des
Fraͤuleins von Sternheim.
Papieren und andern zuverlaͤßigen Quellen
gezogen.
bey Weidmanns Erben und Reich.1771.
Geſchichte
des
Fraͤuleins von Sternheim.
Seymour an Doctor T.
Zween Monate ſinds, ſeit ich Jhnen
ſchrieb; ſeit ich, von Zweifel und
Argwohn gemartert, mich von aller Geſell-
ſchaft enthielte, und mich endlich durch
einen uͤbelverſtandenen Eifer fuͤr die Tu-
gend zu dem elendeſten Geſchoͤpfe auf der
Erde machte. O, waͤr’ ich es allein, ich
wuͤrde mich gluͤcklich dabey achten; aber
ich habe die beſte, die edelſte Seele zu ei-
nem Entſchluß der Verzweiflung gebracht;
ich bin die Urſache des Verderbens meines
angebeteten Fraͤuleins von Sternheim.
IITheil. AKein
[2] Kein Menſch kann mir was von ihrem
Schickſal ſagen; aber mein Herz ſagt mir,
daß ſie ungluͤcklich iſt. Dieſer Gedanke
frißt das Herz, in welchem er ſich ernaͤhrt.
Aber ich ſage Jhnen unbegreifliche Dinge!
ich muß mich verſtaͤndlich machen; Sie
wiſſen, wie misvergnuͤgt ich von dem
Feſte des Grafen F. zuruͤck kam, und daß
ich von dieſem Augenblick mich aller Ge-
ſellſchaft entaͤußerte. Meine Liebe war
verwundet, aber nicht getoͤdtet; ich
dachte, ſie wuͤrde durch Verachtung und
Fliehen geheilt werden; ich wollte ſo-
gar nichts von dem Fraͤulein reden hoͤ-
ren; als endlich mein Oheim meine Lei-
denſchaften auf einmal zu loͤſchen glaubte,
da er mir die Nachricht gab: „daß auf
„das Geburtsfeſt des Fuͤrſten ein Masken-
„ball angeſtellt waͤre; daß der Fuͤrſt die
„Maske des Fraͤuleins tragen wuͤrde, und
„ſie Kleidung und Schmuck von ihm be-
„komme. Jch koͤnnte alſo ſchlieſſen, daß
„ſie ſich aufgeopfert habe; ſie haͤtte ſchon
„vorher Gnaden von ihm erbeten, und
„alles erhalten, was ſie verlangt habe;
„der
[3] „der Fuͤrſt kaͤme Abends in den Garten
„des Grafen Loͤbau, allein von ſeinem
„Liebling begleitet u. ſ. w. —“ Mein
Oheim erreichte ſeinen Zweck; die Sorge
meiner Liebe verlor ſich mit meiner Hoch-
achtung, und mit der Hoffnung, die ich
immer blindlings behalten hatte. Aber
gleichguͤltig war ich noch nicht; meine See-
le war durch das Andenken ihres Geiſtes
und ihrer Tugend gekraͤnkt. Wie gluͤck-
lich, o Gott, wie gluͤcklich haͤtte ſie mich
machen koͤnnen, (rief ich) wenn ſie ihrer
Erziehung und ihrer erſten Anlage getreu
geblieben waͤre! Ohne Erinnerung und
Beſtrafung wollt’ ich ſie nicht laſſen, und
der Maskenball duͤnkte mich ganz bequem
zu meinem Vorhaben. Jch machte eine
doppelte Maske. Jn der erſten wollt’ ich
mich noch von allem uͤberzeugen, was
mir von der Vergeſſenheit ihres Werths
und ihrer Pflichten geſagt worden war.
Sie kam von allen Grazien begleitet in
den Saal; ſie trug den Schmuck, wel-
chen der Hofjuwelier dem Lord gewieſen
hatte. Sie war ſo niedertraͤchtig gefaͤl-
A 2lig,
[4] lig, ihre ſchoͤne Stimme hoͤren zu laſſen
und ihn nebſt der Geſellſchaft zur Freude
aufzumuntern. Haͤtte ich Kraͤfte gehabt,
ſie ihrer reizenden Geſtalt und aller ihrer
Talenten zu berauben, ich wuͤrd’ es in
dieſem Augenblick gethan haben. Leich-
ter waͤr’ es mir geweſen, ſie elend, haͤß-
lich, ja gar todt zu ſehen, als ein Zeuge
ihrer moraliſchen Zernichtung zu ſeyn.
Der tiefſte Schmerz war in meiner Seele,
als ich ſie ſingen hoͤrte, und mit dem Fuͤr-
ſten und mit andern Menuette tanzen ſah.
Aber als er ſie um den Leib faßte, an ſeine
Bruſt druͤckte, und den ſittenloſen, fre-
chen Wirbeltanz der Deutſchen, mit einer,
aller Wohlſtandsbande zerreiſſenden Ver-
traulichkeit an ihrer Seite daher huͤpf-
te — da wurde meine ſtille Betruͤbniß
in brennenden Zorn verwandelt; ich eilte
in meine zwote Maske, naͤherte mich
ihrer darinn, und machte ihr bittre und
heftige Vorwuͤrfe uͤber ihre Frechheit, ſich
mit ſo vieler Luſtigkeit in ihrem ſchaͤndli-
chen Putz zu zeigen. Jch ſetzte hinzu:
daß alle Welt ſie verachtete, ſie, die man
ange-
[5] angebethet habe — Meine erſte Anrede
brachte das vollkommenſte Erſtaunen in ihr
hervor; ſie konnte nichts ſagen, als ihre
Hand gegen die Bruſt heben, — ich —
ich — ſtotterte ſie — mit der andern
wollte ſie mich haſchen. Aber ich Elen-
der, entfloh, ohne auf die Wirkung ach-
ten zu wollen, die meine Rede machen
wuͤrde. Nach Hauſe eilte ich, ließ mir
ſechs Poſtpferde vor meine Chaiſe geben,
nahm meinen alten Dik mit, und fuhr
ſechs Tage ohne zu wiſſen, wohin; bis
ich endlich in einem Dorfe liegen bleiben
mußte, wo ich Diken auf das aͤußerſte
verbot, jemanden Nachricht von mir zu
geben. Mein Gemuͤthszuſtand iſt nicht
zu beſchreiben; gefuͤhllos, geiſtlos war
ich, misvergnuͤgt, unruhig, und dennoch
verſagt’ ich mir die einzige Huͤlfe, die mei-
ne Leiden erforderten — Nachrichten von
D. zu haben. Dieſer unſelige Eigenſinn
legte den Grund zu der tiefen Traurigkeit,
die mich bis an mein Ende begleiten wird.
Denn waͤhrend ich das ſtumme Wuͤthen
meiner unuͤberwindlichen Liebe in dem
A 3aͤußer-
[6] aͤußerſten Winkel eines einſamen Dorfes
verbarg, um die erſten Triumphtage des
Fuͤrſten vorbeyrauſchen zu laſſen, hatte
das Fraͤulein den edelſten Widerſtand ge-
macht, hatte aus Kummer beynahe das
Leben verloren, und war endlich aus dem
Hauſe ihres Oheims entwichen, weil man
ſie nicht auf ihre Guͤter gehen laſſen woll-
te. Einen Monat nach dieſem Vorgang
kam ich abgezehrt und finſter zuruͤck;
Mylord empfieng mich mit vaͤterlicher
Zuneigung; er ſagte mir alle Sorgen, die
ich ihm verurſacht haͤtte, auch daß er auf
den Gedanken gerathen ſey, ich moͤchte
das Fraͤulein entfuͤhrt haben.
Wollte Gott, Sie haͤtten mir’s erlaubt,
rief ich; ich waͤre nicht ſo elend. Aber
reden Sie mir nicht mehr von ihr.
Er umarmte mich und ſagte:
Lieber Carl, du mußt doch hoͤren was
geſchehen iſt. Sie war doch edel, tu-
gendhaft, alles was uns zu ihrem Nach-
theil geſagt wurde, war Betrug, und ſie
iſt entflohen.
Meine
[7]
Meine Begierde, alles zu wiſſen, war
nun ſo groß, als vorher meine Sorge
daruͤber geweſen war.
Das Fraͤulein ſoll geglaubt haben, ihre
Tante haͤtte ihren Schmuck neu faſſen laſ-
ſen, und lehnte ihn ihr zum Ball; die Klei-
der habe ſie ihrem Kaufmann ſchuldig zu
ſeyn geglaubt; ihr Singen waͤre eine ge-
zwungene Gefaͤlligkeit geweſen, und ſie
haͤtte in einem Brief an den Fuͤrſten eine
weiße Maske geſegnet, die ihr alle Bos-
heiten entdeckt habe, welche ihren Ruhm
zernichtet haͤtten.
O Mylord, rief ich; dieſe weiße Maske
war ich; ich habe mit ihr geſprochen, und
ihr Vorwuͤrfe gemacht; aber gleich nach
dieſer Unterhaltung eilt’ ich fort. Er
fuhr fort mir zu erzaͤhlen: das Fraͤulein
haͤtte noch auf dem Ball dem Fuͤrſten ſei-
nen Schmuck vor die Fuͤße geworfen, und
waͤre in der aͤußerſten Beaͤngſtigung nach
Haus gefahren; ſie waͤre aber acht Tage
ſehr krank gelegen, und haͤtte keinen Men-
ſchen vor ſich gelaſſen. Bey ihrer Wie-
derherſtellung haͤtte ſie auf ihre Guͤter zu
A 4gehen
[8] gehen verlangt, ihr Oncle aber haͤtte ſie
nicht gehen laſſen, und acht Tage darauf,
als man dem Prinzen von P. zu Ehren
bey Hofe Luſtbarkeiten angeſtellt, ſey ſie
mit ihrer Kammerjungfer verſchwunden.
Der Graf und die Graͤfin Loͤbau, die bis
Morgens bey dem Ball geweſen, und ihre
Leute, welche auch nicht fruͤh munter ge-
worden, haͤtten nicht an das Fraͤulein
gedacht, bis Nachmittags, da man die
Tafel fuͤr den Grafen gedeckt hatte, man
erſt angefangen, das Fraͤulein und ihr
Maͤdchen zu vermiſſen; aber als man ihre
Zimmer aufgeſprengt, an ihrer Statt blos
Briefe gefunden habe, einen an den Fuͤr-
ſten, einen an Mylord C, und einen an
ihren Oheim, dem ſie noch ein Verzeich-
niß angeſchloſſen von den Kleidern, die
ſie an den Pfarrer geſchickt habe, um ſie
zu verkaufen, und das Geld den Armen
des Kirchſpiels zu geben. Jhrem Oheim
haͤtte ſie kurz, aber mit vieler Wuͤrde und
Ruͤhrung von den Klagen geſprochen, die
ſie uͤber ihn und ſeine Frau zu fuͤhren ha-
be, und von den Urſachen, warum ſie ſich
von
[9] von ihnen entfernte, und ſich in den Schutz
eines Gemahls begebe, den ſie ſich ge-
waͤhlt haͤtte, und mit welchem ſie als ſei-
ne vermaͤhlte Frau aus ihrem Hauſe gehe,
um ſich nach Florenz zum Grafen R. zu
begeben, woher ſie wieder Nachricht von
ihr erhalten ſollten; indeſſen uͤberlaſſe ſie
ihm auf drey Jahre den Genuß aller Ein-
kuͤnfte ihrer Guͤter, um damit die Been-
digung ſeines Rechtshandels zu betreiben,
die er auf eine niedertraͤchtige Art durch
die Aufopferung ihrer Ehre zu erhalten ge-
ſucht haͤtte; es waͤre ein Geſchenk, wel-
ches ſie ſeinen zweenen Soͤhnen machte,
und wodurch ſie mehr Segen erhalten wuͤr-
den, als durch den Entwurf ihres Unter-
gangs. Dem Fuͤrſten haͤtte ſie geſchrieben:
ſie fliehe an der Hand eines edelmuͤthigen
und wuͤrdigen Gemahls vor den Verfol-
gungen ſeiner verhaßten und entehrenden
Leidenſchaft; ſie habe inzwiſchen ihrem
Oncle die Einkuͤnfte von ihren Guͤtern
auf drey Jahre uͤberlaſſen, hoffe aber
nach Verfluß dieſer Zeit ſie von der Ge-
rechtigkeit des Landesfuͤrſten wieder zuruͤck
A 5zu
[10] zu erlangen; gegen Mylord aber haͤtte ſie
ſich erklaͤrt: daß ſie ſeinen Geiſt und ſei-
nen Gemuͤthscharacter jederzeit verehrt,
und gewuͤnſcht habe, einigen Antheil an
ſeiner Achtung zu haben; es waͤre ſehr
wahrſcheinlich, daß die Umſtaͤnde, in wel-
che man ſie geſtellt, ihre Gemuͤthsart mit
einem ſo ſtarken Nebel umhuͤllet haͤtten,
daß Er ſich keinen richtigen Begriff davon
habe machen koͤnnen; ſie verſichere ihn
aber, daß ſie ſeiner Hochachtung niemals
unwuͤrdig geweſen, und ſeine harte nach-
theilige Beurtheilung nicht verdient habe;
und dieſes moͤchte er auch ſeinem Neffen
Seymour leſen laſſen; Loͤbau ſey nach
dieſer Entdeckung zum Fuͤrſten geeilt, der
daruͤber ins groͤßte Erſtaunen gerathen,
und aller Orten habe nachſchicken wollen;
aber Graf F. haͤtte es misrathen, und es
waͤre allein ein Courier an den Grafen R.
nach Florenz abgeſchickt worden, von
wannen man aber bis itzt keine Nachricht
von dem Fraͤulein erhalten habe.
Solange die Erzaͤhlung von Mylord
dauerte, ſchienen alle Triebfedern meiner
Seele
[11] Seele zuruͤckgehalten zu ſeyn; aber als er
aufhoͤrte, kamen ſie in volle Bewegung.
Er mußte meine bitterſten Klagen uͤber
ſeine Politik hoͤren, durch die er mich
verhindert hatte, mich mit dem edelſten
Herzen zu verbinden. Jhre großmuͤthige
Wohlthaͤtigkeit an ihrem Oncle, dieſe edle
Rache fuͤr ſeine abſcheuliche Beleidigung,
ihr Andenken an die Arme; und an mich,
bey dem ſie gerechtfertigt zu ſeyn ſuchte;
wie viele Riſſe in mein Herz? Wie ver-
haßt wurde mir D., wie viele Muͤhe hatte
ich, die Ausdruͤcke meines Zorns zu ver-
bergen, wenn ich ihre Feinde ſah, oder
wenn mir jemand von ihr reden wollte!
Denn der herzhafte Schritt, welchen ſie
zu ihrer Rettung gemacht, wurde von
jedermann getadelt, alle ihre vortrefflichen
Eigenſchaften verkleinert, und ihr Fehler
und Laͤcherlichkeiten angedichtet, deren ſie
gaͤnzlich unfaͤhig war. Wie elend, aber
auch wie allgemein iſt das Vergnuͤgen,
Fehler am Verdienſt auszuſpaͤhen! Tau-
ſend Herzen ſind eher bereit, ſich zu der
Bosheit zu erniedrigen, an einer vortreff-
lichen
[12] lichen Perſon die Gebrechen der Menſch-
heit zu entdecken, als eines zu finden iſt,
das die edle Billigkeit hat, einem andern
den groͤßten Antheil an Kenntniſſen und
Tugend einzugeſtehen, und ihn aufrichtig
zu verehren.
Jch ſchickte einen Courier nach Florenz,
und ſchrieb dem Grafen R. die Geſchichte
ſeiner wuͤrdigen Nichte. Aus der Ant-
wort, ſo ich von ihm erhielt, erfuhr ich,
daß er nicht das geringſte von ihrem Auf-
enthalte wiſſe. Alle Bemuͤhungen, wel-
che er bis itzt angewandt, ſie auszuſpaͤ-
hen, ſind vergeblich geweſen; — und
alles dieß vergroͤßert die Vorwuͤrfe, die
ich mir wegen meiner uͤbereilten Abreiſe
von D. mache. Warum wartete ich nicht
auf die Folge meiner Unterredung? —
wenn man beſſern will, iſt es genug, bit-
tere Verweiſe zu geben? — Mein ganzes
Herz wuͤrde ſich empoͤren, wenn ich einen
Kranken ſchlagen oder mishandeln ſaͤhe:
und ich gab einer Perſon, die ich liebte,
die ich fuͤr verblendet hielt, Streiche, die
ihre Seele verwunden mußten! Aber ich
ſah
[13] ſah ſie als eine freywillige weggeworfene
meiner Achtung unwuͤrdige Creatur an,
und duͤnkte mich berechtiget, ihr auch ſo
zu begegnen. Wie grauſam war meine
Eigenliehe gegen das liebenswerthe Maͤd-
chen! erſt wollte ich nicht von meiner
Liebe reden, bis ſie ſich ganz nach meinen
Begriffen in dem vollen Glanz einer
triumphierenden Tugend gezeigt haben
wuͤrde. Sie gieng ihren eigenen ſchoͤ-
nen Weg, und weil ſie meinen idealiſchen
Plan nicht befolgte, eignete ich mir die
Gewalt zu, ſie daruͤber auf das empfind-
lichſte zu beſtrafen. Wir beurtheilten
und verdammten ſie alle! aber ſie — wie
edel, wie groß wird ſie, in dem Augen-
blick, da ich ſie fuͤr erniedrigt hielt! ſie
ſegnete in der weißen Maske mich wuͤten-
den Menſchen, da ſie an den Rand eines
fruͤhen Grabes geſtoßen hatte — O,
was kann ſie itzt von dem Geſchoͤpfe ſa-
gen, durch deſſen Unbeſonnenheit ſie in
eine uͤbereilte und gewiß ungluͤckliche Ehe
geſtuͤrzt wurde, die ſie ſchon bereut, und
nicht wieder brechen kann. Sie ſchrieb
meinen
[14] meinen Namen noch, ſie wollte, daß ich
Gutes von ihr glauben ſoll! O Stern-
heim, ſelbſt in deinem von mir verurſach-
ten Elende wuͤrde deiue großmuͤthige, un-
ſchuldige Seele die Marter meines Her-
zens beweinen, wenn du darinn das
Bild meiner erſten Hoffnungen mit allen
Schmerzen der Selbſtberaubung vereinigt
ſehen wuͤrdeſt!
Derby iſt nach einer Abweſenheit von
acht Wochen wieder von einer Reiſe nach
H. zuruͤckgekommen, und bewies mir eine
ganz beſondere Achtſamkeit; ich goß allen
meinen zaͤrtlichen Kummer bey ihm aus;
er belachte mich, und behauptete, daß er
mit dem Ruf ſeiner Bosheit viel weniger
ſchaͤdlich ſey, als ich es durch dieſen Tu-
gendeifer geweſen; ſeine Bosheit fuͤhre
eine Art von Verwarnung bey ſich, die
alle Menſchen vorſichtig machen koͤnne.
Die Strenge meiner Grundſaͤtze haͤtte mir
eine Grauſamkeit gegen die anſcheinenden,
und unvermeidlichen Fehler der Menſchen
gegeben, welche die Widerſpenſtigkeit der
Boͤſen vermehre, und die guten Leute zur
Ver-
[15] Verzweiflung bringe. Wie koͤmmt Derby
zu dieſem Anſpruch der Wahrheit? ich
fuͤhlte, ja ich fuͤhlte, daß er Recht hatte,
daß ich grauſam war, daß ich es war,
ich — Elender! der die Beſte ihres Ge-
ſchlechts ungluͤcklich gemacht.
O mein Freund, mein Lehrer, das
Maaß meines Verdruſſes iſt voll; alle
Stunden meines Lebens ſind vergiftet.
John, unſer Sekretaire, iſt zwey Tage
vor der Flucht des Fraͤuleins abgereiſet,
und ſeitdem nicht mehr gekommen. Die
Kammerjungfer des Fraͤuleins war ein-
mal bey ihm, und unter ſeinen Papieren
hat man ein zerriſſenes Blatt gefunden,
wo mit der Hand meiner Sternheim ge-
ſchrieben ſtund, — „ich gehe in alle Ur-
„ſachen ein, die Sie wegen der Verbor-
„genheit unſerer Verbindung angeben;
„ſorgen Sie nur fuͤr unſere Trauung;
„denn ohnvermaͤhlt werd’ ich nicht fort-
„gehen, ob ich gleich die Verbindung
„mit einem Englaͤnder allen andern vor-
„ziehe —
So
[16]
So iſt ſie alſo das Eigenthum eines
der verwerflichſten Menſchen aller Natio-
nen geworden! O, — ich verfluche den
Tag, wo ich ſie ſah, wo ich die ſympa-
thetiſche Seele in ihr fand! — und,
ewig verdamme Gott den Boͤſewicht, dem
ſie ſich in die Arme warf! Was fuͤr Raͤn-
ke muß der Kerl gebraucht haben! es iſt
nicht anders moͤglich, der Kummer hat
ihren Verſtand zerruͤttet. Aber die Brie-
fe, die ſie zuruͤck ließ, ſind in einem ſo
wohlthaͤtigen, ſo edlem Ton, und mit ſo
vielem Geiſte geſchrieben! — doch duͤnkt
mich einſt geleſen zu haben, daß juſt in
einer Zerruͤttung der kuͤnſtlichen und ge-
lernten Bewegung des Verſtandes die
Triebfedern an den Tag kaͤmen, durch
welche er von unſern natuͤrlichen und
vorzuͤglichen Neigungen gebraucht wird.
Urtheilen Sie alſo von dem edlen Grund
des Charakters unſers Fraͤuleins. —
Fraͤu-
[17]
Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.
Hier in einem einſamen Dorfe, allen die
mich ſehen, unbekannt, denen, die mich
kannten, verborgen, hier fand’ ich mich
wieder, nachdem ich durch meine Eigen-
liebe und Empfindlichkeit ſo weit von mir
ſelbſt gefuͤhrt worden, daß ich mit haſti-
gen Schelten einen Weg betrat, vor
welchem ich in gelaſſenen denkenden Ta-
gen mit Schauer und Eifer geflohen waͤre;
O wenn ich mir nicht ſagen koͤnnte, wenn
meine Roſine, wenn Mylord Derby ſelbſt
nicht zeugen muͤßten, daß alle Kraͤfte
meiner Seele durch Unmuth und Krank-
heit geſchwaͤcht und unterdruͤckt waren;
wo, meine Emilia, wo naͤhme ich einen
Augenblick Ruhe und Zufriedenheit bey
dem Gedanken, daß ich heimliche Veran-
ſtaltungen getroffen — ein heimliches
Buͤndniß gemacht, und aus dem Hauſe
entflohen bin, in welches ich ſelbſt durch
meinen Vater gegeben wurde.
IITheil. BEs
[18]
Es iſt wahr, ich wurde in dieſem Hau-
ſe grauſam gemishandelt; es war ohn-
moͤglich, daß ich mit Vertrauen und Ver-
gnuͤgen darinn bleiben konnte; gewiß
war meine Verbitterung nicht ungerecht;
denn wie konnte ich ohne den aͤußerſten
Unmuth denken, daß mein Oncle, und
meine Tante mich auf eine ſo niedertraͤch-
tige Weiſe ihrem Eigennutze aufopferten,
und Fallſtricke fuͤr meine Ehre flechten,
und legen halfen?
Jch hatte ſonſt keinen Freund in D.,
mein Herz empoͤrte ſich bey der geringſten
Vorſtellung, die ich nach wiedererlangter
Geſundheit, Verwandte, die mich mei-
nes Ruhms beraubt, und diejenigen wie-
der ſehen muͤßte, die uͤber meinen Wider-
ſtand und Kummer geſpottet hatten, und
alle ſchon lange zuvor die Abſichten wuß-
ten, welche man durch meine Vorſtellung
bey Hofe erreichen wollte. Ja, alle
wußten es, ſogar mein Fraͤulein C., und
keines von allen war edel und menſchlich
genug, mir, nachdem man doch meinen
Charakter kannte, nur den geringſten
Finger-
[19] Fingerzeig zu geben; mir, die ich keine
Seele beleidigte, mich bemuͤhte, meine
Geſinnungen zu verbergen, ſo bald ſie
die ihrige zu tadeln, oder zu verdrießen
ſchienen! Wie bereit war ich, alles, was
mir Fehler daͤuchte, zu entſchuldigen! Aber
ſie dachten, es waͤre nicht viel an einem
Maͤdchen, aus einer ungleichen Ehe, ver-
loren. Konnte ich bey dieſem vollen
Uebermaaße von Beleidigungen, die uͤber
meinen Charakter, meine Geburt und
meinen Ruhm ausgegoſſen wurden, den
Troſt von mir werfen, den mir die Ach-
tung und Liebe des Mylord Derby anbot?
Die Entfernung des Grafen, und der
Graͤfinn R., ihr Stillſchweigen auf meine
letzten Briefe, die Unart, mit welcher mir
die Zuflucht auf meine Guͤter verſagt wur-
de; und, meine Emilia, ich berge es Jh-
nen nicht, meine Liebe zu England, der an-
geſehene Stand, zu welchem mich Mylord
Derby durch ſeine Hand und ſeine Edelmuͤ-
thigkeit erhob; auch dieſe zwo Vorſtellun-
gen hatten große Reize fuͤr meine verlaſſene
und betaͤubte Seele. Jch war vorſichtig ge-
B 2nug,
[20] nug, nicht unvermaͤhlt aus meinem Hau-
ſe zu gehen, ich ſchrieb es dem Fuͤrſten,
dem Mylord Craſton und meinem Oheim.
Jch nannte meinen Gemahl nicht; wie-
wohl er ſo großmuͤthig war, mir die volle
Freyheit dazu zu laſſen, ohngeachtet er
damit die Gnade des Geſandten und ſei-
nes Hofes verwirkt haͤtte; weil man den
Gedanken faſſen konnte, Mylord Craſton
haͤtte dazu geholfen, und dieſer Argwohn
widrige Folgen haͤtte haben koͤnnen; ſoll-
te ich da nicht auch großmuͤthig ſeyn, und
denjenigen, der mich liebte und rettete,
durch mein Stillſchweigen vor Verdruß
und Verantwortung bewahren? Es war
genug, daß er den Geſandtſchaftspredi-
ger gewann, dem ich die ganze Geſchichte
meiner geheimen Trauung ſchrieb, und
welchem Mylord eine Penſion giebt, wo-
von er wird leben koͤnnen, wenn er auch
die Stelle bey dem Geſandten verliert.
Durch alles dieſes unterſtuͤtzt, reißte ich
mit frohem Herzen von D. ab, von einem
der getreueſten Leute des Lords begleitet;
mein Gemahl mußte, um allen Verdacht
auszu-
[21] auszuweichen, zuruͤckbleiben, und den
Feſten beywohnen, welche zween frem-
den Prinzen zu Ehren angeſtellt wurden.
Dieſer Umſtand war mir angenehm, denn
ich wuͤrde an ſeiner Seite gezittert und
gelitten haben, da ich hingegen mit un-
ſerer Roſine gluͤcklich und ruhig meinen
Weg fortſetzte, bis ich in dieſem kleinen
Dorfe meinen Aufenthalt nahm, wo ich
vier Wochen war, ehe Mylord den ſchick-
lichen Augenblick finden konnte, ohne Be-
ſorgniß zu mir zu eilen. Mein erſter
Gedanke war immer, meine Reiſe nach
Florenz zu verfolgen, und Mylorden da
zu erwarten; aber ich konnte ſeine Ein-
willigung dazu nicht erlangen, und auch
itzt will er ſich vorher voͤllig von Mylord
Craſton losmachen, und erſt alsdann mit
mir zum Grafen R., nach dieſem aber ge-
rade in ſein Vaterland gehen.
Jn dieſen vier Wochen, da ich allein
war, hielt ich mich eingeſperrt, und hat-
te keine andere Buͤcher, als etliche eng-
liſche Schriften von Mylord, die ich nicht
leſen mochte, weil ſie uͤbergebliebene Zeug-
B 3niſſe
[22] niſſe ſeiner durch Beyſpiel und Verfuͤh-
rung verderbten Sitten waren. Jch
warf ſie auch alle an dem erſten kalten
Herbſttage, der mich noͤthigte Feuer zu
machen, in den Ofen, weil ich nicht ver-
tragen konnte, daß dieſe Buͤcher und ich
einen gemeinſamen Herrn, und Wohn-
platz haben ſollten. Die Tage wurden
mir lang, meine Roſina nahm ſich Naͤh-
arbeit von unſrer Wirthinn, und ich fieng
an mit dem zunehmenden Gefuͤhl, der ſich
wieder erhohlten Kraͤfte meines Geiſtes,
Betrachtungen uͤber mich und mein
Schickſal anzuſtellen.
Sie ſind traurig, dieſe Betrachtungen,
durch den Widerſpruch, der ſeit dem Tod
meines geliebten ehrwuͤrdigen Vaters,
noch mehr aber ſeit dem Augenblick mei-
nes Eintritts in die große Welt, zwiſchen
meinen Neigungen und meinen Umſtaͤnden
herrſchet.
O haͤtte ich meinen Vater nur behal-
ten, bis meine Hand unter ſeinem Seegen
an einen wuͤrdigen Mann gegeben gewe-
ſen waͤre! Meine Gluͤcksumſtaͤnde ſind
vortheil-
[23] vortheilhaft genug, und da ich nebſt
meinem Gemahl den Spuren der edlen
Wohlthaͤtigkeit meiner Aeltern gefolgt
waͤre, ſo wuͤrde die ſelige Empfin-
dung eines woylangewandten Lebens,
und die Freude uͤber das Wohl meiner
Untergebenen alle meine Tage gekroͤnt
haben. Warum hoͤrte ich die Stimme
nicht, die mich in P. zuruͤckhalten wollte,
als meine Seele ganz mit Bangigkeit er-
fuͤllt, ſich der Zuredungen meines Oheims,
und Jhres Vaters widerſetzte? Aber ich
ſelbſt dachte endlich, daß Vorurtheil und
Eigenſinn in meiner Abneigung ſeyn koͤnn-
te, und willigte ein, daß der arme Faden
meines Lebens, der bis dahin ſo rein und
gleichfoͤrmig fortgeloffen war, nun mit
dem verworrnen, ungleichen Schickſal
meiner Tante verwebt wurde, woraus ich
durch nichts als ein gewaltſames Abreißen
aller Nebenverbindungen loskommen konn-
te. Mit dieſem vereinigte ſich die Ver-
ſchwoͤrung wider meine Ehre, und meine
von Jugend auf genaͤhrte Empfindſamkeit,
die nur ganz allein fuͤr meine beleidigte
B 4Eigen-
[24] Eigenliebe arbeitete. O, wie ſehr hab’ ich
den Unterſchied der Wuͤrkungen der Em-
pfindſamkeit fuͤr andere, und der fuͤr
uns allein kennen gelernt!
Die zwote iſt billig, und allen Men-
ſchen natuͤrlich! aber die erſte allein iſt
edel; ſie allein unterhaͤlt die Wahrſchein-
lichkeit des Ausdrucks, daß wir nach dem
Ebenbild unſers Urhebers geſchaffen ſeyn,
weil dieſe Empfindſamkeit fuͤr das Wohl
und Elend unſers Nebenmenſchen die
Triebfeder der Wohlthaͤtigkeit iſt, der
einzigen Eigenſchaft, welche ein zwar un-
vollkommnes, aber gewiß aͤchtes Gepraͤge
dieſes goͤttlichen Ebenbildes mit ſich fuͤhrt;
ein Gepraͤge, ſo der Schoͤpfer allen Crea-
turen der Coͤrperwelt eindruͤckte, als in
welcher das geringſte Grashaͤlmchen durch
ſeinen Beytrag zur Nahrung der Thiere
eben ſo wohlthaͤtig iſt, als der ſtarke
Baum es auf ſo mancherley Weiſe fuͤr
uns wird. Das kleinſte Sandkoͤrnchen
erfuͤllt ſeine Beſtimmung wohlthaͤtig zu
ſeyn, und die Erde durch Lockernheit
fruchtbar zu erhalten, ſo wie die großen
Felſen
[25] Felſen, die uns ſtaunen machen, unſern
allgemeinen Wohnplatz befeſtigen helfen.
Jſt nicht das ganze Pflanzen- und Thier-
reich mit lauter Gaben der Wohlthaͤtig-
keit fuͤr unſer Leben erfuͤllt? Die ganze
phyſicaliſche Welt bleibt dieſen Pflichten
getreu; durch jedes Fruͤhjahr werden ſie
erneuert; nur die Menſchen arten aus,
und loͤſchen dieſes Gepraͤge aus, welches
in uns viel ſtaͤrker, und in groͤßerer
Schoͤnheit glaͤnzen wuͤrde, da wir es auf
ſo vielerley Weiſe zeigen koͤnnten.
Sie erkennen hier, meine Emilia, die
Grundſaͤtze meines Vaters: meine Me-
lancholie rief ſie mir ſehr lebhaft zuruͤck,
da ich in der Ruhe der Einſamkeit mich
umwandte, und den Weg abmaß, durch
welchen mich meine Empfindung ge-
jagt, und ſo weit von dem Orte meiner
Beſtimmung verſchlagen hatte. O, ich
bin den Pflichten der Wohlthaͤtigkeit
des Beyſpiels entgangen!*) Niemand
B 5wird
[26] wird ſagen, daß Kummer und Verzweif-
lung Antheil an meinem Entſchluß hat-
ten; aber jede Mutter wird ihre Tochter
durch die Vorſtellung meiner Fehler war-
nen; und jedes bildet ſich ein, es wuͤrde
ein edlers und tugendhafters Huͤlfsmittel
gefunden haben. Jch ſelbſt weiß, daß
es ſolche giebt; aber mein Geiſt ſah ſie
damals nicht, und es war niemand guͤ-
tig genug, mir eines dieſer Mittel zu ſa-
gen. Wie ungluͤcklich iſt man, meine
Emilia, wenn man Entſchuldigungen ſu-
chen muß, und wie traurig iſt es, ſie zu
leicht, und unzulaͤnglich zu finden! So
lang ich fuͤr andere unempfindlich war,
fehlte ich nur gegen die Vorurtheile der
fuͤhlloſen Seelen, und wenn es auch ſchien,
daß meine Begriffe von Wohlthaͤtigkeit
uͤbertrieben waͤren, ſo blieben ſie doch
durch das Gepraͤge des goͤttlichen Eben-
bildes verehrungs- und nachahmungs-
wuͤrdig.
*)
[27] wuͤrdig. Aber itzt, da ich nur fuͤr mich
empfand, fehlte ich gegen den Wohlſtand
und gegen alle geſellſchaftliche Tugenden
eines guten Maͤdchens. — Wie dunkel,
o wie dunkel iſt dieſer Theil meines ver-
gangenen Lebens! was bleibt mir uͤbrig,
als meine Augen auf den Weg zu heften,
den ich nun vor mir habe, und darinn
einen geraden Schritt, bey klarem Lichte
fortzugehen?
Meine erſten Erquickungsſtunden hab’
ich in der Beſchaͤfftigung gefunden, zwo
arme Nichten meiner Wirthinn arbeiten
und denken zu lehren. Sie wiſſen, Emi-
lia, daß ich gerne beſchaͤfftiget bin.
Mein Nachdenken, und meine Feder
machten mich traurig; ich konnte am ge-
ſchehenen nichts mehr aͤndern, mußte den
Tadel, der uͤber mich ergieng, als eine
gerechte Folge meiner irregegangenen Ei-
genliebe anſehen, und meine Ermunterung
außer mir ſuchen, theils in dem Vorſatze,
Mylord Derby zu einem gluͤcklichen Ge-
mahl zu machen, theils in der Beſtrebung
meinen
[28] meinen uͤbrigen Nebenmenſchen alles moͤg-
liche Gute zu thun. Jch erkundigte mich
nach den Armen des Orts, und ſuchte ih-
nen Erleichterung zu ſchaffen. Bey die-
ſer Gelegenheit, ſagte mir die gute Roſina,
von zwoen Nichten der Wirthinn, armen
verwaißten Maͤdchen, die der Wirth haß-
te, und auch ſeiner Frau, deren Schwe-
ſter-Toͤchter ſie ſind, wegen dem wenigen,
ſo ſie genießen, ſehr uͤbel begegnete. Jch
ließ ſie zu mir kommen, forſchte ihre Nei-
gungen aus, und was jede ſchon gelernt
haͤtte, oder noch lernen moͤchte; beyde
wollten die Kuͤnſte der Jungfer Roſine
wiſſen; ich theilte mich alſo mit ihr in
dem Unterricht der guten Kinder; ich ließ
auch beyde kleiden, und ſie kamen gleich
den andern Tag, um meinem Anziehen
zuzuſehen. Vierzehn Tage darauf be-
dienten ſie mich wechſelsweiſe. Jch rede-
te ihnen von den Pflichten des Standes,
in welchen Gott ſie, und von denen, in
welchen er mich geſetzt habe, und brachte
es ſo weit, daß ſie ſich viel gluͤcklicher
achteten, Kammerjungfern, als Damen
zu
[29] zu ſeyn, weil ich ihnen ſehr von der gro-
ßen Verantwortung ſagte, die uns wegen
dem Gebrauch unſrer Vorzuͤge und unſrer
Gewalt uͤber andere aufgelegt ſey. Jhre
Begriffe von Gluͤck, und ihre Wuͤnſche
waren ohnehin begrenzt, und die kleinen
Prophezeyhungen, die ich, jeder nach ih-
rer Gemuͤthsart machen kann, vergnuͤ-
gen ſie ungemein; ſie glauben, ich wiſſe
ihre Gedanken zu leſen. Jch zahle dem
Wirth ein Koſtgeld fuͤr ſie, und kaufe al-
les, was ſie zu ihren Lehrarbeiten noͤthig
haben. Jch halte ihnen Schreibe- und
Rechnungsſtunden, und ſuche auch, ih-
nen einen Geſchmack im Putz einer Dame
zu geben, beſonders lehre ich ſie alle Gat-
tung von Charakter zu kennen, und mit
guter Art zu ertragen. Die Wirthinn und
ihre Nichten ſehen mich als ihren Engel
an, und wuͤrden alle Augenblicke vor mir
knien, und mir danken, wenn ich es dul-
den wollte. Suͤße gluͤckliche Stunden,
die ich mit dieſen Kindern hinbringe! Wie
oft erinnere ich mich an den Ausſpruch
eines neuern Weiſen, welcher ſagte: „biſt
„du
[30] „du melancholiſch, ſiehſt du nicht zu dei-
„nem Troſt um dich her —
„Ließ in der Bibel;
„Befreye dich von einem anklebenden
„Fehler; oder ſuche deinem Nebenmen-
„ſchen Gutes zu thun: ſo wird gewiß die
„Traurigkeit von dir weichen —“
Edles unfehlbares Huͤlfsmittel! wie
hoͤchſt vergnuͤgt gehe ich mit meinen Lehr-
maͤdchen ſpazieren, und rede mit ihnen von
der Guͤte unſers gemeinſamen Schoͤpfers!
Mit welchem innigen Vergnuͤgen erfuͤllt
ſich mein Herz, wenn ich beyde, uͤber
meine Reden bewegt, ihre Augen mit
Ehrfurcht und Dankbarkeit gen Himmel
wenden ſeh, und, ſie mir dann meine
Haͤnde kuͤſſen und druͤcken: in dieſen
Augenblicken, Emilia, bin ich ſogar mit
meiner Flucht zufrieden, weil ich ohne
ſie dieſe Kinder nicht gefunden haͤtte.
Fraͤu-
[31]
Fraͤulein von Sternheim
an
Emilien.
O — noch einmal ſo lieb ſind mir mei-
ne Maͤdchen geworden, ſeitdem Mylord
da war; denn durch die Freude an den
unſchuldigen Creaturen, hat ſich mein
Geiſt und mein Herz geſtaͤrkt. Mylord
liebt das Ernſthafte meiner Gemuͤthsart
nicht; er will nur meinen Witz genaͤhrt
haben; meine ſchuͤchterne und ſanfte Zaͤrt-
lichkeit, iſt auch die rechte Antwort nicht,
die ich ſeiner raſchen und heftigen Liebe
entgegen ſetze, und uͤber das Verbrennen
ſeiner Buͤcher hat er einen maͤnnlichen
Hauszorn geaͤußert. Er war drey Wo-
chen da. Jch durfte meine Maͤdchen
nicht ſehen; ſeine Gemuͤthsverfaſſung
ſchien mir ungleich; bald aͤußerſt munter,
und voller Leidenſchaft! bald wieder duͤ-
ſter und trocken; ſeine Blicke oft mit Laͤ-
cheln, oft mit denkendem Misvergnuͤgen
auf mich geheftet. Jch mußte ihm die
Urſachen meines anfaͤnglichen Widerwil-
lens
[32] lens gegen ihn, und meine Aenderung er-
zaͤhlen; ſodann fragte er mich uͤber mei-
ne Geſinnungen fuͤr Lord Seymour.
Mein Erroͤthen bey dieſem Namen gab
ſeinem Geſicht einen mir entſetzlichen Aus-
druck, den ich ihnen nicht beſchreiben kann,
und in einer noch viel empfindlichern Ge-
legenheit merkte ich, daß er eiferſuͤchtig
uͤber Mylord Seymour iſt; ich werde
alſo beſtaͤndig wegen anderer zu leiden ha-
ben. Mylord liebt die Pracht, und hat
mir viel koſtbare Putzſachen gegeben, ich
werde in ſeine Geſinnung eingehen, un-
geachtet ich mich lieber in Beſcheidenheit
als in Pracht hervorthun moͤchte. Gott
gebe, daß dieſes der einzige Punkt ſeyn
moͤge, in welchem wir verſchieden ſeyn;
aber ich fuͤrchte mehrere. — O Emilie,
beten Sie fuͤr mich! — Mein Herz hat
Ahndungen; ich will keine Gefaͤlligkeit, kei-
ne Bemuͤhung verſaͤumen, meinem Ge-
mahl angenehm zu ſeyn; aber ich werde
oft ausweichen muͤſſen; wenn ich nur
meinen Charakter, und meine Grund-
ſaͤtze nicht aufopfern muß! — —
Jch
[33]
Jch waͤhlte ihn, ich uͤbergab ihm mein
Wohl, meinen Ruhm, mein Leben; ich
bin ihm mehr Ergebenheit, und mehr
Dank ſchuldig, als ich meinem Gemahl
unter andern Umſtaͤnden ſchuldig waͤre.
O wenn ich einſt in England in mei-
nem eignen Hauſe bin, und Mylord in
Geſchaͤfften ſeyn wird, die dem Stolz ſei-
nes Geiſtes angemeſſen ſind: dann
wird, hoffe ich, ſein wallendes Blut im
ruhigen Schooße ſeiner Familie ſanfter
fließen lernen, ſein Stolz in edle Wuͤrde
ſich verwandeln, und ſeine Haſtigkeit tu-
gendhafter Eifer fuͤr ruͤhmliche Thaten
werden. Dieſen Muth werd’ ich unter-
halten, und, da ich nicht ſo gluͤcklich
war, eine Griechinn der alten Zeiten zu
ſeyn, mich bemuͤhen, wenigſtens eine der
beſten Englaͤnderinnen zu werden.
IITheil. CMylord
[34]
Mylord Derby
an
ſeinen Freund.
Verwuͤnſcht ſeyſt du mit deinen Vorher-
ſagungen; was hatteſt du ſie in meine
Liebesgeſchichte zu mengen? Meine Be-
zauberung wuͤrde nicht lange dauern,
ſagteſt du! wie zum Henker konnte dein
Dummkopf dieſes in Paris ſehen, und ich
hier ſo ganz verblendet ſeyn? — Aber Kerl,
du haſt doch nicht ganz recht! Du ſprachſt
von Saͤttigung; dieſe hab’ ich nicht, und
kann ſie nicht haben, weil mir noch viel
von der Jdee des Genuſſes fehlt; und den-
noch kann ich ſie nicht mehr ſehen! — Mei-
ne Sternheim, meine eigene Lady nicht
mehr ſehen! Sie, die ich fuͤnf Monate lang
bis zum Unſinn liebte! Aber ihr Verhaͤng-
niß hat mein Vergnuͤgen, und ihre Geſin-
nungen gegen einander geſtellt; mein Herz
wankte zwiſchen beyden; ſie hat die Macht
der Gewohnheit miskannt; ſie hat die feu-
rigen Umarmungen ihres Liebhabers bloß
mit der matten Zaͤrtlichkeit einer froſtigen
Ehe-
[35] Ehefrau erwiedert; kalte — mit Seuf-
zen unterbrochene Kuͤſſe gab ſie mir, ſie,
die ſo lebhaft mitleidend, ſie, die ſo ge-
ſchaͤfftig, ſo brennend eifrig fuͤr Jdeen, fuͤr
Hirngeſpenſter ſeyn kann! Wie ſuͤß, wie
anfeſſelnd, hab’ ich mir ihre Liebe, und
ihren Beſitz vorgeſtellt! wie begierig war
ich auf die Stunde, die mich zu ihr fuͤhrte!
Pferde, Poſtknechte, und Bedienten haͤt-
te ich der Geſchwindigkeit meiner Reiſe
aufopfern wollen. Stolz auf ihre Ero-
berung, ſah’ ich den Fuͤrſten und ſeine
Helfer mit Verachtung an. Mein Herz,
mein Puls klopften vor Freude, als ich
das Dorf erblickte, wo ſie war, und bey-
nah haͤtt’ ich aus Ungeduld meine Piſtole
auf den Kerl losgefeuert, der meine Chaiſe
nicht gleich aufmachen konnte. Jn fuͤnf
Schritten war ich die Treppe hinauf.
Sie ſtund oben in engliſcher Kleidung,
weiß, ſchoͤn, majeſtaͤtiſch ſah ſie aus;
mit Entzuͤckung ſchloß ich ſie in meine
Arme. Sie bewillkommte mich ſtam-
melnd; wurde bald roth, bald blaß. Jh-
re Niedergeſchlagenheit haͤtte mich gluͤck-
C 2lich
[36] lich gemacht, wenn ſie nur einmal die
Miene des Schmachtens der Liebe gehabt
haͤtte; aber alle ihre Zuͤge waren allein
mit Angſt und Zwang bezeichnet. Jch
gieng mich umzukleiden, kam bald wie-
der, und ſah durch eine Thuͤre ſie auf der
Bank ſitzen, ihre beyden Arme um den
Vorhang des Fenſters geſchlungen, alle
Muskeln angeſtrengt, ihre Augen in die
Hoͤhe gehoben, ihre ſchoͤne Bruſt von
ſtarkem tiefen Athemholen, langſam be-
wegt; kurz, das Bild der ſtummen Ver-
zweiflung! Sage, was fuͤr Eindruͤcke
mußte das auf mich machen? Was ſollt’
ich davon denken? Meine Ankunft konnte
ihr neue, unbekannte Erwartungen ge-
ben; etwas bange mochte ihr werden;
aber wenn ſie Liebe fuͤr mich gehaht haͤt-
te, war wohl dieſer ſtarke Kampf natuͤr-
lich? Schmerz und Zorn bemaͤchtigten
ſich meiner; ich trat hinein; ſie fuhr zu-
ſammen, und ließ ihre Arme, und ihren
Kopf ſinken; ich warf mich zu ihren Fuͤſ-
ſen, und faßte ihre Knie mit ſtarren be-
benden Haͤnden.
„Laͤcheln
[37]
„Laͤcheln Sie, Lady Sophie, laͤcheln
„Sie, wenn Sie mich nicht unſinnig
„machen wollen — ſchrie ich ihr zu.
Ein Strom von Thraͤnen floß aus ih-
ren Augen. Meine Wuth vergroͤßerte
ſich, aber ſie legte ihre Arme um meinen
Hals, und lehnte ihren ſchoͤnen Kopf auf
meine Stirne.
„Theurer Lord, o, ſeyn Sie nicht boͤſe,
„wenn Sie mich noch empfindlich fuͤr
„meine ungluͤckliche Umſtaͤnde ſehen;
„ich hoffe, durch Jhre Guͤte alles zu
„vergeſſen.
Jhr Hauch, die Bewegung ihrer Lippen,
die ich, indem ich redte, auf meiner Wange
fuͤhlte, einige Zaͤhren, die auf mein Geſicht
fielen, loͤſchten meinen Zorn, und gaben mir
die zaͤrtlichſte, die gluͤcklichſte Empfindung,
die ich in dreyen Wochen mit ihr genoß.
Jch umarmte, ich beruhigte ſie, und ſie
gab ſich Muͤhe den uͤbrigen Abend, und
beym Speiſen zu laͤcheln. Manchmal
deckte ſie mir mit allem Zauber der jung-
fraͤulichen Schamhaftigkeit die Augen zu,
wenn ihr meine Blicke zu gluͤhend ſchienen.
C 3Reizen-
[38]
Reizende Creatur, warum bliebſt du
nicht ſo geſinnt? warum zeigteſt du mir
deine ſympathetiſche Neigung zu Sey-
mour?
Die uͤbrigen Tage ſuchte ich munter zu
ſeyn. Jch hatte ihr eine Laute mitgebracht,
und ſie war gefaͤllig genug, mir ein artiges
welſches Liedchen zu ſingen, welches ſie
ſelbſt gemacht hatte, und worinn ſie die
Venus um ihren Guͤrtel bat, um das Herz,
ſo ſie liebte, auf ewig damit an ſich zu
ziehen. Die Gedanken waren ſchoͤn und
fein ausgedruͤckt, die Melodie ruͤhrend,
und ihre Stimme ſo voll Affect, daß ich
ihr mit der ſuͤßeſten und ſtaͤrkſten Leiden-
ſchaft zuhoͤrte. Aber mein ſchoͤner Traum
verflog durch die Beobachtung, daß ſie
bey den zaͤrtlichſten Stellen, die ſie am
beſten ſang, nicht mich, ſondern mit haͤn-
gendem Kopfe die Erde anſah, und Seuf-
zer ausſtieß, welche gewiß nicht mich zum
Gegenſtande hatten. Jch fragte ſie am
Ende, ob ſie dieſes Lied heute zum er-
ſtenmale geſungen? Nein, ſagte ſie erroͤ-
thend; dieſes veranlaßte noch einige Fra-
gen
[39] gen, uͤber die Zeit, da ſie angefangen haͤt-
te, gut fuͤr mich zu denken, und uͤber ih-
re Geſinnungen fuͤr Seymour. Aber
verdammt ſey die Freymuͤthigkeit, mit
welcher ſie mir antwortete; denn damit
hat ſie alle Knoten losgemacht, die mich
an ſie banden. Hundert Kleinigkeiten,
und ſelbſt die Muͤhe, die es ſie koſtete, zaͤrt-
lich und froͤhlich zu ſeyn, uͤberzeugten
mich, daß ſie mich nicht liebte. Ein we-
nig Achtung fuͤr meinen Witz und fuͤr mei-
ne Freygebigkeit, die Freude nach Eng-
land zu kommen, und kalter Dauk, daß
ich ſie von ihren Verwandten, und dem
Fuͤrſten befreyet hatte: dieß war alles,
was ſie fuͤr mich empfand, alles, was ſie
in meine Arme brachte! Ja, ſie war un-
vorſichtig genug, mir auf meine verliebte
Bitte, die Eigenſchaften zu nennen, die
ſie am meiſten an mir lieben wuͤrde, —
nichts anders als ein Gemaͤhlde von Sey-
mour vorzuzeichnen; und immer betrieb
ſie unſere Reiſe nach Florenz; deutliches
Anzeigen, daß ſie nicht fuͤr das Gluͤck
meiner Liebe, ſondern fuͤr die Befriedi-
C 4gung
[40] gung ihres Ehrgeizes bedacht war! denn
ſie vergiftete alle Tage ihres Beſitzes durch
dieſe Erinnerung, welcher ſie alle moͤgli-
che Wendungen gab, ſo gar, daß ſie mich
verſicherte, ſie wuͤrde mich erſt in Florenz
lieben koͤnnen. Sie vergiftete, ſagt’ ich,
dir mein Gluͤck, aber auch zugleich mein
Herz, welches naͤrriſch genug war, ſich
zuweilen meine falſche Heurath gereuen
zu laſſen, und ſehr oft ihre Partie wider
mich ergriff. Jn der dritten Woche fraß
das Uebel um ſich. Jch hatte ihr engli-
ſche Schriften gegeben, die mit dem feu-
rigſten und lebendigſten Gemaͤhlden der
Wolluſt angefuͤllt waren. Jch hoffte,
daß einige Funken davon, die entzuͤndbare
Seite ihrer Einbildungskraft treffen ſoll-
ten: aber ihre widerſinnige Tugend ver-
brannte meine Buͤcher, ohne ihr mehr zu
erlauben, als ſie durchzublaͤttern, und zu
verdammen. Der Verluſt der Buͤcher,
und meiner Hoffnung brachte einen klei-
nen Ausfall von Unmuth hervor, den ſie
mit gelaſſener Tapferkeit aushielt. Zween
Tage hernach, kam ich an ihren Nacht-
tiſch
[41] tiſch, juſt wie ihre ſchoͤnen Haare gekaͤmmt
wurden; ihre Kleidung war von weißem
Muſſelin, mit rothem Taft, nett an den
Leib angepaßt, deſſen ganze Bildung das
vollkommenſte Ebenmaaß der griechiſchen
Schoͤnheit iſt; wie reizend ſie ausſah! ich
nahm ihre Locken, und wand ſie unter
ihrem rechten Arme um ihre Huͤften.
Milton’s Bild der Eva kam mir in den
Sinn. Jch ſchickte ihr Kammermenſch
weg, und bat ſie, ſich auf einen Augen-
blick zu entkleiden, um mich ſo gluͤcklich
zu machen, in ihr den Abdruck des erſten
Meiſterſtuͤcks der Natur zu bewundern.*)
Schamroͤthe uͤberzog ihr ganzes Geſicht;
aber ſie verſagte mir meine Bitte gerade zu;
ich drang in ſie, und ſie ſtraͤubte ſich ſo lan-
ge, bis Ungeduld und Begierde mir einga-
ben ihre Kleidung vom Hals an durchzureiſ-
ſen, um auch wider ihren Willen zu meinem
Endzweck zu gelangen. Sollteſt du glau-
ben, wie ſie ſich bey einer in unſern Umſtaͤn-
den ſo wenig bedeutenden Freyheit gebehr-
C 5dete?
[42] dete? — „Mylord, rief ſie aus, Sie
„zerreiſſen mein Herz, und meine Liebe fuͤr
„Sie; niemals werd’ ich Jhnen dieſen
„Mangel feiner Empfindungen vergeben!
„O Gott, wie verblendet war ich!“ —
Bittere Thraͤnen, und heftiges Zuruͤckſtoſ-
ſen meiner Arme, begleiteten dieſe Ausru-
fungen. Jch ſagte ihr trocken: ich waͤre
ſicher, daß ſie dem Lord Seymour dieſe
Unempfindlichkeit fuͤr ſein Vergnuͤgen nicht
gezeigt haben wuͤrde. „Und ich bin ſicher,
„ſagte ſie im hohen tragiſchen Ton, daß
„Mylord Seymour mich einer edlern, und
„feinern Liebe werth gehalten haͤtte.
Haſt du jemals die Narrenkappe einer
ſonderbaren Tugend mit wunderlichern
Schellen behangen geſehen, als daß ein
Weib ihre vollkommenſte Reize nicht geſe-
hen, nicht bewundert haben will? Und
wie albern eigenſinnig war der Unter-
ſchied, den ſie zwiſchen meinen Augen, und
meinem Gefuͤhl machte? Jch wollt’ es
Nachmittags von ihr ſelbſt erklaͤrt wiſ-
ſen, aber ſie konnte mit allem Nach-
ſinnen nichts anders ſagen, als daß ſie
bey
[43] bey Entdeckung der beſten moraliſchen Ei-
genſchaften ihrer Seele, die nehmliche
Widerſtrebung aͤußern wuͤrde, ungeachtet
ſie mir geſtund, daß ſie mit Vergnuͤgen be-
merkte, wenn man von ihrem Geiſt, und
von ihrer Figur vortheilhaft urtheile;
dennoch wolle ſie lieber dieſes Vergnuͤgen
entbehren, als es durch ihre eigene Be-
muͤhung erlangen. *) Denkſt du wohl,
daß ich mit dieſem verkehrten Kopfe ver-
gnuͤgt ſollte leben koͤnnen? Dieſes Gemi-
ſche von Verſtand und Narrheit hat ihr
ganzes
[44] ganzes Weſen durchdrungen, und gießt
Traͤgheit und Unluſt uͤber alle Bewegun-
gen meiner muntern Fibern aus. Sie
iſt nicht mehr die Creatur, die ich liebte;
ich bin alſo auch nicht mehr verbunden,
das zu bleiben, was ich ihr damals zu
ſeyn ſchien. — Sie ſelbſt hat mir den
Weg gebahnt, auf welchem ich ihren Feſ-
ſeln entfliehen werde. Der Tod meines
Bruders ſtimmt ohnehin die Saiten mei-
ner Leyer auf einen andern Ton; Jch muß
vielleicht bald nach England zuruͤcke, und
dann kann Seymour ſein Gluͤcke bey
meiner Witwe verſuchen; denn ich
denke, ſie wird’s bald ſeyn; und bloß ih-
rem eigenen Betragen wird ſie dieß zu
danken haben. Da ſie ſich fuͤr meine
Ehefrau haͤlt, war es nicht ihre Pflicht,
ſich in allem nach meinem Sinne zu ſchi-
cken? Hat ſie dieſe Pflicht nicht gaͤnzlich
aus den Augen geſetzt? Liebt ſie nicht ſo
gar einen andern? Und iſt es alſo nicht
billig und recht, daß der Betrug, den ihr
Ehrgeiz an mir begangen, auch durch mich
an ihrem Ehrgeiz geraͤchet werde? Freu-
dig
[45] dig ſeh ich um mich her, wenn ich beden-
ke, das ich das auserwaͤhlte Werkzeug
war, durch welches die Niedertraͤchtigkeit
ihres Oheims, die Luͤſternheit des Fuͤrſten,
und die Dummheit der uͤbrigen Helfer ge-
ſtraft wurde! Es iſt ja ein angenomme-
ner Lehrſatz; daß die Vorſicht ſich der
Boͤſewichter bediene, um die Vergehun-
gen der Frommen zu ahnden. Jch war
alſo nichts als die Maſchine, durch
welche das Weglaufen der Sternheim ge-
buͤßt werden ſollte; dazu wurde mir auch
das noͤthige Pfund von Gaben und Ge-
ſchicklichkeit gegeben. Meine Belohnung
hab’ ich genoſſen. Sie moͤgen ſich nun
ſammt und ſonders ihre erhaltene Zuͤchti-
gung zu Nutz machen!
Wiſſe uͤbrigens, daß ich wuͤrklich der
Vertraute von Seymourn geworden bin.
Auf einem Dorfe ſaß er, und beheulte
den Verluſt der Tugend des Maͤdchens,
waͤhrend, daß ich es in aller Stille auf
der andern Seite unter Dach brachte,
und ihn belachte. Er wollte von mir
wiſſen, wer wohl der Gemahl, mit dem
ſie
[46] ſie, nach ihrem Briefe, entflohen waͤre,
ſeyn koͤnnte? Er hat Couriere nach Flo-
renz abgeſchickt; aber ich hab’ ein Mittel
gefunden, ſeinen Nachſpuͤrungen Einhalt
zu thun, da ich in dem letzten Billet, das
mir die Sternheim nach D. geſchrieben
hatte, alle Worte abriß, die mich haͤtten
verrathen koͤnnen, und das uͤbrige Stuͤck
unter die Papiere des Sekretairs John
warf, uͤber deſſen Ausbleiben man ſtutzig
wurde, und ſein Zimmer auf mein An-
rathen ausſuchte. Bey dieſem Stuͤck Pa-
pier wurden dann die Vermuthungen auf
ihn feſtgeſetzt, und er fuͤr den Erloͤſer er-
klaͤrt, den ſich das feine Maͤdchen erwaͤhlt
habe. Eine Sache, die man als den
Beweis anſah, daß lauter buͤrgerliche
Begriffe und Neigungen in ihrer Seele
herrſchen; und ein Text, woruͤber nun
die adelichen Muͤtter ihren Toͤchtern gegen
die Heurathen außer Stand Jahre lang
predigen werden. Seymours Liebe ver-
ſinkt in Unmuth und Verachtung; er
nennt ihren Namen nicht mehr, und ſchickt
keine Couriere mehr fort, — ich aber
erwarte
[47] erwarte einen aus England, und dann
wirſt du erfahren, ob ich zu dir komme
oder nicht.
Roſina
an
ihre Schweſter Emilia.
O meine Schweſter, wie ſoll ich dir den
entſetzlichen Jammer beſchreiben, der uͤber
unſer geliebtes Fraͤulein gekommen iſt! —
Lord Derby! Gott wird ihn ſtrafen, und
muß ihn ſtrafen! der abſcheuliche Mann!
er hat ſie verlaſſen, und iſt allein nach
England gereiſt. Seine Heurath war
falſch; ein gottloſer Bedienter, wie ſein
Herr, in einen Geiſtlichen verkleidet, ver-
richtete die Trauung. Ach, meine Haͤn-
de zittern es zu ſchreiben; der ſchaͤndliche
Boͤſewicht kam ſelbſt mit dem Abſchieds-
briefe, damit uns ſein Geſicht keinen
Zweifel an unſerm Ungluͤck uͤbrig laſſen
ſollte. Der Lord ſagte: die Dame haͤtte
ihn
[48] ihn nicht geliebt, ſondern nur immer
Mylord Seymourn im Herzen gehabt;
dieſes haͤtte ſeine Liebe ausgeloͤſcht, ſonſt
waͤre er unveraͤndert geblieben. Der
ruchloſe Menſch! Ewiger Gott! Jch, ich
habe auch zu der Heurath geholfen!
Waͤr’ ich nur zum Lord Seymour ge-
gangen! ach wir waren beyde verblen-
det — ich darf unſere Dame nicht an-
ſehen; das Herz bricht mir; ſie ißt nichts;
ſie iſt den ganzen Tag auf den Knien vor
einem Stuhl, da hat ſie ihren Kopf lie-
gen; unbeweglich, außer, daß ſie manch-
mal ihre Arme gen Himmel ſtreckt, und
mit einer ſterbenden Stimme ruft: ach
Gott, ach mein Gott!
Sie weint wenig, und nur ſeit heute;
die erſten zween Tage fuͤrchtete ich, wir
wuͤrden beyde den Verſtand verlieren,
und es iſt ein Wunder von Gott, daß es
nicht geſchehen iſt.
Zwo Wochen hoͤrten wir nichts vom
Lord; ſein Kerl reiſte weg, und fuͤnf
Tage darnach kam der Brief, der uns ſo
ungluͤcklich machte. Der verfluchte Boͤſe-
wicht
[49] wicht gab ihn ihr ſelbſt. Blaß und ſtarr
wurde ſie; endlich, ohne ein Wort zu ſa-
gen, zerriß ſie mit der groͤßten Heftigkeit
ſeinen Brief, und noch ein Papier, warf
die Stuͤcke zu Boden, deutete mit einer
Hand darauf, und mit einem erbaͤrmli-
chen Ausdruck von Schmerzen ſagte ſie
dem Kerl: geh, geh; zugleich aber fiel ſie
auf ihre Knie, faltete ihre Haͤnde, und
blieb uͤber zwo Stunden ſtumm, und wie
halb todt liegen. Was ich ausſtund,
kann ich dir nicht ſagen; Gott weiß es
allein! Jch kniete neben ſie hin, faßte ſie
in meine Arme, und bat ſie ſo lange mit
tauſend Thraͤnen, bis ſie mir mit gebro-
chener matter Stimme und ſtotternd ſag-
te: Derby verlaſſe ſie — ihre Heurath
waͤre falſch, und ſie haͤtte nichts mehr zu
wuͤnſchen als den Tod. — Sie will ſich
nicht raͤchen; bey dir, liebſte Schweſter,
will ſie ſich verbergen. Uebermorgen rei-
ſen wir ab; ach Gott ſey uns gnaͤdig auf
unſerer Reiſe! Du mußt ſie aufnehmen;
Dein Mann wird es auch thun, und ihr
rathen. Wir nehmen nichts mit, was
IITheil. Dvom
[50] vom Lord da iſt; Seinen Wechſelbrief von
ſechshundert Carolinen hat ſie zerriſſen.
All ihr Geld belaͤuft ſich auf dreyhundert;
davon giebt ſie den zwoen Maͤdchen noch
funfzig, und den andern Armen noch funf-
zig. Jhr Schmuck und ein Coffre mit
Kleidern iſt alles, was wir mitbringen.
Du wirſt uns nicht mehr kennen, ſo elend
ſehen wir aus. Sie ſpricht mit niemand
mehr, der Bruder von den zwoen Maͤd-
chen fuͤhrt uns den halben Weg zu dir.
Wir ſuchen Troſt bey dir, liebe Schwe-
ſter! Sie moͤchte dir ſelbſt ſchreiben, und
kann kaum die lieben wohlthaͤtigen Haͤn-
de bewegen. Jch darf nicht nachdenken,
wie gut ſie gegen alle Menſchen war, und
nun muß ſie ſo ungluͤcklich ſeyn! Aber
Gott muß und wird ſich ihrer an-
nehmen.
Fraͤu-
[51]
Fraͤulein Sternheim
an
Emilien.
O meine Emilia, wenn aus dieſem Ab-
grunde von Elend die Stimme Jhrer
Jugendfreundinn noch zu Jhrem Herzen
dringt, ſo reichen Sie mir Jhre liebreiche
Hand; laſſen Sie mich an Jhrer Bruſt
meinen Kummer und mein Leben auswei-
nen. O wie hart, wie grauſam werde
ich fuͤr den Schritt meiner Entweichung
beſtraft! O Vorſicht —
Ach! ich will nicht mit meinem Schick-
ſal rechten. Das erſtemal in meinem Le-
ben erlaube ich mir einen Gedanken von
Rache, von heimlicher Liſt; muß ich
es nicht als eine billige Beſtrafung an-
nehmen, daß ich in die Haͤnde der Bos-
heit und des Betrugs gefallen bin?
Warum glaubte ich dem Schein? —
aber, o Gott! wo, wo ſoll ein Herz wie
dieß, das du mir gabſt, wo ſoll es den
Gedanken hernehmen, bey einer edeln,
D 2bey
[52] bey einer guten Handlung boͤſe Grund-
ſaͤtze zu argwohnen!
Eigenliebe, du machteſt mich elend;
du hießeſt mich glauben, Derby wuͤrde
durch mich die Tugend lieben lernen! —
Er ſagt: er haͤtte nur meine Hand,
ich aber ſein Herz betrogen. Grau-
ſamer, grauſamer Mann! was fuͤ einen
Gebrauch machſt du von der Aufrichtig-
keit meines Herzens, das ſo redlich be-
muͤht war, dir die zaͤrtlichſte Liebe und
Achtung zu zeigen! du glaubſt nicht an
die Tugend, ſonſt wuͤrdeſt du ſie in mei-
ner Seele geſucht und gefunden haben.
Wahr iſt es, meine Emilia, ich hatte
Augenblicke, wo ich meine Befreyung von
den Haͤnden des Mylord Seymour zu
erhalten gewuͤnſcht haͤtte; aber ich riß
den Wunſch aus meinem Herzen; Dank-
barkeit und Hochachtung erfuͤllten es fuͤr
den Mann, den ich zu meinem Gemahl
nahm — toͤdtender Name, wie konnte
ich dich ſchreiben — aber mein Kopf,
meine Empfindungen ſind verwuͤſtet, wie
es mein Gluͤck, mein Ruhm, und meine
Freude
[53] Freude ſind. Jch bin in den Staub ernie-
driget; auf der Erde liege ich, und bitte
Gott, mich nur ſo lange zu erhalten, bis
ich bey Jhnen bin, und den Troſt ge-
nieße, daß Sie die Unſchuld meines Her-
zens ſehen, und eine mitleidige Thraͤne
uͤber mich weinen. Alsdann, o Schick-
ſal, dann nimm es, dieſes Leben, wel-
ches mit keinem Laſter beſchmutzt, aber
ſeit vier Tagen durch deine Zulaſſung ſo
elend iſt, daß es ohne die Hoffnung eines
baldigen Endes unertraͤglich waͤre.
Derbey an ſeinen Freund.
Jch reiſe nach England, und komme
vorher zu dir. Sage mir nichts von
meiner letzten Liebe; ich will nicht mehr
daran denken; es iſt genug an der un-
ruhigen Erinnerung, die ſich mir wider
meinen Willen aufdringt. Meine halbe
Lady iſt fort, aus dem Dorfe, wo ihrem
abentheuerlichen Charakter ein abentheu-
erliches Schickſal zugemeſſen wurde; mit
D 3ſtolzem
[54] ſtolzem Zorn iſt ſie fort; meinen Wechſel-
brief zerriß ſie in tauſend Stuͤcke, und
alle meine Geſchenke hat ſie zuruͤckgelaſſen
Jch haͤtte ſie bald deswegen wieder einge-
hohlt, aber wenn ſie mir meine Streiche
vergeben koͤnnte, ſo wuͤrde ich ſie verach-
ten. Lieben kann ſie mich nach allem die-
ſem unmoͤglich, und ich haͤtte nicht mehr
gluͤcklich mit ihr ſeyn koͤnnen; wozu wuͤr-
de alſo die Verlaͤngerung meiner Rolle
gedient haben? Sie muß doch immer
meine Wahrheitsliebe verehren, und mei-
ne Kenntniſſe der geheimſten Triebfedern
unſrer Seele bewundern. Jch verließ
ſie, unſchluͤßig, was ich mit ihr und mei-
nem Buͤndniß machen ſollte; aber ihre
unaufhoͤrliche Anfoderung, ſie nach Flo-
renz zu fuͤhren, und die Drohung auch
ohne mich abzureiſen, brachte mich dahin,
ihr ganz trocken zu ſchreiben:
„Jch ſehe wohl, daß ſie ſich meiner Lie-
„be nur bedient habe, um ihren Oheim
„Loͤbau zu entgehen, und ihren Ehr-
„geiz in Sicherheit zu ſetzen, daß ſie
„das Gluͤck meiner Liebe, und meines
„Herzens
[55]„Herzens niemals in Betrachtung gezo-
„gen, indem ſie mir nicht den gering-
„ſten Zug meines eigenen Charakters
„zu gut gehalten, und mich nur dann
„geachtet habe, wenn ich mich nach
„ihren Phantaſien gebogen, und mei-
„ne Begriffe mit ihren Grillen geputzt;
„es ſey mir unmoͤglich dem Gemaͤlde
gleich zu werden, welches ſie mir
„von den beliebten Eigenſchaften ihres
„Mannes vorgezeichnet, indem ich nicht
„Seymour waͤre, fuͤr welchen allein ſie
„die zaͤrtliche Leidenſchaft naͤhrte, die ich
„von ihr zu verdienen gewuͤnſcht haͤt-
„te; ihre Beſtuͤrzung, wenn ich ihn ge-
„nennt, ihre Sorgſamkeit nicht von ihm
„zu reden, ja ſelbſt die Liebkoſungen,
„die ſie mir zu Vertilgung meines Arg-
„wohns gemacht — waͤren lauter Be-
„kraͤftigungen der Fortdauer ihrer Nei-
„gung zu Seymour. Sie waͤre die
„Erſte, welche mich zu dem Entſchluſſe
„mich zu vermaͤhlen gebracht haͤtte;
„dennoch aber haͤtt’ ich noch ſo viel
„Vorſichtigkeit uͤbrig behalten, mich
D 4„zuvor
[56]„zuvor ihrer ganzen Geſinnungen ver-
„ſichern zu wollen; hierzu haͤtte mir
„die Maske des Prieſterrocks, den ei-
„ner meiner Leute angezogen, die Ge-
„legenheit verſchafft. Meine Liebe und
„Ehre wuͤrde dadurch eben ſo feſt ge-
„bunden geweſen ſeyn, als durch die
„Trauung, und wenn ſie der Primas
„von England, oder der Pabſt ſelbſt
„verrichtet haͤtte; aber da die Verei-
„nigung unſerer Gemuͤther als das
„erſte Hauptſtuͤck fehlte, ſo waͤre es
„gut, daß wir uns ohne Zeugen und
„Gepraͤnge trennten, wie wir uns
„verbunden haͤtten, weil ich nicht nie-
„dertraͤchtig genug ſey, mich mit dem
„bloßen Beſitz ihrer reizenden Perſon
„zu vergnuͤgen, ohne Antheil an ihrem
„Herzen zu haben, und nicht einfaͤltig
„genug, um ſie fuͤr den Lord Seymour
„nach England zu fuͤhren; ſie haͤtte
„nicht Urſache uͤber mich zu klagen,
„denn ich waͤre es, der ſie den Verfol-
„gungen des Fuͤrſten, und der Gewalt
„ihres Oncles entriſſen; ich haͤtte nur
„ihre
[57]„ihre Hand, ſie aber, weil ſie die Liebe
„nicht fuͤr mich gefuͤhlt habe, welcher
„ſie mich verſichert, haͤtte mein Herz
„betrogen; und nun ſchenke ich ihr ihre
„volle Freyheit wieder.
Jch ſchickte den Kerl ab, und gieng
nach B. bey meiner Taͤnzerinn ein ohn-
fehlbares Mittel gegen alle Gattungen
von unruhigen Gedanken zu ſuchen; auch
gab ſie mir einen guten Theil meiner
Munterkeit wieder.
Mein Bruder koͤnnte zu keiner geleg-
nern Zeit geſtorben ſeyn, als itzt. Mei-
ne Gelder wurden ſeltner geſchickt, und
dieſer naͤrriſche Roman war ein wenig
koſtbar; doch, ſie verdiente alles. Haͤtte
ſie mich nur geliebt, und ihre Schwaͤrme-
rey abgeſchworen! — Jch war naͤrriſch
genug, mich meinen Brief gereun zu laſ-
ſen, und ließ vor zween Tagen nach ihr
fragen; aber weg war ſie; und alles
wohl erwogen, hat ſie recht daran ge-
than; wir koͤnnen und ſollen uns nicht
mehr ſehen. Jhre Briefe, ihr Bildniß
hab ich zerriſſen, wie ſie meinen Wechſel;
D 5aber
[58] aber D., wo alles von ihr ſpricht, wo
mich alles an ſie erinnert, iſt mir uner-
traͤglich. Halte mir eine luſtige Bekannt-
ſchaft zurechte, wie ſie fuͤr einen engli-
ſchen Erben gehoͤrt, um meine wieder
erhaltene Portion Freyheit mit ihr zu ver-
zehren. Denn mein Vater wird mir das
Joch uͤber den Hals werfen, ſo bald ich
ihm nahe genug dazu ſeyn werde. Er
kann mir geben, welche er will; keine
Liebe bring ich ihr nicht zu. Das wenige
was von meinem Herzen noch uͤbrig war,
hat mein deutſches Landmaͤdchen aufge-
zehrt; — der Platz iſt nun voͤllig leer,
ich fuͤhle es; hier und da ſchwaͤrmen noch
einige verirrte Lebensgeiſter herum, und
wenn ich ihnen glaubte, ſo fluͤſterten ſie
mir was von dem Bilde meiner vierzigtaͤ-
gigen Gemahlin zu, deren Schatten noch
darinn herumwandern ſoll; aber ich achte
nicht auf dieſes Geſumſe. Meine Ver-
nunft und die Umſtaͤnde reden meinem
ausgefuͤhrten Plan das Wort; und am
Ende iſt es doch nichts anders, als die Ge-
wohnheit, die mir ihr Bild in D. zuruͤck-
ruft,
[59] ruft, wo ich ſie in allen Geſellſchaften zu
ſehen pflegte, und immer von ihr reden
hoͤre. — Aber bey dem allen ſchwoͤr’
ich dir, nimmermehr ſoll eine Methaphyſi-
kerinn, noch eine Moraliſtinn meine Ge-
liebte werden. Ehrgeiz und Wolluſt al-
lein haben Leute in ihren Dienſten, die
Unternehmungen wagen, und ausfuͤhren
helfen! auch ſind dieſes die einzigen Gott-
heiten, die ich kuͤnftig verehren will; Je-
ner, weil ich von ihm ſo viel Anſehen und
Gewalt zu erlangen hoffe, um alle Gat-
tungen des Vergnuͤgens in meinen Schutz
zu nehmen und zu vertheidigen, bis ich
einſt die liebenswuͤrdigſte davon bey einer
Parlamentswahl erſaͤufe, oder bey einem
Pferderennen den Kopf zerquetſche. Ha,
ſiehſt du, wie ſchoͤn die gewoͤhnlichen
Lordseigenſchaften in mir erwacht ſind;
erſt durch alle ſeine Raͤnke ein artiges
Maͤdchen an mich gezogen, und ſie denen
entriſſen, durch welche ſie gluͤcklich gewor-
den waͤre; unſinnige Verſchwendungen
gemacht, und wenn man alles deſſen ſatt
iſt, den Ton eines Patrioten bey Wette-
rennen
[60] rennen und Wahlen angenommen und der
Zeit uͤberlaſſen, was nach dieſen verſchie-
denen Aufgaͤhrungen in dem Faß nuͤtzli-
ches uͤbrig bleiben mag. —
Hier, meine Freundin, muß ich ſelbſt
wieder das Wort nehmen, und ihnen von
dem, was auf die ungluͤckliche Veraͤnde-
rung in dem Schickſal meiner geliebten
Dame gefolget iſt, eine zuſammenhan-
gende Geſchichte zu liefern.
Das Haus meiner Schweſter war itzt
der einzige Ort, wohin wir in dieſen Um-
ſtaͤnden Zuflucht nehmen konnten. Man
durfte ihr weder von Rache, noch von
Behauptung ihrer Rechte ſprechen; und
der Gedanke auf ihre Guͤter zu gehen, war
in dieſen Umſtaͤnden auch nicht zu faſſen.
Jhr Kummer war ſo groß, daß ſie hoffte,
er wuͤrde ſie toͤdten; ich glaube auch, daß
es geſchehen waͤre, wenn wir uns laͤnger
in dem Hauſe aufgehalten haͤtten, wo
die ungluͤckliche Heurath vollzogen wor-
den
[61] den war. Da ich bey den Zuruͤſtungen
auf unſre Abreiſe ein paar mal die Thuͤre
des Wohnzimmers von Lord Derby oͤff-
nete, und ſie einen Blick hinwarf, glaubte
ich, ihr Schmerz wuͤrde ſie auf der Stelle
erſticken. Sie blieb mit dem aͤußerſten
Jammer beladen in meinem Zimmer, waͤh-
rend, daß ich einpacken mußte. Aber
alle Geſchenke von Lord Derby, welche
ſehr ſchoͤn und in großer Menge da wa-
ren, mußte ich der Wirthinn uͤbergeben.
Wir nahmen nichts als das wenige zu-
ſammen, ſo wir von unſrer Flucht aus
D. mitgebracht hatten. Die Wirthinn,
welche auf einen Monat voraus bezahlt
war, wollte uns noch behalten; aber wir
reiſten den zweyten Tag, von ihrem
Seegen fuͤr uns, und Fluͤchen uͤber den
gottloſen Lord begleitet, Morgens um
vier Uhr ab.
Still und blaß wie der Tod, die Au-
gen zur Erde geſchlagen, ſaß meine liebe
Dame bey mir; kein Wort, keine Thraͤne
erleichterte ihr beklemmtes Herz; zween
Tage reiſten wir durch herrliche Land-
ſchaften,
[62] ſchaften, ohne daß ſie auf etwas achtete;
nur manchmal umfaßte ſie mich mit einer
heftigen gichteriſchen Bewegung, und
legte ihren Kopf einige Augenblicke auf
meine Bruſt; Jch wurde immer aͤngſtiger,
und weinte mit lauter Stimme; daruͤber
ſah ſie mich ruͤhrend an, und ſagte mit
ihrem himmliſchen Ton, indem ſie mich
an ſich druͤckte.
O meine Roſina, dein Kummer zeigt
mir erſt den ganzen Umfang meines
Elends. Sonſt laͤchelteſt du, wenn
du mich ſahſt, und nun betruͤbt mein
Anblick dein Herz! O, laß mich nicht
denken, daß ich auch dich ungluͤcklich
gemacht habe! ſey ruhig, du ſiehſt ja
mich ganz gelaſſen.
Jch war froh, ſie wieder ſo viel reden
zu hoͤren, und einige Zaͤhren aus ihren
erſtorbnen Augen fallen zu ſehen; Jch
antwortete:
ich wollte gerne ruhig ſeyn, wenn ich
Sie nicht ſo niedergeſchlagen ſaͤhe,
und wenn ich nur noch einige Funken
der Zufriedenheit bey Jhnen bemerkte,
die
[63]die ſie ſonſt bey dem Anblick einer ſchoͤ-
nen Gegend fuͤhlten.
Sie ſchwieg einige Minuten, und be-
trachtete den Himmel um uns her; dann
ſagte ſie unter zaͤrtlichen Weinen:
Es iſt wahr, liebe Roſina, ich lebe,
als ob mein Ungluͤck alles Gute und
Angenehme auf Erden verſchlungen
haͤtte; und dennoch liegt die Urſache
meines Jammers weder in den Ge-
ſchoͤpfen, noch in ihrem wohlthaͤtigen
Urheber. Warum bin ich von der vor-
geſchriebenen Bahn abgewichen? —
Sie fieng darauf eine Wiederholung
ihres Lebens, und der merkwuͤrdigſten Um-
ſtaͤnde ihres Schickſals an. Jch ſuchte
ſie mit ſich ſelbſt, und den Beweggruͤnden
ihrer Handlungen, beſonders mit den Ur-
ſachen ihrer heimlichen Heurath, und
Flucht aus D., zufrieden zu ſtellen, und
gewann doch ſo viel, daß ſie bey dem An-
blick der vollen Scheuren, und dem Ge-
wuͤhle der Herbſtgeſchaͤffte in den Doͤrfern
die wir durchfuhren, vergnuͤgt ausſah,
und ſich uͤber das Wohl der Landleute
freute.
[64] freute. Aber der Anblick junger Maͤdchen,
beſonders, die in einerley Alter mit ihr
zu ſeyn ſchienen, brachte ſie in ihre vorige
Traurigkeit, und ſie bat Gott mit gefal-
teten Haͤnden, daß er ja jede reine wohl-
denkende Seele ihres Geſchlechts, vor dem
Kummer bewahren moͤge, der ihr zaͤrtli-
ches Herz durchnage.
Unter dieſen Abwechslungen kamen wir
gluͤcklich in Vaels an. Mein Schwager und
meine Schweſter empfiengen uns mit allem
Troſt der tugendhaften Freundſchaft, und
ſuchten meine liebe Dame zu beruhigen;
aber am fuͤnften Tage wurde ſie krank,
und zwoͤlf Tage lang dachten wir nichts
anders, als daß ſie ſterben wuͤrde. Sie
ſchrieb auch einen kleinen Auszug ihres
Verhaͤngniſſes, und ein Teſtament. Aber
ſie erhohlte ſich wider ihr Wuͤnſchen; und
als ſie wieder auf ſeyn konnte, ſetzte ſie
ſich in die Kinderſtube meiner Emilia, und
lehrte ihr kleines Pathgen leſen; dieſe
Beſchaͤfftigung, und der Umgang mit
meinem Schwager und meiner Schweſter,
beruhigten ſie augenſcheinlich; ſo, daß
man
[65] mein Schwager es einmal wagte, ſie uͤber
ihre Entſchließungen und Entwuͤrfe fuͤr
die Zukunft zu befragen. Sie ſagte:
„Sie haͤtte noch nichts bedacht, als
„daß ſie auf ihren Guͤtern ihr Leben
„beſchließen wollte; aber bis zu Ende
„der drey Jahre, fuͤr welche ſie dem
„Graf Loͤbau ihre Einkuͤnfte ver-
„ſichert haͤtte, wollte ſie nichts von
„ſich wiſſen laſſen; — und wir
mußten ihrem eifrigen Anhalten hierinn
nachgeben. Sie nahm eine fremde
Benennung an; ſie wollte in Beziehung
auf ihr Schickſal Madam Leidens
heißen, und als eine junge Officiers-
witwe bey uns wohnen. Sie verkaufte
die ſchoͤnen Brillianten, welche die Bild-
niſſe ihres Herrn Vaters und ihrer Frau
Mutter umfaſſeten, und entſchloß ſich
auch den uͤbrigen Theil ihres Schmucks
zu Geld zu machen, und von den Zinſen
zu leben; daneben aber wollte ſie Gutes
thun, und einige arme Maͤdchen im Ar-
beiten unterrichten.
IITheil. EDie-
[66]
Dieſer Gedanke wurde nachher die
Grundlage zu dem uͤbrigen Theil ihres
Schickſals. Denn eines dieſer Maͤdchen,
welches von einer der reichſten Frauen in
der Gegend aus der Taufe gehoben wor-
den, gieng zu ihrer Pathe, um ihr etwas
von der erlernten Arbeit zu weiſen. Dieſe
Frau fragte nach der Lehrmeiſterinn, und
drang hernach in meinen Schwager, daß
er die Madam Leidens zu ihr bringen
moͤchte, um eine wohlthaͤtige Schule in
ihrem Hauſe zu errichten, und als Ge-
ſellſchafterinn bey ihr zu leben. Meine
Dame wollte es Anfangs nicht eingehen,
indem ſie fuͤrchtete, zuviel bekannt zu
werden; aber mein Schwager ſtellte ihr
ſo eifrig vor, daß ſie eine Gelegenheit ver-
ſaͤume, viel Gutes zu thun, daß er ſie end-
lich uͤberredte, zumal da ſie dadurch das
Haus ihrer Emilia zu erleichtern glaubte,
wo ſie befuͤrchtete, Beſchwerden zu ma-
chen, ohngeachtet ſie Koſtgeld bezahlte.
Sie kleidete ſich bloß in ſtreifige Lein-
wand, zu Leibkleidern gemacht mit großen
weißen Schuͤrzen, und Halstuͤchern, weil
ihr
[67] ihr noch immer etwas englaͤndiſches im
Sinne lag; ihre ſchoͤne Haare und Ge-
ſichtsbildung verſteckte ſie in außerordent-
liche große Hauben; ſie wollte ſich damit
verſtellen, aber ihre ſchoͤne Augen, das
Laͤcheln der edlen Guͤte, ſo unter den
Zuͤgen des innerlichen Grams hervor-
leuchtete, ihre feine Geſtalt und Stellung,
und der artigſte Gang zogen alle Augen
nach ſich, und Madam Hills war ſtolz auf
ihre Geſellſchaft. Jhre Abreiſe ſchmerzte
uns, denn der Wohnort von Madam
Hills war drey Stunden entfernt; aber
ihre Briefe troͤſteten uns wieder. Auch
Sie werden ſie gewiß lieber leſen, als
mein Geſchmier.
E 2Fraͤu-
[68]
Fraͤulein von Sternheim
als Madam Leidens
an
Emilia.
Erſt den zehnten Tag meines Hierſeyns
ſchreibe ich Jhnen, meine ſchweſterliche
Freundinn! bisher konnte ich nicht;
meine Empfindungen waren zu ſtark und
zu wallend, um den langſamen Gang
meiner Feder zu ertragen. Nun haben
mir Gewohnheit und zween heitere Mor-
gen, und die Ausſicht in die ſchoͤnſte und
freyeſte Gegend, das Maas von Ruhe
wiedergegeben, das noͤthig war, um mich
ohne Schwindel und Beaͤngſtigung die
Stufen betrachten zu laſſen, durch welche
mein Schickſal mich von der Hoͤhe des
Anſehens und Vorzugs herunter gefuͤhrt
hat. Meine zaͤrtlichſten Thraͤnen floſſen
bey der Erinnerung meiner Jugend und
Erziehung; Schauer uͤberfiel mich bey
dem Gedanken an den Tag, der mich nach
D. brachte, und ich eilte mit geſchloſſenen
Augen bey der folgenden Scene voruͤber.
Nur
[69] Nur bey dem Zeitpuncte meiner Ankunft
in Jhrem Hauſe verweilte ich mit Ruͤh-
rung; denn nachdem mir das Verhaͤng-
niß alles geraubt hatte, ſo war ich um
ſo viel aufmerkſamer auf den Zufluchtsort,
den ich mir gewaͤhlt hatte, und auf die
Aufnahme, die ich da fand. Zaͤrtliches
Mitleiden war in dem Geſichte meiner
treuen Emilia, Ehrfurcht und Freund-
ſchaft in dem von ihrem Manne gezeich-
net; ich ſah, daß ſie mich unſchuldig
glaubten, und mein Herz bedauerten;
Jch konnte ſie als Zeugen meiner Unſchuld
und Tugend anſehen. O, wie erquickend
war dieſer Gedanke fuͤr meine gekraͤnkte
Seele! Meine Thraͤnen des erſten Abends
waren der Ausdruck des Danks fuͤr den
Troſt, den mich Gott in der treuen
Freundſchaft meiner Emilia hatte finden
laſſen. Der zweyte Morgen war hart
durch die wiederhohlte Erzaͤhlung aller
Umſtaͤnde meiner jammervollen Geſchichte.
Die Betrachtungen und Vorſtellungen ih-
res Mannes troͤſteten mich, noch mehr aber
meine Spaziergaͤnge in ihrem Hauſe, der
E 3armen
[70] armen uͤbelgebauten Huͤtte, worinn mit
Jhnen alle Tugenden unſers Geſchlechts,
und mit ihrem Manne alle Weisheit und
Verdienſte des ſeinigen wohnen. Jch aß
mit ihnen, ich ſah Sie bey Jhren Kin-
dern; ſah die edle Genuͤgſamkeit mit Jh-
rem kleinen Einkommen, Jhre zaͤrtliche
muͤtterliche Sorgen, die vortreffliche Art,
mit der Jhr Mann ſeine arme Pfarrkin-
der behandelt. Dieſes, meine Emilia,
goß den erſten Tropfen des Balſams der
Beruhigung in meine Seele. Jch ſah
Sie, die in ihrem ganzen Leben alle
Pflichten der Klugheit und Tugend erfuͤl-
let hatten, mit Jhrem Hochachtungswuͤr-
digen Manne und fuͤnf Kindern unter der
Laſt eines eiſernen Schickſals, ohne daß
Jhnen das Gluͤck jemals zugelaͤchelt haͤt-
te; Sie ertrugen es mit der ruͤhmlichſten
Unterwerfung; und ich! ich ſollte fort-
fahren uͤber mein ſelbſtgewebtes Elend ge-
gen das Verhaͤngniß zu murren? Eigen-
ſinn und Unvorſichtigkeit, hatten mich,
ungeachtet meiner redlichen Tugendliebe,
dem Kummer, und der Veraͤchtlichkeit
ent-
[71] entgegen gefuͤhrt; ich hatte vieles verlo-
ren, vieles gelitten; aber ſollte ich des-
wegen das genoſſene Gluͤck meiner erſten
Jahre vergeſſen, und die vor mir liegende
Gelegenheit, Gutes zu thun, mit gleich-
guͤltigem Auge betrachten, um mich allein
der Empfindlichkeit meiner Eigenliebe zu
uͤberlaſſen? Jch kannte den ganzen Werth
alles deſſen, was ich verloren hatte;
aber meine Krankheit und Betrachtungen,
zeigten mir, daß ich noch in dem wahren
Beſitz der wahren Guͤter unſers Lebens
geblieben ſey.
„Mein Herz iſt unſchuldig und rein;
„Die Kenntniſſe meines Geiſtes ſind
„unvermindert;
„Die Kraͤfte meiner Seele und meine
„guten Neigungen haben ihr Maas
„behalten; und ich habe noch das
„Vermoͤgen, Gutes zu thun.
Meine Erziehung hat mich gelehrt, daß
Tugend und Geſchicklichkeiten das ein-
zige wahre Gluͤck, und Gutes thun, die
einzige wahre Freude eines edlen Herzens
E 4ſey;
[72] ſey; das Schickſal aber hat mir den Be-
weis davon in der Erfahrung gegeben.
Jch war in dem Kreiſe, der von gro-
ßen und glaͤnzenden Menſchen durchloffen
wird; nun bin ich in den verſetzt, den
mittelmaͤßiges Anſehen und Vermoͤgen
durchwandelt, und graͤnze ganz nahe an
den, wo Niedrigkeit und Armuth die
Haͤnde ſich reichen. Aber ſo ſehr ich nach
den gemeinen Begriffen vom Gluͤck geſun-
ken bin, ſo viel Gutes kann ich in dieſen
zween Kreiſen ausſtreuen.
Meine reiche Frau Hills, laſſ’ ich durch
meinen Umgang und meine Unterredun-
gen, das Gluͤck der Freundſchaft und der
Kenntniſſe genießen. Meinen armen
Maͤdchen gebe ich das Vergnuͤgen, ge-
ſchickt und wohl unterrichtet zu werden,
und zeige ihnen, eine angenehme Ausſicht
in ihre kuͤnftigen Tage.
Madam Hills hat mir ein artiges
Zimmer, wovon zwey Fenſter ins Feld
gehen, eingeraͤumt; von da geh’ ich in
ihren Saal, der fuͤr die Unterrichtsſtun-
den meiner dreyzehn Maͤdchen beſtimmt iſt,
Sie
[57[73]] Sie ernaͤhrt und kleidet ſie, ſchafft Buͤ-
cher und Arbeitsvorrath an; nicht eine
Stunde verſaͤumt ſie, und hoͤrt meinen
Unterricht mit vieler Zufriedenheit; manch-
mal vergießt ſie Thraͤnen, oder druͤckt mir
die Haͤnde, und wohl zwanzigmal nickt
ſie mir den freundlichſten Beyfall zu. So
oft es geſchieht, faͤllt ein Strahl von
Freude in mein Herz. Es iſt angenehm
um ſein ſelbſt Willen geliebt zu werden!
Und nun hab’ ich einen Gedanken, Emi-
lia; aber ihr Mann muß mir ihn ausar-
beiten helfen.
Madam Hills hat eine Art von Stolz,
aber er iſt edel und wohlthaͤtig. Sie
moͤchte ihr großes Vermoͤgen zu einer
ewig daurenden Stiftung verwenden;
aber ſie ſagt, es muͤßte eine Stiftung ſeyn,
die ganz neu waͤre, und die ihr Ehre und
Segen braͤchte; und ſie will, daß ich auf
etwas ſinne. — — Koͤnnte itzt nicht
meine kleine Maͤdchenſchule der Anlaß dazu
werden, ein Geſindhaus zu ſtiften, wor-
inn arme Maͤdchen zu guten und geſchick-
ten Dienſtmaͤdchen gezogen wuͤrden? Jch
E 5wollte
[74] wollte an meinen dreyzehn Schuͤlerinnen
die Probe machen, und theilte ſie nach
der Anlage von Geiſt und Herzen in
Claſſen.
- 1) Sanfte, gutherzige Geſchoͤpfe, bil-
dete ich zu Kinderwaͤrterinnen; - 2) Die Anlage zu Witz, und geſchickte
Finger zur Cammerjungfer; - 3) Nachdenkende und fleißige Maͤdchen
zu Koͤchinnen und Haushaͤlterinnen; und - 4) die letzte Claſſe von dienſtfaͤhigen zu
Haus-Kuͤchen- und Gartenmaͤgden —
Dazu muß ich nun ein ſchickliches Haus
mit einem Garten haben; einen vernuͤnf-
tigen Geiſtlichen, der ſie die Pflichten ih-
res Standes kennen und lieben lehrte;
und dann wackere und wohldenkende ar-
me Witwen, oder betagte ledige Perſo-
nen, die den verſchiedenen Unterricht in
Arbeiten beſorgten.
Dieſe Jdee beſchaͤfftiget mich genug,
um dem vergangenen ſchmerzhaften Theil
meines Lebens, das meiſte meines Nach-
denkens zu entziehen, und uͤber meinen
bittern Kummer den ſuͤßen Troſt zu ſtreuen,
daß
[75] daß ich die Urſache, ſo vieler kuͤnftigen
Wohlthaten werden koͤnnte. Aber hier-
bey faͤllt mir ein Gleichniß ein, ſo ich
mit der Eigenliebe machen moͤchte; —
daß ſie von Polypen-Art ſey; man kann
ihr alle Zweige und Arme nehmen, ja ſo
gar den Hauptſtamm verwunden; ſie wird
doch Mittel finden, ſich in neue Aus-
wuͤchſe zu verbreiten. Wie verwundet,
wie gedemuͤthiget war meine Seele! und
nun — leſen ſie nur die Blaͤtter meiner
Betrachtungen durch, und beobachten ſie
es, was fuͤr ſchoͤne Stuͤtzen meine
ſchwankende Selbſtzufriedenheit gefunden
hat, und wie ich allmaͤhlig zu der Hoͤhe
eines großen Entwurfs empor geſtiegen
bin — o, wenn die wohlthaͤtige Naͤch-
ſtenliebe, nicht ſo tiefe Wurzeln in mei-
nem Herzen gefaſſet haͤtte, daß ſie mit
meiner Eigenliebe ganz verwachſen waͤre,
was wuͤrde aus mir geworden ſeyn?
Zwey-
[76]
Zweyter Brief
von
Madam Leidens.
Sie ſind, liebſte Freundinn, mit dem
Ton meines letzten Briefs beſſer zufrieden,
als ſie es ſeit meiner Abreiſe aus D. nie-
mals waren. Darf ich wohl meine
Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen,
weil ſie mir von der Veraͤnderung meiner
Jdeen und Ausdruͤcke ſpricht. Jch fuͤhle
dieſe Verſchiedenheit ſelbſt; aber ich finde
auch, daß ſie eine ganz natuͤrliche Wuͤr-
kung der großen Abaͤnderung meines
Schickſals iſt. Zu D. war ich angeſehen,
mit Gluͤcksausſichten umgeben, und mit
mir ſelbſt zufrieden, daher auch geſchickter,
muntere Beobachtungen uͤber fremde Ge-
genſtaͤnde zu machen. Mein Witz ſpielte
frey mit kleinen Beſchreibungen, und mit
Lob und Tadel alles deſſen, was mit mei-
nen Jdeen ſtimmte, oder nicht. Nach
dem wurde ich von Gluͤck und Selbſt-
zufriedenheit entfernt; Thraͤnen und Jam-
mer ſind mein Antheil worden. War es
da
[77] da moͤglich, daß ſich die Schwingen mei-
ner Einbildungskraft unbeſchraͤnkt und
freudig haͤtten bewegen koͤnnen, da das
Beſte, was alle Kraͤfte meiner Seele
thun konnten, gelaſſene Ertragung
meines Schickſals war, — eine Tu-
gend, wobey der Geiſt wenig Geſchaͤfftig-
keit aͤußern kann. Jhr Mann kannte
mich; er ſah: daß er mich gleichſam aus
mir ſelbſt herausfuͤhren, und mir bewei-
ſen mußte, daß es noch in meiner Gewalt
ſtehe, Gutes zu thun. Dieſer Gedanke
allein, konnte mich ins thaͤtige Leben zu-
ruͤckfuͤhren.
Haben Sie Dank, beſte Freunde, daß
Sie meinen Entwurf zu einem Geſindhaus
ſo ſehr billigen und erheben; es duͤnkt
mich, als ob Jemand meiner gebeugten
Seele die Hand reiche und ſie liebreich
ermuntere, ſich wieder zu erheben, und
mit einem edlen Schritte vorwaͤrts zu ge-
hen, da ſie von dem kleinen dornichten
Pfad, auf welchen ſie durch einen blen-
denden Schein gerathen war, nun auf
einen ebnen Weg geleitet worden iſt, deſſen
Seiten
[78] Seiten freylich mit kleinen glaͤnzenden Pa-
laͤſten und praͤchtigen Auftritten der gro-
ßen Welt umfaßt ſind, aber dagegen je-
dem ihrer Blicke, die reinen Reize der
unverdorbenen Natur, in ihren phyſiſchen
und moraliſchen Wuͤrkungen zeiget.
Dieſe Ermunterung hatte ich noͤthig,
meine Freunde, weil ich ſchon ſo lange
dachte, daß ich an dem edlen Stolz eines
fehlerfreyen Lebens keinen Anſpruch mehr
zu machen habe, indem ich die Haͤlfte
meines widrigen Schickſals, meiner eig-
nen Unbedachtſamkeit zuzuſchreiben haͤtte;
und die Frucht dieſer Betrachtung war
Unterwerfung und Geduld. Haͤtte
ich nach den Regeln der Klugheit gehan-
delt, und durch mein heimliches Verbind-
niß und Fliehn, keine Geſetze beleidiget,
ſo haͤtte ich in der Jdee einer uͤbenden
Standhaftigkeit und Großmuth ſchon
eine Stuͤtze des edlen Stolzes gefunden,
welche der Schuldloſe ergreift, wenn er
durch Bosheit anderer, und unvorgeſehe-
nes Ungluͤck, in dem Genuß ſeines Ver-
gnuͤgens geſtoͤrt wird. Er kann ſeine
Belei-
[79] Beleidiger mit Herzhaftigkeit anſehen, oder
ſeinen Blick mit ruhiger Verachtung von
ihnen wenden; Er ſieht ſich nicht nach
Freunden, die ihn bedauren, ſondern
nach Zeugen ſeines bewundernswuͤrdigen
Betragens um; unter dieſen Beſchoͤffti-
gungen ſeines Geiſtes, ſtaͤrkt ſich ſeine
Seele, und ſammelt ihre Kraͤfte, um den
Berg der Ehre, und des Wohlergehens
auf einer andern Seite zu erſteigen. Jch
aber mußte mich durch die Erinnerung
meiner Unvorſichtigkeit in den Schleyer
der Verborgenheit huͤllen, ehe ich mich
der neuern Fuͤhrung meines Geſchickes
uͤberließ. Dennoch fehe ich bluͤhende
Blumen, welche die Hoffnung eines gu-
ten Erfolgs, zum Beſten vieler Nachkom-
menden, auf meine nun betretenen Wege
ausſtreuet; Ruhe und Zufriedenheit laͤ-
cheln mir zu; die Tugend, hoffe ich,
wird mein Flehen erhoͤren, und meine be-
ſtaͤndige Begleiterinn ſeyn. Das Gluͤck
meines Herzens wird groͤßer und edler,
da es Antheil an dem Wohlergehen ſo
vieler anderer nimmt, ſeine angenehmſten
Gewohn-
[80] Gewohnheiten und Wuͤnſche vergißt, und
ſein Leben und ſeine Talente zum Beſten
ſeines Naͤchſten verwendet. Aber bey je-
dem Schritte meines itzigen Lebens ver-
groͤßert ſich das Gluͤck meiner genoſſenen
Erziehung, worinn mir alles in den rich-
tigen moraliſchen Geſichtspunkt geſtellet
wurde. Nach dieſem bildete man meine
Empfindungen, waͤhrend dem mein Ver-
ſtand zu Beobachtungen uͤber verkehrte
Begriffe, und dadurch eingewurzelte Ge-
wohnheiten geleitet wurde.
Wie gluͤcklich iſt es fuͤr mein Herz, daß
mir die Wahrheit: daß vor Gott kein
anderer, als der moraliſche Unterſchied
unſerer Seelen Statt finde; ſo tief einge-
praͤgt wurde! was haͤtte ich in meinen
itzigen Umſtaͤnden zu leiden, wenn ich mit
den gewoͤhnlichen Vorurtheilen meiner
Geburt behaftet waͤre! Wie verehrungs-
wuͤrdig, wie verdienſtsvoll iſt der kluge Ge-
brauch, den meine geliebte Aeltern von
der uns allen angebornen Eigenliebe, bey
meiner Erziehung machten! Waͤren koſt-
bare Kleider und Putz jemals ein Theil
meiner
[81] meiner Gluͤckſeligkeit geweſen; wie ſchmerz-
haft waͤre mir der Anzug meiner geſtreiften
Leinwand? Reinlichkeit, und wohlausge-
ſuchte Form meiner Kleider, laſſen meine
ganze Welblichkeit zufrieden vom Spiegel
gehen; und was bleibt meiner hoͤchſten
Einbildung noch zu wuͤnſchen uͤbrig, da
ich mich in dieſer geringen Kleidung mit
Liebe und Ehrfurcht betrachtet ſehe, und
dieſ Geſinnungen allein dem Ausdruck
meines moraliſchen Charakters zu danken
habe?
Jch ſtehe fruͤh auf, ich lege mich an
mein Fenſter, und ſehe, wie getreu die
Natur die Pflichten des ihr aufgelegten
ewigen Geſetzes der Nutzbarkeit in allen
Zeiten und Witterungen des Jahres er-
fuͤllt. Der Winter naͤhert ſich; die Blu-
men ſind verſchwunden, und auch bey
den Stralen der Sonne hat die Erde kein
glaͤnzendes Anſehen mehr; aber einem
empfindſamen Herzen giebt auch das leere
Feld ein Bild des Vergnuͤgens. Hier
wuchs Korn, denkt es, und hebt ein
dankbares Auge gen Himmel; der Gemuͤß-
II.Theil. Fgarten,
[82] garten, die Obſtbaͤume ſtehen beraubt da,
und der Gedanke des Vorraths von Nah-
rung, den ſie gegeben, miſchet unter den
Schauer des anfangenden Nordwindes
ein warmes Gefuͤhl von Freude. Die
Blaͤtter der Obſtbaͤume ſind abgefal-
len, die Wieſen verwelkt, truͤbe Wolken
gießen Regen aus; die Erde wird locker,
und zu Spaziergaͤngen unbrauchbar; das
gedankenloſe Geſchoͤpf murret daruͤber;
aber die nachdenkende Seele ſieht die er-
weichende Oberflaͤche unſers Wohnplatzes
mit Ruͤhrung an. Duͤrre Blaͤtter und
gelbes Gras werden durch Herbſtregen zu
einer Nahrung der Fruchtbarkeit unſrer
Erde bereitet; dieſe Betrachtung laͤßt uns
gewiß nicht ohne eine frohe Empfindung
uͤber die Vorſorge unſers Schoͤpfers, und
giebt uns eine Ausſicht auf den nachkom-
menden Fruͤhling. Mitten unter dem
Verluſt aller aͤußerlichen Annehmlichkei-
ten, ja ſelbſt dem Widerwillen ihrer ge-
naͤhrten und ergoͤtzten Kinder ausgeſetzt,
faͤngt unſere muͤtterliche Erde an, in ih-
rem Jnnern fuͤr das kuͤnftige Wohl derſel-
ben
[83] ben zu arbeiten. Warum, ſag’ ich dann,
warum iſt die moraliſche Welt ihrer Be-
ſtimmung nicht eben ſo getreu, als die
phyſicaliſche? Die Frucht der Eiche brach-
te niemals was anders, als einen Eich-
baum hervor; der Weinſtock allezeit Trau-
ben; warum ein großer Mann klein den-
kende Soͤhne? — warum der nuͤtzliche
Gelehrte und Kuͤnſtler unwiſſende elende
Nachkoͤmmlinge? — tugendhafte Aeltern
Boͤſewichter? — Jch denke uͤber dieſe
Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine
unzaͤhlige Menge Hinderniſſe, die in der
moraliſchen Welt (ſo wie es auch oͤfters
in der phyſicaliſchen begegnet) Urſache
ſind, daß der beſte Weinſtock aus Man-
gel guter Witterung ſaure, unbrauchbare
Trauben traͤgt — und vortreffliche Ael-
tern ſchlechte Kinder erwachſen ſehen.
Etliche Schritte weiter in meiner Vorſtel-
lung ſtehe ich ſtill, kehre in mich ſelbſt zu-
ruͤck und ſage: iſt nicht die helle Ausſicht
meiner gluͤcklichen Tage auch truͤbe ge-
worden, und der aͤußerliche Schimmer
wie vertrocknetes Laub von mir abgefal-
F 2len?
[84] len? vielleicht hat unſer Schickſal auch
Jahrszeiten? Jſt es, ſo will ich die
Fruͤchte meiner Erziehung und Erfahrung
waͤhrend dem traurigen Winter meines
Verhaͤngniſſes zu meiner moraliſchen Nah-
rung anwenden; und da die Aernte da-
von ſo reich war, dem Armen, deſſen
kleiner, ungebeſſerter Boden wenig trug,
davon mittheilen was ich kann. Wuͤrk-
lich hab’ ich einen Theil guter Saamen-
koͤrner in eine dritte Hand gelegt, um ei-
nen magern, duͤrren Boden anzubauen.
Der ſanften Freundſchaft iſt die Pflege
anvertraut, und ich werde acht Tage
lang die Oberaufſicht haben. Leben Sie
wohl!
Madam
[85]
Madam Hills
an
Herrn Prediger Br **.
Erſchrecken Sie nicht, lieber Herr Pre-
diger, daß Sie anſtatt eines Briefes von
Madam Leidens einen von mir bekommen.
Sie iſt nicht krank, gewiß nicht; aber
die liebe Frau hat mich auf vierzehn Tage
verlaſſen, und wohnt in einem ganz frem-
den Hauſe, wo ſie viel arbeitet, und —
was mir Leid thut — auch gar ſchlecht
ißt; hoͤren Sie nur wie dieß zugieng!
O, ein ſolcher Engel iſt noch nie in eines
Reichen, noch in eines Armen Hauſe ge-
weſen! ich kann das nicht ſo ſagen was
ich denke, und ſchreiben kann ich gar
nicht. Doch ſehen Sie: Jhre Frau
weiß, wie arm der Herr G. nach Verluſt
ſeines Amts mit Frau und Kindern gewor-
den iſt. Nun, ich gab immer was; aber
ich konnte die Leute nicht dulden; Jeder-
mann ſagte auch, daß Er hochmuͤthig und
Sie nachlaͤßig waͤre, und daß alles Gute
F 3an
[86] an ihnen verloren ſey. Dieß machte mich
boͤſe, und ich redte davon mit der Jung-
fer Lehne, der ich auch Huͤlfe gebe; Sie
arbeitet aber auch; Madam Leidens war
dabey, und fragte die Jungfer nach den
Leuten; und ſie erzaͤhlte ihr den ganzen
Lebenslauf, weil ſie von Kind auf bey-
ſammen geweſen waren. Den andern
Tag beſuchte Madam Leidens die Frau
G., und kam ſehr geruͤhrt nach Hauſe.
Beym Nachteſſen ſagte ſie mir von den
Leuten ſo viel bewegliches, daß ich uͤber ſie
weinte, und ihnen ſo gut wurde, daß ich
gleich ſagte: ich wollte Aeltern und Kinder
verſorgen. Aber dieß wollte ſie nicht haben.
Den folgenden Morgen aber brachte ſie
mir dieß Papier. Sie muͤſſen mirs wie-
der geben, es ſoll bey meinem Teſtamente
liegen mit meiner Unterſchrift, und ein
Lob auf Madam Leidens von meiner eige-
nen Hand, und noch etwas uͤber Madam
Leidens, das ich itzt nicht ſage. Sie
gieng zu ihren Maͤdchen, und ließ mir
das Papier. Jch habe mein Tage nichts
kluͤger ausgedacht geſehen. Zween Fiſche
mit
[87] mit Einer Angel zu fangen, und die Leute
klug und geſchickt zu machen, nun dieß
verſteht ſich recht ſchoͤn. Jch verwunderte
mich, und weinte zweymal, weil ich es
zweymal durchleſen mußte, um es recht zu
faſſen. Jch ſchrieb darunter: alles, alles
bewilligt, und gleich auf Morgen, — aber
dieß ſagte ich ihr muͤndlich, und ich ſchrieb
es auch auf das Papier, wenn ichs zum
Teſtament lege, daß ſie mich nicht ihre
Wohlthaͤterinn nennen ſoll. Was gab
ich ihr dann? — ein Bißchen Eſſen und
ein Zimmerchen. — Aber warten Sie
nur, ich will ſchon was ausſinnen; ſie
ſoll nicht aus meinem Hauſe kommen, wie
ſie meint. Wenn ich nur noch den Bau
meines Geſindhauſes erlebe; da laß ich
ihren Namen zu dem meinigen in Stein
hauen, und da heiße ich ſie meine ange-
nommene Tochter, und da wird ſich jeder
wundern, daß ſie mein Geld nicht fuͤr
ſich behalten, und einen andern huͤbſchen
Mann genommen habe, und da lobt man
mich und ſie zuſammen, und dieß goͤnn’
ich ihr recht wohl. Sie muß mir auch
F 4arme
[88] arme Kinder aus der Taufe heben, damit
es Kinder mit ihrem Namen hier giebt,
und dieſe ſollen, wie meine Aennchens,
vorzuͤglich in mein Geſindhaus kommen.
Meine Brille machte mich muͤde; ich
konnte heute fruͤh nicht weiter ſchreiben,
und da mir die Zeit nach Madam Leidens
lang war: ſo gieng ich ſchnur gerade hin
ins Haus der Frau G. Es reute mich,
weil mir die Leute ſo viel dankten, und
vielleicht geglaubt haben, ich waͤre des-
wegen gekommen; und es geſchah doch
bloß, um meine Tochter zu ſehen; denn
ich ſag’ Jhnen, wenn ſie zuruͤck koͤmmt,
muß ſie mich ihre Mutter nennen.
Jch ließ mein Aufwartmaͤdchen die
Thuͤre ein wenig aufmachen, und es war
gewiß ſchoͤn in dem Zimmer durch die
Leute darinn, nicht durch die Moͤbeln,
denn es ſind keine ſchoͤne da; — Stroh-
ſtuͤlchen und ein Paar Tiſche. Jn einer
Ecke war der Vater mit dem aͤlteſten
Sohne, der bey ihm ſchrieb und rechnete;
im halben Zimmer der andre Tiſch; Frau G.
ſtrickte; Jungfer Lehne ſaß zwiſchen den zwo
klei-
[89] kleinen Maͤdchen, und lehrte ihr naͤhen; Ma-
dam Leidens hatte ein Bouquet italiaͤniſche
Blumen vor ſich, die ſie fuͤr Stuͤhle zum
Verkauf abzeichnet. Der juͤngere Sohn
und die aͤlteſte Tochter ſahen ihr auf die
Finger, und ſie redete recht ſuͤß und freund-
lich mit ihnen. Jch mußte uͤber ſie wei-
nen, und auch uͤber die Kinder, die ſie
ſo lieb haben, und mir ſo dankten. Der
wilde Mann wurde roth, wie er mir
dankte, und die Frau lachte ganz leicht-
ſinnig dabey; das thut aber nichts, ich
will Jhnen, wie es Madam Leidens ver-
anſtaltete, aufhelfen, bis ſie ganz auf
den Beinen ſind; und Jungfer Lehne ſoll
den erſten Platz der Lehrmeiſterinnen fuͤr
Cammerjungfern haben. Jch ließ zartes
Abendbrodt und gutes Obſt holen; Sie
koͤnnen nicht glauben, wie die Kinder
Freude daran hatten; aber Madam Lei-
dens war nicht damit zufrieden. Sie
fuͤrchtet, die geringen Speiſen, welche
das wenige Vermoͤgen zulaͤßt, moͤchten
itzt den Kindern nicht mehr ſo lieb ſeyn;
ſie ſagt: ſie wolle ſie nicht durch den
F 5Ma-
[90]Magen belohnen, und itzt gebe ich
nichts wieder; Sie aß auch nur einen
Apfel und ein Stuͤck Hausbrodt. Jch
fragte ſie darum, und ſie ſagte zu der
Tochter: ſolche Aepfel koͤnnen wir in un-
ſerm Garten ziehen, aber dieß Brodt kann
nur eine Madam Hills backen laſſen.
Da hatte ichs! Aber ich wurde nicht boͤ-
ſe; ſie hatte Recht; Sie will nicht, daß
man gewoͤhnliches Brodt eſſen fuͤr Ungluͤck
halte. — Nun ſind acht Tage vorbey,
daß ſie bey den Leuten iſt; kuͤnftige Wo-
che koͤmmt ſie wieder zu mir, und da
wird ſie Jhnen ſchreiben. Beten Sie
fuͤr das liebe Kind, und fuͤr mein Le-
ben. — O, niemals werde ich vergeſſen,
daß Sie mir dieſe Perſon anvertrauten;
ich war mein Tage nicht ſo froͤhlich mit
allem meinem Gelde, als ich es bin, ſeit
ich ſie bey mir habe! —
Plan
[91]
Plan der Huͤlfe fuͤr die Familie G.
und die Jungfer Lehne.
Meine liebe Wohlthaͤterinn hat mir auf-
getragen, meine Gedanken der Huͤlfe fuͤr
die Familie G. aufzuſchreiben. Jch moͤch-
te mit dieſen aus eigner Schuld elend ge-
wordnen Leuten gerne umgehen, wie der
Arzt mit einem Kranken, der ſeine Ge-
ſundheit muthwillig verdorben hat; er
thut alles, was zur Huͤlfe noͤthig iſt, aber
er verbindet ſeine Verordnungen zugleich
mit Ausuͤbung einer Diaͤt, die er ihm
durch Vorſtellung der kuͤnftigen Gefahr
und der vergangenen Leiden augenſchein-
lich nothwendig macht; durch eine lang-
ſame, aber anhaltende Cur hilft er ihm
zu neuen Kraͤften, ſo, daß er endlich wie-
der ohne Arzt leben kann. Zu ſehr ſtaͤr-
kende Mittel gleich Anfangs gebraucht,
wuͤrden das Uebel in dem Coͤrper befeſti-
gen, und alſo fuͤr die Zukunft ſchaͤdlich
ſeyn. Der Familie G. wuͤrde es mit
großen Geſchenken auch ſo ergehen; wir
wollen ihr alſo mit Vorſicht zu Huͤlfe
kommen,
[92] kommen, und die Wurzel des Uebels zu
heilen ſuchen.
Die wohlthaͤtige Guͤte der Madam
Hills giebt Anfangs die noͤthigen Kleider,
Leinen und Hausgeraͤthe. Von den er-
ſten wurden nur die allerunentbehrlichſten
Stuͤcken ſchon verfertigt gegeben; das
uͤbrige aber im Ganzen, damit die Frau
und ihre Toͤchter es mit eigner Handar-
beit zurechte machen; und wenn ſie damit
fertig ſind, ſo bekommen ſie einen Vor-
rath an Flachs und Baumwolle, um ſel-
bige zu verarbeiten, und in Zukunft das
abgehende an Leinen- und baumwollenen
Zeuge erſetzen zu koͤnnen, und dieſes iſt
die Sache der Muͤtter und Toͤchter.
Die Talente und den Stolz des Herrn
G. will ich dahin zu bringen ſuchen, ſei-
nen zerfallenen Ruhm durch die Bemuͤ-
hung einer guten Kinderzucht wieder auf-
zubauen. Erziehung iſt er ſeinen Kin-
dern ſchuldig; das Vermoͤgen hat er
nicht, Lehrmeiſter zu bezahlen, wie edel
waͤr’ es, wenn er mit Fleiß und Vater-
treue den Schaden des verſchwendeten
Ver-
[93] Vermoͤgens erſetzte, und ſeinen Kindern
Schreib- und Rechnungsunterricht gaͤbe!
Fuͤr das Latein der Soͤhne erhalten Ma-
dam Hills zween Plaͤtze, welche armen
Schuͤlern beſtimmt ſind; Herr G. haͤlt
aber die Lehr- und Wiederholungsſtunden
ſelbſt mit ihnen; und gewiß wuͤrde man
einem Mann, der ſeine vaͤterliche Pflich-
ten ſo getreu erfuͤllte, mit der Zeit ein
Amt des Vaterlandes anvertrauen. Nun
koͤmmt die Betrachtung, daß die beſchul-
digte Nachlaͤßigkeit der Frau G. alles wie-
der zu Grunde richten wuͤrde; dieſem Ue-
bel hoffe ich durch die Jungfer Lehne zuvor
zu kommen.
Sie war die Jugendfreundinn der Frau
G., und hat von ihren Aeltern Gutes ge-
noſſen. Jch denke, ſie wuͤrde es der Toch-
ter gerne vergelten, wenn ſie nicht ſelbſt
arm waͤre; da ſie aber einen vorzuͤglichen
Reichthum an Geſchicklichkeit beſitzt, ſo
koͤnnte ſie dadurch eine Wohlthaͤterinn
ihrer Freundinn werden, wenn ſie das
Amt einer Aufſeherinn uͤber den Gebrauch
der Wohlthaten und der Lehrmeiſterinn
bey
[94] bey den Toͤchtern der Frau G. verwal-
ten wollte.
Madam Hills thun der Jungfer Lehne
Gutes, ich weiß, daß ſie dankbar ſeyn
moͤchte, und wie kann ſie es auf eine
ruͤhmlichere Art werden, als wenn ſie
ihrer eignen Beſchuͤtzerinn die Haͤnde
reicht, um ihre ungluͤckliche Freundinn
aus dem Verderben zu ziehen? Und mit
wie vieler Achtung wird ſie von den beſten
Einwohnern angeſehen werden, wenn ſie
durch die Guͤte ihres Herzens die Grund-
lage der Wohlfahrt von drey unſchuldi-
gen Kindern befeſtigen und bauen hilft?
Wenn meine theure Frau Hills mit die-
ſen Gedanken zufrieden ſind, ſo will ich
ſie dem Herrn und der Frau G., wie auch
der Jungfer Lehne vortragen; und, dann
bitte ich, mir zu erlauben, auf zwo Wo-
chen in dem Hauſe des Herrn G. zu woh-
nen, um ihnen zu zeigen, daß dieſe Vor-
ſchriften zu der Verwendung ihres Lebens
nicht hart und nicht unangenehm ſind.
Denn ich will durch gute Worte und Ach-
tung den Mann an ſein Haus und an
ſeine
[95] ſeine Familie gewoͤhnen, und dann einige
Tage die Stelle der Mutter, und wieder
einige die Stelle der Jungfer Lehne be-
kleiden, und daneben die Herzen der Kin-
der zu guten Neigungen zu lenken, und
ihre Faͤhigkeiten ausfindig zu machen ſu-
chen, um ſie mit der Zeit nach ihrem be-
ſten Geſchicke anzubauen. Aber in Klei-
dung, Eſſen, Hausgeraͤthe, ſollen ſie noch
den Mangel fuͤhlen, und durch dieſes Ge-
fuͤhl zu Erkenntniß und Aufmerkſamkeit
kommen; bis ſie durch Genuͤgſamkeit,
Fleiß und gute Geſinnungen wieder in die
Claſſe eintreten koͤnnen, aus der ſie durch
Verſchwendung und Sorgloſigkeit gefallen
ſind. Vorwuͤrfe werde ich ihnen nicht
machen; aber ich werde ihnen durch Er-
zaͤhlung einiger Umſtaͤnde meines Lebens
die Zufaͤlligkeit des Gluͤcks beweiſen, und
den Kindern ſagen, daß mir nichts als
meine Erziehung uͤbrig geblieben ſey,
welche mir die Freundſchaft von Madam
Hills, und die Gelegenheit gegeben haͤtte,
ihnen Dienſte zu leiſten. Dann werde ich
auch von dem Stolze reden koͤnnen, der
uns
[96] uns bloß fuͤhren ſoll, einen edlen Ge-
brauch von Gluͤck und Ungluͤck zu ma-
chen. Denn ich moͤchte nicht bloß ihren
Koͤrper ernaͤhrt und gekleidet ſehen, ſon-
dern auch die ſchlechten Geſinnungen ih-
rer Seele gebeſſert, und ihren Verſtand
mit ſchicklichen Begriffen erfuͤllet wiſſen.
Madam Leidens
an
Emilien.
Nun bin ich wieder zu Haus, und
wollte Jhnen von der Ausſaat reden,
wovon mein letzter Brief ſagte, daß ich
ſie einer dritten Hand anvertrauen wuͤr-
de; aber Madam Hills erzaͤhlt mir:
daß ſie Jhnen alles geſchrieben habe.
O meine Freundin! wie ſchoͤn waͤre
der moraliſche Theil unſers Erdkreiſes,
wenn alle Reichen ſo daͤchten wie Ma-
dam Hills, die ſich freut, wenn man
ihr Gelegenheit giebt, ihre Gluͤcksguͤter
wohl anzuwenden! Sie, meine Emilia,
ſollen
[97] ſollen die Beweggruͤnde ſehen, die mich
dazu brachten, der Jungfer Lehne das
Verwaltungsamt zu geben. Sie wiſſen,
wie ich die arme Familie kennen lernte:
eben dieſe Perſon redte bey Frau Hills von
ihren Umſtaͤnden. Jch bemerkte in ihrem
halb mitleidigen, halb anklagenden Ton
eine Art von Neid uͤber die Wohlthaten,
welche jene genoſſen, und die Begierde, ſie
allein an ſich zu ziehen. Sie ſprach zu-
gleich viel davon, wie ſie es an der Stelle
von Frau G. machen wuͤrde. Jch aͤr-
gerte mich, ſo kalte, und uͤbelthaͤtige Ue-
berbleibſel einer ſo ſtark geweſenen Jugend-
freundſchaft anzutreffen, und hatte Muth
genug den Plan zu faſſen, dieſes halb ver-
moderte Herz zu dem Nutzen ſeiner erſten
Freundinn brauchbar zu machen. Jch
ließ ſie nichts von meinen Betrachtungen
uͤber ſie merken, und ſagte ihr nur, daß
ſie mich in das Haus fuͤhren ſollte. Der
Anblick des Elends, und die Zaͤrtlichkeit,
welche ihr die Frau bewieß, ruͤhrte ſie,
und in dieſer Bewegung nahm ich ſie in
mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor,
II.Theil. Gund
[98] und mahlte mit den lebhafteſten Farben
die Schoͤnheit der Rolle, die ich ihr auf-
truͤge, worinn ſie ſich das Wohlgefallen
Gottes, und die Achtung und die Seg-
nungen aller Rechtſchaffenen zu verſpre-
chen haͤtte. Jch uͤberzeugte ſie, daß ſie
mehr Gutes thue als Frau Hills, wel-
che bey ihren Geldgaben nur das Ver-
gnuͤgen genoͤſſe, von ihrem Ueberfluſſe
von Zeit zu Zeit etwas abzugeben; da
hingegen ihre taͤgliche Bemuͤhungen und
ihre Geduld die Tugenden des edelſten
Herzens ſeyn wuͤrden. Jch gewann ſie
um deſto leichter, weil ich ihr das Lob
der Madam Hills dadurch zuzog, daß
ich ſagte: der Einfall waͤre ihr ſelbſt ge-
kommen. Mein Plan wurde bewilligt,
und ich fuͤhrte ihn die erſten zwo Wochen
ſelbſt aus.
Die Annahme einer Verwalterinn ſchien
beſchwerlich, aber ich erhielt doch die Ein-
willigung, beſonders da ich ſagte, daß
ich ſelbſt vierzehn Tage bey ihnen wohnen
wuͤrde.
Den
[99]
Den erſten Tag legte ich ihnen die Ge-
ſchenke von Madam Hills vor, theilte jedem
das Seinige, mit Ermahnung zur Sorgfalt,
zu, und ſagte ihnen: daß ſie durch Scho-
nen, und ſparſamen Gebrauch der Wohl-
thaten, theils ihre Dankbarkeit, theils
ein edles Herz zeigen wuͤrden, welches die
Guͤte, die man ihm beweiſt, nicht mis-
brauchen moͤchte. Hierauf ſagte ich, wie
ich ihre Umſtaͤnde anſaͤhe, und was ich fuͤr
einen Plan ihres Lebens, und ihrer Be-
ſchaͤfftigung daraus gezogen haͤtte; bat
aber jedes: mir ſeine Wuͤnſche, und Ein-
wendungen zu ſagen.
Ehe ich dieſe beantwortete, machte ich
ihnen einen kurzen und nuͤtzlichen Auszug
meiner eigenen Geſchichte. Jch blieb
beſonders bey dem Artikel des Anſehens
und Reichthums ſtehen, worinn ich ge-
boren und erzogen worden; ſagte ihnen
meine ehemaligen Wuͤnſche und Neigun-
gen, auch wie ich ſie mir itzt verſagen
muͤſſe, und ſchloß dieſe Erzaͤhlung mit
freundlichen Anwendungen, und Zuſpruͤ-
chen fuͤr ſie. Durch dieſes oͤffnete ſich
G 2ihr
[100] ihr Herz zum Vertrauen, und zur Bereit-
willigkeit meinem Rathe zu folgen. Die
beſten Sachen, ſo eine reiche und gluͤck-
liche Perſon geſagt haͤtte, wuͤrden wenig
Eindruck gemacht haben; aber der Ge-
danke, daß auch ich arm ſey, und andern
unterworfen leben muͤſſe, brachte Biegſam-
keit in ihre Gemuͤther. Jch fragte: was
ſie an meiner Stelle wuͤrden gethan ha-
ben? Sie fanden aber meine Moral gut,
und wuͤnſchten auch ſo zu denken. Dar-
auf gieng ich in den Vorſchlag ein, was
ich an ihrem Platze thun wuͤrde; und ſie
waren es herzlich zufrieden. O, dachte
ich, wenn man bey Beweggruͤnden zum
Guten allezeit in die Umſtaͤnde und Nei-
gungen der Leute eingienge, und der uns
allen gegebenen Eigenliebe nicht ſchnur-
ſtracks Gewalt anthun wollte, ſondern ſie
mit eben der Klugheit zum Huͤlfsmittel
verwaͤnde, wodurch der ſchmeichelnde
Verfuͤhrer ſie zu ſeinem Endzweck zu len-
ken weiß: ſo wuͤrde die Moral ſchon
laͤngſt die Grenzen ihres Reichs und die
Zahl ihrer Ergebenen vergroͤßert haben.
Eigen-
[101]
Eigenliebe! angenehmes Band, welches
die liebreiche Hand unſers guͤtigen Schoͤp-
fers dem freyen Willen anlegte, um uns
damit zu unſrer wahren Gluͤckſeligkeit zu
ziehen; wie ſehr hat dich Unwiſſenheit und
Haͤrte verunſtaltet, und die Menſchen zu ei-
nem unſeligen Misbrauch der beſten Wohl-
that gebracht! Laſſen Sie mich zuruͤck-
kommen.
Am zweyten Tage ſtellte ich die Frau
G. vor, und in ihrer Perſon ſprach ich
mit Jungfer Lehne von unſrer alten Liebe,
und wie gern ich ihr die Stelle goͤnnte,
die ſie in meinem Hauſe zu vertreten haͤt-
te, da ich glaubte: ſie wuͤrde den Ge-
brauch eines guten Herzens davon machen.
Jch ſagte, was ich (nach dem Willen der
Frau G, mit der ich allein vorher ge-
ſprochen hatte) von ihr wuͤnſchte, wieß
die Toͤchter an ſie an, und ſetzte hinzu:
daß wir allezeit alles gemeinſchaftlich
uͤberlegen und vornehmen wollten. So-
dann war ich zween Tage Jungfer
Lehne, — und die folgenden drey in der
Stelle der drey Toͤchter.
G 3Unter
[102]
Unter dem Arbeiten machte ich ſie durch
Huͤlfe der Religion mit dem beruhigenden
Vergnuͤgen bekannt, welches die Betrach-
tung der Natur in verſchiedenem Maaße
in unſer Herz gießt. Frau Hills ſchaffte
Buͤcher an, die ich ausgeſucht hatte, und
die beyden Soͤhne mußten wechſelsweiſe
etwas daraus vorleſen, wobey ich die
Kinder immer Betrachtungen und Anwen-
dungen machen lehrte. Die zwo aͤlteſten
Maͤdchen haben viel Geſchicke und Ver-
ſtand. Jch lehrte ſie meine Tapetenar-
beit, und die aͤlteſte Zeichnungen dazu zu
machen. Jch ermunterte ihren Fleiß
durch den Stolz, indem ich ihnen ſagte:
daß ſie dieſe Arbeit entweder ganz an
Kaufleute verhandeln, oder ſich um die
Haͤlfte wieder neue Wolle ſchaffen, und
fuͤr die andre etwas eintauſchen koͤnnten,
ſo ihnen noͤthig waͤre; ich verſprach ihnen
auch, dieſe Arbeit ſonſt niemanden zu leh-
ren. Nun ſitzen des Tages die zwo Maͤd-
chen und die Mutter daran, weil die Vor-
ſtellung vom Verhandeln ihrer Eitelkeit
ſchmeichelt.
Jungfer
[103]
Jungfer Lehne ſagte: daß alles gut
fortgehe, und iſt daſelbſt ungemein ver-
gnuͤgt, da ſie wegen ihrer Aufſicht und
Probe einer wahren Freundſchaft ſo ſehr
gelobt wird.
Jch habe das Haus mit Thraͤnen ver-
laſſen, und werde alle Woche zween
halbe Tage hingehen. Die vierzehn Ta-
ge, die ich da zubrachte, floſſen voll Un-
ſchuld und Friede dahin; eine jede Minute
davon, war mit einer uͤbenden Tugend
erfuͤllt, da ich Gutes that und Gutes
lehrte. Nun bitten Sie Gott, liebſte
Emilia, daß er dieſe kleine Saat meiner
verarmten Hand zur reichen Aernte fuͤr
das Wohl dieſer Familie werden laſſe.
Niemals, nein, niemals haben mir die Ein-
kuͤnfte meiner Guͤter, welche mich in Stand
ſetzten, dem Armen durch Geldgaben zu
Huͤlfe zu kommen, ſo viel wahre Freude
gegeben, als der Gedanke: daß mein
Herz ohne Gold, allein durch Mittheilung
meiner Talente, meiner Geſinnungen,
und etlicher Tage meines Lebens, das
Beſte fuͤr dieſe Familie gethan hat.
G 4Meine
[104]
Meine kleinen Zeichnungen ſind Urſa-
che, daß der zweyte Sohn zu einem Mi-
gnatuͤrmahler koͤmmt, weil der junge Kna-
be ſie mit der groͤßten Puͤnktlichkeit und
außerordentlich fein nachahmte.
Die ganze Familie liebt und ſegnet
mich. Madam Hills laͤßt bereits die
Steine zum Geſindhaus fuͤhren und be-
hauen. Denken ſie nicht, beſte Freun-
dinn, daß ſich zu gleicher Zeit, dauer-
hafte Grundtheile eines neuen moraliſchen
Gluͤcksbaues in meiner Seele ſammlen,
worinn meine Empfindungen Schutz und
Nahrung finden werden, bis der Sturm
von ſinnlichem Ungluͤck voruͤber ſeyn wird,
der den Wohnplatz meines aͤußerlichen
Wohlergehns zerſtoͤrte?
Madam
[105]
Madam Leidens
an
Emilien.
Emilia! fragen Sie den metaphyſiſchen
Kopf ihres Mannes, woher der Wider-
ſpruch kaͤme, der ſich, zwiſchen meinen
ſtaͤrkſten immerwaͤhrenden Empfindungen
und meinen Jdeen zeigte, als ich von
Frau Hills gebeten wurde: ihre liebſte
Freundinn, die ſchoͤne anmuthsvolle Wit-
we von C. — zu einem guͤtigen Ent-
ſchluß, fuͤr einen ihrer Verehrer, bereden
zu helfen? Woher kam es, daß ich der
Liebe und dem aus ihr kommenden Gluͤck
irgend eines Mannes das Wort reden
konnte, da die Fortdauer meiner durch
die Liebe erfahrnen Leiden mich eher zur
Unterſtuͤtzung der Kaltſinnigkeit der ſchoͤ-
nen Witwe haͤtte bringen ſollen? Jch
kann nicht denken; daß allein der Geiſt
des Widerſpruchs, durch welchen es uns
natuͤrlich iſt anders zu denken als andre
Leute, daran Urſache ſey. Oder waͤre es
moͤglich, daß in einem Stuͤcke meines,
G 5durch
[106] durch die Haͤnde der Liebe zerriſſenen Her-
zens noch ein Abdruck der wohlthaͤtigen
Geſtalt geblieben waͤre, worunter ich mir
einſt in den heitern Tagen meiner laͤcheln-
den Jugend, ihr Bild vormahlte? Oder
konnte wohl der lange Gram meine junge
Vernunft zu dem Grade der Reife ge-
bracht haben, welcher noͤthig iſt: mich
uͤber die Umſtaͤnde einer andern Perſon,
ohne alle Einmiſchung meiner eignen Em-
pfindungen nachdenken und urtheilen zu
laſſen? Sie ſehen, daß ich uͤber mich
zweifelhaft bin; helfen Sie mir zu
Rechte.
Hier iſt mein Geſpraͤch mit der Witwe.
„Vier rechtſchaffene Maͤnner bewerben
„ſich um ihre Gunſt, woher koͤmmt es,
„theureſte Frau von C. — daß Sie ſo
„lange waͤhlen?“
„Jch waͤhle nicht; ich will meine Frey-
„heit genießen, die ich durch ſo viele
„Bitterkeit erkaufen mußte.
„Sie haben nicht Unrecht Jhre Frey-
„heit zu lieben, und auf alle Weiſe zu
„genießen, der edelſte Gebrauch davon
„waͤre,
[107] „waͤre aber doch derjenige: aus freyem
„Willen jemanden gluͤcklich zu machen.
O, das Gluͤck, wovon Sie reden, iſt
„meiſtens nur in der feurigen Phanta-
„ſie eines itzt brennenden Liebhabers,
„und verſchwindet, ſobald die erloſche-
„ne Flamme ihr Zeit giebt, ſich wieder
„abzukuͤhlen.
„Dieſes, meine geliebte Frau von C —
„kann wahr ſeyn, wenn die Liebe eines
„jungen Mannes allein durch die Augen
„entſtanden iſt, und an der Seite des
„bluͤhenden Maͤdchens lodert, deren un-
„ausgebildeter Charakter dieſem Feuer
„keine dauerhafte Nahrung geben kann.
„Aber Sie, die wegen Jhrem Geiſt, we-
„gen Jhrem edlen Herzen geliebet werden,
„Sie ſind ſicher es unausloͤſchlich zu
„machen.
„Meine Verdienſte haͤtten alſo die Ei-
„genſchaft des perſiſchen Naphta; aber
„in welchem meiner Liebhaber liegt das
„Herz, welches ein gleichdauerndes
„Feuer aushalten koͤnnte?
„Jn
[108]
„Jn jedem; denn Liebe und Gluͤckſelig-
„keit ſind der unverzehrbare Stoff, wor-
„aus unſere Herzen gebauet ſind. *)
„Jeder hat aber auch eine eigne Jdee
„von der Gluͤckſeligkeit; ich koͤnnte alſo
„bey meiner zwoten Wahl, wieder juſt
„das Herz treffen, deſſen Begriffe von
„Gluͤckſeligkeit nicht mit meinem Cha-
„rakter uͤbereinſtimmten, und da ver-
„loͤhren wir beyde.
„Jhre Ausflucht iſt fein, aber nicht
„richtig. Zehn Jahre, welche zwiſchen
„der erſten und letzten Wahl ſtehen, ha-
„ben durch viele Erfahrungen Jhren Ein-
„ſichten die Kraft gegeben, die Verſchie-
„denheit der Perſonen und Umſtaͤnde zu
„beurtheilen, und beſonders die Gewalt
„zu bemerken, mit welcher die letztere
„Sie
[109] „Sie in Jhre erſte Verbindung hinein-
„gezogen.
„Wie genau Sie alles hervorſuchen;
„Aber ſagen Sie, liebe Madam Lei-
„dens, wen wuͤrden Sie waͤhlen, wenn
„Sie an meiner Stelle waͤren?
„Den, von dem ich hoffte, ihn am
„meiſten gluͤcklich machen zu koͤnnen.
„Und dieß waͤre in ihren Augen —
„Der liebenswuͤrdige Gelehrte, deſſen
„ſchoͤner und aufgeklaͤrter Geiſt Jhnen
„das Vergnuͤgen gewaͤhrte, daß nicht die
„geringſte Schattirung Jhrer Verdienſte
„ungefuͤhlt, und ungeliebt blieben, in
„deſſen Umgang der edelſte Theil Jhres
„Weſens unendliche Vortheile genießen
„koͤnnte, indem Er Sie an der Hand der
„Zaͤrtlichkeit durch das weite Gebiet ſei-
„ner Wiſſenſchaft fuͤhren wuͤrde, wo ſich
„Jhr Geiſt ſo angenehm unterhalten und
„ſtaͤrken koͤnnte. Wie gluͤcklich wuͤrde
„ſein gefuͤhlvolles Herz durch das Ver-
„gnuͤgen, durch die Verdienſte und die
„Liebe ſeiner ſchaͤtzbaren Gattinn werden;
„und
[110] „und wie gluͤcklich wuͤrde Jhre empfind-
„ſame Seele durch das von Jhnen ge-
„ſchaffene Gluͤck dieſes wuͤrdigen Mannes
„ſeyn; Wie ſuͤß waͤre Jhr Antheil an ſei-
„nem Ruhm, und an ſeinen Freunden!
„O Madam Leidens! wie ſtark mah-
„len Sie die ſchoͤne Seite! Soll ich
„nicht ſehen, daß alle Staͤrke dieſer
„ſchaͤtzbaren Empfindlichkeit ſich auch
„bey meinen wahren, und zufaͤlligen
„Fehlern zeigen wuͤrde, und wohin
„neigt ſich da die Waagſchale der Gluͤck-
„ſeligkeit?
„Dahin, wo ihre angeborne Sanft-
„muth, und Gefaͤlligkeit ſie feſt halten
„wird.
„Gefaͤhrliche Frau, wie viele Blumen
„Sie auf die verſteckte Kette ſtreuen!
„Sie thun mir Unrecht, ich zeige nur
„den Vorrath von Blumen, deren Werth
„ich kenne, und die Jhnen die Liebe anbie-
„tet, um eine Kette von Zufriedenheit
„daraus zu binden —
„Und
[111]
„Und uͤberſehen die Menge von Dor-
„nen, welche unter dieſen Roſen ver-
„borgen ſind —
„Darauf antworte ich nicht, ich wuͤr-
„de Jhre Klugheit und Billigkeit belei-
„digen.
„Werden Sie nicht boͤſe, und weiſen
„Sie mir noch die ſchoͤnen Farben der
„uͤbrigen Baͤnder, wovon Sie mir
„Schleifen knuͤpfen wollen.
„Kommen Sie, vielleicht wird der ar-
„tige Uebermuth, den Jhnen Jhre vorzuͤg-
„liche Liebenswuͤrdigkeit giebt, durch die
„Eigenſchaft der Geburt und Perſon ei-
„nes der edelſten Soͤhne des preußiſchen
„Kriegsgottes leichter gezaͤhmt, als durch
„die ſanfte Hand der Muſen: dieß Band
„iſt ſchoͤn, ein glaͤnzender Nahme, Edel-
„muͤthigkeit der Seele, wahre Liebe und
„Verehrung ihres Charakters iſt darinn
„verwebt; goldene Streifen des angeſehe-
„nen Rangs, des neuen ſchoͤnen Kreiſes,
„in den ſie dadurch verſetzt werden, lie-
„gen im Grunde, Blicke in angenehme
„Gegen-
[112] „Gegenden, wo Jhnen die Briefe der
„Hochachtungswuͤrdigen Frau von ***
„zeigen, daß ſeine Liebe Jhnen ſchon
„Freundinnen und Verehrer bereitet hat;
„und verdiente nicht ſchon die großmuͤthi-
„ge Aufopferung aller Vorrechte des alten
„Adels, das Gegenopfer Jhrer Unſchluͤßig-
„keit und Jhres Mistrauens?
„Zauberinn! wie kuͤnſtlich miſchen Sie
„Jhre Farben!
„Warum Zauberinn, liebſte Frau von
„C —? fuͤhlen Sie den ſtarken Reiz der
„ſtrahlenden Faͤden, womit der Zufall dieß
„Band umwunden hat?
„Ja, aber dem Himmel ſey Dank,
„Sie ſchrecken mich deswegen, weil
„Sie mich blenden.
„Liebenswuͤrdige Schuͤchternheit, o,
„koͤnnte ich dich in die Seele jedes gefuͤhl-
„vollen Geſchoͤpfs legen, welches von
„den ſchoͤnen Farben eines Kunſtfeuers
„angelockt, verblendet, und auf einmal
„in der grauſamen Finſterniß eines trau-
„rigen Schickſals verlaſſen wird!
„Liebe
[113]
„Liebe Frau! wie ruͤhrend loben Sie
„mich; wie ſehr erwecken Sie die muͤt-
„terliche Sorgen fuͤr meine anwachſen-
„de Tochter!
Zaͤrtlich umarmte ich Sie fuͤr dieſe edle
Bewegung ihres, von wahrer Guͤte be-
lebten Herzens; „goͤnnen Sie mir, ſagte
„(ich) in dieſem, der Empfindung ge-
„weyheten Augenblicke, Jhre Aufmerkſam-
„keit, fuͤr die, in Wahrheit wenig ſchim-
„mernde, aber feſt gegruͤndete Zufrieden-
„heit, die Sie in dem artigen Landhauſe
„des Herrn T. erwartet, worinn Sie
„durch einen edelmuͤthigen Entſchluß zu-
„gleich drey der heiligſten Pflichten erfuͤl-
„len koͤnnten; — Die ſehnlichen Wuͤn-
„ſche eines verdienſtvollen angenehmen
„Mannes zu kroͤnen, der Sie nicht um
„der Reize ihrer Perſon willen, (denn
„dieſe kennt er nicht) ſondern wegen dem
„reizenden Bilde liebt, ſo ihm von Jhrer
„Seele gemacht wurde; der, nachdem Er
„allen Ausdruck ſeiner Empfindungen fuͤr
„Sie erſchoͤpft hatte; mit der edelſten Be-
„wegung, die jemals das Herz eines Rei-
II.Theil. Hchen
[114] „chen erſchuͤtterte, hinzuſetzte: Jhre Tochter
„ſollte das Kind ihres Herzens werden, und
„alles ſein Vermoͤgen ihr zugewandt ſeyn.
„Wuͤrden ſie nicht dadurch zugleich der
„muͤtterlichen Pflicht auch fuͤr die aͤußer-
„liche Gluͤckſeligkeit ihres Kindes zu ſor-
„gen, genug thun? Und konnte die ge-
„horſame Ergebung des Willens Jhrer Ju-
„gendlichen Jahre dem Herzen Jhres ehr-
„wuͤrdigen Vaters jemals ſo viel Freude
„machen, als Sie ihm in den itzigen Jah-
„ren Jhrer Freyheit machen wuͤrden,
„wenn Sie ſeinen Rath, ſeine zaͤrtlichen
„Wuͤnſche fuͤr eine Verbindung befolgten,
„wodurch Sie ihm genaͤhert, und in den
„Stand geſetzt wuͤrden, ſein vaͤterliches
„Herz in dem letzten Theile ſeines Lebens
„fuͤr alle Muͤhe der Erziehung ſeiner Kin-
„der zu belohnen? Bedenken Sie ſich,
„liebreiche und gegen alle Menſchen leut-
„ſelige und wohlthaͤtige Frau! Jch will
„Jhnen nichts von der hochachtungswuͤr-
„digen Hand ſagen, die in einer unſrer
„ſchoͤnſten Reſidenzſtaͤdte auf den guͤtigen
„Wink der Jhrigen wartet, wo eine An-
„zahl
[115] „zahl verdienſtvoller Perſonen, Jhnen
„Buͤrge fuͤr die Tugend des Herzens, fuͤr
„die Kenntniſſe des Geiſtes, und fuͤr die
„zaͤrtliche Neigung ſind, die einer der
„ſchoͤnſten und beſten Maͤnner fuͤr Sie
„ernaͤhrt, und der darum der Gluͤcklichſte
„wurde, weil er in Jhnen die beſte wuͤrdig-
„ſte Mutter fuͤr ſeine zwey Kinder zu erhal-
„ten hoffte. Sie wiſſen, daß Er ein
„edler Beſitzer eines ſchoͤnen Vermoͤgens
„iſt, und kennen alle geſellſchaftlichen
„Annehmlichkeiten, die in dieſer Stadt auf
„ſie warten. — — Aber thun Sie,
„liebenswuͤrdige Frau von C. was Sie
„wollen, ich habe Jhnen die Beweggruͤnde
„meines Herzens geſagt; ich weiß wohl,
„daß wir alle einen verſchiedenen Geſichts-
„punct uͤber den nehmlichen Gegenſtand
„haben, und unſer Gefuͤhl darnach rich-
„ten; doch iſt eine Seite, die wir alle be-
„trachten muͤſſen — die Gluͤckſeligkeit
„unſers Naͤchſten eben ſo ſehr, als die
„unſrige zu lieben, und ſie nicht aus klei-
„nen Beweggruͤnden verzoͤgern.
H 2Sie
[116]
„Sie haben mein Herz in die aͤußerſte
„Verlegenheit gebracht, (ſagte ſie mir
„mit Thraͤnen) aber meine traurige
„Erfahrung empoͤrt ſich wider jede
„Jdee von Verbindung; ich wuͤnſche
„dieſen Maͤnnern wuͤrdigere Gattinnen,
„als ſie ſich mich abſchildern; aber
„mein Nacken iſt von dem erſten Joche
„ſo verwundet worden, daß mich das
„leichteſte Seidenband druͤcken wuͤrde.
„Jch habe die Bitte ihrer Freundinn
„erfuͤllt, und nichts anders bey Jhrem
„Entſchluſſe zu ſagen, als daß Sie immer
„gluͤcklich ſeyn moͤgen.
Sie umarmte mich, und bat Ma-
dam Hills: bey meiner Zuruͤckkunft die
liebe Frau ruhig zu laſſen; wunderte mich
aber in meinem Zimmer uͤber den Eifer,
womit ich mich in dieſe Sache gemiſcht
hatte.
Klaͤren Sie mir das Dunkle in meiner
Seele daruͤber auf; es duͤnkt mich: daß
ich lauter unrechte Urſachen haſche.
Lord
[117]
Lord Seymour an Doctor T.
Beſter Freund, geben Sie mir Jhren
Rath, um mich in dem Kummer zu er-
halten, in welchen ich aufs neue, und,
gewiß auf ewig gefallen bin! Sie wiſſen,
daß ich meine Leidenſchaft fuͤr das Fraͤu-
lein von Sternheim ganz unterdruͤckt hatte,
weil die Verſicherung ihres niedertraͤchti-
gen Buͤndniſſes mit John ihren Geiſt und
Charakter aller meiner Hochachtung be-
raubte. Jch fieng auch an, eine ruhige
und reizende Liebe zu koſten, indem ich
meine ganze Zaͤrtlichkeit dem Fraͤulein von
C — widmete, und der ihrigen voͤllig ver-
ſichert war: als mein Oheim unverſehens
den Befehl vom Hofe erhielt, eine Reiſe
nach W. zu machen. Die Empfindlich-
keit des liebenswuͤrdigen Fraͤuleins von
C — hatte vieles bey unſerer Tennung
zu leiden, und ich war eben ſo traurig
als ſie. Misvergnuͤgt und murrend uͤber
die Feſſeln, welche mir der Ehrgeiz meiner
Familie, und die Zuneigung von Mylord
Crafton anlegten, ſaß ich ſtumm und fin-
H 3ſter
[118] ſter neben dem liebreichſten Manne, deſſen
feſte Ruhe des Geiſtes meinen empoͤrten
Empfindungen aͤrgerlich war, ſo, daß ich
der Geduld nicht achtete, mit welcher er
meine Unart ertrug. Aber, mein Freund,
ſtellen Sie ſich, wenn es moͤglich iſt, die
Bewegung vor, in die ich gerieth, als
wir den zweyten Tag Abends bey ſehr
ſchlimmen Wetter, durch Verſehen des
Poſtillions, auf ein Dorf kamen, wo
wir uͤbernachten mußten, am Wirths-
hauſe anfuhren, und eben ausſteigen
wollten, als die Wirthinn auf einmal
anfieng: „was, Sie ſind Englaͤnder?
„fahren Sie fort, ich laſſe Sie nicht in
„mein Haus; Sie koͤnnen meinetwegen
„im Walde bleiben, aber meine Schwelle
„ſoll kein Englaͤnder mehr betreten —
Waͤhrend dem letztern Worte, zog ſie ihren
Sohn, der wie ein wackerer Menſch aus-
ſah, und ihr immer zuredete, beym Arme
gegen die Thuͤre des Hauſes, ſo ſie zu-
ſchließen wollte. Der ſchreyende Unwille
dieſer Frau war ſeltſam genug, um mich
aufmerkſam zu machen; unſere Kerls
ſchrien
[119] ſchrien und zankten wieder, die Poſtil-
lions auch. Mylord befahl unſern Leu-
ten zu ſchweigen, und ſagte zu mir: hier
muß etwas ernſthaftes vorgegangen ſeyn,
da es wichtig genug iſt, die gewoͤhnliche
Gewinnbegierde dieſer Leute zu unter-
druͤcken.
Er rief der Frau freundlich zu: ſie
moͤchte ihm die Urſache ſagen, warum ſie
uns nicht aufnehmen wollte?
„Weil die Englaͤnder gewiſſenloſe Leu-
„te ſind, die ſich nichts aus dem Ungluͤ-
„cke der beſten Menſchen machen, und
„ich meine Tage keinen mehr beherbergen
„will; fahren Sie mit ihren ſchoͤnen
„Worten nur fort, ſie koͤnnen alle ſo ſchoͤ-
„ne Worte geben.
Sie wandte ſich von uns weg, und
ſagte zu ihrem Sohne, der ihr vermuth-
lich wegen dem Gewinn zuredete. „Nein,
„und wenn ſie meine Stube voll Gold
„ſteckten, ſo brech’ ich meine Geluͤbde nicht,
„das ich der lieben Dame wegen that —
Jch kochte vor Ungeduld; aber My-
lord, der von ſeiner Parlamentsſtelle her
H 4gewohnt
[120] gewohnt war, den wuͤthenden Aufwal-
lungen des Poͤbels nachzugeben, winkte
ganz ruhig dem Sohne, und fragte ihn
um die Urſache der Abneigung und der
Vorwuͤrfe meiner Mutter.
„Vor einem halben Jahre, antwortete
„dieſer, fuͤhrte ein Englaͤnder ſeine Frau,
„eine ſchoͤne guͤtige Dame, zu uns; er
„gieng weg und kam wieder, nachdem er
„viele Wochen weggeweſen, indeſſen hatte
„die junge Frau, die immer ſehr traurig
„war, meine Baaſen gekleidet, ſie viele
„huͤbſche Sachen gelehret, und den Ar-
„men viel Gutes gethan; o, ſie war ſo
„ſanft als ein Lamm! ſogar mein Va-
„ter wurde ſanft ſeit ſie in unſerm Hauſe
„war; wir mußten ſie alle lieben. Aber
„einen Tag, da der boͤſe Lord lange weg
„geweſen, kam einer ſeiner Leute geritten,
„und ſagte, er haͤtte Briefe an die Da-
„me; wir fragten; ob ſein Herr bald kaͤ-
„me? nein — ſagt’ er, Er koͤmmt nicht
„wieder; hier iſt noch Geld fuͤr den uͤbri-
„gen Monat; und dieß ſagte er wild und
„trotzig, wie ein boͤſer Hund. Meiner
„Mut-
[121] „Mutter ahndete nichts gutes, und ſie
„ſchlich ſich in eine Nebenkammer, um
„auf den Brief zu horchen; da ſah ſie un-
„ſre liebe ſchoͤne Dame auf der Erde knien
„und weinen, und ihrem Cammermaͤdchen
„erzaͤhlen: in dem Briefe ſtuͤnde: ihre
„Heurath waͤre falſch geweſen: der Bo-
„the, der ihn gebracht, waͤre in einen
„Geiſtlichen verkleidet geweſen, und haͤtte
„ſie eingeſegnet; ſie koͤnne hin wo ſie wol-
„le; da iſt ſie auch zwey Tage darauf
„fort; aber ſie muß unterweges geſtorben
„ſeyn, ſo krank und betruͤbt war ſie; da
„will nun meine Mutter keinen Englaͤnder
„mehr ins Haus aufnehmen.
Mylord ſah mich geruͤhrt an;
Carl, was ſagt dein Herz zu dieſer Er-
zaͤhlung?
O Mylord, es iſt mein Fraͤulein Stern-
heim, — ſchrie ich — aber der Boͤſe-
wicht ſoll es bezahlen! Aufſuchen will ich
ihn; es iſt Derby; kein andrer iſt dieſer
Grauſamkeit faͤhig.
Junger Freund, ſagte Mylord dem
Sohne der Wirthin; ſag’ er ſeiner Mut-
H 5ter:
[122] ter: ſie haͤtte recht, den boͤſen Englaͤnder
zu haſſen; auch ſoll er vom Koͤnig nach
der Schaͤrfe abgeſtraft werden. Aber
mach’ Er, daß ich ins Haus komme.
„Steigen Sie aus, ich will meine
„Mutter befriedigen.
Er lief hinein, und bald darauf kam
uns die Frau ſelbſt entgegen; „Wenn Sie
„den abſcheulichen Mann recht ſtrafen
„wollen, wie Sie ſagen, ſo kommen Sie,
„ich will Jhnen alles erzaͤhlen wie es war;
„Sie ſind ein alter Herr, gnaͤdiger Lord,
„Sie koͤnnen das Unrecht junger Leute
„gut einſehen, machen Sie ein Exempel
„aus dem boͤſen Mann, er koͤnnte noch
„viele Streiche anfangen.
Still, und langſam folgte ich ihr und
Mylorden die Treppe hinauf. Hier,
„ſagte ſie oben, hier iſt der liebe Engel
„geſtanden, wie ihr Herr das erſtemal
„kam, ſie zu beſuchen, nun, er herzte ſie
„recht ſchoͤn, und ſie hatte ihre lieben
„Haͤnde ſo huͤbſch nach ihm ausgeſtreckt,
„daß mich ihre Einigkeit freute; aber ſie
„redte ſo ſanft und wenig, und er ſo laut,
„ſeine
[123] „ſeine Augen waren ſo groß, und be-
„ſchauten ſie ſo geſchwind, er rufte auch
„gleich ſo viel nach ſeinen Kerls, daß
„man wohl daraus haͤtte etwas vermu-
„then koͤnnen. Mein Mann war wild,
„doch hat er im Anfange allezeit leiſe
„und freundlich geredt, und geblinzelt;
„aber man denkt, jeder Menſch hat ſeine
„Weiſe, und wie ſollte einem einfallen:
„daß man ein ſchoͤnes frommes Tugend-
„bild betruͤgen koͤnne?
Nun waren wir im Zimmer, wo ihre
Cammerfrau gewohnt hatte; hernach
wieß ſie uns das von der Dame; ſie rufte
Gretchen, die ſich hinſetzen und zeigen
mußte, wo die Dame geſeſſen, wie ſie
die Maͤdchen gelehrt haͤtte; hernach nahm
ſie ein Bild von der Wand, und ſagte;
„da, mein Gaͤrtchen, meine Bienenge-
„ſtelle, und das Stuͤck Matte, wo meine
„Kuͤhe auf der Weide giengen, zeichnete
„ſie. — Jndem ſie es Mylorden hingab,
kuͤßte ſie das Stuͤck, und ſagte mit Wei-
nen: Du liebe, liebe Dame, Gott habe
dich ſelig, denn du lebſt gewiß nicht mehr.
Ein
[124]
Ein einziger Blick uͤberzeugte mich voͤl-
lig: daß es die Sternheim gemacht hatte;
die richtigen Umriſſe, die feinen Schattie-
rungen erkannte ich; mein Herz wurde
beklemmt; ich mußte mich ſetzen; Thraͤ-
nen fuͤllten meine Augen; das Schickſal
des edlen Maͤdchens, die rauhe, aber
herzliche Liebe dieſer Frau ruͤhrten mich;
es gefiel ihr, Sie klopfte mich auf die
Achſel: „das iſt recht, daß Sie betruͤbt
„ſind, bitten Sie Gott um ein gutes Herz,
„daß Sie niemanden verfuͤhren; denn
„Sie ſind auch ein Englaͤnder, und ein
„huͤbſcher Meuſch; Sie koͤnnen einem in
„die Augen gehen.
Nun mußte das Maͤdchen und der
Sohn, und die uͤbrigen Leute erzaͤhlen,
wie gut die Dame geweſen, und was ſie
gemacht hatte; dann wieß ſie uns das
Schlafzimmer. „Seit dem Brief, fuhr
„ſie fort, iſt ſie nicht mehr hinein gegan-
„gen, ſondern ſchlief im Bette ihrer Jung-
„fer; ich denke es wohl, wer moͤchte noch
„unter der Decke eines Spitzbuben ſchla-
„fen? — Hier iſt der Schrank, worein
„ſie
[125] „ſie alle Koſtbarkeiten von Gold, von Ge-
„ſchmeide, o, gar viele Sachen legte, die
„er ihr mitgebracht hatte, und die ich
„ihm zuruͤckgeben ſollte; denn ſie nahm
„nichts davon mit; zween Tage nachdem
„ſie weg war, kam wieder ein Brief; er
„wolle kommen, ſagte der Menſch; aber
„ich gab ihm ſeinen Pack Sachen, und
„ſchaffte ihn aus dem Hauſe.
Mylord fragte ſie noch genauer um
alles was geſchehen war; halb hoͤrte ichs,
halb nicht; ich war außer mir; und da
die Frau nicht ſagen konnte: wo die Da-
me hingereiſet waͤre; ſo war mir am
uͤbrigen nichts gelegen. Jch hatte genug
gehoͤret, um in Mitleiden zu zerſchmelzen,
und das geliebte Bild der leidenden Tu-
gend mit erneuerter Zaͤrtlichkeit in meine
Seele zu faſſen. Jch nahm das Zimmer
ihrer Jungfer, weil ich darinn den Platz
bemerket hatte, wo ſie geknieet, wo ſie den
unausſprechlichen Schmerzen gefuͤhlt hat-
te, betrogen und verlaſſen zu ſeyn.
Derbys Schlafzimmer gab mir den nehm-
lichen Abſcheu wie ihr ſelbſt, und ich
warf
[126] warf mich unausgekleidet mit halb zerruͤt-
teten Sinnen auf das Bette, worinn
Sternheim ſo Kummervolle Naͤchte zuge-
bracht hatte. Troſtloſe Zaͤrtlichkeit, und
ein Gemiſche von bitterm Vergnuͤgen be-
maͤchtigten ſich meiner mit der Empfindung,
welche mir ſagte: hier lag das liebens-
wuͤrdige Geſchoͤpfe, in deſſen Armen ich alle
meine Gluͤckſeligkeit gefunden haͤtte; hier
beweinte ihr blutendes Herz die Treulo-
ſigkeit des verruchteſten Boͤſewichts! Und
ich — O Sternheim, ich beweine dein
Schickſal, deinen Verluſt, und meine
verdammte Saumſeligkeit, deine Liebe fuͤr
mich zu gewinnen! — Vergnuͤgen, ja
ein ſchmerzhaftes Vergnuͤgen genoß ich
bey dem Gedanken: daß meine verzwei-
flungsvolle Thraͤnen noch die Spuren
der ihrigen antreffen, und ſich mit ihnen
vereinigen wuͤrden. Jch ſtund auf, ich
kniete auf den nehmlichen Platz, wo der
ſtumme zerreiſſende Jammer uͤber ihre Er-
niedrigung ſie hingeworfen hatte; wo ſie
ſich Vorwuͤrfe uͤber das blinde Vertrauen
machte, womit ſie ſich dem grauſamſten
Manne
[127] Manne ergab, und wo — ich ihrem
Andenken ſchwur: ſie zu raͤchen.
O mein Freund, warum, warum konn-
te Jhre Weisheit meinen Muth nicht ſtaͤh-
len? — Wie elend, wie beklagungswerth
war ich, da ich mit ihr jeden Augenblick
verfluchte, worinn ſie das Eigenthum
von Derby war! alle ihre Schoͤnheit, alle
ihre Reize ſein Eigenthum waren! Sie
liebte ihn; ſie empfieng ihn mit offenen
Armen an der Treppe. — Wie war’ es
moͤglich: daß die edle reine Guͤte ihres
Herzens den gefuͤhlloſen boßhaften Men-
ſchen lieben konnte? —
Jch habe das kleine Hauptkuͤſſen vom
Sohn der Wirthinn gekauft; ihr Kopf
hatte ſich mit der nehmlichen Bedraͤngniß
darauf gewaͤlzt, wie meiner; ihre und
meine Thraͤnen haben es benetzt; ihr Un-
gluͤck hat meine Seele auf ewig an ſie ge-
feſſelt; von ihr getrennt, vielleicht auf
immer getrennt, mußten ſie in dieſer
armen Huͤtte die ſympathetiſchen Bande
ganz in meiner Seele verwinden, welche
mich
[128] mich ſtaͤrker zu ihr, als zu allem, was ich
jemals geliebt habe, zogen.
Mylord fand mich am Morgen in ei-
nem Fieber; ſein Wundarzt mußte mir
eine Ader oͤffnen, und eine Stunde her-
nach folgte ich ihm in dem Wagen, nach-
dem ich die kleine Zeichnung des Gaͤrtchens
geraubt, und dem Maͤdchen, welches die
Schuͤlerinn meiner Sternheim geweſen, ei-
nige Guineen zugeworfen hatte.
Die Kaͤlte, welche die Politik ohnver-
merkt bald in groͤßerem, bald in kleinerem
Maaße auch in das waͤrmſte Herz zu
gießen pflegt, und es uͤber einzelne Uebel
hinaus gehen heißt, gab Mylorden eine
Menge Vernunftgruͤnde ein, womit er
mich zu zerſtreuen, und gegen meinen
Kummer und Zorn zu bewaffnen ſuchte.
Jch mußte ihn anhoͤren und ſchweigen;
aber Nachts hielt mich mein Kuͤſſen ſchad-
los; ich zehrte mich ab, und erſchoͤpfte
mich. Mein Schmerz iſt ruhiger, und
meine Kraͤfte erhohlen ſich in dem Vor-
ſatze, das Ungluͤck des Fraͤuleins an Der-
by zu raͤchen, wenn er auch den erſten
Nang
[129] Nang des Koͤnigreichs beſitzen ſollte.
Beobachten Sie ihn wenn Sie nach Lon-
don kommen, ob Sie nicht Spuren von
Unruhe und quaͤlender Reue an ihm ſehen.
Ewigkeiten durch moͤchte ich ihm die
Marter der Reue empfinden laſſen, dem
ewig haſſenswuͤrdigen Mann!
Jch gebe mir alle moͤgliche Muͤhe, die
Folgen des Schickſals des Fraͤuleins zu
erfahren, aber bis itzt war alles vergeb-
lich; ſo wie Jhre Bemuͤhungen vergeblich
ſeyn werden, wenn Sie ihr Andenken
in mir ausloͤſchen wollten; — mein
Kummer um ſie iſt meine Freude, und
mein einziges Vergnuͤgen geworden.
Graf R — an Lord Seymour.
Sie geben mir Nachricht von meiner
theuren ungluͤcklichen Nichte. Aber, o
Gott, was fuͤr Nachrichten, Mylord!
das edelſte, beſte Maͤdchen der Raub
eines teufliſchen Boͤſewichts! Jch dachte
wohl, als Sie mir den Secretair Jhres
II.Theil. JOheims
[130] Oheims nannten, daß ein gemeiner
ſchlecht denkender Menſch ihre Hand nie-
mals haͤtte erhalten koͤnnen. Ein Heuch-
ler, ein die Klugheit und Tugend lebhaft
ſpielender Heuchler mußte es ſeyn, der
ihren Geiſt blendete, und ſie aus den
Schranken zu fuͤhren wußte. Jch flehe
den Lord Crafton um ſeine Beyhuͤlfe an,
den nichtswuͤrdigen Mann auch unter dem
Schutze der ganzen Nation zur Verant-
wortung zu ziehen.
Nichts, als die ſchlechten Geſund-
heitsumſtaͤnde meiner Gemahlinn, und
meines einzigen Sohns, hindern meine
Abreiſe von hier; aber ich habe fuͤr das
Andenken dieſer liebenswuͤrdigen Perſon
doch dieſes gethan: von dem Fuͤrſten zu
begehren, daß er ihre Guͤter durch einen
fuͤrſtlichen Rath beſorgen laſſe. Die Ein-
kuͤnfte ſollen ihrer Geſinnung gemaͤß fuͤr
die Kinder des Grafen Loͤbau geſammlet
werden; aber der Vater und die Mutter
ſollen nichts davon genießen, ſie, die zu-
erſt das Herz des guten Kindes zerriſſen
haben, und allein die Urſache ſind, daß
ſie
[131] ſie von Angſt betaͤubt ihrem Verderben
zulief. —
Kaͤme ich nur bald nach D. und haͤt-
ten wir nur einiges Licht von ihrem Auf-
enthalt! Aber es geſchehe das eine und
das andere wenn es will: ſo ſoll der Elen-
de, der ihren Werth nicht zu ſchaͤtzen
wußte, Rechenſchaft von ihrer Entfuͤh-
rung und Verlaſſung geben.
Jch bedaure Sie, Mylord, wegen der
Leiden ihres Gemuͤths, die nun durch die
wiederkehrende Liebe vergroͤßert ſind. —
Aber wie konnte ein Mann, dem die weib-
liche Welt bekannt ſeyn muß, dieſes aus-
erleſene Maͤdchen miskennen, und den
allgemeinen Maaßſtab vornehmen, um
ihre Verdienſte zu pruͤfen? Unterſchied ſie
ſich nicht in allem? Verzeihen Sie My-
lord, es iſt unbillig ihren Kummer zu ver-
mehren! die Zaͤrtlichkeit meiner nahen
Verwandſchaft uͤbertrieb meinen Unmuth,
und machte mich das geſchehene und un-
geſchehene mit gleichem Haß verfolgen.
Fliehen Sie keinen Aufwand, um den
Aufenthalt des geliebten Kindes zu erfah-
J 2ren;
[132] ren; ich fuͤrchte, o, ich fuͤrchte, daß wir
ſie nur todt wieder finden werden! —
Wehe dem Lord Derby; — Wehe
Jhnen, wenn Sie nicht Jhre Hand mit
der meinigen vereinigen, um ſie zu raͤ-
chen! Aber alles was Sie thun werden,
um Jhre edelmuͤthige Liebe, obwohl zu
ſpaͤt zu beweiſen, ſoll ſie in dem Oheim
des edelſtens Maͤdchens den beſten Freund
und Diener finden laſſen. Allen Aufwand
theile ich mit Jhnen, wie ich alle Jhre
Sorgen und Schmerzen theile. — Hier
halte ich alles geheim, weil ich meiner
Gemahlinn zaͤrtliches Herz nicht mit un-
maͤßigem Jammer beladen will.
Madam Leidens
an
Emilien.
Meine liebenswuͤrdige Witwe, Frau
von C., hat eine ſchoͤne Seele voll zaͤrtli-
cher Empfindungen. Sie bemerkte letzt-
hin
[133] hin das kurz abgebrochene Ende meiner
Vorſtellungen ſehr genau, und kam etli-
che Tage nachher zu mir, um mit freund-
licher Sorgſamkeit nach der Urſache da-
von zu fragen. Jch hatte die ſtutzige Art
meines ſchnellen Stillſchweigens ſelbſt em-
pfunden, aber da meine Beweggruͤnde ſo
ſtark in mir arbeiteten, und ich ihren
Empfindungen nicht zu nahe treten woll-
te, ſo ſah ich keinen andern Weg, als
abzubrechen, und nach Hauſe zu gehen,
wo ich den Unmuth recht deutlich fuͤhlte,
den ich bloß deswegen uͤber ſie hatte, weil
ſie den Ausſichten von Wohlthaͤtigkeit
nicht ſo eifrig zueilte, als ich an ihrer
Stelle wuͤrde gethan haben. Es freut
mich auch, daß der Mann meiner Emilie
den warmen Ton meiner Fuͤrſprache zum
Beſten der Liebe allein in meiner Neigung
zum Wohlthun ſuchte, ob er mich ſchon
einer Schwaͤrmerey in dieſer Tugend be-
ſchuldigt.
(O! moͤchte doch dieſes Uebermaaß ei-
ner guten Leidenſchaft der einzige Fehler
meiner kuͤnftigen Jahre ſeyn!) —
J 3Jch
[134]
Jch antwortete der lieben Frau von C.
ganz aufrichtig:
„Daß es mich ſehr befremdet haͤtte:
„eine Seele voller Empfindlichkeit ſo fro-
„ſtige Blicke in das Gebiete der Wohl-
„thaͤtigkeit werfen zu ſehen — Sie ant-
„wortete:
„Jch erkenne ganz wohl: daß ihr thaͤ-
„tiger Geiſt misvergnuͤgt uͤber meine Un-
„entſchloſſenheit werden mußte; Sie wuß-
„ten nicht, daß die Jdee des Wohlthuns
„meine erſte Wahl beſtimmte; aber ich
„habe ſo ſehr erfahren, daß man andere
„gluͤcklich machen kann, ohne es ſelbſt zu
„werden; daß ich nicht Herz genug habe,
„mich noch einmal auf dieſen ungewiſſen
„Boden zu wagen, wo die Blumen des
„Vergnuͤgens ſobald unter dem Nebel
„der Sorgen verbluͤhen. —
Der aͤußerſte Grad der Ruͤhrung war
in allen Zuͤgen der reizenden Bildung die-
ſer ſanften Blondine ausgedruͤckt; ihr
Ton ſtimmte mit ein, und rief in mir die
Erinnerung des jaͤhen Verderbens zuruͤck,
welches meine kaum ausgeſaͤete Hoffnung
betroffen
[135] betroffen hatte. Meine eignen Leiden ha-
ben die Empfindung der Menſchlichkeit in
mir erhoͤhet, und ich fuͤhlte nun ihre
Sorgen ſo ſtark, als ich die Vorſtellung
der Gluͤckſeligkeit der andern empfunden
hatte.
Vergeben Sie mir, liebe Madam C —!
(ſagte ich) ich erkenne: daß ich gegen
Sie die beynahe allgemeine Unbilligkeit
ausuͤbte, zu fodern: daß Sie in alle
Gruͤnde meiner Denkungsart eingehen ſoll-
ten; und ich foderte es um ſo viel eifri-
ger, als ich von der innerlichen Guͤte mei-
ner Bewegurſachen uͤberzeugt war. War-
um hab’ ich mich nicht fruͤher an ihren
Platz geſtellt; die Seite, welche Sie von
meinen Vorſchlaͤgen ſehen, hat in Wahr-
heit viel abſchreckendes, und ich werde,
ohne Jhnen Unrecht zu geben, nichts
mehr von allen dieſem reden.
„Es freut mich: daß Sie mit mir zu-
„frieden ſcheinen; aber Sie haben mir
„viele Unruhe und Misvergnuͤgen uͤber
„mich ſelbſt gegeben.
Jch fragte ſie eilig wie, und worinn?
J 4Durch
[136]
„Durch die Vorſtellung aller dieſer
„Gelegenheiten gluͤckliche Perſonen zu ma-
„chen. Mein Widerwille und Auswei-
„chen ſchmerzt mich; ich moͤchte es in
„irgend etwas anders erſetzen. Koͤnnen
„Sie mir nichts bey Jhrem Geſindhauſe
„zu thun geben?
Sie bekam ein freymuͤthiges Nein zur
Antwort. Aber, ſagte ich laͤchelnd, da
ich ſie bey der Hand nahm: ich moͤchte
mir bald das Gefuͤhl ihrer Reue, und die
Begierde des Erſatzes zu Nutze machen,
und Sie verbinden: daß, da Sie durch
ihr eigen Herz keinen Mann mehr gluͤck-
lich machen wollen, Sie die liebreiche
Muͤhe naͤhmen, durch Jhren Umgang
und gefaͤllten Unterricht den Toͤchtern
Jhrer Verwandten und Freunde, Jhre
edle Denkungsart mitzutheilen, und da-
durch Jhren Wohnort liebenswuͤrdige
Frauenzimmer zu bilden, und fuͤr der
Madam Hills gute Maͤdchen, auf ihrer
Seite gute Frauen zu ziehen.
Dieſer
[137]
Dieſer Vorſchlag gefiel ihr; aber
gleich wollte ſie von mir einen Plan dazu
haben.
Das werde ich nicht thun, Madam
C —, ich kann mich nicht von meinem
Selbſt ſo loß machen, daß der Plan zu
Jhrer Abſicht und Jhrem Vergnuͤgen zu-
gleich paßte. Sie haben Klugheit, Er-
fahrung, Kenntniß der Gewohnheiten
des Orts, und ein Herz voll Freundlich-
keit. Dieſe vereinigte Stuͤcke werden Jh-
nen alles anweiſen, was zu dieſem Plan
das Beſte ſeyn kann.
„Daran zweifle ich ſehr; ſagen Sie
„mir nur ein Buch, darinn ich eine
„Ordnung fuͤr meinen Unterricht finden
„wuͤrde.
Nach der Ordnung eines Buchs zu ver-
fahren, wuͤrde Sie und Jhre junge
Freundinnen bald muͤde machen. Dieſe
ſind nach verſchiedener Art erzogen; die
Umſtaͤnde der meiſten Aeltern leiden keine
methodiſche Erziehung, auf funfzehn-
jaͤhrige Maͤdchen, wie die Geſpielinnen
Jhrer Tochter, gewoͤhnen ſich nicht gerne
J 5mehr
[138] mehr daran. Sie ſollen auch keine
Schule halten; nur einen zufaͤlligen ab-
wechſelnden Unterricht in dem Umgange
mit dem jungen Frauenzimmer ausſtreuen.
Zum Beyſpiel: es klagte eine uͤber den
Schnee, der waͤhrend der Zeit fiel, da ſie
bey Jhnen zum Beſuch waͤre, und ſie we-
gen ihres Zuruͤckgehens ungeduldig uͤber
die Beſchwerde machte; — ſo wuͤrden
Sie fragen: ob ſie nicht wiſſen moͤchte,
woher der Schnee kommt? — es kurz und
deutlich erzaͤhlen, die Nutzbarkeit davon
nach der weiſen Abſicht des Schoͤpfers an-
fuͤhren, ſanft von der Unbilligkeit ihrer
Klagen reden, und ihr mit einem muntern
liebreichen Ton in dem heut unangeneh-
men Schnee nach etlichen Tagen das Ver-
gnuͤgen einer Schlittenfahrt zeigen. Die-
ſes wird Jhre jungen Zuhoͤrerinnen auf
die Unterredungen von ſchoͤner Winterklei-
dung, ſchoͤner Gattung Schlitten, und
ſ. w. fuͤhren. Unterbrechen Sie ſelbige
ja nicht durch irgend eine ernſte oder mis-
vergnuͤgte Mine; ſondern zeigen Sie, daß
Sie gerne ihre verſchiedenen Gedanken
anhoͤr-
[139] anhoͤrten. Sagen Sie etwas vom guten
Geſchmack in Putz, in Verzierungen, und
wie Sie ein Feſt anſtellen und halten
wuͤrden; laſſen Sie Jhren Witz alles die-
ſes mit der Farbe der heiterſten Freude
mahlen; Geſtehen Sie Jhren jungen Leu-
ten das Recht ein, dieſe Freude zu ge-
nießen, und ſetzen Sie mit einem zaͤrtli-
chen ruͤhrenden Ton dazu: daß Sie aber
Sorge haben wuͤrden den Schauplatz die-
ſer Ergoͤtzlichkeit durch die Fackeln der
Tugend, und des feinen Wohlſtandes zu
beleuchten.
Bey dieſer erſten Probe koͤnnen Sie die
Herzen und Koͤpfe Jhrer Maͤdchen aus-
ſpaͤhen: aber ich muͤßte mich ſehr betruͤ-
gen, wenn ſie nicht gerne wieder kaͤmen,
Sie von etwas reden zu hoͤren.
„Das denke ich ſicher; aber erlauben
„Sie mir einen Zweifel! — Sie fuͤhren
„das Maͤdchen zur phyſikaliſchen Kennt-
„niß des Schnees, und zum moraliſchen
„Gedanken der Wohlthaͤtigkeit Gottes dar-
„uͤber; aber wird nicht die Schlittenfahrt
„das Andenken des erſtern ausloͤſchen, und
„alſo
[140] „alſo den Nutzen des ernſten Unterrichts
„verlieren machen?
Dieß glaube ich nicht; denn wir ver-
geſſen nur die Sachen gerne, die mit kei-
nem Vergnuͤgen verbunden ſind; und die
laͤchelnde, zu der Schwachheit der Men-
ſchen ſich herablaſſende Weisheit will da-
her, daß man die Pfade der Wahrheit mit
Blumen beſtreue. Die Tugend braucht
nicht mit ernſten Farben geſchildert zu wer-
den, um Verehrung zu erhalten; ihr in-
neres Weſen, jede Handlung von ihr iſt
lauter Wuͤrde. Wuͤrde iſt ein unzer-
trennbarer Theil von ihr, auch wenn ſie
in der Kleidung der Freude und des Gluͤcks
erſcheint. Jn dieſer Kleidung allein er-
haͤlt ſie Vertrauen und Ehrfurcht zugleich.
Laſſen Sie ſie die Hand ja niemals zu
ſtrengem Drohen, ſondern allein zu
freundlichen Winken erheben! Denn, ſo
lange wir in dieſer Koͤrperwelt ſind, wird
unſere Seele allein durch unſere Sinnen
handeln; wenn dieſe auf eine widerwaͤr-
tige Weiſe und zu unrechter Zeit zuruͤck-
geſtoßen werden, ſo kommen aus dem
Con-
[141] Contraſt des Zwanges der Lehre, und de-
Staͤrke, der durch die Natur in uns geleg.
ten Liebe zum Verguuͤgen, lauter ſchlimme
Folgen fuͤr den Wachsthum unſers mo-
raliſchen Lebens hervor. Umſonſt hat der
Schoͤpfer die ſuͤßen Empfindungen der
Freude nicht in uns gelegt; umſonſt uns
nicht die Faͤhigkeit gegeben, tauſenderley
Arten des Vergnuͤgens zu genießen. Mi-
ſchen Sie nur eine froͤhliche Tugend un-
ter den Reyhen der Ergoͤtzlichkeiten, und
ſehen Sie, ob die junge Munterkeit noch
vor ihr fliehen, und in entlegenen Orten,
mit Unmaͤßigkeit und wilder Luſt vereinigt,
ſich uͤber verſagten Freuden ſchadloß hal-
ten wird. Giebt nicht die goͤttliche Sit-
tenlehre ſelbſt reizende Ausſichten in ewi-
ge, himmliche Gluͤckſeligkeiten, wenn ſie
uns auf die Wege der Tugend und Weis-
heit leitet?
Das ſchoͤne Auge der Madam C —
war mit einem ſtaunenden Vergnuͤgen auf
mich geheftet. Jch bat ſie um Verzei-
hung ſo viel geredet zu haben; ſie verſi-
cherte mich aber ihrer Zufriedenheit, und
wollte
[142] wollte wiſſen: warum ich nicht lieber ge-
ſucht haͤtte, als Hofmeiſterinn junger
Frauenzimmer zu erſcheinen, als eine Leh-
rerin von angehenden Dienſtmaͤdchen ab-
zugeben?
Jch ſagte ihr: weil ich in Verglei-
chung des Antheils von Gluͤckſeligkeit, ſo
jedem Stande zugemeſſen wurde, den von
der niedrigen Gattung ſo klein, und un-
vollſtaͤndig gefunden, daß ich mich freute
etwas dazuzuſetzen. Die Großen und
Mittlern haben muͤndlichen und ſchriftli-
chen Unterricht neben allen Vortheilen des
Reichthums und Anſehens; und die ge-
ringe, ſo nuͤtzliche Claſſe bekoͤmmt kaum
den Abfall des Ueberfluſſes von Kenntniſ-
ſen und Wohlergehen.
„Sie reden von Kenntniſſen; ſoll ich
„ſuchen meine junge Frauenzimmer ge-
„lehrt zu machen?
Gott bewahre Sie vor dieſem Gedanken,
der unter tauſend Frauenzimmern des Pri-
vatſtandes kaum bey Einer mit ihren Um-
ſtaͤnden paßt! Nein, liebe Madam C —
halten
[143] halten Sie ſie zur Uebung jeder haͤusli-
chen Tugend an: aber laſſen Sie ſie dane-
ben eine einfache Kenntniß von der Luft,
die ſie athmen, von der Erde, die ſie be-
treten, der Pflanzen und Thiere, von
welchen ſie ernaͤhret und gekleidet werden,
erlangen; einen Auszug der Hiſtorie, da-
mit ſie nicht ganz fremde da ſitzen und
lange Weile haben, wenn Maͤnner ſich
in ihrer Gegenwart davon unterhalten,
und damit ſie ſehen, daß Tugend und La-
ſter beſtaͤndig einen Kreislauf durch das
ganze menſchliche Geſchlecht gemacht ha-
ben; laſſen Sie ſie jedes Wort, ſo eine
Wiſſenſchaft bezeichnet, verſtehen. Zum
Ex. was Philoſophie, was Mathematik
ſey — aber von der Bedeutung des
Ausdrucks Edle Seele, von jeder wohl-
thaͤtigen Tugend, geben Sie ihnen den
vollkommenſten Begriff, theils durch Be-
ſchreibung, theils und am meiſten durch
Beyſpiele von Perſonen, welche dieſe
oder jene Tugend auf eine vorzuͤgliche
Art ausgeuͤbt haben.
„Soll
[144]
„Soll ich ſie auch Romane leſen
„laſſen?“
Ja, zumal da Sie es ohnehin nicht
werden verhindern koͤnnen. Aber ſuchen
Sie, ſo viel Sie koͤnnen, nur ſolche, wor-
inn die Perſonen nach edlen Grundſaͤtzen
handeln, und wo wahre Scenen des Le-
bens beſchrieben ſind. Wenn man das
Romanenleſen verbieten wollte, ſo muͤßte
man auch in Geſellſchaft vermeiden, vor
jungen Perſonen, bald einen kurzen, bald
weitlaͤufigen Auszug von einer Liebesge-
ſchichte zu erzehlen, die in der nehmlichen
Stadt oder Straße wo man wohnt, vor-
gieng; unſerer Vaͤter, Maͤnner und Bruͤ-
der muͤßten nicht ſo viel von ihren artigen
Begebenheiten und Beobachtungen auf
Reiſen und ſ. w. ſprechen; ſonſt machte
auch dieſes Verbot und die Gegenuͤbung
wieder einen ſchaͤdlichen Contraſt. Ein
vortrefflicher Mann und Kenner des
Menſchen wuͤnſcht: das man jungen Per-
ſonen beyderley Geſchlechts zur Stillung
der Neugierde die meiſten großen Reiſe-
beſchreibungen gaͤbe, wo von der Natur-
hiſtorie
[145] hiſtorie und den Sitten des Landes viel
vorkoͤmmt, weil dadurch viele nuͤtzliche
Wiſſenſchaft in ihnen ausgebreitet wuͤr-
de. — Moraliſche Gemaͤhlde von Tugen-
den aller Staͤnde, beſonders von unſerm
Geſchlechte, moͤchte ich geſammlet haben;
und darinn ſind die Franzoͤſinnen gluͤckli-
cher als wir. Das weibliche Verdienſt
erhaͤlt unter ihnen oͤffentliche und dauern-
de Ehrenbezeigungen.
„Vielleicht aber verdienen wir mehr
„als ſie, weil wir uns auch ohne Beloh-
„nung um Verdienſte bemuͤhen.
Dieß iſt wahr, aber nur fuͤr die kleine
Anzahl von Seelen, die ſich uͤber alle
Schwierigkeiten erheben, die ſie antreffen,
und woruͤber andere durch nichts als Er-
munterungen ſiegen. Jch moͤchte daher
in jeder Standesclaſſe Beyſpiele aufſtellen,
die aus ihrem Mittel gezogen waͤren, da-
mit man ſagen koͤnnte: ihre Geburt, ihre
Umſtaͤnde waren wie die eurige; der Eifer
der Tugend, und die gute Verwendung
ihres Verſtandes haben ſie verehrungs-
werth gemacht. Ein vorzuͤglicher Platz
II.Theil. Kin
[146] in einer oͤffentlichen Verſammlung, ein
beſonderes Stuͤck Kleidung, koͤnnte den
Werth der Belohnung erhalten, wie es
die alten großen Kenner der menſchlichen
Herzen gemacht haben. Aber wir ſind
nicht mit dem Auftrage beladen, dieſe Ein-
richtung anzuordnen, ſondern allein mit
der Pflicht ſo viel Gutes zu thun als wir
koͤnnen. Jch ſtehe wuͤrklich in dem Kreiſe
armer und dienender Perſonen; alſo achte
ich mich verbunden: dieſe durch Unter-
richt und Beyſpiel zu ihrem Maaß von
Tugend und Gluͤck zu fuͤhren; wobey ich
aber ſehr vermeiden werde, ihnen Be-
griffe oder Geſinnungen einzufloͤßen, die
meinen glaͤnzenden und angeſehenen Um-
ſtaͤnden gemaͤß waren, weil ich fuͤrchten
wuͤrde: daß aus der vermiſchten Den-
kensart vermiſchte Begierden und Wuͤn-
ſche mit allen ihren Fehlern entſtehen
moͤchten. Sie ſind eine Witwe von erſtem
Range Jhres Orts. Jhre Leutſeligkeit
Jhr vernuͤnftiger angenehmer Umgang
macht, daß Sie von allen Perſonen Jh-
res Standes geſucht werden. Sie haben
eine
[147] eine Tochter zu erziehen. Sie wuͤrden
alſo an allen Maͤdchen ihres Alters und
Standes Edelmuͤthigkeit ausuͤben, wenn
diejenigen unter denſelben mit bey den
Lehrſtunden Jhrer Tochter waͤren, deren
Muͤtter durch Hausſorgen oder kleinere
Kinder verhindert ſind: mit ihren Toͤch-
tern viel zu leſen, oder zu reden. Ma-
chen Sie ſie denken, und handeln wie
Frauenzimmer vom Privatſtande es ſollen,
um in ihrer Claſſe vortrefflich zu werden.
Dieſes wird das einzige Mittel ſeyn, wo-
mit Sie den Schaden erſetzen koͤnnen,
welchen Sie durch den Vorſatz verurſa-
chen, unverheurathet zu bleiben. — Sie
laͤchelte uͤber dieſes, und uͤber meine Ab-
bitte ihr eine Vorſchrift gemacht zu haben,
und gab mir alle Merkmale von Freund-
ſchaft und Zufriedenheit.
K 2Ma-
[148]
Madam Leidens
an
Emilien.
Ungern, ſehr ungern, meine Emilia,
begleite ich die Madam Hills ins Bad.
Es iſt wahr, meine Geſundheit zerfaͤllt,
und ich erkenne, daß ich die Huͤlfe brau-
che, die mir die Waſſereur verſpricht: denn
mein ſtillſchweigender Gram denagt die
Kraͤfte meines Koͤrpers, und der jaſtige
Eifer, den ich dieſe Zeit uͤber in mein
moraliſches Leben legte, hat auch vieles
zu der Schwaͤchlichkeit beygetragen, uͤber
welche Sie, liebe Freundinn, ſo jammer-
ten, als ich die letzten zehn gluͤcklichen
Tage bey Jhnen zubrachte. Jhr Mann
hat geſtern meinen Widerwillen uͤberwaͤl-
tigt, aber allein damit, daß Er die erſte
Woche bey uns bleiben wird; bis dahin,
hofft Er, werde mein Haß gegen große
und fremde Geſellſchaft gemindert ſeyn.
Er behauptet auch: daß mein Herz dieſen
Winter uͤber alle Kraͤfte meines Geiſtes in
Dienſtbarkeit gehalten und ermuͤdet haͤtte,
und
[149] und daß dieſer ſich allein in freyer Luft
und durch Umgang erhohlen wuͤrde. Jch
bin ſo hager und blaß, meine Augen, de-
nen man Anzuͤglichkeit zuſchrieb, erheben
ſich ſo ſelten, und meine Kleidung iſt ſo
einfach, daß ich keine Verfolgungen von
Mannsleuten zu befuͤrchten habe. Alſo
auf zwey Monate an die lieſte Freundinn;
morgen fruͤh reiſen wir mit Jhrem Manne,
einem Aufwartmaͤdchen und einem Bedien-
ten ab.
Madam Leidens
an
Emilien aus Spaa.
Sagen Sie mir, meine Freundinn, wo-
her kommt die Gewalt, mit welcher Jhr
Mann uͤber meine Seele herrſchet? Erſt
fuͤhrte er mich in den geſchaͤfftigen Kreis,
den ich bey Madam Hills durchlief; dann
brachte Er mich, ungeachtet meines Wi-
derſtandes nach Spaa, macht mich den
K 3vierten
[150] vierten Tag mit Lady Summers be-
kannt, und nun, meine Liebe, bin ich
durch ſeine Haͤnde an die Lady gebunden,
und ich werde mit ihr nach England ge-
hen. Sie wiſſen von ihm, daß unſere
Reiſe gluͤcklich war; daß der Reichthum
der Madam Hills uns vier ſehr bequeme
Zimmer verſchaffte, und uns ein Anſehen
giebt, ſo wir nicht einmal ſuchten. —
Er gieng gleich den erſten Abend zur La-
dy; den zweyten Tag wies er mir ſie auf
dem Spaziergang. Jhre Geſtalt iſt edel,
obgleich ſehr ſchwaͤchlich; ihre Geſichts-
bildung lauter Leutſeligkeit; ihr ſchoͤnes
großes Auge voller Empfindung, und
alle ihre Bewegungen, Wuͤrde voller An-
muth. Sie gruͤßte und betrachtete uns
zwey Frauenzimmer mit Aufmerkſamkeit,
ohne uns etwas zu ſagen, ob ſie ſchon den
Herrn B. von uns wegrief. Den folgen-
den Tag nahm ſie ihn auch von unſrer Sei-
te weg zum Mittagseſſen, und ſagte nur
auf Engliſch zu mir: Dieſen Abend ſollen
Sie meine Geſellſchaft ſeyn. — Als ich
mich verbeugt hatte, und antworten wollte,
war
[151] war ſie ſchon weit weg. Aber ich wuͤrde
auch geſtottert haben, denn Sie koͤnnen
nicht glauben, was fuͤr einen Schmerzen
der Seele ich bey dem wahren Accent der
engliſchen Sprache fuͤhlte; ſchnell wie die
Wuͤrkung des Blitzes fuͤhlte ich ihn, und
eben ſo ſchnell drangen ſich traurige Erin-
nerungen und Bilder in meine Seele.
Gut war es, Emilia, daß die Lady mich
nicht gleich mit ſich begehrte, meine Verle-
genheit war zu ſichtbar. Abends ſpeiſete
Madam Hills und Herr B. mit mir bey
der Lady; ſie war ſehr guͤtig, aber mit
unterſuchenden Blicken war ihr Auge bey
allem was ich vornahm und redete. Sie
lobte Madam Hills wegen der Stiftung
des Geſindhauſes, und ſetzte hinzu, daß
ſie ihrem Beyſpiel folgen, und auch eins
in England errichten wollte. Herr B.,
welcher der Madam Hills dieſes uͤberſetzte,
machte der guten Frau viele Freude da-
mit, und ihr redliches Herz laͤchelte durch
thraͤnende Augen, da ſie ſchnell meine
Hand nahm und zu Herrn B. ſagte: er
moͤchte die Lady unterrichten: daß ſie nur
K 4ein
[152] ein uͤberfluͤßiges Geld, ich aber die Erfin-
dung dazu gegeben haͤtte. Jch erroͤthete
außerordentlich dabey, und die Lady ſtrei-
chelte meine Wangen, indem ſie ſagte: Das
iſt gut, meine Tochter, wahre Tugend
muß beſcheiden ſeyn;
Die Achtſamkeit, welche ich hatte,
Madam Hills zu unterhalten, und ihr
alles zu uͤberſetzen, wovon die Lady mit
mir oder Herrn B. in gleichguͤltigen Din-
gen redte, erhielt auch den ganzen Bey-
fall der Lady.
Sie muß noch gute Tage erleben, ſagte
ſie, weil ihre Tugend das Alter gluͤck-
lich zu machen ſucht.
Dieſe Anweiſung auf meine kuͤnftige
Tage bewegte mein Jnnerſtes, und un-
moͤglich wars meine Augen trocken zu er-
halten. Die Lady ſah’ es, und neigte
ſich gegen mich mit feſtem zaͤrtlichem.
Blick.
Arme, gute Jugend, ſagte ſie, ich
weiß eine Hand, die alle deine kuͤnftige
Zaͤhren abwiſchen wird.
Jch
[153]
Jch verbeugte mich und ſah Herrn B.
an; er antwortete mir mit muntern
Nicken; die Lady winkte ihm. Heute
nichts, ſagte ſie; aber morgen ſollen Sie
alles verſichern.
Und dieſer Morgen war vor ſechs Ta-
gen, wo mein Herz zwiſchen Vorſchlaͤgen
und Entſchließungen wankte, und end-
lich auf dem Gedanken befeſtigt wurde,
dieſes Jahr bey der Lady auf ihrem Land-
hauſe zuzubringen, und kuͤnftige Waſ-
ſerszeit wieder mit ihr zuruͤckzukommen.
Nach London wuͤrde ich nicht gegangen
ſeyn; Gott bewahre mich vor der Gele-
genheit Englaͤnder, die ich ſchon kenne,
zu ſehen! Aber keiner von dieſen wird eine
alte Frau in ihrem einſamen Wohnorte
ſuchen, und ich kann ruhig meine lange
Begierde ſtillen, dieſes Land zu ſehen, und
nach der Familie Watſon mich zu erkundi-
gen. Herr B. hat der Madam Hills eine
Pflicht daraus gemacht: mich nicht auf-
zuhalten, weil ich ein Geſindhaus ein-
richten ſolle, und hat ſie am meiſten durch
den Gedanken beruhiget; daß es in Eng-
K 5land
[154] land heißen werde, es ſey nach dem Plan
des ihrigen und durch ihr edles Beyſpiel
erbauet worden.
Meine Lady, Emilia, — O! dieſe
iſt ein Engel, der lange Jahre unter den
Menſchen wandelte, um den ſuͤßen Bal-
ſam der edelſten Freundſchaft in fuͤhlbare
Seelen zu gießen. Meine Seele lebt
wieder ganz auf.
Madam Leidens
an
Emilia aus Summerhall.
Mein erſter Brief hat Jhnen ſchon ge-
ſagt, daß ich gluͤcklich, ſehr gluͤcklich mit
der guͤtigen Lady angelangt bin. Jch
hoffe auch, meine Roſine und Herr B.
ſind eben ſowohl zuruͤckgekommen. Es
war mir leid, daß Roſina nicht uͤber die
See wollte; Uebelkeit macht ſie, aber es
iſt leicht zu uͤberſtehen.
Gewiß
[155]
Gewiß haben Sie ſchon Beſchreibun-
gen von engliſchen Landhaͤuſern geleſen.
Denken Sie ſich das ſchoͤnſte im alten Ge-
ſchmacke davon, und nennen es Summer-
hall; legen Sie aber an die Seite des
Parks ein großes huͤbſches Dorf, und
ſtellen Sie ſich meine Lady und mich vor,
wie wir, einander im Arme die Gaſſen
durchgehen, mit Kindern oder Arbeitern
reden, einen Kranken beſuchen, und den
Beduͤrftigen Huͤlfe reichen. Dieß iſt
Nachmittags und Abends das Geſchaͤffte
meiner Lady; Morgens leſe ich ihr vor,
und beſorge ihr Haus; Beſuche, die ſie
von der wenigen Nachbarſchaft erhaͤlt,
und der Umgang mit dem vortrefflichen
Pfarrherrn des Orts fuͤllen das uͤbrige
der Zeit ſo aus, daß mir wenig zu
meinem beſondern Leſen uͤbrig bleibt.
Die Buͤcher, welche ſich meine Lady aus-
geſucht hat, bezeichnen den Nationalgeiſt,
und die Empfindung der ſich immer naͤ-
hernden Grenzen Jhres Lebens. Jenes
Fach fuͤllen die Geſchichtſchreiber von
England und die Hofzeitungen, dieſes die
beſten
[156] beſten engliſchen Prediger aus. Jch ha-
be mir die Naturhiſtorie von England
dazu genommen, und hievon reden wir
in den Spaziergaͤngen mit des Pfarrers
Familie, weil ſeine Frau und zwo Toͤch-
ter ſehr vernuͤnftig ſind, und ich meine
Lieblingskenntniſſe gern vermehre und aus-
breite. Jch bin wohl, und genieße einer
ſanften Zufriedenheit, die aber eher einer
Beruhigung, als einem Vergnuͤgen glei-
chet, indem ich die eifrige Geſchaͤfftigkeit
nicht in mir fuͤhle, welche ſonſt meine
Empfindungen und Gedanken beherrſchte.
Vielleicht hat mich der Hauch der ſanften
Schwermuth getroffen, welche die beſten
Seelen der brittiſchen Welt beherrſchet,
und die lebhaften Farben des Charak-
ters wie mit einem feinen Duft uͤberzieht.
Jch habe meine Laute und meine Stimme
wieder hervorgeſucht; beyde ſind mir un-
ſchaͤtzbar, wenn ich bey meinem Singen,
meine Lady mir einen Kuß zuwerfen, oder
bey einem wohlgeſpielten Adagio ihre Haͤn-
de falten ſehe. Aber urtheilen Sie uͤber-
haupt, wie ſtark meine Liebe zu England
ſeyn
[157] ſeyn mußte, da ich, ungeachtet der grau-
ſamen Erinnerungen, die ich von einem
Eingebornen habe, dennoch mit einiger
Freude die Luft eines Parks athme, und
dieſes Land fuͤr mein vaͤterliches Land an-
ſehe. Jch habe die Kleidung und den
Ton der Sprache ganz, und wuͤnſchte
auch das Thun, und das Bezeigen der
Englaͤnderinnen zu haben; aber meine
Lady ſagt, daß alle meine Bemuͤhungen
den liebenswuͤrdigen fremden Genius nicht
verjagen wuͤrden, der jede meiner Bewe-
gungen regierte. Das Vertrauen ihrer
Leute, welches ich erworben; die außer-
ordentliche Aufmerkſamkeit auf ihre Lady,
und die Ergebenheit die ſie ihr beweiſen,
welches ſie als Folgen von jenem anſieht,
und meinem Einfluß auf ihre Gemuͤ-
ther zuſchreibt, dieß iſt von allem was ich
fuͤr ſie thue, dasjenige, wovon Sie am
meiſten geruͤhrt ſcheint, und wofuͤr ſie mir
die zaͤrtliche Dankbarkeit bezeugt. We-
nige Abende bin ich hier ohne Empfindung
einer reinen Gluͤckſeligkeit ſchlafen gegan-
gen, wenn mich die gute alte Lady aus
ihrem
[158] ihrem Bette ſegnete, und ihre Hausbe-
diente mit zufriedner Mine und einem
liebenden Ton mir gute Ruhe wuͤnſchten;
und mit einer ſuͤßen Bewegung gehe ich
Morgens bey Aufgang der Sonne in den
Park, wo der Hirt mich wundernd an-
ſieht, und mir mit ſeinem Knaben guten
Morgen, gute Miß, zuruft. Dieſer Zu-
ruf duͤnkt mich in dem Augenblick, wo ich
auf der Flur die Wohlthaten Gottes ver-
breitet ſehe, ein Zeugniß zu ſeyn, daß ich
auch gerne die Pflicht des Wohlthuns
uͤbe; mit thraͤnenden Augen danke ich dann
unſerm Urheber, daß er mir dieſe Macht
meines Herzens gelaſſen hat. Sie wiſſen,
daß mir ein Mooswaͤldchen und die ge-
ringſten Arten von Bluͤmchen vergnuͤgte
Stunden geben koͤnnen; und ſie denken
alſo wohl, daß ich in unſerm Park dieſe
alten Freunde meiner beſten Lebenszeit
aufſuche, und mit Ruͤhrung betrachte.
Denn immer binden ſich in mir die Jdeen
des Vergangenen, mit der Empfindung
des Gegenwaͤrtigen bey allen Anlaͤſſen zu-
ſammen. Ein freundliches Moos, und
Zweige,
[159] Zweige, die aus der Wurzel eines geſtuͤrz-
ten Baums aufgewachſen waren, machten
mich ſagen: bin ich nicht wie ein junger
Baum, der in ſeiner vollen Bluͤthe durch
Schlaͤge eines ungluͤcklichen Schickſals
ſeiner Crone und ſeines Stammes be-
raubt wurde? lange Zeit ſteht der Ueber-
reſt traurig und trocken da, endlich aber
ſproſſeu aus der Wurzel neue Zweige her-
vor, die unter dem Schutz der Natur wie-
der ſtark und hoch genug werden koͤnnen,
in einem gewiſſen Zeitlauf wieder wohl-
thaͤtige Schatten um ſich zu verbreiten.
Mein Ruhm, mein gluͤckliches Ausſehen,
meine Stelle in der großen Welt hab’ ich
verloren; lange betaͤubte der Schmerz
meine Seele, bis die Zeit meine Empfind-
lichkeit verringerte, die Wurzeln meines
Lebens, welche mein Schickſal unberuͤhrt
ließ, neue Kraͤft ſammelten, und die gu-
ten Grundſaͤtze meiner Erziehung, friſche,
obwohl kleine Zweige von Wohlthaͤtigkeit
und Nutzen fuͤr meine Nebenmenſchen em-
portrieben. Sie ſind, wie die Wurzel-
zweige meines Ebenbildes bey niedrigem
Moos,
[160] Moos, und kleinen Grasarten aufkeim-
ten, auch unter der geringen Claſſe mei-
ner Nebenmenſchen entſproſſen; aber es
erfreut mich dieſe Claſſe in der Naͤhe ge-
ſehen zu haben; denn ich habe manche
ſchoͤne Blume darunter entdeckt, die dem
erhabenen Haupte eines großen hochge-
wachſenen Baums unbekannt verbluͤhet;
und kann ich nicht zu meinem ſuͤßeſten
Troſte ſagen, daß unter dem Schatten
meines Umgangs und meiner Sorgen die
freygebige Ausſaat der liebreichen Stifte-
rinn des Geſindhauſes ſo viele nuͤtzliche
Creaturen erwachſen macht? Und nun
ruht das edle Herz meiner geliebten Lady
Summers von großen und kleinen Lebens-
ſorgen ungeſtoͤrt unter der vereinigten Be-
muͤhung aller meiner Faͤhigkeiten und
meiner Dankbegierde, von den muͤhſamen
Schritten aus, welche das ſechzigſte Jahr
unſers Alters zwiſchen fliehenden Freuden,
und ankommenden Schwaͤchlichkeiten zu
machen hat.
Madam
[161]
Madam Leidens
an
Emilien.
Nicht wahr, meine Emilia, es giebt
Reiche, die eine Art von Mangel fuͤhlen,
welchen ſie durch Haͤufung aller Arten von
Ergoͤtzlichkeiten zu heben ſuchen, und
dennoch dem Uebel nicht abhelfen koͤnnen,
weil ſie von Niemand unterrichtet wurden,
daß unſer Geiſt und Herz auch ihre Be-
duͤrfniſſe haben, zu deren Befriedigung
alles Gold von Jndien, und alle ſchoͤ-
nen wolluͤſtigen Koſtbarkeiten Frankreichs
nichts vermoͤgen, weil die wahren Huͤlfs-
mittel dagegen allein in der Hand eines
empfindungsvollen Freundes, und in
einem lehrreichen und unterhaltenden Um-
gang zu finden ſind. Wie klein iſt die
Anzahl gluͤcklicher Reichen, welche dieſe
Vortheile kennen? Wuͤrklich bin ich im
Beſitze mancher angenehmen Guͤter des
Lebens, ich fuͤhle den vergnuͤgenden Reiz,
welcher darinn liegt, ich genieße die Ge-
IITheil. Lſchenke
[162] ſchenke des Gluͤcks mit aller Empfindung,
welche das Schickſal fuͤr dieſe Gaben for-
dern kann; aber es mangelt meinem Her-
zen der Buſen einer vertrauten Freundinn,
in den es das Uebermaaß ſeiner Empfin-
dungen ausgießen koͤnnte. Jch bin be-
liebt; meine hie und da mit Beſcheiden-
heit erſcheinende Grundſaͤtze ziehen mir
Verehrung zu; das Gefuͤhl der Schoͤnhei-
ten Shakeſpears, Thomſons, Addiſons
und Pope’s haben meinem Geiſte eine neue
lebendige Nahrung in den Unterhaltungen
unſers Pfarrers und eines ſehr philoſo-
phiſch denkenden Edelmanns in der Nach-
barſchaft erworben. Die aͤlteſte Tochter
des Pfarrers iſt ſanft, geſuͤhlvoll, und
dabey mit wahrem Verſtande begabt; ich
liebe ſie; aber mitten in einer zaͤrtlichen Um-
armung empfinde ich, wie viel mein Herz
noch zu wuͤnſchen hat, um den Erſatz fuͤr
meine Emilia zu erhalten. Schelten Sie
mich deswegen nicht undankbar; ich weiß,
daß ich Jhre Freundſchaft noch beſitze,
und die von der liebenswuͤrdigen Emma
zugleich habe; Jhnen ſchreibe ich von dem
Theile
[163] Theile meiner Seele, den ich hier nicht gei-
gen kann, und mit Emma rede ich von
dem, der in dem Zirkel meines engliſchen
Aufenthalts ſichtbar wird; aber ich kann
mich nicht verhindern die Laͤnge des We-
ges abzumeſſen, den meine armen Briefe
durchlaufen muͤſſen, bis ſie zu Jhnen
kommen, und zu fuͤhlen, daß dieſe Ent-
fernung der liebſten Gewohnheit meines
Herzens ſchmerzlich faͤllt. Vielleicht,
meine Emilia, bin ich beſtimmt die ganze
Reyhe moraliſcher Empfindniſſe durchzu-
gehen, und werde dadurch geſchickt, mit
ſchneller Genauigkeit ihre mannichfaltige
Grade und Nuͤancen im bittern und ſuͤßen
zu bemerken. Jch will mich auch dieſem
Theile meines Geſchickes gerne unterwer-
fen, wenn ich nur zugleich den nehmli-
chen Grad von Fuͤhlbarkeit fuͤr alles Weh
und Wohl meines Naͤchſten behalte, und,
ſo viel ich kann, ſeine Leiden zu vermin-
dern ſuche.
Lady Summers hat zu gleicher Zeit fuͤr
ihre Ehre und fuͤr meinen vermutheten
Stolz zu ſorgen geglaubt, da ſie mich als
L 2eine
[164] eine Perſon von ſehr edlem Herkommen
dargeſtellt hat, welche aͤlternlos ſich mit
wenigem Vermoͤgen verheurathet, und
ihren Mann gleich wieder verloren haͤtte.
Meine Haͤnde, meine feine Waͤſche und
Spitzen, die in Feuer ſo ſchoͤn gemahlten
Bildniſſe meiner Aeltern, und der Ton
meines geſellſchaftlichen Bezeugens, haben
mehr zu Bekraͤftigung dieſer Jdee beyge-
tragen als meine eigentliche Denkungsart
haͤtte thun koͤnnen. Aber ein ſchoͤnes,
und fuͤr die Tugend der Lady Summers
feſt errichtetes Denkmal, iſt der Glaube
an die Reinigkeit meiner Sitten, in wel-
che, weil ſie mich liebt, keine Seele den
geringſten Zweifel ſetzt; denn, ſagt der
Pfarrer, die Luftſaͤule, in welcher die La-
dy athme, waͤre ſo moraliſch geworden,
daß der Laſterhafte ſich ihr niemals naͤhern
wuͤrde. Denken Sie nicht mit mir, daß
dieſes die erhabenſte Seele des wahren
Ruhms iſt? O was fuͤr ein Kummer der
Menſchen, des Guten und Edlen iſt Jhr
Mann, der mir in den ehrwuͤrdigen Fal-
ten der Stirne meiner Lady alles dieß
zeigte,
[165] zeigte, als er mir in ihrem Hauſe die
Beſtaͤrkung meiner Tugend, und Uebung
meiner Geiſteskraͤfte verſprach! Lord
Rich, der philoſophiſche Edelmann, von
dem ich im Anfange dieſes Briefes ſchrieb,
hat ſein Haus nur eine Meile von hier;
es iſt ganz einfach, aber in dem edelſten
Geſchmacke gebauet. Die beſten Auszie-
rungen des Jnnern beſtehen aus verſchie-
denen ſchoͤnen Sammlungen von Natura-
lien, aus einem vollſtaͤndigen Vorrath
mathematiſcher Jnſtrumenten, und einer
großen Buͤcherſammlung, worunter zwan-
zig Folianten ſind, in denen er beynahe
alle merkwuͤrdige Pflanzen des Erdbodens
mit eigner Hand getrocknet hat. Sein
wohlangelegter Garten, in welchem er
ſelbſt arbeitet, und ſein Park, der an den
unſern ſtoͤßt, haben uns das erſtemal an-
gelockt hinzugehen. Aber die ſimple
deutliche Art, womit er uns alle ſeine
Schaͤtze vorlegte und benennete, die großen
aſiatiſchen Reiſen, welche er gemacht, und
ſeine weitlaͤuftige Kenntniß ſchoͤner Wiſ-
ſenſchaften, machen ſeinen Umgang ſo rei-
L 3zend,
[166] zend, daß die Lady ſelbſt entſchloſſen iſt,
ihn oͤfters zu beſuchen, weil es ihr, wie
ſie ſagt, ſehr erfreulich iſt, nah an dem
Abend ihres Lebens ſo ergoͤtzende Blicke
in die Schoͤpfung zu thun. Lord Rich,
der bisher ganz einſam gelebet, und Nie-
mand als den Pfarrer zu ſehen pflegte,
iſt ſehr vergnuͤgt uͤber unſre Bekannt-
ſchaft, und koͤmmt oft zu uns. Sein
Thun und Laſſen ſcheint mit lauter Ruhe
bezeichnet zu ſeyn, gleich als ob ſeine
Handlungen die Natur der Pflanzenwelt
angenommen haͤtten, die unmerkſam, aber
unnblaͤßig arbeitet; doch duͤnkt mich
auch, daß ſein Geiſt den moraliſchen
Theil der Schoͤpfung nun eben ſo unter-
ſuchend betrachtet, wie ehemals den phy-
ſikatiſchen. Meine Emma, und meine
Lady Summers gewinnen viel dabey;
aber mich hat er ſchuͤchtern gemacht.
Da ich letzthin ſeine Meynung uͤber meine
Gedanken wiſſen wollte, ſagte er: „gerne
„moͤchte ich von den Wurzeln der ſchoͤnen
„Fruͤchte Jhrer Empfindungen reden, aber
„wir erhalten ſie nur von der Hand Jh-
„rer
[167] „rer Gefaͤlligkeit, welche ſie uns mitten
„aus dem dichten Nebel darbietet, der
„ihr urſpruͤngliches Land beſtaͤndig um-
„giebt.“ — Jch fand mich in Verlegen-
heit, und wollte mir durch den Witz hel-
fen laſſen, der ihn fragte: ob er denn
meinen Geiſt fuͤr benebelt hielte? — Er
ſah mich durchdringend und zaͤrtlich an;
gewiß nicht auf die Art, wie Sie meynen,
ſagte er; beweiſt nicht dieſe Thraͤne in
Jhren Augen, daß ich Recht haͤtte, da
ich Jhren Geiſt fuͤr umwoͤlkt hielte? Denn
warum kann die kleinſte Bewegung Jhrer
Seele dieſen Nebel, wovon ich rede, in
Waſſertropfen verwandeln? Aber liebe
Madam Leidens, ich will niemals mehr
davon ſprechen; aber fragen Sie auch
mein Herz nicht mehr um ſein Urtheil
von dem Jhrigen.
Sehen Sie, Emilia, wie viel mir mit
Jhnen fehlt; alle Empfindungen, die ſich
in mir zuſammen dringen, wuͤrde ich Jh-
nen ſagen; da waͤre mein Herz erleichtert,
und ſchien nicht durch dieſen bemerkten
Nebel hindurch. Jch war froh, mich
L 4genug
[168] genug zu faſſen, um ihm in ſeinem phyſi-
kaliſchen Ton zu antworten, daß Er
glauben moͤchte, dieſe Wolken wuͤrden
durch meine Umſtaͤnde, und nicht durch
die Natur meines Herzens hervorge-
bracht. Jch bin es uͤberzeugt, ſagte er,
auch ſeyn Sie ruhig! es gehoͤrt alle mei-
ne Beobachtung dazu, dieſes feine Ge-
woͤlke zu ſehen. Andere ſind nicht ſo auf-
merkſam und erfahren, als ich es bin.
Unſere Unterredung wurde durch Miß
Emma unterbrochen, und Mylord Rich
traͤgt ſeitdem Sorge, daß er mich nicht zu
genau betrachtet.
Madam Leidens
an
Emilia.
Sagen Sie, meine Emilia, woher koͤmmt
es, daß man auch bey der beſten Gat-
tung Menſchen eine Art von eigenſinni-
ger Befolgung eines Vorurtheils antrifft.
Warum
[169] Warum darf ein edeldenkendes, tugend-
haftes Maͤdchen nicht zuerſt ſagen, dieſen
wuͤrdigen Mann liebe ich? warum ver-
giebt man ihr nicht, wenn ſie ihm zu ge-
fallen ſucht, und ſich auf alle Weiſe um
ſeine Hochachtung bemuͤhet? *)
Den Anlaß dieſer Fragen gab mir Lord
Rich, deſſen Geiſt alle Feſſeln des Wahns
abgeworfen zu haben ſcheint, und der
allein der wahren Weisheit und Tugend
zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art
Widerwillen gegen die zaͤrtliche Neigung
der Miß Emma, von welcher er doch alle-
zeit mit der groͤßten Achtung ſprach, ih-
ren Verſtand, ihr Herz ruͤhmte, alle ihre
Handlungen ſeines Beyfalls wuͤrdigte,
und den ihrigen liebte. Nun ſetzt er
der ſanften Glut, die ſeine Verdienſte in
ihrem Herzen angefacht haben, nichts
als die kaͤlteſte Heftigkeit entgegen; und
gewiß aus dem nehmlichen Eigenſinne
L 5faͤngt
[170] faͤngt er an, mir, die ich außer meiner
Hochachtung fuͤr ſeine Kenntniſſe ganz
gleichguͤltig geſinnt bin, eine anhaltende
zaͤrtliche Aufmerkſamkeit, die mir Zwang
anthut, zu bezeugen. Jch unterdruͤcke
zehnmal die Ausſpruͤche einer Empfindung,
oder eines Gedankens, nur um ſeinen Bey-
fall zu vermeiden, und nicht einen Tropfen
Oel wiſſentlich in das anglimmende Feuer
zu gießen. Denn, da ich nicht geneigt
bin, ſeine Liebe anzunehmen, warum
ſollte ich ſie meiner weiblichen Eitelkeit
zu gefallen vergroͤßern? Wir werden
heute nach Mittag zu ihm gehen, um einem
neuen Verſuch von Beſaͤung der Aecker
mit einer Maſchine zuzuſchauen. Meine
liebe Lady iſt gar zu gerne dabey, wenn
etwas umgegraben oder gepflanzet wird;
Jeder Tag, ſagt ſie, fuͤhrt mich naͤher zu
der Vereinigung mit unſerer muͤtterlichen
Erde, und ich glaube, daß dieſes meine
innerliche Neigung gegen ſie beſtaͤrkt.
Jch wuͤrde, liebſte Emilia, einen gluͤckli-
chen Tag gehabt haben, wenn nicht der
Zufall wider mich und den guten Lord
Rich
[171] Rich gearbeitet haͤtte. Der Pfarrer war
da, ich kam neben ihm zu ſitzen, als uns
Lord Rich von dem Feldbau und der Ver-
ſchiedenheit der Erde, und der nachher er-
foderlichen Verſchiedenheit des Anbaues
redte. Sein Ton war edel, einfach, und
deutlich; er erzaͤhlte uns von den vielfa-
chen Empfindungen, wozu der ſchlechte Er-
trag der Guͤter, die Landleute dieſer und
jener Nation getrieben haͤtte; und wie
weit ihre Muͤhe belohnt worden ſey.
Da er zu reden aufhoͤrte, konnte ich mich
nicht hindern den Pfarrer zuzuliſpeln,
daß ich wuͤnſchte, die Moraliſten moͤchten
durch ihre Kenntniß der verſchiedenen
Staͤrke und Gattung angeborner Neigun-
gen und Leidenſchaften, auch auf Vor-
ſchriften der mannichfaltigen Mittel gera-
then, wie alle auf ihre Art nuͤtzlich und
gut gemacht werden koͤnnten.
Es iſt ſchon lange geſchehen, ſagte er,
aber es giebt zu viel unverbeſſerlichen
moraliſchen Boden, wo der beſte Bau
und Saamen verloren iſt.
Es
[172]
Es iſt mir leid, erwiederte ich; daß
ich denken muß, es gebe in der moraliſchen
Welt auch ſandige Striche in denen nichts
waͤchſt — Heiden, die kaum kleines
trocknes Geſtraͤuche hervorbringen, und
moraſtige Gegenden, welche die allgemei-
ne moraliſche Verbeſſerung eben ſo weit
hinausſetzen, wie in der Phyſikaliſchen
viele Menſchenalter vorbeygehen, ehe
Noth und Umſtaͤnde ſich vereinigen; den
Sand mit Baͤumen und Hecken durchzu-
ziehen, um dadurch wenigſtens zu verhin-
dern, daß ihn der Wind nicht auf gutes Land
treibe, und auch dieſes verderbe. Lange
brauchts bis man Heiden anbaut, Moraͤ-
ſten ihr Waſſer abzapft, und ſie nuͤtzlich
macht; dennoch beweiſen alle Jhre Ver-
ſuche, daß die Tugend der Nutzbarkeit in
der ganzen Erde liege, wenn man nur
die Hinderniſſe ihrer Wirkung wegnimmt.
Der Grundſtoff der moraliſchen Welt haͤlt
gewiß auch durchgehends die Faͤhigkeiten
der Tugend in ſich; aber ſein Anbau wird
oft vernachlaͤßiget, oft verkehrt angefan-
gen, und dadurch Bluͤthe und Fruͤchte
verhin-
[173] verhindert. Die Geſchichte beweiſt es,
wie mich duͤnkt. Barbariſche Voͤlker
werden edel, tugendhaft; andere, die es
waren, durch Nachlaͤßigkeit wieder ver-
wildert: wie ein Acker, der einſt Waitzen
trug, und eine ganze Familie ernaͤhrte,
durch Unterlaſſung des Anbaues Dorn-
buͤſche und ſchaͤdliches Gehecke zu tragen
anfaͤngt. — Mit ruhiger Geduld hoͤrte
der Pfarrer mir zu; aber Lord Rich, der
ſich hinter uns geſetzt hatte, ſtund auf
einmal lebhaft auf, und indem er mich
uͤber meinen Stuhl bey den Armen faßte,
ſagte er geruͤhrt : o, Madam Leidens, was
haben Sie mit dem Ton Jhres Herzens
in der großen Welt gemacht? Sie koͤnnen
nicht gluͤcklich darinn geweſen ſeyn! Dan-
noch Mylord, antwortete ich: man lernt
da die wahre Verſchiedenheit zwiſchen
Geiſt und Herz kennen, und ſieht, daß der
erſte als ein ſchoͤner Garten angelegt wer-
den kann. Mit Enthuſtasmus ſagte er:
edelangebaute Seele, in einer geſegne-
ten Gegend biſt du erwachſen, und die
ſchoͤne Menſchlichkeit pflegte dich!
Aus
[174]
Aus Bewegung meines Herzens kuͤßte
ich die Bildniſſe meiner Aeltern, die ich
immer an meinen Haͤnden trage; Thraͤ-
nen fielen auf ſie; ich gieng ans Fenſter;
Lord Rich folgte mir; eine antheilneh-
mende Traurigkeit war in ſeinen Zuͤgen,
als ich nach einigen Minuten ihn anſah,
und er ſeine Blicke auf die Bilder heftete.
Dieß ſind die Bildniſſe Jhrer Aeltern,
Madam Leidens, leben Sie noch? — —
ſagte er ſanft. — O, nein, Mylord,
ſonſt waͤre ich nicht hier, und meine Au-
gen wuͤrden nur Freudenthraͤnen zu ver-
gießen haben. — Alſo hat Sie ein
Sturm nach England gefuͤhrt? — Nein,
Mylord, denn Freundſchaft und freye
Wahl iſt kein Sturm, verſetzte ich, indem
ich mich zu laͤcheln bemuͤhte. Lebhaft
ſagte Lord Rich, Dank ſey Jhrer hal-
ben Aufrichtigkeit, daß Sie mich Jhrer
Freyheit zu waͤhlen verſichert. Die edel-
ſte Neigung, welche jemals ein Mann er-
naͤhrte, wird auf dieſen Grund ihre Hoff-
nung bauen. „Das kann nicht ſeyn,
Mylord, denn ich ſage Jhnen, daß die
Eigen-
[175] Eigenthuͤmerinn dieſes Grunds auf ewig
mit der Hoffnung entzweyet iſt. Lady
Summers war bey uns, als ich dieſes ſag-
te, und ſtreckte bey den letzten Worten ihre
Hand aus, mir den Mund zuzuhalten;
„das ſollen Sie nicht ſagen, ſprach ſie;
„wollen Sie eigenmaͤchtig die kuͤnftigen
„Tage zu den vergangenen werfen? Die
„Vorſicht wird Jhrer nicht vergeſſen,
„meine liebe, machen Sie nur keine ei-
„genſinnigen Foderungen an Sie.“ —
Dieſer Vorwurf machte mich aus Em-
pfindlichkeit erroͤthen, ich kuͤßte die Hand
der Lady, mit welcher ſie meinen Mund
hatte zuhalten wollen, und fragte ſie
zaͤrtlich: „theure Lady, wenn Sie mich
eigenſinnig in meinen Foderungen ge-
funden? — Jn Jhrer beſtaͤndigen
Traurigkeit uͤber das Vergangene, wo
Sie Zuruͤckfoderungen aus dem Reiche
der Todten machen, war ihre Ant-
wort.“ — O meine geliebte wuͤrdige La-
dy Summers, warum, ach — war-
um — Dieſe Ausrufung entfloh mir,
weil ich; geruͤhrt uͤber ihre Guͤte, innig
bedauerte,
[176] bedauerte, daß wir ſie durch eine falſche
Erzaͤhlung betruͤgen mußten; aber ſie
nahm es anders; und fiel mir ein: „Meine
Tochter, ſagen Sie mir, kein Ach warum
mehr; leiten Sie das Gefuͤhl Jhres Her-
zens auf die Gegenſtaͤnde der Zufrieden-
heit, die ſich Jhnen anbieten, und zaͤhlen
Sie auf meine muͤtterliche Zaͤrtlichkeit,
ſo lange Sie ſie genießen moͤgen.“ Jch
druͤckte ihre Hand an meine Bruſt, und
ſah ſie voll Ruͤhrung an mit dem voll-
kommenſten Gefuͤhle kindlicher Liebe; ihr
Herz empfand es, und belohnte mich
durch eine muͤtterliche Umarmung. Lord
Rich hatte uns mit Bewegung betrachtet,
und ich ſah den nehmlichen Augenblick die
ſchoͤnen Augen der Emma voll ſchmelzen-
der Liebe euf ihn geheftet; Jch ſagte ihm
auf italiaͤniſch, dort waͤren unvermiſchte
Empfindungen, die allein faͤhig ſeyn, die
Tage eines edeldenkenden Mannes mit der
feinſten Gluͤckſeligkeit zu erfuͤllen. Er
antwortete in nehmlicher Sprache: Nicht
ſo Madam Leidens, denn dieſe Art Em-
pfindlichkeit iſt nicht diejenige, welche
einſam-
[177] einſamwohnende Perſon begluͤcken kann.
Was wollte er damit ſagen? Jch ſchuͤt-
telte den Kopf halb misvergnuͤgt und
ſagte nur: O Mylord von was fuͤr einer
Farbe ſind Jhre Empfindungen? — —
„Von der allerdauerhafteſten, denn ſie
ſind aus uͤbender Tugend entſtanden.“ —
Jch gab keine Antwort, ſondern wandte
mich, nach einer Verbeugung gegen Jhn,
zur Emma, die an meinem Arm, aber
ganz in ein trauriges Stillſchweigen ge-
huͤllt, nach Summerhall zuruͤck gieng;
und nun hoͤre ich, daß ſie wegreiſen wird.
Madam Leidens
an
Emilia.
Ueberfluß iſt, wenn Sie ihm die Ge-
walt der Wohlthaͤtigkeit nehmen, kein
Gluͤck, meine liebe Emilia; er zerſtoͤrt
den aͤchten Gebrauch der Guͤter, er zer-
bricht in der Seele des Leichtſinnigen die
IITheil. MSchran-
[178] Schranken unſerer Begierden, ſchwaͤcht
das Vergnuͤgen des Genuſſes, und ſetzt,
wie ich erfahre, ein grauſames Herz und
ſeine maͤßigen Wuͤnſche in eine Art unan-
genehmer Verlegenheit. — Sie wiſſen
vermuthlich nicht, meine Freundinn, wo
Sie die Urſache dieſes Ausfalls auf einen
Zuſtand, der von meinem dermaligen ſo
weit entfernt iſt, ſuchen ſollen. Aber
Sie wiſſen doch, daß mich alle Gegen-
ſtaͤnde auf eine beſondere Art ruͤhren, und
werden ſich nicht wundern, wenn ich Jhnen
ſage, daß die Geſinnungen des Lord Rich
der eigentliche Anlaß zu meiner anmuthi-
gen Betrachtung des Ueberfluſſes waren.
Er verfolgte mich mit Liebe, mit Bewun-
derung, mit Vorſchlaͤgen, und (was mir
Kummer macht) mit der Ueberzeugung,
daß ich ihn gluͤcklich machen wuͤrde. O,
haͤtte ich denken koͤnnen, daß die Sympa-
thie unſers Geſchmacks an den Vergnuͤ-
gungen und Beſchaͤfftigungen des Geiſtes
in ihm die Jdee hervorbringen wuͤrde, daß
ich auch eine ſympathetiſche Liebe empfin-
den muͤßte, ſo ſollte er nicht die Haͤlfte
der
[179] der Gewalt geſehen haben, womit die
Reize der Schoͤpfung auf meine Seele
wuͤrken, und niemals haͤtte ich mich in
Geſpraͤche mit ihm eingelaſſen. Aber ich
war um ſo ruhiger, da ich wußte, daß
er ein niedliches Bild griechiſcher Schoͤn-
heiten von der Jnſel Scio mit ſich ge-
bracht, und in ſeinem Hauſe hatte. Jch
hielt lange Zeit ſein Anſuchen meiner Ge-
ſellſchaft und das Ausfragen meiner Ge-
danken fuͤr nichts anders, als fuͤr die
Luſt der Befriedigung meiner Lieblings-
ideen, weil ich, ohne die geringſte Zer-
ſtreuung, mit ununterbrochener Aufmerk-
ſamkeit bald die Hiſtorie eines Landes,
bald einer Pflanze, bald eines griechiſchen
Ruins, bald eines Metalls, bald eines
Steins anhoͤrte, nicht muͤde wurde, und
ihm alſo die Freude gab, ſeine Kenntniſſe
zu zeigen, und zu ſehen, daß ich die edle
Verwendung ſeines Reichthums und Le-
bens zu ſchaͤtzen, und zu loben wußte.
Sein Umgang war mir durch ſeine Wiſ-
ſenſchaft und Erzaͤhlungen unendlich
werth; ſein Entſchluß, nach zehnjaͤhrigen
M 2Reiſen
[180] Reiſen durch die allerentfernteſten Gegen-
den des Weltkreiſes, ſeine uͤbrigen Tage
in Anbauung eines Theils ſeiner muͤtter-
lichen Erde zuzubringen, machte mir ihn
vorzuͤglich angenehm; dieſes erfreute mich;
aber ſeine Liebe iſt der Ueberfluß davon,
der mich belaͤſtigt und in Verlegenheit ſetzt.
Er hat ſich bey der Lady um mich erkun-
diget; ihre Antwort hat ſeinen Eifer
nicht vermehrt, aber anhaltender ge-
macht; und ein einziges Wort von mir
gegen die Lady, brachte ihn zu dem Ent-
ſchluß ſeine Griechinn zu verheurathen, und
mit ihrem Manne nach London zu ſchicken.
Sie koͤnnen nicht glauben, wie ſchwer
meinem Herzen dieſes vermeynte Opfer
wiegt, da er, wegen leerer Hoffnungen des
kuͤnftigen Vergnuͤgens meiner Geſellſchaft,
die Ermunterung von ihm entfernt; wel-
che der Beſitz des reizenden Maͤdchens ihm
gegeben haͤtte. Sein Secretaͤr liebte ſie,
ſagte er, ſchon lang, und das Maͤdchen
ihn auch; beyde haͤtten ihn auf den Knien
fuͤr ihre Vereinigung gedankt. Er fuͤhlt
aber das Leere, ſo ihre Abreiſe in ſeinem
Herzen
[181] Herzen gelaſſen hat, denn er iſt ſeitdem
mit aufgehender Sonne in unſerm Park,
und beraubt mich der Morgenluft, weil
ich ihn vermeiden will, da er eine An-
foderung von Erſatz an mich zu machen
ſcheint. Niemals, nein, niemals mehr
werde ich den Witz um Huͤlfe bitten, mich
aus einer Verwirrung zu reißen. Die
Lady Summers hatte mit mir uͤber die an-
gehende Liebe des Lords geſcherzt; ich wi-
derſprach ihr lange in gleichem Ton, und
behauptete, es waͤre nichts als Selbſtliebe,
weil ich ihm ſo gerne zuhoͤrte. Sie be-
ſtrafte mich ganz ernſthaft uͤber dieſe An-
klage: „Lord Rich verehret Jhre edle
Wißbegierde, er ſucht ſie durch Mit-
theilung ſeiner Kenntniſſe zu befriedigen,
und ſeine Belohnung ſoll in dieſer beiſſen-
den Beſchuldigung beſtehen?“ — Jch
war geruͤhrt, weil ich nicht einmal das
Anſehen einer Ungerechtigkeit dulden kann,
und nun ſelbſt eine ausuͤbte; aber meine
Lady fuhr ganz guͤtig fort, mir viele Be-
weiſe ſeiner zaͤrtlichen Hochachtung zu wie-
derholen, die ich als wahre Kennzeichen
M 3der
[182] der edelſten Neigung anſehen mußte; Jch
geſtund auch, daß ſie eine Ruͤckgabe ver-
dienten; aber da ſie bey allem, was ich
von meinen freundſchaftlichen Gegenge-
ſinnungen ſagte, immer den Kopf ſchuͤt-
telte, und mehr fuͤr den Lord foderte:
ſo verſicherte ich ſie, daß es unmoͤglich
ſey, daß Lord Rich mehr von mir wuͤn-
ſchen koͤnnte, da er bey ſeiner ſchoͤnen
Griechinn alles faͤnde, was die Liebe bey-
tragen koͤnne, ihn gluͤcklich zu machen.
Sie ſchwieg freundlich, und ließ mich
nicht merken, ſie daͤchte das einzige Hin-
derniß meiner Verbindung mit Lord Rich
entdeckt zu haben. Dieſer war auch ei-
nige Tage ſtill von ſeiner Liebe und ſehr
munter, beſonders an dem, wo er mit
dem ruhigſten und ungezwungenſten Ton
von der Heurath und Abreiſe ſeiner Aſſy
redte. Jch war betroffen, und fuͤrchtete
mich vor dem Erbtheil ſeines ganzen Her-
zens, welches ihm ihre Heurath ruͤckfaͤllig
machte; Er ſage mir nichts, die Lady
aber deſto mehr. „Warum, liebſte Lady,
„wollen Sie Jhre angenommene Tochter
„von
[183] „von ſich entfernen? bin ich Jhnen unan-
„genehm geworden? ſagte ich.“ Sie reich-
te mir die Hand, nein, mein Kind, Sie
ſind mir unendlich werth, und ich werde
die zaͤrtliche Beſorgerinn meines Alters
gewiß vermiſſen; aber ich habe fuͤr den
Herbſt meines Lebens Fruͤchte genug ge-
ſammlet, ohne noͤthig zu haben, Jhren
Fruͤhling ſeiner ſchoͤnſten Bluͤthe zu be-
rauben. Sie ſind jung, reizend, und
fremde, was wollen Sie nach meinem
Tode machen? — „Wenn ich dieſes
Ungluͤck erlebe, ſo gehe ich zu meiner
Emilia zuruͤck. —
Liebe Leidens, bedenken Sie ſich! ein
Frauenzimmer von ihrer Geburt und Lie-
benswuͤrdigkeit muß entweder bey nahen
Verwandten, oder unter dem Schutz eines
wuͤrdigen Mannes ſeyn. Lord Rich hat
Jhre ganze Hochachtung; der edle Mann
verdient ſie auch; Sie wiſſen, daß Sie ihn
gluͤcklich machen koͤnnen; ſeine Freund-
ſchaft, ſein Umgang iſt Jhnen angenehm;
Jhr Wille, Jhre Perſon iſt frey; die edel-
ſte Beweggruͤnde leiten Sie zu dieſer
M 4Ver-
[184] Verbindung; machen Sie Jhrer gefun-
denen Mutter die Freude, in Jhnen und
dem Lord Rich die aͤchten Bildniſſe maͤnn-
licher und weiblicher Tugend vereint zu
ſehen.
So nahe drang die theure Lady in
mich. Jch legte meinen Kopf auf ihre
Hand, die ich kuͤßte, und mit den zaͤrt-
lichſten Thraͤnen benetzte; es war in mei-
ner Seele, als ob ich den Widerhall der
Stimme meiner geliebten zaͤrtlichen Mut-
ter gehoͤrt haͤtte. Ach, dieſe Tugenden
waren das Band ihrer Ehe! Wie un-
gleich hatte ich gewaͤhlt! Die Verdienſte
des Lord Rich konnten Sie an die Seite
der vortreflichen Eigenſchaften meines Va-
ters ſetzen; mein Gluͤck waͤre wie das ih-
rige geweſen; aber meine Verwicklung,
meine unſelige Verwicklung! — O, Emi-
lia, ſchreiben Sie mir bald, recht bald
Jhre Gedanken. — Aber ich kann nicht
mehr lieben; ich kann mich nicht mehr
verſchenken; ja die zaͤrtliche Achtung ſelbſt,
welche ich fuͤr den Lord Rich habe, em-
poͤrt ſich wider dieſen Gedanken; Mein
Schick-
[185] Schickſal hat mich durch die Hand der
Bosheit in den Staub geworfen; die
Menſchenfreundlichkeit nahm mich auf;
an dieſe allein habe ich Anſpruͤche; meine
Leichtglaͤubigkeit hat mich aller uͤbrigen
beraubet, und ich will kein fremdes, kein
unverdientes Gut an mich ziehen.
Madam Leidens
an
Emilia.
O meine Freundinn! ein neues uner-
wartetes Uebel draͤngt ſich mir zu; Jch
zweifle, ob alle meine Standhaftigkeit hin-
reichen wird, es zu ertragen, da ich ohne-
hin gezwungen bin, zu meiner gehaͤßig-
ſten Feindinn, der Verſtellung, meine
Zuflucht zu nehmen. Aber weil in mei-
nen itzigen Umſtaͤnden mehr Aufrichtigkeit
mir nichts nuͤtzen, und andern ſchaden
wuͤrde, ſo will ich den freſſenden Kummer
in meine Bruſt verſchließen, und ſelbſt
fuͤr das Vergnuͤgen des Urhebers meiner
M 5Lei-
[186] Leiden, die Ueberreſte einer ehemals laͤ-
chelnden Einbildungskraft verwenden.
Hoͤren Sie, meine Emilia, hoͤren Sie
was fuͤr eine Ruͤckkehr das Ungluͤck
macht, das Jhre Jugendfreundinn ver-
folgt. Vor einigen Tagen mußte ich die
ganze Geſchichte von Lord Richs Her-
zen anhoͤren; ihr letzter Theil enthielt
die Abſchilderung ſeiner Liebe fuͤr mich.
„Es iſt, ſpricht er, die Leidenſchaft ei-
nes fuͤnf und vierzig jaͤhrigen Mannes,
die durch die Vernunft in ſein Herz ge-
bracht wurde, alle Kraͤfte meiner Erfah-
rung, meiner Kenntniß der Menſchen be-
ſtaͤrken ſie.“ — Theurer Lord Rich, Sie
betruͤgen ſich; niemals hat die Vernunft
fuͤr die Liebe gegen die Freundſchaft ge-
ſprochen; Sie beſitzen den hoͤchſten Grad
dieſer edlen Neigung in meinem Herzen;
laſſen Sie — „Nichts mehr Madam Lei-
dens, ehe Sie mich angehoͤrt haben.
Meine Vernunft machte mich zu Jhrem
Freund, und wieß Jhnen in meiner Hoch-
achtung einen Platz an, den ich auch dem
Verdienſte eines Mannes wuͤrde gegeben
haben.“
[187] haben.“ — Hier rechnete er mir Tugen-
den und Kenntniſſe zu, wovon ich ſagen
mußte, daß ich ſie fuͤr nichts anders als
ſchoͤne Gemaͤhlde liebenswuͤrdiger Fremd-
linge betrachten koͤnnte. „Und ich, (fuhr
er fort) muß Jhnen in erhoͤhetem Maaße
das feine Lob zuruͤckgeben, welches die
Beſcheidenheit meiner ſchoͤnen Landsmaͤn-
ninnen von einem Fremden erhielt, da
Jhnen die Vorzuͤge Jhres Geiſtes eben ſo
unbekannt ſind, als jenen die Reize ihrer
Geſtalt. Hierauf beſchrieb er meine mir
eigenen Weiblichkeiten, wie er ſie nannte,
als Fruͤchte eines feurigen Genie, und
einer ſanften empfindſamen Grazie, und
machte aus dieſem allen den Schluß; daß
der Ton meines Kopfs und Herzens juſt
derjenige waͤre, welcher mit dem ſeinigen
ſo genau zuſammenſtimmte, als noͤthig
ſey, die vollkommenſte Harmonie ei-
ner moraliſchen Vereinigung zu ma-
chen. — — Das Bild ſeiner Gluͤck-
ſeligkeit folgte mit ſo ruͤhrenden Zuͤgen,
daß ich uͤberzeugt wurde, er kenne alle
Triebfedern meiner Seele, und wiſſe wo-
hin
[188] hin mich der Gedanke vom Wohlthun fuͤh-
ren koͤnne. Mit aller Feinheit der Em-
pfindung zeichnete er einen fluͤchtigen Ent-
wurf davon. O meine Emilia, es war
der Abdruck meiner ehemaligen Wuͤnſche
und Hoffnungen im ehelichen Leben.
Aeußerſt geruͤhrt und beſtuͤrzt konnte ich
meine Thraͤnen nicht zuruͤckhalten. Er
ſtund von der Raſenbank auf, und er-
griff meine beyden Haͤnde; eine vielden-
kende maͤnnliche Zaͤrtlichkeit war in ſei-
nem Geſichte, als er mich betrachtete,
und meine Haͤnde an ſeine Bruſt druͤck-
te. — — „O Madam Leidens, ſagte er,
was fuͤr ein Ausdruck von tiefem Kummer
iſt in Jhren Geſichtszuͤgen! Entweder
hat der Tod Jhrem Herzen alle Freuden des
Lebens und der Jugend entriſſen, oder es
liegt in ihren Umſtaͤnden irgend eine
Quelle von bitterm Jammer verborgen.
Sagen Sie, theure geliebte Freundinn,
wollen Sie nicht, koͤnnen Sie nicht die-
ſer Quelle einen Ausfluß in den Buſen
Jhres treuen, Jhres Sie anbetenden
Freundes verſchaffen?“ Mein Kopf ſank
auf
[189] auf ſeine Haͤnde, die noch immer die mei-
nigen hielten. Mein Herz war beklemm-
ter als jemals in meinem Leben. Das
Bild meines Ungluͤcks, die Verdienſte die-
ſes edelmuͤthigliebenden Mannes, die
ſchwere Kette meiner wiewohl falſchen
Verbindung, mein auf ewig verlornes
Vergnuͤgen bedraͤngten auf einmal mei-
ne Seele. Reden konnte ich nicht;
ſchluchzen und ſeufen mußte ich. Er
ſchwieg tiefinnig, und mit einer zittern-
den Bewegung ſeiner Haͤnde, ſagte er, in
dem traurigſten aber ſanfteſten Ton, in-
dem er ſeinen Kopf ſachte gegen den mei-
nigen neigte: O dieſer Sie quaͤlende
Kummer giebt mir ein trauriges Licht —
Jhr Gemahl iſt nicht todt — Eine Seele
wie die Jhrige wuͤrde durch einen Zufall,
den die Geſetze der Natur herbeybringen,
nicht zerriſſen, ſondern nur niedergeſchla-
gen. Aber der Mann iſt Jhrer unwuͤr-
dig, und das Andenken dieſer Feſſeln ver-
wundet Jhre Seele. — Hab’ ich Recht,
o, ſagen Sie, ob ich nicht Recht ha-
be?“ — Seine Rede machte mich
ſchau-
[190] ſchauern; ich konnte noch weniger die
Sprache wieder finden als vorher. Er
war ſo guͤtig mir zu ſagen: „heute nichts
mehr! beruhigen Sie ſich; laſſen Sie
mich nur ihr Vertrauen erwerben.“ —
Jch erhob meine Augen, und druͤckte aus
einer unwillkuͤhrlichen Bewegung ſeine
Haͤnde. O Lord Rich — war alles
was ich ausſprechen konnte. „Beſtes
weibliches Herz! was fuͤr ein Unmenſch
konnte dich miskennen, und elend ma-
chen?“ — Lieber Lord, Sie ſollen al-
les, alles wiſſen, Sie verdienen mein
Vertrauen. — Dieß ſagte ich, als ein
Bedienter der Lady Summers kam, mich
zu rufen, weil wichtige Briefe von London
angekommen waͤren. — Jch ſuchte mich
ſo viel als moͤglich zu faſſen, und eilte zur
Lady, die mir gleich die angeſehene Heu-
rath ihrer einzigen Nichte mit Mylord N**
anzeigte, und ſich auf den Beſuch freute,
den ihr Bruder und die Neuvermaͤhlten
in vierzehn Tagen bey ihr ablegen wuͤr-
den. Wir muͤſſen auf ein artiges Landfeſt
ſinnen, ſagte ſie, um den jungen Leuten
Freude
[191] Freude bey ihrer alten Tante zu machen.
Hierauf gab Sie mir im Aufſtehen einen
Brief zu leſen, den das junge Paar ihr
zuſammen geſchrieben hatte, und ent-
fernte ſich, um den Bedienten wieder ab-
zufertigen. Was fuͤr ein Grauen uͤber-
fiel mich, meine Emilia, als ich die Hand
des Lord Derby erblickte, der nun wirkli-
cher Gemahl der jungen Lady Alton war!
Mit bebenden Fuͤſſen eilte ich in mein
Zimmer, um meine Betaͤubung vor der
Lady Summers zu verbergen. Weinen
konnte ich nicht, aber ich war dem Er-
ſticken nahe. Wie fuͤhlte ich meine Un-
vorſichtigkeit nach England gegangen zu
ſeyn! Meinen Schutzort mußte ich ver-
lieren; unmoͤglich war’s in Summerhall
zu bleiben. Ach ich goͤnnte dem Boͤſe-
wicht ſein Gluͤcke; aber warum mußte
ich abermals das Opfer davon werden?
Jch gieng ans Fenſter, um Athem zu
ſchoͤpfen, und erhob meine Augen gen
Himmel; O Gott, mein Gott der du al-
les zulaͤßt, erhalte mich in dieſem Be-
draͤngniß! Was ſoll ich thun? o meine
Emilia,
[192] Emilia, beten Sie fuͤr mich! Ein Wun-
der, ja ein Wunder iſts, daß ich mich
ſammlen konnte. — Jch beſchloß, mich
zu verſtellen, der Lady alle Anſtalten des
Empfangs machen zu helfen, und dann
eine Krankheit und Ermattung vorzu-
ſchuͤtzen, ſo lange die Gaͤſte da ſeyn wuͤr-
den, und in meinem Zimmer bey zugezo-
genen Vorhaͤngen zu liegen, als ob der
Tag meinem Kopf, und meinen Augen
ſchmerzte. — Jch fand in dieſer aͤußerſten
Roth kein anders Mittel; ich unterdruͤckte
alſo meinen Jammer, und gieng zur La-
dy, die ich noch aus dem Fenſter dem
zuruͤckkehrenden Abgeſchickten freundlich
zurufen hoͤrte. Die Lady erzaͤhlte mir die
Groͤße des Reichthums und Anſehen des
Hauſes von Lord N** der durch den Tod
ſeines Bruders einziger Erbe war. Nun,
ſagte ſie, wuͤrde ihr Bruder vergnuͤgt ſeyn,
der ſonſt ſeinen Fehler als den Ehrgeiz haͤt-
te; ſeine Freude machte die ihrige. Dank-
barkeit und Freundſchaft, ihr unterſtuͤtzet
mich — Denn wo haͤtte ſonſt meine Ver-
nunft, meine voͤllig zerſtoͤrte Seele, die
Kraft
[193] Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten,
mich laͤcheln zu laſſen? Der Antheil, den
ich an der Freude meiner Wohlthaͤterinn
nahm, ſtaͤrkte mich. Alles Uebel war
geſchehen; wenn ich geredet haͤtte, wuͤrde
nur das Gute, nicht das Boͤſe, unter-
brochen worden ſeyn. Die erſte Stunde
war voll der groͤßten Quaal, die mein Herz
jemals betroffen haͤtte; aber grauſam
wuͤrde ich geweſen ſeyn, wenn ich das
Herz der lieben Lady durch meine Ent-
deckungen geaͤngſtiget hatte. Sie liebt
mich, ſie iſt gerecht und tugendhaft; der
heftigſte Abſcheu wuͤrde ſie gegen den boͤ-
ſen Menſchen erfuͤllen, der nun ihr Neffe,
der geliebte Gemahl ihrer Nichte iſt.
Vielleicht iſt er auf dem Wege der Beſſe-
rung — und gewiß waͤre er ſelbſt in der
aͤußerſten Sorge, wenn er wuͤßte, daß
ich hier bin. — Er kannte mich niemals;
niemals dachte Er, daß das Schickſal
mir einſt die Gewalt geben wuͤrde, ihm ſo
ſehr zu ſchaden. Aber ich will ſie nicht
gebrauchen, dieſe Gewalt; ungeſtoͤrt ſoll er
das Gluͤck genießen, welches ihm das Ver-
IITheil. Nhaͤngniß
[194] haͤngniß giebt, und meinem Herzen ſoll es
nicht umſonſt die Probe angebothen haben,
in welcher die Tugend ihre wahren Ergebe-
nen erkennt, den Feinden wohlzuthun.
Laß mich, o Vorſicht, laß mich dieſes Ge-
praͤge der wahren Groͤße der Seele erhal-
ten! viele, aber milde Thraͤnen uͤber-
ſtroͤmton nach dieſem Gebet meine Lager-
ſtaͤtte. Die Wohlthaͤtigkeit, die ich mei-
nem groͤßten Feind gelobte, wurde durch
die ſeligſte Empfindung belohnt; mein
Herz fuͤhlte den Werth der Tugend, es
fuͤhlte, daß es durch ſie edel und erhaben
war. Nun falteten ſich meine Haͤnde
mit der reinen Bewegung des Danks, da
ſie wenige Stunden vorher der Schmerz
der Verzweiflung in einander gewunden
hatte. — Sanft ſchlief ich ein, ruhig
wachte ich auf, ruhig hab ich ſchon ei-
nen Plan des Landfeſtes aufgeſetzt, das
die Lady geben will. — Aber bemerken
Sie, meine Emilia, wie leicht ſich Boͤſes
mit Gutem miſcht. — Einige Minuten
lang war der Gedanke in mir, das Feſt
in kleinem ſo zu veranſtalten, wie das
vom
[195] vom Grafen F. auf ſeinem Landgut war,
um den Lord in ein kleines Staunen zu
ſetzen. Aber auch dieſes verwarf ich als
eine masquirte Rache, die ſich in meine
Einbildung ſchleichen wollte, da ſie aus
meinem Herzen verbannet war. — Jch
glaube, Emilia, Rich ſieht beynahe was
ich denke. Er kam erſt den vierten Tag
nach meiner Unterredung mit ihm zu uns.
Die Lady erzaͤhlte ihm bey dem Mittag-
eſſen die Urſache, warum wir alle ſo be-
ſchaͤfftiget ſeyn, und fuͤhrte ihn Nach-
mittags in die ſchon bereiteten Zimmer.
Jch mußte ſie begleiten, und auch die
Veranſtaltungen fuͤr das Pachterfeſt vor-
leſen. Lord Rich ſchien ſehr aufmerk-
ſam, lobte alles, aber ſehr kurz, und be-
gleitete alle meine Bewegungen mit Bli-
cken, welche Neugierde und Unruhe in
ſich zeigten. — Lady Summers verließ
uns einige Minuten, und er kam an den
Tiſch, wo ich italiaͤniſche Blumen aus-
ſuchte und zuſammen band. Mit einer
ſorgſamen zaͤrtlichen Miene nahm er
eine meiner Haͤnde; „Sie ſind nicht wohl,
N 2meine
[196] meine Freundinn, Jhre Haͤnde arbeiten
zitternd; eine gewiſſe Haſtigkeit iſt in ih-
ren Bewegungen, welche durch die ange-
nommene Munterkeit wider ihren Willen
hervorbricht; Jhr Laͤcheln kommt nicht
aus dem Herzen; was bedeutet dieſes?“
Lord Rich, Sie machen mir bange mit
Jhrer Scharfſicht, antwortete ich. —
„Jch ſehe alſo doch gut?“ Fragen Sie
mich nicht weiter, Mylord; meine Seele
hat den aͤußerſten Kampf erlitten, aber
ich will itzt dem Vergnuͤgen der Lady
Summers alles, was mich angeht, auf-
opfern. — „Jch beſorge nur, Sie opfern
ſich ſelbſt dabey auf, ſagte der Lord.
Fuͤrchten Sie nichts, antwortete ich, das
Schickſal hat mich zum Leiden beſtimmt;
es wird mich dazu erhalten. Jch ſagte
dieß, wie mich duͤnkte, ruhig und laͤ-
chelnd; aber Lord Rich ſah mich mit Be-
ſtuͤrzung an. Wiſſen Sie, Madam Lei-
dens, daß dieß, was Sie ſagen, den
groͤßten Grad von Verzweiflung anzeigt,
und mich in die toͤdlichſte Unruhe
wirft? — Reden Sie — reden Sie —
mit
[197] mit der Lady Summers; Sie werden ein
muͤtterliches Herz in ihr finden. — Jch
weiß es, beſter Lord! aber es kann itzt
nicht ſeyn, bleiben Sie unbeſorgt uͤber
mich; mein Zittern iſt nichts anders als
die letzte Bewegung eines Sturms, dem
bald eine ruhige Stille folgen wird. O
Gott, rief er aus, wie lange werden Sie
die Marter dauern laſſen, die mir der Ge-
danke von Jhrem Kummer macht? Die
Lady kam zuruͤck, und zog mich aus der
Sorge weichherzig zu werden. Lord
Rich gieng mit einem Anſehen von trotzi-
gem Misvergnuͤgen hinweg. Wir be-
merkten es beyde. Lady Summers ſagte
mir laͤchelnd: „koͤnnen Sie gutherzig
ſeyn und gute Leute plagen? o wenn ich
denken koͤnnte, daß eine dieſer Blumen
Sie als die Braut von Lord Rich zum
Altare ſchmuͤcken wuͤrde!“ — Mein
Bruder ſoll die Vaterſtelle vertreten, ſo
wie ich die Mutter ſeyn werde.“ Liebſte
Lady, antwortete ich in der aͤußerſten
Bewegung, meine Widerſetzung wird mir
immer ſchmerzhafter; aber noch immer
N 3iſt
[198] iſt es mir unmoͤglich eine Entſchließung
zu faſſen. Dulden Sie mich, ſo wie ich
bin, noch einige Zeit. Ein Strom von
Thraͤnen, den ich nicht zuruͤckhalten
konnte, machte die Lady gleichfalls wei-
nen; aber ſie verſprach mir, nicht weiter
in mich zu ſetzen.
Auszug aus einem Briefe von Lord
N. an Lord B.
Du weiſt, daß ich mit der reichen zier-
lichen Alton vermaͤhlt bin, und daß ſie
ſtolz darauf iſt, mich in Hymens Feſſeln
gebracht zu haben. Einfaͤltig bruͤſtet ſie
ſich, wenn ich, um das Maaß ihrer al-
bernen Denkensart zu ergruͤnden, mir ei-
ner Mine voller Gefaͤlligkeit nach ihren
neuen Wuͤnſchen frage. Jch wollte da-
mit eine Zeitlang meinen Scherz haben,
um mein Regiſter uͤber weibliche Narr-
heiten vollzumachen, und ich habe mir
einen ſehr weſentlichen Dienſt dadurch ge-
than.
[199] than. Denn nachdem das elende Ge-
praͤnge vorbey war, womit neuvermaͤhlte
einander im Triumphe herumzufuͤhren
ſcheinen, fragte ich meine Lady, ob ſie
nicht irgend eine Landreiſe machen wollte,
und ſie ſchlug mir einen Beſuch bey ihrer
Tante Summers vor, die eine langwei-
lige Frau, aber reich und angenehm zu
erben ſey. — Wir ſchrieben ihr, und
ich ſchickte den John mit unſerm Briefe
unſern Beſuch zu melden. Die Matrone
nahm ihn ſehr freundlich auf; waͤhrend
ſie mit der Antwort beſchaͤfftigt war,
gieng John mit ihrem Hausmeiſter in ei-
nem Zimmer auf und ab; die Lady hatte
gleich um eine Madam Leidens geſchickt.
Eine Viertelſtunde darauf, tritt mit eil-
fertigem Schritte eine feine engliſch ge-
kleidete Weibsperſon in den Vorſaal, und
geht mit beynahe geſchloſſenen Angen ins
Zimmer der Lady. John, wie vom Blitz
geruͤhrt, erkennt die Sternheim in ihr,
erhohlt ſich aber gleich, und fragt, wer
dieſe Lady ſey? Der Hausmeiſter erzaͤhlt,
daß ſie mit der Lady aus Deutſchland ge-
N 4kommen
[200] kommen waͤre, und daß die Lady ſie
außerordentlich liebte; ſie ſey ein Engel
von Guͤte und Klugheit, und Lord Rich,
deſſen Guͤter an der Lady ihre grenzten,
wuͤrde ſie heurathen. — Mein armer
Teufel, John, zitterte vor Aengſten, zu
der Lady gerufen zu werden, und betrieb
ſeine Abfertigung. Die Alte kam, aber
allein; John ließ ſich ſo ſchnell als moͤg-
lich abfertigen, und jagte zuruͤck. —
Urtheile ſelbſt wie ich von dieſer Nachricht
uͤberraſcht wurde! Ueber keinen meiner
kleinen Streiche bin ich jemals ſo verle-
gen geweſen, als dieſen Augenblick uͤber
den, welchen ich dieſer Schwaͤrmerinn ge-
ſpielet hatte. Wo mag ſie die Verwegen-
heit genommen haben, ſich in England zu
zeigen? Aber geht’s nicht allezeit ſo? Die
furchtſamſte Creatur wird in den Armen
eines Mannes herzhaft gemacht. Jch
hatte ihr alſo etwas von meiner Unver-
ſchaͤmtheit mitgetheilt, welches ſie mir in
dem Hauſe der Lady Summers wieder zu-
ruͤckgeben konnte. Dieſem wollte ich
mich nicht ausſetzen, indem meine Abſich-
ten
[201] ten unumgaͤnglich die Beobachtung des
Wohlſtandes erfoderten. Jch wußte mir
Dank, den John bey mir behalten zu ha-
ben; denn der liſtige Hund fand eher
einen Ausweg als ich. Er ſchlug mir
vor, ſie entfuͤhren zu laſſen; dieß mußte
aber bald geſchehen, und der Ort ihres
Aufenthalts mußte ſehr entfernt ſeyn.
Jch beſtimmte ihr den nehmlichen Platz
in den ſchottiſchen Gebuͤrgen auf Hop-
tons Guͤtern, wo ich vor einigen Jahren
die Nancy aufgehoben habe; und da die-
ſe von ihrem Vater, der ein Advocat war,
nicht gefunden werden konnte, wer ſollte
eine Auslaͤnderinn da ſuchen? Jch geſiehe
dir, es iſt ein verfluchtes Schickſal fuͤr
eines der artigſten Maͤdchen, daß ſie ſo
viele hundert Meilen von ihrem Geburts-
ort bey einem armen Bleyminenknecht in
Schottland Haberbrod freſſen muß. Aber
was zum T — hatte ſie mir auf meinem
Weg nach England zu begegnen? Es iſt
billig, daß ſie dieſe Frechheit bezahle.
Sie iſt bereits ſicher an Ort und Stelle
angekommen, und ich habe Befehl gege-
N 5ben,
[202] ben, daß man gut mit ihr umgehen ſoll.
John machte die Anſtalten, und weil er
vom Hausmeiſter der Lady Summers
wußte, daß Lord Rich, und die Toͤchter
und Frau des Pfarrers oͤfters mit meiner
Heldinn im Park Unterredungen hatten,
ſo ließ er ſie im Nahmen der Miß Emma
auf einen Augenblick in den Park rufen.
Sie kam, er packte ſie auf, und brachte
ſie, wie er ſagt, mit Muͤhe lebendig nach
Schottland. Den ganzen Weg uͤber hat
ſie nichts als ein paar Glaͤſer Waſſer zu
ſich genommen, und, eine Ausrufung
uͤber mich unter dem Namen Derby aus-
genommen, wie ein todtes Bild in der
Schaͤſe geſeſſen. Wenn du toller Narr
hier geweſen waͤrſt, ſo haͤtte ich ſie Dir
in Verwahrung gegeben; und gewiß,
wenn der heulende Genius, der dich ehe-
mals regierte, um ſie geſchwebt waͤre,
haͤtteſt du ſie zahm machen koͤnnen, und
noch eine beſſere Beute an ihr gemacht,
als alles dein Gold in den Galanteriebu-
den zu Paris nicht erkaufen kann. Denn
ſie iſt eine der ſchoͤnſten Blumen von allen,
die
[203] die an dem feurigen Buſen deines Freun-
des verwelkt ſind. Sobald ich Nachricht
von ihrer zweytaͤgigen Abreiſe hatte,
gieng ich mit meiner Lady und ihrem Va-
ter nach Summerhall, wo die Matrone
im Bette lag, und um ihre Pflegtochter
wehklagte. Alle Leute im Hauſe und im
Orte, die Familie des Pfarrers, beſon-
ders Lord Rich, ein alter Knabe, der den
Philoſophen ſpielt, bejammerten den Ver-
luſt von Madam Leidens. Lady Sum-
mers flehte mich um Huͤlfe an; ich gab
mir auch das Anſehen aller Bewegungen,
ſie ſuchen zu helfen, und erfuhr bey die-
fer Gelegenheit, wie ſie nach England ge-
kommen war. Jedermann ruͤhmte ihre
Reize, ihre Talente und ihr gutes Herz;
die Narren machten mich toll und muͤde
damit; beſonders Rich, der Weiſe, der
mich zum Vertrauen ſeiner Leidenſchaft
machte, und ſo weiſe iſt ſich einzubilden,
daß ſie ſich vor ihm gefluͤchtet habe,
weil er ſie ſo weit gebracht haͤtte, ihm die
Erzaͤhlung ihrer Geſchichte zu verſprechen,
die gewiß beſonders ſeyn muͤſſe, indem
das
[204] das junge Frauenzimmer alle Merkmale
der edelſten Erziehung, der vollkommen-
ſten Tugend, und der feinſten weiblichen
Zaͤrtlichkeit in ihrem Betragen haͤtte. Er
vermuthete, ein Boͤſewicht habe ihre Gut-
herzigkeit betrogen, und dadurch den
Grund des Kummers gelegt, mit wel-
chem er ſie immer kaͤmpfen ſehen. War
es nicht eine verdammte Sache, alles
dieſes anzuhoͤren und fremde zu ſcheinen?
Er wies mir ihr Bildniß wohl getroffen,
vor einem Tiſche, wo ein Geſtelle mit
Schmetterlingen war, von denen ſie, ich
weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem
Feſt machen wollte, ſo mir zu Ehren an-
geſtellt werden ſollte, und wovon ſie die
Erfinderinn war. Der Einfall war nicht
gut gewaͤhlt; ſie verſtund ſich wenig auf
die Schmetterlingsjagd, ſonſt haͤtte ſie
meine Fittige nicht freygelaſſen. Aber
ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich
als alle Zuͤge von ihrem Charakter. Es
iſt, bey meinem Leben! Schade um ſie;
und ich moͤchte wiſſen, was ſie bey der Vor-
ſicht, die ſie doch ſo ſtark verehrt, ver-
ſchuldet
[205] ſchuldet haben mag, daß ſie in der
ſchoͤnſten Bluͤthe ihres Lebens aus ihrem
Vaterlande geriſſen, zu Grunde gerichtet,
und in den elendeſten Winkel der Erde ge-
worfen werden mußte. Und was wollte
das Verhaͤngniß mit mir, daß ich der
Henkerbube ſeyn mußte, der dieſe Verur-
theilung vollzog? O ich ſchwoͤr’ es, wenn
ich jemals eine Tochter erziehe, ſo ſoll ſie
alle Stricke kennen lernen, womit die
Bosheit unſers Geſchlechts die Unſchuld
des ihrigen umringt! — Aber was hilft
dieß die arme Sternheim? — — Komm
zuruͤck, wir wollen im Fruͤhjahre ſie ein-
mal beſuchen; dieſen Winter muß ſie aus-
harren, ob ſie mich ſchon jammert.
Einſchaltung der Abſchreiberinn.
Hier, meine Freundinn, muͤſſen Sie
noch etwas von meiner Feder leſen, um
eine Luͤcke auszufuͤllen, welche ſich in den
Papieren, wovon ich Jhnen die Auszuͤge
mittheile, findet. Meine liebe Dame
wurde nach dem Anſchlage des gottloſen
Lords
[206] Lords in den Garten zu den Toͤchtern des
Pfarrers gerufen, juſt, da ſie eben ihren
letzten Brief an meine Emilia endigte;
ſie ſteckte die ganze Rolle des Papiers zu
ſich, um zu verhindern, daß man nichts
zum Nachtheil des Lords finden moͤchte,
gieng gegen den Park zu, und da ſie ſich
zwanzig Schritte weit an der Seite des
Gartens gegen das Dorf umgeſehen hatte,
und niemand erblickte, gieng ſie zuruͤck.
Aber ploͤtzlich zeigte ſich im Park eine
Weibsperſon die ihr winkte; ſie eilte ge-
gen ihr; dieſe Perſon eilte gleichfalls auf
ſie zu, und faßte ſie an der Hand; Jm
nehmlichen Augenblicke kamen noch zwo
vermummte Perſonen, warfen ihr eine
dichte runde Kappe uͤber den Kopf, und
ſchleppten ſie mit Gewalt fort. Jhr hef-
tiges Straͤuben, ihre Bemuͤhung zu ru-
fen, war vergebens; man warf ſie in eine
Halbſchaͤſe, und jagte die ganze Nacht mit
ihr fort. Eſſen und Trinken bot man ihr
in einem Walde an; ſie konnte aber und
mochte nichts als ein Glaß Waſſer neh-
men! gleich jagte man wieder weiter;
aͤußerſt
[207] aͤußerſt traurig und abgemattet ſaß ſie ne-
ben einer Perſon in Weibskleidern, von
welcher ſie feſt umfaßt gehalten wurde;
Sie bat einmal auf den Knien um Erbar-
men, erhielt aber keine Antwort, und wur-
de endlich in der Huͤtte eines ſchottiſchen
Bleyminenknechts auf ein elendes Bette
geſetzt. Dieß war alles was ſie von ihrer
Entfuͤhrung zu ſagen wußte, denn ſie
war beynahe ſinnlos. Jhr Tagbuch
kann zum Beweis dienen, wie ſehr ein
heftiger Schmerz des Gemuͤths das edel-
ſte Herz zerruͤtten kann. Aber eben dieſes
Tagbuch beweiſt, daß, ſobald ihre Kraͤfte
ſich erhohlten, auch die vortrefflichen
Grundſaͤtze ihrer Erziehung wieder ihre
volle Wirkſamkeit erhielten.
Den Kummer, in welchen durch dieſen
Zufall die Lady Summers geſetzt wurde,
und den Jammer meiner Emilia und den
meinigen uͤber die Nachricht von ihrem
Unſichtbarwerden koͤnnen Sie ſich leichter
ſelbſt vorſtellen, als ich ihn beſchreiben
koͤnnte; zumal da alles moͤgliche, um auf
ihre
[208] ihre Spur zu kommen, vergebens ange-
wandt wurde. Unvermeidliche Zufaͤlle
hielten meinen Schwager den Winter
durch zuruͤck ſelbſt nach England zu ge-
hen, um der Lady Summers ſeine Ver-
muthungen gegen Lord Derby zu ent-
decken; und dieſer Winter war der laͤngſte
und traurigſte, den jemals eine kleine
Familie erlebt hat, welche durch das
Ungluͤck einer innigſt geliebten Freundinn
elend gemacht wurde.
Madam
[209]
Madam Leidens in den ſchottiſchen
Bleygebuͤrgen.
Emilia! theurer geliebter Name! Ehe-
mals warſt du mein Troſt und die Stuͤtze
meines Lebens, itzt biſt du eine Vermeh-
rung meiner Leiden geworden. Die kla-
gende Stimme, die Briefe deiner ungluͤck-
lichen Freundinn dringen nicht mehr zu
dir, alles, alles iſt mir entriſſen, und noch
mußte mein Herz mit der Laſt des bittern
Kummers beſchweret werden, die Angſt
meiner Freunde zu fuͤhlen. Beſte Lady! —
liebſte Emilia! warum mußte euer lieb-
reiches Herz mit in das Loos von Quaal
der Seele fallen, welches das Verhaͤngniß
mir Ungluͤcklichen zuwarf? — O Gott,
wie hart ſtrafeſt du den einzigen Schritt
meiner Abweichung von dem Pfade der
buͤrgerlichen Geſetze! — Kann meine
heimliche Heurath dich beleidiget ha-
ben? — arme Gedanken, wo irret ihr
umher? Niemand hoͤret euch, niemand
wird euch leſen; dieſe Blaͤteer werden mit
mir ſterben und verweſen; Niemand als
IITheil. Omein
[210] mein Verfolger wird meinen Tod erfah-
ren, und er wird froh ſeyn die Zeugniſſe
ſeiner Unmenſchlichkeit mit mir begraben
zu wiſſen. O Schickſal, du ſiehſt
meine Unterwerfung, du ſiehſt, daß
ich nichts von dir bitte; du willſt mich
langſam zermalmen; thue es — rette
nur die Herzen meiner tugendhaften Freun-
de von dem Kummer, der ſie meinetwegen
beaͤngſtiget!
Dritter Monat meines Elendes.
Noch einen Monat hab’ ich durchge-
lebt, und finde mein Gefuͤhl wieder, um
den ganzen Jnbegriff meines Jammers zu
kennen. Selige Tage, wo ſeyd ihr, an
denen ich bey dem erſten Anblick des Mor-
genlichts meine Haͤnde dankbar zu Gott
erhob und mich meiner Erhaltung freute?
Jtzt benetzen immer neue Thraͤnen mein
Auge und mit neuem Haͤnderingen bezeich-
ne ich die erſte Stunde meines erneuerten
Daſeyns. O mein Schoͤpfer, ſollteſt du
wohl die bittere Zaͤhre meines Jammers
lieber
[211] lieber ſehen, als die uͤberfließende Thraͤne
der kindlichen Dankbarkeit?
Hoffnungslos, aller Auſichten auf
Huͤlfe beraubt, kaͤmpfe ich wider mich
ſelbſt; ich werfe mir meine Traurigkeit als
ein Vergehen vor, und folge dem Zug
zum Schreiben. Eine Empfindung von
beſſerer Zukunft regt ſich in mir. — Ach!
redete ſie nicht noch lauter in meinen ver-
gangenen Tagen? — Taͤuſchte ſie mich
nicht? — Schickſal! hab ich mein Gluͤck
gemisbraucht? Hieng mein Herz an dem
Schimmer, der mich umgab? Oder iſt der
Stolz auf die Seele, die ich von dir em-
pfieng, mein Verbrechen geweſen? —
Arme, arme Creatur, mit wem rechte
ich! Jch beſeelte Handvoll Staubes, em-
poͤre mich wider die Gewalt die mich
pruͤft — und erhaͤlt. Willt du, o mei-
ne Seele, willt du durch Murren und Un-
geduld das aͤrgſte Uebel in den Kelch mei-
nes Leidens gießen? — Vergieb, o Gott,
vergieb mir, und laß mich die Wohlthaten
O 2auf-
[212] aufſuchen, mit denen du auch hier mein
empfindliches Herz umgeben haſt.
Komm, du treue Erinnerung meiner
Emilia, komm und ſey Zeuge, daß das
Herz deiner Freundinn ſeine Geluͤbde der
Tugend erneuert, daß es zu dem Wege
ſeiner Pflichten zuruͤckkehrt, ſeiner eigen-
ſinnigen Empfindlichkeit abſagt, und vor
den Merkmalen einer liebreichen immer-
dauernden Vorſicht nicht mehr die Augen
verſchließt. — — Beynahe drey Mo-
nate ſinds, daß ich durch einen betruͤge-
riſchen Ruf in dem Park von Summers-
hall anſtatt meiner gefuͤhlvollen freund-
lichen Emma einem der grauſamſten Men-
ſchen in die Gewalt kam, der mich Tag
und Nacht reiſen machte, um mich hie-
her zu bringen; Derby! Niemand als
du, war dieſer Barbarey faͤhig! Jn der
Zeit, wo ich fuͤr dein Vergnuͤgen arbeitete,
zettelteſt du ein neues Gewebe von Kum-
mer fuͤr mich an. — — Ehre und
Großmuth muͤſſen dir ſehr unbekannt
ſeyn,
[213] ſeyn, weil du nicht denken konnteſt, daß
ſie mich deinen Augen entziehen, und mich
ſchweigen heißen wuͤrden! Was fuͤr ein
Spiel machſt du dir aus der Truͤbſal
eines Herzens, deſſen ganze Empfindſam-
keit du kennſt? — Warum, o Vorſicht,
warum mußten alle boshafte Anſchlaͤge
dieſes verdorbenen Menſchen in Erfuͤllung
kommen, und warum alle guten Ent-
wuͤrfe der Seele, die du mir gabſt, in
dieſe traurige Gebuͤrge verſtoßen werden?
Wie unſtaͤt macht die Eigenliebe den
Gang unſerer Tugend! Vor zween Tagen
wollte mein Herz voll edler Entſchluͤſſe
geduldig auf dem dornichten Pfade mei-
nes ungluͤcklichen Schickſals fortgehen,
und meine Eigenliebe fuͤhrt die Wieder-
erinnerung dazu, welche meine Blicke von
dem gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen entfernt,
und allein auf das unveraͤnderliche ver-
gangene heftet. — Tugendlehre, Kennt-
niſſe und Erfahrung ſollen alſo an mir ver-
loren ſeyn, und ein niedertraͤchtiger Feind
O 3ſoll
[214] ſoll die verdoppelte Gewalt haben, nicht
nur mein aͤußerliches Anſehen von Gluͤck,
wie ein Raͤuber ein Kleid von mir zureiſ-
ſen, ſondern meine Geſinnungen, die Ue-
bung meiner Pflichten, und die Liebe der
Tugend ſelbſt in meiner Seele zu zerſtoͤren?
Gluͤckliche, ja allergluͤcklichſte Stunde
meines Lebens, in der ich mein ganzes
Herz wieder gefunden habe; in welcher
die ſelige Empfindung wieder in mir er-
wachte, daß auch hier die vaͤterliche Hand
meines Schoͤpfers fuͤr die beſten Guͤter
meiner Seele geſorget hat! Er iſt es, der
meinen Verſtand von dem Wahnſinne er-
rettete, welcher in den erſten Wochen ſich
meiner bemeiſtern wollte; Er gab meinen
rauhen Wirthen Leutſeligkeit und Mitlei-
den fuͤr mich; das reine moraliſche Ge-
fuͤhl meiner Seele erhebt ſich allmaͤhlig
uͤber die Duͤſternheit meines Grams; Die
Heiterkeit des Himmels, der dieſe Einoͤde
umgiebt, gießt, ob ich ihn ſchon ſeuf-
zend anblicke, eben ſo viel Hoffnung und
Friede
[215] Friede in mein Herz, als der zu Stern-
heim, Vaels und Summerhall. Dieſe
aufgethuͤrmten Berge reden mir von der
allmaͤchtigen Hand, welche ſie ſchuf;
uͤberall iſt die Erde mit den Zeugniſſen
ſeiner Weisheit und Guͤte erfuͤllt, und
uͤberall bin ich ſein Geſchoͤpf. Er wollte
hier meine Eitelkeit begraben, und die
letzten Probeſtunden meines Lebens ſollen
allein vor ſeinen Augen und vor dem
Zeugniß meines Herzens verfließen! Viel-
leicht werden ſie nicht lange dauern.
Soll ich denn nicht ſuchen, ſie mit dem
Ueberreſt von Tugend auszufuͤlleu, deren
Ausuͤbung noch in meiner Gewalt geblie-
ben iſt! — Gedanke des Todes, wie
wohlthaͤtig biſt du, wenn du, von der Ver-
ſicherung der Unſterblichkeit unſerer Seele
begleitet, zu uns kommſt! wie lebhaft er-
weckeſt du das Gefuͤhl unſerer Pflichten,
und wie eifrig machſt du unſern Willen
Gutes zu thun? Dir danke ich die Ueber-
windung meines Grams, und die erneuer-
ten Kraͤfte der Tugend meiner Seele! Du
machteſt mich mit Lebhaftigkeit den Ent-
O 4ſchluß
[216] ſchluß faſſen, meine letzten Tage mit
edlen Geſinnungen auszufuͤllen, und zu
ſehen, ob ich nicht auch hier Gutes
thun kann.
Ja, ich kann, ich will noch Gutes
thun; o! Geduld, du Tugend des Lei-
denden, nicht des Gluͤcklichen, dem alle
Wuͤnſche gewaͤhret ſind, wohne bey mir,
und leite mich zu ruhiger Befolgung der
Rathſchluͤſſe des Schickſals! — Muͤh-
ſam und einzeln ſammlet man die Wur-
zeln und Kraͤnter, welche unſere leibli-
chen Uebel heilen. Eben ſo beſorgt ſollte
man die Huͤlfsmittel unſerer moraliſchen
Krankheiten ſuchen; ſie finden ſich oft,
wie jene, am naͤchſten Fußſteige von un-
ſerem Aufenthalt. Aber wir ſind ge-
wohnt das Gute immer in der Ferne zu
ſuchen, und das an der Hand liegende
mit Verachtung zu uͤberſehen. Jch mach-
te es ſo; meine Wuͤnſche und meine Kla-
gen fuͤhrten meine Empfindung weit von
dem was mich umgab; wie ſpaͤt erkenne
ich
[217] ich die Wohlthat, eine ganze Rolle Pa-
pier mit mir gebracht zu haben, die mir
bisher in den Sammlungsſtunden meines
Geiſtes ſo große Dienſte gethan hat.
War es nicht Guͤte der Vorſicht, die mich
auf meiner beſchwerlichen Reiſe hieher
vor aller Beleidigung ſchuͤtzte, und mir al-
les erhielt, was mir in den Zeiten meiner
Ruhe nuͤtzen konnte?
Emilia, heilige Freundſchaft, gelieb-
tes Andenken! dein Bild ſteigt aus dem
Schutte meiner Gluͤckſeligkeit laͤchelnd em-
por. Thraͤnen, viele Thraͤnen koſteſt du
mich. — Aber komm, dieſe Blaͤtter ſol-
len dir geweyhet ſeyn! Von Jugend auf
ergoſſen ſich meine geheimſten Empfindun-
gen in dein treues zaͤrtliches Herz; der
Zufall kann dieſe Papiere erhalten, ſie
koͤnnen dir noch zukommen, und du
ſollſt darinn ſehen, daß mein Herz die
Tugend des Deinigen, und ſeine Guͤte fuͤr
mich niemals vergeſſen hat. Vielleicht
benetzt einſt die Zaͤhre deiner freundſchaft-
O 5lichen
[218] lichen Liebe dieſe Ueberbleibſel deiner un-
gluͤcklichen Sophie. Auf meinem Grabe
wirſt du ſie nicht weinen koͤnnen; denn
ich werde das Schlachtopfer ſeyn, wel-
ches die Bosheit des Derby hier ver-
ſcharret; und da der Gedanke an Tod
und Ewigkeit, meine Klagen und Wuͤn-
ſche endiget, ſo will ich dir noch den jaͤ-
hen Umſturz beſchreiben, der mich in meine
fruͤhe Grube bringt. Jch konnte es nicht
eher thun; ich wurde zu ſehr erſchuͤttert,
ſo oft ich daran dachte.
Halb leblos bin ich hier angelangt,
und drey Wochen in einer Gemuͤthsver-
faſſung geweſen, die ich nicht beſchreiben
kann; was ich in dem zweyten und drit-
ten Monat meines Aufenthalts war, zei-
gen die Stuͤcke, die ich in meinen Er-
quickungsſtunden ſchrieb. Urtheilen Sie
aber, Emilia, von der Zerruͤttung mei-
ner Empfindniſſe, weil ich nicht beten
konnte; ich rief auch den Tod nicht, aber
in dem vollen Gefuͤhl des Uebermaaß es von
Ungluͤck,
[219] Ungluͤck, ſo mich betroffen, wuͤrde ich dem
auf mich fallenden Blitz nicht ausgewichen
ſeyn. Ganze Tage war ich auf meinen
Knien, nicht aus Unterwerfung, nicht
um Gnade vom Himmel zu erflehen;
Stolz, empoͤrter Stolz war mit dem Ge-
danken des unverdienten Elends in meine
Seele gekommen. Aber, o meine Emi-
lia, dieſer Gedanke vermehrte mein Uebel,
und verſchloß jeder uͤbenden Tugend mei-
ner Umſtaͤnde mein Herz; und uͤbende
Tugend allein kann den Balſam des
Troſts in die Wunden der Seele traͤuflen.
Jch empfand dieſes das erſtemal, als ich
das arme fuͤnfjaͤhrige Maͤdchen, die auf
mich Acht haben mußte, mit Ruͤhrung
anſah, weil ſie ſich bemuͤhte, meinen nie-
dergeſunknen Kopf mit ihren kleinen Haͤn-
den aufzurichten; ich verſtund ihre Spra-
che nicht, aber ihr Ton und der Ausdruck
ihres Geſichts war Natur und Zaͤrtlich-
keit und Unſchuld; ich ſchloß ſie in meine
Arme, und vergoß einen Strom von
Thraͤnen; es waren die erſten Troſtthraͤ-
nen, die ich weinte, und in die Dankbar-
keit
[220] keit meines Herzens gegen die Liebe dieſes
Geſchoͤpfs miſchte ſich die Empfindung,
daß Gott dieſem armen Kinde die Gewalt
gegeben haͤtte, mich die Suͤßigkeit des
Mitleidens ſchmecken zu laſſen. Von
dieſem Tage an rechne ich die Wieder-
herſtellung meiner Seele Jch fieng
nun an dankbar die kleinen Broſamen
von Gluͤckſeligkeit aufzuſammlen, die hier
neben mir im Staube lagen. Meine er-
ſchoͤpften Kraͤfte, die Schmerzen, welche
mir das Haberbrodt verurſachte, ließen
mich meinen Tod nahe glauben; ich hatte
keinen Zeugen meines Lebens mehr um
mich; ich wollte meinem Schoͤpfer ein
gelaſſenes, ihn liebendes Herz zuruͤckge-
ben, und dieſer Gedanke gab den tugend-
haften Triebfedern meiner Seele ihre
ganze Staͤrke wieder. Jch nahm meine
kleine Wohlthaͤterinn zu mir in den ar-
men abgeſonderten Winkel, den ich in der
Huͤtte beſitze, ich theilte mein Lager mit
ihr, und von ihr nahm ich die erſte Un-
terweiſung der armen Sprache, die hier
geredet wird. Jch gieng mit ihr in die
Stube
[221] Stube meiner Hauswirthe; der Mann
hatte lang in den Bleyminen gearbeitet,
und iſt nun aus Kraͤnklichkeit unvermoͤ-
gend dazu geworden, bauet aber mit ſei-
ner Frau und Kindern ein kleines Stuͤck
Feld, das ihm der Graf Hopton nah an
einem alten zerfallenen Schloſſe gegeben,
mit Haber und Hanf an; den Haber ſto-
ßen ſie mit Steinen zum Gebrauch klein,
und der Hanf muß ſie kleiden. Es ſind
arme gutartige Leute, deren ganzer Reich-
thum wirklich in den wenigen Guineen be-
ſteht, welche ſie fuͤr meine Verwahrung
erhalten haben. Es freute ſie, daß ich
ruhiger wurde, und zu ihnen kam; Je-
des befließ ſich, mir Unterricht in ihrer
Sprache zu geben, und ich lernte in vier-
zehn Tagen ſo viel davon, um kurze Fra-
gen zu machen, und zu beantworten.
Die Leute wiſſen, wie weit ſie mich außer
dem Hauſe laſſen duͤrfen, und der Mann
fuͤhrte mich an einem der letzten Herbſt-
tage etwas weiter hinaus. O! wie arm
iſt hier die Natur! man ſieht, daß ihre
Eingeweyde bleyern ſind. Mit thraͤnen-
den
[222] den Augen ſah ich das rauhe magere
Stuͤck Feld, auf dem mein Haberbrodt
waͤchſt, und den uͤber mich fließenden Him-
mel an; die Erinnerung machte mich ſeuf-
zen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten
Fuͤhrer hieß mich zu mir ſelbſt ſagen; ich
habe mein Gutes in meiner Jugend reich-
lich genoſſen, und dieſer gute Mann und
ſeine Familie ſind, ſo lange ſie leben in Elend
und Mangel geweſen; ſie ſind Geſchoͤpfe
des nehmlichen goͤttlichen Urhebers, ihrem
Koͤrper fehlt keine Sehne, keine Muskel,
die ſie zum Genuß phyſikaliſcher Beduͤrf-
niſſe noͤthig haben; da iſt kein Unterſchied
unter uns; aber wie viele Theile der Faͤhig-
keiten ihrer Seele ſchlafen, und ſind unthaͤ-
tig geblieben! Wie verborgen, wie unbe-
greiflich ſind die Urſachen, die in unſrer koͤr-
perlichen Einrichtung keinen Unterſchied
entſtehen ließen, und im motaliſchen Wachs-
thum und Handeln ganze Millionen Ge-
ſchoͤpfe zuruͤcklaſſen! wie gluͤcklich bin ich
heute noch durch den erhaltenen Anbau
meines Geiſtes und meiner Empfindung
gegen Gott und Menſchen! Wahres
Gluͤck,
[223] Gluͤck, einzige Guͤter, die wir auf Erden
ſammlen und mit uns nehmen koͤnnen,
ich will aus Ungeduld euch nicht von mir
ſtoßen; ich will die Gutherzigkeit meiner
armen Wirthe durch meine Freundlichkeit
belohnen. — Eifrig lernte ich an ihrer
Sprache fort, und erfuhr beym Nachfor-
ſchen uͤber ihre manchmalige Haͤrte gegen
das junge Maͤdchen, daß es nicht ihr Kind,
ſondern des Lords Derby waͤre, daß die
Mutter des Kindes, bey ihnen geſtorben
ſey, und der Lord nichts mehr zu deſſen Un-
terhalt hergaͤbe. Jch mußte bey dieſer
Nachricht in meinen Winkel; ich empfand
mit Schmerzen mein ganzes Ungluͤck wie-
der. Die arme Mutter! ſie war ſchoͤn
wie ihr Kind, und jung, und gut; —
bey ihrem Grabe wird das meinige ſeyn.
O Emilia, Emilia, wie kann, o wie
kann ich dieſe Pruͤfung aushalten! Das
gute Maͤdchen kam und nahm meine Hand,
die uͤber mein armes Bette hieng, waͤh-
rend mein Geſicht gegen die Wand ge-
kehrt war. Jch hoͤrte ſie kommen; ihr
Anruͤhren, ihre Stimme machte mich
ſchanern,
[224] ſchauern, und widerwillig entriß ich ihr
meine Hand. Derbys Tochter war mir
verhaßt. Das arme Maͤdchen gieng mit
Weinen an den Fuß meines Lagers und
wehklagte. Jch fuͤhlte mein Unrecht, die
ungluͤckliche Unſchuld leiden zu machen;
ich gelobte mir, meinen Widerwillen zu un-
terdruͤcken, und dem Kinde meines Moͤr-
ders Liebe zu erweiſen. Wie froh war
ich, da ich mich aufrichtete und ſie rief.
Auf ihre kleine Bruſt gelehnt legte ich das
Geluͤbde ab, ihr Guͤte zu erweiſen. Jch
werde es nicht brechen, ich hab’ es zu
theuer erkauft!
O Derby! wie voll, wie voll machſt
du das Maaß deiner Haͤrte gegen mich!
heute kommt ein Boote, und bringt einen
großen Pack Vorrath zur Tapezerey; nie-
dertraͤchtig ſpottet er: „da mir bey Hofe
„die Zeit ohne Tapetenarbeit zu lang ge-
„weſen, ſo moͤchte es hier auch ſo ſeyn; er
„ſchickte mir alſo Winterarbeit; im Fruͤh-
„jahre wuͤrde er es holen laſſen.“ Es
iſt
[225] iſt zu einem Cabinet; die Riſſe liegen da-
bey. — Jch will ſie anfangen, ja ich
will; er wird nach meinem Tode die
Stuͤcke kriegen; er ſoll die Ueberreſte ſei-
ner an mir veruͤbten Barbarey ſehen,
und ſich erinnern, wie gluͤcklich ich war,
als er das erſtemal meine Finger arbei-
ten ſah; er wird auch denken muͤſſen, in
was fuͤr einen Abgrund von Elend er
mich ſtuͤrzte und darinn zu Grunde gehen
machte.
Niemals mehr, o Schickſal! Niemals
mehr will ich mich dem Murren meiner
Eigenliebe uͤberlaſſen! wie verkehrt heißt
ſie uns urtheilen! Jch klagte uͤber das,
was mein Vergnuͤgen geworden iſt.
Meine Arbeit erheitert meine truͤben Win-
tertage; meine Wirthe ſehen mir mit ro-
her Entzuͤckung zu, und ich gebe ihrer
Tochter Unterweiſung darinn. Mit fro-
hem Stolz ſah das Maͤdchen um ſich, als
ſie das erſte Blaͤttchen genaͤht hatte.
Ungluͤck und Mangel hat ſchon viele er-
IITheil. Pfindſam
[226] findſam gemacht; ich bin es auch wor-
den. Jch weiß, daß der Graf von Hop-
ton, den die Bleyminen zugehoͤren,
einige Meilen von hier ein Haus hat,
und daß er manchmal auf einige Tage
hinkoͤmmt. Auf der letzten Reiſe hatte
er eine Schweſter bey ſich, die er ſehr liebt,
und die als Witwe oft bey ihm iſt. Auf
dieſe Dame baue ich Hoffnungen, die mit
der Dauer meines Lebens wieder rege in
mir ſind. Jch habe meinen Wirthen den
Gedanken gegeben, ihre Tochter Maria
in die Dienſte dieſer Dame zu bringen;
ich verſprach ſie alles zu lehren was dazu
noͤthig ſey. Schon lehre ich ſie engliſch
reden und ſchreiben; die Tapetenarbeit
kann ſie, und da mich der Mangel dazu
trieb, aus den Spitzen meines Halstuchs
noch zwo Hauben zu machen, ſo hat ſie
auch dieſe Kunſt gelernet; Vom uͤbrigen
gebe ich ihr Unterricht bey der Arbeit.
Das Maͤdchen iſt ſo geſchickt zum faſſen
und urtheilen, daß ich oft daruͤber er-
ſtaune. Dieſe ſoll mir den Weg zur
Freyheit bahnen; denn durch ſie hoffe ich
der
[227] der Lady Douglaß bekannt zu werden.
O Schickſal, laß mir dieſe Hoffnung!
Jch will meiner Emilia noch ein Ne-
benſtuͤck meines quaͤlenden Schickſals er-
zaͤhlen. Sie wiſſen, wie reinlich ich im-
mer in Waͤſche war, und hier zog ich
mich, ich weiß nicht wie lang, gar nicht
aus; endlich kam mit meiner Ueberlegung
das Misvergnuͤger uͤber den Kleiderman-
gel, und beym Nachdenken war ich
ſehr froh, daß ich bey meiner Entfuͤh-
rung ein ganz weißes leinen Kleid an
hatte, welches ich gleich auszog, und der
modiſchen Ueppigkeit fuͤr die vielen Falten
dankte, die ſie darinn gemacht hatte;
denn ich konnte fuͤglich drey Hemden dar-
aus ſchneiden, und ein kurz Kleid dane-
ben behalten; meine Schuͤrze machte ich
zu Halstuͤchern, und aus dem erſten Rock
Schuͤrzen, ſo daß ich mit ein wenig leich-
ter Lauge meine Kleidung recht reinlich
halten kann, und abzuwechſeln weiß.
Jch plaͤtte ſie mit einem warmen Stein.
P 2Die
[228] Die kleine Lidy hab’ ich auch naͤhen ge-
lernt, und ſie macht recht artige Stiche
in meinem Tapetengrund. Meine Wir-
the ſaͤubern ihre Wohnung mir zu Lieb’
alle Tage ſehr ordentlich, und mein ge-
kochtes Haberbrodt faͤngt an mir wohl zu
bekommen. Die Beduͤrfniſſe der Natur
ſind klein, meine Emilia; ich ſtehe ſatt
von dem magern Tiſche auf, und meine
Wirthe hoͤren mich mit Erſtaunen von
den uͤbrigen Theilen der Welt erzaͤhlen.
Jch habe die Bildniſſe meiner Aeltern
noch; ich wieß ſie den Leuten, und er-
zaͤhlte ihnen von meiner Erziehung und
ehemaligen Lebensart, was ſie faſſen konn-
ten, und ihnen gut war. Ungekuͤnſtelte
mitleidige Zaͤhren traͤufelten aus ihren
Augen, da ich von meinem genoſſenen
Gluͤcke ſprach, und ihnen die Geduld er-
klaͤrte, die wirklich in meinem Herzen iſt.
Jch rede wenig von Jhnen, meine Liebe!
Jch bin nicht ſtark genug, oft an Jhren
Verluſt zu denken, an Jhren Kummer um
mich zu denken. Koͤnnte ich durch mein
Leiden nur Jhres, um mich, und meiner
guͤti-
[229] guͤtigen Lady ihres, loskaufen, ich wollte
mich bemuͤhen nicht mehr zu ſagen, daß
ich leide; aber das Schickſal wußte, was
mich am meiſten quaͤlen wuͤrde; es wuß-
te, daß mich meine Unſchuld und meine
Grundſaͤtze troͤſten und beruhigen wuͤrden,
es wußte, daß ich Armuth und Mangel
ertragen lernen wuͤrde; daher gab es mir
das Gefuͤhl von dem Weh meiner Freun-
de, ein Gefuͤhl, deſſen Wunde unheilbar
iſt, weil es ein Vergehen waͤre, wenn
ich mich davon loszumachen ſuchte. —
Wie gluͤcklich machte mich dieſes Gefuͤhl
ehemals, da ich im Beſitz meiner Guͤter
jeden belauſchten Wunſch meiner Freunde
befriedigen, und jeden bemerkten Schmer-
zen lindern konnte. Zwey Jahre ſind es,
daß ich glaͤnzend unter den ſchimmernden
Haufen trat, und Ausſichten von Gluͤck
vor mir hatte, mich geliebt ſah, und
waͤhlen oder verwerfen konnte. — O
mein Herz, warum huͤteteſt du dich ſo
lange vor dieſer Erinnerung! Niemals
mehr getrauteſt du dir den Namen
Seymour zu denken, nun fragſt du,
P 3was
[230] was wuͤrde er ſagen? und weinſt uͤber
ſeine Vergeſſenheit! O! nimm dieſen
Theil weg, laß ihn immer in mein Ge-
daͤchtniß kommen; — ſein Herz kannte
das meine fuͤr ihn niemals, und nun iſt
es zu ſpaͤt! — Mein Papier, ach Emi-
lia, mein Papier geht zu Ende; ich darf
nun nicht mehr viel ſchreiben; der Win-
ter iſt lange; ich will den Ueberreſt auf
Erzaͤhlung meiner noch dunklen Hoffnun-
gen erhalten. O mein Kind! einige Bo-
gen Papier waren mein Gluͤck, und ich
darf es nicht mehr genießen! Jch will
Cannevas ſparen und Buchſtaben hinein
naͤhen.
Jm Aprill.
O Zeit, wohlthaͤtigſtes unter allen We-
ſen, wie viel Gutes hab’ ich dir zu danken!
du fuͤhrteſt allmaͤhlig die tiefen Eindruͤcke
meiner Leiden und verlornen Gluͤckſelig-
keit von mir weg, und ſtellteſt ſie in den
Nebel der Entfernung, waͤhrend du eine
liebreiche Heiterkeit auf die Gegenſtaͤnde
verbrei-
[231] verbreiteteſt, die mich umgeben. Die Er-
fahrung, welche du an der Hand fuͤhreſt,
lehrte mich die uͤbende Weisheit und Ge-
duld kennen. Jede Stunde, da ich mit
ihnen vertrauter wurde, verminderte die
Bitterkeit meines Grams. Du, alle
Wunden des Gemuͤths heilende Zeit, wirſt
auch den Balſam der Beruhigung in die
Seele meiner wenigen Freunde gießen,
und ſie in Umſtaͤnde ſetzen, worinn ſie die
frohen Ausſichten ihres Geſchickes ohne
den vergaͤllenden Kummer um mich ge-
nießen koͤnnen. Du haſt die Troſtgruͤn-
de der Guͤte meines Schoͤpfers, die das
geringſte Erdwuͤrmchen unter den Schutz
kleiner Sandkoͤrner begleitet, wieder in
meine Seele gerufen; du haſt mich ſie in
dieſen rauhen Gebuͤrgen finden laſſen, den
Gebrauch meiner Kenntniſſe in mir er-
neuert, und die im Schooße des Gluͤckes
ſchlafenden Tugenden erweckt und ge-
ſchaͤfftig gemacht. Hier, wo die phyſica-
liſche Welt wenige Gaben ſparſam un-
ter ihre traurigen Bewohner austheilt,
hier habe ich den moraliſchen Reichthum
P 4von
[232] von Tugenden und Kenntniſſen in der
Huͤtte meiner Wirthe verbreitet, und mit
ihnen genieße und koſte ich ihre Suͤßig-
keit. Von allem, was den Namen von
Gluͤck, Anſehen und Gewalt fuͤhrt, voͤl-
lig entbloͤßt, mein Leben den Haͤnden die-
ſer Fremdlinge anvertraut, wurde ich ihre
moraliſche Wohlthaͤterinn, indem ich ihre
Liebe zu Gott erweiterte, ihren Verſtand
erleuchtete, und ihre Herzen beruhigte, da
ich durch Erzaͤhlungen von andern Welt-
theilen und von den Schickſalen ihrer
Einwohner in den Erholungsſtunden mei-
ner armen Wirthe Vergnuͤgen um ſie
hergoß. Jch habe die traurigen un-
ſchuldsvollen Tage einer doppelt ungluͤck-
lichen Waiſe durch Liebe, Sorge und Un-
terricht mit Blumen beſtrent; von dem
Genuſſe alles deſſen, was die Menſchen
als Wohlſeyn betrachten, entfernt, ge-
nieße ich die wahren Geſchenke des Him-
mels, die Freude wohlzuthun und
die Ruhe des Gemuͤths, als Fruͤchte
der wahren Menſchenliebe und erfahrner
Tugend. — Reine Freude, wahre Guͤ-
ter!
[233] ter! ihr werdet mich in die Ewigkeit be-
gleiten, und fuͤr euren Beſitz wird meine
Seele das erſte Danklied anſtimmen.
Zu Ende des Brachmonats.
Emilia, haben Sie ſich jemals in den
Platz eines Menſchen ſtellen koͤnnen, der
in einem elenden Kahn auf der ſtuͤrmen-
den See aͤngſtlich ſein Leben fuͤhlt, und mit
zitternder Hoffnung hin und her um An-
ſchein der Hoffnung ſieht? Lange floßen
ihn die Wellen herum, und laſſen ihn Ver-
zweiflung fuͤhlen; endlich erblickt er eine
Jnſel, die er zu erreichen hofft, mit gefal-
tenen Haͤnden ruft er: O Gott, ich ſehe
Land! — Jch, mein Kind, ich fuͤhle
alles dieſes; ich ſehe Land. Der Graf
von Hopton iſt in ſeinem Haus auf dem
Gebuͤrge, und Lady Douglaß, ſeine
Schweſter, hat die Tochter meiner Wir-
thinn zu ſich genommen. Sie gieng mit
ihrem Bruder und einer Tapete zur Lady,
ihre Dienſte anzubieten. Voller Ver-
P 5wunde-
[234] wunderung uͤber ihre Arbeit und ihre Ant-
worten, hat die Lady gefragt, wer ſie
unterrichtet haͤtte, und das dankbare
Herz des guten Maͤdchens erzaͤhlte ihr
von mir was ſie wußte und empfand.
Die edle Dame wurde bis zu Thraͤnen ge-
ruͤhrt; ſie verſprach dem Maͤdchen ſogleich
ſie zu nehmen, ließ den jungen Leuten zu
Eſſen geben, und ſchickte den Sohn al-
lein nach Hauſe mit zwo Guineen fuͤr ſei-
ne Aeltern und dem Verſprechen: ſie woll-
te vor ihrer Abreiſe noch ſelbſt zu ihnen
kommen. Mich ließ ſie beſonders gruͤ-
ßen und fuͤr meine Muͤhe mit ihrem
Maͤdchen ſegnen. Jch habe ſie um Pa-
pier, Feder und Dinte bitten laſſen; ich
will mich dieſer Gelegenheit bedienen, um
an meine Lady Summers zu ſchreiben;
aber ich will der Lady Douglaß den Brief
offen geben, um ihr meine Aufrichtigkeit
zu zeigen. Jch wuͤrde ſtrafbar ſeyn,
wenn ich nicht alle Gelegenheit an-
wendete, um meine Freyheit zu erlangen,
da ſich edle Mittel dazu anbieten. Jch
will auch den Lord Hopton um ſeine
Gnade
[235] Gnade fuͤr meine armen Wirthe bitten; die
guten Leute wiſſen ſich vor Freude uͤber
die Verſorgung ihrer Tochter und uͤber
das Geld, ſo ſie bekommen haben, nicht
zu faſſen; ſie liebkoſen und ſegnen mich
wechſelsweiſe. Meine Waiſe laſſe ich nicht
zuruͤck; das Kind wuͤrde nun, da ich ſie
an gutes Bezeigen gewoͤhnt habe, durch
den Verluſt doppelt ungluͤcklich ſeyn, und
alle meine Tage wuͤrden durch ihr Anden-
ken beunruhiget, wenn ich zum Gluͤcke
zuruͤckkehrte, und ſie dem offenbaren
Elend zum Raube ließe.
O! Meine Freundinn, es war Vor-
bedeutung, die mich in meinem letzten
Blatte das Gleichniß eines auf der toben-
den See irrenden Kahns finden ließ;
ich war beſtimmt die hoͤchſten Schmerzen
der Seele zu fuͤhlen, und dann in dem
Augenblick der Hoffnung zu ſterben.
Die unausſprechliche Bosheit meines
Verfolgers reißt mich dahin, wie eine
ſchaͤumende Welle Kahn und Menſchen in
den
[236] den Abgrund reißt. Dieſe Gewalt wurde
ihm gelaſſen, und mir alle Huͤlfsmittel
entzogen; bald wird ein einſames Grab
meine Klagen endigen, und meiner Seele
die Endzwecke zeigen, warum ich dieſes
grauſame Verhaͤniß erdulden mußte.
Jch bin ruhig, ich bin zufrieden; mein
letzter Tag wird der freudigſte ſeyn, den
ich ſelt zwey Jahren hatte. Jhnen,
meine bis in den letzten Augenblick zaͤrt-
lich geliebte Freundinn, wird die Lady
Summers mein Paquet Papiere ſchicken,
und Jhr Herz bey dem Gedanken, daß
alles mein Leiden ſich in einer ſeligen
Ewigkeit verloren hat, beruhiget wer-
den. Meine letzten Kraͤfte ſind Jhnen ge-
widmet. Sie waren die Zeuginn meines
gluͤcklichen Lebens; Sie ſollen auch, ſo
viel ich es thun kann, von dem Ende mei-
ner truͤbſeligen Tage wiſſen.
Jch war voller Hoffnungen und mit
froͤhlichen Ausſichten umgeben, als der
vertrauteſte Boͤſewicht des Derby an-
langte, um mir den verhaßten Vorſchlag
zu thun; „ich ſollte mich zu dem Lord
„nach
[237] „nach London begeben; er liebe ſeine Ge-
„mahlinn nicht, waͤre auch ſelbſt kraͤnk-
„lich geworden, und halte ſich meiſtens
„auf einem Landhauſe zu Windfor auf,
„wo ihm mein Umgang ſehr angenehm
„ſeyn wuͤrde.“ Er ſelbſt ſchrieb in einem
Billet: wenn ich freywillig kommen woll-
te und ihn lieben wuͤrde, ſo denke er, ſich
von Lady Alton ſcheiden zu laſſen, und
unſere Henrath zu beſtaͤtigen, wie es die
Geſetze und in eine Verdienſte erforderten;
aber wenn ich aus einer meiner ehemali-
gen Wunderlichkeiten dieſen Vorſchlag
verwaͤrfe, ſo moͤchte ich mir mein Schick-
ſal gefallen laſſen, wie er es fuͤr gut fin-
den wuͤrde. — Dieß mußte ich anhoͤ-
ren, denn leſen wollte ich das Billet
nicht; das Aergſte von dieſer unertraͤgli-
chen Beleidigung war, daß ich den unſe-
ligen Kerl ſehen mußte, durch deſſen Hand
meine falſche Verbindung geſchehen war.
Auf das aͤußerſte betruͤbt und erbittert ver-
warf ich alle dieſe unwuͤrdigen Vorſchlaͤge,
und der Barbar raͤchte ſeinen Herrn, indem
er mich nach der zweyten foͤrmlichen Abſage
mit
[238] mit der heftigſten Bosheit beym Arm und
um den Leib packte, zum Hauſe hinaus
gegen den alten Thurm hinſchleppte, und
mit Wuͤthen und Fluchen zu einer Thuͤre
hinein ſtieß, mit dem Ausdruck, daß ich
da crepiren moͤchte, damit ſein Herr und
Er einmal meiner los wuͤrden. Mein
Straͤuben und die entſetzliche Angſt ſo ich
hatte, ich moͤchte mit Gewalt nach Lon-
don gefuͤhrt werden, hatte mich abge-
mattet, und halb von Sinnen gebracht;
ich fiel nach meiner ganzen Laͤnge in das
mit Schutt und Moraſt angefuͤllte Ge-
woͤlbe, wo ich auf den Steinen meine
linke Hand und das halbe Geſicht beſchaͤ-
digte, und heftig aus der Naſe und
Mund blutete. Jch weiß nicht, wie lang
ich ohne Bewußtſeyn da lag; als ich mich
wieder fuͤhlte, war ich ganz entkraͤftet und
voll Schmerzen; die faule duͤnſtige Luft,
die ich athmete, beklemmte in kurzer Zeit
meine Bruſt ſo ſehr, daß ich an dem letz-
ten Augenblicke meines Lebens zu ſeyn
glaubte. Jch ſah nichts, aber ich fuͤhlte
mit der einen Hand, daß der Boden ſtark
abhaͤn-
[239] abhaͤngig war, und beſorgte daher bey
der geringſten Bewegung gar in einen
Keller zu fallen, wo ich nicht ohne Ver-
zweiflung meinen Geiſt aufgegeben haͤtte.
Mein Jammer und die Empfindungen, die
ich davon hatte, iſt nicht zu beſchreiben;
die ganze Nacht lag ich da; es regnete
ſtark; das Waſſer floß unter der Thuͤre
herein auf mich zu, ſo daß ich ganz naß
und ſtarr wurde, und von meinem Un-
gluͤck gaͤnzlich darnieder geſchlagen, mir
den Tod wuͤnſchte. Jch bekam, wie
mich daͤucht, innerliche Zuͤckungen. So
viel weiß ich noch; als ich mich wieder
beſinnen konnte, war ich auf meinem
Bette, um welches meine armen furcht-
ſamen Wirthe ſtunden, und wehklagten.
Meine Waiſe hatte meine Hand und
aͤchzte aͤngſtlich; ich fuͤhlte mich ſehr uͤbel,
und bat die Leute, mir den Geiſtlichen
des Grafen von Hopton zu holen, weil
ich ſterben wuͤrde. Mit aufgehobenen
Haͤnden bat ich ſie; der Sohn gieng fort,
und die Aeltern erzaͤhlten mir, daß ſie
mir nicht haͤtten helfen duͤrfen, bis Sir
John
[240] John (wie ſie ihn nannten) abgereiſet ge-
weſen waͤre. Schreckliches Loos der Ar-
muth, daß ſie ſelten Herz genug hat, ſich
der Gewalt des reichen Laſters entgegen
zu ſetzen! Der Regen hatte den Boͤſe-
wicht aufgehalten, doch, ſagen ſie, ſey
er noch an die Thuͤre des Thurns gegan-
gen, haͤtte ſie aufgemacht und gehorcht,
den Kopf verdrießlich in die Hoͤhe gewor-
fen, und ohne die Thuͤre zuzuſchließen,
oder ihnen noch etwas zu ſagen, waͤre er
davon gegangen. Sie haͤtten aus Furcht
vor ihm noch eine Stunde gewartet, und
waͤren dann mit einem Licht zu mir ge-
kommen, da ſie mich denn fuͤr todt ange-
ſehen und heraus getragen haͤtten. Der
Geiſtliche kam, und die Lady Douglaß
mir ihm; beyde betrachteten mich aufmerk-
ſam und mitleidend. Jch reichte der La-
dy meine Hand, der ſie die ihrige mit
Guͤte entgegen gab. Edle Lady, ſagte
ich mit thraͤnenden Augen, Gott wird
dieſe menſchenfreundliche Bemuͤhung um
mich, an Jhrer Seele belohnen; glauben
Sie nur auch, daß ich es wuͤrdig bin.
Jch
[241] Jch bemerkte, daß ihre Augen auf meine
Hand und das Bildniß meiner Mutter
geheftet waren; — da ſagte ich ihr, es
iſt meine Mutter, eine Enkelin von Lord
David Watſon — und hier, indem ich
die andere Hand erhob, iſt mein Vater,
ein wuͤrdiger Edelmann in Deutſchland;
ſchon lange ſind beyde in der Ewigkeit,
und bald, bald hoffe ich, bey ihnen zu
ſeyn, ſetzte ich mit gefalteten Haͤnden
hinzu. Die Dame weinte, und ſagte
dem Geiſtlichen, er ſollte meinen Puls
fuͤhlen; er thats, und verſicherte, daß
ich ſehr uͤbel waͤre. Mit liebreichem Eifer
ſah ſie um ſich, und fragte, ob ich nicht
weggebracht werden koͤnnte. — Nicht
ohne Lebensgefahr, ſagte der Geiſtli-
che — ach das iſt mir leid, ſprach die
liebe Dame, indem ſie mir die Hand
druͤckte. Sie gieng hinaus, und der
Geiſtliche fieng an mit mir zu reden; ich
ſagte ihm kurz, daß ich aus einer edlen
Familie ſtammte, und durch den ſchaͤnd-
lichen Betrug einer falſchen Heurath aus
meinem Vaterlande geriſſen worden ſey;
IITheil. QMyladi
[242] Myladi Summers, unter deren Schutz
ich geſtanden, koͤnnte Jhnen Zeugniſſe von
mir geben. Jch hieß ihn zugleich die
Papiere nehmen, welche ich an ſie ge-
ſchrieben hatte, und die hinter einem
Bette lagen. Jch ſetzte ſelbſt ohne ſein
Fragen ein Bekaͤnntniß meiner Grundſaͤtze
hinzu, und bat ihn, ſich mit ihrem
Mann in Briefwechſel einzulaſſen. Die
Dame klopfte an, und kam, mit Maria,
der Tochter meiner Wirthe, die eine
Schachtel trug, zu meinem Bette. Sie
hatte allerley Labſale und Arzneyen dar-
inn, wovon ſie mir gab. Die kleine
Lidy kam auch herein, und warf ſich bey
meinem Bette auf die Knie. Die Dame
betrachtete das Maͤdchen und mich mit
zunehmender Traurigkeit. Endlich nahm
ſie Abſchied, ließ die Maria bey mir, und
der Geiſtliche verſprach, den Morgen
wieder da zu ſeyn. Aber er kam den
ganzen Tag nicht; doch wurde zweymal
nach mir gefragt. Jch war dieſen Mor-
gen beſſer als ich geſtern geweſen war;
daher ſchrieb ich Jhnen. Nun iſts bald
ſechs
[243] ſechs Uhr Abends, und ich werde zu-
ſehends ſchlechter; meine zitternde unglei-
che Schrift wird es Jhnen zeigen. Wer
weis, was heute Nacht aus mir wird;
ich danke Gott, daß ich ſterblich bin,
und daß mein Herz mit dem Jhrigen
noch reden konnte. Jch bin ganz gefaßt,
und dem Augenblicke nah, wo Gluͤck und
Elend gleichguͤltig iſt. —
Nachts um neun Uhr.
Das letztemal, meine Emilia, habe ich
meine ſchwachen entkraͤfteten Arme nach
der Gegend ausgeſtreckt, wo ſie wohnen.
Gott ſegne Sie, und belohne Jhre Tu-
gend und Jhre Freundſchaft gegen mich!
Sie werden ein Papier bekommen, das
Jhr Mann meinem Oncle dem Grafen
G. ſelbſt uͤbergeben ſoll. Es betrifft
meine Guͤter.
Alles, was von der Familie von P.
da iſt, ſoll des Grafen Loͤbaus Soͤhnen
gegeben werden. Jhr Schwager, der
Amtmann, hat das Verzeichniß davon.
Q 2Was
[244]
Was ich von meinem geliebten Vater
habe, davon ſoll die Haͤlfte zu Erziehung
armer Kinder gewidmet ſeyn. Einen
Theil der andern Haͤlfte gebe ich Jhren
Kindern und meiner Freundinn Roſina.
Von dem andern Theil ſoll meinen armen
hieſigen Hauswirthen tauſend Thaler,
und der ungluͤcklichen Lidy auch ſo viel
gegeben, von dem Ueberreſt aber, mir zu
den Fuͤſſen der Grabmaͤler meiner Aeltern,
ein Grabſtein errichtet werden, mit der
ſimplen Aufſchrift:
- Zum Andenken ihrer nicht unwuͤrdigen
Tochter, Sophia von Sternheim —
Jch will hier unter dem Baume begra-
ben werden, an deſſen Fuß ich dieſes
Fruͤhjahr oft gekniet, und Gott um Ge-
duld angeflehet habe. Hier, wo mein
Geiſt gemartert wurde, ſoll mein Leib
verweſen. Es iſt auch muͤtterliche Erde,
die mich decken wird; bis ich einſt in
verklaͤrter Geſtalt unter den Reihen der
Tugendhaften treten, und auch Sie,
meine Emilia, wiederſehen werde. Rette
indeſ-
[245] indeſſen, o meine Freundinn, rette mein
Andenken von der Schmach des Laſters!
Sage: daß ich der Tugend getreu, aber
ungluͤcklich, in den Armen des bitterſten
Kummers, meine Seele voll kindlichen
Vertrauens auf Gott, und voll Liebe
gegen meine Mitgeſchoͤpfe ihrem Schoͤpfer
zuruͤckgegeben, daß ich zaͤrtlich meine
Freunde geſegnet, und aufrichtig meinen
Feinden vergeben habe. Pflanzen Sie,
meine Liebe, in Jhrem Garten eine Cy-
preſſe, um die ein einſamer Roſenſtock
ſich winde, an einem nahen Felsſtein.
Weyhen Sie dieſen Platz meinem Anden-
ken; gehen Sie manchmal hin; vielleicht
wird es mir erlaubt ſeyn, um Sie zu
ſchweben, und die zaͤrtliche Thraͤne zu
ſehen, mit der Sie die abfallende Bluͤthe
der Roſe betrachten werden. Sie haben
auch mich bluͤhen und welken geſehen;
nur das letzte Neigen meines Hauptes
und den letzten Seufzer meiner Bruſt
entzog das Schickſal Jhrem Blick. —
Es iſt gut, meine Emilia; du wuͤrdeſt
zu viel leiden, wenn du mich ſehen koͤnn-
Q 3teſt.
[246] teſt. — Der Grund meiner Seele iſt
lauter Ruhe; ich werde ſanft einſchlafen,
denn das Verhaͤngniß hat mich muͤde,
ſehr muͤde gemacht. Lebe wohl, beſte
freundſchaftliche Seele; laß deine Thraͤ-
nen um mich ruhig ſeyn, wie die, die
um dich in meinen truͤben Augen ſchwim-
men. — —
Lord Seymour an Doctor T.
O Gott, warum hindert Jhre Krank-
heit Sie, mich auf zween Tage zu ſehen!
Jch bin dem Unſinn und der Wuth ganz
nahe. Mein Bruder Rich, den Sie
noch aus dem Hauſe des erſten Gemahls
meiner Mutter kennen, iſt mit aller ſei-
ner ſtoiſchen Philoſophie, durch eben den
Streich zur Erde gedruͤckt. Jn zween
Tagen reiſen wir in die ſchottiſchen Bley-
gebuͤrge, um — o toͤdtender Gedanke!
um das Grab des ermordeten Fraͤuleins
von Sternheim aufzuſuchen, und ihren
Koͤrper in Dumfries praͤchtig beerdigen
zu
[247] zu laſſen. — Wie konnteſt du, ewige
Vorſicht, wie konnteſt du dem verruch-
teſten Boͤſewicht das Beſte, ſo du jemals
der Erde gabſt, Preis geben? Meine
Leute machen Anſtalten zu unſerer Reiſe;
ich kann nichts thun; ich ringe meine
Haͤnde wie ein tobender Menſch, und
ſchlage ſie tauſendmal wider meine Bruſt
und meinen Kopf. Derby, der Elende!
hat die Frechheit zu ſagen, um meinet
Willen, aus Eiferſucht uͤber mich habe
er das edelſte, liebenswuͤrdige Geſchoͤpfe
betrogen, ungluͤcklich gemacht, und ge-
toͤdtet. Er beheult es nun, der wuͤthen-
de Hund, er beheult es. Seine Ruchlo-
ſigkeit hat ihn an den Rand des fruͤhen
Grabes gefuͤhrt, vor welchem er zittert,
und das ihn vor der Rache ſchuͤtzt, die ich
an ihm ausuͤben wuͤrde. Hoͤren Sie,
mein Freund, hoͤren Sie das Fuͤrchter-
lichſte, ſo jemals der Tugend begegnete,
und das Aergſte, ſo jemals die Bos-
heit ausuͤben konnte. — Sie wiſſen,
daß ich vor vier Monaten krank mit My-
lord Crafton nach England zuruͤck kam,
Q 4und
[248] und gleich zu meiner Frau Mutter nach
Seymour-Houſe gieng, dem Uebel mei-
nes Koͤrpers und meiner Seele nachzu-
haͤngen. Jch fragte endlich nach Derby,
itzo Lord N., man ſagte mir, daß er auf
ſeinem Landhauſe zu Windſor krank liege.
Jch wollte ſeine und meine Geneſung
abwarten; aber etliche Tage nach meiner
Frage um ihn, ließ er mich zu ſich bit-
ten. Jch war nicht wohl, und ſchlug
es ab. Einige Tage hernach reiſete ich
zu meinem Bruder Rich, den ich freund-
ſchaftlich eben ſo finſter fand als ich es
ſelbſt war. Die bruͤderliche Vertraulich-
keit wurde ohnehin ſchon durch die funf-
zehn Jahre gehindert, die er aͤlter iſt als
ich, und ſeine trockne Stille munterte mich
nicht auf, eine Erleichterung bey ihm zu
ſuchen. Wir brachten vierzehn Tage
hin, ohne von was anders als unſern
Reiſen, und auch dieſes nur abgebrochen,
zu reden; bis wir endlich in einer Mi-
nute zur offenherzigen Sprache kamen,
da ein Kammerdiener von Lord N. einen
Brief an mich brachte, worinn er mich
bat,
[249] bat, mit Lord Rich zu ihm zu kommen,
in einer Sache, welche des Fraͤulein
Sternheim betraͤfe; ich ſollte dem Lord
Rich nur ſagen, daß es die Dame waͤre,
welche Er bey Lady Summers geſehen,
und welche von da entfuͤhrt worden ſey.
Jch fuhr wie aus einem ſchreckenden
Traume auf, und ſchrie nur dem Kerl zu,
ich wuͤrde kommen. Meinen Bruder
packte ich beym Arme, und fragte ihn auf
eine haſtige Art nach der jungen Dame,
die er in Summerhall geſehen. Mit Be-
wegung fragte er: ob ich ſie kenne, und
was ich von ihr wiſſe? — Jch zeigte
ihm das Billet, und erzaͤhlte ihm kurz
von allem, was das ewig theure geliebte
Fraͤulein angieng; Eben ſo kurz, ſo un-
terbrochen, erzaͤhlte er, wie er ſie geſe-
hen und geliebt haͤtte; gieng, mir ein
Bildniß von ihr zu holen, und konnte
mir nicht genug von ihrem Geiſte, von
ihren edlen Geſinnungen, von der Trau-
rigkeit, womit ſie beladen geweſen, ſagen,
beſonders zur Zeit da Derbys Heurath
mit Lady Alton bekannt worden. Wir
Q 5waren
[250] waren bald entſchloſſen, abzureiſen, und
kamen in Windſor an; Lord Rich tiefſin-
nig aber geſetzt; ich voll Unruh, voller
Vorſaͤtze und Entſchluͤſſe. Schauer und
Hitze eines wuͤthenden Fiebers befielen
mich beym Eintritt in Derbys Haus.
Mein Haß gegen ihn war ſo aufge-
bracht, daß ich ſeines elenden Anſehens
und der ſichtbaren Schwachheit, die ihn
im Bette hielt, nicht achtete. Mit ſtum-
mer Feindſeligkeit ſah ich ihn an; er hef-
tete ſeine erſtorbenen Augen mit einem
fiehenden Blick auf mich, und ſtreckte
ſeine abgezehrte rothbrennende Hand ge-
gen mich. „Seymour, ſagte er, — ich
kenne dich; aller Haß deines Herzens
liegt auf mir; — aber du weiſt nicht,
wie viel wuͤthende Scenen in dieſer Bruſt
wegen dir entſtanden ſind.“ Jch hatte
ihm meine Hand nicht gegeben, und ſagte
mit Widerwillen und trotzigem Kopfſchuͤt-
teln: Jch weis keinen Anlaß dazu als die
Ungleichheit unſrer Grundſaͤtze. Derby
antwortete: Seymour! dieſen Ton haͤt-
teſt du nicht wenn ich geſund waͤre, und
der
[251] der Stolz, mit dem du von deinen
Grundſaͤtzen ſprichſt, iſt ein eben ſo gro-
ßes Vergehen, als der Misbrauch, den
ich von meinen Talenten machte. Lord
Rich fiel ein: daß von allem dieſen die
Frage nicht ſeyn koͤnnte, und daß Lord
Derby nur Nachricht von der entfuͤhrten
Dame geben moͤchte. „Ja, Lord Rich,
Sie ſollen ſie haben, ſagte er; es liegt
mehr Menſchlichkeit in Jhrer Kaͤlte, als
in Seymours kochender Empfindlichkeit.
Er mag Jhnen ſagen, was in der erſten
Zeit unſerer Bekanntſchaft mit dem Fraͤu-
lein von Sternheim vorgieng. Wir lieb-
ten ſie beyde zum Unſinn; aber ich be-
merkte zuerſt ihren vorzuͤglichen Hang
fuͤr ihn, und wandte alles an, ihn zu
zerſtoͤren. Durch Verſtellung und Raͤnke
gelung es mir, ſie unter der Verfolgung
des Fuͤrſten und der dummen Bedenklich-
keit des Seymours, durch eine falſche
Vermaͤhlung in meine Gewalt zu bekom-
men. Aber mein Vergnuͤgen dauerte
nicht lange; ihr zu ernſthafter Charakter
ermuͤdete mich, und ihre geheime Neigung
gegen
[252] gegen Seymour regte ſich, ſo bald nur
meine Gedanken im geringſten von den
ihrigen entfernet waren. Die Eiferſucht
machte mich rachgierig, und die Veraͤn-
derung meiner Umſtaͤnde, durch den Tod
meines Bruders, gab mir Anlaß ſie aus-
zuuͤben. Jch verließ ſie; doch reute es
mich wenige Tage hernach, und ich
ſchickte nach dem Dorfe, wo ſie ſich auf-
gehalten hatte, aber ſie war fort. Lange
wußte ich nichts von ihr, bis ich ſie in
England bey der Tante meiner Lady fand,
wo ich ſie nicht laſſen konnte, und ent-
fuͤhren ließ. Es jammerte mich ihrer
ſchon damals, aber es war kein anders
Mittel. — Mein Misvergnuͤgen mit der
Lady Alton brachte die Sternheim in
meine Erinnerung zuruͤck. Jch dachte:
ſie iſt mein, und um von dem elenden
Leben im Gebuͤrge loszukommen, wird
ſie gern in meine Arme eilen. Jch
dachte es um ſo mehr, als ich wußte,
daß ſie mein, von der Nancy Hatton zu-
ruͤckgelaſſenes Maͤdchen liebreich beſorg-
te und erzog; ich ſchrieb es einer Art
Nei-
[253] Neigung zu, und ſchickte ihr darauf mit
angenehmen Vorſchlaͤgen meinen vertrau-
ten Kerl ab; aber ſie verwarf alles mit aͤu-
ßerſtem Stolz und Bitterkeit. — Hier hielt
er mit Stocken und Bewegung inne, ſah
bald mich, bald den Lord Rich an, bis ich
mit ſtampfenden Fuͤßen und mit Schreyen
den Verfolg ſeiner Erzaͤhlung foderte. —
Seymour! — Rich! — ſagte er mit
tiefem traurigen Ton, mit ringenden Haͤn-
den und ſtotternd, o waͤre ich elender
ſelbſt hin, und haͤtte ihre Vergebung und
Liebe erflehet; Mein Kerl, der Hund
wollte ſie zwingen zuruͤck zu gehen. —
Er wußte, wie gluͤcklich mich ihre Geſell-
ſchaft gemacht haͤtte — er ſperrete ſie
in ein altes verfallenes Gewoͤlbe, worinn
ſie zwoͤlf Stunden lag, und — aus
Kummer ſtarb. — Sie ſtarb — ſchrie
ich, Teufel! Unmenſch! und du lebſt
noch nach dieſem Mord? — Du lebſt
noch? — Lord Rich ſagt, ich haͤtte die
Stimme und das Anſehen der Raſeren
gehabt. Er fiel mir in die Arme, und
riß mich weg in ein anderes Zimmer,
lange
[254] lange brauchte er, mich zu beſaͤnftigen und
zu dem Verſprechen zu bringen, daß ich
nicht reden wollte. — Er ſagte: Derby
liegt auf der Folter der Reue und der
Erinnerung unwiederbringlicher uͤbel ver-
wendeter Lebenstage, wilt du deine Hand
an den Gegenſtand des goͤttlichen Ge-
richts legen? Glaube, mein Bruder, aber
unſer Schmerz iſt ſuͤß gegen die Pein ſei-
ner Seele. — Mein Herz blutet uͤber
das ungluͤckliche Schickſal der Sternheim;
aber die Tugend und die Natur raͤchet ſie
an ihrem Verfolger; laß mich ihn, ich
bitte dich, noch fragen, was er von uns
gewollt hat; uͤberwinde dich, ſey groß-
muͤthig, ſey auch gegen das ungluͤckliche
Laſter mitleidig! — Jch verſprachs ihm,
wollte aber bey der Unterredung zugegen
ſeyn. — Der elende Menſch heulte, da
wir wieder zu ihm kamen, und foderte,
daß wir nach Schottland reiſen, den Koͤr-
per des Engels ausgraben laſſen, und
ihn in einem zinnernen Sarg zu Dumfries
beyſetzen laſſen ſollten. Zwey tauſend
Guineen will er auf ihr Grabmal verwen-
den,
[255] den, worauf die Beſchreibung ihrer Tu-
genden und ihres Ungluͤcks neben den
Merkmalen ſeiner ewigen Reue aufgezeich-
net werden ſoll. Er bat uns, nach D. Be-
richt davon zu geben; uͤbergab uns alle
Briefe, die er uͤber ſie an ſeinen Freund
B. geſchrieben hatte, und flehte uns,
ihm zu ſchwoͤren, daß wir unverzuͤglich
abreiſen wollten, damit er noch den Troſt
erleben moͤchte, daß dem Andenken der
edelſten Seele eine oͤffentliche Ehrenbezeu-
gung wiederfahren ſey. — Lord Rich
redete ihm hierauf wenige pathetiſche
Worte zu, und ich bezwang meinen mit
der Wuth kaͤmpfenden Kummer; wir rei-
ſten ſogleich ab; — Morgen gehen
mir nach Dumfries. — Was fuͤr
eine Reiſe! — o Gott, was fuͤr eine
Reiſe! —
Lord
[256]
Lord Rich aus den Bleygebuͤrgen
an
Doctor T.
Jch glaube, Sie kennen mich nicht
mehr, aber die ſtarke Seite meiner Seele
iſt mit der Jhrigen verwandt, und Sey-
mour iſt mein Bruder. Von dieſem und
von dem Gegenſtand ſeiner Schmerzen
ſoll ich ihnen reden. Wir kamen heute
Abend hier an; unſere Reiſe war traurig,
und jeder naͤhernde Schritt zu dieſer Ge-
gend beklemmte unſer Herz. Die ganze
Erde hat keinen Winkel mehr, der ſo
elend, ſo rauh ſeyn kann, wie der Zirkel
um dieſe Huͤtte. Mit Grauſamkeit hat das
Schickſal in dieſer Landſchaft dem Boshaf-
teſten unter allen Menſchen die Hand ge-
boten, die empfindſamſte Seele zu martern.
Wenn ich an die edle kindliche Bewe-
gung ihres Herzens denke, die ſie bey den
Schoͤnheiten der Natur gegen ihren
Schoͤpfer zeigte, ſo fuͤhle ich das Maaß
des Leidens, ſo dieſe unfruchtbare Steine
fuͤr ſie enthielten; — und die Huͤtte,
worinn
[257] worinn ſie eine ſo lange Zeit wohnte, ihre
arme Lagerſtaͤtte, wo ſie den edelſten
Geiſt aushauchte, der jemals eine weib-
liche Bruſt belebte. — O Doctor! ſelbſt
Jhr theologiſcher Geiſt wuͤrde, wie mein
philoſophiſcher Muth, in Thraͤnen aus-
gebrochen ſeyn, wenn Sie dieſes, wenn
Sie den Sandhuͤgel geſehen haͤtten, der
an dem Fuße eines einſamen magern
Baums die Ueberbleibſel des liebenswuͤr-
digſten Frauenzimmers bedeckt. Der
arme Lord Seymour ſank darauf hin,
und wuͤnſchte ſeine Seele da auszuweinen
und neben ihr begraben zu werden; ich
mußte ihn mit unſern zween Leuten davon
wegziehen. Jm Hauſe wollt’ er ſich auf
ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber
wegnehmen, und fuͤhrte ihn auf den
Platz, wo die Leute ſagen, daß ſie mei-
ſtens geſeſſen waͤre; da liegt er ſeit zwo
Stunden, unbeweglich auf ſeine Arme
geſtuͤtzt, ſieht und hoͤrt nichts. Die
Leute ſcheinen mir keine guten Leute zu
ſeyn; ich fuͤrchte, ſie haben ihre Haͤnde
auch zu dem Einkerkern geboten. Sie
IITheil. Rſehen
[258] ſehen ſcheu aus; ſie beredeten ſich ſchon
etlichemal vor der Huͤtte allein, haben
auf meine Fragen nach der Dame, kurz
und verwirrt geantwortet, und waren
ſehr betroffen, wie ich ſagte, das Grab
muͤßte Morgen geoͤffnet werden. Jch
zittre ſelbſt davor; ich befuͤrchte Merk-
male eines gewaltſamen Todes zu finden.
Was wuͤrde da aus meinem Bruder wer-
den? Jch ſage nichts von mir ſelbſt; ich
verberge meinen Jammer um Seymours
ſeinen nicht zu vergroͤßern, aber gewiß hat
die Angſt des Untergangs in einem Sturm,
und die Quaal eines lechzenden Durſtes in
den ſandigten Gegenden von Aſien, meine
Seele nicht ſo heftig angegriffen, als der
Gedanke an den Leiden dieſes weiblichen
Engels. Mein Bruder iſt aus Mattig-
keit eingeſchlafen, er liegt auf den Klei-
dern unſrer Leute, die ſie auf den Boden
gebreitet haben; immer faͤhrt er auf, und
ſtoͤßt aͤchzende Seufzer aus; doch beruhi-
get mich unſer Wundarzt wegen ſeiner
Geſundheit. Jch kann nicht ſchlafen,
der morgende Tag quaͤlt mich voraus;
ich
[259] ich ſammle Muth, um Seymourn zu
ſtuͤtzen, aber ich bin ſelbſt wie ein Rohr,
und ich fuͤrchte, bey dem Anblick dieſer
Leiche, mit ihm zu ſinken. Denn ich
liebte ſie nicht mit der jugendlich aufwal-
lenden Leidenſchaft meines Bruders; mei-
ne Liebe war von der Art Anhaͤnglich-
keit, welche, ein edeldenkender Mann
fuͤr Rechtſchaffenheit, Weisheit, und
Menſchenliebe fuͤhlt. Niemals hab’ ich
Verſtand und Empfindungen ſo moraliſch
geſehen als beyde in mir waren; niemals
das Große mit einem ſo richtigen Maaß
wahrer Wuͤrde, und das Kleine mit einer
ſo reizenden Leichtigkeit behandeln geſe-
hen. Jhr Umgang haͤtte das Gluͤck ei-
nes ganzen Kreiſes geiſtvoller und tu-
gendliebender Perſonen gemacht; — und
hier mußte ſie unter aufgethuͤrmten Stei-
nen, bey eben ſo gefuͤhlloſen Menſchen,
unter der hoͤchſten Marter des Gemuͤths,
ihren ſchoͤnen Geiſt aufgeben! O Vor-
ſicht! du ſiehſt die Frage, welche in mei-
ner Seele ſchwebt; aber du ſiehſt auch die
Ehrerbietung fuͤr das unergruͤndliche dei-
R 2ner
[260] ner Verhaͤngniſſe, welche ihren Ausdruck
zuruͤck haͤlt! —
Fortſetzung den zweyten Tag.
Doctor — Menſchenfreund! nehmen
Sie Theil an unſerer Freude. Der En-
gel, Sternheim, lebt noch. Eine goͤtt-
liche Schickung hat ſie erhalten. Sey-
mour weint Thraͤnen der Freude, und
umfaßt die armen Wirthe dieſer Huͤtte
unaufhoͤrlich. Vor einer Stunde ſchlepp-
ten wir uns bleich, traurig, mit einer
todten Stille gegen den kleinen Gar-
ten, wo man uns geſtern das Grab ge-
wieſen hatte. Der Mann und ſein Sohn
giengen unentſchloſſen und mit einem
merklichen Widerwillen mit uns. Als
wir nahe an der Stelle des Sandhuͤgels
waren, und ich den Leuten kurz ſagte —
grabt auf — ſank mein Bruder an
meinen Hals, und umfaßte mich, indem
er mit Schmerz, o Rich! ansrief, und
ſeinen Kopf auf meiner Achſel verbarg.
Dieſe Bewegung von ihm, juſt da die
erſte
[261] erſte Schaufel voll Sand durch einen
meiner Leute vom Grab gehoben wurde,
durchbohrte meine Seele; ich ſchloß mei-
ne Arme um ihn, und erhob meine Au-
gen zum Himmel, um Staͤrke fuͤr ihn
und mich zu erflehen. Den nehmlichen
Augenblick aber, fielen Mann, Frau,
und Sohn vor uns auf die Knie, und
baten um unſern Schutz. Jch gerieth in
die aͤußerſte Beſtuͤrzung, weil ich mich
vor der Entdeckung eines an der Dame
veruͤbten Mords fuͤrchtete. — Leute!
was wollt ihr, was ſoll euer Rufen um
Schutz? „Wir haben unſern Lord betro-
gen, riefen ſie; die Frau iſt nicht geſtor-
ben, ſie iſt fort.“ — wohin, Leute, wo-
hin, rief ich; betruͤgt ihr uns nicht? —
„Nein, guter Lord, ſie iſt bey des Gra-
fen Hoptons Schweſter; dieſe hat ſie zu
ſich genommen, und geſagt, wir ſollten
dem Lord melden, ſie waͤre todt; wir hat-
ten die Frau lieb, und ließen ſie gehen;
aber wenn es nun der Lord erfaͤhrt, ſo
wird er Rache an uns nehmen. Sey-
mour umarmte den Mann mit lautem
R 3Freu-
[262] Freudengeſchrey, und ſagte, o mein
Freund, du ſollſt mit mir kommen, ich
will dich beſchuͤtzen und belohnen. Wo
iſt der Graf Hopton? wie iſt dieß zuge-
gangen? — Rich — lieber Bruder,
Rich, wir wollen gleich abreiſen. — Jch
verſicherte ihn, daß ich eben ſo begierig
ſey, wie er, die Dame ſelbſt zu ſehen; er
ſolle Anſtalten zur Reiſe machen, ich woll-
te indeſſen mit den Leuten reden. Jch be-
ruhigte ſie mit dem Verſprach, daß der
Lord ſie fuͤr ihre Liebe zu der Frau ſelbſt
belohnen wuͤrde; denn er habe gar nicht
gerne gehoͤrt, daß John ſo uͤbel mit ihr
umgegangen ſey; dabey gab ich ihnen
eine Handvoll Guineen, und fragte ſie
nach dem Leben und Bezeugen der Dame.
O Doctor! wie viel Glanz breitete die
einfache abgekuͤrzte Erzaͤhlung dieſer Leute
uͤber die Tugend meiner Freundinn aus!
Geſtern murrte ich uͤber ihr hartes Schick-
ſal; und itzt moͤchte ich der Vorſicht fuͤr
das edle Beyſpiel danken, welches ſie den
uͤbrigen Menſchen durch die Pruͤfung die-
ſer großen Seele gegeben hat. Tief,
unaus-
[263] unausloͤſchlich ſind die Zuͤge ihres Cha-
rakters in mein Herz gegraben! — Wir
reiſen ab. Am Fuße des Berges ſchickte
ich einen meiner Leute an Lord Derby,
mit der fuͤr ihn gewiß troſtvollen Nach-
richt. Denn da er ſich dem Zeitpunct
naͤhert, wo man alles verſaͤumte Gute
moͤchte einholen, und alles veruͤbte Boͤſe
ausloͤſchen koͤnnen: ſo muß es eine Er-
quickung fuͤr ihn ſeyn, die Summe ſeiner
Vergehungen, um ein ſo großes vermin-
dert zu ſehen.
Madam Leidens
an
Emilia.
Tweedale, Sitz des Grafen von Douglaß-
March.
Jch ſchreibe auf meinen Knien, um mei-
ne Dankbarkeit gegen Gott fuͤr das ent-
zuͤckende Gefuͤhl von Freyheit, Leben
und Freundſchaft in kindlicher Demuth
R 4aus-
[264] auszudruͤcken. O meine geliebte, meine
theure Freundinn! durch wie viel Schmer-
zen bin ich gegangen, und wie ſehr er-
freut es mich, Jhren Kummer und die
Sorgen meiner Lady Summers endigen
zu koͤnnen. Morgen ſchickt die Graͤfinn
Douglaß einen Courier an meine Lady;
dieſer wird auch gleich mit einem Paquet
an Jhren Mann nach Harwich abgehen,
um ja Jhre Unruhe nicht einen Augenblick
zu verlaͤngern. Die Auszuͤge von meinen
mit Reisbley geſchriebenen Papieren wer-
den Jhnen zeigen, wie hart und dornigt
der Weg war, welchen ich in dem letztern
Jahre zu gehen hatte. Aber wie ange-
nehm iſt mir der Ausgang davon gewor-
den, da ich von der Hand der leutſeligſten
Tugend daraus gefuͤhrt wurde! Jſt die-
ſes nicht die Probe, daß ich mich in den
Tagen meiner Pruͤfung der Vorſorge
Gottes nicht unwuͤrdig machte, weil ſie
eine der edelſten Seelen zu meiner Huͤlfe
ſchickte? — Auf meinem letzten Blatte
glaubte ich die letzte Nacht meines Lebens
angebrochen zu ſehen, und dachte auch,
von
[265] von der Graͤfin Douglaß verlaſſen, zu ſter-
ben; aber um eilf Uhr kam der Geiſtliche
mit einem Wundarzt, und Morgens dar-
auf ein von zwey Pferden getragenes
Bette mit der Lady Douglaß ſelbſt, die
mir auf die liebreichſte Art ihr Haus, ihre
Vorſorge und Freundſchaft anbot. Bald
waͤre mir das Uebermaaß meiner Freude
ſchaͤdlich geworden; denn indem ich der
Lady Hand an meine Bruſt druͤckte, und
von meinem Dank und von meiner Freude
ſprechen wollte, ſank ich zuruͤck; als ich
erwachte, baten ſie mich ruhig zu bleiben,
und ſagten, daß ſie mit meinen Wirthen
verabredet haͤtten, ſie ſollten ein Grab im
Garten aufwerfen, und dem Lord Derby
wiſſen laſſen, ich waͤre todt; die Leute
waͤren es zufrieden, und ſie wollte mich
nun in des Grafen von Hoptons Haus
bringen. Nachmittags um vier Uhr
fuͤhlte ich mich ſtark genug, um aufzuſte-
hen, Molly kleidete mich in Gegenwart
der Lady Douglaß an; ich nahm die fuͤnf
Guineen, ſo ich bey mir hatte, und
machte ſie zuſammen, um ſie meinen
R 5Wir-
[266] Wirthen zu geben. Den Augenblick als ich
aufſtund, der Lady eine Bitte wegen der
guten Waiſe zu machen, kroch die arme
kleine Lidy auf ihren Knien herein, und
bat mit Schluchzen und aufgehobenen
Haͤndchen, ich ſollte ſie doch mitnehmen;
innig geruͤhrt ſah ich ſie und die Lady an,
welche nach einem Augenblick Nachden-
ken, dem Maͤdchen die Hand bot, und
mit mitleidiger Stimme ſagte: „Ja,
meine kleine, du ſollſt auch mit kommen.“
Gott ſegne Sie, theure Lady, ſagte ich,
fuͤr ihre großmuͤthige Menſchenliebe; ich
wollte Sie um Erlaubniß bitten, dieſes
unſchuldige Opfer auch zu retten. „Ger-
ne, antwortete ſie, ſehr gerne, es erfreut
mich, daß Sie ſo zaͤrtlich fuͤr ſie ſorgen.“
Jch umarmte meine weinende Wirthe mit
Thraͤnen, ſah noch ſeufzend mich in der
traurigen Gegend um, und reiſte mit
der Lady ab. Graf Hopton empfieng
mich mit vieler Hoͤflichkeit; aber ſeine
Blicke durchſpuͤrten zugleich meine ganze
Perſon mit einem Ausdruck, als ob er
abwaͤgen wollte, ob ich mehr die Nach-
ſtellun-
[267] ſtellungen meines Liebhabers oder des Mit-
leidens einer tugendliebenden Dame ver-
diente. Eine Bewegung ſeiner Augen
von Betrachtung der Lady auf mich,
machte mich erroͤthen, und dieſes ihn
laͤcheln; ich errieth, daß er mich fuͤr ihre
Mutter hielt, und empfand die Verringe-
rung ſeiner fuͤr mich vortheilhaft gefaß-
ten Begriffe. Lady Douglaß fuͤhrte mich
in ein artiges Zimmer, und hieß mich zu
Bette gehen; Molly war dabey und frag-
te die Dame, wo die kleine Lidy hin
ſollte? — Hieher, ſagte Lady Douglaß,
denn Sie werden die kleine am liebſten bey
ſich haben, und es gefaͤllt mir ſehr, daß
Sie auch im Ungluͤck den Pflichten der
Natur getreu geblieben ſind.“ Beſte La-
dy, fiel ich ein, Sie ‒ ‒ ‒ ‒ Keine Unruhe
meine liebe, ſprach ſie mit lebhaftem aber
liebreichem Tone, legen Sie ſich, ich
komme dann zuruͤck, aber von allem un-
angenehmen Vergangenen ſollen Sie nicht
reden“ — und damit gieng ſie weg. —
Jch warf mich aufs Bette mit der trau-
rigen Betrachtung, daß ich den erſten
freyen
[268] freyen Athemzug durch Erduldung eines
widrigen Urtheils bezahlen muͤſſe. Jch
wollte dieſe Begriffe keine Wurzeln in der
Lady Douglaß faſſen laſſen, und ver-
langte Schreibzeug und Papier. Jch
ſchrieb den andern Tag der Lady die Er-
klaͤrung ihrer Zweifel wegen der kleinen
Lidy, und zeigte die Beweggruͤnde an,
warum ich mich des Kindes angenommen
haͤtte. Jch bat ſie daneben mir bald Ge-
legenheit zu geben, Nachrichten an Lady
Summers gelangen zu laſſen; denn durch
dieſe Dame wuͤrde ſie auch uͤberzeugt
werden, daß alles was ich ihr ſagte, die
Wahrheit ſey, und daß ſie ihre bisherige
Guͤte fuͤr mich nicht zu bereuen haben
wuͤrde. Sie konnte die drey Blaͤtter
kaum geleſen haben, ſo kam ſie zu mir,
und bat mich gleich beym Eintritt in das
Zimmer, ihr die Unruhe zu vergeben, die
ſie mir gemacht haͤtte; aber es waͤre nicht
leicht moͤglich geweſen bey einer fremden
Perſon einen ſolchen Grad von Liebe und
Sorge fuͤr das Kind eines Feindes zu
denken, und ich koͤnne glauben, daß, da ſie
mich
[269] mich wegen meiner vermehnten Mutter-
treue geliebt habe, ſie mich wegen meiner
großmuͤthigen Liebe gegen das Blut mei-
nes unwuͤrdigen Verfolgers deſto mehr
liebe und bewundere. Zwo Stunden
redte ſie mit mir von vielen Sachen in
einem feinen zaͤrtlichen Tone fort. Die
theure Lady beſitzt eine bey den Großen
ſeltene Eigenſchaft; ſie nimmt Antheil an
den Leiden der Seele, und ſucht mit
der edelſten feinſten Empfindung Troſt-
worte und Huͤlfsmittel aus. Jn den
Zeiten meines ehemaligen Umganges mit
der großen gluͤcklichen Welt beobachtete ich,
daß ihr Mitleiden meiſtens fuͤr aͤußerliche
Uebel, Krankheiten, Armuth u. ſ. w. in
Bewegung kam; Kummer des Gemuͤths,
Schmerzen der Seele, von denen man ih-
nen redete oder die ſie verurſachten, mach-
ten wenig Eindruck, und brachten ſelten ei-
ne antheilnehmende Bewegung hervor. —
Aber ſie werden auch ſelten gewoͤhnt, an
den innerlichen Werth oder die wahre Be-
ſchaffenheit der Sachen zu denken; durch
aͤußerlichen Glanz verblenden ſie und wer-
den
[270] den verblendet. Witz hat die Stelle der
Vernunft, eine kalte gezwungene Umar-
mung heißt Freundſchaft, Pracht und
Aufwand, Gluͤck ‒ ‒ ‒ ‒ O mein Kind,
ſollte ich jemals wieder dieſem Kreiſe mich
naͤhern, ſo will ich mit einiger Sorge alles
vermeiden, was mich in den Stufen mei-
ner Erinnerung und meines Ungluͤcks
an den Großen und Gluͤcklichen ſchmerzte.
Die Graͤfin Douglaß nimmt die kleine
Lidy zu ſich; ſie ſagt, ich haͤtte genug fuͤr
das Kind gethan, und es ſolle Niemand
mehr Anlaß haben, die Uebung der groͤß-
ten Tugend als die Folge eines Fehltritts
zu beurtheilen; am allerwenigſten aber
Derby auch nicht vermuthen koͤnnen, daß
eine Anhaͤnglichkeit fuͤr ihn auf irgend
eine Weiſe Urſache an meinem Mitleiden
geweſen ſey. Jch ſah alles Edle ihrer
Beweggruͤnde und dankte ihr zaͤrtlich, daß
ſie mich nicht nur fuͤr kuͤnftigen falſchen
Beurtheilungen ſchuͤtzte, ſondern auch der
Belaͤſtigung des Lobs enthoͤbe, das man
meiner ſogenannten Großmuth noch ein-
mal geben koͤnnte. Meine Briefe an
Lady
[271] Lady Summers hat die Graͤfinn geleſen;
ſie wollte es nicht thun, um mich von
ihrem Vertrauen in mich zu uͤberzeugen.
Die Briefe an Sie hab’ ich ihr durchge-
blaͤttert, weil ſie aber ganz deutſch ſind,
ſo haͤtte die Ueberſetzung viele Zeit gekoſtet;
ich redete ihr alſo kurz von dem Jnhalt
eines jeden Blattes; denn ich eilte zu ſehr
Jhnen Nachrichten zu geben, und gerne
ſchluͤpfte ich uͤber das Gute darinn hin-
weg, weil mich duͤnkte, daß das Vergnuͤ-
gen mich loben zu hoͤren die Summe mei-
ner innerlichen Zufriedenheit vermindert.
Moͤchte ich doch bald Nachrichten von
Lady Summers haben, und zu ihr reiſen
koͤnnen, um mich bald, bald in die Arme
meiner Emilia zu werfen. Mein Enthu-
ſiasmus fuͤr England iſt erloſchen; es iſt
nicht, wie ich geglaubt habe, das Vater-
land meiner Seele. ‒ ‒ Jch will auf
meine Guͤter, einſam will ich da leben
und Gutes thun. Mein Geiſt, meine
Empfindungen fuͤr die geſellſchaftliche
Welt ſind erſchoͤpft; ich kann ihr auch zu
nichts mehr gut ſeyn, als einigen Un-
gluͤckli-
[272] gluͤcklichen eine kleine Lehrſchule von Er-
tragung widriger Schickſale zu halten.
Jn Wahrheit, es iſt bey der neu erhei-
terten Ausſicht in meine kuͤnftigen
Tage einer der erſten Wuͤnſche meiner
Seele geweſen, daß bey jedem Anbau
eines jungen Herzens diejenigen Samen-
koͤrner meiner Erziehung eingeſtreuet wuͤr-
den, deren erquickende Fruͤchte in der
Zeit meiner haͤrteſten Leiden reif wurden,
die mein anfaͤngliches Murren beſaͤnftig-
ten, und mir die Staͤrke gaben, alle
Tugenden des Ungluͤcklichen auszuuͤben.
Mein erneuertes Gefuͤhl der Schoͤnheiten
unſrer phyſikaliſchen Welt kann ich ihnen
unmoͤglich in ſeiner Staͤrke beſchreiben;
es war groß, mannichfaltig, wie die
ſchoͤne Ausſicht dieſes Edelſitzes, wo man
uͤber einen jaͤhen Abſturz an dem Fluſſe
Tweda die fruchtbarſten Huͤgel von ganz
Schottland uͤberſieht, die von Scha-
fen wimmeln. Die Sehkraft meiner Au-
gen duͤnkt mich vervielfaͤltigt, wird ver-
feinert, ſo wie ſie mich in den Bleyge-
buͤrgen vermindert und ſtumpf gemacht
duͤnkte.
[273] duͤnkte. Koͤnnen nicht, meine Emilia,
alle Kraͤfte meiner Seele wieder ſo aufle-
ben wie das Gefuͤhl fuͤr die wohlthaͤtigen
Wunder der Schoͤpfung, und das von
der frohen Hoffnung, die Freundinn mei-
nes Herzens bald wieder zu umarmen? —
Lord Rich, von Tweedale,
an
Doctor T.
Wenn es billig iſt, daß der Staͤrkere
nicht nur ſeine eigene volle Laſt, ſondern
auch die Buͤrde des Schwaͤchern trage, ſo
erfuͤlle ich meine Pflicht, indem ich nicht
nur unter dem gehaͤuften Maaß meiner
Empfindungen ſeufze, ſondern auch das
uͤberſtroͤmende Gefuͤhl von meinem Bru-
der zuſammen faſſen muß. Meine Briefe
an Sie ſind die Stuͤtze, die meine Seele
erleichtert. Seymour ſitzt wirklich zu
den Fuͤßen des Gegenſtandes meiner
Wuͤnſche; ich entfernte mich; ihre Augen
ſagten mir zwar, daß ſie mich gerne blei-
ben ſaͤhe; aber mein Bruder hielt ihre
IITheil. SHand,
[274] Hand, ſein Herz fuͤhlte den ſanften
Druck, den die ihrige ihm vielleicht ohne
ihr Wiſſen gab; das einige fuͤhlte ich
auch, und dieſes Gefuͤhl hieß mich gehen.
Zwey Tage ſinds, daß wir hier ange-
kommen. Sechs Pferde machten Auf-
ſehen im Schloßhofe, und die Bedienten
liefen zuſammen; mein Bruder warf ſich
vom Pferde und rief: iſt die Graͤfinn
Douglaß mit der Lady aus den Bleyge-
buͤrgen hier? — Auf die Antwort Ja
zog er mich am Arm mit einem eifrigen
kommen Sie, Bruder, kommen Sie.
Wen muß ich melden? — rief ein Die-
ner; Lord Rich, Lord Seymour rief
mein Bruder haſtig, und eilte dem Kerl
nach, der kaum klopfen konnte, als wir
ſchon in der Thuͤre waren. Die Graͤfinn
Douglaß ſaß der Thuͤre gegen uͤber;
Lady Sternheim aber mit dem Ruͤcken
gegen uns, und las der Dame etwas
vor. Seymours Eindringen, und das
eilende Rufen des Bedienten, wer wir
waͤren, machte die Graͤfinn ſtutzen und
meine engliſche Freundinn den Kopf wen-
den. Sie fuhr mit Schrecken zuſam-
men
[275] men — O Gott, rief ſie, und ließ
das Buch auf die Erde fallen, als Sey-
mour ſich zu ihren Fuͤßen warf; O die
ehrlichen Leute — ſie lebt — O
mein goͤttliches, mein angebetetes
Fraͤulein Sternheim! rief er mit aus-
geſtreckten Armen. Sie ſah halb außer
ſich ihn und mich an, wendete aber den
Augenblick den Kopf weg, und ließ ihn
auf ihren zitternden Arm ſinken — Die
Graͤfinn Douglaß ſah mit Staunen hin
und her, ich mußte reden — aber mein
erſtes war auf die Sternheim zu zeigen.
Theure Graͤfinn unterſtuͤtzen Sie den En-
gel den Sie bey ſich haben! Jch bin Lord
Rich, hier iſt Lord Seymour — Die
Graͤfinn hatte ſich eilends meiner Freun-
dinn genaͤhert, die ihre beyden Armen
um ſie ſchlug und ihr Geſicht einige Mi-
nuten an der Graͤfinn Buſen verbarg.
Seymour konnte dieſes Abwenden ihres
Geſichts nicht ertragen, und rief in vol-
lem Schmerzen aus — O mein Oncle,
warum mußte ich meine Liebe verbergen!
Alle Quaal, alle Zaͤrtlichkeit meines Her-
zens kann mich nun nicht vor dem Wi-
S 2derwil-
[276] derwillen ſchuͤtzen, den mir meine Nachlaͤſ-
ſigkeit zuzog! — o Sternheim, Stern-
heim! was ſoll aus mir werden, wenn
ich in dem Augenblicke der Freude, ſie
wieder gefunden zu haben, Jhren Un-
muth auf mir liegen ſehe? Goͤnnen Sie
mir, o, goͤnnen Sie mir nur Einen guͤti-
gen Blick. — Mit dem Anblick eines
Engels und der ganzen Wuͤrde der ſich
fuͤhlenden Tugend, richtete Lady Stern-
heim ſich auf, reichte erroͤthend meinem
Bruder die Hand, und mit gedaͤmpfter
Stimme ſagte Sie: ſtehen Sie auf,
Lord Seymour, ich verſichere Sie, daß
ich nicht den geringſten Unmuth uͤber
Sie habe; und, ſeufzend ſetzte ſie hinzu,
wo waͤre mein Recht dazu geweſen? —
Feurig zaͤrtlich kuͤßte er ihre Hand; meine
Augen ſanken zur Erde; aber ſie naͤherte
ſich mir mit freundſchaftlichen Blicken,
nahm meine Hand: — Theurer Lord!
was fuͤr Freundſchaft! wie haben Sie
mich finden koͤnnen? Hat Lady Summers
es Jhnen geſagt? — was macht ſie,
meine liebreiche Mutter? — Jch kuͤßte
die Hand auch, die ſie mir gegeben hatte;
Lady
[277] Lady Summers iſt wohl, antwortete ich,
und wird gluͤcklich ſeyn, Sie wieder zu
ſehen; aber die Lady Summers hat
mich hergeleitet; Reue und Gerechtigkeit
riefen meinen Bruder und mich auf. —
Mit einer erhoͤheten Geſichtsfarbe fragte
ſie mich; iſt Lord Seymour Jhr Bru-
der? — Ja, und dieß von der edelſten
Mutter die jemals lebte. Sie antwor-
tete mir nur mit einem bedeutenden Laͤ-
cheln, und wandte ſich zur Graͤfinn Doug-
laß. Meine großmuͤthige Erretterinn,
ſprach ſie, ſehen hier zween unverwerfli-
che Zeugen der Wahrheit deſſen, was ich
Jhnen von meiner Geburt und meinem
Leben ſagte; ich danke Gott, daß er mich
den Augenblick erleben laſſen, wo Jhr
Herz die Zufriedenheit fuͤhlen kann, daß
Jhre Guͤte fuͤr mich nicht verloren iſt.
Nein, fiel Seymour ein, niemals lebte
eine Seele, welche der Verehrung der
ganzen Erde wuͤrdiger waͤre, als die Da-
me, welche die Graͤfinn errettet haben;
ſo lang ich athmen werde, ſollen Sie,
edelmuͤthige Graͤfinn Douglaß, den ewi-
gen Dank dieſes Herzens haben. — Mit
S 3thraͤ-
[278] thraͤnenden Augen druͤckte er zugleich die
Hand der Graͤfinn an ſeine Bruſt. Jch
hatte mich indeſſen gefaßt, um etwas von
unſerem Ueberfall zu erklaͤren. Einige
Minuten waren wir alle ſtille. Jch nahm
die Hand der Lady Sternheim; Koͤnnen
Sie, fragte ich, ohne Schaden Jhrer
Ruhe und Geſundheit von Jhrem Ver-
folger reden hoͤren? Er iſt am Ende ſeines
Lebens, und die groͤßte Sorge ſeiner
Seele windet ſich unauf hoͤrlich, um das
Andenken Jhrer Tugend und ſeiner Unge-
rechtigkeit gegen Sie; Sein Kummer
uͤber Jhren vermeynten Tod iſt unaus-
ſprechlich; er hat mich und Lord Sey-
mour zu ſich gebeten, und uns ſchwoͤren
laſſen, in die Bleygebuͤrge zu reiſen, um
Jhre Leiche da aufzuheben, und mit allen
Zeugniſſen Jhrer Tugend und ſeiner Reue
in Dumfries beyzuſetzen. — Jch will
nicht ſagen, wie traurig dieſes Amt uns
war. Nachdem wir ſo lange Zeit ver-
gebens nach Jhnen geſucht hatten, ſoll-
ten wir Sie todt wieder ſehen! — Mein
armer Bruder und — (ich konnte mich
nicht verhindern dazu zu ſetzen) Jhr armer
Freund
[279] Freund Rich! — Eine Thraͤne zitterte
in ihren Augen, indem ſie ſagte: „Lord
Derby iſt grauſam, ſehr grauſam mit mir
nmgegangen. Gott vergebe es ihm; ich
will es von Herzen gerne thun — aber —
ſehen kann ich ihn niemals wieder, ſein
Anblick wuͤrde mir toͤdtlich ſeyn. — Jhr
Kopf ſank mit ihrer ſinkenden Stimme bey
den letzten Worten auf ihre Bruſt. Mein
Seymour fuͤhlte die ruͤhrende Verlegen-
heit dieſer reinen Seele, und gieng mit
ſich kaͤmpfend ins Fenſter — Lady
Sternheim ſtund auf und verließ uns;
Seymour und ich ſahen ihr bewundernd
nach. Nur in ſchottiſche Leinwand ge-
kleidet, war ſie reizend ſchoͤn durch
ihren nach dem vollkommenſten Eben-
maaß gebildeten Wuchs, und den ſchoͤn-
ſten Anſtand in Gang und Bewegung;
und ob ſie ſchon hager und blaß gewor-
den, ſo war dennoch ihre ganze Seele
mit aller ihrer Schoͤnheit und Wuͤrde in
ihren Zuͤgen ausgedruͤckt. Seymour und
ich ſagten der Graͤfinn Douglaß alles, was
die Lady Sternheim angieng, und ſie er-
zaͤhlte uns hingegen was ſie von ihr wußte,
S 4ſeitdem
[280] ſeitdem ſie die Tochter des Bleyminen-
knechts zu ſich genommen, und wie ſie
gleich gedacht haͤtte, dieſe Perſon muͤſſe
eine edle Erziehung haben, und in einer
ungluͤcklichen Stunde von ihrer Beſtim-
mung entfernt worden ſeyn; zaͤrtliches
Mitleiden habe ſie eingenommen, beſon-
ders da ſie ihre Sorge fuͤr das Kind geſe-
hen habe, und ſie waͤre gleich entſchloſſen
geweſen, ſie zu ſich zu nehmen, wenn ſie
mit ihrem Bruder zuruͤck gienge; die
Krankheit der Dame haͤtte es aber fruͤher
erfodert. Sie freute ſich ihrem Herzen
gefolgt zu haben. Sie gieng hierauf nach
ihrem Gaſt zu ſehen, und wir blieben
allein. Gedankenvoll blieb ich ſitzen.
Seymour kam, und fiel mir mit Weinen
um den Hals; Rich! — lieber Bruder,
ich bin mitten im Gluͤck elend, und wer-
de es bleiben. — Jch ſehe deine Liebe
und deine Verdienſte um ſie. — Jch
fuͤhle, daß ſie misvergnuͤgt mit mir
iſt; — ſie hat Recht, tauſend Recht es
zu ſeyn — Sie hat Recht dir mehr Ver-
trauen, mehr Freundſchaft zu zeigen; aber
ich fuͤhle es mit einem toͤdtenden Kum-
mer.
[281] mer. Meine Geſundheit leidet ſchon lang
auf allerley Weiſe unter dieſer Liebe —
Jch habe ſie nun geſehen; ich werde um
ihrentwillen ſterben, und dieß iſt mir ge-
nug. Jch druͤckte ihn mit einer ſonder-
baren Bewegung an meine Bruſt, und
ich glaube ihm etwas kalt und rauh ge-
ſagt zu haben; Ja, Seymour, du biſt
im Gluͤck ungluͤcklich, aber andre ſinds
ganz; — Warum muͤſſen deine Neben-
buhler allezeit mehr Licht ſehen als du? —
Derby hat Recht; ſie zieht dich vor. Jhr
Zuruͤckhalten beweiſt mir alles was er
ſagte. Sey ihrer wuͤrdig, und beneide
mir ihre Achtung, ihr Vertrauen nicht! —
„O Rich — o mein Bruder, iſt dieſes,
kann dieſes wahr ſeyn? betruͤgt dich deine
Leidenſchaft nicht, wie mich die meini-
ge? — O Gott! — ich muß ſie erhal-
ten oder ſterben — wer wird fuͤr mich
reden: wer? Jch kann nichts ſagen, —
und du? Jch will es thun, erwiederte ich,
aber heute noch nicht; wir muͤſſen ihre
Empfindlichkeit und geſchwaͤchte Geſund-
heit ſchonen. Zu meinen Fuͤßen war er,
er umfaßte ſie; Beſter, edelſter Bruder,
S 5rief
[282] rief er, fodre mein Leben, alles, ich kann
nicht genug fuͤr dich thun! du willt —
du! willt fuͤr mich reden? Gott ſegne dich
ewig, mein treuſter, mein guͤtigſter
Freund!“ — Jch will nichts, liebſter
Seymour, als ſey gluͤcklich, ſey deines
Gluͤcks wuͤrdig! du kennſt den ganzen
Umfang davon nicht ſo wie ich; aber ich
goͤnne, ich wuͤnſche dir es, ſo groß es iſt.
Die Damen kamen zuruͤck; wir redeten
von Tweedale, und unſere Freundinn er-
zaͤhlte, wie geruͤhrt ſie geweſen, Gottes
ſchoͤne Erde wieder zu ſehen. Dann
ſprach ſie von ihrer Entfuͤhrung und ihren
erſten Tagen im Gebuͤrge — Abends
gab ſie mir ihre Papiere; ich las ſie mit
Seymourn durch. O Freund, was fuͤr
eine Seele mahlt ſich darinn! Wie uner-
meßlich waͤre meine Gluͤckſeligkeit gewe-
ſen! — Aber ich erſticke meine Wuͤnſche
auf ewig. Mein Bruder ſoll leben! —
Seine Seele kann den Verluſt ihrer Hoff-
nungen nicht noch einmal ertragen; mei-
ne Jahre und Erfahrung werden mir
durchhelfen. Seymour muß das Maaß
der Zufriedenheit voll haben, ſonſt genießt
er
[283] er nichts, mir reicht ein Theil davon zu,
deſſen Werth ich kenne. Schicken Sie
uns Seymours Briefe an Sie gleich; ſie
muͤſſen geleſen werden, und fuͤr ihn reden.
von Sternheim an Emilia.
Was wird die Vorſicht noch aus mir
machen? Jn widrigen Begegniſſen, in
den empfindlichſten Erſchuͤtterungen aller
Kraͤfte der Seele und des Lebens erhaͤlt
ſie mich. Gewiß nicht zum Ungluͤck,
aber zu jeder moͤglichen Pruͤfung. Allein,
o meine Liebe, ganz allein, von Niemand
als zuredenden Freunden umgeben, ſtund
ich an meinem Scheideweg. Lord Derby
iſt todt — dieſe beyliegenden Blaͤtter
meines Tagebuchs von Tweedale ſagen
Jhnen Seymours und Richs Ankunft,
und den Erſatz, welchen Derby mir ma-
chen wollte. Gott laſſe ſeine ewigen Ta-
ge gluͤcklicher ſeyn, als er die meinigen
machte, die ihm hier in ſeine Gewalt ge-
geben waren! Lord Seymour verfolgt
mein Herz; er liebte mich, o meine Emi-
lia, er liebte mich zaͤrtlich, rein, von
dem
[284] dem erſten Tage da er mich ſah. Der
Stolz ſeines Oheims, ſeine Abhaͤnglichkeit
von ihm, und eine uͤbertriebne feine Em-
pfindung von Tugend und Ehre wollte, daß
er ſchwieg, bis ich die Verſuchungen des
Fuͤrſten uͤberwunden haͤtte. Sie wiſſen,
was dieſes Schweigen mir zuzog; aber
Sie wiſſen nicht, was Lord Seymour
darunter gelitten hatte. Hier, leſen Sie
ſeine Briefe, mit denen vom Lord Derby,
und ſenden Sie ſie mir mit allen den meinen
an Sie zuruͤck. Sie werden bey Derbys
Briefen uͤber den Misbrauch von Witz,
Tugend und Liebe ſchaudern. Haͤtte ich
nicht ſelbſt boͤſe ſeyn muͤſſen, wenn ich
ſeine Raͤnke haͤtte argwoͤhnen ſollen? Was
iſt Seymours Herz dagegen? Jhren Rath
haͤtte ich gewuͤnſcht, durch einen gemein-
ſamen Geiſt erhalten zu koͤnnen. Die
Graͤfinn Douglaß iſt eingenommen; Lord
Rich, der edle, unſchaͤtzbare Lord Rich,
bittet mich ſeine Schweſter zu werden;
Der liebenswuͤrdige Seymour iſt taͤglich
zu meinen Fuͤſſen! alle Einwendungen
meiner Dilicateſſe werden beſtritten; und
o Freundinn meines Herzens, du, die
du
[285] du alle ſeine Bewegungen von Jugend auf
kannteſt, dir kann ich, dir will ich es
nicht verbergen, daß eine innerliche Stim-
me mich meine Vermaͤhlung mit Lord
Seymour als ein von dem Schickſal gege-
benes Mittel ergreifen heißt, um meiner
unſtaͤtten Wanderſchaft ein Ende zu ma-
chen. Und war er nicht der Mann, den
mein Herz ſich wuͤnſchte? Er weis es, ſoll
ich nun zuruͤcke? Lord Rich, fuͤrchte ich,
wuͤrde an ſeinen Platz eintreten wollen.
Seymour zeigte mir viele Tage die heftig-
ſte zaͤrtlichſte Liebe. Lord Rich hatte lange
Unterredungen mit ihm, war aber kalt,
ruhig, ſah oft tiefdenkend lange mich an,
und brachte mich dadurch zu dem Ent-
ſchluß unverheurathet zu bleiben. Aber
zwey Tage nach Seymours Briefe brachte
er mir ein Tagebuch und die noch dabey
gelegenen letzten Briefe aus Summerhall
in mein Zimmer; und mit einer ruͤhren-
den vielbedeutenden Mine trat er zu mir,
kuͤßte die Blaͤtter meines Tagebuchs,
druͤckte ſie an ſeine Bruſt, und bat mich
um Vergebung, eine Abſchrift davon ge-
nommen zu haben, welche er aber mit der
Urſchrift
[286] Urſchrift in meine Gewalt gebe. Aber er-
lauben Sie mir, fuhr er fort, Sie um die-
ſes Urbild Jhrer Empfindungen zu bitten;
laſſen Sie, meine engliſche Freundinn, mich
dieſe Zuͤge Jhrer Seele beſitzen, und erhoͤ-
ren Sie meinen Bruder Seymour. Das
Paquet ſeiner Briefe wird Jhnen die uner-
fahrne Redlichkeit ſeines Herzens bewie-
ſen haben. Sie werden ihn durch An-
nehmung ſeiner Hand zu dem gluͤcklich-
ſten und rechtſchaffenſten Mann machen.
Nach einigem Stillſchweigen legte er ſeine
Hand auf die Bruſt, ſah mich zaͤrtlich und
ehrerbietig an, und fuhr mit geruͤhrtem
Ton fort: Sie kennen die unbegrenzte
Verehrung, die ewig in dieſem Herzen fuͤr
Sie leben wird; Sie kennen die Wuͤnſche
die ich machte, die nicht aufgehoͤrt haben,
aber unterdruͤckt ſind. Jch wuͤrde gewiß
meine ſeligſten Tage, dafern es nur Hoff-
nungstage waͤren, nicht aufopfern, wenn
ich nicht mitten unter der Anbetung, unter
dem Verlangen meiner Seele, ſagen muͤßte,
und ſagen koͤnnte: Seymour ſey Jhrer
wuͤrdig, er verdiene Jhre Achtung und
Jhr Mitleiden. — Er ſah mich hier ſehr
auf-
[287] aufmerkſam an, und hielt inne. Mit ei-
nem halb erſtickten Seufzer ſagte ich: O
Lord Rich! — und er fuhr mit einem
maͤnnlich freundlichen Tone fort: Sie ha-
ben die Gewalt, einen edlen jungen Mann
in der Marter einer verworfenen Liebe
vergehen zu machen; wenden Sie, beſte
weibliche Seele, dieſe Gewalt zu dem Gluͤck
einer ganzen Familie an! Sie koͤnnen mei-
ner Mutter, einer wuͤrdigen Frau, den
Kummer abnehmen, Jhre Soͤhne unver-
heurathet zu ſehen. Jhre ſchweſterliche
Liebe wird mich gluͤcklich machen, und ſie
werden alle Jhre Tugenden in einem gro-
ßen wirkſamen Kreis geſetzt ſehen! —
Theurer Lord Rich, antwortete ich geruͤhrt,
wie nahe dringen Sie in mich! Sehen
Sie meine Bedenklichkeiten nicht? — Jch
verbarg mein Geſicht mit meinen Haͤnden;
er ſchloß mich in ſeine Arme und kuͤßte
meine Stirne. „Beſte, geliebteſte Seele,
„ja ich kenne ihre feinen Bedenklichkeiten;
„Sie verdienen die vermehrte Anbetung
„meines Bruders; aber Sie ſollen den
„Bau ſeiner Hoffnung nicht zerſtoͤren.
„Laſſen Sie mich, ich bitte Sie, ihm die
„Erlaub-
[288] „Erlaubniß bringen zu hoffen.“ Mit
thraͤnenden Augen ſah der wuͤrdige Mann
mich an; eine Zaͤhre der meinigen fiel
ihm auf ſeine Hand; er betrachtete ſie mit
inniger Ruͤhrnng; als aber das anfan-
gende Zittern ſeiner Haͤnde ſich bewegte, ſo
kuͤßte er ſie hinweg, und ſeine Blicke blie-
ben einige Minnten auf die Erde geheftet.
Jch nahm das Original meiner Briefe und
des Tagebuchs, und reichte es ihm mit
der Anrede: Nehmen ſie dieſes, wuͤrdig-
ſter Mann, was Sie das Urbild meiner
Seele nennen zum Unterpfand der zaͤrtli-
chen und reinen Freundſchaft! — Meine
Schweſter, fiel er mir ins Wort. — Keine
Liſt, Lord Rich! Jch will ohne Kunſt wer-
den, was Sie ſo ſehnlich wuͤnſchen, daß
ich ſeyn moͤge. — Er ließ ſich auf ein
Knie nieder, ſegnete mich, kuͤßte meine
Haͤnde mit eifriger Zaͤrtlichkeit und eilte
weg. Sagen Sie noch nichts, rief ich
ihm nach, ich bitte Sie. Da war ich
und weinte, und entſchloß mich Lady
Seymour zu werden; ich bekraͤftigte die-
ſen Entſchluß am Ende eines Gebets an
die goͤttliche Vorſicht.
Nach-
[289]
Nachſchrift. Nun weis es Lord
Seymour. Seine Entzuͤckungen gehen
uͤber die Kraͤfte meiner Feder. Meine
Graͤfinn Douglaß umarmte mich muͤtter-
lich, Lord Rich als ein zaͤrtlicher Bruder.
Der gute Lord Seymour bewacht mich,
als ob er beſorgte es moͤchte Jemand mei-
ne Entſchließung aͤndern. Sein Kam-
merdiener iſt an ſeine Frau Mutter ge-
ſchickt, welche an Tugend und Geiſt eine
zweyte Lady Summers ſeyn muß. O ſeg-
nen Sie mich, meine Freunde! Mein Herz
ſchlaͤgt ruhig. Wie ſelig macht eine Ent-
ſchließung, die von Tugend, Weisheit und
Rechtſchaffenheit gebilliget wird! Nun
freue ich mich auf die Reiſe zu dem Grabe
meiner Aeltern. Zu den Fuͤſſen ihres Lei-
chenſteins will ich mit meinem Gemahl
knien, und ihren himmliſchen Segen auf
dieſe Verbindung erflehen. Thraͤnen des
Danks will ich auf ihre Aſche vergießen,
fuͤr die Liebe der Tugend und der Wohl-
thaͤtigkeit, die ſie in meine Seele goſſen,
und fuͤr die Sorge, die ſie nahmen, mir
richtige Bogriffe von wahrem Gluͤck und
IITheil. TUngluͤck
[290] Ungluͤck zu geben! — Meine Emilia werd’
ich umarmen, meine Unterthanen ſehen!
O gluͤckliche, ſelige Ausſichten! Mein lie-
ber Lord Seymour ſucht ſeinem Bruder
nachzufolgen; in allem fragt er Jhn —
und mit wie vieler zaͤrtlicher Erkenntlichkeit
ſehe ich Lord Richs Bemuͤhung um meine
Gluͤckſeligkeit, indem er alles verſucht,
den ungleichen und oft reiſſenden Lauf von
Seymours Charakter ins gleiche und ſanfte
zu aͤndern. Er iſt, ſagt er, ein ſchoͤner
aber ſtark rauſchender Bach, der im Grund
eine Menge reiner Goldkoͤrner fuͤhrt.
Lord Rich an Doctor T.
Jch komme vom Altar, wo mein Bruder
eine ewige Verbindung, und ich eine ewige
Freyheit meiner Hand geſchworen. Jch
gab ihm jene Hand, die mein Herz ſich
lange wuͤnſchte, und von deren Mitwer-
bung ich abſtund, weil ich mehr Staͤrke
in mir fuͤhlte einen Verluſt zu ertragen
ais er hat. Es war die Seele, die Ge-
ſinnungen der Lady Seymour, die ich
liebte.
[291] liebte. Jhre Papiere, die ſie in der vollen
Aufrichtigkeit ihres Herzens ſchrieb, be-
weiſen mir, daß ſie das Beſte mir ſchenkte,
ſo in ihrer Gewalt war; wahre Hochach-
tung fuͤr meinen Character, wahres Ver-
trauen, zaͤrtliche Wuͤnſche fuͤr mein Gluͤck.
Der unaufloͤslich raͤzelhafte Eigenſinn ei-
nes einmal gefaßten Vorzugs hatte ſchon
lange und unwillkuͤhrlich die Neigung ih-
res Herzens gefeſſelt. — Jch kenne den
hohen Werth ihrer Seele; ihre Freund-
ſchaft iſt zaͤrtlicher als die Umarmungen der
Liebe einer andern Perſon. Die Herbſt-
jahre des Lebens, in denen ich mich befinde,
laſſen mich alle reine Suͤßigkeit der Freund-
ſchaft mit Ruhe genießen. Jch werde bey
dieſen Gluͤcklichen leben; der zweyte Sohn
ſoll Lord Rich, ſoll der Sohn meines Her-
zens, ſeyn! Alle Tage werde ich mit Lady
Seymour ſprechen, und die Schoͤnheit ih-
res Geiſtes iſt mein Eigenthum; ich trage
zu ihrer Gluͤckſeligkeit bey. Meine Mut-
ter ſegnet mich uͤber den Entſchluß von ih-
rem geliebten Seymour, und mein Gluͤck
haftet an dem von den wuͤdigſten und lieb-
T 2ſten
[292] ſten Perſonen die ich kenne. — Bald, mein
Freund, ſehe ich ſie und ſpreche ſie.
Lady Seymour aus Seymourhouſe
an Emilia.
Die erſte freye Stunde meiner Bewoh-
nung eines Familienhauſes gebuͤhrte dem
Dank an die Vorſicht, die allen meinen
Kummer und die fuͤrchterlichen Jrrwege
meines Geſchicks in dem Umfang vollkom-
mener Gluͤckſeligkeit endigte; Aber die
zweyte Stunde gehoͤret der treuen Freun-
dinn, die alles Leiden mit mir theilte, die
mir es durch ihren Troſt und ihre Liebe
erleichterte, und deren Beyſpiel und Rath
ich die Staͤrke meiner Anhaͤnglichkeit an
Tugend und Klugheit zu danken habe.
Emilia, ich bin gluͤcklich; ich bin es voll-
kommen, denn ich kann die ſeligſten, die
heiligſten Pflichten alle Tage meines Le-
bens erfuͤllen. Meine tugendhafte Zaͤrt-
lichkeit macht das Gluͤck meines Gemahls;
meine kindliche Verehrung und Liebe wird
von
[293] von ſeiner wuͤrdigen Mutter als die Be-
lohnung ihrer geuͤbten Tugenden ange-
ſehen. Meine ſchweſterliche Freundſchaft
gießt Zufriedenheit in das große aber ſehr
empfindliche Herz meines geliebten Lords
Rich. Lord Seymour hat weitlaͤuftige
Guͤther; er iſt reich, und hat mir eine
unumſchraͤnkte Gewalt zum Wohlthun
gegeben. O mein Kind, es war gut,
daß alle meine Empfindungen durch wi-
drige Begebenheiten aufgeweckt und ge-
pruͤft wurden; ich bin um ſo viel faͤhiger
geworden, jeden Tropfen meines Maaßes
von Gluͤckſeligkeit zu ſchmecken. Sie
wiſſen, daß ich Gott dankte, daß er in
meinem Elende mir den Gebrauch meiner
Talente zu Verminderung deſſelben gelaſ-
ſen hatte, und meinem Herzen die Freude
nicht entzog, wohlthaͤtig zu ſeyn. Jch
fuͤhle nun mit aller Staͤrke die verdoppel-
ten Pflichten des Gluͤcklichen; Nun muß
meine Gelaſſenheit, Demuth, und meine
Unterwerfung zur Dankbegierde werden.
Meine Kenntniſſe, die die Stuͤtze meiner
leidenden Eigenliebe und die Huͤlfsmittel
T 3waren,
[294] waren, durch welche ich hier und da einzel-
ne Theile von Vergnuͤgen erreichte, ſollen
dem Dienſt der Menſchenliebe geweyhet
ſeyn, ſie zum Gluͤck derer, die um mich leben
und zu Ausſpaͤhung jedes kleinen, jedes
verborgenen Jammers meiner Nebenmen-
ſchen zu verwenden, um bald große, bald
kleine liebreiche Huͤlfe ausfindig zu machen.
Kenntniſſe des Geiſtes, Guͤte des Her-
zens — die Erfahrung hat mir bis an
dem Rande meines Grabes bewieſen, daß
ihr allein unſere wahre irrdiſche Gluͤckſe-
lichkeit ausmachet! An euch ſtuͤtzte meine
Seele ſich, als der Kummer ſie der Ver-
zweiflung zufuͤhren wollte; Jhr ſollt die
Pfeiler meines Gluͤcks werden; auf euch
will ich in der Ruhe des Wohlſeyns mich
lehnen, und die ewige Guͤte bitten, mich
faͤhig zu machen, an der Seite meines
edelmuͤthigen menſchenfreundlichen Ge-
mahls ein Beyſpiel wohlverwendeter Ge-
walt und Reichthuͤmer zu werden! —
Sie ſehen, meine Freundinn, daß alle
meine Bedenklichkeiten meinen Empfin-
dungen weichen mußten. Jch ſah das
Ver-
[295] Vergnuͤgen ſo vieler rechtſchaffenen Her-
zen an das Gluͤck des meinigen gebunden,
daß ich meine Hand gerne zum Unterpfand
meiner Liebe fuͤr ihre Zufriedenheit gab.
Mylord will ein Schulhaus und ein Ho-
ſpital nach der Einrichtung der ſternheimi-
ſchen erbauen laſſen; er betreibt den Plan,
weil er den Bau waͤhrend unſrer deutſchen
Reiſe fuͤhren laſſen will. Kuͤnftige Wo-
che gehen wir nach Summerhall; dort
wollen wir die Briefe meines Oncles von
R — erwarten, und dann (ſagen Sey-
mour und Rich) wollen ſie jede heilige
Staͤtte beſuchen, wo mich mein Kummer
herum gefuͤhrt habe. Sie werden alſo,
meine Emilia, ſehen, und uͤberzeugt werden,
daß die erſte und ſtaͤrkſte Neigung meines
Herzens der wuͤrdigſten Perſon meines
Geſchlechts gewidmet war. Morgen kom-
men Mylord Crafton und Sir Thomas
Watſon, meiner Großmutter Bruders
Sohn, zu uns; ich werde aber meine uͤbri-
gen Verwandten, London und den großen
Kreis meiner Nachbarn erſt nach unſerer
Zuruͤckkunft aus Deutſchland ſehen.
T 4Mylord
[296]
Mylord Rich an Doctor T.
Jch bin wieder in Seymourhouſe, weil
mir ohne die Familie meines Bruders die
ganze Erde leer iſt. Mit tauſendfachen
geiſtigen Banden hat mich die Lady Sey-
mour gefeſſelt, und die Herbſttage meines
Lebens wurden ſo gluͤhend, daß unſere
Reiſe mich beynahe mein Leben koſtete.
Jch ſah ſie in Summerhall; zu Vaels bey
ihrer Emilia; in ihrem Geſindhauſe; in
D * bey Hofe; in Sternheim bey ihren
Unterthanen; bey dem Grabe ihrer Ael-
tern! — die anbetungswuͤrdige Frau!
Jn allen Gelegenheiten, in allen Stel-
len, wohin der Lauf des Lebens ſie fuͤhrt,
zeigt ſie ſich als das aͤchte Urbild des wah-
ren weiblichen Genies, und der uͤbenden
Tugenden ihres Geſchlechts. — Auf unſe-
rer Ruͤckreiſe wurde ſie Mutter; — und
was fuͤr eine Mutter! O Doctor! ich
haͤtte mehr, viel mehr als Menſch ſeyn
muͤſſen; wenn der Wunſch, ſie zu meiner
Gattinn, zu der Mutter meiner Kinder
zu haben, nicht tauſendmal in meinem Her-
zen
[272[297]] zen entſtanden waͤre! Mit wie vielem
Recht beſitzt die Tugend der großmuͤthi-
gen Aufopferung unſers Gluͤcks die erſte
Stelle des Ruhms! Wie theuer koſtet ſie
auch ein edelgewoͤhntes Herz! — Wun-
dern Sie ſich ja nicht, wenn ſie ſelten
iſt. — Doch eine Probe wie diejenige
die ich machte, hat nicht leicht Statt.
Mit Vergnuͤgen hab’ ich das Gluͤck mei-
nes Bruders dem meinigen vorgezogen.
Die Handlung reuet mich nicht, ich litt
nicht nur niedertraͤchtigen Neid, ſondern
allein durch das gezwungene Stillſchwei-
gen meiner Empfindungen, die ich keinem
Unheiligen anvertrauen will, um die fal-
ſchen Beurtheilungen meiner ehrerbietigen
Leidenſchaft zu vermeiden, und die reine
Freundſchaft meiner edlen Schweſter in
kein zweydeutiges Licht zu bringen. Jch
fiel in eine duͤſtre Melancholie, und ent-
zog mich Seymours Hauſe auf einige Mo-
nate. Die Stille meines Landguths, wo
ich ehemals von meiner großen Reiſe aus-
ruhete, gab mir dießmal kein ganzes
Maaß von Frieden; ich wollte mich uͤber-
T 5winden;
[298] winden; aber ich bin an den ſuͤßen Um-
gang der fuͤhlbarſten Seele gewoͤhnt; ihre
ſchoͤnen Briefe ſind nicht ſie ſelbſt. Mein
Lord Rich wurde geboren, und ich flog
nach Seymourhouſe; eine ſelige Stunde
war es, in welcher Lady Seymour mir
dieſes Kind auf die Arme gab, und mir
allem Reiz ihren ſeelenvollen Phiſionomie
und Stimme ſagte: Hier haben Sie ihren
jungen Rich; Gott gebe ihm mit Jhrem
Namen Jhren Geiſt, und ihr Herz! —
Ein entzuͤckender Schmerz durchdrang
meine Seele. Er ruht in mir; Niemand
ſoll jemals eine Beſchreibung von ihm
haben. Der kleine Rich hat die Zuͤge
ſeiner Mutter; dieſe Aehnlichkeit ſchließt
ein großes Gluͤck fuͤr mich in ſich; —
Wenn ich das Leben behalte, ſoll dieſer
Knabe keinen andern Hofmeiſter, keinen
andern Begleiter auf ſeinen Reiſen haben,
als mich. — Alle Ausgaben fuͤr ihn,
ſind meine; ſeine Leute ſind doppelt be-
lohnt; ich ſchlafe neben ſeinem Zimmer;
ja ich baue ein Haus am Ende des Gar-
tens, in das ich mit ihm ziehen werde,
wenn
[299] wenn er volle zwey Jahre alt ſeyn wird.
Jndeſſen bilde ich mir die Leute, die um
ihn ſeyn werden. Dieſes Kind iſt die
Stuͤtze meiner Vernunft und meiner Ruhe
geworden. Wie werth macht ihn mir
jede Umarmung, jede zaͤrtliche Sorge, die
er von ſeiner Mutter erhaͤlt — und wie
gluͤcklich waͤchſt er und ſein Bruder auf!
Jede Handlung ihrer Aeltern ſind Bey-
ſpiele von Guͤte und Edelmuͤthigkeit.
Segen und Freude bluͤhen in jedem Ge-
fielde der Gebiete meines Bruders;
Dankſagungen und Wuͤnſche begleiten
jeden Schritt, den er mit ſeiner Gattinn
macht. Mit einer Hand ſtuͤtzen ſie das
leidende Verdienſt und helfen andrer
Elende ab; mit der andern ſtreuen ſie
Verzierungen in der ganzen Herrſchaft
aus, aber dieß mit der feinſten Unterſchei-
dung. Denn die Lady Seymour ſagt:
niemals muͤſſe auf dem Lande die Kunſt
die Natur beherrſchen; man ſolle nur die
Fußſtapfen ihrer fluͤchtigen Durchreiſe
und hier und da einen kleinen Platz ſehen,
wo ſie ein wenig ausgeruhet haͤtte. Un-
ſere
[300] ſere Abende, und unſere Mahlzeiten ſind
reizend; ein munterer Geiſt und die Maͤßig-
keit beleben und regieren ſie. Froͤhlich
treten wir in die Reihen der Landtaͤnze
unſerer Paͤchter, deren Freude wir durch
unſern Antheil verdoppeln. Die Geſell-
ſchaft der Lady Seymour wird von dem
Verdienſt geſucht, ſo wie Laſter und
Dummheit vor ihr fliehen; Sie koͤnnen
hoffen, in unſerem Hauſe wechſels weiſe
jede Schattierung, von Talenten und Tu-
genden zu finden, die in dem Kreiſe von
etlichen Meilen um uns wohnen. Und
hier hat der Charakter meiner geliebten
Lady Seymour einen neuen Glanz da-
durch erhalten, daß ſie die Verdienſte an-
derer Perſonen Jhres Geſchlechts ſo leb-
haft fuͤhlt und ſchaͤtzt. Mein Bruder iſt
der beſte Ehemann und wuͤrdigſte Ge-
bieter von etlichen Hundert Unterthanen
geworden; Seligkeit iſt in ſeinem Ge-
ſichte, wenn er ſeinen Sohn, an der Bruſt
der beſten Frau, Tugend einſaugen ſieht;
und jeder Tag nimmt etwas von dem lo-
dernden Feuer hinweg, welches in alle
ſeine
[301] ſeine Empfindungen gedrungen waͤre.
Er hat die ſchwere Kunſt gelernt, ſein
Gluͤck zu genießen, ohne irgend Jemand
durch ein außerordentliches Geraͤuſche
mit ſeinem Gluͤcke Schmerzen zu machen.
Das einfache obgleich edle Ausſehen un-
ſerer Kleidung und unſers Hauſes laͤßt
auch die aͤrmſte Familie unſerer Nachbar-
ſchaft mit Zuverſicht und Freude zu uns
kommen. Von dieſen Familien nimmt
Lady Seymour von Zeit zu Zeit ein Paar
Toͤchter zu ſich, und floͤßt durch Beyſpiel
und liebreiches Bezeugen die Liebe der
Tugend und ſchoͤnen Kenntniſſe in ſie.
Der reizende Enthuſiasmus von Wohl-
thaͤtigkeit, die lebendige Empfindung des
Edlen und Guten beſeelt jeden Athem-
zug meiner geliebten Schweſter. Sie
begnuͤgt ſich nicht gut zu denken; alle
ihre Geſinnungen muͤſſen Handlungen
werden. Gewiß iſt niemals kein inniger
Gebet zum Himmel gegangen, als die
Dankſagung war, welche ich die Lady
Seymour fuͤr die Empfindſamkeit ihres
Herzens, und fuͤr die Macht Gutes zu
thun
[302] thun mit thraͤnenden Augen ausſprechen
hoͤrte. Wie viel Segen, wie viele Be-
lohnung verdienen die, welche uns den
Beweis geben, daß alles, was die Moral
fodert, moͤglich ſey, und daß dieſe Uebun-
gen den Genuß der Freuden des Lebens
nicht ſtoͤren, ſondern ſie veredeln und
beſtaͤtigen, und unſer wahres Gluͤck zu
allen Zufaͤllen des Lebens ſind!
Appendix A Druckfehler.
- Jm I. Theil S. 100 iſt zu Ende des Briefes
nach den Worten „da Sie den treuen Segen
Jhres Vaters“ und alle Tugenden Jhres
Geſchlechts, durch ein Verſehen ausgelaſſen
worden. - Andre wenig erhebliche Fehler wird der geneigte
Leſer ſelbſt leicht verbeſſern koͤnnen.
[][][][]
nende Beyſpiel ihre Fehler ſelbſt wohlthaͤtig?
Warum
Betrachtung? — Weil anch die edelmuͤ-
thigſten Seelen nicht auf Unkoſten ihrer
Eigenliebe wohlthaͤtig ſind. H.
ten Sie ihre Zeit nicht beſſer nehmen. H.
ſel gar nicht auf. Mylord Derby erſparte
ihr ja dieſe eigene Bemuͤh[u]ng — Warum
wurde ſie dennoch ſo ungehalten? War-
um ſagte ſie, er zerreiſſe ihr Herz, da er
doch nur ihr Deshabille zerriß? — Ver-
muthlich, weil ſie ihn nicht liebte, nicht zu
einer ſolchen Scene durch die gehoͤrige Gra-
dation vorbereitet, und uͤberhaupt in einer
Gemuͤthsverfaſſung war, welche einen zu ſtar-
ken Abſatz von der ſeinigen machte, um ſich
zur Gefaͤlligkeit fuͤr einen Einfall, in welchem
mehr Muthwillen als Zaͤrtlichkeit zu ſeyn
ſchien, herabzulaſſen. H.
der gewoͤhnlichen ſchoͤnen Simplicitaͤt unſrer
Sternheim ſo ſtark abſtechende Styl dieſes
Dialogen ſcheint zu beweiſen, daß ſie bey
dieſer Unterredung mit Frau von C. nicht
recht à ſon aiſe war.
worten; das edeldenkende, tugendhafte
Maͤdchen darf dieß nicht, weil man keine
eigene Moral fuͤr ſie machen kann.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnq6.0