohne Licht und Schatten, den ſie vielmehr im An-
fange gar nicht begreifen, noch einſehen koͤnnen,
warum er da ſei und ihr ſchoͤnes Bild verderbe?
Er iſt ihnen alſo in der Natur nicht: ihr Auge
ſiehet, wie ihre Hand fuͤhlet. Die Natur geht
noch immer mit jedem einzelnen Menſchen, wie
ſie mit dem ganzen Geſchlecht ging, vom Fuͤhlen
zum Sehen, von der Plaſtik zur Piktur. Das
waͤre etwas, aber nicht Alles: denn was ſoll
nun gebildet werden? Baͤume, Pflanzen, Skor-
pionen, unſre Komplimente, unſre Kleider?
Die Natur iſt von uns gegangen, und hat ſich
verborgen, Kunſt und Staͤnde, und Mechaniſ-
mus und Flickwerk ſind da; die ſind aber,
duͤnkt mich, weder in Thon noch in Wachs zu
bilden.


Gehe
[101]

Gehe man jetzt auf unſre Maͤrkte, in unſre
Kirchen und Gerichtsſtaͤten, Beſuchzimmer und
Haͤuſer, und wolle bilden. Bilden? was?
Stuͤhle oder Menſchen? Reifroͤcke oder Hand-
ſchuh? Federwiſche auf Koͤpfen oder Cerimo-
nien? — Bilden? und wie? durch welchen
Sinn? durchs Auge oder durch den Geruch?
da ja kein Auge das Auge des Freundes, ge-
ſchweige Wange die Wange, Mund den Mund,
Hand die Hand kennet. Jn den Ritterzeiten
verpanzerte man ſich, um auf einander zu ſtechen;
wozu thut mans jetzt?


Griechiſche Spiele, Griechiſche Taͤnze,
Griechiſche Feſte, Griechiſche Offenheit, Ju-
gend und Freude, wo ſind ſie? wo koͤnnen ſie
ſeyn? und wenn auch ſogleich ein Sereniſſimus
regens,
etwa der Stifter eines neuen Griechen-
landes,
(ſo wie die fuͤnfte Loge oben Paradies
heißt) durch Edikte, ſchwarz auf weiß, und
gar bey Trommelſchlag ſie allergnaͤdigſt anbefoͤh-
len? Stellet Griechiſche Statuen hin, daß jeder
Hund an ſie piſſet, und ihr koͤnnt dem Sklaven,
der ſie taͤglich vorbeigeht, dem Eſel, der ſeine
Buͤrde ſchleppt, kein Gefuͤhl geben, zu merken,
daß ſie da ſei und er ihr gleich werde. So habt
ihr alſo doch einen Zaunpfal hingeſetzt, an den
er ſich lehne und etwa ſeinen geſchundenen Ruͤcken
reibe! An einem beruͤhmten Orte Deutſchlands
G 3iſt
[102] iſt der Paradeplatz mit Statuen umgeben, Grie-
chiſche Helden, mit neuem ſpitzen Knie und der
Trummel; ich weiß nicht, warum die Ka-
maſchen und die Grenadiermuͤtze und das praͤſen-
tirte Gewehr und der Kommißrock fehlen?
Sonſt halte ichs fuͤr treflich, jeder Schildwache
Statuen vorzuſetzen: das Geſchoͤpf hat Zeit, an
ihnen Apollo und Jupiter zu werden.


O des erſtickenden edlen Dampfs, den
manche neue Griechenlaͤnder ihren kargen Beſol-
dern ums Taglohn darbringen! Als obs nicht
mit Haͤnden zu faſſen waͤre, daß in niemand der
Geiſt des andern uͤbergehen kann, der mit ihm
nichts gemeinſchaftliches hat, ſo wenig als Le-
ben in den Stein und Blut in die Pflanze? Je-
der Juͤngling, der vor’m Griechiſchen Heroen
ſtand, hatte in den ſchoͤnen Zeiten Griechenlands
Weg und Hoffnung ſeine Statue zu erhalten.
Goͤtter und Helden waren alle aus ihrem Ge-
ſchlecht, ihre Vorfahren, ihres Gleichen. Ein
Spiel, ein Kampf konnte den Juͤngling neben
ihn ſtellen und der Kuͤnſtler arbeitete ſo dann fuͤr
ſeine Stadt, fuͤr ſein Volk, fuͤr den ganzen
Griechennamen. So ſang Pindar und ſetzte ſei-
nen Geſang uͤber Statuenlob und Schoͤne. So
ſahen, ſo hoͤrten die Griechen den Kuͤnſtler und
den Dichter, und wie ſehen, wie hoͤren wir?
Es iſt wunderſam, wie ſelten uns nur ein Menſch
erſcheint,
[103] erſcheint, und wie noch ſeltner Menſch einen
Menſchen umfaſſet, und ihn ſo lieb gewinnt, daß
er ihn mit ſich trage und ihn der Ewigkeit gebe.
Jn einem beruͤhmten Garten ſind die National-
produkte, Alongeperuͤcken, ich glaube mit Pan-
zern, in Toͤpferton gebildet — ohne Zweifel, das
wahreſte Gebilde des Landes.


Doch wozu weiter die unnuͤtzen Klagen, die
doch auch kein Griechenland ſchaffen werden? lie-
ber zur lieben Schoͤnheitslinie zuruͤck, die ja
ganz unter unſern fuͤhlbaren Formen zu verſchwin-
den ſchien. — Mit nichten verſchwand ſie, hier
eben finden wir ſie wahr und koͤrperlich wieder.
Mathematik iſt die wahrſte Wiſſenſchaft, nur
durch Phyſik wird ſie lebendig, ſo wie Zahl nur
in Dingen, die gezaͤhlet werden, da iſt. Und
wenn es allerdings einen Mathematiſchen Grund
geben muß, warum die Schoͤnheitslinie ſchoͤn iſt,
wie doppelt angenehm wird es ſeyn, den abſtrak-
ten Grund in jeder konkreteſten Form beſtaͤtigt
zu ſehen.



Die gerade Linie naͤhmlich iſt die Linie der
Veſtigkeit,
das ſagt uns Sinn und Auge. Ein
Theil ruhet auf dem andern, haͤngt am andern,
unterſtuͤtzt und wird unterſtuͤtzt: ſo wohl ſenk- als
waagerecht hat die Natur daher, wo ſie Veſtig-
G 4keit
[104] keit noͤthig hatte, dieſe Linie gewaͤhlet. So
waͤchſt der Baum im Stamme, und ruhet ver-
juͤngt auf ſich ſelbſt: das Vorbild der Veſtigkeit
und der ſchoͤnen Saͤule. So liegt, wo Baſe noͤ-
thig war, Stein, Erde und ſelbſt das Meer, in
Gleiche. So iſt auch beim Menſchlichen Koͤr-
per, wo Baſis noͤthig war, Fußſole: wo erhab-
ne Veſtigkeit ſeyn ſollte, gerader Stand an Fuß,
Schenkel, Hals, Arm und Haͤnden. Nichts
ſieht uͤbler, als ein gebeugter Baum, oder eine
krumme Saͤule: auch die Hand des Blinden will
ſie aufrichten: denn ſie iſt gefallen und kann zer-
ſchmettern. So iſt auch ein krummer Hals,
krummer Ruͤcken und krumme Beine gerade das,
was in der Menſchlichen Geſtalt den Eindruck des
veſten Standes und der einfachen Erhabenheit
am meiſten mindert. Der Haupttheil unſers
Geſichts, der vortritt und die ganze Form deſſel-
ben bildet, iſt eine gerade Linie, die Naſe, und
die Schiefheit derſelben macht einen laͤcherlichen
Eindruck. Man kann zu einem Geſicht mit
ſchiefer Naſe faſt nicht reden. —


Die Linie der Vollkommenheit iſt der Kreis,
wo Alles aus Einem Mittelpunkt ſtralet und in
ihn zuruͤckfaͤllt, wo kein Punkt dem andern gleich
iſt und doch Alles zu Einem Kreiſe wallet. Wo
es anging, hat die Natur die Linie der Richtig-
keit
mit dem Kreiſe der Vollkommenheit um-
wunden.
[105] wunden. So verjuͤngte ſie Pflanzen und Baͤu-
me: ſo ſtralt die vollkommene Sonne, und es
woͤlbt ſich der umfaſſende Himmel, und der Tropfe
ruͤndet ſich, wie die Erde u. f. — So hat ſie
auch am Koͤrper die Linie der Veſtigkeit mit
Rundheit umkleidet: Arm und Beine, Finger
und Hals zuſammt dem Himmel, den er traͤgt,
ſind geruͤndet: jeder Bruch, jede Ecke und Win-
kel dieſer Theile ſind unertraͤglich.


Da aber die Gefaͤße hienieden der Vollkom-
menheit
nicht faͤhig ſind, und die Linie der rich-
tigen Nothdurft
ſie immer uͤberwaͤltigend zu ſich
ziehet, ſiehe, ſo ward, wie im Weltgebaͤude durch
den Streit zweier Kraͤfte die Ellypſe ward, in
der ſich die Planeten, ſo hier die Linie der
Schoͤnheit,
in der ſich die Formen der Koͤrper
winden. Sie entſtand, wie bei Plato die Liebe
von Beduͤrfniß und Ueberfluß, aus der geraden
Linie und Rundheit. Der Cirkel war fuͤr uns zu
voll, nicht zu umſchauen, nicht zu umfaſſen;
die gerade Linie zu duͤrftig, um den vielſeitigen
Organiſmus zu geben, zu dem unſer Koͤrper da
ſeyn ſollte. Sie ſchwebt alſo und neigt ſich,
damit dies oder jenes uͤberwiege. Jn der ve-
ſten Bruſt, im veſten Ruͤcken wenig Kruͤmme,
nur Woͤlbung: dieſer iſt Mauer und Stuͤtze, jene
Panzer. Der Unterleib, beim Weibe der Bu-
ſen, die Glieder der Schwachheit wurden mit
G 5Weiche
[106] Weiche und dem Anſchein der Vollkommenheit
bekleidet. Nur aber iſts Anſchein: denn ein
Kugelbauch, wie ein Kugelkopf und Kugelwade,
ſind uͤberfuͤllte Auswuͤchſe, in ihnen ſelbſt der
Keim der Zerſtoͤrung.


Woher dies Letzte? Jch wiederhole, weil das
Menſchliche Gefaͤß keiner Vollkommenheit und
alſo auch keines Zeichens derſelben faͤhig iſt: denn
Vollkommenheit iſt Ruhe, ſie aber ſoll wuͤrken,
ſtreben.
Die Kugelbaͤuche und Kugelkoͤpfe moͤ-
gen viel Behaglichkeit, Satte und Allgnugſam-
keit in ſich haben; zum Fortſchwunge im Ganzen
ſind ſie um ſo minder: ſie tragen uͤber und vor
ſich ihren eignen Atlas. Wie das Licht empor-
wallet in der Flamme und das Meer aus ſeiner
Ruhe in Wellen laͤuft, und die Sonne ſelbſt im
Thierkreiſe den Erdkreis ſchlingend umwindet: ſo
wird beim Menſchlichen Geſchoͤpf nur durch Be-
wegung Reiz, und in Linien, Formen und Thaten
iſt Reiz nichts als Schoͤne in Bewegung. Sie
entfernt ſich von der Linie der Nothdurft, die ihr
doch Baſis bleiben muß, und wallet zur Vollkom-
menheit
hin, ohne ſich in ſie zu verſenken. Zwi-
ſchen dieſen beiden Aeußerſten ſchwebt das Men-
ſchengeſchlecht und ſeine beiden Geſchlechte: der
Mann auch in ſeinem Stande der Linie der ve-
ſten Richtigkeit naͤher, das Weib mit ſchweben-
der Schoͤnheit,
die Reiz iſt, bekleidet.


Jſt
[107]

Jſt alſo kein Reiz ohne Bewegung; ſo zeigt
dieſe, die Morgenroͤthe zur Handlung aber-
mals und ſelbſt dem dunkeltaſtenden Sinne: wo-
her nur die anbrechende oder gemaͤßigte Leiden-
ſchaft und Handlung Reiz verleihe? Jn dieſem
Schweben naͤhmlich allein iſt ſie zwiſchen den bei-
den Aeußerſten, Nacht und Sonne, zwiſchen
Steife und uͤbergieſſender Fuͤlle. Man beruͤhre
jedes Glied in ſeinem hoͤchſten Tone, wie kurz iſts
zu ertragen! Die emporgezogne Stirn und das
grinſende Lieblaͤcheln, das die Augen ſchließt und
den Mund verzerret, ein ſich zum Kropf ſenken-
des Kinn und die ſich zur Tonne bruͤſtende Bruſt,
und der uͤberſtreckte ſpitze Arm und der zu ſcharf
angeſtrengte oder verworfene Fuß — man taſte
alle dieſe Glieder, und man wird Mechaniſch,
wie geiſtig, das Abweichen von aller ſchoͤnen
Form und Handlung
fuͤhlen. Ein ſchreiender
Mund iſt der fuͤhlenden Hand eine Hoͤle: das La-
chen der Wange eine Runzel. Die ewigen Ge-
ſetze der menſchlichen Schoͤnheit ſind alſo Meta-
phyſiſch
und Phyſiſch, Moraliſch und Plaſtiſch
voͤllig dieſelbe. Ein Menſch im Morgen des
Jahrs wie des Lebens, im Fruͤhlinge der Be-
wegung
wie der Handlung, iſt immer Ein ana-
loges Geſchoͤpf, die ſchoͤne Mitte zweier Extre-
me. Der Schwan, der ſich um die Leda ſchlingt,
und Leda, wie ſie ihm zuwallet, Danae, wie ſie
den
[108] den Regen erwartet, nicht wie beide von beiden
die Frucht zeigen, bilden Linien des Reizes. Fuͤr
ihr theuerſtes Beduͤrfniß ſparte die Natur alſo
ihre reichſten Schaͤtze auf, und wie jener heilige
Schriftſteller ſagt, die Glieder der Unehre
ſchmuͤcket man am meiſten.
Jch habe noch
Ein Wort uͤber das, was Stand oder Fall des
Koͤrpers iſt, zu ſagen. Allen ſteht der Kopf auf
Schultern; aber nicht allen ſteht er darauf gleich.
Bei allen iſt im Mittelpunkt der Schwerpunkt,
aber gewiß faͤllt bei allen das Gliedergebaͤu nicht
gleich auf denſelben. Wir ſtehn alle auf den
Fuͤßen; großer Unterſchied aber, wie der Koͤrper
auf ſie faͤllt, auf ihnen ruhet, wie ſich der Fuß-
tritt druͤckt. Dieſer ganze Stand und Fall des
Koͤrpers iſt ungemein bedeutend. Er zeigt ganz
natuͤrlich, die Glieder, die hervortreten oder ſich
verbergen, die wie von Natur und unwillkuͤhr-
lich gleichſam zuerſt ſprechen, oder die da ſchwei-
gen, als waͤren ſie gar nicht. Hiernach beſtimmt
ſich der Gang des Menſchen, der fuͤr Phyſiogno-
miſten und Antiphyſiognomiſten ſo karakteriſtiſch
iſt: hiernach, wie ein Menſch auftritt und ſich
zeigt, oder ſitzt und ruhet. An Goͤttern und
Faunen, Helden und Satyren, bewieſen auch
hierinn die alten Kuͤnſtler unendlich feine Cha-
rakterkenntniß,
wie weitlaͤuftig gezeigt werden
koͤnnte. Ueberhaupt iſt nichts untruͤglicher, als
was
[109] was vom ganzen Koͤrper ſpricht, wenn es ſogar
dem Gefuͤhl redet. An einzelnen Theilen kann
man ſich irren, aber die Stimme des Allgemei-
nen
iſt auch hier Gottes Stimme. Sie wapnet
uns gegen Traum und Deutelei, inſonderheit ge-
gen das partheiiſche Hangen an Einer Form, an
Einem Zuge, das uns ſo weit wegbringen kann
von Wahrheit. Das beſcheidene Gefuͤhl ta-
ſtet langſam, aber unpartheiiſch: es findet viel-
leicht wenig, aber was da iſt. Es urtheilt nicht,
bis es ganz erfaßt hat.


Es iſt wunderbar, welchen Blick hierinn, wie
in Allem, die beiden Geſchlechter gegen einander
haben, wie tief der Mann das Weib und das
Weib den Mann kennet. Jedes kann ſeinem
Geſchlechte Unrecht thun und thut ihm oft, nicht
eben aus Neid, Unrecht; aber ſein Urtheil uͤber
das Andre iſt, wo es nicht Leidenſchaft verblendet,
ſondern Leidenſchaft wapnet, wunderbar ſtrenge.
Die Liebe holt das wahre Jdeal, den Engel;
Haß, den Teufel aus uns hervor, der in uns
liegt, und den wir oft ſelbſt nicht zu ſehen oder zu
finden vermoͤgen. Die Urſache iſt klar. Zum
allgemein Menſchlichen Gefuͤhle kam noch ein
Geſchlechtsgefuͤhl hinzu, das wir ja auch bei
den erhabenſten Urtheilen uͤber das, was Menſch
iſt,
nicht ganz verlaͤugnen. Der Mann muß im-
mer, er mag dichten oder regieren, Menſchen oder
Statuen
[110] Statuen ſchaffen, als Mann, das Weib im-
mer als Weib fuͤhlen.


Endlich kann ich nicht umhin, noch mit Ei-
nem Laute die Symmetrie zu preiſen, die ſich,
auch ſelbſt dem dunkelſten Sinne ſchon, am
Menſchlichen Koͤrper leicht und herrlich offenba-
ret. Die Natur waͤhlte immer das leichteſte
Verhaͤltniß, Eins und Zwei: ſetzte ſie uͤber und
gegen einander und immer die Glieder zuſammen
und in vertrauliche Naͤhe, die gemeinſchaftlich
ſprechen ſollten. Das edle Eine Haupt ſteht auf
dem freien feſten Halſe zwiſchen zwo Schultern,
als den Balken des Gliedervollen Gebaͤudes, das
es beherrſcht und uͤberſiehet. Es hat die ſchoͤne
Ovallinie zur Form und traͤgt das Angeſicht vor
ſich. Wie das Haupt auf den Schultern, ſo ru-
het im Angeſichte die Stirn auf den beiden Bo-
gen der Augenbrane, wie ein Gedankenhimmel
allein und oben. Zwiſchen den Augenbranen tritt
Seele und Stirn auf einen Punkt, und zu beiden
Seiten woͤlbt ſich der edelſte Sinn, das Auge,
abermals in der ſchoͤnſten Linie der Ellypſe. So
ſteht die Naſe und der Mund abermal zwiſchen
zwei Blumengelaͤndern, den Wangen, bis die
Ellypſe des Haupts ſich mit dem veſten Kinne
ſchließt — kurz, man kann ſich mit den Sieben
Buchſtaben, die unſer heiliges Antlitz bilden, kei-
nen Stand und kein Verhaͤltniß denken, was
leichter
[111] leichter zu faſſen, zu ſammlen, zu ordnen waͤre,
und zugleich ſo viel Mannichfaltigkeit und Ver-
ſchiedenheit darboͤte, als das ſchoͤne Zuſammen-
ſtralen und Abwechſeln
der Stirn
und der Augen,
der Naſe
und der Wangen,
des Mundes

endlich, der auf dem Kinne ruhet. Eins unter-
ſtuͤtzt, hebt, traͤgt das andre, faſt wirds dem ta-
ſtenden Gefuͤhle ſchon, was es durchs Licht dem
Auge ſo unendlich mehr iſt, Antlitz. Offenbar
nach eben dem Bau und den Gliedern derſelben
Verhaͤltniß iſt der ganze Koͤrper gebildet: daher
die Wilden ſich abermals auf Bruſt und Knie
ein Menſchenantlitz mahlen. Die beiden War-
zen der Bruſt uͤber dem Nabel, der Unterleib
uͤber den Fuͤßen, wie die Bruſt unter den Fittigen
der Arme, ſind Ein Verhaͤltniß: jedes gehoͤrt zum
andern, als Eins oder Paar, und ſpricht zu und
mit ihm, was es ſprechen ſoll. Die Anzahl und
Bildung der Finger, die wir aus einem halben
Kreiſe geſchnitten, in einer Ordnung, die nicht
vermehrt und vermindert, nicht verſetzt noch ver-
ſtuͤmmelt werden kann, daſtehn, beſtaͤtigt daſſelbe;
kurz, uͤberall eine einfache und harmoniſche Weis-
heit, die in und fuͤr uns gefuͤhlt, gemeſſen, geord-
net,
[112] net, Umfang und Fuͤlle beſchraͤnkt hat. Sie goß
die Seele in ein tauſendfach organiſirtes aber ſehr
einfach begraͤnztes, leicht zu umfaſſendes Maas,
und machte Punkte der Vereinigung, wo und wie
oft, und auf wie zarterer Stelle ſie ſie machen
konnte. So findet Auge das Auge, ſo druͤckt
ſich Mund an Mund und Bruſt an Bruſt, und
blickt und ſaugt in ſich Othem der Liebe. Man
verruͤcke die Zuͤge des Geſichts, man verpflanze
und wechsle Glieder; mit und ohne Auge muß
man grauſen, wie immer die kleinſte Mißbildung
zeiget. Was wir in der Optik und in den
anordnenden Kuͤnſten uͤberhaupt von feinen Ge-
ſetzen des Wohlſtandes und der Wohlgeſtalt
des Eben- und Unebenmaaßes entdecken werden,
findet ſein groͤßtes Vorbild in dem edeln Werke,
das uͤberall, wie es ſcheint, der großen Mutter
Liebling und Augenmerk war, in der Menſchen-
geſtalt
und Menſchenſchoͤne.



Fuͤnfter
[113]

Fuͤnfter Abſchnitt.



Jch fragte eine Blindgebohrne *): „welcher
„Tiſch, welches Gefaͤß ihr lieber ſei?
„das eckige oder runde„? Sie antwor-
tete: das Runde, den dies ſei ſanft und wohl zu
faſſen, und am runden Tiſch ſtoße man ſich nicht.
Vielleicht iſt dies Alles, was uͤber die Linie der
Schoͤnheit
ſo ſimpel geſagt werden kann.
„Warum ein runder Arm, eine ſchlanke Taille
„ihr wohlgefiele„? weil ſie geſund, rege und leicht
iſt. Geſpenſt ſtellte ſie ſich als einen kalten Hauch
vor, der ſie verfolge, und Lieblichkeit ſuchte ſie in
ſchoͤner veſter Stimme, Zuthulichkeit, gefaͤlligem
Duft und ſanfter Waͤrme: gerade wie Saunder-
ſon und andre Beiſpiele. Jch reichte ihr eine
Statue, ſie kannte und nannte jeden Theil und
fand ihn gut; als ſie ans Kleid kam, ſtutzte ſie
und wußte nicht, was es ſei: denn es war die
erſte Statue, die ſie faßte. — Sonſt machte ſie
mein Stand zu furchtſam, und die Entfernung ih-
res Orts, verſagte mir weitere Nachforſchung.
Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdruͤcke des
HSin-
[114] Sinnes, den ſie nicht beſaß, nur ſie verſtand kei-
nen: es war aufgeſchnapptes Papageienweſen,
wie ein großer Theil der Sprache bei uns Men-
ſchen mit fuͤnf Sinnen immer fort iſt. Uebri-
gens halte ich Maͤngel von dieſer Art fuͤr die ein-
zige ſicherſte Quelle, unſre Sprache und Begriffe
der ſo verflochtnen Sinnlichkeit zu ſcheiden und
jedem Sinne wiederzugeben, was ſein iſt. Wenn
je eine praktiſche Vernunftlehre, ein philoſophi-
ſches Lexicon der Sprache, Sinne und ſchoͤnen
Kuͤnſte
geſchrieben wird, wo jedes Wort, jeder
Begriff ſeinen Urſprung finde, und wo den Gaͤn-
gen nachgeſpuͤrt werde, wie er ſich von Sinn zu
Sinn, von Sinn zu Seele uͤbertrage? ſo, duͤnkt
mich, muͤſſen Verſuche der Art Leitfaden ſeyn,
oder alles bleibt Labyrinth und Vernunftgewaͤſche,
wie es jetzt iſt.


Jn dieſem Buche iſt uͤber Einen Sinn, und
aus Einer Kunſt und Klaſſe von Begriffen eine
kleine Anfangsprobe. Honny ſoit qui mal y
penſe,
und der, was aufrichtiges Tappen nach
Wahrheit, Richtigkeit, Einfalt war, was zuͤchti-
ges Gefuͤhl bedeutungsvoller Formen der Schoͤ-
pfung Gottes und nicht Unzuchtbegriffe wecken
ſollte, mit Anmerkungen eines Gecken, oder An-
wendungen eines Buben entehret. Das Beſte
kann zuerſt gemißbraucht werden, eben weil an
ihm etwas zu mißbrauchen iſt; ja die Wahrheit,
die
[115] die nicht auf der Gaſſe liegt, muß ſich eben vom
Sprachgebrauch manchmal entfernen. Nur iſts
noch keinem Aſtronom eingefallen, ſeine Theorie
vom Weltſyſtem deßhalb zu aͤndern, weil der
Sprachgebrauch anders redet. Kann ers erklaͤ-
ren, warum der ſo reden mußte? ſo iſt Alles ge-
than und ſeine Gruͤnde gelten. Jſts ein Meta-
phyſiſch- und Phyſiſch erwieſener Satz, „daß nur
koͤrperliches Gefuͤhl uns Formen gebe„, ſo
muͤſſen die Ableitungen deſſelben in jeder Kunſt
und Wiſſenſchaft wahr ſeyn, geſetzt, daß ſie auch
nicht ſo manche neue Berichtigung und Erlaͤute-
rung gaͤben, als, mich duͤnkt, dieſe der Bemer-
kung erfahrnerer Forſcher gewiß noch geben koͤn-
nen. Verſuche es der Schuͤler der Kunſt, und
wo ſeinem Geſicht in der Form etwas dunkel, wi-
derſinnig und zweifelhaft ſcheinet, oder wo er zu
flattern und uͤberhin zu gleiten befuͤrchtet: er ver-
ſuche und lege den Finger ſeines innern Sinnes
an, um nach Geſtalt des Geiſtes in dieſer Form
zu tappen, wo er nicht erkennen konnte: iſt ſeine
Seele rein und ſtill und ſein Sinn zart, ſo wird
er bald Aufſchluß des untruͤglichen ſtummen Ora-
kels hoͤren und ſeine Hand wird, wie von ſelbſt,
ſtreben, nachzubilden, was er erfaßt hat.



Jch koͤnnte meinen Satz durch die Geſchich-
te der Kunſt fuͤhren und uͤber das Wort Plaſtik
H 2und
[116] und Torevtik, uͤber αγαλμα und ſignum, το-
ρευμα und caelaturam, βαιτυλια, ξοανα, βρετη
u. f. treflich metagraboliſiren. Jch koͤnnte zei-
gen, daß die Bildhauerkunſt uͤberall nur ſo habe
entſtehen koͤnnen, wie ſie bei unſern Kindern ent-
ſteht, in deren Haͤnden ſich Wachs, Brot, Ton
ſelbſt bildet: zeigen, daß die Griechen in ihren
Modellen dem Urſprunge der Kunſt treu blieben,
ſo fern ſie ihm treu bleiben mußten, und daß die
Methode zu modelliren, die Michael Angelo
gebrauchte und Winkelmann ſo ſehr ruͤhmeta),
nichts als das ſei, wovon wir reden. Naͤmlich
„das jeder Form und Beugung ſich ſanft an-
„ſchleichende und anplaͤtſchernde Waſſer wird
„dem Auge des bildenden Kuͤnſtlers der zarteſte
„Finger„, der durch den Wiederſchein gleich-
ſam an mehrerer Runde, ſchwebendem Zauber
und Lieblichkeit viel gewinnet. Jch koͤnnte ſa-
gen, daß die ſo natuͤrliche Vielfoͤrmigkeit der
Griechiſchen Bilde, da jeder Muſkel ſchwebt,
da nichts Tafel wird und keine Seite, keine Vier-
theilſeite des Geſichts, wie die andre, folglich
auch nie durch Kupferſtiche, Zeichnungen, Ge-
maͤhlde darzuſtellen oder zu erſetzen iſt, uns Zug
fuͤr Zug und faſt unwillkuͤhrlich auf jede weiche
Stelle, jede zarte Form taſtend ziehe u. dergl.
Wozu
[117] Wozu aber Alles, was ſich, wenn mein Satz
wahr iſt, jeder ſelbſt ſagen kann und wird.



Jch ſchließe mit einigen allgemeinen Anmer-
kungen uͤber mißverſtandne, folglich ſcharfbeſtrit-
tene Gegenden der Kunſtgeſchichte.


1. Die bildende Kunſt, ſobald ſie Kunſt wird
und ſich von ſignis, d. i. religioͤſen Zeichen und
Denkmahlen, Kloͤtzen, Hoͤlzern, Steinhaufen,
Pfeilern, Saͤulen entfernt, muß nothwendig zu-
erſt ins Große, Erhabene und Ueberſpannte
gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe
und Mitgefuͤhl erreget. Bei Kindern, Blin-
den, und Sehendwerdenden iſts noch alſo, und
wird, was auch die Philoſophie predige, immer
alſo bleiben. Jener Blindgeweſene ſah Men-
ſchen, als ſaͤhe er Baͤume: Cheſeldens Blindem
Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta-
fel ſich bewegend dicht vorm Auge: aller erſte
Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr-
ne von einer Statue haben, iſt gerade wie Daͤ-
dals Saͤulen beſchrieben werden. Ehrfurcht,
die beinah Schrecken wird und Schauer, Ge-
fuͤhl, als ob ſie wandelten und lebten, ſo gera-
de und viereckt ſie dem Auge des Kuͤnſtlers da-
ſtehn moͤgen, ſind die erſten Eindruͤcke der Kunſt,
zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le-
H 3bendi-
[118] bendigen, nur Bewegung und Gefuͤhl ahndenden
Volke. Bei allen Wilden oder Halbwilden ſind
daher die Statuen belebt, Daͤmoniſch, voll
Gottheit und Geiſtes, zumal wenn ſie in Stille,
in heiliger Daͤmmerung angebetet werden, und
man ihre Stimme und Antwort erwartet. Noch
jetzt wandelt uns ein Gefuͤhl der Art an in jedem
ſtillen Muſeum oder Coliſeum voll Goͤtter und
Helden: unvermerkt, wenn man unter ihnen al-
lein iſt und wie voll Andacht an ſie gehet, bele-
ben ſie ſich, und man iſt auf ihrem Grunde in
die Zeiten geruͤckt, da ſie noch lebten und das
Alles Wahrheit war, was jetzt als Mythologie
und Statue daſtehet. Der Gott Jſraels wußte
ſein ſinnliches Volk vor Bildern und Statuen
nicht gnug zu bewahren: war das Bild da, ſo
war auch ſeinen Sinnen der Daͤmon da, ders
belebte, und die Abgoͤtterei unvermeidlich. Wir
Vernunftleute leſen jetzt die eifrigen und bewei-
ſenden Stellen der Propheten gegen die Abgoͤtte-
rei mit Verwunderung und faſt mit Befremden;
die Geſchichte des Volks aber und aller Voͤlker
beweiſets, wie noͤthig ſie waren. Nichts haͤlt die
Sinnlichkeit ſtaͤrker an ſich, als ein Abgott, er
ſei lebendig oder todt, gnug, daß er da iſt und
man zu ihm gehen kann und von ihm Gluͤck und
Ungluͤck erwarten. „Er hoͤrt ja unſre Gebete, er
„nahm ja unſre Opfer an: warum ſollts nicht ſein
„gewe-
[119] „geweſen ſeyn, was uns auf unſer Gebet ward.
„Es ward uns ja auf daſſelbe, und ungezweifelt
„hat Er, Baal, es uns gegeben„. Daher
auch die uͤbeln Begegnungen der Heiden gegen
die Bildſaͤulen ihrer Goͤtter, die uns jetzt
nicht minder befremden. Kinder, Menſchen
in Wuth und Leidenſchaft machens noch jetzt alſo,
und die Sinnlichkeit machts nie anders. Sie
ſchlagen die Puppe und behandeln ſie als leben-
dig-ungluͤcklich Liebende, zumal Weiber, zer-
ſchlagen das Geſchenk des Untreuen oder raͤchen
ſich an Papier, Boten, Stelle und Denkmahl.
Wenn Nordlaͤnder die Bildſaͤulen Jtaliens zer-
ſchlugen, ſo ſchimpfen wir ſie Barbaren: als
ſolche aber konnten ſie auch nicht anders. Jhre
Augen ſahen den Daͤmon in ihnen, und alſo mu-
ſten ſie anbeten oder zerſchmettern. Haͤtten ſie
Jahrhunderte bei ihnen gewohnt, wuͤrde, wie
es die Geſchichte Jtaliens zeigt, ihr uͤberſpann-
tes hohes Gefuͤhl ſich Zeit genung in Kunſt,
Kunſt in Geſchmack, Geſchmack in Eckel und
Vernachlaͤßigung aufgeloͤſt haben.


Dies iſt auch die Geſchichte der Kunſt bei
allen Voͤlkern. Vom Himmel entſprang ſie:
Ehrfurcht, Liebe, ein Funke der Goͤtter brach-
te ſie hinunter, ſchuf ihr irrdiſche Form an, und
erhielt ſie einige, wiewohl kurze Zeit lebend.
Nun ward ſie Abgoͤtterei, ſodann Kunſt, ſo-
H 4dann
[120] dann Handwerk, und endlich, die Grundſuppe
von Allem, Kennerei, Troͤdelkram und Kunſt-
gewaͤſche
. Die Daͤdalus und Phidias gehen
vor, die Praxiteles, Myrons und Liſyppe folgen;
ſodann wirds Nachklang oder Nachſchmack oder
noch etwas Aergers. Niemals gelingts uns
hier, die Zeiten umzukehren, und es iſt thoͤ-
richt, die Daͤdale in Lyſippen umſchaffen zu wol-
len. Sind jene erſt da, ſo werden dieſe kom-
men, denn ohne jene konnten dieſe nicht wer-
den
. Die gerade Linie bleibt immer die er-
ſte und Hauptlinie, um die ſich der Reiz nur
ſchwinget.


2. Koloſſaliſche Figuren ſind der bildenden
Kunſt nicht fremde und unnatuͤrlich, ſondern
vielmehr gerade ihr eigen, ihres Urſprungs und
Weſens. Die Bildſaͤule ſteht in keinem Lichte,
ſie gibt ſich ſelbſt Licht; in keinem Raume, ſie
gibt ſich ſelbſt Raum. Folglich ſollte man ſie
hier mit der Mahlerei auch nur nicht verglei-
chen
, die ja auf der Flaͤche, auf einer gegeb-
nen, uͤberſehbaren Lichttafel, und ja alles nur
aus Einem Geſichtspunkt ſchildert. Die bil-
dende Kunſt hat keinen Geſichtspunkt: ſie erta-
ſtet ſich Alles Glieder- und Formenweiſe im
Dunkel; gleich viel alſo, ob ſie etwas langſamer
und laͤnger taſte. Ja nicht blos gleich viel; ſon-
dern der Eindruck von Groͤße, Ehrfurcht, und
unuͤber-
[121]unuͤberſehbarer, nur von außen und gleichſam
nie ganz zu ertaſtender Geſtalt iſt ja das ei-
gentliche Bild ihrer Goͤtter und Herren, wie es
ſich nachher nicht die Hand, ſondern der Geiſt,
die erſchuͤtterte, durchregte Einbildungskraft
ſammlet. Alles Unendliche duͤnkt uns erha-
ben
, und jedes Erhabne muß gewiſſermaaße
Unendlichkeit, ein Nachbild jener Erſcheinung
gewaͤhren, „da der Geiſt vorbei ging, und die
„Haare grauſeten, ein Bild ſtand dem Schauen-
„den vor Augen, und er kannte deſſen Geſtalt nicht
„und hoͤrte eine Stimme„. Bramma verlang-
te das Haupt des hoͤchſten Gottes Jxora zu ſe-
hen, und flog ſo hoch er konnte. Da begegne-
ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und
fragten ihn, wohin er wollte? Er ſagte, daß er
gehe, Jxoras Haupt zu ſehen und die Blumen
antworteten ihm: mache dir keine vergebliche
Muͤhe, denn ob wir wohl noch dreimal ſo lang
geflogen waͤren, von der Stunde an da wir von
Jxoras Haupt niederfuhren, ſo wuͤrden wir
nicht ſo weit ſeyn, daß wir ſeine Fuͤße ſehen
moͤchten. Und Bramma ließ ab und bat die
Blumen, Jxora zu ſagen, wie ihn ſchwindle,
hoͤher zu fliegen. Viſtnum begehrte ſeine Fuͤße
zu ſehen und grub ſo tief in die Erde, bis er
zur großen Schlange des Abgrunds kam und
Schreckenvoll zuruͤckkehren muſte, und alſo bei-
H 5de
[122] de Goͤtter mit lauter Stimme bekannten, daß
niemand ſei, der ſein Haupt und Fuͤße zu ſe-
hen vermoͤge. — So erzaͤhlt Jndien, und
konnte nun Griechenland ſeinen Jupiter anders
als Koloſſaliſch bilden, wenn, ſo weit es die
Form zuließ, er nur einigermaaſſen die Jdee
des Unendlichen erwecken ſollte? Als Phidias
alſo hinaufgeruͤckt ward, Jupiter zu ſehen, kam
aus ſeiner Seele das Bild deſſen, den, ob er
wohl in Tempeln thront, kein Tempel umfaſ-
ſet
. Es war ein elender Spott, daß, wenn ſein
Jupiter aufſtuͤnde, ſein Haupt die Decke des
Tempels aufheben muͤſſe: eben das war Phidias
Gefuͤhl und dunkler Gedanke. He above the
reſt,
ſagt Milton vom Helden ſeines Gedichts


Jn ſhape and geſture proudly eminent
Stand lixe a towr
—’
()

und alle Homeriſche und alle aͤlteſte Erzaͤhlungen
von Goͤttern und Helden ſind alſo. Der alte
Kuͤnſtler muſte alſo das Gefuͤhl haben und aus-
druͤcken, oder es waren nicht die Goͤtter mehr,
und wenn es Lyſippus ſelbſt an ſeinem kleinen
zierlichen Herkules, Einen Fuß hoch, ausdruͤck-
te, daß der begeiſterte Statius ſchreiet:


Deus, ille Deus, ſeſeque videndum
Jndulſit, Lyſippe, tibi, parvusque videri
Sentirique ingens, et cum mirabilis intra
Stet menſura pedem, tamen exclamare licebit

Si
[123]Si viſus per membra feras: hoc pectora preſſus
Vaſtator Nemaees


und alſo Lyſippus Fußlange Figur in Statius
Seele oder Munde Koloſſus ward, ja, um Her-
kules zu ſeyn, es werden muſte; welche Blume
von Jrorens Haupt will es denn dem Kuͤnſtler
verbieten, ſtatt Eines Einige Fuͤße zu nehmen,
wenn er damit dem umfaſſenden taſtenden Auge
hoͤheres Gefuͤhl gibt? Ueberhaupt duͤnkt uns al-
les groͤßer, was unſre Hand taſtet, als was
das Auge ſchnell, wie der Blitz, auf einmal und
nach taͤglicher Weiſe ſiehet. Die Hand taſtet
nie ganz, kann keine Form auf einmal faſſen,
als die Form der Ruhe und zuſammengeſenkter
Vollkommenheit, die Kugel. Auf der ruhet
auch ſie und die Kugel in ihr; ſonſt aber, bei
artikulirten Formen und am meiſten im Gefuͤhl
eines Menſchlichen Koͤrpers, ſelbſt wenn er das
kleinſte Crucifix waͤre, iſt ſie nie ganz, nie zu
Ende, ſie taſtet gewiſſermaaſſe immer unend-
lich
. Das Koloſſaliſche iſt alſo ihrem Gefuͤhl
ſo nah und natuͤrlich, als es dem Farbenbrett
aus Einem Lichtpunkt fremd iſt. Dies muß,
und gewiſſermaaſſe auf Einmal, uͤberſehen wer-
den koͤnnen, oder es ſteht uͤberwaͤltigend vor uns,
eine Gigantiſche, abſcheulichgezerrte, uns er-
druͤckende Larvenmauer. — Rechnen wir nun
noch hinzu, daß unſrer taſtenden Hand das Leb-
loſe
[124]loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-
der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge-
hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt
unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr-
per war und Leben ſie durchwallte). Und neh-
men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in
der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein-
heit
und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild
verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle,
langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge-
baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich-
ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der
Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung
Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer-
den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende
Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,
als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die
Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.
Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear
ſagt:
Jn a fine frenzy rolling
Doth glance from heav’n to earth, from earth
to heav’n,
And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poets pen
Turns them to ſhape and gives to aiery nothing
A local habitation and a name

ja,
[125] ja, was ſonderbar iſt, um die ſimpelſte Kindes-
erzaͤhlung, nach Morgenlaͤndiſcher Art, wo al-
les ohne Beiwoͤrter und Schoͤnfaͤrbung, in un-
endlicher Einfalt und ſchlichter Unbezeichnung
daſteht, hat ſie den meiſten Spielraum. Der
Mahler hat auch ſeine Unendlichkeit, aber nur
Unendlichkeit eines Continuum, einer flachen
Lichttafel
. Er kann Himmel und Erde, Mei-
lenweit hingeworfne Gegenden und Gebiete der
Einbildung mahlen, aber keine Koloſſalfiguren:
denn Formen ſind ihm aus einem fremden Sin-
ne. Er muß ſie darſtellen, wie es der Rahm
ſeines Bildes, die Geſetze der Lichtbrechung und
Farbengabe, kurz ſein Sinn und Medium fo-
dern. Der Bildner ſteht im Dunkel der Nacht
und ertaſtet ſich Goͤttergeſtalten. Die Erzaͤh-
lungen der Dichter ſind vor und in ihm: er fuͤhlt
Homers Minerva, die den gewaltigen Stein
ergreift, an dem einſt ſo viel Rieſen der Vorzeit
trugen: fuͤhlt ihr gewaltiges Haupt, deſſen Helm
ſo viel Krieger birgt, als hundert Staͤte ins
Feld zu ſtellen vermoͤgen: fuͤhlt den Schritt
Neptuns, die Bruſt Alcides, den Wink der
Augenbranen Jupiters; kann, was in dieſem
Gefuͤhl aus ſeiner Hand kommt, klein oder klein-
lich ſeyn? Jeder Raum iſt ihm nun gleichguͤl-
tig, wo er nur dieſe Formenſchwangre Gefuͤhle
hinlegen oder ausdruͤcken kann. Sei Jupiter
Einer
[126] Einer Elle oder ſechs Ellen hoch; umfaſſet ihn
nur ſein Sinn und der Sinn des Schauenden
in Majeſtaͤt und Wuͤrde, das iſt ſein Raum und
ſeine Grenze.


Eben dies innere Gefuͤhl mißt ihm auch jede
Spanne des Koloſſus mit Weisheit des Ein-
drucks und Standorts zu, auf den er ſein Werk
richtet. Der Juͤngling Apollo darf ein uͤber-
menſchlich ſtolzes Gewaͤchs ſeyn, aber kein Ko-
loſſus; denn er iſt nicht Jupiter, und die
Schlanke und Schnelligkeit ſeiner Glieder wuͤr-
de in einer Thurmgeſtalt erliegen. Was von
einer Juno, oder der Mutter aller Goͤtter gilt,
gilt nicht von der lieblichen Aphrodite. — Un-
ſaͤgliche Weisheit, die die Griechen auch bei der
Groͤße bewieſen, die ſie jedem ihrer Himmels-
und Erdengewaͤchſe zuwogen. Dieſe Weisheit
ſpricht uns noch, da ſie alle als kahle Mythologie
und Akademiſche Wachparade dahin gepflanzt
ſind auf Einen Grund und Boden; und wie
muß ſie geſprochen haben, als jede Statue an
ihrem Ort ſtand, in ihrer Hoͤhe und heiligen
Entfernung! Unter den Roͤmern ging dies weiſe
Gefuͤhl verlohren: Flora oder ein Conſul und
Jmperator konnte Koloſſus werden, nachdem
der Kuͤnſtler Stein hatte oder der Jmperator
Metall aufwenden wollte. Die Kunſt war un-
ter ihnen Griechenhandwerk.


3. Und
[127]

3. Und endlich. Was hat die Allegorie mit
der bildenden Kunſt zu ſchaffen? Wie weit kann
dieſe allegoriſiren?


Die Frage iſt ſehr verwirret worden, weil
man alle Kuͤnſte, ja gar (horribile dictu!) alle
Wiſſenſchaften mit ihnen auf Einerlei Grunde
betrachtet hat, ohne einzuſehen, daß dieſe im
Gebrauch keines Zwirnsfadens und keiner Nadel-
ſpitze Eins ſind. Ueber Winkelmanns Werk,
das die Allegorie im weitlaͤuftigſten Sinne
nimmt und, da es den erſten Anfang einer Ruͤſt-
kammer fuͤr alle Kuͤnſte des Schoͤnen geben woll-
te, nothwendig ſo allgemein ſeyn muſte, uͤber
dies Werk, ſage ich, iſt viel ſeltner und halb-
wahrer Tadel vorgebracht worden, durch den
weder dem Kuͤnſtler noch Weiſen Gnuͤge ge-
ſchiehet. Die Hauptfrage bleibt: was iſt Al-
legorie? und was iſt ſie hier? Durch welche
Mittel wuͤrkt, auf welchem Boden ſteht ſie?
und da ergibt ſich, jede Kunſt muß voͤllig ihre
eigne
haben, oder es gibt gar keine.


Jener weiſe Alte machte daher den Begriff
der Allegorie ſo groß: ſie bedeutet Eins durchs
Andere
, αλλο durch αλλο. Wie ſie das be-
deute? von welcher Art das αλλο und αλλο
ſei? das kann nicht die allgemeine Theorie, das
muß Stand, Abſicht, Kunſt, kurz der einzel-
ne
, hier beſtimmte Gebrauch lehren.


Jch
[128]

Jch kann ſagen, daß bildende Kunſt eine
beſtaͤndige Allegorie ſei, denn ſie bildet Seele
durch Koͤrper, und zwei groͤßere αλλα kanns
wohl nicht geben, inſonderheit wenn man die
Philoſophen der Gelegenheit und der praͤſtabi-
lirten Harmonie um Rath fraͤgt. Der Kuͤnſt-
ler hat das Vorbild von Geiſt, Charakter,
Seele
in ſich und ſchafft dieſem Fleiſch und
Gebein: er allegoriſirt alſo durch alle Glieder.
Verhaͤltniß iſt ihm nur das Nichtohne, die
Bedingung, nie aber das Weſen ſeiner Kunſt
oder die Urſache ihrer Wuͤrkung. Dies iſt
Seele, die ſich Form ſchafft, und wo beide,
Form und Seele, vom Verhaͤltniß gelinde ab-
zuweichen befehlen, kann er nicht blos, ſon-
dern muß abweichen, wie bei Apollo’s laͤngern
Schenkeln, bei Herkules dickerm Halſe, u. f.
Ueberhaupt Verhaͤltniß in der Kunſt zum Haupt-
werk machen, und fuͤr Antinous und Mars,
Jupiter und den Faun Ein und daſſelbe feſtſe-
tzen, heißt, jedem Perioden und Gliede einer
Allegorie Ein Maas vorſchreiben, oder aus der
Algebra Muſik komponiren. Leibhafte Form
iſt der Tempel und Geiſt die Gottheit, die
ihn durchhauchet: da nun nicht jeder Gott und
jeder Tempel gleicher Art iſt, ſo koͤnnen bis auf
jedes Winkelchen in ihm unmoͤglich dieſelbe Ver-
haͤltniſſe gelten. —


Und
[129]

Und hier iſts abermal beſonders, daß, je we-
niger
ein Glied Antheil an Geiſt, inſonderheit
an Bewegung und Leben hat, deſto mehr iſt
ſein Verhaͤltniß beſtimmt, und darf nicht ab-
geaͤndert werden. So iſts z. B. mit dem Un-
terleibe: verlaͤngert oder verkuͤrzt ihn, er wird
gleich unfoͤrmlich. Aber in den Gliedern, wo
Rege, Leben, Bewegung ſpricht und jetzt dies
Glied vorſpricht, da muß der Geiſt, der uͤberm
Kuͤnſtler ſchwebt, ihm im feinſten Schwunge
der Form allein Auskunft geben. Es iſt ge-
bildete Allegorie
eines geiſtigen Sinnes, der
ſich hier in den Stein ſenkte.


So kann man von der bildenden Allegorie
ſprechen; allein ich begreife ſehr wohl, daß das
nur uneigentlich geſprochen heißt, weil wir, die
ſo wenig im Gefuͤhl der Plaſtik leben, dem
Worte Allegorie gerade die Bedeutung gegeben
haben, die nicht in ihr, ſondern in andern,
leichtern Kuͤnſten und Wiſſenſchaften vorkommt.
Und in deren Sinne kann jene freilich nicht alle-
goriſiren
. Bloßen Witz, eine feine Bezie-
hung zwiſchen zweien Begriffen, oder das Ab-
ſtraktum eines fliegenden Dufts und eines ver-
fliegenden Schmetterlings in den Stein zu ſen-
ken, und denſelben daraus wiederum zu erta-
ſten; dazu iſt der Stein zu ſchwer und die Hand
zu grob, und die Arbeit lohnt nicht der Muͤhe.
JMoͤgen
[130] Moͤgen andre Kuͤnſte dies bemerken und inſon-
derheit der Hauch, die Rede, den fluͤchtigen
Schmetterling von Witz und Abſtraktion ha-
ſchen; die Statue iſt dazu zu Wahr, zu Ganz,
zu ſehr Eins, zu Heilig.


Die bildende Natur haſſet Abſtracta: ſie
gab nie Einem Alles und jedem das Seinige
auf die [feineſte] Weiſe. Die bildende Kunſt,
die ihr nacheifert, muß es auch thun, oder ſie
iſt ihres Namens nicht werth. Sie bildet nicht
Abſtrakta, ſondern Perſonen; jetzt die Per-
ſon, in dem Charakter, und den Charakter in
jedem Gliede und in Ort und Stellung als ob
ſie nur der Zauberſtab beruͤhrt und lebend in
Stein geſenkt haͤtte. Es iſt nicht die abſtrakte
Liebe, die daſteht, ſondern der Gott, die
Goͤttin der Liebe: nicht die Frau Gottheit und
die Jungfrau Tugend, ſondern Minerva,
Juno, Venus, Apollo
und wie die hoͤchſtbe-
ſtimmten
Namen, Gebilde und Perſonen fer-
ner lauten. Dem muͤßigen Kopf, der den Red-
ner, den Dichter, den Mahler allegoriſirt, kann
ichs vergeben; der mir aber hier bei der Bild-
ſaͤule, wo im hoͤchſten Grad alles ſubſtanziell,
wahr
und beſtimmt iſt, Fledermaͤuſe haſcht,
die nicht Kunſt ſind noch Dichtkunſt, weder
Seele noch Koͤrper; dem mags von den allego-
riſirten Goͤttern ſelbſt vergeben werden.


Wenn
[131]

Wenn Eine Kunſt uns bei Subſtanz und
Wuͤrklichkeit veſtzuhalten vermag, iſts dieſe:
und wird ſie Geſpenſt, was ſollte nicht Geſpenſt
werden? Der alte Kuͤnſtler konnte Verſchiede-
nes an Verſchiednem ſtudiren (und nur einem
Neuern hats fremde geduͤnkt, wie er ſo etwas
konnte und muſte?). Aber wenn er nun ſchuf,
ſo ward das Verſchiedene ein Eins, mit Hal-
tung und Seele aus ſeiner Seele. Er ſprach
zum Felſen: wandle, ſei die Perſon, lebe.
So ſah alle Abgoͤtterei die Kunſt an. Der
einzelne beſtimmte Gott war gegenwaͤrtig und
hoͤrte. So nannten die Griechen die Statuen.
Es war nicht mehr Apollo allgemein, geſchwei-
ge die liebe Sonne, oder die perſonificirte Dicht-
kunſt; es war der Apollo, Smintheus, De-
lius, Pythius
, Αγρευς, wie es Ort und
Attribut ſagte. Dieſe Attribute waren ſo we-
nig Allegorie (wie wir nach der Poetik das
Wort nehmen), als Herkules Kaͤule oder die
Naſe unſers Angeſichts; hiſtoriſche, individuel-
le Kennzeichen
warens, dieſen Gott und jetzt
und hier zu bezeichnen. Sie bedeuteten, aber
keine Abſtraktion; ein Jndividuum deuteten
ſie an, wie’s ohne Schrift angedeutet werden
konnte. Man gehe die Statuen der Goͤtter und
die aus ihnen geſammleten Allegorien durch;
man wird ſie ſaͤmmtlich dieſer Art finden.


J 2Es
[132]

Es iſt hier nicht der Ort, zu unterſuchen,
ob und wie die Griechen ihre Bildnerei von ei-
nem fremden Volk erhielten? ſondern was ſie
aus ihr machten und wozu ſie, da ſich die
Kunſt formte, dieſelbe geſchaffen glaubten?
Jupiters drittes Auge vor der Stirn blieb in
den Zeiten der Kunſt weg, denn es war ein
Allegoriſches und kein natuͤrliches Auge. Die
Geſtalt ſelbſt muſte Jupiter ſeyn: das uͤbrige
konnte Dichter, Prieſter oder jeder dazu ſagen,
ders wollte.


Wenn alſo die Ausleger und Zeichendeuter
mit Deutung der Attribute ſo fein und reich
ſind: ſo laſſe ichs zwar als Witz und Poem gel-
ten; zweifle aber, ob der Griechiſche Kuͤnſtler
oder Prieſter oder Anbeter das dabei dachten?
Es war meiſtens ein hiſtoriſcher Umſtand, der
dem Gott einen eignen Namen gab und den nun
dies eigne Attribut bezeichnen ſollte. „Du biſt
„nicht Jupiter, du, ſondern mein, unſer Ju-
„piter, der du da warſt„! alſo eigentlich ein
Abgott. Je feiner meiſtens die Auslegung der
Allegorie, deſto unwahrer. —


Freilich war um einen Gott und Helden ſo
leicht nichts, was nicht Gedanken erweckte, und
bei den Griechen warens treffende, natuͤrliche
Gedanken; nur nicht aus Abſtrakten, nicht
aus gedichteter Allegorie, ſondern aus Um-
ſtaͤn-
[133]ſtaͤnden der Geſchichte. Der Charakter des
Gottes und Helden (Allegorie genug) war dem
Kuͤnſtler gegeben: den druͤckte er aus, das uͤbri-
ge war ihm Unterſtuͤtzung und Aufklaͤrung deſſel-
ben, oder hiſtoriſche, Lokal- und Tempel-
deutung
.


„So war denn den Griechen die Allegorie
„zuwider„? Nichts minder, ſie war nur nicht
uͤberall ihr Hauptwerk. Der Grieche fuͤhlte es
zu gut, daß, um Allegoriſche Perſonen tanzen zu
laſſen, man kein Theater bauen, kein Epos dich-
ten und keinen Marmorfels aushoͤlen doͤrfe. Er
fuͤhlte es zu gut, daß, wenn eine Allegorie ſchoͤn
und lieb ſeyn ſoll, muͤſte ſie klein, ſimpel, ſchmal
umruͤndet werden, ein Edelſtein im Ringe —
kurz nicht den Koloſſus, ſondern die Gemme,
die Muͤnze, die Urne, das Bas-relief wid-
mete man ihr, und da war ſie an Stelle.


Gibt mir die Goͤttin Tyche (denn es iſt bil-
lig, daß ich uͤber die Allegorie auch allegoriſi-
re) gibt ſie mir Muße und Luſt und Liebe, die
mehr als Muße iſt, meine Flicke hingeworfner
Gedanken uͤber die Anaglyphik zu ſammeln;
ich freue mich, wenn ich an die Stunden denke,
die mir die ſimpelſte Gruppe der Welt, die
Griechiſche Allegorie, einſt verlieh. Da
werden wir Griechengeiſt in der niedlichſten Bil-
derſprache entdecken; hier, befuͤrchte ich, iſts
J 3zu
[134] zu fruͤh. Ein Jupiter, Herkules und Apollo,
ein Laokoon und Alexander ſind zu große oder
zu beſtimmte Weſen als daß Allegorie ſie um-
flattern ſollte. Was Hand und Geiſt an ih-
nen erfaſſet, iſt Allegorie gnug, d. i. Sinn und
Geiſt eines gegenwaͤrtigen himmliſchen Weſens.
Sie waren auf beſtimmte Tradition und Kin-
desgeſchichte gebauet; die zu beſtimmen, wo ſie
wankte, ſie auf Einem Punkt Perſoͤnlichen Da-
ſeyns veſtzuhalten, war des Kuͤnſtlers Werk;
nicht ſie mit Allegorie zu behaͤngen und in Luft
zu verduften.


Statt deſſen trete man an eine in Stein
gehauene Tugend, die Dame Gerechtigkeit
etwa oder die Jungfrau Froͤmmigkeit, Liebe
u. d. gl. was hat man an ihnen? Nichts!
Eine in Stein gehauene Seifenblaſe. Was ich
bei ihren Attributen denken ſoll, weiß ich etwa;
aber bei ihnen ſelbſt? daß ſie liebe gute Damen
ſind, die ein Wort, eine abſtrakte Redart her-
vorbrachte, und die meiſtens deren auch werth
ſind. Wollen ſie das Hoͤchſte ausdruͤcken, was
ſie bedeuten, (und das ſollen ſie doch!) ſo werden
ſie unleidlich: denn die angeſtrengteſte Gerechtig-
keit die allergnaͤdigſte Gnade, die allerzerfloſſen-
ſte Andacht, die weichſte Barmherzigkeit, die
lachendſte Liebe kann weder Menſch noch Stein
tragen. Und ewig ertragen? in dem unna-
tuͤr-
[135] tuͤrlichen, krallen oder aufgeloͤſten Zuſtande ſteht
ſie immer da, und nichts kann ihr helfen?
Hinweg, Grimaſſe von Stein, und verwandle
dich zu dem, was du einſt wareſt, ein Wort,
eine Sylbe!


Nun aber ſchwang ſich auch meiſtens der
Kuͤnſtler nicht ſo hoch: er wollte ſeinen Block
nicht anſtrengen, den hoͤchſten Ton aller
Gerechten
d. i. die Gerechtigkeit, den Jnbe-
grif aller Andaͤchtigen
, die Andacht, ewig und
unuͤberſchwungen zu toͤnen; er blieb alſo in der
ſeligen Mittelmaͤßigkeit, und ſo ſaget er gar
nichts
. Jſt die Pietas hoͤchſtens nur etwa eine
pia, die Caritas etwa eine cara, beide unbeſtimmt
und ohne Jndividualformen; Schade, lieber
Kuͤnſtler, um Marmor, und Meißel und Zeit
und Muͤhe. Haͤtteſt du lieber eine beſtimmte
pia und cara genommen, ſo ſtuͤnde die doch leb-
haft da, und dein heiliger Vater waͤre mindſtens
von einigen guten Weibern in Stein beweint
und betrauert worden, ſtatt deren jetzt nur ein
geſchaffenes Nichts, Allegoriſche Tugenden,
um ihn trauren!


Bei Grab- und Denkmahlen indeß laſſe
ich die Allegorie noch gelren: denn oft vertreten
jene doch nur die Stelle der Bas-reliefs auf dem
Monumente, und etwa der Gemmen und
Muͤnzen, ſie ſind kein freies Kunſtbild. Auch
J 4die
[136] die Griechen konnten wohl auf ein Grabmahl
Pſyche und Amor, halb als Allegorie (ſie waren
aber mehr als ſolche, ſie waren Geſchichte) ſtellen
und ließen das ſchoͤne Paar, jetzt in neuer Be-
kanntſchaft, ſich ſchweſterlich kuͤſſen und umar-
men. Jſt irgend ein Ort, da man einen her-
abgeſunknen Engel erwartet, ſo iſts am Grabe,
uͤber der lieben Aſche unſrer Todten, wo Alles
ſo ſtill iſt, wo kein Laut aus jener Welt hin-
uͤbertoͤnet und wo wir doch ſo gern mehr als Aſche
faͤnden. Hier iſt alſo auch wohl eine weinende
oder troͤſtende Tugend zu ertragen, wenn ſie,
ihres Namens werth, nur als ein weiblicher
Engel
daſteht. Kann der Verſtorbne oder die
Verſtorbne ſelbſt in oder neben ihr gebildet wer-
den, wie wirs erwarten, ſo iſts freilich um ſo
beſſer. Koͤnnen wuͤrkliche Kinder, eine Ge-
liebte, ein Weib daneben gebildet werden, ſo
kehrt fuͤr Kunſt und Denkmahl Wahrheit in die
Zuͤge, und alſo beſſer. — Aber wehe, wenn
dieſe Grabengel, die man der Menſchlichkeit,
als Denkmahl der Liebe und milde Gabe zuließ,
nun Hauptwerk der Kunſt werden ſollen und
gar gelehrte Abſtraktionen und Allegorien, wie
Geſpenſter, alles verſcheuchen! Jſts ſodenn
nicht offenbares Zeichen der groͤßten Duͤrftig-
keit
und Armuth, daß man nichts als ſolche
habe? oder nur ſolche zu bilden vermoͤge?


Wie
[137]

Wie weit iſts mit der Kunſt der leibhaften
Wahrheit
gekommen, wenn ſie keine leibhafte
Wahrheit
mehr hat, wenn ſie ſtatt des großen
Einen Seeledurchwebten Ganzen nach einem
Schmetterlinge von Witz, von Bedeutung,
haſcht, der um, oder neben oder uͤber ihr
ſchwebe! Und den ſie doch auch, ſo klein der
Preis waͤre, nicht einmal zu erreichen, nicht
auszudruͤcken vermag, denn zu aller litterariſchen
und moraliſchen Allegorie gehoͤrt Gruppe, und
im eigentlichſten Verſtande hat die die Bildne-
rei
nicht.


„Nicht? die Bildnerei keine Gruppe?
„Und Laokoon, Niobe, die beiden Bruͤder„ —
Jch weiß das Alles und mehr als das. Jch
weiß, daß ein Franzoſe noch neulich hoch-
geruͤhmt hat, „ſeine Nation habe das Gruppi-
„ren der Bildſaͤulen nagelneu erfunden, ſie
„habe zuerſt Bildſaͤulen maleriſch gruppiret,
„wie nie ein Alter gruppirt hat„ — Die Bild-
ſaͤulen maleriſch gruppiren? ſiehe, da ſchnarrt
ſchon das Pfeifchen, denn eigentlich geredt, iſts
Widerſpruch: Bildſaͤulen maleriſch gruppiren.
Jede Bildſaͤule iſt Eins und ein Ganzes: Jede
ſteht fuͤr ſich allein da. Was der Gedachte alſo an
den Alten tadelt, war ihnen ausgeſuchte Weis-
heit
, naͤhmlich nicht zu gruppiren, und wo
J 5Gruppe
[138] Gruppe ſeyn muſte, ſie ſelbſt, ſo viel moͤglich
zu zerſtoͤren.


Daher muſten Laokoons Kinder ſo klein ſeyn,
ob ſie wohl Maͤnner waren: nicht, wie Hogarth
meint, ſeiner Schoͤnheitslinie wegen, daß, wenn
uͤber alle drei ein Transportkaſte geſchlagen wuͤr-
de, er in Form der Pyramide oder Lichtflamme
da ſtuͤnde; an ſolche Zimmerarbeit hat wahrlich
der Kuͤnſtler nicht gedacht. Woran er dachte und
denken muſte, war, daß die Jungen dem Alten,
zu ſeiner Groͤße erhoben, auch bei dunkler Nacht
im Licht ſtuͤnden, daß das Ganze ſofort Drei
und nicht Eins, mithin der Geiſt des erhabnen
Vater- und Todesleidens weg- und ſcheußlich
zertheilt waͤre, wenn alle drei da ſtaͤnden und
ſchrien und vergeblich mit den Schlangen raͤngen.
Da er die zwei alſo nicht wegſchaffen konnte, um
ſein herrliches Bild allein zu geben: ſo verkleinte
er ſie wenigſtens und erniedrigte ſie zu halben
Nebenwerken, riß dem einen Jungen das Maul
auf (wie jeder feine Kenner der Griechiſchen Kunſt
es mit Schrecken ſehen kann) verflocht ſie in das
Gebiet der Schlangen und der Quaal, damit der
erhabene Vater in ihrer Mitte allein ſtehe und als
Held und Ringer ſein Leiden dem Himmel klage.


Die Gruppe Niobe, wo ſtand ſie? und
wie wenig iſt ſie Gruppe! wie fern und zerſtreuet
liegen die Jhrigen um ſie her! und die Juͤngſte
in
[139] in ihren Schoos geflohen, beugt ſich und verbirgt
ſich, damit eben durch ſie nur die Mutter allein
und erhaben und als Mutter ſolcher Kinder
erſchiene.


Zwei bruͤderliche Freunde, die ſich in der
einfachſten Stellung auf einander lehnen; ein
Paar, das ſich in der einfachſten Stellung mit
einem Kuß verſchwiſtert, ſind ſo wenig, Grup-
pe zu nennen, als Leda und der Schwan, Ju-
piter
und ſein Adler. Der Kuͤnſtler fuͤhlte das
ewige Geſetz, das Weſen ſeiner Kunſt, die nur
Eins gibt, und in dem Einen Alles! die, je mehr
ſie zerſtuͤcket, theilt, gruppirt, haͤufet, um ſo
aͤrmer wird und zuletzt eine Taube noͤthig hat, die
uͤber der ganzen Gruppe ſchwebe und mit einem
Steinzettel im Schnabel ſage: was der Stein-
wald
bedeute? denn weder dem ſehenden Blick
noch der taſtenden Hand bedeutet jede einzelne
Statue
nun Etwas.


Tretet einmal her an dieſe noble Gruppe:
Arria und Paͤtus, nebſt Kammerfrauen und
Bedienten. Wo ſollt ihr ſtehen? welcher Per-
ſon im Ruͤcken? denn die Gruppe ſteht frei von
allen Seiten mit mahleriſchem Anſtande. Und
wenn ihr gar euer Gefuͤhl zu Huͤlfe nehmen woll-
tet, wo anfangen? wo aufhoͤren? und wo iſt
nun der Geiſt? des Bildes Eine ganze Seele?
Alle in Schmerz, alle in Heldenmuth, alle das
zaͤrt-
[140] zaͤrtliche Woͤrtlein noͤthig habend, der Arria aus
dem Munde: non dolet Paete! das denn frei-
lich die Hand weder ertappen kann noch mag.
Wie ſimpel ſteht dagegen der Paͤtus der Alten,
und Arria ſinkt ihm zu Fuͤßen und er haͤlt ſie
und endet ſein Lebtn. Alſo wiederum keine mah-
leriſche Gruppe.


Kann nun eine Geſchichte in der Bildhaue-
rei nicht Gruppe werden, weil jedes fuͤr ſich auf
ſeinem Grunde
, in ſeiner Welt ſtehet; liebe
Allegorie, wie wirds mit dir ſeyn, wenn du,
als Schmetterling oder Taube, aus vielen Per-
ſonen oder Figuren, jede fuͤr ſich ganz gebildet,
und doch nicht ganz gebildet, (nur fuͤr dich,
Allegoria
, gebildet!) hervorfliegen ſollt? Jch
fuͤrchte, du bleibſt wo du biſt, dem Kuͤnſtler im
muͤßigen Kopfe, denn in die arbeitende Hand
war kein Weg, und aus ihr in den zertheilten
Felſen, der nur in ſeinem Kopf Eins iſt, noch
minder.


Endlich warum wollen wir der Natur wi-
derſtreben und nicht jede Kunſt thun laſſen, was
ſie allein und am beſten thun kann? Wo Ein
Grund
iſt, auf Gemme, Muͤnze, Tafel, da
bindet die Natur ſchon durch das Continuum
Einer Flaͤche
. Gemme, Muͤnze, Bas-Relief,
Denkmahl, kann nicht viel mehr als eine Allegorie
geben, dazu ſind ſie da und die geben ſie unnach-
ahmlich
[141] ahmlich. Warum ſie von da wegreißen? mit
ihr die großen Bilder der Wahrheit, Goͤtter-
und Heldengeſtalten, oder die Zaubertafel hiſto-
riſcher Wahrheit
, das Gemaͤhlde, verwirren
und zu Schatten verſcheuchen? Eine Epopee,
worinn Allegorien handeln, und ein Drama,
worinn Abſtraktionen agiren, und eine Geſchich-
te, worinn ſie Pragmatiſch tanzen, und ein
Staat, worinn ſie Jdealiſch ordnen, ſind herr-
liche Meiſterſtuͤcke; kaum aber herrlicher, als
eine bildende Kunſt, die ſie in Fels gehauen,
hinſtellt, damit ſie doch ja nicht aus der Welt
verſchwinden.


[[142]]

Appendix A

Leipzig,
gedruckt in der Breitkopfiſchen Buchdruckerey.
1778.
[[143]]Verbeſſerungen.



Appendix B

  • S. 6. Z. 11. 12. was lies das.
  • — 9. — 19. auf der l. auf die.
  • — 17. — 16. nicht Viel l. Viel.
  • — 32. — 9. Todtenkampfes l. Todeskampfes.
  • — 37. — 2. blieb der l. blieb, der.
  • — 41. — 21. endete ſich l. endete fruͤh.
  • — 54. — 1. und ſelbſt l. und wie ſie ſelbſt.
  • — 57. — 13. herab oder l. herauf oder.
  • — 63. — 15. Blinde l. blinde.
  • — 76. — 1. und das l. und oft das.
  • — 94. — 11. Abſtraks l. Abſtrakts.
  • — 95. — 2. blinden l. Blinden.
  • — 102. — 9. edlen l. eklen.
  • — 108. — 6. bei Jch habe, einen neuen Abſchnitt.
  • — 117. — 17. Lagen l. lagen.
  • — 119. — 10. lebendig-ungluͤckliche l. lebendig.
    Ungluͤckliche.
  • — 121. — 3. Herren l. Heroen.

Notes
a)
Lettre ſur les aveugles etc.
b)
Smiths Optik.
c)
Falkonets Gedanken von der Bildhauerkunſt,
(uͤberſ. N. Bibl. d. ſch. W. B. 1. St. 1.) ſind die
trefliche Vorlefung eines Kuͤnſtlers, deſſen Zweck
es gar nicht iſt, die Grenzen zweener Kuͤnſte phi-
loſophiſch zu ſondern.
d)
Winkelmanns Geſch. der K. S. 392.
*)
Ein neuer, ſehr denkender Kuͤnſtler, Falconet,
hat manches fuͤr die reiche und (kurz zu ſagen)
mahleriſche Bekleidung der Bildſaͤulen geſagt,
was in unſern Zeiten, da den meiſten Anſchauen-
den die Bildnerkunſt ſelbſt nur Mahlerei iſt, wahr
ſeyn kann; mich duͤnkt indeſſen, es gelte nur als
Ausnahme und Huͤlfe, weil wir zur nackten
Fuͤlle
der Alten nicht mehr kommen koͤnnen, und
uns alſo dieſen Mangel durch den Wurf der Klei-
der erſetzen moͤgen, die in der Bildnerei doch nie
mehr Kleider ſind.
e)
Hiob 39, 19-25.
f)
Anthol. l. IV. c. 7.
g)
Laokoon: S. 9. u. f.
h)
Geſch. d. Kunſt S. 142. u. f.
i)
Brydone.
k)
Richt. 5, 14. 4 Moſ. 21, 18.
l)
Apoſtg. 19, 13-16.
m)
all trivial fond records
all ſaws of books,
n)
Das Haar.
o)
Exam. de ingenios. Cap. III.
p)
Iliad. B. v. 219.
q)
4. Moſ. 5, 21-27.
r)
Hohelied 7, 2.
s)
Spruͤchw. 3, 8.
t)
Pſ. 139, 14.
u)
Hiob 10, 9-11.
x)
Hiob 33, 4-6.
z)
1. Moſ. 2, 7.
*)
Jm Jahr 1770.
a)
Gedanken uͤber die Nachahmung. S. 28. f.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Plastik. Plastik. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnqc.0