Leute von Seldwyla.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1856.
Leute von Seldwyla.
Inhalt.
- Pankraz, der Schmoller 9
- Frau Regel Amrain und ihr Jüngſter 113
- Romeo und Julia auf dem Dorfe 209
- Die drei gerechten Kammmacher 360
- Spiegel, das Kätzchen 447
Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache
einen wonnigen und ſonnigen Ort, und ſo iſt
auch in der That das kleine Städtchen dieſes
Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Es
ſteckt noch in den gleichen alten Ringmauern und
Thürmen, wie vor dreihundert Jahren, und iſt
alſo immer das gleiche Neſt; daß dies aber ein
tiefer urſprünglicher Plan war, beweiſ't der Um¬
ſtand, daß die Gründer der Stadt dieſelbe eine
gute halbe Stunde von einem ſchiffbaren Fluſſe
angelegt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts dar¬
aus werden ſolle. Aber ſchön iſt ſie gelegen mit¬
ten in grünen Bergen, die nach der Mittagſeite
zu offen ſind, ſo daß wohl die Sonne herein
kann, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen ge¬
deiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die
alte Stadtmauer, während höher hinauf an den
Bergen unabſehbare Waldungen ſich hinziehen,
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 1[2] welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn
dies iſt das Wahrzeichen und ſonderbare Schickſal
derſelben, daß die Gemeinde reich iſt und die
Bürgerſchaft arm, und zwar ſo, daß kein Menſch
zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wo¬
von ſie ſeit Jahrhunderten eigentlich leben. Und
ſie leben ſehr luſtig und guter Dinge, halten die
Gemüthlichkeit für ihre beſondere Kunſt und wenn
ſie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz
brennt, ſo kritiſiren ſie zuerſt die dortige Ge¬
müthlichkeit und meinen, ihnen thue es doch nie¬
mand zuvor in dieſer Handtierung.
Der Kern und der Glanz des Volkes beſteht
aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis
fünf, ſechs und dreißig Jahren, und dieſe ſind
es, welche den Ton angeben, die Stange halten
und die Herrlichkeit von Seldwyla darſtellen.
Denn während dieſes Alters üben ſie das Ge¬
ſchäft, das Handwerk, den Vortheil oder was ſie
ſonſt gelernt haben, d. h. ſie laſſen, ſo lange es
geht, fremde Leute für ſich arbeiten und benutzen
ihre Profeſſion zur Betreibung eines trefflichen
Schuldenverkehres, der eben die Grundlage der
Macht, Herrlichkeit und Gemüthlichkeit der Herren
[3] von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten
Gegenſeitigkeit und Verſtändnißinnigkeit gewahrt
wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieſer Ariſto¬
kratie der Jugend. Denn ſo wie Einer die Grenze
der beſagten blühenden Jahre erreicht, wo die
Männer anderer Städtlein etwa anfangen erſt
recht in ſich zu gehen und zu erſtarken, ſo iſt er
in Seldwyla fertig; er muß fallen laſſen und
hält ſich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seld¬
wyler iſt, ferner am Orte auf als ein Entkräft¬
teter und aus dem Paradies des Credites Ver¬
ſtoßener, oder wenn noch etwas in ihm ſteckt,
das noch nicht verbraucht iſt, ſo geht er in fremde
Kriegsdienſte und lernt dort für einen fremden
Tyrannen, was er für ſich ſelbſt zu üben ver¬
ſchmäht hat, ſich einzuknöpfen und ſteif aufrecht
zu halten. Dieſe kehren als tüchtige Kriegs¬
männer nach einer Reihe von Jahren zurück und
gehören dann zu den beſten Exerziermeiſtern der
Schweiz, welche die junge Mannſchaft zu erziehen
wiſſen, daß es eine Luſt iſt. Andere ziehen noch
anderwärts auf Abenteuer aus gegen das vier¬
zigſte Jahr hin, und in den verſchiedenſten Welt¬
theilen kann man Seldwyler treffen, die ſich alle
1 *[4] dadurch auszeichnen, daß ſie ſehr geſchickt Fiſche
zu eſſen verſtehen, in Auſtralien, in Californien,
in Texas, wie in Paris oder Konſtantinopel.
Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird,
das lernt dann nachträglich arbeiten, und zwar
jene krabbelige Arbeit von tauſend kleinen Din¬
gen, die man eigentlich nicht gelernt, für den
täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten
Seldwyler mit ihren Weibern und Kindern ſind
die emſigſten Leutchen von der Welt, nachdem
ſie das erlernte Handwerk aufgegeben, und es iſt
rührend anzuſehen, wie thätig ſie dahinter her
ſind, ſich die Mittelchen zu einem guten Stückchen
Fleiſch von ehedem zu erwerben. Holz haben
alle Bürger die Fülle und die Gemeinde verkauft
jährlich noch einen guten Theil, woraus die große
Armuth unterſtützt und genährt wird, und ſo
ſteht das alte Städtchen in unveränderlichem
Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer
ſind ſie im Ganzen zufrieden und munter, und
wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn
etwa eine allzuhartnäckige Geldklemme über der
Stadt weilt, ſo vertreiben ſie ſich die Zeit und
ermuntern ſich durch ihre große politiſche Beweg¬
[5] lichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der
Seldwyler iſt. Sie ſind nämlich leidenſchaftliche
Parteileute, Verfaſſungsreviſoren und Antragſtel¬
ler, und wenn ſie eine recht verrückte Motion
ausgeheckt haben und durch ihr Großrathsmitglied
ſtellen laſſen, oder wenn der Ruf nach Verfaſ¬
ſungsänderung in Seldwyla ausgeht, ſo weiß man
im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld
zirkulirt. Dabei lieben ſie die Abwechſelung der
Meinung und Grundſätze und ſind ſtets den Tag
darauf, nachdem eine Regierung gewählt iſt, in
der Oppoſition gegen dieſelbe. Iſt es ein radi¬
kales Regiment, ſo ſchaaren ſie ſich, um es zu
ärgern, um den konſervativen frömmlichen Stadt¬
pfarrer, den ſie noch geſtern gehänſelt, und ma¬
chen ihm den Hof, indem ſie ſich mit verſtellter
Begeiſterung in ſeine Kirche drängen, ſeine Pre¬
digten preiſen und mit großem Geräuſch ſeine
gedruckten Tractätchen und Berichte der Baſeler-
Miſſionsgeſellſchaft umherbieten, natürlich ohne
ihm einen Pfennig beizuſteuern. Iſt aber ein
Regiment am Ruder, welches nur halbwegs kon¬
ſervativ ausſieht, ſtracks drängen ſie ſich um die
vier Volkslehrer des Städtchens und der Pfarrer
[6] hat genug an den Glaſer zu zahlen für einge¬
worfene Scheiben. Beſteht hingegen die Regie¬
rung aus liberalen Juriſten, die viel auf die
Form halten, und aus häcklichen Geldmännern,
ſo laufen ſie flugs dem nächſt wohnenden So¬
zialiſten zu und ärgern die Regierung, indem
ſie denſelben in den Rath wählen mit dem Feld¬
geſchrei: Es ſei nun genug des politiſchen For¬
menweſens, und die materiellen Intereſſen ſeien
es, welche allein das Volk noch kümmern könnten.
Heute wollen ſie das Veto haben und ſogar die
unmittelbarſte Selbſtregierung mit permanenter
Volksverſammlung, wozu freilich die Seldwyler
am meiſten Zeit hätten, morgen ſtellen ſie ſich
übermüdet und blaſirt in öffentlichen Dingen und
laſſen ein halbes Dutzend alte Stillſtänder, die
vor dreißig Jahren fallirt und ſich ſeither ſtill¬
ſchweigend rehabilitirt haben, die Wahlen beſorgen;
alsdann ſehen ſie behaglich hinter den Wirths¬
hausfenſtern hervor die Stillſtänder in die Kirche
ſchleichen und lachen ſich in die Fauſt, wie jener
Knabe, welcher ſagte: Es geſchieht meinem Vater
ſchon recht, wenn ich mir die Hände verfriere,
warum kauft er mir keine Handſchuhe! Geſtern
[7] ſchwärmten ſie allein für das eidgenöſſiſche Bun¬
desleben und waren höchlich empört, daß man
Anno 48 nicht gänzliche Einheit hergeſtellt habe;
heute ſind ſie ganz verſeſſen auf die Kantonal¬
ſouveränetät und haben nicht mehr in den Na¬
tionalrath gewählt.
Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Mo¬
tionen der Landesmehrheit ſtörend und unbequem
wird, ſo ſchickt ihnen die Regierung gewöhn¬
lich als Beruhigungsmittel eine Unterſuchungs¬
kommiſſion auf den Hals, welche die Verwaltung
des Seldwyler Gemeindegutes reguliren ſoll; dann
haben ſie vollauf mit ſich ſelbſt zu thun und die
Gefahr iſt abgeleitet.
Alles dies macht ihnen tauſend Spaß, der
nur überboten wird, wenn ſie allherbſtlich ihren
jungen Wein trinken, den gährenden Moſt, den
ſie Sauſer nennen; wenn er gut iſt, ſo iſt man
des Lebens nicht ſicher unter ihnen, und ſie ma¬
chen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet
nach jungem Wein und die Seldwyler taugen
dann auch gar nichts. Je weniger aber ein
Seldwyler zu Hauſe was taugt, um ſo beſſer
hält er ſich ſonderbarer Weiſe, wenn er ausrückt,
[8] und ob ſie einzeln oder in Kompagnie ausziehen,
wie z. B. in früheren Kriegen, ſo haben ſie ſich
doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant
und Geſchäftsmann hat ſchon mancher ſich rüſtig
umgethan, wenn er nur erſt aus dem warmen
ſonnigen Thale herauskam, wo er nicht gedieh.
In einer ſo luſtigen und ſeltſamen Stadt
kann es an allerhand ſeltſamen Geſchichten und
Lebensläufen nicht fehlen, da Müſſiggang aller
Laſter Anfang iſt. Doch nicht ſolche Geſchichten,
wie ſie in dem beſchriebenen Charakter von Seld¬
wyla liegen, will ich eigentlich in dieſem Büchlein
erzählen, ſondern einige ſonderbare Abfällſel, die
ſo zwiſchen durch paſſirten, gewiſſermaßen aus¬
nahmsweiſe, und doch auch gerade nur zu Seld¬
wyla vor ſich gehen konnten.
Pankraz, der Schmoller.
Auf einem ſtillen Seitenplätzchen, nahe an
der Stadtmauer, lebte die Wittwe eines Seld¬
wylers, der ſchon lange fertig geworden und
unter dem Boden war. Dieſer war keiner von
den ſchlimmſten geweſen, vielmehr fühlte er eine
ſo ſtarke Sehnſucht, ein ordentlicher und feſter
Mann zu ſein, daß ihn der herrſchende Ton,
dem er als junger Menſch nicht entgehen konnte,
angriff, und als ſeine Glanzzeit vorüber war
und er der Sitte gemäß abtreten mußte von
dem Schauplatze der Thaten, da kam ihm alles
wie ein wüſter Traum und wie ein Betrug um
das Leben vor, und er bekam davon die Aus¬
zehrung und ſtarb unverweilt.
Er hinterließ ſeiner Wittwe ein kleines
baufälliges Häuschen, einen Kartoffelacker vor
dem Thore und zwei Kinder, einen Sohn und
[10] eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente
ſie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu
kochen, die ſie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬
gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte,
nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über
den Termin hinaus in ſeinem Geſchäfte benutzt,
reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen
anderen kleinen Ausgaben hin. Dieſes Geld
wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die
ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene
verlängerten Wochen zu früh gänzlich ſchadhaft
waren und der Buttertopf überall ſeinen Grund
durchblicken ließ. Dieſes Durchblicken des grünen
Topfbodens war eine ſo regelmäßige jährliche
Erſcheinung, wie irgend eine am Himmel, und
verwandelte eben ſo regelmäßig eine Zeit lang
die kühle, kümmerlich-ſtille Zufriedenheit der Fa¬
milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die
Kinder plagten die Mutter um beſſeres und
reichlicheres Eſſen; denn ſie hielten ſie in ihrem
Unverſtande für mächtig genug dazu, weil ſie
ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre
einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬
frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr
[11] Verſtand, oder mehr zu eſſen, oder beides zu¬
ſammen erhielten.
Beſagte Kinder aber zeigten verſchiedene Ei¬
genſchaften. Der Sohn war ein unanſehnlicher
Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen
und ernſthaften Geſichtszügen, welcher des Mor¬
gens lang im Bette lag, dann ein wenig in
einem zerriſſenen Geſchichts- und Geographiebuche
las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf
den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬
wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬
hafte Begebenheit war, welche ſich für ihn zu¬
trug. Sie ſchien für ihn etwa das zu ſein,
was für die Kaufleute der Mittag auf der
Börſe; wenigſtens kam er mit eben ſo abwech¬
ſelnder Stimmung von dieſem Vorgang zurück,
und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk
gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬
heeren in Blut und Feuer geſtanden und maje¬
ſtätiſch manövrirte, ſo war er eigentlich vergnügt
zu nennen.
Dann und wann, jedoch nur ſelten, beſchrieb
er ein Blatt Papier mit ſeltſamen Liſten und
Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün¬
[12] del legte, das durch ein Endchen alte Goldtreſſe
zuſammengehalten wurde. In dieſem Bündelchen
ſtack hauptſächlich ein kleines Heft, aus einem
zuſammengefalteten Bogen Goldpapier gefertigt,
deſſen weiße Rückſeiten mit allerlei Linien, Fi¬
guren und aufgereihten Punkten, dazwiſchen Rauch¬
wolken und fliegende Bomben, gefüllt und be¬
ſchrieben waren. Dies Büchlein betrachtete er oft
mit großer Befriedigung und brachte neue Zeich¬
nungen darin an, meiſtens um die Zeit, wenn
das Kartoffelfeld in voller Blüthe ſtand. Er
lag dann im blühenden Kraut unter dem blauen
Himmel, und wenn er eine weiße beſchriebene
Seite betrachtet hatte, ſo ſchaute er drei Mal
ſo lange in das gegenüberſtehende glänzende
Goldblatt, in welchem ſich die Sonne brach. Im
Übrigen war es ein eigenſinniger und zum Schmol¬
len geneigter Junge, welcher nie lachte und auf
Gottes lieber Welt nichts that oder lernte.
Seine Schweſter war zwölf Jahre alt und
ein bildſchönes Kind mit langem und dickem
braunen Haar, großen braunen Augen und der
allerweißeſten Hautfarbe. Dies Mädchen war
ſanft und ſtill, ließ ſich vieles gefallen und
[13] murrte weit ſeltener als ſein Bruder. Es beſaß
eine helle Stimme und ſang gleich einer Nach¬
tigall; doch obgleich es mit alle dieſem freund¬
licher und lieblicher war, als der Knabe, ſo gab
die Mutter doch dieſem ſcheinbar den Vorzug
und begünſtigte ihn in ſeinem Weſen, weil ſie
Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen
und es ihm wahrſcheinlicher Weiſe einmal recht
ſchlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬
ſicht das Mädchen nicht viel brauchte und ſchon
deshalb unterkommen würde.
Dieſes mußte daher unaufhörlich ſpinnen,
damit das Söhnlein deſto mehr zu eſſen bekäme
und recht mit Muße ſein einſtiges Unheil erwar¬
ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬
teres an und geberdete ſich wie ein kleiner In¬
dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch
ſeine Schweſter empfand hiervon keinen Verdruß
und glaubte das müſſe ſo ſein.
Die einzige Entſchädigung und Rache nahm
ſie ſich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬
keit, welche ſie ſich beim Eſſen mit Liſt oder
Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter
kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬
[14] felbrei, über welchen ſie eine fette Milch oder
eine Brühe von ſchöner brauner Butter goß.
Dieſen Kartoffelbrei aßen ſie Alle zuſammen aus
der Schüſſel mit ihren Blechlöffeln, indem Jeder
vor ſich eine Vertiefung in das feſte Kartoffel¬
gebirge hinein grub. Das Söhnlein, welches
bei aller Seltſamkeit in Eßangelegenheiten einen
ſtrengen Sinn für militairiſche Regelmäßigkeit
beurkundete und ſtreng darauf hielt, daß Jeder
nicht mehr noch weniger nahm, als was ihm
zukomme, ſah ſtets darauf, daß die Milch oder
die gelbe Butter, welche am Rande der Schüſſel
umherfloß, gleichmäßig in die abgetheilten Gru¬
ben laufe; das Schweſterchen hingegen, welches
viel harmloſer war, ſuchte, ſobald ihre Quellen
verſiegt waren, durch allerhand künſtliche Stollen
und Abzugsgräben die wohlſchmeckenden Bächlein
auf ihre Seite zu leiten, und wie ſehr ſich auch
der Bruder dem widerſetzte und eben ſo künſt¬
liche Dämme aufbaute und überall verſtopfte,
wo ſich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, ſo
wußte ſie doch immer wieder eine geheime Ader
des Breies zu eröffnen oder langte kurzweg in
offenem Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit
[15] lachenden Augen in des Bruders gefüllte Grube.
Alsdann warf er den Löffel weg, lamentirte und
ſchmollte, bis die gute Mutter die Schüſſel zur
Seite neigte und ihre eigene Brühe voll in das
Labyrinth der Kanäle und Dämme ihrer Kinder
ſtrömen ließ.
So lebte die kleine Familie einen Tag wie
den andern, und indem dies immer ſo blieb,
während doch die Kinder ſich auswuchſen, ohne
daß ſich eine günſtige Gelegenheit zeigte, die
Welt zu erfaſſen und irgend etwas zu werden,
fühlten ſich Alle immer unbehaglicher und küm¬
merlicher in ihrem Zuſammenſein. Pankraz, der
Sohn, that und lernte fortwährend nichts, als
eine ſehr ausgebildete und künſtliche Art zu
ſchmollen, mit welcher er ſeine Mutter, ſeine
Schweſter und ſich ſelbſt quälte. Es ward dies
eine ordentliche und intereſſante Beſchäftigung
für ihn, bei welcher er die müſſigen Seelenkräfte
fleißig übte im Erfinden von hundert kleinen
häuslichen Trauerſpielen, die er veranlaßte und
in welchen er behende und meiſterlich den ſteten
Unrechtleider zu ſpielen wußte. Eſtherchen, die
Schweſter, wurde dadurch zu reichlichem Weinen
[16] gebracht, durch welches aber die Sonne ihrer
Heiterkeit ſchnell wieder hervorſtrahlte. Dieſe
Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann der
Pankraz ſo, daß er immer längere Zeiträume
hindurch ſchmollte und aus ſelbſtgeſchaffenem Ärger
ſelbſt heimlich weinte.
Doch nahm er bei dieſer Lebensart merklich
zu an Geſundheit und Kräften und als er dieſe
in ſeinen Gliedern anwachſen fühlte, erweiterte
er ſeinen Wirkungskreis und ſtrich mit einer
tüchtigen Baumwurzel oder einem Beſenſtiel in
der Hand durch Feld und Wald, um zu ſehen,
wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben
und erleiden könne. Sobald ſich ein ſolches zur
Noth dargeſtellt und entwickelt, prügelte er un¬
verweilt ſeine Widerſacher auf das Jämmerlichſte
durch, und er erwarb ſich und bewies in dieſer
ſeltſamen Thätigkeit eine ſolche Gewandtheit,
Energie und feine Taktik, ſowohl im Ausſpüren
und Aufbringen des Feindes, als im Kampfe,
daß er ſowohl einzelne ihm an Stärke weit
überlegene Jünglinge und Bauern, als ganze
Trupps derſelben entweder beſiegte, oder wenig¬
ſtens einen ungeſtraften Rückzug ausführte.
[17]
War er von einem ſolchen wohlgelungenen
Abenteuer zurückgekommen, ſo ſchmeckte ihm das
Eſſen doppelt gut und die Seinigen erfreuten
ſich dann einer heitern Stimmung. Eines Tages
aber war es ihm doch begegnet, daß er, ſtatt
welche auszutheilen, beträchtliche Schläge ſelbſt
geärntet hatte, und als er voll Scham, Ver¬
druß und Wuth nach Hauſe kam, hatte Eſther¬
chen, welche den ganzen Tag geſponnen, dem
Gelüſte nicht widerſtehen können und ſich noch
einmal über das für Pankraz aufgehobene Eſſen
hergemacht und davon einen Theil gegeſſen, und
zwar, wie es ihm vorkam, den beſten. Traurig
und wehmüthig, mit kaum verhaltenen Thränen
in den Augen, beſah er das unanſehnliche kalt
gewordene Reſtchen, während die ſchlimme Schwe¬
ſter, welche ſchon wieder am Spinnrädchen ſaß,
unmäßig lachte.
Das war zu viel und nun mußte etwas
Gründliches geſchehen. Ohne zu eſſen ging Pan¬
kraz hungrig in ſeine Kammer, und als ihn am
Morgen ſeine Mutter wecken wollte, daß er doch
zum Frühſtück käme, war er verſchwunden und
nirgends zu finden. Der Tag verging, ohne
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 2[18] daß er kam, und eben ſo der zweite und dritte
Tag. Die Mutter und Eſtherchen geriethen in
große Angſt und Noth; ſie ſahen wohl, daß er
vorſätzlich davon gegangen, indem er ſeine Hab¬
ſeligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klag¬
ten unaufhörlich, wenn alle Bemühungen frucht¬
los blieben, eine Spur von ihm zu entdecken,
und als nach Verlauf eines halben Jahrs Pan¬
krazius verſchwunden war und blieb, ergaben ſie
ſich mit trauriger Seele in ihr Schickſal, das
ihnen nun doppelt einſam und arm erſchien.
Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur
ein Tag, wenn man nicht weiß, wo diejenigen,
die man liebt, jetzt ſtehn und gehn, wenn eine
ſolche Stille darüber durch die Welt herrſcht,
daß allnirgends auch nur der leiſeſte Hauch von
ihrem Namen ergeht, und man weiß doch, ſie
ſind da und athmen irgendwo.
So erging es der Mutter und dem Eſther¬
lein fünf Jahre, zehn Jahre und funfzehn Jahre,
einen Tag wie den andern, und ſie wußten
nicht, ob ihr Pankrazius todt oder lebendig ſei.
Das war ein langes und gründliches Schmollen
und Eſtherchen, welches eine ſchöne Jungfrau
[19] geworden, wurde darüber zu einer hübſchen und
feinen alten Jungfer, welche nicht nur aus Kin¬
destreue bei der alternden Mutter blieb, ſondern
eben ſowohl aus Neugierde, um ja in dem
Augenblicke da zu ſein, wo der Bruder ſich end¬
lich zeigen würde, und zu ſehen, wie die Sache
eigentlich verlaufe. Denn ſie war guter Dinge
und glaubte feſt, daß er eines Tages wiederkäme
und daß es dann etwas Rechtes auszulachen
gäbe. Übrigens fiel es ihr nicht ſchwer, ledig
zu bleiben, da ſie klug war und wohl ſah, wie
bei den Seldwylern nicht viel dahinterſteckte von
dauerhaftem Lebensglücke, und ſie dagegen mit
ihrer Mutter unveränderlich in einem kleinen
Wohlſtändchen lebte, ruhig und ohne Sorgen;
denn ſie hatten ja einen tüchtigen Eſſer weniger
und brauchten für ſich faſt gar nichts.
Da war es einſt ein heller ſchöner Sommer¬
nachmittag, mitten in der Woche, wo man ſo an
gar nichts denkt und die Leute in den kleinen
Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seld¬
wyla befand ſich ſämmtlich mit dem Sonnenſchein
auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Thore
oder auch in kühlen Schenkſtuben in der Stadt.
[20] Die Falliten und Alten aber hämmerten, nähe¬
ten, ſchuſterten, klebten, ſchnitzelten und päſchelten
gar emſig darauf los, um den langen Tag zu
benutzen und einen vergnügten Abend zu erwer¬
ben, den ſie nunmehr zu würdigen verſtanden.
Auf dem kleinen Platze, wo die Wittwe wohnte,
war nichts als die ſtille Sommerſonne auf dem
begraſten Pflaſter zu ſehen, an den offenen Fen¬
ſtern aber arbeiteten ringsum die alten Leute
und ſpielten die Kinder. Hinter einem blühenden
Rosmariengärtchen auf einem Brette ſaß die
Wittwe und ſpann und ihr gegenüber Eſtherchen
und nähete. Es waren ſchon einige Stunden
ſeit dem Eſſen verfloſſen und noch hatte Nie¬
mand eine Zwieſprache gehalten von der ganzen
Nachbarſchaft. Da fand der Schuhmacher wahr¬
ſcheinlich, daß es Zeit ſei, eine kleine Erholungs¬
pauſe zu eröffnen und nieſ'te ſo laut und muth¬
willig: Hupſchi! daß alle Fenſter zitterten und
der Buchbinder gegenüber, der eigentlich kein
Buchbinder war, ſondern nur ſo aus dem Steg¬
reif allerhand Pappkäſtchen zuſammenleimte und
an der Thüre ein verwittertes Glaskäſtchen hängen
hatte, in welchem eine Stange Siegellack an der
[21] Sonne krumm wurde, dieſer Buchbinder rief:
Zur Geſundheit! und alle Nachbarsleute lachten.
Einer nach dem andern ſteckte den Kopf durch
das Fenſter, einige traten ſogar vor die Thüre
und gaben ſich Priſen, und ſo war das Zeichen
gegeben zu einer kleinen Nachmittagsunterhaltung
und zu einem fröhlichen Gelächter während des
Vesperkaffee's, der ſchon aus allen Häuſern duf¬
tete und zichorirte. Dieſe hatten endlich gelernt,
ſich an wenigem einen Spaß zu machen. Da
kam in dies Vergnügen herein ein fremder Leier¬
mann mit einem ſchön polirten Orgelkaſten, was
in der Schweiz eine ziemliche Seltenheit iſt, da
ſie keine eingeborene Leiermänner beſitzt. Er
ſpielte ein ſehnſüchtiges Lied von der Ferne und
ihren Dingen, welches die Leute über die Maßen
ſchön dünkte und beſonders der Wittwe Thränen
entlockte, da ſie ihres Pankräzchens gedachte, das
nun ſchon funfzehn Jahre verſchwunden war.
Der Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer,
er zog ab und das Plätzchen wurde wieder ſtill.
Aber nicht lange nachher kam ein anderer Her¬
umtreiber mit einem großen fremden Vogel in
einem Käfig, den er unaufhörlich zwiſchen dem
[22] Gitter durch mit einem Stäbchen anſtach und
erklärte, ſo daß der traurige Vogel keine Ruhe
hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und die
fernen blaueſten Länder, über denen er in ſeiner
Freiheit geſchwebt, kamen der Wittwe in den
Sinn und machten ſie um ſo trauriger, als ſie
den Teufel wußte, was das für Länder wären,
noch wo ihr Söhnchen ſei. Um den Vogel zu
ſehen, hatten die Nachbaren auf das Plätzchen
hinaustreten müſſen, und als er nun fort war,
bildeten ſie eine Gruppe, ſteckten die Naſen in
die Luft und lauerten auf noch mehr Merkwür¬
digkeiten, da ſie nun doch die Luſt ankam, den
übrigen Tag zu vertrödeln.
Dieſe Luſt wurde denn auch erfüllt und es
dauerte nicht lange bis das allergrößte Spek¬
takel ſich mit großem Lärm näherte unter dem
Zulauf aller Kinder des Städtchens. Denn ein
mächtiges Kameel ſchwankte auf den Platz, von
mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde
an ſeinem Naſenringe herbeigeführt; zwei oder
drei Männer waren dabei, kurz ein ganzer Bä¬
rentanz führte ſich auf und der Bär tanzte und
machte ſeine poſſierlichen Künſte, indem er von
[23] Zeit zu Zeit unwirſch brummte, daß die friedlichen
Leute ſich fürchteten und in ſcheuer Entfernung
dem wilden Weſen zuſchauten. Eſtherchen lachte
und freute ſich unbändig über den Bären, wie
er ſo zierlich umherwatſchelte mit ſeinem Stecken,
über das Kameel mit ſeinem ſelbſtvergnügten
Geſicht, und über die Affen. Die Mutter da¬
gegen mußte fortwährend weinen; denn der böſe
Bär erbarmte ſie, und ſie mußte wiederum ihres
verſchollenen Sohnes gedenken.
Als endlich auch dieſer Aufzug wieder ver¬
ſchwunden und es wieder ſtill geworden, indem
die aufgeregten Nachbaren ſich mit ſeinem Gefolge
ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder
dort zu einem Abendſchöppchen unterzukommen,
ſagte Eſtherchen: »Mir iſt es nun zu Muthe, als
ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen
würde, da ſchon ſo viele unerwartete Dinge ge¬
ſchehen und ſolche Kameele, Affen und Bären
dageweſen ſind!« Die Mutter ward böſe darüber,
daß ſie den armen Pankraz mit dieſen Beſtien
ſozuſagen zuſammenzählte und auslachte, und hieß
ſie ſchweigen, ſich nicht inne werdend, daß ſie
ja ſelbſt das gleiche gethan in ihren Gedanken.
[24] Dann ſagte ſie ſeufzend: »Ich werde es nicht
erleben, daß er wiederkommt!«
Indem ſie dies ſagte, begab ſich die größte
Merkwürdigkeit dieſes Tages und ein offener
Reiſewagen mit einem Extrapoſtillon fuhr mit
Macht auf das ſtille Plätzchen, das von der
Abendſonne noch halb beſtreift war. In dem
Wagen ſaß ein Mann, der eine Mütze trug wie
die franzöſiſchen Officiere ſie tragen, und eben
ſo trug er einen Schnurr- und Kinnbart und ein
gänzlich gebräuntes und ausgedörrtes Geſicht zur
Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln
und Säbelhieben zeigte. Auch war er in einen
Burnus gehüllt, alles dies, wie es franzöſiſche
Militairs aus Afrika mitzubringen pflegen, und
die Füße ſtemmte er gegen eine koloſſale Löwen¬
haut, welche auf dem Boden des Wagens lag;
auf dem Rückſitze vor ihm lag ein Säbel und
eine halblange arabiſche Pfeife neben andern
fremdartigen Gegenſtänden.
Dieſer Mann ſperrte ungeachtet des ernſten
Geſichtes, das er machte, die Augen weit auf
und ſuchte mit denſelben rings auf dem Platze
ein Haus, wie Einer der aus einem ſchweren
[25] Traume erwacht. Beinahe taumelnd ſprang er
aus dem Wagen, der von ungefähr auf der
Mitte des Plätzchens ſtill hielt; doch ergriff er
die Löwenhaut und ſeinen Säbel und ging ſo¬
gleich ſicheren Schrittes in das Häuschen der
Wittwe, als ob er erſt vor einer Stunde aus
demſelben gegangen wäre. Die Mutter und
Eſtherchen ſahen dies voll Verwunderung und
Neugierde und horchten auf, ob der Fremde die
Treppe herauf käme; denn obgleich ſie kaum
noch von Pankrazius geſprochen, hatten ſie in
dieſem Augenblick keine Ahnung, daß er es ſein
könnte und ihre Gedanken waren von der über¬
raſchten Neugierde himmelweit von ihm weg¬
geführt. Doch urplötzlich erkannten ſie ihn an
der Art, wie er die oberſten Stufen überſprang
und über den kurzen Flur weg faſt gleichzeitig
die Klinke der Stubenthüre ergriff, nachdem er
wie der Blitz vorher den loſe ſteckenden Stuben¬
ſchlüſſel feſter in's Schloß geſtoßen, was ſonſt
immer die Art des Verſchwundenen geweſen, der
in ſeinem Müſſiggange eine ſeltſame Ordnungs¬
liebe bewährt hatte. Sie ſchrieen laut auf und
ſtanden feſtgebannt vor ihren Stühlen, mit offe¬
2 *[26] nem Munde nach der aufgehenden Thüre ſehend.
Unter dieſer ſtand der fremde Pankrazius mit
dem dürren und harten Ernſte eines fremden
Kriegsmannes, nur zuckte es ihm ſeltſam um
die Augen, indeſſen die Mutter erzitterte bei ſei¬
nem Anblick und ſich nicht zu helfen wußte und
ſelbſt Eſtherchen zum erſten Mal gänzlich ver¬
blüfft war und ſich nicht zu regen wagte. Doch
alles dies dauerte nur einen Augenblick; der
Herr Oberſt, denn nichts Geringeres war der
verlorne Sohn, nahm mit der Höflichkeit und
Achtung, welche ihn die wilde Noth des Lebens
gelehrt, ſogleich die Mütze ab, was er nie ge¬
than, wenn er früher in die Stube getreten;
eine unausſprechliche Freundlichkeit, wenigſtens
wie es den Frauen vorkam, die ihn nie freund¬
lich geſehen noch alſo denken konnten, verbreitete
ſich über das gefurchte und doch noch nicht alte
Soldatengeſicht und ließ ſchneeweiße Zähne ſehen,
als er auf ſie zueilte und beide mit ausbrechen¬
dem Herzensweh in die Arme ſchloß.
Hatte die Mutter erſt vor dem martialiſchen
und vermeintlich immer noch böſen Sohne ſon¬
derbar gezittert, ſo zitterte ſie jetzt erſt recht in
[27] ſcheuer Seligkeit, da ſie ſich in den Armen
dieſes wiedergekehrten Sohnes fühlte, deſſen ach¬
tungsvolles Mützenabnehmen und deſſen aufleuch¬
tende nie geſehene Anmuth, wie ſie nur die
Rührung und die Reue giebt, ſie ſchon wie mit
einem Zauberſchlage berührt hatten. Denn noch
ehe das Bürſchchen ſieben Jahre alt geweſen,
hatte es ſchon angefangen ſich ihren Liebkoſungen
zu entziehen und ſeither hatte Pankraz in bitte¬
rer Sprödigkeit und Verſtockung ſich gehütet,
ſeine Mutter auch nur mit der Hand zu berüh¬
ren, abgeſehen davon, daß er unzählige Male
ſchmollend zu Bett gegangen war ohne Gute¬
nacht zu ſagen. Daher bedünkte es ſie nun ein
unbegreiflicher und wunderſamer Augenblick, in
welchem ein ganzes Leben lag, als ſie jetzt nach
wohl dreißig Jahren ſozuſagen zum erſten Mal
ſich von dem Sohne umfangen ſah. Aber auch
Eſtherchen bedünkte dieſes veränderte Weſen ſo
ernſthaft und wichtig, daß ſie, die den Schmol¬
lenden tauſendmal ausgelacht hatte, jetzt nicht
im mindeſten den bekehrten Freundlichen anzu¬
lachen vermochte, ſondern mit klaren Thränen in
[28] den Augen nach ihrem Seſſelchen ging und den
Bruder unverwandt anblickte.
Pankraz war der Erſte, der ſich nach meh¬
reren Minuten wieder zuſammen nahm und als
ein guter Soldat einen Übergang und Ausweg
dadurch bewerkſtelligte, daß er ſein Gepäck
herauf beförderte. Die Mutter wollte mit Eſt¬
herchen helfen; aber er führte ſie äußerſt hold¬
ſelig zu ihrem Sitze zurück, und duldete nur,
daß Eſtherchen zum Wagen herunterkam und ſich
mit einigen leichten Sachen belud. Den weite¬
ren Verlauf führte indeſſen Eſtherchen herbei,
welche bald ihren guten Humor wiedergewann
und nicht länger unterlaſſen konnte, die Löwen¬
haut an dem langen gewaltigen Schwanze zu
packen und auf dem Boden herumzuziehen, in¬
dem ſie ſich krank lachen wollte und einmal über
das andere rief: Was iſt dies nur für ein
Pelz? Was iſt dies für ein Ungeheuer?
»Dies iſt, ſagte Pankraz, ſeinen Fuß auf
das Fell ſtoßend, vor drei Monaten noch ein
lebendiger Löwe geweſen, den ich getödtet habe.
Dieſer Burſche war mein Lehrer und Bekehrer
und hat mir zwölf Stunden lang ſo eindringlich
[29] gepredigt, daß ich armer Kerl endlich von allem
Schmollen und Bösſein für immer geheilt wurde.
Zum Andenken ſoll ſeine Haut nicht mehr aus
meiner Hand kommen. Das war eine ſchöne
Geſchichte!« ſetzte er mit einem Seufzer hinzu?
In der Vorausſicht, daß ſeine Leutchen, im
Fall er ſie noch lebendig anträfe, jedenfalls nicht
viel Koſtbares im Hauſe hätten, hatte er in der
letzten größeren Stadt, wo er durchgereiſt, einen
Korb guten Weines eingekauft, ſowie einen Korb
mit verſchiedenen kalten Speiſen, damit in Seld¬
wyla kein Gelaufe entſtehen ſollte und er in aller
Stille mit der Mutter und der Schweſter ein
gutes Abendbrot einnehmen konnte. So brauchte
die Mutter nur den Tiſch zu decken, und Pan¬
kraz trug auf, einige gebratene Hühner, eine
herrliche Sülzpaſtete und ein Packet feiner kleiner
Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege hatte
er bedacht, wie dunkel einſt das armſelige Thran¬
lämpchen gebrannt und wie oft er ſich über die
kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum
ſeine müſſigen Siebenſachen handtieren gekonnt,
ungeachtet die Mutter, die doch ältere Augen
hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Naſe
[30] geſchoben, wiederum zum großen Ergötzen Eſther¬
chens, die bei jeder Gelegenheit ihm die Leuchte
wieder wegzupraktiziren verſtanden. Ach, ein¬
mal hatte er ſie zornig weinend ausgelöſcht, und
als die Mutter ſie bekümmert wieder angezündet,
blies ſie Eſtherchen lachend wieder aus, worauf
er zerriſſenen Herzens in's Bett rannte. Dies
und noch anderes war ihm auf dem Wege ein¬
gefallen, und indem er ſchmerzlich und bang kaum
erleben mochte, ob er die Verlaſſenen wieder¬
ſehen würde, kaufte er auch noch einige Wachs¬
kerzen ein, und zündete jetzo zwei derſelben an,
ſo daß die Frauensleute ſich nicht zu laſſen
wußten vor Verwunderung ob all' der Herr¬
lichkeit.
Dergeſtalt ging es wie auf einer kleinen Hoch¬
zeit in dem Häuschen der Wittwe, nur viel ſtiller,
und Pankraz benutzte das helle Licht der Kerzen,
die gealterten Geſichter ſeiner Mutter und Schwe¬
ſter zu ſehen und dies Sehen rührte ihn ſtärker,
als alle Gefahren, denen er in's Geſicht ge¬
ſchaut. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sin¬
nen über die menſchliche Art und das menſch¬
liche Leben, und wie gerade unſere kleineren
[31] Eigenſchaften, als wie eine freundliche oder
herbe Gemüthsart, nicht nur unſer Schickſal und
Glück machen, ſondern auch dasjenige der uns
Umgebenden und uns zu dieſen in ein ſtren¬
ges Schuldverhältniß zu bringen vermögen, ohne
daß wir wiſſen wie es zugegangen, da wir uns
ja unſer Gemüth nicht ſelbſt gegeben. In die¬
ſen Betrachtungen ward er jedoch geſtört durch
die Nachbaren, welche jetzt ihre Neugierde nicht
länger unterdrücken konnten und Einer nach dem
Andern in die Stube drangen, um das Wun¬
derthier zu ſehen, da ſich ſchon in dem ganzen
Städtchen das Gerücht verbreitet hatte, der ver¬
ſchollene Pankrazius ſei erſchienen, und zwar als
ein franzöſiſcher General in einem vierſpännigen
Wagen.
Dies war nun ein höchſt verwickelter Fall
für die in ihren Vergnügungslokalen verſammel¬
ten Seldwyler, ſowol für die Jungen als wie
für die Alten, und ſie kratzten ſich verdutzt hin¬
ter den Ohren. Denn dies war gänzlich wider
die Ordnung und wider den Strich zu Seldwyl,
daß da Einer wie vom Himmel geſchneit als
ein gemachter Mann und General herkommen
[32] ſollte gerade in dem Alter, wo man zu Seldwyl
ſonſt fertig war. Was wollte der denn nun
beginnen? Wollte er wirklich am Orte bleiben,
ohne ein Herabgekommener zu ſein die übrige
Zeit ſeines Lebens hindurch, beſonders wenn er
etwa alt würde? Und wie hatte er es an¬
gefangen? Was zum Teufel hatte der unbe¬
achtete und unſcheinbare junge Menſch betrieben
die lange Jugend hindurch, ohne ſich aufzubrau¬
chen? Das war die Frage, die alle Gemüther
bewegte, und ſie fanden durchaus keinen Schlüſ¬
ſel, das Räthſel zu löſen, weil ihre Menſchen-
oder Seelenkunde zu klein war, um zu wiſſen,
daß gerade die herbe und bittere Gemüthsart,
welche ihm und ſeinen Angehörigen ſo bittere
Schmerzen bereitet, ſein Weſen im Übrigen wohl¬
konſervirt, wie der ſcharfe Kampher einen Schmet¬
terling, und ihm über das gefährliche Seldwyler
Glanzalter hinweggeholfen hatte. Um die Frage
zu löſen, ſtellte man überhaupt die Wahrheit des
Ereigniſſes in Frage und beſtritt deſſen Mög¬
lichkeit, und um dieſe Auffaſſung zu beſtätigen,
wurden verſchiedene alte Falliten nach dem Plätz¬
chen abgeſandt, ſo daß Pankraz, deſſen ſchon
[33] verſammelte Nachbaren ohnehin dieſem Stande
angehörten, ſich von einer ganzen Verſammlung
neugieriger und gemüthlicher Falliten umgeben
ſah, wie ein alter Heros in der Unterwelt von
den herbeieilenden Schatten.
Er zündete nun ſeine türkiſche Pfeife an und
erfüllte das Zimmer mit dem fremden Wohl¬
geruch des morgenländiſchen Tabacks; die Schat¬
ten oder Falliten witterten immer neugieriger in
den blauen Duftwolken umher, und Eſtherchen
und die Mutter beſtaunten unaufhörlich die Leut¬
ſeligkeit und Geſchicklichkeit des Pankraz, mit
welcher er die Leute unterhielt, und zuletzt die
freundliche, aber ſichere Gewandtheit, mit welcher
er die Verſammlung endlich entließ, als es ihm
Zeit dazu ſchien.
Da aber die Freuden, welche auf dem Fa¬
milienglück und auf frohen Ereigniſſen unter
Blutsverwandten beruhen, auch nach den läng¬
ſten Leiden die Betheiligten plötzlich immer jung
und munter machen, ſtatt ſie zu erſchöpfen, wie
die Aufregungen der weitern Welt es thun,
ſo verſpürte die alte Mutter noch nicht die ge¬
ringſte Müdigkeit und Schlafluſt, ſo wenig als
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 3[34] ihre Kinder, und von dem guten Weine
erwärmt, den ſie mit Zufriedenheit genoſſen,
verlangte ſie endlich mit ihrer noch viel unge¬
duldigeren Tochter etwas Näheres von Pankra¬
zens Schickſal zu wiſſen.
»Ausführlich, erwiederte dieſer, kann ich jetzt
meine trübſelige Geſchichte nicht mehr beginnen
und es findet ſich wohl die Zeit, wo ich Euch
nach und nach meine Erlebniſſe im Einzelnen
vorſagen werde. Für heute will ich Euch aber
nur einige Umriſſe angeben, ſo viel als nöthig
iſt, um auf den Schluß zu kommen, nämlich
auf meine Wiederkehr und die Art, wie dieſe
veranlaßt wurde, da ſie eigentlich das rechte
Seitenſtück bildet zu meiner ehemaligen Flucht
und aus dem gleichen Grundtone geht. Als ich
damals auf ſo ſchnöde Weiſe entwich, war ich
von einem unvertilgbaren Groll und Weh er¬
füllt; doch nicht gegen Euch, ſondern gegen mich
ſelbſt, gegen dieſe Gegend hier, dieſe unnütze
Stadt, gegen meine ganze Jugend. Dies iſt
mir ſeither erſt deutlich geworden. Wenn ich
hauptſächlich immer des Eſſens wegen bös wurde
und ſchmollte, ſo war der geheime Grund hier¬
[35] von das nagende Gefühl, daß ich mein Eſſen
nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts
that, ja weil mich gar nichts reizte zu irgend
einer Beſchäftigung und alſo keine Hoffnung
war, daß es je anders würde; denn Alles was
ich Andere thun ſah, kam mir erbärmlich und
albern vor; ſelbſt Euer ewiges Spinnen war
mir unerträglich und machte mir Kopfweh, ob¬
gleich es mich Müſſigen erhielt. So rannte ich
davon in einer Nacht in der bitterſten Herzens¬
qual und lief bis zum Morgen, wohl ſieben Stun¬
den weit von hier. Wie die Sonne aufging,
ſah ich Leute, die auf einer großen Wieſe Heu
machten; ohne ein Wort zu ſagen oder zu fragen,
legte ich mein Bündel an den Rand, ergriff
einen Rechen oder eine Heugabel und arbeitete
wie ein Beſeſſener mit den Leuten und mit der
größten Geſchicklichkeit; denn ich hatte mir wäh¬
rend meines Herumlungerns hier alle Handgriffe
und Übungen derjenigen, welche arbeiteten, wohl
gemerkt, ſogar öfter dabei gedacht, wie ſie dies
und jenes ungeſchickt in die Hand nähmen und
wie man eigentlich die Hände ganz anders müßte
3 *[36] fliegen laſſen, wenn man erſt einmal ein Arbeiter
heißen wolle.«
»Die Leute ſahen mir erſtaunt zu und Nie¬
mand hinderte mich an meiner Arbeit; als ſie
das Morgenbrot aßen, wurde ich dazu eingeladen;
dieſes hatte ich bezweckt und ſo arbeitete ich weiter,
bis das Mittagseſſen kam, welches ich ebenfalls
mit großem Appetit einnahm. Doch nun erſtaun¬
ten die Bauersleute noch vielmehr und ſandten
mir ein verdutztes Gelächter nach, als ich, anſtatt
die Heugabel wieder zu ergreifen, plötzlich den
Mund wiſchte, mein Bündelchen wieder aufgriff
und ohne ein Wort weiter zu verlieren, meines
Weges weiter zog. In einem dichten kühlen
Buchenwäldchen legte ich mich hin und ſchlief bis
zur Abenddämmerung; dann ſprang ich auf, ging
aus dem Wäldchen hervor und guckte am Himmel
hin und her, an welchem die Sterne hervorzu¬
treten begannen. Die Stellung der Sterne ge¬
hörte auch zu den wenigen Dingen, die ich wäh¬
rend meines Müſſigganges gemerkt, und da ich
darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit ge¬
funden, ſo hatte ſie mir immer wohlgefallen, und
zwar um ſo mehr, als dieſe glänzenden Geſchöpfe
[37] ſolche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine
Portion Kartoffelſuppe zu üben ſchienen, ſondern
damit nur thaten, was ſie nicht laſſen konnten,
wie zu ihrem Vergnügen und dabei wohl beſtan¬
den. Da ich nun durch das allmälige Auswendig¬
lernen unſres Geographiebuches, ſo einfach dieſes
war, auch auf dem Erdboden Beſcheid wußte, ſo
verſtand ich meine Richtung wohl zu nehmen und
beſchloß in dieſem Augenblick, nordwärts durch
ganz Deutſchland zu laufen, bis ich das Meer
erreichte. Alſo lief ich die Nacht hindurch wieder
acht gute Stunden und kam mit der Morgen¬
ſonne an eine wilde und entlegene Stelle am
Rhein, wo eben vor meinen Augen ein mit Korn¬
ſäcken beladenes Schiff an einer Untiefe aufſtieß,
indeſſen doch das Waſſer über einen Theil der
Ladung wegſtrömte. Da ſich nur drei Männer
bei dem Schiffe befanden und weit und breit in
dieſer Frühe und in dieſer Wildniß Niemand zu
erſehen war, ſo kam ich ſehr willkommen, als ich
ſogleich Hand anlegte und den Schiffern die ſchwere
Ladung an's Ufer bringen und das Fahrzeug wie¬
der flott machen half. Was von dem Korne naß
geworden, ſchütteten wir auf Bretter, die wir an
[38] die Sonne legten, und wandten es fleißig um,
und zuletzt beluden wir das Schiff wieder. Doch
nahm dies alles den größten Theil des Tages
weg, und ich fand dabei Gelegenheit, mit den
Schiffsleuten unterſchiedliche tüchtige Mahlzeiten
zu theilen; ja, als wir fertig waren, gaben ſie
mir ſogar noch etwas Geld und ſetzten mich auf
mein Verlangen an das andere Ufer über mit¬
telſt des kleinen Kähnchens, das ſie hinter dem
großen Kahne angebunden hatten.«
»Drüben befand ich mich in einem großen
Bergwald und ſchlief ſofort bis es Nacht wurde,
worauf ich mich abermals auf die Füße machte
und bis zum Tagesanbruch lief. Mit wenig
Worten zu ſagen: auf dieſe nämliche Art ge¬
langte ich in wenig mehr als zwei Monaten nach
Hamburg, indem ich, ohne je viel mit den Leu¬
ten zu ſprechen, überall des Tages zugriff, wo
ſich eine Arbeit zeigte, und davon ging, ſobald
ich geſättigt war, um die Nacht hindurch wie¬
derum zu wandern. Meine Art überraſchte die
Leute immer, ſo daß ich niemals einen Wider¬
ſpruch fand, und bis ſie ſich etwa widerhaarig
oder neugierig zeigen wollten, war ich ſchon wie¬
[39] der weg. Da ich zugleich die Städte vermied
und meinen Arbeitsverkehr immer im freien Felde,
auf Bergen und in Wäldern betrieb, wo nur
urſprüngliche und einfache Menſchen waren, ſo
reiſete ich wirklich wie zu der Zeit der Patriar¬
chen. Ich ſah nie eine Spur von dem Regiment
der Staaten, über deren Boden ich hinlief, und
mein einziges Denken war, über eben dieſen
Boden wegzukommen, ohne zu betteln oder für
meine nöthige Leibesnahrung Jemandem verpflich¬
tet ſein zu müſſen, im Übrigen aber zu thun,
was ich wollte, und insbeſondere zu ruhen, wenn
es mir gefiel, und zu wandern, wenn es mir
beliebte. Später habe ich freilich auch gelernt,
mich an eine feſte außer mir liegende Ordnung
und an eine regelmäßige Ausdauer zu halten,
und wie ich erſt urplötzlich arbeiten gelernt, lernte
ich auch dies ſogleich ohne weitere Anſtrengung,
ſobald ich nur einmal eine erkleckliche Nothwen¬
digkeit einſah.«
Ȇbrigens bekam mir dies Leben in der freien
Luft, bei der ſteten Abwechslung von ſchwerer
Arbeit, tüchtigem Eſſen und ſorgloſer Ruhe vor¬
trefflich und meine Glieder wurden ſo geübt, daß
[40] ich als ein wahrer Teufelskerl an Stärke und
Rührigkeit in der Seeſtadt Hamburg anlangte,
wo ich alsbald dem Waſſer zulief und mich unter
die Seeleute miſchte, welche ſich da umtrieben
und mit dem Befrachten ihrer Schiffe beſchäftigt
waren. Da ich überall zugriff und ohne alber¬
nes Gaffen doch aufmerkſam war, ohne ein Wort
dabei zu ſprechen, noch je den Mund zu ver¬
ziehen, ſo duldeten die einſilbigen derben Geſellen
mich bald unter ſich und ich brachte eine Woche
unter ihnen zu, worauf ſie mich auf einem engli¬
ſchen Kauffahrer einſchmuggelten, deſſen Kapitän
mich aufnahm unter der Bedingung, daß ich ihm
in ſeinem Privatgeſchäfte helfe, das er während
ſeiner Fahrten betrieb. Dieſes beſtand nämlich
im Zuſammenſetzen und Herſtellen von allerhand
Feuerwaffen und Piſtolen aus alten abgenutzten
Beſtandtheilen, die er in großer Menge zuſam¬
menkaufte, wenn er in der alten Welt vor Anker
ging. Es waren ſeltſame und fabelhafte Todes¬
werkzeuge, die er ſo mit ſchrecklicher Leidenſchaft
zuſammenfügte und dann bei Gelegenheit an wil¬
den Küſten gegen werthvolle Friedensprodukte und
ſanfte Naturgegenſtände austauſchte. Ich hielt
[41] mich ſtill zu der Arbeit, übte mich ein und war
bald über und über mit Öl, Schmirgel und Fei¬
lenſtaub beſchmiert als ein wilder Büchſenmacher,
und wenn ein ſolches Piſtolengeſchütz nothdürftig
zuſammenhielt, ſo wurde es mit einem ſtarken
Knall probirt; doch nie zum zweiten Mal, dieſes
wurde dem rothhäutigen oder ſchwarzen Käufer
überlaſſen auf den entlegenen Eilanden. Diesmal
fuhr er aber nur nach Neuyork und von da nach
England zurück, wo ich, der Büchſenmacherei nun
genugſam kundig, mich von ihm entfernte und
ſogleich in ein Regiment anwerben ließ, das nach
Oſtindien abgehen ſollte.«
»In Neuyork hatte ich zwar den Fuß an
das Land geſetzt und auf einige Stunden dies
amerikaniſche Leben beſehen, welches mir eigentlich
nun recht hätte zuſagen müſſen, da hier Jeder
that, was er wollte, und ſich gänzlich nach Be¬
dürfniß und Laune rührte, von einer Beſchäfti¬
gung zur andern abſpringend, wie es ihm eben
beſſer ſchien, ohne ſich irgend einer Arbeit zu
ſchämen oder die eine für edler zu halten, als
die andre. Doch weiß ich nicht wie es kam,
daß ich mich ſchleunig wieder auf unſer Schiff
[42] ſputete und ſo, ſtatt in der neuen Welt zu blei¬
ben, in den älteſten träumeriſchen Theil unſrer
Welt gerieth, in das uralte heiße Indien, und
zwar in einem rothen Rocke, als ein ſtiller eng¬
liſcher Soldat. Und ich kann nicht ſagen, daß
mir das neue Leben mißfiel, das ſchon auf dem
großen Linienſchiffe begann, auf welchem das Re¬
giment ſich befand. Schon der Umſtand, daß
wir Alle, ſo viel wir waren, mit der größten
Pünktlichkeit und Abgemeſſenheit ernährt wurden,
indem Jeder ſeine Ration ſo ſicher bekam, wie
die Sterne am Himmel gehen, keiner mehr noch
minder, als der andre, und ohne daß einer den
andern beeinträchtigen konnte, behagte mir außer¬
ordentlich und um ſo mehr, als keiner dafür zu
danken brauchte und alles nur unſerm bloßen
wohlgeordneten Daſein gebührte. Wenn wir Re¬
kruten auch ſchon auf dem Schiffe eingeſchult
wurden und täglich exerziren mußten, ſo gefiel
mir doch dieſe Beſchäftigung über die Maßen, da
wir nicht das Bajonet herumſchwenken mußten,
um etwa mit Gewandtheit eine Kartoffel daran
zu ſpießen, ſondern es war lediglich eine reine
Übung, welche mit dem Eſſen zunächſt gar nicht
[43] zuſammenhing, und man brauchte nichts als
pünktlich und aufmerkſam beim einen und dem
andern zu ſein und ſich um weiter nichts zu
kümmern. Schon am zweiten Tage unſrer Fahrt
ſah ich einen Soldaten prügeln, der wider einen
Vorgeſetzten gemurrt, nachdem er ſchon verſchie¬
dene Unregelmäßigkeiten begangen. Sogleich nahm
ich mir vor, daß dies mir nie widerfahren ſolle,
und nun kam mir mein Schmollweſen ſehr gut
zu ſtatten, indem es mir eine vortreffliche laut¬
loſe Pünktlichkeit und Aufmerkſamkeit erleichterte
und es mir fortwährend möglich machte, mir in
keiner Weiſe etwas zu vergeben.«
»So wurde ich ein ganz ordentlicher und
brauchbarer Soldat; es machte mir Freude, alles
recht zu begreifen und ſo zu thun, wie es als
muſtergültig vorgeſchrieben war, und da es mir
gelang, ſo fühlte ich mich endlich ziemlich zufrie¬
den, ohne jedoch mehr Worte zu verlieren als
bisher. Nur ſelten wurde ich beinahe ein wenig
luſtig und beging etwa einen närriſchen halben
Spaß, was mir vollends den Anſtrich eines Sol¬
daten gab, wie er ſein ſoll, und zugleich verhin¬
derte, daß man mich nicht leiden konnte, und ſo
[44] war kaum ein Jahr vergangen in dem heißen
ſeltſamen Lande, als ich anfing vorzurücken und
zuletzt ein anſehnlicher Unteroffizier wurde. Nach
einem Verlauf von Jahren war ich ein großes
Thier in meiner Art, war meiſtentheils in den
Büreaus des Regimentskommandeurs beſchäftigt
und hatte mich als ein guter Verwalter heraus¬
geſtellt, indem ich die nothwendigen Künſte, die
Schreibereien und Rechnereien aus dem Gange
der Dinge mir augenblicklich aneignete ohne wei¬
teres Kopfzerbrechen. Es ging mir jetzt alles
nach der Schnur und ich ſchien mir ſelbſt zufrie¬
den zu ſein, da ich ohne Mühe und Sorgen da
ſein konnte unter dem warmen blauen Himmel;
denn was ich zu verrichten hatte, geſchah wie
von ſelbſt, und ich fühlte keinen Unterſchied, ob
ich in Geſchäften oder müſſig umherging. Das
Eſſen war mir jetzt nichts Wichtiges mehr, und
ich beachtete kaum, wann und was ich aß.
Zweimal während dieſer Zeit hatte ich Nachricht
an Euch abgeſandt nebſt einigen erſparten Geld¬
mitteln; allein beide Schiffe gingen ſonderbarer
Weiſe mit Mann und Maus zu Grunde und
ich gab die Sache auf, ärgerlich darüber, und
[45] nahm mir vor, ſobald als thunlich ſelber heim¬
zukehren und meine erworbene Arbeitsfähigkeit und
feſte Lebensart in der Heimath zu verwenden.
Denn ich gedachte damit etwas Beſſeres nach
Seldwyla zu bringen, als wenn ich eine Million
dahin brächte, und malte mir ſchon aus, wie
ich die Haſelanten und Fiſcheſſer da anfahren
wollte, wenn ſie mir über den Weg liefen.«
»Doch damit hatte es noch gute Wege und
ich ſollte erſt noch ſolche Dinge erfahren und ſo
in meinem Weſen verändert und aufgerüttelt wer¬
den, daß mir die Luſt verging, andere Leute anfah¬
ren zu wollen. Der Kommandeur hatte mich
gänzlich zu ſeinem Factotum gemacht und ich
mußte faſt die ganze Zeit bei ihm zubringen.
Es war ein ſeltſamer Mann von etwa fünfzig
Jahren, deſſen Gattin in Irland lebte auf einem
alten Thurm, da ſie wo möglich noch wunder¬
licher ſein mußte, als er; ſo lange ſie zuſammen¬
gelebt, hatten ſie ſich fortwährend angeknurrt,
wie zwei wilde Katzen, und ſie litten Beide an
der fixen Idee, daß ſie ſich gegenſeitig in einander
getäuſcht hätten, obwohl Niemand beſſer für ein¬
ander geſchaffen war. Auch waren ſie geſund
[46] und munter und lebten behaglich in dieſer Ein¬
bildung, ohne welche keines mehr hätte die Zeit
verbringen können, und wenn ſie weit aus ein¬
ander waren, ſo ſorgte Eines für das Andere
mit rührender Aufmerkſamkeit. Die einzige Toch¬
ter, die ſie hatten, und die Lydia heißt, lebte
dagegen meiſtentheils bei dem Vater und war ihm
ergeben und zugethan, da der Unterſchied des
Geſchlechtes ſelbſt zwiſchen Vater und Tochter
dieſe mehr zärtliches Mitleid für den Vater em¬
pfinden ließ, als für die Mutter, obgleich dieſe
eben ſo wenig oder ſo viel taugen mochte als
jener in dem vermeintlich unglücklichen Ver¬
hältniß.«
»Der Kommandeur hatte eine reizvolle luf¬
tige Wohnung bezogen, die außerhalb der Stadt
in einem ganz mit Palmen, Cypreſſen, Syko¬
moren und anderen Bäumen angefüllten Thale
lag. Unter dieſen Bäumen, rings um das leichte
weiße Haus herum, waren Gärten angelegt, in
denen theils jederzeit friſches Gemüſe, theils eine
Menge Blumen gezogen wurden, welche zwar hier
in allen Ecken wild wuchſen, die aber der Alte
liebte beiſammen zu haben in nächſter Nähe
[47] und in möglichſter Menge, ſo daß in dem grü¬
nen Schatten der Bäume es ordentlich leuchtete
von großen purpurrothen und weißen Blumen.
Wenn es nun im Dienſte nichts mehr zu thun
gab, ſo mußte ich als ein militäriſcher zuver¬
läſſiger Vertrauensmann dieſe Gärten in Ordnung
halten, oder um darüber nicht etwa zu verweich¬
lichen, mit dem Oberſt auf die Jagd gehen, und
ich wurde darüber zu einem gewandten Jäger;
denn gleich hinter dem Thale begann eine wilde
unfruchtbare Landſchaft, welche zuletzt gänzlich
in eine Gebirgswildniß verlief, die nicht nur
Schwärme und Schaaren unſchuldigeren Gewil¬
des, ſondern auch von Zeit zu Zeit reißende
Thiere, beſonders große Tiger beherbergte. Wenn
ein ſolcher ſich ſpüren ließ, ſo gab es einen gro¬
ßen Auszug gegen ihn, und ich lernte bei dieſen
Gelegenheiten die Gefahr lange kennen, ehe ich
in das Gefecht mit Menſchen kam. War aber
weiter gar nichts zu thun, ſo mußte ich mit dem
alten Herrn Schach ſpielen und dadurch ſeine
Tochter Lydia erſetzen, welche, da ſie gar keinen
Sinn und kein Geſchick dazu beſaß und ganz
kindiſch ſpielte, ihm zu wenig Vergnügen verſchaffte.
[48] Ich hingegen hatte mich bald ſo weit eingeübt,
daß ich ihm einigermaßen die Stange halten
konnte, ohne ihn des öfteren Sieges zu berau¬
ben, und wenn mein Kopf nicht durch andere
Dinge verwirrt worden wäre, ſo würde ich dem
grimmigen Alten bald überlegen geworden ſein.«
»Dergeſtalt war ich nun das merkwürdigſte
Inſtitut von der Welt; ich ging unter dieſen
Palmen einher gravitätiſch und wortlos in mei¬
ner Scharlachuniform, ein leichtes Schilfſtöckchen
in der Hand und über dem Kopfe ein weißes
Tuch zum Schutze gegen die heiße Sonne. Ich
war Soldat, Verwaltungsmann, Gärtner, Jäger,
Hausfreund und Zeitvertreiber, und zwar ein ganz
ſonderbarer, da ich nie ein Wort ſprach; denn
obgleich ich jetzt nicht mehr ſchmollte und leidlich
zufrieden war, ſo hatte ich mir das Schweigen
doch ſo angewöhnt, daß meine Zunge durch nichts
zu bewegen war, als etwa durch ein Kommando¬
wort oder einen Fluch gegen unordentliche Sol¬
daten. Doch diente gerade dieſe Weiſe dem
Kommandeur, ich blieb ſo an die fünf Jahre bei
ihm einen Tag wie den andern und konnte, wenn
ich freie Zeit hatte, im Übrigen thun, was mir
[49] beliebte. Dieſe Zeit benutzte ich dazu, das Dutzend
Bücher, ſo der alte Herr beſaß, immer wieder
durchzuleſen und aus denſelben, da ſie alle dick¬
leibig waren, ein ſonderbares Stück von der Welt
kennen zu lernen. Ich war ſo ein eifriger und
ſtiller Leſer, der ſich eine Weisheit ausbildete,
von der er nicht recht wußte, ob ſie in der
Welt galt oder nicht galt, wie ich bald erfahren
ſollte; denn obſchon ich bereits vieles geſehen
und erfahren, ſo war dies doch nur gewiſſer¬
maßen ſtrichweiſe und das meiſte, was es gab,
lag zur Seite des Striches, den ich paſſirt.«
»Mein Kommandeur wurde endlich zum Gou¬
verneur des ganzen Landſtriches ernannt, wo wir
bisher geſtanden; er wünſchte mich in ſeiner
Nähe zu behalten und veranlaßte meine Ver¬
ſetzung aus dem Regiment, welches wieder nach
England zurückging, in dasjenige, welches dafür
ankam, und ſo fand ſich wieder Gelegenheit, daß
ich als Militairperſon ſowohl wie in allen übri¬
gen Eigenſchaften um ihn ſein konnte, was mir
ganz recht war; denn ſo blieb ich ein auf mich
ſelbſt geſtellter Menſch, der keinen andern Herrn,
als ſeine Fahne über ſich hatte.«
Keller, die Leute von Seldwyla I. 4[50]
»Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter
aus dem alten irländiſchen Thurme an, um von
nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu
leben. Es war ein wohlgeſtaltetes Frauenzim¬
mer von großer Schönheit; doch war ſie nicht
nur eine Schönheit, ſondern auch eine Perſon,
die in ihren eigenen feinen Schuhen ſtand und
ging und ſogleich den Eindruck machte, daß es
für den, der ſich etwa in ſie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Erſatz oder einen
Troſt für dieſe gäbe, eben weil es eine ganze
und ſelbſtſtändige Perſon ſchien, die ſo nicht zum
zweiten Male vorkommt. Und zwar ſchien dieſe
edle Selbſtſtändigkeit gepaart mit der einfachſten
Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit
jener Lauterkeit und Rückhaltloſigkeit in dieſer
Güte, welche, wenn ſie ſo mit Entſchiedenheit
und Beſtimmtheit verbunden iſt, eine wahre Über¬
legenheit verleiht und dem, was im Grunde
nur ein unbefangenes urſprüngliches Gemüths¬
weſen iſt, den Schein einer weihevollen und
genialen Meiſterſchaft giebt. Indeſſen war ſie
ſehr gebildet in allen ſchönen Dingen, da ſie
nach Art ſolcher Geſchöpfe die Kindheit und bis¬
[51] herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,
was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar
faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch
viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer
ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬
legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als
ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬
bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen,
daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren
Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬
treffend beurtheilte und behandelte und dabei
waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬
lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über
alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo
wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war,
eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen
und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am
Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬
lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem
ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer
Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der
wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬
4*[52] ſere gäbe es in der Welt. Ihre ſchönen blon¬
den Locken und die dunkelblauen Augen, die faſt
immer ernſt und frei in die Welt ſahen, thaten
freilich auch das ihrige dazu, ja um ſo mehr,
als ihre Schönheit, ſo ſehr ſie imponirte, von
echt weiblicher Beſcheidenheit und Sittſamkeit
durchdrungen war und dabei gänzlich den Ein¬
druck von etwas Einzigem und Perſönlichem
machte, es war eben kurz und abermals geſagt:
eine Perſon. Das heißt, ich ſage es ſchien ſo,
oder eigentlich, weiß Gott, ob es am Ende doch
ſo war und es nur an mir lag, daß es ein
ſolcher trügeriſcher Schein ſchien, kurz — «
Pankrazius vergaß hier weiter zu reden und
verfiel in ein ſchwermüthiges Nachdenken, wozu
er ein ziemlich unkriegeriſches und beinahe ein¬
fältiges Geſicht machte. Die beiden Wachslichter
waren über die Hälfte heruntergebrannt, die
Mutter und die Schweſter hatten die Köpfe ge¬
ſenkt und nickten, ſchon nichts mehr ſehend noch
hörend, ſchlaftrunken mit ihren Köpfen, denn
ſchon ſeit Pankrazius die Schilderung ſeiner ver¬
muthlichen Geliebten begonnen, hatten ſie ange¬
fangen ſchläfrig zu werden, ließen ihn jetzt gänz¬
[53] lich im Stich und ſchliefen wirklich ein. Zum
Glück für unſere Neugierde bemerkte der Oberſt
dies nicht, hatte überhaupt vergeſſen, vor wem
er erzählte und fuhr ohne die niedergeſchlagenen
Augen zu erheben, fort, vor den ſchlafenden
Frauen zu erzählen, wie Einer, der etwas lange
Verſchwiegenes endlich mitzutheilen ſich nicht mehr
enthalten kann.
»Ich hatte, ſagte er, bis zu dieſer Zeit noch
kein Weib näher angeſehen und verſtand oder
wußte von ihnen ungefähr ſo viel, wie ein Nas¬
horn vom Zitherſpiel. Nicht daß ich ſolche etwa
nicht von jeher gern geſehen hätte, wenn ich
unbemerkt und ohne Aufwand von Mühe nach
ihnen ſchielen konnte; doch war es mir äußerſt
zuwider, mit irgend Einer mich in den geringſten
Wortwechſel einzulaſſen, da es mir von jeher
ſchien, als ob es ſämmtlichen Weibern gar nicht
um eine vernunftgemäße, klare und richtige Sache
zu thun wäre, daß es ihnen unmöglich ſei, nur
ſechs Worte lang in guter Ordnung bei der
Stange zu bleiben, ſondern daß ſie einzig darauf
ausgingen, wenn ſie in dieſem Augenblicke etwas
Zweckmäßiges und Gutes geſagt haben, gleich
[54] darauf eine große Albernheit oder Verdrehtheit
einzuwerfen, was ſie dann als ihre weibliche
Anmuth und Beweglichkeit ausgäben, im Grunde
aber eine Unredlichkeit ſei, und um ſo abſcheu¬
licher, als ſie halb und halb von bewußter
Abſicht begleitet ſei, um hinter dieſem Durchein¬
ander allen ſchlechten Inſtinkten und Querköpfig¬
keiten deſto bequemer zu fröhnen. Deshalb
ſchmollte und grollte ich von vornherein mit
allem Weibervolk und würdigte keines eines
offenkundigen Blickes. In Indien, als ich mehr
zufrieden war und keinen Groll fürder hegte,
gab es zwar viel Frauensleute, ſowohl indi¬
ſchen Geblütes, als auch eine Menge engliſcher,
da viele Kaufleute, Officiere und Soldaten ihre
Familie bei ſich hatten. Doch dieſe Indierinnen,
die ſchön waren wie die Blumen und gut wie
Zucker ausſahen und ſprachen, waren eben nichts
weiter als dies und rührten mich nicht im min¬
deſten, da Schönheit und Güte ohne Salz und
Wehrbarkeit mir langweilig vorkamen, und es
war mir peinlich zu denken, wie eine ſolche Frau,
wenn ſie mein wäre, ſich auf keine Weiſe gegen
meine etwanigen ſchlimmen Launen zu wehren
[55] vermöchte. Die europäiſchen Weiber dagegen,
die ich ſah, welche größtentheils aus Großbri¬
tannien herſtammten, ſchienen ſchon eher wehr¬
haft zu ſein, jedoch waren ſie weniger gut und
ſelbſt wenn ſie es waren, ſo betrieben ſie die
Güte und Ehrbarkeit wie ein abſcheulich nüch¬
ternes und hausbackenes Handwerk, und ſelbſt
die edle Weiblichkeit, auf die ſich dieſe ſelbſtbe¬
wußten reſpektablen Weibchen ſo viel zu gut
thaten, handhabten ſie eher als Würzkrämer,
denn als Weiber. Hier wird ein Quentchen
ausgewogen und dort ein Quentchen, ſorglich in
die löſchpapierne Düte der Philiſterhaftigkeit ge¬
wickelt. Überdies war mir immer, als ob durch
das Innerſte aller dieſer abendländiſchen Schönen
und Unſchönen ein tiefer Zug von Gemeinheit
zöge, die Krankheit unſerer Zeit, welche ſie
zwar nur von unſerem Geſchlechte, von uns
Herren Europäern, überkommen konnten, aber die
gerade bei den anderen wieder zu einem neuen
verdoppelten Übel wird. Denn es ſind üble
Zeiten, wo die Geſchlechter ihre Krankheiten aus¬
tauſchen und eines dem anderen ſeine angeborenen
Schwachheiten mittheilt. Dies waren ſo meine
[56] unwiſſenden hypochondriſchen Gedanken über die
Weiber, welche meinem Verhalten gegen ſie zu
Grunde lagen und mit welchen ich meiner Wege
ging, ohne mich um Eine zu bekümmern.«
»Als nun die ſchöne Lydia bei uns anlangte
und ich mich täglich in ihrer Nähe befand, er¬
hielt meine ganze Weisheit einen Stoß und fiel
zuſammen. Es war mir gleich von Grund aus
wohl zu Muthe, wenn ſie zugegen war, und ich
wußte nicht, was ich hieraus machen ſollte.
Höchlich verwundert war ich, weder Groll noch
Verachtung gegen dieſe zu empfinden, weder Ge¬
ringſchätzung, noch jene Luſt, doch verſtohlen nach
ihr hinzuſchielen; vielmehr freute ich mich ganz
unbefangen über ihr Daſein und ſah ſie ohne
Unbeſcheidenheit, aber frei und offen an, wenn
ich in ihrer Nähe zu thun hatte. Dies fiel mir
um ſo leichter, als ich in meiner Stellung als
armer Soldat kein Wort an ſie zu richten
brauchte, ohne gefragt zu werden und alſo kein
anderes Benehmen zu beobachten hatte, als das¬
jenige eines ſich aufrecht haltenden ernſthaften
Unterofficiers. Auch war mir das Schweigen,
beſonders gegenüber den Weibern, ſo zur andern
[57] Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬
gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte
eine Ausnahme machen können, auch wenn es
ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬
ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe
Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie
zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich
meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und
dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit
ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer
Einen willen von nun an mehr Gnade finden
bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬
gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand,
mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch
that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als
im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬
mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬
chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬
ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte
überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das
kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und
die Sonne obenhin darauf ſcheint.«
»Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes
Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich
[58] weiß es nicht mehr genau; denn die ganze Zeit¬
rechnung von damals iſt mir verloren gegangen,
der ganze Zeitraum ſchwebt mir nur noch wie
ein ſchwüler von Träumen durchzogener Som¬
mertag vor. Während dieſes Anfanges nun,
deſſen längere oder kürzere Dauer ich nicht mehr
weiß, ging ſo alles gut und ruhig von Statten.
Die Dame, obgleich ſie mich öfters ſehen mußte,
hatte nicht beſonders viel mit mir zu verkehren
oder zu ſprechen, wenn ſie es aber that, ſo war
ſie außerordentlich freundlich und that es nie,
ohne mit einem kindlichen harmloſen Lachen ihres
ſchönen Geſichtes, was ich dann dankbarſt damit
erwiederte, daß ich ein um ſo ehrbareres Geſicht
machte und den Mund nicht verzog, indem ich
ſagte: Sehr wohl, mein Fräulein! oder auch
unbefangen widerſprach, wenn ſie ſich irrte, was
indeß ſelten geſchah. War ſie aber nicht zugegen
oder ich allein, ſo dachte ich wohl vielfältig an
ſie, aber nicht im mindeſten wie ein Verliebter,
ſondern wie ein guter Freund oder Verwandter,
welcher aufrichtig um ſie bekümmert war, ihr
alles Wohlergehen wünſchte und allerlei gute
Dinge für ſie ausdachte. Kaum ging eine leiſe
[59] Veränderung dadurch mit mir vor, wenn ich mich
recht entſinne, daß ich gegenüber dem Gouver¬
neur ein wenig mehr auf mich hielt, ein wenig
mehr den Soldaten hervorkehrte, der nichts als
ſeine Pflicht kennt, und in meinen übrigen Dienſt¬
leiſtungen mehr den Schein der Unabhängigkeit
wahrte, wie ich denn auch in keinerlei Lohnver¬
hältniß zu ihm ſtand und nachdem die eigentliche
Arbeit auf ſeinem Büreau gethan, wofür ich
beſoldet war, alles übrige als ein guter Ver¬
trauter mitmachte und nur, da es die Gelegen¬
heit mit ſich brachte, etwa mit ihm aß und trank.
Und ſo war ich, wie ſchon geſagt, vollkommen
ruhig und zufrieden, was ſich freilich auf meine
beſondere Weiſe ausnehmen mochte.«
»Da geſchah es eines Tages, als ich unter
den ſchattigen Bäumen mir zu thun machte, daß
die Lydia innerhalb einer kurzen Stunde drei
Mal herkam, ohne daß ſie etwas da zu thun
oder auszurichten hatte. Das erſte Mal ſetzte
ſie ſich auf einen umgeſtürzten Korb und aß ein
kleines Körbchen voll rother Kirſchen auf, indem
ſie fortwährend mit mir plauderte und mich zum
Reden veranlaßte. Das andere Mal kam ſie
[60] und rückte den Korb ganz nahe an das Roſen¬
bäumchen, das ich eben ſäuberte, ſetzte ſich aber¬
mals darauf und nähete ein weißes ſeidenes
Band auf ein zierliches Nachthäubchen oder was
es war; denn genau konnte ich es nicht unter¬
ſcheiden, da ich diesmal kaum hinſah und ihr
nur wenig Beſcheid gab, indem ich etwas ver¬
legen wurde. Sie ging bald wieder fort und
kam zum dritten Male mit einem feinen kunſtvoll
in Elfenbein gearbeiteten Geduldſpiel aus China,
packte den alten Korb und ſchleppte ihn wieder
weg, indem ſie ſich in einiger Entfernung darauf
ſetzte, mir den Rücken zuwendend, und ganz ſtill
das Spiel zu löſen verſuchte. Ich blickte jetzt
unverwandt nach ihr hin, bis ſie, das Spielzeug
in die Taſche ſteckend, unverſehens ſich erhob
und einen ſeltſamen wohllautenden Triller ſingend
davon ging, ohne ſich wieder nach mir umzu¬
ſehen. Dies alles wollte mir nicht klar ſein
noch einleuchten, und meine Seele rümpfte leiſe
die Naſe zu dieſem Thun; aber von Stund an
war ich verliebt in Lydia.«
»In der wunderbarſten gelinden Aufregung
ließ ich mein Bäumchen ſtehen, holte die Dop¬
[61] pelbüchſe und ſtreifte in den Abend hinaus weit in
die Wildniß. Viele Thiere ſah ich wohl, aber
alle vergaß ich zu ſchießen; denn wie ich auf
eines anſchlagen wollte, dachte ich wieder an das
Benehmen dieſer Dame und verlor ſo das Thier
aus den Augen.«
»Was will ſie von dir, dachte ich, und was
ſoll das heißen? Indem ich aber hierüber hin-
und herſann, entſtand und lohete ſchon eine
große Dankbarkeit in mir für alles Mögliche
und Unmögliche, was irgend in dem Vorfalle
liegen mochte, wogegen mein Ordnungsſinn und
das Bewußtſein meiner geringen und wenig an¬
muthigen Perſon den widerwärtigſten Streit erhob.
Als ich hieraus nicht klug wurde, verfielen meine
Gedanken plötzlich auf den Ausweg, daß dieſe
ſcheinbar ſo ſchöne und tüchtige Frau am Ende
ganz einfach ein leichtfertiges und verbuhltes
Weſen ſei, das ſich zu ſchaffen mache, mit wem
es ſei, und ſelbſt mit einem armen Unterofficier
eine ſchlechte Geſchichte anzuheben nicht verſchmähe.
Dieſe verwünſchte Anſicht that mir ſo weh und
traf mich ſo unvermuthet, daß ich wuthentbrannt
einen ungeheuren rauhen Eber niederſchoß, der
[62] eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt
kam, und meine Kugel ſaß faſt gleichzeitig und
eben ſo unvermuthet und unwillkommen in ſeinem
Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in
dem meinigen, und ſchon war mir zu Muthe,
als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre
um ſeine Errungenſchaft im Vergleich zu der
meinigen. Ich ſetzte mich auf die todte Beſtie;
vor meinen Gedanken ging die ſchöne Geſtalt
vorüber und ich ſah ſie deutlich, wie ſie die drei
Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬
gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber
merkwürdiger Weiſe ging dies gute Gedächtniß
noch über dieſen Tag hinaus und zurück über¬
haupt bis auf den erſten Tag, wo ich ſie geſe¬
hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch
gänzlich ruhig geweſen. Wie man bei ganz
durchſichtiger Luft, wenn es Regen geben will,
an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich
ſieht, die man ſonſt nicht wahrnimmt, und in
ſtiller Nacht die fernſten Glocken ſchlagen hört,
ſo entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus
jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung
ihrer Erſcheinung, jedes einzelne Auftreten ſich
[63] ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt
jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und
vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem
Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder
tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo
gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in
mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte
nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine
Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬
gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten
Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der
Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und
ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den
es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern
konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn
auch wieder der Behauſung zu und überließ mich
allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch
vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und
ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts
anderes anzufangen wußte noch geſonnen war,
ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr,
um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬
gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas
Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie
[64] bei aller Zurückhaltung, die ſie nun beobachtete,
dennoch keine Gelegenheit verſäumte, irgend etwas
zu meinen Gunſten zu thun oder zu ſagen, und
ſie fing an, mir völlig nach dem Munde oder
zu Gefallen zu ſprechen, da ſie Ausdrücke brauchte,
welche ich etwa gebraucht, und die Dinge ſo
beurtheilte, wie ich es zu thun gewohnt war.
Dies ſchien nun erſt nichts beſonderes, weil es
mich eben von jeder angenehm dünkte, in ihr
eben dieſelben Anſichten vom Zweckmäßigen oder
vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich ſelber
befleißigte; auch lachte ſie über dieſelben Dinge,
über welche ich lachen mußte, oder ärgerte ſich
über die nämlichen Unſchicklichkeiten, ſo etwa vor¬
fielen. Aber zuletzt ward es ſo auffällig, daß
ſie mir, da ich kaum ein Wort mit ihr zu ſpre¬
chen hatte, zu Gefallen zu leben ſuchte und zwar
nicht wie eine ſchelmiſche Kokette, ſondern wie
ein einfaches argloſes Kind, daß ich in die
größte Verwirrung gerieth und vollends nicht
mehr wußte, wie ich mich ſtellen ſollte. So
fand ich denn, um mich zu ſalviren, unverfäng¬
lich mein Heil in meiner alten wohlhergeſtellten
Schmollkunſt und verhärtete mich vollkommen in
[65] derſelben, zumal ich mich nichts weniger als
glücklich fühlte in dieſem ſonderbaren Verhältniß.
Nun ſchien ſie wahrhaft bekümmert und nieder¬
geſchlagen, kleinlaut und ſchüchtern zu werden,
was zu ihrem ſonſtigen reſoluten und tüchtigen
Weſen eine verführeriſche Wirkung hervorbrachte,
da man an den gewöhnlichen Weibern und je
kleinlicher ſie ſind, deſto weniger gewohnt iſt,
ſie durch ſolche ſchüchterne Beſcheidenheit glänzen
und beſtechen zu ſehen. Vielmehr glauben ſie,
nichts ſtehe ihnen beſſer zu Geſicht, als eine
ſchreckliche Sicherheit und Unverſchämtheit. Da
nun ſogar noch der alte Gouverneur anfing, in
einer mir unverſtändlichen und wenig delikaten
Laune zu ſticheln und zu ſcherzen und zehnmal
des Tages ſagte: Wahrhaftig, Lydia, Du biſt
verliebt in den Pankrazius! ſo ward mir das
Ding zu bunt; denn ich hielt das für einen ſehr
ſchlechten Spaß, in Betreff auf ſeine Tochter für
geſchmacklos und vom ordinärſten Tone, in Be¬
zug auf mich aber für gewiſſenlos und roh, und
ich war oft im Begriff, es ihm offen zu ſagen
und mich den Teufel um ihn weiter zu kümmern.
Letzteres that ich auch in ſofern, als ich mich
Keller, die Leute von Seldwyla. l. 5[66] nun gänzlich zuſammen nahm und in mich ſelber
verſchloß. Lydia wurde eintönig, ja ſie ſchien
nun ſogar bleich und leidend zu werden, was
mich tief bekümmerte, ohne daß ich daraus etwas
Kluges zu machen wußte. Als ſie aber trotz
meines Verhaltens ſogar wieder anfing, mir
nachzugehen und ſich fortwährend zu ſchaffen
machte, wo ich mich aufhielt, gerieth ich in Ver¬
zweiflung und in der Verzweiflung begann ich,
abgebrochene und ungeſchickte Unterhaltungen mit
ihr zu pflegen. Es war gar nichts, was wir
ſprachen, ganz unartikulirtes jämmerliches Zeug,
als ob wir beide blödſinnig wären; allein beide
ſchienen gar nicht hieran zu denken, ſondern
lachten uns an wie Kinder; denn auch ich ver¬
gaß darüber alles andere und war endlich froh,
nur dieſe kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein
das Glück dauerte nie länger, als zwei Minuten,
da wir den Faden aus Mangel an Ruhe und
Beſonnenheit ſogleich wieder verloren und dann
zwei Kindern glichen, die ein Perlenband aufge¬
zettelt haben und mit Betrübniß die ſchönen
Perlen entgleiten ſehen. Alsdann dauerte es
wieder wochenlang, bis eine dieſer großen Unter¬
[67] nehmungen wieder gelang, und nie that ich den
erſten Schritt dazu, da ich gleich darauf wieder
nur bedacht war, mir nichts zu vergeben und
keine Dummheiten zu begehen bei dieſen etwas
ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war ich
entſchloſſen auf und davon zu gehen, allein die
Zeit verging mir ſo eilig, daß ich die That im¬
mer wieder hinausſchieben mußte. Denn meine
Gedanken waren jetzt ausſchließlich mit dieſer
Sache beſchäftigt und es ging mir dabei äußerſt
ſeltſam.«
»Mit den Büchern des Gouverneurs war
ich endlich ſo ziemlich fertig geworden und wußte
nichts mehr aus denſelben zu lernen. Lydia,
welche mich ſo oft leſen ſah, benutzte dieſe Ge¬
legenheit und gab mir von den ihrigen. Dar¬
unter war ein dicker Band wie eine Handbibel
und er ſah auch ganz geiſtlich aus; denn er war
in ſchwarzes Leder gebunden und vergoldet. Es
waren aber lauter Schauſpiele und Komödien
darin mit der kleinſten engliſchen Schrift gedruckt.
Dies Buch nannte man den Shakeſpeare, welches
der Verfaſſer deſſelben und deſſen Kopf auch
vorne drin zu ſehen war. Dieſer verführeriſche
[68] falſche Prophet führte mich ſchön in die Patſche.
Er ſchildert nämlich die Welt nach allen Seiten
hin durchaus einzig und wahr wie ſie iſt, aber
nur wie ſie es in den ganzen Menſchen iſt,
welche im Guten und im Schlechten das Metier
ihres Daſeins und ihrer Neigungen vollſtändig
und charakteriſtiſch betreiben und dabei durch¬
ſichtig wie Kryſtall, jeder vom reinſten Waſſer
in ſeiner Art, ſo daß, wenn ſchlechte Skribenten
die Welt der Mittelmäßigkeit und farbloſen Halb¬
heit beherrſchen und malen und dadurch Schwach¬
köpfe in die Irre führen und mit tauſend
unbedeutenden Täuſchungen anfüllen, dieſer hin¬
gegen eben die Welt des Ganzen und Gelun¬
genen in ſeiner Art, d. h. wie es ſein ſoll,
beherrſcht und dadurch gute Köpfe in die Irre
führt, wenn ſie in der Welt dies weſentliche
Leben zu ſehen und wiederzufinden glauben. Ach
es iſt ſchon in der Welt, aber nur niemals da,
wo wir eben ſind oder dann, wann wir leben.
Es giebt noch verwegene ſchlimme Weiber genug,
aber ohne den ſchönen Nachtwandel der Lady
Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand.
Die Giftmiſcherinnen, die wir treffen, ſind nur
[69] frech und reulos und ſchreiben gar noch ihre
Geſchichte oder legen einen Kramladen an, wenn
ſie ihre Strafe überſtanden. Es giebt noch Leute
genug, die wähnen Hamlet zu ſein und ſie rüh¬
men ſich deſſen, ohne eine Ahnung zu haben von
den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet.
Hier iſt ein Blutmenſch ohne Macbeths dämo¬
niſche und doch wieder ſo menſchliche Mannhaf¬
tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne
deſſen Witz und Beredtſamkeit. Hier iſt eine
Porzia, die nicht ſchön, dort eine, die nicht geiſt¬
reich, dort wieder eine die geiſtreich aber nicht
klug iſt und wohl verſteht, Leute unglücklich zu
machen, nicht aber ſich ſelbſt zu beglücken. Un¬
ſere Shyloks möchten uns wohl das Fleiſch aus¬
ſchneiden, aber ſie werden nun und nimmer eine
Baarauslage zu dieſem Behuf wagen, und unſere
Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen
eines luſtigen Habenichts von Freund in Gefahr,
ſondern wegen einfältigen Actienſchwindels und
halten dann nicht im mindeſten ſo ſchöne melan¬
choliſche Reden, ſondern machen ein ganz dummes
Geſicht dazu. Doch eigentlich ſind, wie geſagt,
alle ſolche Leute wohl in der Welt, aber nicht
[70] ſo hübſch beiſammen, wie in jenen Gedichten;
nie trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen
wehrbaren Mann, nie ein vollſtändiger Narr auf
einen unbedingt klugen Fröhlichen, ſo daß es zu
keinem rechten Trauerſpiel und zu keiner guten
Komödie kommen kann.«
»Ich aber las nun die ganze Nacht in die¬
ſem Buche und verfing mich ganz in demſelben,
da es mir gar ſo gründlich und ſachgemäß ge¬
ſchrieben ſchien und mir außerdem eine ſolche
Arbeit eben ſo neu als verdienſtlich vorkam.
Weil nun alles übrige ſo trefflich, wahr und
ganz erſchien und ich es für die eigentliche und
richtige Welt hielt, ſo verließ ich mich insbeſon¬
dere auch bei den Weibern, die es vorbrachte,
ganz auf ihn, verlockt und geleitet von dem
ſchönen Sterne Lydia, und ich glaubte, hier
ginge mir ein Licht auf und ſei die Löſung
meiner zweifelvollen Verwirrung und Qual zu
finden.«
»Gut! dachte ich, wenn ich dieſe ſchönen
Bilder der Desdemona, der Helena, der Imogen
und anderer ſah, die alle aus der hohen Selbſt¬
herrlichkeit ihres Frauenthums heraus ſo ſelt¬
[71] ſamen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬
haltlos wie unſchuldige Kinder, edel, ſtark und
treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die
Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬
ſeren Fall! Denn nichts anderes als ein ſol¬
ches feſtes, ſchöngebautes und gradausfahrendes
Frauenfahrzeug iſt dieſe Lydia, die ihren Anker
nur einmal und dann in eine unergründliche
Tiefe auswirft und wohl weiß was ſie will.
Dieſe Meinung ging gleich einer ſtrahlenden
heißen Sonne in mir auf und in deren Licht
ſah ich nun jede Bewegung und jede kleinſte
Handlung, jedes Wort des ſchönen Geſchöpfes,
und es dauerte nicht lange, ſo überbot ſie in
meinen Augen alles, was der gute Dichter mit
ſeiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da
dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬
herging in Fleiſch und Blut, mit wirklichen
Herzſchlägen und einem thatſächlichen Nacken voll
goldener Locken.«
»Das unheimliche Räthſel war nun gelöſt
und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich
in dieſe mit dem Shakeſpeare in die Wette zu¬
ſammengedichtete Seligkeit zu finden und mit
[72] Mühe meine geringfügige und unliebliche Perſon
für eine ſolche Laune des Schickſals oder des
königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬
maßen leidlich zurecht zu ſtutzen mittelſt hundert¬
facher Pläne und Ausſichten, welche ſich an das
große ſchöne Luftſchloß anbaueten. Die unend¬
liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich ſol¬
chergeſtalt gegen die Geliebte empfand, hatte
allerdings zum guten Theil ihren Grund in
meiner ſich geſchmeichelt fühlenden Eigenliebe;
aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin,
daß dieſe Erklärungsweiſe die einzige war, welche
mir möglich ſchien, ohne dies theuerſte Weſen
verachten und bemitleiden zu müſſen; denn eine
hohe Achtung, die ich für ſie empfand, war mir
zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz
zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menſchen
und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte.«
»So ging ich wohl ein halbes Jahr lang
herum wie ein Nachtwandler, von Träumen ſo
voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles,
ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu
kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinſten
möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chriſt
[73] vor dem Tode, den er zagend ſcheut, obgleich
er durch ſelbigen in die ewige Seligkeit einzu¬
gehen gewiß iſt. Deſto bunter ging es in
meinem Gehirn zu und die Ereigniſſe und auf¬
regendſten Geſchichten, alles aufs ſchönſte und
unzweifelhafteſte ſich begebend, drängten und blüh¬
ten da durcheinander. Ich verſäumte meine Ge¬
ſchäfte und war zu nichts zu brauchen. Das
Ärgſte war mir, wenn ich ſtundenlang mit dem
Alten Schach ſpielen mußte, wo ich dann ge¬
zwungen war, meine Aufmerkſamkeit an das Spiel
zu feſſeln, und die einzige Muße für meine
ſchweren Liebesgedanken gewährte mir die kurze
Zeit, wenn ein Spiel zu Ende war und die
Figuren wieder aufgeſtellt wurden. Ich ließ mich
daher ſobald als immer möglich, ohne daß es
zu ſehr auffiel, matt machen und hielt mich ſo
lange mit dem Aufſtellen des Königs und der
Königin, der Läufer, Springer und Bauern auf
und rückte ſo lange an den Thürmen hin und
her, daß der Gouverneur glaubte, ich ſei kin¬
diſch geworden und tändle mit den Figürchen zu
meinem Vergnügen.«
»Endlich aber drohete meine ganze Exiſtenz
5 *[74] ſich in müſſige Traumſeligkeit aufzulöſen und ich
lief Gefahr ein Tollhäusler zu werden. Zudem
war ich trotz aller dieſer goldenen Luftſchlöſſer
unſäglich kleinmüthig und traurig, da, ehe das
letzte Wort geſprochen iſt, die ſolchen wuchernden
Träumen gegenüber immer zurückſtehende Wirk¬
lichkeit niederſchlägt und die leibhafte Gegenwart
etwas Abkühlendes und Abwehrendes behält. Es
iſt das gewiſſermaßen die ſchützende Dornenrüſtung,
womit ſich die ſchöne Roſe des körperlichen Le¬
bens umgiebt. Je freundlicher und zuthulicher
Lydia war, deſto ungewiſſer und zweifelhafter
wurde ich, weil ich an mir ſelbſt entnahm,
wie ſchwer es Einem möglich wird, eine wirk¬
liche Liebe zu zeigen, ohne ſie ganz bei ihrem
Namen zu nennen. Nur wenn ſie ſtreng, traurig
und leidend ſchien, ſchöpfte ich wieder einen
halben Grund zu einer vernünftigen Hoffnung,
aber dies quälte mich alsdann noch viel tiefer
und ich hielt mich nicht werth, daß ſie nur eine
ſchlimme Minute um meinetwillen erleiden ſollte,
der ich gern den Kopf unter ihre Füße gelegt
hätte. Dann ärgerte ich mich wieder, daß ſie,
um guter Dinge zu ſein, verlangte, ich ſollte
[75] etwa ausſehen wie ein verliebter närriſcher Schnei¬
der, da ich doch kein ſolcher war und ich auf
meine Weiſe ſchon gedachte, beweglich zu werden
zu ihrem Wohlgefallen. Kurz, ich ging einer
gänzlichen Confuſion entgegen, war nicht mehr
im Stande ein einziges Geſchäft ordnungsgemäß
zu verrichten und lief Gefahr, als Militär rück¬
wärts zu kommen oder gar verabſchiedet zu wer¬
den, wenn ich nicht als ein abhängiger dienſtbarer
Lückenbüßer, der zu weiter nichts zu brauchen, mich
an das Haus des Gouverneurs hängen wollte.«
»Als daher die Engländer in bedenkliche
Feindſeligkeiten mit indiſchen Völkern geriethen
und ein Feldzug eröffnet wurde, der nachher
ziemlich blutig für ſie ausfiel, entſchloß ich mich
kurz und trat wieder in meine Compagnie als
guter Combattant, vom Gouverneur meinen Ab¬
ſchied nehmend. Derſelbe wollte zwar nichts
davon wiſſen, ſondern polterte, bat und ſchmei¬
chelte mir, daß ich bleiben möchte, wie alle ſolche
Leute, die glauben, Alles ſtehe mit ſeinem Leib
und Leben, mit ſeinem Wohl und Wehe nur zu
ihrer Verfügung da, um ihnen die Zeit zu ver¬
treiben und zur Bequemlichkeit zu dienen. Lydia
[76] hingegen ließ ſich während der drei oder vier
Tage, während welcher von meinem Abzug die
Rede war, kaum ſehen. Geſchah es aber, ſo
ſah ſie mich nicht an oder warf einen kurzen
Blick voll Zornes auf mich, wie es ſchien; aber
nur das Auge ſchien zornig, ihr Gang und ihre
übrigen Bewegungen waren dabei ſo ſtill, edel
und an ſich haltend, daß dieſer ſchöne Zorn mir
das Herz zerriß. Auch hörte ich, daß ſie des
Morgens ſehr ſpät zum Vorſchein käme und daß
man ſich darüber den Kopf zerbräche; denn es
deutete darauf, daß ſie des Nachts nicht ſchlafe,
und als ich ſie am letzten Tage zufällig hinter
ihrem Fenſter ſah, glaubte ich zu bemerken, daß
ſie ganz verweinte Augen hatte; auch zog ſie
ſich ſchnell zurück, als ich vorüberging. Nichts¬
deſtominder ſchritt ich meinen ſteifen Feldwebels¬
gang ruhig fort und verrichtete noch alles, we¬
der rechts noch links ſehend. So ging ich auch
gegen Abend mit einem Burſchen noch einmal
durch die Pflanzungen, um ihm die Obhut der¬
ſelben einigermaßen zu zeigen und ihn ſo gut
es ging zu einem proviſoriſchen Gärtner zuzu¬
ſtutzen, bis ſich ein tauglicheres Subjekt zeigen
[77] würde. Wir ſtanden eben in einem ſchlanken
hohen Roſenwäldchen, das ich gezogen hatte; die
Bäumchen ſtanden juſt in der Höhe des Geſich¬
tes eines Menſchen, und ſo nahe, daß wenn
man darin herum ging, die Roſen Einem an
der Naſe ſtreiften, was ſehr artig und bequem
war und wozu der Gouverneur ſehr gelacht hatte,
da er ſich nun nicht mehr zu bücken brauchte
um an den Roſen zu riechen. Als ich den Bur¬
ſchen meine Anweiſungen ertheilte, kam Lydia
herbei und ſchickte ihn mit irgend einem Auftrage
weg, und indem ſie gleich mitzugehen Willens
ſchien, zögerte ſie doch eine kurze Zeit, einige
Roſen brechend, bis der Diener weg war. Ich
zerrte ebenfalls noch ein Weilchen an einem
Zweige herum und wie ich mich umdrehte, um
zu gehen, ſah ich, daß ihr Thränen aus den
Augen fielen. Ich hatte Mühe mich zu bezwin¬
gen; doch that ich als ob ich nichts geſehen,
und eilte hinweg. Doch kaum war ich zehn
Schritte gegangen, als ich hörte und fühlte, wie
ſie, bald laufend, bald ſtehen bleibend, hinter mir
herkam, und ſo eine ganze Strecke weit. Ich
hielt dies nicht mehr aus, wandte mich plötzlich
[78] um und ſagte zu ihr, die kaum noch drei Schritte
von mir entfernt war: »Warum gehen Sie mir
nach, Fräulein?«
»Sie ſtand ſtill, wie von einer Schlange er¬
ſchreckt, und wurde, den Blick zur Erde geſenkt,
glühendroth im Geſicht; dann wurde ſie bleich
und weiß und zitterte am ganzen Leibe, während
ſie die großen blauen Augen zu mir aufſchlug
und nicht ein Wort hervorbrachte. Endlich
ſagte ſie mit einer Stimme, in welchen empör¬
ter Stolz mit gern ertragener Demüthigung rang:
»Ich denke, ich kann in meinem Beſitzthume
herumgehen, wo ich will!«
»Gewiß!« erwiederte ich kleinlaut und ſetzte
meinen Weg fort. Sie war jetzt an meiner
Seite und ging neben mir her. Ich ging aber
in meiner heftigen Aufregung mit ſo langen und
raſchen Schritten, daß ſie trotz ihrer kräftigen
Bewegungen mir mit Mühe folgen konnte und
doch that ſie es. Ich ſah ſie mehrmals groß
an von der Seite und ſah, daß ihr die Augen
wieder voll Waſſer ſtanden, indeſſen dieſelben
wie kummervoll und demüthig auf den Boden
gerichtet waren. Mir brannte es ebenfalls ſie¬
[79] dendheiß im Geſicht und meine Augen wurden
auch naß. Die Sache ſtand jetzt dergeſtalt auf
der Spitze, daß ich entweder eine Dummheit oder
eine Gewiſſenloſigkeit zu begehen im Begriff war,
wovon ich weder das Eine noch das Andere zu
thun geſonnen war. Doch dachte ich, indem ich
ſo neben ihr herſchritt, in meinen armen Gedan¬
ken: Wenn dies Weib dich liebt und du jemals
mit Ehren an ihre Hand gelangeſt, ſo ſollſt du
ihr auch dienen bis in den Tod, und wenn ſie
der Teufel ſelbſt wäre!
»Indem erreichten wir eine Stätte, wo ein
oder zwei Dutzend Orangenbäume ſtanden und
die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, während ein
ſüßer friſcher Lufthauch durch die reinlichen edel¬
geformten Stämmchen wehte. Ich glaube dieſen
bethörenden Hauch und Duft noch jetzt zu füh¬
len, wenn ich daran denke; wahrſcheinlich übte
er eine ähnliche Wirkung auf das Geſchöpf, das
neben mir ging, daß es ſeine wunderſame Lei¬
denſchaft, welche die Liebe zu ſich ſelbſt war,
ſo auf's äußerſte empfand und darſtellte, als ob
es eine wirkliche Liebe zu einem Manne wäre;
denn ſie ließ ſich auf eine Bank unter den Orangen
[80] nieder und ſenkte das ſchöne Haupt auf die
Hände; die goldenen Haare fielen darüber und
reiche Thränen quollen durch ihre Finger.
»Ich ſtand vor ihr ſtill und ſagte mit ver¬
ſagender Stimme: »Was wollen Sie denn, was
iſt Ihnen, Fräulein Lydia?«
»Was wollen Sie denn!« ſagte ſie »iſt es
je erhört, eine ſchöne und feine Dame ſo zu
quälen und zu mißhandeln! Aus welchem bar¬
bariſchen Lande kommen Sie denn? Was tra¬
gen Sie für ein Stück Holz in der Bruſt?«
»Wie quäle, wie mißhandle ich denn?« er¬
wiederte ich unſchlüſſig und betreten; denn ob¬
gleich ſie einen guten Sinn haben konnte, ſchien
mir dieſe Sprache dennoch nicht die rechte
zu ſein.
»Sie ſind ein grober und übermüthiger
Menſch!« ſagte ſie, ohne aufzublicken.
Nun konnte ich nicht mehr an mich halten
und erwiederte: »Sie würden dies nicht ſagen,
mein Fräulein, wenn Sie wüßten, wie wenig
grob und übermüthig ich in meinem Herzen gegen
Sie geſinnt bin! Und es iſt gerade meine große
Höflichkeit und Demuth, welche —«
[81]
»Sie blickte, als ich wieder verſtummte, auf,
und das Geſicht mit einem ſchmerzlichen, bitten¬
den Lächeln aufgehellt, ſagte ſie haſtig: »Nun?«
Wobei ſie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt
um den letzten Reſt von Überlegung brachte.
Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte,
ſelbſt dem geliebteſten Weibe zu Füßen zu fallen,
da ich ſolches für eine Thorheit und Ziererei
hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam,
plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz
hingegeben und zerknirſcht in den Saum ihres
Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen
Thränen benetzte. Sie ſtieß mich jedoch augen¬
blicklich zurück und hieß mich aufſtehen; doch als
ich dies that, hatte ſich ihr Lächeln noch ver¬
mehrt und verſchönert und ich rief nun: Ja —
ſo will ich es Ihnen nur ſagen und ſo weiter
und erzählte ihr meine ganze Geſchichte mit
einer Beredtſamkeit, die ich mir kaum je zuge¬
traut. Sie horchte begierig auf, während ich
ihr gar nichts verſchwieg vom Anfang bis zu
dieſer Stunde und beſonders ihr auch aus über¬
ſtrömendem Herzen das Bild entwarf, das von
ihr in meiner Seele lebte und wie ich es ſeit
Keller, die Leute von Seldwyla. l. 6[82] einem halben Jahre oder mehr ſo emſig und
treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte,
vor ſich niederſehend und lauſchend die Hand
unter das Kinn ſtützend, voll Zufriedenheit und
ſah immer mehr einem ſeligen Kinde gleich, dem
man ein gewünſchtes Zuckerzeug gegeben, als ſie
hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬
züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte
bei mir verloren gegangen war. Dann reichte
ſie mir die Hand hin und ſagte, freundlich er¬
röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: »Ich
danke Ihnen ſehr, mein Freund, für Ihre herz¬
liche Zuneigung! Glauben Sie, es ſchmerzt mich,
daß Sie um meinetwillen ſo lange beſorgt und
eingenommen waren; aber Sie ſind ein ganzer
Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer
ſo ſchönen und tiefen Neigung fähig ſind!«
Dieſe ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück
Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich ſo¬
gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen,
wenn ſie jetzt die gefaßte und ſich zierende Dame
machen wollte und mich in alles zu ergeben,
was ſie auch vornehmen und welchen Ton ſie
auch anſchlagen würde.
[83]
Doch erwiederte ich bekümmert: »Wer ſpricht
denn von mir, ſchöne, ſchöne Lydia! Was hat
Alles, was ich leide oder nicht leide, erlitten
habe oder noch erleiden werde, zu ſagen, gegen¬
über auch nur Einer unmuthigen oder gequälten
Minute, die Sie erleiden? Wie kann ich un¬
werther und ungefügiger Geſelle eine ſolche je
erſetzen oder vergüten?«
»Nun,« ſagte ſie, immer vor ſich nieder¬
bückend und immer noch lächelnd, doch ſchon in
einer etwas veränderten Weiſe, »nun, ich muß
allerdings geſtehen, daß mich Ihr ſchroffes und
ungeſchicktes Benehmen ſehr geärgert und ſogar
gequält hat; denn ich war an ſo etwas nicht
gewöhnt, vielmehr daß ich überall, wo ich hin¬
kam, Artigkeit und Ergebenheit um mich ver¬
breitete. Ihre ſcheinbare grobe Fühlloſigkeit hat
mich ganz ſchändlich geärgert, ſage ich Ihnen,
und um ſo mehr, als mein Vater und ich viel
auf Sie hielten. Um ſo lieber iſt es mir
nun, zu ſehen, daß Sie doch auch ein bischen
Gemüth haben, und beſonders, daß ich an mei¬
nem eigenen Werthe nicht länger zu zweifeln
brauche; denn was mich am meiſten kränkte,
6 *[84] war dieſer Zweifel an mir ſelbſt, an meinem
perſönlichen Weſen, der in mir ſich zu regen
begann. Übrigens, beſter Freund, empfinde ich
keine Neigung zu Ihnen, ſo wenig als zu je¬
mand Anderm, und hoffe, daß Sie ſich mit aller
Hingebung und Artigkeit, die Sie ſo eben beur¬
kundet, in das Unabänderliche fügen werden, ohne
mir gram zu ſein!«
»Wenn ſie geglaubt, daß ich nach dieſer un¬
befangenen Eröffnung gänzlich rath- und wehrlos
vor ihr darnieder liegen werde, ſo hatte ſie ſich
getäuſcht. Vor dem vermeintlich guten und liebe¬
vollen Weibe hatte mein Herz gezittert, vor dem
wilden Thiere dieſer falſchen gefährlichen Selbſt¬
ſucht zitterte ich ſo wenig mehr, als ich es vor
Tigern und Schlangen zu thun gewohnt war.
Im Gegentheil, anſtatt verwirrt und verzweifelt
zu ſein und die Täuſchung nicht aufgeben zu wol¬
len, wie es ſonſt wohl geſchieht in dergleichen
Auftritten, war ich plötzlich ſo kalt und beſonnen,
wie nur ein Mann es ſein kann, der auf das
ſchmählichſte beleidigt und beſchimpft worden iſt,
oder wie ein Jäger es ſein kann, der ſtatt eines
edlen ſcheuen Rehes urplötzlich eine wilde Sau
[85] vor ſich ſieht. Ein ſeltſam gemiſchtes, unheim¬
liches Gefühl von Kälte freilich, wenn ich bei
alledem die Schönheit anſehen mußte, die da vor
mir glänzte. Doch dieſes iſt das unheimliche
Geheimniß der Schönheit.«
»Indeſſen, wäre ich nicht von der Sonne ganz
braun gebrannt geweſen, ſo würde ich jetzt den¬
noch ſo weiß ausgeſehen haben, wie die Orange¬
blüthen über mir, als ich ihr nach einigem Schwei¬
gen erwiederte: »Und alſo um Ihren edlen Glau¬
ben an Ihre Perſönlichkeit herzuſtellen war es
Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und tiefen
Liebe und Selbſtentäußerung zu verwenden? Zu
dieſem Zwecke gingen Sie mir nach, wie ein un¬
ſchuldiges Kind, das ſeine Mutter ſucht, redeten
Sie mir fortwährend nach dem Munde, wurden
Sie bleich und leidend, vergoſſen Sie Thränen
und zeigten eine ſo goldene und rückhaltloſe
Freude, wenn ich mit Ihnen nur ein Wort
ſprach?«
»Wenn es ſo ausgeſehen hat, was ich that,«
ſagte ſie noch immer ſelbſtzufrieden, »ſo wird es
wohl ſo ſein. Sie ſind wohl ein wenig böſe,
eitler Mann! daß Sie nun doch nicht der Ge¬
[86] genſtand einer gar ſo demuthvollen und gränzen¬
loſen weiblichen Hingebung ſind? daß ich Ärmſte
nicht das ſehnlich blöckende Lämmlein bin, für
das Sie mich in Ihrer Vergnügtheit gehalten?«
»Ich war nicht vergnügt, Fräulein!« erwie¬
derte ich. »Indeſſen wenn die Götter, wenn
Chriſtus ſelbſt einer unendlichen Liebe zu den
Menſchen vielfach ſich hingaben, und wenn die
Menſchheit von jeher ihr höchſtes Glück darin
fand, dieſer rückhaltloſen Liebe der Götter werth
zu ſein und ihr nachzugehen: warum ſollte ich
mich ſchämen, mich ähnlich geliebt gewähnt zu
haben? Nein, Fräulein Lydia! ich rechne es mir
ſogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fan¬
gen ließ, daß ich eher an die einfache Liebe und
Güte eines unbefangenen Gemüthes glaubte, bei
ſo klaren und entſchiedenen Zeichen, als daß ich
verdorbener Weiſe nichts als eine einfältige Ko¬
mödie dahinter gefürchtet. Denn einfältig iſt die
Geſchichte! Welche Garantie haben Sie denn
nun für Ihren Glauben an ſich ſelbſt, da Sie
ſolche Mittel angewendet, um nur den ärmſten
und unanſehnlichſten aller Feldwebel zu gewinnen,
Sie, die ſchöne und vornehme engliſche Dame?«
[87]
»Welche Garantie?« antwortete Lydia, die
nun allmälig blaß und verlegen wurde, »ei!
Ihre verliebte Neigung, zu deren Erklärung ich
Sie endlich gezwungen habe! Sie werden mir
doch nicht läugnen wollen, daß Sie hingeriſſen
waren und mir ſo eben erzählten, wie ich Ihnen
von jeher gefallen? Warum ließen Sie das in
Ihrer Grobheit nicht ein klein Weniges merken,
ſo wie es dem ſchlichteſten und anſpruchloſeſten
Menſchen wohl anſteht, und wenn er ein Schafhirt
wäre, ſo würde uns dieſe ganze Komödie, wie
Sie es nennen, erſpart worden ſein und ich
hätte mich begnügt!«
»Hätten Sie mich in meiner Ruhe gelaſſen,
meine Schöne,« erwiederte ich, »ſo hätten Sie
mehr gewonnen. Denn Sie ſcheinen zu vergeſſen,
daß dies Wohlgefallen ſich jetzt nothwendig in
ſein Gegentheil verkehren muß, zu meinen eigenen
Schmerzen!«
»Hilft Ihnen nichts,« ſagte ſie, »ich weiß
einmal, daß ich Ihnen wohlgefallen habe und
mithin im Blute ſtecke! Ich habe Ihr Ge¬
ſtändniß angehört und bin meiner Eroberung ver¬
ſichert. Alles übrige iſt gleichgültig; ſo geht es
[88] zu, beſter Herr Pankrazius, und ſo werden die¬
jenigen beſtraft, die ſich vergehen im Reiche der
Königin Schönheit!«
»Das heißt,« ſagte ich, »es ſcheint dies Reich
eher einer Zigeunerbande zu gleichen. Wie kön¬
nen Sie eine Feder auf den Hut ſtecken, die Sie
geſtohlen haben, wie eine gemeine Ladendiebin?
gegen den Willen des Eigenthümers?«
Sie antwortete: »Auf dieſem Felde, beſter
Herr Eigenthümer, gereicht der Diebſtahl der
Diebin zum Ruhm, und Ihr Zorn beweiſt nur
auf's Neue, wie gut ich Sie getroffen habe!«
So zankten wir noch eine gute halbe Stunde
herum in dem ſüßen Orangenhaine, aber mit
bittern harten Worten, und ich ſuchte vergeblich
ihr begreiflich zu machen, wie dieſe abgeſtohlene
und erſchlichene Liebesgeſchichte durchaus nicht den
Werth für ſie haben könnte, den ſie ihr beilegte.
Ich führte dieſen Beweis wahrlich nicht aus phi¬
liſterhafter Verletztheit und Grobheit, ſondern um
irgend einen Funken vom Gefühl ihres Unrechtes
und der Unſittlichkeit ihrer Handlungsweiſe in
ihr zu erwecken. Aber umſonſt! Sie wollte
nicht einſehen, daß eine rechte Gemüthsverfaſſung
[89] erſt dann in der vollen und rückhaltloſen Liebe
aufflammt, wenn ſie Grund zur Hoffnung zu haben
glaubt, und daß alſo dieſen Grund zu geben, ohne
etwas zu fühlen, immer ein grober und unſittlicher
Betrug bleibt, und um ſo gewiſſenloſer, als der
Betrogene einfacher, ehrlicher und argloſer Art
iſt. Immer kam ſie auf das Faktum meiner Lie¬
beserklärung zurück, und zwar warf ſie, die ſonſt
ein ſo geſundes und ſchönes Urtheil hatte, die
unſinnigſten, kleinlichſten und unanſtändigſten Re¬
den und Argumente durcheinander und that einen
wahren Kindskopf kund. Während der ganzen
Jahre unſeres Zuſammenſeins hatte ich nicht ſo
viel mit ihr geſprochen, wie in dieſer letzten zän¬
kiſchen Stunde, und nun ſah ich, o gerechter
Gott! daß es ein Weib war von einem groß
angelegten Weſen, mit den Manieren, Bewe¬
gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und
ſeltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬
hirn — einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie
ich ſie nachmalen zu Dutzenden geſehen habe auf
den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬
ſes Zankes aber verſchlang ich ſie dennoch fort¬
während mit den Augen und ihre unbegreifliche
[90] grundloſe, ſo perſönlich ſcheinende Schönheit quälte
mein Herz in die Wette mit dem Wortwechſel,
den wir führten. Als ſie aber zuletzt ganz ſinn¬
loſe und unverſchämte Dinge ſagte, rief ich, in
bittere Thränen ausbrechend: »O Fräulein!
Sie ſind ja der größte Eſel, den ich je geſehen
habe!«
Sie ſchüttelte heftig die Wucht ihrer Locken
und ſah bleich und erſtaunt zu mir auf, wobei
ein wilder ſchiefer Zug um ihren ſonſt ſo ſchönen
Mund ſchwebte. Es ſollte wohl ein höhniſches
Lächeln ſein, ward aber zu einem Zeichen ſelt¬
ſamer Verlegenheit.
»Ja,« ſagte ich, mit den Fäuſten meine Thrä¬
nen zerreibend, »nur wir Männer können ſonſt
Eſel ſein, dies iſt unſer Vorrecht, und wenn ich
Sie auch ſo nenne, ſo iſt es noch eine Art Aus¬
zeichnung und Ehre für Sie. Wären Sie nur
ein Bischen gewöhnlicher und geringer, ſo würde
ich Sie einfach eine ſchlechte Gans ſchelten!«
Mit dieſen Worten wandte ich mich endlich
von ihr ab und ging, ohne ferner nach ihr hin¬
zublicken, aber mit dem Gefühle, daß ich das,
was mir jemals in meinem Leben von reinem
[91] Glück beſchieden ſein mochte, jetzt für immer hinter
mir laſſe, und daß es jetzt vorbei wäre mit mei¬
ner artigen Frömmigkeit in der Liebe.
»Das haſt du nun von deinem unglückſeligen
Schmollweſen!« ſagte ich zu mir ſelbſt, »hätteſt
du von Anbeginn zuweilen nur halb ſo lange
mit ihr freundlich geſprochen, ſo hätte es dir nicht
verborgen bleiben können, weß Geiſtes Kind ſie
iſt, und du hätteſt dich nicht ſo gröblich getäuſcht!
Fahr hin und zerfließe denn, du ſchönes Luft¬
ſchloß!«
Als ich mich nun mit zerriſſenen Gedanken
vom Gouverneur verabſchiedete, ſah mich derſelbe
vergnüglich und verſchmitzt an und blinzelte ſpöt¬
tiſch mit den Augen. Ich merkte, daß er mir
meine Affaire anſah, überhaupt dieſelbe von jeher
beobachtet hatte und eine Art von ſchadenfrohem
Spaß daran empfand. Da er ſonſt ein ganz
biederer und honetter Mann war, ſo konnte das
nichts anderes ſein, als die einfältige Freude
aller Philiſter an grauſamen und ſchlechten Bra¬
tenſpäßen. Im vorigen Jahrhundert beluſtigten
ſich große Herren daran, ihre Narren, Zwerge
und ſonſtigen Untergebenen betrunken zu machen
[92] und dann mit Waſſer zu begießen oder körperlich
zu mißhandeln. Heutzutage wird dies bei den
Gebildeten nicht mehr beliebt; dagegen unterhält
man ſich mit Vorliebe damit, allerlei feine Ver¬
wirrungen anzuzetteln, und je weniger ſolche Phi¬
liſterſeelen ſelber einer flotten und gründlichen
Leidenſchaft fähig ſind, deſto mehr fühlen ſie das
Bedürfniß, dergleichen mit mehr oder weniger
plumpen Mitteln in denen zu erwecken, die dazu
tauglich ſind, in ſolche herzlos aufgeſtellten Mäuſe¬
fallen zu gerathen. Wenn nun der Gouverneur
ſeinerſeits es nicht verſchmähte, ſeine eigene Toch¬
ter als ſolche Mäuſefalle zu verwenden, ſo war
hiegegen nichts weiter zu ſagen, und ich nahm,
obſchon noch ein guter Gepäckwagen abfuhr, eigen¬
ſinnig meinen ſchweren Torniſter und die Mus¬
quete auf den Rücken und führte einen zurück¬
gebliebenen Trupp in die Nacht hinaus dem Re¬
gimente nach, das ſchon in der Frühe abmar¬
ſchirt war.«
»Ich ſah mich nach einem mühſeligen und
heißen Marſch nun in eine neue Welt verſetzt,
als die Kampagne eröffnet war und die Truppen
der oſtindiſchen Kompagnie ſich mit den wilden
[93] Bergſtämmen an der äußerſten Grenze des indo¬
brittiſchen Reiches herumſchlugen. Einzelne Kom¬
pagnieen unſers Regimentes waren fortwährend
vorgeſchoben; eines Tages aber wurde die mei¬
nige ſo mörderlich umzingelt, daß wir uns mit¬
ten in einem Knäuel von banditenähnlichen Rei¬
tern, Elephanten und ſonderbaren bemalten und
vergoldeten Wagen befanden, auf denen ſtille
ſchöne hindoſtaniſche Scheinfürſten ſaßen, von den
wilden Häuptlingen als Puppen mitgeführt. Un¬
ſere ſämmtlichen Offiziere fielen an dieſem Tage
und die Kompagnie ſchmolz auf ein Drittel zu¬
ſammen. Da ich mich ordentlich hielt und einige
Dienſte leiſtete, ſo erlangte ich das Patent des
erſten Lieutenants der Kompagnie und nach Be¬
endigung des Feldzuges war ich deren Kapitän.«
»Als ſolcher hielt ich mit etwa hundert und
funfzig Mann zwei Jahre lang einen kleinen
Grenzbezirk beſetzt, welcher zur Arrondirung un¬
ſers Gebietes erobert worden, und war während
dieſer Zeit der oberſte Machthaber in dieſer heid¬
niſchen Wildniß. Ich war nun ſo einſam, als
ich je in meinem Leben geweſen, mißtrauiſch gegen
alle Welt und ziemlich ſtreng in meinem Ge¬
[94] ſchäftsverkehr, ohne gerade böſe oder ungerecht
zu ſein. Meine Hauptthätigkeit beſtand darin,
chriſtliche Polizei einzuführen und unſern Reli¬
gionsleuten nachdrücklichen Schutz zu gewähren,
damit ſie ungefährdet arbeiten konnten. Haupt¬
ſächlich aber hatte ich das Verbrennen der indi¬
ſchen Weiber zu verhüten, wenn ihre Männer
geſtorben, und da die Leute eine förmliche Sucht
hatten, unſerm engliſchen Verbote zu kontraveni¬
ren und einander bei lebendigem Leibe zu braten
zu Ehren der Gattentreue, ſo mußten wir ſtets
auf den Beinen ſein, um dergleichen zu verhüten.
Sie waren dann eben ſo mürriſch und mißver¬
gnügt, wie wenn hierzulande die Polizei ein
unerlaubtes Vergnügen ſtört. Einmal hatten ſie
in einem entfernten Dorfe die Sache ganz ſchlau
und heimlich ſo weit gebracht, daß der Scheiter¬
haufen ſchon lichterloh brannte, als ich athemlos
herzugeritten kam und das Völkchen auseinander
jagte. Auf dem Feuer lag die Leiche eines ur¬
alten gänzlich vertrockneten Gockelhahns, welcher
ſchon ein wenig brenzelte. Neben ihm aber lag
ein bildſchönes Weibchen von kaum ſechszehn
Jahren, welches mit lächelndem Munde und ſil¬
[95] berner Stimme ſeine Gebete ſang. Glücklicher
Weiſe hatte das Geſchöpfchen noch nicht Feuer
gefangen und ich fand gerade noch Zeit, vom
Pferde zu ſpringen und ſie bei den zierlichen Fü߬
chen zu packen und vom Holzſtoß zu ziehen. Sie
geberdete ſich aber wie beſeſſen und wollte durch¬
aus verbrannt ſein mit ihrem alten Stänker, ſo
daß ich die größte Mühe hatte, ſie zu bändigen
und zu beſchwichtigen. Freilich gewannen dieſe
armen Wittwen nicht viel durch ſolche Rettung;
denn ſie fielen nach denſelben unter den Ihrigen
der äußerſten Schande und Verlaſſenheit anheim,
ohne daß das Gouvernement etwas dafür that,
ihnen das gerettete Leben auch leicht zu machen.
Dieſe Kleine gelang es mir indeſſen zu verſor¬
gen, indem ich ihr eine Ausſteuer verſchaffte und
an einen getauften Hindu verheirathete, der bei
uns diente, dem ſie auch mit reiner Treue und
ganzem Blute anhing.«
»Allein dieſe wunderlichen Vorfälle beſchäf¬
tigten meine Gedanken und erweckten allmälig in
mir den Wunſch nach dem Genuſſe ſolcher un¬
bedingten Treue, und da ich für dieſe Phantaſie
kein Weib zu meiner Verfügung hatte, verfiel
[96] ich einer ganz weibiſchen Sehnſucht, ſelber ſo treu
zu ſein, und damit zugleich einer heißen Sehnſucht
nach Lydia. Da ich nun Rang und gute Aus¬
ſichten beſaß, ſchien es mir nicht unmöglich, bei
einem klugen Benehmen die ſchöne Perſon, falls
ſie noch zu haben wäre, dennoch erlangen zu
können, und in dieſer tollen Idee beſtärkte mich
noch der Umſtand, daß ſie ſich doch ſo viel auf¬
richtige und ſorgenvolle Mühe gegeben, mir den
Kopf zu verdrehen. Irgend einen Werth mußt
du doch, dachte ich, in ihren Augen gehabt haben,
ſonſt hätte ſie gewiß nicht gar viel daran geſetzt.
Alſo gedacht, gethan; nämlich ich gerieth jetzt
auf die fixe Idee, die Lydia, wenn ſie mich möchte,
zu heirathen, wie ſie eben wäre, und ihr um ihrer
ſchönen Perſönlichkeit willen, für die es nichts
Ähnliches gab, treu und ergeben zu ſein ohne
Schranken noch Ziel, und ihre Verkehrtheit und
ſchlimmen Eigenſchaften als eine Tugend zu be¬
trachten und dieſelben zu ertragen, als ob ſie das
ſüßeſte Zuckerbrot wären. Ja, ich phantaſirte
mich wieder ſo hinein, daß mir ihre Fehler, ſelbſt
ihre theilweiſe Dummheit zum wünſchbarſten aller
irdiſchen Güter wurden, und in tauſend erfun¬
[97] denen Variationen wandte ich dieſelben hin und
her und malte mir ein Leben aus, wie ein kluger
und geſchickter Mann die Verkehrtheiten und Män¬
gel einer liebenswürdigen Frau täglich und ſtünd¬
lich in eben ſo viel artige und erfreuliche Aben¬
teuer zu wandeln und ihren Dummheiten mittelſt
einer von Liebe und Treue getränkten Einbildungs¬
kraft einen goldenen Werth zu verleihen weiß,
ſo daß ſie lachend auf dieſelben ſich noch etwas
zu gut thun kann. Der Teufel weiß, wo ich
dieſe geſchäftige Einbildungskraft hernahm, wahr¬
ſcheinlich immer noch aus dem unglücklichen Shake¬
ſpeare, den mir die Hexe gegeben, und womit ſie
mich doppelt vergiftet hatte. Es nimmt mich nur
Wunder, ob ſie auch ſelbſt je mit Andacht darin
geleſen hat!«
»Kurz, als ich hinlänglich wieder berauſcht
war von meinen Träumen und von meinem ent¬
legenen Poſten zugleich abgelöſt wurde, nahm
ich Urlaub und begab mich Hals über Kopf zu
dem Gouverneur. Er lebte noch in den alten
Verhältniſſen und empfing mich ganz gut und
auch die Tochter war noch bei ihm und empfing
mich freundlicher, als ich erwartet. Kaum hatte
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 7[98] ich ſie wieder geſehen und einige Worte ſprechen
gehört, ſo war ich wieder ganz in ſie vernarrt
und in meiner fixen Idee vollends beſtärkt, und
es ſchien mir unmöglich, ohne die Verwirklichung
derſelben je froh zu werden.«
»Allein ſie betrieb nun das Geſchäft in
krankhafter Überſpannung ganz offen und großartig
und fröhnte ihrer unglücklichen Selbſtſucht ohne
allen Rückhalt. Sie war nun umgeben von einer
Schaar ziemlich roher und eitler Offiziere, die
ihr auf ganz ordinäre Weiſe den Hof machten
und ſagten, was ſie gern hören mochte, kam es
auch heraus, wie es wollte. Es war eine voll¬
ſtändige Hetzjagd von Trivialitäten und hohlem
Weſen und die derbſten Zudringlichkeiten wurden
am liebſten angenommen, wenn ſie nur aus gänz¬
licher Ergebenheit herzurühren ſchienen und die
Unglückliche in ihrem Glauben an ſich ſelbſt auf¬
recht erhielten. Außerdem hatte ſie zur Zeit einem
armen Tambour mit einem einzigen Blicke den
Kopf verdreht, der nun ganz aufgeblaſen umher¬
ging und ſich ihr überall in den Weg ſtellte; und
einen Schuſter, der für ſie arbeitete, hatte ſie
dermaßen bethört, daß er jedesmal, wenn er ihr
[99] Schuhe brachte, auf dem Hausflur auf das ſorg¬
fältigſte ſich ſeinen rothen Schnurrbart reinigte,
da er zuverläſſig erwartete, es würde diesmal
etwas vorgehen und er geküßt werden! Wenn
man ihn kommen ſah, ſo begab ſich die ganze
Geſellſchaft auf eine verdeckte Gallerie, um dem
armen Teufel in ſeinem feierlichen Werke zuzu¬
ſehen. Das ſonderbarſte war, daß Niemand an
dieſem Weſen ein Ärgerniß nahm, daß man alſo
nichts beſſeres von Lydia zu erwarten ſchien, und
ihre Aufführung ihrer würdig hielt, daß alſo ich
der Einzige war, der ſo große Meinungen von
ihr im Herzen trug, und mithin alle dieſe Hans¬
narren, die ich verachtete, die ſie aber nahmen,
wie ſie war, klüger zu ſein ſchienen, als ich in
meiner tiefſinnigen Leidenſchaft. Aber nein! rief
ich, ſie iſt doch ſo, wie ich ſie denke, und eben
weil das alles Strohköpfe ſind, ſind ſie ſo frech
gegen ſie und wiſſen nicht, was an ihr iſt oder
ſein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein
Mal den Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr beſſe¬
res Bild zurückſtrahlte und alles Werthloſe um ſie
her wegblendete. Allein der äußere Anſtand und
die Haltung, welche ich auch bei aller Anſtrengung
7 *[100] nicht aufgeben konnte, machten es mir unmöglich,
mich unter dieſe Affenſchwänze zu miſchen und
nur den kleinſten Schritt gegen Lydia zu thun.
Ich ward abermals konfus, ungeduldig, nahm
plötzlich meinen Abſchied aus der indiſchen Armee
und machte mich davon, um heimzukehren und
die Unſelige zu vergeſſen.«
»So gelangte ich nach Paris und hielt mich
daſelbſt einige Wochen auf. Da ich eine große
Menge ſchöner und kluger Weiber ſah, dachte ich,
es wäre das beſte Mittel, meine unglückliche Ge¬
ſchichte los zu werden, in recht viel hübſche
Frauengeſichter zu blicken, und ging daher von
Theater zu Theater, und an alle Orte, wo der¬
gleichen beiſammen waren, ließ mich auch in ver¬
ſchiedene gute Häuſer und Geſellſchaften einführen.
Ich ſah auch in der That viele tüchtige Geſtalten
von edlem Schwung und Zuſchnitt und in deren
Augen ſchöne Gedanken lagen, aber alles was ich
ſah, führte mich nur auf Lydia zurück und diente
zu deren Gunſten. Sie war nicht zu vergeſſen
und ich war und blieb aufs Neue elend verliebt
in ſie. Ich hatte das allerunheimlichſte ſonder¬
barſte Gefühl, wenn ich an ſie dachte. Es war
[101] mir zu Muthe, als ob nothwendiger Weiſe ein
weibliches Weſen in der Welt ſein müßte, wel¬
ches genau das Äußere und die Manieren dieſer
Lydia, kurz deren beſſere Hälfte beſäße, dazu aber
auch die entſprechende andere Hälfte, und daß
ich nur dann würde zur Ruhe kommen, wenn
ich dieſe ganze Lydia fände; oder es war mir
als ob ich verpflichtet wäre, die rechte Seele zu
dieſem ſchönen halben Geſpenſte zu ſuchen, mit
einem Worte, ich wurde abermals krank vor
Sehnſucht nach ihr, und da es doch nicht anging,
zurückzukehren, ſuchte ich neue Sonnengluth, Ge¬
fahr und Thätigkeit und nahm Dienſte in der
franzöſiſch-afrikaniſchen Armee. Ich begab mich
ſogleich nach Algier und befand mich bald am
äußerſten Saume der afrikaniſchen Provinz, wo
ich im Sonnenbrand und auf dem glühenden
Sande mich herumtummelte und mit den Kabylen
herumſchlug.«
Da in dieſem Augenblick das ſchlafende
Eſtherchen, das immer einen Unfug machen
mußte, träumte, es falle eine Treppe hinunter
und demgemäß auf ſeinem Stuhle ein erſchrecktes
Geräuſch erhob, blickte der erzählende Pankrazius
[102] endlich auf und bemerkte, daß ſeine Zuhörerinnen
ſchliefen. Zugleich entdeckte er erſt jetzt, daß er
denſelben eigentlich nichts als eine Liebesgeſchichte
erzählt, ſchämte ſich deſſen und wünſchte, daß ſie
gar nichts davon gehört haben möchten. Er
weckte die Frauen auf und hieß ſie ins Bett
gehen, und er ſelbſt ſuchte ebenfalls das Lager
auf, wo er mit einem langen, aber gemüthlichen
Seufzer einſchlief. Er lag wohl ſo lange im
Bette, wie einſt, als er der faule und unnütze
Pankräzlein geweſen, ſo daß ihn die Mutter wie
ehedem wecken mußte. Als ſie nun zuſammen
beim Frühſtück ſaßen und Kaffee tranken, ſagte
er, mit ſeinem Bericht fortfahrend:
»Wenn Ihr nicht geſchlafen hättet, ſo würdet
Ihr gehört haben, wie ich in Oſtindien im Be¬
griffe war, aus einem Murrkopf ein äußerſt
zuthunlicher und wohlwollender Menſch zu werden
um eines ſchönen Frauenzimmers willen, wie
aber eben meine Schmollerei mir einen argen
Streich geſpielt hat, da ſie mich verhinderte,
beſagtes Frauenzimmer näher zu kennen und mich
blindlings in ſelbe verlieben ließ; wie ich dann
betrogen wurde und als ein neugeſtählter Schmol¬
[103] ler aus Indien nach Afrika ging zu den Fran¬
zoſen, um dort den Burnußträgern die lächerlichen
thurmartigen Strohhüte herunter zu ſchlagen und
ihnen die Köpfe zu zerbläuen, was ich auch mit
ſo grimmigem Eifer that, daß ich auch bei den
Franzoſen avancirte und Oberſt ward, was ich
geblieben bin bis jetzt.«
»Ich war wieder ſo einſilbig und trübſelig
als je und kannte nur zwei Arten, mich zu ver¬
gnügen : die Erfüllung meiner Pflicht als Soldat
und die Löwenjagd. Letztere betrieb ich ganz
allein, indem ich mit nichts als mit einer guten
Büchſe bewaffnet zu Fuß ausging und das Thier
aufſuchte, worauf es dann darauf ankam, daſ¬
ſelbe ſicher zu treffen, ſonſt war ich verloren.
Die ſtete Wiederholung dieſer einen großen Ge¬
fahr und das mögliche Eintreffen eines endlichen
Fehlſchuſſes ſagte meinem Weſen zu und nie
war ich behaglicher, als wenn ich ſo ſeelenallein
auf den heißen Höhen herumſtreifte und einem
ſtarken wilden Burſchen auf der Spur war, der
mich gar wohl bemerkte und ein ähnliches ſchmol¬
lendes Spiel trieb mit mir, wie ich mit ihm.
So war vor jetzt ungefähr vier Monaten ein
[104] ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erſchienen,
dieſer, deſſen Fell hier liegt, und lichtete den Be¬
duinen ihre Heerden, ohne daß man ihm bei¬
kommen konnte; denn er ſchien ein durchtriebener
Geſelle zu ſein und machte täglich große Mär¬
ſche kreuz und quer, ſo daß ich bei meiner Weiſe,
zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich
ihn nur von Ferne zu Geſicht bekam. Als ich
ihn zwei oder dreimal geſehen, ohne zum Schuß
zu kommen, kannte er mich ſchon und merkte,
daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er
fing gewaltig an zu brüllen und verzog ſich, um
mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen,
und wir gingen ſo um einander herum während
mehrerer Tage wie zwei Kater, die ſich zauſen
wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit
einem zeitweiligen wilden Geknurre.«
»Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang
aufgebrochen und nach einer noch nie eingeſchla¬
genen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags
vorher ſich auf der entgegengeſetzten Seite herum
getrieben und einen vergeblichen Raubverſuch ge¬
macht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren
abgezogen waren, ſo vermuthete ich, der hung¬
[105] rige Herr werde vergangene Nacht wohl dieſen
Weg eingeſchlagen haben, wie es ſich denn auch
erwies. Als die Sonne aufging, ſchlenderte ich
gemächlich über ein hügeliges goldgelbes Gefilde,
deſſen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten
über den goldenen Boden hinſtreckten. Der
Himmel war ſo dunkelblau wie Lydia's Augen,
woran ich unverſehens dadurch erinnert wurde;
in weiter Ferne zogen ſich blaue Berge hin,
woran das arabiſche Städtchen lag, das ich be¬
wohnte, und am andern Rande der Ausſicht
einige Wälder und grüne Fluren, auf denen
man den Rauch und ſelbſt die Zelte der Be¬
duinen wie ſchwarze Punkte ſehen konnte. Es
war todtenſtill überall und kein lebendes Weſen
zu erſpähen. Da ſtieß ich an den Rand einer
Schlucht, welche ſich durch die ganze ſteinige
Gegend hinzog und nicht zu ſehen war, bis man
dicht an ihr ſtand. Es floß ein kühler friſcher
Bach auf ihrem Grunde, und wo ich eben ſtand,
war die Vertiefung ganz mit blühendem Olean¬
dergebüſch angefüllt. Nichts war ſchöner zu ſehen,
als das friſche Grün dieſer Sträucher und ihre
tauſendfältigen roſenrothen Blüthen und zu un¬
[106] terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬
blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬
ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬
ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬
ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in
dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr
auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht
hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem
Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an
die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie
wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und
wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte
ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll
ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen
ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang
hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen,
als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬
gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb
ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬
heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬
pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag,
und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde
[107] er geſprungen und mich unfehlbar zerriſſen haben.
Aber ich ſtand und ſtand ſo zwölf lange Stun¬
den, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und
ohne daß er eines von mir verwandte. Er
legte ſich gemächlich nieder und betrachtete mich.
Die Sonne ſtieg höher, aber während die furcht¬
barſte Hitze mich zu quälen anfing, verging die
Zeit ſo langſam, wie die Ewigkeit der Hölle.
Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf
ging; ich verwünſchte die Lydia, deren bloßes
Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht,
da ich darüber meine Waffe vergeſſen hatte.
Hundertmal war ich verſucht, allem ein Ende zu
machen und auf das wilde Thier loszuſpringen
mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben
behielt die Oberhand und ich ſtand und ſtand
wie das verſteinerte Weib des Loth, oder wie
der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schat¬
ten ging mit den Stunden um mich herum,
wurde ganz kurz und begann ſchon wieder ſich
zu verlängern. Das war die bitterſte Schmol¬
lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir
vor und gelobte, wenn ich dieſer Gefahr ent¬
ränne, ſo wolle ich umgänglich und freundlich
[108] werden, nach Hauſe gehen und mir und andern
das Leben ſo angenehm als möglich machen.
Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte
vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem
Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an
allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬
neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe
halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬
kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den
Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf
einander biß. Indem ich aber ſo eine lange
Minute um die andere abwickeln und erleben
mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit
in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer
ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich
alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde
aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt
war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als
eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier
und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬
ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im
Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie
auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es
[109] war eine Patrouille, die ausgeſandt war mich
zu ſuchen, da ſich Geſchäfte eingeſtellt hatten.
Sie trugen ihre Ordonnanzgewehre auf der Schul¬
ter und ich ſah gleichzeitig dieſelben vor mir
aufblitzen gleich einer himmliſchen Gnadenſonne,
als auch mein Widerſacher ihre Schritte hörte
in der Stille der Landſchaft; denn ſie hatten
ſchon von weitem etwas bemerkt und waren ſo
leiſe als möglich gegangen. Plötzlich ſchrieen ſie
jetzt: Eh la canaille! quel drôle de canaille!
Der Löwe wandte ſich um, ſprang empor, ſperrte
wüthend den Rachen auf, erboßt wie ein Satan,
und war einen Augenblick lang unſchlüſſig, auf
wen er ſich zuerſt ſtürzen ſolle. Als aber die
zwei Soldaten als brave luſtige Franzoſen ohne
ſich zu beſinnen auf ihn zuſprangen, that er
einen Satz gegen ſie. Im gleichen Augenblick
lag auch der Eine unter ſeinen Tatzen und es
wäre ihm ſchlecht ergangen, wenn nicht der an¬
dere im gleichen Augenblicke dem Thier das Ba¬
jonett ein halbes Dutzend mal in die Flanke
geſtoßen hätte. Aber auch dieſem würde es
ſchließlich ſchlimm ergangen ſein, wenn ich nicht
endlich auf meine Büchſe zugeſprungen, auf den
[110] Kampfplatz getaumelt wäre und dem Löwen, ohne
weitere Vorſicht, beide Kugeln in das Ohr ge¬
ſchoſſen hätte. Er ſtreckte ſich aus und ſprang
wieder auf, es war noch ein Schuß aus einer
der beiden Musketen nöthig, ihn abermals hin¬
zuſtrecken und endlich zerſchlugen wir alle drei
unſere Kolben an dem Teufel, ſo zäh und wild
war ſein Leben. Es hatte merkwürdiger Weiſe
keiner Schaden genommen, ſelbſt der nicht, der
unter dem Löwen gelegen, ausgenommen ſeinen
zerriſſenen Rock und einige tüchtige Schrammen
auf der Schulter. So war die Sache für das¬
mal glücklich abgelaufen und wir hatten obenein
den lange geſuchten Löwen erlegt. Ein wenig
Wein und Brod ſtellte meinen guten Muth vol¬
lends wieder her und ich lachte wie ein Narr
mit den guten Soldaten, welche über die Freund¬
lichkeit und Geſprächigkeit ihres böſen Oberſten
ſehr verwundert und erbaut waren.«
»Noch in ſelber Woche aber führte ich mein
Gelübde aus, kam um meine Entlaſſung ein,
und ſo bin ich nun hier!«
So lautete die Geſchichte von Pankrazens
Leben und Bekehrung, und ſeine Leutchen waren
[111] höchlich verwundert über ſeine Meinungen und
Thaten. Er verließ mit ihnen das Städtchen
Seldwyla und zog in den Hauptort des Kan¬
tons, wo er Gelegenheit fand, mit ſeinen Er¬
fahrungen und Kenntniſſen ein dem Lande nütz¬
licher Mann zu ſein und zu bleiben, und er
ward ſowohl dieſer Tüchtigkeit, als ſeiner unver¬
wüſtlichen ruhigen Freundlichkeit wegen geachtet
und beliebt; denn nie mehr zeigte ſich ein Rück¬
fall in das frühere Weſen.
Nur ärgerten ſich Eſtherchen und die Mutter,
daß ihnen die Geſchichte mit der Lydia entgan¬
gen war und wünſchten unaufhörlich deren Wie¬
derholung. Allein Pankraz ſagte, hätten ſie da¬
mals nicht geſchlafen, ſo hätten ſie dieſelbe erfah¬
ren; er habe ſie ein Mal erzählt und werde
es nie wieder thun, es ſei das erſte und letzte
Mal, daß er überhaupt gegen Jemanden von
dieſem Liebeshandel geſprochen und damit Punk¬
tum. Nun wollten ſie wenigſtens den Namen
jener Dame wiſſen, welcher ihnen wegen ſeiner
Fremdartigkeit wieder entfallen war, und fragten
unaufhörlich: Wie hieß ſie denn nur? Aber
Pankraz erwiederte eben ſo unaufhörlich: Hättet
[112] Ihr aufgemerkt! Ich nenne dieſen Namen nicht
mehr! Und er hielt Wort; Niemand hörte ihn
jemals wieder das Wort ausſprechen und er
ſchien es endlich ſelbſt vergeſſen zu haben.
[113]
Frau Regel Amrain und ihr Jüngſter.
Regula Amrain war die Frau eines abweſenden
Seldwylers; dieſer hatte einen großen Stein¬
bruch hinter dem Städtchen beſeſſen und ſeine
Zeitlang ausgebeutet und zwar auf Seldwyler
Art. Das ganze Neſt war beinahe aus dem
guten Sandſtein gebaut, aus welchem der Berg
beſtand, aber das Schuldenweſen, das auf den
Häuſern ruhte, hatte von jeher recht eigentlich
ſchon mit den Steinen begonnen, aus denen ſie
gebaut waren; denn nichts ſchien den Seldwy¬
lern ſo wohl geeignet als Stoff und Gegenſtand
eines muntern Verkehrs, als ein ſolcher Stein¬
bruch, und derſelbe glich einer in Felſen gehauenen
römiſchen Schaubühne, über welche die Beſitzer
emſig hinwegliefen, einer den andern jagend.
Herr Amrain, ein anſehnlicher Mann, der
eine anſehnliche Menge Fleiſch, Fiſche und Wein
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 8[114] verzehren mußte und mächtige Stücke Seidenzeug
zu ſeinen breiten ſchönen Weſten brauchte, him¬
melblaue, kirſchrothe und großartig gewürfelte,
war urſprünglich ein Knopfmacher geweſen und
hatte auch die eine und andere Stunde des Ta¬
ges Knöpfe beſponnen. Als er aber mit den
Jahren gar ſo feſt und breit wurde, ſagte ihm
die ſitzende Lebensart nicht mehr zu, und als er
überhaupt den rechten Phäaken- oder Schwaben¬
aufſchwung genommen: die rothe Sammetweſte,
die goldene Uhrkette und den Siegelring, liqui¬
dirte er die Knopfmacherei und übernahm in
einer wichtigen Hauptſitzung der Seldwyler Spe¬
kulanten jenen Steinbruch. Nun hatte er die
angemeſſene bewegliche Lebensweiſe gefunden, in¬
dem er mit einer rothen Brieftaſche voll Papiere
und einem eleganten Spazierſtock, auf welchem
mit ſilbernen Stiften ein Zollmaß angebracht
war, etwa in den Steinbruch hinaus luſtwan¬
delte wenn das Wetter lieblich war, und dort
mit dem beſagten Stocke an den verpfändeten
Steinlagern herumſtocherte, den Schweiß von
der Stirn wiſchte, in die ſchöne Gegend hinaus¬
ſchaute und dann ſchleunigſt in die Stadt zurück¬
[115] kehrte, um den eigentlichen Geſchäften nachzu¬
gehen, dem Umſatz der verſchiedenen Papiere in
der Brieftaſche, was in den kühlen Gaſtſtuben
auf das Beſte vor ſich ging. Kurz er war
ein vollkommener Seldwyler bis auf die politiſche
Veränderlichkeit, welche aber die Urſache ſeines
zu frühen Falles wurde. Denn ein konſervativer
Kapitaliſt aus der Hauptſtadt, welcher keinen
Spaß verſtand, hatte auf den Steinbruch einiges
Geld hergegeben und damit geglaubt, einem
wackern Parteigenoſſen unter die Arme zu greifen.
Als daher Herr Amrain in einem Anfall gänz¬
licher Gedankenloſigkeit eines Tages höchſt ver¬
fängliche liberale Redensarten vernehmen ließ,
welche ruchbar wurden, erzürnte ſich jener Herr
mit Recht; denn nirgends iſt politiſche Geſin¬
nungsloſigkeit widerwärtiger, als an einem gro¬
ßen dicken Manne, der eine bunte Sammetweſte
trägt! Der erboſ'te Gönner zog daher jählings
ſein Geld zurück, als kein Menſch daran dachte,
und trieb dadurch vor der Zeit den beſtürzten
Amrain vom Steinbruch und in die Welt hinaus.
Man wird ſelten ſehen, daß es großen ſchwe¬
ren Männern ſchlecht ergeht, weil ſie eine durch¬
[116] greifende und überzeugende Gabe beſitzen, für
ihren anſpruchsvollen Körperbau zu ſorgen, und
die Nahrungsmittel können ſich demſelben nicht
lange entziehen, ſondern werden von dem Mag¬
netgebirge des Bauches mächtig angezogen. So
fraß ſich der landflüchtige Amrain auch glücklich
durch die Fernen, und obgleich er nichts Großes
mehr wurde, aß und trank er doch irgendwo in
der Fremde ſo weidlich wie zu Hauſe.
Doch den Seldwylern, welche jetzt rathſchlag¬
ten, welcher von ihnen nun am tauglichſten wäre,
eine Zeitlang die Honneurs am Steinbruch zu
machen, wurde abermals ein Strich durch die
Rechnung gezogen, als die zurückgebliebene Ehe¬
frau des Herrn Amrain unerwartet ihren Fuß
auf den Sandſtein ſetzte und kraft ihres herzu¬
gebrachten Weibergutes den Steinbruch an ſich
zog und erklärte, das Geſchäft fortſetzen und
möglicherweiſe die Gläubiger ihres Mannes be¬
friedigen zu wollen. Sie that dies erſt, als
derſelbe ſchon jenſeits des atlantiſchen Weltmeers
war und nicht mehr zurückkommen konnte. Man
ſuchte ſie auf jede Weiſe von dieſem Vorhaben
abzubringen und zu hindern; allein ſie zeigte
[117] eine ſolche Entſchloſſenheit, Rührigkeit und Be¬
ſonnenheit, daß nichts gegen ſie auszurichten war
und ſie wirklich die Beſitzerin des Steinbruches
wurde. Sie ließ fleißig und ordentlich darin
arbeiten unter der Leitung eines guten fremden
Werkführers und gründete zum erſten Mal die
Unternehmung, ſtatt auf den Scheinverkehr, auf
wirkliche Produktion. Hieran wollte man ſie
nun erſt recht behindern, allein es war nicht
gegen ſie aufzukommen, da ſie als Frau und
ſparſame Mutter keine Ausgaben hatte im Ver¬
gleich zu den Herren von Seldwyla und daher
auf die einfachſte Weiſe im Stande war, alle
Stürme abzuſchlagen und alle begründeten For¬
derungen zu bezahlen. Aber dennoch hielt es
ſchwer und ſie mußte Tag und Nacht mit Muth,
Liſt und Kraft bei der Hand ſein, ſinnen und
ſorgen, um ſich zu behaupten.
Frau Regel hatte von auswärts in das
Städtchen geheirathet und war eine ſehr friſche,
große und handfeſte Dame mit kräftigen ſchwar¬
zen Haarflechten und einem feſten dunklen Blick.
Von ihrem Manne hatte ſie drei Buben von
ungefähr zehn, acht und fünf Jahren, welche ſie
[118] oftmals aufmerkſam und ernſthaft betrachtete und
darüber ſann, ob dieſelben auch werth ſeien,
daß ſie das Haus für ſie aufrecht halte, da ſie
ja doch Seldwyler wären und bleiben würden.
Doch weil die Burſche einmal ihre Kinder
waren, ſo ließ die Eigenliebe und die Mut¬
terliebe ſie immer wieder einen guten Muth
faſſen, und ſie traute ſich zu, auch in dieſer
Sache das Steuer am Ende anders zu lenken,
als es zu Seldwyl Mode war.
In ſolche Gedanken verſunken ſaß ſie einſt
nach dem Nachteſſen am Tiſche und hatte das
Geſchäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor
ſich liegen. Die Buben lagen im Bette und
ſchliefen in der Kammer, deren Thüre offen ſtand,
und ſie hatte eben die drei ſchlafenden kleinen
Geſellen mit der Lampe in der Hand betrachtet
und beſonders den kleinſten Kerl in's Auge ge¬
faßt, der ihr am wenigſten glich. Er war blond,
hatte ein keckes Stumpfnäschen, während ſie eine
ernſthafte gerade lange Naſe beſaß, und ſtatt
ihres ſtreng geſchnittenen Mundes zeigte der
kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, ſelbſt
wenn er ſchlief. Dies hatte er alles vom Vater
[119] und es war an dieſem geweſen, was ihr eben
ſo wohl gefallen hatte, als ſie ihn heirathete,
was ihr jetzt auch an dem kleinen Burſchen ſo
wohl gefiel und doch ſo ſchwere Sorgen machte.
Wenn eine Geſichtsart Einem einmal wohlgefällt,
ſo hilft hiegegen kein Kraut; deswegen war
Frau Amrain froh, daß der Alte weg war und
ſie ihn nicht mehr ſah; aber er hatte ihr in
dem jüngſten Kinde ein treues Abbild ſeiner
äußeren Art hinterlaſſen, welches ſie nie genug
anſehen konnte.
Über dieſen Sorgen traf ſie der Werkführer
oder oberſte Arbeiter, der jetzt eintrat, um mit
ihr die Angelegenheiten und den Beſtand der
Geſchäfte durchzuſehen und manche wichtige Dinge
zu beſprechen. Es war ein hübſcher und unter¬
nehmender Burſche von ſchlankem kräftigem Kör¬
perbau, mäßig in ſeiner Lebensweiſe, fleißig und
ausdauernd und dabei in ſeinen Gedanken von
einer gewiſſen einfachen Schlauheit, welche zu¬
ſammen mit den erklecklichen Eigenſchaften ſeiner
Meiſterin eben das Geſchäft in gutem Gange
erhielt und die gedankenloſen Spitzfindigkeiten
der Seldwyler zu Schanden werden ließ. In¬
[120] zwiſchen war er aber ein Menſch und dachte
daher vor Allem an ſich ſelber und in dieſem
Denken hatte er es nicht übel gefunden, ſelber der
Herr und Meiſter hier zu ſein und ſich eine blei¬
bende Stätte zu gründen, daher auch in aller
Ehrerbietung der Frau Regula wiederholt nahe
gelegt, eine geſetzliche Scheidung von ihrem ab¬
weſenden Manne herbeizuführen.
Sie hatte ihn wohl verſtanden; doch wider¬
ſtrebte es ihrem Stolz, ſich öffentlich und mit
ſchimpflichen Beweisgründen von einem Manne
zu trennen, der ihr einmal Wohlgefallen, mit
dem ſie gelebt und von dem ſie drei Kinder
hatte, und in der Sorge für dieſe Kinder wollte
ſie auch keinen fremden Mann über das Haus
ſetzen und wenigſtens die äußere Einheit des¬
ſelben bewahren, bis die Söhne herangewachſen
und ein unzerſplittertes Erbe aus ihrer Hand
empfingen; denn ein ſolches gedachte ſie trotz
aller Schwierigkeiten zuſammenzubringen und den
Hieſigen zu zeigen, was da Brauch ſei, wo ſie
hergekommen. Sie hielt daher den Werkführer
knapp im Zügel und brachte ſich dadurch nur in
größere Verlegenheit; denn als derſelbe ihren
[121] Widerſtand und ihren feſten Charakter erſah,
verliebte er ſich förmlich in ſie und gedachte erſt
recht ſeine Wünſche zu erreichen. So veränderte
ſich ſein Benehmen, daß er, ſtatt wie bis anher
ehrbar um ihre Hand als Meiſterin ſich zu be¬
werben, nun um ihre Perſon ſchmachtete, wo ſie
war, und ſie ſtets mit verliebten Augen anſah,
wo es immer thunlich war. Dies war für ihn
eine zweckdienliche Veränderung, da die eigentliche
Verliebtheit in die Perſon eines Menſchen den¬
ſelben vielmehr beſticht und bezwingt, als alle
noch ſo ehrbaren Heirathsabſichten. Wenn nun
Frau Regel auch nicht die Haltung verlor und
ſich in ihn wieder verliebte, ſo wurde es doch
ſchwerer für ſie, ihn abzuwehren, ohne mit ihm zu
brechen und ihn zu verlieren, und es iſt bekannt¬
lich eine Hauptliebhaberei der Frauen, ſich nütz¬
liche Freunde und Parteigänger zu erhalten,
wenn es immer geſchehen kann ohne große
Opfer.
Als der Werkführer in die Stube trat, fun¬
kelten ſeine Augen mit ungewöhnlichem Glanze,
denn er hatte im Verkehr mit einigen Geſchäfts¬
leuten, mit denen er ſich zum Vortheil der Frau
8 *[122] wacker herumgeſchlagen, eine Flaſche kräftigen
Wein getrunken. Während er ihr Bericht er¬
ſtattete und dann in den Papieren mit ihr rech¬
nete, blickte er ſie oftmals unverſehens an und
wurde zerſtreut und aufgeregt, wie Einer, der
etwas vor hat. Sie rückte mit ihrem Seſſel
etwas zur Seite und begann ſich in Acht zu
nehmen, dabei kaum ein feines Lächeln unter¬
drückend, wie aus Spott über die plötzliche Un¬
ternehmungsluſt des jungen Mannes. Dieſer
aber faßte allerdings plötzlich ihre beiden Hände
und ſuchte die hübſche Frau an ſich zu ziehen,
indem er zugleich im gleichen halblauten Tone,
in welchem ſie der ſchlafenden Kinder wegen die
ganze Verhandlung geführt hatten, ſo heftig und
feurig anfing zu ſchmeicheln und zuzureden, ihr
Leben doch nicht ſo öde und unbenutzt entfliehen
zu laſſen, ſondern klug zu ſein und ſich ſeiner
treuen Ergebenheit zu erfreuen. Sie wagte keine
raſche Bewegung und kein lautes Wort, aus
Furcht, die Kinder zur Unzeit zu wecken; doch
flüſterte ſie voll Zorn, er ſolle ihre Hände frei
laſſen und augenblicklich hinausgehen. Er ließ
ſie aber nicht frei, ſondern faßte ſie nur um ſo
[123] feſter und hielt ihr mit eindringlichen Worten
ihre Jugend und ſchöne Geſtalt vor und ihre
Thorheit, ſo gute Dinge ungenoſſen vergehen zu
laſſen. Sie durchſchaute ihren Feind, deſſen
Augen eben ſo ſtark von Schlauheit als von
Lebensluſt glänzten, wohl und merkte, daß er
auf dieſem leidenſchaftlich-ſinnlichen Wege nur
beabſichtigte, ſie ſich zu unterwerfen und dienſtbar
zu machen, alſo daß ihre Selbſtſtändigkeit ein
ſchlimmes Ende nähme. Sie gab ihm dies auch
mit höhniſchen Blicken zu verſtehen, während ſie
fortfuhr, ſo ſtill als möglich ſich von ihm los
zu machen, was er nur mit vermehrter Kraft
und Eindringlichkeit erwiederte. Auf dieſe Weiſe
rang ſie mit dem ſtarken Geſellen eine gute
Weile hin und her, ohne daß es dem einen
oder andern Theile gelang, weiter zu kommen,
während nur zuweilen der erſchütterte Tiſch oder
ein unterdrückter zorniger Ausruf oder ein Seufzer
ein Geräuſch verurſachte, und ſo ſchwebte die
brave Frau peinvoll zwiſchen ihrer in der Kam¬
mer dreifach ſchlafenden Sorge und zwiſchen dem
heißen Anſtürmen des wachen Lebens. Sie war
kaum dreißig Jahre alt und ſchon ſeit einigen
[124] Jahren von ihrem Manne verlaſſen und ihr
Blut floß ſo raſch und warm, wie eines; was
Wunder, daß ſie daher endlich einen Augenblick
inne hielt und tief aufſeuzte, und daß ihr in
dieſem Augenblick der Zweifel durch den Kopf
ging, ob es ſich auch der Mühe lohne, ſo treu
und ausdauernd in Entbehrung und Arbeit zu
ſein, und ob nicht das eigene Leben am Ende
die Hauptſache und es klüger ſei, zu thun wie
die andern und, nicht dem verwegenen und fre¬
chen Andringling, ſondern ſich ſelbſt zu gewähren,
was ihr Luſt und Erfriſchung bieten könne; die
Dinge gingen zu Seldwyla vielleicht ſo oder ſo
ihren Weg! Indem ſie einen Augenblick dies
bedachte, zitterten ihre Hände in denjenigen des
Werkführers und nicht ſobald fühlte dieſer ſolche
liebliche Änderung des Wetters, als er ſeine
Anſtrengungen erneuerte und vielleicht trotz der
erneueten Gegenwehr der tapfern Frau geſiegt
haben würde, wenn nicht jetzt eine unerwartete
Hülfe erſchienen wäre.
Denn mit dem bangen zornigen Ausruf:
Mutter! Es iſt ein Dieb da! ſprang der jüngſte
Knabe, der kleine Fritzchen, in die Stube und
[125] glich vollſtändig einem kleinen Sankt Georg.
Seine goldenen Ringellocken flogen um das vom
Schlafe geröthete Geſicht, feurig blickten aber
die blauen Augen in lieblichem Zorn und muthig
warf ſich der trotzige Mund auf. Das kurze
ſchneeige Hemdchen flatterte wie die Tunika eines
Kreuzfahrers und in den nackten Ärmchen ſchwang
der kleine Rittersmann eine lange Gardinen¬
ſtange mit dickem vergoldetem Knopf, den er auch
mit aller erdenklichen Kraft dem aufſpringenden
Werkmeiſter auf den Kopf ſchlug, daß ſich dieſer
die entſtehende Beule verlegen rieb und ihm
ordentlich die Augen übergingen. Frau Amrain
aber hielt den Knaben auf, tief erröthend und
rief: »Was iſt Dir denn Fritzchen? Es iſt ja
nur der Florian und thut uns nichts!« Der
Knabe fing bitterlich an zu weinen, ſich voll
Verlegenheit an die Kniee der Mutter klammernd;
dieſe hob ihn auf den Arm und das Kind an
ſich drückend entließ ſie mit einem kaum verhal¬
tenen Lachen den verblüfften Florian, der, obgleich
er den Kleinen gern geohrfeigt hätte, gute Miene
zum böſen Spiel machte und ſich verlegen zurück¬
zog. Sie riegelte die Thüre raſch hinter ihm
[126] zu; dann ſtand ſie tief aufathmend und nach¬
denklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind
auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um
ihren Hals ſchlang und mit dem rechten Händ¬
chen die lange Stange mit dem glänzenden Knopf,
die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Bo¬
den ſtemmte. Dann ſah ſie aufmerkſam in das
nahe Geſicht des Kindes und bedeckte es mit
Küſſen, und endlich ergriff ſie abermals die
Lampe und ging in die Kammer, um nach den
beiden älteſten Knaben zu ſehen. Dieſelben
ſchliefen wie Murmelthiere und hatten von allem
nichts gehört. Alſo ſchienen ſie Nachtmützen zu
ſein, obſchon ſie ihr ſelbſt glichen; der Jüngſte
aber, der dem Vater glich, hatte ſich als wachſam,
feinfühlend und muthvoll erwieſen und ſchien
das werden zu wollen, was der Alte eigentlich
ſein ſollte und was ſie einſt auch hinter ihm
geſucht. Indem ſie über dieſes geheimnißvolle
Spiel der Natur nachdachte und nicht wußte,
ob ſie froh ſein ſollte, daß das Abbild des einſt
geliebten Mannes beſſer ſchien, als ihre eigenen
ſo träge daliegenden Bilder, legte ſie das Kind
in ſein Bettchen zurück, deckte es zu und beſchloß,
[127] von Stund an alle ihre Treue und Hoffnung
auf den kleinen Sankt Georg zu ſetzen und ihm
ſeine junge Ritterlichkeit zu vergelten. »Wenn
die zwei Schlafkappen, dachte ſie, welche nichts
deſto minder meine Kinder ſind, dann auch mit¬
gehen wollen auf einem guten Wege, ſo mögen
ſie es thun.«
Am nächſten Morgen ſchien Fritzchen den
Vorfall ſchon vergeſſen zu haben, und ſo alt
auch die Mutter und der Sohn wurden, ſo ward
doch nie mehr mit einer Silbe deſſelben erwähnt
zwiſchen ihnen. Der Sohn behielt ihn nichts
deſto weniger in deutlicher Erinnerung, obgleich
er viel ſpätere Erlebniſſe mit der Zeit gänzlich
vergaß. Er erinnerte ſich genau, ſchon bei dem
Eintritte des Werkführers erwacht zu ſein, da
er trotz eines geſunden Schlafes alles hörte und
ein wachſames Bürſchchen war. Er hatte ſodann
jedes Wort der Unterredung, bis ſie bedenklich
wurde, gehört, und ohne etwas davon zu ver¬
ſtehen, doch etwas Gefährliches und Ungehöriges
geahnt und war in eine heftige Angſt um ſeine
Mutter verfallen, ſo daß er, als er das leiſe
Ringen mehr fühlte als hörte, aufſprang um ihr
[128] zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen
Wege der Fähigkeiten, wie ſie im Menſchenkind
ſich verlieren? als er den Werkführer recht
wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die
unbewußte blitzſchnelle Heuchelei des Zartgefühles,
mit der er ſich ſtellte, als ob er einen Dieb
ſähe und die ihn ſo unbefangen den Widerſacher
vor den Kopf ſchlagen ließ?
Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog
ihn ſo, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬
wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht
blieben, ſo lange ſie lebten. Wie ſie dies eigent¬
lich anfing und bewirkte, wäre ſchwer zu ſagen;
denn ſie erzog eigentlich ſo wenig als möglich
und das Werk beſtand faſt lediglich darin, daß
das junge Bäumchen, ſo vom gleichen Holze
mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und
ſich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete
Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre
Kinder ordentlich zu ziehen, ſo wie es einem
Tölpel, der ſelbſt nicht leſen kann, ſchwer fallen
wird, ein Kind leſen zu lehren. Im Ganzen
beſtand das Geheimniß ihrer Erziehungskunſt
darin, daß ſie das Söhnchen ohne Empfindſam¬
[129] keit merken ließ, wie ſehr ſie es liebte und
dadurch deſſen Bedürfniß, ihr immer zu gefallen,
erweckte und erreichte, daß es bei jeder Gele¬
genheit an ſie dachte. Ohne deſſen freie Bewe¬
gungen einzeln zu hindern, hatte ſie den Kleinen
viel um ſich, ſo daß er ihre Manieren und ihre
Denkungsart annahm und bald von ſelbſt nichts
that, was nicht im Geſchmacke der Mutter lag.
Sie hielt ihn ſtets einfach, aber gut und mit
einem gewiſſen gewählten Geſchmack in der Klei¬
dung; dadurch fühlte er ſich ſicher, bequem und
zufrieden in ſeinem Anzuge und wurde nie ver¬
anlaßt, an denſelben zu denken, wurde mithin
nicht eitel und lernte gar nie die Sucht kennen,
ſich beſſer oder anders zu kleiden, als er eben
war. Ähnlich hielt ſie es mit dem Eſſen; ſie
erfüllte alle billigen und unſchädlichen Wünſche
aller drei Kinder und Niemand bekam in ihrem
Hauſe etwas zu eſſen, wovon dieſe nicht auch
ihren Theil erhielten; aber trotz aller Regelmä¬
ßigkeit und Ausgiebigkeit behandelte ſie die Nah¬
rungsmittel mit ſolcher Leichtigkeit und Gering¬
ſchätzung, daß Fritzchen abermals von ſelbſt lernte,
kein beſonderes Gewicht auf dieſelben zu legen
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 9[130] und, wenn er ſatt war, nicht von Neuem an
etwas unerhört Gutes zu denken. Nur die
entſetzliche Wichtigthuerei und Breitſpurigkeit, mit
welcher die meiſten guten Frauen die Lebens¬
mittel und deren Bereitung behandeln, erweckt
gewöhnlich in den Kindern jene Gelüſtigkeit und
Tellerleckerei, die, wenn ſie groß werden, zum
Hang nach Wohlleben und zur Verſchwendung
wird. Sonderbarer Weiſe gilt durch den ganzen
germaniſchen Völkerſtrich diejenige für die beſte
und tugendhafteſte Hausfrau, welche am meiſten
Geräuſch macht mit ihren Schüſſeln und Pfannen
und nie zu ſehen iſt, ohne daß ſie etwas Eßbares
zwiſchen den Fingern herumzerrt; was Wunder,
daß die Herren Germanen dabei die größten
Eſſer werden, das ganze Lebensglück auf eine
wohlbeſtellte Küche gegründet wird und man
ganz vergißt, welche Nebenſache eigentlich das
Eſſen auf dieſer ſchnellen Lebensfahrt ſei. Ebenſo
verfuhr ſie mit dem, was ſonſt von den Ältern
mit einer ſchrecklich ungeſchickten Heiligkeit be¬
handelt wird, mit dem Gelde. Sobald als
thunlich ließ ſie ihren Sohn ihren Vermögens¬
ſtand mitwiſſen, für ſie Geldſummen zählen und
[131] in das Behältniß legen, und ſobald er nur im
Stande war, die Münzen zu unterſcheiden, ließ
ſie ihm eine kleine Sparbüchſe zu gänzlich freier
Verfügung. Wenn er nun eine Dummheit machte
oder eine arge Naſcherei beging, ſo behandelte
ſie das nicht wie ein Criminalverbrechen, ſondern
wies ihm mit wenig Worten die Lächerlichkeit
und Unzweckmäßigkeit nach. Wenn er etwas
entwendete oder ſich aneignete was ihm nicht
zukam, oder einen jener heimlichen Ankäufe machte,
welche die Eltern ſo ſehr erſchrecken, machte ſie
keine Kataſtrophe daraus, ſondern beſchämte ihn
einfach und offen als einen thörichten und gedan¬
kenloſen Burſchen. Deſto ſtrenger war ſie gegen
ihn, wenn er in Worten oder Geberden ſich
unedel und kleinlich betrug, was zwar nur ſelten
vorkam; aber dann las ſie ihm hart und ſcho¬
nungslos den Text und gab ihm ſo derbe Ohr¬
feigen, daß er die leidige Begebenheit nie vergaß.
Dies Alles pflegt ſonſt entgegengeſetzt behandelt
zu werden. Wenn ein Kind mit Geld ſich ver¬
geht oder gar etwas irgendwo wegnimmt, ſo
befällt die Ältern und Lehrer eine ganz ſonder¬
bare Furcht vor einer verbrecheriſchen Zukunft,
9 *[132] als ob ſie ſelbſt wüßten, wie ſchwierig es ſei,
kein Dieb oder Betrüger zu werden! Was
unter hundert Fällen in neun und neunzig nur
die momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüſte
des träumeriſch wachſenden Kindes ſind, ganz
ähnlich den Launen ſchwangerer Frauen, das
wird zum Gegenſtande eines furchtbaren Straf¬
gerichtes gemacht und von nichts als Galgen
und Zuchthaus geſprochen. Als ob alle dieſe
lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht
von ſelbſt durch die menſchliche Selbſtliebe, ſogar
bloß durch die Eitelkeit, davor geſichert würden,
Diebe und Schelme ſein zu wollen. Dagegen
wie milde und freundſchaftlich werden da tauſend
kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mi߬
gunſt, der Eitelkeit, der Anmaßung, der mora¬
liſchen Selbſtſucht und Selbſtgefälligkeit behandelt
und gehätſchelt! Wie ſchwer merken die wackern
Erziehungsleute ein früh verlogenes und ver¬
blümtes inneres Weſen an einem Kinde, wäh¬
rend ſie mit hölliſchem Zeter über ein anderes
herfahren, das aus Übermuth oder Verlegenheit
ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge geſagt hat.
Denn hier haben ſie eine greifliche bequeme
[133] Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht
lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie
in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine
ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel
einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll
denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du
ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen
Leute zum Narren halten zu können? Sei Du
froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬
gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬
brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen,
zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬
ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen
ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich
beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen
begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete
keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern
behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob
er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er
das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens
bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er
dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich
irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß,
oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu
[134] ſtehen ſchien, oder ſich mit etwas zu zieren,
wozu er das Zeug nicht hatte, ſo tadelte ſie ihn
mit ſchneidenden harten Worten und verſetzte
ihm ſelbſt einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu
arg und widerlich war. Ebenſo, wenn ſie be¬
merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog,
um ſich kleine Vortheile zu erwerben, ſtrafte ſie
ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬
gehen abgeläugnet hätte.
Dieſe ganze Erzieherei koſtete indeſſen kaum
ſo viel Worte, als hier gebraucht wurden, um
ſie zu ſchildern, und ſie beruhte allerdings mehr
im Charakter der Frau Amrain, als in einem
vorbedachten oder gar angeleſenen Syſtem. Daher
wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten,
die nicht ihren Charakter beſitzen, nicht befolgt
werden können, während ein anderer Theil, wie
z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der
Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen
Leuten nicht kann angewendet werden. Denn
wo z. B. gar nichts zu eſſen iſt, da wird dieſes
natürlich jeden Augenblick zur nächſten Haupt¬
ſache, und Kindern, unter ſolchen Umſtänden
erzogen, wird man ſchwer die Gelüſtigkeit abge¬
[135] wöhnen können, da alles Sinnen und Trachten
des Hauſes nach dem Eſſen gerichtet iſt.
Beſonders während der kleineren Jugend des
Knaben war die Erziehungsmühe ſeiner Mutter
ſehr gering, da ſie, wie geſagt, weniger mit der
Zunge, als mit ihrer ganzen Perſon erzog, wie
ſie leibte und lebte und es alſo in Einem zu
ging mit ihrem ſonſtigen Daſein. Sollte man
fragen, worin denn bei dieſer leichten Art und
Müheloſigkeit ihre beſondere Treue und ihr Vorſatz
beſtand? ſo wäre zu antworten: lediglich in der
zugewandten Liebe, mit welcher ſich das Weſen
ihrer Perſon dem ſeinigen einprägte und ſie ihre
Inſtinkte die ſeinigen werden ließ.
Doch blieb die Zeit nicht aus, wo ſie aller¬
dings einige vorſätzliche und kräftige Erziehungs¬
maßregeln anwenden mußte, und das war die
Zeit, wo der gute Fritz herangewachſen war und
ſich für allbereits erzogen hielt, wo aber die
Mutter erſt recht auf der Wacht ſtand, da es
ſich nun entſcheiden mußte, ob er in das gute
oder ſchlechte Fahrwaſſer einlaufen würde. Es
waren nur wenige Momente, wo ſie etwas
Entſcheidendes und Energiſches gegen ſeine junge
[136] Selbſtſtändigkeit unternahm, aber jedesmal zur
rechten Zeit und ſo plötzlich, einleuchtend und
bedeutſam, daß es nie ſeiner bleibenden Wirkung
ermangelte.
Als Fritz bald achtzehn Jahre zählte, war
er ein ſchönes junges Bürſchchen, fein anzuſehen
mit ſeinem blonden Haare und ſeinen blauen
Augen, und von einer großen Selbſtſtändigkeit
und Sicherheit in allem was er that. Er hatte
bereits die Leitung des Geſchäftes übernommen,
was die Arbeit im Freien betraf, nachdem er
ſchon vom vierzehnten Jahre an im Steinbruch
tüchtig gearbeitet. Er machte ein ernſthaftes
und kluges Geſicht und war dennoch aufgeräumt
und guter Dinge, und was ſeiner Mutter am
beſten gefiel, war ſeine Fähigkeit mit allen Leu¬
ten umzugehen, ohne ihre Art anzunehmen. Sie
hielt ihn nicht ab, wenn es ihm langweilig war
zu Hauſe, auszugehen und mit anderen jungen
Burſchen zu verkehren; aber die ſcharf Aufmer¬
kende ſah mit Vergnügen, daß er an der Weiſe
der jungen Seldwyler, mit denen er abwechſelnd
verkehrte, bald mit dieſem, bald mit jenem, keinen
ſonderlichen Geſchmack gewann, ſie überſchaute
[137] und nur etwas ſich mit ihnen die Zeit vertrieb,
wie und ſo lange er es für gut fand. Mit
Vergnügen ſah ſie auch, daß er ſich nicht lumpen
ließ und bei Gelagen manche Flaſche zum Beſten
gab, ohne je für ſich ſelbſt ſchlimme Folgen davon
zu tragen, und daß er nicht in Einen ſchlimmen
oder ſchimpflichen Handel verwickelt wurde, ob¬
gleich er überall ſich zu ſchaffen machte und
wußte, wie es zugegangen, ohne daß er im
mindeſten ein Duckmäuſer und Aufpaſſer war.
Auch hielt er was auf ſich, ohne hochmüthig zu
ſein, und wußte ſich zu wehren, wenn es galt.
Frau Regula war daher guten Muthes und
dachte, das wäre gerade die rechte Weiſe und
ihr Söhnchen ſei nicht auf den Kopf gefallen.
Da bemerkte ſie, daß er anfing zu erröthen,
wenn ſchöne Mädchen ihm in den Weg kamen,
daß er ſelbſt häßliche Mädchen aufmerkſam und
kritiſch betrachtete und daß er verlegen wurde,
wenn eine hübſche runde und muntere Frau in
der Stube war, während er dieſelbe doch heim¬
licher Weiſe mit den Augen verſchlang. Aus
dieſen drei Zeichen entnahm ſie zwei Dinge:
erſtens, daß noch nichts an ihm verdorben ſei,
[138] zweitens aber, daß wenn eine Gefahr für ihn
vorhanden wäre, auf den breiten Weg der Stadt
zu tölpeln, dieſe Gefahr nur von Seiten der
Damen von Seldwyla herkommen könne, und ſie
ſagte ſogleich in ihrem Herzen: Alſo da willſt
Du hinaus, Du Schuft?
Die Schönen dieſer Stadt waren nicht ſchlim¬
mer geſinnt als ihre Männer und ſie hielten,
wenn ſie erſt zu Jahren kamen, noch manches
zuſammen, was dieſe lieber auch noch zerſtreut
hätten. Allein da die Männer ſich gern luſtig
machten, ſo wollten ſie, ſo lange es ihnen gut
erging, auch nicht zurückbleiben, und bei dem
ſchönen Geſchlechte laufen bekanntlich alle Abir¬
rungen und Unzukömmlichkeiten zuletzt nur auf
ein und daſſelbe Ende hinaus, jene alte Ge¬
ſchichte, welche vielfältige Rückwirkungen auf das
Wohl oder Weh der Herren Mitſchuldigen mit
ſich führt. Sonach ging es auch in dieſer Hin¬
ſicht zu Seldwyla etwas luſtiger zu, als an
anderen Orten.
Wie nun Frau Amrain ihre ſchwarzen Augen
offen hielt und mit zorniger Bangigkeit auf¬
merkte, wann und wie man etwa ihr Kind ver¬
[139] derben wolle, ergab ſich bald eine Gelegenheit
für ihr mütterliches Einſchreiten. Es wurde eine
große Hochzeit gefeiert auf dem Rathhauſe und
das neu vermählte Paar gehörte den geräuſch¬
vollſten und luſtigſten Kreiſen an, die gerade im
Flor waren. Wie an anderen Orten der Schweiz,
giebt es an den Hochzeiten zu Seldwyl, wenn
Bankett und Ball am Abend Statt finden, zwei¬
erlei Gäſte: die eigentlichen geladenen Hochzeitgäſte
und dann die Freunde oder Verwandten dieſer,
welche denſelben ſcherzhafte Hochzeit- oder Tafel¬
geſchenke überbringen mit allerlei Witzen, Ge¬
dichten und Anſpielungen. Sie verkleiden ſich zu
dieſem Ende hin in allerhand luſtige Trachten,
welche dem zu überbringenden Geſchenke entſprechen
und ſind maskirt, indem jeder ſeinen Freund oder
ſeine Verwandte aufſucht, ſich hinter deren Stuhl
ſtellt, ſeine Gabe überreicht und ſeine Rede hält.
Fritz Amrain hatte ſich ſchon vorgenommen, einem
kleinen Bäschen einige Geſchenke zu bringen und
die Mutter nichts dagegen gehabt, da das Mädchen
noch ſehr jung und ſonſt wohlgeartet war. Allein
weniger das Bäſchen lockte ihn, als ein dunkles
Verlangen, ſich unter den luſtigen Damen von
[140] Seldwyl einmal recht herumzutummeln, deren
Fröhlichkeit, wenn Viele beiſammen waren, ihm
ſchon oft ſehr anmuthig geſchildert worden. Er
war nur noch unſchlüſſig, welche Verkleidung er
wählen ſollte, um auf der Hochzeit zu erſcheinen,
und erſt am Abend entſchloß er ſich auf den
Rath einiger Bekannten, ſich als Frauenzimmer
zu kleiden. Seine Mutter war eben ausgegan¬
gen, als er mit dieſem luſtigen Vorſatz nach
Hauſe gelaufen kam und denſelben ſogleich in's
Werk ſetzte. Ohne Schlimmes zu ahnen, gerieth
er über den Kleiderſchrank ſeiner Mutter und
warf da ſo lange Alles durcheinander, von einem
lachenden Dienſtmädchen unterſtützt, bis er die
beſten und bunteſten Toilettenſtücke zuſammen¬
geſucht und ſich angeeignet hatte. Er zog das
ſchönſte und beſte Kleid der Mutter an, das ſie
ſelbſt nur bei feierlichen Gelegenheiten trug, und
wühlte dazu aus den reichlichen Schachteln Krau¬
ſen, Bänder und ſonſtigen Putz hervor. Zum
Überfluß hing er ſich noch die Halskette der
Mutter um und zog ſo, aus dem Gröbſten ge¬
putzt, zu ſeinen Genoſſen, die ſich inzwiſchen
ebenfalls angekleidet. Dort vollendeten zwei
[141] muntere Schweſtern ſeinen Anzug, indem ſie vor¬
nehmlich ſeinen blonden Kopf auf das Zierlichſte
friſirten und ſeine Bruſt mit einem ſachgemäßen
Frauenbuſen ausſchmückten. Indem er ſo auf
ſeinem Stuhle ſaß und dieſe Bemühungen der
wenig ſchüchternen Mädchen um ſich geſchehen
ließ, erröthete er ein Mal um das andere und
das Herz klopfte ihm vor erwartungsvollem Ver¬
gnügen, während zugleich das böſe Gewiſſen ſich
regte und ihm anfing zuzuflüſtern, die Sache
möchte doch nicht ſo recht in der Ordnung ſein.
Als er daher mit ſeiner Geſellſchaft dem Rath¬
hauſe zuzog, ein Körbchen mit den Geſchenken
tragend, ſah er ſo verſchämt und verwirrt aus,
wie ein wirkliches Mädchen und ſchlug die Augen
nieder und als er ſo auf der Hochzeit erſchien,
erregte er den allgemeinen Beifall beſonders der
verſammelten Frauen.
Während der Zeit war aber ſeine Mutter
nach Hauſe zurückgekehrt und ſah ihren offen
ſtehenden Kleiderſchrank ſowie die Verwüſtung,
die er in Schachteln und Käſtchen angerichtet.
Als ſie vollends vernahm, zu welchem Ende hin
dies geſchehen und daß ihre Hoffnung in Weiber¬
[142] kleidern, und dazu noch in ihren beſten, ausge¬
zogen ſei, überfiel ſie erſt ein großer Zorn,
dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts
ſchien ihr geeigneter einen jungen Menſchen in
das Lotterleben zu bringen, als wenn er in
Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging.
Sie ließ daher ihr Abendeſſen ungenoſſen ſtehen
und ging eine Stunde lang in der größten Un¬
ruhe umher, nicht wiſſend, wie ſie ihren Sohn
den drohenden Gefahren entreißen ſolle. Es
widerſtrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu laſſen
und dadurch zu beſchämen; auch fürchtete ſie
nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten
werden oder aus eigenem Willen nicht kommen
dürfte. Und dennoch fühlte ſie wohl, wie er
durch dieſe einzige Nacht auf eine entſcheidende
Weiſe auf die ſchlechte Seite verſchlagen werden
könne. Sie entſchloß ſich endlich kurz, da es
ihr nicht Ruhe ließ, ihren Sohn ſelbſt wegzu¬
holen, und da ſie mannichfacher Beziehungen
wegen einen halben Vorwand hatte, ſelbſt etwa
ein Stündchen auf der Hochzeit zu erſcheinen,
kleidete ſie ſich raſch um und wählte einen Anzug,
ein wenig beſſer als der alltägliche und doch
[143] nicht feſtlich genug, um etwa zu hohe Achtung
vor der luſtigen Verſammlung zu verrathen. So
begab ſie ſich alſo nach dem Rathhaus nur von
dem Dienſtmädchen begleitet, welches ihr eine
Laterne voran trug. Sie betrat zuerſt den
Speiſeſaal; allein die erſte Tafel und die Luſt¬
barkeit mit den Geſchenken war ſchon vorüber
und die Überbringer derſelben hatten ihre Mas¬
ken abgenommen und ſich unter die übrigen Gäſte
gemiſcht. In dem Saale war nichts zu ſehen
als einige Herrengeſellſchaften, die theils Karten
ſpielten, theils zechten, und ſo ſtieg ſie die Treppe
nach einer alterthümlichen Gallerie hinauf, von
wo man den Saal überſehen konnte, in welchem
getanzt wurde. Dieſe Gallerie war mit allerlei
Volk angefüllt, das nicht im Flor war und hier
dem Tanze zuſehen durfte wie etwa die Ein¬
wohner einer Reſidenz einer Fürſtenhochzeit. Frau
Regula konnte daher unbemerkt den Ball über¬
ſehen, der ſo ziemlich feierlich vor ſich ging und
die allgemeine Lüſternheit und Begehrlichkeit mit
ſeinem ſteifen und lächerlichen Ceremoniell zur
Noth verdeckte. Denn dies hätten die Seld¬
wyler nicht anders gethan; ſie huldigten vielmehr
[144] dem Spruch: Alles zu ſeiner Zeit! und wenn
ſie mit wenig Mühe das Schauſpiel eines nach
ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬
nießen konnten, warum ſollten ſie es unterlaſſen?
Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬
zenden nicht zu erblicken und je länger ihn ſeine
Mutter mit den Augen ſuchte, deſto weniger
fand ſie ihn. Je länger ſie ihn aber nicht fand,
deſto mehr wünſchte ſie ihn zu ſehen, nicht allein
mehr aus Beſorgniß, ſondern auch um wirklich
zu ſehen, wie er ſich eigentlich ausnähme und
ob er in ſeiner Dummheit nicht noch die Lächer¬
lichkeit zum Leichtſinn hinzugefügt habe, indem er
als eine ungeſchickt angezogene ſchlottrige Weibs¬
perſon ſich weiß Gott wo herumtreibe? In
dieſen Unterſuchungen gerieth ſie auf einen Sei¬
tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem
Fenſter endigte, das mit einem Vorhang verſehen
und beſtimmt war, Licht in eben dieſen Gang
einzulaſſen. Das Fenſter aber ging in das klei¬
nere Rathszimmer, ein altes gothiſches Gemach,
und war hoch an deſſen Wand zu ſehen. Wie
ſie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und
in das tiefe Gemach hinunter ſchaute, welches
[145] durch einen ſeltſamen Firlefanz von Kronleuchtern
ziemlich ſchwach erleuchtet war, erblickte ſie eine
kleinere Geſellſchaft, die da in aller Stille und
Fröhlichkeit ſich zu unterhalten ſchien. Als Frau
Regel genauer hinſah, erkannte ſie ſieben bis
acht verheirathete Frauen, deren Männer ſie ſchon
in dem Speiſeſaal hatte ſpielen ſehen zu einem
hohen und prahleriſchen Satze. Dieſe Frauen
ſaßen in einem engen Halbkreiſe und vor ihnen
eben ſo viel junge Männer, die ihnen den Hof
machten. Unter dieſen war Fritz abermals nicht
zu finden und ſeine Mutter hierüber ſehr froh,
da der Kreis dieſer Damen nichts weniger als
beruhigend anzuſehen war. Denn als ſie die¬
ſelben einzeln muſterte, waren es lauter jüngere
Frauen, welche jede auf ihre Weiſe für gefähr¬
lich galt und in der Stadt, wenn auch nicht
eines ſchlimmen, doch eines geheimnißvollen Rufes
genoß, was bei der herrſchenden Duldſamkeit
immer noch genug war. Da ſaß erſtens die
nicht häßliche Adele Anderau, welche üppig und
verlockend anzuſehen war, ohne daß man recht
wußte, woran es lag, und welche alle jungen
Leute jezuweilen mit halbgeſchloſſenen Augen ſo
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 10[146] anzublicken wußte in einem windſtillen Augen¬
blicke, daß ſie einen ſeltſamen Funken von hoff¬
nungsreichem Verlangen in ihr Herz ſchleuderte.
Aber zehn derſelben ließ ſie ſchonungslos und
mit Aufſehen abziehen, um deſto regelmäßiger
den elften in einer ſichern Stunde zu beglücken.
Da war ferner die leidenſchaftliche Julie Hai¬
der, welche ihren Mann öffentlich und vor ſo
vielen Zeugen als möglich ſtürmiſch liebkoſ'te,
die glühendſte Eiferſucht auf ihn an den Tag
legte und fortwährend der Untreue anklagte, dies
alles ſo lange bis irgend ein Dritter den fühl¬
loſen Gatten beneidete und ſolcher Leidenſchaft¬
lichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da trau¬
erte auch die ſanfte Emmeline Ackerſtein, welche
eine Dulderin war und von ihrem Manne mi߬
handelt wurde, weil ſie gar nichts gelernt hatte
und das Hausweſen vernachläſſigte; dieſe ſah bleich
und ſchmachtend aus und ſank mit Thränen dem in
die Arme, der ſie tröſten mochte. Auch die ſchlimme
Lieschen Aufdermaur war da, welche ſo lange
Klatſchereien und Zänkereien anrichtete, bis
irgend ein Aufgebrachter, den ſie verläumdet, ſie
unter vier Augen in die Klemme brachte und
[147] ſich an ihr rächte. Dann folgte, außer zwei
oder drei aufgeweckten Weſen, welche ohne wei¬
tere Begründungen ſchlechtweg thaten was ſie
mochten, die ſtille Thereſa Gut, welche äußerſt
theilnahmlos weder rechts noch links ſah, Nie¬
mandem entgegen kam und kaum antwortete,
wenn man ſie anredete, welche aber, zufällig in
ein Abenteuer verwickelt und angegriffen, uner¬
warteter Weiſe lachte wie eine Närrin und alles
geſchehen ließ. Endlich ſaß auch dort das leicht¬
ſinnige Käthchen Amhag, welches immer eine
Menge heimlicher Schulden zu tragen hatte.
Als Frau Amrain die Beſchaffenheit dieſes
weiblichen Kreiſes erkannte, wollte ſie eben Gott
danken, daß ihr Sohn wenigſtens auch da nicht
zu erblicken ſei, als ſie noch eine weibliche Ge¬
ſtalt zwiſchen ihnen entdeckte, die ſie im erſten
Augenblicke nicht kannte, obgleich ſie dieſelbe
ſchon geſehen zu haben glaubte. Es war ein
großes prächtig gewachſenes Weſen von amazo¬
nenhafter Haltung und mit einem kecken blonden
Lockenkopfe, das aber hold verſchämt und ver¬
liebt unter den luſtigen Frauen ſaß und von
ihnen ſehr aufmerkſam behandelt wurde. Beim
10 *[148] zweiten Blick erkannte ſie jedoch ihren Sohn
und ihr violettes Seidenkleid zugleich und ſah,
wie trefflich ihm daſſelbe ſaß und mußte ſich
auch geſtehen, daß er ganz geſchickt und reizend
ausgeputzt ſei. Aber im gleichen Augenblicke ſah
ſie auch, wie ihn ſeine eine Nachbarin küßte,
in Folge irgend eines Unterhaltungsſpieles, das
die fröhliche Geſellſchaft eben beſchäftigte, und
wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte,
und nun hielt ſie den Zeitpunkt für gekommen,
wo ſie ihrem Sohne den Dienſt, welchen er ihr
als fünfjähriges Knäblein geleiſtet, erwiedern
konnte.
Sie ſtieg ungeſäumt die Treppe hinunter
und trat in das Zimmer, die überraſchte Geſell¬
ſchaft beſcheiden und höflich begrüßend. Alles
erhob ſich verlegen, denn obgleich ſie ſattſam
durchgehechelt wurde in der Stadt, ſo flößte ſie
doch Achtung ein, wo ſie erſchien. Die jungen
Männer grüßten ſie mit aufrichtig verlegener
Ehrerbietung, und um ſo aufrichtiger je wilder ſie
ſonſt waren; von den Frauen aber wollte keine
ſcheinen, als ob ſie mit der achtbarſten Frau der
Stadt etwa ſchlecht ſtände und nicht mit ihr
[149] umzugehen wüßte, weshalb ſie ſich mit großem
Geräuſch um ſie drängten, als ſie ſich von ihrer
Überraſchung etwas erholt. Am verblüffteſten
war jedoch Fritz, welcher nicht mehr wußte, wie
er ſich in dem Kleide ſeiner Mutter zu geber¬
den habe; denn dies war jetzt plötzlich ſein erſter
Schrecken und er bezog den ernſten Blick, den ſie
einſtweilen auf ihn geworfen, nur auf die gute
Seide dieſes Kleides. Andere Bedenken waren
noch nicht ernſtlich in ihm aufgeſtiegen, da in
der allgemeinen Luſt der Scherz zu gewöhnlich und
erlaubt ſchien. Als Alle ſich wieder geſetzt hatten
und nachdem ſich Frau Amrain ein Viertelſtündchen
freundlich mit den jungen Leuten unterhalten,
winkte ſie ihren Sohn zu ſich und ſagte ihm,
er möchte ſie nach Hauſe begleiten, da ſie gehen
wolle. Als er ſich dazu ganz bereit erklärte,
flüſterte ſie ihm aber mit ſtrengem Tone zu:
Wenn ich von einem Weibe will begleitet ſein,
ſo konnte ich die Grete hier behalten, die mir
hergeleuchtet hat! Du wirſt ſo gut ſein und
erſt heim laufen, um Kleider anzuziehen, die Dir
beſſer ſtehen, als dieſe hier!
Erſt jetzt merkte er, daß die Sache nicht
[150] richtig ſei; tief erröthend machte er ſich fort,
und als er über die Straße eilte und das rau¬
ſchende Kleid ihm ſo ungewohnt gegen die Füße
ſchlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig
nachſah, merkte er erſt recht, daß das eine unge¬
eignete Tracht wäre für einen jungen Republi¬
kaner, in der man Niemandem in's Geſicht ſehen
dürfe. Als er aber zu Hauſe angekommen ſich
haſtig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die
Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath¬
hauſe ſitze, und dieſer Gedanke machte ihn plötz¬
lich und ſonderbarer Weiſe ſo zornig und beſorgt
um ihre Ehre, daß er ſich beeilte nur wieder
hinzukommen und ſie abzuholen. Auch glaubte
er ihr einen rechten Ritterdienſt damit zu erwei¬
ſen, daß er ſo pünktlich wieder erſchien, und
alle etwaigen Unebenheiten dadurch auf's Schönſte
ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl ſich
der Geſellſchaft und ging ernſt und ſchweigſam
neben ihrem Sohne nach Hauſe. Dort ſetzte ſie
ſich ſeufzend auf ihren gewohnten Seſſel und
ſchwieg eine Weile; dann aber ſtand ſie auf,
ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es
[151] in Stücken, indem ſie ſagte: das kann ich nun
wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!
»Warum denn?« ſagte Fritz erſtaunt und
wieder kleinlaut. »Wie werde ich, erwiederte
ſie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein
Sohn unter liederlichen Weibern geſeſſen hat,
ſelber einem gleichſehend?« Und ſie brach in
Thränen aus und hieß ihn zu Bette gehen.
»Hoho, ſagte er, als er ging, das wird denn
doch nicht ſo gefährlich ſein.« Er konnte aber
nicht einſchlafen, da ſein Kopf ſowohl von der
unterbrochenen Luſtbarkeit als von den Worten
der Mutter aufgeregt war, ſo fand er alſo
Muße, über die Sache nachzudenken und fand,
daß die Mutter einigermaßen Recht habe; aber
er fand dies nur inſofern, als er ſelbſt die Leute
verachtete, mit denen er ſich eben vergnügt hatte.
Auch fühlte er ſich durch dieſe Auslegung eher
geſchmeichelt in ſeinem Stolze, und erſt, als die
Mutter am Morgen und die folgenden Tage
ernſt und traurig blieb, kam er dem Grunde der
Sache näher. Es wurde kein Wort mehr dar¬
über geſprochen, aber Fritz war für einmal geret¬
[152] tet, denn er ſchämte ſich vor ſeiner Mutter
mehr, als vor der ganzen übrigen Welt.
Während einiger Monate fand ſie keine Ur¬
ſache neue Beſorgniſſe zu hegen, bis eines Ta¬
ges, als ein blühendes junges Landmädchen ſich
einfand, um den Dienſt bei ihr nachzuſuchen, Fritz
daſſelbe unverwandt betrachtete und endlich auf es
zutrat und, alles andere vergeſſend, ihm die Wan¬
gen ſtreichelte. Er erſchrak ſogleich ſelbſt darüber
und ging hinaus; die Mutter erſchrak auch und
das Mädchen wurde roth und zornig und wandte
ſich, ohne weitern Aufenthalt zu gehen. Als
Frau Amrain dies ſah, hielt ſie es zurück und
nahm es mit einiger Überredung in ihren Dienſt.
Nun muß es biegen oder brechen, dachte ſie und
fühlte gleichzeitig, daß auf dem bisherigen, blos
verneinenden Wege dies Blut ſich nicht länger
meiſtern ließ. Sie näherte ſich deshalb noch am
ſelben Tage ihrem Sohne, als er mit ſeinem
Vesperbrode ſich unter ein ſchattiges Rebenſpalier
geſetzt hatte, hinter dem Hauſe, von wo man
zum Thal hinaus in die Ferne ſah nach blauen
Höhenſtrichen, wo andre Leute wohnten. Sie
legte ihren Arm um ſeine Schultern, ſah ihm
[153] freundlich in die Augen und ſagte: »Lieber Fritz!
Sei mir jetzt nur noch zwei oder drei Jährchen
brav und gehorſam, und ich will Dir das ſchönſte
und beſte Frauchen verſchaffen aus meinem Ort,
daß Du dir was darauf einbilden kannſt!«
Fritz ſchlug erröthend die Augen nieder,
wurde ganz verlegen und erwiederte mürriſch:
»Wer ſagt denn, daß ich eine Frau haben
wolle?« »Du ſollſt aber Eine haben!« ver¬
ſetzte ſie, und, wie ich ſage, eine von guter und
ſchöner Art; aber nur wenn Du ſie verdienſt,
denn ich werde mich vorſehen, eine rechtſchaffene
Tochter hierher in's Elend zu bringen!« Damit
küßte ſie ihren Sohn, wie ſie ſeit undenklicher
Zeit nicht gethan, und ging in's Haus zurück.
Es ward ihm aber auf einmal ganz ſeltſam
zu Muthe und von Stund an waren ſeine Ge¬
danken auf eine ſolche gute und ſchöne Frau
gerichtet, und dieſe Gedanken ſchmeichelten ihm
ſo ſehr und beſchäftigten ihn ſo anhaltend, daß
er darüber keine Frauensperſon in Seldwyla
mehr anſah. Die Zärtlichkeit, mit welcher die
Mutter ihm ſolche Ideen beigebracht, gab ſeinen
Wünſchen eine innigere und edlere Richtung und
[154] er fühlte ſich wohlgeborgen, da man es ſo gut
mit ihm meine. Er wartete aber die zwei Jahre
und die Anſtalten ſeiner Mutter nicht ab, ſon¬
dern fing ſchon in der nächſten Zeit an, an
ſchönen Sonntagen in's Land hinaus zu gehen
und insbeſondere in der Heimath der Mutter
herumzukreuzen. Er war bis jetzt kaum einmal
dort geweſen und wurde von den Verwandten
und Freunden ſeiner Mutter um ſo freundlicher
aufgenommen, als ſie großes Wohlgefallen an
dem hübſchen Jüngling fanden und er zudem
eine Art Merkwürdigkeit war als ein wohlge¬
rathener, feſter und nicht prahleriſcher Seldwyler.
Er machte ſich ordentlich heimiſch in jenen Ge¬
genden, was ſeine Mutter wohl merkte und
geſchehen ließ; aber ſie ahnte nicht, daß er, ehe
ſie es vermuthete, ſchon in beſter Form einen
Schatz hatte, der ihm allen von der Mutter ihm
gemachten Vorſpiegelungen vollkommen zu ent¬
ſprechen ſchien. Als ſie davon erfuhr, machte
ſie ſich dahinter her, voll Beſorgniß, wer es
ſein möchte, und fand zu ihrer frohen Verwun¬
derung, daß er nun gänzlich auf einem guten
Wege ſei; denn ſie mußte den Geſchmack und
[155] das Urtheil des Sohnes nur loben und ebenſo
deſſen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit
welcher er dem erwählten Mädchen anhing, ſo
daß ſie ſich aller weitern Zucht und aller Liſten
endlich enthoben ſah.
Dieſe Klippe war unterdeſſen kaum glücklich
umſchifft, als ſich eine andere zeigte, welche noch
gefährlicher zu werden drohte und der Frau Re¬
gula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit
zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo
Fritz, der Sohn, anfing zu politiſiren und damit
mehr als durch alles Andere in die Gemeinſchaft
ſeiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein
liberaler Geſell, wegen ſeiner Jugend, ſeines
Verſtandes, ſeines ruhigen Gewiſſens in Hinſicht
ſeiner perſönlichen Pflichterfüllung und aus aner¬
erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhn¬
licher oberflächlicher Anſchauungsweiſe etwa hätte
meinen können, Frau Amrain wäre ariſtokrati¬
ſcher Geſinnung geweſen, weil ſie die meiſten
Leute verachten mußte, unter denen ſie lebte, ſo
war dem doch nicht alſo; denn höher und feiner
als die Verachtung iſt die Achtung vor der Welt
im Ganzen. Wer freiſinnig iſt, traut ſich und
[156] der Welt etwas Gutes zu und weiß mannhaft
von nichts Anderem, als daß man hiefür einzu¬
ſtehen vermöge, während der Unfreiſinn oder
der Konſervatismus auf Zaghaftigkeit und Be¬
ſchränktheit gegründet iſt. Dieſe laſſen ſich aber
ſchwer mit wahrer Männlichkeit vereinigen. Vor
tauſend Jahren begann die Zeit, da nur derje¬
nige für einen vollkommenen Helden und Rit¬
tersmann galt, der zugleich ein frommer Chriſt
war; denn im Chriſtenthum lag damals die
Menſchlichkeit und Aufklärung. Heute kann man
ſagen: ſei Einer ſo tapfer und reſolut, als er
wolle, wenn er nicht vermag freiſinnig zu ſein,
ſo iſt er kein ganzer Mann. Und die Frau
Regula hatte, nachdem ſie ſich einmal an ihrem
Eheherren ſo getäuſcht, zu ſtrenge Regeln in
ihrem Geſchmack betreffs der Mannestugend an¬
genommen, als daß ſie eine feſte und ſichere
Freiſinnigkeit daran vermiſſen wollte. Übrigens,
als ihr Mann um ſie geworben, hatte er in
allem Flor eines jugendlichen Radikalismus ge¬
glänzt, welchen er freilich mehr in der Weiſe
handhabte, wie ein Lehrling die erſte ſilberne
Sackuhr.
[157]
Außer dieſen Geſchmacksgründen aber war
ſie aus einem Orte gebürtig, wo ſeit unvor¬
denklichen Zeiten jedermann freiſinnig war und
der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit ſich
als ein entſchloſſenes, thatkräftiges und ſich gleich
bleibendes Bürgerneſt hervorgethan, ſo daß, wenn
es hieß: die von So und So haben dies geſagt
oder jenes gethan! ſie gleich einen ganzen Land¬
ſtrich mitnahmen und einen kräftigen Anſtoß ga¬
ben. Wenn alſo Frau Amrain in den Fall kam,
ihre Meinung über einen Streit feſtzuſtellen, ſo
hörte ſie nicht auf das, was die Seldwyler, ſon¬
dern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei¬
math ſagten und richtete ihre Gedanken dorthin.
Alles das waren Gründe genug für Fritz,
ein guter Liberaler zu ſein, ohne abſonderliche
Studien gemacht zu haben. Was nun die nächſte
Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und
die rechtlichen Handlungen frei ſind und die Leute
ſich das Wetter ſelbſt machen, für einen politiſch
Aufgeregten entſteht, nämlich die Gefahr ein
Müſſiggänger und Schenkeläufer zu werden, ſo
war dieſelbe zu Seldwyla allerdings noch grö¬
ßer, als an andern Schweizerorten, welche mit
[158] der ganzen alten Welt noch an der gemüthlichen
oſtländiſchen Weiſe feſthalten, das Wichtigſte in
breiter halbträumender Ruhe an den Quellen
des Getränkes oder bei irgend einem Genuſſe
zu verhandeln und immer wieder zu verhandeln.
Und doch ſollte das nicht ſo ſein; denn ein gutes
Glas in fröhlicher Ruhe zu trinken, iſt ein Zweck,
ein Lohn oder eine Frucht, und, wenn man das
in einem tiefern Sinne nimmt, das Ausüben
politiſcher Rechte blos ein Mittel dazu zu gelangen.
Indeſſen war für Fritz dieſe Gefahr nicht beträcht¬
lich, weil er ſchon zu ſehr an Ordnung und
Arbeit gewöhnt war und es ihn grade zu Seld¬
wyla nicht reizte, den andern nachzufahren.
Größer war ſchon die Gefahr für ihn, ein
Schwätzer und Prahler zu werden, der immer
das Gleiche ſagt und ſich ſelbſt gern reden hört;
denn in ſolcher Jugend verführt nichts ſo leicht
dazu, als das lebendige Empfinden von Grund¬
ſätzen und Meinungen, welche man zur Schau
ſtellen darf ohne Rückhalt, da ſie gemeinnützig
ſind und das Wohl Aller betreffen.
Als er aber wirklich begann, Tag und Nacht
von Politik zu ſprechen, ein und dieſelbe Sache
[159] ewig herumzerrte und jene kindiſche Manier an¬
nahm, durch blindes Behaupten ſich ſelbſt zu
betäuben und zu thun, als ob es wirklich ſo
gehen müſſe, wie man wünſcht und behauptet,
da ſagte ſeine Mutter ein einziges Mal, als er
eben im ſchönſten Eifer war, ganz unerwartet:
»Was iſt denn das für ein ewiges Schwatzen
und Kannegießern? Ich mag das nicht hören!
Wenn Du es nicht laſſen kannſt, ſo geh' auf
die Gaſſe oder in's Wirthshaus, hier in der
Stube will ich den Lärm nicht haben!«
Dies war ein Wort zur rechten Zeit geſpro¬
chen; Fritz blieb mit ſeiner alſo durchſchnittenen
Rede ganz verblüfft ſtecken und wußte gar nichts
zu ſagen. Er ging hinaus und indem er über
dies wunderliche Ereigniß nachgrübelte, fing er
an ſich zu ſchämen, ſo daß er erſt eine gute
halbe Stunde nachher roth wurde bis hinter die
Ohren, von Stund an geheilt war und ſeine
Politik mit weniger Worten und mehr Gedanken
abzumachen ſich gewöhnte. So gut traf ihn der
einmalige Vorwurf aus Frauenmund, ein Schwä¬
tzer und Kannegießer zu ſein.
Um ſo größer erwies ſich nun die dritte,
[160] entgegengeſetzte Gefahr, an übel gewendeter That¬
kraft zu verderben. So wetterwendiſch nämlich
ſonſt die Seldwyler in ihren politiſchen Stimmun¬
gen waren, ſo beharrlich blieben ſie in der Theil¬
nahme an allem Freiſchaaren- und Zuzügerweſen,
und wenn irgendwo in der Nachbarſchaft es galt,
gewaltſam ein widerſtehendes Regiment zu ſpren¬
gen, eine ſchwache Mehrheit einzuſchüchtern oder
einer trotzigen ungefügigen Minderheit bewaffnet
beizuſpringen, ſo zog jedesmal, mochte nun die
herrſchende Stimmung ſein welche ſie wollte, von
Seldwyla ein Trupp bewaffneter Leute aus nach
dem aufgeregten Punkte hin, bald bei Nacht und
Nebel auf Seitenwegen, bald am hellen Tage auf
offener Landſtraße, je nachdem ihnen die Luft
ſicher ſchien. Denn nichts dünkte ſie ſo ergötzlich,
als bei ſchönem Wetter einige Tage im Lande
herumzuſtreichen, zu ſechzig oder ſiebenzig, wohlbe¬
waffnet mit feinen Zielgewehren, verſehen mit
gewichtigen drohenden Bleikugeln und ſilbernen
Thalern, mittelſt letzterer ſich in den beſetzten
Wirthshäuſern gütlich zu thun und mit tüchtigem
Hallo, das Glas in der Hand, auf andere Zu¬
züge zu ſtoßen, denen es ebenfalls mehr oder
[161] minder Ernſt war. Da nun das Geſetzliche
und das Leidenſchaftliche, das Vertragsmäßige
und das urſprünglich Naturwüchſige, der Beſtand
und das Revolutionaire zuſammen erſt das Leben
ausmachen und es vorwärts bringen, ſo war hie¬
gegen nichts zu ſagen, als: ſeht euch vor, was
ihr ausrichtet! Nun aber erfuhren die Seld¬
wyler den eigenen Unſtern, daß ſie bei ihren
Auszügen immerdar entweder zu früh oder zu
ſpät und am unrechten Orte eintrafen und gar
nicht zum Schuſſe kamen, wenn ſie nicht auf
dem Heimwege, der dann nach mannigfachem
Hin- und Herreden und genugſamem Trinken
eingeſchlagen wurde, zum Vergnügen wenigſtens
einige Patronen in die Luft ſchoſſen. Doch dies
genügte ihnen, ſie waren gewiſſermaßen dabei
geweſen und es hieß im Lande, die Seldwyler
ſeien auch ausgerückt in ſchöner Haltung, lauter
Männer mit gezogenen Büchſen und goldenen
Uhren in der Taſche.
Als es das erſte Mal begegnete, daß Fritz
Amrain von einem ſolchen Ausrücken hörte und
zugleich ſeines Alters halber fähig war mitzuge¬
hen, lief er, da es ſoweit eine gute Sache betraf,
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 11[162] ſogleich nach Hauſe, denn es war eben die höchſte
Zeit und der Trupp im Begriff aufzubrechen.
Zu Hauſe zog er ſeine beſten Kleider an, ſteckte
genugſam Geld zu ſich, hing ſeine Patrontaſche
um und ergriff ſein wohl im Stand gehaltenes
Infanteriegewehr, denn da er bereits ein ordent¬
licher und handfeſter junger Flügelmann war,
dachte er nicht daran, mit einer koſtbaren Schüt¬
zenwaffe zu prahlen, die er nicht zu handhaben
verſtand, ſondern aufrichtig und emſig ſein leich¬
tes Gewehr zu laden und loszubrennen, ſobald
er irgend vor den Mann kommen würde; und
er ſah ſehnſüchtig im Geiſte ſchon nichts anderes
mehr, als den letzten Hügel, die letzte Straßen¬
ecke, um welche herumbiegend man den verha߬
ten Gegner erblicken und es losgehen würde mit
Puffen und Knallen.
Er nahm nicht das geringſte Gepäck mit
und verabſchiedete ſich kaum bei der Mutter, die
ihm aufgebracht und mit klopfendem Herzen aber
ſchweigend zuſah. »Adieu! ſagte er, morgen
oder übermorgen früh ſpäteſtens ſind wir wieder
hier!« und ging weg, ohne ihr nur die Hand
zu geben, als ob er nur in den Steinbruch hin¬
[163] ausginge, um die Arbeiter anzutreiben. So ließ
ſie ihn auch gehen ohne Einwendung, da es ihr
widerſtand, den hübſchen jungen Burſchen von
ſolcher erſten Muthesäußerung abzuhalten, ehe
die Zeit und die Erfahrung ihn ſelber belehrt.
Vielmehr ſah ſie ihm durch das Fenſter wohlge¬
fällig nach, als er ſo leicht und froh dahinſchritt.
Doch ging ſie nicht einmal ganz an das Fenſter,
ſondern blieb in der Mitte der Stube ſtehen und
ſchaute von da aus hin. Übrigens war ſie ſelbſt
muthigen Charakters und hegte nicht ſonderliche
Sorgen, zumal ſie wohl wußte, wie dieſe Aus¬
züge von Seldwyla abzulaufen pflegten.
Fritz kam denn auch richtig ſchon am andern
Morgen ganz in der Frühe wieder an und ſtahl
ſich ziemlich verſchämt in das Haus. Er war
ermüdet, überwacht, von vielem Weintrinken ab¬
geſpannt und ſchlechter Laune und hatte nicht
das Mindeſte erlebt oder ausgerichtet, außer daß
er ſeinen feinen Rock verdorben durch das Her¬
umlungern und ſein Geldbeutel geleert war.
Als ſeine Mutter dies bemerkte und als ſie
überdies ſah, daß er nicht wie die Andern, die
inzwiſchen auch gruppenweiſe zurückgeſchlendert
[164] kamen, nur die Kleider wechſelte, neues Geld
zu ſich ſteckte und nach dem Wirthshauſe eilte,
um da den mißlungenen Feldzug aus einander
zu ſetzen und ſich nach den ermüdenden Nicht¬
thaten zu ſtärken, ſondern daß er eine Stunde
lang ſchlief und dann ſchweigend an ſeine Ge¬
ſchäfte ging, da ward ſie in ihrem Herzen froh
und dachte, dieſer merke von ſelber, was die
Glocke geſchlagen.
Indeſſen dauerte es kaum ein halbes Jahr,
als ſich eine neue Gelegenheit zeigte, auszuzie¬
hen nach einer andern Seite hin, und die Seld¬
wyler auch wirklich wieder auszogen. Eine
benachbarte Regierung ſollte geſtürzt werden,
welche ſich auf eine ganz kleine Mehrheit ei¬
nes andächtigen gutkatholiſchen Landvolkes ſtützte.
Da aber dies Landvolk ſeine andächtige Geſin¬
nung und politiſche Meinung eben ſo handlich,
munter und leidenſchaftlich betrieb und bei den
Wahlvorgängen eben ſo geſchloſſen und prügel¬
fertig zuſammenhielt, wie die aufgeklärten Geg¬
ner, ſo empfanden dieſe einen heftigen und unge¬
duldigen Verdruß, und es wurde beſchloſſen, jenen
vernagelten Dummköpfen durch einen muthigen
[165] Handſtreich zu zeigen, wer Meiſter im Lande
ſei, und zahlreiche Parteigenoſſen umliegender
Kantone hatten ihren Zuzug zugeſagt, als ob
ein Häring zu einem Lachs würde, wenn man
ihm den Kopf abbeißt und ſagt: dies ſoll ein
Lachs ſein! Aber in Zeiten des Umſchwunges,
wenn ein neuer Geiſt umgeht, hat die alte
Schale des gewohnten Rechtes keinen Werth
mehr, da der Kern heraus iſt, und ein neues
Rechtsbewußtſein muß erſt erlernt und angewöhnt
werden, damit »rechtlich am längſten währe«,
das heißt, ſo lange der neue Geiſt lebt und
währt, bis er wiederum veraltet iſt und das
Auslegen und Zanken um die Schale des Rech¬
tes von neuem angeht. Als gewohnter Weiſe
wieder einige Dutzend Seldwyler beiſammen wa¬
ren, um als ein tapferes Häuflein auszurücken
und der verhaßten Nachbarregierung vom Amte
zu helfen, war Frau Regel Amrain guter Laune,
indem ſie dachte, dieſe bewaffneten Kannegießer
wären diesmal recht angeführt, wenn ſie glaub¬
ten, daß ihr Sohn mitginge; denn nach ihren
bisherigen Erfahrungen, laut welchen das wackere
Blut ſtets durch eine einmalige Lehre ſich ge¬
[166] beſſert, mußte es ihm jetzt nicht einfallen mit¬
zugehen. Aber ſiehe da! Fritz erſchien unver¬
ſehens, als ſie ihn bei ſeinen Geſchäften glaubte,
im Hauſe, bürſtete ſeine ſtarken Werkeltagskleider
wohl aus, und ſteckte die Bürſte nebſt anderen
Ausrüſtungsgegenſtänden und einiger Wäſche in
eine Reiſetaſche, welche er umhing, kreuzweis
mit der wohlgefüllten Patrontaſche, und ergriff
abermals ſein Gewehr und ſenkte es zum Ge¬
hen, nachdem er mit dem Daumen einige Male
den Hahn hin und hergezogen, um die Feder¬
kraft des Schloſſes zu erproben.
»Diesmal,« ſagte er, »wollen wir die Sache
anders angreifen, adieu!« und ſo zog er ab,
ungehindert von der Mutter, welcher es aber¬
mals unmöglich war, ihn von ſeinem Thun ab¬
zuhalten, da ſie wohl ſah, daß es ihm Ernſt
war. Um ſo beſorgter war ſie jetzt plötzlich
und ſie erbleichte einen Augenblick lang, während
ſie abermals mit Wohlgefallen ſeine Entſchloſſen¬
heit bemerkte. Die Seldwyler Schaar kehrte
am nächſten Tage ganz in der alten Weiſe zurück,
ohne noch zu wiſſen, wie es auf dem Kampf¬
platze ergangen; denn da ſie die Grenze ein
[167] Bischen überſchritten hatten, fanden ſie das daſige
Ländchen ſehr aufgeregt und die Bauern darüber
erboſ't, daß man ſolchergeſtalt auf ihrem Terri¬
torium erſcheine, wie zu den Zeiten des Fauſt¬
rechtes. Sie ſtellten jedoch kein Hinderniß ent¬
gegen, ſondern ſtanden nur mit ſpöttiſchen Ge¬
ſichtern an den Wegen, welche zu ſagen ſchienen,
daß ſie die Eindringlinge einſtweilen vorwärts¬
ſpazieren laſſen aber auf dem Rückwege dann
näher anſehen wollten. Dies kam den Seld¬
wylern gar nicht geheuer vor und ſie beſchloſſen
deshalb, das verſprochene Eintreffen anderer Zu¬
züge abzuwarten, ehe ſie weiter gingen. Als
dieſe aber nicht kamen und ein Gerücht ſich ver¬
breitete, der Putſch ſei ſchon vorüber und günſtig
abgelaufen, machten ſie ſich endlich wieder auf
den Rückweg mit Ausnahme des Fritz Amrain,
welcher ſeelenallein und trotzig verwegen ſich
von ihnen trennte und mitten durch das gegne¬
riſche Gebiet wegmarſchirte auf deſſen Hauptſtadt
zu. Denn er hatte, indem er ſeine Gefährten
zechen und ſchwatzen ließ, ſich erkundigt und ver¬
nommen, daß ein Häuflein Burſche aus dem
Geburtsorte ſeiner Mutter einige Stunden von
[168] da eintreffen würde, und zu dieſen gedachte er
zu ſtoßen. Er erreichte ſie auch ohne Gefährde,
weil er raſch und unbekümmert ſeinen Weg ging,
und drang mit ihnen ungeſäumt vorwärts. Allein
die Sache ſchlug fehl, jene ſchwankhafte Regie¬
rung behauptete ſich für dies Mal wieder durch
einige günſtige Zufälle, und ſobald dieſe ſich
deutlich entwickelt, that ſich das Landvolk zuſam¬
men, ſtrömte der Hauptſtadt zu in die Wette
mit den Freizügern und verſperrt dieſen die
Wege, ſo daß Fritz und ſeine Genoſſen, noch
ehe ſie die Stadt erreichten, zwiſchen zwei große
Haufen bewaffneter Bauern geriethen, und, da
ſie ſich mannlich durchzuſchlagen gedachten, ein
Gefecht ſich unverweilt entſpann. So ſah ſich
denn Fritz angeſichts fremder Dorfſchaften und
Kirchthürme ladend, ſchießend und wieder ladend,
indeſſen die Glocken ſtürmten und heulten über
den verwegenen Einbruch und den Verdruß des
beleidigten Bodens auszuklagen ſchienen. Wo
ſich die kleine Schaar hinwandte, wichen die
Landleute mit großem Lärm etwas zurück; denn
ihre junge Mannſchaft war im Soldatenrock ſchon
nach der Stadt gezogen worden, und was ſich
[169] hier den Angreifern entgegenſtellte, beſtand mehr
aus alten und ganz jungen unerwachſenen Leuten,
von Prieſtern, Küſtern und ſelbſt Weibern ange¬
feuert. Aber ſie zogen ſich dennoch immer dichter
zuſammen und nachdem erſt einige unter ihnen
verwundet waren, ſtellte gerade dieſer dunkle
Saum erſchreckter alter Menſchen, Weiber und
Prieſter, die ſich zuſammen den Landſturm nann¬
ten, das aufgebrachte und beleidigte Gebiet vor
und die Glocken ſchrieen den Zorn über alles
Getöſe hinweg weit in das Land hinaus. Aber
der drohende Saum zog ſich immer enger und
enger um die fechtenden Parteigänger, einige
entſchloſſene und erfahrene Alte gingen voran
und es dauerte nicht mehr lange, ſo waren die
Freiſchärler gefangen. Sie ergaben ſich ohne
Weiteres, als ſie ſahen, daß ſie Alles gegen ſich
hatten, was hier wohnte. Wenn man im offenen
Kriege vom Reichsfeind gefangen wird, ſo iſt
das ein Unſtern wie ein anderer und kränkt den
Mann nicht tiefer; aber von ſeinen Mitbürgern
als ein gewaltthätiger politiſcher Widerſacher ge¬
fangen zu werden, iſt ſo demüthigend und krän¬
kend, als irgend etwas auf Erden ſein kann.
11*[170] Kaum waren ſie entwaffnet und von dem Volke
umringt, als alle möglichen Ehrentitel auf ſie
niederregneten: Landfriedenbrecher, Freiſchärler,
Räuber, Buben waren noch die mildeſten Aus¬
rufe, die ſie zu hören bekamen. Zudem wurden
ſie von vorn und hinten betrachtet wie wilde
Thiere und je ſolider ſie in ihrer Tracht und
Haltung ausſahen, deſto erboſter ſchienen die
Bauern darüber zu werden, daß ſolche Leute ſolche
Streiche machten.
So hatten ſie nun nichts weiter zu thun,
als zu ſtehen oder zu gehen, wo und wie man
ihnen befahl, hierhin, dorthin, wie es dem viel¬
köpfigen Souverain beliebte, welchem ſie ſein
Recht hatten nehmen wollen. Und er übte es
jetzt in reichlichem Maße aus und es fehlte nicht
an Knüffen und Püffen, wenn die Herren Ge¬
fangenen ſich trotzig zeigten oder nicht gehorchen
wollten. Jeder ſchrie ihnen eine gute Lehre zu:
»Wäret Ihr zu Hauſe geblieben, ſo brauchtet
Ihr uns nicht zu gehorchen! Wer hat Euch
hergerufen? Da Ihr uns regieren wolltet, ſo
wollen wir nun Euch auch regieren, Ihr Spitz¬
buben! Was bezieht Ihr für Gehalt für Euer
[171] Geſchäft, was für Sold für Euer Kriegsweſen?
Wo habt Ihr Eure Kriegskaſſe und wo Euren
General? Pflegt Ihr oft auszuziehen ohne
Trompeter, ſo in der Stille? Oder habt Ihr
den Trompeter heimgeſchickt, um Euren Sieg zu
verkünden? Glaubtet Ihr, die Luft in unſerm
Gebiet ſei ſchlechter als Eure, da Ihr kamet,
ſie mit Bleikugeln zu peitſchen? Habt Ihr
ſchon gefrühſtückt, Ihr Herren? Oder wollt Ihr
in's Gras beißen? Verdienen würdet Ihr es
wohl! Habt Ihr geglaubt, wir hätten hier
keinen ordentlichen Staat, wir ſtellten gar nichts
vor in unſerm Ländchen, daß Ihr da rottenweiſe
herumſtreicht ohne Erlaubniß? Wolltet Ihr
Füchſe fangen oder Kaninchen? Schöne Bun¬
desgenoſſen, die uns mit dem Schießprügel in
der Hand unſer gutes Recht ſtehlen wollen! Ihr
könnt Euch bei denen bedanken, die Euch herge¬
rufen; denn man wird Euch eine ſchöne Mahl¬
zeit anrichten! Ihr dürfet einſtweilen unſere
Zuchthauskoſt verſuchen; es iſt eine ganz ent¬
ſchiedene Majorität von geſunden Erbſen, ge¬
würzt mit dem Salze eines handlichen Straf¬
geſetzes gegen Hochverrath, und wenn Ihr Jahr
[172] und Tag geſeſſen habt, ſo wird man Euch er¬
lauben, zur Feier Eures glorreichen Einzuges
auch eine kleine Minorität von Speck zu über¬
wältigen, aber beißt Euch alsdann die Zähne
nicht daran aus! Es geht allerdings nichts
über einen guten Spaziergang und iſt zuträglich
für die Geſundheit, insbeſondere wenn man keine
regelmäßige Arbeit und Bewegung zu haben
ſcheint; aber man muß ſich doch immer in Acht
nehmen, wo man ſpazieren geht und es iſt un¬
höflich, mit dem Hut auf dem Kopf in eine
Kirche und mit dem Gewehr in der Hand in
ein friedfertiges Staatsweſen herein zu ſpazieren!
Oder habt Ihr geglaubt, wir ſtellen keinen Staat
vor, weil wir noch Religion haben und unſere
Pfaffen zu ehren belieben? Dieſes gefällt uns
einmal ſo, und wir wohnen gerade ſo lang im
Lande, als Ihr, Ihr Maulaffen, die Ihr nun
daſteht und Euch nicht zu helfen wißt!«
So tönte es unaufhörlich um ſie her, und
die Beredtſamkeit der Sieger war um ſo uner¬
ſchöpflicher, als ſie das Gleiche, deſſen ſie ihre
Gegner nun anklagten, entweder ſelbſt ſchon ge¬
than oder es jeden Augenblick zu thun bereit
[173] waren, wenn die Umſtände und die perſönliche
Rüſtigkeit es erlaubten, gleich wie ein Dieb die
beredteſte Entrüſtung verlauten läßt, wenn ein
Kleinod, das er ſelbſt geſtohlen, ihm abermals
entfremdet wird. Denn der Menſch trägt die
unbefangene Schamloſigkeit des Thieres gerade¬
wegs in das moraliſche Gebiet hinüber und ge¬
berdet ſich da im guten Glauben an das nütz¬
liche Recht ſeiner Willkür ſo naiv, wie die Hünd¬
lein auf den Gaſſen. Die gefangenen Frei¬
ſchärler mußten indeſſen alles über ſich ergehen
laſſen und waren nur bedacht, durch keinerlei
Herausforderung eine körperliche Mißhandlung
zu veranlaſſen. Dies war das Einzige, was ſie
thun konnten, und die Älteren und Erfahrenern
unter ihnen ertrugen das Übel mit möglichſtem
Humor, da ſie vorausſahen, daß die Sache nicht
ſo gefährlich abliefe, als ſie ſchien. Der Eine
oder Andere merkte ſich ein ſchimpfendes Bäuer¬
lein, das in ſeinem Laden etwa eine Senſe oder
ein Maß Kleeſamen gekauft und ſchuldig geblie¬
ben war und gedachte, demſelben ſeiner Zeit ſeine
beißenden Anmerkungen mit Zinſen zurückzugeben,
und wenn ein ſolches Bäuerlein ſolchen Blick
[174] bemerkte und den Abſender erkannte, ſo hörte es
darum nicht plötzlich auf zu ſchelten, aber richtete
unvermerkt ſeine Augen und ſeine Worte anders¬
wohin in den Haufen und verzog ſich allmälig
hinter die Front; ſo gemüthlich und ſeltſamlich
ſpielen die Menſchlichkeiten durcheinander. Fritz
Amrain aber war im höchſten Grade niederge¬
ſchlagen und troſtlos. Zwei oder drei ſeiner
Gefährten waren gefallen und lagen noch da,
andere waren verwundet und er ſah den Boden
um ſich her mit Blut gefärbt; ſein Gewehr
und ſeine Taſchen waren ihm abgenommen, rings¬
um erblickte er drohende Geſichter, und ſo war
er plötzlich aus ſeiner bedachtloſen und fieberhaf¬
ten Aufregung erwacht, der Sonnenſchein des
luſtigen Kampftages war verwiſcht und verdun¬
kelt, das luſtige Knallen der Schüſſe und die
angenehme Muſik des kurzen Gefechtlärmens
verklungen, und als nun gar endlich die Be¬
hörden oder Landesautoritäten ſich hervorthaten
aus dem Wirrſal und eine trockene geſchäftliche
Eintheilung und Abführung der Gefangenen be¬
gann, war es ihm zu Muthe, wie einem Schul¬
knaben, welcher aus einer muthwilligen Herrlich¬
[175] keit, die ihm für die Ewigkeit gegründet und
höchſt rechtmäßig ſchien, unverſehens von dem
häßlichſten Schulmeiſter aufgerüttelt und beige¬
ſteckt wird, und der nun in ſeinem Gram alles
verloren und das Ende der Welt herbeigekommen
wähnt. Er ſchämte ſich, ohne zu wiſſen vor
wem, er verachtete ſeine Feinde und war doch
in ihrer Hand. Er war begeiſtert geweſen,
gegen ſie auszuziehen, und doch waren ſie jetzt
in jeder Hinſicht in ihrem Rechte; denn ſelbſt
ihre Beſchränktheit oder ihre Dummheit war ihr
gutes rechtliches Eigenthum und es gab kein
Mandat dagegen, als dasjenige des Erfolges,
der nun leider ausgeblieben war. Die leiden¬
ſchaftlich erboſ'ten Geſichter aller dieſer bejahrten
und gefurchten Landleute, welche auf ihren ge¬
fundenen Sieg trotzten, traten ihm in ſeiner
helldunklen Troſtloſigkeit mit einer ſeltſamen Deut¬
lichkeit vor die Augen; überall, wo er durchge¬
führt wurde, gab es neue Geſichter, die er nie
geſehen, die er nicht einzeln und nicht mit Willen
anſah, und die ſich ihm dennoch ſcharf und treff¬
lich beleuchtet einprägten als eben ſo viele Vor¬
würfe, Beleidigungen und Strafgerichte. Je
[176] näher der Zug der Gefangenen der Stadt kam,
deſto lebendiger wurde es; die Stadt ſelbſt war
mit Soldaten und bewaffneten Landleuten ange¬
füllt, welche ſich um die neu befeſtigte Regierung
ſchaarten, und die Gefangenen wurden im Triumphe
durchgeführt. Von der Oppoſition, welche geſtern
noch ſo mächtig geweſen, daß ſie um die Herr¬
ſchaft ringen konnte und ſich bewegte, wie es ihr
gefiel, war nicht die leiſeſte Spur mehr zu er¬
blicken, es war eine ganz andere grobe und wider¬
ſtehende Welt, als ſich Fritz gedacht hatte, welche
ſich für unzweifelhaft und auf's Beſte begründet
ausgab, und nur verwundert ſchien, wie man ſie
irgend habe in Frage ſtellen und angreifen kön¬
nen. Denn Jeder tanzt, wenn ſeine Geige ge¬
ſtrichen wird, und wenn viele Menſchen zuſam¬
men ſich was einbilden, ſo blähet ſich eine Un¬
endlichkeit in dieſer Einbildung. Endlich aber
waren die Gefangenen in Thürmen und andern
Baulichkeiten untergebracht, die alle ſchon beſetzt
waren mit ähnlichen Unternehmungsluſtigen, und
ſo befand ſich auch Fritz hinter Schloß und Rie¬
gel und war es erklärlich, daß er nicht mit den
Seldwylern zurückgekehrt war.
[177]
Dieſe rächten ſich für ihren mißlungenen
Zug dadurch, daß ſie den ſieghaften Gegnern
auf der Stelle die abſcheulichſte und rückſichts¬
loſeſte Rachſucht zuſchrieben und daß Jeder, der
entkommen war, es als für gewiß annahm, die
Gefangenen würden erſchoſſen werden. Es gab
Leute, die ſonſt nicht ganz unklug waren, welche
allen Ernſtes glaubten und wieder ſagten, daß
die fanatiſirten Bauern gefangene Freiſchärler
zwiſchen zwei Bretter gebunden und entzweige¬
ſägt, oder auch etliche derſelben gekreuziget hätten.
Sobald Frau Regula dieſe Übertreibungen
und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor
ſie die Hälfte des Schreckens, welchen ſie zuerſt
empfunden, da die Thorheit der Leute ihren Ein¬
fluß auf die Wohlbeſtellten immer ſelbſt regulirt
und unſchädlich macht. Denn hätten die Seld¬
wyler nur etwa die Befürchtung ausgeſprochen,
die Gefangenen könnten vielleicht wohl erſchoſſen
werden nach dem Standrecht, ſo wäre ſie in
tödtlicher Beſorgniß geblieben; als man aber
ſagte, ſie ſeien entzweigeſägt und gekreuzigt,
glaubte ſie auch jenes nicht mehr. Dagegen
erhielt ſie bald einen kurzen Brief von ihrem
Keller, die Leute von Seldwyla. 12[178] Sohne, laut welchem er wirklich eingethürmt
war und ſie um die ſofortige Erlegung einer
Geldbürgſchaft bat, gegen welche er entlaſſen
würde. Mehrere Kameraden ſeien ſchon auf dieſe
Weiſe frei gegeben worden. Denn die ſieghafte
Regierung war in großen Geldnöthen und ver¬
ſchaffte ſich auf dieſe Weiſe einige willkommene
außerordentliche Einkünfte, da ſie nachher nur
die hinterlegten Summen in eben ſo viele Geld¬
bußen zu verwandeln brauchte. Frau Amrain
ſteckte den Brief ganz vergnügt in ihren Buſen
und begann gemächlich und ohne ſich zu über¬
eilen, die erforderlichen Geldmittel beizubringen
und zurecht zu legen, ſo daß wohl acht Tage
vergingen, ehe ſie Anſtalt machte, damit abzu¬
reiſen. Da kam ein zweiter Brief, welchen der
Sohn Gelegenheit gefunden heimlich abzuſchicken
und worin er ſie beſchwor, ſich ja zu eilen, da
es ganz unerträglich ſei, ſeinen Leib dergeſtalt
in der Gewalt verhaßter Menſchen zu ſehen.
Sie wären eingeſperrt wie wilde Thiere, ohne
friſche Luft und Bewegung und müßten Haber¬
muß und Erbſenkoſt aus einer hölzernen Bütte
gemeinſchaftlich eſſen mit hölzernen Löffeln. Da
[179] ſchob ſie lächelnd ihre Abreiſe noch um einige
Tage auf, und erſt als der eingepferchte That¬
kräftige volle vierzehn Tage geſeſſen, nahm ſie
ein Gefährt, packte die Erlöſungsgelder nebſt
friſcher Wäſche und guten Kleidern ein und begab
ſich auf den Weg. Als ſie aber ankam, ver¬
nahm ſie, daß eheſtens eine Amneſtie ausgeſpro¬
chen würde über alle, die nicht ausgezeichnete
Rädelsführer ſeien, und beſonders über die Frem¬
den, da man dieſe nicht unnütz zu füttern ge¬
dachte und jetzt keine eingehenden Gelder mehr
erwartete. Da wartete ſie noch zwei oder drei
Tage in einem Gaſthofe, bereit ihren Sohn jeden
Augenblick zu erlöſen, der übrigens ſeiner Ju¬
gend wegen nicht ſehr beachtet wurde. Die
Amneſtie wurde auch wirklich verkündet, da dies¬
mal die ſiegende Partei aus Sparſamkeit die
wahre Weiſe befolgte: im Siege ſelbſt, und nicht
in der Rache oder Strafe, ihr Bewußtſein und
ihre Genugthuung zu finden. So fand denn der
verzweifelte Fritz ſeine Mutter an der Pforte des
Gefängniſſes ſeiner harrend. Sie ſpeiſ'te und
tränkte ihn, gab ihm neue Kleider und fuhr mit
ihm nebſt der geretteten Bürgſchaft von dannen.
12 *[180]
Als er ſich nun wohlgeborgen und geſtärkt
neben ſeiner Mutter ſah, fragte er ſie, warum
ſie ihn denn ſo lange habe ſitzen laſſen? Sie
erwiederte kurz und ziemlich vergnügt, wie ihm
ſchien, daß das Geld eben nicht früher wäre
aufzutreiben geweſen. Er kannte aber den Stand
ihrer Angelegenheiten nur zu wohl und wußte
genau, wo die Mittel zu ſuchen und zu beziehen
waren. Er ließ alſo dieſe Ausflucht nicht gelten
und fragte abermals. Sie meinte, er möchte ſich
nur zufrieden geben, da er durch ſein Sitzen in
dem Thurme ein gutes Stück Geld verdient und
überdies Gelegenheit erhalten, eine ſchöne Erfah¬
rung zu machen. Gewiß habe er dieſen oder
jenen vernünftigen Gedanken zu faſſen die Muße
gehabt. »Du haſt mich am Ende abſichtlich
ſtecken laſſen,« erwiederte er und ſah ſie groß
an, »und haſt mir in Deinem mütterlichen Sinne
das Gefängniß förmlich zuerkannt?« Hierauf
antwortete ſie nichts, ſondern lachte laut und
luſtig in dem rollenden Wagen, wie er ſie noch
nie lachen geſehen. Als er hierauf nicht wußte,
welches Geſicht er machen ſollte und ſeltſam die
Naſe rümpfte, umhalſ'te ſie ihn noch lauter
[181] lachend und gab ihm einen Kuß. Er ſagte aber
kein Wort mehr, und es zeigte ſich von nun an,
daß er in dem Gefängniß in der That etwas
gelernt habe.
Denn er hielt ſich in ſeinem Weſen jetzt
viel ernſter und geſchloſſener zuſammen und ge¬
rieth nie wieder in Verſuchung, durch eine
unrechtmäßige oder leichtſinnige Thatluſt eine Ge¬
walt herauszufordern und ſeine Perſon in ihre
Hand zu geben zu ſeiner Schmach und niemand
zum Nutzen. Er nahm ſich nicht gerade vor,
nie mehr auszuziehen, da die Ereigniſſe nicht
zum Voraus gezählt werden können und Niemand
ſeinem Blut gebieten kann, ſtille zu ſtehn, wenn
es raſcher fließt, aber er war nun ſicher vor
jeder nur äußerlichen und unbedachten Kampfluſt.
Dieſe Erfahrung wirkte überhaupt dermaßen auf
den jungen Mann, daß er mit verdoppeltem
Fortſchritt an Tüchtigkeit in allen Dingen zuzu¬
nehmen ſchien, und den Dingen ſchon mit voller
Männlichkeit vorſtand, als er kaum zwanzig Jahre
alt war. Frau Amrain gab ihm desnahen nun
die junge Frau, welche er wünſchte, und nach
Verlauf eines Jahres, als er bereits ein kleines
[182] hübſches Söhnchen beſaß, war er zwar immer
wohlgemuth, aber um ſo ernſthafter und gemeſ¬
ſener in ſeinen fleißigen Geſchäften, als ſeine
Frau luſtig, voll Gelächter und guter Dinge
war; denn es gefiel ihr über die Maßen in
dieſem Hauſe und ſie kam vortrefflich mit ihrer
Schwiegermutter aus, obgleich ſie von dieſer ver¬
ſchieden und wieder eine andere Art von gutem
Charakter war.
So ſchien nun das Erziehungswerk der Frau
Regula auf das beſte gekrönt und der Zukunft
mit Ruhe entgegen zu ſehen; denn auch die
beiden älteren Söhne, welche zwar trägen We¬
ſens aber ſonſt gutartig waren, hatte ſie hinter
dem wackeren Fritz her leidlich durchgeſchleppt
und als dieſelben herangewachſen, die Vorſicht
gebraucht, ſie in anderen Städten in die Lehre
zu geben, wo ſie denn auch blieben und ihr
ferneres Leben begründeten als ziemlich bequem¬
liche aber ſonſt ordentliche Menſchen, von denen
nachher ſo wenig zu ſagen war, wie vorher.
Fritz aber, da er bereits ein würdiger Fa¬
milienvater war, mußte doch noch ein Mal in die
Schule genommen werden von der Mutter, und
[183] zwar in einer Sache, um die ſich manche Mutter
vom gemeinen Schlage wenig bekümmert hätte.
Der Sohn war ungefähr zwei Jahre ſchon ver¬
heirathet, als das Ländchen, welchem Seldwyla
angehörte, ſeinen oberſten maßgebenden Rath neu
zu beſtellen und deshalben die vierjährigen Wah¬
len vorzunehmen hatte, in Folge deren denn
auch die verwaltenden und richterlichen Behörden
beſtellt wurden. Bei den letzten Hauptwahlen
war Fritz noch nicht ſtimmfähig geweſen und es
war jetzt das erſte Mal, wo er dergleichen bei¬
wohnen ſollte. Es war aber eine große Stille
im Lande. Die Gegenſätze hatten ſich einiger¬
maßen ausgeglichen und die Parteien an einander
abgeſchliffen; es wurde in allen Ecken fleißig
gearbeitet, man lichtete die alten Winkeleien in
der Geſetzſammlung und machte fleißig neue,
gute und ſchlechte, bauete öffentliche Werke, übte
ſich in einer geſchickten Verwaltung ohne Unbe¬
ſonnenheit, doch auch ohne Zopf, und ging dar¬
auf aus, Jeden an ſeiner Stelle zu verwenden,
die er verſtand und treulich verſah, und endlich
gegen Jedermann artig und gerecht zu ſein, der
es in ſeiner Weiſe gut meinte und ſelbſt kein
[184] Zwinger und Haſſer war. Dies alles war nun
den Seldwylern höchſt langweilig, da bei ſolcher
ſtillgewordenen Entwickelung keine Aufregung
Statt fand. Denn Wahlen ohne Aufregung,
ohne Vorverſammlungen, Zechgelage, Reden, Auf¬
rufe, ohne Umtriebe und heftige ſchwankende Kri¬
ſen, waren ihnen ſo gut wie gar keine Wahlen,
und ſo war es diesmal entſchieden ſchlechter Ton
zu Seldwyla, von den Wahlen nur zu ſprechen,
wogegen ſie ſehr beſchäftigt thaten mit Errichtung
einer großen Aktienbierbrauerei und Anlegung
einer Aktienhopfenpflanzung, da ſie plötzlich auf
den Gedanken gekommen waren, eine ſolche ſtatt¬
liche Bieranſtalt mit weitläufigen guten Kelle¬
reien, Trinkhallen und Terraſſen würde der Stadt
einen neuen Aufſchwung geben und dieſelbe be¬
rühmt und vielbeſucht machen. Fritz Amrain
nahm an dieſen Beſtrebungen eben keinen An¬
theil, allein er kümmerte ſich auch wenig um die
Wahlen, ſo ſehr er ſich vor vier Jahren geſehnt
hatte, daran Theil zu nehmen. Er dachte ſich,
da alles gut ginge im Lande, ſo ſei kein Grund,
den öffentlichen Dingen nachzugehen, und die
Maſchine würde deswegen nicht ſtille ſtehen, wenn
[185] er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem,
an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht
betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen
Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,
den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen
höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬
begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt
gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun
angenommen, für unerträglich und unverſchämt,
und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es
daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf,
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬
lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬
tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er
auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige
[186] Beredtſamkeit beſitzen in einer Sache, die es ſel¬
ber nicht viel kümmerte, oder mochte der junge
Mann nicht geſonnen ſein, ſich in ihr eine neue
Erzieherin zu nähren und groß zu ziehen, genug
er ging an dem betreffenden Morgen in aller
Frühe in ſeinen Steinbruch hinaus und ſchaffte
dort in der warmen Maiſonne ſo eifrig und
ernſthaft herum, als ob an dieſem einen Tage
noch alle Arbeit der Welt abgethan werden müßte
und nie wieder die Sonne aufginge hernach.
Da ward ſeine Mutter ungehalten und ſetzte
ihren Kopf darauf, daß er dennoch in die Kirche
gehen müſſe; und ſie band ihre immer noch
glänzend ſchwarzen Zöpfe auf, nahm einen brei¬
ten Strohhut darüber und Fritzens Rock und
Hut an den Arm und wanderte raſch hinter das
Städtchen hinaus, wo der weitläufige Steinbruch
an der Höhe lag. Als ſie den langen krummen
Fahrweg hinan ſtieg, auf welchem die Steinlaſten
herabgebracht wurden, bemerkte ſie, wie tief der
Bruch ſeit zwanzig Jahren in den Berg hinein
gegangen, und überſchlug das unzweifelhafte gute
Erbthum, das ſie erworben und zuſammengehal¬
ten. Auf verſchiedenen Abſtufungen hämmerten
[187] zahlreiche Arbeiter, welchen Fritz längſt ohne
Werkführer vorſtand, und zu oberſt, wo grünes
Buchenholz die friſchen weißen Brüche krönte,
erkannte ſie ihn jetzt ſelbſt an ſeinem weißeren
Hemde, da er Weſte und Jacke weggeworfen,
wie er mit einem Trüppchen Leute die Köpfe
zuſammenſteckte über einem Punkte. Gleichzeitig
aber ſah man ſie und rief ihr zu, ſich in
Acht zu nehmen. Sie duckte ſich unter einen
Felſen, worauf in der Höhe nach einer klei¬
nen Stille ein ſtarker Schlag erfolgte und
eine Menge kleiner Steine und Erde rings her¬
nieder regneten. »Da glaubt er nun, ſagte ſie
zu ſich ſelbſt, was er für Heldenwerk verrichtet,
wenn er hier Steine gen Himmel ſprengt, ſtatt
ſeine Pflicht als Bürger zu thun!« Als ſie
oben ankam und verſchnaufte, ſchien er, nachdem
er flüchtig auf den Rock und Hut geſchielt, den
ſie trug, ſie nicht zu bemerken, ſondern unter¬
ſuchte eifrig die Löcher, die er eben geſprengt,
und fuhr mit dem Zollſtock an den Steinen
herum. Als er ſie aber nicht mehr vermeiden
konnte, ſagte er: »Guten Tag, Mutter! Spa¬
ziereſt ein wenig? Schön iſt das Wetter dazu!«
[188] und wollte ſich wieder wegmachen. Sie ergriff
ihn aber bei der Hand und führte ihn etwas
zur Seite, indem ſie ſagte: »Hier habe ich Dir
Rock und Hut gebracht, nun thu' mir den Ge¬
fallen und geh' zu den Wahlen! Es iſt ein
wahrer Skandal, wenn Niemand geht aus der
Stadt!«
»Das fehlte auch noch, erwiederte Fritz un¬
geduldig, jetzt abermals bei dieſem Wetter, in
der langweiligen Kirche zu ſitzen und Stimm¬
zettel umherzubieten. Natürlich wirſt Du dann
für den Nachmittag ſchon irgend ein Leichenbe¬
gängniß in Bereitſchaft haben, wo ich wieder
mithumpeln ſoll, damit der Tag ja ganz ver¬
ſchleudert werde! Daß ihr Weibsleute Unſer¬
einen immer an Begräbniſſe und Kindertaufen
hinſpedirt, iſt begreiflich; daß ihr euch aber ſo
ſehr um die Politik bekümmert, iſt mir ganz
etwas Neues!«
»Schande genug, ſagte ſie, daß die Frauen
euch vermahnen ſollen, zu thun, was ſich gebührt
und was eine verſchworne Pflicht und Schul¬
digkeit iſt!«
»Ei ſo thue doch nicht ſo, erwiederte Fritz,
[189] ſeit wann wird denn der Staat ſtille ſtehn,
wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und
ſeit wann iſt es denn nöthig, daß ich gerade
überall dabei bin?
»Dies iſt keine Beſcheidenheit, die dies ſagt,
antwortete die Mutter, dies iſt vielmehr ver¬
borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß
ihr müßt dabei ſein, wenn es irgend darauf
ankäme, und nur weil ihr den gewohnten ſtillen
Gang der Dinge verachtet, ſo haltet ihr euch
für zu gut, dabei zu ſein!«
»Es iſt aber in der That lächerlich, allein
dahin zu gehen, ſagte Fritz, jedermann ſieht Ei¬
nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬
chenmaus zu ſehen iſt.«
Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬
wiederte: »Es genügt nicht, daß Du unterlaſſeſt,
was Du an den Seldwylern lächerlich findeſt!
Du mußt außerdem noch thun grade, was ſie
für lächerlich halten; denn was dieſen Eſeln ſo
vorkommt, iſt gewiß etwas Gutes und Vernünf¬
tiges! Man kennt die Vögel an den Federn,
ſo die Seldwyler an dem, was ſie für lächerlich
halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei
[190] allen ſchlechten Geſchichten, eitlen Vergnügungen
und Dummheiten, bei allem Gevatter- und Ge¬
ſchnatterweſen befleißigt man ſich der größten
Pünktlichkeit; aber alle vier Jahre ein Mal ſich
pünktlich und vollzählig zu einer Wahlhandlung
einzufinden, welche die Grundlage unſers ganzen
öffentlichen Weſens und Regimentes iſt, das ſoll
langweilig, unausſtehlich und lächerlich ſein!
das ſoll in dem Belieben und in der Bequem¬
lichkeit jedes Einzelnen ſtehen, der immer nach
ſeinem Rechte ſchreit, aber ſobald dies Recht nur
ein Bischen auch nach Pflicht riecht, ſein Recht
darin ſucht, keines zu üben! Wie, ihr wollt
einen freien Staat vorſtellen und ſeid zu faul,
alle vier Jahre einen halben Tag zu opfern,
einige Aufmerkſamkeit zu bezeigen und eure Zu¬
friedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Regi¬
ment, das ihr vertragsmäßig eingeſetzt, zu offen¬
baren? Sagt nicht, daß ihr immer da wäret,
wenn es ſein müßte! Wer nur da iſt, wenn es
ihn beluſtigt und ſeine Leidenſchaft kitzelt, der
wird einmal ausbleiben und ſich eine Naſe dre¬
hen laſſen, grade wenn er am wenigſten daran
denkt.
[191]
»Jeder Arbeiter iſt ſeines Lohnes werth,
und ſo auch der, welcher für das Wohl des
Landes arbeitet und deſſen öffentliche Dinge be¬
ſorgt, die in jedem Hauſe in Einrichtungen und
Geſetzen auf das Tiefſte eingreifen. Schon die
alleräußerlichſte Artigkeit und Höflichkeit gegen
die betrauten Männer erforderte es, wenigſtens
an dieſem Tage ſich vollzählig einzufinden, damit
ſie ſehen, daß ſie nicht in der Luft ſtehen. Der
Anſtand vor den Nachbaren und das Beiſpiel
für die Kinder verlangen es ebenfalls, daß dieſe
Handlung mit Kraft und Würde begangen wird,
und da finden es dieſe Helden unbequem und
lächerlich, die gleichen, welche täglich die größte
Pünktlichkeit inne halten, um einer Kegelpartie
oder einer nichtsſagenden aberwitzigen Geſchichte
beizuwohnen.
»Wie, wenn nun die ſämmtlichen Behörden,
über ſolche Unhöflichkeit erbittert, euch den Sack
vor die Thür würfen und auf einmal abtreten
würden? Sag' nicht, daß dies nie geſchehen
werde! Es wäre doch immer möglich, und als¬
dann würde eure Selbſtherrlichkeit daſtehen, wie
die Butter an der Sonne; denn nur durch gute
[192] Gewöhnung, Ordnung und regelrechte Ablöſung
oder kräftige Beſtätigung iſt in Friedenszeiten
dieſe Selbſtherrlichkeit zu brauchen und bemerk¬
lich zu machen. Wenigſtens iſt es die allerver¬
kehrteſte Anwendung oder Offenbarung derſelben,
ſich gar nicht zu zeigen, warum? weil es ihr
ſo beliebt!«
»Nimm mir nicht übel, das ſind Kindesge¬
danken und Weibernücken; wenn ihr glaubt, daß
ſolche Aufführung euch wohl anſtehe, ſo ſeid ihr
im Irrthum. Aber ihr beneidet euch ſelbſt um
die Ruhe und um den Frieden, und damit die
Dinge, obgleich ihr nichts dagegen einzuwenden
wißt, und nur auf alle Fälle hin, ſo in's Blaue
hinein ſchlecht begründet erſcheinen, ſo wählt ihr
nicht oder überlaßt die Handlung den Nacht¬
wächtern, damit, wie geſagt, vorkommenden Falls
von eurem Neſte Seldwyl ausgeſchrieen werden
könne, die öffentliche Gewalt habe keinen feſten
Fuß im Volke. Bübiſch iſt aber dieſes und es
iſt gut, daß eure Macht nicht weiter reicht, als
eure lotterige Stadtmauer!«
»Ihr und immer Ihr! ſagte Fritz ungehal¬
ten, was hab' ich denn mit dieſen Leuten zu
[193] ſchaffen? Wenn dieſelben ſolche elende Launen
und Beweggründe haben, was geht das mich an?«
»Gut denn, rief Frau Regel, ſo benimm
Dich auch anders als ſie in dieſer Sache und
geh' zu den Wahlen!«
»Damit, wandte ihr Sohn lächelnd ein,
man außerhalb ſage, der einzige Seldwyler, wel¬
cher denſelben beigewohnt, ſei noch von den
Weibern hingeſchickt worden?«
Frau Amrain legte ihre Hand auf ſeine
Schulter und ſagte: »Wenn es heißt, daß
Deine Mutter Dich hingeſchickt habe, ſo bringt
Dir dies keine Schande und mir bringt es Ehre,
wenn ein ſolcher tüchtiger Geſell ſich von ſeiner
Mutter ſchicken läßt! Ich würde wahrhaftig
ſtolz darauf ſein und Du kannſt mir am Ende
den kleinen Gefallen zu meinem Vergnügen er¬
weiſen, nicht ſo?«
Fritz wußte hiergegen nichts mehr vorzubrin¬
gen und zog den Rock an und ſetzte den Bür¬
gerhut auf. Als er mit der trefflichen Frau
den Berg hinunterging, ſagte er: »Ich habe
Dich in meinem Leben nie ſo viel politiſiren
Keller, die Leute von Seldwyla. 13[194] hören, wie ſo eben, Mutter! Ich habe Dir ſo
lange Reden gar nicht zugetraut!«
Sie lachte, erwiederte dann aber ernſthaft:
Was ich geſagt, iſt eigentlich weniger politiſch ge¬
meint, als gut hausmütterlich. Wenn Du nicht be¬
reits Frau und Kind hätteſt, ſo würde es mir
vielleicht nicht eingefallen ſein, Dich zu überreden;
ſo aber, da ich ein wohl erhaltenes Haus von
meinem Geblüte in Ausſicht ſehe, ſo halte ich
es für ein gutes Erbtheil ſolchen Hauſes, wenn
darin in allen Dingen das rechte Maß gehalten
wird. Wenn die Söhne eines Hauſes bei Zei¬
ten ſehen und lernen, wie die öffentlichen Dinge
auf rechte Weiſe zu ehren ſind, ſo bewahrt ſie
vielleicht grade dies vor unrechten und unbeſon¬
nenen Dingen. Ferner, wenn ſie das Eine ehren
und zuverläſſig thun, ſo werden ſie es auch mit
dem Andern ſo halten, und ſo ſiehſt Du, habe
ich am Ende nur als fürſichtige häusliche Gro߬
mutter gehandelt, während man ſagen wird, ich
ſei die ärgſte alte Kannegießerin!«
In der Kirche fand Fritz ſtatt einer Zahl
von ſechs oder ſieben hundert Männern kaum
deren vier Dutzend, und dieſe waren beinahe
[195] ausſchließlich Landleute aus umliegenden Gehöf¬
ten, welche mit den Seldwylern zu wählen hat¬
ten. Dieſe Landleute hätten zwar auch eine
ſechs mal ſtärkere Zahl zu ſtellen gehabt; aber
da die Ausgebliebenen wirklich im Schweiße ihres
Angeſichts auf den Feldern arbeiteten, ſo war
ihr Wegbleiben mehr eine harmloſe Gedanken¬
loſigkeit und ein bäuerlicher Geiz mit dem ſchö¬
nen Wetter, und da ſie einen weiten Weg zu
machen hatten, erſchien das Daſein der Anwe¬
ſenden um ſo löblicher. Aus der Stadt ſelbſt
war Niemand da als der Gemeindepräſident,
die Wahlen zu leiten, der Gemeindeſchreiber, das
Protokoll zu führen, dann der Nachtwächter und
zwei oder drei arme Teufel, welche kein Geld
hatten, um mit den lachenden Seldwylern den
Frühſchoppen zu trinken. Der Herr Präſident
aber war ein Gaſtwirth, welcher vor Jahren
ſchon fallirt hatte und ſeither die Wirthſchaft
auf Rechnung ſeiner Frau fortbetrieb. Hierin
wurde er von ſeinen Mitbürgern reichlich unter¬
ſtützt, da er ganz ihr Mann war, das große
Wort zu führen wußte und bei allen Händeln
als ein erfahrner Wirth auf dem Poſten war
13 *[196] Daß er aber in Amt und Würden ſtand und
hier den Wahlen präſidirte, gehörte zu jenen
Sünden der Seldwyler, die ſich zeitweiſe ſo
lange anhäuften, bis ihnen die Regierung mit
einer Unterſuchung auf den Leib rückte. Die
Landleute wußten theilweiſe wohl, daß es nicht
ganz richtig war mit dieſem Präſidenten, allein
ſie waren viel zu langſam und zu häcklich, als
daß ſie etwas gegen ihn unternommen hätten,
und ſo hatte er ſich bereits in einem Handum¬
drehen mit ſeinen drei oder vier Mitbürgern
das Geſchäft des Tages zugeeignet, als Fritz
ankam. Dieſer, als er das Häuflein rechtlicher
Landleute ſah, freute ſich, wenigſtens nicht ganz
allein da zu ſein, und es fuhr plötzlich ein un¬
ternehmender Geiſt in ihn, daß er unverſehens
das Wort verlangte und gegen den Präſidenten
proteſtirte, da derſelbe fallirt und bürgerlich
todt ſei.
Dies war ein Donnerſchlag aus heiterm
Himmel. Der anſehnliche Gaſtwirth machte ein
Geſicht, wie Einer der tauſend Jahre begraben
lag und wieder auferſtanden iſt; jedermann ſah
ſich nach dem kühnen Redner um; aber die Sache
[197] war ſo kindlich einfach, daß auch nicht ein Laut
dagegen ertönen konnte, in keiner Weiſe; nicht
die leiſeſte Diskuſſion ließ ſich eröffnen. Je
unerhörter und unverhoffter das Ereigniß war,
um ſo begreiflicher und natürlicher erſchien es
jetzt, und je begreiflicher es erſchien, um ſo zor¬
niger und empörter waren die paar Seldwyler
grade über dieſe Begreiflichkeit, über ſich ſelbſt,
über den jungen Amrain, über die heimtückiſche
Trivialität der Welt, welche das unſcheinbarſte
und naheliegendſte ergreift, um Große zu ſtür¬
zen und die Verhältniſſe umzukehren. Der Herr
Präſident Uſurpator ſagte nach einer minutenlan¬
gen Verblüffung, nach welcher er wieder ſo klug
wie zu Anfang war, gar nichts, als: Wenn —
wenn man gegen meine Perſon Einwendungen —
allerdings, ich werde mich nicht aufdringen, ſo
erſuche ich die geehrte Verſammlung, zu einer
neuen Wahl des Präſidenten zu ſchreiten und
die Stimmenzähler, die betreffenden Stimmzettel
auszutheilen. —
»Ihr habt überhaupt weder etwas vorzu¬
ſchlagen hier, noch den Stimmenzählern etwas
aufzutragen!« rief Fritz Amrain, und dem großen
[198] Magnaten und Gaſtwirth blieb nichts anders
übrig, als das Unerhörte abermals ſo begreiflich
zu finden, daß es an's Triviale gränzte, und ohne
ein Wort weiter zu ſagen verließ er die Kirche,
gefolgt von dem beſtürzten Nachtwächter und den
andern Lumpen. Nur der Schreiber blieb, um
das Protokoll weiter zu führen und Fritz Am¬
rain begab ſich in deſſen Nähe und ſah ihm
auf die Finger. Die Bauern aber erholten ſich
endlich aus ihrer Verwunderung und benutzten
die Gelegenheit, das Wahlgeſchäft raſch zu been¬
den und ſtatt der bisherigen zwei Mitglieder zwei
tüchtige Männer aus ihrer Gegend zu wählen,
die ſie ſchon lange gerne im Rathe geſehen, wenn
die Seldwyler ihnen irgend Raum gegönnt hät¬
ten. Dies lag nun am wenigſten im Plane
der nichterſchienenen Seldwyler, denn ſie hatten
ſich doch gedacht, daß ihr Präſident und der
Nachtwächter unfehlbar die alten zwei Popanze
wählen würden, wie es auch ausgemacht war
in einer flüchtigen Viertelſtunde in irgend einem
Hinterſtübchen. Wie erſtaunten ſie daher, als
ſie nun, durch den heimgeſchickten falſchen Präſi¬
denten aufgeſchreckt, in hellen Haufen daher
[199] gerannt kamen und das Protokoll rechtskräftig
geſchloſſen fanden ſammt deſſen Reſultat. Ruhig
lächelnd gingen die Landleute auseinander; Fritz
Amrain aber, welcher nach ſeiner Behauſung
ſchritt, wurde von den Bürgern aufgebracht,
verlegen und wild höhniſch betrachtet, mit hal¬
bem Blicke oder mit weit aufgeſperrten Augen.
Der Eine rief ein abgebrochenes Ha! der Andere
ein Ho! Fritz fühlte, daß er jetzt zum erſten
Male wirkliche Feinde habe, und zwar gefähr¬
licher als jene, gegen welche er einſt mit Blei
und Pulver ausgezogen. Auch wußte er, da er
ſo unerbittlich über einen Mann gerichtet, der
zwanzig Jahre älter war als er, daß er ſich
nun doppelt wehren müſſe, ſelber nicht in die
Grube zu fallen und ſo hatte das Leben nun
wieder ein ganz anderes Geſicht für ihn, als es
noch vor zwei Stunden gehabt. Mit ernſten
Gedanken trat er in ſein Haus und gedachte,
um ſich aufzuheitern, ſeine Mutter zu prüfen,
ob ihr dieſe Wendung der Dinge auch genehm
ſei, da ſie ihn allein veranlaßt hatte, ſich in die
Gefahr zu begeben.
Allein da er den Hausflur betrat, kam ihm
[200] ſeine Mutter entgegen, fiel ihm weinend um den
Hals und ſagte nichts, als: Dein Vater iſt
wiedergekommen! Da ſie aber ſah, daß ihn die¬
ſer Bericht noch verlegener und ungewiſſer machte,
als ſie ſelbſt war, faßte ſie ſich, nachdem ſie den
Sohn an ſich gedrückt, und ſagte: Nun, er ſoll
uns nichts anhaben! Sei nur freundlich gegen
ihn, wie es einem Kinde zukommt! So hatten
ſich in der That die Dinge abermals verändert;
noch vor wenig Augenblicken, da er auf der
Straße ging, ſchien es ihm höchſt bedenklich, ſich
eine ganze Stadt verfeindet zu wiſſen, und jetzt,
was war dies Bedenken gegen die Lage, urplötz¬
lich ſich einem Vater gegenüber zu ſehen, den er
nie gekannt, von dem er nur wußte, daß er ein
eitler, wilder und leichtſinniger Mann war, der
zudem die ganze Welt durchzogen während zwan¬
zig Jahren und nun weiß der Himmel welch'
ein fremdartiger und erſchrecklicher Cumpan ſein
mochte. »Wo kommt er denn her? was will er,
wie ſieht er denn aus, was will er denn? ſagte
Fritz, und die Mutter erwiederte: »Er ſcheint
irgend ein Glück gemacht und was erſchnappt
zu haben und nun kommt er mit Geberden
[201] dahergefahren, als ob er uns in Gnaden auf¬
freſſen wollte! Fremd und wild ſieht er aus,
aber er iſt der Alte, das hab' ich gleich geſehen.«
Fritz war aber jetzt doch neugierig und ging
feſten Schrittes die Treppe hinauf und auf die
Wohnſtube zu, während die Mutter in die Küche
huſchte und auf einem andern Wege faſt gleich¬
zeitig in die Stube trat; denn das dünkte ſie
nun der beſte Lohn und Triumph für alle Müh¬
ſal, zu ſehen, wie ihrem Manne der eigne Sohn,
den ſie erzogen, entgegentrat. Als Fritz die
Thür öffnete und eintrat, ſah er einen großen
ſchweren Mann am Tiſche ſitzen, der ihm wohl
er ſelbſt zu ſein ſchien, wenn er zwanzig Jahre
älter wäre. Der Fremde war fein aber unor¬
dentlich gekleidet, hatte etwas Ruhigtrotziges in
ſeinem Weſen und doch etwas Unſtätes in ſei¬
nem Blicke, als er jetzt aufſtand und ganz er¬
ſchrocken ſein junges Ebenbild eintreten ſah, hoch
aufgerichtet und nicht um eine Linie kürzer, als
er ſelbſt. Aber um das Haupt des Jungen
wehten ſtarke goldne Locken, und während ſein
Angeſicht eben ſo ruhig trotzig drein ſah, wie
das des Alten, erröthete er bei aller Kraft doch
[202] in Unſchuld und Beſcheidenheit. Als der Alte
ihn mit der verlegenen Unverſchämtheit der Zer¬
fahrenen anſah und ſagte: So wirſt Du alſo
mein Sohn ſein? ſchlug der Junge die Augen
nieder und ſagte: Ja, und Ihr ſeid alſo mein
Vater? Es freut mich, Euch endlich zu ſehen!
Dann ſchaute er neugierig empor und betrachtete
gutmüthig den Alten; als dieſer aber ihm nun
die Hand gab und die ſeinige mit einem prah¬
leriſchen Druck ſchüttelte, um ihm ſeine große
Kraft und Gewalt anzukünden, erwiederte der
Sohn unverweilt dieſen Druck, ſo daß die Ge¬
walt wie ein Blitz in den Arm des Alten zu¬
rückſtrömte und den ganzen Mann gelinde er¬
ſchütterte. Als aber vollends der Junge nun
mit ruhigem Anſtand den Alten zu ſeinem Stuhle
zurückführte und ihn mit freundlicher Beſtimmt¬
heit zu ſitzen nöthigte, da ward es dem Zurück¬
gekehrten ganz wunderlich zu Muth, ein ſolch
wohlgerathenes Ebenbild vor ſich zu ſehen, das
er ſelbſt und doch wieder ganz ein anderer war.
Frau Regula ſprach beinahe kein Wort und er¬
griff den klugen Ausweg, den Mann auf ſeine
Weiſe zu ehren, indem ſie ihn reichlich bewirthete
[203] und ſich mit dem Vorweiſen und Einſchenken ihres
beſten Weines zu ſchaffen machte. Dadurch
wurde ſeine Verlegenheit, als er ſo zwiſchen
ſeiner Frau und ſeinem Sohne ſaß, etwas ge¬
mildert, und das Loben des guten Weines gab
ihm Veranlaſſung, die Vermuthung auszuſprechen,
daß es alſo mit ihnen gut ſtehen müſſe, wie er
zu ſeiner Befriedigung erſehe, was denn den
beſten Übergang gab zu der Auseinanderſetzung
ihrer Verhältniſſe Frau und Sohn ſuchten nun
nicht ängſtlich zurückzuhalten und heimlich zu
thun, ſondern ſie legten ihm offen den Stand
ihres Hauſes und ihres Vermögens dar; Fritz
holte die Bücher und Papiere herbei und wies
ihm die Dinge mit ſolchem Verſtand und Klar¬
heit nach, daß er erſtaunt die Augen aufſperrte
über die gute Geſchäftsführung und über die
Wohlhabenheit ſeiner Familie. Indeſſen reckte
er ſich empor und ſprach: Da ſteht Ihr ja
herrlich im Zeuge und habt Euch gut gehalten,
was mir lieb iſt. Ich komme aber auch nicht
mit leeren Händen und habe mir einen Pfennig
erworben, durch Fleiß und Rührigkeit! Und er
zog einige Wechſelbriefe hervor, ſo wie einen mit
[204] Gold angefüllten Gurt, was er alles auf den
Tiſch warf, und es waren allerdings einige tau¬
ſend Gulden oder Thaler. Allein er hatte ſie
nicht nach und nach erworben und verſchwieg
weislich, daß er dieſe Habe auf einmal durch
irgend einen Glücksfall erwiſcht, nachdem er ſich
lange genug ärmlich herumgetrieben in allen
nordamerikaniſchen Staaten. »Dies wollen wir,
ſagte er, nun ſogleich in das Geſchäft ſtecken
und mit vereinten Kräften weiter ſchaffen; denn
ich habe eine ordentliche Luſt, hier, da es nun
geht, wieder an's Zeug zu gehen und den Hun¬
den etwas vorzuſpielen, die mich damals fortge¬
trieben.« Sein Sohn ſchenkte ihm aber ruhig
ein anderes Glas Wein ein und ſagte: Vater,
ich wollte Euch rathen, daß Ihr vor der Hand
Euch ausruhet und es Euch wohl ſein laſſet.
Eure Schulden ſind längſt bezahlt und ſo könnet
Ihr Euer Geldchen gebrauchen wie es Euch gut
dünkt und ohne dies ſoll es Euch an nichts bei
uns fehlen! Was aber das Geſchäft betrifft,
ſo habe ich ſelbiges von Jugend auf gelernt und
weiß nun, woran es lag, daß es Euch damals
mißlang. Ich muß aber freie Hand darin ha¬
[205] ben, wenn es nicht abermals rückwärts gehen
ſoll. Wenn es Euch Luſt macht hie und da ein
wenig mitzuhelfen und Euch die Sache anzuſehen,
ſo iſt es zu Eurem Zeitvertreib hinreichend, daß
Ihr es thut. Wenn Ihr aber nicht nur mein
Vater, ſondern ſogar ein Engel vom Himmel
wäret, ſo würde ich Euch nicht zum förmlichen
Antheilhaber annehmen, weil Ihr das Werk
nicht gelernt habt und, verzeiht mir meine Un¬
höflichkeit, nicht verſteht!« Der Alte wurde
durch dieſe Rede höchſt verſtimmt und verlegen,
wußte aber nichts darauf zu erwiedern, da ſie
mit großer Beſtimmtheit geſprochen war, und er
ſah, daß ſein Sohn wußte was er wollte. Er
packte ſeine Reichthümer zuſammen und ging aus,
ſich in der Stadt umzuſehen. Er ging in ver¬
ſchiedene Wirthshäuſer, allein er fand da ein
neues Geſchlecht an der Tagesordnung und ſeine
alten Genoſſen waren alle längſt in die Dunkel¬
heit zurückgetreten. Zudem hatte er in Amerika
doch etwas andere Manieren bekommen. Er
hatte ſich gewöhnen müſſen, ſein Gläschen ſte¬
hend zu trinken, um unverweilt dem Drange
[206] und der einſilbigen Jagd des Lebens wieder nach¬
zugeben; er hatte ein tüchtiges raſtloſes Arbeiten
wenigſtens mit angeſehen und ſich unter den
Amerikanern ein wenig abgerieben, ſo daß ihm
dieſe ewige Sitzerei und Schwatzerei nun ſelbſt
nicht mehr zuſagte. Er fühlte, daß er in ſei¬
nem wohlbeſtellten Hauſe doch beſſer aufgehoben
wäre, als in dieſen Wirthshäuſern und kehrte
unwillkürlich dahin zurück, ohne zu wiſſen, ob
er dort bleiben oder wieder fortgeben ſolle?
So ging er in die Stube die man ihm einge¬
räumt ; dort warf der alternde Mann ſeine Baar¬
ſchaft unmuthig in einen Winkel, ſetzte ſich ritt¬
lings auf einen Stuhl, ſenkte den großen be¬
trübten Kopf auf die Lehne und fing ganz bit¬
terlich an zu weinen. Da trat ſeine Frau her¬
ein, ſah, daß er ſich elend fühlte und mußte
ſein Elend achten. So wie ſie aber wieder et¬
was an ihm achten konnte, kehrte ihre Liebe au¬
genblicklich zurück. Sie ſprach nicht mit ihm,
blieb aber den übrigen Theil des Tages in der
Kammer, ordnete erſt dies und jenes zu ſeiner
Bequemlichkeit und ſetzte ſich endlich mit ihrem
[207] Strickzeug ſchweigend an's Fenſter, indem ſich
erſt nach und nach ein Geſpräch zwiſchen den
lange getrennten Eheleuten entwickelte. Was ſie
geſprochen, wäre ſchwer zu ſchildern, aber es
ward Beiden wohler zu Muth und der alte
Herr ließ ſich von da an von ſeinem wohlerzo¬
genen Sohne nachträglich noch ein Bischen er¬
ziehen und leiten ohne Widerrede und ohne daß
der Sohn ſich eine Unkindlichkeit zu Schulden
kommen ließ. Aber der ſeltſame Kurſus dauerte
nicht einmal ſehr lange, und der Alte ward doch
noch ein gelaſſener und zuverläſſiger Theilnehmer
an der Arbeit, mit manchen Ruhepunkten und
kleinen Abſchweifungen, aber ohne dem blühenden
Hausſtande Nachtheile oder Unehre zu bringen.
Sie lebten alle zufrieden und wohlbegütert und
das Geblüt der Frau Regula Amrain wucherte
ſo kräftig in dieſem Hauſe, daß auch die zahl¬
reichen Kinder des Fritz vor dem Untergang ge¬
ſichert blieben. Sie ſelbſt ſtreckte ſich, als ſie
ſtarb, im Tode noch ſtolz aus, und noch nie
ward ein ſo langer Frauenſarg in die Kirche
getragen und der eine ſo edle Leiche barg zu
[208] Seldwyla. Das Beſte an ihrem Charakter, von
ihren Meinungen und Reden aber iſt, daß die¬
ſelben durchaus nicht etwa [erfunden], ſondern in
einer wirklich lebendigen Frau begründet gewe¬
ſen ſind.
[209]
Romeo und Julia auf dem Dorfe.
Auch dieſe Geſchichte zu erzählen, würde
eine müſſige Erfindung ſein, wenn ſie nicht auf
einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweiſe,
wie tief im Menſchenleben jede der ſchönen Fa¬
beln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk
gegründet iſt. Die Zahl ſolcher Fabeln iſt mäßig,
gleich der Zahl der Metalle, aber ſie ereignen
ſich immer wieder auf's Neue mit veränderten
Umſtänden und in der wunderlichſten Verkleidung.
An dem ſchönen Fluſſe, der eine halbe
Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt
ſich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert ſich,
ſelber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene.
Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches
manche große Bauernhöfe enthält und über die
ſanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige
Keller, die Leute von Seldwyla. 14[210] lange Äcker weithingeſtreckt, gleich drei rieſigen
Bändern nebeneinander. An einem ſonnigen Sep¬
tembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien
dieſer Äcker, und zwar auf jedem der beiden
äußerſten; der mittlere ſchien ſeit langen Jahren
brach und wüſt zu liegen, denn er war mit
Steinen und hohem Unkraut bedeckt und eine
Welt von geflügelten Thierchen ſummte ungeſtört
über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden
Seiten hinter ihrem Pfluge gingen, waren lange
knochige Männer von ungefähr vierzig Jahren
und verkündeten auf den erſten Blick den ſichern
gutbeſorgten Bauersmann. Sie trugen kurze
Kniehoſen von ſtarkem Zwillich, an dem jede
Falte ihre unveränderliche Lage hatte und wie
in Stein gemeißelt ausſah. Wenn ſie, auf ein
Hinderniß ſtoßend, den Pflug feſter faßten, ſo
zitterten die groben Hemdärmel von der leichten
Erſchütterung, indeſſen die wohlraſirten Geſichter
ruhig und aufmerkſam, aber ein wenig blinzelnd
in den Sonnenſchein vor ſich hinſchauten, die
Furche bemaßen oder auch wohl zuweilen ſich
umſahen, wenn ein fernes Geräuſch die Stille
des Landes unterbrach. Langſam und mit
[211] einer gewiſſen natürlichen Zierlichkeit ſetzten
ſie einen Fuß um den andern vorwärts und
keiner ſprach ein Wort, außer wenn er etwa
dem Knechte, der die vier ſtattlichen Pferde an¬
trieb, eine Anweiſung gab. So glichen ſie ein¬
ander vollkommen in einiger Entfernung, denn
ſie ſtellten die urſprüngliche Art dieſer Gegend
dar, und man hätte ſie auf den erſten Blick
nur daran unterſcheiden können, daß der Eine
den Zipfel ſeiner weißen Kappe nach vorn trug,
der Andere aber hinten im Nacken hängen hatte.
Aber das wechſelte zwiſchen ihnen ab, indem ſie
in der entgegengeſetzten Richtung pflügten; denn
wenn ſie oben auf der Höhe zuſammentrafen
und an einander vorüberkamen, ſo ſchlug dem,
welcher gegen den friſchen Oſtwind ging, die
Zipfelkappe nach hinten über, während ſie bei
dem Andern, der den Wind im Rücken hatte,
ſich nach vorne ſträubte. Es gab auch jedesmal
einen mittleren Augenblick, wo die ſchimmernden
Mützen aufrecht in der Luft ſchwankten und wie
zwei weiße Flammen gen Himmel züngelten. So
pflügten Beide ruhevoll und es war ſchön anzu¬
ſehen in der ſtillen goldenen Septembergegend,
[212] wenn ſie ſo auf der Höhe an einander vorbei¬
zogen, ſtill und langſam und ſich mälig von
einander entfernten, immer weiter auseinander,
bis Beide wie zwei untergehende Geſtirne hinter
die Wölbung des Hügels hinabgingen und ver¬
ſchwanden, um eine gute Weile darauf wieder
zu erſcheinen. Wenn ſie einen Stein in ihren
Furchen fanden, ſo warfen ſie denſelben auf den
wüſten Acker in der Mitte mit läſſig kräftigem
Schwunge, was aber nur ſelten geſchah, da der¬
ſelbe ſchon faſt mit allen Steinen belaſtet war,
welche überhaupt auf den Nachbaräckern zu fin¬
den geweſen. So war der lange Morgen zum
Theil vergangen, als von dem Dorfe her ein
kleines artiges Fuhrwerklein ſich näherte, welches
kaum zu ſehen war, als es begann, die gelinde
Höhe heran zu kommen. Das war ein grün
bemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder
der beiden Pflüger, ein Knabe und ein kleines
Ding von Mädchen, gemeinſchaftlich den Vor¬
mittagsimbiß heranfuhren. Für jeden Theil lag
ein ſchönes Brod, in eine Serviette gewickelt,
eine Kanne Wein mit Gläſern und noch irgend
ein Zuthätchen in dem Wagen, welches die zärt¬
[213] liche Bäuerin für den fleißigen Meiſter mitge¬
ſandt, und außerdem waren da noch verpackt
allerlei ſeltſam geſtaltete angebiſſene Äpfel und
Birnen, welche die Kinder am Wege aufgeleſen,
und eine völlig nackte Puppe mit nur einem
Bein und einem verſchmierten Geſicht, welche
wie ein Fräulein zwiſchen den Broden ſaß und
ſich behaglich fahren ließ. Dies Fuhrwerk hielt
nach manchem Anſtoß und Aufenthalt endlich auf
der Höhe im Schatten eines jungen Lindenge¬
büſches, welches da am Rande des Feldes ſtand,
und nun konnte man die beiden Fuhrleute näher
betrachten. Es war ein Junge von ſieben Jah¬
ren und ein Dirnchen von fünfen, beide geſund
und munter und weiter war nichts Auffälliges
an ihnen, als daß beide ſehr hübſche Augen
hatten und das Mädchen dazu noch eine bräun¬
liche Geſichtsfarbe und ganz krauſe dunkle Haare,
welche ihm ein feuriges und treuherziges Anſe¬
hen gaben. Die Pflüger waren jetzt auch wie¬
der oben angekommen, ſteckten den Pferden et¬
was Klee vor und ließen die Pflüge in der halb
vollendeten Furche ſtehen, während ſie als gute
Nachbaren ſich zu dem gemeinſchaftlichen Imbiß
[214] begaben und ſich da zuerſt begrüßten; denn bis¬
lang hatten ſie ſich noch nicht geſprochen an die¬
ſem Tage.
Wie nun die Männer mit Behagen ihr
Frühſtück einnahmen und mit zufriedenem Wohl¬
wollen den Kindern mittheilten, die nicht von
der Stelle wichen, ſo lange gegeſſen und getrun¬
ken wurde, ließen ſie ihre Blicke in der Nähe
und Ferne herumſchweifen und ſahen das Städt¬
chen räucherig glänzend in ſeinen Bergen liegen;
denn das reichliche Mittagsmahl, welches die
Seldwyler alle Tage bereiteten, pflegte ein weit¬
hin ſcheinendes Silbergewölk über ihre Dächer
emporzutragen, welches lachend an ihren Bergen
hinſchwebte.
»Die Lumpenhunde zu Seldwyl kochen wie¬
der gut!« ſagte Manz, der eine der Bauern,
und Marti, der andere erwiederte: »Geſtern
war Einer bei mir wegen des Ackers hier.«
»Aus dem Bezirksrath? bei mir iſt er auch ge¬
weſen!« ſagte Manz. »So? und meinte wahr¬
ſcheinlich auch, du ſollteſt das Land benutzen und
den Herren die Pacht zahlen?« »Ja, bis es
ſich entſchieden habe, wem der Acker gehöre und
[215] was mit ihm anzufangen ſei. Ich habe mich
aber bedankt, das verwilderte Weſen für einen
Andern herzuſtellen und ſagte, ſie ſollten den
Acker nur verkaufen und den Ertrag aufheben,
bis ſich ein Eigenthümer herausgeſtellt, was wohl
nie geſchehen wird, denn was einmal auf der
Kanzlei zu Seldwyl liegt, hat da gute Weile
und überdem iſt die Sache ſchwer zu entſcheiden.
Die Lumpen möchten indeſſen gar zu gern etwas
zu naſchen bekommen durch den Pachtzins, was
ſie freilich mit der Verkaufsſumme auch thun
könnten; allein wir würden uns hüten, daſſelbe
zu hoch hinauf zu treiben und wir wüßten dann
doch was wir hätten und wem das Land ge¬
hört!«
»Ganz ſo meine ich auch und habe dem
Steckleinſpringer eine ähnliche Antwort gegeben!«
Sie ſchwiegen eine Weile, dann fing Manz
wiederum an: »Schad' iſt es aber doch, daß
der gute Boden ſo daliegen muß, es iſt nicht
zum Anſehen, das geht nun ſchon in die zwan¬
zig Jahre ſo und keine Seele fragt darnach;
denn hier im Dorf iſt Niemand, der irgend ei¬
nen Anſpruch auf den Acker hat, und Niemand
[216] weiß auch, wo die Kinder des verdorbenen Trom¬
peters hingekommen ſind.«
»Hm! ſagte Marti, das wäre ſo eine Sache!
Wenn ich den ſchwarzen Geiger anſehe, der ſich
bald bei den Heimatloſen aufhält, bald in den
Dörfern zum Tanz aufſpielt, ſo möchte ich dar¬
auf ſchwören, daß er ein Enkel des Trompeters
iſt, der freilich nicht weiß, daß er noch einen
Acker hat. Was thäte er aber damit? Einen
Monat lang ſich beſaufen und dann nach wie
vor! Zudem, wer dürfte da einen Wink geben,
da man es doch nicht ſicher wiſſen kann!«
»Da könnte man eine ſchöne Geſchichte an¬
richten! antwortete Manz, wir haben ſo genug
zu thun, dieſem Geiger das Heimatsrecht in un¬
ſerer Gemeinde abzuſtreiten, da man uns den
Fetzel fortwährend aufhalſen will. Haben ſich
ſeine Ältern einmal unter die Heimatloſen bege¬
ben, ſo mag er auch dableiben und dem Keſſel¬
volk das Geigelein ſtreichen. Wie in aller Welt
können wir wiſſen, daß er des Trompeters Soh¬
nesſohn iſt? Was mich betrifft, wenn ich den
Alten auch in dem dunklen Geſicht vollkommen
zu erkennen glaube, ſo ſage ich: irren iſt menſch¬
[217] lich, und das geringſte Fetzchen Papier, ein
Stücklein von einem Taufſchein würde meinem
Gewiſſen beſſer thun, als zehn ſündhafte Men¬
ſchengeſichter!«
»Eia, ſicherlich! ſagte Marti, er ſagt zwar,
er ſei nicht Schuld, daß man ihn nicht getauft
habe! Aber ſollen wir unſern Taufſtein tragbar
machen und in den Wäldern herumtragen? Nein,
er ſteht feſt in der Kirche und dafür iſt die
Todtenbahre tragbar, die draußen an der Mauer
hängt. Wir ſind ſchon übervölkert im Dorf und
brauchen bald zwei Schulmeiſter!«
Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiege¬
ſpräch der Bauern geendet und ſie erhoben ſich,
den Reſt ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu voll¬
bringen. Die beiden Kinder hingegen, welche
ſchon den Plan entworfen hatten, mit den Vä¬
tern nach Hauſe zu ziehen, zogen ihr Fuhrwerk
unter den Schutz der jungen Linden und begaben
ſich dann auf einen Streifzug in dem wilden
Acker, da derſelbe mit ſeinen Unkräutern, Stau¬
den und Steinhaufen eine ungewohnte und merk¬
würdige Wildniß darſtellte. Nachdem ſie in der
Mitte dieſer grünen Wildniß einige Zeit hinge¬
14 *[218] wandert, Hand in Hand, und ſich daran be¬
luſtigt, die verſchlungenen Hände über die hohen
Diſtelſtauden zu ſchwingen, ließen ſie ſich endlich
im Schatten einer ſolchen nieder und das Mäd¬
chen begann, ſeine Puppe mit den langen Blät¬
tern des Wegekrautes zu bekleiden, ſo daß ſie
einen ſchönen grünen und ausgezackten Rock be¬
kam; eine einſame rothe Mohnblume, die da
noch blühte, wurde ihr als Haube über den
Kopf gezogen und mit einem Graſe feſtgebun¬
den, und nun ſah die kleine Perſon aus wie
eine Zauberfrau, beſonders nachdem ſie noch ein
Halsband und einen Gürtel von kleinen rothen
Beerchen erhalten. Dann wurde ſie hoch in die
Stengel der Diſtel geſetzt und eine Weile mit
vereinten Blicken angeſchaut, bis der Knabe ſie
genugſam beſehen und mit einem Steine herun¬
terwarf. Dadurch gerieth aber ihr Putz in Un¬
ordnung und das Mädchen entkleidete ſie ſchleu¬
nigſt, um ſie aufs Neue zu ſchmücken; doch als
die Puppe eben wieder nackt und blos war und
nur noch der rothen Haube ſich erfreuete, entriß
der wilde Junge ſeiner Gefährtin, das Spielzeug
und warf es hoch in die Luft. Das Mädchen
[219] ſprang klagend darnach, allein der Knabe fing
die Puppe zuerſt wieder auf, warf ſie auf's
Neue empor und indem das Mädchen ſie ver¬
geblich zu haſchen bemühte, neckte er es auf dieſe
Weiſe eine gute Zeit. Unter ſeinen Händen
aber nahm die fliegende Puppe Schaden und
zwar am Knie ihres einzigen Beines, allwo ein
kleines Loch einige Kleikörner durchſickern ließ.
Kaum bemerkte der Peiniger dies Loch, ſo ver¬
hielt er ſich mäuschenſtill und war mit offenem
Munde eifrig befliſſen, das Loch mit ſeinen Nä¬
geln zu vergrößern und dem Urſprung der Kleie
nachzuſpüren. Seine Stille erſchien dem armen
Mädchen höchſt verdächtig und es drängte ſich
herzu und mußte mit Schrecken ſein böſes Be¬
ginnen gewahren. »Sieh mal!« rief er und
ſchlenkerte ihr das Bein vor der Naſe herum,
daß ihr die Kleie in's Geſicht flog, und wie ſie
danach langen wollte und ſchrie und flehte, ſprang
er wieder fort und ruhte nicht eher, bis das
ganze Bein dürr und leer herabhing als eine
traurige Hülſe. Dann warf er das mißhandelte
Spielzeug hin und ſtellte ſich höchſt frech und
gleichgültig, als die Kleine ſich weinend auf die
[220] Puppe warf und dieſelbe in ihre Schürze hüllte.
Sie nahm ſie aber wieder hervor und betrachtete
wehſelig die Ärmſte und als ſie das Bein ſah,
fing ſie abermals an laut zu weinen, denn das¬
ſelbe hing an dem Rumpfe nicht anders, denn
das Schwänzchen an einem Molche. Als ſie
gar ſo unbändig weinte, ward es dem Übelthä¬
ter endlich etwas übel zu Muth und er ſtand
in Angſt und Reue vor der Klagenden, und als
ſie dies merkte, hörte ſie plötzlich auf und ſchlug
ihn einigemal mit der Puppe und er that als
ob es ihm weh thäte und ſchrie au! ſo natür¬
lich, daß ſie zufrieden war und nun mit ihm
gemeinſchaftlich die Zerſtörung und Zerlegung
fortſetzte. Sie bohrten Loch auf Loch in den
Marterleib und ließen aller Enden die Kleie ent¬
ſtrömen, welche ſie ſorgfältig auf einem flachen
Steine zu einem Häufchen ſammelten, umrührten
und aufmerkſam betrachteten. Das einzige Feſte,
was noch an der Puppe beſtand, war der Kopf
und mußte jetzt vorzüglich die Aufmerkſamkeit
der Kinder erregen; ſie trennten ihn ſorgfältig
los von dem ausgequetſchten Leichnam und guck¬
ten erſtaunt in ſein hohles Innere. Als ſie die
[221] bedenkliche Höhlung ſahen und auch die Kleie
ſahen, war es der nächſte und natürlichſte Ge¬
dankenſprung, den Kopf mit der Kleie auszu¬
füllen, und ſo waren die Fingerchen der Kinder
nun beſchäftigt, um die Wette Kleie in den Kopf
zu thun, ſo daß zum erſten Mal in ſeinem Le¬
ben etwas in ihm ſteckte. Der Knabe mochte
es aber immer noch für ein todtes Wiſſen hal¬
ten, weil er plötzlich eine große blaue Fliege
fing und, die ſummende zwiſchen beiden hohlen
Händen haltend, dem Mädchen gebot, den Kopf
von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die
Fliege hineingeſperrt und das Loch mit Gras
verſtopft. Die Kinder hielten den Kopf an die
Ohren und ſetzten ihn dann feierlich auf einen
Stein; da er noch mit der rothen Mohnblume
bedeckt war, ſo glich der Tönende jetzt einem
weißſagenden Haupte und die Kinder lauſchten
in tiefer Stille ſeinen Kunden und Mährchen,
indeſſen ſie ſich umſchlungen hielten. Aber jeder
Prophet erweckt Grauen und Undank, das we¬
nige Leben in dem dürftig geformten Bilde er¬
weckte die menſchliche Grauſamkeit in den Kin¬
dern und es wurde beſchloſſen, das Haupt zu
[222] begraben. So machten ſie ein Grab und legten
den Kopf, ohne die gefangene Fliege um ihre
Meinung zu befragen, hinein, und errichteten
über dem Grabe ein anſehnliches Denkmal von
Feldſteinen. Dann empfanden ſie einiges Grauen,
da ſie etwas Geformtes und Belebtes begraben
hatten, und entfernten ſich ein gutes Stück von
der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit
grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte ſich
das Dirnchen auf den Rücken, da es müde
war, und begann in eintöniger Weiſe einige
Worte zu ſingen, immer die nämlichen, und der
Junge kauerte daneben und half, indem er nicht
wußte, ob er auch vollends umfallen ſolle, ſo
läſſig und müſſig war er. Die Sonne ſchien
dem ſingenden Mädchen in den geöffneten Mund,
beleuchtete deſſen blendendweiße Zähnchen und
durchſchimmerte die runden Purpurlippen. Der
Knabe ſah die Zähne und dem Mädchen den Kopf
haltend und deſſen Zähnchen neugierig unterſuchend,
rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? das
Mädchen beſann ſich einen Augenblick, als ob es
reiflich nachzählte, und ſagte dann auf Gerathe¬
wohl: Hundert! »Nein, zwei und dreißig!« rief
[223] er, »wart, ich will einmal zählen!« da zählte
er die Zähne des Kindes und weil er nicht zwei
und dreißig herausbrachte, ſo fing er immer wie¬
der von Neuem an. Das Mädchen hielt lange
ſtill, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende
kam, raffte es ſich auf und rief: »nun will ich
Deine zählen!« Nun legte ſich der Burſche
hin in's Kraut, das Mädchen über ihn, um¬
ſchlang ſeinen Kopf, er ſperrte das Maul auf,
und es zählte: Eins, zwei, ſieben, fünf, zwei,
eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht
zählen. Der Junge verbeſſerte ſie und gab ihr
Anweiſung, wie ſie zählen ſolle, und ſo fing
auch ſie unzählige Mal von Neuem an und das
Spiel ſchien ihnen am beſten zu gefallen von
allem, was ſie heut unternommen. Endlich aber
ſank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechen¬
meiſter nieder und die Kinder ſchliefen ein in
der hellen Mittagsſonne.
Inzwiſchen hatten die Väter ihre Äcker fertig
gepflügt und in friſchduftende braune Fläche um¬
gewandelt. Als nun, mit der letzten Furche zu
Ende gekommen, der Knecht des Einen halten
wollte, rief ſein Meiſter: Was hältſt Du? Kehr'
[224] noch einmal um! »Wir ſind ja fertig!« ſagte
der Knecht. »Halt's Maul und thu' wie ich dir
ſage!« der Meiſter. Und ſie kehrten um und
riſſen eine tüchtige Furche in den mittleren her¬
renloſen Acker hinein, daß Kraut und Steine
flogen. Der Bauer hielt ſich aber nicht mit
der Beſeitigung derſelben auf, er mochte denken,
hiezu ſei noch Zeit genug vorhanden, und er
begnügte ſich, für heute die Sache nur aus dem
Gröbſten zu thun. So ging es raſch die Höhe
empor in ſanftem Bogen, und als man oben
angelangt und das liebliche Windeswehen eben
wieder den Kappenzipfel des Mannes zurück¬
warf, pflügte auf der anderen Seite der Nach¬
bar vorüber mit dem Zipfel nach vorn und
ſchnitt ebenfalls eine anſehnliche Furche vom
mittleren Acker, daß die Schollen nur ſo zur
Seite flogen. Jeder ſah wohl, was der andere
that, aber keiner ſchien es zu ſehen und ſie ent¬
ſchwanden ſich wieder, indem jedes Sternbild
ſtill am andern vorüberging und hinter dieſe
runde Welt hinabtauchte. So gehen die Weber¬
ſchiffchen des Geſchickes an einander vorbei und
»was er webt, das weiß kein Weber!«
[225]
Es kam eine Ernte um die andere und jede
ſah die Kinder größer und ſchöner und den
herrenloſen Acker ſchmäler zwiſchen ſeinen breit¬
gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen
wurde ihm hüben und drüben eine Furche abge¬
riſſen, ohne daß ein Wort darüber geſprochen
wurde und ohne daß ein Menſchenauge den Fre¬
vel zu ſehen ſchien. Die Steine wurden immer
mehr zuſammengedrängt und bildeten ſchon einen
ordentlichen Grat der ganzen Länge des Ackers
nach, und das wilde Gewächs darauf war ſchon
ſo hoch, daß die Kinder, obgleich ſie gewachſen
waren, ſich nicht mehr ſehen konnten, wenn eines
dies- und das andere jenſeits ging. Denn ſie
gingen nun nicht mehr gemeinſchaftlich auf das
Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali,
wie er genannt wurde, ſich ſchon wacker auf
Seite der größeren Burſchen und der Männer
hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein
feuriges Dirnchen war, mußte bereits unter der
Obhut ſeines Geſchlechts gehen, ſonſt wäre es
von den andern als ein Bubenmädchen ausge¬
lacht worden. Dennoch nahmen ſie während je¬
der Ernte, wenn alles auf den Äckern war, ein¬
Keller, die Leute von Seldwyla. 15[226] mal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der ſie
trennte, zu beſteigen und ſich gegenſeitig von
demſelben herunterzuſtoßen. Wenn ſie auch ſonſt
keinen Verkehr mehr mit einander hatten, ſo
ſchien dieſe jährliche Ceremonie um ſo ſorglicher
gewahrt zu werden, als ſonſt nirgends die Fel¬
der ihrer Väter zuſammenſtießen.
Indeſſen ſollte der Acker doch endlich ver¬
kauft und der Erlös einſtweilen gerichtlich auf¬
gehoben werden. Die Verſteigerung fand an
Ort und Stelle ſtatt, wo ſich aber nur einige
Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und
Marti, da Niemand Luſt hatte, das ſeltſame
Stückchen zu erſtehen und zwiſchen den zwei
Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich dieſe zu
den beſten Bauern des Dorfes gehörten und
nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drit¬
tel der Übrigen unter dieſen Umſtänden auch
gethan haben würden, ſo ſah man ſie doch jetzt
ſtillſchweigend darum an und Niemand wollte
zwiſchen ihnen eingeklemmt ſein mit dem geſchmä¬
lerten Waiſenfelde. Die meiſten Menſchen ſind
fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes
Unrecht zu verüben, wenn ſie mit der Naſe dar¬
[227] auf ſtoßen; ſo wie es aber von Einem began¬
gen iſt, ſind die Übrigen froh, daß ſie es doch
nicht geweſen ſind, daß die Verſuchung nicht ſie
betroffen hat, und ſie machen nun den Auserwähl¬
ten zu dem Schlechtigkeitsmeſſer ihrer Eigenſchaf¬
ten und behandeln ihn mit zarter Scheu als
einen Ableiter des Übels, der von den Göttern
gezeichnet iſt, während ihnen zugleich noch der
Mund wäſſert nach den Vortheilen, die er dabei
genoſſen. Manz und Marti waren alſo die ein¬
zigen, welche ernſtlich auf den Acker boten, und
nach einem ziemlich hartnäckigen Überbieten erſtand
ihn Manz und er wurde ihm zugeſchlagen. Die
Beamten und die Gaffer verloren ſich vom Felde,
die beiden Bauern, welche ſich auf ihren Äckern
noch zu ſchaffen gemacht, trafen beim Weggehen
wieder zuſammen und Marti ſagte: »Du wirſt
nun dein Land, das alte und das neue, wohl
zuſammenſchlagen und in zwei gleiche Stücke
theilen? Ich hätte es wenigſtens ſo gemacht,
wenn ich das Ding bekommen hätte.« »Ich
werde es allerdings auch thun« antwortete Manz,
»denn als Ein Acker würde mir das Stück zu
groß ſein. Doch was ich ſagen wollte: Ich
15 *[228] habe bemerkt, daß Du neulich noch am untern
Ende dieſes Ackers, der jetzt mir gehört, ſchräg
hineingefahren biſt und ein gutes Dreieck abge¬
ſchnitten haſt. Du haſt es vielleicht gethan in
der Meinung, Du werdeſt das ganze Stück an
Dich bringen und es ſei dann ſo wie ſo Dein.
Da es nun aber mir gehört, ſo wirſt Du wohl
einſehen, daß ich eine ſolche ungehörige Ein¬
krümmung nicht brauchen noch dulden kann, und
wirſt nichts dagegen haben, wenn ich den Strich
wieder grad mache! Streit wird das nicht
abgeben ſollen!«
Marti erwiederte eben ſo kaltblütig, als ihn
Manz angeredet hatte: »Ich ſehe auch nicht
wo Streit herkommen ſoll! Ich denke, Du haſt
den Acker gekauft, wie er da iſt, wir haben ihn
alle gemeinſchaftlich beſehen und er hat ſich ſeit
einer Stunde nicht um ein Haar verändert!«
»Larifari! ſagte Manz, was früher geſche¬
hen wollen wir nicht aufrühren! Was aber zu
viel iſt, iſt zu viel und alles muß zuletzt eine
ordentliche grade Art haben; dieſe drei Äcker ſind
von jeher ſo grade neben einander gelegen, wie
nach dem Richtſcheit gezeichnet, es iſt ein ganz
[229] abſonderlicher Spaß von Dir, wenn Du nun
einen ſolchen lächerlichen und unvernünftigen
Schnörkel dazwiſchen bringen willſt und wir beide
würden einen Übernamen bekommen, wenn wir
den krummen Zipfel da beſtehen laſſen. Er muß
durchaus weg!«
Marti lachte und ſagte: »Du haſt ja auf
einmal eine merkwürdige Furcht vor dem Ge¬
ſpötte der Leute! das läßt ſich aber ja wohl
machen; mich genirt das Krumme gar nicht;
genirt es Dich, gut, ſo machen wir es grad,
aber nicht auf meiner Seite, das geb' ich Dir
ſchriftlich, wenn Du willſt!«
»Rede doch nicht ſo ſpaßhaft, ſagte Manz,
es wird wohl grad gemacht, und zwar auf Dei¬
ner Seite, darauf kannſt Du Gift nehmen!«
»Das werden wir ja ſehen und erleben!«
ſagte Marti, und beide Männer gingen ausein¬
ander, ohne ſich weiter anzublicken, vielmehr
ſtarrten ſie nach verſchiedener Richtung in's Blaue
hinaus, als ob ſie da Wunder was für Merk¬
würdigkeiten im Auge hätten, die ſie betrachten
müßten mit Aufbietung aller ihrer Geiſteskräfte.
Schon am nächſten Tage ſchickte Manz einen
[230] Dienſtbuben, ein Tagelöhnermädchen und ſein
eigenes Söhnchen Sali auf den Acker hin¬
aus, daß ſie das wilde Unkraut und Geſtrüpp
auszögen und auf Haufen brächten, damit nach¬
her die Steine um ſo bequemer weggefahren
werden könnten. Dies war eine Änderung in
ſeinem Weſen, daß er den kaum eilfjährigen
Jungen, der noch zu keiner Arbeit angehalten
worden, nun mit hinausſandte, gegen die Ein¬
ſprache der Mutter. Es ſchien, da er es mit
ernſthaften und geſalbten Worten that, als ob
er mit dieſer Arbeitsſtrenge gegen ſein eigenes
Blut das Unrecht betäuben wollte, in dem er
lebte, und welches nun begann, ſeine Folgen
ruhig zu entfalten. Das ausgeſandte Völklein
jätete inzwiſchen luſtig an dem Unkraut und
hackte mit Vergnügen an den wunderlichen Stau¬
den und Pflanzen aller Art, die da ſeit Jahren
wucherten. Denn da es eine außerordentliche
gleichſam wilde Arbeit war, bei der keine Regel
und keine Sorgfalt erheiſcht wurde, ſo galt ſie
als eine Luſt. Das wilde Zeug, an der Sonne
gedörrt, wurde aufgehäuft und mit großem Ju¬
bel verbrannt, daß der Qualm weithin ſich ver¬
[231] breitete und die jungen Leutchen darin herum¬
ſprangen, wie beſeſſen. Dies war das letzte
Freudenfeſt auf dem Unglücksfelde, und das junge
Vrenchen, Martis Tochter, kam auch hinausgeſchli¬
chen und half tapfer mit. Das Ungewöhnliche
dieſer Begebenheit und die luſtige Aufregung gaben
einen guten Anlaß, ſich ſeinem kleinen Jugend¬
geſpielen wieder einmal zu nähern, und die Kin¬
der waren recht glücklich und munter bei ihrem
Feuer. Es kamen noch andere Kinder hinzu
und es ſammelte ſich eine ganze vergnügte Ge¬
ſellſchaft; doch immer, ſobald ſie getrennt wur¬
den, ſuchte Sali alſobald wieder neben Vrenchen
zu gelangen, und dieſes wußte desgleichen immer
vergnügt lächelnd zu ihm zu ſchlüpfen, und es
war beiden Kreaturen, wie wenn dieſer herrliche
Tag nie enden müßte und könnte. Doch der
alte Manz kam gegen Abend herbei, um zu
ſehen, was ſie ausgerichtet, und obgleich ſie fer¬
tig waren, ſo ſchalt er doch ob dieſer Luſtbar¬
keit, und ſcheuchte die Geſellſchaft auseinander.
Zugleich zeigte ſich Marti auf ſeinem Grund
und Boden und, ſeine Tochter gewahrend, pfiff
er derſelben ſchrill und gebieteriſch durch den
[232] Finger, daß ſie erſchrocken hineilte, und er gab
ihr, ohne zu wiſſen warum, einige Ohrfeigen,
alſo daß beide Kinder in großer Traurigkeit und
weinend nach Hauſe gingen, und ſie wußten jetzt
eigentlich ſo wenig warum ſie ſo traurig waren,
als warum ſie vorhin ſo vergnügt geweſen; denn
die Rauheit der Väter, an ſich ziemlich neu,
war von den argloſen Geſchöpfen noch nicht
begriffen und konnte ſie nicht tiefer bewegen.
Die nächſten Tage war es ſchon eine här¬
tere Arbeit, zu welcher Mannsleute gehörten,
als Manz die Steine aufnehmen und wegfahren
ließ. Es wollte kein Ende nehmen und alle
Steine der Welt ſchienen da beiſammen zu ſein.
Er ließ ſie aber nicht ganz vom Felde weg¬
bringen, ſondern jede Fuhre auf jenem ſtreitigen
Dreiecke abwerfen, welches Marti ſchon ſäuber¬
lich umgepflügt hatte. Er hatte vorher einen
graden Strich gezogen als Grenzſcheide und be¬
laſtete nun dies Fleckchen Erde mit allen Stei¬
nen, welche beide Männer ſeit unvordenklichen
Zeiten herübergeworfen, ſo daß eine gewaltige
Pyramide entſtand, welche wegzubringen Marti
wohl bleiben laſſen würde, dachte er. Marti
[233] hatte dies am wenigſten erwartet; er glaubte,
ſein Gegner werde nach alter Weiſe mit dem
Pfluge zu Werke gehen wollen und hatte daher
abgewartet, bis er ihn als Pflüger ausziehen
ſähe. Erſt als die Sache ſchon beinahe fertig,
hörte er von dem ſchönen Denkmal, welches
Manz da errichtet, rannte voll Wuth hinaus,
ſah die [Beſcherung], rannte zurück und holte
den Gemeindeamman, um vorläufig gegen den
Steinhaufen zu proteſtiren und den Fleck gericht¬
lich in Beſchlag nehmen zu laſſen, und von dieſem
Tage an lagen die zwei Bauern in Proceß mit
einander und ruhten nicht eher, bis ſie beide
zu Grunde gerichtet waren.
Die Gedanken der ſonſt ſo wohlweiſen Män¬
ner waren nun ſo kurz geſchnitten wie Häckſel;
der beſchränkteſte Rechtsſinn von der Welt er¬
füllte jeden von ihnen, indem keiner begreifen
konnte noch wollte, wie der andere ſo offenbar
unrechtmäßig und willkührlich den fraglichen un¬
bedeutenden Ackerzipfel an ſich reißen könne. Bei
Manz kam noch ein wunderbarer Sinn für Sym¬
metrie und parallele Linien hinzu und er fühlte
ſich wahrhaft gekränkt durch den aberwitzigen
[234] Eigenſinn, mit welchem Marti auf dem Daſein
des unſinnigſten und muthwilligſten Schnörkels
beharrte. Beide aber trafen zuſammen in der
Überzeugung, daß der Andere, den Anderen ſo
frech und plump übervortheilend, ihn nothwendig
für einen verächtlichen Dummkopf halten müſſe,
da man dergleichen etwa einem armen haltloſen
Teufel, nicht aber einem aufrechten, klugen und
wehrhaften Manne gegenüber ſich erlauben könne,
und Jeder ſah ſich in ſeiner wunderlichen Ehre
gekränkt und gab ſich rückhaltlos der Leidenſchaft
des Streites und dem daraus erfolgenden Verfalle
hin und ihr Leben glich fortan der träumeriſchen
Qual zweier Verdammten, welche auf einem ſchma¬
len Brette einen dunkeln Strom hinabtreibend ſich
befehden, in die Luft hauen und ſich ſelber an¬
packen und vernichten, in der Meinung, ſie hät¬
ten den Feind gefaßt. Da ſie eine faule Sache
hatten, ſo geriethen beide in die allerſchlimmſten
Hände von Tauſendkünſtlern, welche ihre ver¬
dorbene Phantaſie aufblieſen zu ungeheuren Bla¬
ſen, die mit den nichtsnutzigſten Dingen ange¬
füllt wurden. Vorzüglich waren es die Speku¬
lanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieſer
[235] Handel ein gefundenes Eſſen war, und bald
hatte jeder der Streitenden einen Anhang von
Unterhändlern, Zuträgern und Rathgebern hinter
ſich, welche alles baare Geld auf hundert We¬
gen abzuziehen wußten. Denn das Fleckchen
Erde mit dem Steinhaufen darüber, auf welchem
bereits wieder ein Wald von Neſſeln und Di¬
ſteln blühte, war nur noch der erſte Keim oder
der Grundſtein einer verworrenen Geſchichte und
Lebensweiſe, in welcher die zwei Fünfzigjährigen
noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grund¬
ſätze und Hoffnungen annahmen, als ſie bisher
geübt. Je mehr Geld ſie verloren, deſto ſehn¬
ſüchtiger wünſchten ſie welches zu haben, und je
weniger ſie hatten, deſto hartnäckiger dachten ſie
reich zu werden und es dem andern zuvorzuthun.
Sie ließen ſich zu jedem Schwindel verleiten
und ſetzten auch Jahr aus Jahr ein in alle
deutſchen Lotterien, deren Looſe maſſenhaft in
Seldwyla zirkulirten. Aber nie bekamen ſie ei¬
nen Thaler Gewinnſt zu Geſicht, ſondern hörten
nur immer vom Gewinnen anderer Leute und
wie ſie ſelbſt beinahe gewonnen hätten, indeſſen
dieſe Leidenſchaft ein regelmäßiger Geldabfluß für
[236] ſie war. Bisweilen machten ſich die Seldwyler
den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wiſſen, am
gleichen Looſe Theil nehmen zu laſſen, ſo daß
beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Ver¬
nichtung des Andern auf ein und daſſelbe Loos
ſetzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in
der Stadt zu, wo jeder in einer Spelunke ſein
Hauptquartier hatte, ſich den Kopf aufblaſen
und zu den lächerlichſten Ausgaben und einem
elenden und ungeſchickten Schlemmen verleiten
ließ, bei welchem ihm heimlich doch ſelber das
Herz blutete, alſo daß Beide, welche eigentlich
nur in dieſem Hader lebten, um für keine Dumm¬
köpfe zu gelten, nun ſolche von der beſten Sorte
darſtellten und von Jedermann dafür angeſehen
wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen ſie
verdroſſen zu Hauſe oder gingen ihrer Arbeit
nach, wobei ſie dann durch ein tolles böſes Über¬
haſten und Antreiben das Verſäumte einzuholen
ſuchten und damit jeden ordentlichen und zuver¬
läſſigen Arbeiter verſcheuchten. So ging es ge¬
waltig rückwärts mit ihnen und ehe zehn Jahre
vorüber, ſteckten ſie Beide von Grund aus in
Schulden und ſtanden wie die Störche auf einem
[237] Beine auf der Schwelle ihrer Beſitzthümer, von
der jeder Lufthauch ſie herunterwehte. Aber wie
es ihnen auch erging, der Haß zwiſchen ihnen
wurde täglich größer, da jeder den andern als
den Urheber ſeines Unſterns betrachtete, als ſei¬
nen Erbfeind und ganz unvernünftigen Wider¬
ſacher, den der Teufel abſichtlich in die Welt
geſetzt habe, um ihn zu verderben. Sie ſpieen
aus, wenn ſie ſich nur von weitem ſahen, kein
Glied ihres Hauſes durfte mit Frau, Kind oder
Geſinde des andern ein Wort ſprechen, bei Ver¬
meidung der gröbſten Mißhandlung. Ihre Wei¬
ber verhielten ſich verſchieden bei dieſer Verar¬
mung und Verſchlechterung des ganzen Weſens.
Die Frau des Marti, welche von guter Art
war, hielt den Verfall nicht aus, härmte ſich
ab und ſtarb, ehe ihre Tochter vierzehn Jahre
alt war. Die Frau des Manz hingegen be¬
quemte ſich der veränderten Lebensweiſe und um
ſich als eine ſchlechte Genoſſin zu entfalten, hatte
ſie nichts zu thun, als einigen weiblichen Feh¬
lern, die ihr von jeher angehaftet, den Zügel
ſchießen zu laſſen und dieſelben zu Laſtern aus¬
zubilden. Ihre Naſchhaftigkeit wurde zu wilder
[238] Begehrlichkeit, ihre Zungenfertigkeit zu einem
grundfalſchen und verlogenen Schmeichel- und
Verläumdungsweſen, mit welchem ſie jeden Au¬
genblick das Gegentheil von dem ſagte, was ſie
dachte, alles hinter einander hetzte, und ihrem
eigenen Manne ein X für ein U vormachte; ihre
urſprüngliche Offenheit, mit der ſie ſich der un¬
ſchuldigeren Plauderei erfreut, ward nun zur
abgehärteten Schamloſigkeit, mit der ſie jenes
falſche Weſen betrieb, und ſo, ſtatt unter ihrem
Manne zu leiden, drehte ſie ihm eine Naſe;
wenn er es arg trieb, ſo machte ſie es bunt,
ließ ſich nichts abgehen und gedieh zu der dick¬
ſten Blüthe einer Vorſteherin des zerfallenden
Hauſes.
So war es nun ſchlimm beſtellt um die
armen Kinder, welche weder eine gute Hoffnung
für ihre Zukunft faſſen konnten, noch ſich auch
nur einer lieblich frohen Jugend erfreuten, da
überall nichts als Zank und Sorge war. Vren¬
chen hatte anſcheinend einen ſchlimmeren Stand,
als Sali, da ſeine Mutter todt und es einſam
in einem wüſten Hauſe der Tyrannei eines ver¬
wilderten Vaters anheimgegeben war. Als es
[239] ſechszehn Jahre zählte, war es ſchon ein ſchlank¬
gewachſenes ziervolles Mädchen; ſeine dunkel¬
braunen Haare ringelten ſich unabläſſig faſt bis
über die blitzenden braunen Augen, dunkelrothes
Blut durchſchimmerte die Wangen des bräunlichen
Geſichtes und glänzte als tiefer Purpur auf den
friſchen Lippen, wie man es ſelten ſah und was
dem dunklen Kinde ein eigenthümliches Anſehen
und Kennzeichen gab. Feurige Lebensluſt und
Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieſes Weſens;
es lachte und war aufgelegt zu Scherz und
Spiel, wenn das Wetter nur im mindeſten lieb¬
lich war, d. h. wenn es nicht zu ſehr gequält
wurde und nicht zu viel Sorgen hatte. Dieſe
plagten es aber häufig genug; denn nicht nur
hatte es den Kummer und das wachſende Elend
des Hauſes mit zu tragen, ſondern es mußte
noch ſich ſelber in Acht nehmen und mochte ſich
gern halbwegs ordentlich und reinlich kleiden,
ohne daß der Vater ihm die geringſten Mittel
dazu geben wollte. So hatte Vrenchen die größte
Noth, ſeine anmuthige Perſon einigermaßen aus¬
zuſtaffiren, ſich ein allerbeſcheidenſtes Sonntags¬
kleid zu erobern und einige bunte, faſt werth¬
[240] loſe Halstüchelchen zuſammenzuhalten. Darum
war das ſchöne wohlgemuthe junge Blut in jeder
Weiſe gedemüthigt und gehemmt und konnte am
wenigſten der Hoffahrt anheimfallen. Überdies
hatte es bei ſchon erwachendem Verſtande das
Leiden und den Tod ſeiner Mutter geſehen und
dies Andenken war ein weiterer Zügel, der ſei¬
nem luſtigen und feurigen Weſen angelegt war,
ſo daß es nun höchſt lieblich, unbedenklich und
rührend ſich anſah, wenn trotz alledem das gute
Kind bei jedem Sonnenblick ſich ermunterte und
zum Lächeln bereit war.
Sali erging es nicht ſo hart auf den erſten
Anſchein; denn er war nun ein hübſcher und
kräftiger junger Burſche, der ſich zu wehren
wußte und deſſen äußere Haltung wenigſtens
eine ſchlechte Behandlung von ſelbſt unzuläſſig
machte. Er ſah wohl die üble Wirthſchaft ſeiner
Ältern und glaubte ſich erinnern zu können, daß
es einſt nicht ſo geweſen, ja er bewahrte noch
das frühere Bild ſeines Vaters wohl in ſeinem
Gedächtniſſe als eines feſten, klugen und ruhigen
Bauers, deſſelben Mannes, den er jetzt als einen
grauen Narren, Händelführer und Müſſiggänger
[241] vor ſich ſah, der mit Toben und Prahlen auf
hundert thörichten und verfänglichen Wegen wan¬
delte und mit jeder Stunde rückwärts ruderte wie
ein Krebs. Wenn ihm nun dies mißfiel und ihn
oft mit Scham und Kummer erfüllte, während es
ſeiner Unerfahrenheit nicht klar war, wie die Dinge
ſo gekommen, ſo wurden ſeine Sorgen wieder be¬
täubt durch die Schmeichelei, mit der ihn die
Mutter behandelte. Denn um in ihrem Unwe¬
ſen ungeſtörter zu ſein und einen guten Partei¬
gänger zu haben, auch um ihrer Großthuerei
zu genügen, ließ ſie ihm zukommen was er
wünſchte, kleidete ihn ſauber und prahleriſch und
unterſtützte ihn in allem, was er zu ſeinem Ver¬
gnügen vornahm. Er ließ ſich dies gefallen ohne
viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel zu viel
dazu ſchwatzte und log, und indem er ſo wenig
Freude daran empfand, that er läſſig und ge¬
dankenlos, was ihm gefiel, ohne daß dies je¬
doch etwas Übles war, weil er für jetzt noch
unbeſchädigt war von dem Beiſpiele der Alten
und das jugendliche Bedürfniß fühlte, im Gan¬
zen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu ſein.
Er war ziemlich genau ſo, wie ſein Vater in
Keller, die Leute von Seldwyla. 16[242] dieſem Alter geweſen war, und dieſes flößte dem¬
ſelben eine unwillkürliche Achtung vor dem Sohne
ein, in welchem er mit verwirrtem Gewiſſen
und gepeinigter Erinnerung ſeine eigene Jugend
achtete. Trotz dieſer Freiheit, welche Sali ge¬
noß, ward er ſeines Lebens doch nicht froh und
fühlte wohl, wie er nichts Rechtes vor ſich hatte
und eben ſo wenig etwas Rechtes lernte, da
von einem zuſammenhängenden und vernunftge¬
mäßen Arbeiten in Manzens Hauſe längſt nicht
mehr die Rede war. Sein einziger Troſt war
daher, ſtolz auf ſeine Unabhängigkeit und einſt¬
weilige Unbeſcholtenheit zu ſein, und in dieſem
Stolze ließ er die Tage trotzig verſtreichen und
wandte die Augen von der Zukunft ab.
Der einzige Zwang, dem er unterworfen,
war die Feindſchaft ſeines Vaters gegen Alles,
was Marti hieß und an dieſen erinnerte. Doch
wußte er nichts beſſeres, als daß Marti ſeinem
Vater Schaden zugefügt und daß man in deſſen
Hauſe eben ſo feindlich geſinnt ſei, und es fiel
ihm daher nicht ſchwer, weder den Marti noch
ſeine Tochter anzuſehen und ſeinerſeits auch einen
angehenden ziemlich gleichgültigen Feind vorzu¬
[243] ſtellen. Vrenchen hingegen, welches mehr erdul¬
den mußte, als Sali, und in ſeinem Hauſe viel
verlaſſener war, fühlte ſich weniger zu einer
förmlichen Feindſchaft aufgelegt und glaubte ſich
nur verachtet von dem wohlgekleideten und ſchein¬
bar glücklicheren Sali; deshalb verbarg ſie ſich
vor ihm und wenn er irgendwo nur in der
Nähe war, ſo entfernte ſie ſich eilig, ohne daß
er ſich die Mühe gab ihr nachzublicken. So
kam es, daß er das Mädchen ſchon ſeit ein paar
Jahren nicht mehr in der Nähe geſehen und gar
nicht wußte, wie es ausſah, ſeit es herange¬
wachſen. Und doch wunderte es ihn zuweilen
ganz gewaltig und wenn überhaupt von den
Martis geſprochen wurde, ſo dachte er unwill¬
kürlich nur an die Tochter, deren jetziges Aus¬
ſehen ihm nicht deutlich und deren Andenken ihm
gar nicht verhaßt war.
Doch war ſein Vater Manz nun der Erſte
von den beiden Feinden, der ſich nicht mehr
halten konnte und von Haus und Hof ſpringen
mußte. Dieſer Vortritt rührte daher, daß er
eine Frau beſaß, die ihm geholfen und einen
Sohn, der doch auch einiges mit brauchte, wäh¬
16 *[244] rend Marti der einzige Verzehrer war in ſeinem
wackeligen Königreich, und ſeine Tochter durfte
wohl arbeiten wie ein Hausthierchen, aber nichts
gebrauchen. Manz aber wußte nichts anderes
anzufangen, als auf den Rath ſeiner Seldwyler
Gönner in die Stadt zu ziehen und da ſich als
Wirth aufzuthun. Dies iſt immer ein Elend
anzuſehn, wenn ein ehemaliger Landmann, der
auf dem Felde alt geworden iſt, mit den Trüm¬
mern ſeiner Habe in eine Stadt zieht und da
eine Schenke oder Kneipe aufthut, um als letzten
Rettungsanker den freundlichen und gewandten
Wirth zu machen, während es ihm nichts weni¬
ger als freundlich zu Muth iſt. Als die Man¬
zen vom Hofe zogen, ſah man erſt, wie arm ſie
bereits waren; denn ſie luden lauter alten und
verfallenden Hausrath auf, dem man es anſah,
daß ſeit vielen Jahren nichts erneuert und ange¬
ſchafft worden war. Die Frau legte aber nichts
deſto minder ihren beſten Staat an, als ſie ſich
oben auf die Gerümpelfuhre ſetzte und machte
ein Geſicht voller Hoffnungen, als künftige Stadt¬
frau ſchon mit Verachtung auf die Dorfgenoſſen
herabſehend, welche voll Mitleid hinter den Hecken
[245] hervor dem bedenklichen Zuge zuſahen. Denn
ſie nahm ſich vor, mit ihrer Liebenswürdigkeit
und Klugheit die ganze Stadt zu bezaubern, und
was ihr verſimpelter Mann nicht machen könne,
das wolle ſie ſchon ausrichten, wenn ſie nur erſt
einmal als Frau Wirthin in einem ſtattlichen
Gaſthofe ſäße. Dieſer Gaſthof beſtand aber in
einer trübſeligen Winkelſchenke in einem abgele¬
genen ſchmalen Gäßchen, auf der eben ein An¬
derer zu Grunde gegangen war und welche die
Seldwyler dem Manz verpachteten, da er noch
einige hundert Thaler einzuziehen hatte. Sie
verkauften ihm auch ein paar Fäßchen ſäuerlichen
Weines und das Wirthſchaftsmobiliar, das aus
einem Dutzend weißen geringen Flaſchen, ebenſo¬
viel Gläſern und einigen tannenen Tiſchen und
Bänken beſtand, welche einſt blutroth angeſtrichen
geweſen und jetzt vielfältig abgeſcheuert waren.
Vor dem Fenſter knarrte ein eiſerner Reifen in
einem Haken und in dem Reifen ſchenkte eine
blecherne Hand Rothwein aus einem Schöppchen
in ein Glas. Überdies hing ein verdorrter Buſch
von Stechpalme über der Hausthüre, was Manz
alles mit in die Pacht bekam. Um deswillen war
[246] er nicht ſo wohlgemuth wie ſeine Frau, ſondern
trieb mit ſchlimmer Ahnung und voll Ingrimm die
mageren Pferde an, welche er vom neuen Bau¬
ern geliehen. Das letzte ſchäbige Knechtchen,
das er gehabt, hatte ihn ſchon ſeit einigen Wo¬
chen verlaſſen. Als er ſolcher Weiſe abfuhr, ſah
er wohl, wie Marti voll Hohn und Schaden¬
freude ſich unfern der Straße zu ſchaffen machte,
fluchte ihm und hielt denſelben für den alleini¬
gen Urheber ſeines Unglückes. Sali aber, ſobald
das Fuhrwerk im Gange war, beſchleunigte ſeine
Schritte, eilte voraus und ging allein auf Sei¬
tenwegen nach der Stadt.
»Da wären wir!« ſagte Manz, als die
Fuhre vor dem Spelunkelein anhielt. Die Frau
erſchrack darüber, denn das war in der That
ein betrübter Gaſthof. Die Leute traten eilfer¬
tig unter die Fenſter und vor die Häuſer, um
ſich den neuen Bauernwirth anzuſehen und mach¬
ten mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig
ſpöttiſche Geſichter. Zornig und mit naſſen Au¬
gen kletterte die Manzin vom Wagen herunter
und lief, ihre Zunge vorläufig wetzend, in das
Haus, um ſich heute vornehm nicht wieder blicken
[247] zu laſſen; denn ſie ſchämte ſich des ſchlechten
Geräthes und der verdorbenen Betten, welche
nun abgeladen wurden. Sali ſchämte ſich auch,
aber er mußte helfen und machte mit ſeinem
Vater einen ſeltſamen Verlag in dem Gäßchen,
auf welchem alsbald die Kinder der Falliten
herumſprangen und ſich über das verlumpete
Bauernpack luſtig machten. Im Hauſe aber ſah
es noch trübſeliger aus und es glich einer voll¬
kommenen Räuberhöhle. Die Wände waren
ſchlecht geweißtes feuchtes Mauerwerk, außer der
dunklen unfreundlichen Gaſtſtube mit ihren ehe¬
mals blutrothen Tiſchen waren nur noch ein
paar ſchlechte Kämmerchen da, und überall hatte
der ausgezogene Vorgänger den troſtloſeſten
Schmutz und Kehricht zurückgelaſſen.
So war der Anfang und ſo ging es auch
fort. Während der erſten Woche kamen, beſon¬
ders am Abend, wohl hin und wieder ein Tiſch
voll Leute aus Neugierde, den Bauernwirth zu
ſehen, und ob es da vielleicht einigen Spaß ab¬
ſetzte. Am Wirth hatten ſie nicht viel zu ſehen,
denn Manz war ungelenk, ſtarr, unfreundlich
und melancholiſch und wußte ſich gar nicht zu
[248] benehmen, wollte es auch nicht wiſſen. Er füllte
langſam und ungeſchickt die Schöppchen, ſtellte
ſie mürriſch vor die Gäſte und verſuchte etwas
zu ſagen, brachte aber nichts heraus. Deſto
eifriger warf ſich nun ſeine Frau in's Geſchirr
und hielt die Leute wirklich einige Tage zuſam¬
men, aber in einem ganz andern Sinne, als ſie
meinte. Die ziemlich dicke Frau hatte ſich eine
eigene Haustracht zuſammengeſetzt, in der ſie
unwiderſtehlich zu ſein glaubte. Zu einem lei¬
nenen naturfarbenen Landrock trug ſie einen alten
grünſeidenen Spenſer, eine baumwollene Schürze
und einen ſchlimmen weißen Halskragen. Von
ihrem nicht mehr dichten Haar hatte ſie an den
Schläfen poſſierliche Schnecken gewickelt und
in das Zöpfchen hinten einen hohen Kamm ge¬
ſteckt. So ſchwänzelte und tänzelte ſie mit an¬
geſtrengter Anmuth herum, ſpitzte lächerlich das
Maul, daß es ſüß ausſehen ſollte, hüpfte elaſtiſch
an die Tiſche hin und, das Glas oder den Teller
mit geſalzenem Käſe hinſetzend, ſagte ſie lächelnd:
»So ſo? ſo ſoli! herrlich herrlich, ihr Herren!«
und ſolches dummes Zeug mehr; denn obwohl
ſie ſonſt eine geſchliffene Zunge hatte, ſo wußte
[249] ſie jetzt doch nichts Geſcheidtes vorzubringen, da
ſie fremd war und die Leute nicht kannte. Die
Seldwyler von der ſchlechteſten Sorte, die da
hockten, hielten die Hand vor den Mund, woll¬
ten vor Lachen erſticken, ſtießen ſich unter dem
Tiſch mit den Füßen und ſagten: »Potz tauſig!
das iſt ja eine Herrliche!« »Eine Himmliſche!«
ſagte ein Anderer »beim ewigen Hagel! es iſt
der Mühe werth hieher zu kommen, ſo Eine
haben wir lang nicht geſehen!« Ihr Mann
bemerkte das wohl mit finſterem Blicke; er gab
ihr einen Stoß in die Rippen und flüſterte:
»Du alte Kuh! Was machſt Du denn?« »Störe
mich nicht, ſagte ſie unwillig, Du alter Tol¬
patſch! ſiehſt Du nicht, wie ich mir Mühe gebe
und mit den Leuten umzugehen weiß? Das
ſind aber nur Lumpen von Deinem Anhang!
Laß mich nur machen, ich will bald fürnehmere
Kundſchaft hier haben!« Dies alles war be¬
leuchtet von einem oder zwei dünnen Talglich¬
ten; Sali, der Sohn, aber ging hinaus in die
dunkle Küche, ſetzte ſich auf den Herd und weinte
über Vater und Mutter.
Die Gäſte hatten aber das Schauſpiel bald
[250] ſatt, welches ihnen die gute Frau Manz ge¬
währte, und blieben wieder, wo es ihnen woh¬
ler war und ſie über die wunderliche Wirth¬
ſchaft lachen konnten; nur dann und wann er¬
ſchien ein Einzelner, der ein Glas trank und die
Wände angähnte, oder es kam ausnahmsweiſe
eine ganze Bande, die armen Leute mit einem
vorübergehenden Trubel und Lärm zu täuſchen.
Es ward ihnen angſt und bange in dem engen
Mauerwinkel, wo ſie kaum die Sonne ſahen,
und Manz, welcher ſonſt gewohnt war, Tage
lang in der Stadt zu liegen, fand es jetzt un¬
erträglich zwiſchen dieſen Mauern. Wenn er an
die freie Weite der Felder dachte, ſo ſtierte er
finſter brütend an die Decke oder auf den Bo¬
den, lief unter die enge Hausthüre und wieder
zurück, da die Nachbaren den böſen Wirth, wie ſie
ihn ſchon nannten, angafften. Nun dauerte es
aber nicht mehr lange und ſie verarmten gänz¬
lich und hatten gar nichts mehr in der Hand;
ſie mußten, um etwas zu eſſen, warten bis Ei¬
ner kam und für wenig Geld etwas von dem
noch vorhandenen Wein verzehrte, und wenn er
eine Wurſt oder dergleichen begehrte, ſo hatten
[251] ſie oft die größte Angſt und Sorge, dieſelbe
beizutreiben. Bald hatten ſie auch den Wein
nur noch in einer großen Flaſche verborgen, die
ſie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen,
und ſo ſollten ſie nun die Wirthe machen ohne
Wein und Brod und freundlich ſein, ohne or¬
dentlich gegeſſen zu haben. Sie waren beinahe
froh, wenn nur Niemand kam, und hockten ſo
in ihrem Kneipchen, ohne leben noch ſterben zu
können. Als die Frau dieſe traurigen Erfah¬
rungen machte, zog ſie den grünen Spenſer wie¬
der aus und nahm abermals eine Veränderung
vor, indem ſie nun, wie früher die Fehler, ſo
nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ
und mehr ausbildete, da Noth an den Mann
ging. Sie übte Geduld und ſuchte den Alten
aufrecht zu halten und den Jungen zum Guten
anzuweiſen; ſie opferte ſich vielfältig in allerlei
Dingen, kurz ſie übte in ihrer Weiſe eine Art
von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht weit
reichte und nicht viel beſſerte, aber immerhin
beſſer war als gar nichts oder als das Gegen¬
theil und die Zeit wenigſtens verbringen half,
welche ſonſt viel früher hätte brechen müſſen für
[252] dieſe Leute. Sie wußte manchen Rath zu ge¬
ben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ih¬
rem Verſtande, und wenn der Rath nichts zu
taugen ſchien und fehl ſchlug, ſo ertrug ſie willig
den Grimm der Männer, kurzum, ſie that jetzt
alles, da ſie alt war, was beſſer gedient hätte,
wenn ſie es früher geübt.
Um wenigſtens etwas Beißbares zu erwer¬
ben und die Zeit zu verbringen, verlegten ſich
Vater und Sohn auf die Fiſcherei, d. h. mit
der Angelruthe, ſo weit es für jeden erlaubt
war, ſie in den Fluß zu hängen. Dies war
auch eine Hauptbeſchäftigung der Seldwyler, nach¬
dem ſie fallirt hatten. Bei günſtigem Wetter,
wenn die Fiſche gern anbiſſen, ſah man ſie
dutzendweiſe hinauswandern mit Ruthe und Kü¬
bel, und wenn man an den Ufern des Fluſſes
wandelte, hockte alle Spanne lang Einer, der
angelte, der Eine in einem langen braunen Bür¬
gerrock, die bloßen Füße im Waſſer, der andere
in einem ſpitzen blauen Frack auf einer alten
Weide ſtehend, den alten Filz ſchief auf dem
Ohre; weiterhin angelte gar Einer im zerriſſe¬
nen großblumigen Schlafrock, da er keinen andern
[253] mehr beſaß, die lange Pfeife in der einen, die
Ruthe in der andern Hand, und wenn man um
eine Krümmung des Fluſſes bog, ſtand ein alter
kahlköpfiger Dickbauch faſelnackt auf einem Stein
und angelte; dieſer hatte, trotz des Aufenthaltes
am Waſſer ſo ſchwarze Füße, daß man glaubte,
er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein
Töpfchen oder ein Schächtelchen neben ſich, in
welchem Regenwürmer wimmelten, nach welchen
ſie zu anderen Stunden zu graben pflegten.
Wenn der Himmel mit Wolken bezogen und es
ein ſchwüles dämmeriges Wetter war, welches
Regen verkündete, ſo ſtanden dieſe Geſtalten am
zahlreichſten an dem ziehenden Strome, regungs¬
los gleich einer Gallerie von Heiligen- oder
Prophetenbildern. Achtlos zogen die Landleute
mit Vieh und Wagen an ihnen vorüber und die
Schiffer auf dem Fluſſe ſahen ſie nicht an, wäh¬
rend ſie leiſe murrten über die Fiſche verſcheu¬
chenden Schiffe.
Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als
er mit einem ſchönen Geſpann pflügte auf dem
Hügel über dem Ufer, damals geſagt hätte, er
würde ſich einſt zu dieſen wunderlichen Heiligen
[254] geſellen und gleich ihnen Fiſche fangen, ſo hätte
er einem in's Geſicht geſpieen. Auch eilte er
jetzt haſtig an ihnen vorüber hinter ihren Rücken
und eilte ſtromaufwärts gleich einem eigenſinnigen
Schatten der Unterwelt, der ſich zu ſeiner Ver¬
dammniß ein bequemes einſames Plätzchen ſucht
an den dunkeln Wäſſern. Mit der Angelruthe
zu ſtehen hatten er und ſein Sohn indeſſen keine
Geduld und ſie erinnerten ſich der Art, wie die
Bauern auf manche andere Weiſe etwa Fiſche
fangen, wenn ſie übermüthig ſind, beſonders mit
den Händen in den Bächen; daher nahmen ſie
die Ruthen nur zum Schein mit und gingen an
den Borden der Bäche hinauf, wo ſie wußten,
daß es theure und gute Forellen gab.
Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti
ging es inzwiſchen auch immer ſchlimmer und
es war ihm höchſt langweilig dabei, ſo daß er,
anſtatt auf ſeinem vernachläſſigten Felde zu ar¬
beiten, ebenfalls auf das Fiſchen verfiel und
tagelang im Waſſer herumflotſchte. Vrenchen
durfte nicht von ſeiner Seite und mußte ihm
Eimer und Geräth nachtragen durch naſſe Wie¬
ſengründe, durch Bäche und Waſſertümpel aller
[255] Art, bei Regen und Sonnenſchein, indeſſen ſie
das Nothwendigſte zu Hauſe liegen laſſen mußte.
Denn es war ſonſt keine Seele mehr da und
wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiſte
Land ſchon verloren hatte und nur noch wenige
Äcker beſaß, die er mit ſeiner Tochter liederlich
genug oder gar nicht bebaute.
So kam es, daß, als er eines Abends einen
ziemlich tiefen und reißenden Bach entlang ging,
in welchem die Forellen fleißig ſprangen, da
der Himmel voll Gewitterwolken hing, er unver¬
hofft auf ſeinen Feind Manz traf, der an dem
andern Ufer daherkam. Sobald er ihn ſah,
ſtieg ein ſchrecklicher Groll und Hohn in ihm
auf, ſie waren ſich ſeit Jahren nicht ſo nahe
geweſen, ausgenommen vor den Gerichtsſchran¬
ken, wo ſie nicht ſchelten durften, und Marti
rief jetzt voll Grimm: »Was thuſt Du hier,
Du Hund? Kannſt Du nicht in Deinem Lotter¬
neſte bleiben, Du Seldwyler Lumpenhund?«
»Wirſt nächſtens wohl auch ankommen, Du
Schelm!« rief Manz. »Fiſche fängſt Du ja auch
ſchon und wirſt deshalb nicht viel mehr zu ver¬
ſäumen haben!«
[256] »Schweig, Du Galgenhund!« ſchrie Marti,
da hier die Wellen des Baches ſtärker rauſch¬
ten, »Du haſt mich in's Unglück gebracht!«
Und da jetzt auch die Weiden am Bache gewal¬
tig zu rauſchen anfingen im aufgehenden Wet¬
terwind, ſo mußte Manz noch lauter ſchreien:
»Wenn dem nur ſo wäre, ſo wollte ich mich
freuen, Du elender Tropf!« »O Du Hund!«
ſchrie Marti herüber und Manz hinüber: »O
Du Kalb, wie dumm thuſt Du!« Und jener
ſprang wie ein Tiger den Bach entlang und
ſuchte herüber zu kommen. Der Grund, warum
er der Wüthendere war, lag in ſeiner Meinung,
daß Manz als Wirth wenigſtens genug zu eſſen
und zu trinken hätte und gewiſſermaßen ein
kurzweiliges Leben führe, während es ungerechter
Weiſe ihm ſo langweilig wäre auf ſeinem zer¬
trümmerten Hofe. Manz ſchritt indeſſen auch
grimmig genug an der andern Seite hin; hinter
ihm ſein Sohn, welcher, ſtatt auf den böſen
Streit zu hören, neugierig und verwundert nach
Vrenchen hinüber ſah, welche hinter ihrem Vater
ging, vor Scham in die Erde ſehend, daß ihr
die braunen krauſen Haare in's Geſicht fielen.
[257]
Sie trug einen hölzernen Fiſcheimer in der einen
Hand, in der andern hatte ſie Schuh und
Strümpfe getragen und ihr Kleid der Näſſe
wegen aufgeſchürzt. Seit aber Sali auf der
andern Seite ging, hatte ſie es ſchamhaft ſinken
laſſen und war nun dreifach beläſtigt und ge¬
quält, da ſie alle das Zeug tragen, den Rock
zuſammenhalten und des Streites wegen ſich
grämen mußte. Hätte ſie aufgeſehen und nach
Sali geblickt, ſo würde ſie entdeckt haben, daß
er weder vornehm noch ſehr ſtolz mehr ausſah
und ſelbſt bekümmert genug war. Während
Vrenchen ſo ganz beſchämt und verwirrt auf die
Erde ſah und Sali nur dieſe in allem Elende
ſchlanke und anmuthige Geſtalt im Auge hatte,
die ſo verlegen und demüthig dahin ſchritt, be¬
achteten ſie dabei nicht, wie ihre Väter ſtill
geworden aber mit verſtärkter Wuth einem höl¬
zernen Stege zueilten, der in kleiner Entfernung
über den Bach führte und eben ſichtbar wurde.
Es fing an zu blitzen und erleuchtete ſeltſam
die dunkle melancholiſche Waſſergegend, es don¬
nerte auch in den grauſchwarzen Wolken mit
dumpfem Grolle und ſchwere Regentropfen fielen,
Keller, die Leute von Seldwyla. 17[258] als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die
ſchmale, unter ihren Tritten ſchwankende Brücke
ſtürzten, ſich gegenſeitig packten und die Fäuſte
in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer
bleichen zitternden Geſichter ſchlugen. Es iſt
nichts Anmuthiges und nichts weniger als artig,
wenn ſonſt geſetzte Menſchen noch in den Fall
kommen, aus Übermuth, Unbedacht oder Noth¬
wehr unter allerhand Volk, das ſie nicht näher
berührt, Schläge auszutheilen oder welche zu be¬
kommen; allein dies iſt eine harmloſe Spielerei
gegen das tiefe Elend, das zwei alte Menſchen
überwältigt, die ſich wohl kennen und ſeit lange
kennen, wenn dieſe aus innerſter Feindſchaft und
aus dem Gange einer ganzen Lebensgeſchichte
heraus ſich mit nackten Händen anfaſſen und
mit Fäuſten ſchlagen. So thaten jetzt dieſe bei¬
den ergrauten Männer; vor vierzig Jahren
vielleicht hatten ſie ſich als Buben zum letzten
Mal gerauft, dann aber vierzig lange Jahre
mit keiner Hand mehr berührt, ausgenommen in
ihrer guten Zeit, wo ſie ſich etwa zum Gruße
die Hände geſchüttelt und auch dies nur ſelten
bei ihrem trockenen und ſicheren Weſen. Nach¬
[259] dem ſie ein oder zweimal geſchlagen, hielten ſie
inne und rangen ſtill zitternd mit einander, nur
zuweilen aufſtöhnend und elendiglich knirſchend,
und Einer ſuchte den Andern über das knackende
Geländer in's Waſſer zu werfen. Jetzt waren
aber auch ihre Kinder nachgekommen und ſahen
den erbärmlichen Auftritt. Sali ſprang eines
Satzes heran, um ſeinem Vater beizuſtehen und
ihm zu helfen, dem gehaßten Feinde den Garaus
zu machen, der ohnehin der Schwächere ſchien
und eben zu unterliegen drohte. Aber auch
Vrenchen ſprang, alles wegwerfend, mit einem
langen Aufſchrei herzu und umklammerte ihren
Vater um ihn zu ſchützen, während ſie ihn da¬
durch nur hinderte und beſchwerte. Thränen
ſtrömten aus ihren Augen und ſie ſah flehend
den Sali an, der im Begriff war ihren Vater
ebenfalls zu faſſen und vollends zu überwältigen.
Unwillkürlich legte er aber ſeine Hand an ſei¬
nen eigenen Vater und ſuchte denſelben mit
feſtem Arm von dem Gegner loszubringen und
zu beruhigen, ſo daß der Kampf eine kleine
Weile ruhte oder vielmehr die ganze Gruppe
unruhig hin und her drängte, ohne aus einander
[260] zu kommen. Darüber waren die jungen Leute,
ſich mehr zwiſchen die Alten ſchiebend, in dichte
Berührung gekommen und in dieſem Augenblicke
erhellte ein Wolkenriß, der den grellen Abend¬
ſchein durchließ, das nahe Geſicht des Mädchens
und Sali ſah in dies ihm ſo wohlbekannte und
doch ſo viel anders und ſchöner gewordene Ge¬
ſicht. Vrenchen ſah in dieſem Augenblicke auch
ſein Erſtaunen und es lächelte ganz kurz und
geſchwind mitten in ſeinem Schrecken und in
ſeinen Thränen ihn an. Doch ermannte ſich
Sali, geweckt durch die Anſtrengungen ſeines
Vaters, ihn abzuſchütteln, und brachte ihn mit
eindringlich bittenden Worten und feſter Haltung
endlich ganz von ſeinem Feinde weg. Beide
alte Geſellen athmeten hoch auf und begannen
jetzt wieder zu ſchelten und zu ſchreien, ſich von
einander abwendend; ihre Kinder aber athmeten
kaum und waren ſtill wie der Tod, gaben ſich
aber im Wegwenden und Trennen, ungeſehen
von den Alten, ſchnell die Hände, welche vom
Waſſer und von den Fiſchen feucht und kühl
waren.
Als die grollenden Parteien ihrer Wege gin¬
[261] gen, hatten die Wolken ſich wieder geſchloſſen,
es dunkelte mehr und mehr und der Regen goß
nun in Bächen durch die Luft. Manz ſchlen¬
derte voraus auf den dunklen naſſen Wegen, er
duckte ſich, beide Hände in den Taſchen, unter
den Regengüſſen, zitterte noch in ſeinen Geſichts¬
zügen und mit den Zähnen und ungeſehene
Thränen rieſelten ihm in den Stoppelbart, die
er fließen ließ, um ſie durch das Wegwiſchen
nicht zu verrathen. Sein Sohn hatte aber
nichts geſehen, weil er in glückſeligen Bildern
verloren daherging. Er merkte weder Regen
noch Sturm, weder Dunkelheit noch Elend; ſon¬
dern leicht, hell und warm war es ihm innen
und außen und er fühlte ſich ſo reich und wohl¬
geborgen, wie ein Königsſohn. Er ſah fort¬
während das ſekundenlange Lächeln des nahen
ſchönen Geſichtes und erwiederte daſſelbe erſt
jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem er
voll Liebe in Nacht und Wetter hineinlachte und
das liebe Geſicht anlachte, das ihm allerwegen
aus dem Dunkel entgegentrat, ſo daß er glaubte,
Vrenchen müſſe auf ſeinen Wegen dies Lachen
nothwendig ſehen und inne werden.
[262]
Sein Vater war des andern Tags wie zer¬
ſchlagen und wollte nicht aus dem Hauſe. Der
Handel und das ganze vieljährige Elend nahm
heute eine neue deutlichere Geſtalt an und nahm
ſich bequemlich Platz in der drückenden Luft der
Spelunke, alſo daß Mann und Frau matt und
ſcheu um das Geſpenſt herumſchlichen, aus der
Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in
die Küche und aus dieſer wieder ſich in die
Stube ſchleppten, in welcher kein Gaſt ſich ſehen
ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und
begann den Tag über ein müdes, halbtodtes
Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei
ſie zeitweiſe einſchliefen, von unruhigen Tag¬
träumen geplagt, welche aus dem Gewiſſen ka¬
men und ſie wieder weckten. Nur Sali ſah
und hörte nichts davon, denn er dachte nur an
Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth,
nicht nur als ob er unſäglich reich wäre, ſon¬
dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬
lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun
ſo deutlich und beſtimmt um das wußte, was
er geſtern geſehen. Dieſe Wiſſenſchaft war ihm
wie vom Himmel gefallen und er war in einer
[263] unaufhörlichen glücklichen Verwunderung darüber;
und doch war es ihm, als ob er es eigentlich
von jeher gewußt und gekannt hätte, was ihn
jetzt mit ſo wunderſamer Süßigkeit erfüllte.
Denn nichts gleicht dem Reichthum und der
Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Men¬
ſchen herantritt in einer ſo klaren und deutlichen
Geſtalt, vom Pfäfflein getauft und wohl verſe¬
hen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt
wie andere Namen. Dieſes iſt eine feine Sache
und in ihr ruht das Geheimniß oder die Offen¬
kunde von der Wohlfahrt des Lebens, von dem
Aufbau der Familie und deſſen, was viele Fa¬
milien zuſammen ſind. Es iſt die Frühlings¬
blüthe, aus welcher die Frucht der guten Fa¬
milie erwächſt; manche Gewächſe müſſen zwei
bis drei oder gar vier Mal blühen, bis eine
Frucht gerathen will, und alsdann hat die Weis¬
heit der Natur oder der Götter es ſo einge¬
richtet, daß den Blühenden die letzte Blume
immer die feinſte dünkt und ſie meinen, es ſei
noch nie ſo ſchön geweſen. Und ob nun die
Natur allein oder die Götter dies alſo geord¬
net, ſo iſt es wirklich ein gutes und zweckmäßi¬
[264] ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und
auch dieſe Blüthe zerſchlägt der Sturm, tödtet
der Froſt oder erſäuft ein anhaltendes Regenwetter,
und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen
in einer Wildniß oder in einem wüſten Sumpfe
in der Einſamkeit und es wird auch nichts
daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte
Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachſen in
großer Geſellſchaft, die Ähre ſteht neben der
Ähre und die Traube hängt neben der Traube
tauſendfältig. Aber Blumen ſind es immer ge¬
weſen, ob etwas daraus geworden oder nicht
und ob ſie geſehen oder ungeſehen verblühten,
und der Frühling iſt ſchön, was auch aus ihm
wird.
Sali fühlte ſich an dieſem Tage weder müſ¬
ſig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬
los; vielmehr war er vollauf beſchäftigt, ſich
Vrenchens Geſicht und Geſtalt vorzuſtellen, un¬
aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über
dieſer aufgeregten Thätigkeit aber verſchwand ihm
der Gegenſtand derſelben faſt vollſtändig, das
heißt er bildete ſich endlich ein, nun doch nicht
zu wiſſen, wie Vrenchen recht genau ausſehe,
[265] er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im
Gedächtniß, aber wenn er ſie beſchreiben ſollte,
ſo könnte er das nicht. Er ſah fortwährend
dies Bild, als ob es vor ihm ſtände und fühlte
ſeinen angenehmen Einfluß, und doch ſah er es
nur, wie etwas, das man eben nur ein Mal
geſehen, in deſſen Gewalt man liegt und das
man doch noch nicht kennt. Er erinnerte ſich
genau der Geſichtszüge, welche das kleine Dirn¬
chen einſt gehabt mit großem Wohlgefallen, aber
nicht eigentlich derjenigen, welche er geſtern ge¬
ſehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu ſehen
bekommen, ſo hätten ſich ſeine Erinnerungskräfte
ſchon behelfen müſſen und das liebe Geſicht ſäu¬
berlich wieder zuſammengetragen, daß nicht ein
Zug daran fehlte. Jetzt aber verſagten ſie ſchlau
und hartnäckig ihren Dienſt, weil die Augen
nach ihrem Recht und ihrer Luſt verlangten, und
als am Nachmittage die Sonne warm und hell
die oberen Stockwerke der ſchwarzen Häuſer be¬
ſchien, ſtrich Sali aus dem Thore und ſeiner
alten Heimath zu, welche ihm jetzt erſt ein
himmliſches Jeruſalem zu ſein ſchien mit zwölf
17 *[266] glänzenden Pforten und die ſein Herz klopfen
machte, als er ſich ihr näherte.
Er ſtieß auf dem Wege auf Vrenchens Va¬
ter, welcher nach der Stadt zu gehen ſchien.
Der ſah ſehr wild und liederlich aus, ſein grau
gewordener Bart war ſeit Wochen nicht geſchoren
und er ſah aus wie ein recht böſer verlorener
Bauersmann, der ſein Feld verſcherzt hat und
nun geht, um Andern Übles zuzufügen. Dennoch
ſah ihn Sali, als ſie ſich vorüber gingen, nicht
mehr mit Haß, ſondern voll Furcht und Scheu
an, als ob ſein Leben in deſſen Hand ſtände
und er es lieber von ihm erflehen als ertrotzen
möchte. Marti aber maß ihn mit einem böſen
Blicke von oben bis unten und ging ſeines We¬
ges. Das war indeſſen dem Sali recht, welchem
es nun, da er den Alten das Dorf verlaſſen
ſah, deutlicher wurde, was er eigentlich da wolle,
und er ſchlich ſich auf alt bekannten Pfaden ſo
lange um das Dorf herum und durch deſſen
verdeckte Gäßchen, bis er ſich Martis Haus und
Hof gegenüber befand. Seit mehreren Jahren
hatte er dieſe Stätte nicht mehr ſo nah geſehen;
denn auch als ſie noch hier wohnten, hüteten ſich
[267] die verfeindeten Leute gegenſeitig, ſich in's Ge¬
häge zu kommen. Deshalb war er nun erſtaunt
über das, was er doch an ſeinem eigenen Va¬
terhauſe erlebt, und ſtarrte voll Verwunderung
in die Wüſtenei, die er vor ſich ſah. Dem
Marti war ein Stück Ackerland um das andere
abgepfändet worden, er beſaß nichts mehr als
das Haus und den Platz davor nebſt etwas
Garten und dem Acker auf der Höhe am Fluſſe,
von welchem er hartnäckig am längſten nicht
laſſen wollte.
Es war aber keine Rede mehr von einer
ordentlichen Bebauung und auf dem Acker, der
einſt ſo ſchön im gleichmäßigen Korne gewogt,
wenn die Erndte kam, waren jetzt allerhand ab¬
fällige Samenreſte geſäet und aufgegangen, aus
alten Schachteln und zerriſſenen Düten zuſam¬
mengekehrt, Rüben, Kraut und dergleichen und
etwas Kartoffeln, ſo daß der Acker ausſah, wie
ein recht übel gepflegter Gemüſeplatz und eine
wunderliche Muſterkarte war, dazu angelegt, um
von der Hand in den Mund zu leben, hier eine
Hand voll Rüben auszureißen, wenn man Hun¬
ger hatte und nichts beſſeres wußte, dort eine
[268] Tracht Kartoffeln oder Kraut, und das übrige
fortwuchern oder verfaulen zu laſſen, wie es
mochte. Auch lief jedermann darin herum wie
es ihm gefiel und das ſchöne breite Stück Feld
ſah beinahe ſo aus, wie einſt der herrenloſe
Acker, von dem alles Unheil herkam. Desnahen
war um das Haus nicht eine Spur von Acker¬
wirthſchaft zu ſehen. Der Stall war leer, die
Thüre hing nur in einer Angel und unzählige
Kreuzſpinnen, den Sommer hindurch halb groß
geworden, ließen ihre Fäden in der Sonne glän¬
zen vor dem dunklen Eingang. An dem offen
ſtehenden Scheunenthor, wo einſt die Früchte des
feſten Landes eingefahren, hing ſchlechtes Fiſcher¬
geräthe, zum Zeugniß der verkehrten Waſſer¬
pfuſcherei; auf dem Hofe war nicht ein Huhn
und nicht eine Taube, weder Katze noch Hund
zu ſehen, nur der Brunnen war noch als etwas
Lebendiges da, aber er floß nicht mehr durch die
Röhre, ſondern ſprang durch einen Riß nahe
am Boden über dieſen hin und ſetzte überall
kleine Tümpel an, ſo daß er das beſte Sinn¬
bild der Faulheit abgab. Denn während mit
wenig Mühe des Vaters das Loch zu verſtopfen
[269] und die Röhre herzuſtellen geweſen wäre, mußte
ſich Vrenchen nun abquälen, ſelbſt das lautere
Waſſer dieſer Verkommenheit abzugewinnen und
ſeine Wäſcherei in den ſeichten Sammlungen am
Boden vorzunehmen, ſtatt in dem vertrockneten
und zerſpällten Troge. Das Haus ſelbſt war
ebenſo kläglich anzuſehen; die Fenſter waren
vielfältig zerbrochen und mit Papier verklebt,
aber doch waren ſie das Freundlichſte an dem
Verfall; denn ſie waren, ſelbſt die zerbrochenen
Scheiben, klar und ſauber gewaſchen, ja förmlich
polirt und glänzten ſo hell, wie Vrenchens Au¬
gen, welche ihm in ſeiner Armuth ja auch allen
übrigen Staat erſetzen mußten. Und wie die
krauſen Haare und die rothgelben Kattunhals¬
tücher zu Vrenchens Augen, ſtand zu dieſen blin¬
kenden Fenſtern das wilde grüne Gewächs, was
da durcheinander rankte um das Haus, flatternde
Bohnenwäldchen und eine ganze duftende Wild¬
niß von rothgelbem Goldlack. Die Bohnen hiel¬
ten ſich, ſo gut ſie konnten, hier an einem Har¬
kenſtiel oder an einem verkehrt in die Erde ge¬
ſteckten Stumpfbeſen, dort an einer von Roſt
zerfreſſenen Helbarte oder Sponton, wie man es
[270] nannte, als Vrenchens Großvater das Ding als
Wachtmeiſter getragen, welches es jetzt aus Noth
in die Bohnen gepflanzt hatte; dort kletterten
ſie wieder luſtig eine verwitterte Leiter empor,
die am Hauſe lehnte ſeit undenklichen Zeiten,
und hingen von da in die klaren Fenſterchen
hinunter wie Vrenchens Kräuſelhaare in ſeine
Augen. Dieſer mehr maleriſche als wirthliche
Hof lag etwas beiſeit und hatte keine näheren
Nachbarhäuſer, auch ließ ſich in dieſem Augen¬
blicke nirgends eine lebendige Seele wahrneh¬
men; Sali lehnte daher in aller Sicherheit an
einem alten Scheunchen, etwa dreißig Schritte
entfernt und ſchaute unverwandt nach dem ſtillen
wüſten Hauſe hinüber. Eine geraume Zeit
lehnte und ſchaute er ſo, als Vrenchen unter
die Hausthür kam und lange vor ſich hinblickte,
wie mit allen ihren Gedanken an einem Gegen¬
ſtande hängend. Sali rührte ſich nicht und
wandte kein Auge von ihr. Als ſie endlich zu¬
fällig in dieſer Richtung hinſah, fiel er ihr in
die Augen. Sie ſahen ſich eine Weile an, her¬
über und hinüber, als ob ſie eine Lufterſchei¬
nung betrachteten, bis ſich Sali endlich aufrich¬
[271] tete und langſam über die Straße und über
den Hof ging auf Vrenchen los. Als er dem
Mädchen nahe war, ſtreckte es ſeine Hände ge¬
gen ihn aus und ſagte: Sali! Er ergriff die
Hände und ſah ihr immerfort in's Geſicht.
Thränen ſtürzten aus ihren Augen, während ſie
unter ſeinen Blicken vollends dunkelroth wurde,
und ſie ſagte: Was willſt Du hier? »Nur
Dich ſehen!« erwiederte er, »wollen wir nicht
wieder gute Freunde ſein?« »Und unſere Äl¬
tern?« fragte Vrenchen, ſein weinendes Geſicht
zur Seite neigend, da es die Hände nicht frei
hatte, um es zu bedecken. »Sind wir Schuld
an dem, was ſie gethan und geworden ſind?«
ſagte Sali, »vielleicht können wir das Elend
nur gut machen, wenn wir zwei zuſammenhalten
und uns recht lieb ſind!« »Es wird nie gut
kommen, antwortete Vrenchen mit einem tiefen
Seufzer, »geh in Gottes Namen Deiner Wege,
Sali!« »Biſt Du allein?« fragte dieſer, »kann
ich einen Augenblick hineinkommen?« »Der
Vater iſt zur Stadt, wie er ſagte, um Deinem
Vater irgend etwas anzuhängen; aber herein¬
kommen kannſt Du nicht, weil Du ſpäter viel¬
[272] leicht nicht ſo ungeſehen weggehen kannſt wie jetzt!
Noch iſt alles ſtill und Niemand um den Weg,
ich bitte Dich, geh jetzt!« »Nein, ſo geh' ich nicht!
ich mußte ſeit geſtern immer an Dich denken,
und ich geh' nicht ſo fort, wir müſſen mit ein¬
ander reden, wenigſtens eine halbe Stunde lang
oder eine Stunde, das wird uns gut thun!«
Vrenchen beſann ſich ein Weilchen und ſagte
dann: »Ich geh' gegen Abend auf unſern Acker
hinaus, Du weißt welchen, wir haben nur noch
den, und hole etwas Gemüſe. Ich weiß, daß
Niemand weiter dort ſein wird, weil die Leute
anderswo ſchneiden; wenn Du willſt, ſo komm
dort hin, aber jetzt geh' und nimm Dich in Acht,
daß Dich Niemand ſieht! Wenn auch kein
Menſch hier mehr mit uns umgeht, ſo würden
ſie doch ein ſolches Gerede machen, daß es der
Vater ſogleich vernähme.« Sie ließen ſich jetzt
die Hände frei, ergriffen ſie aber auf der Stelle
wieder und beide ſagten gleichzeitig: »Und wie
geht es Dir auch?« Aber ſtatt ſich antworten
fragten ſie das Gleiche auf's Neue und die Ant¬
wort lag nur in den beredten Augen, da ſie
nach Art der Verliebten die Worte nicht mehr
[273] zu lenken wußten und ohne ſich weiter etwas
zu ſagen, endlich halb ſelig und halb traurig
aus einander huſchten. »Ich komme recht bald
hinaus, geh' nur gleich hin!« rief Vrenchen
noch nach.
Sali ging auch alſobald auf die ſtille ſchöne
Anhöhe hinaus, über welche die drei Äcker ſich
erſtreckten, und die prächtige ſtille Juliſonne,
die fahrenden weißen Wolken, welche über das
reife wallende Kornfeld wegzogen, der glänzende
weiße Fluß, der unten vorüberwallte, alles dies
erfüllte ihn zum erſten Male ſeit langen Jahren
wieder mit Glück und Zufriedenheit, ſtatt mit
Kummer, und er warf ſich der Länge nach in
den durchſichtigen Halbſchatten des Kornes, wo
daſſelbe Martis wilden Acker begränzte, und
guckte glückſelig in den Himmel.
Obgleich es kaum eine Viertelſtunde währte,
bis Vrenchen nachkam und er an nichts anderes
dachte, als an ſein Glück und deſſen Namen,
ſtand es doch plötzlich und unverhofft vor ihm,
auf ihn niederlächelnd, und froh erſchreckt ſprang
er auf. »Vreeli!« rief er, und dieſes gab ihm
ſtill und lächelnd beide Hände, und Hand in
Keller, die Leute von Seldwyla. 18[274] Hand gingen ſie nun das flüſternde Korn ent¬
lang bis gegen den Fluß hinunter und wieder
zurück, ohne viel zu reden; ſie legten zwei und
drei Mal den Hin- und Herweg zurück, ſtill,
glückſelig und ruhig, ſo daß dieſes einige Paar
nun auch einem Sternbilde glich, welches über
die ſonnige Rundung der Anhöhe und hinter
derſelben niederging, wie einſt die ſicher gehen¬
den Pflugzüge ihrer Väter. Als ſie aber eins¬
mals die Augen von den blauen Kornblumen
aufſchlugen, an denen ſie gehaftet, ſahen ſie
plötzlich einen andern dunklen Stern vor ſich
hergehen, einen ſchwärzlichen Kerl, von dem ſie
nicht wußten, woher er ſo unverſehens gekom¬
men. Er mußte im Korne gelegen haben;
Vrenchen zuckte zuſammen und Sali ſagte
erſchreckt: Der ſchwarze Geiger! In der That
trug der Kerl, der vor ihnen herſtrich, eine
Geige mit dem Bogen unter dem Arm und ſah
übrigens ſchwarz genug aus; außer einem ſchwar¬
zen Filzhütchen und einem ſchwarzen rußigen
Kittel, den er trug, war auch ſein Haar pech¬
ſchwarz, ſo wie der ungeſchorene Bart, das Ge¬
ſicht und die Hände aber ebenfalls geſchwärzt;
[275] denn er trieb allerlei Handwerk, meiſtens Keſſel¬
flicken, half auch den Kohlenbrennern und Pech¬
ſiedern in den Wäldern, und ging mit der Geige
nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bau¬
ern irgendwo luſtig waren und ein Feſt feierten.
Sali und Vrenchen gingen mäuschenſtill hinter
ihm drein und dachten, er würde vom Felde
gehen und verſchwinden, ohne ſich umzuſehen,
und ſo ſchien es auch zu ſein, denn er that,
als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu wa¬
ren ſie in einem ſeltſamen Bann, daß ſie nicht
wagten den ſchmalen Pfad zu verlaſſen und dem
unheimlichen Geſellen unwillkürlich folgten, bis
an das Ende des Feldes, wo jener ungerechte
Steinhaufen lag, der das immer noch ſtreitige
Ackerzipfelchen bedeckte. Eine zahlloſe Menge
von Mohnblumen oder Klatſchroſen hatte ſich
darauf angeſiedelt, weshalb der kleine Berg
feuerroth ausſah zur Zeit. Plötzlich ſprang der
ſchwarze Geiger mit einem Satze auf die roth
bekleidete Steinmaſſe hinauf, kehrte ſich und ſah
ringsum. Das Pärchen blieb ſtehen und ſah
verlegen zu dem dunklen Burſchen hinauf; denn
vorbei konnten ſie nicht gehen, weil der Weg in
18 *[276] das Dorf führte und umkehren mochten ſie auch
nicht vor ſeinen Augen. Er ſah ſie ſcharf an
und rief! »Ich kenne Euch, Ihr ſeid die Kin¬
der derer, die mir den Boden hier geſtohlen
haben! Es freut mich zu ſehen, wie gut Ihr
gefahren ſeid und werde gewiß noch erleben,
daß Ihr vor mir den Weg alles Fleiſches geht!
Seht mich nur an, Ihr zwei Spatzen! Gefällt
Euch meine Naſe, wie?« In der That beſaß
er eine ſchreckbare Naſe, welche wie ein großes
Winkelmaß aus dem dürren ſchwarzen Geſicht
ragte oder eigentlich mehr einem tüchtigen Kne¬
bel oder Prügel glich, welcher in dies Geſicht
geworfen worden war, und unter dem ein klei¬
nes rundes Löchelchen von einem Munde ſich
ſeltſam ſtutzte und zuſammenzog, aus dem er
unaufhörlich puſtete, pfiff und ziſchte. Dazu
ſtand das kleine Filzhütchen ganz unheimlich,
welches nicht rund und nicht eckig und ſo ſon¬
derlich geformt war, daß es alle Augenblicke ſeine
Geſtalt zu verändern ſchien, obgleich es unbe¬
weglich ſaß, und von den Augen des Kerls war
faſt nichts als das Weiße zu ſehen, da die
Sterne unaufhörlich auf einer blitzſchnellen Wan¬
[277] derung begriffen waren und wie zwei Haſen im
Zickzack umherſprangen. »Seht mich nur an«,
fuhr er fort, »Eure Väter kennen mich wohl
und jedermann in dieſem Dorfe weiß wer ich
bin, wenn er nur meine Naſe anſieht. Da ha¬
ben ſie vor Jahren ausgeſchrieben, daß ein Stück
Geld für den Erben dieſes Ackers bereit liege;
ich habe mich [zwanzig] Mal gemeldet, aber ich
habe keinen Taufſchein und keinen Heimathſchein
und meine Freunde, die Heimathloſen, die meine
Geburt geſehen, haben kein gültiges Zeugniß,
und ſo iſt die Friſt längſt verlaufen und ich bin
um den blutigen Pfennig gekommen mit dem ich
hätte auswandern können! Ich habe Eure Vä¬
ter angefleht, daß ſie mir bezeugen möchten, ſie
müßten mich nach ihrem Gewiſſen für den rech¬
ten Erben halten; aber ſie haben mich von ihren
Höfen gejagt und nun ſind ſie ſelbſt zum Teufel
gegangen! Item, das iſt der Welt Lauf, mir
kann's recht ſein, ich will Euch doch geigen,
wenn Ihr tanzen wollt!« Damit ſprang er
auf der andern Seite von den Steinen hinun¬
ter und machte ſich dem Dorfe zu, wo gegen
Abend der Ernteſegen eingebracht wurde und die
[278] Leute guter Dinge waren. Als er verſchwun¬
den, ließ ſich das Paar ganz muthlos und be¬
trübt auf die Steine nieder; ſie ließen ihre
verſchlungenen Hände fahren und ſtützten die
traurigen Köpfe darauf; denn die Erſcheinung
des Geigers und ſeine Worte hatten ſie aus
der glücklichen Vergeſſenheit geriſſen, in welcher
ſie wie zwei Kinder auf und abgewandelt, und
wie ſie nun auf dem harten Grund ihres Elen¬
des ſaßen, verdunkelte ſich das heitere Lebens¬
licht und ihre Gemüther wurden ſo ſchwer wie
Steine.
Da erinnerte ſich Vrenchen unverſehens der
wunderlichen Geſtalt und der Naſe des Gei¬
gers, es mußte plötzlich hell auflachen und rief:
»Der arme Kerl ſieht gar zu ſpaßhaft aus!
Was für eine Naſe!« und eine allerliebſte ſon¬
nenhelle Luſtigkeit verbreitete ſich über des Mäd¬
chens Geſicht, als ob ſie nur geharrt hätte, bis
des Geigers Naſe die trüben Wolken wegſtieße.
Sali ſah Vrenchen an und ſah dieſe Fröhlich¬
keit. Es hatte die Urſache aber ſchon wieder
Vergeſſen und lachte nur noch auf eigene Rech¬
nung dem Sali in's Geſicht. Dieſer, verblüfft
[279] und erſtaunt, ſtarrte unwillkürlich mit lachendem
Munde auf die Augen, gleich einem Hungrigen,
der ein ſüßes Weizenbrod erblickt, und rief:
»Bei Gott, Vreeli! wie ſchön biſt Du!« Vren¬
chen lachte ihn nur noch mehr an und hauchte
dazu aus klangvoller Kehle einige kurze muth¬
willige Lachtöne, welche dem armen Sali nicht
anders dünkten, als der Geſang einer Nachtigall.
»O Du Hexe! rief er, wo haſt Du das ge¬
lernt? welche Teufelskünſte treibſt Du da?«
»Ach Du lieber Gott! ſagte Vrenchen mit ſchmei¬
chelnder Stimme und nahm Sali's Hand, »das
ſind keine Teufelskünſte! Wie lange hätte ich gern
einmal gelacht! Ich habe wohl zuweilen, wenn
ich ganz allein war, über irgend etwas lachen
müſſen, aber es war nichts Rechts dabei; jetzt
aber möchte ich Dich immer und ewig anlachen,
wenn ich Dich ſehe, und ich möchte Dich wohl
immer und ewig ſehen! Biſt Du mir auch
ein bischen recht gut? »O Vreeli! ſagte er
und ſah ihr ergeben und treuherzig in die Au¬
gen, ich habe noch nie ein Mädchen angeſehen,
es war mir immer, als ob ich Dich einſt lieb
haben müßte und ohne daß ich wollte oder wußte,
[280] haſt Du mir doch immer im Sinn gelegen!«
»Und Du mir auch, ſagte Vrenchen, und das
noch viel mehr; denn Du haſt mich nie ange¬
ſehen und wußteſt nicht, wie ich geworden bin;
ich aber habe dich zu Zeiten aus der Ferne
und ſogar heimlich aus der Nähe recht gut be¬
trachtet und wußte immer, wie Du ausſiehſt!
Weißt Du noch, wie oft wir als Kinder hieher
gekommen ſind? denkſt Du noch des kleinen
Wagens? Wie kleine Leute ſind wir damals
geweſen und wie lang iſt es her! Man ſollte
denken wir wären recht alt?« »Wie alt biſt
Du jetzt?« fragte Sali voll Vergnügen und
Zufriedenheit, »Du mußt ungefähr ſiebzehn ſein?«
»Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt!«
erwiederte Vrenchen, »und wie alt biſt Du?
Ich weiß aber ſchon, Du biſt bald zwanzig!«
»Woher weißt Du das?« fragte Sali. »Gelt,
wenn ich es ſagen wollte!« »Du willſt es
nicht ſagen?« »Nein!« »Gewiß nicht?«
»Nein, nein!« »Du ſollſt es ſagen!« »Willſt
Du mich etwa zwingen?« »Das wollen wir
ſehen!« Dieſe einfältigen Worte führte Sali,
um ſeine Hände zu beſchäftigen und mit unge¬
[281] ſchickten Liebkoſungen, welche wie eine Strafe
ausſehen ſollten, das ſchöne Mädchen zu bedrän¬
gen. Sie führte auch, ſich wehrend, mit vieler
Langmuth den albernen Wortwechſel fort, der
trotz ſeiner Leerheit beide witzig und ſüß genug
dünkte, bis Sali erboſt und kühn genug war,
Vrenchens Hände zu bezwingen und es in die
Mohnblumen zu drücken. Da lag es nun und
zwinkerte in der Sonne mit den Augen, ſeine
Wangen glühten wie Purpur und ſein Mund
war halb geöffnet und ließ zwei Reihen weiße
Zähnchen durchſchimmern. Fein und ſchön floſ¬
ſen die dunklen Augenbraunen in einander und
die junge Bruſt hob und ſenkte ſich muthwillig
unter ſämmtlichen vier Händen, welche ſich kun¬
terbunt darauf ſtreichelten und bekriegten. Sali
wußte ſich nicht zu laſſen vor Freuden, das
ſchlanke ſchöne Geſchöpf vor ſich zu ſehen, es
ſein eigen zu wiſſen, und es dünkte ihm ein
Königreich. »Alle Deine weißen Zähne haſt Du
noch! lachte er, weißt Du noch, wie oft wir
ſie einſt gezählt haben? Kannſt Du jetzt zäh¬
len?« »Das ſind ja nicht die gleichen, Du
Löhli! ſagte Vrenchen, jene ſind längſt ausge¬
[282] fallen!« Sali wollte nun in ſeiner Einfalt
jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden
Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verſchloß plötz¬
lich den rothen Mund, richtete ſich auf und be¬
gann einen Kranz von Mohnroſen zu winden,
den es ſich auf den Kopf ſetzte. Der Kranz
war voll und breit und gab der bräunlichen
Dirne ein fabelhaftes reizendes Anſehen, und
der arme Sali hielt in ſeinem Arm, was reiche
Leute theuer bezahlt hätten, wenn ſie es nur
gemalt an ihren Wänden hätten ſehen können.
Jetzt ſprang ſie aber empor und rief: »Himmel,
wie heiß iſt es hier! Da ſitzen wir wie die
Narren und laſſen uns verſengen! Komm, mein
Lieber! laß uns in's hohe Korn ſitzen!« Sie
ſchlüpften hinein ſo geſchickt und ſachte, daß ſie
kaum eine Spur zurückließen, und bauten ſich
einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die
ihnen hoch über den Kopf ragten, als ſie drin
ſaßen, ſo daß ſie nur den tiefblauen Himmel
über ſich ſahen und ſonſt nichts von der Welt.
Sie umhalſten ſich und küßten ſich unverweilt
und ſo lange bis ſie einſtweilen müde waren,
oder wie man es nennen will, wenn das Küſſen
[283] zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten
ſich ſelbſt überlebt und die Vergänglichkeit alles
Lebens mitten im Rauſche der Blüthezeit ahnen
läßt. Sie hörten die Lerchen ſingen hoch über
ſich und ſuchten dieſelben mit ihren ſcharfen Au¬
gen, und wenn ſie glaubten, flüchtig Eine in
der Sonne aufblitzen zu ſehen, gleich einem plötz¬
lich aufleuchtenden oder hinſchießenden Stern am
blauen Himmel, ſo küßten ſie ſich wieder zur
Belohnung und ſuchten einander zu übervorthei¬
len und zu täuſchen, ſo viel ſie konnten. »Siehſt
Du, dort blitzt Eine!« flüſterte Sali und Vren¬
chen erwiederte eben ſo leiſe: »Ich höre ſie
wohl, aber ich ſehe ſie nicht!« »Doch, paß nur
auf, dort wo das weiße Wölkchen ſteht ein we¬
nig rechts davon!« Und beide ſahen eifrig hin
und ſperrten vorläufig ihre Schnäbel auf, wie
die jungen Wachteln im Neſte, um ſie unver¬
züglich auf einander zu heften, wenn ſie ſich ein¬
bildeten, die Lerche geſehen zu haben. Auf ein¬
mal hielt Vrenchen inne und ſagte: »Dies iſt
alſo eine ausgemachte Sache, daß Jedes von
uns einen Schatz hat, dünkt es Dich nicht ſo?«
»Ja, ſagte Sali, es ſcheint mir faſt auch!«
[284] »Wie gefällt Dir denn Dein Schätzchen, ſagte
Vrenchen, was iſt es für ein Ding, was haſt
Du von ihm zu melden?« »Es iſt ein gar
feines Ding, ſagte Sali, es hat zwei braune Au¬
gen, einen rothen Mund und läuft auf zwei
Füßen; aber ſeinen Sinn kenn ich weniger als
den Pabſt zu Rom! und was kannſt Du von
Deinem Schatz berichten?« »Er hat zwei
braune Augen, einen nichtsnutzigen Mund und
braucht zwei verwegene ſtarke Arme; aber ſeine
Gedanken ſind mir unbekannter, als der türkiſche
Kaiſer!« »Es iſt eigentlich wahr, ſagte Sali,
daß wir uns weniger kennen, als wenn wir uns
nie geſehen hätten, ſo fremd hat uns die lange
Zeit gemacht, ſeit wir groß geworden ſind!
Was iſt alles vorgegangen in Deinem Köpfchen,
mein liebes Kind?« »Ach, nicht viel! tauſend
Narrenſpoſſen haben ſich wollen regen, aber es
iſt mir immer ſo trübſelig ergangen, daß ſie
nicht aufkommen konnten!« »Du armes Schätz¬
chen! ſagte Sali, ich glaube aber Du haſt es
hinter den Ohren, nicht?« »Das kannſt Du
ja nach und nach erfahren, wenn Du mich recht
lieb haſt!« »Wenn Du einſt meine Frau biſt?«
[285] Vrenchen zitterte leis bei dieſem letzten Worte
und ſchmiegte ſich tiefer in Sali's Arme, ihn
von Neuem lange und zärtlich küſſend. Es tra¬
ten ihr dabei Thränen in die Augen und beide
wurden auf einmal traurig, da ihnen ihre hoff¬
nungsarme Zukunft in den Sinn kam und die
Feindſchaft ihrer Ältern. Vrenchen ſeufzte und
ſagte: Komm, ich muß nun gehen! und ſo er¬
hoben ſie ſich und gingen Hand in Hand aus
dem Kornfeld, als ſie Vrenchens Vater ſpähend
vor ſich ſahen. Mit dem kleinlichen Scharfſinn
des müſſigen Elendes hatte dieſer, als er dem
Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der
wohl allein im Dorfe zu ſuchen ginge, und ſich
des geſtrigen Vorfalles erinnernd, verfiel er,
immer nach der Stadt zu ſchlendernd, endlich
auf die richtige Spur, rein aus Groll und un¬
beſchäftigter Bosheit, und nicht ſo bald gewann
der Verdacht eine beſtimmte Geſtalt, ſo kehrte
er mitten in den Gaſſen von Seldwyla um und
trollte wieder in das Dorf hinaus, wo er ſeine
Tochter in Haus und Hof und rings in den
Hecken vergeblich ſuchte. Mit wachſender Neu¬
gier rannte er auf den Acker hinaus, und als
[286] er da Vrenchens Korb liegen ſah, in welchem
es die Früchte zu holen pflegte, das Mädchen
ſelbſt aber nirgends erblickte, ſpähte er eben am
Korne des Nachbars herum, als die erſchrockenen
Kinder herauskamen.
Sie ſtanden wie verſteinert und Marti ſtand
erſt auch da und beſchaute ſie mit böſen Blicken,
bleich wie Blei; dann fing er fürchterlich an zu
toben in Geberden und Schimpfworten und langte
zugleich grimmig nach dem jungen Burſchen, um
ihn zu würgen; Sali wich aus und floh einige
Schritte zurück, entſetzt über den wilden Mann,
ſprang aber ſogleich wieder zu, als er ſah, daß
der Alte ſtatt ſeiner nun das zitternde Mädchen
faßte, ihm eine Ohrfeige gab, daß der rothe
Kranz herunterflog, und ſeine Haare um die
Hand wickelte, um es mit ſich fort zu reißen
und weiter zu mißhandeln. Ohne ſich zu beſin¬
nen, raffte er einen Stein auf und ſchlug mit
demſelben den Alten gegen den Kopf, halb in
Angſt um Vrenchen und halb im Jähzorn.
Marti taumelte ein wenig und ſank dann bewußt¬
los auf den Steinhaufen nieder und zog das
erbärmlich aufſchreiende Vrenchen mit. Sali
[287] befreite noch deſſen Haare aus der Hand des
Bewußtloſen und richtete es auf; dann ſtand er
da wie eine Bildſäule, rathlos und gedankenlos.
Das Mädchen, als es den wie todt daliegenden
Vater ſah, fuhr ſich mit den Händen über das
erbleichende Geſicht, ſchüttelte ſich und ſagte:
Haſt Du ihn erſchlagen? Sali nickte lautlos
und Vrenchen ſchrie: O Gott, Du lieber Gott!
Es iſt mein Vater! der arme Mann! und ſinn¬
los warf es ſich über ihn und hob ſeinen Kopf
auf, an welchem indeſſen kein Blut floß. Es
ließ ihn wieder ſinken, Sali ließ ſich auf der
andern Seite des Mannes nieder und Beide
ſchauten, ſtill wie das Grab und mit erlahmten
regloſen Händen in das lebloſe Geſicht. Um
nur etwas anzufangen, ſagte endlich Sali: »Er
wird doch nicht gleich todt ſein müſſen? das
iſt gar nicht ausgemacht!« Vrenchen riß ein
Blatt von einer Klatſchroſe ab und legte es auf
die erblaßten Lippen und es bewegte ſich ſchwach.
»Er athmet noch, rief es, ſo lauf doch in's
Dorf und hol' Hülfe!« Als Sali aufſprang und
laufen wollte, ſtreckte es ihm die Hand nach und
rief ihn zurück: Komm aber nicht mit zurück
[288] und ſage nichts, wie es zugegangen, ich werde
auch ſchweigen, man ſoll nichts aus mir heraus¬
bringen! ſagte es und ſein Geſicht, das es dem
armen rathloſen Burſchen zuwandte, überfloß
von ſchmerzlichen Thränen. »Komm, küß mich
noch ein Mal! Nein, geh, mach Dich fort!
Es iſt aus, es iſt ewig aus, wir können nicht
zuſammenkommen!« Es ſtieß ihn fort und er
lief willenlos dem Dorfe zu. Er begegnete ei¬
nem Knäbchen, das ihn nicht kannte; dieſem
trug er auf, die nächſten Leute zu holen und
beſchrieb ihm genau, wo die Hülfe nöthig ſei.
Dann machte er ſich verzweifelt fort und irrte
die ganze Nacht im Gehölze herum. Am Mor¬
gen ſchlich er in die Felder, um zu erſpähen,
wie es gegangen ſei, und hörte von frühen Leu¬
ten, welche mit einander ſprachen, daß Marti
noch lebe, aber nichts von ſich wiſſe, und wie
das eine ſeltſame Sache ſei, da kein Menſch
wiſſe, was ihm zugeſtoßen. Erſt jetzt ging er
in die Stadt zurück und verbarg ſich in dem
dunkeln Elend des Hauſes.
[289]
Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts
aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den
Vater ſo gefunden habe, und da er am andern
Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬
lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger
da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken
geweſen und auf die Steine gefallen und ließ
die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte
ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um
die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa
für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es
Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand
ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen,
bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein
kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in
ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war
nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte,
ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr
er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar
auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich
nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas
ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre,
lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter
Keller, die Leute von Seldwyla. 19[290] Dinge. Noch im Bette liegend brachte er hun¬
dert närriſche, ſinnlos muthwillige Redensarten
und Einfälle zum Vorſchein, ſchnitt Geſichter und
zog ſich die ſchwarzwollene Zipfelmütze in die
Augen und über die Naſe herunter, daß dieſe
ausſah, wie ein Sarg unter einem Bahrtuch.
Das bleiche und abgehärmte Vrenchen hörte ihm
geduldig zu, Thränen vergießend über das thö¬
richte Weſen, welches die arme Tochter noch mehr
ängſtigte, als die frühere Bosheit; aber wenn
der Alte zuweilen etwas gar zu drolliges an¬
ſtellte, ſo mußte es mitten in ſeiner Qual laut
auflachen, da ſein unterdrücktes Weſen immer
zur Luſt aufzuſpringen bereit war, wie ein ge¬
ſpannter Bogen, worauf aber eine um ſo tie¬
fere Betrübniß erfolgte. Als der Alte aber
aufſtehen konnte, war gar nichts mehr mit ihm
anzuſtellen, er machte nichts als Dummheiten,
lachte und ſtöberte um das Haus herum, ſetzte
ſich in die Sonne und ſtreckte die Zunge heraus
oder hielt lange Reden in die Bohnen hinein.
Um die gleiche Zeit aber war es auch aus
mit den letzten Überbleibſeln ſeines ehemaligen
Beſitzes und die Unordnung ſo weit gediehen,
[291] daß auch ſein Haus und der letzte Acker, ſeit
geraumer Zeit verpfändet, nun gerichtlich ver¬
kauft wurden. Denn der Bauer, welcher die
zwei Äcker des Manz gekauft, benutzte die gänz¬
liche Verkommenheit Martis und ſeine Krankheit
und führte den alten Streit wegen des ſtrittigen
Steinfleckes kurz und entſchloſſen zu Ende und
der verlorene Prozeß trieb Martis Faß vollends
den Boden aus, indeſſen er in ſeinem Blödſinne
nichts mehr von dieſen Dingen wußte. Die
Verſteigerung fand ſtatt; Marti wurde von der
Gemeinde in einer Stiftung für dergleichen arme
Tröpfe auf öffentliche Koſten untergebracht; dieſe
Anſtalt befand ſich in der Hauptſtadt des Länd¬
chens, der geſunde und eßbegierige Blödſinnige
wurde noch gut gefüttert, dann auf ein mit
Ochſen beſpanntes Wägelchen geladen, das ein
ärmlicher Bauersmann nach der Stadt führte,
um zugleich einen oder zwei Säcke Kartoffeln
zu verkaufen, und Vrenchen ſetzte ſich zu dem
Vater auf das Fuhrwerk, um ihn auf dieſem
letzten Gange zu dem lebendigen Begräbniß zu
begleiten. Es war eine traurige und bittere
Fahrt, aber Vrenchen wachte ſorgfältig über ſei¬
19*[292] nen Vater und ließ es ihm an nichts fehlen,
und es ſah ſich nicht um und ward nicht unge¬
duldig, wenn durch die Capriolen des Unglück¬
lichen die Leute aufmerkſam wurden und dem
Wägelchen nachliefen, wo ſie durchfuhren. End¬
lich erreichten ſie das weitläufige Gebäude in
der Stadt, wo die langen Gänge, die Höfe und
ein freundlicher Garten von einer Menge ähn¬
licher Tröpfe belebt waren, die alle in weiße
Kittel gekleidet waren und dauerhafte Lederkäpp¬
chen auf den harten Köpfen trugen. Auch
Marti wurde noch vor Vrenchens Augen in dieſe
Tracht gekleidet, und er freuete ſich wie ein
Kind darüber und tanzte ſingend umher. »Gott
grüß euch, ihr geehrten Herren!« rief er ſeine
neuen Genoſſen an, »ein ſchönes Haus habt ihr
hier! Geh' heim, Vrenggel! und ſag' der Mutter,
ich komme nicht mehr nach Haus, hier gefällt's
mir bei Gott! Juchhei! Es kreucht ein Igel
über den Hag, ich hab' ihn hören bellen! O
Meitli küß kein' alten Knab, küß nur die jun¬
gen Geſellen! Alle die Wäſſerlein laufen in
Rhein, die mit dem Pflaumenaug', die muß es
ſein! Gehſt Du ſchon, Vreeli? Du ſiehſt ja
[293] aus wie der Tod im Häfelein und geht es mir
doch ſo erfreulich! Die Füchſinn ſchreit im
Felde: Halleo, halleo! das Herz thut ihr weho!
hoho!« Ein Aufſeher gebot ihm Ruhe und führte
ihn zu einer leichten Arbeit, und Vrenchen ging
das Fuhrwerk aufzuſuchen. Es ſetzte ſich auf
den Wagen, zog ein Stückchen Brod hervor und
aß daſſelbe; dann ſchlief es, bis der Bauer kam
und mit ihm nach dem Dorfe zurückfuhr. Sie
kamen erſt in der Nacht an. Vrenchen ging
nach dem Hauſe, in dem es geboren und nur
zwei Tage bleiben durfte, und es war jetzt zum
erſten Mal in ſeinem Leben ganz allein darin.
Es machte ein Feuer, um das letzte Reſtchen
Kaffee zu kochen, das es noch beſaß, und ſetzte
ſich auf den Heerd; denn es war ihm ganz
elendiglich zu Muth. Es ſehnte ſich und härmte
ſich ab, den Sali nur ein einziges Mal zu ſehen
und dachte inbrünſtig an ihn; aber die Sorgen
und der Kummer verbitterten ſeine Sehnſucht
und dieſe machte die Sorgen wieder viel ſchwe¬
rer. So ſaß es und ſtützte den Kopf in die
Hände, als Jemand durch die offenſtehende Thür
hereinkam. »Sali!« rief Vrenchen, als es auf¬
[294] ſah, und fiel ihm um den Hals; dann ſahen
ſich aber Beide erſchrocken an und riefen: »Wie
ſiehſt Du elend aus!» Denn Sali ſah nicht
minder als Vrenchen bleich und abgezehrt aus.
Alles vergeſſend zog es ihn zu ſich auf den
Heerd und ſagte: »Biſt Du krank geweſen, oder
iſt es Dir auch ſo ſchlimm gegangen?« Sali
antwortete: »Nein, ich bin gerade nicht krank,
außer vor Heimweh nach Dir! Bei uns geht
es jetzt hoch und herrlich zu; der Vater hat
einen Einzug und Unterſchleif von auswärtigem
Geſindel und ich glaube, ſo viel ich merke, iſt
er ein Diebshehler geworden. Deshalb iſt jetzt
einſtweilen Hülle und Fülle in unſerer Taverne,
ſo lang es geht und bis es ein Ende mit Schre¬
cken nimmt. Die Mutter hilft dazu, aus bitter¬
licher Gier, nur etwas im Hauſe zu ſehen, und
glaubt den Unfug noch durch eine gewiſſe Auf¬
ſicht und Ordnung annehmlich und nützlich zu
machen! Mich fragt man nicht und ich konnte
mich nicht viel darum kümmern; denn ich kann
nur an Dich denken Tag und Nacht. Da aller¬
lei Landſtreicher bei uns einkehren, ſo haben wir
alle Tage gehört, was bei euch vorgeht, worüber
[295] mein Vater ſich freut wie ein kleines Kind.
Daß Dein Vater heute nach dem Spittel ge¬
bracht wurde, haben wir auch vernommen; ich
habe gedacht, Du werdeſt jetzt allein ſein und
bin gekommen, um Dich zu ſehen!« Vrenchen
klagte ihm jetzt auch alles, was ſie drückte und
was ſie erlitt, aber mit ſo leichter zutraulicher
Zunge, als ob ſie ein großes Glück beſchriebe,
weil ſie glücklich war, Sali neben ſich zu ſehen.
Sie brachte inzwiſchen nothdürftig ein Becken
voll warmen Kaffee zuſammen, welchen mit ihr
zu theilen ſie den Geliebten zwang. »Alſo über¬
morgen mußt Du hier weg?« ſagte Sali, »was
ſoll denn um's Himmelswillen werden?« »Das
weiß ich nicht,« ſagte Vrenchen, »ich werde die¬
nen müſſen und in die Welt hinaus! Ich werde
es aber nicht aushalten ohne Dich; und doch
kann ich Dich nie bekommen, auch wenn alles
andere nicht wäre, blos weil Du meinen Vater
geſchlagen und um den Verſtand gebracht haſt!
Dies würde immer ein ſchlechter Grundſtein un¬
ſerer Ehe ſein und wir beide nie ſorglos werden,
nie!« Sali ſeufzte und ſagte: »Ich wollte auch
ſchon hundert Mal Soldat werden oder mich in
[296] einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber
ich kann noch nicht fortgehen, ſo lange Du hier
biſt, und hernach wird es mich aufreiben. Ich
glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir
ſtärker und ſchmerzhafter, ſo daß es um Leben
und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine
Ahnung gehabt!« Vrenchen ſah ihn liebevoll
lächelnd an; ſie lehnten ſich an die Wand zu¬
rück und ſprachen nichts mehr, ſondern gaben ſich
ſchweigend der glückſeligen Empfindung hin, die
ſich über allen Gram erhob, daß ſie ſich im
größten Ernſte gut wären und geliebt wüßten.
Darüber ſchliefen ſie friedlich ein auf dem unbe¬
quemen Heerde, ohne Kiſſen und Pfühl, und
ſchliefen ſo ſanft und ruhig wie zwei Kinder in
einer Wiege. Schon graute der Morgen, als
Sali zuerſt erwachte; er weckte Vrenchen ſo ſacht
er konnte; aber es duckte ſich immer wieder an
ihn, ſchlaftrunken, und wollte ſich nicht ermuntern.
Da küßte er es heftig auf den Mund und Vren¬
chen fuhr empor, machte die Augen weit auf
und als es Sali erblickte, rief es: »Herrgott!
ich habe eben noch von Dir geträumt! Es
träumte mir, wir tanzten mit einander auf unſe¬
[297] rer Hochzeit, lange, lange Stunden! und waren
ſo glücklich, ſauber geſchmückt und es fehlte uns
an nichts. Da wollten wir uns endlich küſſen
und dürſteten darnach, aber immer zog uns Et¬
was auseinander und nun biſt Du es ſelbſt ge¬
weſen, der uns geſtört und gehindert hat! Aber
wie gut, daß Du gleich da biſt!« Gierig fiel
es ihm um den Hals und küßte ihn, als ob es
kein Ende nehmen ſollte. »Und was haſt Du
denn geträumt?« fragte er und ſtreichelte ihm
Wangen und Kinn. »Mir träumte, ich ginge
endlos auf einer langen Straße durch einen
Wald und Du in der Ferne immer vor mir
her; zuweilen ſaheſt Du nach mir um, winkteſt
mir und lachteſt und dann war ich wie im Him¬
mel. Das iſt Alles!« Sie traten unter die
offengebliebene Küchenthüre, die unmittelbar in's
Freie führte, und mußten lachen, als ſie ſich in's
Geſicht ſahen. Denn die rechte Backe Vrenchens
und die linke Salis, welche im Schlafe anein¬
ander gelehnt hatten, waren von dem Drucke
ganz roth gefärbt, während die Bläſſe der an¬
dern durch die kühle Nachtluft noch erhöht war.
Sie rieben ſich zärtlich die kalte bleiche Seite
[298] ihrer Geſichter, um ſie auch roth zu machen;
die friſche Morgenluft, der thauige ſtille Frieden,
der über der Gegend lag, das junge Morgenroth
machten ſie fröhlich und ſelbſtvergeſſen und beſon¬
ders in Vrenchen ſchien ein freundlicher Geiſt
der Sorgloſigkeit gefahren zu ſein. »Morgen
Abend muß ich alſo aus dieſem Hauſe fort,«
ſagte es, »und ein anderes Obdach ſuchen. Vor¬
her aber möchte ich Ein Mal, nur Ein Mal
recht luſtig ſein, und zwar mit Dir; ich möchte
recht herzlich und fleißig mit Dir tanzen irgendwo,
denn das Tanzen aus dem Traume ſteckt mir
immerfort im Sinn!« »Jedenfalls will ich dabei
ſein und ſehen, wo Du unterkommſt,« ſagte Sali,
»und tanzen wollte ich auch gerne mit Dir, Du
herziges Kind! aber wo?« »Es iſt Morgen
Kirchweih an zwei Orten nicht ſehr weit von
hier,« erwiederte Vrenchen, »da kennt und be¬
achtet man uns weniger; draußen am Waſſer
will ich auf Dich warten und dann können wir
gehen, wohin es uns gefällt, um uns luſtig zu
machen, einmal, Ein Mal nur! Aber je, wir
haben ja gar kein Geld!« ſetzte es traurig hinzu,
»da kann nichts daraus werden!« »Laß nur,
[299] ſagte Sali, ich will ſchon etwas mitbringen!«
»Doch nicht von Deinem Vater, von — von
dem Geſtohlenen?« »Nein, ſei nur ruhig! ich
habe noch meine ſilberne Uhr bewahrt bis dahin,
die will ich verkaufen.« »Ich will Dir nicht
abrathen, ſagte Vrenchen erröthend, denn ich
glaube, ich müßte ſterben, wenn ich nicht morgen
mit Dir tanzen könnte.« »Es wäre das Beſte,
wir Beide könnten ſterben!« ſagte Sali, ſie um¬
armten ſich wehmüthig und ſchmerzlich zum Ab¬
ſchied, und als ſie von einander ließen, lachten
ſie ſich doch freundlich an in der ſichern Hoff¬
nung auf den nächſten Tag. »Aber wann willſt
Du denn kommen?« rief Vrenchen noch; »ſpä¬
teſtens um eilf Uhr Mittags, erwiederte er, wir
wollen recht ordentlich zuſammen Mittag eſſen!«
»Gut, gut! komm lieber um halb eilf ſchon!«
Doch als Sali ſchon im Gehen war, rief ſie
ihn noch einmal zurück und zeigte ein plötzlich
verändertes verzweiflungsvolles Geſicht. »Es
wird doch nichts daraus, ſagte ſie bitterlich wei¬
nend, ich habe keine Sonntagsſchuhe mehr! Schon
geſtern habe ich dieſe groben hier anziehen müſ¬
ſen, um nach der Stadt zu kommen! Ich weiß
[300] keine Schuhe aufzubringen!« Sali ſtand rathlos
und verblüfft. »Keine Schuhe! ſagte er, da
mußt Du halt in dieſen kommen!« »Nein,
nein, in denen kann ich nicht tanzen!« »Nun,
ſo müſſen wir welche kaufen?» »Wo, mit
was?« »Ei, in Seldwyl da giebt es Schuh¬
läden genug! Geld werde ich in minder als zwei
Stunden haben.« »Aber ich kann doch nicht
mit Dir in Seldwyl herumgehen, und dann
wird das Geld nicht langen, auch noch Schuhe
zu kaufen!« »Es muß! und ich will die Schuhe
kaufen und morgen mitbringen!« »O Du Närr¬
chen, ſie werden ja nicht paſſen, die Du kaufſt!«
»So gieb mir einen alten Schuh mit, oder halt,
noch beſſer, ich will Dir das Maß nehmen, das
wird doch kein Hexenwerk ſein!« »Das Maß
nehmen? Wahrhaftig, daran hab' ich nicht ge¬
dacht! Komm, komm, ich will Dir ein Schnürchen
ſuchen!« Sie ſetzte ſich wieder auf den Heerd,
zog den Rock etwas zurück und ſtreifte den
Schuh vom Fuße, der noch von der geſtrigen
Reiſe her mit einem weißen Strumpfe bekleidet
war. Sali kniete nieder und nahm ſo gut er
es verſtand, das Maß, indem er den zierlichen
[301] Fuß der Länge und Breite nach umſpannte mit
dem Schnürchen und ſorgfältig Knoten in das¬
ſelbe knüpfte. »Du Schuhmacher!« ſagte Vren¬
chen und lachte erröthend und freundſchaftlich
zu ihm nieder. Sali wurde aber auch roth und
hielt den Fuß feſt in ſeinen Händen, länger als
nöthig war, ſo daß Vrenchen ihn noch tiefer
erröthend zurückzog, den verwirrten Sali aber
noch einmal ſtürmiſch umhalſte und küßte, dann
aber fortſchickte.
Sobald er in der Stadt war, trug er ſeine
Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm ſechs oder
ſieben Gulden dafür gab, für die ſilberne Kette
bekam er auch einige Gulden, und er dünkte
ſich nun reich genug; denn er hatte, ſeit er
groß war, nie ſo viel Geld beſeſſen auf einmal.
Wenn nur erſt der Tag vorüber und der Sonn¬
tag angebrochen wäre, um das Glück damit zu
erkaufen, das er ſich von dem Tage verſprach,
dachte er; denn wenn das Übermorgen auch um
ſo dunkler und unbekannter hereinragte, ſo ge¬
wann die erſehnte Luſtbarkeit von Morgen nur
einen ſeltſamern erhöhten Glanz und Schein.
Indeſſen brachte er die Zeit noch leidlich hin,
[302] indem er ein Paar Schuhe für Vrenchen ſuchte,
und dies war ihm das vergnügteſte Geſchäft,
das er je betrieben. Er ging von einem Schuh¬
macher zum andern, ließ ſich alle Weiberſchuhe
zeigen, die vorhanden waren, und endlich han¬
delte er ein leichtes und feines Paar ein, ſo
hübſch, wie ſie Vrenchen noch nie getragen. Er
verbarg die Schuhe unter ſeiner Weſte und that
ſie die übrige Zeit des Tages nicht mehr von
ſich; er nahm ſie ſogar mit in's Bett und legte
ſie unter das Kopfkiſſen. Da er das Mädchen
heute früh noch geſehen und morgen wieder
ſehen ſollte, ſo ſchlief er feſt und ruhig, war
aber in aller Frühe munter und begann ſeinen
dürftigen Sonntagsſtaat zurecht zu machen und
auszuputzen, ſo gut es gelingen wollte. Es fiel
ſeiner Mutter auf und ſie fragte verwundert,
was er vor habe, da er ſich ſchon lange nicht
mehr ſo ſorglich angezogen. Er wolle einmal
über Land gehen und ſich ein wenig umthun,
erwiederte er, er werde ſonſt krank in dieſem
Hauſe. »Das iſt mir die Zeit her ein merk¬
würdiges Leben, murrte der Vater, und ein
Herumſchleichen!« »Laß ihn nur gehen, ſagte
[303] aber die Mutter, es thut ihm vielleicht gut, es
iſt ja ein Elend, wie er ausſieht!« »Haſt Du
Geld zum Spazierengehen? woher haſt Du es?«
ſagte der Alte. »Ich brauche keines!« ſagte
Sali. »Da haſt Du einen Gulden!« verſetzte
der Alte und warf ihm denſelben hin. »Du
kannſt im Dorf in's Wirthshaus gehen und ihn
dort verzehren, damit ſie nicht glauben, wir
ſeien hier ſo übel dran.« »Ich will nicht in's
Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet ihn
nur!« »So haſt Du ihn gehabt, es wäre
Schad, wenn Du ihn haben müßteſt, Du Steck¬
kopf!« rief Manz und ſchob ſeinen Gulden
wieder in die Taſche. Seine Frau aber, welche
nicht wußte, warum ſie heute ihres Sohnes
wegen ſo wehmüthig und gerührt war, brachte
ihm ein großes ſchwarzes Mailänder Halstuch
mit rothem Rande, das ſie nur ſelten getragen
und er ſchon früher gern gehabt hätte. Er
ſchlang es um den Hals und ließ die langen
Zipfel fliegen, auch ſtellte er zum erſten Mal
den Hemdkragen, den er ſonſt immer umgeſchla¬
gen, ehrbar und männlich in die Höhe, bis über
die Ohren hinauf, in einer Anwandlung länd¬
[304] lichen Stolzes, und machte ſich dann, ſeine Schuhe
in der Bruſttaſche des Rockes, ſchon nach ſieben
Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ,
drängte ihn ein ſeltſames Gefühl, Vater und
Mutter die Hand zu geben und auf der Straße
ſah er ſich noch einmal nach dem Hauſe um.
»Ich glaube am Ende, ſagte Manz, der Burſche
ſtreicht irgend einem Weibsbild nach, das hätten
wir gerade noch nöthig!« Die Frau ſagte:
»O wollte Gott! daß er vielleicht ein Glück
machte! das thäte dem armen Buben gut!«
»Richtig! ſagte der Mann, das fehlt nicht! das
wird ein himmliſches Glück geben, wenn er nur
erſt an eine ſolche Maultaſche zu gerathen das
Unglück hat! das thäte dem armen Bübeli gut!
natürlich!«
Sali richtete ſeinen Schritt erſt nach dem
Fluſſe zu, wo er Vrenchen erwarten wollte;
aber unterweges ward er anderen Sinnes und
ging gradezu in's Dorf, um Vrenchen im Hauſe
ſelbſt abzuholen, weil es ihm zu lang währte
bis halb elf. »Was kümmern uns die Leute!«
dachte er. »Niemand hilft uns und ich bin
ehrlich und fürchte niemand!« So trat er un¬
[305] erwartet in Vrenchens Stube und eben ſo uner¬
wartet fand er es ſchon vollkommen angekleidet
und geſchmückt daſitzen und der Zeit harren, wo
es gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm
noch. Aber Sali ſtand mit offenem Munde ſtill
in der Mitte der Stube, als er das Mädchen
erblickte, ſo ſchön ſah es aus. Es hatte nur
ein einfaches Kleid an von blaugefärbter Lein¬
wand, aber daſſelbe war friſch und ſauber und
ſaß ihm ſehr gut um den ſchlanken Leib. Dar¬
über trug es ein ſchneeweißes Mouſſelinehalstuch
und dies war der ganze Anzug. Das braune
gekräuſelte Haar hatte es wohl geordnet und
die ſonſt ſo wilden Löckchen lagen nun fein und
lieblich um den Kopf; da Vrenchen ſeit vielen
Wochen faſt nicht aus dem Hauſe gekommen,
ſo war ſeine Farbe zarter und durchſichtiger ge¬
worden, ſo wie auch vom Kummer; aber in
dieſe Durchſichtigkeit goß jetzt die Liebe und die
Freude ein Roth um das andere, und an der
Bruſt trug es einen ſchönen Blumenſtrauß von
Rosmarin, Roſen und prächtigen Aſtern. Es
ſaß am offenen Fenſter und athmete ſtill und
hold die friſch durchſonnte Morgenluft; wie es
Keller, die Leute von Seldwyla. 20[306] aber Sali erſcheinen ſah, ſtreckte es ihm beide
hübſche Arme entgegen, welche vom Ellbogen an
bloß waren, und rief: »Wie Recht haſt Du,
daß Du ſchon jetzt und hieher kommſt! Aber
haſt Du mir Schuhe gebracht? Gewiß? Nun
ſteh' ich nicht auf, bis ich ſie an habe!« Er
zog die Erſehnten aus der Taſche und gab ſie
dem begierigen ſchönen Mädchen; es ſchleuderte
die alten von ſich, ſchlüpfte in die neuen und
ſie paßten ſehr gut. Erſt jetzt erhob es ſich
vom Stuhl, wiegte ſich in den neuen Schuhen
und ging eifrig einige Mal auf und nieder.
Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück
und beſchaute wohlgefällig die rothen wollenen
Schleifen, welche die Schuhe zierten, während
Sali unaufhörlich die feine reizende Geſtalt be¬
trachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor
ihm ſich regte und freute. »Du beſchauſt meinen
Strauß? ſagte Vrenchen, hab' ich nicht einen
ſchönen zuſammengebracht? Du mußt wiſſen,
dies ſind die letzten Blumen, die ich noch auf¬
gefunden in dieſer Wüſtenei. Hier war noch
ein Röschen, dort eine Aſter, und wie ſie nun
gebunden ſind, würde man es ihnen nicht anſe¬
[307] hen, daß ſie aus einem Untergange zuſammen¬
geſucht ſind! Nun iſt es aber Zeit, daß ich
fortkomme, nicht ein Blümchen mehr im Garten
und das Haus auch leer!« Sali ſah ſich um
und bemerkte erſt jetzt, daß alle Fahrhabe, die
noch da geweſen, weggebracht war. »Du armes
Vreeli!« ſagte er, »haben ſie Dir ſchon Alles
genommen?« »Geſtern,« erwiederte es, »haben
ſie's weggeholt, was ſich von der Stelle bewegen
ließ und mir kaum mehr mein Bett gelaſſen.
Ich hab's aber auch gleich verkauft und hab'
jetzt auch Geld, ſieh!« Es holte einige neu
glänzende Thalerſtücke aus der Taſche ſeines
Kleides und zeigte ſie ihm. »Damit,« fuhr es
fort, »ſagte der Waiſenvogt, der auch hier war,
ſolle ich mir einen Dienſt ſuchen in einer Stadt
und ich ſolle mich heute gleich auf den Weg
machen!« »Da iſt aber auch gar nichts mehr
vorhanden,« ſagte Sali, nachdem er in die Küche
geguckt hatte, »ich ſehe kein Hölzchen, kein Pfänn¬
chen, kein Meſſer! Haſt Du denn auch nicht zu
Morgen gegeſſen?« »Nichts!« ſagte Vrenchen,
»ich hätte mir etwas holen können, aber ich
dachte, ich wolle lieber hungrig bleiben, damit
[308] ich recht viel eſſen könne mit Dir zuſammen,
denn ich freue mich ſo ſehr darauf, Du glaubſt
nicht, wie ich mich freue!« »Wenn ich Dich
nur anrühren dürfte,« ſagte Sali, »ſo wollte
ich Dir zeigen, wie es mir iſt, Du ſchönes,
ſchönes Ding!« »Du haſt Recht, Du würdeſt
meinen ganzen Staat verderben, und wenn wir
die Blumen ein bischen ſchonen, ſo kommt es
zugleich meinem armen Kopf zu gut, den Du
mir übel zuzurichten pflegſt!« »So komm, jetzt
wollen wir ausrücken!« »Noch müſſen wir
warten, bis das Bett abgeholt wird; denn nach¬
her ſchließe ich das leere Haus zu und gehe
nicht mehr hieher zurück! Mein Bündelchen gebe
ich der Frau aufzuheben, die das Bett gekauft
hat.« Sie ſetzten ſich daher einander gegenüber
und warteten; die Bäuerin kam bald, eine vier¬
ſchrötige Frau mit lautem Mundwerk, und hatte
einen Burſchen bei ſich, welcher die Bettſtelle
tragen ſollte. Als dieſe Frau Vrenchens Lieb¬
haber erblickte und das geputzte Mädchen ſelbſt,
ſperrte ſie Maul und Augen auf, ſtemmte die
Arme unter, und ſchrie: »Ei ſieh da, Vreeli!
Du treibſt es ja ſchon gut! Haſt einen Beſucher
[309] und biſt gerüſtet wie eine Prinzeß?« «Gelt
aber!« ſagte Vrenchen freundlich lachend, »wißt
ihr auch, wer das iſt?« »Ei ich denke, das
iſt wohl der Sali Manz? Berg und Thal kom¬
men nicht zuſammen, ſagt man, aber die Leute!
Aber nimm Dich doch in Acht, Kind, und denk'
wie es euren Ältern ergangen iſt!« »Ei, das
hat ſich jetzt gewendet und alles iſt gut gewor¬
den« erwiederte Vrenchen lächelnd und freundlich
mittheilſam, ja beinahe herablaſſend »ſeht, Sali
iſt mein Hochzeiter!« »Dein Hochzeiter! was
Du ſagſt!» »Ja und er iſt ein reicher Herr,
er hat hunderttauſend Gulden in der Lotterie
gewonnen! Denket einmal, Frau!« Dieſe that
einen Sprung, ſchlug ganz erſchrocken die Hände
zuſammen und ſchrie: »Hund — hunderttauſend
Gulden!« »Hunderttauſend Gulden!« verſicherte
Vrenchen ernſthaft. »Herr Du meines Lebens!
Es iſt aber nicht wahr, Du lügſt mich an,
Kind!« »Nun, glaubt was ihr wollt!» »Aber
wenn es wahr iſt und Du heiratheſt ihn, was
wollt ihr denn machen mit dem Gelde? Willſt
Du wirklich eine vornehme Frau werden?«
»Verſteht ſich, in drei Wochen halten wir die
[310] Hochzeit!« »Geh' mir weg, Du biſt eine hä߬
liche Lügnerin!« »Das ſchönſte Haus hat er
ſchon gekauft in Seldwyl mit einem großen
Garten und Weinberg; ihr müßt mich auch be¬
ſuchen, wenn wir eingerichtet ſind, ich zähle dar¬
auf!« »Allweg, Du Teufelshexlein, was Du
biſt!« »Ihr werdet ſehen, wie ſchön es da iſt!
einen herrlichen Kaffee werde ich machen und euch
mit feinem Eierbrod aufwarten, mit Butter und
Honig!« »Du Ketzerslösli! zähl' drauf, daß
ich komme!« rief die Frau mit lüſternem Geſicht
und der Mund wäſſerte ihr; »kommt ihr aber
um die Mittagszeit und ſeit ermüdet vom Markt,
ſo ſoll euch eine kräftige Fleiſchbrühe und ein
Glas Wein immer parat ſtehen!» »Das wird
mir baß thun!« »Und an etwas Zuckerwerk oder
weißen Wecken für die lieben Kinder zu Hauſe
ſoll es euch auch nicht fehlen!« »Es wird mir
ganz ſchmachtend!« »Ein artiges Halstüchelchen
oder ein Reſtchen Seidenzeug oder ein hübſches
altes Band für euere Röcke, oder ein Stück
Zeug zu einer neuen Schürze wird gewiß auch
zu finden ſein, wenn wir meine Kiſten und Ka¬
ſten durchmuſtern in einer vertrauten Stunde!«
[311] Die Frau drehte ſich auf den Hacken herum und
ſchüttelte jauchzend ihre Röcke. »Und wenn
euer Mann ein vortheilhaftes Geſchäft machen
könnte mit einem Land- oder Viehhandel, und
er mangelt des Geldes, ſo wißt ihr, wo ihr
anklopfen ſollt. Mein lieber Sali wird froh
ſein, jederzeit ein Stück Baares ſicher und er¬
freulich anzulegen! Ich ſelbſt werde auch etwa
einen Spaarpfennig haben, einer vertrauten
Freundin auszuhelfen!« Jetzt war der Frau
nicht mehr zu helfen, ſie ſagte gerührt: »Ich
habe immer geſagt, Du ſeiſt ein braves und
gutes und ſchönes Kind! Der Herr wolle es
Dir wohl ergehen laſſen immer und ewiglich
und es Dir geſegnen, was Du an mir thuſt!«
»Dagegen verlange ich aber auch, daß ihr es
gut mit mir meint!« »Allweg kannſt Du das
verlangen!« »Und daß ihr jederzeit eure Waa¬
ren, ſei es Obſt, ſeien es Kartoffeln, ſei es Ge¬
müſe, erſt zu mir bringet und mir anbietet, ehe
ihr auf den Markt gehet, damit ich ſicher ſei,
eine rechte Bäuerin an der Hand zu haben, auf
die ich mich verlaſſen kann! Was irgend Einer
giebt für die Waare, werde ich gewiß auch geben
[312] mit tauſend Freuden, ihr kennt mich ja! Ach,
es iſt nichts Schöneres, als wenn eine wohlha¬
bende Stadtfrau, die ſo rathlos in ihren Mauern
ſitzt und doch ſo vieler Dinge benöthigt iſt, und
eine rechtſchaffene ehrliche Landfrau, erfahren in
allem Wichtigen und Nützlichen, eine gute und
dauerhafte Freundſchaft zuſammen haben! Es
kommt Einem zu gut in hundert Fällen, in Freud
und Leid, bei Gevatterſchaften und Hochzeiten,
wenn die Kinder unterrichtet werden, und konfir¬
mirt, wenn ſie in die Lehre kommen und wenn
ſie in die Fremde ſollen! Bei Mißwachs und
Überſchwemmungen, bei Feuersbrünſten und Hagel¬
ſchlag, wofür uns Gott behüte!« »Wofür uns
Gott behüte! ſagte die gute Frau ſchluchzend
und trocknete mit ihrer Schürze die Augen;
»welch' ein verſtändiges und tiefſinniges Bräut¬
lein biſt Du, ja, Dir wird es gut gehen, da
müßte keine Gerechtigkeit in der Welt ſein!
Schön, ſauber, klug und weiſe biſt Du, arbeit¬
ſam und geſchickt zu allen Dingen! Keine iſt
feiner und beſſer als Du, in und außer dem
Dorfe, und wer Dich hat, der muß meinen, er
ſei im Himmelreich, oder er iſt ein Schelm und
[313] hat es mit mir zu thun. Hör' Sali! daß Du
nur recht artlich biſt mit meinem Vreeli, oder
ich will Dir den Meiſter zeigen, Du Glückskind,
das Du biſt, ein ſolches Röslein zu brechen!«
»So nehmt jetzt auch hier noch mein Bündel
mit, wie ihr mir verſprochen habt, bis ich es
abholen laſſen werde! Vielleicht komme ich aber
ſelbſt in der Kutſche und hole es ab, wenn ihr
nichts dagegen habt! Ein Töpfchen Milch werdet
ihr mir nicht abſchlagen alsdann, und etwa eine
ſchöne Mandeltorte dazu werde ich ſchon ſelbſt
mitbringen!« »Tauſendskind! Gieb' her den
Bündel!« Vrenchen lud ihr auf das zuſammenge¬
bundene Bett, das ſie ſchon auf dem Kopfe trug,
einen langen Sack, in welchen es ſein Plunder
und Habſeliges geſtopft, ſo daß die arme Frau
mit einem ſchwankenden Thurme auf dem Haupte
daſtand. »Es wird mir doch faſt zu ſchwer
auf einmal, ſagte ſie, könnte ich nicht zwei mal
dran machen?« »Nein nein! wir müſſen jetzt
augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten
Weg, um vornehme Verwandte zu beſuchen, die
ſich jetzt gezeigt haben, ſeit wir reich ſind! Ihr
wißt ja, wie es geht!« »Weiß wohl! ſo behüt
20 *[314] Dich Gott und denk' an mich in Deiner Herr¬
lichkeit!«
Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelthurme,
mit Mühe das Gleichgewicht behauptend, und
hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das ſich in
Vrenchens einſt buntbemalte Bettſtatt hineinſtellte,
den Kopf gegen den mit verblichenen Sternen
bedeckten Himmel derſelben ſtemmte und, ein
zweiter Simſon, die zwei vorderen zierlich ge¬
ſchnitzten Säulen faßte, welche dieſen Himmel
trugen. Als Vrenchen, an Sali gelehnt, dem
Zuge nachſchaute und den wandelnden Tempel
zwiſchen den Gärten ſah, ſagte es: »Das gäbe
noch ein artiges Gartenhäuschen oder eine Laube,
wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tiſch¬
chen und ein Bänklein drein ſtellte und Winden
drum herumſäete! Wollteſt Du mit darin ſitzen,
Sali?« »Ja, Vreeli! beſonders wenn die
Winden aufgewachſen wären!« — »Was ſtehen
wir noch? ſagte Vrenchen, nichts hält uns mehr
zurück!« »So komm und ſchließ das Haus zu!«
»Wem willſt Du denn den Schlüſſel übergeben?«
Vrenchen ſah ſich um. »Hier an die Helbart
wollen wir ihn hängen; ſie iſt über hundert Jahr
[315] in dieſem Hauſe geweſen, habe ich den Vater
oft ſagen hören, nun ſteht ſie da als der letzte
Wächter!« Sie hingen den roſtigen Hausſchlüſſel
an einen roſtigen Schnörkel der alten Waffe, an
welcher die Bohnen rankten, und gingen davon.
Vrenchen wurde aber bleicher und verhüllte ein
Weilchen die Augen, daß Sali es führen mußte,
bis ſie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es
ſah aber nicht zurück. »Wo gehen wir nun zuerſt
hin?« fragte es. »Wir wollen ordentlich über
Land gehen, erwiederte Sali, wo es uns freut
den ganzen Tag, uns nicht übereilen, und ge¬
gen Abend werden wir dann ſchon einen Tanz¬
platz finden!« »Gut!« ſagte Vrenchen, »den
ganzen Tag werden wir beiſammen ſein und
gehn wo wir Luſt haben. Jetzt iſt mir aber
elend, wir wollen gleich im andern Dorf einen
Kaffee trinken!« »Verſteht ſich!« ſagte Sali,
»mach nur, daß wir aus dieſem Dorf weg¬
kommen !«
Bald waren ſie auch im freien Felde und
gingen ſtill neben einander durch die Fluren; es
war ein ſchöner Sonntagmorgen im September,
keine Wolke ſtand am Himmel, die Höhen und
[316] die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe
bekleidet, welches die Gegend geheimnißvoller
und feierlicher machte, und von allen Seiten
tönten die Kirchenglocken herüber, hier das har¬
moniſche tiefe Geläute einer reichen Ortſchaft,
dort die geſchwätzigen zwei Bimmelglöcklein eines
kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar
vergaß, was am Ende dieſes Tages werden
ſollte, und gab ſich einzig der hoch aufathmen¬
den wortloſen Freude hin, ſauber gekleidet und
frei, wie zwei Glückliche, die ſich von Rechts¬
wegen angehören, in den Sonntag hineinzuwan¬
deln. Jeder in der Sonntagsſtille verhallende
Ton oder ferne Ruf klang ihnen erſchütternd
durch die Seele; denn die Liebe iſt eine Glocke,
welche das Entlegenſte und Gleichgültigſte wieder
tönen läßt und in eine beſondere Muſik verwan¬
delt. Obgleich ſie hungrig waren, dünkte ſie
die halbe Stunde Weges bis zum nächſten Dorfe
nur ein Katzenſprung lang zu ſein und ſie be¬
traten zögernd das Wirthshaus am Eingang des
Ortes. Sali beſtellte ein gutes Frühſtück und
während es bereitet wurde, ſahen ſie mäuschen¬
ſtill der ſichern und freundlichen Wirthſchaft in
[317] der großen reinlichen Gaſtſtube zu. Der Wirth
war zugleich ein Bäcker, das eben Gebackene
durchduftete angenehm das ganze Haus und Brod
aller Art wurde in gehäuften Körben herbeigetra¬
gen, da nach der Kirche die Leute hier ihr Wei߬
brod holten oder ihren Frühſchoppen tranken.
Die Wirthin, eine artige und ſaubere Frau,
putzte gelaſſen und freundlich ihre Kinder heraus,
und ſo wie eines entlaſſen war, kam es zutrau¬
lich zu Vrenchen gelaufen, zeigte ihm ſeine Herr¬
lichkeiten und erzählte von allem, deſſen es ſich
erfreute und rühmte. Wie nun der wohlduftende
ſtarke Kaffee kam, ſetzten ſich die zwei Leutchen
ſchüchtern an den Tiſch, als ob ſie da zu Gaſt
gebeten wären. Sie ermunterten ſich jedoch bald
und flüſterten beſcheiden, aber glückſelig mit ein¬
ander; ach wie ſchmeckte dem aufblühenden Vren¬
chen der gute Kaffee, der fette Rahm, die fri¬
ſchen noch warmen Brödchen, die ſchöne Butter
und der Honig, der Eierkuchen und was alles
noch für Leckerbiſſen da waren! ſie ſchmeckten
ihm, weil es den Sali dazu anſah, und es aß
ſo vergnügt, als ob es ein Jahr lang gefaſtet
hätte. Dazu freute es ſich über das feine Ge¬
[318] ſchirr, über die ſilbernen Kaffeelöffelchen, denn
die Wirthin ſchien ſie für rechtliche junge Leut¬
chen zu halten, die man anſtändig bedienen müſſe
und ſetzte ſich auch ab und zu plaudernd zu ih¬
nen, und die Beiden gaben ihr verſtändigen
Beſcheid, welches ihr gefiel. Es ward dem gu¬
ten Vrenchen ſo wählig zu Muth, daß es nicht
wußte, mochte es lieber wieder ins Freie, um
allein mit ſeinem Schatz herumzuſchweifen durch
Auen und Wälder, oder mochte es lieber in der
gaſtlichen Stube bleiben, um wenigſtens auf
Stunden ſich an einem ſtattlichen Orte zu Hauſe
zu träumen. Doch Sali erleichterte die Wahl,
indem er ehrbar und geſchäftig zum Aufbruch
mahnte, als ob ſie einen beſtimmten und wich¬
tigen Weg zu machen hätten. Die Wirthin und
der Wirth begleiteten ſie bis vor das Haus und
entließen ſie auf das Wohlwollendſte wegen ihres
guten Benehmens trotz der durchſcheinenden Dürf¬
tigkeit, und das arme junge Blut verabſchiedete
ſich mit den beſten Manieren von der Welt und
wandelte ſittig und ehrbar von hinnen. Aber
auch als ſie ſchon wieder im Freien waren und
einen ſtundenlangen Eichwald betraten, gingen
[319] ſie noch in dieſer Weiſe neben einander her, in
angenehme Träume vertieft, als ob ſie nicht
aus zank- und elenderfüllten vernichteten Häuſern
herkämen, ſondern guter Leute Kinder wären,
welche in lieblicher Hoffnung wandelten. Vren¬
chen ſenkte das Köpfchen tiefſinnig gegen ſeine
blumengeſchmückte Bruſt und ging, die Hände
ſorglich an das Gewand gelegt, einher auf dem
glatten feuchten Waldboden, Sali dagegen ſchritt
ſchlank aufgerichtet, raſch und nachdenklich, die
Augen auf die feſten Eichenſtämme geheftet wie
ein Bauer, der überlegt, welche Bäume er am
vortheilhafteſten fällen ſoll. Endlich erwachten
ſie aus dieſen vergeblichen Träumen, ſahen ſich
an und entdeckten, daß ſie immer noch in der
Haltung gingen, in welcher ſie das Gaſthaus
verlaſſen, errötheten und ließen traurig die Köpfe
hängen. Aber Jugend hat keine Tugend, der
Wald war grün, der Himmel blau und ſie allein
in der weiten Welt, und ſie überließen ſich als¬
bald wieder dieſem Gefühle. Doch blieben ſie
nicht lange mehr allein, da die ſchöne Waldſtraße
ſich belebte mit luſtwandelnden Gruppen von jun¬
gen Leuten ſowie mit einzelnen Paaren, welche
[320] ſchäkernd und ſingend die Zeit nach der Kirche
verbrachten. Denn die Landleute haben ſo gut
ihre ausgeſuchten Promenaden und Luſtwälder,
wie die Städter, nur mit dem Unterſchied, daß
dieſelben keine Unterhaltung koſten und noch ſchö¬
ner ſind; ſie ſpazieren nicht nur mit einem be¬
ſondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden
und reifenden Felder, ſondern ſie machen ſehr
gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen
Halden entlang, ſetzen ſich hier auf eine anmu¬
thige fernſichtige Höhe, dort an einen Waldrand,
laſſen ihre Lieder ertönen und die ſchöne Wild¬
niß ganz behaglich auf ſich einwirken; und da
ſie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun,
ſondern zu ihrem Vergnügen, ſo iſt wohl anzu¬
nehmen, daß ſie Sinn für die Natur haben,
auch abgeſehen von ihrer Nützlichkeit. Immer
brechen ſie was Grünes ab, junge Burſche wie
alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer
Jugend aufſuchen, und ſelbſt ſteife Landmänner
in den beſten Geſchäftsjahren, wenn ſie über
Land gehen, ſchneiden ſich gern eine ſchlanke Gerte,
ſobald ſie durch einen Wald gehen, und ſchälen
die Blätter ab, von denen ſie nur oben ein
[321] grünes Büſchel ſtehen laſſen. Solche Ruthe tra¬
gen ſie wie ein Scepter vor ſich hin; wenn ſie
in eine Amtsſtube oder Kanzlei treten, ſo ſtellen
ſie die Gerte ehrerbietig in einen Winkel, ver¬
geſſen aber auch nach den ernſteſten Verhandlun¬
gen nie, dieſelbe ſäuberlich wieder mitzunehmen
und unverſehrt nach Hauſe zu tragen, wo es
erſt dem kleinſten Söhnchen geſtattet iſt, ſie zu
Grunde zu richten. Warum thun ſie dies? —
Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger
ſahen, lachten ſie in's Fäuſtchen und freuten ſich,
auch gepaart zu ſein, ſchlüpften aber ſeitwärts
auf engere Waldpfade, wo ſie ſich in tiefen Ein¬
ſamkeiten verloren. Sie hielten ſich auf, wo es
ſie freute, eilten vorwärts und ruhten wieder,
und wie keine Wolke am reinen Himmel ſtand,
trübte auch keine Sorge in dieſen Stunden ihr
Gemüth, ſie vergaßen woher ſie kamen und wo¬
hin ſie gingen und benahmen ſich ſo fein und
ordentlich dabei, daß trotz aller frohen Erregung
und Bewegung Vrenchens niedlicher einfacher
Aufputz ſo friſch und unverſehrt blieb, wie er
am Anfang geweſen war. Sali betrug ſich auf
dieſem Wege nicht wie ein beinahe zwanzigjähri¬
Keller, die Leute von Seldwyla. 21[322] ger Landburſche oder der Sohn eines verkomme¬
nen Schenkwirthes, ſondern wie wenn er einige
Jahre jünger und ſehr wohl erzogen wäre und es
war beinahe komiſch, wie er nur immer ſein
feines luſtiges Vrenchen anſah, voll Zärtlichkeit,
Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen
mußten an dieſem einen Tage, der ihnen ver¬
gönnt war, alle Manieren und Stimmungen der
Liebe durchleben und ſowohl die verlorenen Tage
der zarteren Zeit nachholen als das leidenſchaft¬
liche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres
Lebens.
So liefen ſie ſich wieder hungrig und wa¬
ren erfreut, von der Höhe eines ſchattenreichen
Berges ein glänzendes Dorf vor ſich zu ſehen,
wo ſie Mittag halten wollten. Sie ſtiegen raſch
hinunter, betraten dann aber ebenſo ſittſam die¬
ſen Ort, wie ſie den vorigen verlaſſen. Es war
Niemand um den Weg, der ſie erkannt hätte;
denn beſonders Vrenchen war die letzten Jahre
hindurch gar nicht unter die Leute und noch we¬
niger in andere Dörfer gekommen. Deshalb
ſtellten ſie ein wohlgefälliges ehrſames Pärchen
vor, das irgend einen angelegentlichen Gang
[323] thut. Sie gingen in's erſte Wirthshaus des
Dorfes, wo Sali ein erkleckliches Mahl beſtellte;
ein eigener Tiſch wurde ihnen ſonntäglich gedeckt
und ſie ſaßen wieder ſtill und beſcheiden daran
und beguckten die ſchön getäfelten Wände von
gebohntem Nußbaumholz, das ländliche aber glän¬
zende und wohlhabende Büffet von gleichem Holze,
und die klaren weißen Fenſtervorhänge. Die
Wirthin trat zuthulich herzu und ſetzte ein Ge¬
ſchirr voll friſcher Blumen auf den Tiſch.
»Bis die Suppe kommt, ſagte ſie, könnt ihr,
wenn es euch gefällig iſt, einſtweilen die Augen
ſättigen an dem Strauße. Allem Anſchein nach,
wenn es erlaubt iſt zu fragen, ſeid ihr ein jun¬
ges Brautpaar, das gewiß nach der Stadt geht,
um ſich morgen kopuliren zu laſſen?« Vrenchen
wurde roth und wagte nicht aufzuſehen, Sali
ſagte auch nichts und die Wirthin fuhr fort:
»Nun, ihr ſeid freilich noch wohl jung beide,
aber jung geheirathet lebt lang, ſagt man zu¬
weilen, und ihr ſeht wenigſtens hübſch und brav
aus und braucht euch nicht zu verbergen. Or¬
dentliche Leute können etwas zuwege bringen,
wenn ſie ſo jung zuſammen kommen und fleißig
21 *[324] und treu ſind. Aber das muß man freilich ſein,
denn die Zeit iſt kurz und doch lang und es
kommen viele Tage, viele Tage! Je nun, ſchön
genug ſind ſie und amüſant dazu, wenn man
gut Haus hält damit! Nichts für ungut, aber
es freut mich, euch anzuſehen, ſo ein ſchmuckes
Pärchen ſeid ihr!« Die Kellnerin brachte die
Suppe, und da ſie einen Theil dieſer Worte noch
gehört und lieber ſelbſt geheirathet hätte, ſo ſah
ſie Vrenchen mit ſcheelen Augen an, welches
nach ihrer Meinung ſo gedeihliche Wege ging.
In der Nebenſtube ließ die unliebliche Perſon
ihren Unmuth frei und ſagte zur Wirthin, welche
dort zu ſchaffen hatte, ſo laut, daß man es hö¬
ren konnte: »Das iſt wieder ein rechtes Hu¬
delvölkchen, das wie es geht und ſteht nach der
Stadt läuft und ſich kopuliren läßt, ohne einen
Pfennig, ohne Freunde, ohne Ausſteuer und ohne
Ausſicht, als auf Armuth und Bettelei! Wo
ſoll das noch hinaus, wenn ſolche Dinger hei¬
rathen, die die Jüppe noch nicht allein anziehen
und keine Suppe kochen können? Ach der hüb¬
ſche junge Menſch kann mich nur dauern, der
iſt ſchön petſchirt mit ſeiner jungen Gungeline!«
[325] »Bſcht! willſt Du wohl ſchweigen, Du häſſiges
Ding! ſagte die Wirthin, denen laſſe ich nichts
geſchehen! Das ſind gewiß zwei recht ordentliche
Leutlein aus den Bergen, wo die Fabriken ſind;
dürftig ſind ſie gekleidet, aber ſauber, und wenn
ſie ſich nur gern haben und arbeitſam ſind, ſo
werden ſie weiter kommen als Du mit Deinem
böſen Maul! Du kannſt freilich noch lang war¬
ten, bis Dich Einer abholt, wenn Du nicht
freundlicher biſt, Du Eſſighafen!«
So genoß Vrenchen alle Wonnen einer Braut,
die zur Hochzeit reiſet: die wohlwollende An¬
ſprache und Aufmunterung einer ſehr vernünfti¬
gen Frau, den Neid einer heirathsluſtigen böſen
Perſon, welche aus Ärger den Geliebten lobte
und bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an
der Seite eben dieſes Geliebten. Es glühte im
Geſicht, wie eine rothe Nelke, das Herz klopfte
ihm, aber es aß und trank nichts deſto minder
mit gutem Appetit und war mit der aufwarten¬
den Kellnerin nur um ſo artiger, konnte aber
nicht unterlaſſen, dabei den Sali zärtlich anzu¬
ſehen und mit ihm zu lispeln, ſo daß es dieſem
auch ganz kraus im Gemüth wurde. Sie ſaßen
[326] indeſſen lang und gemächlich am Tiſche, wie wenn
ſie zögerten und ſich ſcheuten, aus der holden
Täuſchung herauszugehen. Die Wirthin brachte
zum Nachtiſch ſüßes Backwerk und Sali beſtellte
feineren und ſtärkeren Wein dazu, welcher Vren¬
chen feurig durch die Adern rollte, als es ein
wenig davon trank; aber es nahm ſich in Acht,
nippte blos zuweilen und ſaß ſo züchtig und
verſchämt da, wie eine wirkliche Braut. Halb
ſpielte es aus Schalkheit dieſe Rolle und aus
Luſt, zu verſuchen, wie es thue, halb war es
ihm in der That ſo zu Muth und vor Bangig¬
keit und heißer Liebe wollte ihm das Herz bre¬
chen, ſo daß es ihm zu eng ward innerhalb der
vier Wände und es zu gehen begehrte. Es war
als ob ſie ſich ſcheuten, auf dem Wege wieder
ſo abſeits und allein zu ſein, denn ſie gingen
unverabredet auf der Hauptſtraße weiter, mitten
durch die Leute und ſahen weder rechts noch
links. Als ſie aber aus dem Dorfe waren und
auf das nächſtgelegene zugingen, wo Kirchweih
war, hing ſich Vrenchen an Sali's Arm und
flüſterte mit zitternden Worten: »Sali! warum
ſollen wir uns nicht haben und glücklich ſein!«
[327] »Ich weiß auch nicht warum!« erwiederte er
und heftete ſeine Augen an den milden Herbſt¬
ſonnenſchein, der auf den Auen webte und er
mußte ſich bezwingen und das Geſicht ganz ſon¬
derbar verziehen. Sie ſtanden ſtill, um ſich zu
küſſen; aber es zeigten ſich Leute und ſie unter¬
ließen es und zogen weiter. Das große Kirch¬
dorf, in welchem Kirchweih war, war ſchon be¬
lebt von der Luſt des Volkes; aus dem ſtatt¬
lichen Gaſthofe tönte eine pomphafte Tanzmuſik,
da die jungen Dörfler ſchon um Mittag den
Tanz angehoben, und auf dem Platz vor dem
Wirthshauſe war ein kleiner Markt aufgeſchla¬
gen, beſtehend aus einigen Tiſchen mit Süßig¬
keiten und Backwerk und ein paar Buden mit
Flitterſtaat, um welche ſich die Kinder und das¬
jenige Volk drängten, welches ſich einſtweilen
mehr mit Zuſehen begnügte. Sali und Vrenchen
traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre
Augen darüber fliegen; denn beide hatten zugleich
die Hand in der Taſche und jedes wünſchte dem
andern etwas zu ſchenken, da ſie zum erſten
und einzigen Male mit einander zu Markt wa¬
ren; Sali kaufte ein Haus von Lebkuchen, wel¬
[328] ches mit Zuckerguß freundlich geweißt war, mit
einem grünen Dach, auf welchem weiße Tauben
ſaßen und aus deſſen Schornſtein ein Amörchen
guckte als Kaminfeger; an den offenen Fenſtern
umarmten ſich pausbäckige Leutchen mit winzig
kleinen rothen Mündchen, die ſich recht eigentlich
küßten, da der flüchtige praktiſche Maler mit
einem Kleckschen gleich zwei Mündchen gemacht,
die ſo in einander verfloſſen. Schwarze Pünkt¬
chen ſtellten muntere Äuglein vor. Auf der
roſenrothen Hausthür aber waren dieſe Verſe
zu leſen:
Ein Herr in einem blauen Frack und eine
Dame mit einem ſehr hohen Buſen komplimen¬
tirten ſich dieſen Verſen gemäß in das Haus
hinein, links und rechts an die Mauer gemalt.
Vrenchen ſchenkte Sali dagegen ein Herz, auf
deſſen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den
Worten:
Und auf der andern Seite:
Sie laſen eifrig die Sprüche und nie iſt
etwas Gereimtes und Gedrucktes ſchöner befun¬
den und tiefer empfunden worden, als dieſe
Pfefferkuchenſprüche; ſie hielten, was ſie laſen,
in beſonderer Abſicht auf ſich gemacht, ſo gut
ſchien es ihnen zu paſſen. »Ach, ſeufzte Vren¬
chen, Du ſchenkſt mir ein Haus! Ich habe
Dir auch eines und erſt das wahre geſchenkt;
denn unſer Herz iſt jetzt unſer Haus, darin wir
wohnen, und wir tragen ſo unſere Wohnung
mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir
[330] nicht!« »Dann ſind wir aber zwei Schnecken,
von denen jede das Häuschen der andern trägt!«
ſagte Sali, und Vrenchen erwiederte: »Deſto
weniger dürfen wir von einander gehen, damit
jedes ſeiner Wohnung nah bleibt!« Doch wu߬
ten ſie nicht, daß ſie in ihren Reden eben ſo
artige Witze machten, als auf den vielfach ge¬
formten Lebkuchen zu leſen waren, und fuhren
fort, dieſe ſüße einfache Liebesliteratur zu ſtudi¬
ren, die da ausgebreitet lag und beſonders auf
vielfach verzierte kleine und große Herzen ge¬
klebt war. Alles dünkte ſie ſchön und einzig
zutreffend; als Vrenchen auf einem vergoldeten
Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten beſpannt
war, las: Mein Herz iſt wie ein Zitherſpiel,
rührt man es viel, ſo tönt es viel! ward ihm
ſo muſikaliſch zu Muth, daß es glaubte, ſein
eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleons¬
bild war da, welches aber auch der Träger
eines verliebten Spruches ſein mußte, denn es
ſtand darunter geſchrieben: Groß war der Held
Napoleon, ſein Schwert von Stahl, ſein Herz
von Thon; meine Liebe trägt ein Röslein frei,
doch iſt ihr Herz wie Stahl ſo treu! — Wäh¬
[331] rend ſie aber beiderſeitig in das Leſen vertieft
ſchienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen
heimlichen Einkauf zu machen. Sali kaufte für
Vrenchen ein vergoldetes Ringelchen mit einem
grünen Glasſteinchen, und Vrenchen einen Ring
von ſchwarzem Gemshorn, auf welchem ein gol¬
denes Vergißmeinnicht eingelegt war. Wahr¬
ſcheinlich hatten ſie den gleichen Gedanken, ſich
dieſe armen Zeichen bei der Trennung zu geben.
Während ſie in dieſe Dinge ſich verſenkten,
waren ſie ſo vergeſſen, daß ſie nicht bemerkten,
wie nach und nach ein weiter Ring ſich um ſie
gebildet hatte von Leuten, die ſie aufmerkſam
und neugierig betrachteten. Denn da viele junge
Burſche und Mädchen aus ihrem Dorfe hier
waren, ſo waren ſie erkannt worden, und Alles
ſtand jetzt in einiger Entfernung um ſie herum
und ſah mit Verwunderung auf das wohlge¬
putzte Paar, welches in andächtiger Innigkeit
die Welt um ſich her zu vergeſſen ſchien. »Ei
ſeht! hieß es, das iſt ja wahrhaftig das Vren¬
chen Marti und der Sali aus der Stadt! Die
haben ſich ja ſäuberlich gefunden und verbunden!
Und welche Zärtlichkeit und Freundſchaft, ſeht
[332] doch, ſeht! Wo die wohl hinaus wollen?« Die
Verwunderung dieſer Zuſchauer war ganz ſeltſam
gemiſcht aus Mitleid mit dem Unglück, aus Ver¬
achtung der Verkommenheit und Schlechtigkeit
der Ältern und aus Neid gegen das Glück und
die Einigkeit des Paares, welches auf eine ganz
ungewöhnliche und faſt vornehme Weiſe verliebt
und aufgeregt ſchien und in dieſer rückhaltloſen
Hingebung und Selbſtvergeſſenheit dem rohen
Völkchen eben ſo fremd erſchien, wie in ſeiner
Verlaſſenheit und Armuth. Als ſie daher endlich
aufwachten und um ſich ſahen, erſchauten ſie
nichts als gaffende Geſichter von allen Seiten,
Niemand grüßte ſie und ſie wußten nicht, ſollten
ſie Jemand grüßen und dieſe Verfremdung und
Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr
Verlegenheit als Abſicht. Es wurde Vrenchen
bang und heiß, es wurde bleich und roth, Sali
nahm es aber bei der Hand und führte das
arme Weſen hinweg, das ihm mit ſeinem Haus
in der Hand willig folgte, obgleich die Trompe¬
ten im Wirthshauſe luſtig ſchmetterten und
Vrenchen ſo gern tanzen wollte. »Hier können
wir nicht tanzen! ſagte Sali, als ſie ſich etwas
[333] entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude
haben, wie es ſcheint!« »Jedenfalls« ſagte
Vrenchen traurig, »es wird auch am beſten ſein,
wir laſſen es ganz bleiben und ich ſehe, wo ich
ein Unterkommen finde!« »Nein,« rief Sali,
»Du ſollſt einmal tanzen, ich habe Dir darum
Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das
arme Volk ſich luſtig macht, zu dem wir jetzt
auch gehören, da werden ſie uns nicht verachten;
im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih iſt, da es in die Kirchge¬
meinde gehört, und dorthin wollen wir gehen,
dort kannſt Du zur Noth auch übernachten.«
Vrenchen ſchauerte zuſammen bei dem Gedanken,
nun zum erſten Mal an einem unbekannten Ort
zu ſchlafen, doch folgte es willenlos ſeinem Füh¬
rer, der jetzt alles war, was es in der Welt
hatte. Das Paradiesgärtlein war ein ſchön¬
gelegenes Wirthshaus an einer einſamen Berg¬
halde, das weit über das Land weg ſah, in
welchem aber an ſolchen Vergnügungstagen nur
das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen
Bauern und Tagelöhner und ſogar mancherlei
fahrendes Geſinde verkehrte. Vor hundert Jah¬
[334] ren war es als ein kleines Landhaus von einem
reichen Sonderling gebaut worden, nach welchem
Niemand mehr da wohnen mochte, und da der
Platz ſonſt zu nichts zu gebrauchen war, ſo ge¬
rieth der wunderliche Landſitz in Verfall und
zuletzt in die Hände eines Wirthes, der da ſein
Weſen trieb. Der Name und die demſelben
entſprechende Bauart waren aber dem Hauſe
geblieben. Es beſtand nur aus einem Erdge¬
ſchoß, über welchem ein offener Eſtrich gebaut
war, deſſen Dach an den vier Ecken von Bil¬
dern aus Sandſtein getragen wurde, ſo die vier
Erzengel vorſtellten und gänzlich verwittert wa¬
ren. Auf dem Geſimſe des Daches ſaßen rings
herum kleine muſizirende Engel mit dicken Kö¬
pfen und Bäuchen, den Triangel, die Geige, die
Flöte, Cimbel und Tamburin ſpielend, ebenfalls
aus Sandſtein, und die Inſtrumente waren ur¬
ſprünglich vergoldet geweſen. Die Decke inwen¬
dig, ſowie die Bruſtwehr des Eſtrichs und das
übrige Gemäuer des Hauſes waren mit ver¬
waſchenen Freskomalereien bedeckt, welche luſtige
Engelſcharen, ſowie ſingende und tanzende Heilige
darſtellten. Aber alles war verwiſcht und un¬
[335] deutlich wie ein Traum und überdies reichlich
mit Weinreben überſponnen, und blaue reifende
Trauben hingen überall in dem Laube. Um das
Haus herum ſtanden verwilderte Kaſtanienbäume,
und knorrige ſtarke Roſenbüſche, auf eigene Hand
fortlebend, ſtanden da und dort ſo wild herum,
wie anderswo die Hollunderbäume. Der Eſtrich
diente zum Tanzſaal; als Sali mit Vrenchen
daher kam, ſahen ſie ſchon von weitem die Paare
unter dem offenen Dache ſich drehen, und rund
um das Haus zechten und lärmten eine Menge
luſtiger Gäſte. Vrenchen, welches andächtig und
wehmüthig ſein Liebeshaus trug, glich einer hei¬
ligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche
das Modell eines Domes oder Kloſters auf der
Hand hält, ſo ſie geſtiftet; aber aus der from¬
men Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte
nichts werden. Als es aber die wilde Muſik
hörte, welche vom Eſtrich ertönte, vergaß es ſein
Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali
zu tanzen. Sie drängten ſich durch die Gäſte,
die vor dem Hauſe ſaßen und in der Stube,
verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige
Landpartie machten, armes Volk von allen En¬
[336] den, und ſtiegen die Treppe hinauf und ſogleich
drehten ſie ſich im Walzer herum, keinen Blick
von einander abwendend. Erſt als der Walzer
zu Ende, ſahen ſie ſich um; Vrenchen hatte ſein
Haus zerdrückt und zerbrochen und wollte eben
betrübt darüber werden, als es noch mehr er¬
ſchrak über den ſchwarzen Geiger, in deſſen Nähe
ſie ſtanden. Er ſaß auf einer Bank, die auf
einem Tiſche ſtand und ſah ſo ſchwarz aus wie
gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen
Tannenbuſch auf ſein Hütchen geſteckt, zu ſeinen
Füßen hatte er eine Flaſche Rothwein und ein
Glas ſtehen, welche er nie umſtieß, obgleich er
fortwährend mit den Beinen ſtrampelte, wenn
er geigte, und ſo eine Art von Eiertanz damit
vollbrachte. Neben ihm ſaß noch ein ſchöner
aber trauriger junger Menſch mit einem Wald¬
horn und ein Bucklicher ſtand an einer Baßgeige.
Sali erſchrak auch, als er den Geiger erblickte;
dieſer grüßte ſie aber auf das Freundlichſte und
rief: »Ich habe doch gewußt, daß ich euch noch
einmal aufſpielen werde! So macht euch nur
recht luſtig, ihr Schätzchen und thut mir Be¬
ſcheid!« Er bot Sali das volle Glas und
[337] Sali trank und that ihm Beſcheid. Als der
Geiger ſah, wie erſchrocken Vrenchen war, ſuchte
er ihm freundlich zuzureden und machte einige
faſt anmuthige Scherze, die es zum Lachen brach¬
ten. Es ermunterte ſich wieder und nun waren
ſie froh, hier einen Bekannten zu haben und
gewiſſermaßen unter dem beſonderen Schutze des
Geigers zu ſtehen. Sie tanzten nun ohne Un¬
terlaß, ſich und die Welt vergeſſend in dem
Drehen, Singen und Lärmen, welches in und
außer dem Hauſe rumorte und vom Berge weit
in die Gegend hinausſchallte, welche ſich allmälig
in den ſilbernen Duft des Herbſtabends hüllte.
Sie tanzten bis es dunkelte und der größere
Theil der luſtigen Gäſte ſich ſchwankend und
johlend nach allen Seiten entfernte. Was noch
zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen,
welches nirgends zu Hauſe war und ſich zum gu¬
ten Tag auch noch eine gute Nacht machen wollte.
Unter dieſen waren einige, welche mit dem Gei¬
ger gut bekannt ſchienen und fremdartig ausſahen
in ihrer zuſammengewürfelten Tracht. Beſonders
ein junger Burſche fiel auf, der eine grüne
Mancheſterjacke trug und einen zerknitterten
Keller, die Leute von Seldwyla. 22[338] Strohhut, um den er einen Kranz von Eber¬
eſchen oder Vogelbeerbüſcheln gebunden hatte.
Dieſer führte eine wilde Perſon mit ſich, die
einen Rock von kirſchrothem weiß getüpfeltem
Kattun trug und ſich einen Reifen von Reben¬
ſchoßen um den Kopf gebunden, ſo daß an jeder
Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar
war das ausgelaſſenſte von allen, tanzte und
ſang unermüdlich und war in allen Ecken zu¬
gleich. Dann war noch ein ſchlankes hübſches
Mädchen da, welches ein ſchwarzſeidenes abge¬
ſchoſſenes Kleid trug und ein weißes Tuch um
den Kopf, daß der Zipfel über den Rücken fiel.
Das Tuch zeigte rothe, eingewobene Streifen,
und war eine gute leinene Handzwehle oder Ser¬
viette. Darunter leuchteten aber ein paar veil¬
chenblaue Augen hervor. Um den Hals und
auf der Bruſt hing eine ſechsfache Kette von
Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und erſetzte
die ſchönſte Korallenſchnur. Dieſe Geſtalt tanzte
fortwährend allein mit ſich ſelbſt und verweigerte
hartnäckig mit einem der Geſellen zu tanzen.
Nichts deſto minder bewegte ſie ſich anmuthig
und leicht herum und lächelte jedesmal, wenn
[339] ſie ſich an dem traurigen Waldhornbläſer vor¬
überdrehte, wozu dieſer immer den Kopf ab¬
wandte. Noch einige andere vergnügte Frau¬
ensleute waren da mit ihren Beſchützern, alle
von dürftigem Ausſehen, aber ſie waren um ſo
luſtiger und in beſter Eintracht unter einander.
Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirth
keine Lichter anzünden, da er behauptete, der
Wind löſche ſie aus, auch ginge der Vollmond
ſogleich auf und für das, was ihm dieſe Herr¬
ſchaften einbrächten, ſei das Mondlicht gut genug.
Dieſe Eröffnung wurde mit großem Wohlgefallen
aufgenommen; die ganze Geſellſchaft ſtellte ſich
an die Brüſtung des luſtigen Saales und ſah
dem Aufgange des Geſtirnes entgegen, deſſen
Röthe ſchon am Horizonte ſtand, und ſobald der
Mond aufging und ſein Licht quer durch den
Eſtrich des Paradiesgärtels warf, tanzten ſie im
Mondſchein weiter, und zwar ſo ſtill, artig und
ſeelenvergnügt, als ob ſie im Glanze von hun¬
dert Wachskerzen tanzten. Das ſeltſame Licht
machte Alle vertrauter und ſo konnten Sali und
Vrenchen nicht umhin, ſich unter die gemeinſame
Luſtbarkeit zu miſchen und auch mit andern zu
22 *[340] tanzen. Aber jedesmal, wenn ſie ein Weilchen
getrennt geweſen, flogen ſie zuſammen und fei¬
erten ein Wiederſehen, als ob ſie ſich Jahre
lang geſucht und endlich gefunden. Sali machte
ein trauriges und unmuthiges Geſicht wenn er
mit einer Andern tanzte und drehte fortwährend
das Geſicht nach Vrenchen hin, welches ihn
nicht anſah, wenn es vorüberdrehte, glühte wie
eine Purpurroſe und überglücklich ſchien, mit
wem es auch tanzte. »Biſt Du eiferſüchtig,
Sali?« fragte es ihn, als die Muſikanten müde
waren und aufhörten. »Gott bewahre!« ſagte
er, »ich wüßte nicht, wie ich es anfangen ſollte!«
»Warum biſt Du denn ſo bös, wenn ich mit
Andern tanze?« »Ich bin nicht darüber bös,
ſondern weil ich mit Andern tanzen muß! Ich
kann kein anderes Mädchen ausſtehen, es iſt mir,
als wenn ich ein Stück Holz im Arm habe,
wenn Du es nicht biſt!« »Und Du? wie
geht es Dir?« »O, ich bin immer wie im
Himmel, wenn ich nur tanze und weiß, daß Du
zugegen biſt! Aber ich glaube, ich würde ſo¬
gleich todt umfallen, wenn Du weggingeſt und
mich da ließeſt!« Sie waren hinabgegangen
[341] und ſtanden vor dem Hauſe; Vrenchen umſchloß
ihn mit beiden Armen, ſchmiegte ſeinen heißen
zitternden Leib an ihn, drückte ſeine glühende
Wange, die von heißen Thränen feucht war, an
ſein Geſicht und ſagte ſchluchzend: »Wir können
nicht zuſammen ſein und doch kann ich nicht von
Dir laſſen, nicht einen Augenblick mehr, nicht
eine Minute!« Sali umarmte und drückte das
Mädchen heftig an ſich und bedeckte es mit Küſ¬
ſen. Seine verwirrten Gedanken rangen nach
einem Ausweg, aber er ſah keinen. Wenn auch
das Elend und die Hoffnungsloſigkeit ſeiner Her¬
kunft zu überwinden geweſen wären, ſo war ſeine
Jugend und unerfahrene Leidenſchaft nicht be¬
ſchaffen, eine lange Zeit der Prüfung und Ent¬
ſagung vorzunehmen und zu überſehen, und dann
wäre erſt noch Vrenchens Vater da geweſen,
welchen er zeitlebens elend gemacht. Das Ge¬
fühl, in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz
ehrlichen und gewiſſenfreien Ehe glücklich ſein
zu können, war in ihm eben ſo lebendig wie in
Vrenchen und in beiden verlaſſenen Weſen war
es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren
Zeiten in ihren Häuſern geherrſcht hatte und
[342] welche die ſich ſicher fühlenden Väter durch einen
unſcheinbaren Mißgriff über den Haufen gewor¬
fen, als ſie, eben dieſe Ehre zu äufnen wähnend
durch Vermehrung ihres Eigenthums, ſo gedan¬
kenlos ſich das Gut eines Verſchollenen aneig¬
neten, ganz gefahrlos, wie ſie meinten. Das
geſchieht nun freilich alle Tage; aber zuweilen
ſtellt das Schickſal ein Exempel auf und läßt
zwei ſolche Äufner ihrer Hausehre und ihres
Gutes zuſammentreffen, die ſich dann unfehlbar
aufreiben und auffreſſen wie zwei wilde Thiere.
Denn die Mehrer des Reiches verrechnen ſich
nicht nur auf den Thronen, ſondern zuweilen
auch in den niederſten Hütten und langen ganz
am entgegengeſetzten Ende an, als wohin ſie zu
kommen trachteten und der Schild der Ehre iſt
im Umſehen eine Tafel der Schande. Sali und
Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hau¬
ſes geſehen in zarten Kinderjahren und erinner¬
ten ſich, wie wohlgepflegte Kinderchen ſie gewe¬
ſen und wie ihre Väter ausgeſehen wie andere
Männer, geachtet und ſicher. Dann waren ſie
auf lange getrennt worden und als ſie ſich wie¬
derfanden, ſahen ſie in ſich zugleich das ver¬
[343] ſchwundene Glück des Hauſes und beider Nei¬
gung klammerte ſich nur um ſo heftiger in ein¬
ander. Sie mochten ſo gern fröhlich und glück¬
lich ſein, aber nur auf einem guten Grund und
Boden, und dieſer ſchien ihnen unerreichbar,
während ihr wallendes Blut am liebſten gleich
zuſammengeſtrömt wäre. »Nun iſt es Nacht,
rief Vrenchen, und wir ſollen uns trennen!«
»Ich ſoll nach Hauſe gehen und Dich allein
laſſen?« rief Sali, »nein, das kann ich nicht!«
»Dann wird es Tag werden und nicht beſſer
um uns ſtehen!«
»Ich will euch einen Rath geben, ihr när¬
riſchen Dinger!« tönte eine ſchrille Stimme hin¬
ter ihnen und der Geiger trat vor ſie hin. »Da
ſteht ihr, ſagte er, und wißt nicht wo aus und
hättet euch gern. Ich rathe euch, nehmt euch,
wie ihr ſeid und ſäumet nicht. Kommt mit mir
und meinen guten Freunden in die Berge, da
brauchet ihr keinen Pfarrer, kein Geld, keine
Schriften, keine Ehre, kein Bett, nichts als
eueren guten Willen! Es iſt gar nicht ſo übel
bei uns, geſunde Luft und genug zu eſſen, wenn
man thätig iſt; die grünen Wälder ſind unſer
[344] Haus, wo wir uns lieb haben, wie es uns ge¬
fällt, und im Winter machen wir uns die wärm¬
ſten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern in's
warme Heu. Alſo kurz entſchloſſen, haltet gleich
hier Hochzeit und kommt mit uns, dann ſeid ihr
aller Sorgen los und habt euch für immer und
ewiglich, ſo lang es euch gefällt wenigſtens; denn
alt werdet ihr bei unſerem freien Leben, das
könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, daß ich
euch nachtragen will, was eure Alten an mir
gethan! Nein! es macht mir zwar Vergnügen,
euch da angekommen zu ſehen, wo ihr ſeid; allein
damit bin ich zufrieden, und werde euch behülf¬
lich und dienſtfertig ſein, wenn ihr mir folgt.«
Er ſagte das wirklich in einem aufrichtigen und
gemüthlichen Tone. »Nun, beſinnt euch ein bis¬
chen, aber folget mir, wenn ich euch gut zum
Rath bin! Laßt fahren die Welt und nehmet
euch und fraget Niemandem was nach! Denkt
an das luftige Hochzeitbett im tiefen Wald oder
auf einem Heuſtock, wenn es euch zu kalt iſt!«
Damit ging er in's Haus. Vrenchen zitterte
in Salis Armen und dieſer ſagte: »Was meinſt
Du dazu? Mich dünkt, es wäre nicht übel,
[345] die ganze Welt in den Wind zu ſchlagen und
uns dafür zu lieben ohne Hinderniß und Schran¬
ken!« Er ſagte es aber mehr als einen ver¬
zweifelten Scherz, denn im Ernſt. Vrenchen aber
erwiederte ganz treuherzig und küßte ihn: »Nein,
dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es
auch nicht nach meinem Sinne zu. Der junge
Menſch mit dem Waldhorn und das Mädchen
in dem ſeidenen Rock gehören auch ſo zu einan¬
der und ſollen ſehr verliebt geweſen ſein. Nun
ſei letzte Woche die Perſon ihm zum erſten Mal
untreu geworden, was ihm nicht in den Kopf
wolle und deshalb ſei er ſo traurig und ſchmolle
mit ihr und mit den Andern, die ihn auslachen.
Sie aber thut eine muthwillige Buße, indem ſie
allein tanzt und mit Niemand ſpricht, und lacht
ihn auch nur aus damit. Dem armen Muſi¬
kanten ſieht man es jedoch an, daß er ſich noch
heute mit ihr verſöhnen wird. Wo es aber ſo
hergeht, möchte ich nicht ſein, denn nie möcht'
ich Dir untreu werden, wenn ich auch ſonſt noch
alles ertragen würde, um Dich zu beſitzen!«
Indeſſen aber fieberte das arme Vrenchen immer
heftiger an Salis Bruſt; denn ſchon ſeit dem
[346] Mittag, wo jene Wirthin es für eine Braut
gehalten und es eine ſolche ohne Widerrede vor¬
geſtellt, lohte ihm das Brautweſen im Blute
und je hoffnungsloſer es war, um ſo wilder
und unbezwinglicher. Dem Sali erging es eben
ſo ſchlimm, da die Reden des Geigers, ſo we¬
nig er ihnen folgen mochte, dennoch ſeinen Kopf
verwirrten und er ſagte mit rathlos ſtockender
Stimme: »Komm herein, wir müſſen wenig¬
ſtens noch was eſſen und trinken. Sie gingen
in die Gaſtſtube, wo Niemand mehr war, als
die kleine Geſellſchaft der Heimathloſen, welche
bereits um einen Tiſch ſaß und eine ſpärliche
Mahlzeit hielt. »Da kommt unſer Hochzeit¬
paar!« rief der Geiger, »jetzt ſeid luſtig und
fröhlich und laßt euch zuſammengeben!« Sie
wurden an den Tiſch genöthigt und flüchteten
ſich vor ſich ſelbſt an denſelben hin; ſie waren
froh, nur für den Augenblick unter Leuten zu
ſein. Sali beſtellte Wein und reichlichere Spei¬
ſen, und es begann eine große Fröhlichkeit. Der
Schmollende hatte ſich mit der Untreuen ver¬
ſöhnt und das Paar liebkoſte ſich in begieriger
Seligkeit; das andere wilde Paar ſang und
[347] trank und ließ es ebenfalls nicht an Liebesbe¬
zeugungen fehlen, und der Geiger nebſt dem
buckligen Baßgeiger lärmten in's Blaue hinein.
Sali und Vrenchen waren ſtill und hielten ſich
umſchlungen; auf einmal gebot der Geiger Stille
und führte eine ſpaßhafte Ceremonie auf, welche
eine Trauung vorſtellen ſollte. Sie mußten ſich
die Hände geben und die Geſellſchaft ſtand auf
und trat der Reihe nach zu ihnen, um ſie zu
beglückwünſchen und in ihrer Verbrüderung will¬
kommen zu heißen. Sie ließen es geſchehen,
ohne ein Wort zu ſagen, und betrachteten es als
einen Spaß, während es ſie doch kalt und heiß
durchſchauerte.
Die kleine Verſammlung wurde jetzt immer
lauter und aufgeregter, angefeuert durch den
ſtärkeren Wein, bis plötzlich der Geiger zum
Aufbruch mahnte. »Wir haben weit, rief er,
und Mitternacht iſt vorüber! Auf! wir wollen
dem Brautpaar das Geleit geben und ich will
vorausgeigen, daß es eine Art hat!« Da die
rathloſen Verlaſſenen nichts beſſeres wußten und
überhaupt ganz verwirrt waren, ließen ſie aber¬
mals geſchehen, daß man ſie voranſtellte und
[348] die übrigen zwei Paare einen Zug hinter ihnen
formirten, welchen der Bucklige beſchloß mit ſei¬
ner Baßgeige auf dem Rücken. Der Schwarze
zog voran und ſpielte auf ſeiner Geige wie be¬
ſeſſen den Berg hinunter, und die anderen lach¬
ten, ſangen und ſprangen hintendrein. So ſtrich
der tolle nächtliche Zug durch die ſtillen Felder
und durch das Heimathdorf Salis und Vrenchens,
deſſen Bewohner längſt ſchliefen.
Als ſie durch die ſtillen Gaſſen kamen und
an ihren verlorenen Vaterhäuſern vorüber, er¬
griff ſie eine ſchmerzhaft wilde Laune und ſie
tanzten mit den Andern um die Wette hinter
dem Geiger her, küßten ſich, lachten und wein¬
ten. Sie tanzten auch den Hügel hinauf, über
welchen der Geiger ſie anführte, wo die drei
Äcker lagen, und oben ſtrich der ſchwärzliche
Kerl die Geige noch einmal ſo wild, ſprang und
hüpfte wie ein Geſpenſt, und ſeine Gefährten
blieben nicht zurück in der Ausgelaſſenheit, ſo
daß es ein wahrer Blocksberg war auf der ſtil¬
len Höhe; ſelbſt der Bucklige ſprang keuchend
mit ſeiner Laſt herum und keines ſchien mehr
das andere zu ſehen. Sali faßte Vrenchen feſter
[349] in den Arm und zwang es ſtill zu ſtehen; denn
er war zuerſt zu ſich gekommen. Er küßte es,
damit es ſchweige, heftig auf den Mund, da
es ſich ganz vergeſſen hatte und laut ſang. Es
verſtand ihn endlich und ſie ſtanden ſtill und
lauſchend, bis ihr tobendes Hochzeitgeleite das
Feld entlang geraſt war und, ohne ſie zu ver¬
miſſen, am Ufer des Stromes hinauf ſich verzog.
Die Geige, das Gelächter der Mädchen und die
Jauchzer der Burſche tönten aber noch eine gute
Zeit durch die Nacht, bis zuletzt alles verklang
und ſtill wurde.
»Dieſen ſind wir entflohen, ſagte Sali, aber
wie entfliehen wir uns ſelbſt? Wie meiden
wir uns?«
Vrenchen war nicht im Stande zu antworten
und lag hochaufathmend an ſeinem Halſe. »Soll
ich Dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und
Leute wecken, daß ſie Dich aufnehmen? Mor¬
gen kannſt Du ja dann Deines Weges ziehen
und gewiß wird es Dir wohl gehen, Du kommſt
überall fort!«
»Fortkommen, ohne Dich!«
»Du mußt mich vergeſſen!«
[350] »Das werde ich nie!« Könnteſt denn Du
es thun!
»Darauf kommt's nicht an, mein Herz! ſagte
Sali und ſtreichelte ihm die heißen Wangen,
je nachdem es ſie leidenſchaftlich an ſeiner Bruſt
herumwarf,« es handelt ſich jetzt nur um Dich;
Du biſt noch ſo ganz jung und es kann Dir
noch auf allen Wegen gut gehen!«
»Und Dir nicht auch, Du alter Mann?«
»Komm!« ſagte Sali und zog es fort. Aber
ſie gingen nur einige Schritte und ſtanden wie¬
der ſtill, um ſich bequemer zu umſchlingen und
zu herzen. Die Stille der Welt ſang und mu¬
ſizirte ihnen durch die Seelen, man hörte nur
den Fluß unten ſacht und lieblich rauſchen im
langſamen Ziehen.
»Wie ſchön iſt es da rings herum! Hörſt
Du nicht etwas tönen, wie ein ſchöner Geſang
oder ein Geläute!«
»Es iſt das Waſſer das rauſcht! Sonſt iſt
alles ſtill.«
Nein, es iſt noch etwas anderes, hier, dort
hinaus, überall tönt's!«
[351] »Ich glaube, wir hören unſer eigenes Blut
in unſern Ohren rauſchen!«
Sie horchten ein Weilchen auf dieſe ein¬
gebildeten oder wirklichen Töne, welche von der
großen Stille herrührten oder welche ſie mit
den magiſchen Wirkungen des Mondlichtes ver¬
wechſelten, welches nah und fern über die
grauen Herbſtnebel wallte, welche tief auf den
Gründen lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas
ein; es ſuchte in ſeinem Bruſtgewand und ſagte:
»Ich habe Dir noch ein Andenken gekauft,
das ich Dir geben wollte!« Und es gab ihm
den einfachen Ring und ſteckte ihm denſelben
ſelbſt an den Finger. Sali nahm ſein Ringlein
auch hervor und ſteckte ihn an Vrenchens Hand,
indem er ſagte: So haben wir die gleichen Ge¬
danken gehabt! Vrenchen hielt ſeine Hand in
das bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring.
»Ei, wie ein feiner Ring!« ſagte es lachend;
»nun ſind wir aber doch verlobt und verſprochen,
Du biſt mein Mann und ich Deine Frau, wir
wollen es einmal einen Augenblick lang denken,
nur bis jener Nebelſtreif am Mond vorüber iſt
[352] oder bis wir zwölf gezählt haben! Küſſe mich
zwölfmal!«
Sali liebte gewiß eben ſo ſtark als Vren¬
chen, aber die Heirathsfrage war in ihm doch
nicht ſo leidenſchaftlich lebendig als ein beſtimm¬
tes Entweder — oder, als ein unmittelbares
Sein oder Nichtſein, wie in Vrenchen, welches
nur das Eine zu fühlen fähig war und mit lei¬
denſchaftlicher Entſchiedenheit unmittelbar Tod
oder Leben darin ſah. Aber jetzt ging ihm end¬
lich ein Licht auf und das weibliche Gefühl des
jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle
zu einem wilden und heißen Verlangen und eine
glühende Klarheit erhellte ihm die Sinne. So
heftig er Vrenchen ſchon umarmt und liebkoſ't
hatte, that er es jetzt doch ganz anders und
ſtürmiſcher und überſäete es mit Küſſen. Vren¬
chen fühlte trotz aller eigenen Leidenſchaft auf
der Stelle dieſen Wechſel und ein heftiges Zit¬
tern durchfuhr ſein ganzes Weſen, aber ehe jener
Nebelſtreif am Monde vorüber war, war es auch
davon ergriffen. Im heftigen Schmeicheln und
Ringen begegneten ſich ihre ringgeſchmückten Hände
und faßten ſich feſt, wie von ſelbſt eine Trauung
[353] vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Sa¬
lis Herz klopfte bald wie mit Hämmern, bald
ſtand es ſtill, er athmete ſchwer und ſagte leiſe:
Es giebt Eines für uns, Vrenchen, wir halten
Hochzeit zu dieſer Stunde und gehen dann aus
der Welt — dort iſt das tiefe Waſſer — dort
ſcheidet uns Niemand mehr und wir ſind zuſam¬
men geweſen — ob kurz oder lang, das kann
uns dann gleich ſein. —
Vrenchen ſagte ſogleich: »Sali — was Du
da ſagſt, habe ich ſchon lang bei mir gedacht
und ausgemacht, nämlich daß wir ſterben könn¬
ten und dann Alles vorbei wäre — ſo ſchwör'
mir es, daß Du es mit mir thun willſt!«
»Es iſt ſchon ſo gut wie gethan, es nimmt
Dich Niemand mehr aus meiner Hand, als der
Tod!« rief Sali außer ſich. Vrenchen aber
athmete hoch auf, Thränen der Freude entſtröm¬
ten ſeinen Augen; es raffte ſich auf und ſprang
leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den
Fluß hinunter. Sali eilte ihm nach; denn er
glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen
glaubte er wolle es zurückhalten, ſo ſprangen
ſie einander nach [und] Vrenchen lachte wie ein
Keller, die Leute von Seldwyla. 23[354] Kind, welches ſich nicht will fangen laſſen. »Reut
es Dich ſchon?« rief Eines zum Andern, als ſie
am Fluſſe angekommen waren und ſich ergriffen;
»nein! es freut mich immer mehr!« erwiederte
ein Jedes. Aller Sorgen ledig gingen ſie am
Ufer hinunter und überholten die eilenden Waſſer,
ſo haſtig ſuchten ſie eine Stätte, um ſich nieder¬
zulaſſen; denn ihre Leidenſchaft ſah jetzt nur den
Rauſch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung
lag, und der ganze Werth und Inhalt des übri¬
gen Lebens drängte ſich in dieſem zuſammen;
was danach kam, Tod und Untergang, war ih¬
nen ein Hauch, ein Nichts, und ſie dachten we¬
niger daran, als ein Leichtſinniger denkt, wie
er den andern Tag leben will, wenn er ſeine
letzte Habe verzehrt.
»Meine Blumen gehen mir voraus, rief
Vrenchen, ſieh, ſie ſind ganz dahin und ver¬
welkt!« Es nahm ſie von der Bruſt, warf ſie
ins Waſſer und ſang laut dazu: »Doch ſüßer
als ein Mandelkern iſt meine Lieb' zu Dir!«
»Halt! rief Sali, hier iſt Dein Brautbett!«
Sie waren an einen Fahrweg gekommen,
der vom Dorfe her an den Fluß führte, und
[355] hier war eine Landungsſtelle, wo ein großes
Schiff, hoch mit Heu beladen, angebunden lag.
In wilder Laune begann er unverweilt die ſtar¬
ken Seile loszubinden, Vrenchen fiel ihm lachend
in den Arm und rief: »Was willſt Du thun?
Wollen wir den Bauern ihr Heuſchiff ſtehlen zu
guter Letzt?« »Das ſoll die Ausſteuer ſein, die
ſie uns geben, eine ſchwimmende Bettſtelle und
ein Bett, wie noch keine Braut gehabt! Sie
werden überdies ihr Eigenthum unten wieder fin¬
den, wo es ja doch hin ſoll und werden es
nicht wiſſen, was damit geſchehen iſt. Sieh, ſchon
ſchwankt es und will hinaus!«
Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer
entfernt im tieferen Waſſer. Sali hob Vrenchen
mit ſeinen Armen hoch empor und ſchritt durch
das Waſſer gegen das Schiff; aber es liebkoſ'te
ihn ſo heftig ungeberdig und zappelte wie ein
Fiſch, daß er im ziehenden Waſſer keinen Stand
halten konnte. Es ſtrebte Geſicht und Hände
ins Waſſer zu tauchen und rief: »Ich will auch
das kühle Waſſer verſuchen! Weißt Du noch,
wie kalt und naß unſere Hände waren, als wir
ſie uns zum erſten Mal gaben? Fiſche fingen
[356] wir damals, jetzt werden wir ſelber Fiſche ſein
und zwei ſchöne große!« »Sei ruhig, Du lieber
Teufel!« ſagte Sali, der Mühe hatte zwiſchen
dem tobenden Liebchen und den Wellen ſich auf¬
recht zu halten, »es zieht mich ſonſt fort!« Er
hob ſeine Laſt in das Schiff und ſchwang ſich
nach; er hob ſie auf die hochgebettete weiche und
duftende Ladung und ſchwang ſich auch hinauf,
und als ſie oben ſaßen, trieb das Schiff allmälig
in die Mitte des Stromes hinaus und ſchwamm
dann, ſich langſam drehend, zu Thal.
Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wäl¬
der, die ihn überſchatteten, bald durch offenes
Land; bald an ſtillen Dörfern vorbei, bald an
einzelnen Hütten; hier gerieth er in eine Stille,
daß er einem ruhigen See glich und das Schiff
beinah ſtill hielt, dort ſtrömte er um Wäl¬
der und ließ die ſchlafenden Ufer ſchnell hin¬
ter ſich; und als die Morgenröthe aufſtieg, tauchte
zugleich eine Stadt mit ihren Thürmen aus dem
ſilbergrauen Strome. Der untergehende Mond,
roth wie Gold, legte eine glänzende Bahn den
Strom hinauf und auf dieſer kam das Schiff
langſam überquer gefahren. Als es ſich der
[357] Stadt näherte, glitten im Froſte des Herbſtmor¬
gens zwei bleiche Geſtalten, die ſich feſt umwan¬
den, von der dunklen Maſſe herunter in die
kalten Fluthen.
Das Schiff legte ſich eine Weile nachher
unbeſchädigt an eine Brücke und blieb da ſtehen.
Als man ſpäter unterhalb der Stadt die Leichen
fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war
in den Zeitungen zu leſen, zwei junge Leute, die
Kinder zweier blutarmen zu Grunde gegangenen
Familien, welche in unverſöhnlicher Feindſchaft
lebten, hätten im Waſſer den Tod geſucht, nach¬
dem ſie einen ganzen Nachmittag herzlich mit
einander getanzt und ſich beluſtigt auf einer Kirch¬
weih. Es ſei dies Ereigniß vermuthlich in Ver¬
bindung zu bringen mit einem Heuſchiff aus je¬
ner Gegend, welches ohne Schiffleute in der
Stadt gelandet ſei, und man nehme an, die
jungen Leute haben das Schiff entwendet, um
darauf ihre verzweifelte und gottverlaſſene Hoch¬
zeit zu halten, abermals ein Zeichen von der
um ſich greifenden Entſittlichung und Verwilde¬
rung der Leidenſchaften.
Was die Sittlichkeit betrifft, ſo bezweckt dieſe
[358] Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen
und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬
zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬
gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll
treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die
mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der
Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬
macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen
Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile,
ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen,
ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.
Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬
ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche
Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke
vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß
dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬
tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und
wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine
Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der
Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet.
Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬
hältniſſen« unter den gebildeten Ständen von
heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬
ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬
[359] zutage junge Leutchen zu trennen und auseinan¬
der zu bringen ſind, wenn ihre Neigung irgend
außer der Berechnung liegt, ſind zehnmal wider¬
wärtiger, als jene Unglücksfälle, welche jetzt die
Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem
die Schreibtafeln der Balladenſänger füllten. Wir
ſehen alle Tage etwa einen wohlgekleideten
Herrn, der ſeine Frau oder Braut mitten auf der
Straße plötzlich ſtehen läßt und auf die Seite
ſpringt, weil irgend einem Schlächter eine alte
Kuh entſprungen iſt und bedrohlich dahergerannt
kommt. Höchſtens aus der Ferne, hinter einer
Hausthür hervor, ſchwingt er ſein Stöckchen und
macht: Bſcht! Bſcht! Solche Leute werden ſich
allerdings nicht aus Eigenſinn und Leidenſchaft
um's Leben bringen, wenn man ſie trennen will.
Ebenſowenig diejenigen, welche in allen Zeitun¬
gen ihre »ſtattgefundene« Verlobung anzeigen
und vierzehn Tage darauf einen Inſeratenkrieg
führen, wo jeder Part ſich rühmt und behaup¬
tet, das »Verhältniß« zuerſt abgebrochen zu
haben.
[360]
Die drei gerechten Kammmacher.
Die Leute von Seldwyla haben bewieſen,
daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leicht¬
ſinnigen zur Noth fortbeſtehen kann im Wechſel
der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kamm¬
macher aber, daß nicht drei Gerechte lang unter
einem Dache leben können, ohne ſich in die Haare
zu gerathen. Es iſt hier aber nicht die himm¬
liſche Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche
Gerechtigkeit des menſchlichen Gewiſſens, ſondern
jene blutloſe Gerechtigkeit, welche aus dem Va¬
terunſer die Bitte geſtrichen hat: Und vergieb
uns unſere Schulden, wie auch wir vergeben
unſern Schuldnern! weil ſie keine Schulden macht
und auch keine »ausſtehen« hat; welche Nie¬
mandem zu Leid lebt, aber auch Niemandem zu
Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts
[361] ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen
Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Ge¬
rechte werfen keine Laternen ein, aber ſie zünden
auch keine an und kein Licht geht von ihnen aus;
ſie treiben allerlei Hanthierung und eine iſt ih¬
nen ſo gut wie die andere, wenn ſie nur mit
keiner Fährlichkeit verbunden iſt; am liebſten ſie¬
deln ſie ſich dort an, wo recht viele Ungerechte
in ihrem Sinne ſind; denn ſie unter einander,
wenn keine ſolche zwiſchen ihnen wären, würden
ſich bald abreiben, wie Mühlſteine, zwiſchen de¬
nen kein Korn liegt. Wenn dieſe ein Unglück
betrifft, ſo ſind ſie höchſt verwundert und jam¬
mern, als ob ſie am Spieße ſtäcken, da ſie doch
Niemandem was zu Leid gethan haben; denn
ſie betrachten die Welt als eine große wohlge¬
ſicherte Polizeianſtalt, wo keiner eine Kontra¬
ventionsbuße zu fürchten braucht, wenn er vor
ſeiner Thüre fleißig kehrt, keine Blumentöpfe
unverwahrt vor das Fenſter ſtellt und kein Waſſer
aus demſelben gießt.
Zu Seldwyl beſtand ein Kammmachergeſchäft,
deſſen Inhaber gewohnterweiſe alle fünf bis ſechs
Jahre wechſelten, obgleich es ein gutes Geſchäft
23 *[362] war, wenn es fleißig betrieben wurde; denn
die Krämer, welche die umliegenden Jahrmärkte
beſuchten, holten da ihre Kammwaaren. Außer
den nothwendigen Hornſtriegeln aller Art wurden
auch die wunderbarſten Schmuckkämme für die
Dorfſchönen und Dienſtmägde verfertigt aus ſchö¬
nem durchſichtigen Ochſenhorn, in welches die
Kunſt der Geſellen (denn die Meiſter arbeiteten
nie) ein tüchtiges braunrothes Schildpattgewölke
beizte, je nach ihrer Phantaſie, ſo daß, wenn
man die Kämme gegen das Licht hielt, man die
herrlichſten Sonnenauf- und Niedergänge zu ſe¬
hen glaubte, rothe Schäfchenhimmel, Gewitter¬
ſtürme und andere geſprenkelte Naturerſcheinun¬
gen. Im Sommer, wenn die Geſellen gerne
wanderten und rar waren, wurden ſie mit Höf¬
lichkeit behandelt und bekamen guten Lohn und
gutes Eſſen; im Winter aber, wenn ſie ein Un¬
terkommen ſuchten und häufig zu haben waren,
mußten ſie ſich ducken, Kämme machen, was
das Zeug halten wollte, für geringen Lohn, die
Meiſterin ſtellte einen Tag wie den andern eine
Schüſſel Sauerkraut auf den Tiſch und der Mei¬
ſter ſagte: das ſind Fiſche! Wenn dann ein Ge¬
[363] ſelle zu ſagen wagte: bitt' um Verzeihung, es
iſt Sauerkraut! ſo bekam er auf der Stelle den
Abſchied und mußte wandern in den Winter hin¬
aus. Sobald aber die Wieſen grün wurden und
die Wege gangbar, ſagten ſie: Es iſt doch
Sauerkraut! und ſchnürten ihr Bündel. Denn
wenn dann auch die Meiſterin auf der Stelle
einen Schinken auf das Kraut warf und der
Meiſter ſagte: Meiner Seel! ich glaubte es
wären Fiſche! Nun, dieſes iſt doch gewiß ein
Schinken! ſo ſehnten ſie ſich doch hinaus, da alle
drei Geſellen in einem zweiſchläfigen Bett ſchla¬
fen mußten und ſich den Winter durch herzlich
ſatt bekamen wegen der Rippenſtöße und erfro¬
renen Seiten.
Einsmals kam aber ein ordentlicher und ſanf¬
ter Geſelle angereiſt aus irgend einem der
ſächſiſchen Lande, der fügte ſich in Alles, arbei¬
tete wie ein Thierlein und war nicht zu ver¬
treiben, ſo daß er zuletzt ein bleibender Haus¬
rath wurde in dem Geſchäft und mehrmals den
Meiſter wechſeln ſah, da es die Jahre her gerade
etwas ſtürmiſcher herging als ſonſt. Jobſt ſtreckte
ſich in dem Bette ſo ſteif er konnte und be¬
[364] hauptete ſeinen Platz zunächſt der Wand Winter
und Sommer; er nahm das Sauerkraut willig
für Fiſche und im Frühjahr mit beſcheidenem
Dank ein Stückchen von dem Schinken. Den
kleineren Lohn legte er ſo gut zur Seite, wie
den größeren, denn er gab nichts aus, ſondern
ſparte ſich alles auf. Er lebte nicht, wie an¬
dere Handwerksgeſellen, trank nie einen Schop¬
pen, verkehrte mit keinem Landsmann noch mit
anderen jungen Geſellen, ſondern ſtellte ſich des
Abends unter die Hausthüre und ſchäkerte mit
den alten Weibern, hob ihnen die Waſſereimer
auf den Kopf, wenn er beſonders freigebiger
Laune war, und ging mit den Hühnern zu Bett,
wenn nicht reichliche Arbeit da war, daß er für
beſondere Rechnung die Nacht durcharbeiten konnte.
Am Sonntag arbeitete er ebenfalls bis in den
Nachmittag hinein, und wenn es das herrlichſte
Wetter war; man denke aber nicht, daß er dies
mit Frohſinn und Vergnügen that, wie Johann
der muntere Seifenſieder; vielmehr war er bei
dieſer freiwilligen Mühe niedergeſchlagen, und be¬
klagte ſich fortwährend über die Mühſeligkeit des
Lebens. War dann der Sonntagnachmittag ge¬
[365] kommen, ſo ging er in ſeinem Arbeitsſchmutz
und in den klappernden Pantoffeln über die Gaſſe
und holte ſich bei der Wäſcherin das friſche Hemd
und das geglättete Vorhemdchen, den Vatermör¬
der oder das beſſere Schnupftuch und trug dieſe
Herrlichkeiten auf der flachen Hand mit elegantem
Geſellenſchritt vor ſich her nach Hauſe. Denn
im Arbeitsſchurz und in den Schlappſchuhen be¬
obachten manche Geſellen immer einen eigenthüm¬
lich gezierten Gang, als ob ſie in höheren Sphä¬
ren ſchwebten, beſonders die gebildeten Buchbin¬
der, die luſtigen Schuhmacher und die ſeltenen
ſonderbaren Kammmacher. In ſeiner Kammer
bedachte ſich Jobſt aber noch wohl, ob er das
Hemd oder das Vorhemdchen auch wirklich an¬
ziehen wolle, denn er war bei aller Sanftmuth
und Gerechtigkeit ein kleiner Schweinigel, oder
ob es die alte Wäſche noch für eine Woche thun
müſſe und er bei Hauſe bleiben und noch ein
Bischen arbeiten wolle. In dieſem Falle ſetzte
er ſich mit einem Seufzer über die Schwierigkeit
und Mühſal der Welt von neuem dahinter und
ſchnitt verdroſſen ſeine Zähne in die Kämme
oder er wandelte das Horn in Schildkrötſchalen
[366] um, wobei er aber ſo nüchtern und phantaſielos
verfuhr, daß er immer die gleichen drei troſtloſen
Kleckſe darauf ſchmierte, denn wenn es nicht
unzweifelhaft vorgeſchrieben war, ſo wandte er
nicht die kleinſte Mühe an eine Sache. Ent¬
ſchloß er ſich aber zu einem Spaziergang, ſo
putzte er ſich eine oder zwei Stunden lang pein¬
lich heraus, nahm ſein Spazierſtöckchen und
wandelte ſteif ein wenig vor's Thor, wo er de¬
müthig und langweilig herumſtand und langwei¬
lige Geſpräche führte mit andern Herumſtändern,
die auch nichts beſſeres zu thun wußten, etwa
alte arme Seldwyler, welche nicht mehr in's
Wirthshaus gehen konnten. Mit ſolchen ſtellte
er ſich dann gern vor ein im Bau begriffenes
Haus, vor ein Saatfeld, vor einen wetterbeſchä¬
digten Apfelbaum oder vor eine neue Zwirn¬
fabrik und düftelte auf das Angelegentlichſte über
dieſe Dinge, deren Zweckmäßigkeit und den
Koſtenpunkt, über die Jahrshoffnungen und den
Stand der Feldfrüchte, von was allem er nicht
den Teufel verſtand. Es war ihm auch nicht
darum zu thun; aber die Zeit verging ihm ſo
auf die billigſte und kurzweiligſte Weiſe nach
[367] ſeiner Art und die alten Leute nannten ihn nur
den artigen und vernünftigen Sachſen, denn ſie
verſtanden auch nichts. Als die Seldwyler eine
große Aktienbrauerei anlegten, von der ſie ſich
ein gewaltiges Leben verſprachen, und die weit¬
läufigen Fundamente aus dem Boden ragten,
ſtöckerte er manchen Sonntag Abend darin herum,
mit Kennerblicken und mit dem ſcheinbar leben¬
digſten Intereſſe die Fortſchritte des Baues un¬
terſuchend, wie wenn er ein alter Bauverſtän¬
diger und der größte Biertrinker wäre. »Aber
nein! rief er ein Mal um das andere, des is
ein fameſes Wergg! des giebt eine großartigte
Anſtalt! Aber Geld koſten duhts, na das Geld!
Aber Schade, hier mißte mir des Gewehlbe doch
en Bisgen diefer ſein und die Mauer um eine
Idee ſtärger!« Bei alle dem dachte er ſich
gar nichts, als daß er noch recht zeitig zum
Abendeſſen wolle, eh' es dunkel werde; denn
dieſes war der einzige Tort, den er ſeiner Frau
Meiſterin anthat, daß er nie das Abendbrot ver¬
ſäumte am Sonntag, wie etwa die anderen Ge¬
ſellen, ſondern daß ſie ſeinetwegen allein zu Hauſe
bleiben oder ſonſt wie Bedacht auf ihn nehmen
[368] mußte. Hatte er ſein Stückchen Braten oder
Wurſt verſorgt, ſo wurmiſirte er noch ein Weil¬
chen in der Kammer herum und ging dann zu
Bett, dies war dann ein vergnügter Sonntag
für ihn geweſen.
Bei all' dieſem anſpruchloſen, ſanften und
ehrbaren Weſen ging ihm aber nicht ein leiſer
Zug von innerlicher Ironie ab, wie wenn er
ſich heimlich über die Leichtſinnigkeit und Eitel¬
keit der Welt luſtig machte und er ſchien die
Größe und Erheblichkeit der Dinge nicht undeut¬
lich zu bezweifeln und ſich eines viel tieferen
Gedankenplanes bewußt zu ſein. In der That
machte er auch zuweilen ein ſo kluges Geſicht,
beſonders wenn er die ſachverſtändigen ſonntägli¬
chen Reden führte, daß man ihm wohl anſah, wie
er heimlich viel wichtigere Dinge im Sinne trage,
wogegen alles, was andere unternahmen, bauten
und aufrichteten, nur ein Kinderſpiel wäre. Der
große Plan, welchen er Tag und Nacht mit ſich
herumtrug und welcher ſein ſtiller Leitſtern war
die ganzen Jahre lang, während er in Seldwyl
Geſelle war, beſtand darin, ſich ſo lange ſeinen
Verdienſt aufzuſparen, bis er hinreiche, eines
[369] ſchönen Morgens das Geſchäft, wenn es gerade
vakant würde, anzukaufen und ihn ſelbſt zum
Inhaber und Meiſter zu machen. Dies lag all'
ſeinem Thun und Trachten zu Grunde, da er
wohl bemerkt hatte, wie ein fleißiger und ſpar¬
ſamer Mann allhier wohl gedeihen müßte, ein
Mann, welcher ſeinen eigenen ſtillen Weg ginge
und von der Sorgloſigkeit der Andern nur den
Nutzen aber nicht die Nachtheile zu ziehen wüßte.
Wenn er aber erſt Meiſter wäre, dann wollte
er bald ſo viel erworben haben, um ſich auch
einzubürgern, und dann erſt gedachte er ſo klug
und zweckmäßig zu leben, wie noch nie ein Bür¬
ger in Seldwyl, ſich um gar nichts zu kümmern,
was nicht ſeinen Wohlſtand mehre, nicht einen
Deut auszugeben, aber deren ſo viele als möglich
an ſich zu ziehen in dem leichtſinnigen Strudel
dieſer Stadt. Dieſer Plan war eben ſo einfach
als richtig und begreiflich, beſonders da er ihn
auch ganz gut und ausdauernd durchführte; denn
er hatte ſchon ein hübſches Sümmchen zurückge¬
legt, welches er ſorgfältig verwahrte und ſicherer
Berechnung nach mit der Zeit groß genug wer¬
den mußte zur Erreichung dieſes Zieles. Aber
Keller, die Leute von Seldwyla. 24[370] das Unmenſchliche an dieſem ſo ſtillen und fried¬
fertigen Plane war nur, daß Jobſt ihn überhaupt
gefaßt hatte; denn nichts in ſeinem Herzen zwang
ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben, weder eine
Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute,
weder für die politiſche Verfaſſung dieſes Landes,
noch für ſeine Sitten. Dies alles war ihm ſo
gleichgültig, wie ſeine eigene Heimath, nach wel¬
cher er ſich gar nicht zurückſehnte; an hundert
Orten in der Welt konnte er ſich mit ſeinem
Fleiß und mit ſeiner Gerechtigkeit eben ſo wohl
feſthalten, wie hier; aber er hatte keine freie
Wahl und ergriff in ſeinem öden Sinne die erſte
zufällige Hoffnungsfaſer, die ſich ihm bot, um
ſich daran zu hängen und ſich daran groß zu
ſaugen. Wo es mir wohl geht, da iſt mein
Vaterland! heißt es ſonſt und dieſes Sprichwort
ſoll unangetaſtet bleiben für diejenigen, welche
auch wirklich eine beſſere und nothwendige Ur¬
ſache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande
aufzuweiſen haben, welche in freiem Entſchluſſe
in die Welt hinausgegangen, um ſich rüſtig einen
Vortheil zu erringen und als geborgene Leute
zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen
[371] Zuſtande in Schaaren entfliehen und dem Zuge
der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung
über die Meere mit wandern; oder welche ir¬
gendwo treuere Freunde gefunden haben, als da¬
heim, oder ihren eigenſten Neigungen mehr ent¬
ſprechende Verhältniſſe oder durch irgend ein
ſchöneres menſchliches Band feſtgebunden wurden.
Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens
werden alle dieſe wenigſtens lieben müſſen, wo
ſie eigentlich ſind und auch da zur Noth einen
Menſchen vorſtellen. Aber Jobſt wußte kaum
wo er war; die Einrichtungen und Gebräuche
der Schweizer waren ihm unverſtändlich, und er
ſagte blos zuweilen: »Ja, ja, die Schweizer ſind
politiſche Leute! Es iſt gewißlich, wie ich glaube,
eine ſchöne Sache um die Politik, wenn man
Liebhaber davon iſt! Ich für meinen Theil bin
kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da iſt
es nicht der Brauch geweſen.« Die Sitten der
Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn
ängſtlich, und wenn ſie einen Tumult oder Zug
vorhatten, hockte er zitternd zuhinterſt in der
Werkſtatt und fürchtete Mord und Todtſchlag.
Und dennoch war es ſein einziges Denken und
24 *[372] ſein großes Geheimniß, hier zu bleiben bis an
das Ende ſeiner Tage. Auf alle Punkte der
Erde ſind ſolche Gerechte hingeſtreut, die aus
keinem anderen Grunde ſich dahin verkrümmelten,
als weil ſie zufällig an ein Saugeröhrchen des
guten Auskommens geriethen, und ſie ſaugen ſtill
daran ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe
zu dem neuen Lande, ohne einen Blick in die
Weite und ohne einen für die Nähe, und glei¬
chen daher weniger dem freien Menſchen, als je¬
nen niederen Organismen, wunderlichen Thierchen
und Pflanzenſaamen, die durch Luft und Waſſer
an die zufällige Stätte ihres Gedeihens getragen
worden.
So lebte er ein Jährchen um das andere
in Seldwyla und äufnete ſeinen heimlichen Schatz,
welchen er unter einer Flieſe ſeines Kammer¬
bodens vergraben hielt. Noch konnte ſich kein
Schneider rühmen, einen Batzen an ihm verdient
zu haben, denn noch war der Sonntagsrock, mit
dem er angereiſ't, im gleichen Zuſtande wie da¬
mals. Noch hatte kein Schuſter einen Pfennig
von ihm gelöſt, denn noch waren nicht einmal
die Stiefelſohlen durchgelaufen, die bei ſeiner
[373] Ankunft das Äußere ſeines Felleiſens geziert;
denn das Jahr hat nur zwei und funfzig Sonn¬
tage, und von dieſen wurde nur die Hälfte zu
einem kleinen Spaziergange verwandt. Niemand
konnte ſich rühmen, je ein kleines oder großes
Stück Geld in ſeiner Hand geſehen zu haben;
denn wenn er ſeinen Lohn empfing, verſchwand
dieſer auf der Stelle auf die geheimnißvollſte
Weiſe, und ſelbſt wenn er vor das Thor ging,
ſteckte er nicht einen Deut zu ſich, ſo daß es
ihm gar nicht möglich war, etwas auszugeben.
Wenn Weiber mit Kirſchen, Pflaumen oder Bir¬
nen in die Werkſtatt kamen und die anderen
Arbeiter ihre Gelüſte befriedigten, hatte er auch
tauſend und ein Gelüſte, welche er dadurch zu
beruhigen wußte, daß er mit der größten Auf¬
merkſamkeit die Verhandlung mit führte, die
hübſchen Kirſchen und Pflaumen ſtreichelte und
betaſtete und zuletzt die Weiber, welche ihn für
den eifrigſten Käufer genommen, verblüfft abziehen
ließ, ſich ſeiner Enthaltſamkeit freuend, und mit
zufriedenem Vergnügen, mit tauſend kleinen Rath¬
ſchlägen, wie ſie die gekauften Äpfel braten oder
ſchälen ſollten, ſah er ſeine Mitgeſellen eſſen.
[374]
Aber ſo wenig Jemand eine Münze von ihm zu
beſehen kriegte, eben ſo wenig erhielt Jemand
von ihm je ein barſches Wort, eine unbillige
Zumuthung oder ein ſchiefes Geſicht; er wich
vielmehr allen Händeln auf das ſorgfältigſte aus
und nahm keinen Scherz übel, den man ſich mit
ihm erlaubte; und ſo neugierig er war, den
Verlauf von allerlei Klatſchereien und Streitig¬
keiten zu betrachten und zu beurtheilen, da ſolche
jederzeit einen koſtenfreien Zeitvertreib gewährten,
während andere Geſellen ihren rohen Gelagen
nachgingen, ſo hütete er ſich wohl, ſich in etwas
zu miſchen und über einer Unvorſichtigkeit betref¬
fen zu laſſen. Kurz er war die merkwürdigſte
Miſchung von wahrhaft heroiſcher Weisheit und
Ausdauer und von ſanfter ſchnöder Herz- und
Gefühlloſigkeit.
Einſt war er ſchon ſeit vielen Wochen der
einzige Geſelle in dem Geſchäft und es war
ihm ſo wohl in dieſer Ungeſtörtheit wie einem
Fiſch im Waſſer. Beſonders des Nachts freute
er ſich des breiten Raumes im Bette und benutzte
ſehr ökonomiſch dieſe ſchöne Zeit, ſich für die
kommenden Tage zu entſchädigen und ſeine Per¬
[375] ſon gleichſam zu verdreifachen, indem er unauf¬
hörlich die Lage wechſelte und ſich vorſtellte, als
ob drei zumal im Bette lägen, von denen zwei
den dritten erſuchten, ſich doch nicht zu geniren
und es ſich bequem zu machen. Dieſer Dritte
war er ſelbſt und er wickelte ſich auf die Ein¬
ladung hin wollüſtig in die ganze Decke oder
ſpreizte die Beine weit auseinander, legte ſich
quer über das Bett oder ſchlug in harmloſer
Luſt Purzelbäume darin. Eines Tages aber,
als er noch beim Abendſcheine ſchon im Bette
lag, kam unverhofft noch ein fremder Geſelle
zugeſprochen und wurde von der Meiſterin in
die Schlafkammer gewieſen. Jobſt lag eben in
wähligem Behagen mit dem Kopfe am Fußende
und mit den Füßen auf den Pfülmen, als der
Fremde eintrat, ſein ſchweres Felleiſen abſtellte
und unverweilt anfing, ſich auszuziehen, da er
müde war. Jobſt ſchnellte blitzſchnell herum und
ſtreckte ſich ſteif an ſeinen urſprünglichen Platz
an der Wand, und er dachte: »Der wird bald
wieder ausreißen, da es Sommer iſt und lieblich
zu wandern!« In dieſer Hoffnung ergab er
ſich mit ſtillen Seufzern in ſein Schickſal und
[376] war der nächtlichen Rippenſtöße und des Streites
um die Decke gewärtig, die es nun abſetzen
würde. Aber wie erſtaunt war er, als der
Neuangekommene, obgleich es ein Baier war,
ſich mit höflichem Gruße zu ihm ins Bett legte,
ſich eben ſo friedlich und manierlich, wie er ſelbſt,
am andern Ende des Bettes verhielt und ihn
während der ganzen Nacht nicht im mindeſten
beläſtigte. Dies unerhörte Abenteuer brachte ihn
ſo um alle Ruhe, daß er, während der Baier
wohlgemuth ſchlief, dieſe Nacht kein Auge zuthat.
Am Morgen betrachtete er den wunderſamen
Schlafgefährten mit äußerſt aufmerkſamen Mienen
und ſah, daß es ein ebenfalls nicht mehr junger
Geſelle war, der ſich mit anſtändigen Worten nach
den Umſtänden und dem Leben hier erkundigte,
ganz in der Weiſe, wie er es etwa ſelbſt gethan
haben würde. Sobald er dies nur bemerkte,
hielt er an ſich und verſchwieg die einfachſten
Dinge, wie ein großes Geheimniß, trachtete aber
dagegen das Geheimniß des Baiers zu ergrün¬
den; denn daß derſelbe ebenfalls eines beſaß,
war ihm von weitem anzuſehen; wozu ſollte er
ſonſt ein ſo verſtändiger, ſanftmüthiger und ge¬
[377] wiegter Menſch ſein, wenn er nicht irgend etwas
heimliches, ſehr vortheilhaftes vorhatte? Nun
ſuchten ſie ſich gegenſeitig die Würmer aus der
Naſe zu ziehen, mit der größten Vorſicht und
Friedfertigkeit, in halben Worten und auf an¬
muthigen Umwegen. Keiner gab eine vernünftige
klare Antwort und doch wußte nach Verlauf
einiger Stunden jeder, daß der Andere nichts
mehr oder minder, als ſein vollkommner Doppel¬
gänger ſei. Als im Lauf des Tages Fridolin
der Baier mehrmals nach der Kammer lief und
ſich dort zu ſchaffen machte, nahm Jobſt die
Gelegenheit wahr, auch einmal hinzuſchleichen,
als jener bei der Arbeit ſaß, und durchmuſterte
im Fluge die Habſeligkeiten Fridolins; er ent¬
deckte aber nichts weiter, als faſt die gleichen
Siebenſächelchen, die er ſelbſt beſaß, bis auf die
hölzerne Nadelbüchſe, welche aber hier einen Fiſch
vorſtellte, während Jobſt ſcherzhafter Weiſe ein
kleines Wickelkindchen beſaß, und ſtatt einer zer¬
riſſenen franzöſiſchen Sprachlehre für das Volk,
welche Jobſt bisweilen durchblätterte, war bei
dem Baier ein gut gebundenes Büchlein zu fin¬
den, betitelt: Die kalte und warme Küpe, ein
[378] unentbehrliches Handbuch für Blaufärber. Darin
war aber mit Bleiſtift geſchrieben: Unterfand für
die 3 Kreizer, welche ich dem Naſſauer geborgt.
Hieraus ſchloß er, daß es ein Mann war, der
das Seinige zuſammenhielt, und ſpähete unwill¬
kührlich am Boden herum, und bald entdeckte er
eine Flieſe, die ihm gerade ſo vorkam, als ob
ſie kürzlich herausgenommen wäre und unter der¬
ſelben lag auch richtig ein Schatz in ein altes
halbes Schnupftuch und mit Zwirn umwickelt,
faſt ganz ſo ſchwer wie der ſeinige, welcher zum
Unterſchied in einem zugebundenen Socken ſteckte.
Zitternd drückte er die Backſteinplatte wieder
zurecht, zitternd aus Aufregung und Bewunderung
der fremden Größe und aus tiefer Sorge um ſein
Geheimniß. Stracks lief er hinunter in die Werk¬
ſtatt und arbeitete, als ob es gälte, die Welt mit
Kämmen zu verſehen, und der Baier arbeitete,
als ob der Himmel noch dazu gekämmt werden
müßte. Die nächſten acht Tage beſtätigten durch¬
aus dieſe erſte gegenſeitige Auffaſſung; denn war
Jobſt fleißig und genügſam, ſo war Fridolin
thätig und enthaltſam mit den gleichen bedenkli¬
chen Seufzern über das Schwierige ſolcher Tu¬
[379] gend; war aber Jobſt heiter und weiſe, ſo zeigte
ſich Fridolin ſpaßhaft und klug; war jener be¬
ſcheiden, ſo war dieſer demüthig, jener ſchlau und
ironiſch, dieſer durchtrieben und beinahe ſatyriſch,
und machte Jobſt ein friedlich einfältiges Geſicht
zu einer Sache, die ihn ängſtigte, ſo ſah Frido¬
lin unübertrefflich wie ein Eſel aus. Es war
nicht ſowohl ein Wettkampf, als die Übung wohl¬
bewußter Meiſterſchaft, die ſie beſeelte, wobei
keiner verſchmähte, ſich den andern zum Vorbild
zu nehmen und ihm die feinſten Züge eines voll¬
kommenen Lebenswandels, die ihm etwa noch
fehlten, nachzuahmen. Sie ſahen ſogar ſo ein¬
trächtig und verſtändnißinnig aus, daß ſie eine
gemeinſame Sache zu machen ſchienen, und glichen
ſo zwei tüchtigen Helden, die ſich ritterlich ver¬
tragen und gegenſeitig ſtählen, ehe ſie ſich befeh¬
den. Aber nach kaum acht Tagen kam abermals
einer zugereiſ't, ein Schwabe, Namens Dietrich,
worüber die Beiden eine ſtillſchweigende Freude
empfanden, wie über einen luſtigen Maßſtab, an
welchem ihre ſtille Größe ſich meſſen konnte, und
ſie gedachten das arme Schwäbchen, welches ge¬
wiß ein rechter Taugenichts war, in die Mitte
[380] zwiſchen ihre Tugenden zu nehmen, wie zwei
Löwen ein Äffchen, mit dem ſie ſpielen.
Aber wer beſchreibt ihr Erſtaunen, als der
Schwabe ſich gerade ſo benahm, wie ſie ſelbſt,
und ſich die Erkennung, die zwiſchen ihnen vor¬
gegangen, noch einmal wiederholte zu Dritt,
wodurch ſie nicht nur dem Dritten gegenüber in
eine unverhoffte Stellung geriethen, ſondern ſie
ſelbſt unter ſich in eine ganz veränderte Lage
kamen.
Schon als ſie ihn im Bette zwiſchen ſich
nahmen, zeigte ſich der Schwabe als vollkommen
ebenbürtig und lag wie ein Schwefelholz ſo ſtrack
und ruhig, ſo daß immer noch ein bischen Raum
zwiſchen jedem der Geſellen blieb und das Deck¬
bett auf ihnen lag, wie ein Papier auf drei
Häringen. Die Lage wurde nun ernſter und
indem alle drei gleichmäßig ſich gegenüberſtanden,
wie die Winkel eines gleichſeitigen Dreieckes, und
kein vertrauliches Verhältniß mehr zwiſchen zweien
möglich war, kein Waffenſtillſtand oder anmuthi¬
ger Wettſtreit, waren ſie allen Ernſtes befliſſen,
einander aus dem Bett und dem Haus hinaus
zu dulden. Als der Meiſter ſah, daß dieſe drei
[381] Käuze ſich alles gefallen ließen, um nur da zu
bleiben, brach er ihnen an Lohn ab und gab
ihnen geringere Koſt; aber deſto fleißiger arbei¬
teten ſie und ſetzten ihn in den Stand, große
Vorräthe von billigen Waaren in Umlauf zu
bringen und vermehrten Beſtellungen zu genügen,
alſo daß er ein Heidengeld durch die ſtillen Ge¬
ſellen verdiente und eine wahre Goldgrube an
ihnen beſaß. Er ſchnallte ſich den Gurt um
einige Löcher weiter und ſpielte eine große Rolle
in der Stadt, während die thörichten Arbeiter
in der dunklen Werkſtatt Tag und Nacht ſich
abmühten und ſich gegenſeitig hinausarbeiten woll¬
ten. Dietrich, der Schwabe, welcher der jüngſte
war, erwies ſich als ganz vom gleichen Holze
geſchnitten, wie die zwei andern, nur beſaß er
noch keine Erſparniß, denn er war noch zu wenig
gereiſt. Dies wäre ein bedenklicher Umſtand
für ihn geweſen, da Jobſt und Fridolin einen
zu großen Vorſprung gewannen, wenn er nicht
als ein erfindungsreiches Schwäblein eine neue
Zaubermacht heraufbeſchworen hätte, um den
Vortheil der andern aufzuwiegen. Da ſein Ge¬
müth nämlich von jeglicher Leidenſchaft frei war,
[382] ſo frei wie dasjenige ſeiner Nebengeſellen, außer
von der Leidenſchaft, gerade hier und nirgends
anders ſich anzuſiedeln und den Vortheil wahr¬
zunehmen, ſo erfand er den Gedanken, ſich zu
verlieben und um die Hand einer Perſon zu
werben, welche ungefähr ſo viel beſaß, als der
Sachſe und der Baier unter den Flieſen liegen
hatten. Es gehörte zu den beſſeren Eigenthüm¬
lichkeiten der Seldwyler, daß ſie um einiger
Mittel willen keine häßlichen oder unliebenswür¬
digen Frauen nahmen; in große Verſuchung
geriethen ſie ohnehin nicht, da es in ihrer Stadt
keine reichen Erbinnen gab, weder ſchöne noch
unſchöne, und ſo behaupteten ſie wenigſtens die
Tapferkeit, auch die kleineren Brocken zu verſchmä¬
hen und ſich lieber mit luſtigen und hübſchen
Weſen zu verbinden, mit welchen ſie einige Jahre
Staat machen konnten. Daher wurde es dem
ausſpähenden Schwaben nicht ſchwer, ſich den
Weg zu einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen,
welche in derſelben Straße wohnte und von der
er, im klugen Geſpräche mit alten Weibern, in
Erfahrung gebracht, daß ſie einen Gültbrief von
ſiebenhundert Gulden ihr Eigenthum nenne.
[383] Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht
und zwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter,
der Wäſcherin, zuſammen lebte, aber über jenes
väterliche Erbtheil unbeſchränkt herrſchte. Sie
hatte den Brief in einer kleinen lackirten Lade
liegen, wo ſie auch die Zinſen davon, ihren
Taufzettel, ihren Confirmationsſchein und ein
bemaltes und vergoldetes Oſterei bewahrte; fer¬
ner ein halbes Dutzend ſilberne Theelöffel, ein
Vaterunſer mit Gold auf einen rothen durchſich¬
tigen Glasſtoff gedruckt, den ſie Menſchenhaut
nannte, einen Kirſchkern, in welchen das Leiden
Chriſti geſchnitten war und eine Büchſe aus
durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten
Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und
ein ſilberner Fingerhut; ferner war darin ein
anderer Kirſchkern, in welchem ein winziges Ke¬
gelſpiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine
Muttergottes hinter Glas lag, wenn man ſie
öffnete, ein ſilbernes Herz, worin ein Riech¬
ſchwämmchen ſteckte, und eine Bonbonbüchſe aus
Zitronenſchaale, auf deren Deckel eine Erdbeere
gemalt war, und in welcher eine goldene Steck¬
nadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein¬
[384] nicht vorſtellte, und ein Medaillon mit einem
Monument von Haaren; ferner ein Bündel ver¬
gilbter Papiere mit Recepten und Geheimniſſen,
ein Fläſchchen mit Hoffmannstropfen, ein ande¬
res mit kölniſchem Waſſer und eine Büchſe mit
Moſchus; eine andere, worin ein Endchen Mar¬
derdreck lag, und ein Körbchen aus wohlriechen¬
den Halmen geflochten, ſo wie eines, aus Glas¬
perlen und Gewürznägelein zuſammengeſetzt; end¬
lich ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes
Papier gebunden mit ſilbernem Schnitt, betitelt:
Goldene Lebensregeln für die Jungfrau als
Braut, Gattin und Mutter; und ein Traum¬
büchlein, ein Briefſteller, fünf oder ſechs Liebes¬
briefe und ein Schnepper zum Aderlaſſen; denn
einſt hatte ſie ein Verhältniß mit einem Bar¬
biergeſellen oder Chirurgiegehülfen gepflogen,
welchen ſie zu ehelichen gedachte, und da ſie
eine geſchickte und überaus verſtändige Perſon
war, ſo hatte ſie von ihrem Liebhaber gelernt,
die Ader zu ſchlagen, Blutigel und Schröpfköpfe
anzuſetzen und dergleichen mehr und konnte ihn
ſelbſt ſogar ſchon raſiren. Allein er hatte ſich
als ein unwürdiger Menſch gezeigt, bei welchem
[385] leichtlich ihr ganzes Lebensglück auf's Spiel
geſetzt war, und ſo hatte ſie mit trauriger aber
weiſer Entſchloſſenheit das Verhältniß gelöſ't.
Die Geſchenke wurden von beiden Seiten zurück¬
gegeben mit Ausnahme des Schneppers; dieſen
vorenthielt ſie als ein Unterpfand für einen Gul¬
den und acht und vierzig Kreuzer, welche ſie ihm
einſt baar geliehen; der Unwürdige behauptete
aber, ſolche nicht ſchuldig zu ſein, da ſie das
Geld ihm bei Gelegenheit eines Balles in
die Hand gegeben, um die Auslagen zu beſtrei¬
ten, und ſie hätte zweimal ſo viel verzehrt, als
er. So behielt er den Gulden und die acht
und vierzig Kreuzer und ſie den Schnepper, mit
welchem ſie unter der Hand allen Frauen ihrer
Bekanntſchaft Ader ließ und manchen ſchönen
Batzen verdiente. Aber jedesmal, wenn ſie das
Inſtrument gebrauchte, mußte ſie, mit Schmerzen
der niedrigen Geſinnungsart deſſen gedenken, der
ihr ſo nahe geſtanden und beinahe ihr Gemahl
geworden wäre!
Dies Alles war in der lackirten Lade ent¬
halten, wohl verſchloſſen, und dieſe war wiederum
in einem alten Nußbaumſchrank aufgehoben, deſſen
Keller, die Leute von Seldwyla. 25[386] Schlüſſel die Züs Bünzlin allfort in der Taſche
trug. Die Perſon ſelbſt hatte dünne röthliche
Haare und waſſerblaue Augen, welche nicht ohne
Reiz waren und zuweilen ſanft und weiſe zu
blicken wußten; ſie beſaß eine große Menge
Kleider, von denen ſie nur wenige und ſtets die
älteſten trug, aber immer war ſie ſorgſam und
reinlich angezogen, und eben ſo ſauber und auf¬
geräumt ſah es in der Stube aus. Sie war
ſehr fleißig und half ihrer Mutter bei ihrer
Wäſcherei, indem ſie die feineren Sachen plättete
und die Hauben und Manſchetten der Seldwy¬
lerinnen wuſch, womit ſie einen ſchönen Pfennig
gewann; von dieſer Thätigkeit mochte es auch
kommen, daß ſie allwöchentlich die Tage hindurch,
wo gewaſchen wurde, jene ſtrenge und gemeſſene
Stimmung inne hielt, welche die Weiber immer
während einer Wäſche befällt, und daß dieſe
Stimmung ſich in ihr feſtſetzte ein für allemal
an dieſen Tagen; erſt wenn das Glätten anging,
griff eine größere Heiterkeit Platz, welche bei
Züſi aber jederzeit mit Weisheit gewürzt war.
Den gemeſſenen Geiſt beurkundete auch die
Hauptzierde der Wohnung, ein Kranz von vier¬
[387] eckigen, genau abgezirkelten Seifenſtücken, welche
rings auf das Geſimſe des Tannengetäfels gelegt
waren zum Hartwerden, behufs beſſerer Nutznie¬
ßung. Dieſe Stücke zirkelte ab und ſchnitt aus
den friſchen Tafeln mittelſt eines Meſſingdrahtes
jederzeit Züs ſelbſt. Der Draht hatte zwei
Queerhölzchen an den Enden zum bequemen
Anfaſſen und Durchſchneiden der weichen Seife,
einen ſchönen Zirkel aber zum Eintheilen hatte
ihr ein Zeugſchmidtgeſell verfertigt und geſchenkt,
mit welchem ſie einſt ſo gut wie verſprochen
war. Von demſelben rührte auch ein blanker
kleiner Gewürzmörſer her, welcher das Geſimſe
ihres Schrankes zierte zwiſchen der blauen Thee¬
kanne und dem bemalten Blumenglas; ſchon
lange war ein ſolches artiges Mörſerchen ihr
Wunſch geweſen, und der aufmerkſame Zeug¬
ſchmied kam daher wie gerufen, als er an ihrem
Namenstage damit erſchien und auch was zum
Stoßen mitbrachte: eine Schachtel voll Zimmet,
Zucker, Nägelein und Pfeffer. Den Mörſer hing
er dazumal vor der Stubenthüre, ehe er eintrat,
mit dem einen Henkel an den kleinen Finger,
und hub mit dem Stößel ein ſchönes Geläute
25 *[388] an, wie mit einer Glocke, ſo daß es ein fröhlicher
Morgen ward. Aber kurz darauf entfloh der
falſche Menſch aus der Gegend und ließ nie
wieder von ſich hören. Sein Meiſter verlangte
obenein noch den Mörſer zurück, da der Entflo¬
hene ihn ſeinem Laden entnommen aber nicht
bezahlt habe. Aber Züs Bünzlin gab das
werthe Andenken nicht heraus, ſondern führte
einen tapfern und heftigen kleinen Proceß darum,
den ſie ſelbſt vor Gericht vertheidigte auf Grund¬
lage einer Rechnung für gewaſchene Vorhemden
des Entwichenen. Dies waren, als ſie den
Streit um den Mörſer führen mußte, die bedeut¬
ſamſten und ſchmerzhafteſten Tage ihres Lebens,
da ſie mit ihrem tiefen Verſtande die Dinge
und beſonders das Erſcheinen vor Gericht um
ſolch' zarter Sache willen viel lebendiger begriff
und empfand, als andere leichtere Leute. Doch
erſtritt ſie den Sieg und behielt den Mörſer.
Wenn aber die zierliche Seifengallerie ihre
Werkthätigkeit und ihren exacten Sinn verkün¬
dete, ſo pries nicht minder ihren erbaulichen und
geſchulten Geiſt ein Häufchen unterſchiedlicher
Bücher, welches am Fenſter ordentlich aufgeſchich¬
[389] tet lag und in denen ſie des Sonntags fleißig
las. Sie beſaß noch alle ihre Schulbücher ſeit
vielen Jahren her und hatte auch nicht Eines
verloren, ſowie ſie auch noch die ganze kleine
Gelehrſamkeit im Gedächtniß trug, und ſie wußte
noch den Katechismus auswendig, wie das De¬
klinirbuch, das Rechenbuch, wie das Geographie¬
buch, die bibliſche Geſchichte und die weltlichen
Leſebücher; auch beſaß ſie einige der hübſchen
Geſchichten von Chriſtoph Schmid und deſſen
kleine Erzählungen mit den artigen Spruchverſen
am Ende, wenigſtens ein halbes Dutzend ver¬
ſchiedene Schatzkäſtlein und Roſengärtchen zum
Aufſchlagen, eine Sammlung Kalender voll be¬
währter mannigfacher Erfahrung und Weisheit,
einige merkwürdige Prophezeiungen, eine Anlei¬
tung zum Kartenſchlagen, ein Erbauungsbuch auf
alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen
und ein altes Exemplar von Schillers Räubern,
welches ſie ſo oft las, als ſie glaubte es ge¬
nugſam vergeſſen zu haben, und jedesmal wurde
ſie von Neuem gerührt, hielt aber ſehr verſtän¬
dige und ſichtende Reden darüber. Alles, was
in dieſen Büchern ſtand, hatte ſie auch im Kopfe
[390] und wußte auf das Schönſte darüber und über
noch viel mehr zu ſprechen. Wenn ſie zufrieden
und nicht zu ſehr beſchäftigt war, ſo ertönten
unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle
Dinge wußte ſie heimzuweiſen und zu beurtheilen
und Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt
und Ungelehrt mußte von ihr lernen und ſich
ihrem Urtheile unterziehen, wenn ſie lächelnd
oder ſinnig erſt ein Weilchen aufgemerkt hatte,
worum es ſich handle; ſie ſprach zuweilen ſo
viel und ſo ſalbungsvoll, wie eine gebildete
Blinde, die nichts von der Welt ſieht und deren
einziger Genuß iſt, ſich ſelbſt reden zu hören.
Von der Stadtſchule her und aus dem Konfir¬
mationsunterrichte hatte ſie die Übung ununter¬
brochen beibehalten, Aufſätze und geiſtliche Me¬
morirungen und allerhand ſpruchweiſe Schemata
zu ſchreiben, und ſo verfertigte ſie zuweilen an
ſtillen Sonntagen die wunderbarſten Aufſätze, in¬
dem ſie an irgend einen wohlklingenden Titel,
den ſie gehört oder geleſen, die ſonderbarſten und
unſinnigſten Sätze anreihte, ganze Bogen voll,
wie ſie ihrem ſeltſamen Gehirn entſprangen, wie
z. B. Über das Nutzbringende eines Krankenbet¬
[391] tes, über den Tod, über die Heilſamkeit des
Entſagens, über die Größe der ſichtbaren Welt
und das Geheimnißvolle der unſichtbaren, über
das Landleben und deſſen Freuden, über die Na¬
tur, über die Träume, über die Liebe, Einiges
über das Erlöſungswerk Chriſti, drei Punkte über
die Selbſtgerechtigkeit, Gedanken über die Un¬
ſterblichkeit. Sie las ihren Freunden und An¬
betern dieſe Arbeiten laut vor und wem ſie recht
wohlwollte, dem ſchenkte ſie einen oder zwei
ſolcher Aufſätze und der mußte ſie in die Bibel
legen, wenn er eine hatte. Dieſe ihre geiſtige
Seite hatte ihr einſt die tiefe und aufrichtige
Neigung eines jungen Buchbindergeſellen zuge¬
zogen, welcher alle Bücher las, die er einband,
und ein ſtrebſamer, gefühlvoller und unerfahre¬
ner Menſch war. Wenn er ſein Waſchbündel
zu Züſis Mutter brachte, dünkte er im Himmel
zu ſein, ſo wohl gefiel es ihm, ſolche herrliche
Reden zu hören, die er ſich ſelbſt ſchon ſo oft
idealiſch gedacht aber nicht auszuſtoßen getraut
hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er
ſich der abwechſelnd ſtrengen und beredten Jung¬
frau, und ſie gewährte ihm ihren Umgang und
[392] band ihn an ſich während eines Jahres, aber
nicht ohne ihn ganz in den Schranken klarer
Hoffnungsloſigkeit zu halten, die ſie mit ſanfter,
aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da
er neun Jahre jünger war als ſie, arm wie
eine Maus und ungeſchickt zum Erwerb, der für
einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht er¬
heblich war, weil die Leute da nicht laſen und
wenig Bücher binden ließen, ſo verbarg ſie ſich
keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereini¬
gung und ſuchte nur ſeinen Geiſt auf alle Weiſe
an ihrer eigenen Entſagungsfähigkeit heranzubil¬
den und in einer Wolke von buntſcheckigen Phra¬
ſen einzubalſamiren. Er hörte ihr andächtig zu
und wagte zuweilen ſelbſt einen ſchönen Ausſpruch,
den ſie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit
einem noch ſchöneren; dies war das geiſtigſte
und edelſte ihrer Jahre, durch keinen gröberen
Hauch getrübt, und der junge Menſch band ihr
während derſelben alle ihre Bücher neu ein, und
bauete überdies während vieler Nächte und vieler
Feiertage ein kunſtreiches und koſtbares Denkmal
ſeiner Verehrung. Es war ein großer chineſiſcher
Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern
[393] und geheimen Fächern, den man in vielen Stücken
auseinander nehmen konnte. Mit den feinſten
farbigen und gepreßten Papieren war er beklebt
und überall mit Goldbördchen geziert. Spiegel¬
wände und Säulen wechſelten ab und hob man
ein Stück ab oder öffnete ein Gelaß, ſo erblickte
man neue Spiegel und verborgene Bilderchen,
Blumenbouquets und liebende Pärchen; an den
ausgeſchweiften Spitzen der Dächer hingen all¬
wärts kleine Glöcklein. Auch ein Uhrgehäuſe
für eine Damenuhr war angebracht mit ſchönen
Häckchen an den Säulen, um die goldene Kette
daran zu henken und an dem Gebäude hin und
herzuſchlängeln; aber bisjetzt hatte ſich noch kein
Uhrenmacher genähert, welcher eine Uhr, und kein
Goldſchmied, welcher eine Kette auf dieſen Altar
gelegt hätte. Eine unendliche Mühe und Kunſt¬
fertigkeit war an dieſem ſinnreichen Tempel ver¬
ſchwendet und der geometriſche Plan nicht min¬
der mühevoll, als die ſaubere genaue Arbeit.
Als das Denkmal eines ſchön verlebten Jahrs
fertig war, ermunterte Züs Bünzlin den guten
Buchbinder, mit Bezwingung ihrer ſelbſt, ſich
nun loszureißen und ſeinen Stab weiter zu ſetzen,
[394] da ihm die Welt offen ſtehe und ihm, nachdem
er in ihrem Umgange, in ihrer Schule ſo ſehr
ſein Herz veredelt habe, gewiß noch das ſchönſte
Glück lachen werde, während ſie ihn nie ver¬
geſſen und ſich der Einſamkeit ergeben wolle.
Er weinte wahrhaftige Thränen, als er ſich ſo
ſchicken ließ und aus dem Städtlein zog. Sein
Werk dagegen thronte ſeitdem auf Züſis altvä¬
teriſcher Komode, von einem meergrünen Gaze¬
ſchleier bedeckt, dem Staub und allen unwürdigen
Blicken entzogen. Sie hielt es ſo heilig, daß
ſie es ungebraucht und neu erhielt und gar nichts
in die Behältniſſe ſteckte, auch nannte ſie den
Urheber deſſelben in der Erinnerung Emanuel,
während er Veit geheißen, und ſagte Jedermann,
nur Emanuel habe ſie verſtanden und ihr Weſen
erfaßt. Nur ihm ſelber hatte ſie das ſelten zu¬
geſtanden, ſondern ihn in ihrem ſtrengen Sinne
kurz gehalten und zur höheren Anſpornung ihm
häufig gezeigt, daß er ſie am wenigſten verſtehe,
wenn er ſich am meiſten einbilde, es zu thun.
Dagegen ſpielte er ihr auch einen Streich, und
legte in einem doppelten Boden, auf dem inner¬
ſten Grunde des Tempels, den allerſchönſten
[395] Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬
ſägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige
Treue ausſprach, und in ſo hübſchen und unbe¬
fangenen Worten, wie ſie nur das wahre Ge¬
fühl findet, welches ſich in eine Vexirgaſſe ver¬
rannt hat. So ſchöne Dinge hatte er gar nie
ausgeſprochen, weil ſie ihn niemals zu Worte
kommen ließ. Da ſie aber keine Ahnung hatte
von dem verborgenen Schatze, ſo geſchah es hier,
daß das Schickſal gerecht war und eine falſche
Schöne das nicht zu Geſicht bekam, was ſie nicht
zu ſehen verdiente. Auch war es ein Symbol,
daß ſie es war, welche das thörichte, aber in¬
nige und aufrichtig gemeinte Weſen des Buch¬
binders nicht verſtanden.
Schon lange hatte ſie das Leben der drei
Kammmacher gelobt und dieſelben drei gerechte
und verſtändige Männer genannt; denn ſie hatte
ſie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der
Schwabe begann, ſich länger bei ihr aufzuhalten,
wenn er ſein Hemde brachte oder holte, und ihr
den Hof zu machen, benahm ſie ſich freundſchaft¬
lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬
ſprächen ſtundenlang bei ſich feſt, und Dietrich
[396] redete ihr voll Bewunderung nach dem Munde,
ſo ſtark er konnte; und ſie vermochte ein tüch¬
tiges Lob zu ertragen, ja ſie liebte den Pfeffer
deſſelben um ſo mehr, je ſtärker er war, und
wenn man ihre Weisheit pries, hielt ſie ſich
möglichſt ſtill, bis man das Herz geleert, wor¬
auf ſie mit erhöhter Salbung den Faden auf¬
nahm und das Gemälde da und dort ergänzte,
das man von ihr entworfen. Nicht lange war
Dietrich bei Züs aus und eingegangen, ſo hatte
ſie ihm auch ſchon den Gültbrief gezeigt, und
er war voll guter Dinge und that gegen ſeine
Gefährten ſo heimlich, wie Einer, der das Per¬
petuum mobile erfunden hat. Jobſt und Frido¬
lin kamen ihm jedoch bald auf die Spur und
erſtaunten über ſeinen tiefen Geiſt und über ſeine
Gewandtheit. Jobſt beſonders ſchlug ſich förm¬
lich vor den Kopf; denn ſchon ſeit Jahren ging
er ja auch in das Haus und noch nie war ihm
eingefallen, etwas anderes da zu ſuchen, als ſeine
Wäſche; er haßte vielmehr die Leute beinahe,
weil ſie die einzigen waren, bei welchen er ei¬
nige baare Pfennige herausklauben mußte all¬
wöchentlich. An eine eheliche Verbindung pflegte
[397] er nie zu denken, weil er unter einer Frau nichts
anderes denken konnte, als ein Weſen, das et¬
was von ihm wollte, was er nicht ſchuldig ſei,
und etwas von Einer ſelbſt zu wollen, was ihm
nützlich ſein könnte, fiel ihm auch nicht ein, da
er nur ſich ſelbſt vertraute und ſeine kurzen Ge¬
danken nicht über den nächſten und allerengſten
Kreis ſeines Geheimniſſes hinausgingen. Aber
jetzt galt es, dem Schwäbchen den Rang abzu¬
laufen, denn dieſes konnte mit den ſiebenhun¬
dert Gulden der Jungfer Züs ſchlimme Geſchich¬
ten aufſtellen, wenn es ſie erhielt, und die ſie¬
benhundert Gulden ſelbſt bekamen auf einmal
einen verklärten Glanz und Schimmer in den
Augen des Sachſen wie des Baiers. So hatte
Dietrich, der erfindungsreiche, nur ein Land ent¬
deckt, welches alſobald Gemeingut wurde und
theilte das herbe Schickſal aller Entdecker; denn
die zwei andern folgten ſogleich ſeiner Fährte
und ſtellten ſich ebenfalls bei Züs Bünzlin auf,
und dieſe ſah ſich von einem ganzen Hof ver¬
ſtändiger und ehrbarer Kammmacher umgeben.
Das gefiel ihr ausnehmend wohl; noch nie hatte
ſie mehrere Verehrer auf einmal beſeſſen, wes¬
[398] halb es eine neue Geiſtesübung für ſie ward,
dieſe drei mit der größten Klugheit und Unpar¬
teilichkeit zu behandeln und im Zaume zu halten
und ſie ſo lange mit wunderbaren Reden zur
Entſagung und Uneigennützigkeit aufzumuntern,
bis der Himmel über das Unabänderliche etwas
entſchiede. Denn da Jeder von ihnen ihr ins¬
beſondere ſein Geheimniß und ſeinen Plan ver¬
traut hatte, ſo entſchloß ſie ſich auf der Stelle,
denjenigen zu beglücken, welcher ſein Ziel er¬
reiche und Inhaber des Geſchäftes würde. Den
Schwaben, welcher es nur durch ſie werden
konnte, ſchloß ſie aber davon aus und nahm
ſich vor, dieſen jedenfalls nicht zu heirathen;
weil er aber der jüngſte, klügſte und liebens¬
würdigſte der Geſellen war, ſo gab ſie ihm durch
manche ſtille Zeichen noch am eheſten einige Hoff¬
nung und ſpornte durch die Freundlichkeit, mit
welcher ſie ihn beſonders zu beaufſichtigen und
zu regieren ſchien, die anderen zu größerem Eifer
an, ſo daß dieſer arme Columbus, der das
ſchöne Land erfunden hatte, vollſtändig der Narr
im Spiele ward. Alle drei wetteiferten mit ein¬
ander in der Ergebenheit, Beſcheidenheit und
[399] Verſtändigkeit und in der anmuthigen Kunſt, ſich
von der geſtrengen Jungfrau im Zaume halten
zu laſſen und ſie ohne Eigennutz zu bewundern,
und wenn die ganze Geſellſchaft bei einander
war, glich ſie einem ſeltſamen Konventikel, in
welchem die ſonderbarſten Reden geführt wurden.
Trotz aller Frömmigkeit und Demuth geſchah es
doch alle Augenblicke, daß Einer oder der An¬
dere, vom Lobpreiſen der gemeinſamen Herrin
plötzlich abſpringend, ſich ſelbſt zu loben und
herauszuſtreichen verſuchte und ſich, ſanft von
ihr zurechtgewieſen, beſchämt unterbrochen ſah oder
anhören mußte, wie ſie ihm die Tugenden der
Übrigen entgegenhielt, die er eiligſt anerkannte
und hervorhob.
Aber dies war ein ſtrenges Leben für die
armen Kammmacher; ſo kühl ſie von Gemüth
waren, gab es doch, ſeit einmal ein Weib im
Spiele, ganz ungewohnte Erregungen der Eifer¬
ſucht, der Beſorgniß, der Furcht und der Hoff¬
nung; ſie rieben ſich in Arbeit und Sparſamkeit
beinahe auf und magerten ſichtlich ab; ſie wur¬
den ſchwermüthig und während ſie vor den Leu¬
ten und beſonders bei Züs ſich der friedlichſten
[400] Beredtſamkeit befliſſen, ſprachen ſie, wenn ſie
zuſammen bei der Arbeit oder in ihrer Schlaf¬
kammer ſaßen, kaum ein Wort mit einander
und legten ſich ſeufzend in ihr gemeinſchaft¬
liches Bett, noch immer ſo ſtill und verträglich
wie drei Bleiſtifte. Ein und derſelbe Traum
ſchwebte allnächtlich über dem Kleblatt, bis er
einſt ſo lebendig wurde, daß Jobſt an der Wand
ſich herumwarf und den Dietrich anſtieß; Die¬
trich fuhr zurück und ſtieß den Fridolin, und nun
brach in den ſchlummertrunkenen Geſellen ein
wilder Groll aus und in dem Bette der ſchreck¬
barſte Kampf, indem ſie während drei Minuten
ſich ſo heftig mit den Füßen ſtießen, traten und
ausſchlugen, daß alle ſechs Beine ſich in einan¬
der verwickelten und der ganze Knäuel unter
furchtbarem Geſchrei aus dem Bette purzelte.
Sie glaubten, völlig erwachend, der Teufel wolle
ſie holen, oder es ſeien Räuber in die Kammer
gebrochen; ſie ſprangen ſchreiend auf, Jobſt ſtellte
ſich auf ſeinen Stein, Fridolin eiligſt auf ſeinen
und Dietrich auf denjenigen, unter welchem ſich
bereits auch ſeine kleine Erſparniß angeſetzt hatte,
und indem ſie ſo in einem Dreieck ſtanden, zit¬
[401] terten und mit den Armen vor ſich hin in die
Luft ſchlugen, ſchrien ſie Zeter Mordio und rie¬
fen: Geh' fort! Geh' fort! bis der erſchreckte
Meiſter in die Kammer drang und die tollen
Geſellen beruhigte. Zitternd vor Furcht, Groll
und Scham zugleich krochen ſie endlich wieder
ins Bett und lagen lautlos neben einander bis
zum Morgen. Aber der nächtliche Spuck war nur
ein Vorſpiel geweſen eines größeren Schreckens,
der ſie jetzt erwartete, als der Meiſter ihnen
beim Frühſtück eröffnete, daß er nicht mehr drei
Arbeiter brauchen könne und daher zwei von ih¬
nen wandern müßten. Sie hatten nämlich des
Guten zu viel gethan und ſo viel Waare zu¬
weg gebracht, daß ein Theil davon liegen blieb,
indeß der Meiſter den vermehrten Erwerb dazu
verwendet hatte, das Geſchäft, als es auf dem
Gipfelpunkt ſtand, um ſo raſcher rückwärts zu
bringen und ein ſolch luſtiges Leben führte, daß
er bald doppelt ſo viel Schulden hatte, als er
einnahm. Daher waren ihm die Geſellen, ſo
fleißig und enthaltſam ſie auch waren, plötz¬
lich eine überflüſſige Laſt. Er ſagte ihnen zum
Troſt, daß ſie ihm alle drei gleich lieb und werth
Keller, die Leute von Seldwyla. 26[402] wären und es ihnen überließe, unter ſich aus¬
zumachen, welcher dableiben und welche wandern
ſollten. Aber ſie machten nichts aus, ſondern
ſtanden da bleich wie der Tod und lächelten ei¬
ner den andern an; dann geriethen ſie in eine
furchtbare Aufregung, da dies die verhängni߬
vollſte Stunde war; denn die Ankündigung des
Meiſters war ein ſicheres Zeichen, daß er es
nicht lange mehr treiben und das Kammfabrikchen
endlich wieder käuflich würde. Alſo war das
Ziel, nachdem ſie Alle geſtrebt, nahe und glänzte
wie ein himmliſches Jeruſalem, und zwei ſollten
vor den Thoren deſſelben umkehren und ihm den
Rücken wenden. Ohne alle fürdere Rückſicht
erklärte Jeder, da bleiben zu wollen, und wenn
er ganz umſonſt arbeiten müſſe. Der Meiſter
konnte aber auch dies nicht brauchen und ver¬
ſicherte ſie, daß zwei von ihnen jedenfalls gehen
müßten; ſie fielen ihm zu Füßen, ſie rangen
die Hände, ſie beſchworen ihn und Jeder bat
insbeſondere für ſich, daß er ihn behalten möchte,
nur noch zwei Monate, nur noch vier Wochen.
Allein er wußte wohl, worauf ſie ſpekulirten,
ärgerte ſich darüber und machte ſich mit ihnen
[403] luſtig, indem er plötzlich einen ſpaßhaften Aus¬
weg vorſchlug, wie ſie die Sache entſcheiden
ſollten. »Wenn ihr euch durchaus nicht einigen
wollt, ſagte er, welche von euch den Abſchied
wollen, ſo will ich euch die Weiſe angeben, wie
ihr die Sache entſcheidet, und ſo ſoll es dann
ſein und bleiben! Morgen iſt Sonntag, da zahle
ich euch aus, ihr packt euer Felleiſen, ergreift
euren Stab und wandert alle drei einträchtiglich
zum Thore hinaus, eine gute halbe Stunde weit,
auf welche Seite ihr wollt. Alsdann ruhet ihr
euch aus und könnt auch einen Schoppen trin¬
ken, wenn ihr mögt, und habt ihr das gethan,
ſo wandert ihr wieder in die Stadt herein und
welcher dann der Erſte ſein wird, der mich von
Neuem um Arbeit anſpricht, den werde ich be¬
halten; die anderen aber werden unausbleiblich
gehen, wo es ihnen beliebt!« Sie fielen ihm
abermals zu Füßen und baten ihn, von dieſem
grauſamen Vorhaben abzuſtehen, aber umſonſt;
er blieb feſt und unerbittlich. Unverſehens ſprang
der Schwabe auf und rannte wie beſeſſen zum
Hauſe hinaus und zu Züs Bünzlin hinüber;
kaum gewahrten dies Jobſt und der Baier, ſo
[404] unterbrachen ſie ihr Lamentiren und rannten ihm
nach, und die verzweifelte Szene war alſobald
in die Wohnung der erſchrockenen Jungfrau ver¬
legt.
Dieſe war ſehr betroffen und bewegt durch
das unerwartete Abenteuer; doch faßte ſie ſich
zuerſt, und die Lage der Dinge überſchauend,
beſchloß ſie, ihr eigenes Schickſal an des Mei¬
ſters wunderlichen Einfall zu knüpfen und be¬
trachtete dieſen als eine höhere Eingebung; ſie
holte gerührt ein Schätzkäſtlein hervor und ſtach
mit einer Nadel zwiſchen die Blätter, und der
Spruch, welchen ſie aufſchlug, handelte vom un¬
entwegten Verfolgen eines guten Zieles. Dar¬
auf ließ ſie die aufgeregten Geſellen aufſchlagen,
und alles, was dieſe aufſchlugen, handelte vom
eifrigen Wandel auf dem ſchmalen Wege, vom
Vorwärtsgehen ohne Rückſchauen, von einer Lauf¬
bahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art,
ſo daß der morgende Wettlauf deutlich vom Him¬
mel vorgeſchrieben ſchien. Da ſie aber befürchtete,
daß Dietrich als der Jüngſte leicht am beſten
ſpringen und die Palme erringen könnte, beſchloß
ſie, ſelbſt mit den drei Liebhabern auszuziehen
[405] und zu ſehen, was etwa zu ihrem Vortheil zu
machen wäre; denn ſie wünſchte, daß nur einer
der zwei ältern Sieger würde, und es war ihr
ganz gleichgültig, welcher. Sie befahl daher den
Wehklagenden und ſich Bezankenden Ruhe und
Ergebung und ſagte: »Wiſſet, meine Freunde,
daß Nichts ohne Bedeutung geſchieht, und ſo
merkwürdig und ungewöhnlich die Zumuthung
eures Meiſters iſt, ſo müſſen wir ſie doch als
eine Fügung anſehen und uns mit einer höheren
Weisheit, von welcher der muthwillige Mann
nichts ahnt, dieſer jähen Entſcheidung unterwer¬
fen. Unſer friedliches und verſtändiges Zuſam¬
menleben iſt zu ſchön geweſen, als daß es noch
lange ſo erbaulich ſtatt finden könnte; denn ach!
alles Schöne und Erſprießliche iſt ja ſo vergäng¬
lich und vorübergehend, und nichts beſteht in
die Länge, als das Übel, das Hartnäckige und
die Einſamkeit der Seele, die wir alsdann mit
unſerer frommen Vernünftigkeit betrachten und
beobachten. Daher wollen wir, ehe ſich etwa
ein böſer Dämon des Zwieſpaltes unter uns er¬
hebt, uns lieber vorher freiwillig trennen und
auseinander ſcheiden, wie die lieben Frühlings¬
[406] lüftlein, wenn ſie ihren eilenden Lauf am Him¬
mel nehmen, ehe wir auseinander fahren wie
der Sturmwind des Herbſtes. Ich ſelbſt will
euch hinausbegleiten auf dem ſchweren Wege und
zugegen ſein, wenn ihr den Prüfungslauf an¬
tretet, damit ihr einen fröhlichen Muth faſſet
und einen ſchönen Antrieb hinter euch habt, wäh¬
rend vor euch das Ziel des Sieges winkt. Aber
ſo wie der Sieger ſich ſeines Glückes nicht über¬
heben wird, ſo ſollen die, welche unterliegen,
nicht verzagen und keinen Gram oder Groll von
dannen nehmen, ſondern unſers liebevollen An¬
denkens gewärtig ſein und als vergnügte Wan¬
derjünglinge in die weite Welt ziehen; denn die
Menſchen haben viele Städte gebauet, welche ſo
ſchön oder noch ſchöner ſind, wie Seldwyla;
Rom iſt eine große merkwürdige Stadt, allwo
der heilige Vater wohnt, und Paris iſt eine
gar mächtige Stadt mit vielen Seelen und herr¬
lichen Palläſten, und in Conſtantinopel herrſcht
der Sultan, von türkiſchem Glauben, und Liſſa¬
bon, welches einſt durch ein Erdbeben verſchüttet
ward, iſt deſto ſchöner wieder aufgebaut worden.
Wien iſt die Hauptſtadt von Öſterreich und die
[407] Kaiſerſtadt genannt, und London iſt die reichſte
Stadt der Welt, in Engelland gelegen, an ei¬
nem Fluß, der die Themſe benannt wird. Zwei
Millionen Menſchen wohnen da! Petersburg aber
iſt die Haupt- und Reſidenzſtadt von Rußland,
ſo wie Neapel die Hauptſtadt des Königreiches
gleichen Namens, mit dem feuerſpeienden Berg
Veſuvius, auf welchem einſt einem engliſchen
Schiffshauptmann eine verdammte Seele erſchie¬
nen iſt, wie ich in einer merkwürdigen Reiſe¬
beſchreibung geleſen habe, welche Seele einem
gewiſſen John Smidt angehöret, der vor hun¬
dertundfunfzig Jahren ein gottloſer Mann ge¬
weſen und nun beſagtem Hauptmann einen Auf¬
trag ertheilte an ſeine Nachkommen in England,
damit er erlöſt würde; denn der ganze Feuerberg
iſt ein Aufenthalt der Verdammten, wie auch
in des gelehrten Peter Haslers Traktatus über
die muthmaßliche Gelegenheit der Hölle zu leſen
iſt. Noch viele andere Städte giebt es, wovon
ich nur noch Mailand, Venedig, das ganz im
Waſſer gebaut iſt, Lyon, Marſeilingen, Stra߬
burg, Köllen und Amſterdam nennen will; Pa¬
ris hab' ich ſchon geſagt, aber noch nicht Nürn¬
[408] berg, Augsburg und Frankfurt, Baſel, Bern
und Genf, alles ſchöne Städte, ſo wie das
ſchöne Zürich, und weiterhin noch eine Menge,
mit deren Aufzählung ich nicht fertig würde.
Denn Alles hat ſeine Grenzen, nur nicht die
Erfindungsgabe der Menſchen, welche ſich all¬
wärts ausbreiten und alles unternehmen, was
ihnen nützlich ſcheint. Wenn ſie gerecht ſind, ſo
wird es ihnen gelingen, aber der Ungerechte ver¬
gehet wie das Gras der Felder und wie ein
Rauch. Viele ſind erwählt, aber wenige ſind
berufen. Aus allen dieſen Gründen, und in noch
manch' anderer Hinſicht, die uns die Pflicht und
die Tugend unſeres reinen Gewiſſens auferlegen,
wollen wir uns dem Schickſalsrufe unterziehen.
Darum gehet und bereitet euch zur Wanderſchaft,
aber als gerechte und ſanftmüthige Männer, die
ihren Werth in ſich tragen, wo ſie auch hinge¬
hen, und deren Stab überall Wurzel ſchlägt,
welche, was ſie auch ergreifen mögen, ſich ſagen
können: ich habe das beſſere Theil erwählt!«
Die Kammmacher wollten aber von Allem
nichts hören, ſondern beſtürmten die kluge Züs,
daß ſie Einen von ihnen auserwählen und da¬
[409] bleiben heißen ſolle, und Jeder meinte damit
ſich ſelbſt. Aber ſie hütete ſich, eine Wahl zu
treffen und kündigte ihnen ernſthaft und gebie¬
teriſch an, daß ſie ihr gehorchen müßten, an¬
ſonſt ſie ihnen ihre Freundſchaft auf immer ent¬
ziehen würde. Jetzt rannte Jobſt, der älteſte,
wieder davon und in das Haus des Meiſters
hinüber, und ſpornſtreichs rannten die anderen
hinter ihm her, befürchtend, daß er dort etwas
gegen ſie unternähme, und ſo ſchoſſen ſie den
ganzen Tag umher, wie Sternſchnuppen und
wurden ſich untereinander ſo zuwider wie drei
Spinnen in einem Netz. Die halbe Stadt ſah
dies ſeltſame Schauſpiel der verſtörten Kamm¬
macher, die bislang ſo ſtill und ruhig geweſen,
und die alten Leute wurden darüber ängſtlich
und hielten die Erſcheinung für ein unnatürliches
Vorzeichen ſchwerer Begebenheiten. Gegen Abend
wurden ſie matt und erſchöpft, ohne daß ſie ſich
eines Beſſeren beſonnen und zu etwas entſchieden
hatten, und legten ſich zähneklappernd in das
alte Bett; Einer nach dem Anderen kroch unter
die Decke und lag da, wie vom Tode hingeſtreckt,
in verwirrten Gedanken, bis ein heilſamer Schlaf
26*[410] ihn umfing. Jobſt war der erſte, welcher in
aller Frühe erwachte und ſah, daß ein heiterer
Frühlingsmorgen in die Kammer ſchien, in wel¬
cher er nun ſchon ſeit ſechs Jahren geſchlafen.
So dürftig das Gemach ausſah, ſo erſchien es
ihm doch wie ein Paradies, welches er verlaſſen
ſollte und zwar ſo ungerechter Weiſe. Er ließ
ſeine Augen umhergehen an den Wänden und
zählte alle die vertrauten Spuren von den vielen
Geſellen, die hier ſchon gewohnt kürzere oder
längere Zeit; hier hatte der ſeinen Kopf zu rei¬
ben gepflegt und einen dunklen Fleck verfertigt,
dort hatte jener einen Nagel eingeſchlagen, um
ſeine Pfeife daran zu hängen, und das rothe
Schnürchen hing noch daran. Welche gute Men¬
ſchen waren das geweſen, daß ſie ſo harmlos
wieder davon gegangen, während dieſe, welche
neben ihm lagen, durchaus nicht weichen wollten.
Dann heftete er ſein Auge auf die Gegend zu¬
nächſt ſeinem Geſichte, und betrachtete da die
kleineren Gegenſtände, welche er ſchon tauſend
Mal betrachtet, wenn er des Morgens oder am
Abend noch bei Tageshelle im Bette lag und
ſich eines ſeligen, koſtenfreien Daſeins erfreute.
[411]
Da war eine beſchädigte Stelle in dem Bewurf,
welche wie ein Land ausſah mit Seen und Städten,
und ein Häufchen von groben Sandkörnern ſtellte
eine glückſelige Inſelgruppe vor; weiterhin er¬
ſtreckte ſich eine lange Schweinsborſte, welche aus
dem Pinſel gefallen und in der blauen Tünche
ſtecken geblieben war; denn Jobſt hatte im letzten
Herbſt einmal ein kleines Reſtchen ſolcher Tünche
gefunden und damit es nicht umkommen ſollte,
eine Viertelswandſeite damit angeſtrichen, ſo weit
es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle
bemalt, wo er zunächſt im Bette lag. Jenſeits
der Schweinsborſte aber ragte eine ganz geringe
Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, wel¬
ches einen zarten Schlagſchatten über die Borſte
weg nach den glückſeligen Inſeln hinüber warf.
Über dies Gebirge hatte er ſchon den ganzen
Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob
es früher nicht dageweſen wäre. Wie er nun
mit ſeinem traurigen, duſelnden Auge daſſelbe
ſuchte und plötzlich vermißte, traute er ſeinen
Sinnen kaum, als er ſtatt deſſelben einen kleinen
kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen ſah,
wie der winzige blaue Berg nicht weit davon
[412] ſich bewegte und zu wandeln ſchien. Erſtaunt
fuhr Jobſt in die Höhe, als ob er ein blaues
Wunder ſähe, und ſah, daß es eine Wanze war,
welche er alſo im vorigen Herbſt achtlos mit
der Farbe überſtrichen, als ſie ſchon in Erſtar¬
rung dageſeſſen hatte. Jetzt aber war ſie von
der Frühlingswärme neu belebt, hatte ſich auf¬
gemacht und ſtieg eben in dieſem Augenblicke
mit ihrem blauen Rücken unverdroſſen die Wand
hinan. Er blickte ihr gerührt und voll Verwun¬
derung nach; ſo lange ſie im Blauen ging, war
ſie kaum von der Wand zu unterſcheiden; als
ſie aber aus dem geſtrichenen Bereich hinaus
trat und die letzten vereinzelten Spritze hinter
ſich hatte, wandelte das gute himmelblaue Thier¬
chen weithin ſichtbar ſeine Bahn durch die dunk¬
leren Bezirke. Wehmüthig ſank Jobſt in den
Pfülmen zurück; ſo wenig er ſich ſonſt aus der¬
gleichen machte, rührte dieſe Erſcheinung doch
jetzt ein Gefühl in ihm auf, als ob er doch auch
endlich wieder wandern müßte, und es bedünkte
ihm ein gutes Zeichen zu ſein, daß er ſich in
das Unabänderliche ergeben und ſich wenigſtens
mit gutem Willen auf den Weg machen ſolle.
[413] Durch dieſe ruhigeren Gedanken kehrte ſeine na¬
türliche Beſonnenheit und Weisheit zurück, und
indem er die Sache näher überlegte, fand er,
daß wenn er ſich ergebungsvoll und beſcheiden
anſtelle, ſich dem ſchwierigen Werke unterziehe
und dabei ſich zuſammennehme und klug verhalte,
er noch am eheſten über ſeine Nebenbuhler ob¬
ſiegen könne. Sachte ſtieg er aus dem Bette
und begann, ſeine Sachen zu ordnen und vor
allem ſeinen Schatz zu heben und zu unterſt in
das alte Felleiſen zu verpacken. Darüber er¬
wachten ſogleich ſeine Gefährten; wie dieſe ſa¬
hen, daß er ſo gelaſſen ſein Bündel ſchnürte,
verwunderten ſie ſich ſehr und noch mehr, als
Jobſt ſie mit verſöhnlichen Worten anredete und
ihnen einen guten Morgen wünſchte. Weiter
ließ er ſich aber nicht aus, ſondern fuhr in ſei¬
nem Geſchäfte ſtill und friedfertig fort. Sogleich,
obſchon ſie nicht wußten, was er im Schilde
führe, witterten ſie eine Kriegsliſt in ſeinem
Benehmen und ahmten es auf der Stelle nach,
höchſt aufmerkſam auf Alles, was er ferner be¬
ginnen würde. Hierbei war es ſeltſam, wie ſie
alle drei zum erſten Mal offen ihre Schätze un¬
[414] ter den Flieſen hervorholten und dieſelben ohne
ſie zu zählen, in die Ranzen verſorgten. Denn
ſie wußten ſchon lange, daß Jeder das Geheim¬
niß der übrigen kannte, und nach alter ehrlicher
Weiſe mißtrauten ſie ſich nicht in der Weiſe, daß
ſie eine Verletzung des Eigenthums befürchteten
und jeder wußte wohl, daß ihn die anderen nicht
berauben würden, wie denn in den Schlafkam¬
mern der Handwerksgeſellen, Soldaten und der¬
gleichen kein Verſchluß und kein Mißtrauen be¬
ſteht.
So waren ſie unverſehens zum Aufbruch ge¬
rüſtet, der Meiſter zahlte ihnen den Lohn aus
und gab ihnen ihre Wanderbücher, in welche
von der Stadt und vom Meiſter die allerſchönſten
Zeugniſſe geſchrieben waren über ihre gute an¬
dauernde Führung und Vortrefflichkeit, und ſie
ſtanden wehmuthsvoll vor der Hausthüre der
Züs Bünzlin, in lange braune Röcke gekleidet
mit alten verwaſchenen Staubhemden darüber,
und die Hüte, obgleich ſie verjährt und abge¬
bürſtet genug waren, ſorglich mit Wachsleinwand
überzogen. Hinten auf dem Felleiſen hatte jeder
ein kleines Wägelchen befeſtigt, um das Gepäck
[415] darauf zu ziehen, wenn es in's Weite ginge;
ſie dachten aber die Räder nicht zu brauchen,
und deßwegen ragten dieſelben hoch über ihrem
Rücken. Jobſt ſtützte ſich auf einen ehrbaren
Rohrſtock, Fridolin auf einen roth und ſchwarz
geflammten und gemalten Eſchenſtab, und Die¬
trich auf ein abenteuerliches Stockungeheuer, um
welches ſich ein wildes Geflecht von Zweigen
wand. Er ſchämte ſich aber beinahe dieſes prah¬
leriſchen Dinges, da es noch aus der erſten
Wanderzeit herſtammte, wo er bei weitem noch
nicht ſo geſetzt und vernünftig geweſen wie jetzt.
Viele Nachbaren und deren Kinder umſtanden
die ernſten drei Männer und wünſchten ihnen
Glück auf den Weg. Da erſchien Züs unter
der Thüre, mit feierlicher Miene, und zog an
der Spitze der Geſellen gefaßten Muthes aus
dem Thore. Sie hatte ihnen zu Ehren einen
ungewöhnlichen Staat angelegt, trug einen großen
Hut mit mächtigen gelben Bändern, ein roſa¬
farbenes Indiennekleid mit verſchollenen Ausla¬
dungen und Verzierungen, eine ſchwarze Sam¬
metſchärpe mit einer Tombackſchnalle und rothe
Saffianſchuhe mit Franſen beſetzt. Dazu trug
[416] ſie einen grün ſeidenen großen Ritikül, welchen
ſie mit gedörrten Birnen und Pflaumen gefüllt
hatte, und hielt ein Sonnenſchirmchen ausge¬
ſpannt, auf welchem oben eine große Lyra aus
Elfenbein ſtand. Sie hatte auch ihr Medaillon
mit dem blonden Haardenkmal umgehängt und
das goldene Vergißmeinnicht vorgeſteckt und trug
weiße geſtrickte Handſchuhe. Sie ſah freundlich
und zart aus in all' dieſem Schmuck, ihr Ant¬
litz war leicht geröthet und ihr Buſen ſchien ſich
höher als ſonſt zu heben, und die ausziehenden
Nebenbuhler wußten ſich nicht zu laſſen vor Weh¬
muth und Betrübniß, denn die äußerſte Lage
der Dinge, der ſchöne Frühlingstag, der ihren
Auszug beſchien und Züſis Putz miſchten in ihre
geſpannten Empfindungen faſt etwas von dem,
was man wirklich Liebe nennt. Vor dem Thore
ermahnte aber die freundliche Jungfrau ihre Lieb¬
haber, die Felleiſen auf die Räderchen zu ſtellen
und zu ziehen, damit ſie ſich nicht unnöthiger
Weiſe ermüdeten. Sie thaten es und als ſie
hinter dem Städtlein hinaus die Berge hinan
fuhren, war es faſt wie ein Artillerieweſen, das
da hinauffuhrwerkte, um oben eine Batterie zu
[417] beſetzen. Als ſie eine gute halbe Stunde dahin
gezogen, machten ſie Halt auf einer anmuthigen
Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und
ſetzten ſich unter eine Linde in einen Halbkreis,
wo man eine weite Ausſicht genoß und über
Wälder, Seen und Ortſchaften wegſah. Züs
öffnete ihren Beutel und gab Jedem eine Hand¬
voll Birnen und Pflaumen, um ſich zu erfriſchen,
und ſie ſaßen ſo eine geraume Weile ſchweigend
und ernſt, nur mit den ſchnalzenden Zungen,
wenn ſie die ſüßen Früchte damit zerdrückten,
ein ſanftes Geräuſch erregend.
Dann begann Züs indem ſie einen Pflau¬
menkern fortwarf und die davon gefärbten Fin¬
gerſpitzen am jungen Graſe abwiſchte, zu ſprechen:
»Lieben Freunde! Sehet, wie ſchön und weitläufig
die Welt iſt, rings herum voll herrlicher Sachen
und voll Wohnungen der Menſchen! Und dennoch
wollte ich wetten, daß in dieſer feierlichen Stunde
nirgends in dieſer weiten Welt vier ſo rechtfer¬
tige und gutartige Seelen bei einander verſammelt
ſitzen, wie wir hier ſind, ſo ſinnreich und be¬
dachtſam von Gemüth, ſo zugethan allen arbeit¬
ſamen Übungen und Tugenden, der Eingezogenheit,
Keller, die Leute von Seldwyla. 27[418] der Sparſamkeit, der Friedfertigkeit und der in¬
nigen Freundſchaft. Wie viele Blumen ſtehen
hier um uns herum, von allen Arten, die der
Frühling hervorbringt, beſonders die gelben Schlüſ¬
ſelblumen, welche einen wohlſchmeckenden und
geſunden Thee geben; aber ſind ſie gerecht oder
arbeitſam? ſparſam, vorſichtig und geſchickt zu
klugen und lehrreichen Gedanken? Nein, es ſind
unwiſſende und geiſtloſe Geſchöpfe, unbeſeelt und
vernunftlos vergeuden ſie ihre Zeit, und ſo ſchön
ſie ſind, wird ein todtes Heu daraus, während
wir in unſerer Tugend ihnen ſo weit überlegen
ſind und ihnen wahrlich an Zier der Geſtalt
nichts nachgeben; denn Gott hat uns nach ſeinem
Bilde geſchaffen und uns ſeinen göttlichen Odem
eingeblaſen. O, könnten wir doch ewig hier ſo
ſitzen in dieſem Paradieſe und in ſolcher Unſchuld;
ja, meine Freunde, es iſt mir ſo, als wären wir
ſämmtlich im Stande der Unſchuld, aber durch
eine ſündenloſe Erkenntniß veredelt; denn wir
alle können, Gott ſei Dank, leſen und ſchreiben
und haben alle eine geſchickte Handtierung gelernt.
Zu vielem hätte ich Geſchick und Anlagen und
getraute mir wohl, Dinge zu verrichten, wie ſie
[419] das gelehrteſte Fräulein nicht kann, wenn ich
über meinen Stand hinausgehen wollte; aber
die Beſcheidenheit und die Demuth ſind die vor¬
nehmſte Tugend eines rechtſchaffenen Frauenzim¬
mers und es genügt mir zu wiſſen, daß mein
Geiſt nicht werthlos und verachtet iſt vor einer
höheren Einſicht. Schon Viele haben mein be¬
gehrt, die meiner nicht werth waren, und nun
auf einmal ſehe ich drei würdige Junggeſellen
um mich verſammelt, von denen ein Jeder gleich
werth wäre, mich zu beſitzen! Bemeſſet darnach,
wie mein Herz in dieſem wunderbaren Überfluſſe
ſchmachten muß, und nehmet euch Jeder ein Bei¬
ſpiel an mir und denket euch, Jeder wäre von
drei gleich werthen Jungfrauen umblühet, die
ſein begehrten, und er könnte ſich um deswillen
zu keiner hinneigen und gar keine bekommen!
Stellt euch doch recht lebhaft vor, um Jeden
von euch buhleten drei Jungfern Bünzlin, und
ſäßen ſo um euch her, gekleidet wie ich und von
gleichem Anſehen, ſo daß ich gleichſam verneun¬
facht hier vorhanden wäre und euch von allen
Seiten anblickte und nach euch ſchmachtete! Thut
ihr dies?«
27 *[420] Die wackeren Geſellen hörten verwundert
auf zu kauen und ſtudierten mit einfältigen Ge¬
ſichtern, die ſeltſame Aufgabe zu löſen. Das
Schwäblein kam zuerſt damit zu Stande und
rief mit lüſternem Geſicht: »Ja, wertheſte Jung¬
fer Züs! wenn Sie es denn gütigſt erlauben,
ſo ſehe ich Sie nicht nur dreifach, ſondern ver¬
hundertfacht um mich herumſchweben und mich
mit huldreichen Äuglein anblicken und mir tauſend
Küßlein anbieten!«
»Nicht doch!« ſagte Züs unwillig verwei¬
ſend, »nicht in ſo ungehöriger und übertriebener
Weiſe! Was fällt Ihnen denn ein, unbeſcheidener
Dietrich? Nicht hundertfach und nicht Küßlein
anbietend habe ich es erlaubt, ſondern nur drei¬
fach für Jeden und in züchtiger und ehrbarer
Manier, daß mir nicht zu nahe geſchieht!«
»Ja,« rief jetzt endlich Jobſt und zeigte mit
einem abgenagten Birnenſtiel um ſich her, »nur
dreifach aber in größter Ehrbarkeit ſehe ich die
liebſte Jungfer Bünzli um mich her ſpazieren
und mir wohlwollend zuwinken, indem ſie die
Hand auf's Herz legt! Ich danke ſehr, danke,
danke ergebenſt!« ſagte er ſchmunzelnd, ſich nach
[421] drei Seiten verneigend, als ob er wirklich die
Erſcheinungen ſähe. »So iſt's recht,« ſagte Züs
lächelnd, »wenn irgend ein Unterſchied zwiſchen
euch beſteht, ſo ſeid Ihr doch der Begabteſte,
lieber Jobſt, wenigſtens der Verſtändigſte!« Der
Baier Fridolin war immer noch nicht fertig mit
ſeiner Vorſtellung, da er aber den Jobſt ſo
loben hörte, wurde es ihm angſt und er rief
eilig: »Ich ſehe auch die liebſte Jungfrau Bünzli
dreifach um mich her ſpazieren in größter Ehrbar¬
keit und mir wollüſtig zuwinken, indem ſie die
Hand auf —
»Pfui, Baier!« ſchrie Züs und wandte das
Geſicht ab, »nicht ein Wort weiter! Woher neh¬
men Sie den Muth, von mir in ſo wüſten
Worten zu reden und ſich ſolche Sauereien ein¬
zubilden? Pfui, pfui!« Der arme Baier war
wie vom Donner gerührt und wurde glühend
roth, ohne zu wiſſen wofür; denn er hatte ſich
gar nichts eingebildet und nur ungefähr dem
Klänge nach geſagt, was er von Jobſten gehört,
da er geſehen, wie dieſer für ſeine Rede belobt
worden. Züs wandte ſich wieder zu Dietrich
und ſagte: »Nun, lieber Dietrich, haben Sie's
[422] noch nicht auf eine etwas beſcheidenere Art zu¬
wege gebracht?« »Ja, mit Ihrer Erlaubniß,«
erwiederte er, froh wieder angeredet zu werden,
»ich erblicke Sie jetzt nur dreimal um mich her,
freundlich aber anſtändig mich anſchauend und
mir drei weiße Hände bietend, welche ich küſſe!«
»Gut denn!« ſagte Züs »und Sie Frido¬
lin? ſind Sie noch nicht von Ihrer Abirrung
zurückgekehrt? Kann ſich Ihr ungeſtümes Blut
noch nicht zu einer wohlanſtändigen Vorſtellung
beruhigen?« »Um Vergebung!« ſagte Fridolin
kleinlaut, »ich glaube jetzt drei Jungfern zu ſehen,
die mir gedörrte Birnen anbieten und mir nicht
abgeneigt ſcheinen. Es iſt keine ſchöner, als die
andere, und die Wahl unter ihnen ſcheint mir
ein bitteres Kraut zu ſein!«
»Nun alſo,« ſprach Züs, »da ihr in euerer
Einbildungskraft von neun ſolchen ganz gleich
werthen Perſonen umgeben ſeid und in dieſem
liebreizenden Überfluſſe dennoch Mangel in euerem
Herzen leidet, ermeſſet danach meinen eigenen
Zuſtand; und wie ihr an mir ſahet, daß ich
mich weiſen und beſcheidenen Herzens zu faſſen
weiß, ſo nehmet doch ein Beiſpiel an meiner
[423] Stärke und gelobet mir und euch untereinander,
euch ferner zu vertragen und, wie ich liebevoll
von euch ſcheide, euch eben ſo liebevoll von ein¬
ander zu trennen, wie auch das Schickſal, das
eurer wartet, entſcheiden möge! So leget denn
alle eure Hände zuſammen in meine Hand und
gelobt es!«
»Ja, wahrhaftig,« rief Jobſt, »ich will es
wenigſtens thun, an mir ſoll's nicht fehlen!«
und die andern zwei riefen eiligſt: »An mir
auch nicht, an mir auch nicht!« und ſie legten
alle die Hände zuſammen, wobei ſich jedoch Je¬
der vornahm, auf alle Fälle zu ſpringen, ſo gut
er vermöchte. »An mir ſoll es wahrhaftig nicht
fehlen!« wiederholte Jobſt, »denn ich bin von
Jugend auf barmherziger und einträchtiger Natur
geweſen. Noch nie habe ich einen Streit gehabt
und konnte nie ein Thierlein leiden ſehen; wo
ich noch geweſen bin, habe ich mich gut vertragen
und das beſte Lob geerntet ob meines geruhſamen
Betragens; denn obgleich ich gar manche Dinge
auch ein bischen verſtehe und ein verſtändiger
junger Mann bin, ſo hat man nie geſehen, daß
ich mich in etwas miſchte, was mich nichts an¬
[424] ging, und habe ſtets meine Pflicht auf eine ein¬
ſichtsvolle Weiſe gethan. Ich kann arbeiten, ſo
viel ich will, und es ſchadet mir nichts, da ich
geſund und wohlauf bin und in den beſten Jah¬
ren! Alle meine Meiſterinnen haben noch geſagt,
ich ſei ein Tauſendsmenſch, ein Ausbund, und
mit mir ſei gut auskommen! Ach! ich glaube
wirklich ſelbſt, ich könnte leben wie im Himmel
mit Ihnen, allerliebſte Jungfer Züs!«
»Ei!« ſagte der Baier eifrig, »das glaub'
ich wohl, das wäre auch keine Kunſt, mit der
Jungfer wie im Himmel zu leben! Das wollt'
ich mir auch zutrauen, denn ich bin nicht auf
den Kopf gefallen! Mein Handwerk verſteh' ich
aus dem Grund und weiß die Dinge in Ord¬
nung zu halten, ohne ein Unwort zu verlieren.
Nirgends habe ich Händel bekommen, obgleich ich
in den größten Städten gearbeitet habe, und
niemals habe ich eine Katze geſchlagen oder eine
Spinne getödtet. Ich bin mäßig und enthaltſam
und mit jeder Nahrung zufrieden, und ich weiß
mich am Geringfügigſten zu vergnügen und da¬
mit zufrieden zu ſein. Aber ich bin auch geſund
und munter und kann etwas aushalten, ein gutes
[425] Gewiſſen iſt das beſte Lebenselixir, alle Thiere
lieben mich und laufen mir nach, weil ſie mein
gutes Gewiſſen wittern, denn bei einem unge¬
rechten Menſchen wollen ſie nicht bleiben. Ein
Pudelhund iſt mir einſt drei Tage lang nachge¬
folgt, als ich aus der Stadt Ulm verreiſ'te, und
ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in
Gewahrſam geben, da ich als ein demüthiger
Handwerksgeſell kein ſolches Thier ernähren konnte,
und als ich durch den Böhmerwald reiſ'te, ſind
die Hirſche und Rehe auf zwanzig Schritt noch
ſtehen geblieben und haben ſich nicht vor mir
gefürchtet. Es iſt wunderbar, wie ſelbſt die
wilden Thiere ſich bei den Menſchen auskennen
und wiſſen, welche guten Herzens ſind!«
»Ja, das muß wahr ſein!« rief der Schwabe,
»ſeht ihr nicht, wie dieſer Fink ſchon die ganze
Zeit da vor mir herumfliegt und ſich mir zu
nähern ſucht? Und jenes Eichhörnchen auf der
Tanne ſieht ſich immerfort nach mir um, und
hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem
Beine und will ſich durchaus nicht vertreiben
laſſen! Dem muß es gewiß recht wohl ſein bei
mir, dem lieben guten Thierchen!«
[426] Jetzt wurde aber Züs eiferſüchtig und ſagte
etwas heftig: »Bei mir wollen alle Thiere gern
bleiben! Einen Vogel hab' ich acht Jahre ge¬
habt und er iſt ſehr ungern von mir wegge¬
ſtorben; unſere Katze ſtreicht mir nach, wo ich
geh' und ſtehe, und des Nachbars Tauben drän¬
gen und zanken ſich vor meinem Fenſter, wenn
ich ihnen Broſamen ſtreue! Wunderbare Eigen¬
ſchaften haben die Thiere je nach ihrer Art!
Der Löwe folgt gern den Königen nach und den
Helden, und der Elephant begleitet den Fürſten
und den tapfern Krieger; das Kameel trägt den
Kaufmann durch die Wüſte und bewahrt ihm
friſches Waſſer in ſeinem Bauch, und der Hund
begleitet ſeinen Herrn durch alle Gefahren und
ſtürzt ſich für ihn in das Meer! Der Delphin
liebet die Muſik und folgt den Schiffen, und
der Adler den Kriegsheeren. Der Affe iſt ein
menſchenähnliches Weſen und thut Alles, was
er die Menſchen thun ſieht, und der Papagey
verſteht unſere Sprache und plaudert mit uns,
wie ein Alter! Selbſt die Schlangen laſſen ſich
zähmen und tanzen auf der Spitze ihres Schwan¬
zes; das Krokodill weint menſchliche Thränen
[427] und wird von den Bürgern dort geachtet und
verſchont; der Strauß läßt ſich ſatteln und rei¬
ten wie ein Roß; der wilde Büffel ziehet den
Wagen des Menſchen und das gehörnte Rennthier
ſeinen Schlitten. Das Einhorn liefert ihm das
ſchneeweiße Elfenbein und die Schildkröte ihre
durchſichtigen Knochen« —
»Mit Verlaub,« ſagten alle drei Kammmacher
zugleich, »hierin irren Sie ſich gewißlich, das
Elfenbein wird aus den Elephantenzähnen ge¬
wonnen und die Schildpattkämme macht man
aus der Schaale und nicht aus den Knochen der
Schildkröte!«
Züs wurde feuerroth und ſagte: »Das iſt
noch die Frage, denn ihr habt gewiß nicht ge¬
ſehen, wo man es hernimmt, ſondern verarbeitet
nur die Stücke; ich irre mich ſonſt ſelten, doch
ſei dem wie ihm wolle, ſo laſſet mich ausreden:
nicht nur die Thiere haben ihre merkwürdigen
von Gott eingepflanzten Beſonderheiten, ſondern
ſelbſt das todte Geſtein, ſo aus den Bergen
gegraben wird. Der Kriſtall iſt durchſichtig wie
Glas, der Marmor aber hart und geädert, bald
weiß und bald ſchwarz; der Bernſtein hat elec¬
[428] triſche Eigenſchaften und ziehet den Blitz an;
aber dann verbrennt er und riecht wie Weih¬
rauch. Der Magnet zieht Eiſen an, auf die
Schiefertafeln kann man ſchreiben, aber nicht auf
den Diamant, denn dieſer iſt hart wie Stahl;
auch gebraucht ihn der Glaſer zum Glasſchneiden,
weil er klein und ſpitzig iſt. Ihr ſehet, liebe
Freunde, daß ich auch ein Weniges von den
Thieren zu ſagen weiß! Was aber mein Ver¬
hältniß zu ihnen betrifft, ſo iſt dies zu bemerken:
Die Katze iſt ein ſchlaues und liſtiges Thier
und iſt daher nur ſchlauen und liſtigen Menſchen
anhänglich; die Taube aber iſt ein Sinnbild der
Unſchuld und Einfalt und kann ſich nur von
einfältigen, ſchuldloſen Seelen angezogen fühlen.
Da mir nun Katzen und Tauben anhänglich ſind,
ſo folgt hieraus, daß ich klug und einfältig, ſchlau
und unſchuldig zugleich bin, wie es denn auch
heißt: Seid klug wie die Schlangen und einfäl¬
tig wie die Tauben! Auf dieſe Weiſe können
wir allerdings die Thiere und ihr Verhältniß zu
uns würdigen und manches daraus lernen, wenn
wir die Sache recht zu betrachten wiſſen.«
Die armen Geſellen wagten nicht ein Wort
[429] weiter zu ſagen; Züs hatte ſie gut zugedeckt
und ſprach noch viele hochtrabende Dinge durch¬
einander, daß ihnen Hören und Sehen verging.
Sie bewunderten aber Züſis Geiſt und Bered¬
ſamkeit, und in dieſer Bewunderung dünkte ſich
keiner zu ſchlecht, dieſes Kleinod zu beſitzen, be¬
ſonders da dieſe Zierde eines Hauſes ſo wohlfeil
war und nur in einer raſtloſen Zunge beſtand.
Ob ſie ſelbſt deſſen, was ſie ſo hoch ſtellen, auch
werth ſeien und etwas damit anzufangen wüßten,
fragen ſich ſolche Schwachköpfe zu allerletzt oder
auch gar nicht, ſondern ſie ſind wie die Kinder,
welche nach Allem greifen, was ihnen in die
Augen glänzt, von allen bunten Dingen die
Farben abſchlecken und ein Schellenſpiel ganz in
den Mund ſtecken wollen, ſtatt es blos an die
Ohren zu halten. So erhitzten ſie ſich immer
mehr in der Begierde und Einbildung, dieſe aus¬
gezeichnete Perſon zu erwerben, und je ſchnöder,
herzloſer und eitler Züs unſinnige Phraſen wur¬
den, deſto gerührter und jämmerlicher waren die
Kammmacher zuweg. Zugleich fühlten ſie einen
heftigen Durſt von dem trockenen Obſte, welches
ſie inzwiſchen aufgegeſſen; Jobſt und der Baier
[430] ſuchten im Gehölz nach Waſſer, fanden eine
Quelle und tranken ſich voll kaltes Waſſer. Der
Schwabe hingegen hatte liſtiger Weiſe ein Fläſch¬
chen mitgenommen, in welchem er Kirſchgeiſt mit
Waſſer und Zucker gemiſcht, welches liebliche
Getränk ihn ſtärken und ihm einen Vorſchub
gewähren ſollte beim Laufen; denn er wußte,
daß die Andern zu ſparſam waren, um etwas
mitzunehmen oder eine Einkehr zu halten. Dies
Fläſchchen zog er jetzt eilig hervor, während jene
ſich mit Waſſer füllten, und bot es der Jungfer
Züs an; ſie trank es halb aus, es ſchmeckte
ihr vortrefflich und erquickte ſie und ſie ſah den
Dietrich dabei überquer ganz holdſelig an, daß
ihm der Reſt, welchen er ſelber trank, ſo lieblich
ſchmeckte wie Cyperwein und ihn gewaltig ſtärkte.
Er konnte ſich nicht enthalten, Züſis Hand zu
ergreifen und ihr zierlich die Fingerſpitzen zu
küſſen; ſie tippte ihm leicht mit dem Zeigefinger
auf die Lippen und er that, als ob er darnach
ſchnappen wollte und machte dazu ein Maul,
wie ein lächelnder Karpfen; Züs ſchmunzelte
falſch und freundlich, Dietrich ſchmunzelte ſchlau
und ſüßlich; ſie ſaßen auf der Erde ſich gegen¬
[431] über und tätſchelten zuweilen mit den Schuhſoh¬
len gegeneinander, wie wenn ſie ſich mit den
Füßen die Hände geben wollten. Züs beugte
ſich ein wenig vornüber und legte die Hand auf
ſeine Schulter, und Dietrich wollte eben dies
holde Spiel erwiedern und fortſetzen, als der
Sachſe und der Baier zurückkamen und bleich
und ſtöhnend zuſchauten. Denn es war ihnen
von dem vielen Waſſer, welches ſie an die ge¬
noſſenen Backbirnen geſchüttet, plötzlich elend ge¬
worden und das Herzeleid, welches ſie bei dem
Anblicke des ſpielenden Paares empfanden, ver¬
einigte ſich mit dem öden Gefühle des Bauches,
ſo daß ihnen der kalte Schweiß auf der Stirne
ſtand. Züs verlor aber die Faſſung nicht, ſon¬
dern winkte ihnen überaus freundlich zu und
rief: »Kommet, ihr Lieben, und ſetzet euch doch
auch noch ein bischen zu mir her; daß wir noch
ein Weilchen und zum letzten Mal unſere Eintracht
und Freundſchaft genießen!« Jobſt und Fridolin
drängten ſich haſtig herbei und ſtreckten ihre
Beine aus; Züs ließ dem Schwaben die eine
Hand, gab Jobſten die andere und berührte mit
den Füßen Fridolins Stiefelſohlen, während ſie
[432] mit dem Angeſicht Einen nach dem Andern der
Reihe nach anlächelte. So giebt es Virtuoſen,
welche viele Inſtrumente zugleich ſpielen, auf
dem Kopfe ein Glockenſpiel ſchütteln, mit dem
Munde die Panspfeife blaſen, mit den Händen
die Guitarre ſpielen, mit den Knieen die Cymbel
ſchlagen, mit dem Fuß den Dreiangel und mit
den Ellbogen eine Trommel, die ihnen auf dem
Rücken hängt.
Dann aber erhob ſie ſich von der Erde,
ſtrich ihr Kleid, welches ſie ſorgfältig aufgeſchürzt
hatte, zurecht und ſagte: »Nun iſt es wohl Zeit,
liebe Freunde! daß wir uns aufmachen und daß
ihr euch zu jenem ernſthaften Gange rüſtet,
welchen euch der Meiſter in ſeiner Thorheit
auferlegt, wir aber als die Anordnung eines
höheren Geſchickes anſehen! Tretet dieſen Weg
an voll ſchönen Eifers aber ohne Feindſchaft
noch Neid gegen einander und überlaſſet dem
Sieger willig die Krone!«
Wie von einer Weſpe geſtochen ſprangen
die Geſellen auf und ſtellten ſich auf die Beine.
Da ſtanden ſie nun und ſollten mit denſelben
einander den Rang ablaufen, mit denſelben guten
[433] Beinen, welche bislang nur in bedachtem ehr¬
barem Schritt gewandelt! Keiner wußte ſich
mehr zu entſinnen, daß er je einmal geſprungen
oder gelaufen wäre; am eheſten ſchien ſich noch
der Schwabe zu trauen und mit den Füßen ſo¬
gar leiſe zu ſcharren und dieſelben ungeduldig
zu heben. Sie ſahen ſich ganz ſonderbar und
verdächtig an, waren bleich und ſchwitzten dabei,
als ob ſie ſchon im heftigſten Laufen begriffen
wären.
»Gebet euch, ſagte Züs, noch einmal die
Hand!« Sie thaten es, aber ſo willenlos und
läſſig, daß die drei Hände kalt von einander
abglitten und abfielen wie Bleihände. »Sollen
wir denn wirklich das Thorenwerk beginnen?«
ſagte Jobſt und wiſchte ſich die Augen, welche
anfingen zu träufeln. »Ja, verſetzte der Baier,
ſollen wir wirklich laufen und ſpringen?« und
begann zu weinen. »Und Sie, allerliebſte Jungfer
Bünzlin?« ſagte Jobſt heulend, »wie werden
Sie ſich denn verhalten?« »Mir geziemt,«
antwortete ſie und hielt ſich das Schnupftuch
vor die Augen, »mir geziemt zu ſchweigen, zu
leiden und zuzuſehen!« Der Schwabe ſagte
Keller, die Leute von Seldwyla 28[434] freundlich und liſtig: »Aber dann nachher, Jungfer
Bäbi?« »O Dietrich! erwiederte ſie ſanft,
wiſſen Sie nicht, daß es heißt, der Zug des
Schickſals iſt des Herzens Stimme?« Und da¬
bei ſah ſie ihn von der Seite ſo verblümt an,
daß er abermals die Beine hob und Luſt ver¬
ſpürte, ſogleich in Trab zu gerathen. Während
die zwei Nebenbuhler ihre kleinen Felleiſenfuhr¬
werke in Ordnung brachten und Dietrich das
Gleiche that, ſtreifte ſie mehrmals mit Nachdruck
ſeinen Elbogen oder trat ihm auf den Fuß;
auch wiſchte ſie ihm den Staub von dem Hute,
lächelte aber gleichzeitig den Andern zu, wie
wenn ſie den Schwaben auslachte, doch ſo, daß
es dieſer nicht ſehen konnte. Alle drei blieſen
jetzt mächtig die Backen auf und blieſen große
Seufzer in die Luft. Sie ſahen ſich um nach
allen Seiten, nahmen die Hüte ab, wiſchten ſich
den Schweiß von der Stirn, ſtrichen die ſteif
geklebten Haare und ſetzten die Hüte wieder
auf. Nochmals ſchauten ſie nach allen Winden
und ſchnappten nach Luft. Züs erbarmte ſich
ihrer und war ſo gerührt, daß ſie ſelbſt weinte.
»Hier ſind noch drei dürre Pflaumen, ſagte ſie,
[435] nehmt Jeder eine in den Mund und behaltet
ſie darin, das wird euch erquicken! So ziehet
denn dahin und kehret die Thorheit der Schlechten
um in Weisheit der Gerechten! Was ſie zum
Muthwillen ausgeſonnen, das verwandelt in ein
erbauliches Werk der Prüfung und der Selbſt¬
beherrſchung, in eine ſinnreiche Schlußhandlung
eines langjährigen Wohlverhaltens und Wett¬
laufes in der Tugend!« Jedem ſteckte ſie die
Pflaume in den Mund, und er ſog daran.
Jobſt drückte die Hand auf ſeinen Magen und
rief: »Wenn es denn ſein muß, ſo ſei es in's
Himmels Namen!« und plötzlich fing er, indem
er den Stock erhob, mit ſtark gebogenen Knieen
mächtig an auszuſchreiten und zog ſein Felleiſen
an ſich. Kaum ſah dies Fridolin, ſo folgte er
ihm nach mit langen Schritten, und ohne ſich
ferner umzuſehen, eilten ſie ſchon ziemlich haſtig
die Straße hinab. Der Schwabe war der
letzte, der ſich aufmachte, und ging mit liſtig
vergnügtem Geſicht und ſcheinbar ganz gemäch¬
lich neben Züs her, wie wenn er ſeiner Sache
ſicher und edelmüthig ſeinen Gefährten einen
Vorſprung gönnen wollte. Züs belobte ſeine
28 *[436] freundliche Gelaſſenheit und hing ſich ver¬
traulich an ſeinen Arm. »Ach, es iſt doch ſchön,
ſagte ſie mit einem Seufzer, eine feſte Stütze
zu haben im Leben! Selbſt wenn man hinläng¬
lich begabt iſt mit Klugheit und Einſicht
und einen tugendhaften Weg wandelt, ſo geht
es ſich auf dieſem Wege doch viel gemüthlicher
am vertrauten Freundesarme!« »Der Tauſend,
ei ja wohl, das wollte ich wirklich meinen!«
erwiederte Dietrich und ſtieß ihr den Elbogen
tüchtig in die Seite, indem er zugleich nach
ſeinen Nebenbuhlern ſpähte, ob der Vorſprung
auch nicht zu groß würde, »ſehen Sie wohl,
wertheſte Jungfer! Kommt es Ihnen allendlich?
Merken Sie, wo Barthel den Moſt holt?«
»O Dietrich, lieber Dietrich! ſagte ſie mit einem
noch viel ſtärkeren Seufzer, »ich fühle mich oft
recht einſam!« »Hopſele, ſo muß es kommen!«
rief er und ſein Herz hüpfte wie ein Häschen
im Weißkohl. »O Dietrich!« rief ſie und
drückte ſich feſter an ihn; es ward ihm ſchwül
und ſein Herz wollte zerſpringen vor pfiffigem
Vergnügen; aber zugleich entdeckte er, daß ſeine
Vorläufer nicht mehr ſichtbar, ſondern um eine
[437] Ecke herum verſchwunden waren. Sogleich wollte
er ſich losreißen von Züſis Arm und jenen
nachſpringen; aber ſie hielt ihn ſo feſt, daß es
ihm nicht gelang, und klammerte ſich an, wie
wenn ſie ſchwach würde. »Dietrich! flü¬
ſterte ſie, die Augen verdrehend, laſſen Sie mich
jetzt nicht allein, ich vertraue auf Sie, ſtützen
Sie mich!« »Den Teufel noch einmal, laſſen
Sie mich los Jungfer! rief er ängſtlich, »oder
ich komm' zu ſpät und dann ade Zipfelmütze!«
»Nein, nein! ſie dürfen mich nicht verlaſſen,
ich fühle, mir wird übel!« jammerte ſie. »Übel
oder nicht übel!« ſchrie er und riß ſich gewalt¬
ſam los; er ſprang auf eine Erhöhung und ſah
ſich um und ſah die Läufer ſchon im vollen
Rennen weit den Berg hinunter. Nun ſetzte
er zum Sprung an, ſchaute ſich aber im
ſelben Augenblick noch ein Mal nach Züs um.
Da ſah er ſie, wie ſie am Eingange eines
engen ſchattigen Waldpfades ſaß und lieblich
lockend ihm mit den Händen winkte. Dieſem
Anblicke konnte er nicht widerſtehen, ſondern eilte,
ſtatt den Berg hinunter, wieder zu ihr hin.
Als ſie ihn kommen ſah, ſtand ſie auf und ging
[438] tiefer in das Holz hinein, ſich nach ihm um¬
ſehend; denn ſie dachte ihn auf alle Weiſe vom
Laufen abzuhalten und ſo lange zu veriren, bis
er zu ſpät käme und nicht in Seldwyl bleiben
könne.
Allein der erfindungsreiche Schwabe änderte
zu ſelber Zeit ſeine Gedanken und nahm ſich vor,
ſein Heil hier oben zu erkämpfen, und ſo ge¬
ſchah es, daß es ganz anders kam, als die
liſtige Perſon es hoffte. Sobald er ſie erreicht
und an einem verborgenen Plätzchen mit ihr
allein war, fiel er ihr zu Füßen und beſtürmte
ſie mit den feurigſten Liebeserklärungen, welche
ein Kammmacher je gemacht hat. Erſt ſuchte
ſie ihm Ruhe zu gebieten und, ohne ihn fortzu¬
ſcheuchen, auf gute Manier hinzuhalten, indem
ſie alle ihre Weisheiten und Anmuthungen ſpie¬
len ließ. Als er ihr aber Himmel und Hölle
vorſtellte, wozu ihm ſein aufgeregter und ge¬
ſpannter Unternehmungsgeiſt herrliche Zauber¬
worte lieh, als er ſie mit Zärtlichkeiten jeder
Art überhäufte und bald ihrer Hände, bald ihrer
Füße ſich zu bemächtigen ſuchte und ihren Leib
und ihren Geiſt, alles was an ihr war, lobte
[439] und rühmte, daß der Himmel hätte grün wer¬
den mögen, als dazu die Witterung und der
Wald ſo ſtill und lieblich waren, verlor Züs
endlich den Compaß, als ein Weſen, deſſen Ge¬
danken am Ende doch ſo kurz ſind als ſeine
Sinne, ihr Herz krabbelte ſo ängſtlich und wehr¬
los, wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt,
und Dietrich beſiegte es in jeder Weiſe. Sie
hatte ihn in dies Dickicht verlockt, um ihn zu
verrathen und war im Handumdrehen von dem
Schwäbchen erobert; dies geſchah nicht, weil ſie
etwa eine beſonders verliebte Perſon war, ſon¬
dern weil ſie als eine kurze Natur trotz aller
eingebildeten Weisheit doch nicht über ihre eigene
Naſe weg ſah. Sie blieben wohl eine Stunde
in dieſer kurzweiligen Einſamkeit, umarmten ſich
immer auf's Neue und gaben ſich tauſend Kü߬
chen. Sie ſchwuren ſich ewige Treue und in
aller Aufrichtigkeit und wurden einig, ſich zu
heirathen auf alle Fälle.
Unterdeſſen hatte ſich in der Stadt die
Kunde von dem ſeltſamen Unternehmen der drei
Geſellen verbreitet und der Meiſter ſelbſt zu
ſeiner Beluſtigung die Sache bekannt gemacht,
[440] deshalb freuten ſich die Seldwyler auf das unver¬
hoffte Schauſpiel und waren begierig, die gerechten
und ehrbaren Kammmacher zu ihrem Spaße
laufen und ankommen zu ſehen. Eine große
Menſchenmenge zog vor das Thor und lagerte
ſich zu beiden Seiten der Straße, wie wenn
man einen Schnellläufer erwartet. Die Knaben
kletterten auf die Bäume, die Alten und Rück¬
geſetzten ſaßen im Graſe und rauchten ihr Pfeifchen,
vergnügt, daß ſich ihnen ein ſo wohlfeiles Ver¬
gnügen aufgethan. Selbſt die Herren waren
ausgerückt, um den Hauptſpaß mit anzuſehen,
ſaßen fröhlich diskurirend in den Gärten und
Lauben der Wirthshäuſer und bereiteten eine
Menge Wetten vor. In den Straßen, durch
welche die Läufer kommen mußten, waren alle
Fenſter geöffnet, die Frauen hatten in den Vi¬
ſitenſtuben rothe und weiße Kiſſen ausgelegt, die
Arme darauf zu legen, und zahlreichen Damen¬
beſuch empfangen, ſo daß fröhliche Kaffeegeſell¬
ſchaften aus dem Stegreif entſtanden und die
Mägde genug zu laufen hatten, um Kuchen und
Zwieback zu holen. Vor dem Thore aber ſahen
jetzt die Buben auf den höchſten Bäumen eine
[441] kleine Staubwolke ſich nähern und begannen zu
rufen: Sie kommen, ſie kommen! Und nicht
lange dauerte es, ſo kamen Fridolin und Jobſt
wirklich wie ein Sturmwind herangeſauſ't, mitten
auf der Straße, eine dicke Wolke Staubes auf¬
rührend. Mit der einen Hand zogen ſie die
Felleiſen, welche wie toll über die Steine flogen,
mit der andern hielten ſie die Hüte feſt, welche
ihnen im Nacken ſaßen, und ihre langen Röcke
flogen und wehten um die Wette. Beide waren
von Schweiß und Staub bedeckt, ſie ſperrten
den Mund auf und lechzten nach Athem, ſahen
und hörten nichts, was um ſie her vorging und
dicke Thränen rollten den armen Männern über
die Geſichter, welche ſie nicht abzuwiſchen Zeit
hatten. Sie liefen ſich dicht auf den Ferſen,
doch war der Baier voraus um eine Spanne.
Ein entſetzliches Geſchrei und Gelächter erhob
ſich und dröhnte, ſo weit das Ohr reichte.
Alles raffte ſich auf und drängte ſich dicht an den
Weg, von allen Seiten rief es: So recht, ſo
recht! Lauft, wehr' Dich Sachs! halt Dich brav,
Baier! Einer iſt ſchon abgefallen, es ſind nur
noch zwei! Die Herren in den Gärten ſtanden
[442] auf den Tiſchen und wollten ſich ausſchütten vor
Lachen. Ihr Gelächter dröhnte aber donnernd
und feſt über den haltloſen Lärm der Menge
weg, die auf der Straße lagerte und gab das
Signal zu einem unerhörten Freudentage. Die
Buben und das Geſindel ſtrömten hinter den
zwei armen Geſellen zuſammen und ein wilder
Haufen, eine furchtbare Wolke erregend, wälzte
ſich mit ihnen dem Thore zu; ſelbſt Weiber und
junge Gaſſenmädchen liefen mit und miſchten
ihre hellen quiekenden Stimmen in das Geſchrei
der Burſchen. Schon waren ſie dem Thore
nah, deſſen Thürme von Neugierigen beſetzt wa¬
ren, die ihre Mützen ſchwenkten, die zwei rann¬
ten wie ſcheu gewordene Pferde, das Herz voll
Qual und Angſt; da knieete ein Gaſſenjunge
wie ein Kobold auf Jobſtens fahrendes Felleiſen
und ließ ſich unter dem Beifallsgeſchrei der Menge
mitfahren. Jobſt wandte ſich und flehte ihn
an, loszulaſſen, auch ſchlug er mit dem Stocke
nach ihm; aber der Junge duckte ſich und grinſte
ihn an. Darüber gewann Fridolin einen grö¬
ßeren Vorſprung und wie Jobſt es merkte, warf
er ihm den Stock zwiſchen die Füße, daß er
[443] hinſtürzte. Wie aber Jobſt über ihn wegſprin¬
gen wollte, erwiſchte ihn der Baier am Rock¬
ſchoß und zog ſich daran in die Höhe; Jobſt
ſchlug ihm auf die Hände und ſchrie: Laß los,
laß los! Fridolin ließ nicht los, Jobſt packte
dafür ſeinen Rockſchoß und nun hielten ſie ſich
gegenſeitig feſt und drehten ſich langſam zum
Thore hinein, nur zuweilen einen Sprung ver¬
ſuchend, um einer dem andern zu entrinnen.
Sie weinten, ſchluchzten und heulten wie Kinder
und ſchrieen in unſäglicher Beklemmung: O Gott!
laß los! Du lieber Heiland, laß los Jobſt! laß los
Fridolin! laß los Du Satan! dazwiſchen ſchlugen
ſie ſich fleißig auf die Hände, kamen aber immer
um ein Weniges vorwärts. Hut und Stock
hatten ſie verloren, zwei Buben trugen dieſelben, die
Hüte auf die Stöcke geſteckt, voran und hinter
ihnen her wälzte ſich der tobende Haufen; alle
Fenſter waren von der Damenwelt beſetzt,
welche ihr ſilbernes Gelächter in die unten
toſende Brandung warf, und ſeit langer Zeit
war man nicht mehr ſo fröhlich geſtimmt ge¬
weſen in dieſer Stadt. Das rauſchende Ver¬
gnügen ſchmeckte den Bewohnern ſo gut, daß
[444] kein Menſch den zwei Ringenden ihr Ziel zeigte,
des Meiſters Haus, an welchem ſie endlich ange¬
langt. Sie ſelber ſahen es nicht, ſie ſahen
überhaupt nichts, und ſo wälzte ſich der tolle
Zug durch das ganze Städtchen und zum andern
Thore wieder hinaus. Der Meiſter hatte lachend
unter dem Fenſter gelegen, und nachdem er noch
ein Stündchen auf den endlichen Sieger gewartet,
wollte er eben weggehen, um die Früchte ſeines
Schwankes zu genießen, als Dietrich und Züs
ſtill und unverſehens bei ihm eintraten.
Dieſe hatten nämlich unterdeſſen ihre Ge¬
danken zuſammen gethan und berathen, daß der
Kammmachermeiſter wohl geneigt ſein dürfte, da er
doch nicht lang mehr machen würde, ſein Geſchäft
gegen eine baare Summe zu verkaufen. Züs
wollte ihren Gültbrief dazu hergeben und der
Schwabe ſein Geldchen auch dazuthun, und dann
wären ſie die Herren der Sachlage und könnten
die andern zwei auslachen. Sie trugen ihre
Vereinigung dem überraſchten Meiſter vor; die¬
ſem leuchtete es ſogleich ein, hinter dem Rücken
ſeiner Gläubiger, ehe es zum Bruch kam, noch
ſchnell den Handel abzuſchließen und unverhofft
[445] des baaren Kaufpreiſes habhaft zu werden. Raſch
wurde Alles feſtgeſtellt und ehe die Sonne un¬
terging, war Jungfer Bünzlin die rechtmäßige
Beſitzerin des Kammmachergeſchäfts und ihr Bräu¬
tigam der Miether des Hauſes, in welchem das¬
ſelbe lag, und ſo war Züs, ohne es am Mor¬
gen geahnt zu haben, endlich erobert und ge¬
bunden durch die Handlichkeit des Schwäbchens.
Halb todt vor Scham, Mattigkeit und Ärger
lagen Jobſt und Fridolin in der Herberge, wo¬
hin man ſie geführt hatte, nachdem ſie auf dem
freien Felde endlich umgefallen waren, ganz in
einander verbiſſen. Die ganze Stadt, da ſie
einmal aufgeregt war, hatte die Urſache ſchon
vergeſſen und feierte eine luſtige Nacht. In
vielen Häuſern wurde getanzt und in den Schenken
wurde gezecht und geſungen, wie an den grö߬
ten Seldwylertagen; denn die Seldwyler brauch¬
ten nicht viel Zeug, um mit Meiſterhand eine
Luſtbarkeit daraus zu formen. Als die beiden
armen Teufel ſahen, wie ihre Tapferkeit, mit
welcher ſie gedacht hatten, die Thorheit der Welt
zu benutzen, nur dazu gedient hatte, dieſelbe
triumphiren zu laſſen und ſich ſelbſt zum allge¬
[446] meinen Geſpött zu machen, wollte ihnen das
Herz brechen; denn ſie hatten nicht nur den
weiſen Plan mancher Jahre verfehlt und ver¬
nichtet, ſondern auch den Ruhm beſonnener und
rechtlich ruhiger Leute eingebüßt.
Jobſt, der der älteſte war und ſieben Jahre
hier geweſen, war ganz verloren und konnte
ſich nicht zurecht finden. Ganz ſchwermüthig zog
er vor Tag wieder aus der Stadt, und hing
ſich an der Stelle, wo ſie Alle geſtern geſeſſen,
an einen Baum. Als der Baier eine Stunde
ſpäter da vorüber kam und ihn erblickte, faßte
ihn ein ſolches Entſetzen, daß er wie wahnſinnig
davon rannte, ſein ganzes Weſen veränderte und,
wie man nachher hörte, ein liederlicher Menſch
und alter Handwerksburſch wurde, der keines
Menſchen Freund war.
Dietrich der Schwabe allein blieb ein Ge¬
rechter und hielt ſich oben in dem Städtchen;
aber er hatte nicht viel Freude daran; denn
Züs ließ ihm gar nicht den Ruhm davon, re¬
gierte und unterdrückte ihn und betrachtete ſich
ſelbſt als die alleinige Quelle alles Guten.
[447]
Spiegel, das Kätzchen.
Ein Mährchen.
Wenn ein Seldwyler einen ſchlechten Handel
gemacht hat oder angeführt worden iſt, ſo ſagt
man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmeer
abgekauft! Dies Sprichwort iſt zwar auch ander¬
wärts gebräuchlich, aber nirgends hört man es
ſo oft wie dort, was vielleicht daher rühren
mag, daß es in dieſer Stadt eine alte Sage
giebt über den Urſprung und die Bedeutung die¬
ſes Sprichwortes.
Vor mehreren hundert Jahren, heißt es,
wohnte zu Seldwyla eine ältliche Perſon allein
mit einem ſchönen, grau und ſchwarzen Kätzchen,
welches in aller Vergnügtheit und Klugheit mit
ihr lebte und Niemandem, der es ruhig ließ,
etwas zu Leide that. Seine einzige Leidenſchaft
[448] war die Jagd, welche es jedoch mit Vernunft
und Mäßigung befriedigte, ohne ſich durch den
Umſtand, daß dieſe Leidenſchaft zugleich einen
nützlichen Zweck hatte und ſeiner Herrin wohl¬
gefiel, beſchönigen zu wollen und allzuſehr zur
Grauſamkeit hinreißen zu laſſen. Es fing und
tödtete daher nur die zudringlichſten und frechſten
Mäuſe, welche ſich in einem gewiſſen Umkreiſe
des Hauſes betreten ließen, aber dieſe dann mit
zuverläſſiger Geſchicklichkeit; nur ſelten verfolgte
es eine beſonders pfiffige Maus, welche ſeinen
Zorn gereizt hatte, über dieſen Umkreis hinaus
und erbat ſich in dieſem Falle mit vieler Höf¬
lichkeit von den Herren Nachbaren die Erlaub¬
niß, in ihren Häuſern ein wenig mauſen zu
dürfen, was ihm gerne gewährt wurde, da es
die Milchtöpfe ſtehen ließ, nicht an die Schinken
hinaufſprang, welche etwa an den Wänden hin¬
gen, ſondern ſeinem Geſchäfte ſtill und aufmerk¬
ſam oblag und, nachdem es dieſes verrichtet,
ſich mit dem Mäuslein im Maule anſtändig
entfernte. Auch war das Kätzchen gar nicht
ſcheu und unartig, ſondern zutraulich gegen Jeder¬
mann und floh nicht vor vernünftigen Leuten;
[449] vielmehr ließ es ſich von ſolchen einen guten
Spaß gefallen und ſelbſt ein bischen an den
Ohren zupfen, ohne zu kratzen; dagegen ließ es
ſich von einer Art dummer Menſchen, von wel¬
chen es behauptete, daß die Dummheit aus
einem unreifen und nichtsnutzigen Herzen käme,
nicht das Mindeſte gefallen und ging ihnen ent¬
weder aus dem Wege, oder verſetzte ihnen einen
ausreichenden Hieb über die Hand, wenn ſie es
mit einer Plumpheit moleſtirten.
Spiegel, ſo war der Name des Kätzchens
wegen ſeines glatten und glänzenden Pelzes,
lebte ſo ſeine Tage heiter, zierlich und beſchau¬
lich dahin, in anſtändiger Wohlhabenheit und
ohne Überhebung. Er ſaß nicht zu oft auf der
Schulter ſeiner freundlichen Gebieterin, um ihr
die Biſſen von der Gabel wegzufangen, ſondern
nur, wenn er merkte, daß ihr dieſer Spaß an¬
genehm war; auch lag und ſchlief er den Tag
über ſelten auf ſeinem warmen Kiſſen hinter
dem Ofen, ſondern hielt ſich munter und liebte
es eher, auf einem ſchmalen Treppengeländer
oder in der Dachrinne zu liegen und ſich philo¬
ſophiſchen Betrachtungen und der Beobachtung
Keller, die Leute von Seldwyla. 29[450] der Welt zu überlaſſen. Nur jeden Frühling
und Herbſt einmal wurde dies ruhige Leben eine
Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen
blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬
ſommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann
ging Spiegel ſeine eigenen Wege, ſtreifte in
verliebter Begeiſterung über die fernſten Dächer
und ſang die allerſchönſten Lieder. Als ein
rechter Don Juan beſtand er bei Tag und Nacht
die bedenklichſten Abenteuer, und wenn er ſich
zur Seltenheit einmal im Hauſe ſehen ließ, ſo
erſchien er mit einem ſo verwegenen, burſchikoſen,
ja liederlichen und zerzauſ'ten Ausſehen, daß die
ſtille Perſon, ſeine Gebieterin, faſt unwillig
ausrief: »Aber Spiegel! Schämſt Du Dich
denn nicht, ein ſolches Leben zu führen?« Wer
ſich aber nicht ſchämte, war Spiegel; als ein
Mann von Grundſätzen, der wohl wußte, was
er ſich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben
durfte, beſchäftigte er ſich ganz ruhig damit, die
Glätte ſeines Pelzes und die unſchuldige Mun¬
terkeit ſeines Ausſehens wieder herzuſtellen, und
er fuhr ſich ſo unbefangen mit dem feuchten
[451] Pfötchen über die Naſe, als ob gar nichts
geſchehen wäre.
Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬
lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen
Spiegel eben in der Blüthe ſeiner Jahre ſtand,
ſtarb die Herrin unverſehens an Altersſchwäche
und ließ das ſchöne Kätzchen herrenlos und ver¬
waiſ’t zurück. Es war das erſte Unglück, wel¬
ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen,
welche ſo ſchneidend den bangen Zweifel an der
wirklichen und rechtmäßigen Urſache eines großen
Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche
bis auf die Straße und ſtrich den ganzen übri¬
gen Tag rathlos im Hauſe und rings um das¬
ſelbe her. Doch ſeine gute Natur, ſeine Ver¬
nunft und Philoſophie geboten ihm bald, ſich
zu faſſen, das Unabänderliche zu tragen und
ſeine dankbare Anhänglichkeit an das Haus ſeiner
todten Gebieterin dadurch zu beweiſen, daß er
ihren lachenden Erben ſeine Dienſte anbot und
ſich bereit machte, denſelben mit Rath und That
beizuſtehen, die Mäuſe ferner im Zaume zu
halten und überdies ihnen manche gute Mit¬
theilung zu machen, welche die Thörichten nicht
[452] verſchmäht hätten, wenn ſie eben nicht unver¬
nünftige Menſchen geweſen wären. Aber dieſe Leute
ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, ſondern
warfen ihm die Pantoffeln und das artige Fu߬
ſchemelchen der Seligen an den Kopf, ſo oft er
ſich blicken ließ, zankten ſich acht Tage lang
unter einander, begannen endlich einen Prozeß
und ſchloſſen das Haus bis auf Weiteres zu,
ſo daß nun gar Niemand darin wohnte.
Da ſaß nun der arme Spiegel traurig und
verlaſſen auf der ſteinernen Stufe vor der Haus¬
thüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ.
Des Nachts begab er ſich wohl auf Umwegen
unter das Dach des Hauſes, und im Anfang
hielt er ſich einen großen Theil des Tages dort
verborgen und ſuchte ſeinen Kummer zu ver¬
ſchlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an
das Licht und nöthigte ihn, an der warmen
Sonne und unter den Leuten zu erſcheinen, um
bei der Hand zu ſein und zu gewärtigen, wo
ſich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zei¬
gen möchte. Je ſeltener dies geſchah, deſto auf¬
merkſamer wurde der gute Spiegel, und alle
ſeine moraliſchen Eigenſchaften gingen in dieſer
[453] Aufmerkſamkeit auf, ſo daß er ſehr bald ſich ſelber
nicht mehr gleich ſah. Er machte zahlreiche
Ausflüge von ſeiner Hausthüre aus und ſtahl ſich
ſcheu und flüchtig über die Straße, um manch¬
mal mit einem ſchlechten unappetitlichen Biſſen,
dergleichen er früher nie angeſehen, manchmal
mit gar Nichts zurückzukehren. Er wurde von
Tag zu Tag magerer und zerzauſ'ter, dabei
gierig, kriechend und feig; all' ſein Muth, ſeine
zierliche Katzenwürde, ſeine Vernunft und Philo¬
ſophie waren dahin. Wenn die Buben aus der
Schule kamen, ſo kroch er in einen verborgenen
Winkel, ſobald er ſie kommen hörte, und guckte
nur hervor, um aufzupaſſen, welcher von ihnen
etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte ſich
den Ort, wo ſie hinfiel. Wenn der ſchlechteſte
Köter von Weitem ankam, ſo ſprang er haſtig
fort, während er früher gelaſſen der Gefahr in's
Auge geſchaut und böſe Hunde oft tapfer ge¬
züchtigt hatte. Nur wenn ein grober und ein¬
fältiger Menſch daher kam, dergleichen er ſonſt
klüglich gemieden, blieb er ſitzen, obgleich das
arme Kätzchen mit dem Reſte ſeiner Menſchen¬
kenntniß den Lümmel recht gut erkannte; allein
[454] die Noth zwang Spiegelchen, ſich zu täuſchen
und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweiſe
einmal es freundlich ſtreicheln und ihm einen
Biſſen darreichen werde. Und ſelbſt wenn er
ſtatt deſſen nun doch geſchlagen oder in den
Schwanz gekneift wurde, ſo kratzte er nicht,
ſondern duckte ſich lautlos zur Seite und ſah
dann noch verlangend nach der Hand, die es
geſchlagen und gekneift, und welche nach Wurſt
oder Häring roch.
Als der edle und kluge Spiegel ſo herunter¬
gekommen war, ſaß er eines Tages ganz mager
und traurig auf ſeinem Steine und blinzelte in
der Sonne. Da kam der Stadthexenmeiſter Pineiß
des Weges, ſah das Kätzchen und ſtand vor
ihm ſtill. Etwas Gutes hoffend, obgleich es
den Unheimlichen wohl kannte, ſaß Spiegelchen
demüthig auf dem Stein und erwartete, was
der Herr Pineiß etwa thun oder ſagen würde.
Als dieſer aber begann und ſagte: »Na, Katze!
Soll ich Dir Deinen Schmeer abkaufen?« da
verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der
Stadthexenmeiſter wolle es ſeiner Magerkeit
wegen verhöhnen. Doch erwiederte er beſcheiden
[455] und lächelnd, um es mit Niemand zu verderben:
»Ach, der Herr Pineiß belieben zu ſcherzen!«
»Mit Nichten! rief Pineiß,« es iſt mir voller
Ernſt! Ich brauche Katzenſchmeer vorzüglich zur
Hexerei; aber er muß mir vertragsmäßig und
freiwillig von den werthen Herren Katzen abge¬
treten werden, ſonſt iſt er unwirkſam. Ich
denke, wenn je ein wackeres Kätzlein in der
Lage war, einen vortheilhaften Handel abzu¬
ſchließen, ſo biſt es Du! Begieb Dich in meinen
Dienſt; ich füttere Dich herrlich heraus, mache
Dich fett und kugelrund mit Würſtchen und ge¬
bratenen Wachteln. Auf dem ungeheuer hohen
alten Dache meines Hauſes, welches nebenbei
geſagt das köſtlichſte Dach von der Welt iſt für
eine Katze, voll intereſſanter Gegenden und
Winkel, wächſt auf den ſonnigſten Höhen treff¬
liches Spitzgras, grün wie Smaragd, ſchlank
und fein in den Lüften ſchwankend, Dich ein¬
ladend, die zarteſten Spitzen abzubeißen und zu
genießen, wenn Du Dir an meinen Leckerbiſſen
eine leichte Unverdaulichkeit zugezogen haſt. So wirſt
Du bei trefflicher Geſundheit bleiben und mir der¬
einſt einen kräftigen brauchbaren Schmeer liefern!«
[456]
Spiegel hatte ſchon längſt die Ohren ge¬
ſpitzt und mit wäſſerndem Mäulchen gelauſcht;
doch war ſeinem geſchwächten Verſtande die
Sache noch nicht klar, und er verſetzte daher:
»das iſt soweit nicht übel, Herr Pineiß! Wenn
ich nur wüßte, wie ich alsdann, wenn ich doch,
um Euch meinen Schmeer abzutreten, mein
Leben laſſen muß, des verabredeten Preiſes hab¬
haft werden und ihn genießen ſoll, da ich nicht
mehr bin?« »Des Preiſes habhaft werden?«
ſagte der Hexenmeiſter verwundert, »den Preis
genießeſt Du ja eben in den reichlichen und
üppigen Speiſen, womit ich Dich fett mache,
das verſteht ſich von ſelber! doch will ich Dich
zu dem Handel nicht zwingen!« Und er machte
Miene, ſich von dannen begeben zu wollen.
Aber Spiegel ſagte haſtig und ängſtlich: »Ihr
müßt mir wenigſtens eine mäßige Friſt gewähren
über die Zeit meiner höchſten erreichten Rund¬
heit und Fettigkeit hinaus, daß ich nicht ſo jäh¬
lings von hinnen gehen muß, wenn jener an¬
genehme und ach! ſo traurige Zeitpunkt heran¬
gekommen und entdeckt iſt!«
»Es ſei!« ſagte Herr Pineiß mit anſchei¬
[457] nender Gutmüthigkeit,»bis zum nächſten Voll¬
mond ſollſt Du Dich alsdann Deines angeneh¬
men Zuſtandes erfreuen dürfen, aber nicht län¬
ger! denn in den abnehmenden Mond hinein
darf es nicht gehen, weil dieſer einen vermin¬
dernden Einfluß auf mein wohlerworbenes Ei¬
genthum ausüben würde.«
Das Kätzchen beeilte ſich zuzuſchlagen und
unterzeichnete einen Vertrag, welchen der Hexen¬
meiſter im Vorrath bei ſich führte, mit ſeiner
ſcharfen Handſchrift, welche ſein letztes Beſitzthum
und Zeichen beſſerer Tage war.
»Du kannſt Dich nun zum Mittageſſen bei
mir einfinden, Kater!« ſagte der Hexer, »Punkt
zwölf Uhr wird gegeſſen!« »Ich werde ſo frei
ſein, wenn Ihr's erlaubt!« ſagte Spiegel und
fand ſich pünktlich um die Mittagsſtunde bei
Herrn Pineiß ein. Dort begann nun während
einiger Monate ein höchſt angenehmes Leben für
das Kätzchen; denn es hatte auf der Welt wei¬
ter nichts zu thun, als die guten Dinge zu ver¬
zehren, die man ihm vorſetzte, dem Meiſter bei
der Hexerei zuzuſchauen, wenn es mochte, und
auf dem Dache ſpazieren zu gehen. Dies Dach
29 *[458] glich einem ungeheuren ſchwarzen Nebelſpalter
oder Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte
der ſchwäbiſchen Bauern nennt, und wie ein
ſolcher Hut ein Gehirn voller Nücken und Fin¬
ten überſchattet, ſo bedeckte dies Dach ein gro¬
ßes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk
und Tauſendsgeſchichten. Herr Pineiß war ein
Kann-Alles, welcher hundert Ämtchen verſah,
Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog
und Geld auf Zinſen lieh; er war der Vor¬
münder aller Waiſen und Wittwen, ſchnitt in
ſeinen Mußeſtunden Federn, das Dutzend für
einen Pfennig, und machte ſchöne ſchwarze Dinte;
er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wa¬
genſchmiere und Roſoli, mit Heftlein und Schuh¬
nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte
jährlich den Kalender mit der Witterung, den
Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er ver¬
richtete zehntauſend rechtliche Dinge am hellen
Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur
in der Finſterniß und aus Privatleidenſchaft,
oder hing auch den rechtlichen, ehe er ſie aus
ſeiner Hand entließ, ſchnell noch ein unrecht¬
liches Schwänzchen an, ſo klein wie die Schwänz¬
[459] chen der jungen Fröſche, gleichſam nur der Poſ¬
ſierlichkeit wegen. Überdies machte er das Wet¬
ter in ſchwierigen Zeiten, überwachte mit ſeiner
Kunſt die Hexen, und wenn ſie reif waren, ließ
er ſie verbrennen; für ſich trieb er die Hexerei
nur als wiſſenſchaftlichen Verſuch und zum Haus¬
gebrauch, ſowie er auch die Stadtgeſetze, die er
redigirte und ins Reine ſchrieb, unter der Hand
probirte und verdrehte, um ihre Dauerhaftigkeit
zu ergründen. Da die Seldwyler ſtets einen
ſolchen Bürger brauchten, der alle unluſtigen
kleinen und großen Dinge für ſie that, ſo war
er zum Stadthexenmeiſter ernannt worden und
bekleidete dies Amt ſchon ſeit vielen Jahren mit
unermüdlicher Hingebung und Geſchicklichkeit, früh
und ſpät. Daher war ſein Haus von unten
bis oben vollgeſtopft mit allen erdenklichen Din¬
gen, und Spiegel hatte viel Kurzweil, Alles zu
beſehen und zu beriechen.
Doch im Anfang gewann er keine Aufmerk¬
ſamkeit für andere Dinge, als für das Eſſen.
Er ſchlang gierig alles hinunter, was Pineiß
ihm darreichte, und mochte kaum von einer Zeit
zur andern warten. Dabei überlud er ſich den
[460] Magen und mußte wirklich auf das Dach ge¬
hen, um dort von den grünen Gräſern abzu¬
beißen und ſich von allerhand Unwohlſein zu
kuriren. Als der Meiſter dieſen Heißhunger
bemerkte, freute er ſich und dachte, das Kätzchen
würde ſolcherweiſe recht bald fett werden, und
je beſſer er daran wende, deſto klüger verfahre
und ſpare er im Ganzen. Er baute daher für
Spiegel eine ordentliche Landſchaft in ſeiner
Stube, indem er ein Wäldchen von Tannen¬
bäumchen aufſtellte, kleine Hügel von Steinen
und Moos errichtete und einen kleinen See an¬
legte. Auf die Bäumchen ſetzte er duftig ge¬
bratene Lerchen, Finken, Meiſen und Sperlinge,
je nach der Jahrszeit, ſo daß da Spiegel im¬
mer etwas herunter zu holen und zu knabbern
vorfand. In die kleinen Berge verſteckte er in
künſtlichen Mauslöchern herrliche Mäuſe, welche
er ſorgfältig mit Waizenmehl gemäſtet, dann
ausgeweidet, mit zarten Speckriemchen geſpickt
und gebraten hatte. Einige dieſer Mäuſe konnte
Spiegel mit der Hand hervorholen, andere wa¬
ren zur Erhöhung des Vergnügens tiefer ver¬
borgen, aber an einen Faden gebunden, an wel¬
[461] chem Spiegel ſie behutſam hervorziehen mußte,
wenn er dieſe Luſtbarkeit einer nachgeahmten
Jagd genießen wollte. Das Becken des See's
aber füllte Pineiß alle Tage mit friſcher Milch,
damit Spiegel in der ſüßen ſeinen Durſt löſche,
und ließ gebratene Gründlinge darin ſchwimmen,
da er wußte, daß Katzen zuweilen auch die Fi¬
ſcherei lieben. Aber da nun Spiegel ein ſo
herrliches Leben führte, thun und laſſen, eſſen
und trinken konnte, was ihm beliebte und wann
es ihm einfiel, ſo gedieh er allerdings zuſehens
an ſeinem Leibe; ſein Pelz wurde wieder glatt
und glänzend und ſein Auge munter; aber zu¬
gleich nahm er, da ſich ſeine Geiſteskräfte in
gleichem Maße wieder anſammelten, beſſere Sit¬
ten an, die wilde Gier legte ſich, und weil er
jetzt eine traurige Erfahrung hinter ſich hatte,
ſo wurde er nun klüger als zuvor. Er mäßigte
ſich in ſeinen Gelüſten und fraß nicht mehr, als
ihm zuträglich war, indem er zugleich wieder
vernünftigen und tiefſinnigen Betrachtungen nach¬
ging und die Dinge wieder durchſchaute. So
holte er eines Tages einen hübſchen Kramets¬
vogel von den Äſten herunter, und als er den¬
[462] ſelben nachdenklich zerlegte, fand er deſſen kleinen
Magen ganz kugelrund angefüllt mit friſcher un¬
verſehrter Speiſe. Grüne Kräutchen, artig zu¬
ſammengerollt, ſchwarze und weiße Samenkörner
und eine glänzend rothe Beere waren da ſo
niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob
ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen
zur Reiſe gepackt hätte. Als Spiegel den Vo¬
gel langſam verzehrt und das ſo vergnüglich
gefüllte Mäglein an ſeine Klaue hing und phi¬
loſophiſch betrachtete, rührte ihn das Schickſal
des armen Vogels, welcher nach ſo friedlich ver¬
brachtem Geſchäft ſo ſchnell ſein Leben laſſen
mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sa¬
chen verdauen konnte. »Was hat er nun davon
gehabt, der arme Kerl, ſagte Spiegel, daß er
ſich ſo fleißig und eifrig genährt hat, daß dies
kleine Säckchen ausſieht, wie ein wohl vollbrach¬
tes Tagewerk? Dieſe rothe Beere iſt es, die
ihn aus dem freien Walde in die [Schlinge] des
Vogelſtellers gelockt hat. Aber er dachte doch,
ſeine Sache noch beſſer zu machen und ſein Le¬
ben an ſolchen Beeren zu friſten, während ich,
der ich ſo eben den unglücklichen Vogel gegeſſen,
[463] daran mich nur um einen Schritt näher zum
Tode gegeſſen habe! Kann man einen elenderen
und feigeren Vertrag abſchließen, als ſein Leben
noch ein Weilchen friſten zu laſſen, um es dann
um dieſen Preis doch zu verlieren? Wäre nicht
ein freiwilliger und ſchneller Tod vorzuziehen
geweſen für einen entſchloſſenen Kater? Aber
ich habe keine Gedanken gehabt, und nun da
ich wieder ſolche habe, ſehe ich nichts vor mir,
als das Schickſal dieſes Krametsvogels; wenn
ich rund genug bin, ſo muß ich von hinnen,
aus keinem andern Grunde, als weil ich rund
bin. Ein ſchöner Grund für einen lebensluſtigen
und gedankenreichen Katzmann! Ach, könnte ich
aus dieſer Schlinge kommen!«
Er vertiefte ſich nun in vielfältige Grübe¬
leien, wie das gelingen möchte; aber da die
Zeit der Gefahr noch nicht da war, ſo wurde
es ihm nicht klar und er fand keinen Ausweg;
aber als ein kluger Mann ergab er ſich bis
dahin der Tugend und der Selbſtbeherrſchung,
welches immer die beſte Vorſchule und Zeitver¬
wendung iſt, bis ſich etwas entſcheiden ſoll. Er
verſchmähte das weiche Kiſſen, welches ihm Pi¬
[464] neiß zurechtgelegt hatte, damit er fleißig darauf
ſchlafen und fett werden ſollte, und zog es vor,
wieder auf ſchmalen Geſimſen und hohen ge¬
fährlichen Stellen zu liegen, wenn er ruhen
wollte. Ebenſo verſchmähte er die gebratenen
Vögel und die geſpickten Mäuſe und fing ſich
lieber auf den Dächern, da er nun wieder ei¬
nen rechtmäßigen Jagdgrund hatte, mit Liſt und
Gewandtheit einen ſchlichten lebendigen Sper¬
ling, oder auf den Speichern eine flinke Maus,
und ſolche Beute ſchmeckte ihm vortrefflicher, als
das gebratene Wild in Pineißens künſtlichem
Gehäge, während ſie ihn nicht zu fett machte;
auch die Bewegung und Tapferkeit, ſowie der
wiedererlangte Gebrauch der Tugend und Phi¬
loſophie verhinderten ein zu ſchnelles Fettwerden,
ſo daß Spiegel zwar geſund und glänzend aus¬
ſah, aber zu Pineißens Verwunderung auf einer
gewiſſen Stufe der Beleibtheit ſtehen blieb, welche
lange nicht das erreichte, was der Hexenmeiſter
mit ſeiner freundlichen Mäſtung bezweckte; denn
dieſer ſtellte ſich darunter ein kugelrundes, ſchwer¬
fälliges Thier vor, welches ſich nicht vom Ruhe¬
kiſſen bewegte und aus eitel Schmeer beſtand.
[465] Aber hierin hatte ſich ſeine Hexerei eben geirrt
und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß
wenn man einen Eſel füttert, derſelbe ein Eſel
bleibt, wenn man aber einen Fuchſen ſpeiſet,
derſelbe nichts anders wird, als ein Fuchs; denn
jede Creatur wächſt ſich nach ihrer Weiſe aus.
Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer
auf demſelben Punkte einer wohlgenährten, aber
geſchmeidigen und rüſtigen Schlankheit ſtehen
blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzuſetzen,
ſtellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede
und ſagte barſch: »Was iſt das, Spiegel? Wa¬
rum friſſeſt Du die guten Speiſen nicht, die ich
Dir mit ſo viel Sorgfalt und Kunſt präparire
und herſtelle? Warum fängſt Du die gebrate¬
nen Vögel nicht auf den Bäumen, warum ſuchſt
Du die leckeren Mäuschen nicht in den Berghöhlen?
Warum fiſcheſt Du nicht mehr in dem See?
Warum pflegſt Du Dich nicht? Warum ſchläfſt
Du nicht auf dem Kiſſen? Warum ſtrapazirſt
Du Dich und wirſt mir nicht fett?« »Ei, Herr
Pineiß! ſagte Spiegel, weil es mir wohler iſt
auf dieſe Weiſe! Soll ich meine kurze Friſt
nicht auf die Art verbringen, die mir am an¬
Keller, die Leute von Seldwyla. 30[466] genehmſten iſt?« »Wie! rief Pineiß, Du ſollſt
ſo leben, daß Du dick und rund wirſt und nicht
Dich abjagen! Ich merke aber wohl, wo Du
hinauswillſt! Du denkſt mich zu äffen und hin¬
zuhalten, daß ich Dich in Ewigkeit in dieſem
Mittelzuſtande herumlaufen laſſe? Mit nichten
ſoll Dir das gelingen! Es iſt Deine Pflicht,
zu eſſen und zu trinken und Dich zu pflegen,
auf daß Du dick werdeſt und Schmeer bekommſt!
Auf der Stelle entſage daher dieſer hinterliſtigen
und kontraktwidrigen Mäßigkeit, oder ich werde
ein Wörtlein mit Dir ſprechen!«
Spiegel unterbrach ſein behagliches Spinnen,
das er angefangen, um ſeine Faſſung zu be¬
haupten, und ſagte: »Ich weiß kein Sterbens¬
wörtchen davon, daß in dem Contrakt ſteht, ich
ſolle der Mäßigkeit und einem geſunden Lebens¬
wandel entſagen! Wenn der Herr Stadthexenmeiſter
darauf gerechnet hat, daß ich ein fauler Schlem¬
mer ſei, ſo iſt das nicht meine Schuld! Ihr
thut tauſend rechtliche Dinge des Tages, ſo
laſſet dieſes auch noch hinzukommen und uns
beide hübſch in der Ordnung bleiben; denn Ihr
wißt ja wohl, daß Euch mein Schmeer nur
[467] nützlich iſt, wenn er auf rechtliche Weiſe er¬
wachſen!« »Ei du Schwätzer! rief Pineiß er¬
boſ't, willſt Du mich belehren? Zeig' her, wie
weit biſt Du denn eigentlich gediehen, Du Müſ¬
ſiggänger? Vielleicht kann man Dich doch bald
abthun!« Er griff dem Kätzchen an den Bauch;
allein dieſes fühlte ſich dadurch unangenehm ge¬
kitzelt und hieb dem Hexenmeiſter einen ſcharfen
Kratz über die Hand. Dieſen betrachtete Pi¬
neiß aufmerkſam, dann ſprach er: »Stehen wir
ſo miteinander, du Beſtie? Wohlan, ſo erkläre
ich Dich hiermit feierlich, kraft des Vertrages,
für fett genug! Ich begnüge mich mit dem Er¬
gebniß und werde mich deſſelben zu verſichern
wiſſen! In fünf Tagen iſt der Mond voll, und
bis dahin magſt Du Dich noch Deines Lebens
erfreuen, wie es geſchrieben ſteht, und nicht eine
Minute länger!« Damit kehrte er ihm den
Rücken und überließ ihn ſeinen Gedanken.
Dieſe waren jetzt ſehr bedenklich und düſter;
ſo war denn die Stunde doch nahe, wo der
gute Spiegel ſeine Haut laſſen ſollte? Und war
mit aller Klugheit gar nichts mehr zu machen?
Seufzend ſtieg er auf das hohe Dach, deſſen
30 *[468] Firſte dunkel in den ſchönen Herbſtabendhimmel
emporragten. Da ging der Mond über der
Stadt auf und warf ſeinen Schein auf die
ſchwarzen bemooſten Hohlziegel des alten Da¬
ches, ein lieblicher Geſang tönte in Spiegels
Ohren und eine ſchneeweiße Kätzin wandelte
glänzend über einen benachbarten Firſt weg.
Sogleich vergaß Spiegel die Todesausſichten, in
welchen er lebte, und erwiederte mit ſeinem ſchön¬
ſten Katerliede den Lobgeſang der Schönen. Er
eilte ihr entgegen und war bald im hitzigen
Gefecht mit drei fremden Katern begriffen, die
er muthig und wild in die Flucht ſchlug. Dann
machte er der Dame feurig und ergeben den
Hof und brachte Tag und Nacht bei ihr zu,
ohne an den Pineiß zu denken oder im Hauſe
ſich ſehen zu laſſen. Er ſang wie eine Nach¬
tigall die ſchönen Mondnächte hindurch, jagte
hinter der weißen Geliebten her über die Dä¬
cher, durch die Gärten, und rollte mehr als
einmal im heftigen Minneſpiel oder im Kampfe
mit den Rivalen über hohe Dächer hinunter und
fiel auf die Straße; aber nur um ſich aufzu¬
raffen, das Fell zu ſchütteln und die wilde Jagd
[469] ſeiner Leidenſchaften von Neuem anzuheben. Stille
und laute Stunden, ſüße Gefühle und zorniger
Streit, anmuthiges Zwiegeſpräch, witziger Ge¬
dankenaustauſch, Ränke und Schwänke der Liebe
und Eiferſucht, Liebkoſungen und Raufereien, die
Gewalt des Glückes und die Leiden des Un¬
ſterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu ſich
ſelbſt kommen, und als die Scheibe des Mondes
voll ward, war er von allen dieſen Aufregungen
und Leidenſchaften ſo heruntergekommen, daß er
jämmerlicher, magerer und zerzauſter ausſah,
als je. Im ſelben Augenblicke rief ihm Pineiß
aus einem Dachthürmchen: »Spiegelchen, Spie¬
gelchen! Wo biſt Du? Komm doch ein Bischen
nach Hauſe!«
Da ſchied Spiegel von der weißen Freun¬
din, welche zufrieden und kühl miauend ihrer
Wege ging und wandte ſich ſtolz ſeinem Henker
zu. Dieſer ſtieg in die Küche hinunter, raſchelte
mit dem Contract und ſagte: »Komm Spiegel¬
chen, komm Spiegelchen!« und Spiegel folgte ihm
und ſetzte ſich in der Hexenküche trotzig vor den
Meiſter hin in all' ſeiner Magerkeit und Zer¬
zauſ'theit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er ſo
[470] ſchmählich um ſeinen Gewinn gebracht war, ſprang
er wie beſeſſen in die Höhe und ſchrie wüthend:
»Was ſeh' ich? Du Schelm, Du gewiſſenloſer
Spitzbube! Was haſt Du mir gethan?« Außer
ſich vor Zorn griff er nach einem Beſen und
wollte Spiegelein ſchlagen; aber dieſer krümmte
den ſchwarzen Rücken, ließ die Haare empor
ſtarren, daß ein fahler Schein darüber kniſterte,
legte die Ohren zurück, pruſtete und funkelte den
Alten ſo grimmig an, daß dieſer voll Furcht
und Entſetzen drei Schritt zurück ſprang. Er begann
zu fürchten, daß er einen Hexenmeiſter vor ſich habe,
welcher ihn foppe und mehr könne, als er ſelbſt.
Ungewiß und kleinlaut ſagte er: »Iſt der ehr¬
ſame Herr Spiegel vielleicht vom Handwerk?
Sollte ein gelehrter Zaubermeiſter beliebt haben,
ſich in dero äußere Geſtalt zu verkleiden, da er
nach Gefallen über ſein Leibliches gebieten und
genau ſo beleibt werden kann, als es ihm an¬
genehm dünkt, nicht zu wenig und nicht zu viel,
oder unverſehens ſo mager wird, wie ein Ge¬
rippe, um dem Tode zu entſchlüpfen?«
Spiegel beruhigte ſich wieder und ſprach
ehrlich: »Nein, ich bin kein Zauberer! Es iſt
[471] allein die ſüße Gewalt der Leidenſchaft, welche
mich ſo heruntergebracht und zu meinem Ver¬
gnügen Euer Fett dahin genommen hat. Wenn
wir übrigens jetzt unſer Geſchäft von Neuem
beginnen wollen, ſo will ich tapfer dabei ſein
und drein beißen! Setzt mir nur eine recht
ſchöne und große Bratwurſt vor, denn ich bin
ganz erſchöpft und hungrig!« Da packte Pi¬
neiß den Spiegel wüthend am Kragen, ſperrte
ihn in den Gänſeſtall, der immer leer war, und
ſchrie: »Da ſieh zu, ob Dir Deine ſüße Ge¬
walt der Leidenſchaft noch einmal heraushilft
und ob ſie ſtärker iſt, als die Gewalt der Hexe¬
rei und meines rechtlichen Vertrages! Jetzt
heißt's: Vogel friß und ſtirb!« Sogleich briet
er eine lange Wurſt, die ſo lecker duftete, daß
er ſich nicht enthalten konnte, ſelbſt ein Bischen
an beiden Zipfeln zu ſchlecken, ehe er ſie durch
das Gitter ſteckte. Spiegel fraß ſie von vorn
bis hinten auf, und indem er ſich behaglich den
Schnurrbart putzte und den Pelz leckte, ſagte er
zu ſich ſelber: »Meiner Seel! es iſt doch eine
ſchöne Sache um die Liebe! Die hat mich für
diesmal wieder aus der Schlinge gezogen. Jetzt
[472] will ich mich ein wenig ausruhen und trachten,
daß ich durch Beſchaulichkeit und gute Nahrung
wieder zu vernünftigen Gedanken komme! Alles
hat ſeine Zeit! Heute ein Bischen Leidenſchaft,
morgen ein wenig Beſonnenheit und Ruhe, iſt
jedes in ſeiner Weiſe gut. Dies Gefängniß
iſt gar nicht ſo übel und es läßt ſich gewiß
etwas Erſprießliches darin ausdenken!« Pineiß
aber nahm ſich nun zuſammen und bereitete alle
Tage mit aller ſeiner Kunſt ſolche Leckerbiſſen,
und in ſolch reizender Abwechslung und Zuträg¬
lichkeit, daß der gefangene Spiegel denſelben
nicht widerſtehen konnte; denn Pineißens Vor¬
rath an freiwilligem und rechtmäßigem Katzen¬
ſchmeer nahm alle Tage mehr ab und drohte
nächſtens ganz auszugehen, und dann war der
Hexer ohne dies Hauptmittel ein geſchlagener
Mann. Aber der gute Hexenmeiſter nährte mit
dem Leibe Spiegels deſſen Geiſt immer wieder
mit, und es war durchaus nicht von dieſer un¬
bequemen Zuthat loszukommen, weshalb auch
ſeine Hexerei ſich hier als lückenhaft erwies.
Als Spiegel in ſeinem Käfig ihm endlich
fett genug dünkte, ſäumte er nicht länger, ſon¬
[473] dern ſtellte vor den Augen des aufmerkſamen
Katers alle Geſchirre zurecht und machte ein
helles Feuer auf dem Heerd, um den lang er¬
ſehnten Gewinn auszukochen. Dann wetzte er
ein großes Meſſer, öffnete den Kerker, zog Spie¬
gelchen hervor, nachdem er die Küchenthüre wohl
verſchloſſen, und ſagte wohlgemuth: »Komm, Du
Sapperlöter! wir wollen Dir den Kopf abſchnei¬
den vor der Hand, und dann das Fell abzie¬
hen! Dieſes wird eine warme Mütze für mich
geben, woran ich Einfältiger noch gar nicht ge¬
dacht habe! Oder ſoll ich Dir erſt das Fell ab¬
ziehen und dann den Kopf abſchneiden?« »Nein,
wenn es Euch gefällig iſt, ſagte Spiegel de¬
müthig, lieber zuerſt den Kopf abſchneiden!«
»Haſt Recht, Du armer Kerl!« ſagte Herr Pi¬
neiß, »wir wollen Dich nicht unnütz quälen!
Alles was Recht iſt!« »Dies iſt ein wahres
Wort!« ſagte Spiegel mit einem erbärmlichen
Seufzer und legte das Haupt ergebungsvoll auf
die Seite, »o hätt' ich doch jederzeit gethan,
was Recht iſt, und nicht eine ſo wichtige Sache
leichtſinnig unterlaſſen, ſo könnte ich jetzt mit
beſſerem Gewiſſen ſterben, denn ich ſterbe gern;
[474] aber ein Unrecht erſchwert mir den ſonſt ſo will¬
kommenen Tod, denn was bietet mir das Le¬
ben? Nichts als Furcht, Sorge und Armuth
und zur Abwechslung einen Sturm verzehrender
Leidenſchaft, die noch ſchlimmer iſt, als die
ſtille zitternde Furcht!« »Ei, welches Unrecht,
welche wichtige Sache?« fragte Pineiß neugierig.
»Ach, was hilft das Reden jetzt noch, ſeufzte
Spiegel, geſchehen iſt geſchehen und jetzt iſt
Reue zu ſpät!« »Siehſt Du Sappermenter, was
für ein Sünder Du biſt?« ſagte Pineiß, »und
wie wohl Du Deinen Tod verdienſt? Aber
was Tauſend haſt Du denn angeſtellt? Haſt
Du mir vielleicht etwas entwendet, entfremdet,
verdorben? Haſt Du mir ein himmelſchreiendes
Unrecht gethan, von dem ich noch gar nichts
weiß, ahne, vermuthe, Du Satan? Das ſind
mir ſchöne Geſchichten! Gut, daß ich noch da¬
hinter komme! Auf der Stelle beichte mir, oder
ich ſchinde und ſiede Dich lebendig aus? Wirſt
Du ſprechen oder nicht?« »Ach nein!« ſagte
Spiegel, »wegen Euch habe ich mir nichts vor¬
zuwerfen. Es betrifft die zehntauſend Goldgülden
meiner ſeligen Gebieterin — aber was hilft
[475] Reden! — Zwar — wenn ich bedenke und
Euch anſehe, ſo möchte es vielleicht doch nicht
ganz zu ſpät ſein — wenn ich Euch betrachte,
ſo ſehe ich, daß Ihr ein noch ganz ſchöner und
rüſtiger Mann ſeid, in den beſten Jahren —
ſagt doch, Herr Pineiß! Habt Ihr noch nie etwa
den Wunſch verſpürt, Euch zu verehlichen, ehr¬
bar und vortheilhaft? Aber was ſchwatze ich!
Wie wird ein ſo kluger und kunſtreicher Mann
auf dergleichen müſſige Gedanken kommen! Wie
wird ein ſo nützlich beſchäftigter Meiſter an thö¬
richte Weiber denken! Zwar allerdings hat auch
die Schlimmſte noch irgend was an ſich, was
etwa nützlich für einen Mann iſt, das iſt nicht
abzuleugnen! Und wenn ſie nur halbwegs was
taugt, ſo iſt eine gute Hausfrau etwa weiß am
Leibe, ſorgfältig im Sinne, zuthulich von Sitten,
treu von Herzen, ſparſam im Verwalten, aber
verſchwenderiſch in der Pflege ihres Mannes,
kurzweilig in Worten und angenehm in ihren
Thaten, einſchmeichelnd in ihren Handlungen!
Sie küßt den Mann mit ihrem Munde und
ſtreichelt ihm den Bart, ſie umſchließt ihn mit
ihren Armen und kraut ihm hinter den Ohren,
[476] wie er es wünſcht, kurz, ſie thut tauſend Dinge,
die nicht zu verwerfen ſind. Sie hält ſich ihm
ganz nah zu oder in beſcheidener Entfernung, je
nach ſeiner Stimmung, und wenn er ſeinen Ge¬
ſchäften nachgeht, ſo ſtört ſie ihn nicht, ſondern
verbreitet unterdeſſen ſein Lob in und außer dem
Hauſe; denn ſie läßt nichts an ihn kommen
und rühmt Alles, was an ihm iſt! Aber das
Anmuthigſte iſt die wunderbare Beſchaffenheit
ihres zarten leiblichen Daſeins, welches die Na¬
tur ſo verſchieden gemacht hat von unſerm We¬
ſen bei anſcheinender Menſchenähnlichkeit, daß
es ein fortwährendes Meerwunder in einer glück¬
haften Ehe bewirkt und eigentlich die allerdurch¬
triebenſte Hexerei in ſich birgt! Doch was ſchwatze
ich da wie ein Thor an der Schwelle des To¬
des! Wie wird ein weiſer Mann auf dergleichen
Eitelkeiten ſein Augenmerk richten! Verzeiht, Herr
Pineiß, und ſchneidet mir den Kopf ab!«
Pineiß aber rief heftig: »So halt doch end¬
lich inne, Du Schwätzer! und ſage mir: Wo
iſt eine Solche und hat ſie zehntauſend Gold¬
gülden?«
»Zehntauſend Goldgülden?« ſagte Spiegel.
[477]
»Nun ja, rief Pineiß ungeduldig, ſpracheſt
Du nicht eben erſt davon?«
»Nein, antwortete Jener, das iſt eine an¬
dere Sache! Die liegen vergraben an einem
Orte!«
»Und was thun ſie da, wem gehören ſie?«
ſchrie Pineiß.
»Niemand gehören ſie, das iſt eben meine
Gewiſſensbürde, doch ich hätte ſie unterbringen
ſollen! Eigentlich gehören ſie Jenem, der eine
ſolche Perſon heirathet, wie ich eben beſchrieben
habe. Aber wie ſoll man drei ſolche Dinge zu¬
ſammenbringen in dieſer gottloſen Stadt. Zehn¬
tauſend Goldgülden, eine weiße, feine und gute
Hausfrau, und einen weiſen rechtſchaffenen Mann?
Daher iſt eigentlich meine Sünde nicht allzugroß,
denn der Auftrag war zu ſchwer für eine arme
Katze!«
»Wenn Du jetzt, rief Pineiß, nicht bei der
Sache bleibſt, und ſie verſtändlich der Ordnung
nach darthuſt, ſo ſchneide ich Dir vorläufig den
Schwanz und beide Ohren ab! Jetzt fang an!«
»Da Ihr es befehlt, ſo muß ich die Sache
wohl erzählen,« ſagte Spiegel und ſetzte ſich ge¬
[478] laſſen auf ſeine Hinterfüße, »obgleich dieſer Auf¬
ſchub meine Leiden nur vergrößert!« Pineiß
ſteckte das ſcharfe Meſſer zwiſchen ſich und Spie¬
gel in die Diele und ſetzte ſich neugierig auf
ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr
fort:
»Ihr wiſſet doch, Herr Pineiß, daß die
brave Perſon, meine ſelige Meiſterin, unverhei¬
rathet geſtorben iſt als eine alte Jungfer, die
in aller Stille viel Gutes gethan und Nieman¬
den zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war
es um ſie her ſo ſtill und ruhig zugegangen,
und obgleich ſie niemals von böſem Gemüth
geweſen, ſo hatte ſie doch einſt viel Leid und
Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war
ſie das ſchönſte Fräulein weit und breit, und
was von jungen Herren und kecken Geſellen in
der Gegend war oder des Weges kam, verliebte
ſich in ſie und wollte ſie durchaus heirathen.
Nun hatte ſie wohl große Luſt, zu heirathen,
und einen hübſchen, ehrenfeſten und klugen Mann
zu nehmen und ſie hatte die Auswahl, da ſich
Einheimiſche und Fremde um ſie ſtritten und
einander mehr als ein Mal die Degen in den
[479] Leib rannten, um den Vorrang zu gewinnen.
Es bewarben ſich um ſie und verſammelten ſich
kühne und verzagte, liſtige und treuherzige, reiche
und arme Freier, ſolche mit einem guten und
anſtändigen Geſchäft, und ſolche, welche als Ka¬
valiere zierlich von ihren Renten lebten; dieſer
mit dieſen, jener mit jenen Vorzügen, beredt
oder ſchweigſam, der Eine munter und liebens¬
würdig, und ein Anderer ſchien es mehr in ſich
zu haben, wenn er auch etwas einfältig ausſah;
kurz, das Fräulein hatte eine ſo vollkommene
Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer
ſich nur wünſchen kann. Allein ſie beſaß außer
ihrer Schönheit ein ſchönes Vermögen von vie¬
len tauſend Goldgülden und dieſe waren die
Urſache, daß ſie nie dazu kam, eine Wahl tref¬
fen und einen Mann nehmen zu können, denn
ſie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umſicht
und Klugheit und legte einen großen Werth auf
daſſelbe, und da nun der Menſch immer von
ſeinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt,
ſo geſchah es, daß ſie, ſobald ſich ihr ein ach¬
tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs
gefiel, alſobald ſich einbildete, derſelbe begehre
[480] ſie nur um ihres Gutes willen. War einer
reich, ſo glaubte ſie, er würde ſie doch nicht be¬
gehren, wenn ſie nicht auch reich wäre, und von
den Unbemittelten nahm ſie vollends als gewiß
an, daß ſie nur ihre Goldgülden im Auge hät¬
ten und ſich daran gedächten gütlich zu thun,
und das arme Fräulein, welches doch ſelbſt
ſo große Dinge auf den irdiſchen Beſitz hielt,
war nicht im Stande, dieſe Liebe zu Geld und
Gut an ihren Freiern von der Liebe zu ihr
ſelbſt zu unterſcheiden, oder, wenn ſie wirklich
etwa vorhanden war, dieſelbe nachzuſehen und
zu verzeihen. Mehrere Male war ſie ſchon ſo
gut wie verlobt und ihr Herz klopfte endlich
ſtärker; aber plötzlich glaubte ſie aus irgend ei¬
nem Zuge zu entnehmen, daß ſie verrathen ſei
und man einzig an ihr Vermögen denke, und ſie
brach unverweilt die Geſchichte entzwei und zog
ſich voll Schmerzen, aber unerbittlich zurück.
Sie prüfte Alle, welche ihr nicht mißfielen, auf
hundert Arten, ſo daß eine große Gewandtheit
dazu gehörte, nicht in die Falle zu gehen, und
zuletzt Keiner mehr ſich mit einiger Hoffnung
nähern konnte, als wer ein durchaus geriebener
[481] und verſtellter Menſch war, ſo daß ſchon aus
dieſen Gründen endlich die Wahl wirklich ſchwer
wurde, weil ſolche Menſchen dann zuletzt doch eine
unheimliche Unruhe erwecken und die peinlichſte
Ungewißheit bei einer Schönen zurücklaſſen, je
geriebener und geſchickter ſie ſind. Das Haupt¬
mittel, ihre Anbeter zu prüfen, war, daß ſie
ihre Uneigennützigkeit auf die Probe ſtellte und
ſie alle Tage zu großen Ausgaben, zu reichen
Geſchenken und zu wohlthätigen Handlungen ver¬
anlaßte. Aber ſie mochten es machen, wie ſie
wollten, ſo trafen ſie doch nie das Rechte; denn
zeigten ſie ſich freigebig und aufopfernd, gaben
ſie glänzende Feſte, brachten ſie ihr Geſchenke
dar, oder anvertrauten ihr beträchtliche Gelder
für die Armen, ſo ſagte ſie plötzlich, dies Alles
geſchehe nur, um mit einem Würmchen den Lachs
zu fangen, oder mit der Wurſt nach der Speck¬
ſeite zu werfen, wie man zu ſagen pflegt. Und
ſie vergabte die Geſchenke ſowohl wie das an¬
vertraute Geld an Klöſter und milde Stiftungen
und ſpeiſete die Armen; aber die betrogenen
Freier wies ſie unbarmherzig ab. Bezeigten ſich
dieſelben aber zurückhaltend oder gar knauſerig,
Keller, die Leute von Seldwyla. 31[482] ſo war der Stab ſogleich über ſie gebrochen, da
ſie das noch viel übler nahm und daran eine
ſchnöde und nackte Rückſichtsloſigkeit und Ei¬
genliebe zu erkennen glaubte. So kam es,
daß ſie, welche ein reines und nur ihrer Perſon
hingegebenes Herz ſuchte, zuletzt von lauter ver¬
ſtellten, liſtigen und eigenſüchtigen Freiersleuten
umgeben war, aus denen ſie nie klug wurde
und die ihr das Leben verbitterten. Eines Ta¬
ges fühlte ſie ſich ſo mißmuthig und troſtlos,
daß ſie ihren ganzen Hof aus dem Hauſe wies,
daſſelbe zuſchloß und nach Mailand verreiſ’te,
wo ſie eine Baſe hatte. Als ſie über den St.
Gotthard ritt auf einem Eſelein, war ihre Ge¬
ſinnung ſo ſchwarz und ſchaurig, wie das wilde
Geſtein, das ſich aus den Abgründen empor
thürmte, und ſie fühlte die heftigſte Verſuchung,
ſich von der Teufelsbrücke in die tobenden Ge¬
wäſſer der Reuß hinabzuſtürzen. Nur mit der
größten Mühe gelang es den zwei Mägden,
die ſie bei ſich hatte, und die ich ſelbſt noch
gekannt habe, welche aber nun ſchon lange todt
ſind, und dem Führer, ſie zu beruhigen und von
der finſtern Anwandlung abzubringen. Doch
[483] langte ſie bleich und traurig in dem ſchönen
Land Italien an, und ſo blau dort der Himmel
war, wollten ſich ihre dunklen Gedanken doch
nicht aufhellen. Aber als ſie einige Tage bei
ihrer Baſe verweilt, ſollte unverhofft eine andere
Melodie ertönen und ein Frühlingsanfang in ihr
aufgehen, von dem ſie bis dato noch nicht viel
gewußt. Denn es kam ein junger Landsmann
in das Haus der Baſe, der ihr gleich beim er¬
ſten Anblick ſo wohl gefiel, daß man wohl ſagen
kann, ſie verliebte ſich jetzt von ſelbſt und zum
erſten Mal. Es war ein ſchöner Jüngling, von
guter Erziehung und edlem Benehmen, nicht
arm und nicht reich zur Zeit, denn er hatte
nichts als zehntauſend Goldgulden, welche er
von ſeinen verſtorbenen Ältern ererbt und wo¬
mit er, da er die Kaufmannſchaft erlernt hatte,
in Mailand einen Handel mit Seide begründen
wollte, denn er war unternehmend und klar von
Gedanken und hatte eine glückliche Hand, wie
es unbefangene und unſchuldige Leute oft haben;
denn auch dies war der junge Mann; er ſchien,
ſo wohlgelehrt er war, doch ſo arglos und un¬
ſchuldig wie ein Kind. Und obgleich er ein
31*[484] Kaufmann war und ein ſo unbefangenes Ge¬
müth, was ſchon zuſammen eine köſtliche Sel¬
tenheit iſt, ſo war er doch feſt und ritterlich in
ſeiner Haltung und trug ſein Schwert ſo keck
zur Seite, wie nur ein geübter Kriegsmann es
tragen kann. Dies Alles, ſowie ſeine friſche
Schönheit und Jugend bezwängen das Herz des
Fräuleins dermaßen, daß ſie kaum an ſich hal¬
ten konnte und ihn mit großer Freundlichkeit
begegnete. Sie wurde wieder heiter und wenn
ſie dazwiſchen auch traurig war, ſo geſchah dies
in dem Wechſel der Liebesfurcht und Hoffnung,
welche immerhin ein edleres und angenehmeres
Gefühl war, als jene peinliche Verlegenheit in
der Wahl, welche ſie früher unter den vielen
Freiern empfunden. Jetzt kannte ſie nur eine
Mühe und Beſorgniß, diejenige nämlich, dem
ſchönen und guten Jüngling zu gefallen, und
je ſchöner ſie ſelbſt war, deſto demüthiger und
unſicherer war ſie jetzt, da ſie zum erſten Male
eine wahre Neigung gefaßt hatte. Aber auch
der junge Kaufmann hatte noch nie eine ſolche
Schönheit geſehen, oder war wenigſtens noch
keiner ſo nahe geweſen und von ihr ſo freund¬
[485] lich und artig behandelt worden. Da ſie nun,
wie geſagt, nicht nur ſchön, ſondern auch gut
von Herzen und fein von Sitten war, ſo iſt es
nicht zu verwundern, daß der offene und friſche
Jüngling, deſſen Herz noch ganz frei und uner¬
fahren war, ſich ebenfalls in ſie verliebte und
das mit aller Kraft und Rückhaltloſigkeit, die in
ſeiner ganzen Natur lag. Aber vielleicht hätte
das nie Jemand erfahren, wenn er in ſeiner
Einfalt nicht aufgemuntert worden wäre durch
des Fräuleins Zuthulichkeit, welche er mit heim¬
lichem Zittern und Zagen für eine Erwiederung
ſeiner Liebe zu halten wagte, da er ſelber keine Ver¬
ſtellung kannte. Doch bezwang er ſich einige Wochen
und glaubte die Sache zu verheimlichen; aber
Jeder ſah ihm von Weitem an, daß er zum Sterben
verliebt war, und wenn er irgend in die Nähe
des Fräuleins gerieth oder ſie nur genannt wurde,
ſo ſah man auch gleich, in wen er verliebt
war. Er war aber nicht lange verliebt, ſondern
begann wirklich zu lieben mit aller Heftigkeit
ſeiner Jugend, ſo daß ihm das Fräulein das
Höchſte und Beſte auf der Welt wurde, an
welches er ein für allemal das Heil und den
[486] ganzen Werth ſeiner eigenen Perſon ſetzte. Dies
gefiel ihr über die Maßen wohl; denn es
war in allem, was er ſagte oder that, eine
andere Art, als ſie bislang erfahren und dies
beſtärkte und rührte ſie ſo tief, daß ſie nun
gleichermaßen der ſtärkſten Liebe anheim fiel
und nun nicht mehr von einer Wahl für ſie
die Rede war. Jedermann ſah dieſe Geſchichte
ſpielen und es wurde offen darüber geſprochen
und vielfach geſcherzt. Dem Fräulein war es
höchlich wohl dabei, und indem ihr das Herz
vor banger Erwartung zerſpringen wollte, half
ſie den Roman von ihrer Seite doch ein wenig
verwickeln und ausſpinnen, um ihn recht aus¬
zukoſten und zu genießen. Denn der junge
Mann beging in ſeiner Verwirrung ſo köſtliche
und kindliche Dinge, dergleichen ſie niemals er¬
fahren, und für ſie ein Mal ſchmeichelhafter und
angenehmer waren, als das andere. Er aber in
ſeiner Gradheit und Ehrlichkeit konnte es nicht
lange ſo aushalten; da Jeder darauf anſpielte
und ſich einen Scherz erlaubte, ſo ſchien es ihm
eine Komödie zu werden, als deren Gegenſtand
ihm ſeine Geliebte viel zu gut und heilig war,
[487] und was ihr ausnehmend behagte, das machte
ihn bekümmert, ungewiß und verlegen um ſie
ſelber. Auch glaubte er ſie zu beleidigen und
zu hintergehen, wenn er da lange eine ſo heftige
Leidenſchaft zu ihr herumtrüge und unaufhörlich
an ſie denke, ohne daß ſie eine Ahnung davon
habe, was doch gar nicht ſchicklich ſei und ihm
ſelber nicht recht! Daher ſah man ihm eines
Morgens von Weitem an, daß er etwas vor¬
hatte und er bekannte ihr ſeine Liebe in einigen
Worten, um es Ein Mal und nie zum zweiten
Mal zu ſagen, wenn er nicht glücklich ſein ſollte.
Denn er war nicht gewohnt zu denken, daß ein
ſolches ſchönes und wohlbeſchaffenes Fräulein
etwa nicht ihre wahre Meinung ſagen und nicht
auch gleich zum erſten Mal ihr unwiderrufliches
Ja oder Nein erwiedern ſollte. Er war eben
ſo zart geſinnt, als heftig verliebt, eben ſo
ſpröde als kindlich und eben ſo ſtolz als unbe¬
fangen, und bei ihm galt es gleich auf Tod
und Leben, auf Ja oder Nein, Schlag um Schlag.
In demſelben Augenblicke aber, in welchem das
Fräulein ſein Geſtändniß anhörte, das ſie ſo
ſehnlich erwartet, überfiel ſie ihr altes Mißtrauen
[488] und es fiel ihr zur unglücklichen Stunde ein,
daß ihr Liebhaber ein Kaufmann ſei, welcher
am Ende nur ihr Vermögen zu erlangen wün¬
ſche, um ſeine Unternehmungen zu erweitern.
Wenn er daneben auch ein wenig in ihre Perſon
verliebt ſein ſollte, ſo wäre ja das bei ihrer
Schönheit kein ſonderliches Verdienſt und nur
um ſo empörender, wenn ſie eine bloße wünſch¬
bare Zugabe zu ihrem Golde vorſtellen ſollte.
Anſtatt ihm daher ihre Gegenliebe zu geſtehen
und ihn wohl aufzunehmen, wie ſie am liebſten
gethan hätte, erſann ſie auf der Stelle eine
neue Liſt, um ſeine Hingebung zu prüfen, und
nahm eine ernſte, faſt traurige Miene an, in¬
dem ſie ihm vertraute, wie ſie bereits mit
einem jungen Mann verlobt ſei in ihrer Hei¬
mat, welchen ſie auf das Allerherzlichſte liebe.
Sie habe ihm das ſchon mehrmals mittheilen
wollen, da ſie ihn, den Kaufmann nämlich,
als Freund ſehr lieb habe, wie er wohl habe
ſehen können aus ihrem Benehmen, und ſie ver¬
traue ihm wie einem Bruder. Aber die unge¬
ſchickten Scherze, welche in der Geſellſchaft auf¬
gekommen ſeien, hätten ihr eine vertrauliche
[489] Unterhaltung erſchwert; da er nun aber ſelbſt
ſie mit ſeinem braven und edlen Herzen über¬
raſcht und daſſelbe vor ihr aufgethan, ſo könne
ſie ihm für ſeine Neigung nicht beſſer danken,
als in dem ſie ihm eben ſo offen ſich anvertraue.
Ja, fuhr ſie fort, nur demjenigen könne ſie an¬
gehören, welchen ſie einmal erwählt habe, und
nie würde es ihr möglich ſein, ihr Herz einem
anderen Mannesbilde zuzuwenden, dies ſtehe mit
goldenem Feuer in ihrer Seele geſchrieben und
der liebe Mann wiſſe ſelbſt nicht, wie lieb er
ihr ſei, ſo wohl er ſie auch kenne! Aber ein
trüber Unſtern hätte ſie betroffen; ihr Bräutigam
ſei ein Kaufmann, aber ſo arm wie eine Maus;
darum hätten ſie den Plan gefaßt, daß er aus
den Mitteln der Braut einen Handel begründen
ſolle; der Anfang ſei gemacht und Alles auf
das Beſte eingeleitet, die Hochzeit ſollte in die¬
ſen Tagen gefeiert werden, da wollte ein un¬
verhofftes Mißgeſchick, daß ihr ganzes Vermögen
plötzlich ihr angetaſtet und abgeſtritten wurde
und vielleicht für immer verloren gehe, während
der arme Bräutigam in nächſter Zeit ſeine erſten
Zahlungen zu leiſten habe an die Mailänder
[490] und Venetianiſchen Kaufleute, worauf ſein ganzer
Credit, ſein Gedeihen und ſeine Ehre beruhe,
nicht zu ſprechen von ihrer Vereinigung und
glücklichen Hochzeit! Sie ſei in der Eile nach
Mailand gekommen, wo ſie begüterte Verwandte
habe, um da Mittel und Auswege zu finden;
aber zu einer ſchlimmen Stunde ſei ſie ge¬
kommen; denn nichts wolle ſich fügen und
ſchicken, während der Tag immer näher rücke,
und wenn ſie ihrem Geliebten nicht helfen könne,
ſo müſſe ſie ſterben vor Traurigkeit. Denn es
ſei der liebſte und beſte Menſch, den man ſich
denken könne, und würde ſicherlich ein großer
Kaufherr werden, wenn ihm geholfen würde,
und ſie kenne kein anderes Glück mehr auf
Erden, als dann deſſen Gemahlin zu ſein! Als
ſie dieſe Erzählung beendet, hatte ſich der arme
ſchöne Jüngling ſchon lange entfärbt und war
bleich wie ein weißes Tuch. Aber er ließ keinen
Laut der Klage vernehmen und ſprach nicht
ein Sterbenswörtchen mehr von ſich ſelbſt und
von ſeiner Liebe, ſondern fragte bloß traurig,
auf wie viel ſich denn die eingegangenen Ver¬
pflichtungen des glücklich unglücklichen Bräutigams
[491] beliefen? Auf zehn tauſend Goldgulden! ant¬
wortete ſie noch viel trauriger. Der junge
traurige Kaufherr ſtand auf, ermahnte das Fräu¬
lein, guten Muthes zu ſein, da ſich gewiß ein
Ausweg zeigen werde, und entfernte ſich von
ihr, ohne daß er ſie anzuſehen wagte, ſo ſehr
fühlte er ſich betroffen und beſchämt, daß er
ſein Auge auf eine Dame geworfen, die ſo treu
und leidenſchaftlich einen Andern liebte. Denn
der Arme glaubte jedes Wort von ihrer Er¬
zählung wie ein Evangelium. Dann begab er
ſich ohne Säumniß zu ſeinen Handelsfreunden
und brachte ſie durch Bitten und Einbüßung einer
gewiſſen Summe dahin, ſeine Beſtellungen und
Einkäufe wieder rückgängig zu machen, welche er
ſelbſt in dieſen Tagen auch grad mit ſeinen
zehntauſend Goldgulden [bezahlen] ſollte und worauf
er ſeine ganze Laufbahn bauete, und ehe ſechs
Stunden verfloſſen waren, erſchien er wieder bei
dem Fräulein mit ſeinem ganzen Beſitzthum und
bat ſie um Gotteswillen dieſe Aushülfe von ihm
annehmen zu wollen. Ihre Augen funkelten
vor freudiger Überraſchung und ihre Bruſt
pochte wie ein Hammerwerk; ſie fragte ihn, wo er
[492] denn dies Capital hergenommen, und er erwiederte,
er habe es auf ſeinen guten Namen geliehen
und würde es, da ſeine Geſchäfte ſich glücklich
wendeten, ohne Unbequemlichkeit zurückerſtatten
können. Sie ſah ihm deutlich an, daß er log
und daß es ſein einziges Vermögen und ganze
Hoffnung war, welche er ihrem Glücke opferte;
doch ſtellte ſie ſich, als glaubte ſie ſeinen Worten.
Sie ließ ihren freudigen Empfindungen freien
Lauf und that grauſamer Weiſe, als ob dieſe
dem Glücke gälten, nun doch ihren Erwählten
retten und heirathen zu dürfen, und ſie konnte
nicht Worte finden, ihre Dankbarkeit auszudrücken.
Doch plötzlich beſann ſie ſich und erklärte, nur
unter Einer Bedingung die großmüthige That
annehmen zu können, da ſonſt Alles Zureden
unnütz wäre. Befragt, worin dieſe Bedingung
beſtehe, verlangte ſie das heilige Verſprechen,
daß er an einem beſtimmten Tage ſich bei ihr
einfinden wolle, um ihrer Hochzeit beizuwohnen
und der beſte Freund und Gönner ihres zu¬
künftigen Ehegemahls zu werden, ſowie der
treuſte Freund, Schützer und Berather ihrer
ſelbſt. Erröthend bat er ſie, von dieſem Be¬
[493] gehren abzuſtehen; aber umſonſt wandte er alle
Gründe an, um ſie davon abzubringen, umſonſt
ſtellte er ihr vor, daß ſeine Angelegenheiten
jetzt nicht erlaubten, nach der Schweiz zurück¬
zureiſen, und daß er von einem ſolchen Abſtecher
einen erheblichen Schaden erleiden würde. Sie
beharrte entſchieden auf ihrem Verlangen und
ſchob ihm ſogar ſein Gold wieder zu, da er ſich
nicht dazu verſtehen wollte. Endlich verſprach
er es, aber er mußte ihr die Hand darauf
geben und es ihr bei ſeiner Ehre und Seligkeit
beſchwören. Sie bezeichnete ihm genau den Tag
und die Stunde, wann er eintreffen ſolle und
alles dies mußte er bei ſeinem Chriſtenglauben
und bei ſeiner Seligkeit beſchwören. Erſt dann
nahm ſie ſein Opfer an und ließ den Schatz
vergnügt in ihre Schlafkammer tragen, wo ſie
ihn eigenhändig in ihrer Reiſetruhe verſchloß
und den Schlüſſel in den Buſen ſteckte. Nun
hielt ſie ſich nicht länger in Mailand auf,
ſondern reiſte eben ſo fröhlich über den Sankt
Gotthard zurück, als ſchwermüthig ſie hergekom¬
men war. Auf der Teufelsbrücke, wo ſie hatte
hinabſpringen wollen, lachte ſie wie eine Unkluge
[494] und warf mit hellem Jauchzen ihrer wohlklin¬
genden Stimme einen Granatblüthenſtrauß in
die Reuß, welchen ſie vor der Bruſt trug, kurz
ihre Luſt war nicht zu bändigen, und es war
die fröhlichſte Reiſe, die je gethan wurde. Heim¬
gekehrt, öffnete und lüftete ſie ihr Haus von
oben bis unten und ſchmückte es, als ob ſie
einen Prinzen erwartete. Aber zu Häupten
ihres Bettes legte ſie den Sack mit den zehn¬
tauſend Goldgulden und legte des Nachts den
Kopf ſo glückſelig auf den harten Klumpen
und ſchlief darauf, wie wenn es das weichſte
Flaumkiſſen geweſen wäre. Kaum konnte ſie
den verabredeten Tag erwarten, wo ſie ihn
ſicher kommen ſah, da ſie wußte, daß er nicht
das einfachſte Verſprechen, geſchweige denn einen
Schwur brechen würde, und wenn es ihm
um das Leben ginge. Aber der Tag brach an
und der Geliebte erſchien nicht und es vergingen
viele Tage und Wochen, ohne daß er von ſich
hören ließ. Da fing ſie an an allen Gliedern
zu zittern und verfiel in die größte Angſt und
Bangigkeit; ſie ſchickte Briefe über Briefe nach
Mailand, aber Niemand wußte ihr zu ſagen,
[495] wo er geblieben ſei. Endlich aber ſtellte es ſich
durch einen Zufall heraus, daß der junge Kauf¬
herr aus einem blutrothen Stück Seidendamaſt,
welches er von ſeinem Handelsanfang her im
Haus liegen und bereits bezahlt hatte, ſich ein
Kriegskleid hatte anfertigen laſſen und unter die
Schweizer gegangen war, welche damals eben
im Solde des Königs Franz von Frankreich den
Mailändiſchen Krieg mitſtritten. Nach der Schlacht
bei Pavia, in welcher ſo viele Schweizer das
Leben verloren, wurde er auf einem Haufen er¬
ſchlagener Spaniolen liegend gefunden von vielen
tödtlichen Wunden zerriſſen und ſein rothes Sei¬
dengewand von unten bis oben zerſchlitzt und
zerfetzt. Eh' er den Geiſt aufgab, ſagte er
einem neben ihm liegenden Seldwyler, der min¬
der übel zugerichtet war, folgende Botſchaft in's
Gedächtniß und bat ihn, dieſelbe auszurichten,
wenn er mit dem Leben davon käme! »Liebſtes
Fräulein! Obgleich ich Euch bei meiner Ehre,
bei meinem Chriſtenglauben und bei meiner Se¬
ligkeit geſchworen habe, auf Euerer Hochzeit zu
erſcheinen, ſo iſt es mir dennoch nicht möglich
geweſen, Euch nochmals zu ſehen und einen
[496] Andern des höchſten Glückes theilhaftig zu erblicken,
das es für mich geben könnte. Dieſes habe ich erſt
in Euerer Abweſenheit verſpürt und habe vor¬
her nicht gewußt, welch' eine ſtrenge und un¬
heimliche Sache es iſt um ſolche Liebe, wie ich
zu Euch habe, ſonſt würde ich mich zweifelsohne
beſſer davor gehütet haben. Da es aber ein¬
mal ſo iſt, ſo wollte ich lieber meiner weltlichen
Ehre und meiner geiſtlichen Seligkeit verloren
und in die ewige Verdammniß eingehen als ein
Meineidiger, denn noch einmal in Euerer Nähe
erſcheinen mit einem Feuer in der Bruſt, wel¬
ches ſtärker und unauslöſchlicher iſt, als das
Höllenfeuer, und mich dieſes kaum wird verſpü¬
ren laſſen. Betet nicht etwa für mich, ſchönſtes
Fräulein, denn ich kann und werde nie ſelig
werden ohne Euch, ſei es hier oder dort, und
ſomit lebt glücklich und ſeid gegrüßt!« So
hatte in dieſer Schlacht, nach welcher König
Franziskus ſagte: »Alles verloren, außer der
Ehre!« der unglückliche Liebhaber alles verloren,
die Hoffnung, die Ehre, das Leben und die
ewige Seligkeit, nur die Liebe nicht, die ihn
verzehrte. Der Seldwyler kam glücklich davon,
[497] und ſobald er ſich in etwas erholt und außer
Gefahr ſah, ſchrieb er die Worte des Umgekom¬
menen getreu auf ſeine Schreibtafel, um ſie
nicht zu vergeſſen, reiſ'te nach Hauſe, meldete
ſich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr
die Botſchaft ſo ſteif und kriegeriſch vor, wie
er zu thun gewohnt war, wenn er ſonſt die
Mannſchaft ſeines Fähnleins verlas; denn es
war ein Feldlieutenant. Das Fräulein aber
zerraufte ſich die Haare, zerriß ihre Kleider
und begann ſo laut zu ſchreien und zu weinen,
daß man es die Straße auf und nieder hörte
und die Leute zuſammenliefen. Sie ſchleppte wie
wahnſinnig die zehntauſend Goldgulden herbei,
zerſtreute ſie auf dem Boden, warf ſich der
Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden
Goldſtücke. Ganz von Sinnen, ſuchte ſie den
umherrollenden Schatz zuſammen zu raffen und zu
umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin
zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf
dem Golde und wollte weder Speiſe noch Trank
zu ſich nehmen; unaufhörlich liebkoſ'te und küßte
ſie das kalte Metall, bis ſie mitten in einer
Nacht plötzlich aufſtand, den Schatz emſig hin
Keller, die Leute von Seldwyla. 32[498] und her eilend nach dem Garten trug und dort
unter bitteren Thränen in den tiefen Brunnen
warf und einen Fluch darüber ausſprach, daß
er niemals Jemand anderm angehören ſolle.«
Als Spiegel ſoweit erzählt hatte, ſagte
Pineiß: »Und liegt das ſchöne Geld noch in
dem Brunnen?« »Ja, wo ſollte es ſonſt liegen?«
antwortete Spiegel, »denn nur ich kann es
herausbringen und habe es bis zur Stunde noch
nicht gethan!« »Ei ja ſo, richtig! ſagte Pineiß,
»ich habe es ganz vergeſſen über Deiner Ge¬
ſchichte! Du kannſt nicht übel erzählen, Du
Sapperlöter! und es iſt mir ganz gelüſtig
worden nach einem Weibchen, die ſo für mich
eingenommen wäre; aber ſehr ſchön müßte ſie
ſein! Doch erzähle jetzt ſchnell noch, wie die
Sache eigentlich zuſammenhängt!« »Es dauerte
manche Jahre, ſagte Spiegel, bis das Fräulein
aus bittern Seelenleiden ſo weit zu ſich kam,
daß ſie anfangen konnte, die ſtille alte Jungfer
zu werden, als welche ich ſie kennen lernte.
Ich darf mich berühmen, daß ich ihr einziger
Troſt und ihr vertrauteſter Freund geworden bin
in ihrem einſamen Leben bis an ihr ſtilles Ende.
[499]
Als ſie aber dieſes herannahen ſah, vergegen¬
wärtigte ſie ſich noch ein Mal die Zeit ihrer
fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch
einmal mit milderen ergebenen Gedanken erſt die
ſüßen Erregungen und dann die bittern Leiden
jener Zeit, und ſie weinte ſtill ſieben Tage und
Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings,
deren Genuß ſie durch ihr Mißtrauen verloren
hatte, ſo daß ihre alten Augen noch kurz vor dem
Tode erblindeten. Dann bereute ſie den Fluch, wel¬
chen ſie über jenen Schatz ausgeſprochen und
ſagte zu mir, indem ſie mich mit dieſer wichtigen
Sache beauftragte: »Ich beſtimme nun anders,
lieber Spiegel! und gebe Dir die Vollmacht,
daß Du meine Verordnung vollzieheſt. Sieh'
Dich um und ſuche, bis Du eine bildſchöne,
aber unbemittelte Frauensperſon findeſt, welcher
es ihrer Armuth wegen an Freiern gebricht!
Wenn ſich dann ein verſtändiger, rechtlicher und
hübſcher Mann finden ſollte, der ſein gutes
Auskommen hat, und die Jungfrau ungeachtet
ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit be¬
wegt, zur Frau begehrt, ſo ſoll dieſer Mann
mit den ſtärkſten Eiden ſich verpflichten, derſelben
[500] ſo treu, aufopfernd und unabänderlich ergeben
zu ſein, wie es mein unglücklicher Liebſter ge¬
weſen iſt, und dieſer Frau ſein Leben lang in
allen Dingen zu willfahren. Dann gieb der
Braut die zehntauſend Goldgulden, welche im
Brunnen liegen, zur Mitgift, daß ſie ihren
Bräutigam am Hochzeitmorgen damit überraſche!
So ſprach die Selige und ich habe meiner wi¬
drigen Geſchicke wegen verſäumt, dieſer Sache
nachzugehen und muß nun befürchten, daß die
Arme deswegen im Grabe noch beunruhigt ſei,
was für mich eben auch nicht die angenehmſten
Folgen haben kann!«
Pineiß ſah den Spiegel mißtrauiſch an und
ſagte: »Wärſt Du wohl im Stande, Bürſchchen!
mir den Schatz ein wenig nachzuweiſen und
augenſcheinlich zu machen?«
»Zu jeder Stunde!« verſetzte Spiegel, »aber
Ihr müßt wiſſen, Herr Stadthexenmeiſter! daß
Ihr das Gold nicht etwa ſo ohne Weiteres
herausfiſchen dürftet. Man würde Euch unfehl¬
bar das Genick umdrehen; denn es iſt nicht
[g]anz geheuer in dem Brunnen, ich habe darüber
[501] beſtimmte Inzichten, welche ich aus Rückſichten
nicht näher berühren darf!«
»Hei, wer ſpricht denn von Herausholen?«
ſagte Pineiß etwas furchtſam, »führe mich ein¬
mal hin und zeige mir den Schatz! Oder viel¬
mehr will ich Dich führen an einem guten
Schnürlein, damit Du mir nicht entwiſcheſt!«
»Wie Ihr wollt!« ſagte Spiegel, »aber nehmt
auch eine andere lange Schnur mit und eine
Blendlaterne, welche Ihr daran in den Brunnen
hinablaſſen könnt; denn der iſt ſehr tief und
dunkel!« Pineiß befolgte dieſen Rath und führte
das muntere Kätzchen nach dem Garten jener
Verſtorbenen. Sie überſtiegen mit einander die
Mauer und Spiegel zeigte dem Hexer den Weg
zu dem alten Brunnen, welcher unter verwildertem
Gebüſche verborgen war. Dort ließ Pineiß ſein
Laternchen hinunter, begierig nachblickend, während
er den angebundenen Spiegel nicht von der Hand
ließ. Aber richtig ſah er in der Tiefe das
Gold funkeln unter dem grünlichen Waſſer und
rief: »Wahrhaftig, ich ſeh's, es iſt wahr!
Spiegel Du biſt ein Tauſendskerl!« Dann
guckte er wieder eifrig hinunter und ſagte: »Mögen
[502] es auch zehntauſend ſein?« »Ja das iſt nun
nicht zu ſchwören! ſagte Spiegel, ich bin nie
da unten geweſen und hab's nicht gezählt! Iſt
auch möglich, daß die Dame dazumal einige
Stücke auf dem Wege verloren hat, als ſie den
Schatz hieher trug, da ſie in einem ſehr auf¬
geregten Zuſtande war.« »Nun, ſeien es auch
ein Dutzend oder mehr weniger!« ſagte Herr
Pineiß, »es ſoll mir darauf nicht ankommen!«
Er ſetzte ſich auf den Rand des Brunnens,
Spiegel ſetzte ſich auch nieder und leckte ſich das
Pfötchen. »Da wäre nun der Schatz!« ſagte
Pineiß, indem er ſich hinter den Ohren kratzte,
»und hier wäre auch der Mann dazu; fehlt
nur noch das bildſchöne Weib!« »Wie?« ſagte
Spiegel. »Ich meine, es fehlt nur noch die¬
jenige, welche die Zehntauſend als Mitgift be¬
kommen ſoll um mich damit zu überraſchen am
Hochzeitmorgen, und welche alle jene angenehmen
Tugenden hat, von denen Du geſprochen!« »Hm!
verſetzte Spiegel, die Sache verhält ſich nicht
ganz ſo, wie Ihr ſagt! Der Schatz iſt da, wie
Ihr richtig einſeht; das ſchöne Weib habe ich,
um es aufrichtig zu geſtehen, allbereits auch
[503] ſchon ausgeſpürt; aber mit dem Mann, der ſie
unter dieſen ſchwierigen Umſtänden heirathen
möchte, da hapert es eben; denn heutzutage
muß die Schönheit obenein vergoldet ſein, wie
die Weihnachtsnüſſe, und je hohler die Köpfe
werden, deſto mehr ſind ſie beſtrebt, die Leere
mit einigem Weibergut nachzufüllen, damit ſie
die Zeit beſſer zu verbringen vermögen; da wird
dann mit wichtigem Geſicht ein Pferd beſehen
und ein Stück Sammet gekauft, mit Laufen und
Rennen eine gute Armbruſt beſtellt, und der
Büchſenſchmied kommt nicht aus dem Hauſe;
da heißt es, ich muß meinen Wein einheimſen
und meine Fäſſer putzen, meine Bäume putzen
laſſen und mein Dach decken! ich muß meine
Frau in's Bad ſchicken, ſie kränkelt und koſtet
mich viel Geld, und muß mein Holz fahren
laſſen und mein Ausſtehendes eintreiben; ich
habe ein Paar Windſpiele gekauft und meine
Bracken vertauſcht, ich habe einen ſchönen eiche¬
nen Ausziehtiſch eingehandelt und meine große
Nußbaumlade dran gegeben; ich habe meine
Bohnenſtangen geſchnitten, meinen Gärtner fort¬
gejagt, mein Heu verkauft und meinen Salat
[504] geſäet, immer mein und mein vom Morgen bis
zu Abend. Manche ſagen ſogar: ich habe meine
Wäſche die nächſte Woche, ich muß meine Bet¬
ten ſonnen, ich muß eine Magd dingen und
einen neuen Metzger haben, denn den alten will
ich abſchaffen; ich habe ein allerliebſtes Waffel¬
eiſen erſtanden, durch Zufall, und habe mein
ſilbernes Zimmetbüchschen verkauft, es war mir
ſo nichts nütze; alles das ſind wohlverſtanden
die Sachen der Frau, und ſo verbringt ein ſol¬
cher Kerl die Zeit und ſtiehlt unſerm Herrgott
den Tag ab, indem er alle dieſe Verrichtungen
aufzählt, ohne einen Streich zu thun. Wenn es
hoch kommt und ein ſolcher Patron ſich etwa
ducken muß, ſo wird er vielleicht ſagen: unſere
Kühe und unſere Schweine, aber — « Pineiß
riß den Spiegel an der Schnur, daß er miau!
ſchrie, und rief: »Genug, Du Plappermaul!
Sag' jetzt unverzüglich: wo iſt ſie, von der Du
weißt?« Denn die Aufzählung aller dieſer Herr¬
lichkeiten und Verrichtungen, die mit einem
Weibergute verbunden ſind, hatte dem dürren
Hexenmeiſter den Mund nur noch wäſſeriger
gemacht. Spiegel ſagte erſtaunt: »Wollt Ihr
[505] denn wirklich das Ding unternehmen, Herr
Pineiß?«
»Verſteht ſich will ich! Wer ſonſt als ich?
Drum heraus damit: wo iſt Diejenige?«
»Damit Ihr hingehen und ſie freien könnt?«
»Ohne Zweifel!« »So wiſſet, die Sache
geht nur durch meine Hand! mit mir müßt Ihr
ſprechen, wenn Ihr Geld und Frau wollt!«
ſagte Spiegel kaltblütig und gleichgültig und
fuhr ſich mit den beiden Pfoten eifrig über die
Ohren, nachdem er ſie jedesmal ein bischen naß
gemacht. Pineiß beſann ſich ſorgfältig, ſtöhnte
ein bischen und ſagte: »Ich merke, Du willſt
unſern Kontrakt aufheben und Deinen Kopf
ſalviren!«
»Schiene Euch das ſo uneben und unnatürlich?«
»Du betrügſt mich am Ende und belügſt
mich, wie ein Schelm!«
»Dieß iſt auch möglich!« ſagte Spiegel.
»Ich ſage Dir: Betrüge mich nicht!« rief
Pineiß gebieteriſch.
»Gut, ſo betrüge ich Euch nicht!« ſagte
Spiegel.
»Wenn Du's thuſt!«
32 *[506] »So thu' ich's.«
»Quäle mich nicht, Spiegelchen!« ſprach
Pineiß beinahe weinerlich, und Spiegel erwiederte
jetzt ernſthaft: »Ihr ſeid ein wunderbarer Menſch,
Herr Pineiß! Da haltet Ihr mich an einer
Schnur gefangen und zerrt daran, daß mir der
Athem vergeht! Ihr laſſet das Schwert des
Todes über mir ſchweben ſeit länger als zwei
Stunden, was ſag' ich! ſeit einem halben Jahre!
und nun ſprecht Ihr: Quäle mich nicht,
Spiegelchen!
Wenn Ihr erlaubt, ſo ſage ich Euch in
Kürze: Es kann mir nur lieb ſein, jene Liebes¬
pflicht gegen die Todte doch noch zu erfüllen
und für das bewußte Frauenzimmer einen taug¬
lichen Mann zu finden und Ihr ſcheint mir allerdings
in aller Hinſicht zu genügen; es iſt keine Leichtig¬
keit, ein Weibſtück wohl unterzubringen, ſo ſehr
dies auch ſcheint, und ich ſage noch einmal:
ich bin froh, daß Ihr euch hierzu bereit finden
laſſet! Aber umſonſt iſt der Tod! Eh' ich ein
Wort weiter ſpreche, einen Schritt thue, ja eh'
ich nur den Mund noch einmal aufmache, will
ich erſt meine Freiheit wieder haben und mein
[507] Leben verſichert! Daher nehmt dieſe Schnur
weg und legt den Kontrakt hier auf den Brun¬
nen, hier auf dieſen Stein, oder ſchneidet mir
den Kopf ab, Eins von Beiden!«
»Ei Du Tollhäusler und Obenhinaus! ſagte
Pineiß, Du Hitzkopf! ſo ſtreng wird es nicht
gemeint ſein? Das will ordentlich beſprochen
ſein und muß jedenfalls ein neuer Vertrag ge¬
ſchloſſen werden!« Spiegel gab keine Antwort
mehr und ſaß unbeweglich da, ein, zwei und
drei Minuten. Da ward dem Meiſter bänglich,
er zog ſeine Brieftaſche hervor, klaubte ſeufzend
den Schein heraus, las ihn noch einmal durch
und legte ihn dann zögernd vor Spiegel hin.
Kaum lag das Papier dort, ſo ſchnappte es
Spiegel auf und verſchlang es; und obgleich
er heftig daran zu würgen hatte, ſo dünkte es
ihn doch die beſte und gedeihlichſte Speiſe zu
ſein, die er je genoſſen, und er hoffte, daß ſie
ihm noch auf lange wohl bekommen und ihn
rundlich und munter machen würde. Als er
mit der angenehmen Mahlzeit fertig war, be¬
grüßte er den Hexenmeiſter höflich und ſagte:
»Ihr werdet unfehlbar von mir hören, Herr
[508] Pineiß, und Weib und Geld ſollen Euch nicht
entgehen. Dagegen macht Euch bereit, recht
verliebt zu ſein, damit Ihr jene Bedingungen
einer unverbrüchlichen Hingebung an die Lieb¬
koſungen Euerer Frau, die ſchon ſo gut wie
Euer iſt, ja beſchwören und erfüllen könnt!
Und hiermit bedanke ich mich des Vorläufigen
für genoſſene Pflege und Beköſtigung und beur¬
laube mich!«
Somit ging Spiegel ſeines Weges und
freute ſich über die Dummheit des Hexenmeiſters,
welcher glaubte ſich ſelbſt und alle Welt betrü¬
gen zu können, indem er ja die gehoffte Braut
nicht uneigennützig, aus bloßer Liebe zur Schön¬
heit ehelichen wollte, ſondern den Umſtand mit
den zehntauſend Goldgulden vorher wußte. In¬
deſſen hatte er ſchon eine Perſon im Auge,
welche er dem thörichten Hexenmeiſter aufzuhalſen
gedachte für ſeine gebratenen Krametsvögel,
Mäuſe und Würſtchen.
Dem Hauſe des Herrn Pineiß gegenüber
war ein anderes Haus, deſſen vordere Seite
auf das ſauberſte geweißt war und deſſen Fen¬
ſter immer friſch gewaſchen glänzten. Die be¬
[509] ſcheidenen Fenſtervorhänge waren immer ſchnee¬
weiß und wie ſo eben geplättet, und eben ſo
weiß war der Habit und das Kopf- und Hals¬
tuch einer alten Beghine, welche in dem Hauſe
wohnte, alſo daß ihr nonnenartiger Kopfputz,
der ihre Bruſt bekleidete, immer wie aus Schreib¬
papier gefaltet ausſah, ſo daß man gleich darauf
hätte ſchreiben mögen; das hätte man wenig¬
ſtens auf der Bruſt bequem thun können, da ſie
ſo eben und ſo hart war wie ein Brett. So
ſcharf die weißen Kanten und Ecken ihrer Klei¬
dung, ſo ſcharf war auch die lange Naſe und
das Kinn der Beghine, ihre Zunge und der
böſe Blick ihrer Augen; doch ſprach ſie nur we¬
nig mit der Zunge und blickte wenig mit den
Augen, da ſie die Verſchwendung nicht liebte
und Alles nur zur rechten Zeit und mit Be¬
dacht verwendete. Alle Tage ging ſie drei Mal
in die Kirche, und wenn ſie in ihrem friſchen,
weißen und knitternden Zeuge und mit ihrer
weißen ſpitzigen Naſe über die Straße ging,
liefen die Kinder furchtſam davon und ſelbſt er¬
wachſene Leute traten gern hinter die Haus¬
thüre, wenn es noch Zeit war. Sie ſtand aber
[510] wegen ihrer ſtrengen Frömmigkeit und Eingezo¬
genheit in großem Rufe und beſonders bei der
Geiſtlichkeit in hohem Anſehen, aber ſelbſt die
Pfaffen verkehrten lieber ſchriftlich mit ihr, als
mündlich, und wenn ſie beichtete, ſo ſchoß der
Pfarrer jedesmal ſo ſchweißtriefend aus dem
Beichtſtuhl heraus, als ob er aus einem Back¬
ofen käme. So lebte die fromme Beghine, die
keinen Spaß verſtand, in tiefem Frieden und
blieb ungeſchoren. Sie machte ſich auch mit
Niemand zu ſchaffen und ließ die Leute gehen,
vorausgeſetzt, daß ſie ihr aus dem Wege gin¬
gen; nur auf ihren Nachbar Pineiß ſchien ſie
einen beſondern Haß geworfen zu haben; denn
ſo oft er ſich an ſeinem Fenſter blicken ließ,
warf ſie ihm einen böſen Blick hinüber und zog
augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und
Pineiß fürchtete ſie wie das Feuer, und wagte
nur zuhinterſt in ſeinem Hauſe, wenn Alles gut
verſchloſſen war, etwa einen Witz über ſie zu
machen. So weiß und hell aber das Haus der
Beghine nach der Straße zu ausſah, ſo ſchwarz
und räucherig, unheimlich und ſeltſam ſah es
von hinten aus, wo es jedoch faſt gar nicht
[511] geſehen werden konnte, als von den Vögeln des
Himmels und den Katzen auf den Dächern, weil
es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen
Brandmauern ohne Fenſter hinein gebaut war,
wo nirgends ein menſchliches Geſicht ſich ſehen
ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zer¬
riſſene Unterröcke, Körbe und Kräuterſäcke, auf
dem Dache wuchſen ordentliche Eibenbäumchen
und Dornſträucher, und ein großer rußiger Schorn¬
ſtein ragte unheimlich in die Luft. Aus dieſem
Schornſtein aber fuhr in der dunklen Nacht
nicht ſelten eine Hexe auf ihrem Beſen in die
Höhe, jung und ſchön und ſplitternackt, wie
Gott die Weiber geſchaffen und der Teufel ſie
gern ſieht. Wenn ſie aus dem Schornſtein fuhr,
ſo ſchnupperte ſie mit dem feinſten Näschen und
mit lächelnden Kirſchenlippen in der friſchen Nacht¬
luft und fuhr in dem weißen Scheine ihres Lei¬
bes dahin, indeß ihr langes rabenſchwarzes Haar
wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In
einem Loch am Schornſtein ſaß ein alter Eulen¬
vogel und zu dieſem begab ſich jetzt der befreite
Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er un¬
terwegs gefangen.
[512]
»Wünſch' guten Abend, liebe Frau Eule!
Eifrig auf der Wacht?« ſagte er und die Eule
erwiederte: »Muß wohl! Wünſch' gleichfalls gu¬
ten Abend! Ihr habt Euch lang nicht ſehen
laſſen, Herr Spiegel!«
»Hat ſeine Gründe gehabt, werde Euch das
erzählen. Hier habe ich Euch ein Mäuschen
gebracht, ſchlecht und recht, wie es die Jahrszeit
giebt, wenn Ihr's nicht verſchmähen wollt! Iſt
die Meiſterin ausgeritten?«
»Noch nicht, ſie will erſt gegen Morgen
auf ein Stündchen hinaus. Habt Dank für die
ſchöne Maus! Seid doch immer der höfliche
Spiegel! Habe hier einen ſchlechten Sperling
zur Seite gelegt, der mir heut zu nahe flog;
wenn Euch beliebt, ſo koſtet den Vogel! Und
wie iſt es Euch denn ergangen?«
»Faſt wunderlich, erwiederte Spiegel, ſie
wollten mir an den Kragen. Hört, wenn es
Euch gefällig iſt.« Während ſie nun vergnüg¬
lich ihr Abendeſſen einnahmen, erzählte Spiegel
der aufmerkſamen Eule Alles, was ihn betroffen
und wie er ſich aus den Händen des Herrn
Pineiß befreit habe. Die Eule ſagte: »Da
[513] wünſch ich tauſendmal Glück, nun ſeid Ihr wie¬
der ein gemachter Mann und könnt gehen, wo
Ihr wollt, nachdem Ihr mancherlei erfahren!«
»Damit ſind wir noch nicht zu Ende, ſagte
Spiegel, der Mann muß ſeine Frau und ſeine
Goldgulden haben!«
»Seid Ihr von Sinnen, dem Schelm noch
wohlzuthun, der Euch das Fell abziehen wollte?«
»Ei, er hat es doch rechtlich und vertrags¬
mäßig thun können, und da ich ihn in gleicher
Münze wieder bedienen kann, warum ſollt' ich
es unterlaſſen? Wer ſagt denn, daß ich ihm
wohl thun will? Jene Erzählung war eine reine
Erfindung von mir, meine in Gott ruhende
Meiſterin war eine ſimple Perſon, welche in ih¬
rem Leben nie verliebt, noch von Anbetern um¬
ringt war, und jener Schatz iſt ein ungerechtes
Gut, das ſie einſt ererbt und in den Brunnen
geworfen hat, damit ſie kein Unglück daran er¬
lebe. »Verflucht ſei, wer es da herausnimmt
und verbraucht« ſagte ſie. »Es macht ſich alſo
in Betreff des Wohlthuns?«
»Dann iſt die Sache freilich anders! Aber
nun, wo wollt Ihr die entſprechende Frau her¬
Keller, die Leute von Seldwyla. 33[514] nehmen?« »Hier aus dieſem Schornſtein! des¬
halb bin ich gekommen, um ein vernünftiges
Wort mit Euch zu reden! Möchtet Ihr denn
nicht einmal wieder frei werden aus den Ban¬
den dieſer Hexe? Sinnt nach, wie wir ſie fan¬
gen und mit dem alten Böſewicht verheirathen!«
»Spiegel, Ihr braucht Euch nur zu nähern,
ſo weckt Ihr mir erſprießliche Gedanken.«
»Das wußt' ich wohl, daß Ihr klug ſeid!
Ich habe das Meinige gethan und es iſt beſſer,
daß Ihr auch Euren Senf dazu gebt und neue
Kräfte vorſpannt, ſo kann es gewiß nicht fehlen!«
»Da alle Dinge ſo ſchön zuſammentreffen,
ſo brauche ich nicht lang zu ſinnen, mein Plan
iſt längſt gemacht!« »Wie fangen wir ſie?«
»Mit einem neuen Schnepfengarn aus guten
ſtarken Hanfſchnüren; geflochten muß es ſein
von einem zwanzigjährigen Jägersſohn, der noch
kein Weib angeſehen hat, und es muß ſchon drei¬
mal der Nachtthau darauf gefallen ſein, ohne
daß ſich eine Schnepfe gefangen; der Grund
aber hiervon muß dreimal eine gute Handlung
ſein. Ein ſolches Netz iſt ſtark genug, die Hexe
zu fangen.«
»Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein ſolches
hernehmt, ſagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr
keine vergeblichen Worte ſchwatzt!«
»Es iſt auch ſchon gefunden, wie für uns
gemacht; in einem Walde nicht weit von hier
ſitzt ein zwanzigjähriger Jägersſohn, welcher noch
kein Weib angeſehen hat; denn er iſt blind ge¬
boren. Deswegen iſt er auch zu Nichts zu ge¬
brauchen, als zum Garnflechten und hat vor
einigen Tagen ein neues, ſehr ſchönes Schne¬
pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der
alte Jäger es zum erſten Male ausſpannen
wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur
Sünde verlocken wollte; es war aber ſo häßlich,
daß der alte Mann voll Schreckens davon lief
und das Garn am Boden liegen ließ. Darum
iſt ein Thau darauf gefallen, ohne daß ſich eine
Schnepfe fing, und war alſo eine gute Hand¬
lung daran Schuld. Als er des andern Tages
hinging, um das Garn abermals auszuſpannen,
kam eben ein Reiter daher, welcher einen ſchwe¬
ren Mantelſack hinter ſich hatte; in dieſem war
ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein
Goldſtück auf die Erde fiel. Da ließ der Jä¬
33 *[516] ger das Garn abermals liegen und lief eifrig
hinter dem Reiter her und ſammelte die Gold¬
ſtücke in ſeinen Hut, bis der Reiter ſich um¬
kehrte, es ſah und voll Grimm ſeine Lanze auf
ihn richtete. Da bückte der Jäger ſich erſchrok¬
ken, reichte ihm den Hut dar und ſagte: Er¬
laubt, gnädiger Herr, Ihr habt hier viel Gold
verloren, das ich Euch ſorgfältig aufgeleſen!
Dies war wiederum eine gute Handlung, indem
das ehrliche Finden eine der ſchwierigſten und
beſten iſt; er war aber ſo weit von dem Schne¬
pfengarn entfernt, daß er es die zweite Nacht
im Walde liegen ließ und den nähern Weg nach
Hauſe ging. Am dritten Tag endlich, welcher
geſtern war, als er eben wieder auf dem Wege
war, traf er eine hübſche Gevattersfrau an, die
dem Alten um den Bart zu gehen pflegte und
der er ſchon manches Häslein geſchenkt hat.
Darüber vergaß er die Schnepfen gänzlich und
ſagte am Morgen: Ich habe den armen Schnepf¬
lein des Leben geſchenkt; auch gegen Thiere muß
man barmherzig ſein! Und um dieſer drei guten
Handlungen willen fand er, daß er jetzt zu gut
ſei für dieſe Welt, und iſt heute Vormittag bei
[517] Zeiten in ein Kloſter gegangen. So liegt das
Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf
es nur holen.« »Holt es geſchwind! ſagte
Spiegel, es wird gut ſein zu unſerm Zweck!«
»Ich will es holen, ſagte die Eule, ſteht nur
ſo lang Wache für mich in dieſem Loch, und
wenn etwa die Meiſterin den Schornſtein hin¬
auf rufen ſollte, ob die Luft rein ſei? ſo ant¬
wortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt:
Nein, es ſtinkt noch nicht in der Fechtſchul'!
Spiegel ſtellte ſich in die Niſche und die Eule
flog ſtill über die Stadt weg nach dem Wald. Bald
kam ſie mit dem Schnepfengarn zurück und
fragte: Hat ſie ſchon gerufen? »Noch nicht!«
ſagte Spiegel.
Da ſpannten ſie das Garn aus über den
Schornſtein und ſetzten ſich daneben ſtill und
klug; die Luft war dunkel und es ging ein
leichtes Morgenwindchen, in welchem ein paar
Sternbilder flackerten. »Ihr ſollt ſehen, flüſterte
die Eule, wie geſchickt die durch den Schornſtein
heraufzuſäuſeln verſteht, ohne ſich die blanken
Schultern ſchwarz zu machen!« »Ich hab ſie
[518] noch nie ſo nah geſehen, erwiederte Spiegel leiſe,
wenn ſie uns nur nicht zu faſſen kriegt!«
Da rief die Hexe von unten: Iſt die Luft
rein? Die Eule rief: »Ganz rein, es ſtinkt
herrlich in der Fechtſchul'! und alſobald kam die
Hexe heraufgefahren und wurde in dem Garne
gefangen, welches die Katze und die Eule eiligſt
zuſammenzogen und verbanden. »Halt feſt!«
ſagte Spiegel, und »Binde gut!« die Eule. Die
Hexe zappelte und tobte mäuschenſtill, wie ein
Fiſch im Netz; aber es half ihr nichts und das
Garn bewährte ſich auf das Beſte. Nur der
Stiel ihres Beſens ragte durch die Maſchen.
Spiegel wollte ihn ſachte herausziehen, erhielt
aber einen ſolchen Naſenſtüber, daß er beinahe
in Ohnmacht fiel und einſah, wie man auch ei¬
ner Löwin im Netz nicht zu nahe kommen dürfe.
Endlich hielt ſich die Hexe ſtill und ſagte: »Was
wollt ihr denn von mir, ihr wunderlichen Thiere?«
»Ihr ſollt mich aus Eurem Dienſte entlaſ¬
ſen und meine Freiheit zurückgeben!« ſagte die
Eule. »So viel Geſchrei und wenig Wolle!«
ſagte die Hexe, »Du biſt frei, mach' dieß [Garn]
auf!« »Noch nicht! ſagte Spiegel, der immer
[519] noch ſeine Naſe rieb, Ihr müßt Euch verpflich¬
ten, den Stadthexenmeiſter Pineiß, Euren Nach¬
bar, zu heirathen auf die Weiſe, wie wir Euch
ſagen werden, und ihn nicht mehr zu verlaſſen!«
Da fing die Hexe wieder an zu zappeln und
zu pruſten wie der Teufel, und die Eule ſagte:
»Sie will nicht d'ran!« Spiegel aber ſagte:
»Wenn Ihr nicht ruhig ſeid und Alles thut,
was wir wünſchen, ſo hängen wir das Garn
ſammt ſeinem Inhalte da vorn an den Dra¬
chenkopf der Dachtraufe, nach der Straße zu,
daß man Euch morgen ſieht und die Hexe er¬
kennt! Sagt alſo: Wollt Ihr lieber unter dem
Vorſitze des Herrn Pineiß gebraten werden, oder
ihn braten, indem Ihr ihn heirathet?«
Da ſagte die Hexe mit einem Seufzer: »So
ſprecht, wie meint Ihr die Sache?« Und Spie¬
gel ſetzte ihr Alles zierlich auseinander, wie es
gemeint ſei und was ſie zu thun hätte. »Das
iſt allenfalls noch auszuhalten, wenn es nicht
anders ſein kann!« ſagte ſie und ergab ſich un¬
ter den ſtärkſten Formeln, die eine Hexe binden
können. Da thaten die Thiere das Gefängniß
auf und ließen ſie heraus. Sie beſtieg ſogleich
[520] den Beſen, die Eule ſetzte ſich hinter ſie auf
den Stiel und Spiegel zuhinterſt auf das Reiſig¬
bündel und hielt ſich da feſt, und ſo ritten ſie nach
dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um
den Schatz herauf zu holen.
Am Morgen erſchien Spiegel bei Herrn
Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte
Perſon anſehen und freien könne; ſie ſei aber
allbereits ſo arm geworden, daß ſie, gänzlich
verlaſſen und verſtoßen, vor dem Thore unter
einem Baum ſitze und bitterlich weine. Sogleich
kleidete ſich Herr Pineiß [in] ſein abgeſchabtes
gelbes Sammtwämschen, das er nur bei feier¬
lichen Gelegenheiten trug, ſetzte die beſſere Pu¬
delmütze auf und umgürtete ſich mit ſeinem De¬
gen; in die Hand nahm er einen alten grünen
Handſchuh, ein Balſamfläſchchen, worin einſt Bal¬
ſam geweſen und das noch ein Bischen roch,
und eine papierne Nelke, worauf er mit Spie¬
gel vor das Thor ging, um zu freien. Dort
traf er ein weinendes Frauenzimmer ſitzen unter
einem Weidenbaum, von ſo großer Schönheit, wie
er noch nie geſehen; aber ihr Gewand war ſo
dürftig und zerriſſen, daß, ſie mochte ſich auch
[521] ſchamhaft geberden wie ſie wollte, immer da
oder dort der ſchneeweiße Leib ein Bischen durch¬
ſchimmerte. Pineiß riß die Augen auf und
konnte vor heftigem Entzücken kaum ſeine Be¬
werbung vorbringen. Da trocknete die Schöne
ihre Thränen, gab ihm mit ſüßem Lächeln die
Hand, dankte ihm mit einer himmliſchen Glok¬
kenſtimme für ſeine Großmuth und ſchwur, ihm
ewig treu zu ſein. Aber im ſelben Augenblicke
erfüllte ihn eine ſolche Eiferſucht und Neides¬
wuth auf ſeine Braut, daß er beſchloß, ſie vor
keinem menſchlichen Auge jemals ſehen zu laſſen.
Er ließ ſich bei einem uralten Einſiedler mit
ihr trauen und feierte das Hochzeitmahl in ſeinem
Hauſe, ohne andere Gäſte, als Spiegel und die
Eule, welche erſterer mitzubringen ſich die Er¬
laubniß erbeten hatte. Die zehntauſend Gold¬
gulden ſtanden in einer Schüſſel auf dem Tiſch
und Pineiß griff zuweilen hinein und wühlte in
dem Golde; dann ſah er wieder die ſchöne Frau
an, welche in einem meerblauen Sammetkleide
daſaß, das Haar mit einem goldenen Netze um¬
flochten und mit Blumen geſchmückt, und den
weißen Hals mit Perlen umgeben. Er wollte
[522] ſie fortwährend küſſen, aber ſie wußte verſchämt
und züchtig ihn abzuhalten, mit einem verführe¬
riſchen Lächeln, und ſchwur, daß ſie dieſes vor
Zeugen und vor Anbruch der Nacht nicht thun
würde. Dies machte ihn nur noch verliebter
und glückſeliger, und Spiegel würzte das Mahl
mit lieblichen Geſprächen, welche die ſchöne Frau
mit den angenehmſten, witzigſten und einſchmei¬
chelndſten Worten fortführte, ſo daß der Hexen¬
meiſter nicht wußte, wie ihm geſchah vor Zu¬
friedenheit. Als es aber dunkel geworden, be¬
urlaubten ſich die Eule und die Katze und ent¬
fernten ſich beſcheiden; Herr Pineiß begleitete ſie
bis unter die Hausthüre mit einem Lichte und
dankte dem Spiegel nochmals, indem er ihn ei¬
nen trefflichen und höflichen Mann nannte, und
als er in die Stube zurückkehrte, ſaß die alte
weiße Beghine, ſeine Nachbarin, am Tiſch und
ſah ihn mit einem böſen Blick an. Entſetzt ließ
Pineiß den Leuchter fallen und lehnte ſich zit¬
ternd an die Wand. Er hing die Zunge her¬
aus und ſein Geſicht war ſo fahl und ſpitzig
geworden, wie das der Beghine. Dieſe aber
ſtand auf, näherte ſich ihm und trieb ihn vor
[523] ſich her in die Hochzeitkammer, wo ſie mit höl¬
liſchen Künſten ihn auf eine Folter ſpannte, wie
noch kein Sterblicher erlebt. So war er nun
mit der Alten unauflöslich verehlicht, und in der
Stadt hieß es, als es ruchbar wurde: Ei ſeht,
wie ſtille Waſſer tief ſind! Wer hätte gedacht,
daß die fromme Beghine und der Herr Stadt¬
hexenmeiſter ſich noch verheirathen würden! Nun,
es iſt ein ehrbares und rechtliches Paar, wenn
auch nicht ſehr liebenswürdig!
Herr Pineiß aber führte von nun an ein
erbärmliches Leben; ſeine Gattin hatte ſich ſo¬
gleich in den Beſitz aller ſeiner Geheimniſſe ge¬
ſetzt und beherrſchte und unterdrückte ihn voll¬
ſtändig. Es war ihm nicht die geringſte Frei¬
heit und Erholung geſtattet, er mußte hexen vom
Morgen bis zum Abend, was das Zeug halten
wollte, und wenn Spiegel vorüberging und es
ſah, ſagte er freundlich: »Immer fleißig, fleißig,
Herr Pineiß?«
Seit dieſer Zeit ſagt man zu Seldwyla:
Er hat der Katze den Schmeer abgekauft! be¬
ſonders wenn Einer eine böſe und widerwärtige
Frau erhandelt hat.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Keller, Gottfried. Die Leute von Seldwyla. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnq9.0