[][][][][][][]
Ueber die Beeinflussung
einfacher psychischer Vorgänge
durch einige Arzneimittel.

Experimentelle Untersuchungen


Mit einer Curventafel.

Jena,:
Verlag von Gustav Fischer.
1892.

[]
[[I]]
Ueber die Beeinflussung
einfacher psychischer Vorgänge

durch einige Arzneimittel.

Experimentelle Untersuchungen


Mit einer Curventafel.

Jena,:
Verlag von Gustav Fischer.
1892.

[[II]][[III]]

Seinem hochverehrten Lehrer
Wilhelm Wundt

als ein Zeichen unwandelbarer Dankbarkeit und Anhänglichkeit
gewidmet


vom
Verfasser.


[[IV]][[V]]

Vorwort.


Zum endlichen Abschlusse der vorliegenden Studien nach erheb-
licher Ueberschreitung des „nonum annum“ veranlasst mich der Um-
stand, dass ich nicht weiss, ob und wann mannigfach sich hervor-
drängende wissenschaftliche Aufgaben mir eine weitere Fortsetzung
dieser Arbeiten ermöglichen werden. Begonnen wurden sie Ostern 1882
unter Anleitung Wilhelm Wundt’s und in seinem Laboratorium,
um dann später mit vielfachen Unterbrechungen immer von Neuem
wieder aufgenommen zu werden. Eine grosse Anzahl von Freunden
und Collegen hat mich in dieser langen Zeit durch geduldiges Mit-
wirken bei den nicht wenig Selbstverleugnung fordernden Versuchen
unterstützt; ihnen Allen freue ich mich, für ihre werthvolle Beihülfe
auch an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen zu können.
Ganz besonders gilt derselbe noch meinem ehemaligen Assistenten,
Herrn Dr. Heinrich Dehio, der mir bei der Durchführung meiner
Pläne in hervorragendem Masse behülflich gewesen ist.


Die ersten Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in den „Philo-
sophischen Studien“ veröffentlicht worden; einzelne der weiterhin ge-
wonnenen Resultate habe ich in späteren Arbeiten hie und da er-
wähnt, einen kurzen Ueberblick über einige allgemeinere Fragen endlich
bei Gelegenheit des Internationalen Medicinischen Congresses in Berlin
und neuerdings auf der Versammlung der Südwestdeutschen Neuro-
logen und Irrenärzte in Baden-Baden gegeben. Die ausführliche Be-
gründung der dort dogmatisch vorgetragenen Sätze betrachte ich als
die Aufgabe dieser Blätter. Man wird, wie ich denke, verwundert
sein über die grossen Schwierigkeiten, die sich an allen Punkten der
Sicherung schon der einfachsten Thatsachen entgegenstellten, sowie
über die unverhältnissmässige Mühe, welche die weitere Verarbeitung
[VI] der Beobachtungen verursacht hat. Nur ein kleines enges Gebiet ist
es, auf dem sich alle diese Untersuchungen bewegen, aber ich bin
bestrebt gewesen, namentlich die Methoden der Forschung auszu-
bilden, dann aber den einzelnen Erfahrungen durch möglichst vielseitige
Prüfung denjenigen Grad von Zuverlässigkeit zu sichern, der mir bei
dem augenblicklichen Stande meiner wissenschaftlichen Hülfsmittel,
Methoden und Kenntnisse überhaupt erreichbar war. Ohne Zweifel
ist es genussreich, in rascher Fahrt, gewissermassen vom Salonwagen
aus, die flüchtigen Eindrücke eines weiten Forschungsgebietes in sich
aufzunehmen; befriedigender aber noch scheint es mir, auf ungebahntem
Pfade sich mühsam Schritt für Schritt den Boden zu erkämpfen.
Gerade hier eröffnen sich zuweilen überraschende Ausblicke, die um
so reizvoller sind, je ferner sie dem gewohnten Gesichtskreise liegen,
und je weniger bekannt das Land ist, in dessen dämmerige Ferne
unser Blick einzudringen sucht.


Heidelberg, den 15. Juli 1892.


E. Kraepelin.


[[VII]]

Inhaltsverzeichniss.


  • Seite
  • I. Methodik1
  • a. Allgemeine Gesichtspunkte. Psychologische Fehlerquellen.
    Uebung und Ermüdung. — Fortlaufende Methode. — Wiederholungs-
    methode. — Augenblickliche Disposition1
  • b. Methode der Zeitmessung. Fehlerquellen des Chronoskopes.
    — Regulirung der Stromstärke. — Art der Reizauslösung. —
    Verschiedenheit der Reizwörter. — Reactionstechnik12
  • c. Berechnung der Zahlen. Arithmetisches Mittel. — Staffel-
    weise Vertheilung. — Wahrscheinliches Mittel. — Asymmetrie der
    Beobachtungsreihen. — Sicherheitsgrad kleiner Versuchsgruppen22
  • d. Zeitschätzungsversuche32
  • e. Statistik der Associationen33
  • II. Versuche mit Alkohol41
  • a. Warren’s Versuche. Einfache Reaction41
  • b. Eigene ältere Versuche. Einfache, Unterscheidungs- und
    Wahlreactionen43
  • c. Associationsversuche. Allgemeine Associationen, Subsum-
    tionen, Reime. — Wiederholungsmethode51
  • d. Versuche nach fortlaufender Methode. Addiren. —
    Lernen. — Lesen68
  • e. Dynamometerversuche91
  • f. Zeitschätzungsversuche. Deutung der Normalversuche. —
    Alkoholwirkung96
  • III. Versuche mit Thee107
  • a. Aeltere Versuche. Einfache Reactionen. — Wahlreactionen. —
    Wortreactionen. — Associationsreactionen107
  • b. Associationsversuche mit Wiederholungen112
  • c. Versuche nach fortlaufender Methode. Addiren. —
    Lernen. — Lesen125
  • d. Dynamometerversuche143
  • e. Zeitschätzungsversuche144
  • Seite
  • IV. Versuche mit andern Arzneimitteln148
  • a. Paraldehyd149
  • b. Chloralhydrat161
  • c. Morphium166
  • d. Aether und Amylnitrit170
  • V. Die centrale Wirkung der Arzneimittel172
  • a. Alkohol. Deutung der Experimente. — Die Symptome des
    Rausches. — Theorie der Alkoholwirkung. — Praktische Folgerungen173
  • b. Paraldehyd209
  • c. Chloralhydrat212
  • d. Inhalationsgifte. Chloroform. — Aether. — Amylnitrit213
  • e. Thee. Versuchsergebnisse. — Wesen der Wirkung. — Praktische
    Anwendung216
  • f. Morphium225
  • g. Zusammenfassung der Ergebnisse227
  • VI. Individuelle Verschiedenheiten232
  • a. Grösse der psychischen Leistung. Reactionszeiten. —
    Addiren. — Lernen. — Wiederholen. — Lesen233
  • b. Qualität der psychischen Leistung. Sensorische und
    musculäre Reaction. — Lernmethode239
  • c. Uebungsfähigkeit242
  • d. Ermüdbarkeit246
  • e. Widerstandsfähigkeit249
  • f. Beeinflussung durch Medicamente251
  • Literatur259
[[1]]

I. Methodik.


a. Allgemeine Gesichtspunkte.


Ueberall, wo wir den Versuch machen, für die Gesetze des
psychischen Geschehens auf experimentellem Wege zahlenmässige Aus-
drücke zu gewinnen, stossen wir auf eine und dieselbe wesentliche Schwie-
rigkeit, welche keinem anderen Gebiete unserer Forschung in gleichem
Masse eigenthümlich ist, die ausserordentliche Veränderlich-
keit des untersuchten Objectes.
Die Beweiskraft jedes Experi-
mentes beruht bekanntlich auf der Eindeutigkeit desselben, auf der Sicher-
heit, mit welcher die eintretenden Veränderungen gerade auf die eine vom
Untersucher variirte Versuchsbedingung zurückgeführt werden dürfen.
Die Voraussetzung ist demnach immer, dass alle anderen wirksamen
Einflüsse während des Experimentes nahezu constant geblieben sind.
Von einer solchen Stabilität ist indessen im Bereiche unseres Seelenlebens,
soweit dasselbe überhaupt dem Versuche zugänglich erscheint, niemals
die Rede; vielmehr begegnen wir hier dem gleichen ununterbrochenen
Spiele verschiedenartiger und häufig entgegengesetzter Vorgänge, wie
es die Physiologie in den organischen Substraten unserer psychischen
Leistungen, im Stoffwechsel unseres Nervengewebes, anzunehmen sich
veranlasst gesehen hat. Es ist allerdings wahr, dass sich auch im
Bereiche anderer Wissenschaften schon bei der anscheinend einfachsten
Messung, sobald ihre Genauigkeit über den populären Grad hinaus-
gehen soll, sehr bald eine wachsende Zahl von Fehlerquellen der ver-
schiedensten Art herauszustellen pflegt. Allein hier ist doch in der
Regel wenigstens für kurze Zeit ein gewisses Gleichgewicht der auf
das Untersuchungsobject einwirkenden Kräfte erreichbar. Auf dem
Gebiete der psychischen Vorgänge vermögen wir diese Bedingung so
gut wie niemals zu erfüllen. In dem leicht beweglichen Elemente
unseres inneren Lebens schwanken die veränderlichen Gebilde unseres
Kraepelin, Beeinflussung. 1
[2] Bewusstseins hin und her, von jeder flüchtigen Regung in Form und
Inhalt beeinflusst, so dass es ebenso schwierig ist, ihre Grösse und
ihre Dauer zu bestimmen, wie etwa den genauen Platz auszumessen,
den eine Boje auf stürmisch bewegtem Meere einnimmt.


Allein die Boje ist am Grunde des Meeres verankert, und ihre
Schwankungen im Spiele der Wellen aufwärts und abwärts, nach rechts
und nach links haben ihre gewisse Grenze. Wenn wir daher in recht
vielen Momenten ihre relative Lage zu erreichbaren festen Punkten
feststellen, die Richtung der Luft- und Meeresströmungen berück-
sichtigen, so werden wir schliesslich dennoch annähernd die mittlere
Lage unseres Objectes und weiterhin auch den Verankerungspunkt
desselben bestimmen können. Ganz ähnlich liegt die Sache bei der
exacten Messung psychischer Vorgänge. Auch hier ist die feste Ver-
ankerung in dem Umstande gegeben, dass alle die einzelnen Bewusst-
seinsthatsachen in der psychophysischen Constitution des Individuums
ihre Wurzel haben und somit unter dem Einflusse äusserer Einwir-
kungen immerhin um eine und dieselbe Gleichgewichtslage herum
schwanken. Wenn dabei auch die einzelne Beobachtung das Typische
und Gesetzmässige nicht klarzustellen vermag, so muss es doch hier
ebenfalls gelingen, durch immer wiederholte Messungen am Ende ein
zutreffendes Bild von dem Zusammenhange der Erscheinungen zu ge-
winnen.


Das Bestreben, trotz aller Schwierigkeiten den Experimental-
beobachtungen auf psychologischem Gebiete die erwünschte Eindeutig-
keit und Allgemeingültigkeit zu sichern, ist es daher gewesen, welches
gerade hier zu einer ausgedehnten Anwendung der statistischen
Methode mit allen ihren Vorzügen und Mängeln und damit zu einer so
bedeutenden Häufung der Versuche geführt hat, dass es dem Einzelnen
kaum möglich ist, mehr als eine einzige beschränkte Seite irgend
eines umfassenden Problems selbst experimentell zu durcharbeiten.
Auf diese Weise aber ist bei den unzweifelhaft bestehenden individuellen
Differenzen die Beziehung der Ergebnisse verschiedener Beobachter
aufeinander und die Gewinnung wirklich durchgreifender Gesetze um
so mehr erschwert, als erfahrungsgemäss auch die kleinsten und an-
scheinend unbedeutendsten Abweichungen in der technischen Aus-
führung, der Beobachtungsart, der Zeitlage und Aufeinanderfolge der
Versuche eine hoffnungslose Unvergleichbarkeit herbeizuführen ver-
mögen.


Diese und ähnliche Erwägungen sind es gewesen, welche mich
veranlasst haben, trotz vieler äusserer Störungen zu verschiedenen
[3] Zeiten immer wieder auf meine vor 10 Jahren begonnenen Versuche
über die Beeinflussung psychischer Vorgänge durch medicamentöse
Stoffe zurückzukommen, um dieselben nach verschiedenen Richtungen
hin nachzuprüfen und zu vervollständigen. Schon im Anfange hatte
sich mir bei dem Studium meiner Zahlenreihen der auch wieder-
holt ausgesprochene Gedanke aufgedrängt, dass durch die uncontrolir-
baren, nicht vom Medicament abhängigen Schwankungen unserer
inneren Zustände das Bild der experimentellen Veränderungen
vielfach verschleiert oder verzerrt werde. Ich wählte daher zu
meinen Versuchen in erster Linie Stoffe von so energischer Wirkung,
dass dieser letzteren gegenüber alle anderweitigen Ursachen mehr in
den Hintergrund treten mussten. Thatsächlich boten hier auch die
einzelnen Versuche, deren Zahl aus naheliegenden Gründen sich nicht
über ein gewisses Mass hinaus steigern liess, eine genügende Ueber-
einstimmung untereinander dar. Bei den Alkoholreihen indessen
stellten sich hie und da Abweichungen von dem paradigmatischen
Verhalten heraus, welche auf gelegentliche Störungen des eigentlichen
Experimentes durch „zufällige“ Einflüsse hindeuteten. Allerdings
waren die Bedingungen für den Eintritt solcher Störungen bei der
zum Theil sehr langen Dauer der Beobachtungsreihen hier ungleich
günstiger als bei den früher untersuchten Inhalationsgiften, zudem die
Wirkung des Stoffes selbst eine sehr viel langsamere und weniger
intensive.


Aus diesen Erfahrungen entwickelte sich naturgemäss der Wunsch,
jene Fehlerquellen nach Möglichkeit fernzuhalten. Für eine Klasse der-
selben, welche aus den äusseren Versuchsbedingungen ent-
springen, lässt sich das bei einiger Sorgfalt auch wirklich bis zu einem ge-
wissen Grade durchführen, indem man eben mit grösster Pedanterie jede
Abweichung in den äusseren Umständen und in der Technik solcher
Beobachtungsreihen vermeidet, die mit einander verglichen werden
sollen. Als besonders wichtig möchte ich in dieser Beziehung neben
den allgemein geübten Vorsichtsmassregeln die Einhaltung derselben
Tageszeit und die Gleichmässigkeit der gesammten Lebensführung in
Arbeit, Schlaf, Erholung und Nahrungsaufnahme betonen.


Weit folgenschwerer aber und trügerischer sind jene Veränderungen
nicht zufälliger Art, welche unser psychischer Zustand unabhängig von
der medicamentösen Einwirkung durch die Versuchsarbeit selber
erleidet. Wollen wir überhaupt die Schwankungen unseres Seelen-
lebens in Zahlen wiedergeben, so kann das nicht anders geschehen,
als durch periodische Aufzeichnung gewisser psychischer Leistungen,
1*
[4] die an sich sehr verschiedener Art sein können, Wahrnehmung oder
Schätzung von Eindrücken, Ausführung von Bewegungen u. s. f. Alle
derartigen Acte können uns aber natürlich nur dann ein Bild von
der augenblicklichen „Leistungsfähigkeit“ nach einer bestimmten
Richtung hin gewähren, wenn sie maximale Leistungen sind. So
messen wir z. B. die jeweilige Leistungsfähigkeit der Aufmerksamkeit
durch die Stärke des kleinsten, noch gerade wahrnehmbaren Reizes,
die Leistungsfähigkeit der Zeitschätzung durch die Grösse des be-
gangenen mittleren Fehlers. Wo es sich, wie bei den Versuchen mit
Medicamenten, zunächst um die fortlaufende Feststellung der psychischen
Leistungsfähigkeit im Allgemeinen handelt, empfiehlt sich von den
bisher gebräuchlichen psychischen Massmethoden am meisten diejenige
der psychischen Zeitmessungen. Wir werden demnach, wenn wir
Richtung und Grösse der durch Gifte hervorgerufenen Veränderungen
in der psychischen Leistungsfähigkeit studiren wollen, vor Allem die
mittlere Minimaldauer der psychischen Zeiten unter normalen Ver-
hältnissen festzustellen haben.


An diesem Punkte liegt die Schwierigkeit. In meinen ersten
Versuchen habe ich mich, ebenso wie alle früheren Beobachter, damit
begnügt, der Einverleibung des Medicamentes eine Reihe von Zeit-
messungen vorauszuschicken, so lange, bis mir die erhaltenen Zahlen-
werthe gleichmässige zu sein schienen. Ich ging dabei von der Vor-
aussetzung aus, dass nunmehr alle weiteren Schwankungen in der
Grösse der Zahlen auf Rechnung des Medicamentes zu setzen seien;
die Einflüsse der augenblicklichen Disposition schienen dabei durch
die jedesmalige Feststellung der besonderen Versuchsnorm genügend
berücksichtigt zu sein. Leider haben mir spätere umfangreiche,
speziell auf diesen Punkt gerichtete Beobachtungsreihen anderer
Art gezeigt, dass die psychische Leistungsfähigkeit auch ohne
irgendwelche äussere Beeinflussung regelmässig Schwankungen zeigt,
welche bei der Beurtheilung medicamentöser Störungen unbedingt in
Betracht gezogen werden müssen. Nur bei den sehr rasch ablaufen-
den Wirkungen der von mir untersuchten Inhalationsgifte und ähn-
licher Stoffe kann man das anfänglich eruirte Normalmittel mit einigem
Rechte als constanten Massstab für die ganze Versuchszeit ansehen;
für alle langsamer sich entwickelnden und darum weit interessanteren
Beeinflussungen ist diese Voraussetzung in keiner Weise zutreffend.


Die beiden Momente, welche eine fortlaufende Veränderung der
psychischen Leistungsfähigkeit während der einzelnen Beobachtungs-
reihe bewirken, sind natürlich die Uebung und die Ermüdung, wie
[5] sie uns überall in psychophysischen Versuchen der verschiedensten Art
wieder begegnen. Um daher die Schwankungen der Zahlenwerthe
unter dem Einflusse eines Medicamentes einwandsfrei deuten zu können,
müsste man zunächst wissen, welchen Gang die Versuchsreihe un-
abhängig von der Vergiftung genommen haben würde. Es wäre dem-
nach nothwendig, unter übrigens gleichen Verhältnissen fortlaufende
Beobachtungen anzustellen, einmal mit, einmal ohne Einwirkung des
Medicamentes. Freilich, ganz gleiche Bedingungen lassen sich niemals
schaffen, da, abgesehen von allen den Zufälligkeiten der augenblick-
lichen Disposition, jeder Versuch selbst wieder einen Zuwachs an
Uebung hinterlässt, der sich namentlich dann geltend machen kann,
wenn die Anstellung des betreffenden Parallelversuches im Hinblick
auf die allgemeine psychophysische Constellation nicht sehr lange
hinausgeschoben werden darf.


Es war mir unter diesen Umständen ausserordentlich willkommen,
dass sich eine Anzahl jener Versuchspersonen, deren psychische Lei-
stungsfähigkeit auf verschiedenen Gebieten von Oehrn*) eingehender
untersucht worden war, auf meine Bitte bereit erklärten, einige ver-
gleichende Beobachtungsreihen mit Beeinflussung durch Medicamente
durchzuführen. Die Methode, welcher sich Oehrn auf meinen Rath
bediente, wich allerdings von der gewöhnlichen Art der psychischen
Zeitmessungen erheblich ab, da es ihm zum Zwecke von Massen-
beobachtungen weniger auf höchste Exactheit der einzelnen Bestim-
mung, als vielmehr auf Einfachheit und leichte Durchführbarkeit, dann
aber auch auf möglichste Annäherung an die Vorgänge des täglichen
Lebens ankam. Zu diesem Zwecke wurde nicht, wie gewöhnlich, die
Dauer einzelner scharf definirter und zeitlich abgegrenzter psychischer
Acte mit Präcisionsinstrumenten gemessen, sondern die Versuchs-
person hatte eine fortlaufende Reihe ganz gleichartiger Einzelaufgaben
zu lösen und dabei in kürzeren, durch Glockensignale angegebenen
Pausen mittelst einfacher Zeichen die Menge des überwältigten
Stoffes zu markiren. Wir können somit diese Methode, bei welcher
die Aufmerksamkeit ununterbrochen 2 Stunden lang auf dieselbe Ar-
beit gerichtet wurde, als die „fortlaufende“ der sonst geübten,
„intermittirenden“ Messung einzelner, durch besondere Signale vor-
bereiteter und durch eine Reactionsbewegung abgeschlossener psychi-
scher Acte gegenüberstellen. In der Unmöglichkeit einer feineren
experimentellen Differenzirung verwickelterer Leistungen, in der Be-
[6] schränkung auf ganz gleichartige, sich eng an einander anschliessende
Vorgänge liegen die Mängel der fortlaufenden Methode, in der Messung
continuirlicher Geistesarbeit, in der Anlehnung an alltägliche Vor-
gänge und in dem Fortfall feinerer psychometrischer Instrumente ihre
Vorzüge.


Als psychische Leistungen wählte ich bei den hier in Betracht
kommenden Versuchen das Lesen, das Addiren einstelliger
Zahlen
und das Auswendiglernen 12stelliger Zahlenreihen.
Alle Versuche wurden ganz genau in der von Oehrn beschriebenen Weise
durchgeführt. Für die Leseversuche benutzten wir die einzelnen Bände
von Freytag’s „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ derart, dass
die Versuchspersonen bei jedem Versuche aus einem neuen Bande lesen
mussten. Das Lesen geschah halblaut; die einzelnen Silben sollten
deutlich articulirt, der Sinn aber nicht beachtet und die Interpunc-
tionszeichen nicht eingehalten werden. Anmerkungen wurden
nicht mitgelesen. In den Büchern waren die Silben zu je 100 vorher
abgezählt worden, wobei die vorkommenden Zahlen natürlich mit ihrer
Silbenzahl beim Aussprechen berücksichtigt wurden. Bei dem alle 5
Minuten ertönenden Glockenschlage wurde von jedem Leser an der Stelle,
an der er sich gerade befand, ein Bleistiftzeichen gemacht. Nach
Abschluss des Versuches wurde die Anzahl der in je 5 Minuten ge-
lesenen Silben berechnet und als Massstab für die Arbeitsleistung be-
nutzt. Um die kleineren Schwankungen mehr zurücktreten zu lassen,
erwies es sich späterhin als zweckmässig, die 3 in einer Viertel-
stunde gewonnenen Werthe zu einer arithmetischen Mittelzahl zu ver-
einigen, welche die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit während
jener Zeit angab und deren mittlere Abweichung von den Einzel-
werthen ein Urtheil über die grössere oder geringere Gleichmässigkeit
der geleisteten Arbeit gestattete.


Die Grundlage des Addirens bildeten Rechenhefte, in denen die
9 einstelligen Zahlen in systematischer Abwechselung fortlaufend
reihenweise unter einander geschrieben waren. Die Aufgabe bestand
darin, mit möglichster Schnelligkeit jede folgende Zahl zu der Summe
der vorhergehenden hinzuzuaddiren. Zusammenfassen mehrerer Zahlen
zu Theilsummen musste dabei vermieden werden. Bei besonderer
Neigung zu derartigem Rechnen wurde die Zahlenreihe bedeckt und
immer nur die gerade in Betracht kommende Zahl freigelassen. So-
bald die Summe bis auf oder über 100 angewachsen war, liess man
den Hunderter einfach fort und benutzte den Ueberschuss sofort als
Grundlage für die weitere Fortsetzung der Addition u. s. w. Auch
[7] hier wurden die Glockensignale durch Bleistiftstriche verzeichnet. Als
Massstab für die Arbeitsleistung diente die Summe der in je 5 Mi-
nuten addirten Zahlen, deren Durchschnitt auch hier für jede Viertel-
stunde berechnet wurde.


Das Auswendiglernen lehnte sich ganz an die von Ebbinghaus*)
angegebene Methode an. Wir benutzten die soeben erwähnten Rechen-
hefte, in denen die Zahlen für diesen Zweck in Reihen von je 12 ab-
getheilt waren. Jede derartige Gruppe wurde flüsternd so lange
wiederholt, bis es gelang, dieselbe einmal ohne Fehler auswendig her-
zusagen. Beim Stocken wurde die Reihe stets erst bis zu Ende weiter
gelesen, nicht in der Mitte abgebrochen. Jede Wiederholung wurde
am Rande durch einen senkrechten Strich markirt. Sobald die Reihe
einmal richtig aufgesagt worden war, ging man zur folgenden über.
Die Glockenschläge wurden durch wagerechte Striche verzeichnet; über
denselben standen die Wiederholungen der betreffenden Reihe vorher,
unter denselben diejenigen notirt, welche nachher zum völligen Er-
lernen nothwendig gewesen waren. Ich will nicht unterlassen, zu be-
merken, dass diese Lernmethode, die auf den ersten Blick vielleicht
nicht sehr zuverlässig erscheint, sich praktisch überraschend gut ver-
werthbar zeigt. Insbesondere ist die Beurtheilung des Augenblicks,
in welchem das Erlernte haftet, viel leichter und sicherer, als man
von vornherein meinen möchte. Das Ergebniss dieser Versuche lässt
sich nach verschiedenen Richtungen hin verfolgen, indem man einmal
die Anzahl der gelernten Zahlen, dann die Anzahl der Wiederholungen
für je 5 Minuten, endlich aber die Anzahl der für das Erlernen jeder
Reihe nothwendigen Wiederholungen berechnet.


Der Beginn der Versuche fiel regelmässig zwischen 8 und 9 Uhr
Abends; 5—6 Stunden vorher durfte weder Alkohol noch Thee oder
Kaffee, 2—3 Stunden vorher überhaupt keinerlei Nahrung genommen
werden. Der normale Gang der Leistungsfähigkeit bei 2 stündiger
geistiger Thätigkeit unter diesen Bedingungen war für die Versuchs-
personen bekannt. Ausserdem suchte ich an jedem Beobachtungstage
ein ungefähres Urtheil über die augenblickliche Disposition zunächst
durch ½ stündige Arbeitsleistung zu gewinnen. Daran schloss sich
unmittelbar die Einverleibung des Medicamentes und dann möglichst
ohne jede Pause die 1½stündige Fortsetzung des Versuches. Ein Vergleich
der auf diese Weise gewonnenen Zahlenreihen mit den Normalver-
suchen liess schliesslich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit jene Ab-
[8] weichungen erkennen, welche durch die Einwirkung des Medicamentes
bedingt waren.


Indessen noch nach einer anderen Seite hin habe ich den Versuch
gemacht, die methodische Bearbeitung der hier besprochenen Frage
weiterzuführen. Es ist von vorn herein wahrscheinlich, dass der Ab-
lauf sehr einfacher psychischer Vorgänge, welche zugleich durch
lange Uebung fast reflectorisch geworden sind, in geringerem Masse
durch medicamentöse Einflüsse verändert wird, als derjenige ver-
wickelterer Prozesse, welche jeweils eine besondere psychische Leistung
darstellen. Schon vor Jahren fing ich daher an, auch die associativen
Vorgänge in den Bereich meiner Versuche zu ziehen, allerdings, wie
es kaum anders möglich erschien, nach der alten intermittirenden Mass-
methode. Dabei stellte sich heraus, dass in der That die erreichten
Ausschläge verhältnissmässig sehr bedeutend ausfielen, dass aber gleich-
zeitig auch die zufälligen Schwankungen der Beobachtungszahlen in
ähnlichem Masse gewachsen waren. Es galt somit, eine Methode zu
finden, welche eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Werthe von
Zufälligkeiten herbeiführte, andererseits aber womöglich auch noch
eine Beseitigung jener constanten Fehler gestattete, welche aus den
Einflüssen der Uebung und Ermüdung hervorgehen. Zur Erfüllung
dieser Aufgaben benutzte ich ein Verfahren, welches von mir ursprüng-
lich zu einem ganz anderen Zwecke in Anwendung gezogen worden
war. Vor einigen Jahren nämlich hatte ich eine grössere psychome-
trische Beobachtungsreihe über Associationen in der Weise durchge-
führt, dass ich an einer Anzahl aufeinanderfolgender Tage immer die-
selben Reizworte in der nämlichen Ordnung benutzte. Dabei fixirten
sich die Associationen nach und nach; die Associationszeiten wurden
Anfangs rasch, dann ganz allmählich kürzer, um vom 6. Tage ab nur
Tagesschwankungen im positiven oder negativen Sinne, aber keine
nennenswerthe fortschreitende Veränderung mehr zu zeigen.*) Da mir
schien, dass bei diesem gleichmässigen Arbeitsmaterial medicamentöse
Einflüsse sich sehr deutlich bemerkbar machen müssten, führte ich im
Mai 1890 mit Unterstützung meines Assistenten, Herrn Dr. Darasz-
kiewicz,
eine 17 tägige Versuchsreihe nach dieser „Wiederholungs-
methode“,
wie ich sie nennen will, an mir selbst in der Weise durch,
dass ich an den verschiedenen Tagen in regelmässiger Folge bald Me-
dicamente nahm, bald nicht. Als Tageszeiten wurden mit wenigen
[9] beabsichtigten Ausnahmen die Stunden zwischen 6½ und 8½ Uhr
Abends festgehalten. Da jede Beobachtungsreihe aus 150 Versuchen
bestand und mehr als eine Stunde dauerte, so war die Möglichkeit
gegeben, aus dem Vergleich der Tage mit oder ohne Medicament auch
die Beeinflussung der Uebungs- und Ermüdungserscheinungen näher
zu verfolgen. Die besondere Tagesdisposition wurde hier allerdings
nicht erst durch Versuchsgruppen vor Einverleibung des Medicamentes
festgestellt, eine Unterlassung, welche durch die Schwierigkeit dictirt
war, damals regelmässig die Zeit für so lange fortgesetzte Versuchs
reihen zu gewinnen.


Gleichwol ist, wie sich mir allmählich immer klarer herausgestellt
hat, der unablässig wechselnde, von den verschiedenartigsten Einflüssen
abhängige Zustand unseres Bewusstseins für den Ausfall psycho-
physischer Versuche von sehr grosser Bedeutung. Es erscheint gerade-
zu unmöglich, überall von derselben psychophysischen Disposition der
Versuchsperson auszugehen, wie es eigentlich wünschenswerth wäre.
Auch dann, wenn man mit Erfolg bemüht gewesen ist, die äusseren
Bedingungen zweier Versuche ganz gleich zu gestalten, wenn es sogar
gelungen ist, die Einflüsse der Uebung und Ermüdung auf das ge-
ringste Mass einzuschränken, besteht doch gar keine Sicherheit dafür,
dass jene Versuche das gleiche Ergebniss liefern werden. Dieser Um-
stand ist es, der im Beginne solcher Untersuchungen so grosse Un-
sicherheit herbeiführt und den Ungeduldigen leicht an der Auffindung
bindender Gesetzmässigkeiten verzweifeln lässt. Diese Schwierigkeit
kann nur durch unermüdliche, freilich oft sehr schwierige und zeit-
raubende Häufung der Versuche bis zu einem gewissen Grade über-
wunden werden. Am störendsten ist es dabei, dass auch die Ver-
suchsperson sich durchaus nicht immer von dem Zustande ihres Innern
mit genügender Sicherheit Rechenschaft zu geben vermag. Das Ex-
periment ist so empfindlich, dass sich in ihm Dispositionsänderungen
ausdrücken, die wir selber gar nicht bemerken. Trotzdem lehrt die
Betrachtung grosser Gruppen von Versuchen, dass es auch hier in
der scheinbaren Regellosigkeit eine Gesetzmässigkeit giebt, die aller-
dings noch wenig bekannt und studirt ist. Natürlich wäre es für die
Deutung psychophysischer Experimente von grösster Wichtigkeit, wenn
wir jeweils durch einige Beobachtungen ein Urtheil über den augen-
blicklichen Bewusstseinszustand zu gewinnen vermöchten, damit man
diesen Factor bei dem Ausfall der ganzen Versuchsreihe mit in Rech-
nung ziehen könnte. Leider muss ich es mir versagen, hier ausführ-
licher auf diese Frage einzugehen, zu deren Klärung ich verschiedenes
[10] experimentelles Material gesammelt habe; nur einige Gesichtspunkte
sehr einfacher Natur, die sich auch späterhin werden verwerthen lassen,
sollen hier kurze Besprechung finden.


Die wichtigste Veränderung, welche sich fortwährend mit unserem
Nervengewebe vollzieht und welche daher vor Allem den jeweiligen
Zustand desselben bestimmt, wird durch die Vorgänge der Ermüdung
und der Erholung hervorgebracht. In grossen Zügen bringt der regel-
mässige Wechsel zwischen Wachen und Schlafen dieses Schwanken
zum Ausdruck. Aber auch während des Wachens lösen die Zeiten
der Arbeit und des Ausruhens und damit Zustände der Ermüdung
und Erholung immerfort einander ab. Man kann daher mit einem
gewissen Rechte den jeweiligen Grad der Ermüdung als das mass-
gebende Element für die augenblickliche Arbeitsdisposition des In-
dividuums ansehen. Bestimmt wird dieser Grad durch Art, Dauer
und Intensität der vorher geleisteten geistigen und körperlichen Ar-
beit, durch das Verhältniss derselben zu den eingeschobenen Erholungs-
und Schlafpausen, durch die Beziehungen zur Nahrungsaufnahme im
weitesten Sinne, die Beschaffenheit und Temperatur der Luft, die Ein-
wirkung chemischer Stoffe, körperlicher Störungen und endlich durch
die persönliche Constitution. Es ist natürlich nicht möglich, den
Effect aller dieser Einflüsse bei jeder psychophysischen Untersuchung
gesondert zu studiren, aber es erscheint wünschenswerth, wenigstens
in allgemeinen Umrissen überall ein Urtheil über den Stand des Er-
müdungsniveaus zu gewinnen.


Einen Anhaltspunkt für dieses Urtheil giebt uns die Betrachtung
der typischen Veränderungen, welche die Höhe der Arbeitsleistung
während des Ueberganges aus dem Zustande grösster Erholung in den-
jenigen maximaler Ermüdung erleidet. Bei der Verfolgung dieser Ver-
änderungen sehen wir regelmässig, dass die Leistungsfähigkeit nicht im
Beginne, sondern erst nach einer gewissen Dauer der Arbeit
am grössten ist. Diese Zunahme der Leistung tritt auch ein, wo von
einer Uebung im gewöhnlichen Sinne kaum die Rede sein kann, bei
Arbeiten, welche auch durch lange Fortsetzung der Versuche eine
dauernde Erleichterung nicht mehr erkennen lassen. Ich bin vielmehr
geneigt, anzunehmen, dass es sich hier um den Fortfall von Hem-
mungen, um jene Erregbarkeitssteigerung handelt, welche auch das
physiologische Experiment durch wiederholte Reizung des motorischen
Nerven hervorruft. Freilich wird sich diese allgemeine Erregbar-
keitssteigerung, welche jeder beliebigen Arbeitsleistung zu Gute kommt,
im einzelnen Falle nur schwierig von dem speziellen Uebungseffect für
[11] eine bestimmte Art der Arbeit abtrennen lassen. Doch könnte man
etwa in eine continuirliche, gleichartige Versuchsreihe von Zeit zu Zeit
einzelne andersartige Versuche einschieben, um sich davon zu über-
zeugen, dass die Arbeitsgrösse nicht nur für die fortlaufende Leistung,
sondern auch für jede andersartige eine Zunahme erfährt. Prak-
tisch wissen wir es übrigens ohnedies, dass es Zustände giebt, in
welchen wir uns zu jeder beliebigen intellectuellen Arbeit gleich gut
disponirt fühlen, unabhängig von der für irgend eine bestimmte
Thätigkeit besonders erworbenen Einübung. Die meisten geistig ar-
beitenden Menschen vermögen z. B. ohne Besinnen anzugeben, zu
welcher individuell verschiedenen Tageszeit ihre allgemeine Leistungs-
fähigkeit am grössten ist.


Nachdem die Arbeitsleistung ihre Höhe erreicht hat, beginnt sie
allmählich wieder abzunehmen, zuerst langsam, dann schneller und
zuletzt wieder langsamer. Von hier an führt somit die Fortdauer der
Arbeit nicht mehr, wie im ersten Stadium des Ermüdungsvorganges,
zu einer Steigerung, sondern zu einem fortschreitenden Sinken der
Leistungsfähigkeit, welches nur durch Einschieben von Erholungs-
pausen aufgehalten oder gar wieder ausgeglichen werden kann. Wenn
wir diesen typischen Gang der Dinge kennen, so sind wir offenbar
im Stande, die jeweilige Disposition eines Menschen durch die Be-
obachtung seiner Arbeitsleistung während einer gewissen Zeit festzu-
stellen. Nimmt die Arbeitsgrösse allmählich zu, so befindet er sich
in der ersten, nimmt sie dagegen ab, so steht er in der zweiten Phase
des Ermüdungsvorganges. Berücksichtigen wir dabei noch die Schnellig-
keit jener Veränderung, sowie die absolute Höhe der Leistung im
Verhältnisse zu der individuell bekannten mittleren Leistungsfähigkeit,
so vermögen wir sogar den Grad der augenblicklichen Ermüdung noch
genauer abzugrenzen. Allerdings ist dabei immer vorausgesetzt, dass
es uns gelingt, die Einflüsse der Uebung im engeren Sinne, welche
unser Urtheil trüben würden, auszuschliessen.


Ausserdem aber sind praktisch die ziemlich umfangreichen zu-
fälligen
Schwankungen der Leistungsfähigkeit zu beachten, welche
sich überall einschieben und wenigstens vorübergehend einen Verlauf
der Arbeitsleistung erzeugen können, der dem wirklichen Gange der
Leistungsfähigkeit gerade entgegengesetzt ist. Bei länger fortgesetzter
Beobachtung wird sich freilich diese Fehlerquelle schliesslich immer
von selber corrigiren. Sobald es aber darauf ankommt, die Einwir-
kung irgend welcher besonderen Einflüsse auf unsere psychischen Vor-
gänge zu studiren, können wir natürlich nicht vorher in umfangreichen
[12] Versuchsreihen die augenblickliche Disposition ermitteln, weil diese
letztere eben durch die Prüfung in entscheidender Weise verändert
wird und wir erst diese Veränderungen gewissermassen als Hülfsmittel
für die Diagnose des psychischen Zustandes benutzen. Kennte man
den Gang der Ermüdung und der Erholung für das einzelne Indi-
viduum genau, so wäre man allerdings, wie ich glaube, im Stande,
nachdem man seine jeweilige Disposition festgestellt, durch geeignete
Anordnung von Ruhe oder Arbeit immer annähernd denselben Zustand
wieder zu erzeugen, der ein für allemal als Ausgangspunkt für eine be-
stimmte Art von Versuchen zu dienen hätte. Soweit sind wir indessen
leider noch nicht. Dennoch ermöglicht uns auch heute schon die Höhe
der Anfangsleistung wenigstens einigermassen ein Urtheil über den
augenblicklichen Stand der Arbeitsfähigkeit. Eine ungewöhnlich hohe
Anfangsleistung deutet auf jenes Stadium gesteigerter Erregbarkeit hin,
welches sich nach einer gewissen Dauer der Arbeit einstellt. Wir
werden unter diesen Umständen erwarten müssen, dass die Leistungs-
fähigkeit höchst wahrscheinlich bald eine Abnahme erfahren wird.
Dagegen kann eine geringe Anfangsleistung das Zeichen entweder
einer sehr vollständigen Erholung oder einer weit vorgeschrittenen Er-
müdung sein. Im ersteren Falle folgt weiterhin eine Zunahme, im
andern ein fortschreitendes und unaufhaltsames Sinken der Arbeits-
fähigkeit. Zugleich pflegt sich der letztere Zustand auch subjectiv
sehr bald durch das Gefühl der Ermüdung zu signalisiren.


Diese Gesichtspunkte sind es, welche uns bei der Beurtheilung der
einzelnen Versuchsergebnisse späterhin mehrfach leiten werden. Gerade
beim Studium der Arzneiwirkungen spielt die augenblickliche Ermüdbar-
keit, die Leichtigkeit, mit welcher die Erscheinungen der psychischen
Lähmung eintreten, eine wichtige Rolle. Je weiter aber der Vorgang der
Ermüdung vorgeschritten ist, desto grösser wird natürlich die Ermüd-
barkeit, desto kürzer und gangbarer ist der Weg zur zeitweisen Auf-
hebung der Function. Wir würden daher nicht selten zu ganz ver-
kehrten Schlüssen gelangen müssen, wenn wir bei der Vergleichung
der Arzneiwirkung auf verschiedenen Gebieten unseres Seelenlebens
nicht auch nach Möglichkeit den Grad der Ermüdbarkeit berück-
sichtigen würden, mit dem wir bei der Anstellung der einzelnen Ver-
suche zu rechnen hatten.


b. Methode der Zeitmessung.


Eine etwas eingehendere Besprechung erfordert weiterhin die von
mir angewandte Methode der Zeitmessung. Bei den Versuchen nach
[13] fortlaufender Methode entstanden hier keinerlei Schwierigkeiten. Ein
gutes Uhrwerk, welches alle 5 Minuten einen Glockenschlag auslöste,
genügte vollständig allen Ansprüchen auf Genauigkeit. Viel ver-
wickelter liegt die Sache bei den Reactionsversuchen. Hier bediente
ich mich überall des Hipp’schen Chronoskopes wegen der unerreichten
Bequemlichkeit und Schnelligkeit seiner Handhabung, Eigenschaften,
welche die Ausführung psychischer Zeitmessungen in dem nothwendigen
grösseren Massstabe überhaupt erst möglich machen. Freilich sind
gegen jenen Apparat eine ganze Reihe zum Theil begründeter, zum
Theil unbegründeter Vorwürfe erhoben worden, die wir im Einzelnen
zu prüfen haben werden. Die grösste Fehlerquelle, welche mit dem
Chronoskope allen elektromagnetischen Auslösungsapparaten gemein-
sam ist, liegt ohne Zweifel in der Abhängigkeit der gemessenen Zeiten
von der Stromstärke. Diesen Fehler müssen wir um so genauer
kennen zu lernen suchen, als es kaum abzusehen ist, wie wir bei
irgendwie verwickelteren psychometrischen Versuchen ohne elektrische
Auslösungen, sei es für die Reizerzeugung, sei es für die Reactions-
markirung auskommen könnten. Schon in meinen ersten Arbeiten
habe ich die unangenehmen Erfahrungen geschildert, welche mir im
Anfange aus der Vernachlässigung der Stromregulirung erwachsen
sind. Leider sind seit jener Zeit eine ganze Anzahl von Arbeiten
mit dem Chronoskope und ähnlichen Apparaten ausgeführt worden,
welche wegen Nichtberücksichtigung jenes wichtigen Erfordernisses
einfach als werthlos bezeichnet werden müssen. Ich selbst habe mich
bei meinen Zeitmessungen zur Regulirung der Stromstärke Anfangs
des Hipp’schen, späterhin des bequemeren Cattell’schen Fallapparates
bedient. Die Fallzeit der Platte desselben war, wie Dehio*) bereits
erwähnt hat, im Physikalischen Laboratorium zu Dorpat mit Hülfe
von Stimmgabelschwingungen genau gemessen worden. Die Strom-
stärke wurde dann vor jeder Versuchsreihe so eingestellt, dass die
vom Chronoskope angezeigte Fallzeit der bekannten, direct gemessenen
gleich war. Wie die Erfahrung lehrte, war diese Regulirung bei con-
stanten Elementen eine sehr einfache und zuverlässige. Die Callaud’schen
Elemente, die ich seit etwa 7 Jahren an Stelle der umständlicheren
Daniell’schen in Anwendung zog, lieferten bei einigermassen sorg-
fältiger Behandlung mehrere Wochen hindurch ohne jede Veränderung
immer dieselbe Fallzeit.


Gegen diese Methode der Regulirung, welche durchaus der all-
[14] gemein gebräuchlichen entspricht, ist neuerdings von G. E. Müller*)
ein sehr beachtenswerther Einwand erhoben worden. Müller macht
nämlich darauf aufmerksam, dass durch die wechselnde Länge der
Reactionszeiten und die so bedingte verschiedene Stärke des remanenten
Magnetismus ein Fehler eingeführt werde, gegen welchen die Ein-
stellung des Stromes für eine bestimmte Fallzeit nicht schütze. Eine
richtige Messung der Fallzeit findet nur dann statt, wenn die An-
ziehungs- und Abreissungszeit für den Anker des Elektromagneten
einander gleich sind. Wird durch längeren Schluss des Stromes die
Stärke des remanenten Magnetismus und damit die Länge der Ab-
reissungszeit vergrössert, so müssen die gemessenen Zeiten, unter sonst
gleichen Bedingungen, relativ zu lang ausfallen, um so mehr, je weiter
die untersuchte Reactionsdauer über die als Norm benutzte Fallzeit
hinausgeht.


Die Tragweite dieses Einwandes lässt sich nur durch den Versuch
bestimmen, und ich ging daher zur Prüfung derselben von der fol-
genden Erwägung aus. Die neuere Construction des Hipp’schen
Chronoskopes ist bekanntlich so eingerichtet, dass man das Zeigerwerk
entweder durch das Oeffnen oder durch das Schliessen eines Stromes
in Gang setzen kann, je nachdem man den oberen oder den unteren
Magneten benutzt. Bei meinen Versuchen habe ich aus praktischen
Gründen überall das letztere Verfahren in Anwendung gezogen. Wählt
man dagegen die erstere Versuchsanordnung, so hat man die Möglich-
keit, vor der Messung den Strom kürzere oder längere Zeit durch
den Elektromagneten hindurchfliessen zu lassen. Wird die Abreissungs-
zeit des Ankers innerhalb gewisser Grenzen durch die vorherige Dauer
des Stromschlusses wesentlich beeinflusst, so muss nunmehr offenbar
ein und derselbe objective Vorgang am Chronoskope eine kleinere
oder grössere Zeit liefern, je nachdem der Strom den Elektromagneten
mehr oder weniger lange durchflossen hatte. Ich vertauschte nunmehr
die beiden Contacte des Fallaparates mit einander, nachdem ich zuvor
den sehr unzuverlässigen Cattell’schen Oeffnungscontact durch einen
besseren, nach dem Prinzipe des Lippenschlüssels gearbeiteten ersetzt
hatte. Durch Regulirung der Abreissfedern wurde darauf der Anker
des Chronoskopes so eingestellt, dass bei unveränderter Stromstärke
nach dem umgekehrten Prinzipe sich nahezu die gleiche Fallzeit für
die Fallplatte ergab, wie früher. Erst nachträglich übersah ich, dass
[15] die Federspannung relativ ein wenig zu stark ausgefallen war und
demgemäss die Fallzeiten etwas kürzer wurden, als beabsichtigt. Nach
diesen Vorbereitungen führte ich unter Beihülfe meines Assistenten,
des Herrn Dr. Aschaffenburg, hintereinander zwei Reihen von je 50
Fallversuchen durch, in deren erster ich den Strom vor der Messung
nur möglichst kurze Zeit, durchschnittlich nicht mehr als eine Sekunde,
um den Elektromagneten kreisen liess, während in der zweiten Reihe
der Strom regelmässig mindestens 5 Sekunden geschlossen war, bevor
die Fallplatte ihn öffnete. Ich glaubte annehmen zu müssen, dass die
bei diesem Verfahren sich ergebenden Unterschiede in den gemessenen
Zeiten ein Urtheil über die Grösse der von Müller angedeuteten Fehler-
quelle ermöglichen würden. Das Ergebniss der Versuche war in
Tausendstel Sekunden (σ) folgendes:


Tabelle I.


Trotz der grossen Differenzen in der Dauer des vorherigen Strom-
schlusses hatte der remanente Magnetismus doch die Abreissungszeit
nur um 2 Tausendstel Sekunden verlängert und damit die gemessenen
Fallzeiten um denselben Betrag verkürzt. Dieser Werth aber liegt
noch vollständig innerhalb der Fehlergrenzen des Apparatencomplexes.
Wir sehen daher, dass wenigstens für das von mir benutzte Instrument
die praktische Bedeutung des von Müller erhobenen Einwandes äusserst
geringfügig ist und jedenfalls für die Zeiten, mit denen wir es hier
zu thun haben, gar nicht in Betracht kommt. Wahrscheinlich wurde
übrigens dieses Ergebniss von vornherein durch die Erfahrung, dass
die mit dem Chronoskope älterer Construction gewonnenen Zahlen
bei den ersten Versuchen aus dem Wundt’schen Laboratorium zumeist
eine sehr gute Uebereinstimmung zeigten. Käme dem Fehler des re-
manenten Magnetismus ein grösserer Einfluss zu, so hätte derselbe
sich doch wol damals in beträchtlicheren Unregelmässigkeiten geltend
machen müssen, wo bei der ganzen Versuchsanordnung der Strom
vor der Messung sehr verschieden lange Zeit geschlossen gehalten
wurde.


Sehr bemerkenswerth scheint mir für die Würdigung der Zuver-
[16] lässigkeit des Chronoskopes die geringe Grösse des wahrscheinlichen
Fehlers. Berücksichtigt man, dass die Ursachen dieses Fehlers zu-
dem wol zum grössten Theile in dem Fallapparate mit seinem Queck-
silbercontacte und seiner im Falz laufenden Platte liegen, so erscheint
die Genauigkeit, mit welcher das Chronoskop selbst arbeitet, für die
Zwecke psychischer Zeitmessungen weitaus hinreichend. Dass darum
der Besitz des Apparates allein noch keine fehlerfreien Zahlen garan-
tirt, sondern dass dazu eine volle Vertrautheit mit seinen Eigenthüm-
lichkeiten und Fehlerquellen nothwendig ist, bedarf keiner besonderen
Ausführung. Ich kann nur auf Grund sehr ausgedehnter Erfahrungen
meine Ueberzeugung dahin aussprechen, dass die Leistungen des
Hipp’schen Chronoskopes in der Hand des Geübten auf dem Gebiete
der eigentlichen Psychometrie denjenigen aller anderen zeitmessenden
Apparate unerreichbar überlegen sind.


Leider indessen wird die Zuverlässigkeit psychometrischer Zahlen
durch einige andere Schwierigkeiten beeinträchtigt, welche nicht dem
Chronoskope, sondern der sonstigen Technik des Reactionsvorganges
entstammen. Zunächst kommt hier in Betracht die Erzeugung des
Reizes.
Bei der einfachen Reaction habe ich als Reiz regelmässig das
Klappen des Schliessungscontactes benutzt; die Gleichzeitigkeit des
Schalles und der Stromschliessung war hier eine genügende, da man
die Luftleitung des ersteren bei den kleinen in Betracht kommenden
Entfernungen vernachlässigen kann. Weniger einfach gestaltete sich
die Sache bei den Unterscheidungs- und Wahlversuchen, bei denen
die beiden Vocale o und e als Reize dienten. Die in meinen früheren
Arbeiten verwertheten Versuche dieser Art wurden alle mit dem dort*)
abgebildeten Schallschlüssel gewonnen, bei welchem ein Contact durch
explosives Ausstossen jener Vocale mit dem vorgesetzten Consonanten
p gelöst wurde. Späterhin stand mir dieser Apparat nicht mehr zur
Verfügung, und ich bediente mich nun für die Wahlreactionen mit
Paraldehyd einfach jenes Verfahrens, welches Trautscholdt**) bei den
Associationen zuerst angewandt hatte: ich suchte nach Möglichkeit
Aussprechen des Reizvocals und Niederdrücken des Schlüssels gleich-
zeitig auszuführen. In derselben Weise stellte Dehio seine Wahlver-
suche mit Thee und Coffein an. Es ist unbestreitbar, dass diese Me-
thode Fehler in sich schliesst, deren Grösse nur durch Messung fest-
gestellt werden kann. Ich habe daher auch in den letzten derartigen
[17] Versuchen mit Chloralhydrat und Morphium eine andere Methode
der Reizgebung angewandt, die sogleich näher besprochen werden soll.


Noch grösser als bei den Unterscheidungs- und Wahlversuchen
sind die praktischen wie theoretischen Schwierigkeiten der Reizaus-
lösung bei den Wortreactionen und Associationen. Schon der Vocal
ist kein momentaner Reiz mehr, aber man könnte doch hier etwa über-
all den Beginn der Luftvibration als den Augenblick der Entstehung
ansehen und sich demgemäss eines Contactapparates nach Art des
Cattell’schen Schallschlüssels bedienen. Die einzelnen Worte aber sind
einander nach ihrer Lautfolge zu ungleich, als dass man ohne Wei-
teres die beginnende Intonation als den Zeitpunkt des Reizes betrach-
ten könnte. Eigentlich wäre derselbe erst in den Moment zu setzen,
in welchem der charakteristische Laut des Wortes ausgesprochen
und damit die Möglichkeit gegeben ist, das gesammte Klangbild in
seiner Eigenart zu erkennen. Eine wirklich befriedigende Lösung
dieser Aufgabe ist natürlich nicht möglich, da wir sonst für jedes
Wort etwa einen besonderen Contactapparat construiren müssten.
Namentlich aber schien mir die Anwendung des Cattell’schen Schall-
schlüssels, der den Strom mit der ersten Schwingung der Membran
öffnet, abgesehen von der Verschiedenheit der Worte, auch deswegen
nicht ganz zweckmässig, weil die wahre Dauer der gemessenen Reac-
tionen hier etwas zu lang erscheinen muss. Unter diesen Umständen
bin ich für die überwiegende Mehrzahl meiner Versuchsreihen bei der
alten Trautscholdt’schen Methode geblieben, weil ich annahm, dass
dieselbe noch am besten gestatte, den Ton des Wortes und die Aus-
lösung des Zeigerwerkes zeitlich möglichst nahe zusammenfallen zu
lassen. Dazu kam, dass die Versuche selbst mir im Allgemeinen
eine genügende Regelmässigkeit und Uebereinstimmung darzubieten
schienen.


Erst bei meinen letzten, in Heidelberg angestellten Versuchen
habe ich mich eines anderen Verfahrens der Reizauslösung bedient,
welches zwar auch keineswegs ideal ist, immerhin mir aber von man-
chen Uebelständen der sonst bekannten Methoden frei zu sein scheint.
Den Ausgangspunkt dieses Verfahrens bildete ein dem Cattell’schen
Lippenschlüssel ähnlicher kleiner Apparat. Von den beiden Armen
eines Winkels ist der untere derart gebogen, dass er von der Knickung
an dem andern parallel läuft. Der obere ist fest, aber verstellbar mit
einer am Tisch angeschraubten Stange verbunden, während der untere
durch ein Scharniergelenk im Scheitelpunkt des Winkels nach unten
beweglich ist. Eine zwischen beiden Armen um eine Führung herum
Kraepelin, Beeinflussung. 2
[18] eingeklemmte Spiralfeder hält dieselben für gewöhnlich divergent, doch
ist die Ausgiebigkeit dieser Bewegung durch eine regulirbare Hemmung
beschränkt. Nahe den divergenten Enden tragen die Arme eine Contact-
vorrichtung, welche durch das Heraufdrücken des unteren Armes ge-
schlossen wird, sich aber sofort öffnet, sobald beim Nachlass des Druckes
jener Arm durch die Feder wie durch seine eigene Schwere in Diver-
genzstellung gebracht wird. Eine zweite Contactvorrichtung ist derart
angebracht, dass der untere Arm sie an einem beliebigen Punkte seiner
Bewegung nach abwärts schliessen kann. An seiner Spitze trägt end-
lich der untere Arm eine kleine Oeffnung, in welcher sich Holzplätt-
chen befestigen lassen, welche der Lippe als Angriffspunkt für das An-
drücken an den ersten Contact dienen und beim Wechsel der Ver-
suchspersonen ohne Weiteres ausgetauscht werden können. Dieser
kleine Apparat gestattet somit zunächst, durch einen leichten Druck
mit der Unterlippe einen Strom zu schliessen. Sobald dieser Druck
nachlässt, was regelmässig beim Beginn der Sprechbewegung der Fall
ist, wird dieser Strom geöffnet. Dabei haben wir aber die Möglich-
lichkeit, nach einer regulirbaren Excursion des Winkelarms denselben
Strom oder einen andern von Neuem zu schliessen. Für den Zweck
der Reizauslösung liess ich den ersten Contact ausser Spiel, schickte
den Strom vielmehr nur durch den zweiten und setzte das Zeigerwerk
des Chronoskopes durch das Schliessen dieses letzteren in Bewe-
gung. Bei der Anstellung des Versuches drückte ich zunächst
den unteren Arm gegen den oberen und hielt dadurch den zweiten
Contact geöffnet. Mit dem Anfang des Sprechens bewegte sich der
Arm nach abwärts und schloss dadurch sehr bald den Uhrstrom.
Die Zeitmessung begann somit erst um so viel Zeit später, als das
Sprechen, wie die Excursion des Armes nach unten in Anspruch
nahm. Diese Verkürzung der gemessenen Zeiten betrachtete ich als
einen Vortheil, da ja nach meinen früheren Erörterungen das Aus-
sprechen des Wortes erst bis zu einem gewissen Punkte vorgeschritten
sein muss, bis es als psychischer Reiz dienen kann.


Um ein Urtheil über die Grösse dieser Zwischenzeit zu gewinnen,
welche sich zwischen den Beginn des Sprechens und denjenigen der
Zeitmessung einschob, liess ich den Uhrstrom durch beide Contacte
gehen, so dass derselbe nur während der Bewegung des Armes von
einem Contacte zum andern geöffnet blieb. Indem ich nun den oberen
Magneten des Chronoskopes benutzte, konnte ich die Dauer dieser Be-
wegung auf leichte Weise messen. Der zurückgelegte Weg betrug
zwischen je zwei Contactflächen etwa 1,5 mm. Als mittlere Dauer
[19] ergab die Messung in 50 Versuchen die Zeit von 20 σ, mit einem wahr-
scheinlichen Fehler von nur ± 1 σ. Die Regelmässigkeit der Zahlen war
ganz erstaunlich; nicht weniger als 35 Versuche lieferten Zeiten zwi-
schen 19 und 21 σ. Es zeigt sich somit auch hier wieder, und zwar
noch deutlicher als früher, wo weniger genau arbeitende Hülfsapparate
mitwirkten, wie ausserordentlich zuverlässig das Chronoskop als solches
functionirt.


Wir können somit annehmen, dass die Zeitmessung in unsern
Versuchen 20 σ nach dem Beginn der Sprechbewegung ihren Anfang
nimmt. Wenn man will, kann man natürlich dieses Intervall auch
beliebig vergrössern. Es erschien mir aber nun weiterhin wichtig, fest-
zustellen, wie sich zeitlich die Trautscholdt’sche Methode zu dem
hier von mir geübten Verfahren verhält. Eine genaue Gleichzeitig-
keit des Beginns der Zeitmessung und des Aussprechens wird durch
jene Methode weder erreicht noch erstrebt; vielmehr besteht die Ab-
sicht, womöglich den Contactschluss mit dem Ton des ausgespro-
chenen Wortes zusammenfallen zu lassen. Die Verspätung des Con-
tactschlusses gegenüber dem Beginn der Sprechbewegung liess sich
aber mit Hülfe der von mir soeben beschriebenen Versuchsanordnung
leicht messen. Ich liess zu diesem Zwecke den zweiten Contact des
Lippenschlüssels unbenutzt, führte aber den Uhrstrom durch den ersten
Contact und durch einen gewöhnlichen Morse’schen Schlüssel, den ich
auch sonst bei der Trautscholdt’schen Methode immer in Anwendung
gezogen hatte. Beim Beginne des Versuches hielt ich den Uhrstrom
im Lippenschlüssel geschlossen. Sodann sprach ich ein Wort aus und
drückte gleichzeitig ganz in der Weise meiner früheren Wortreactions-
versuche den Taster nieder. Der Uhrstrom blieb hier vom Beginn
der Sprechbewegung bis zum Schliessen des Tasters geöffnet. Die
Dauer dieses Intervalles liess sich durch Abänderung der Excursions-
weite des Tasters variiren. Bei minimaler Grösse derselben, bei einem
Abstande der Contactflächen von etwa 2 mm, ergab sich eine Zeit von
43 σ, mit einem wahrscheinlichen Fehler von ± 18. Erweiterte ich
den Abstand bis auf 1 cm, so stieg die Zeit auf 53 ± 20 σ.


Um diesen Betrag also verspätet sich durchschnittlich die Zeit-
messung nach der Trautscholdt’schen Methode gegenüber dem Be-
ginn der Sprechbewegung. Da die Sprechzeit für eine Silbe nach den
später zu besprechenden Leseversuchen ungefähr 120—150 σ beträgt,
so würde die Zeitmessung etwa zwischen dem ersten und zweiten
Drittel des einzelnen Sprechactes anfangen, wahrscheinlich indessen
meist noch ein wenig früher, da bei den Leseversuchen auch viele
2*
[20] sehr kurze Silben mitgezählt werden, während es sich hier nur um
einsilbige, aber buchstabenreichere Hauptworte handelt. Wie mir
scheint, würde demnach eigentlich auch nach dieser Methode noch
die Wortreactionszeit vielleicht etwas zu gross ausfallen. Mit Hülfe
des von mir geschilderten Verfahrens liesse sich das ohne Schwierigkeit
ändern, doch ist zu bedenken, dass es für unsere Zwecke nicht auf
die absoluten Werthe, sondern nur auf vergleichbare Zahlen an-
kommt. Unter diesem Gesichtspunkte ist schliesslich jede beliebige
Methode anwendbar, wenn nur der Fehler, den sie in sich schliesst,
völlig constant bleibt. Das ist in gewissem Sinne, wie ich oben gezeigt
habe, bei der Anwendung des Lippenschlüssels der Fall. Hier aber
liegt die Schwäche der Trautscholdt’schen Methode. Die Schwan-
kungen in der Verspätung sind bei derselben relativ zu gross. Eine
Fehlerbreite bis zu 40 σ vermag den Werth einer Versuchsreihe mit
Wortreactionen schon empfindlich zu beeinträchtigen, wenn sie auch
bei Associationen zumeist wol noch keine entscheidende Rolle spielt.


Kommen wir somit zu dem Schlusse, dass der Lippenschlüssel eine
recht zuverlässige und gleichförmige Reizauslösung bei allen Versuchen
mit Wortreizen gestattet, so entsteht doch noch die Frage, ob nicht
die Verschiedenheiten in der lautlichen Zusammensetzung der
Wörter Schwankungen in der Reactionsdauer bedingen, welche nicht
psychischer Art sind. Kurze oder lange Vocale, Häufung von Conso-
nanten am Anfange oder am Ende der Wörter könnten ja wol das Ver-
ständniss derselben gewissermassen rein technisch in verschiedenartiger
Weise beeinflussen, so dass wir überall den Entstehungsmoment des
Reizes in verschiedenen Abstand von dem Beginne der Sprechbewe-
gung zu setzen hätten. Zur Prüfung dieser Frage habe ich eine Reihe
von 250 Wortreactionen nach der lautlichen Zusammensetzung der
Wörter in verschiedenartiger Weise gruppirt und festzustellen gesucht,
wieweit den einzelnen Worttypen regelmässige Verschiedenheiten in der
Reactionsdauer entsprechen. In der folgenden Tabelle II sind die
beobachteten Reactionen zunächst nach ihrer Länge in zwei gleiche
Gruppen getheilt, kurze und lange. Sodann ist für jede dieser Gruppen
verzeichnet, einmal wie viele Wörter mit langen und wie viele mit
kurzen Vocalen auf dieselbe entfielen, wie oft die Wörter mit einem
Vocal resp. einem Consonanten, oder aber mit mehreren Consonanten
anlauteten oder auslauteten. Diese letzteren beiden Möglichkeiten habe
ich als schwachen oder starken Anlaut und Auslaut unterschieden.


[21]

Tabelle II.


Unter den langen Reactionen sind demnach die Wörter mit
langen Vocalen, mit schwachem Anlaut und starkem Auslaut etwas
häufiger. Das ist begreiflich, da in allen diesen Fällen offenbar das
Verständniss des Wortes etwas langsamer vor sich gehen muss. Im
Ganzen sind aber die Unterschiede auffallend gering, so dass eine be-
sondere Rücksichtnahme auf diese Verhältnisse praktisch kaum nöthig
erscheint. Die Annahme einer mittleren Sprechdauer für alle Wörter
ist daher ziemlich gut gerechtfertigt, und die wahre Wortreactionszeit
könnte man somit, wenn man auf die Ermittelung absoluter Werthe
ausgeht, wol am besten etwa in der Mitte dieser Sprechdauer be-
ginnen lassen.


Die Reactionsbewegung wurde in meinen älteren Versuchen,
auch bei Wort- und Associationsreactionen, immer mittelst des einfachen
Tasters ausgeführt, in der Weise, wie sie ebenfalls von Trautscholdt
ursprünglich geübt worden war. Die Versuchsperson hatte dabei die
Aufgabe, erst dann den heruntergedrückten Knopf des Tasters loszu-
lassen, wenn der verlangte psychische Act, die Unterscheidung,
Association u. s. f. vollendet war. Wie die Erfahrung gelehrt hat,
liegen hier schon für die einfache Reaction Fehlerquellen. Grosse
Regelmässigkeit in der Aufeinanderfolge zwischen dem unerlässlichen
Signal und dem Reiz führt unter Umständen zum Auftreten vorzeitiger
und sogar negativer Reactionen. Bei sehr raschem Manipuliren, wie
es im Interesse grosser Häufung der Beobachtungen innerhalb kurzer
Zeiträume wünschenswerth ist, kommt das sehr leicht vor. Gerade
diesem Umstande aber werden wir bei unseren späteren Betrachtungen
einige interessante Aufschlüsse verdanken, da die grössere oder ge-
ringere Neigung zu vorzeitigen Reactionen nicht nur für die einzelnen
Individuen, sondern auch für die Wirkung der Arzneimittel bis zu
einem gewissen Grade charakteristisch ist.


Bei den Unterscheidungsversuchen vereitelt die Fehlerquelle der
vorzeitigen Reaction die Lösung der gestellten Aufgabe häufig voll-
ständig; zum mindesten haben wir gar keine Gewähr dafür, dass die
[22] Unterscheidung beim Beginn der Reactionsbewegung bereits vollzogen
war. Ganz ähnlich liegt die Sache für die Wort- und Associations-
reactionen. Der Verdacht vorzeitiger Auslösung des motorischen
Impulses kann hier bei Anwendung des einfachen Tasters nirgends
mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Aus diesem Grunde habe ich
mich in den letzten 6 Jahren zur Reaction bei diesen Versuchen
überall des oben beschriebenen Lippenschlüssels bedient. Der Strom,
dessen Unterbrechung das Zeigerwerk des Chronoskopes zum Still-
stand brachte, ging durch den ersten Contact jenes Apparates. Er
wurde durch einen leichten Druck mit der Unterlippe geschlossen
gehalten und durch den Beginn der Sprechbewegung selbst geöffnet.
Die Bequemlichkeit und Sicherheit dieser Reactionsmethode lässt, wie
auch die Gleichförmigkeit der Versuchsresultate mir gezeigt hat, kaum
etwas zu wünschen übrig. Bei den Wahlreactionen benutzte ich überall
in gleicher Weise zwei Taster, die ich mit je einer Hand geschlossen
hielt. Auf e wurde rechts, auf o links reagirt. Vorzeitige Reactionen
sind hier durch die Versuchsanordnung selbst unmöglich gemacht.


c. Berechnung der Zahlen.


Eine viel umstrittene Angelegenheit bei der Verwerthung psycho-
metrischer Versuche ist die Berechnung der Zahlen. Um einiger-
massen die Schwankungen der Einzelbeobachtungen übersehen zu
können, ist es natürlich nothwendig, sowol für die Normalversuche,
wie für die einzelnen Stadien der Medicamentwirkung möglichst kurze
Zahlenausdrücke zu finden. Am nächsten liegt dabei die bisher auch
fast überall geübte Methode der arithmetischen Mittelziehung. Sämmt-
liche Normalzahlen ergeben dann ein einziges Mittel, während man
die späteren Versuche zu kleineren oder grösseren Gruppen zusammen-
fassen kann, deren Mittel den Gang der psychischen Leistungsfähig-
keit in mehr oder weniger summarischer Weise wiedergeben. Nach
diesem Verfahren habe ich früher alle Versuche berechnet, indem ich
nach der Einwirkung des Medicamentes immer je 3—4 Zahlen, bis-
weilen auch, um nur die allgemeinsten Umrisse der Veränderung fest-
zuhalten, grössere Gruppen von 20—25 Beobachtungen zu einem Mittel
zusammenfasste. Die Berechnung der mittleren Variationen ergiebt
dabei gleichzeitig ein ganz brauchbares Mass für die Gleichmässigkeit
der Aufmerksamkeitsspannung.


Schon seit langer Zeit indessen ist bei dieser Berechnungsmethode
eine sehr schwierige Frage den Untersuchern entgegengetreten und in
[23] verschiedenstem Sinne beantwortet worden. In jeder grösseren Ver-
suchsreihe finden sich Zahlen, welche nach der einen oder andern
Richtung hin sehr bedeutend von den übrigen abweichen und damit
ihren Ursprung aus irgend welchen ganz besonderen augenblicklichen
Zuständen oder gar direct aus Fehlervorgängen verrathen. Manche
Beobachter haben daher vor der Berechnung derartige „unwahrschein-
liche“ Zahlen als unbrauchbar fortgelassen, während Andere vielmehr
den Grundsatz festhielten, dass alle Werthe, wie sie sich nun einmal
durch das Experiment ergeben, vollkommen gleichberechtigt seien und
daher mit in Rechnung gezogen werden müssten. Beide Verfahren
haben ihre sehr bedenklichen Seiten. Im letzteren Falle kann das
arithmetische Mittel durch die Verwendung extremer und möglicher-
weise aus technischen Fehlern entspringender Zahlen bedeutend be-
einflusst werden, während bei ersterem Vorgehen der Willkür Thür
und Thor geöffnet ist und nebenbei die Berechnung der mittleren
Variationen sehr problematisch wird.


Dazu kommt noch ein Einwand, der sich hier gegen die arith-
metische Mittelziehung überhaupt erheben lässt. Bei allen Reactions-
versuchen nämlich sind im Allgemeinen diejenigen Ursachenelemente,
welche eine Vergrösserung der wahren mittleren Reactionszeit herbei-
zuführen vermögen, also namentlich die Zerstreutheit und Er-
müdung, in viel ausgiebigerer Weise wirksam, als die verkürzenden,
die maximale Anspannung der Aufmerksamkeit und die Anticipation
des Reizes. Erstere können, theoretisch genommen, die Reactions-
zeit bis auf ∞ verlängern, letztere nur bis auf 0 verkürzen, da
negative Zeiten wenigstens vom Chronoskope nicht gemessen werden.
Unter diesen Umständen ist es also sehr wahrscheinlich, dass die
zu hohen Werthe, wenn nicht an Zahl, so doch an Grösse der
Abweichung vom wahren Mittel stets die zu niedrigen übertreffen werden.
Die Folge davon aber muss nothwendig sein, dass das arithmetische
Mittel zu gross ausfällt.


Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit giebt uns die von Tiger-
stedt
und Bergquist*) empfohlene Methode, welche alle Versuchszahlen
nach Art der Gauss’schen Fehlercurve zusammenfasst. Eine möglichst
grosse Reihe von Beobachtungen wird hier nach der Grösse der Einzel-
werthe in kleinere Gruppen getheilt, welche jeweils diejenigen Zahlen
enthalten, die zwischen bestimmten, ganz gleich bemessenen Grenzen
liegen. Benutzt man nun die Länge der Reactionszeiten als Abscissen
[24] und trägt in regelmässigen Abständen überall die Zahl jener Be-
obachtungen auf, deren Grösse gerade innerhalb des betreffenden Ab-
schnittes liegt, so erhält man eine Anfangs ansteigende und dann wieder
fallende Curve. Der Gipfel derselben entspricht denjenigen Beobacht-
ungswerthen, welche in der bearbeiteten Reihe am häufigsten wieder-
gekehrt sind, während der Abfall nach beiden Seiten das allmählich
immer seltnere Auftreten weiter und weiter abweichender Zahlen ver-
sinnbildlicht. Je kleiner die gewählten Abstufungen sind und je
grösser die Anzahl der Beobachtungen, um so genauer ist das Bild,
welches die Curve uns von der relativen Häufigkeit aller einzelnen
überhaupt möglichen Zeitwerthe liefert.


Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass diese Darstellungs-
methode allen irgend berechtigten Anforderungen entspricht, wo es
sich um die Zusammenfassung grosser Zahlenmassen zu einem ein-
heitlichen Gesammteindruck handelt. Unter dieser Bedingung giebt
die Form der Curve einen sehr vollständigen Begriff nicht nur von
der absoluten Länge der Reactionszeiten, sondern namentlich auch
von der Art, wie sich die Werthe zerstreuen, ein Umstand, der z. B.
feinere individuelle Differenzen aufdecken kann, die bei der einfachen
Mittelberechnung, selbst mit Berücksichtigung der mittleren Variationen,
vollständig verloren gehen. Jeder einzelne Versuch kommt hier mit
seinem natürlichen Gewicht zur Geltung, und die für das arithmetische
Mittel so schwierigen extremen Werthe verlieren wegen der Ver-
einzelung gänzlich ihre Gefahren.


Aus diesen Gründen hat auch Dehio*) seinerzeit diese Darstellungs-
methode in Anwendung gezogen. Allein ich habe mich später bei
anderer Gelegenheit überzeugt, dass dieselbe zu schwerfällig ist, um
mit Vortheil bei den Versuchen mit Medicamenten verwendet zu werden.
Die hier zu verfolgenden Störungen vollziehen sich so schnell, dass es
nicht möglich erscheint, in jedem Stadium des Versuches die zur Con-
struction einer brauchbaren Curve genügende Zahl von Beobachtungen
anzustellen. Wählt man aber die Abstufungen für die Gruppenbildung
zu gross, so verwischen sich alle feineren Veränderungen in den Curven
zu sehr, um bindende Schlüsse zu gestatten. Zudem ist es immerhin
misslich und umständlich, Curven nicht nur unter einander zu ver-
gleichen, sondern auch die Ergebnisse dieser Vergleichung kurz zu
formuliren.


Alle diese Erfahrungen erweckten in mir den lebhaften Wunsch,
[25] auf andere Weise einen einfachen Zahlenausdruck ausfindig zu machen,
der sich mit hinreichender Sicherheit schon aus einer kleineren Gruppe
von Beobachtungen ableiten lässt, das Ergebniss dieser letzteren in
möglichst einwandfreier Weise wiedergiebt und namentlich der Be-
einflussung durch extreme Werthe weniger unterliegt, als das arith-
metische Mittel. Ein solcher Ausdruck wäre offenbar das wahr-
scheinliche
Mittel. Die Auffindung desselben hätte nicht die ge-
ringsten Schwierigkeiten, wenn die oben definirte Curve nach beiden
Seiten vollkommen symmetrisch wäre; es würde dann mit dem arith-
metischen Mittel zusammenfallen. Allein, wie schon früher erwähnt,
sind regelmässig die zahlenverlängernden Ursachen mächtiger, als
die zahlenverkürzenden. Die Curve steigt daher rascher zum Gipfel,
als sie abfällt. Trotzdem erschien mir die Möglichkeit nicht ausge-
schlossen, dass man auch hier als geeigneten Repräsentanten einer
Versuchsgruppe denjenigen Werth betrachten dürfe, der gerade so
häufig übertroffen, als nicht erreicht wird. Natürlich würde dieser
Werth bei der Asymmetrie der Beobachtungszahlen der kleinsten der-
selben näher liegen, als der grössten.


Um über die Anwendbarkeit dieser Berechnungsart unter den vor-
liegenden Verhältnissen ein Urtheil zu gewinnen, galt es zu unter-
suchen, ob die Gruppirung der Beobachtungswerthe, abgesehen von der
erwähnten Abweichung, überhaupt den Bedingungen des Fehlergesetzes
einigermassen entspricht. Zu diesem Zwecke bestimmte ich zunächst
für die einzelnen Versuchstage der grossen 17 tägigen Associationsreihe
die Grösse des wahrscheinlichen Mittelwerthes, indem ich sämmtliche
150 Associationsreactionen eines Tages, für die ich mir Zählkarten
angefertigt hatte, nach ihrer Grösse gruppirte und aus den beiden in
der Mitte stehenden Versuchsdaten, eine kleine und harmlose Incon-
sequenz, das arithmetische Mittel bildete. Nunmehr lag also die eine
Hälfte aller Beobachtungen oberhalb, die andere Hälfte unterhalb des
so entstandenen Mittels; es war für jeden Versuch gerade so wahr-
scheinlich, dass er einen höheren, wie dass er einen geringeren Werth
lieferte, als jene Zahl. Weiterhin wurden für die beiden Theile der
ganzen Reihe in derselben Weise neue Mittel aufgesucht. Diese beiden
Theilmittel schlossen offenbar 50 % aller Beobachtungen zwischen sich,
den Kern der ganzen Reihe, der gewissermassen aus der Mitte heraus-
geschnitten worden war. Wenn das Fehlergesetz bei den hier be-
sprochenen Versuchen Geltung hat, so muss auf jeden Bruchtheil und
jedes Vielfache des Abstandes der Theilmittel eine bestimmte, nach
der Gauss’schen Formel zu berechnende Anzahl von Beobachtungs-
[26] werthen entfallen. Wir haben daher festzustellen, in welcher Weise
sich die Beobachtungen auf die einzelnen Abschnitte der ganzen Be-
obachtungsscala um das wahrscheinliche Mittel herum vertheilen, oder
umgekehrt, wie gross der Abstand solcher Beobachtungen von einander
ist, welche in der Reihe der nach der Grösse geordneten Werthe um
die gleiche Ordnungszahl nach oben und unten vom wahrscheinlichen
Mittel entfernt sind. Der leichteren Vergleichung halber empfiehlt es
sich, dieser Untersuchung solche Abstände zu Grunde zu legen, welche
sich in bestimmte einfache Beziehungen zu dem Abstande der beiden
ersten Theilmittel bringen lassen. Bezeichnen wir diesen letzteren
einstweilen mit a, so muss bei einer Zahl von 150 Beobachtungen
nach dem Fehlergesetze entsprechen:


  • Der Spielraum der 8(8,1) mittelsten Beobachtungen der Reihe dem Werthe a/10.
  • „ „ „ 20(20,1) „ „ „ „ „ „ a/4.
  • „ „ „ 40(39,6) „ „ „ „ „ „ a/2.
  • „ „ „ 104(103,2) „ „ „ „ „ „ 3a/2.
  • „ „ „ 124(123,5) „ „ „ „ „ „ 2a.
  • „ „ „ 136(136,2) „ „ „ „ „ „ 5a/2.

Die in Klammern beigesetzten Zahlen sind genauer, die andern
für die vorliegende praktische Rechnung abgerundet. Ich habe nun
einfach für sämmtliche Beobachtungstage die thatsächlichen Grenzen
ermittelt, innerhalb deren je die 8, 20 u. s. w. mittelsten Beobachtungen
der ganzen Reihe lagen; weiterhin wurde aus dem Abstande a die
Grösse berechnet, welche dieselben nach dem Fehlergesetze haben
sollten. Das Ergebniss findet sich in der Tabelle III zusammenge-
stellt, welche indessen nur die Tage berücksichtigt, an denen kein
Medicament genommen wurde. Die Zahlen sind wie überall Tausendstel
Sekunden.


Tabelle III.


[27]

Es lässt sich nicht gerade behaupten, dass die zusammengehörigen
Zahlenreihen überall eine mustergültige Uebereinstimmung mit ein-
ander zeigen. Immerhin sind die Abweichungen doch nicht so gross,
dass sie sich nicht aus der verhältnissmässig geringen Zahl von Be-
obachtungen vollkommen erklären liessen. Wir sehen daher, dass inner-
halb des Abstandes a, im Bereiche grösserer Dichtigkeit der Werthe,
die Zahlen sich einander weit mehr nähern, als ausserhalb. Jeden-
falls aber sind die Schwankungen unregelmässige; von den Vergleichs-
werthen ist bald der eine, bald der andere grösser, ein Umstand, der
ebenfalls auf die zufällige Entstehungsweise der Abweichungen hin-
deutet. Wir dürfen es somit als wahrscheinlich betrachten, dass dem
Fehlergesetze im Grossen und Ganzen auch für das hier untersuchte
Gebiet Gültigkeit zukommt. Trotzdem sich die einzelnen Beobachtungs-
werthe nicht in symmetrischen Abständen oberhalb und unterhalb des
wahrscheinlichen Mittels gruppiren, umschliessen doch je zwei Be-
obachtungen, die um die gleiche Anzahl von Werthen nach oben
oder nach unten vom Mittel entfernt sind, einen Abstand der Be-
obachtungsscala, welcher den Forderungen des Fehlergesetzes mit hin-
reichender Genauigkeit entspricht. Der wahrscheinliche Mittelwerth
besitzt also in dieser Beziehung hier dieselbe Eigenschaft wie in einer
Beobachtungsreihe mit symmetrischer Anordnung der Einzelwerthe.


Auf der andern Seite ist der Abstand a offenbar dem „wahrschein-
lichen Fehler“ in symmetrischen Beobachtungsreihen vollkommen ana-
log; es ist für den einzelnen Versuch ebenso wahrscheinlich, dass er
innerhalb, wie dass er ausserhalb jenes Abstandes fällt. Dieser letztere
zerlegt sich indessen hier nicht in zwei gleiche, nur mit verschiedenem
Vorzeichen versehene Hälften; vielmehr ist bei gleicher Zahl über und
unter dem Mittel liegender Beobachtungen für jene ersteren die Streu-
ung grösser, die Dichtigkeit geringer, als für diese letzteren. Bei der
asymmetrischen Lage des Mittels kann man daher als Mass für die
Ausgiebigkeit der Schwankungen nicht wol, wie bei symmetrischen
Reihen, die halbe Grösse des Abstandes a mit dem Vorzeichen ± be-
trachten, sondern man müsste zu jedem Vorzeichen eine andere Zahl
setzen. Freilich werden beide Zahlen in einem bestimmten Verhält-
nisse zu einander stehen müssen, dessen Grösse von der besonderen
Art der Versuchsbedingungen abhängig ist. Für die 7 Versuchstage,
deren Zahlen der Tabelle III zu Grunde liegen, gestaltete sich dieses
Verhältniss zwischen dem unteren, negativen zu dem oberen, positiven
Abschnitte des Spielraums a folgendermassen:


[28]

Tabelle IV.


Im Allgemeinen verkleinert sich somit dieses Verhältniss allmäh-
lich, wahrscheinlich unter dem Einflusse der fortschreitenden Uebung;
am letzten Tage hat es sich sogar umgekehrt. Von den übrigen Tagen
zeigt nur der vierte eine erhebliche Abweichung vom Durchschnitte
durch Verstärkung der Asymmetrie, ohne dass ich eine bestimmte
Ursache dafür anzugeben vermöchte.


Erscheint es nach den Erfahrungen der Tabelle III berechtigt,
auch bei asymmetrischen Reihen den wahrscheinlichen Mittelwerth als den
zutreffendsten kurzen Ausdruck einer Zahlengruppe anzusehen, so können
Zweifel darüber entstehen, wie gross die Anzahl der Beobachtungs-
werthe sein muss, damit derselbe noch Anspruch auf eine gewisse
Sicherheit machen kann. Um dieser Frage näher zu treten, habe ich
zunächst statt der 150 nur die ersten 25 Beobachtungen jedes Tages
zur Berechnung der Grössen a/2 und 2a benutzt. Dem Abstande a/2
musste dabei der Spielraum zwischen den 7, der Grösse 2 a derjenige
zwischen den 21 mittelsten Werthen der Reihe entsprechen.


Tabelle V.


Die Uebereinstimmung der beiden ersten Querreihen ist auch
jetzt noch eine ziemlich befriedigende, während allerdings ausserhalb
a die beobachtete und die berechnete Dichtigkeit der Werthe erheb-
liche, aber schwankende Differenzen darbietet. Die extremen Werthe
in kleinen Beobachtungsreihen fallen somit freilich sehr viel unregel-
mässiger aus; indessen ist in der Nähe des wahrscheinlichen Mittel-
werthes auch hier die relative Dichtigkeit der Beobachtungen nicht
erheblich geringer, als in ausgedehnteren Reihen. Zudem sind die
Forderungen des Fehlergesetzes gleichfalls im Allgemeinen erfüllt.
[29] Die Grösse von a, die sich nach der Tabelle III auf 188 im Durch-
schnitte berechnen lässt, beträgt hier nur 178, ein Verhalten, welches
der grösseren Gleichartigkeit der Versuchsbedingungen innerhalb
kürzerer Zeiträume entsprechen dürfte. Gerade aus diesem Umstande,
im Verein mit der zuerst erwähnten Thatsache, dürfen wir den Schluss
ziehen, dass auch bei einer bis auf den sechsten Theil verkleinerten
Anzahl von Versuchswerthen mit der gleichen Sicherheit das wahr-
scheinliche Mittel als praktischer Ausdruck der gesammten Reihe an-
gesehen werden kann. Das ist aber bei den Untersuchungen, mit
denen wir es hier zu thun haben, von der allergrössten Bedeutung.
Da es wünschenswerth erscheint, zu wissen, bis zu welchem Punkte
eine weitere Verminderung der Beobachtungszahl zulässig ist, so habe
ich schliesslich die Werthe a und a/2 auch noch aus den ersten 13 Be-
obachtungen jedes Versuchstages allein berechnet. Die Grösse a stieg
hier im Durchschnitt auf 205 an. Die Abweichungen zwischen dem
berechneten und dem beobachteten Werthe a/2 stellten sich durch-
schnittlich auf ± 29, während ich sie bei sämmtlichen Zahlen der
Tagesreihe auf ± 12, bei den ersten 25 Zahlen auf ± 19 hatte
bestimmen können. Mit der Verminderung der Beobachtungszahl
ist also nunmehr die Uebereinstimmung in der Vertheilung der
Werthe mit dem Fehlergesetze auch innerhalb des Spielraumes a
erheblich gesunken, während dieser letztere selbst an Ausdehnung
etwas zugenommen hat. In beiden Vorgängen giebt sich die geringere
Sicherheit des wahrscheinlichen Mittels zu erkennen.


Immerhin ist diese Abnahme der Sicherheit eine verhältnissmässig
nicht allzu grosse. Wir werden daher dem wahrscheinlichen Mittel selbst
dann noch ein gewisses Vertrauen schenken dürfen, wenn es aus nicht
mehr als 13 Beobachtungen abgeleitet worden ist. Diese Zahl von
Versuchen kann im Allgemeinen in etwa 3—4 Minuten gewonnen
werden, so dass wir demnach in den Stand gesetzt sind, auch für
raschere Schwankungen unseres psychischen Zustandes einen allenfalls
brauchbaren Ausdruck finden zu können. Ein sehr hoher Grad von
Gewissheit wird freilich bei der ausserordentlichen Flüchtigkeit der
Erscheinungen, die wir in Zahlen festzuhalten haben, niemals erreichbar
sein.


Um den Grad dieser Sicherheit für jede einzelne Versuchsreihe
zu bestimmen, wäre es nöthig gewesen, überall zum mindesten die
Grösse des Spielraums a nach den vorliegenden Beobachtungen zu
berechnen. Um die späteren Tabellen nicht zu sehr mit Einzelheiten
zu belasten, habe ich indessen darauf verzichtet, diese Zahlen überall
[30] mitzutheilen. Sie schwanken natürlich je nach den besonderen Ver-
suchsumständen innerhalb gewisser Grenzen, doch hat sich im Allge-
meinen ergeben, dass z. B. bei K. der Umfang von a für die ein-
fache Reaction den Betrag von 20 σ, für die Unterscheidungsreaction
30—40 σ und für die Wahlreaction 50—80σ nicht oder doch nicht er-
heblich übersteigt. Für die übrigen Versuchspersonen finden sich
ganz ähnliche Verhältnisse; nur bei L. ist der Spielraum ein etwas
weiterer. Die Grösse der medicamentösen Veränderungen der Reac-
tionszeiten bewegt sich daher nicht selten noch im Bereiche von a.
Darum ist ein einzelner Versuch natürlich auch für die Wirkung des
Mittels nicht beweisend. Wol aber wird die Abhängigkeit auch
kleinerer Schwankungen in den Beobachtungswerthen von dem Ein-
flusse des Medicamentes wahrscheinlich, wenn jene Schwankungen sich
bei mehreren oder vielen Versuchen in gleicher Richtung und zu den-
selben Zeitpunkten wiederfinden, vorausgesetzt, dass die Wirksamkeit
anderweitiger Ursachen mit genügender Zuverlässigkeit ausgeschlossen
wurde.


Als ein weiteres wichtiges Ergebniss lässt sich aus den ange-
führten Tabellen die Erfahrung ableiten, dass die allgemeine Ver-
theilung der Beobachtungen an den verschiedenen Versuchstagen keine
erheblichen und constanten Verschiedenheiten erkennen lässt. Daraus
geht hervor, dass die Gültigkeit des Fehlergesetzes hier durch kleinere
Aenderungen in dem Zustande der Versuchsperson nicht wesentlich
gestört wird. Da im Allgemeinen alle Versuche unter Beachtung
derselben Vorsichtsmassregeln durchgeführt worden sind, so dürfen
wir wol weiterhin schliessen, dass der für diese Gruppe von Experi-
menten erbrachte Nachweis ohne schwererwiegende Bedenken auch auf
die übrigen gleichartigen Versuche übertragen werden kann. Stellen
sich hier an 7 verschiedenen Tagen nur unregelmässige und zufällige
Schwankungen in der Vertheilung der Werthe heraus, so darf die
wesentliche Uebereinstimmung der sonstigen, unter ganz gleichen Be-
dingungen gewonnenen Beobachtungsreihen hinsichtlich dieses Punktes
als wahrscheinlich gelten. Diese Annahme gewinnt noch an Berech-
tigung durch den Umstand, dass auch die durch Medicamente beein-
flussten Versuchsreihen derselben Gruppe in der Hauptsache voll-
kommen die gleichen Eigenschaften darbieten, wie die mitgetheilten
Beobachtungsgruppen. Durchaus anders liegt die Sache natürlich mit
dem Werthe a, dessen Grösse durch die Versuchsumstände, den Grad
der Uebung, die Ermüdung u. s. f. in entscheidender Weise verändert
wird, ganz ähnlich, wie das wahrscheinliche Mittel selbst. Gleichheit
[31] von a bei Versuchen derselben Art erlaubt mit einigem Vorbehalt den
Schluss auf Gleichheit aller wesentlichen inneren und äusseren Ver-
suchsbedingungen und umgekehrt.


Die asymmetrische Vertheilung der Beobachtungen zu beiden
Seiten des wahrscheinlichen Mittelwerthes ist, wie schon oben ange-
deutet, der Grund dafür, dass wir das arithmetische Mittel bei den
Versuchen über psychische Zeitmessung nicht als zuverlässigen Aus-
druck einer Beobachtungsreihe ansehen dürfen. Bei gleicher Zahl
der über und unter dem wahrscheinlichen Mittel gelegenen Werthe
überwiegen die ersteren wegen ihrer grösseren Abweichung vom Mittel
mehr oder weniger stark über die letzteren, so dass sie das arith-
metische Mittel über das wahrscheinliche erhöhen. Der Umfang dieser
Erhöhung ist von dem Grade der Asymmetrie, dieser letztere bei
unsern Versuchen wieder von allen jenen äusseren und inneren Ver-
suchsumständen abhängig, welche die Dichtigkeit der Zahlen beein-
flussen. Dem gegenüber ist für das wahrscheinliche Mittel wesentlich
die Grösse der mittleren Beobachtungswerthe, nicht aber die spezielle
Vertheilung der Zahlen im ganzen Bereiche massgebend; diese letztere
kommt erst bei der Berechnung der Grösse a in Betracht. In Folge
dessen wird das Verhältniss des arithmetischen zum wahrscheinlichen
Mittel ein wechselndes. In der folgenden Tabelle finden sich z. B.
die betreffenden Werthe für die hier besprochenen 7 Versuchstage mit
wiederholten Associationsreactionen zusammengestellt:


Tabelle VI.


Mit Ausnahme des letzten Tages ist also das arithmetische that-
sächlich überall grösser, als das wahrscheinliche Mittel, weil eben
jenes erstere nicht nur durch die Anzahl, sondern auch durch die
numerische Grösse der extremen Beobachtungswerthe mitbestimmt
wird. Je mehr durch die fortschreitende Uebung die zufälligen sehr
grossen Zahlen wegfallen, desto mehr nähert sich das arithmetische
Mittel allmählich dem wahrscheinlichen. Diese Erfahrungen lehren,
dass gerade bei unsern Versuchen, bei denen durch Vergiftungen die
Entwicklung unregelmässiger Schwankungen und insbesondere das Auf-
[32] treten einzelner abnorm langer Reactionen sehr begünstigt wird,
das von Zufälligkeiten mehr abhängige arithmetische Mittel nur in
geringem Masse geeignet ist, das Gesammtbild einer Beobachtungs-
reihe wiederzugeben. Ich habe daher überall, und auch dort, wo ich
früher bereits den Gang der Versuche in arithmetischen Mitteln dar-
gestellt hatte, die Anwendung des wahrscheinlichen Mittels vorgezogen.
Die Bestimmung desselben geschah, um zeitraubende und nach der
ganzen Sachlage unnöthig genaue Rechnungen zu vermeiden, stets
nach dem Verfahren der directen Auszählung, wie es auch der
leichteren Verständlichkeit halber den gesammten im Vorstehenden
angestellten Betrachtungen zu Grunde gelegt worden ist.


d. Zeitschätzungsversuche.


Die Erfahrungen, welche von Ejner*) bei seinen Versuchen über
den Zeitsinn gewonnen wurden, haben mich endlich veranlasst, auch
die von ihm angewandte Methode zur Aufklärung der psychischen
Wirkungen wenigstens des Alkohols und Thees mit heranzuziehen.
Ich bediente mich zu diesem Zwecke der Methode der mehrmaligen
Reproduction. Der Beginn und das Ende eines bestimmten Zeitinter-
valles, das in unseren Versuchen stets 30 Sekunden betrug, wurde
der Versuchsperson durch den Zuruf „Jetzt“ markirt, während sie mit
geschlossenen Augen ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Erfassung
dieser Zeitstrecke richtete und alle störenden Nebenvorstellungen mög-
lichst fernzuhalten bemüht war. In unmittelbarem Anschlusse an
dieses Normalintervall musste nun die Versuchsperson 25 mal hinter-
einander ohne Pause ihrerseits Zeitstrecken durch Zuruf markiren,
welche sie jenem ersten gleich schätzte. Die Messung dieser Zeiten
geschah sehr einfach mit Hülfe eines Zählchronometers, welches die
Fünftel Sekunden abzulesen gestattete. Der Gang des grossen Sekunden-
zeigers wurde von dem Registrirenden fortdauernd mittelst eines Blei-
stiftes, einer Nadel oder dergl. verfolgt, damit der Augenblick des
Zurufs sofort fixirt und genau aufgezeichnet werden konnte. Natür-
lich sind hier aus verschiedenen, von Ejner im Einzelnen erörterten
Gründen **) Zeitmessungsfehler in der Grösse von einigen Fünftel
Sekunden unvermeidlich, doch spielen dieselben wegen der ganz enormen
psychischen Schätzungsfehler gar keine Rolle.


[33]

Da bei diesem Verfahren die Normalzeit durchschnittlich etwa
um ⅔ überschätzt wird, so dauert eine solche Reihe von 25 Schätz-
ungen ungefähr 21 Minuten. Um aber die Medicamentwirkungen noch
länger verfolgen zu können, ohne von der Ejner’schen Methode zu
sehr abzuweichen, knüpfte ich immer vier Versuchsreihen an einander.
Jede derselben wurde durch das Normalintervall eingeleitet und um-
fasste 25 Schätzungen. In erster Linie kam es mir dabei natürlich
auf die Feststellung der normalen Verhältnisse an. Ejner hat zwar
an mehreren Personen im Wesentlichen übereinstimmende Resultate
erhalten; es erschien aber doch nothwendig, zunächst bei den in Be-
tracht kommenden Versuchspersonen, nämlich bei Herrn Dr. H. Dehio
und bei mir selbst, Reihen zu gewinnen, welche mit Sicherheit als
Grundlage für die Auffindung der Medicamentwirkungen dienen konnten.
Dies war um so nothwendiger, als unser Verfahren sich durch die
viermalige Wiederholung immerhin von demjenigen Ejner’s unterschied,
der nur je zwei Schätzungsreihen mit einander vereinigte. Ueber den
Ausfall und die Deutung dieser Versuche werde ich später zu be-
richten haben.


e. Statistik der Associationen.


Als einen wesentlichen Mangel der meisten psychometrischen Ver-
suche habe ich es immer empfunden, dass in der Regel nur die
Schnelligkeit der psychischen Leistung, nicht aber ihre Güte als
Massstab der Leistungsfähigkeit benutzt werden kann. In dieser Rich-
tung liegen erst wenige Ansätze vor, obgleich naturgemäss gerade bei
den verwickelteren Vorgängen die Zeitdauer an sich nur als ein sehr
ungenügendes Kriterium betrachtet werden kann. Für die einfachen
Reactionen freilich dürfte sich eine Werthbestimmung, eine Censur
des einzelnen Versuchs, unmöglich erweisen; höchstens könnte das Auf-
treten vorzeitiger, bei den Wahlzeiten dasjenige von Fehlreactionen
im Sinne einer minderwerthigen oder qualitativ veränderten Ausführung
der gestellten psychologischen Aufgabe gedeutet werden. Auch die
fortlaufende Methode gestattet kaum ein Urtheil über die Güte der
Leistung, man müsste denn etwa beim Rechnen die Richtigkeit der
einzelnen Lösungen oder beim Auswendiglernen die Festigkeit des Ge-
lernten prüfen. Das ginge wol an, ist jedoch einstweilen noch nicht
genügend praktisch erprobt. Nur auf einem Gebiete erscheint es schon
jetzt möglich, auch die Art der geistigen Arbeit eingehender mit zu
berücksichtigen, bei den Associationsversuchen. Man kann hier auf
Kraepelin, Beeinflussung. 3
[34] statistischem Wege Abweichungen in der Zusammensetzung der Asso-
ciationsgruppen einer Beobachtungsreihe von dem anderweitig studirten
normalen Verhalten feststellen und daraus Schlüsse auf die spezielle
Richtung ableiten, in welcher unsere Vorstellungsverbindungen durch
dieses oder jenes Medicament beeinflusst werden. Leider weist schon
die Nothwendigkeit einer Statistik auf das Bedürfniss sehr zahlreicher
Einzelbeobachtungen hin, so dass hier von einer Verfolgung der ver-
schiedenen Stadien einer medicamentösen Einwirkung kaum die Rede
sein kann.


Dazu kommt aber noch eine andere, weit stärker in’s Gewicht
fallende Schwierigkeit. Jede qualitative Gruppirung der Associationen
setzt nämlich die Möglichkeit voraus, die Zugehörigkeit der einzelnen
gegebenen Vorstellungsverbindung ohne Weiteres und mit Sicherheit
bestimmen zu können. In der That ist es Trautscholdt*) gelungen,
das bei Gelegenheit seiner zeitmessenden Versuche gewonnene Asso-
ciationsmaterial nach gewissen allgemeinen Gesichtspunkten in ein ziem-
lich detaillirt durchgearbeitetes Schema einzuordnen. So lange es sich
dabei nur um die empirische Auffindung aller thatsächlich vorkommen-
den Möglichkeiten der Vorstellungsverbindung handelt, erweist sich
diese Methode als völlig zweckentsprechend. Wesentlich anders ge-
staltet sich jedoch die Sachlage, wo die einzelne Association die Grund-
lage einer statistischen Untersuchung bildet. Alle statistischen Ein-
heiten müssen vor Allem eindeutig sein, wenn ihre Verarbeitung
zu brauchbaren Ergebnissen führen soll. Diese Eigenschaft der Ein-
deutigkeit fehlt aber der grossen Mehrzahl praktisch vorkommender
Associationen durchaus, ja sie muss ihnen fehlen, da wir nur selten
und nur durch besondere Kunstgriffe im Stande sind, jene verschieden-
artigen Ursachen, die zur Verbindung von Vorstellungen führen können,
im Einzelfalle von einander zu trennen. Schon bei einer vor Jahren
durchgeführten Versuchsreihe, in der ich unter Anderem die quali-
tativen Veränderungen der Associationen unter dem Einflusse der
Uebung und Ermüdung zu verfolgen suchte, drängte sich mir die Un-
möglichkeit auf, die fertigen Producte der verwickelten Associations-
vorgänge in befriedigender Weise zu classificiren. Ich versuchte da-
mals, von der Wundt’schen **) Uebersicht ausgehend, zunächst die Ein-
theilung in äussere und innere Vorstellungsverbindungen, in jene
erste Kategorie die „Berührungsassociationen“, in diese letztere die
[35] „Aehnlichkeitsassociationen“ verweisend. Jede dieser grossen Klassen
zerfiel dabei naturgemäss wieder in kleinere Gruppen.


Unter den äusseren Vorstellungsverbindungen bildeten die erste
Reihe diejenigen, bei denen das Bindeglied durch räumliche oder
zeitliche Coexistenz
geliefert wurde, z. B. Pferd-Sattel, Rauch-
Knall und ähnliche. Schwierigkeiten ergeben sich hier hauptsächlich
bei den Associationen zwischen Theil und Ganzem, die sich im All-
gemeinen ohne Zweifel unter den soeben genannten Gesichtspunkt ein-
ordnen lassen, bei denen aber bisweilen auch andere Auffassungen
nahe liegen. Die Verbindungen Haus-Fenster, Baum-Rinde sind ohne
Zweifel als Berührungsassociationen zu betrachten; wie steht es aber
z. B. mit der Verbindung Jahr-Monat? Ist hier für das Zustande-
kommen der Association die Zerlegung des Jahres in seine Bestand-
theile, das zeitliche Aufgehen des Monates im Jahre, ihre Coexistenz
im Datum, oder ist vielmehr ihre begriffliche Aehnlichkeit, ihre ge-
meinsame Unterordnung unter die Allgemeinvorstellung des Zeitab-
schnittes massgebend gewesen?


Weit verwickelter aber gestalten sich die Verhältnisse in der
zweiten Gruppe der äusseren Associationen, in welcher ich alle jene
Verknüpfungen zusammengefasst hatte, die auf mehr oder weniger
mechanischer Einübung beruhen. Hierhin gehören die Citate
und vor Allem die zahlreichen gewohnheitsmässigen Wortverbindungen
und Zusammensetzungen. An diesem Punkte tritt die Unzulänglich-
keit aller Eintheilungsversuche zu statistischen Zwecken klar zu Tage.
Wie Wundt betont hat, fixirt sich die geistige Arbeit der Genera-
tionen wie des Einzelnen mehr und mehr in den festen Redeformen
der Sprache. Was ursprünglich eigenartige associative Leistung war,
wird durch die häufige Wiederholung zur mechanisch eingelernten
Redensart, zur Phrase, die wir gebrauchen, ohne uns der einzelnen
begrifflichen Bestandtheile klar bewusst zu werden, jedenfalls ohne
active Betheiligung an dem Zustandekommen der bereits fertig in
unseren Gedankengang eintretenden Vorstellungsverbindung. Die
Sprache denkt für uns, indem sie uns den Niederschlag früherer Geistes-
arbeit ohne Weiteres zur Verfügung stellt und uns der Mühe über-
hebt, die zahllosen in ihrem Schatze aufbewahrten Verbindungen immer
selbst auf’s Neue zu knüpfen. Alle inneren Associationen, namentlich
die sprachlichen, wandeln sich im Laufe ihrer Entwicklung um so
sicherer in äussere um, je häufiger sie vollzogen werden, oder richtiger,
es gesellt sich zu dem inneren ein mit jeder Wiederholung fester
werdendes äusseres Band. Schliesslich genügt dieses letztere allein
3*
[36] schon, um die Verbindung aufrecht zu erhalten; die inneren begriff-
lichen Beziehungen treten immer mehr in den Hintergrund.


Natürlich vollzieht sich dieser Vorgang überall nur ganz allmäh-
lich, und es ist daher im einzelnen Falle nicht selten völlig unmöglich,
zu entscheiden, ob hier noch eine Aehnlichkeits- oder nur eine Be-
rührungsassociation vorliege. Weib und Kind, Blitz und Donner
können als die coordinirten Glieder der Vorstellung Familie oder
Naturerscheinung aufgefasst werden, oder sie können einfach durch
die associative Gewöhnung des Sprachgebrauches an einander geknüpft
sein. Zudem wäre hier weiterhin auch noch die Möglichkeit einer Ver-
bindung nach räumlicher oder zeitlicher Coexistenz gegeben. Bei der
Association Haft-Haftpflicht ist die rein mechanische Verknüpfung der
beiden Bestandtheile nicht zweifelhaft, da das Product in keiner be-
grifflichen Beziehung zum Ausgangsworte steht; sobald wir dagegen
associiren Haft-Strafhaft, kann es ungewiss erscheinen, ob die Strafhaft
begrifflich als eine besondere Form der Haft, etwa im Gegensatze zur
Untersuchungshaft, gedacht wurde, oder ob es sich auch hier um eine
rein äussere Verknüpfung durch sprachliche Gewöhnung handelt. Aehn-
liche Beispiele lassen sich leicht in grosser Zahl auffinden. Aber selbst
dort, wo an sich die eine oder andere Deutung von vornherein selbst-
verständlich erscheint, ist es doch meist nicht möglich, wenigstens eine
Mitbetheiligung andersartiger associativer Einflüsse gänzlich auszu-
schliessen, da offenbar die verschiedenen Arten der Verknüpfung über-
aus häufig gleichzeitig neben und mit einander vorkommen.


Als eine dritte Gruppe der äusseren Vorstellungsverbindungen
haben wir die Klangassociationen anzusehen. Hier deckt sich,
wenigstens anscheinend, der Begriff der äusseren mit demjenigen der
Berührungsassociationen nicht vollständig, da die Verknüpfung auf
Grund einer Aehnlichkeit, freilich einer ganz äusserlichen, sich voll-
zieht. Allerdings könnte man etwa sagen, dass bei einer Association
Baum-Traum oder Fuchs-Dachs, sofern hier überhaupt die Klang-
ähnlichkeit eine Rolle spielt, die nicht übereinstimmenden Laute ein-
fach auf Grund einer gewohnheitsmässigen Verknüpfung durch die über-
einstimmenden Elemente in die Vorstellungsverbindung hineingezogen
werden und unter diesem Gesichtspunkte auch hier die „Berührung“
das eigentliche tertium associationis darstelle. Die Klangassociationen
bieten im Allgemeinen der Classification die geringste Schwierigkeit;
sie sind in ihrer Eigenart ohne Weiteres zu erkennen.


Unter den inneren Associationen möchte ich in erster Linie die-
jenigen nennen, welche eine Subordination oder Coordination
[37] in sich schliessen. Dahin gehören die Verknüpfungen des Allgemeinen
mit dem Besonderen und umgekehrt, sowie die Association solcher
Vorstellungen, welche sich unter einer naheliegenden Allgemeinvor-
stellung gleichberechtigt zusammenfassen lassen. Gerade diese Zu-
gehörigkeit zu einer und derselben Gruppe von Vorstellungen ist es,
welche hier die Annahme von Aehnlichkeitsassociationen rechtfertigt.
Allein es ergiebt sich bald, dass die grosse Mehrzahl dieser Verbin-
dungen durchaus zu der Gattung der eingeübten, gewohnheitsmässig
festgehaltenen gehört, da eben die Beziehungen so sehr naheliegende
sind. Associationen wie Zeit-Raum, Stahl-Eisen, Frost-Hitze können
daher kaum noch als wirkliche intellectuelle Leistungen angesehen
werden; wenigstens muss es als zweifelhaft gelten, ob nicht in jedem
einzelnen Falle die mechanische Einübung die Hauptrolle spielt. Noch
schwieriger wird diese Entscheidung bei den häufigen Wortzusammen-
setzungen, die ursprünglich aus einer Subordination der Vorstellungen
hervorgegangen sind, wie in den Beispielen Graf-Pfalzgraf, Wind-
Wirbelwind u. s. f.


Eine besondere Stellung nehmen endlich diejenigen Associationen
ein, welchen Urtheile zu Grunde liegen und die ich deswegen einst-
weilen mit dem Namen der „prädicativen“ bezeichnen möchte. Zu
dieser Klasse rechne ich die Hinzufügung von Eigenschaften oder
Thätigkeiten zum Reizworte, wie in den Beispielen Blei-schwer,
Kind-schreien. Hier liegen in gewissem Sinne Berührungsassociationen
vor, insofern aus der ganzen Zahl von Erfahrungselementen, welche
die Ausgangsvorstellung zusammensetzen, ein einzelnes herausgehoben
wird, welches mit den übrigen durch den Vorgang der Complication
in Verbindung getreten war. Gleichwol erscheint es mir nicht
möglich, diese Gruppe der Associationen zu den äusseren zu rechnen,
da sie offenbar in allernächster Verwandtschaft zu den Subordinations-
und Coordinationsassociationen stehen. Hier wie dort handelt es sich
um innere begriffliche Beziehungen der sich aneinander knüpfen-
den Vorstellungen im Gegensatze zu der rein äusserlichen Ver-
bindung durch associative Gewöhnung oder den Gleichklang der
sprachlichen Bezeichnung. Allerdings ist schliesslich die Complication
der einzelnen sinnlichen Erfahrungen, welche die Vorstellung eines
Gegenstandes zusammensetzen, auch nur durch die Gewöhnung be-
dingt, welche uns die regelmässige Coexistenz der gleichen Wahr-
nehmungselemente als eine nothwendige erscheinen lässt und somit
zur Herstellung einer innigeren Verbindung den Anlass giebt. Ja
das sprachliche Lautbild, welches sich zu der Vorstellung „Katze“
[38] hinzugesellt, kann in gewissem Sinne ebenso als wesentlicher Bestand-
theil derselben angesehen werden, wie etwa die Erinnerung an das
charakteristische Geschrei. Auf der anderen Seite sind die einzelnen
Theile eines Gegenstandes, da sie doch denselben schon im einzelnen
Erinnerungsbilde zusammensetzen, vielfach wahrscheinlich fester mit-
einander psychologisch verknüpft, als die aus verschiedenen Sinnes-
gebieten stammenden Elemente der Gesammtvorstellung.


Wie man sieht, verwischen sich bei genauerer Betrachtung die Ver-
schiedenheiten zwischen äusseren und inneren Associationen immer mehr.
Mit der Verknüpfung nach Berührung und Aehnlichkeit decken sich
dieselben jedenfalls nicht in befriedigender Weise, auch wenn wir
davon absehen, dass sich die Wirksamkeit jener Prinzipien im ein-
zelnen Falle vielfach mit einander verbindet. Das Ergebniss wird
schliesslich darauf hinauslaufen, dass die Verbindung bei den äusseren
Associationen durch einen zufälligen, bei den inneren durch einen in
der Constitution der Vorstellung wesentlich begründeten Zusammen-
hang vermittelt wird. Ob aber dieser Zusammenhang im einzelnen
Falle ein wesentlicher oder zufälliger ist, lässt sich nicht nach allge-
meinen Grundsätzen entscheiden. Die Association Zink-Kohle kann
für den Unerfahrenen aus der zufälligen Wahrnehmung einer häufigen
räumlichen Verbindung beider Stoffe entspringen, während sie sich
dem Kundigen aus der Coordination derselben unter dem allgemeinen
Begriffe der Elektricitätserreger herausentwickelt. Bei den prädi-
cativen Associationen, die wir nach Wundt’s Vorgang nicht mehr den
associativen, sondern den apperceptiven Verbindungen der Vorstellungen
zuzurechnen haben würden, begegnen wir auf’s Neue der schon oben
eingehend berührten Schwierigkeit, den Einfluss der sprachlichen Ge-
wöhnung von demjenigen der inneren begrifflichen Beziehung abzu-
grenzen. Auch hier hat sich die Verbindung zwischen Subject
und Prädicat in zahllosen Fällen derart fixirt, dass sie rein mechanisch,
auf Grund der täglichen Einübung erfolgt. In einzelnen Beispielen,
wie Bock-schiessen, Stroh-dreschen ist dieser äusserliche Ursprung der
Association aus einer stehenden Redewendung deutlich erkennbar,
wegen der Sinnverschiebung, welche das Reizwort durch das Prädicat
erhält; meistens aber ist man hinsichtlich der Grenzbestimmung völlig
rathlos.


Es kann hier natürlich nicht meine Aufgabe sein, eine genauere
Darlegung der Associationsgesetze oder eine Kritik der herrschenden
Theorien zu schreiben, sondern es kommt mir nur auf die Unter-
suchung der Frage an, wie weit und nach welchen Gesichtspunkten
[39] sich eine gegebene Gruppe von Associationen statistisch weiter ver-
arbeiten lässt. Das Ergebniss dieser Betrachtung ist leider kein sehr
günstiges. Selbst dann, wenn es gelänge, theoretisch die Vorstellungs-
verbindungen in ein einfaches System zu bringen, scheitert die prak-
tische Eintheilung an der Unmöglichkeit, aus der äusseren Form der
Association ihr inneres Gefüge zu erkennen und die Mitwirkung ver-
schiedener associativer Ursachen im Einzelfalle mit genügender Sicher-
heit auseinanderzuhalten. Trotz alledem habe ich, um mir ein Urtheil
über die Tragweite dieser Bedenken zu bilden, vor Jahren den Ver-
such gemacht, 5 im Uebrigen unter den gleichen Bedingungen, nur
zu verschiedenen Tageszeiten gewonnene Gruppen von je 50 Asso-
ciationen nach den bisher erörterten Grundsätzen einzutheilen. In
einer ersten Kategorie stellte ich alle diejenigen Vorstellungsver-
bindungen, welche anscheinend aus räumlicher oder zeitlicher Coexistenz,
aus Wortzusammensetzungen, fixirten Redewendungen, Citaten hervor-
gegangen waren, mit den Klangassociationen zusammen, während ich
in der zweiten Hauptgruppe die Verknüpfungen nach Coordination,
Subordination und prädicativen Beziehungen vereinigte. Das Resultat
dieses Versuches war folgendes:


Tabelle VII.


Zum Vergleiche habe ich in den 3 letzten Längsreihen die ent-
sprechenden Zahlen für je 50 Versuche der neuerdings an mir selbst
durchgeführten Associationsreihe hinzugefügt. Die Gruppirung ist
überall ohne irgend welche Einsicht in die übrigen Zahlen, aber
unter genauem Festhalten der gleichen Grundsätze vorgenommen
worden. Die Ungleichheiten der einzelnen Gruppen in den ersten
5, zu verschiedenen Tageszeiten gewonnenen Reihen gehen haupt-
sächlich aus einem wechselnden Verhältnisse zwischen den sprachlichen
Reminiscenzen und den prädicativen Beziehungen hervor; die Summen
dieser beiden Klassen liefern relativ geringe Schwankungen. Gerade
hier bietet aber auch die Beurtheilung der Zugehörigkeit zur einen
[40] oder zur andern Gruppe, wie früher auseinandergesetzt, die grössten
Schwierigkeiten, namentlich für denjenigen, der die Association nicht
selbst geliefert hat. Weit leichter ist die Gruppirung für den Asso-
ciirenden selber, der sich eben über das Zustandekommen der ein-
zelnen Verbindung durch associative Gewöhnung oder begriffliche
Analyse bis zu einem gewissen Grade Rechenschaft zu geben vermag.
Auf diesen letzteren Umstand, weniger auf die Ausführung zu der-
selben Tageszeit, bin ich daher geneigt, die viel grössere Gleich-
mässigkeit der Gruppirung in den 3 letzten Längsreihen zurückzu-
beziehen, da diese Versuche nicht, wie die früheren, bei einer anderen
Versuchsperson, sondern bei mir selbst gewonnen wurden. Es scheint
daher, dass die möglichen Fehler sich durch eine pedantisch gleich-
mässige Behandlung des Materials bis zu einem gewissen Grade wieder
ausgleichen können. Bemerkenswerth ist es übrigens, dass auch so der
Durchschnitt der äusseren Associationen, 21, beziehungsweise 23 auf
50, bei beiden Versuchspersonen sehr nahe übereinstimmt, und dass
namentlich auch die so gut charakterisirten Klangassociationen in
beiden Fällen genau die gleiche Häufigkeit zeigen, 1,2 resp. 1,3
auf 50.


Dieser Ausfall der Versuche lässt es vielleicht doch nicht völlig
aussichtslos erscheinen, wenn ich späterhin bei den an mir selbst
durchgeführten Beobachtungsreihen mit Medicamenten auch den
inhaltlichen Veränderungen der Associationen bis zu einem gewissen
Punkte nachzugehen unternehme. Alles Eindringen in Einzelheiten
wird sich dabei freilich von selbst verbieten; immerhin dürften sehr
erhebliche Verschiebungen im Verhältnisse der äusseren zu den inneren
Associationen und ganz besonders Abweichungen in der Häufigkeit
der Klangassociationen im Hinblick auf die mitgetheilten Ergebnisse
nicht ohne Weiteres als Zufälligkeiten zu deuten sein. Wir werden
den Weg mit grosser Vorsicht beschreiten müssen, aber da er einst-
weilen der einzige ist, der uns zu einer zahlenmässigen Verfolgung
qualitativer Veränderungen der psychischen Leistungen zu führen
verspricht, so erscheint es mir zweckmässig, ihn nicht durch theo-
retische Bedenken von vornherein zu versperren, sondern ihn durch
genaues Studium aller in Betracht kommenden Verhältnisse nach Mög-
lichkeit gangbar zu machen.


[[41]]

II. Versuche mit Alkohol.


a. Warren’s Versuche.


Seit der Veröffentlichung meiner ersten Versuche über die Beein-
flussung psychischer Vorgänge durch den Alkohol ist mir nur eine
einzige Arbeit über den gleichen Gegenstand bekannt geworden, die-
jenige von Warren.*) Der genannte Autor untersuchte mit grossem
Fleisse und in zahlreichen Versuchsreihen die Einwirkung des Alko-
hols auf die Dauer der einfachen Reaction. Die Anordnung der Ver-
suche geschah in der Weise, dass nach einer Anzahl (gegen 30) Nor-
malreactionen sehr wechselnde Dosen (12—15 gr) absoluten Alkohols
in stärkerer Verdünnung genommen und nunmehr in anscheinend
grösseren Zwischenpausen 2—3 neue Versuchsreihen durchgeführt
wurden; Normal- und letzte Alkoholreihe liegen dabei nicht selten
1½, ja sogar bis zu 2 Stunden auseinander. Die Zeitmessung geschah
mit Hülfe des Bowditch’schen Neuramöbimeter, welches im Princip
sich dem von Exner früher angegebenen gleichnamigen Instrumente
anschliesst. Die Ergebnisse Warren’s sind sehr unsichere. Es scheint
ihm zwar, dass bei einer seiner 3 Versuchspersonen im Ganzen eine
rasch auftretende Beschleunigung, bei einer anderen eine spätere Ver-
langsamung der Reaction sich geltend macht, und er berichtet auch
von der unter dem Alkoholeinflusse auftretenden leichten motorischen
Unruhe, allein seine Zahlen gestatten ihm keine bindenden Schlüsse.


Wenn dieses Resultat vorerst im Widerspruch mit demjenigen
meiner eigenen Versuche zu stehen scheint, so dürften sich die Ursachen
dieser Abweichung doch nicht allzuschwer auffinden lassen. Zunächst
[42] ist zu bemerken, dass der Vorgang der einfachen Reaction im Allge-
meinen keine so ausgiebigen Veränderungen in Folge der Alkohol-
wirkung darbietet, wie die verwickelteren Reactionsformen. Dazu
kommt aber, dass Warren’s Versuche zwar sehr sorgfältig und aus-
führlich discutirt, aber nicht systematisch genug angestellt worden
sind. Die Lücken zwischen den einzelnen Versuchsreihen, die durch
anderweitige Beschäftigungen ausgefüllt wurden, sind zu gross, um einen
wirklichen Ueberblick über den Ablauf der Alkoholwirkung zu gestat-
ten, und vor Allem scheint nach der Bemerkung l. c. p. 317, dass die
Alkoholdosis in wechselnder Zwischenzeit vor der zweiten Versuchs-
reihe genommen wurde, die Zeit unmittelbar nach der Einverleibung des
Mittels nicht immer genügend berücksichtigt zu sein. Gerade in diese Zeit
aber fällt ja die flüchtige Erscheinung der Verkürzung. Nach der
Tabelle l. c. p. 336 findet sich freilich unter den 13 Versuchen, in
denen Reihen innerhalb der ersten 20 Minuten nach der Aufnahme
des Alkohols gewonnen wurden, nur 8 Mal eine Verkürzung gegenüber
der Normalzeit, aber von den übrigen 5 Fällen mit anfänglicher Ver-
längerung betrafen 4 solche mit Dosen über 50 gr, in denen also auch
nach meinen Versuchen das sofortige Auftreten der Verlängerung zu
erwarten war. Die Mehrzahl dieser Reihen mit frühzeitiger Registrirung
fällt auf jene Versuchsperson, bei der eben auch Warren eine anfäng-
liche Verkürzung der Zahlen auffiel, doch scheint ihn hier das abweichende
Ergebniss bei grossen Dosen wieder zweifelhaft gemacht zu haben.


Auf der andern Seite finden wir unter den 34 verwerthbaren
Reihen, welche später als 20 Minuten nach der Alkoholdosis auf-
genommen wurden, nicht weniger als 28 Mal eine Verlängerung.
Von den 6 Fällen mit Verkürzung fallen 3 noch innerhalb der ersten
38 Minuten, die 3 anderen auf die späte Zeit von 68, 70 und 98
Minuten nach der Einnahme des Mittels. Natürlich haben hier alle
Versuche mit mehrmaligen Alkoholgaben wegen der dadurch beding-
ten und schon von mir früher geschilderten Complication ausser Be-
tracht bleiben müssen. Die Mehrzahl der späten Beobachtungsreihen
trifft auf jene Versuchsperson, bei welcher auch Warren eine Ver-
längerung der Reactionszeiten nach einiger Zeit für wahrscheinlich
hält. Es scheint mir daher bei genauerer Betrachtung, dass im
Ganzen Warren’s Versuche, namentlich wenn man die überall gelegent-
lich mit hineinspielenden zufälligen Fehlerquellen berücksichtigt, eine
verhältnissmässig sehr befriedigende Uebereinstimmung mit meinen
eigenen Ergebnissen darbieten. Dem Autor selbst, der meine Arbeit
erst nach Abschluss seiner Experimente zu Gesicht bekam, ist diese
[43] Uebereinstimmung zum guten Theil dadurch verdeckt worden, dass er
die Versuche mit mehrfachen Akoholgaben nicht ausschied und ausser-
dem die Unterschiede in der Wirkung kleiner und grosser Dosen un-
beachtet liess. Dass diese Deutung der Warren’schen nur scheinbar
unbefriedigenden Ergebnisse die richtige ist, wird sich, wie ich denke,
sowol aus einer nochmaligen Betrachtung meiner eigenen älteren
Versuche, wie aus den weiter folgenden Ausführungen mit grosser
Wahrscheinlichkeit herausstellen.


b. Eigene ältere Versuche.


Die im methodischen Theile dieser Arbeit angestellten Erörterungen
veranlassten mich dazu, einen Theil jener Versuche, welche die Grund-
lage meiner früheren Abhandlung gebildet hatten, an der Hand der
Protokolle einer erneuten Durchsicht zu unterziehen und namentlich
an Stelle der früheren Berechnungsart die Bildung wahrscheinlicher
Mittel zu versuchen, um so gleichzeitig einen Prüfstein für die Rich-
tigkeit der damals gezogenen Schlüsse und für die Verwendbarkeit
jener neuen Darstellungsmethode zu gewinnen. Natürlich eigneten sich
für dieses Verfahren nur die Reihen mit gleichartigen Reactionen,
nicht aber die combinirten Versuche, da hier die Zahl der jeweils zu-
sammengehörigen Beobachtungen zu klein war, um die Bildung eines
wahrscheinlichen Mittelwerthes zu gestatten. Unter diesen Umständen
blieben, wenn wir zunächst auch von den Reihen mit mehrmaliger Al-
koholdosis absehen, noch 27 Versuche übrig, von denen je 10 auf die
einfache und Wahlreaction, 7 dagegen auf die Unterscheidung ent-
fallen. Die Berechnung dieses Materials geschah nun in der Art, dass
zunächst aus den Normalzahlen jedes Versuches ein wahrscheinlicher
Mittelwerth gebildet wurde. Nach der Einverleibung des Alkohols
folgten mit sehr kurzen Pausen (2—3 Minuten) zum Aufziehen des
Chronoskops weitere Reihen von 20—40 Einzelversuchen, aus denen
ich allenfalls je 2, bisweilen auch 3 Mittelwerthe gewinnen konnte.
Jeder dieser Werthe repräsentirt demnach die mittlere Schnelligkeit
der Reaction im Zeitraum von etwa 4—5 Minuten. Auf diese Weise
erhielt ich für jeden Versuch eine begrenzte und leicht übersehbare
Reihe von Mittelzahlen, von denen ich hoffen durfte, dass sie einer-
seits die wirklichen Schwankungen der Leistungsfähigkeit mit genügen-
der Empfindlichkeit wiedergeben, in denen sich aber doch andererseits
die zufälligen Schwankungen bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen
[44] hatten. In graphischer Darstellung traten dann die Eigenthümlich-
keiten jedes Versuches klarer hervor, so dass sich der Ausfall dessel-
ben ohne Schwierigkeit mit den früher von mir angefertigten Curven
vergleichen liess. Es erscheint mir aus manchen Gründen angezeigt,
die auf diese Weise gewonnenen Zahlenreihen in den nachfolgenden
Tabellen wiederzugeben. Die Buchstaben bezeichnen wieder die Versuchs-
personen, die Herren Dr. Trautscholdt (Tr.), Dr. Tischer (T.),
Dr. Lehmann (L.), Dr. Moldenhauer (Mo.) und mich (K.). Zur Be-
rechnung der Mittelwerthe sind, anders als früher, sämmtliche durch
das Experiment gelieferte Zahlen benützt, sofern sie nicht von den
Versuchspersonen selbst sofort als fehlerhafte signalisirt oder nach-
weislich durch grobe technische Störungen unbrauchbar gemacht wor-
den waren. Beides kam übrigens recht selten vor.


Tabelle VIII. (R.)


Betrachten wir zunächst die Tabelle R, so sehen wir hier fast
überall bald eine deutliche Verkleinerung der Zahlen auftreten; die
einzige Ausnahme bildet der letzte Versuch K., bei welchem die
hohe Dosis von 60 gr Alkohol genommen wurde. Regelmässig ist der
Beginn der Reactionsbeschleunigung schon in dem ersten Mittelwerthe,
d. h. während der ersten 5 Minuten, nachzuweisen. Nur in dem Ver-
suche T. II geht zunächst eine Verlängerung der psychischen Zeiten
voraus. Allein hier muss es zweifelhaft erscheinen, ob überhaupt von
einer wirklichen Verkürzung die Rede sein kann. Es zeigt sich näm-
lich, wie ich schon in meiner früheren Mittheilung *) angeführt habe,
[45]Tabelle IX. (U)

Tabelle X. (W)

dass T. unter dem Einflusse des Alkohols häufiger vorzeitig reagirte.
Unter 26 Normalversuchen ging nur eine einzige Zahl in verdächtiger
Weise unter 100 σ herunter (etwa 4 %), unter 170 Beobachtungen
nach dem Einnehmen des Alkohols nicht weniger als 17 (10 %). Da
sich in Folge dieser Fehlerquelle die wahre Länge der Reactionen
gar nicht bestimmen lässt, so liegt im Hinblick auf die Alkoholdosis
die Annahme nahe, dass hier nur die anfängliche Verlängerung den
wirklichen Einfluss des Alkohols auf die Reactionsdauer widerspiegelt,
[46] während im weiteren Verlaufe des Versuches die verlangsamende
Wirkung des Mittels durch die Neigung zu vorzeitiger Reaction über-
wogen wurde. Dafür spricht auch das paradoxe Auftreten sehr
kurzer Mittelzahlen zwischen verhältnissmässig grossen Werthen.


Das Maximum der Verkürzung wird innerhalb der ersten 20 Mi-
nuten erreicht. Eine Ausnahme macht der Versuch Tr. II, bei dem
auch später noch einzelne kürzere Zahlen auftreten. Auch hier in-
dessen lässt sich aus den Versuchsprotokollen nachweisen, dass offenbar
die Neigung zu vorzeitiger Reaction bestand, da zweifelhafte Zahlen
unter 100 σ häufiger vorkamen. Unter 26 Normalversuchen beobach-
tete ich 2 (7,7 %), unter 159 durch Alkohol beeinflussten dagegen
23 (14,5 %) derartige Werthe. Dieses häufigere Auftreten zu kurzer
Zahlen unter dem Einflusse des Alkohols war bei Tr. wie bei
T. noch fast eine Stunde nach dem Genusse des Mittels deutlich.
Eine nachträgliche Verlängerung der Reactionsdauer über die Norm
fehlt nur zweimal, bei T. I und K. I. Im ersteren Falle wurde der
Versuch nur 34 Minuten lang fortgesetzt; zudem zeigten sich auch
hier deutlich vorzeitige Reactionen. In der letzteren Reihe lag die
Norm ungewöhnlich hoch; beide Male jedoch wurden die Zahlen am
Schlusse wieder etwas länger.


Die Tabelle U bietet ein von R wesentlich verschiedenes Bild dar.
Bei Tr. und T. allerdings sehen wir auch hier sofort nach der Aufnahme
des Alkohols eine Verkürzung der Zeiten auftreten, welche ihren grössten
Werth einmal nach 10, sonst aber nach 20—30 Minuten erreicht und
namentlich in T. II sehr beträchtlich ist. Bei K. dagegen fehlt eine Ver-
kürzung gänzlich. Die Ursache für diese Differenz liegt, wie ich ebenfalls
schon früher gezeigt habe, darin, dass bei Tr. und T. unter dem Einflusse
des Alkohols die schon ohnedies in den kleinen Normen für R und U sich
ausprägende Neigung zu musculärem Reagiren ausserordentlich verstärkt
wird. Die Unterscheidungen gehen dadurch unwillkürlich vielfach in
einfache, ja, bei grosser Regelmässigkeit in der Aufeinanderfolge der
Beobachtungen, sogar in vorzeitige Reactionen über. So kommt es
auch, dass unter jenen 4 Versuchen nur 2 Mal späterhin eine ganz
unbedeutende Verlängerung über die Norm hervortritt, während in
den andern beiden Reihen die Zahlen dauernd kürzer bleiben. Als
brauchbare Messungen der Unterscheidungsreactionen sind diese Ver-
suche daher keinesfalls zu verwerthen. Anders liegt die Sache bei
K. Hier ist die Verlängerung der Zahlen durchweg recht bedeutend;
sie wächst mit der Dosis und erreicht ihren grössten Werth je nach
der Gabe in etwa 30 Minuten oder später. Die gleichen Alkohol-
[47] mengen also, welche bei der einfachen Reaction eine beträchtliche Ver-
kürzung herbeigeführt haben, bewirken hier sofort eine Verlängerung.
Daraus lässt sich offenbar schliessen, dass die Unterscheidung durch
den Alkohol erschwert wird, während die übrigen Componenten des
Reactionsvorganges erleichtert werden. Diese Erfahrung scheint aller-
dings im Widerspruche mit der Thatsache zu stehen, dass in K.’s
combinirten Versuchsreihen *) eine geringe Beschleunigung auch der
Unterscheidungsreactionen nachweisbar war. Offenbar aber ist dieser
Unterschied im Ausfall der Versuche nur durch die Verschiedenheit
der dort geringeren Alkoholdosis bedingt.


Die letzte Tabelle W endlich steht in mancher Beziehung zwischen den
beiden bisher besprochenen. Bei flüchtiger Betrachtung ergiebt sich, dass
nach der Aufnahme des Alkohols 6 Mal eine Verkürzung der psychischen
Zeiten auftrat, während in 4 Versuchen (Tr. I, L. I, K. II u. IV) der
Normalreihe eine dauernde Verlangsamung der Reaction folgte. Dabei
ist indessen zu bemerken, dass in dem Versuche Tr. I wenige Minu-
ten nach Einverleibung des Medicamentes eine Anzahl auffallend kur-
zer Zahlen beobachtet wurden, welche allerdings nicht im Stande ge-
wesen sind, das erste aus 15 Werthen gewonnene Mittel stärker zu
beeinflussen. Die Möglichkeit einer Verschleierung der vielleicht sehr
flüchtigen Verkürzung durch die Berechnungsart muss daher für diesen
Versuch zugegeben werden. Dagegen ist es für die beiden Ver-
suche K. II und K. IV als sicher anzunehmen, dass hier wirk-
lich keine Beschleunigung der Reaction auftrat. Der Grund darf im
Hinblick auf die Erfahrungen bei R und U wohl am wahrscheinlich-
sten in der Grösse der Dosis gesucht werden. In den R-Versuchen
trat zwar bei der Gabe von 45 gr noch eine geringe Verkürzung auf,
während die Unterscheidungsreaction schon durch 30 gr nicht mehr
die für kleinere Dosen noch nachweisbare Beschleunigung erfuhr.
Allerdings steht im Widerspruche mit dieser Auffassung der Versuch
K. III mit seiner nicht unerheblichen, wenn auch rasch vorübergehen-
den Verkürzung bei hoher Dosis. Allein dieser Versuch wurde unter
ganz besonderen Verhältnissen, nämlich unter dem Einflusse einer
recht lebhaften psychischen Erregung nicht angenehmer Art, angestellt,
und sein unerwarteter Ausfall gab mir den Anlass, das Experiment
später bei gleicher Dosis, aber nun mit anderem Erfolge, zu wieder-
holen. Ein weiterer Widerspruch besteht zwischen den beiden Ver-
suchen an L., insofern L. I trotz der geringeren Alkoholgabe gar
[48] keine, L. II dagegen eine sehr beträchtliche Verkürzung ergeben hat.
Zur Aufhellung dieser Differenz kann vielleicht der Umstand dienen,
dass L. I Abends ziemlich spät, L. II aber um die Mittagszeit ge-
wonnen wurde. Wenn nun auch das Normalmittel dort sogar etwas
niedriger ausfiel, als hier, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass
in L. I die Ermüdbarkeit und damit die Empfänglichkeit für die ver-
langsamenden Wirkungen des Alkohols eine grössere war.


Die Verlängerung der Reactionen nach der anfänglichen Ver-
kürzung tritt in den betreffenden Versuchen überall hervor. Nur bei
Tr. II finden sich noch gegen Ende der ersten Stunde Schwankungen zu
ganz auffallend niedrigen Werthen. Zur Erklärung derselben dürfen
wir vielleicht die Thatsache heranziehen, dass hier gerade in der letz-
ten Zeit des Versuches mehrere Fehlreactionen auftraten, in denen
mit der falschen Hand reagirt wurde. Dieselben deuten darauf
hin, dass Tr. geneigt war, den Vorgang zu übereilen und die Unter-
scheidung wie die Auswahl der Bewegung nicht vollständig sich ent-
wickeln liess, sondern den Impuls vorzeitig auslöste. Diese Erscheinung
ist offenbar derjenigen der vorzeitigen Reaction durchaus analog.


Eine kurze Betrachtung werden wir zum Schlusse noch denjenigen
Versuchen zu widmen haben, in denen die Alkoholgabe nicht mit
einem Male, sondern in refracta dosi genommen wurde, ein Verfahren,
welches sich mehr der gewöhnlichen Art des Trinkens annähert. Ich
verfüge über 3 derartige, an mir selbst in den Abendstunden aus-
geführte Beobachtungsreihen, von denen sich je eine auf die einfache,
die Unterscheidungs- und Wahlreaction erstreckt; sie sind in der folgen-
den Tabelle wiedergegeben. An den durch ein Sternchen bezeichneten
Stellen wurden je 7,5 gr Alkohol getrunken.


Tabelle XI.


Eine Verkürzung der Reactionszeiten ist hier besonders bei den
Unterscheidungszeiten deutlich. Bei den einfachen Reactionen kann
davon kaum, bei den Wahlreactionen gar keine Rede sein; hier findet
sich vielmehr, namentlich gegen den Schluss der Beobachtungsreihe,
eine deutliche Verlangsamung. Im Versuche R wird übrigens die
sofort nach fast jeder Dosis auftretende anfängliche Beschleunigung
[49] und folgende Verlangsamung der Zeiten hier nur durch die Berech-
nungsmethode verdeckt, die den Schwankungen der Zahlen nicht
schnell genug folgt, trotzdem die einzelnen Mittel nur aus durch-
schnittlich 11—12 Werthen gewonnen wurden. Ein Vergleich der
obigen Zahlenreihe mit der graphischen Darstellung desselben Ver-
suches in meiner früheren Arbeit, IV p. 579, weist dies nach. Für
den Versuch W jedoch lässt sich auch bei genauer Durchsicht der
Protokolle kein ähnliches Verhältniss darthun. Vielleicht ist dieser
Widerspruch mit den sonstigen Erfahrungen bei der Wahlreaction
durch die späte Abendstunde und das ungewöhnlich niedrige Normal-
mittel zu erklären. Bemerkenswerth ist auch der Mangel einer secun-
dären Verlängerung im Versuche U, trotzdem die innerhalb einer
halben Stunde genommene Dosis doch schliesslich 30 gr erreichte.
Entweder ist die Unterscheidungszeit bei der hier gewählten Art der
Alkoholeinfuhr in kleinen Dosen der verkürzenden Einwirkung dieses
Mittels in besonders hohem Grade zugänglich, oder ich bin dabei der
Umwandlung von Unterscheidungsreactionen in einfache Reactionen
nicht immer vollständig entgangen. Das Letztere ist mir im Hinblick
auf später zu besprechende Erfahrungen am wahrscheinlichsten.


Ein eingehender Vergleich der Erscheinungen bei den einzelnen
Reactionsformen ist wegen der besprochenen Fehlerquellen mit einiger
Zuverlässigkeit nur für K. durchführbar. Eine Uebersicht darüber
giebt die folgende Tabelle:


Tabelle XII.


Sehen wir von dem letzten, unter besonderen Verhältnissen ange-
stellten Wahlversuche mit 60 gr ab, so ergiebt sich deutlich, dass die
Verlängerung mit Steigerung der Dosis regelmässig an Umfang zu-
nimmt, während für die Verkürzung, soweit eine solche überhaupt
vorhanden ist, vielmehr das Gegentheil zutrifft. Bei der Unter-
scheidung fehlt eine Verkürzung gänzlich; die Verlängerung ist bei
kleiner Alkoholgabe bereits sehr beträchtlich. Auch bei den Wahl-
versuchen ist die Verlängerung bedeutend, die Verkürzung verhältniss-
mässig geringer, als bei der einfachen Reaction. Die Unterscheidungs-
reaction weicht von der einfachen Reaction nur durch die genauere
Kraepelin, Beeinflussung. 4
[50] qualitative Auffassung des Sinneseindruckes ab. Dieser Vorgang muss
daher durch die Alkoholwirkung erschwert werden. Dagegen tritt in
der Wahlreaction zur Unterscheidung noch die Auswahl zwischen
2 Bewegungen hinzu. Wenn wir hier neben der auf die Unter-
scheidung entfallenden Verlangsamung unter Umständen noch eine
entschiedene Beschleunigung im Beginne der Alkoholwirkung auf-
finden, so kann dieselbe nur den Wahlact betreffen. So wird auch
das Verhalten der einfachen Reaction verständlich, in der sich die
Auffassung des Sinneseindruckes unmittelbar mit der Auslösung der
Bewegung verknüpft. Erschwerung der ersteren geht hier mit Er-
leichterung der letzteren Hand in Hand. Je mehr in den verwickel-
teren Reactionsformen der eine oder der andere der beiden Vorgänge
in den Vordergrund tritt, desto mehr überwiegt die eine oder die
andere Wirkung. Dabei kommt überall die Verkürzung früher zur
Entwicklung, als die Verlängerung; die erstere scheint ihr Maximum
schneller zu erreichen, als die letztere, dafür aber die Verlängerung
weit höhere Beträge zu erreichen, als die Verkürzung. Sie überwiegt
daher bei grösseren Gaben sehr bald oder von vornherein die Ver-
kürzung, und zwar um so stärker, je mehr die Reactionsform über-
haupt dem verlangsamenden Einflusse des Alkohols zugänglich ist,
je mehr in ihr die Auffassung des Eindruckes gegenüber der Auslösung
der Bewegung zurücktritt. Die Neigung zur Beschleunigung des
Willensactes besteht trotz der Verlangsamung der Gesammtreaction
noch lange Zeit fort, wie nicht nur das subjective Gefühl sehr rascher
Reaction, sondern namentlich auch das andauernde Auftreten von
vorzeitigen und Fehlreactionen beweist. Bei kleineren Alkoholgaben
dauert die Verkürzung länger an, als bei grösseren; die Verlängerung
kann hier anscheinend ebenso ganz wegfallen, wie die Verkürzung bei
grosser Dosis.


Die wesentliche Uebereinstimmung aller dieser Erfahrungen mit
den Schlüssen, die ich früher aus denselben, wie aus den combinirten
Versuchsreihen ziehen konnte, liegt auf der Hand. Die Verschiedenheit
der Berechnungsart hat somit die Ergebnisse in keiner Weise beein-
flusst. Ohne Zweifel aber gestaltet sich die Methode des wahrschein-
lichen Mittels, soweit sie überhaupt anwendbar erscheint, viel über-
sichtlicher und sicherer, als die früher geübte Verwerthung der Be-
obachtungen. Ich glaube, dass eine zuverlässigere Darstellung der un-
mittelbar vorliegenden Versuchsresultate schwerlich gefunden werden
dürfte. Allerdings aber lässt sich gegen die Versuche selbst noch ein
schwerwiegender Einwand erheben, der leider jetzt nicht mehr mit
[51] Sicherheit widerlegt werden kann. Es ist seinerzeit versäumt worden,
normale Parallelreihen durchzuführen. Mir war damals die Grösse
und Unregelmässigkeit der normalen Schwankungen in länger fortge-
setzten psychometrischen Versuchen noch nicht hinreichend bekannt,
um mich zu der angedeuteten Vorsichtsmassregel zu veranlassen. So
aber muss die Möglichkeit zugegeben werden, dass manche der auf
den Alkohol bezogenen Veränderungen in der Reactionsdauer vielleicht
von der Einwirkung des Mittels ganz unabhängig war und durch
andersartige Einflüsse bedingt wurde. Der im Ganzen über Erwarten
gleichmässige Ausfall der Versuche spricht zwar einigermassen gegen
jene Möglichkeit; volle Sicherheit aber wird doch immer nur das
Experiment geben können. Wir werden daher zu untersuchen haben,
wieweit sich aus dem nun folgenden Beobachtungsmaterial Bestäti-
gungen der bisher gewonnenen Resultate ergeben oder nicht.


c. Associationsversuche.


Die erste Gruppe meiner Associationsversuche stammt aus dem
Jahre 1883. *) Sie umfasst nur 3 Beobachtungsreihen, welche in
einer den einfachen Reactionsversuchen durchaus analogen Art ge-
wonnen wurden. Nachdem eine gewisse Anzahl von normalen Asso-
ciationen nach der von Trautscholdt geübten Methode erhalten waren,
erfolgte die Einverleibung von 30 gr Alkohol; sodann wurde unver-
züglich zur Fortsetzung der Zeitmessungen geschritten, bis nach dem
subjectiven Gefühl die Wirkung des Mittels verflogen war. Bei dem
ersten dieser Versuche liess ich die Richtung der Associationen ganz
unbestimmt, während beim zweiten die Forderung gestellt war, Reime
aufzufinden, beim dritten aber Subsumtionen ausgeführt werden sollten.
Versuchsperson war ich selbst, Registrirender Dr. Trautscholdt. Die
Darstellung dieser Versuche nach der alten Methode der Mittelziehung
aus je 3—4 benachbarten Werthen ergab sehr schwankende, unüber-
sichtliche Zahlenreihen, aus denen sich kaum sichere Schlüsse über
den Gang der psychischen Zeiten ableiten liessen. Weit besser war das
möglich, als ich Curven nach den Angaben von Tigerstedt und Berg-
quist
construirte. Für die freien Associationen ergab sich ein stärkeres
4*
[52] Zusammenrücken der Werthe, also eine Abnahme der Schwankungen,
ferner eine anfängliche Verkürzung und zum Schlusse eine nicht un-
bedeutende Verlängerung der Zahlen. Ganz ähnlich, abgesehen von
der Verminderung der Schwankungen, verlief der Subsumtionsversuch.
Interessanterweise zeigten hier die vier Curven, welche die aufeinander-
folgenden Stadien des Experimentes wiedergaben, sämmtlich zwei Haupt-
gipfel, als Ausdruck für das Auftreten zweier, in ihrer Dauer be-
trächtlich von einander abweichender Gruppen von Subsumtionen.
Bei den Versuchen mit Reimen fielen die Curven so vielgipflig aus,
dass eine zuverlässige Vergleichung derselben untereinander nicht mehr
möglich erschien, eine einfache Folge der sehr grossen Schwankungen
in den Beobachtungswerthen jeder einzelnen Versuchsreihe. Unter
diesen Umständen nahm ich meine Zuflucht zur Darstellung der Er-
gebnisse durch wahrscheinliche Mittel, wie sie die folgende Tabelle
wiedergiebt. Jedes Mittel repräsentirt 15 Beobachtungen, welche eine
Zeit von 7—8 Minuten in Anspruch zu nehmen pflegten. Für die
Normalversuche habe ich die Grösse der wahrscheinlichen Schwankungen
nach oben und nach unten hinzugefügt.


Tabelle XIII.


Wie man sieht, stellt sich in allen 3 Versuchen eine Verkürzung
der Zahlen heraus, die bei III schon in der ersten Reihe, bei I erst
nach etwa 20 Minuten ihren grössten Werth erreicht. In diesen
beiden Versuchen folgt auf die Verkürzung eine Verlängerung der
Zahlen, die bei III am schnellsten eintritt und am ergiebigsten ausfällt.
Im Versuche II dagegen schreitet die Verkürzung bis zum Abschlusse der
Beobachtung nach 41 Minuten immer mehr fort. Es ist natürlich, besonders
im Hinblicke auf die Grösse der wahrscheinlichen Schwankungen, sehr wol
möglich, dass diese Unterschiede im Ausfalle der Versuche wesentlich zu-
fällige oder dass sie durch constante Fehler (Uebung, Ermüdung) beein-
[53] flusst sind, und ich habe gerade wegen der Schwierigkeit, bei der gegebenen
Anordnung allerlei Nebeneinflüsse auszuschliessen, späterhin die Experi-
mente dieser Art nicht weiter fortgesetzt. Dennoch würde Manches dafür
sprechen, dass die mitgetheilten Zahlen in der Hauptsache wirklich ein
Bild von der Alkoholwirkung auf die einzelnen associativen Leistungen dar-
bieten, namentlich die allgemeine Uebereinstimmung mit den Erfahrungen
bei einfachen Reactionsformen. Weiterhin aber scheint es mir von
besonderem Interesse, die qualitativen Veränderungen der Asso-
ciationen unter der Einwirkung des Alkohols ein wenig in’s Auge zu
fassen. Ich gehe dabei zunächst aus von der Eintheilung der Vor-
stellungsverbindungen in äussere und innere. Für die einzelnen Reihen
des Versuches I ergeben sich folgende Procentsätze äusserer Associationen:

Das enorme Anwachsen der äusseren Associationen ist hier um so
auffallender, als der Gang der Procentsätze ein sehr regelmässiger ist
und das Maximum derselben fast genau mit der grössten Verkürzung
der Zahlen zusammenfällt, während nach meinen sonstigen Er-
fahrungen die äusseren Associationen langsamer abzulaufen pflegen.
In der vierten Beobachtungsreihe, welche genau dem Minimum der
Reactionswerthe entspricht, finden sich unter 17 Versuchen nicht
weniger als 5 reine Klangassociationen; 3 von ihnen sind Reime, die
sonst nur ausserordentlich selten vorzukommen pflegen.


Analoge Erfahrungen haben wir bei dem Subsumtionsversuche zu
verzeichnen. Allerdings konnte sich hier, wo die associative Aufgabe
vorher festgesetzt war, keine so weitgehende qualitative Veränderung
in den psychischen Leistungen entwickeln. Trotzdem stellte es sich
heraus, dass in 17 von den 63 durch Alkohol beeinflussten Versuchen
die Lösung der verabredeten Aufgabe mehr oder weniger umgangen
wurde. Einmal wurde dabei ungeachtet aller entgegengesetzten Be-
mühungen einfach eine durch die associative Gewöhnung angeknüpfte
Reminiscenz (Grau-Theorie) geliefert; in den übrigen Fällen aber trat
regelmässig an Stelle des übergeordneten Begriffes ein Synonymon
oder eine Umschreibung, wobei sehr häufig sprachliche Verbindungen
eine Rolle spielten (Sturm-Wind; Schein-Trug; Riff-Felsen u. ähnl.).
Ausserdem wurde noch mehrmals die Wiederkehr derselben Subsumtion
beobachtet, auch wo sie kaum mehr recht am Platze war, ein Zeichen
dafür, dass nur die mechanische Bereitschaft sie wiederum zu Tage
gefördert hatte. Auch hier bahnte sich somit vielfach der Uebergang
[54] solcher Associationen, welche eine gewisse Gedankenarbeit erfordern,
in einfachere, näher liegende, durch die Gewohnheit gegebene an.
Ueberall war das natürlich bei der hier geforderten schwierigen
Aufgabe nicht möglich. Vielleicht ist gerade darin der Grund für
die sehr rasch ansteigende und ausgiebige Verlängerung der Reactions-
zeiten in dieser Beobachtungsreihe zu suchen, wenn wir es nicht mit
einer einfachen, vom Alkohol unabhängigen Ermüdungserscheinung zu
thun haben, was im Hinblick auf die Abnahme der Zahlen am Schlusse
des Versuches wenig wahrscheinlich ist. Wesentliche qualitative Ver-
änderungen der psychischen Leistung sind bei dem Versuche mit Reimen
fast ausgeschlossen. Dagegen würde es mit unseren bisherigen Er-
fahrungen übereinstimmen, dass hier, bei einer Associationsform, zu
deren unwillkürlicher Anwendung wir unter dem Einflusse des Alkohols
stark hinneigen, die Verkürzung bei Weitem am stärksten und an-
dauerndsten ausgefallen ist. Allerdings muss darauf hingewiesen
werden, dass diese einzelnen Versuchsreihen in psychometrischer Be-
ziehung durchaus nicht als beweisend angesehen werden können. Zur
weiteren Prüfung dieser Verhältnisse wenden wir uns daher besser
den Ergebnissen der Wiederholungsmethode zu.


Die hierher gehörigen Versuche umfassen, wie bereits oben er-
wähnt, 17 fast durchweg aufeinander folgende Tage in der Zeit vom
3. bis 24. Mai 1890. An jedem Tage wurden in möglichst raschem
Verfahren 150 Associationsreactionen geliefert; die Reizworte blieben
stets dieselben und in der gleichen Reihenfolge. Alkohol, und zwar
30 gr, wurde am 3., 6., 9., 12., 15. Beobachtungstage genommen, die
im Folgenden überall durch ein Sternchen gekennzeichnet werden sollen.
Die zum Vergleiche dienenden Normalreihen sind diejenigen des 1., 2.,
7., 13., 17. Tages. Auch am 4. und 10. Tage wurden Normalreihen
gewonnen, aber absichtlich zu einer späteren Tageszeit, zwischen 10
und 11 Uhr Abends. Die Beobachtungen jedes Tages wurden zu-
nächst in 6 Gruppen zu je 25 Zahlen getheilt und aus jeder Gruppe
das wahrscheinliche Mittel nach dem früher geschilderten Verfahren
berechnet. Ich hoffte, auf diese Weise auch ein Bild von dem zeit-
lichen Verlaufe der Alkoholwirkung an jedem Tage zu erhalten. Diese
Reihen von Mittelwerthen, deren ich natürlich im Ganzen 17 erhielt,
will ich die „Tagesreihen“ nennen, im Gegensatze zu den 6 „Total-
reihen“, in welche ich je die ersten, zweiten bis sechsten Mittel sämmt-
licher Versuchstage bringen konnte.


Entgegen meinen Erwartungen nahm die Länge meiner Reactionen
ungefähr bis zum 6. Tage ziemlich bedeutend ab, von da an nur noch
[55] langsam und mit vielen Schwankungen. Am geringsten war diese
Abnahme in den letzten Totalreihen, da hier auch schon die Werthe
des ersten Tages gegenüber den früheren Mitteln desselben in Folge
der Tagesübung heruntergegangen waren. Die Gesammtverkürzung
der Associationszeiten betrug für die einzelnen Totalreihen


Tabelle XIV.


Die regelmässige durchschnittliche Abnahme von Tag zu Tag
beträgt demnach für die ersten 7 Tagesreihen etwa 77, für die letzten
nicht mehr als höchstens 7—8 σ. Wenn damit von einer wirklichen
Constanz der Werthe und somit von einer unbedingten Vergleichbar-
keit der benachbarten Tagesreihen auch nicht die Rede sein kann, so
haben wir doch einen Massstab gefunden, der uns einigermassen zu
beurtheilen gestattet, ob die etwa hervortretenden Unterschiede auf
den constanten Fehler der fortschreitenden Uebung allein bezogen
werden können oder nicht. Jedenfalls aber werden wir gut thun, als
wirklich verwerthbar für unsern Zweck nur die Ergebnisse der letzten
10 Tage zu betrachten. Um einen Ueberblick über dieselben zu ge-
winnen, stelle ich zunächst die Tagesreihen für die uns hier inter-
essirenden Tage in Tabelle XV zusammen.


Tabelle XV.


Fassen wir zunächst die „Gesammtmittel“ der letzten Reihe zu-
sammen, welche einfache arithmetische Mittel der einzelnen Vertical-
säulen darstellen und nur eine vorläufige Orientirung geben sollen, so
bemerken wir, dass die Alkoholreihen durchweg ein erheblich grösseres
Mittel liefern, als die ihnen folgenden Versuchstage. Der Unterschied
ist dabei überall so beträchtlich, dass er nach den oben angeführten
[56] Daten keinesfalls allein auf die fortschreitende Uebung zurückgeführt
werden kann. Das geht um so weniger an, als mit Ausnahme der
Reihe 6* das Gesammtmittel der Alkoholtage regelmässig auch das
Mittel der 1 oder meist sogar 2 Versuchstage früher liegenden Normal-
reihen übertrifft. Allerdings beobachten wir einmal, nämlich in der
Reihe 10, ebenfalls eine geringfügige Erhöhung gegenüber dem 3 Ver-
suchstage zurückliegenden Normalmittel 7, so dass dort ein verlang-
samender Einfluss sich geltend gemacht haben muss. Dieser Einfluss
ist ohne Zweifel in der späten Versuchsstunde zu suchen, zu welcher
die Reihe 10 angestellt wurde. Derselbe Umstand spielt auch wol bei
der oben erwähnten Ausnahme eine gewisse Rolle. Da die Reihe 4
ebenfalls Abends spät gewonnen wurde, blieb dieses Mittel in Folge
der Ermüdung relativ hoch. Bei dem raschen Fortschreiten der
Uebungsverkürzung während des ersten Theils der Versuchsperiode
vermochte daher nach 2 weiteren Tagen nun auch die Alkoholwirkung
nicht mehr das Mittel der Reihe 6* über dasjenige des vierten Ver-
suchstages hinauszuheben.


Dass somit unter dem Einflusse des Alkohols hauptsächlich eine
Verlängerung der Associationszeiten sich herausstellt, darf nach den
vorliegenden Daten als zweifellos angesehen werden. Es entsteht nur
die Frage, ob dieses Ergebniss für die ganze Dauer der Alkohol-
wirkung gilt, oder ob möglicherweise entgegengesetzte Schwankungen
nur durch das Ueberwiegen der Verlängerung in den Gesammtmitteln
verdeckt werden. Einigen Aufschluss in dieser Richtung verspricht
uns die Betrachtung der Tagesreihen, da sie den Gang der associativen
Leistungsfähigkeit während der einzelnen Tage zu verfolgen gestatten.
Allerdings repräsentirt jedes Tagesmittel den Ausfall der Versuche
im Verlaufe von mindestens 10 Minuten; Schwankungen von rascherem
Ablaufe können also bei der gewählten Rechnungsmethode nicht er-
kannt werden. Bei einer Musterung der Alkoholversuche ergiebt sich
nun, dass im Allgemeinen sämmtliche Zahlen einer Tagesreihe länger
sind, als die entsprechenden des folgenden Tages. Ausnahmen von
dieser Regel finden sich nur in Reihe 9*, in welcher der 2. und 5. Werth
ein wenig unter die Zahlen der Reihe 10 heruntergeht. Grosses Ge-
wicht können wir indessen auf diese Ausnahmen nicht legen, da ja
die Reihe 10 wegen ihrer späten Entstehungszeit die Zeichen der Er-
müdung schon in dem Umstande erkennen lässt, dass 3 ihrer Werthe
höher sind als die entsprechenden der 3 Versuchstage früher ent-
standenen Reihe 7. Im Uebrigen sind in den massgebenden 3 Alkohol-
versuchen aus der letzten Versuchsperiode nur zwei Werthe vorhanden,
[57] welche, wie man an sich erwarten sollte, niedriger wären, als die Zahlen
der vorangehenden Normalreihe. Beide Werthe, der 2. der Reihe
9* und der 1. der Reihe 12*, stehen gleich im Anfange der betreffen-
den Versuche. Im Hinblicke auf andere noch kürzere Zahlen in den
Nachbarreihen ist die zufällige Entstehung dieser Werthe wol am
wahrscheinlichsten. Da sich indessen die Möglichkeit einer gering-
fügigen und kurzdauernden Beschleunigung der Associationszeit im
Beginne der Alkoholwirkung nicht ganz ausschliessen liess, so habe
ich in der nachfolgenden Tabelle noch einmal wahrscheinliche Mittel-
werthe zusammengestellt, welche aus Fractionen zu je 12 oder 13 Zahlen
der ersten 50 Versuche jedes Tages gewonnen wurden. In der diesen
Werthen entsprechenden Zeit von 20 Minuten müsste sich eine an-
fängliche Verkürzung jedenfalls ausdrücken. Berücksichtigt habe ich
aus oben angeführten Gründen nur die letzten 3 Alkoholtage.


Tabelle XVI.


Wie man sieht, geht die Verkürzung, welche hier regelmässig
nach dem ersten etwas längeren Werthe auftritt, in den Alkoholver-
suchen keinesfalls über das Mass der Schwankungen an den Normal-
tagen hinaus. Eine beschleunigende Wirkung des Alkohols auf den
Vorgang der Association lässt sich demnach für die hier gebrauchte
Dosis nicht erweisen, muss vielmehr direct als unwahrscheinlich be-
zeichnet werden. Es wird uns durch diese Erfahrung nahe gelegt,
nunmehr auch gegen die Verkürzung misstrauisch zu sein, welche wir
bei dem früheren Versuche mit allgemeinen Associationen beobachteten.
Will man zur Erklärung jener Erfahrung nicht den Einfluss der Uebung
heranziehen, so möchte ich auf eine andere Fehlerquelle hinweisen,
deren Mitwirkung mir sehr wahrscheinlich ist. Da die älteren Ver-
suche noch nach dem Trautscholdt’schen Verfahren durch Re-
action mit der Hand ausgeführt wurden, so war jedenfalls keine ge-
nügende Gewähr dafür geboten, dass die Handbewegung mit dem Auf-
tauchen der Association wirklich zusammenfiel. Wie die Unter-
scheidungsversuche lehren, habe ich allerdings im Allgemeinen keine
auffallende Neigung zu vorzeitiger Auslösung der Reactionsbewegung.
[58] Da jedoch diese Neigung bei Andern durch den Alkohol so erheblich
verstärkt wird, ist es jedenfalls sehr möglich, dass auch bei mir hier
zeitweise ein etwas verfrühtes Oeffnen des Schlüssels stattgefunden
habe. Das subjective Gefühl rascherer Reaction erinnere ich mich
deutlich, bei den Alkoholversuchen häufig empfunden zu haben. Durch
diese Annahme würde, wie ich glaube, der Widerspruch zwischen den
Versuchen ohne und mit dem Lippenschlüssel in volle Uebereinstim-
mung mit unseren sonstigen Erfahrungen über die Alkoholwirkung
gebracht.


An der Hand der hier besprochenen Versuche werden wir nun
auch die Möglichkeit haben, nochmals einem etwaigen Einflusse des
Alkohols auf die Art der Associationen nachzugehen. Zur Prüfung
dieser Frage habe ich zunächst nach den früheren Gesichtspunkten
die Gesammtzahl aller vorliegenden Associationen an den einzelnen
Versuchstagen in äussere und innere eingetheilt. Das Ergebniss zeigt
die folgende Tabelle in Procentsätzen:


Tabelle XVI.


Im Allgemeinen hat hier anscheinend die Neigung bestanden, äussere
Associationen mit fortschreitender Versuchsübung in innere umzu-
wandeln, doch lässt sich keine grosse Regelmässigkeit in dieser Rich-
tung nachweisen, was bei der immerhin ziemlich willkürlichen Art der
Gruppirung kaum Wunder nehmen kann. Es wird aus dem gleichen
Grunde schwierig sein, neben der erwähnten constanten Neigung die
Wirkung besonderer, die einzelnen Reihen beeinflussender Umstände
aufzufinden, um so mehr, als die Reihen mit jeder Wiederholung
stereotyper und damit derartigen Veränderungen weniger zugänglich
werden. Wir werden daher zur Entscheidung dieser Frage vorzugs-
weise die ersten Versuchstage mit ihren labileren, empfindlicheren
Reihen in Betracht zu ziehen haben. Wirklich bemerken wir, dass
in 3*, der allgemeinen Neigung entgegen, eine bedeutende Zunahme
der äusseren Associationen hervortritt, die wir im Hinblick auf unsere
früheren Erfahrungen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf den Ein-
fluss des Alkohols beziehen dürfen. Freilich ist dieselbe Erscheinung
späterhin höchstens noch in Reihe 12* bemerkbar, während in 6*,
[59] 9* und 15* eher eine Abnahme der äusseren Associationen vorhanden
zu sein scheint. Gerade in den letzteren Reihen ist aber auch die
Alkoholwirkung nach Ausweis der Tabelle XV in Bezug auf die Länge
der Associationszeiten geringer gewesen, als in 12*. Beiläufig sei
noch erwähnt, dass auch die Reihen 4 und 10 einen auffallend hohen
Procentsatz von äusseren Associationen geliefert haben. In beiden
Reihen, deren Mittelwerte in Tabelle XV auch relativ hoch ausge-
fallen sind, spielte wahrscheinlich der Zustand abendlicher Ermüdung
eine grössere Rolle. Dass aber gerade die Ermüdung zu den Momenten
gehört, welche das Auftreten äusserer Associationen begünstigen, habe
ich schon früher *) nachweisen können. Die entgegengesetzte Wirkung
der Uebung in der vorliegenden Versuchsperiode würde mit jener Er-
fahrung in gutem Einklange stehen.


Es erscheint indessen nothwendig, die qualitativen Veränderungen
der Associationen noch mehr in’s Einzelne hinein zu verfolgen, um in
der Beurtheilung der Alkoholwirkung sicher zu gehen. Zu diesem
Zwecke empfiehlt es sich zunächst, die Zahl der äusseren Associationen
an den einzelnen Tagen für 3 aus je 50 Beobachtungen gebildete
Versuchsgruppen auseinanderzuhalten. Die betreffenden Procentsätze
sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben:


Tabelle XVIII.


In den Normalversuchen ist hier fast überall die Zahl der äusseren
Associationen bei Gruppe I relativ niedrig, bei Gruppe II dagegen
mit Ausnahme des ersten Tages am höchsten. An den Alkoholtagen
beobachten wir in Gruppe I regelmässig Zahlen, welche über die ent-
sprechenden Nachbarwerthe hinausgehen; nur für den Versuch 9* mit
seiner sehr geringen Alkoholwirkung trifft das nicht zu. Es hat dem-
nach den Anschein, als wenn zum mindesten für die erste Zeit des
Versuchs die Umwandlung der inneren in äussere Associationen durch
den Alkohol entschieden erleichtert würde. Am Tage 3* dauert diese
[60] Erscheinung auch noch in Gruppe II fort. Die Tage 4 und 10 weisen
im Vergleich mit den übrigen Normaltagen (abgesehen von 1) eben-
falls ziemlich hohe Werthe auf, namentlich in den ersten beiden Gruppen;
sie bilden, wie auch früher schon erwähnt, gewissermassen den Ueber-
gang von den Normalreihen zu den Alkoholversuchen.


Bei dieser Betrachtungsweise ist jedoch wol zu berücksichtigen,
dass hier überall die späteren Versuchstage in sehr bedeutendem
Masse durch die früheren beeinflusst sind, dass sich zufällige Vor-
kommnisse der ersten Versuchsperiode nach und nach fixiren und da-
durch Gesetzmässigkeiten vortäuschen können. Aus diesem Grunde
sind die angeführten Zahlen nur unter Vorbehalt für das Studium
unserer Frage zu verwerthen. Jedenfalls ist es nothwendig, gleich-
zeitig sich über die Bedeutung des Uebungseinflusses in den vor-
liegenden Versuchen einigermassen Rechenschaft zu geben. Zur
Würdigung desselben kann uns die Zahl der an jedem Versuchs-
tage auftretenden neuen, bisher noch nicht dagewesenen Vorstellun-
gen dienen, da diese Zahl offenbar in umgekehrtem Verhältnisse zu
der Festigkeit der bis dahin gebildeten Verbindungen steht. Die all-
gemeine Häufigkeit der neuen Associationen für die einzelnen Tage
zeigt die folgende Uebersicht:


Wie zu erwarten war, sinken die Zahlen anfangs rasch, später
langsamer, bis am 17. Tage nur 4—5 % der gesammten Associationen
noch nicht fixirt sind.


Bei den letzten 4 Alkoholversuchen ist ein häufigeres Auftreten
neuer Associationen nicht nachzuweisen, eher das Gegentheil. Wir
müssen daraus schliessen, dass die Umwandlung innerer in äussere
Associationen, wie sie uns namentlich die Gruppe I der Tabelle XVIII
zeigt, jedenfalls nicht ausschliesslich durch das Auftreten ganz neuer
äusserer Vorstellungsverbindungen sich vollzieht, sondern dass vielfach
unter dem Einflusse des Alkohols von mehreren bis dahin mit einander
wechselnden Associationen nur diejenige am leichtesten ausgelöst
wurde, welche mit dem Reizworte durch ein mehr äusserliches Band
verknüpft war. Für diese Auffassung spricht auch das Verhalten der
Gruppe III. Nachdem hier am ersten Tage zufällig wenig äussere
Associationen gebildet worden waren, hält sich auch späterhin die
[61] Entwicklung derselben in dieser Gruppe innerhalb niederer Grenzen.
An den Alkoholtagen erreicht sogar in Gruppe III die Zahl der
äusseren Associationen nahezu oder völlig ihr Minimum. Diese Er-
fahrung ist deswegen besonders auffallend, weil Gruppe III mit ins-
gesammt 105 nach dem ersten Tage auftretenden neuen Associationen
gegenüber der Gruppe I mit 80 und der Gruppe II mit 81 derartigen
Vorstellungen eigentlich eine grössere Labilität der Verbindungen be-
sitzt, wie sie sich hier auch wol durch die beginnende Versuchsermü-
dung rechtfertigen würde. Freilich lehrt die genauere Betrachtung
der einzelnen Zahlenreihen, dass diese erhöhte Labilität gerade in
den Alkoholversuchen kaum hervorgetreten, vielmehr hauptsächlich
auf Rechnung der Tage 4 und 10 mit Versuchen zu später Abend-
stunde und demgemäss grösserer Ermüdung zu setzen ist. Die
durchschnittliche Anzahl der neuen Associationen in den einzelnen
Gruppen und an den verschiedenen Versuchstagen war nämlich
folgende:


Tabelle XIX.


Im Gegensatz zu den letzten 4 Alkoholreihen haben wir es am
Versuchstage 3* nach Ausweis der Uebersicht auf p. 60 offenbar mit
dem Auftauchen ungewöhnlich zahlreicher neuer Vorstellungsverbin-
dungen zu thun. Bei dem völligen Verschwinden dieser Erscheinung
an den folgenden Alkoholtagen kann man, wenn man nicht auf eine
Erklärung überhaupt verzichten oder den Zufall heranziehen will,
kaum der Annahme entgehen, dass stabile, eingeübte Associationen
vielleicht in anderem Sinne durch den Alkohol beeinflusst werden, als
labile. Dafür würde auch die sehr beträchtliche Umwandlung der
Vorstellungsverbindungen in dem früher berichteten Associations-
versuche sprechen. Es wäre ja auch sehr wol denkbar, dass bei fri-
schen, nicht eingeübten Associationen die Neigung, äussere Ver-
knüpfungen zu bilden, zum Auftreten zahlreicher neuer Vorstellungen
führen müsste, während bei eingelernten und durch die Wiederholung
schon in äussere umgewandelten Associationen einfach diese letzteren
befestigt würden. Der Einfluss der Uebung und des Alkohols würden
[62] sich hier gegenseitig dahin unterstützen, dass sie die Ersetzung der
begrifflichen Verbindung durch die mechanische bewirken. Eine nähere
Betrachtung der Versuchsprotokolle lässt erkennen, dass die am 3*.
Tage neu auftretenden Vorstellungen wesentlich Klangassocia-
tionen
sind. Nicht weniger als 32 der neuen Associationen gehören
dieser Gruppe an, während z. B. am Tage 2 mit seinen 55 neuen
Vorstellungen nur 7 Klangassociationen zu verzeichnen waren. In
keinem der späteren Alkoholversuche lässt sich unter den wenigen
neuen Associationen ein Ueberwiegen der äusseren Verknüpfungen
nachweisen, wie die folgende Tabelle darthut:


Tabelle XX.


Dagegen stellt sich heraus, dass in der That gerade die am Tage
3* so sehr in den Vordergrund tretenden Klangassociationen vorwie-
gend an die Stelle von inneren Associationen der vorhergehenden Tage
getreten sind. Während die äusseren Vorstellungsverbindungen am
2. Tage überhaupt 42,4 % betrugen, waren unter jenen Beobachtungen,
aus denen die 32 Klangassociationen des 3. Tages hervorgingen, nur
10, d. h. 31,2 % äussere Associationen; in 22 Fällen dagegen wurden
bestehende begriffliche Verbindungen in Klangassociationen umgesetzt.
Die inneren Associationen haben also hier eine geringere, die äusseren
eine grössere Festigkeit gegenüber dem Alkohol dargeboten; die all-
mähliche Umwandlung der Verbindungen aus jener in diese Form,
die sich freilich in den Procentsätzen der Tabelle XVIII nicht aus-
drücken kann, würde daher den Gegensatz des ersten zu den späteren
Alkoholversuchen in befriedigender Weise erklären. Dem entspricht
auch der Umstand, dass am Tage 3* von den äusseren Associationen
des vorhergegangenen Versuches 36,0, von den inneren dagegen 40,7 %
durch gänzlich neue Vorstellungsverbindungen ersetzt wurden. Dieses
Verhalten ist um so auffallender, als sich sonst im Verlaufe der Ver-
suchsperiode ein fortschreitendes Anwachsen der inneren Associationen
beobachten liess, welches bei dem immer geringer werdenden Zuwachs
neuer Vorstellungen nur auf einer grösseren Festigkeit der inneren
Associationen im Allgemeinen beruhen kann. Die Neigung des Alko-
hols, vorzugsweise die an sich festeren inneren Vorstellungsverbindungen
[63] aufzulösen und sie in äussere umzuwandeln, scheint somit gewisser-
massen gegenstandslos zu werden, sobald durch Einübung das äussere
Band zu dem innern hinzugekommen ist, ja es spricht Manches dafür,
dass der Alkohol nunmehr die Stabilität dieser erstarkten Verbin-
dungen eher noch erhöht als erschüttert.


Das Verhalten der zufälligen Schwankungen in den Beobachtungs-
zahlen lässt sich, wie früher eingehend erörtert, bei der hier gewählten
Berechnungsart der Versuche an der Hand des Spielraums a studiren,
innerhalb dessen die mittlere Hälfte aller Beobachtungen liegt. Zur
Auffindung der Werthe a wird es sich empfehlen, die Tagesreihen in
3 Gruppen zu je 50 Versuchen zu zerlegen, damit einerseits die Zahl
der Beobachtungen für die Berechnung der Partialmittel nicht zu
klein ist, und damit andererseits doch die Möglichkeit besteht, etwaige
Aenderungen im Verhalten der Schwankungen während der ganzen
Versuchsdauer verfolgen zu können. Unter diesen Umständen habe
ich in jeder Versuchsgruppe nach der Grösse der Zahlen den 13. und
38. Werth aufgesucht und ausserdem die durchweg sehr wenig von
einander verschiedenen Werthe 25 und 26 zu einem Mittel vereinigt,
welches als der wahrscheinliche Mittelwerth der ganzen Gruppe anzu-
sehen wäre. In den Spielraum a zwischen den zweckmässig Unter-
und Oberwerth genannten Beobachtungen 13 und 38 fällt die Hälfte
aller Versuchszahlen; ich will ihn hier als Mittelzone, seine beiden
ungleichen Seiten als oberen und unteren Abschnitt bezeichnen.
Die Grösse dieser Mittelzone in Tausendstel Sekunden für die einzelnen
Gruppen und Tage ist in der folgenden Tabelle wiedergegeben:


Tabelle XXI.


Alle 3 Reihen zeigen eine fortschreitende und sehr bedeutende
Abnahme der Werthe, analog der Abnahme der Associationszeiten
selber. Bei genauerer Betrachtung ergiebt sich indessen bald, dass
nicht etwa ein einfacher Parallelismus zwischen Länge der psychischen
Zeiten und Umfang der Mittelzone besteht; vielmehr nimmt dieser
letzere mit weit grösserer Schnelligkeit ab, als jene ersten. Drückt
man den Abstand beider Partialmittel in Procenten der Reactions-
[64] werthe aus, so erhält man im Durchschnitt aus allen 3 Gruppen fol-
gende Reihe:


Der Einfluss der Uebung verringert somit die Schwankungen der
Beobachtungszahlen in höherem Masse, als die Grösse derselben. Das
erscheint auch ganz natürlich, wenn man bedenkt, dass die Schwan-
kungen, theoretisch genommen, schliesslich sogar = 0 werden könnten,
während die Associationszeiten sich nur einem Werthe annähern, der
im günstigsten Falle, bei grösstmöglichster Uebung, wol noch mehr
als die Hälfte des in unsern Versuchen erreichten kleinsten Mittels
betragen müsste, da die einfachsten Associationsreactionen mit Ver-
knüpfung zweier aufeinander folgender Zahlen immerhin noch 350 bis
450 σ in Anspruch nehmen.*)


Innerhalb der einzelnen Versuchstage macht sich ebenfalls eine
Abnahme der Mittelzone, also ein Gleichmässigerwerden der Beobach-
tungswerthe bemerkbar, allerdings ohne durchgreifende Regelmässig-
keit. Immerhin ergiebt sich, dass die kleinsten Zahlen, namentlich
während der ersten Hälfte der Versuchsperiode, am häufigsten der
3. Gruppe angehören. Im Ganzen, wenn auch nicht im Einzelnen,
entspricht dieses Verhalten dem Gange der Associationszeiten selbst;
eine wie oben durchgeführte procentische Berechnung lehrt indessen,
dass auch hier die Abnahme der Schwankungen diejenige der psychi-
schen Zeiten übertrifft, freilich nur in geringem Masse.


Ueber die Richtung des Alkoholeinflusses geben uns die bis hier-
her angeführten Zahlen keine klare Vorstellung. Der Versuch 9*
allerdings scheint mit Bestimmtheit auf eine Abnahme der Schwan-
kungen durch den Alkohol hinzudeuten, und die Gruppe I des Ver-
suches 3* wie die Gruppe II der Reihe 6* würden in gleichem Sinne
zu verwerthen sein. Die meisten übrigen Zahlen gestatten gar kein
Urtheil, da sie zwischen den benachbarten analogen Werthen so ziem-
lich in der Mitte liegen. Nur Gruppe III der Reihe 3* und weniger
sicher Gruppe II der Reihe 12* müssten im Gegentheil auf eine Zu-
nahme der Schwankungen bezogen werden. Es könnte demnach den
Anschein haben, als ob etwa im Beginne der Alkoholwirkung die
Beobachtungszahlen gleichmässiger würden, als in den Normalreihen,
um späterhin wieder mehr aus einander zu weichen. Innerhalb der ein-
zelnen Alkoholreihen macht sich im Ganzen, ebenso wie in den Normal-
[65] versuchen, eine fortschreitende Abnahme der Schwankungen, nament-
lich nach der Gruppe III zu bemerkbar. Wieweit jedoch der Umfang
dieser Abnahme gegenüber der Norm durch den Alkohol in dem so-
eben erwähnten Sinne modificirt wird, darüber lässt sich wegen der
überall eingreifenden Uebungseinflüsse ein auch nur halbwegs sicheres
Urtheil nicht gewinnen.


Dagegen erscheint es nicht ohne Interesse, nunmehr die Mittel-
zone in die beiden Abschnitte zu zerlegen, in welche sie durch den
wahrscheinlichen Mittelwerth getheilt wird. Da die Ursachen, welche
die Associationszahlen zu verlängern streben, wie früher ausgeführt,
einen grösseren Spielraum für ihre Wirksamkeit haben, als die ver-
kürzenden Momente, so liegen hier die Partialmittel nicht symmetrisch
zum wahrscheinlichen Mittel, sondern die Streuung der Beobachtungs-
zahlen ist nach oben hin grösser. Der Oberwerth liegt in weiterem
Abstande vom Mittel, als der Unterwerth. Am einfachsten über-
sieht man diese Verhältnisse, wenn die beiden Abschnitte der Mittel-
zone in Procenten dieser letzteren ausgedrückt werden. Die folgende
Uebersicht enthält, aus dem Durchschnitte der drei Versuchsgruppen be-
rechnet, die procentischen Verhältnisszahlen des unteren Abschnittes
zur ganzen Mittelzone; die entsprechenden Werthe für den oberen
Abschnitt ergeben sich daraus von selber.


Mit einer einzigen Ausnahme ist demnach der untere Abschnitt
kleiner, als der obere, und geht stellenweise selbst bis unter ein Drittel
der ganzen Mittelzone herunter. Dabei scheint im Ganzen die Neigung
zu einem relativen Anwachsen des unteren Abschnittes mit zu-
nehmender Uebung zu bestehen, da die grössten überhaupt erreichten
Werthe sich in der zweiten Hälfte der Beobachtungsreihe finden; von
einer Regelmässigkeit kann freilich keine Rede sein. In der Reihe
17 hat sich das Verhältniss beider Abschnitte sogar umgekehrt. Die
Abnahme der Schwankungen durch die Uebung würde demnach haupt-
sächlich durch ein Heranrücken der längeren Associationszeiten an
den Mittelwerth bedingt sein. Dieser letztere sinkt freilich auch,
wegen gleichmässiger Abnahme aller Beobachtungszahlen, aber die zu
hohen Werthe scheinen verhältnissmässig noch etwas rascher zu sinken,
als die niederen. In Reihe 17 hat sich der Associationsvorgang
Kraepelin, Beeinflussung. 5
[66] bereits derart mechanisirt, dass längere Zahlen relativ selten geworden
sind, während die niedrigeren Werthe sich mehr über das ganze Gebiet
gegen die Minimalzeit hin zerstreuen.


Es ist nach Ausweis der angeführten Zahlen nicht unwahrscheinlich,
dass der Alkohol auf diese Verhältnisse einen gewissen Einfluss aus-
übt. Die Versuche 15*, 12* und 6* wenigstens zeigen gegenüber den
Nachbarreihen eine sehr entschiedene und wol kaum auf Zufälligkeiten
zurückführbare relative Einschränkung des unteren Abschnittes der
Mittelzone. Versuch 9*, der auch früher nur eine sehr geringe Alko-
holwirkung hat erkennen lassen, lehrt freilich gerade das Gegentheil,
während 3* keine verwerthbare Eigenthümlichkeit darbietet. Trotzdem
glaube ich im Hinblicke auf später zu besprechende Erfahrungen den
Ausfall jener ersten 3 Beobachtungsreihen auf die Alkoholeinwirkung
beziehen zu dürfen. Da sich eine irgend nennenswerthe Zunahme
oder Abnahme der Schwankungen überhaupt nicht nachweisen lässt,
so ergiebt sich der Schluss, dass der Alkohol die kürzeren Werthe
näher aneinander rücken lässt und gleichzeitig die grösseren Zahlen
noch mehr zerstreut. Um diese Annahme zu prüfen, theile ich hier
die Durchschnittszahlen aus den 3 Gruppen für den absoluten Umfang
des oberen und unteren Abschnittes der Mittelzone mit.


Tabelle XXII.


Eine Stütze für den ersten Theil jenes Satzes könnte namentlich
der Versuch 12*, allenfalls auch die Reihe 6* und 15* geben; 9* und
3* sprechen wenigstens nicht gerade dagegen. Andererseits ist die Erweite-
rung des oberen Abschnittes in den Reihen 15* und besonders 12* nach-
weisbar, während 6* und 3* keine deutliche Vergrösserung, 9* sogar
eine Verkleinerung darbietet. Man könnte dabei auf den Gedanken
kommen, dass die entgegengesetzte Beeinflussung erst dann deutlich
wird, wenn schon ein hoher Grad von Uebung erreicht worden ist.
Hatten wir doch früher gesehen, dass die mehr mechanisch gewordenen
Associationen durch den Alkohol gerade noch an Festigkeit zu gewinnen
scheinen. Es wäre daher wol möglich, dass im Anfange der Beob-
achtungsperiode diese Eigenthümlichkeit noch nicht deutlich sich
geltend machen könnte, während später die fest eingeübten Vor-
[67] stellungsverbindungen nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrer
Dauer nach durch den Alkohol noch stereotyper würden. Bei den
langsamer verlaufenden labilen Associationen käme nun vielleicht die
lockernde Wirkung des Alkohols gegenüber dem allmählich nach-
lassenden entgegengesetzten Einflusse der Uebung in relativ stärkerem
Masse zur Geltung.


Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass diese Auffassung nur eine
Hypothese ist, welche gewisse auffallende Einzelbeobachtungen ver-
schiedener Art zusammenfasst, ohne sich widerspruchslos aus dem
gesammten Erfahrungsmaterial erweisen zu lassen. Leider sind aber
die Vorgänge, die wir hier untersuchen, überhaupt so ungemein
labiler Art, dass eine durchgängige Uebereinstimmung aller Beob-
achtungen kaum oder nur dann erreichbar erscheint, wenn der Unter-
suchung von vornherein eine sehr spezielle Fragestellung und eine
eingehende Kenntniss aller Versuchsklippen voraufgeht. Ueberall
erblickt man, wie durch einen Wolkenschleier hindurch, undeutlich
einzelne Glieder des Ganzen; ihre genaueren Umrisse und ihr Zu-
sammenhang untereinander kann nur durch das unsichere Hülfsmittel
der Combination gewonnen werden.


Um endlich auch über die Veränderungen ein Bild zu gewinnen,
welche die beiden Abschnitte der Mittelzone im Verlaufe des ein-
zelnen Versuchstages erfahren, habe ich, was für diesen besonderen
Zweck wol als erlaubt gelten darf, aus den Werthen für den unteren
Abschnitt in den 3 Gruppen aller 5 Alkoholversuche das durch-
schnittliche procentische Verhältniss desselben zum Umfange der
Mittelzone berechnet. Diese Zahlen wurden den ganz analogen
Werthen aus den 5 Normalreihen, mit Ausschluss der Abendversuche
4 und 10, gegenübergestellt.


Tabelle XXIII.


Die relative Verkleinerung des unteren Abschnittes in der ersten
und zweiten Gruppe, also während der stärksten Alkoholwirkung, ist
hier nicht zu verkennen; die oben aus der Tabelle XXII gezogenen
Schlüsse erfahren somit eine theilweise Bestätigung. Leider lassen
sich indessen die absoluten Werthe wegen der verschiedenen Be-
5*
[68] dingungen, unter denen die einzelnen Versuchstage standen, gar nicht
mit einander vergleichen. Es kann daher durch diese Zahlen keine
Entscheidung über die Frage abgeleitet werden, ob jene Verschiebung
im Verhältnisse der beiden Abschnitte auf einer absoluten Ver-
kleinerung des unteren, aus einer Vergrösserung des oberen Abschnittes
oder aus beiden Veränderungen zugleich hervorgeht, wie es oben den
Anschein hatte. Ich will noch hinzufügen, dass ich auch den Versuch
gemacht habe, die Grösse der Schwankungen für die 75 längsten und
die 75 kürzesten Beobachtungen jedes Versuchstages gesondert zu
berechnen. Das Verhalten der einzelnen Alkoholreihen erwies sich
jedoch dabei als ein wechselndes. Am Tage 9* waren die Schwankungen
für lange und für kurze Werthe ganz auffallend geringer, als an den
benachbarten Tagen, während 3* die ganz entgegengesetzte Er-
scheinung darbot. Bei 12* überstiegen besonders die Schwankungen
der grösseren Zahlen, bei 15* gerade diejenigen der kürzeren den
Durchschnittsbetrag; 6* zeigte nur sehr geringe Abweichungen von der
Norm. Irgend eine deutliche Gesetzmässigkeit liess sich daher bei
dieser Betrachtungsart nicht erkennen.


c. Versuche nach fortlaufender Methode.


Die Versuche nach fortlaufender Methode wurden von mir in
Gemeinschaft mit Herrn Dr. Heinrich Dehio durchgeführt, der nicht
nur die technischen Einzelheiten besorgte, sondern auch den grössten
Theil der später nothwendigen Berechnungen übernahm. Als Ver-
suchspersonen dienten ausser uns Beiden (De., K.) in liebenswürdigster
Weise die Herren Dannenberg (Da.), Hahn (Ha.), Heerwagen
(He.), Michelson (M.) und Oehrn (O.). Ausser Herrn Heerwagen
hatten Alle auch schon an den von Oehrn veröffentlichten Versuchen
Theil genommen, so dass der Gang ihrer normalen Leistungsfähigkeit
annähernd bekannt war. Die Gesammtzahl der Alkoholversuche
betrug 27, welche sich auf die 3 geprüften Functionen derart ver-
theilten, dass mit dem Lesen 7 mal, mit dem Addiren und Zahlen-
lernen je 10 mal experimentirt wurde. Die Alkoholdosis betrug bald
20, bald 30 gr. Da die Berechnung der Zahlen in der von Oehrn
angegebenen Weise durch Mittelziehung aus je 3 aufeinander folgenden
Werthen geschah, so lieferte ein ganzer Versuch eine Reihe von
8 Mittelzahlen und die entsprechenden Variationen; 2 dieser Zahlen
waren vor, die übrigen nach der Einverleibung des Medicamentes
[69] gewonnen worden. Auf diese Weise entstanden Curven, welche den
Gang der Leistungsfähigkeit im Laufe zweier Stunden von Viertel-
stunde zu Viertelstunde anzeigten. Der Vergleich derselben mit den
früher gewonnenen „Normalcurven“ liess dann ein Urtheil über
Richtung und Grösse des medicamentösen Einflusses mit einiger
Sicherheit zu. Allerdings darf dabei nicht ausser Acht gelassen
werden, dass sowol die „Normalcurven“ wie die Alkoholcurven nur
Individuen waren und keine Garantie für die Darstellung typischer
Verhältnisse boten. Dem Spiel der Zufälligkeiten war somit immerhin
ein breiter Raum geboten, und die Ausdehnung der Versuche auf
mehrere Personen vermag nur bis zu einem gewissen Grade den
Mangel häufiger Wiederholung des gleichen Experimentes an dem-
selben Individuum auszugleichen. Nach den meisten Richtungen hin
ist übrigens der Ausfall der Versuche doch ein so regelmässiger ge-
wesen, dass man ihre Ergebnisse als den Ausdruck gesetzmässiger
Beziehungen ansehen darf; nur in einigen Punkten muss weiterer
Forschung die endgültige Entscheidung vorbehalten bleiben.


Für die eingehendere Betrachtung der Versuchsdaten wird es
sich empfehlen, zunächst die Erfahrungen bei der Addition in’s Auge
zu fassen. Die folgende Tabelle XXIV enthält eine Zusammenstellung
der Normal- und Alkoholversuche mit Addiren für alle Versuchspersonen.
Jeder Werth bedeutet dabei die Anzahl der Zahlen, welche durch-
schnittlich in je 5 Minuten der betreffenden Versuchsviertelstunde
addirt wurden. Die Versuchspersonen sind nach der Grösse ihrer
Arbeitsleistung in den Normalversuchen geordnet. Die Normalversuche
wurden im Winter 1888 vor Weihnachten, die Versuche mit 30 gr
am 7. März, diejenigen mit 20 gr am 10. December 1889 aus-
geführt.


Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der einzelnen Per-
sonen sind schon in den Normalversuchen sehr bedeutende. M. addirt
fast doppelt so viel Zahlen wie Da. und, wenn wir den noch nicht
durch Alkohol beeinflussten Anfang der Versuche von He. berück-
sichtigen, nahezu dreimal so viel wie dieser Letztere. Wahrscheinlich
sind diese Unterschiede zum grossen Theil auf Rechnung der Uebung zu
setzen, da wir beobachten können, dass die Leistungsfähigkeit regelmässig
bei den zeitlich späteren Alkoholversuchen von Anfang an eine grössere
war, als früher. Die einzige Ausnahme bildet der Versuch von De.
mit 20 gr Alkohol, der insofern vielleicht unter etwas abnormen Ver-
hältnissen ausgeführt wurde, als De. damals gerade im Begriffe stand,
seine seitherige Stellung aufzugeben und deswegen mit Arbeiten aller
[70]Tabelle XXIV.

Art überhäuft war. Dafür spricht auch die rasche Abnahme der
Leistungsfähigkeit, sowie der Ausfall der in derselben Zeit an De.
ausgeführten Versuche über die Schlaftiefe. *)


Die Grösse des Gewinnes durch die Uebung ist meist eine ziemlich
geringfügige, etwa 10 bis 30 Zahlen in 5 Minuten, wenn wir die
unter einander vergleichbaren Anfänge der Versuche in Betracht
ziehen. Das ist verständlich, da zwischen den verglichenen Versuchen
längere Zeiträume verstrichen waren. Nur bei Ha. ist die Differenz
zu Gunsten des späteren Versuches bis auf 70 Zahlen gestiegen. Bei
O. ist sie allerdings noch viel beträchtlicher, über 200 Zahlen, etwa
74% der ursprünglichen Leistung, aber hier liegen auch zwischen den
beiden verglichenen Versuchen noch andere Reihen, welche ein grösseres
Mass von Uebung erzeugen mussten. Gerade diese Beobachtung ist
es, welche mich veranlasst, dem Einflusse der Uebung hier eine
wesentliche Bedeutung für die individuellen Differenzen zuzuschreiben,
da derselbe hier anscheinend das anfängliche Verhältniss zwischen
M. und O. gänzlich umgekehrt hat.


Der weitere Verlauf der Normalversuche zeigt bei O., De. und
K. in sehr typischer Weise das anfängliche Ueberwiegen der Ein-
übung und das spätere Anwachsen der Ermüdung; die Leistungs-
fähigkeit nimmt bei O. und K. 1 Stunde, bei De. ½ Stunde zu und
dann in Schwankungen wieder ab. Am Schlusse des Versuches steht
[71] die Addirgeschwindigkeit bei K. noch etwas über, bei O. und De.
schon unter der Anfangsgeschwindigkeit. Für die beiden Letzteren
war somit die Ermüdung unter den gegebenen Verhältnissen grösser,
als die Uebungswirkung. Da. nähert sich, abgesehen von einer
Schwankung im Anfange, am meisten K. Nach einer Stunde nimmt
die Leistung entschieden ab, sinkt sogar vorübergehend bis unter die
Anfangsleistung, steht aber zum Schlusse doch wieder etwas über der-
selben, ein Zeichen dafür, dass die Ermüdungseinflüsse noch nicht
definitiv überwiegen. Wesentlich anders gestaltet sich das Verhalten
bei M. und Ha. Hier ist die Leistung der ersten Viertelstunde die
grösste des ganzen Versuches; die Arbeitsfähigkeit sinkt mit einigen
Schwankungen immerfort, im Beginne langsamer, gegen den Schluss
schneller. Die Ermüdung hat somit hier von Anfang an den Einfluss
der Uebung mehr als ausgeglichen, je länger die Arbeit dauert, um
so mehr. Dass trotzdem hier die Uebung wirksam war, beweist die
höhere Anfangsleistung des späteren Alkoholversuches. Offenbar war
also bei M. und Ha. die Ermüdbarkeit eine ganz besonders grosse,
so dass die Erschwerung der Leistung durch die Arbeitsanstrengung
immer mehr die durch häufige Wiederholung bewirkte Erleichterung
derselben überwog.


Bei den Alkoholversuchen wurde das Mittel regelmässig nach
der ersten halben Stunde, nur bei M. und Da. aus Versehen schon
nach den ersten 15 Minuten genommen. Wie die Zahlen darthun,
ist fast ausnahmslos auf den Genuss des Alkohols sofort, d. h. schon
beim nächsten Viertelstundenmittel, eine mehr oder weniger beträcht-
liche Abnahme der Leistung gefolgt, obschon man im Allgemeinen,
wegen der nothgedrungenen kurzen Arbeitspause, die durch das
Trinken entstand, eher eine Zunahme hätte erwarten sollen. Einen
genaueren Ueberblick über diese Verhältnisse giebt die folgende
Tabelle:


Tabelle XXV.


Die erste Querreihe derselben giebt die Anzahl von Additionen an,
welche während der ersten Viertelstunde nach dem Genuss des Alkohols
in 5 Minuten durchschnittlich weniger ausgeführt wurden, als im
[72] Durchschnitte der ersten halben Stunde. Ueberall ist schon hier eine
Abnahme der Arbeitsleistung zu constatiren, die allerdings bei He.
(20 gr) insofern nur eine scheinbare ist, als hier auch während der
Normalzeit ein kleineres Viertelstundenmittel vorkommt.


Die Gesammtabnahme der Zahlen, welche einfach die Differenz
zwischen geringstem Arbeitswerth und der mittleren Normalleistung
darstellt, variirt in den einzelnen Versuchen beträchtlich. Sie ist im
Allgemeinen am grössten dort, wo sich die Abnahme schon sehr rasch
nach dem Einnehmen des Mittels einstellte. Eine Ausnahme bildet
nur M., dessen Ermüdung hier im weiteren Verlaufe des Versuches
einen auffallend hohen Werth erreicht hat. Wie der Vergleich mit
einem 8 Tage später ausgeführten Versuche darthun wird, war die
Anfangsgeschwindigkeit hier bei M. eine unverhältnissmässig grosse,
so dass vielleicht gerade deswegen die verlangsamende Wirkung des
Alkohols einen so bedeutenden Spielraum vorfand. Im Uebrigen
zeigten sich diejenigen Personen, welche schon in den Normalversuchen
die grösste Ermüdbarkeit dargeboten hatten, auch den verlangsamen-
den Wirkungen des Alkohols gegenüber am empfindlichsten. Ausser
M. stehen hier De., Ha. und O. mit ihrer grösseren Labilität in deut-
lichem Gegensatze zu der Zähigkeit und Gleichmässigkeit in der
Arbeitsleistung bei Da. und K. He. scheint sich mehr der ersteren
Gruppe zu nähern, soweit sich das nach dem Ausfalle des zweiten,
allerdings mit den übrigen nicht ohne Weiteres vergleichbaren Ver-
suches schliessen lässt.


In der dritten Querreihe habe ich die Zeit verzeichnet, welche
von dem Einverleiben des Alkohols bis zum neuerlichen Anwachsen
der Leistungsfähigkeit verstrich. Natürlich haben diese Angaben wegen
der Grösse der gewählten Abschnitte und wegen der unvermeidlichen
Willkür in der Bestimmung des letzteren Zeitpunktes nur einen sehr
beschränkten Werth. Dennoch scheint es, dass eine umfangreichere
Abnahme der Arbeitsleistung zumeist länger andauert, als die ge-
ringeren Grade derselben, und dass daher auch in dieser Beziehung
K. und Da. mit ihrer grösseren Stetigkeit den übrigen Personen gegen-
überstehen, welche die Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit weniger
schnell ausgleichen. Nur O. macht eine Ausnahme, insofern bei ihm
schon nach relativ kurzer Zeit die Arbeitsleistung wieder steigt, aller-
dings nur sehr langsam und bei Weitem nicht zum Anfangswerthe,
vielleicht deswegen, weil späterhin auch die normale Ermüdung mit
hineinspielt. Andererseits schnellt bei M. und namentlich bei Ha. gegen
den Schluss des Versuchs die Leistung ganz auffallend rasch wieder
[73] in die Höhe. Bei Ersterem fällt dieser Zeitpunkt 90′, bei Letzterem
45′ nach dem Genusse des Alkohols. Die Wirkung des Mittels scheint
demnach ziemlich plötzlich aufgehört zu haben, während sich bei K.,
Da., He. der Nachlass der Arbeitsbeeinträchtigung mehr allmählich
vollzieht. Bei De. scheint wenigstens im Versuche I die Elasticität
am geringsten gewesen zu sein, da sich hier erst in der letzten Viertel-
stunde ein ganz unbedeutender Ansatz zu einer Ausgleichung der
Alkoholwirkung vorfindet.


Die Verschiedenheit der Alkoholdosen hat keinen augenfälligen
Einfluss auf den Ausfall der Versuche ausgeübt. De. und He. zeigen
für die beiden Gaben ein geradezu entgegengesetzes Verhalten. Das-
jenige von De. würde den sonstigen Erfahrungen am meisten ent-
sprechen. Wir sehen rascheren Eintritt, grösseren Umfang und längere
Dauer der verlangsamenden Wirkung bei stärkerer Dosis, doch wissen
wir genugsam, dass die augenblickliche Disposition für den Ausfall
der Versuche eine sehr wesentliche Bedeutung hat. Bei He. war die
Arbeitsgeschwindigkeit im Beginne des Versuches II, wie sich auch
hier durch den Vergleich mit einem späteren Versuche nachweisen
lässt, relativ gross; daher vielleicht, wie oben bei M., die unverhältniss-
mässig starke und lange andauernde Ermüdung. Auch bei K. er-
klärt sich vielleicht die trotz der geringeren Dosis rascher eintretende
Verlangsamung der Arbeit durch die grössere Anfangsgeschwindig-
keit, doch wird hier offenbar die Wirkung der kleineren Gabe weit
rascher und prompter ausgeglichen, als in Versuch I. Bei De. end-
lich trifft hohe Arbeitsleistung im Beginne mit der grösseren Dosis
zusammen. Dabei ergiebt sich eine deutlichere und länger dauernde
Alkoholwirkung im Versuche I, trotz der weiter vorgeschrittenen Er-
müdung im Versuche II.


Die mittleren Schwankungen der Arbeitsleistung pflegen, wie
sich aus den von Oehrn angestellten Versuchen ergiebt, im
Allgemeinen der Grösse jener letzteren parallel zu gehen. Bei
mittlerer Anspannung der Aufmerksamkeit arbeiten wir meist
ziemlich gleichmässig; jede aussergewöhnliche Steigerung der Ge-
schwindigkeit führt sofort zu grösseren Unregelmässigkeiten. Modi-
ficirt wird indessen dieser allgemeine Parallelismus zwischen Grösse
der Leistung und der Schwankungen durch die beiden Factoren der
Uebung und der Ermüdung. Die erstere bedingt eine Zunahme des
Arbeitsquantums mit Abnahme der mittleren Variation, während durch
die letztere im Gegentheile die Leistungsfähigkeit vermindert und die
Unregelmässigkeit des Arbeitens vermehrt wird. Dass bei diesen ver-
[74] wickelten Beziehungen der Nachweis einer Beeinflussung der mittleren
Variationen der Arbeitsleistung durch den Alkohol und noch mehr
deren Deutung im Einzelnen auf grosse Schwierigkeiten stossen muss,
liegt auf der Hand. Diese Schwierigkeiten wachsen aber noch durch
den Umstand, dass mir leider die Originalprotokolle der von Oehrn
angestellten Versuche nicht mehr zu Gebote stehen und dadurch eine
genauere Vergleichung der Alkoholreihen mit den früheren Normal-
reihen nicht möglich ist. Für die Construction einer Norm sind wir
somit, abgesehen von Oehrn’s Angaben l. c. p. 68 und 69, nur auf
die für diesen Zweck gänzlich ungenügenden Beobachtungen aus der
ersten halben Versuchsstunde vor der Einverleibung des Alkohols
angewiesen. Diese Zahlen zeigen uns zunächst, dass eine bestimmte
Beziehung zwischen Schnelligkeit der Arbeitsleistung und Grösse der
Schwankungen bei verschiedenen Versuchspersonen hier nicht deut-
lich ist, wenn auch im Ganzen die schneller rechnenden O. und M.
grössere Variationen aufzuweisen haben, als die langsam, aber gleich-
mässiger arbeitenden Ha. und Da. Erschwert wird die Feststellung
solcher Beziehungen durch die auffallenden Unterschiede in dem Aus-
fall der Versuche bei einem und demselben Individuum. Hier aber
sehen wir (bei De. I, K. II, He. II) regelmässig der grösseren Anfangs-
geschwindigkeit, also der stärkeren Anspannung, eine Vergrösserung
der Schwankungen entsprechen.


Hinsichtlich des Ganges der mittleren Variationen im weiteren
Verlaufe der einzelnen Versuche habe ich greifbare Gesetzmässig-
keiten nicht aufzufinden vermocht. Nur darauf möchte ich kurz
hinweisen, dass in der ersten Phase der Alkoholwirkung, trotzdem
regelmässig die Leistung geringer wird und die Einflüsse der normalen
Ermüdung hier noch keine Rolle spielen können, dennoch die Schwan-
kungen meist beträchtlicher sind, als gegen den Schluss des Versuches,
während die hier eintretende Zunahme der Arbeitsgeschwindigkeit
sowol, wie die natürliche Ermüdung eher das entgegengesetzte Er-
gebniss herbeiführen sollte. In den von Oehrn durchgeführten Ver-
suchen ist thatsächlich auch die Zunahme der mittleren Variationen
in der zweiten Hälfte der Beobachtungsreihen die Regel. Daraus
würde sich ergeben, dass der Alkohol hier die Neigung hat, den ge-
wöhnlichen Parallelismus zwischen Arbeitsgrösse und Schwankung zu
stören, indem er gleichzeitig mit einer Herabminderung der rechne-
rischen Leistung dieselbe auffallend häufig auch ungleichmässiger ge-
staltet, eine Störung, die sich erst dann wieder ausgleicht, wenn auch
die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit durch den Alkohol nachlässt.


[75]

Die zweite grosse Gruppe unserer Versuche erstreckte sich auf
das Auswendiglernen 12stelliger Zahlen. Ich wählte diese
Arbeit, weil ich hoffte, dass bei einer so schwierigen Leistung sich
der Einfluss des Medicamentes in besonders deutlicher Weise geltend
machen werde. Allerdings hatte ich dabei ausser Acht gelassen, dass
auch andere Ursachen hier grosse Schwankungen erzeugen mussten,
und dass namentlich der Uebungsfehler die Gleichmässigkeit der Ver-
suche und damit ihre Vergleichbarkeit erheblich zu beeinträchtigen
drohte. Die Dosis nahm ich niedriger, als bei den Additionsversuchen,
nämlich 20 gr; nur 3 spätere Versuche wurden mit 30 gr angestellt.
Eine Uebersicht über die allgemeinen Ergebnisse dieser Beobachtungs-
reihen giebt die nachfolgende Tabelle, in welcher wiederum die Reihen-
folge der Personen nach der Grösse ihrer Normalleistung geordnet ist.
Die Normalversuche wurden auch hier vor Weihnachten 1888, die
ersten Alkoholversuche am 21./III., die zweiten bei K. und De. am
5., bei He. am 6./XII. 1889 angestellt.


Tabelle XXVI.


Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der einzelnen Versuchs-
personen sind hier noch grössere, als beim Addiren; das Maximum
der individuellen Arbeit übertrifft die geringsten Leistungen um das
3 fache und mehr. Diese Differenzen verwischen sich mit wachsender
Uebung nur bis zu einem gewissen Grade. Sehr auffallend ist die
enorme Steigerung der Leistungsfähigkeit bei O.; ich bin jedoch nicht
sicher, ob hier nicht zwischen den beiden mitgetheilten Reihen noch
andere Versuche liegen. Der weitere Verlauf der Normalversuche
[76] weist sehr bemerkenswerthe Verschiedenheiten auf. Jene beiden Per-
sonen, welche schon beim Addiren die geringste Ermüdbarkeit gezeigt
hatten (K. und Da.), lassen eine fortschreitende Zunahme der Arbeits-
leistung erkennen, die bei K. sogar sehr beträchtlich ist. Bei M., O.
und Ha. tritt weder eine Steigerung noch eine Abnahme der Lern-
geschwindigkeit deutlich hervor; die grössere Uebungsfähigkeit der
beiden Letzteren wird demnach durch ihre ebenfalls grosse Ermüd-
barkeit wieder ausgeglichen. Endlich führt die sehr bedeutende Er-
müdbarkeit De.’s sogar zu einem fortschreitenden Sinken der Leistungs-
fähigkeit, trotzdem sich der dauernde Uebungseffect hier kaum geringer
zeigt, als bei den übrigen Versuchspersonen.


Die Alkoholversuche zerfallen bei näherer Betrachtung in zwei
Hauptgruppen. In die erste derselben sind die Beobachtungsreihen
O., Ha., M., De. II und He. II zu rechnen. Hier sehen wir überall
schon in der ersten Viertelstunde nach dem Einnehmen des Alkohols
eine mehr oder weniger beträchtliche Abnahme der Arbeitsleistung auf-
treten, die sich im weiteren Verlaufe regelmässig wieder ausgleicht.
Bei den übrigen 5 Versuchen stellt sich im Gegentheil unter dem Ein-
flusse des Alkohols zunächst eine Steigerung der Lerngeschwindigkeit
ein, die ebenfalls. und zwar ziemlich bald, wieder verschwindet. Bei
De. I und He. I folgt auf dieselbe späterhin noch ein Sinken unter
die Norm, während bei K. und Da. die Abnahme nicht so weit geht,
sondern im Gegentheil einer nochmaligen geringen Zunahme der
Arbeitsleistung Platz macht. Auch bei He. I und II gleicht sich der
tiefe Stand der Leistungsfähigkeit gegen den Schluss des Versuches
wieder aus. Eine Zusammenstellung dieser Ergebnisse liefert die
Tabelle XXVII. In derselben ist Zunahme und Abnahme, wie früher,
aus der Differenz der höchsten oder geringsten Arbeitsleistung gegen-
über dem Durchschnitte der normalen halben Stunde berechnet. Für
He. II hat sich auf diese Weise eine anfängliche geringe Zunahme
der Arbeit ergeben, die nach Ausweis der Tabelle XXVI augen-
scheinlich als Kunstproduct aufzufassen ist.


Tabelle XXVII.


[77]

Man könnte versucht sein, die anscheinende Regellosigkeit im
Ausfalle der Beobachtungen auf zufällige Einflüsse zurückzuführen und
damit auf eine Erklärung derselben überhaupt zu verzichten. Gegen
eine solche Auffassung spricht indessen einmal die Uebereinstimmung
der Additionsversuche untereinander und mit der erstgeschilderten
Verlaufsart. Das Sinken der Leistung sofort nach dem Genusse des
Alkohols und ebenso das rasche Wiederansteigen nach meist 30 Mi-
nuten ist eine so typische und von den Normalversuchen abweichende
Erscheinung, dass über ihre toxische Entstehung kein gegründeter
Zweifel mehr möglich ist.


Ebensowenig aber kann die in einigen Versuchen hervortretende
anfängliche Beschleunigung der Arbeit als etwas Zufälliges betrachtet
werden. Diese Verkürzung der Lernzeit findet sich überall nur im
Beginne des Versuches, und sie ist offenbar eine ganz flüchtige Erschei-
nung, die weit schneller in ihr Gegentheil umschlägt, als die vorhin
besprochene Verlangsamung. Der Versuch Da. spricht nicht dagegen.
Bei Da. nahm wegen seiner geringen Ermüdbarkeit normalerweise
die Leistungsfähigkeit bis zum Schlusse zu, und diesen wach-
senden Uebungseinfluss hat auch der Alkohol, der Anfangs vielleicht
in gleichem, später nach Ausweis der übrigen Erfahrungen wahr-
scheinlich im entgegengesetzten Sinne wirkte, nicht verwischen können,
obgleich sich Andeutungen beider Richtungen der Alkoholwirkung
allenfalls aus den Zahlen würden herauslesen lassen. Bei K., der
sonst Da. nahe steht, sehen wir ebenfalls, wie nach der anfänglichen
Beschleunigung und der darauf folgenden Verlangsamung der Arbeits-
leistung schliesslich auch diese letztere sich wieder ausgleicht und nun
die Lerngeschwindigkeit noch immer höher bleibt, als während der
Normalzeit. Denselben typischen Verlauf beobachten wir bei He. I;
nur beginnt hier in der letzten Viertelstunde doch die physiologische
Ermüdung über den Uebungseinfluss zu überwiegen, nachdem die po-
sitive und negative Alkoholschwankung bereits abgelaufen ist. Ein
weiteres einschneidendes Argument für die Auffassung der anfäng-
lichen Arbeitsbeschleunigung ist für mich persönlich das ungemein deut-
liche subjective Gefühl der Erleichterung beim Lernen im
ersten Stadium der Alkoholwirkung. Diese Beobachtung ist mir um so
überzeugender, als sie mir völlig unerwartet kam, da ich beim Addiren
gerade das Gegentheil empfunden hatte. Sofort nach Beendigung des
ersten Alkoholversuches, bevor die Zahlen berechnet waren, gab ich
meiner lebhaften Ueberraschung über diese Wahrnehmung Ausdruck,
die mir von De. und He. damals bestätigt wurde. Ich hatte mit Be-
[78] stimmtheit angenommen, die unangenehme Aufgabe des Auswendig-
lernens werde durch den Alkohol erheblich erschwert werden.


Auffallend ist jedoch der verschiedene Ausfall der Versuche nicht
nur bei verschiedenen, sondern z. Th. sogar bei denselben Personen.
Wir werden hier erinnert an Erfahrungen, die wir bei den ersten
Alkoholversuchen mit einfachen Reactionsformen zu machen Gelegen-
heit hatten. Wir sahen damals, dass der Eintritt der anfänglichen
Verkürzung überall von der Dosis abhängt. Hier stellt sich bei He.
und De. die Erscheinung jedesmal bei der kleineren Alkoholgabe
ein, während es bei 30 gr sofort zur Verlangsamung der Arbeit
kommt. Bei K. tritt die Beschleunigung zwar in beiden Versuchen
auf, aber sie ist bei 30 gr flüchtiger, während die nachfolgende Er-
schwerung des Lernens an Dauer gewinnt. Um an der Hand dieser
Erfahrungen eine Erklärung auch für die individuellen Verschieden-
heiten aufzufinden, läge es nahe, anzunehmen, dass für diejenigen Per-
sonen, welche auf die Alkoholgabe von 30 gr sogleich mit einer Ver-
langsamung der Arbeit reagirten, eben diese Dosis schon relativ hoch
gewesen sei, dass sie eine grössere Empfindlichkeit gegenüber jenem
Gift besessen hätten, ähnlich wie anscheinend He. und De. empfind-
licher waren, als K. und Da. Für M. kommt indessen noch ein
anderer Umstand in Betracht, nämlich dass er, wie im Protokoll ver-
zeichnet wurde, an dem Versuchsabend ganz besonders ermüdet war,
worauf auch das Sinken der Leistung vor dem Genusse des Alkohols
hinweist. Bei solcher Disposition pflegt aber schon eine geringere
Dosis die verlangsamende Wirkung zu haben, während umgekehrt
psychische Erregung das Hervortreten jener letzteren hintanhält.


Endlich wäre noch die Frage aufzuwerfen, ob nicht möglicherweise
eine sehr flüchtige Beschleunigung des Lernens innerhalb der ersten
Viertelstunde durch die Mittelberechnung verwischt worden sei. Bei
Durchsicht der Protokolle ergiebt sich, dass allenfalls die Zahlen von
O. und He. II diese Annahme möglich erscheinen lassen, insofern
hier etwa 10—15 Minuten nach der Alkoholeinnahme Lernwerthe auf-
traten, welche auffallend über ihre Umgebung hinausragen. Aller-
dings finden sich unter den Normalzahlen bei He. einmal, bei O. so-
gar mehrmals noch höhere Werthe. Bei Ha. und De. II lässt sich
eine auch noch so vorübergehende Beschleunigung durchaus nicht nach-
weisen. Wir kommen somit über die Thatsache einer verschieden-
artigen Wirkung der gleichen Alkoholgaben auf verschiedene Per-
sonen nicht hinaus. Von besonderem Interesse erscheint aber dabei
der Umstand, dass gerade diejenigen beiden Versuchspersonen, welche
[79] wir sonst dem Einflusse der Ermüdung verhältnissmässig am wenig-
sten zugänglich gefunden haben, K. und Da., hier auch die geringste
Empfänglichkeit für die verlangsamende Wirkung des Alkohols auf-
weisen. He. müssen wir leider wegen Mangels von Normalreihen
ausser Betracht lassen. Auf der andern Seite stehen O., Ha., M. und
De., der allerdings einmal noch eine ganz geringe Verkürzung, dafür
aber weiterhin eine dauernde Verlängerung seiner Lernzeiten darbietet.
Alle zuletzt genannten Personen haben sich früher als leichter er-
müdbar erwiesen. Bei M. bestand ausserdem im vorliegenden Alko-
holversuche von Anfang an schon starke Ermüdung. Bei genauerer
Würdigung aller dieser Umstände glaube ich annehmen zu müssen,
dass die verschiedene Empfindlichkeit der einzelnen Personen gegen
Alkohol hier eine gewisse Rolle gespielt hat. Gerade die auch sonst
in ihrer Arbeitsleistung sensibelsten Personen erlitten durch relativ
kleine Gaben schon eine vorübergehende Erschwerung der hier sich
abspielenden psychischen Vorgänge, während die gleiche und selbst
eine höhere Dosis bei stabileren Naturen, soweit keine weitere
Ermüdung störend wirkte, zunächst eine Erleichterung und erst
dann eine Verlangsamung des Lernens erzeugte. Auf der anderen
Seite aber lässt sich nicht leugnen, dass diese Erklärung wegen der
Grösse der Unterschiede im Ausfalle der Versuche doch nicht völlig
befriedigt. Wir werden später Erfahrungen kennen lernen, welche
noch von einer ganz anderen Richtung Licht auf diese Verhältnisse
zu werfen geeignet sind.


Die Grösse der mittleren Variationen während der ersten, noch
nicht vom Alkohol beeinflussten halben Stunde zeigt keine unver-
brüchliche Abhängigkeit von der Arbeitsgeschwindigkeit; wol aber
sind die Schwankungen bei den rascher lernenden Versuchspersonen
O., K. und Ha. durchweg grösser als bei den übrigen langsamer
arbeitenden.


Im Gegensatze zu den Beobachtungen beim Addiren fallen hier
die Schwankungen in der zweiten Hälfte des Alkoholversuches meist
grösser aus, als in der ersten. Ja, es zeigt sich, dass vielfach die
mittleren Variationen unter der Alkoholeinwirkung zunächst sogar
geringer wurden, als in der Norm. Eine Ausnahme machen die Ver-
suche K. I u. II, He. I und De. II, von denen jene ersten 3 gerade
die Eigenthümlichkeit einer anfänglichen Beschleunigung des Lernens
zeigten. Ueberall erhält sich hier die Zunahme der Schwankungen
über die Norm bis zum Ende des ganzen Versuches, sogar gewöhnlich
in steigendem Masse, trotzdem die Leistung inzwischen eine vorüber-
[80] gehende bedeutende Abnahme dargeboten hat. In den übrigen Ver-
suchen hält die Verringerung der mittleren Variationen entweder bis zum
Schlusse an (Ha., Da., O., He. mit einer vorübergehenden Zunahme),
oder sie macht einer neuerlichen Steigerung Platz (De. I, M.), die
wol als Ermüdungserscheinung aufzufassen ist.


Es ist schwer, sich bei diesen Unregelmässigkeiten ein klares Bild
von der Alkoholwirkung zu verschaffen. Vergleicht man jede einzelne
mittlere Variation mit dem Durchschnitte der beiden ohne Alkohol ge-
wonnenen Werthe, so ergiebt sich, dass während der ersten Zeit des Alko-
holeinflusses die Schwankungen 9 Mal grösser und 21 Mal kleiner sind, als
die Norm, während sie in der zweiten Versuchshälfte 14 Mal grösser und
16 Mal kleiner ausfallen. Gegenüber den für das Addiren gefundenen Ver-
hältnissen würden wir somit hier thatsächlich eine anfängliche Abnahme
der mittleren Variationen zu verzeichnen haben, die sich erst späterhin,
vielleicht unter dem Einflusse der hier im Allgemeinen stärkeren Er-
müdung, wieder ausgleicht. Es muss jedoch fraglich erscheinen, ob diese
anfänglich wachsende Regelmässigkeit, die am deutlichsten in der
dritten Viertelstunde der Alkoholwirkung hervortritt, gerade als eine
Folge dieser letzteren angesehen werden muss, so dass wir es mit
einer entgegengesetzten Beeinflussung der Vorgänge des Addirens und
Auswendiglernens in dieser Beziehung zu thun hätten. Gegen diese
Auffassung spricht einmal die relativ späte Ausbildung der Erschei-
nung, dann aber auch der Umstand, dass dieselbe gerade in denjenigen
Versuchen, in denen die Arbeitsleistung anders beeinflusst wird, als
das Addiren, zumeist nicht ausgeprägt ist. Weit näher liegt es, zur
Erklärung den im Allgemeinen hier recht bedeutenden Uebungseffect
heranzuziehen, der erst gegen den Schluss des Versuches durch die
ebenfalls beträchtliche Ermüdung einigermassen wieder ausgeglichen
wird.


Von Interesse erscheint es endlich noch, zu untersuchen, mit
welcher Schnelligkeit die zu lernenden Zahlenreihen von den einzelnen
Personen und in den verschiedenen Stadien des Versuches hergesagt
wurden. Aufschluss über diesen Punkt giebt uns die folgende Ta-
belle XXVIII, in welcher verzeichnet ist, wie oft insgesammt die ver-
schiedenen, während der einzelnen Viertelstunden gelernten Zahlenreihen
durchschnittlich in 5 Minuten wiederholt wurden.


Die Zahl dieser Wiederholungen ist individuell ausserordentlich ver-
schieden; sie schwankt bei meinen Versuchspersonen um mehr als das
Vierfache ihros niedrigsten Werthes. Für ein und dasselbe Indivi-
duum sind dagegen die Variationen relativ gering; Jeder hat eine von
[81]Tabelle XXVIII.

ihm im Allgemeinen festgehaltene normale Sprechgeschwindig-
keit
. Freilich hat die Uebung auf dieselbe einen sehr deutlichen
Einfluss; wir recitiren sowol am Ende des einzelnen Versuches, wie
namentlich bei Wiederholung desselben, erheblich schneller, als am
Anfange und beim ersten Male. Zu der Grösse der Arbeitsleistung
steht die Schnelligkeit des Hersagens anscheinend in keinem bestimm-
ten Verhältniss. Allerdings wiederholen O. und K., die am meisten
lernen, so ziemlich am schnellsten, M., Da., He. mit ihrer geringeren
Leistung am langsamsten, aber De. lernt langsam und spricht schnell,
Ha. recitirt langsam und überwältigt trotzdem ein relativ grosses
Pensum. Zudem lässt sich auch beim Vergleiche der Tabellen XXVI
und XXVIII im Einzelnen zeigen, dass die Zahl der Wiederholungen
durchaus nicht immer der Grösse der Arbeitsleistung parallel geht.


Demnach muss die hier hervortretende individuelle Differenz eine
andere Bedeutung haben. Man könnte z. B. an ähnliche Unterschiede
denken, wie sie bei den einfachen Reactionsversuchen als sensorische
und musculäre Reactionsform beschrieben worden sind. Es wäre mög-
lich, dass jene Personen, welche langsam wiederholen, mehr durch
Einprägung der Schriftbilder die Zahlenreihe lernen, während die
schnell Recitirenden vor Allem die sprachliche Bewegungsvorstellung
zu Hülfe nehmen und somit rein mechanisch reproduciren. Dass der
letztere Vorgang bei mir selbst hauptsächlich in Betracht kommt, ist
mir nach meiner subjectiven Erfahrung zweifellos. Leider habe ich es
versäumt, die übrigen Versuchspersonen in dieser Hinsicht zu befragen.
Vielleicht würde sich hier ein gewisser Parallelismus mit der Gewohn-
heit sensorischer oder musculärer Reaction herausstellen, doch besitze
ich nur von K. und De. vergleichbare Zahlen. Ich selbst pflege ge-
mässigt sensoriell zu reagiren (R. für Schalleindrücke ungefähr
180 σ); De. mit seinen zahlreicheren und durch die Uebung rasch
Kraepelin, Beeinflussung. 6
[82] sich steigernden Wiederholungen reagirt entschieden musculär (R. ==
130 σ). Sehr bemerkenswerth ist endlich die grosse Gleichmässigkeit
der Sprechgeschwindigkeit bei Da. und K. gegenüber den beträcht-
lichen Schwankungen bei O. und M., namentlich aber bei De. und
Ha., die wir schon früher als besonders sensibel kennen gelernt haben.
He. ist hier, weil er zum ersten Mal an Lernversuchen theilnahm,
während die übrigen Personen sowol im Zahlen- wie im Silbenlernen
bereits geübt waren, nicht vergleichbar. Die Grösse des Uebungs-
effectes scheint zunächst von der Geschwindigkeit der Wiederholungen
nicht abzuhängen.


Der Einfluss des Alkohols auf die Schnelligkeit des Hersagens
gestaltet sich sehr verschieden. Eine mehr oder weniger deutliche Be-
schleunigung treffen wir bei K. I und II, Ha., De. I, He. I, eine
Verlangsamung dagegen bei De. II, He. II. Zweifelhaft ist die Be-
schleunigung bei M., O. und Da. Im Ganzen sprechen somit diese
Erfahrungen mehr für eine Erleichterung des Recitirens durch den
Alkohol. Diese Auffassung wird um so wahrscheinlicher, wenn wir
bedenken, dass die Zunahme der Wiederholungen am deutlichsten
in denjenigen Versuchen ist, in denen wir früher eine anfängliche
Steigerung der Arbeitsleistung aufgefunden haben. Dazu kommt, dass
die Beobachtungsreihen mit deutlicher Verlangsamung des Hersagens
bei einer höheren Alkoholdosis gewonnen wurden. Bei M. könnte
man auch an eine anfängliche Verlangsamung denken; hier bestand
ein Zustand bedeutender, schon vorher signalisirter Müdigkeit. Unter
Berücksichtigung dieser Umstände dürfen wir als wahrscheinlich an-
nehmen, dass der Alkohol die Geschwindigkeit der Wiederholung ver-
grössert und zwar bisweilen (Ha.) selbst dann, wenn er die Lern-
fähigkeit bereits herabsetzt. Bei grösseren Alkoholdosen tritt an Stelle der
Beschleunigung eine Verlangsamung. Die Dauer der Beschleunigung
lässt sich aus unseren Versuchen nicht mit voller Sicherheit bestimmen,
da auch die normale Uebung eine Steigerung der Wiederholungs-
geschwindigkeit herbeiführt, welche sich am Schlusse des Versuches
und, wie oben erwähnt, noch deutlicher bisweilen am Anfange eines
späteren Versuches (De.) zu zeigen pflegt. Dennoch spricht die nach
der anfänglichen Beschleunigung bald eintretende und erst später sich
von Neuem ausgleichende Verlangsamung der Wiederholungen dafür,
dass jene Geschwindigkeitszunahme nur dem Beginne der Alkohol-
wirkung angehört, wie wir das früher auch für die rasch vorüber-
gehende Steigerung der Arbeitsleistung gesehen haben. Beachtenswerth
[83] sind in dieser Beziehung die Versuche O., K. I und II, Ha., He. I;
zweifelhaft ist M., Da. und De. I.


Dieser letztere Umstand ist es auch, der dafür spricht, dass die
nach dem Alkoholgenusse eintretende Beschleunigung der Recitation
nicht überhaupt als einfacher Uebungseffect aufzufassen ist, um so mehr,
als auch die Verlangsamung in den Versuchen De. II und He. II
sich alsbald wieder ausgleicht. Bei Da. mit seiner bedeutenden
Uebungsfähigkeit ist allerdings der gleichsinnige Effect des Alkohols
und der Uebung nicht zuverlässig von einander zu trennen.


Die Zunahme der Wiederholungen am Schluss der Beobachtungs-
reihe entspricht im Allgemeinen dem Gange der hier ebenfalls sich
steigernden Arbeitsleistung, wenngleich im Einzelnen von einem Paral-
lelismus nicht die Rede ist. So geht die Verlangsamung des Reci-
tirens in der vorletzten Viertelstunde bei Ha. mit einer bedeutenden
Zunahme des gelernten Pensums einher, während die schnellen Wieder-
holungen am Schlusse von De. I von einem fortschreitenden Sinken
der Arbeitsmenge begleitet sind. Offenbar werden somit Sprech-
geschwindigkeit und Lernfähigkeit durch Uebung und Ermüdung in ver-
schiedener Weise
beeinflusst. Jene erstere kann noch gesteigert
werden, während letztere schon abnimmt und umgekehrt. Im All-
gemeinen aber tritt die Ermüdung für den Lernvorgang früher ein,
als für das Recitiren, da wir dort fast überall die Schlussleistung
geringer, hier dagegen zumeist höher antreffen, als diejenige im Be-
ginne des Versuches. Dieses Ergebniss steht mit dem Verhalten jener
beiden Functionen gegenüber dem Alkohol in bester Uebereinstimmung.
Die Lähmung durch dieses Gift erstreckt sich, wie wir gesehen haben,
mit grösserer Sicherheit auf das Lernen, als auf das Sprechen; sie
kann auf jenem Gebiete schon sehr ausgesprochen sein, wenn auf
diesem allein erst die erregenden Wirkungen des Alkohols deutlich
hervortreten.


Ausser dem Addiren und Zahlenlernen haben wir in einer weiteren
Gruppe von Beobachtungsreihen auch das Lesen nach der von
Oehrn geschilderten Methode in den Bereich unserer Untersuchungen
gezogen. Die Alkoholdosis betrug überall 30 gr. Die Resultate ent-
hält die folgende Tabelle, in welcher die Zahl der während der ein-
zelnen Viertelstunden durchschnittlich in je 5 Minuten gelesenen Silben
angegeben ist.


6*
[84]

Tabelle XXIX.


Die individuellen Unterschiede in der Grösse der Leistung sind
beim Lesen nicht im entferntesten so gross, wie bei den bisher be-
trachteten Functionen und namentlich beim Zahlenlernen. Die kleinsten
beobachteten Mittelwerthe betragen immerhin fast ⅔ der grössten.
Der Grund für diese Gleichmässigkeit liegt vielleicht in der für alle
Personen bestehenden nahezu maximalen Uebung auf diesem Gebiete. Dafür
spricht auch der Umstand, dass der Uebungsfortschritt von einem
Versuche zum andern ein ziemlich geringfügiger ist. Bei Da. und
K. wird sogar im späteren Alkoholversuche mit einer niedrigeren
Anfangsgeschwindigkeit begonnen, als bei der früheren Normalreihe.
Diese Erscheinung lässt erkennen, dass hier der unbedeutende dauernde
Effect der Uebung durch die zufälligen Einflüsse der jeweiligen Dispo-
sition mehr als ausgeglichen werden kann. O. allerdings und namentlich
Ha. bewähren auch hier ihre mehrfach betonte ausserordentliche
Uebungsfähigkeit, während De. und M., wie früher, in dieser Beziehung
eine Mittelstellung einnehmen.


Bei der Gruppirung der Versuchspersonen nach der Anfangs-
leistung in den Normalreihen sollten wir erwarten, ungefähr dasselbe
Verhalten anzutreffen, wie wir es hinsichtlich der Wiederholungs-
geschwindigkeit beim Zahlenlernen festgestellt haben. Hier wie dort
drückt sich in den Beobachtungswerthen die Schnelligkeit aus, mit
welcher wir gewohnheitsmässig Schriftzeichen in Sprechbewegungen
umsetzen. Allein die Erfahrung lehrt etwas ganz Anderes. Die
Reihenfolge der Personen nach ihrer Sprechgeschwindigkeit während
der ersten halben Stunde war nämlich:


[85]

Tabelle XXX.


Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass bei dieser anscheinend völligen
Regellosigkeit zufällige Einflüsse eine gewisse Rolle gespielt haben
mögen. Immerhin steht so viel fest, dass von einem Parallelismus hier
nicht die Rede sein kann. Die Differenzen in den beiden letzten
Querreihen erklären sich einfach aus der so sehr verschiedenen Uebungs-
fähigkeit der einzelnen Personen. O. und namentlich Ha. rücken
beim zweiten Versuche trotz ihrer anfänglich nicht bedeutenden
Leistungsfähigkeit nach vorn, während Da. mit seiner sehr geringen
Uebungsfähigkeit weit überflügelt wird und der in der gleichen Lage
befindliche K. natürlich seine Stelle nicht verändert. Die Erfahrungen beim
Zahlenlernen sollten unter diesen Umständen füglich nur mit den
zweiten Leseversuchen verglichen werden; leider fehlen mir die Werthe
der Wiederholungen für die Normalversuche. Dabei stellt sich heraus,
dass die langsam wiederholenden M. und Ha. am schnellsten lesen,
und umgekehrt die langsam lesenden K. und De. relativ schnell
wiederholen. Man könnte demnach mit grösserem Rechte sogar von
einem gewissen Gegensatze beider Functionen sprechen.


Einigermassen verständlich wird dieses Verhalten, wenn wir erwägen,
dass beim Lesen der Inhalt des Gelesenen absichtlich ignorirt wurde,
während beim Zahlenlernen im Gegentheile die Einprägung des Inhaltes
die eigentliche Aufgabe war. Je nach der Art, wie ein Jeder gewohn-
heitsmässig diese Aufgaben löste, musste sich das gegenseitige Verhältniss
der Arbeitsgeschwindigkeit verschieden gestalten. M., der beim Zahlen-
lernen extrem langsam wiederholte, weil er wahrscheinlich hauptsächlich
das Schriftbild selbst festzuhalten suchte, konnte daher, wo es sich nur
um die Lesegeschwindigkeit handelte, recht wol eine wesentlich grössere
Leistungsfähigkeit entfalten, wie sie auch seiner Arbeitsleistung bei
dem immerhin verwandten, wenn auch etwas weniger mechanischen
Addiren entsprach. He. ist wegen Fehlens der Normalversuche mit
den Uebrigen nicht vergleichbar. Er wiederholte noch langsamer als
M., las aber trotz der ihm fehlenden Versuchsübung in der Alkohol-
reihe weit schneller als K. Aehnlich verhielt sich die Sache vielleicht
ursprünglich mit Ha. und Da; nur blieb eben Letzterer wegen seiner
[86] sehr geringen Uebungsfähigkeit im Alkoholversuche, bei dem er offenbar
auch noch ungünstig disponirt war, hinter den Andern zurück. O.,
De. und K., die besonders rasch beim Zahlenlernen wiederholenden
Personen, behalten ihre gegenseitige Reihenfolge für das Lesen bei,
ebenso wie Ha. und M. die ihrige, aber sie lesen insgesammt lang-
samer, als die beiden Letztgenannten. Ihre Ueberlegenheit dort, die
vermuthlich durch eine sehr mechanische Lernmethode bedingt war,
ist hier wieder verloren gegangen. Ob dieses Zusammentreffen jener
Lernmethode mit relativ geringer Lesegeschwindigkeit etwas mehr als
Zufälliges ist, lässt sich zunächst nicht entscheiden.


Noch deutlicher vielleicht, als durch die bisherigen Betrachtungen,
stellt sich der Gegensatz der Versuchspersonen heraus, wenn man
direct die absoluten Geschwindigkeitsmasse für das Lesen und das
Wiederholen beim Zahlenlernen mit einander vergleicht. Berück-
sichtigen wir, dass jede Zahlenreihe, wenn wir die 7 auch als einsilbig
gelten lassen, aus 12 Silben bestand, so können wir ohne Weiteres die
Anzahl der Silben finden, welche beim Zahlenlernen durchschnittlich
in je 5 Minuten gesprochen wurden. Berechnen wir daraus und aus
der Zahl der im gleichen Zeitraume gelesenen Silben das gegenseitige
Verhältniss, so ergeben sich für die einzelnen Personen bei den Alko-
holversuchen die folgenden Werthe, welche angeben, wieviel Mal
schneller beim Lesen gesprochen wurde, als beim Lernen.


Tabelle XXXI.


Man erkennt ohne Weiteres, dass die Versuchspersonen in 2 Gruppen
zerfallen, deren einzelne Mitglieder untereinander nähere Ueberein-
stimmung darbieten. Die ersten 4 Personen lesen ungefähr 10 Mal,
die letzten 3 dagegen nur etwa 3,6 Mal so rasch, als sie die Reihen
beim Zahlenlernen recitiren. Berücksichtigen wir auch, dass die
grössere Lesegeschwindigkeit überhaupt wol wesentlich durch den
Wegfall der beim Zahlenlernen unerlässlichen Pausen bedingt wird,
so kann man doch kaum verkennen, dass die hier hervortretende
Gruppirung mit grösster Wahrscheinlichkeit auf eine verschiedenartige
Lernmethode hinweist und damit unsere früher in dieser Richtung
gemachten Ausführungen zu stützen geeignet ist. Dieselben Diffe-
renzen stellen sich mit ganz geringfügigen Verschiebungen auch dann
[87] heraus, wenn wir die Verhältnisszahlen mit Hülfe des Normallese-
versuches berechnen, wie sich aus den eingeklammerten Werthen der
Tabelle ergiebt.


Der Verlauf der Normalreihen beim Lesen ist für die einzelnen
Personen ein sehr verschiedener. Ha. und O. mit ihrer grossen Er-
müdbarkeit liefern eine allmählich abnehmende Reihe von Werthen,
während der sonst ebenfalls sehr ermüdbare De. im Gegentheil eine
stetig wachsende Leistungsfähigkeit darbietet, die erst in der letzten
halben Stunde wieder sinkt. K. zeigt in Schwankungen eine geringe
Zunahme, gegen Schluss des Versuches noch geringere Abnahme der
Arbeitsleistung. Bei Da. nimmt die Lesegeschwindigkeit Anfangs rasch
zu, dann langsam wieder etwas ab, während M. gerade das umge-
kehrte Verhalten an den Tag legt. Im Ganzen ist übrigens der
Spielraum der Schwankungen überhaupt ein verhältnissmässig sehr
geringer. Die früher besprochenen Eigenthümlichkeiten der einzelnen
Versuchspersonen, namentlich hinsichtlich ihrer relativen Ermüdbarkeit,
treten hier nicht in charakteristischer Weise hervor. Ich vermuthe
indessen im Hinblick auf die Erfahrungen über die geringen indi-
viduellen Differenzen in der Lesegeschwindigkeit überhaupt, dass es
sich hier nicht etwa um ein gegensätzliches Verhalten des Lesens
gegenüber den andern untersuchten Functionen handelt, sondern dass
der Grund einfach in der grösseren und gleichmässigeren Uebung der
Versuchspersonen zu suchen ist. Unter diesen Umständen treten die
sonst so ausgeprägten Einflüsse der Ermüdung gegenüber den mehr
zufälligen Verschiedenheiten der augenblicklichen Disposition in den
Hintergrund; gleichzeitig nimmt allerdings auch die Sensibilität des
ganzen Vorganges gegenüber störenden Einwirkungen überhaupt ab.


Der Ausfall der Alkoholversuche ist ebenfalls bei den einzelnen
Versuchspersonen kein ganz gleichmässiger. Allerdings lässt sich fast
überall nach kurzer Zeit eine deutliche Verlangsamung des Lesens
nachweisen, aber derselben geht, wie die folgende Tabelle zeigt, mehr-
fach eine freilich ganz flüchtige Beschleunigung voraus.


Tabelle XXXII.


[88]

Diese Erfahrung ist zu typisch, um uns nicht an die ganz analoge
Erscheinung beim Zahlenlernen, namentlich hinsichtlich der Wieder-
holungsschnelligkeit zu erinnern. Durch sie wird auf’s Neue bestätigt,
dass unter gewissen Bedingungen durch den Alkohol eine rasch vor-
übergehende Steigerung der Sprechgeschwindigkeit hervorgerufen wird.
Auch die Erklärung, warum diese Erscheinung hier weniger regel-
mässig, als bei den früheren Versuchen hervortritt, liegt auf der Hand;
die oben constatirten Ausnahmen weisen uns den Weg. Dort zeigte
von den Versuchen mit 30 gr Alkohol nur einer, bei dem weniger
labilen K., jene Zunahme der Wiederholungen, während die übrigen
Reihen mit 20 gr sämmtlich mehr oder weniger markirte Andeutungen
derselben erkennen liessen. Da hier bei allen Versuchen 30 gr Al-
kohol genommen wurden, tritt auch die initiale Beschleunigung lang-
samer und flüchtiger auf, als dort. Sie betrifft auch nicht durchgängig
dieselben Personen, was uns bei der Unberechenbarkeit der zufälligen
Dispositionseinflüsse nicht Wunder nehmen darf. Im Ganzen aber
kann, wenn man die Höhe der Dosis bedenkt, mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Lesegeschwindigkeit
in etwas höherem Masse der anregenden Wirkung des Alkohols zu-
gänglich ist, als das Wiederholen und namentlich die Lern-
arbeit beim Zahlenlernen. Die Beschleunigung bei He. freilich ist
wegen ihrer späten Entwicklung gewiss nicht als Alkoholsymptom zu
betrachten, sondern wol auf die Uebung zurückzuführen.


Die Erschwerung des Lesens dauert verschieden lange an, ge-
wöhnlich 30—45 Minuten; dann beginnt die Leistungsfähigkeit sich
wieder zu heben, bei dem sehr stabilen Da. bis zur, bei O. und M.
nur bis in die Nähe der Norm. Bei De. dauert die Verlangsamung
auffallend kurze Zeit, um dann, in Uebereinstimmung mit seinem
Normalversuche, einer fortschreitenden Beschleunigung Platz zu machen.
De. scheint demnach, wie auch aus der Tabelle XXVIII über die
Wiederholungen beim Zahlenlernen hervorgeht, eine besondere Neigung
zu raschem Sprechen zu haben, deren Anwachsen durch die Versuchs-
übung hier bei der wenig schwierigen Aufgabe nicht, wie dort, die zu-
nehmende Ermüdung entgegenarbeitete. Erst in der letzten halben
Stunde war eine geringe Abnahme der Lesegeschwindigkeit bemerkbar.
Umgekehrt schritt bei Ha. mit seiner, wie gewöhnlich, sehr grossen
Ermüdbarkeit das Sinken der Arbeitsleistung bis zum Schlusse des
Versuches rasch und unauthaltsam fort. Vielleicht bezeichnet bei
ihm die nach 45 ′ bemerkte geringe Beschleunigung den Nachlass
der Alkoholwirkung, der aber durch die wachsende physiologische
[89] Ermüdung schnell wieder ausgeglichen wird. K. war, wie die geringe
Anfangsgeschwindigkeit darthut, offenbar schlecht disponirt. Daher
wol der Mangel einer initialen Beschleunigung und die nur unbedeu-
tende endliche Erhebung der Arbeitsleistung über das durch den Al-
kohol erzeugte Minimum hinaus.


Die Grösse der mittleren Variation zeigt auch beim Lesen keine
bestimmte Beziehung zur individuellen Leistungsfähigkeit. Berechnet
man nach den Protokollen das procentische Verhältniss jener ersteren
zur Grösse der Arbeit innerhalb der ersten halben Stunde jedes Ver-
suches, so ergeben sich folgende Zahlen:


Tabelle XXXIII.


Diese Zahlen weisen beträchtliche Differenzen auf. Dennoch
würde wenigstens für die Normalversuche die procentische Grösse
der Schwankungen ungefähr derjenigen der Lesegeschwindigkeit pa-
rallel gehen, wie ein Blick auf die Tabelle XXIX zeigt. Abgesehen
demnach von einer einfach proportionalen Steigerung der mittleren
Variationen mit Zunahme der Schnelligkeit des Arbeitens würde noch
ein weiteres Anwachsen jener ersteren über dieses Verhältniss hinaus
zu statuiren sein; die Unregelmässigkeit der Leistung nimmt rascher
zu, als die Grösse derselben. Allein diese anscheinende Gesetzmässig-
keit, welche sich zu weiteren Schlüssen über das Verhalten der Auf-
merksamkeitsspannung verwerthen liesse, verschwindet bei den Alkohol-
versuchen sofort, und zwar, wenn wir den Versuch He. berücksich-
tigen, wahrscheinlich in Folge der dauernden Uebung, welche anschei-
nend Geschwindigkeit und Regelmässigkeit der Arbeit bei den einzelnen
Versuchspersonen in verschiedenem Sinne beeinflusst. Bei M. und
Da. wird die erstere wenig oder gar nicht, die letztere dagegen sehr
gebessert; umgekehrt sehen wir bei Ha. und De. sowol Arbeitsgrösse
wie Schwankungen anwachsen. Bei O. geht die Erhöhung der Lei-
stungsfähigkeit mit Abnahme der mittleren Variation einher, während
endlich der schlecht disponirte K. das ungünstigste Ergebniss darbietet,
Abnahme der Arbeitsgeschwindigkeit bei Anwachsen der Schwan-
kungen. Wieweit alle diese Erscheinungen typische sind, lässt
sich an der Hand des vorliegenden Materials leider nicht fest-
stellen.


[90]

Unter dem Einflusse des Alkohols zeigten die mittleren Varia-
tionen im Allgemeinen zunächst eine Neigung zum Anwachsen, die
am Ende der ersten halben Stunde am deutlichsten hervortrat und
erst später, gegen den Schluss des Versuches, mehr dem entgegen-
gesetzten Verhalten wich. Während der ersten 45 Minuten der
Alkoholwirkung waren die Schwankungen in 14 Fällen grösser, in 7
Fällen kleiner, als der Durchschnitt aus den beiden Werthen der
ersten halben Stunde ohne Alkohol; während der letzten Hälfte da-
gegen fielen sie nur 9 Mal grösser, 12 Mal kleiner aus. In Bezug auf
die anfängliche Zunahme der mittleren Variationen unter dem Alkohol-
einflusse stimmen diese Erfahrungen demnach mit denjenigen beim
Addiren überein; dagegen tritt die Abnahme dort früher ein und ist
etwas beträchtlicher, als hier. Dieses Verhalten spricht dafür, dass
die Entstehung der letzteren Erscheinung wesentlich auf die Uebung
zurückzuführen ist, deren Effect hier am geringsten, grösser beim Ad-
diren und am bedeutendsten beim Zahlenlernen ausfällt. Dement-
sprechend macht sich bei dieser letzteren Leistung die nivellirende
Wirkung der Uebung schon von Anfang an bis zum Ueberwiegen der
Ermüdung fortschreitend geltend. Bei der sonstigen vielfachen Ueber-
einstimmung der Lern- und Leseversuche würde diese Auffassung
wol die beste Erklärung des verschiedenartigen Ganges der mittleren
Variationen liefern, zumal beim Zahlenlernen in vier Reihen ohnehin
die Zunahme der Schwankungen nach dem Alkoholgenusse hervortrat.
Wir würden somit zu dem Schlusse kommen, dass der Alkohol an
sich sehr bald eine grössere Unregelmässigkeit der Arbeit
herbeiführt.


Am stärksten ist diese Wirkung etwa eine halbe Stunde nach
dem Genusse des Mittels. Verdeckt und selbst überwogen wird die-
selbe durch den Einfluss der Uebung, der eine fortschreitende Ab-
nahme der Schwankungen erzeugt. Je grösser der Umfang dieses
Einflusses ist, desto undeutlicher und flüchtiger wird die Störung der
Gleichmässigkeit durch den Alkohol. Beim Lesen beobachten wir sie
daher am längsten und ausgeprägtesten, während sie beim Addiren nur
in der ersten Viertelstunde bemerkbar wird und beim Zahlenlernen
häufig ganz ausbleibt. Die initiale Erleichterung der Arbeit beim
Zahlenlernen und Lesen übt auf den Gang der mittleren Variationen
keinen erkennbaren Einfluss.


[91]

e. Dynamometerversuche.


Die bemerkenswerthen Verschiedenheiten, welche zwischen dem
Ausfalle der Unterscheidungs- und Wahlversuche hervorgetreten waren,
liessen es wünschenswerth erscheinen, noch einen weiteren, möglichst
rein motorischen Vorgang in den Bereich der Untersuchung zu ziehen.
Für diesen Zweck geeignet erschien mir die einfache Muskelcontrac-
tion, wie sie bei der dynamometrischen Prüfung gemessen wird. Das
sensorische Element des Reactionsvorganges, die Auffassung eines
äusseren, die Bewegung auslösenden Reizes, fällt hier ganz fort. Vor
Allem aber bietet sich dabei die willkommene Möglichkeit, nicht die
Schnelligkeit, sondern die Intensität der Muskelinnervation zu messen
und somit objectiv die innere Erfahrung zu controliren, welche uns
bei den Wahlversuchen das Gefühl einer deutlichen Zunahme der
Kraftleistung signalisirt. Diese Erfahrung ist es bekanntlich, welche
immer wieder zur Annahme einer „stärkenden“ Wirkung des Alkohols
geführt hat und denselben noch heute den Massen gerade bei schwerer
körperlicher Arbeit als unentbehrliches Anregungsmittel erscheinen lässt.


Die Versuche wurden von Herrn Dr. Dehio und von mir selbst
in der Weise ausgeführt, dass wir in kurzen Zwischenräumen die
Arme eines Dynamometers mit der rechten Hand so kräftig wie mög-
lich zusammendrückten und den Zeigerstand notirten. Die Intervalle
zwischen je zwei solchen Druckbewegungen betrugen bei Dehio eine
halbe Minute. Ich selbst schob diese Versuche in die Beobachtungs-
reihen über Associationen mit Wiederholungen ein, indem ich regel-
mässig eine Dynamometerablesung vornahm, während der Registri-
rende den Zeigerstand am Chronoskope aufschrieb und Alles für den
nächsten Associationsversuch vorbereitete. Mein Manipuliren während
der freien Pausen ging so schnell und gleichmässig vor sich, dass
durch dasselbe die Ausführung der Associationen nicht merkbar
gestört wurde. Jedenfalls blieb mir Zeit genug, mich für die
kommende Reaction vollständig zu sammeln. Da die 150 Versuche
durchschnittlich eine Stunde, im Anfange einige Minuten länger,
in Anspruch nahmen, so fiel das Intervall zwischen zwei Dynamometer-
beobachtungen unbedeutend kürzer aus, als in Dehio’s Reihen.
Natürlich wurde das Instrument jedesmal aus der Hand gelegt und
erst nach Beendigung der Association von Neuem ergriffen. Das No-
tiren der Zahlen besorgte ich selbst, eine Massregel, die deswegen un-
bedenklich erscheint, weil ich stets den lebhaften Wunsch hatte, einen
möglichst günstigen „Record“ zu erzielen.


[92]

Die Berechnung der Zahlen, welche halbe Kilogramme angeben,
geschah nach dem früher besprochenen Principe des wahrscheinlichen
Mittelwerthes. Je 25 Beobachtungen wurden auf diese Weise zu
einem einzigen Mittel vereinigt, welches somit den durchschnittlichen
Verlauf der musculären Leistungsfähigkeit während einer Zeit von
10—12,5 Minuten repräsentirte. Der ganze Versuch lieferte regel-
mässig 6 solcher Zahlen, da derselbe bis auf 150 Einzelbeobachtungen
fortgesetzt wurde, welche bei Dehio 75, bei mir annähernd 60 Mi-
nuten in Anspruch nahmen. Natürlich war es das erste Erforderniss,
den Gang der Dynamometerleistungen zunächst unter normalen Ver-
hältnissen kennen zu lernen. Bei meinen Reihen war durch die Ab-
wechselung von Tagen mit und ohne Alkohol für die Erfüllung dieser
Vorbedingung gesorgt, und auch De. schob zwischen die Alkoholver-
suche andere, ganz gleichartig durchgeführte Reihen ohne jedes Medi-
cament hinein, so dass überall auch der fortschreitende Einfluss der
Uebung mit einiger Sicherheit beurtheilt werden konnte. Eine Zu-
sammenstellung der auf diese Weise erzielten Resultate enthält die
nachfolgende Tabelle. Der erste Normalversuch fiel bei beiden Personen
leider aus äusseren Gründen unbrauchbar aus und wurde deswegen
nicht mit angeführt. Die Alkoholgabe betrug bei De. 30 gr, bei mir
20 gr; das Medicament wurde unmittelbar vor dem Beginne des Ver-
suches genommen. Die Tageszeit war bei De. immer die nämliche,
kurz nach 5 Uhr Nachmittags, bei mir mit Ausnahme des Versuches
vom 13. V. 90 regelmässig etwa 6½ Uhr Nm.


Tabelle XXXIV.


I. Dehio.


II. Kraepelin.


[93]

Bei De. heben sich die Normalversuche durch ihre höhere An-
fangsleistung sofort von den Alkoholreihen ab. In dem ersten der-
selben steigt die Leistung gegen Ende der ersten Stunde etwas an, um
zum Schlusse wieder ein wenig zu sinken. Eine solche Steigerung ist
beim zweiten Normalversuche nicht vorhanden; dagegen tritt das end-
liche Sinken früher auf, eine Erscheinung, die zusammen mit der
Schwankung des zweiten Werthes auf eine minder gute Disposition
der Versuchsperson hinweist. Dafür spricht auch der Umstand, dass
eine Zunahme der Kraftleistung vom ersten zum zweiten Normalver-
suche in Folge der Uebung nicht vorhanden ist, vielmehr hier
die Dynamometerausschläge im Ganzen sogar erheblich hinter jenem
zurückbleiben.


Die Alkoholversuche haben fast überall auffallend niedrige Werthe
aufzuweisen. Einen gleichartigen Verlauf zeigen die Versuche 1 und 5.
Der erste Werth ist hier der höchste der Reihe, aber im Vergleich
zu den benachbarten Normalversuchen dennoch recht niedrig. Alsdann
kommt es zu einer raschen und verhältnissmässig bedeutenden Ab-
nahme der Muskelkraft, an die sich eine geringe Steigerung und neuer-
liche Abnahme anschliesst. Das letzte Stadium dürfte, wie der Ver-
gleich mit den Normalreihen zeigt, der physiologischen Ermüdung ent-
sprechen, während es nahe liegt, das anfängliche Sinken, analog den
vielfachen sonstigen Erfahrungen, auf die lähmende Wirkung des
Alkohols zurückzuführen, die nach 30—40 Minuten anscheinend ein
wenig nachzulassen beginnt, so dass sie vorübergehend durch den in
Versuch 2 nachgewiesenen fortschreitenden Uebungseinfluss überwogen
wird. Im Versuche 3 mit seinen ganz unverhältnissmässig niedrigen
Anfangswerthen scheint die Lähmung durch den Alkohol überaus rasch
und intensiv eingetreten zu sein. Dafür ist sie aber auch nach 40
bis 50 Minuten schon wieder so weit verschwunden, dass die nun
folgenden Werthe nahezu der erwarteten Norm entsprechen. Eine
wirkliche Zunahme der Kraft lässt sich demnach aus Dehio’s Ver-
suchen während keiner Phase der Alkoholwirkung nachweisen; viel-
mehr tritt überall eine mehr oder weniger rasch vorübergehende, aber
doch mindestens eine halbe Stunde dauernde Abnahme der muscu-
lären Leistungsfähigkeit
deutlich hervor.


Meine eigenen, etwas zahlreicheren Normalversuche lassen zunächst
eine wachsende Steigerung der Muskelkraft während der ganzen Be-
obachtungsperiode erkennen. Freilich bietet die letzte Reihe, bei
welcher in den Protokollen Müdigkeit notirt ist, wieder etwas geringere
Werthe, als der Versuch 5, und die erste Zahl des Versuches 1 ist
[94] wegen eines zufälligen, zu spät bemerkten technischen Fehlers zweifel-
los zu niedrig; trotzdem ist der Uebungseffect immer noch ein sehr
beträchtlicher. Die einzelnen Normalreihen bieten im Grossen überall
das für den Gang der Leistungsfähigkeit bei mir typische Bild, an-
fängliche Zunahme und darauf folgendes Sinken der Werthe. Aller-
dings wird das Maximum nach der jeweiligen Disposition bald früher,
bald später erreicht.


Wesentlich anders gestaltet sich der Verlauf der 3 Alkoholver-
suche. Zunächst fällt uns im Gegensatze zu den Beobachtungen bei
De. auf, dass hier die Anfangswerthe nicht niedriger, sondern im All-
gemeinen sogar durchweg höher liegen, als bei den Normalversuchen.
Die Versuche 2 und 6 beginnen mit grösserer Kraftleistung, als die
vorangehende und die folgende Reihe; Versuch 4 übertrifft wenigstens
den vorangehenden um ein Beträchtliches. Im Uebrigen steigt die
Anfangsleistung von einem Alkoholversuche zum nächsten an. Inner-
halb der Reihen selbst ist, abweichend von den Normalversuchen, zwei-
mal der erste Werth der höchste überhaupt erreichte; im Versuche 4
wird er von der zweiten Mittelzahl noch ein wenig übertroffen. Nach
dem Maximum folgt regelmässig eine rasche Abnahme der Muskel-
leistung, die sich gegen den Schluss, ebenfalls anders als bei den
Normalversuchen, wieder ein wenig auszugleichen beginnt. Dieses
Sinken der Kraft vollzieht sich, ebenso wie das spätere Ansteigen,
beim ersten Alkoholversuche am schnellsten, bei den späteren weit
langsamer.


Die Deutung dieser Ergebnisse ist, wie ich glaube, unter Be-
rücksichtigung der sonst gesammelten Erfahrungen nicht allzu schwierig.
Was zunächst meine eigenen Versuche anbetrifft, so wird durch den
Alkohol offenbar im Anfange eine rasch vorübergehende Steigerung
der Muskelleistung bewirkt. Nicht nur fand sich der höchste über-
haupt erreichte Mittelwerth im Beginne des Alkoholversuches 6, son-
dern auch die übrigen Anfangszahlen der Alkoholreihen sind eben
grösser, als man sie nach dem allgemeinen Gange der Uebung erwarten
sollte. Nach 10—20 Minuten nimmt jedoch die Muskelkraft bereits
wieder ab, rascher beim Versuche 2, vielleicht mit deshalb, weil hier
die Uebung noch geringer war, als in den späteren Reihen. Dem
würde auch das spätere Wiederansteigen bis fast zum Anfangswerthe
entsprechen, da die Steigerung der Leistung durch die Uebung natur-
gemäss, wie in den benachbarten Versuchen 1 und 3, einen bedeuten-
deren Spielraum hatte. Später, bei nahezu maximaler Uebung, war
eine solche Zunahme nicht mehr möglich, und es trat demnach in
[95] den Normalversuchen die Ermüdung rascher und deutlicher hervor,
während in den Alkoholreihen mit dem Nachlassen der lähmenden
Wirkung nach 40—50 Minuten nur ein ganz geringfügiges Anwachsen
der Muskelleistung sich geltend machen konnte.


In De.’s Versuchen begegnen wir nur dem zweiten Stadium des
Alkoholeinflusses, wenn man nicht allenfalls den ersten Werth des
Versuches 1 auf eine Steigerung der Muskelleistung durch das Medi-
cament zurückführen will. Im Hinblicke auf die hohe Anfangszahl
des Versuches 2 und den weiteren Verlauf der Uebung ist es indessen
wol wahrscheinlicher, dass wir ohne Alkohol in der Reihe 1, und ganz
gewiss in der Reihe 5, von vornherein höhere Werthe erhalten hätten.
Als Ursache für diese Abweichung zwischen den beiden Versuchs-
personen kommt, nach unsern Erfahrungen bei den Wahlreactionen
zu schliessen, vor Allem die höhere Dosis bei De. in Betracht, welche
vermuthlich auch bei mir das anfängliche Anwachsen der Muskel-
leistung verhindert oder doch wenigstens eingeschränkt hätte. Sodann
aber darf auch hier wieder darauf hingewiesen werden, dass Dehio
wahrscheinlich überhaupt den lähmenden Wirkungen des Alkohols in
höherem Grade zugänglich war, als ich.


Es ist gewiss nicht ohne Interesse, dass die von mir erhaltenen dynamo-
metrischen Ergebnisse, wie ich nach Abschluss dieser Zeilen ersah, durch
einige neuere Untersuchungen im Wesentlichen bestätigt werden. De-
Sarlo
und Bernardini, *) welche mit Rhum experimentirten, fanden
eine ganz leichte Erhöhung der Muskelkraft nach dem Genusse von 70 gr
dieses Mittels. P. Lombard Warren, **) über dessen Arbeit ich
allerdings nur aus dem Referate im Neurologischen Centralblatte unter-
richtet bin, hat ebenfalls eine Steigerung der Muskelkraft bei kleinen
Alkoholgaben festgestellt. Bei grossen Alkoholdosen soll der kraft-
erhöhenden eine herabsetzende Wirkung folgen. Freilich wird die
Dauer jener ersteren Wirkung auf 1—2 Stunden angegeben, doch
liegt hier vielleicht eine ungenaue Berichterstattung vor; sonst müsste
ich mit Entschiedenheit widersprechen.


[96]

f. Zeitschätzungsversuche.


Die Berechnung der Zeitsinnversuche geschah ganz analog dem
von Ejner*) eingeschlagenen Verfahren. Um einen mehr summa-
rischen Ueberblick über den Gang der Schätzungswerthe zu gewinnen,
fasste ich überall je 5 derselben zu einem Mittel zusammen. Jede
Partialreihe wurde demnach durch 5 solcher Mittel ausgedrückt; der
ganze Versuchstag lieferte deren 20, die sich in 4 aufeinander folgende
Gruppen a, b, c, d sonderten. Endlich vereinigte ich noch die Mittel
gleicher Ordnungszahl aus allen unter gleichen Bedingungen stehenden
Versuchstagen zu Gesammtmitteln. Da ich über je 4 Normaltage
und je 2 Alkoholtage bei jeder Versuchsperson verfügte, entstanden
auf diese Weise je eine Normalmittelreihe, bei der jeder Werth aus
4 Partialmitteln zusammengesetzt war, und je eine Alkoholmittelreihe
als Repräsentantin der beiden Alkoholtage. Durch Vergleich dieser
Mittelreihen hoffte ich über die Wirkungen des Alkohols auf die Zeit-
schätzung Aufschluss zu gewinnen. Eine Uebersicht über diese Reihen
giebt die Tabelle XXXV. Die Zahlen bedeuten Sekunden; die
Alkoholdosis betrug 30 gr.


Tabelle XXXV.


Betrachten wir zunächst die Normalreihen, so stellt sich heraus,
dass dieselben im Wesentlichen dasselbe Verhalten darbieten, wie die
Ejner’schen Versuche. Die Normalzeit von 30 Sekunden wird regel-
[97] mässig ganz enorm überschätzt. Nur die allerersten Werthe zeigen
einige Male eine geringfügige Unterschätzung, doch kommt dieselbe
in den Tabellen wegen der Mittelziehung nicht zum Ausdrucke, zumal
die folgenden Zahlen sofort sehr bedeutend anwachsen. Nach diesem
anfänglichen raschen Steigen der Schätzungswerthe, welches gewöhn-
lich nach 10—15 Minuten den Höhepunkt erreicht, pflegen dieselben
gegen den Schluss jeder Versuchsgruppe wieder abzunehmen. Die
Gesammthöhe der einzelnen Gruppen wird dabei im Allgemeinen fort-
schreitend niedriger. Genauer erhellt dies aus der folgenden Zu-
sammenstellung, in welcher die mittleren Schätzungswerthe für jede
Gruppe der einzelnen Normaltage und schliesslich für die entsprechenden
Gruppen aller Tage insgesammt berechnet sind.


Tabelle XXXVI.


Wie man sieht, zeigen die einzelnen Tage ein ziemlich wechselndes
Bild, während in den Gesammtmitteln sich in der That die allmähliche
Abnahme der Schätzungswerthe deutlich ausspricht, namentlich, wenn
man etwa noch die beiden ersten und die beiden letzten Gruppen zu-
sammenfasst. Im Uebrigen lassen sich unter den Versuchstagen
meines Erachtens gewisse Typen unterscheiden, deren kurze Betrach-
tung vielleicht nicht ohne Interesse ist. Das progressive Sinken der
Schätzungswerthe findet sich bei De. 1 sowie bei K. 3 und 4 mit
vollkommener Regelmässigkeit. Es ist wol kein Zufall, dass gerade
diese Reihen die grössten Anfangswerthe zeigen, wenn wir von der
unbedeutend höheren Zahl in K. 2 absehen. Ein zweiter Typus wird
durch die Tage De. 2, 3, 4 und K. 1 repräsentirt. Ihm gehören die
Reihen mit den niedrigsten Anfangswerthen an. In der folgenden
Gruppe erfolgt sodann ein bedeutendes Ansteigen und späterhin ein
regelmässiges Sinken der Schätzungswerthe. Die letzte Verlaufsart
Kraepelin, Beeinflussung. 7
[98] endlich wird nur durch K. 2 vertreten; sie ist gekennzeichnet durch
einen hohen Anfangswerth, sehr bedeutende Abnahme und spätere Zu-
nahme der geschätzten Zeiten.


Die Regelmässigkeit im Gange der Schätzungswerthe und die an-
scheinende Beziehung des Verlaufes zu der Länge der ersten Mittel
machen es mir wahrscheinlich, dass zum mindesten die ersten beiden
Typen eine tiefere Bedeutung haben, dass sie uns vielleicht einen ge-
wissen Aufschluss geben über die augenblickliche Disposition der Ver-
suchsperson. Bedeutende Ueberschätzung im Beginn würde es uns
ermöglichen, ein späteres Sinken der Zahlen vorherzusagen, während
niedrige Anfangswerthe uns zunächst ein Ansteigen und erst dann
eine Abnahme erwarten lassen würden. Eine sichere Deutung dieser
Beziehung ist bei dem Stadium, in welchem sich das Zeitschätzungs-
problem heute noch befindet, kaum möglich. Wir werden indessen
erinnert an Erfahrungen, die uns früher bei Würdigung des Verhaltens
der augenblicklichen Disposition begegnet sind. Damals sahen wir,
dass bei hoher Anfangsleistung sehr bald eine Abnahme derselben
durch die Ermüdung einzutreten pflegt, während eine geringe Arbeits-
fähigkeit im Beginne, wenn sie nicht bereits ein Zeichen starker Er-
schöpfung ist, in der Regel während des Versuches zunächst anwächst
und erst später wieder sinkt. Die Analogie dieser Beobachtungen
mit dem Verhalten der beiden ersten oben geschilderten Typen er-
scheint mir bemerkenswerth. Hohe Schätzungswerthe hier würden
demnach etwa einer Steigerung, niedrige dagegen einer Herabsetzung
der Leistungsfähigkeit entsprechen.


Diese letztere Annahme hat in der That eine grosse Wahrscheinlich-
keit für sich. Schon Ejner*) hat gezeigt, dass mit zunehmender Er-
müdung überall ein Sinken der Schätzungswerthe eintritt. Der allgemeine
Gang der Zahlen in den beiden letzten Gruppen gegenüber den beiden
ersten lässt sich ebenfalls in diesem Sinne deuten, um so sicherer, als in
der That bei den überaus unangenehmen Versuchen das subjective Gefühl
der Ermüdung sich gegen den Schluss sehr deutlich geltend machte. Aber
auch der Verlauf der Schätzungswerthe innerhalb der einzelnen Gruppen
spricht für jene Auffassung. Das Sinken der Zahlen ist in den ersten
Gruppen viel geringer, als in den späteren. Während dort die niedrige
Stufe der Anfangswerthe bei Weitem nicht erreicht wird, sehen wir die
geschätzten Zeiten hier schliesslich bisweilen sogar erheblich kürzer
werden, als im Beginne. Bilden wir z. B. die Differenzen aus den
[99] ersten und letzten Mitteln jeder Gruppe, so erhalten wir folgende
Reihe:


Tabelle XXXVII.


Bei K. nähern sich somit die zuerst weit höheren Endwerthe
im Verlaufe des Versuchstages mehr und mehr den Anfangswerthen;
bei De. sinken sie schliesslich fortschreitend unter diese letzteren
herab.


Wenn wir demnach die Abnahme der Schätzungswerthe mit ziem-
licher Sicherheit als Ermüdungssymptom ansehen können, da wir ihr
überall dort begegnen, wo wir Ermüdungserscheinungen anzutreffen
erwarten dürfen, so liegt die Sache weit weniger klar hinsichtlich der
Steigerung der Zahlen. Ejner hat die Auffassung vertreten, dass
für die Schätzung der Zeiten das Gefühl der innern Anstrengung
massgebend sei. Auf diese Weise würde es sich wol erklären, dass
eine Erschwerung der psychischen Vorgänge, wie sie sich bei fort-
schreitender Ermüdung einstellt, zu einer Ueberschätzung der ver-
fliessenden Zeit führen muss. Eine relativ kurze, aber mit stärkerer
Anspannung der Aufmerksamkeit durchlebte Strecke würde einer
längeren Normalzeit gleich geschätzt werden. Umgekehrt erscheint
es denkbar, dass die Anpassung an die zu lösende Aufgabe ein Nach-
lassen der inneren Spannung, eine gewisse mühelose Passivität herbei-
führt, welche mit einer Unterschätzung der ablaufenden Zeit sich ver-
bindet. Dafür sprechen wenigstens die subjectiven Erfahrungen bei
diesen Versuchen.


Allein damit sind die Ursachen für das Zustandekommen hoher
Schätzungswerthe ganz gewiss nicht erschöpft. Namentlich erscheint
es noch nicht recht begreiflich, warum gerade auf die höchsten an-
fänglichen Schätzungen so regelmässig eine rasche Abnahme der
Zahlen zu folgen pflegt. Zur Klärung dieser Frage ist es vielleicht
nützlich, sich daran zu erinnern, dass der Ausfall dieser Zeitschätzungen
durch zwei wesentlich verschiedene psychische Vorgänge bestimmt wird.
Während des grössten Theiles der Versuche schätzen wir activ; wir
geben das Signal in möglichst regelmässigen Zwischenräumen. Die
Gleichheit dieser Intervalle bemessen wir wahrscheinlich nach dem
7*
[100] Gefühle der inneren Anstrengung, welches im Beginne der Versuche
geringer ist, später aber, mit wachsender Ermüdung, zunimmt. Die
Einleitung jeder Gruppe von Schätzungen bildet jedoch die passive
Auffassung
des Normalintervalles, welches uns den Massstab für
alle folgenden activen Abgrenzungen der einzelnen Zeitabschnitte an
die Hand giebt. Wie die Erfahrung lehrt, ist es ziemlich unbehaglich,
auch nur eine halbe Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit den
Ablauf einer inhaltlosen Zeitstrecke zu verfolgen und auf das Signal
zu warten, welches den Beginn der activen Schätzung ankündigt. Die
Lösung jener ersteren Aufgabe wird uns voraussichtlich um so leichter
fallen, je frischer wir an die Versuchsreihe herangehen. Nach dem
oben formulirten Schätzungsprincip würde uns demnach die Normal-
zeit kürzer erscheinen, wenn wir leistungsfähig, länger, wenn wir er-
müdet sind. Dem entsprechend müssen die ersten activen Schätzungen
unter sonst gleichen Umständen in jenem Falle relativ niedrige, in
diesem dagegen verhältnissmässig hohe Werthe liefern. Im weiteren
Verlaufe der Versuchsgruppe verwischt sich die Erinnerung an die
Normalzeit sehr bald vollständig, und wir bemühen uns nur, jedes
folgende Intervall dem vorangehenden möglichst gleich zu machen. Hier
wird somit die Grösse der einzelnen Werthe ausschliesslich von den-
jenigen Ursachen beherrscht, welche für die active Schätzung mass-
gebend sind.


Unter diesem Gesichtspunkte würde somit die absolute Höhe der
Anfangswerthe einer Versuchsreihe uns einen Massstab für den Grad
der psychischen Leistungsfähigkeit im Beginne abgeben können. Je
grösser die ersten Zahlen, desto geringer die anfängliche Leistungs-
fähigkeit, desto näher der Gesammtzustand demjenigen der Ermüdung.
Wir kämen auf diese Weise zu der paradoxen Anschauung, dass hohe
Anfangs- und niedrige Endwerthe in gleicher Weise als Symptome
der Ermüdung angesehen werden müssten. Dieselbe Ursache, welche
die passiv aufgefassten Zeiten lang erscheinen lässt und darum zunächst
die Schätzungsintervalle vergrössert, würde später auch zur Ver-
kleinerung dieser letzteren führen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt,
dass im Allgemeinen die passive Auffassung der Normalstrecke für
uns anstrengender ist, als die active Reproduction, resp. dass wir
wenigstens unsere Aufmerksamkeit bei jenem Acte stärker anspannen,
als bei diesem. Abgesehen von der allgemeinen Wahrscheinlichkeit,
dass wir den Ablauf der massgebenden Normalzeit unwillkürlich mit
grösserer Aufmerksamkeit verfolgen, spricht für jene Annahme auch
der Umstand, dass thatsächlich schon die ersten Schätzungen fast
[101] regelmässig die Normalzeit übertreffen. Bestünde diese Verschieden-
heit zwischen passiver Auffassung und activer Schätzung hier
nicht, so könnte natürlich die anfängliche Erhöhung der Werthe
durch die Ermüdung in der dargelegten Weise nicht erklärt
werden.


Prüfen wir diese Annahme an der Hand der von uns gewonnenen
Versuchszahlen, so ergiebt sich zunächst, dass in der That nicht
nur hohe Durchschnittsmittel der ersten Gruppe sich regelmässig mit
rascher Abnahme der späteren Mittel verknüpfen, sondern dass auch
in der Tabelle XXXV, wenigstens bei De, die ersten Mittel jeder
Gruppe immer höher werden, trotzdem sich in dem fortschreitenden
Sinken der Gesammtmittel der wachsende Einfluss der Ermüdung
deutlich ausspricht. Jede Gruppe beginnt höher, als die vorige; trotzdem
enden die beiden letzten viel tiefer, als die ersten. Bei K. ist diese
Erscheinung hier nicht deutlich; vielmehr zeigen alle Gruppen nahezu
die gleichen Anfangswerthe, während die Gesammtmittel mehr und
mehr abnehmen. Vergleichen wir indessen hier nur die ersten
Schätzungswerthe aller Normalreihen, so ergeben sich für die beiden
Versuchspersonen folgende Durchschnittszahlen:


Tabelle XXXVIII.


Nun erkennen wir also auch bei K. im Verlaufe des Versuchstages
die Steigerung der Anfangswerthe von Gruppe zu Gruppe, während
sie bei De. für die erste Schätzung erst in der Gruppe d, dann aber
sehr stark hervortritt. Es ist natürlich keine strenge und unverbrüch-
liche Gesetzmässigkeit, die wir hier vorfinden. Dennoch ist die Regel-
mässigkeit auffallend, mit der auf einem so vielen Zufällen ausge-
setzten Gebiete doch immer wieder das Zusammentreffen hoher Anfangs-
werthe mit niedrigen Endwerthen sich herausstellt. Mir scheint daher
die Deutung beider Erscheinungen als Ermüdungssymptome einstweilen
die beste Erklärung zu liefern, um so mehr, als sie sich eben gerade
dort vereinigt zu finden pflegen, wo wir nach der subjectiven Er-
fahrung die Anzeichen der Ermüdung erwarten müssen.


Wollen wir noch einen Schritt weiter gehen, so empfiehlt es sich,
zu untersuchen, in wie weit an den einzelnen Versuchstagen niedrige
[102] Endwerthe sich mit hohen Anfangsschätzungen verknüpfen. Ich werde
zu diesem Zwecke für jede Gruppe jedes Tages die Differenz zwischen
erstem und letztem Mittelwerthe bilden und dann diese Differenzen
nach der absoluten Grösse der Anfangsmittel ordnen. Bestätigt sich
unsere Erwartung, so müssten bei dieser Darstellung die grössten nega-
tiven Differenzen überall am Anfange, die grössten positiven dagegen
am Ende der einzelnen Reihen stehen.


Tabelle XXXIX.


An den beiden Tagen De. 3 und 4 ist das Zusammentreffen hoher
Anfangswerthe mit niedrigen Endwerthen ein ganz vollkommenes, aber
auch in den übrigen Reihen, mit Ausnahme von De. I, sehen wir sehr
annähernd grössere positive Differenzen den niedrigen, grössere nega-
tive den höheren Anfangswerthen entsprechen.


Diese Erfahrungen würden uns vielleicht in den Stand setzen,
die oben besprochenen Verlaufstypen der einzelnen Versuchstage zu
deuten, wenn nicht gerade die Mittelwerthe der Gruppen durch zwei
entgegengesetzte Einflüsse bestimmt würden, deren relative Grösse wir
nicht kennen. Hohe Anfangswerthe vergrössern, niedrige Endwerthe
verkleinern das Mittel, und dieselbe Zahl kann daher in verschiedener
Weise zu Stande kommen. Berücksichtigen wir indessen, was wenig-
stens für De. sehr deutlich hervortritt, dass die Abnahme der Schätzungs-
werthe mit wachsender Ermüdung immer rascher und intensiver sich
geltend macht, so haben wir doch ein gewisses Recht, ein sehr rapides
Sinken der Mittelzahlen im Laufe des Versuchstages auf eine Erniedri-
gung der Endwerthe zu beziehen und demnach als Ermüdungssymptom
aufzufassen. Sinken der Anfangsschätzungen könnte an sich freilich den-
selben Erfolg haben, aber dasselbe pflegt in weit geringerem Mass-
stabe zu geschehen und wird zudem viel vollkommener durch das
regelmässige Anwachsen der Zahlen wieder ausgeglichen, als es bei
höhergradiger Ermüdung durch die immerhin sehr unbedeutende
Steigerung der ersten Schätzungswerthe der Fall ist. Unter Vorbehalt
würden wir somit etwa den Typus I als den Ausdruck einer von
Anfang an fortschreitenden Ermüdung, den Typus II dagegen als den-
jenigen einer anfänglichen Steigerung der psychischen Leistungsfähig-
[103] keit mit erst dann sich herausstellender Ermüdung betrachten können.
Eine Deutung der dritten, nur einmal in K. 2 (Tabelle XXXVI)
beobachteten Verlaufsart möchte ich bei der Unsicherheit, mit welcher
wir uns jetzt noch auf diesem Gebiete bewegen, einstweilen gar nicht
versuchen.


Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der Alkoholversuche
zu, so begegnen uns hier erfreulicherweise Züge, welche mit Be-
stimmtheit auf eine gesetzmässige Beeinflussung der Zeitschätzung
hindeuten, wenn auch das Wesen dieser Wirkung vorerst nur mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit klargestellt werden kann. In ganz
unzweideutigem Massstabe beobachten wir hier überall eine Erhöhung
der mittleren Schätzungswerthe. Dieselbe ist am ausgeprägtesten bei
De., dauert hier vom Anfange bis zum Ende des Versuches in zunächst
steigender, später abnehmender Ausdehnung fort, und erreicht eine sehr
bedeutende Grösse, selbst bis zu 12 und 13″. Bei K. fehlt sie
zwar in der ersten Versuchsgruppe, tritt aber in den beiden letzten
Gruppen sehr deutlich hervor, in Beträgen bis zu 16″. In der zweiten
Gruppe zeigt das erste Mittel dieselbe Erscheinung; dann aber kommt
es zu einem raschen Sinken der Zahlen bis weit unter die ent-
sprechenden Werthe der Normalreihe. Eine nähere Betrachtung lehrt
sodann, dass diese überaus schnelle und beträchtliche Abnahme der
Schätzungswerthe innerhalb der einzelnen Gruppen sich überall wieder-
findet und demnach für die Alkoholwirkung entschieden charakteristisch
sein muss. Wir werden in dieser Auffassung bestärkt durch die Be-
obachtung, dass jene Erscheinung in der ersten Gruppe am wenigsten,
in der zweiten am stärksten und in den letzten beiden wieder etwas
schwächer ausgesprochen ist. Die eine hohe Zahl in der Gruppe
b bei De. darf uns dabei nicht irre machen; sie ist, wie eine Durch-
sicht der Protokolle ergiebt, durch einen einzigen, völlig aus dem
Rahmen aller übrigen Schätzungen herausfallenden Werth bedingt,
der offenbar zufälligen Ursachen seine Entstehung verdankt.


Berücksichtigen wir die Zeitverhältnisse, so haben wir die inten-
sivste Wirkung des Alkohols gerade in den Ablauf der zweiten Gruppe
hineinzuversetzen. Es kann somit kaum einem Zweifel unterliegen,
dass die Erhöhung der Anfangswerthe wie das rasche Sinken der
späteren Schätzungszahlen als wesentliche Symptome der Alkohol-
wirkung angesehen werden müssen. Die ersten Andeutungen beider
Störungen finden sich bei De. sofort nach der Einverleibung des
Mittels; bei K. lässt sich das beginnende Sinken der Schätzungs-
werthe erst nach etwa 13—15 Minuten erkennen. Bis dahin zeigen die
[104] Mittelzahlen hier keine nennenswerthen Abweichungen von der Normal-
reihe. Wahrscheinlich haben wir daher die Wirkung bei De. als
eine intensivere zu betrachten. Ferner deuten die zeitlichen Verhält-
nisse darauf hin, dass die hier beobachteten Veränderungen in der
Zeitschätzung wol hauptsächlich jener Periode der Alkoholwirkung
angehören, in welcher wir bei den Wahlreactionen etwa eine Ver-
längerung
der psychischen Zeiten festgestellt haben. Wir sahen
dort, dass bei stärkerer Wirkung diese Verlängerung sofort eintrat,
während sie sich bei kleineren Gaben des Mittels erst später, jeden-
falls aber nach ungefähr 20 Minuten einstellte. Käme die beschleuni-
gende Wirkung für die Zeitschätzung wesentlich mit in Betracht, so
würde weder das späte Auftreten der Veränderung bei K., noch
die lange Dauer derselben bei beiden Versuchspersonen ver-
ständlich sein.


Es liegt daher am nächsten, vor Allem die durch den Alkohol
erzeugte Verlangsamung der sensorischen und intellectuellen Vorgänge
für die hier besprochenen Störungen verantwortlich zu machen. Diese
Seite der Alkoholwirkung steht in nächster Analogie zu dem physio-
logischen Vorgange der Ermüdung. Auch hier sehen wir gerade die-
jenigen Veränderungen in der Zeitschätzung sich entwickeln, die wir
früher als Ermüdungserscheinungen kennen gelernt haben, nur in ganz
überraschender Ausbildung. Die beginnende Lähmung unserer psychi-
schen Functionen erschwert somit anscheinend in gleicher Weise die
passive Auffassung des Normalintervalles, wie die active Reproduction
desselben. Aus jener Störung würde sich nach unseren früheren Er-
örterungen die ungewöhnliche Länge der ersten Schätzungswerthe,
aus dieser dagegen die rasche Abnahme der späteren Zahlen er-
klären.


Dass bei dem letzteren Vorgange einzelne Mittel weit unter die
entsprechenden Normalwerthe heruntersinken können, wie K.’s Bei-
spiel zeigt, erscheint mir für die Beurtheilung der Alkoholwirkung
nicht wesentlich. Das Zustandekommen dieser Erscheinung ist offen-
bar durchaus von dem Verhältnisse abhängig, in welchem die beiden
Seiten der hier sich abspielenden Veränderung zu einander stehen.
Je bedeutender die Erhöhung der Anfangswerthe ist, desto stärker
müssen die späteren Zahlen sinken, um unter die Norm herabzureichen,
und umgekehrt. Bei De. beträgt jene Erhöhung stellenweise mehr
als 20 Sekunden, d. h. über ⅔ der Normalzeit, während sie bei K.
16 Sekunden nirgends ganz erreicht. Dafür ist jedoch bei Letzterem
die Abnahme der Schätzungswerthe während der einzelnen Gruppe
[105] verhältnissmässig bedeutend und geht selbst bis zu 21 Sekunden, in-
dess sie bei De. nicht ganz bis auf 16 Sekunden kommt. Diese viel-
leicht in den vorliegenden Reihen nur zufälligen Verschiedenheiten
machen das differente Verhalten beider Alkoholreihen zu den entspre-
chenden Normalreihen vollkommen erklärlich. Jedenfalls erscheint
es nicht gerechtfertigt, hier etwa von einer anfänglichen „Ver-
kürzung“ der geschätzten Zeiten unter die Norm in demselben
Sinne zu sprechen, wie sie uns bei den Zeitmessungen so häufig be-
gegnet ist.


Zum Schlusse werden wir uns noch die Frage vorzulegen haben,
wieweit die hier in der Mittelreihe aufgefundenen Alkoholwirkungen
wirklich typische sind, wieweit wir denselben in den beiden Alkohol-
versuchen wieder begegnen, durch deren Zusammenfassung wir jene
schematische Reihe gewonnen haben. Um diese Verhältnisse kurz
darzustellen, gebe ich von allen Gruppen beider Versuche je die An-
fangs- und Endmittel wieder.


Tabelle XL.


Die Tabelle lehrt in befriedigender Weise, dass überall der Gang
der Anfangs- und Endwerthe unter dem Einflusse des Alkohols einen
entgegengesetzten Verlauf nimmt. Die ersteren steigen regelmässig
an und erreichen ihren höchsten Stand in der Gruppe b, nach
etwa 25 Minuten, um dann wieder zu sinken; nur bei K. I wachsen
sie bis zum Ende des Versuches weiter. In den Versuchen De. II
und K. II folgt bei der letzten Gruppe eine neuerliche kleine Er-
höhung, vielleicht ein Zeichen der physiologischen Ermüdung, die
sich nach dem Abklingen der alkoholischen stärker geltend macht und
möglicherweise auch den Ausfall des Versuches K. I mit beeinflusst
hat. Umgekehrt erreichen die Endwerthe in der Gruppe b ihren
tiefsten Stand; nur im Versuche De. II mit seiner ganz ungewöhn-
lichen Ueberschätzung tritt das Minimum erst später auf. Im wei-
teren Verlaufe der übrigen Versuche gleicht sich der niedrige Stand
der Endwerthe allmählich stufenweise wieder aus. Wir finden somit
die aus unseren früheren Betrachtungen abgeleiteten allgemeinen Züge
[106] der Alkoholwirkung bei den einzelnen Versuchen in durchaus typischer
Weise wieder; die wenigen Abweichungen sind so geringfügig, dass
sie bei der ausserordentlichen Empfindlichkeit unseres Seelenlebens
für unberechenbare Beeinflussungen die Annahme einer gesetzmässigen
Beziehung zwischen Gift und den bestimmt definirten Störungen der
Zeitschätzung nicht zu erschüttern vermögen.


[[107]]

III. Versuche mit Thee.


a. Aeltere Versuche.


Ueber den Einfluss des Thees auf den Ablauf der psychischen
Vorgänge ist bisher nur eine einzige grössere, systematische Unter-
suchung angestellt worden und zwar von H. Dehio.*) Aus früherer
Zeit liegt eine kurze und nicht weiter verwerthbare Mittheilung von
Exner**) vor; ausserdem habe ich selbst 1882 einige wenige Ver-
suche mit Thee angestellt***). Endlich verdient bei der nahen
Verwandtschaft der Getränke noch Erwähnung, dass Dietl und
Vintschgau†) ungefähr 20—25 Minuten nach dem Genusse zweier
Tassen schwarzen Kaffees eine auffallende und länger andauernde Be-
schleunigung der einfachen Reaction gefunden haben.


Meine eigenen Versuche beziehen sich nur auf die einfache und die
Wahlreaction, während Dehio ausserdem noch die Wortreaction und
mehrere Formen der Associationsreactionen in den Bereich seiner Ex-
perimente zog. Zur Berechnung bediente er sich, wie schon oben er-
wähnt, der von Tigerstedt und Bergquist angegebenen Methode der
staffelweisen Vertheilung. Da diese Berechnungsart kleinere Schwan-
kungen leicht verwischt, so erscheint es mir angezeigt, für eine Anzahl
der von Dehio angestellten Beobachtungsreihen noch jetzt den Gang
der wahrscheinlichen Mittel wiederzugeben. Dehio hat diese Rech-
nung bei 10 seiner alten Versuchsprotokolle durchgeführt, welche alle
die verschiedenen Reactionsformen umfassen. Ich stelle die Ergebnisse
[108] in den folgenden Tabellen zusammen, in welchen ausserdem einige
Versuche mit Coffein, sowie meine eigenen älteren Beobachtungsreihen
berücksichtigt worden sind. Die Versuchspersonen sind Dehio (De.),
Sohrt (S.), Lehmann (L.), Trautscholdt (Tr.) und Kraepe-
lin
(K.). Die Theedosis betrug überall 10 gr, die man 5 Minuten
lang ziehen liess; bei De. und S. wurde gelber chinesischer, *) bei den
übrigen Versuchspersonen schwarzer ostindischer Thee in Anwendung
gezogen. Die Coffeindosis war gewöhnlich 0,5, nur im ersten Ver-
suche (De. I, R) 0,4 gr. Die Anzahl der Werthe, aus denen die ein-
zelnen wahrscheinlichen Mittel berechnet wurden, belief sich bei De.
und S. meist auf 25, für die einfachen Reactionen bis auf gegen 40,
bei den übrigen Personen nur auf etwa 15, da die Versuche sehr
viel kürzere Zeit fortgesetzt wurden.


Tabelle XLI. (R)


Von den 3 Theeversuchen mit einfacher Reaction stimmen
nur Tr. und S. mit einander überein, insofern sie beide im Beginn
der Theewirkung eine geringe Abnahme, späterhin eine geringe Zu-
nahme der Beobachtungswerthe darbieten. Bei K. tritt im Gegen-
theil die Beschleunigung der Reaction erst nach einer anfänglichen
Verlangsamung derselben hervor; zum Schlusse wachsen allerdings
die Zahlen auch hier. Bei genauerer Durchsicht der Protokolle stellt
sich heraus, dass die Abnahme der Werthe bei Tr. schon 10′, bei S.
[109]Tabelle XLII.

Tabelle XLIII.

50′ und bei K. etwa 30′ nach der Einverleibung des Thees am
stärksten hervortritt. Der Versuch K. wurde Abends nach 9 Uhr
angestellt, nachdem am Vormittage desselben Tages ein Aetherversuch
durchgeführt worden war. Es wäre daher denkbar, namentlich
im Hinblick auf den hohen Normalwerth, dass hier eine gewisse Er-
müdung vorhanden gewesen sei, welche zunächst zu einer Verlänge-
rung der Zahlen geführt habe, bis sie nach einer vorübergehenden
Schwankung durch den verkürzenden Einfluss des Thees überwunden
worden sei. Unter dieser Voraussetzung würden wir eine anfängliche
beschleunigende und spätere verlangsamende Wirkung des Thees an-
nehmen dürfen. Im Ganzen sind indessen die Ausschläge so gering-
[110] fügig, dass sie keinesfalls aus dem Rahmen der auch normalerweise vor-
kommenden Schwankungen herausfallen.


Ein ganz ähnliches Resultat stellt sich für die Coffeinversuche
heraus. Auch hier erfolgt nach der Einverleibung des Mittels eine
Beschleunigung der Reaction, die allerdings erst nach sehr langer
Zeit ihre grösste Ausgiebigkeit erreicht und sich auch weiterhin nicht
völlig wieder ausgleicht. Wenn demnach ein gewisser verkürzender
Einfluss des Mittels nicht unwahrscheinlich ist, so kommen wir doch
auch bei dieser Berechnungsart der Versuche zu demselben Schlusse
wie Dehio, dass nämlich die Wirkung des Thees oder Coffeins auf
die Dauer der einfachen Reaction im Ganzen eine recht undeutliche
und unsichere ist.


Kaum viel anders liegen die Dinge hinsichtlich der Wahlreac-
tion
. Die Theeversuche S. und De. zeigen uns freilich wieder ein
mehr oder weniger rasches Sinken der Werthe mit nachherigem
Ansteigen. Die grösste Verkürzung liegt bei S. etwa 23′, bei De.
ungefähr 53′ nach dem Theegenuss. Im letzteren Falle, wo der Ver-
such 1½ Stunden lang fortgesetzt wurde, überschritten die letzten
Zahlen weit die Norm, im ersteren war sie nach ¾ Stunden noch
nicht ganz wieder erreicht. Ganz anders aber ist der Versuch K.
ausgefallen, der allerdings erst Abends gegen ¾ 10 Uhr begonnen
wurde. Hier stellte sich gleich von vornherein eine beträchtliche
Verlangsamung der psychischen Arbeit ein, die erst am Schlusse des
Versuches, nach etwa 37 Minuten, der Rückkehr zur Norm Platz
machte. Auch hier wäre es möglich, die schon oben gegebene Er-
klärung des abweichenden Verlaufes anzunehmen. Es könnte wegen
der späten Abendstunde eine besonders grosse Ermüdbarkeit bestanden
haben, welche erst nach einer gewissen Zeit durch den Thee beseitigt
wurde. Dafür würde die anfängliche grosse Schwankung gegenüber
der späteren Constanz sprechen. Zudem hatte ich im Laufe des Vor-
mittags bereits einen Aether- und einen Chloroformversuch angestellt
und war überhaupt zu jener Zeit sehr angestrengt, da ich während
des Monats Mai 1882 fast alle meine Versuche über Aether, Chloroform
und Amylnitrit, sowie einen grossen Theil der älteren Alkoholversuche
und noch manche andere ausführte.


Der Coffeinversuch zeigt ebenfalls eine Beschleunigung der Reac-
tion, die sich an eine anfängliche, ganz unbedeutende, wol nur
zufällige Verlangsamung anschliesst und am deutlichsten etwa nach
einer Stunde erscheint. Da Dehio’s Reihen mit ziemlich grossen
Zwischenpausen gewonnen wurden, um die Ermüdungseinflüsse nach
[111] Möglichkeit auszuschliessen, so ist allerdings ein erheblich früheres
Auftreten der Verkürzung sehr wol möglich. Gegen das Ende des
Versuches, nach mehr als 1½ Stunden, sind die Zeiten noch nicht
ganz zur Norm zurückgekehrt, ähnlich wie bei den Coffeinversuchen
mit einfacher Reaction. Im Ganzen finden sich somit auch hier un-
verkennbare Andeutungen einer anfänglichen, wenn auch nicht sehr
rasch auftretenden und sich langsam wieder ausgleichenden Beschleu-
nigung des psychischen Vorganges, aber sie sind verhältnissmässig unbe-
deutend und wenig ausgeprägt.


Sehr viel entschiedener äussert sich die verkürzende Wirkung des
Thees sowol wie des Coffeins bei den Wortreactionen. Die
Verkürzung beträgt hier bei S. 106, bei De. 46 σ; sie hat dort
wie hier nach 20′ trotz der nur unbedeutend längeren absoluten
Dauer des Vorganges ihre volle Entwicklung erreicht. Im weiteren
Verlaufe erfolgt bei De. ein geringes Ueberschreiten der Norm, wäh-
rend dieselbe bei S. nicht mehr erreicht wird. Ein ganz ähnliches
Bild bieten uns endlich die Associationsversuche dar. Regel-
mässig erfolgt hier ziemlich bald eine erhebliche Beschleunigung, die
ganz auffallend lange andauert, selbst bis über eine Stunde, einmal
sogar dann erst ihr Maximum erreicht und endlich sich wieder aus-
zugleichen beginnt, bei S. sogar weit über die Norm hinaus.


Es ergiebt sich somit als wahrscheinlichstes Resultat, in Ueber-
einstimmung mit den Schlussfolgerungen Dehio’s, dass der Thee
ganz vorzugsweise Wort- und Associationsreactionen zu beschleunigen
vermag, in weit geringerem Grade einfache und Wahlreactionen. Die
beschleunigende Wirkung dauert ziemlich lange an, namentlich bei
den Associationen; nicht selten folgt auf dieselbe späterhin eine Ver-
langsamung bis über die Norm. Thee und Coffein wirken im Wesent-
lichen gleich.


Leider haften diesen Versuchen noch einige wesentliche Mängel
an. Meine eigenen Beobachtungsreihen sind nicht lange genug fort-
gesetzt, und Dehio’s Versuchszahlen wurden mit so grossen Pausen
gewonnen, dass sich in ihnen der zeitliche Ablauf der Theewirkung
nicht genügend sicher verfolgen lässt. Zudem fehlt überall der Ver-
gleich mit Normalreihen. Wir werden daher in den bisher erhaltenen
Resultaten kaum viel mehr erblicken dürfen, als eine vorläufige
Orientirung für die Betrachtung der späteren Versuchsergebnisse.


Die Schwankungen der Beobachtungswerthe sind hier in den ein-
zelnen Reihen nach dem früher erörterten Principe der Partialmittel
berechnet worden. Vergleicht man die Grösse der auf diese Weise
[112] gefundenen Mittelzone in den Normalreihen mit den unter dem Ein-
flusse des Thees gewonnenen Reihen desselben Versuches, so ergiebt
sich, dass unter den 10 Versuchen 7 Mal die Schwankungen während
der Theewirkung geringer wurden, als sie vorher gewesen waren.
Diese grössere Regelmässigkeit zeigte sich namentlich bei den niedrigeren
Versuchswerthen, da gerade der untere Abschnitt der Mittelzone sich
besonders häufig, 9 Mal unter den 10 Versuchen, verkleinerte. Dieses
Verhalten gilt sowol für diejenigen Vorgänge, bei welchen ein deut-
lich beschleunigender Einfluss des Thees sich nachweisen liess, wie
für die einfachen und Wahlreactionen. Es muss zunächst zweifelhaft
bleiben, ob wir wirklich ein Recht haben, die Abnahme der Schwan-
kungen während des Versuches auf die Theewirkung zu beziehen, oder
ob hier einfach eine Uebungserscheinung vorliegt. Wir haben indessen
früher gesehen, dass die Uebung anscheinend vorzugsweise ein Zu-
sammenrücken der längeren Beobachtungswerthe erzeugt. Dadurch
wird die Annahme näher gelegt, dass es sich bei der hier beobachteten
Erscheinung weniger um einen Uebungseffect, als um eine specifische
Theewirkung handeln möchte.


b. Associationsversuche mit Wiederholungen.


In der früher besprochenen Versuchsperiode mit 17 maliger Wieder-
holung derselben Reizworte wurden die Tage 5, 8, 11, 14, 16 dazu
benutzt, um ein Urtheil über den Einfluss des Thees auf den Asso-
ciationsvorgang zu gewinnen. Zu diesem Zwecke trank ich an den
genannten Tagen unmittelbar vor dem Beginne der Beobachtungen
einen Aufguss von 5 gr gelben Thees derselben Sorte, welche Dehio
in seinen Versuchen benutzt hatte. Die Menge des kochenden Wassers
betrug etwa 200 gr, die man 5 Minuten lang auf die Blätter ein-
wirken liess; dann wurde abgegossen. Um einen ersten Ueberblick
über die Beeinflussung der Associationsdauer zu ermöglichen, gebe
ich zunächst wieder die wahrscheinlichen Gruppenmittel für die Normal-
und die Theetage. Diese letzteren werde ich der leichteren Orienti-
rung halber immer mit fetten Ziffern bezeichnen.


Tabelle XLIV.


[113]

Die Betrachtung dieser Tabelle zeigt, dass die Gesammtmittel
für die Versuchstage mit Thee im Allgemeinen auffallend hohe Werthe
aufweisen. Die Tage 8 und 11 haben Gesammtmittel geliefert, welche
grösser sind nicht nur als diejenigen des folgenden, sondern auch als
die des vorangehenden Normaltages; bei 5 und 16 sind sie wenigstens
kleiner, als diejenigen der vorangehenden Normalreihe, und nur 14
zeigt ein sehr niedriges, ja das niedrigste Gesammtmittel der ganzen
Versuchsperiode. Dieses Ergebniss ist Angesichts unserer bisherigen
Erfahrungen über die Beeinflussung der Associationen durch Thee
überraschend. Es erscheint daher nothwendig, den Gang der Gruppen-
mittel in den einzelnen Reihen näher zu verfolgen, um festzustellen,
ob nicht vielleicht im Gesammtmittel verschiedene Stadien der Thee-
wirkung sich gegenseitig verwischt haben. Da eine wenigstens an-
nähernde Constanz der Zahlen erst etwa vom 7. Tage an vorausgesetzt
werden darf, so wird es sich dabei empfehlen, hauptsächlich die vier
letzten Normal- und Theereihen mit einander zu vergleichen. Dabei
ergiebt sich zunächst, dass die Tage mit Thee einen sehr viel unregel-
mässigeren Verlauf darbieten, als die dazwischen liegenden Normal-
tage. Während die Werthe dieser letzteren sich im Grossen und
Ganzen im Laufe der Versuchsstunde ungefähr auf derselben Höhe
halten und weder eine bedeutende Zunahme noch Abnahme erkennen
lassen, variiren die Zahlen jener ersteren innerhalb weiterer Grenzen.
Die Tage 11 und 16 zeigen eine besonders gegen den Schluss hin
recht auffallende Verlangsamung; bei 8 und namentlich 14 ist im
Ganzen eine geringe Abnahme der Zahlen zu constatiren, der beide
Male Schwankungen in entgegengesetzter Richtung vorangehen. Aehn-
lich verhält sich auch 5. Will man diesen Unterschieden, die offenbar
z. Th. durch Eigenthümlichkeiten der jeweiligen psychischen Disposition
bedingt sind, eine Bedeutung für die Beurtheilung der Theewirkung
beilegen, so kommt man zu dem Schlusse, dass durch den Thee von
Anfang an, am meisten aber gegen das Ende der Versuchsstunde,
eine Neigung zur Verlängerung der Zahlen verursacht worden ist.
Nur bei 5 und 8 besteht sowol von vornherein wie im ganzen Ver-
suche die Tendenz zur Verkürzung der Zahlen, die allerdings durch
das vorübergehende Auftreten hoher Werthe gegen das Ende der
ersten halben Stunde unterbrochen wird; bei 14 macht sich trotz der
definitiven Abnahme der Werthe 15—30 Minuten nach dem Beginn
des Versuches eine geringe Verlangsamung der Associationen geltend.


Diese Ergebnisse sind unbefriedigende, um so mehr, als auch die
absolute Länge der psychischen Zeiten in den Theereihen keine ganz
Kraepelin, Beeinflussung. 8
[114] bestimmte Beziehung zu den Werthen der Normalreihen darbietet.
Die Reihen 8 und 11 zeigen fast durchweg relativ grosse Zahlen,
während 16 und namentlich 14 verhältnissmässig niedrig liegen. Leider
wird aber auch die Vergleichbarkeit der Zahlen durch den nicht vor-
herbedachten Umstand beeinträchtigt, dass die Theeversuche, abge-
sehen von 16, nicht mit den unmittelbar folgenden Tagen in Beziehung
gesetzt werden können, da sich überall die Alkoholversuche dazwischen
schieben. Nicht nur der Uebungseinfluss muss sich unter diesen Um-
ständen in höherem Masse störend geltend machen, sondern es wäre
ausserdem sehr wol denkbar, dass durch den Alkoholversuch auch eine
etwas nachhaltigere Aenderung in dem gesammten Associationsmaterial
hervorgebracht würde. Wir haben z. B. früher gesehen, dass der
Alkoholversuch 3* eine ganze Anzahl äusserer Associationen erzeugte,
die sich theilweise dauernd fixirten oder doch gelegentlich leicht wieder-
kehrten. Ferner sprach Manches dafür, dass späterhin durch den
Alkohol die Reproduction gerade der schon sehr eingeübten Asso-
ciationen noch mehr erleichtert werde. Diese letztere Wirkung, deren
Intensität natürlich mit der Länge der Zwischenzeit allmählich nach-
lässt, könnte daher etwa die auf die Alkoholtage folgenden Normalreihen
in höherem Masse beeinflusst haben, als die noch späteren Theereihen.


Endlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass in Folge
äusserer Abhaltungen die Versuche nicht Tag für Tag aufeinander
folgten, sondern trotz aller Bemühungen bisweilen einen, einmal sogar
zwei Tage ausfielen. Zufällig traf dies gerade vor den Versuchen 8,
11 und 16 zu, ausserdem vor dem Alkoholversuche 15* (2 Tage).
Allerdings hatte ich früher durch umfangreiche Versuche bei einer
andern Person die Ansicht gewonnen, dass bei diesen Wiederholungen
kleinere Unterschiede in den Zwischenpausen keinen nachweisbaren
Einfluss ausübten. Indessen wäre es wol möglich, dass in diesem
Punkte individuelle Differenzen beständen. Gerade der Umstand, dass
der Versuch 14, der dem Versuche 13 am nächsten Tage folgte, so
besonders niedrige Werthe aufweist, scheint mir darauf hinzudeuten,
dass die erwähnte Fehlerquelle hier vielleicht eine gewisse Rolle ge-
spielt hat. Auch der Versuch 5, der unter dieser Voraussetzung
eigentlich die gleiche Erscheinung zeigen sollte, spricht nicht unbe-
dingt gegen jene Annahme. Bei dieser Reihe nämlich fing ich zum
ersten Male an, zwischen je 2 Beobachtungen einen Dynamometer-
versuch einzuschieben, ein Verfahren, welches immerhin im Anfange
wol einen gewissen störenden Einfluss auf den Ausfall der Associations-
reactionen haben konnte.


[115]

Wenn die Länge der Zwischenzeiten thatsächlich für die Ge-
staltung jeder folgenden Reihe von Bedeutung war, so musste sich
diese Wirkung um so stärker geltend machen, je weniger eingeübt
die Associationen noch waren. Da die erste mehr als 24 stündige
Pause sich zwischen den 7. und 8. Versuch einschob, so würden wir
gerade für diese letztere Reihe einen besonders deutlichen Nachlass
des Uebungseffectes erwarten dürfen. In der That hat der Versuch
8 fast durchweg höhere Werthe aufzuweisen, als 7, während bei 11
wenigstens die Hälfte und bei 14 mehr als die Hälfte der Beobachtungs-
zahlen niedriger liegen, als in den vorhergehenden Normalreihen.


Auf diese Weise beginnt das ursprünglich anscheinend so wider-
spruchsvolle Ergebniss dieser Versuche sich doch mehr und mehr den
Erfahrungen Dehio’s über die Theewirkung anzunähern, ein neuer
Beweis dafür, wie ungemein schwierig es ist, bei diesen Untersuchungen
die vielfachen Fehlerquellen zu vermeiden und die gewonnenen Zahlen
richtig zu deuten. Unbedingt vergleichbar mit den Normalreihen,
welche stets dem vorangehenden Versuche nach 24 Stunden folgten,
ist nur der Versuch 14, der eine nach 20—30 Minuten auftretende
und dann bis zum Schlusse wachsende Verkürzung der Zahlen zeigt,
ganz analog den einfachen Associationsreihen Dehio’s. Alle übrigen
Theeversuche sind unter verhältnissmässig viel ungünstigeren Be-
dingungen angestellt worden, als die voraufgehenden und noch mehr
die ihnen folgenden Normalreihen. Erstere schlossen sich stets nach
24 Stunden an die nächstfrüheren Alkoholreihen an, während den
Theeversuchen (mit Ausnahme von 5) eine 48 stündige Pause voran-
ging. Die späteren Normalreihen aber waren durch den zwischen-
geschobenen Alkoholversuch bereits im Sinne einer weiteren Uebungs-
verkürzung beeinflusst. Wenn trotzdem in der Reihe 16 noch Werthe
beobachtet werden, die niedriger sind, als diejenigen des Versuches 17,
so werden wir denselben eine relativ grosse Bedeutung beilegen und
sie nicht ohne Weiteres als zufällige Vorkommnisse betrachten dürfen.
Freilich begegnet uns auch zwischen den Reihen 7 und 10 ein ähn-
liches Verhältniss, insofern hier viermal grössere Mittel vorkommen,
als dort. Allein wir haben auch früher bereits gesehen, dass die
letztere Reihe in später Abendstunde gewonnen wurde und somit wegen
stärkerer Ermüdung längere Werthe ergeben konnte.


Vergleichen wir endlich noch die Theeversuche mit den in Tabelle
XV wiedergegebenen Alkoholreihen, so ergiebt sich, dass die Alkohol-
reihen der letzten Versuchsperiode sowol in ihren Gesammtmitteln wie
in den einzelnen Werthen weit über den ihnen folgenden und ebenso
8*
[116] auch über den ihnen vorangehenden Theeversuchen liegen, trotzdem
12* und 15* durch die kürzere Wiederholungspause vor ihnen unter
günstigeren Bedingungen standen, als 11 und 16. Auch 9* hat 3
höhere Gruppenmittel aufzuweisen als 8, während in dem Verhältnisse
zwischen 5 und 6* der in dieser Versuchsphase noch beträchtliche
Uebungseffect durch die verlangsamende Wirkung des Alkohols nicht
ausgeglichen werden konnte.


Ohne Zweifel ist demnach der Einfluss des Thees auf den Asso-
ciationsvorgang ein anderer, als derjenige des Alkohols. Die oben
angestellten Erwägungen sprechen sogar dafür, dass es sich hier nicht
um nur graduelle Unterschiede handelt, und dass wir auch die Eigen-
thümlichkeiten der Theereihen kaum als einfache Zufälligkeiten auf-
fassen können. Vielmehr ist es wol am wahrscheinlichsten, dass unter
gleichen Bedingungen im Allgemeinen die kürzeren Beobachtungswerthe
in den Theereihen gegenüber der Norm überwiegen. Andererseits aber
kommt, wie die Versuche 11 und 16 darthun, unter gewissen, noch
nicht näher bekannten Umständen gegen Ende der Reihe ein rasches
Anwachsen der Zahlen zu Stande. Anscheinend ist dies gerade dann
der Fall, wenn die ersten Werthe besonders niedrige gewesen sind.
Umgekehrt stellt sich im Versuche 14 mit seinen normal hohen An-
fangszahlen späterhin eine beträchtliche und recht lange andauernde
Verkürzung der Associationszeiten ein. Im Hinblick auf die Er-
fahrungen über Wirkung verschiedener Alkoholgaben könnte man hier
etwa an Verschiedenheiten in der Resorptionsgeschwindigkeit denken. Wo
der Thee rasch aufgesogen wurde und demnach in relativ grösserer
Dosis gleich im Anfange des Versuches seine Wirkung entfaltete,
käme sofort eine Beschleunigung der Associationen, dafür aber auch
ziemlich bald, nach 30—40 Minuten, eine mehr oder weniger be-
deutende Verlangsamung derselben zu Stande. Bei langsamer Resorp-
tion würde sich die verkürzende Wirkung später geltend machen, aber
auch weit länger andauern. Auch manche der älteren Versuche
würden sich in diesem Sinne deuten lassen.


Ich will indessen ausdrücklich darauf hinweisen, dass vielleicht
eine andere Erklärung weit näher liegt. In Uebereinstimmung mit
den im methodischen Theile angestellten Betrachtungen lässt sich
schon in den Normalreihen hier eine gewisse Beziehung zwischen der
Anfangsgeschwindigkeit der Reactionen und dem weiteren Verlaufe
der Arbeitsleistung erkennen. Wir sehen, dass die anfänglich grosse
Erregbarkeit am Tage 13 sehr rasch sinkt, um allerdings später wieder
ein wenig zu steigen; der weitere Verlauf hätte hier wol zu einem
[117] neuerlichen Anwachsen der Zahlen geführt. Bei 10 mit mässiger
initialer Erregbarkeit steigt dieselbe bald etwas an, sinkt aber dann
bedeutend; auch hier ist der letzte kurze Werth wol nur als vorüber-
gehende Schwankung anzusehen. Derselbe Gang vollzieht sich, aber
viel langsamer, in der Reihe 7: allmähliches Steigen der anfänglich
geringen Erregbarkeit und dann ebenso allmähliches Sinken. Im
letzten Versuche 17 sind die Schwankungen zu gering, um überhaupt
eine bestimmte Deutung zuzulassen. Bedenkt man, dass die Dis-
position nicht die einzige bestimmende Ursache für den Verlauf der
Associationsreihe ist, sondern noch mannigfache Zufälle, unberechen-
bare äussere Störungen u. dgl. mit hineinspielen, so ist in den 3 für diese
Betrachtung überhaupt einigermassen verwerthbaren Versuchen eine
Andeutung der Beziehungen zwischen anfänglicher Erregbarkeit und
Ermüdbarkeit immerhin erkennbar: je grösser bei gleichartiger Arbeit
und gleichem Uebungsgrade die Anfangsleistung, um so rascher machen
sich Ermüdungserscheinungen geltend.


Es wäre daher sehr wol denkbar, dass auch in den Theeversuchen
die Einflüsse der augenblicklichen Disposition eine ähnliche Rolle gespielt
hätten. In den Versuchen mit rasch auftretender Verkürzung (11, 16
und allenfalls 8) würde es sich dann nicht um die Einwirkung eines in-
tensiveren Reizes, sondern um eine von vornherein grössere Erregbarkeit
gehandelt haben, welche bei gleicher Reizstärke ein früheres Auftreten
der Verkürzung, aber auch der secundären Ermüdung herbeiführte.
Im Versuche 14 dagegen wäre die anfängliche Erregbarkeit gering und
sogar zunächst noch im Sinken begriffen gewesen, bis sich endlich der
Einfluss des Thees wie der geistigen Arbeit durch eine allmählich sich
ausbildende und nun auch einige Zeit andauernde Steigerung geltend
machen konnte. Bei weiterer Fortsetzung des Versuches wäre natürlich
auch hier bald eine wachsende Ermüdung zu erwarten gewesen.


Mir fehlt für den Augenblick die Möglichkeit, diesen Fragen experi-
mentell weiter nachzugehen. Die vorstehenden Erwägungen haben daher
keinen anderen Zweck, als die Vieldeutigkeit der Zahlen zu beleuchten,
mit denen die psychophysische Untersuchung zu rechnen hat. Wir haben
wenigstens einen Gesichtspunkt gewonnen, unter welchem sich wieder
einige der scheinbaren Regellosigkeiten in das auflösen, was sie un-
zweifelhaft sind, in gesetzmässig bedingte Wirkungen uns einstweilen
unbekannter Ursachen. Natürlich können deswegen alle diese Ueber-
legungen durchaus noch nicht den Anspruch erheben, die Beweiskraft
der Beobachtungsthatsachen selbst zu verändern. Vielmehr bleibt als
letzte Erklärung für den Ausfall der Versuche immer noch die Mög-
[118] lichkeit übrig, dass das anscheinende, frühere oder spätere Auftreten
kürzerer Werthe in den Theereihen überhaupt gar nicht durch die
Wirkung des Mittels verursacht, sondern auf ganz unberechenbare
Zufälligkeiten zurückzuführen ist. Abgesehen indessen von den
Dehio’schen Versuchen, bei denen freilich die Controle durch Normal-
reihen ungenügend ist, werden wir späterhin Erfahrungen kennen
lernen, welche jene letzte Annahme mit hinreichender Entschiedenheit
widerlegen. Jedenfalls aber erscheint die Theewirkung in den hier
besprochenen Versuchen verhältnissmässig geringfügig, weit weniger
ausgeprägt, nicht nur als die Alkoholwirkung, sondern auch als die
Ausschläge in Dehio’s Beobachtungsreihen. Die Erklärung dieser
letzteren Differenz ist leicht zu finden. Die Theedosis bei Dehio war
doppelt so gross, als in meinen Versuchen; dazu kommt aber noch
die grosse individuelle Verschiedenheit wenigstens zwischen Dehio
und mir, die wir bei Besprechung der Alkoholwirkung vielfach fest-
gestellt haben, seine bedeutende Labilität gegenüber meiner geringen
Empfänglichkeit für die Einflüsse der Uebung, Ermüdung und Ver-
giftung. Endlich verdient noch Erwähnung, dass ich an den Thee-
genuss seit langen Jahren in höherem Masse gewöhnt war, Dehio
freilich ebenfalls.


Der weitere Verlauf unserer Untersuchung stellt uns nun zunächst
vor die Frage, ob etwa dem Thee, ähnlich wie dem Alkohol, auch
ein gewisser Einfluss auf den Inhalt der Associationen zugeschrieben
werden darf. Ungünstig für die Entscheidung derselben ist der Um-
stand, dass der erste Theeversuch erst relativ spät angestellt wurde,
als die Associationen bereits sehr fixirt waren. Die folgende Tabelle
enthält die Procentsätze der äusseren Associationen in den 3 Gruppen
jedes Versuchstages, wie im Durchschnitte für die Normal- und die
Theereihen.


Tabelle XLV.


Abgesehen von der allmählichen Abnahme der Procentsätze mit
der Zahl der Wiederholungen und den schon früher besprochenen
höheren Werthen für die Abendversuche 4 und 10, sowol in den ein-
[119] zelnen Gruppen wie im Ganzen, ist hier auf den ersten Blick keine
durchgreifende Regelmässigkeit für bestimmte Versuchstage aufzufinden.
Um aber eine noch deutlichere Uebersicht über diese Verhältnisse zu
gewinnen, habe ich die 5 Theereihen und die 5 letzten Normalreihen
(4—17) zu folgenden Durchschnittswerthen zusammengefasst:


Tabelle XLVI.


Demnach würden unter dem Einflusse des Thees in der ersten und
zweiten Gruppe die Procentsätze der äusseren Associationen ein wenig
geringer sein, als in den Normalreihen, während sich dies Verhältniss
in der dritten Gruppe ausgliche und selbst ein wenig umkehrte.
Damit würde die Theewirkung auf den Inhalt der Associationen in
einen gewissen Gegensatz zu derjenigen des Alkohols treten, und zwar
in einem Sinne, welcher mit der landläufigen Erfahrung über die
gedankenanregende Eigenschaft des Thees im Einklang stehen würde.
Allein dieser Schluss ist trügerisch, da die Werthe für die Normal-
reihen auch aus den Abendversuchen gewonnen sind, die fast durch-
gehends sehr hohe Procentsätze äusserer Associationen aufweisen und
daher nicht ohne Weiteres mit den Theeversuchen verglichen werden
können, ebenso wenig wie etwa die ersten beiden Normalreihen. Lässt
man die Tage 4 und 10 fort und vergleicht nur die Reihen 7, 13, 17
mit den entsprechenden Theeversuchen 8, 14, 16, so ergiebt sich für
die ersten beiden Gruppen ein ganz geringes, keinesfalls verwerth-
bares Ueberwiegen der äusseren Associationen bei jenen letzteren,
während dieselbe Erscheinung in der dritten Gruppe deutlicher hervor-
tritt; die Procentsätze sind hier 32,7 und 36,9. Will man über-
haupt auf diesen Unterschied, der übrigens wesentlich durch den Aus-
fall des Versuches 17 bedingt ist, Werth legen, so würde er etwa auf
das Auftreten einer gewissen Ermüdung gegen das Ende der Theewirkung
bezogen werden können.


Indessen, es ist schon früher darauf hingewiesen worden, dass
diese Betrachtungsweise über die Bedeutung des Thees für die Art
der associativen Vorgänge kaum irgend etwas zu Tage fördern kann,
weil der mechanisirende Einfluss der Uebung selbst beim ersten Thee-
versuche bereits zu weit fortgeschritten war. Es wäre dagegen denkbar,
[120] dass der Thee auf die Zahl und den Inhalt der neu auftretenden
Vorstellungsverbindungen eine gewisse Wirkung ausgeübt hätte. Leider
lässt sich die Zahl der neuen Associationen in den einzelnen Reihen
nicht gut mit einander vergleichen, weil dieselbe durch die Uebung
fortschreitend abnimmt. Da jedoch diese Abnahme vom 5. Tage an
nur eine sehr langsame ist, so erscheint es doch unter Vorbehalt zu-
lässig, aus den vier letzten Alkohol- und Theeversuchen, wie aus den
3 letzten Normalreihen mit Ausschluss der Abendversuche folgende
Durchschnittszahlen neu auftretender Associationen zu bilden:


Tabelle XLVII.


Nach ihrer Stellung in der ganzen Versuchsperiode sollte man er-
warten, dass die Alkoholreihen die grösste, die Theereihen und Normal-
reihen annähernd gleich viel neue Associationen liefern würden. Statt
dessen zeigt sich, dass wenigstens in den beiden ersten Gruppen die
medicamentös beeinflussten Versuchsreihen durchschnittlich nicht so
viele neue Verbindungen hervorbringen wie die Normalversuche. Hin-
sichtlich des Alkohols haben wir früher bereits die Vermuthung ge-
wonnen, dass er eingeübte Associationen nicht mehr lockere, sondern
eher befestige; für den Thee scheint das in noch höherem Masse zu
gelten. Allerdings muss man dabei die Reihenfolge der Versuche be-
rücksichtigen, welche ohnedies für den Alkohol etwas höhere Zahlen
bedingen würde. Allein selbst dann, wenn man den Theeversuch
5 für die Durchschnittsberechnung noch mit heranzieht, erhält man
erst die folgenden Werthe:

Die Zunahme der Zahlen in der Gruppe III ist wol auf die normale
oder medicamentöse Ermüdung zu beziehen, da wir wissen, dass die
Ermüdung den Zusammenhang der Vorstellungen lockert. Sie ist,
wie zu erwarten war, beim Alkohol grösser, als beim Thee, aber
auch hier deutlich. Wodurch die Zunahme der neuen Associationen
in der zweiten Gruppe der Normalreihen bedingt war, ist mir nicht
klar geworden. Derselben geht eine Vergrösserung der Associations-
[121] zeiten und eine Zunahme der äusseren Associationen parallel, Er-
scheinungen, welche auf einen Nachlass der Aufmerksamkeitsspannung
für diesen Abschnitt der Versuchsreihe hindeuten.


Ueber die Art der neu aufgetretenen Associationen giebt die nach-
folgende Tabelle Aufschluss:


Tabelle XLVIII.


Die Zahl der neu auftretenden äusseren Associationen ist somit
in den Theeversuchen relativ gering. Jene im Alkoholversuch 3* auf-
tretende Neigung zu massenhafter Production äusserer Associationen
fehlt hier gänzlich, vielleicht deswegen, weil in der Reihe 5 die Ver-
bindungen schon zu fest geworden waren.


Berechnet man die Procentsätze, so findet sich, dass unter den neuen
Associationen in den Theereihen nur 27,3 % äussere waren, gegenüber
42,2 % in den Normalreihen. Für alle Associationen der Thee- und
Normalversuche insgesammt betrugen diese Procentsätze 36,4 und
38,9. Da somit trotz der geringen Anzahl neugebildeter äusserer
Vorstellungsverbindungen der Gesammtbetrag dieser letzteren über-
haupt nur unerheblich von der Norm abweicht, so ergiebt sich, dass
der Thee anscheinend das Auftreten neuer äusserlicher Associationen
nicht begünstigt, dass aber die einmal vorhandenen in ihrer Festigkeit
nicht beeinträchtigt, eher gestärkt werden. In dieser Beziehung lässt
sich ein gewisser Gegensatz gegenüber dem Alkoholeinflusse darthun.
Dort überwog der Procentsatz der äusseren Associationen unter den neu
auftretenden Vorstellungsverbindungen weitaus denjenigen, der bei den
Alkoholversuchen insgesammt geliefert wurde, und wir schlossen
daraus, dass der Alkohol die Bildung neuer äusserer Associationen
von geringer Festigkeit in besonderem Masse befördert.


Bei näherem Eingehen in diese Verhältnisse lässt sich erkennen,
dass die Klangassociationen unter den in den Theeversuchen neu auf-
tretenden Verbindungen relativ ganz ebenso häufig sind, wie in den
Normalreihen; ihr Procentsatz beträgt dort 20,3, hier 19,9 %. Auch
ihre Festigkeit ist eine gleich geringe wie in den Normalversuchen,
da sie unter den überhaupt beobachteten Associationen in den Normal-
reihen 7,3, in den Theereihen 7,7 % ausmachen. Gegenüber dem Al-
[122] kohol ist somit, ganz wie unter normalen Verhältnissen, die Häufig-
keit der neu gebildeten Klangassociationen erheblich geringer, ihre
Festigkeit dagegen ein wenig grösser. Hinsichtlich der zweiten Klasse
von äusseren Associationen, die wir früher näher gekennzeichnet haben,
der sprachlichen Reminiscenzen, liegt die Sache etwas anders. Unter den
neuen Associationen der Theereihen spielen diese letzteren eine verschwin-
dend geringe Rolle, da sie nur in 4,7 % beobachtet wurden, während
ihre Gesammtzahl mit 20,6 % sich ganz dem Verhalten der Normal-
reihen (20,9 %) annähert. Die Neubildung von Reminiscenzen hat
während der Theereihen in noch viel geringerem Masse stattgefunden,
als in den Alkohol- oder gar in den Normalversuchen; die einmal
vorhandenen derartigen Associationen wurden dagegen mit grosser
Zähigkeit festgehalten. Wie ich indessen schon früher angedeutet
habe, ist dieses Ergebniss sicher nicht als reine Theewirkung aufzu-
fassen, sondern zum Theil, vielleicht sogar ausschliesslich, wol durch
die zeitliche Aufeinanderfolge der Versuchsreihen bedingt.


Berücksichtigen wir in den Normalreihen nur die Zahl der von
einander verschiedenen Vorstellungen ohne die Wiederholungen
derselben Verbindungen, so ergiebt sich, dass schon in der ersten Reihe un-
gefähr ebensoviel Reminiscenzen auftraten, als in sämmtlichen späteren
Reihen zusammengenommen, während z. B. die Zahl der neuen Klang-
associationen hier 21 Mal so gross war, als diejenige der ersten Reihe.
Trotzdem war der Procentsatz der Reminiscenzen unter sämmtlichen
überhaupt gelieferten Associationen, alle Wiederholungen mit einge-
schlossen, nur unbedeutend geringer, als ihr Verhältniss in der ersten
Reihe. Daraus ergiebt sich, dass einmal die überhaupt zur associa-
tiven Verwerthung kommenden Reminiscenzen ein gewisses Ueberge-
wicht über die sonstigen zu Gebote stehenden Verknüpfungen haben,
da sie sofort und von vornherein sich eindrängen. Späterhin werden
ja auch alle sonstigen Associationen durch die besonderen Versuchs-
bedingungen selbst zu allmählich sich immer mehr festigenden Reminis-
cenzen, und damit verlieren jene präformirten Verbindungen den an-
fänglichen Vorsprung. Andererseits aber besitzen diese letzteren schon
im Anfange jene Festigkeit, welche die übrigen Glieder der Reihe
erst während des Versuches erwerben; sie kehren in stereotyper Weise
jedesmal wieder und erleiden daher durch den immer stärker sich
ausprägenden Mangel an Nachwuchs in ihrer Gesammthäufigkeit nur
eine unerhebliche Einbusse.


Unter diesen Umständen ist der Procentsatz der neu auftretenden
Reminiscenzen für zeitlich weiter auseinander liegende Reihen über-
[123] haupt nicht vergleichbar. In der 2.—4. Reihe beobachten wir noch
je 6—7 derartige neue Associationen, in den letzten 4 dagegen keine
einzige mehr. Die letzten 4 Normalreihen enthalten noch 9, die ent-
sprechenden Alkoholreihen 4 und die 4 Theereihen nur noch 2 neue
Reminiscenzen. Diese abnehmende Häufigkeit neuer Reminiscenzen
von den Normalreihen zu den Alkohol- und Theeversuchen ist somit
wesentlich durch den Umstand bedingt, dass jene ersteren fast immer
vorangingen, während die letztgenannten überall in ein späteres Sta-
dium der Versuchsperiode fielen.


Zur Orientirung über das Verhalten der mittleren Schwankungen
in den Theereihen möge zunächst die folgende Tabelle dienen, welche
die Grösse der Mittelzone wiedergiebt. Die letzte Querzeile enthält
die Durchschnittswerthe der Mittelzone in Procenten der entsprechen-
den Associationszeiten.


Tabelle XLIX.


Die durchschnittliche Abnahme der Schwankungen während der
ganzen Versuchsperiode übertrifft auch hier sehr entschieden die
Uebungsverkürzung der Associationszeiten. Ein irgendwie deutlicher
Einfluss des Thees auf alle diese Zahlen lässt sich zunächst nicht
feststellen.


Es empfiehlt sich indessen auch hier, die Mittelzone in ihre bei-
den Abschnitte zu zerlegen und das gegenseitige Verhältniss derselben
zu einander in Betracht zu ziehen. Tabelle L enthält zunächst die
absoluten Werthe für beide Abschnitte und in der letzten Quer-
reihe die Grösse des unteren Abschnittes in Procenten der ganzen
Mittelzone.


Tabelle L.


[124]

Im Gegensatze zu den Erfahrungen beim Alkohol lässt hier die
procentische Grösse des unteren Abschnittes keine deutliche Beein-
flussung durch den Thee erkennen. Zwar ist das Mittel aus den
Werthen der Normalreihen etwas kleiner, als dasjenige der Thee-
reihen, aber einerseits sind die Schwankungen der einzelnen Zahlen
sehr beträchtliche, andererseits verbietet die zunehmende Neigung
einer relativen Vergrösserung des unteren Abschnittes während der
Versuchsreihen eine derartige Mittelziehung überhaupt.


Vergleicht man die einzelnen Abschnitte der Theeversuche mit
denjenigen der benachbarten Reihen, so ergiebt sich Folgendes. Der
obere Abschnitt weist regelmässig in den Theereihen niedrigere Werthe
auf, als in den vorangehenden, einmal (8) sogar als in den folgenden
Normalversuchen. Dieser Umstand ist deswegen bemerkenswerth,
weil diese letzteren mit Ausnahme von 17 immer noch durch einen
Alkoholversuch von der voraufgehenden Theereihe getrennt sind, so
dass die allgemeine Neigung zur Verringerung der Schwankungen in
ihnen eigentlich ausnahmslos kleinere obere Abschnitte liefern sollte.
Umgekehrt könnte man, da den Theereihen 8, 11 und 16 ein ver-
suchsfreier Tag vorherging, hier eher einmal eine Vergrösserung des
oberen Abschnittes gegenüber der letzten Normalreihe erwarten. Es
hat demnach den Anschein, als ob der Thee im Ganzen eine Verklei-
nerung des oberen Abschnittes begünstige. Dass diese Annahme nicht
völlig unbegründet ist, wird wahrscheinlich durch das entgegengesetzte
Verhalten des unteren Abschnittes. Dieser letztere ist nicht nur in
den Theereihen durchgehends grösser, als in den folgenden, sondern
zweimal (11 und 8) auch, als in den vorangehenden Normalreihen.
Im Hinblick auf die oben angeführten Gründe möchte ich diese Nei-
gung zu einer Vergrösserung des unteren Abschnittes nicht mit Be-
stimmtheit auf den Theeeinfluss zurückführen, da noch andere Ur-
sachen vorliegen, welche in der gleichen Richtung hätten wirken
können. Wenn sich dagegen trotz derselben Ursachen beim oberen
Abschnitte nicht dasselbe Ergebniss herausstellte, so spricht dies da-
für, dass wir das nähere Aneinanderrücken der höheren Werthe eben
als Theewirkung ansehen dürfen. Wir würden demnach auch hier
einen Gegensatz zum Alkohol zu verzeichnen haben, bei dem gerade
die längeren Associationszeiten unregelmässiger, die kürzeren regel-
mässiger zu werden schienen. Dieses Verhalten erscheint leicht
verständlich, wenn der Alkohol im Allgemeinen die Zeiten verlängert,
der Thee sie verkürzt. Im ersteren Falle muss der Spielraum für die
über das Mittel hinausgehenden Zahlen ein relativ grösserer sein.
[125] Die grossen Werthe werden sich dort mehr zerstreuen, hier mehr
sammeln, und umgekehrt. Bei der graphischen Darstellung nach dem
Princip der Gauss’schen Curve müsste sich die Asymmetrie dort
durch eine langsamere Senkung, hier durch ein langsameres Ansteigen
kundgeben. Diese Ueberlegungen sprechen dafür, dass doch wol
auch die Vergrösserung des unteren Abschnittes z. Th. wenigstens
eine Theewirkung repräsentirt, da nunmehr der Gang der wahr-
scheinlichen Schwankungen einfach die allgemeine Beeinflussung der
Versuchszahlen durch die eingeführten Medicamente widerspiegeln
würde.


Die Veränderungen, welche das Verhältniss der beiden Abschnitte
der Mittelzone im Verlaufe des einzelnen Versuchstages durchschnitt-
lich erleidet, habe ich, wie früher beim Alkohol, durch einfache
Mittelziehung aus den 5 Theereihen und Berechnung des procentischen
Antheils darzustellen gesucht, welcher in jeder der 3 Versuchsgruppen
eines Tages dem unteren Abschnitte zukommt.


Tabelle LI.


Der Verlauf der Schwankungen in den Theeversuchen weicht somit
von demjenigen der Alkohol- wie der Normalreihen erheblich ab. Der
untere Abschnitt scheint in der zweiten und namentlich in der dritten
Gruppe relativ hohe Werthe zu gewinnen, eine Erscheinung, die viel-
leicht auf eine hier stärker hervortretende Neigung zu rascherer Asso-
ciation hindeuten würde.


c. Versuche nach fortlaufender Methode.


Die Zahl der Theeversuche nach fortlaufender Methode beträgt
21, die sich in gleicher Weise auf die 7 früher genannten Personen
und auf die 3 hier untersuchten psychischen Leistungen vertheilen.
Auf das Addiren, welches wir auch hier zuerst in’s Auge fassen
wollen, entfallen somit 7 Versuche, von denen leider 3 deswegen nicht ganz
einwandsfrei sind, weil bei ihnen durch ein Versehen die Verab-
reichung des Thees erst nach 45′ statt, wie verabredet, nach 30 Mi-
[126] nuten geschah, ein Umstand, der die betheiligten Versuchspersonen,
M., Ha. und Da., immerhin etwas erregte und damit die Vergleich-
barkeit des Ergebnisses beeinträchtigt. Die Theedosis betrug überall
5 gr der auch zu den früheren Versuchen benutzten und in gleicher
Weise behandelten Drogue. Ueber den Ausfall der Versuche giebt
die folgende Tabelle Aufschluss.


Tabelle LII.


Sämmtliche Versuche wurden am 14. März angestellt, nachdem
am 7. März die Alkoholversuche mit 30 gr vorausgegangen waren.
Die Normalmittel in den Theereihen weichen daher etwas von den-
jenigen der Alkoholreihen ab, wie die folgende Uebersicht zeigt, in wel-
cher der durchschnittliche Zuwachs an Additionen in je 5 Minuten aus
dem Mittel der 2 ersten Werthe jeder Reihe berechnet ist. Bei M. und
Da. durfte allerdings nur die erste Viertelstunde berücksichtigt werden.


Bei M. und O. mit ihrer ganz ausserordentlichen Rechengeschwin-
digkeit war das Maximum der Uebung wahrscheinlich nahezu erreicht,
so dass nunmehr, da eine Steigerung der Arbeitsleistung kaum noch
möglich war, eine zufällig weniger günstige Disposition sich leicht in
einer Verlangsamung des Addirens kundgeben konnte. Von den
übrigen Personen zeigten Ha. und De. den grössten Uebungseinfluss,
K. und He. den geringsten, ein Verhalten, welches mit den früheren
Erfahrungen in guter Uebereinstimmung steht.


Um ein Urtheil über den Einfluss des Thees zu gewinnen, werden
wir zunächst diejenigen Versuche in’s Auge zu fassen haben, welche
ohne Störungen verlaufen sind. Regelmässig stellt sich hier nach
[127] dem Theegenusse eine mehr oder weniger beträchtliche Zunahme der
Arbeitsleistung heraus, die erst gegen den Schluss des Versuches
einem Herabsinken derselben auf oder selbst unter die Norm Platz
macht. Eine Zusammenstellung dieser Ergebnisse enthält die Ta-
belle LIII.


Tabelle LIII.


Die Grösse der Veränderungen wurde im Hinblick auf die Durch-
schnittleistung während der ersten halben Stunde berechnet. Die Be-
schleunigung ist demnach überall deutlich, während die spätere Ver-
langsamung keinesfalls grösser ausfällt, als sie nach Massgabe der
Normalversuche ohnedies zu erwarten wäre.


Von den übrigen Versuchen zeigt Da. denselben Verlauf, Zu-
nahme der Arbeitsleistung bis zur Dauer von 45 Minuten, dann be-
ginnende Abnahme. Bei M. und Ha. dagegen nimmt die Arbeits-
geschwindigkeit nach der Einverleibung des Thees sehr beträchtlich
ab, um schliesslich mit ungewöhnlich niedrigen Werthen zu enden.
Angesichts der guten Uebereinstimmung, welche die andern 5 Versuche
untereinander darbieten, ist es wol als ziemlich sicher anzunehmen,
dass dieser abweichende Verlauf nicht die Theewirkung, sondern den
Einfluss der Störung des Versuches widerspiegelt, welche den Versuchs-
personen anscheinend die rechte Concentration auf die Arbeit erschwerte
und sie namentlich gegen das Ende hin mit immer geringerer An-
spannung rechnen liess. Bezeichnend ist es, dass bei allen 3 letzt-
genannten Versuchspersonen die mittleren Variationen beim 3. Mittel
der Reihe, als das Versehen bemerkt wurde, am grössten sind. Auf-
fallend kann aber zunächst der Gegensatz zwischen Da. einerseits, M.
und Ha. andererseits erscheinen. Während Ersterer die Störung leicht
ausgleicht und die Theereaction deutlich erkennen lässt, gewinnt bei
Letzteren die unangenehme Erregung dauernden massgebenden Ein-
fluss auf den Ausfall des Versuches. Man wird kaum fehl gehen,
wenn man diesen Unterschied als einen nicht zufälligen betrachtet,
sondern ihn mit den allgemeinen Eigenthümlichkeiten der Versuchs-
personen in Beziehung setzt. Wir haben früher gesehen, dass M. und
[128] namentlich Ha. auch in anderer Richtung eine weit grössere Empfind-
lichkeit an den Tag legten, als der sehr gleichmässig arbeitende Da.
Dazu kommt allerdings, dass M. nach Ausweis seiner niedrigen An-
fangsgeschwindigkeit offenbar am Tage des Versuches ziemlich un-
günstig disponirt und dadurch vielleicht weniger fähig war, die ver-
langsamende Wirkung der Störung auszugleichen.


Für das Studium der mittleren Schwankungen sind natürlich zu-
nächst nur die vier Versuche ohne Störung zu vergleichen. Ich stelle
die Durchschnittszahlen aus den ersten, normalen Werthen der Alkohol-
und Theereihen mit den unter dem Einflusse des Thees selbst ge-
wonnenen mittleren Variationen nebeneinander.


Tabelle LIV.


Im Allgemeinen hat somit durch die Uebung die Grösse der
Schwankungen von den Alkohol- zu den Theeversuchen abgenommen;
die abweichende Zahl bei He. ist augenscheinlich durch einen Zufall
bedingt, wie ein Blick auf die Tabelle LII darthut. Während der
Theewirkung stellt sich keine bestimmte Veränderung heraus. Ver-
gleichen wir bei den übrigen Personen die Anfangswerthe der Alkohol-
reihen mit den entsprechenden Zahlen der Theeversuche, so ergiebt
sich Folgendes:


Tabelle LV.


Bei Ha. und Da. hat also kaum eine Veränderung stattgefunden,
während sich bei M. die schlechte Tagesdisposition schon von vorn-
herein in der grossen Unregelmässigkeit seiner Arbeitsleistung kund
giebt. Der weitere Verlauf der Theeversuche zeigt für M. eine Ab-
nahme, für die beiden andern Personen eine, bei Ha. ziemlich beträcht-
liche, Zunahme der Schwankungen.


[129]

Ueber den Ausfall der 7 Versuche mit dem Auswendiglernen
von Zahlenreihen giebt die Tabelle LVI Auskunft.


Tabelle LVI.


Die Mehrzahl dieser Versuche wurde am 28. III. ausgeführt,
nachdem die erste Gruppe der Alkoholversuche am 21. III. gewonnen
worden war. Nur der Theeversuch Ha. fand erst am 21. V., der-
jenige von O. am 15. XII 89 statt.


Suchen wir uns zunächst einen Ueberblick über den Gang des
Uebungseinflusses bei allen hier in Betracht kommenden Versuchen
zu verschaffen, so empfiehlt es sich, aus den ersten beiden Werthen
sämmtlicher Beobachtungstage Mittel zu bilden und dieselben mit ein-
ander zu vergleichen. Leider ist mir die Zeitlage der Normalversuche
nicht mehr genau bekannt; ich weiss nicht einmal ganz sicher, ob alle
Normalreihen am gleichen Tage gewonnen wurden, halte das aber bei
der Regelmässigkeit, mit der wir im Allgemeinen zu verfahren pflegten,
für sehr wahrscheinlich. Da die Lernversuche die letzten der ganzen
Oehrn’schen Versuchsperiode waren, darf man annehmen, dass die
Zeit zwischen Normalreihen und Alkoholreihen keinesfalls mehr als
etwa 3—4 Monate betragen hat. In der folgenden Tabelle finden
sich die Durchschnittszahlen aus den ersten beiden Werthen aller Be-
obachtungsreihen zusammengestellt.


Kraepelin, Bee in flussung. 9
[130]

Tabelle LVII.


Diese Tabelle ist sehr lehrreich. Von den ersten Alkohol- zu
den Theeversuchen findet sich fast überall eine Zunahme der Leistungs-
fähigkeit, die bei dem labilen De. am beträchtlichsten ausgefallen ist
(45). Auch He., der sich allerdings noch im ersten, besonders übungs-
fähigen Stadium befindet, zeigt ein Anwachsen der Lerngeschwindig-
keit um 29 Zahlen für je 5 Minuten, K. ein solches von 25 Zahlen.
Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, zu bemerken, dass sich gerade
bei den Alkoholversuchen dieser Personen die anfängliche Erleichte-
rung des Lernens eingestellt hatte. Bei Da. war das freilich an-
scheinend auch der Fall, doch liess sich hier der Nachweis früher
mit geringerer Sicherheit führen, da auch der Normalversuch die
Neigung zu einer fortschreitenden Beschleunigung des Lernens dar-
geboten hatte. Hier zeigt Da. wie M. und Ha. nur eine sehr geringe
Zunahme der Zahlen durch die Uebung. Bei Ha. ist dieselbe aller-
dings wegen der längeren Zwischenzeit mit den Werthen der übrigen
Personen nicht vergleichbar; bei gleichem Intervall wäre offenbar der
Uebungseffect erheblich grösser geworden. Noch mehr gilt das von
O., bei dem durch die sehr lange Pause ein grosser Theil der früher
erworbenen Uebung wieder verloren gegangen ist.


Von besonderem Interesse ist endlich noch der Vergleich der Thee-
reihen mit den späteren Alkoholversuchen. He. wie De. haben in der
Zeit von etwas über 8 Monaten einen Theil ihrer Fertigkeit im Lernen
wieder eingebüsst. Am auffallendsten ist das bei De., der wegen der vor-
aufgegangenen Normalversuche mit Zahlen und Silbenreihen weit besser
eingeübt war, als He., und trotzdem eine sehr viel grössere Abnahme
der Lerngeschwindigkeit darbot. Andererseits ist bei K. eine Ab-
nahme trotz der langen Zwischenzeit kaum nachweisbar. Dieses Er-
gebniss deutet darauf hin, dass dem weit rascheren Fortschritte der
Uebung bei De. auch ein rascheres Schwinden derselben während des
Intervalles entsprach, während K. zwar ein langsameres Anwachsen
[131] des Uebungseffectes, dafür aber auch eine langsamere Abnahme des-
selben erkennen liess. Leider fehlt mir das Material zur Beurtheilung
der Frage, ob diese Beziehung nur eine zufällige, oder ob sie eine
allgemein gültige ist. Ich bin im Hinblicke auf den in so vielen andern
Punkten hervorgetretenen und sich immer in gleicher Richtung bewegen-
den Gegensatz beider Versuchspersonen geneigt, das Letztere anzunehmen.


Der weitere Verlauf der Theereihen weist mannigfache Ver-
schiedenheiten auf. Eine erste Gruppe von Versuchen bilden die-
jenigen von O. und De. Hier schliesst sich an die Aufnahme des
Thees sofort eine beträchtliche Abnahme der Leistungsfähigkeit, die
sich bei O. rasch, bei De. langsamer wieder ausgleicht, ohne indessen
die Anfangsstufe wieder zu erreichen. Bei O. folgt dann eine neuer-
liche, wol auf die normale Ermüdung zurückführbare Arbeitsverlang-
samung. Die ausserordentliche Empfindlichkeit O.’s gegen den Thee
war von vornherein bekannt; De. zeigte stets eine bedeutende Er-
müdbarkeit. Ganz ähnlich, nur weniger ausgeprägt, gestaltet sich der
Verlauf der Theewirkung bei K., eine anfängliche, etwa 30 Minuten
andauernde Abnahme, dann eine Zunahme und endlich wieder eine
Abnahme der Leistungsfähigkeit. Hier fallen indessen alle Schwan-
kungen nicht oder kaum ausserhalb des Rahmens der beiden normalen
Anfangswerthe. Von diesem Versuche unterscheiden sich diejenigen
von He. und Ha. nur durch die ganz geringfügige Steigerung der
Arbeitsleistung unmittelbar nach dem Theegenusse. Auf sie folgt
eine deutliche Abnahme, welche sich bei Ha. in der letzten halben
Stunde wieder einigermassen ausgleicht, bei He. schon etwas früher
durch eine leichte Schwankung vorübergehend aufgehalten wird. Der
leider nur bei Ha. mögliche Vergleich mit der Normalreihe zeigt in
dieser eine weit grössere Gleichmässigkeit der Werthe und jedenfalls
nicht in dem Masse die Neigung zur Verlangsamung der Arbeit, wie
wir sie unter dem Theeeinfluss alsbald sich entwickeln sehen. Eine
letzte Verlaufsart bieten die Versuche bei M. und Da. mit fort-
schreitender und nur vorübergehend unterbrochener Beschleunigung der
Arbeitsleistung dar. Allerdings tritt hier in den Normalreihen ganz
dieselbe Eigenthümlichkeit hervor, so dass ein ziemlich genauer Paralle-
lismus zwischen diesen und den Theereihen vorhanden ist; höchstens
ist bei M. die Zunahme der Werthe in dem Theeversuche eine etwas
grössere.


Die Deutung dieser Ergebnisse ist nicht ganz leicht; jedenfalls
zeigt sich hier, wie nothwendig der Vergleich der Theereihen mit den
Normalversuchen ist. Am unzweideutigsten haben sich Veränderungen
9*
[132] der Arbeitsleistung von abnormer Grösse bei O. und De. herausge-
stellt. Die Abnahme der Lerngeschwindigkeit hier ist wol mit voller
Sicherheit als Theewirkung aufzufassen. Diese Erfahrungen geben uns
das Recht, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch die Arbeits-
verlangsamung bei K., He. und Ha. auf den Einfluss des Thees zu
beziehen, namentlich auch deswegen, weil jene erstere sich, wie bei
O. und De., nach einiger Zeit (30, 45, 60 Minuten) wieder ausgleicht,
bevor es zu der bei O., K. und He. beobachteten schliesslichen Ab-
nahme der Leistung kommt, die wol als Symptom physiologischer Er-
müdung aufzufassen ist. Eine solche musste sich hier um so eher
ausdrücken, als das Mass der erreichten Uebung im Ganzen schon
ein ziemlich beträchtliches war und somit der beschleunigende Ein-
fluss dieser letzteren nicht mehr bis zum Schlusse des Versuches das
allmähliche Erlahmen der Arbeitsfähigkeit überwiegen konnte.


Sehr fraglich erscheint es, ob der minimalen anfänglichen Beschleuni-
gung des Lernens in den Versuchen He. und Ha. irgend eine Beziehung
zur Theewirkung zukommt. Abgesehen von ihrer Geringfügigkeit,
welche den betreffenden Mittelwerth zudem nur bei He. ein wenig
aus dem Bereiche der voraufgehenden Normalzahlen heraustreten lässt,
haben uns die Erfahrungen beim Addiren gezeigt, dass die verkürzende
Wirkung des Thees weit längere Zeit anzudauern pflegt. Da wir end-
lich im Normalversuch Ha. eine ganz ähnliche, nur stärkere Schwan-
kung bemerken, während der Versuch He. überhaupt nicht mit einer
Normalreihe verglichen werden kann, so erscheint mir das Auftreten
einer flüchtigen anfänglichen Beschleunigung, wie wir sie früher beim
Alkohol gelegentlich nachweisen konnten, für den Thee nicht genügend
gesichert; ich muss vielmehr jene leichte Erhöhung der Werthe für
eine Zufälligkeit halten. An dieser Auffassung vermögen auch die
Versuche M. und Da. nichts zu ändern, da in ihnen charakteristische
Abweichungen von den Normalreihen überhaupt nicht erkennbar sind.


Auf Grund dieser Erwägungen kommen wir zu dem Schlusse, dass
die nachgewiesene Wirkung des Thees auf das Lernen der Zahlen-
reihen in einer rasch eintretenden und sich nach 30—60 Minuten wieder
ausgleichenden Verlangsamung dieser Function besteht. Diese
Wirkung ist bei O. und De. am stärksten, bei K., Ha. und He. weit
schwächer ausgeprägt und fehlt ganz bei M. und Da. Durch welche
Ursachen diese Unterschiede bedingt sind, lässt sich bei der geringen
Zahl von Versuchen nicht feststellen. Eine gewisse Rolle spielt jeden-
falls die individuelle Empfindlichkeit, da wir De. und namentlich O.
an dem einen, den stets so stabilen Da. an dem andern Ende der
[133] Reihe erblicken. Ausserdem sind vielleicht die Resorptionsverhältnisse
nicht ohne Einfluss gewesen, da die Schnelligkeit, mit der die Thee-
wirkung sich entwickelte, bemerkenswerthe Unterschiede zeigt. Bei
O. war die Verlangsamung bis auf die Hälfte der bisherigen Leistung
schon in der ersten Viertelstunde voll ausgebildet, eine überaus inten-
sive und zugleich rasche Wirkung. Etwas langsamer vollzog sich der
Vorgang bei De. und K., doch war auch hier schon innerhalb der
ersten 15 Minuten ein gewisser Einfluss bemerkbar, während bei He.
und dem sonst, namentlich dem Alkohol gegenüber, so empfindlichen
Ha. die verlangsamende Wirkung erst in der zweiten Viertelstunde
sich herauszustellen begann, dafür allerdings, wenigstens bei jenem
Ersteren, auch länger andauerte.


Ueber die Grösse der mittleren Schwankungen giebt die folgende
Tabelle Aufschluss, welche wiederum die betreffenden Durchschnitts-
werthe für die beiden Normalzahlen der ersten Alkohol- und der Thee-
reihe, dann aber die unter dem Einflusse des Thees selbst beobachteten
Variationen enthält.


Tabelle LVIII.


Vom Alkohol- zum Theeversuche hat sich demnach 4 Mal eine
Zunahme, 3 Mal eine Abnahme der mittleren Schwankungen vollzogen.
Während der Theereihe dagegen fand 4 Mal eine Verringerung, 3 Mal
ein Anwachsen der Variationen statt. Natürlich ist dieses Ergebniss
ganz nichtssagend; wir ersehen daraus nur, dass eine entscheidende
Aenderung in dem Verhalten jener Werthe unter dem Einflusse des
Thees nicht eintrat. An diesem Resultate ändert sich auch dann
nichts, wenn wir jene beiden Versuchspersonen ausscheiden, deren
Arbeitsleistung überhaupt keine Theewirkung erkennen liess. Eine
eingehendere Vergleichung aller einzelnen Werthe vor und nach der
Theeaufnahme untereinander deutet übrigens darauf hin, dass wenigstens
während der zweiten Hälfte des Versuches grössere Schwankungen doch
vielleicht etwas häufiger waren, als während der Normalzeiten.


Beschäftigen wir uns zum Schlusse auch hier noch mit der An-
zahl der Wiederholungen, welche von den einzelnen Versuchs-
[134] personen während gleicher Zeiträume beim Lernen geliefert wurden,
so ergiebt sich zunächst folgende Tabelle:


Tabelle LIX.


Im Vergleiche zu den vorhergehenden Alkoholversuchen hat die
Schnelligkeit der Wiederholungen fast durchgehends zugenommen, eine
Erscheinung, die ohne Zweifel auf die Uebung zu beziehen ist, um
so sicherer, als sich in den wenigen späteren Alkoholreihen noch eine
weitere Beschleunigung des Recitirens einstellt. Am besten erhellt
dies aus der nachfolgenden Zusammenstellung der durchschnittlichen
Zahl der Wiederholungen in je 5 Minuten während der ersten nor-
malen halben Stunden aller Versuche.


Tabelle LX.


Im Uebrigen sind die individuellen Verschiedenheiten in der Ge-
schwindigkeit der Wiederholungen ganz unverändert geblieben. Auf
der einen Seite stehen O., De. und K., auf der andern He., Ha.,
Da. und M., jene sehr schnell, diese sehr langsam recitirend. Die
Differenzen sind so beträchtlich, dass die bei maximaler Uebung er-
reichte grösste Geschwindigkeit der letzteren Gruppe (bei He.) doch
nur ¾ der geringsten Geschwindigkeit beträgt, welche schon beim
ersten Alkoholversuche der schnell wiederholenden Versuchspersonen
beobachtet wurde. In den Theeversuchen differirt die Wiederholungs-
geschwindigkeit bei den langsam recitirenden Personen nur innerhalb
eines Spielraums von 8,5, bei den schnell wiederholenden um 18,
während zwischen den beiden Gruppen eine Breite von 16 gelegen ist.
Diese Ergebnisse dienen unserer schon früher ausgesprochenen Ansicht
[135] zur Bestätigung, dass es sich hier nicht um zufällige, sondern um
principielle Unterschiede von tieferer psychologischer Begründung
handelt. Die Möglichkeit von Uebergängen soll dadurch nicht ausge-
schlossen werden, wird vielmehr gerade durch das Verhalten von K.,
vielleicht auch dasjenige von He. und Ha. nahegelegt. Aber es hat
doch den Anschein, als wenn den Extremen O. und De. einerseits, M.
und Da. andererseits, eine gewisse typische Bedeutung zukäme, deren
Grundlage, wie früher ausgeführt, wol am wahrscheinlichsten in einer
Verschiedenheit der Lernmethode zu suchen wäre. Je nach-
dem die motorische Sprachvorstellung oder das Schrift- resp. Klangbild,
also der sinnliche Eindruck, ausschliesslich oder vorwiegend zur Fixirung
des Lernmaterials benutzt wird, müssen wir ja die gestellte Aufgabe
entweder durch häufige Wiederholung des sprachlichen Innervations-
actes oder durch möglichst aufmerksame und darum langsame Ein-
prägung der wirklichen oder associirten Sinnesvorstellung zu lösen
suchen.


Dass in dieser Beziehung thatsächlich bedeutende Verschieden-
heiten vorkommen, scheinen mir mannigfaltige Erfahrungen darzuthun.
Es giebt zahlreiche Menschen — und ich selbst gehöre zu diesen —
welche bei Weitem am besten auswendig lernen, wenn sie das vor-
liegende Material laut recitiren und dadurch die motorischen Inner-
vationen zu möglichster Intensität steigern. Das Hören des Ge-
sprochenen kommt dabei nicht in Betracht, stört vielleicht sogar, denn
ich lerne mit verschlossenen Ohren eher noch leichter. Andererseits
sind mir die Geheimnisse der Mnemotechnik, mit Hülfe deren zahllose
Daten untereinander in ein associatives System gebracht werden, stets
ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Es ist mir subjectiv schlechter-
dings unverständlich, inwiefern diese Lernmethode eine Erleichterung
bedeuten kann. Ich möchte endlich noch darauf hinweisen, dass ich
bei der schriftlichen Wiedergabe von Gedanken einen Unterschied
bemerkt habe, der mir mit den hier besprochenen Verhältnissen in
Beziehung zu stehen scheint. Ueberall, wo mir die geistige Ver-
arbeitung
des Stoffes Schwierigkeiten bereitet, arbeite ich leichter,
wenn ich selbst am Schreibtisch sitze. Handelt es sich aber darum,
einfach für gewohnte Gedankengänge eine möglichst elegante und
schwungvolle Form zu finden, so gelingt das besser beim Dictiren
und namentlich im Herumgehen. Im ersteren Falle richtet sich die
Aufmerksamkeit vorzugsweise auf den begrifflichen Inhalt der Gedanken,
im letzteren dagegen auf die motorischen Sprachvorstellungen. Dort
suche ich jede Ablenkung auf das motorische Gebiet nach Möglich-
[136] keit zu vermeiden; hier wird die Arbeit durch das laute Aussprechen
und mancherlei Mitbewegungen geradezu erleichtert. Manche Menschen
unterstützen auch das laute Auswendiglernen noch durch Herumgehen
und Gesticuliren.


Wie mir scheint, ist die hier entwickelte Auffassung vielleicht auch
geeignet, auf den verschiedenartigen Ausfall der Theewirkung in unseren
Versuchen ein neues Licht zu werfen. Bei eingehender Betrachtung er-
giebt sich nämlich, dass die Ausgiebigkeit der Lernverlangsamung einen
ganz vollständigen Parallelismus zu der Schnelligkeit
der Wiederholungen erkennen lässt
. Die am schnellsten wieder-
holenden O. und De. zeigen auch die stärkste Beeinträchtigung ihrer
Arbeitsleistung durch den Thee, während eine solche bei den langsam
wiederholenden Da. und M. gar nicht zu erweisen war, bei M. sogar
eher Andeutungen des Gegentheils hervortraten. Von den in beiden
Beziehungen eine mehr mittlere Stellung einnehmenden K., Ha., He.
neigt der Erstere ganz consequent mehr zu dem Verhalten der schnell
wiederholenden, während die Letzteren sich mehr demjenigen der
langsam wiederholenden Gruppe nähern. Ein Zusammenhang zwischen
den beiden hier besprochenen Erscheinungen ist bei der auffallenden
Regelmässigkeit auf einem sonst so vielfachen Zufälligkeiten ausgesetzten
Gebiete sehr wahrscheinlich. Ja, wir müssten es sogar in hohem
Masse befremdend finden, wenn eine so deutliche Verschiedenheit der
Personen, wie sie uns in Bezug auf die Wiederholungsgeschwindigkeit
entgegengetreten ist, ganz ohne Einfluss auf den Ausfall der Thee-
wirkung geblieben wäre. Nur die Deutung der Beobachtungen kann
noch Zweifeln unterliegen. Nach meiner soeben entwickelten An-
schauung würde die Verlangsamung des Lernens dort am stärksten
sein, wo diese Arbeit ausschliesslich oder wesentlich mit Hülfe der
sprachlichen Bewegungsvorstellungen verrichtet würde, während das
Festhalten des Lernmaterials durch die aufmerksame Erfassung sinn-
licher Eindrücke oder vielleicht auch lautlicher Erinnerungsbilder durch
den Thee nicht erschwert würde. Denkbar wäre es dabei wol, dass
beide Vorgänge überall gleichzeitig neben einander herliefen, dass aber
dabei je nach der Individualität der eine oder der andere mehr be-
vorzugt würde. Dann könnte der Auffassungsprocess sogar an sich
ein wenig erleichtert sein, wie das frühere Erfahrungen andeuten, aber
diese Erleichterung würde durch die Erschwerung der motorischen
Einübung um so vollständiger wieder aufgewogen, je mehr die Lern-
arbeit dieses letztere Moment bevorzugte. Unter diesem Gesichts-
punkte würde die ganze Scala der Versuche von der ausgeprägten
[137] Verlangsamung bei O. und De. an bis zu der anscheinend vollständigen
Unempfindlichkeit bei Da. und selbst den Spuren einer Beschleunigung
bei M. ihre einfache Erklärung finden.


Es erscheint endlich nach den hier entwickelten Anschauungen
nicht ausgeschlossen, dass die Lerngewohnheiten auch auf den Ausfall
der Alkoholversuche einen gewissen Einfluss ausgeübt haben, wenn auch
die Verfolgung dieser Beziehungen wegen der ausserordentlichen
Flüchtigkeit der anfänglichen Beschleunigung, die dabei vor Allem
in Betracht käme, dort weit schwieriger ist. Nachweisbar war jene
Erscheinung 2 Mal bei K. und dann unter der Einwirkung der
kleineren Alkoholgabe je einmal bei De. und He. K. und De. ge-
hörten zur Gruppe der schnell Wiederholenden mit vorwiegend
motorischer Lernmethode. Bei ihnen würde somit die anfängliche Er-
leichterung des Lernens unter dem Einflusse des Alkohols leicht er-
klärlich erscheinen, da wir eine Beschleunigung der Auslösung von
Bewegungsimpulsen vielfach haben feststellen können. Freilich fehlt
die gleiche Erscheinung bei O., für den aber nur ein einziger Versuch
vorliegt, in welchem jene Veränderung immerhin aus zufälligen
Gründen, etwa wegen grösserer Ermüdbarkeit, ausbleiben konnte. Auf
der anderen Seite zeigt He. die anfängliche Beschleunigung, trotzdem
er in die Klasse der langsam Wiederholenden zu gehören scheint.
Es muss indessen darauf hingewiesen werden, dass alle übrigen Ver-
suchspersonen zur Zeit der ersten Alkoholversuche schon mindestens
2 Lernversuche, einen mit Zahlen, einen weiteren mit sinnlosen Silben,
hinter sich hatten und darum die anfängliche Wiederholungs-
geschwindigkeit für He. nicht mit den in der gleichen Querreihe der
Tabelle LX für die andern Personen verzeichneten Werthen verglichen
werden kann. Richtiger wäre es vielleicht, die Zahl aus dem Alkohol-
versuche II für He. mit den übrigen Werthen aus dem Alkohol-
versuche I in Beziehung zu setzen, obgleich auch die lange Pause vor
jenem ersteren die Wiederholungsgeschwindigkeit für He. vielleicht
eher noch zu niedrig erscheinen lassen würde. Berücksichtigen wir
diesen Umstand, so nähert sich He. der schnell wiederholenden Gruppe.
Er würde dann doch zu denjenigen zu rechnen sein, welche vorwiegend
mit Hülfe der motorischen Einübung auswendig lernen, und die an-
fängliche Beschleunigung bei kleiner Alkoholdosis in dieser Eigen-
thümlichkeit ihre Erklärung finden.


Selbstverständlich bin ich weit davon entfernt, die hier angestellten
Erörterungen für untrüglich zu halten. Sie sollen nur dazu dienen, die
uns beschäftigende Frage von einer neuen Seite her zu beleuchten, alles
[138] möglicherweise verwerthbare Material herbeizuziehen und endlich die
Nothwendigkeit einer genauen Beachtung aller, auch der unscheinbarsten
Nebenumstände bei der Deutung dieser Beobachtungsergebnisse darzu-
thun. So wenig ein Zweifel darüber bestehen kann, dass auch auf
diesem Gebiete des psychischen Lebens eine unverbrüchliche Gesetz-
mässigkeit herrscht, so schwierig ist es doch oft, die Zauberformel zu
finden, durch deren Anwendung sich die scheinbar wirre Regellosigkeit
in eine klare Folge von Ursache und Wirkung auflösen lässt.


Die Aenderungen in der Wiederholungsgeschwindigkeit unter dem
Einflusse des Thees sind im Ganzen nicht sehr bedeutend. Den
grössten Schwankungen begegnen wir bei den auch sonst so sehr
labilen O. und De., sowie dem noch wenig geübten He., während die
übrigen Personen eine ziemliche Regelmässigkeit der Durchschnitts-
zahlen darbieten. Bei genauerem Vergleiche ergiebt sich ferner, dass
die Schnelligkeit der Wiederholungen im Verlaufe der Theewirkung
zumeist zunimmt; nur Ha. und gegen den Schluss auch K. zeigen
ein abweichendes Verhalten. Wir haben somit wiederum die auf-
fallende Thatsache zu verzeichnen, dass mehrfach, so z. B. gerade bei
O. und De., trotz einer grösseren Zahl von Wiederholungen dennoch
in der Zeiteinheit weniger Zahlen gelernt werden, als vorher. Es muss
dabei zunächst dahingestellt bleiben, ob die Beschleunigung der Wieder-
holungen an sich als Theewirkung angesehen werden kann; da von
Versuch zu Versuch ohnedies regelmässig eine solche Beschleunigung
erkennbar ist, so erscheint es sehr wol möglich, dass wir es hier mit
einer einfachen Uebungserscheinung zu thun haben. Dafür würde
namentlich auch der Verlauf derselben bei He. mit dem typischen An-
wachsen und dem späteren Sinken in Folge der Ermüdung sprechen.
Jedenfalls aber ist der Schluss unabweislich, dass sich unter dem Ein-
flusse des Thees der Uebungseffect der einzelnen Wiederholungen bei
O., De., He. vermindert hat. Bei Ha. und K. ist die gleiche Er-
scheinung nicht mit voller Sicherheit zu erweisen. Dort jedoch ist
offenbar die bleibende Spur, welche jeder Wiederholungsact in unserem
Gedächtnisse zurücklässt, eine flüchtigere geworden. Mit dem Nach-
lasse der Theewirkung ändert sich anscheinend dieses Verhalten, wie
am besten der Versuch Ha. darthut, bei dem in der letzten halben
Stunde trotz sehr viel geringerer Anzahl von Wiederholungen dennoch
eine erhebliche Steigerung der Arbeitsleistung sich herausstellt.


Auch über das Lesen endlich liegt für jede der 7 Versuchspersonen
je ein Theeversuch vor, dessen Ergebniss sich mit den entsprechenden
Normalreihen in der folgenden Tabelle zusammengestellt findet. Die
[139] Zahlen bedeuten, wie früher, die Anzahl der in je 5 Minuten jeder
Viertelstunde durchschnittlich gelesenen Silben.


Tabelle LXI.


Die Alkoholversuche über das Lesen waren am 1. III., die Thee-
versuche von M., Da., He., De. am 24. III., diejenigen von K., He.
am 24. X. und der von O. am 12. XII. 89 ausgeführt worden. Nur
unter Berücksichtigung dieser Daten lassen sich die Normalzahlen der
einzelnen Versuchspersonen unter einander vergleichen. Stellen wir die
Durchschnittswerthe aus den beiden ersten Mitteln aller Reihen zu-
sammen, so ergiebt sich Folgendes:


Tabelle LXII.


Bei den vier ersten Versuchspersonen zeigt sich im Allgemeinen eine Zu-
nahme der Lesegeschwindigkeit durch die Uebung, die allerdings nicht
allzu gross ist und zwischen 13 und 28 % der ursprünglichen Leistung
schwankt. Nur bei Da. findet sich dazwischen die schon früher be-
sprochene Abnahme der Arbeitsschnelligkeit in der Alkoholreihe, die
um so sicherer auf eine augenblickliche Indisposition zurückzuführen
ist, als bei der an sich wenig übungsfähigen Versuchsperson der Fort-
schritt von der Normalreihe zur Theereihe sich dennoch im Rahmen
der durchschnittlichen Uebungsverkürzung hält. Am bedeutendsten
[140] ist der Uebungseinfluss, wie gewöhnlich, bei Ha. Von den 3 letzten
Versuchspersonen mit langer Zwischenpause zwischen den Alkohol-
und Theereihen hat nur der so sehr übungsfähige O. noch eine frei-
lich auch nur geringe Uebungswirkung aufzuweisen; bei K. und He.
fällt das spätere Normalmittel sogar kleiner aus, als das frühere. Ja,
K. hat auch von der Normalreihe zur Alkoholreihe einen Rückschritt
zu verzeichnen, ein Umstand, der einerseits auf seine sehr geringe
Uebungsfähigkeit, andererseits aber darauf hinweist, dass wahrschein-
lich beim ersten Leseversuche seine Disposition eine besonders gün-
stige war.


Hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit machen wir auch in den
Theereihen wieder die Beobachtung, dass diejenigen Versuchspersonen
am schnellsten lesen, welche beim Zahlenlernen am langsamsten wieder-
holten und umgekehrt. Wenn wir den nicht wol vergleichbaren He.
unberücksichtigt lassen, so ordnen sich die einzelnen Versuchspersonen
bei den Theeversuchen nach der Grösse ihrer Arbeitsleistung fast
genau in dieselbe Reihenfolge, wie in den Normalreihen; nur die
Differenzen sind weit grösser geworden. Die Verschiebung in den
Alkoholversuchen durch Da.’s Indisposition und O.’s, sowie nament-
lich Ha.’s anfänglich raschen Vorsprung gewinnende grössere Uebungs-
fähigkeit hat sich hier wieder ausgeglichen. Freilich ist dabei die
Verschiedenheit der Zwischenpausen zu berücksichtigen, welche die Ar-
beitsleistung in der Theereihe für O. zweifellos zu gering erscheinen
lässt. Bei den unter gleichen Bedingungen gewonnenen Versuchen ist
indessen der Gegensatz zwischen De. einerseits, M., Da., Ha. anderer-
seits deutlich genug. Berechnen wir ferner in der früher beschriebenen
Weise das Verhältniss zwischen der Silbenzahl, welche beim Lesen
und beim Zahlenlernen durchschnittlich in je 5 Minuten ausgesprochen
wurde, so erhalten wir folgende Reihe aus den hierher gehörigen Thee-
versuchen:

Für die ersten 6 Versuchspersonen stimmen diese Verhältnisszahlen
in überraschender Weise mit den früher beim Alkohol gefundenen (Tabelle
XXXI, p. 86) überein, ein neuer Beweis dafür, dass die damals versuchte
Gruppenbildung nicht zufällige, sondern wesentliche, tiefer begründete
psychologische Eigenthümlichkeiten wiedergiebt. Freilich ist die Zahl
für Da. aus den Alkoholreihen wegen der Indisposition desselben beim
Leseversuche zu klein, und die Zahlen für O. und K. aus den Thee-
versuchen sind wegen der längeren Versuchspause beim Lesen eben-
[141] falls etwas zu niedrig, aber die typischen Unterschiede zwischen den
beiden Gruppen von Versuchspersonen werden durch diese kleinen
Unregelmässigkeiten nicht im mindesten verwischt. Ganz eigenthüm-
lich ist das Verhalten von He., des Einzigen, dessen Verhältnisszahl
eine erheblichere Aenderung erfahren hat. Da seine Uebung im Aus-
wendiglernen früher gegenüber den andern Personen offenbar relativ
geringer war, als in dem an sich weit mehr eingeübten Lesen, so be-
fand er sich während der Alkoholversuche in der Gruppe mit grosser
Verhältnisszahl, während er hier, bei weiter fortgeschrittener Uebung,
sich der andern Gruppe nähert, wie wir früher schon voraus-
sahen.


Der Ausfall der Theewirkung ist im Ganzen ein sehr gleich-
mässiger. Mit Ausnahme von K., der, nach den Normalzahlen zu
urtheilen, hier wie beim entsprechenden Alkoholversuch ungünstig dis-
ponirt war, zeigt sich überall eine Zunahme der Lesegeschwindigkeit
unter dem Einflusse des Thees, die in der Regel nach einiger Zeit
wieder nachlässt. Bei O. und De. folgt nun eine neuerliche Steige-
rung, deren Beziehung zum Thee zweifelhaft ist. De. hatte auch im
Normalversuche und ebenso im Alkoholversuche die Neigung zu fort-
schreitend rascherem Lesen gezeigt. Bei O. nimmt die Normalreihe
vielmehr einen absteigenden Verlauf, doch ist zu berücksichtigen, dass
der Theeversuch zu einer andern Tageszeit, von 5—7 Uhr angestellt
wurde. Die Tendenz zur Beschleunigung kann auch, abgesehen von
der Theewirkung, hier möglicherweise vorhanden gewesen sein, während
in dem abendlichen Normalversuche die allmähliche Ermüdung die
Oberhand behalten hatte. Ha. mit seinen lebhaften Reactionen auf
Alkohol zeigt hier, im Gegensatze zu der Wirkung jenes Mittels und
zu seiner Normalreihe, eine fortschreitende Beschleunigung des Lesens
bis zum Ende des Versuches, allerdings mit einigen kleineren Schwan-
kungen. Einen Ueberblick über diese Verhältnisse giebt die folgende
Tabelle, in welcher die Grösse der Geschwindigkeitsänderungen in Be-
ziehung auf die Durchschnittsleistung in der ersten halben Stunde ohne
Medicament berechnet ist.


Tabelle LXIII.


[142]

Die Dauer der anfänglichen Arbeitsbeschleunigung ist im Allge-
meinen eine kurze. Der Versuch Ha. ist gewiss als Ausnahme zu
betrachten, sowol im Hinblick auf die Dauer wie auf die Ausgiebigkeit
der Veränderung; vielleicht haben hier andersartige Ursachen mit
hineingespielt. Bei O. würden wir eine gleich lange anregende Wir-
kung des Thees zu verzeichnen haben, wenn uns nicht wegen der sich
einschiebenden tiefen Senkung der Arbeitsleistung nur die erste
Zunahme mit einiger Wahrscheinlichkeit als Theesymptom gelten
dürfte. Ein deutlicher Nachlass der Lesegeschwindigkeit, der am deut-
lichsten 60—90 Minuten, nur bei O. schon 45′ nach dem Genusse
des Thees hervortritt, ist überall vorhanden; nur erreicht diese Sen-
kung bei Da. und Ha. die Norm nicht.


Um uns über die Grösse der mittleren Variationen zu
unterrichten, stellen wir zunächst die Mittelwerthe derselben für je 5
Minuten der ersten halben Stunde der Alkohol- und Theereihen und
dann die entsprechenden Werthe für die Zeit der Theewirkung zu-
sammen.


Tabelle LXIV.


Für die Normalzeit des Theeversuchs steht die Grösse der Schwan-
kungen einigermassen in Beziehung zu der Lesegeschwindigkeit, inso-
fern die Arbeit der langsamer Lesenden entschieden gleichmässiger
von Statten geht, als diejenige der schnell Lesenden. Ein deutlicher
Einfluss der Uebung auf die mittleren Variationen ist nicht nachzu-
weisen, da dieselben im Anfange der Theereihe bald grösser, bald
kleiner sind, als in dem entsprechenden Theil der Alkoholreihe.
Während der Theewirkung nehmen die Schwankungen häufiger zu,
als ab, vielleicht im Zusammenhange mit der Steigerung der Arbeits-
leistung. Berücksichtigt man übrigens nicht die Durchschnittszahl,
sondern die Häufigkeit, mit welcher grössere und kleinere Werthe der
mittleren Variationen im Verlaufe der Theewirkung auftreten, so er-
giebt sich eher ein geringes Uebergewicht der kleinen Werthe gegen-
über der ersten halben Versuchsstunde, doch ist dieses Ergebniss
ein zu unsicheres, als dass es möglich wäre, aus demselben weitere
Schlüsse über den Einfluss des Thees abzuleiten.


[143]

d. Dynamometerversuche.


Die Dynamometerversuche mit Thee wurden nur von mir selbst
bei Gelegenheit der Associationsversuche mit Wiederholungen in der
früher geschilderten Weise durchgeführt. Ueber den Ausfall derselben
giebt die folgende Tabelle Aufschluss, in welche zum Vergleiche auch
die Normalreihen wieder mit aufgenommen worden sind. Der
erste Theeversuch musste leider auch hier als unbrauchbar fortgelassen
werden.


Tabelle LXV.


Ein Vergleich der Theereihen mit den benachbarten Normalreihen
ergiebt, dass die Kraftleistung von Anfang an dort eine grössere war,
als hier. Die ersten Werthe der Versuche 2, 6 und 7 sind höher, als
diejenigen der vorangehenden sowol, wie der folgenden Normalversuche;
durch 4 wird wenigstens der vorangehende erheblich übertroffen. Die
einzelnen Theereihen unter sich zeigen dabei, ganz ebenso wie die
Normalreihen, ein Fortschreiten der anfänglichen Mittelleistung unter
dem Einflusse der Uebung. Der weitere Verlauf der Theeversuche
lässt erkennen, dass die maximale Leistung hier gewöhnlich schon in
dem ersten, nur bei 4 mit dem niedrigeren Anfangswerthe in dem
zweiten Mittel, jedenfalls also innerhalb der ersten 20 Minuten erreicht
war, während in den Normalreihen die höchsten Zahlen fast immer
erst später verzeichnet werden konnten. Die Gesammtleistung wäh-
rend der Theeversuche war stets eine relativ sehr bedeutende. Im
Versuche 2 blieb sie zwar trotz des hohen Anfangswerthes etwas hinter
der Normalreihe 3 zurück. Einmal jedoch lag zwischen beiden noch
ein Alkoholversuch, und weiterhin war in dieser Zeit der Versuchs-
periode der Einfluss der Uebung überhaupt noch ein so grosser, dass
er durch die Theewirkung nicht völlig ausgeglichen werden konnte.
Dafür sehen wir den Theeversuch 4 mit seiner nicht sehr hohen An-
fangszahl dennoch eine beträchtlich höhere Gesammtleistung entwickeln,
[144] als den 2 Tage späteren und noch dazu durch einen Alkoholversuch
von ihm getrennten Normalversuch 5. Die Reihen 6 und 7 haben
überhaupt das günstigste Ergebniss von sämmtlichen angestellten Ver-
suchen geliefert, was durch den Vergleich nicht nur mit der letzten, durch
Ermüdung wol etwas beeinträchtigten Normalreihe 8, sondern auch mit
der zwischen jenen beiden gelegenen Alkoholreihe dargethan wird.


Von besonderem Interesse scheint mir die Thatsache zu sein, dass
die Steigerung der musculären Leistungsfähigkeit unter dem Einflusse
des Thees nicht rasch wieder verschwindet, wie wir das früher beim
Alkohol sahen, sondern offenbar längere Zeit hindurch anhält. Nur
in Reihe 2 stellt sich sehr bald eine Abnahme der Zahlen ein. Bei
6 und 7 ist dieselbe erst nach Ablauf von 30, bei 4 sogar, wenn wir
von der kleinen Schwankung absehen, erst nach 40 Minuten bemerk-
bar. Auch dann aber ist das Sinken der Arbeitsleistung ein so ge-
ringfügiges, dass die letzten Zahlen der Theereihen durchweg höher
sind, als die der benachbarten, selbst späteren Normalreihen; nur in
der ersten Hälfte der Versuchsperiode sehen wir die Theereihe 2 noch
nicht die folgende Normalreihe übertreffen, weil hier eben der Einfluss
der Uebung noch eine zu grosse Rolle spielt.


Der Ausfall der Dynamometerversuche spricht somit dafür, dass
durch den Thee eine Erhöhung der musculären Arbeits-
leistung
herbeigeführt wird, welche die durch den Alkohol bewirkte
Kraftzunahme entschieden übertrifft und zudem nicht, wie diese letztere,
sehr flüchtiger Natur ist, sondern längere Zeit, im Durchschnitt etwa
30 Minuten, mit voller Intensität andauert. Sie nimmt dann allmäh-
lich ab, ist aber selbst nach Ablauf einer Stunde noch deutlich nach-
zuweisen. Dieses Ergebniss stimmt mit den Erfahrungen De-
Sarlos
und Bernardinis*) beim Kaffee überein, unter dessen
Einfluss dieselben ebenfalls ausser einer Erhöhung der Reflexe eine
Steigerung der Dynamometerwerthe beobachteten.


e. Zeitschätzungsversuche.


Ueber den Einfluss des Thees auf die Zeitschätzung besitze ich
nur 2 Versuche, die Dehio mit einem Aufgusse von 5 gr gelben
Thees in der gewöhnlichen Weise anstellte. Beide Versuche fielen in
die Tage unmittelbar nach den entsprechenden Alkoholreihen. Ich
[145] selbst habe auf die Ausführung ähnlicher Versuche verzichtet, weil
mir seinerzeit nicht mehr die gleiche Drogue zur Verfügung stand
und späterhin die Vergleichbarkeit mit den Alkoholversuchen fraglich
geworden wäre. Wegen der Spärlichkeit des Materials gebe ich in
der folgenden Tabelle beide Versuche vollständig in Mittelzahlen aus
je 5 aufeinanderfolgenden Schätzungen wieder; die letzte Reihe fasst
dieselben zu einem Durchschnitt zusammen.


Tabelle LXVI.


Wie zunächst ein Vergleich der Durchschnittsreihen mit der früher
mitgetheilten Normalreihe lehrt, liegen die mittleren Schätzungswerthe
hier in den ersten beiden Gruppen unter, in den letzten beiden meistens
über den entsprechenden Normalwerthen. Die Anfangswerthe stimmen
mit den normalen überall fast genau überein; sie zeigen daher eben-
falls das für De. so charakteristische allmähliche Ansteigen von Gruppe
zu Gruppe. Die grössten Abweichungen von der Norm finden sich
in den ersten beiden Gruppen; hier schieben sich mehrfach ganz über-
raschend kurze Mittelwerthe ein. Die einzelnen Versuche zeigen ein
ähnliches Bild. Namentlich der erste derselben unterscheidet sich von
den Normalreihen durch das fast vollständige Fehlen jenes eigen-
thümlichen anfänglichen Anwachsens der Schätzungswerthe. Nur ver-
einzelte höhere Zahlen schieben sich ein, während im Ganzen die
Neigung zu niedrigen Werthen sich immer wieder geltend macht.
Aber auch in den ersten beiden Gruppen des Versuches II begegnen
uns, was unter normalen Verhältnissen kaum vorkommt, mehrere
Zahlen, die weit unter dem Anfangsmittel liegen. Erst in den Gruppen
c und d stellt sich der bekannte Typus anfänglichen Steigens und
späteren Sinkens der Schätzungswerthe wieder her. Wir kämen so-
mit zu dem Schlusse, dass der Thee anscheinend die Grösse der
mittleren Schätzungswerthe verringert, zu einer Zeit, wo sie unter
normalen Verhältnissen eine starke Neigung zum Wachsen besitzen
würden. Offenbar aber kann es sich hier nicht um eine Ermüdungs-
Kraepelin, Beeinflussung. 10
[146] wirkung handeln, wie beim Alkohol, da die Erscheinung schon in den
ersten Werthen der einzelnen Gruppen sehr deutlich hervortritt und
durchaus nicht das so ganz eigenartige Sinken der letzten Mittelzahlen
darbietet. In dem ersten Versuche dauert sie bis zum Schlusse, also
weit über eine Stunde an, während sie im zweiten mit offenbar ge-
ringerer Theewirkung nach etwa 40—45 Minuten dem normalen Ver-
halten Platz macht.


Es erscheint sehr schwierig, auf Grund der wenigen uns vor-
liegenden Zahlen sich eine bestimmte Vorstellung über das Zustande-
kommen der psychischen Theewirkung hier zu verschaffen. Am näch-
sten liegt es wol, an den ausgeprägten Gegensatz zwischen Thee und
Alkohol anzuknüpfen. Sehen wir beim Alkohol die Lähmung der
Aufmerksamkeit zu einer Erhöhung der Anfangswerthe führen, so
könnte hier vielleicht der beschleunigte Ablauf der intellectuellen
Vorgänge eine relative Verkürzung der geschätzten Zeiten zur Folge
haben. Wir haben allerdings früher betont, dass höchst wahrschein-
lich das Gefühl der inneren Anstrengung den Massstab für die Schätzung
von Zeitstrecken abgiebt, da diese letzteren uns um so länger erscheinen,
je grösser der psychische Kraftaufwand ist, mit welchem wir während
derselben gearbeitet haben. Erleichtert der Thee, wie wir es früher
bei mehreren Gelegenheiten gesehen haben, den Ablauf mancher psy-
chischer Vorgänge, so sollte man demgemäss unter seinem Einflusse
eher eine Unterschätzung der verfliessenden Zeit, also hohe Schätzungs-
werthe erwarten. Auf der andern Seite ist es wol denkbar, dass der
Thee wol die Auffassung der Normalzeit, nicht aber die active Re-
production derselben erleichtert. Ein ähnlicher Gegensatz, wie wir
ihn zur Erklärung der Alkoholwirkung herangezogen haben, könnte
hier bestehen, nur im umgekehrten Sinne.


Indessen will ich nicht unterlassen, hier noch auf eine andere Mög-
lichkeit der Deutung hinzuweisen, welche ebenfalls, vielleicht neben der
bisher besprochenen, mit in Betracht gezogen zu werden verdient. Ohne
Zweifel giebt es ausser dem Gefühle der inneren Anstrengung noch ein
weiteres Hülfsmittel der Zeitschätzung, das ist die Zahl der in unserm
Bewusstsein einander folgenden Vorstellungen. Schon Ejner*) hat nach-
gewiesen, dass die Zeitschätzung genauer wurde, wenn er während des
Versuches rechnete oder ein Metronom schlagen liess. Die Ueberschätzung
der 30 Sekunden wurde geringer; die ausgefüllten Zeitstrecken erschienen
der Versuchsperson also verhältnissmässig länger, als leere. Wie die
[147] Erfahrung lehrt, ist es trotz der grössten Anstrengung völlig unmöglich,
bei diesen Versuchen längere Zeit alle Vorstellungen aus unserem
Bewusstsein fernzuhalten. Immer und immer wieder tauchen associative
Bilder der verschiedensten Art in uns auf, die wir mit Mühe unter-
drücken, um unsere Aufmerksamkeit der Zeitschätzung zuzuwenden.
Der Alkohol erschwert, der Thee aber erleichtert wahrscheinlich das Auf-
treten solcher Vorstellungen. Dieser Umstand ist vielleicht für die Er-
klärung der verschiedenen Wirkung jener Mittel auf die Zeitschätzung
von Bedeutung. Dort vergeht uns die Zeit zunächst relativ schnell, weil
die Vorstellungen einander langsamer folgen, bis die wachsende Er-
müdung uns die Concentration auf die zu lösende eintönige Aufgabe
immer mehr erschwert und das Gefühl der inneren Anstrengung stärker
hervortritt. Hier dagegen lässt der raschere Wechsel der Gedanken
uns die Zeitstrecken länger erscheinen, als sie sind, und je nachdem
es uns mehr oder weniger gut gelingt, fremde Vorstellungen fernzu-
halten, werden höhere oder niedrige Schätzungswerthe das Ergebniss
sein. Ich brauche wol nicht besonders darauf hinzuweisen, dass alle
diese Ausführungen einstweilen rein hypothetische sind, und dass ich
weit davon entfernt bin, sie als befriedigende Lösung der hier liegenden
Fragen zu betrachten. Nur den thatsächlichen Unterschied zwischen
Alkohol- und Theewirkung auf diesem Gebiete wird man wol an-
erkennen müssen; eine wirklich zuverlässige Deutung aber dürfte nur
mit Hülfe umfangreicher und systematisch abgeänderter weiterer Ver-
suche zu erreichen sein.



[[148]]

IV. Versuche mit andern
Arzneimitteln.


Als ich meine Studien über die Beeinflussung psychischer Vor-
gänge durch Medicamente begann, lag es in meinem Plane, eine grössere
Zahl verschiedenartiger, namentlich narkotischer Arzneimittel zu diesen
Untersuchungen heranzuziehen. Die Ausführung dieses Vorhabens
wurde theilweise durch äussere Umstände, theilweise aber dadurch
verhindert, dass die Lösung der Fragen sich bei weiterem Eindringen
in den Gegenstand weit schwieriger gestaltete, als ich es zunächst
vermuthet hatte. Schon der verschiedene Ausfall der Alkoholversuche
bei den Unterscheidungs- und Wahlreactionen wies auf die Noth-
wendigkeit der Berücksichtigung verwickelterer Reactionsformen hin,
und weiter lehrte mich die genauere Kenntniss der Uebungs- und Er-
müdungsvorgänge alle jene Fehlerquellen kennen, welche durch eine
sehr grosse Häufung und möglichst verschiedenartige Ausführung der
Versuche allmählich unschädlich gemacht werden mussten. Unter
diesen Umständen sah ich mich, um wenigstens auf einem Gebiete zu
sicheren Ergebnissen zu kommen, veranlasst, den Umfang der ganzen
Untersuchung bedeutend einzuschränken. Nur der Alkohol und der
Thee, diese beiden so weit verbreiteten und wichtigen Genussmittel,
waren es daher, denen meine Versuche in den letzten Jahren gegolten
haben. Aus früherer Zeit indessen besitze ich noch die Protokolle
über eine Anzahl von Experimenten auch mit andern Stoffen, die
sämmtlich in der gleichen Weise ausgeführt worden sind, wie ich es
in meinen ersten Mittheilungen beschrieben habe. Speziell sei erwähnt,
dass ich damals noch nicht mit dem Lippenschlüssel arbeitete, sondern
die Wort- und Associationsreactionen nach der von Trautscholdt
geübten Methode, durch einfaches Oeffnen eines Contactschlüssels mit
[149] der Hand, markirte. Trotz dieses Fehlers und trotz der Unvollständig-
keit der einzelnen Versuchsgruppen glaube ich dennoch dieselben hier
mittheilen zu sollen, einerseits weil sich mancherlei interessante Be-
ziehungen zu den bisher besprochenen Untersuchungen ergeben, dann
aber, weil jedes derartige Experiment, auch wenn es für sich allein
keine weiteren Schlüsse gestattet, schliesslich doch für den Vergleich
mit später etwa folgenden Beobachtungen seinen bestimmten Werth
haben kann.


a. Paraldehyd.


Nur für einen einzigen Stoff haben diese Versuche bisher einen
etwas grösseren Umfang erreicht, für das Paraldehyd. Mir liegen
über dasselbe 14 Beobachtungsreihen vor, von denen 4 an meinem
treuen Mitarbeiter, Herrn Dr. G. Lehmann (L.), 3 an Herrn
Dr. Ernst Rehm (R.) und 7 an mir selbst (K.) gewonnen wurden.
Ich stelle zunächst wieder die Versuche mit einfacher Reaction in der
Tabelle LXVII zusammen. Die Zahl der Einzelbeobachtungen, aus
denen die wahrscheinlichen Mittel gebildet wurden, schwankte hier,
wie bei den späteren Versuchen, zwischen 10 und 19, je nach der
Länge der Reihen und ihrer Abschnitte.


Tabelle LXVII.


Der Ausfall dieser Versuche ist in mehrfacher Beziehung paradox.
Bei der bekannten, energisch schlafmachenden Wirkung des Par-
[150] aldehyd hätte man von vornherein eine rasche und bedeutende Zunahme
der psychischen Zeiten erwarten sollen. Statt dessen sehen wir bei
L. und namentlich bei R. mehrfach ganz auffallend kleine Werthe
auftreten, die in unregelmässiger Weise mit sehr langen Zahlen ab-
wechseln. Am grössten sind diese Schwankungen sowol nach der
einen, wie nach der andern Richtung hin bei der Dosis von 5 gr,
weit geringer dort, wo nur 2 gr genommen wurden. Man könnte aus
diesem Befunde den Schluss ziehen, dass unter dem Einflusse des
Paraldehyd die Reactionszeiten einfach unregelmässiger würden. Allein
damit wäre die stellenweise so sehr beträchtliche Beschleunigung der
psychischen Vorgänge keineswegs erklärt. Ueberall, wo wir sonst eine
Zunahme der Schwankungen durch Erschlaffung der Aufmerksamkeit
sich ausbilden sehen, werden nicht die Minimal-, sondern immer nur
die Maximalwerthe über die Grenzen hinausgerückt. Dazu kommt,
dass bei K. die hier betrachtete Erscheinung überhaupt nicht vor-
handen ist. Will man nicht etwa die ganz geringfügige Abnahme
der ersten Zahl in dem Versuche mit 5 gr als wesentlich betrachten,
so ist hier von einer Beschleunigung der Reaction gar keine Rede,
sondern dieser Vorgang wird in der That, wie zu vermuthen war,
sehr bald und entschieden verlangsamt. Der Beginn dieser Wirkung
zeigt sich bereits nach etwa 5 Minuten, die Höhe derselben wird nach
23—27 Minuten erreicht, um dann ziemlich rasch wieder abzunehmen.


Der offenbare Widerspruch, der zwischen dem Ausfall der Ver-
suche bei K. einerseits, bei L. und R. andererseits besteht, löst sich
in ganz eigenthümlicher Weise, sobald wir die Protokolle im Einzelnen
durchsehen. Es zeigt sich nämlich, dass bei den letztgenannten Ver-
suchspersonen schon in den Normalreihen mehrere Zahlen vorkommen,
welche wegen ihrer ganz auffallenden Kürze entschieden aus dem
Rahmen der wahren psychischen Zeiten herausfallen und ohne Zweifel
als vorzeitige Reactionen angesehen werden müssen. Eine zuverlässige
Ausscheidung solcher Zahlen ist natürlich nicht möglich, da man
innerhalb eines gewissen Gebietes nicht mit einiger Sicherheit ent-
scheiden kann, wieweit der einzelne Werth durch jene Fehlerquelle
beeinflusst wurde. Dennoch darf man das hier stellenweise beobachtete
Auftreten von Zeiten weit unter 100 σ als ein sicheres Symptom der
Neigung zu vorzeitiger Reaction betrachten, zumal die Bedingungen
für das Zustandekommen derselben bei der im Interesse des Versuches
gebotenen Schnelligkeit und Gleichmässigkeit der Manipulation voll-
ständig gegeben waren.


Auf diese Weise erklärt sich auch der so sehr verschiedene Aus-
[151] fall der Normalversuche bei L. und R. Am 13. II. war offenbar bei
Beiden die Neigung zu vorzeitiger Reaction eine besonders grosse, sei
es, dass der Registrirende K. an diesem Tage gerade sehr gleich-
mässig operirte, sei es aus andern zufälligen Gründen. Das arith-
metische Normalmittel der einfachen Reactionszeit ist bei Gelegenheit
früherer Alkoholversuche für L. auf 214, für K. auf 183 festgestellt
worden; für R. besitze ich leider keine Vergleichszahlen. Während
somit die wahrscheinlichen Normalmittel für K. sowol untereinander
wie mit jener Zahl ziemlich nahe übereinstimmen, jedenfalls nicht
abnorm klein ausgefallen sind, weicht die Normalzahl für L. (2 gr)
von den sonstigen Werthen dieses Beobachters sehr beträchtlich nach
unten ab, und auch der Versuch R. (5 gr) differirt so sehr von der
Beobachtungsreihe des vorhergehenden Tages, dass schon aus diesem
Grunde der Verdacht auf vorzeitige Reactionen entspringen müsste,
auch wenn derselbe nicht noch durch das Verhalten der einzelnen
Zahlen in den Protokollen besonders begründet würde.


Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Umständen der weitere
Verlauf der Beobachtungswerthe bei L. und R. in keiner Weise das
wirkliche Verhalten der psychischen Zeiten wiedergiebt. Jedenfalls
können wir auf die sehr kurzen Zahlen gar kein Gewicht mehr legen,
während die langen Reactionen uns wenigstens den Schluss gestatten,
dass die Neigung zu vorzeitiger Auslösung der Registrirbewegung
hier offenbar durch Einflüsse überwogen wird, welche eine beträcht-
liche Verlangsamung des ganzen psychischen Vorganges herbeiführen,
ein Ergebniss, welches mit dem Ausfalle der Versuche bei K. in
bestem Einklange steht. Allein auch die Beobachtungen bei L. und
R. sind gerade wegen der in ihnen wirksamen Fehlerquelle noch nach
einer andern Richtung hin von Interesse. Es zeigt sich nämlich, dass
die Neigung zu vorzeitiger Reaction unter dem Einflusse des Par-
aldehyd in ganz entschiedener Weise zunimmt. Spricht dafür schon
das unregelmässige Auftreten sehr kleiner Mittelwerthe, so wird dieses
Verhalten noch deutlicher dargethan durch den Umstand, dass während
der Paraldehydwirkung mehrfach das Vorkommen nicht nur vorzeitiger,
sondern sogar negativer Reactionen beobachtet worden ist. Ich
habe die Zahl solcher Beobachtungen, die ich natürlich bei der Be-
rechnung der wahrscheinlichen Mittelwerthe mit berücksichtigen musste,
überall in Klammern hinzugefügt. In den Normalreihen fehlen sie
gänzlich. Bei den Versuchen mit 2 gr Paraldehyd finden sie sich je
2 Mal, bei denen mit 5 gr dagegen 5 resp. 14 Mal. An der nahen
Abhängigkeit dieser Erscheinung von der Paraldehydwirkung kann
[152] somit nicht wol gezweifelt werden. Wir sehen sie bei kleiner Dosis
rascher auftreten und namentlich rascher verschwinden, als bei grösserer
Gabe, wo sie nach 30 Minuten und selbst später noch deutlich ist.
Am ausgeprägtesten sind die negativen Reactionen bei R., der schon
an sich sehr kurze psychische Zeiten darbietet, während bei K., der
unter normalen Verhältnissen gar keine oder doch nur sehr geringe
Neigung zu vorzeitiger Reaction besitzt, auch unter dem Einflusse des
Paraldehyd keine nennenswerthe Verkürzung der Zahlen und noch viel
weniger das Auftreten negativer Zeiten beobachtet werden konnte.


Als Ergebniss dieser Betrachtungen können wir somit den Satz
aufstellen, dass die einfache Reaction durch das Paraldehyd eine rasch
eintretende, aber sich auch bald wieder ausgleichende Verlängerung
erfährt. Bei Versuchspersonen mit Neigung zu vorzeitiger Reaction
wird diese Neigung in sehr beträchtlichem Masse gesteigert, selbst
bis zum Auftreten negativer Zeiten. Diese letztere Wirkung ist weit inten-
siver und länger anhaltend bei einer Gabe von 5 gr, als bei einer
solchen von 2 gr. Eine ähnliche Steigerung der Wirkung mit Zu-
nahme der Dosis scheint hinsichtlich der Verlängerung der Zahlen zu
bestehen; wenigstens sprechen die Erfahrungen bei L. und R. in diesem
Sinne.


Im Anschlusse an die Erfahrungen bei der einfachen Reaction
muss ich noch einen letzten hierhergehörigen Versuch erwähnen, wel-
cher in der Weise angestellt wurde, dass ich selbst in kurzen Zwi-
schenräumen 5 Mal je 1 gr Paraldehyd nahm. An den durch ein
Sternchen bezeichneten Punkten wurde das Paraldehyd getrunken.
Das Resultat der Beobachtungsreihe war das folgende:


Tabelle LXVIII.


Im Allgemeinen stellt sich somit eine gewisse Verlangsamung der
Reaction auch hier heraus; dieselbe ist am Ende ungefähr ebenso
beträchtlich, als wenn die 5 gr mit einem Mal genommen worden
wären. Dazwischen aber haben wir, im Beginne des Versuches, auch
einige ziemlich kurze Zahlen zu verzeichen, ähnlich wie bei dem ent-
sprechenden früher mitgetheilten Versuche K. (5 gr). Auch hier ist
indessen die Verkürzung so gering, dass wir noch kein Recht haben,
dieselbe für etwas Anderes als eine Zufälligkeit zu halten.


[153]

An Stelle der Unterscheidungsreactionen habe ich bei den Ver-
suchen mit Paraldehyd überall Wortreactionen gesetzt, da ich
hoffte, dass die Beeinflussung des Auffassungsvorganges sich bei ihnen
noch deutlicher herausstellen werde. Allerdings geht ja in die Wort-
reaction immer noch die Wahlzeit für die betreffende Bewegungs-
coordination mit ein, allein mir schien bei der innigen gewohnheits-
mässigen Verknüpfung zwischen Lautvorstellung und Bewegungsvor-
stellung auf diesem Gebiete doch die Auffassungszeit einen wesent-
licheren Theil der Gesammtdauer in Anspruch zu nehmen, als die
Wahlzeit. Eine Bestätigung hat diese Anschauung später in den Ver-
suchen von Cattell gefunden. Die nach der Donders’schen B-
Methode festgestellten Unterscheidungszeiten für einsilbige deutsche
Wörter betrugen bei 2 Beobachtern 146 resp. 192 σ, während sich die
entsprechenden Wahlzeiten auf 58 resp. 77 σ berechnen lassen. Auch
das abweichende Verhalten der Wort- und Wahlreactionen unter dem
Einflusse des Alkohols und Thees deutet darauf hin, dass die Dauer
dieser Vorgänge von verschiedenartigen psychologischen Processen
wesentlich bestimmt wird. Ueber den Ausfall meiner Versuche be-
richtet die Tabelle LXIX.


Tabelle LXIX.


Die Betrachtung dieser Tabelle liefert uns eine geradezu über-
raschende Bestätigung der bei den einfachen Reactionen erhaltenen
Resultate. Auch hier fällt sofort der durchgreifende Gegensatz zwi-
schen den Versuchen bei L. und R. einerseits, bei K. andererseits in
die Augen. Bei K. sind vielleicht die ersten Mittel jedes Versuchs
nach dem Einnehmen des Paraldehyds etwas niedrig, wenn sie auch
durchaus nicht aus dem Bereiche der normalen Schwankungen heraus-
fallen; von der zweiten Zahl an jedoch beginnt mit dem gleichzeitigen
[154] Eintritte der subjectiven Wirkung eine sehr bedeutende Verlangsamung
des Reactionsvorganges, die bei einer Gabe von 2 gr etwa 100 σ be-
trägt, bei einer solchen von 5 gr dagegen bis zu 2—300 σ ansteigt.
Die Höhe der Wirkung wird auch hier nach ungefähr 25—30 Minu-
ten erreicht. Von da an scheint, was allerdings nur bei dem Versuche
mit 5 gr zu verfolgen ist, die Länge der psychischen Zeiten ziemlich
rasch wieder abzunehmen. Wenn uns dieses Verhalten gewissermassen
nur in vergrössertem Massstabe die Erscheinungen bei der einfachen
Reaction genau wiederholt, so steht es, ebenso wie dort, in vollem
Gegensatze zu den Erfahrungen bei R. und L. Bei L. ist zwar im
Beginne der Reihe eine leichte Verlängerung der Zahlen bemerkbar,
doch geht sie späterhin eher in eine Verkürzung derselben über, wäh-
rend bei R. eine sehr entschiedene Verkürzung der gemessenen Werthe mit
Schwankungen vom Anfange bis zum Schlusse des Versuches andauert.


Die Erklärung dieses Ergebnisses ist nach den früheren Aus-
führungen leicht, wenn wir uns erinnern, dass diese Wortreactionen
nicht mit dem Lippenschlüssel gemessen wurden, sondern der Ver-
suchsperson die Aufgabe zufiel, mit der Hand einen Contactschlüssel
zu öffnen, sobald sie das Wort verstanden hatte. Irgend eine Sicher-
heit gegen das Auftreten vorzeitiger Reactionen war somit nicht ge-
geben. Der Versuch L. fällt schon durch die für diesen Beobachter
ganz auffallend kurzen Normalreactionen auf, ein Umstand, der auf
die ausserordentliche Begünstigung vorzeitiger Reactionen durch die
Versuchstechnik hinweist; L. hatte früher für die einfache Unterschei-
dung zwischen zwei Vocalen Reactionszeiten von im Mittel 242 σ ge-
liefert. Es kann uns daher nicht verwundern, wenn die anfänglich,
wie es scheint, noch sich geltend machende Verlangsamung des psy-
chischen Vorganges unter dem Einflusse des Paraldehyd durch die
immer stärker anwachsende Neigung zu vorzeitiger Reaction mehr und
mehr überwogen wurde. Gerade bei dem zweiten, dem längsten Mittel-
werthe der Reihe, gab L. das Gefühl rascherer Reaction zu Protokoll,
während er bei dem weit kürzeren letzten Werthe über Müdigkeit
klagte. Viel energischer hat sich die gleiche Fehlerquelle bei R. gel-
tend gemacht, vielleicht wegen der grösseren Dosis des Mittels. Hier
ist es sogar, ein neuer Beweis für die Richtigkeit der entwickelten
Auffassung, 5 Mal zu negativen Wortreactionen gekommen, ein unter
normalen Versuchsbedingungen wol unerhörter Vorgang. Diese nega-
tiven Zahlen finden sich in einem späteren Stadium der Paraldehyd-
wirkung, nach 25—40 Minuten.


Die dritte Gruppe der Paraldehydversuche erstreckt sich auf
[155] die Wahl zwischen 2 Bewegungen; die leider nur an L. und
K. erhaltenen Ergebnisse sind in der Tabelle LXX. mitgetheilt.


Tabelle LXX.


Wie man sieht, hat sich bei den Wahlversuchen die ganze Sach-
lage völlig geändert. Was zunächst L. betrifft, so zeigt sich hier so-
fort nach dem Einnehmen des Mittels eine rasch fortschreitende und
sehr bedeutende Verlängerung der Zahlen, die nach ungefähr 15 Mi-
nuten ihren Höhepunkt erreicht und dann ganz allmählich wieder
nachlässt. Nach 1¼ Stunden ist indessen noch keine völlige Rück-
kehr zur Norm erreicht. Zum Verständnisse dieses von den früheren
Versuchen abweichenden Verhaltens erinnern wir uns daran, dass bei
den Wahlreactionen eigentlich vorzeitige Reactionen nicht vorkommen
können, da ja die Richtung der Bewegung erst durch die Art des auf-
zufassenden Sinneseindruckes, hier die Vocale e oder o (rechts oder
links zu reagiren), bestimmt wird. Aus diesem Grunde konnte hier
die scheinbare Beschleunigung der psychischen Zeiten, wie wir sie
früher bei L. wegen seiner Neigung zu vorzeitiger Reaction beobach-
teten, nicht eintreten. Dass trotzdem eine solche Neigung zu beson-
ders schneller Auslösung der Willensimpulse durch den Einfluss des
Paraldehyds bei L. erzeugt wurde, ergiebt sich nicht nur aus dem sub-
jectiven Gefühle sehr rascher Reaction, welches bei dem Beginne der
Medicamentwirkung angegeben wurde, sondern auch aus der interessanten
Thatsache, dass hier, wo vorzeitige Reactionen ausgeschlossen waren,
dennoch in einem bestimmten Stadium des Versuches, 40—50 Minuten
nach dem Einnehmen des Mittels, auffallend viele falsche Reac-
tionen auftraten. Nicht weniger als 7 Mal innerhalb kurzer Zeit
wurde auf das Signal mit der verkehrten Hand reagirt, während bis
dahin solche Versuche fast gar nicht vorgekommen waren. Die Aus-
lösung der Bewegung erfolgte offenbar ausserordentlich leicht, häufig
sogar schon, bevor das Signal deutlich aufgefasst worden war, so dass
[156] dann natürlich Fehler häufiger mit unterlaufen mussten. Die gleiche
Erscheinung ist bekanntlich auch sonst bei der absichtlichen Um-
wandlung sensorieller in musculäre Reactionen beobachtet worden. Für
die Berechnung der Mittelzahlen wurden diese Fehlversuche nicht mit
verwerthet.


Die Versuche bei K. zeigen ein in vieler Beziehung abweichendes
Verhalten. Bei der Dosis von 2 gr stellt sich von vornherein eine
deutliche und bis zum Ende des allerdings nur 27 Minuten weiter-
geführten Versuches fortschreitende Verkürzung der Zahlen heraus.
Berücksichtigen wir die Versuchstechnik, so kann diese Verkürzung
nicht wol eine scheinbare sein, sondern es muss hier wirklich eine
Beschleunigung des Wahlvorganges stattgefunden haben. Allerdings
sind die Normalmittel in diesem, weniger auch in dem andern Ver-
suche, ganz abnorm hoch, so dass hier wol an eine anfänglich beson-
ders ungünstige Disposition gedacht werden könnte, die sich erst all-
mählich durch die Uebung ausgeglichen habe. Offenbar aber genügt
auch eine solche Annahme keinesfalls, um den durchgreifenden Unter-
schied in dem Verlaufe dieses Versuches gegenüber dem mit der
gleichen Dosis ausgeführten Wortreactionsversuche zu erklären. Das
ist um so weniger der Fall, als auch hier in den zahlreich auftretenden
Fehlreactionen sich die Neigung zu voreiliger Auslösung der Bewe-
gung deutlich zu erkennen giebt. Trotzdem K. an sich offenbar
nicht dazu disponirt war, vor klarer Auffassung des Signaleindruckes
zu reagiren, wie sich bei den einfachen und Wortreactionen gezeigt
hatte, trotzdem er gerade an dem bestimmten Versuchstage von vorn-
herein sehr bedächtig vorging, passirte es ihm unter dem Einflusse
des Paraldehyd doch 8 Mal, dass er sich in der Auswahl der Hand
vergriff. Da die Zeiten dabei kürzer wurden, kann es sich hier nicht
etwa um eine undeutliche, erschwerte und verlangsamte Auffassung
des Signals, sondern nur um eine vorzeitige Auslösung des Bewegungs-
impulses gehandelt haben.


Der letzte Versuch K. mit 5 gr Paraldehyd bietet die gleiche
Erscheinung in vergrössertem Massstabe dar. Noch 40—50 Minuten
nach der Einnahme des Mittels treten häufige Fehlreactionen auf.
Allein die psychischen Zeiten lassen hier eine entschiedene Verlängerung
erkennen, die nach 20—25 Minuten am beträchtlichsten ist und später
langsam wieder abnimmt. Auffallenderweise schieben sich hier
zwischen die langen Mittelwerthe einzelne nahezu oder völlig normale
Zahlen ein, ja das niedrigste Mittel der ganzen Reihe, welches noch
unter den anfänglichen Normalwerthen liegt, findet sich etwa 40 Minuten
[157] nach dem Beginn der Paraldehydwirkung, unmittelbar zwischen zwei
sehr langen Zahlen. Man erhält daraus den Eindruck, als ob hier
gewissermassen zwei antagonistische Vorgänge neben einander her-
gingen, von denen bald der eine bald der andere die Oberhand
gewinnt.


In der That kann es, wie mir scheint, trotz der Unvollständigkeit
der vorstehend mitgetheilten Versuche kaum noch einem Zweifel unter-
liegen, dass diese Annahme am besten im Stande wäre, die bis jetzt
vorhandenen Beobachtungsthatsachen zu erklären. Auf der einen
Seite besteht ganz offenbar eine Erleichterung der Auslösung von
Willensimpulsen, da eine andere Erklärung für das auffallende Auf-
treten der negativen wie der Fehlreactionen nicht wol denkbar ist.
Dafür spricht weiterhin das subjective Gefühl beschleunigter Reaction,
die bisweilen beobachtete lebhafte Muskelunruhe und endlich der
Versuch K. (2 gr) mit Wahlreactionen, der uns unmittelbar diesen
rascheren Ablauf einfacher Wahlacte aufzeigt. Andererseits wird das
Erkennen äusserer Eindrücke unter dem Einflusse des Paraldehyds
erschwert, wie das namentlich aus den Versuchen K. mit Wort-
reactionen hervorgehen dürfte, abgesehen von dem sehr deutlichen
Ermüdungsgefühl, welches sich bei R. und L. sogar trotz ausge-
bildeter vorzeitiger Reactionen geltend machte. Namentlich diese Ver-
langsamung der Auffassung wächst in sehr ausgeprägter Weise mit
der Grösse der Dosis an, wie die Versuche K. mit Wortreactionen
darthun. Weniger ist das vielleicht mit der Beschleunigung der
Willenshandlungen der Fall, ja möglicherweise findet hier sogar inner-
halb gewisser Grenzen ein umgekehrtes Verhältniss statt, doch ge-
stattet das vorliegende Versuchsmaterial darüber kein Urtheil. Er-
klärlich ist es ohnedies, dass der Wahlversuch K. (5 gr) nur eine
geringfügige und unregelmässige Beschleunigung gegenüber dem Ver-
suche mit 2 gr darbieten konnte, da nunmehr eben die Verlangsamung
der Auffassung stärker anwuchs, als die Erleichterung des Wahlactes.
Auch bei L. überwog die Auffassungsstörung wegen der grösseren
Paraldehydgabe derart über die in den Fehlreactionen sich kund-
gebende Wahlbeschleunigung, dass in den gemessenen Zahlen nur die Ver-
längerung der gesammten Reactionsdauer zum Ausdruck kommen konnte.


Vielleicht sind wir jetzt auch berechtigt, auf die früher wieder-
holt erwähnte Thatsache einer anfänglichen geringen Verkürzung
der Zeiten bei K., die am deutlichsten bei den Wortreactionen, bei
der kleineren Dosis, hervortrat, noch einmal zurückzukommen. Diese
Erscheinung würde erklärlich sein, wenn die Verlangsamung der Auf-
[158] fassung unter dem Einflusse des Paraldehyds später zur Entwicklung
käme, als die Erleichterung des Wahlactes. Dann würden wir überall
dort, wo diese beiden psychischen Vorgänge sich mit einander ver-
knüpfen, zunächst eine Beschleunigung der Reaction erwarten müssen,
die erst später durch die beträchtliche Verlangsamung der Auf-
fassung überdeckt würde, und zwar nach unseren obigen Ausführungen
um so rascher und gründlicher, je grösser die Gabe des Mittels. Dieser
Auffassung entspricht vollständig die schon erwähnte subjective Er-
fahrung, dass zuerst das Gefühl sehr prompter Reaction auftreten
kann, bis weiterhin die schnell und gewaltig anwachsende Müdigkeit
durchaus die Oberhand gewinnt. Diese Ermüdung steigert sich ganz
besonders, während die Versuchsperson gezwungen ist, aufzupassen
und zu reagiren. Bei der grösseren Gabe war es zeitweise nur mit
Aufgebot aller Kräfte möglich, sie zu überwinden und das Einschlafen
zu verhindern. In den Versuchspausen liess die starke Müdigkeit
etwas nach, und wir sehen daher dort, wo überhaupt eine zuverlässige
Messung der wirklichen psychischen Zeiten stattgefunden hat, fast
ausnahmslos nach jeder kleinen Pause kürzere Zahlen auftreten, denen
bei fortgesetztem Reagiren rasch längere folgen. Auf diese Weise
erklären sich die Schwankungen der Werthe im einfachen und nament-
lich im Wahlreactionsversuche K. mit 5 gr. Der dort constatirte
Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Wirkungen schwankt demnach
anscheinend deswegen hin und her, weil die eine dieser Wirkungen
durch die Erholungspausen vorübergehend abgeschwächt wird, während
die andere dabei keine Veränderung erleidet und somit zeitweise die
Oberhand gewinnt. Uns träte somit hier ein ganz ähnliches Ver-
hältniss entgegen, wie es zwischen den Einflüssen der Uebung und Er-
müdung besteht. Schiebt man in eine fortlaufende geistige Thätigkeit,
wenn auch nur kurze, Erholungspausen ein, so kann die flüchtige
Arbeitserschwerung durch die Ermüdung sich, wie Oehrn*) gezeigt
hat, rasch so weit wieder ausgleichen, dass die anfängliche Arbeits-
geschwindigkeit nach der Pause wegen des weit langsamer wieder
verschwindenden Uebungsgewinnes viel grösser ausfällt, als die maxi-
male Leistung vor dem Ausruhen.


Erst nach dem Niederschreiben der vorstehenden Zeilen ist es mir
möglich gewesen, die sorgfältigen Untersuchungen näher kennen zu
lernen, welche von Cervello und Coppola*) über die Wirkung
[159] des Paraldehyds auf die Dauer psychischer Vorgänge ausgeführt worden
sind. Die genannten Forscher prüften einfache, Unterscheidungs- und
Wahlreactionen, die ersteren mit Hülfe von Schall- und Lichtreizen,
letztere nur mit Schallreizen. Die Zeiten wurden durch aufgezeichnete
Stimmgabelschwingungen gemessen, innerhalb derer sich der Augen-
blick des Reizes wie der Reaction durch das Ueberspringen eines
Inductionsfunkens markirte. Die Versuchsperson sass vom Registrirenden
entfernt in einem besonderen Zimmer. Die Beobachtungen wurden
in kurzen Reihen (zu 10) gewonnen und mit wechselnden Zwischen-
pausen sehr lange, bisweilen mehr als zwei Stunden fortgesetzt. Die
grosse Mehrzahl der Versuche fällt in die Morgenstunden; die Dosen
schwankten von 1—3 gr. Im Ganzen wurden 32 Beobachtungsreihen
durchgeführt, 16 über die einfache Reaction und je 8 über Unter-
scheidung und Wahl. Das allgemeine Ergebniss dieser Versuche war
ein ungemein gleichförmiges. Ueberall stellte sich eine Verlängerung
der Reactionen ein, die im Allgemeinen 20—40 σ betrug, einmal auch bis
auf 107 σ anstieg und ein ganz deutliches Anwachsen mit Zunahme der
Dosis erkennen liess. Eine nennenswerthe Verkürzung der Zahlen
wurde nicht beobachtet.


Der theilweise Widerspruch, der zwischen diesen Ergebnissen und
denjenigen meiner Versuche besteht, ist um so beachtenswerther, als
die Beobachtungen der italienischen Forscher offenbar sehr systematisch
durchgeführt worden sind und Anspruch auf grosse Zuverlässigkeit
erheben dürfen. Zur Erklärung der Abweichungen können ver-
schiedene Umstände herbeigezogen werden. Die Verkürzung der
Zahlen bei meinen Versuchen beruhte zum grössten Theil ohne Zweifel
auf dem Auftreten vorzeitiger Reactionen. Für das Zustandekommen
derselben waren aber die Bedingungen bei meiner Versuchsanordnung
weit günstiger, als bei derjenigen Cervello’s und Coppola’s. Die
Schnelligkeit, mit welcher die einzelnen Beobachtungen aufeinander
folgten, betrug bei jenen etwa 3, bei mir 5—6 in der Minute; zudem
sahen meine Versuchspersonen wegen der Nähe des Registrirenden
den ganzen Versuch sich gewissermassen vorbereiten. Ob dort auch,
wie bei mir, ein besonderes Signal dem Reize kurze Zeit voranging,
lässt sich aus der Arbeit nicht ersehen, ist aber im Hinblicke auf die
grosse Gleichmässigkeit der Zahlen sehr wahrscheinlich. Jedenfalls
mussten die grössere Geschwindigkeit des Manipulirens und der
Mangel einer räumlichen Abtrennung der Versuchsperson dem Auf-
treten vorzeitiger Reactionen bei meinen Versuchen in besonderem
Masse Vorschub leisten. Es lässt sich indessen nicht in Abrede stellen,
[160] dass offenbar die Eigenart der Versuchspersonen dabei eine sehr be-
deutende Rolle spielt, wie ja gerade durch den Gegensatz zwischen K.
einerseits und L. und R. andererseits deutlich dargethan wird. Man
kann daher die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass die 3 Reagirenden
aus der italienischen Arbeit vielleicht auch dann ausschliesslich Ver-
längerung der Zahlen durch Paraldehyd dargeboten hätten, wenn sie
mit der von mir benutzten Versuchsanordnung gearbeitet haben
würden.


Dennoch bleibt noch ein gewisser Gegensatz zwischen dem Ver-
suche K. (W, 2 gr) und den Ergebnissen Cervello’s und Coppola’s
bestehen. Hier ist die Möglichkeit vorzeitiger Reaction nicht mehr
gegeben. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die grosse Aus-
dehnung der Verkürzung hier theilweise durch eine Uebungswirkung
auf die ungewöhnlich lange Normalzeit bedingt sein könne, aber es
scheint mir kaum möglich, den Ausfall des Versuches ganz auf eine
derartige mehr zufällige Fehlerquelle zurückzuführen. Das geht um
so weniger an, als noch andere oben eingehend erörterte Gründe für
die Möglichkeit einer Verkürzung der Wahlzeiten durch kleine Paral-
dehydgaben zu sprechen scheinen. Auch in den Versuchen Cervello’s
und Coppola’s fehlt es nicht ganz an solchen Andeutungen. Abge-
sehen von dem ersten Wahlversuche Cervello’s auf p. 185, in welchem
wenigstens die Maxima eine sehr entschiedene Verkleinerung erkennen
lassen, ist es sehr bemerkenswerth, dass gerade dieser Forscher häufiger
die Verlängerung seiner Zahlen selbst nicht bemerkte und sogar vielfach,
z. B. in dem genannten Versuche, geradezu schneller, als gewöhnlich,
zu reagiren glaubte. Diese Erfahrung stimmt ganz mit meiner eigenen
überein. Dass trotzdem selten oder nie eine deutliche Verkürzung
der Zahlen zur Beobachtung kam, könnte, abgesehen von den schon
berührten individuellen Differenzen, auf der Verschiedenheit der Tages-
zeiten oder auf dem Umstande beruhen, dass das Mittel häufig
nüchtern genommen wurde und daher vielleicht stärker wirkte. Von
meinen Wahlversuchen zeigt ja auch nur derjenige mit kleiner Dosis
die Erscheinung der Verkürzung. Coppola hatte im Gegensatze zu
Cervello regelmässig das Gefühl der Verlangsamung, die that-
sächlich bei ihm fast ausnahmslos bedeutender ist, als bei Jenem.
Auch die Normalzahlen sind bei ihm überall grösser, als bei Cervello.
Er ist daher in höherem Masse zu sensorieller Reaction und damit
wahrscheinlich weniger zu vorzeitigen Reactionen geneigt. Wir be-
obachten bei ihm als kleinste Wahlzeiten unter Paraldehydeinfluss
Zahlen von wenigstens 180 σ, während dieselben bei Cervello bis auf
[161] 136 σ heruntergehen, im Gegensatze zu den Mittelwerthen von 256
resp. 238 σ. Dabei sei übrigens bemerkt, dass die Wahlzeiten solche
zwischen Ruhe und Bewegung sind, da nur dann reagirt wurde, wenn
der vorher verabredete acustische Reiz (Ton oder Geräusch) erzeugt
wurde.


b. Chloralhydrat.


Auch über das Chloralhydrat haben Cervello und Coppola
eine grössere Reihe von Versuchen angestellt, von denen sich 10 auf
die einfache Reaction, 8 auf die Unterscheidung und 8 auf die Wahl
beziehen. Diese Versuche führten in der Hauptsache zu demselben
Ergebnisse, wie diejenigen mit Paraldehyd. Ueberall trat schon bald
eine länger dauernde und im Allgemeinen weit intensivere Verlängerung
der Zahlen hervor. Auch hier wurde häufig diese Veränderung subjectiv
nicht bemerkt, namentlich nicht von Cervello und der Versuchs-
person G. T., während Coppola die Erschwerung meistens wahrnahm.
G. T. glaubte nach 0,5 gr Chloralhydrat vorübergehend sogar schneller
zu reagiren.


Mir stehen aus älterer Zeit über das Chloralhydrat nur 2 Ver-
suche zu Gebote, die beide an mir selbst mit der gleichen Dosis von
2 gr angestellt worden sind. Der Ausfall derselben war folgender:


Tabelle LXXI.


Die einfache Reaction ist somit durch das Chloralhydrat nur in
geringem Masse, und zwar im Sinne einer ziemlich rasch eintretenden
Verlangsamung, beeinflusst worden. Nach etwa 30 Minuten erscheinen
die Zahlen bereits wieder normal. Ich will indessen bemerken, dass
aus dem Protokolle dieses Versuches, eines der ersten derart, die ich
überhaupt anstellte, nicht mit voller Sicherheit zu ersehen ist, ob das
Mittel, wie gewöhnlich, nach der ersten Reihe von Beobachtungen,
oder nicht vielleicht schon vor dem Beginne der Messungen genommen
wurde; das Letztere ist mir im Hinblick auf einige andere unbedeutende
Verschiedenheiten der Versuchstechnik fast wahrscheinlicher. Da die
ersten Zahlen meinen sonstigen Reactionszeiten nahezu entsprechen,
Kraepelin, Beeinflussung. 11
[162] würde im letzteren Falle der Beginn der Chloralwirkung etwa 10 Mi-
nuten nach dem Einnehmen des Mittels zu setzen und die Rückkehr
zu normalen Werthen um die gleiche Zeit weiter hinauszuschieben
sein. Unter dieser Voraussetzung würde eine grössere Uebereinstim-
mung des Versuches nicht nur mit der subjectiven Erfahrung, die für
ein langsameres Eintreten der Müdigkeit spricht, sondern auch mit
der folgenden Beobachtungsreihe bestehen, in welcher die deutliche
und beträchtliche Verlängerung der Werthe ebenfalls erst nach einiger
Zeit bemerkbar wird. Der Beginn dieser Erscheinung ist hier aller-
dings wegen der eingeschobenen langen Pause von 8 Minuten nicht
aufgezeichnet worden; er liegt 6—14 Minuten nach dem Einnehmen
des Mittels. Leider ist der Versuch auch nicht lange genug fortgeführt
worden. Die Höhe der Wirkung war zwar anscheinend nach 14—20
Minuten bereits überschritten, aber wir sehen nach vorübergehend
etwas kürzeren Zahlen eine neuerliche, wenn auch geringere Verlang-
samung des Wahlactes auftreten, die nach 38 Minuten noch fortbe-
stand. Die Ausgiebigkeit der Verlängerung ist hier ungleich grösser,
als bei der einfachen Reaction, auch wenn wir sie im Verhältnisse zu
der absoluten Dauer der gemessenen Vorgänge betrachten. Es ist
aber auch erklärlich, dass ein verwickelterer und die Aufmerksamkeit
sehr in Anspruch nehmender Process dem lähmenden Einflusse des
Chloralhydrates in weit höherem Masse zugänglich sein muss, als die
ganz mechanisch sich abspielende einfache Reaction. Irgend welche
weiter gehenden Schlüsse verbieten sich, so lange nicht ausgedehnte
Parallelversuche mit anderen Reactionsformen vorliegen. Nur darauf
sei hingewiesen, dass sich, wenigstens bei der gewählten mittelgrossen
Dosis, jedenfalls keine Neigung zur Verkürzung der Wahlzeiten heraus-
gestellt hat, wie beim Paraldehyd.


Allerdings waren hier von Anfang an die Wahlzeiten ausser-
ordentlich viel kürzer, als bei den Versuchen mit Paraldehyd. Der
Grund dafür liegt in dem Umstande, dass ich zur Zeit der Normal-
versuche täglich, bisweilen sogar mehrmals, experimentirte, während
den Beobachtungen mit Paraldehyd eine 1—1½ jährige Pause vorauf-
gegangen war, in der ich keinerlei psychische Zeitmessungen vorge-
nommen hatte. Es wäre daher denkbar, dass bei jenen ersteren die
durch Uebung sehr kurz gewordenen Wahlreactionen nicht wol mehr
weiter hätten verkürzt werden können. Allein es sprechen andere
Gründe dafür, dass in der That hier keine Erleichterung des Wahl-
actes stattgefunden hat. Zunächst kann die sehr erhebliche Verlän-
gerung der Zahlen nicht wol allein auf eine Erschwerung der hier
[163] noch einfachen Unterscheidung zwischen 2 Vocalen bezogen werden.
Ferner aber würden wir erwarten dürfen, dass sich eine Beschleuni-
gung in der Auslösung der Reactionsbewegungen auch hier in dem
häufigeren Auftreten von Fehlreactionen kundgeben werde. In der
That sind diese letzteren bei den Chloralversuchen noch ein wenig
häufiger, als in den Paraldehydreihen. Das Verhältniss derselben zu den
richtigen Reactionen stellt sich, wenn man die durch das Medicament
beeinflussten Zahlen berücksichtigt, dort auf 1:10,5, hier nur auf
1:11,2. Bei weiterer Betrachtung sieht man jedoch, dass die Diffe-
renz zwischen den betreffenden Normalreihen eine viel grössere ist.
In den Beobachtungen, welche dem Einnehmen des Paraldehyd vor-
ausgingen, kam durchschnittlich 1 Fehlreaction auf 20,5 richtige, in
der Normalreihe des Chloralversuches dagegen 1 Fehlreaction schon
auf 9 richtige. Unter dem Einflusse des Chloralhydrates wurden dem-
nach die Fehlreactionen jedenfalls nicht häufiger, als vorher, während
das bei den Paraldehydversuchen in sehr ausgesprochenem Masse der
Fall war. Der Unterschied zwischen den beiden Normalreihen aber
dürfte sich daraus erklären, dass bei den Versuchen des Jahres 1882
die Wahlreactionen, wie ihre kurze Dauer beweist, durch die grössere
Uebung aus der sensoriellen in die musculäre Form übergegangen
waren, eine Wandlung, die regelmässig von einer Zunahme der Fehl-
reactionen begleitet ist.


Eine Erleichterung des Wahlactes unter dem Einflusse des
Chloralhydrates hat sich somit nicht erweisen lassen. Es soll indessen
darauf hingewiesen werden, dass doch wenigstens in der ersten Gruppe
von Beobachtungen nach dem Einnehmen des Mittels schon auf 7
richtige eine Fehlreaction kam. Das könnte, namentlich im Hinblick
auf die viel selteneren Fehlreactionen während der weiteren Versuchs-
dauer, Zufall sein. Möglich wäre aber immerhin, dass hier einfach
die Grösse der Dosis eine Rolle spielt. Bei der allmählichen Resorp-
tion des Mittels könnte zunächst die Beschleunigung des Wahlactes
mit der Neigung zu Fehlreactionen vorhanden, aber durch eine gleich-
zeitige Verlangsamung der Unterscheidung verdeckt sein, um dann
mit dem Fortschreiten der Wirkung wieder zu verschwinden. Wie
man sieht, ist eine tiefere Kenntniss dieser Verhältnisse überall
nur durch Anstellen zahlreicher und verschiedenartiger Versuche zu
erreichen.


Bei den Bedenken, welche dem andauernden Experimentiren mit
stark wirkenden Arzneimitteln am eigenen Körper entgegenstehen, habe
ich leider auf die Durchführung ausgedehnter Beobachtungsreihen
11*
[164] verzichten müssen. Nur zwei weitere Versuche habe ich in neuester
Zeit noch mit Chloralhydrat an mir selbst angestellt, da ich glaubte,
dass bei einer gut eingeübten und nach den verschiedensten Rich-
tungen hin psychophysisch durchforschten Versuchsperson selbst ein
einzelnes Experiment mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verwerthet
werden könne. Ich wählte jetzt ein Gabe von 1 gr Chloralhydrat
und untersuchte die Beeinflussung der Wahlreaction und der Wort-
reaction. Der Reiz wurde in diesen Fällen nicht nach der Traut-
scholdt
’schen Methode, sondern, um alle vorzeitigen Reactionen aus-
zuschliessen, mittelst des früher beschriebenen Lippenschlüssels gegeben.
Jeder Versuch wurde durch eine grössere Anzahl von Normalbeobach-
tungen eingeleitet; ausserdem wurden an besonderen Tagen längere
Reihen ohne Chloralhydrat aufgenommen, welche zu Vergleichen mit
den medicamentösen Versuchen dienen sollten. Die Bedienung des
Chronoskopes übernahm mein Assistent, Herr Dr. Aschaffenburg.
Da wir, abgesehen von der zum Aufziehen des Instrumentes nöthigen
Zeit, ohne jede Unterbrechung fortarbeiteten, so war die Zahl der
Einzelbeobachtungen eine ausserordentlich grosse. Dieselben wurden
für die Berechnung der Mittelwerthe in Gruppen von je 30 Zahlen ge-
theilt, welche bei den vorangehenden Normalversuchen etwa 8—9, bei
den späteren Chloralversuchen aber nur ungefähr 4—5 Minuten in
Anspruch nahmen, weil hier allerlei kleine Störungen fortfielen und
die ganzen Manipulationen sich weit glatter abspielten. Das Ergebniss
der Normalversuche wie der Chloralreihen ist in der folgenden Tabelle
wiedergegeben. Alle Zahlen bedeuten wahrscheinliche Mittelwerthe
aus 30 Beobachtungen; nur die in Klammern stehenden Werthe sind
aus einer geringeren Anzahl von Versuchen gewonnen. Die Grösse a
giebt den Spielraum an, innerhalb dessen die mittleren 50 % aller
Beobachtungen sich bewegen. An den durch einen Stern bezeich-
neten Punkten wurde das Mittel in etwa 250 gr Wasser mit etwas
Syrupzusatz genommen.


Die Normalversuche zeigen in ganz typischer Weise die anfäng-
liche Beschleunigung und die spätere Verlangsamung der Reactionen,
wie sie sich in längeren Beobachtungsreihen bei mir regelmässig zu
entwickeln pflegt. Bei den Wortreactionen ist die Uebungsbeschleu-
nigung sehr geringfügig, was sich im Hinblick auf das spätere beträcht-
liche Anwachsen der Zahlen wahrscheinlich aus einer zufälligen
grösseren Ermüdbarkeit erklärt. Die Wahlreactionen zeigen im
Gegentheil eine ziemlich deutliche Verkürzung, aber, wenn wir von
der letzten, weniger sicheren Zahl absehen, kaum eine wirkliche Ver-
[165]Tabelle LXXII.

längerung ihrer Dauer; hier hat sich am Ende des Versuches nur
die anfängliche Beschleunigung wieder ausgeglichen. Die Schwan-
kungen der Einzelzahlen sind bei den Wortreactionen ein wenig
grösser, als bei den Wahlreactionen, entsprechend der längeren Dauer
des gemessenen Vorganges. Eine bestimmte Veränderung der Schwan-
kungen während des Versuches tritt kaum hervor; nur deutet sich
vielleicht die grössere Ermüdbarkeit am 23. III. durch die Ungleich-
mässigkeit der Werthe von a an, die namentlich gegenüber dem Ver-
suche mit Wahlreactionen in’s Auge fällt.


Die Normalzahlen der Chloralversuche sind im Allgemeinen grösser,
als die entsprechenden Werthe der Normalreihen, ein Zeichen dafür,
dass jedenfalls ein nachweisbarer dauernder Uebungseinfluss nicht statt-
gefunden hat. Die hier untersuchten Vorgänge waren demnach bereits
derart eingeübt, dass, wie wir das früher bei den Leseversuchen ge-
sehen haben, zufällige Einflüsse für die absolute Länge der Reactions-
zeiten massgebender waren, als die fortschreitend verkürzende Wirkung
der Uebung. An die Einverleibung des Chloralhydrates schliesst sich
bei den Wortreactionen sofort eine erhebliche Verlängerung der
Zahlen, die sich rasch bis zur Höhe steigert, nach mehreren Schwan-
kungen ein zweites Maximum erreicht und dann allmählich nachlässt,
aber beim Abschlusse des Versuches, nach 75 Minuten, noch immer
gegen 90 σ beträgt. Es kann demnach kein Zweifel sein, dass der
[166] wesentlichste Bestandtheil des gemessenen Vorganges, die Auffassung
eines gesprochenen Wortes, schon durch 1 gr Chloralhydrat sehr er-
heblich verlangsamt wird.


Ein ganz ähnliches Ergebniss bietet der Wahlversuch dar. Auch
hier ist die Vergrösserung der Zahlen bedeutend, etwa 150 σ, und
dauert nach 66 Minuten noch fort, freilich in abnehmender Stärke.
Schwankungen sind hier allerdings gar nicht vorhanden, sondern die
Erschwerung der Reaction kommt und schwindet in ganz gleich-
mässiger Weise. Jedenfalls sind demnach auch die Wahlreactionen schon
durch 1 gr Chloralhydrat verlangsamt worden, ein Befund, der mit den
Versuchen von Cervello und Coppola ebenso in Uebereinstimmung
steht, wie die lange Dauer dieser Wirkung. Auffallend könnte nur
die erste kurze Zahl nach der Einverleibung des Mittels erscheinen,
namentlich wegen des unmittelbar voraufgehenden höheren Werthes.
Zwar fällt dieselbe durchaus in die Breite der normalen Schwankungen,
aber wir sehen bei den Wortreactionen, dass die verlangsamende Wir-
kung sich bereits innerhalb der ersten 4—5 Minuten sehr deutlich
geltend macht. Es wäre demnach denkbar, dass doch unter gewissen
Bedingungen ganz vorübergehend eine geringe Erleichterung des Wahl-
actes stattfinden könnte. Eine Vermehrung der Fehlreactionen, die
im ganzen Versuche nur etwa 2 % betrugen, war während der frag-
lichen Zeit nicht bemerkbar. Wir kommen somit zu dem Schlusse,
dass auch bei kleiner Dosis eine beschleunigende Wirkung des Chloral-
hydrates auf die Wahlreactionen sich nicht mit einiger Wahrschein-
lichkeit nachweisen lässt, dass aber die Möglichkeit einer derartigen
sehr flüchtigen Wirkung auch nicht mit voller Bestimmtheit in Ab-
rede gestellt werden kann.


Die Grösse a lässt in den Normalversuchen der Chloralreihen
bei den Wahlreactionen eine geringe Abnahme, bei den Wortreactionen
eine gewisse Zunahme erkennen. Während der Medicamentwirkung
tritt anfangs keine deutliche Veränderung, späterhin jedoch eine ent-
schiedene Vergrösserung der Schwankungen hervor.


c. Morphium.


Ein viel höheres theoretisches, wie praktisches Interesse, als das
Chloralhydrat, bietet ein weiteres Mittel dar, über welches ich leider
ebenfalls nur wenig Versuche besitze, das Morphium. Ich selbst ver-
trug dasselbe so schlecht, dass ein ausreichendes Experimentiren bei
[167] mir völlig ausgeschlossen erschien, und Andere dazu zu überreden,
konnte ich wegen der Gefahr, Morphinismus zu erzeugen, nicht über
mich gewinnen. Aus diesem Grunde verfüge ich zunächst nur über
2 Versuchsreihen, beide mit Wahlreactionen und bei einer subcutanen
Gabe von 0,01 Morphium muriaticum angestellt. Der Verlauf war
folgender:


Tabelle LXXIII.


Die Ergebnisse dieser Versuche stimmen nicht ganz mit einander
überein. Bei L. zeigt sich uns eine allmählich fortschreitende mässige
Verlängerung der Zahlen, die am deutlichsten gegen den Schluss der
Reihe, ungefähr 1½ Stunden nach der Einspritzung, hervortritt. Die
Wirkung des Mittels ist hier also offenbar noch nicht vorüber, eben-
sowenig wie bei K., wo nach 80 Minuten gleichfalls der höchste,
allerdings immer noch sehr wenig über dem Normalmittel liegende
Werth der Reihe erreicht wird. Innerhalb der ersten ¾ Stunden
schieben sich bei L. relativ kleine Zahlen ein, so dass Werthe ent-
stehen, die unter den Durchschnitt der Normalmittel hinuntergehen,
aber doch keine entschiedene Beschleunigung der Reaction bedeuten;
bei K. dagegen fallen die Mittel während der ersten Stunde fast
alle unter das Normalmittel, zum Theil so beträchtlich, dass die
Verkürzung nicht mehr als zufällige Schwankung aufgefasst, sondern
nur auf das Morphium zurückgeführt werden kann.


Welcher Theil der Wahlreaction durch das Medicament beschleu-
nigt wird, lässt sich auf Grund dieser Versuche natürlich nicht mit
Sicherheit entscheiden. Da jedoch eine Zunahme der Fehlreactionen
hier zweifellos nicht stattfand, so ist es nicht gerade wahrscheinlich,
dass es sich um den Wahlact handelt, wie beim Alkohol und Paral-
dehyd. Auch die Geringfügigkeit der bei L. gar nicht einmal nach-
weisbaren Verkürzung würde gegen eine solche Auffassung sprechen.
Die nachfolgende Ermüdung tritt sehr viel später ein und ist unbedeu-
tender, als bei jenen Mitteln. Dass Dietl und Vintschgau bei
Versuchen mit Morphiumgaben von 0,03 sogleich eine Verlangsamung
der einfachen Reaction auftreten sahen, dürfte nicht sowol in der Ver-
schiedenheit der untersuchten psychischen Vorgänge, als in der weit
[168] grösseren Dosis seinen Grund haben. Wir haben ja überall gesehen,
dass jede durch kleine Gaben irgend eines Mittels erzeugte Erleich-
terung im Ablaufe der Reactionen mit Verstärkung der Giftwirkung
regelmässig einer Erschwerung derselben Platz macht.


Zur weiteren Prüfung dieser Vermuthungen habe ich mich ent-
schlossen, noch einmal zwei Parallelversuche mit 0,01 Morphium, im
engsten Zusammenhange mit den oben besprochenen Chloralreihen aus-
zuführen. Ich nahm jedoch das Morphium innerlich, in etwa 250 gr
Wasser, da die subcutane Anwendung bei mir Collapserscheinungen
hervorgerufen hatte. Je ein Versuch erstreckte sich auf Wahl- und
Wortreactionen. Das Ergebniss derselben war das folgende:


Tabelle LXXIV.


Die Normalzahlen liegen hier zufällig in beiden Versuchen höher,
als in den früher mitgetheilten normalen Vergleichsreihen. Der weitere
Verlauf der Zahlen aber gestaltet sich ganz überraschend. In dem
Wahlversuche stellt sich sofort nach der Einnahme des Morphiums
eine mässige Verlängerung ein, die nach einer kleinen Schwankung
bis an die Norm allmählich stärker wird und nach 35—40′ den be-
trächtlichen Werth von fast 150 σ erreicht. Späterhin werden die
Zahlen langsam wieder kleiner, liegen aber nach 75′ immer noch ziem-
lich hoch über der Norm. Ganz anders ist der Verlauf bei den Wort-
reactionen. Hier sehen wir sogleich eine deutliche Verkürzung der
Zahlen auftreten, die ihre grösste Ausdehnung von 100—150 σ nach
etwa 30—35′ erreicht und dann einer langsamen Rückkehr zur Norm
Platz macht. Der Gang der Beobachtungsreihe ist in beiden Fällen
ein so typischer, dass die Zurückführung desselben auf die Morphium-
wirkung kaum bezweifelt werden kann. Der verschiedene Ausfall der
Versuche muss daher wol auf eine differente Beeinflussung derjenigen
psychischen Vorgänge bezogen werden, welche den Hauptbestandtheil
[169] der untersuchten Reactionsformen bilden. Wir würden somit zu dem
Schlusse kommen, dass durch das Morphium wahrscheinlich die Auf-
fassung äusserer Eindrücke erleichtert, die Ausführung von Wahlacten
dagegen erschwert wird.


Dieses Ergebniss stimmt sehr gut zu den Erwägungen, welche
ich im Anschlusse an die früheren Morphiumversuche niederschrieb,
bevor ich die neuen Versuche überhaupt angestellt hatte. Auffallend
erscheint nur der Widerspruch zwischen meinem jetzigen und dem
Wahlversuche vom 18. Mai 1882. Der geringen Beschleunigung von
26 σ damals steht die entschiedene Verlangsamung jetzt gegenüber.
Eine sichere Lösung dieses Widerspruches ist nur durch weitere Aus-
dehnung der Versuche möglich, die ich jetzt unterlassen muss. Immer-
hin spricht der Ausfall der älteren Reihe bei L. mehr zu Gunsten des
neuen Versuches. Es ist indessen keineswegs ausgeschlossen, dass
beide Versuchsreihen ein vollkommen fehlerfreies Ergebniss geliefert
haben. Berücksichtigen wir, dass die Wahlreaction neben der Wahl-
zeit auch noch eine Unterscheidungszeit enthält, die bei mir nicht viel
kleiner zu sein scheint, als jene, so ist es bei entgegengesetzter Be-
einflussung beider Bestandtheile offenbar möglich, dass unter besonderen,
einstweilen nicht näher bekannten Umständen einmal die eine, ein
anderes Mal die andere Wirkung die Oberhand gewinnt. Der Aus-
fall der beiden letzten Versuche spricht für eine solche entgegengesetzte
Beeinflussung des Unterscheidungs- und Wahlvorganges, für eine Be-
schleunigung des ersteren, eine Verlangsamung des letzteren. Die
Ausgiebigkeit dieser Wirkung überwiegt bei der Wahlreaction, die-
jenige jener bei der Wortreaction. Die Schwankungen der Werthe
mit einzelnen kurzen Zahlen bei den Wahlversuchen L. und K.
(21. III. 92), sowie das Einschieben des langen 5. Mittelwerthes in den
Wortreactionsversuch sprechen für den Kampf entgegengesetzter Ein-
flüsse bei diesen Reihen, von denen schliesslich der eine überwiegt.
Auch die Geringfügigkeit der Verkürzung in dem ersten Wahlversuche K.
trotz der subcutanen Einspritzung des Mittels stellt diese Beobachtung
in einen gewissen Gegensatz zu der Erfahrung mit Wortreactionen.
Nach allen diesen Erwägungen scheinen mir die Ergebnisse der letzten
beiden, mit besonderer Sorgfalt durchgeführten und eine Zahl von
5—600 Einzelbeobachtungen umfassenden Versuche volles Vertrauen
zu verdienen; jedenfalls ist der ältere Versuch K. nicht eindeutig
genug, um ihre Beweiskraft ernstlich zu erschüttern.


Der Gang der Schwankungen in den beiden neuen Morphium-
reihen ist ein zu unregelmässiger, um genauere Schlüsse zu gestatten.
[170] Immerhin hat es den Anschein, als ob das Morphium, anders als der
Thee, sehr bald eine etwas grössere Streuung der Beobachtungswerthe
herbeiführt, auch dort, wo er diese letzteren im Ganzen verkürzt.


d. Aether und Amylnitrit.


Wir haben nunmehr zum Schlusse noch einiger Versuche zu ge-
denken, welche als Ergänzung meiner früheren Beobachtungen über
die Inhalationsgifte anzusehen sind. Es lag mir daran, den Einfluss,
welchen Aether und Amylnitrit auf den Ablauf einfacher psychischer
Vorgänge gewinnen, auch auf dem Gebiete der Associationen zu ver-
folgen. Allerdings besitze ich über den Aether nicht mehr als vier
derartige Versuche, von denen der eine wegen unzweckmässiger Ver-
suchsanordnung noch dazu unbrauchbar ist, während mir über das
Amylnitrit nur eine einzige Beobachtungsreihe vorliegt. Reagirender
war überall ich selbst. In der Tabelle LXXV finden sich die Er-
gebnisse zusammengestellt. Das Sternchen bezeichnet den Beginn der
Einathmung.


Tabelle LXXV.


  • 2. VII. 83, Aetherinhalation, 3 Minuten 791 | *931 976 | 774
  • 9. VII. 83. Aether, 5 Minuten 827 | *962 1157 | 891 1053 | 1038 862 823
  • 8. II. 84, Aether, 3—4 Minuten 892 865 | *984 1038 935 931 | 872 791
  • 12. VII. 83, Amylnitrit, 1½ Minuten 833 | *923 809 834

In den 3 Aetherversuchen begegnet uns zunächst wieder die Ver-
längerung der psychischen Zeiten, wie sie durch die fortschreitende
Bewusstseinstrübung bedingt ist. Dieselbe dauert nach den Proto-
kollen im ersten Versuche etwa 10 Minuten, im dritten etwa 18 und
im zweiten etwa 30 Minuten an. Im zweiten Versuche war demnach,
der Dauer der Einathmung entsprechend, die Narkose am tiefsten,
im ersten am leichtesten. Beim ersten und dritten Versuche sehen
wir nach dem Ablaufe der Verlangsamung Zeiten auftreten, welche
sogar kürzer sind, als die Normalmittel, eine Erscheinung, die ganz
unseren Erfahrungen bei den einfacheren Reactionsformen entspricht.
Freilich ist diese Verkürzung im ersten Versuche nur geringfügig,
aber hier lag auch das Normalmittel schon auffallend niedrig. Ich
will dabei nicht unerwähnt lassen, dass ½ Stunde vor dieser Reihe
der oben erwähnte verunglückte Aetherversuch ausgeführt worden war
und somit hier eine nicht ganz unbedenkliche Complication vorlag,
[171] die übrigens bei allen späteren Versuchen stets vermieden wurde. Der
zweite Aetherversuch zeigt keine verwerthbare secundäre Beschleuni-
gung, wie wir sie auch früher bei tieferer Narkose stets vermisst haben,
doch war die Rückkehr zur Norm beim Abschlusse der Beobachtungen
vollkommen erreicht. Auffallend ist hier das Einschieben eines kürzeren
Werthes mitten in die Reihe hinein, allerdings nach einer 3 Minuten
dauernden Pause. Ein bestimmter Einfluss des Aethers auf den In-
halt der Associationen war nicht erkennbar.


Der Versuch mit Amylnitrit nahm im Ganzen etwa 17 Minuten
in Anspruch. Auf die Einathmung des Mittels folgte sofort eine Ver-
längerung der Associationszeiten, die allerdings weit geringer war, als
beim Aether. Ungefähr 5 Minuten nach dem Aufhören der Inhalation
war nicht nur die Verlangsamung wieder verschwunden, sondern es
trat jetzt sogar eine deutliche Beschleunigung des psychischen Vor-
ganges auf, die nach wenigen Minuten der Rückkehr zur Norm Platz
machte. Auch dieses Verhalten entspricht vollkommen den früher bei
der Untersuchung einfacher Reactionsformen von mir gemachten Be-
obachtungen. Qualitative Veränderungen der Associationen konnten
hier ebensowenig nachgewiesen werden, wie beim Aether.


[[172]]

V. Die centrale Wirkung der
Arzneimittel.


Sobald es uns auf irgend einem Gebiete naturwissenschaftlicher
Forschung gelungen ist, den Zusammenhang zweier Erscheinungen
durch sorgfältige und allseitige Prüfung mit voller Sicherheit festzu-
stellen, darf diese Sicherheit durch die Rücksicht auf das System unserer
bisherigen Erfahrungen weder erhöht noch vermindert werden. Nur
die Deutung einer wirklichen Thatsache kann sich nach dem Inhalte
der herrschenden Meinungen ändern; ihr Wesen soll wol diese letzteren
beeinflussen, nicht aber selbst durch sie berührt werden. Anders liegt
die Sache dort, wo wir es nicht mit unverrückbar feststehenden Be-
obachtungsergebnissen, sondern, wie auf psychischem Gebiete zumeist,
mit mehr oder weniger schwankenden, theilweise einander wider-
sprechenden Versuchsresultaten zu thun haben. Hier wird nicht selten
der eine oder der andere Schluss aus unsern Wahrnehmungen dadurch
an Sicherheit gewinnen, dass er sich in die aus den Grundthatsachen
abgeleitete Gesammtanschauung widerspruchslos einordnet. Ja, wir
werden sogar in die Lage kommen können, von zwei nach dem reinen
Erfahrungsmateriale gleichberechtigten Möglichkeiten der einen den
Vorzug zu geben, weil sie am besten in das Bild hineinpasst, welches
wir uns von den untersuchten Vorgängen zusammengesetzt haben.
Unter diesem Gesichtspunkte wird es nützlich sein, nunmehr uns klar
zu machen, wie weit sich alle die in den früheren Abschnitten aus
den Beobachtungen gezogenen Folgerungen zu einheitlichen Anschau-
ungen verarbeiten lassen, oder wie weit sich Widersprüche ergeben,
deren Lösung nur durch Fortsetzung der Experimente geschehen kann.
Den Ausgangspunkt bei diesen Betrachtungen werden naturgemäss
[173] diejenigen Ergebnisse unserer Untersuchung bilden, welche den grössten
Grad von Sicherheit darbieten; die zweifelhaften Resultate sollen nur
in dem Masse verwerthet werden, wie sie sich mit jenen und unter-
einander in wesentlicher Uebereinstimmung befinden.


a. Alkohol.


Wenden wir uns dabei zunächst dem Verhalten des Alkohols zu,
so darf als das sicherste Ergebniss nahezu aller Versuche die That-
sache betrachtet werden, dass jenes Mittel in grösseren Gaben, von
etwa 30—45 gr an, sämmtliche überhaupt von uns untersuchte psy-
chische Vorgänge in mehr oder weniger erheblichem Grade erschwert.
Die einzige beachtenswerthe Ausnahme würden allenfalls die Reime
sein, welche anscheinend fortschreitend erleichtert wurden, doch ist
der eine vorliegende Versuch nicht beweiskräftig genug. Für alle
übrigen Functionen gilt der Satz jedenfalls ohne Einschränkung.
Die Dauer der Erschwerung steigt anscheinend mit der Alkoholgabe,
hängt auch wol etwas von der augenblicklichen Disposition und von
der Individualität ab. Bei den grössten von mir angewandten Gaben
(60 gr) ist die Erschwerung der psychischen Functionen, die sich sub-
jectiv durch ein mehr oder weniger starkes Ermüdungsgefühl ankündigt,
nach 1—2 Stunden noch sehr deutlich, während sie sich bei kleineren
Gaben schon nach 40—50 Minuten verlieren kann, bisweilen ziemlich
rasch und dann meist sehr vollständig. Da auch die Schwankungen
der Arbeitsleistung während dieses Zustandes entschieden zuzunehmen
pflegen, so ähnelt derselbe symptomatisch in hohem Masse demjenigen der
physiologischen Ermüdung, der ebenfalls ganz allgemein durch Abnahme
und Unregelmässigkeit der psychischen Arbeit gekennzeichnet wird.


Diese Aehnlichkeit wird noch vergrössert durch den Umstand,
dass gewisse qualitative Veränderungen im Inhalte der Associa-
tionen beiden Zuständen gemeinsam sind. Dahin gehört in erster
Linie die Zunahme der äusseren Associationen, dann aber das häufigere
Auftreten derselben Vorstellungen, *) eine Erscheinung, die sich uns
bisweilen beim Schreiben oder Sprechen in ermüdetem Zustande durch
die unwillkürliche stereotype Wiederkehr derselben Worte und Wen-
dungen sehr unangenehm bemerkbar macht. In noch ausgeprägterer
[174] Weise begegnet man ihr bei gewissen Formen der Neurasthenie und
namentlich auch in schwereren Erschöpfungspsychosen. Beim Brief-
schreiben ist hier die Unfähigkeit, sich von den Eingangsphrasen los-
zumachen, oft noch zu einer Zeit sehr auffallend, in welcher alle
übrigen Andeutungen leichter Ermüdbarkeit schon ganz in den Hinter-
grund getreten sind. Endlich haben uns auch die Erfahrungen bei
der Zeitschätzung gezeigt, dass sich die Grundzüge der Alkoholwirkung,
Steigerung der Anfangs- und rasches Sinken der Endwerthe jeder
Versuchsgruppe, freilich in viel weniger markirter Form, bei der nor-
malen Ermüdung wiederfinden lassen.


Trotz dieser grossen Analogien zwischen physiologischer und Alkohol-
ermüdung besteht ein sehr wichtiger und völlig durchgreifender Unter-
schied. Die Alkoholermüdung schwindet, auch wenn die betreffende Ar-
beitsleistung ohne Unterbrechung fortgesetzt wird, während die physio-
logische Ermüdung nicht anders als durch die Erholung, das Ausruhen be-
seitigt werden kann. Natürlich können wir diesen Unterschied nur bei
mittleren oder kleinen Alkoholgaben feststellen. Bei grösseren Dosen
dauert die Ausgleichung der Wirkung so lange, dass nunmehr bei fortge-
setzter Arbeit nothwendig die physiologische Ermüdung zur alkoholischen
sich hinzugesellt, diese letztere in wachsender Stärke überdauert und da-
durch das Bild trübt. Wählt man jedoch kleinere Alkoholgaben, so gelingt
es bei nicht sehr anstrengender geistiger Arbeit ohne Schwierigkeit,
den völligen Nachlass der Alkoholwirkung und die Rückkehr der nor-
malen Leistungsfähigkeit zu beobachten, zu einer Zeit, wo die physio-
logische Ermüdung noch zu schwach ist, um eine nennenswerthe Er-
schwerung der Arbeitsleistung zu bedingen. Dieses Verhalten beweist
sicherer, als alle theoretischen Erwägungen, dass die physiologische
und die Alkoholermüdung nicht identische, sondern nur ähnliche Zu-
stände sind. In beiden Fällen bildet sich offenbar eine Lähmung der
psychischen Functionen aus, aber dieselbe hat dort einen fortschreiten-
den, hier einen vorübergehenden Charakter. Das begreift sich nach
den landläufigen Anschauungen über die Ermüdung sehr leicht. Die
Anhäufung jener lähmenden Stoffe, welche die physiologische Ermüdung
bedingen, geschieht durch die Fortdauer der Arbeit in kleinen Dosen
ununterbrochen, während die einmalige Alkoholgabe nach verhältniss-
mässig kurzer Zeit zersetzt oder wieder aus dem Körper herausge-
schafft wird. Hier haben wir daher rasche, intensive, aber sich wieder
ausgleichende, dort langsame, weit schwächere, aber zunehmende
Wirkung. Möglicherweise liegt gerade in dieser Verschiedenheit der
Dosirung, wenn der Ausdruck erlaubt ist, der wesentliche Differenz-
[175] punkt zwischen beiden Zuständen. Dann müsste sich etwa ihr gegen-
seitiges Verhältniss umkehren, wenn wir den Einfluss einer einmaligen,
kurzdauernden, sehr starken geistigen Anstrengung mit demjenigen
häufig wiederholter ganz kleiner Alkoholgaben vergleichen würden. Die
specifische Giftwirkung der in Betracht kommenden Stoffe würde dann
bei der Entstehung des Lähmungszustandes keine weitere charakte-
ristische Rolle spielen. Wir werden später noch Gelegenheit haben,
diese Frage zu streifen.


Kaum weniger gesichert, als die Erschwerung fast aller von mir
untersuchten psychischen Vorgänge, ist die Erfahrung, dass unter ge-
wissen Bedingungen jener Erschwerung eine vorübergehende Erleich-
terung
vorausgeht. Dieses Stadium der Alkoholwirkung beginnt be-
reits wenige Minuten nach dem Genusse des Mittels und dauert im
Allgemeinen höchstens 20—30 Minuten, um dann der soeben be-
sprochenen Erschwerung der psychischen Leistungen Platz zu machen.
Dauer und Ausdehnung der Arbeitserleichterung sind in sehr deut-
licher Weise von der Grösse der Alkoholdosis abhängig. Je grösser
unter sonst gleichen Umständen die Gabe des Mittels, desto geringer
und flüchtiger das erste Stadium seiner Wirkung. Es liegt daher die
Annahme nahe, dass möglicherweise die Aufeinanderfolge der beiden
Stadien uns nichts Anderes zeigt, als die Wirkung kleinerer und
grösserer Alkoholgaben. Da die Resorption des Mittels nicht plötz-
lich, sondern innerhalb eines gewissen Zeitraumes erfolgt, würden zu-
nächst die Folgeerscheinungen sehr kleiner Gaben auftreten, um all-
mählich durch diejenigen grösserer Mengen abgelöst zu werden. Unter
diesem Gesichtspunkte würde sich ergeben, dass die Erleichterung
der psychischen Vorgänge nur bei sehr geringen Alkoholdosen eintritt.
In dem auf p. 579 meiner früheren Abhandlung *) graphisch dar-
gestellten Versuche folgt schon bei einer Gabe von 7,5 gr Alkohol
auf die anfängliche Verkürzung der Reactionen eine spätere Ver-
längerung. Die Gabe, welche nur Erleichterung ohne nachfolgende
Erschwerung erzeugte, müsste demnach, wenn die oben gemachte An-
nahme überhaupt zutrifft, jedenfalls geringer sein, als 7,5 gr. Aller-
dings dürfte es bei den vielfachen Fehlerquellen derartiger Unter-
suchungen recht schwierig sein, die Wirkungsweise ganz kleiner Dosen
mit einiger Sicherheit festzustellen.


Mit wachsender Gabe tritt die Erschwerung der psychischen Arbeit
immer schneller ein, wol deswegen, weil bei stärkerer Concentration
[176] der Lösung rasch grössere Mengen des Mittels aufgesogen werden.
Bei 45 bis 60 gr ist das Auftreten einer anfänglichen Erleichterung
als seltene Ausnahme zu betrachten; in der Regel macht sich hier die
rasch zunehmende Erschwerung von vornherein geltend. Es ist in-
dessen zu bemerken, dass die absolute Grösse der Alkoholgaben nicht
allein massgebend ist; überall kommt ausserdem noch der Zustand
der Versuchsperson in Betracht, sowol ihre allgemeinen individuellen
Eigenthümlichkeiten, wie ihre augenblickliche Disposition. Nach der
ersteren Richtung hin werden wir später noch eingehende Betrach-
tungen anzustellen haben; hier sei nur bemerkt, dass bei einzelnen
Personen schon solche Alkoholgaben ausschliesslich die erschwerenden
Wirkungen zur Folge hatten, welche bei Anderen noch eine deutliche
anfängliche Erleichterung erzeugten. Die Wichtigkeit der jeweiligen Dis-
position ergiebt sich u. A. aus meinen beiden Wahlversuchen mit 60 gr, bei
deren einem sich unter dem Einflusse lebhafter psychischer Erregung eine
beträchtliche anfängliche Erleichterung entwickelte, während der andere
von vornherein die erwartete fortschreitende Reactionsverlangsamung dar-
bot. Umgekehrt kann stärkere Ermüdung die Erleichterung der Arbeits-
leistung schon bei solchen Gaben verhindern, bei denen eine günstigere
Disposition diese Erscheinung noch zur Ausbildung gebracht hätte.


Von weit grösserem Interesse jedoch als diese Abweichungen
im Ausfalle der Versuche je nach der Alkoholdosis und dem Zu-
stande der Versuchsperson scheint mir die verschiedenartige
Beeinflussung der einzelnen psychischen Leistungen

zu sein. Hier treten uns Differenzen entgegen, die entschieden ge-
eignet sind, ein gewisses Licht nicht nur auf die feineren Alkohol-
wirkungen, sondern auch auf das Wesen jener Vorgänge selbst zu
werfen. Die Erscheinung einer anfänglichen Erleichterung begegnet
uns nicht überall bei kleineren Alkoholdosen, sondern nur bei ganz
bestimmten Leistungen, und auch hier wieder in sehr verschiedener
Ausbildung. Wir haben sie angetroffen bei sämmtlichen einfacheren
Reactionsformen, bei den Dynamometerversuchen, beim Lesen, beim
Auswendiglernen, und zwar hier sowol hinsichtlich der Grösse der
Arbeitsleistung als auch der Wiederholungsgeschwindigkeit. Sie fehlt
gänzlich bei den Associationen, abgesehen von der immerhin zweifel-
haften Ausnahme der Reime, sowie beim Rechnen, wahrscheinlich auch
bei der Zeitschätzung. Am stärksten ist die anfängliche Erleichterung
entwickelt beim Lesen und bei den einfachen Reactionen, weniger bei
der Wiederholungsgeschwindigkeit, bei den Wahlreactionen, bei den
Dynamometerversuchen, beim Lernen, am geringsten und kaum nach-
[177] weisbar bei den Unterscheidungsreactionen. Die verschiedenen psychi-
schen Leistungen sind somit dem erleichternden Einflusse des Alkohols
in sehr verschiedenem Grade zugänglich. Während die einen auch
bei kleinen Dosen gar keine oder doch nur ganz verschwindende Er-
leichterung erfahren, erhält sich diese Wirkung bei den anderen auch
für grössere Gaben, erreicht höhere Beträge und dauert längere Zeit
an. Allerdings vermögen wir aus den Versuchen nach allen diesen
Richtungen hin keine absolute und durchgreifende Gesetzmässigkeit
zu erkennen; vielmehr haben wir überall kleine Unregelmässigkeiten
und Abweichungen zu verzeichnen. Allein die von uns untersuchten
Vorgänge sind auch keineswegs einfache, sondern meistens sogar recht
verwickelte. Verschiedenartige Componenten setzen sich hier zu Ge-
sammtleistungen zusammen, deren Dauer bald von diesem, bald von
jenem Bestandtheil überwiegend bestimmt wird. So kann es uns auch
nicht Wunder nehmen, wenn, selbst abgesehen von den Fehlerquellen
der individuellen und augenblicklichen Disposition, der Ausfall der
Versuche nicht jene unverbrüchliche Regelmässigkeit darbietet, welche
man bei der Untersuchung vollkommen einfacher Vorgänge auch auf
psychischem Gebiete erwarten sollte.


Immerhin werden uns die Verschiedenheiten in der Beeinflussung
der einzelnen Leistungen zu dem Versuche auffordern, aus ihnen einen
Einblick in die besonderen Eigenthümlichkeiten der Alkoholwirkung
zu gewinnen. Der grösste Gegensatz besteht offenbar zwischen der
Beeinflussung der Associationen und des Rechnens einerseits und der-
jenigen des Lesens andererseits. Die beiden erstgenannten Vorgänge
sind im Wesentlichen gleichartige. An einen äusseren Eindruck, der
dort durch das Gehör, hier durch das Gesicht einwirkt, schliesst sich
in beiden Fällen eine Vorstellung an, die beim Associiren aus der
individuellen Gestaltung der Vorstellungsverbindungen hervorgeht, beim
Rechnen dagegen durch die Vorstellung der bis dahin erreichten
Summe nach Massgabe eingelernter Denkgewohnheit fest bestimmt ist.
Wie weit dieser Unterschied für die Alkoholwirkung in Betracht
kommt, vermag ich um so weniger zu sagen, als die Associations-
versuche nach der intermittirenden, die Rechenversuche dagegen nach
der fortlaufenden Methode angestellt wurden. Jedenfalls steht so viel
fest, dass wir es hier überall mit rein intellectuellen Vorgängen zu
thun haben, mit der Auffassung äusserer Eindrücke und dem asso-
ciativen Auftauchen neuer Vorstellungen. Bei den Associations-
versuchen allerdings findet ausserdem noch ein Wahlact statt, insofern
die neue Vorstellung auch benannt und ausgesprochen wird. Ja, es
Kraepelin, Beeinflussung. 12
[178] ist nicht unwahrscheinlich, dass wenigstens bei manchen Versuchs-
personen auch die einzelne Addition erst durch die leise Innervation
jener Muskeln abgeschlossen wird, welche die neugewonnene Summen-
zahl im Sprachlaute wiedergeben. Allein dieser motorische Act spielt
doch für die gemessenen Zeiten eine sehr geringe Rolle. Durch die
Anwendung des Lippenschlüssels signalisirt sich bei den Associations-
versuchen schon der erste Beginn der wirklichen Sprechbewegung, so
dass die betreffende Reactionszeit nur noch die sprachliche Wahlzeit,
nicht aber den Ablauf der Muskelcontractionen in sich schliesst. Beim
Rechnen überdecken sich wahrscheinlich die einzelnen Vorgänge gegen-
seitig, so dass die Auffassung der folgenden Zahlen bereits beginnen
kann, wenn die Innervation der Sprachmuskeln noch nicht ganz ab-
geschlossen ist.


Gegen diese Auffassung spricht nicht der Umstand, dass die
Dauer der einzelnen Association, wie sie sich aus den Rechenver-
suchen feststellen lässt, hier doch nicht kleiner, sondern etwas grösser
ist, als die aus der intermittirenden Methode gewonnenen Zahlen.
Für Dehio hat sich bei seinen früheren Theeversuchen die Normal-
dauer der Addition einer einstelligen, durch das Gehör aufgefassten
Zahl auf 770 σ gestellt. Berücksichtigen wir die zwei ersten Mittel-
werthe aller seiner Rechenversuche nach fortlaufender Methode, so
würde jener Vorgang dabei im Mittel etwa 1115 σ in Anspruch ge-
nommen haben. Dabei ist indessen zu bedenken, einmal dass die Auf-
gabe hier wegen der bis gegen 100 ansteigenden Summen eine ungleich
schwierigere war, und ferner, dass bei der fortlaufenden Arbeit sich
in Folge von Aufmerksamkeitsschwankungen ganz nothwendig zahlreiche
kürzere und längere Pausen einschieben, die natürlich in dem Rech-
nungsergebniss als Arbeitszeit miterscheinen. Unter diesen Umständen
muss es sogar auffallen, dass der Unterschied zwischen den beiden
angeführten Zahlen kein grösserer ist, zumal wenn man bedenkt, dass
der ältere Werth Dehio’s wegen der damals geübten Traut-
scholdt
’schen Signalisirmethode jedenfalls noch relativ zu klein ist.
Freilich lassen sich beide Versuchsgruppen auch wegen der verschiedenen
Entstehungsart der Reize nicht ohne Weiteres mit einander ver-
gleichen.


Die reine Dauer der Wahl zwischen den sprachlichen Inner-
vationen für 26 einsilbige Wörter hat Cattell bei 2 Versuchspersonen
auf 58 resp. 77 σ festgestellt. Vergleicht man diese Zahlen mit der
ganzen Dauer einer Associationsreaction oder Addition, so ergiebt sich
unmittelbar, dass bei Weitem der grösste Theil dieser Zeiten eben
[179] nicht auf die Innervation, sondern auf die übrigen Bestandtheile jener
Vorgänge entfällt. Wir haben daher ein Recht, die Beeinflussung
dieser letzteren durch den Alkohol vor Allem auf die Wahrnehmung
des äusseren Eindrucks
und das Auftauchen der Associa-
tionen
zu beziehen. Diese beiden Acte sind es demnach, durch deren
Erschwerung vornehmlich oder ausschliesslich jene Verlangsamung der
Arbeitsleistung bedingt wird, welche wir beim Rechnen wie bei den Asso-
ciationsversuchen so regelmässig von Anfang an und schon bei Alko-
holdosen von 20 gr sich entwickeln sahen. Es wäre allerdings
möglich, dass auch hier noch gewisse Verschiedenheiten beständen.
Der Associationsvorgang selbst nimmt bei allen hier besprochenen Ver-
suchen ohne Zweifel die längste Zeit in Anspruch. Bei Dehio beträgt
z. B. die Dauer der gesammten Wortreaction nur 388 σ, so dass auf
die Addition durchschnittlich 382 σ entfallen würden. Die Wort-
unterscheidungszeit ist für Dehio leider nicht untersucht worden, doch
können wir uns nach analogen Werthen Cattell’s ungefähr ein Ur-
theil über ihre Dauer bilden. Dieser Forscher fand nämlich die ganze
Wortreactionszeit für zwei Beobachter 372 resp. 439 σ. Davon ent-
fielen auf die reine Wortunterscheidung 146 resp. 192 σ. Für die
gleichen Personen ermittelte er als reine Additionszeiten 221 resp. 336 σ.
Diese letzteren sind somit etwa 50—75% grösser, als die Wort-
unterscheidungszeiten. Bei den sonstigen Associationen verschiebt sich
dieses Verhältniss zu Ungunsten der Auffassungszeiten noch sehr er-
heblich, da die Addition zu den am [allerschnellsten] ablaufenden
Associationsvorgängen gehört.


Es wäre somit denkbar, dass die Verlangsamung durch den Alkohol
wesentlich diesen überwiegenden Bestandtheil der hier untersuchten
psychischen Acte beträfe, während die Auffassung des äusseren Ein-
druckes gar nicht oder selbst im entgegengesetzten Sinne beeinflusst
würde. Gegen diese letztere Annahme spricht mit grosser Ent-
schiedenheit der Ausfall der einfachen Unterscheidungsversuche, soweit
dieselben überhaupt verwerthbar sind. Trotzdem durch den Alkohol,
worauf wir später zurückzukommen haben, die Neigung zu vorzeitiger
Reaction erzeugt wird, die vielleicht auch in meinen Versuchen nicht
gänzlich fehlte, so zeigte sich hier doch überall, ganz wie bei den
Associationen, von vornherein eine sehr deutliche Reactionsver-
langsamung. Da dieses Ergebniss zu demjenigen der einfachen Reac-
tionsversuche im Gegensatze stand, konnte dasselbe nur auf das hier
neu hinzutretende Element der Unterscheidung bezogen werden. Wir
werden uns demnach auch in den Associations- und Rechenversuchen
12*
[180] nicht nur das Auftauchen der neuen Vorstellung, sondern auch die
Auffassung des äusseren Eindrucks verlangsamt zu denken haben.


Andererseits geht es übrigens auch nicht wol an, die Erschwerung
der Arbeitsleistung in jenen Versuchen etwa lediglich auf die Auf-
fassung zu beziehen. Freilich lässt sich ein bestimmter Beweis dafür
aus unsern Versuchszahlen nicht so leicht erbringen, wie man anneh-
men sollte. Offenbar käme es darauf an, zu zeigen, dass die Asso-
ciationsreactionen in erheblicherem Masse verlangsamt würden, als die
Unterscheidungsreactionen. Die Hauptmasse meiner Associationsver-
suche, diejenigen nach der Wiederholungsmethode, ist für diesen
Vergleich nicht zu verwerthen. So bliebe nur der eine ältere Asso-
ciationsversuch auf p. 52 übrig, bei dem eine geringe Verlängerung
von 23 σ nach einer voraufgehenden Verkürzung beobachtet wurde.
Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass die Zahlen dieses
Versuches wegen der unsicheren Reactionsart unbrauchbar sind; auch
andere Gründe, die ich hier nicht mehr einzeln aufführen will, warnen
vor einem Vergleiche. Es ist indessen möglich, aus den Rechenver-
suchen ein Urtheil über die Ausgiebigkeit der Verlangsamung durch
den Alkohol zu gewinnen. Vergleichen wir die Dauer der einzelnen
Addition zur Zeit der grössten Erschwerung durch den Alkohol mit
der mittleren Additionszeit vor Einverleibung des Mittels, so stieg
jener Werth in dem Versuche mit 30 gr von 1235 auf 1345 σ, in dem
Versuche mit 20 gr von 1181 σ auf 1310 σ. Die Verlängerung des
einzelnen Actes betrug demnach 110 resp. 129 σ. Bei den Unter-
scheidungsversuchen dagegen stieg die Reactionsdauer für 30 gr nur
um 51, für 45 gr um 55 und für 60 gr um 60 σ. Wir dürfen daher
mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass schon der sehr einfache
Vorgang der Addition für sich mindestens noch ebenso sehr verlang-
samt wird, wie die unterscheidende Auffassung eines äusseren Ein-
druckes. Verwickeltere Associationen dürften wol noch mehr erschwert
werden, wenn ich auch jetzt den Nachweis dafür nicht erbringen
kann.


Wesentlich anders, als die bisher betrachteten Vorgänge, setzt
sich die Arbeit des Lesens zusammen. Auch hier handelt es sich
freilich um die Auffassung sinnlicher Eindrücke und die daran sich
anschliessende Auslösung von Bewegungen. Allein wir messen bei
der fortlaufenden Methode thatsächlich nur das flüsternde Aussprechen
der Silben. Die beiden Vorgänge der Wahrnehmung und der Muskel-
bewegung laufen hier in der Weise neben einander her, dass der erstere
[181] ohne Unterbrechung den letzteren vorbereitet und somit keinerlei andere
Pausen in dem flüsternden Lesen entstehen, als diejenigen, welche durch
das Athmungsbedürfniss bedingt werden. Nach Cattell’s Unter-
suchungen betrug die reine Unterscheidungszeit für 3—6 silbige eng-
lische Wörter bei zwei Beobachtern 154 resp. 158 σ. Nehmen wir,
wie es der Wirklichkeit entspricht, an, dass jene Wörter im Durch-
schnitte 4,5 Silben besassen, so hätte die Unterscheidungszeit für jede
Silbe etwa 34 resp. 35 σ betragen. Das Aussprechen einer Silbe da-
gegen nahm, nach Ausweis der beiden ersten Normalmittel aller Lese-
versuche, bei K. etwa 144, bei De. 125 σ in Anspruch, also 3—4 Mal
so lange Zeit, als die Unterscheidung. Unter diesen Umständen konnte
die Auffassung des Lesestoffes ohne Schwierigkeit dem viel langsameren
Aussprechen der Worte voraneilen, so dass die gemessenen Zahlen-
werthe nur die Geschwindigkeit der Sprachbewegung wiedergeben
und von dem Ablaufe des Wahrnehmungsvorganges nahezu oder völlig
unabhängig sind.


Dem Gegensatze in der Alkoholwirkung entspricht somit auch ein
Gegensatz in der Function, deren Dauer wir im Versuche bestimmen.
Beim Rechnen und Associiren war es die Auffassung und intellec-
tuelle Verarbeitung des Eindruckes, welche den wesentlichsten Theil
der gemessenen Zeiten in Anspruch nahm; hier ist es vielmehr die
Innervation der Sprachmuskeln und der Ablauf ihrer Bewegung. Daraus
ergiebt sich der unausweichliche Schluss, dass der Alkohol verschiedene
psychische Functionen in verschiedener Weise beeinflusst, dass er die
sensorischen und intellectuellen Vorgänge von vornherein er-
schwert, die motorischen zunächst wenigstens erleichtert. Bevor wir
indessen diese Folgerung in so allgemeiner Form anerkennen, wird es
nothwendig sein, sich an der Hand der übrigen Versuchsergebnisse zu ver-
gewissern, ob sich der formulirte Gegensatz in der Alkoholwirkung
auch sonst in der gleichen Weise wieder auffinden lässt. Ich kann
dabei zunächst auf den Umstand hinweisen, dass ich schon in meiner
früheren Arbeit, allerdings noch ohne meinen Annahmen volle
Sicherheit geben zu können, zu einem ganz ähnlichen Schlusse ge-
kommen war. Schon damals schien mir der Wahlact mehr dem be-
schleunigenden, der Unterscheidungsact mehr dem verlangsamenden
Einflusse des Alkohols zugänglich zu sein. Auch in der jetzigen
Darstellung spiegeln die Versuche über Unterscheidungs- und Wahl-
reactionen dieses Verhalten wider, insofern bei den letzteren die an-
fängliche Verkürzung mehrfach nachweisbar ist, bei jenen ersteren da-
gegen nicht. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass auch die
[182] Wahlreactionen ja die Unterscheidung in sich schliessen, und dass
daher die Erschwerung dieses Elementes bis zu einem gewissen Grade
die angenommene Erleichterung des Wahlactes ausgleichen und sogar
überwiegen kann. Wenn wir trotzdem bei den Wahlreactionen deut-
liche anfängliche Verkürzungen beobachten, so haben dieselben eine
ganz besondere Beweiskraft; sie würden ja offenbar noch viel beträcht-
licher sein, wenn es möglich wäre, den Wahlact losgelöst von der
Unterscheidung zu messen.


Vielleicht giebt uns diese Ueberlegung einen Fingerzeig für die Er-
klärung der Erfahrung, dass die einfache Reaction anscheinend in noch
höherem Masse der verkürzenden Wirkung des Alkohols unterworfen ist, als
selbst die Wahlreaction. In dieser letzteren nimmt bei mir selbst,
soweit sich das durch Vergleichung der verschiedenen Reactionsformen fest-
stellen lässt, der Unterscheidungsact ungefähr die gleiche Zeitdauer in
Anspruch, wie die Wahl. gleich grosse, aber entgegengesetzte Ein-
flüsse auf diese beiden Bestandtheile könnten sich somit recht wol
annähernd aufheben. Würde nun in der einfachen Reaction der mo-
torische Bestandtheil, die Auslösung der Bewegung, an zeitlicher
Dauer beträchtlich über die Auffassung des Reizes überwiegen, so
wäre es verständlich, dass hier die Verkürzung durch den Alkohol
verhältnissmässig stärker hervortritt.


Es liegt indessen wol näher, noch eine andere Thatsache hier zur
Erklärung heranzuziehen, der wir früher vielfach begegnet sind, die Erschei-
nung der vorzeitigen Reactionen. Dieselbe bedeutet nichts Anderes, als den
Uebergang der sensorischen Reactionsweise in eine extrem musculäre.
Die Auslösung der Reactionsbewegung ist so weit vorbereitet, dass
schon der geringste äussere und innere Anlass, ein zufälliger Reiz,
die lebhafte Erwartung des Eindruckes für einen bestimmten Augen-
blick, genügt, um die innere Spannung in Erregung überzuführen.
Durch die Einwirkung des Alkohols wird diese Umsetzung offenbar
sehr erleichtert, denn wir sehen sogar bei den Unterscheidungsreac-
tionen trotz eifrigen Bemühens der Versuchspersonen bisweilen den
sensorischen Act einfach fortfallen. Gerade diese Erfahrung ist eine
ausserordentlich wichtige Bestätigung der oben gezogenen Schluss-
folgerung, dass die Entstehung motorischer Vorgänge durch den Al-
kohol besonders begünstigt werde. Bei der einfachen Reaction besteht
für den Uebergang in solche vorzeitig ausgelösten Bewegungen kein
bestimmtes Hinderniss, während sich dieser Vorgang bei den Wahl-
versuchen gewöhnlich durch Fehlreactionen kundgeben wird. Wenn
daher hier die Unterscheidung regelmässig rechtzeitig vollzogen werden
[183] muss, könnte dort die Wahrnehmung des Reizes vielfach erst nachträglich
erfolgen; die Verkürzung der ganzen Reactionsdauer könnte also auch
dann sehr viel deutlicher hervortreten, wenn an sich der Wahrneh-
mungsvorgang in derselben einen erheblichen Raum einnähme und
durch den Alkohol noch dazu verlangsamt würde. Freilich handelte
es sich dann nicht mehr um wirkliche Reactionen, aber wir besitzen
kein Mittel, um rudimentäre vorzeitige Reactionen mit Sicherheit als
solche zu erkennen.


In einem gewissen Widerspruche zu den hier angestellten Ueber-
legungen scheinen auf den ersten Blick die Ergebnisse der Dynamo-
meterversuche zu stehen. Man sollte erwarten, dass hier, wo es sich
gar nicht um die Wahrnehmung eines äusseren Eindruckes, sondern
nur um die Auslösung eines Willensimpulses handelt, die Erleichterung
dieses letzteren Vorganges sich in besonders deutlicher Weise geltend
machen müsse. Statt dessen liefert uns das Dynamometer nur bei
einer Versuchsperson eine sehr mässige anfängliche Steigerung der
Druckwerthe, während bei dem gegen Alkohol empfindlicheren De.
eine solche überhaupt nicht nachzuweisen ist. Wir müssen indessen
dabei berücksichtigen, dass in diesen Versuchen etwas ganz Anderes
gemessen wird, als in den bisher besprochenen. Dort handelte es sich
um die Geschwindigkeit, mit welcher Impulse ausgelöst werden
und Bewegungen ablaufen, hier dagegen um die Kraft, welche die
Muskeln entwickeln. Es ist sehr wol möglich und sogar von vorn-
herein einigermassen wahrscheinlich, dass diese beiden Seiten des mo-
torischen Actes nicht in gleichem Masse durch den Alkohol beeinflusst
werden. Aus unseren Versuchen würde sich ergeben, dass zwar die
Schnelligkeit, mit welcher der gesammte Bewegungsvorgang sich ab-
spielt, deutlich gesteigert ist, dass aber die Kraftleistung nur ganz
vorübergehend, bei kleineren Gaben und bei geringer Empfindlichkeit
gegen das Mittel eine Zunahme erfährt, die sehr bald einer erheb-
lichen Herabsetzung Platz macht.


Eine Bestätigung findet die bisher gewonnene Auffassung in dem
Verhalten der Wiederholungen beim Auswendiglernen. Wir haben
früher gesehen, dass die Geschwindigkeit derselben, wenigstens bei
kleineren Alkoholdosen (20 gr), in der Regel zunimmt. Diese Erfah-
rung steht in vollem Einklange mit dem Ergebnisse der Leseversuche.
In der That handelt es sich ja auch in beiden Fällen um den gleichen
Vorgang, da wir überall die Zahl der Silben messen, welche in einer
bestimmten Zeit ausgesprochen wurden. Es ist also hier wiederum
ein motorischer Vorgang, dessen Ablaufsgeschwindigkeit wir messen
[184] und beschleunigt finden; die Auffassungszeit kommt dabei um so
weniger in Betracht, als die Wiederholungen an sich nicht mit maximaler
Geschwindigkeit ausgeführt wurden, wie das Lesen, sondern sehr viel
langsamer. Gerade aus diesem Grunde aber ist der Ausfall der Lern-
versuche besonders interessant. Bei allen bisher besprochenen psycho-
metrischen Aufgaben bestand für die Versuchsperson von vornherein
die Forderung, möglichst rasch zu arbeiten. Die Beschleunigung der
motorischen Acte könnte daher überall wesentlich darauf bezogen
werden, dass der Ablauf der Muskelbewegung selbst durch den Alko-
hol erleichtert würde. Das allgemeine und fortdauernde Bestreben,
die motorische Aufgabe mit maximaler Geschwindigkeit zu lösen,
würde damit einfach ein rascher arbeitendes Werkzeug gefunden haben.
Für die Deutung des Verhaltens der Wiederholungen reicht indessen
diese Annahme nicht aus. Hier wurde durchaus nicht mit grösst-
möglicher Schnelligkeit gesprochen. Die Schwerfälligkeit unseres
musculären Apparates bildete nicht das wesentliche Hinderniss für
eine Steigerung der Geschwindigkeit, wie beim raschen Lesen, und ein
beschleunigter Ablauf des Sprechactes an sich konnte daher auch
nicht eine Zunahme der Wiederholungen in der Zeiteinheit bedingen.
Diese Wirkung des Alkohols kann nicht den Vorgang der Muskel-
contraction und auch kaum denjenigen der Coordination motorischer
Antriebe betreffen, sondern hier muss es sich wol um die erleichterte
Auslösung von Impulsen
selber handeln, um eine beschleunigte
Umsetzung centraler Erregungen in centrifugale. Nur unter dieser Vor-
aussetzung ist es verständlich, dass nicht nur, wie beim Lesen, die
Sprechzeit der einzelnen Silbe abnimmt, sondern dass ausserdem auch
die Geschwindigkeit ihrer Aufeinanderfolge wächst, trotzdem hier
die Aufgabe nicht schnelles Wiederholen, sondern nur schnelles
Lernen fordert.


Ein genaueres Studium dieser Verhältnisse hätte vor Allem den
Ablauf der Muskelzuckung unter der Einwirkung des Alkohols zu be-
rücksichtigen. Es wäre natürlich möglich, dass sich auch hier eine Be-
schleunigung fände, doch würde sie keinesfalls allein genügen, den Aus-
fall der Lernversuche hinsichtlich der Wiederholungen zu erklären. Viel-
leicht spricht übrigens gerade der Umstand, dass beim Lesen die Erleich-
terung durch den Alkohol deutlicher und bei höherer Dosis hervortritt, als
beim Wiederholen, dafür, dass ausser der besprochenen centralen Wirkung
auch noch eine solche auf die Coordination oder den Ablauf der Muskel-
bewegung stattfindet, welche für sich schon eine Steigerung der maxi-
malen Lesegeschwindigkeit herbeiführen könnte. Wir dürfen indessen
[185] nicht ausser Acht lassen, dass beim Wiederholen die eigentliche Auf-
gabe nach einer ganz anderen Richtung hin gelegen war und somit
diese letzteren Versuche nicht ohne Weiteres mit den Lesever-
suchen in quantitativer Beziehung verglichen werden dürfen.


Nicht geringe Schwierigkeiten setzen für die erste Betrachtung die
Lernversuche einer Einordnung in die bisher gewonnenen Anschauungen
entgegen, wenn wir die Menge der geleisteten Lernarbeit in’s Auge
fassen. Wie wir gesehen haben, ist der Ausfall jener Versuche in
diesem Punkte ein sehr verschiedener. Bei einer Gabe von 20 gr
zeigten K., He., De. und Da. eine anfängliche Zunahme der Lern-
geschwindigkeit, O., Ha. und M. dagegen eine Abnahme; bei 30 gr
liess nur noch K. eine vorübergehende Erleichterung des Auswendig-
lernens erkennen. Zunächst spielt hier also wieder die Dosis und damit
die individuelle Empfindlichkeit gegen Alkohol ein gewisse Rolle; es
muss aber fraglich erscheinen, ob dieser Umstand allein ausreicht, um
die Unterschiede im Ausfalle der Versuche zu erklären. Ich habe
schon früher eingehender dargelegt, dass wol noch andere Verhältnisse
hier mit hineinspielen. Auch beim Lernen verknüpft sich wiederum
die Auffassung eines äusseren Eindruckes mit der Auslösung einer
Sprachbewegung. Ueberall wenigstens, wo es sich nicht nur um die
Einprägung des geistigen Inhaltes eines gegebenen Lernstoffes, sondern
um die wörtliche Einübung desselben, um das „mechanische“ Aus-
wendiglernen handelt, schliesst sich naturgemäss an den sinnlichen
Eindruck der coordinatorische Impuls an, welcher die Wiedergabe des
Aufgefassten vermittelt.


Die häufige Wiederholung dieses ganzen Actes wird im Allgemeinen
zweierlei Folgen nach sich ziehen. Einerseits wird sich uns in dem
Falle, mit dem wir es hier zu thun haben, die Zahlenreihe, die wir
lernen sollen, derart einprägen, dass wir sie wiedererkennen,
andererseits aber werden wir sie mit Hülfe unserer Sprachmusculatur
wiedergeben können. Diese beiden Seiten des Gesammtvorganges
sind an sich von einander unabhängig, und es giebt Fälle, in denen
nur die eine oder die andere Wirkung von uns angestrebt und erreicht
wird. Ein Bild, eine Gegend, ein Gesicht erkennen wir wieder, ohne
dass sich daran irgend welche Sprachvorstellungen zu knüpfen brauchen,
es seien denn Benennungen, die an sich in gar keiner inhaltlichen Be-
ziehung zu dem bezeichneten Gegenstande stehen. Andererseits ver-
mögen wir uns musculäre Fertigkeiten und Kunstgriffe einzuüben,
deren Handhabung von sinnlichen Eindrücken gänzlich unabhängig
ist. Bei der vorliegenden Aufgabe jedoch, wo es sich darum handelt,
[186] Wahrnehmungen zu reproduciren, deren ganzer Inhalt sich aus den
durch Sprache und Schrift gelieferten Elementen erschöpft, sind die
sensorische Einprägung und die motorische Einübung untrennbar mit
einander verbunden. Wir können daher von vornherein gar nicht
sagen, welcher Ausfall der Lernversuche zu erwarten ist, wenn unsere
oben entwickelten Anschauungen über die Alkoholwirkung sich be-
wahrheiten sollen. Freilich war ich mir darüber vor Anstellung der
Versuche keineswegs klar, sondern die aus ihnen gewonnene Erfahrung
hat mich vielmehr erst nachträglich zu den hier wiedergegebenen
Ueberlegungen geführt. Ich setzte damals bestimmt voraus, dass die
Lernarbeit, die ich als eine schwierige associative Aufgabe ansah,
durch den Alkohol beträchtlich erschwert werde, und war daher nicht
wenig erstaunt, als mir persönlich der Versuch wenigstens im Beginne
deutlich das Gegentheil darthat. Allerdings kam es mir auch bei dieser
Gelegenheit ganz klar zum Bewusstsein, dass bei mir selbst das Aus-
wendiglernen eine rein motorische Einübung war. Ich wäre nicht im
Stande gewesen, eine der gelernten Reihen durch das Ansehen wieder-
zuerkennen, wol aber durch die Leichtigkeit, mit welcher ich die Reihen-
folge der in ihr symbolisirten Sprachbewegungen wiedergeben konnte.
Es ist mir somit nicht zweifelhaft, dass es sich für mich hier nicht um
eine sensorische, sondern ganz vorwiegend oder ausschliesslich um eine
motorische Arbeitsleistung handelte. Unter diesem Gesichtspunkte würde
natürlich der Ausfall meiner Versuche, die anfängliche Erleichterung
der Lernarbeit unter dem Einflusse des Alkohols, mit den bisher ge-
wonnenen Ergebnissen in bestem Einklange stehen. Wenn schon sehr
geringfügige Anstösse genügten, um eine Sprachbewegung auszulösen,
so begreift es sich, dass auch die Erneuerung des gleichen motorischen
Erregungsvorganges erleichtert war.


Diese Erfahrungen und Ueberlegungen sind es gewesen, welche
mir den Gedanken nahe gelegt haben, auch den Ausfall der übrigen
Lernversuche unter demselben Gesichtspunkte aufzufassen. Unter-
stützt wird dieses Bestreben durch die eigenthümlichen, früher ein-
gehend besprochenen Unterschiede in der Wiederholungsgeschwindigkeit,
welche ebenfalls auf eine Verschiedenheit in der Lerngewohnheit hinzu-
deuten scheinen. Einen Eindruck, den wir uns einprägen wollen,
pflegen wir möglichst lange und gründlich zu fixiren, indem wir langsam
von einem Elemente desselben zum andern übergehen, während die
Einübung einer Bewegung im Gegentheil durch recht häufige Wieder-
holung derselben von uns erstrebt wird. Grosse Wiederholungs-
geschwindigkeit würde somit auf Bevorzugung der motorischen, geringe
[187] Zahl der Wiederholungen dagegen auf Begünstigung der sensorischen
Seite des Lernvorganges zu beziehen sein. Dabei wäre es aber
natürlich denkbar, dass im einzelnen Falle diese Alternative nicht
schroff entschieden, sondern von beiden Hülfsmitteln der Fixirung
gleichzeitig Gebrauch gemacht würde. Immerhin würden wir erwarten
dürfen, dass im Allgemeinen die schnell wiederholenden Versuchs-
personen bei den Lernversuchen eine anfängliche Erleichterung dar-
bieten, während den Uebrigen der Alkohol die Lösung der Aufgabe
in der von ihnen bevorzugten Fassung erschweren müsste. Leider
hat sich diese Erwartung, wie schon früher erörtert, nicht völlig be-
stätigt. Zwar ist bei den langsam wiederholenden Ha. und M. die
Erschwerung der Arbeitsleistung wirklich eingetreten, und Da. mit
seiner bis zum Schlusse fortschreitenden Steigerung der Lernfähigkeit
kann als Ausnahme nicht wol herangezogen werden, da es sich dabei
schwerlich um eine Alkoholwirkung handelt. Umgekehrt finden wir
gerade bei den schnell wiederholenden K. und De., sowie bei dem
sich ihnen nähernden He. wenigstens für kleinere Gaben die anfäng-
liche Beschleunigung. O. dagegen, bei dem wir ebenfalls eine solche
voraussetzen sollten, versagt hier in dieser Beziehung, obgleich er beim
Lesen trotz der grösseren Alkoholdosis sehr deutlich mit einer Zu-
nahme der Geschwindigkeit reagirt.


Wie mir scheint, wird man sich auf einem Versuchsgebiete,
welches so vielen unberechenbaren Schwankungen ausgesetzt ist, unge-
achtet dieser Ausnahme doch dem Eindrucke nicht verschliessen können,
dass die hier von mir angedeuteten Beziehungen thatsächlich bestehen,
wenn sie vielleicht auch gelegentlich von andersartigen Momenten
durchkreuzt werden. Weiteren Aufschluss über diese Verhältnisse
würden Versuche gewähren können, welche die verschiedenen Arten
des Gedächtnisses gesondert in Angriff nehmen würden, die sensorische
Einprägung, die motorische Einübung und endlich die höchste, aber
leider dem Experimente am schwersten zugängliche Form, das apper-
ceptive oder combinatorische Gedächtniss, welches nicht das mechanische,
sondern das begriffliche Festhalten des Erfahrungsmaterials ermöglicht.


Die Dauer der initialen Erleichterung psychischer Vorgänge
übersteigt dort, wo sie überhaupt nachweisbar ist, im Allgemeinen
nicht 20—30 Minuten. Da wir indessen gesehen haben, dass die
erleichternde Wirkung sich auf andere Seiten unseres Seelenlebens
erstreckt, als die erschwerende, so liegt die Möglichkeit nahe, dass
der Gang der Arbeitsleistung uns nur die Resultante entgegengesetzter
Vorgänge wiedergiebt, dass in Wirklichkeit beide Wirkungen in ver-
[188] schiedener Stärke neben einander herlaufen und sich theilweise
überdecken. Für diese Annahme sprechen zunächst die grossen
Schwankungen der gemessenen Werthe, das gelegentliche Auftreten
vereinzelter kurzer Zahlen zu einer Zeit, wo die Erschwerung der
Arbeit schon entwickelt ist. Ferner spricht dafür das lange Andauern
vorzeitiger Reactionen in jenen Versuchen, in denen die Verlang-
samung der Unterscheidung eben wegen dieser Fehlerquellen gar nicht
gemessen werden konnte. Endlich aber dürfte in der gleichen Richtung
die Erfahrung zu verwerthen sein, dass wir das deutliche Gefühl sehr
prompter Reaction auch dann noch oder sogar erst dann haben,
wenn objectiv die gemessenen Zeiten bereits wieder zugenommen haben.
Schon in meiner ersten Abhandlung, in der ich auf Grund der
combinirten Reihen zu ähnlichen Schlüssen gelangt war, habe ich auf
diese höchst auffällige Erscheinung hingewiesen *) und eine Erklärung
derselben in dem hier besprochenen Sinne versucht. Da wir nicht
den Augenblick der Entstehung des Reizes, sondern nur denjenigen
seiner Auffassung kennen, so kann uns eine Verlangsamung der Wahr-
nehmung theilweise, soweit sie sich unter der Schwelle unseres Be-
wusstseins abspielt, verborgen bleiben, während wir die beschleunigte
Auslösung der Bewegung unmittelbar empfinden. Der eigentliche Be-
wusstseinsact kann daher wol noch verkürzt sein, wenn die gemessene
Reactionszeit bereits verlängert ist.


Aus allen diesen Gründen muss ich es für wahrscheinlich halten, dass
die beiden Stadien der experimentellen Alkoholwirkung in gewissem Sinne
nur Kunstproducte sind. Wie die Unterscheidungs-, Associations- und
Rechenversuche zeigen, beginnt die Lähmung der Auffassung und geistigen
Verarbeitung sehr bald, ist sehr beträchtlich und erreicht ihre Höhe erst
nach längerer Zeit. Auch die Erleichterung der motorischen Vorgänge
stellt sich rasch ein, ist aber im Allgemeinen geringer, als die erstgenannte
Wirkung. Leider habe ich mit Ausnahme der hier nicht vergleich-
baren Dynanometerversuche keinen Vorgang untersuchen können, bei
dem der motorische Bestandtheil sich von dem sensorischen oder
intellectuellen hätte isoliren lassen. Auch das Lesen kann nicht in
Betracht kommen, da eine sehr entschiedene Verlangsamung der Auf-
fassung sich hier doch in dem Gesammtergebnisse hätte geltend machen
können. Immerhin sehen wir, dass schon beim Lesen und beim Wieder-
holen die Beschleunigung länger andauerte, als bei solchen Aufgaben,
in denen das motorische Element mehr zurücktrat. Die Verlängerung
[189] der gemessenen Zahlen bedeutet somit meiner Ansicht nach nicht den
Uebergang der Erleichterung in Erschwerung überhaupt, sondern nur
das beginnende Ueberwiegen der Verlangsamung auf der einen über
die Beschleunigung auf der anderen Seite. Das Maximum dieser
letzteren liegt darum später, als es den Anschein hat, möglicherweise
sogar erst dann, wenn die Normaldauer des gesammten Vorganges
bereits überschritten ist. Noch später entwickelt sich allerdings
zweifellos auch auf motorischem Gebiete eine Erschwerung, die sich
nunmehr zu der sensorischen und intellectuellen hinzuaddirt.


Bis zu diesem Punkte hat uns die Betrachtung der einfachen
zahlenmässigen Ergebnisse unserer Versuche, der quantitative Ausfall
derselben geführt. Wir haben indessen die Beobachtung gemacht,
dass auch die Qualität der geleisteten Arbeit unter dem Einflusse
des Alkohols gewisse Veränderungen erfährt. Es wird daher unsere
Aufgabe sein, zu untersuchen, wie weit sich diese Erscheinungen mit
dem Bilde in Uebereinstimmung bringen lassen, welches wir aus den
übrigen Erfahrungen von der Wirkung des Alkohols gewonnen haben.
Am meisten gesichert erscheint die Thatsache, dass durch dieses
Mittel das Auftreten von äusseren Associationen und namentlich von
Klangassociationen begünstigt wird. Wir sahen, dass die begrifflichen
Vorstellungsverbindungen anscheinend eine geringere Widerstands-
fähigkeit gegen den Alkohol besitzen, und dass selbst dann nicht selten
innere Associationen unwillkürlich in äussere umgewandelt werden,
wenn die ersteren geradezu durch die der Versuchsperson gestellte
Aufgabe gefordert wurden. Dem entsprechend schienen sehr stabil
gewordene, mechanisch eingeübte Associationen und möglicherweise
auch Reime durch den Alkohol nicht, wie sonst alle Vorstellungs-
verbindungen, erschwert, sondern eher erleichtert, beschleunigt zu
werden. Endlich hatten wir noch die Erfahrung zu verzeichnen, dass
gelegentlich unter dem Einflusse des Alkohols für die verschiedensten
Reizworte die gleichen Associationen auftreten.


Alle diese Erscheinungen lassen sich unter einem gemeinsamen
Gesichtspunkte betrachten. Sie bedeuten sämmtlich die Umwandlung
eines begrifflichen Zusammenhanges in einen mechanisch einge-
übten
, den Verlust der inneren, gegenständlichen Beziehung zu
Gunsten einer rein äusserlichen, zufälligen Verbindung. Diese allge-
meine Uebereinstimmung unter einander giebt, wie mir scheint, auch
denjenigen Einzelerfahrungen ein gewisses Mass von Wahrscheinlichkeit,
welche nach der Lage des Versuchsmateriales allein nicht als völlig
gesichert betrachtet werden durften. Noch mehr verstärkt aber wird
[190] die Vermuthung, dass wir es hier mit wirklichen Thatsachen zu thun
haben, durch die tiefere Verwandtschaft, in welcher diese qualitativen
Veränderungen unserer Vorstellungsverbindungen mit den Ergeb-
nissen der messenden Methode stehen. Bei allen unseren Unter-
suchungen haben wir es mit sprachlichen Associationen zu thun gehabt,
weil sie die wichtigsten und zugleich dem Experimente am leichtesten
zugänglich sind. Hier knüpft sich daher überall neben dem begriff-
lichen Bande, welches die innere Beziehung zweier Vorstellungen
repräsentirt, eine äussere, gewohnheitsmässige Verbindung zwischen
den zugehörigen sprachlichen Bezeichnungen, und diese Form der
Sprachgewohnheit ist es, in der uns fremde und eigene Gedanken-
arbeit jederzeit zum Gebrauche bereit liegt. Die Träger dieser sprach-
lichen Verbindungen sind aber wahrscheinlich ganz überwiegend Be-
wegungsvorstellungen. Wir eignen sie uns an, nicht sowol dadurch,
dass wir sie oft hören, sondern vor Allem, indem wir sie selbst immer
wiederholen. Dafür spricht schon der Umstand, dass wir die Be-
wegungen unserer Sprachmuskeln jederzeit willkürlich zu reproduciren
vermögen, die sinnlichen Sprachvorstellungen aber im Allgemeinen nur
durch gleichzeitige Innervation des motorischen Apparates.


Es ist vielleicht nach unseren früheren Erfahrungen nicht unwahr-
scheinlich, dass hinsichtlich dieser Verhältnisse gewisse individuelle
Verschiedenheiten bestehen, dass die Erlernung einer Sprache bei dem
Einen mehr durch das Ohr, bei dem Andern mehr durch mechanische
Einübung mittels der Sprachmusculatur erfolgt, und wir dürfen wol
annehmen, dass zumeist beide Hülfsmittel gleichzeitig, wenn auch in
sehr verschiedenem Masse, in Anspruch genommen werden. Dass aber
eine Sprache ohne jegliche Beihülfe der Klangbilder erlernt werden
kann, zeigt das Beispiel der sprechenden Taubgeborenen. Jedenfalls
spielen für denjenigen, der eine Sprache nicht nur versteht, sondern
auch selber spricht, die Bewegungsvorstellungen für den Ablauf seiner
sprachlichen Aeusserungen eine um so grössere Rolle, je weniger seine
Aufmerksamkeit auf die begriffliche Bedeutung der in ihm auf-
tauchenden Vorstellungen gerichtet ist. Wir vermögen ein Gedicht,
eine Phrase mechanisch zu reproduciren, ohne uns dabei des Inhalts
derselben irgendwie bewusst zu werden, und wenn wir stocken, so ist
es nicht das Nachdenken über die Folge der Klang- und Schrift-
bilder oder gar über den Gedankengang, welches uns weiterhilft,
sondern wir wiederholen noch einmal die Reihe der Sprachbewegungen
in der häufig erfüllten Hoffnung, dass dieses Mal das gelockerte
[191] Band sich wieder knüpfen und der verwickelte Mechanismus nunmehr
in der eingeübten Weise functioniren werde.


Wenn die hier entwickelten Anschauungen richtig sind, so werden
die Erfahrungen, die wir über die qualitative Beeinflussung der Vor-
stellungsverbindungen gemacht haben, leicht verständlich. Wir waren
zu dem Schlusse gekommen, dass der Alkohol die Auffassung und
intellectuelle Verarbeitung der äusseren Eindrücke erschwert, die Aus-
lösung von Bewegungen dagegen erleichtert. Unter diesen Umständen
müssten eben diejenigen Vorstellungsverbindungen begünstigt werden,
welche durch ein motorisches Band an einander geknüpft sind. In diese
Gruppe gehören aber in erster Linie die rein mechanisch eingeübten
Associationen. Wird durch den Alkohol das sinnliche Element, sei
es Schrift-, Laut- oder Sachbild, abgeschwächt, die sprachliche Be-
wegungsvorstellung dagegen verstärkt, so wird auch diese letztere vor
Allem den auftauchenden Associationen zur Anknüpfung dienen
müssen. So würde sich erklären, dass wir nach zwei Richtungen hin
die Vorstellungsverbindungen unter dem Alkoholeinflusse sich um-
wandeln sehen. Einmal werden begünstigt die rein mechanisch einge-
lernten, durch bestimmte, gewohnheitsmässige Bewegungscoordinationen
vermittelten Associationen, dann aber diejenigen, bei denen die Sprach-
bewegungen einander formal sehr ähnlich sind. Beide Gruppen sind
in die grosse Klasse der äusseren Associationen zu rechnen. In die erste
aber gehören alle stereotypen Vorstellungsverbindungen, die
stehenden Redensarten, Citate, Wortzusammensetzungen u. dergl. Bei
den Versuchen nach der Wiederholungsmethode waren schliesslich wol
alle Associationen in diese Gruppe übergeführt, und es war daher ein
qualitativer Einfluss des Alkohols nicht mehr bemerkbar, ja es schien
sogar, als ob die abnehmende Neigung zur Bildung neuer Ver-
bindungen in den Alkoholreihen noch ganz besonders gering gewesen
sei, in Uebereinstimmung mit den soeben entwickelten Anschauungen.
Auf der anderen Seite kann unter der Einwirkung des Alkohols bis-
weilen auch innerhalb einer Versuchsreihe eine oder die andere
Association stereotyp werden. Bietet sich irgend einer Vorstellung
zufällig Gelegenheit zur Wiederkehr, so fixirt sie sich, wie die Lern-
versuche zeigen, hier relativ leicht und drängt sich nunmehr unter
Umständen auch dort in ganz unpassender Weise immer wieder auf,
wo jede, auch die äusserlichste associative Beziehung fehlt.


Die zweite Gruppe der durch den Alkohol angeregten Asso-
ciationen ist ganz und gar nicht stereotyp. Hier handelt es sich im
Gegentheil immer um Neubildungen, die allerdings späterhin sich auch
[192] wieder fixiren können. Sie repräsentiren die äusseren Aehnlichkeits-
associationen im Gegensatze zu den vorhin betrachteten äusseren Be-
rührungsassociationen. Gemeinsam ist ihnen mit jenen die Anknüpfung an
die sprachliche Bewegungsvorstellung. Hierhin gehören die Associationen
nach theilweiser lautlicher Uebereinstimmung, die Assonanzen,
Alliterationen und Reime. Die Entstehung durch kleine Modificationen
in dem vom Reizworte angeregten Innervationsimpulse liegt hier auf
der Hand. Wo bereits eine stereotype Folge sprachlicher Coordi-
nationen besteht, wie bei der ersten Gruppe von Associationen, pflegt
dieselbe durch den Alkohol nicht berührt, sondern eher begünstigt zu
werden; wesentlich begriffliche Verbindungen zweier Vorstellungen
dagegen werden unter dem Einflusse des Alkohols leicht aufgelöst, um
durch Klangassociationen ersetzt zu werden. Darum sehen wir am
Tage 3* unserer grossen Wiederholungsreihe, beim ersten Alkohol-
versuche, die Zahl der neuen, noch nicht dagewesenen Associationen
durch das Auftauchen zahlreicher Gleichklänge an Stelle vorzugsweise
der inneren Vorstellungsverbindungen anwachsen.


Ich will nicht unterlassen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen,
dass uns die Störung unseres Gedankenganges, wie wir sie durch den
Alkohol experimentell erzeugen können, auf pathologischem Gebiete
als der Symptomencomplex der „Ideenflucht“ wol bekannt ist. Alle
die geschilderten Erscheinungen, das Auftauchen von Gewohnheits-
associationen, von Gleichklängen, wie die stereotype Wiederkehr der-
selben Vorstellungen begegnen uns hier neben einander. Die Ideen-
flucht findet sich stets vereinigt mit motorischen Erregungszuständen,
ein neues Argument dafür, dass ihr Auftreten in der acuten Alkohol-
vergiftung mit der erleichterten Auslösung von Bewegungen in nahem
Zusammenhange steht.


Werfen wir nunmehr einen Blick zurück auf das Gesammtbild
der Alkoholwirkung, welches wir versucht haben, aus den Experi-
menten heraus zu entwickeln, so lässt sich kaum leugnen, dass es alte,
durch die tägliche Erfahrung uns Allen wohlbekannte Züge sind, aus
denen sich dasselbe zusammensetzt. In leichten Andeutungen liefert
uns der Versuch dieselben Erscheinungen, welche wir bei den schwereren
Formen der acuten Alkoholvergiftung in brutaler Ausbildung überall
beobachten. Der Erschwerung der Auffassung in unsern Versuchen
entspricht die Unfähigkeit des Betrunkenen, den Vorgängen in seiner
Umgebung zu folgen, sich zurechtzufinden, die Schwierigkeit, seine
Aufmerksamkeit zu erregen, die bis zur völligen Empfindungslosigkeit
sich steigernde Abstumpfung seiner Sinnesorgane. In der Verlang-
[193] samung der associativen Vorgänge finden wir das Sinken seiner intel-
lectuellen Leistungen wieder, die Unmöglichkeit, verwickeltere Aus-
einandersetzungen zu geben oder zu verstehen, die Urtheilslosigkeit
gegenüber eigenen und fremden Geistesproducten, den Mangel an klarer
Ueberlegung und an Einsicht in die Tragweite seiner Worte und
Handlungen. Die qualitativen Veränderungen der Associationen signa-
lisiren uns die Verflachung des Gedankenganges, die Neigung zu
stereotypen und trivialen Redensarten, zu öden Wortwitzen, zum Rade-
brechen in fremden Sprachen.


Die Erleichterung der motorischen Reactionen endlich ist die Quelle
des erhöhten Kraftgefühls, aber auch aller jener unüberlegten und zweck-
losen, impulsiven und gewaltthätigen Handlungen, welche dem Alkohol
eine solche Berühmtheit nicht nur in der Geschichte der thörichten und
übermüthigen Streiche, sondern auch namentlich in den Annalen der
Affectverbrechen verschafft haben. Ihr entspringt die Widerstandslosig-
keit, mit welcher sich eine Gesellschaft Angetrunkener durch ein Schlag-
wort, einen Einfall, das Beispiel zu den unsinnigsten Reactionen hinreissen
lässt, ihr die Redseligkeit, die Neigung zum Lärmen, Singen, Schreien,
Radaumachen, die im Einklange mit unseren früheren Erörterungen auch
dann noch andauert, wenn die Erschwerung des Denkens schon deutlich
ausgeprägt ist. Auf diese Seite der Alkoholwirkung ist auch wol die Er-
fahrung zu beziehen, dass unter dem Einflusse des Mittels jene psychischen
Hemmungen wegfallen, die wir als Zaghaftigkeit, Befangenheit, Ver-
legenheit bezeichnen, dass alle die zahllosen Rücksichten ihre Macht
über uns verlieren, welche sonst im menschlichen Verkehre unser
Reden und Thun auf das genaueste reguliren. Wir werden unbe-
fangen, muthig und rücksichtslos, wir sprechen „frei von der Leber
weg“, sagen schroff unsere Meinung, ohne uns um die Wirkung unserer
Worte weiter zu bekümmern, schwatzen unsere Geheimnisse aus und
geben die intimsten Regungen unseres Innern ungenirt ganz gleich-
gültigen und fernstehenden Personen Preis.


Der gemeinsame Ursprung aller dieser Symptome des Rausches
aus den elementaren Störungen, welche wir aus den Versuchsergeb-
nissen abgeleitet haben, wird kaum bezweifelt werden können. Ich
habe schon in meiner früheren Arbeit darauf hingewiesen, dass wir
in den beiden Seiten der psychischen Umwälzung, welche der Alkohol
heraufführt, zugleich die beiden Wurzeln jenes pathologischen Zustandes
vor uns haben, den wir als „Unzurechnungsfähigkeit“ be-
zeichnen. Der Verlust der Zurechnungsfähigkeit kann sich in doppelter
Weise vollziehen; einem Menschen kann die Uebersicht über die
Kraepelin, Beeinflussung. 13
[194] Folgen seiner Handlungen, und es kann ihm die Herrschaft über
seinen Willen abhanden kommen. Die acute Alkoholvergiftung ver-
nichtet, wie das Experiment und die praktische Erfahrung überein-
stimmend darthun, beide Voraussetzungen der Zurechnungsfähigkeit
und führt somit einen Zustand herbei, der in voller Ausbildung auch
vor Gericht als ein krankhafter anerkannt werden muss.


Es wird auffallen, dass wir bis hierher einer weiteren Wirkung
des Alkohols nicht gedacht haben, welche für die allgemeine Ver-
wendung desselben als Genussmittel von der durchschlagendsten Be-
deutung geworden ist. Ohne Zweifel spielt das Gefühl behaglicher
Wärme und mehr wol noch dasjenige erhöhter körperlicher Leistungs-
fähigkeit, wie es aus der erleichterten Auslösung von Bewegungen
hervorgeht, für die Verbreitung des Alkoholgenusses eine grosse Rolle.
Noch mehr aber kommt dabei wol der Umstand in Betracht, dass der
Alkohol ein Sorgenbrecher ist, dass er die trüben Stimmungen ver-
scheucht und das Gefühl gemüthlichen Wohlseins erzeugt. Leider ist es
bisher nicht möglich, die Art und Stärke von Stimmungen und Affecten
experimentell zu untersuchen, und unsere Beobachtungsreihen sagen uns
daher über diesen vielleicht wichtigsten Punkt der Alkoholwirkung gar
nichts. Trotzdem erscheint es doch nicht ganz unmöglich, an der Hand
der Versuchsergebnisse wenigstens ein ungefähres Bild auch von der Ent-
wicklung dieser Begleiterscheinung der Alkoholvergiftung zu entwerfen.


Ueber das eigentliche Wesen und den Ursprung der Gemüths-
bewegungen wissen wir so gut wie nichts Sicheres; wir pflegen
sie meist als den Ausdruck der subjectiven Reaction unseres Or-
ganismus auf äussere Eindrücke zu betrachten. Dagegen steht er-
fahrungsmässig fest, dass eine Hemmung und Erschwerung im Ablaufe
unserer psychischen Vorgänge fast immer mit den Gefühlen lebhafter
Unlust einhergeht, während umgekehrt jede raschere und erleichterte
Bethätigung unserer Kräfte von Lustgefühlen begleitet zu werden
pflegt. Ein normales Beispiel für den ersteren Zusammenhang ist der
Zustand der Ermüdung, ein solches für den letzteren derjenige der
Erholung; der resignirten Verstimmung des Ermatteten steht die freu-
dige Gehobenheit desjenigen gegenüber, der mit frischen Kräften und
im Vorgefühle des Gelingens an sein Werk geht. Auf pathologischem
Gebiete haben wir Gelegenheit, diesen gegensätzlichen Parallelismus
von Stimmung und Leistungsfähigkeit in höchst ausgeprägter Form
beim circulären Irresein zu beobachten. Diese Erfahrungen geben
uns, wie mir scheint, ein gewisses Recht, auch bei der Alkoholwirkung
diejenigen Stimmungsänderungen zu erwarten, welche dem experimentell
[195] festgestellten Ablaufe der psychischen Vorgänge entsprechen. In der
ersten Phase der Alkoholvergiftung überwiegt die Erleichterung der
motorischen Functionen. Gleichzeitig sehen wir eine gehobene Stim-
mung sich entwickeln, die uns den Druck vom Herzen nimmt, die
innere Spannung beseitigt. Kummer und Sorgen werden vergessen;
die Welt und die Menschheit erscheint im rosigsten Lichte; wir werden
heiter, ausgelassen, zu Scherzen geneigt, versöhnlich, nachgiebig und
überschwänglich, schliessen Freundschaften und Verbrüderungen. Auch
sexuelle Regungen, Neigung zu Obscönitäten treten um so stärker
hervor, je mehr sich die gewöhnlichen Hemmungen abschwächen. In
einem späteren Stadium des Rausches geht dieses Wohlbehagen nicht
selten in zornige Reizbarkeit und Streitsucht über, die Zeichen einer
stärkeren Ausbildung der motorischen Erregbarkeit, bis dann der
Eintritt stumpfer Apathie die Scene endet, nicht selten eingeleitet
durch Rührseligkeit und Weinerlichkeit, in der sich vielleicht gerade
der Uebergang des gesteigerten Kraftgefühls in dasjenige der Hem-
mung und Lähmung ankündigt.


Wie man sieht, ist die allgemeine Uebereinstimmung des prak-
tisch bekannten Bildes der acuten Alkoholvergiftung mit demjenigen,
welches sich aus den Versuchsergebnissen ableiten lässt, eine sehr voll-
ständige, wenn auch betont werden muss, dass auf beiden Seiten aus-
geprägte individuelle Verschiedenheiten bestehen, die wir einstweilen
hier ausser Acht lassen müssen. Man könnte daher zu dem Schlusse
kommen, dass eigentlich das Experiment uns nichts gelehrt hat, was
uns nicht schon ohnedies bekannt war, und somit die aufgewandte
Mühe schlecht gelohnt worden ist. Indessen dieser Schluss hätte doch
nur eine sehr zweifelhafte Berechtigung. Abgesehen davon, dass es
überall als ein Triumph der experimentellen Methode gilt, wenn die
von ihr gewonnenen, in Zahlen ausgedrückten Resultate den ver-
schwommenen Zügen der täglichen Erfahrung einen schärferen und
verständlicheren Ausdruck zu geben vermögen, zeigt auch ein Blick
in die Lehrbücher der Arzneimittellehre, dass die subjective Auf-
fassung offenbar nicht im Stande ist, die psychischen Wirkungen des
Alkohols mit voller Klarheit zu analysiren. Nachdem wir die elemen-
taren Veränderungen des Seelenlebens unter dem Einflusse des
Alkohols kennen, erscheinen uns die erfahrungsmässigen Symptome
einfach als die selbstverständlichen Folgen jener fundamentalen Um-
wälzung. Jeder Versuch aber, aus der einfachen Beobachtung und
Selbstbeobachtung das Wesentliche der Wirkung herauszuerkennen,
wird mit grosser Wahrscheinlichkeit immer darin Schwierigkeiten
13*
[196] finden, dass er von den höchsten und verwickeltsten psychischen Func-
tionen seinen Ausgang nehmen muss.


Immerhin haben De-Sarlo und Bernardini in ihrer schon
wiederholt citirten Arbeit*) eine vortreffliche Schilderung der psychischen
Elementarstörungen unter dem Einflusse des Alkohols gegeben. Nach-
dem sie auf die Abstumpfung der Sensibilität und die Steigerung der
Reflexe wie der Muskelkraft hingewiesen haben, schildern sie bei ihrer
Versuchsperson das Schwinden der Befangenheit, die erhöhte Ge-
schwätzigkeit, die Erleichterung der Bewegungsauslösung, die Euphorie
und das erhöhte Selbstvertrauen. Sie bemerken die associative Ver-
knüpfung fernliegender Vorstellungen und constatiren gleichzeitig eine
gewisse Neigung zur Stereotypie in Gedanken, Gefühlen und Hand-
lungen. Beide Erscheinungen führen sie auf die Aufmerksamkeits-
störung zurück, meinen aber dabei, dass die Intelligenz lebhafter, der
Gedankengang beschleunigt gewesen sei. Diese letztere Anschauung
dürfte sich nach meinen Untersuchungen nicht mehr halten lassen;
zugleich ist mir die Auffassung der Associationsveränderungen als
motorischer Reizerscheinungen wahrscheinlicher.


Weit weniger befriedigend sind leider die Angaben unserer Lehr-
bücher der Arzneimittellehre über die psychischen Alkoholwirkungen.
Nothnagel und Rossbach**) theilen unter Anderem mit, dass in der
acuten Alkoholvergiftung ein „lebhafter, schneller Gedankenwechsel“,
eine „grössere Leistungsfähigkeit“ eintreten; „zügellos reissen die
Phantasie und die seichteren (!) Leidenschaften, z. B. Zorn, den Be-
rauschten auf Bahnen, die seiner Individualität nicht entsprechen;
dabei treten alle tieferen Leidenschaften und seelischen Anlagen, wie
Liebe, Hass, zurück, so dass selbst der vorher Würdigste ein unedles
Gepräge erhält“. Dass diese Darstellung sehr verbesserungsbedürftig
ist, dürfte nach unseren bisherigen Auseinandersetzungen ohne Weiteres
einleuchten. Der Gedankenwechsel ist nicht schneller, die Leistungs-
fähigkeit nicht grösser; Liebe und Hass treten nicht zurück. Viel
schlimmer ist es freilich, was ich hier beiläufig nicht unerwähnt lassen
kann, wenn in dem sehr verbreiteten Handbuche auf p. 386 die Be-
hauptungen aufgestellt werden, dass gänzliche Entziehung des Trinkens
„vollständigen Verfall und den Ausbruch einer Reihe schwererer
Symptome“ bewirke, dass sich die geistigen Krankheiten der Trinker
„in nichts von den durch andere Ursachen hervorgerufenen unter-
scheiden“, und dass das Ende „paralytischer Blödsinn“ sei. Es ist
[197] in der That schwer, in wenigen Sätzen so viel Verkehrtheiten zu sagen,
die ein Blick in ein beliebiges Lehrbuch der Psychiatrie ohne Weiteres
hätte vermeiden lassen.


Erheblich gründlicher ist die Darstellung der psychischen Alkohol-
wirkung, welche Schmiedeberg und Bunge geben. Der Erstere *)
legt das Hauptgewicht auf die Lähmung „der Aufmerksamkeit, des
Urtheils und der Reflexion“, aus denen er die Kritiklosigkeit gegen-
über geistigen Leistungen, aber auch den erhöhten Muth, die Be-
seitigung der Verlegenheit, das grössere Vertrauen zur eigenen Muskel-
kraft ableitet. Dazu kommt dann noch die „mangelhafte Beherrschung
der Gemeingefühle“, welche den Wechsel zwischen Heiterkeit und un-
motivirter Traurigkeit, das Auftreten von Streitsucht oder ungewöhn-
licher Friedfertigkeit erklären sollen. In ganz ähnlicher Weise sieht
Bunge**) als Grundstörung die Lähmung des klaren Urtheils, der
Kritik an. Daraus entspringt nach seiner Meinung die Offenherzig-
keit und Mittheilsamkeit, die Sorglosigkeit und der Lebensmuth des
Trinkenden — „er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren“. Auch
die Beseitigung der psychischen Schmerzen, des Kummers, der Sorgen,
soll einfach aus einer Betäubung des Missbehagens hervorgehen. Die
grössere Lebhaftigkeit der Körperbewegungen entsteht dadurch, dass
die Schranke wegfällt, „welche der Nüchterne jedem Anlass zu un-
nöthigen Bewegungen entgegenstellt, um seine Kräfte zu schonen“.
Das Müdigkeitsgefühl wird betäubt und dadurch der Glaube hervor-
gerufen, dass der Alkohol den Müden zu neuer Leistung und An-
strengung stärke.


Der Widerspruch dieser Ausführungen mit meinen Versuchser-
gebnissen liegt wesentlich in dem Umstande, dass die beiden genannten
Autoren alle psychischen Erscheinungen der Alkoholvergiftung ledig-
lich aus dem Wegfall gewisser normaler Functionen unseres Seelen-
lebens zu erklären suchen. Bei Bunge ist die Grundlage des ganzen
Symptomencomplexes eine Lähmung des Urtheils, bei Schmiede-
berg
besteht ausserdem noch eine mangelhafte Beherrschung der Ge-
meingefühle. Dass zum mindesten die erstere Störung, die Schwächung
der Intelligenz, nun und nimmermehr ausreichen kann, um das psy-
chische Bild der Alkoholvergiftung zu erzeugen, lässt sich bei genauerer
Ueberlegung, wie mir scheint, auch ohne besondere Versuche erkennen.
Leichtere und schwerere Bewusstseinstrübungen, ganz nach Art der
[198] alkoholischen, beobachten wir unter sehr verschiedenartigen Verhält-
nissen, ohne dass darum jene psychischen Consequenzen sich ergeben,
wie sie Bunge aus der Lähmung des klaren Urtheils ableitet. Am
nächsten liegt es vielleicht, hier an die physiologische Ermüdung zu
erinnern. Die symptomatische Aehnlichkeit derselben mit der alkoho-
lischen Ermüdung haben wir schon früher besprochen, und der Ueber-
gang beider Zustände in denjenigen des Schlafes ist ja bekannt. Auch
bei wachsender einfacher Ermüdung trübt sich die Fähigkeit der Auf-
fassung und das Urtheil; auch der Ermüdete „sieht nicht mehr klar
die Gefahren“, aber hier entwickelt sich keine Euphorie, kein grösserer
Lebensmuth. Die Schmerzen und Sorgen treten vielleicht auch zurück,
hinter dem dumpfen aber mächtigen Gefühle der Ermattung und der
Sehnsucht nach Ruhe, aber es kommt nicht zu dem Glauben an er-
höhte Leistungsfähigkeit, nicht zu einer grösseren Lebhaftigkeit der
Körperbewegungen. Natürlich, weil eben das Gefühl der Ermüdung
hier die Situation beherrscht und nicht, wie Bunge sagen würde,
„betäubt“ wird.


Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung, das Müdigkeitsgefühl
werde betäubt, nicht recht verständlich erscheint. Nach den herrschen-
den Anschauungen und im Einklange mit zahlreichen experimentellen
Erfahrungen stellt sich die Ermüdung selbst als eine leichte Narkose
dar, die zu einer fortschreitenden Lähmung unserer körperlichen und
psychischen Functionen und schliesslich unfehlbar zum Schlafe führt.
Die Ermüdung stumpft uns daher für allerlei äussere und innere Wahr-
nehmungen mehr und mehr ab, bis wir schliesslich in den höchsten
Graden für die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen überhaupt un-
empfänglich werden. Diese wachsende Erschwerung aller unserer
Leistungen nehmen wir in der Gemeinempfindung der Müdigkeit
wahr. Eine gewisse Rolle spielen dabei die Muskelempfindungen, die
unter Umständen, nach sehr anstrengender körperlicher Arbeit, sogar
schmerzhafter Natur sein können. Diese letzteren, dem Bilde der
Gehirnermüdung nicht wesentlich angehörenden, sondern nur zufällig
und gelegentlich beigemischten Empfindungen können bei fortschreiten-
der Ermüdungsnarkose, wie alle andern Wahrnehmungen, betäubt
werden. Das wirkliche Müdigkeitsgefühl aber kann nur dann schwinden,
wenn die Ursache der Ermüdung selbst beseitigt wird, also durch die
Erholung, oder aber, wenn durch irgend welche andersartigen Einflüsse
wenigstens jene Begleiterscheinungen der Ermüdung in den Hinter-
grund gedrängt werden, deren wir uns bis dahin so peinlich bewusst
wurden. Das kann z. B. geschehen durch lebhafte Affecte. Wir Alle
[199] wissen, dass die Müdigkeit rasch verfliegt, wenn eine freudige Ueber-
raschung uns plötzlich in Erregung versetzt, wenn uns erneute Hoff-
nung zu einer letzten grossen Anstrengung anspornt, oder wenn eine
drohende Gefahr von uns die Anspannung aller Kräfte fordert. Die
Ermüdung selbst ist hier nicht etwa verschwunden; unsere wirkliche
Leistungsfähigkeit braucht dabei keine erhebliche Steigerung zu er-
fahren, und die Erschlaffung ist mit dem Nachlasse der psychischen
Erregung nur eine um so grössere, aber das Gefühl der Lähmung
wird durch die lebhafte Gemüthsbewegung vorübergehend beseitigt.
Dass sich die Alkoholmüdigkeit auch in diesem Punkte ganz ähnlich
verhält, wie die physiologische, wird durch die bekannten Beispiele
plötzlicher Ernüchterung in Augenblicken grosser Gefahr, und in
kleinem Massstabe durch den Ausfall meines schon früher besprochenen
Wahlversuches vom 15. August 1882 dargethan, in welchem wegen
der bestehenden psychischen Erregung selbst 60 gr Alkohol nur eine
späte und verhältnissmässig geringfügige Ermüdung erzeugten.


Der Grund für dieses Verhalten kann wol nur in dem Umstande
gesucht werden, dass lebhafte Affecte mit einer Steigerung der
centralen motorischen Erregkarkeit
einhergehen. Gerade
die Neigung zu musculären Entladungen, seien es Ausdrucksbewegungen,
Reden oder Handlungen, ist es ja, was die Affecte gegenüber den ein-
fachen Gefühlen und Stimmungen auszeichnet. Für diese Auffassung
spricht in sehr beredter Weise die pathologische Erfahrung, dass wir
überall dort, wo uns ein Ausfall des Ermüdungsgefühls begegnet,
gleichzeitig motorische Erregungszustände antreffen. Am bekanntesten
und lehrreichsten ist in dieser Beziehung das Beispiel der Manie, da
es hier Zustände giebt, die mit dem Verhalten Angetrunkener, äusser-
lich wenigstens, sehr grosse Aehnlichkeit haben. Wir sehen diese
Kranken monatelang, ja unter Umständen Jahr und Tag, in fort-
währender, nur durch kurze Schlafpausen unterbrochener motorischer
Erregung. Das Müdigkeitsgefühl kommt kaum zur Entwicklung; so-
bald der Schlaf unterbrochen wird, ist die Unruhe sofort wieder da,
und die Kranken peroriren noch, während ihnen die Augen bereits
zufallen, ganz ähnlich wie wir es in der Alkoholvergiftung beobachten
können. Dazu gesellt sich, ebenfalls wie im Rausche, eine meistens
gehobene, episodisch aber auch gereizte oder weinerliche Stimmung,
sowie das Symptom der Ideenflucht, welches wir früher als eine viel-
leicht vorwiegend motorische Reizerscheinung kennen gelernt haben.
Die Auffassung und das Urtheil ist in den schwereren Formen der
einfachen Manie stets mehr oder weniger getrübt. Andererseits aber
[200] giebt es Zustände, bei denen zwar die motorische Erregung sich im
Bewegungsdrang, in gehobener Stimmung, dem Gefühle grösserer
Leistungsfähigkeit und leichter Ideenflucht kundgiebt, in denen aber
die Besonnenheit vollständig erhalten, die Auffassungsfähigkeit jeden-
falls nicht herabgesetzt und das Urtheil nicht getrübt ist. Hierher
gehören bekanntlich zahlreiche Fälle von periodischem und circulärem
Irresein.


Durch alle diese Erfahrungen wird es wahrscheinlich, dass die
Lähmung des Urtheils an sich die affectiven und motorischen Störungen,
wie wir sie im Alkoholrausche beobachten, nicht erklären kann. Wir
finden zwar bei der einfachen Manie beide Seiten der psychischen
Alkoholwirkung thatsächlich ebenfalls mit einander vereint, aber wir
sehen andererseits, dass die Euphorie und der Bewegungsdrang auch
ohne nachweisbare Urtheilsstörung beobachtet wird, und dass die ein-
fache Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke
durchaus nicht nothwendig zu jenen Folgeerscheinungen führt, die
Bunge aus ihr ableitet. In letzterer Beziehung könnte ich zudem noch
auf die vielen andern narkotischen Mittel hinweisen, welche bei gleicher
Urtheilslähmung doch ein ganz anderes psychisches Krankheitsbild er-
zeugen, als der Alkohol, an die leichteren und schwereren Grade von
Urtheilsschwäche, wie sie acuten und chronischen Schwächezuständen
eigenthümlich sind, u. A. m.


Wie mir scheint, ist somit der Schluss unabweisbar, dass zu der
ja ohne Zweifel vorhandenen Auffassungs- und Urtheilsstörung noch
ein weiteres Element hinzukommen muss, um uns die Wirkung des
Alkohols auf unser Seelenleben verständlich zu machen. Als solches
kann nach den vorstehenden Erörterungen wol nur eine Steigerung der
centralen motorischen Erregbarkeit
in Betracht kommen,
die in der That eine befriedigende Erklärung aller Störungen liefern
würde, für welche die Bunge’sche Auffassung nicht ausreicht. Zwin-
gend wird die Annahme gerade dieser zweiten Componente der Alko-
holwirkung bei Berücksichtigung der experimentellen Thatsachen. Die
Beschleunigung der einfachen und Wahlreactionen, der Lesegeschwin-
digkeit, des Wiederholens, die, wenn auch geringfügige, Steigerung der
Dynamometerwerthe weisen mit Bestimmtheit auf eine Erleichterung
der motorischen Innervation hin und lassen sich schlechterdings nicht
aus einer Schwächung des Urtheils psychologisch erklären. Nebenbei
sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass in jenem ersten Stadium
der Alkoholwirkung, in welchem die erhöhte motorische Erregbarkeit
das Bild beherrscht, Gemüthsbewegungen, da sie in gleichem Sinne
[201] wirken, nicht, wie im Stadium der Lähmung, zu einer Besserung des
Zustandes, zur Ernüchterung zu führen pflegen, sondern im Gegentheil
sehr häufig leidenschaftliche Ausbrüche von unvorhergesehener Heftig-
keit zur Folge haben. Nur diejenigen Individuen, bei denen die
Lähmungserscheinungen von vornherein die Oberhand gewinnen,
machen davon eine Ausnahme. Vielleicht ist es auch nicht unwichtig
für die hier behandelte Frage, auf die nahen ätiologischen Beziehungen
des Alkohols zu den motorischen Reizerscheinungen der Epilepsie
hinzuweisen. Wir wissen, dass nicht nur bei chronischem Alkohol-
missbrauch sich auffallend häufig epileptische Krämpfe entwickeln,
sondern dass auch die acute Alkoholvergiftung den Ausbruch der-
selben selbst bei an sich nicht epileptischen Individuen herbeiführen
kann. Andererseits beobachten wir nicht selten, dass Epileptiker
durch das Gefühl innerer Spannung zum Genusse des Alkohols
getrieben werden und auf diese Weise einen Krampfanfall oder einen
Dämmerzustand mit motorischer Erregung, ziellosem Wandern, Gewalt-
acten zur Auslösung bringen. Endlich sehen wir die sog. pathologischen
Rauschzustände wahrscheinlich vorzugsweise bei epileptisch veranlagten
Personen mit erhöhter centraler motorischer Erregbarkeit unter dem
Einflusse kleiner Alkoholgaben sich entwickeln.


Auf dem Boden der Anschauungen Schmiedeberg’s und
Bunge’s steht im Wesentlichen auch Filehne.*) Die Förderung
einzelner psychischer Functionen, zu denen er die „Freudigkeit“, die
Phantasie, die Entschlussfähigkeit, Todesverachtung rechnet, ist nur
eine indirecte, durch den Fortfall der Rücksichten und sonstigen
hemmenden Einflüsse bedingte. „In vino veritas bedeutet nicht, dass
die Wahrheitsliebe gesteigert, sondern dass die besonnene Zurück-
haltung verringert ist; und wer traurigen und sorgenvollen Herzens
gedrückt und in seiner Lebensfähigkeit gehemmt nach einer Flasche
Weines heiterer ist, hat seine Sorgen betäubt, aber nicht die philo-
sophische Tragkraft seiner Seele vergrössert.“ Nur die Potatoren
sollen „erst normal werden, wenn sie Alkohol erhalten“. Das letztere
ist eine kühne und wol kaum erweisbare Behauptung. Im Uebrigen
erscheint es kaum nöthig, darauf hinzuweisen, dass die „philosophische
Tragkraft“ und die „Wahrheitsliebe“ keine psychischen Functionen
sind und der citirte Satz demnach nur ein Spiel mit Worten enthält.
Dass die Phantasie überhaupt nicht gesteigert wird, und die übrigen
[202] angeführten Wirkungen thatsächlich aus einer Erleichterung der
motorischen Auslösung entspringen, glaube ich aus meinen Versuchen
schliessen zu müssen. Erwähnen muss ich endlich noch, dass Filehne
das subjective Gefühl schneller Reaction bei objectiv langen psychischen
Zeiten darauf zurückführt, dass längere Zeiträume kürzer erscheinen,
als in der Norm: „daher die Kurzweil!“ Diese Auffassung kann ich
nicht unwidersprochen lassen. Wie die Zeitsinnversuche darthun,
ist es zwar richtig, dass uns, namentlich auf der Höhe der Alkohol-
wirkung, die verfliessende Zeit relativ kurz vorkommt, aber das kann
nicht die Ursache für das Gefühl schneller Reaction sein. Jene
Wirkung des Alkohols auf die Zeitschätzung beginnt erst, wenn dieses
Gefühl schon deutlich ausgeprägt ist, und sie dauert vor Allem noch
sehr lange an, nachdem dasselbe bereits völlig verschwunden ist.
Zudem haben wir ja auch in der nachweisbaren Erleichterung der
motorischen Auslösung einen vollkommen genügenden Erklärungsgrund
für die subjective Wahrnehmung beschleunigten Handelns. Dass die
Störung der Zeitschätzung durch den Alkohol wahrscheinlich als
Symptom der beginnenden Lähmung aufzufassen ist, wurde früher
ausführlich besprochen.


Die Anschauungen Schmiedeberg’s und Bunge’s gipfeln in
dem Satze, dass der Alkohol keine Reizung, sondern nur Lähmung
erzeuge, und dass auch die vermeintlichen Reizerscheinungen in Wirk-
lichkeit nur auf dem Wegfall von Hemmungen beruhen. So soll
daher auch die psychische Wirkung sich nicht durch Steigerung irgend
einer Function, sondern ausschliesslich durch den Verlust des Urtheils
und nach Schmiedeberg auch der Herrschaft über die Gemein-
gefühle erklären. Dass ein solcher Zusammenhang nicht einfach auf
psychologischem Wege, durch die Nichtbeachtung gewisser Rück-
sichten oder Gefahren, mangelhafte Schonung der Kräfte u. s. f. con-
struirt werden kann, sondern dass eine Steigerung der centralen
motorischen Erregbarkeit thatsächlich vorhanden ist, habe ich wol zur
Genüge dargethan. Anders liegt indessen die Frage, ob nicht vielleicht
physiologisch schon die Lähmung derjenigen Hirnfunctionen, an welche
die Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke geknüpft ist,
eine erleichterte Auslösung von Bewegungen nach sich ziehen muss.


Das Grundschema unseres Hirnmechanismus ist die Verbindung
zwischen Sinnesorgan und Muskel, und wir denken uns, dass mit der
höheren Entwicklung unseres Seelenlebens und seines Organs diese
Verbindung sich allmählich derart erweitert, dass sich zwischen Reiz
und Reaction immer zahlreichere und verwickeltere Vorgänge ein-
[203] schieben. Die Folge dieser Entwicklung ist einerseits die Umwandlung
der äusseren Reize in Erregungsformen, die nicht Muskelbewegung
sind, und andererseits die Möglichkeit, den Bewegungsapparat „spontan“,
ohne Anstoss von aussen her, in Thätigkeit zu setzen. Mag diese
Auffassung richtig sein oder nicht — so viel steht fest, dass in unserer
Hirnrinde zahllose äussere Reize „gehemmt“, d. h. nicht unmittelbar
in motorische Erregung umgesetzt werden, dass diese Hemmungen mit
reicherer Ausbildung der psychischen Functionen schon im Verlaufe
des individuellen Lebens anwachsen, und dass sie abnehmen, wenn
auf irgend eine Weise der Einfluss der höheren Centralorgane beein-
trächtigt oder aufgehoben wird. Die Thatsachen, welche dieses Ver-
hältniss darthun, sind zu bekannt, als dass es hier einer Aufzählung
derselben bedürfte. Es wäre daher denkbar, dass in diesem Sinne die
Steigerung der motorischen Erregbarkeit durch den Alkohol nur auf
dem Wegfall jener corticalen Hemmungen beruhe, welche unter
normalen Verhältnissen die sofortige Umsetzung der äusseren Reize
in Muskelbewegung verhindern. Der Trinkende würde sich demnach
ähnlich verhalten, wie etwa ein decapitirter Frosch. Die Berechtigung
einer solchen Anschauung lässt sich nicht bestreiten, und es giebt
manche Erfahrungen auch in unseren Versuchen, welche für dieselbe
sprechen würden, namentlich das Auftreten von vorzeitigen und Fehl-
reactionen. Hier sehen wir ja gewissermassen unmittelbar, dass die
Verzögerung der motorischen Reaction, wie sie durch die psychische
Verarbeitung bedingt wird, durch den reflectorischen oder nach
moderner Ausdrucksweise „subcorticalen“ Ablauf des ganzen Vor-
ganges verschwindet.


Nach dieser Auffassung würde demnach der Alkohol zunächst etwa
nur diejenigen Hirnfunctionen herabsetzen, an welche die intellectuelle
Arbeit sich knüpft, die motorischen Vorgänge an sich dagegen völlig
unbeeinflusst lassen, bis dann in einem späteren Stadium die Lähmung
auch auf diese letzteren sich ausdehnt. Ich muss indessen gestehen,
dass diese Erklärung mich entschieden nicht befriedigt. Die motorischen
Reizerscheinungen im Alkoholrausche sind so stark ausgeprägt, dass
ich schon aus diesem Grunde mich mit der Zurückführung derselben
auf den einfachen Wegfall corticaler Hemmungen nicht befreunden
kann. Wir müssten dann doch wol auch bei manchen anderen Nar-
kosen ähnliche Verhältnisse antreffen, ein Punkt, auf den wir später
noch zurückzukommen haben werden. Vor Allem aber ist darauf
hinzuweisen, dass unter dem Einflusse des Alkohols nicht nur die
motorische Reaction gegen äussere Reize gesteigert ist, sondern dass
[204] auch ohne irgend welche derartige Anregung in dem An-
getrunkenen der lebhafte Bewegungsdrang erwacht. Für diese Er-
scheinung, die doch so ungemein charakteristisch ist, reicht m. E.
die oben besprochene Erklärung nicht aus.


Weiterhin scheint mir auch der Ausfall meiner Versuche mit
kleinen, häufig wiederholten Alkoholgaben der Annahme einer ein-
fach lähmenden Wirkung dieses Mittels zu widersprechen. Nach
dieser Annahme müsste hier, wenn einmal die verlangsamende
Wirkung des Alkohols über die rein secundäre Beschleunigung
des motorischen Actes die Oberhand gewonnen hat, jede weitere
Dosis das Uebergewicht der Lähmung vergrössern. Nach der ersten
vorübergehenden Beschleunigung, welche den beginnenden Wegfall
der Hemmungen signalisirt, hätten wir einfach eine wachsende Ver-
längerung der Reactionsdauer zu erwarten. Statt dessen sehen wir,
wie ich schon in meiner früheren Abhandlung gezeigt habe, bei den
einfachen Reactionsformen mit einer Regelmässigkeit, die den Zufall
ausschliesst, auf jede einzelne Gabe zunächst eine Beschleunigung
und dann eine Verlangsamung des psychischen Vorganges eintreten.
Die beschleunigende Anfangswirkung der folgenden Dosis gleicht
demnach immer die verlangsamende Endwirkung der vorhergehenden
wieder aus und überwiegt sie sogar in den ersten Stadien des Ver-
suches, bis endlich im weiteren Verlaufe, wie leicht erklärlich, die
Verlangsamung immer stärker anwächst. Hier scheint mir der Nachweis
einer direct erregenden Wirkung des Alkohols klar geliefert zu sein.
Endlich aber habe ich noch zu Gunsten dieser Anschauung geltend
zu machen, dass die Erscheinungen einer Erleichterung der moto-
rischen Auslösung schon in einem Stadium der Alkoholvergiftung sehr
deutlich sind, in welchem die Lähmung der intellectuellen Functionen
sich noch kaum bemerkbar macht. Würde eine so geringe Störung
unserer Verstandesthätigkeit, wie sie selbst durch sehr genaue Unter-
suchungsmethoden nur schwierig nachweisbar ist, schon an sich jene
Folgen für unser Handeln nach sich ziehen, die wir im ersten Stadium
des Rausches beobachten, so müssten uns derartige Erfahrungen auch
bei vielen andern ähnlichen Gelegenheiten aufstossen, und es stände
schlimm um unser psychisches Gleichgewicht.


Es darf endlich hier vielleicht noch darauf hingewiesen werden,
dass Mommsen,*) wie mir erst nach Abschluss dieser Arbeit bekannt
[205] wurde, eine anfänglich erregende und später lähmende Wirkung des
Alkohols auf den peripheren motorischen Nerven des Frosches nach-
gewiesen hat. Analoge Beeinflussung des centralen motorischen Nerven-
gewebes wird dadurch vielleicht wahrscheinlicher. Natürlich können
aber nicht etwa die Resultate meiner Versuche aus solchen peripheren
Wirkungen allein abgeleitet werden, wie die Art der psychischen Auf-
gaben, die Verschiedenheiten ihrer Beeinflussung und die Grösse der
Veränderungen mit Sicherheit darthun.


Wir kommen somit zu dem Schlusse, dass in der That der Alkohol
von vornherein auf beide Seiten unseres Seelenlebens einwirkt, aber
auf beide etwas verschieden. Durch grosse Gaben werden sowol die
sensorischen und intellectuellen wie die motorischen Functionen rasch
gelähmt. Kleinere Dosen dagegen setzen nur die ersteren sogleich
herab, während auf letzterem Gebiete der Lähmung ein kürzer oder
länger dauerndes Stadium der Erregung vorangeht. Ob bei sehr
kleinen Gaben auch die Auffassung und Verarbeitung äusserer Ein-
drücke zunächst erleichtert sein kann, bevor die Erschwerung eintritt,
bedarf noch besonderer Untersuchung. Jedenfalls wird die Auslösung
von Bewegungen weit später durch den Alkohol geschädigt, als jene
Vorgänge. Will man sich die beiden Gruppen von Functionen, wofür
ja manche Erwägungen sprechen, an verschiedene Elemente unseres
Centralorganes geknüpft denken, so kann man sagen, dass die Träger
unserer motorischen Processe eine besondere Widerstandsfähigkeit
gegenüber dem alkoholischen Gifte besitzen, ganz ähnlich wie auch
durch den chronischen Alkoholmissbrauch die peripheren motorischen
Nerven anscheinend später betroffen werden, als die sensiblen. Des-
halb sehen wir das motorische Nervengewebe zunächst mit Reizungs-
erscheinungen und erst später mit Lähmung auf das Gift reagiren.
Wir hätten darin eine Analogie mit der früher besprochenen That-
sache, dass ein wenig ermüdbares Gehirn bei fortgesetzter Thätigkeit
anfänglich eine Zunahme seiner Arbeitsleistung erfährt, während das
ermüdete Centralorgan von vornherein ein Heruntergehen derselben
darbietet.


Auf Grund einer genaueren Kenntniss der Alkoholwirkungen auf
unser Seelenleben werden wir endlich auch im Stande sein, in der
Frage nach der praktischen Anwendung dieses Mittels aus
psychischer Indication Stellung zu nehmen. Selbstverständlich lassen
wir dabei die Betrachtung des chronischen Alkoholismus, als ausser-
halb unserer jetzigen Aufgabe liegend, gänzlich bei Seite. Uns inter-
essirt hier nur die Frage, welches nach den Ergebnissen unserer Ver-
[206] suche die Fälle sein könnten, in denen der Genuss des Alkohols aus
psychischen Gründen
nützlich erscheint. Der erste Schluss, den
wir aus unseren Erfahrungen ableiten müssen, ist die Forderung, über-
all nur mit sehr kleinen Dosen vorzugehen, da sonst sofort die Läh-
mungserscheinungen in den Vordergrund treten. Diese letzteren könnte
man höchstens zur Erzielung von Ruhe und Schlaf hervorrufen,
wie es auch praktisch nicht ohne Erfolg geschieht. Zur Vermeidung
motorischer Reizwirkungen wäre hier eine einmalige grössere Gabe
(45—60 gr) angezeigt. Allerdings wissen wir noch nicht, wie weit
die so erzeugte Narkose wirklich den normalen Schlaf zu ersetzen
vermag.


Eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit wird man durch
den Alkohol nicht erreichen; selbst die Erleichterung des mechanischen
Auswendiglernens bei kleinen Dosen ist so vorübergehender Natur,
dass sie kaum verwerthbar erscheint, zumal noch nicht feststeht, ob
das rascher Erlernte auch mit genügender Sicherheit haftet. Dagegen
lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Anwendung des Alkohols
dort rationell wäre, wo es sich um eine einmalige stärkere mo-
torische Leistung
handelt, namentlich dann, wenn es weniger auf
einen grossen Kraftaufwand, als vielmehr auf die Ueberwindung natür-
licher oder unter Umständen krankhafter Hemmungen, auf rasche
Entschlossenheit ankommt. Diese Schlussfolgerung aus unsern Ver-
suchen deckt sich bekanntlich mit den Erfahrungen des täglichen
Lebens vollständig. Die Befangenheit des ungeübten Redners weicht
unter dem Einflusse des Alkohols, die Worte strömen ihm leichter zu.
In therapeutischer Beziehung will ich hier nur an die günstige Wir-
kung erinnern, welche kleinen Alkoholdosen in gewissen neurasthe-
nischen Zuständen, bei der Ueberwindung von Zwangsbefürchtungen
zukommt. Namentlich bei der Platzangst gelingt es durch Zuhülfe-
nahme jenes Mittels leichter, das Auftreten der quälenden Anfälle
zu verhindern, dadurch dem Kranken das verlorene Selbstvertrauen
zurückzuerobern und so den Boden für eine systematische Behandlung
des Leidens vorzubereiten.


Eine weitere psychische Indication des Alkohols lässt sich aus
seiner unzweifelhaften euphorischen Wirkung ableiten. Die
vorübergehende Beseitigung innerer Spannungen, wie die Abstumpfung
der Empfindlichkeit gegen deprimirende Einflüsse sind ebenso unzweifel-
hafte Erfahrungsthatsachen, wie leicht begreifliche Folgerungen aus den
Ergebnissen des Experimentes. Diese Wirkung kann aber thatsäch-
lich in vielen Lebenslagen eine ausserordentliche Wohlthat werden.
[207] Freilich dort, wo ein wachsames Auge, grosse Umsicht, stete Bereit-
schaft zu entscheidendem Handeln gefordert ist, wird die leichte eupho-
rische Narkose durch den Alkohol trotz ihres subjectiven Nutzens un-
zweckmässig. Wenn man aber als ohnmächtiger Zuschauer schweres
Leid über sich ergehen lassen muss, so ist meiner Ueberzeugung nach
die Linderung des depressiven Affectes durch kleine Gaben Alkohol
aus psychischen Gründen angezeigt. Ich habe im Hinblick auf diese
Wirkungen des Alkohols hie und da die methodische Anwendung des-
selben in melancholischen Erkrankungen versucht. Die besonderen
Eigenschaften des Mittels pflegen sich auch hier nicht zu verleugnen,
allein da die Depression nur ein Symptom, nicht die Krankheit ist,
so kann ein entscheidender, dauernder Einfluss auf den Gesammt-
zustand nicht erwartet werden. Ueberdies ist der Verlauf einer Me-
lancholie stets ein so langwieriger, dass eine einigermassen consequente
und wirksame Darreichung des Alkohols die Gefahren einer chroni-
schen Vergiftung herbeiführen würde. Zur gelegentlichen Erleichte-
rung besonders peinigender Verstimmung leistet indessen das Mittel
in der That gute Dienste. Obermeier*) hat dasselbe seinerzeit in
stuporösen Zuständen zu diagnostischen Zwecken benutzt, um die
Kranken zu Aeusserungen zu veranlassen, aus denen man ein Bild
von den Vorgängen in ihrem Innern gewinnen könnte.


Mit ganz besonderer Energie hat die Temperenzbewegung überall
den gewohnheitsmässigen Genuss des Alkohols bei geselligen Zu-
sammenkünften
bekämpft. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden,
dass wir durch das Mittel nicht geistreicher werden, und dass wir uns
leicht zu unbedachten Reden und Handlungen hinreissen lassen. Die Ein-
drücke, die ein Nüchterner in der Gesellschaft Angetrunkener erfährt, sind
ja in der That drastisch genug. Ohne Zweifel kann man im intimen
Kreise und unter lebhaften Menschen die Anregung durch den Alkohol
sehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit grösserer, nach
Zufall zusammengewürfelter geselliger Vereinigungen kaum auf ein
Mittel verzichten dürfen, welches den Einsilbigen gesprächiger, den
Verlegenen selbstbewusster macht und die starke Reibung vermindert,
die nothwendig den Verkehr einander innerlich fernstehender und gleich-
gültiger Menschen erschwert. In diesem Sinne ist die Verwendung
kleiner Alkoholmengen bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhält-
nissen allerdings angezeigt; er mildert wenigstens das Uebel, dessen
Beseitigung ihn überflüssig machen würde.


[208]

Indem ich ausdrücklich bemerke, dass ich die Bedeutung des
Alkohols unter dem Gesichtspunkte des reinen Genussmittels und
ebenso seine Anwendung auf Grund der verschiedensten körperlichen
Indicationen hier absichtlich übergehe und meiner Aufgabe gemäss
nur seine Wirkung auf den Ablauf der psychischen Vorgänge berück-
sichtige, muss ich doch zum Schlusse noch einmal betonen, dass die
rationelle Verwerthung des Alkoholeinflusses ihre sicheren Grenzen
überall in dem baldigen Eintritte der Lähmungserscheinungen findet.
Bei der einmaligen, wurfweisen Anwendung ist demnach die Grösse
der einfachen Gabe je nach der Individualität nicht höher, als auf
etwa 15—20 gr zu bemessen, wenn man die erregenden Wirkungen
ausnutzen will. Soll für längere Zeit eine leichte Anregung erzielt
werden, so müssten in Zwischenpausen von etwa 20 Minuten kleinere
Gaben von ungefähr 5—8 gr gegeben werden. Eine halbe Flasche
Wein mit einem Alkoholgehalt von 10 % würde unter diesen Um-
ständen etwa für 2 ½ Stunden ausreichen. Allerdings wird auch so,
wie unsere Versuche darthun, allmählich die lähmende Wirkung immer
mehr über die anregende die Oberhand gewinnen.


Es unterliegt keinem Zweifel, dass die hier gezogenen Grenzen ganz
allgemein erheblich überschritten werden
, und dass sich
thatsächlich der Arbeiter wie der „Gebildete“ ungezählte Male durch den
Alkohol in einen Zustand intellectueller Verblödung und moralischer Halt-
losigkeit versetzt, den man ohne Weiteres als pathologisch bezeichnen muss.
Der Grund dafür liegt einmal in der grossen Nachsicht, mit welcher die
öffentliche Meinung dieses Aufgeben der persönlichen Würde zu beurtheilen
pflegt, zum Theil vielleicht auch in der weit verbreiteten Unkenntniss
über die Gefahren des Alkoholmissbrauches. Eine sehr wichtige Rolle
aber spielt dabei jedenfalls auch der aus unsern Versuchsergebnissen
leicht erklärliche Umstand, dass der Alkohol die Widerstands-
fähigkeit gegenüber der Verführung herabsetzt
. Der
Wunsch, die euphorische Stimmung festzuhalten und zu steigern, findet
sehr bald kein Hinderniss mehr in ruhiger Ueberlegung der Folgen,
sondern führt zu immer weiter fortgesetztem Alkoholgenuss. Natürlich
bestehen auch hier sehr grosse individuelle Unterschiede je nach der ur-
sprünglichen moralischen Veranlagung; haltlose Naturen erliegen der
verführerischen Wirkung des Alkohols weit leichter, als charakterfeste.


Namentlich in den zuletzt berührten Verhältnissen liegt die Be-
rechtigung jener Bestrebungen, welche den Genuss des Alkohols aus
dem normalen Leben überhaupt verbannen wollen. Das agitatorische
Auftreten dieser Richtung hat mit einer gewissen Nothwendigkeit zu
[209] der übertriebenen Behauptung geführt, dass der Alkohol unter allen
Umständen als ein verderbliches Gift zu betrachten sei. Wissenschaft-
lich lässt sich dieser Satz so schlecht oder so gut begründen, wie für
zahllose andere Genuss- und selbst Nahrungsmittel. Richtig aber ist
es, dass in den besonderen psychischen Wirkungen des Alkohols eine
gewaltige Gefahr des Missbrauchs liegt, und dass der Nutzen, den
eine vernünftige Anwendung des Mittels unter den oben entwickelten
Indicationen stiften kann, thatsächlich gar nicht in Betracht kommt
gegenüber dem furchtbaren Unheil, welches Tag für Tag durch diesen
Missbrauch erzeugt wird. Gäbe es gar keinen Alkohol, so würde die
Welt ohne Zweifel glücklicher sein, als sie es jetzt ist. So wenig ich
daher anerkennen kann, dass die Verwerthung der mächtigen Eigen-
schaften des Alkohols an sich verwerflich ist, so möchte ich doch die
Frage nicht verneinen, ob es nicht wegen der grossen Gefahren, die
das Mittel in sich birgt, praktisch mit Energie angestrebt werden
sollte, den Alkoholgenuss aus der Reihe unserer täglichen Lebens-
gewohnheiten zu entfernen. Wirklich stichhaltige Gründe für die An-
wendung des Mittels sind verhältnissmässig selten, und die Schwierig-
keit, Mass zu halten, ist so gross, dass sich erfahrungsgemäss auch
ohne die Entwicklung eines wirklichen chronischen Alkoholismus sehr
vielfach leichtere und schwerere Schädigungen der constitutionellen
Widerstandskraft ausbilden, welche die Häufigkeit von Erkrankungen
vermehren und die Lebensdauer verkürzen.


Wie ich hoffe, werden diese Auseinandersetzungen einigermassen
zur Beruhigung jenes Schriftstellers beitragen, der mir in der „Inter-
nationalen Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten“, 1. Jahrgang
1891, p. 30, anknüpfend an ein unsinniges Zeitungsreferat über meinen
Berliner Vortrag, entrüstet und zweifelnd die Empfehlung des „Thee-
punsch“ und der Anwendung leichter Weine und Biere bei Kindern
als Ergebniss meiner „gelehrt scheinenden Untersuchungen“ zuschiebt
und sogar die vielgeprüfte Dörptsche Universität noch halb und halb
für meine alkoholischen Neigungen verantwortlich macht. Der agita-
torische Charakter der dort vertretenen Bewegung mag die Methode
des vorschnellen Aburtheilens entschuldigen, aber das Vertrauen auf
die Zuverlässigkeit des zusammengetragenen Materiales wird dadurch
nicht gerade gestärkt.


b. Paraldehyd.


Eine interessante Parallele zu den Erfahrungen am Alkohol
scheinen mir die Versuche mit Paraldehyd zu bieten. Auch hier
Kraepelin, Beeinflussung. 14
[210] kamen wir zu dem Wahrscheinlichkeitsschlusse, dass wir es mit zwei
verschiedenen, aber neben einander hergehenden Wirkungen auf die
psychischen Vorgänge zu thun haben. Die Versuche Cervello’s und
Coppola’s, sowie die einfachen und Wortreactionen, die ich selbst
ausführte, liessen erkennen, dass auf der einen Seite jedenfalls eine
rasch sich entwickelnde Verlangsamung der psychischen Zeiten auf-
tritt, die ihren Höhepunkt nach etwa einer halben Stunde erreicht,
aber in abnehmender Stärke noch recht lange, bei einer Dosis von
3 gr z. B. fast 1 ½ Stunden andauert. Je grösser die Gabe, desto
ausgiebiger ist diese Wirkung. Andererseits spricht aber das viel-
fach, auch von Cervello beobachtete Gefühl rascherer Reaction, das
Auftreten einer leichten Muskelunruhe, die bei L. und R. so ausge-
prägte Neigung zu vorzeitigen und selbst negativen Reactionen, das
Vorkommen häufiger Fehlreactionen bei den Wahlreihen und endlich
wol auch der Ausfall des ersten von mir selbst ausgeführten Wahl-
versuches dafür, dass jene Verlangsamung nicht alle Vorgänge unseres
Seelenlebens gleichmässig betrifft, sondern dass im Gegentheil die
Auslösung von Bewegungen eher erleichtert ist. Bei meinem Wahl-
versuche mit grösserer Dosis (5 gr) ist allerdings diese Wirkung in
den gemessenen Zahlen nicht mehr nachweisbar, wahrscheinlich weil
sie von der überwiegenden Erschwerung der Auffassung verdeckt
wurde; dafür sprechen wenigstens die vielen Fehlreactionen. Ueber
den Umfang dieses verkürzenden Einflusses vermag ich nichts Genaueres
zu sagen, da er überall mit der Verlängerung des Wahrnehmungs-
vorganges verknüpft war, doch ist er jedenfalls weit geringer, als diese
letztere. Wie das Verhalten der vorzeitigen und Fehlreactionen dar-
thut, dauerte er wahrscheinlich ziemlich lange an und machte sich
anscheinend noch 40—50 Minuten nach dem Einnehmen des Mittels
geltend.


Die allgemeine Uebereinstimmung dieser Ergebnisse mit den beim
Alkohol gewonnenen liegt auf der Hand; der chemischen Verwandt-
schaft scheint demnach auch nach dieser Richtung hin eine physio-
logische zu entsprechen. Der Unterschied in der Wirkung beider
Mittel, soweit er sich nach dem unvollkommenen Vergleichsmateriale
beurtheilen lässt, dürfte wesentlich in dem verschiedenen gegenseitigen
Verhältnisse der beiden von uns auseinandergehaltenen Componenten
gelegen sein. Beim Paraldehyd tritt die Lähmung der Auffassung
viel schneller ein und erreicht rasch viel höhere Grade, während die
Erleichterung der Bewegungsauslösung sich anscheinend langsamer
und wol auch in geringerer Stärke entwickelt. Die Differenzirung
[211] der Wirkung wäre hier somit eine schroffere, als beim Alkohol.
Während auf motorischem Gebiete nur eine mässige Erregbarkeits-
steigerung vorhanden ist, haben wir es auf sensorischem bereits mit
einer sehr ausgeprägten Lähmung zu thun. Ob in einem späteren
Stadium oder bei grösseren Dosen etwa auch die Auslösung von Be-
wegungen erschwert wird und ob sehr kleine Gaben die Auffassung
äusserer Eindrücke zu erleichtern im Stande wären, vermag ich auf
Grund meiner Versuche nicht mit Sicherheit zu sagen.


Das starke Ueberwiegen der sensorischen Lähmung über die Er-
höhung der motorischen Erregbarkeit legt uns hier wieder die Frage
nahe, ob diese letztere nicht einfach als eine physiologische Folge der
ersteren angesehen werden darf. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit
eines derartigen Zusammenhanges hier weit grösser, als beim Alkohol.
Die Benommenheit tritt so rasch und stark hervor, dass sie wol von
Anfang an eine reflectorische Auslösung der Reactionsbewegungen
bedingen könnte. Der Versuch mit mehrmaligen Paraldehydgaben
lä st keine deutliche Beschleunigung nach jeder Dosis erkennen, wie
wir sie beim Alkohol als Argument für die unmittelbar erregende
Wirkung jenes Mittels kennen gelernt haben. Auch die bei den Ver-
suchen beobachtete Muskelunruhe war so geringfügig, dass ich sie nicht
mit Sicherheit für die Annahme directer motorischer Reizwirkungen
verwerthen möchte. Immerhin scheint mir die Analogie mit dem
Alkohol zunächst doch mehr für diese letztere Auffassung zu sprechen,
wenn auch erst weitere systematische Untersuchungen Gewissheit bringen
können. In jedem Falle besteht ein deutlicher gradueller Unterschied.


Gegenüber dem klinischen Bilde der Paraldehydvergiftung hat
mich in den Versuchen namentlich das Auftreten der centralen moto-
rischen Erregbarkeitssteigerung überrascht, da diese Erscheinung im
Gegensatze zum Alkoholrausch hier äusserlich gar nicht auffallend zu
sein pflegt. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der sehr starken
Schläfrigkeit, welche hier alsbald den Zugang bewegungsauslösender
Reize in weit höherem Masse abschneidet, als beim Alkohol. Ab-
gesehen davon, dass wol die Erleichterung der motorischen Vorgänge
beim Paraldehyd überhaupt geringer ist, als dort, befinden wir uns
hier gewissermassen sofort im zweiten Stadium eines sehr intensiven
Rausches, in welchem weder von aussen, noch aus unserem Gedanken-
gange mehr Anregungen zur Auslösung von Willensbewegungen zur
Entwicklung gelangen. Wird dagegen, wie unter den besonderen Be-
dingungen unserer Versuche, mit Aufbietung grosser Anstrengung
noch der äusseren Anregung ein Weg offen gehalten, so erscheint die
14*
[212] Umsetzung derselben in Bewegung eher erleichtert, als erschwert. Wir
sind im Paraldehydrausche nicht nur unbesonnen, wie unter der Ein-
wirkung des Alkohols, sondern unbesinnlich, und es entwickelt sich
hier eine Art psychischer Ataxie. Wir sind nicht mehr im Stande,
die Bewegungsimpulse immer in ihre richtigen Bahnen zu lenken,
während im ersten Stadium der Alkoholvergiftung die Bewegungen
wol unseren Impulsen, nicht aber unseren allgemeinen Charaktereigen-
schaften entsprechen.


c. Chloralhydrat.


Noch unvollständiger, als das Bild der Paraldehydwirkung, ge-
staltet sich dasjenige der psychischen Beeinflussung durch Chloral-
hydrat. Dieses Mittel verlangsamt, wie es scheint, in gleicher Weise
die Auffassung äusserer Reize wie die Auslösung von Bewegungen.
Jedenfalls gestatten die unsicheren Andeutungen ganz vorübergehen-
der Erleichterung dieser letzteren Function kein bestimmtes Urtheil.
Die Erschwerung der psychischen Vorgänge tritt vielleicht etwas lang-
samer ein, als beim Paraldehyd, ist aber schon bei kleinen Gaben
von 1 gr recht intensiv und dauert sehr lange, sicherlich weit über
eine Stunde an. Von besonderem Interesse scheint mir eben der
Umstand zu sein, dass bei diesem Mittel, trotzdem es eine Narkose
erzeugt, die äusserlich der Paraldehydvergiftung ähnlich ist, jene eigen-
thümliche motorische Erregbarkeitssteigerung nicht mehr nachgewiesen
werden kann. Auch De-Sarlo und Bernardini*) fanden Herab-
setzung der Sensibilität wie der Motilität. Diese Erfahrung würde darauf
hindeuten, dass wir in jener Erscheinung eine specifische Paraldehyd-
wirkung vor uns haben, an deren Stelle hier die Lähmung tritt.


Vielleicht hängt mit diesem Unterschiede weiterhin auch die bekannte
Differenz beider Mittel in der Beeinflussung von Circulation und Ath-
mung zusammen. Das Chloralhydrat lähmt die motorischen Functionen
von vornherein oder doch sehr bald und schon in kleinen Gaben, der
Alkohol erst spät, nach anfänglicher Erregung oder bei höherer Dosis,
das Paraldehyd gar nicht oder nur in sehr grossen Mengen. Die
lähmende Wirkung auf das Sensorium ist ebenfalls beim Chloralhydrat
am stärksten, fast ebenso beim Paraldehyd, weit geringer und lang-
samer beim Alkohol. Aus dieser Gegenüberstellung geht hervor, was
[213] wir praktisch längst wissen, dass Chloralhydrat das wirksamste, aber
gefährlichste, Alkohol das mildeste und Paraldehyd das zweckmässigste
dieser drei Mittel ist, wenn es sich um die Herbeiführung des Schlafes
handelt. Vielleicht ist es nicht ohne Bedeutung, dass gerade die
beiden Mittel, welche auf die motorische Seite lähmend wirken, am
leichtesten unangenehme Folgezustände, Kopfschmerz, Abgeschlagen-
heit, Schwächegefühl, sogar Collapse nach sich ziehen, wie wir sie
nach dem Paraldehydgenuss selten oder nie beobachten. Möglicher-
weise kommen hier länger andauernde vasomotorische Lähmungs-
erscheinungen in Betracht.


d. Inhalationsgifte*).


Eine gewisse Verwandtschaft mit der Wirkung des Chloralhydrat
scheint diejenige des Chloroform zu haben. Wir sehen hier die
drei einfacheren Reactionsformen ungemein rasch und intensiv verlang-
samt werden, so dass wir auf eine annähernd gleichmässige Beein-
flussung aller Bestandtheile dieser Vorgänge schliessen dürfen. Ueber-
dies ist ja die Verbindung der sensorischen mit der motorischen Läh-
mung in der Chloroformnarkose bekannt genug. Höchst auffallend
ist nur die von mir überall wiedergefundene Thatsache, dass beim
Verschwinden der experimentellen Narkose sich regelmässig vorüber-
gehend eine Beschleunigung der psychischen Functionen geltend
machte, die bei den einfachen und Wahlreactionen anscheinend deutlicher
war, als bei den Unterscheidungen. Nach tieferen Narkosen war diese
secundäre Verkürzung mit einigen Ausnahmen im Allgemeinen ge-
ringer, als nach leichteren, doch ist zu berücksichtigen, dass natürlich
alle Versuche höchstens bis kurz vor den Eintritt schlafartiger Be-
nommenheit fortgesetzt werden konnten. Subjectiv machte sich während
der nur wenige Minuten dauernden Verkürzung meist das Gefühl
prompterer Reaction bemerkbar, das allerdings bisweilen erst eintrat,
wenn die gemessenen Werthe sich bereits wieder verlängerten. Nach
recht tiefer Narkose konnte die nachträgliche Beschleunigung völlig
ausbleiben.


Die Beobachtungen beim Aether zeigen in allen wesentlichen
Punkten ein ganz ähnliches Bild; nur ist die Wirkung eine entschieden
langsamere und weniger intensive. Ausserdem aber ist es gerade im
Gegensatze zum Chloroform bemerkenswerth, dass unter dem Einflusse
des Aethers bei den Unterscheidungsversuchen gelegentlich in über-
[214] aus deutlicher Weise die Neigung zu vorzeitigen Reactionen auftrat.
Der Umfang der secundären Verkürzung war hier im Allgemeinen
grösser, als beim Chloroform, das subjective Gefühl der Beschleunigung
sehr ausgeprägt. Mit der Tiefe der Narkose nahm die Ausgiebigkeit
der Verlängerung zu, diejenige der Verkürzung ab, selbst bis zum
völligen Verschwinden. Die Wirkung des Mittels auf die einzelnen
Reactionsformen lässt sich leider wegen der Fehlerquelle der vorzeitigen
Reaction nicht gut mit einander vergleichen. Hinsichtlich des Aethers
wie des Chloroforms hat übrigens Mommsen*) ebenfalls eine an-
fängliche Steigerung und ein späteres Sinken der Erregbarkeit beim
motorischen Froschnerven nachgewiesen. Allerdings fand er das Sta-
dium erhöhter Reizbarkeit beim Chloroform stärker ausgeprägt, als
beim Aether.


Was endlich das ebenfalls von mir untersuchte Amylnitrit an-
betrifft, so begegnet uns auch hier eine initiale Verlängerung der psy-
chischen Zeiten mit darauf folgender Verkürzung, die sich subjectiv
durch das Gefühl rascherer Reaction ankündigt, allerdings häufig etwas
verspätet, wie wir das auch früher bei ähnlicher Gelegenheit überall
gesehen haben. Der Umfang der Verlängerung ist hier im Allge-
meinen etwas geringer, derjenige der Verkürzung aber entschieden
grösser, als beim Aether und Chloroform. Diese letztere Erscheinung
fehlte hier nirgends, auch nicht bei den stärksten Graden der Narkose,
die überhaupt erreicht wurden. Bei einer Versuchsperson schien sogar
die secundäre Beschleunigung mit wachsender Beeinflussung durch das
Amylnitrit zuzunehmen. Die einzelnen Reactionsformen boten sehr
charakteristische Abweichungen von einander dar. Für die Unter-
scheidungsversuche stellte sich sofort in ähnlicher Weise, wie beim
Aether, die Schwierigkeit heraus, vorzeitige Reactionen zu vermeiden;
die Umsetzung des Reizes in Bewegung vollzog sich gegen den Willen
der Versuchsperson häufig in ganz reflectorischer Weise. Dem ent-
sprechend war der Umfang der secundären Beschleunigung bei den
Wahlversuchen entschieden am grössten.


Die Deutung aller dieser Ergebnisse bei den Inhalationsstoffen
ist nicht ganz leicht. Knüpfen wir zunächst an das Verhalten des
Amylnitrit an, so habe ich schon in meiner ersten Arbeit darauf hin-
gewiesen, dass hier wahrscheinlich der Uebergang des centralen Er-
regungszustandes auf das motorische Gebiet erleichtert sei. Diese
Annahme würde wenigstens am besten die unwillkürliche Neigung zur
[215] vorzeitigen Reaction, wie die Ausgiebigkeit der secundären Verkürzung
bei den Wahlversuchen, sowie das gleichzeitige Gefühl rascherer Re-
action erklären. Andererseits kann die anfängliche Verlängerung der
psychischen Zeiten, gerade weil sie mit einer Neigung zu vorzeitigen
Reactionen einhergeht, wol nur auf den Wahrnehmungsact zurück-
geführt werden, dessen Erschwerung sich auch subjectiv sehr deutlich
geltend macht. Unter dieser Voraussetzung würde es leicht erklär-
lich sein, dass die gemessenen Zeiten, da sie das Resultat zweier ent-
gegengesetzter Beeinflussungen widerspiegeln, zwei verschiedene Stadien
der psychischen Wirkung des Amylnitrits erkennen lassen. Zunächst
überwiegt anscheinend die Verlangsamung der Auffassung über die
Erleichterung der Bewegungsauslösung. Nehmen wir nun an, dass
die Stärke der ersteren Wirkung etwas rascher abnimmt, als diejenige
der letzteren, so muss ein Zeitpunkt kommen, an welchem die Be-
schleunigung auf motorischem Gebiete über die Verlangsamung auf
sensorischem überwiegt, bis schliesslich mit dem Nachlasse auch jener
ersteren das normale Gleichgewicht sich wiederherstellt.


In ganz ähnlicher Weise könnte man sich auch ein Bild der
Aether- und Chloroformwirkung zusammensetzen. Dabei ist jedoch
zu bemerken, dass die Erleichterung der Bewegungsauslösung bei
diesen beiden Mitteln stufenweise abnimmt. Beim Aether spricht
ausser der secundären Beschleunigung wenigstens noch das Auftreten
vorzeitiger Reactionen für das Vorhandensein jener Wirkung, beim
Chloroform nur jene erstere Erfahrung. Zudem sehen wir, dass diese
Erscheinung hier überhaupt nur noch bei leichter Narkose zur Ent-
wicklung gelangt, bei intensiverer Vergiftung dagegen gänzlich ausbleibt.
Dieses Verhalten könnte entweder auf die grössere Stärke und Nach-
haltigkeit der sensorischen Abstumpfung, oder aber auf den Eintritt
einer motorischen Lähmung zurückgeführt werden. Die letztere Auf-
fassung ist mir im Hinblicke auf die bekannten Wirkungen beider
Narkotica am wahrscheinlichsten.


Unter Berücksichtigung aller einzelnen Umstände würden wir
somit zu dem Schlusse kommen, dass die Wirkung der drei genannten
Inhalationsmittel eine doppelte ist; sie erschweren die Auffassung und
erleichtern die Auslösung von Bewegungen. Die sensorischen Func-
tionen würden von ihnen schon gelähmt, wo wir auf motorischem Ge-
biete noch Reizerscheinungen vor uns hätten. Erst mit wachsender
Intensität der Vergiftung könnten dann auch die motorischen Vorgänge
in den Bereich der Lähmung einbezogen werden, am raschesten beim
Chloroform, langsamer beim Aether und vielleicht gar nicht beim
[216] Amylnitrit, bei dem wir wenigstens mit den experimentell erlaubten
Gaben dieses Stadium nicht hervorrufen konnten. Dementsprechend
sehen wir auch in der Chloroformnarkose Circulation und Athmung
am schwersten, in der Aethernarkose weniger bedroht, während das
Amylnitrit auf beiden Gebieten erregend wirkt. Vielleicht ist es auch
hier nicht ohne Interesse, daran zu erinnern, dass die Dauer und
Stärke der unangenehmen Folgezustände bei jenen drei Mitteln mit
der Ausgiebigkeit der motorischen Lähmungserscheinungen zunimmt.
Die Amylnitritnarkose hinterlässt fast keine Nachwehen, die Chloro-
formvergiftung dagegen bei Weitem die intensivsten.


Wir haben nunmehr noch kurz die Frage zu berühren, ob bei
den Inhalationsstoffen die Erleichterung der motorischen Functionen
wirklich als Reizerscheinung oder nur als eine physiologische Folge
der sensorischen Lähmung angesehen werden darf. Eine bestimmte
Antwort auf diese Frage vermag ich nicht zu geben. Für die erstere
Annahme würde wol der Umstand sprechen, dass im Beginne der
Aether- und Chloroformnarkose lebhaftere motorische Erregungszustände
nicht selten auftreten, allerdings vorzugsweise bei Personen mit ohne-
dies erhöhter motorischer Erregbarkeit, bei Trinkern und Hysterischen.
Schwere Amylnitritvergiftung kann Convulsionen erzeugen. Anderer-
seits erscheint es auffallend, dass die an sich tiefergreifende Erschei-
nung der sensorischen Lähmung mit dem Nachlasse der Vergiftung
rascher verschwinden soll, als die leichteren motorischen Reizerschei-
nungen, wie wir oben annahmen. Freilich geschah auch das An-
wachsen jenes ersteren Symptoms viel schneller, als dasjenige dieses
letzteren. Gerade dieser Umstand ist es, der vor Allem den Gegen-
satz der Inhalationsmittel zum Alkohol kennzeichnet. Bei jenem haben
wir rasche Entwicklung der motorischen, langsamere der sensorischen
und intellectuellen Störungen, bei diesen dagegen schleunigste Aus-
bildung der Auffassungserschwerung und allmählicheres Ansteigen wie
Nachlassen der Bewegungserleichterung. Ob aber diesen Verschieden-
heiten in den zeitlichen Verhältnissen der einzelnen psychischen Wir-
kungen auch tiefere Verschiedenheiten ihres Wesens entsprechen, muss
ich einstweilen dahingestellt sein lassen.


e. Thee.


Im Gegensatze namentlich zu den letzten hier besprochenen Stoffen
scheint der Thee eine verhältnissmässig wenig energische Wirkung auf
[217] die psychischen Vorgänge auszuüben. Trotzdem die Gabe dieses
Mittels, welche ich anwendete, die im täglichen Leben gebrauchten
zweifellos übertraf, sind wir bei der Besprechung der einzelnen Ver-
suchsergebnisse doch mehrfach im Zweifel geblieben, ob die beobachteten
Veränderungen bestimmt als Theewirkungen aufzufassen seien oder nicht.
Darin zeigt sich nicht nur die Schwierigkeit derartiger Untersuchungen
überhaupt, sondern auch das geringere Gewicht, mit welchem der
Thee auf die Gestaltung der psychischen Vorgänge einwirkt. Etwas
entschiedenere Resultate erhielt Dehio, der mit der doppelten Thee-
dosis arbeitete. Ungeachtet dieser relativ schwächeren Ausprägung
aller Eigenthümlichkeiten des Mittels erscheinen doch einzelne Er-
fahrungen aus unseren Versuchen so unzweideutig, dass wir ohne Be-
denken an sie anknüpfen können, um uns ein Bild von der Gesammt-
wirkung des Thees zu entwerfen. Ganz besonders erleichtert wird
dieses Unternehmen durch die auf allen Punkten mögliche Vergleichung
mit dem Alkohol.


Die erste Thatsache, von welcher die Betrachtung der psychischen
Theewirkung am zweckmässigsten auszugehen hat, ist die schon von
Dehio gefundene Beschleunigung der Wort- und Associations-
reactionen. Diese Beschleunigung beginnt sehr bald nach dem Ge-
nusse des Thees, jedenfalls schon innerhalb der ersten Viertelstunde,
und dauert längere Zeit an, unter Umständen 1—1 ½ Stunden. Bis-
weilen schliesst sich dann noch eine mässige Verlängerung der psy-
chischen Zeiten an, von welcher kaum mit Sicherheit gesagt werden
kann, ob sie noch als Theewirkung anzusehen ist oder auf physiolo-
gischer Ermüdung beruht. Wir können aus diesen Erfahrungen mit
grosser Wahrscheinlichkeit schliessen, dass der Thee die Auffassung
äusserer Eindrücke und die Verbindung der Vorstellungen erleichtert,
denn diese beiden Vorgänge sind es, welche wesentlich die Dauer der
bei den Versuchen gemessenen Zeiten bestimmen. Zur Gewissheit
wird diese Anschauung durch den Ausfall der einfachen und der
Wahlreactionen unter dem Einflusse des Thees. In den betreffenden
Versuchen liess sich eine irgendwie deutliche Veränderung der Zeiten
kaum nachweisen; die geringfügige, aber langdauernde Beschleunigung
kann jedenfalls nicht auf den motorischen Act bezogen werden,
welcher den Hauptinhalt jener Vorgänge ausmacht. Zudem lehrt
auch das Beispiel des Alkohols, dass die erleichterte Auslösung von
Bewegungen sich gerade bei diesen Reactionsformen in sehr deutlicher
Weise auszuprägen pflegt.


Die Associationsarten, welche von Dehio untersucht wurden,
[218] waren verschiedene. Einmal handelte es sich um die Verknüpfung
unmittelbar aufeinanderfolgender Glieder der Zahlenreihe, dann um
Additionen und Subtractionen und endlich um das Urtheil, ob ein
bezeichneter Gegenstand angenehm oder unangenehm sei. Trotz dieser
Differenzen war die Theewirkung überall ganz dieselbe. Hier wäre
der Einwand zu machen, dass möglicherweise die Verkürzung der
Zeiten gar nicht auf den Associationsvorgang, sondern nur auf die
Wahrnehmung des Reizwortes zu beziehen sei, da wir die Wortreac-
tionen allein ganz in demselben Sinne beeinflusst sehen. Gegen diesen
Einwand könnte zunächst nur die von Dehio mitgetheilte Erfahrung
angeführt werden, dass ihm unter dem Einflusse des Thees nicht nur
das Ablesen der Zahlen vom Chronoskope, sondern auch das schriftliche
Berechnen der Differenzen leichter geworden sei. Die Schwierigkeit
dieser letzteren Aufgabe aber liegt, wie ich früher für das Addiren
gezeigt habe, wesentlich oder ausschliesslich in der Bildung der Asso-
ciation, nicht im Wahrnehmungsvorgange.


Es muss unter diesen Umständen auffallend erscheinen, dass die
von mir durchgeführten Associationsversuche mit Wiederholungen ein
so wenig entschiedenes Resultat geliefert haben. Bei der Unzweideutig-
keit der Dehio’schen Experimente und im Hinblicke auf sogleich zu
besprechende Erfahrungen kann ich nicht umhin, anzunehmen, dass
die besonderen Bedingungen, unter denen die Wiederholungsversuche
angestellt worden sind, die Schuld an diesem Ergebnisse tragen. Als
solche Umstände betrachte ich einmal die früher eingehend erörterte
Tagesfolge der Versuche, welche dem Eintritte einer Verkürzung der
Zeiten in den Theereihen ungünstig war. Weiterhin aber scheint die
eingeübte Festigkeit der Associationen eine gewisse Rolle gespielt zu
haben. Auch Dehio erhielt, worauf ich erst später aufmerksam wurde,
bei seinem zweiten Versuche mit der Wahl zwischen „Angenehm oder
Unangenehm“ keine deutliche Beeinflussung durch den Thee, wie er
meint, weil die früheren Urtheile noch in klarer Erinnerung waren.
In viel höherem Masse war das natürlich bei meinen Versuchen der
Fall, in denen der Thee erst nach fünfmaliger Wiederholung derselben
Associationen zum ersten Male einwirkte. Die Andeutungen eines
verkürzenden Theeeinflusses, denen wir trotzdem an verschiedenen
Punkten bei der Besprechung jener Reihen begegnet sind, können
somit freilich für die Beurtheilung jenes Mittels nur mit sehr geringem
Gewichte verwerthet werden. Immerhin wäre es trotz mancher schein-
bar dagegen sprechenden Erfahrungen wohl möglich, dass der Thee
zwar die Bildung von Associationen überhaupt erleichtert, dass jedoch
[219] diese Erleichterung geringer wird, wo es sich um sehr eingeübte,
stereotyp gewordene Vorstellungsverbindungen handelt. Wir erinnern
uns dabei, dass wir früher hinsichtlich des Alkohols zu einem an-
nähernd entgegengesetzten Resultate gelangten, insofern derselbe zwar
die associative Thätigkeit im Allgemeinen erschwert, das Auftauchen
stereotyper Verbindungen aber geradezu erleichtert.


Eine willkommene Ergänzung der Erfahrungen über die Associa-
tionen bieten dagegen die Rechenversuche. Das Ergebniss derselben
entspricht vollständig den Erwartungen, die wir nach den Beobachtungen
Dehio’s hegen mussten. Mit zwei durch eine äussere Störung bedingten
Ausnahmen findet sich überall eine ganz entschiedene Steigerung der
Arbeitsleistung durch den Theegenuss, die allmählich wieder ver-
schwindet und bei einigen Personen nach längerer Zeit durch ein
Stadium verlangsamten Addirens abgelöst wird, ohne dass eine zwingende
Nöthigung vorläge, in demselben mehr als den Ausdruck der physio-
logischen Ermüdung zu sehen. Gerade hier beim Addiren haben wir
es jedenfalls wesentlich mit einem associativen Acte zu thun, da die
viel schnellere Auffassung der Zahlen ihrer rechnerischen Verknüpfung
überall voraneilt. Fassen wir demnach das Ergebniss aller bisher be-
sprochenen Versuche kurz zusammen, so kann es, wie mir scheint,
keinem Zweifel mehr unterliegen, dass der Thee nicht nur die Auf-
fassung sinnlicher Eindrücke, sondern auch die Verbindung der Vor-
stellungen deutlich erleichtert, während die Auslösung von Bewegungen
anscheinend keine Beschleunigung erfährt.


Mit dem letzten Theile dieser Schlussfolgerung scheint auf den
ersten Blick der Ausfall der Dynamometerversuche in einem gewissen
Widerspruche zu stehen. Wir sahen bei denselben, dass der Thee
die musculäre Kraftleistung 30—40 Minuten lang entschieden steigert
und dass selbst nach einer Stunde noch eine allerdings weit geringere
Fortdauer dieser Wirkung nachweisbar ist. Man könnte denken, dass
dieses Ergebniss nothwendig mit einer Erleichterung der motorischen
Acte im Reactionsvorgange Hand in Hand gehen müsse. Allein schon
das Beispiel des Alkohols hat uns gezeigt, dass die Beschleunigung
der einfachen und Wahlreactionen, sowol nach dem subjectiven Gefühle,
wie nach dem Auftreten von vorzeitigen und Fehlreactionen zu schliessen,
weit länger andauert, als die Steigerung der dynamometrischen Druck-
werthe. Es kann demnach eine Beschleunigung der motorischen Action
ohne Zunahme der Kraft und also wahrscheinlich auch eine Erhöhung
der Muskelleistung ohne rascheren Ablauf der centralen Auslösungs-
vorgänge geben. Dass es sich während der Theewirkung thatsächlich
[220] um dieses letztere Verhalten handelt, wird noch durch die Erfahrung
bestätigt, dass hier das charakteristische Gefühl sehr rascher Reaction
ebenso ausbleibt, wie die vorzeitigen und Fehlreactionen.


Dazu kommt, dass hier eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die
periphere Entstehungsweise der grösseren musculären Kraftleistung
besteht. Das Coffein wenigstens, in welchem wir wol den wirksamsten
Bestandtheil des Thees zu suchen haben, bringt bekanntlich directe
chemische Veränderungen in den Muskeln hervor, welche vielleicht
zunächst die hier auftretende Erregbarkeitssteigerung erklären könnten.
Kobert*) fand die Leistung des Froschmuskels unter dem Einflusse
jenes Giftes längere Zeit hindurch erhöht. Bei dem Fehlen aller jener
centralen motorischen Reizerscheinungen, wie wir sie im Verlaufe der
Alkoholvergiftung kennen gelernt haben, bin ich daher geneigt, jene
Annahme zu machen, doch erscheint es wünschenswerth, aus den übrigen
vorliegenden Versuchsergebnissen diejenigen Erfahrungen herauszusuchen,
welche etwa noch geeignet wären, ein Licht auf diese Frage zu werfen.


Zunächst kämen hier die Leseversuche in Betracht. Wie die
Zahlen ergeben, zeigt sich dabei regelmässig eine anfängliche Zunahme
der Arbeitsleistung, die sich nach etwa einer Stunde wieder ausge-
glichen hat und nun meist in eine Abnahme umschlägt, wie sie aller-
dings auch in den Normalreihen mehrfach beobachtet worden ist.
Dieses Ergebniss steht qualitativ in bemerkenswerther Ueberein-
stimmung mit den Erfahrungen beim Alkohol. Wir sind deshalb ver-
sucht, aus demselben den Schluss zu ziehen, dass auch durch den
Thee die Auslösung der Muskelbewegung beschleunigt sei. Allein
hier besteht ein sehr bemerkenswerther Widerspruch mit den Wahl-
versuchen, bei denen wir, im Gegensatze zur Alkoholwirkung, diese
Beschleunigung vermissen. Vielleicht jedoch vermag uns aus dieser
Schwierigkeit die Erwägung einen Ausweg zu eröffnen, dass wir beim
Wahlversuche nur den Beginn der Muskelbewegung, beim Lesen
dagegen den gesammten Ablauf derselben in die gemessene Zeit
eingehen sehen. Die Lesegeschwindigkeit kann an sich, wenn wir auch
nach unseren früheren Auseinandersetzungen die Auffassungszeit un-
berücksichtigt lassen, durch zwei wesentlich verschiedene Vorgänge
gesteigert werden, durch eine raschere centrale Auslösung der co-
ordinatorischen Impulse und durch einen beschleunigten Ablauf der
Muskelbewegung selbst. Beim Alkohol sprach der Ausfall der Wahl-
versuche, das Auftreten von vorzeitigen und Fehlreactionen, die Zu-
[221] nahme der Wiederholungsgeschwindigkeit beim Auswendiglernen für
die erstere Erklärung. Hier dagegen fehlen jene Anhaltspunkte für
die Annahme einer erleichterten centralen Auslösung, während um-
gekehrt Anzeichen einer gesteigerten Muskelerregbarkeit im Verhalten
der Dynamometerwerthe vorhanden sind. Der anscheinende Wider-
spruch würde sich somit lösen, wenn wir eben im Hinblicke auf die
Erfahrungen bei den einfachen und Wahlreactionen dasjenige Moment
für die Beschleunigung des Lesens verantwortlich machen, welches bei
jenen Versuchen nicht mehr in die Zeitmessung einbezogen war, den
Ablauf der Muskelbewegung. Auffallend ist dabei nur die allerdings
nicht mit voller Sicherheit als eine Theewirkung zu betrachtende spätere
Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit, da wir dynamometrisch ein
Sinken der Muskelkraft unter die Norm nicht feststellen konnten.
Freilich wurden diese letzteren Beobachtungen auch erheblich früher
abgebrochen, als die Leseversuche.


In vollem Einklange mit der soeben entwickelten Auffassung steht
die Erfahrung, dass eine Zunahme der Wiederholungen beim Lernen
unter dem Einflusse des Thees nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen
werden konnte. Der langsamere oder schnellere Ablauf der Muskel-
bewegung kommt hier im Gegensatze zu den Leseversuchen gar nicht
in Betracht. Eine Beschleunigung des Recitirens kann daher, wie wir
bei Besprechung der Alkoholwirkung gesehen haben, nur auf einer Er-
höhung der centralen Erregbarkeit, einer Zunahme des „motorischen
Dranges“ beruhen. Dass hier jene Erscheinung fehlt, stimmt somit
zu dem Verhalten der einfachen und Wahlreactionen und bildet ein
neues Argument für die Zurückführung der mit dem Dynamometer
und beim Lesen erhaltenen Ergebnisse auf periphere Theewirkungen.


Nach derselben Richtung hin dürften sich auch wol die Erfahrungen
bei den Lernversuchen verwerthen lassen. Bei der Besprechung der-
selben wurde schon darauf hingewiesen, dass die Theewirkung bei den
einzelnen Personen Verschiedenheiten darbietet, die sehr wahrscheinlich
in Zusammenhang mit der individuellen Lernmethode stehen. Alkohol
und Thee treten hier wiederum in Gegensatz zu einander. Sehen wir
von der einzigen Ausnahme des Alkoholversuches bei O. ab, so ergiebt
sich mit befriedigender Regelmässigkeit, dass gerade bei denjenigen
Personen, welche durch kleinere Gaben Alkohol eine Steigerung ihrer
Lernfähigkeit erfahren, unter dem Einflusse des Thees eine Herab-
minderung derselben eintritt, die sich nach 30—60 Minuten allmählich
wieder ausgleicht. Am stärksten ist diese Wirkung bei den am
schnellsten wiederholenden Personen O. und De., während M. und
[222] Da. mit ihrer sehr geringen Wiederholungsgeschwindigkeit gar nicht
oder fast nicht beeinflusst werden. Wenn unsere früher ausführlicher
begründeten Annahmen über die individuellen Verschiedenheiten der
Lernmethode richtig sind, so würden wir aus diesen Versuchsdaten
schliessen müssen, dass die motorische Einübung durch den Thee
geradezu erschwert wird. Es ist unter dem Einflusse dieses Mittels
nicht leichter, sondern vielmehr schwieriger, dieselbe Reihenfolge von
Bewegungsvorstellungen immer von Neuem in der gleichen Weise aus-
zulösen. Hier handelt es sich zweifellos um einen centralen Vorgang,
dessen Ablauf durch die Alkoholwirkung gefördert wurde. Der Gegen-
satz, der sich uns hier darstellt, ist daher wahrscheinlich demjenigen
in der Beeinflussung der Wiederholungen, der einfachen und Wahl-
reactionen durch die beiden Mittel vollkommen analog, aber er hat
nichts zu thun mit den Ergebnissen der Dynamometer- und Lese-
versuche. Darum entspricht demselben auch die Verschiedenheit der
Wirkung auf die Qualität der Associationen. Beim Alkohol sehen wir
auf diesem Gebiete eine Reihe von Erscheinungen sich entwickeln, die
wir als Andeutungen einer Erleichterung der Associationen auf Grund
motorischer Beziehungen ansehen durften. Von allen diesen Ver-
änderungen ist hier gar keine Rede. Klangassociationen sind während
der Theewirkung sehr selten, und unter den neuen Associationen, die
wir bei den hierfür ungünstigen Versuchsbedingungen überhaupt an-
trafen, waren gerade die äusseren, durch die sprachliche Einübung
geknüpften Verbindungen in besonders geringer Zahl vertreten.


Es kann nach allen diesen Auseinandersetzungen wol keinem
Zweifel mehr unterliegen, dass die Wirkung des Thees zu derjenigen
des Alkohols und weiterhin aller bisher besprochenen Mittel in tief-
greifendstem Gegensatze steht. Lassen wir die auf periphere Beein-
flussung zurückgeführten Erscheinungen bei Seite, so ergiebt sich, dass
der Thee die Auffassung und intellectuelle Verarbeitung äusserer Ein-
drücke erleichtert, die Umsetzung centraler Erregungszustände in Hand-
lungen dagegen eher erschwert. Diesen letzteren Schluss müssen wir
wenigstens aus den Lernversuchen ziehen. Der Ausfall der einfachen
und Wahlreactionen spricht nicht dagegen, da sich in beiden Fällen
mit dem motorischen noch ein sensorischer Act verknüpft, dessen
Erleichterung hier, anders als beim Lernen, die Erschwerung des
motorischen Bestandtheils ausgleichen oder selbst überwiegen könnte.
Wir begegnen hier somit einer ähnlich antagonistischen Beeinflussung
der sensorischen und intellectuellen Vorgänge einerseits, der motorischen
andererseits, wie beim Alkohol, nur im umgekehrten Sinne. Man
[223] könnte daraus den Schluss ziehen, dass der Thee eben das motorische
Nervengewebe stärker beeinflusst, als das Substrat der Wahrnehmungs-
und Associationsvorgänge, dass daher in jenem schon die Lähmung
sich geltend mache, während hier noch Reizerscheinungen vorwiegen.
Dafür würden etwa die vielfachen, allerdings nicht eindeutigen Spuren
einer secundären Erschwerung auch der sensorischen und intellectuellen
Functionen sprechen.


Auf der andern Seite wollen wir aber auch die Möglichkeit nicht
ausser Acht lassen, dass die anscheinende Erschwerung der Bewegungs-
auslösung nur als eine physiologische Folge der erhöhten Erregbarkeit
im Bereiche der Vorstellungen, als eine Hemmungswirkung anzusehen
ist. Die Verringerung unserer äusseren Beweglichkeit bei intensiver
Gedankenarbeit lehrt uns, dass die Ausgiebigkeit unserer motorischen
Impulse gerade durch die Anregung zahlreicher Associationsreihen ab-
nehmen kann. Wie der Wegfall der höheren psychischen Functionen
die Lebhaftigkeit der Reflexvorgänge steigert, werden wir umgekehrt
eine Hemmung der motorischen Aeusserungen durch die Zunahme
intellectueller Arbeitsleistung erwarten dürfen. Es wäre unter diesem
Gesichtspunkte wol denkbar, dass die sinnlose Einübung der Zahlen-
reihen, soweit sie eben nur mit Hülfe der Bewegungsvorstellungen
geschieht, gerade durch die Begünstigung andersartiger Gedankenreihen
immerfort erschwert wird, auch ohne dass wir eine unmittelbare toxische
Herabsetzung der centralen motorischen Erregbarkeit anzunehmen
hätten. Dafür scheint mir einerseits doch bis zu einem gewissen Grade
der Ausfall der Versuche mit einfachen und Wahlreactionen zu sprechen.
Hier ist eine Erschwerung der psychischen Acte nicht deutlich, da
sich bei der intermittirenden Methode jene Störung durch associative
Vorgänge naturgemäss weit weniger geltend machen konnte, als bei
der fortlaufenden Arbeit. Andererseits ist die Voraussetzung einer
erheblichen centralen motorischen Lähmung immerhin auch im Hinblick
auf die Dynamometer- und Leseversuche einigermassen unwahrscheinlich.
Mit Sicherheit jedoch vermag ich die hier aufgestellte Alternative nicht
zu entscheiden.


Ebensowenig bin ich im Stande, die hie und da beobachtete
secundäre Erschwerung der psychischen Vorgänge genauer zu analy-
siren. Es könnte sich bei derselben entweder um eine Verstärkung
motorischer Lähmungserscheinungen oder aber um den Uebergang der
intellectuellen Erregbarkeitssteigerung in eine Herabsetzung derselben
handeln. Bei genauerer Durchsicht der Versuchsergebnisse erscheint
mir indessen die Auffassung der Störung als Theewirkung überhaupt
[224] sehr zweifelhaft. Höchstens finden sich unter den Leseversuchen ein-
zelne (M., De., K.), bei denen der verschiedene Verlauf der Normal-
und der Theereihen eine solche Annahme nahe legen würde. Für
diese Fälle wäre wol eine periphere Entstehungsweise, eine stärkere
Ermüdung der Muskeln nach der anfänglichen Erhöhung der Arbeits-
leistung, am wahrscheinlichsten. Der abweichende Ausfall der Dyna-
mometerversuche würde wegen ihrer kürzeren Dauer nicht unbedingt
dagegen sprechen. Uebrigens war die von mir angewandte Dosis
immerhin ziemlich gering. Doch ist zu bemerken, dass auch Dehio
mit der doppelten Gabe hinsichtlich der secundären Ermüdung keine
entschiedeneren Resultate erhielt, wenn wir das Fehlen normaler Ver-
gleichsreihen berücksichtigen. Nur der verkürzende Einfluss war bei seinen
Associationsversuchen weit deutlicher, als bei mir, ein neuer Beweis da-
für, dass diese für den Thee die eigentlich charakteristische Wirkung ist.


Das Bild, welches wir bis hierhin von der Theewirkung ge-
wonnen haben, entspricht in allen wesentlichen Zügen den Erfah-
rungen des täglichen Lebens. Wir wissen, dass Thee und Kaffee
unsere intellectuelle Leistungsfähigkeit in entschiedener Weise anregen,
und benutzen dieselben daher überall, wo es sich darum handelt, die
geistige Ermüdung zu bekämpfen, wie auch Dehio*) ausführlich
dargelegt hat. Am Morgen beseitigen jene Getränke die letzten Spuren
der Schläfrigkeit, und am Abend erhalten sie uns wach, wenn wir
noch irgendwelche intellectuelle Aufgaben zu lösen haben. In grösseren
Gaben und bei empfindlichen Personen verhindert ihr Genuss für
längere Zeit den Eintritt des Schlafes. Niemals dagegen entwickelt
sich durch Thee und Kaffee jene motorische Erregung des Alkohol-
rausches, jene Neigung zum Lärmmachen und zu unbesonnenem
Handeln, niemals die eigenthümliche Euphorie, das gesteigerte Kraft-
bewusstsein des Angetrunkenen. An ihre Stelle tritt eine grössere
Lebhaftigkeit und Klarheit der Gedanken, die aber durchaus nicht
ohne Weiteres auch eine grössere Mittheilsamkeit nach sich zieht.
Andererseits bleibt die secundäre Ermüdung hier ganz aus oder ist
doch sehr gering, während sie auch dem mässigen Alkoholgenusse
mit unfehlbarer Sicherheit rasch nachfolgt. Mit Recht benutzen wir
daher Kaffee und Thee als Gegengifte gegen den Alkohol. Eine
reichliche Mahlzeit erzeugt an sich schon einen gewissen Grad von
Müdigkeit, vielleicht wegen der durch sie bewirkten Hirnanämie. Durch
den Alkoholgenuss wird der Eintritt der psychischen Abstumpfung
[225] noch begünstigt, und nun tritt der anregende Einfluss des Thees oder
Kaffees in seine Rechte. Nicht selten allerdings sucht man denselben,
um ein Uebermass von geistiger Frische zu vermeiden, mit besonderem
Raffinement vorsorglich durch neue Gaben concentrirten Alkohols
wieder einzudämmen.


In diesem Antagonismus zwischen dem Alkohol einerseits, Kaffee
und Thee andererseits liegen auch die Wurzeln der chronischen
Wirkung
dieser Mittel auf das Seelenleben. Die beiden letzteren
Stoffe können bei längerem Missbrauche höchstens zur Entwicklung
neurasthenischer Erscheinungen führen; jenes erstere Gift erzeugt in
mehr oder weniger ausgeprägter Form den Symptomencomplex des
chronischen Alkoholismus. Auf der einen Seite haben wir es mit
dauernder Erregbarkeitssteigerung im Bereiche der intellectuellen Vor-
gänge, mit dem Ausbleiben des geistigen Ermüdungsgefühls und damit
verbundener Schlaflosigkeit zu thun, auf der andern Seite mit Ab-
stumpfung der Intelligenz, vor Allem aber mit erhöhter gemüthlicher
Reizbarkeit, fortschreitender Willensschwäche und dem Verluste jener
moralischen Hemmungen, welche das Handeln des Menschen in be-
stimmte Bahnen lenken. Bedürfte es noch eines Nachweises für die
fundamentalen Verschiedenheiten in der Wirkung des Alkohols und
Thees — dieser Gegensatz kann wol nicht charakteristischer gedacht
werden. In ihm spiegeln sich praktisch greifbar gerade jene experi-
mentellen Einzelerfahrungen wider, aus denen wir unsere Anschau-
ungen über die Elemente der psychischen Beeinflussung durch Alkohol
und Thee abgeleitet hatten.


f. Morphium.


Der letzte der Stoffe, dem wir noch eine kurze Betrachtung zu
widmen haben, ist das Morphium. Soweit die wenigen über dieses
Mittel vorliegenden Versuche ein Urtheil gestatten, erleichtert das-
selbe sofort die Auffassung äusserer Eindrücke, eine Wirkung, die
ihren Höhepunkt nach 30—35′ erreicht, während die Ausführung des
Wahlactes in ganz ähnlichem Tempo erschwert wird. Durch diese
Eigenthümlichkeiten tritt die Morphiumwirkung in Gegensatz zu allen
bisher besprochenen Arten der psychischen Beeinflussung. Sie ver-
bindet die Anregung der intellectuellen Vorgänge, wie sie dem Thee
zukommt, mit der Lähmung des Willens, die wir im zweiten Stadium
der Alkoholvergiftung beobachten. Die Uebereinstimmung dieser
Kraepelin, Beeinflussung. 15
[226] experimentellen Ergebnisse mit unserer sonstigen Kenntnis der psy-
chischen Morphiumwirkung ist, wie mir scheint, eine befriedigende.
Wir wissen, dass wenigstens kleinere Gaben des Mittels nicht, wie
die zuerst besprochenen Stoffe, Schlaf erzeugen, sondern im Gegen-
theil eine grössere Lebhaftigkeit und raschere Aufeinanderfolge der
Vorstellungen herbeiführen, wie der Thee. Ist doch dem Morphinisten
geistige Arbeit überhaupt erst möglich, wenn er sich die nöthige An-
regung durch das unentbehrliche Medicament verschafft hat! Dabei
fehlen der Morphiumvergiftung völlig die motorischen Reizerscheinungen
des Alkoholrausches; es entwickelt sich kein Bewegungsdrang, sondern
die Neigung zu behaglichem, ruhigem Hinträumen, wie sie der Er-
schwerung der centralen motorischen Acte entsprechen würde. Anderer-
seits zeigt uns der Morphinist auf das deutlichste jenen Verlust der
moralischen Energie, den wir als Folge einer immer wiederholten
Willenslähmung erwarten müssen. Ja diese Störung ist hier noch
intensiver, als beim Alkoholisten, vielleicht nicht nur, weil der Miss-
brauch ein ununterbrochener ist, sondern möglicherweise auch deshalb,
weil hier schon kleine Gaben von vornherein lähmend wirken, während
der Alkohol erst in grösseren Mengen denselben Effect herbeiführt.


Durch die Eigenart der Wirkungen des Morphiums erklärt sich
auch der therapeutische Erfolg des Alkohols in der Morphium-
abstinenz, sowie der besondere Einfluss jenes Mittels in der Verbindung
mit der Chloral- oder Chloroformnarkose. Auch der Alkohol erzeugt
einen Zustand von Euphorie, der die Morphiumwirkung bis zu einem
gewissen Grade zu ersetzen vermag. Das Chloralhydrat unterdrückt
die anregende Wirkung des Morphiums auf das Sensorium, während
umgekehrt dieses letztere Mittel die motorische Excitation der Chloro-
formnarkose verhindert oder abschwächt.


Noch eine ganze Reihe von Fragen wären es, deren Beantwortung
man vielleicht durch ein genaues Studium der psychischen Morphium-
wirkungen erreichen könnte. Namentlich interessant würde mir eine
Vergleichung der Morphiumeuphorie mit der gehobenen Stimmung des
Alkoholrausches erscheinen, die, wie ich glaube, verschiedener Art sind.
Wir könnten dadurch vielleicht zu einem Verständnisse der so wich-
tigen Morphiumwirkung bei Angstzuständen und zu einer klareren
Vorstellung über das Wesen dieser letzteren selbst gelangen. Endlich
würde das Experiment wol auch über Entstehung und psychologische
Natur gewisser Abstinenzerscheinungen Licht verbreiten können. Bei
der Unvollständigkeit meiner Versuche muss ich es mir versagen, auf
diese Fragen irgendwie näher einzugehen, um so mehr, als gerade
[227] hinsichtlich der Morphiumwirkung die Dosirung und vor Allem die
Individualität eine sehr entscheidende Rolle zu spielen scheint. Durch
diese Verschiedenartigkeit des Vergiftungsbildes erklären sich auch
wol theilweise die Widersprüche, in denen meine Versuchsergebnisse
zu manchen Angaben der Lehrbücher stehen. Eine weitere Discussion
dieser Verhältnisse ist indessen einstweilen zwecklos, da vollständigere
Klärung hier überall gewiss nur durch die psychologischen Unter-
suchungsmethoden wird erreicht werden können.


g. Zusammenfassung der Ergebnisse.


Ein kurzer Rückblick auf den ganzen, bis hierher von uns zurück-
gelegten Weg lässt, wie ich meine, erkennen, dass wir durch die hier
angewandten Methoden in den Stand gesetzt sind, diejenigen Ver-
änderungen in unserem Seelenleben, die wir sonst nur durch das trüge-
rische Hülfsmittel der Selbstbeobachtung in ganz allgemeinen Umrissen
zu schildern vermögen, nunmehr in bestimmten Zahlenwerthen auszu-
drücken und auf gewisse sehr einfache Elementarstörungen zurückzu-
führen. Damit ist natürlich durchaus nicht gesagt, dass die von uns
aufgefundenen Beeinflussungen schon ein irgendwie vollständiges Bild
der psychischen Gesammtwirkung jener Stoffe liefern. Im Gegentheil
steht zu erwarten, dass die Anwendung neuer Untersuchungsmethoden
auch noch andere Seiten des durch die Vergiftung herbeigeführten
Zustandes kennen lehren und dadurch die jetzt entworfenen Umrisse
vervollständigen wird. Andererseits steht zu erwarten — und darin
scheint mir ein nicht unerheblicher Nutzen dieser „Pharmakopsychologie“
zu liegen —, dass wir bisweilen umgekehrt in die Lage kommen werden,
aus der besonderen Wirkung, die ein schon genauer bekanntes Mittel
auf einen bestimmten psychischen Vorgang ausübt, die wahre Natur
dieses letzteren besser zu erkennen. Zur Erläuterung dieser Möglich-
keit möchte ich nur an unsere Erfahrungen über das Auswendiglernen
erinnern. Dass diese Arbeitsleistung bei mir wesentlich einen moto-
rischen Einübungsvorgang darstellt, ist mir erst dann klar geworden,
als ich die eigenthümliche Beeinflussung derselben durch den Alkohol
kennen lernte, dessen anregende Wirkung auf das motorische Gebiet
mir bereits aus anderen Versuchen bekannt war. Nach diesen Rich-
tungen also wird das Studium der psychischen Arzneimittelwirkungen
vielleicht auch der Psychologie manche Aufschlüsse zu gewähren im
Stande sein.


15*
[228]

Mit ganz besonderer Befriedigung aber betrachte ich den Um-
stand, dass nach Ausweis unserer Versuchsergebnisse jedem einzelnen
der hier besprochenen Stoffe eine durchaus eigenartige Wirkung auf
unser Seelenleben zukommt. Wir wissen das freilich aus der prak-
tischen Erfahrung schon ohnedies, aber ich bezweifle, dass irgend Je-
mand im Stande wäre, die von uns empfundenen Unterschiede von
vornherein genauer zu analysiren. Das Experiment dagegen lehrt
uns, dass es die verschiedenartige Combination der Elementarstörungen
ist, welche die Mannigfaltigkeit in der Beeinflussung unseres Bewusst-
seinszustandes hervorruft. Solche Stoffe, deren Wirkung für unsere
Selbstauffassung ähnlich ist, zeigen auch für die psychologische
Untersuchung ähnliche Züge, nur in gradueller Abstufung. Um über
diese Verhältnisse noch einmal eine Uebersicht zu geben, habe ich
auf der beiliegenden Tafel das Endresultat der Versuche für die ein-
zelnen Stoffe in schematischer Weise zusammengestellt.


Wie wir gesehen haben, verbinden sich fast überall motorische Stö-
rungen mit sensorischen und intellectuellen. Auf den letzteren beiden Ge-
bieten aber gingen dieselben, soweit unsere Untersuchungen reichten,
immer einander parallel, so dass wir sie für die schematische Betrachtung
nicht gesondert zu berücksichtigen brauchen. Um den Gang der Ver-
änderungen zu veranschaulichen, habe ich Curven gewählt, rothe für
die Darstellung der centralen motorischen, blaue für diejenige der
sensorischen und intellectuellen Vorgänge. Die vermuthlich peripheren
Wirkungen liess ich für diesen Zweck ausser Betracht. Erschwerung
und Verlangsamung der betreffenden Functionen ist durch Ansteigen
der Curven über die Nullinie, Erleichterung und Beschleunigung da-
gegen durch Sinken unter jene Linie angedeutet. Um den Zeit-
verhältnissen einigermassen gerecht zu werden, habe ich die Abscissen-
achse in Abschnitte für je 10 Minuten getheilt, so dass 6 Theilstriche
dem Zeitraume einer Stunde entsprechen. Alle Curven sollen einen
psychischen Vorgang wiedergeben, der sich annähernd gleichmässig
aus einem sensorischen oder intellectuellen und einem motorischen Be-
standtheil zusammensetzt. Man würde also etwa an einen Vorgang
denken können, der in dieser Beziehung zwischen Wahl- und Wort-
reaction in der Mitte stünde. Die Zahlenwerthe in Tausendstel Se-
kunden sind daher bis zu einem gewissen Grade willkürlich gewählt
und repräsentiren nur ganz im Allgemeinen die relative Stärke der
Wirkung, welche die einzelnen Mittel nach Massgabe vergleichbarer
Versuchsreihen auf die beiden Seiten unseres Seelenlebens ausüben.
Die Resultante der beiden theoretisch construirten Curven, die ich als
[229] schwarze Linie eingezeichnet habe, würde dem praktisch durch die
Messung gefundenen Ablaufe der psychometrischen Werthe ent-
sprechen.


Die nahe Verwandtschaft der Wirkungen des Chloroform und
Aether untereinander und weiterhin mit dem Chloralhydrat fällt bei
dieser Darstellungsweise ebenso unmittelbar in die Augen, wie ihre
feineren Unterschiede. Beim Paraldehyd und mehr noch beim Amyl-
nitrit tritt die Beschleunigung der motorischen Functionen stärker
hervor; zugleich aber liegen hier nach der andern Seite hin tiefgrei-
fende Differenzen, die das erstere mehr dem Chloralhydrat, das letztere
mehr dem Aether und Chloroform nähern, ohne sie doch diesen Mitteln
völlig gleichzustellen. Eine sehr grosse Alkoholdosis unterscheidet sich
in ihrer Gesammtwirkung von der des Chloralhydrats hauptsächlich durch
die langsamere Entwicklung der Lähmung, während bei kleiner Dosis
das psychische Bild der Vergiftung durch die stärker hervortretende
motorische Erregung eine wesentlich andere Färbung erhält. Beim
Thee und Morphium tritt uns in der Erleichterung der sensorischen
und intellectuellen Vorgänge eine völlig neue Erscheinung entgegen,
die sich beim Morphium mit der ebenfalls stark ausgeprägten Willens-
lähmung in höchst eigenthümlicher Weise combinirt. Für die Thee-
wirkung dagegen gewinnt neben der geringfügigen centralen moto-
rischen Hemmung ausserdem noch die hier nicht mit dargestellte Er-
regbarkeitssteigerung der peripheren Bewegungsorgane charakteristische
Bedeutung. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die in diesen
Curven ausgedrückten Anschauungen sich durch fortgesetzte Unter-
suchungen noch nach mancher Richtung hin ändern werden, zumal
meine Studien eigentlich nur für den Alkohol und Thee eine grössere
Vollständigkeit erreicht haben. Andererseits aber sehe ich gerade
in dem durchgängigen und ungesuchten Parallelismus zwischen den
praktisch bekannten Differenzen und den Ableitungen aus unseren
Versuchen eine gewisse Gewähr dafür, dass es uns hier gelungen ist,
in der Erkenntniss des Thatsächlichen einen Schritt vorwärts zu thun.


Mit voller Absicht habe ich es überall im Vorstehenden vermieden,
eine Anknüpfung der psychologischen Erfahrungen an die physiologisch-
chemischen Vorstellungen über die Wirkung der Arzneimittel zu suchen.
Zur Lösung einer solchen Aufgabe halte ich mich nicht für competent.
Auch fürchte ich, dass der Widerstreit der Meinungen auf dem Ge-
biete der Pharmakophysiologie es für jetzt überhaupt schwierig machen
wird, in jener Frage weiter, als zu einigen allgemeinen und unsicher
begründeten Hypothesen zu gelangen. Mein Ziel war es ausschliess-
[230] lich, die Methoden für eine exacte Feststellung der psychischen
Arzneimittelwirkungen nach einigen Richtungen hin auszubilden und
die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, sowie die Brauchbarkeit
ihrer Ergebnisse an den ausgewählten Beispielen darzulegen. Nur
eine Frage von allgemeinerer pharmakologischer Bedeutung ist es
noch, die ich hier zum Schlusse kurz berühren möchte, weil ich sie
bei der Mittheilung meiner ersten Versuche selbst aufgeworfen habe.
Die Erfahrungen bei den Inhalationsstoffen, wie auch später beim Al-
kohol legten die Annahme nahe, dass unser Centralorgan auf toxische
Einflüsse regelmässig in zwei verschiedenen, aufeinanderfolgenden
Phasen reagire, einer solchen der Erregung und einer solchen der Ab-
stumpfung oder Hemmung. Dieser Möglichkeit stand die andere gegen-
über, dass der Ablauf der psychischen Beeinflussung nicht in all-
gemeinen Eigenschaften unseres Centralorganes, sondern in den besonderen
Eigenthümlichkeiten der untersuchten Gifte seine Ursache habe. Schon
Cervello und Coppola haben auf Grund ihrer Versuche über
Chloralhydrat und Paraldehyd diese Alternative in letzterem Sinne
beantwortet, und ein Blick auf unsere Curventafel wird darthun, dass
der Verlauf in entgegengesetzten Stadien wesentlich eine Zufälligkeit
ist, welche zumeist durch das theilweise Uebereinandergreifen ver-
schiedenartiger Vorgänge bedingt wird. Nur an einzelnen Punkten,
namentlich bei der motorischen Wirkung kleinerer Alkoholgaben, haben
wir es wirklich mit einer Aufeinanderfolge von Erregung und Läh-
mung zu thun, eine Erscheinung, die wol einfach durch eine fort-
schreitende Steigerung des Gifteinflusses zu erklären ist.


Auf der andern Seite aber hat sich uns fast überall ein gewisser
Gegensatz in der Beeinflussung der verschiedenen Richtungen unseres
Seelenlebens dargeboten. Erleichterung der centralen motorischen
Auslösung verbindet sich gewöhnlich mit Erschwerung der Auffassung
und geistigen Verarbeitung und umgekehrt. Wohlkönnen bei schwerer
Vergiftung beide Gruppen von psychischen Vorgängen gelähmt sein,
aber wir haben bisher kein Mittel gefunden, welches beide gleichzeitig
erleichtert. Auf diese Weise also hat sich der früher aufgestellte
Gegensatz der Stadien in einen Gegensatz der Functionen um-
gewandelt. Es muss dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung bei
weiterer Prüfung anderer wirksamer Stoffe sich durchgängig bestätigt;
beachtenswert ist das Ergebniss jedenfalls schon jetzt. Wir nähern
uns damit, wie ich früher im Einzelnen ausgeführt habe, den vielfach
verbreiteten Vorstellungen von einem physiologischen Antagonismus
zwischen verschiedenartigen Functionen unseres Centralorgans. Die
[231] regelmässige Combination entgegengesetzter Wirkungen könnte dann
etwa dadurch bedingt sein, dass die Erregung derjenigen Organe, an
welche die intellectuelle Verarbeitung des Erfahrungsmaterials geknüpft
ist, an und für sich schon eine Hemmung in den Auslösungsstätten
für reflectorische und eingeübte Bewegungen bedeutet und umgekehrt.
Eine andere Erklärungsmöglichkeit aber läge in der Annahme einer
besonderen Verschiedenartigkeit der chemischen Constitution in den ein-
zelnen centralen Organen. Wenn motorische und intellectuelle Functionen
an Partien unseres Nervengewebes gebunden sind, die sich in ihrer stoff-
lichen Zusammensetzung wesentlich von einander unterscheiden, so er-
scheint es selbstverständlich, dass auch die Veränderungen verschieden
sein müssen, welche durch die einzelnen Gifte in dem Ablaufe jener
Functionen hervorgerufen werden.


[[232]]

VI. Individuelle Verschiedenheiten.


Als die drei nächsten Aufgaben, welche das Studium der psy-
chischen Medicamentwirkungen zu lösen hat, erschienen mir beim Ab-
schlusse meiner ersten Versuche die Ausdehnung der Experimente auf
weitere Arzneistoffe, die Untersuchung mannigfaltigerer und ver-
wickelterer psychischer Vorgänge und endlich die Berücksichtigung
individueller Differenzen. Nach allen diesen Richtungen hin habe ich,
soweit es meine Kräfte und äussere Umstände gestatteten, das For-
schungsgebiet zu erweitern gesucht. Diejenigen Schlüsse, welche der
Vergleich verschiedener Stoffe und ihrer Wirkungen auf verschieden-
artige Functionen unserer Seele gestattet, sind im Vorstehenden aus-
führlich besprochen worden. Somit bliebe nur noch übrig, zu unter-
suchen, wieweit in dem Verhalten der einzelnen Versuchspersonen be-
merkenswerthe Differenzen hervorgetreten sind. Es liegt indessen auf
der Hand, dass es hier nicht angeht, die Verschiedenheit der Arznei-
wirkungen allein in’s Auge zu fassen. Vielmehr gewinnt diese Gruppe
von individuellen Abweichungen erst dann die richtige Beleuchtung,
wenn sie einigermassen in Beziehung gesetzt werden kann zu den
übrigen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Personen. Ein tieferes Ver-
ständniss der individuellen Reactionsweise kann nur aus einer genauen
Kenntniss der Gesammtpersönlichkeit gewonnen werden.


Leider fehlen mir für eine derartige Vertiefung der Frage nahezu
alle Vorbedingungen. Die Methoden für die exacte und allseitige
psychophysische Untersuchung eines Individuums befinden sich noch
in vollständig embryonalem Zustande und sind überdies so zeitraubend,
dass die praktische Verwendung der vorhandenen spärlichen Ansätze
einstweilen nur ausnahmsweise möglich erscheint. Zudem wissen wir
überhaupt noch gar nicht, auf welche Punkte wir bei der psychischen
Charakterisirung einer Persönlichkeit vor Allem unser Augenmerk zu
[233] richten haben. Unter diesen Umständen muss ich mich hier darauf
beschränken, aus dem mir vorliegenden Versuchsmateriale zunächst
alle diejenigen Daten zusammenzustellen, welche nach irgend einer
Richtung hin die Besonderheiten der verschiedenen Personen kenn-
zeichnen. In zweiter Linie wird es darauf ankommen, zu untersuchen,
wieweit die Eigenthümlichkeiten der Einzelnen unter einander in
innerem Zusammenhange zu stehen scheinen und wie weit sie auf ein-
fachere Grundeigenschaften zurückgeführt werden dürfen.


Selbstverständlich ist das für diese Untersuchung zu Gebote
stehende Material überaus spärlich und lückenhaft, da die Lösung
einer so umfassenden Aufgabe nicht von vornherein systematisch vor-
bereitet wurde und wir nur auf den Vergleich der verschiedenartigen
zur Controle ausgeführten Normalversuche angewiesen sind. Um aber
wenigstens einen Ueberblick über die verschiedenen Richtungen zu ge-
winnen, nach denen derartige Untersuchungen schon jetzt durchgeführt
werden könnten, empfiehlt es sich, die vorliegenden Daten nach ge-
wissen allgemeinen Gesichtspunkten zu ordnen. Wir lernen dabei
immerhin einige dem Experimente zugängliche Eigenthümlichkeiten
kennen, welche vielleicht für die Beurtheilung der Individualität nicht
ohne Bedeutung sind.


a. Grösse der psychischen Leistung.


Die erste Frage, die wir hier zu stellen hätten, wäre die-
jenige nach der absoluten Grösse der psychischen Leistung. Als
Mass für diese letztere darf die Schnelligkeit gelten, mit welcher
derselbe Vorgang von verschiedenen Personen vollzogen wird. Wir
können demnach als Material für die Beantwortung jener Frage zunächst
die Länge der psychischen Zeiten bei den einzelnen Reactionsformen
heranziehen. Soweit die vorliegenden Untersuchungen in Betracht
kommen, finden sich die Werthe für die verschiedenen Mitarbeiter in
der folgenden Tabelle zusammengestellt. *)


Tabelle LXXVI.


[234]

Wie man sieht, sind die Schwankungen der Zahlen ziemlich gross.
Bei der einfachen Reaction beträgt das längste Mittel nahezu das
1 ½ fache des kürzesten. Diese Unterschiede sind zum Theil auf die
Verhältnisse der Uebung zurückzuführen; der Werth bei Mo. wurde
an einem der ersten Versuchstage für diese Person gewonnen. Anderer-
seits aber spielen hier persönliche Eigenthümlichkeiten bereits eine
grosse Rolle. Die 3 ersten Versuchspersonen waren bei der Anstellung
der Versuche ohne Zweifel viel weniger eingeübt, als die 4 folgenden,
und lieferten trotzdem weit kürzere Zahlen. Für Mo. und R. z. B.
war der Uebungsgrad etwa der gleiche, ebenso für L. und T., sowie
für Tr. und K. Die Erklärung dieser Verschiedenheiten unter dem
Gesichtspunkte der musculären und sensoriellen Reaction liegt sehr
nahe. Wir wissen freilich, dass der Einfluss der Uebung diese letztere
Reactionsform in jene erstere umzuwandeln bestrebt ist, dass der Act
durch immer wachsende Bereitschaft des Bewegungsimpulses sich dabei
mehr und mehr dem Reflexe nähert, aber dieser Vorgang vollzieht
sich bei verschiedenen Personen gewissermassen parallel. Ihre Reihen-
folge nach der Länge der Reactionszeiten ändert sich dabei keineswegs.
L. hat am Schlusse unseres lange fortgesetzten Zusammenarbeitens
immer noch erheblich langsamer, De. schon von Anfang an beträchtlich
schneller reagirt, als ich. Bei Tr. war die Reactionsdauer nach seiner
langen Einübung so constant geworden, dass ich die Stärke meines
Chronoskopstroms zu controliren pflegte, sobald sich eine Abweichung
von mehr als 10—20 σ von der mittleren Reactionszeit herausstellte.
Selbst diese einfachsten psychischen Zeiten sind demnach ganz sicher
etwas individuell Charakteristisches. Aber freilich genügt für die Be-
urtheilung ihres persönlichen Werthes nicht die Berücksichtigung der-
artiger Mittel, wie sie hier wiedergegeben sind. Da die eigentliche
Aufgabe der Untersuchung auf ganz anderem Gebiete lag, so setzen
sich diese Mittel aus Beobachtungen zusammen, die unter sehr ver-
schiedenartigen Bedingungen gewonnen wurden. Wollte man wirk-
lich genau vergleichbare Werthe gewinnen, so müssten natürlich der
Uebungsgrad, die Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Versuchsreihen,
die Dauer dieser letzteren, die Tageszeiten, die Anzahl der Beobach-
tungen und alle übrigen in Betracht kommenden Umstände für alle
Personen die gleichen sein, oder man müsste wenigstens das Material
besitzen, welches die Grösse und Richtung des Einflusses abzuschätzen
gestattet, den jene einzelnen Momente auf die Länge der Mittelzahlen
ausüben.


Wegen dieser Unsicherheit will ich auch hier auf eine eingehendere
[235] Besprechung der in der Tabelle wiedergegebenen Werthe verzichten.
Nur auf das Verhalten der Wahlzeiten möchte ich noch kurz hin-
weisen. Die Grösse der individuellen Unterschiede ist bei ihnen ent-
schieden geringer, als bei den einfachen Reactionen. Die Unter-
scheidung zwischen zwei einfachen Eindrücken verknüpft sich mit der
Wahl zwischen zwei Bewegungen in einem Zeitraum, der für ver-
schiedene Personen annähernd gleich ist, wie schon Tischer nach-
gewiesen hat. Auch die Zahlen der beiden italienischen Forscher
schliessen sich in diesem Punkte den übrigen an, obgleich sie sonst
wegen der andersartigen Versuchsbedingungen nicht ohne Weiteres
vergleichbar sind. Nur De. fällt aus dem Rahmen heraus, insofern
die Differenz zwischen einfacher und Wahlreaction nicht, wie bei den
Uebrigen, annähernd 100, sondern 150 σ beträgt. Auch S. würde
jedenfalls ein etwas anderes, nach der entgegengesetzten Seite ab-
weichendes Resultat geliefert haben. Leider stehen mir seine Original-
zahlen nicht mehr zur Verfügung, aber Dehio’s Tabelle, VI p. 33
zeigt, dass seine Wahlreactionen zumeist nur 150—200 σ betrugen.
Der Schnelligkeit seiner einfachen Reactionen entspricht demnach die
ganz ungewöhnliche Kürze der Wahlreactionen. Dabei ist jedoch zu
bemerken, dass der Vergleich dieser absoluten Zahlen untereinander
starken Bedenken unterliegt, da der Reiz überall nach Trautscholdt’s
Methode gegeben wurde. Unter diesen Umständen wird das Zeitver-
hältniss zwischen Entstehung des Reizes und Beginn der Messung
wesentlich durch die Person des Registrirenden mitbestimmt. Immer-
hin konnte ich feststellen, dass bei weitausgedehnten Versuchsreihen
über verschiedene Associationsformen, die ich mit S. und De. unter
ganz gleichen Verhältnissen durchführte, mit vollkommenster Regel-
mässigkeit überall der Erstere rascher arbeitete, als der Letztere. An
einer constanten Verschiedenheit beider Personen in der bezeichneten
Richtung kann demnach kein Zweifel sein. Ganz ähnlich liess sich
in der langen Zeit unseres Zusammenarbeitens feststellen, dass L. stets
langsamer zu reagiren pflegte, als ich.


Weit besser vergleichbar sind die Ergebnisse der Versuche nach
fortlaufender Methode, da sie in systematischer Weise gerade zum
Studium der individuellen Verschiedenheiten angestellt worden sind.
Die wesentlichsten Schlussfolgerungen indessen, welche sich nach dieser
Richtung aus den Normalreihen ableiten lassen, sind bereits von
Oehrn ausführlich besprochen worden. Wir können uns somit hier
auf die Frage beschränken, wieweit sich die früher beobachteten
Unterschiede zwischen den einzelnen Personen bei den Versuchen mit
[236] Alkohol und Thee wieder auffinden lassen. Zum Zwecke dieser Unter-
suchung werden wir also festzustellen haben, ob die Reihenfolge der
Versuchspersonen nach der Grösse ihrer Arbeitsleistung bei den
medicamentösen Versuchen dieselbe bleibt, wie in den Normalreihen.
Dabei empfiehlt es sich aber natürlich, überall nur die Werthe aus
den ersten halben Stunden mit einander zn vergleichen. Ferner lassen
wir die zweiten Alkoholversuche und die Beobachtungen bei He. am
zweckmässigsten ausser Betracht. Für das Addiren ergiebt sich
alsdann folgende Zusammenstellung.


Tabelle LXXVII.


Die Uebereinstimmung dieser Reihen untereinander ist eine sehr
befriedigende, wenn man die vielfachen Zufälligkeiten bedenkt, welche
die Regelmässigkeit beeinträchtigen können. O. und M. arbeiten
stets am schnellsten, Da. immer am langsamsten. De. nähert sich
mehr der ersteren Gruppe, K. mehr der letzeren. Ha. nimmt eine
etwas wechselnde Stellung ein. Würden wir ihn ausser Betracht
lassen, so würden alle 3 Reihen, abgesehen von der kleinen Verschie-
bung zwischen O. und M., vollkommen einander gleich sein. Es kann
daher nicht wol bezweifelt werden, dass die Arbeitsleistung beim
Addiren für jede Person eine individuell bestimmte Grösse hat und
dass unter sonst gleichen Bedingungen diese Verschiedenheiten überall
in typischer Weise wieder hervortreten. Kleinere zufällige Einflüsse
genügen so wenig, um die Eigenthümlichkeiten der Einzelnen zu ver-
wischen, dass schon die einmalige vergleichende Untersuchung ein an-
nähernd richtiges Urtheil über das gegenseitige Verhältniss der ab-
soluten Leistungsfähigkeit gestattet.


Ueber die Reihenfolge der Versuchspersonen beim Zahlenlernen
giebt die folgende Tabelle Auskunft.


Tabelle LXXVIII.


[237]

Hier sind die Ergebnisse weniger gleichmässige. O. und K. aller-
dings behalten überall ihre Stelle als schnellste Arbeiter, und auch
Ha. wechselt nur einmal etwas den Platz, aber die andern 3 Ver-
suchspersonen zeigen ein sehr verschiedenes Verhalten. Wir können
daraus schliessen, dass die Arbeit des Auswendiglernens in höherem
Masse von innern und äussern Zufälligkeiten beeinflusst wird, als die-
jenige des Addirens. Nur sehr grosse Differenzen werden daher con-
stant bleiben, während kleinere individuelle Unterschiede durch die
jeweiligen Versuchsumstände verwischt oder sogar umgekehrt werden
können. So lernte O. in dem Theeversuche noch am schnellsten, ob-
gleich die Zwischenzeit seit der Alkoholreihe bei ihm 8½ Monat mehr
betrug, als bei den meisten übrigen Versuchspersonen; Ha. dagegen
büsst seine Stelle ein, nachdem bei ihm die Pause nur 2 Monate
länger war, als bei De. Berücksichtigen wir namentlich diese letztere
Fehlerquelle, so lässt sich wenigstens so viel feststellen, dass die Ver-
suchspersonen in eine schnell und eine langsam lernende Gruppe zer-
fallen, zu deren ersterer O., K., Ha., zu deren letzterer M., Da., De.
gehören. Die Verschiedenheiten dieser beiden Gruppen lassen sich
dann mit befriedigender Regelmässigkeit in den 3 Versuchsreihen
wieder auffinden.


Eine ganz vollkommene Uebereinstimmung zeigt die Reihenfolge
der Personen in den Alkohol- und Theeversuchen, wenn wir sie nach
der Geschwindigkeit der Wiederholungen beim Lernen
ordnen. Leider besitze ich hier nicht die entsprechenden Notizen aus
den Normalreihen zum Vergleiche.


Tabelle LXXIX.


Der Ablauf dieser Function ist demnach für das Individuum in
hohem Masse charakteristisch. Trotzdem die absoluten Zahlen sich
nicht unbeträchtlich ändern, bleibt die Reihenfolge genau dieselbe,
ohne durch Nebeneinflüsse irgendwie gestört zu werden. Auch hier
würde demnach vermuthlich eine einmalige vergleichende Untersuchung
ausreichen, um die typischen Unterschiede der einzelnen Personen klar-
zulegen.


Auffallenderweise begegnet uns beim Lesen die gleiche Regel-
mässigkeit nicht wieder.


[238]

Tabelle LXXX.


Nur K. hat überall die letzte Stelle behalten, und auch M. hat
annähernd seinen Platz behauptet. Im Uebrigen ist von einer Con-
stanz keine Rede. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die absoluten
Unterschiede in der Arbeitsleistung hier überhaupt sehr geringe sind,
und daher viel leichter ein Wechsel in der Reihenfolge zu Stande
kommen kann, als bei den übrigen hier untersuchten Vorgängen. Die
Verschiebungen haben also wegen der relativen Geringfügigkeit der
Unterschiede keine sehr grosse Bedeutung. Eben darum aber darf
die Lesegeschwindigkeit auch nicht als ein besonders werthvolles Merk-
mal der Persönlichkeit angesehen werden. Immerhin ist es vielleicht
auch hier gestattet, eine langsam und eine schnell lesende Gruppe
auseinanderzuhalten. Zu der ersten würden wir K., O., De., zu der
letzteren M., Da. und Ha. rechnen.


Es erscheint endlich noch von Interesse, zu untersuchen, ob die
Arbeitsleistungen auf den verschiedenen Gebieten bestimmte innere
Beziehungen untereinander darbieten. Wir werden zu diesem Zwecke
die überall unterschiedenen beiden Gruppen der schnell und langsam
Arbeitenden für die einzelnen Leistungen mit einander vergleichen.


Tabelle LXXXI.


Wie man sieht, besteht hier keinerlei Gleichmässigkeit. Zwar
ist O. dreimal der erste und Da. wenigstens zweimal der letzte; sonst
aber wechselt die Schnelligkeit des Arbeitens auf den verschiedenen
Gebieten regellos ab. Dieses Resultat steht mit der täglichen Er-
fahrung in bestem Einklange. Wir wissen, dass es einzelne Personen
giebt, die fast alle psychischen Aufgaben sehr rasch oder sehr lang-
sam lösen, dass aber andererseits gewöhnlich die Leistungsfähigkeit
nach verschiedenen Richtungen hin verschieden ausgebildet ist. Der
[239] schnell lernende K. liest sehr langsam, und der schnell lesende Da.
leistet auffallend wenig beim Auswendiglernen. Nur in einer Beziehung
zeigt uns die Tabelle, wie schon früher ausführlich besprochen, eine
so bemerkenswerthe Regelmässigkeit, dass hier an dem Bestehen eines
tieferen Zusammenhanges kaum gezweifelt werden kann. Ich meine
den durchgreifenden Gegensatz zwischen der Schnelligkeit des Lesens
und des Wiederholens. Wer langsam wiederholt, liest schnell und um-
gekehrt. Eine befriedigende Erklärung für diese paradoxe Beobach-
tung bin ich augenblicklich noch nicht im Stande zu geben. Nur
darauf möchte ich hinweisen, dass hier wol die verschiedenartige Lern-
methode eine wichtige Rolle spielt. Es scheint, dass diejenigen Per-
sonen, welche, um es kurz auszudrücken, „sensorisch“ lernen und darum
langsam wiederholen, bei der völlig andersartigen Aufgabe des Lesens
ausschliesslich einen möglichst raschen Ablauf der Sprachbewegungen
erstrebt und erreicht haben. Umgekehrt sind vielleicht die „moto-
risch“ lernenden, das sinnlose Material schnell wiederholenden Ver-
suchspersonen beim Lesen nicht im Stande gewesen, überall den Inhalt
der Lectüre völlig zu vernachlässigen. Warum aber gerade diese ent-
gegengesetzte Behandlung der beiden Aufgaben sich bei allen einzelnen
Personen wiederfand, bleibt dunkel, wenn man sich nicht in das Gebiet
gewagter Hypothesen verlieren will. Da jedoch diese Verhältnisse der
experimentellen Forschung relativ leicht zugänglich sind, ist es wahr-
scheinlich, dass man hier durch fortgesetzte Beobachtungen bald weitere
Aufschlüsse erhalten wird.


b. Qualität der psychischen Leistung.


Von nicht geringerer individualpsychologischer Bedeutung, als
die Menge, ist jedenfalls auch die Art der psychischen Leistung. Wie
schon im methodischen Theile erwähnt, ist die Ausbeute nach dieser
Richtung leider bisher sehr gering, da sich die Qualität der Arbeit
sehr viel schwerer in einfachen Zahlenwerthen ausdrücken lässt. Als
erste Ansätze für eine Würdigung dieser Verhältnisse können wir
vielleicht die Unterscheidung zwischen sensorieller und muscu-
lärer Reactionsweise
ansehen. Aeusserlich prägt sich allerdings
diese persönliche Eigenthümlichkeit zunächst nur in der Länge der
psychischen Zeiten aus. Wir haben jedoch Grund anzunehmen, dass
uns weiterhin auch die grössere oder geringere Neigung zu vorzeitigen
und Fehlreactionen als Anhaltspunkt für die Beurtheilung der Re-
[240] actionsweise dienen kann. Genauere, eigens auf diese Frage gerichtete
Untersuchungen fehlen mir; dagegen haben wir bei mehreren Gelegen-
heiten gesehen, wie verschieden sich die einzelnen Beobachter in dieser
Richtung verhalten. Von allen genauer untersuchten Personen hatte
K. die geringste, R. die grösste Neigung zu vorzeitigen Reactionen.
S., De., Tr. und T. näherten sich mehr dem Letzteren, L. mehr dem
Ersteren. Wie man sieht, spielt somit die absolute Länge der Re-
actionszeiten hier nicht die entscheidende Rolle; vielmehr kommen
noch andere persönliche Eigenschaften in Betracht. Bei an sich
längeren psychischen Zeiten kann die Neigung zu vorzeitiger Reaction
stärker ausgeprägt sein, als bei andern Personen mit schnellem Ab-
laufe der psychischen Functionen. Freilich wird man sie im letzteren
Falle häufiger beobachten, aber dabei ist es vielfach schwer, zu ent-
scheiden, ob nicht umgekehrt die kurzen Werthe selbst schon durch
vorzeitige Reactionen bedingt sind.


Mit dem Gegensatze zwischen sensorieller und musculärer Re-
actionsweise habe ich schon früher die Verschiedenheit der
Lernmethode
in Parallele gestellt. Wie mir scheint, lassen sich
ähnliche Gegensätze auf sehr vielen Gebieten unserer psychischen
Leistungen wiederfinden. Ueberall, wo sich Wahrnehmungen und
Erinnerungsbilder mit Bewegungsvorstellungen verknüpfen, können
wir unsere Aufmerksamkeit jenen oder diesen vorzugsweise zuwenden.
Wir werden daher erwarten dürfen, dass in den neugebildeten Vor-
stellungscomplexen bald die sensorisch-intellectuellen, bald die moto-
rischen Elemente schärfer ausgeprägt sind. Gerade die Erfahrungen
über verschiedene Reactionsweisen und Lernmethoden legen ferner den
Gedanken nahe, dass jene verschiedenartige Ausprägung der Gesammt-
vorstellungen bis zu einem gewissen Grade durch individuelle Eigen-
thümlichkeiten beeinflusst wird. Es könnte sein, dass einige Personen
überhaupt mehr contemplativ und intellectuell, andere mehr motorisch
veranlagt sind, oder auch, dass sich bei demselben Individuum ent-
gegengesetzte Richtungen der psychischen Reactionsweise auf ver-
schiedenen Gebieten nebeneinander vorfinden. Genaueren Aufschluss
über diese Fragen können uns erst eigens darauf gerichtete Unter-
suchungen gewähren. Ich möchte indessen schon jetzt daran erinnern,
dass die tägliche Erfahrung uns zahlreiche Beobachtungen an die Hand
giebt, welche sich möglicherweise unter diesem Gesichtspunkte deuten
lassen. Wir wissen Alle, dass die Fähigkeit, bestimmte Gruppen von
Vorstellungen festzuhalten, in ausserordentlich verschiedener Weise
ausgebildet ist, so dass man sie theilweise sogar als besondere „Seelen-
[241] vermögen“ zu betrachten geneigt war. Das Gedächtniss für Farben-
nuancen, für Personen ist gänzlich unabhängig von demjenigen für
Namen oder Zahlen. Im ersteren Falle spielen offenbar die sinnlichen
Erinnerungsbilder, im zweiten die Sprachvorstellungen die Haupt-
rolle, deren wichtigster Bestandtheil wol meistens Bewegungsvorstel-
lungen sind. Die Fähigkeit, Grössenverhältnisse abzuschätzen, sich
räumlich zu orientiren, das Zeitbewusstsein hängen wahrscheinlich
ebenfalls in erster Linie mit motorischen Erinnerungsbildern zu-
sammen; sie stehen daher in gar keiner Beziehung zur Entwicklung
der optischen Phantasie und anderer ähnlicher Richtungen der Re-
production.


Sehr deutlich treten die Unterschiede zwischen sensorischer und
motorischer Veranlagung bei den verschiedenen Arten der musika-
lischen Begabung hervor. Hier begegnet uns auf der einen Seite das
absolute Tongedächtniss, die Fähigkeit, jeden Ton in seiner absoluten
Höhe sofort zu erkennen und zu benennen; auf der andern Seite steht
die Fertigkeit, Intervalle und Tonfolgen, sei es auf Grund von Noten-
zeichen, sei es aus der Erinnerung zu reproduciren. Im ersteren Falle
handelt es sich um eine sensorische Begabung. Das Individuum ver-
fügt über die sinnlichen Erinnerungsbilder aller einzelnen Töne, ver-
mag bei jedem Akkord die verschiedenen Componenten ohne Weiteres
zu bezeichnen und jede beliebige Melodie sofort in den conventionellen
Zeichen aufzuschreiben, sie dabei in eine andere Tonart zu übertragen
u. s. f. Im letzteren Falle vollzieht sich die Reproduction wesent-
lich mit Hülfe von Bewegungsvorstellungen, welche sich durch mecha-
nische Einübung aneinanderknüpfen. Hier haftet die Erinnerung erst
dann fester, wenn die Person eine Melodie selbst ein oder mehrere
Male gesungen oder gespielt hat, während sie dort von der eigenen
Muskelaction durchaus unabhängig ist. Hier schieben sich durch den
Einfluss früher fixirter Bewegungscoordinationen in die Wiedergabe
überaus häufig unbemerkte kleine Abweichungen ein; beim senso-
rischen Musikgedächtniss dagegen pflegt sich die Tonfolge mit Hülfe
der Notenbezeichnungen in viel grösserer Treue einzuprägen. Diese
letztere Fähigkeit ist im Ganzen erheblich seltener, als jene erstere.
Ich werde nie den verblüffenden Eindruck vergessen, den es auf mich
machte, als ich bei einem befreundeten Collegen zum ersten Male ent-
deckte, dass das Erkennen absoluter Tonhöhen nicht einfach ein
schwieriges Kunststück sei, sondern dass es Menschen gebe, deren
musikalisches Gedächtniss sich vollständig auf dieser Grundlage auf-
baut. Es würde uns natürlich hier viel zu weit führen, wenn wir die
Kraepelin, Beeinflussung. 16
[242] ebenso verwickelte wie interessante Frage der verschiedenartigen musi-
kalischen Begabung noch nach andern Richtungen hin verfolgen, die
Fähigkeit, „vom Blatt“ zu spielen, rein zu singen, das ästhetische Ver-
ständniss und die verschiedenen Arten des musikalischen Geniessens
in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen wollten. Die angeführten
Beispiele sollten nur darthun, dass hier ein Gebiet vorliegt, auf welchem
das Studium der individuellen Veranlagung vielleicht unter den bei
unsern Lernversuchen gewonnenen Gesichtspunkten weitergeführt werden
kann.


Zum Schlusse sei es mir noch gestattet, darauf hinzuweisen, dass
auch die Lehre von der Aphasie, wie mir scheint, auf eine genauere
Berücksichtigung der persönlichen Lernmethoden nicht ganz verzichten
sollte. Die psychischen Vorgänge spielen sich eben nicht bei allen
Menschen nach demselben Schema ab, und die einzelnen Bestandtheile
der „Sprachvorstellungen“ haben wahrscheinlich bei verschiedenen In-
dividuen eine sehr verschiedene Wichtigkeit. Schon dieser Umstand
allein würde es begreiflich machen, dass den so hübsch abgerundeten
„Formen“ der Aphasie nicht eine Reihe ebenso glatter anatomischer
Befunde entsprechen kann, wenn es nicht auch ohnedies Gründe genug
gäbe, welche die Unfruchtbarkeit der bekannten hirnstrategischen
Schemata ausreichend darthun.


c. Uebungsfähigkeit.


Bei der Betrachtung der Versuche nach fortlaufender Methode
haben wir auf Schritt und Tritt die Erfahrung gemacht, dass die
Leistungsfähigkeit unserer Versuchspersonen in massgebender Weise
durch ihre Zugänglichkeit gegenüber den Einflüssen der Uebung und
Ermüdung bestimmt wird. Nicht die Anfangsgeschwindigkeit der
Arbeit ist es, von welcher der Gesammteffect innerhalb längerer Zeit-
räume abhängt, sondern die mittlere Höhe der Leistung. Diese
aber gestaltet sich sehr verschieden, je nachdem im einzelnen Ver-
suche das Verhältniss zwischen den antagonistischen Vorgängen der
Uebung und Ermüdung ein günstigeres oder ungünstigeres wird. Die
Schlüsse, welche sich aus unseren Normalversuchen über diese gegen-
seitigen Beziehungen ableiten lassen, kann ich hier übergehen, da sie
von Oehrn in seiner Arbeit und späterhin von mir in einem Vor-
trage *) bereits erörtert worden sind. Für uns kommt es hier nur
[243] darauf an, welche individuellen Verschiedenheiten sich aus dem vor-
liegenden Materiale hinsichtlich der Uebungs- und Ermüdungsfähig-
keit der einzelnen Personen ergeben.


Allerdings stösst die Abmessung beider Eigenschaften auf gewisse
Schwierigkeiten, da sich in den Versuchsergebnissen überall nur die Re-
sultante entgegengesetzter Wirkungen ausdrückt. Als einigermassen
brauchbarer Anhalt für die Beurtheilung der Uebungsfähigkeit darf in-
dessen immerhin die Erhöhung der Anfangsgeschwindigkeit einer Arbeits-
leistung in wiederholten Versuchen gelten. Dabei ist vorausgesetzt, dass die
allgemeine Disposition der Versuchsperson im Wesentlichen dieselbe war,
was in Wirklichkeit freilich nur sehr annähernd zutrifft. Will man ver-
schiedene Personen unter dem Gesichtspunkte der Uebungsfähigkeit mit
einander vergleichen, so muss natürlich ausserdem noch der Grad der
Versuchsübung im Beginn überall der gleiche sein, und die Länge der
Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Versuchen muss ebenfalls überein-
stimmen. Eine weitere Fehlerquelle freilich ist bei dieser Methode
nicht wol zu beseitigen. Während der Zwischenzeiten nämlich verliert
sich die erworbene Uebung allmählich wieder, zuerst schnell, dann
langsamer, bis sie schliesslich ganz verschwunden ist. Wahrscheinlich
vollzieht sich dieser Vorgang bei verschiedenen Personen mit ver-
schiedener Geschwindigkeit. Wenn daher auch im Anfang etwa
gleiche Grade der Uebung vorhanden waren, so werden sich voraus-
sichtlich bei der oben vorgeschlagenen Messung Unterschiede heraus-
stellen, deren Grösse von der Länge der Zwischenzeit abhängt. An-
dererseits aber wird die Feststellung der Uebungsgrösse sehr bald
nach dem Ende der früheren Arbeitsleistung durch die erst allmählich
sich ausgleichenden Ermüdungseinflüsse unmöglich gemacht. Leider
kennen wir den Spielraum der individuellen Differenzen im Nach-
lassen der Uebungswirkung noch gar nicht genauer, und auch nach
den andern Richtungen hin sind unsere Versuche nicht überall syste-
matisch genug durchgeführt, theils wegen äusserer Schwierigkeiten,
theils deswegen, weil die hier aufgeworfenen Fragen von vornherein
weder beabsichtigt noch auch vorausgesehen worden waren. Trotzdem
ist es vielleicht nützlich, aus dem vorhandenen Materiale diejenigen
Beobachtungen herauszusuchen, welche sich für die Beurtheilung der
individuellen Uebungsfähigkeit verwerthen lassen.


Wir werden zu diesem Zwecke einfach den Geschwindigkeits-
zuwachs während der ersten halben Stunden aller einzelnen Versuchs-
reihen für die verschiedenen Leistungen und Personen mit einander
vergleichen. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Zwischenzeiten
16*
[244] werden sich daraus mit Vorsicht einige Schlüsse ziehen lassen. Sehen
wir dabei von He. wegen der differenten Bedingungen ab, unter denen
er sich befand, so ergeben sich zunächst für das Addiren folgende
Werthe, welche die Zahl der in je 5 Minuten der ersten halben Ver-
suchsstunde mehr als im vorangehenden Versuche ausgeführten Ad-
ditionen bedeuten. Nur für M. und Da. müssen wir uns auf die erste
Viertelstunde beschränken.


Tabelle LXXXII.


Die Zahlen von M. und O. sind hier wahrscheinlich aus früher
bereits erörterten Gründen nicht ganz vergleichbar. Bei O. deutet
der ganz ungewöhnliche Uebungszuwachs darauf hin, dass zwischen
den Normalreihen und denen vom 7. III wol weitere, hier nicht auf-
geführte Versuche lagen, da er auf meinen Rath noch allein über Er-
müdungserscheinungen experimentirte. M. dagegen war am 14. III.
offenbar schlecht disponirt, da seine Anfangsgeschwindigkeit geringer
war, als selbst in der Normalreihe. Dazu kommt, dass beide Per-
sonen an und für sich schon mit einer Schnelligkeit addirten, die
einer erheblichen Steigerung kaum fähig erschien. Berücksichtigen wir
diese Verhältnisse, so ergiebt sich, dass der Einfluss der Uebung bei
De. und Ha. relativ bedeutend, bei K. und Da. dagegen ziemlich
gering war. Bei allen Personen fiel der Zuwachs an Rechen-
geschwindigkeit vom ersten zum zweiten Versuche trotz der viel
längeren Zwischenpause weit grösser aus, als bei der dritten Reihe, die
der zweiten nach nur 8 Tagen folgte. In diesem Verhalten prägt sich
das allgemeine Gesetz der Uebung aus, welches ein anfänglich sehr
rasches, dann aber immer langsameres Anwachsen ihrer Wirkung fest-
stellt. Nach der langen Zwischenzeit bis zum vierten Versuche hat
sich bei K. noch ein erheblicher Uebungseffect erhalten, während De.
denselben bereits vollständig wieder eingebüsst hat und sogar etwas
langsamer rechnet, als in der Normalreihe. Es kann sich hier natür-
lich um einen Zufall handeln, aber wir werden später eine weitere,
ganz ähnliche Beobachtung kennen lernen, die darauf hindeutet, dass
K. zwar weniger übungsfähig ist, als De., aber auch weniger leicht
das einmal Erreichte verliert.


[245]

Beim Zahlenlernen gestalteten sich die ganz analog gebildeten
Uebungswerthe, wie folgt:


Tabelle LXXXIII.


Am grössten ist hier der Uebungseinfluss bei O., De. und K.,
also bei denjenigen Personen, welche sehr rasch wiederholten, d. h. nach
meiner Auffassung motorisch lernten. Leider fehlt mir das Material,
um zu prüfen, ob dieses Zusammentreffen ein zufälliges ist, oder ob
wirklich die motorische Einübung bei der Lösung der hier vorliegen-
den Aufgabe den grössten dauernden Nutzeffect giebt. Ich bin in-
dessen im Hinblick auf andere Formen der motorischen Einübung
geneigt, die letztere Annahme für richtig zu halten. Auffallender-
weise ist hier der Geschwindigkeitszuwachs bei 3 Personen im An-
fang kleiner gewesen, als später. Eine Erklärung könnte dafür aber
in dem Umstande gesucht werden, dass die Uebungswirkung beim
Lernen vielleicht rascher schwindet, als beim Addiren. Nach etwas
über 8 Monaten ist der Zuwachs an Geschwindigkeit bei O. wie bei
De. und K. negativ. Bei O. war allerdings ein Lernversuch weniger
vorausgegangen, und bei De. war die Abnahme verhältnissmässig
geringer, als beim Addiren, aber die erwähnte Abweichung von dem all-
gemeinen Gesetze der Uebung spricht doch sehr dafür, dass hier in der
längeren Pause zwischen der ersten und zweiten Versuchsreihe ein relativ
grösserer Theil des erreichten Uebungseffectes verloren gegangen ist,
als zwischen dem zweiten und dritten Versuche. Ha. mit etwas
längerer zweiter Pause zeigt das normale Verhalten. Der Umfang des
Uebungsverlustes in der Zeit vom 28. III. bis zum 5. XII. ist auch
hier wieder für De. beträchtlicher, als für K.


Ueber den Uebungseinfluss beim Lesen giebt die folgende
Tabelle Auskunft:


Tabelle LXXXIV.


[246]

Die Zahlen sind hier im Allgemeinen ziemlich schwankende, da
die sehr eingeübte Function des Lesens in ihrer Geschwindigkeit durch
Zufälligkeiten mehr beeinflusst wird. Dennoch lässt sich kaum ver-
kennen, dass hier der Uebungseffect bei M., Da. und Ha. entschieden
grösser ist, als bei De., O. und K. Wir haben somit genau das um-
gekehrte Verhältniss vor uns, wie beim Lernen. Das Gemeinsame
liegt aber in dem Umstande, dass hier wie dort die schnell Arbeiten-
den zugleich die grösste Uebungsfähigkeit aufweisen. Gleichwol kann
diese Beziehung zwischen Arbeitsgeschwindigkeit und Uebungsfähig-
keit keine unverbrüchliche sein, da sie sich beim Addiren nicht in
überzeugender Weise wiederfindet. Es wäre jedoch denkbar, dass sie
wesentlich für motorische Leistungen besteht. Bei der Einübung von
Bewegungen ist jedenfalls die Anzahl der Wiederholungen in erster
Linie für die Ausgiebigkeit und Nachhaltigkeit des Uebungseffectes
massgebend. Je schneller aber gearbeitet wird, desto häufiger wird die
Lösung der Arbeitsaufgabe in jeder Versuchsreihe wiederholt, desto
grösser muss demnach auch die endliche Uebungswirkung dieser
letzteren ausfallen. Ich will dazu noch ausdrücklich bemerken, dass
es sich hier nicht um die Einübung inhaltlich genau bestimmter Acte
handelt, nicht um das specielle Gedächtniss für eine gewisse Gruppe
von Zahlenreihen oder denselben Lesestoff, sondern um die dauernde
Erleichterung einer ganzen Richtung der psychischen Thätigkeit.


d. Ermüdbarkeit.


Weit schwieriger noch, als die Untersuchung der individuellen
Uebungsfähigkeit, gestaltet sich diejenige der Ermüdbarkeit. An sich
wäre diese letztere etwa aus dem Geschwindigkeitsverlust zu be-
urtheilen, den die Leistung des Einzelnen während einer Arbeitszeit
von bestimmter Länge erleidet. Da aber die Uebung dabei immer im
entgegengesetzten Sinne gleichzeitig wirksam ist, so wäre diese Be-
rechnung nur dann zuverlässig, wenn die persönliche Uebungsfähigkeit
sich praktisch oder rechnerisch eliminiren liesse. Ersteres wäre durch
das Experimentiren mit solchen Aufgaben möglich, für welche maximale
Uebung besteht; das Letztere könnte allenfalls durch genaues Studium
der Uebungserscheinungen unter Ausschluss der Ermüdung mit Hülfe
von Erholungspausen erreicht werden. Beide Wege sind hier nicht
beschritten worden, so dass unser Urtheil sich nur auf eine schätzungs-
weise Würdigung der Uebungseinflüsse gründen kann. Dazu kommt,
[247] dass sich für diesen Zweck nur die Normalversuche verwenden lassen,
weil wir in den übrigen nicht die Medicamentwirkungen von der phy-
siologischen Ermüdung zu scheiden vermögen. Durch diese Beschrän-
kung auf das Verhalten je einer Versuchsreihe werden aber natür-
lich die aus ihr gezogenen, vor Zufälligkeiten nicht geschützten
Schlüsse sehr unsichere. Trotzdem habe ich in der folgenden Tabelle
die Zahlen zusammengestellt, welche aus einem Vergleiche der mitt-
leren Leistung in je 5 Minuten der ersten und der letzten halben
Stunde jeder Normalreihe hervorgegangen sind. Die Werthe bedeuten
mit negativem Vorzeichen die Abnahme, mit positivem die Zunahme
der bewältigten Arbeit im Laufe des Versuches, ausgedrückt, wie
früher, in addirten oder gelernten Zahlen oder gelesenen Silben.


Tabelle LXXXV.


Für das Addiren, eine ermüdende und zugleich ziemlich ein-
geübte Arbeit, überwiegt regelmässig die Ermüdung über den Uebungs-
einfluss, während das noch ermüdendere, aber sehr wenig geübte
Lernen gegen Schluss des Versuches dennoch schneller von Statten
zu gehen pflegt, als im Beginne. Bei dem sehr eingeübten, aber
wenig ermüdenden Lesen endlich behalten bald diese, bald jene Ein-
flüsse die Oberhand. Um diese Verhältnisse noch klarer zu legen,
wird es sich empfehlen, nunmehr noch die Schlussleistung der Normal-
versuche mit der Anfangsleistung des folgenden Alkoholversuches zu
vergleichen. Da bei diesem letzteren der frühere Ermüdungseinfluss
völlig, der Uebungseffect aber nur theilweise verschwunden war, so
wird uns der Unterschied in der Endgeschwindigkeit des einen und
der Anfangsgeschwindigkeit des andern Versuches wenigstens annähernd
ein Urtheil darüber gestatten, wie weit die in der ersten Reihe er-
worbene Uebung gegen das Ende derselben durch die Ermüdung ver-
deckt wurde. Natürlich lassen sich daraus keine absoluten Werthe
ableiten, aber ein Vergleich der einzelnen Personen erscheint doch
immerhin möglich. Negative Zahlen bedeuten in der folgenden Tabelle,
dass die Schlussleistung in der Normalreihe geringer war als die
Leistung der ersten halben Stunde des Alkoholversuches, positive das
[248] Umgekehrte. Erstere deuten somit höhere, letztere dagegen geringere
Grade der Ermüdbarkeit an.


Tabelle LXXXVI.


Auch hier ergeben sich für das Addiren die ausgiebigsten Er-
müdungswirkungen. In den mehrfachen positiven Werthen beim Lesen
spiegelt sich wahrscheinlich ausser der unbedeutenden Ermüdung durch
diese Arbeit noch die Geringfügigkeit des Uebungseffectes wider.


Im Einzelnen hatten wir früher festgestellt, dass beim Addiren
De. und Ha. sich übungsfähiger erwiesen als K. und Da. Beide vor-
liegende Tabellen zeigen uns jetzt, dass sie auch ermüdbarer sind.
Ebenfalls ermüdbar erscheint hier M. und ganz besonders O., die wir
leider hinsichtlich ihrer Uebungsfähigkeit nicht sicher mit den anderen
Personen vergleichen konnten. Aus dem Vergleiche beider Tabellen
würde hervorgehen, dass O. eine sehr grosse Uebungsfähigkeit be-
sitzen muss, durch welche seine Ermüdbarkeit fast ganz verdeckt
wurde, doch bin ich, wie erwähnt, nicht sicher, ob nicht zwischen
Normal- und Alkoholreihe hier noch anderweitige Versuche lagen.
Beim Lernen erscheinen nach Tabelle LXXXV De. und Ha. stärker,
O. und M. etwas weniger, Da. und K. dagegen am wenigsten ermüd-
bar. Nach der Tabelle LXXXVI ergiebt sich ein ähnliches Re-
sultat, doch muss die Ermüdbarkeit für O. relativ viel stärker, für
M. etwas schwächer angenommen werden, als sie vorher erschien, da
sich für den Ersteren eine sehr grosse, für Letztere eine geringere
Uebungsfähigkeit herausstellt. Unter Berücksichtigung aller dieser
Verhältnisse liessen sich die einzelnen Personen nach ihrer Er-
müdbarkeit etwa in folgende Reihe bringen: O., De., Ha.,
M., Da., K. Hier ist ein Parallelismus zwischen Uebungsfähig-
keit und Ermüdbarkeit nicht mehr nachzuweisen, da wir früher
auch K. als besonders übungsfähig auf diesem Gebiete kennen gelernt
hatten. Dagegen entspricht jene Reihenfolge recht gut den Schlüssen,
welche wir beim Addiren über die Eigenschaften der einzelnen Per-
sonen gezogen hatten.


Etwas abweichend gestalten sich die Verhältnisse beim Lesen.
Nach Tabelle LXXXV erscheinen auch hier Ha. und O. als sehr er-
[249] müdbar, ein Ergebniss, welches sich im Hinblicke auf Tabelle LXXXVI
namentlich für Ha. noch schärfer herausstellt. K. und Da. würden
nach Tabelle LXXXV mittlere Grade von Ermüdbarkeit besitzen,
die indessen für Da. wegen seiner unbedeutenden Uebungsfähigkeit
geringer angenommen werden muss, als es den Anschein hat. De. und
M. erscheinen auf den ersten Blick am wenigsten ermüdbar, etwas
stärker dagegen unter Berücksichtigung der Tabelle LXXXVI. Wir
würden hier nach der Ermüdbarkeit etwa folgende Reihe aufstellen
können: Ha., O., K., De., M., Da. Somit gehören Ha. und O. auch
hier noch zu den stärker, Da. und M. zu den schwächer ermüdbaren
Personen, aber im Einzelnen hat sich das gegenseitige Verhältniss ge-
ändert, und K. zeigt hier eine verhältnissmässig grössere, De. eine
geringere Ermüdbarkeit. Es muss zunächst dahingestellt bleiben, ob
diese nur aus einem Versuche gezogenen Schlüsse wirklich zutreffend
sind. Andererseits aber würden wir die Abweichungen zwischen
Lernen und Lesen recht wol begreiflich finden, da ja im letzteren
Falle auch die periphere Muskelermüdung mit in Frage kommt, die
sich möglicherweise wesentlich anders verhält, als die centrale. Die
Verbindung unserer Untersuchung mit Mosso’schen Ergogrammen *)
wäre hier wünschenswerth gewesen. Im Ganzen scheint mir übrigens
aus allen Versuchen doch so viel hervorzugehen, dass Ha. und O. die
grösste, K. und namentlich Da. die geringste Ermüdbarkeit besitzen.
De. nähert sich mehr der ersteren, M. dagegen mehr der letzteren
Gruppe.


e. Widerstandsfähigkeit.


Ausser den bisher besprochenen, mehr continuirlich wirksamen
Eigenschaften der Person wird die Grösse der Arbeitsleistung im ge-
gebenen Augenblicke noch durch allerlei zufällige äussere und innere
Einflüsse störender und fördernder Art bestimmt. Je empfänglicher
ein Individuum für derartige zufällige Einwirkungen ist, je leichter
und rascher die Veränderungen seines inneren Gleichgewichts eintreten,
und je schwerer sie ausgeglichen werden, desto geringer ist offenbar
seine psychische Widerstandsfähigkeit. Wenn wir die Leistungs-
fähigkeit abmessen konnten nach der Arbeitsmenge, welche unter
gleichen äusseren Bedingungen geliefert wurde, so vermögen wir jene
zweite wichtige Grundeigenschaft der psychischen Persönlichkeit nach
[250] der Grösse der Schwankungen zu beurtheilen, welche die Arbeits-
leistung innerhalb vergleichbarer Zeiträume unter dem Einflusse wech-
selnder Verhältnisse aufweist.


Schon die Betrachtung der einfacheren Reactionsformen lehrt
uns, dass die Dauer der psychischen Vorgänge zu verschiedenen Zeiten
bei demselben Individuum nicht unbeträchtlich variiren kann. Leider
sind diese Versuche für die einzelnen Personen gar nicht vergleichbar,
da sowol die Zahl der Beobachtungen, wie die Bedingungen, unter
denen sie ausgeführt wurden, ausserordentlich von einander abweichen.
Um aber doch ungefähr einen Begriff von dem Umfange der Schwan-
kungen zu geben, stelle ich hier für einige Personen die von mir be-
obachteten extremen Mittelwerthe der einfachen und Wahlreactionen
zusammen:


Tabelle LXXXVII.


Eine eingehendere Discussion dieser Zahlen verbietet sich bei ihrer
verschiedenartigen Entstehungsweise von selbst; sie sollen nur zeigen,
dass hier erhebliche Abweichungen vorkommen. Bei den einfachen
Reactionen spielt gewiss die grössere oder geringere Neigung zu vor-
zeitiger Reaction eine gewisse Rolle; bei den Wahlzeiten könnte man
die Fehlerquellen der Trautscholdt’schen Reizmethode theilweise
für die Differenzen verantwortlich machen. Allein meine letzten Ver-
suche mit zwei Lippenschlüsseln zeigen, dass auch bei dieser Art der
Reizgebung noch grosse Schwankungen selbst innerhalb kurzer Zeit-
räume vorkommen. Meine Wahlreactionen lagen, wenn wir nur die
gleichartigen wahrscheinlichen Mittel berücksichtigen, zwischen 342
und 404σ, die Wortreactionen zwischen 486 und 658σ.


Etwas mehr Aufschluss über die individuellen Eigenthümlichkeiten
verspricht uns vielleicht die Betrachtung der Versuche nach fort-
laufender Methode. Zu diesem Zwecke ist es wol erlaubt, die mitt-
leren Variationen während der normalen halben Stunde der ersten
beiden Medicamentversuche für jede Person zu einem Mittelwerthe
zusammenzufassen. Diese Mittelwerthe für die einzelnen Leistungen
enthält die Tabelle LXXXVIII.


[251]

Tabelle LXXXVIII.


Bei genauerer Prüfung stellt sich hier durchgängig das Ergebniss
heraus, dass die Ausgiebigkeit der Schwankungen in naher Beziehung
zu der Grösse der Arbeitsleistung steht. Das Addiren vollzog sich
am schnellsten bei M., O. und De., das Lernen bei O., K., Ha., das
Lesen bei M., Da., Ha. Diese Erfahrung entspricht vollkommen
unsern früher gemachten Beobachtungen; sie wird auch bestätigt durch
die zunächst auffallende Thatsache, dass die Grösse der Schwankungen
in den Normalzeiten der späteren Theeversuche durchschnittlich
grösser ist, als bei den früheren Alkoholreihen. Auch hier also wird
die schnellere Arbeit zugleich unregelmässiger.


Einen interessanten Beitrag zur Frage nach der individuellen
Widerstandsfähigkeit hat uns der Theeversuch mit Addiren geliefert.
Hier sahen wir, wie verschieden dieselbe äussere Störung auf die ein-
zelnen Personen wirkte. Während M. und Ha. eine sehr bedeutende
Abnahme der Leistungsfähigkeit darboten, wurde die Störung von Da.
anscheinend ohne irgend erhebliche Beeinträchtigung seiner Arbeits-
geschwindigkeit ausgeglichen. Da wir den Letzteren früher als wenig,
M. als etwas mehr und Ha. als sehr ermüdbar kennen gelernt haben,
so würde diese Erfahrung vielleicht auf Beziehungen hindeuten, welche
zwischen der Ablenkbarkeit und der Ermüdbarkeit bestehen. Jeden-
falls wird es eine wichtige Aufgabe sein, Methoden aufzufinden, welche
in einfacher Weise ein Mass für die psychische Ablenkbarkeit durch
äussere Reize ergeben.


f. Beeinflussung durch Medicamente.


Der letzte Punkt auf dem Gebiete der persönlichen Differenzen,
dessen Betrachtung wir uns nunmehr noch kurz zuzuwenden haben,
ist die verschiedene Empfindlichkeit der einzelnen Individuen gegen
die angewandten Medicamente. Eine Anzahl hierher gehöriger Be-
obachtungen habe ich schon in meinen früheren Arbeiten berichtet.
Ich fand damals, dass die Ausgiebigkeit der Wirkung für die Inhala-
[252] tionsgifte, wie für den Alkohol, bei den untersuchten Personen ver-
schieden war. Bei L., der die längsten psychischen Zeiten aufwies,
entwickelten sich die Veränderungen am langsamsten, aber sie ge-
wannen auch die grösste Intensität und dauerten am längsten an.
Namentlich die lähmenden Wirkungen waren hier am stärksten aus-
gebildet. Ganz das entgegengesetzte Verhalten zeigten T. und Tr.
mit sehr raschem Eintritt, aber relativ kurzer Dauer der psychischen
Beeinflussung. Die Verkürzung der psychischen Zeiten, die Neigung
zu vorzeitigen Reactionen trat hier relativ stärker in den Vordergrund.
K. nahm eine mittlere Stellung ein. Aus diesem Grunde und wegen
des umfassenderen Versuchsmateriales sind auch die bei ihm ge-
wonnenen Zahlen als Anhaltspunkte für die Construction der Curven-
tafel benutzt worden.


Auch bei den späteren Reactionsversuchen lässt sich der Unter-
schied zwischen L. und K. im gleichen Sinne weiter verfolgen. Nur
unter dem Einflusse des Paraldehyd tritt auch bei L. die Neigung
zu vorzeitiger Reaction in höherem Grade auf, als bei K. Bei
den Wahlversuchen, wo diese Fehlerquelle wegfällt, bemerken wir in-
dessen auch hier die sehr ausgiebige Verlangsamung. R. scheint sich,
soweit sich das nach den wenigen vorliegenden Versuchen beurtheilen
lässt, mehr dem Verhalten Tr.’s und T.’s zu nähern.


Sehr bemerkenswerthe Differenzen zwischen den einzelnen Per-
sonen haben sich bei den Versuchen nach fortlaufender Methode er-
geben. Die beschleunigende Wirkung des Alkohols, die überhaupt
nur beim Lernen und Lesen beobachtet wurde, hatte bei den verschie-
denen Individuen in den vergleichbaren Versuchen die folgende
Grösse:


Tabelle LXXXIX.


Die Werthe bedeuten die Anzahl der Zahlen oder Silben, welche
während der grössten Arbeitsgeschwindigkeit in je 5 Minuten mehr,
als durchschnittlich in der gleichen Zeit der normalen halben Stunde
gelernt resp. gelesen wurden. Ha. ist demnach der anregenden Wir-
kung des Alkohols in den hier gebrauchten Gaben gar nicht zugäng-
lich, De. am meisten, M. und O. nur beim Lesen, Da. und K. nur
beim Lernen. Die Entwirrung dieser Regellosigkeit erscheint kaum
[253] möglich. Wir haben zunächst zu bemerken, dass die beiden Versuche
an Da. nicht ganz einwandfrei sind. Beim Lernen ergab sich für ihn
eigentlich gar keine deutliche Beeinflussung durch den Alkohol, da auch
seine Normalreihe eine ähnliche Beschleunigung einfach als Uebungs-
wirkung dargeboten hatte. Den Leseversuch aber führte er offenbar
in ungünstiger Disposition aus, wie die auffallend niedrige Anfangs-
leistung andeutet. Auch K. war beim Leseversuch wahrscheinlich von
vornherein ermüdet. Von den übrigen Personen aber müssen wir Ha.,
der mit guter Geschwindigkeit den Versuch begann, wegen Fehlens
der Beschleunigung wahrscheinlich als in höherem Grade empfindlich
gegen den Alkohol betrachten, da wir auch sonst das rasche Auf-
treten der Lähmungserscheinungen bei grösseren Gaben oder geringerer
Widerstandsfähigkeit gegen das Mittel häufiger nachweisen konnten.
Wir erinnern uns dabei, dass wir Ha. ohnedies als leicht ermüdbar
und ablenkbar kennen gelernt haben.


Die Unterschiede der Alkoholwirkung beim Lernen habe ich früher,
namentlich im Hinblick auf die Erfahrungen mit Thee, durch die Be-
ziehungen zu der individuellen Methode zu erklären versucht. Die
sensorisch lernenden, langsam wiederholenden Personen, also, wenn wir
von Da. absehen, M. und Ha., sollten deswegen dem beschleuni-
genden Einflusse des Alkohols nicht zugänglich sein. Dabei muss
allerdings die Annahme gemacht werden, dass O., bei dem man eine
Beschleunigung erwarten sollte, überhaupt oder an jenem Versuchs-
tage besonders empfindlich gegen den Alkohol gewesen sei. That-
sächlich ist seine Beschleunigung beim Lesen trotz anfänglich guter
Disposition verhältnissmässig gering, und seine Ermüdbarkeit hat sich
früher als sehr bedeutend erwiesen. Nicht unwichtig ist endlich für
die Würdigung dieser Verhältnisse noch die Erfahrung, dass De. bei
einer Gabe von 30 gr Alkohol keine Erleichterung des Lernens mehr
darbot, während sie bei K. noch sehr deutlich hervortrat. Wir haben
daher im Hinblick auch auf die stärkere Beschleunigung des Lernens
bei 20 gr, trotz des offenbar nicht ganz massgebenden Leseversuches,
wol das Recht, bei K. eine geringere Empfindlichkeit gegen den
Alkohol vorauszusetzen, als bei De.


Ueber die Lähmung durch den Alkohol giebt die der vorigen
ganz ähnlich zusammengestellte Tabelle XC Aufschluss.


[254]

Tabelle XC.


Dieselbe lehrt uns zunächst, dass beim Addiren die Verlangsamung
der Arbeit für K. und Da. am geringsten, für alle übrigen Personen
dagegen weit stärker ausfällt. Das entspricht ganz den Erfahrungen,
die wir früher über die Ermüdbarkeit gemacht haben. Ein ähnliches
Resultat ergiebt sich für das Lernen. O. und Ha. stehen hier auf
der einen Seite, Da. und K. auf der andern, De. und M. in der
Mitte. Bei dem Versuche mit 30 gr fiel für K. die Verlangsamung
immer noch aus, während sie für De. auf 21 anwuchs. Wollten wir
hier eine Reihenfolge der Versuchspersonen nach ihrer vermuthlichen
Empfindlichkeit gegen den Alkohol aus den Ergebnissen der beiden
Tabellen aufstellen, so würde sich dieselbe folgendermassen gestalten:
O., Ha., M., De., Da., K. Nur De. hat hier gegenüber der Ermüd-
barkeitsreihe seine Stellung etwas geändert. Beim Lesen endlich
würden wir etwa die Reihe erhalten: Ha., Da., K., O., M., De. Hier
sind die Abweichungen von der Ermüdungsreihe grösser, doch bleibt
zu berücksichtigen, dass der Versuch Da. wol nicht vergleichbar ist.
Zudem sind die Unterschiede hier überhaupt verhältnissmässig nicht
sehr gross. Lassen wir Da. ausser Betracht, so würden immerhin Ha.,
K. und O. die grössere, M. und De. die kleinere Verlangsamung durch
die Ermüdung wie durch den Alkohol erfahren.


Es hat demnach den Anschein, als ob im Allgemeinen die Empfind-
lichkeit gegen den Alkohol überall einen gewissen Zusammenhang mit
der individuellen Ermüdbarkeit
aufzuweisen hat. Je grösser
diese letztere, desto weniger sind die erregenden Wirkungen des Al-
kohols ausgeprägt, desto geringer die Gaben, bei denen sofort die
Lähmung hervortritt, und desto grösser der Umfang dieser letzteren
selbst. Durch diese Erfahrung gewinnen unsere früheren Erörterungen
über das Verhältniss der physiologischen zur Alkoholermüdung eine
neue Beleuchtung. Wenn wir es in beiden Fällen mit analogen
Giftwirkungen auf unser Nervensystem zu thun haben, so wird es
verständlich, dass die Empfindlichkeit der einzelnen Organe für die
Ermüdungsstoffe und für den Alkohol einen gewissen Parallelismus
darbietet.


[255]

Ueber die anregende Wirkung des Thees bei den einzelnen Ver-
suchspersonen giebt die folgende Tabelle Auskunft:


Tabelle XCI.


Zur Würdigung dieser Zahlen ist zu bemerken, dass beim Addiren
die Versuche M. und Ha., vielleicht auch Da., beim Lesen der Ver-
such K. nicht mit den übrigen vergleichbar erscheinen, da dort eine
äussere Störung, hier dagegen nach Ausweis der Normalzahlen eine
ungünstige Disposition vorlag. Ferner kommt in Betracht, dass die
Beschleunigung beim Addiren sicher centralen, diejenige beim Lesen
wahrscheinlich peripheren Ursprungs ist. Unter diesen Umständen
lassen sich eigentlich nur O. und De. nebeneinanderstellen. Der
Erstere zeigt dabei eine geringere Zugänglichkeit gegenüber der an-
regenden Wirkung des Thees, als Letzterer. Ihm selbst war seine
ausserordentliche Empfindlichkeit gegen dieses Mittel längst aus der
subjectiven Erfahrung bekannt, so dass er an die Versuche mit grosser
Vorsicht heranging. Man könnte demnach gerade die relative Gering-
fügigkeit der Beschleunigung als ein Zeichen besonders intensiver
Wirkung ansehen, wenn man die nicht unwahrscheinliche Annahme
zulässt, dass hier, ähnlich wie beim Alkohol, mit Steigerung der Dosis
allmählich die erregenden Einflüsse auf Kosten der lähmenden ab-
nehmen. Bei K. und Da. treffen wir wieder die Zugänglichkeit für
die centralen beschleunigenden Wirkungen, wie wir ihr bei der Be-
sprechung des Alkohols begegnet sind, vielleicht im Zusammenhange
mit ihrer geringeren Ermüdbarkeit. Ha. endlich zeigt uns hier, wie
beim Alkohol, eine überraschend ausgiebige Beeinflussung des Lesens,
dort im Sinne der Lähmung, hier im Sinne der (musculären) Er-
regung.


Eine Abnahme der Leistungsfähigkeit durch Thee wurde secundär
beim Lesen, primär beim Lernen in folgendem Umfange beobachtet.


Tabelle XCII.


[256]

Der hier beim Lernen sich zwischen O. und De. einerseits, Da.
und M. andererseits herausstellende Gegensatz steht, wie früher er-
örtert, wahrscheinlich in einer gewissen Beziehung zu der Verschieden-
artigkeit der Lernmethode. Im Uebrigen sehen wir hier, wie beim
Lesen, die lähmenden Wirkungen für O. weit stärker hervortreten, als
für De. Dadurch gewinnt die oben entwickelte Anschauung über die
grössere Intensität der Theewirkung bei O. eine neue Stütze. Der
auch gegen die Alkohollähmung wenig empfindliche Da. zeigt hier über-
haupt keine Lähmungssymptome, der ihm in jener Beziehung nahe
stehende K. in ausgeprägterem Masse nur beim Leseversuche, bei
welchem er von vornherein ermüdet war. Auffallend erscheint die
starke Schwankung M’s. beim Lesen, doch haben wir auch früher bei
ihm einen verhältnissmässig grossen Ermüdungseffect beobachtet, aller-
dings nach einer, wie hier, ebenfalls ziemlich bedeutenden Beschleunigung.


Werfen wir endlich noch einen kurzen Blick auf den Ausfall der
Dynamometer- und Zeitsinnversuche bei den hier betheiligten Personen
De. und K., so ergeben sich auch dort gewisse bemerkenswerthe Ver-
schiedenheiten. Hinsichtlich der ersteren ist in den Normalreihen
namentlich die grössere Uebungsfähigkeit K.’s deutlich. Trotz seiner
anfänglich geringeren Leistung überholt er De. doch schon nach
wenigen Versuchstagen. Mit dieser Eigenthümlichkeit hängt vielleicht
auch die geringere Ermüdbarkeit zusammen. Nur in dem Versuche 5
mit sehr erheblicher Anfangsleistung sinkt die Kraft gegen den Schluss
stark unter den Stand im Beginne; in den Versuchen 1 und nament-
lich 3 begegnet uns vielmehr eine Steigerung derselben. Bei De.
findet sich eine unbedeutende Zunahme nur im Versuche 2, im Ver-
suche 4 dagegen bereits eine Abnahme. Die grössere Empfindlichkeit
De.’s gegen Alkohol tritt deutlich in der beträchtlichen Herabsetzung
seiner Dynamometerleistung ohne die bei K. vorangehende Steigerung
derselben hervor. In den Normalreihen der Zeitsinnversuche prägt
sich nach unseren früheren Erörterungen bei De. ein rascheres Fort-
schreiten der Ermüdung durch die regelmässige Erhöhung der Anfangs-
werthe aus. Auch die Alkoholwirkung lässt bei ihm gerade diese Er-
scheinung besonders stark hervortreten. Zudem macht sie sich hier
schon vom Beginne der ersten Versuchsgruppe an mit grosser In-
tensität geltend, während sie bei K. erst gegen Ende derselben in
schwachen Andeutungen nachweisbar ist. Die den Störungen der Zeit-
schätzung wahrscheinlich zu Grunde liegenden Lähmungserscheinungen
kommen somit auch hier bei De. rascher und ausgiebiger zur Ent-
wicklung, als bei K.


[257]

Man wird sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass die
aus unseren Versuchen abgeleiteten Beiträge zur Würdigung der in-
dividuellen Differenzen mehr den Charakter von Anregungen, als von
wirklichen Erkenntnissen besitzen. Auf Schritt und Tritt begegnen
uns Schwierigkeiten und Zweifel, die wir bei der Unvollkommenheit
unseres für diese Zwecke nicht ausreichenden Materiales nicht zu lösen
vermögen. Ich betrachte es aber schon als einen Vortheil, wenn
gerade durch die Unsicherheit unserer Ergebnisse wenigstens die Noth-
wendigkeit eines sehr gründlichen und vorsichtigen Arbeitens
auf diesem Gebiete dargethan wird. Nur die peinlichste Pedanterie kann
uns hier vor Oberflächlichkeit und voreiligen Schlussfolgerungen be-
wahren. Gerade diese Erkenntniss aber ist immer ein Zeichen dafür,
dass man wenigstens beginnt, in das Wesen einer Frage etwas tiefer
einzudringen. Ueberall, wo wir Lebensvorgänge untersuchen, pflegen
wir zunächst mit unsäglich grob schematischen Vorstellungen an die-
selben heranzutreten. Die hergebrachten „Associationsgesetze“, die
„vier Temperamente“, die Lehre von den „Sprachcentren“ und „Asso-
ciationsbahnen“ sind auf unserem Gebiete nur allzu treffende Beweise
dafür aus alter und neuester Zeit. Es sind die grossen Farbenflächen
auf Michelangelo’s jüngstem Gericht, die uns zunächst in’s Auge fallen.
Erst allmählich, bei mühsamem und eingehendem Studium, entdecken
wir alle die zahllosen Einzelheiten, aus denen sich das Ganze zusammen-
setzt, die mannigfaltige Gliederung der Contouren und Farbentöne
auf jedem Quadratzoll. Wir erkennen den unendlichen Reichthum an
Gestaltungen, und es kommt der Augenblick, in welchem wir daran
verzweifeln, uns durch diese verwirrende Mannigfaltigkeit hindurch-
zuringen. Endlich aber, wenn uns jede Figur vertraut geworden ist,
wenn wir an den verschiedensten Stellen die inneren Beziehungen der
einzelnen Theile zu einander erfasst haben, dann eröffnet sich uns
nach und nach das wahre, tiefere Verständniss des ganzen grossen
Werkes, und aus dem verwickelten Zusammenhange einer Ueber-
fülle von Formen und Farben heraus tritt lebendig und greifbar die
gewaltige einheitliche Idee, die das Ganze beseelt.


Bevor wir auf unserem Gebiete bis zu diesem Punkte gelangen, be-
darf es noch langer, unermüdlicher, sorgfältiger Einzelarbeit. Einiges
Detail haben wir herbeischaffen können, und an manchen Punkten
beginnen wir vielleicht auch die Beziehungen dieser oder jener Er-
scheinungen unter einander zu ahnen. Die aus den Versuchen er-
schlossene Mannigfaltigkeit der centralen Wirkungen unserer Arznei-
mittel hat gezeigt, dass wir hier wol auf dem richtigen Wege sind,
Kraepelin, Beeinflussung. 17
[258] praktisch bekannte Unterschiede feiner zu analysiren. Gerade diese
Erfahrung dünkt mich besonders ermuthigend. Im Beginne experi-
mentell psychologischer Studien erscheint so leicht Alles regellos, zu-
fällig, widerspruchsvoll; hier aber sehen wir, dass die Gesetzmässig-
keit sich doch schliesslich herausschälen lässt, dass die Eindrücke der
subjectiven Erfahrung daher am Ende auch auf dem Gebiete der In-
dividualpsychologie einer greifbaren, wissenschaftlichen Formulirung
zugänglich sein müssen. Schwierig ist die Aufgabe und dornenvoll
ohne Zweifel, aber unlösbar will sie mir nicht erscheinen.


[]

Appendix A Literatur.


(Die nachstehenden Arbeiten sind im Texte überall nur mit den ihre
Reihenfolge bezeichnenden römischen Ziffern citirt.)


  • I. Exner, Experimentelle Untersuchung der einfachsten psychischen Pro-
    cesse, Pflüger’s Archiv f. d. ges. Physiologie VII, 1873, p. 601.
  • II. Dietl und Vintschgau, Das Verhalten der physiologischen Reactions-
    zeit unter dem Einflusse von Morphium, Kaffee und Wein, Pflüger’s Archiv
    XVI, 1877, p. 316.
  • III. Kraepelin, Ueber die Einwirkung einiger medicamentöser Stoffe auf die
    Dauer einfacher psychischer Vorgänge. Erste Abtheilung. Ueber die
    Einwirkung von Amylnitrit, Aethyläther und Chloroform. Philosophische
    Studien, herausgegeben von W. Wundt 1883, I, 3, p. 417.
  • IV. Dasselbe, zweite Abtheilung. Ueber die Einwirkung von Aethylalkohol.
    Ibidem I, 4, p. 573.
  • V. Cervello e Coppola, Studî di psicologia sperimentale. Ricerche sulla
    durata degli atti psichici elementari sotto l’influenza delle sostanze ipnotiche
    (paraldeide e cloralio), Rivista di filosofia scientifica, 1884, IV, 2, p. 168.
  • VI. Dehio, H., Untersuchungen über den Einfluss des Coffeins und Thees
    auf die Dauer einfacher psychischer Vorgänge, Dissertation, Dorpat 1887.
  • VII. Joseph W. Warren, The effect of pure alcohol on the reaction time with
    a description of a new chronoscope, Journal of physiology, VIII, Nr. 6 p. 311.
  • VIII. Kraepelin, Ueber Alkohol und Thee, Verhandlungen des Internationalen
    Medicinischen Congresses in Berlin 1891, Abtheilung IX. Neurologie und
    Psychiatrie, p. 94.
  • IX. Derselbe, Ueber die centrale Wirkung einiger Arzneimittel, Vortrag,
    gehalten auf der Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Irren-
    ärzte in Baden-Baden am 29. Mai 92. Referat im Neurologischen Cen-
    tralblatt XI, 1892, 13, p. 420.

[]

Appendix B

G. Pätz’sche Buchdr. (Lippert \& Co.), Naumburg a/S.


[]

Appendix C

Kraepelin del. Verl.v.Gustav Fischer, Jena. Lith. Anst.v.A.Giltsch.Jena.


[][][][][]
Notes
*)
Experimentelle Studien zur Individualpsychologie, Dissertation. Dorpat 1889
*)
Ueber das Gedächtniss. Leipzig 1885, p. 30 ss.
*)
Petersburger Medicinische Wochenschrift, 1889, 1 (Bericht über einen
Vortrag vom 20. October 1888).
*)
Lit. VI, p. 11.
*)
Recension von Münsterberg’s Beiträgen zur experimentellen Psycho-
logie, Göttingische gelehrte Anzeigen, 1891, Nr. 11, p. 398.
*)
Lit. III. p. 421.
**)
Philosophische Studien I, p. 232.
*)
Zeitschrift für Biologie XIX, 1, 1883.
*)
Lit. VI, p. 12.
*)
Experimentelle Studien über den Zeitsinn. Dissertation, Dorpat 1889.
**)
l. c. p. 11, 12.
*)
l. c. p. 216 ss.
**)
Physiologische Psychologie, 3. Aufl. II, p. 376.
*)
Lit. VII.
*)
Lit. IV, p. 580.
*)
Lit. IV, p. 587.
*)
Bericht über die 56. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in Freiburg i. B., 1883, p. 259.
*)
Ueber psychische Functionsprüfungen, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,
Bd. XLVI, p. 522.
*)
Vgl. Dehio VI, p. 36.
*)
Michelson, Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes. Dissertation,
Dorpat, 1891, p. 49, 50.
*)
Ricerche sulla circolazione cerebrale durante l’attività psichica sotto
l’azione dei veleni intellettuali. Rivista sperimentale di freniatria, XVIII, 1,
p. 16.
**)
Some of the influence, which affect the power of voluntary muscular
contractions. Journal of physiology, XIII, 1 u. 2, Febr. 1892. Referat im
Neurologischen Centralblatt 1892, XI, 10, p. 319.
*)
l. c. p. 23 ss.
*)
l. c. p. 30 ss.
*)
Lit VI.
**)
Lit. I.
***)
Ueber psychische Zeitmessungen, Schmidt’s Jahrbücher 196, 2 p. 208.
†)
Lit. II.
*)
Vgl. Lit. VI, p. 14.
*)
l. c. p. 9.
*)
l. c. p. 45.
*)
l. c. p. 59.
*)
Lit. V.
*)
Vgl. Kraepelin, Experimentelle Studien über Associationen. Tage-
blatt der Freiburger Naturforscherversammlung 1884, p. 259.
*)
Lit. IV.
*)
Lit. IV, p. 594, 600, 601.
*)
l. c. p. 16.
**)
Handbuch der Arzneimittellehre, 6. Auflage, 1887, p. 381.
*)
Grundriss der Arzneimittellehre, 2. Auflage, 1888, p. 26.
**)
Die Alkoholfrage, 1887, p. 4 ss.
*)
Cloetta-Filehne, Lehrbuch der Arzneimittellehre und Arzneiver-
ordnungslehre, 7. Auflage, 1892, p. 250.
*)
Mommsen, Beitrag zur Kenntniss von den Erregbarkeitsveränderungen
der Nerven durch verschiedene Einflüsse, insbesondere durch „Gifte“. Virchow’s
Archiv, LXXXIII, 1881, p. 274 ss.
*)
Anwendung des Aethylalkohol bei Geisteskranken, Archiv f. Psychiatrie,
1874, IV, p. 216 ss.
*)
l. c. p. 19.
*)
Vgl. hierzu Lit. III.
*)
l. c. p. 280 ss.
*)
Ueber den Einfluss verschiedener pharmakologischer Agentien auf die
Muskelsubstanz. Archiv f. experimentelle Pathologie u. Pharmakologie XV, p. 63 ss.
*)
Lit. VI, p. 53.
*)
Die Zahlen für Tr., T., K. und L. sind aus meiner ersten Alkoholarbeit,
p. 596, entnommen.
*)
Ueber psychische Functionsprüfungen, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, 46, p. 522.
*)
Mosso, Die Ermüdung, deutsch von Glinzer. 1892. p. 90 ss.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnq0.0