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Die
Schriften des Waldschulmeisters.


Peſt.:
Verlag von Guſtav Heckenaſt.
1875.

[]

Druck von C. F. Wigand in Preßburg.


[]

Seiner Excellenz
dem hochgebornen Herrn
Dr. Carl von Stremayr,
öſterreichiſcher Miniſter für Cultus und Unterricht, k. k. geheimer
Rath ꝛc. ꝛc.,
dem Schützer und Förderer
der Volksſchule

weiht dieſes Buch


in dankbarer Ehrerbietung
der Verfaſſer.

[]

[figure]

Weg nach Winkelſteg.“ — Dieſe Worte
ſtanden am Holzarm. Aber der Regen hatte die alt-
förmigen Buchſtaben ſchier verwaſchen und der Balken
ſelbſt wackelte im Wind.


Ringsum iſt dunkler, ſtruppiger Tannenwald;
über demſelben ſtehen ein paar uralte Lärchen empor,
deren kahles knorriges Geäſte weit hineinragt in
den Himmel. Aus der Tiefe einer finſteren felſigen
Schlucht brauſt ein Gewäſſer. Unzähligemale führt
die alte Bergſtraße mittelſt ſchiefer halbeingeſunkener
Holzbrücken über dieſen Wildbach, bis da herein,
wo der Bergwald rechts ſich lichtet und zwiſchen den
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 1
[2] Wipfeln zum erſtenmale die Gletſcher niederleuchten
auf den Wanderer, der aus fernen, bevölkerten Ge-
genden kommt.


Der Wildbach gießt von den Gletſchern her.
Die Straße aber wendet ſich links, milderen Wald-
geländen zu, um nach vielen Meilen von Oeden
und Wildniſſen endlich wieder in belebte Ortſchaften
einzuziehen. Das Flußgebiet entlang zieht nur ein
verſchwemmter ſteiniger Hohlweg, über welchen der
Sturm Fichtenſtämme geworfen hatte, die nun ſeit
Jahrzehnten lehnen und dorren.


Hier am Scheidewege ſtand ein hohes hölzer-
nes Kreuz mit drei Querbalken und den bildlich
dargeſtellten Marterwerkzeugen der heiligen Leidens-
geſchichte, als Speer, Schwammſtab, Zange, Ham-
mer und den drei Nägeln. Auf einem Felſen ſtand
der Pfahl, wettergrau und bemooſt. Eng daneben
ſtand der Balken mit dem Arme und der Inſchrift:
„Weg nach Winkelſteg.“


Dieſes Zeichen wies den verwahrloſten ſteini-
gen Weg mit dem Gefälle — gegen das enge
Hochthal, in deſſen Hintergrunde die Schneefelder
liegen. In fernſter Höhe, über den ſanft ſich hin-
ziehenden Schneetüchern ragt ein grauer Kegel auf,
an deſſen Spitze ſo gerne Nebelflocken hängen.


Ich ſaß auf einem Felsblock neben dem Kreuze,
und blickte zu jener grauen Spitze empor. Das war
[3] der weit und breit berühmte und berüchtigte graue
Zahn — das Ziel meiner Gebirgsreiſe.


Als ich ſo daſaß, hauchte jenes Gefühl durch meine
Seele, von dem kein Menſch zu ſagen weiß, wie es ent-
ſteht, was es bedeutet und warum es ſoſehr das Herz
beklemmt; gleichſam mit einem Panzer umgürtet, auf
daß es gerüſtet ſei gegen ein Etwas, das kommen
muß. Ahnung nennen wir den wunderſamen Hauch.


Ich hätte vielleicht länger noch geruht auf dem
Steine und dem Toſen des Wildwaſſers und dem
Säuſeln der Waldwipfel gelauſcht; allein, mir ſchien,
als ſtrecke ſich der Holzarm immer länger und länger
aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte:
„Weg nach Winkelſteg.“


Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da ſah
ich, daß mein Schatten ſchon ein gut Stück länger
war, als ich ſelbſt. Und wer weiß, wie weit ab es
noch lag, das letzte und kleinſte Dorf Winkelſteg.


Ich ging raſch und ſah mich nicht viel um.
Ich merkte nur, daß die Wildniß immer größer
wurde. Rehe hörte ich röhren im Walde, Geier
hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln,
und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Ueber
dem Felsgebirge lag ein Gewitter. Ein dumpfes
halberſticktes Murren war zu hören und nicht lange,
ſo erhob ſich ein Grollen und Rollen, als ob all
die Felſen und Eiswuchten des Hochgebirges tauſend
1*
[4] und tauſendfach aneinander prallten. Die Bäume
über mir bogen ſich mächtig hin und her und in den
breiten Blättern eines Ahorn rauſchten ſchon die
großen eiskalten Tropfen.


Das Gewitter ging bis auf dieſe wenigen
Tropfen vorüber. Weiter drin aber mußte es ärger
geweſen ſein, denn plötzlich brauſte mir im Hohl-
weg ein wilder Gießbach mit Erde, Steinen, Eis
und Holzſtücken entgegen. Ich rettete mich an die
Lehne hinan und kam mit großer Mühe vorwärts.


Ueber der Gegend lag nun Nebel und an den
Aeſten der Tannen ſtieg er nieder bis zu dem feuch-
ten Heidegrunde.


Als es gegen die Abenddämmerung ging und
als die Waldſchlucht ſich ein wenig weitete, kam ich
in ein ſchmales Wieſenthal, deſſen Länge ich des
Nebels wegen nicht ermeſſen konnte. Der Matten-
grund war bedeckt mit Eiskörnern; der Bach hatte
ſein Bett überſchritten und hatte die Brücke fort-
geriſſen, die mich hätte hinübertragen ſollen auf das
jenſeitige Ufer, von wo mir durch das Nebelgrauen
ein weißes Kirchlein und die Bretterdächer einiger
Häuſer zuſchimmerten.


Es war froſtig kalt und es begann zu dunkeln.
Ich rief hinüber zu den Leuten, die am Waſſer ar-
beiteten, Holzblöcke auffingen und den Fluß zu regeln
ſuchten. Sie ſchrieen mir die Antwort zurück, ſie
[5] könnten mir nicht helfen, ich müſſe warten, bis das
Waſſer abgelaufen ſei.


Bis ſo ein Gießwaſſer abläuft, das kann die
[ganze] Nacht währen. Ich wage es und wate durch
den Fluß. Aber als ſie drüben dieſe meine Abſicht
bemerkten, winkten ſie mir warnend zu. Und bald
ſtemmte ein großer, hagerer, ſchwarzbärtiger Mann
eine Stange an und ſchwang ſich mittelſt derſelben
zu mir herüber. Dann häufte er hart am Ufer einige
Steine übereinander und legte auf dieſelben das
Brett, welches die Anderen über die Fluthen herüber-
ſchoben. Nun nahm er mich an der Hand und ſagte:
„Nur feſt anhalten!“ dann führte er mich über das
ſchaukelnde Brett an das andere Ufer.


Während wir über dem Waſſer ſchwebten, hub
das Aveglöcklein an zu klingen und die Leute zogen
ihre Hüte ab.


Der große ſchwarze Mann geleitete mich über
die kniſternden Eiskörner zum Dörfchen hinan. „So
iſt es;“ brummte er unterwegs, „läßt der Herrgott
was aufwachſen, hauts der Teufel wieder in die
Erden hinein. Die Kohlpflanzen ſind hin, bis auf
das letzte Stammel; und das letzte Stammel auch.
Der Hafer liegt auf dem Hintern und reckt ſeine
Knie gegen Himmel hinauf.“


„Das Wetter hat ſo viel Schaden gethan?“
ſagte ich.


[6]

„Vom heutigen Tag an darf ſich Eins den
ganzen Sommer über wieder nicht ſatt eſſen, wollen
wir für den Winter den Magen nicht in den Rauch-
fang hängen,“ antwortete er.


Das Dorf beſtand aus drei oder vier hölzernen
Häuſern, einigen Hütten, rauchenden Kohlſtätten und
dem Kirchlein.


Vor einem der größeren Häuſer, an deſſen
Thür ein breiter, von vielen Tritten zerſchleifter An-
trittſtein lag, blieb mein Begleiter ſtehen und ſagte:
„Kehrt der Herr bei mir ein? ich bin der Winkel-
wirth.“ Er deutete bei dieſen Worten auf das Haus,
als ob es das ſein Ichſelbſt wäre.


Bald hernach war ich in der Stube. Die
Wirthin nahm mir gar behende die Reiſetaſche und
den feuchten Ueberrock ab und brachte mir ein
par Strohſchuhe herbei: „Nur gleich das naſſe
Leder aus und die Schliefſchuhe anſtecken; nur fein
gleich, fein gleich, ein naſſer Schuh auf dem
Fuß läuft zum Bader!“ Nicht lange, ſo ſaß
ich trocken und bequem an dem großen Tiſche unter
dem Hausaltar und unter Wandleiſten, auf welchen
der Reihe hin buntbemaltes Ton- und Porzellan-
geſchirr lehnte. Auf dem Gläſergeſtelle war eine Un-
zahl von Kelchfläſchchen umgeſtülpt und der Wirth
frug mich gleich, ob ich Branntwein begehre. Ich
verlangte Wein.


[7]

„Iſt wol kein Tröpfel im Keller geweſen, ſo
lang das Haus ſteht,“ verſetzte der Wirth, „aber
Holzapfelmoſt hätt’ ich einen rechtſchaffen guten.“


Das war mir ſchon recht; aber als er in den
Keller gehen wollte, trippelte ſein Weib herbei, nahm
ihm haſtig den Schlüſſel aus der Hand: „Geh, La-
zarus, ſchneutz’ dem Herrn das Licht; fein geſchwind,
Lazarus, wirſt ſchon dein Tröpfel noch kriegen.“


Ein wenig brummend kam er zum Tiſch zu-
rück, reinigte den Docht der Unſchlittkerze, ſah mich
eine Weile ſo an und frug endlich: „Der Herr iſt
zuletzt gar unſer neuer Schulmeiſter? — Nicht? —
So, auf den grauen Zahn hinauf geht die Wander?
Wird morgen wol nicht gehen. Iſt auch dieſen Som-
mer noch kein Menſch hinaufgeſtiegen. Das muß
Einer im Frühherbſt thun; zur andern Zeit iſt kein
Verlaß auf das Wetter. — Nu, wie man halt ſchon
ſo nachgrübelt; ich hab’ gemeint, der Herr dürft’ der
neue Schulmeiſter ſein. Es verſteigt ſich ſonſt wun-
derſelten Einer da herein, der nicht herein gehört.
Auf den neuen Schulmeiſter warten wir ſchon alle
Tag. Der alte iſt uns durchgegangen; — hat der
Herr nichts gehört?“


„So, Lazarus, thu’ ſchön fein plaudern mit
dem Herrn,“ ſagte die Wirthin im zärtlichen Tone
zu ihrem Manne, als ſie mir den Moſt und zu-
gleich auch die Abendſuppe vorſetzte.


[8]

Das Weib war nicht mehr zu jung, aber es
war das, was die Wäldler „kugelrund“ nennen. Sie
hatte ein zweifaches Kinn und unter demſelben, um
den vollen Hals, eine Silberkette. Ihre Aeuglein
guckten klug und mild hervor, wenn ſie ſprach und
wenn ſie, mit jedem Winkel und Nagel des ganzen
Hauſes bekannt und verwachſen, luſtig in allen Ecken
und Enden herumregierte. Wie im Scherze regelte
ſie Alles und ſchäckerte mit dem Gaſt und lachte
mit dem Geſinde in der Küche und im Vorhauſe.
Daß jetzt der Schauer wieder Alles zerſchlagen, ſei
freilich nicht gar luſtig, meinte ſie, aber beſſer ſei
es allerwege, das Eis falle vom Himmel auf die
Erde, als wenn es von der Erde auf den Himmel
fiele und da oben auch noch Alles in Scherben
ſchlüge. Da hätt’ Eins ſchon gar nichts mehr zu
hoffen. Und wie ſie ſo die Sache auslegte, ſpru-
delte die Fröhlichkeit ordentlich aus ihr hervor, und
der ganze Kreis um ſie war heiter; und Jedes ſchien
ſich ſo gehen zu laſſen in Dem, was es that, em-
pfand und ſagte; aber es ging doch Alles nach der
Schnur.


„Ihr habt ein treffliches Frauchen,“ ſagte ich
zum Wirth.


„Das wol, das wol“ beſtätigte er leiſe und
lebhaft, „brav iſt ſie, meine Juliana, aber halt —
aber halt —“ Das Wort blieb ihm im Halſe ſtecken,
[9] oder vielmehr, er zerbiß es, drückte und preßte es
hinab, hinab; aufſprang er und die Hände am Rücken
geballt ſchritt er über die Stube und wieder zurück
und goß ſich ein Glas Waſſer in die Gurgel.


Dann ſetzte er ſich auf die Bank und war
ruhig; aber es war noch nicht ganz gut, er hatte
die Fäuſte geſchloſſen und ſtarrte auf den Tiſch. —
Ich habe einmal auf einem Jahrmarkt einen Araber
geſehen, eine mächtig hohe Geſtalt, knochig, hager,
rauh und lederbraun, ſchwarz- und vollbärtig, glut-
äugig, mit langer ſcharfgebogener Naſe, ſchneeweißen
Zähnen, mit dichten Brauen und einem weichen,
wollartigen Haarfilze — völlig ſo ſah der Mann
aus, der jetzt ſchier unheimlich vor mir brütete.


„’s gibt kein Weibel mehr, ſo herzensgut und
getreu,“ murmelte er plötzlich; weitere Worte zer-
malmte er zwiſchen den Zähnen.


Ich ſah, der Mann war in einer ſehr peinlichen
Stimmung; ich ſuchte ihn aus derſelben zu erlöſen.


„Alſo durchgegangen, ſagt ihr, iſt der alte
Schulmeiſter?“


Da hob der Wirth ſeinen Kopf: „Man kann
juſt nicht ſagen, daß er durchgegangen iſt; es hat
ihm nichts weh gethan bei uns. Ich denk’, wer
fünfzig Jahr in Winkelſteg Schullehrer, oder was
weiß ich, alles iſt, der läuft im einundfünfzigſten
nicht davon wie ein Korndieb.“


[10]

„Fünfzig Jahre dahier Schullehrer!“ rief ich.


„Schullehrer und Bader und Amtmann und
eine Weil’ gar auch Pfarrer iſt er geweſen.“


„Und ein Halbnarr iſt er auch geweſen!“ ſchrie
Einer vom Nebentiſche her, wo ſich mehrere
ſchwarze Geſellen, etwa Holzer und Kohlenbrenner,
bei Schnapsgläſern niedergelaſſen hatten. „Ja frei-
lich,“ rief die Stimme, „da draußen bei der Wach-
holderſtauden iſt er die längſte Zeit gehockt und hat
mit dem Wiſch geſchwätzt und den Gimpeln hat
er das Singen lehren wollen nach Noten. Hat
er wo einen ſcheckigen Falter erſpäht, ſo iſt
er ihm nachgeholpert den ganzen halben Tag;
— ein Halterbübel könnt nicht kindiſcher ſein. Hat
ihn leicht gar ſo ein Thier fortgelockt, hat der
Alte nimmer heimgefunden, iſt liegen blieben im
Wald.“


„Zur Weihnachtszeit fliegen keine Falter herum,
Joſel,“ ſagte der Wirth, halb berichtigend, halb ver-
weiſend, „und daß er in der Chriſtnacht iſt in Ver-
luſt gerathen, das wirſt wiſſen.“


„Der Teufel hat ihn geholt, den alten Saker-
menter!“ gröhlte eine andere Stimme in dem finſter-
ſten Winkel der Stube, am großen Kachelofen. Als
ich hinblickte, ſah ich in der Dunkelheit die Funken
eines Feuerſteines ſprühen.


[11]

„Mußt nit, Schorſchl, mußt nit ſo reden!“
ſagte einer der Köhler, „mußt bedenken, der alte
Mann hat ſchneeweiße Haar gehabt!“


„Ja, und Hörner unter denſelben,“ riefs vom
Ofen her, „leicht hat ihn Keiner ſo gekannt, den
alten Schleicher, wie der Schorſchl! Meint ihr, er
hätt’s nit abgemacht gehabt mit den großen Herren,
daß wir keiner was haben gewonnen beim Lotter-
g’ſpiel (Lotterie)! Wesweg hat denn der Kranabet-
ſepp gleich in der zweiten Woch’, da der Schul-
meiſter iſt weggeweſen, einen Amber (Ambo) gemacht?
Der bucklig’ Duckmauſer ſelber hat freilich Geld
gehabt; hats vergraben, auf daß, was er ſelber nit
braucht, die armen Leut’ auch nit brauchen ſollen.
Oh — leicht könnt’ Einer noch andere Geſchichten
erzählen, wären nicht ſo gewiſſe Leut’ in der Stub.“


Die Stimme ſchwieg; man hörte nur das
Pfauchen der rauchſaugenden Lippen und das Zu-
klappen eines Pfeifendeckels.


Der Wirth ſtand auf, warf ſeinen Lodenwamms
weg und ging in flatternden Hemdärmeln einige
Schritte gegen den Ofen. Mitten in der Stube
ſtand er ſtill. „So gewiſſe Leut’ ſind in der Stube,“
ſagte er gedämpft, „Schorſchl, dasſelb’ deucht mich
ſelber; aber nit beim redlichen Tiſch ſitzen ſie vor
aller Leut’ Augen; im ſtockfinſteren Winkel ducken
ſie ſich, wie ein nichtsnutziger Schelm, wie — wie —“
[12] Er brach ab, man merkte es, wie er ſich Gewalt
anthat, gelaſſen zu bleiben; er zog ſich ſchier krampf-
haft zuſammen, aber er blieb ſtehen mitten in der
Stube.


„Freilich, freilich, die Branntweinbrenner haben
den Alten nicht leiden mögen,“ ſagte einer der Köhler.
Dann zu mir gewendet: „Beſter Herr, Der hat’s
gut gemeint! Gott tröſt’ ſeine arme Seel! — Hat
noch die Orgel geſpielt in der heiligen Nacht, aber
in der Chriſttagsfrüh iſt kein Gebetläuten geweſen.
Den Reiter Peter, — das iſt halt unſer Muſikant
— hat’ er in der Nacht noch angeredet, daß der
ſollt’ die Muſik für den Chriſttag übernehmen; —
das iſt ſein letzt’ Wort geweſen, und weg iſt der
Schulmeiſter. — Du heiliger Antoni, was haben
wir den alten Mann nicht geſucht. Spüren hat
man ihn nicht können, der Schnee iſt weit und breit,
und gar im Wald drin, ſteinhart geweſen; hat Jeden
tragen, ſo weit er hat wollen gehen. Ganz Winkel-
ſteg iſt auf geweſen, iſt alle Wälder abgegangen und
alle Straßen draußen im Land —.“


Der Mann ſchwieg; ein Achſelzucken und eine
Handbewegung deuteten an, ſie hätten den Schul-
meiſter nicht gefunden.


Der Wirth wendete ſich wieder langſam gegen
den Tiſch und ſagte faſt traurig: „Und ſo haben
wir Winkelſteger halt keinen Schulmeiſter. Ich für
[13] mich brauch keinen; ich hab’ nichts gelernt und werd’
nichts mehr lernen — ich leb’ ſo. Aber einſehen
thu’ ichs wol, ein Schulmeiſter muß ſein. Und ſo
ſind wir Gemeindebauern halt zuſammengeſtanden,
daß wir einen neuen —“


Ich hatte in dieſem Augenblick das Moſtglas
an den Mund geſetzt, um den Reſt des trefflichen
Trankes zu ſchlürfen. Und das war, als hätte es dem
Manne die Sprache verſchlagen. Er ſtarrte auf das
leere Glas, wollte dann ſein Geſpräch wieder fort-
ſetzen, ſchien aber kaum mehr zu wiſſen, wovon er
geredet.


„Ich denk’ mir meinen Theil,“ verſetzte einer
der Kohlenbrenner, „und ich ſag’ dasſelb’, juſt und
gerade dasſelb’, was der Wurzentoni ſagt. Der alte
Schulmeiſter, ſagt er, hat ein Stückel mehr ver-
ſtanden, als Birn ſieden, ein gut Stückel mehr. Der
Wurzentoni — nicht einmal, zehn- und hundertmal
hat er den Schulmeiſter geſehen aus einem klein-
winzigen Büchlein beten, und im Büchlein ſind alles
ſo Sprüchel geweſen und Zauber- und Hexenzeichen,
lauter Hexenzeichen. Wär’ der Schulmeiſter im Wald
wo geſtorben, ſagt der Wurzentoni, ſo hätt’ man den
Todten finden müſſen; und hätt’ ihn der Teufel ge-
holt, ſo wär’ das Gewand zurückgeblieben, denn das
Gewand, ſagt der Wurzentoni, iſt unſchuldig, über
das hat der Teufel keine Gewalt! hat keine! —
[14] Ganz was anders iſt geſchehen, meine Leut! Der
Schulmeiſter — verzaubert hat er ſich, und ſo ſteigt
er unſichtbar Tag und Nacht in Winkelſteg herum —
Tag und Nacht, zu jeder Stund’. Das iſt, weil er
will wiſſen, was die Leut’ in der Heimlichkeit thun
und über ihn reden, und weil — —. Ich ſag’
nichts Schlechtes über den Schulmeiſter, ich nicht.
Wüßt auch nicht was, bei meiner Treu, wüßt auch
nicht, was!“


„Ei, thät der Teufel nicht mehr wiſſen, wie
der ſchwarz’ Kohlenbrenner!“ hüſtelte die Stimme
hinter dem Ofen, „noch heut’ führt der alt’ Grau-
ſchädel die Winkelſteger bei der Naſe herum!“


Ein gereizter Löwe könnte nicht wüthender auf-
ſpringen, als es jetzt der derbe finſtere Wirth that.
Ordentlich ſtöhnend vor Begier ſtürzte er hin in den
Ofenwinkel, und dort war ein angſtvolles Aufkreiſchen.


Da eilte die Wirthin herbei: „Geh, Lazarus,
wirſt dich ſcheren mit dieſem dummen Schorſchel da!
iſt nicht der Müh’ wert, daß du desweg einen Finger
krumm thuſt. Geh, ſei fein geſcheidt, Lazarus; ſchau,
jetzt hab’ ich dir dort dein Tröpfel hingeſtellt.“


Lazarus ließ nach; der Schorſchl huſchte wie
ein Pudel heulend zur Thür hinaus.


Lazarus hatte Haarlocken in der Fauſt, fahle,
zerzauſte Haarlocken. Knurrend ſchritt er gegen den
Kaſten, auf welchen ihm ſein Weib ein Glas Apfel-
[15] moſt geſtellt hatte. Faſt lechzend, zitternd griff er
nach dem Glaſe, führte es zum Mund und that
einen langen Zug. Dann hielt er ſtarren Auges ein
bischen inne, dann ſetzte er wieder an und leerte
das Glas bis auf den letzten Tropfen. Das mußte
ein fürchterlicher Durſt geweſen ſein. Langſam ſank
die Hand mit dem leeren Gefäße nieder; tief auf-
athmend glotzte der Wirth vor ſich hin.


So verging die Zeit, bis die Wirthin zu mir
kam und ſagte: „Wir haben ein gutes Bett, da oben
auf dem Boden; aber ich ſag’s dem Herrn fein
g’rad heraus, der Wind hat heut ein par Dach-
ſchindeln davongetragen und da thut’s ein kleinwenig
durchtröpfeln. Im Schulhaus oben wär’ wol ein
rechtſchaffen bequemes Stübelein, weil es für den
neuen Lehrer ſchon eingerichtet iſt; und fein zum
Heizen wär’s auch, und wir haben den Schlüſſel,
weil mein Alter Richter iſt und auf das Schulhaus
zu ſchauen hat. Jetzt, wenn ſonſt der Herr nicht
gerade ungern im Schulhaus ſchläft, ſo thät ich ſchon
dazu rathen. Ei beileib’, es iſt nicht unheimlich,
gar nicht; es iſt fein ſtill und fein ſauber. Mich
däucht, das ganze Jahr wollt’ ich darin wohnen.“


So zog ich das Schulhaus dem Dachboden vor.
Und nicht lange nachher geleitete mich ein Küchen-
mädchen mit der Laterne hinaus in die ſtockfinſtere
regneriſche Nacht, das Dörfchen entlang, an der
[16] Kirche hin über den Friedhof, an deſſen Rande das
Schulhaus ſtand. Das Raſſeln des Schlüſſels an
der Thür wiederhallte laut im Innern. Im Vor-
hauſe war es öde, und die Schatten der Latern-
ſäulchen zuckten wie gehetzt an den Wänden hin
und her.


Da traten wir in ein kleines Zimmer, in deſſen
Thonofen helle Glut kniſterte. Meine Begleiterin
ſtellte ein Licht auf den Tiſch, ſchlug die braune
Decke des Bettes über und zog aus dem Wandkaſten
eine Lade hervor, damit ich meine Sachen dort unter-
bringe. Da rief ſie auf einmal: „Nein, das iſt
richtig, daß wir uns allmiteinander ſchämen müſſen;
jetzt liegen dieſe Fetzen noch da herum!“ Sofort
faßte ſie einen armvoll Papierblätter, wie ſie in der
Lade wirr herumlagen: „Will euch gleich helfen, ihr
verzwickelten Wiſche, in den Ofen ſteck’ ich euch!“


„Mußt nicht, mußt nicht,“ kam ich dazwiſchen,
„vielleicht ſind Dinge dabei, die der neue Lehrer
noch brauchen kann.“


Verdrießlich warf ſie die Blätter wieder in die
Lade. Es wäre ihr in ihrer Aufräumungswuth ſicher
eine große Luſt geweſen, ſie zu verbrennen, wie ja
unwiſſende Leute häufig das Verlangen haben, Alles,
was ihnen nutzlos dünkt zu vernichten.


„Der Herr kann des alten Schulmeiſters Schlaf-
hauben aufſetzen,“ ſagte das Mädchen hernach und
[17] legte eine blaugeſtreifte Zipfelmütze auf den Kopf-
polſter des Bettes. Dann gab es mir noch einige
Rathſchläge bezüglich der Thürſchlüſſel, ſagte: „So,
in Gottesnamen, jetzt geh’ ich,“ — und ſie ging.


Die äußere Thür ſperrte ſie ab, an der inne-
ren drehte ich den Schlüſſel um, und nun war ich
allein in der Wohnung des in Verluſt gerathenen
Schulmeiſters.


Was war das für ein ſonderbares Geſchick
mit dieſem Manne, und was waren das für ſon-
derbare Nachreden der Leute? Und wie verſchieden
waren dieſe Nachreden! Ein guter, vortrefflicher
Mann, ein Narr, ein Hexenmeiſter, und gar Einer,
den zuletzt der Teufel holt! —


Ich ſah mich in der Stube um. Da war
ein wurmſtichiger Tiſch und ein brauner Kaſten.
Da hing eine alte, ſchwarze Pendeluhr mit völlig
erblindetem Zifferblatte, vor welchem der kurze
Pendel ſo emſig hin [und] herhüpfte, als wollte er
nur haſtig, haſtig aus banger Zeit in eine beſſere
Zukunft eilen. — Und meint ihr, ich hätte von
draußen herein nicht auch die Unruh der Kirch-
thurmuhr gehört?


Neben der Uhr hingen einige aus Wachholder
geſchnittene Tabakspfeifen mit übermäßig langen
Röhren; ferner eine Geige und eine uralte Zither
mit drei Saiten. Sonſt war überall das gewöhn-
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 2
[18] liche Hausgeräthe, vom Stiefelzieher unter der
Bettſtatt bis zu dem Kalender an der Wand. Die
Fenſter waren bedeutend größer, als ſie ſonſt bei
hölzernen Häuſern zu ſein pflegen und mit gefloch-
tenen Gittern verſehen. In dieſen Gittern ſteckten
verdorrte Birkenzweige.


Da ich einen der blauen Vorhänge bei Seite
geſchoben hatte, blickte ich hinaus in das Freie.
Es war finſter, nur von einer Ecke des Kirchhofes
her ſchimmerte es, wie ein verlorner Strahl des
Mondes. Das war wohl das Moderleuchten eines
zuſammengebrochenen Grabkreuzes oder eines Sarg-
reſtes. Der Regen rieſelte; es zog ein froſtiger
Windhauch durch die Luft wie gewöhnlich nach
Hagelgewittern.


Ich hatte die Alpenfahrt für den nächſten
Tag aufgegeben. ich beſchloß, entweder in Winkel-
ſteg ſchön Wetter abzuwarten, oder mittelſt eines
Kohlenwagens wieder davon zu fahren. Brauen im
Gebirge ſelbſt zur Sommerszeit ja doch oft wochen-
lang die feuchten finſtern Nebel, während draußen
im Vorlande der milde Sonnenſchein liegt.


Ehe ich mich ins Bette legte, wühlte ich noch
ein wenig in den alten Papieren der Schublade
herum. Da waren Muſiknoten, Schreibübungen,
Aufmerkblätter und allerhand ſo Geſchreibe auf
grobem, grauem, gelbem Papier. Es war theils
[19] mit Bleiſtift, theils mit blaſſer Tinte, bald flüchtig
bald mit Fleiß geſchrieben. Und da lagen zwiſchen
Blättern gepreßte Pflanzen, entſtaubte Schmetter-
linge und eine Menge Thier- und Landſchaftszeich-
nungen, zumeiſt gar recht unbeholfen gemacht. Aber
ein Bild fiel mir doch auf, ein mit bunten Far-
ben bemaltes, eigenartiges, komiſches Bild. Es
ſtellte einen alten Mann dar. Der kauerte auf
einem Baumſtrunk und ſchmauchte eine langberohrte
Pfeife. Auf dem Haupte, deſſen Haare nach rück-
wärts gekämt waren, hatte er eine plattgedrückte,
ſchwarze Kappe mit einem breiten, wagrecht hinaus-
ſtehenden Schilde. Aber ein Künſtler war es doch,
der das Bild gemacht; im Ausdrucke des Angeſichts
war er zu ſpüren. Aus dem einen Auge, das
ganz offen ſtand, blickte eine ernſte und doch milde
Seele heraus; aus dem andern, das halb geſchloſſen
nur ſo blinzelte, ſah ein wenig Schalkheit hervor.
In einem Hauſe, aus deſſen Fenſtern ſolche Gäſte
lugen, iſt’s nicht gar ſonderlich arm und öde. Ueber
den, vom wohlwollenden Künſtler vielleicht doch zu
roſig gehaltenen Wangen war es aber faſt, als ob
ſeiner Zeit Wildbäche Furchen geriſſen hätten.
Völlig ſpaßhaft hingegen nahm ſich auf dem ſonſt
völlig glatt raſirten Geſichte der lange weiße Spitz-
bart aus; er war unter dem vorgebeugten Kopfe
wie ein vom Kinne niederhängender Eiszapfen.
2*
[20] Um den Hals war ein hellrothes Tuch mehrfach
geſchlungen und vorne mehrfach zuſammengeknüpft.
Dann kam der hohe Wall des Rockkragens und der
blaue Tuchrock ſelbſt, ein Frack mit niederſtrebenden
Taſchen, aus deren Einer der launige Künſtler
gar ein Kipfelchen hervorlugen ließ. Der Rock war
eng zugeknöpft bis hinauf zum Eiszapfen. Die
Hoſe war grau, ſehr eng und ſehr kurz; die Stie-
fel waren auch grau, aber ſehr weit und ſehr
lang. — So kauerte das Männchen da und hielt
mit beiden Händen genußſelig das lange Pfeifen-
rohr, und ſchmauchte. Leichte Ringelchen und Herz-
chen bildete der Rauch . . . .


Der das Bild gemacht, iſt ein Kautz geweſen;
nach dem es gemacht, der iſt noch ein größerer
geweſen. Einer oder der Andere war ſicher der
alte Schulmeiſter, der auf unerklärliche Weiſe ver-
ſchwunden, nachdem er fünfzig Jahre im Orte
Lehrer geweſen. — „Und unſichtbar ſteigt er in
Winkelſteg herum, Tag und Nacht — zu jeder
Stund!“


Ich ſtieg ins Bett und lag und ſann. Ich
ahnte nicht, wer es geweſen war, der das Haus
gebaut und vor mir auf dieſer Stätte geruht.


Die Glut im Ofen kniſterte matt und matter
und war im Abſterben. Draußen rieſelte der Regen,
und doch lag eine Stille über Allem, ſo daß mir
[21] war, als hörte ich das Athemholen der Nacht. —
Ich war im Einſchlummern; da erhob ſich plötzlich
ganz nahe über mir ein lebhaftes Schallen, und
eilfmal hintereinander laut und luſtig klang der
Wachtelſchlag. Ganz täuſchend ähnlich waren die
Laute dem lieblichen Rufe des Vogels im Korn-
felde. Die alte Uhr war’s geweſen, die mir ſo
ſeltſam die eilfte Stunde verkündet hatte.


Und der ſüße Wachtelſchlag hatte mein Sinnen
und Träumen entführt hinaus auf das lichte ſon-
nige Kornfeld zu den wiegenden Halmen, zu den
blauleuchtenden Blumenaugen, zu den gaukelnden
Schmetterlingen — und ſo war ich eingeſchlafen an
demſelben Abende, im geheimnißvollen Schulhauſe
zu Winkelſteg.


Wie mich der Wachtelſchlag eingelullt hatte,
ſo weckte mich der Wachtelſchlag wieder auf. Es
war des Morgens zur ſechsten Stunde.


Im Stübchen athmete noch die milde Wärme
des Ofens; an den Wänden und auf der Decke
lag es wie Mondlicht. Und es mußte die Sonne
ſchon am Himmel ſtehen; es war im Juli. Ich
erhob mich und zog einen der blauen Fenſtervor-
hänge zurück. Die großen Scheiben waren grau
angelaufen; nur hie und da löſte ſich eine Tropfen-
perle und rollte hin und herzuckend nieder durch
[22] die unzähligen Bläschen und Tröpfchen, hinter ſich
einen ſchmalen Pfad ziehend, durch welchen das
Dunkel des braunen Kirchendaches hereinblickte.


Ich öffnete das Fenſter; froſtige Luft ergoß
ſich in das Zimmer. Der Regen hatte aufgehört;
an der Friedhofsmauer lag ein Wall zuſammen-
geſchwemmter Eiskörner, mit niedergeſchlagenen
Baumrinden und gebrochenen Reiſigwipfeln ge-
miſcht. An der Kirchenwand lagen Schindelſplitter
des Daches; die Fenſter der Kirche waren mit
Brettern geſchützt. Einige Eſchen ſtanden am Platze,
da tropfte es nieder von den wenigen Blättern, die
der Hagel verſchont hatte. Noch ragte dort das
verſchwommene Bild eines Rauchfanges; was wei-
ter hin war, das deckte der Nebel.


Ich hatte den Gedanken an die Alpenwande-
rung heute gar nicht mehr hervorgeholt. Langſam
zog ich mich an und betrachtete das Triebwerk der
alten Schwarzwälderuhr, welches durch zwei an
einander ſchlagende Holzblättchen den ſchmetternden
Schlag der Wachtel ſo täuſchend gab. Hernach
wühlte ich, da es mir zum Frühſtück noch zu zeit-
lich war, noch eine Weile in den Papieren der
Lade herum. Ich bemerkte, das außer den Zeich-
nungen, Rechnungen und jenen Bogen, die zu
Pflanzenmappen dienten, alle beſchriebenen Blätter
eine gleiche Größe hatten und mit rothen Seiten-
[23] zahlen verſehen waren. Ich verſuchte die Blätter
zu ordnen und warf zuweilen einen Blick auf deren
Inhalt. Es waren tagebuchartige Aufzeichnungen,
die ſich auf Winkelſteg bezogen. Die Schriften
waren aber ſo voll von eigenartigen Ausdrücken
und regellos geformten Sätzen, daß eine Art
Ueberſetzung nöthig ſchien, um ſie der Verſtändlich-
keit zuzuführen.


Die Mühe däuchte mir nicht abſchreckend,
denn ich hoffte hier Urkunden des ſo entlegenen
Alpendörfchens und vielleicht gar aus dem Leben
des verſchwundenen Schulmeiſters zu finden. Indem
ich emſig weiter ordnete, und mit dieſer Arbeit
ſchon völlig zur Rüſte kam, entdeckte ich plötzlich
ein dickes graues Blatt, auf welchem mit gro-
ßen rothen Buchſtaben geſchrieben ſtand: „Die
Schriften des Waldſchulmeiſters
.“


So hatte ich nun gewiſſermaßen ein Buch
zuſammengeſtellt; und das Blatt mit den rothen
Lettern legte ich auf Geradewohl oben an, als des
Buches Ueberſchrift.


Mittlerweile hatte meine Wachtel die achte
Stunde verkündet, und auf dem Kirchthurme läu-
teten zwei helle Glöcklein zur Meſſe. Der Pfarrer,
ein ſchlanker Mann mit blaſſem Angeſichte, ſchritt
von ſeinem Hauſe die kleine Steintreppe heran zur
Kirche. Einige Männer und Weiber zogen ihm
[24] nach, entblößten noch weit vor der Thür ihr
Haupt oder zerrten die Roſenkranzſchnur hervor
und beſprengten ſich andächtig am Weihwaſſerkeſſel
des Einganges.


Ich ging zur Thür hinaus und über den
hügeligen Sandboden hin. Und ich ging, weil die
Orgel gar ſo freundlich herausklang, zur Kirche
hinein. Da war es auf den erſten Blick, wie es
in jeder Dorfkirche iſt — und doch eigentlich ganz
anders. Je ärmer ſonſt ſo ein Kirchlein iſt, deſto
mehr Silber und Gold ſieht man in ihm funkeln;
alle Leuchter und Gefäße ſind von Silber, alle
Verzierungen und Heiligenröcke und Engelsflügel
und gar die Wolken des Himmels ſind von Gold.
Aber es iſt nicht Silber, es iſt nicht Gold; es iſt
nur der Schein davon und inwendig iſt eitel Holz
mit Wurmſtichen. Ich kann jenem Bauersmann
nicht Unrecht geben, der, als er in der Kirche ein-
mal Meßnerdienſte verrichten mußte und dabei in
nähere Bekanntſchaft mit den Bildniſſen und Altä-
ren gekommen, ausrief: „Wie unſere Heiligen von
Weitem funkeln und vornehm ſind, ſo meint man,
was der tauſend wir für Himmelsmänner haben,
und wenn man ſie in der Nähe anſchaut, iſt nichts
dahinter.“


In der Kirche zu Winkelſteg fand ich das
anders. Freilich war auch da Alles aus Holz und
[25] größtentheils aus ganz gewöhnlichem Fichtenholz,
aber es war nicht geſchminkt mit ſchreienden Far-
ben, Geflunker und Gebändern und was ſonſt ſol-
chen Zierrath gibt; es war, wie es war und wollte
nicht anders ſein.


Die Kirchenwände ſtanden in mattem Grau
und waren faſt leer. In einer Ecke des Schiffes
klebten ein Paar Schwalbenneſter, deren Bewohner
heute auch bei dem Gottesdienſte blieben und dem
Herrn nach ihrer Art das „Sanctus“ ſangen. Den
Chorboden da oben und den Beichtſtuhl und die
Kanzel und die Betſtühle — man ſah es wohl —
hatten heimiſche Zimmerleute ausgeführt; der Tauf-
ſtein hatte auch ſein Lebtag keinen Steinmetz, und
der Hochaltar keinen Bildhauer geſehen. Aber es
war Geſchmack und Zweckmäßigkeit in Allem. Der
Altar war ein hoher, würdevoll daſtehender Tiſch,
zu welchem drei breite Stufen emporführten. Er
war bedeckt mit einfachen weißen Linnen, und in
einem Gezelte aus weißer Seide, zwiſchen ſechs
ſchlanken, aus Lindenholz geſchnitzten Leuchtern ſtand
das Heiligthum. Was mir aber am meiſten
auffiel, was mich rührte, faſt erſchütterte, das
war ein nacktes großes Kreuz aus Holz, welches
über dem Zelte ragte. Dieſes Kreuz mochte
nicht immer da oben geſtanden haben; es war
wettergrau, der Regen hatte die Faſern hervor-
[26] gewaſchen, die Sonne hatte Spalten gezogen.
Das war der Winkelſteger Altarbild. Ich habe
nie einen Prediger ernſter und eindringlicher ſpre-
chen gehört, von Liebe und Geduld, von Auf-
opferung und Entſagung, als es dieſes ſtille Kreuz
that auf dem Altare.


Dann fiel mir noch ein Zweites auf, was
faſt abſtach von der Armut und Einfachheit, ſo in
dieſem Gotteshauſe herrſchte, was aber die Stim-
mung und Ruhe nur noch erhöhte. An beiden Sei-
ten des Altares waren zwei ſchmale hohe Fenſter
mit Glasmalereien. Sie thauten ein mildes roſiges
Dämmerlicht über den Altar.


Der Prieſter verrichtete die Handlung; die
wenigen Anweſenden knieten in den Stühlen und
beteten ſtill; und die mild tönende, wie in Ehr-
furcht leiſe zitternde Orgel betete mit, war wie
eine flehende, weinende Fürſprache vor Gott für
die arme Gemeinde, die ſeit geſtern, da das Unge-
witter die Feldfrucht vernichtet, neuen Kummer trug.


Als die Meſſe zu Ende war, und die Leute
ſich erhoben, bekreuzten, die Kniebeugung machten
und davongingen, ſtieg ein hübſcher junger Mann
die Chorſtiege herab. Ich frug ihn vor der Kirch-
thür, ob er es ſei, der die Orgel geſpielt habe.
Er neigte den Kopf. Er ſchritt gegen das Dörf-
chen hinab; ich ging mit ihm und ſuchte ein
[27] Geſpräch anzufangen. Er ſah mir mehrmals be-
trübt und treuherzig ins Geſicht, aber er ſagte
kein Wort; faſt zitterten ſeine friſchrothen Lippen
und er wendete ſich bald und ſchritt abſeits gegen
den Bach. Er war ſtumm.


Bald nachher ſaß ich im Wirthshauſe bei
meinem Frühſtück. Es beſtand aus einer Schale
Milch mit gebranntem Kornmehl gewürzt. Das
iſt der Winkelſteger Kaffee.


Und nun — was gedachte ich zu thun?


Ich theilte der heiteren Wirthin meine Abſicht
und meinen Wunſch mit: das ungünſtige Wetter
in Winkelſteg abzuwarten, im Stübchen des Schul-
hauſes zu wohnen und die Schriften des Schul-
meiſters zu leſen — „wenn ich dazu Erlaubniß
hätte.“


„O mein Gott, ja, von Herzen gern!“ rief
ſie, „wen wird der Herr denn irren, da oben! und
das alte Papierwerk ſchaut ſonſt auch kein Menſch
an — wüßt’ nicht, wer! Davon kann ſich der
Herr ausſuchen, was er will. Der neue Schul-
meiſter wird ſchon ſelber ſo Sachen mitbringen.
Glaub’s aber dieweilen noch gar nicht, daß Einer
kommt. Ja freilich mag der Herr oben bleiben und
ich laß ihm fein warm heizen.“


So ging ich wieder hinauf zum Schulhauſe.
Nun ſah ich es von außen an. Es war recht
[28] bequem und zweckmäßig gebaut; es hatte ein fla-
ches weit vorſpringendes Schindeldach, und es hatte
in dieſem Vorſprunge und in ſeinen hellen Fen-
ſtern eine Art Verwandtſchaft mit dem gutmütig
ſchalkhaften ſchildkäppchenbedeckten Antlitze jenes
Alten auf dem Bilde.


Dann trat ich in das Stübchen. Es war
bereits aufgeräumt und im Ofen kniſterte friſches
Feuer. Durch die hellen Fenſter ſtarrte zwar der
düſtere Tag mit dem tief auf die Bergwälder hän-
genden Nebel herein, aber das machte das Stüb-
chen nur noch traulicher und heimiſcher.


Die Blätter, die ich am Morgen in Ordnung
gebracht hatte, die rauh und grau vergilbt waren
und eng beſchrieben, Zeile an Zeile, die nahm ich
nun aus der Schublade und ſetzte mich damit zum
reingeſcheuerten Tiſch am Fenſter, ſo daß das
Tageslicht recht freundlich auf ihnen ruhen konnte.


Und was hier ein ſeltſamer Mann nieder-
geſchrieben hatte, das begann ich nun zu leſen.


Was ich las, das gebe ich hier, beſonders
dem Inhalte nach, gewiſſenhaft treu wieder.


Doch mußte an der Urſchrift in der Form
Manches geändert und geglättet, es mußte geſtri-
chen, ja beigefügt werden, wie es zum Verſtänd-
niſſe nöthig, und ſo weit es mir nach genauer
Durchforſchung der Zuſtände erlaubt und möglich
[29] war. Ferner mußten die abſonderlichen Ausdrücke
in Klarheit, die regellos hingeworfenen Sätze in
Regeln gebracht werden. Indeß ſei bemerke, daß
im Kleineren ältere Sprachformen und Wendun-
gen, die in den Blättern ſich vorfanden, beibelaſſen
wurden, um der ſeltſamen Schrift möglichſt viel
an ihrer Eigenart zu wahren.


— — — Das erſte Blatt erzählt nichts
und Alles; es enthält vier Worte:


[[30]][31]

Die Schriften des Waldſchulmeiſters.
(Erſter Theil.)


[[32]][33]

Lieber Gott!


Ich grüße dich und ſchreibe dir eine Neuig-
keit. Heute iſt mein Vater geſtorben. Er iſt ſchon
zwei Jahre krank geweſen. Die Leut’ ſagen, es iſt
ein rechtes Glück, daß er geſtorben. Die Muhme-
Lies ſagt es auch. Jetzt haben ſie den Vater ſchon
fortgetragen. Der Leib kommt in die Todtenkammer,
die Seel’ geht durch das Fegfeuer in den Himmel
hinauf. Lieber Gott, und da hätt ich jetzt recht
eine ſchöne Bitt’. Schick meinem Vater einen Engel
entgegen, der ihn weiſt. Für den Engel leg ich
mein Pathengeld bei; es ſind drei Groſchen. Mein
Vater wird recht eine Freud’ haben im Himmel,
und führ ihn gleich zu meiner Mutter. — Ich
grüße dich tauſendmal, lieber Gott, den Vater
und meine Mutter.


Andreas Erdmann.


Salzburg,
im 1797-ger Jahr, am Apoſtel Simonitag.“


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 3
[34]

Dieſer Brief iſt erhalten geblieben, mit ihm
hebe ich an. Ich weiß noch den Tag. Ich habe in
meiner ſehr großen Einfalt juſt die drei Groſchen
wollen in das Papier legen. Kommt ſelbunter die
Muhme-Lies herbei, lieſt mit ihren Glasaugen die
Schrift und ſchlägt die Hände zuſammen. „Du
biſt ein dummer Junge!“ ruft ſie aus, „ein ſehr
dummer Junge!“ Eilends nimmt ſie mein Pathen-
geld, läuft davon und erzählt meine Sach’ im
ganzen Hauſe, vom Thorwartgelaß an bis hinauf
zum dritten Stock, wo ein alter Schirmmacher
wohnt. Jetzt kommen die Leut’ allmiteinander zu-
ſammen in unſer Zimmer herein, zu ſehen, wie
ein ſehr, ſehr dummer Junge denn ausſchaut.


Gelacht haben ſie, und ſo lang haben ſie
gelacht, bis ich angehebt hab’ zu weinen. Und
jetztund haben ſie noch ärger gelacht. Der alte
Schirmmacher mit ſeinem himmelblauen Schurz iſt
auch da; der hebt die Hand auf und ſagt: „Ihr
Herrſchaften, das iſt ein albernes Lachen; etwan
iſt er geſcheidter, wie ihr all miteinand. Geh her
zu mir, Büblein; heute iſt dein guter Vater ge-
ſtorben; deine Muhme iſt viel zu geſcheidt und ihr
Haus zu klein für dich, du kleinwinziger Bub’.
Geh mit mir, ich lehre dich das Regenſchirmmachen.“


Was hat jetzo die Muhme gegeifert überlaut!
aber das kann ich mir denken: insgeheim iſt es
[35] ihr recht geweſen, da ich mit dem Alten die zwei
Treppen hinaufgeſtiegen bin.


Selbunter, wie mir mein Vater geſtorben,
werd ich im ſiebenten Jahr geweſen ſein. Ich weiß
nur, daß meine Eltern mit mir bis zu meinem
fünften Jahr im Waldland gelebt haben. Im
Waldland am See. Felsgebirge, Wald und Waſſer
haben die Ortſchaft eingefriedet, in der mein Vater
Salzwerksbeamter geweſen. Wie die Mutter geſtor-
ben, hebt mein Vater an zu kränkeln; hat ſeine
Stelle aufgeben müſſen, iſt mit mir zu ſeiner
wohlhabenden Schweſter in die Stadt gezogen. In
einem leichteren Amt hat er wieder arbeiten wollen,
um ſeiner Schweſter, die ſich ſtets der Tugend der
Sparſamkeit befliſſen, Dach und Nahrung redlich
erſtatten zu können. Aber in der Stadt iſt er krank
Jahr und Tag; nur daß er mir zur Noth das
Leſen und Schreiben lehrt, ſonſt hat er gar nichts
gethan. Und es iſt gekommen, wie ich es im frü-
hern Blatt aufgeſchrieben habe.


Bei dem alten Mann im dritten Stock bin
ich mehrere Jahre geweſen. Wie er, ſo habe auch
ich einen himmelblauen Bruſtſchurz getragen. Man
erſpart dadurch Kleider. In der erſteren Zeit bin
ich mehrmals zur Muhme hinabgegangen auf Be-
ſuch; aber ſie hat mich fortweg und ſo lange
einen ſehr dummen Jungen geheißen, bis ich nicht
3*
[36] mehr hinabgegangen bin. Selbunter hat mein
Meiſter einmal das Wort geſagt: „Gib Acht,
Andreas, daß du nicht ſo geſcheidt wirſt, wie deine
Frau Muhme!“


Wir haben lauter blaue und rothe Regen-
ſchirme gemacht, haben ſie dann in großen Bünden
auf Jahrmärkte getragen und verkauft. Einen gro-
ßen Schirm haben wir über unſere Waare ge-
ſpannt, und die Marktbude iſt fertig geweſen. Und
wenn das Geſchäft ſo gut iſt gegangen, daß wir
letztlich auch die Bude verkauft, ſo ſind wir
allbeide in ein Wirthshaus gegangen, und haben
uns was gut ſein laſſen. Anſonſten aber haben
wir die Waare in Bünden wieder nach Hauſe
getragen und daheim eine warme Suppe ge-
noſſen.


Wie mein Meiſter über die ſiebzig Jahr alt
iſt, wird ihm das blaue und rothe Zwilchtuch
jählings nicht mehr recht; hat müſſen ein ander
Gezelt haben — iſt mir geſtorben. Geſtorben wie
mein Vater.


Ich bin der Erbe geweſen. Zweithalb Dutzend
Schirme ſind da; die pack’ ich eines Tages auf
und trag ſie dem Markte zu. Auf demſelbigen
Markt hab ich Glück gehabt. Er iſt in einem Thal
nicht gar weit von der Stadt. Menſchen in Ueber-
fluß, aber die Wenigſten werden ſich zur Morgen-
[37] frühe gedacht haben, ſie gehen auf den Markt, daß
ſie Regenſchirme kauften.


Kommt zur Mittagszeit jählings ein Wetter-
regen; wie weggeſchwemmt ſind die Leute vom
Platz, und mit ihnen meine Schirme. Ein allein-
ziger iſt mir noch geblieben für mich ſelber, daß
ich trocken bliebe mitſammt meinem gelöſten Geld.
Was läuft doch über den Platz ein Mann daher,
daß alle Lachen ſpritzen! Meinen Regenſchirm will
er kaufen.


„Hätt’ ich ſelber keinen!“ ſage ich.


„Hab ſchon manchen Schuſter barfuß laufen
ſehen,“ lacht der Mann, „aber hörſt, Junge, wir
richten uns die Sach’ ſchlau ein. Biſt du aus der
Stadt?“


„Ja,“ ſag’ ich, „aber kein Schuſter.“


„Das macht nichts. Ein Wagen iſt nicht zu
haben; ſo gehen wir zuſammen, Burſche, und be-
nützen den Schirm gemeinſam; letztlich magſt ihn
behalten oder das Geld dafür haben.“


Gottesſchad’ wär’s um den feinen Rock, den
er an hat, denk ich, und ſag: „So iſt es mir
recht.“


Arm in Arm bin ich, der Schirmmacher-
burſch mit dem vornehmen Herrn in die Stadt
gegangen. Wir haben unterwegs miteinander ge-
plaudert. Er hat es ſo zu fügen gewußt, daß ich
[38] ihm nach und nach all meine Verhältniſſe und
meine ganze Lebensgeſchichte erzählt hab.


Der Regen hört auf; die Sonne ſcheint, ich
trage den Schirm noch offen über der Achſel, daß
er trocknen mag. Wir kommen zur Stadt, da will
ich zurückbleiben — es iſt nicht ſchickſam, daß ich
mit einem ſo feinen Herrn durch die Stadt gehe.
Er hat mich aber freundlich eingeladen, nur mit
ihm zu kommen. Er hat mich zuletzt mit in ſein
Haus geführt, hat mir Speiſe und Trank vorſetzen
laſſen, hat mich endlich gar gefragt, ob ich nicht
bei ihm bleiben wolle, er ſtehe einer großen Bü-
cherei vor und benöthige einen Handlanger in der-
ſelben.


Was weiß ich unfertiger Menſch mit der
Schirmmacherei anzufangen? Ich werde Handlanger
in der Bücherei.


Damalen hab ich’s gut gehabt. Mit meinem
Herrn bin ich zufrieden geweſen; der hat mir das
Regenſchirmdach reichlich erſtattet; kein gröblich
Lüftchen hat mich beleidigt unter ſeinem Dach.
Aber die Handlangerarbeit hat mir nicht von
Statten gehen wollen. Der helle Fürwitz iſt’s ge-
weſen; mit jedem Buch, daß ich zur Hand bekom-
men, hätt ich auch gleich Bekanntſchaft machen
mögen. Allerweile hab ich’s mit den Aufſchrift-
blättern und Inhaltsverzeichniſſen zu thun gehabt,
[39] und ich hab das, was mir inſonderheit erfahrens-
wert geſchienen, gar zu leſen angefangen. Auf das
Zurechtſtellen und Ordnen der Bücher hab ich ver-
geſſen.


Was ſagt mein Herr eines Tages zu mir? —
„Burſche, für das Auswendige der Bücher biſt du
nicht zu brauchen, du mußt in das Inwendige
hinein. Mir dünkt es gut, daß ich dich in einer
Lehranſtalt unterbringe.


„Ja freilich, ja freilich — das iſt ja mein
heimlich Verlangen.“


„Es wird gelingen, dich in die daſige Ge-
lehrtenſchule zu ſtellen, du wirſt rechtſchaffen und
fleißig ſein, wirſt Unterſtützung finden; es geht
raſch aufwärts und kehr die Hand, wird’s heißen:
Herr Doktor Erdmann!“


Ganz heiß wird mir bei dieſen Worten. Nicht
gar lange nachher und mir iſt noch heißer ge-
worden. [Mein] Brotherr hat es durchgeſetzt; ich bin
in die Gelehrtenſchule gekommen und ſchnurgerade
mitten hinein in das Innere der Bücher. Aber in
der Schule, da werden Einem trutz die allerlang-
weiligſten Bücher in die Hand gegeben; die kurz-
weiligen ſind allſammt verboten. Dinge, die mich
auswendig und einwendig gar nichts angegangen,
hab ich müſſen in meinen Kopf hineintrichtern.
Das iſt eine Pein geweſen; denn damalen haben
[40] mir meine Jahre und Lebensumſtände den Kopf
ſchon vollgepfropft gehabt mit tauſend anderen
Dingen.


Eine mannigfaltige Speiskarte iſt mein Wo-
chenkalender geweſen. Mein Mittagstiſch iſt geſtan-
den: Am Montag bei einem Lehrer; am Dienſtag
bei einem Freiherrn; am Mittwoch bei einem
Kaufmann; am Donnerſtag bei einem Schul-
genoſſen, der ein reicher Tuchmachersſohn geweſen
und mich zu ſich in einen Gaſthof geladen hat.
Am Freitag hab ich bei einem alten Oberſten
gegeſſen; am Samſtag bei ſehr armen Leuten in
einer Dachſtube, denen ich dafür die Kinder im
Rechnen unterrichtet; und am Sonntag bin ich bei
meinem Schutzherrn geweſen, dem Vorſteher der
Bücherei. Auch habe ich von all dieſen Menſchen
Kleider an meinem Leibe getragen.


So iſt es jahrelang geweſen. Da hat mich
mein Dienſtagtiſchherr für ſein Söhnlein zum
Hauslehrer beſtellt. Jetzo iſt’s ſchon beſſer gegangen.
Zuerſt habe ich den armen Leuten in der Dach-
ſtube das Mittagsmahl nachgelaſſen, aber die
Pflicht empfunden, den Unterricht ihrer Kinder
fortzuſetzen. Ein Weiteres iſt geweſen, daß ich ein-
mal meinen Frack anziehe — der iſt ſehr fein und
vornehm, iſt auch für mich nicht gemacht worden —
und meine Muhme beſuche. Meine Muhme macht
[41] zierliche Bücklinge und nennt mich ihren lieben,
ſehr lieben Herrn Vetter.


Wie freudig ich auch anfangs drein gegangen
bin in meinem Lernen, es iſt mir gar bald ver-
leidet worden. Da habe ich vormalen immer ge-
meint, in einer Gelehrtenſchule würde man Himmel
und Erde erfaſſen, und alles, was darin iſt im
ſchönen Zuſammenhange erkennen lernen; ſie thun
ja ſo, als ob ſie das Alles zutiefſt inne hätten,
die Herren Gelehrten, wenn ſie im Scheine hoher
Würde über die Gaſſe gehen. Das hat mich ſauber
betrogen. Für Einen, der nur ſtudirt, um ein
luſtiger Student ſein zu können; für Einen, der
nur lernt, um dereinſtmalen als „Gelehrter“ zu
prunken, oder als ſolcher ſein Brot zu erwerben —
für ſo Einen mag dieſe Gelehrtenſchule taugen.
Für Einen nach wahrem Wiſſen und Erkennen
Strebenden aber iſt ſie ein erbärmlich Ding. Ein
ſehr erbärmlich Ding.


Schöne Gegenſtände ſind auf dem Lehrplan
geſtanden. Schon in den unteren Abtheilungen
haben wir Erdbeſchreibung, Geſchichte, Meß- und
Größenlehre, Sprachlehre u. ſ. w. gehabt. Die
verkehrte Welt iſt’s geweſen. In der Erdbeſchrei-
bung haben wir ſtatt Länder- und Völkerkunde
nur die Größe der Fürſtenthümer und ihrer Städte
vor Augen gehabt. In der Geſchichte haben wir,
[42] anſtatt der naturgemäßen Entwickelung der Menſch-
heit nachzuſpüren, ſpitzfindige Staatenklügelei ge-
trieben; der Lehrer hat allfort nur von hohen
Fürſtenhäuſern und ihren Stammbäumen, Umtrie-
ben und Schlachten geſchwätzt; ſonſt hat der Wicht
nichts gewußt. In der Meßlehre haben wir uns
mit Beiſpielen abgeplagt, die weder der Lehrer
noch der Schüler verſtanden und im Leben ſchier
gar nicht vorkommen. Die Sprachlehre iſt ſchon
gar ein Elend geweſen. Ach, die ſchöne arme
deutſche Sprache iſt zugerichtet, daß Einem das
Herz möcht’ brechen. Seit vielen Jahren iſt ſie
von der welſchen belagert, ja hochnothpeinlich auf
die Folter geſpannt. Und wollt’s ein deutſcher
Burſche einmal verſuchen, ſeine reinen Mutterlaute
wieder zu Ehren zu bringen, allſogleich thaten die
hochgelahrten Herren zu Dutzenden herbeiſtürzen
mit ihrem Griechiſch und Latein, um mit dem
todten Buchſtaben der todten Sprachen auch den
deutſchen Laut zu tödten. Ich weiß recht gut,
welch hohen Segen die Sprache des Homer und
Virgil für unſere arg geſchändete deutſche Zunge
in ſich trägt; davon zeugt unſer Klopſtock und
Schiller. Aber die gelehrten Phariſäer, von
denen ich rede, gehen auf den Buchſtaben und
nicht auf den Geiſt. Mit überflüßigen Dingen
pferchen ſie uns den Kopf voll. Die unſinnigſten
[43] Lehrſätze, vor Jahrhunderten von verkehrten Köpfen
erfunden, müſſen wir auswendig lernen; … ja,
wenn ich all das Erbärmliche wollte beſchreiben! —
Und wer das dürre Zeug nicht mag und kann,
der wird von den Lehrern mißhandelt. Wir ſind
ſchutzlos; ſie haben uns in ihrer Gewalt. Beliebt
es ihnen, Späſſe zu machen, ſo müſſen dieſelben
uns geiſtreich ſein. Haben ſie Zahnſchmerz, ſo
müſſen wir es entgelten. Ach, das iſt ein böſes
Gehetze und Geplage; für unbemittelte Burſche
ſchon gar ein Elend!


Während ich an der Anſtalt geweſen, haben
ſich drei Schüler um’s Leben gebracht. — Auch
gut, hat der Leiter der Schule geſagt, was ſich
nicht biegt, das muß brechen. Und das iſt die
Grabrede geweſen.


Da iſt es am erſten Tage nach einem ſolchen
Selbſtmord, daß ich daran komme, in der lateini-
ſchen Sprache über das Weſen der römiſchen Welt-
unterjocher vor meinen Lehrern und Lerngenoſſen
eine Rede zu halten. Ich komme geradewegs von
der Bahre meines unglücklichen Kameraden und
hocherregten Gemüthes beſteige ich den Redeſtuhl.
„Ich will vergleichen zwiſchen den Römern und
den Deutſchen,“ rufe ich, „die alten Tyrannen
haben den Körper geknechtet, die neuen knechten
den Geiſt. Da draußen in der finſteren Kammer,
[44] verlaſſen und aller Ehre beraubt, liegt Einer, zu
todte gehetzt, nicht das einzige Opfer, das ſeine
Befreiung im Tode geſucht . . . .“


Ich mag noch einige Worte geſagt haben;
dann aber nahen ſie und führen mich lächelnd vom
Redeſtuhl herab. „Der Erdmann iſt verwirrt,“ ſagt
einer der Lehrer, „nicht deutſch, ſondern lateiniſch
ſoll er ſprechen. Demnächſt wird Er’s beſſer machen.“


Bin nach Hauſe getaumelt wie ein Narr.
Heinrich, der Tuchmachersſohn, mein Tiſch- und
Schulgenoſſe eilt mir nach: „Andreas, was haſt
du gethan? was haſt du geredet?“


„Zu wenig, viel zu wenig,“ ſage ich.


„Das wird dich verderben, Andreas; kehre
ſogleich um und leiſte den Herren Abbitte.“


Da lache ich dem Freunde in das Geſicht.
Er faßt mich jedoch tiefbewegt an der Hand und
ſagt: „Wahr iſt es, bei Gott, was du geſprochen.
Wir empfinden es Alle, aber juſt deswegen werden
dir die Herren das Wort nimmer verzeihen.“


„Das ſollen ſie auch nicht,“ entgegne ich in
meinem Stolze.


Heinrich ſchweigt eine Weile und geht neben
mir her. Endlich ſagt er: „Ein wenig klüger mußt
du werden, Andreas; und jetzt geh’ und faſſe dich.“


Meine Hand zittert, da ſie das ſchreibt; es
iſt aber Alles ſchon vorbei.


[45]

Ein Jahr vor dieſer obigen Begebenheit hat
mir mein Freund Heinrich die Unterrichtsſtelle ver-
mittelt, und zwar in dem vornehmen Hauſe des
Freiherrn von Schrankenheim. Meine Aufgabe iſt
nicht groß, einen Knaben habe ich zu unterrichten
und für die Lehrgegenſtände der Hochſchule vor-
zubereiten. In dieſem Hauſe iſt es mir gut ergan-
gen und ich habe nicht mehr nöthig gehabt, mein
Mittagsbrot an verſchiedenen Tiſchen zu erbetteln.
Mein Schüler Hermann, ein prächtiger, lernbegie-
riger Burſche hat mich lieb gehabt. So auch ſeine
Schweſter, ein außerordentlich ſchönes Mädchen —
ich bin von Herzen ihr Freund geweſen.


Aber, wie die Zeit ſo hingeht, da wird mir
zuweilen kindiſch zu Muthe, wird mir fortweg
ſchwüler und unbehaglicher in dem reichen Hauſe.
Ein wenig ungeſchickt und linkiſch bin ich immer
geweſen — jetzund wird’s noch ärger. Ich habe
keinen feſten Boden unter den Füßen und zuweilen
kein rechtes Vertrauen zu mir ſelber. Die Leute
im Hauſe wiſſen es Alle, das ich ein blutarmer
Junge bin, und ſie vergeſſen es keinen Augenblick;
ſie zeigen ſich gar mitleidig und ſelbſt die
Dienerſchaft will mir oftmals kleine Geſchenke zu-
ſtecken.


Gerade allein mein Zögling hat Feingefühl,
iſt luſtig und zutraulich zu mir; und das Mäd-
[46] chen — o Gott, o mein Gott, das iſt ein ſchönes,
ſchönes Kind geweſen.


Wenn ich des Abends gewandelt bin außer
der Stadt und über entlegene Wieſen, oder an
buſchigen Lehnen hin, und es hat mir ein Blüthen-
blatt um das Haupt getanzt, oder es iſt mir eine
Heuſchrecke über den Fuß gehüpft, da hab’ ich oft-
mals bei mir gedacht, was es doch eine Glückſelig-
keit wäre, ſchön und reich zu ſein. Die Zwerge
von dem nahen Untersberg und den Kaiſer Karl
habe ich angerufen in meiner tiefen Einfalt. Heiß
iſt mir geworden in der Bruſt; geſchwärmt habe ich
von „Blumen und Sternen und ihren Augen.“ —
Von weſſen Augen? da ſchrecke ich auf — Jeſus,
was iſt das? Andreas, Andreas, was ſoll daraus
werden? —


Dazumal bin ich achtzehn Jahre alt geweſen.
Aus Rand und Band bin ich eines Tages zu
meinem Freunde Heinrich gelaufen — hab’ ihm
Alles anvertraut. Heinrich hat mich ſonſt am Beſten
verſtanden von allen Menſchen. Aber diesmal hat
er mir den Rath gegeben, ich möge mich bezwin-
gen; es ginge faſt allen jungen Leuten ſo, wie
mir, aber es ginge vorüber. — Kaum um fünf
Jahre älter als ich, hat er ſo altklug geſprochen.


So bin ich ganz allein. Da denke ich bei
mir: Gleichwohl jung an Jahren, kann ich die
[47] Sache doch auch ruhig überlegen — trutz altkluger
Leute. Daß ich arm bin, das verſpürt Keiner ſo,
als ich ſelber; daß ich beſcheidener Herkunft
bin, das treibt mich, aus mir ſelber etwas zu
machen. Recht hat er, ich werde mich bezwingen;
aber nur, wenn ich vor meinen Lehrern ſtehe.
Ich werde meine eigenmächtig ſtrebenden Neigun-
gen bezähmen und mich mit Fleiß und Ausdauer
der Anſtalt unterwerfen. Trotz all des Unſinnes
und der Ungerechtigkeit, ſo durchlaufen werden
muß, iſt man in ein par Jahren Doktor, hoch-
weiſer Magiſter.


Und hochweiſe Magiſter dürfen um Freiherrn-
töchter freien. Eines Mannes würdig werde ich
hintreten und um ſie werben. —


Noch habe ich meine Abſicht in mir ver-
ſchloſſen; habe mich aber mit ganzer Seele mei-
nem Studium ergeben, bin unter meinen Genoſſen
einer der Erſten geweſen. Prächtig iſt es vorwärts
gegangen und meinem Ziele näher und näher.
Schon ſehe ich den Tag, an welchem ich, ein
Mann von Stand und Würde die Jungfrau freien
werde. Im Hauſe haben ſie mich Alle ſo lieb;
der Freiherr iſt nicht adelsſtolz und mag gerne
einen Gelehrten zum Tochtermann haben. Bin
wol in Freude und Glück geweſen. Da haben mich
meine Lehrer bei der Hauptprüfung — geworfen.


[48]

Schnurgerade bin ich nach Hauſe gegangen
an demſelbigen Tag, bin hingetreten vor den Vater
meines Zöglings: „Herr, ich habe großen Dank
für Ihre Güte zu mir. Länger kann ich in Ihrem
Hauſe nicht bleiben.“


Er ſieht mich ſehr verwundert an und ent-
gegnet nach einer Weile: „Was wollen Sie denn
beginnen?“


„Ich muß fortgehen von dieſer Stadt.“


„Und wo werden Sie hingehen?“


„Das weiß ich nicht.“


Der gute Mann hat mir mit ruhigen Wor-
ten geſagt, daß ich überſpannt und wol krank ſein
müſſe. Was mir geſchehen, könne auch Anderen
geſchehen; er wolle mich pflegen laſſen, und im
Frieden ſeines Hauſes würde ich mich wieder erholen
und über’s Jahr die Prüfung gewiß mit Glück beſtehen.


Hierauf habe ich meine Abſicht, fortzugehen,
noch beſtimmter dargethan; ich habe es wol gewußt,
die Urſache meines Falles iſt die deutſche Rede
über die lateiniſchen Weltunterjocher geweſen, und
in meinen Verhältniſſen würde ich eine Haupt-
prüfung nimmer beſtehen. Heinrich hat Recht gehabt.


„Gut, mein Herr,“ iſt der Beſcheid des Edel-
mannes, „ich entlaſſe ſie denn.“


Bei wem ſoll ich mich verabſchieden? Bei
meinem jungen Zögling? Bei der Jungfrau?
[49] Herrgott, führe mich nicht in Verſuchung! Sie iſt
noch gar ſo jung. Sie hat mich freundlich und
heiter entlaſſen. Ein Schlucker geht davon, ein
gemachter Mann kehrt vielleicht wieder zurück.
Mehr Trotz als Muth iſt in mir geweſen.


Meine alte Muhme habe ich noch beſucht.
Jetztund, wie ich nicht mehr im feinen Frack,
ſondern in einem groben Zwilchrock vor ihr ſtehe
und ihr meinen Entſchluß ſage, daß ich fortginge,
fort, vielleicht zur Rechten, vielleicht zur Linken
hin — — da hat nicht viel gefehlt, daß ich wieder
die ausdrucksvolle Bezeichnung bekomme. „Nein,“
ruft ſie, „nein, aber du biſt ein — ein — recht
abſonderlicher Menſch! Da iſt er ſchon völlig ein
braver, rechtſchaffener Mann geweſen, und jetzt —
ach, geh’ mir weiter!“


Sie iſt meine einzige Verwandte auf der
Welt.


Zu Heinrich bin ich endlich gegangen: „Ich
danke dir zu tauſendmal für deine Lieb’! du ge-
treuer Freund, wie thut es mir weh’, daß ich ſie
dir nicht lohnen kann. Du weißt, was geſchehen
iſt. Wie du mich hier ſiehſt, ſo gehe ich davon.
Habe ich etwas Bedeutendes vollbracht, ſo werde
ich wiederkehren und dir vergelten.“


Es iſt mir nicht mehr erinnerlich, ob ich ihm
auch noch das ſchmerzenreiche, das wonnige Wort
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 4
[50] ausgeſprochen habe. Jung, ſehr jung bin ich frei-
lich geweſen, als ich meinen Fuß hab’ geſetzt in
die weite Welt.


Heinrich hat mich eine weite Strecke begleitet.
Am Scheidewege hat er mich gezwungen, ſeine
Baarſchaft anzunehmen. Bruſt an Bruſt haben wir
uns ewige Treue gelobt, dann ſind wir geſchieden.


O: Heinrich! du gutes, du goldgetreues Herz,
du haſt es gut mit mir gehalten. Und ich habe
es dir ſchlecht — gar hölliſch ſchlecht gelohnt.
Heinrich! . . . .


Die Sonne geht von Morgen gegen Abend;
ſie hat mir meinen Weg gewieſen. „Ade, Welt,
ich gehe nach Tirol!“ hab ich geſagt; im Tiroler-
land thun ſich jetztund die Leut’ zuſammen gegen
den Feind. Der Höllenmenſch Bonaparte führt die
Franzoſen ein, will uns das Vaterland zertreten
ganz und gar.


Nach etlichen Tagen ſteig ich zu Innsbruck
die Burgtreppen hinan. „Mit dem Andreas Hofer
will ich reden!“ ſag ich zum Thorwart.


„Wer wehrt dir’s denn!“ ſagt der und ſtößt
ſeinen Spieß auf den Marmelſtein, daß es gerade
klingt. Ich geh durch Zimmer dreie oder vier,
eines vornehmer wie das andere; große Spiegel
[51] an den Wänden, funkelnde Kronleuchter an den
Decken, und gar der Fußboden glänzt, wo nicht
bunte Webematten gebreitet ſind, wie Glas und
Edelholz. Bauernburſche gehen aus und ein, ſingen,
pfeifen, poltern, rauchen Tabak und ſind in Alpen-
tracht von den derben Nägelſchuhen bis hinauf zum
ſpitzen Hahnenfederhut. Letztlich ſtehe ich in einer
großen Stube; ſitzen ein par bäuerliche Männer
am Schreibtiſch, ein par andere ſtehen daneben,
laden ihre großen Pfeifen mit Tabak, halten
baieriſche Geldnoten über eine brennende Kerze und
zünden ſich damit das Rauchzeug an.


„Will mit dem Andreas Hofer ſprechen,“ ſage
ich. Da ſteht ein Mann in Hemdärmeln mit einem
großmächtigen Vollbart auf: „Was willſt denn?“


„Ich will zu der Wehr gehen?“


Der bärtige Mann — es iſt der Hofer
über und über — ſchaut mich an und nicht allzu-
laut ſagt er: „Biſt gleichwohl noch recht jung?
Haſt Vater und Mutter?“


„Nimmermehr.“


„Biſt vom Land Tirol?“


„Nicht juſt eben, aber gleich von der Nach-
barſchaft her.“


„Wol ein Studioſus? willſt Geiſtlich werden?“


„Zur Wehr möcht ich gehen und für’s Vater-
land ſtreiten.“


4*
[52]

Nun greift er in den Ledergurt, zieht eine
Handvoll Silbergeld heraus: „Da, Burſche, Gott
geſegne’s; magſt nach Wien gehen und dich beim
Karl werben laſſen. Biſt ein unerfahrener Menſch.
Biſt unſer Landsmann nicht.“


Ich mach meine Begrüßung und will mich kehren.


„He, da!“ ruft er mir nach, hält mir das
Silbergeld vor.


„Ich ſage meinen Dank. Das Geld brauch’
ich nicht.“


Jetztund, wie ich das geſagt, hebt dem Mann
das Aug’ an zu glühen: „Das iſt wacker, das iſt
brav!“ ruft er, „kannſt bleiben. Brauch’ einen
Schreiber, der eine gute Schrift und ein gutes
Gewiſſen hat.“


„Mein Gewiſſen iſt auch für einen Soldaten
gut genug,“ ſage ich finſter.


„He Seppli!“ ſchreit d’rauf der Hofer, „weiſ’
dem Mann Meſſer und Stutzen bei! — Schau,
das iſt brav!“ er preßt mir die Hand, „Arbeit
werden wir ſchon kriegen, ſelbander.“


Ich bin Kriegsmann, Tirolerſchütz’. Arbeit
hat es bald gegeben.


Die Franzen und die Baiern, und etwan
auch die Oeſterreicher hinten haben es nicht ge-
litten, daß in der Burg zu Innsbruck ein Bauer
ſollt’ König ſein. Mit Haufen iſt der früher von
[53] den Tirolern dreimal geſchlagene Feind eingebro-
chen in’s Land. Der Stutzen iſt mir beſſer in die
Hand gegangen, als ich vermeint. All Vergangenes
hab’ ich vergeſſen, nur meinen Freund Heinrich
hätt’ ich an der Seit’ mögen haben gegen den
Feind. Eine welſche Fahne hab ich genommen und
wie ich die zweit’ will holen, haben ſie mich er-
tappt. Drei bärtige Franzen haben mir wüthenden
Knaben lachend das Wehrzeug abgenommen . . . .
Gefangen haben ſie mich dann davongeſchleppt,
durch das Baiern- und Schwabenland hinein in
das Frankenreich.


Ich mag die Zeit nicht wieder beſchreiben.
Eine Hundenoth iſt es geweſen. Eine Hundenoth,
nicht weil ich drei Jahr lang gelegen bin in der
Gefangenſchaft eines fremden Landes; ſondern weil
ich ein Empörer gegen mein eigen Land. Gegen
des Kaiſers Willen — hat es geheißen — hätten
ſich die Tiroler erhoben, denn von ſeiner Hand ſeien
ſie den Baiern zugetheilt geweſen. Deutſche Lands-
leute ſelber haben es geſagt, und ſo iſt mein Her-
zensunglück angegangen. — Anſtatt ein Helden-
werk haſt du eine böſe That vollführen helfen,
Andreas; nicht als braver Kriegsmann! — aber
als Abtrünniger liegſt du in Ketten.


Von einem großen Feldzug nach Rußland und
in’s Morgenland hinein wird geſprochen. Selb-
[54] under werde ich, wie viele andere meiner Lands-
leute, frei. Viele Andere haben der Heimat zuge-
ſtrebt. Ich weiß von einer Heimat nichts; darf
nichts wiſſen. Blutarme Narren, wie ich einer bin,
ſind in der Heimat übler daran, als anderswo.
Und als Empörer, der ich nun bin, kehre ich ſchon
gar nicht heim. Ich will das arge Fehl ſühnen,
daß ich gegen den großen Feldherrn rechtlos die
Waffen geführt, ich will mit ſeinen Schaaren zie-
hen, um die Völker des Morgenlandes befreien
und der Hut des Abendlandes unterordnen zu
helfen. — Ein großes Ziel, Andreas, aber ein
weiter Weg! Die Deutſchen haben uns den Weg
ſchwer gemacht, aber der Feldherr iſt wie ein Blitz
hingefahren in die zerriſſenen Völkerfetzen, die kei-
nen großen Gedanken gehabt und keine große That.
Und das Heer der Ruſſen haben wir vor uns hin-
geſchoben über die wilden Steppen und endloſen
Schneeheiden, viele Wochen lang. Aber zu Moskau
hat der Ruſſe den Feuerbrand geſchleudert zwiſchen
ſich und uns, mitten in ſeine eigene Hauptſtadt
hinein. — Jetztund ſtehen wir zutiefſt im Lande
des ewigen Winters, und ſind ohne Halt und
Stätte und Mittel. Menſch und Schöpfung allmit-
ſammt iſt unſer Feind geweſen. Da hat’s der
Feldherr geſehen, es geht böſ’ in die Brüch’, und
wir haben uns zur Umkehr gewendet. — O, die
[55] vielen Sturmwüſten, die hundert Eisſtröme, die
tauſend und tauſend Schneegräber, die geweſen ſind
zwiſchen uns und dem Vaterland! — Wer mar-
ſchiren kann und ſeine erſtarrten Beine mag ab-
ſchleifen bis auf die Knie; wer dem ſterbenden
Gefährten den letzten Fetzen vom Leib mag reißen,
um ſich ſelber zu decken; wer das warme Blut
will ſaugen aus ſeinen eigenen Adern, und das
Fleiſch von gefallenen Roſſen und getödteten Wöl-
fen will verzehren; wer mit den Decken des
Schnee’s ſich kann erwärmen und in den Flüſſen
mit den Wellen des Waſſers und mit den Schollen
des Eiſes verſteht zu ringen, und obendrein den
Schreck und den Gram und die Verzweiflung weiß
zu beſiegen — vielleicht, daß er ſeine Heimat ſieht.


Erſtarrt wie mein Leib iſt meine Seel’ und
mein Gedanken — in einer Wildniß, unter den
ſchneebelaſteten Aeſten einer Tanne bin ich liegen
geblieben . . . .


Ein räucherig Holzgelaß, und ein lebendig
Feuer, und ein langbärtiger Mann, und ein braun-
färbig Mädchen haben mich umgeben, als ich er-
wacht bin auf einem Lager von Flechten. Eine
Pelzhaut iſt auf meinem Körper gelegen. Draußen
hat es getoſt wie ein wildes Waſſer oder wie ein
Sturm. — Das ſind gute, freundliche Augen geweſen,
die aus den zwei Menſchen mich angeſchaut haben.
[56] Der Mann hat des Feuers gepflegt; das Mädchen
hat mir Milch in den Mund geflößt. In ihrer
rauhen Sprache haben ſie Worte gewechſelt; ich
hab kein einziges verſtanden. An Heinrich habe ich
gedacht, an den lieben Laut ſeiner Worte . . . .
Mein Leib hat mich fürchterlich geſchmerzt; der
Mann hat ihn in ein naſſes Tuch geſchlagen.
Das Mädchen hat mir ein kleines Kreuz mit zwei
Gegenbalken vor die Augen gehalten und dabei
etwas gemurmelt, wie ein Gebet. — Sie betet
den Sterbeſegen, Andreas!


Du liebes Freundeshaus in Feindesland, was
in dir weiter mit mir geweſen iſt, das weiß ich
nicht mehr zu denken. Das braune Mädchen hat
ſeine Hand oftmals an meine Stirne gelegt. Wär’s
dazumal dazu gekommen, es wär ein ſchönes Ster-
ben geweſen. Es hat ſich anders zugetragen. Noch
heute hör ich den Schlag, der die Hüttenthür hat
zertrümmert. Kriegsgefährten ſind eingedrungen,
haben den alten Mann mißhandelt und das braun-
färbige Mädchen von meinem Lager geſtoßen. Mich
haben ſie davon getragen, hin durch den Sturm
und hin durch die Wildniſſen — dem Heere nach.


Mir aber iſt geweſen, als thäten ſie mich
ſchleppen aus der Heimat fort . . . . Gottes iſt
die Welt allüberall. Aber die Gefährten haben
mich nicht zurückgelaſſen; das hat mich doch wieder
[57] im Herzen gefreut. Feſt und treu will ich ſein,
will zu ihnen halten und meinem großen Feld-
herrn dienen.


Am Rhein bin ich geneſen. Und zur neuen
Frühjahrszeit ein neues Leben hab ich in mir
empfunden. Ein Burſch’, der dreiundzwanzig Jahre
zählt, hab ich geglüht für das Hohe und Rechte,
für das Gemeinſame, für die Menſchenbrüder aller
Himmelsſtriche; hab’ in Begeiſterung mit meinen
Schaaren ausgerufen: „Ein Gott im Himmel und
ein Herr auf Erden!“ Er iſt der Befreier, der
Fürſtenhader muß enden. Die deutſchen Stämme
müſſen ein großes einiges Volk werden! — Solche
Gedanken haben mich begeiſtert. Des Feldherrn
finſteres Aug’, wie ein Blitz in der Nacht, hat uns
Alle entflammt. Gegen das Sachſenland ſind wir
gezogen, um dort den Streit für unſeren Herrn
auszukämpfen, und das ſchöne deutſche Land unter
ſeinen Schutz zu ſtellen.


Bei Lützen hab ich einem welſchen Feldherrn
das Leben geſchützt; vor Dresden hab ich dem
Blücher das Roß niedergeſtochen; bei Leipzig hab
ich meinen Heinrich erſchoſſen . . . .
— — — — — — — — — —


„Andreas!“ das iſt ſein Todesſchrei geweſen.
An dem hab ich ihn erkannt. Mitten aus der
Bruſt iſt der Blutquell geſprungen. — Mein
[58] Gewehr hab ich um einen Stein geſchlagen, daß
es zerſchmettert; waffenlos bin ich in die Schlacht
geraſt; mit ſeinem eigenen Schwert hab ich einem
Franzoſenführer den Schädel geſpalten.


Was hat’s genützt? ich hab doch gegen mein
Vaterland geſtritten, gegen die Brüder, die meine
Sprache reden, während ich meine welſchen Gefähr-
ten kaum verſtanden. Und ich hab meinen Heinrich
erſchoſſen. Ach, wie ſpät gehen mir die Augen auf!


— Biſt ein unerfahrner Menſch. Geh nach
Wien zum Karl! — Du getreuer Hofer, hätt’ ich
deinen Wink befolgt! — Wol, auch deine Fahne
iſt gut geweſen, und herrlicher, als alle anderen
im weiten Land. Von der Stund an, da mir der
Glauben an ſie aus dem Herzen geriſſen worden,
iſt mein Unglück angegangen. Die Lieb’ zur freien
Welt hat mich in die Gefangenſchaft gebracht; die
Sühne meines eigenen Fehls hat mich in Noth
und Qual geführt; die Treue zu meinem Feld-
herrn und die Sehnſucht nach einem Großen und
Gemeinſamen hat mich zum Verräther meines
Vaterlandes, zum Mörder meines Freundes ge-
macht. — Andreas, wenn dich ſchon die Tugend
zum Verbrechen führt, wohin erſt hätte dich böſe
Abſicht geſtürzt? — den treuen Führer haſt du
ſtolz abgelehnt, da hat dir Erfahrung und Füh-
rung gemangelt. — Andreas! du haſt dich dem
[59] Handwerk und der Wiſſenſchaft und dem Soldaten-
leben zugewendet; Armut, Wirrniß und Reue haſt
du geärntet. Fremde Menſchen haben dich gehegt
und gepflegt wie einen Sohn und Bruder; ſie ſind
dafür mißhandelt worden. Du bringſt der Welt
und den Menſchen nichts Gutes; Andreas, du
mußt in die tiefſte Wildniß gehen und ein Ein-
ſiedler ſein! —


Im Sachſenlande, unter den Balken einer
Windmühle hab’ ich mir dieſe Wahrheiten geſagt.
Und darnach bin ich davon, bin geflohen durch das
Böhmen- und Oeſterreicherland, bin nach vielen
Tagen in die Stadt Salzburg gekommen. Daß in
dieſer Stadt mich armen, kranken, herabgekommenen
Teufel noch wer erkennen ſollt’, hab ich nicht ge-
fürchtet. Im Petershofe liegt mein Vater begraben,
den Hügel hab ich ſehen wollen, ehe ich mir eine
Höhle ſuche in einer verlaſſenen Waldſchlucht. Und
wie ich ſo auf der kalten gefrornen Erde liege,
und wieder einmal weinen kann aus tiefſtem Her-
zen über mein noch ſo blutjunges und ſo unglück-
ſeliges Leben, da kommt ein Herr zwiſchen den
Gräbern gegangen, frägt nach meiner Kümmerniß
und ſchlägt die Hände zuſammen. „Erdmann,“
ruft er aus, „Sie hier? und wie ſehen Sie aus!
kaum vier Jahre davon und kaum mehr zu er-
kennen!“


[60]

Herr von Schrankenheim ſteht vor mir, der
Vater meines einſtigen Zöglings.


Ich bin mit ihm zwiſchen den Hügeln auf
und ab gegangen, hab’ ihm Alles erzählt. Mit
naſſen Augen drückt mir der Mann Geld in die
Hand: „Da, ſchaffen Sie ſich zu eſſen und Klei-
der und kommen Sie dann in mein Haus. —
Einſiedler werden, pah, das iſt kein Gedanke für
einen jungen, braven Burſchen. Ihre Kleinmut
müſſen Sie überwinden, ein Weiteres wird ſich geben.“


Mit großer Angſt bin ich in ſein Haus ge-
gangen; denn die eine Narrheit hab ich noch nicht
überwunden gehabt.


Der Herr von Schrankenheim hat mich ſei-
nem Sohne vorgeſtellt. Ei, das iſt ſchon ein recht
hochgewachſener, zierlicher Herr geworden. Die Hände
am Rücken hat er eine ſtille Verbeugung vor mir
[gemacht] und nach kurzer Weile noch eine, und iſt
abgetreten. Hierauf hat mich der Vater in ſein
Arbeitsgemach geführt, hat mich auf den weichſten
Seſſel niederſitzen geheißen.


„Erdmann,“ hebt er nachher an zu reden,
„iſt es Ihr wahrhaftiger Ernſt, daß Sie in die
Wildniß gehen und Einſiedler werden wollen?“


„Das iſt für mich das Beſte,“ antworte ich,
„ich tauge nicht unter die Menſchen, die in Luſt
und Freuden leben; mich haben die wenigen Jahre
[61] meiner Jugend herumgeworfen in Irren und Wir-
ren, von einem Land in das andere, und in der
Völker Noth. Herr, ich kenne die Welt und ich
bin ihrer ſatt.“


„Sie ſind kaum an die vierundzwanzig
Jahre und noch nicht auf der Höhe Ihrer Kraft;
und Sie wollen verzichten auf die Dienſte, die Sie
den Mitmenſchen würden leiſten können?“


Da horche ich auf; das Wort faßt mich an.


„Wenn Sie meinen, Sie haben bislang nur
Uebles geſtiftet, warum wollen Sie ſich aus dem
Staube machen, ohne der Welt, dem Gemeinſamen
auch das Gute zu geben, das gewiß in reichem
Maße in Ihnen ſchlummert?“


Da erhebe ich mich von meinem Sitze:
„Herr, ſo weiſen Sie mir die Wege dazu!“


„Wohlan,“ ſagt der Herr von Schranken-
heim, [„vielleicht kann] ich es, wenn Sie wieder
Platz nehmen und mich anhören wollen. —
Erdmann, ich wüßte eine tiefe und wahrhaftige
Einſiedelei, in welcher man den Menſchen dienen
und vielleicht Großes für das Gemeinſame wirken
könnte. Weit von hier, tief drin in den Alpen,
dehnen ſich zwiſchen Felsgebirgen große Waldun-
gen, in welchen Hirten, Schützen, Holzſchläger,
Kohlenbrenner beſchäftigt ſind, in welchen auch
andere Menſchen wohnen, wie ſie ſich etwa redlich
[62] zurückgezogen, oder unredlich geflüchtet haben, und
die nun durch erlaubten oder unerlaubten Erwerb
ihr Leben friſten. Wol wahr, es ſind finſtere Men-
ſchen, in deren Herzen das Unglück oder noch was
Aergeres nagt. Sie haben weder einen Prieſter,
noch einen Arzt, noch einen Schullehrer in ihrer
Nähe; ſie ſind ganz verlaſſen und abgeſondert,
und nur auf ihre Unbeholfenheit und auf ihr
eigenes ungezügeltes Weſen angewieſen. — Ich
bin der Eigenthümer der Waldungen. Ich habe
ſeit längerer Zeit ſchon die Abſicht, einen Mann
in dieſe unwirthliche Gegend zu ſenden, der die
Bewohner derſelben ein wenig leite, ihnen mit
redlichem Rathe beiſtehe, und die Kinder in Leſen
und Schreiben unterrichte. Der Mann könnte ſich
gar ſehr verdient machen. Es findet ſich wahr-
haftig ſo leicht Keiner dafür; es wäre denn Einer,
der weltſatt in der Einſamkeit leben und doch für
die Menſchen wirken wolle. — Erdmann, was
meinen Sie dazu?“


Nach dieſen Worten iſt mir jählings geweſen,
als ob ich ſogleich meine Hand hinhalten und
ſagen müßte: Ich bin der Mann dazu. Mit den
Zuſtänden dieſer alten Welt zerfallen, will ich in
der Wildniß eine neue gründen. Eine neue Schule,
eine neue Gemeine — ein neues Leben. Laſſet
mich heute noch ziehen! — So iſt das Feuer doch
[63] nicht ganz todt; es ſind zuweilen aus der Aſche
noch Funken geſtoben.


„Wir haben den Winter vor der Thür,“
redet der Herr weiter, „Sie bleiben den Winter
über in meinem Hauſe und pflegen reiflicher Ueber-
legung, und wenn wieder der Sommer kommt,
und es gefällt Ihnen mein Antrag noch, ſo gehen
Sie in die Wälder.“


So oft ich im Vorzimmer ein Kleid hab’
rauſchen gehört, bin ich erſchrocken, und letztlich
hab’ ich den Herrn gebeten, er möge mich über
den Winter ziehen laſſen; mit den Schwalben
würde ich wieder kommen und ſeinen Vorſchlag
annehmen.


Er hat ſich’s nicht nehmen laſſen, mir die
„Mittel“ für den Winter zu ſpenden; dann aber
bin ich geflohen. Im Vorſaale iſt eine Frauen-
geſtalt geſtanden, an der bin ich vorübergehuſcht,
wie ein Wicht.


Einen Tag bin ich gewandert bis in’s Wald-
land an den See, wo meine Kindheit und meine
Mutter begraben liegt. Und hier im Ort hab’ ich
mir für den Winter ein Stübchen gemiethet. Oft-
mals ſteige ich die Schneelehnen hinan, und ſtehe
unter bemooſten Bäumen, wo es mir iſt, als ſei
ich einmal mit meiner Mutter, mit meinem Vater
geſtanden; oftmals gehe ich über den gefrornen
[64] See, und denke an die Tage, in welchen ich im
Kahn bei Vater und Mutter über die weichen
Wellen gefahren bin. Das Abendroth iſt auf den
Bergen geſtanden; der Sangſchall einer Almerin
hat an die Wände geſchlagen. Mein Vater und
meine Mutter haben auch helle Lieder geſungen.
Das iſt voreh geweſen; voreh . . . .


Ich bin in Frankreich auf der Feſtung gele-
gen drei Jahre lang; ich bin krank und ſterbend
in den Wüſten Rußlands geirrt und nun leb’ ich
in dir, du mildes, trautes Stübchen am See. —
Es wär’ ja Alles gut, die Zeit der Noth verſinkt,
wie ein Traumbild; — nur du ſollteſt nimmer
aufgegangen ſein, du unglückſeliger Tag im Sach-
ſenland, du wirſt mich ewiglich brennen. — Hein-
rich, ich fürchte mich nicht vor deiner Grabgeſtalt;
nur ein einzigmal trete zu mir, daß ich dir ſag:
es iſt in Blindheit geſchehen, ich kann nicht mehr
anders — mit meinem eigenen Leben will ich’s
löſchen . . . .


Nun iſt es gut. Ich habe mich ſeit vielen
Tagen geprüft; habe mein Vorleben erforſcht, und
es in kurzen Worten hier aufgeſchrieben, auf daß
es mir ſtets um ſo klarer vor Augen liege, wenn
neue Wirrniß und Trübſal über mich kommen
wird. Ich denke wol, daß ich die Schule des
[65] Lebens beſſer beſtanden habe und noch beſtehen
mag, als die Schule der Bücher und todten Lehr-
ſätze. Ich bin zur Erkenntniß gekommen und mein
Gemüth iſt ruhig geworden. Wie ich meine Erleb-
niſſe und Verhältniſſe, meine Eigenſchaften und
Neigungen genau überdacht habe, ſo glaube ich, es
iſt keine Vermeſſenheit, den Vorſchlag des Frei-
herrn von Schrankenheim anzunehmen.


Bin ich von außen gleichwol noch recht jung,
von innen bin ich hochbetagt. Von einem alten
Mann ein guter Rath darf wol den Waldleuten
willkommen ſein.


Salzburg.
Am Tage des heiligen Antoni von Padua 1814.


Es iſt richtig, ich gehe in den Wald. Ich
bin ausgerüſtet und mit Allen fertig. Der Freiherr
hat mir in Allem ſeinen Beiſtand zugeſagt. Sein
Sohn Hermann hat mich wieder mit einer freund-
lichen Verbeugung begrüßt. Der junge Herr iſt ein
wenig blaß; er wird viel lernen. Seine Schweſter
. . . . (hier waren in der Urſchrift zwei Zeilen ſo
vielfach durchſtrichen, daß ſie vollſtändig unlesbar
geworden ſind).


Meiner Muhme ſoll es wohl gehen. Ich habe
ihr nicht das Leid anthun mögen, das ſie bei mei-
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 5
[66] nem Ausſehen und Vorhaben empfunden hätte;
habe ſie nicht mehr beſucht. Nun bläſt das Poſt-
horn. Lebe wohl, du ſchöne Stadt!


Schon drei Tage auf der Reiſe. Das iſt doch
ein freundlicheres Wandern, wie jenes auf den
Winterſteppen.


Vorgeſtern hat liebliches Hügelland mit ma-
leriſchen Gebirgsgegenden gewechſelt. Geſtern ſind
wir in ein breites freundliches Thal gekommen.
Heute geht es fort Berg auf und ab, durch grüne
Wälder und finſtere Schluchten und an Felswänden
hin. Jetzt wird die Straße allweg ſchmaler und
holperiger; zuweilen müſſen wir aus dem Wagen
ſteigen und niedergebrochene Steinblöcke beſeitigen,
daß wir weiter fahren können. Gemſen und Rehe
ſehen wir mehr, als Menſchen. Die heutige Nacht-
herberge habe ich ſchuldig bleiben müſſen. Die
Geldnoten, die ich bei mir habe, können die Leute
dieſer Gegenden nicht wechſeln. Ich hätte dem
Wirth ein Pfand gelaſſen, aber er hat gemeint,
wenn es ſei, wie ich ſage, daß ich in die Wälder
der Winkelwäſſer gehe und alldorten verbleibe, ſo
würde ſich wol einmal eine Gelegenheit bieten, ihm
den geringen Betrag zuzuſchicken. Es käme zu Zei-
ten ein Bote aus jenen Waldungen gegangen, der
[67] dieß gerne beſorge. — Die Geldnoten muß ich
zurückſchicken und um kleine Münzen bitten.


An dieſem vierten Tage bin ich ausgeſetzt
worden.


Die Poſtkutſche iſt ihren Weg weiter gerollt;
ich habe noch eine Weile das helle Horn klingen
gehört im Walde, darauf iſt Alles ſtill geweſen,
und ich ſitze da bei meinem Bündel, mitten in der
Wildniß.


Durch die Waldſchlucht rauſcht ein Bach
heraus, der die Winkel heißen ſoll, und dem ent-
lang ein Fußſteig geht. Er geht über Geſtein und
Wurzeln und iſt mit dürren Fichtennadeln vergan-
gener Jahre beſäet. Dieſen Weg muß ich wandeln.


Dort, durch die Wipfel ſehe ich eine weiße
Tafel blinken, das iſt ein Schneefeld. — Und da
drin ſollen noch Menſchen wohnen? — — —


So weit hatte ich in den Schriften geleſen,
da läutete es auf dem Thurme zum Zeichen der
zwölften Stunde. Gleich darauf klopfte es an’s
Fenſter: Die Wirthin ſchicke mir einen Regen-
ſchirm, wenn ich zum Eſſen gehen wolle. — Es
5*
[68] ſtrömte der Regen und in zahlloſen grauen Fäden
rieſelte es vom Dache.


Nach Tiſche las ich weiter.


Im Winkel.


So will ich Alles aufſchreiben. Für wen, das
weiß ich nicht; etwan für den lieben Gott, wie
dermaleinſt das Brieflein, als mein Vater ge-
ſtorben. All das Seltſame und Bewegende, das ich
erlebe, müßt’ mir das Herz zerſprengen, dürft’
ich es nicht ausplaudern. Ich erzähle es dem
Blatt Papier. Vielleicht findet ſich dereinſt ein
Menſch, dem ich’s mag vertrauen, und ſollt’ er
mich auch nur zum halben Theil verſtehen. Ihr
ſtillen weißen Blätter wollt jetztund meine Freunde
ſein und theilnehmen an den Tagen, die mir nun
kommen mögen. Ich trag heute noch ein friſches
dunkles Haar, und ihr ſeid grau zumal; etwan
überlebt ihr mich weit und ſeid mein zukünftig
Geſchlecht.


Ein Blättchen Papier kann älter werden,

Wie das friſcheſte Maiblatt auf Gottes Erden,

Wie das flinkeſte Gemslein am Felſenwall,

Wie das lockige Kind im lieblichen Thal.

Ein Blättchen Papier weiß und mild

Iſt oft das treueſte einzige Bild,

[69]
Das der Menſch zurückläßt künftigen Zeiten,

Da über ſeinen Staub die Urenkel ſchreiten.

Das Gebein iſt zerſtreut, der Grabſtein verwittert,

Das Haus zerfallen, die Werke zerſplittert;

Wer weiſt in der ewigen, großen Natur

In der wir gewaltet, unſere Spur?

Neue Menſchen ringen mit neuem Geſchick,

Keiner denkt an die alten zurück.

Da iſt ein Blatt mit ſeinen bleichen

Tintenſtrichen oft das einzige Zeichen,

Von dem Weſen, das einſt gelebt und gelitten,

Gelacht, geweint, genoſſen, geſtritten;

Und der Gedanke, dem Herzen entſproſſen

In Schmerz oder Luſt und tollen Poſſen,

Sinkt hier nieder, und der Ewigkeit Kuß

Verhärtet ihn zu einem ewigen Guß.

O, möge er geläutert in fernen Zeiten

Wieder in die Herzen der Menſchen gleiten!

Meine Ankunft hier iſt an einem Samſtag
geweſen. Als ich am Winkelbach hereingeſtolpert
bin, iſt mir ſchon hie und da ſo ein Waldteufel
begegnet, wie ſie braun und bärtig, voll Moos
und Harz in ihren Lodenkitteln hier herumgehen.
Sie ſind anzuſchauen, wie verbannte dürräſtige
Baumſtrünke, die nach einem friſchen Erdboden
ſuchen, auf dem ſie wieder wachſen und gedeihen
mögen. Da ſind ſie gerne vor mir ſtehen geblie-
ben, haben mit Schwamm und Stein Tabakfeuer
[70] geſchlagen und mich finſter oder völlig verwundert
angeſchaut. Mancher Augen haben ſo Funken ge-
worfen, wie ihre Feuerſteine. Andere ſind wieder
treuherzig und weiſen mir den Weg. Ein ſehr der-
ber und ſehr ſtemmiger Burſche, der eine Rücken-
trage mit Säge, Axt, Mehlkübel und anderen
Dingen getragen hat, iſt, als er mich des Weges
ſchreiten ſieht, mißtrauiſch bei Seite geſtanden, und
hat gemurmelt: „Gelobt ſei Jeſu Chriſt!“


„In Ewigkeit, Amen,“ iſt meine Antwort,
und als er dieſe hört, wird er zutraulich und geht
eine Strecke mit mir.


Endlich öffnet ſich ein wenig das Thal. Es
iſt ein kleiner Keſſel, in welchen aus verſchiedenen
Schluchten, und gar über das Gewände hernieder,
das ſich zu meiner linken Hand erhebt, mehrere
Wäſſer zuſammenfließen. Dieſe bilden die Winkel.
Hier iſt ein ſehr dicker, oberſeitig plattgehackter
Baumſtamm über den Bach gelegt, auf welchem
der Fußſteig hinüberführt zu einem hölzernen
Hauſe, das am Waldhange ſteht. Das iſt die
Förſterſchaft, das einzige größere Haus in dieſen
Wäldern. Weiter hin in den Gräben (Schluchten)
und Hochthälern ſind Hirten- oder Holzſchläger-
wohnungen, und jenſeits der bewaldeten Bergrücken,
wo ſchon große Blößen geſchlagen ſind und ein Koh-
lenweg angelegt iſt, ſtehen Dörfer von Köhlerhütten.


[71]

Dieſes kleine Thal heißen ſie „im Winkel.“
Es iſt noch faſt ganz in ſeiner Urthümlichkeit, nur
daß das ſtattliche Haus mit ſeiner kleinen, häus-
lichen Umgebung darin ſteht, und der Fußpfad
und der Weg dahin führt.


Das Förſterhaus nennen ſie auch das Winkel-
hüterhaus. Ich bin in dasſelbe gegangen, habe in
der Flur mein Bündel auf eine Truhe geſtellt und
mich ſelbſt daneben hingeſetzt.


Der Förſter iſt juſt mit Arbeitsleuten be-
ſchäftigt, die ihre Rait, das heißt, ihren vierwöchent-
lichen Arbeitslohn einheben, wie es bei den Holz-
leuten ſo Herkommen iſt.


Der Förſter, ein ſehr herriſcher und ein ſehr
rothbärtiger Mann, hat die Leute gar rauh und
kurz abgefertigt; und die Leute haben ſich die
Rauheit ſehr gerne gefallen laſſen und gar artig
ſchweigſam ihr Geld eingeſtrichen.


Nachdem das Geſchäft geſchlichtet worden,
ſteht der Förſter auf und reckt ſeine ſtemmigen
Glieder, die in echter und rechter Jägertracht ſtecken.
So trete ich jetztund zu ihm und überreiche ihm
ein Schreiben, das ich von dem Eigenthümer der
Wälder mitgebracht habe.


In dieſem Schreiben wird alles Weſentliche
geſtanden ſein. Es iſt mir eine gut eingerichtete
Stube angewieſen worden. Eine kernige Frau, die
[72] da iſt und umſichtig Alles ordnet, wie es ihr ſcheint,
daß es nöthig und gut, iſt mit in die Seiten ge-
ſtemmten Armen jählings vor meiner offenen Thür
ſtehen geblieben und hat laut und hell gerufen:
„Jerum, jerum, ſo ſchaut ein Schulmeiſter aus?!“


Sie hat in ihrem Leben noch keinen Schul-
meiſter geſehen.


Ich bin bald eingerichtet, habe meine wenigen
mitgebrachten Habſeligkeiten in Ordnung. Da tritt
der Förſter in meine Stube. Er hat ſchier höflich
angeklopft. Er beſieht meine Wohnung und frägt:
„Iſt ſie euch gut genug?“


„Sie iſt gut genug.“


„Seid ihr zufrieden?“


„Ich hoffe, daß ich recht zufrieden ſein werde.“


„So wird es recht ſein.“


Darauf geht er mehrmals über die Dielen
auf und ab und die beiden Hände in die Hoſen-
taſchen geſteckt, bleibt er letztlich vor mir ſtehen:


„Und nun ſeht zu, wie ihr anheben und
fortkommen mögt. Ich gehe morgen davon und
komme nur jeden Samſtag in das Winkel herein.
Die übrigen Tage habe ich in anderen Gegenden
zu ſchaffen, meine Wohnung iſt in Holdenſchlag,
vier Wegſtunden von hier. — Gleich eine Schule
aufrichten, lieber Mann, das ſchlagt euch wol aus
dem Kopf. Erſt müſſen wir mit den Alten fertig
[73] werden. Ihr, ich ſag’s, das ſind Steinſchädel!
Und daß ihr’s nur gleich wißt, wir haben aller-
hand Leut’ da in unſeren Wäldern. Nachweiſen
läßt ſich Keiner was Arges, aber ſie ſind herge-
zogen von Aufgang und Niedergang — weßweg,
das weiß der Herrgott. Zumeiſt ſind es wol
Bauersleut’ von den vorderen Gegenden herein,
die ſich in die Wälder geflüchtet haben, um der
Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Geſellen unter
ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne
begegnet. Wildſchützen ſind ſie Alle. So lange ſie
nur auf das Thier des Waldes ſchießen, laſſen
wir ſie frei herumgehen; das iſt nicht zu ändern
und man braucht ihrer Hände Arbeit. Wenn ſie
aber auch einmal einen Jäger niederbrennen, dann
laſſen wir ſie wol aus dem Wald führen. Bewei-
bet ſind die meiſten, aber Jeder hat die Seine
nicht vom Traualtar geholt. Werdet Leute antreffen,
die in dieſem Jahrhundert noch keine Kirchenglocke
gehört und keinen Chorrock geſehen haben. Werdet
bald merken, was das bei den Leuten für Folgen
hat. — Thut es, auf welche Weiſe ihr glaubt,
aber ihr müßt vorerſt die Leute kennen lernen.
Und wenn ihr dann meint, ihr würdet auf ſie
einzuwirken vermögen, dann werden wir euch darin
unterſtützen. Ihr ſeid noch recht jung, mein Freund,
gebt Acht und ſeid geſcheit! — Wenn ihr wollt,
[74] ſo nehmt euch die erſte Zeit einen Jungen, der
euch mit der Gegend bekannt macht. Und wenn
ihr was benöthigt, ſo wendet euch an mich. Ge-
habt euch wohl!“


Nach dieſen Worten iſt er davon gegangen,
Das, ſcheint es, iſt nun mein Herr; möge er auch
mein Schützer ſein!


Schon in der erſten Nacht habe ich in dem
Strohbette ſehr gut geſchlafen. Das Rauſchen, das
vom Bach heraufkommt, thut mir wol. — Es iſt
der Brachmonat, aber die Sonne kommt ſehr ſpät
über den Waldberg herauf, daß ſie freundlich in
meine Stube luget.


Ich bin des Morgens hinaus in das Freie
gegangen. Wie iſt es da friſch und grün
und thauſchimmernd, und über die Waldberge,
ſo weit ſie von dem engen Thal aus zu
ſehen, ſpinnt und webt ſich das bläuliche Sonnen-
tuch über die ſchattigen Lehnen. Gegen die Abend-
ſeite hin ſtreben die Veſten der Felſen auf, und
oben am Rande ſtehen wie Schildwachen verwitterte
Fichtenzwerge in die tiefe Bläue des Himmels
hinein. Der Rand da oben ſoll aber noch lange
die höchſte Zinne nicht ſein. Darüber kämen erſt
die Matten der Almen, wo jetzt die rothen Roſen
blühen ſollen in zahlloſen Sträuchen; hernach
kämen wieder Felswände, an denen das milde
[75] Edelweiß prangt und die rothen Tropfen der Kohl-
röschen zittern, wie ich das als Hochſchüler auf
Ausflügen mehrmals gefunden habe. Ueber dieſen
Felſen legt es ſich wol hin in weiten unwirthlichen
Feldern des Schnee’s und des Eiſes, wie ich
ſie geſtern als eine weiße Tafel ſchimmern hab
geſehen.


Wenn ich in meinen Aufgaben hierunten
glücklich bin, ſo will ich einmal emporſteigen zu
den Gletſchern. Und über den Gletſchern ragt letzt-
lich der graue Zahn, von deſſen Spitze aus, wie
mir meine Wirthin hat geſagt, in weiteſten Weiten
das große Waſſer ſoll zu ſehen ſein. Bin ich glück-
lich hierunten, ſo gönne ich mir, daß ich von dem
hohen Berge aus einmal das Meer erſchaue.


Ich bin in Krieg und Sturm durch die halbe
Welt geraſt, und hab nichts geſehen, als Staub
und Stein; und jetzt in Ruh und Frieden
der Einſamkeit geht mir ein Auge auf für die
Schöpfung.


Aber — Wildſchützen, Soldatenflüchtlinge,
wilde Geſellen, denen man zur Nacht nicht gerne
begegnet! — Andreas, das wird ein heißes Tag-
werk geben!


[76]

Urwaldfrieden.


Mir iſt es ſchon recht im Walde. Die weni-
gen Leute, die mich in den Wald gehen ſehen,
lugen mir nach und können es nicht verſtehen, daß
ich ein junger blühender Burſche ſo in der Ein-
ſamkeit herumſteige. Ei ja, freilich, ich werde von
Tag zu Tag jünger und hebe gar an, zu blühen.
Ich geneſe. Das macht die friſche, urthümliche
Schöpfung, die mich umwebt.


Gefühlsſchwärmerei treibe ich nicht. Wie er
einzieht durch die Augen und Ohren und all die
Sinne, der liebe, der ſchöne Wald, ſo mag ich ihn
genießen. Nur der Einſame findet den Wald; wo
ihn Mehrere ſuchen, da flieht er, und nur die
Bäume bleiben zurück.


Sie ſehen den Wald vor Bäumen nicht. Ja,
noch mehr, oder zwar noch weniger, ſie ſehen auch
die Bäume nicht. Sie ſehen nur das Holz, das
zum Zimmern oder Verkohlen, das Reiſig, das
zum Beſen dient. Oder ſie machen die grauen
[77] Augen der Gelahrtheit auf und ſagen: Der da
gehört in dieſe Klaſſe, oder in dieſe — als wie
wenn die hundertjährigen Tannen und Eichen lauter
Schulbuben wären.


Mir iſt es ſchon recht im Walde. Ich will,
ſo lange ich ihn genieße, von ſeinem Zwecke, wie
dieſen Zweck die Gewinnſucht der Menſchen ver-
ſteht, kein Wort noch gehört haben; ich will ſo
kindlich unwiſſend ſein, als wär ich erſt heute vom
Himmel gefallen auf das weiche, kühle Moos im
Schatten des Waldes.


Ein Netz von Wurzeln umgibt mich, theils
ſaugt es aus der Erde ſeinen Bäumen die Mutter-
milch, theils ſucht es den Moosboden und den
Andreas Erdmann darauf mit ſich zu verflechten.
Ich ruhe ſanft auf den Armen des Netzes — auf
Mutterarmen.


Geradeempor ragt der braune Stamm der
Fichte und reckt einen reichen Kranz von knorrigen
Aeſten nach allen Seiten. Die Aeſte haben lange,
graue Bärte — ſo hängen die filzigen Flechten-
fahnen nieder von Zweig zu Zweig. Wohlgeglättet
und balſamtriefend iſt die ſilberigſchimmernde Tanne.
In den rauhen, furchigen, verſchnörkelten Rinden
der Lärche aber iſt mit den geheimnißvollen Zeichen
der zahlloſen Schrammen die ganze Weltgeſchichte
eingegraben, von dem Tage an, als der verbannte
[78] Brudermörder Kain zum erſtenmale unter dem wilden
Aſtgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde,
wo ein Anderer, auch ein Heimatloſer, den Wohl-
duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.


Dunkel iſt’s, wie in einem gothiſchen Tempel;
nur der Nadelwald baut den Spitzbogenſtyl. Oben-
hin ragen die hunderttauſend Thürmchen der
Wipfel; dazwiſchen nieder auf den ſchattigen
Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerſchnit-
ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es ſegeln hoch
oben weiße Wölkelein hin, und ſuchen mich zu
erſpähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und
wehen mir einen Gruß zu — von . . . . Nein,
ſie iſt geborgen unter ſtolzem Dache von Menſchen-
hand; ihr Wolken habt ſie nicht geſehen, oder habt
ihr ſie? — Ach, ſie wehen von fernen Oeden
und Meeren.


Da flüſtert es, da ſäuſelt es; es ſprechen
miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.


Eine ſchneeweiße, große Blüte weht heran;
blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts-
tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die
weiße Blüte? Es iſt ein Schmetterling, der ſich
verirrt von ſeiner ſonnigen Wieſe und nun im
Dunkel des Waldes angſtvoll gaukelt.


Wer bricht aber in den verwachſenen Kronen
die Aeſte entzwei, daß ſie krachen und praſſeln und
[79] in dürren Strünken niedertänzeln? Ein Habicht
brauſt dahin mit einem grellen Pfiff und ein
armes Waldhuhn muß ſein Leben enden. Alle
Wildtauben ſind auf und girren ihr Sterbegebet
— da knallt es, und nieder inmitten des ſchim-
mernden, wogenden Kranzes der Tauben ſtürzt der
getroffene Raubvogel. Unterwegs zum Grab will
ſeine Klaue noch ein Opfer haſchen und in dem
brechenden Auge funkelt lange noch die Raubgier.


All mein Lebtag hab ich keine ſo merk-
würdige Webematte geſehen, als dieſes bunte, wun-
derbare Flechtwerk des Moosbodens. Das iſt ein
Wald im Kleinen und in dem Schooße ſeines
Schattens ruhen vielleicht wieder Weſen, die wie
ich das ewige Gewebe der Schöpfung betrachten.
Hei, wie die Ameiſen eilen und rennen, wie ſie
mit ihren haardicken Armen der kleinen Dinge
kleinſte umklammern, mit ihrem ätzenden Saft
alles feindliche zu vergiften meinen; ſie wollen
gewiß auch noch die Welt gewinnen vor dem
jüngſten Tag.


Ein glänzender Käfer hat ihnen lange zuge-
ſehen, er denkt verächtlich über die mühſam Krie-
chenden, denn er ſelbſt hat Flügel. Jetzt flattert er
übermütig empor und funkelnd kreiſt er hin, und
plötzlich iſt er umgarnt und gefeſſelt in zahlloſen
Stricken. Die Spinne hat an dieſem Dinge ſchon
[80] lange ſtill und emſig gearbeitet; ein Schleier, wie
koſtbarer keiner geflochten wird auf Erden, iſt des
ſtrahlenden Käfers Leichenkleid geworden.


Die Vöglein im Geäſte wollen auch ihr
Kunſtwerk ſtellen; ſie flechten, wo das Reiſig am
dichteſten iſt, aus Halmen und Zweigen ein Wie-
genkörbchen für ihre liebe Jugend. Und wenn ihnen
die Sonne juſt recht am Himmel ſteht, ſo ſingen
und jauchzen ſie bei ihrer Arbeit, daß es in allen
Nadeln und Bäumen wiederklingt, ſonſt aber hocken
ſie im Neſt und ſchnäbeln und legen die zarten,
buntſtreifigen Eier.


Ob es denn wahr iſt, daß ſich derſelbe eine
rothe Faden fortſpinnt durch alle Geſchlechter des
Menſchen- und Thierreiches bis hinab zum aller-
kleinſten Weſen; ob denn Alles nach dem einen
und ſelben Geſetze geht, was der König Salomon
gethan auf ſeinem goldenen Throne, und was die
träge ſich wälzende Raupe thut unter dem Stein?
Das möcht’ ich wol wiſſen.


Huſch, dort hüpft ein Reh und ein Haſe,
bricht ſich der gekrönte Hirſch Bahn durch das
Geſtrüppe. Jeglicher Strauch thut auch ſo geheim-
nißvoll, als ob er hundert Leben und Waldgeiſter
in ſich verberge. — Jetztund höre ich das Läuten
der Hummel. Wenn in dieſen Wäldern einmal eine
Kirche gebaut würde und eine Glocke auf den
[81] Thurm käme — ſo müßte ſie klingen. — Auf dem
Erdgrunde liegen die ſcharfgeſchnittenen Schatten-
geſtalten und darüber hin ſpinnen ſich die Saiten
des Lichtes. Und die Finger des Waldhauches
ſpielen in dieſen Saiten.


Ich trete hinaus in die Lichtung. Ein zittern-
der Lufthauch rieſelt mir entgegen, ſchmeichelt mit
den Locken, küßt die Wangen, daß ſie röthen. Hell-
grünes Haidegebüſch mit den rothen Blüthenglöck-
chen der Beeren hier, und dunkelglänzendes Preiſel-
beerkraut, der immergrüne Lorbeer unſerer Alpen,
für den würdigen Dichter des Waldes, ſo einer
zur Welt geboren wird. Die Waldbiene ſurrt
herum auf den Sträuchen und jedes Blatt iſt für
ſie ein gedeckter Tiſch.


Und über dieſer dämmernden, duftenden Flur
erhebt ſich ein ſchwarzer Strunk, mit dem gehobe-
nen Arm ſeines kahlen Aſtes trotzig dem Himmel
drohend, weil dieſer durch einen nächtlichen Blitz-
ſtrahl ihm das Haupt geſpalten. Und es erhebt ſich
dort graues, zerklüftetes Geſtein, in deſſen Spalten
ſich behende die Eidechſe birgt und die ſchimmernde
Natter, und an deſſen Fuße die breiten, durchbro-
chenen Blätter der Farrenkräuter, und die blauen,
allfort grußſchwankenden Hütchen der Enziane wu-
chern. Weithin, wo ſich die Quelle befreit und aus
ihrem dunkelſchattigen Grunde ſchimmert, wachſen
Roſegger: Waldſchulmeifter. 6
[82] an ihrem Ufer die tauſend Herzen des Sauerklee’s
und der Wildkreſſe, die der Hirſch ſo gerne pflückt
und das Reh, auf daß ſie ihre Lunge nicht ver-
laſſe zur gefährlichen Stunde der Flucht.


An der Lehne neben Dornſtrauch und wilden
Roſen liegt vom Sturme hingeworfen ſeit vielen
Jahren das Gerippe einer mächtigen Fichte, ſchier
weiß, wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln
auf, wie einſt ihr Wipfel, und eine Schnecke hat
ſich verirrt in einen ſtarren Zweig der Wurzel
hinaus und kann ihren Weg kaum finden zum
Erdreich zurück.


Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt
heran, oder das Schellen und Meckern einer Ziege.
Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wachholder-
ſträuchen mag er nichts zu ſchaffen haben, die
Nadeln ſtechen, die blauen Beeren ſind bitter.
Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube, oder, was
ihm lieber iſt, in den Mund. Dann pflückt er das
ſchmale, ſpitzige Blatt einer Enziane, führt es zur
Lippe und bringt durch dasſelbe einen Pfiff hervor,
der weithin hallt in den Hängen und den in der
Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das
iſt dem Völklein des Waldes das Zeichen ſeiner
Brüderlichkeit.


Durch das Himbeergeſtrüppe windet ſich ein
halblahmer Pecher, oder ein ſchiefäugiger Wurzel-
[83] gräber, oder ein dickhalſiger Waldrauchſammler,
der aus dem Ameiſenhaufen die Harzkörner hervor-
ſchafft. Aus dieſen Harzkörnern bereitet er den
Weihrauch, das wunderſame Korn, deſſen Wolken-
ſchleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß ſie
hinſinken vor das Opferbrot und den Herrn ſehen.


Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom-
beerlaub wuchert die Süßwurzel; das iſt des Hir-
tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin
naſcht gerne davon, auf daß ſie eine klingende
Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der
Sennin — merk ich — geht es oft ſonderbar,
wol hat ſie viele, gar rechtſchaffen viele Worte auf
der Zunge, aber ſie hat noch weit mehr Empfin-
dungen im Herzen; ſie hat zuletzt keine Worte für
Alle, und ſo drückt ſie ſich denn anders aus und
ſingt ein Lied ohne Worte, das ſie hier, ſo weit
es klingt, den Jodler heißen.


Ich ziehe durch einen von Wildwäſſern des
Kares ausgeriſſenen Hohlweg abwärts. Bäume und
Sträuche wölben ihn zu einer düſteren Laube. Ein
kühler Lufthauch fächelt, da ſtehe ich am ſchattigen
Ufer eines finſteren Waldſees. Düſteres Gewände
und ſchlanke, röthlich braune Stämme des Urwal-
des ſchließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben
ſind miteinander verſchlungen zu einer dämmerigen
Decke. O, ſo ſtill — ſo ſtill iſt’s über dem See.
6*
[84] Das verlorene Blatt einer Buche oder Eiche raſchelt
heran, ich höre jenes ewige Klingen der tiefſten
Lautloſigkeit.


Es iſt wo ein Glöcklein im Weltenraum,
wir wiſſen nicht im Erdengrund hienieden, oder
im Sternenkranze — das ruft uns allerwege. Und
zur ruhſamen Stund’ erfaßt unſere Seele den trau-
lichen Klang und ſehnt ſich . . . . und ſehnt ſich
— — — — — — — — — —


Urwaldfrieden, du ſtille, du heilige Zuflucht
der Verwaiſten, Verlaſſenen, Verfolgten — Welt-
müden; du einziges Eden, das den Glückloſen noch
geblieben! —


Horch, Andreas! Hörſt du das Klingen und
Hallen des wortloſen Liedes? Das iſt das Luſt-
und Gotteslied der Hirten. — Hörſt du auch das
ferne Pochen und Schallen? Das iſt der Holzhauer
mit der Axt — der Engel mit dem Schwerte.


[85]

Bei den Hirten.


Das Hirtenvolk iſt das erſte geweſen. Die
Hirten ſind von den Menſchen, denen man in
dieſen Waldbergen begegnen kann, die harm-
loſeſten. So habe ich mit dem Hirtenvolke an-
gefangen.


Hab jetztund auch ſchon ein gut Stück Schä-
ferleben ausgekundſchaftet. Bis auf die Zweie oben
in der Mieſenbachhütte ſind ſie aber nicht allhier
daheim; die Hirten ſind nirgends daheim, ſind
Wandersleute. Zur Winterszeit leben ſie in den
unteren, vorderen Gegenden, hauſen in Bauern-
höfen, denen ſie angehören. Sie leben bei den
Menſchen und ſchlafen bei den Rindern und
Ziegen. Dann kommt das Frühjahr; die Aehren
auf dem Felde gucken ſchon ein wenig aus den
grünen Hülſen hervor und gen Himmel auf, zu
ſehen, ob nicht die Schwalben ſchon da. Die
Frühlingsgießbäche ſchwinden und trocknen. — Jetzt
thun ſie ihren Viehſtand aus dem Stall und ziehen
[86] ſelbander den Almen zu. Die Kühe tragen klin-
gende Schellen, die Kalben und Stiere tragen
grünende Kränze, ſchier, wie am Gottleichnamstag
die Knaben und Mädchen.


Bei dem Auftriebe zur Alm, wenn junge
Leute und Rinder mitſammen wandern, geht das
Bekränzen ohn’ Aergerniß ab; wenn aber nach
vielen Flitterwochen auf lichten Höhen die Rinder
zum Spätherbſt wieder mit friſchen Kränzen zurück
in’s Thal kommen, ſo trägt nicht immer auch die
Sennin den grünen Zweig noch im Haar. Auf der
Alm gibt es viel Sonne und wenig Schatten, und
das friſche Waſſer muß der Almbub weiten Weges
herbeiſchleppen — da verdorrt bigott nichts leichter,
als ſo ein zart Sträußlein im Lockenhaar.


Zur lieben Sommerszeit iſt es da oben gut
ſein. So ſind ſie denn gut und froh, und ich —
wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bin’s mit
ihnen. Gram und Herzweh ſind wie Glashauspflan-
zen, die wollen in der friſchen Alpenluft nicht ge-
deihen. Gar der Alte, der ſonſt brumbeißige Ochſen-
halter, der ſeine ſchwerfällige Schaar auf den Almen
weidet, hat ein luſtig Pfeiflein bei ſich, das trotz
der heiſergewordenen Lunge des Alten noch recht-
ſchaffen hell mag jauchzen. Allerweil ſingen und
blaſen, ſonſt wird er mager, der arme, einſame
Narr, und das Oechslein nicht fett.


[87]

Und in der Sennerei, da iſt’s gut beſtellt;
da iſt hübſch Alles beiſammen. An dem Herd mit
der Flamme und den rußigen Töpfen ſitzt die
Häuslichkeit. Vor dem wackelnden Tiſchchen an dem
kindiſch aufgeputzten Hausaltar kniet die Religion.
Und wo die Bettſtatt ſteht, da hatte Gott nichts
Beſſeres mehr hinzuſtellen vermögen. Aus rauhen
Brettern iſt das Bett gezimmert, mit Moos und
Binſen gefüttert — ſo muß es ſein, ſoll die
junge Almerin fröhlich darin träumen. In der
Nebenkammer ſtehen Kübel und Töpfe; da iſt
das Milch- und Buttergeſchäft, deſſen Erträg-
niß dem Eigenthümer der Sennerei redlich zuge-
liefert wird.


Die ganze Wirthſchaft ſchließen vier Holz-
wände ein, in denen die Almerin nächtlicher Weile
das Goldmännlein klöpfeln hört; dieſes Klöpfeln
bedeutet ihr die Erfüllung des geheimſten Herzens-
wunſches. — Ich habe der gläubigen Aga nicht
ſagen mögen, daß ich meine, das klöpfelnde Gold-
männlein dürft ein fleißiger Holzwurm ſein. Was
der tauſend gingen auch dem Holzwurm ihre Her-
zenswünſche an! Dieſe werden aber doch erfüllt;
die einfältigen Leute da herum haben lauter
Wünſche, die erfüllbar ſind. Und wie die Maid
in der Hütte, ſo ſchlummert im Stall die Herde
und der Hirtenburſche ruhigen Gewiſſens.


[88]

Am Morgen, da ſchreit die helle Sonne zum
Fenſter herein. Sie ſchreit, es ſei Zeit! da will die
Sennin mit dem Kübel in den Stall, wo unter
vier Füßen die weißen Milch- und Butterbrünnlein
fließen. Auf die Milch wartet ſchon die Flamme
des Herdes und auf die Suppe der Hirtenburſche.
Er jodelt und jauchzt, da vergeht die Zeit. Das
Einfachſte aber iſt ſchon, wie’s der Berthold macht:
er legt ſich unter die Bäuche der Kühe und
trinkt das Frühſtück gleich aus dem Euter heraus.


Juſt bei dem Berthold und der Aga in
der Mieſenbachhütte hab ich meine Erfahrungen
gemacht. — Nimmt nach der Morgenſuppe die
Aga den Korb auf den Rücken und ſteigt hinab
gegen die Futterwieſe der Thalmulde, auf daß ſie
als ſorgliche Hausfrau ihrem vierfüßigen Geſinde
den Tiſch bereite, bei dem es ſich melken läßt.
Mahl hält die Herde den ganzen Tag; ſchon zur
Morgenfrühe leitet ſie der Berthold auf die thau-
friſche Weide.


Ich habe zu ſolcher Stunde einmal der Aga
zugehört. Sie trillert und ſingt; es iſt ein wunder-
ſam Liedchen:


„Wan da Winkelboch va Milch wa,

Und da Hochkogl va Butta,

Und ’s Winkelthol vul Sterz dazua,

Dös war a Freſſ’n mei Bua!“

[89]

Der Berthold hört’s, beſinnt ſich nicht lange;
auf ein ſo ſächlich Lied gehört ein noch ſächli-
cheres. Er ſteht auf der Wand und ſingt dem
Mädchen zu:


„Wan dei roth’s Hor va Guld wa,

Und dei Kröpfl vul Thola,

Und dei Miada vul Edlſtoan,

Dös wa ma recht, dös kunt’s thoan!“

Und d’rauf ſie:


„Die Thola thatn dih juckn,

Die Edlſtoan thatn dih druckn,

A guldanas Hor war olls z’viel zort

Fü dein borſtadn Bort.“

O, ſie bleiben einander nichts ſchuldig, ſie
wiſſen zu fechten.


Wie es aber nur kommen mag, daß im
Waldland für Lieb’ und Zärtlichkeit nicht ſo viele
und gute Worte wachſen wollen, als für Spott
und Poſſe? Iſt ſchon die Lieb’ da unten nicht
gar geſchwätzig, ſo iſt ſie hieroben bei den Leg-
fähren und Kohlröschen ſtumm, wie der Fiſch im
Waſſer. Der Kuß wird hier auch nicht ſo gepflegt,
wie anderswo. Weiß ſich aber ſo ein verlieb-
ter Burſch mit ſeiner Empfindung nicht anders
zu helfen, ſo faßt er ſein Mädchen, wie der
Müller den Kornſack, und ſchwingt es hoch in
die Luft und thut ein Jauchzen dabei, daß ſchier
[90] die Wolken auseinanderfahren, wenn welche am
Himmel ſtehen.


Der Berthold macht es um kein Tüpfelchen
anders. — Es ſind zwei junge, blutarme Leute,
auf einſamer Alpenhöh’ ſich ſelbſt überlaſſen. Was
iſt da zu beginnen? Je nun, je nun, ich denk’,
für mich dieweilen noch gar nichts.


[91]

Bei den Waldteufeln.


In dieſer Wildniß gibt es Gewerbe, von
denen ich keine Ahnung gehabt habe. Buchſtäblich
von der Erde, von dem Geſteine heraus graben
die Leute ihr Brot. Und von den Bäumen ſchaben
ſie es herab, und aus dem alllebendigen Ameis-
haufen wühlen ſie es hervor, und aus wilden,
ungenießbaren Früchten zwingen ſie es durch all
die hundertfältigen Mittel ihrer Schlauheit. Daß
der Menſch doch ſo Alles zu finden und zu nützen
weiß! Hat er aber ſchon Alles gefunden und ge-
nützt? Und die Bedürfniſſe, ſind ſie ſchon da ge-
weſen, ehe die Mittel gefunden worden, oder ſind
ſie die Folgen der errungenen Dinge? — Wäre
das Letztere der Fall, ich hielte die tauſenderlei
Errungenſchaften für keinen Gewinn.


Die wüſten, verkommenen „Waldteufel“ ſtehen
mit den Menſchenſchaaren draußen in engerer
Verbindung, als man meint, und als ſie es
[92] vielleicht ſelbſt ahnen mögen. Ei doch, ſie wiſſen
es gar wol. Da iſt gleich der Wurzner. Seine
Lodenkutte geht ihm ſchier bis zu den Waden
hinab; ſein Hut iſt ein wahres Familiendach, das
aber ſtellenweiſe ſchon durchlöchert iſt und durch-
bricht. Schon von Weitem kennt man ihn. Da
oben im Geſtein klettert er herum und wühlt mit
ſeinem krummen Stecheiſen die Speikwurzel hervor.
Dabei brummt er denn gar zuweilen das Liedchen:


„Wan ih ſpeikgrobn thua

Auf der Olm, do herobn,

Do denk ih gern auf d’Weibaleut.

Daroth’s es, wo da Speik hinkimmt?

In’s [Türknland] für d’Weibaleut,

Damit ſ’ an beſſern Gruchn kriagn,

Im Türknland, de Weibaleut!“

Dieſes ſtolze kühne Bewußtſein des Wurzners,
daß er die Frauenwelt des Morgenlandes in einen
beſſern Geruch bringe, wird aber angefochten.


Dort auf der Felswand ſteht ein alter Ge-
fährte, der hört das Lied; er häckelt die Meſſing-
häftchen ſeines Wamſes auf und öffnet ſeinen
Mund:


„Wanſt ollaweil auf die türkiſchn

Weibaleut denkſt,

Du Lota, ſo woaß ma’s ſchon!

Geh gwürz dih liaba ſelba

Mit Speik auf der Olm,

Leicht ſtehts da beſſer on!“

[93]

So necken ſie ſich, und das iſt ihre harmloſe
Seite. Aber der Waldteufel hat ſeinen Pferde-
fuß. Der rechte Waldteufel hat einen doppelläufigen
Kugelſtutzen; der eine Lauf heißt „Gemſennoth,“
der andere „Jägertod.“ Könnt’ er ſchreiben, mit
ſeinem krummen Meſſer hätte er dieſe Namen in
den Stahl gegraben; aber, er merkt ſich’s im Kopf,
das von Gemſennoth und Jägertod.


Wenn er einen lebendigen Geier oder Adler zu
kriegen weiß, ſo verſchluckt er die Augen des Vogels.
Nach ſeinem Glauben leiht ihm das einen ſcharfen
Blick für ſicheren Schuß. Längſt hätt’ er das Gra-
ben aufgegeben und wollt’ ganz dem Wildern
leben, aber er vermeint, unter den Steinen und
Wurzeln einmal einen vergrabenen Schatz zu finden.
Schatzgraben, Gold und Edelſtein unter der Erde,
das hat er im Märchen gehört und kann es
nimmermehr vergeſſen.


Gold und Edelſtein unter der Erde! Schatzgra-
ben! — Das Märchen hat recht; der Wurzelgräber
hat recht; der Ackersmann hat recht; der Bergknappe
hat recht. Aber der Schatzgräber hat nicht recht.


Deß acht ich, daß ich den Wurzner, oder den
Pechſchaber, oder den Ameiſenwühler nicht beleidige.
So Leute heben gar mit dem Wettermachen an,
daß all des Teufels iſt. Blitz und Hagel kann die
Wälder vernichten weit und breit. Darum in den
[94] Wald- und Alpengegenden die vielen ſchweren Ge-
witter, weil dahier die Wettermacher daheim. Wie
ſie es aber anfangen, dieſe Waldteufel, daß die
Nebel aufſteigen aus den Schründen und Wetter-
löchern, daß die Thauſtäubchen zu Waſſer verdich-
ten, daß die Tropfen zu Eiskörnern erſtarren, daß
die Eiskörner zu ſchweren Schloſſen ſich kochen,
daß aus den Wolken das wilde Feuer ſprüht, daß
die flammenden Wurfſpieße der Blitze hinſauſen
durch die Nacht und daß die ungeheueren Rollen
der Donner ſich wälzen, bis endlich Alles nieder-
bricht zu den zitternden Menſchen und Thieren der
Erde — wie ſie das anfangen, das ſoll ein tiefes
Geheimniß der wilden Geſellen ſein; ich habe es
bislang nicht zu erfahren vermögen.


Eines iſt gewiß. Der Bauer der vorderen
Gegenden hat Ehrfurcht vor den Wildlingen im
Gebirge und liefert ihnen die Lebensmittel gegen
geringes Entgelt; es iſt doch allfort beſſer, im
Beutel kein Gewinn, als auf dem Felde Schaden.


Wahrhaftig, das iſt ein fürchterlicher Wahn
dieſer Menſchen, daß ſie durch eigenes Wollen und
eigene Kraft Dinge zu wirken vermeinen, von denen
die Schöpfung den menſchlichen Witz ausgeſchloſſen
hat für immerdar; und daß ſie dagegen Dinge
verabſäumen, in denen ſie durch eigenes Wollen und
eigene Kraft Großes hervorzubringen vermöchten.


[95]

Da oben hinter dem Bergrücken iſt eine um-
waldete Thalmulde, die ſie die Wolfsgrube nennen.
Vor Kurzem bin ich in dieſer Wolfsgrube geweſen.
Ich komme eben zurecht, wie ſie einen Mann be-
graben, der weder Wurzner, noch Ameiswühler,
noch Pechſchaber, noch Branntweinbrenner, noch ein
Wilderer geweſen war. Aber der allermerkwürdigſte
Waldteufel. Die Sache hab ich theils ſelbſt erfah-
ren, theils iſt ſie mir erzählt und verbürgt worden.


Gearbeitet hat er gar nichts. Das iſt Einer
geweſen, der ſich durch Eſſen ſein Brot erworben
hat. Sie haben ihn allerwärts den „Freſſer“ ge-
nannt; einen andern Namen, halt ich, hat er gar
nicht gehabt. Das ſoll ein ganz verkommener
Menſch geweſen ſein, aber gewaltig ſtark am Leibe.
Sein Haupthaar iſt durch Schweiß und Harz zu
einem unlöslichen Filz verworren geweſen; da hat
er keines Hutes bedurft. Sein Bart iſt geweſen
wie aus verdorrten Fichtennadeln; ſeine mächtig-
breite Bruſt wie überſponnen mit zehnfachem
Spinnenweb; da hat er den Bruſtlatz erſpart. An
ſeinen wuchtigen Füßen hat ſich eine völlige Horn-
haut gebildet; da iſt ihm das Schuhwerk über-
flüßig geweſen. Eine faſt grauenhafte Erſcheinung!
ich hab ihn noch vor einigen Tagen im Winkel be-
gegnet. Hebt, wie er mich ſieht, eine Handvoll Sand
vom Boden auf und will den Sand verſchlingen,
[96] wenn ich ihm eine kleine Gabe dafür wollt’ reichen.
— Oft iſt er hinaus auf die umliegenden Dörfer
auf Kirchtage gegangen, hat den Leuten was vor-
gefreſſen. Nicht Werg und Bänder und derlei
Dinge, wie es ſonſt Taſchenſpieler thun, hat er
verſchlungen, ſondern Tuchſtücke, Leder und Glas-
ſcherben. Selbſt Schuhnägel, und ſie mögen noch
ſo roſtig geweſen ſein, hat er verzehrt. Gerne hat
er einen alten Stiefel oder Filzhut zerriſſen, die
Fetzen mit Eſſig und Oel bereitet und gegeſſen.
Das hat ihm viel Geld eingebracht, und ſein
Beutel wie ſein Magen haben wol verdaut. Unſer-
einem thät ſo ein Eſſen nicht taugen, hat der
Rüppel geſagt, freilich wol, ein Schnäpslein muß
dazu ſein, das beißt im Magen auch die Kieſel-
ſteine klein. — Jahr und Tag hat er’s trieben,
aber ein End nimmt’s mit Allem, und der Oſter-
ſonntag hat nicht viel größere Läng’, wie der
Charfreitag. Juſt beim Schnäpslein iſt er geſeſſen
in Kranabethannes Hütte, und hat in ſeinem Ueber-
muth geſagt: „Kiefel (kaue) dein Schwarzbrot nur
ſelber Hannes, ich trink den Branntwein und beiß
das Gläſelein dazu.“ — Iſt jetztund vom finſteren
Herdwinkel ein alter Wurzner hervorgekrochen:
„s ſchwarz’ Brot willſt verachten? du!“ Darauf
der Freſſer: „Geh her, Wurzner, dich freß ich
mitſammt deiner Krax (Rücktrage)!“ Hat der Alte
[97] ein Würzlein hervorgezogen: „Da thät ich wol
was haben! Burſch, das iſt noch ein wenig ſtärker,
wie du!“ — „Her damit!“ ſchreit der Freſſer, er
rafft das Würzlein und ſteckt es in ſeinen Schlund.
— „Biſt hin!“ hat der Alte gekichert, iſt davon
in den Wald. — Steht nicht lang an, ſpringt der
Freſſer auf und hinaus auf den Anger. Dort ſtürzt
er nieder und iſt todt über und über. Da haben
wir’s wol gewußt, was das Ding bedeutet. Den
alten Wurzner hat kein Menſch gekannt — der
Teufel iſt’s geweſen.


Halb That, halb Mähr, ſo hat es der Leute
Aberglauben aufgefaßt und mir erzählt. Sie haben
den Mann auch nicht hinausgetragen auf den Hol-
denſchlager Kirchhof. Im Moorboden der Wolfs-
grube, wo nur die Binſengarbe wuchert und ihre
Flockenfähnlein wiegt, haben ſie eine Grube gemacht.
In dichtes Fichtengeäſte haben ſie den Mann ge-
ſchlungen, mit einer Stange haben ſie ihn an das
Grab gewälzt bis er hinabgekollert.


Zur ſelbigen Stund’ iſt eine kleine Schaar
von Betern über die Moorheide und durch die
Wolfsgrube gezogen. Sie war in einem Kare des
Hochgebirgsſtockes geweſen, wo ein Kreuz ſtehen ſoll
im Geſtein. Dieſe kleine Schaar iſt an der Grube
ſtehen geblieben und hat laut für den Todten ein
Vaterunſer geſprochen. Da hat jählings eine braune
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 7
[98] Kohlenbrennerin das Wort [ergriffen] und in ihrer
Art ausgerufen: „Ihr Haſcher, dem hilft euer
fromm Gebet juſt ſo viel, wie dem Fiſch im
Waſſer ein trocken Pfaidlein thät nützen. Der iſt
ſchon dort, wo die Hühner hin piſſen, das iſt ja
der Glasſcherbenfreſſer!“


„Nachher gilt das heilig Vaterunſer für un-
ſern Viehſtand daheim!“ murmeln die Beter und
gehen davon.


Ein einziger Mann, ein blaſſer, ſchwarzlockiger,
völlig genickter und ſeltſam haſtender Mann iſt
noch ſtehen geblieben an der Grube, hat hinab-
geſtarrt, hat mit zitternder Hand eine Scholle auf
den Leichnam im grünen Reiſerkleide geworfen, hat
in der Runde umhergeblickt und die Worte geſagt:
„Mit Erden werden ſie ihn doch bedecken. Seines
guten Magens wegen wird ihn der Teufel nicht
geholt haben; und etwan iſt ſein Herz nicht ſchlech-
ter geweſen, als ſein Magen.“


So die Grabrede. Und hierauf kommen ein
par Männer und ſcharren Erdreich in die Grube.


Ich bin ſpäter mit dem blaſſen, geknickten
Mann, den ſie den Einſpanig nennen, wieder zu-
ſammengekommen. Da habe ich an ihn die Frage
gethan: „Was iſt das mit dem Glasſcherbenfreſſer?
Das iſt doch eine ſeltſame und märchenhafte Ge-
ſchichte.“


[99]

„Seltſam und märchenhaft iſt das ganze
Waldland,“ verſetzt der blaſſe Mann, „beſſeren
Magen als unſereiner mag ſo ein Sohn der Wild-
niß ſchon haben. Und der Aberglauben iſt dieſer
Leute geiſtiges Leben.“


Nach dieſen Worten hat er ſich gewendet und
iſt emſig von hinnen geſtolpert.


Wie, Alter, biſt nicht auch du ſelber ein
Sohn der Wildniß? Biſt wahrhaftig ſeltſam und
märchenhaft genug. — Den Einſpanig, den Ein-
ſamen nennen ſie ihn, ſonſt wiſſen ſie ſchier nichts
von ihm zu ſagen.


Auch mit den Pechern hab ich ſchon Be-
kanntſchaft gemacht. Der Pecher, das iſt ein recht
wunderlicher Waldteufel. Man riecht ihn ſchon von
Weitem und man ſieht ihn glitzern durch das
Dickicht. Die Hacke glitzert, mit der er das Harz
von den Bäumen ſchabt; die Steigeiſen glitzern,
vermittelſt welchen er an den glatten Stämmen
emporklettert, wie eine Waldkatze, um den Baum
auch an ſeiner Höhe abzuernten, oder wenn keine
Ernte iſt, zu verwunden, auf daß für künftig das
Harz hervorquelle. Und die Lederhoſe glitzert, und
der mit Pech völlig überzogene Lodenſpenſer glitzert,
und die Scheide des langen Meſſers an den Len-
den glitzert, und letztlich das ſchwarze Glutauge.
Wenn eine Blüthe oder eine niederfallende Tannen-
7*
[100] nadel ihn ſtreift, ſo bleibt ſie kleben an ſeinem
Arm, an ſeinen Haaren, an ſeinem Bart. Wenn
eine Fliege herumtanzt oder ein Falter, oder eine
Spinne — das Thierchen bleibt kleben an dem
Manne; und bunt beſetzt iſt ſein Kleid mit kleinen
Weſen aus dem Pflanzen- und Thierreiche, wenn
er in Wald- und Abenddunkel heim in ſeine Klauſe
kehrt. Der Pecher verwundet die Bäume gar arg
und bringt ſie zuletzt um’s Leben. Der Urwald iſt
dem Untergang verfallen. Die alten Tannen und
Fichten ſind durch den Pecher zu Krüppeln ge-
worden; jetzt ſtrecken ſie ihre langen Arme nach ihm
aus, möchten den Todfeind am liebſten erſchlagen.


Aus dem Harze bereitet der Pecher durch das
Verfahren des Abdunſtens das Terpentin und an-
dere Oele, wie ſie in den Waldgegenden gegen
allerhand Krankheiten und Gebrechen in großen
Mengen verwendet werden. Ich habe ſchon mehr-
mals zugeſehen auf ſo einer Brennſtelle, wie die
ſchwarze Maſſe kocht und brodelt, bis ſie in ge-
ſchloſſene Thonbehälter kommt, aus welchen ihr zu-
gewinnender Gehalt durch enge Röhren in die Zuber
und Flaſchen übergezogen wird. Mit dieſen Zubern
und Flaſchen in einem großen Korbe geht nun der
Mann hauſiren. Der Holzſchläger kauft Pechöl gegen
jegliche Verletzungen, die er ſich in ſeinen Kämpfen
mit dem Walde zuzieht. Der Kohlenbrenner kauft
[101] Pechöl gegen Brandwunden; der Kohlenführer für
ſein Roß; der Branntweiner für ſein Fäßchen. Der
Wurzner kauft gegen Verrenkungen und Bauchgrim-
men, das er ſich durch ſeine meiſt ungekochte
Nahrung zuzieht. Das Kleinbäuerlein weiter draußen
kauft Pechöl für ſein ganzes Haus und Vieh, gegen
alle böſen Zuſtände.


Du Pechölmann! mir nagt ſeit lang ſchon
im Herzen ein kleinwinzig Käferlein — wär’s
nicht zu tilgen mit deinem gallbitteren Oel? —


In des Pechers Klauſe darf man ſich nicht
niederſetzen, man bliebe kleben. Und gleich kämen
die kleinen, ungewaſchenen und zerzauſten Rangen
heran, und krabbelten empor und ritten gar auf
den Nacken und man käme ihrer nicht mehr los.
— Das ſind die lebendigen Sünden der Alten,
ſagt meine Haushälterin.


Des Pechers Wohnung iſt einfach genug.
Unterhalb der nackte Erdboden, oberhalb das ſchie-
ferige Baumrindendach, ſeithalb die Wand aus
rohen Stämmen gezimmert und mit Moos ver-
ſtopft. Der holperige Herd iſt gleich als Tiſch
eingerichtet. Unter der Bettſtatt iſt die Vorraths-
kammer für Erdäpfel, Schwämme und Holzbirnen.
Der wurmſtichige Kleiderſchrank iſt das Allerheiligſte
des Hauſes, er bewahrt die geweihten Andenken
der Voreltern, das Taufangebinde der Kinder, und
[102] den Wettermantel des Pechers, wenn er nicht am
Leibe iſt. Die Fenſter haben kaum ſo viel Glas,
daß, wie die Leut’ ſagen, der „Freſſer“ ſich daran
einmal hätte ſatt eſſen können. „Lappen und
Strohpapier ſind auch ſo gut, wie Spiegelſcheiben,
wenn Einer kein ſauberes Geſicht durchgucken laſſen
kann,“ meint der Pecher. Wol, er weiß von Spie-
gelſcheiben was, der iſt nicht allfort im Wald ge-
weſen. Gar weit, weit in der Wienerſtadt iſt er
wachgeſtanden vor Spiegelſcheiben — hat ihm nicht
gefallen, iſt durchgegangen, iſt eingefangen worden,
iſt ſpießruthengelaufen, iſt wieder durchgegangen
und in die tiefſte Wildniß herein, — läßt ſich
nicht mehr fangen.


Hinter dem Schrank hängt das Schießgewehr.
Tritt einmal der herrſchaftliche Jäger in’s Haus
und ſieht er’s, ſo iſt’s gut — eine Waffe muß
ſein, im Wald gibt es Wölfe. Sieht er’s nicht,
ſo iſt’s beſſer.


Bei des Pechers Hauswirthin iſt’s auch ſo;
ſieht man ſie, ſo muß man bedenken, daß im vier-
zigſten Jahr bei Niemandem ein neuer Frühling
mehr anbricht, daß, wie das Sprichwort ſagt, am
Halſe ein Kropf beſſer iſt, als ein Loch, daß ein-
äugig nicht blind, und daß ein wenig Säbelbeinig-
keit weder Schande noch Prahlerei iſt. Sieht man
ſie nicht, ſo iſt’s beſſer.


[103]

Wie ich aber ſchon wahrgenommen hab,
bleibt an manchem Pecher zuweilen auch ein junges
Weibchen kleben. Viele Landmädchen ſind um ein
gut Theil anders, wie die Stadtfräulein. Die
Stadtfräulein haben es zumeiſt nicht ungern, wenn
ihre Liebhaber recht ſchön weiß und zart und ſchlank
und gefügig ſind, und zärtlich wie Tauben. Die
Landdirnen wieder mögen Einen, der recht derb
und rauh und ſtruppig und eckig und wild iſt.
Wenn Eine die Wahl hat zwiſchen Einem, der ihr
ſchäckernd die Strümpfchen ſtopfet, und einem An-
dern, der ſie anwettert mit jedem Wort — ſo
nimmt ſie den Wetterer.


Sie hat ihn ja doch im Sack. Wie geht das
Lied, das der Pecher gern ſingt?


„Für’s Pech hon ih mei Hackel,

Für’s Haſerl mei Bix;

Für’n Jager a por dicke Fäuſt,

Für’s Menſch hon ih nix.

Nix is ollszweng, hot ſ’ gſogt,

Hot mih ba da Thür ausgjogt;

Hiazt geh ih, und prügl an Jager o,

Daß ih an Unterholtin ho.“

Indeß, wer einmal ſo ein Liedchen ſingt, der
thut dem Jäger nichts. Wer mit finſteren Gedanken
umgeht, der ſingt kein heiter Lied. —


Unter den Waldteufeln der Gehobeltſte, Ge-
ſchmeidigſte und meines Ermeſſens der Gefährlichſte
[104] iſt der Branntweiner. Er trägt ein feineres Tuch,
wie die Andern und ſchneidet allwöchentlich ſeinen
Bart. Er trägt allerwege ſo ein Fläſchchen mit ſich
herum, mit dem er vertraulich Jedem aufwartet,
der ihm in den Weg kommt. „Du,“ ſagt er zum
Wurzner, zum Pecher, wenn es heißer Sommer iſt,
„du, ein ſüß, friſch Tröpfel hätt ich da!“ Und
wenn es kalter Winter iſt: „Du, los (horch) auf,
das hölliſch Feuer hätt’ ich da!“


Wer trinkt, der iſt ihm verſchrieben, verfallen,
der kommt ihm in die Schenke.


Der Branntweiner erntet zweimal. Für’s Erſte
von den Ebereſchen die rothen Beeren, von den
Hagebutten, Wachholderſträuchen, vom Heidekraut,
von Allem, was hier Früchte hervorbringt. Der
Branntweiner glaubt an den Geiſt der Natur, der
in allen Geſchöpfen lebt, und beſchwört ihn hervor
aus den Früchten des Waldes, und — wie jener
Zauberer im Märchen — hinein in die Flaſche;
— flugs den Stöpſel darauf, daß er gefangen iſt.
Seine Brennerei iſt ein förmlicher Zauberkreis
unter dem hohen, finſteren Tann, ein Kreis, wie
ihn auch die Spinne zieht und einwebt. Bald
ſind ein par Fliegen da und zappeln in dem
Netze. Die Waldleute, wie ſie herum- und ihren
Geſchäften nachgehen, zuletzt aber kleben bleiben in
der Schenke — das ſind der Spinne die Fliegen,
[105] an denen der Branntweiner nun ſeine zweite
Ernte hält.


Jedes Weib räth dem Mann, er möge nicht
den Weg über den Tann nehmen, der ſei ſo finſter
und uneben, er ſei auch weiter. Der Mann ſieht’s
ein, hat auch gar nichts auf dem Tann zu thun,
aber — ’s iſt eben ein wandelbar Ding, die Ge-
ſundheit — wie er ſo hinſchreitet, da empfindet er
jählings ſo ein Drücken in der Gurgel, ein Grim-
men im Bauch — ein ſchlimmes Grimmen, ſchier
wie die Magengicht. Pechöl hat er keines bei ſich,
da weiß er nur noch Ein Mittel und — er nimmt
den Weg über den Tann. — „Das erſte Gläschen
— ſagt der Rüppel — lindert den Schmerz; das
zweite macht warm im Herz; das dritte macht
noch wärmer; das vierte macht den Beutel nicht
mehr ärmer; das fünfte mag erſt recht die Glieder
ſpannen; bei dem ſechsten wackeln ſchon die Tannen;
bei dem ſiebenten geht es glühheiß durch den Leib;
bei dem achten verlangt ſich’s nach dem Weib.“


Heimwärts wankend aber flucht der gute
Mann über das „ſchlechte“ Weib, daß es ihm in
dieſem ſchaudervollen Nebel mit keinem Licht ent-
gegenkommt; und wenn er endlich — den Hut
tief und ſchief in die Stirne gedrückt, zur Hütte
hereintorkelt, ſo weiß das Weib ſchon, was es ge-
ſchlagen hat und was es noch ſchlagen könnte, wenn
[106] es ſich nicht beeilte, ſofort auf den Dachboden oder
anderswohin zu entkommen.


Mich närriſchen Jungen ſtimmen meine Ent-
deckungsreiſen heiterer, als ich’s je vermeint hätte.
Es liegt ein traurig Geſchick über dieſem Völklein,
aber dieſes Geſchick macht zuweilen ein unſäglich
ſpaßhaftes Geſicht. Ich halte dieſe Waldteufel auch
nicht für ſo verdorben und verkommen. Verwahr-
loſt und ungeſchlacht ſind ſie. Es ließe ſich vielleicht
was aus ihnen machen; — nur Sauerteig muß
dazu kommen.


Ausſterben wird das Geſchlecht nicht ſo leicht.
Gerade in dem feuchten, dunkeln Waldboden gedei-
hen die kleinen Rangen, wie die Pilze. Die Jun-
gen gehen den Weg der Alten, und tragen die
Wurzelkrampe, oder den Hirtenſtab, oder die Pech-
hacke oder die Holzaxt.


Beim Pfarrer draußen in Holdenſchlag iſt
nur bekannt, daß die Waldkinder lauter Mädchen
ſind. Die Knaben werden zumeiſt getauft mit dem
Waſſer des Waldes; ſie ſind in kein Pfarrbuch ge-
ſchrieben, auf daß ſie vergeſſen bleiben draußen im
Kreisamte und im Verzeichniſſe der Wehrpflichtigen.


Die Mädchen, werden ſie ein wenig flügge,
gehen bald auch ins Ameiſen- und Wurzelgraben,
ins Kräuterſammeln, und ſie wiſſen für Alles Ab-
ſatz, und ſie pflücken die Eberbeeren und die Hage-
[107] butten- und die Wachholderfrüchte für den Brannt-
weiner. Und die Jungen, denen noch das Höschen
nicht trocken wird den ganzen Tag, helfen ſchon
auch den Branntwein trinken.


Vor einiger Zeit habe ich einer Kinderſchaar
zugeſehen. Sie ſpielen unter Lärchbäumen. Die
niedergefallenen Lärchzapfen ſind ihre Hirſchen und
Rehe, denen ſie grünes Reiſig vorlegen zum Freſſen.
Andere laufen umher und ſpielen hinter Gebüſch
„Verſteckens,“ „Salzhalten,“ „Geier austreiben,“
„Himmel- und Höllfahren,“ und wie ſie die Schalk-
heiten und Leibesbewegungen alle heißen. — Man
ſieht ihnen gerne zu; ſie ſind zwar alle halbnackt,
haben wohlgebildete und geſunde Glieder, und ihre
Spiele ſind ſo kindlich heiter — wie ich anderwärts
noch nie Kinder ſpielen geſehen habe. — Hier iſt
die verwundbare Stelle des gehörnten Siegfrieds,
den ſie den „Waldteufel“ heißen.


Ich habe den Kleinen unter den Lärchen fort-
wegs zugelächelt, aber ſie haben mich kaum ange-
blickt; nur daß ſich die Jüngſten vor mir gefürchtet.
Nach einer Weile hab ich es verſucht, mich in ihre
Spiele zu mengen; wie ſich da die Meiſten gleich
verblüfft zurückgezogen haben! Nur Wenige geben
ſich mit mir ab; wie ich aber von dieſen Wenigen
im Wettlaufen und Haſchen einigemale überliſtet
werde, da kommen auch die Andern wieder herbei.
[108] Und bald bin ich in dem tollſchwirrenden Kreiſe die-
ſer jungen Menſchen ein guter und gern geſehener
Bekannter. Ich ſchwätz’ ihnen Manches vor, noch
öfter aber laſſe ich mir von ihnen erzählen. Ich
gehe zu den Kindern in die Schule, um die
Schulmeiſterei zu lernen.


Von oben durch einen Strick zur Höhe ziehen
laſſen ſich die Waldleute nicht; wer ſie für die
Höhe gewinnen will, der muß ganz zu ihnen
niederſteigen, muß ſie Arm in Arm und wol auf
weiten Umwegen emporführen.


[109]

Im Felſenthale.


An den Lehnen der Voralpe und an den
Hängen des Hochzahn und ſeiner Gletſcherketten
ziehen ſich fort und fort die Waldberge hin in der
Richtung gegen Abend. Von oben geſehen liegen
ſie da in der tiefen Bläue des Meeres, in ihren
Gründen die ewigen Schatten und die ſeltſamen
Menſchen bergend.


Eine Tagreiſe vom Thale der Winkel gegen
Abend hin, fernab von der letzten Klauſe, iſt jene
Stelle, von der die Waldleute ſagen, da ſei die
Welt mit Brettern verſchlagen.


Mit Steinen vermauert wäre aber beſſer ge-
ſagt. Wildklüftige, faſt ſenkrecht aufſteigende Wände
ſchließen hier das Waldland ab. Es beginnt der
Urſtock der Alpen, in welchem die Felsſchichten
nicht mehr liegen noch lehnen, ſondern fallrecht
gegen Himmel ragen. Ein Meer von Schnee und
Eis mit zahlloſen Klippen, an denen ewige Nebel
hängen, ſoll unabſehbar hingebreitet ſein über die
[110] Rieſenburgen, die da oben ragen und vormaleinſt
ein Eden gewahrt haben ſollen, das heute verſtei-
nert und in Starrniß verſunken iſt. So die Sage.
Daß doch dieſer wunderſame Traum von einer
einſtigen verlornen Glückſeligkeit die Herzen aller
Völker und Volksſchichten durchdämmert!


Daß jenſeits des Alpenſtockes wieder menſchen-
bewohnte Gegenden beginnen, das wollen mir viele
Leute hier gar nicht glauben. Nur ein alter, ſchlau-
blinzelnder Kohlenbrenner ſagt, ſein Großvater
hätte wol einmal erzählt, es ſeien da hinten drüben
Menſchenweſen, die ſo hohe und ſpitze Hüte trügen,
daß, wenn ſie des Nachts auf den Bergen herum-
gingen, ſie nicht ſelten damit einen Stern vom
Himmel ſtechen thäten. Und der Herrgott müßt des
Abends jedmal ſorgſam die Wolken vorſchieben,
ſonſt hätt’ er längſt mehr kein einzig Sternlein
an ſeinem Himmel.


Der Schalk hat die Spitzhüte der Tiroler
gemeint.


Wo nun dieſes Waldland von dem Urgebirge
begrenzt wird, ſind gar verrufene Stellen. Dort
hat man ſchon manchen todten Gemsjäger gefunden,
dem ein Körnlein Blei mitten durch die Bruſt ge-
gangen. Auch bricht, ſagen die Leute, aus einer
der zahlreichen Felſenhöhlungen zuweilen ein Un-
geheuer hervor, das Alles verſchlingt, das aber im
[111] Gebirge einen unermeßlichen Schatz von Edelgeſtein
bewacht. Wenn das Waldland noch eine Weile [be-
ſteht]
, ſo muß ein heldenhafter Mann kommen, der
das Ungeheuer beſiegt und die Schätze hebt. Bis-
lang iſt noch kein ſolcher dageweſen.


Ich meine, ich wollte es erkennen und nennen,
das Ungeheuer . . . .


Den finſteren Sagen angepaßt iſt die Gegend.
Sie iſt ein todtes Thal, in welchem kein Finklein
will ſingen, keine Wildtaube will glucken, kein
Specht will ſchnattern, in welchem die Einſamkeit
ſelbſt iſt eingeſchlummert. Auf dem grauen Laub-
moosboden liegen zerſtreut wuchtige Felsblöcke um-
her, wie ſie von dem hohen Gewände niedergebro-
chen ſind. Dort und da iſt ein vorwitziges Fichten-
bäumchen hinangeklettert auf einen ſolchen wetter-
grauen Klotz, und blickt ſtolz um ſich, und meint,
es ſei nun beſſer, als die andern, halbverkommenen
Gewächſe unten auf dem Sandboden. — Wird
nicht lange dauern, ſo wirſt du verhungern und
verdurſten auf dem dürren Felsboden und hernieder-
fallen. Hierum kann der Wald nicht gedeihen, und
ſteigt doch wo eine ſchlanke, kerzengerade Fichte
empor, ſo ſind ihre Tage gezählt. Jählings kommt
ein Sturmwind niedergefahren von den Felsmulden
und legt den ſchönen jungen Stamm mitſammt der
losgelöſten Wurzel faſt ſanft hin über den Boden.
[112] Und da thut er jetztund, als wollte er eine kleine
Weile ſich nur ausraſten und bald wieder aufſtehen
mit ſeinen grünen Zweigen und weiter wachſen;
und indeſſen fallen ihm ſchon die Nadeln ab und
es ſchrumpft und ſpringt die Rinde, und die Käfer
löſen ſie los, und nach einer Zeit liegt das nackte,
bleiche Gerippe da, das immer mehr und mehr in
die Erde hinein verſinkt, aus der das Bäumchen
einſt hervorgewachſen war.


Und doch muß eine Zeit geweſen ſein, in
welcher der Wald hier glücklicher gediehen iſt; es
ragt ja noch hier und da der graue, geſpaltene
Reſt eines gewaltigen Tannenbaumes empor, oder
eines uralten Ahorn, in deſſen Höhlen das Wieſel
wohnt, oder durch die der Fuchs den Eingang hat
zu ſeiner unterirdiſchen Behauſung.


Die Kiefer allein iſt noch kampfesmuthig, ſie
will die ſteilen Lehnen hinanklettern zwiſchen den
Wänden, will wiſſen, wie es da oben ausſieht bei
dem Edelweiß, bei den Alpenroſen, bei den Gemſen,
und wie weit es noch hinauf iſt, bis zum Schnee.
Aber die gute Kiefer iſt keine Tochter der Alpen,
balde faßt ſie der Schwindel und ſie bückt ſich
angſtvoll zuſammen und kriecht mühſam auf den
Knieen hinan, mit ihren geſchlungenen, verkrüppel-
ten Armen immer weiter vorgreifend und rankend,
die Zapfenköpfchen neugierig emporreckend, bis ſie
[113] letztlich in den feuchten Schleier des Nebels kommt
und in demſelben planlos umherirrt zwiſchen dem
Geſtein.


Auf einem der niedergeſtürzten Felsblöcke die-
ſes letzten Thales des Waldlandes ſteht ein Kreuz.
Es iſt ſehr unbeholfen aus zwei rohen Holzſtücken
gezimmert; es hängt ſtellenweiſe die Rinde noch
daran. Still ſteht es da in der verlornen Oede; es
iſt, wie die erſte Kunde von dem Welterlöſer, welche
der heilige Bonifaz vormaleinſt in den deutſchen
Wildniſſen aus den Stämmen des Waldes aufge-
pflanzt hat.


Die Eidechſe ſchlüpft unter dem Felſengrunde
dahin; ein Rehlein trippelt heran mit ſeinen
ſchlanken Füßen und blickt mit hochgehobenem Kopf
und klugen Augen zu dem Kreuzbilde empor. Es
will ihm ſchier bedünken, das Ding ſei nicht ſo
geradewegs gewachſen auf dem Stein; es hebt
ängſtlich an, hin und her zu lugen, es ſchwant
ihm von jenem ſchrecklichen Weſen, das ſchlank wie
ein Baum auf zwei Beinen einherzieht und den
knallenden Blitzſtrahl ſchleudert nach ihm, dem
armen, harm- und wehrloſen Thiere. Des Ent-
ſetzens voll ſchlägt es ſeine Beine aus und eilt
von dannen.


Ich habe ſchon mehrmals nach der Bedeutung
jenes Kreuzes gefragt. Seit Gedenken ſteht es auf
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 8
[114] dem Stein, kein Menſch kann ſagen, wer es auf-
geſtellt. Der Sage nach ſei es gar nicht aufgeſtellt
worden. Alle tauſend Jahre flöge ein Vögelein in
den Wald und das brächte ein Saamenkorn mit
aus unbekannten Landen. Alle anderen Körner
ſeien bislang verloren gegangen, oder man wiſſe
nicht, ſei die Giftpflanze mit der blauen Beere,
oder der Dornſtrauch mit der weißen Roſe oder
ein anderes Schlimmes oder Gutes daraus ent-
wachſen. Das letzte Korn aber habe jenes Vöglein
auf den Klotz im Felſenthale gelegt, und daraus
ſei das Kreuz entſproſſen. Man gehe zuweilen hin,
um davor zu beten; manchmal habe das Gebet
daſelbſt ſchon Segen gebracht, manchmal aber ſei
auch ein Unglück darauf gekommen. Man wiſſe
alſo auch vom Kreuze nicht, ob es zum Heile oder
zum Unheile ſei. Den Einſpanig ſehe man noch am
öfteſten im Felſenthale und er verrichte ſeine An-
dacht vor dem Bilde; aber man wiſſe auch vom Ein-
ſpanig nicht, ob er Gutes oder Schlimmes bedeute.


Nach mehreren Tagen der Wanderung bin ich
wieder einmal zurückgekehrt in mein Haus an der
Winkel. Mehrmals über das Kreuz im Felſenthale
und den Einſpanig nachdenkend, hab ich im Winkel
von Letzterem ein Weniges erfahren.


Erſtlich, wie ich eintrete in das Haus, wun-
dere ich mich baß, daß meine, ſonſt recht gutmütige
[115] Hauswirthin heute gar aufgebracht iſt. Die Sache
ſoll ſo geweſen ſein: Am Förſterhauſe geht der
Einſpanig vorüber. Die Haushälterin ſchaut juſt
zur Thür hinaus und denkt: ei, wenn ſich nur mit
dieſem ſeltſamen Menſchen einmal ein kleines Plau-
dern anheben ließ, daß Eins doch ein bischen was
von ihm erfahren könnt’. Und kaum er ſo zufällig
ſein Haupt gegen die Thür wendet, lädt ſie ihn
artig ein, an der Bank ein wenig abzuraſten. Er
thut’s, ſie bringt ihm eilig Milch und Brot herbei
und frägt in ihrer Weiſe: „Ihr guter Mann
Gottes, wo kommt ihr denn her?“


„Von dem Felſenthale hernieder,“ iſt die
Antwort.


„Ihr Närrchen!“ ruft das Weib aus, „das
ſoll ja ſo viel eine böſe Gegend ſein. Da
oben im Felſenthal iſt die Welt mit Brettern ver-
ſchlagen.“


Darauf der Einſpanig: „Wo iſt die Welt
mit Brettern verſchlagen? Gar auf keinem Fleck.
Die Berge gehen weit, weit zurück hinter den Hoch-
zahn, dann kommen die Hügelländer, dann kommen
die Ebenen, dann kommt das Waſſer. Viele tau-
ſend Stunden breitet ſich das Waſſer, dann kommt
wieder Land mit Berg und Thal und Hügeln, und
wieder Waſſer, und wieder Land und Waſſer und
Land und Land —“


8*
[116]

Hat ihn die Haushälterin unterbrochen: „Jeſus,
Einſpanig, wie weit denn noch?!“


„Bis heim, bis in unſer Land, in unſeren
Wald, in das Winkel, in das Felſenthal. — Ehr-
ſame Frau, gibt euch Gott Flügel und ihr fliegt
fort gegen Sonnenuntergang, und fort und immer-
fort, der Naſe und der Sonne nach, ſo kommt
ihr eines Tages von Sonnenaufgang her geflogen
gegen euer friedſam Haus.“


Darauf die Hauswirthin: „O du Fabelhans,
fable wen Andern an, ich bin die Winkelhüterin.
Die Milch ſchenk’ ich euch und redlicher alter Leut’
Wort dazu: Es iſt ein Fleck, da iſt die Welt mit
Brettern verſchlagen. So iſt der alte Glauben und
in dem will ich leben und ſterben.“


Der Mann ſoll darauf geſagt haben: „Weib,
eueren alten Glauben hoch in Ehren! aber ich bin
den Weg ſchon gegangen, gegen Niedergang hin,
und von Aufgang her.“


Und dieſes Wort hätte das Weib vollends
erbittert; „du biſt eine Lugentafel!“ ſoll ſie gezet-
tert haben, „auf dich hat der Teufel ſeinen Heimat-
ſchein geſchrieben!“


Und hierauf ſei der Mann kopfſchüttelnd
davongezogen.


Das gute Weib muß ſchon ſchwer auf mich
gewartet haben, um ſich weiters Luft zu machen.
[117] Als ich nach Hauſe komme, ruft ſie mir über den
Gadern (Bretterzaun) her entgegen: „Mein Eid,
mein Eid! was es doch auf der lieben Erden
Gottes für Leute gibt! Jetztund glauben ſie gar
nimmer an’s End der Welt! Ich aber ſag: unſer
Herrgott hat’s recht gemacht, und ich bleib bei
meinem alten Glauben, und die Welt iſt mit
Brettern verſchlagen!“


„Freilich, freilich, Winkelhüterin! gebe ich
bei und ſteige gelaſſen über die Bretter des Haus-
gaderns: „Wol richtig — mit Brettern verſchlagen!“


Und ſo bleiben wir beim alten Glauben!


[118]

Bei den Holzern.


Daß doch der Wald, wie er ſich ſo hinbreitet
über Höhen und Thäler — unabſehbar, wie er
daliegt, grün und dunkel und weiterhin duftig
blauend am ſonnigen Sehkreis — der ſtille, un-
endliche Wald — daß er doch auch ſeine Feinde hat!


Wie iſt das eine ſchöne, ſäuſelnde, rauſchende,
brauſende, alllebendige Ringmauer, ſchützend vor
dem wüſten Unfrieden draußen! Aber — Wald-
fried iſt geſtorben.


Im Forſte brauſt der Sturmwind, ſchlägt
manchem jungen Tannling den luſtig winkenden
Arm weg, bricht manchem trotzigen Recken das
Genick. Und in der Tiefe rauſcht und ſchäumt in
weißen Giſchten und Flocken — wie ein brauender
Wolkenſtrom — der Wildbach, und wühlt und
gräbt und nagt das Erdreich von den Wurzeln,
immer weiter und weiter hinein, daß der wuchtige
Baum zuletzt ſchier in der Luft daſteht, und ſich
oben mit ſtarken Armen nur noch an den Nachbarn
[119] hält, um nicht zuſammenzubrechen, endlich aber doch
niederſtürzt in das Grab, das ihm jenes Waſſer
heimtückiſch gegraben hat. Jenes Waſſer, welches
er durch ſeinen Nebelthau geſtärkt, durch ſeine dich-
ten Kronen vor dem Lechzen des Windes geſchützt,
durch ſeinen Schatten vor dem zehrenden Kuſſe der
Sonne bewahrt hat. — Und auf den luftigen
Wipfeln hackt der Specht, und unter den Rinden
frißt die Borke, und das Sägerad der Zeit geht
allerwege, und die Späne fliegen — im Frühlinge
als Blüten, im Herbſte als gedörrte Nadeln und
Blätter.


Es geht ewig zu Ende und im Ende keimt
ewig der Anfang.


Da naht nun erſt der Menſch mit ſeiner
Zerſtörungswuth. Da ſchallt das Schlagen und
Pochen, da ſurrt die Säge, da klingt das Beil auf
das Stemmeiſen im dunkeln Grunde; — wenn du
oben hinblickeſt über das ſtille Meer der Wipfel,
ſo ahnſt du es nicht, welchen es angeht.


Aber das Stemmeiſen und der Keil dringt
tiefer und tiefer; da ſchüttelt einer der Hundert-
jährigen ſein hohes Haupt, er weiß doch gar nicht,
was die Menſchlein wollen da unten, die kleinen,
poſſierlichen Weſen — er kann nicht begreifen und
ſchüttelt wieder das Haupt. Da geht ihm der Stoß
in’s Herz; — unten kniſtert es, ſchnalzt es, und
[120] nun wankt der Rieſe, knickt ein, rauſchend und
pfeifend in einem ungeheuren Bogen fällt er hin,
mit wildem Krachen ſtürzt er zu Boden. Leer iſt
es in der Luft, eine Lücke hat der Wald. Hundert
Frühlinge haben ihn emporgehoben mit ihrer Liebe
und Milde; jetzt iſt er todt, und die Welt iſt
und bleibt ganz auch ohne ihn — den leben-
digen Baum.


Still ſtehen die zwei, drei Menſchlein, ſie
ſtützen ſich auf den Beilſtiel und blicken auf ihr
Opfer. Sie klagen nicht, ſie jauchzen nicht, eine
grauſame Kaltblütigkeit liegt auf ihren rauhen,
ſonnverbrannten Zügen; ihr Geſicht und ihre Hände
ſehen ja völlig aus, wie von Fichtenrinden. Sie
ſtopfen ſich ein Pfeiflein, ſchärfen die Hacken und
gehen wieder an die Arbeit. Sie hauen die Aeſte
von dem hingeſtreckten Stamme, ſie ſchürfen ihm
mit einem breiten Meſſer die Rinden ab, ſie ſchnei-
den ihn vielleicht gar in klafterlange Stücke; —
und nun liegt der ſtolze Baum, der viele Menſchen-
alter lang gegrünt und geſäuſelt; deſſen Großvater
vielleicht die Vollmondfeſtnächte der alten Germanen
beſchattet — nun liegt er da in nackten Klötzen.


Der Holzhauer denkt nicht daran, kann nicht
daran denken, nur daß er ſich, wenn der „Meiſter-
knecht“ nicht zugegen, ein wenig auf den weißen
Stock mit den Jahresringen ſetzt, und ſich wieder
[121] ein Pfeifchen ſtopft, oder — wie das bei den
Waldleuten ſchon eine abſonderliche Gewohnheit
iſt — ſich gar einen fauſtgroßen Ballen Tabak
in den Mund ſteckt, um einen ganzen halben
Tag an ihm zu kauen. Das Tabakkauen iſt dem
Holzſchläger ein großer Genuß, es iſt ihm, wie
er ſagt, das halbe Eſſen und dreiviertel Arznei.


Die Baumſtämme werden in dieſen Gegenden
zumeiſt zu Kohlen verwandelt und zu dieſem Zwecke
zu Scheitern oder längeren Stücken, den „Drei-
lingen“ (drei hackenſtiellangen Strünken) zerklei-
nert. Die Kohlen werden entweder zu Wagen,
oder wo der Weg zu elend iſt, auf den Rücken der
Pferde und Halbpferde hinausbefördert zu den
Hammerwerken der Vorgegenden. Nur die ſchönſten
Stämme werden als Bauholz verwendet. Die Bu-
chen und Ahorne und andere Laubhölzer, wie ſie
hier wachſen, werden am wenigſten benützt, nur
daß ſie ihr Laub für Streu und Lagerſtätten lie-
fern; ſonſt bleiben ſie ſich ſelbſt überlaſſen, bis ſie
inwendig verfault, ausgehölt, nach und nach
abſterben und zuſammenbrechen. Dann entſtehen
ſchwammartige Auswüchſe auf den vermodernden
Strünken, und es kommt der Pecher oder der
Wurzner, ſchlägt ſich die Auswüchſe los, mörſert
ſie platt, beizt ſie ein und bereitet ſo den Feuer-
ſchwamm.


[122]

Der Holzhauer weiß freilich nichts von der
Schönheit der Wildniß. Dem Holzhauer iſt der
Wald nichts, als ein feindlicher Vorwart, dem er
Brot und Leben abringen muß mit dem blitzenden
Beile. Und wie iſt das ein langes Tagwerk von
der Morgenfrühe bis zur Abenddämmer, eine ein-
zige Ruheſtunde nur zu Mittag. Während der
Waldteufel ſein eigener Herr iſt, ſo iſt der Holz-
hauer der Herren Knecht. — Was die Nahrung
anbelangt, ſo iſt der Holzſchläger ein Geſchöpf,
das ſich von Pflanzen nährt; außer er wäre ein
tüchtiger Wilderer und ließe ſich nicht erwiſchen.
Doch ſchwelgt er in der Einbildung und nennt
ſeine Mehlnocken gerne nach den Thieren des
Waldes. So genießt er zum Frühſtück, zum
Mittagsmahle, zum Abendbrot nichts als Hirſchen,
Füchſe, Spatzen, und wie er ſeine Mehlnudeln
ſchon tauft. — Mich hat ein junger Mann eines
Freitags zu einem „Hirſchen“ eingeladen. Ei, denke
ich, der hält den Faſttag nicht, das iſt ſicher der
Evangeliſchen Einer, die von den Bauernkriegen her
in den Alpen zurückgeblieben ſein ſollen. Aber jene
„Hirſchen“ ſind harmloſe Mehlküchlein geweſen.


Achtzehn Groſchen Arbeitslohn des Tages, das
iſt ſchon eine gute Zeit; mancher Wäldler hat ſich
davon ein Häuschen, Weib und Kind und eine
Ziege angeſchafft. Das iſt dann ein eigener Herd,
[123] da kommt zu dem Mehlgerichte noch eine fette
Ziegenmilchſuppe, und zu der Suppe ein Häuflein
ſchreiender Rangen — da geht’s ſchon hoch her!


Indeß iſt der Aufwand in der Waldhütte
nicht übertrieben. Es wird zum Glücke von braven
Familienvätern nicht viel verlangt.

„Jo, won ma’s holt hot,

Kon ma lebn noch ſein Gſchmock,

Für die Kinder a Brot

Und für mih an Tabok!“


heißt das Lied des Waldhäuslers.


Andere freilich, und wol die Meiſten, erträn-
ken ihr Erworbenes und ihre anſpruchsloſe Zufrie-
denheit im Branntwein. Solche Habenichtſe wohnen
zuſammen zu Dutzenden in einer einzigen Hütte,
kochen ihr Brot an einem gemeinſamen Herd, der
in der Mitte der Klauſe ſteht. An den Wänden
ringsum ſind die Strohlager aufgeſtellt.


In jeder Hütte haben ſie einen „Goggen“
und einen „Thomerl;“ der Gogg iſt ein Holzgeſtell
auf dem Herde, welches die Kochpfannen über dem
Feuer hält — es ſind deren oft ein Halbdutzend
um die Flammen aufgerichtet. Der Thomerl iſt ein
Menſch, der aber auch Hanſl oder Lippl, oder wie
er will, heißen kann, aber gewöhnlich einen groß-
mächtigen Kopf, hohe Achſeln und kurze Füße hat,
der die Hände gerne bis zu den Knieen hinab-
[124] hängen läßt und allweg grinſt und lächelt, ohne
daß er ſelbſt weiß, warum. Er iſt das Stuben-
mädchen, der Küchenjunge, der Holz- und Waſſer-
träger, allfällig der Ziegenhirt, die Zielſcheibe für
ledige Späſſe und — die Hausehre.


Ferner ſind in jeder Holzknechthütte in irgend
einem Winkel, unter irgend einer Diele ſtets ge-
ladene Kugelſtutzen verborgen.


Der Werktagsanzug der Holzſchläger hat kei-
nen ausgeprägten Grundzug; er iſt zum Theile ein
zerfaſertes Lodengewebe, zum Theile ein mattfar-
biges Strickwollenzeug, zum Theile eine hornähn-
liche Lederrinde, alles mehr oder minder mit Harz
überklebt, nothdürftig den inneren Menſchen ver-
deckend. Das Wahrzeichen aber iſt der hohe, gelb-
lich grüne Hut mit dem Federbuſche. Der Feder-
buſch muß wol in Ordnung ſein, daran hängt,
weiß Gott, eine Wilderer- oder Liebesgeſchichte,
oder ein „ſaggeriſch Raufen.“


Aber wenn einmal die Kirchweih kommt! —
die Kirchweih muß es ſein, denn Sonntags gibt’s
hier nicht, fehlt ja doch des Sonntags Herz —
die Kirche.


Zur Kirchweih aber ziehen ſie hinaus zu den
ferneren Orten, und da ſind ſie angethan, dieſe
rauhen Waldmenſchen, mit Frack und „Cilinder;“
— ’s iſt kaum zu glauben. Aber der Frack iſt ja
[125] aus grobem Loden, mit grünem Tuche verbräumt;
ganze Bäumchen aus grünem Tuche geſchnitten
prangen am Rücken über den Schöſſen, und an
den Aermeln, und große Meſſingknöpfe leuchten in
die Ferne, und ein mächtig hoher Stehkragen bildet
die Veſte um den Kopf, auf welchem nun der
ebenfalls aus groben Haaren, aber mit einem brei-
ten grünen Bande und funkelnder Meſſingſchnalle,
breitkrempige, oben weit ausgeſchweifte Cilinder ſitzt.


Bis in die Alpenwildniß herein alſo die
welſche Mode gedrungen!


Zum größten Theile ſind es gutmüthige Men-
ſchen; gereizt aber können ſie unglaublich wild
werden. Da hebt ihr Blut an zu brauſen, wie
giſchtende Alpenbäche, wie ein Sturmwind im Forſt,
und der kleinſte Funken leidenſchaftlicher Erregung
wird zu einem Waldbrande. Die Augen dieſer
Waldmenſchen, ſo tief ſie ſtecken mögen hinter den
buſchigen Brauen, ſind klar und glühend. Deutlich
iſt die Gutherzigkeit darin zu leſen und der Jähzorn.


Aber fromm ſind ſie, ſchier verdächtig fromm.
Jeder hat ſein Weihwaſſerfläſchchen und ſein chriſtlich
Anhängſel an der Bruſt; jeder betet ſeinen Roſen-
kranz, mit Einſchließung „aller armen Seelen im Feg-
feuer, und zur Erlangung von Geld und Gut, ſo nutz-
los vergraben iſt in der Erde.“ Und Jeder hat in
ſeinem Leben zum Mindeſten Ein Geſpenſt geſehen.


[126]

Wie ich dieſe Leute bis jetzt kennen gelernt
habe, iſt ihnen ein blutiger Raufhandel etwas Ge-
wöhnliches, ſchier Selbſtverſtändliches, ein Todt-
ſchlag nichts ſo Seltenes. Hingegen Diebſtähle
kommen nicht vor.


So ſind ſie in den Hochwäldern. Der Holz-
hauer wird geboren unter dem Baume, ſein Vater
gibt ihm faſt eher den Axtſtiel in die Hand, als den
Löffel, und anſtatt nach dem Zulp greift der Kleine
nach der Tabaksblaſe. Wer Tabak nicht zu kaufen
vermag, der macht ſich ihn aus Buchenblättern.


Juſt ſonderliche Anmut iſt ihnen nicht ange-
boren. Die ſtille Freude kennen ſie kaum; ſie fahn-
den nach gellender Luſt. Selbſt der Schmerz greift
nicht recht an. Wenn Einer ſich mit dem ſcharfen
Beil in das Bein fährt, ſo ſagt er, es thät ein
bischen „kitzeln.“ In wenigen Tagen iſt Alles
wieder heil. Haut ſich Einer unverſehens einen
Finger weg, ſo iſt das unſelig, des — Tabak-
feuerſchlagens wegen.


Tannenharz und Pechöl, und ein alter Bein-
brucharzt und Zahnbrecher iſt in dieſer waldſchatti-
gen Welt die ganze mediziniſche Facultät.


Heimweh iſt ihr größtes Seelenleid, wenn ſie
hinauskommen. Heimweh die Heimatloſen? — Das
Leid heißt vielmehr Sehnſucht nach den Waldber-
gen, in welchen ſie einmal den Jahreslauf durchlebt.


[127]

Der ſchwarze Mathes.


Im Hinterwinkel ſteht die unheimliche Hütte.
Ich bin vor Kurzem in ihr geweſen und hab den
Raufbold Mathes, den Menſchen mit der herben
Schale geſehen. Es iſt ein gar kleines, hageres
Männchen, liegt hingeſtreckt auf einem Mooslager
und hat Arm und Kopf in Fetzen gewunden. Er
iſt arg verletzt.


Die Fenſter der Klauſe ſind mit Lappen ver-
deckt; der Mann kann das Licht nicht vertragen.
Sein Weib, jung und anmuthig, aber abgehärmt
zum Erbarmen, kniet neben ihm und netzt ihm mit
Holzapfeleſſig die Stirne. Sein Auge ſtarrt ſie faſt
leblos an, aber ſein Mund mit den ſchneeweißen
Zähnen iſt, als wolle er lächeln. Der Mann riecht
ſtark nach Pechöl.


Als ich eintrete, hockt ein blaſſer, ſchwarz-
lockiger Knabe und ein helläugiges Mädchen zu
ſeinen Füßen und dieſe Kinder ſpielen mit Moos-
flocken.


[128]

„Das wird ein Gärtelein,“ ſagt das Mäd-
chen, „und da baue ich weiße Roſen an!“


Der Knabe bildet aus dem Mooſe ein Kreuz
und ruft: „Vater, jetzt weiß ich es: ich mache den
Holdenſchlager Freithof!“


Die Mutter erſchrickt und verweiſt den Klei-
nen das gellende Geſchrei; der Mathes aber ſagt:
„Je, ſchreien magſt ſie ſchon laſſen; den Freithof
wird auch noch Einer brauchen. Aber, Eines, Weib,
laß dem Lazarus ſeinen Jähzorn nicht gelten. Um
des Herrgotts Willen, nur das nicht! Du ſchweigſt?
Du willſt mein Wort nicht halten? Meinſt etwan,
du verſtündeſt es beſſer, als ich?! Du! ich ſag’
dir’s, Weib! —“


Die Lappen reißt er von den Armen und
will ſich aufrichten. Das Weib ſagt ihm liebreiche
Worte und ſchiebt ihn ſanft zurück. Mehr noch
aber ſchiebt die Schwäche und er ſinkt auf das
Lager.


Die Kinder ſind aus der Hütte gewieſen
worden, und auf dem ſonnigen Wieſenplane bin
ich eine Weile bei ihnen geweſen und habe mich mit
ihnen unter Spielen und Märchenerzählen ergötzt.


Ein par Tage ſpäter komme ich wieder hinauf.
Da geht es dem Kranken ein gut Theil ſchlechter.
Er kann ſich nicht mehr aufrichten, wenn die Wuth
kommt.


[129]

„So viel geſchlagen iſt er worden,“ hat mir
das betrübte Weib mitgetheilt.


Ich bin anfangs durch die Kinder eingeführt
worden und genieße im Hauſe des Mathes einiges
Vertrauen. Ich gehe öfters hinauf; ich will all-
zumal auch das Elend im Walde kennen lernen.


Einmal, als der Mathes in einem tiefen,
ruhigen Schlummer liegt, und ich neben dem Lager
ſitze, athmet das Weib ſchwer auf, als trüge ſie
eine Laſt. Dann ſagt ſie die Worte: „Ich ge-
trau’ mir’s wol zu ſagen, auf der Welt gibt es
keine beſſere Seel’, als der Mathes iſt. Aber wenn
ein Menſch einmal ſo gepeinigt worden von den
Leuten, und ſo niedergedrückt und ſo ſchwarz ge-
macht, wie er, ſo müßt’ er kein friſch’ Tröpfel
Blut im Leib haben, wollt’ er nicht wild werden.“


Und ein wenig ſpäter fährt ſie fort: „Ich
wüßt’ zu reden, ich hab’ ihn von Kindeszeit auf
gekannt.“


„So redet,“ habe ich entgegnet, „in mir habt
ihr einen Menſchen vor euch, der Herzenskummer
niemalen böſe deuten mag.“


„Luſtig iſt er geweſen, wie ein Vöglein in
den Lüften; hell zuckt hat Alles an ihm vor lauter
Freud’ und Lebendigkeit. Und er hat’s damalen
noch gar nicht gewußt, daß er zwei großmächtige
Meierhöf’ erben ſollt’; hätt’s wahrhaftig auch nicht
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 9
[130] geachtet; am liebſten iſt ihm die Erden Gottes
geweſen, wie ſie daliegt im hellen Sonnenſchein. —
Wartet nur, ’s iſt nicht allerweg’ ſo fortgegangen.“


Und nach einer weiteren Weile fährt das
Weib fort: „In ſeinem zwanzigſten Jahr herum
mag’s geweſen ſein, da iſt er einmal mit einer
Kornfuhr in die Kreisſtadt gefahren. Das Fuhr-
werk hat ein Ueberreiter zurückgebracht; der Mathes
iſt nicht mehr heimgekommen.“


„Oho! heimgekommen ſchon!“ unterbricht ſie
der Kranke, und will ſich heben. — „Es iſt nichts
Unrechtes, daß du erzählſt, Weib, aber wiſſen wirſt
es nicht recht, biſt ja nicht dabei geweſen, Adel-
heid, wie ſie mich erwiſcht haben. Ich erzähl’s
ſelber. Wie ich in der Stadt mein Geſchäft fertig
hab’, geh’ ich in’s Wirthshaus, daß ich mir ein
klein wenig die Zunge netz’. Auf dem Kornmarkt,
müßt’ ihr denken, wird das Red’werk trocken, bis
der letzte Sack vom Wagen geſchwätzt iſt. — Wie
ich in die Wirthsſtuben tret’, ſitzen ihrer drei, vier
Herren bei einem Tiſch, laden mich ein, daß ich
mich zu ihnen ſetz’, und mit ihnen Wein trink’. —
Freundlich ſind die Herren geweſen, eingeſchenkt
haben ſie mir.“


Der Mann unterbricht ſich, um Athem zu
ſchöpfen; ſein Weib bittet ihn, daß er ſich ſchone.
Der Kranke hört es nicht und fährt fort: „Von
[131] den Welſchen haben ſie erzählt, die in Ewigkeit
keine Ruh’ geben wollen, und von den Kriegs-
zeiten und dem luſtigen Soldatenleben; und gleich
darauf fragen ſie wieder, wie das Korn gerathen,
was das Schäffel koſte. Ich bin luſtig worden, hab’
meine Freud’ gehabt, daß ſich mit den weltfremden
Leuten ſo ſchön über allerhand ſchwätzen läßt. Da
hebt Einer das Glas: Unſer König ſoll leben! —
Wir ſtoßen an, daß ſchier die Gläſer ſpringen; ich
ſchrei dreimal lauter, als die Andern: Der König
ſoll leben!“ — Der Kranke bricht ab, es zittern
ihm die Lippen. Nach einer Weile murmelt er
dumpf: „Mit dieſem Ruf iſt mein Unglück ange-
gangen. — Wie ich wieder fort will, ſpringen ſie
auf, halten mich feſt: Oho, Burſch, du biſt unſer!
— Unter die Werber bin ich gerathen. Fortgeführt
haben ſie den jungen, noch gar nicht ausgewach-
ſenen Menſchen; — unter die Soldaten haben ſie
mich geſteckt und verkauft bin ich geweſen.“


Mit den knochigen Fingern zerballt der Mathes
eine Moosflocke.


„Gräm’ dich nicht, Weib,“ ſtößt er hervor,
„bin ſchon beſſer. Mit meinen letzten Worten
will ich das Gezücht’ noch niederſchlagen. Das
kann ich wol ſagen: auf weitem breitem Feld
bin ich nicht ſo wild geweſen, wie auf dem Todten-
bette hier. — Heim hätt’ ich mögen, heim hat’s
9*
[132] mich zogen mit ſchweren guldenen Ketten. Und
einmal, mitten in der ſtürmiſchen Winternacht bin
ich fort und heimzu geflohen. Im Rainhäuſel hab’
ich mich aufgehalten bei meiner alten Baſe. Und
jetzt haben mich meine eigenen Landsleute ver-
rathen. Auf einmal ſind die Ueberreiter da, daß
ſie mich fangen. Juſt, daß ich noch aus dem Häu-
ſel und in den Wald hinaufhuſch’ und denk’,
wenn ſie mich überliſtet haben, ſo überliſt ich ſie
wieder. Zwei große Fanghunde haben umher-
geſchnuppert, aber ich bin durch den Bach gelaufen
und in demſelben eine gute Läng’ hinan, daß die
Aeſer meine Spur haben verloren. Und die Ueber-
reiter im Häuſel haben Alles durchſtöbert; in’s
Bettſtroh und in’s Heu haben ſie geſtochen mit
ihren Meſſern, die Höllteufel, und die ganze Hütte
hätten ſie ſchier umgeſtürzt. Wie ſie mich aber nicht
haben gefunden, hat Einer ſein Brennſcheit meiner
alten Baſe auf die Bruſt geſetzt: Auf der Stell’
ſag’, wo er iſt, oder ich ſchieß dich nieder wie
einen Hund! — Ja, da iſt er geweſen, und wo
er jetzt iſt, das kann ich nicht ſagen. — Vor die
Thür hinaus haben ſie drauf das Weibel geſchleppt,
drei Gewehrläuf’ ſind auf ihrer Bruſt gerichtet und
insgeheim haben ſie ihr zugemunkelt: Aber gleich
ſchrei, ſo laut du kannſt: Geh nur her, Hieſel, die
Ueberreiter ſind lang’ ſchon wieder davon! Willſt
[133] es nicht thun, wirſt morgen begraben. — Von all
dem hab’ ich im ſelbigen Augenblick nichts gewußt,
wie ich ſo im Dickicht verſteckt bin. Hab’ aber lang
gelauert und gemeint, ’s wär hell erlogen, daß ſie
mich fangen. Da hör’ ich die Baſe rufen: Geh
her, Hieſel, die Ueberreiter ſind lang ſchon davon!
— Ich ſpring’ auf und der Hütte zu, da ſeh’ ich
ſchon das Weibel die Händ’ über den Kopf zu-
ſammenſchlagen, da hör’ ich ſchon das Lachen und
ich ſteh mitten drinn unter den Ueberreitern. Herr-
gotts Kreuz! da bin ich wol nach meinem Taſchen-
veitel gefahren! hat mir aber Einer den Kolben
an den Arm gehaut, daß ich die Hand — die link’
Hand da — heutigen Tags noch nicht recht mag
lenken. Viel geſcheidter und ſtärker ſind ſie geweſen,
als wie der arme, ausgehungerte Teufel, der
Mathes. — Und ein par Tag drauf gehts über
mich los. — Herr, wenn jeder Spießruthenſtreich
ein Blitzſchlag auf mich wär geweſen, und ich doch
nicht hätt’ verſterben können, mir lieber zu tauſend-
mal als ſo, da mich ein Menſch geſchlagen und be-
handelt hat, wie ein leibeigen Thier. — Die zwei-
hundert Ruthenſtreiche damalen haben den Teufel
in mich hineingeſchlagen. Zehnfach hab’ ich ſeither
die Streiche zurückgegeben, und gar an meine
Genoſſen im Wald, wenn mich das Blut an-
hebt zu jucken. Aber vermeint iſt’s wem Andern
[134] geweſen, vermeint iſt’s den Spießruthenleuten ge-
weſen. Damalen hätt’ ich das einzigmal der Herr-
gott ſein mögen, bei meiner Seel! — in tauſend
Millionen Scherben hätt’ ich ihn zerſchlagen, den
verfluchten Erdboden! — Mein zerfetzter Rücken iſt
mit Eſſig und Salz eingewürzt worden, der Hei-
lung wegen. Oh, es hat Eil’ gehabt. Der Welſche
iſt in’s Land gefahren, wie der böſ’ Feind. Da
bin ich freilich auch in die Hitz’ gekommen und
hab’ drein gefeuert, wie der Hölliſche ſelber. Ein’
einzige Pulverladung hab’ ich noch gehabt, wie der
Feind iſt zurückgeworfen; für dieſelbig’ Kugel hätt’
ich noch wen Andern gewußt; bei uns herüben auf
hohem Roß wär’ der Rechte geſeſſen. Aber das
nicht, das nicht! hab’ ich mir gedacht, Aug’ in
Aug’ ihn mit den Händen herabreißen vom Schim-
mel und mit den Füßen in den Erdboden hinein-
vertreten, das wol; aber vom Hinterhalt aus, nein,
nein, das iſt kein Zeug! — Das Geſcheidteſte hab’
ich doch noch gemacht, durchgegangen bin ich weg
vom Schlachtfeld, und einem Bauern hab’ ich mei-
nen Mantel gegeben, daß er mich in ſeinem Heu-
wagen über Land hat geführt. Glücklich bin ich in
die Heimat zurückgekommen.“


„Und wenn ihr euere Heimat ſo geliebt, warum
habt ihr nicht für ſie ſtreiten wollen?“ unterbreche
ich ihn, „warum ſeid ihr davongegangen?“


[135]

„Mag ſein, daß es eine Schurkerei geweſen,“
ſagt der Mathes, „mag ſein.“


„Mag das ſein, wie es will,“ iſt meine
Antwort, „ich kenne einen Mann, der hat nicht
nur nicht für ſein Land geſtritten, ſondern gegen
dasſelbe.“


„Ich bin in meiner Heimat nicht verblieben,“
fährt der Mathes fort, „mein Eigenthum hab’ ich
im Stich gelaſſen, und hab’ mich, daß ſie mich
nimmermehr finden, in dieſe hinterſte Wildniß ver-
krochen. — Gehetzt, gehetzt, Herr Jeſus! und in
der Wildniß bin ich erſt das wilde Thier geworden.
Mein Weib, du weißt es.“


Ein gellender Aufſchrei war es geweſen; aber
die Worte ſind wie im Entſchlummern gelallt. Er
ſchweigt und ſchließt die Augen. Wie ein letztes
Auflodern der Flamme und ein Verlöſchen.


„Für einen Haſcher haben ihn die Leut’ ge-
halten, da er iſt zurückgekommen,“ ſetzt das Weib
fort, „Groſchen und Pfennige haben ſie zuſammen-
geworfen in einen Hut und ihm denſelbigen Hut
wollen ſchenken. Dafür hätt’ der Mathes bald ein
par todtgeſchlagen; er will nichts geſchenkt haben.
Wie ihn darauf die Leut’ zu Dutzenden verfolgt,
iſt er auf einen Lärchbaum geklettert, hat ſich von
einem Wipfel auf den andern geſchwungen, wie
eine Waldkatz; und da haben die Leut’ geſehen,
[136] daß er doch kein Haſcher. Aber das Hieſelein haben
ſie ihn ſpottweiſe geheißen. — Nachher — ja frei-
lich wol — hat er ſich ein Mädel ausgeſucht —“


„Das allerſchönſte im Wald!“ unterbricht ſie
der Kranke wieder, „und ein ſolcher Hoffahrtsteufel
iſt in ihm geweſen, daß er — der Halbkrüppel —
demſelbigen Mädchen die Treu’ nur verſprochen, im
Fall er kein Schöneres mehr ſollt’ finden. Heiliges
Kreuz, was iſt da nicht gerauft worden! Andere
haben das Mädel auch haben wollen. Den Vor-
nehmſten und Sauberſten hab’ ich die Adelheid an
der Naſe vorbei heimgeführt, und eine Bravere
hätt’ ich nimmer finden mögen.“


Wieder ſchweigt er und überläßt ſich dem
Halbſchlummer.


„Fürchterliche Schläg’ hat er oftmalen be-
kommen,“ ſagt das Weib, „aber auf den Füßen
iſt er geblieben, und da hat ihn Einer herum-
ſchleudern mögen, wie der Will’. Und weil er nie
gefallen und nimmer auf dem Boden iſt gelegen,
ſo haben ſie ihn das Stehmandel geheißen. —
Rechtſchaffen gut haben wir allbeid’ zuſammen ge-
lebt,“ fährt ſie leiſer fort, „aber ſeine Wildheit
hat er nicht laſſen mögen. Zu jedem Samſtagabend
hat er ſein Meſſer geſchärft für das Erlholz-
ſchneiden; aber oftmalen hab’ ich gebeten: lieber
Mann, um Chriſtiwillen, laſſ’ das Meſſerſchärfen
[137] ſein! — Am Sonntag iſt er zum Kranabethannes
gegangen; zu ſpäter Mitternacht iſt er mir heim-
gekommen mit blutigem Kopf. Allerweg hat’s mir
geſchwant, einmal werden ſie ihn bringen auf der
Tragbahr. — Und ſonſt, wenn er ruhig und nüch-
tern geweſen, da hat’s gar keinen beſſeren, fleißi-
geren und hilfreicheren Menſchen gegeben im gan-
zen Waldland, als den Mathes. Da hat er luſtig
ſein und wie ein Kind lachen und weinen können.
Freilich iſt ihm, weil er Soldatenflüchtling, ſein
Heimatsgut draußen im Land verfallen geweſen;
aber mit bluteigenen Händen hat er die Kinder
ernährt, und gar für andere Leut’, die ſich nichts
mehr erwerben mögen, hat’s noch gelangt. Die
Kranken hat er beſucht und ſie getröſtet, ſchier wie
ein Pfarrer. Wegen ſeiner Redlichkeit und Verläß-
lichkeit haben ſie ihn im Holzſchlag zum Meiſter-
knecht gemacht. Und dennoch hat zum Sonntag der
Wirth die Händ’ über den Kopf zuſammengeſchla-
gen, iſt das Hieſelein gekommen, das ſie nun ſchon
allfort das ſchwarze Hieſelein geheißen haben. Iſt
es auch ganz heiter und voll Gemüthlichkeit zur
Thür hereingeſtolpert, ſo iſt doch darauf zu ſchwö-
ren geweſen, daß es ohne ein fürchterlich’ Raufen
nicht abgeht. Er hat’s nicht laſſen mögen. Im
Branntwein hat er ſein Elend erſäufen wollen;
aber der Branntwein hat die zweihundert Ruthen-
[138] ſtreiche wieder lebendig gemacht. Händel hat er ge-
ſtiftet, bis das helle Blut iſt geronnen. Nieder-
geſchlagen haben ſie ihn und geſchrieen: So, Hieſe-
lein, jetztund ſtifteſt leicht keinen Unfried mehr! —
aber das Hieſelein iſt aufgeſtanden. Dasſelb’ iſt
aber wahr, nüchtern geworden, hat er Jedem Alles
wieder abgebeten. — Zuletzt aber, du meine heilige
Mutter Gottes, da iſt das Abbitten nicht mehr
angegangen. — Die Holzſchläger ſind All’ zum
Kranabethannes gekommen, daß ſie dem Raufer,
gleichwol er ihr Meiſterknecht, im Wirthshaus den
Herrn einmal zeigen. Erſtlich, wie ſie ſehen, daß er
Branntwein trinkt, ein Glas um’s andere, haben
ſie angefangen, ihn zu necken und zu höhnen, bis
er wild wird und dreinfährt. Sie ſind All’ über
ihn her, haben ihn niedergeworfen, haben ihm
Haar und Bart gerauft. Und zur ſelbigen Stund’
hat ihn der Schutzengel verlaſſen; eine Hand frei,
fährt er nach dem Meſſer, ſtößt es dem Köhler
Baſtian in die Bruſt. — Jetzt haben ſie den
Mathes geſchlagen, daß er liegen geblieben auf der
Erden. Zwei Wurzner haben ihn heimgetragen.
Leicht bin ich morgen Witwe, und die armen
Kinder —“


Das Weib bricht in Schluchzen aus. Da
richtet ſich der Mathes noch einmal auf: „Mit
euch hat’s der Herrgott recht gemacht. Etwan hätt’
[139] ich euch doch noch erſchlagen im Jähzorn. — Das
aber ſag’ ich, daß ich ſo nicht verſterben mag.
Aufſteh’ ich und geh’ zum Gericht, und klag’ An-
dere an, daß ich den Baſtian hab’ erſtochen. Von
den hinterliſtigen Werbern an, die mich aus mei-
nem Jugendfrieden in die blutige Welt geliefert
haben, wo ich geſchändet worden mit Peitſchen-
hieben und verhetzt wie ein Hund, und abgerichtet
zum Menſchenmorden — — bis auf den Köhler
Baſtian, der mir mit Hohn und Spott ſelber noch
das Meſſer aus der Scheiden hat gelockt — —
Alle ruf’ ich vor den Richterſtuhl, Alle müſſen
dabei ſein, wenn mir der Freimann den Hals
bricht.“


Das Weib kreiſcht auf; der Mann ſinkt
röchelnd auf das Moos zurück.


Da hüpfen und jauchzen die Kinder zur Thür
herein. Sie zerren ein weißes Kaninchen bei den
Ohren mit ſich, laſſen es in der Stube frei, und
der Knabe verfolgt es. Das bedrängte Thierchen
hüpft zum Mooslager und dem Kranken über die
Beine. Im Winkel bleibt es ſitzen und ſchnuppert
und ſieht mit ſeinen großen Augen angſtvoll her-
vor. Der Knabe ſchleicht ihm bei, und erwiſcht es
bei den Beinchen. Da winſelt das Thier kläglich
und beißt den Verfolger in den Finger. — „Wart
du! wart du, Rabenvieh!“ wüthet der Knabe und
[140] wird glühroth im Geſicht, und ſeine Augen gehen
über und ſeine Lippen preſſen ſich, und ſeine Fin-
ger graben ſich krampfig in den Hals des Thier-
chens — und ehe noch Mutter und Schweſter da-
zwiſchen kommen — iſt das Kaninchen todt.


Der Mathes ſchlägt ſich die Hände in das
Geſicht und ruft, daß es mir das Herz erſchüttert:
„O, fürchterlich! Jetzt lebt der Zornteufel auch in
meinen Kindern fort, das muß ich noch erfahren!“


Wenige Minuten hernach bricht der Mann in
eine ſchreckliche Tobſucht aus. Noch an demſelben
Abend iſt er geſtorben.


Den ſchwarzen Mathes haben ſie im Walde
eingeſcharrt, weil er den Baſtian erſtochen. Das
Weib hat unſäglich geweint auf dem Hügel, und
als ſie endlich von dannen geführt iſt worden, da
iſt der Einſpanig gekommen und hat ein Tannen-
bäumchen gepflanzt auf das verlaſſene Grab.


[141]

Am Tage der Geburt Mariens 1814.


Und ſo bin ich in den Winkelwäldern herum-
gegangen. Ich bin im Hinterwinkel geweſen und
in den Mieſenbachſchluchten, und in den Karwäl-
dern und in den Lautergräben und in der Wolfs-
grube und im Felſenthale und auf den Triften der
Almen, und drüben in der Senke, wo der ſchöne
See liegt. Ich habe dieſe wunderſame Alpengegend
kennen gelernt, und zum großen Theile auch die
Menſchen, die in derſelben wohnen. Ich habe mich
bei den Alten eingeführt und mit den Jungen be-
kannt gemacht. Es koſtet Mühe und es gibt Miß-
verſtändniſſe. Die beſten dieſer Leute ſind nicht ſo
gut, und die ſchlechteſten nicht ſo ſchlecht, als ich
mir vor Zeiten gedacht habe. Ein par Ausnahmen
aber gibt es doch.


Ich muß ſogar ein wenig unredlich ſein; ſie
dürfen es nicht wiſſen, weshalb ich da bin. Viele
halten mich für einen Flüchtling, und ſind mir
deshalb gewogen. Ein Menſch, den dieſe Wäldler
[142] gern haben mögen, muß von der Welt verachtet
und verlaſſen und verbannt ſein, muß ſchier ſo
wild und glück- und ſorglos ſein, wie ſie ſelbſt.
Ich habe mich denn auch um eine Arbeit umſehen
müſſen. Ich flechte Körbe aus Riſpenſtroh und
Weiden, ich ſammle und bereite Zunder, ich ſchnitze
aus Buchenholz Spielſachen für Kinder. Ich habe
mich ſchon ſo ſehr in dem Zutrauen der Leute be-
feſtigt, daß ſie mich das Schärfen der Arbeits-
werkzeuge lehren, ſo daß ich den Holzſchlägern die
Beile und Sägen ſcharf zu machen verſtehe. Das
bringt mir manchen Groſchen ein, und ich nehme
ihn an — muß ja angewieſen ſein auf meiner
Hände Arbeit, wie Alle hier. In meiner Stube
ſieht es bunt aus. Und da ſitze ich, wenn draußen
ſchlecht Wetter oder der lange Herbſtabend iſt,
zwiſchen den Weidenbüſcheln und Holzſtücken und
den verſchiedenen Werkzeugen, und ſchaffe. Selten
bin ich allein dabei; es plaudert mir meine heitere
Hauswirthin vor, oder es ſitzt ein Pecher oder
Wurzner, oder Kohlenbrenner neben mir, und
ſchmaucht ſein Pfeifchen und ſieht mir ſchmunzelnd
zu, wie ich das Alles anfange und zu Ende bringe,
und greift letztlich wol gar ſelber an. Oder es ſind
Kinder um mich, denen ich Märchen erzähle, oder
die mit den Schnittſpänen ſpielen, bis auch das
Spielzeug in meiner Hand fertig iſt. An Sonn-
[143] tagen ſitzt gar der Förſter ſtundenlang bei mir,
und hört meine Erfahrungen und Pläne in Bezug
der Winkelwaldleute. Wir beſprechen Allerlei, und
zuweilen ſchreibe ich einen langen Brief an den
Herrn des Waldes.


Die Holzſchläger, die früher drüben in den
Lautergräben gereutet haben, ziehen ſich immer mehr
gegen das Winkel herüber, und ſchon einige Male
hab’ ich durch den ſtillen Wald das Donnern eines
fallenden Baumes vernommen. Von der Lauter-
kuppe ſchaut ſeit einigen Tagen eine röthliche Tafel
herab, die ſich von Tag zu Tag ausdehnt und in
der Morgenſonne freundlich zwiſchen dem dunkeln
Grüne des Waldes niederleuchtet.


In den Schluchten der Winkel gegen die
Straße hinaus arbeiten Steinbrecher und Teich-
gräber; es wird ein Fahrweg angelegt, daß die
Kohlen und Holzſtämme hinausbefördert werden
können.


Ich gehe gerne zu den Arbeitern herum und
ſehe ihnen zu, und ſpreche mit ihnen, auf daß ich
mir in den Dingen einige Erfahrungen ſammle.


Zuweilen aber ſind die Leute doch ein wenig
mißtrauiſch gegen mich, und begegnen mir mit ihren
Vorurtheilen. Ich trage gerne ein Büchelchen von
Wolfgang Göthe mit mir herum, und wo ſo ein
ſchönes lauſchig Plätzchen iſt, da ſetze ich mich auf
[144] einen Raſen oder auf einen Stein und leſe in dem
Büchelchen. Dabei bin ich ſchon mehrmalen aus
dem Hinterhalte beobachtet worden. Und da ſchleicht
im Walde das Gerücht herum, ich ſei ein Zau-
berer und hätte ein Büchlein mit lauter Zauber-
ſprüchen.


Ich habe nachgedacht, ob mir dieſer ſeltſame
Nimbus für meine Pläne Anfangs nicht einigen
Vortheil brächte. Gewiß wären die Eltern leicht zu
bewegen, ihre Kinder von mir das Leſen lehren zu
laſſen, wenn ich ihnen ſagte: Verſteht Einer nur
erſt die Zauberſprüche in dem Büchlein, ſo kann er
teufelbeſchwören, ſchatzgraben, wettermachen, oder je
nach Bedarf die Wettermacher unſchädlich halten
nach Belieben. Ich denke, daß ſelbſt Erwachſene
und gar Grauköpfe ihre Arbeitswerkzeuge fallen
laſſen und zu mir in die Schule gehen würden. —
Von mir aber wäre es ſchändlich und ich thäte
dadurch nur das Verkehrte erreichen von dem, was
ich will. Nicht, daß die Leute leſen und ſchreiben
lernen iſt die Hauptſache, ſondern, daß ſie von den
ſchädlichen Vorurtheilen befreit werden und ein
reines Herz haben. Freilich könnte ich ihnen ſpäter
Bücher der Sittenlehre unterſchieben und ſagen:
Da drin ſtehen die echten Zauberſprüche; aber die
Getäuſchten hätten kein Vertrauen mehr zu mir,
und das Uebel wäre größer, anſtatt kleiner.


[145]

Nicht auf Umwegen wollen wir ſchleichen;
eine gerade Straße hauen wir durch das Urge-
ſtämme der Wildniß.


Ich habe aus dem Buche den Leuten einige-
male Lieder vorgeleſen; den Mädchen das „Heiden-
röslein“ und den Burſchen das „Chriſtel“ gelehrt.
Gleich haben ſie — ich weiß gar nicht, woher —
eine Weiſe dazu, und jetzt werden die Lieder im
Walde ſchon vielfach geſungen.


Und ſo iſt nun der Herbſt gekommen. Der
Himmel iſt, wenn die Morgennebel in den Thälern
ſich löſen, hell und rein und alle Wolken ſind auf-
geſogen. Die Nadelwälder ſind dunkelbraun, die
Laubhölzer ſind geld oder roth, und auf der Thal-
wieſe grünt es friſch, oder es liegt auf derſelben
das matte Silber des Reifes. In dieſen Wäldern
iſt der Herbſt buntfarbiger und faſt lieblicher, als
der Lenz. Der Frühling iſt ein übermüthiges
Glitzern und Schillern, Singen und Jauchzen aller-
wege; der Nachſommer hingegen iſt, wie ein ſtiller,
feierlicher Sonntag. Da horcht und gehorcht nichts
mehr der Erde; da lauſcht Alles ahnungsvoll dem
Himmel und der Athem Gottes ſäuſelt ſtimmungs-
volle Lieder durch die gold’nen Saiten der milden
Sonne.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 10
[146]

Und hoch oben in der Buchenkrone löſet ſich
ein müdes Blättchen los, ſinkt nieder von Aſt zu
Aſt und tänzelt an unendlich zarten ſchillernden
Spinnenfäden vorüber und hernieder zu mir auf
den kühlen ſchattigen Grund. — Die Menſchen in
der Ferne, mit denen ich vormaleinſt gelebt, was
werden ſie treiben? Das außerordentliche Mädchen
blüht immer — immer — auch im Herbſt; —
im Sachſenland werden die dürren Blätter wehen
über Gräbern . . . .


Einſamkeit kann einſam Leid nicht bannen.
Ich muß mich nach Dingen umſehen, die mich zer-
ſtreuen und erheben und die mich nicht einſeitig
werden laſſen in meiner Umgebung.


Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben;
ich habe mit meinen Augen aus Büchern heraus-
geleſen, wie die Eriken leben und die Heideroſen
und andere; und ich habe mit meinen Augen die-
ſelben Pflanzen betrachtet, ſtunden- und ſtunden-
lang. Und ich habe keine Beziehung gefunden
zwiſchen dem todten Blatt im Buche und dem
lebendigen im Walde. Da ſagt das Buch von der
Genziane, dieſe Pflanze gehöre in die fünfte Klaſſe,
unter dieſer in die erſte Ordnung, komme in den
Alpen vor, ſei blaublüthig, diene zur Medizin. Es
ſpricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stem-
pel- und Fruchtknoten u. ſ. w. Und das iſt der
[147] armen Genziane Tauf- und Familienſchein. O,
wenn ſo eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern
gezeichnete Naturbeſchreibung ſelbſt löſen könnte, ſie
müßte auf der Stelle erfrieren. Das iſt ja froſtiger,
wie der Reif des Herbſtes.


Das wiſſen die Waldleute beſſer. Die Blume
lebt und liebt und redet eine wunderbare Sprache.
— Aber ahnungsvoll zittert die Genziane, naht
ihr ein Menſch; und mehr bangt ſie vor deſſen
leidenſchaftglühendem Hauch, als vor dem todes-
kalten Kuſſe des erſten Schnee’s.


So bin ich der Nichtverſtehende und Unver-
ſtandene. Sinnlos und planlos wirble ich in dem
ungeheueren lebendigen Rade der Schöpfung.


Verſtünde ich mich nur erſt ſelbſt. Kaum nach
dem Fieber der Welt zu Ruhe gekommen und
mich des Waldfriedens freuend, drängt es ſchon
wieder, einen Blick in die Ferne zu thun, ſoweit
des Menſchen Auge kann reichen. — Dort auf der
blauen Waldesſchneide möcht’ ich ſtehen, und weit
hinaus in’s Land zu anderen Menſchen ſehen. Sie
ſind nicht beſſer, wie die Wäldler und wiſſen auch
kaum mehr; jedoch ſie ſtreben und ahnen und
ſuchen dich, o Herr! . . . .


10*
[148]

Auf der Himmelsleiter.


Eines ſchönen Herbſtmorgens habe ich mich
aufgemacht, daß ich den hohen Berg beſteige, deſſen
höchſte Spitze der graue Zahn genannt iſt. — Bei
uns im Winkel herunten iſt doch allzuviel Schatten,
und da oben ſteht man im Lichtrunde der weiten
Welt. Es iſt kein Weg, man muß gerade aus,
durch Geſtrüppe und Geſträuche und Gerölle und
Zirmgefilze.


Nach Stunden bin ich zu der Mieſenbach-
hütte gekommen. Das junge heitere Paar iſt ſchon
davon. Die lebendige Sommerszeit iſt vorbei;
die Hütte ſteht in winterlicher Verlaſſenheit. Die
Fenſter, aus der ſonſt die Aga nach dem Burſchen
geguckt, ſind mit Balken verlehnt; der Brunnen
davor iſt verwahrloſt und ſickert nur mehr, und
das Eiszäpfchen am Ende der Rinne wächſt nieder-
wärts — der Erde zu. Die Glocke einer Herbſt-
zeitloſe wiegt daneben, die läutet der verſterbenden
Quelle zu ihren letzten Zügen.


[149]

Das Gartenbeetlein, das die Sennin im
Sommer ſo ſorgſam gepflegt hat, auf welchem
lieblich und mild die hellen Blüten haben geflammt,
wuchert jetzt wild, halbverdorrt, zernichtet. O, wie
ſehnſuchtsvoll wartet im jungen Frühling unſer
Auge auf die erſten Blumen des Gartens! Mit
all unſeren Mitteln ſtehen wir dem Beete bei in
ſeinem Keimen; wie ſchützen wir es in ſeinem
Grünen und Blühen, mit welch’ ſtolzer Freude be-
wundern wir ſein hochzeitliches Prangen! — Nun
aber beginnt unſere Liebe für den Garten mälig zu
erkühlen, wir reichen ihm nicht mehr unſere Hände.
Allein prangt er weiter und wird eine wuchernde
Wildniß von unſäglicher Schönheit. Aber umſonſt
— des Menſchen Gemüth iſt ſatt geworden, und
der Garten wuchert und verwuchert und verblaßt —
unverſtanden und unbeklagt.


In meinem Gärtlein wachſen brennende
Neſſeln, und Hummeln ſummen darin. Ich ſollt’
wol irgendwen haben, der es beſtellt! . . . . Geht
hinweg, ihr böſen Geſchichten! ein Narr könnt’
Einer werden, wollt’ man d’ran denken . . . .


Ich habe mich auf den Kopf des Waſſer-
troges geſetzt und mein Frühſtück verzehrt. Das iſt
ein Stück Brotes aus Roggen- und Hafermehl ge-
weſen, wie es hier allerwärts genoſſen wird. Das
iſt ein Eſſen, wie es — buchſtäblich — den Gaumen
[150] kitzelt; recht grobkörnig und voll Kleienſplitter.
Draußen im Land, wo Weizen wächſt, thät’ ſo ein
Backwerk nicht ſchmecken; hier iſt es ganz der Ge-
genſtand der Bitte: Gib uns heut’ unſer täglich
Brot! — Gibt aber auch Zeiten in dieſer Gegend,
in welchen der Herrgott ſelbſt mit dem Haferbrote
kargt; da kommt gedörrtes Stroh und isländiſch
Moos unter den Mühlſtein.


Mir geſegne Gott das Stück Brot und den
Schluck Waſſer dazu!


Nachher heb’ ich an, weiter zu ſteigen. Zuerſt
bin ich über das Kar hingegangen, aus deſſen
Mulden überall graue, verwaſchene Steine hervor-
quellen. Dazwiſchen ſtehen falbe Federgrasſchöpfe
und Flechtengefilze. Einige zarte, ſchneeweiße Blüm-
lein wiegen ſich auch und blicken ängſtlich um ſich,
als hätten ſie ſich gar ſehr verirrt in die Felſenöde
herauf und möchten gerne wieder zurück. Von dem
einſt ſo ſchönen rothen Meere der Alpenroſen ſtehen
die ſpießigen Struppen des Strauches. Ich ſteige
weiter, umgehe einige Felswände und die Kuppe
des Kleinzahn, dann ſchreite ich einer Kante ent-
lang, die ſich gegen den Hauptgebirgsſtock hin-
zieht. Da habe ich die blendenden Felder der
Gletſcher vor mir, glatt, mildleuchtend wie Elfen-
bein, ſich hinlegend in weiten ſanften Lehnen und
Mulden oder in ſchründigen, vielgeſtaltigen Eis-
[151] hängen von Höhe zu Höhe. Dazwiſchen ragen kahle
Felsthürme auf, und dort in luftiger Ferne über die
lichten Gletſcher erhebt ſich ein dunkelgrauer, ſcharfzacki-
ger Kegel, weit emporragend über die höchſten Gipfel
des Gebirges. Das iſt mein Ziel, der graue Zahn.


Ein ſcharfkalter Luftſtrom hat gerieſelt von
den Gletſchern her und das ganze unmeßbare
Himmelsrund iſt faſt finſterblau geweſen, daß ich über
den grauen Zahn herüber jenen Stern hab erblickt,
den wir zur erſten Morgen- oder Nachtſtunde ſo
wunderſam leuchten ſehen und den ſie die Venus
heißen. Es iſt aber doch die Sonne geſtanden hoch in
dem Gezelt. Die fernen Schneeberge und Felshäupter
ſind ſo klar und niedlich geweſen, daß ich ſchier
vermeint, ſie lägen ein par Büchſenſchußweiten vor
mir und wären aus glitzerndem Zucker geformt.


Gegen Morgen hin fällt die Gegend ab in
den hügeligen Grund des dämmernden Waldes.
Und die ſonſt ſo hochragenden Almweiden liegen
tief wie in einem Abgrunde, und dort und da liegt
das graue Würfelchen einer Almhütte, von dem nur
die eine Fläche, das Dach heraufſchimmert. Von
der Mitternachtsſeite heran gähnen die ſchauerlichen
Tiefen des Geſenkes, in deren Schatten das ſchwarze
glanzloſe Auge des Sees ſtarrt.


Nun bin ich ein par Stunden den beſchwer-
lichen und gefährlichen Weg der Kante entlang
[152] gegangen bis zu den Gletſchern. Hier hab ich meine
Steigeiſen an die Füße gebunden, das Ränzlein
enger geſchnallt und den Bergſtock feſter in die
Hand genommen. Der Bergſtock iſt ein Erbſtück
von dem ſchwarzen Mathes. Es ſind in dieſem
Stocke eine Unzahl kleiner Einſchnitte, die aber nicht
andeuten, wie oft etwan ſein früherer Eigner den
Zahn oder einen andern Berg beſtiegen, ſondern
wie viel Leute er im Raufen mit dieſem Knittel
zu Boden geſchlagen. Ein umheimlicher Geſelle! —
und mir hat er emporhelfen müſſen über die weite,
glatte Schneelehne, hinweg über die wilden Eis-
ſchründe und letztlich hinan den letzten ſteilen Hang
auf die Spitze des Zahn. Hat’s getreulich gethan.
Und wie gerne hätte ich von dieſem hohen Berge
aus dem Mathes nachgerufen in die Ewigkeit:
Freund, das iſt ein guter Stock, wärſt hoch mit
ihm gekommen, hätteſt ihn verſtanden!


Jetzt ſteh’ ich oben.


Wenn ich ſo ein Weſen thät’ ſein, das ſich
an den Sonnenfäden könnt’ emporſpinnen in das
Reich Gottes . . . .


Unter einem Steinvorſprung auf verwittertem
Boden hab ich mich hingeſetzt, hab die Dinge be-
trachtet. Hart um mich ſind die feinen zerbröckeln-
den Zacken der völlig ſenkrecht liegenden Schiefer-
tafeln geweſen. Ueber mir wogt vielleicht ein ſcharfer
[153] Luftſtrom hin; ich höre und fühle ihn nicht; mich
ſchützt der Felsvorſprung, die höchſte Spitze des
Zahn. Auf meine Glieder legt ſich die freundliche
Wärme des Sonnenſternes. Die Ruhe und die
Himmelsnähe thun wohl. Ich ſinne, wie das wäre
in der ewigen Ruh . . . . Und ſelig ſein! — ewig
im Glück, ewig zufrieden und ſchmerzlos leben;
nichts wünſchen, nichts verlangen, nichts fürchten
und hoffen durch alle Zeiten hin . . . . Ob das
nicht doch ein wenig langweilig wird? Ob ich mir
nicht etwan doch einmal Urlaub nehmen möcht’,
daß ich hier unten wieder könnt’ die Welt an-
ſchauen. Mein Gutſein dahier geht leichtlich in eine
Nußſchale hinein. Aber ich meine, wenn ich einmal
oben wär; herunten wollt’ ich wieder ſein. ’s iſt
ein Eigenes um irdiſch Freud’ und Schmerz!


Nur Eines wollt’ ich mir bedenken, ginge ich
auf Urlaub zurück. Ein gutes Engelein müßte mir
ſeine Flügel mitleihen; wie wollt’ ich fliegen über
die weißen Höhen und ſonnigen Gipfel und lufti-
gen Kanten, bis in die Ferne dort, wo die Säge
der Gebirgskette den lichten Himmel durchſchneidet;
und auf jenem letzten weißen Zähnchen wollt’ ich
ruhen und hinblicken in die Weiten des Flachlan-
des und zu den Thürmen der Stadt. Vielleicht
könnte ich den Giebel des Hauſes erblicken, oder gar
das Gefunkel des Fenſters, an dem ſie ſteht . . . .


[154]

Und thät’ ich das Gefunkel desſelbigen Fen-
ſters erblicken, dann wollt’ ich gern umkehren und
zurück in den Himmel.


Ob es wol wahr iſt, daß man von dieſer
Spitze aus das Meer kann ſehen? — Meine Augen
ſind nicht klar, und dort in Mittag zittert das
Graue der Erde mit dem Grauen des Himmels
ineinander. — Den feſten Boden kenne ich; was
Moder iſt, nennen ſie fruchtbare Erde. Könnteſt
du, mein Augenblick, nur ein einzigmal das weite
Meer erreichen! — —


Als endlich die Sonne ſich ſo hat gewendet,
daß der blaue Schatten iſt erſchienen auf meiner
ſteinigen Ruheſtatt, da habe ich mich erhoben und
bin emporgeſtiegen auf den allerhöchſten Punkt. Ich
habe den Rundblick gethan in die ungeheuere
Zackenkrone der Alpen.


Und darnach bin ich niedergeſtiegen an den
Felshängen, den Gletſcherſchründen, den Schneefel-
dern; bin hingegangen auf dem langen Grat, bin
endlich wieder herabgekommen auf die ſanften,
weichen Matten. Da ſind vor mir wieder die
Waldberge geweſen; aus den Thälern iſt die
Dämmerung geſtiegen. Dieſe hat mir faſt wohl-
gethan; vor meinem überreizten Auge hat es noch
lange geflimmert und gefunkelt. Eine Weile habe
ich die Hand davorgehalten. Und als ich meinen
[155] Blick wieder vermocht zu heben, da hat auf den
Höhen das Gold der untergehenden Sonne ge-
leuchtet.


Wie ich zu der Mieſenbachhütte komme, vor
der ich des Morgens eine Weile geſeſſen bin, ver-
anſtaltet der ſchalkhafte Zufall eine Begebenheit.


Ich denke, da ich ſo vorübergehen will, juſt
darüber nach, wie freundlich und heimatlich ein
bewohntes Menſchenhaus dem Wanderer entgegen-
grüßt, hingegen aber, wie ſo eine leere, verlaſſene
Stätte geſpenſterhaft daſteht, ſchier wie ein hoch-
ragender Sarg. Da höre ich von der Hütte her
plötzlich ein Geſtöhne.


Meine Füße, ſonſt recht müde ſchon, ſind auf
einmal federleicht geworden, haben davonlaufen
wollen, aber der Kopf hat ſie nicht fortgelaſſen,
und die Ohren haben angeſtrengt gelauſcht, und die
Augen haben gelugt. Unter einem Winkel des
Dachvorſprunges iſt ein Pfauchen und Schnaufen,
und da ſehe ich gar was recht Sonderbares. Aus
der rohen, braunen Holzwand iſt ein Menſchen-
haupt mit Bruſt, zwei Achſeln und einer Hand
herausgewachſen, und allſammt iſt es lebendig und
zappelt, und von innen höre ich, wie Knie und
Füße poltern.


Aha, denke ich, ein Dieb, der ſich da drin
vielleicht die Taſchen ein wenig zu voll angeſtopft
[156] hat und beim Herauskriechen unſelig ſtecken geblie-
ben iſt. — Es iſt ein junger Kopf mit krauſem
Haar, aufgeſtrichenem Schnurbärtlein, weißem Hemd-
kragen und rothſeidenem Halstuche, wie man das
ſonſt in dieſen Wäldern ſelten findet.


Wie er mich gewahr wird, ſchreit er hell:
„Du heiliges Kreuz, aber das iſt ein Glück, daß
da Einer kommt. Erweiſet mir die Gutthat und
helfet mir ein wenig nach, es braucht nur ein klein
Rukel. Das iſt ſchon ein verflixt Fenſter, das!“


„Ja, Freund,“ ſage ich, „da muß ich dich
früher wol ein wenig ausfragen. Wiſſen thät’ ich’s,
wer dich am leichteſten könnt’ herauskriegen; der
Gevattersmann mit der rothen Pfaid, der thät’ dir
ſchön ſachte das Stricklein an den Hals legen, ein
wenig anziehen — gleich wärſt heraußen in der
freien Luft.“


„Dummheiten,“ entgegnet er, „als ob der
ehrlich Chriſtenmenſch nicht kunnt ſtecken bleiben, iſt
das Loch zu eng. Ich bin der Holzmeiſterſohn von
den Lautergräben und geh’ heut über die Alm in
den Winkelegger Wald hinab. Wie ich da an der
Hütten vorbeigeh’, ſeh’ ich die Thür angelweit
offen, daß ſie der Wind allfort hin- und herſchlägt.
’s iſt nichts drin, denk’ ich bei mir ſelber, gar
nichts drin, was der Müh’ werth wäre, daß ſie’s
forttrügen, aber eine offene Thür in einem ſtock-
[157] leeren Haus mag Eins nicht leiden; über den gan-
zen Winter hindurch der Schnee hereinfliegen, das
iſt keine gute Sach’. Die Sennin muß es eilig
gehabt haben, wie ſie ab in’s Thal getrieben hat
— das iſt ſchon die Rechte, die Alles offen läßt. —
Nu, ich geh’ darauf hinein, mach’ die Thür zu,
und rammle von innen ein par Holzſtücke vor,
ſteig’ nachher auf die Bank, will durch’s Rauch-
fenſter hinaus, und verklemm mich da, das ſchon
des Teufels iſt.“


Ich hab dem Burſchen aber noch nicht getraut
und guck’ ihm eine Weile zu, wie er zappelt.


„Und ſtecken bleiben, meinſt, wollteſt nicht da
unter dem Dach, bis morgen ein par Leut’ kommen
und dich kennen thäten?“


Da knirſcht er mit ſeinen Zähnen, und macht
die heftigſten Anſtrengungen, aus ſeiner böſen Lage
zu entkommen.


„Muß morgen in aller Früh zu Holdenſchlag
ſein,“ murmelt er.


„Was willſt denn zu Holdenſchlag?“ ſage ich.


„Nu mein Gott, weil eine Hochzeit iſt!“
brummt er ſchon recht unwirſch.


„Und mußt leicht wol dabei ſein?“


Er will nicht mehr antworten. „Jeſſas und
Anna, weil ich dazu gehör’!“ ſtößt er endlich
heraus.


[158]

„Nachher freilich, nachher müſſen wir ſchon
trachten, daß wir dich loskriegen,“ ſage ich, klettere
an der Wand ein wenig empor, und heb’ an dem
Burſchen zu zerren an, bis wir die zweite Hand
heraus haben; dann geht’s ſchon leichter. Nicht
lange darauf, ſo ſteht er am Boden, ſucht ſeinen
davongerollten Spitzhut auf, ſchlingt ſich die ſteif-
gewordenen Arme und Beine ein, blickt mit hoch-
rothem Geſicht nochmals empor zu dem Rauchfenſter-
lein und ruft: „Du Höllſaggra, da hat’s mich der-
wiſcht gehabt!“


Dann ſind wir in der Dämmerung zuſammen
hinabgeſtiegen gegen den Winkelegger Wald. Der
Burſche hat nicht recht mit mir reden wollen. Ich
habe verſucht, meine Bosheit gut zu machen, habe ihn
verſichert, daß ich’s ja gleich erkannt, er ſei kein Dieb.


„Und morgen wirſt alſo zu Holdenſchlag bei
der Hochzeit ſein! Biſt zuletzt gar der Braut-
führer, he?“


„Der Brautführer, nein, dasſelb’ bin ich nicht.“


„Leicht hätten ſie’s zu Holdenſchlag auch allein
gemacht, wärſt da oben ſtecken geblieben.“


Er zieht den Hut über die Augen, und blickt
auf die ſchlüpferigen Baumwurzeln, über die wir
nun hinabſteigen.


„Allein,“ meint er endlich, „nein, dasſelb’
glaub’ ich nicht. Wiſſet, die Sach’ geht halt ſo zu,
[159] allein machen ſie es ſchon deswegen nicht, weil —
weil’s völlig ſo ausſchaut, wie wenn ich der Bräu-
tigam wär’.“


Dieſes Wort gehört, bin ich ſtillgeſtanden, hab
den Burſchen eine Weile angeſtarrt und gedacht,
wie das böſe wäre, wenn unten die Braut und
die ganze Hochzeit harren und harren thäten, und
der Bräutigam ſteckt oben im Rauchfenſter der
Sennhütte.


Der junge Mann hat mich hierauf höflich zu
ſeinem Ehrentag eingeladen. Er hat mich getreulich
geführt; wir ſind hinabgeſtiegen durch den finſteren
Wald, bis zum engen Thale des Winkelegg.


Ein Berg von ausgeſchälten Holzblöcken liegt
da; das iſt der Winkelegger Wald, der auf einer
langen Rieſe Stamm an Stamm herangerutſcht
gekommen iſt. Neben dem Holzhaufen ſtehen die
drei ſchwarzen, großmächtigen Betten der Meiler,
über denen langſam und ſtill milchweißer Rauch
emporqualmt zu den Kronen der Schirmtannen
und zum nächtlichen Herbſthimmel.


Der Holzmeiſterſohn von den Lautergräben
hat mich genöthigt, mit ihm in die Klauſe zu
treten, die unter den Schirmtannen ſteht. In der
Klauſe ſind drei Menſchen, zwei Hühner, eine
Katze und die Herdflamme. Sonſt habe ich kein
lebendiges Weſen geſehen.


[160]

Ein junges Weib ſteht am Herd und legt
Lärchengeäſte kreuzweiſe über das Feuer. Mein Be-
gleiter ſagt mir, dieſes junge Weib ſei ſeine Braut.


Hinter dem breiten Kachelofen, der ſchier bis
zu der rußigen Decke der Stube emporgeht, und
der mich, den fremden Eindringling, mit ſehr gro-
ßen, grünen Augen anglotzt, ſitzt ein Mütterlein
und zieht mit unſicheren Fingern die Bundriemen
durch ein neues par Schuhe, wobei es ſich allfort
die Augen wiſcht, die ſchon recht abgeſtanden ſein
mögen, wie ein altes Fenſterglas, das viele Jahre
lang im Rauche der Köhlerhütte geſtanden. Mein
Begleiter ſagt mir, dieſes Weiblein ſei die Mutter
ſeiner Braut, welche von den Leuten allerwege die
Rußkathl geheißen wird.


Weiter hin, im düſterſten Winkel, ſehe ich
eine derbe, männliche Geſtalt mit entblößtem Ober-
körper, die ſich aus einem mächtigen Holzbecken mit
ſolcher Gewalt wäſcht und abreibt, daß ſie ſchnauft
und pfaucht wie ein Laſtthier.


„Das iſt meiner Braut der Bruder,“ erklärt
mir mein Begleiter, „er iſt der Köhler dahier und
ſie heißen ihn den Ruß-Bartelmei.“


Dann tritt der Holzmeiſterſohn zu ſeiner Braut
und ſagt ihr, daß er da ſei und daß er an mir
jenen Menſchen mitgebracht habe, der allweg in
den Wäldern herumgehe und eine hohe Gelehrſamkeit
[161] habe und der ihnen zum Hochzeitstag die Ehre
erweiſen werde.


Das junge Weib wendet ſich ein wenig gegen
mich und ſagt: „Schauet, daß ihr wo niederſitzen
mögt, ’s geht halt ſo viel zeriſſen zu, bei uns;
wir haben nicht einmal einen ordentlichen Sitzſtuhl.“


Hierauf ſpricht der junge Mann eine Weile
leiſe mit ſeiner Braut. Ich halte, er hat ihr die
Geſchichte von der Sennhütte erzählt, weil ſie auf
einmal ausgerufen: „Aber na, du biſt aber doch
ein rechter Närriſch! Mußt denn überall hinein-
gucken, oder biſt es von eher ſo gewohnt worden,
da oben bei der Sennhütten?“


Der Burſche wendet ſich zu ſeiner Schwieger-
mutter: „Gebt her die Schuh’, ihr laßt ja doch
die Löcher zur Hälfte aus; für ſo feine Arbeit mögt
ihr nimmer lugen.“


„Ja, du Paul, dasſelb’ iſt wol wahr auch,“
keifelt die Alte gemüthlich aus ihrem zahnloſen
Munde, „aber hörſt, Paul, meine Ahndl hat mei-
ner Mutter die Brautſchuh eingeriemt, meine Mutter
hat’s mir gethan; und ich, für was wäre ich altes
Krückel denn auf der Welt, wollt’ ich für meine
Annamirl nicht auch einriemen.“


„Leicht kriegt ihr bald andere Arbeit, Mutterle,
beim Heideln (Wiegen) braucht ihr nicht zu lugen,“
verſetzt der Paul ſchalkhaft.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 11
[162]

Da hebt die Annamirl den Finger: „Du!“


Und im dunkeln Winkel iſt das vorige Plät-
ſchern und Pfauchen. Ein Menſch, der einmal ſo
angeſchwärzt iſt, wie der Ruß-Bartelmei, der ver-
mag ſich nicht mehr ſo leicht weiß zu waſchen vor
der Welt und ſollte ſeine Schweſter gar den Holz-
meiſterſohn von den Lautergräben heiraten.


Und mein Holzmeiſterſohn zieht die Riemen
in die Schuhe ſeiner Braut. Die Alte, einmal zu
den erſten Worten veranlaßt, kommt in’s Schwätzen:
„Und vergiß mir’s ja nicht, Annamirl,“ ſagt ſie, mußt
es auch probiren. Einmal wird’s doch anſchlagen.“


„Daß ich den Pathengroſchen ſollt’ anbauen,
Mutterle?“


„Dasſelb’, ja. Und unter einer Zwieſeltann’
mußt du in der Hochzeitsnacht den Groſchen ver-
graben. Das iſt der Geldſamen, und wirſt ſehen,
in drei Tagen wird er blühen, und in drei Mo-
naten kann er gleichwol ſchon zeitig ſein. Die Vor-
fahren haben es auch ſo gemacht, aber allen iſt’s
nicht gelungen. Geweſen iſt’s ſo: Meine Ahndl
hat die Zeit verſäumt, meine Mutter hat die Zwieſel-
tann’ nicht mehr gefunden, und ich hab’ einen un-
rechten Groſchen in die Erden than. Deswegen,
meine Tochter, merk’ dir die Stund’ und die Zwieſel-
tann’, und der Groſchen wird aufgehen, und Geld
genug wirſt haben dein Lebtag lang.“


[163]

Die Annamirl öffnet eine alte Truhe und be-
ginnt in den Kleidungsſtücken und anderen Geräthen
herumzukramen. Ich glaube, ſie hat den Pathen-
groſchen geſucht.


Der Köhler im Winkel aber wäſcht und reibt
ſich. Mehrmals wechſelt er das Waſſer, und immer
wird es ſchier ſchwarz wie Dinte. Endlich aber
bleibt es nur grau, da läßt der Ruß-Bartelmei ab
und trocknet ſich; dann kleidet er ſich an, ſetzt ſich
auf die Thürſchwelle, und aufathmend ſagt er:
„Ja, Leut’, die eine Haut hätt’ ich jetzt herunter
und die andere iſt noch ein wenig oben.“


Dieſelbe aber, die noch ein wenig oben, iſt
ſehr roth geworden, iſt ſtellenweiſe gar noch ein
bischen braun, und es ſoll doch immer noch der
Ruß-Bartelmei ſein, der morgen ſeiner Schweſter
zur Hochzeit geht.


Ich werde eingeladen, daß ich über die Nacht
in der Hütte bleibe und die Braut ſetzt mir gaſt-
lich eine Eierſpeiſe vor, weil ich der „gelehrte
Mann,“ der, käme die Zeit und hätten die Kinder
einen guten Kopf, leicht zu brauchen wäre.


Der Rauch hat die Hühner aus ihrer Abend-
ruh’ aufgetrieben; da kommen ſie nun zu mir auf
das Tiſchchen und machen hohe Krägen über den
Topfrand in meinen Kuchen hinein. Wollen ſie
zuletzt gar ihre Eier wieder zurückhaben?


11*
[164]

Auch die Alte kommt mir immer näher, thut zwei-
mal den Mund auf und unverrichteter Sache wieder
zu, und murmelt dann in ihr blaues Halstuch hinein:
„Ich red’s doch nicht — ’s wird geſcheidter ſein.“


Ich bin ihrer Furchtſamkeit zu Hilfe gekommen:
„Allfort wolauf, Mutterle?“


„Dank euch Gott die Frag’,“ entgegnet ſie
ſogleich und rückt mir noch näher, „diemal ja, —
unberufen. Was noch kommen wird, weiß Unſer-
eins nicht. Und daß ich’s nur daher red’, wie ich’s
verſteh’: Er iſt ein gelehrſamer Mann, ſagen die
Leut, nachher wird Er das Wahrſagen wol auch
kennen? — Gar nicht? — Aber das, hätt’ ich
gemeint, ſollt’ ſo ein Menſch wol lernen. Und von
wegen dem Lottoſpiel, weil wir ſchon ſo weit be-
kannt ſind: weiß Er keine Nummern?“


„Jeßtl und Joſef,“ ſchreit jetzt das junge
Weib plötzlich auf, „eilet, eilet, Mutterle, mir
däucht, das Kätzl iſt in’s Waſſerſchaff gekugelt!“


Da wackelt die Alte gegen den Winkel hin,
in welchem früher der Bartelmei geweſen; aber das
Kätzlein iſt ſchon fort, iſt vielleicht gar nie im
Waſſer geweſen. Die Annamirl wird ſich der kindi-
ſchen Fragen ihrer Mutter ſchämen, und hat ihnen
durch obige Liſt ein Ende gemacht.


Am andern Tag, als die Morgenröthe durch
den weißen Kohlenrauch hat geglüht, ſind von allen
[165] Seiten des Waldes her Leute gekommen. Schmuck
und geſchmeidig ſind alle geweſen, wie ich ſie hier
noch nie ſo geſehen. Sie bringen Hochzeitsgaben mit.
Der Pecher kommt mit dem glänzend ſchwarzen
Pechöltopf: „Für die Brautleut’ zur Geſundheit.
Was will das Pechöl ſagen? Habt ihr im Leben
auch Pech zu tragen, müßt ihr ihm gleich das Oel
der Geduld zutheilen. Das will das Pechöl ſagen.“
Wurzner kommen mit Geſäme und duftenden Kräuter-
büſcheln; die Ameisgräber kommen mit „Wald-
rauch“; Kinder bringen Wildobſt in Fichtenrinden-
körbchen; Holzhauer tragen Hausgeräthe herbei. Der
Schwamelfuchs, ein altes, verhöckertes und verknor-
peltes Männlein, ſchleppt eine großmächtige Thon-
ſchüſſel heran, einen rechten Familientopf, wol für
ein ganzes Dutzend Eſſer. Andere bringen hölzerne
Löffel dazu; wieder Andere kramen Mehl- und
Schmalzkübel aus, und ein Kohlenbrennerweibchen
kommt ganz verlegen hereingetorkelt und ſteckt der
Braut ein ſorgſam umwickeltes Päckchen zu. Als
dieſe, mit unbehilflichen Worten die Spenderin
lobend, es öffnet, kommen zwei wackergeſtopfte
Kapauner zum Vorſchein. Das erſpäht die alte
Rußkathl, die, bereits auch feſtlich angezogen, er-
wartungsvoll an den Wänden herumſchleicht, und
ſie flüſtert zu ihrer Tochter: „Weißt wol, Annamirl,
wo die beſt’ Brautgab’ hinkommen muß? Jawol,
[166] in den kühlen Erdboden hinein. Nachher kommt
eine ſchöne Frau in guldenem Wagen gefahren,
und an den guldenen Wagen ſind zwei Kätzlein
geſpannt, die graben mit ihren Pfoten die Braut-
gabe aus, und die Frau nimmt die Gab’ in ihre
ſchneeweißen Händ’ und fährt dreimal um die
Hütten herum; nachher kann kein Elend kommen in
eueren heiligen Eh’ſtand.“ — So klingt das Mär-
chen von der Freya noch fort im deutſchen Walde.


Die Annamirl ſchweigt eine Weile und dreht
die ſchweren, ſäuberlich gerupften und gefüllten Ge-
flügel in der Hand um und um, als wären ſie
ſchon am Bratſpieß, dann verſetzt ſie: „Ich halt’,
Mutter, in der Erden kunnten ſie verfaulen, oder
es fräßen ſie die Kätzlein, und deswegen iſt es,
daß ich ſag’: wir eſſen ſie ſelber.“


Zuletzt naht gar der feine Branntweiner mit
ſeinem großen vollbauchigen Plutzer, der gleich
einen prächtigen, weingeiſtigen Geruch verbreitet in
der ganzen Hütte. Das riecht der Ruß-Bartelmei,
der ſofort herbeieilt, um zu ſehen, wie ſo ein Ton-
plutzer doch eigentlich gemacht und zugeſtopft iſt.


Aber da kommt die Annamirl dazwiſchen:
„Dank dir zu tauſendmal Gott, Branntweinhannes,
das iſt ſchon gar zu viel, das können wir nicht ab-
ſtatten. Das iſt leicht das beſt’ Brautgeſchenk, und
ſo thu’ ich damit den alten Brauch.“


[167]

Behendig zieht ſie den Stöpſel aus dem Plutzer
gießt den funkelnden, rauchenden Branntwein bis
auf den letzten Tropfen auf den Erdboden.


Die Alte kichert und keift: „Du Närriſch du,
allbeid’ Kätzlein werden dir rauſchig; wird aber
das ein Gehetz ſein!“


Als Alle beiſammen, hat ſchon die Sonne
zur Thür hereingeleuchtet. In der Nacht iſt ein
Mahl gekocht worden, das die Leute nun mit gutem
Appetit und luſtigen Worten verzehren. Ich habe
ebenfalls davon genoſſen, und habe mich unter die
Kinder gemacht, die da geweſen und denen ich von
den Speiſen in ihre hölzernen Schüſſelchen gefaßt,
auf daß ſie auch etwas bekommen.


Darauf ſind wir Alle davongegangen. Bei
den Kohlenmeilern bleibt nur ein einziger alter
Mann zurück, der mit ſeinem Eiſenhacken lange
vor der Thüre ſteht, ein kurzes, hochthürmiges
Pfeifchen ſchmaucht und uns ſchmunzelnd nachblickt,
bis wir in dem waldſchattigen Hohlweg ihm ver-
ſchwunden. Dann liegt nur noch die ſtille, freund-
liche Morgenſonne auf den Schirmtannen.


Viele Männer des Hochzeitszuges haben ſogar
Schußgewehre bei ſich getragen; aber nicht nach
den Thieren zielen ſie heute, in die freie Luft ſchießen
ſie hinein, und ſie halten es für eine große Feier-
lichkeit und Pracht, wenn es recht knallt und hallt.


[168]

Geſungen und gejauchzt wird, daß der Sommer-
tag zittert. Herzensfreudige Lieder habe ich da ge-
hört; Schalkheiten werden gethan, althergebrachte
Spiele unterwegs gehalten und es iſt ſchon Mittag,
als wir zur Pfarrkirche von Holdenſchlag gelangen.
Fünf Männer kommen uns entgegen mit Trom-
peten, Pfeifen und einer gewaltig großen Trommel.
Mit einer wahren Feſtfreudenwuth haut der Trommel-
ſchläger drein; und das iſt ein Gehetz und mächti-
ges Gelächter, als der Schlägel plötzlich das ſo ſehr
gemarterte Fell durchbricht und in den Bauch hinein-
ſchießt, um ſeinem Takte auf dem andern Felle
noch rechtzeitig nachzukommen. Ein Burſche ſchleicht
lauernd um den Zug und will uns nach alter
Sitte die Braut entführen, allein der Brauthüter
wacht. Er wacht eigentlich mehr über ſeinen Geld-
beutel als über die Braut; denn wäre ihm letztere
abhanden gekommen, der Entführer hätte ſie in ein
entlegenes Gaſthaus geſchleppt und der Brauthüter
hätte müſſen die Zeche zahlen.


Der Bräutigam geht neben der erſten Kranz-
jungfrau; erſt nach der Trauung geſellt er ſich als
Ehemann zu ſeiner Gattin, und nun geht der frü-
here Brauthüter mit der Kranzjungfrau, auf daß
gleich der Keim zu einer neuen Hochzeit gelegt iſt.
Der Brauthüter iſt mir wol bekannt, er heißt
Berthold, die Kranzjungfrau heißt Aga.


[169]

In der Kirche wird Wein getrunken und der
Herr Pfarrer hält eine ſehr erbauliche Rede von
dem Eheſakrament und den Abſichten Gottes. Der
gute, alte Herr hat ſehr ſchön geſprochen, aber die
Leute aus dem Walde verſtehen ſein Hochdeutſch
nicht recht. Erſt im Wirthshauſe, als wir ſchon
Alle gegeſſen, getrunken und Schabernack getrieben
haben, iſt für die Leutchen die rechte Predigt. Da
erhebt der alte, bärtige Rüppel ſein Weinglas und
hebt an zu reden:


„Ich bin kein gelehrter Mann, hab’ keinen
Doktornzipf auf und keine Kutten an. Thät’ ich mein
Weinglas nit haben zur Hand, bei meiner Treu’,
Leut’, ich brächt’ kein geſcheit Wörtl zu Stand. Daß
die Zung’ mir wird gelöſt, wie es bei Moſes iſt
geweſt, desweg’ trink ich den Wein; fällt mir auch
leichter ein ſchickſam Wörtl ein. — Ich bin als
der alte Bibelreiter bekannt; wär’ ich ein Ritters-
mann, ich ritt auf einem Schimmel durch’s Land.
Und in der Bibel, da hab’ ich einmal ein Sprüch-
el erfragt, der Herrgott, das Kreuzköpfel, hat’s
ſelber geſagt: Iſt der Menſch allein, ſagt er, ſo
thut er kein Gut; aber ſind ihrer viel, ſo thun ſie
auch kein Gut; ſo probir ich’s halt juſtament zu
zwein und zwein, und ſperr’ ſie paarweiſ’ in die
Hütten ein. Aber ſchaut’s, da wird gleich die
Hütten zu klein. Sie brauchen ein großmächtiges
[170] Haus; zuletzt iſt’s heilig Paradeis zu eng, ſie
müſſen in die weit’ Welt hinaus. Müſſen hinaus
in den wilden Wald und auf ſtockfremde Hei-
den, müſſen leiden und meiden und zuletzt wie-
der ſcheiden. Da hat der lieb’ Herrgott ſeinen
Sohn geſchickt, daß er ſollt die Schäflein weiden.
Ich hör’ auf das Kreuz wol drei Hammerſchläg’
klingen, zur Rechten, zur Linken, zu Füßen —
da möcht’ Einem das Herz zerſpringen. Darauf
iſt geronnen das roſenfarbne Blut, das thut uns
den Himmel erwerben. Dir bring’ ich das Glas, o
Gotteslamm, für dein heiliges Leiden und Sterben!“


Da iſt es ſtill geweſen in der ganzen, weiten
Stube, und der alte Mann hat das Glas getrunken.


Bald aber füllt er es zum zweiten Mal und
ſpricht: „Ihm ſei die Ehr’, aber es ſoll der Herr
nun in Freuden auch bei uns ſein, und darum
laden wir zu dieſem Ehrentag auch den Herrn
Jeſus ein, wie auf der Hochzeit zu Galilä, auf
daß er uns mache das Waſſer zu Wein, den gan-
zen Winkelbach, heut’ und alle Tag’. Und der Wein
iſt hell und rein, weiß und roth zuſammengoſſen,
wie die zwei jungen Herzen ſein zuſammengeſchloſſen
in Lieb’ und Ehr’, und ſonſt keiner mehr. Der
Wein wird gewachſen ſein bei Sonn- und Monden-
ſchein zwiſchen Himmel und Erden, ſo wie unſere
Seel’ von oben iſt, und der Leib von der Erden.
[171] Und der ſüße, guldene Wein ſoll Braut und Bräu-
tigam zur Geſundheit ſein.“


Das iſt jetzt eine Luſt und ein Geſchrei, und
die Pfeifen und Geigen klingen drein, und der
Braut gießen ſie Wein auf ihren grünen Kranz.


Jeder hebt nun ſein Glas und bringt ſeinen
Hochzeitsſpruch, ſein Brautlied aus dem Stegreif
dar. Zuletzt torkelt die alte Rußkathl empor und
mit unglaublich heller Stimme ſingt ſie:


„Schneid Birnbam,

Schneid Buxbam,

Schneid birn-buxbam’ni Lad’n,

Mei Schatz will a buxbam’as Bettſtadl hab’n!“

Das iſt ihr Trinklied und Hochzeitsſpruch ge-
weſen. Wie’s jetzt angegangen, da hab ich gemeint,
der Hall und Schall drücke alle vier Wände hinaus
in den ruhſamen Abend.


Nach und nach iſt es wol wieder ſtiller ge-
worden und die Leute haben ihre Augen auf mich
gelenkt, ob ich, der gelehrte Mann, denn keinen
Brautſpruch wiſſe.


So bin ich denn aufgeſtanden: „Glück und
Segen dem Brautpaar! Und wenn nach fünfund-
zwanzig Jahren ſeine Nachkommen in den Eheſtand
treten, ſo wird es in der Pfarrkirche am Stege der
Winkel ſein. Das möge kommen! ich leere den
Becher!“


[172]

So hat mein Brautſpruch gelautet.


Darauf iſt ein Gemurmel und Geflüſter ge-
weſen und einer der Aelteſten iſt an meinen Platz
getreten und hat mich höflich gefragt, wie die Rede
gemeint.


Die ganze Nacht hin hat in dem Wirthshauſe
zu Holdenſchlag die Muſik geklungen, haben die
Hochzeiter getanzt und geſungen.


Am andern Morgen haben wir das Ehepaar
aus ſeiner Kammer hervorgeholt. Dann iſt eine
lange Weile der Brauthüter geſucht und nicht ge-
funden worden. Wir hätten den Berthold zu einem
uralten Hochzeitsſpiele, dem Wiegenholzführen be-
nöthigt.


Wer hätte gedacht, daß der wildluſtige Burſche
in des Pfarrers Stube ſteht, eine ganze Alpenglut
auf ſeinen Wangen trägt und mit beiden Händen
die Krempen ſeines Hutes zerpreßt!


Der Pfarrer zu Holdenſchlag geht würdigen
Schrittes die Stube auf und ab und ſagt mit
väterlicher Stimme die Worte: „Zähme dich,
mein Sohn, und bete, verlängere dein Abend-
gebet dreimal oder ſiebenmal, wenn es nöthig
iſt. Die Verſuchung wird weichen. — Heiraten!
ein Habenichts, wozu denn? Haſt du Haus und
Hof, haſt du Geſinde, Kinder, daß du ein Weib
brauchſt? — nun alſo! — Auf den Bettelſtab
[173] heiraten, die Narrheit geht nicht an. Wie alt
biſt denn?“


Auf dieſe Frage erröthet der Burſche noch
mehr. Es iſt eine ſchauderhafte Blödheit, wenn
Einer ſein Alter nicht weiß. Und er weiß es nicht.
Um zehn Jahre wird er nicht fehlen, wenn er auf
geradewol zwanzig ſagt.


„Werde dreißig, erwerbe dir Haus und Hof,
und dann komme wieder!“ iſt des Pfarrers Be-
ſcheid. Darauf geht er in die Nebenſtube, und der
Berthold bleibt ſtehen und ihm iſt, als müſſe er
noch was ſagen — ein gewichtig Wort, das alle
Einwände zu Boden wirft und der geweihte Herr
beigeben muß: ei, das iſt ganz was anders, dann
heiratet in Gottesnamen.


Aber der Burſche weiß kein Wort, das es
vermöchte zu deuten und hell zu künden, warum er
eins — ewig eins ſein will mit Aga, dem armen
Almmädchen.


Da der Herr Pfarrer nicht mehr zurückkehrt
aus der Nebenſtube, ſondern in derſelben gemächlich
ſein Frühſtück verzehrt, wendet ſich der Burſche
endlich traurig der Thür zu, und ſteigt die Treppe
nieder, die Himmelsleiter des Liebesglückes, an der er
vorhin mit freudevoller Zuverſicht emporgeſtiegen war.


Aber auf der grünen Erde angelangt, iſt er
ein Anderer. Und es iſt ein Arg’ geweſen, wie der
[174] Burſche ſich an dieſem zweiten Hochzeitstage über-
müthig toll geberdet hat.


Am Nachmittage hat ſich gepaart Mann und
Weib, Burſch und Magd; der Andreas Erdmann
hat ſich zum alten, bärtigen Rüppel geſellt, und ſo
ſind wir Alle wieder zurückgegangen in die Wälder
der Winkel.


(Des erſten Theiles Ende.)


[[175]]

Die Schriften des Waldſchulmeiſters.
(Zweiter Theil.)


[[176]][177]

1815.


Vor mehreren Jahrhunderten ſollen in der
Gegend der Winkelwäſſer Menſchen gewohnt haben
die ſich von Getreidebau, Viehzucht und Jagd ernährt.
— Die Winkel iſt fürſorglich eingedämmt, an ihren
Ufern hin grünen gepflegte Wieſen und ein Fahr-
weg führt hinaus zu den vorderen Gegenden. An
den Bergen grünen Felder. — So ſoll es geweſen
ſein. Unweit von dem Platze, wo jetzt das Holz-
meiſterhaus ſteht, zeigt ein Mauerreſt die Stätte,
wo eine Kirche geſtanden haben ſoll. Zwar geht die
Meinung, es ſei keine Kirche geweſen, ſondern ein
Götzentempel, in welchem ſie noch dem Woutan
Meth zugetrunken und Thiere geopfert, ſo oft
der Vollmondſchein durch die Blätter der Linden
gerieſelt. Zur ſelben alten Zeit ſei jedes Jahr ein
ſchneeweißer Rabe niedergeflogen von den Alpen-
wüſten, und dieſem habe man Korn auf die Steine
geſtreut, der Vogel habe das Korn aufgepickt und
hierauf ſei er wieder von dannen geflogen. Einmal
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 12
[178] aber habe man dem weißen Raben keine Körner
geſtreut, weil ein Mißjahr geweſen, und weil ein
Mann die Sache für etwas Albernes ausgelegt
habe. Darauf ſei der Rabe nicht mehr gekommen.
— Aber kaum der Winter vorüber, ſo ſeien von
Sonnenaufgang her wilde Völkerſchaaren heran-
geſtrömt mit häßlichen braunen Geſichtern, blut-
rothen Hauben und Roßſchweifen, auf wunderlichen
Thieren reitend, ſeltſame Waffen ſchleppend — und
gar in die Winkelwälder hereingezogen. Dieſe Rotten
haben geplündert und die Bewohner zu Hunderten
davongeſchleppt, ſo daß die Gegend menſchenleer
geworden.


Dann ſind die Häuſer und der Tempel verfallen,
das Waſſer hat die Dämme und Wege zerſtört und
die Wieſen mit Schutt oder Geſtein übergoſſen.
Die Obſtbäume ſind verwildert; auf den Feldern
ſind Lärchenwälder gewachſen, die Lärchen aber durch
Tannen und Fichten verdrängt worden. Und ſo ſind
die finſteren, hundertjährigen Hochwälder entſtanden.


Es iſt nicht zu beſtimmen, ob der Kern der
heutigen Waldleute von jenem vor Jahrhunderten
abſtammt. Ich glaube vielmehr: ſo wie die alten
Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle
wilder Zeiten fortgeſchwemmt worden ſind, ſo ſind
nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit
Splitter anderer Stämme in dieſe Wälder verſchla-
[179] gen worden. Man ſieht es den Leuten ja an, daß
ſie nicht auf ſicherem Boden der Heimat fußen, daß
ſie aber gleichwol den Drang haben, ſich in den
Waldboden einzuwurzeln und den Nachkommen ein
geſichertes und geregeltes Heim zu bereiten.


Dennoch aber dämmert auch in dieſen Men-
ſchen die Waldesgöttermähr der alten Deutſchen fort.
Sie laſſen im Herbſte die letzten wilden Früchte
auf den Bäumen, oder behängen mit denſelben ihre
Kreuze und Hausaltäre, um für ein nächſtes Jahr
Fruchtbarkeit zu erlangen. Sie werfen Brot in das
Waſſer, wenn eine Ueberſchwemmung droht; ſie
ſtreuen Mehl in den Wind, um träuende Stürme
zu ſättigen — ſo wie die Alten den Göttern haben
geopfert. Sie hören zur heiligen Zeit der Zwölfen
die wilde Jagd, ſo wie die Alten ſchaudernd Vater
Woutan’s Toſen haben vernommen. Sie erinnern
ſich an Hochzeitsfeſten der ſchönen Frau mit den zwei
Katzen, ſo wie die Alten die Freya haben geſehen.
Und wenn die Winkelwäldler draußen in Holden-
ſchlag Einen begraben, ſo leeren ſie den Becher
Methes auf ſein Andenken. Ueberall klingt und
ſchimmert ſie durch, die alte germaniſche Sage und
Sitte. Im Vordergrunde aber tönt und webt als
Herrſchendes das hohe Lied vom Kreuze.


Wol die Meiſten der Winkelwäldler müſſen es
empfinden, was hier fehlt; nur die Wenigſten wiſſen
12*
[180] es zu nennen. Aber jener Speiker hat es getroffen,
als er vor einem Jahre bei der Köhlerhochzeit die
Worte geſagt: „Um uns ſchiert ſich kein Pfarrer
und kein Herrgott. Dem Elend und dem Teufel
ſind wir verſchrieben. Für uns iſt auch ein Hunds-
fottleben gut genug; wir ſind ja die Winkler!“


Aber der Speiker kann’s noch erleben und mein
Trinkſpruch wird in Erfüllung gehen. Ich bin ſeit
der Hochzeit wieder um ein Jahr jünger geworden.
Die Winkelwäldler werden eine Kirche bekommen.


Will ein Volk aus wilder Urſprünglichkeit ſich
aufbauen zu einer ſchönen, ebenmäßigen Höhe, ſo
muß der Gottestempel zu dem Baue das Gerüſte ſein.


Darum beginne ich in den Winkelwäldern mit
der Kirche.


Ich habe drängen und dringen müſſen. Der
Herr von Schrankenheim hat ſeinen Palaſt mitten
in der Stadt; da ſchallt zu jedem Fenſter eine
andere Kirchenglocke herein, und zwiſchen den Fen-
ſtern auf zierlichen Geſtellen prangen hundert Bücher
für Herz und Geiſt. Wer ahnt es da, was in den
fernen Wäldern ſo ein Klang und ein Predigtſtuhl
bedeutet! Endlich aber hat es der Gutsherr doch
eingeſehen, und heute ſind ſchon Männer da, um
die Bauſtelle zu prüfen.


Da drüben neben dem Winkelhüterhaus, ſchnur-
gerade vom Steg herauf, der über die Winkel führt,
[181] iſt ein erhöhter Felsgrund, ſicher vor Geſenken,
Lahnen und Wildwaſſer. Er liegt zwiſchen dem
Hinter- und Vorderwinkel, und von den Lautergrä-
ben, dem Mieſenbachthale und dem Karwaſſerſchlag
iſt völlig die gleiche Weite bis hierher zu dem er-
höhten Felsgrund. Das iſt der rechte Platz für das
Gotteshaus. Ich habe einen Plan eingereicht, wie
ich mir denke, daß ſo ein Waldkirchlein ſein ſoll.


Das Kirchlein ſei nicht gar zu klein, damit
Alle darin Platz haben, die kummervollen und be-
dürftigen Herzens ſind, wie es deren im Waldlande
Viele gibt und fürder geben wird. Es ſei nicht
gar zu niedrig, denn der hohe Wald und die Fels-
wände haben den Sinn verwöhnt und erweitet;
und iſt es auch, daß die Menſchenwohnungen hier
ſehr gedrückt ſind, ſo wird es dem Blicke doppelt
wohl thun, wenn er ſich in der Wohnung Gottes
erheben kann. In den Kirchen der Städte ſollte
ſtets ernſte Dämmerung herrſchen, damit ſie dem
licht- und genußvollen Leben der Reichen und Großen
einen Gegenſatz darbieten; in dem Gotteshauſe des
Waldes aber muß lichte und milde Freundlichkeit
lächeln, denn ernſt und dämmerig iſt der Wald und
des Wäldlers Haus und Herz. So ſoll die Art der
Gottesverehrung das Leben ausgleichen und ergän-
zen; und was der Werktag und das Haus verwei-
gert, das ſoll der Sonntag und die Kirche bieten.
[182] Der Tempel ſoll die Schutzſtätte in den Stürmen
dieſer Welt, und er ſoll der Vorhof der Ewig-
keit ſein.


Der Thurm des Waldkirchleins ſei ſchlank
und luftig, wie ein aufwärts weiſender Finger,
mahnend, drohend oder verheißend. Drei Glöcklein
mögen die Dreizahl in der Einheit Gottes verkün-
den und das dreitönige Lied ſingen von Glaube,
Hoffnung und Liebe. Einen recht ſchönen Platz
möchte ich der Orgel beſtimmen, denn der Orgel-
ton muß den Armen im Geiſte ſo die Predigt
nicht verſtehen — das Wort Gottes ſein.


Vergoldete Bilder und prunkende Zierrathen
in der Kirche ſind verwerflich; die Gottesehre ſoll
nicht liebäugeln mit Schätzen dieſer Erde. Mit dem
Einfachen und durch das Einheitliche kann man am
beredteſten und würdigſten den Gott- und Ewigkeit-
gedanken verſinnlichen.


Es muß aber noch des Weiteren das Zweck-
mäßige bedacht werden. So habe ich für die Mauern
der Trockenheit wegen Backſteine vorgeſchlagen. Die
Bänke und Stühle müſſen zum Ausruhen einge-
richtet ſein, denn der Sonntag iſt ein Ruhetag.
Wenn während des Orgelklingens auch einmal
Einer einnickt, was weiter? er träumt in den
Himmel hinüber. — Für den Fußboden ſind die
Steinplatten zu feucht und kalt, dicke Fichtenläden
[183] ſind dazu geeignet. Für das Dach ſind des häufigen
Hagelſchlages wegen weder Ziegeln noch größere
Bretterlatten anwendbar; dazu ſind kleine Lärchen-
ſchindeln am Beſten.


Mein Plan iſt angenommen worden.


Es werden bereits Wege ausgeſchlagen und
Bauſtoffe herbeigeſchafft. Im lehmigen Binsthal
wird eine Ziegelei errichtet; an der Breitwand iſt
ein Steinbruch angelegt worden.


Die Waldleute ſtehen da und ſehen den frem-
den Arbeitern zu. Sie haben auch ihre Gedanken
dabei.


„Eine Kirch’ wollen ſie uns bauen,“ ſagt
Einer, „geſcheiter, ſie thäten das Geld den Armen
theilen. Der Herrgott ſoll ſich nur ſelber ein Haus
bauen, wenn er nicht unter freiem Himmel bleiben
und im Winkelwald wohnen will.“


„Was ſie uns nur für einen Kirchenheiligen
einlegen werden?“


„Den Huberti, denk’ ich.“


„Den Huberti? Je, der hat eine Büchs bei
ſich und thät’ ſich leicht auf’s Wildern verlegen.
Den mögen die Jäger nicht leiden. Ich ſag’, für
uns wären die vierzehn Nothhelfer recht.“


„Geh’, die thäten uns zu viel koſten. Und der
große Chriſtof iſt auch dabei; für den wäre ja gar
keine Kirchthür weit genug.“


[184]

„Wer verlorne Sachen finden will: sanct
Antoni thut Wunder viel!“ ſagt Rüppel, der alte
Borſtenbart, bei dem ſich jedes Wort im Gleich-
klang zum andern fügt, er mag die Zunge wenden,
wie er will.


Andere wünſchen zum Kirchenheiligen den
Florian, der gegen das Feuer iſt; aber die am
Waſſer wohnen, möchten den Sebaſtian haben.


Ein Weiblein hat gar nicht uneben bemerkt,
in den ganzen Winkelwäldern ſei kein Menſch, der
die Orgel ſpielen könne, da wiſſe man doch, daß
als Pfarrheilige nur Cäcilia die Rechte.


Darauf entgegnet ein alter Hirt: „So eine
Red’ iſt keine Sach’. Die Leut’ können ſich ſelb-
ander helfen; aber auf das arme Vieh müßt ihr
denken! Der heilige Erhart geht uns ſchon herein
in das Winkel.“


Darnach ein Anderer: „Mit dem Vieh halt’
ich’s nicht. Wir brauchen die Kirch’ für die Leut’.
Und weil ſich Einer ſchon was koſten läßt, ſo muß
was Rechtes werden. Ich bin kein Heid’ und ich
geh’ in die Kirch’, und ich bin für ein ſauberes
Weib. Was meint ihr zu der Magdalena?“


„Du Loter,“ ſchreit ſein Weib, „die ſchlechte
Perſon willſt auf den Altar heben?!“


„Haſt recht, Alte, da muß Eine ſein, die mit
gutem Beiſpiel vorangeht.“


[185]

So rechten ſie, halb im Spaß und halb im
Ernſt. Den ganzen Himmel haben ſie durchſtöbert,
und keinen Heiligen gefunden, der Allen recht ge-
weſen wäre.


Und es muß doch Eines kommen, das Allen
recht iſt. Ich habe darüber ſchon meine Gedanken.


Die Waldberge lichten ſich immer mehr und
und mehr, wie wenn es Tag würde aus der
Dämmerung. Die Höhenſchneiden werden ſchartig
und es dehnt ſich der Himmel. Mancher Marder
kommt um ſeinen hohlen Baum, mancher Fuchs um
ſeine Höhle. Unſchuldige Vöglein und raubgierige
Geier werden heimatlos, da Wipfel um Wipfel
hinſtürzt auf den feuchten Moosboden, den endlich
wieder einmal die Sonne beſcheint. Winter und
Sommer hindurch ſind die Holzſchläger thätig ge-
weſen. Draußen im Lande haben Holz und Kohlen
in gutem Begehr geſtanden.


In dieſem Sommer habe ich nicht mehr viele
freie Zeit für mich.


Draußen iſt der Krieg, der, Gott weiß es,
nicht mehr enden will. Zu Holdenſchlag ſind ſchon
wieder die Hämmer geſchloſſen worden und es kommt
kein Kohlenwagen in den Wald. Die Holzarbeit
[186] iſt eingeſtellt; die kräftigſten Männer ſtreichen müßig
umher. Da drüben in den Lautergräben ſollen vor
kurz zwei Holzſchläger eines Beutel Tabaks wegen
bös gerungen haben, bis der Eine dem Andern ein
Aug ausgeſchlagen. Tabak iſt ihre halbe Nahrung.


Ich habe den Männern den Rath gegeben, zu
den Vaterlandsvertheidigern zu gehen. Davon wollen
ſie nichts hören. Sie haben keine Heimat, ſie wiſſen
von keinem Vaterlande. Willkommen ſind ihnen die
Welſchen, wenn ſie Geld mitbringen und eine
beſſere Zeit.


Gott gebe die beſſere Zeit und halte die Wel-
ſchen fern!


Für mich iſt es ein Glück, daß ich kühlen
Blutes bin. Das wilde Jahr hat die jungen Sproſſen
meiner Leidenſchaft getödtet. Nun darf ich mein
ganzes Streben auf das eine Ziel lenken: aus die-
ſen zerſtreuten, zerfahrenen Menſchen ein Gemein-
ſames, ein Ganzes zu bilden. Iſt dieſes gelungen,
ſo haben wir Alle einen Halt. — Ich werde ihnen
und mir eine Heimat gründen. Vor Allem kömmt
es darauf an, den Freiherrn zu ſtimmen; ſonach
muß auf die Waldleute eingewirkt werden.


Eine übermäßige Kraft ſcheint mir dazu nicht
nöthig zu ſein, wol aber ein zähes Bemühen. Dieſe
[187] Menſchen ſind wie Lehmkugeln; ein Anſtoß, und
ſie rollen eine Weile fort. Weiter kommen ſie ſelbſt,
nur geleitet müſſen ſie werden, daß ſie einem und
demſelben Ziele zuſtreben. Glieder ſind genug, aber
ſpröde und unſchmiegſam ſelbander. Wenn nur erſt
die Kirche fertig iſt, daß die Gemeinde ein Herz
hat; dann machen wir uns an den Kopf und bauen
das Schulhaus.


Im Herbſte 1816.


In einer der letzten Wochen bin ich mit einem
Papierbogen zu allen Hütten des Waldes herum-
gegangen. Da habe ich die Hausväter nach dem
Stande ihrer Wirthſchaft, nach der Zahl ihrer
Familie, nach den Geburtsjahren und Namen der
Leutchen gefragt. Das Geburtsjahr kann zumeiſt
nur nach Geſchehniſſen und Zeitumſtänden angege-
ben werden. — Der iſt geboren im Sommer, in
welchem das große Waſſer geweſen; Die iſt zur
Welt gekommen in demſelbigen Winter, als man
Strohbrot hat eſſen müſſen. Solche Ereigniſſe ſind
hochragende Markſteine.


Das Namensverzeichniß wird nicht gar zu
mannigfaltig. Die Bewohner männlicher Art heißen
Hannes oder Sepp, oder Berthold, oder Toni oder
Mathes; die Leute weiblicher Gattung ſind Kathrein
benamſet, oder Maria, welch letzter Name in Mini,
[188] Mirzel, Mirl, Mili, Mirz, Marz umgewandelt
und ausgeſprochen wird. Aehnlich geht es mit
anderen Namen; und kommt Einer von draußen, ſo
muß er ſich eine Umwandlung nach den Zungen der
Hieſigen ſogleich gefallen laſſen. Mich haben ſie
einige Zeit den Andredl geheißen; aber das iſt ihnen
ein zu großer Name für einen ſo kleinen Menſchen,
und heute bin ich nur mehr der Redl.


Von Geſchlechtsnamen wiſſen ſchon gar die
Wenigſten was. Viele mögen den ihren wol ver-
loren, vergeſſen, Andere einen ſolchen nie gehabt
haben. Die Leute gebrauchen eine eigene Form,
ihre Abſtammung und Zugehörigkeit zu beſtimmen.
Beim Hanſl-Toni-Sepp! Das iſt ein Hausname,
und es iſt damit angezeigt, daß der Beſitzer des
Hauſes Sepp heißt, deſſen Vater aber Toni und
deſſen Großvater Hanſel genannt worden iſt. —
Die Kathi-Hani-Waba-Mirz-Margareth! Da iſt
die Kathi die Ururgroßmutter der Margareth. —
Der Stamm mag doch ſchon lange in der Wald-
einſamkeit ſtehen.


Und ſo wird eine Perſon oft durch ein halbes
Dutzend Namen bezeichnet und Jeder ſchleppt die
roſtige Kette ſeiner Vorfahren hinter ſich her. Es
iſt das einzige Erbe und Denkmal.


Das Wirrſal darf aber nicht ſo bleiben. Die
Namen müſſen für das Pfarrbuch vorbereitet werden.
[189] Zu den Taufnamen müſſen Zunamen erfunden
werden. Das wird nicht ſchwer gehen, wenn man der
Sache am Kern bleibt. Man benenne die Leute nach
ihren Eigenſchaften, oder Beſchäftigungen oder
Stellungen; das läßt ſich leicht merken und für die
Zukunft beibehalten. Ich nenne den Holzarbeiter
Paul, der die Annamirl geheiratet, nicht mehr
den Hieſel-Franzel-Paul, ſondern kurzweg den Paul
Holzer, weil er die Holzſtrünke auf den Rieſen zu
den Kohlſtätten befördert, und die Leute dieſe Arbeit
„holzen“ heißen. Der Schwammſchlager Sepp, der
ſeines Vaters Name vergeſſen, ſoll auch nicht mehr
anders heißen, als der Schwammſchlager, und er
und ſeine Nachkommen mögen angehen, was ſie
wollen, ſie bleiben die Schwammſchlager. Eine
Hütte in den Lautergräben nenne ich die Brunn-
hütte, weil vor derſelben eine Quelle fließt. Wozu
den Beſitzer der Hütte Hieſel-Michel-Hieſel-Hannes
heißen? er iſt der Brunnhütter und ſein Weib iſt
die Brunnhütter, und wenn ſein Sohn einmal in die
Welt hinausfährt, Soldat wird oder Fuhr mann oder
was immer, er bleibt der Brunnhütter allerwegen.
So haben wir auch einen Sturmhanns; der hat
oben auf der ſtürmiſchen Wolfsgrubenhöhe ſein Haus.


Einen alten, ſehr dickhalſigen Zwerg, den
Kohlenführer Sepp, heißen ſie ſeit lange ſchon den
Kropfjodel. Da habe ich letztlich das Männlein
[190] gefragt, ob es zufrieden ſei, wenn ich es unter dem
Namen Joſef Kropfjodel in meinen Bogen ein-
ſchreibe. Er iſt gerne dazu bereit. Ich habe ihm
noch vorgeſtellt, daß aber auch ſeine Kinder und
Kindeskinder Kropfjodel heißen würden. Da grinſt
er und gurgelt: „Zehnmal ſoll er Kropfjodel heißen,
mein Bub!“ Und ein wenig ſpäter ſetzt der Schelm
bei: „Den Namen, gottdank, den hätten wir! —
ei, hätten wir den Buben auch!“


Drüben im Karwaſſerſchlag ſtehen drei buſchige
Tannen, die der Holzſchläger-Meiſterknecht, der
Joſel-Hanſel-Anton zu Schutz für Menſch und Thier
hat ſtehen gelaſſen. Zu Lohn heißt der Mann Anton
Schirmtanner für ewige Zeiten.


Die neuen Namen finden Gefallen, und Jeder,
der einen ſolchen trägt, hebt ſeinen Kopf höher
und iſt zuverſichtlicher, ſelbſtbewußter, als er ſonſt
geweſen. Nun weiß er, wer er iſt. Jetztund kommt
es darauf an, dem neuen Namen einen guten
Klang zu erwerben und ihm Ehre zu geben.


Schauderlich erſchreckt hat mich nur der Alm-
burſche Berthold. „Einen Namen,“ ſchreit er, „für
mich? ich brauch’ keinen Namen, ich bin ja Nie-
mand. Zu einem Weib hat mich Gott nicht ge-
macht, und ein Mann ſein, das erlaubt der Pfarrer
nicht. Die Ehe iſt mir verwehrt, weil ich bettelarm
bin. Heißet mich den Berthold Elend! heißet mich
[191] den Satan! ich brech’ die Satzung und mein Fleiſch
und Blut verrath ich nicht!“


Nach dieſen Worten iſt er wie ein Wüthender
davon geeilt. Der einſt ſo luſtige Burſche iſt kaum
mehr zu erkennen. Ich habe in den Bogen den
Namen Berthold geſchrieben und ein Kreuz dazu
gemacht.


Auch noch ein Anderer ſtreicht in den Winkel-
wäldern herum, von dem ich nicht weiß, ob und
welchen Namen er trägt. Wenn doch, ſo kann’s ein
böſer ſein. Der Mann weicht mir und allen Leuten
aus; vergräbt ſich oft für lange Zeit, und man
weiß nicht wo, taucht zu ſeltſamen Stunden wieder
auf, und man weiß nicht, warum. Es iſt der
Einſpanig.


Im Mai 1817.


In dieſem Winter habe ich eine ſchwere
Krankheit zu beſtehen gehabt. Die Urſache derſelben
iſt das Unglück des Markus Jäger, den ein Wild-
ſchütze angeſchoſſen hat. Der Jäger iſt drüben in
einer Hütte der Lautergräben gelegen. Ich gehe
mehrmals zu ihm hinüber, weil der Brand in die
Wunde zu kommen droht, und weil ſonſt Niemand
iſt, der den Kranken pflegen wollte und könnte.
Anſtatt die Leute hier eine Wunde mit lauem
Waſſer und gezupften Leinen rein halten thäten,
[192] kleben ſie allerlei Schmieren und Salben hinein.
Das muß ſchon eine kräftige Natur ſein, die ſich
trotz ſolcher Hemmniſſe aufrafft. Ich habe recht zu
thun gehabt, daß mir der Jäger nicht unterlegen iſt.


Als ich das letztemal bei ihm bin, iſt ein
ſtürmiſcher Märztag. Auf dem Rückwege ſind die
Pfade ſchauderhaft verſchneit und verweht. Stellen-
weiſe iſt mir der Schnee bis zur Bruſt empor-
gegangen. Viele Stunden habe ich mich ſo fort-
gekämpft, aber es bricht die Nacht herein und ich
habe das Winkelthal noch lange nicht erreicht. Eine
unſägliche Ermüdung kommt über mich, der ich zwar
lange widerſtehe, die endlich aber nicht mehr zu
überwinden iſt. Da habe ich ſchon gar nichts Anders
mehr gemeint, als daß ich ſo mitten im Schnee
würde umkommen müſſen, und daß ſie mich im
Frühjahre finden und an der neuen Kirche im
Winkel vorüber nach Holdenſchlag tragen würden.
— Dahier im Waldesfriedhof möcht’ ich liegen.


Erſt nach Wochen habe ich es erfahren, daß
ich nicht erfroren bin, daß mir an demſelbigen
Abende zwei Holzhauer auf Schneeleitern entgegen-
gekommen ſind, mich bewußtlos gefunden und in’s
Winkelhütterhaus getragen haben. Als ich nachher
viele Tage lang in der ſchweren Krankheit gelegen,
ſollen ſie ſogar einmal den Bader von Holdenſchlag
zu mir gerufen haben. Und der Bote, der den Arzt
[193] geholt, hätte, wie er mir ſeither ſelbſt erzählt, den
Auftrag gehabt, gleich auch mit dem Todtengräber
zu reden. Der Todtengräber hätte geſagt: „Wenn
mir der Mann nur das nicht anthäte, daß er jetzt
ſtürbe; ’s iſt ja kein Loch zu machen in dieſer
ſteinhart gefrorenen Erden!“


Es freut mich recht, daß ich dem guten Mann
die Mühe hab erſparen mögen.


Als die Gefahr der Krankheit vorbei, hat mich
erſt ein recht hartneckiges Augenleiden verfolgt, das
aber noch nicht ganz gehoben iſt. Ich muß noch
eine lange Zeit in der Stube verbleiben, wol ſo
lange, bis draußen das Thauen eingetreten und das
Wildwaſſer vorbei. Mir iſt gar nicht einſam. Ich
ſchnitze in Holz, ich will mir eine Zither zuſammen-
leimen, daß ich mich in der Tonkunſt übe, bis in
der Kirche die Orgel fertig ſein wird.


Es ſind oft Leute gekommen, die ſich neben
mir auf die Bank geſetzt und gefragt haben, ob ich
ſchon recht geſund ſei. Die Ruß-Annamirl, die jetzt-
und mit den Ihren in das Holzmeiſterhaus der
Lautergräben gezogen iſt, und nach der neuen Ord-
nung Anna Maria Ruß heißt, hat mir in der vorigen
Woche drei große Krapfen herübergeſchickt. Dieſelben
ſind von denen, die in großer Anzahl zur Feſtfreude
gebacken worden, da ein kleinwinziger Ruß angekom-
men iſt. Sie haben den Kleinen mit Krapfen getauft.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 13
[194]

Auch die Witwe des ſchwarzen Mathes iſt
einmal zu mir gekommen. Sie hat mich in großem
Kummer gefragt, was mit ihrem Buben, dem La-
zarus zu machen, der habe die wilde Wuth. Die
wilde Wuth, das ſei, wenn Einer über den gering-
ſten Anlaß in Zorn ausbreche und Alles bedrohe.
Der Lazarus ſei ſo; er habe das in weit höherem
Grade, als es ſein Vater gehabt; Schweſter und
Mutter ſeien in Gefahr, wenn der Knabe nur erſt
kräftiger würde. Ob es gegen ein ſolches Elend
denn gar kein Mittel gäbe. Was kann ich der be-
drängten Frau rathen? Eine ſtete, gleichmäßige
Beſchäftigung und eine liebreiche, aber ernſthafte
Behandlung ſei dem Knaben angedeihen zu laſſen,
habe ich vorgeſchlagen.


Unter allen Menſchen der Winkelwälder dauert
mich dieſes Weib am meiſten. Ihr Mann iſt nach
einem unglückſeligen Leben gewaltſam erſchlagen
und ehrlos begraben worden. Dem Kinde ſteht
nichts Beſſeres bevor. Und das Weib, vormaleinſt an
beſſere Tage gewohnt, iſt ſo weichherzig und milde.


Ehgeſtern kommt ein Knabe zu mir, der einen
Vogelkäfig mit ſich ſchleppt. Der Junge iſt ſo klein,
daß er mit ſeinem Händchen gar die Thürklinke
nicht erreichen kann, und eine Weile zaghaft klöpfelt,
bis ich ihm öffne. Er ſteht noch in der Thür, als
er anhebt: „Ich bin der Bub’ vom Markus Jäger,
[195] und mein Vater ſchickt mich her — der Vater ſchickt
mich her . . . .“


Der Schlingel hat die Anſprache auswendig
gelernt und bleibt ſtecken und wird roth und will
ſich wieder von dannen wenden. Ich habe Mühe,
bis ich es erfahre, daß ſein Vater mir ſagen laſſen,
er ſei völlig geheilt und mir wünſche er dasſelbe,
und er komme demnächſt zu mir, um ſich zu be-
danken, und er ſchicke zwei übermütige Schopfmeiſen,
und er möchte mir, da ich, wie er wiſſe, noch nicht
in das Freie gehen könne, das ganze Frühjahr in
die Stube ſenden.


Was fange ich mit den kleinen Thieren an?
ſie flattern wirr im Käfig umher und zerſtoßen ſich
vor Angſt die Köpfchen an den Spangen. Ich laſſe
ſie in unſeres Herrgotts Vogelkäfig, in den Mai
hinausfliegen.


Und als endlich die Zeit erfüllt, da bin ich
eines frühen Morgens hinausgetreten in den freien
Mai. — Der Haushahn kräht, der Morgenſtern
guckt helläugig über den dunkeln Waldberg. Der
Morgenſtern iſt ein guter Geſelle; der leuchtet getreu-
lich, ſo lange es noch dunkel iſt, und tritt beſchei-
den in den Hintergrund, ſobald die Sonne kommt.


Leiſe ſchleiche ich durch das Hausthor, daß ich
die Leute nicht wecke, die haben nicht wochenlang
ſo ausgeraſtet, wie ich; denen liegt noch der geſtrige
13*
[196] Tag auf den Augenlidern, die der heutige ſchon
wieder wach begehrt.


Im Walde iſt bereits das zitternde, rieſelnde
Erlöſen aus tiefer Ruhe. Wie iſt eines Geneſenen
erſter Ausgang ſo eigen! Man meint, der ganze
Erdboden ſchaukelt mit Einem — ſchaukelt ſein
wiedergebornes Kind in den Armen. O du heiliger
Maimorgen, gebadet in Thau und Wohlduft, durch-
zittert und durchklungen von ewigen Gottesgedanken!
— Wie gedenke ich Dein und deines Märchen-
zaubers, der ſich zu dieſer Stunde von der Glocke
des Himmels und von den Kronen des Waldes
niedergeſenkt hat in meine Seele!


Und dennoch habe ich zur ſelbigen Stunde
ein ſeltſam Weh empfunden. — Mir iſt die Jugend
gegeben und ich lebe ſie nicht. Was iſt mein Zweck?
Was bedeute ich? — Kurz vor dieſen Tagen bin
ich ſeit Ewigkeit her ein Nichts geweſen; kurz nach
dieſen Tagen werde ich ein Nichts ſein in Ewigkeit
hin. Was ſoll ich thun? Warum bin ich an dieſer
kleinen Stelle und zu dieſer kurzen Zeit mir meiner
bewußt worden? Warum bin ich erwacht? Was
muß ich thun? —


Da habe ich mir’s von Neuem gelobt, zu
arbeiten nach allen meinen Kräften, und auch zu
beten, daß mir ſo ſchwere, herzverbrennende Ge-
danken nicht mehr kommen mögen.


[197]

Als die Sonne aufgeht, ſtehe ich noch am
Waldesſaume. Unten rauſcht das Waſſer der Winkel
und aus dem Rauchfange des Hauſes ſteigt ein
ſilberfärbig Schleierband auf und im Kirchenbaue
hämmern die Maurer.


Meine Hauswirthin hat es gleich wahrgenom-
men, daß ich des Morgens nicht in der Stube und
hat gezettert über meinen Leichtſinn. Und als ſie
erſt gar erfährt, daß ich in der kühlen Frühe auf
feuchtem Moosboden geruht, da fragt ſie mich ganz
ernſthaft: ob es mir denn zu ſchlecht ſei in ihrem
Hauſe, oder ob ich ſonſt was auf dem Herzen
hätte, daß ich mir ſo an’s Leben wolle; ja, und
ob ich nicht wiſſe, daß Der, welcher ſich ſo auf den
Thauboden des Frühjahres hinlege, dem Todten-
gräber das Maaß gebe! —


Sonnenwende 1817.


Das iſt ein ſeltſamer Waldgang geweſen, und
ich ahne, er läßt ſich nicht verantworten im Himmel
und auf Erden. Wo in den ſchattigen Felsſchluchten
des Winkeleggerwaldes das Wäſſerlein rieſelt, da
bleibe ich ſtehen. — Hier auf dieſen Wellen laſſe
deine Gedanken ſchaukeln ohne Zweck und Ziel.
Du kennſt die Mähr vom Letheſtrom der Griechen.
Das iſt ein eigen Waſſer geweſen, wer davon
[198] getrunken, hat der Vergangenheit vergeſſen; die
Wellen des Waldbächleins ſind ein noch eigeneres
Waſſer, weſſen Seele auf denſelben ſchaukelt, und
trüge er auch den Winter im Haar, der findet
wieder die längſt vergangene Zeit ſeiner Kindheit
und Jugend.


Ich gehe tiefer hinein in die Wildniß und
ruhe im Mooſe und lauſche der ſäuſelnden,
immerdar klingenden Ruhe. Manches erſt aufge-
blühte Blümlein wiegt nah’ an meiner Bruſt, und
will leiſe anklopfen an der Pforte meines Herzens.
Und mancher Käfer krabbelt ängſtlich heran, er hat
im Dickicht der Gräſer und der Mooſe etwan den
Weg verloren zu ſeinem Liebchen. Jetztund hebt er
ſeinen Kopf empor und frägt nach dem rechten
Pfad. Weiß ich ihn ſelber? — Sag’ du uns an,
wo wird die Sehnſucht geſtillt, die mit uns iſt auf
allen Wegen? — Eine Spinne läßt ſich nieder
vom Geäſte; ſie hat ſich empor gerungen zur Höhe,
und nun ſie oben iſt, will ſie wieder unten ſein
auf der Erden. Sie ſpinnt Fäden, ich ſpinne Ge-
danken. Wer iſt der Weber, der aus loſen Gedanken-
fäden ein ſchönes Kleid weiß zu weben? —


Wie ich noch ſo träume, rauſcht es im Dickicht.
Es iſt kein Hirſch, es iſt kein Reh; es iſt ein
Menſchenkind, ein junges, glühendes Weib, erregt
und angſtvoll, wie ein verfolgtes Wild. Es iſt Aga,
[199] das Almmädchen. Sie eilt auf mich zu, erhaſcht
meine Hände und ruft: „Weil ihr’s nur ſeid, weil
ich euch nur finde!“ Dann ſchaut ſie mich an, und
es ſtockt ihr der Athem, und ſie vermag den Auf-
ruhr in ihr nicht niederzudämpfen. „Es hat einen
böſen Schick!“ ſchreit ſie wieder, „aber ein ander
Mittel weiß ich nimmer. Der böſ’ Feind ſtellt mir
fürchterlich nach, mir und ihm gleichwol auch. Wir
fürchten die Leut’ jetztund, aber euch bin ich zuge-
laufen; ihr ſeid fromm und hochgelehrt! ihr helft
uns, daß wir nicht verſinken allbeid’, ich und der
Berthold! Wir wollen in Ehren und Sitten leben,
Gebt uns den Eh’ſpruch!“


Ich weiß anfangs völlig nicht, was das be-
deutet, und als ich es endlich erfahre, ſage ich:
„Habt ihr den treuen Willen, ſo wird euch der
Eh’ſegen von der Kirche nicht vorenthalten werden.“


„Mein Gott im Himmel!“ ſchreit das Mäd-
chen, „mit der Kirche heben wir nichts mehr an,
die verſagt uns die Ehe, weil wir kein Geld haben.
Aber wenn der Herrgott böſ’ auf uns thät’ werden,
das wäre arg! — Das Gewiſſen läßt mir keine
Ruh’, und zu tauſendmal bitt’ ich euch, ſchenket uns
den Segen, den jeder Menſch kann ſchenken. Ihr
ſeid wol ſelber noch jung, und habt ihr ein Lieb,
ſo werdet ihr’s wiſſen, es gibt kein Löſen und
Laſſen. Wir leben in der Wildheit zuſammen, weil
[200] wir uns nicht laſſen mögen; wir haben keine Seel’,
die unſer Freund wollt’ ſein und uns Glück wollt’
wünſchen von Herzen. Ein liebreiches Wort möchten
wir hören, und wenn nur Einer thät’ kommen und
ſagen: wollet mit Gottes Willen und Segen ein-
ander verbleiben bis zum Tod! So ein einzig Wort
und wir wären erlöſt von der Sünd’ und ein
Eh’paar vor Gott im Himmel!“


Dieſe Sehnſucht nach Befreiung von der
Sünde, dieſes Ringen nach dem Rechten, nach der
menſchlichen Theilnahme, nach dem Frieden des Her-
zens — wen hätte das nicht zu rühren vermögen!


„Ihr herzgetreuen Leut’!“ rufe ich aus, „der
Herrgott mög’ mit euch ſein, immerdar!“


Da iſt ſchon auch der Burſche neben dem
Mädchen gekniet. Und ſo habe ich etwas gethan,
was von mir gar nicht zu verantworten iſt im
Himmel und auf Erden. Ich habe eine Trauung
vollzogen mitten im grünen Wald.


Am Peter- und Paulitag 1817.


Doch ſeltſam, was in dieſem Jungen ſteckt,
in des ſchwarzen Mathes Sohn. Er hat das Herz
ſeiner Mutter und das Blut ſeines Vaters. Nein,
er hat ein noch größeres Herz als ſeine Mutter
[201] und ein dreimal wilderes Blut, als ſein Vater.
Dieſer Knabe wird ein Heiland, oder ein fürchter-
licher Mörder.


Die alte Ruß-Kath ſiecht ſeit Monaten. Die
Leute ſagen, es fehle ihr an jungem Blut. Das
hat auch der kleine Lazarus gehört, und geſtern iſt
er zu mir gekommen mit einem hölzernen Töpfchen
und dem großen Seitenmeſſer ſeines Vaters, und
hat mich aufgefordert, ich möge aus ſeiner Hand
Blut ablaſſen und es der Ruß-Kath ſchicken.


Er glüht im Geſicht, iſt aber ſonſt ruhig. Ich
verweiſe ihm ſein Anſinnen. Er ſchießt davon. Und
bald darnach hat er im Hofe des Winkelhüterhauſes
eine Taube erwürgt — aus Zorn, aus Liebe —
ich mag es nicht entſcheiden.


Ich trete hinaus zu dem todten Thiere.
„Lazarus,“ ſage ich, „jetzt haſt du eine Mutter
umgebracht. Siehſt du die armen, hilfloſen Jungen
dort? Hörſt du, wie ſie weinen?“


Bebend ſteht der Knabe da, blaß wie Stein,
und ringt nach Luft und zerbeißt ſich die Unter-
lippe, daß Blut über den Backen rieſelt. Ich drehe
ihm den eingezogenen Daumen aus und gieße
Waſſer auf ſeine Stirne.


Ich führe ihn in ſeine Hütte zurück. Dort
fällt er erſchöpft auf das Moos und ſinkt in einen
tiefen Schlaf.


[202]

Es muß was geſchehen, um das Kind zu
retten. Wie, wenn ich es zu mir nähme, ſein Vater
und ſein Bruder wäre, es zähmte und leitete nach
meinen Kräften, es unterrichtete und zur Arbeit
anhielte und in aller Weiſe ſeine Leidenſchaft zu
tödten ſuchte?


Etwan hat der Knabe doch zu viel Blut . . . .
meinen die Leute.


Am Jakobitag 1817.


Heute bin ich wieder im Hinterwinkel, im
Hauſe des Mathes geweſen. Das Weib iſt troſtlos.
Seit zwei Tagen iſt der Knabe Lazarus ver-
ſchwunden.


Das Schreckliche iſt geſchehen. In ſeinem Jäh-
zorn hat er einen Stein nach der Mutter geſchleu-
dert. Als das geſchehen, hat er einen wilden Schrei
gethan und iſt davongegangen.


Auf der Grabſtätte des Mathes hat man
geſtern friſche Spuren zweier Kniee entdeckt.


Wir haben Leute aufgeboten, daß ſie den
Knaben ſuchen. In einer der Hütten iſt er nicht.
Es wird auch an den Abgründen und Bächen
nachgeſpürt.


„Er hat mich nicht treffen wollen!“ jammert
die Mutter, „und das iſt ein kleiner Stein
[203] geweſen, aber auf dem Herzen liegt mir ein großer.
Einen größeren hätt’ er nimmer nach mir ſchleu-
dern mögen, als daß er davon iſt.“


Drei Tage ſpäter.


Keine Spur von dem Knaben. Wol eine
andere Spur haben die Leute gefunden: große
Pfoten mit vier und fünf Zehen. Wölfe und Bären
gibt es in der Gegend.


Es geht das Gerücht, drüben in den Lauter-
gräben habe ein Holzhauer geſtern die halbe Nacht
mit einem Bären gerungen, bis es dem Mann
endlich gelungen ſei, ſeinen Arm dem Thiere in
den Rachen zu ſtoßen, daß es daran erſtickt. Ich
bin heute in den Lautergräben geweſen, dort wiſſen
ſie nichts von der Mähr.


Dagegen hat mich Einer von dort gefragt, ob
es wol wahr, daß im Winkel drüben, ganz nahe am
Hauſe, ein Rudel Wölfe den Erdmann gefreſſen hätte.


Das ſei nicht wahr, habe ich geantwortet.


Aber der Mann behauptet, er wiſſe das eigent-
lich ganz beſtimmt, nur ſei es wahrſcheinlich heute
erſt geſchehen. Die Leute thäten es allerwärts er-
zählen, und hundert Schritte vom Kirchenbau hintan
ſehe man das Blut auf dem Sandboden und Fetzen
von der Bekleidung.


[204]

Ich entgegnete, daß ich das Blut auch geſehen
habe, daß dasſelbe aber von einem Lämmlein her-
rühre, welches die Winkelhüterin geſtern Abends
eben für den Erdmann ausgeweidet habe; daß den
Erdmann alſo nicht die Wölfe aufgefreſſen hätten,
ſondern daß der Erdmann das Lämmlein aufgegeſſen
habe, und daß beſagter Erdmann ich ſelber ſei.


Der Mann iſt darauf recht verlegen und meint,
er habe mich nicht erkannt, ſonſt hätte er das Ge-
rücht nicht nacherzählt, ich möge ihm nur verzeihen,
daß die Sache nicht wahr.


Am Petri-Kettenfeiertag 1817.


Das iſt wie ein knatterndes Lauffeuer durch
den Wald gegangen. Im Karwaſſerſchlag wiſſen ſie
es, in Mieſenbach wiſſen ſie es, in den Lautergräben
wiſſen ſie es; und ich im Winkel weiß es, daß es
Die’ bereits Alle wiſſen, was doch erſt heute
morgens geſchehen iſt.


Das Töchterlein des Mathes beſucht zuweilen
die Grabesſtätte des Vaters und bepflanzt ſie mit
Hagebuttenſträuchen. Heute zur Frühe, wie es wieder
hinkommt, leuchtet ihm etwas entgegen. Auf dem
Hügel ragt ein Stab und daran flattert ein Stück
Papier. Das Mädchen läuft heim zur Mutter,
[205] dieſe läuft zu mir in das Winkelhüterhaus, daß ich
kommen und ſehen möge, was das ſei.


Es iſt ſehr merkwürdig. Eine Nachricht iſt es
von dem Knaben. Auf dem Papier ſtehen in frem-
den Zügen die Worte:


„Meine Mutter und meine Schweſter! Habt
keinen Groll und keine Sorge. Ich bin in der
Schule des Kreuzes. Lazarus.“
— — — — — — — — — —


Die Leute richten ihre Blicke auf mich. Der
Knabe kann nicht leſen und ſchreiben, faſt niemand
kann es im Walde. Die Leute meinen, ich ſei hoch-
gelehrt, ich müſſe von Allem wiſſen.


Ich weiß von nichts. Die Schule des Kreuzes,
das iſt ein geheimnißvolles Wort.


Allerſeelen 1817.


Das iſt ein lautloſes Auf- und Niedergehen
der Menſchen.


Ein Tröpfchen ſammelt ſich am hohen Zweig
des Baumes, ſickert hinaus auf die letzte Nadel,
wiegt ſich und glitzert und funkelt, oft grau, wie
Blei, oft roth, wie Karfunkel. Kaum noch hat es
die Farbenpracht des Waldes und des Himmels in
ſich geſpiegelt, ſo zieht ein Lufthauch, und das
Tröpfchen löſt ſich von dem wiegenden Tannenzweig
[206] und fällt nieder auf den ſchattigen Erdengrund. Und
der Erdboden ſaugt es ein und keine Spur iſt mehr
von dem funkelnden Sternchen.


So lebt des Waldes Kind und ſo vergeht es.


Draußen iſt es anders. Draußen erſtarren die
Tropfen in dem froſtigen Hauch der Sitte, und die
Eiszapfen klingeln aneinander und gar im Nieder-
fallen klingeln ſie und ruhen, eine Weile noch der
Welt Herrlichkeit in ſich ſpiegelnd, auf dem Erd-
boden bis ſie zerfließen und verthauen, wie der
Gedanke an einen lieben Todten.


Draußen treiben ſie noch ein helles Geflunker
mit ihren Sterbenden und mit ihren Todten. Im
Walde hat der todte Schläfer kein Nachtlicht, wie
der lebendige keines gehabt. „Das ewige Licht
leuchte ihnen!“ iſt das einzige Begehren. Die matte
Spätherbſtſonne lächelt mild und verſpricht ihren
ewigen Glanz, und der nächſte Frühling ſorgt für
Blumen und Kränze.


Nicht der todten Leiber wird im Walde gedacht,
ſondern ihrer lebenden Seelen Wehe, wenn dieſe
ſündig verſtorben im Fegfeuer ſchmachten!


Als der hungernde Hans ſeinem hungernden
Nachbar auf der Au das Stück Brot hat geſtohlen
und darauf war verſtorben, da war der Urwald
noch nicht geſtanden. Der Leib war verweſen, der
Hans vergeſſen, die Seel’ iſt im Fegfeuer gelegen.
[207] Die Au iſt zum Walde, der Wald iſt zur Wildniß
geworden; die Wölfe heulen und kein Menſch iſt
weit und breit; an den Hängen des Gebirges wogen
Sommerlüſte und Winterſtürme, und mit jeder
Minute ein Körnlein Sand, und mit jedem Jahr-
hundert eine Bergeswucht rollt in die Tiefe der
Schluchten. Und die arme Seele liegt im Feuer.
Wieder kommen Menſchen in die Einöden und die
Hochwälder fallen, und Hütten und Häuſer erſtehen
und eine Gemeinde wird gebildet — die Seele aus
alten, längſtuntergegangenen Sonnen liegt in den
Gluten des Fegfeuers und iſt verlaſſen und vergeſſen.


Aber ein Tag geht auf im Jahre, ſolch’ ver-
geſſenen Seelen zum Troſte.


Als Chriſtus der Herr am Kreuz iſt geſtorben
und nur noch der letzte Tropfen Blut in ſeinem
Herzen iſt geweſen, da hat ihn ſein himmliſcher
Bater gefragt: „Mein lieber Sohn, die Menſchheit iſt
erlöſt; wem willſt du den letzten Tropfen deines roſen-
farbenen Blutes zukommen laſſen?“ — Da hat
Chriſtus der Herr geantwortet: „Meiner lieben
Mutter, die am Kreuze ſteht, auf daß ihre Schmer-
zen ſollen gelindert ſein.“ — „O nein, mein Kind
Jeſus,“ hat darauf die Mutter Maria geantwortet,
„wenn du den bitteren Tod willſt leiden für die
Menſchenſeelen, ſo mag ich die Mutterherzens-
pein auch noch ertragen, iſt ſie gleichwol ſo groß,
[208] daß ſie nicht das Meer kann löſchen, und wär’ die
ganze Erden ein Grab, ſie nicht kunnt begraben.
Ich ſchenke den letzten Tropfen deines Blutes den
vergeſſenen Seelen im Fegfeuer, auf daß ſie einen
Tag haben im Jahr, an dem ſie von dem Feuer
befreit ſind.“


Und ſo ſei — nach der Sage Deutung —
der Allerſeelentag entſtanden. An dieſem Tage ſind
auch die verlaſſenſten und vergeſſenſten Seelen von
ihrer Pein befreit und ſtehen im Vorhofe des
Himmels, bis der letzte Stundenſchlag des Tages
ſie wieder in die Flammen ruft.


Das iſt im Walde der Sinn und Gedanke
des Feſtes Allerſeelen, und manche gute That wird
geübt auf die Meinung, den abgeſchiedenen Seelen
die Feuerspein zu lindern.


Ueber den einſamen Gräbern aber brauen die
Spätherbſtnebel, und junger Schnee verbirgt des
Hügels letzten Reſt, und darauf haben etwa die
Klauen eines Hähers ein Kettchen gezogen — als
einziges Zeichen des Lebens, das hier oben noch
waltet — des unauflöslichen Bandes Deutung:
Um Leben und Tod iſt eine ewige Kette gewunden.


In den Winkelwäldern gibt es nur ein ein-
ziges Grab, von dem die Leute wiſſen. Aber ſie
verachten es und ſie fliehen es. Und dennoch iſt es an
dieſem Tage des Gedächtniſſes nicht einſam geweſen.


[209]

Das Töchterlein des ſchwarzen Mathes hat
am Grabe des Vaters wieder ein Blatt gefunden.


„Mir geht es wohl. Ich denke an meine
Mutter, an meine Schweſter und an meinen Vater.
Lazarus.“


Das iſt die Botſchaft. Die einzige Botſchaft
von dem verſchwundenen Knaben ſeit vielen Tagen.
Die Schriftzüge ſind dieſelben, wie auf dem erſten
Blatte.


Keine Menſchenſpur geht außer der des Mäd-
chens zum Grabe hin, keine davon. Pfade von
Füchſen und Rehen und anderen Thieren ziehen in
Zick und Zack durch den winterlichen Wald.


Am Katharinentag 1817.


Es iſt ein Brief geſchrieben worden, daß der
Knabe um Gottes- und der Mutterwillen zurück-
kehren möge in die Hütte. Der Brief iſt gut ver-
wahrt über dem Grabe an dem Kreuzlein befeſtiget
worden. Bis zum heutigen Tag iſt er noch dort,
Niemand hat ihn erbrochen.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 14
[210]

Weihnacht 1817.


Heute habe ich Heimweh nach den Glocken-
klängen, nach in Wehmuth erlöſenden Orgeltönen.
Ich ſitze in meiner Stube und ſpiele Krippenlieder
auf der Zither. Meine Zither hat nur drei Saiten;
eine vollkommenere habe ich mir nicht zu ſchaffen
gewußt.


Die drei Saiten ſind mir genug; die eine iſt
meine Mutter, die andere mein Weib, die dritte
mein Kind. Stets in ſeiner Familie begeht man
die Weihnacht.


Nur wenige der Waldleute gehen mit Span-
lunten hinaus nach Holdenſchlag zur nächtlichen
Feier. Es iſt auch gar zu weit. Die Uebrigen blei-
ben in ihren Hütten; aber ſchlafen wollen ſie doch
nicht. Sie ſitzen beiſammen und erzählen ſich
Mährchen. Sie haben heute einen ſonderartigen
Drang, aus ihrer Alltägigkeit herauszutreten und
ſich eine eigene Welt zu ſchaffen. Mancher übt
alte, heidniſche Sitten aus, und vermeint durch die-
ſelben einem unſäglichen Gefühle des Herzens zu
genügen. Mancher ſtrengt ſeine Augen an und blickt
hin über die nächtigen Wälder und meint, er müſſe
irgendwo ein helles Lichtlein ſehen. Er horcht nach
[211] Feierglockenklingen und lieblichen Engelsſtimmen.
Aber nur die Sterne leuchten über den Waldbergen,
heute wie geſtern und immer. Ein kalter Lufthauch
weht über den Wipfeln; Eisflämmchen flimmern
nieder von den Kronen und zuweilen ſchüttelt ein
Geäſte ſeine Schneelaſt ab.


Aber anders berührt in dieſer Nacht das
Flimmern und das Fallen des Schnees, und die
Menſchengemüther zittern in ſehnſuchtsvoller Er-
wartung des Erlöſers.


Ich habe ein einfältig Chriſtbäumchen zu-
ſammengerichtet und dasſelbe der Anna Maria Ruß
in die Lautergräben geſchickt. Ich denke, die Kerzen-
flammen müſſen freundlich ſpiegeln in den Aeuglein
ihres Kleinen. Vielleicht, daß gar ein Flämmchen
in’s junge Herz hineinzuckt.


In der Hütte der Witwe kann kein Chriſt-
baum ſein. Auf dem Grabe des Mathes liegt ſehr
viel Schnee; das Briefgehäuſe aus Reiſig hat eine
hohe Haube. Der flehende Brief der Mutter an
das Kind muß verderben, ohne erbrochen und
geleſen worden zu ſein.


14*
[212]

März 1818.


In einem Winkel der Karwäſſer drüben hat
ſich der Berthold eine Klauſe erworben. Er iſt zu
den Holzleuten gegangen.


Die Aga hat geſtern ein Kindlein geboren.
Es iſt ein Mädchen. Sie haben es nicht nach
Holdenſchlag getragen. Ich bin geholt worden, daß
ich es taufe. Ich bin kein Prieſter und darf dem
Kirchenkalender keinen Namen ſtehlen. Waldlilie
habe ich das Mädchen geheißen, und mit dem
Waſſer des Waldes habe ich es getauft.


Oſtern 1818.


Wann wird der Engel kommen, der den Stein
hinwegwälzt?


„Jerum, jerum, unſer Herrgott iſt geſtorben?
aber wie ich ſchon ſag’, es erfährt Ein’s halt nichts
in dieſes Hinterland herein. Schau, ſchau, ſo iſt er
dennoch wol einmal geſtorben; iſt eh’ nimmer jung
geweſen, hab’ ſchon mein Lebtag von ihm gehört.
Hat halt doch auch einmal fort müſſen. Uh, wem
bleibt’s aus!“ — Das hat der alte Schwamelfuchs
geſagt, als er erfahren, daß zu Holdenſchlag am
[213] Charfreitag von der Kanzel verkündet worden,
unſer Herrgott ſei geſtorben für die Sünden der Welt.


In ernſter und in höchſter Verwunderung meint
es der Alte, der doch zu jedem Abendgebete die
Worte ſagt: „Gelitten unter Pontius Pilatus, ge-
kreuziget, geſtorben.“


Es iſt Zungengebet. Das wahre Gebet betet
nur das Herz in ſeiner Noth, in ſeiner Freude,
aber die Leute werden ſich desſelben nicht bewußt.
In Untiefen begraben liegt noch das Ding, das wir
wahre Gottesehre oder Sittlichkeit heißen.


Die Leute eilen in der Oſternacht oder am
Morgen in den freien Wald hinaus, zünden Feuer
an, laſſen Schießpulver knallen und ſpähen in der
Luft nach dem päpſtlichen Segen, der am Oſter-
morgen von der Zinne der Peterskirche zu Rom
ausgeſtreut werde nach allen vier Winden.


Es iſt immer das unbewußte Sehnen und
Ringen. Man merkt, es liegt etwas begraben in
den Herzen, was nicht todt iſt. Wann aber wird
der Engel kommen, der den Stein hinwegwälzt?


[214]

Am Sankt-Markustag 1818.


Der Schnee iſt geſchmolzen. Drüben im Ge-
ſenke donnern noch die Lahnen. Vor einem Jahre
haben wir einige Obſtbäume gepflanzt; dieſe grü-
nen jetzt ganz friſch, und der Edelkirſchbaum treibt
fünf ſchneeweiße Blüthen.


Der Kirchenbau hat wieder begonnen. Die
Maurer haben ſich auch ſchon an den Pfarrhof gemacht.
Der wird ein ſtattliches Haus nach dem Plane des
Waldherrn. Warum muß der Pfarrhof denn größer
ſein, als etwan das Schulhaus? Das Schulhaus
ſoll ja für eine ganze Familie und für eine Schaar
junger Gäſte eingerichtet ſein; der Pfarrhof herbergt
nur einen oder ein par einzelne Menſchen.


Aber der Pfarrhof ſoll das Heim und die
Zuflucht ſein für alle Rath- und Hilfbedürftigen;
eine Freiſtatt für Verfolgte und Schutzloſe, — der
Mittelpunkt der Gemeinde.


Als Neues in der Jahreszeit kehrt ſtets das
Alte wieder, die Leute leben in ihrer gewohnten
Beſchäftigung und unbewußten Armuth fort.


Ich kann nicht mehr ſo im Walde herumgehen
um mit den Leuten zu verkehren, von ihnen zu
lernen und ihnen dafür anderweitig zu nützen. Ich
[215] kann nicht mehr flechten und ſchnitzen, nicht mehr
ſo in der Schöpfung leben und Baum- und Blu-
menkunde treiben und das Erdreich ausſpähen, was
etwan aus demſelben für uns zu holen wäre. Ich
muß ſtetig bei dem Baue ſein; die Arbeiter und
Vorarbeiter geben auf meinen Rath. Ich muß viel
nachdenken und Bücher und fremde Erfahrungen zu
Hilfe ziehen, daß wir nicht auf Irrwege gerathen.


Mir behagt aber die Sache bei all der An-
ſtrengung und ich werde jünger und kräftiger.


Geſtern iſt der Dachſtuhl aufgeſetzt worden.
Viele Menſchen ſind dabei anweſend geweſen; Jeder
will zur Kirche ſein Schärflein beitragen. Die
Witwe des Mathes und ihre Tochter arbeiten auch
im Bau. Sie ſprechen kein Wort mehr von dem
Knaben. Aber letzthin hat das Weib ein Steinchen
mit aus ihrer Hütte gebracht und die Worte ge-
ſagt: „Ich möchte gern, daß dieſes Sandkorn unter
dem Altar liege.“


Es iſt der Stein, den der Knabe nach der
Mutter geworfen.


Pfingſten 1818.


Das erſte Feſt der neuen Kirche. Aber nicht
in derſelben, ſondern vor derſelben. Geſtern iſt das
Thurmkreuz aufgerichtet worden. Es iſt von Stahl
und vergoldet, — ein Geſchenk des Freiherrn.


[216]

Eine große Menge Leute hat ſich verſammelt;
es gibt doch viele Bewohner in den Wäldern.


Von Holdenſchlag aber ſoll kein Menſch da-
geweſen ſein, nicht einmal der Pfarrer. Letztlich
gönnen ſie uns etwan gar die neue Kirche nicht? —
Wol aber iſt jenſeits des Winkelbaches der Einſpanig
geſehen worden. Er ſchleicht und lauert, zerrt ſein
aſchenfarbig Lodentuch über das bewüſtete Haupt;
haſtet am Bache hin und wieder und endlich hinein
in das Dickicht. — Das iſt ein ſeltſamer Menſch;
mehr und mehr zieht er ſich zurück von den Leuten
und nur an bedeutſamen Tagen wird er geſehen.
Niemand weiß, wer er iſt, von wannen er kommt,
und was er webt, das weiß kein Weber.


Auch der Holzmeiſter nimmt an dem Feſte
theil, iſt ganz außerordentlich aufgeziert und hat
gar ſeinen rothen Vollbart gekämmt. In der Hand
hat er einen beknopften Stock getragen, da merke
ich gleich, es geht nicht gewöhnlich zu. Und richtig,
er hält eine Rede, in welcher er ſagt, daß er heute
im Namen des Waldherrn der neuen Gemeinde die
neue Kirche übergebe.


Das Kreuz trägt ein kräftiger Mann an den
Arm gebunden hinauf. Es iſt Paul, der junge
Meiſterknecht aus den Lautergräben. Von dem
Thurmfenſter, durch das er herausſteigt, iſt ein
ſehr einfaches Gerüſte an dem faſt ſenkrechten
[217] Schindeldach empor bis zur Spitze. Gelaſſen klettert
der Träger an den Balken hinan. Zur Spitze an-
gekommen ſteht er frei aufrecht und löſt ſich das
Kreuz vom linken Arm. — In der Menſchenmaſſe
iſt es ſtill, und ringsum kein Laut, als ob noch
die Urwildniß wäre an den Ufern der Winkel.
Jeder hält den Athem an, als wäre ein unbewachter
Hauch im Stande, dem Manne auf ſchwindelnder
Höhe das Gleichgewicht zu ſtören.


Paul hütet ſeinen Blick und ſeine Bewegungen
ſind langſam und regelmäßig. Ich vermeine ſchon
ein Zucken und Wenden zu bemerken, das nicht zur
Sache gehört, ſchon faßt mich der Schreck — da
ſenkt ſich das Kreuz in ſeinen Grund und ſteht feſt.
In demſelben Augenblicke ſtrauchelt der Mann —
da ſchallt herunten in meiner Nähe ein Schrei.
Aber Paul ſteht oben.


Der Schrei iſt aus dem Munde der Anna
Maria gekommen. Sie iſt todtenblaß und ohne
noch einen Laut zu thun, ſetzt ſie ſich auf einen
Stein.


Und jetztund wird’s erſt luſtig. Paul zieht ein
Glas hervor, hebt es, leert es und ſchleudert es
nieder auf den Boden. Es zerſpringt in tauſend
Scherben und die Leute ringen untereinander um
dieſe Scherben, um ſolche für ihre Enkel zu erhaſchen
und dereinſt ſagen zu können: Sehet das iſt ein Theil
[218] des Glaſes, aus dem bei der Aufrichtung unſeres
Kirchthurmkreuzes getrunken worden.


Noch ſteht Paul auf hoher Zinne, Arm in
Arm mit dem Kreuze; da kommt im Thurmfenſter
der graubärtige Kopf unſeres Fabelhans-Rüppel
zum Vorſcheine. Der zwinckert ſo gewaltig mit den
weißen Augenbüſchen, daß man es gar herunten
bemerken kann, und hebt ſo an zu reden:


„Weil ich mich nicht auf die Spitz’ getrau,
ſo ich zu dieſem Fenſter herausſchau. Auf der Spitz’
ſteht ein junger Mann, dem ſteht das Trinken an;
das Reden aber mir Alten. Will euch doch keine
Predigt halten; dafür wird unten die Kanzel gebaut
und dieſelb’ einem rechtſchaffenen Pfarrer vertraut.
Neben der Kanzel werdet ihr einen Taufſtein er-
blicken; dem hab’ ich nichts mehr zu ſchicken; aber
es gibt Leut’ in der Pfarr, die brauchen ſo ein’
Waſchtrog alle Jahr; Der Taufbrunn’ darf nicht
zu klein, im Holzhauerland muß das ein ſtarker
Brunnen ſein. Aber gleich daneben thut der Beicht-
ſtuhl ſtehn, da tragen ſie alle Sünden hinein, ſind
ſie groß oder klein. Gott wird ſie verzeihn; der
Beichtvater aber ſoll die Ohren verſchließen, der
kann die Sünden von ſich ſelber wiſſen. Dann iſt
der Hochaltar, da ſchüttet man ſeinen Kummer aus
und geht wieder friſch und jung nach Haus. Und
der liebe Gott wird zwölf Engel ſenden, die werden
[219] die Gemeinde bewachen an allen Enden. Da hör’
ich, was auf dem Thurm das Glöcklein ſpricht, und
ſeh’ leuchten das heilige Kreuz im Sonnenlicht, wie
ein Wegweiſer, ein göttliches Zeichen, daß wir all-
zuſamm’ mit Gottes Gnad’ den Himmel erreichen.
— Und weil ich heut auf dieſem Thurm ſchon die
Glocken muß ſein, ſo ruf’ ich es weit in’s Land
hinein, daß es hallt und ſchallt über Berg und
Wald, bis hin in die ſchöne Stadt, wo unſer braver
Herr ſeinen Wohnſitz hat. Ich und wir All’ und
die ganze Gemein bedanken uns wol von Herzen
fein für’s Gotteshaus zur ſchönen Zier! und der
Engel ſoll uns leiten All’ zur himmliſchen Thür. —
Das iſt mein armer Gruß; und noch thät’ ich
meinen zum Schluß: eh’vor wir ſelbander im
Himmel uns freu’n, wollen wir auf Erden noch
luſtig ſein!“


In allen Herzen haben die Worte gezündet
und ich hätte gleich meinen eigenen Schutzengel
mögen ſchicken, daß er dem Herrn in der Stadt
den lieblichen Dankesgruß gebracht.


Als hierauf der Paul glücklich vom Thurme
zurückkommt auf den feſten Erdengrund, hat ihn
ſein Weib mit beiden Armen empfangen: „Gott
gibt dich mir mit eigenen Händen zurück!“


Darauf gehen ſie dem Hauſe zu, das heute
eine laute Schenke geworden iſt. Und ſiehe die
[220] Fügung, da iſt der Paul nach wenigen Stunden
auf dem breiten, ebenen und grundfeſten Boden des
Wirthshauſes nicht mehr ſo ſicher geſtanden, wie
oben auf der Spitze.


Das erhöhte Kreuz aber hat ſeinen Arm
huldreich ausgebreitet über die Kirche und über
das Wirthshaus.


Einige Tage ſpäter.


Es wird aber nicht wahr ſein, was man über
den Sohn unſeres Waldherrn redet. Der junge Herr
ſoll es toll treiben. Es haben auch der Reichthümer
allzuviel auf ihn gewartet, als er in dieſer Welt
iſt angekommen. Ei freilich läßt ſich mit klingendem
Namen und klingender Münze im Leben etwas machen.


Aber ich habe dem guten Hermann ja geſagt,
woher das Brot kommt und was Arbeit heißt.
Freilich, das Eine hat mir nicht gefallen wollen,
daß er niemals auf die Arbeiter des Feldes und
auch niemals auf die Blumen des Frühlings und
auf die Blätter des Herbſtes hat geachtet.


Doch nein, Hermann, du kannſt ſo ſehr nicht
irren. An deiner Seite ſteht ja der heiligſte, treueſte
Schutzgeiſt, den Erde und Himmel je geboren hat. —


Ei, komme doch einmal herein in unſeren
ſchönen, ſtillen Wald!


[221]

Morgenroth und Edelweiß.


Im Sommer 1818.


Zuweilen iſt mir im Winkel hier doch gar
recht einſam zu Herzen. Ich weiß nun aber ein
Mittel dagegen; ich gehe zu ſolchen Stunden hinaus
in die noch größere Einſamkeit des Waldes; und
ich bin in derſelben ſogar ſchon nächtlicher Weile
geweſen, und habe die ſchlummernde Schöpfung be-
trachtet und Ruhe und Befriedigung empfunden.


Nacht liegt über dem Waldlande. Der letzte
Athemzug des vergangenen Tages iſt verweht. Die
Vöglein ruhen und träumen und dichten künftige
Lieder. Aber die Käuze krächzen und Aeſte ſeufzen
in ihren Stämmen. Die Welt hat ihr Auge ge-
ſchloſſen, aber ihr Ohr thut ſie auf der ewigen
Klage der Menſchen. Wozu? ihr Herz iſt Fels-
geſtein und nimmer zu wärmen. Ei, ſie wärmt ja
mit ihrer Ruhe und mit ihrem Blick. — Oben
drängt ſich Geſtirn an Geſtirne, es tanzt ſeinen
Reigen und freut ſich des ewigen Tages. — Auch
[222] dem Walde naht der Morgen wieder, ſchon winken
ihm die Zweige.


Es naht der junge König auf Wolkenroſſen
vom Aufgang her geritten und bohrt ſeine glut-
lodernden Lanzen in das Herz der Nacht, und dieſe
ſtürzt nieder in dämmernde Schluchten, und von
felſiger Zinne rieſelt das Blut.


Alpenglühen nennen es die Leute.


Zu dieſer Jahreszeit wäre es auf dem grauen
Zahn gut ſein. Während unten in finſteren Thälern
die Menſchen ausruhen von Mühſal, und träumen
von Mühſal, und ſich ſtärken zu neuer Mühſal —
ſtehen da oben die ewigen Tafeln in ſtiller Glut,
und um Mitternacht reicht über dem Zahn ein Tag
dem andern die Hände.


„O, das iſt ein ſchönes Licht!“ hat der alte
Rüppel einmal ausgerufen, „das leuchtet hinaus in
die weite Fern, das leuchtet mir hinein in mein
tiefes Herz, das leuchtet mir hinauf zu Gott dem
Herrn!“


In meiner Seele iſt zuweilen eine ſo ſeltſame
Empfindung; Sehnſucht nach dem Weiten, nach
dem Unbegrenzten iſt nicht ganz der rechte Name
dafür; Durſt nach dem Lichte möchte ich ſie heißen.
— Mein armes Auge, du vermagſt der dürſtenden
Seele nicht genug zu thun; du wirſt in dem Meere
des Lichtes noch ertrinken.


[223]

Ich bin dieſer Tage wieder auf dem Zahn
geweſen. Bald werde ich ja an den Glockenſtrick
geknüpft ſein, wenn andere Leute Feiertag haben.
Es ſei, der Glockenſtrick iſt ein langer Athem, der
ſagt mit jedem Zug den Menſchen was Gutes und
lobet Gott.


Ich habe von dem hohen Berge aus nach den
Niederungen geſchaut, aber das Meer hab ich nicht
geſehen. Ich habe gegen Mitternacht geſchaut bis
zu den fernſten Kanten hin, von da aus man viel-
leicht das Flachland könnt’ ſehen, und die Stadt
und den Giebel des Hauſes, und das Gefunkel der
Fenſter . . . .


Und wie lang’ müßteſt du fliegen, du Blick
meines Auges, bis hin in’s Sachſenland zum
Grabe! . . . .


Der ſcharfe Wind hat meine Gedanken abge-
ſchnitten. Da bin ich wieder niederwärts geſtiegen.


An einem Ueberhang des Grates habe ich
etwas recht Freundliches gefunden.


Das habe ich am Geſtade des fernen See’s
von meiner Ahne ſchon gehört, und das habe ich
von den Menſchen dieſes Waldlandes wiederholt
vernommen, daß in der Sonne drin die heilige
Jungfrau Maria am Spinnrade ſitzt. Sie ſpinnt
Wolle von ſchneeweißen Lämmlein, wie ſie im
Paradieſe weiden. Da iſt ihr einmal, als ſie bei
[224] dem Spinnen eingeſchlummert und vom Menſchen-
geſchlechte hat geträumt, ein Flockchen der Wolle
auf die Erde gefallen, iſt hängen geblieben an
einem hohen Felſen, und die Leute haben es gefun-
den und Edelweiß geheißen.


Zwei Sternchen davon hab ich abgepflückt und
ſie an meine Bruſt gethan. Das eine, das ein wenig
röthlich leuchtet, ſei Heinrichroth genannt, das andere,
ſchneeweiße, das . . . . laſſe ich bei ſeinem alten
Namen.


Als ich gegen Abend zu den Wäldern und
Geſchlägen niederkomme, ſtößt mir was unſäglich
Liebliches zu. Da ſehe ich unweit meines Fußſteiges
eine Schichte friſchgrünen Graſes; es duftet mir ſo
einladend entgegen, und ſo denke ich, daß ich hin-
ſchreite dazu und meine ermüdeten Glieder darauf
ein wenig raſten laſſe. Und wie ich nun zur Gras-
ſchichte komme, ſehe ich darin ein Kindlein ſchlafen.
Ein blüthenzartes, herziges Kindlein, ſorglich in
Linnen gewickelt. Ich bleibe ſtehen, und wahre mei-
nen Athem, daß er nicht in Verwunderung aus-
breche und ſo das Weſen wecke. Ich vermag kaum
zu denken, wie es komme, daß dieſes hilfloſe, blut-
junge Menſchenkind zu dieſer Stunde an dieſer ent-
legenen Stelle ſei. Da klärt es ſich ſchon auf. Von
der Thalmulde wankt eine Grasladung heran, und
unter derſelben ſchnauft die Aga, die für ihre
[225] Ziegen Futter ſammelt, und das Kind iſt ihr
Töchterchen — meine Waldlilie.


Das Weib ladet hierauf den Grasvorrath auf
ihren Rücken und das Kind auf ihre Bruſt, und
wir gehen zuſammen dem Thale zu.


Ich bin an demſelben Abende in ihre Klauſe
eingekehrt und hab Ziegenmilch getrunken. Der
Berthold iſt ſpät vom Holzſchlage heimgekommen.
Die Leutchen führen ein kümmerliches Leben; aber
ſie ſind guten Muthes, und die junge Waldlilie iſt
ihre Glückſeligkeit.


Als der Berthold an meiner Bruſt das Edel-
weiß ſieht, ſagt er mit dem Finger drohend: „Ihr,
gebt Acht, das iſt ein gefährlich Kraut!“


Ich verſtehe ihn nicht, da ſetzt er bei: „Das
Edelweiß hätt’ ſchier meinen Vater getödtet und das
Edelweiß will mir die Lieb’ zu meiner ſchon ver-
ſtorbenen Mutter vergiften.“


„Wie ſo, wie ſo, Berthold?“ frage ich.


Da erzählt er mir folgende Geſchichte: Auf
der andern Seite des Zahn, vom Geſenke hinaus,
iſt ein Forſtjunge geweſen, der hat ein Sennmäd-
chen lieb gehabt. Aber das iſt gottlos ſtolz geweſen
und hat eines Tages zum Forſtjungen geſagt:
„Biſt mir ja recht und ich mag dein werden, aber
eine Gewährſchaft mußt du mir geben von deiner
treuen Lieb’. Biſt ein flinker und prächtiger Burſch;
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 15
[226] ſchlagſt mir’s ab, wenn ich ein Edelweiß verlang’
von der hohen Wand herab?“


„Mein Leben, ein Edelweiß ſollſt du haben?“
jauchzt der Burſch, denkt aber nicht daran, daß ſie
die hohe Wand die Teufelsburg heißen, weil ſie
unbeſteigbar iſt, weil an ihrem Fuß ſechs Marter-
tafeln ſtehen, von Wurznern und Gemsjägern zei-
gend, die herabgeſtürzt. Und die Sennin bedenkt es
nicht, daß ſie die ſiebente Martertafel begehrt.


Aber dasſelb’ iſt wol wahr, daß Einem die
Lieb’ toll den Kopf verrückt. Der Forſtjunge hat
ſich aufgemacht noch an demſelbigen Tag.


Er beſteigt das niedrigere Gewände, über wel-
ches der Holzhauer mit ſeiner Kraxe noch wandeln
muß; er erklettert Hänge, an denen der Wurzner
ſeinen Speik ausſticht; er ſchwingt ſich über Schluch-
ten und Klippen, denen kaum mehr der Gemsjäger
traut. Und er erreicht endlich jene ſchaudervollen
Stellen an der Teufelsburg, die unter ſich den zer-
riſſenen Abgrund, über ſich das ſenkrecht aufſteigende
Gethürme haben.


Auf einem nächſten Felsvorſprung iſt ein
Gemslein geſtanden, das hat luſtig ſein Haupt
erhoben und ſpottend auf den Burſchen herüber-
geſchaut. Es iſt nicht geflohen, da oben iſt das
Wild der Jäger und der Menſch das hilfloſe
Wild. Das Gemslein ſcharrt mit dem Forder-
[227] fuß, da fliegen weiße Flaumſchüppchen auf. —
Edelweiß.


Der Burſche weiß wol, er hat ſein Auge zu
wahren, daß das Rad in ſeinem Haupte nicht an-
hebt zu kreiſen. Er weiß wol: blickt er empor am
Gewände, ſo iſt es der Abſchied vom Himmelslicht,
und ſenkt er ſein Auge niederwärts, ſo ſchaut er
in ſein Grab.


Nicht die Gemſe, der Boden, auf dem ſie
ſteht, iſt heute ſein Ziel. Einſtemmt er den Alpen-
ſtock und windet ſich und ſchwingt ſich. Blau und
grau wird es um ſein Auge. Funken tauchen auf
und kreiſen und vergehen. Nichts ſieht er mehr,
als das Lächeln der Sennin, da ſchleudert er den
Stock von ſich, da hebt er an und hüpft und ſpringt
in weiten Sätzen. Und die Gemſe macht ſich auf
und ſetzt wild über ſein Haupt, und der Forſtjunge
ſinkt hin auf das weiße Bettlein des Edelweiß.


Am zweiten Tage nachher hat der Oberförſter
bei den Leuten nachfragen laſſen, ob der Forſtjunge
nicht geſehen worden ſei. Am dritten Tage haben
ſie das Sennmädchen geſehen im Walde laufen mit
gelöſten Haaren und ringenden Händen. Und an
dem Abende desſelben Tages iſt der Forſtjunge auf
einen Stock geſtützt durch das Thal geſchritten.


Wie er herabgekommen von der Teufelsburg,
das hat er keinem Menſchen erzählt, noch vielleicht
15*
[228] erzählen können. Edelweiß hat er bei ſich ge-
tragen — einen Strauß an der Bruſt — einen
Kranz auf dem Haupte; ſchneeweiß, edelweiß ſind
ſeine Haare geweſen.


Und das Sennmädchen, das ſich in ſeinem
Uebermuth an dem braunen Lockenkopf verſündigt,
hat jetztund das Weishaupt geliebt und gepflegt,
bis es ſelbſt ein ſolches geworden in ſpäten Jahren.


Faſt ſchön hat der Berthold dieſe Geſchichte
erzählt und letztlich beigeſetzt, daß er von dem
Forſtjungen und der Sennin das Kind ſei.


Im Herbſt 1818.


Wenn ich in den Wäldern herumgehe zu großen
und kleinen Leuten, und von den erſteren lerne und
die letzteren lehre, ſo ſehne ich mich oftmals zurück
zum Steg der Winkel. Da haben die letzten Jahre
her die Leute um das Winkelhüterhaus mit Axt und
Hammer ſo herumgearbeitet und ich hab ſelber zu-
weilen ein wenig meine Hand daran gelegt. Und
nun ich die Augen einmal aufmache und die Dinge
betrachte, ſehe ich, daß wir ein Dorf haben.


Neben dem Hauſe ſind ein par Hütten auf-
gerichtet worden, anfangs nur für die Bauarbeiter,
und nun werden ſie zu ſtändigen Häuſern ein-
gerichtet. Und da iſt der Martin Grasſteiger, ein
[229] Kohlenbrenner aus den Lautergräben herübergekom-
men, und hat zwei ſolche Hütten um eine ganz
erkleckliche Summe erkauft und zur Verwunderung
der Leute gleich baar ausbezahlt. Aus den pech-
ſchwarzen Kohlen werden funkelnde Thaler gemacht,
hat die alte Ruß-Kath einmal geſagt. Und mit
planken Thalern hat der Grasſteiger die Hütten be-
zahlt, und nun iſt er ein anſehnlicher Mann.


Der Pfarrhof iſt der Vollendung nahe und die
Kirche ebenfalls, und darnach kommt das Schulhaus
dran; — o Gott, ich erlebe eine ſehr große Freude
in dieſen Wäldern.


Geſtern zur Abendſtunde haben wir die Kirche
zum erſtenmal zugeſperrt. Es iſt der Baumeiſter,
der Tiſchler aus Holdenſchlag, der Holzmeiſter dabei
geweſen, aber ich weiß nicht, wie es gekommen,
daß, wie wir auseinandergegangen, der Schlüſſel
mir in den Händen iſt verblieben. Ja ſo — ich
bin ja der Schulmeiſter. Ich weiß es ſelber kaum,
daß ich es bin, und da ſchreibt mir letztlich der
Waldherr, er ſei mit meinem ſchulmeiſterlichen Wir-
ken im Walde recht zufrieden. Was thue ich denn?
Geſchichten erzähle ich den Kindern, und weiſe ihnen
mancherlei Kleinigkeiten des Waldes, die ſonſt zeit-
lebens kein Menſch hier noch beachtet hat, mit denen
aber die Kinder tolles Weſen treiben und ihre
Freude haben.


[230]

Die vorderſten Fenſter in der Kirche, zwiſchen
welchen der Altar kommt, ſind mir nicht ganz recht.
Die Scheiben ſind ſo hell, und das thut mir zu-
weilen im Auge weh. Und es ſchaut die Waldlehne
und der Holzſchlag herein. Ei, das wäre was Rechtes
für den Sonntagsbeter, da thät’ er im Gedanken
allfort Holz hacken, ſtatt ſeine arme Seele demüthig
dem lieben Gott vorzuführen, und er thät’ die ge-
ſchlagenen Stämme zählen und die Stöcke und die
Reiſighaufen und ſolche Dinge, um deren Anzahl
er ſich ſonſt die ganze Woche nicht kümmert. Da
muß das Gebet ſchon wie ein Blutquell aus dem
Herzen ſtrömen, wenn der Gedanke dabei nicht durch-
zugehen trachtet, und ſo muß man die Kirche wie
eine Burg bewahren, daß der Sonntag nicht hinaus
und der Werktag nicht herein kann.


Die beiden Fenſter müſſen mit Glasmalereien
verſehen werden, und das will ich beſorgen. Ich
habe mir rothes, gelbes, blaues und grünes Papier
kommen laſſen und arbeite nun ſchon ſeit Tagen
als Bildſchnitzer bei verſchloſſenen Thüren.


Ueber den Kirchenheiligen ſind die Leute noch
nicht einig geworden. Aber ich habe darüber meine
Gedanken. Stellen wir gar keinen auf. „Leute,“
hab ich geſagt, „ſtellen wir gar keinen auf. Jeder
ſoll ſich den ſeinen denken nach Belieben. Die Hei-
ligen ſind unſichtbar und im Himmel; wir könnten
[231] ſie nur aus ſchlechtem Holz nachmachen, und das
thäte ſie leicht verdrießen.“


„’s mag wol richtig ſein,“ haben Einige auf
dieſen Vorſchlag geantwortet, und wir erſparen die
Unkoſten.“


Den Altartiſch hat ein Vorhacker vom Kar-
waſſerſchlag gezimmert. Der Vorhacker iſt ein armer
Mann mit reichem Kinderſegen; er hat aber für
die Kirchenarbeit kein Entgeld genommen. — „Auf
eine gute Meinung thu’ ich’s,“ hat er geſagt, „für
die Meinigen thu’ ich’s, auf daß mir keines ſtirbt
und keines mehr dazukommt.“


Der liebe Gott muß nicht recht verſtanden
haben; kaum iſt der Altartiſch fertig, rückt dem
Vorhacker der neunte Bub auf die Welt.


Um zu zeigen, daß es eine Ehre iſt für den
Wald, wenn ſo ein armer Mann ein gemeinnütziges
Werk vollbringt, ſo nennen wir den Vorhacker, weil
er auch einer iſt, der ſeinen Namen nicht weiß, —
den Franz Ehrenwald. — Der Name reicht für
ſeine neun Buben und für Weiteres.


Der Franz Ehrenwald iſt ein geſchickter und
ſtrebſamer Kopf. Weil ihm der Altartiſch gelungen
iſt, ſo will er ſich nun ganz auf das Zimmer- und
Tiſchlerhandwerk verlegen. Er hat ſich ſchon eine
Unzahl Werkzeuge geſammelt und zwei Körbe voll
von Hobeln, Reifmeſſern, Bohrern, Sägen, Beilen,
[232] Stemmeiſen und Dingen verſchafft, die er gar nicht
anzufaſſen weiß und ſein Lebtag nicht brauchen
wird. Aber die Werkzeugkörbe ſind ſein Stolz und
ſeine ſchwache Seite, und ſeine Buben können ihm
keinen größeren Aerger verurſachen, als wenn ſie in
ihren eigenmächtigen Tiſchlerarbeiten ihm etwan
einen Bohrer verſchleppen oder ein Meſſer ſchartig
machen. Sie mögen nur brav das Handwerk lernen,
die zwei Körbe werden ja einmal ihre Erbſchaft ſein.


Ich habe mehrere Pläne für Wohnhäuſer ge-
zeichnet, wie ſie gebaut werden ſollen, daß ſie dauer-
haft, licht, luftig, leicht heizbar, für die Lebensweiſe
der Leute geeignet und geſchmackvoll ſind. Nach ſol-
chen Plänen hat der Franz Ehrenwald bereits
mehrere Häuſer begonnen. Eines davon gehört dem
Meiſterknecht Paul in den Lautergräben. Die Bau-
ten ſind nicht koſtſpielig, da der Waldherr das Holz
dazu umſonſt gibt; auch ſollen ſie, ſagt man, ſteuer-
frei bleiben.


So fängt das Geſchäft des Meiſter Ehrenwald
prächtig an; er muß ſich Gehilfen nehmen und
ſeine Buben werden ihm zu wenig. Auch geht er
bereits mit einem Plan für ſein eigenes Haus um.
Letztlich, als ich einmal unten am Bach ſtehe und
Forellen fiſche, kommt er plötzlich, ich weiß gar
nicht von woher, auf mich zu und liſpelt mir ge-
heimnißvoll in’s Ohr: „Glaubt mir, mein neues
[233] Haus wird ſaggriſch toll, ſaggriſch toll wird’s!“
Kein Menſch ſonſt iſt in der Nähe geweſen und
die Fiſche ſind auch in der Winkel taub. Aber
ſaggriſch toll — flüſtert er leiſe — wunderprächtig
wird ſein Haus! Der Mann iſt ſchier kindiſch vor
Glückſeligkeit; er iſt auf ſeinem Fahrwaſſer; früher
iſt es gar Keinem eingefallen, daß man auch in
den Winkelwäldern ſtattliche Wohnungen bauen
könne.


[234]

Auf dem Kreuzwege.


Im Herbſt 1818.


Oben, in der Oede des Felſenthales ſteht ein
hölzernes Kreuz. Es iſt dasſelbe, welches empor-
gewachſen ſein ſoll aus dem Saamenkorne des
Vögleins, das alle tauſend Jahre in den Wald
fliegt.


Ich beſpreche mich mit dem Förſter und einigen
der Aelteſten. Hernach frage ich den alten Bart-
kopf und Fabelhans Rüppel, der ſonſt auch juſt
kein wichtig Geſchäft hat, ob er mit mir gehen
wolle hinauf in die Karwäſſer und in das Felſen-
thal, und ob er mir das bemooſte Kreuz wolle
herabtragen helfen in den Winkel.


Und ſo gehen wir an einem hellen Herbſt-
morgen davon.


Beiden iſt uns unſäglich wohl geweſen. Dem
ſchattendunkeln Winkelbach haben wir Dank geſagt
für ſein Schäumen und Rauſchen. Dem Wieſen-
grün haben wir Dank geſagt, daß es wieſengrün iſt,
[235] dem Thaue und den Vögeln und dem Reh und
dem ganzen Wald haben wir Dank geſagt. — Wir
ſteigen über glatten Waldboden, wir ſteigen über
verwittertes Gefälle und bemooſtes Geſtein. Die
Bäume ſind alt und tragen lange Bärte, mit jedem
ſteht der Fabelhans auf brüderlichem Fuße. Unter
den Weben der Mooſe begegnen uns Käfer, Amei-
ſen, Eidechſen; wir grüßen ſie alle, und luſtflun-
kernde Schmetterlinge laden wir ein, daß ſie mit
uns kommen ſollten zum Kreuze. Ei, die kleine
bunte Welt hat davon nichts wiſſen wollen.


Mein Gefährte iſt ein ſehr ſeltſamer Kauz.
Wer ihn nicht kennt, der kann ihm nicht glauben.
Aber unter den Waldmenſchen gibt es einmal die
wunderlichſten Sondergeſtalten. Draußen in der
durchgebildeten und abgeſchliffenen Welt nennt man
ſolche Erſcheinungen große Geiſter; hier heißen ſie
Narren und Halbnarren.


Der Rüppel iſt ſo ein Halbnarr. Sie heißen
ihn auch den Fabelhans, weil er allfort was zu
fabeln weiß; und ſie heißen ihn den Reim-Rüppel,
weil er — und das iſt die Merkwürdigkeit —
nicht zehn Worte ſprechen kann, ohne zu reimen.
Es iſt eine tollwitzige Gewohnheit. Seine ganze
Lebensgeſchichte hat er mir unterwegs in Reimen
erzählt. Die Reime haben zwar gottsläſterlich ge-
holpert; aber wer ſoll auf ſo ſteinigem Waldboden
[236] nicht holpern und ſtolpern? — Ich will es doch
verſuchen, mir ſeine Geſchichte einzuprägen.


„Ein Küſterbüblein bin ich geweſen,“ hebt er
an, „draußen in Holdenſchlag ſteht’s noch zu leſen.
Wenn ich den Strick hab’ geſchwungen und die
Glocken haben geklungen, hab’ ich den Takt geſun-
gen und den Schwenkel nachgeahmt mit meiner
Zungen. Beim Miniſtriren hab’ ich wol andächtig
die Orgel genoſſen, hab’ dem Pfarrer Wein in den
Kelch gegoſſen; aber unter dem Waſſerkrüglein hat
er gleich gezuckt; kaum ein Tröpflein, iſt er ſchon
davongeruckt. Waſſer und Wein als Fleiſch und
Blut, das iſt unſer höchſtes Gut, aber wer in den
Kelch zu viel Waſſer thut, der verdirbt das roſen-
farben’ Chriſtiblut. — Als ich von der Kirchen
bin fortgekommen, hat mich ein Schmied in die
Lehr’ genommen. Der Blaſ’balg hat mit Gleich-
maaß angefangen und der Hammer iſt taktfeſt mit-
gegangen, und der Ambos hat geklungen, ſind die
Funken geſprungen, und Alles hat ſich gefügt und
gereimt, als wär’ es gehobelt geweſen und geleimt.
Gerade meinem Meiſter hat’s nicht angepaßt, da
hat er mich nach dem Takt beim Schopf gefaßt.
Und ſchaut, bei dieſen taktfeſten Dingen, Klingen,
Singen und Springen, hab’ ich zum ſtillen Feier-
abendfrieden baß angefangen Reime zu ſchmieden.
Aber, wie auch geſchmiedete Reime gerathen, es
[237] ſind keine Hufeiſen, ſind keine Spaten, und der
Eiſenſchmied hat den Reimſchmied bald verjagt
hinaus in den Wald. — Im Wald hab’ ich Moos
gezupft und Wurzeln und Kräuter gerupft, bin
federleicht geworden und mit dem Reh geſprungen,
bin luſtig geblieben, hab’ mit den Vöglein geſungen.
Der Förſter, ein Vetter von mir, hat gedacht, ich
kunnt bei dem Lungern gar leicht verhungern, und
hat mich zum Jäger gemacht. — Wie ich die erſte
Büchs hab’ umgehangen, haben die Thier’ im Wald
ein Freudenfeſt begangen. Ich hab’ nach dem Wild
geſchoſſen und die blaue Luft getroffen, da bin
ich dem Reh auf Versfüßen nachgeloffen. Das iſt
gar ſtehen geblieben: ich kunnt nach Belieben mich
ſetzen auf ſeinen Rücken; auf ſo ungleichen Bein’,
das ſehe es ein, könne das Gehen nicht glücken. —
Und ſchaut, kaum hab’ ich das Wild mir zur Freund-
ſchaft genommen, bin ich mit dem Förſter in Feind-
ſchaft gekommen, und von meinem Jagen und
Schießen, will er gar nichts mehr wiſſen. — Bin
eine Weil’ in der Welt herumgegangen, hab’ allerlei
angefangen; mit allerhand Herren thät’ ich ver-
kehren; theils haben ſie mir gutherzig den Dienſt
aufgeſagt, theils haben ſie mich mit Stecken davon-
gejagt. — Und ſchaut, ſo ſchleift es fort und ſo
werd’ ich alt, und ſo holper’ ich wieder zurück in
den Wald; und das iſt mein Aufenthalt. Und wenn
[238] ich wo Leute find’, die gutherzig und luſtig ſind,
ſo mach’ ich mich beſcheiden und mit Freuden
daran, und ſinge ſie an; und ſinge zur Tauf’ und
Hochzeit und anderer Luſtbarkeit um mein Stücklein
Brot; iſt’s auch ſchwarz und trocken, geſegne mir’s
Gott! bin ich geſund und wird mir die Zungen
nicht lahm im Mund, ſo leid’ ich keine Noth. Und
iſt es Zeit, ſo kommt der Herr Tod, ich bin bereit
und gehe heim, und das iſt der allerbeſte Reim.
Und hör’ ich ſingen und poſaunenklingen, ſo ſteh’
ich wieder auf. Und das iſt des Reim-Rüppels
Lebenslauf.“


Ich möchte den Mann die wilde Harfe oder
den Waldſänger heißen, oder den evangeliſchen
Sperling; er ſäet nicht und erntet nicht und bettelt
nicht, und die braven Winkelwäldler ernähren ihn
dennoch, während draußen im weiten Land die
Sänger verhungern.


Nach vielen Stunden ſind wir endlich hinauf-
gekommen in das Felſenthal. Als wir am zerriſſenen
Gewände hingehen, in deren Klüften das Grauen
ſchlummert, und als wir mitten in den nieder-
gebrochenen Klötzen das Kreuz ragen ſehen, theilt
mir mein Begleiter mit, es thät’ ihm ſcheinen,
als huſche dort eine Menſchengeſtalt zwiſchen den
Steinen. Ich aber habe außer uns zweien Nieman-
den bemerkt.


[239]

Vor dem Kreuze ſtehen wir ſtill. Auf dem be-
mooſten Felsklotz ragt es, wie es vor vier Jahren
geragt, wie es nach der Menſchen Sagen ſeit un-
vordenklichen Zeiten geſtanden. Wetterſtürme ſind
über ihn hingezogen und haben die Rinde gelöſt
von dem Holze; ſie ſind dem Kreuzbilde nicht wei-
ter gefährlich worden. Aber die milden Sonnentage
haben Spalten geſprengt an den Balken. — Das
Himmelsauge wölbt ſich in lichter Bläue über den
verlornen Weltwinkel. Die niedergehende Sonne
blitzt ſchräge hinter dem Gefelſe hervor und ſpinnt
in den uralten, kahläſtigen Baumrunen und beſcheint
den rechten Arm des Kreuzes. Ein braunes Würm-
chen kriecht über den Balken dem ſonnigen Arme
zu, doch kaum es den Arm erreicht, iſt die Glut
erloſchen. — Ein Kieferſchabkäfer lauft an dem
Stamme empor und eilt unter das letzte Rinden-
ſchüppchen, um etwan die Puppe einer Ameiſe zu
erhaſchen. — Dem iſt das beſtrahlte Kreuz ein
Gottesreich; dem iſt es ein Tummelplatz ſeines
Strebens und Genießens.


Unſerer Gemeinde möge es das Erſtere ſein!


Es iſt gut, daß kein Menſch weiß, wer den
Pfahl im Felſenthale gezimmert und aufgeſtellt hat.
Denn niemals ſollen ſich unter den Anbetenden
jene Hände falten, die das Bild der Gottheit ge-
ſchnitzt haben. Von dem Berge Sinai herab hat
[240] Moſes die Geſetztafeln geholt, als wahres Bild
Gottes. Erſt als die Iſraeliten aus ihrem eigenen
Geſchmeide und mit eigenen Händen ein Bild ge-
formt, iſt ein Götzenbild daraus geworden.


Als wir auf den Fels geſtiegen, um den Kreuz-
pfahl abzulöſen, hat der Rüppel ſein Geſicht bedeckt
mit beiden Händen. „Wir brechen den Altar im
Felſenkar!“ ruft er in Erregung, „bei wem ſoll
nun im Sturme beten der Baum und das verfolgte
Reh am Waldesſaum?“


Mir ſelbſt haben die Hände gezittert, als wir
das Kreuz ausheben und auf unſere Schultern
nehmen. Ich habe es ſo getragen, daß der Quer-
balken an meinem Nacken gelegen, wie ein Joch;
der Rüppel hat den Stamm nachgeſchleppt.


Und ſo gehen wir mit der Laſt hin zwiſchen
den Klötzen und zwiſchen den einzelnen Baumrunen.
Als wir zu dem Hange kommen, da bricht die
Abenddämmer an.


Die ganze Nacht ſind wir mit dem Kreuze
gegangen her durch die Waldungen. In den Schluch-
ten und Engpäſſen iſt es ganz grauenhaft finſter
geweſen und an manch alten Stamm hat unſer
Pfahl geſtoßen. Wo der Weg über Höhen geht, da
rieſelt durch das Geäſte das Mondlicht, und wir
ſchreiten hin über die milden weißen Tafeln und
Herzen, die auf dem Boden liegen.


[241]

Mehrmals haben wir das Kreuz auf die Erde
geſtellt und uns den Schweiß getrocknet; gar wenig
haben wir mitſammen geſprochen. Nur einmal hat
der Rüppel den Mund aufgethan und folgende
Worte geſagt: „Das Kreuz iſt ſchwer und herb;
mag’s nur tragen, bis ich ſterb’. Aber thun ſie mich
begraben, ſo möcht ich ein grünes Bäumlein haben,
das nicht zuſammenbricht auf mein Gebein, das
aufwächſt gegen Himmel im Sonnenſchein!“


Da iſt es bei ſo einem Ablaſten, daß neben
uns eine dunkle Geſtalt über den Weg huſcht. Sie
ſtreckt eine Hand aus, deutet auf einen breiten
Stein, und dann iſt ſie verſchwunden. Wir haben
beide dieſe Erſcheinung bemerkt, aber wir haben
kein Wort geſagt, und erſt, als wir auf der Wieſe
der Karwäſſer das Kreuz wieder aufrecht auf die
Erde ſtellen, ſo daß deſſen tiefer Schatten ruheſam
über dem thauigen Grasgrunde liegt, ſagt der Alte:
„Wie in den bitteren Leidenstagen der Herr das
Kreuz auf den Berg hat getragen, und wie er mit
ſeinen ſchweren Laſten auf einem Stein hat wollen
raſten, da tritt aus dem Haus ein Jud’ heraus,
und ſagt: der Stein gehört mein. Und der Herr
ſchwankt weiter in ſeiner Pein. — Und ſelbiger
Jud’ kann nicht ſterben und ruhen, muß heut’ noch
wandern von Landen zu Landen, von einem Jahr-
tauſend zum andern, in glühenden Schuhen.“ —
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 16
[242] Dann nach einer kleinen Weile fährt der Rüppel
fort: „Und weil in der heutigen Nacht wir mit
dem Kreuze gehen, ſo haben wir gar den ewigen
Juden geſehen. Er hat uns geladen ein zur Ruh’
auf den Stein, das wäre geweſen nicht unſere
Raſt, aber die Ruhe ſein.“


In der Kohlſtatt der hinteren Lautergräben
haben uns vier Männer aus dem Winkelthale
erwartet. Dieſe nehmen uns das Kreuz ab, legen
es auf eine grünſproſſige Bahre und tragen es
davon.


Wie wir herauskommen zu unſerem Thale,
da bricht der Tag an. Und es klingt und zittert
ein Ton durch die Luft, der nicht vergleichbar iſt
mit Menſchengeſang und Saitenſpiel und aller
Muſik auf Erden. Schon jahrelang habe ich dieſen
Ton nicht gehört, weiß ihn kaum mehr zu deuten.
Wir alle ſtehen ſtill und horchen; es iſt die Glocke
von unſerer neuen Kirche.


Während wir im Felſenthale geweſen, ſind die
Glocken angekommen und erhöht worden.


Wie ich an dieſem Morgen das Glöcklein
gehört, da habt ich es nicht laſſen mögen, habe
laut gerufen: „Leute, jetzt ſind wir nimmer allein!
alle Gemeinden draußen läuten zu dieſer Stunde;
wir haben mit ihnen den gleichen Morgengruß,
den gleichen Gedanken. Wir ſind nicht mehr ſtumm
[243] wir haben unſere gemeinſame Zunge auf dem
Thurm, die in Freude und in Trübſal ſpricht,
was wir empfinden, aber nicht vermögen zu ſagen.
Und der ewige Gottesgedanke, der allüberall weht
und webt, aber nirgends faßbar, und in keinem
Bilde und durch kein Wort voll und ganz aus-
gedrückt werden kann, im klingenden Reife der
Glocke allein nimmt er Geſtalt an für unſere
Sinne und wird faßbar unſerem Herzen. Und ſo
bringſt du uns, du ſüßer Glockenklang, troſtreiche
Botſchaft von außen und von innen und von
oben!“


Die Männer haben mich angeſtaunt, daß ich
rede, und was es denn viel zu reden gäbe, wenn
Kirchenglocken läuten; das höre man draußen zu
Holdenſchlag doch alle Tage. Nur der gute Rüppel
iſt bei Seite geeilt und hinter die Erlenbüſche hin,
auf daß er unbeſchadet von meiner heiſeren Rede
den reinen Glockenton hat hören können.


Vor der Kirche ſind ſehr viele Menſchen ver-
ſammelt, um die Glocken zu vernehmen und das
Kreuz zu ſehen. Jenes Kreuz, das entſproſſen
iſt aus dem Samenkorne, ſo das Vöglein hat ge-
bracht, welches alle tauſend Jahre einmal durch den
Wald fliegt.


16*
[244]

Kirchweih 1818.


Sonntag iſt!


Der erſte Sonntag in den Winkelwäldern.
Die Glocken haben es ſchon im Morgenroth ver-
kündet, und da ſind die Leute herbeigekommen aus
dem Hinterwinkel, aus dem Mieſenbacheck, von den
Lautergräben, von den Karwaſſern, und aus allen
Klauſen und Höhlen der weiten Wälder. Heute
machen ſie nicht Holzer oder Kohlenbrenner, oder
was ſie eben ſonſt ſind, heute zum erſtenmal
ſchmelzen ſie zuſammen in Eins, in einen Körper
und heißen: die Gemeinde.


Die Kirche iſt fertig. Ueber dem Altartiſche
ragt das Kreuz aus dem Felſenthale; es ſteht hier-
orts ſo anſpruchslos und ſchier ſo ſtimmungsvoll,
wie es dort in der Einſamkeit geſtanden. Unter
den Leuten werden Aeußerungen gehört, das ſei das
wahrhaftige Kreuz des Heilandes. Wenn ſie Troſt
und Erhebung in dieſem Gedanken finden, dann
iſt es, wie ſie ſagen.


Das Gezelt des Heiligſten iſt ein Geſchenk des
Freiherrn; die Kerzenleuchter und das Speiſegitter
hat der Ehrenwald geſchnitzt. Wer doch die zwei
ſchönen Altarfenſter mit den Glasmalereien geſpendet
[245] hat, werde ich gefragt. Es iſt gut, daß die Fenſter
ſo hoch ſind, ſonſt müßte man es wol merken, daß
über den Glastafeln nur buntes Papier klebt. Die
beiden Fenſter ſtellen in einem grünen Dornenkranze
mit rothen und weißen Roſen die zwei Geſetztafeln
Moſes vor. Ueber dem Altare und dem Kreuze iſt
ein Rundfenſter mit dem Auge Gottes und den
Worten: „Ich bin der Herr, dein Gott, der
dich befreit aus der Knechtſchaft. Mache dir kein
geſchnitztes Bild, um es anzubeten.“


Der Pfarrer von Holdenſchlag, der hier ge-
weſen, um die Weihe und den Gottesdienſt zu voll-
ziehen, hat mir bedeutet, die obigen Worte paßten
nicht. „Du ſollſt allein an einen Gott glauben!“
müſſe es heißen. Ich antworte, daß ich die angewen-
deten Worte in einer ſehr alten Bibel geleſen hätte.


Der Schulmeiſter von Holdenſchlag hat die
Orgel geſpielt, die einen ſehr reinen, innigen Klang
hat. „Die Freuden und Schmerzen im Herzen, die
der Mund nicht kann ſagen und klagen, die ſpru-
deln aus Muſik hell und klar, wie ein Bronnen in
der Sonnen!“ ſagt der alte Waldſänger.


Wie ich mich auf der Zither geübt habe, ſo
übe ich mich nunmehr auf der Orgel. Jeder liebliche
Ton iſt ein Eimer, der niederſteigt in das Herz
der Andächtigen und die Seele emporhebt zum
Altare Gottes.


[246]

Der Pfarrer von Holdenſchlag hat eine Pre-
digt gehalten über die Bedeutſamkeit der Kirchweih
und der Pfarrkirche und über das Leben des Men-
ſchen vom Taufſtein bis zum Grabe. Da fällt mir
ein, daß wir noch keinen Friedhof haben. Kein
Menſch hat daran gedacht oder denken wollen, ſo
oft auch die Rede vom Taufſtein geweſen. —
Meine ganze Andacht iſt weg, und während hernach
bei der Meſſe der Schleier des Weihrauches auf-
ſteigt, habe ich immer daran denken müſſen, wohin
wir doch den Friedhof legen werden. Und nach dem
Hochamte, da Alles herausſtrömt auf den Platz zu
den Verkaufsbuden der Hauſirer, um die Schätze
und Künſte zu betrachten, die nun die Welt der
neuen Gemeinde im Winkel hereinzuſenden beginnt,
ſteige ich den Hang hinan bis zur ſanften Hebung,
über die ſich der finſtere Hochwald hinzieht gegen
das Gewände. Dort lege ich mich auf die abge-
fallenen Fichtennadeln des Bodens. Ich bin ſchier
abgeſpannt von den ungewohnten Erregungen des
Ereigniſſes und verſuche des Friedhofes wegen, wie
ſich’s hier oben ruhen läßt.


Vom Platze herauf höre ich das Geſchrei der
Marktleute und das Geſurre der Menge.


Vielen iſt aber die Kirche nicht recht, weil
noch kein ordentlich Wirthshaus dabei ſteht. Ei, der
Branntweiner Hannes iſt ja doch da, der hat ſich
[247] unter Eſchen ein Tiſchchen aufgeſchlagen und große
Flaſchen und kleine Kelchgläſer darauf geſtellt. „Was
wär’ das für eine ſteintrockene Kirchweih, wenn wir
nicht trinken thäten!“ ſagen die Leute, und der
Burſche will auch ſeiner Maid ein Gläschen zahlen.
Und der Teufel iſt ein frommer Mann, der will
jede neue Kirche nachmachen, aber es wird halt
immer ein Wirthshaus daraus. Der Schenktiſch iſt
ſein Hochaltar, die weißgeſchürzte Wirthin ſein
Prieſter, das Gläſerklingen ſein Glocken- und Orgel-
ſpiel, des Wirths Säckel ſein Opferſtock, die Spiel-
karten ſind ſein Gebetbuch und wenn Einer in
Rauſch und Zank niedergeſchlagen wird, ſo iſt das
ſein Opferlamm.


Das iſt der Schatten von der Kirche. Und
der Arbeiter legt ſich nach der heißen Woche nur
zu gerne in den Schatten.


Bei dem Mittagsmahle, das wir ſelbander im
Winkelhüterhauſe eingenommen, hat es der Holz-
meiſter ſchon erzählt, der Graßſteiger will um Er-
laubniß einkommen, daß er eine Schnapsſchenke
errichten dürfe.


Den Wirth hätten wir ſchon, aber wo ſteckt
unſer Pfarrer?


„’s wird auch Keiner hereinwollen in dieſen
mit Brettern verſchlagenen Weltwinkel,“ meint der
Holdenſchlager.


[248]

„Gelt, Hochwürden!“ ſchreit die Winkelhüterin
in’s Geſpräch hinein, „wahrhaftig, das ſag’ ich
hundertmal. Fort möcht’ ich von dieſer Einöden,
heut lieber wie morgen. Es iſt nichts anzuheben
in dieſem Winkel. Wie wär’ es Unſereinem ſo
handſam geweſen, daß Ein’s an Sonntagen ein
wenig Branntwein ausgeſchenkt hätt’, aber halt ja,
der Graßſteiger iſt der Hahn im Korb!“


„He,“ lacht der Pfarrer, „Wirthshäuſer! wird
noch ein belebter Ort werden, dieſes Winkel — Winkel
— ei, die Gemeinde hat ja noch gar keinen Namen?!“


Ueber den Namen der Gemeinde iſt nicht blos
nachgedacht, es iſt ein ſolcher ſogar ſchon beſtimmt
worden. Wie ſoll die Waldpfarr heißen? Den
Leuten wäre die Erörterung dieſer Frage eine will-
kommene Veranlaſſung geweſen, bei dem neuen
Wirth zuſammenzukommen und die Gemeinde mit
Schnaps zu taufen. Aber wir taufen mit Waſſer.
Unſer Waſſer heißt die Winkel; über die Winkel
führt dahier ſeit unvordenklichen Tagen ein Steg;
wenn ihn das Waſſer fortgeriſſen, ſo hatten ihn
die Leute wieder gebaut, weil er hier, am Kreuz-
punkte der Thalſchluchten und der Waldpfade un-
entbehrlich iſt. Den Platz um das Winkelhüterhaus
nennen ſie kurzweg „am Steg.“


Am Steg, am Winkelſteg ſteht die neue Kirche.
Und Winkelſteg, ſo heißt ſie, und ſo heißt die
[249] Gemeinde. Unſer Waldherr Schrankenheim hat’s
unterſchrieben.


Wie unſere Kirchweih eingeläutet worden, ſo
wird ſie ausgeläutet. Da hat ſich an dieſem Tage
noch etwas ſehr Erregendes zugetragen. Die Holden-
ſchlager Herren und der Förſter ſind fortgeweſen;
am Winkelſteg iſt es wieder ſtill. Es dunkelt ſchon
früh und im Hochgebirge liegt der Nebel. Es iſt
bereits finſter, da ich zu meinen Glocken gehe.
Heute zum erſtenmale brennt das rothe Aemplein
am Altare, das nun fortan das ewige Licht geheißen
werden wird, und nimmer verlöſchen ſoll, ſo lange
das Gotteshaus ſteht. Das iſt die Wacht vor dem
Herrn.


Wie ich in die Kirche trete, ſehe ich in dem
matten Schein am Speiſegitter eine Geſtalt. Da
kniet noch ein Menſch und betet. Wenn Einer ſo
lange leben muß in dem Elende des Tages, ſo
wird hernach völlig der Sonntag zu kurz, da man
bei dem lieben Gott eingekehrt iſt, oder bei ſich
ſelber. — So denke ich und trete vor, daß ich den
Beter aufmerkſam mache auf das Abſperren der
Kirche. Wie mich aber die Geſtalt bemerkt, rafft
ſie ſich auf und will fliehen. — Zuletzt iſt das
gar kein Beter, ſage ich und faſſe den Davon-
eilenden und ſehe ihm in’s Geſicht. Ein junger
Burſche iſt’s.


[250]

„Was wirſt du roth, Schelm!“ rufe ich.


„Ich bin kein Schelm,“ antwortet er, „und
ihr ſeid auch roth; das iſt von der Ampel.“ Da
ſehe ich ihn recht an. Wer wird es geweſen ſein?
Der Lazarus iſt’s geweſen, der verſchollene Sohn
der Adelheid.


Ich habe die Hände über den Kopf zuſammen-
geſchlagen und ein Geſchrei erhoben mitten in der
Kirche.


„Junge, was iſt das mit dir um Gottes-
willen, wo biſt du geweſen? wir haben dich geſucht,
deine Mutter hat dich ausgraben wollen aus dem
Geſteine der Alpen. Und wie biſt du heute da,
Lazarus! ja, das iſt ſchon gar aus aller Weiſ’!“


Der Knabe iſt dageſtanden und hat auf
meine Worte gar nichts geantwortet — nicht ein
Wörtlein.


Darauf habe ich geläutet. Lazarus iſt neben
mir geſtanden; ſeine Bekleidung iſt eine Wollen-
decke, ſeine Haare gehen ihm über die Achſeln
hinab, ſein Antlitz iſt gar blaß. Er ſieht mir zu,
er hat noch keine Glocke läuten geſehen. Und was
ich empfinde! jetzt hab ich eine hellklingende Zunge,
jetzt kann ich das Ereigniß ja verkünden hin in
die Berge.


Endlich kommt meine Haushälterin: was denn
das Läuten bedeute, ein halbdutzendmal habe ſie
[251] ſchon den „engliſchen Gruß“ gebetet und ich höre
noch nicht auf!


Da laſſe ich den Glockenſtrick wol fahren und
deute auf den Jungen: „Seht, endlich iſt er da.
Habt ihr das Läuten denn nicht verſtanden? Der
Lazarus iſt gefunden.“


Beſſer als jegliche Glocke weiß ſolche Mähr
ein Weib zu verkünden. Kaum eilt die Winkel-
hüterin zetternd davon, ſind ich und der Lazarus
ſchon von Menſchen umringt. Ich weiß kaum, wie
ich die Sache erzählen ſoll und der Junge murmelt
ein- um das anderemal: „Paulus,“ und ſonſt ſagt
er kein Wort.


Wir fragen ihn, wer Paulus ſei; ſtatt auf
die Frage zu antworten, verſetzt er mit ſeltſam
ſcheuem Blick: „Er hat mich hergeführt zum Kreuz.“
Und laut und angſtvoll ruft er: „Paulus!“ Seine
Zunge iſt unbeholfen, ſeine Stimme völlig fremdartig.


Wir führen ihn in’s Haus; die Hauswirthin
ſtellt ihm zu eſſen vor. Traurig blickt er auf den
Eierkuchen, wendet den Kopf nach allen Seiten und
immer wieder zurück auf den Kuchen, und rührt
keinen Biſſen an.


Allmiteinander reden wir ihm zu, daß er eſſen
möge. Seine mageren Hände ſtrecken ſich aus dem
Lodenüberwurf hervor und nach der Speiſe aus,
aber ſie zucken wieder zurück und der Junge zittert
[252] und hebt endlich an zu ſchluchzen. Später bittet er
um ein Stück Brot, das er mit Heißhunger ver-
ſchlingt. Dabei fallen ihm die ſchwarzen Locken
über die Augen herab, er ſtreicht ſie nicht zur
Seite. Zuletzt taucht er das Brot in den Waſſer-
krug und ißt mit geſteigerter Gier und trinkt das
Waſſer bis auf den letzten Tropfen.


Wir ſtehen herum und wir ſehen ihm zu und
wir ſchütteln unſere weiſen Häupter und wollen
fragen und fragen; und der Junge hört nichts und
ſtarrt in die Spanlunte, die an der Wand leuchtet,
oder zum Fenſter hinaus in die Dunkelheit.


Noch in derſelben Nacht haben ich und der
Graßſteiger den Knaben hinaufgeführt in den Hinter-
wald zu ſeiner Mutter Hütte. Ein parmal hat er
uns davon und die Lehnen hinanklettern wollen in
den finſtern Wald. Stumm wie ein Maulwurf und
ſcheu wie ein Reh iſt er geweſen.


Wir kommen zu des ſchwarzen Mathes Haus,
die ſchwarze Hütte genannt. Da liegt Alles in tiefer
Ruh. Das Brünnlein flüſtert vor der Thür; das
Geäſte der Tannen ächzt über dem Dache. In der
Nacht hört man auf ſolche Dinge; am Tage iſt,
wenn Einer ſo ſagen dürfte, das ſtete Tönen des
Lichtes, da wird dergleichen ſelten beachtet.


Der Graßſteiger hält den Knaben an der
Hand. Ich ſtelle mich an ein Fenſterchen und rufe
[253] hinein durch die Papierſcheibe: „Adelheid, wacht
ein wenig auf!“


Da iſt drinnen ein kleines Geräuſch und ein
verzagtes Fragen, wer denn draußen.


„Der Andreas Erdmann von Winkelſteg iſt
da und noch zwei Andere,“ ſage ich. „Erſchreckt
aber nicht. In der neuen Kirche hat ſich ein Wun-
der zugetragen. Der Herr hat den Lazarus erweckt!“


In der Hütte leckt mehrmals ein rother Schein
an den Wänden, wie matte Blitze zu ſehen. Das
Weib hat an der Herdglut einen Span angeblaſen.


Sie leuchtet uns zur Thüre hinein, aber als
ſie den Knaben ſieht, fällt der Span zu Boden
und verliſcht.


Da ich endlich wieder ein Licht zu wege
bringe, lehnt das Weib an dem Thürpfoſten und
Lazarus liegt auf dem Angeſichte. Er wimmert.
Der Graßſteiger hebt ihn empor und thut ihm die
Locken aus dem Antlitz. Die Adelheid ſteht faſt
regungslos in ihrem ärmlichen Nachtkleide; nur in
ihrer Bruſt iſt eine mächtige Unruhe. Sie legt die
beiden Hände über die Bruſt, ſie wendet ſich gegen
die Wand und lechtzt nach Athem, ich habe gemeint,
ſie bricht uns zuſammen. Letztlich wendet ſie ſich
zum Knaben und ſagt: „Biſt wol einmal da,
Lazarus?“ — Und zu uns: „Thut euch ab dort
auf der Bank, will gleich eine Suppe kochen!“ —
[254] Und wieder zum Knaben: „Zieh’ die naſſen Schuh’
aus, Bub!“


Er hat gar keine Schuhe an den Füßen;
Sohlen aus Baumrinden hat er angebunden.


Das Weib geht zum Bette, weckt das Mäd-
chen, es möge ſchnell aufſtehen, es ſei der Lazarus
gekommen. Das Mädchen hebt an zu weinen.


Die Suppe ſteht fertig auf dem Tiſch; der
Knabe ſtarrt mit ſeinen großen Augen den Tiſch
und die Mutter an. Und jetzt erſt bricht das Mutter-
herz los: „Mein Kind, du kennſt mich nimmer!
Ja, ich bin alt geworden über die hundert Jahr!
wo biſt mir geweſen dieſe ewige Zeit! Jeſus
Maria!“ Sie reißt das Kind an ihre Bruſt.


Lazarus ſtarrt zur Erde; ich merke wol, wie
ſeine Lippen zucken, aber er bricht nicht in Weinen
aus und er ſagt kein Wort. Er muß Bedeutſames
erfahren haben; ſeine Seele liegt unter einem Banne.


Als er hierauf ſeinen Lodenüberwurf austhut,
um auf das friſchbereitete Lager zu ſteigen, langt
er aus dieſem Ueberwurf eine Handvoll grauer
Körner und ſtreut ſie mit einem Schlag über den
Fußboden hin. Kaum das geſchehen, hebt er an,
ſich zu bücken und die Körner, Steinkügelchen ſind
es, wieder aufzulöſen. Er zählt ſie in ſeiner Hand
und ſucht dann in allen Fugen und Winkeln, und
hebt mit Sorgfalt jedes der Körnchen, und zählt
[255] und ſucht wieder, und ſucht mit großer Gelaſſenheit
eine lange Weile auf dem Eſtrich der Hütte, bis
er das letzte Stückchen hebt und ihm die Zahl in
der Hand voll iſt. Und ſelbunter haben wir den
Jungen zum erſtenmale lächeln geſehen. Darnach
thut er die Steinknöpfchen wieder in die Taſche
ſeines Ueberwurfes und geht zu Bette.


Er ſchläft bald ein.


Wir ſind noch lange am Herd geſtanden bei
der Spanlunte, und haben unſere Gedanken aus-
geſprochen über das Seltſame, wie es mit und in
dieſem Kinde iſt.


Chriſtmonat 1818.


Der Knabe Lazarus muß in einer wunderbar
mächtigen Schule geweſen ſein. Von ſeinem Jäh-
zorn iſt kaum eine Spur mehr, nur geht, wenn er
erregt iſt, ein kurzes, blitzartiges Zucken durch ſein
Weſen. Er wird auch wieder fröhlich und heiter.
Von ſeinem Leben im Jahre ſeiner Abweſenheit
will er nichts Rechtes ausſagen. Paulus hätte ihm
verboten, mehr zu reden, als nöthig. Zuweilen er-
zählt er aber doch, nur ſind die Worte unklar und
verwirrt, ſchier wie Traumrednerei. Er ſpricht von
einem Felſenhauſe und von einem guten, finſteren
Manne, und von Bußübungen, und von einem
Kreuzbilde.


[256]

Lebhaft und beſtimmt werden ſeine Worte nur,
wenn er in der Lage iſt, ſeine und des finſteren
Mannes Ehre irgendwie vertheidigen zu müſſen.


In der Gemeinde wird viel von dem „Wunder-
knaben“ geſprochen. Einige glauben, Lazarus ſei
bei einem Zauberer in der Lehre geweſen und werde
noch große Dinge vollbringen.


Der alte Waldſänger ſagt, er thäte meinen,
nun müſſe bald der Meſſias erſcheinen; Lazarus
ſei der neue Vorläufer, Johannes der Täufer, der
ſich in der Wüſte genährt von Heuſchrecken und
wilden Schnecken.


Gott walte es. Ein thätiger und herzenswarmer
Pfarrer wäre für Winkelſteg der Meſſias. Aber es
iſt, wie der Holdenſchlager geſagt hat, es will
Keiner herein in die verlornen Waldthäler.


Ich bin der einzige, der die Kirche verwaltet,
läutet, orgelſpielt, ſingt und vorbetet, wenn Sonn-
tag iſt. Die Täuflinge und Todten müſſen nach
Holdenſchlag wie vor und eh.


Im Hornung 1818.


Was geht das mich an? gar nichts geht’s
mich an. Aber ich bringe es doch nicht aus dem
Kopf, was mir der Förſter von dem jungen Herrn
erzählt hat.


[257]

Mit Verweichlichung ſeines Körpers ſei es
angegangen, mit loſen, lockeren Spielen, Gelagen,
Schlemmereien und Ausſchweifungen gehe es weiter.
Bah, wir ſind Freiherr, wir ſind Millionär, wir
ſind ein ſchöner junger Mann, alſo dreinfahren! —
So hat’s der Förſter ausgelegt. — Ei, der wird’s
ſo genau nicht wiſſen.


Hermann ſoll in der Hauptſtadt ſein, weit
von daheim und von ſeiner Schweſter. Ja, ſelb-
under wäre freilich Alles möglich. — Gott ſchütze
dich, Hermann! Es wäre auch nicht ſchön von mir,
dem Schulmeiſter, wenn ſein erſter Schüler ein . . . .


Heb’ dich weg, du häßliches Wort! Hermann
iſt ein braver, junger Mann. Was weiß der
Förſter!


Im Frühjahr 1819.


Die Gegend altert ſchnell. Die Berge werden
grau und kahl; der Wald wird verbrannt; in allen
Thälern rauchen Kohlſtätten.


Mit Mühe habe ich es durchgeſetzt, daß ſie
da oben an der Hebung einen kleinen Schachen
ſtehen laſſen. Der ſoll das letzte und bleibende
Stück Urwald ſein und unter ſeinem Schatten ſollen
die todten Winkelſteger ruhen.


Der Pfarrhof iſt fertig. Die Pfarre iſt längſt
ausgeſchrieben. Einen Lacher thun ſie, wenn ſie es
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 17
[258] leſen: „Das mag eine ſaubere Seelſorge ſein in
dieſem Winkelſteg; der Meßopferwein beſteht aus
Holzäpfelmoſt, die Hoſtie aus Hafermehl. — Je,
wenn in Winkelſteg der Pfarrer verhungert, ſo iſt
er ſelber Schuld, warum ſpeiſt er nicht Baum-
rinden; die Waldkatzen kommen ja auch davon.“


Winkelſteg iſt böſ’ verſchrieen; es wäre aber
ſo arg nicht. Ich kriege für das, daß ich die Kirche
verſorge und zuweilen auf den Predigtſtuhl ſteige,
um den Leuten ein bischen zur Erbauung vorzu-
leſen, reichlich Mehl und Wildpret. Die Leute
ſagen, es ſei Schade, daß ich nicht Pfarrer ge-
worden.


Von der Herrſchaft des Waldes ſind Meſſen-
gelder geſchickt worden, daß in der Gemeinde Winkel-
ſteg ein Gottesdienſt geſtiftet und gebetet werde auf
eine gute Meinung. Es hat ſich die Tochter des
Hauſes vermählt.


— — — Gott ſei Dank, daß mein Körper
und mein Geiſt hier ſo reichliche Beſchäftigung
findet. Dieſer Einſpanig gibt Nachdenken; der iſt
ein wahrhaftiges Fragezeichen.


Oefter und öfter wird er im Orte geſehen; ge-
bückt, wie ein leibhaft Fragezeichen, gebückt und
[259] krumm, ſo geht er einher. Noch immer aber weicht
er den Leuten aus; und wer ihm doch nahe zu
kommen weiß, um eine Frage an ihn zu ſtellen,
dem gibt er eine Antwort, die drei Fragen gebiert.
Auch in der Kirche iſt er ſchon geſehen worden,
ganz zu hinterſt in der Niſche, wohin der Beicht-
ſtuhl kommen ſoll.


Der alte Rüppel hält das Weſen ganz ent-
ſchieden für den ewigen Juden. — Nun, ſo viel
mag ich ſelber glauben: der Einſpanig iſt ein
Theil desſelben. Der ganze ewige Jude hat aber
viele Millionen Köpfe.


Im Sommer 1819.


Da hätten wir nun auf einmal einen Pfarrer,
und zwar einen ſo ſeltſamen, und der ſo ge-
heimnißvoll iſt, wie unſer Altarbild, das Kreuz aus
dem Felſenthale.


Am letzten Tage des Heumonats, zur Mittags-
zeit iſt es geweſen. Ich gehe in die Kirche, um die
Gebetglocke zu läuten. Da ſteht der Einſpanig auf
der oberſten Stufe des Altares, und übt die Förm-
lichkeiten des Meſſeleſens.


Ich ſehe ihm eine Weile zu. Er lieſt die
Meſſe, wie ſie der Holdenſchlager nicht vollendeter
darbringt. Als er aber damit fertig iſt, ernſthaft
17*
[260] von den Stufen niederſteigt und mit niedergeſchla-
genen Augen dem Ausgange zuwandelt, da iſt es
doch meine Pflicht, daß ich ihn anhalte und zur
Rede ſtelle.


„Herr,“ ſage ich, „ihr tretet in dieſes Gottes-
haus, wie es ja Jeder darf, der aufrichtigen Her-
zens iſt; aber ihr ſteiget zu dem Allerheiligſten
empor und übet Dinge, die nicht Jedem zuſtehen.
Ich bin der Hüter dieſes Hauſes und habe euch zu
fragen, was euer Treiben bedeutet?“


Er iſt dageſtanden und hat mich mit großer
Gelaſſenheit angeblickt.


„Guter Freund,“ ſagt er hierauf mit einer
Stimme, die wie eingeroſtet knarrt und ſchrillt:
„Die Frage iſt kurz und leicht; die Antwort iſt
lang und ſchwer. Weil ihr aber das Recht habt,
ſie zu verlangen, ſo habe ich die Pflicht, ſie zu
geben. Beſtimmet den Tag, an welchen ihr hinauf-
gehen wollet zu den drei Schirmtannen in der
Wolfsgrube.“


„Wozu?“ ſage ich.


„Die Antwort liegt nicht auf dem Wege.
Unter den Schirmtannen mögt ihr ſie erfahren.“


„Wol,“ ſage ich, „wenn es ſo iſt, ſo will ich
mich am nächſten Sonnabend um die dritte Nach-
mittagsſtunde bei den drei Schirmtannen in der
Wolfsgrube einfinden.“


[261]

Er neigt den Kopf und geht davon.


Ich will von dieſem Vorfalle einſtweilen den
Leuten nichts melden. Das iſt ein Narr! würden
ſie aufſchreien allmiteinander.


Mag ja ſein. Ich werde zu den Schirmtannen
gehen und vielleicht Näheres über den Mann er-
fahren. Finde ich ſo viele und ſo ſchöne Narrheit
in ihm, wie in dem alten Rüppel, ſo bin ich zu-
frieden. Sollte es in Winkelſteg ſchon mit Pfarrhof
und Schulhaus nicht gehen, ſo bringe ich doch
etwan einen luſtigen Narrenthurm zu weg.


Und das iſt beſſer.


[262]

Die Antwort des Einſpanig.


Am Morgen.


Im Tannenwalde herrſcht tiefe Trauer; wie
Todtenklage, wie Grabesſchauer, ſo weht’s durch
der Wildniß umnachtete Mauer. Dahingeſtreckt am
Waldesſaum in’s Leichenbett aus mooſigem Flaum,
gemordet liegt der urälteſte Baum. — O, ſeht den
Mörder über die Steppe fahren, er raſt in Ver-
zweiflung mit fliegenden Haaren, verfolgt und ge-
geißelt von rächenden Schaaren. — Den armen
Mörder, o laßt ihn ziehen, ihm iſt’s gegeben, Un-
heil zu ſprühen. Und neu aus dem Tode wird
Leben blühen.


Nicht der alte Rüppel iſt es, der mich anſteckt,
daß ich ſchon am frühen Morgen ſolche Zeilen
ſchreibe, ſondern eine innere Bewegung, die mich
bei der Kunde von dem Sturme erfaßt, hat ſich in
Worten Luft gemacht.


In dieſer Nacht hat ein Sturm gehauſt. In
Winkelſteg haben wir nichts verſpürt; nur ein
[263] ſchweres Getoſe iſt gehört worden von Mitternacht
her. Im Schachen des Gottesackers iſt kein Wipfel-
chen geknickt.


Am Abend.


Wie ich aber nun, da ich in den neuen Ge-
ſchlägen drüben Geſchäfte habe, über die Lauterhöhe
geh’, iſt mir der Weg zehnfach verlegt durch wild
zerzauſte, zerſplitterte, in Kreuz und krumm gefallene
Bäume. Ein ſtarker Harzduft weht in den Gräben;
zahlloſe Waldvögel flattern heimatlos umher, denn
ihre Neſter ſind zerriſſen. Hier und da machen ſich
ſchon Holzhauer an das Gefälle, daß ſie die Stämme
glätten und ſchälen. In den Holzhauerhütten ſoll
das eine fürchterliche Nacht geweſen ſein. Einigen
hat es den Dachſtuhl zerriſſen, daß am Morgen
die treibenden Wolken des Himmels hineingeſchaut
auf den Feuerherd und die wirren Strohſtätten.
Bei den Köhlern im Karwaſſer iſt ein abgeriſſener
Fichtenſtamm auf einen Meiler gefallen, ſo daß das
Feuer herausgebrochen iſt und die hingepeitſchten
Flammen ſchier einen Waldbrand erzeugt hätten.
Der Berthold ſoll wie wüthend mit dem Dämpfen
des Feuers gearbeitet haben und dabei mit ſeinem
linken Fuß arg zu Schaden gekommen ſein.


Manch wüſte Scharte iſt den Wäldern ge-
ſchlagen, und als ich am Nachmittage zu den
Schirmtannen in der Wolfsgrube komme, ſehe ich,
[264] daß die mittlere geknickt iſt. Sie iſt von den dreien
die mächtigſte und wol die älteſte geweſen.


Auf dem hingeſtreckten Stamm, der ſein wild-
knorriges Geäſte tief in den Erdboden gebohrt hat,
ſitzt der Einſpanig.


Er hat ſich ein Wollentuch um die Schultern
gelegt, und über das Tuch wallen die Strähne des
ſchwarzen Haares mit ſeinen vielen grauen Fäden.
Die Beine hält der Mann über einandergeſchlagen,
darauf ſtützt er ſeinen Ellbogen, und auf dieſen das
geſenkte Haupt mit dem blaſſen Antlitz.


Da ich nahe, erhebt er ſich.


„Ihr kommet doch,“ ſagt er, „und ich hätte
beinahe nicht kommen können. Die Sturmnacht
hat meine Behauſung geſperrt; ſie hat einen Fels-
klotz vor den Ausgang gewälzt.“ Und nach einem
ſchweren Athemzug, der wieder an das Toſen eines
Sturmes gemahnt, ſagt er das trübſelige Wort:
„Vielleicht wäre es beſſer geweſen, dieſe Nacht
hätte mich in der Felſenhöhle begraben für alle
Zeit, als daß ich euch heute die Antwort gebe. Da
ich ſie aber gebe, ſo gebe ich ſie euch am liebſten.
Ich habe Rechtſchaffenes von euch gehört, und freue
mich der Gelegenheit, euch näher zu kommen. Meine
Antwort, junger Mann, iſt eine ſchwere Laſt;
helfet mir ſie tragen, wie ihr ja auch die Mühſal
der anderen Waldbewohner auf euch geladen habt.
[265] Ich weiß wol, ihr verſteht Prieſteramt zu vertreten;
ſo ſeid mein Beichtvater und erlöſet mich von
einem Geheimniß, von dem ich nicht weiß, iſt es
eine ſchwarze Taube oder ein weißer Rabe. —
Wenn es aber wäre, daß ihr mich nicht ſolltet be-
greifen können . . . .“


Er hat eingehalten; in ſeinem Blick iſt etwas
wie Mißtrauen gelegen.


Ich verſetze hierauf, daß ich ihn nach nichts
fragen wolle, als nach der Urſache ſeines Gebah-
rens am Altare unſerer Kirche.


„Da fragt ihr mich ja nach Allem!“ ruft er
mühſam lachend aus; „da fragt ihr mich nach
meinem Lebenslauf, nach meinem Seelenweh, nach
meinem Teufel und nach meinem Gott. — Gut,
gut, kommt nur her und ſetzet euch zu mir auf
dieſen Stamm. Beſſer ſchickt ſich keine Stätte für
meine Antwort, als eine aus Vernichtung gebaute.
So ſetzet euch auf dieſe Rune!“


Mir wird ſchier unheimlich. Im Tann iſt es
ſtill, daß man das Aechzen des Geäſtes vernehmen
kann; oben aber fliegt das Gewölke dahin von
einem Gewände zum andern.


Ich ſetze mich neben den Mann, in deſſen
Augen und Worten aber vielmehr Kraft liegt, als
man in dem gebückten, ſich ſchwerſchleppenden Ein-
ſpanig hätte vermuthen können.


[266]

Ja, der Einſpanig geheißen, weil er nie in
Geſellſchaft eines zweiten geſehen worden. Und
jetztund ſitzt das Zweiſpan auf dem Stamme:
Die Frage und die Antwort.


„Wiſſet, was das iſt, ein Herrenkind?“ frägt
der Mann plötzlich und ſtarrt mir in’s Geſicht. —
„In einem Palaſt geboren, in einer goldenen
Wiege gewiegt werden. Der rauhe Erdboden iſt
verdeckt mit weichen Geweben; die brennenden
Sonnenſtrahlen und Wetterwolken des Himmels ſind
verhüllt mit ſchweren Seidenvorhängen; für jeden
leiſen Wunſch eine Dienerſchaar; — eine Gegen-
wart voll Ebenmaaß und hundertfach gehüteten
Glückes; eine Zukunft voll Genuß und hoher
Würden: das heißt Herrenkindſchaft. Auch ich bin
ein Heerenkind geweſen, und als ſolches ärmer,
wie ein Bettelknab’. Ich habe es aber zur Zeit
nicht gewußt und erſt als ich der Jahre zwölf oder
vierzehn gezählt, iſt mir die ſchreckliche Frage er-
wacht: Menſch, wo haſt du deine Mutter? —
Meine Mutter hat mir das Leben gegeben und
das Sonnenlicht; — ihr eigenes war’s geweſen —
bei meiner Geburt iſt ſie geſtorben.


Meinen Vater habe ich ſelten geſehen; er iſt
auf Jagden oder auf Reiſen, oder in der großen
Stadt Paris, oder in Bädern. Meine Liebe, für
Vater und Mutter mir in’s Herz gegeben, verſchwende
[267] ich an meinem Hofmeiſter, der ſtets um mich iſt
als Lehrer und Geſellſchafter, und der mich ſehr
lieb hat. Er iſt Prieſter und gehört dem Orden
der Geſellſchaft Jeſu an. Er iſt ein mildfreund-
licher, heiterer Mann und ſehr fromm und gut.
Oft, wenn er in unſerer Hauskirche die Meſſe ge-
leſen, hat er ein verklärtes Antlitz gehabt, wie der
heilige Franz Xaver auf dem Altare. Ich erinnere
mich noch, daß er mir einmal vertraut hat, wie er
bei der Meſſe oft in Seligkeit ſchwebe, denn da
habe er wiederholt Eingebungen, daß ich, ſein lieber
junger Freund, zu großen, göttlichen Dingen erkoren
ſei. Daraus habe ich ſeine außerordentliche Liebe zu
mir wahrgenommen.


Und nun ſoll ich eines Tages dieſen meinen
einzigen Freund verlieren. Da iſt zur ſelben Zeit ein
arges Geſetz herausgekommen und in den Ländern
regt ſich die Verfolgung gegen den Orden der Ge-
ſellſchaft Jeſu. Mein guter Hofmeiſter muß fort,
bitterlich weint er, als er von mir Abſchied nimmt.
Aber in einem Zuſtande der Erleuchtung ſpricht er
die Zuverſicht aus, daß wir nach überſtandener
Trübſal uns wieder ſehen würden.


Und ſiehe, das prieſterliche Wort iſt über alles
Erwarten ſchnell in Erfüllung gegangen. Nach we-
nigen Monaten ſchon iſt mein Erzieher wieder im
Hauſe. Er iſt aus dem Jeſuitenorden getreten;
[268] gehört nun den „Vätern des Glaubens“ an; ſomit
hat er wieder Schutz in unſerem Lande.


Ich bin zum Jünglinge herangewachſen. Mei-
nen Hofmeiſter liebe ich, wie einen älteren Bruder.
Oft habe ich ihn insgeheim um ſeine heitere Ruhe
beneidet und um das ſtille Glück ſeiner Seele. In
mir hat ſich zur ſelbigen Zeit ein Unſtätes zu regen
begonnen. Im Hauſe iſt es mir zu eng, im Freien
nicht weit genug; iſt es ſtill, ſo verlangt mir nach
Lärm, und habe ich Lärm, ſo ſehne ich mich nach
Stille. Mein Drang iſt geweſen wie ein blinder
Mann auf der Heide, der, von Angſt und Hoffen
gepeitſcht, fiebernd tappt nach dem leitenden Pfad
und ihn nicht finden kann.


Da ſagt mir einmal mein Erzieher: Das,
lieber Freund, iſt der Fluch der Kinder der Welt.
Das iſt die raſende Sehnſucht, die trotz allen
Gütern und Genüſſen der Erde keine Sättigung
finden kann, außer ſie flieht in die Burg, die
Chriſtus gegründet hat auf Erden, in das Reich
Gottes der heiligen Kirche.


— Wenn du zu mir ſprichſt — entgegne
ich — du weißt, daß ich ein katholiſcher Chriſt bin.


— Das biſt du nur in deinem geiſtigen Leben
— ſagt er — aber dein Leib, dein Herz iſt es,
was ſo wild nach Erfüllung lechzt. Deinen Leib,
dein Herz mußt du in das Reich Gottes auf Erden
[269] einführen. Mein lieber Freund, alle Tage bete ich
zu Gott, daß er dich ſo glücklich laſſen werden möge,
als ich es bin, daß du wie ich ein Bruder Jeſu
Chriſti werdeſt zum Heile deiner Seele und zum
Wohle des heiligen Glaubens.


Von dieſem Tage an, als mein geiſtlicher
Hofmeiſter ſo geſprochen hat, empfinde ich die Laſt
und das Unſtäte in mir doppelt ſchwer; aber, als
ich mich ernſtlich prüfe, ſehe ich, daß es mir un-
möglich wäre, der Welt zu entſagen.


— Du haſt mich nicht verſtanden, ſagt hier-
auf mein Erzieher einmal, und es wundert mich,
daß du nach den vielen Jahren chriſtlicher Erziehung
deinen Freund ſo mißverſtehen kannſt. Wer ſagt
dir, daß du den Freuden der Welt entſagen ſolleſt?
Die Freuden der Welt ſind ein Geſchenk Gottes;
aber ſie nicht genießen, ſeiner ſelbſt willen, ſondern
zu Gottes Ehre, das iſt es, was uns wahre Be-
friedigung gewährt.


So geht mir nun ein neues Leben auf; mein
ſittliches Gefühl, das mich ſonſt zurückgehalten, eifert
mich jetzt an, daß ich all den verlangenden Sinnen
meines Weſens Sättigung verſchaffe. In Freude
und Genuß Gott dem Herrn dienen — ſo gibt es
keinen Zwieſpalt mehr in dieſem Leben.


Mein Freund lächelt und läßt gewähren. Die
Welt iſt ſchön, wenn man jung, und auch gut,
[270] wenn man reich iſt. Ich laſſe mir ſie ſehr gut
ſein; ich will ihren ſüßeſten Becher leeren, ehe ich
am Altare den Kelch des göttlichen Opferblutes
trinken ſoll.


Und nach wenigen Jahren habe ich den Freuden-
becher geleert, bis zum Bodenſatz. Da eckelt mich,
da bin ich ſatt und überſatt. Und die Welt lang-
weilt mich.


Und nun, da ich mittlerweile auch großjährig
geworden, hat mein Freund wieder ein Wort ge-
ſprochen, und auf ſeinen Rath habe ich mich ent-
ſchloſſen, dem Dienſte Gottes und dem Heile der
Menſchen zu leben. Ich trete in den Orden der
„Glaubensväter,“ und gerne thue ich nun das Ge-
lübde der Geduld und der Keuſchheit und der
Armut. Mein ganzes Vermögen fällt dem Orden
zu, und ich leiſte das Gelöbniß des unbedingten
Gehorſams.


Und nun — — da iſt eines Tages ein
Mädchen zu mir gekommen, das ich früher oft ge-
ſehen. Jetzt darf ich es nicht kennen. Es bittet mich,
daß ich es mit dem Kinde nicht verlaſſen möge;
es bittet um Gottes Willen. Allein — ich bin
bettelarm, darf mich auch für ſie an niemand
Andern wenden, ich habe ausſchließlich nur meinem
Orden zu leben — ſo gebietet es der blinde Ge-
horſam.


[271]

Wenige Tage darnach iſt das Mädchen als
Leiche aus einem Teiche gezogen worden. — Unſäg-
lich weine ich an der Bruſt meines prieſterlichen
Freundes, dieſer ſchiebt mich ſanft von ſich und ſagt:
Gott hat Alles wohl gemacht!“


Nach dieſen Worten iſt der Mann, den ſie
den Einſpanig nennen, wie erſchrocken zuſammen-
gefahren. Ein Häher iſt über unſeren Häuptern
dahingeflattert. Hierauf greift der Einſpanig raſch
nach meiner Hand und ruft:


„Heute noch bin ich vermählt mit ihr. In
jeder Nacht ſteht ſie mit dem Kinde vor meinem
Lager. Mein Orden hat einen ſchönen leuchtenden
Stern, aber nur einen einzigen, das iſt der Marien-
Cult. Mancher Jüngling, der von äußeren Ge-
ſchicken in den Orden gedrängt, entſagen muß,
blickt begeiſtert und liebeglühend auf zu der Jung-
frau mit dem Jeſukinde. Mir aber wird das
liebliche Bildniß zum Geſpenſt, ich ſehe in dem-
ſelben ſtets nur das betrogene Mädchen.


Ich bin zum Prieſter geweiht worden und
habe für meine weltlichen Titel und Würden nichts
als den Namen Paulus erhalten. Aber meines
Standes wegen darf ich ein Glied überſpringen
und werde aus dem Novizen gleich zum Profeſſen
gemacht. Es braucht keine beſonderen Vorſtudien
dazu, da ſie mir ja mein Erzieher gegeben ſeit
[272] meiner erſten Kindheit an. Ich bin für den Orden
vorbereitet worden, viel eher, als ich oder mein
Vater es geahnt haben.


Ich habe Natur und Vermögen geopfert und
meinen eigenen Willen; und nur Eines habe ich
noch beſeſſen, das Vaterland. Auch daran kommt
die Reihe. Es wird unſerem Orden vorgeworfen,
er ſei — möge er ſich nennen, wie immer —
nichts, als verkappter Jeſuitismus, deſſen Zwecken
er in Allem diene. Und als ſolcher ſei er nach dem
beſtehenden Geſetze des Bodens im Lande verluſtig.
Faſt war ich zu ſchwach geweſen, meine Heimat
und meinen betagten Vater zu verlaſſen; allein,
da gibt es kein Auflehnen des Herzens. Wir ſind
Märtirer zur größeren Ehre Gottes; und ſoſehr
bin ich Schwärmer, daß mir dieſer Gedanke Halt
und Entſchloſſenheit gibt, mich von Allem los-
zureißen.


Wir ſind nach Wälſchland gezogen. Zu Rom
lebt Pius der Siebente, der Freund unſeres Ordens.
Ich habe die Gräber der Apoſtel und Märtirer
beſucht; ich habe gewähnt, in dem gottgeſegneten
Lande ein ſtillbeſchauliches Leben führen zu können.
Allein, Gebet und erbauliche Betrachtung iſt nicht
immer Sache der Geſellſchaft Jeſu. Bald werden
wir ausgeſandt zu heißer Arbeit im Weinberge des
Herrn. Ich weiß kaum mehr durch welche Vermitt-
[273] lung, aber auf einmal ſehe ich mich verſetzt in
eines der Länder, die gegen Abend liegen, und zwar
unter Veränderung des Ordensnamens, an den Hof
des Königs. Vielleicht iſt es meine Abkunft, vielleicht
die feine Erziehung, die ich genoſſen, vielleicht auch
meine Gelehrſamkeit oder eine gewiſſe Klugheit, die
ich mir nach und nach angeeignet, oder es kann
meine Körpergeſtalt geweſen ſein, die ſchön ge-
nannt war — oder all das zuſammen oder noch
ein Anderes, das mich befördert hat, ich weiß
es nicht.


Ich habe nach einiger Zeit ein einflußreiches
Amt in der Staatskanzlei erhalten. Und mein Wahl-
ſpruch iſt geweſen: Sei ein geheimes Rad im
großen Werkskaſten des Staates und leite das Volk
nach den Abſichten Gottes. — Die Abſichten Gottes,
die ſind freilich nur dem Statthalter zu Rom be-
kannt geweſen.


Geſchmeidigkeit, Sanftmut, Heiterkeit und Duld-
ſamkeit ſind die Tugenden, deren ich mich zu be-
fleißen gehabt habe. So bin ich der Freund des
Hofes geworden, der gerne geſehene Geſellſchafter,
der geſuchte Rathgeber; und wenn ich in der Schloß-
kapelle meine Meſſe geleſen habe, ſo iſt die ge-
ſammte hohe Frauenwelt vor dem Altare auf den
Knieen gelegen. Endlich bin ich Beichtvater des
Königs geworden.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 18
[274]

Um dieſe Zeit kommt mir aus Rom ein
ehrendes Anerkennungsſchreiben zu, mit der Er-
mahnung zu fernerer Klugheit. Klugheit? Selbſt-
verſtändlich handle ich ohne Hinterhalt, wie es mir
Kopf und Herz eingibt. Es iſt aber ein ſchönes
Leben für mich geweſen. Die Welt lächelt, und mir
gefällt ihr Lächeln wieder. Leicht trage ich das Ge-
lübde der Armut, denn ich wohne im Königspalaſt.
Treu bleibe ich dem Gelübde der Entſagung, denn
was ich genieße, das genieße ich nicht mir, ſondern
Gott zu Liebe. Auch das Marienbild mit dem
Kinde in unſerer Schloßkapelle habe ich wieder
inbrünſtig zu ehren vermocht.


Da bricht eine bewegte Zeit an. In der Welt
wüthet die Empörung; auch in unſerem Lande gährt
ein Aufruhr. Oefter als ſonſt verſammelt der König
die Großen des Reiches um ſich, und angelegent-
licher wird die Beichte, die er an jedem dreißigſten
Tag mir ablegt.


Da kommt eines Tages an mich ein Befehl
aus Rom; er iſt mit einem großen Siegel ver-
ſchloſſen. Als ich ihn geleſen und erwogen, lehnt
ſich etwas in mir auf und frägt laut: Wie habt
ihr das Recht, euch zwiſchen König und Volk zu
drängen und das Geſetz von dem Altare des Vater-
landes zu reißen! — Da ſehe ich plötzlich, welch
eine Gewalt mir in die Hand gegeben iſt und nun
[275] erſt verſtehe ich die Ermahnung zur Klugheit. —
Mein Gewiſſen warnt mich; ich horche anfangs
unentſchloſſen ſeiner Stimme, dann werde ich kühn
und erſticke es.


Ich hätte den Schritt gethan, und vielleicht
wüßte die Geſchichte heute von einer zweiten Bar-
tholomäusnacht zu erzählen; — da erhalte ich zur
ſelben Zeit die Nachricht von dem Tode meines
Vaters. Das rüttelt mich auf. Kindesliebe, Schmerz,
Sehnſucht, Heimweh, Schuldbewußtſein und Reue
ſchneiden in meinem Herzen, graben in meinem
Gehirne. Ich ſchreibe nach Rom, daß ich in mei-
nem Schmerze unfähig ſei zu Allem.


Was iſt die Antwort darauf? Dieſelbe gebietet
mir: ich möge bei Hofe um meine Entlaſſung
bitten, denn ich würde mich eheſtens einſchiffen
nach Oſtindien.


Dieſer Auftrag ſchmettert mich vollends nieder.
Anſtatt in’s Vaterland, wohin mein Herz mich zieht
mit allen ſeinen Adern, ſoll ich in einen fernen
Welttheil reiſen. Warum? Zu welchen Zwecken?
Wer frägt? Die erſte Satzung des Ordens lautet:
blinder Gehorſam!“


Hier hat der Mann ſeine Erzählung unter-
brochen. Mit den Fingern iſt er ſich über ſeine
blaſſen, hageren Wangen gefahren bis herab zu den
kohlſchwarzen Bartſtoppeln des Backens. Sein Auge,
18*
[276] in welchem Unruhe und Müdigkeit gelegen, hat ſich
ſchwermüthig empor zur Höhe gewendet. Da oben
haben die finſteren Wolkenlaſten nicht mehr hin-
gejagt, ſondern angefangen, ſich an den Felswänden
niederzuſenken. Tiefe Stille und Dämmerung iſt
gelegen über dem Waldkeſſel der Wolfsgrube.


Und endlich fährt der Einſpanig fort: „Vier
ewige Jahre, vier ewige Sommer habe ich mit
einigen Gefährten in dem heißen Indien verlebt.
Die Beſchwerden ſind groß geweſen, aber größer
noch die innere Noth, das erwachte Bewußtſein
eines verfehlten Lebens. Nur in der ſtrengen Er-
füllung des Prieſterberufes habe ich einigen Troſt
gefunden, denn rein und ſelbſtlos iſt nunmehr mein
Amt geweſen. Nicht mehr für beſondere Vortheile
eines Bundes haben wir gearbeitet, ſondern für
das große, gemeinſame und göttliche Erbe der
Menſchen, für die Geſittung. Wir haben den Hin-
dus europäiſche Sitten und Denkweiſe und Gottes-
verehrung gepredigt. Ihren Steppen haben wir den
Pflug gegeben, auf ihren Berghöhen haben wir
das Kreuz gepflanzt. Wir predigen ihnen die Gottes-
lehre der Selbſtaufopferung und Liebe. Anfangs
haben ſie Mißtrauen und Verfolgung gegen uns,
endlich aber öffnen ſie ihr Herz. Als Boten des
Himmels haben ſie uns verehrt, und eine hohe
Meinung haben ſie von dem Volke im Abendlande,
[277] deſſen Gott ein Menſch geworden, um durch ſein
Leben die Liebe und durch ſein Sterben die Auf-
opferung zu lehren.


Bereits haben wir in Dekan eine chriſtliche
Gemeinde zu Stande gebracht, da kommen abend-
ländiſche Schaaren, Engländer und Franken, bekrie-
gen Theile des Landes und unterjochen ſie. Da
handelt es ſich nicht mehr um die chriſtliche Liebe,
ſondern um Reis und Gewürze. Und vorbei iſt es
geweſen mit dem Glauben der Hindus an unſere
Lehre. Ermorden haben ſie uns wollen. Auf ein
fränkiſches Schiff haben wir uns geflüchtet und ſind
zurückgekehrt nach Europa.


Nun ſehe ich endlich mein Vaterland wieder.
Eine andere Zeit iſt, und unſer Orden hat Boden
und Schutz im Lande. Aber das Volk war von
der Geiſtesrichtung der letzten Jahre ſehr beeinflußt
worden und hat ſtückweiſe gar gedroht, von der
katholiſchen Kirche abwendig zu werden. So hat
für uns eine neue ſchwere Arbeit begonnen. Wir
werden planmäßig vertheilt in Stadt und Land.


Da ich mich am Königshofe nicht bewährt
habe, ich auch auf den Reiſen verwildert und
aus dem Geleiſe der geſellſchaftlichen Verhältniſſe
gekommen bin, und da an mir ferner mehr Ge-
wiſſensſkruppel als Klugheit zu merken iſt, ſo
trifft mich das böſe Los: ich werde den Volks-
[278] miſſionären zugetheilt. Kaum kann ich meine Ge-
burtsſtadt und das Grab meines Vaters beſuchen,
ehe ich fort muß in das Gebirge. Mit drei Ge-
noſſen wandere ich von Gegend zu Gegend, um in
beſtimmten Pfarrkirchen ſogenannte Miſſionen abzu-
halten. Das iſt ein faſt ſo ſchwieriges Wander-
leben, wie jenes in Indien geweſen. Aber in dieſen
Verhältniſſen muß unſere Prieſterſchaft eine ganz
neue Seite hervorkehren. Bei hohen, mächtigen
Herren ſind wir die Heiteren, Geſchmeidigen, Duld-
ſamen geweſen; bei den wilden Völkern die Apoſtel
der Cultur, die ſtrengen aber liebevollen Lehrer
des Chriſtusglaubens. Hier aber, bei dem verknö-
cherten, trägen, leichtſinnigen und noch dazu durch
neue Grundſätze verdorbenen Landvolke müſſen wir
erſcheinen als ernſte Warner, als gewaltige Richter
der Sünde. Mit Gott und Himmel und Liebe richtet
man bei ſolchen Leuten nichts aus, damit hat der
Ortsſeelſorger ſich abgemüht genug. Wir predigen
von Teufel und Hölle und ewigen Peinen.


Anfangs, da kommen ſie mit Uebermuth und
Neugierde zur Kirche herein, um die Wanderprediger
zu ſehen; aber als ſie die dumpfen Worte von der
Noth der Seelen, von der Gefahr des irdiſchen
Lebens, von der drangvollen Sterbſtunde und von
dem ſchrecklichen Gericht des Gerechten hören, da
heben ſie an zu erbleichen. Bald liegen ſie zerknirſcht
[279] und bebend vor dem ſchwarzverhüllten Altare, bald
drängen ſie ſich zu unſeren Beichtſtühlen. Den Kin-
dern wird gedroht mit der Verdammniß der Eltern,
den Eltern mit dem Verderben ihrer Kinder. Der
erwachſenen Jugend wird jeder Blutstropfen ihres
blühenden Lebens verflucht; den Ehleuten wird die
Liebes- und Kindesfreude vergällt. Und den Greiſen
wird das nahe Ende dargeſtellt in ſchrecklichen Zügen.
Für Alle die einzige Rettung iſt: Bekehrung zur
Buße. — Da rutſchen ſie auf den Knieen um
den Altar, da verſagen ſie ſich den Biſſen Brot
bis die Sonne niedergeht, da thun ſie Sand in
die Schuhe und wallen zu fernen Kirchen und ent-
legeneren Kapellen, um Ablaß zu erbitten.


Vor jeder Kirche haben wir ein hohes, kahles
Kreuz aufgeſtellt. Chriſtus iſt für euch gekreuzigt
worden, jetzt kreuziget euch ſelbſt in Abtödtung
und Buße.


Ich bin in Eifer gerathen, der mich fortgezogen
hat in dem, was unſeres Amtes geweſen, und der
mich fortgeriſſen hat in eine Schwärmerei, die ich
bislang an mir nicht gekannt habe. Wie eine wild-
lodernde Gottesoffenbarung ſteht es vor meiner
Seele: Die Buße iſt das Einzige, was uns erlö-
ſen kann.


Wie lebendig und luſtig es im Dorfe auch
geweſen iſt, wo wir eingezogen: es wird bald ſtill
[280] in den Gaſſen und öde auf den Feldern und Wieſen.
Das Gotteshaus iſt die Zuflucht geworden; und
wie raſch die Bewohner bereit ſind, das Irdiſche
gegen das Himmliſche zu vertauſchen, zeigen die
Früchte der Erde, die verwahrloſt verderben, wäh-
rend die Leute in den Kirchen beten.


Und ſelbſt die Regierung hat es eingeſehen,
wie im Lande eine allgemeine und gründliche Be-
kehrung Noth thut. Wo doch Einer iſt, der zum
Sonntag, während in der Kirche Gottesdienſt iſt,
auf dem Dorfplatze ſitzt, ſich ſonnt und ſeine
Pfeife ſchmaucht, da weiſen Wachmänner mit meſſer-
bepflanzten Gewehren den Glaubenslauen in die
Kirche.


Das iſt eine erfreuliche Zeit geweſen für un-
ſeren Orden, und er iſt ſtark und heimiſch gewor-
den im Lande, wie er es in dem Grade früher nie
geweſen war.


Was aber mich anbelangt: glücklich bin ich
nicht. Wenn die Stunden der Begeiſterung vorüber,
ſo iſt eine Oede in mir und ein Dämon, der mich
fortweg abwenden will von dem heiligen Beruf,
welcher die große Aufgabe hat, die übermüthige
Menſchennatur zu bändigen und der Einheit und
Allgemeinheit unſerer Kirche zuzuführen. Ich habe
dieſen Dämon bekämpft durch Arbeit und Gebet,
denn ich habe ihn für den Teufel gehalten. Er wird
[281] aber was Anderes geweſen ſein. — Nicht wahr,
jetzt kommt ſchon die Nacht?“


Faſt verwirrt hat mich der Mann angeblickt,
als hätte er von mir die Beantwortung ſeiner
Frage erwartet.


„Die Nacht kann das noch nicht ſein;“ habe
ich entgegnet, „der finſtere Nebel legt ſich ſo über
den Wald.“


„Ja, ja,“ fährt der ſeltſame Erzähler wie
träumend fort, „es kommt die Nacht. Junger
Freund, ihr werdet ſehen, es kommt die finſtere
Nacht.“


Nun iſt es eine Weile ſo ſtill, daß man ver-
meint, den Nebel ſpinnen zu hören in dem Geäſte
der Tannen. Nachher fährt der Mann wieder fort:


„In einem großen Dorfe iſt es geweſen. Ich
ſitze noch ſpät Abends im Beichtſtuhl. Die Kirche
iſt endlich leer geworden und die Ampel des Altares
legt ihren mattrothen Schein ſchon an die Wände.
Ein einziger Mann ſteht noch neben dem Beicht-
ſtuhle und ſcheint unentſchloſſen, ob er ſich nähern
oder auch die Kirche verlaſſen ſoll.


Ich winke ihm. Er ſchrickt zuſammen, tritt
näher und ſinkt auf die Kniee vor dem Schuber
des Beichtſtuhles. Sein Bekreuzen iſt ein krampf-
haftes Zucken der rechten Hand über das Geſicht.
Er ſagt nicht das übliche Gebet; in wirren und
[282] haſtigen Worten theilt er mir ſein Bekenntniß mit.
Dann faltet er die Hände ſo feſt ineinander, daß
ſie zittern und ſtammelt die Bitte um Losſprechung.
— Mein Herz ſteigt empor zu den Lippen, ich will
dem Geängſtigten Worte des Troſtes ſagen. Aber
unwirſch ſtoße ich mein eigen Herz zurück in die
Bruſt; denn die Satzung verlangt in dieſem Falle
unerbittliche Strenge. Das Verbrechen iſt kein un-
gewöhnliches geweſen; es kommt oft genug vor.
Nehmen wir zum Beiſpiel, der Mann hätte ſich an
dem Gute ſeines Nachbars vergangen.


Und wie er ſtumm ſo dakniet, entgegne ich in
ruhiger Weiſe: das Unrecht könne ihm nicht ver-
ziehen werden vor Gott, ſo lange es nicht bis auf
das letzte Pünktchen gut gemacht.


— Gutmachen, das kann ich nicht, verſetzt er,
mein Nachbar iſt fortgezogen; ich weiß ihn nicht
zu finden.


— So wandert durch die Welt, ihn zu ſuchen;
beſſer die Füße abgehen bis auf die Kniee, als daß
die einzige, koſtbare Seele ewig verloren gehe.


— Aber mein Weib, meine unmündigen
Kinder! ruft er und fährt ſich mit den Händen
über die Stirne.


— Umſomehr Seelen ſtürzet ihr mit euch
in das Verderben, wollt das Unrecht ihr nicht
ſühnen.


[283]

— Um Gotteswillen, ja, ich will faſten, beten,
will Almoſen geben zehnfach mehr, als was ich betrogen.


— Alles fruchtlos. Vor dem Betrogenen müßt
ihr es ſühnen, wenn Der es vergibt, ſo wird auch
Gott es ſtreichen aus dem Buche des Lebens.


— So ſoll ich jetzt fort und ſuchen, die
ganze Welt durchſuchen? ſchreit er fiebernd; iſt
der Herr nicht am Kreuz geſtorben, daß er die
Sünden der Welt auf ſich nehm’? Mord und Todt-
ſchlag werden verziehen, und mir kann meine Ver-
irrung um Chriſti Bluteswillen nicht vergeben ſein?


— Markelt nicht mit dem gerechten Gott im
Himmel! rufe ich erbittert, daß ſich da Einer auf-
lehnt gegen den Höchſten, jeder Tropfen des roſen-
farb’nen Chriſtiblutes wird dem Läſterer zu einer
Flammenzunge des hölliſchen Feuers. Dreimal höher
iſt der Himmel, ſeit er durch das Kreuzopfer iſt
erkauft worden; und neunmal tiefer iſt die Hölle,
ſeitdem die Menſchen drei Nägel geſchlagen durch
Chriſti Händ’ und Füße.


Ueber dieſe meine Worte iſt ein Aufſtöhnen,
ein Fluchwort, und ich höre den Schall der Tritte
eines Davoneilenden. Dann bin ich in der nächtigen
Kirche allein.


Ich trete aus dem Beichtſtuhle, kniee hin vor
den hochragenden Altar und bete lange für den
Verſtockten. Und wie ich ſo emporblicke zu dem
[284] Bilde der Königin der Beichtiger, da iſt es mir,
als trete ſie plötzlich hervor aus der Niſche — ſie,
mit dem Kinde, in blutrothem Schein.


Der Thür eile ich zu, auf daß ich den er-
quickenden Abend im Freien erlange. Siehe, da iſt
der Ausgang verſchloſſen.


Ich habe die Sperrſtunde nicht wahrgenommen.
Die Kirche iſt entlegen vom Orte; das nächſte
Haus iſt die Todtenkammer. Da hört es Keiner,
wie man auch rufen wolle.


So bin ich eingeſchloſſen in den düſteren
Raum, in welchem ich ſo oft von dem leidigen
Teufel geſprochen und von der ewigen Höllenpein.
— Dort im heiligen Gezelt thront der ewige Gott
in Weſenheit und Wahrheit; jetzo biſt du mit ihm
allein, jetzo wirſt du Rechenſchaft ablegen, wie du
als ſein Stellvertreter unter den Menſchen die hohe
Lehre haſt verkündet.


Nein, ich habe es nicht vermocht, hinzublicken
auf den Altar; das ſchreckliche Bild ſteht dort, wie
in der Luft, das rothe Licht ſchwebt auf mich zu.
Ich eile auf den Zehenſpitzen von einem Winkel
zum andern, verkrieche mich endlich wieder in den
Beichtſtuhl und ziehe den Vorhang zu.


So bin ich dageſeſſen mit höchſt erregten
Sinnen. Ich meine, jetzt und jetzt müſſe ſich der
Vorhang bewegen und eine kalte Hand hereinfahren
[285] nach meinem treuloſen Herzen. Aber es bleibt ruhig
und ſtill, nur daß zuweilen auf dem Thurme die
Uhr ihre Viertheile ſchlägt — und am hohen Fen-
ſter, durch das nun der Mond hereinſcheint, zuweilen
eine Fledermaus vorbeihuſcht. Ich lehne mich an
die Rückwand und ſchließe die Augen; der Schlaf
kommt nicht . . . . Gedanken ſind gekommen.


Ja, ſonſt knieen ſie da draußen vor dem
Schuber, die armen Sünder, und erforſchen das
Gewiſſen; und heute erforſcht es der Beichtiger
ſelbſt einmal. — Ich habe zurückgeblickt auf mein
ganzes Leben. Wie iſt es ſo bewegt, wie bin ich
arm und einſam geweſen! Meinen Vater habe ich
verlaſſen, wie er mich ja nicht gehalten hat; mein
Erzieher iſt von mir gezogen worden, als er mich
in die Wirren der Welt geſchoben hat; in dem
Teiche iſt ein flammendes Herz verloſchen. Da habe
ich keinen Freund mehr auf der weiten, weiten
Erden. Wie ein Spielzeug bin ich geworfen worden
über Land und Waſſer. Was iſt gemeint geweſen
mit meinen hohlen Thaten? Was iſt erſtrebt wor-
den? Habe ich wohl gethan? Ich bin Prieſter;
habe ich Gott verehrt mit meinem Herzen? — Ich
bin Vermittler; habe ich Gott verſöhnt mit den
Menſchen, und dieſe mit ſich ſelbſt? — Wenn ich
dereinſt vor Gottes Richterſtuhl ſtehe, wenn die
Wagſchale ſinkt mit meiner Uebelthat; iſt eine
[286] Seele, die das Zünglein hält und ruft: er hat
mich gerettet, er ſei erlöſt!


Und als es in mir ſo ringt und ſchreit, da
iſt plötzlich ein klägliches Stöhnen vor dem Schuber
des Beichtſtuhles, als kniete jener Mann noch davor
mit ſeiner Schuld. Ich fahre empor, aber — es
hat mich betrogen; — öde und ſtill iſt es, und
das helle Mondlicht rinnt durch das Fenſter.


So ſind meine Jahre verronnen, die goldenen
Jahre — in den Sand. — Guter Freund, ein
ſolches Unglück könnt ihr nimmer verſtehen. —
Endlich hebe ich an ſchmerzlich zu weinen.


Gewiß, ich hätte in meinem einflußreichen Stande
die Menſchen geliebt und ihnen gedient. Abgeleitet
bin ich worden; und mein einziger Freund iſt nicht
mein Freund geweſen. — Wie viele Jahre ſind
mir noch gegeben, daß ich ſie mißbrauche? Nein
und nimmer. O Gott führe mich weg von deinem
Altare, dem ich ein unwürdiger Diener geweſen;
führe mich aus deinem Tempel, in dem ich deinen
Namen eitel genannt. Und von den Menſchen führe
mich weg; ich habe dich ihnen ſo gottlos gefälſcht.
Führe mich zu einer ſtillen, einſamen Stätte, wo
ich mich ſelbſt erlöſen kann!


Dieſe Sehnſucht hat ſich wie Thau gelegt auf
mein Gemüth; ruhiger iſt es geworden und meine
Augen ſind geſunken.


[287]

Jetzt aber höre ich plötzlich von außen eine
Stimme, die Pater Paulus! ruft, und eine zweite:
Wenn ihm nur nichts zugeſtoßen! — Pater Paulus!
ruft es wieder. — Endlich befreit! denke ich und
will mich erheben, auf daß ich antworte. In dem-
ſelben Augenblick höre ich fürchterlich aufſchreien:
Jeſus Maria! da iſt er, da hängt er am Strick!


Ich thue einen Schrei, der in dem Kirchen-
ſchiffe gellt und von dem ich ſelbſt erſchrocken bin.
Da iſt draußen noch ein Klageruf und ich höre,
wie ſich die Leute eilig wieder davonmachen. Der
Aufſchrei in der Kirche, mein Hilferuf, hat ſie ver-
ſcheut. Ich bin allein. Erregt bin ich, daß mir der
Athem ſtockt. Mitternacht ſchlägt es. Und wie?
Draußen hängt Einer am Strick? Sie haben doch
ſo gerufen. Hatten ſie nicht mich geſucht und ge-
ſchrieen: Da iſt er, da hängt er am Strick?


Auf mein Angeſicht bin ich gefallen: Heiliger
Gott, bewahre mich vor Selbſtmord!


Aber jetzo ſteigt plötzlich eine Ahnung in mir
auf. Wie, wenn es der Mann iſt, dem ich zur
ſpäten Abendſtunde die Losſprechung verweigert und
den Troſt? deſſen nach Vergebung ringende Seele
ich in ihrer Verzweiflung zurückgeſtoßen habe?
Wenn er hingegangen iſt und ſich das Leben ge-
nommen hat?! Wer iſt ſein Mörder, o Herrgott
im Himmel! — In derſelben Stunde, guter Freund,
[288] habe ich Schreckliches ausgeſtanden. Das Klappern
der Todtengerippe habe ich in meinem fiebernden
Zuſtande gehört; den Selbſtmörder habe ich bau-
meln geſehen an der Kirchhofsmauer, und wie er
mich angrinſt mit ſtarrem Auge! — Und aus den
Tiefen des Teiches ſteigt ein Weib empor mit dem
Kinde, und ſeine feuchten Locken werden zu Schlan-
gen und legen ſich um meine Glieder. Und all die
unerlöſten Seelen kommen, denen ich die Verdam-
mung gepredigt. Und inmitten ſteht das hohe Kreuz
und eine Stimme höre ich rufen: Du haſt den
Heiland getödtet in den Herzen, du haſt ihnen das
ſchwere Kreuz aufgebürdet, das Kreuz ohne Heiland.
— Gottesmörder!“


Aechzend iſt der Mann hingeſunken auf das
Geäſte des Baumes. Kaum habe ich es vermocht,
ihn wieder aufzurichten. Nebelfeuchtes Wildfarren-
kraut reiße ich ab und lege es auf ſeine glühende
Stirne.


„Erzählet ein andermal zu Ende,“ ſage ich,
„und gehen wir heute in unſere Wohnungen, es
kommt wahrhaftig ſchon die Nacht.“


Er hat ſich aufgerichtet, iſt mit den Zipfeln
ſeines Mantels über die Augen gefahren.


„Heute iſt der Frieden in mir,“ ſagt er
hierauf ruhig, „aber ſo oft ich an dieſelbe
Stunde denke, glüht mein Blut wie Höllenflammen.
[289] Nun jetzo wird es ſchon beſſer. — Wie ich meine
Augen wieder aufthue, da ſchaut das Morgenroth
zu den Fenſtern herein. Wie ein mildes Lächeln
liegt es auf dem Altare und auf dem Bilde der
Mutter Gottes. — Ich habe mich aufgerichtet und
ein Gelöbniß gethan, und da iſt es mir in meinem
Gemüthe geweſen, als müſſe Alles, Alles gut enden.


Bald darnach haben die Schlüſſel der Kirchen-
thüre geraſſelt; der Schulmeiſter tritt herein, und
einer der Ordensbrüder und noch andere Leute. Sie
brechen in ein Frohlocken aus, als ſie mich ſehen,
und führen mich an der Hand in das Freie. Sie
erzählen, wie ſie mich geſucht, wie ſie wol einen
Schrei gehört in der Kirche, wie ſie aber in ihrer
Verwirrung gemeint hätten, es ſei eine Geiſter-
ſtimme. Sie führen mich abſeits vom Friedhofe,
denn dort iſt an einem eiſernen Grabkreuze der
Selbſtmörder gehangen.


Ich habe mich nachher in mein Zimmer ver-
ſchloſſen und bin in demſelben verblieben den gan-
zen Tag. Ich hätte an dem Tage eine Predigt hal-
ten ſollen über die Buße und die Erbarmungen
Gottes. Ein anderer meiner Genoſſen hat es für
mich gethan. Die Leute hätten ſich erzählt, ich ſei
die Nacht über abſichtlich in der Kirche geblieben
und habe Offenbarungen gehabt, denn ich ſei der
Frömmſte unter den Vieren.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 19
[290]

Spät Abends, als ringsum Alles geſchlafen,
habe ich auf ein Blatt Papier die Worte geſchrieben:
Lebt wohl, meine Brüder. Forſchet nicht nach mir.
Meine neue Miſſion heißt Selbſterlöſung.


Und dann habe ich genommen, was mein,
und bin aus dem Hauſe gegangen und aus dem
Dorfe, und der Landſtraße entlang die ganze Nacht.


Planlos iſt mein Wandern. Ich überlaſſe mich
dem Zufall. Ich habe nichts zu verlieren; nur aus
dem Bereiche der belebteren Gegenden trachte ich
fortzugelangen. Ich habe meine Richtung gegen das
Gebirge genommen.


Als der Morgen graut, bin ich zwiſchen Wald-
bergen; ein Wildbach rauſcht mir entgegen. Ich
trinke aus dem Waſſer und ruhe auf einem Stein.
Da kommt ſo ein Waldmenſch des Weges, der zieht
ſeine Kopfbedeckung ab vor meinem prieſterlichen
Kleide. Ich erhebe mich und bitte den Mann, daß er
mir den Weg weiſe, ich wolle weit hinein in’s Ge-
birge, bis dorthin, wo der allerletzte Menſch wohnt.


— Der allerletzte Menſch, der wird wol der
Kohlenbrenner, der Ruß-Bartelmei ſein, hat der
Mann geantwortet.


— So weiſet mir den Weg zum Ruß-Bartel-
mei und bedeckt euer Haupt.


— Habt ihr mit dem Köhler was zu ſchaffen?
frägt er dreiſter, da wir ſchon auf dem Wege ſind,
[291] ihr, der Köhler iſt leicht ſchwarz an Leib und Seel’;
den mögt ihr nimmer weiß waſchen. Nun, weil er
halt wildert. Schlechter wie Andere wird er auch
nicht ſein. Was wollt ihr ihm denn?


Ich glaube, ich habe dem Frager von einer
weitläufigen Verwandtſchaft was geſagt. Da bleibt
er ſtehen und ſieht mich an: Verwandtſchaft! thät’
mich wol freuen! Der Ruß-Bartelmei bin ich halt
ſelber.


Ich gehe mit dem Manne über Berge und
durch Schluchten. Bis zur Mittagszeit ſind wir bei
ſeinem Hauſe.


Drei Tage bleibe ich bei den Leuten. Schwarz
ſind ſie freilich. Bei einem Volke des Morgenlandes
iſt ſchwarz die Farbe der Tugend und der Seligen;
ſie malen dafür den Teufel weiß. — Ich habe das,
in der Meinung, ihm ein Gefälliges mitzutheilen,
dem Kohlenbrenner geſagt. Der aber guckt ſeltſam
aus ſeiner Hutkrempe hervor und entgegnet: Nachher
wäre der Pfarrer in der Kirche ein Teufel und auf
der Gaſſe ein Engel.


Am dritten Tage, nachdem ich und der Bartel-
mei viel und über Vieles miteinander geſprochen
und uns gegenſeitig Theile aus unſerer Lebens-
geſchichte erzählt (die ſeine iſt kohlſchwarz und die
meine noch ſchwärzer), da frage ich ihn, ob er mein
Freund ſein wolle. Ich hätte vor, in der Wildniß zu
19*
[292] leben und zu arbeiten für meine Seele, und wolle
redlich beſtrebt ſein, in der Einſamkeit Gutes zu ſtif-
ten, da man unter Menſchenſchaaren auch mit beſtem
Willen nicht immer das Rechte fördere. Als Freund
habe er mich gegen Entgeltung mit den allernoth-
wendigſten Bedürfniſſen zu verſehen, des Weiteren
aber mich als Geheimniß zu bewahren.


Der Mann hat ſich lange beſonnen; dann
ſagt er: So, ein Einſiedler wollt ihr werden? Und
da ſoll ich der Rab’ ſein, der euch das Brot vom
Himmel bringt?


Ich erkläre, daß ich mir das Brot ſelbſt ſuchen
wolle, daß man aber auch Kleidungsſtücke und
andere kleine Dinge bedürfe, und daß ich nicht er-
mangeln würde, mit meiner kleinen Habe dafür zu
danken.


So iſt er bereit, mir zu dienen. Nur müſſe
ich ihm auch einmal eine Gefälligkeit erweiſen, und
vielleicht eine ganz abſonderliche. Er habe ſchon
auch ſein Anliegen.


Ich habe das Köhlerhaus verlaſſen und der
Bartelmei hat mich geführt noch weiter in die
Wildniß hinein. Bis in das Felſenthal bin ich
hinaufgekommen; da ſind gar keine Menſchen mehr,
da iſt nur der Urwald und das ſtarre Gewände.
Und hier iſt es mir recht geweſen; in einer ver-
borgenen Höhle, an der eine [Quelle] vorbeirieſelt,
[293] habe ich mich eingerichtet. Im Felſenthale iſt ein
hölzernes Kreuz geſtanden, das ſeiner Tage auch
ein verlorner Waldmenſch aufgerichtet haben mag.
Das iſt mein Verſöhnungsaltar. Ein Kreuz ohne
Heiland, wie ich es ſonſt den bedrängten Seelen
vorgehalten, war mir nun ſelber geworden.


Und ſo, junger Freund, habe ich nun gelebt
in der Einſamkeit, habe mit den Wurznern und
Pechern gearbeitet. Und ſo iſt Jahr um Jahr ver-
floſſen. Von Entbehrung will ich nicht reden, ſchwerer
iſt mir das Gefühl des Verlaſſenſeins geworden,
und die Sehnſucht nach den Menſchen hat mich oft
unſäglich gepeinigt. Nur der Gedanke, daß Ent-
ſagung meine Sühne iſt, hat mich getröſtet. Oft
aber bin ich hinaus in die Thäler gegangen, wo
Menſchen wohnen in lieber Geſelligkeit. Ich habe
mich gelabt mit dem Bewußtſein ihrer Gewiſſens-
ruhe und Zufriedenheit und bin wieder zurückgekehrt
in das ewig einſame Felſenthal zu meiner Höhle
und zu dem ſtillen Kreuze auf dem Steingrunde.


Der Kampf in mir aber iſt, ſtatt geringer,
größer und ſchwerer geworden, und zuweilen kommt
mir der Gedanke: was iſt das für ein Leben in
lahmer Thatloſigkeit, in der man Niemandem nützt,
ſich ſelber doch verzehrt? Kann das Gottes Wille ſein?


Zurückkehren in den Orden, das wäre un-
möglich. In der offenen Welt leben unter dem
[294] Schilde eines abtrünnigen Prieſters, das wäre ein
zu großes Aergerniß an der treuen Berufserfüllung
im Allgemeinen. Was bleibt mir übrig, als für
das Völklein des Waldes nach Kräften wohlthätig
zu wirken? Aber ich weiß es nicht anzufaſſen. Mit
trockenen Predigten ſtiftet man nicht immer das
Wahre. Den Teufel habe ich ja ſo lange gerufen,
bis er mir ſelber gekommen; Gott und die chriſt-
liche Liebe lehren? Damit bin ich in Indien ſchlecht
gefahren. So habe ich gar keine Neigung mehr,
den Menſchen mit Worten zu dienen.


Wo ich Kinder ſehe, da gehe ich auf ſie zu,
daß ich ihnen ein Liebes könnte erweiſen; aber ſie
haben ſich vor mir gefürchtet. Ich bin gemieden
und nirgends gern geſehen, ſelbſt in der Hütte des
Bartelmei nicht mehr. Ich bin auch ſo ſeltſam, ſo
unheimlich; zuletzt hat mir vor mir ſelber gegraut.
Ein Verbannter lebe ich im Felſenthale und zwi-
ſchen dem Geſtein lechze ich nach Wohlthun. Und
ich bin doch wieder davongeſchlichen gegen die
Wäſſer hinaus.


Dem altersſchwachen Weiblein habe ich die
Holzſchleppe vom Rücken genommen, auf daß ich ſie
in ſeine Klauſe trage. Dem Hirten habe ich die
Herde von dem gefährlichen Gewände abgeleitet.
Und im Winter, wenn gar keine Menſchen ſind
weit und breit, habe ich mit dürren Saamen und
[295] wilden Früchten die Vöglein gefüttert und die Rehe.
Geweint habe ich über dieſen meinen armſeligen
Wirkungskreis und vor dem Kreuze habe ich ge-
betet: Herr, vergib! und nur einmal laß mich was
Gutes vollenden!


Und ſo habe ich, in der Abſicht, etwas Rechtes
zu vollbringen, den Jungen aus dem Hinterwinkel
zu mir genommen. Ich hatte gehört, daß er von
ſeinem Vater die Tobſucht geerbt haben ſoll. Ich
habe bedacht, daß, wie der Mathes daran zu
Grunde gegangen, ſo auch der Lazarus daran zu
Grunde gehen müſſe, könne durch eine entſprechende
Zucht dem Uebel nicht geſteuert werden. Auch habe
ich bedacht, daß ein ſchwaches, weichherziges Weib
nimmer im Stande iſt, dem gefährdeten Kind die
ſtrenge Leitung, die nöthig iſt, angedeihen zu laſſen.
Da habe ich eines Tages im Walde den Knaben
am Grabe ſeines Vaters getroffen. Er hat erbärm-
lich geweint und iſt nicht von mir geflohen wie
andere Kinder. Und als ich ihn frage, was ihn
denn ſoſehr betrübe, da antwortet er, er hätte einen
Stein geſchleudert nach ſeiner Mutter, und ſo wolle
er jetzt ſterben.


Ich entgegne ihm, er möge getroſt ſein; ich
hätte auch einmal ſo einen Stein geſchleudert gegen
Menſchen, aber nun wäre ich in die Wildniß ge-
gangen, daß ich Buße thue und einen beſſeren
[296] Mann aus mir mache. Und ich frage ihn, ob er
es auch ſo halten wolle. Der Knabe hat mich
flehend angeblickt und ja geſagt.


So habe ich ihn mit mir genommen in das
Felſenthal und in mein Haus. Ueber ein Jahr habe
ich ihn bei mir behalten, auf daß ich ihn an ſtrenge
Ordnung hielte und ſeine wilden Anfälle zu unter-
drücken ſuchte. Täglich haben wir vor dem Kreuze
gemeinſam unſere Andacht verrichtet. Und ich habe
dem Knaben erzählt die Geſchichte von dem Ge-
kreuzigten, habe ihm mit aller Wärme meines Her-
zens dargeſtellt die Liebe, Geduld und Sanftmut
des Heilandes, und ich habe gemerkt, wie das Ge-
müth des Knaben davon ergriffen worden iſt. Es
iſt ja ein herzensguter Junge.


Wir haben zuſammen gearbeitet, haben Wald-
früchte, Kräuter und Schwämme geſammelt zu un-
ſerer Nahrung. Hirſche und Rehe haben wir nicht
geſchoſſen, wie der Lazarus einmal vorgeſchlagen.
Stühle und Fußmatten flechten wir für unſere
Felſenwohnung und für den Branntweiner, der ſie
an den Mann zu bringen weiß. Viel Brennholz
ſammeln wir und einen kleinen Schutzwall führen
wir auf vor unſerem Eingang. Gehe ich in die
Lautergräben oder in die Winkelwälder hinaus, ſo
bleibt der Knabe willig im Felſenhauſe und arbeitet
allein. Gerne hat er mir von ſeiner kleinen Schweſter
[297] erzählt, aber nie ein Wort von ſeiner Mutter,
gleichwol er im Traume oft genug von ihr ge-
ſprochen hat. Ich habe es ihm angemerkt, wie ſehr
das Gewiſſen ſeiner That ihn hat gepeinigt.


Auf daß ſich der Knabe an Geduld und Sanft-
muth übe, habe ich ein Mittel erfunden, das, wie
ſeltſam und einfältig es auch ausſehen mag, doch
eine ſchätzbare Wirkung in ſich trägt. Ich faſſe einen
Roſenkranz aus grauen Steinperlen zuſammen, und
dieſen Roſenkranz muß mir der Lazarus allabendlich
abbeten, ehe er zu Bette geht. Aber nicht mit dem
Munde abbeten, ſondern mit den Fingern und mit
den Augen. Er muß nämlich alle Perlen von der
Schnur ſtreifen, daß ſie auf den Erdboden hin-
kollern; und nun iſt ſeine Aufgabe, daß er die in
alle Winkel gerollten Kügelchen mühſam wieder
zuſammenſuche und aufleſe. Anfangs hat er bei
dieſer mühſamen Arbeit ſein Zucken wol bekommen;
aber da er dadurch dem Geſchäfte nur hinderlich
ſtatt förderlich iſt, ſo hat er es nach und nach mit
mehr und mehr Faſſung verrichtet, trotzdem das
Suchen oft ſtundenlang dauert, bis er die letzte und
allerletzte Perle findet. Und endlich hat er es mit
einer Ruhe und Selbſtüberwindung gethan, die ver-
ehrungswürdig iſt. — Kind, ſage ich einmal, das
iſt das ſchönſte Gebet, das du Gott und deiner
Mutter zu Liebe thun kannſt, und damit erlöſeſt du
[298] deinen Vater. Da blickt mich der Junge mit ſeinen
großen Augen glückſelig an.


Wir haben nicht gar viel miteinander geſchwätzt,
aber um ſo gewichtiger und überlegter iſt jedes ge-
ſprochene Wort geweſen. Er ſcheint mich lieb gehabt
zu haben, er hat jeden Wunſch meiner Augen zu
erfüllen geſucht. Nach meiner Weiſung hat er mich
den Bruder Paulus geheißen.


Wol, es iſt eine gewagte Art geweſen, wie
ich den Knaben zu mir geriſſen und geſchult habe;
aber ich mag hoffen, daß er glücklich auf einen
beſſeren Weg geleitet iſt. — O, mein Freund, wie
oft habe ich mir geſagt: Einem, und wenn auch
nur Einem Menſchen mußt du von allen Seelen-
gaben, die dem Prieſter zu Gebote ſtehen, die Gabe
der Selbſtbeherrſchung eigen machen, dann biſt
du erlöſt.


Ich habe mich im Laufe des Jahres oft nach
der Mutter des Knaben umgeſehen; und ſoſehr ich
mich ſelbſt an den Knaben gewöhnt, habe ich doch
den Tag erſehnt, an welchem ich dem armen Weibe
das verſchollene Kind wieder zurückgeben kann, wie
ein Stück reinen Goldes nach der Läuterung.


Da finden wir eines Abends das Kreuz nicht
mehr auf dem Steingrunde. Es war dageſtanden,
ehe ich das Felſenthal durchwandelt und an ſeinem
Fuße Erbauung und Zuflucht gefunden. Es war
[299] unſer Gottesaltar geweſen und das Zeichen der
Entſagung und Selbſtbeherrſchung. Und nun ſtarrt
uns die moderige Grube an, aus dem es empor-
geragt.


Wer hat mir auch dieſes Einzige noch weg-
genommen? Soll es Kohlen geben oder eine Herd-
flamme in der Hütte? Iſt der weite Wald nicht
mehr groß genug, legen ſie die Hand noch an das
Kreuz? Was hat es ihnen gethan? Oder ſchnitzt
Einer den Heiland dazu? Oder hat es ein Kranker,
ein Sterbender holen laſſen, auf daß er davor bete?


So habe ich an jenem Tage gefragt und ge-
grübelt. Und am Abend noch eile ich durch das
ſteinige Thal und meine, irgendwo müſſe mein
Gotteszeichen liegen. Ich laufe in den Wald hinab,
den Fußſteig hin, da ſehe ich zwei Männer, die
das Kreuz auf den Schultern tragen.


Und nun iſt es mir eingefallen, es kommt in
die neue Kirche am Steg, die Wäldler ſtellen es
auf den Altar. Sie verehren es, wie ich es ver-
ehre; auch ſie wollen Entſagung und Aufopferung
lernen; auch ſie ſind Menſchen, die ſtreben und
ringen nach dem Rechten, wie ich. Da iſt in mir
eine Freude erwacht, die mir ſchier das Herz hat
zerſprengt. Um den Hals fallen hätte ich euch
mögen, euch, der ganzen Gemeinde. Ich gehöre ja
zu euch — ein Pfarrkind.“


[300]

„Ja, jetzo iſt keine Zeit mehr für müßige
Gedanken,“ fährt der Einſiedler fort. „Kurze Zeit
darnach habe ich den Lazarus fortgeführt aus die-
ſem Felſenthale und hinaus zur neuen Kirche, auf
daß er vor dem Kreuze bete. Ich habe ihn von
Herzen geſegnet, denn ich habe wol gewußt, daß er
mir nicht mehr zurückkehren wird in das Felſenhaus.


Und allein habe ich weiter gelebt, wol ver-
laſſener als je, und doch beruhigter, und mein Herz
hat ſich gehoben, als wollte der Bann anheben zu
ſchwinden. Oefter und öfter bin ich hinausgegangen
zur neuen Kirche, in der mein Kreuz ſteht. Und
die Menſchen haben mich nicht mehr gemieden;
Almoſen haben ſie mir gereicht, auf daß ich beten
möge vor Gott für ihr Seelenheil. Daraus habe
ich wol mit Beſchämung erſehen, daß ſie mich für
beſſer halten, als ſich ſelber.


Ich bin auch wieder in das Haus des Bartel-
mei gegangen, in dem ſie mehr von mir wiſſen,
als in den anderen Hütten. Des Köhlers Mutter,
die Kath, iſt ſchon ſeit Jahren krank, die bittet
mich, daß ich um Gottes Erbarmung Willen doch
einmal eine Meſſe für ſie leſe zu einem glück-
lichen Sterben. Das habe ich dem alten Weiblein
gerne verſprochen und die Meſſe habe ich ge-
leſen und zwar vor meinem Kreuze in der Kirche
am Steg.“


[301]

So weit hat der Mann erzählt.


Wir ſchweigen beide eine gute Weile. Endlich
habe ich die Worte geſagt: „Wie ſich das ſchon
wunderbar fügt im Lebenslaufe, ſo iſt das vielleicht
euere letzte Meſſe in unſerer Kirche nicht geweſen.“


„Ich habe euch die ſchuldige Antwort gegeben,“
verſetzt der Einſpanig, „was daraus für euch, für
mich erwächſt, davon kann heute noch nicht ge-
ſprochen werden.“


Mit dieſen Worten hat er ſich von dem Holz-
ſtamme erhoben. Und wie er nun ſo aufgerichtet
vor mir ſteht, da iſt er jünger und größer, als er
ſonſt geſchienen. Einen tiefen Athemzug hat er ge-
than und plötzlich hat er heftig meine Hände gefaßt
in die ſeinen und mit bebender Stimme gerufen:
„Ich danke euch, ich danke euch!“


Und hierauf iſt er haſtig davongegangen.


Er ſchreitet aufwärts in der Richtung gegen
das Felſenthal. Ich ſchreite abwärts in die Lauter-
gräben und gegen Winkelſteg.


Meine Schuhe ſtoßen oftmals an Geſtein und
Gefälle. Eine nebelfeuchte finſtere Nacht liegt über
den Wäldern.


[302]

So iſt mein Mißtrauen gegen den Einſiedler
glücklich zu Schanden geworden.


Wenn Einer auf die Welt verzichtet, ſie mag
ihm ſein, was ſie will, und jahrelang in der Wild-
niß lebt unter unſäglichen Entbehrungen und mit
eiſernem Willen die Sehnſucht ſeiner Seele be-
kämpft — dem iſt es ernſt. — Zu welchem Zwecke
wäre er auch in die Wälder gegangen, lange ehvor
am Steg noch ein Kirchenſtein gelegen, zu welchem
Zwecke hätte er ſich gemieden gemacht von den
Leuten und ſeinem Wohlthätigkeitsdrang nur im
Verborgenen zu genügen geſucht? — Und vor mei-
nen Augen hat er die Faſern ſeines Herzens ent-
wirrt, daß ich zutiefſt hineinſehe in ſein Inneres,
wie es auch daſteht in der Schuld.


Oft habe ich mir gedacht, der erſte Seelſorger
in Winkelſteg darf kein Gerechter ſein, ſondern ein
Büßer. Nicht ein Mann ſei es, der nie gefallen,
ſondern einer, der aus dem Falle iſt aufgeſtanden.
In der Tiefe und Finſterniß der Wäldler muß er
ſtehen und ſich zurechtfinden können, auf daß er
dieſen Menſchen vorauszugehen weiß empor zur
lichten Höhe.


[303]

Im Sommer 1819.


Das iſt ſauber! das iſt poſſirlich! das iſt
ſchon gar zu luſtig, jetzund!


Ich habe heute den ganzen Tag gelacht und
geweint.


Es wird nur eine ſcherzhafte Mähr ſein, aber
ſie wird allenthalben ernſthaft erzählt. Und bei dem,
was bislang ſchon zu hören geweſen, kann es ja
möglich ſein.


Verſpielt ſoll er uns haben, der ſchlechte
Menſch!


Verſpielt, uns ſammt und ſonders, die ganzen
Winkelwälder mit Stock und Stein, mit Mann
und Maus und mit dem Andreas Erdmann, ver-
ſpielt am grünen Tiſch in einer einzigen Nacht.
Und verſpielt an einen Juden.


Einige Tage ſpäter.


Sei es, wie es ſei, wir wollen an unſerem
Tagwerk weiter arbeiten. Ich bin heute in dem
Mieſenbachwald geweſen, um die Bäume zu beſehen,
die für den Schulhausbau beſtimmt ſind. Sie müſſen
im Chriſtmonat gefällt werden; das iſt für Bauholz
[304] die beſte Schlagzeit; über den Sommer können ſie
trocknen und im nächſten Herbſt muß der Bau auf-
geführt werden.


Als ich an der Schwarzhütte vorübergehe, tritt
der Einſpanig heraus. Er hat den Lazarus beſuchen
wollen; der Knabe iſt aber nicht daheim, der iſt
jetzt Ziegenhirt bei den Holzern im Vorderwinkel.
Adelheid ſoll dem Einſpanig anfangs bittere Vor-
würfe gemacht haben; hierauf aber habe ſie ihr
Geſicht in die Schürze verborgen und ſchluchzend
ausgerufen: „Ich weiß es wol, ihr habt euch das
Himmelreich verdient mit meinem Kinde!“


Ich und der Einſpanig ſind mitſammen gegen
Winkelſteg gegangen. Leute, die uns begegnen, lachen
ſich die Hälſe dick über die Geſchichte, daß wir ver-
ſpielt ſeien. Der alte Rüppel ſagt, er ſchneide dem
Moiſi zu Ehr ſeinen Bart nicht mehr und trage
zumal das Kreuz wieder hinauf in das Felſenthal.


„Ja, ja,“ ſage ich zu meinem Begleiter, „ſo
ſind wir jetztund jüdiſch, und in unſerem neuen
Tempel kriegen wir einen polniſchen Rabi herein.
So ſäuberlich hat uns der junge Herr Judas
Schrankenheim verrathen.“


Da bleibt der Einſpanig ſtehen und ſtarrt
mich an. Vom Fuß bis zum Kopf und wieder
vom Kopf bis zum Fuß ſtarrt er mich an und
ſagt endlich: „Ihr ſeid mir ſonſt nicht dumm vor-
[305] gekommen, Erdmann.“ Und da wir wieder einige
Schritte gegangen ſind, verſetzt er: „Ein ordentlicher
Menſch ſollte ſo alberne Dinge nicht glauben. Wie
kann uns der junge Herr Schrankenheim denn ver-
ſpielt haben? mit dem beſten Willen nicht. Er iſt
nicht Herr über die Güter ſeines Vaters und noch
gar nicht großjährig.“


Da glotz’ ich einmal drein.


Eine Bergeslaſt iſt mir vom Herzen gefallen;
aber im zweiten Augenblick bin ich wieder erſchrocken.
Ich hab’ ja noch geſtern vor aller Leute Ohren den
jungen Herrn einen ſchlechten Menſchen geheißen.


Das wird mich noch in der Ewigkeit martern.
Aber, wenn ich ein Ehrenmann bin, ſo mach’ ich’s
gut. Ein lockerer Vogel mag er ja ſein; aber red-
lich und hochherzig biſt du, Hermann, und das
müſſen die Leute wiſſen. An drei Sonntagen nach-
einander verkünde ich es von der Kanzel: Unſer
junger, zukünftiger Herr, Hermann von Schranken-
heim, iſt redlich und brav. Gott erhalte ihn! —
Und das Schmachwort bitte ich dir ab bis zu mei-
nem Tode.


Der Einſpanig iſt bei mir eingekehrt. Eines
meiner Stubenfenſter geht gegen die Kirche und den
Pfarrhof hinüber. An demſelben ſitzen wir und ver-
fallen in ein Geſpräch, das zwei Stunden lang
dauert.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 20
[306]

Wir können jetzt, wenn ſchön Wetter, die Zeit
ſchon nach Stunden meſſen; der Franz Ehrenwald
hat an die Mittagsſeite des Thurmes eine Sonnen-
uhr gemalt.


Als der Einſpanig fort iſt, ſchreit die Haus-
hälterin: „Wie närriſch, jetzt hat uns der Kukuk
Den auch wiederum in’s Haus getragen.


„Der Kukuk?“ entgegne ich, „ja wol, dieſer
Mann iſt ſelber wie der Kukuk, hat kein Neſt, muß
ruhlos von einem Baum zum andern flattern, iſt
überall gemieden und nirgends daheim. Aber im
Lenz hören wir ihn doch gern, denn er bringt uns
ja das Frühjahr und er iſt ein Wahrſager und
zählt uns die Lebensjahre vor.“


„Ja,“ ſchreit das Weib, „und fabelt uns
himmelblau an, wie mich damalen; und iſt ihm
die Welt leicht nicht mit Brettern verſchlagen, ſo
iſt es ſicherlich ſein Kopf. Geht mir weg mit
euerem Einſpanig!“


Wenn die gute Winkelhüterin wüßte, was ich
in einer Stunde darauf dem Freiherrn für einen
Brief geſchrieben habe!


[307]

Im Mai 1820.


Hier im Walde iſt Tag und Nacht, iſt Winter
und Sommer, iſt Friede und Noth, iſt Sorge und
Brot, und iſt zuweilen ein wenig Behagen im
Ausruhen von der Arbeit. So ſchleppt es ſich fort.
Der Wagen der Zeit hat bei uns das vierte Rad
verloren, da geht es zuweilen ſchief und unſchön,
aber es geht.


Draußen, ſagt man, wollen ſie wieder die
Welt umkehren. Von Krieg wird geſprochen. Um
uns Winkelſteger kümmert ſich kein Menſch mehr.
Aber ich erlebe eine Freude. Mehrere junge Winkel-
ſteger wollen ſich freiwillig anwerben laſſen zu den
Soldaten. Das iſt ein Anzeichen ihres erwachten
Bewußtſeins, daß ſie ein Vaterland und eine Heimat
haben, die ſie vertheidigen müſſen. — Es iſt eine
erſte ſchöne Frucht der jungen Gemeinde.


Das Wäldermorden iſt für eine Zeit eingeſtellt;
draußen ſind die Hämmer geſchloſſen. Viele heben
jetzt an, die Geſchläge zu reuten und daraus Aecker
zu machen. Aus Holzſchlägern und Kohlenbrennern
werden Ackersleute. Das iſt gut; der Holzſchläger
vernichtet, aber der Bauer richtet auf.


20*
[308]

Von der Herrſchaft iſt auf ein Anſuchen von
mir hin ein Schreiben gekommen: Jetzt ſei nicht
die Zeit für Kirchen- und Pfarrergeſchichten; wir
ſollten uns behelfen.


Das iſt ein ſehr weiſer Rath. Aber die Leute
wollen nicht mehr in die Kirche gehen. „Wenn es
keine Meſſ’ und keine Predigt gibt,“ ſagen ſie,
„ſtill beten kann Eins auch unter dem grünen
Baum.“ Sie ſtellen ſich aber nicht unter den grü-
nen Baum, ſondern in die Branntweinſchenke.


Die Herde zerſtreut ſich wieder, wenn kein
Hirte iſt.


Der Förſter iſt auch davon, da er in anderen
Gegenden zu walten hat. So bin ich allein mit
meinen Winkelſtegern, wie Moſes mit den Iſraeliten
allein iſt geweſen in der Wüſte.


Die Gebote ſind verkündet, aber die Leute
bauen wieder an dem goldenen Kalb. Und Manna
fällt nicht mehr vom Himmel.


Pfingſten 1820.


Heute iſt der Einſiedler aus dem Felſenthale
in unſerer Kirche vor dem Altare geſtanden, hat
die Meſſe geleſen.


Das Kirchengeräthe haben wir aus Holden-
ſchlag, wie es dort in der Pfarrkammer gelegen
[309] und nicht mehr benützt worden iſt. Im Meßkleide
haben die Mäuſe Löcher gefreſſen, aber die Spinnen
haben dieſe Löcher wieder zugewoben.


Ich habe die Orgel geſpielt. Die Kirche iſt
juſt ſo groß, daß man es vom Chor aus noch
ſehen kann, wenn dem Prieſter am Altare Tropfen
im Auge ſtehen.


Die Leute haben wenig gebetet und viel ge-
flüſtert. — Dieſer Einſpanig, das iſt zuletzt ja der
zweite heilige Hieronimus.


Und der Waldſänger hat mir nach dem Gottes-
dienſt die Worte geſagt: „Habt ihr den ewigen
Juden geſehen? Er hat in den Leidenstagen für
den Heiland das Kreuz getragen heut’ hinauf nach
Golgatha. Er iſt erlöſt, Hoſanna!“


Ich habe dem Einſiedler die Worte mitgetheilt
und beigeſetzt: „Laßt euch die Rede freuen; der
Mann iſt voll des heiligen Geiſtes!“


Am Feſte Allerheiligen 1820.


In Wälſchland haben ſie Händel. Anſonſten
iſt es blinder Lärm geweſen und unſere Vaterlands-
vertheidiger ſind wieder zurückgekommen. Es geht in
das alte Geleiſe und wir ſtecken dem Wagen der
Zeit das vierte Rad wieder an.


[310]

Ich habe die Leute veranlaßt, daß ſie unter
ſich ein Oberhaupt wählen, auf daß jemand ſei,
der Verordnungen ertheile, Streitigkeiten ſchlichte
und die Gemeinde zuſammenhalte.


Sie haben den Martin Graßſteiger gewählt
und nennen ihn nun den Richter.


Und bei derſelben Verſammlung hat der neue
Richter den von dem Waldherrn anerkannten, zu-
künftigen Schullehrer der Gemeinde Winkelſteg vor-
geſtellt.


Dieſer Schullehrer bin denn ich. Die Leute
ſagen, das hätten ſie längſt ſchon gewußt, daß ich
der Schulmeiſter ſei. Der Graßſteiger ſagt, es müſſe
Alles auch Form Rechtens geſchehen.


Wenige Tage nach dem Obigen läßt der
Richter durch mich die Pfarrerwahl ausſchreiben.
Darüber lacht Alles. — „Sollen wir aus den
Pechhackern und Kohlenbrennern Einen wählen?
’s wird aber Keiner taugen. Studiert iſt für uns
Winkler gleich Einer genug, aber ſo närriſche Ge-
wohnheiten haben unſere Männer, keine Pfarrer-
köchin mögen ſie leiden.“


So machen ſie ihre Späſſe, wiſſen aber recht
gut, auf wen es abgeſehen iſt.


Und ſie haben ihn auch gewählt.


[311]

Wir ſollen uns ſelber behelfen, hat der Wald-
herr geſagt; ſo haben wir uns ſelber beholfen.


Der Einſiedler aus dem Felſenthale iſt Pfarrer
von Winkelſteg.


Martini 1820.


Die Ruß-Kath iſt geſtorben.


Sie iſt neunzig Jahre alt geworden. Ihr
letzter Wille iſt, daß man ihrer Leiche feſte, nagel-
beſchlagene Schuhe anziehe; ſie würde den Weg
aus der Ewigkeit oftmals zurückmachen müſſen auf
die Erde, um zu ſehen, wie es ihren Kindern und
Kindeskindern fortan gehe. Der Weg aber ſei voll
ſcharfer Dornen.


Die Ruß-Kath iſt die erſte, die ſie in
die Walderde unſeres neuen Friedhofes hinabthun
werden.


Auf zwei Stangen haben ſie zwei Männer
herübergetragen aus den Lautergräben. Der weiße,
noch harzduftende Tannenbretterſarg iſt mit Erl-
ſtrauchbändern auf der Bahre befeſtigt geweſen.
Der Ruß-Bartelmei und ſein Schweſtermann Paul
Holzer mit einem Knäblein ſind hinter den Trägern
dreingegangen. Sie haben laut gebetet und ſtets
auf die Wurzeln der Bäume geblickt, über die ſie
[312] geſchritten. Auch die Träger haben ſehr behutſam
gehen müſſen, denn der Boden mit dem Spätherbſt-
reif iſt jetzt gar ſchlüpferig.


Vor Jahren ſoll es geweſen ſein. Da haben
ſie von den Almen einen Hirten herabgetragen, um
ihn draußen auf dem Holdenſchlager Kirchhof zur
Ruhe zu bringen. Wie ſie ſich da oben an den
ſchmalen Steigen der Mieſenbachwände heraus-
winden, ſtrauchelt einer der Träger, und der Sarg
rollt über den Hang und ſtürzt in den Abgrund,
ſo daß nicht Ein Splitterchen davon mehr geſehen
worden iſt.


Der Todtengräber zu Holdenſchlag aber hat
bezahlt werden müſſen.


Wir Winkelſteger haben keinen Todtengräber.
Wir können ihn nicht ernähren. Wenn doch einmal
Einer ſtirbt, ſo thut er’s nicht eher, als bis ſein
letzter Groſchen verthan iſt. So müſſen eben ein
par Holzerburſchen her und die Grube ausſchaufeln.
Sie verlangen nichts dafür, ſie ſind froh, wenn ſie
aus der Grube friſch und geſund wieder hervor-
kriechen mögen.


Während der Todtenmeſſe iſt der Sarg ganz
allein vor der Kirche auf der harten Erde geſtanden.
Da kommt ein Vöglein geflogen, hüpft auf den Sarg-
deckel und pickt und pickt, und flattert wieder
davon.


[313]

Der Rüppel hat es geſehen; und das ſei,
habe es ihn nicht betrogen, der Vogel geweſen, der
alle tauſend Jahr’ einmal in den Wald kommt
geflogen.


Nach der Meſſe haben wir die Ruß-Kath
hinaufgetragen zum bereiteten Grab. Die An-
gehörigen blicken ſtarr in die Grube.


Nach der Einſegnung hat der Pfarrer eine
kurze Rede gehalten. Ich habe mir davon nur ge-
merkt, daß wir durch den Tod der Unſern an
Gleichmuth gewinnen für die Widerwärtigkeiten dieſes
Lebens, und einen ruhigen, ja vielleicht freudigen
Hinblick auf unſeren Tod. Jede Stunde ſei ja ein
Schritt dem Wiederſehen zu; und bis uns jene
Pforte der Vereinigung wird aufgethan, leben unſere
Heimgegangenen fort im heiligen Frieden unſeres
Herzens.


Er kann’s auslegen. Wie es Unſereins wol
auch empfindet, aber man weiß die Worte nicht
dazu. Er hat die Sach’ nicht verlernt, und iſt er
gleich jahrelang oben im Felſenthal geweſen.


Jetzt iſt aber auch noch ein Anderer gekommen.
Der Rüppel ſchiebt ſich ſachte vor, da machen ihm die
Leute Platz: „Schauen, was der Rüppel heut’ weiß!“


Und als der Waldſänger auf dem Erdhügel
ſteht und den Spattenſtiel als Stock in der Hand
hält, daß er auf dem lockeren Grund nicht ſtrau-
[314] chelt, und als er einen Blick hinabthut auf den
Schrein, da hebt er an zu reden:


„Geboren iſt ſie worden vor neunzig Jahren.
Ihr Lebtag iſt ſie mit keinem Rößlein gefahren.
Mit ihren Füßen iſt ſie gegangen thalab und berg-
auf ihren ganzen mühſeligen Lebenslauf. Sie iſt
beigeſprungen den Leuten in Kummer und Nöthen,
und dabei hat ſie hundert par Schuh’ zertreten.
Und andere hundert par Schuh’ thät ſie wagen,
um ihren Kindern das Brot auf den Tiſch zu
tragen. Und weitere hundert par Schuh ſind zerriſſen
auf Schmerzenswegen, die ſie hat wandeln müſſen.
Für Tanz und ſonſtige Luſtbarkeiten fürwahr, thät’
ſie brauchen nicht ein einziges Paar. Dann hat ſie
angezogen die letzten Schuh’, und fortgegangen iſt
ſie in die ewige Ruh’. Die heiligen Engel thaten
ihre Seele führen wol durch das Fegfeuer bis zu
den himmliſchen Thüren. Und unter der Erde thut
ruhen der arme Leib in ſeiner hölzernen Truhen. —
Schlaf wohl, Kathrin, in deiner neuen Wiegen, wir
werden bald an deiner Seiten liegen; bis der Herr uns
thut wecken zu ſeinen heiligen Schaaren, auf daß wir
mit Leib und Seel’ in den Himmel mögen fahren!“
— — — — — — — — — —


„Der Rüppel wäre der Pfarrer für die Winkel-
ſteger!“ hat nun der Mann geſagt, den ſie den
Einſpanig geheißen.


[315]

Als wir, ich und der Pfarrer, mit der Schaufel
einige Erdſchollen auf den Sarg geworfen, tritt der
Ruß-Bartelmei ganz betrübt zu uns und frägt,
was uns ſeine Mutter denn gethan habe, daß wir
ihr noch in das Grab die Klöſſe nachſchleuderten?
Da haben wir es ihm dargelegt, daß das einen
letzten Liebesdienſt bedeute, und daß Erde die ein-
zige Gabe ſei, die man einem Todten zu Lieb
könne reichen.


Darauf hebt der Bartelmei an und ſchaufelt
Erde hinab, bis man kein Stückchen mehr ſieht von
dem weißen Schrein und die Gräber ihm die
Schaufel ſanft aus der Hand nehmen, auf daß ſie
die Grube ſchließen.


Nach dem Begräbniſſe ſind ſie in das Wirths-
haus des Graßſteiger gegangen und haben ſich mit
Branntwein erfriſcht .... ſo wie auch die Alten
ihren Todten haben nachgetrunken.


Gott zählt ſeine Leute auch in Winkelſteg und
da darf ihm Keines fehlen.


Kaum iſt auf dem Friedhofe das Gräblein
zugemacht, wird in der Kirche das Taufbecken auf-
gethan. Der erſte Todte und der erſte Täufling an
Einem Tage und — aus Einer Familie.


Auf demſelben Waldweg, den heran vor ein
par Stunden der Sarg iſt geſchwankt, haben zwei
[316] Weiber ein neugebornes Kind herübergetragen aus
den Lautergräben.


Das Kind iſt eine Enkelin der Ruß-Kath und
gehört der Anna Maria.


Es [klopft] an die Kirchthür, thät’ bitten um
die Taufe und heißen möcht’ es gern: Katharina.


(Des zweiten Theiles Ende.)


[317]

Die Schriften des Waldſchulmeiſters.
(Dritter Theil.)


[[318]][319]

Im Jahre 1830. Zur Winterszeit.


Die ſechzehn Jahre her, ſeit ich in den Winkel-
wäldern bin, weiß ich keinen ſolchen Schnee, als
in dieſem Jahre. Schon ſeit Tagen kommt mir
kein Einziges mehr in die Schule. Die Fenſter
meiner Stube ſehen aus, wie Schießſcharten. Wenn
es noch ein wenig ſo fortgeht, ſo ſind wir allmit-
einander verſchneit. Zweimal des Tages wird von
mir bis zum Pfarrhofe ein Pfad ausgeſchaufelt,
der an der Thür des Graßſteigerhauſes vorübergeht.


In dem Graßſteigerhauſe haben wir, ich und
der Pfarrer, unſer gemeinſchaftliches Mittagsmahl.
Das Frühſtück bereitet ſich jeder in ſeiner Wohnung.
Am Abende kommen wir ſtets zuſammen, entweder
im Pfarrhofe oder bei mir im Schulhauſe.


Wie es nur denen in den Gräben und Kar-
wäſſern gehen wird! Da drüben iſt ein Schnee-
geſtöber noch viel wüſter, als im Winkel. Es liegen
um dieſe Zeit in den Häuſern viel kranke Leute,
und es werden ſich keine Wege machen und erhalten
[320] laſſen, daß ſie einander beiſpringen könnten. Und
über die Lauterhöhe zu kommen iſt ſchon gar eine
Unmöglichkeit. Die Markſtangen, die an den Stei-
gen ſtecken, gehen kaum mehr aus dem Schnee
hervor; die Laſten auf den Bäumen reißen die
Aeſte ab und brechen die Stämme. Des Schneiens
iſt kein Ende. Keine Flocken fallen mehr, es iſt ein
ſchweres, undurchſichtiges Staubwirbeln. Und die
Hauben der Geäſte und Pfähle, und die Dachgiebel
bauen ſich höher von Minute zu Minute.


Wenn ein Wind kommt, ſo rettet das viel-
leicht den Wald, kann aber zu unſerem Verderben
ſein. Eine Stunde Sturm über die lockeren Schnee-
lehnen her, und wir ſind begraben.


Der Pfarrer hat alle Waldarbeiter, denen nur
beizukommen iſt, gedungen, daß ſie Pfade herſtellen
in die Lautergräben, Karwäſſer, und daſelbſt von
einer Hütte zur andern. Einmal ſind ſie richtig
hinübergekommen, aber die Rückkehr iſt wieder die
neue Mühe. Die verſchneiten Leute drüben werden
doch vorgeſorgt ſein; ſie haben ihre Welt ja in
ihren Hütten.


In einer Klauſe des Karwaſſerſchlages ſoll
wol ſchon ſeit fünf Tagen die Leiche eines alten
Mannes liegen.


Der Pfarrer hat ſich heute Schneeleitern an
die Füße gebunden, um bei den Kranken Beſuche
[321] zu machen. Aber der Schnee iſt zu locker, der
Mann hat wieder umkehren müſſen. Nun macht er
Paketchen zuſammen, ſie ſind aus der Speiſekammer
unſeres Wirthes und ſollen durch kräftige Holz-
hauer in die Lautergräben zu den Kranken getragen
werden.


Das ſind kurze Tage und doch ſo lang. Ich
habe meine Zither, habe die neue Geige, die mir
der Pfarrer zu meinem jüngſtvergangenen Namens-
tage hat bringen laſſen; ich habe andere Dinge,
die mir ſonſten Zerſtreuung geboten haben. Aber
jetzt muthet mich nichts an. Stundenlang gehe ich
in der Stube auf und ab und denke nach, was
dieſer Winter noch für Folgen haben kann. Es gibt
Hütten genug in den Gräben, wo die Leute mit
ihren Schaufeln nicht geweſen ſind. Wir wiſſen
nicht, wie es in denſelben ausſieht.


Auf daß ich mich von der drückenden That-
loſigkeit erlöſe, habe ich heute die Lade unter der
Ofenbank aufgemacht und meine alten Tagebuch-
blätter herausgenommen, um nachzuſchlagen, was
die Gemeinde ſeit ihrem Beſtehen für Schickſale
gehabt.


Da ſehe ich, es iſt ſeit zehn Jahren nichts
mehr geſchrieben worden. — Zwei Dinge mögen
die Urſache geweſen ſein, daß ich die Aufzeichnungen
unterbrochen habe. Erſtens iſt das Bedürfniß nicht
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 21
[322] mehr in mir geweſen, meine Gedanken und
meine Empfindungen aufzuſchreiben, da ich an
unſerem Pfarrer einen vortrefflichen Freund ge-
funden habe, dem ich mich unverholen mittheilen
kann, wie er ſich mir mittheilt, und mir ſeine ſelt-
ſame Lebensgeſchichte dargelegt, ehe er mich noch
gekannt hat. Das iſt einer der Wenigen, die durch
Drangſale geläutert edel und rein aus den Wirren
und Irren der Welt hervorgehen. Die Wäldler
lieben ihn von Herzen; er leitet ſie nicht durch
Worte bloß, ſondern mehr durch ſeine Thaten.
Seine Sonntagspredigten erhärtet er an den Wochen-
tagen durch Beiſpiele. Er opfert ſich auf, er iſt
den Leuten Alles. Seine Haare ſind nicht mehr
ſchwarz, wie vormaleinſt im Felſenthale, ſein Ge-
ſicht iſt ernſt und heiter wie Regenbogenſchein. Die
Betrübten blicken ihm in die Augen und empfinden
Troſt.


Gerne erzählt er, wenn wir auf der Bank
oder um den Tiſch beiſammen ſitzen, von der weiten,
ſchönen Welt, von fremden, merkwürdigen Ländern,
von den Wundern der Natur. Pfeifenfeuer gehen
dabei aus, denn Alles hört ihm zu mit Ohren und
Mund. Nur die alte Frau aus dem Winkelhüter-
hauſe erklärt des Pfarrers Erzählungen für vor-
witzige Fabeleien; ein ordentlicher Prieſter, meint
ſie, müſſe hübſch von Himmel und Fegfeuer reden,
[323] und nicht allweg von der Erden. Sie horcht aber
zu und ſchmunzelt.


Vor mehreren Jahren hat die kirchliche Be-
hörde unſere Pfarrerfrage einmal aufgetiſcht, hat
unſeren Vater Paul nicht anerkennen wollen, ſon-
dern einen Neuen hereinzuſtellen Miene gemacht.
Hei! da haben die Winkelſteger zu toben angefan-
gen und die Sache iſt beim Alten belaſſen worden.
Dagegen aber wird Winkelſteg draußen nicht als
Gemeinde und Seelſorge anerkannt, ſondern als
eine Niederlaſſung von Halbwilden und verkommenen
Menſchen, wie ſie das früher geweſen.


Um ſo beſſer, ſo laſſen ſie uns fürder in
Ruh, und wir können ungefährdet und unbeſchränkt
— wie ſie es draußen nicht können noch wollen —
dem Ziele einer Muſtergemeinde zuſtreben.


Die zweite Urſache der Vernachläſſigung mei-
nes Tagebuches iſt die viele und mannigfaltige
Arbeit, die mein Beruf mir auferlegt.


Anfangs iſt es der Bau des Schulhauſes ge-
weſen, der mir keine Ruhe gelaſſen. Es iſt denn
hergeſtellt worden, wie ich es für die wichtige Sache
am Zweckmäßigſten halte.


Das Haus iſt aus Holz aufgeführt. Das Holz
regelt den Wärmezuſtand beſſer, als der Stein,
auch zerſtreut es mehr die Dünſte und gibt friſche
Luft. Dann iſt mir darum zu thun geweſen, den
21*
[324] Leuten einen zweckmäßigen und geſchmackvollen Holz-
bau als Muſter aufzuſtellen. Es iſt zu meiner
Freude die leichte, zierliche und doch haltfeſte Art
meines Schulhauſes und ſeine bequeme Eintheilung
und Einrichtung ſchon vielfach nachgeahmt worden.
Meine Fenſter, Thüren, Maurer- und Schloſſer-
arbeiten werden bereits von der ganzen Umgebung
als muſtergiltig betrachtet.


Um das Haus iſt ein Garten und ein geräu-
miger Spielplatz mit Werkzeugen für körperliche
Uebungen angelegt. Das Haus iſt zum Schutze
gegen die Unbill der Witterung ringsum mit einem
breiten Vordache verſehen, aber ſo, daß es dem
Lichte des Inneren nicht Eintrag thut. In der Schul-
ſtube iſt vor Allem auf die Geſundheit der Kinder
Rückſicht genommen worden. Die Bänke ſtehen nicht
zu dicht aneinander und die Tiſchläden ſind hoch,
damit ſich die Schüler das gebückte Sitzen nicht
angewöhnen. Bei dem Leſen laſſe ich den Schüler
aufſtehen, damit er das Buch von den Augen in
entſprechender Entfernung halten kann. Die Fenſter
ſind ſo vertheilt, daß das Licht den Arbeitenden
von der linken Seite oder von rückwärts kommt.
Zum Ablegen der Ueberkleider iſt ein Vorkämmerchen
eingerichtet, auf daß bei ſchlechtem Wetter uns die
Ausdünſtung der Näſſe nicht gefährlich wird. Den
Wärmegrad der Stube ſuche ich immer mit jenem
[325] von draußen in einem guten Verhältniß zu halten,
damit die Ein- und Austretenden nicht ein zu jäher
Wechſel treffe.


Was meine Wohnung im Schulhauſe an-
belangt, ſo iſt ſie nicht groß, aber ſehr traulich.
Und tauſendmal traulicher noch macht ſie mir jene
Winterfahrt durch Rußland, der ich zuweilen wie
eines wilden Traumes gedenke. — Wol, ich bin
ſeit jenem Traume um viele Jahre jünger geworden;
wie mich die Stürme der Welt zu Boden geſchla-
gen, ſo habe ich mich aufgerichtet an der Urſprüng-
lichkeit des Waldes.


Ein weit ſchwereres Amt als die Schulange-
legenheiten und eine weit größere Pflicht iſt mir die
Ueberwachung der geiſtigen Geſundheit der mir
Anvertrauten. Klugheit und für ihren eigenen Vor-
theil zu denken und zu handeln lernen ſie leicht;
aber ſich dem Ganzen und Gemeinſamen anzupaſſen,
daß ihr Daſein mit jenem der Mitmenſchen und
jenem der Außenwelt im Allgemeinen ſtimme, das
findet ſich viel ſchwerer. Es iſt einmal ſo. Das
erſte und allererſte Lebenszeichen, welches in dem
jungen Menſchenkinde die aufkeimende Seele von
ſich gibt, iſt die erſte Offenbarung der Selbſtliebe.
Ob Menſchenliebe daraus wird, oder Selbſtſucht,
das entſcheidet die Erziehung.


[326]

Was die Erziehung und Belehrung der Kinder
anlangt, ſo ſind dazu die gewöhnlichen Regeln all-
hier nicht brauchbar. Es läßt ſich darüber nichts
ſagen und nichts ſchreiben; die Erfahrung muß es
geben und der Erzieher muß ſich nach dem Zögling
richten. Richtet ſich doch auch unſer Pfarrer nach
den Leuten. Wo die Menſchen ſich nicht nach ihm
kehren, da kehrt er ſich nach den Menſchen.


Gleich ein Beiſpiel dafür: Der Lazarus
Schwarzhüter ſieht des Graßſteigers Töchterlein
Johanna gern. Das Töchterchen mag auch den
Burſchen leiden; ſo gucken ſie zuſammen. Jetzt hat
aber der Pfarrer das Zuſammengucken ſo junger
Leute verboten. Gut, er hat das Recht zu predigen;
ſie gucken zuſammen und vermeinen dazu auch ein
Recht zu haben, ein Recht, von dem der Lazarus
erklärt hat, daß ſie nimmer davon laſſen wollen.


Wolan, denkt ſich der Pfarrer, ſie ſollen ſich
haben; zuſammenbinden werde ich die Leutchen —
feſter, als ihnen vielleicht lieb iſt.


[327]

Waldlilie im Schnee.


Im Winter 1830.


Uns iſt ein Stein vom Herzen. Das Unwetter
hat ſich gelegt. Ein ganz leichter Wind iſt gekom-
men, hat die Bäume ſachte von ihren Laſten erlöſt.
Ein par mildwarme Tage ſind geweſen, da hat ſich
der Schnee geſetzt und man kann mit Fußleitern
gehen, wohin man will.


Es hat ſich in dieſer Zeit aber doch was zu-
getragen drüben in den Karwäſſern. Der Berthold,
deſſen Familie von Jahr zu Jahr wächſt, und von
Jahr zu Jahr weniger zu eſſen hat, iſt ein Wilderer
geworden. Der Holdenſchlager verſteht es beſſer, als
Unſereiner, der ein weichmüthiger Spiegelfechter iſt
ſein Lebtag lang. Arme Leute dürfen nicht heiraten,
ſagt der Holdenſchlager. Nun, nach Sitte und
Brauch haben ſie freilich nicht geheiratet, aber vor
mir ſind ſie gekniet im Walde .... und — jetzt
hungern ſie allmiteinander.


[328]

Meinetwegen? Nein, nein, mein Segen be-
deutet ja nichts. O Herrgott, Dein iſt die Macht,
und mich laſſe nicht noch einmal verſinken in
Schuld und Verzweiflung!


Iſt alſo ein Wilderer geworden, der Berthold.
Das Holzen wirft viel zu wenig ab für eine
Stube voll von Kindern. Ich ſchicke ihm an Lebens-
mitteln, was ich vermag; aber das genügt nicht.
Für das kranke Weib eine kräftige Suppe, für die
Kinder ein Stück Fleiſch will er haben und ſchießt
die Rehe nieder, die ihm des Weges kommen.
Dazu thut die Leidenſchaft das ihre, und ſo iſt der
Berthold, der vormaleinſt als Hirt ein ſo guter,
luſtiger Burſch geweſen, durch Armuth, Trotz und
Liebe zu den Seinigen, recht ſauber zum Verbrecher
herangewachſen.


Einmal ſchon bin ich vor dem Förſter auf den
Knieen gelegen, daß er es dem armen Familien-
vater um Gotteswillen ein wenig, nur ein klein
wenig nachſehen möge, er werde ſich gewiß beſſern
und ich wolle mich für ihn zum Pfande ſtellen.
Bis zu dieſen Tagen hat er ſich nicht gebeſſert;
aber das Geſchehniß dieſer wilden Wintertage hat
ihn laut weinen gemacht, denn ſeine Waldlilie liebt
er über Alles.


Ein trüber Winterabend iſt es geweſen. Die
Fenſterchen ſind mit Moos vermauert; draußen
[329] fallen friſche Flocken auf alten Schnee. Berthold
wartet bei den Kindern und bei der kranken Aga nur
noch, bis das älteſte Mädchen, die Lili, mit der
Milch heimkehrt, die ſie bei einem nachbarlichen
Klauſner im Hinterkar erbetteln muß. Denn die Zie-
gen im Hauſe ſind geſchlachtet und verzehrt; und
kommt die Lili nur erſt zurück, ſo will der Berthold
mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Bei ſolchem
Wetter ſind die Rehe nicht weit zu ſuchen.


Aber es wird dunkel, und die Lili kehrt nicht
zurück. Der Schneefall wird dichter und ſchwerer,
die Nacht bricht herein und Lili kommt nicht. Die
Kinder ſchreien ſchon nach der Milch, den Vater
verlangt ſchon nach dem Wild; die Mutter richtet
ſich angſtvoll auf in ihrem Bette. „Lili!“ ruft ſie,
„Kind, wo trotteſt denn herum im ſtockfinſteren
Wald? geh’ heim!“


Wie kann die ſchwache Stimme der Kranken
durch den wüſten Schneeſturm das Ohr der Irren-
den erreichen?


Je finſterer und ſtürmiſcher die Nacht wird,
deſto tiefer ſinkt in Berthold der Hang zum Wil-
dern und deſto höher ſteigt die Sehnſucht nach
ſeiner Waldlilie. Es iſt ein ſchwaches, zwölfjähriges
Mädchen; es kennt zwar die Waldſteige und Ab-
gründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den
Abgrund die Finſterniß.


[330]

Endlich verläßt der Mann das Haus, um ſein
Kind zu ſuchen. Stundenlang irrt und ruft er in
der ſturmbewegten Wildniß; der Wind bläſt ihm
Augen und Mund voll Schnee; ſeine ganze Kraft
muß er anſtrengen, um wieder zurück zur Hütte
gelangen zu können.


Und nun vergehen zwei Tage; der Schneefall
hält an, die Hütte des Berthold wird faſt ver-
ſchneit. Sie tröſten ſich überlaut, die Lili werde
wol bei dem Klauſner ſein. Dieſe Hoffnung wird
zu nichte am dritten Tag, als der Berthold nach
einem ſtundenlangen Ringen im verſchneiten Ge-
lände die Klauſe vermag zu erreichen.


Lili ſei vor drei Tagen wol bei dem Klauſner
geweſen, und habe ſich dann bei Zeiten mit dem
Milchtopf auf den Heimweg gemacht.


„So liegt meine Waldlilie im Schnee be-
graben,“ murmelt der Berthold tonlos. Dann geht
er zu anderen Holzern und bittet, wie dieſen Mann
kein Menſch noch ſo hat bitten geſehen, daß man
komme und ihm das todte Kind ſuchen helfe.


Am Abende desſelben Tages haben ſie die
Waldlilie gefunden.


Abſeits in einer Waldſchlucht, im finſteren,
wildverflochtenen Dickichte junger Fichten und Ge-
zirme, durch das keine Schneeflocke vermag zu
dringen, und über dem die Schneelaſten ſich wölben
[331] und ſtauen, daß das junge Geſtämme darunter ächzt,
in dieſem Dickichte, auf den dürren Fichtennadeln
des Bodens, inmitten einer Rehfamilie von ſechs
Köpfen iſt die liebliche, blaſſe Waldlilie geſeſſen.


Es iſt ein ſehr wunderbares Ereigniß. Das
Kind hat ſich auf dem Rückweg in die Waldſchlucht
verirrt und da es die Schneemaſſen nicht mehr
überwinden können, ſich zur Raſt unter das trockene
Dickicht verkrochen. Und da iſt es nicht lange allein
geblieben. Kaum ihm die Augen anheben zu ſinken,
kommt ein Rudel von Rehen an ihm zuſammen,
Alte und Junge; und ſie ſchnuppern an dem Mäd-
chen und ſie blicken es mit milden Augen völlig
verſtändig und mitleidig an, und ſie fürchten ſich
gar nicht vor dieſem Menſchenweſen, und ſie blei-
ben und laſſen ſich nieder, und benagen die Bäum-
chen und belecken einander, und ſind ganz zahm;
das Dickicht iſt ihr Winterdaheim.


Am andern Tage hat der Schnee Alles ein-
gehüllt. Waldlilie ſitzt in der Finſterniß, die nur
durch einen blaſſen Dämmerſchein gemildert iſt,
und ſie labt ſich an der Milch, die ſie den Ihren
hat bringen wollen, und ſie ſchmiegt ſich an die
guten Thiere, auf daß ſie im Froſte nicht ganz
erſtarre.


So vergehen die böſen Stunden des Verloren-
ſeins. Und da ſich die Waldlilie ſchon hingelegt
[332] zum Sterben und in ihrer Einfalt die Thiere hat
gebeten, daß ſie getreulich bei ihm bleiben möchten
in der letzten Sterbſtunde, da fangen die Rehe
jählings ganz ſeltſam zu ſchnuppern an und heben
ihre Köpfe und ſpitzen die Ohren und in wilden
Sätzen durchbrechen ſie das Dickicht und mit gellen-
dem Pfeifen ſtieben ſie davon.


Bald darnach arbeiten ſich die Männer durch
Schnee und Geſträuche herein und ſehen mit lautem
Jubel das Mädchen, und der alte Rüppel iſt auch
dabei und ruft: „Hab’ ich nicht geſagt, kommt mit
herein zu ſehen, vielleicht iſt ſie bei den Rehen!“


So hat es ſich zugetragen; und wie der
Berthold gehört, die Thiere des Waldes hätten ſein
Kind gerettet, daß es nicht erfroren, da ſchreit er
wie närriſch: „Nimmermehr! mein Lebtag nimmer-
mehr!“ Und ſeinen Kugelſtutzen, mit dem er ſeit
manchem Jahre Thiere des Waldes getödtet, hat er
an einem Stein zerſchmettert.


Ich habe es ſelber geſehen, denn ich und der
Pfarrer ſind in den Karwäſſern geweſen, um die
Waldlilie ſuchen zu helfen.


Dieſe Waldlilie iſt ſchier mild und weiß wie
Schnee und hat die Augen des Rehes in ihrem
Haupte.


[333]

Im Winter 1830.


Von dem Sohne unſeres Herrn wollen die
Gerüchte nicht ſchweigen. Wenn es auch nur zur
Hälfte wahr iſt, was von ihm geſagt wird, ſo iſt
das ein toller Menſch. So fährt kein Vernünfti-
ger drein.


Ich will mir’s doch anmerken und demnächſt
ſeinem Vater ſchreiben. Hermann möge einmal in
unſeren Wald hereinkommen und ſehen, wie es
allhier ausſieht und wie arme Leute leben.


So Gebirgsreiſen können auch von Nutzen ſein.


Weihnachten 1830.


In der heiligen Chriſtnacht ſind die Leute
ſchon wieder von allen Seiten herbeigekommen. Die
von den Spanlunten abgefallenen Glühkohlen ſind
luſtig hingeglitten über die Schneekruſte wie Stern-
ſchnuppen.


Viele Wäldler ſind in ihrer Sehnſucht nach
der mitternächtigen Feier ein gut Stück zu früh
daran. Da die Kirche noch nicht aufgeſperrt und
im Freien es ſo kalt iſt, ſo kommen ſie zu mir in
das Schulhaus. Ich ſchlage Licht und da iſt bald
[334] die ganze Schulſtube voll Menſchen. Die Weiber
haben weiße, bandartig zuſammengelegte Tücher um
das Kinn und über die Ohren hinaufgebunden. Sie
huſchen recht um den Ofen herum und blaſen in
die Finger, um das Froſtwehen zu verblaſen.


Die Männer halten ſich feſt in ihren Loden-
gewändern verwahrt. Sie behalten die Hüte auf
den Köpfen, ſitzen auf den Tiſchbrettern der Schul-
bänke und beſehen mit wichtigthuender Bedächtigkeit
die Lehrgegenſtände, welche die Jüngeren den Ael-
teren erklären. Einige gehen auch über den Boden
auf und ab und ſchlagen bei jedem Schritte die
gefrornen Schuhe aneinander, daß es klappert. Faſt
Alle rauchen aus ihren Pfeifen. Der Urwald iſt
auszurotten, aber das Tabakrauchen nimmer.


Ich kleide mich raſch an; ich ſoll in der
Kirche doch der Erſte ſein.


Jählings klopft es ſehr ſtark an die Thür.
Die Waldleute klopfen nicht, wer iſt es alſo? Eine
weiße Schafwollenhaube guckt herein, und unter der
Haube ſteckt ein alter Runzelkopf mit ſchneeweißen
Lockenſträhnen. Alſogleich erkenne ich den Wald-
ſänger. Heute trägt er einen gar langen, fahlen
Rock, der bis zu den Waden hinabgeht und mit
Meſſinghäckelchen zugeknöpft iſt. Darüber hängt ein
Schnappſack und eine Seitenpfeife, und auf einen
Hirtenſtab ſtützt ſich der Alte und ſeinen braunen,
[335] weltumfaſſenden Hut hält er in den Händen. Dieſer
Hut iſt ſeine Hütte und ſein Heim und ſeine ganze
Welt. Ein guter Hut, denkt er, iſt das Beſte im
Weltgetümmel, und der Erde Hut nennen ſie den
Himmel.


„Was hocket ihr denn da, ihr Bärenhäuter!“
ruft der Rüppel laut und luſtig, „draußen ſcheint
ſchon lang die Sonnen! — Gelobt ſei der Herr,
und ich bring’ euch die wunderſame Mähr, die ſich
heut zugetragen hat drunten in der Betlehemſtadt.
Hört ihr keine Schalmei und kein Freudengeſchrei?
So luget zum Fenſter hinaus, taghell beleuchtet iſt
jedes Haus!“


Die Leute ſtecken ihre Köpfe richtig zu den
Fenſtern; aber da iſt nichts, als der finſtere Wald
und der Sternenhimmel. — Was ſollten ſie an-
ſonſten denn noch ſehen?


Der Alte guckt ſchmunzelnd nach links und
nach rechts, wie viel er wol Zuhörer habe. Sonach
ſtellt er ſich mitten in die Stube hin, pocht mit
dem Stocke mehrmals auf den Fußboden und hebt
ſo an zu reden:


„Da ſteh ich allein draußen auf der Heid,
und ſchau ſchläfrig herum weit und breit, und treib
meine Schäflein zuſamm; hab dabei gehabt ein
wutzerlfeiſt’s Lamm. Und wie ich das anſchau eine
Weil, da hör ich ein G’hetz und ein G’ſchall, grad
[336] hoch in der Luft, es iſt wahr, und ſie muſiziren
ſogar. Ich hab nit g’wußt, was das bedeut’t, und
wer denn da tobt ſo mit Freud. Die Lämmlein
ſein g’ſprungen drauf eins nach dem andern auf;
das feiſte hat ſo lieblich plärrt, wie es das Wunder
hat g’hört. Drauf ſeh ich — hab g’meint, ’s iſt
ein’ Mähr, kleine Bub’n fliegen in Lüften umher,
wie die Spatzen und die Fledermäus grad, fliegen
ſie hin über die Betlehemſtadt. — Ein Engel fliegt
grad auf mich zua, den frag ich: was gibt’s denn
heut, Bua? Da ſchreit er gleich luſtig und froh:
Gloria in excelsis Deo! — Das kunnt ich, mein
Eid nicht verſtehn: Geh, Bübel, mußt deutſch mit
mir red’n; ich bin ein armer Hirt in der G’mein,
und die Lämmlein können auch nit latein. — So
mach ſich der Hirt nur geſchwind auf und geh Er
nach Betlehem drauf, dort wird er finden ein neu-
gebor’n Kindelein; ja gar ein wunderſchön Kind,
liegt zwiſchen Eſel und Rind. Nicht in einem
Königsſaal, nur in einem Ochſenſtall liegt unſer
eing’fatſchter Gott, der uns hilft aus aller Noth.
— Ei, ei, ſag ich, Alles recht ſchön, aber Eins
kann ich doch nicht verſteh’n: Was ſteh’n denn für
bucklige Röſſer dabei? Die heilig drei König ſein
da alle drei. Guld, Weihrauch und Myrrhen, das
iſt nit gar viel für drei ſolche Männer, wenn
man’s nehmen will. Thät’ ich ein heilig drei König
[337] ſein, Roß und Wagen ein Pölſterl fein, und für’n
alten Vater ein gut’s Glaſerl Wein, und für die
jung’ Mutter, ſtatt Weihrauch ſchon eh ein gutes
Stückel Butter und ein Hollerthee, und ſtatt die
gallbitteren Myrrhen einen Zuckerhut; ſolche G’ſchenk
ſtünden den heilig drei König gut. — Jetzt, d’Hüt
legt’s auf die Seiten, die Stecken auf die Erden,
daß wir uns bekennen vor Gott unſerem Herrn.“


Langſam läßt der alte Mann Stock und Hut
zu Boden gleiten; er ſinkt auf die Knie und faltet
die Hände:


„Wenn’s einmal geſchehen ſollt, daß der Herr
Vater Dein, dich, du lieb Jeſulein, zu ſich nehmen
wollt, ſo ſtreck dein Händl, und nimm uns beim
Schopf; aber gib Acht, daß du uns nicht wegreiß’ſt
den Kopf, und ruck an, und heb uns All’ hinauf
in den guldenen Himmelsſaal, Amen.“


Das iſt des alten Sängers „Botſchaft,“ die
er während der Weihnachtszeit in allen Häuſern
verkündet.


Wir haben ihm einen kleinen Botenlohn ge-
geben, da murmelt er noch ein par heitere Sprüche
und humpelt wieder zur Thür hinaus.


Die Leute ſind ganz ſchweigſam und andächtig
geworden; und erſt, als die Kirchenglocken zu läuten
anheben, werden ſie wieder lebendiger und verlaſſen,
unbeholfen in Worten und Geberden, die Stube.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 22
[338]

Ich habe das Licht ausgelöſcht, das Haus ver-
ſchloſſen und bin in die Kirche gegangen. In der
Kirche iſt es licht, wie am hellen Tage, nur zu
den Fenſtern ſchaut die ſchwarze Nacht herein. Jeder
hat ein Stück Kerze, oder gar einen ganzen Wachs-
ſtock mitgebracht, denn in der Chriſtnacht muß jeder
ſeinen Glauben und ſein Licht haben. Die Leute
drängen ſich zum Kripplein, das heute an der
Stelle des Beichtſtuhles aufgerichtet worden iſt. Ich
habe vor mehreren Jahren aus Linden- und Eſchen-
holz die vielen kleinen Figuren geſchnitzt und ſie
zur Verſinnlichung der Geburt Chriſti zuſammen-
geſtellt. Es iſt der Stall mit der Krippe, dem Kind-
lein mit Maria und Joſef, mit Ochs und Eſel, es
ſind die Hirten mit den Lämmlein, die heiligen
Könige mit den Kameelen; es ſind andere ſpaßhafte
Männchen und Gruppen, wie ſie Freude, Wohlthun
und Liebe zum Chriſtkinde nach der Leute Auf-
faſſung ausdrücken ſollen. In der Luft hängen die
Engel und die Sterne und im Hintergrunde iſt
die Stadt Betlehem.


Was der Rüppel weiß zu ſagen in Worten,
das will ich durch dieſe Bilder erzählen. Und die
Leute erbauen ſich baß an dieſer wundernärriſchen
Darſtellung. Aber ſie halten ſie, Gott ſei Lob, eben
nur wie ein Bild, von dem ſie wiſſen, daß es nichts
bedeuten und nichts wirken kann, als die Erinnerung.


[339]

Mit einem Heiligenbilde auf dem Hochaltare
wäre das anders; das hätten ſie Jahr um Jahr
und in allen Lebenslagen vor Augen, das thäten
ſie gleich zum Herrgott ſelber machen.


Auf dem Chor iſt in dieſer Nacht Unheil ge-
weſen. Der Pfarrer ſtimmt ſchon das ambroſianiſche
Loblied an, ich ſitze an der Orgel und ziehe zur
hohen Feſtfreude alle ſechs Stimmenzüge auf —
da platzt jählings der Blaſebalg, und die Orgel
ſtöhnt und pfaucht und gibt keinen einzigen, klin-
genden Ton. Meiner Tage bin ich nicht in ſolcher
Verzweiflung geweſen, als in dieſer Stunde. Ich
bin der Schulmeiſter, der Choraufſeher, ich muß
Muſik machen; und die Muſik iſt ja eigentlich das
Feſt und ohne Muſik gibt es in der Kirche gar
keine Chriſtnacht. Aller Leut’ Herzen hüpfen, aller
Leut’ Ohren ſpitzen ſich der Muſik entgegen, da
ſchürft mir der Teufel jetzt den Blasbalg auf. Ich
habe meinen Kopf in die Hände genommen, hätte
ihn am liebſten zum Fenſter hinausgeworfen. Ver-
gebens hüpfen meine Finger alle zehn über die
Taſten hin; taubſtumm iſt das ganze Zeug und
wie maustodt.


Der Paul Holzer, ſein Weib und die Adel-
heid von der Schwarzhütte, die auf dem Chore
neben mir ſitzen, merken wol meine Pein, aber ſie
rücken nur ſo her und hin und hüſteln und räuſpern
22*
[340] ſich und heben an in hellen Stimmen zu ſingen:
„Herrgott, dich loben wir all!“


Das iſt mir Oel in’s Herz geweſen.


Aber das Lied wird bald aus ſein und dar-
nach kommt das Hochamt, und da muß Muſik,
Chormuſik ſein um alle Welt.


Holpert der alte Rüppel die Treppe herauf:
„Schulmeiſter! will ſchon heut die Orgel ſchweigen,
ſo nimm die Geigen!“


„O Gott, Rüppel, die iſt zu Holdenſchlag
beim Leimen!“


„Und kunnt ich auch die Geigen nicht zu Wege
bringen, ſo thät ich bei meiner Treu die Kirchen-
lieder frei auf der Zither ſingen!“


Für dieſes Wort habe ich den Alten ſo ſtür-
miſch umarmt, daß er bis in’s Herz hinein er-
ſchrocken iſt. Ich eile und hole die Zither, und bei
dem Hochamte klingt auf dem Chor ein Saiten-
ſpiel, wie es in dieſer und etwan auch in einer
andern Kirche niemalen ſo gehört worden iſt. Die
Leute horchen, der Pfarrer ſelber wendet ſich ein
wenig und thut einen kurzen Blick gegen mich herauf.


Und ſo iſt mitten in der langen Winternacht
zu Winkelſteg das Chriſtfeſt gefeiert worden. Leiſe
zittern, mild wiegen die Saitentöne; ſie ſingen dem
neugebornen Jeſukindlein das Wiegenlied und dem
Menſchen den Frieden. Und ſie ſchrillen und wecken
[341] das ſchlafende Kind, ehe der falſche Herodes kommt;
und ſie trillern ein Wanderliedchen für die Flucht
nach Egypten.


Ich ſpiele den Meßgeſang, ſpiele Lieder, wie
ſie meine Mutter geſungen, und mein Nährvater,
der gute Schirmmacher, und im Hauſe des Frei-
herrn die Jungfrau ....


Und letztlich weiß ich ſelber nicht mehr, was
ich kindiſcher Mann der Gemeinde und dem heiligen
Kind hab vorgeſpielt in dieſer Chriſtnacht.


Ich werde den Winkelſtegern noch ſo verrückt,
wie der Reim-Rüppel.


Nach dem Mitternachtsgottesdienſt hat der
Pfarrer durch mich die Aermſten der Gemeinde, die
Alten, die Breßhaften, die Verlaſſenen, zu ſich in
den Pfarrhof rufen laſſen.


Je! da iſt es noch heller, wie in der Kirche!
da iſt mitten in der Stube ein Baum aufgewachſen,
und der blüht in Flammenknoſpen an allen Aeſten
und Zweigen.


Da gucken die alten Männlein und Weiblein
gottswunderlich drein, und kichern und reiben ſich
die Augen über den närriſchen Traum. Daß auf
einem Baum des Waldes eitel Kerzenlichter wachſen,
das haben ſie all ihrer Tage noch nicht geſehen.


— Jenes Wundervöglein von den tauſend
Jahren, ſagt der Pfarrer, ſei wieder durch den
[342] Wald geflogen, habe ein Saamenkorn in den Boden
gelegt und dem ſei dieſes Bäumchen mit den
Flammenblüthen entſproſſen. Und das ſei der dritte
Baum des Lebens. Der erſte ſei geweſen der Baum
der Erkenntniß im Paradieſe; der zweite ſei geweſen
der Baum der Aufopferung auf Golgatha; und
dieſer dritte Baum ſei der Baum der Menſchen-
liebe, der uns das Golgatha der Erde wieder zum
Paradieſe geſtalte. Im brennenden Dornbuſch habe
Gott vormaleinſt die Gebote verkündet, und in
dieſem brennenden Buſche wiederhole er es heute:
Du ſollſt den Nächſten lieben, wie dich ſelbſt!


Hierauf hat der Pfarrer die Kleidung und
Nahrung vertheilt, wie die Gaben beſtimmt geweſen
und die Worte geſagt: „Nicht mir danket! das
Chriſtkind hat’s gebracht!“


„Du mein, du mein!“ rufen die Leutchen zu
einander, „jetztund ſteigt uns das Chriſtkind ſchon
gar in den Wald herein! Ja, weil wir halt
eine Kirche haben, und ſo viel einen guten Herrn
Pfarrer!“


Der Rüppel, auch einer der Beſchenkten, iſt
allein kindiſcher, wie die Andern all mitſammen.
Er eilt um den Baum herum, als thäte er das
Chriſtkind ſuchen im Gezweige. — „Aber mein!“
ſchreit er endlich, „die Sonne darf nicht bös auf
mich werden, aber ich weiß kein Licht auf der
[343] Erden, weiß keins zu nennen, das ſo hell thät
brennen, wie dieſer Wipfel mit ſeinem Gipfel!
Seid fein ſtill und lauſcht! Hört ihr’s, wie’s in
den Zweigen rauſcht? Wie die Spatzen fliegen die
Engelein und bauen ein Neſt für’s Chriſtkind zum
heiligen Feſt. Der Weiße dort, der Kleine — Flügel
hat er noch keine — der wär’ jetzt ſchier herab-
gefallen. Geh, laſſ’ dir ein par Steigeiſen theilen
vom Schmied, ich will ſie ſchon zahlen. Schau, ich
hab heut ein warm Jöpplein kriegt, und in jedem
Säckel ein Thaler liegt. — Und du, mit dem gul-
denen Haar, ſag, wann kommt ihr gar zu allen
anderen Bäumen in unſeren Wald? auf daß ihr
bald thätet anzünden die Lichterkronen zu tauſend
Millionen!“


Keinen Löffel voll hat der alte Rüppel ge-
geſſen, als die andern beim Graßſteiger warme
Suppe genießen. Und als Stroh in die Stube ge-
tragen und ein Lager bereitet iſt worden, daß die
Leutchen nicht in der Nacht zu ihren fernen Hütten
wandern müſſen, da iſt der Rüppel hinausgegangen
unter den freien Himmel, und hat die Sterne ge-
zählt und jedem einen Namen gegeben.


Und der aufgehende Morgenſtern hat den
Namen „Vater Paul“ erhalten.


[344]

Der Pfarrer hat ſich mehrmals an den Wald-
herrn gewendet, auf daß den Kleinbauern hier, die
ſich den ſchlechten Boden mit vieler Mühe nutzbar
gemacht haben, dieſer Boden gegen Entgeld zu eigen
überlaſſen werden möge. Es iſt aber kein Beſcheid
zurückgekommen. Es heißt, der alte Herr ſei auf
Reiſen und der junge in der Hauptſtadt, und die
Welt ſei zu weit und die Hauptſtadt zu laut, als daß
ſo ein Wort aus dem Walde gehört werden könne.


Wir Winkelſteger bleiben denn Lehensleute.


Am 14. des Eismonats 1831.


Heute habe ich die Nachricht von dem Tode
meiner Baſe, der Muhme-Lies, erhalten. Sie hat
mich zu ihrem Erben eingeſetzt. Alte Jugend-
bekannte, die ſich ſeit zwanzig Jahren nicht mehr
um mich gekümmert haben, beglückwünſchen mich
zur Erbſchaft. Ich weiß aber noch nichts Näheres.
Wie viel kann die alte Frau denn beſeſſen haben?
Wol war ſie reich geweſen, hat aber Alles in
Glücksſpielen verſetzt.


Und wenn nur Ein Groſchen iſt, und wenn
gar nichts iſt — bei meiner Seel’, ſo freut es
mich doch, daß ſie meiner gedacht hat. Sie hat mir
es ſtets wolgemeint. Jetzt hab ich gar keinen Ver-
wandten mehr auf dieſer Welt.


[345]

Oſtern 1831.


In den Winkelwäldern müſſen die kirchlichen
Feſte und Darſtellungen das erſetzen, was ſie draußen
in der Welt die Kunſt nennen.


So wie ich nach meinem armen Können für
die Weihnachtszeit ein Kripplein aufgeſtellt, ſo hat
nun der Ehrenwald mit ſeinen Söhnen ein Grab
Chriſti geſchaffen.


Da ſtehen im Seitenſchiffe der Kirche vier
hohe, mit Bildern aus der Leidensgeſchichte gezierte
Bretterbogen, wie Eingangspforten, die von der
vorderſten bis zu der hinterſten immer enger und
dunkler werden. Und im dämmerigen Hintergrunde
iſt in einer Niſche die Grabesruh Jeſu, und darüber
der Tiſch für das Heiligſte, umgeben von einem
Kranze bunter Lampen. An beiden Seiten des
Grabes ſtehen zwei römiſche Kriegsknechte zur Wacht.
Bei der Feier der Auferſtehung verſchwindet der
Leichnam und in dem Lampenkranze erhebt ſich das
Bild des auferſtandenen Heilandes mit den Wund-
mahlen und mit der Fahne.


Ein tiefer Reiz liegt in der ganzen Begehung.
— Die Faſtenzeit ſchreitet vor, wird ernſter und
ernſter; die Muſik verſtummt wochenlang, die Bild-
[346] niſſe verhüllen ſich. Es naht die Charwoche, der
würdevolle Palmſonntag, der geheimnißreiche Grün-
donnerſtag, der düſtere, tiefbetrübte Charfreitag, der
ſtille Samſtag. In der ernſten Ruhe liegt ein Ahnen
und Sehnen und leiſe mahnt des Profeten Wort:
Sein Grab wird herrlich ſein! — Noch einmal
verdüſtert ſich das Gotteshaus, wie Golgatha in der
Finſterniß; aber die rothen und grünen Lampen
glühen, die Feſtkerzen ſtrahlen — da erſchallt hell
und freudevoll der Ruf: Er iſt auferſtanden! —
Jetzt klingen die Glocken, klingt die Muſik, knallen
die Pöller; und die Fahnen wehen, und die
Menſchenſchaar zieht in das Freie, und ihre Lichter
flammen in Abenddämmerung hin durch den Wald.


In den Städten haben ſie einen noch viel
größeren, einen ſchweren Prunk. Aber wo nehmen
ſie die Stimmung und wo nehmen ſie die wahre,
hoffende Freude an der Auferſtehung, die in der
gläubigen Armut liegt!


Lenzmonat 1831.


Ich hebe bereits an, aus der Erbſchaft Bauten
aufzuführen. Ich baue mir in Winkelſteg ein großes,
ſchönes Haus, größer, wie der Pfarrhof. Den Plan
dazu hab ich ſchon fertig. Aber ich ſelber mag
darin nicht wohnen, ſo lang ich, gleichwol ſo jung
[347] an Jahren, die Schulmeiſterei mag betreiben. Ein-
mal dem alten Kropfjodel gebe ich im Hauſe ein
Stübchen; und die alte, kinderloſe Brunhüterin
aus den Karwäſſern führe ich hinein und die kranke
Aga; dann führe ich den Markus Jäger herbei,
der erblindet iſt, und den Joſef Ehrenwald, den
ein fallender Baum geſchädigt hat. Und Andere und
Andere, und ſo wird das große Haus nach und
nach voll werden. Es torkeln viele mühſelige Leute
herum in den Winkelwäldern.


Einen Arzt und friſche Arzneien ſtelle ich ihnen
auch her, das heißt, wenn das Geld auslangt.
Dann nehme ich poſſirliche Leute auf, die viel
Muſik machen und anſonſten allerhand unterhaltlich
Spiel treiben. Ein Armenhaus muß man nicht
auch noch mit Einſamkeit und Trübſal umgeben;
die luſtige Welt ſoll ihm zu allen Fenſtern herein-
lugen und ſagen: ihr ſeid auch noch mein und
ich laſſ’ euch nicht fahren!


Den Baugrund für dieſes Haus brauche ich
heute noch nicht zu zahlen, denn ich baue einſtweilen
mein Schloß nur ſo in die Luft hinein. Die Erb-
ſchaft iſt noch nicht da. Aber es heißt, meine Baſe
hätte im Glücksſpiel große Summen gewonnen.


[348]

Dem alten Rüppel werde ich im neuen Armen-
hauſe das freundlichſte Kämmerlein weiſen. Der
arme Mann iſt ſchier ganz verlaſſen. Seine Sprüche
lohnen die Leute kaum mehr mit einem Stück
Brot. Sie haben vergeſſen, wie ſie vormaleinſt zu
feſtlichen Stunden ſo oft von den heiterfrommen
Liedern erbaut worden ſind, wie ſie gelacht und
geſchluchzt haben dabei, und wie ſie ſo oft zu ein-
ander geſagt haben: „’s iſt, wie wenn der heilige
Geiſt aus ihm thät reden.“


Freilich wol iſt bei dem Alten heute nicht mehr
viel zu holen und er wird ſchon recht kindiſch und
närriſch. Jetzund hat er ſich aus Baumäſten einen
Reifen gebogen und in demſelben eitel Strohhalme
wie Saiten aufgezogen. Das iſt ſeine Harfe, er
lehnt ſie an ſeine Bruſt, legt die Finger auf die
Halme und murmelt ſeine Geſänge.


Es iſt ein wunderlicher Geſelle, wenn er ſo
daſitzt auf einem Stein im Waldesdunkel, gehüllt
in ſeinen fahlfarbigen, weiten Mantel, umwuchert
von ſeinem langen, ſchneeweißen Bart, von ſeinen
ſchimmernden Lockenſträhnen, die voll und wild über
die Achſel wallen. Sein ſtarres, thautrübes Auge
richtet er zu den Wipfeln empor, und ſingt den
Vöglein, von denen er es gelernt.


Die Thiere des Waldes fürchten ſich nicht vor
ihm; zuweilen hüpft ein Eichhörnchen nieder vom
[349] Geäſte auf ſeine Achſeln und macht ein Männchen
und ſagt ihm was in’s Ohr.


Seine Worte werden immer unverſtändlicher,
ſo wie ſeine Lieder. Er paßt ſeine Geſänge auch
nicht mehr den Menſchen und ihren Gelegenheiten
an. Er ſingt tolle Liebes- und Kindeslieder, als
träume er ſeine Jugend. Wenn der Weißbart zur
Sommerszeit unbeweglich auf einer Bergeshöhe ſitzt,
ſo meint man von Weitem ein Sträußchen Edel-
weiß zu ſehen.


Dann laufen alle Käfer und Ameiſen an
ſeinem Rock und krabbeln an ſeinem Bart empor;
und Hummeln umkreiſen ſein Haupt, als ob wilder
Honig in demſelben wäre.


Der Pfarrer hat mir eine Beſorgniß mit-
getheilt.


Er ſagt, es ſei möglich, daß ich ein reicher
Mann würde. Und als reicher Mann zöge ich fort
in die Welt, um all die Wünſche mir zu erfüllen,
die ich in der Einſamkeit ausgeheckt und großgepflegt
hätte. Ganz ſelbſtlos ſei kein Menſch.


Dieſe Aeußerung hat mir eine ruhloſe Nacht
gekoſtet. Ich habe mein Herz erforſcht und wahr-
haftig einen Wunſch in demſelben gefunden, der
weit über die Winkelwälder hinausgeht.


[350]

Aber mit Gut und Geld iſt er nicht zu er-
füllen. Sie iſt vermählt ....


Was läſterſt du, Andreas? Dein Wunſch iſt
ja erfüllt. Sie iſt glücklich.


Am 24. des Lenzmonats 1831.


Heute haben ſie in den Lautergräben den
Sturmhans von der Wolfsgrubenhöhe todt gefunden.
Es iſt an der Leiche der Bart verſengt. Die Leute
ſagen, eine blaue Flamme, die aus dem Munde
hervorgeſtiegen, habe ihn getödtet. Sie erklären es
ſich ſo: Der Sturmhans habe ſehr viel Wachholder-
branntwein getrunken, habe ſich dann etwan eine
Pfeife anzünden wollen, und anſtatt des Tabaks
habe der Athem Feuer gefangen und dem Manne
die Seele herausgebrannt.


Gut zur Hälfte wird das wol richtig ſein.


Am 1. April 1831.


Heute iſt mir meine Erbſchaft behördlich zu-
gewieſen worden.


Sie beſteht aus drei Groſchen und einem Brief
von der Muhme-Lies.


Der Brief liegt bei:


[351]

Lieber Andreas!


Ich bin alt und krank und hilflos. Du biſt,
Gott weiß wo, im Gebirge. In meiner Krankheit
denke ich über Alles nach. Ich habe dir wol Un-
recht gethan und bitte dich um Verzeihung. Dieſes
Geld drückt mich am meiſten, es iſt dein Pathen-
geſchenk; du haſt es ſeiner Tage für deinen Vater
in den Himmel ſchicken wollen. Ich habe es dir
damals genommen. Nimm das Andenken zurück,
Andreas, und verzeihe mir. Ich will ja ruhig
ſterben. Gott ſegne dich, und Eines muß ich dir
noch ſagen: wenn du zu hinterſt im Gebirge biſt,
ſo gehe nicht mehr in die Welt zurück. Alles iſt
eitel. In guten Tagen ſind mir meine Freunde
getreu geweſen; jetzt laſſen ſie mich in der Armut
ſterben.


Ich küſſe dich viel tauſendmal, mein lieber,
einziger Blutsverwandter. Wenn mich Gott in den
Himmel nimmt, ſo will ich deine Eltern grüßen.


Deine bis in den Tod
liebende Muhme
Eliſe.“


[352]

Frohnleichnam 1831.


Seit drei Jahren ſchon ſammeln wir Geld
für einen Traghimmel. Aber wir Winkelſteger kön-
nen uns den Himmel nicht kaufen. Wir müſſen
uns ſelber einen machen.


Der alte Schwamelfuchs hat aus grünenden
Birkenſträußen ein tragbares Zelt gebaut, auf daß
wir zu dieſem Feſte das Hochwürdigſte nach gebüh-
render Weiſe aus der Kirche in das Freie tragen
können.


Das iſt ein feierlicher Umgang geweſen im
Sonnenſchein. Und die Leute, von dem harten
Winter endlich befreit, haben hellen Lobgeſang ge-
ſungen. Im Walde haben wir geruht, und der
Pfarrer hat mit dem Heiligſten den Segen gegeben
nach allen vier Gegenden des Himmels hin.


Es iſt noch nicht erhört worden, daß mitten
im Gottesdienſt ein weltlicher Menſch ſo ſeine
Stimme hätt’ erhoben. Der alte Rüppel hat’s ge-
than und das iſt ſein Frohnleichnamsſpruch ge-
weſen:


„Klinget alle Glöckelein, ſinget alle Vögelein;
der große Gott kommt aus himmliſchen Thüren,
geht im grünen Wald ſpazieren. Er raſtet ſüß auf
[353] dem grünen Raſen, wo die Hirſchlein und Rehlein
graſen. Er ſagt ſein erſtes, mächtiges Wort, da
ſteigen alle Blümlein aus der Erden hervor. Er
ſpricht ſein zweites mit hellem Schall, das weckt
jeglich Saamenkorn im Thal, daß es mag reifen
und werden zum täglichen Brot. Und gegen Un-
gewitter Noth ruft er ſein drittes Wort; da müſſen
die Donner ſchweigen und die Blitze ſich neigen,
und vor ſeinem Hauch ſind die böſen Schloſſen in
Waſſer zerfloſſen. O, dir ſei Preis und Ehr’, du
großmächtiger Herr! Und wirſt du einſtmal dein
letztes Wort ſprechen, ſo werden die Berge beben
und die Felſen brechen; werden die Himmel krachen,
werden die Todten erwachen; wird das Feuer die
Welt vernichten. Zu dieſer lieblichen Stund’ im
grünen Wald ſei gebeten, o Gott in Brotesgeſtalt:
thu’ uns gnädiglich richten!“


Der alte abſonderliche Mann weiß an’s Herz
zu ſtoßen mit ſeinen Worten. Erſchüttert und ge-
hoben ſind wir wieder zurückgekehrt zur Kirche. Und
das grüne Birkengezelt mit den weißen Tragſäulen
wird über dem Altare ſtehen, bis ſeine tauſend zar-
ten Blätterherzen werden verwelkt ſein.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 23
[354]

Im Herbſt 1831.


Endlich iſt die Antwort in Bezug der Grund-
ablöſung in unſerem Pfarrhofe eingelangt.


Der Gutsherr gibt dem Pfarrer zu verſtehen,
er möge ſich als gewiſſenhafter Seelſorger, der er
ſei, nicht auch noch weltliche Sorgen aufbürden.


Des Weiteren ſteht nichts zu leſen.


[355]

Von einem ſterbenden Waldſohne.


Im Winter 1831.


Wer hätte das vor Zeiten von dem Einſiedler
im Felſenthale gedacht! Die Thatloſigkeit nach dem
bewegten Leben, die Abgeſchiedenheit von den Men-
ſchen hätte ihn ſchier zum Narren gemacht.


Es iſt wunderbar gekommen. Nur die großen
Sorgen und kleinen Leiden eines Waldpfarrers, nur
der einförmige und doch ſo vielſeitige und viel-
bedeutende Zuſtand einer Waldgemeinde in ſeiner
Urſprünglichkeit und Abgeſchloſſenheit iſt das Rechte
für ihn, das ihn gerettet hat.


Nun hat er ſich hineingelebt in die Verhält-
niſſe, kennt jedes ſeiner Pfarrkinder inwendig wie
auswendig und leitet es mit ſeinen Beiſpielen.


Es wüthet jetzt eine böſe Seuche in den
Winkelwäldern; es wird uns der Friedhof zu klein,
und wir können ſchier die Todtengräber nicht auf-
treiben; die kräftigſten Männer liegen auf dem
Krankenbette.


23*
[356]

Der Pfarrer iſt Tag und Nacht nicht daheim,
ſitzt in den entlegenſten Hütten bei den Kranken,
ſorgt für Seelentroſt und auch für leiblich Wohl,
hat ihm gleichwol der Freiherr gerathen, ſich nicht
mit weltlichen Dingen zu befaſſen.


Letztlich, da er doch einmal daheim in ſei-
nem warmen Bett ſchläft, klopft es jählings an’s
Fenſter.


„’s iſt eine rechte Grobheit, Herr Pfarrer!“
ruft es draußen in der wüſten, pechfinſteren Nacht.
„Ein Verſehgang iſt in die Lautergräben hinüber.
Wir wiſſen uns nicht zu helfen. Steht uns bei;
mein Bruder will verſterben!“


„Wer iſt denn draußen?“ frägt der Pfarrer.


„Die Anna Maria Holzer bin ich. Der
Bartelmei will uns verlaſſen.“


„Ich komme,“ ſagt der Pfarrer, „wecket nur
auch den Schulmeiſter, daß er die Laterne und das
Heiligſte bereite. Das Läuten ſoll er laſſen, es
ſchläft ja Alles.“


Das Weib hat mich aber doch gebeten, daß
ich die Zügenglocke läute, auf daß auch andere
Leute für den Sterbenden beten möchten. Und als
der Pfarrer darnach zwiſchen den Häuſern hingeht
und das Weib mit der Laterne und dem Glöcklein
vorauswandelt, da knieen an den Hausthüren ſchlaf-
trunkene Menſchen und beten.


[357]

Es iſt eine ſtürmiſche Winternacht; der Wind
ſauſt über die Lehnen und pfeift durch das kahle,
gefrorne Geäſte der Bäume. Schneeſtaub wirbelt
heran und verlegt den Weg und ſtiebt in alle Fal-
ten der Kleider.


Das Weib eilt mit Haſt voran und die rothen
Scheintafeln der Laterne zucken auf dem Schnee-
grunde hin und her; und das Glöcklein ſchrillt un-
abläſſig, aber die Töne verklingen im Sturmwind,
und die Menſchen des Dörfleins ſind wieder zur
Ruhe gegangen, und auch ich bin, nachdem ich den
Zweien eine Weile nachgeblickt, in meine Stube
zurückgekehrt.


Ich will es aber niederſchreiben, was dem
Pfarrer in derſelbigen Nacht begegnet iſt. Es iſt
durch kein Beichtſiegel verſchloſſen.


Als unſer Vater Paul an dem Bette des
Kranken ſteht, ſagt dieſer: „Gedenkt es der Herr
Pfarrer noch, wie Er in die Karwäſſer gekommen
iſt? Gedenkt Er’s? ’s iſt lang vorbei; wir Beid’
haben ſeither wol was erfahren, ſind eisgrau ge-
worden, bei meiner Treu!“


Der Pfarrer ermahnt den alten Kohlenbrenner,
ſich durch angeſtrengtes Reden nicht aufzuregen.


„Und kann Er ſich erinnern, was ich damalen
hab’ geſagt: ich hätt’ auch mein Anliegen und
kunnt leicht einmal von einem geiſtlichen Herrn eine
[358] große Gefälligkeit brauchen. Dieſelb’ Zeit iſt jetzt
da. Ich lieg’ auf dem Todbett. Den Ehrenwald-
Franz hab’ ich ſchon angeredet, daß er mir die
Truhen zimmert. Und mit meinem Leib thät’s nach-
her in Richtigkeit ſein; — aber mit meiner Seel’!
Pfarrer, verzeih’ mir’s Gott, die iſt dir ſchwarz
wie der Teufel.“


Der Pfarrer ſucht zu ſänftigen und zu tröſten.


„Warum denn?“ frägt der Bartelmei, „bin
ja gar nicht in Verzweiflung. Weiß gleichwol, daß
Alles recht muß werden. — Was macht denn der Herr
Pfarrer für Geſchichten mit ſeiner weißen Pfaid? Nein,
das brauch’ ich nicht; wir thun die Sach’ kurzweg ab.
Wenn Einer ſo auf dem letzten Stroh liegt, iſt
man zu nichts mehr aufgelegt. Thu’ ſich der Herr
nur ſetzen. — Das ſag’ ich aber gleich, mit dem
Glauben ſteht’s bei mir ſchlecht; glauben thu’ ich,
wenn ich’s recht will ſagen, an gar nichts mehr.
Der Herrgott iſt ſelber Schuld, daß ich ſo bin
herabgekommen. Er hat auf mich ſchön ſauber ver-
geſſen. Er hat mir’s verſagt, und er hätt’s in
ſeiner Allmächtigkeit wahrhaftig bei meiner Seel’
leicht thun mögen! — Ich mag davon ja wol reden.
Selbunter, wie die Sepp-Marian iſt geſtorben, die
ein wenig mein iſt geweſen, hab’ ich an ihrem Tod-
bett geſagt, Marian, hab’ ich geſagt, wenn du
jetztund mußt verlöſchen, du junges Blut, und ich
[359] allein ſollt verbleiben meiner Tage lang, ſo iſt das
die größte Grauſamkeit von Gott im Himmel oben.
Aber wiſſen möcht’ ich’s, Marian, und vor meinem
Tod möcht’ ich’s wiſſen, was es mit der Ewigkeit
iſt, von der ſie ſagen allerweg, daß ſie kein End’
hätt’, und daß die Menſchenſeel’ in ihr thät’ fort-
leben. Es iſt nichts Rechtes zu erfahren, und da
ſollt’ Einer fremder Leut’ Reden glauben und etwan
wiſſen Die auch nichts. Und jetzt, Marian, hab’
ich geſagt, wenn du doch wol fort mußt, und du
biſt in der Ewigkeit weiter, gleichwol wir dich be-
graben haben, ſo thu’ mir die Freundſchaft und
komm’, wenn du kannſt, mir noch einmal zurück,
und wenn’s auch nur ein Viertelſtündlein iſt, und
richt’ mir’s aus, damit ich weiß, wie ich dran bin.
— Die Marian hat’s verſprochen, und wenn ſie
kann, ſo wird ſie’s halten, davon bin ich überzeugt
geweſen. — Darauf, wie ſie verſtorben, hab’ ich
viele Nächte nicht ſchlafen mögen, hab’ immer ge-
meint, jetzt und jetzt wird die Thür aufgehen, wird
die Marian hereinſteigen und ſagen: ja, Bartelmei,
magſt wol glauben, ’s iſt richtig, ’s iſt eine Ewig-
keit drüben und du haſt eine unſterbliche Seel’! —
Was meint der Herr Pfarrer, iſt ſie gekommen? —
nicht iſt ſie gekommen, geſtorben und todt und weg
iſt ſie geweſen. Und ſeither — ich kann mir nicht
helfen — glaub’ ich ſchon an gar nichts mehr.“


[360]

Er ſchweigt und horcht dem Toſen des Winter-
ſturmes. Der Pfarrer ſoll eine Weile in die flackernde
Spanflamme geſtarrt und endlich die Worte geſagt
haben:


„Zeit und Ewigkeit, mein lieber Bartelmei,
iſt nicht durch einen Heckenzaun getrennt, über den
man hin- und herhüpfen kann, wie man will. Der
Eingang in die Ewigkeit iſt der Tod; im Tode
ſtreifen wir alles Zeitliche ab, denn die Ewigkeit
iſt ſo groß und unendlich, daß nichts Zeitliches in
ihr beſtehen kann. Darum iſt der Verſtorbenen auch
dein vorwitzig Wort ausgelöſcht geweſen und alle
Erinnerung an das zeitliche Leben. Frei von allem
Erdenſtaub iſt ſie in Gott eingegangen.“


Thu’ Er das laſſen, Herr Pfarrer,“ unterbricht
ihn der Kranke, „es drückt mich auch gar nicht.
Iſt das, wie es iſt, es wird ſchon recht ſein. —
Aber einen andern Hacken hat’s, mit mir ſelber
bin ich noch nicht in der Ordnung. Ich bin nicht
geweſen, wie ich hätt’ ſein ſollen, aber ich möcht’
gern meine Sach’, und Andere thuen auch gern
ihre Sach’ richtig ſtellen. Lang hab’ ich nicht
mehr Zeit, das merk’ ich wol, und desweg hab’
ich den Pfarrer aufſchrecken laſſen mitten in der
Nacht, und will ihn zu tauſendmal bitten, daß
Er’s wollt vermitteln. Jetzt — ’s iſt zwar heimlich
geblieben, aber ſagen will ich’s wol: ein arger
[361] Wildſchütz bin ich geweſen; viel Rehe und Hirſchen
hab’ ich dem Waldherrn geſtohlen.“


Hier bricht der Köhler plötzlich ab.


„Und weiter?“ frägt der Pfarrer.


„So! und iſt Ihm das noch nicht genug?“
ruft der Alte, „aufrichtig, Herr Pfarrer, ſonſt weiß
ich nichts. — Meine Bitt’ wär’ halt nachher die,
daß mir der Herr Pfarrer bei dem Waldherrn mein
Unrecht wollt’ abbitten. — Hätt’s wol lang ſelber
ſchon gethan, hab’ mir aber allfort gedacht, ein
Weilchen warteſt noch zu; könnteſt leicht wieder was
brauchen vom Wald herein, müßteſt ſpäter noch
einmal abbitten, wär’ mir unlieb. Desweg wart’
ein wenig und thu’s nachher mit Einem ab. —
Allzulang hab’ ich gewartet; jetzt kann ich nimmer.
Der Waldherr iſt, wer weiß wo, zu weiteſt weg.
Aber gelt, der Herr Pfarrer iſt ſo gut, und gleicht’s
bei ihm aus mit einer chriſtlichen Red’ und thut
ſagen, ich hätt’s wol bereut, könnt’ es aber nicht
anders mehr machen. — Jetzt, geweſen iſt’s halt ſo:
die Kohlenbrennerei gibt wol ein ſchwarz Stückel
Brot, aber wenn Einer zum Feiertag einmal ſo einen
Biſſen Fleiſch dazu wollt’ beißen, ſo muß man
ſchnurg’rad mit der Büchs hinaus in den Wald.
Man kann’s nicht laſſen, und wenn ſich Einer noch
ſo lang ſpreizt, ’s iſt gar Schad, man kann’s nicht
laſſen. — Wenn ſie mich etwan einmal erwiſcht
[362] hätten, die Jäger, ſo wär’ jetztund das Gered’ nicht
vonnöthen, und ich müßt dem Herrn Pfarrer nicht
ſo ſchmerzlich zu Gnaden fallen. — Ei, der tau-
ſend, jetzt hab’ ich mich dennoch wol angeſtrengt;
es ſteigen mir die Aengſten auf.“


Sie haben ihn mit kaltem Waſſer gelabt. Der
Pfarrer hat ſeine Hände gefaßt, hat ihn mit guten
Worten verſichert, daß er bei dem Waldherrn Ver-
zeihung erwirken werde. Darnach hat er dem Kran-
ken die Losſprechung ertheilt.


„Bedank’ mich, bedank’ mich fleißig,“ ſagt
drauf der Bartelmei mit leiſer Stimme, „nachher
wär’ ich ſo weit fertig, und — Pfarrer, jetzt thät’s
mich bei meiner Seel’ ſchon ſelber freuen, wenn es
wahr wär’, dasſelb, von der Ewigkeit, und wenn
ich nach der unruhvollen Lebenszeit und nach dem
bitteren Tod ſchön langſam könnt’ in den Himmel
einrücken. Wär’ wol eine rechtſchaffen bequeme
Sach’, das!“


So hat ſich in dem armen, ſchwerkranken
Mann das hohe Bedürfniß und die Sehnſucht nach
Glauben und Hoffen ausgeſprochen. Unſer Herr
Pfarrer hat ihn dann gefragt, ob er die heilige
Wegzehrung empfangen wolle.


„Nicht vonnöthen,“ iſt die Antwort geweſen.


„Mußt doch, Bruder, mußt doch,“ meint die
Anna Maria, „einem Geiſtlichen, der mit dem
[363] heiligen Leib unverrichteter Sach muß zurückkehren,
tanzen die Teufel nach bis zur Kirchenthür!“


„Du närriſch Weibmenſch, du!“ ſchreit der
Bartelmei, „jetztund Kindergeſchichten erzählen, daß
dich der Herr Pfarrer recht mag auslachen. — ’s
wär mir doch alleins und gern möcht ich das Teig-
blättlein verſchlucken, daß der Herr unangefochten
könnt’ nach Haus gehen, aber ich halt nichts drauf
und da, hab’ ich oftmalen gehört, wär’s eine groß-
mächtige Sünd’, wollt’ Einer in vorwitziger Weiſ’
das Sakrament empfangen.“


Auf dieſes Wort hat der Pfarrer des Kranken
Hand wol innig gedrückt. „Hochmüthig, Bartelmei,
mußt du desweg nicht werden, jetzt in deinen alten
Tagen; aber das ſag’ ich dir, du denkeſt ſchon das
Rechte. Du biſt tugendreich, du glaubſt an Gott
und an der Seele ewiges Leben; ob du dir’s
geſtehen magſt oder nicht, ob du das heiligſte Brot
zu dir nimmſt oder nicht, rein iſt dein Herz und
dein iſt das Reich und die Seligkeit!“


Da ſoll ſich der alte Mann hoch empor-
gerichtet haben; die Hände hätte er ausgebreitet,
mit naſſen Augen hätte er gelächelt und gerufen:
„Jetzt hab’ ich das Rechte gehört. Der Pfarrer
mag ſo gut ſein und mir die Wegzehrung reichen.
Nachher mag er kommen, der Knochenhans — Jeſus,
Jeſus! was iſt das? die Marian!“ ſchreit der
[364] Bartelmei plötzlich. Dann richtet er die Augen nach
der Spanflamme und flüſtert: „Ja, Mädel, wo
ſteigſt denn du daher heut’ in der finſtern Nacht?
Marian! Botſchaft bringſt mir? — Botſchaft?“


Immer höher richtet er ſich auf, immer wieder-
holt er das Wort „Botſchaft!“ endlich ſinkt er
zurück und ſchlummert.


Nach einer Weile ſchlägt er die Augen auf
und ſagt mit matter Stimme: „Bin ich kindiſch
geweſen, Schweſter? Ein närriſcher Traum! Es
ſteigt mir das Geblüt ſo auf. Ich verſpür’s, lang
wird’s nimmer dauern; es kommt mir ſchon der
Brand zum Herzen. — Ich muß euch behüt’ Gott
ſagen, allen miteinander. Hab’ auf deine Kinder
Acht, Schweſter, daß ſie dir nicht in den Wald
laufen mit der Büchs. — Für die Truhen iſt der
Ehrenwald ſchon bezahlt. — Und thut mich fleißig
waſchen; will nicht als der kohlſchwarze Ruß-
Bartelmei in den Himmel eingehen.“


Als das Morgenroth durch die Fenſterlein
ſchimmert, iſt der Mann todt. Sie ziehen ihm ſein
Sonntagsgewand an und legen ihn auf das Brett.
Seiner Schweſter Kinder beſprengen ihn mit Waſſer
des Waldes.


Geſtern haben wir ihn begraben.


[365]

Zur Faſchingszeit 1832.


Das geht toll zu. Das ganze Graßſteigerhaus
wollen ſie umkehren; über den Kirchplatz johlen ſie
hin und treiben Unfug.


Im Pfarrhofe liegt ein Bauernknecht, dem
haben ſie den Kinnbacken zerſchmettert.


Faſchingſonntag iſt da. An die Seuche wird
nicht gedacht. In das Wirthshaus kommen ſie zu-
ſammen und trinken Branntwein; ſie ſind heiter
und lachen und necken ſich. Es röthen ſich die Ge-
ſichter, da will Jeder ſticheln und ſpotten, aber
Keiner mehr geneckt ſein. Eines krummen Wortes,
eines ſchellen Blickes, oder auch eines Mägdleins
wegen — entſteht ein Streit. Es ſetzt Backenſtreiche
mit flacher Hand — das iſt zu wenig; ſie ſchlagen
mit den Fäuſten drein — iſt auch zu wenig; ſie
brechen Stuhlfüße, ſchwingen ſie mit beiden Armen
wüthend, laſſen ſie niederſauſen auf die Köpfe.
Das iſt genug. Streckt ſich Einer auf dem Boden.
Die Unterhaltung iſt aus.


„Seid geſcheit, Leutchen,“ hab ich beim Graß-
ſteiger unten einmal geſagt, „wollt ihr an den
Ruhetagen ſo wüſt ſein, ſo weicht der Segen von
euerer Arbeit, und es kommt noch eine böſe Zeit
über Winkelſteg.“


[366]

Da thut ſich ein Meiſterknecht aus dem Schnee-
thale hervor: „Weil wir Wildlinge ſind, desweg
bleiben wir arme Teufel? Glaub’s ſchon auch. Recht
hat er, der Schulmeiſter; gerauft wird nimmer,
und ich ſag’ dir’s, Graßſteigerwirt, wenn noch
einmal ein Raufhandel geſchieht in deinem Haus,
ſo komm ich mit einem Zaunſtecken und klieb euch
Allen die Schädel auseinand!“


Es ſteckt einmal ſo in den Leuten. Nur daß
bei ſolchen Händeln der Lazarus nicht mitthut, das
iſt mein Troſt. Sie wollen wol mit ihm anhäckeln,
aber da macht er ſich aus dem Staub. Es zuckt
zuweilen in ihm, aber er dämpft wacker nieder. Er
iſt ein Mann durch und durch. Auch iſt die Juliana
ein Schutzengel und hilft ihm getreulich, daß er
ſich beherrſche.


Der Förſter hat den Lazarus wollen auf das
Land hinaus befördern; wenn Einer einmal ein ſo
ſeltſames Geſchick habe, wie dieſer junge Menſch,
meint er, ſo müſſe auch ganz was Beſonderes aus ihm
werden. Aber der Lazarus will nicht fort vom Walde.
Er wird ein braver Mann, und zu etwas Beſſerem
könnte er es auch draußen nicht bringen, und wollt’
ihn gleich Kaiſer und König an ſeinen Thron ſetzen.


Ein gutes Zeichen iſt, daß er keinen Brannt-
wein trinkt. Der Branntwein iſt Oel in’s Feuer
und ſo geſchehen die böſen Händel.


[367]

Wir Gemeindehäupter trinken nie einen Tropfen
davon. Nun, trinken wir nicht, umſomehr bleibt
für die Anderen.


Der Pfarrer hat ſchon mehrmals ſcharf vor
dieſen Getränken gewarnt. Letztlich hat er in ſeinem
Zorn den Branntwein einen Höllenbrunnen, ein
Gift für Leib und Seele, und die Branntwein-
brenner und Schenker mit heller Stimme Gift-
miſcher geheißen.


Der alte Graßſteiger hat an ſeiner Naſe hinab-
gelugt, und nicht lange darnach hat er bekannt werden
laſſen, daß bei ihm friſcher Obſtmoſt angekommen ſei.


Der Kranabethannes aber hat es ſo glatt
nicht abgehen laſſen. Mit einem größeren Stock,
als er ſonſt gewöhnlich bei ſich trägt, iſt er vor
zwei Tagen im Pfarrhofe erſchienen.


Er klopft an die Thür; und ſelbſt als der
Pfarrer ſchon zweimal vernehmlich herein ruft, klopft
er noch ein drittesmal. Schwerhörig iſt er nicht;
er will nur zeigen, daß, wenn gleich ein Waldteufel,
er bei den Herren doch Schick und Anſtand zu halten
weiß, und wäre es auch vor ſeinem Feind, den er
heute niederſchmettern will.


Endlich in der Stube, bleibt er eng an der
Thür ſtehen, preßt die Hutkrempe in die Fauſt und
murmelt in ſeinen fahlen Stoppelbart: „Hätt’ ein
Wörtel zu reden mit dem Herrn Pfarrer.“


[368]

Der Pfarrer bietet ihm freundlich einen
Stuhl.


„Hätt’ ein kleines Anliegen,“ ſagt der Mann
und bleibt auf ſeinem Flecke ſtehen, „bin der
Branntweinbrenner vom Mieſenbachwald, ein armer
Teufel, der ſich ſeinen Brotgroſchen mit blutigen
Händen muß erwerben. Arbeiten mag ich gern, ſo
lang mir altem Manne Gott das Leben noch
ſchenkt, wiewol mich die Leute ſchon niederdrucken
möchten und mir die Kundſchaften abzwicken.“


„Setzet euch,“ ſagt der Pfarrer, „ihr ſeid
erhitzt, ſeid etwan recht gelaufen?“


„Gar nicht. Hübſch ſtad bin ich gegangen,
und hab’ unterwegs gedacht bei mir ſelber, daß
keine Gerechtigkeit mehr iſt auf der Welt, und bei
keinem Menſchen mehr — bei gar keinem, er mag
noch ſo heilig ausſchauen. Was iſt denn das für
ein Pfarrer, der einem armen Familienvater ſeiner
Gemeinde das letzt’ Stückel Brot aus der Hand
ſchlägt? — Iſt und trägt ſchon die ehrlich’ Arbeit
nichts, recht, ſo muß Einer halt ſtehlen, rauben;
wird wol beſſer ſein, als wenn ein armer Ab-
gematteter ſo ein Tröpfel Branntwein in den Mund
thut; — iſt ja der Höllbrunnen das!“


Der Mann ſchnauft ſich aus; der Pfarrer
ſchweigt; er weiß, daß er den Sturm vertoben
laſſen muß, will er bei ruhigem Wetter ſäen.


[369]

„Und wer den Höllbrunnen braut,“ fährt der
Mann fort, „der muß wol mit dem Teufel bekannt
ſein. Die Leut’ ſchauen mich auch richtig für ſo
Einen an. Sollen Recht haben. Aber wenn ich
ſchlecht bin, aus mir ſelber bin ich’s nicht. Und
wer mir mein Geſchäft verdorben, der wird wol
anderweitig für mich ſorgen. Herr Pfarrer! umſonſt
bin ich nicht da!“


Der Branntweiner vergißt ganz ſeine gewohnte
Geſchmeidigkeit und nimmt ſchier eine bedrohliche
Stellung an.


„Wenn ihr der Branntweiner vom Mieſenbach-
wald ſeid,“ ſagt der Pfarrer in ſeiner Gelaſſenheit,
„ſo freut es mich, daß ich euch ſehe. Da ihr ſo
ſelten nach Winkelſteg herauskommt, ſo habe ich
ſchon zu euch gehen wollen. Wir müſſen miteinander
ſchwätzen. Ihr gebt den Winkelwäldlern keinen
Branntwein mehr, da ſeid ihr ein Ehrenmann, ein
großer Wohlthäter der Gemeinde. Ich danke euch,
Freund! — Und auch euere Umſicht iſt ſehr zu
loben. Es iſt doch wahr, daß ihr jetzt mit den
Kräutern und Harzen anhebt? Wol, und ich bin
ganz euerer Meinung, daß ihr es höher bringt,
wenn ihr aus den Kräutern und Harzen und Wur-
zeln Arzeneien, Oele und koſtbaren Balſam bereitet
und draußen im Lande dafür Abzugsquellen ſuchet.
Ich gehe euch nach meinen Kräften und Erfahrungen
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 24
[370] gerne dabei an die Hand. Ei gewiß, das iſt ein
guter Griff, den ihr gemacht habt und in wenig
Jahren ſeid ihr ein wohlhabender Mann.“


Da weiß der Branntweiner gar nicht, wie ihm
geſchieht. Er hat gar keinen Griff gemacht, hat
niemals an Balſam und Oelerzeugung gedacht;
aber die Sache kommt ihm auf der Stelle ſo ver-
nünftig und faßlich vor, daß er dem Pfarrer nicht
widerſpricht und ſchmunzelnd als angehender Balſam-
erzeuger den Kopf wiegt.


„Und ſolltet ihr, lieber Freund, vorläufig
etwas für Weib und Kind benöthigen — mein
Gott, zu Anfang behilft man ſich, wie man kann —
ſo mag ich gerne, gerne mit einer Kleinigkeit dienen.
Ich bitt’ euch recht, mich ganz als eueren Freund
zu kennen!“


Der Hannes hat ein unverſtändliches Wort ge-
brummt, iſt aus dem Hauſe geſtolpert, hat ſeinen
Knittel über den Rain geſchleudert.


In der Faſtenzeit 1832.


Die kirchliche Behörde fängt wieder an. Ihr
iſt unſer Pfarrer noch immer nicht rechtmäßig genug;
ſie will ihm die Kirche verſchließen.


Die Kirche, die wir gebaut haben mit dem
Schweiße unſeres Angeſichtes!


[371]

Es iſt ſtill genug in unſerer Kirche; Vater
Paul hält den Gottesdienſt in den Krankenſtuben
und auf dem Friedhofe. Die Leute kommen nur
mehr in den Särgen zur Pfarrkirche heraus. Die
Seuche iſt zur „Sterb“ geworden. Die Schule iſt
ſchon ſeit Monaten geſchloſſen.


Es geht die Sage, der Pfarrer wäre Schuld
an der Seuche, da er das Branntweintrinken ab-
geſagt. Der Branntwein ſei das allerſicherſte Mittel
gegen Anſteckungen.


Der Hannes lauert. Erſt jetzt lehnt ſich ſein
Stolz auf gegen den Pfarrer, deſſen Schalkheit und
Milde er vor wenigen Wochen unterlegen iſt.


Es iſt ein immerwährender Kampf gegen das
Geſchick und gegen die Bosheit. Wer ausharrt im
Ringen und ſeiner inneren Ueberzeugung genug thut,
der erlangt das Ziel.


Am 22. März 1832.


Heute iſt unſer Pfarrer geſtorben.


Zwei Tage ſpäter.


So hat ſich noch Keiner ſelbſt erlöſt, wie
dieſer Mann — dieſer ſeltſame Mann, der an
einem Fürſtenhof regiert, in Indien gepredigt und
in der Höhle des Felſenthales gebüßt hat.


24*
[372]

Alle Irrpfade des Prieſterthums hat er
durchwandeln müſſen, bis er das Wahre gefunden:
den Armen im Geiſte ein Helfer und Freund
zu ſein.


Er hat ſich in den Häuſern der Kranken ſeinen
Tod geholt. Die Verlobung des Lazarus Schwarz-
hüter mit der Juliana Graßſteiger hat er geſegnet.
Ein kleines Unwohlſein hat ihn von der Feierlichkeit
weg auf ſeine Stube gerufen. Er hat ſie nicht
mehr verlaſſen. Und ein guter, getreuer Hirt, hat
er uns in ſeiner letzten Stunde noch das Bedeut-
ſamſte gelehrt, das Sterben. Wie ein lächelndes
Kind iſt er entſchlummert. Wir, die wir es geſehen,
fürchten Keiner mehr das Sterben; und wir haben
uns zutiefſt gelobt, nach ſeinem Vorbilde ſtreng
unſere Pflichten zu erfüllen.


Und ich kann’s nicht glauben. Ohne Ruh’ und
Raſt ſchau ich zum Fenſter hinaus, ob er nicht des
Weges kommt in ſeinem braunen Rock. Er hat ſich
ſchon ein wenig ſtützen müſſen; iſt ſchon gebeugt
geweſen unter ſeinen weißen Haaren.


Ohne Ruh’ und Raſt geh’ ich am Pfarr-
hofe vorüber; es iſt kein Klopfen mehr an den
Fenſterſcheiben, es lächelt kein freundliches Geſicht
heraus.


[373]

Da ſtehe ich ſtill und meine, ich müſſe laut
ſeinen Namen rufen.


Und ich kann es nicht glauben, daß er dahin iſt.


Bei dem Leichenbegängniſſe iſt der Holden-
ſchlager Pfarrer dageweſen. Er hat ſich baß ge-
wundert über die allgemeine Trauer, die in den
Winkelwäldern herrſcht.


Selbſt der Branntweiner Hannes iſt zum
Grabe gekommen und hat eine Scholle hinab-
geworfen. Nur der alte Rüppel iſt nicht zu ſehen
geweſen; der hat wol im Urwaldfrieden das Grab-
lied geſungen. Zu Winkelſteg haben nur die Glocken
geſprochen.


Und als letztlich auch die Glocken ſtumm ge-
worden, da ſind die Leute ſtill davongezogen in ihre
armen, zerſtreuten Wohnungen.


Nur ich allein ſtehe noch da und ſtarre hinab
auf den falben Tannenſarg. Vor achtzehn Jahren
habe ich den Mann das erſtemal geſehen. Er iſt
am Grabe geſtanden, das ſie in der Wolfsſchlucht
dem „Glasſcherbenfreſſer“ gegraben. Seit zwölf
Jahren iſt er Pfarrer zu Winkelſteg geweſen.
Heute blicke ich nieder auf ſeinen Schrein; ja,
das iſt der Schlußpunkt zu der Antwort des Ein-
ſpanig.


[374]

Wie ich darüber noch ſinne, kommt die alte
Haushälterin des Winkelhüterhauſes, meine ehmalige
Wirtin, herbeigewackelt. Sie guckt auch in die
Grube, fährt ſich mit der Hand haſtig über das
Geſicht, tappt nach meinem Arm und ſagt: „Gott
geb’ ihm den ewigen Frieden! Das iſt ein braver
Mann geweſen. Aber ein Fabelhans auch — ein
arger Fabelhans! Wie ein toller Vogel iſt ſein
Sinn herumgeflogen in der weiten Welt, und auf
keinem Fleck, hat er geſagt, wär’ die Welt mit
Brettern verſchlagen. Und jetzt — gucket einmal
recht hinab, Schulmeiſter! da unten iſt ſie — Gott
geb’ ihm den ewigen Frieden — da unten iſt ſie
mit Brettern verſchlagen.“


Das Wort iſt geſagt und haſtig humpelt ſie
auf ihren Krücken davon.


Die Alte hat Recht. So unbegrenzt der menſch-
liche Geiſt auch fliegen mag in den Weiten, ſein
großes Ziel wird umſchloſſen von den Brettern des
Sarges. — Glücklicher Schläfer, dir iſt ein unend-
licher Raum jetzt die Truhe. Noch nicht lang, und
dir war zu eng die unendliche Welt. —


Großer Dichter, vergib, daß ich dein Wiegen-
lied zur Grabſchrift wandle.


[375]

Oſtern 1832.


Die Seuche iſt erloſchen. Man ſieht viele
blaſſe, abgehärmte Geſichter umherwandeln.


In den Mulden der Waldberge und in den
Schluchten der Felſen ſchießen Wildwäſſer zur Tiefe.
Im Mieſenbachgraben und in den Karlehnen don-
nern die Schneelahnen. Hoch über den Firnen
blaut der Himmel.


Da wir in der Kirche keine Auferſtehungs-
feier haben, ſo drängt es die Leute, das Oſterfeſt
in anderer Weiſe zu begehen.


Der Charſamſtag iſt vorbei; das Thurmkreuz
der Kirche ſchimmert im Abendroth viel glühender
als ſonſt. Es wird heute aber nicht Nacht; ein
neues Leben ſteht auf. Die Leute gehen im Feſt-
kleide aus ihren Wohnungen hervor. Ein neuer Tag
bricht an am Abende und zahlreiche Feſtfeuer leuchten
auf den Höhen. — Wer von dieſen Menſchen
weiß es denn, daß auch die alten Deutſchen zu
dieſer Jahreszeit der Göttin des Frühlinges Freuden-
feuer haben angezündet?


Wem nur dieſer Einfall iſt beigekommen? Da
oben auf dem Bühel ſteht ein alter, einzelner
Fichtenſtamm; den haben ſie vom Fuß bis zum
[376] Wipfel mit dürrem Gezweige, Moos und Stroh
umflochten.


Wenige Schritte ſeitwärts haben ſich die Leute
um ein kleines Feuer verſammelt, und ſingen Lieder.
Weiber mit verdeckten Handkörben ſind auch dabei
und Kinder ſpielen mit gefärbten Eiern.


Es iſt ſchon ſpät in der Nacht; der Lazarus
will mit der Lunte gehen, daß er die Oſterkerze in
Brand ſtecke, da huſcht durch den finſteren Wald
der alte Rüppel herbei, reißt ſeine Binſenhaube
vom Haupte und ſagt: „Gelobt ſei Jeſu Chriſt,
der am Kreuz geſtorben iſt!“


Wir ſind Alle hellverwundert, daß der Alte
wieder einmal unter die Leute geht, und ich will
ihn ſogleich einladen, daß er ſich zu mir und dem
Graßſteiger ſetze, wo wir einen Moſtkrug ſtehen
haben.


„Dank für die Ehr’!“ ſagt der Rüppel, und
zieht ſeine Strohharfe unter dem Rock hervor, und
in die Flamme hineinſtarrend hebt er an zu reden:


„Komm juſt von Jeruſalem her. Alle drei
Kreuz auf dem Berg Kalvari ſtehen leer. Chriſti
Leib haben ſie gelegt in ein neues Grab, die Seel’
iſt gefahren zur Hölln hinab. Die Altväter thäten
warten ſchon hart. Dem Abraham hat das Feuer
verſengt den langen Bart; der Moſes iſt ſchon
tauſend Jahr im Rauchfang geſeſſen und hat auf
[377] ſeine zehn Gebot vergeſſen. Der Adam, der vor-
witzig’ Mann, und die Eva haben gehabt kein
Röcklein nit an — die thät’ das Feuer wol ſaggriſch
beißen. Das Paradeis iſt ihnen ſchon lang ver-
heißen, und durch die Leidensnoth und den bittern
Tod thät’s ihnen jetzt Chriſtus erlauben. — So
hat mir’s der recht’ Schächer erzählt, den linken
thät’ ich’s nit glauben.“


„Nu, Rüppel,“ ſagen die Leut, „wenn du
ſonſt nichts mehr weißt, ſo biſt auch grad kein
heiliger Geiſt.“


Unbekümmert um dieſen Spott fährt der Alte
fort: „Am heutigen Morgen ſind unſere lieben
Frauen zum Felſengrab gegangen ſchauen. Iſt ein
Junggeſell geſeſſen auf dem Stein; die Magdalena
gucket ſchon vorwitzig drein, kreiſelt ihr güldenes
Lockenhaar fein und denkt: wie alt mag er ſein?
— Mit Verlaub, ſchöner Herr, was macht ihr da?
die Jungfrauen fragen. — Mit Verlaub, ſchöne
Jungfrauen, ſucht ihr den Herrn? thät’ der Jung-
geſell ſagen, aber der liebe Herr Jeſus iſt nit mehr
hie, der iſt auferſtanden ſchon in allerfrüh; den
mögt ihr ſpazierend im Garten erlangen, oder er
iſt hinab in die Stadt zum Frühſtück gegangen. —
Da haben die Frauen für die fröhliche Mähr ein
Trinkgeld wollen geben Gott zu Ehr; aber der
Junggeſell iſt gelaufen zum Himmel hinein; ich
[378] thät’s auch — thäten mich tragen meine alten
Bein.“


Wieder ſchweigt der Rüppel. Da aber Keiner
die Anſpielung auf ein Trinkgeld verſtanden hat, ſo
fährt er fort: „Der Herr Jeſus geht ſpazieren im
Wald, thät’ ſich ausruhen von bitteren Leiden; ein
Hirtenknab’ ſteht auf ſtiller Haid, der thät’ weiße
Schäflein weiden. Thät’ weiden die Schäflein und
weinen dabei, gar bitterlich, bitterlich weinen. Da
fragt ihn Herr Jeſus: was weinſt du mein Kind,
es thut ja die Sonnen ſcheinen! — Ja freilich,
ſie ſcheint auf den Raſen grün, der mir meinen
Vater thut decken; und der Heiland iſt geſtern am
Kreuze geſtorben, wer wird mir den Vater wecken?
— Da ſpricht der liebe Herr Jeſus: Mein Kind!
ſiehſt du die Felſen beben? Der Herr iſt erſtanden,
wird wecken dereinſt die Todten zum ewigen
Leben.“


Der alte Mann ſchweigt und ſtarrt in die
Flamme. Sein Haar und Bart iſt im Scheine des
nächtlichen Feuers roth wie Alpenglühen.


Und der Schein des Feuers fällt in rothen
Bändern hin durch das Geſtämme auf die friſchen
Gräber des nahen Kirchhofes.


Eine ſchwere Stille ruht über der Verſamm-
lung, als erwarte ſie ſchon dieſe Oſternacht die
Auferſtehung der Todten.


[379]

Da richtet ſich jählings der Kopf des Alten
wieder auf, anmutig zart gleiten ſeine Finger über
die Saiten aus Stroh; wie Schalkheit zuckt es in
ſeinen Zügen, und als wollte er ſeine frühere Rede
ergänzen, ſagt er mit faſt kecker Stimme: „Der
Hirtenknab’, der junge Tropf, ſchüttelt ungläubig
ſeinen großen Kopf. Da langt ihm der Herr die
Hand hin zumal, und weiſt ihm ſein heiliges
Wundenmal; juſt ſo fürwahr, und das Wundmal
iſt groß, wie ein Groſchenſtück gar ....“


Ueberzeugend genug ſtreckt der Greis die hohle
Hand aus, und Mancher legt richtig ein Wund-
mal hinein — einen guten Pfennig oder ein
Groſchenſtück.


Der Alte bedankt ſich gar fein; hat hierauf
die Hand über die Flammen gehalten, und die
Gaben ſind in die Glut gefallen.


Dann iſt er im Walde verſchwunden.


Warum er die Geldſtücke, die einzigen Gaben,
die er ſeit langer Zeit erhalten haben mag, in das
Feuer geworfen hat, das können wir uns nicht
erklären.


Der Graßſteiger hat den armen Mann ſuchen
laſſen, um ihn für die Oſtern an ſeinen Tiſch zu
führen. Der Rüppel iſt nicht gefunden worden.


So geht’s immer tiefer in die Nacht; zum
großen Glück eine recht milde, warme Nacht, denn
[380] Keiner, auch von den erſt Geneſenen keiner iſt zu
bewegen geweſen, nach Hauſe zu gehen.


Der Stand eines Sternbildes weiſt die Mitter-
nacht, den Beginn des Oſtertages. Da fährt ein
Flämmchen in den ſtrohumwundenen Baum, und
eine gewaltige Oſterkerze lodert hoch über dem
Waldthale gegen den Sternenhimmel auf.


Nun jubeln die Kinder und die Weiber,
jauchzen die Männer; aber weiterhin, als Hall und
Schall vermag zu dringen, leuchtet die Feuerſäule
und verkündet dem Waldlande ringsum den Oſtertag.


Und zur ſelbigen Stunde haben die Weiber
ihre Handkörbe aufgedeckt, auf daß die Gottesgaben
darin, Brot, Eier und Fleiſch, der liebe Oſterhauch
mag befächeln. Und ſo iſt unſerem Feſtbrote die
Weihe zu Theil geworden, die der Vater Paul uns
für dieſe Oſtern nimmer vermag zu ſpenden.


Erſt gegen Morgen iſt die Oſterkerze, deren
hochſtrebende Flamme ſie gar in den Mieſenbach-
gräben ſollen geſehen haben, verlodert zuſammen-
gebrochen.


So ſind wir von dem ſeltſamen Oſterfeſte
heimgekehrt in unſere Hütten.


Von dieſen Tagen an, Andreas, wirſt du
nicht mehr jünger. — Jünger? wer hat dich gelehrt
[381] ſo närriſch zu ſchwätzen? Zähl’ deine Eisfäden auf
dem Haupte, zähle ſie, wenn du kannſt! du alter
Mann!


Ich meine, der Pfarrer hat mich mitgenommen.


Mai 1832.


Von unſerem jungen Herrn hört man wieder
ſeltſame Dinge. Und diesmal ſind ſie amtlich er-
härtet. Hermann hat die Güter des Vaters über-
nommen und iſt demnach unſer Herr.


Als Angebinde hat er den Winkelſtegern alle
rückſtändigen Arbeitsleiſtungen und die Grundein-
zahlungen auf zehn Jahre hinaus nachgeſehen. Das
iſt ein guter Anfang. Die Winkelſteger wiſſen ihre
Dankbarkeit nicht anders zum Ausdrucke zu bringen,
als daß ſie in der Kirche eine zwölfſtündige An-
dacht halten, um für die Geſundheit des jungen
Herrn zu beten.


Hermann ſoll kränklich ſein.


Geſtern iſt der Berthold zu mir gekommen.
Seit jenem Tage, da er ſein vermißtes Kind unter
den Thieren des Waldes gefunden, wildert er nicht
mehr, ſondern arbeitet mit Fleiß und Schick in
den Holzſchlägen, und ſeine Kinder erwerben ſich
ihr Brot durch Sammeln von Waldfrüchten, Wur-
zeln und Kräutern.


[382]

Der Mann hat mir geſtern ein Bündel ge-
dörrter Blätter gebracht; dieſelben wüchſen nur drü-
ben im Geſenke und beſäßen eine wunderbare Heil-
kraft, die auch der jahrelang kränkelnden Aga die
Geſundheit wieder gegeben hätte. Die Lili habe die
Blätter geſammelt und getrocknet und da ſei es
ihnen beigefallen, dieſelben dem jungen, gnädigen
Herrn Schrankenheim zu ſchicken; es ſei kein Zweifel,
daß er bei entſprechendem Gebrauche des Krautes
geneſen würde. Ob ich nicht ſo freundſchaftlich ſein
wolle, die Arznei zu übermitteln.


Ich habe es dem Berthold zugeſagt.


[383]

Alpenroth.


Frohnleichnam 1832.


Der Waldſänger iſt nun auch verſtummt. Sein
ganzes Leben und Sterben iſt angelegt, wie ein
roſenprangender Dornſtrauch in der Wildniß.


Ich habe ſeine wunderlichen Worte ſo gerne
aufgeſchrieben; nun lege ich ſein Ende nieder in
dieſen Blättern.


Der Kropfjodel hat auf der Zahnalm eine
Hirtenhütte. Und in dieſer Hirtenhütte hat er zur
Sommerszeit zwei übermüthige Söhne, welche die
Rinder verſorgen und zu ihrem Zeitvertreib aller-
hand Tollheiten begehen. In letzter Zeit hat ſich
der Rüppel bei ihnen aufgehalten und ihnen durch
ſeine wunderlichen Lieder und Strohharfenſpiele
Spaß gemacht. Der Alte iſt ſchon völlig verwirrt
und gar zum Erbarmen ſchwachſichtig geweſen. Und
das iſt den Jungen juſt ein rechtes Spielzeug.
Allerwege iſt der Alte der Bock, auf dem ſie reiten;
und er läßt es nicht ungerne geſchehen; es freut
[384] ihn ſchier, daß er noch wo Anwerth hat; zu an-
deren Leuten taugt er nimmer.


Des Abends iſt der Rüppel ſtets in die Hütte
gekommen, hat was zu eſſen erhalten und die
Nachtruhe auf dem Heuboden.


Da iſt es eines frühen Morgens, daß der alte
Rüppel vor der Hütte auf einem thaufeuchten Stein
ſitzt. Er ſpielt auf der Strohharfe und wendet ſeine
matten Augen empor gegen das Morgenglühen der
Felſen. Gellt ihm jählings ein wüſter Schrei in
das Ohr. Er ſchrickt empor, da ſtehen die Jodel-
buben neben ihm und lachen. Der Alte blickt ſie
gutherzig an und lächelt eben auch ein wenig.


„Thuſt ſtrohdreſchen, Rüppel?“ frägt der Veit
und deutet auf die ſonderlichen Saiten.


„Und ſchon ſo zeitig!“ ſagt der Klaus.


Der Alte wendet ſich: „Ihr wiſſet das, von
der Morgenſtund?“ Dann legt er die Hände an
die Lippen und liſpelt den Burſchen vertraulich in’s
Ohr: „Sie hat Gold im Mund!“


„Geh!“ entgegnet der Klaus ſpottend, „du,
da beißt ſie ſich ja die Zähne aus!“ — Die Hir-
ten erheben über dieſen ihren Einfall ein tolles
Lachen.


„Da, da oben habt ihr’s ja, das Gold, da
oben!“ Der Alte deutet zitternd gegen die glühen-
den Wände.


[385]

„Ja, du Rüppel, das iſt wahr!“ ſagt der
Veit ernſthaft, „das iſt richtig Gold; geh’ nur
hinauf und ſchabe es herab.“


Der Greis blickt befremdet drein.


„Da kriegſt du einen ganzen Korb voll Gold
zuſammen, und etwan mehr noch!“ ſagt der Klaus,
„da kannſt du dir ein goldenes Schloß bauen und
einen goldenen Tiſch kaufen und einen goldenen
Wein und eine goldene Frau und eine goldene
Harfe!“


„Eine goldene Harfe!“ murmelt der Rüppel
und ſeine Augen leuchten auf. Dann fährt er ſich
mit der Hand über die Stirne. — Er hat das vom
goldenen Morgen zuerſt ſelber geſagt, aber nur im
gleichnißweiſen Sinne des Sprichwortes. — Und
jetzt ſollte es wirklich ſo ſein?


„Und das Zeug da gibſt du des Graßſteigers
Eſel in die Krippe!“ ruft der Veit.


Bei dieſem Spott auf ſeine Harfe ſoll es wie
der Schatten einer Wolke über des Alten Antlitz
gezogen ſein.


„Du Veit!“ droht er, „mein Harfenſpiel, das
legt dir nichts vor dein Ziel. Das laß du in Ruh!“


Das Wort reizt die Burſchen. „So ſpielt
man auf dieſer Harfe!“ ruft der Veit und fährt
mit der Hand über die Saiten, daß es rauſcht und
alle Halme ſpringen. Dann ſind ſie davongelaufen.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 25
[386]

Der Alte ſitzt noch eine Weile und bewegt
ſich nicht. Er ſtarrt auf die zerriſſene Harfe, er
wiſcht ſich mit beiden Händen die Augen, er will
ſich aus dem Traume helfen; er kann es nicht
glauben, daß es wahrhaftig ſei. Sein Alles und
Einziges haben ſie ihm zerſtört — ſein Saitenſpiel.


Erſt als oben in den Felſen ſchon der helle
Sonnenſchein liegt, erhebt ſich das alte Weißhaupt.
Den Aſtreifen mit dem Strohgewirre hat er ſich
umgehangen, zu den goldigbeleuchteten Wänden hat
er emporgeſtarrt, und mit ſchweren Schritten iſt er
davongewankt, hinan gegen die Schroffen, über
welche ein Waſſerfall ſtürzt und niederrieſelt, im
Sonnenleuchten zu ſehen wie flüßiges Gold . . . .


An dem Abende desſelben Tages iſt es, daß
die beiden Hirten wieder luſtig um den Herd ihrer
Hütte wirten, wie ſie es gewohnt. Sie kochen
Mehlklößchen, welche ſie „Fuchſen“ nennen, da ſie
fuchsbraun geröſtet ſind. Die Herde iſt von ihren
Weiden geholt und in die Sicherheit des Stalles
gebracht.


Luſtig ſind die Jodelbuben allerwege, aber
zum Feierabend am luſtigſten. Iſt der alte Harfner
in der Hütte, ſo necken ſie dieſen; iſt er nicht da,
ſo necken ſie ſich ſelbander. Der Harfner iſt heute
noch nicht da, ſo hüpft der Klaus wie ein Affe
dem Veit auf die Achſeln, reitet auf deſſen Nacken,
[387] läßt ihm die Beine vorne herabhängen und ruft:
„Eſel, wer reitet?“


„Einer über dem andern.“


So treiben ſie es. Dann verzehren ſie ihre
Mehlfuchſen und mit dem Pfannenruß ſtreichen ſie
ſich Schnurrbärte an. Nach einem Schnurrbart
geht ihr Sinn, und ein Mägdlein möchten ſie
küſſen, weil das — nach dem Sprüchwort — den
Bartwuchs fördert. — Der alte Rüppel könnt’
aus ſeinem Bart Silberſaiten ſpinnen für die
Harfe.


Heute iſt der Alte noch nicht da; hat ihn
etwan doch der Spaß am Morgen verdroſſen? —
Die Burſchen mögen davon nicht reden. Eine ge-
linde Reue verſpüren ſie, und ein Stück Mehlfuchs
thun ſie in eine Holzſchüſſel und tragen die Holz-
ſchüſſel auf den Heuboden und ſtellen ſie auf die
Lagerſtätte des Alten. Dabei faßt ſie ſchon wieder der
Schalk; ſie verrammeln das Lager mit Rechen und
Heuſtangen. — Und nun wird der Alte kommen
und ſich die Naſe anrennen und rechtſchaffen brum-
men und zuletzt auf den Mehlfuchs ſtoßen. Und
der Mehlfuchs wird ihn für Alles verſöhnen.


Die Burſchen haben in derſelbigen Nacht
prächtig geſchlafen. Und als ſie erwachen, ſind in
den Wandfugen ſchon die goldenen Saiten des
Morgens gezogen.


25*
[388]

Das Lager des Alten aber und das Mehl-
gericht iſt noch unverſehrt und verrammelt mit Rechen
und Heuſtangen.


Der Klaus geht zu der Herde; der Veit geht
in das Freie. Und das iſt heute wiederum eine
Morgenfrühe! Friſch und klar und thauig die Almen
und Wälder, der Himmel reingeküßt von Morgen-
luft. Und hoch auf den Zinnen des nahen Fels-
gewändes leuchtet die Sonne. Ein Vöglein wirbelt
übermüthig auf dem Giebel der Hütte, und der
Brunnen plätſchert luſtig in den Trog.


Der Veit geht zum Brunnen. Die Aelpler
waſchen ſich des Morgens Hände und Geſicht ſo
gerne am kalten Quell. Das ſchwemmt ſofort
alle Schläfrigkeit hinweg, und macht Auge und
Herz heiter — heiter wie der junge Tag. Veit
kraut mit den Fingern emſig ſein wirres Haar zu-
recht und hält die beiden Hände unter die ſpru-
delnde Rinne. Wohl thut die rieſelnde Kühle, Veit!
Aber — da ſpinnt ſich im Wäſſerlein heran ein
blutrother Faden, und er ſchwimmt und ſchlingelt
und ringelt ſich in der hohlen Hand. Erſchrocken
zieht der Burſche die Arme zurück und ſtarrt in die
Rinne, auf der ein zweites, drittes Fädchen und
Fäſerchen heranſchwimmt, und er ſtarrt in den Trog,
wo die Fäden und Faſern ſich winden und einen
und theilen und löſen.


[389]

Veit eilt in den Stall: „Klaus, komm’, es
ſind heut’ ſo Dinger im Waſſer!“


Klaus kommt und ſieht und ſagt halblaut:
„Das iſt Blut!“


„So iſt da oben eine Gemſe in’s Bächlein
geſtürzt,“ verſetzt Veit.


„Aber, daß der Rüppel nicht da iſt!“ ſagt
der Klaus, und ein wenig ſpäter ſetzt er bei: „der
thät’s leicht kennen, ob es Gemſenblut.“


Der Veit iſt todtenblaß; „Klaus,“ ſagt er,
„ſteig’ mit hinauf in die Schlucht!“


Sie ſind dem Wäſſerlein entlang gegangen;
es rieſelt wieder klar.


Tiefer und tiefer ſteigt die Sonne nieder an
den ſtillen Felſen; höher und höher und mit jedem
Schritte haſtiger ſteigen die beiden Burſchen empor
und zwängen ſich durch enge, ſchattige Schluchten,
wie ſie das Waſſer in wildem Wettertoben geriſſen,
oder in ruhigem Zeitenlaufe gehöhlt hat. Die Bur-
ſchen ſagen kein Wort zu einander, ſie winden ſich
durch wildes, thaunaſſes Himbeergeſträuche und
Knieholz; ſie klettern an den ſchroffen Wänden
hin; ſie hören ein Rauſchen. Sie kommen der Stelle
nahe, wo das Wäſſerlein wie ein Goldband über
die ſonnige Wand ſtürzt.


„Da iſt ein Strohhalm,“ ſagt der Klaus
jählings. Es ſind zwei aneinandergeknüpfte Halme.
[390] Und daneben liegt der Reifen aus Tannengeäſte.
An den Geſtrüppen des Hanges hängt mancher
Halm zerriſſen und zerknittert und darunter in der
Tiefe des Grundes –


In der Tiefe iſt der alte Mann gelegen.


Der Kopf iſt zerſchmettert; in der linken Hand
hält er ſtarr gepreßt den Zweig eines Alpenroſen-
ſtrauches. Über die Rechte rieſelt das Waſſer.


So haben ſie ihn gefunden. Wer kann es
ſagen, wie der alte Mann verunglückt iſt? Etwan
hat er da oben nach dem Golde des Alpenglühens
gefahndet, auf daß er ſich eine neue, goldene Harfe
erwerbe. Und da iſt der mühſelige Greis herab-
geſtürzt über das Gewände in die Schlucht. Noch
im Fallen hat er ſich halten wollen am Roſen-
ſtrauche. – Und das iſt des Waldſängers Ende.
Ein glühendes Röslein prangt am gebrochenen
Zweig in der Hand des Todten.


An dieſem Fronleichnamsfeſte haben wir ihn
in die Erde gelegt. Gar viel Leute ſind nicht dabei
geweſen. Aber die Waldvögelein auf den Wipfeln
des Schachens haben ihrem Sangesbruder ein helles
Schlummerlied gesungen.


So arm hat Keiner geſchienen in den Winkel-
wäldern als dieſer Mann, und ſo reich iſt Keiner
geweſen. Das allwaltende, allumfaſſende und un-
faßbare heilige Sängerthum des Volkes hat in
[391] dieſem ſeltſamen Manne ſeine Verkörperung ge-
funden.


Auf Vater Pauls Grab ſteht ein Kreuz
aus dem Holze einer uralten Tanne. Auf des
Sängers Hügel pflanze ich einen jungen, leben-
digen Baum.


Juli 1832.


Mit den Jodelbuben haben wir ein Elend.
Sie wollen oben in der Almhütte nicht mehr
bleiben; ſie ſollen in den Nächten ein ewiges
Klopfen und Stöhnen auf dem Heuboden ver-
nehmen. Mitten im Sommer muß der Kropfjodel
abtreiben und die Hütte ſperren. Der Veit will
ſich an keiner Quelle mehr waſchen. Er ſieht in
jedem Brunnen Blutstropfen, die ſich anklagend an
ſeine Hand wollen legen. Es iſt dieſelbe übermüthige
Hand, welche die Harfe des Alten zerbrochen.


Im Herbſt 1834.


Die Schule iſt auf einige Wochen geſchloſſen.
Die Kinder helfen bei der Ernte; dieſe iſt ſpät
reif geworden und muß nun noch vor dem Froſt
gewonnen werden. Oben auf den Felſenhöhen gibt
es ſchon Schneeſtürme.


Ich hätte doch wieder einmal hinaufſteigen
mögen auf den hohen Berg, auf daß ich könnte
[392] hinausblicken. Ich lebe gar ſo vereinſamt in mich
hinein. Die Alten ſind mir weggeſtorben; die Jun-
gen habe ich erzogen, aber nicht zu meinen Ge-
noſſen. Ich bin ihr Schulmeiſter. Den Schulmeiſter
laſſen ſie in Frieden ziehen, und wenn er, alt und
grau, auf ſeinem einſchichtigen Bänklein ſitzt, ſo
meinen ſie, ein Schulmeiſter müſſe ſo ſitzen.


Der neue Pfarrer iſt ein junger Mann, der
ſchickt ſich beſſer für ſie; der thut mit im Wirts-
haus und auf der Kegelbahn. Als er ſich letztlich
aus der Kreisſtadt das neue Meßbuch verſchrieben,
hat er auch Spielkarten kommen laſſen.


Der Lazarus und ſein Weib, die Juliana,
ſind Beſitzer des Graßſteigerhofes; ſie ſetzen das
Wirtshaus fort, handeln mit Tabak und allerhand
Kleinigkeiten. Gar ausländiſche Kleiderſtoffe ſind
bei dem Graßſteiger zu haben. Es gibt Leute in
der Gemeinde, die nicht mehr mit den Loden- und
Zwilchjacken Vorlieb nehmen, die was Beſonderes
am Leibe haben wollen; ſo aus Spaß, ſagen ſie
heute noch. Aber ich achte, die Sucht bekommt bei
Zeiten einen andern Namen.


Manchmal durchſtreifen, wie voreh, Häſcher
unſere Gegend, um Schwärzer und Soldatenflücht-
linge einzufangen.


[393]

Sommer 1835.


Ich erzähle die Dinge wieder nur meinen ge-
duldigen Blättern; ſie bewahren die Geſchehniſſe
länger in Erinnerung, als ich und ganz Winkelſteg.
Es iſt mir Pflicht geworden, unſere Schickſale auf-
zuzeichnen. Dereinſt werden andere Menſchen ſein;
ſie ſollen auch von uns wiſſen.


Zuweilen kommt Hagel und großes Waſſer
und vernichtet die Ernten und ſchleudert die ſtreb-
ſamen Ackerbauwirte in der Entwicklung ihres
Wohlſtandes auf Jahre zurück.


So auch wieder in dieſem Jahre. Die Leute
dörren nun das Stroh, bringen es in die Mühle
— es ſind deren ein halb Dutzend im Thale —
und das wird das Brot für den Winter ſein.


In meinem Leben iſt kein Wetterſturm und
kein Sonnenſchein.


Aber ich will mein Frühjahr und meinen
Sommer haben, und jetzt habe ich zu meiner Wand-
uhr eine Vorrichtung gemacht. Die Metallſchelle des
Schlagwerkes habe ich weggethan und dafür aus
zwei Blättchen und einer Feder ein Ding zuſammen-
[394] gethan, das zu jeder Stunde den Wachtelſchlag
nachahmt. Hier in der Gegend hört man die
Wachtel kaum alle drei Jahre einmal; aber in
meiner Stube bleibt es nunmehr Sommer zu allen
Jahreszeiten. Ich und die Kinder haben eine rechte
Freude daran.


Da draußen im Holdenſchlager Graben, durch
den jetzt eine neugebaute Straße zieht, dort, wo
die Winkelſteger Gemeinde begrenzt iſt, haben die
Bauern ein Wetterkreuz ſetzen laſſen. Es hat drei
Querbalken, an denen die bildlichen Leidenswerkzeuge
des Herrn ragen. Das Kreuz wird als Schutz gegen
böſe Wetter hoch verehrt. Der uralte Schwammel-
fuchs aber meint, dasſelbe ſei mehr ſchädlich als
nützlich; es laſſe die böſen Wetter, die ja alle vom
Zahn herabkämen, nicht weiter, und ſo müſſe es
ſich über Winkelſteg entleeren.


Auf die Meinung des Schwammelfuchs hin
haben die Bauern das Wetterkreuz richtig nieder-
reißen laſſen. Hingegen haben nahe an derſelben
Stelle die Holdenſchlager ein ganz ähnliches auf-
geſtellt, auf daß die Gewitter hier gebannt und
nicht hinaus auf ihre Felder ſollen gelangen können.


[395]

Jetzt ſind die Winkelſteger in doppelter Ver-
legenheit und ich, — ihr Lehrer, mit ihnen.


Schulhalten und nichts als Schulhalten, und
die Hirngeſpinſte unter dieſen Filzhüten ſind nicht
umzubringen. Schulhalten! es iſt viel, und dennoch
iſt es ein thatenloſes Leben. Wie iſt das anders
geweſen zur Zeit, als wir die Gemeinde erweckt
haben! — Es gäbe auch heute noch genug und
übergenug zu ſchaffen und zu erſchaffen; aber der
alte Pfarrer iſt geſtorben und der neue ſchiebt mich
bei Seite.


Ich bin ſo alt noch nicht und thäte noch ar-
beiten. Ein par Stunden ſchulhalten, Schreibbogen
liniren, Federn und ein ſaueres Geſicht ſchneiden,
ein wenig Brennholz klieben und die par Geſchäft-
chen in der Kirche, das macht meinen Kopf leer
und meine Zeit nicht voll.


Der Schlaf iſt bald ſatt und wenn ich, bis
die lange Nacht vergeht, im Bette müßig liege,
ſo iſt das noch das Allerſchlechteſte. Da kommen
mir Gedanken zum Närriſchwerden — alte Zeiten,
alte blüthenzarte Geſichter und todtenblaſſe — ja
zum Närriſchwerden. Und dann höre ich eine
Stimme: ich hätte meinen Weg verfehlt, könnte
in Glanz leben und ſehr glücklich ſein . . . .
Aufſpringe ich vom Lager, die Geige reiße ich
von der Wand und hebe an zu ſcharren an den
[396] Saiten, auf daß ich die Geſpenſter wieder ver-
ſcheuche.


Und die Saiten, die wiſſen mir beſſeren
Troſt; ſie flüſtern, ich möge zufrieden ſein, ich hätte
das Glück gehabt, erſprießlich für das Allgemeine
zu arbeiten; ich hätte den Hang, ſtets der Voll-
kommenheit meines eigenen Weſens zuzuſtreben; ich
hätte die Herrlichkeit der Schöpfung um mich, ich
hätte die Geiſter aller großen Menſchen in meinen
Büchern verſammelt. Ich würde noch Manches nach
meinen Kräften wirken und dereinſt mit Befrie-
digung die Augen ſchließen.


Ich habe mir wieder, wie ſeiner Tage ein-
mal, aber ernſtlicher vorgenommen, in meinen freien
Stunden des Sommers mich mit der Pflanzenwelt
abzugeben, ſie wiſſenſchaftlich zu zerlegen und zu
betrachten. Aber wie geht es mir dabei? Da habe
ich heute ein Pflänzlein gefunden, gepflückt und hier
auf meine Mappe gelegt.


Mich reut der Mord. Es iſt ſo friſch und
hold geſtanden am Rain und hat ſeine kleinen
Arme ausgeſtreckt, den lieben Sonnenſchein zu
umarmen. O, zürne mir nicht, du liebholdes Weſen,
du biſt in deiner Jugend geſtorben, es hat dir ein
[397] Menſchenauge gelächelt, es hat dich ein Menſchen-
herz geliebt . . . .


Und ſo geht es mir. Zu ſchluchzen hab’ ich
angefangen, ich altes Kind. Und das heißt Pflanzen-
kunde treiben? — Andreas, für die Wiſſenſchaft
biſt du verloren ganz und gar; du biſt ein
Träumer.


Letztlich habe ich wieder einmal das Zeichnen
verſucht, habe eine Karte von den Winkelwäldern
gemacht.*) Hätte ich nur auch die Meßkunſt gelernt;
das gäbe jetzt ein anregendes und nützliches Ge-
ſchäft. Denn dieſe Gegend muß nun doch auch der
Welt zurechtgelegt werden.


[398]

Waldlilie im Srr.


Maria Himmelfahrt 1835.


Jählings iſt was Unvorhergeſehenes gekommen.


Vor mehreren Tagen erhalte ich ein Schreiben
von meinem einſtigen Schüler, unſerem jetzigen
Herrn. Hermann ſchreibt mir, daß er jene Kräuter,
die ich ihm von einem Holzer geſandt, richtig ver-
wendet habe und ſeither eine große Linderung in
ſeinem kränklichen Zuſtande empfinde. Dieſer Um-
ſtand habe ihn auf den Gedanken gebracht, das
Gebirge, welches er bisher ohnehin noch nicht kenne,
zu beſuchen und in der milden Frühherbſtzeit einige
Tage daſelbſt zuzubringen. Er beabſichtige ganz
allein zu reiſen, denn die Menſchen, namentlich die
Städter, ſeien ihm unſäglich zuwider; das ſei wol
eine Eigenheit ſeines abgeſpannten Zuſtandes, aber
er könne ſich derſelben nicht entſchlagen. An den
Reichthümern der Welt habe er ſich krank genoſſen,
in der Urſprünglichkeit der Alpen, in ihren Wild-
niſſen wolle er Heilung ſuchen. — Er erinnere ſich
[399] noch an mich, ſeinen ehmaligen Lehrer; er erinnere
ſich auch meiner Verdienſte um die Winkelwäldler,
und er bitte mich nun, ihm im Gebirge ein Führer
zu ſein und mich an dem beſtimmten Tage in der
Ortſchaft Grabenegg einzufinden.


Grabenegg, eine gute Tagereiſe von hier
entfernt, iſt keine Ortſchaft; es ſind nur einige
Steinſchlagerhütten, die an der Zillerſtraße ſtehen
und von einer dort auslaufenden Bergſchlucht den
Namen haben.


Ich habe mich denn an dem beſtimmten Tage
in Grabenegg eingefunden, habe dort den Wald-
herrn erwartet, der in einem gemietheten Wagen
auch richtig angekommen iſt. Dann bin ich mit ihm
weiter gegen das Hochgebirge gefahren.


Der Herr hat mich völlig erſchreckt; ich habe
ihn ſchier nicht mehr erkannt, aber er hat mich auf
den erſten Blick als den Andreas begrüßt. Sein
Gruß iſt höflich und kalt geweſen, und der arme
Mann iſt lebensſatt.


Bis zum erſten Felſenthore führt der Fahrweg.
Hier hat der Herr das Fuhrwerk zurückgeſchickt, und
wir ſind auf rauhen Steigen, wie ſie das Hochwild
getreten, in die Wildniß hineingegangen, auf deren
wilden Höhen die Eisfelder liegen. Der Herr iſt
vorangeſchritten, faſt finſter und trotzig, zuweilen
mit der Begier des Jägers, der dem Hirſch auf der
[400] Fährte iſt. Ich habe nicht gewußt, wohin und was
der Mann will; er auch nicht. Ich habe gewaltige
Angſt gehabt, daß wir für die Nacht kein Obdach
finden könnten, habe dem Herrn dieſes Bedenken
mitgetheilt; er hat darüber eine helle Lache ge-
ſchlagen und iſt weiter geſtürmt.


Da iſt mir jählings der Gedanke beigefallen:
Andreas, du wanderſt mit einem Irren! — Wäre
der graue Zahn vor mir niedergeſtürzt, ſoſehr hätte
mein Herz nicht erbebt, als in dieſem Gedanken.


Ich habe gefleht und gewarnt, ich habe ihn
nicht zu halten vermocht; nur an Hängen iſt er
ſtehen geblieben, hat einen Blick in den Abgrund
gethan, um ſofort wieder weiter zu eilen. Alle
Glieder haben ihm gezittert, große Tropfen ſind ihm
auf der Stirne geſtanden, als er in der Abenddämme-
rung an einer Felſenquelle zuſammengebrochen iſt.


Ich habe in derſelbigen Stunde meinem lieben
Gott Alles, Alles verſprochen, wenn er uns ein
Obdach finden ließe. Er hat mich erhört. Unweit
der Quelle habe ich in der Kluft zweier Wände
eine Klauſe entdeckt, wie ſolche gerne von Gems-
jägern aufgerichtet und zum Schutze benützt werden.


Und unter dieſem Dache, mitten in den
Schauern der Wildniß iſt ein Feuer angemacht
und dem Freiherrn aus Moos und Strauchwerk
eine Ruheſtätte bereitet worden.


[401]

Wir verzehren, was wir bei uns haben und
trinken Waſſer. Als das Mahl vorüber iſt, lehnt
ſich der Herr aufathmend an die Mooswand und
haucht: „Das iſt gut! das iſt gut!“


Und nach einer Weile richtet er ſein Auge
auf mich und ſagt: „Freund, ich danke Ihnen,
daß ſie bei mir ſind. Ich bin krank. Aber hier
werde ich geneſen. Das iſt ja das Waſſer, von
dem der angeſchoſſene Hirſch trinkt? — Ich hab’
es toll getrieben — ſehr toll! Iſt kein Spielzeug,
der Menſch. Schließlich bin ich zum Glücke den
Aerzten entkommen. Ich mag in keinem Metallſarg
liegen, er riecht nach Prunk, nach Gold und Sei-
den, nach erkünſtelten Thränen — pfui!“


Zu meinem Troſte iſt er bald eingeſchlum-
mert. Ich habe die ganze Nacht gewacht und auf
Mittel geſonnen, den armen, kranken Mann unter
Menſchen zu bringen. Wir ſind weit ab; wollen
wir nach Winkelſteg, ſo müſſen wir über das
Gebirge.


Am andern Morgen, als ich bereits ein neues
Feuer angemacht habe und als ſchon die Sonnen-
ſtrahlen durch die Fugen blicken, erwacht der Mann,
überſieht anfangs wie ſtaunend ſeine Lage und
ſagt: „Guten Morgen, Andreas!“


Hierauf hebt er ſogleich an, ſich reiſefertig zu
machen.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 26
[402]

„Ich will auf den hohen Berg hinaufſteigen,
den ſie den grauen Zahn heißen,“ verſetzt er, „ich
will dieſe Welt einmal von oben anſehen. Begleiten
Sie mich und machen Sie, daß wir noch einen
oder zwei Männer mitbekommen. Haben Sie keine
Sorge meinetwegen; mir iſt beſſer. Geſtern iſt ein
böſer Tag geweſen. Wie friedlos und heimatlos bin
ich durch die wüſten Gegenden gezogen, ohne Ziel.
Mir ſelber hätte ich entrinnen mögen, wie ich denen
da draußen entronnen bin. Der ganze Jammer
meines Elendes war über mich gekommen. Aber
dieſe Luft heilt mich — oh, dieſe reine, heilige Luft!“


Als wir aus der Klauſe treten, müſſen wir
die flachen Hände über die Augen halten. Es iſt
ein mächtiges Leuchten. Die Aeſte des Tanns ſind
goldig roth und in den Schatten des Geflecht-
bodens zittern Thautropfen. Viele davon trinken
ſchon von den glühenden Quellen der durch das
Geäſte rieſelnden Sonne. Auf den Wipfeln jauch-
zen die Vogelſchaaren. Eichhörnchen hüpfen herum
und lugen nach Morgenbrot und Geſpielen. Eine
junge Buche wiegt ihre reiſigen Blätter im milden
Hauche des Morgens.


Da lächelt Hermann.


Wir ſchreiten weiter. Wie lichtes Nebelgrau
ſchimmert es uns zwiſchen den finſteren Stämmen
entgegen. Ein faſt kalter Lufthauch zieht. Da lichtet
[403] ſich jählings der Wald und jeder Baum am Rande
ſtreckt ſeine Arme aus — weiſt lautlos vor Ehr-
furcht ein wunderbares Bild.


Ein ſtiller See liegt da, weit hingedehnt,
blau, grün, ſchwarz — wer kennt die Farbe? An
den Ufern der Morgenſeite erhebt ſich über graues
Geſtein der hohe, dunkle Bergwald, mild umſchleiert
von den Lichtfäden der Sonne. An dem gegenüber-
liegenden Strande baut ſich eine ungeheuere Fels-
wand, hinter der ſich Höhen und Höhen, Hänge
und Hänge ſchichten, bis hinan zu den höchſten
Riffen und Zinnen und Zacken am Saume des
blauen Himmels. Mannigfaltig und herrlich über alle
Beſchreibung zieht ſich das Hochgebirge hin in einem
ungeheueren Halbrund. Hier unten noch Lehnen,
Raſen und ſammtgrüne Filze der Wachholderſträuche.
Dann die milchweißen Fäden der niederſtürzenden
Waſſerfälle, deren Toſen von keinem Ohre ver-
nommen in den Räumen der Lüfte verhallt. Dann
die Geröllfelder, die Schuttrieſen, jedes Steinchen
klar gezeichnet in der reinen Luft; dann Klüfte mit
Schatten, mit Schründen, mit Schnee; dann ver-
witterte Felsgeſtalten, wüſt und hochragend, dämonen-
haft in ihrer Ungeheuerlichkeit und ewigen Ruhe.


Ein Steinadler ſchwingt ſich im Blau, jetzt
wie ein ſchwarzer Punkt, jetzt wie ein ſilbernes
Blättchen umkreiſt er eine Felſenſpitze. Und in den
26*
[404] fernen Höhen aufgerichtet, ſanft lehnend, lichte
Gletſcher und röthlich leuchtende Tafeln der Wände,
in welchen ſtetig meißelt der Griffel der Zeit, um
einzugraben in den Bau der Alpen die ewige Ge-
ſchichte und die ehernen Geſetze der Natur . . . .


Ich ſehe es noch, ſehe Alles noch vor meinen
Augen — es iſt der See im Geſenke mit dem
Bergſtocke des grauen Zahn.


Ich habe Aehnliches ſchon geſchaut, und den-
noch hat mich die Herrlichkeit hingeriſſen. Der Frei-
herr aber ſteht da wie ein Stein. Seine Augen
haben ſich verloren in dem unendlichen Bilde; ſeine
Lippen ſaugen bebend die Seeluft ein.


Darnach ſind wir hinabgeſtiegen zu den ſchat-
tigen Ufern des Sees. Hier plätſchert das Waſſer
an den ſtumpfkantigen Steinen.


„Der See kann auch wild ſein,“ hat hier der
Herr bemerkt, „ſehen Sie, wie weit den Hang
hinan die Steine glatt geſchwemmt ſind.“


Aus dieſen Worten habe ich erſehen, daß Her-
mann ein verſtändiges Auge für die Natur beſitzt.
— Freilich, freilich kann dieſer See ein wüſter Ge-
ſelle werden, ſo mild und lieblich er heute ruht. —
— — Und jetzt kommt jählings das Wunderſame,
dort unten, wo das Gebüſche der Wilderlen in den
See taucht — dort guckt ein Menſchenhaupt aus dem
Waſſer hervor! Es hebt ſich das Haupt und von
[405] den braunen, langen Locken und von dem blühen-
den Antlitz rieſeln die Tropfen der Fluth. Hals
und Nacken ſind ein wenig ſonnengebräunt, aber
die ſanftgebauten, wiegenden Achſeln ſchimmern
durch das Waſſer wie ſchneeweißer Marmor. Ein
junges, ſchönes Weib, eine Waſſerjungfrau! Weiß
Gott, ein Dichter könnt’ Einer werden, wahrhaftig!
— Und es hat ſich noch mehr zugetragen.


Der Waldherr iſt kurzſichtiger als ich, und
hat ſich dem Bilde genähert; in demſelben Augen-
blicke iſt die Geſtalt untergeſunken und nur die
Erlen haben gefächelt über dem Waſſer und ſonſt
haben wir nichts mehr geſehen.


Hermann ſtarrt mich an. Ich ſtarre in den
See. Der wirft im Hauche ſanfte Reifen, ſchwarze
Linien, iſt hier ſpiegelglatt, dort zitternd und rie-
ſelnd. Und das Haupt taucht nicht mehr hervor.


Minuten vergehen. Ich ſpähe mit Herzklopfen
nach dem badenden Weſen; wer weiß, ob es ſchwim-
men kann? Mir fährt es durch den Kopf: Wie,
wenn ſich das Mädchen aus Schamgfühl im Waſſer
vergräbt?


Nach einer Weile der Angſt und Noth habe
ich das athemloſe Kind aus den Wellen hervor-
gezogen. — Mit der wenigen Erfahrung, die uns
zu Gebote ſteht, haben wir ſein Leben wieder er-
weckt, ſein ſiebzehnjähriges Leben. Und ſiehe das
[406] wildſcheue Weſen! Kaum erwacht und von unſeren
Händen bekleidet, hat ihm die Angſt Kraft geliehen,
iſt es aufgeſprungen und hingeflohen am Wald-
hange.


Der Herr hält ſich den Kopf mit beiden Händen.
„Andreas!“ ruft er, „mein Uebel kehrt wieder; ich
habe Erſcheinungen, eine Fee habe ich geſehen!“


„Das iſt keine Fee,“ gebe ich ihm zur Ant-
wort, „das iſt die Tochter jenes Holzers, der dem
gnädigen Herrn die Kräuter geſchickt hat.“


Die Waldlilie iſt es geweſen.


Einige Tage ſpäter.


Heute iſt der Herr mit dem Schimmel des
Graßſteiger davongefahren.


Aus der Beſteigung des Zahnes iſt nichts ge-
worden. Als uns am See die Waldlilie entſchwun-
den geweſen, hat Hermann geſagt: „Mein Schickſal
iſt erfüllt; ich ſteige nicht auf den Berg. Führen
Sie mich in Ihr Winkelſteg, Andreas.“


Und in Winkelſteg iſt er drei Tage verblieben,
hat unſere Einrichtungen betrachtet und zum Theile
belobt, hat ſehr viel von unſerem Waſſer getrunken.
Die Leute haben es nicht glauben wollen, daß das
der Waldherr ſei; ein Weiblein hat gemeint, der
Waldherr müſſe einen goldenen Rock tragen, und
[407] dieſer Mann hat einen aus grauem Tuche. Sein
Geſicht iſt wie mit Aſchen beſtreut, aber unter der
Aſche merke ich Funken. Vor wenigen Tagen habe
ich geſagt, er ſei lebensſatt; heute meine ich ſchier,
er ſei lebenshungerig. Es iſt recht ſeltſam. Geſtern
hat er den Berthold zu ſich gerufen, daß er das
Heilkraut bezahle.


Der Rothbart iſt längſt verſetzt; ſo iſt der
Berthold Förſter in den Winkelwäldern geworden
und wohnt nun mit den Seinen im Winkelhüter-
hauſe. In wenigen Tagen wird die kirchliche Trau-
ung des Förſters mit dem Weibe Aga ſtill voll-
zogen werden. So hat es der Herr angeordnet. Zu
tauſendmal freut es mich: Hermann hat eine kern-
geſunde Seele; ein Kranker kann ſo raſch und
ſicher nicht handeln. Aber ein ſeltſamer Menſch iſt
er doch. Ehe er davonfährt, kommt er zu mir in
das Schulhaus, zieht mich zu ſich auf eine Bank
nieder und ſagt: „Schulmeiſter! ſie hat ihr Magd-
thum höher gehalten, als ihr Leben; hätte ich denn
geglaubt, daß es ein ſolches Weib gibt auf Erden?
Da unten in den Paläſten wohnen die Schamloſen
und Gefallſüchtigen. Mir haben ſie arg mitgeſpielt.
O, mir iſt Alles da draußen zum Ekel geworden.
Sie, Erdmann, haben voreinſt die Welt von unter-
herauf geſehen, kennen gelernt und ſind davon ſatt
geworden. Ich habe die Welt von oben hinab
[408] durchſchaut. Das iſt eine ganz neue Seite, voll
Glanz und Pracht, aber ſo niederträchtig wie die
andere. Mir iſt nichts Außerordentliches wider-
fahren, Erdmann, ich habe nur gelebt und bin
unglücklich geweſen. Ich gehöre auch herein in die-
ſen Wald — Andreas — ich gehöre auch herein!
Aber ich muß wieder zu meinem alten Vater. Gott
bewahre, daß ich ſie mit mir nehme! glückſelig,
daß ſie die Welt nicht kennt! Ihnen vertrau’ ich
ſie, Schulmeiſter. Hat ſie das Bedürfniß, Einiges
zu lernen, ſo lehren Sie ſie; hat ſie das Bedürfniß
nicht, ſo ehren und bewachen Sie ſie, wie eine
wilde Lilie im Wald. — Und bewahren Sie das
Geheimniß, Schulmeiſter. Wenn ich geneſen kann,
ſo werde ich wiederum kommen.“


Und nachdem er mit ſeinen mächtigen Worten
die großen Aenderungen vollzogen hat, iſt er mit
dem Knecht und Schimmel des Graßſteiger gegen
Holdenſchlag gefahren.


Andere hat das Leben, wie es unſer junger
Herr geführt, zu Grunde gerichtet; ihn hat es zum
Sonderling gemacht. Sein tiefangelegtes Weſen iſt
zwar erſchüttert, aber nicht geſtürzt worden.


An demſelben Tage, als des Morgens Her-
mann von hier abgereiſt iſt, ſind drei Steckbriefe
[409] angekommen. — Der junge, gnädige Herr von
Schrankenheim, ſeit längerer Zeit ſchon an einer
großen Schwermut leidend, ſei in Verluſt gerathen.
Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſei er in das Gebirge
gezogen, denn er habe ſich mit Kleidern verſehen,
wie ſie Bergreiſende tragen. — Und nun ſind die
Kleider, iſt mein ganzer, lieber Zögling Hermann
beſchrieben geweſen, ſo genau wie ein entſprungener
Sträfling.


Gut, er wird ja zurückkehren. Er hat ſeine
Waldbeſitzungen bereiſt, was weiter? Sollt’ er denn
juſt in der Weiſe der Reichen reiſen? Sollte ein
Schrankenheim denn niemals aus ſeinen Schranken
treten dürfen?


Das iſt einmal ein Herr für Winkelſteg, Gott
ſei Dank!


Und mir iſt Heil widerfahren, iſt ja doch der
Berthold und ſeine Familie gerettet. Ich habe die
Leute ſo ſchwer auf meinem Gewiſſen getragen.


Die unklaren Worte unſeres Waldherrn, die
er mir bei ſeinem Abſchiede geſagt, ſind zum Theile
klar geworden. Die Waldlilie beſucht das Schul-
haus und wir üben uns im Leſen und Schreiben
und Allem, was daranhängt, ſo weit ich ſelber
Beſcheid weiß. Sie iſt gar fleißig und gelehrig,
kann ſelbſtſtändig denken und wird von Tag zu
Tag ſchöner.


[410]

Für’s Erſte iſt ſie in ihren Namen hinein-
gewachſen und hat etwas von einer Lilie an ſich;
ſo ſchlank und weiß und mild, und doch verſpürt
man auf ihren runden Wangen und auf ihren
friſchen Lippen den Kuß der Sonne. Für’s Zweite
iſt ihr von den Rehen jener langen Winternacht
was geblieben, die anmutige Behendigkeit und das
Auge . . . .


Du, Andreas! Siehſt du jeden deiner Schüler
ſo genau an?


Ja, ſie gefällt aber Allen.


Sie gefällt den Armen, denen ſie beizuſtehen
weiß. Manchen Traurigen hat ſie ſchon getröſtet
durch ihre milden, warmherzigen Worte; manchen
Verzagten hat ſie erheitert durch ihren liebholden
Geſang. Und es iſt zu herzig, alle Kinder von
Winkelſteg kennen die Waldlilie und hängen ihr
an. Thät’ nur der Pfarrer noch leben, der hat an
ſo Leuten ſeine Freude gehabt.


Und ritterlich iſt das Mädchen, trutz wilder
Thiere und böſer Leute ſteigt ſie im Gebirge umher,
um Früchte und Pflanzen zu ſammeln. Es ſteht ja
geſchrieben auf ihrer Stirne: „Machtlos iſt vor
dir alles Böſe!“


Letztlich bringt ſie mir eine blaue Enziane
mit hochrothen Streifen, wie ſolche nur drüben im
Geſenke wachſen.


[411]

„Biſt du wieder am See geweſen, Lili?“
frage ich. Da wird ſie roth, wie die Enzianſtreifen
und lauft davon.


Etwan hat ſie es gar nicht gewußt, daß ich
einer jener Männer bin, von denen ſie in ihrem
Wildbade überraſcht worden, vor denen ſie ſich in
ihrer Noth dem Verderben in die Arme geſtürzt,
und von denen ſie der Eine an’s trockene Land
gezogen hat?


Der Vorfall muß ihr wie ein Traumbild
ſein, er möge nie mehr erwähnt werden.


Aber von dem feinen Waldherrn, der ihre
Familie aus Noth und Armut gezogen, ſpricht ſie
mit Freude und Begeiſterung.


Zur Auswärtszeit 1837.


Es hat ſich erfüllt. Die Anzeichen ſind in der
Luft gelegen ſeit jenem Tage im Vorſommer, an
welchem Hermann, wie neu erwacht zum kräftigen
Manne, in Winkelſteg wieder angekommen iſt und
als ſein Erſtes mich nach der Waldlilie gefragt hat.


Er findet keinen Gefallen mehr an den lauten,
ſchwelgenden Kreiſen, von ſo Vielen die „Welt“
genannt, aber nichts weniger, als die Welt bedeu-
tend. Den gefährlichen Wendepunkt hat er glücklich
überſtanden. Er iſt nun eingetreten in das gereifte
[412] Leben, in welchem man nach der Schönheit der
Schöpfung und nach dem inneren Werthe des Men-
ſchen frägt. — Die Waldlilie iſt eine wunderſam
ſchöne Jungfrau geworden, und meine Mühe um die
Ausbildung ihrer Seelenanlagen iſt herrlich belohnt.


So hat es ſich erfüllt. Der Schrankenheimer
hat ſeine Schranken durchbrochen. Vor zwei Tagen,
am Feſte der Himmelfahrt des Herrn, iſt in un-
ſerer Kirche der Waldherr mit der Waldlilie ge-
traut worden.


Hermann hat drüben am See im Geſenke ein
Sommerhaus bauen laſſen wollen, um mit ſeiner
Gattin alljährlich einige Frühherbſtwochen daſelbſt
zu wohnen. Aber die Waldlilie hat ihn gebeten,
das zu unterlaſſen. Sie liebe jene Gegend, aber ſie
könne den See nicht beſuchen.


Sie haben uns verlaſſen und ſind davongezogen
in die ſchöne Stadt Salzburg.


Im Winter 1842.


In Einöde und Einförmigkeit vergehen die
Jahre; warum nennt mich Niemand den Ein-
ſpanig?


[413]

Die junge Frau hat ſich ſeither doch beſonnen,
am See im Geſenke ſteht das Sommerhaus. Da
geht es in den Wochen des Frühherbſtes gar leben-
dig zu, und die Bergwände bewachen das Familien-
glück unſeres Herrn.


Der Förſter und Großvater mit ſeinem Weibe
wohnt jahraus jahrein in dem Hauſe am See;
und die Geſchwiſter der Frau von Schrankenheim
dürfen auf ein beſſeres Los hoffen, als jenes, von
dem ihnen an der Wiege iſt geſungen worden.


Der alte Herr von Schrankenheim hat noch
zwei Enkel geſehen, ehe er zu Salzburg im Winter
des Jahres 1840 verſtorben iſt.


Winkelſteg hat durch das Haus im Geſenke
nichts gewonnen. Dorthin iſt eine gute Straße ge-
baut worden, von dort aus werden die Wälder bewacht
und die Arbeiten geleitet. Dorthin kommen die Beſuche
fremder Herrſchaften, dort werden die großen Jagden
angeſtellt. Das Haus in dem voreh ſo öden und
verrufenen Geſenke iſt das Herrenhaus; und
Winkelſteg bleibt die arme Bauern- und Holzſchläger-
gemeinde, und die Zuſtände zu Winkelſteg werden
nicht beſſer, und der Schulmeiſter zu Winkelſteg . . . .


Laß das gut ſein, Schulmeiſter.


[414]

1. Auguſt 1843.


Heute Nacht iſt dem Reiterbauer in den Kar-
wäſſern ein Knäblein geboren worden. Sie haben
es zur Taufe gebracht. Da der Pfarrer auf einige
Tage verreiſt und das Kind ſchwächlich iſt, ſo habe
ich ihm die Nothtaufe gegeben. Auf den Wunſch
des Vaters bin ich gleich auch der Pathe geweſen.
Die drei lieben Herrgottsgroſchen, meine Erbſchaft
von der Muhme, vormaleinſt auch mein Pathen-
geſchenk, jetztund ſoll ſie der kleine Peter haben.


Im Sommer 1847.


Als ich in den Wald gekommen bin, habe ich
die Menſchen zerſtreut, verkommen, ungezählt ge-
funden. Heute ſehe ich ein neues Geſchlecht.


Um die Kirche ſteht ein Dorf. Um das Dorf
ſtehen Aepfel- und Birnbäume und tragen Früchte;
in allen Winkeln iſt verſucht worden, aus Wild-
lingen Edelbäume zu ziehen; großentheils iſt es
gelungen.


Zum Sonntag kommen ſchmucke Menſchen aus
allen Gräben. Die Männer tragen als Eigenart
ſchwarze Knielederhoſen und grüne Strümpfe; die
[415] Weiber bauſchige Sammtſpenſer und wunderſpaß-
hafte Drahthauben mit Vergoldung und Bänder-
werk. Das iſt keine Kleidung mehr, wie ſie im
Walde wächſt. Sonſt haben ſie die Leinwand von
ihren Flachsäckern, den Loden von ihren Schafen,
das Schuhleder von ihren Rindern, die Felle und
Pelze von ihrem Wildſtande getragen; heute ſtrei-
chen Hauſirer in den Winkelwäldern um, ſchleppen
werthvolle Rohſtoffe fort und laſſen Prunk und
Flitter dafür da. „Aus Spaß“ haben die Leute
anfangs die neuen unzweckmäßigen Dinge genommen,
heute haben ſie ſich hineingelebt und die Sach’ iſt
zum Bedürfniß geworden.


Die Jungen ſind wol weit vielſeitiger, als die
Alten, aber auch weit anſpruchsvoller; auch haben
ſie mir zu wenig Sinn und Ehrfurcht für das
Alte, aus dem ſie hervorgegangen ſind. Nur den
Tabak rauchen ſie, und den Branntwein trinken ſie
noch, wie es die Alten haben gethan.


Was kann der alte Schulmeiſter allein machen?
Ach, lebte der alte Pfarrer noch!


Der kleine Reiter Peter, mein Pathenkind, iſt
ein ganz holder Junge; aber es iſt ein großes
Unglück mit ihm geſchehen, er hat durch einen Fall
aus dem Bette die Stimme verloren.


[416]

Gerne wollte ich ihm die meine überlaſſen,
für mich hat ſie keinen Anwert mehr. Meine
Stimme iſt heiſer geworden, da wird nicht mehr
auf ſie geachtet.


Im Mai 1848.


Ich weiß nicht, wie das für mich nun werden
wird. Ob es nicht am beſten wäre, ich nähme auf
einige Wochen Urlaub und ginge davon.


Draußen zieht das Kriegsvolk, in den Städten
verrammelm ſie die Gaſſen und Straßen und reißen
die Paläſte ein. Eben deswegen kommt ſie ja. Die
Frau des Feldherrn kommt, Hermanns ſchöne
Schweſter, die mich ſo hat närriſch gemacht.


Im Hauſe am See iſt kein Platz mehr, ſo
flüchtet ſie ſich mit ihren Kindern zu uns.


Das Winkelhüterhaus wird für ſie eingerichtet.
Wie danke ich Gott, daß unſer Winkelſteg ihr eine
Zuflucht bieten kann in dieſer Zeit!


Ich will denn doch nicht weggehen. Will blei-
ben und ſehr ſtark ſein und mich nicht verrathen.
Ich will ihr einmal recht in’s Auge ſchauen, ehe
ich ſterbe.


Ich ſehe es wol, Gott meint es gut mit mir.
Ihr Auge wird die dunkelnden Waldberge lichten,
ihr Athemhauch wird die Alpenluft mildern und
[417] weihen. Und zieht ſie auch wieder davon, Winkel-
ſteg, wo ſie geweilt, wird meine Heimat ſein.


Vor den Eingang des Hauſes bauen wir einen
ſchönen, hohen Bogen aus Tannengezweige, und
wir bekränzen den Altar in der Kirche.


Alles wird fein bereitet, aber kein Menſch
denkt daran, daß die Steine aus dem Wege ge-
ſchafft werden müſſen. Solche Frauen haben zartere
Füße, als Unſereiner im Gebirge.


Jetztund klaube ich ſchon einen Tag und zwei
Nächte an den Steinen des Weges. Die Leute laß
ich lachen und es iſt nur gut, daß der Mond
ſcheint.


Einige Tage ſpäter.


Jetzt ſind ſie da. Sie und die zwei Kinder
und die Dienerſchaft. Da hätte ich freilich die
Steine nicht wegzuräumen gebraucht; ſie ſind mit
Roß und Wagen gekommen.


Bei der Ankunft ſind ſchier alle Winkelſteger
auf dem Platze verſammelt geweſen. Der Pfarrer
hat eine Begrüßung gehalten; ich habe mich in das
Schulhaus verkrochen. Aber ich bin im Herzen er-
ſchrocken; juſt vor meinem Fenſter ſind ſie aus-
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 27
[418] geſtiegen, und da hab ich gemeint, ſie wollten zu
mir herein.


Ich habe ſie ſehr gut geſehen; ſie iſt jünger
geworden. Kaum aus dem Wagen gehoben, lauft
ſie einem Falter nach. — Das iſt aber ihre jüngſte
Tochter geweſen. Sie ſelber . . . .


Bei meiner Treu, ich hätt’ ſie nicht mehr
erkannt.


Sie hat alte Spiegel mit goldenen Rahmen,
aber ſo treu iſt keiner, daß er, wie mein Herz, ihr
herrliches Bild ſo bewahrt hätte bis auf den heu-
tigen Tag.


Das Bild iſt jetzt verloſchen und meine Ju-
gend wie Nebel zergangen.


Brachmonat 1848.


Geſtern bin ich den ganzen Tag im Gebirge
herumgeſtiegen, bin gar auf dem Zahn geweſen.
Unterwegs hab ich mich zehnmal gefragt: Warum
ſteigſt du hinauf, du altes Kind? — Oben wird
die Antwort ſein, hab ich gedacht. Ich habe die
Alpenkrone geſehen, ich habe in die blauende Tiefe
des Geſenkes geblickt, wo an der ſchwarzen Tafel
des Sees das Herrenhaus liegt, ich habe gegen
Mittag hin mein Aug’ angeſtrengt, mein ſchon
recht ſchwaches Aug’, aber — es iſt gar umſonſt.
[419] So oft ich hinauf mag klettern, das Meer hab ich
noch immer und immer nicht geſchaut.


Man ſoll es ſehen können, heißt es, aber
an einem klaren Wintertag. — Jetztund hab ich
ſonſt nichts mehr zu wünſchen, ſo will ich das
Eine noch.


Bei meinem Herabſteigen habe ich einen
Strauß von Alpenroſen, Edelweiß, Kohlröslein,
Speik, Arnika und anderen Blumen und Pflanzen
geſammelt, hab ihn vornehm auf meinen Hut ge-
ſteckt, wie ein tollverliebter Burſch. Für wen trägſt
du den Buſchen heim? — Ich? für Weib und
Kind. — Hei, du verrückter Alter, du!


Aber, wenn ich weg von ihr bin, wie da oben
auf der Alm, ſo ſehe ich doch wieder, daß ſie
hold iſt. — Einen Alpenblumenſtrauß wird ſie
von mir nehmen, ich will ja recht artig und nicht
zudringlich ſein. — Hätt’ ich nur eine einzige Ader
von dem alten Rüppel, wie wollt’ ich ein Lied her-
ſagen, das ſich zum Strauß thät’ ſchicken!


So meine Gedanken; es iſt ſchrecklich, wie ich
noch übermüthig bin.


Wie ich herabkomme zur Lauterhöhe, wo der
Schirmtanner ein Kreuz hat ſetzen laſſen und wo
heute auf dem Waldanger des Holzmeiſters Rinder
graſen und luſtig dabei ſchellen, ſetz’ ich mich zur
Raſt unter einen Baum. Ich gucke auf einen arg-
27*
[420] verwüſteten Ameiſenhaufen hin. Nur wenige der
Thierchen kriechen rathlos herum auf der Trümmer-
ſtätte ihres Fleißes.


Ich merke es, ein Ameiſengräber iſt dageweſen,
hat den herrlich eingerichteten Staat zerſtört und
beraubt. Aus den geraubten Harzkörnern bereitet er
Weihrauch für den Altar des Herrn; mit den ge-
raubten Eiern füttert er gefangene Vögel, die frei
ſein ſollten im Himmelslichte, die aber in der Ge-
fangenſchaft ſchmachten ihr Lebtag lang, weil ſie das
Unglück haben, die Lieblinge der Menſchen zu ſein.


Es iſt die Sage, daß über den Grabhügel
eines Ameiſengräbers keine einzige Ameiſe geht.


Aus dergleichen Gedanken weckt mich ein Zupfen
an meinem Hut; ich wende mich, um zu ſehen,
wer mich neckt. — Eine braune Kuh ſteht da und
zerkaut mit Behagen meinen Alpenſtrauß.


Bin aufgefahren, hab das vorwitzige Rind
mit meinem Stab wollen züchtigen, da fällt es mir
ein: Gutes Thier, etwan machen meine Blumen
dir mehr Vergnügen, als ihr; ſo geſegne dir ſie
Gott! Sie trinkt dafür deine gute Milch.


Als ich zum ſpäten Abend in das Dorf herab-
komme, ſind ihre Fenſter hell beleuchtet; dieſelben
Fenſter, durch die ich vor Jahren ſo oft habe nach
ihr ausgeguckt.


[421]

Einen Spaß muß man auch haben.


Einer von den Bedienten der Frau, der Jakob,
iſt ein Kreuzköpfel. Können thut er Alles; er kann
muſiziren, kann ſchneidern und ſchuſtern und kann
zeichnen; gar komödieſpielen kann er. Die Frau muß
aber ſolche Dinge nicht recht leiden mögen, denn
der Jakob kommt allerweg zu mir in das Schul-
haus herab, wenn er ſeine Künſte üben will. Da
hab ich meine Kurzweil und muß oft närriſch lachen.


Ich habe dem Jakob einen Pfeifenkopf geſchnitzt,
dafür ſchenkt er mir allfort den beſten Tabak. So
ſchnitzen, ſagt er, das könne er nicht. Die Höflichkeit
hat mir noch kein Menſch geſagt, wie der Jakob.
Auch macht er mir allerhand Schwänke vor; auf
dem Kopf kann er ſtehen, bauchreden kann er, wahr-
ſagen kann er und kartenaufſchlagen. Meiner Tag
hab ich keinen ſo geſchickten Menſchen geſehen. Aber
Eines habe ich ihn gebeten, in Gegenwart der
Schulkinder möge er nicht allzuviel ſo Künſte trei-
ben; — ’s iſt mir lieber.


Letztlich hat mich der Jakob gar gezeichnet.
Auf Ehre, ich hab nicht ſitzen wollen, aber er hat
mich herumgekriegt, bis ich all meinen Staat um
mich gethan, dort auf dem Holzblock Platz gefaßt
habe. Er hat mich gezeichnet und mit Farben be-
malt, daß es eine Herrlichkeit iſt. Das rothe Hals-
tuch iſt gar zum Sprechen getroffen.


[422]

Das Bild hat er mir geſchenkt. Ich guck’ es
heimlich an; aber Jeſus Maria! die Schulkinder
dürfen mir’s nicht ſehen!


Will’s wol fleißig verſtecken.


Hab gemeint, ich werd’ mich recht an ihre
Kinder machen. Aber ſie ſprechen eine welſche
Sprache, und die verſteh ich nicht. Der junge Herr
iſt fortweg bei Pferden und Hunden; das Mädchen
möchte ſich auf den Wieſen umhertreiben bei den
Blumen und Käfern. Aber das wird ihr verwieſen,
da es nicht Sitte ſei. Sie iſt ſchon völlig zu groß,
um glückſelig ſein zu dürfen.


Dieſer Tage iſt Hermann — verzeih’ mir’s
Gott, daß ich ihn allfort noch ſo nenne — vom
Geſenke herübergekommen, um ſeine Schweſter zu
beſuchen. Die Frau hat ſich krank gemeldet. Der
Jakob ſagt, die Beiden hätten kein rechtes Zuſammen-
ſehen. Die Gnädigſte erkenne keine Schwägerin an,
die nach Tannenpech rieche.


Heute hat die Frau eine Tafel gegeben und
dazu den Pfarrer und den Graßſteiger eingeladen.
[423] Mir iſt ein Stück Braten, eine Buttertorte und
ein Glas Wein in’s Haus geſchickt worden.


Zum Glücke geht ein Bettelmann vorbei, daß
mir die Speiſen nicht verdorben ſind.


So ſind heute zwei Bettelmänner abgeſpeiſt
worden.


Bei der Tafel ſei von mir geſprochen worden,
ſagt der Jakob. Die Frau habe erzählt, ich hätte
als armer Student in dem Hauſe ihres Vaters eine
Weile das Gnadenbrot genoſſen, dann ſei ich aus
der Schule davongegangen und als Vagabund zurück-
gekehrt; dann hätte mich ihr Vater um Gottes-
willen in den Wald gethan und mir das Brot
gegeben.


So weißt du heute mehr, als geſtern, Andreas
Erdmann; aber kein graues Haar desweg, es thäte
die weißen entſtellen.


Auguſt 1848.


Nun ſind ſie wieder fort. Jakob hat mir ein
ſchwarzes Beinkleid und einen weißen Handſchuh
dagelaſſen.


Juli 1852.


Die Grundablöſungen ſind bewilligt worden.
Die meiſten Bauern von Winkelſteg ſind nun ihre
eigenen Herren. ’s iſt ihnen von Herzen zu gönnen.
[424] Aber ihre Augen ſind ſeither ſchlechter geworden;
Jeder ſieht mich nicht, wenn ich des Weges an ihm
vorüberkomme.


In dieſem Sommer bin ich wieder auf dem
Berg geweſen. Hab ſchon gemeint, ich ſehe es gegen
Mittag hin. Iſt aber nur ein Nebelſtreifen gelegen.


Ich habe mir bei dieſer Bergfahrt, ich weiß
nicht, durch das grelle Licht der Wetten, oder durch
einen ſcharfen Wärmewechſel, wieder das böſe
Augenleiden zugezogen, das viele Wochen gewährt
und mich an meinem Berufe gehindert hat.


Ich denke, dem ſtummen Reiter Peter ſollte
man ein wenig Muſik lehren. Er muß doch was
haben, um ſein Herz auszulegen.


Es iſt unglaublich, wie das weh thut, wenn
man Alles in ſich verſchließen muß.


1853.


Der Peter hat Schick; er ſpielt ſchon auf der
Zither und auf der Geige. Später muß er mir an
die Orgel. Die Winkelſteger werden auch in Zukunft
noch ihr Meßlied haben wollen. Ich werde nicht
immer ſein.


[425]

Der Graßſteiger, oder wie ſie ihn jetzt heißen,
der Winkelwirt, iſt mir gut, und er iſt gegen Jeden
gut; ganz Winkelſteg hat an ihm einen Freund.
Aber ſeine alte Krankheit will ſich wiederum melden.
Wenn ihn zuweilen etwas erregt, ſo muß er gar
ſehr mit ſich kämpfen. Ich hab geſagt, er ſollt’
wieder anheben mit den Roſenkranzkügelchen, thäten
aber vielleicht nicht mehr viel helfen; es iſt große
Gefahr vorhanden, daß er in’s Trinken kommt.
Der ging’ zu Grund’, wenn er nicht eine ſo brave
Frau hätt’. Die Juliana weiß mit ihm umzugehen,
ihr zu Lieb’ leidet er den bitterſten Durſt.


Der Branntweiner Schorſchl — der Hannes
iſt ſchon todt — wirft mir dann und wann die
Fenſter ein. Er hält mich für ſeinen größten Feind,
weil ich die Kinder vor dem Branntwein warne.


Die Fenſter verklebe ich mit Papier. Die
Kinder warne ich vor Schädlichem, ſo lang’ ich lebe.


1855.


Der Pfarrer iſt uns ausgetauſcht worden gegen
einen blutjungen. Der Blutjunge ſagt, die Seel-
ſorge ſei arg vernachläſſigt, und will das Krumme
auf einmal gerade machen. Er ordnet Betſtunden,
Buß- und Bittgänge an. Seine Predigten ſind
[426] ſcharf wie Lauge. Und es gibt ſo viele wunde
Herzen.


Seit der neue Pfarrer da iſt, bin ich in der
Schule ſchier überflüſſig geworden. Er füllt die
Stunden mit Glaubensunterricht aus.


Die Kinder haben mehr Fähigkeit, als ich je
erfahren — den ganzen Katechismus kennen ſie
auswendig.


Der Kaiſer und der Papſt ſollen miteinander ein
eigenes Geſetz für das Seligwerden herausgegeben
haben, und ſeit ewigen Zeiten iſt zu Winkelſteg
nicht ſo viel vom Teufel geſprochen worden, als jetzt.


24. Auguſt 1856.


Heute iſt öffentliche Schulprüfung geweſen.
Der Dechant von der Kreisſtadt iſt da. In Glau-
bensſachen iſt er ſehr zufrieden. Was das Uebrige
anbelangt, hat er den Kopf geſchüttelt. Beim Kom-
men hat er mich artig gegrüßt, beim Fortgehen hat
er mich kaum angeblickt.


Oft ſitze ich eine lange Weil’ da oben im
Schachen unter den alten Bäumen. Dieſer Schachen
iſt noch übrig geblieben von den großen Wäldern,
über deſſen Gründen ſich die Gemeinde breitet, als
ein in die Kette der Menſchheit eingereihtes Glied.


[427]

Ich mag unter dem Schachen ſitzen, ſo lange
ich will, kein Menſch ruft mich.


Wenn die Todten nur nicht gar ſo feſt ſchliefen!


Ich bin ein alter Späher. Meine Augen ſind
krank und müd’ und gucken doch zuweilen was aus.


Durch den Bretterzaun habe ich es geſehen,
wie der Reiter Peter das Schirmtannermädchen an
der Hand gefaßt und nicht mehr laſſen hat wollen.
Durch tauſend Geberden hat er ihr was erzählt,
das Blut iſt ihm in die Wangen geſtiegen, aber das
Mädchen hat fortweg geſagt: „Nein, Peter, nein.“


Da hat der Junge jählings die Geige bei der
Hand und ſpielt der Roſa ein Stück vor, das ich
ihm nicht gelehrt hab. Wunderſam iſt es geweſen,
wie ich es meiner Tag nimmer hätt’ gemeint, daß
der Peter ſpielen könnt’.


Ja, und ſo lang hat er’s getrieben, bis ihm
die Roſa iſt an den Hals gefallen: „Hör’ auf,
mir thut’s bitterlich weh! Peter, ich hab’ dich
ja gern!“


’s iſt ein Geſcherr mit den jungen Leuten.
Hat ſo ein Burſch’ keine Stimm’ zum Schwätzen,
ſo hebt er ſeine Liebſchaften gar mit der Geige an.


[428]

Zur Winterszeit 1857.


So ein Tagebuch iſt doch ein treuer Freund.
Was man ihm auch anvertrauen mag, es vergißt
nichts und plaudert nichts aus.


Wenn ich dieſe Schriften durchſehe, ſo kann
ich es gar nicht glauben, daß ich das Alles mit
erlebt und geſchrieben habe. Es ſind wunderliche
Geſchichten.


Ich bin doch einmal wer geweſen! Aus einem
alten Mann bin ich ein junger geworden; aus dem
jungen wieder ein alter, halbblinder, dem bei dem
Meßliede ſchon die Noten tanzen auf dem Blatt.
Die Leut’ haben mich bei Seite geſchoben . . . .


Mein Gott, Anderen geht es auch nicht beſſer.
Ich verlang’ ja nichts; ich hab mein Theil gethan
und bin’s zufrieden.


1864.


Und ſeit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr
aus dieſen Wäldern gekommen.


Und die Waldleute entſtehen, leben und ver-
gehen dahier und ſteigen in ihrem ganzen Lebens-
lauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man
die Herrlichkeit kann ſehen, und am hellen Winter-
tag das Meer.


[429]

Das Meer! wie wird es da leicht und weit
im Herzen! Dort zieht ein Kahn, ſteht ein Jüng-
ling darin, der winkt —


Heinrich! Was iſt das? —


Der Narr! Verſitzt ſeine Lebenszeit im Winkel
und hätt’ ein Schiffer werden ſollen!


Heiliger Abend 1864.


Die Laufbahn iſt kurz. Vom Winkelhüterhauſe
bis hinab zu der Kirchhofsmauer rutſchen ſie auf
ihren Brettchen und Schlittchen dahin über den
gefrornen Schnee. Und wie ſie dabei zettern und
mit leuchtenden Augen und Wangen die Sache be-
eifern! — Ich warte auf den Reiter Peter, er
kommt mit ſeiner Geige, daß wir zuſammen das
neue Krippenlied verſuchen. Einſtweilen gucke ich
den luſtigen Kindern zu und ſchreibe.


Pelzhauben haben ſie auf, die Kleinen, und
eine ganze Weile haben ſie zu trippeln und zu
ſchnaufen, bis ſie mit ihrem Fahrzeug oben an-
kommen — und unten ſind ſie in zehn Augenblicken.
Lange Müh’ und kurzer Genuß! Wird ſich aber
noch Einer ſeinen Kopf an die Mauer rennen!


[430]

Die böſe Mauer! Wie wollt’ ich auf meinem
Schlitten hingleiten über Berg und Thal, über
Länder und Wäſſer — und nimmer zurück!


Der Peter kommt. „Schlaf ſüß, ſchlaf in
heiliger Ruh,!“ Das Lied iſt ſo lieblich, und
morgen —


[431]

Das letzte Blatt.


— und morgen —


Mit dieſen Worten enden die Schriften.


Zwei lange Regentage hatte ich geleſen. Aus
dem vorigen Jahrhundert hatte ich mich durch ein
ſeltſames Leben herangeleſen bis zu dem letztver-
gangenen Weihnachtsfeſte.


— und morgen —


Der Kopf war mir heiß und ſchwer, ich blickte
nach der Thür. Der Mann muß ja hereintreten
und weiter ſchreiben, was am nächſten Morgen ge-
kommen, wie es weiter geweſen war. Denn das iſt
kein Abſchluß und kein Abſchied, das iſt ein hoffen-
der Blick in die Zukunft, ein Aufathmen, ein
Morgenſtern.


Faſt wie eine Ueberzeugung empfand ich’s:
der Schulmeiſter lebt. In der Fremde wird er
wandern und irren, der arme Mann mit der großen
Sehnſucht, die keinen Namen hat. Es iſt die Sehn-
ſucht, die wir Alle empfinden, ob ſeichter, ob tiefer,
[432] die Sehnſucht nach dem Ganzen, Allgemeinſamen,
nach dem Wahren aber Unfaßbaren, in dem unſere
drängende, ſtrebende, bangende Seele Ruhe und
Erlöſung zu finden hofft.


Mir war, als müßte ich auf und davon und
den alten, guten, kindlichen Mann ſuchen allerwege.
— Was war das für ein ſeltſames Streben und
Ringen geweſen! Ein vergebliches Aufraffen nach
den Zielen der Geſellſchaft; ein krampfhaft unter-
drücktes Auflodern jugendlicher Leidenſchaft, ein ver-
zweifeltes Hineinſtürzen in die Wirren des Lebens,
ein begeiſterter Flug durch die Welt, ein furchtbares
Erwachen aus Täuſchung, ein Fliehen in die Oeden
der Wildniß, ein ſtilles, ſtetes Wirken in Ergebung
und Aufopferung, ein großes Gelingen, eine tiefe
Befriedigung. Da naht das Alter, ein junges Volk
und neue Verhältniſſe bieten keine Gelegenheit zu
Thaten mehr; ein betrübtes Zurückziehen in ſich
ſelbſt, Verlaſſenheit und Einſamkeit, Zweifeln, Grü-
beln und Träumen und ein ſtilles Ergeben und
Verſickern. In Alter und Unbehilflichkeit und Ein-
falt iſt er ein Kind geworden; ein in Träumen
lächelndes, glückliches Kind. Aber die Sehnſucht und
das Ahnen des Jünglings iſt ihm geblieben. Und
ein großer Lohn iſt ihm geworden, ein Entgelt,
das uns mit ſeinen Schickſalen verſöhnt, ein Ent-
gelt, wie es die Welt nimmer gibt und geben kann,
[433] wie es nur aus treuer Erfüllung des Lebens ent-
ſteht: der Frieden der Seele.


Die Wachtel der Uhr ſchlug achtmal. Ich ver-
ſchloß die Blätter ſorgſam in die Lade und ging
hinab gegen das Wirtshaus. Es dunkelte ſchon;
eine froſtige Trübe lag allerwärts und eine ſcharfe
Luft ſtrich durch den feinrieſelnden Regen.


Der Lazarus ſtand vor der Hausthür, wendete
ſein Geſicht nach allen Himmelsgegenden und ſagte:
„’s wird anders werden.“ Er ſagte es zu ſich
ſelbſt. Er hatte gewiß keine Ahnung, daß der junge,
fremde Menſch, der ihm nun nahte, ſeine ganze
Geſchichte wiſſe.


Der Wirt war an demſelben Abend recht red-
ſelig, aber ich war ſchweigſam und begab mich bald
wieder in mein Schulhaus zur Ruhe.


Wie ſah ich nun Alles ganz anders an, als
vor zwei Tagen. Völlig daheim war ich in dieſem
Alpendörfchen, in welchem ich gleichſam in dem
Schulmeiſter jung geweſen und alt geworden.


Und der Mann, der die Gemeinde gegründet
und großgezogen mit ſeinem Lebensmark, ſollte
fremd ſein und vergeſſen?


Nein, er iſt überall zu verſpüren. Unſichtbar
ſteigt er in Winkelſteg herum Tag und Nacht,
zu jeder Stund’! — hatte der Kohlenbrenner
geſagt.


Roſegger: Waldſchulmeiſter. 28
[434]

Der nächſte Morgen war ſo hell, daß er mir
durch das geſchloſſene Augenlid drang. Als ich es
öffnete, ſah ich einen lichten, klaren Wintertag.


Ich ſprang auf. Es hatte geſchneit; die weiße
Hülle lag über dem ganzen Thale, auf allen Dä-
chern und Bäumen. Der Himmel war rein.


Bald war ich gerüſtet zu meiner Alpen-
fahrt.


„Heut wol!“ ſagte die Wirtin, „heut iſt es
fein auf der Höh’, wenn dem Herrn der Schnee
nicht irrt. Wer Geduld hat, ſag’ ich fort, der er-
wartet Alles auf der Welt, gar ein ſchön’ Wetter
in Winkelſteg. Mitnehmen muß der Herr halt
wen.“ Dann zu ihrem Manne: „Du, leicht will
ſich der Reiter Peter einen feinen Führerlohn ver-
dienen?“


„Der Reiter Peter,“ ſage ich, „der iſt mir
ſchon recht; das Schwätzen unterwegs iſt mir ohne-
hin zuwider.“


„Ei, der Herr weiß es ſchon, daß der Peter
nicht ſchwätzt; ja, der iſt fein ſtill, hat er die Gei-
gen nicht bei ſich.“


Der Peter war jener ſtumme, junge Mann,
der mir vor zwei Tagen nach der Meſſe an der
Kirchthür begegnete. So ſtieg ich denn mit dem
Taufpathen des Schulmeiſters, mit allem Nöthigen
wol verſorgt, das Gebirge hinan.


[435]

Der Schnee war weich und leuchtete in der
Morgenſonne. Bald ſtanden die niedergedrückten
Pflanzen und Blumen wieder auf, und die Vögel
ſangen und hüpften in dem Geäſte und ſchüttelten
das Geflocke von den Bäumen. Friſch und neu-
lebendig grünte es zwiſchen dem roſigangehauchten
Weiß, und in einer großen Klarheit lagen die
Waldberge. Es war in einer wunderſamen Weiſe
der Sommer vermählt mit dem Winter.


Wir gingen an dem Schachen des Friedhofes
vorüber; der Peter zog ſeinen Hut vom Kopfe und
trug ihn ſo lange in der Hand, bis wir an dem
Gottesacker vorbei waren. Die alten Bäume floch-
ten hoch über den wenigen Gräbern die Aeſte und
Kronen ſo in einander, daß es war, wie in einem
gothiſchen Dome. Wol legte ſich über den Wipfeln
der Schneeſchleier hin, im Schatten auf den Grä-
bern aber prangte friſches Gras und Moosgeflechte,
und darüber ragten und lehnten an den Stämmen,
oder lagen verwahrloſt hingeſtreckt die grauen, bild-
und inſchriftloſen Holzkreuze.


Ich wollte mir die Ruheſtätte des Vater Paul
und des Reim-Rüppel zeigen laſſen. Der Peter ſah
mich fragend an; davon wußte der junge Mann nichts.


Später kamen wir auf einen Bergſattel.


„Wir ſind auf der Lauterhöhe?“ frug ich
meinen ſtillen Gefährten. Er nickte bejahend mit
28*
[436] dem Kopfe. Ich dachte an den zerſtörten Ameis-
haufen, an das Rind, das den Alpenſtrauß fraß,
an die Schirmtannen da hinten, an den Schirm-
tanner, und plötzlich frug ich den Peter: „Die
Schirmtanner-Roſel, die kennſt du?“


Er wurde roth wie eine Alpenroſe.


Von dieſem Bergſattel aus hatte ſich gegen
Mitternacht hin eine ganz neue Gegend aufgethan;
Thäler und Waldberge zogen ſich in tiefer Klar-
heit hin; links erhoben ſich Felswände, die weit
über die Wälder weg einen ſchründig durchbro-
chenen Wall bildeten. In dieſer Richtung hin
dachte ich mir die Gegenden der Lautergräben,
Karwäſſer, der Wolfsgrube und des Felſenthales.


Der Weg führte thalab, wir aber bogen links
ein und ſtiegen durch Fichtenwald, Zirmgeſträuche
immer höher empor bis zu den Almenblößen, die
ſich hinanziehen gegen die hochragenden Fels-
maſſen.


Die Schneehülle war hier zwar etwas dichter
und ſpröder, hinderte aber nicht ſonderlich im Wan-
dern. Ein paar Hütten ſtanden da, aus deren Dach-
fugen Rauch hervordrang und in deren Ställen die
Rinder ſchellten. Dieſe mußten heute Heu freſſen,
aber nach dem Schnee ſollen gute, warme Tage
kommen. In welchem Fenſter dieſer Hütten wol
der Meiſterknecht Paul geſteckt ſein mochte?


[437]

Wir ſchritten weiter; bald merkte ich, daß
mein Begleiter ſelbſt den Weg nicht kenne. Wir
gingen den Felſen zu, ſtiegen an den Mulden
empor, wie ich mich erinnerte, daß der Schulmeiſter
gegangen war, und endlich kamen wir auf das
Grat.


Das Bild war unvergleichlich. Der Schulmeiſter
hat es geſchildert.


Wir gingen dem Grat entlang; ruhten dann
ein wenig, um uns mit Brot und Fleiſch zu
laben und die Steigeiſen an die Füße zu ſchnallen.
Hierauf gingen wir langſam über das Gletſcherfeld
hinan gegen den Kegel.


Die Luft war außerdentlich rein und ruhig
und faſt kalt; ich empfand in mir eine Friſche und
ein Wohlbehagen zum Aufjauchzen. Je näher wir
der Spitze kamen, deſto behender förderten wir
unſere Schritte; auch der Peter war luſtig ge-
worden.


Nun waren wir oben, ſtanden auf der Spitze
des Zahn. Mir war zu Muthe, als wäre ich
ſchon früher mehrmals auf dieſer Höhe geweſen.
Um uns lag in einer unendlichen Runde — wie
der Schulmeiſter ſagt — die Krone der Alpen.


Selbſt dort über den weiten Wäldern, im
ſonnendurchwobenen Mittag ragten die Kanten und
Spitzen eines neuen Gebirgszuges noch deutlich und
[438] darüber hinaus, ſchnurgerade hingezogen lag ein
ſchimmerndes Band — das Meer!


Mir war zu Muthe, als müßte ich fortraſen
hinab von Fels zu Fels und hin über Berg und
Thal, den Schulmeiſter zu ſuchen, ihm zuzurufen:
„Kommet und ſehet das Meer!“


In lauter Begeiſterung und in ſtiller Ver-
ſunkenheit habe ich wol lange hinausgeſtarrt. Dann
ſtiegen wir einige Schritte niederwärts unter den
Steinvorſprung, an welchem der Mann vor fünfzig
Jahren geſeſſen war und geträumt hatte.


Hier ſchien die Sonne gar mild und von
einigen Steinklötzen war der Schnee bereits weg-
geſchmolzen. Wir ſetzten uns auf ſolche trockene
Klötze und hielten Mahlzeit. Der Peter ſpielte
mit ſeinem Stock im Schnee; er zeichnete Buch-
ſtaben hin; ich meinte, er wolle mir etwa ſeine
Gedanken und Empfindungen anfſchreiben. Aber er
zerſtörte die Zeichen wieder und es war nur loſes
Spiel.


Mein Auge ſchweifte hinaus, flog von einem
Berg zum andern, bis zu den fernſten, italiſchen
Höhen. Es glitt hin auf den ſonnigen Fluthen, es
trank vom Meere. Ueber den Waſſern ſah ich das
Lichtwogen der mittägigen Sonne. Ein blauer
Schatten ſenkte ſich vor meinem Auge, Sternchen
ſtiegen auf und nieder . . . .


[439]

Plötzlich gellte neben mir ein wilder Schrei.
Der Burſche war emporgeſprungen und wies mit
beiden Händen gegen den hügeligen Schneeboden hin.


Ich forſchte nach der Urſache, da waren
Buchſtabenzeichen, da war aufgewühlter Flaum,
da war —


Es war grauenhaft zu ſehen. Von der Schnee-
hülle halb bloßgelegt ſtarrte ein Menſchenhaupt hervor.


Nur wenige Augenblicke war der Burſche
ſchreckerſtarrt, thatlos dageſtanden; dann eilte er,
die grauenvolle Erſcheinung von der Schneehülle
vollends zu befreien. Mit Fieberhaſt arbeitete er,
und als ein ganzer Menſchenkörper dalag, da ächzte
er kläglich, verbarg ſein Geſicht, ſank mir in die
Arme und wimmerte.


Da lag ein alter Mann, gerollt in einen
braunen Mantel, die Züge fahl und eingetrocknet,
die tiefliegenden Augen geſchloſſen, die wenigen
Locken des Hauptes wirr und weiß wie der Schnee.


Wie mir in dieſer Stunde war, das iſt un-
beſchreiblich.


„Kennſt du ihn?“ frug ich den Burſchen.


Er neigte traurig den Kopf.


„Iſt es der Schulmeiſter?“ rief ich aus.


Der Peter neigte das Haupt. —


Als wir endlich einige Faſſung gewonnen
hatten, huben wir an, den Todten näher zu be-
[440] trachten. Er war ſorgſam in den Mantel geſchlagen,
an die Schuhe waren Steigeiſen geſchnallt, daneben
lag ein Bergſtock. In dem halboffenen Ledertäſchchen
fanden ſich einige verdorrte Brotkrummen und ein
zuſammengerolltes Stück Papier. Nach dieſem griff
ich und zog es auseinander. Da ſtanden Worte,
Worte in ſchiefen, regelloſen Zeilen, mit Bleiſtift
unſicher hingedrückt.


Die Worte ſind leſerlich und lauten:


„Chriſttag. Ich habe bei Sonnenuntergang
das Meer geſehen und das Augenlicht ver-
loren.“ — — —


So hatte er ſein Ziel geſchaut. Als Erblin-
deter hatte er das Blatt beſchrieben, das letzte
Blatt zu ſeinen Schriften. Dann hatte er ſich wol
hingelegt auf den Steinboden, hatte die eiſige Win-
ternacht erwartet und war in derſelben geſtorben.


Wir bauten aus Steinen einen Wall um den
Todten und wölbten ihn nothdürftig ein. Dann
ſtiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren
Weg über Mieſenbach nach Winkelſteg.


Des andern Morgens zur frühen Stunde
ſtiegen ihrer Viele empor gegen den grauen Zahn,
und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war
auch dabei, der wußte Vieles von dem Schulmeiſter
zu erzählen und ſeine Worte ſtimmten mit den
Schriften überein.


[441]

Und ſo trugen wir den alten Andreas Erd-
mann, der in der trockenen, kalten Alpenluft faſt
zur Mumie vertrocknet war, herab in das Thal der
Winkel zur Pfarrkirche, die unter ſeinem Walten
erbaut worden war; trugen ihn auf den Friedhof,
den er ſelbſt angelegt hatte im Schatten des
Waldes.


Die Nachricht, der alte Schulmeiſter ſei auf-
gefunden worden, hatte ſich bald verbreitet in den
Winkelwäldern, und Alles ſtrömte herbei zum Be-
gräbniſſe, und Alles pries den guten, braven Mann.
Der Winkelwirt weinte wie ein Kind. „Der hat
meinen verlaſſenen Vater geſegnet auf dem Tod-
bett!“ rief er. Den Peter mußte der Schirmtanner
von der Bahre hinwegführen.


Der Förſter vom Herrenhaus war da. Ganz
in der Nähe des Grabes wuchs eine Waldlilie.


Der Branntweiner Schorſchl hielt Einigen,
die am Friedhofseingange ſtanden, eine Rede; er
habe nichts, gar nichts gegen den Schulmeiſter ge-
habt, doch der Schulmeiſter ſei eigenſinnig geweſen.
Das Eine ſei zu bedenken: hätte der Schulmeiſter
ein Fläſchchen Wachholderbranntwein bei ſich ge-
habt, er wäre nicht erfroren.


Zur Abendſtunde unter Fackelſchein iſt der
gute, alte Mann in die Erde geſenkt worden.


[442]

Die Schriften, zu denen ich in ſo eigenthüm-
licher Weiſe gekommen bin, habe ich mir von der
Gemeinde Winkelſteg erbeten, auf daß ich ſie der
Oeffentlichkeit übergebe, als Zeugenſchaft von einem
armen, reichen, fruchtbaren und ſelbſtloſen Leben in
der Verborgenheit des Waldes.


In tiefſter Bewegung habe ich das letzte Blatt
mit den Bleiſtiftworten zu den Schriften gelegt.
Schlage nach, mein Leſer, es wird dir ein ſeltſamer
Umſtand nicht entgehen: Das erſte Blatt iſt von
einem Kinde an das Jenſeits gerichtet. Und von
demſelben Kinde wird nach der Erfüllung der
Zeit das letzte Blatt gleichſam aus dem Jenſeits
herübergeſandt, uns Ringenden auf Erden als des
Vermächtniſſes Siegel mit der Inſchrift:


Entſagung und Ergebung!


(Des dritten und letzten Theiles Ende.)

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Appendix B

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Notes
*)
Während dieſes Werk bereits unter der Preſſe,
wurde in der Ortſchaft Winkelſteg die mit Bleiſtift
allerdings mangelhaft gezeichnete Karte aufgefunden.
Ich ließ die Zeichnung mit ein paar vervollſtändigenden
Zuthaten verſehen vervielfältigen und lege ſie dem
Buche bei.
Der Herausgeber.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Rosegger, Peter. Die Schriften des Waldschulmeisters. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnp3.0