[][][][][][][[1]]
Kritiſche Waͤlder.


Oder
Betrachtungen
uͤber die
Wiſſenſchaft und Kunſt
des Schoͤnen.

[figure]

Zweites Waͤldchen

uͤber einige Klotziſche Schriften.


1769.

[[2]][[3]]

Analytiſcher Jnhalt.



  • I.Ueber Hrn. Klotz homeriſche Briefe.
    • 1. Warum es nicht ſo leicht ſey, in unſrer Zeit Homer, in
      Abſicht auf ſeine Sprache und ſeine Menſchen, zu be-
      urtheilen? Ob Homer das Maaß des menſchlichen Gei-
      ſtes? und ob es aus ſeinem Zeitalter wahrſcheinlich ſey,
      daß er das Laͤcherliche affektiren wollen?
    • 2. Hrn. Klotzens Tadel auf Homer iſt laͤngſt bekannt, und
      kein Tadel. Ekphraſe der Epifode Vulkans, zum Be-
      weiſe, daß er kein Poſſenreißer ſeyn wolle.
    • 3. Ein Blick auf Therſites und Jrus in Homer. Rettung
      des Lope di Vega und Milton, in Abſicht auf ihre Lach-
      ſucht. Kann eine epiſche Hauptperſon laͤcherlich ſeyn?
      Nein! Rettung des Homeriſchen Ulyſſes. Darf ſie la-
      chen? Warum nicht?
    • 4. Unterſchiede, die Hr. Klotz uͤberſehen. An ſich iſt laͤ-
      cherlich und belachenswerth; Haupt - und Nebenperſo-
      nen; die Theile eines Gedichts, und das Ganze; eine
      ſich in andre aufloͤſende Empfindung, und das Hauptge-
      fuͤhl der Epopee, nicht einerlei.
    • 5. Kann man Mythologie in Religionsgebichte miſchen?
      Zuerſt: merkliche Schwierigkeiten in der lateiniſchen
      Sprache. Zeiten und Laͤnder unterſcheiden noch mehr.
      Sonderbarkeit der Dichter, die in Jtalien bei Wieder-
      A 2auſle-
      [[4]] auflebung der Wiſſenſchaften ſangen. Der poetiſche Ge-
      brauch der Mythologie muß alles entſcheiden. Rettung
      der Mythologie in Milton.
    • 6. Einfchraͤnkung und Auseinanderſetzung der ganzen Ma-
      terie. Poetiſche Grenzen der Mythologie in Religions-
      gedichten. Ob ein geiſtlicher Dichter der Dogmatik zu
      gut ſchreibe?
    • 7. Proben der großen Wirkung heidniſcher Jdeen in
      Gedichten unſrer Religion. Pruͤfung der neuen Vor-
      ſchlaͤge, auf was Art die Mythologie fuͤr unſre Reli-
      gion zu brauchen ſey?
    • 8. Und fuͤr unſre Kunſt. Ueber die Stralen, die Fluͤgel,
      und den Donnerſtral in der Kunſtvorſtellung unſres Got-
      tes. Pruͤfung der Vorſchlaͤge hieruͤber nach Alterthums-
      und Religionsbegriffen. Jſts was Unerhoͤrtes, daß
      chriſtliche Dichter Gott auf einem Donnerwagen
      ſchildern?
    • 9. Von der Mythologie in Profangedichten unſrer Zeit.
      Ob ſie durch Entdeckungen der Naturlehre, und der
      Geographie, oder gar durch Allegorie erſetzt werde?
      Ueber Ramlers Liebe zur poetiſchen Allegorie.
    • 10. Kritik uͤber den Reſt, und Urtheil uͤber das Ganze der
      homeriſche Briefe.
  • II.Ueber die Schamhaftigkeit Virgils.
    • 1. Jſt die Keuſchheitsviſitation eines Dichters der poetiſche
      Zweck deſſelben? Muß man die bona fama eines Poe-
      ten,
      [[5]] ten nach ſeinen Verſen beurtheilen? Ungereimthei-
      ten hieraus, und ein Wint auf die wahre Grenzſchei-
      dung daruber.
    • 2. Grund der Schamhaftigkeit in der menſchlichen Natur.
      Das das κακοφατον ein ſchlechter Zeuge derſelben ſey.
      Rettung der homeriſchen Epiſode des Paris.
    • 3. Unterſuchung der mancherlei Schambegriffe, bei der Lie-
      be, bei dem Nackenden, bei geſellſchaftlichen Ehrbarkei-
      ten. Unterſchied zwiſchen der natuͤrlichen, geſellſchaftli-
      chen und moraliſchen Schamhaftigkeit.
    • 4. Unterſchied dieſer Empfindungen bei verſchiednen Na-
      tionen, Morgenlaͤndern, Griechen und Roͤmern gezei-
      get. Rettung der griechiſchen Freiheiten hierinn.
    • 5. Darlegung des Plans im ganzen Klotziſchen libello. Voll
      Allgemeinoͤrter, ohne philoſophiſche Beſtimmung,
      ohne nationelle Unterſcheidung.
    • 6. Und ohne charakteriſtiſche Beleuchtung Virgils. Wie
      ungewiß ihn Hr. Kl. rette, und wie unpaſſend mit Ho-
      mer vergleiche?
    • 7. Ueber die perſoͤnliche Schamhaftigkeit Virgils. Ob,
      und wie ſie gerettet werden koͤnne? Abhoͤrung des Do-
      natus, Servius, Martialis und Apulejus daruͤber. Lob,
      der heiniſchen Ausgabe Virgils.

A 3III.Ueber
[[6]]
  • III.Ueber einige horaziſche Rettungen
    und Erlaͤuterungen.

    • 1. Seltne Art Hrn. Klotzens, mit Harduin Krieg zu fuͤh-
      ren. Wie Harduin wiederlegt werden ſollte?
    • 2. Vom Klotziſchen Commentar uͤber Horaz. Wie ſehr er
      den Ton der horaziſchen Poeſie verfehle? an der erſten
      Ode Horaz gezeigt. Auch andre haben den Ton dieſer
      Ode nicht getroffen. Von dem poetiſchen Wortbaue
      des Choriamben.
    • 3. Auch aus dem Tone der zweiten Ode erlaͤutert uns Hr.
      Klotz ſicher weg. Pruͤfung einiger andrer ſo genannter
      neuer Erlaͤuterungen Horazens.
    • 4. Wie wenig Hr. Kl. bisher zum horaziſchen Geſchmacke
      beigetragen? Zweifel gegen die Erlaͤuterungsmethode Ho-
      razens, nach Batteur Manier. Wie ſehr dieſe die ho-
      raziſche Ode zerſtuͤcke und zerlege? Klotzens Begriff
      von den Digreſſionen, und dem Charakter Pindars.
    • 5. Ueber die Parallelenmacherei bei einem Dichter. Ueber
      den Gemmengeſchmack bei Leſung deſſelben. Ueber den
      Misbrauch gelehrter Commentare. Geßners ſchaͤtzbares
      Zeugniß daruͤber.
    • 6. Meine Art, Horaz und neue Horaze zu leſen.
    • 7. Nachſchrift und Enderklaͤrung.

[[7]]

Zweites Waͤldchen
uͤber einige Klotziſche Schriften.



1.


Jch habe mich anheiſchig gemacht, auf
mehrere klotziſche Anmerkungen
uͤber Homer
zu merken, und ich muß
mein Wort erfuͤllen. Der Tadel ſowohl, als das
Lob, das auf den Erſten der Dichter faͤllt, trifft
auf den Mittelpunkt der griechiſchen Litteratur, und
hat immer auch auf entferntere Punkte im Kreiſe
der Gelehrſamkeit einen Einfluß. Es wird alſo
lohnen, mit den homeriſchen Briefena) in der
Hand ein Luſtwaͤldchen der alten griechiſchen Mu-
ſen zu beſuchen.


Wie muß ich mich aber durch ſuͤße Freund-
ſchaftsbezeigungen, und lange Vorbereitungen durch-
A 4winden
[8]Kritiſche Waͤlder.
winden und durchdraͤngen a), um nur erſt auf eine
Materie zu kommen. Hr. Klotz irret in dieſen
Briefen ſo herum, daß ſeine Muſe wohl nichts min-
der, als eine Schweſter der homeriſchen Muſe, ſeyn
kann, die ſtatt vom trojaniſchen Kriege, und vom
Ey der Leda anzufangen, lieber gleich mitten in die
Handlung hinein greift — μηνιν αειδε ϑεα,
κ. τ. λ. — Der homeriſche Briefſteller nimmt
ſich zu erſt recht ſehr Zeit, ſeinen Freund und Goͤn-
ner zu umarmen b), die ſehr mittelmaͤßigen Verſe
deſſelben, die von ganz Deutſchland fuͤr mittelmaͤ-
ßig erkannt ſind, himmelhoch zu erheben c), uns
auf dem Landgute deſſelben d) (wie Boileau von
gewiſſen Wortmalern ſagt) von Terraſſe zu Terraſſe
zu fuͤhren, das Landleben e), und die unehelichen
Kinder f) zu loben, uͤber die Haͤrte der Regina Pe-
cunia g), und uͤber die Undankbarkeit unſers Jahr-
hunderts gegen Poeten h) zu klagen, einen großen Mi-
niſter, der faſt durch ein ſolches Lob erniedrigt
wird, deßwegeni) zu ruͤhmen, weil er ihm erlaubt,
auf dem Lande einige Zeit zuzubringen. Er faͤhrt
fort, alle ſelige Vergnuͤgungen daſelbſt k) uns lieb-
koſend vorzuzeigen: die Buͤcher, die er mit ſich ge-
nommen, und endlich l) — „Wie aber die Dich-
„ter
[9]Zweites Waͤldchen.
„ter vom Zevs, ſo will ich vom Homer be-
„ginnen.„


Noch ſind wir nicht in der Materie. Hr. Kl.
zeigt erſt, daß er mit ſeinem homeriſchen Tadel nicht
zu ungelehrten Veraͤchtern Homers gehoͤre a), daß
niemand in der Welt die alten Schriftſteller mit
mehr Bewunderung und Entzuͤcken leſe, als er,
daß Homer bei allen dieſen Fehlern, die Hr. Klotz
ihm zeigen will, noch immer groß bleibe b), daß
— und dies alles in ſo erregendem Tone, mit ſo
viel, ob gleich laͤngſt bekannten, Beiſpielen und
Allgemeinſaͤtzen, daß man keinen andern, als jenen
eykliſchen Dichter c) lieſt, und jedes Blatt mit der
bewundernden Frage umſchlaͤgt: was will aus dem
Maͤnnlein werden? Was hat dieſer große Mann
dem fehlerhaften Homer Unerhoͤrtes zu zeigen, das
ſo viel Vorbereitung und Aufmerkſamkeit verdiente?


Vielleicht iſt mein Leſer ſo ungeduldig, als ich,
und auf mich unwillig, daß ich den neuen Home-
romaſtix
noch nicht ſelbſt reden laſſe; allein, wenn
Hr. Kl. zween Bogen lang vorbereitet, wie wuͤrde
es denn dem Tone meines Werks entſprechen, nicht
auch vorzubereiten? Jch muß alſo Schritt halten:
ſonſt kommen wir alle drei, Hr. Klotz, der Leſer
und ich aus dem Takte.


A 5Wie
[10]Kritiſche Waͤlder

Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta-
deln?
ich meyne ſo leicht fuͤr uns, in unſrer Zeit,
Denkart und Sprache? Es ſollte ſcheinen. Denn
ſind wir nicht in Gelehrſamkeit und Wiſſenſchaft,
und Stuffe der Cultur ungleich hoͤher, als das Zeit-
alter Homers? Jſt die Welt nicht drei tauſend Jahr
aͤlter, und alſo auch vielleicht drei tauſendmal erfahr-
ner und kluͤger geworden? Kniet alſo nicht der Alt-
vater Homer vor dem Geſchmacke und Urtheile un-
ſers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des juͤngſten
Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorſitzer
und geheimen Rathe deſſelben? Jch ſollte faſt glau-
ben! oder beinahe nicht glauben: denn unſer Jahr-
hundert mag in allem, was Gelehrſamkeit heißt,
ſo hoch gekommen ſeyn, als es will und iſt; ſo iſts
doch in allem, was zur poetiſchen Beurtheilung
Homers
gehoͤrt, nicht hoͤher; ja ich behaupte, daß
es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die
Homers Zeitgenoſſen, oder wenigſtens Landsleute
und Bruͤder einer Sprache mit ihm waren, weit
hinten nach ſey. Wir ſind nicht nur nicht hoͤher hin-
auf, wir ſind gewiſſer maßen aus der Welt
hinaus
geruͤckt, in der Homer dichtete, ſchilderte
und ſang.


Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang;
da dieſelbe noch blos in dem Munde der artikulirt
ſprechenden Menſchen, wie er ſie nennet, lebte, noch
keine Buͤcher, noch keine grammatiſche, und am
wenig-
[11]Zweites Waͤldchen.
wenigſten eine wiſſenſchaftliche Sprache war. Er
bequemte ſich alſo den Artikulationen der Zunge ſei-
ner Menſchen, den Beugungen, und dem Wortge-
brauche der lebenden Welt, in aller Unſchuld und
Einfalt ſeines Zeitalters. Wer kann ihn nun hoͤ-
ren, als ob er ſpraͤche? Tauſend Woͤrter haben ih-
ren Sinn allmaͤlich umwandeln, oder ſich in ihrem
Gebrauche ſeitwaͤrts biegen und verfeinern muͤſſen.
Muͤſſen,
ohne daß es jemand wollte, und bemerk-
te; denn der Geiſt der Geiſt der Zeit veraͤnderte ſich. Man
behielt immer das Wort, man glaubte auch im-
mer, denſelben Begriff zu haben; denn in der ge-
meinen Sprache des Umganges wechſelt man klare,
und nicht deutliche Jdeen: und doch ſo, wie ſich Le-
bensart, und der Geiſt des Jahrhunderts aͤnderte,
ſo hatte ſich auch der inwohnende Geiſt vieler Woͤr-
ter veraͤndert. Sehr ſpaͤt endlich ward die Spra-
che wiſſenſchaftlich. Der Woͤrterſammler, der die Be-
griffe aus einander ſetzen, deutlich machen ſollte,
fand einige vielleicht ſchon gar nicht in ſeiner leben-
den Sprache; er mußte rathen, und die Muſe ge-
be, daß er unter hunderten nur einmal uͤbel gerathen
haͤtte. Bei einem andern definirte er nach dem Be-
griffe ſeiner Zeit: wie aber, wenn dieſer blos ein
juͤngerer, ein abſtammender Begriff geweſen waͤre?
Bei einem dritten nahm er vielleicht gar nur eine
verfeinernde Bedeutung des Philoſophen, eine Ne-
benbeſtimmung dieſer und jener Schule, Provinz,
Sekte,
[12]Kritiſche Waͤlder.
Sekte, Menſchengattung, und trug ſie ein. Nun
komme nach drei tauſend Jahren ein Menſch aus ei-
ner fremden Sprache, aus einer ganz andern Welt,
urtheile und richte, und maͤckle Woͤrter, ſicherer wuͤr-
de er die Buͤcher der cumaͤiſchen Sybille in Ord-
nung bringen!


Wer mir nicht glaubt, leſe hieruͤber die Vorre-
de des arbeitſamen Johnſons zu ſeinem engliſchen
Woͤrterbuche, und er wird vor einer Kritik zittern,
die ihn drei tauſend Jahre zuruͤck, in einen ſo fruͤ-
hen Zeitpunkt der griechiſchen Sprache, als in wel-
chem der Dichter ihrer Jugend Homer ſang, wer-
fen will. Wenn ſchon zur Zeit Ariſtoteles gebohr-
ne Griechen uͤber einzelne Woͤrter Homers zweifel-
haft waren: werden wir alsdenn nicht weit oͤfter,
wenn es inſonderheit auf Wuͤrde der Woͤrter an-
kommt, in der Sprache des ehrlichen Sancho Pan-
ſa ſagen muͤſſen: Gott weiß, wie Homer haͤtte dichten
ſollen. Jch rede nicht von dem Sinne deſſelben,
ſondern von dem Gefuͤhle ſeiner epiſchen Wuͤrde in
der Sprache: und zum Behufe des letztern reichen
die vielen Huͤlfsmittel unter den Griechen ſelbſt da
zu, Homer beurtheilen zu wollen?


Jch gebe ein Beiſpiel, das ich brauchen wer-
de. Das Wort γελοιιον hieß in den Zeiten der al-
ten griechiſchen Einfalt, uͤberhaupt, was Freude,
was Lachen erwecket, ohne daß dies Lachen der Freu-
de noch ein Gelaͤchter des Spottes ſeyn dorfte. Das
γελοι-
[13]Zweites Waͤldchen.
γελοιον in einem Menſchen war der Charakter ei-
nes ſuͤßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer
Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An-
nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieſer un-
ſchuldigen Einfalt abwichen; deſto mehr wurde der
Begriff des „Laͤcherlichen„ daraus. Das γελοιον
in einem menſchlichen Charakter ward das „Pic-
„quante des Witzlinges„ und endlich ganz die Nar-
renkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Auf-
tritte ward „das Laͤcherliche, und endlich das Bela-
„chenswuͤrdige.„ Welche Umwandlung von Jde-
en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt
das γελοιον allemal fuͤr eine Poſſenreißerei nehmen
will, weil etwa in der lateiniſchen Ueberſetzung „ri-
„diculum„
ſteht, und darnach einen Menſchencha-
rakter in Homer laͤngelang beurtheilen, und tadeln,
und verdammen wollte, der koͤnnte freilich ſein Woͤr-
terbuch, und ſeine Ueberſetzung, und die Meinung
einiger alten Grammatiker auf ſeiner Seite haben,
nicht aber darum auch den urſpruͤnglichen Homer.
Ueber den muß man nicht aus Ueberſetzung und
Woͤrterbuche, ſondern aus dem lebendigen Gebrau-
che ſeiner Zeit urtheilen, oder das ſicherſte Wort
waͤhlen: ουκ οιδα!


Zweitens. Wenn die todte, die koͤrperliche Na-
tur, die Homer malet, ſich ſeit ihm ſchon ſehr ver-
aͤndert hat, wie viel mehr die Natur der Menſchen,
die Manier der Charaktere, die Nuͤancen, in denen
ſich
[14]Kritiſche Waͤlder.
ſich Leidenſchaften aͤußern! Eine griechiſche Seele
war gewiß von andrer Geſtalt und Bauart, als ei-
ne Seele, die unſre Zeit bildet. Wie verſchieden
die Eindruͤcke der Erziehung, die Triebfedern des
Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung
des Lebens, der Anſtrich des Umganges! Wie ver-
ſchieden alſo das Urtheil uͤber die Wuͤrde der Menſch-
heit, uͤber die Beſchaffenheit des Patrioten, uͤber
die Natur der Goͤtter, uͤber die Erlaubniſſe des Ver-
gnuͤgens, uͤber Anſtand und Zucht — wie
verſchieden damals und jetzt! So weit Athen von
Berlin, ſo weit muͤſſen ſich die Jugendeindruͤcke
Homers hieruͤber von dem Urtheile eines ſeiner heu-
tigen Kunſtrichter entfernen. Wer die Geſchichte
des menſchlichen Geiſtes in allen Zwiſchenzeiten
zwiſchen Homer und uns kennet, wer den Umwand-
lungen und Vermiſchungen der Begriffe von
menſchlicher Natur, Religion, Gelehrſamkeit, buͤr-
gerlichem Jntereſſe, Sittſamkeit und Wohlſtande
in allen dieſen Zeiten nachgeſpuͤret, wer Augen hat,
um den Ort zu ſehen, auf welchen ihn die zuſam-
men geſetzten Kraͤfte ſo vieler Zwiſchenjahrhunderte
geworfen haben, der wird in allem, was Charakter
einer Menſchenſeele iſt, ungemein ruͤckhaltend ſeyn.
Er wird Homer, den Schoͤpfer menſchlicher Charak-
tere, ſtudiren; er wird in den Zeiten deſſelben nach
der damaligen Geſtalt dieſer ſo wichtigen Be-
griffe
[15]Zweites Waͤldchen.
griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin-
ſtern urtheilen? Kaum!


Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie-
lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt-
ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen
unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra-
gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach
den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel-
chen er ſich denn haͤtte richten ſollen a)?


Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit
vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er
ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be-
griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl-
ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn
dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig-
keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed-
le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne
Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch
alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.


Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude:
Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun-
gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der
Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines
Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach
dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach
ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho-
mer, und anders konnte er nicht ſingen — Ein
Bar-
[16]Kritiſche Waͤlder.
Barde voriger Zeiten fuͤr ſeine Zeit. Wer
ſich in dieſe zuruͤck ſetzen kann, in Erziehung und Sit-
ten, und Leidenſchaften und Charaktere, und Spra-
che und Religion — fuͤr den ſingt Homer, fuͤr
keinen andern.


Es iſt laͤcherlich, vom Homer fodern, daß er
ſich nach den Sitten einer kuͤnftigen Zeit haͤtte rich-
ten ſollen. Dazu gehoͤrt Gabe der Weiſſagung,
und noch was mehr, die Gabe unmoͤgliche Dinge
zu thun. Wenn wir fodern, daß Homer fuͤr unſre
Zeit und Denkart haͤtte ſchreiben ſollen, ſo haͤtte es
ein alter Jndianer und Perſer, der auch Homeren
in ſeiner Sprache las, fodern koͤnnen! So auch ein
ſcholaſtiſcher Moͤnch des funfzehenten Jahrhun-
derts, wenn er uͤber Homer kam! ſo auch ein hot-
tentottiſcher Kunſtrichter, wenn einmal der Genius
der Wiſſenſchaften Europa verlaſſen, und mit Ho-
meren in der Hand nach dem Vorgebirge der guten
Hoffnung ziehen wird! ſo auch ein jeder Thor von
Einſiedler, der auf einer Saͤule, wie Simon der
Stylite, alt und grau wurde! Alle werden als-
denn im vereinigtem Chore mit unſerm lateiniſchen
Perrault anſtimmen koͤnnen a): Homerum dormi-
taſſe aliquoties, apparet. Quod iis in locis in-
primis patere exiſtimo, ubi ‒ ‒ ‒ Tuæ ætatis mo-
ribus inſeruit nondum politis ſatis, \& cum ſim-
plicitate ruſticum aliquid \& aſperum habentibus.

Und
[17]Zweites Waͤldchen.
Und was wuͤrde aus Homer, wenn er ſich nach je-
dem Kunſtrichter haͤtte richten wollen?


Nein! mein Homer ſoll ſich nicht nach mei-
nem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des ſeini-
gen moͤgen ſo weit abgehen, als ſie wollen. Jch bin
zu beſcheiden, ihn ſummam vim \& menſuram in-
genii humani
zu nennen a): denn wer bin ich, daß
ich die geſammten Kraͤfte der Natur waͤgen, und
das Maaß erfaſſen wollte, das die Menſur des
menſchlichen Geiſtes enthaͤlt? Wer bin ich, daß ich
die Linie ziehen koͤnnte: ſo hoch reicht Homer, und
ſo hoch kann der menſchliche Geiſt reichen! So ſehr
ich ihn, als die edle Erſtgeburt der ſchoͤnen dichteri-
ſchen Natur in Griechenland, liebe; ſo gern ich
ihn, als den Vater aller griechiſchen Dichter, vereh-
re: ſo bloͤde bin ich, ihn, als den Umfang, als das
Maaß des menſchlichen Geiſtes, zu betrachten: ſo
bloͤde, es abwaͤgen zu wollen, wie auch nur die dich-
teriſche
Natur ihre Kraͤfte in ihm erſchoͤpfet. So
lange mir Apollo nicht den Wunſch erfuͤllet, die Me-
tamorphoſen des menſchlichen Geiſtes auch in einer
ſolchen Metamorphoſe meines Geiſtes durchwan-
deln und durchleben zu koͤnnen: ſo lange ich nicht
mit
B
[18]Kritiſche Waͤlder.
mit den Ebraͤern ein Ebraͤer, mit den Arabern ein
Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den
Barden ein Barde, weſentlich, und durch eine Um-
wandlung meiner ſelbſt geworden bin, um Moſes
und Hiob, und Oſſian in ihrer Zeit und Natur zu
fuͤhlen: ſo lange zittere ich vor dem Urtheile: „Ho-
„mer iſt die hoͤchſte Maße geſammelter Kraͤfte des
„poetiſchen Geiſtes, das hoͤchſte Maaß der dichte-
„riſchen Natur.„ Und iſt ſchon bei Einer einzi-
gen Seite der Natur, und des menſchlichen Geiſtes,
als dichteriſches Genie iſt, iſt da dies Urtheil ſchon ſo
ſchwer: wie kann ich den Umfang geſammter Gei-
ſteskraͤfte, das Maaß der ganzen Menſchennatur
in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur
bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und
Demoſthenes, als Geſchoͤpfe ihrer Zeit, betrachtet,
ſich nicht mehr erſchoͤpft, als bei Homer? Wo
weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton,


— — das Ziel erſchaffner Geiſter,

dieſer bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art ge-
koſtet, als Homer in der ſeinigen? Ein ſolcher Lob-
ſpruch geht ins Ungeheure; und wenn Homer ſum-
ma vis, \& quaſi menſura ingenii humani
iſt, ſo
wird der, ſo ihn noch beurtheilen und tadeln kann,
ein voͤlliger Uebermenſch! hervorragend uͤber die
Schranken des menſchlichen Geiſtes. Da trete ich
zuruͤck, um den kritiſchen Gott anzubeten.


Jch
[19]Zweites Waͤldchen.

Jch betrachte Homer blos, als den gluͤcklich-
ſten poetiſchen Kopf ſeines Jahrhunderts, ſeiner
Nation, dem keiner von allen, die ihn nachahmen
wollten, gleich kommen konnte; aber die Anlagen
zu ſeinem gluͤcklichen Genie ſuche ich nicht außer ſei-
ner Natur, und dem Zeitalter, das ihn bildete. Je
mehr ich dieſes kennen lerne, deſto mehr lerne ich
mir Homer erklaͤren, und deſto mehr ſchwindet der
Gedanke, ihn, „als einen Dichter aller Zeiten und
„Voͤlker,„ nach dem Buͤrgerrechte meiner Zeit
und Nation, zu beurtheilen. Nur gar zu ſehr ha-
be ichs gelernt, wie weit wir in einem Zeitraume
zweier Jahrtauſende von der poetiſchen Natur ab-
gekommen, eine gleichſam buͤrgerliche Seele erhalten,
wie wenig, nach den Eindruͤcken unſrer Erziehung,
griechiſche Natur in uns wirke! wie weit Juden
und Chriſten uns umgebildet haben, um nicht aus
eingepflanzten Begriffen der Mythologie auch uͤber
Homers Goͤtter zu denken! wie weit Morgenlaͤnder,
Roͤmer, Franzoſen, Britten, Jtaliener und Deut-
ſche, wenn ich den rouſſeauſchen Ausdruck wagen
darf, unſer Gehirn von der griechiſchen Denkart
weggebildet haben moͤgen, wenn wir uͤber die Wuͤr-
de der menſchlichen Natur, uͤber Heldengroͤße, uͤber
die Ernſthaftigkeit der Epopee, uͤber Zucht und An-
ſtand denken! Wie gelehrt muß alſo ein Auge ſeyn,
um Homer ganz in der Tracht ſeines Zeitalters ſe-
hen: wie gelehrt ein Ohr, ihn in der Sprache ſeiner
B 2Na-
[20]Kritiſche Waͤlder.
Nation ſo ganz hoͤren: und wie biegſam eine See-
le, um ihn in ſeiner griechiſchen Natur durchaus
fuͤhlen zu koͤnnen. Am ſicherſten, mein Urtheil uͤber
ihn ſey nicht voreilend, damit ich ihm das nicht
fuͤr einen Fehler anrechne, was Tugend ſeiner
Zeit war.


Nun mag Hr. Kl. die unten geſetzte a) Einlei-
tung zu ſeinem homeriſchen Tadel rechtfertigen; ich
finde den einen Theil derſelben am unrechten Orte;
den andern Theil ſehr zweifelhaft. Am unrechten
Orte ſteht die Betrachtung b), daß Homer ein
Menſch ſey, Fehler habe, daß die Fehler der groͤße-
ſten Genies, eines Homer und Shakeſpear, ihrer
Groͤße nichts benehmen, u. ſ. w. Fuͤr unſern Zweck
waͤre die Betrachtung geweſen: ob Homers Fehler,
(als griechiſcher Dichter ſeiner Zeit, und nicht als
Menſch betrachtet,) von uns, und zu allererſt von
uns eingeſehen, und diktatoriſch beurtheilt werden
koͤnnen? Und ſo zweifelhaft dies: ſo ungewiß wird
mir das Folgende c): „ daß Homer ſein Gedicht
„mit nicht leichten Flecken beſudelt, weil er ſich
„entweder nach den Sitten ſeiner Zeit gerichtet,
„(das mußte er thun, und wenn ers thut, iſts kein
„Fehler,) oder weil es ſchwer faͤllt, zuruͤck zu halten,
„was dem Leſer Lachen erwecken koͤnnte, oder aus ei-
„nem Fehler ſeiner Beurtheilungskraft; kurz alſo,
„daß
[21]Zweites Waͤldchen.
„daß er ſich zu dem herab laͤßt, wovon ich, Chr.
„Ad. Kl.
achte, es ſchicke ſich fuͤr die Wuͤrde,
„und den Ernſt des epiſchen Gedichts ganz und
„gar nicht.„ Die erſte Urſache iſt unpaſſend: die
zweite ſehr unwahrſcheinlich: die dritte zweifelhaft:
und die Folge ſelbſt, wie ich zu beweiſen hoffe, falſch.


Unpaſſend die erſte Urſache: „daß Homer
„mit nicht leichten Flecken ſein Gedicht beſudelt,
„weil er ſich den Sitten ſeiner Zeit bequemt.„ Ho-
mer mußte ſich ihnen, und der Zeit ſeiner Helden be-
quemen; nicht aber der Zeit der Kapuciner, oder
dem Jahrhunderte Ludwigs des vierzehenten, oder dem
kritiſchen Jahrhunderte, das Hr. Kl. in Deutſch-
land ſchaffen will. Es iſt keine Suͤnde, zu behaup-
ten, daß Homer an dies, und an die ſeligen Moh-
ren in Afrika mit ſeinen Goͤttern, und mit ſeinem
Unanſtaͤndigen gar nicht gedacht habe.


Hoͤchſt unwahrſcheinlich die zweite Urſache: „Ho-
„mer habe ſich zu dem herab gelaſſen, wovon ich halte,
„daß es ſich fuͤr die Wuͤrde, und den Ernſt des
„epiſchen Gedichts ganz und gar nicht ſchicke, weil
„es ſchwer wird, das zuruͤck zu halten, wovon wir
„glauben, daß es dem Leſer Lachen erwecken werde.„
Denn wenn Hr. Kl. das Zeitalter Homers, und ſei-
ner Helden kennet, wird er hoffentlich zugeben, daß
demſelben nichts fremder ſey, als eine Sucht des
Laͤcherlichen.
Die Verfaſſer gewiſſer Bibliothe-
ken moͤgen mit dem Marktausruffe vortreten:


B 3Jocos
[22]Kritiſche Waͤlder.
Iocos ridiculos vendo: agite licitemini!

der epiſche Dichter Homer weiß von ſolchen laͤcher-
lichen Grazien nichts. Das Zeitalter, das er be-
ſingt, war „die Zeit der Heldengroͤße, eines hohen
„Ernſtes nach griechiſcher Natur:„ und die Zeit,
in der er lebte und ſang, „der Anfang des buͤrger-
„lichen Jahrhunderts,„ und alſo eines geſitteten
Ernſtes in edler Einfalt. So wie in der erſten
der Held, der Tapfre, der groͤßeſte Mann war;
ſo in der zweiten der Weiſe und Gute —— in
beiden war an den lachenden, oder Lachen erregen-
den Witzling nicht wohl zu gedenken; ſonſt waͤre ſtatt
homeriſcher Epopeen nichts, als crebillonſche Ro-
mane, oder komiſche Epopeen, die Erſtgeburt der
griechiſchen Muſe geworden. Bei Homer alſo,
wenn er keinen Margites, ſondern eine Helden Jlia-
de ſchreibt, bin ich vor dem unzeitigen, unwuͤrdigen
Lachen ſo ſicher, als ichs bei den ſchoͤnen und artigen
Schriftſtellern unſrer Tage wohl nicht bin: und das
vermoͤge des homeriſchen Zeitalters.


Drittens endlich, duͤnkt mich die Urſache des
beſchwerlich Laͤcherlichen
in Homer eben ſo unge-
wiß,
daß er aus einem Fehltrite ſeiner Beurthei-
lungskraft ſo unzeitig laͤcherlich, ſo lachſuͤchtig ge-
worden: denn wer Homers Zeit kennet, wird zehn
andre Fehltritte fuͤr wahrſcheinlicher halten, als ——
doch warum ſo viel wahrſcheinliche oder unwahr-
ſchein-
[23]Zweites Waͤldchen.
ſcheinliche Urſachen? Hr. Kl. komme nach vier und
zwanzig Seiten einmal zum Beweiſe.


2.


„Meine Meinung iſt a), daß Homer manchmal
„an einem ſehr ungeſchickten Orte den Leſer zum
„Lachen bringen wollen, und damit ſeinem goͤttli-
„chen Gedichte nicht leichte Flecken angeſpruͤtzt, die
„demſelben eine nicht kleine Unfoͤrmlichkeit, und
„dem Leſer Verdruß erwecken. Hieher kann man
„in der Odyſſee den Streit der Jris mit Ulyſſes,
„und im erſten Buche der Jliade den Ort rechnen,
„wo er den Gott Vulkan einen Gaukler (hiſtrio-
„nem)
ſpielen laͤßt —— denn was ſpielt er anders,
„als einen Gaukler, da er den Goͤttern Wein ein-
„ſchenket, und dieſe den hinkenden Mundſchenken
„mit großem Gelaͤchter begleiten.„ Noch mehr
aber wird die Sache aus dem zweiten Buche erhel-
len —— und nun kommt weit und breit die Geſchich-
te von Therſites, die Hr. Kl. mal uͤber mal fuͤr un-
anſtaͤndig, unſchicklich, ungereimt, unwuͤrdig er-
klaͤrt, uud mit einem recht therſitiſchen Geraͤuſche
voͤllig aus Homer verwirſt.


Nun wundre ich mich zuerſt uͤber die Verwun-
derung, „daß unter allen Feinden Homers noch
„niemand auf dieſe Geſchichte gefallen, daß, ſo ſehr
B 4„man
[24]Kritiſche Waͤlder.
„man alles zu ſeinem Tadel geſammlet, man nicht
„dieſen Ort angeklaget. Jch wundre mich, daß
„ſich Hr. Kl. ſo viel Muͤhe giebt, es zu unterſuchen,
„woher ſich alle haͤtten betriegen laſſen, dieſe Stelle
„nicht zu tadeln; daß er ſelbſt eine Gedankencita-
„tion von Vida anfuͤhret, wo dieſer wohl Therſites
„koͤnne im Sinne gehabt haben, und —— bei allem
nicht den Franzoſen, dem er, Hr. Kl. ſo manches
Maleranekdotchen, und zehen gegen Eins, auch die-
ſen ganzen Tadel ſchuldig iſt, den er ſo unerhoͤrt, ſo
weitlaͤuftig, ſo wichtig vorzeiget. Hr. Kl. wird doch
ſeinen Leibautor, wenn es auf Malergeſchichtchen
ankommt, den beruͤhmten d’Argenſona), nicht ver-
kennen?


Der Franzoſe ſagt bei Gelegenheit ſeines Ju-
lius Romanus,
und des laͤcherlichen Zwerges im
Gemaͤlde Konſtantins: „es iſt wahr, daß ſich eine
„ſolche laͤcherliche Figur zu einem ſo ernſthaften
„Gegenſtande gar nicht ſchicket; man muͤßte denn
„dieſen Maler mit dem Homer entſchuldigen wol-
„len, der in der Jliade einen Vulkan, wor-
„uͤber die Goͤtter ſpotten, und einen von aller
„Welt verachteten Therſites
anbringt, um den
„Helden ſeines Gedichts einen Contraſt zu geben.„
Der
[25]Zweites Waͤldchen.
Der Deutſche, oder vielmehr der Deutſchlateiner,
braucht dieſe Worte eben in der naͤmlichen Abſicht,
in demſelben Zuſammenhange, wie der Franzoſe,
ſchmuͤckt ſie mit eben demſelben Beiſpiele von Ju-
lius Romanus und andern bekannten Malern aus,
die meiſtens d’Argenſon ſelbſt an ihrem Orte an-
fuͤhrt, — und doch wird unter ſeinen Haͤnden al-
les Neu und Unerhoͤrt. Ja endlich truͤbet er ſo
gar d’Argenſons beſſere Anfuͤhrung Homers. Die-
ſer giebt dem Therſites einen „von aller Welt ver-
„achteten Charakter,„ den ihm auch Homer giebt;
Hr. Kl. macht ihn zum Poſſenreißer, was ein d’Ar-
genſon ſich nicht einmal zu behaupten getrauete, und
wovon Homer nichts weiß. Der Franzoſe laͤßt ihn und
Vulkan vom Homer charakteriſiren, um den Hel-
den ſeines Gedichts einen Contraſt zu geben;

der Deutſche faͤhrt uͤber Homer her, daß er aus
Ungeſchliffenheit ſeines Zeitalters, aus der eitlen
Sucht, dem Leſer ein Lachen am unrechten Orte ab-
zujagen, oder gar aus Mangel der Beurtheilungs-
kraft, dem Gedichte ſo haͤßliche Flecken einbrenne,
dem Leſer zur Laſt waͤre, ihm an unrechtem Orte ein
unanſtaͤndiges Lachen abzwinge, die Wuͤrde ſeines
Epos aufopfere — Mit wem von beiden ließe ſich
alſo vernuͤnftiger Homer unterſuchen, mit dem ver-
nuͤnftig tadelnden Franzoſen, oder mit dem ſich
bruͤſtenden Deutſchen? Leider muß ich mit dem
letzten!


B 5Was
[26]Kritiſche Waͤlder.

Was alſo Vulkan betrifft: wird jeder Kenner
Homers wiſſen, daß das Jdeal ſeiner Goͤtter nichts
weniger, als das Jdeal hoͤchſtvollkommener, geiſti-
ger, allerhoͤchſter Weſen ſey. Sie haben alle ihren
Charakter, der nach Koͤrper und Seele, nach Staͤrke
und Denkart, nach Wuͤrde und Neigungen, nach
Anſehen und Verrichtungen ſo beſtimmt iſt, als die
Namen, die ſie fuͤhren, oder die Partei, die ſie
im homeriſchen Gedichte nehmen. Wie alſo bei den
alten Kuͤnſtlern die Bildung jedes Gottes ihr eigent-
liches Jdeal, ihre Geſtalt bis auf Bart und Haupt-
haar hatte: ſo ſind auch in Homer ihre Charaktere
gleichſam eine Reihe von eigenthuͤmlichen Bruſt-
bildern, von Weſen, wo jedes aus ſich, wo keins,
wie ein drittes, handeln muß. Gegen Menſchen
gerechnet haben freilich alle homeriſchen Goͤtter ihr
eigenes Anſtaͤndige; aber unter ſich ſelbſt iſt wider
ihre Wuͤrde, ihr Anſtand, ihre Art zu handeln ſo
eigen beſtimmt, ſo ſonderbar, als eines jeden Koͤr-
per und Name. Man ſtreiche in der ganzen Jlia-
de alle Namen der Goͤtter und Goͤttinnen aus; ich
will jedes von ihnen aus ihren Reden und Hand-
lungen errathen: und es kann aus Hamer eine
ſolche Gallerie von dichteriſchen Jdealen ſeiner Goͤt-
ter erbauet werden, als Winkelmann ſeine Jdeale
derſelben aus der Kunſt aufſtellet a).


Hier
[27]Zweites Waͤldchen.

Hier alſo an unſerm ſo unanſtaͤndig laͤcherlichen
Orte a) — was war geſchehen? Jupiter erſcheint
mit aller Ehrfurcht der Goͤtter im Olymp, und die
gebieteriſche Juno faͤngt uͤber ſeine geheimen Rath-
ſchlaͤge zu zanken an. Der oberſte der Goͤtter ant-
wortet zuerſt groß und unabhaͤngig, und als Juno
fortfaͤhrt und ſeine Rathſchlaͤge offenbaret, zornig
und maͤchtig drohend. Verſtummt vor Furcht,
gebeugt in ihrem Herzen ſitzt die hohe Juno da, und
alle Himmliſchen im Hauſe des Gottes verſammlet,
erſeufzen. Eine ſchauderhafte Stille, eine unru-
hige ſtumme Scene, wie vor einem Ungewitter,
herrſcht im Olymp!


Wer ſoll ſie brechen? Soll Homer ſeinen Ge-
ſang ſchließen, und den Leſer in einer bangen Be-
ſorgniß laſſen, ob nicht auf dies Schaudervolle
Verſtummen nachher wirklich ein Ungewitter erfol-
get? ob nicht etwa die gebietende Juno den Streit
erneuret, und alſo der maͤchtige Zevs ſeine Drohun-
gen erfuͤllet? Unwuͤrdige Beſorgniß! der Hoheit
des epiſchen Gedichts, und dem Zwecke der Homeri-
ſchen Handlung entgegen! Homer, der nirgend
ſeine Handlung abbricht, ſie mit jedem Worte wei-
ter fortfuͤhrt, thaͤte doppelt Unrecht, in ſeinem erſten
Geſange, bei der erſten Verſammlung der Alles
lenkenden Goͤtter uns nicht das Ende ihres Raths
wiſſen zu laſſen, und noch aͤrger uns auf ſein ganzes
Gedicht
[28]Kritiſche Waͤlder.
Gedicht hin eine Jdee von ſeinen ſeligen Goͤttern
beizubringen, die uns wohl nicht den Zuſtand der-
ſelben ſehr beneidenswerth vorſtellte. —


Vollendet muß alſo der Auftritt werden, aber
wie? und durch wen? Soll Juno ihren Zweck er-
neuren, und vor unſern Augen ungluͤcklich werden?
Unwuͤrdiger Anblick! Soll ſie fußfaͤllig abbitten?
Ein niedriger Weg zum Frieden des Himmels,
dazu ganz unjunoniſch! Eher ließe ſie ſich auf
die gedrohete Art ſtrafen, lieber wollte ſie einer hoͤ-
hern Tyrannei unterliegen, als ſo ihre weibliche
Hoheit verlaͤugnen. Auf ſolche Bedingungen wird
alſo kein Friede im Himmel!


Und wie denn? Es trete ein Friedensſtifter auf
zwiſchen beiden! Doch wer? Einer, der durch ſein An-
ſehen rechte, und durch die Wuͤrde ſeiner Perſon,
als ein himmliſcher Neſtor, Jupiter und Juno zum
Stillſchweigen bringe? Solch einer iſt nicht im
ganzen Olympus! Der Streit iſt zwiſchen den
hoͤchſten Goͤttern: er betrifft die Anſchlaͤge Jupi-
ters, und die rechtmaͤßigen Drohungen ſeiner
Macht: ſeine ganze Klugheit, ſein obergoͤttliches
Recht, ſeine Gewalt — alles iſt mit im Spiele.
Wer ſoll nun auftreten, ihm zu widerſprechen, ihn
ein beßres belehren zu wollen? Alle Anweſende ſind
Unterordnungen, Unterthanen, Kinder! Selbſt die
Goͤttinn der Rathſchlaͤge, Minerve, iſt die Tochter
ſeines Haupts, und kennet ihren Vater zu gut, als
daß
[29]Zweites Waͤldchen.
daß er ſich widerſprechen, belehren laſſe. Alle
alſo, und ohne Ausnahme alle Goͤtter von Wuͤrde,
von Ernſt handeln am beſten, wie ſie bei Homer
handeln, ſtille ſitzen und ſchweigen.


Anders alſo, anders wird die Zwietracht im
Himmel nicht geſtillt, als daß jemand Juno, die
ſchwaͤchere, und noch dazu die unbillige Parthei des
Streites, beſaͤnftige — Wer ſoll dies thun? Etwa
Einer, der Jupiter und Juno kenne, vielleicht bei-
den angehe, nicht zu erhaben ſey, um beiden gute
Worte zu geben, nicht zu anſehnlich ſey, um ſeine
Wuͤrde dabei in Gefahr zu ſetzen — Ein ſolcher
ſeis, und hat er etwa in ſeiner Geſchichte, in ſeinem
Charakter, in ſeiner Geſtalt Etwas, was June
warne und beſaͤnftige, was die Macht Jupiters
gleichſam redend, ſichtbar zeige, Jhm alſo auch
Recht gebe, ihn damit auch beſaͤnftige — iſt ein
ſolcher da, ſo trete er auf, und gebe den Goͤttern
heitern Tag wieder!


Und ſiehe da! ein Gott von minderm Anſe-
hen,
ein himmliſcher Handwerker; ein Gott, der
Jupiter und Juno wohl gute Worte gaͤbe:

ein Sohn beider; der in ſeiner Geſchichte Bei-
ſpiel gnug von der Macht Jupiters ſeyn kann:

Zevs hat ihn vom Himmel geworfen; der in ſei-
ner Geſtalt Warnendes gnug fuͤr Juno habe:

ſein noch hinkender, und ewig hinkender Fuß —
kurz! da iſt der ehrliche Vulkan. Vulkan alſo
faͤngt
[30]Kritiſche Waͤlder.
faͤngt an im Namen aller himmliſchen Unter-
maͤchte zu reden, daß ein ſolcher Krieg die Ruhe
der ſeligen Goͤtter ſtoͤre, daß die Sache der Men-
ſchen die beſten Gaſtmale der himmliſchen verderbe.
Vulkan ſpricht als ein ehrlicher Handwerker, der
ſeine Gruͤnde nicht weit herholet; aber ſeine Vor-
ſtellungen ſind buͤndig, der Zeit und dem Orte an-
gemeſſen, und ſo ſtark, als der Amboß, den er zu
fuͤhren pflegt. Er und alle Goͤtter ſind ja zum
Schmauſe erſchienen!


Er wendet ſich gegen die Mutter, ob er gleich
wuͤßte, daß auch ſie verſtaͤndig waͤre — der Ehr-
liche, in deſſen Munde dieſe Worte ſo glaubwuͤrdig
werden, als ſie es ſeyn ſollen: in deſſen Munde alſo
auch die kindliche Anmahnung kein ſich bruͤſtender
uͤberhobner Rath ſeyn wird.


Er erinnert ſie an die Macht des Donnergot-
tes, der, wenn er wollte, alles vom Himmel werfen
koͤnne — der gute Vulkan redete aus Erfahrung,
und wie ſein hinkender Fuß ihn nicht anders reden
laͤßt. Sein Rath iſt alſo, Zevs abzubitten, und
dem ganzen Himmel Heiterkeit wieder zu geben. —
Wo iſt bisher der Poſſenreißer, der hinkende
Gaukler?


Aber abzubitten? dem Himmel Heiterkeit wie-
der zu geben? Und Juno ſelbſt ſoll leiden, ſoll Un-
recht behalten? — O daß ſie nur nicht am Dorn-
ſtrauche des letzten Worts hangen bleibe, und von
neuem
[31]Zweites Waͤldchen.
neuem zuͤrne! Siehe da, Vulkan! den Becher voll
himmliſcher Freude, die Schaale voll Nektar! Tritt
zur Juno, daß ſie dieſen letzten Zug nicht fuͤhle:
troͤſte ſie uͤber ihre Traurigkeit und ihre Unterdruͤ-
ckung: fuͤhre deine eigne ungluͤckliche Geſchichte an!
— Vulkan thuts, und ſiehe! da laͤchelt die Koͤ-
niginn der Goͤtter: laͤchelnd nimmt ſie den Becher
der Freude von der Hand ihres Sohnes.


Jhr hohes Laͤcheln hat den Olymp aufgeklaͤrt: die
Wolken ſind voruͤber. Die Ruhe, die himmliſche Freu-
de beſucht die Wohnung der ſeligen Goͤtter wieder:
der ſuͤße Nektar fließt fuͤr alle: bei allen findet ſich
das unzerſtoͤrbare Vergnuͤgen, die unausloͤſchlich
ewige Seligkeit wieder ein, und faͤngt an, da ſie
Vulkan ſo geſchaͤftig zu ihrem Vergnuͤgen ſehen:


Ασ [...]εστος δ’ἀρ ενωρτο γελως μακαρεσσι Θεοισιν

Ως ιδον Ηφαιστον δια δωματα ποιπνυοντα.

So ſchmauſen ſie den ganzen Tag hinab bis zur
untergehenden Sonne: ihr Herz begehrt nichts: ſie
ſpeiſen Ambroſia des Himmels, ſie hoͤren die Zitter
des Apollo, und den Wechſelgeſang der Muſen: ſie
gehen endlich vergnuͤgt jeder in das himmliſche Ge-
mach, das ihm der kuͤnſtliche arbeitſame Vulkan
erbauet: Jupiter ſelbſt beſteigt ſein hohes koͤnigli-
ches Bette, und neben ihm die auf goldnem Throne
prangende Juno! — Selige Goͤtter! ſelige Woh-
nungen des Olympus!


Wie
[32]Kritiſche Waͤlder.

Wie hat nun Vulkan ſeine Sache ausgerichtet?
Stand er auf, um einen lahmen Gaukler zu ma-
chen, und nichts mehr? Unwuͤrdige Vorſtellung,
Homer erweckte ihn, um die Goͤtter aus einander
zu bringen, um dem Olymp den Frieden zu geben.
Erreichte er dieſen Zweck durch Poſſen, durch Gau-
keleien? Noch unwuͤrdigere Vorſtellung: er ſpriche
ſo anſtaͤndig, ſo charakteriſtiſch, als ein Vulkan
nur ſprechen kann, und hier nur ſprechen ſollte.
Laͤuft drittens der Auftritt auf ein poͤbelhaftes Ge-
laͤchter hinaus, das ſich Bauch und Seiten ſtem-
met, und ſo fortwaͤhret? Noch unwuͤrdigere Jdee,
nicht werth, die ſeligen Freuden des Olymps auch
nur von fern zu ſehen. Und endlich: war gar dies
Poͤbelgelaͤchter Homers Endzweck? — — Jch
werde unwillig: wer die ganze Epiſode durch an
nichts als an Vulkans hinkendem Fuße, und an
den artigen Grimaßen des Mundſchenken ſeine Au-
gen weidet, wer nichts bei Homer als dies ſieht, wer
alle Goͤtter hierinn nach ſich beurtheilt, dem koͤnnte
es in dieſem Himmel, wie vormals dem Vulkan
ſelbſt, gehen: der lache lieber in den Buſen!


Homerus loco admodum inepto, dum riſum
lectorum captare voluit, non levibus carmen di-
vinum maculis adſperſit, quae illi non exiguam
deformitatem, lectorique moleſtiam concilient.
Huc referre potes locum, vbi deum Vulcanum
hiſtrionem agere iubet. Quid enim aliud agit,

quando
[33]Zweites Waͤldchen.
quando diis vinum infundit, qui claudum hunc
pincernam mag no riſu proſequuntur?
etc.
Hr. Kl.
geſtehe bei dieſer Stelle a), entweder, daß er d’Ar-
genſon,
oder der lateiniſchen Ueberſetzung Homers ge-
folget, oder wenigſtens Homer nicht in ſeinem gan-
zen Sinne nehme. Die gemeine lateiniſche Ueberſe-
tzung freilich, die weiß von einem immenſo riſu exci-
tato,
und einem Bitaube’ iſts auch zu vergeben,
wenn er den ganzen Himmelsſaal von Gelaͤchter der
Goͤtter uͤber das Laufen und Rennen Vulkans er-
ſchallen laͤßt: (tous les Dieux, qui le voyant s’agi-
ter et courir de tous côtés, font retentir d’un ri-
re éclatant la voûte céleſte
). Jn der Sprache
Homers aber, und inſonderheit in der einfaͤltigen
Sprache ſeines Zeitalters iſt „der ασ [...]εστος γελως,
„der ſeligen Goͤtter„ kein unwuͤrdiger, unanſtaͤn-
diger Ausdruck: er bezeichnet die ewige Heiterkeit,
die unzerſtoͤrbare Freude, die ihre Stirn wieder ein-
nahm, das ſelige Laͤcheln, das bei dem Anblicke des
Nektarſchenkenden Gottes auf ihrem Antlitze ſchweb-
te. Allerdings zugleich ein kleiner Zug von Luſtig-
keit uͤber ſeine Geſtalt, und daß er ſeine Sache ſo
wohl gemacht, miſchet ſich ein; durchaus aber kein
unendliches Poͤbelgelaͤchter uͤber einen hinkenden,
wackelnden Gaukler; durchaus tritt Vulkan nicht
auf,
einen ſolchen Narren vorzuſtellen, an dem man
ſich
C
[34]Kritiſche Waͤlder.
ſich ſatt lachen ſolle. Wer iſt der Homeriſt, im
Geiſte Homers, der ihn und ſeinen Vulkan, und
ſeine Goͤtter zu ſolchem Poͤbel erniedrigen kann! a)


Jch wenigſtens nicht. Bei mir erreicht das
Geſchaͤfte Vulkans, die Juno, und den Jupiter,
und den Himmel zu beſaͤnftigen, ſeine Wirkung mit
jedem neuen Verſe. Mit jedem fuͤhle ich gleichſam
einen gelindern Grad von der Bewegung des Stur-
mes, mit jedem einen neuen ſanften Abfall zur
Ruhe des Olympus: bis durch alle Stuffen des ge-
minderten Schwunges die ſelige Freude, das himmli-
ſche Lachen der Goͤtter hervorbricht, und nun das frohe
Ambroſiſche Feſt anfaͤngt. Vulkan war Friedens-
ſtifter, Vulkan der Geber des Feſtes, und Homer
erneuret noch das gute Andenken, das er ſich dieſen
Tag geſtiftet, dadurch, daß bei dem Schluſſe deſſel-
ben jeder der Gaͤſte in das Gemach geht, „das
„ihnen Vulkan erbauet. —„ Niemand kann ſich
eine Seele geben, die Er nicht hat: aber mich
duͤnkt, daß von jedem beſaͤnftigenden Verſe Ho-
mers
[35]Zweites Waͤldchen.
mers, (nach Lucians Ausdrucke a) bei ſeinem Eben-
bilde der Schoͤnheit,) eine honigſuͤße Spur in mir
zuruͤck bleibe, daß mit jedem Worte ſich der Auf-
ruhr der himmliſchen Unruhe mehr baͤndige, und
endlich bei dem Ausbruche der ſeligen unzerſtoͤrbaren
Freude bleibet ein Echo zuruͤck, das mich die Citter
des Apollo und den Geſang der Muſen hoͤren laͤßt,
und ſo ſchließe ich Homers erſten Geſang.


3.


Und ſo begleite ich ihn auch bei der Scene
Therſites. Wenn Hr. Klotz dieſelbe nicht aus der
lateiniſchen Ueberſetzung beurtheilte, ſo wuͤrde er
kaum das γελοιον b), ſondern das αισχρον zu ihrem
Hauptcharakter machen: wenn er ſie nicht aus dem
Zuſammenhange riſſe, ſo wuͤrde er finden, daß ſie
nicht blos an ihrem Ort ſtehe c), ſondern auch, wel-
ches noch kuͤhner iſt, nirgends anders ſtehen koͤnne:
und wenn Hr. Kl. ſich auf die Zeiten Achills und
Homers erinnerte: ſo wuͤrde er finden d), daß das
Colorit des Niedertraͤchtigen, Poͤbelhaften, Haͤßli-
chen im Therſites Original Griechiſch ſey, nach den
Sitten der damaligen Zeit nicht anders, und nach
dem epiſchen Zwecke Homers nicht ſchwaͤrzer, und
C 2nicht
[36]Kritiſche Waͤlder.
nicht weißer ſeyn koͤnne. Hier muß ich alſo Hr. Klotzen
verlaſſen; denn er redet mir bogenlang von einem
Poſſenreißer, von einem unleidlichen Gaukler, von
einem beſchwerlichen unanſtaͤndigen Lachenerwecker
vor, den ich nicht kenne.


Beinahe eben ſo tief iſts, wenn er den Zank
Ulyſſes und Jrus tadelt a). Was dieſes Gezaͤnk
in der Odyſſee b) iſt, das ſind die Zaͤnkereien zwi-
ſchen Achilles und Agamemnonc) in der Helden-
iliade, nur nach Verſchiedenheit des Stoffes und
der Menſchengattung: Zank bleibt an ſich Zank.
Und was dieſer Hader unter Menſchen, iſt der Zank
unter den Goͤttern, der ſich noch mehr und oͤfter
auszeichnet. — Und was dieſer; das ſind hundert
Scenen, die alsdenn aus Homer wegmuͤſſen, wenn
eine ſolche ehrbar feine Critik unſres Zeitgenoſſen
gelten ſollte, kein Held der Jliade, die wenigſtens
Auftritte der Odyſſee ſind alsdann fuͤr unſern Zoi-
lus:
denn heißt es aufs neue:


— ibis, Homere, foras.

Wenn es darauf ankaͤme, koͤnnte ich Hr. Kl. ſelbſt
noch eine Reihe unwuͤrdiger, unanſtaͤndiger, unar-
tiger Zuͤge in Homer anfuͤhren, „wo Homer ge-
„ſchlummert, als welches, ich glaube, aus den
„Oertern erhellet, wo er ſich den Sitten ſeiner Zeit
„bequemet, die noch nicht gnug gefeilt, bei ihrer
„Ein-
[37]Zweites Waͤldchen.
„Einfalt etwas Baͤuriſches und Rauhes haben, wo
„er ſich zu dem herablaͤßt, was der Wuͤrde und
„Erhabenheit des epiſchen Gedichts, wie ich achte,
„gar nicht geziemet: wo er demſelben nicht leichte
„Flecken angeſpritzt, wo er es nicht auf eine gerin-
„ge Art verunſtaltet, wo er dem Leſer einen nicht
„kleinen Verdruß erwecket.„ Ueber alles koͤnnte
ich mit vielen Beiſpielen aufwarten, und alsdenn
im wuͤrdigen Ton auf Homer ſchmaͤhen; ob aber
daraus homeriſche Briefe, oder eine Satyre wuͤr-
de: mag der Kenner Homers urtheilen, und
Gott Lob! daß Deutſchland wahre Kenner Ho-
mers beſitzet!


Jetzt muß ich Homer verlaſſen, denn ich ſehe,
daß Hr. Klotz, zornig, wie die Goͤttinn Ate bei Ho-
mer, auf den Koͤpfen der groͤßeſten Genies aller Zei-
ten und Voͤlker wandelt. a) „Laͤcherliches mit dem
„Ernſthaften, mit dem Nachdrucke Scherz, und
„das Große mit dem Niedrigen vermiſchen, hat
„zu aller Zeit fuͤr unanſtaͤndig angeſehen werden
„ſollen, muß von jedem getadelt werden, es ſei
„denn, wer mit Lopez di Vega glaubt, es ſte-
„he ihm frei,
mit Vernachlaͤßigung aller Regeln,
„was und wie ers wolle vorzubringen, und das
„Wahre mit der Fabel, die Komoͤdie mit dem
„Trauerſpiele, das Laͤcherliche mit dem Ernſthaften
„ſo zu vermiſchen, daß aller Unterſchied zwi-
C 3„ſchen
[38]Kritiſche Waͤlder.
„ſchen dem Soccus und Kothurn aufhoͤre.
Und das ſollte Lopez di Vega geglaubt haben?
Das kann Hr. Klotz von einem Manne ſchreiben,
deſſen Namen ihm Ehrfurcht erwecken ſollte? Der
ſpaniſche Dichter mag ſelbſt reden a), er wird doch
beſſer wiſſen, was er glaube, oder nicht glaube, als
Hr. Kl. „Dem Himmel ſei gedankt, noch ehe
„ich voͤllig zehn Jahre geweſen bin, habe ich
„die Buͤcher durchgeleſen, die von den Regeln
„der dramatiſchen Dichtkunſt handeln.
Als
„ich aber zu ſchreiben anfieng, fand ich die Komoͤ-
„die bei uns beſchaffen, nicht wie die Alten gedacht
„haben, daß man ſie nach ihnen einrichten wuͤrde;
„ſondern wie ſie viele Unwiſſende verunſtaltet, die
„dem Volke dieſen groben Geſchmack beigebracht
„haben. Dieſer ſchlechte Geſchmack iſt ſo ſehr
„eingeriſſen, daß derjenige, der es wagt, nach
„den Regeln zu arbeiten,
in Gefahr ſteht, ohne
„Ruhm und Belohnung zu ſterben; denn unter
„Leuten, die ſich der Vernunft nicht bedienen
„wollen,
vermag die Gewohnheit mehr, als alle
„Vorſtellungen.
Es iſt wahr, daß ich zuweilen
den Regeln der Kunſt, die ſo wenige kennen,
„gefolgt bin; ſo bald ich aber, auf der andern Seite,
„jene blendenden Ungeheuer, wozu das Volk ſchaa-
„renweiſe laͤuft, und welche das Frauenzimmer
„vergoͤttert; ſo bald ich dieſe auftreten ſehe, ſo kehre
„ich
[39]Zweites Waͤldchen.
„ich ſogleich zu meiner barbariſchen Gewohnheit
„zuruͤck, und wenn ich eine Komoͤdie ſchreiben ſoll,
verſchließe ich geſchwinde den Ariſtoteles und
„Horaz unter 5 Schloͤſſern, und lege den Te-
„renz und Plautus aus meiner Studierſtube
„weg, damit ſie nicht zu klagen anfangen:
„denn die Wahrheit ſchreit aus vielen Buͤ-
„chern laut hervor,
u. ſ. w.„ Nur ein Hr. Klotz
kann alſo ſchreiben a): Lupum Felicem de Vega,
Carpionem perſuaſum habuiſſe, licere ſibi, omni-
bus pra[e]ceptis neglectis, quascunque res
, quocun-
que
modo in ſcenam producere etc. vt omne
ſocci et cothurni diſcrimen tollatur.


Von einem Herkules gehts zum andern, vom
ſpaniſchen Homer zum brittiſchen: von Lopez zum
Milton b). „So wie in großen Vorzuͤgen, ſo iſt
„auch hierin Milton dem Homer gleich: ich ſehe
„ihn ſcherzen und ſpotten, wo er ernſthaft und nach-
„druͤcklich ſeyn ſollte.„ Nun werden Stellen an-
gefuͤhrt, die laͤngſt in England ſelbſt beſſere Tadler
und zugleich ihre Vertheidiger gefunden, der Streit
Gabriels mit dem Satan, der bittre Spott im
Munde Satans, der Limbus der Eitelkeit u. ſ. w.
Hr. Kl. ſchlage Addiſon, oder die erſte beſte engli-
ſche Ausgabe Miltons mit Anmerkungen, oder
auch nur unſere aͤltere gute Schweizeruͤberſetzung
auf: — er wird finden, daß ſeine Vorwuͤrfe wieder-
C 4holt,
[40]Kritiſche Waͤlder.
holt, mit Gruͤnden vorgetragen, und mit Gruͤnden
widerlegt — veraltet ſind.


Mit Gruͤnden veraltet: und er hat geglaubt,
Gruͤnde nicht anfuͤhren zu duͤrfen. Der Satz ſelbſt:
„in einem epiſchen Gedichte will man ernſthaft ſeyn,
„folglich ſoll man nicht lachen, folglich ſoll ſich
„auch keine Spur des Laͤcherlichen einſtehlen,„
duͤnkte ihm Grund gnug: er wiederholt ihn alſo
als ein Axiom, das wohl gar ein Hauptgeſetz der
Epopee werden koͤnnte. Ein ſolches furchtbares
Hauptgeſetz uͤber die hoͤchſte Dichtungsart deſ
menſchlichen Geiſtes verdient doch, ehe es ſo unbe-
ſtimmt eingefuͤhrt wuͤrde, eine Berathſchlagung.


Deutlich unterſchieden hat das Problem ver-
ſchiedne Seiten. Fodert es die Proprietaͤt des
epiſchen Gedichts, und die Congruenz aller Theile
deſſelben, daß kein Zug des Laͤcherlichen erſcheine?
Oder fodert es meine Empfindung, jede Bewegung
meiner Seele, die ſich zum Lachen neiget, zu unter-
druͤcken, um nicht die epiſche Wirkung in mir zu
ſchwaͤchen? Fodert es die Wuͤrde epiſcher Perſonen,
daß ſie nicht lachen, oder daß ich nicht uͤber ſie lache?
— Mir ſcheint die letzte Frage die faßlichſte: Laſſet
uns alſo die Sache am leichteſten Ende angreifen.


Fodert es die Wuͤrde epiſcher Perſonen, daß ich
nicht uͤber ſie lache? durchweg lache, ſo lache, daß
dies der Ton meiner Empfindung bleibe — wer
kann noch fragen? Aus der Epopee wird alsdenn
eine
[41]Zweites Waͤldchen.
eine Burleske, ein komiſches Gedicht: oder wenn
der Dichter es eigentlich nicht einmal zum Zwecke
hatte, Lachen zu erregen, und erregt es doch: ſo
ſchafft er Ekel, Verachtung, Misvergnuͤgen. Wuͤr-
dig ſey der epiſche Held; nicht aber ſeinem Haupt-
charakter nach laͤcherlich.


Davon alſo war die Rede nicht; aber kann der
Held nicht hie und da eine Bloͤße verrathen, die laͤ-
cherlich ſey? Jch bitte hier den Unterſchied zwiſchen
laͤcherlich und belachenswerth zu beobachten. So
bald der Held auch nur in einer Handlung eine Sei-
te giebt, die nicht anders, als belachenswerth,
ſeyn kannn; aber belachenswerth nach Grundſaͤtzen,
und mit Rechte: freilich ſo hat ſich der Dichter
mit dieſem Zuge ſelbſt geſchadet; denn nichts hebt
die Wuͤrde ſeiner Perſon ſo ſehr auf, als dieſer An-
ſtrich. Den Belachenswerthen verachten wir zu-
gleich: er duͤnkt uns niedrig: und wie viel verliert
ein epiſches Subjekt, eine epiſche Handlung, die
dies waͤre?


Hieher der Vorfall Ulyſſes mit Jrus a)
waͤre er wirklich niedertraͤchtig und unwuͤrdig von
Seiten Ulyſſes, verminderte er die Hochachtung, die
wir fuͤr den alten, weit gereiſeten, abgehaͤrteten
Mann haben, muͤßten wir in der Folge verwuͤn-
ſchen, ihn in dieſer Situation gekannt zu haben;
allerdings unterſchreibe ich alsdenn: Iri cum Ulyſſe
C 5con-
[42]Kritiſche Waͤlder.
concertatio epici carminis gravitatem minime de-
cet.
Wer aber, der Homer auch nur aus der Ue-
berſetzung kennet, wird dies finden? Der arme
Ulyſſes, ſo weit herunter gekommen, daß er vor ſei-
ner eignen Thuͤre in Jthaka endlich, als ein elender
zerlumpter Bettler, anlanget: und, ſiehe da! ſtoͤßt
ihm ein andrer Bettler in den Weg; ein Bettler
von einer ganz andern Art, der fraͤßige, nichtswuͤr-
dige Jrus. Dieſer Luͤderliche will jenen ehrwuͤr-
digen Greis von der Thuͤre wegdraͤngen, wegſtoßen,
wegſchrecken; und Ulyſſes, jetzt nichts, als ein Bett-
ler, antwortet ihm ſo ruhig, ſo unneidiſch, aber
auch mit ſolcher geſetzten Faſſung, daß der andre,
wie es auch bei gelehrten Bettlern gewoͤhnlich iſt,
nur zu Schimpf - und Scheltworten ſeine Zuflucht
nimmt. Der anweſende Antinous hoͤrt den Bett-
lergoliath, freut ſich nach ſeinem Charakter daruͤ-
ber, erzaͤlts den Freiern der Penelope, und hat den
luſtigen Einfall: der Junge und Alte ſollten kaͤm-
pfen — freilich ein Einfall, den nur die Seele
eines Antinous fuͤr ſchoͤn halten, und nur Schwel-
ger, wie ſeine Mitgenoſſen, billigen konnten. Der
unerkannte Greis redet wider die Unbilligkeit des
Vorſchlages, den man ihm, einem alten Manne,
thue; aber, da hier die Sache ſeiner Ehre, als
Bettler betrachtet, und als ein Hungriger die
Sache ſeines Magens im Spiele iſt: ſo faſſet er
Entſchluß. Er guͤrtet ſich, und ſelbſt die uͤppigen
Zuſchau-
[43]Zweites Waͤldchen.
Zuſchauer bewundern den Bau ſeines Heldenkoͤrpers.
Er erwaͤget, ob Ein Schlag ſeinem zitternden, ſchwa-
chen, und aus Fraͤßigkeit entnervten Gegner den
Tod geben ſolle; und ſeine Großmuth ſpricht das
mildere Urtheil. Er ſchont des Elenden: ein Ba-
ckenſtreich iſt zu ſeinem Siege, zu der Entwaffnung
ſeines unwuͤrdigen Feindes gnug: da liegt der jaͤm-
merliche Menſch blutend und ohnmaͤchtig. Ulyſſes
richtet ihn an die Wand auf, und giebt ihm ſeinen
Bettlerſtab in die Hand, um Hunde weg zu weh-
ren, nicht um uͤber Bettler den Herrn ſpielen zu
wollen.


Was iſt nun in der Geſchichte Unwuͤrdiges,
Unanſtaͤndiges fuͤr den Ulyſſes? Daß er zum Bett-
ler herunter gekommen? So muß man den gan-
zen Lauf der Odyſſee, das Subjekt des ganzen Ge-
dichts aͤndern. So muß die Muſe Homers gar
nicht den beſingen, den ſie beſingen wollte:


ανδρα πολυτροπον — — ος μαλα πολλα

κλαγχϑη — — —

Πολλων δ’ ανϑρωπων ιδεν αστεα, και νοον εγνω

Πολλα δ’ ογ εν ποντω παϑεν αλγεα ον κατα ϑυμον

Λρνυμενος ην τε ψυχην — — —

So ſchreib [...]an eine beſſere, anſtaͤndigere, artige-
re Odyſſee, die ihren Helden im Wohlſtande laſſe,
ihn in dem Arme einer Goͤttinn nach Jthaka trage,
auf ein weiches Polſter ſetze, und was man mehr fuͤr
Decenz
[44]Kritiſche Waͤlder.
Decenz hinein zu bringen wiſſe. Jch mag ſie nicht
leſen, kein Grieche wird ſie leſen wollen.


Oder iſts unanſtaͤndig, daß Ulyſſes ſich dem
unverſchaͤmten Bettler nicht gleich, als Herr des
Hauſes, als Ulyſſes, als Koͤnig entdecket — wahr-
lich! eine wuͤrdige, ſehr gelegene, ſehr glaubwuͤrdi-
ge, ſehr epiſche Entdeckung!


Oder, daß Ulyſſes den Freiern bei ſeiner Pe-
nelope ſich nach ihrem Zumuthen mit einmal verra-
the? Wieder ein wuͤrdiger Verrath, der nichts
mehr, als den ganzen Lauf der Odyſſee, ſtoͤrt.


Oder, daß er keinem Bettler begegne? So
wird aber in der ſich naͤhernden Entdeckung eine Luͤ-
cke; und ein Hauptaugenmerk Homers verſchwin-
det, daß der ανηρ πολυτροπος ſich auch in dieſer
tiefſten Situation, als ein Ulyſſes πολυτροπος zei-
gen ſollte.


Jn dem ſich zubereitenden Ausgange geſchieht
ein Sprung — und ich mag dieſen Sprung nicht.
Jch will gerne den Ulyſſes, als einen Bettler, ſehen,
wenn er auch nur in dieſen Kleidern meine Achtung,
als Ulyſſes, ſich zu erwerben weiß; und wie ſehr
weiß er dieſes? So, wie bei ſeiner Guͤrtung und
Entbloͤßung, ſeine Heldenhuͤfte, ſeine erhabne Bruſt,
ſeine ſtarken Arme, ſein veſter Ruͤcke[n ]den Helden
auch im Bettlersrocke verrathen a): ſo ſoll dieſer
Sieg vor der Schwelle, und vor den Augen ſeiner
ſchwel-
[45]Zweites Waͤldchen.
ſchwelgeriſchen Feinde das Vorzeichen ſeyn von groͤ-
ßern Thaten im Hauſe, von unerwartetern Entwi-
ckelungen. Nichts iſt, was den großmuͤthigen
und tapfern Ulyſſes auch hier erniedrigt; vielmehr
wuͤrde mit Auslaſſung dieſes Auftrittes, die Stei-
gerung ſeiner Enthuͤllung, und der ſanfte allmaͤhli-
ge Fortfluß der ganzen Odyſſee gehemmet.


Wo iſt nun das Belachenswerthe, das Unan-
ſtaͤndige? wo iſts inſonderheit, nach den Sitten
Ulyſſes, nach den Zeiten, nach dem Zwecke Homers?
Jch wollte, daß es Hr. Kl. zeige.


Eben ſo wenig finde ich die Reden in dem
Munde Gabriels, auch nur einem Zuge nach, be-
lachenswerth und unwuͤrdig ſeiner Groͤße: denn
eben die veraͤchtliche Begegnung gegen den dumm
ſpottenden Satan iſt die Mine ſeiner Hoheit —


— the warlike Angel mov’d,

Disdainfully half ſmiling thus reply’d \&c.

Jch fuͤhle in ſeinem Betragen ſo wenig Her-
vorſpringendes, und ſo viel charakteriſtiſchen Gegen-
ſatz zwiſchen ihm, und ſeinem Gegenparte, daß ich
mit Addiſon gern dieſen Wortwechſel fuͤr einen der
charakteriſtiſchten im ganzen Milton halte.


Der Charakter Achilles ſey ſo groß in ſeinen
Fehlern, als in ſeinen Tugenden; dieſe Fehler ge-
hoͤren zu einer griechiſchen Heldenſeele, zu einem
Achilles; aber wahrhaftig belachenswerth, un-
wuͤr-
[46]Kritiſche Waͤlder.
wuͤrdig, unanſtaͤndig ſey er nicht, und wo iſt
ers? Nur nehme man ihn, und jeden Helden ei-
ner Epopee nach den Begriffen ſeines Landes, und
ſeiner Zeit; ſonſt kann freilich ein ehrbarer, feiner
und ernſthafter Kunſtrichter einen hoͤhern Aether
zum Athemholen noͤthig haben, um einen Ulyſſes,
wie einen aus der Canaille in Bettlerskleidern,
und nicht in einem anſehnlichen Caroſſelle etwa, oder
mit praͤchtiger Equipage, zu ſehen — —


Doch ich kehre um: wenn eine wuͤrdige epiſche
Perſon nicht belachenswerth ſeyn muß, darf ſie auch
ſelbſt nicht lachen? Welche Frage! welche Verwir-
rung der Begriffe! Muß ein Held die Wuͤrde ſei-
nes epiſchen Charakters dadurch behaupten, daß er,
wie ein Karthaͤuſer, nur ſein memento mori! ernſt-
haft und ſauertoͤpfiſch grunze? Vergeben die Goͤtter
dadurch ihrer himmliſchen Hoheit, daß ſie lachen?
Stoͤrt Homer damit die feierliche Harmonie ſeines
Gedichts, daß ſeine Griechen uͤber den haͤßlichen
Therſites nach ſeiner Zuͤchtigung lachen? O die
abentheuerliche Moͤnchsfeierlichkeit! So wollen wir
das Wort γελαειν, mit allen ſeinen Abkoͤmmlingen,
aus Homer ausſtreichen: ſo wollen wir die Mine
des Disdainfully half - ſmiling von dem Antlitze
des herrlichen miltoniſchen Engels wegwiſchen, und
in tiefe kritiſche Runzeln verwandeln: ſo ſoll aus der
ganzen Jliade ein gothiſches Kloſter, und aus ſeinen
Helden eine Reihe feierlicher Praͤlaten werden, de-
nen
[47]Zweites Waͤldchen.
nen der Ernſt haͤßliche Falten in die Stirne geknif-
fen, und die, wie der vortreffliche Hudibras —


a Knight he was, whoſe very Sight wou’d

Entitle him Mirrour of Knighthood

That neverbow’d his ſtubborn Knee

To any Thing but Chivalry

His tawny Beard was th’ equal Grace

Both of his Wisdom and his Face — —

Alsdenn, alsdenn wollen wir dieſe hochanſehn-
lichen Perſonen, die Geſchoͤpfe unſrer Ehrbarkeit, mit
dem zufriednen Blicke anſehen, als unſer Homeriſt,
da er den Therſites aus Homer, in einer gluͤcklichen
Stunde ſeines Kopfs, auswerfen wollte, und zu
ſich ſelbſt ſprach a): „wie aber, wenn wir dieſen
„Menſchen hinaus wuͤrfen, und alle Verſe weg-
„ſchnitten, die von ihm handeln; laß ſehen, ob wir
„nicht ernſthaft bleiben werden? nonne retinebi-
„mus animi gravitatem?
—„ Herrlicher Ein-
fall! „wer lachen will, ſoll in einer Satyre und
„Komoͤdie auftreten, nicht in einer Epopee — in
„gravi ridere, quis decere exiſtimat?
„ herrlicher
Einfall!


Jch thue es ungern, daß ich Hrn. Kl. epiſchen
Verboten ſo etwas Schuld geben muß; aber wie
kann ich anders? Er fuͤhrt ja Beiſpiele, wo kaum
das Wort Lachen im Texte Homers ſteht, ohne zu
unter-
[48]Kritiſche Waͤlder
unterſuchen, ob wir, ob der Leſer lache? ob eine
Perſon ſey, mit der wir Theil nehmend lachen?
ob wir uns nicht vielmehr uͤber das Lachen deſſelben
aͤrgern? ob dieſer Unwille nicht eben die Abſicht des
Dichters geweſen? Nichts von allem! Die Schwel-
ger bei der Penelope lachen; Ulyſſes und Jrus ge-
ben dazu Anlaß — in der Epopee ſoll keiner la-
chen: — Ulyſſes und Jrus aus der Odyſſee hin-
weg! Die Teufel in Milton ſpotten und lachen:
ſie beweiſen zwar dadurch nichts anders, als daß ſie
Teufel, dumme Boͤſewichter ſind, und lachen ſo
charakteriſtiſch, als ſie nicht reden koͤnnten — aber
doch lachen ſie, und in der Epopee ſoll keiner la-
chen — weg damit!


Ehe nun ein ſo feierliches Gebot gegeben wird,
ſoll voraus ausgemacht werden: ob das Lachen ein
wirklich entehrender Zug eines Menſchen- eines Hel-
den - eines Goͤtterantlitzes ſey? Ob es nicht Faͤlle
geben koͤnne, da das Hohnlaͤcheln ſowohl, als das
Hohnlachen, und das Laͤcheln der Freude ſowohl,
als das Freudengelaͤchter, den epiſchen Zweck mit be-
foͤrdern muß? Ob nicht ein hohnlachender Satan,
und ein erhaben laͤchelnder Engel, ſelig laͤchelnde
Goͤtter, und naͤrriſch lachende Wolluͤſtlinge, und
ſchadenfroh lachende Griechen zum ganzen epiſchen
Gemaͤlde unentbehrliche Gruppen ausmachen koͤn-
nen? Ob der Ton jeder Epopee gleich hoch geſtim-
met ſey, und auch die Concente des Ernſts in glei-
chem
[49]Zweites Waͤldchen.
chem Maaße haben muͤſſen? Ob alle Perſonen, die
im Epos erſcheinen, wie in der Jliade, bis auf einen
Therſites; wie im Paradieſe Miltons, bis auf den Sa-
tan; wie in der Odyſſee, bis auf die Freier; wie im
Olymp, bis auf Vulkan; wie auf dem Theater, bis auf
den Lichterputzer, gleich ernſthaft, groß, heldenmaͤßig,
wunderwuͤrdig ſeyn ſollen? Sind dieſe Fragen aus-
gemacht, ſo kann das obige Gebot gegeben werben:
ſo lange will ich mich indeſſen mit Triſtram Shan-
dy
erholen, und veſt verſichert ſeyn, „daß dies kur-
„ze Leben nur dadurch etwas verlaͤngert wird, wenn
„man beſtaͤndig auſgeraͤumt iſt; und noch mehr,
„wenn man lachet.„ Wenigſtens lache ich ſo lan-
ge fuͤr mich, und fuͤr keine epiſche Perſon im Hei-
den - Chriſten - und Judenthume.


4.


Doch ich ſollte ernſthaft reden: wohlan alſo!
wir wollen ernſthaftern Ueberſchlag machen.


Kann die epiſche Wuͤrde mit einem belachenswer-
then Charakter beſtehen, wenn dieſer Hauptcharakter
der Epopee ſeyn ſoll? Nein, und wenn er auch nur ei-
nige Unwuͤrde in einzelnen Faͤllen haͤtte, noch nein!
Aber kann ein wuͤrdiger epiſcher Charakter auch la-
chen? Wenn am rechten Orte, wenn im gehoͤrigen
Maaße, wenn zu Erreichung des epiſchen Zwecks
— warum nicht? Der erſte Unterſchied, den
Hr. Kl. nicht beobachtet: Lachen und Laͤcher-
Dlich
[50]Kritiſche Waͤlder.
lich ſeyn, d. i. zum Lachen da ſtehen — welch
ein Unterſchied!


Zweitens: die Wuͤrde der epiſchen Hauptper-
ſon, gebuͤhrt die auch jeder Figur, die in der Epo-
pee auſtritt? Unmoͤglich! und eben bei keinen zwo-
en Perſonen muß dieſe Wuͤrde ganz gleich ſeyn. Ei-
nige muͤſſen, eben um die Wuͤrde epiſcher Helden ins
Licht zu ſetzen, mit ihnen kontraſtiren, und Unhel-
den ſeyn: Unkraut unter dem Weizen, und Sata-
ne um der Engel willen. Wenn es alſo Einen
Achilles geben kann, den Tapferſten der Maͤnner
vor Troja, wenn mit ihm tauſend Helden, die ſtuf-
fenweiſe an Tapferkeit herunter ſteigen; warum
nicht auch einen feigen Therſites. Wenn ſo viel
edle, ſchoͤne, wuͤrdige Seelen; warum nicht auch
eine, die haͤßlichſte unter allen, die vor Troja
gekommen waren? Dieſe, das Bild der Un-
edlen unter den Griechen, kann mit der gehoͤrigen
epiſchen Erhoͤhung ſo gut und zweckmaͤßig im Ge-
dichte erſcheinen, als unter den Griechen vor Troja
die Unedlen. Wenn in einem Trauerſpiele ſchon
nicht lauter Helden ſeyn muͤſſen; ſo konnte in der
weit groͤßern Welt von Menſchen, die Homer in
der Jliade ſchuff, auch ein Therſites ſeyn muͤſſen.
Wird ſeine Einwirkung mit den uͤbrigen Gewichten
der Jliade nur zuſammen gewogen: erſcheint er an
Orte und Stelle: nicht ohne Nutzen, mit Zwecke:
— vortrefflich! — Dies iſt der zweite verſaͤumte
Un-
[51]Zweites Waͤldchen.
te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt
auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel-
ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem
Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt:

ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden.


Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro-
prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan-
zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt-
tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei-
nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren,
und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie
des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder-
bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be-
trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt,
oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an-
dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie
nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan-
zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol-
le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er
in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers
Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei-
dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver-
ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal-
ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde,
nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen?


Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge-
dichts iſt die Reihe meiner Empfindungen; und in
Abſicht auf dieſe iſt das Laͤcherliche ſehr verſchieden.
D 2Ent-
[52]Kritiſche Waͤlder.
Entweder ſo, daß ich lache, und es der Endzweck
des Dichters war, mein Lachen zu erregen, er thue
es ernſthaft, oder ſcherzhaft; oder daß ich etwas
Belachenswerthes erblicke, und veraͤchtlich lache,
mich aͤrgere. So ſind mir die uͤppig laͤchelnden Zu-
ſchauer bei dem vorgedachten Auftritte zwiſchen
Ulyſſes und Jrus zuwider: ſie lachen; aber kaum
lache ich mit ihnen. So wird der haͤßliche Therſi-
tes den Griechen belachenswerth; drum aber iſt
er nicht, um ihnen laͤcherlich zu ſeyn. So freuen
ſich die Goͤtter im Olymp, und der ſympathetiſche
Leſer ſoll ſich mit ihnen freuen. — Auf die Art
wechſeln die Empfindungen unſrer Seele die Laͤnge
eines Gedichts herab, und nur der kann das Ganze
beurtheilen, der die ganze Reihe dieſer Succeſſionen
ſich auf einmal anſchauend machen koͤnnte. Da
dies aber unmoͤglich iſt: ſo ſchwimme ich ſanft den
Strom herab, und folge dem Dichter, der Ein Ge-
fuͤhl nach dem andern in mir aufrufft, Jedes mit
dem andern verſchmelzet, und die Misklaͤnge in ein-
ander aufloͤſet: ſo wird der harmoniſche Einklang
des Ganzen.


Jſt dieſe Harmonie bei einer Epopee aber nicht
Bewunderung? Freilich! Niemand aber denke,
daß dieſe Hauptempfindung die Einzige, eine ganze
Epopee hin, ſeyn muͤſſe: denn wer kann einen lan-
gen ſtarren Blick in die Hoͤhe ertragen? Mitleiden
und Schrecken, und Abſcheu und Zorn, und Ver-
druß
[53]Zweites Waͤldchen.
druß und Verachtung, alles kann nach einander, an
ſeinem Orte, erreget werden, wenn ſich nur jede
Empfindung ſo aus einer andern, in eine dritte
ergießet und verlieret, daß zu letzt ein Echo, wie die
Stimme der Muſen in meiner Seele, bleibe, das
Bewunderung ſey. Dieſen Hauptunterſchied hat
Hr. Kl. nicht beobachtet: ob ich lache, oder mich
uͤber ein Lachen aͤrgere; freudig oder hoͤniſch lache
— ob ich etwas laͤcherlich oder belachenswerth fuͤh-
le — alles iſt ihm einerlei, wenn nur vom Lachen
die Rede iſt.


Und wer iſts wohl, der die Empfindungen der
Seele beſſer und natuͤrlicher auf einander folgen
laſſe, als Homer? Kann denn ein Leſer von griechi-
ſchem Gefuͤhle, der Muſik der Seele hat, es bei
Homer unempfunden gelaſſen haben, wie er einen
Ton der Seele aus dem andern entwickelt, und in
einen andern aufloͤſet — wie keine Stimmung bei
ihm uͤber die andern vorſchreien, mehr als ſie zum
Ganzen Eindruck nachlaſſen ſoll. — Wer dies em-
pfunden, wer dies als eine ſtetige Kraft der homeri-
ſchen Muſe gefuͤhlt: wie ſollte der nicht zittern, den
Tadel nieder zu ſchreiben; „Homer weicht oft aus
„der Gravitaͤt und Dignitaͤt des epiſchen Geſanges:
„Homer wirds ſchwer, zuruͤck zu halten, was Lachen
„erregen koͤnnte, und bringts am ungeſchickteſten
„Orte an: Homer hat, durch ſolche Unartigkeit,
„ſein Gedicht nicht wenig entſtellt: er macht den
D 3„Leſer
[54]Kritiſche Waͤlder.
„Leſer unwillig, verdruͤßlich: man muß Stellen,
„Seiten aus ihm wegwerfen, um im Tone ſeines
„Gedichts zu bleiben.„ O goͤttlicher Saͤnger!
wenn du auflebeſt, ſo gieb doch erſt deinen Leſern
Ohr: gieb ihnen Muſik der Seele!


Die Kritik uͤber den ehrwuͤrdig laͤcherlichen Pa-
ter Ceva mit ſeinem Jeſuskindlein a) kann ich uͤber-
gehen; ſie gehoͤrt nicht hieher, denn Ceva wollte ſchon
ſo ein heroiſchkomiſches Gedicht, oder lieber ein Nar-
rengemiſche, ſchreiben: und welche Ehre! wenn ein
Ceva zwiſchen Homer und Lope di Vega und
Milton ſtehet! — So kann ich auch die lange
Schuldeklamation wider die geſchmackloſen Ken-
ner der Alten b) uͤberſchlagen: die Gelegenheit, die
ſie an dieſen Ort gebracht, ſcheint ſie — — doch
wer will deuten? — Ein Gluͤck iſts, in einem
Buche, wie die homeriſchen Briefe, wieder zwoͤlf
Seiten weg ſchlagen koͤnnen; und ſiehe! es war
Nichts! Nichts fuͤr Homer; fuͤr Wiſſenſchaft, fuͤr
Geſchmack Nichts! —


5.


Statt uns homeriſche Betrachtungen mitzu-
theilen, ſchuͤttet Hr. Kl. einen locum communem
aus ſeinem Collektaneenbuche: ob es uns frei ſtehe,
heidniſche Mythologien in Gedichten zu adopti-
ren
[55]Zweites Waͤldchen.
ren a)? und, nach ſeinen Vorbereitungen zu achten,
iſt dieſe Abhandlung ſehr wichtig.


Zu erſt von der Mythologie in geiſtlichen Ge-
dichten. Nonnus, Sannazaro, Claudian,
(wie der nach Ordnung und Zuſammenhang b)
hieher kommt, wiſſe die allſehende Muſe) Camo-
ens, Dante, Petrarca, Arioſto, Marino,
Taſſo, Milton, Friſchlin, Heinſius
— welch
Gemenge von Namen! — werden uͤber der pro-
fanen Mythologie in ihren Gedichten ſcharf, und,
nach der Reihe hin, getadelt. Jch glaube nicht,
daß eine Kritik, die auf Dichter ſo verſchiedner Zei-
ten und Gegenden mit einerlei Machtſpruche faͤllt,
ſo gruͤndlich, ſo pruͤfend ſey, als ſie uͤber Maͤnner
von ſo verſchiedner Zeit, und ſo verſchiednem Wer-
the ſeyn ſollte.


Einige von dieſen haben lateiniſch gedichtet:
ein Punkt, der die Sache ſehr veraͤndert; denn wer
kann genau ein Haar zwiſchen ziehen, wo die latei-
niſche Sprache aufhoͤre, und die Uſurpation der roͤ-
D 4miſchen
[56]Kritiſche Waͤlder.
miſchen Denkart anfange. Jch weiß, Hr. Kl.
hat die Sache bei Gelegenheit der Recenſion eines
gruͤndlich lateiniſchen Buches ſehr leicht entſchie-
den a): eine ſpashafte Verwunderung uͤber furcifer,
ein paar Unterſcheidungen, und einige Gegencita-
tionen — ſo iſt der Knoten geloͤſet, und Alexan-
der iſt Sieger des Orients. Aber nachdenkende
Liebhaber der lateiniſchen Sprache werden bei man-
chen Worten und Ausdruͤcken noch ſehr zweifelhaft
bleiben; ſie werden mit einem Goldgewichte abwaͤ-
gen, wie weit manche nichts, als lateiniſche Phra-
ſes, andere ſchon Vehikula der roͤmiſchen Denkart
ſind: ſie werden alſo auf die jetzige lateiniſche Poe-
ſie ein Mistrauen ſetzen, daß ſie uns nicht, ſtatt roͤ-
miſchgroßer Gedanken, einen Teppich von roͤmi-
ſchen Wortblumen ſticke, daß man alſo vielleicht
von mehrern neulateiniſchen Versmachern das Ur-
theil faͤllen koͤnne, was Hr. Kl. uͤber Sannazaro
faͤllet b): Præter ſermonis Latini elegantiam, ni-
hil in iis carminibus, quod multa laude dignum ſit,
invenio. Parum aut nihil potius finxit: complu-
res verſus Horatio ſurripuit: ſimilis Horatio, ſed
ut ſimia homini \&c.


Und allerdings iſt auch bei der Mythologie fuͤr
mich der Unterſchied oft zweifelhaft gnug, wo die
Red-
[57]Zweites Waͤldchen.
Redart aufhoͤre, und ein Gedanke anfange? Es
hat Hrn. Kl. gefallen a), bei Vida ſo gar zu billi-
gen, daß das heilige Brot Ceres heißen koͤnne, und
daß, der poetiſchen Phraſis wegen, zu billigen, daß
Chriſtus dem Volke liba Cerealia ausgetheilet, bloß
der Nachahmung Virgils wegen; und gilt das,
was ſollte nicht gelten? So wird mich immer die
unmythologiſche Sprache platt, gemein, unpoetiſch
duͤnken koͤnnen; und ſo wird endlich ein lateiniſches
Gedicht eine Seifenblaſe, wo viel ſchoͤne Farben in
der Sonne mir vorſpielen; ich greife darnach,
und ſie ſind nichts! — Es waren lateiniſche
Phraſes.


Auch Hrn. Kl. ſo genannte horaziſche Oden b)
ſind nicht ohne Mythologie: ſie reden vom Gra-
divus,
und von der Venus, von Muſis und Ca-
moenis,
vom pater Lyaeus, dem ein ganzer Di-
thyrambe mythologiſch geſungen wird, von Faunen
und Dryaden, von Nymphen und Najaden, von
Pierinnen, von Diis und Deabus, vom Phœbus,
und vom Pindus, von Mavors und Bellona, von
Cynthia und Flora, ein ganzes Heer allegoriſcher
Perſonen ungerechnet. Fragt man mich, was al-
le dieſe Namen hier ſollen? nach der Manier Hrn. Kl.
in ſeinen homeriſchen Briefen muß ich entweder ſa-
D 5gen:
[58]Kritiſche Waͤlder.
gen: unſchicklich, eitle Gelehrſamkeit, verdruͤßli-
ches, fremdes Geſchwaͤtz: oder ich ſage: ſchoͤne
poetiſche Phraſes! Nun danke, mein lieber Leſer!


Als die ſchoͤne lateiniſche Poeſie nach jener lan-
gen Barbarei wieder erwachte: als die Sannazars
und Vida’s, und Bembo’s und Fracaſtor’s, geweckt
vom Geiſte der wieder aufgelebten Roͤmer, ſangen:
welcher Phoͤbus Apollo haͤtte ihnen damals das
Ohr zupfen koͤnnen? „Dieſer Ausdruck iſt zu my-
„thologiſch, dieſes roͤmiſche Bild hat noch nicht
„gnug durch den Gebrauch, und durch die Ge-
„wohnheit ſeine mythologiſche Natur abgelegt —
„weg damit! Aber hier mein lieber Vida! ſtehe
Ceres ſtatt panis; dort Muſa ſtatt poetica facul-
„tas: Neptunus pro mari: Vulcanus pro igne:
„Lyaeus pro vino. In his licet originem ſuam ſu-
„perſtitioni debeant, tamen amiſſa fere eſt, ut ita
„dicam, prima vis \& abolita: carmini vero La-
„tino non exiguam elegantiam eadem conci-
„liant
a)!„ Oder artige Phoͤbus Apollo! Wenn
dieſe aberglaͤubiſchen Woͤrter ihre erſte Kraft ver-
lohren haben, wenn ſie ihre Natur ausgezogen,
wenn ihr Gewicht weg iſt; ſo moͤgen alle ſol-
che elegantiæ non exiguæ in den Orkus! Sie
ſind ein elender Flitterſtaat, eine poetiſche Sprache
ohne poetiſchen Sinn, ein Schulgeſchwaͤtz. Jſt
nur dann ein mythologiſcher Ausdruck brauchbar,
wenn
[59]Zweites Waͤldchen.
wenn ihm die Gewohnheit, der alltaͤgliche Gebrauch
ſeine urſpruͤngliche bildvolle Bedeutung entnommen:
ſo iſt er ein Redezierrath ohne Weſen; und vor ſol-
cher Poeſie behuͤt’ uns liebe himmliſche Muſe!


Nein! fuͤr ſchulmaͤßige Phraſesjaͤger will ich
die Erwecker der lateiniſchen Dichtkunſt nicht neh-
men; aber um ſo ſchwerer wird mir die Entſcheidung:
„wie weit kann eine wirklich popetiſche, und in ihren
„Horaz und Virgil verzuckte Seele, in ihrer poeti-
„ſchen Begeiſterung, auch gleichſam an ſeine Goͤt-
„ter und geiſtigen Weſen glaͤubig werden? Wie
„weit kann ſich die horaziſche Laune, der virgiliani-
„ſche Geiſt, inſonderheit, wenn ich in ihrer Spra-
„che ſinge, einſtellen, daß ich Mythologie von ihrer
„Dichtungsart unabgetrennet und unabtrennlich er-
„blicke, daß ich, indem ich, wie ſie, ſingen will,
„auch mit ihrer Mythologie ſinge.„ Wer kann
hier aus dem Stegreife antworten? wer kann in der
Seele derer, die wirklich mit Enthuſiaſmus dichte-
ten, Grenzen ziehen, wie roͤmiſche Begeiſterung,
Begeiſterung aus den Roͤmern geſchoͤpft, Begeiſte-
rung, die ſich ſelbſt in roͤmiſche Sprache ergoß,
hie und da einen Schritt weiter im Ausdrucke zu-
ruͤck bleiben, hie und da etwas vorſichtiger in der
Mythologie ſeyn ſollten: denn ſie dichteten doch Hei-
lig.
Nun ja denn! immerhin heilig; aber Vi-
da
und ſeine Mitgefaͤhrten dichteten auch latei-
niſch, und, zum Ungluͤcke, wollten ſie auch roͤ-
miſch
[60]Kritiſche Waͤlder.
miſch dichten; nun ſtehen wir vor einer dreifachen
Wegeſcheidung — wer kann alle drei mit einmal
gehen, ohne auf keiner zu weit hin zu wanken?


Jch ſehe keinen andern Rath, als daß man
uͤber ein heiliges Sujet niemals Latein, ich mei-
ne roͤmiſch Latein, gedichtet haͤtte! denn immer iſt
eine Miſchung von Sprach - und Denkarten unver-
meidlich. Der Orient ſoll ſich in den Occident
ſtuͤrzen, Geiſt der Religion, und der altroͤmiſchen
Poeſie ſollen ſich umarmen; ein ſeltnes Paar! aus
Cicero ſoll ein Compendium der Theologie geſchoͤpft,
und doch kein roͤmiſcher Begriff dahin uͤbertragen,
und keinem Begriffe der Orthodoxie etwas von ſei-
ner ſyſtematiſchen Strenge benommen werden —
ſchwere Verbindung! Sannazaro will de partu
Virginis
ſchreiben, und zugleich nie ſeinen Virgil
verlaſſen: Buchanan einen Baptiſtes ſchreiben,
und doch ſeine Juden roͤmiſch ſprechen laſſen —
widrige Vermiſchung! Ueberlaͤßt ſich der Dich-
ter dem Geiſte ſeiner Religion; ſo wird er Juͤdiſch-
ſo wird er Chriſtlichlatein zu ſprechen in Gefahr kom-
men; folgt er dem Geiſte der roͤmiſchen Poeſie,
Denkart und Sprache; wie weit von Judaͤa ab
wird der ihn hinfuͤhren! Will er, als ein Helleniſte,
auf beiden Wegen gehen, und Gleichgewicht hal-
ten — unwuͤrdige, ermattende Wachſamkeit! druͤ-
ckendes Joch des Geiſtes, der in der Poeſie nichts
ſo ſehr, als Freiheit, liebet. Der furchtſame matte
Dich-
[61]Zweites Waͤldchen.
Dichter wird an der Erde kriechen, und nie ſich auf-
ſchwingen koͤnnen: denn er ſchrieb fuͤr die Cenſur
zweier Jnquiſitionen, eine chriſtliche (oder juͤdiſche)
und eine roͤmiſche! — Mein Rath alſo, daß man
nie den Bogen der roͤmiſchen Poeſie nach ſo weit von
Rom entlegnen Gegenſtaͤnden ſpannen wollte, wenn
man auch Pindariſche Pfeile haͤtte: man trifft
nicht!


Es verſteht ſich, daß die Dichtungsarten nicht
alle gleiche Schwierigkeiten haben. Eine Hymne,
ein Lehrgedicht, eine Cantate iſt eher geiſtlich und
doch lateiniſch zu liefern; als ein Trauerſpiel, ei-
ne Dichtung, ein Luſtſpiel, eine Epopee. Bucha-
nans
Juden treten als Juden auf; lateiniſche,
roͤmiſche Juden in Galilaͤa! Friſchlins Jſmael in
Meſopotamien, und daſelbſt mit Claſſenlatein!
Sannazars Cerberus, Centauren, Hydern, Proteus,
im Stalle zu Bethlehem! bei einem Trauerſpiele,
Luſtſpiele, Heldengedichte, welche Disharmonie, und
doch faſt wie unvermeidlich! Hr. Kl. alſo haͤtte uͤber
alle dieſe Dichter nicht bloß ſein kritiſches Urtheil
vom Throne hinunter ſprechen, das von andern
ſchon ſo oft geſprochen iſt, ſondern lieber auf die
Urſachen dringen ſollen, die dieſen Maͤnnern
Zwang auflegten. Ohne dieſes iſt ſeine Kritik
eine gute lange Claſſenlektion a), und wem iſt da-
mit gedient?


Zwei-
[62]Kritiſche Waͤlder.

Zweitens, auch die Zeiten und Laͤnder muß
man unterſcheiden, in denen ein Dichter lebte, in
denen und fuͤr welche er ſchrieb. Die meiſten der
geruͤgten Poeten ſind Jtaliener, aus dem Lande der
Alterthuͤmer alſo, aus oder vor den Zeiten, da der
Geſchmack des alten Graͤciens und Latiums wieder
auflebte: Wer wird nun einen Dante, Petrarca,
Sannazar, Vida, Arioſto, Taſſo, Marino aus
allen dieſen Zeitverbindungen ruͤcken, und ſo ſchlecht-
hin vor das Gericht einer fremden Zeit, eines frem-
den Landes fodern; daß ſie das Heilige mit dem
Unheiligen vermiſchet? Der Geiſt der alten griechi-
ſchen Mythologie, aus ſeinem Vaterlande vertrieben,
floh nach Jtalien: Jtalien gab er die Denkmaale
ſeiner Groͤße in Poeſie und Kunſt und Weisheit:
in Jtalien erwachte er wieder; erwachend aber fand
er ein Land, mit einer fremden, der chriſtlichen
Religion bedeckt. Jndeſſen ſtrebte er in die Hoͤhe,
ſchaffte ſich Bewunderer, Anbeter und Nachahmer;
Nachahmer, die in den Begriffen einer andern Re-
ligion, Denkart, und Sprache erzogen waren: was
anders alſo, als eine Vermiſchung zweener fremder
Stroͤme, die gegen einander brauſeten, und end-
lich zuſammen floſſen. Der chriſtliche Kuͤnſtler,
dem Apollo profan war, fiel doch vor ihm, als vor
dem hoͤchſten Denkmaale der Kunſt, nieder: die
Statuen der Goͤtter waren Geſchoͤpfe des Aberglau-
bens, aber auch Geſchoͤpſe der ſchoͤnſten griechiſchen
Kunſt:
[63]Zweites Waͤldchen.
Kunſt: Horaz und Virgil waren Dichter einer
fremden Religion; zugleich aber Dichter der edel-
ſten Natur, der vortrefflichſten Sprache: die My-
thologie eine Sammlung von Fratzenmaͤrchen; aber
auch eine Welt voll ſehr poetiſcher Jdeen. Unter
ſolchen alſo lebten damals Dichter und Kuͤnſtler: ſie
wandelten unter heidniſchen Statuen, und heidni-
ſchen Dichtern, und heidniſchen Sprachen: das
Neue, die Morgenroͤthe des Geſchmacks, hatte drei-
fach ſtaͤrkere Wirkung auf ſie: ſie wurden ſelbſt
roͤmiſche Dichter, und neugriechiſche Kuͤnſtler und
chriſtliche Heiden. Der Cardinal der roͤmiſchen
Kirche war ein heidniſcher Bembo, der neue Horaz
Vida Biſchof von Cremona: das Kind mit chriſtli-
chem Waſſer getauft, ward mit heidniſchen Begrif-
fen des Schoͤnen genaͤhret: die Vermiſchung ward
Geſchmack der Zeit und des Landes. Leo der zehnte
vergab chriſtliche Suͤnden, und wandte die heiligen
Summen auf das unheilige Schoͤne der Heiden: in
die Tempel Jtaliens kam David und Apollo, Chri-
ſtus und Belial neben einander, und die Geſchichte
Jupiters und Leda auf die Thuͤre des heil. roͤmiſch-
katholiſchen Peters.


Wer kann nun ohne Ruͤckſicht auf Zeit, Land,
und Sprache Sannazar und Vida, Dante und Pe-
trarca, Ariofto und Taſſo, und wen weiß ich mehr?
tadeln a) ohne ſie zu erklaͤren, ohne uns auf ihre
Jahr-
[64]Kritiſche Waͤlder.
Jahrhunderte aufmerkſam zu machen, da die ſcho-
laſtiſche Wortgruͤblerei, und die Sprache der
Moͤnchsandacht der Geiſt der Religion war, da das
Land von dieſer Seite unter Nacht und Dunkel lag,
oder da der hellere Geſchmack an den Antiken in
Poeſie, Kunſt und Sprache uͤberwand, ſich in Alles
hineindraͤngen, und dem Ganzen der ſchoͤnen Litte-
ratur ſeine neue Bildung geben mußte. Da alſo
konnte Dante in ſeiner goͤttlichen Komoͤdie Chriſten,
Juden und Heiden, Goͤtter, Engel und Teufel
durch einander miſchen: da konnte Arioſt


le Donne, i Cavalier, l’arme, gli amori

le corteſie, l’audaci impreſe ‒ ‒ ‒

che furo al tempo, che paſſaro i Mori

d’Africa il mare u.ſ.w.

beſingen, und mitten inne auch des Styx und Ache-
rons erwaͤhnen. So unbillig die brittiſchen Proſe-
Critiks
dem Spenſer ſeine Feen, und Shakeſpear
ſeine Hexen vorgeruͤckt: ſo unbillig alte Jtaliener
und Portugieſen, und Englaͤder nach dem Zeitbe-
griffe meiner Religion und Wiſſenſchaft beurtheilen
— auf die Weiſe wird alles ein Chaos.


Klopſtock (ich weiß keine hoͤhere Jnſtanz!)
Klopſtock ſang dem Meſſias ſeinen ewigen Geſang
im Geiſte der Religion ſeiner Zeit, nach den Geſichts-
punkten ſeines Horizonts, nach den Eindruͤcken ſei-
nes Herzens; wer einerlei Natur, einerlei Mittel
der
[65]Zweites Waͤldchen.
der Bildung, Seiten der Anſchauung, Ein Herz
und Eine Seele mit ihm hat, wird ihn aus ganzer
Seele leſen. Einem Oeſt, z. E. werden ſchon viele
Vorſtellungsarten thalmudiſch duͤnken; einem
chriſtlichen Schuͤler des Korans werden manche aus
Arabien entlehnt vorkommen: einem Foſter oder
Sterne in England, und auch das ſind Chriſten!
werden manche noch weit befremdender erſcheinen;
und endlich einem orthodoxen Chriſten des zwoͤlften
oder zwanzigſten Jahrhunderts? — deſſen Urtheil
uͤber den Meſſias moͤchte ich leſen. Wie? wenn
nun ein ſolcher nach ſeiner Zeit fromm und ſelig ur-
theilte? Unbilliger Richter! er ſollte ſich in unſre
Zeit zuruͤckzuſetzen, aus ihr denken und ſprechen: er
ſollte mehr als des Nikomachus Auge haben, um
Helena anzuſchauen. So wie der oberſte Richter
allwiſſend ſeyn muß um gleichſam die eigenthuͤm-
liche Moralitaͤt eines jeden Herzens zu kennen: ſo
ſei (man erlaube mir die kleine Blasphemie vom
Gleichniſſe!) ſo ſei der Richter uͤber Zeiten und Voͤl-
ker, auch des Geſchmacks dieſer Zeiten und Voͤlker
kundig, oder er greift blind in den Loostopf der
Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritiſches
Regelchen herauszulangen.


Und Milton! — Wer Milton mit allen vo-
rigen Miſchern der Religionen in einen gluͤhenden
Ofen zuſammen werfen will a) hat nicht bedacht,
daß
E
[66]Kritiſche Waͤlder.
daß bei ihm dieſe mythologiſchen Vorſtellungsarten
nicht weſentlich zum Baue ſeines Gedichts, ſondern
nur zur Auszierung deſſelben gehoͤren. Er bringt
ſie nicht (wenigſtens nie offenbar!) in die Zeit, aus
welcher,
ſondern in die Zeit, fuͤr welche er ſinget[:]
und ſo werden ſie Gleichniſſe, Schmuck, Verzie-
rung
ſeiner Gegenſtaͤnde; nicht eigentlich Gegen-
ſtaͤnde ſelbſt. Er ſingt fuͤr ſeine Zeit; dieſer ſchwe-
ben unter andern auch aus heidniſchen Schriftſtel-
lern Vorſtellungen im Gedaͤchtniſſe, die ſeine heilige
Vorſtellung zehnfach verſtaͤrken, und einpraͤgen —
einpraͤgen, daß es kaum in ſeiner heiligen Geſchichte
ſolche ſtarke und Nachdrucksvolle Huͤlfvorſtellungen
gaͤbe — warum alſo ſollte er jene wartende Jdeen
in der Seele ſeiner Leſer nicht wecken? warum ſie
nicht aufruffen, um ſeinen heiligen Gedanken deſto
tiefer in die Seele zu praͤgen? Und das thut
Milton!


Er thuts an weit mehr Stellen, als mein la-
teiniſcher Autor anfuͤhret; doppelt aber aͤrgerts mich,
daß er eben die ſuͤßeſten im ganzen Milton tadelt,
aus einem Buche a) das die groͤßeſten Gegner deſ-
ſelben mit Lobſpruͤchen haben uͤberhaͤufen muͤſſen;
naͤmlich „die ſelige Liebe der Stammvaͤter des Men-
„ſchengeſchlechts in Eden.„ Auch Winkelmann,
der in griechiſche Schoͤnheiten entzuͤckt, die Milto-
niſchen
[67]Zweites Waͤldchen.
niſchen Beſchreibungen fuͤr ſchoͤngemalte Gorgonen
erklaͤrte, nimmt dieſe Scene von ſeinem zu griechi-
ſchen Urtheil aus, a) und in der Sprache Miltons
inſonderheit ſelbſt herrſchet hier eine Suͤßigkeit, eine
Anmuth, die uns in das Paradies ſelbſt verſetzet —
und ſiehe! in dieſem Paradieſe eben zeigt ſich eine
kalte hand des Kritikus, um uns einige der ſchoͤn-
ſten Fruͤchte Todbringend zu beruͤhren.


Milton hat ſein Eden mit aller Pracht und
Schoͤnheit geſchildert: Baͤume, Fluͤſſe, Quellen,
Luſtwaͤlder, murmelnde Waſſerfaͤlle, das Chor der
Voͤgel, der Hauch der Fruͤhlingsluͤfte, der Geruch
der Wieſen und Waͤlder — eins nach dem andern
fließt wie Balſam in unſre Seele: meine Phantaſie
iſt erfuͤllet: mein Auge, Ohr, und alle Sinne ge-
ſaͤttigt: ich ſchwimme im Traume der Wolluſt.
Und Milton will mich in dieſem Traum erhalten!
Da meine Sinne geſaͤttigt ſind; ſo ſpricht er zu
meiner Seele: er rufft alle Jdeen ſchoͤner Gegen-
den und Luſtoͤrter, die in meiner Einbildungs-
kraft ſchlafen, auf: und wo giebt es mehr, als aus
Griechenland und ſeinen Dichtern des Vergnuͤgens?
Dieſe ſollen mich in meinem Traume fortwiegen,
ich ſoll die Freude der Wiederſehung genießen, und
ſo nachdem auf ſanften und unmerklichen Stuffen
meine Seele von dem Lebloſen ſich immer lebender
hin, aufgeſchwungen, und jetzt in dem muſikaliſchen
E 2Chore
[68]Kritiſche Waͤlder.
Chore der Voͤgel und der Luͤfte, und der zitternden
Waͤlder ſchwebet: ſo faͤngt ſie, wie aus einem ſanften
Schlaf erwacht, an, die holden Bilder voriger Zei-
ten, die Erinnerungen der Jugend zu ſammlen:a)


— — while univerſal Pan

Knit with the Graces and the Hours in dance

Led on th’eternal ſpring. Not that fair field

Of Enna, where Proſerpin gathering flowers

Herſelf a fairer flowr etc.— — —

— — — — — nor that ſweed grove

Of Daphne by Orontes, and th’ inſpir’d

Caſtalian ſpring, might with this Paradiſe

Of Eden ſtrive; nor that Nyſcian ile

Girt with the river Triton etc. — —

So ſchwebt unſre berauſchte Einbildungskraft wei-
ter, und kommt endlich vom Berge Amara aus
Aethiopien zuruͤck, um im Paradieſe unendlich mehr,
als in allen dieſen Zaubergegenden zu finden. Jſt
dies eine Entheiligung des Gedichts ? ſo iſts eine
Entheiligung des Hoͤchſten unter den Propheten,
des poetiſchen Jeſaias, Jehovah einen Gott der
Goͤtter zu nennen, und ihn Geſaͤnge lang mit die-
ſen heidniſchen Kloͤtzen zu vergleichen! aber wie
erhaben!


Milton hat uns das erſte Paar bis zum Ent-
zuͤcken geſchildert, den Bau ihrer Glieder, und ihre
ver
[69]Zweites Waͤldchen.
vergnuͤgte Mahlzeit, und ihre Liebkoſungen, und
die holde Umarmung der Eva und — Das Lieb-
laͤcheln Adams a)


— — as Jupiter

On Juno ſmiles, when he impregns the clouds

That ſhed May ſlow’rs — —

Welch ein Bild! Jſts Erniedrigung fuͤr
Adam, in ihm den kuͤſſenden Jupiter zu ſehen?
Adam fuͤhrt Eva zur Brautlaube, und da unſre
Seele durch den ſichtbaren Anblick derſelben mit
Freude und Ehrfurcht gleichſam erfuͤllet worden;
da das Auge nicht mehr ſprechen kann: ſiehe! ſo
ſpricht die Phantaſie, gleichſam in einen Traum
voriger Zeiten verſenket b)


— — in ſhadier bower

More ſacred and ſequeſter’d, though but feign’d

Pan or Sylvanus never ſlept, nor Nymph

Nor Faunus haunted.— —

So dichtet Milton: ſeine profanen Gleichniſſe ſind
nichts als Huͤlfsvorſtellungen zum Dienſte ſeiner
heiligen Vorſtellungen: er nimmt zu ihnen ſeine
Zuflucht, wenn Worte innerhalb dem Kreiſe ſeiner
Religion nicht Triebfedern geben, ſeine Jdee ſo
hoch zu ſpielen, als er ſie haben will: und nur dann
irret ſeine Phantaſie in dieſe Zaubergegenden der
griechiſchen Dichtung, wenn er ſchon unſre Sinne
E 3er-
[70]Kritiſche Waͤlder.
erfuͤllet, und jetzt der Seele Zeit laͤßt, die Bilder
ihrer Jugend zu ſammlen. Konnte er dies nicht
thun, als Dichter? Eben dadurch ſchlaͤgt er ja an
unſern Geiſt, daß er gleichſam ſich ſelbſt dichte.
Oder etwa nicht als Dichter der Religion? Was
iſt der Religion wuͤrdiger, als ſolche Vergleichungen
zu ihrer Erhoͤhung? Die Bibel, ja Jehovah ſelbſt
in ihr ſpricht alſo.


Nichts, nichts wundert mich ſo ſehr, als daß
ein compilirter Tadel, der in Britannien laͤngſt ver-
lacht, und verachtet iſt, den nur die Lauder’s und
Magni’s und Voltaire’s gegen Milton haben auf-
bringen koͤnnen, und laͤngſt damit zur Ruhe gegan-
gen, daß dieſer, ohne Gruͤnde und Urſachen, wieder
aufgewaͤrmt, in Deutſchland angehoͤrt werden koͤn-
ne! Einem Kritikus, der Milton blos aus ausge-
riſſenen Allegationen kennen mag, kann ſo etwas er-
wartet kommen, dem aber mag ich keinen beſſern
Lohn fuͤr ſeinen Tadel wuͤnſchen, als daß er ihn nie
im Zuſammenhange kennen lerne! a)— —


Schade,
[71]Zweites Waͤldchen.

Schade, daß unſerm lateiniſchen Homeriſten
die bibliſchen Epopeen, die wir in unſrer Sprache
haben, z. E. ein Noah, Jakob, u. ſ. f. unbekannt
oder nicht in ſeiner Compilation angefuͤhrt geweſen:
welch ein gelehrtes Regiſter mythologiſcher Herrlich-
keiten wuͤrde er da excerpirt haben, zur Freude aller
frommen Chriſten, und zur Lehre der Maͤnner in
Zuͤrich!


6.


Man ſiehet, wie wenig Ueberzeugung das kahle
Verbot ins Allgemeine hin: „kein mythologiſcher
„Name komme in ein geiſtliches Gedicht!„ fuͤr
mich habe: ich muß mich alſo ſchon ſelbſt nach
Graͤnzen der Mythologie und eines chriſtlichen Ge-
dichts umſehen.


Zuerſt rechne ich, wie geſagt, die lateiniſche
Sprache nicht mit: denn ſchwer iſts, zu beſtimmen,
wo der lateiniſche Ausdruck aufhoͤre, und der natio-
nalroͤmiſche, der mythologiſche z. E. anfange. Noch
ſchwerer iſts, uͤber ſo fremde Gegenſtaͤnde, als ein
heiliger Geſang liefert, Lateiniſch, und im Geiſte der
Roͤmer zu dichten; denn entweder wird der Jude
und Chriſt romaniſiren, oder der Nachfolger Vir-
gils und Horaz judaiſiren, helleniſiren muͤſſen.


Zweitens rechne ich die Zeiten nicht mit, da die
Mythologie gleichſam die zweite Mutter des poeti-
ſchen Geiſtes war: und dies iſt die Wiederauflebung
E 4der-
[72]Kritiſche Waͤlder.
derſelben in Jtalien. Jn der Kunſt ſprachen die
ſchoͤnſten mythologiſchen Jdeen dem Auge; in der
wieder erſtandnen Poeſie dem Ohre: ſtatt des trock-
nen Ariſtoteles ward der mythologiſche, allegoriſche
Plato der Lieblingsweiſe Jtaliens: ſolche Begriffe
fuͤllten die Seele. Entweder waͤhlte man die latei-
niſche Sprache dazu, und in ihr ſchien gleichſam
die Mythologie ſchon eingewebt, und unabtrennlich;
oder man waͤhlte doch mythologiſche Dichter zum
Einzigen Vorbilde; wie konnte ſich nun der begei-
ſterte Nachahmer ſagen: ſiehe! hier hoͤrt die Ma-
nier des Dichters auf, und da faͤngt ſeine Religion
an! Und wer ſich dies auch haͤtte ſagen koͤnnen, der
wollte ſichs nicht ſagen, denn aͤcht Latein, aͤcht Roͤ-
miſch zu dichten, war ja nach dem Zeitbegriffe, der
einzige, der hoͤchſte Zweck ſeiner Muſe. — Solche
Zeiten alſo ſoll man erklaͤren, ein allgemeiner Tadel
koſtet wenig.


Drittens ſchreibe ich auch nicht von den Zeiten,
da die Religion, ſo wie ſie damals herrſchend war,
kein reines heiliges Gedicht geben konnte: da die Be-
grifſe von ihr viel zu dunkel, unbeſtimmt, gebro-
chen und aberglaͤubiſch waren, als daß ein Gedicht,
das fuͤr den herrſchenden Verſtand geſchrieben waͤre,
fuͤr uns orthodox, wie ein Gebethbuch, ſeyn koͤnne.
So z. E. die Zeiten des Dante, Arioſts, Taſſo,
Camoens
u. ſ. w. Wenn dieſe Dichter in dem
elenden Geſchmacke ihrer Zeit poetiſches Geraͤth, oder
wenig-
[73]Zweites Waͤldchen.
wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenem
Stabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun,
warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs
aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines
Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus
ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt,
ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen:
denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich-
ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein
Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg-
maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen,
hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be-
ſchaͤme!


Alſo blos von einem in der Religion erleuch-
teten Zeitpunkte:
und wo weiß der Kritikus,
wenn dieſer Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen-
deſchein des Lichts iſt? wo ſoll ers, als Kritikus,
wiſſen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi-
kus entſcheiden; nicht der poetiſche Kunſtrichter.
Der Dichter nimmt den herrſchenden Religionsge-
ſchmack, oder beſſer, ſein eignes Religionsgefuͤhl, wie
er dazu gebildet worden, ſeinen eignen Horizont
von Religionsausſichten, und dichtet. Und ſo
muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abſo-
lute Wahrheit ſuche, nicht daß er frage, ob dieſe
und jene Religionsvorſtellung auch rechtglaͤubig ge-
nau, exegetiſch richtig, philoſophiſch erwieſen; ſon-
dern ob ſie wahrſcheinlich ſey, ob ſie koͤnne poetiſch
E 5geglaubt,
[74]Kritiſche Waͤlder.
geglaubt, gefuͤhlt, beherzigt werden. Das iſt bei
einem juͤdiſchchriſtlichen Gedichte nicht ſchlechthin
die Frage: ob hiſtoriſch genau, der Jude ſeine Af-
fekten ſo gemahlt oder nicht; auf den Fuß waͤre
vielleicht kein Tod Adams, und kein Tod Abels
moͤglich; ſondern ob ſie, nach gewiſſen allgemein
angenommenen Vorausſetzungen,
ſo haben ſpre-
chen koͤnnen. — Jch folge alſo dem Religionsbe-
griffe meiner Zeit, ohne weitere Umwege: wie-
fern vertraͤgt er ſich mit mythologiſchen
Jdeen?


  • 1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrſcht,
    wo Perſonen der Dichtung auftreten, koͤnnen frei-
    lich nicht Weſen der heidniſchen und chriſtlichen
    Religion neben einander handelnd vorgeſtellet wer-
    den; nicht mit einander gleich weſentliche Sub-
    ſtanzen zur Handlung des Gedichts ſeyn. Wenn
    die Muſe und der heil. Geiſt, ein Gabriel und ein
    Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him-
    mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art
    poetiſche Exſiſtenz, poetiſche Handlung auf dem
    Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; ſo
    ſtoßen ſie ſich in unſerer Seele. Jhre poetiſchen
    Subſtanzen heben einander auf: mein Auge faͤhrt
    uͤber ihre beiderſeitige Gegenwart zuruͤck: die Taͤu-
    ſchung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck
    ihrer poetiſchen Erſcheinung. Ein Trauerſpiel ſol-
    cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel von
    Jta-
    [75]Zweites Waͤldchen.
    Jtalien, Spanien, oder von Boͤhmen und Bayern
    ausſtehlich ſeyn: eine Epopee von ſolcher Miſchung
    mag der chriſtlichen Barbarei gefallen; rings um
    uns ſcheint das Licht einer gelaͤuterten Religion zu
    ſtark, als daß nicht Eine ſolche Dichtung die andre
    in den Schatten draͤngen muͤßte.
  • Nur ſetze ich gleich eine Einſchraͤnkung hinzu.
    Nicht deßwegen koͤnnen beiderlei Geſchoͤpfe nicht auf
    Einem Schauplatze, in gleich ſtarkem Licht erſchei-
    nen, weil die Eine Art wahre, die andere Luͤgen-
    weſen,
    oder nach Hr. Klotzens Sprache a), inepta,
    ridicula, falſa, impia, vno verbo ſuperſlitionis
    propria
    ſind, quae a veri Dei cultoribus vſurpari
    non poſſunt.
    Denn ein ſolcher Dichter ſchreibt
    nicht eigentlich, als ein frommer rechtglaͤubiger
    Chriſt, als ein Diener des einzig wahren Gottes,
    der vor aller Mythologie als vor einem ungereim-
    ten, laͤcherlichen, gottloſen, aberglaͤubiſchen Krame
    ſo viel Abſcheu hat, wie vor dem boͤſen Feinde der
    Hoͤlle; ſondern — als Dichter. Er ſchreibt nicht
    eines ſeligen Todes und des Himmelreichs wegen,
    ſondern nur, (der gottloſe Menſch!) um poetiſch ſeine
    Leſer zu taͤuſchen. Er verabſcheuet alſo die Mytho-
    logie, nicht als ein ungoͤttliches Weſen, und als
    eine Geſchichte weltlicher Luͤſte, ſondern weil ſie in
    ſeinem heiligen Poem ſeinem Zwecke, ſeiner Lauf-
    bahn der Gedanken fremde, und dem poetiſch an-
    ſchau-
    [76]Kritiſche Waͤlder
    ſchauenden Leſer widrig ſeyn muß. Auf einem
    andern Schauplatze koͤnnte eben derſelbe Leſer dieſe
    unchriſtlichen, gottloſen Geſchoͤpfe der Luͤgen ganz be-
    haglich ſehen, und vielleicht eben der Dichter, wenn
    er ein Wieland iſt, mit Feuer bearbeiten; aber auf
    dieſen gehoͤren ſie nicht „der poetiſchen Wahr-
    „ſcheinlichkeit
    halben.„ Denn wenn die Maſchie-
    nen der heidniſchen Religion bis zur Taͤuſchung ge-
    glaubt werden ſollen; wie denn aus eben der Ma-
    ſchiene chriſtliche Weſen? Sie wirken dem anſchau-
    enden Auge gegen einander, ſie heben an Wahr-
    ſcheinlichkeit einander auf.
  • 2. Auch wenn der Dichter allein ſpricht: ſo
    ſpreche er in Einem Gedichte von beiden nicht ganz
    auf Eine Art; als wenn er an beide gleich glaub-
    te,
    und ſie beide mit einerlei Wahrheit behan-
    delte,
    Eine Anrufung an den heil. Geiſt und an
    die Kalliope zugleich iſt ungereimt; nicht wieder
    als Gottloſigkeit, als Suͤnde wider den heil. Geiſt,
    ſondern der poetiſchen Taͤuſchung halben. Entwe-
    der ſind beide dem Dichter alsdenn Weſen von glei-
    cher poetiſchen Exſiſtenz; dies widerſpricht ſich —
    oder beide nur Redezierrath, nur poetiſche Figuren:
    dies beleidigt den Leſer noch mehr, denn er kommt
    dadurch zu ſich zuruͤck, um den Wortkuͤnſtler ohne
    inneres Weſen und Leben gewahr zu werden — oder
    Eins von beiden hat nur poetiſche Wahrheit; und
    warum ſteht alsdenn das Andere da? Es hindert
    die
    [77]Zweites Waͤldchen.
    die Wirkung des Erſten. Jn dieſem Stuͤcke hat
    freilich niemand ſo geſuͤndigt, als Sannazar; ich
    wiederhole es aber nochmals — geſuͤndigt, nicht wi-
    der den heil. Geiſt, ſondern wider die poetiſche Wahr-
    heit und Jlluſion.
  • 3. Wo dies nicht iſt, wo die poetiſche Wahrheit
    und Wahrſcheinlichkeit nicht darunter leidet, wo es
    der Congruitaͤt des Gedichts nicht entgegen iſt, an
    mythologiſche Namen, an erdichtete Gegenden zu
    denken — immerhin! Die Mythologie iſt einem
    guten Theile nach hiſtoriſch, oder allegoriſch; ſelbſt
    das Fabelhafte in ihr miſchet ſich mit Geſchichte und
    Allegorie; warum ſollte ſie als ſolche nicht auftre-
    ten? Wenn ſie bekannt gnug, anſchauend, und eine
    Schoͤpferinn großer Begriffe zur Wuͤrde eben des
    chriſtlichen Objekts iſt: ſo kniet ſie als ein Opfer vor
    dem Altare der Religion. Selbſt Religion wollte
    ſie hier nicht ſeyn, ſie ward als Geſchichte, als Alle-
    gorie, als alte Sage, oder als bekannte Dichtung
    gebraucht: und da oft mit einer Wirkung, die an-
    ders woher nicht erſetzt werden konnte — vortreff-
    lich! So Milton, ſo Young, ſo oft die Dichter der
    Offenbarung!
  • Es kann nichts, als ein Reſt der Lieblingsſekte
    ſeiner Jugend a) geweſen ſeyn, wenn Hr. Kl. jeden
    mytho-
    [78]Kritiſche Waͤlder.
    mythologiſchen Namen, jedes fabelhafte Gleichniß
    aus chriſtlichen Gedichten, als gottlos, falſch, un-
    gereimt, laͤcherlich, aberglaͤubiſch auskratzen will.
    Aberglaͤubiſch? Muß ich denn einen Pluto glau-
    ben, wenn ich mich mit Milton an die ſchoͤne Flur
    (und an nichts mehr, als an die ſchoͤne Flur,) erin-
    nere, wo er ſeine Proſerpine entfuͤhrt haben ſoll?
    Laͤcherlich?
    Nun warum denn, wenn ich mit einer
    Erinnerung an den kuͤſſenden Jupiter große Jdee
    erwecke? Laſſet Jupiter vorjetzt nur der hoͤchſte Held
    ſeyn, den ein Dichter denken konnte; wie erhoͤht
    das Miltons Adam! Ungereimt? Falſch? An
    ſich ſelbſt immer! aber der hiſtoriſche oder allegori-
    ſche Sinn, in dem ich ſie anziehe, der iſt nicht
    ungereimt, der iſt nicht falſch! Und endlich gott-
    los?
    Nun ja doch, ja! und ich glaube es Herrn
    Klotzen ſo, als wenn ich ihn noch in der Vor-
    ſtadt zu Goͤrlitz a) predigen hoͤrte; allein Hr. Klotz
    wird alsdenn ſeinen Collegen kennen, der Abbten
    auch der Suͤnde wider den heil. Geiſt beſchuldigte,
    weil er eine nichtswuͤrdige Satyre verdeutſchet
    hatte? Jch ſehe in Milton, Young, und im vier-
    zigſten Kapitel Jeſaia, was mich anbetrifft, nichts
    Gottloſes.

4. Aber
[79]Zweites Waͤldchen.
  • 4. Aber viertens: wo in einem chriſtlichen
    Gedichte die Mythologie keinen poetiſchen Nutzen
    ſchaffet; allerdings, da bleibe ſie weg, denn jedes
    Muͤßige, jedes der poetiſchen Wirkung Widrige muß
    wegbleiben. Jch danke alſo im Namen aller wah-
    ren
    Poeten eines h. Sujets Hrn. Klotzen freundlich
    fuͤr die Erlaubniß, „doch Neptun fuͤr das Meer,
    „und Ceres ſtatt Brot, und Vulkan ſtatt Feuer,
    „und Lyaͤus ſtatt Wein, auch im geiſtlichen Ge-
    „dichte ſagen zu koͤnnen; denn dieſe Worte haͤtten
    „ſchon ihre mythologiſche Kraft verlohren; ſie
    „braͤchten aber eine nicht geringe Eleganz in das
    „Gedicht.„ Elende Eleganz! eben wo ſie ihre
    alte Kraft abgelegt haben, und blos als Wortſchmuck
    gelten; da wirds gerade das erſte Geſetz des wah-
    ren Dichters, zumal des heiligen Dichters, den
    Bettel wegzuwerfen.
  • Jch ſammle das Herausgebrachte, und da zeige
    ich ja doch beinahe ein Facit mit Hrn. Klotzen auf?
    Nicht voͤllig und am meiſten iſt die Rechnungsart
    verſchieden, wie wir unſer Facit herausbringen.
    Hr. Kl. thut einen Machtſpruch: kein Zug der
    Mythologie komme in ein geiſtliches Gedicht! ich
    nehme mir die Freiheit, den Satz ſo einzuſchraͤnken,
    daß er bei jedem Unwahrſcheinlichen in der Poeſie
    gelten muß. Hr. Kl. giebt ſtatt Gruͤnde die Na-
    men: heidniſch, gottlos, falſch, aberglaͤubiſch,
    dumm, laͤcherlich, ungereimt; ich darf ſagen: im-
    merhin!
    [80]Kritiſche Waͤlder.
    merhin! wenn es nur hier nicht unwahrſcheinlich,
    unpoetiſch, der Jlluſion entgegen iſt; befoͤrdert es
    dieſe — vortrefflich! Hr. Kl. tadelt die groͤßeſten
    Dichter; ich entſchuldige einige, und rette ſie aus
    ihrer Zeit; andre lobe ich, und koͤnnte eine Abhand-
    lung geben: „von der vortrefflichen Wirkung frem-
    „der Religionsideen in einem chriſtlichen Gedich-
    „te!„ Hr. Kl. erlaubt die Mythologie nirgends,
    als wo ſie aus dem gradu ad Parnaſſum geborgt,
    eine Blumenleſe poetiſcher Phraſes ohne mythologi-
    ſchen Sinn ſey; ich warne vor nichts ſo ſehr, als
    vor ſolcher ſinnloſen Mythologie, vor ſolchem mytho-
    logiſchen Unſinne! Hr. Kl. hat fromm und chriſt-
    lich geſchrieben; ich wuͤnſchte, als Kunſtrichter der
    Poeſie, gruͤndlich, und nach dem Gefuͤhle poetiſcher
    Leſer geurtheilt zu haben. So gehe ich uͤber dieſe
    Materie mit Hrn. Kl. aus einander.

7.


War ſie aber ſo langer Unterſuchung werth?
Jch glaube: denn welchen bethlehemitiſchen Kin-
dermord wuͤrde Hrn. Kl. Verbot in dem Erhaben-
ſten unſrer geiſtlichen Dichter ſtiften! und unſre
geiſtlichen Dichter (eine Gattung Poeſie, in welcher
wir Deutſche nur den Britten nachſtehen) ſind die
Ehre unſrer Nation.


Der
[81]Zweites Waͤldchen.

Der Heiligſte unter allen, Klopſtock, und
das heiligſte Gedicht deſſelben, der Meſſias! Aber
von welcher Wirkung iſt die heidniſche, die mytho-
logiſche Roͤmerinn in demſelben a), Portia! Wie,
wenn ſie zu beten anfaͤngt:


— — — Mit aufgehobnen ringenden Haͤnden

Stand ſie mit Augen, die ſtarr zum daͤmmernden Him-

mel hinauf ſahn,

Und ſo zweifelt ihr Herz. O du der Erſte der Goͤtter!

Der die Welt aus Naͤchten erſchuff, und Menſchen ein

Herz gab!

Wie dein Namen auch heißt, Gott! Jupiter! oder

Jehovah!

Romulus oder Abrahams Gott! — — —

Jſt er dir ſo feſtlich, der Anblick, die leidende Tugend,

Gott! von deinem Olympus zu ſehn? Er iſt es, den

Menſchen! u. ſ. w.

Sie faͤhrt mit dieſem hohen Gefuͤhle zu beten
fort, und ich bin uͤber das Herz der chriſtlichen Leſer
des Meſſias gewiß, daß daſſelbe nur ſelten eine ſo
hohe Stuffe der Bewunderung Jeſu erreicht haben
wird, als mit dieſem heidniſchen Gebete.


Portia erzaͤlt ihren Traum b): die Erſcheinung
des Sokrates! — — Himmel! wo gehoͤrt So-
krates, der heidniſche Sokrates, in einen Meſſias?
Und
F
[82]Kritiſche Waͤlder.
Und doch weiß ich, daß dieſer Traum, um mit
Klopſtock zu reden, ſich, vor vielen Epiſoden des
Meſſias, in die Seele des Leſers gießen, und im-
mer aus den Lieblingsgedanken, die er am feurigſten
denket, neue Gedanken entwickeln wird,


— — in ſeinem Herzen die feinſten

Zarteſten Saiten gewiſſer zu treffen, und ganz ihn zu

ruͤhren.

Schon wenn Portia anhebt: — —

Sokrates ... zwar du kenneſt ihn nicht; aber ich ſchau-

re vor Freuden,

Wenn ich ihn nenne! das edelſte Leben, das jemals ge-

lebt ward,

Kroͤnt er mit einem Tode, der ſelbſt dies Leben erhoͤhte!

Sokrates ... immer hab’ ich den Weiſen bewundert!

ſein Bildniß

Unaufhoͤrlich betrachtet, ihn ſah ich im Traume. Da

nennt’ er

Seinen unſterblichen Namen: Jch, Sokrates u. ſ. w.

Wenn Hrn. Kl. einzige Urſache gelten ſoll:
„das Heilige ſoll nicht mit dem Unheiligen ver-
„miſcht werden!„ ſo muͤßten dieſe Epiſoden aus
Meſſias weg, und mir ſind ſie unter den theu-
erſten.


Klopſtocks Salomo! Ein bibliſches Sujet,
und alle Leſer haben mit mir, den Contraſt der heid-
niſchen
[83]Zweites Waͤldchen.
niſchen Scenen fuͤr das Ruͤhrendſte im ganzen Trau-
erſpiele gehalten. Wenn Salomo ruͤhren ſoll: wie
anders, als durch ſeine heidniſchen Zweifel. Wie,
wenn der Troſtloſe klaget:


Huͤlfe! Selber meine Freunde

Vermoͤgens nicht. —

Ein Rauch, dem Feind’ ein ſuͤßer Opferdampf,

Mag dieſes Haus verfliegen! meine Kinder

Zerſchmettert werden — —

— — ich will es leichter tragen,

Als was mir unter deiner Fluͤgel Schatten,

O Friede! dies mein Herz verzehrt — das Leben

Zum Tode macht! und kaum des Muͤden Zuflucht

Den Tod noch bleiben laͤßt! Sie iſt dahin

Die Herrlichkeit, die mir gegeben ward!

Dahin iſt meine Weisheit, ſamt der Ruh,

Die ſie mir gab! — Wenn du es biſt, o Moloch!

Vor allen Geiſtern Moloch du!

Der mir dies alles nahm; womit erzuͤrnt ich dich?

Und hab’ ich dich erzuͤrnt, ſo laß doch endlich

Durchs Blut ſo vieler Knaben dich verſoͤhnen!

Und bald kommen Saͤngerinnen Molochs! und
Prieſter Molochs! und Opfer Molochs! ja ſelbſt
wagt es Klopſtock, zween Goͤtzen redend einzufuͤhren.
Jch mag uͤber die letzte Scene nicht urtheilen; aber
die ruͤhrendſten Auftritte bleiben in Salomo immer
F 2die
[84]Kritiſche Waͤlder.
die heidniſchen. Wie ruͤhrt z. E. die unmenſchli-
che abgoͤttiſche Wuth im Opfergeſange Molochs!


Jch mag die bodmerſchen Epopeen nicht durch-
gehen. Waͤren in ihnen die mythologiſchen Dich-
tungen nur oft etwas wahrſcheinlicher fuͤr die Zeit,
und fuͤr den Ort ihres Schauplatzes; am Heiligen
und Unheiligen, an Wahrheit und Erdichtung, an
Juͤdiſch und Heidniſch liegt, wenn ich nichts an-
ders dagegen haͤtte, nichts!


Jch fuͤhle es, ein ſo unbeſtimmt geſagter Ein-
fall iſt zu ſtrohern, als daß ich ſo viel Mine mache,
ihn weg zu heben; Dichter, die gewiß keines uͤber-
ſpannten Enthuſiasmus beſchuldigt werden koͤnnen,
widerlegen ihn. Machtvoll iſt z. E. in der ram-
lerſchen Rhapſodie von einem Gebete — machtvoll
in ihrer Verbindung fuͤr den, der den perſiſchen
Nachdruck kennet, die kuͤhne Anrede:


‘— Und Oromazes und Gott! —’

ohne doch eine huͤbſche Wortphraſis ſeyn zu ſollen.
Stark iſt in Kleiſts chriſtlichem Gedichte von der
Unzufriedenheit der mythologiſche Vorwurf:


— Denkſt du, wie Rieſen der Fabel,

Auf Felſen Felſen zu haͤufen, und, durch den Unſinn

bewaffnet,

Den Sitz der Gottheit zu ſtuͤrmen!

Und
[85]Zweites Waͤldchen.

Und endlich in den vortrefflichen Grenadierslie-
dern: von welcher Wirkung iſt die harte Vermi-
ſchung des Chriſtenthums, und der Mythologie in
dem Munde eines harten Soldaten. Sein Gott
iſt ihm jederzeit, und in jedem Geſange alles: vor
und nach der Schlacht: im Treffen, und im Siege.


— — — waͤr ihrer noch ſo viel,

So ſchlag ich ſie mit Gott!

— — was kann wider unſern Gott

Thereſia und Bruͤhl — —

Mit rechtem Chriſtenmuthe ſtreitet er; und
mit rechter Chriſtendemuth, Gott dankend, preiſet
er Gott nach dem Siege; wie aber? hat der Gre-
nadier darum an gehoͤrigem Orte auch nicht ſeinen
Mars und Apoll? kann er nicht darum auch von
ſeinem Friedrich ſagen:


Frei, wie ein Gott, von Furcht und Graus

Steht er — — du hoher Paſchkopoll

Sahſt ihn, im Heldenangeſicht,

Den Mars, und den Apoll.

Und ſollte deßwegen mein Grenadier kein aͤchter,
guter Chriſtenmann bleiben?


Der, wenn er ſtirbt, bekommt zum Lohn

Jm Himmel hohen Sitz! —

Und deßhalb ſollten ſeine Lieder nicht immer der
Wuͤrde werth ſeyn, die ihnen Abbt anwuͤnſcht, vor
F 3der
[86]Kritiſche Waͤlder.
der Schlacht geſungen zu ſeyn? Entweder muß
uͤberall die Mythologie hier nicht mehr Mythologie;
eine liebe Woͤrterblume ſeyn, oder weg damit!


Jndeſſen will Hr. Kl. uns auch in geiſtlichen
Gedichten nicht ganz leer vom Nutzen der Mytholo-
gie ausgehen laſſen, und ſchlaͤgt vor a): „Beſchrei-
„bungen der goͤttlichen Weisheit und Macht, hohe
„Bilder der goͤttlichen Majeſtaͤt, oft ſo vortrefflich,
„ſo erhaben, daß man ſich kaum vorſtellen kann,
„wie ſie in den Geiſt unglaͤubiger Sterblichen ha-
„ben kommen koͤnnen, und durch deren geſchickte
„Nachahmung der Poet ſeinem Gedichte die groͤße-
„ſte Wuͤrde geben koͤnnte.„ Der Vorſchlag iſt
fromm, aber auch wenig mehr. Wenn Hr- Kl.
nicht glaubt, daß Gott ſelbſt in die Seele des chriſt-
lichen Poeten Bilder einſchiebe, ſo kann ers nicht
fremde finden, daß große Geiſter unter den Heiden
auch große Dinge haben denken koͤnnen, ſie auch
von ihren Goͤttern denken muͤſſen. Jch mag keine
Vergleichungen, inſonderheit in Sachen, die gewiſ-
ſe Leſer ſo gern umzukehren pflegen; allein wer wan-
delte unter edlern Bildern: der alte, oder der heuti-
ge Grieche? Jener zwiſchen ſeinen Goͤttern; dieſer
zwiſchen ſeinen gemalten Heiligen, der Papiſt zwi-
ſchen ſeinen gehauenen Maͤrtrern. Und bei wem
war (ich rede blos von poetiſchen Bildern) ein ſol-
cher
[87]Zweites Waͤldchen.
cher Anblick gelegner, um große Gedanken zu
wecken?


Zu dem: Beſchreibungen der Weisheit,
Macht, Majeſtaͤt, ſind eigentlich keine Mythologie
mehr; es ſind dichteriſche Bilder uͤber mythologi-
ſche Gegenſtaͤnde; mit ihnen hat alſo Hr. Kl. kei-
nen Gebrauch der eigentlichen Goͤtterlehre vorgeſchla-
gen. Dazu iſt dieſer Vorſchlag ſo gemein, ſo be-
kannt, ſo gebraucht —


Ja, wenn ich ſagen ſoll, nicht einmal ſo hoch-
noͤthig.
Jch gebe es gern zu, daß an Abbildun-
gen der Schoͤnheit, der Milde, und einer gewiſſen
menſchlichen Wuͤrde der Gottheit, man von Grie-
chen und Roͤmern lernen koͤnne, inſonderheit, was
die ſchoͤne Kuͤrze, das unuͤbertrieben Praͤchtige,
das Angemeſſene im Ausdrucke ſolcher Beſchrei-
bungen betrifft. Aber Weisheit, Macht, Ma-
jeſtaͤt,
alles Hohe, und gleichſam Unbegreiflliche
in der Gottheit — darinn ſind die Dichter des
Morgenlandes, und die Erſten derſelben, die Dich-
ter des alten Bundes, eine weit reichere, unerſchoͤ-
pfliche Quelle. Jn ſolchen Bildern ſind ein Si-
lius Jtalicus, Ovid, Virgil
und Claudian
gegen einen Hiob, Moſes, Jeſaias und auch
David, wie ein Tropfen gegen einen Ocean: und
Schande iſts, an einem Tropfen zu lecken, wenn ein
Abgrund von Groͤße, Hoheit, Majeſtaͤt vor uns
iſt. Nur eine gefuͤhlloſe kritiſche Seele, die hier-
F 4inn
[88]Kritiſche Waͤlder.
inn einen Milton und Klopſtock hinter einen Si-
lius Jtalicus
und Claudian anfuͤhren; die ver-
ſchoſſenen Purpurlappen aus einem Ovid und Si-
lius
den geiſtlichen Dichtern unſrer Religion, als
Raritaͤten, als theuere Vorbilder, vorhalten darf,
und in unſern heiligen Buͤchern, und in unſern ho-
hen Nachahmern derſelben, das Sonnenmeer von
Majeſtaͤt, den Regenbogen von praͤchtigen Farben
nicht erblicken will, in welchem „die Groͤße und
„Macht
Gottes„ gemalet wird.


Jch gebe es zu, daß dieſe morgenlaͤndiſchen Bil-
der auch oft ein morgenlaͤndiſches Auge fodern: daß
ſie oft in einer Huͤlle des Orients erſcheinen, die uns
dieſelben fremde, oder in einem Glanze, der uns die-
ſelben betaͤubend macht. Ein geiſtlicher Dichter
aber, und der Kritikus dieſes Dichters, ſollte dem die
Huͤlle unuͤberwuͤndlich ſeyn? Sollte er nicht, den
Spuren eines großen Michaelis folgend, ſich ſol-
che Bilder gleichſam in die Sprache und Denkart
ſeines Occidents uͤberſetzen, und ſie alsdenn mit
orientaliſcher Waͤrme fuͤhlen! Die Proben, die
dieſer verdienſtvolle Mann gegeben, liegen in ihrer
Entwickelung da, und wie verſtaͤuben gegen ſie die
Schlacken eines Claudians! Blos das Leichte, das
unſrer Denkart naͤhere, die fuͤr uns faßlichere Evi-
denz dieſer roͤmiſchen Bilder iſts, die uns dieſelben
empfielt. Waͤren die orientaliſchen nach unſerm Au-
genmaaße: ſo waͤre der Vorſchlag unleidlich. Kann
man
[89]Zweites Waͤldchen.
man ſie nicht aber nach ſeinem Augenmaaße ſtellen?
nicht ſeinen Blick zu ihnen erheben? gewoͤhnen?
und kannſt du das nicht, ſo ſiehe die Sonne in die-
ſem ihrem ſtralenden Waſſerbilde! Siehe den Ab-
glanz orientaliſcher Hoheit in einem Klopſtock; von
Erde biſt du, wenn du an einen Silius Jtalicus
hierinn, als Vorbild, zuruͤck eileſt.


8.


„Auch Kuͤnſtler ſollen Gott und Chriſtus wuͤr-
„dig bilden!a)„ Wie todt iſt, was Hr. Kl. hier-
uͤber ſagt, gegen das, was andre geſagt haben.
Hier iſt Klopſtock, da er Winkelmann beurtheilet,
und wem iſt es nicht ein ſehenswerther Anblick, zween
ſolche Maͤnner, zwei Enden des menſchlichen Geiſtes,
zwei Extreme deutſcher Originale, von denen der Ei-
ne unter, der andre uͤber Deutſchland ſeinen Ort ſand
— ich ſage, iſts nicht ein merkwuͤrdiger Anblick, ſol-
che zween Markgrafen deutſcher Hoheit von ihren
Grenzſteinen zuſammen treten zu ſehen, zuſammen
ſprechen zu hoͤren. Das Stuͤck ihres Geſpraͤchs im
nordiſchen Aufſeher b) iſt mir eine Art von Phaͤno-
menon! „Der einzige Weg fuͤr uns, unnachahm-
„lich zu werden, ſagt Winkelmann, iſt die Nachah-
„mung der Alten.„ „Jch wuͤrde, verſetzt Klop-
„ſtock, dieſe Einſchraͤnkung hinzuſetzen: in den Ar-
„ten der Schoͤnheiten, die ſie erſchoͤpft haben.
„Denn welches Genie wuͤrde nicht erſchrecken muͤſ-
F 5„ſen,
[90]Kritiſche Waͤlder.
„ſen, wenn es ſich nicht erlauben duͤrfte, an der
„Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln? Haben
„z. E. die Griechen die Vorſtellungen ausdruͤcken
„koͤnnen, die wir uns von Engeln machen muͤſſen?
„Aber wie vortrefflich haben ſie oft nicht die Goͤt-
„ter vorgeſtellt! Sollten wir nicht die Engel ſo
„machen? Gewiß nicht voͤllig ſo! wir ſollten jene
„Vorſtellungen der Goͤtter uͤbertreffen. Bisher
„zwar ſind wir, von dieſem uͤbertroffen, ſehr weit
„entfernt geweſen. Wir malen Kinderchen, Frau-
„enzimmer, und wenn wir uns recht hoch ſchwin-
„gen, ſchoͤne Juͤnglinge; geben dieſen Figuren Fluͤ-
„gel, und bilden uns ein, Engel vorgeſtellt zu ha-
„ben. So gar Raphaels Michael iſt ein Juͤng-
„ling; und er ſollte doch wenigſtens ein Jupiter
„ſeyn, der eben gedonnert hat. Wenn nun Ra-
„phael vollends einen Todesengel haͤtte machen ſol-
„len; z. E. einen, durch deſſen bloßen Anblick der
„erſtgebohrne Sohn Pharaos niederſinkt. Mi-
„chael Angelo alſo, wird man ſagen. Nein, der
„auch nicht: denn er uͤbertrieb zu oft. Der
„Contour des wahren Großen iſt ſehr fein! Wenn
„die Hand nur ein wenig ruckt: ſo kann es uͤber-
„trieben werden. Wer alſo? Vielleicht ein noch
„ungebohrner Kuͤnſtler, dem es aufbehalten iſt, die
„heilige Geſchichte wuͤrdig vorzuſtellen, naͤmlich die
„meiſten ſchon oft wiederholten, neu, und denn viele
„ſehr erhabene, die noch niemals gemacht worden
„ſind.
[91]Zweites Waͤldchen.
„ſind. Wie wuͤrde ich mich freuen, wenn er ſchon
„lebte, und dies laͤſe. Er iſt es, der noch viel
„was anders ſagen wuͤrde, als die Griechen
„haben ſagen koͤnnen. Gott vorzuſtellen, wuͤrde
„er ſich niemals unterfangen; niemals! aber den
„Verſoͤhner der Menſchen einiger Maaßen wuͤrdig
„abzubilden, wuͤrde er alle Kraͤfte ſeines Genies an-
„ſtrengen, und ſich den großen Empfindungen,
„welche die Religion giebt, ganz uͤberlaſſen.„


Jch laſſe uͤber dieſe klopſtockſchen Gedanken ger-
ne einem jeden ſeine Gedanken; aber, wenn ich ſie,
und die beiden Aufſaͤtze deſſelben Verfaſſers uͤber die
poetiſche Compoſition einiger bibliſchen Gemaͤlde a),
und einige ſtille Winke Winkelmanns in den Schrif-
ten deſſelben, und verſchiedene offenbarere Anmer-
kungen Webbs, uͤber die Gemaͤlde der Religion, zu-
ſammen ſetze: ſo duͤnkt mich dies klotziſche Gemiſche
daruͤber


‘— — Staub, den der Wind zerſtreut.’

Hr. Kl. findet unter allen, die uͤber den Glanz
um das Haupt der Heiligen geſchrieben, keinen, der
die Maler daruͤber getadelt haͤtte: er thuts, und
ſiehet nicht, was ein ſolcher Bogen zur Majeſtaͤt
Gottes thun ſollte? Als Kreisbogen freilich nichts,
aber wenn ſich nur ſeitwaͤrts einige ruͤckbleibende
Stra-
[92]Kritiſche Waͤlder.
Stralen verlieren: ſo ſehe ich nicht, wie dieſe hin-
derlich waͤren. Bei Geſtalten der Heiligen ſind ſie
eine einmal angenommene Symbole, und der Ge-
ſtalt Gottes, (wenn Gott anders menſchlich geſtal-
tet werden ſoll,) ein Zeichen der Majeſtaͤt, ſo fern,
als der Dichter ſinget:


— \& avertens roſea cervice refulſit,

Ambroſiæque comæ divinum vertice odorem

Spiravere — —

oder ſo fern die bibliſchen Dichter auch hierinn gro-
ße Gemaͤlde vom Glanze des Herrn geben. Die-
ſen kann der Dichter innerhalb der Grenzen ſeiner
Kunſt ſo beſcheiden folgen, als die Griechen den poe-
tiſchen Symbolen ihrer Religion folgten.


Ferner hat Hr. Kl. den Einfall a), auch Fluͤ-
gel koͤnnten aus den goͤttlichen Bildungen der Alten
beibehalten werden. Jch will glauben, er meine
nur etwa Engel, oder den gefluͤgelten Blitz in der
Hand Gottes: denn der Gottheit ſelbſt Fluͤgel zu
geben, halte ich, (Hr. Kl. fuͤhre mir noch ein ſo
langes Regiſter von Goͤttern an, die bekannter Wei-
ſe gefluͤgelt gebildet wurden,) unſerm hoͤchſten Got-
te halte ich ein Paar Fluͤgel ganz unwuͤrdig. Kaum
wuͤrdig der Engel, nach den edlen Begriffen unſrer
Religion; wenn nicht, als unterſcheidende Symbole,
wenn
[93]Zweites Waͤldchen.
wenn nicht etwa im Fluge, um denſelben dem
Auge wahrſcheinlich zu machen. Selbſt die Grie-
chen, nachdem ſie die Allegorie nach und nach abge-
ſtreift hatten, in ihren ſchoͤnſten und edelſten Bil-
dungen, warfen dem Jupiter die Fluͤgel ab, damit
er nicht wie ein Jkaromenippus des Lucians erſcheine,
und gaben ſie ſeinem Adler. Jn der That, den
Allerhoͤchſten mit einem Paar Gaͤnſefluͤgeln vor mir zu
ſehen, iſt unleidlicher, als, ihn graubaͤrtig, und als
Greis, zu erblicken. Dies giebt noch eine leidliche
Allegorie von ihm, dem ewigen Vater; aber was
ſoll jenes zu der Jdee des Allgegenwaͤrtigen? —


„Die Griechen bildeten Jupiter auf einem
„Donnerwagen.„ Nun hat es Hr. Michaelis
laͤngſt gezeigt, daß die Cherubim, die Donnerpfer-
de der Juden, wahrſcheinlich Geſchoͤpfe der aͤgypti-
ſchen Einbildungskraft ſind, und daß die Griechen
ihre Donnerpferde Jupiters ebenfalls daher ur-
ſpruͤnglich entlehnet: koͤnnte auch gezeigt werden.
Hier fließen alſo aus Einer Quelle zween Fluͤſſe, und
die Poeten beiderlei Religionen ſcheinen nicht anders
verſchieden zu ſeyn, als daß ſie ſich Eine Vorſtellung,
jeder nach der Art ſeiner Nation, gedacht haben.
Warum ſollte alſo der chriſtliche Kuͤnſtler nicht die-
ſe Bildung der verſchwiſterten griechiſchen Vorſtel-
lungsart ablernen? warum ſollte er nicht auch den
wahren Gott wie einen donnernden Jupiter bil-
den, der ſeinen Donnerwagen und Donnerpferde
mit
[94]Kritiſche Waͤlder.
mit dem Schalle des Schreckens durch den weiten
Himmel jaget?


Hr. Kl. hat fuͤr gut befunden, dieſe Vorſtel-
lungsart anzupreiſen a); und ich faͤnde es bei nahe
gut, davor zu warnen. Der Begriff der Gottheit,
der jetzt, als Hauptcharakter, den Gemuͤthern der
Menſchen beiwohnet, iſt erhabner und gereinigter,
als daß er ein ſolches Bild ertruͤge. Jn den ſinn-
lichen Zeiten der juͤdiſchen Dichter war „furchtbare
„Macht„ gleichſam der Hauptanblick, mit dem
man ſich den Herrn dachte; man ſchrieb nach ei-
nem Jdol der Erziehung, und nach einem herrſchen-
den Zeitbegriffe, dem Wagen Gottes die gewaltigen
Donner zu, die uͤber das juͤdiſche Land hinzogen, und
dahin aus, auf dieſen ſinnlichen Begriff, gehen auch
die hoͤchſten Bilder der Propheten. Jrre ich nicht,
ſo iſt die gemeine Vorſtellungsart unſrer chriſtli-
chen Zeiten darinn ſanfter. Das erſte Bild, das
wir uns von unſerm Gotte machen, iſt vielmehr das
Bild von dem vollkommenſten, weiſeſten, guͤ-
tigſten
Weſen, dem Vater, und unſichtbaren Er-
halter der Welt; als von einem zornigen Donne-
rer, von einem allmaͤchtigen Weltverwuͤſter. Soll
alſo ja der Hoͤchſte gebildet werden, ſo zeige man ihn
in dieſer, fuͤr uns der wuͤrdigſten Stellung, oder
gar
[95]Zweites Waͤldchen.
gar nicht. Die Propheten des alten Bundes ſchuf-
fen Bilder fuͤr ihre Zeit, und auch in dieſer nicht
fuͤr den bildenden Kuͤnſtler: nicht fuͤr den An-
blick des Schoͤnen; ſondern fuͤr poetiſche Seelen,
und in dieſen nichts als der Religionsbegriffe hal-
ben. Der Kuͤnſtler unſrer Zeit thaͤte alſo Unrecht,
wenn er ſich ſolchenfalls damit, als mit bibliſchen
Vorſtellungen, rechtfertigen wollte; denn der Kunſt
hat die Bibel wohl keine Bildergallerie liefern
wollen.


Es bleibt alſo nur das Vorbild der alten Kunſt
uͤbrig, die ihren Jupiter donnerfahrend bildete —
aber ich antworte, das war auch ihr Jupiter, und
nicht unſer Gott! Jener ſeinem Charakter nach der
Donnerer, der


Ελατὴρ ὑπέρτατος [...]ροντᾶς

ἀκαμαντόποδος

Ζευς — —

wie ihn Pindar nennt, erhabner, als die ſpaͤtern
Dichter, die Hr. Klotz anfuͤhrt. Jupiter hatte
einmal nach altem guten Herkommen die Function,
der υψι [...]ρεμετης, κατη [...]ατης, fulminans zu ſeyn,
und wie man ihn mehr nennen will; als ſolcher
konnte er Pferde jagen und Roſſe lenken: das war
Jodialiſch. Ein ſolcher aber iſt nicht unſer Gott
dem Hauptcharakter nach, und eine ſolche Kunſt-
vorſtellung nicht goͤttlich. Die Kunſt arbeitet fuͤr
Einen
[96]Kritiſche Waͤlder.
Einen ewigen Anblick; welch ein Anblick aber, Gott
vor meinen Augen verewigt zu ſehen, als — einen
zornigen Fuhrmann!


Dazu muß Hr. Kl. aus Homer, Pindar und
allen Griechen wiſſen, daß in denen Zeiten, da ſich
Mythologie erzeugte, und die Kunſt galt, ein Pferd,
wie noch bei den Arabern und Aegyptern, ein ſehr
wuͤrdiges Geſchoͤpf, und Pferdeverrichtungen ſehr
edle Handthierungen waren — bei uns nicht mehr.
Was ſagt mir alſo dies Bild Gottes? Nichts, oder
etwas unwuͤrdiges. — Der Kuͤnſtler brauche es
alſo nicht, und laſſe den Klotziſchen Einfall immer
lieber wieder verungluͤcken.


Ueberhaupt weiß ich noch keinen Durchweg,
um zwiſchen den hoͤchſten Foderungen der Religion
und der Kunſt mit einer Bildung Gottes, inſonder-
heit fuͤr ſich ſelbſt, mit Gnugthuung meiner ſelbſt,
durchzukommen. Die Religion zeigt mir den Voll-
kommenſten, den Allgnugſamen, den Geiſt: die
Kunſt bildet Koͤrper, Geiſter geben keine Figur,
das Vollkommenſte hat kein Bild. Hr. Kl. wende
nicht ein a): „Gott ſchreibe ſich ja ſelbſt Haͤnde,
„Hals, Fuͤße, Naſe zu.„ Bekannt! aber jedes
von dieſen theilweiſe, nichts mit dem andern zu-
ſammenhangend, daß es ein Ganzes bilden ſollte,
jedes
[97]Zweites Waͤldchen.
jedes Glied als ein ſinnliches Bild Einer ſeiner Ei-
genſchaften. Die ganze Anthropomorphie Gottes
im alten Bunde iſt alſo nicht bildend, ſondern an-
deutend, ſymboliſch: und in weitem Verſtande der
Alten alſo, Allegorie. Dazu iſt dieſe Allegorie nur
poetiſch: das ſichtbare Bild wird von dem geiſtigen
Glanze, den es bedeuten ſoll, verſchlungen; es ver-
ſchwindet mit dem Worte, und die Jdee, die zuruͤck
bleibt, iſt eine Eigenſchaft der Gottheit.


Wenn kann nun der Kuͤnſtler die Beſchreibung
der Bibel fuͤr eine Erlaubniß halten, Gott nachzu-
bilden? Wenn er ſeine Bildung der Gottheit in je-
dem Gliede derſelben auch ſo andeutend, ſo allegoriſch
machen kann, daß das Zeichen verſchwindet, und
nichts als der bezeichnete Begriff zuruͤckbleibt — in
keinem andern Falle ſehe ich Erlaubniß. Kann ich
Gott ſo zeichnen, daß mir bei ſeiner Hand der All-
maͤchtige einfaͤllt, der Welten waͤgt, und Erden an-
ruͤhret, daß ſie vergehen; außer dieſer Bedeutung
der Allmacht aber das Zeichen, die Hand ſelbſt,
nichts ſey: kann ich Gottes Ohr und Auge blos als
Sinnbilder ſeiner Allwiſſenheit darſtellen, daß ſie
weiter keinen Eindruck laſſen: Gottes Fuß nicht an
ſich, ſondern als den, deſſen Schemel der Erdball
iſt, nicht als der Theil eines menſchlichen Koͤrpers
— kann ich ſo den Geiſt malen und bilden, daß der
Koͤrper nichts, als Sinnbild des Geiſtes, und zwar
des vollkommenſten Geiſtes, iſt: ſo kann ich ein
GBild-
[98]Kritiſche Waͤlder.
Bildniß des Hoͤchſten machen aus Autoritaͤt der
Schrift.


Da dies nicht iſt: ſo laſſe ich ihr Beiſpiel
weg, und vergleiche blos Foderung der Religion
und Beduͤrfniß der Kunſt — und ſiehe! faſt uͤber-
all Gegenſatz. Gott der Unmeßliche — das We-
ſen der Kunſt im Großen und Schoͤnen ſind Schran-
ken. Gott der Ewige, und ſiehe einen erzeugten
Koͤrper. Gott der Allmaͤchtige, der da will und
es geſchieht; die Kunſt kann keine Macht ausdruͤ-
cken ohne Ankuͤndigung einer Bewegung. Gott
der Wirkſame; die Kunſt kennt keine Wirkſamkeit
ohne Bewegung: Gott der Unwandelbare, und ſiehe!
jeder Ausdruck der Kunſt wandelbar und wegeilend!
Wer kann ihn faſſen? wer kann ihn bilden!


Der einzige wuͤrdige Ausdruck fuͤr ihn waͤre
die ſeligſte, allgnugſame Ruhe; allein auch da er-
ſcheint er nur als der ſeligſte, allgnugſame Menſch:
und weil die menſchliche Ruhe nur bei einer Feyer
von tranſitiven Handlungen moͤglich iſt; ſo iſt auch
alsdenn bei der gebildeten Gottheit der Begriff von
Unwirkſamkeit beinahe unvermeidlich: der Begriff
von Allmacht, Allwiſſenheit, Allweisheit, Einwir-
kung wird in ſeinen Ausdruck der Ruhe verſchlun-
gen, das Bild iſt kein Gott mehr. Raphaels
ſchaffender Gott ſteht mit geſenktem Auge, mit zei-
gendem Finger:


Kann der bewundern, Er, der die Sterne gemacht hat!
Rapha-
[99]Zweites Waͤldchen.
Raphaels ewiger Vater ſteht wie ein grauer Greis:
iſt das der Gott, der da bleibet, wie er iſt? Gott
ſehe z. E. auf die Erde herab: iſt das der Allwiſſen-
de, was ſiehet er ewig auf die Kugel herunter?
Siehet er auch was neben ihm iſt? Gott waͤge die
Erde: ſie hat ein Maaß gegen Gott, und muß
dazu ein proportionirtes Maaß haben: was hat
das Bild fuͤr einen Ball in der Hand, um damit
zu ſpielen? — Nun ſetze man noch gar unwuͤrdi-
gere Vorſtellungen: einen klotziſchen Poſtillon mit
einem Brande in einer Hand auf einen Wagen —
Blasphemien! „Wie wollet ihr mich bilden? und
„wem wollet ihr mich vergleichen?„ ſpricht Je-
hovah.


Chriſtus als einen Apollo im Belvedere a)
eben als wenn Chriſtus einen Python im Zorne ge-
toͤdtet — doch hieruͤber mag ein Klopſtock in der
vorangezognen Stelle, und ein Mann von der ent-
gegengeſetzteſten Denkart, Webb, ſprechen. Der
vatikaniſche Apollo wenigſtens ſcheint nicht dem
Charakter des Erloͤſers dem Hauptanblicke nach,
und in der Beſtimmung ſeines Lebens zu entſpre-
chen, ſonſt — — Doch ich werde theologiſch, da
ich doch in der Schule eines poetiſchen und Kunſt-
critikus bin — —


G 2Und
[100]Kritiſche Waͤlder.

Und ei! da lerne ich wieder Etwas Neues!
„Gott auf einem Donnerwagen fahrend!„ Von
„chriſtlichen Poeten erinnere ich mich keinen, der die-
„ſes Bild brauche, als Milton a)„ — Keinen von
chriſtlichen Dichtern? Hrn. Kl. Gedaͤchtniß muß
ihm den aͤrgſten Streich geſpielt haben; denn das
meinige erinnert ſich bei allen chriſtlichen Dichtern
keines haͤufigern, gemeinern, bekanntern Bildes.
Denn iſt Gleim, der Kriegsſaͤnger, kein Chriſt?


Wer hat dich, Pandur,

in Angſt geſetzt, in Flucht gebracht,

Gott, der auf Wolken fuhr.

Jſt Kleiſt kein Chriſt? —


Groß iſt der Herr! Die Himmel ohne Zahl

ſind ſeine Wohnungen,

ſein Wagen ſind die donnernde Gewoͤlk,

und Blitze ſein Geſpann;

und wie der praͤchtige Ton weiter das Bild malet.
Cramer kein Chriſt? —


Wenn nun dein Wagen, Gott der Goͤtter,

Meſſias, donnert, und im Wetter

Dahin faͤhrt — —

Ramler bei der Krippe Jeſu kein Chriſt? —


Jehovah faͤhret durch den Himmel

und ſieht ſein ſeliges Geſchlecht

Wir ſehen Majeſtaͤt! — —

und
[101]Zweites Waͤldchen.

Und ſo glaube ich, denn ich habe aus dem Gedaͤcht-
niſſe geſchrieben, ſo Wieland, Bodmer und jeder
chriſtliche Poet; ich kenne kein bekannteres Bild des
donnernden Gottes. Nur Klopſtock, wenn ich mich
recht erinnere, braucht dies Bild nicht: ſein Gott
ſteigt herunter, den Meſſias zu richten: er rollt
nicht auf einem Donnerwagen, er iſt ſelbſt zu erha-
ben, um zu donnern. Sein Seraph Eloa ſchon
kann tauſend Donner faſſen, und auch der ſteht nur
auf einer Wolke. Ohne Zweifel ſchien Klopſto-
cken das Bild zu niedrig ſelbſt in der Poeſie,
fuͤr den —


‘Der Welten geheim und ſtill dem Untergang zuwinkt —’

und Klotz darfs ſehr vornehm fuͤr die Kunſt em-
pfehlen? So iſts nach jenem Gemaͤlde Galatons:
was Homer ausſpiee, war dem andern Ambroſia!


9.


Die Frage wird weltlicher a) Koͤnnen Dich-
ter, die nicht uͤber Sachen der Religion dichten, die
Mythologie brauchen? Jch thaͤte am beſten, blos zu
uͤberſetzen; aber auch das wird mir ſchwer. Wer
kann einen Mann ertragen, der die Mythologie
nicht anders kennet, als daß es „ Griechen und
„Roͤmern ſo beliebtb), Neptun einen Gott des
„Meeres zu nennen,„ als daß es „den Wiederher-
G 3„ſtellern
[102]Kritiſche Waͤlder.
„ſtellern der Wiſſenſchaft ſo beliebt c), auch die
„Mythologie der Alten (ohne weitere Gruͤnde,) bei-
„zubehalten:„ als daß ſie „auf dem Jrrthum und
„dem Aberglaubend) der Alten beruhe:„ als daß ſie
„nichts als ein Namenregiſter e), Schaͤlle ohne
„Gedanken
enthalte,„ als daß ſie f) „ein bloßer
„Flitterſtaat mittelmaͤßiger Koͤpfe ſey, um ihre
„Gedichte mit hundertmal gebrauchten Gleichniſſen
„aufzuſtuͤtzen:„ wer die Mythologie in Gedichten
blos als ſo Etwas kennet, wie iſt der eines Beſſern
zu belehren? Man muͤßte von Anfange anfangen,
daß von Homer bis zu Virgil noch etwas anders
in dem Gebrauch ihrer Mythologie liege, als boͤſe
Jrrthuͤmer und unchriſtlicher Aberglauben — naͤm-
lich ſehr poetiſche Jdeen. Und ſo haͤtte man erſt
eine Vorausſetzung!


Darauf waͤre zu zeigen, daß von den Wieder-
herſtellern der Wiſſenſchaften die Mythologie noch
etwa anders woher habe koͤnnen beibehalten werden,
nicht als ein beliebiges Gutachten. Vielleicht
naͤmlich der Sprache, der Kunſt, der Poeſie, und
alten Einkleidungen der platoniſchen Weisheit we-
gen. Ob ſie ſie uͤbel nachgeahmet: davon iſt die
Rede nicht, ſondern ob ſie ſie nachahmen doͤrfen?
Und wer weiß es da nicht, daß wir nothwendig mit
der boͤſen irrigen Mythologie zugleich alles haͤtten
ver-
[103]Zweites Waͤldchen.
verlieren muͤſſen: Sprache, Poeſie, Wiſſenſchaft,
Kunſt der Alten — eine ſchwere Verbannung!
Wir wollen den irrigen, aberglaͤubiſchen Ketzer dul-
den; denn mit ihm haͤtten wir, wie die Chriſten zu
Julians des Abtruͤnnigen Zeiten, zu viel verlohren?
Das waͤre die Zweite Vorausſetzung.


Hieraus wuͤrde auch die erſtaunensvolle Frage
beantwortet: warum dies boͤſe Ding, das doch blos
auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru-
het, habe beibehalten werden koͤnnen? eine Blindheit,
die Jahrhunderte durch gedauret! Es waͤre alſo
unmaßgeblich zu zeigen: „daß die Mythologie in
„ihrem Gebrauche wohl e[tw]as mehr, als Schall ohne
„Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnuͤtzer Flitter-
„ſtaat, Gottloſigkeit und Aberglauben geweſen ſey
„und ſeyn koͤnne.„ Wie tief muß eine ſolche De-
duction anfangen! Und was hat unſer chriſtliches
Taufwaſſer mit dem ganz andern Werke zu thun,
in einer ſehr bekannten, ſehr Jdeen- und Bilder-
reichen Sprache poetiſche Zwecke zu erreichen?


Freilich koͤnnte es eine feine Aufgabe bleiben:
„wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo-
„giſcher Jdeen den Griechen und Roͤmern nur be-
„ſcheiden nachtreten muͤſſen?„ Allein hieran iſt bei
meinem Autor, und bei dem beruͤhmten Vorredner
Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch
nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in
Betracht: die bei ihm alles ſind. Gnug! daß es
G 4ihm
[104]Kritiſche Waͤlder.
ihm beliebt, in allen neuern Dichtern die Mytho-
logie fuͤr ſchallenden Unſinn, fuͤr hundertmal ge-
brauchten Flitterſtaat zu erkennen, und nun frage
ich jeden guten Dichter unſres Vaterlandes: iſt ſo
Etwas nicht unter der Kritik?


Wie aber, wenn Hr. Kl. a) uns einen ganz
neuen Erſatz der Mythologie gaͤbe? — Ehe wir
ſein neues Geſchenk preiſen, ſo laſſet uns erſt ſehen,
ob es der Annahme werth ſey, und denn erſt, ob es
als Aequivalent gelten koͤnne? „Was einige be-
„fuͤchten, daß, wenn ſie die alte Mythologie ver-
„loͤren, ihre Verſe kalt und matt werden doͤrften
„— die Furcht iſt vergebens. Liefert uns doch
„unſere heutige Welt ſolch eine Menge neuer Ge-
„danken und Bilder, daß es einem gluͤcklichen
„Kopfe nie an Zierrathe ſeiner Gedichte fehlen kann„
(eben als wenn ein gluͤcklicher Kopf den Bettel
wollte und brauchte!) „Bedenke, wie manches in
„der Naturlehre durch die Bemuͤhung der Men-
„ſchen jetzt entwickelt iſt, was vormals entweder
„unbekannt, oder ſehr dunkel ſeyn mußte. Be-
„merke ferner, daß der Kreis der Erde in neuern
„Zeiten gleichſam erweitert ſey, durch Entdeckung
„der Laͤnder, die vormals unbekannt waren, und
„erwaͤge, welch eine Menge Zierrathen dem Poeten
„daraus erwachſe, weit beſſer, als die Namen einer
„Juno, Pluto, Cerberus, Rhadamantus und
„Cha-
[105]Zweites Waͤldchen.
„Charon.„ Jch weiß, daß dieſer Rath in die
Koͤpfe mehrerer ingenioſorum gekommen: denn
Rathgeben, ſagt Plato, iſt doch eine goͤttliche Sache;
und gegebene Rathſchlaͤge pruͤfen, daͤchte ich, noch
eine goͤttlichere.


Jch ſetze voraus, daß hier die Frage nichts we-
niger, als Wortzierrath, dichteriſchen Schmuck
betreffe, denn jeder Zierrath, der nicht aus der
Sache ſelbſt entſpringet, der erſt geſucht werden
muß, iſt Fehler; wir ſuchen alſo eine innere Berei-
cherung der Poeſie in ihrem Weſen ſtatt der My-
thologie.


„Entdeckungen der Naturlehre!„ Allerdings!
wenn ſie ſo bekannt, ſo faͤhig der poetiſchen Sprache,
ſo reich au Bildern, ſo anſchaulich ſind — als die
Mythologie; allerdings! So verſchwinde jene, wie
Schatten gegen die Sonne, wie Fabel gegen die
Wahrheit: und die Schoͤpfung eines Newtons,
Neuentyts, Swammerdams, Buffons, Reau-
murs, Tourneforts
und Hallers trete an die
Stelle des Fabelkrams eines Apollodors, oder
Natalis Comes. Aber zu welcher eigentlichen
Function ſoll ſie dahintreten? Einzelner Gleich-
niſſe, Bilder
halber? Mit Vergnuͤgen erinnere ich
mich zwar der ſeligen Augenblicke, die mir die tie-
fen Naturgleichniſſe eines Hallers, die unerwar-
teten Arzneigleichniſſe eines Witthofs, der faſt
ganz aus dieſer Welt von Wiſſenſchaften gedichtet,
G 5die
[106]Kritiſche Waͤlder
die faſt immer oͤkonomiſchen Bilder eines Dyers
gebracht haben; aber mit Misvergnuͤgen auch der
unſeligen Augenblicke, die mir die gelehrt ſeyn ſollen-
den Gleichniſſe eines Curtius u. a. erwecket. Blos
als Gleichniſſe betrachtet, ſind die Offenbarungen
der neuern Naturkunde lange nicht ſo des Lichts der
Anſchauung faͤhig, oft ſo ſchwer poetiſch und ohne
Kunſtſprache auszudruͤcken: ſo oft uͤber die Sphaͤre
des common ſenſe unſrer Zeit, fuͤr welchen doch
Gedichte geſchrieben werden muͤſſen, erhoben: ſo oft
fuͤr dieſen ohne Commentar dunkel, und wer will
uͤber ein Gleichniß denn einen Commentar leſen?
endlich weit ſeltner an die eigentlichen Gegenſtaͤnde
der poetiſchen Welt graͤnzend, um ein Drittes der
Vergleichung zu haben, das beide nahe zuſammen-
bringe — und das waren ſie blos als Gleichniſſe.
Gleichniſſe aber ſind hoͤchſtens in Lehrgedichten das
Weſen der Poeſie: Gleichniſſe aber ſind gewiß nicht
der wichtigſte Gebrauch der Mythologie: Gleich-
niſſe alſo machen hier keinen Gegenſatz, nicht die
Mythologie unnoͤthig, nicht die Naturlehre zur
Mythologie.


Fabel, Dichtung, Handlungen, die bis zur
Taͤuſchung eindringen, ſind das Weſen der Dicht-
kunſt, und wie weit weniger kann hier die Natur-
lehre zutragen? Kann ſie der Epopee und Helden-
oper Maſchinen ſchaffen, die mit der Jndividua-
litaͤt, mit der hohen und ſchoͤnen Natur, mit der
charak-
[107]Zweites Waͤldchen.
charakteriſtiſchen Beſtandheit, mit der bekannten
Anſchaulichkeit, mit der Taͤuſchungsgabe handeln
koͤnnen, als in Homer die Goͤtter der Mythologie
handeln — wohlan! ſo treten Gnomen und Syl-
phen, und Nymphen und Salamanders, die ganze
Schoͤpfung des Theophraſtus Paracelſus, und Cor-
nelius Agrippa, die perſonif[i]irte ganze Naturkunde
in die Stelle mythologiſcher Weſen. Kann ſie dem
Drama, der pindariſchen und horaziſchen Ode, der
Fabel, der Erzaͤlung, der Jdylle ſo viele, ſo ſchoͤne
und ſo reiche Dichtung ſchafſen, als die Mytholo-
gie der alten Dichter dieſer Gattungen ſchuff, ſo
trete ſie auf. Hier laſſe ich meine Leſer mit aller
Gemaͤchlichkeit alle Dichter des Alterthums in al-
len Arten der Dichtkunſt, und in jeder ihre gluͤck-
lichen Fictionen aus dem Vorrathe der Mythologie
— nachzaͤhlen: alle neuere Dichter, die aus dieſer
Quelle, es ſey auf was Art es wolle, gluͤcklich ge-
ſchoͤpft, bis auf unſern lieben warmen Wieland zu
— alsdenn uͤberſchlage er, ob ihm das alles Na-
turkunde erſetzen koͤnne, und thue den Ausſpruch.
Meines Wiſſens giebt dieſe einzelne Begriffe, Kennt-
niſſe, Wiſſenſchaft; die Poeſie will Geſchichte, hand-
lungsvolle Begebenheiten, taͤuſchende Fabeln —
welche beide Ende!


Jch ſage nicht, daß nicht aus der Naturkunde
unſre Dichtkunſt noch ſehr mit Wahrheiten und
Bildern bereichert werden koͤnne, daß aus dieſen
Wahr-
[108]Kritiſche Waͤlder.
Wahrheiten und Bildern von einem poetiſchen Kopfe
nicht ſo gluͤckliche Fictionen geſchaffen werden muͤß-
ten, als ein Fontenelle uͤber die Wirbel des Des-
Cartes witzige Einfaͤlle dichten konnte — aber daß
dieſe moͤgliche Ausbeute dem unzaͤhlbaren Reich-
thume mythologiſcher Dichtungen und Geſchichte
und Fabeln je gleichkommen, daß ſie denſelben voͤl-
lig uͤberlei machen koͤnnte, das leugne ich voͤllig!
Aus der Mythologie eben lerne man, die Natur-
kunde dichteriſch zu bilden, nicht aber aus der Na-
turkunde die Mythologie zu verbannen.


Zweitens: „neuere Entdeckungen neuer Laͤnder
„und Welten!„ und was haben uns dieſe fuͤr die
Dichtkunſt entdecken laſſen, das der Mythologie
gleich goͤlte? Baͤume und Pflanzen? So viel ein
indianiſcher Plinius, ein Rumph, eine Merian
u. a. die Welt des Kraͤuterkenners, und den Be-
griff der Schoͤpfung Gottes erweitern: ſo viel Ver-
gnuͤgen und Nutzen man in einem malabariſchen
Garten
finde; ſo doch das wenigſte zum Gebrauche
der wahren Dichtung. Die Namen der neuen
Kraͤuter ſind unpoetiſch; ihre Geſtalt und Unter-
ſchied nicht durchgaͤngig bekannt, nur der Zeichner,
nicht der Wortmaler, kann ſie anſchauend ſinnlich
machen. Zuͤdem ſind ſolche brockesſche Malereien
ja nicht Hauptzwecke der Dichtkunſt, und was z. E.
der Verfaſſer des Zuckerrohrs poetiſches in ſein
Poem gebracht, iſt dem mindſten Theile nach
aus
[109]Zweites Waͤldchen.
aus der Pflanze ſelbſt gepreßt; es iſt Aus-
ſchweifung.


So Gegenden? Außerordentlich wilde Ge-
genden, Wuͤſten, Gebirge, Waſſerfaͤlle ſind ruͤh-
rend, aber nur ſo fern ſie bekannte Jdeen wecken,
die uns ſchon beiwohnen. Jch wuͤrde Niaga-
rens
Waſſerfall in Creuz nicht ſo fuͤhlen, wenn
ich nicht ſchon rauſchende Waſſerfaͤlle kennete, und
hier blos meine Begriffe ſteigen doͤrften. Schlecht-
hin neue Beſchreibungen gewaͤhren alſo dieſe Ent-
deckungen kaum: denn ob der alte Grieche und Roͤ-
mer die Waſſerfaͤlle des Nils, den Euripus, den
Olympus, die Scylla und Charybdis mir uͤber
hiſtoriſche Wahrheit erhoben, iſt nicht die Frage,
nur ob er ſie mir taͤuſchend gedichtet? und von ihm
alſo lerne man auch die neuerlicher bekannten Ge-
genden — Grainger ſeinen amerikaniſchen Platz-
regen, und andre ihre feurigen Luftmeteore dichten;
(denn nach hiſtoriſchen Bildern ſuche ich in Reiſe-
beſchreibungen) und faͤnden da die meiſten ſolcher
Scenendichtungen in den Alten, nur nach Beſchaf-
fenheit ihres Landes nicht ſchon Vorbilder? Wie
feierlich ward aus dem Aetna die Werkſtatt der Cy-
klopen, aus der Gegend bei Pozzuolo der Acheron,
aus den theſſaliſchen Gegenden die Berge der Mu-
ſen, aus den Jnſeln des Moͤris die elyſaͤiſchen Fel-
der u. ſ. w. Jn Landgemaͤlden moͤgen wir alſo
neu ſeyn, im Geiſte des poetiſchen Landmalens, in
Dich-
[110]Kritiſche Waͤlder.
Dichtungen daruͤber muͤſſen wir von den Alten ler-
nen. Dazu iſt ihre Mythologie: ich ſehe ſie alſo
nicht entbehrlich, ich ſehe nicht einmal, recht genom-
men, einen Gegenſatz.


„Vielleicht alſo neue Thier- und Menſchen-
„Gattungen?„ Gut! aber in die Naturgeſchichte
gehoͤren dieſe beſſer, als in die Poeſie; und wenn
auch fuͤr dieſe, als Gegenſtaͤnde, Bildergleichniſſe —
was trifft dieſes die Mythologie zum Gegenſatze?
Eine Fabel, eine poetiſche Dichtungslehre iſt ja kein
Bilderſaal griechiſcher Thiere, Menſchen, Pflan-
zen, Gegenden — beide heben ſich noch nicht auf;
vielmehr kann die Mythologie Muſter bleiben, in
dieſer neuern Thierwelt zu dichten.


Soll es Gegenſatz werden, ſo muß die neuent-
deckte Welt uns ſtatt der griechiſchen eine Gallerie
ſolcher und beſſerer Fabeln, Geſchichte, Dichtungen
liefern. Die hottentottiſche Goͤtterlehre, Kunſtbe-
griffe, Hiſtorien, Gedankeneinkleidungen muͤſſen
an die Stelle der griechiſchen treten. Der Pacha-
kamai
der Peruaner wird Zevs, der Chemiin der
Caraiben wird der große Pan, und der Areskovi
der Huronen der ſchoͤne Apollo. Statt der ſchoͤ-
nen Genien der Griechen wollen wir die Hondat-
konſonas
der Jroquoiſen, und ſtatt der edlen, poe-
tiſchreichen und ſchoͤnen Fabelverrichtungen der al-
ten homeriſchen Goͤtter, ihrer Einwirkung in die
Welt, und ihrer Thaten unter den Menſchen wollen
wir
[111]Zweites Waͤldchen.
wir Fratzengeſchichte der africaniſchen Negern —
welch ein Tauſch! Und Tauſch ſoll doch ſeyn? die
neuentdeckte Welt ſoll uns doch das reichlich und
uͤberreichlich geben koͤnnen, was uns die elende grie-
chiſche Mythologie giebt? Und was giebt dieſe fuͤr
die Poeſie anders, als Dichtungen, Geſchichte,
Fabeln,
in die poetiſche Compoſition gelegt wird,
uns zu taͤuſchen, zu vergnuͤgen.


Haͤtten unſerm Verf. richtige und genaue Be-
griffe vom Weſen der Poeſie, und vom weſentlichen
Gebrauche der Mythologie in der Dichtkunſt der Al-
ten beigewohnt: ſo wuͤrde er ſich ſein Edikt gegen
dieſe, und ſeine Vorſchlaͤge zur Schadloshaltung
jener, ſelbſt erlaſſen haben. Jetzt raͤcht ſich an ihm
Kalliope, wie dort Bacchus am Lykurgus, da die-
ſer ſeinen Wein ausrotten wollte; ſie laͤßt ihn naͤm-
lich die Linie paſſiren, und ſchickt ihn nach Mohren
und Malabaren, um, wie ein Orpheus und Homer
aus Aegypten zuruͤckzukommen, — der Vater
einer neuen Poeſie,
die ſeit Griechen und Roͤmer
Zeiten nicht geweſen.


Non vſitata, nec tenui ferar
Penna biformis per liquidum aethera
Vates, neque in terris morabor

Longius, inuidiaque maior

Vrbes relinquam: non ego pauperum

Sanguis parentum, non ego — —
Stygia cohibebor vnda.

Iam
[112]Kritiſche Waͤlder.
Iam iam reſidunt cruribus aſperae

Pelles et album mutor in alitem

Superne: naſcunturque leves

Per digitos humerosque plumae

Iam daedaleo ocyor Icaro

Viſam gementis littora Boſpori

Syrtesque Getulas canorus

Ales, Hyperboreosque campos

Me Colchus etc. c. Heil zur gluͤcklichen Reiſe!


Drittens und endlich „Allegorie:a)„ Tugen-
„den und Laſter, dieſe und andre Gemuͤthsaffecten
„— wenn ihnen der Dichter Koͤrper beileget, ſo
„wird er theils auf allen Muͤnzen und Edelſteinen,
„theils in Gedichten, welche finden, die er bequem
„gebrauchen kann;„ und nun gehts in ein Re-
giſter.


Bequem gebrauchen kann?„ Hr. Klotz be-
liebe zu ſagen in welcher Gedichtart? Jn Epopeen?
Nie koͤnnen da Mes-Dames „Pudicitia, Ferti-
„litas, Fides, Securitas, Copia, Juſtitia, Ve-
„ritas, Voluptas, Jra, Discordia, Jmpuden-
„tia, Jnvidia
u. ſ. w. das ausrichten, was Ho-
mers Goͤtter und Goͤttinnen wirken. Es ſind Lar-
ven allgemeiner Begriffe, denen perſoͤnliche Be-
ſtandheit, individuelle Bezeichnung, hiſtoriſcher
Charakter fehlt, bei denen man jeden Tritt aus dem
Namen voraus ſieht, die aus einem Worte, wie
jene
[113]Zweites Waͤldchen.
jene Prophetinnen, aus holem Bauche ſprechen,
Wortgeſpenſter. Sie geben kein perſoͤnliches Jn-
tereſſe, keine individuelle Handlung, keine einzelne
Charakterprobe: ſie ruͤhren nicht, ſie taͤuſchen nicht[:]
ſie zerſpringen, wie Waſſerblaſen.


The earth hath bubbles, as the water has,

And theſe are of them. Whither are them vaniſhed?

Alſo in Jdyllen, Fabeln, Erzaͤlungen, uͤberall,
wo es auf vorgeſtellte Fiction ankommt? Kaum!
und eine lange allegoriſche Dichtung, ein allegori-
ſcher Traum macht mir in ſonſt vortrefflichen Wo-
chenblaͤttern a), wenn er nicht außerordentlich kurz
iſt, Kopfſchmerzen. Wenn Allegorie Wahrheit
einkleiden ſoll, damit ſie mehr einnehme, und ſtaͤr-
kern Eindruck mache, ſo muß ſie dieſelbe nicht ver-
deck[en], und den Augen wegſtehlen. Das Frap-
pante, das Außerordentliche im erſten Anblicke der
Entwickelung gefaͤllt, und laͤßt dauerhafte Spuren
in der Seele; wird mir aber ſeitenlang die Muͤhe
des Entwickelns zum ordentlichen Geſchaͤffte ge-
macht; — ſoll ich nicht die Frucht hinter den
Blaͤttern unvermuthet erhaſchen, ſondern zum Tag-
werke Blaͤtter klauben, eine ganze Fiction hindurch
die allegoriſchen Masken entkleiden, und bei jedem
Zuge
H
[114]Kritiſche Waͤlder.
Zuge neu entkleiden; warum ließ mich, da es hier
bloß auf Wahrheit und Muͤhe ankommt, der Dich-
ter die Wahrheit nicht nackt ſehen? ohne Muͤhe der
Entkleidung? ohne langes Geſuch? Mitten im al-
legoriſchen Traume unſrer Wochenblaͤtter ſchlafe ich
ein, und vielleicht viele Leſer mit mir.


Nichts bleibt uͤbrig, als kleine Gedichte, oder
Einfaͤlle in Gedichten: Bilder, Gleichniſſe, Epi-
gramme, Lieder, Oden — „Bilder und Gleichniſ-
„ſe?„ wohl! und die alte Mythologie iſt voll ſchoͤ-
ner Allegorien! Epigramme? Ein Epigramm iſt ein
Bon-Mot in der Dichtkunſt, es gefalle durch ſeinen
Stachel, oder ſeine außerordentliche Simplicitaͤt.
Aber Lieder? Oden? Selten koͤnnen lange durch-
aus allegoriſche Lieder und Oden
gefallen! Jch
danke es Uzen, daß er mir ſeinen ſchoͤnen Morpheus,
als einen Traumgort, nicht als ein allegoriſches Ge-
ſpenſt der Traͤume, vorſtellt. Jch danke es den
Dichtern der Freude, und des Amors, daß ſie die-
ſem Gotte, dieſer Goͤttinn nicht, als Geſpenſtern
eines abſtrakten Begriffes, zu gut allegoriſiren, ſon-
dern lieber einem Gotte der Liebe, einer Goͤttinn der
Freude zu Ehren ſingen. Jenes wird ein trockner
Eichenkranz von ſymboliſchen Praͤdicaten, dies eine
Reihe von Empfindungen, die einem ſolchen gedich-
teten Weſen uͤberhaupt geziemen — ein merkli-
cher Unterſchied!


Wenn
[115]Zweites Waͤldchen.

Wenn Hagedorn der Freude ſinget, bleibet er
freilich nicht mit jedem Zuge der Allegorie treu,
und wollte es auch nicht bleiben. Seine Freude
iſt ihm eine Goͤttinn, der das Vergnuͤgen gefaͤllt,
nicht ein allegoriſches Gerippe derſelben. Er kann
ſich alſo denken, daß ſein Lied „dieſelbe vergroͤßere,
„daß ſie das Gluͤck der Welt, die Kraft der Seele,
„das halbe Leben ſey; daß ſie die Vernunft erheite-
„re, u. ſ. w.„ Praͤdikate, die der Freude uͤber-
haupt zukommen, nicht aber dem perſonifiirten Be-
griffe derſelben, der Freudengoͤttinn, der Hagedorn
frohe Empfindungen opfert, nicht dem allegoriſchen
Wortgemaͤlde — —


Ramler hat ſein Lied in ein ſolches Gemaͤlde
veraͤndern wollen. Er loͤſchte die Striche aus, die
bei der allegoriſchen Figur nicht Statt fanden; er
that neue hinzu, die ſie ſichtbarer machten. Er gab
der Freude Kinder, er machte ſie ſelbſt zum Kinde
des Himmels, er verwandelte die Kenner, perſon-
neller in Dichter der Freude; er machte lieber eine
lange Parentheſe, ehe er dieſe mit einer andern alle-
goriſchen Perſon, dem Gluͤcke, haͤtte vermiſchen laſſen;
er gebot ihr die Geſellſchaft unvernuͤnſtiger Bacchan-
ten zu fliehen; — kurz! er blieb, in jedem Zuge,
dem Bilde einer allegoriſchen Perſon treu. Hat er
das Lied verbeſſert? Als ein allegoriſches Poem, frei-
lich; aber, als ein Geſang der Empfindungen, der
Freudengoͤttinn geſungen, ohne dieſelbe ins Stamm-
H 2und
[116]Kritiſche Waͤlder.
und Wapenbuch zu malen? — kaum! alle, wie
mich duͤnkt, haben Ramlern getadelt, und keiner
den Grund beruͤhrt, der ihn verfuͤhrt habe, und ein
Ramler wird nie ohne Grund irren. Will ich
ein allegoriſches Lehrlied auf die Freude; ſo waͤhle
ich Ramlern — will ich einen Freudengeſang,
der Freudengoͤttinn geſungen, ſo Hagedorn!


Nur gar zu ſehr iſt Ramler ein Freund ſol-
cher Allegorien, und zerſtoͤrt dadurch oft die Har-
monie des Liedes. Gefuͤhl iſt der Ton der Lieder,
und nicht eine Charakteriſtik allegoriſcher Weſen,
die, wenn ſie einmal eine todte Symbole mitten in
die Reihe lyriſcher Empfindungen hinein ſtoͤßt, alles,
wie Eis, erkaͤltet. Hagedorn ſingt im Tone des
ſanfteſten Abendvergnuͤgens ſeinen Morpheus, die
Wuͤnſche, das Verlangen ſeines Herzens: Ram-
ler nimmt eine aͤgyptiſche Kohle, und reißt eine Hie-
roglyphe daraus. Die ſchwarze Hieroglyphe aber
ſchreckt das Chor aller Abendfreuden aus ein-
ander: — —


Gott der Traͤume, Kind der Nacht,

Das mit Mohn in Haͤnden

Gaukelnde Geſtalten macht — —

Gnug! ſchoͤn zu einer Deviſe auf ein Bild des
Schlafes, nicht zum lyriſchen Geſange, nicht zu ei-
nem hagedornſchen Liede.


Soll-
[117]Zweites Waͤldchen.

Sollte, in Gedichten der Liebe, Amor nichts,
als die perſonificirte Liebe, das Abſtractum dieſes
Begriffes in allegoriſche Geſtalt eingekleidet ſeyn —
arme Dichter der Liebe! das Reich eurer Phantaſie
iſt verwuͤſtet. Nicht mehr der mythologiſche Amor mit
allen ſeinen Geſchichtchen; eine metaphyſiſche Mas-
ke iſt euer Geſang. Alsdenn z. E. ſind die jacobi-
ſchen Taͤndeleien von Einem Amor, von dieſem und
jenem Amor, vom Amor, der Lerchen faͤngt, der
jetzt verſchwindet; jetzt uns eine Stunde Friede laͤßt;
jetzt unvermuthet unter Schmiedeknechten beim Vor-
beipaſſiren gefunden wird; jetzt, wie ein fliegendes
Jucken in der Haut wiederkommt; fade. Alsdenn
ſchrumpft das Reich erotiſcher Weſen in die wenigen
ſteifen Herrlichkeiten ein, die Hr. Kl. von ſeinen
Gemmen uns vorzaͤlt, und auch die ſind nicht ohne
mythologiſche Zuͤge. — — Kurz! wenn Hr. Kl.
ſeine Behauptungen nur halb uͤberdacht, kaum haͤt-
te ers ſich ſelbſt verantwortet, den mythologiſchen
Achtsbann niederzuſchreiben, der alle unſre Dich-
ter aus ſeiner poetiſchen Republik treibet. Jch hof-
fe, die Muſe werde dem neuen Plato, fuͤr einen
ſo buͤndigen Reichsſchluß, ſanfte Ruhe verliehen
haben!


10.


Der Reſt der homeriſchen Briefe wird uns,
wie ich glaube, den Weg verkuͤrzen.


H 3Hr. Kl.
[118]Kritiſche Waͤlder.
  • Hr. Kl. lobt Homer uͤber ſeine genaue Charak-
    teriſtik der Helden a); laͤngſt laͤngſt bemerkt, be-
    kannt, und beſſer ins Licht geſetzt.
  • Hr. Kl. vertheidigt Homer, daß er ſich in Klei-
    nigkeiten wiederhole b). Laͤngſt vertheidigt, und
    ſonſt ſchon genauer auf die „Ruhepunkte ſeiner
    „epiſchen Muſe,„
    und auf eine kleine ſuͤße Ge-
    ſchwaͤtzigkeit
    der Griechen zuruͤck gefuͤhrt.
  • Hr. Kl. ſchweift weit aus uͤber die Nachlaͤßig-
    keit der Kuͤnſtler in Nebenſachen c). Nichts
    Neues!

Ueber die edle Nachlaͤßigkeit der Schriftſtel-
ler d) Ein Gemiſche ohne Grundſaͤtze und Be-
ſtimmung, das uns erſt die weiſe Simplicitaͤt, und
die ſtrenge Schoͤnheit im erneſtiſchen Aufſatze e) die-
ſes Jnhalts um zehnmal mehr fuͤhlen laͤßt. Er-
neſti,
in dem Geiſte des Cicero, beſtimmt, bewei-
ſet, ſchraͤnket ein, macht die edle Nachlaͤßigkeit, die
er empfielt, liebenswuͤrdig; und da er zu eben der
Zeit mit der abgemeſſenſten Sorgfalt ſpricht: ſo
kommt er dem Misbrauche ſeiner Lehre zuvor. Un-
ter den Haͤnden unſers Autors wird die liebenswuͤr-
dige Nachlaͤßigkeit zu einer regelloſen und unſtaͤten
Franchezza, ſo in ſeiner Lehre, und ſo in ſeinem Bei-
ſpiele.
[119]Zweites Waͤldchen.
ſpiele. Vergebens gab ihm die Muſe die Gabe des
leichten Vortrages, wenn dieſer unuͤberdacht, ohne
Plan, Gruͤnde und Ordnung umher ſchweifet.
Keinem pruͤfenden Leſer wird dieſe leichte Freiheit,
„ſchoͤne Nachlaͤßigkeit der Alten„ duͤnken; dem
Halbkenner aber, und dem laͤßigen Schuͤler, der
nur auf ſolche Lehren wartet, wird ſie ſowohl im Un-
terrichte, als Beiſpiele, verderblich.


  • Hr. Kl. vergleicht das homeriſche Bild der
    Zwietracht mit den Gemaͤlden andrer Dichter a).
    Jch wuͤrde nicht vergleichen wollen, wenn ich die
    andern Dichter nicht geleſen. Das Bild der Zwie-
    tracht in Arioſt, in Taſſo, und wo weiß ich mehr?
    inſonderheit das klopſtockſche große Bild der Reli-
    gionszwietracht b) ſollte nicht vergeſſen ſeyn: denn
    das letzte uͤbertrifft Homer.
  • Hr. Kl. giebt die Scene von Hektors Tode,
    und den Klagen uͤber ihn, aus Homer c). Jch
    weiß nicht, wie ich die Gabe nennen ſoll. Nicht
    Ueberſetzung, nicht freie Ekphraſe: weder lateiniſche
    Periodenproſe, noch homeriſche Cadenzen; ein wi-
    driges, und inſonderheit, „in den Bindungen
    „der Rede,„
    widriges Mittelding, in dem Ho-
    mer, ohne Staͤrke und Leben, zerriſſen da liegt.
  • Hr. Kl. giebt uns zu dieſen menſchlich ruͤhren-
    den Klagen Parallelen, und die bekannte Geſchichte
    H 4des
    [120]Kritiſche Waͤlder.
    des Ugollino in lateiniſchen Verſen a). Nach dem
    Gradu ad Parnaſſum ſind die Verſe ſchoͤn; mit der
    meinhardſchen Proſe verglichen, matt und kraftlos.
    Die Macht der Simplicitaͤt des Jtalieners; die kur-
    ze Wuth des Schmerzes in demſelben, bei jedem
    neuen Anfalle; die ruͤhrenden Einſchiebſel deſſelben,
    die, wie ein einſylbiges Ach! die Rede ſtoͤren, iſt hier
    in ſchoͤne lateiniſche Verſe verfloſſen, ganz ver-
    floſſen.
  • Hr. Kl. giebt den Auftritt der Andromache,
    und des Aſtianax mit Parallelen ruͤhrender Kinder-
    ſcenen b). Jch weiß nicht, wer ein Deutſcher iſt,
    und die Scene des Benoni im Meſſias auslaſſen:
    ich weiß nicht, wer Kinderſcenen paralleliſiren, und
    nichts aus den Trauerſpielen der Britten nennen
    darf. Nicht mit Homers Aſtyanax, aber wohl mit
    ſhakeſpearſchen Scenen konnte Leſſings Arabelle ver-
    glichen werden, wenn es verglichen ſeyn ſollte.
  • Hr. Kl. zeigt, daß die Roͤmer oft griechiſche
    Dichter und Kuͤnſtler nachgeahmet c). Zu bekannt!

Daß Homer oft das Stillſchweigen ſehr gluͤck-
lich gebraucht d). Die angefuͤhrten Beiſpiele ſind
nicht geſondert. Jn einigen iſts ein Stillſchweigen
der Weisheit, in andern der Hoheit, in andern des
Affekts; gar nicht alle und jede zu einem und dem
naͤmlichen Zwecke. Jn einigen iſts ein eilfertiges,
in
[121]Zweites Waͤldchen.
in andern ein betaͤubendes, in dritten ein ſchmerzli-
ches, unausſprechlich ſchmerzliches Stillſchweigen;
und endlich ein Zug des Erhabnen. Den letzten
hat Moſes Mendelsſohn entwickelt, und die erſten
haͤtte Hr. Kl. ſo entwickeln ſollen. — —


Das Ende der homeriſchen Briefe verliert ſich
voͤllig im Sande. Der Verfaſſer bekennet: „er
„habe geſchrieben, was ihm in die Gedanken, und in
„die Feder gekommen, daß er ein gutes Gewiſſen
„dem Ruhme gelehrter Verdienſte vorziehe, daß ein
„andrer Ausleger Homers freilich auch andre Dinge
„uͤber denſelben ſagen koͤnne: Ego vero quid ha-
„beo, quod me extollam? Voluntas atque ardor
„nunquam defuit, ſed defuere alia
a) — —„
Nur wie? wenn Hr. Kl. homeriſche Briefe ſchrei-
ben wollte, warum, daß er nichts wuͤrdigers ſchrieb?
wenn er das Andenken Homers erneuern wollte, wa-
rum that er nicht, wie jener Therſagoras bei Lucian,
an Homer ein Gebet, ihn wuͤrdig ſchreiben zu laſſen?
Warum uͤbergab er der Welt ſeine Scherbenſamm-
lung von Meinungen fuͤr homeriſche Briefe?


Als homeriſche Briefe hat ſein Buch, dem Jn-
halte nach, der eines Theils nicht tief gnug uͤber-
dacht, andern Theils, gar zu gemein, und auf allen
Scheidwegen bekannt, iſt, und, dem Vortrage nach,
der aus einer Parentheſe von Materie, leviſſimus
transfuga!
in eine andre faͤllt, und keine erſchoͤpft;
H 5in
[122]Kritiſche Waͤlder.
in beiden haben die homeriſchen Briefe vielleicht nur
den ſicheren Nutzen, Homer durch eine feine Figur,
die man Jronie nennt, zu loben. Sie klagen ihn
als einen unzeitigen Lacher, an, damit man es deſt[o]
tiefer bei ihm fuͤhle; alles ſey bei ihm an ſeinem Or-
te. Sie beſchuldigen ihn der Ungeſchliffenheit der
Sitten ſeiner Zeit, damit man in dieſen die edle Ein-
falt ſo mehr bewundere, liebe, und kennen lerne.
Sie fodern ihn vor, daß er dem Leſer manchmal be-
ſchwerlich falle; und um ſo fleißiger uͤbe ich mich,
die Muſik in ihm zu empfinden, die eine Empfin-
dung, wie eine Welle aus der andern hebt, und in
eine dritte fort waͤlzet. Sie loben nur παρεργα
an Homer, daß ich das eigentliche Weſen ſeiner
Muſe deſto inniger verehren lerne. Sie ſcheinen,
ihn nur aus Parallelen fuͤhlen zu wollen; ich liebe
die Schoͤnheiten in ihm, die ſich nicht plenis buccis
vergleichen, die ſich kaum in Augenſchein ſetzen,
kaum in Worte einfaſſen; aber deſto mehr, an ih-
rem Orte, homeriſch empfinden laſſen. Sie neh-
men ſeinetwegen Gelegenheit, die Mythologie zu
verbannen, und zu verkleinern; ich, die Schoͤnheit,
und poetiſche Congruitaͤt der homeriſchen Mytholo-
gie zu beherzigen. Sie halten es fuͤr die ſchoͤnſte
Nachlaͤßigkeit, vom Hundertſten aufs Tauſendſte
zu kommen; mein Homer immer bei der Stange
zu bleiben — — So will ich ſie zu erſt; als-
denn den Griechen ſelbſt leſen, und ihm nach-
her
[123]Zweites Waͤldchen.
her jedesmal ein Stuͤck dieſer homeriſchen Briefe
opfern!


— — animamque poetæ

His ſaltem accumulem donis, \& fungar inanl

Munere — —


II.
Ueber die Schamhaftigkeit
Virgils.



1.


Der Verfaſſer homeriſcher Briefe bietet mir ſei-
ne Hand dar a), mich von der Bildſaͤule des
griechiſchen, zur Statue des roͤmiſchen Homers
zu fuͤhren, und mir denſelben in aller Groͤße und Lie-
benswuͤrdigkeit zu zeigen. Daß dies ſein Zweck
ſey, bezeuget der lange Eingang b) von Klagen,
daß man die Alten nicht recht leſe, treibe; ſie alſo
auch nicht ſo lieben koͤnne, als — als Hr. Kl. uns
vermuthlich an Virgil zeigen will.


Dazu
[124]Kritiſche Waͤlder.

Dazu aber, dazu duͤnkt mich das klotziſche The-
ma wohl nicht das gewaͤhlteſte. Noch ſo genau
ausgefuͤhrt, kann es uns Virgil, als einen ſcham-
haften, keuſchen, zuͤchtigen Dichter, vorſtellen, es
kann ihn uns, als einen moraliſch reinen Geſellſchaf-
ter, empfehlen; ob aber deßwegen, als einen unter-
haltenden, liebenswuͤrdigen Geſellſchafter? ob, als
einen vortrefflichen Poeten, deſſen Genie begeiſtern,
deſſen poetiſche Kunſt lehren koͤnne? Das ſehe ich,
im Thema, nicht unmittelbar enthalten. Anmer-
kungen hieruͤber werden Ausſchweifungen ſeyn muͤſ-
ſen, oder — kurz! die lange Klagenvorrede vom
unwuͤrdigen, genieloſen, unpoetiſchen, unangeneh-
men Gebrauche der Alten, ſteht nicht an ihrem Or-
te. Auch das ſelbſt iſt ein unpoetiſcher Gebrauch
Virgils, wenn ich in ihm darauf ausgehe, Zucht
und Keuſchheit aufzuſuchen; nicht ſein Genie, ſeine
Kunſt, ſeine poetiſche Ader. Statt die Schoͤnhei-
ten, die entzuͤckenden Schoͤnheiten ſeiner Muſe, zu
betrachten, iſts wohl eine wuͤrdigere Ocularinſpec-
tion, ob Virgils Muſe auch — eine reine, keuſche
Jungfer ſey? Wuͤrdige Bemuͤhung, aber fuͤr
fromme Großtanten, und fuͤr kunſterfahrne Heb-
ammen wuͤrdig, nicht fuͤr den entzuͤckten Liebhaber
in der erſten Umarmung.


Um aller keuſchen Muſen und Gratien willen!
will ich der Schamloſigkeit der Dichter nicht das
Wort reden, und die Schamhaftigkeit der Schrift-
ſteller
[125]Zweites Waͤldchen.
ſteller uͤberhaupt herunterſetzen. Jch wuͤnſche, daß
der Geiſt der feinern Lebensart, oder warum darf
ich nicht ſagen? des zuͤchtigen Chriſtenthums, ſich
auch in Schriften zeige, und daß man minder die
Ehrfurcht verlaͤugne, die man der Wuͤrde des Pub-
licums ſchuldig iſt — ein Name, der den Meß-
Schriftſtellern unſrer Zeit beinahe ſo fremde, uto-
piſch und laͤcherlich geworden, als er, den Griechen,
inſonderheit die fuͤr Athen, fuͤr die Welt und Nach-
welt ſchrieben, ehrwuͤrdig war. Der moraliſche
Geiſt, mit welchem unſer Jahrhundert durchdrun-
gen ſeyn koͤnnte, ſollte uns einen moraliſchen Ver-
derb, den unſre Schrift ſtiften koͤnne, wichtiger und
gewiſſenhafter machen, als zehn poetiſche Schoͤnhei-
ten. — — Dies gilt auch, und noch mehr von
Poeten; denn ihr Gift iſt ſuͤßer, fließt leichter ein,
wirkt laͤnger und ſtaͤrker. — —


Auch will ich das nicht geſagt haben, daß man
in Bildung der Jugend uͤber die moraliſchen Be-
ſchaffenheiten eines Dichters voͤllig hinweg, und nur
die poetiſchen Schoͤnheiten anſehen ſolle: daß ein Vir-
gil und Catull gleich gute Autoren der Jugend ſeyn,
und die Priapea etwa die goldenen Spruͤche Pytha-
goras abwechſeln koͤnnten. Vor wem ſoll man
mehr Ehrfurcht haben, als vor einer unverdorbnen
Jugendſeele! Unter einer Menge beobachtender
Juͤnglinge iſt man vor den Schranken des ſchaͤrf-
ſten Publicums. — —


Dies
[126]Kritiſche Waͤlder.

Dies alles an ſeinen Ort geſtellt, iſt hier die
Frage: ob man bei Dichtern, als Dichtern, vor-
zuͤglich auf Bemerkung ihrer Scham und Reinig-
keit ausgehen? ob der poetiſche Kunſtrichter Zuerſt
ein Zuchtrichter ſeyn ſolle? Und das glaube ich,
ſoll er, vermoͤge poetiſcher Zwecke, und des poeti-
ſchen Gefuͤhls halben, nicht. Jch verſtehe Hrn.
Kl. nicht, wenn er ſagt a): quanta enim ſtultitia eſt,
ca de ſe commemorare facinora, quæ ſi quisquam
alius a nobis patrata eſſe diceret, cœlum commove-
remus \& terram, injuriamque nobis fieri clamare-
mus, gravi pœna expiandam, maculamque omni
modo delendam noſtræ famæ inuri? Hujus tamen
bonæ famæ cur ipſi negligentes ſumus?
Denn
Hr. Kl. wird doch nicht die bona fama eines Poeten
fuͤr den Jnhalt halten, den er beſinget? Er wird
doch nicht Leſſings bona fama darnach beurtheilen,
wenn er ſingt:


Es donnert. Ja es donnert ſehr.

Weg mit dem Weine! Was nicht trinken?

Nein, Bruder! nein! der Heuchler Heer

Mag knechtiſch auf die Kniee ſinken u. ſ. w.

Nicht ſeine bona fama daraus beurtheilen,
wenn er an ſeiner Angelika nichts auszuſetzen findet,
als — —


— Einen
[127]Zweites Waͤldchen.
— — Einen Fehler treff’ ich an,

Der alles nichtig macht.

Sie liebet ihren Mann.

Nicht ſeine bona fama daraus beurtheilen, wenn
er mit dem Tode capituliret, ein und kein Tuͤrke
ſeyn moͤchte, Alexanders Wunſch nachahmet, der
Faulheit Loblieder ſinget u.ſ.w. Denn ſonſt, wenn
Leſſing Klotz waͤre, certe cœlum commoveret \&
terram, injuriamque ſibi fieri clamaret, gravi pœ-
na expiandam, maculamque omni modo delen-
dam ſuæ famæ inuri: quod quisquam alius a no-
bis patrata eſſe diceret, quæ de nobis facinora ipſi
commemorabamus.
Ungluͤck gnug aber, daß Leſ-
ſing, Gleim, Uz, Weiße, Gerſtenberg, Wieland
auf ſolche bonam famam nicht achteten.


Es waͤre doch recht artig, wenn kuͤnftig ein
Lobredner unſres deutſchen Anakreons der bonæ fa-
deſſelben ein ſolches Ehrendenkmaal aus ſeinen
anakreontiſchen Liederchen erbauen wollte, als Hr.
Harles aus einigen ſehr charakteriſtiſchen Stellen
der klotziſchen Gedichte, da er ſich ſelbſt, als Held,
als Freund, als Gelehrter, als Weiſer, als Dich-
ter ꝛc. mit dichteriſcher Offenherzigkeit preiſet, ſehr
ernſthaft und buͤndig hat errichten wollen a)
— ar-
[128]Kritiſche Waͤlder.
— armer Gleim! wehe alsdenn deiner bonæ
famæ!


„Schon in ſeiner Jugend, wird der Biograph
„deſſelben ſehr avthentik erzaͤlen: ſchon in ſeiner Ju-
„gend zeigte ſich in Gleimen der uͤppige Hang zum
„weiblichen Geſchlechte, der ihm ſeine meiſten Ge-
„dichte nachher eingegeben. Als ſein Vater ihn
„die edle Rechenkunſt a) nach Pfunden und Tha-
„lern, und Winſpeln und Centnern, und die guͤlde-
„ne Regel-de-Tri lehren wollte, dachte der unarti-
„ge Knabe ſchon an nichts, als Maͤdchen. Nichts
„ſobald lernte er, als ſpielen, kuͤſſen, und war
„nachher ſchamlos gnug, andre in dieſe Schule
„einzuladen, und ihnen dies, als die erſte Lection,
„anzupreiſen b). Seine Eltern wollten, nach chriſt-
„licher Zucht und Ermahnung c), ihn zu etwas
„Nuͤtzlichem anhalten: ſeine fromme und chriſtli-
„che Mutter beſtimmte ihn zum ehrwuͤrdigen Seel-
„ſorger: ſein Vater zum Mediciner; aber nichts
„lernte der Knabe. Er beſtimmte ihn zum Ad-
„vocaten; auch da waren ihm nur die Haͤndel der
„Verliebten ſein Kram, und wer weiß, wie man-
„che ungerechte Vertheidigung, um eines ſchnoͤden
„Lohnes willen — — doch ein Chriſt ſoll nicht
„lieblos urtheilen. Nur dauret mich das eigne
„Geſtaͤndniß deſſen, das er an ſich ſelbſt zu ruͤhmen
waget.
[129]Zweites Waͤldchen.
„waget. Sein ganzes Geſchaͤffte a) ſchlafend, traͤu-
„mend, wachend, iſt an Maͤdchen denken; ja oft,
„bekennet er, habe das Rauſchen der Kuͤſſe ihn zum
„Schlafe einwiegen muͤſſen — wer weiß, was
„vorher gegangen? Selbſt nicht die ſchoͤnſte Ge-
„gend, und die ſchoͤne Geſellſchaft eines Kleiſts war
„dem Verwoͤhnten zum Vergnuͤgen nicht gnug oh-
„ne ſeine Doris b): denn an dieſer, und am Weine
„hieng ſein Herz und ſeine Seele. Jn ſolcher Denk-
„art iſt es nicht zu bewundern, daß ihm inſonder-
„heit die Diener Gottes im Wege ſind c): denn
„die werden zu ſeiner Uepigkeit nicht ſtille geſchwie-
„gen haben; aber der Wohlluͤſtige ſuchte ſich lieber zu
„verhaͤrten. Sein boͤſes Gewiſſen mag ihm wohl
„zuweilen zugeſetzt haben; aber er entſchlaͤgt ſich dem
„Geſchrei deſſelben; er ſpottet uͤber Hoͤlle und Teu-
„fel d); er ſcherzt mit dem Tode e), wird aber ſei-
„nen Spott unter den Haͤnden deſſelben theuer gnug
„haben bezahlen muͤſſen. Er verlacht den Eifer
„der Gottesgelehrten, und hat ſich eine Moral von
„Lebenspflichten f) gezimmert, die atheiſtiſch, gott-
„los,
J
[130]Kritiſche Waͤlder.
„los, und der ganzen menſchlichen Geſellſchaft
„ſchaͤdlich iſt, und die wir anfuͤhren wollten, wenn
„wir es nicht fuͤr unſre Chriſtenpflicht hielten, uns
„fremder Suͤnden nicht theilhaftig zu machen. Ja,
„wenn doch nur die bluͤhenden Jahre unſers gefaͤhr-
„lichen Schriftſtellers mit ſolchen Taͤndeleien fort
„gegangen waͤren; nun aber waͤhlt er ſich noch
„u. ſ. w. — —


BONÆ. FAMÆ. POETÆ
FRIDERICI. GVILIELMI. GLEIMI
HOC. MONVMENTVM
AD. REGVLAM. POETICO. CRITICAM
VIRI. PERILLVSTRIS
CHRISTIANI ADOLPHI KLOTZI
POSVIT, A.

Gewiß! ſo wenig ſich Bruder Yorik auf die
caſuiſtiſchen Streitfragen ſeines Didius, und auf
die Subtilitaͤten des alten Gruͤblers Shandy ver-
ſtehen wollte: ſo unlieb will ich bei meinem Worte
gehalten ſeyn, um jeder kleinen Schnurre von Ge-
dichte ihre Moral und Keuſchheit vorzuzeichnen, es
bei dem frommen Wieland auszumeſſen und auszu-
waͤgen,
f)
[131]Zweites Waͤldchen.
waͤgen, wie viel Grade chriſtliche Zucht in ſeinen
komiſchen Erzaͤlungen, oder, wie viel Quentchen un-
ſchuldige Einfalt in Roſts Schaͤferſtunden enthal-
ten ſeyn moͤgen. Der Letzte iſt geſtorben, aber den
boͤſen Wieland, Uz, Gleim und Leſſing empfehle
ich zur fruͤhzeitigen Buͤßung und Bekehrung, bei
Hrn. Klotz a) die Todesangſt, und die reuige Pali-
nodie eines Campans, den bußfertigen letzten
Wunſch des La-Fontaine, das ſchreckliche Ende der
luͤderlichen Leute Regnier und Grecourt, und die
ſcharfe Epanorthoſe des Beichtvaters Young zu le-
ſen, und thraͤnendwaͤßrige Bußlieder, oder bis zum
Gaͤhnen erbauliche Kirchengeſaͤnge, als Opfer —
doch ich bin ja kein Caſuiſte.


Alle ruͤhrende Todesfaͤlle und Bußgedanken
uͤbergangen, nehme ich bei Herr Klotzen nur Eins
in Anſpruch, daß die bona fama ehrlicher
Dichter nicht nach ihren Geſaͤngen beurtheilt
werden muͤſſe, daß ſie ſeit ewiger Zeit das Pri-
vilegium von ihrem Luͤgengott Apollo empfan-
gen, Dinge von ſich ſelbſt ſagen zu koͤnnen, die
ihnen kein andrer, der bonae famae wegen, nach-
ſagen darf: und daß man ihnen, dieſen leichtſinni-
gen Schleuderern von Einfaͤllen, eben nicht durch-
aus den Ruͤckſprung wehren doͤrfe, den Teucer Hin-
ter den Schild Ajax nahm: caſtum decet eſſe poe-
tam, verſus etc.
daß es wenigſtens immer einen
J 2weſent-
[132]Kritiſche Waͤlder.
weſentlichen Unterſchied zwiſchen der Sittlichkeit
der Verſe und des Lebens gebe u. ſ. w. Wer mit
dieſen Rettungen nicht zufrieden iſt, wende ſich an
das Archiv des Apollo, wo er das Original des
Privilegiums findet.


Jch rede als Privatleſer fort. Dichter, als
Dichter, macht ſich anheiſchig, uns auf eine oder die
andre Art mit einer Fiction zu taͤuſchen, taͤuſchend
zu vergnuͤgen, dies iſt ſein Geſetz: Und dahin ſtre-
ben auch ſeine Zwecke, er mag Charaktere ſchildern,
oder die Fabel dichten, oder die Rede beſtimmen,
oder ſelbſt reden: Und dahin aus ſoll er auch beur-
theilet und geleſen werden. Nehmet ihr denn, kann
er ſagen, mein Gedicht zur Hand, um Beichtvaͤter
meines Lebens abzugeben, um meine Zucht und
Ehrenwaͤrter, oder um meine poetiſchen Leſer zu ſeyn?
Wie, wenn ihr das erſte wollet, warum blaͤttert ihr
lieber nicht in Henkels letzten Stunden, und tra-
get dahin, außer andern Beiſpielen, auch das Ende
bußfertiger Schriftſteller; eines an Leib und Seele
kranken Campanus, eines Fontaine, aus dem ſeine
Pflegerinn, geſchweige ſein letzter Gewiſſensrath,
machen konnte, was er wollte? Woher, daß ich euer
Erbauungsſtifter ſeyn ſoll, da ich mich gegen euch
zu nichts verſtanden, als euch durch meine Fabel,
durch mein Drama, durch die Sitten meiner Per-
ſonen, durch meine eigne Reden, zu — taͤuſchen?
Wollet ihr eure Seele dieſem illuſoriſchen Reize
nicht
[133]Zweites Waͤldchen.
nicht oͤffnen; ſo ſchlaget mein Buch zu; wir ſind
keine Leute fuͤr einander; an mich habt ihr kein meh-
reres Recht, als ich euch gebe, naͤmlich daß ich euch
mit Dichtungen in Traum ſetzen, nicht daß ich euch
wachend lehren wollte. Auf unmittelbare Moralen,
trocken und ſchlaͤfrig, wie ihr ſelbſt, kommt bei mir
nicht zu Tiſche: wenn ihr euch meine laſterhaften
Charaktere, meine Taͤndeleien moraliſch merken
wollt, ſo thuts nicht um darnach zu handeln, ſon-
dern um ſie zu erkennen. Gewoͤhnet euch, aus mei-
nem leichtſinnigen und ſcherzhaften Geſchwaͤtze nur
immer dazu, auch in ſchwatzhaften Auftritten dieſer
Art, wo ſie euch wirklich im Leben erſcheinen, Ge-
ſchmack zu beweiſen, ſie auch hinter ihren Masken
nicht zu verkennen, und euer Urtheil ſchon laͤngſt-
her daruͤber ſicher zu haben — Nutzen gnug von
meinem Geſchwaͤtze. Jn meinem Buche koͤnnt ihr
immer ohne Koſten der Unſchuld lachen; nur muͤſ-
ſet ihr mich weder im Boͤſen noch im Guten, zuerſt
und vorzuͤglich fuͤr Etwas nehmen wollen, was ich
nicht bin — Sittenlehrer durch Vorſchrift oder
Beiſpiele. Virgil iſt ein epiſcher Dichter, kein
Cuſtos des ſechſten Gebots.


Jch will nicht ſagen, daß ich die Sorgfalt der
Dichter fuͤr Ehrbarkeit und Zucht etwa verſpotten,
oder geringſchaͤtzig machen wollte: ſie bleibt ſchaͤtz-
bar und nachahmenswuͤrdig. Aber auf ſie, als auf
Hauptaugenmerk ausgehen, kann keine poetiſche Le-
J 3ſer
[134]Kritiſche Waͤlder.
ſer deſſelben bilden, zeigt keinen poetiſchen Leſer deſ-
ſelben an, verruͤckt vielmehr die Sphaͤre eines blos
poetiſchen Leſens voͤllig. Fromm mag ſie ſeyn, aber
auch nichts weiter; ich will das Auge meines Juͤng-
lings nicht verwoͤhnen, bei Dichtern dergeſtalt einen
Kundſchafter der Ehrbarkeit abzugeben, ſonſt wird
er kein poetiſcher Juͤngling. Ein tugendhafter
Juͤngling aber? Recht gut! „Die Tugend, ſagt
„der Landprieſter von Wakeſield, die immer und
„immer eine Schildwache noͤthig hat, iſt kaum der
„Schildwache werth!„ — —


2.


Jener frug: was iſt Wahrheit? und ich wer-
de wohl ſehr weitlaͤuftig, was Schamhaftigkeit
ſey? fragen muͤſſen, da Hr. Klotz nicht etwa uͤber
die perſoͤnliche Schamhaftigkeit Virgils allein, ſon-
dern auch und inſonderheit uͤber die Schamhaftig-
keit, die in ſeinen Gedichten herrſcht, ſpricht, und
mit Allgemeinſaͤtzen auf ſo viel andre ſchamhafte
und ſchamloſe Griechen und Roͤmer beian zieht,
daß mir uͤber das weite Thema Angſt und bange
wird. Man erlaube mir alſo, mich auf eine Be-
ſichtigung der Schamglieder ſo vieler Schriftſtel-
ler, aus verſchiedenen Zeiten und Voͤlkern und Gat-
tungen, zum Voraus mit der Frage zu wapnen:
„worinn die Schamhaftigkeit uberhaupt beſtehe?
„wie ſich einzeln aͤußere?„


Jn
[135]Zweites Waͤldchen.

Jn keiner Aeußerung iſt die Schaam wohl
menſchlicher und in unſerm Weſen profunder, als
wenn ſie ein Schleier wird, die Neigungen der Liebe
zu bedecken. Rouſſeau mag unterſuchen, wenn der
Menſch aus einem vierfuͤßigen Thiere ein aufrecht-
gehender Menſch geworden; ſeitdem er ein auf-
rechtgehender Menſch iſt, ſo ſcheint dem Triebe der
Liebe ein andrer Trieb zum Geſellſchafter gegeben
zu ſeyn, der heißt Schaam; inſonderheit beim
ſchwaͤchern Geſchlechte. Selbſt an Thieren will
man etwas Aehnliches mit ihm bemerkt haben; wo
aber auch nicht, ſo iſt doch ſelbſt bei menſchlichen
Thieren, den Wilden, die natuͤrlichſte Handlung des
Geſchlechts nicht ohne dieſe Huͤlle; und man koͤnnte
vielleicht Wahrſcheinlichkeiten angeben, warum ſie
darohne nicht ſeyn dorfte? Vielleicht iſt bei Men-
ſchen der erſte Trieb weniger Jnſtinkt, weniger
Naturzug, als bei Thieren; daß er alſo durch den
Reiz eines Triumphs, durch kleine zu uͤberſteigende
Schwierigkeiten, durch die begleitende Schaam
verſtaͤrkt werden mußte. Vielleicht war, inſon-
derheit beim ſchwaͤchern Geſchlechte, dieſer
Schleier noͤthig, weil in ihm, wie im Schleier
der Venus bei Homer, die Liebe, der Reiz, und
das Verlangen wohneten, weil er ein Band ſeyn
ſollte, Jupiter ſo an den Willen der Juno zu knuͤ-
pfen, als Juno ſonſt, wenn es auf Gewalt ankam,
an der guͤldnen Kette Jupiters hieng: vielleicht
J 4wuͤrde
[136]Kritiſche Waͤlder.
wuͤrde ohne dieſen Vorhang wiederum der Trieb
des andern Geſchlechts, ſo wie die uͤbrigen, nicht in
den Schranken des Beduͤrfniſſes bleiben, und denn,
mehr als alle uͤbrige, das Menſchengeſchlecht zu
Grunde richten — Vielleicht ſey Vielleicht: die
Folge ſelbſt iſt gewiß: die Natur gab aus weiſen
Urſachen der Goͤttinn Genethyllis eine Vor-
gaͤngerinn:


— — die wohlbewachte Schaam

Die Juͤngſte der Charitinnen.

Worte eines Weltweiſen (dergleichen wir jetzt
nicht ſo gar viele haben,) duͤnken mich hieruͤber ſo
neugeſagt, und doch ſo altmenſchlich empfunden,
daß meine Leſer ihn gerne ſtatt meiner hoͤren wer-
den a). „Die Schamhaftigkeit iſt ein Geheim-
„niß der Natur, ſo wohl einer Neigung Schran-
„ken zu ſetzen, die ſehr unbaͤndig iſt, und indem
„ſie den Ruf der Natur vor ſich hat, ſich immer mit
„guten ſittlichen Eigenſchaften zu vertragen ſcheint,
„wenn ſie gleich ausſchweift. Sie iſt demnach
„als ein Supplement der Grundſaͤtze hoͤchſt noͤthig:
„denn es giebt keinen Fall, da die Neigung ſo
„leicht zum Sophiſten wird, gefaͤllige Grundſaͤtze
„zu erkluͤgeln, als hier. Sie dient aber auch zu-
„gleich, um einen geheimnißvollen Vorhang ſelbſt
„vor die geziemendſten und noͤthigſten Zwecke der
„Natur
[137]Zweites Waͤldchen.
„Natur zu ziehen, damit die gar zu gemeine Be-
„kanntſchaft mit denſelben nicht Ekel, oder zum
„mindeſten Gleichguͤltigkeit veranlaſſe, in Anſe-
„hung der Endabſichten eines Triebes, worauf die
„feinſten und lebhafteſten Neigungen der menſch-
„lichen Natur gepfropft ſind. Dieſe Eigenſchaft iſt
„dem ſchoͤnen Geſchlecht vorzuͤglich eigen, und ihm
„ſehr anſtaͤndig. Es iſt auch eine plumpe und
„veraͤchtliche Ungezogenheit, durch die Art poͤbelhaf-
„ter Scherze, welche man Zoten nennet, die zaͤrt-
„liche Sittſamkeit deſſelben in Verlegenheit oder
„Unwillen zu ſetzen. Weil indeſſen, man mag
„nun um das Geheimniß ſo weit herumgehen, als
„man immer will, die Geſchlechterneigung doch al-
„len uͤbrigen Reizen endlich zum Grunde liegt, und
„ein Frauenzimmer, immer als ein Frauenzim-
„mer der angenehme Gegenſtand einer wohlgeſitte-
„ten Unterhaltung iſt, ſo moͤchte daraus vielleicht
„zu erklaͤren ſeyn, warum ſonſt artige Mannsper-
„ſonen ſich bisweilen die Freiheit nehmen, durch
„den kleinen Muthwillen ihrer Scherze einige feine
„Anſpielungen durchſcheinen zu laſſen, welche ma-
„chen, daß man ſie loſe oder ſchalkhaft nennet,
„und wo, indem ſie weder durch ausſpaͤhende Blicke
„beleidigen, noch die Achtung zu verletzen geden-
„ken, glauben, berechtigt zu ſeyn, die Perſon, die es
„mit unwilliger und ſproͤder Mine aufnimmt, eine
Ehrbarkeitspedantinn zu nennen. Jch fuͤhre
J 5„die-
[138]Kritiſche Waͤlder.
„dieſes nur an, weil es gemeiniglich als ein etwas
„kuͤhner Zug vom ſchoͤnen Umgange angeſehen
„wird, auch in der That von jeher viel Witz iſt
„darauf verſchwendet worden; was aber das Ur-
„theil nach moraliſcher Strenge anlangt, ſo gehoͤret
„das nicht hieher, da ich in der Empfindung des
„Schoͤnen nur die Erſcheinungen zu beobachten und
„zu erlaͤutern habe.„


Jch finde, die Beobachtungen meines Philoſo-
phen ſo genau und unterſcheidend, daß ich ſie auf
der Bahn meines Zweckes als ein wuͤrdiges Vor-
bild, nachzuahmen und zu erreichen wuͤnſche. —
Es giebt ſich alſo die Frage; wie fern und worinn
die Schaamhaftigkeit eines Schriftſtellers ſich aͤuſ-
ſern ſolle?


Hr. Klotz antwortet fuͤr ſeinen epiſchen Poeten:
darinn, daß der Jnhalt ſeines Gedichts ſorgfaͤltig
ausgewaͤhlt, daß wenn in demſelben Dinge vor-
kommen, die nackt geſagt, das Ohr beleidigen, er
der Schamhaftigkeit ſeiner Leſer ſchone, daß er
das κακοφατον, das iſt, Ausdruͤcke, die zweideutig
ſcheinen koͤnnen, vermeide. — man ſieht, daß mit
dieſem Fachwercke noch nichts geſagt iſt, daß dahin-
ein erſt Realien kommen muͤſſen, ehe man urthei-
len koͤnnte. Da faͤngt Hr. Klotz zum Ungluͤck am
unrechten Ende, vom κακοφατον, an. a)


Das
[139]Zweites Waͤldchen.

Das κακοφατον iſt nach Quintilians Beſchrei-
bung a), ſi mala conſuetudine in obſcoenum in-
tellectum ſermo detortus eſt
: und nun ſage man,
wie es ein Kennzeichen der wahren Schamhaftig-
keit eines Volks? wie es die erſte Probe von der
Schamhaftigkeit eines Schriftſtellers, eines Poe-
ten, ſeyn koͤnne? Ein Volk, das in den Graͤnzen
der wahren Schamhaftigkeit bleibt, wird ſich nicht
einfallen laſſen, dieſen und jenen Ausdruck auf einen
obſcoͤnen Sinn mit den Haaren herbei zu reißen, es
wird nicht aus Worten, quae longiſſime ab ob-
ſcoenitate abſunt, occaſionem turpitudinis rapere,

es wird nichts vom κακοφατον wiſſen. So z. E.
die bibliſchen Dichter in ihren Zeiten der unſchuldi-
gen Einfalt: ſo die alten Griechen; ſo, nach den
Beiſpielen eben des Quintilians, die alten Roͤmer.
Jhr Salluſtius dachte daran nicht, daß eine ſpaͤ-
tere uͤppige Zeit ſein ductare exercitus und patrare
bellum
obſcoͤn verſtehen wuͤrde: er ſagte es ſancte
\& religioſe:
er begieng alſo ein κακοφατον. Wer
war nun ehrbarer, der es begieng, ohne daß ers
wollte, oder der es zuerſt zum κακοφατον machte,
der die Bedeutung deſſelben obſcoͤn verdrehete, der
den Ausdruck nothzuͤchtigte? Ohne Bedenken, der
letzte! und eben das Volk, der Schriftſteller iſt der
ehrbarſte, der von keinem κακοφατον weiß — ge-
rade das Widerſpiel, als was Herr Klotz be-
hauptet.


Wie
[140]Kritiſche Waͤlder

Wie gutherzi[g] iſt nun die Bewunderung un-
ſres Schriftſtellers, der hinter allen Proben, die
Quintilian von dem verderbten Witze ſeiner Zeit,
Luͤderlichkeiten zu finden, ſelbſt nicht ohne Wider-
willen giebt, ausruft: „Tantum in Romanis
„verecundiae ſtudium! tam diligentes caſtis auribus
„pepercerunt!„ – Scilicet!
Als wenn deßwegen die
franzoͤſiſche Nation und Sprache die zuͤchtigſte Ma-
trone waͤre, weil ſie einen Ueberfluß ſolcher Anſtaͤn-
digkeiten hat, daß, wenn nicht jeder Ausdruck ſehr
ſorgfaͤltig, und nach der neueſten Modebedeutung
gewaͤhlt wuͤrde, der ehrbarſte, ernſthafteſte Menſch
jeden Augenblick in die Verlegenheit kommt, eine
Geſellſchaft Zweideutigkeitenkraͤmer lachen zu ma-
chen! Als wenn ſich dieſe Sprache an Zucht und
Ehrbarkeit ſo hoch heraufgeſchwungen, als jetzt ein
junger Witzling nach der Mode keinen ihrer alten
Schriftſteller mehr, ohne Laͤcheln und Verlachen,
ohne hundert anſtoͤßige und niedrige Ausdruͤcke zu
finden, leſen kann! O die zuͤchtige Nation! die
zuͤchtige Sprache! Tantum fuit in Gallis vere-
cundiae ſtudium! tam diligenter caſtis auribus
pepercerunt!
wird einſt ein kuͤnftiger Klotz des
neunzehnten Jahrhunderts ſagen koͤnnen.


Jch will den Unterſchied ins Licht ſetzen. Zur
Zeit einer einfaͤltigen Unſchuld hat jede Sache, die
genannt werden ſoll, einen Namen, und das iſt ihr
Name. Darf die Sache nicht genannt werden:
gut!
[141]Zweites Waͤldchen.
gut! ſo wird von ſelbſt der Name auch nicht ge-
nannt werden; muß jene, warum nicht auch die-
ſer? Michaelis, dieſer Philolog von ſehr richtigem
Gefuͤhle, hat Stellen aus Morgenlaͤndern angefuͤhrt,
aus denen ihre Freiheit in Liebesausdruͤcken erhellet;
er hat aber nicht den Urtheilsſpruch uͤber ſie gefaͤl-
let, daß ſie deßwegen Leute ohne Ehrbarkeit und
Schaam waͤren: denn bei ihnen waren einmal ſol-
che Redarten, Gleichniſſe, Worte, inſonderheit in
der Sprache des Affekts, des Zorns, der Eiferſucht
nichts Schaͤndliches. Schlimm gnug! wird man
ſagen; meinetwegen! ſchlimm gnug! aber wenn
eine ſolche freie Offenheit keinen weitern Nutzen haͤt-
te, ſo waͤre es der, daß neben ihr keine feine Zwei-
deutigkeiten in der Sprache ſtatt faͤnden. Wie
ſollte ein Volk ſchmeichelnde Feinde, verlarvte
Freunde, liſtige Diebe brauchen, das ſich aus ei-
nem Raube, aus Gewaltthaͤtigkeit nichts machet?
und wie ſollte eine Sprache ein geheimes feines κα-
κοφατον ſorgfaͤltig zu verhuͤten haben, da es kein
offenbares κακοφατον hat, da es in den Schranken
ſeiner Naturbeduͤrfniſſe jedes nennet, was es nen-
nen muß; und nichts weiter nennen will? Wer
wird mehr verſtehen wollen, als was der andre ſagt,
er haͤtte ja, wenn dieſer mehr haͤtte ſagen wollen, es
gerade aus geſagt!


Es verſteht ſich, daß ein-ſolcher Zeitpunkt der
offnen Naturſprache Freiheiten haben muͤſſe, die eine
ſpaͤte-
[142]Kritiſche Waͤlder.
ſpaͤterere Zeit „Unanſtaͤndigkeiten„ nennen kann-
Sie nenne ſie ſo; nur ſie nenne ſie nicht ſo in aͤl-
tern unverholnern Zeiten, wo man von der Regeln-
ſchaam des Dekorum noch nicht ſo viel wußte.
Jch bleibe bei einem mißbrauchten Beiſpiele meines
Autors. Er vergleicht Homer und Virgil in An-
ſehung des Anſtaͤndigen; und wie anders, wenn er
aus ſeinem Kopf urtheilen wollte, als daß er fuͤr
dieſen ſprechen mußte a).


Jhm gefaͤllt in Homer der Liebesantrag nicht,
den Paris an ſeine Helena thut; und mir, wenn
ich eine Jliade ſchreiben ſollte, mißſaͤllt die Stelle
ſo wenig, daß ich dem Griechen die unſchuldige Ein-
falt ſeiner Zeit beneide. Als ein feiger Fluͤchtling
iſt Paris dem Zweikampf entronnen: unruͤhmlich
ward er unſichtbar: ſeine Beſchuͤtzerinn Venus
mußte ihn den Haͤnden ſeines ſtreitbaren Gegners,
Menelaus, entnehmen. Nicht gnug! ſie muß ihm
fuͤr ſeine Stunde der feigen Angſt im Zweigefechte
ſo gleich auch eine Stunde der Erholung in den Ar-
men der Helena ſchenken: Helena muß ſich zu einer ſo
ungelegnen Zeit zu einer Schaͤferſtunde mit dem be-
quemen, der ſie ihrem rechtmaͤßigen Gemahl ent-
wandt, und jetzt der Tapferkeit deſſelben nicht hatte
Stand halten koͤnnen, den ſie in Abſicht auf maͤnnliche
Streitbarkeit verachten mußte. Ein ſolcher macht
ihr jetzt den Liebesantrag — wie charakteriſtiſch! wie
malend!
[143]Zweites Waͤldchen.
malend! a) — Der wohlluͤſtige Ehebrecher ſteht
uns vor Augen, der Menelaus ſein ſchoͤnes Weib
entwenden, der aus dem Zweikampfe unruͤhmlich
fliehen, der ſogleich wieder in den Armen der Helena
ſeinen Ort ſuchen konnte — das iſt Paris! Wir
laſſen den weichlichen Diener der Venus in den Ar-
men der geraubten Gattinn, und kehren mit Ver-
achtung ſeiner zu der Armee zuruͤck, wo man ihn
ſucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht
glaubt, daß er da ſei, wo er iſt. Homer ſchließt
ſeinen Geſang.


Wenn Homer fuͤr unſre Zeiten geſungen; frei-
lich! ſo haͤtte er ſich aus dem anſtaͤndigen: non
probo!
eines ehrbaren Kunſtrichters, was machen,
oder nicht machen ſollen; was geht es mich an?
Aber jetzt, zu ſeiner Zeit auf eine ſo ſimple unſchul-
dige Art, als ers erzaͤhlet: nein! da finde ich keine
Spur von Anſtoͤßigen, Unehrbaren, Schamloſen:
nichts, was die Ehrbarkeit ſeiner Zuhoͤrer verletzt,
und die Wangen ſeiner epiſchen Muſe mit Scham-
roͤthe faͤrben darf: nichts, als einen ſehr charakte-
riſirenden Zug des Paris. Soll ich ihn in galante
Buſenverſuche eines franzoͤſiſchen Abbé, ſoll ich
das Betragen der Helena in zuͤchtige Agacerien ei-
ner
[144]Kritiſche Waͤlder.
ner ſproͤden Schoͤnen verwandeln? Soll die fromme
unſchuldige Erzaͤhlung Homers ein ſinnreiches:
ich ſage wohl nichts; aber ich will es ſagen: ich
merke! werden? Der ganze Zweck Homers, Paris
und Helena uns im fortgehenden Strome ſeiner
Epopee zu ſchildern, iſt weg: nun iſts ein artiges
κακοφατον geworden. Bei Homer aber in einer
Zeit, wo es kein κακοφατον war, die Sache ſelbſt
anſtaͤndig zu nennen, bedorfte man kein κακοφατον,
etwas anders dagegen zu nennen, und doch das Un-
ehrbare zu verſtehen: kurz! der ungalante Paris
hat wenigſtens keine zuͤchtige Zweideutigkeiten noͤ-
thig. Jch ſage, ſtatt eines anſtaͤndigen non probo!
ein wahrhaftig ehrbares: haud equidem miror,
invideo magis!


Laſſet ſich aber die Zeiten aͤndern: es fange
das ganz andre Ding zu wirken an, was wir Ehr-
barkeit, Anſtand nennen, ohne doch eben Tugend
darunter zu verſtehen: Dinge, die man auch ohne
Neckerei und Zoten ſagen wollte, wird man oft nicht
nennen wollen, nicht nennen doͤrfen, und endlich
nicht zu nennen wiſſen. Durch einen allgemeinen
Reichsſchluß auf dem Reichstage der Ehrbarkeit
wurden ſolche Benennungen fuͤr unzuͤchtig erklaͤrt,
aus der Sprache geworfen; nicht aber darum auch
die Sachen ſelbſt fuͤr unzuͤchtig erklaͤrt, nicht dar-
um die Begierde weggeſchaffet, ſolche namenloſe
Sachen um ſo lieber nennen, und da man ſie nicht
nennen
[145]Zweites Waͤldchen.
nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das iſt
der Urſprung galanter Zweideutigkeiten! Zween,
drei Ausdruͤcke wurden aus der Sprache des An-
ſtandes weggebannet, und dem Poͤbel uͤberlaſſen;
zwanzig Umſchreibungen aber, funfzig verbluͤmte
Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei
nur der feine Kopf etwas merkt, dagegen einge-
nommen, und das hieß geſittete, uͤbliche, zuͤchtige
Sprache des Jahrhunderts. Zuͤchtig! meinetwe-
gen! ſo zuͤchtig, daß Crebillonſche Romane alle
moͤgliche Unzuͤchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vor-
tragen, mit allen luͤſternen Taͤuſchungen, durch die,
wie durch einen leichten Flor die uͤppigen Reize blos
durchſchimmern, uns alle Scenen und Akte der
Unehrbarkeit ſehr ehrbar mahlen koͤnnen. Ueblich?
allerdings ſo uͤblich, daß wer die neueſte Verdre-
hung dieſes oder des Ausdrucks, das Ungluͤck hat,
nicht zu verſtehen, nach allen Geſetzen des Ueblichen,
nach der neueſten Bedeutung des artigen Woͤrter-
buchs, in Gefahr geraͤth, der ernſthafteſte Zoten-
reißer zu werden. Geſittet? ſo geſittet, daß man
mit dem Sittſamen der artigen Welt alle Sitten
der Tugend beſchaͤmen, alle Muſen und Gratien
der wahren Sittſamkeit erroͤthend machen kann!
Das ſind die artigen Fruͤchte des loͤblichen κακοφα-
τον! Tantum fuit in Romanis verecundiae ſtu-
dium! tam diligenter caſtis auribus pepercerunt!


KQuin-
[146]Kritiſche Waͤlder.

Quintilian ſelbſt redet in der angezogenen Stelle,
gegen die Sucht, κακοφατα zu finden, offenbar.
Er nennet ſie ein Verdrehen, ein Verderben der
Rede: er ſetzt, wenn die uͤppigen Roͤmer ſeiner Zeit,
das was ein alter Schriftſteller ſancte et religioſe
geſagt hatte, auf einen unehrbaren Sinn zogen,
ſein ſpottendes ſi diis placet! dazu: er wirft die
Schuld auf die Leſenden ſolcher Art, daß ſie die
Rede verduͤrben, mißbrauchten; daß bei ſolcher
ſchamloſen Schamhaftigkeit endlich kein ehrbares
Wort mehr ehrbar ſeyn werde: er haͤlt es fuͤr ein
verderbtes Zeitalter, dem er blos aus Noth nach-
geben muͤſſe, „quatenus verba honeſta moribus per-
„didimus et evincentibus vitiis cedendum eſt.

Er hat alſo wahrlich nicht daran gedacht, daß hin-
ter ſein ſcheltendes: quod ſi recipias, nil loqui tu-
tum eſt!
ein ehrbarer Klotz des achtzehnten Jahr-
hunderts die frommen Seufzer: tantum fuit in
Romanis verecundiae ſtudium! tam diligenter ca-
ſtis auribus pepercerunt!
im Ernſte nachſeufzen,
und ſolche Verecundia mit allem Ernſte zum erſten
Stuͤcke der virgilianiſchen Keuſchheit machen werde.
Keuſche Roͤmerohren! artiges Jungfernlob auf
Virgil! Das wenigſte, das Herr Klotz geſtehen
wird, iſt, daß er Quintilian nicht verſtanden,
und das wahre Weſen der Schamhaftigkeit wohl
nicht uͤberdacht habe.


3. Von
[147]Zweites Waͤldchen.

3.


Von Worten fange ich die Ehrbarkeit nicht an;
ſondern von Gedanken; und von welchen? Jch
ſehe, daß Hr. Kl. mich in zu tiefe Gelehrſamkeit,
in zu bunte Philoſophie fuͤhre; ich will lieber auf
dem ebnen Stege der Natur bleiben. Nur gebe
die Goͤttinn, deren Weſen ich unterſuche, daß in-
dem ichs unterſuche, ich nicht ſelbſt ihren Altar
entweihe!


Zuerſt: womit iſt die Schamhaftigkeit natuͤr-
licher geſellet, als mit den Neigungen der Liebe?
Der Liebe ward ſie von der Natur, als Schweſter,
als Geſellinn, als Aufſeherinn, mitgegeben, an de-
ren Hand ſie auch die Wirkungen, die Macht, die
Reize derſelben ſo ſehr befoͤrdert. Nichts ziert die
Liebesgoͤttinn ſo ſehr, als die Farbe der Unſchuld,
ſanfte Schamroͤthe, die in ſich geſchmiegete Mine
der beſcheidenen Einfalt. Wenn alſo unter allen
Tugenden Eine das Anrecht haͤtte, in der Allegorie
als ein Frauenzimmer vorgeſtellt zu werden: ſo iſt
die Schamhaftigkeit dazu die Erſte. Sie iſt
der Reiz der Liebe, und die Tugend des Ge-
ſchlechts, das die Natur zum liebenswuͤrdigen Thei-
le der Menſchheit beſtimmte: ſie alſo eine weibliche
Tugend. Ein Weib ohne Zucht, ſagt das arabi-
ſche Sprichwort, iſt eine Speiſe ohne Salz: und
noch fuͤglicher koͤnnte dies Sprichwort von der Liebe
K 2ſelbſt
[148]Kritiſche Waͤlder.
ſelbſt gelten. Eine Liebe ohne Schaam iſt nicht Lie-
be mehr: ſie iſt Ekel. Nichts ekelhafters in der
Welt, als eine foͤrmliche Expoſition der Liebe.


Wenn dies in der Natur, bei einer ſo noth-
wendigen, und fuͤr das menſchliche Geſchlecht un-
entbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr
in Worten! in Worten an die Welt und Nach-
welt! in Worten, zum Vergnuͤgen! Alle Empfin-
dungen des Vergnuͤgens zerfließen bei einem ſcham-
loſen Bilde; ſie verwandeln ſich in Ekel! Homer,
in ſeiner Beſchreibuug der zweiten Brautnacht a)
zwiſchen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlich-
keiten, die ſich vor Augen legen laſſen, zeigen: die
hohe Geſtalt, den Schmuck, die Pracht der Koͤ-
niginn des Himmels: alle Gratien und Reize im
Guͤrtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe,
und des Verlangens im Herzen Jupiters — aber
nun? decke ſie die himmliſche Wolke! Da liegt ſie
in den Armen des hoͤchſten Gottes, und unter ihnen
bluͤhen Kraͤuter und Blumen aus dem Schooße der
Erde hervor; das himmliſche Paar ſelbſt aber um-
ſchattete die goldne Wolke, daß ſelbſt die allſehende
Sonne ſie nicht erblicke! — So dichtet Homer;
und ich ſehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die
artigen Zweideutigkeiten, von denen er nichts
weiß — —


Zu-
[149]Zweites Waͤldchen.

Zunaͤchſt aͤußert ſich die Naturempfindung,
von der ich rede, in Nennung der verborgenen Thei-
le unſres Koͤrpers, die unſre Sprache, zum Theile,
ſchon mit dem Namen der Tugend ſelbſt bezeichnet.
Jch ſage: zunaͤchſt; aber abſteigend zunaͤchſt;
denn es iſt unſtreitig, daß dieſe Gattung von
Schamhaftigkeit nicht ſchon allein von der Natur,
ſondern auch von der Politeſſe, Geſetze erhaͤlt. Jn
einem Woͤrterbuche, in einer Naturlehre mag dieſes
und jenes Wort recht gelegentlich und ſchamlos
ſtehen; nur aber nicht ſo gelegentlich in offenbarer
Rede, in Schriften, wo es nicht hin gehoͤren muß,
in Werken des Vergnuͤgens, und der Geſellſchaft.
Seit dem Kleider die Huͤllen der Schoͤnheit und
Haͤßlichkeit geworden: ſeit dem haben auch einige
Namen, gleichſam verdeckt, ſelten werden muͤſſen;
und, mit der Zeit, ſind ſie gar unſichtbar geworden.
Mit dem Unterſchiede, daß, wo ſie unſichtbar ſeyn
konnten, weil ſie nicht genannt werden dorften: da
war ihr Verſchwinden eine Folge einer Naturempfin-
dung; wo ſie aber genannt werden muͤſſen, und
doch nicht genannt werden dorften; da war ihre
Unehrbarkeit eine geſellſchaftliche Verabredung; ein
Vertrag der hoͤchſten Politeſſe.


Noch offenbarer ſind andre Verabredungen,
die immer heißen koͤnnten, wie ſie wollten; nur Na-
turempfindungen der Schamhaftigkeit ſollten ſie
eigentlich nicht heißen. Dies ſind alle Beleidigun-
K 3gen
[150]Kritiſche Waͤlder.
gen des geſellſchaftlichen Wohlſtandes, wo man eine
Art von Verweiſe befuͤrchtet, oder ſich ſelbſt giebt.
Ein Kind haͤlt ſeine Kleider ſchmutzig, ſeine
Struͤmpfe nachlaͤßig, ſeine Haare unordentlich.
„Schaͤme dich!„ iſt der allgemeine Zuruf der
Mutter; und das Kind, inſonderheit das Maͤd-
chen, lernt ſich im Ernſte ſchaͤmen. Es lernt, ſich
ſchaͤmen, und mußte es lernen: denn, als Naturem-
pfindung, lag ſolche Schaam nicht in ihm. Sie
lernte ſie blos aus dem Worte: von da ſtieg ſie
ins Ohr, in die Seele, und zur Geſellſchaft auch
auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich
auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfin-
dung ſelbſt gelaͤufig. An ſich immer ein geſellſchaft-
lich nothwendiger Begriff, eine geſellſchaftlich vor-
treffliche Empfindung; nur nenne man ſie immer
lieber ein erworbnes Gefuͤhl des geſelligen Anſtan-
des; oder ſoll ſie ja Scham heißen, ſo mag man ſie,
als eine geſellſchaftlich formirte Schamempfindung,
betrachten, mit dem Gefuͤhle in uns, ſo wie es aus
den Haͤnden der Natur kam, eigentlich nicht Ei-
nerlei.


Unſer Sprachgebrauch, und, was noch aͤrger iſt,
unſre gemeine Erziehung verwechſelt ſie: man ler[nt]
ſich von Jugend auf uͤber eine widrige Wahl der [...]
dungsfarben, uͤber unmodiſche Stuͤcke des An [...]
uͤber misrathne Komplimente ſchaͤmen, bis zur [...]
ſchaͤmen, ſich ſchaͤmen, als ob uns die Steine a [...]
[...][151]Zweites Waͤldchen.
zulachen ſchienen; aber wie lange hat man ſchon die
Kunſt in die Stelle der Natur geſetzt, und menſchliche
Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lan-
ge aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbklu-
ge Spoͤtter gegeben, die, da ſie Etwas in ſolchen
Sachen menſchlich verabredet, geſellſchaftlich einge-
richtet fanden; endlich alles im Menſchen fuͤr
menſchlich verabredet, fuͤr willkuͤrlich eingepflanzet,
hielten. Sie beſtuͤrmten alſo auch die heiligen Ge-
ſetze der Natur: ſie entweiheten alſo auch den Altar
der liebenswuͤrdigſten Tugend Schamhaftigkeit: ja
ſie, die frechſten Cyniker, und der Poͤbel der Epi-
kureer baueten endlich der Unverſchaͤmtheit ſelbſt Al-
taͤre. Wenn die Vermiſchung des Angenomme-
nen mit dem Natuͤrlichen in dieſer Empfindung al-
ſo weit abfuͤhren kann: ich daͤchte, ſo koͤnnte doch
der Philoſoph frei unterſcheiden doͤrfen, und das Ge-
ſetz des Ariſtoteles anwenden: den Juͤnglingen macht
Schamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber
Schande. Jch fahre alſo fort.


Die kuͤnſtliche geſellſchaftliche Schamhaftig-
keit kann ſich verſchieden aͤußern: in der Sorgfalt,
ſeinen Koͤrper zu produciren: „Reinlichkeit, An-
„ſtand, u. ſ. w.„ in hundert Gebaͤrden, Worten,
Stellungen, Thaten, die, als artig, als ſchoͤn, ver-
abredet ſind: da wollen wir ſie „Anſtaͤndigkeiten,
„Artigkeiten„ nennen: gnug! ſie ſind geſellſchaftlich
gebildet. Die Empfindung daruͤber ſtieg nicht
K 4aus
[152]Kritiſche Waͤlder.
aus dem Herzen auf die Wangen, ſondern erſt aus
eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: ſie rich-
tet ſich alſo nach dieſen eingepflanzten Begriffen. Da
ſie von der Kunſt, man nenne dieſe Erziehung, oder
Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geſchmack,
ſich zu betragen, oder Politeſſe, oder Galanterie,
oder, wie man wolle — Jch ſage, da ſie von der
Kunſt einer Geſellſchaft Geſetze empfaͤngt, ſo hat ſie
ſich auch immer nach der Beſchaffenheit, nach dem
Tone der Geſellſchaft, nach Zeitalter, Nation,
u. ſ. w. geſtimmet. Sie iſt ein Kind der Mode,
und alſo veraͤnderlich, wie der Geiſt ihrer Mutter.
Jetzt wird ſie in dieſer Kleidertracht, in dieſem Aus-
drucke, in dieſer Stellung beſchaͤmt, in welcher ſie
kurz voraus nicht beſchaͤmt ward, und bald hernach
nicht mehr beſchaͤmt ſeyn wird. Jn dieſer Geſell-
ſchaft wird die deutſche Sprache, in jener die deut-
ſche Ehrlichkeit, in dieſer der franzoͤſiſche Wind, in
jener die franzoͤſiſche Sprache, wechſelsweiſe laͤcherlich
und beſchaͤmend, oder anſtaͤndig. Wer ſich in ſol-
chen Sachen mit Anſtaͤndigkeiten bruͤſten kann,
wird ſich auch uͤber ſolche Unanſtaͤndigkeiten beſchaͤ-
men laſſen. Die Scham iſt hier ein Geſchoͤpf
des Wahns der Menſchen, und muß ſich alſo durch-
aus nach ihrem Schoͤpfer richten.


Jch habe nur noch eine Unterſcheidung noͤthig.
Wie dieſe geſellſchaftlich formirte Schaam nicht ei-
gentlich ein Geſchoͤpf der Natur iſt; ſo iſt ſie auch
nicht
[153]Zweites Waͤldchen.
nicht nothwendig mit Tugend einerlei: ſie iſt von
der moraliſchen Schaam voͤllig verſchieden. Als
jener Spoͤtter vom Parterr herauf rief: „An dieſen
„Damen iſt nichts ſo keuſch, als die Ohren!„ ſo
mag man ihn immer unverſchaͤmt, ſuͤndigend ge-
gen die Geſetze des geſellſchaftlichen Anſtandes haben
erkennen koͤnnen: ſo unwahr, ſo gerade gegen mora-
liſche Schamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn
man ihn gefragt haͤtte: wie? Unverſchaͤmter! muß
denn an einer Dame das Ohr nicht keuſch ſeyn?
und das der Anſtaͤndigkeit wegen! ſo haͤtte er erwie-
dern doͤrfen: und, eben der Anſtaͤndigkeit wegen,
darf da an eben derſelben Dame wohl nothwendig
Alles ſo keuſch ſeyn, als das Ohr? — Nicht, als
wenn es nicht ſeyn koͤnnte, ſondern ſeyn muͤßte: als
wenn die buͤrgerliche, ſchon die moraliſche Scham-
haftigkeit waͤre, und das iſt ſie nicht! Die morali-
ſche Schamhaftigkeit vor Einem Laſter, als Laſter,
iſt ganz etwas Anders!


Oft ſcheinen ſie ſich nahe zu kommen; aber oft
zu nahe, ſo, daß die Eine die Andre unnoͤthig zu
machen glaubt. Da die politiſche Tugend oft als
der Schein der wahren Tugend gilt: ſo laͤßt man
ſich oft mit dem Scheine begnuͤgen, und natuͤrlich,
daß man alsdenn um ſo mehr auf den Schein erpicht
ſeyn wird, je weniger man das Weſen hat. Wer
mit gefaͤrbtem Glaſe, wie mit Edelgeſteinen, pran-
gen darf, wird dieſe um ſo mehr aufputzen, ſie um
K 5ſo
[154]Kritiſche Waͤlder.
ſo mehr zur Schau ſtellen, und wehe dem! der als-
denn nicht auch gefaͤrbtes Glas hat. Je weniger
man vielleicht eine Tugend inne hat, deſto mehr
wird man ſich vielleicht im Kanzleiſtyle dieſer Tu-
gend uͤben: je unzuͤchtiger man denkt, deſto mehr
vielleicht die Keuſchheit ſeines Ohrs ſchonen, deſto
ekler, deſto waͤhliger und uͤppiger in der Wortwuͤr-
de werden; deſto eher nach Zweideutigkeiten ha-
ſchen. Wer dieſe am beſten kennet, wer dieſe in ei-
ner Geſellſchaft zuerſt, und vielleicht einzig und
allein, aufmerkt, und daruͤber anſtaͤndig erroͤthet,
und artig daruͤber in Unwillen geraͤth — artig,
freilich artig und anſtaͤndig iſt dieſer ſchamhafte Un-
wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen-
dig, eine Schamroͤthe der unwiſſenden Unſchuld,
der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!


Jch habe blos den Unterſchied der Begriffe,
zwiſchen Naturempfindung, geſellſchaftlicher und
moraliſcher Schaam entwickelt; und verhuͤlle, wie
Sokrates, da er von der Liebe dithyrambiſirte, mein
Geſicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten.
Nur eben aus Verehrung will ich die Naturem-
pfindung nicht mit Coquetterie, und die ſchoͤnſte der
Tugenden nicht mit ihrer Nachaͤfferinn der unzuͤch-
tigen Ehrbarkeitspedantinn verwechſelt haben. Viel-
leicht ſind Leſer, die auch die Erſte von dreien fuͤr
einen Geſellſchaftstrieb halten, denen widerſpreche
ich nicht; ſie iſt aber alsdenn wenigſtens ein Zoͤg-
ling
[155]Zweites Waͤldchen.
ling der menſchlichen, nicht blos buͤrgerlichen, nicht
blos artigen Geſellſchaft: ſie iſt naͤher unſrer Na-
tur; und das nur habe ich ſagen wollen.


4.


Wie? wenn wir nun jetzt, da wir dieſe Goͤt-
tinnen der Schamhaftigkeit einiger maßen von
Geſichte, oder nach ihren Huͤllen wenigſtens haben
unterſcheiden gelernet, uns nach ihnen unter ver-
ſchiednen Voͤlkern, in verſchiednen Zeitaltern, um-
ſehen wuͤrden: wie ſie da erſchienen? — Mich
duͤnkt, ohne Vorausſetzungen hieruͤber laͤßt ſich kaum
von der Schamhaftigkeit eines fremden Volks, ei-
ner abgeſtorbnen Zeit, oder gar fremder Voͤlker, ab-
geſtorbner Zeiten reden; noch weniger laſſen ſie ſich
vergleichen, noch weniger aus einer fremden Scham-
zeit beurtheilen. — Jch wage mich alſo an ei-
nen hiſtoriſchen und geographiſchen Blick uͤber Zei-
ten und Voͤlker — nicht aber an eine Geographie
der Zucht, oder an eine Schamhiſtorie aller Zeiten.


Wenn bei einem Weibe die wohlbewachte
Scham die Fuͤhrerinn ihrer Tugenden iſt, wie Dia-
na bei Virgil ihrer Oreaden: wenn, nach der weib-
lichen Moral, Schaam und Zucht vorzuͤglich Tu-
gend heißet, und bei manchen auch beinahe die Stel-
le aller uͤbrigen Tugenden vertritt: ſo wird man die-
ſe Empfindung auch eigentlich da wirken ſehen, wo
in
[156]Kritiſche Waͤlder.
in den Neigungen der Liebe das zarte Geſchlecht mit
uns einerlei Gewicht in die Schaale legt, um den
Ton der Liebe zu beſtimmen. Dies iſt in den des-
potiſchen Morgenlaͤndern, wo die Weiberharems
Behaͤltniſſe von Sclavinnen ſind, nicht. Hier iſt
nur der Schleyer, und das Schloß das Siegel der
Schamhaftigkeit: nur die ſchwarzen Verſchnitte-
nen die eigentlichen Zuchtmeiſter, und Zuchtbewah-
rer: nur die Mauer des Serrails die Grenze der
Keuſchheit. Da mit dieſer Extremitaͤt, ſo gut der
Keuſchheit, als der Unkeuſchheit, ihre Sphaͤre zu
wirken benommen wird: da der Schleyer, und das
Schloß nur die Gemuͤther der Weiber um ſo mehr
erhitzen, ſo muß natuͤrlich auch die Schaam, je mehr
ſie aͤußerlich bewacht wird, um ſo mehr vor dem ent-
fliehen, der ſie bewachen ließ, und ſo kann es kom-
men, daß oft das ſchamhafte Geſchlecht das
ſchamloſe heißen koͤnnte. Da es vermoͤge ſeiner
Natur zu erſt, und am ſtaͤrkſten, und am laͤngſten
die Neigungen der Liebe fuͤhlt: was wird aus ihm,
wenn man dieſen Begierden die Decke, die Huͤlle
wegnimmt, die ihnen die wohlthaͤtige Natur gab?


Doch ich ſage nur ſo viel. Jn einem Publi-
kum, wo das Frauenzimmer nicht mit zum Publi-
kum gehoͤrt: da kann auch ihre weibliche Sittlich-
keit keine Einfluͤſſe in den Ton des Lebens aͤußern,
da wird nur der maͤnnliche Charakter die Denkart
des Ganzen bezeichnen. Und da nun die Scham-
haftig-
[157]Zweites Waͤldchen.
haftigkeit, ich ſage damit eben nicht, die innere
Zucht, vorzuͤglich eine weibliche Tugend ſeyn ſollte,
um vielleicht, (doch was geht mich dies Vielleicht
an:) ſo wird man ſich in einer bloßen Mannsgeſell-
ſchaft eine gewiſſe Offenheit nicht veruͤbeln, die im-
mer Unbeſcheidenheit hieße, wenn beide Geſchlechter
in gleichem Maaße ihre Stimme zum Tone des
Ganzen geben. Die Graͤnzen des zuͤchtigen An-
ſtandes werden etwas weiter hinaus geruͤckt, die
Schamhaftigkeit wird nicht mehr, als eine wahr-
hafte maͤnnliche Beſcheidung, ſeyn doͤrfen, und al-
ſo auch keine Grazie der Weiblichkeit ſeyn wollen.
Das iſt der erſte Unterſchied, der ſich eraͤugen kann.


Ein engliſcher Weltweiſer erklaͤrt hieruͤber, ob
er gleich eigentlich nur von der eigentlich geſellſchaft-
lichen, buͤrgerlichen Schaam redet, meine Gedan-
ken: „Unter den Alten, ſagt Hume a), ward der
„Charakter des ſchoͤnen Geſchlechts fuͤr durchhin
„haͤuslich gehalten: ſie wurden nicht, als ein Theil
„der politen Welt, oder der guten Geſellſchaft, ge-
„halten. Dies vielleicht iſt die wahre Urſache, war-
„um die Alten uns kein einziges Stuͤck der Plai-
„ſanterie hinterlaſſen, das vortrefflich waͤre u. ſ. w.„
Jch nehme hier ſeine Worte noch allgemeiner, als
daß ſie fuͤr, oder gegen die Galanterie entſcheiden
ſollten;
[158]Kritiſche Waͤlder.
ſollten; ſie ſollen nur fuͤr die Schamhaftigkeit
entſcheiden.


Nicht alle Climata und Nationen ſetzten alſo
ſelbſt den Vorſtellungen und Ausdruͤcken der Liebe
einerlei Schranken. Die hitzigen Morgenlaͤnder, die
in ihren Geſetzen faſt eine Belohnung auf den ſe-
tzen, der in den erſten Zeiten der Wildheit ein ein-
ſames Frauenzimmer ehrbar gelaſſen, waren auch
in Bildern dieſer Art beinahe unbaͤndig. Je mehr
ſie ihre Schoͤnheiten verſchloſſen und uͤberſchleier-
ten: deſto unerroͤthender, Werke und Glieder der Lie-
be, inſonderheit in der Sprache der Leidenſchaft,
der Eiferſucht, des ſtrafenden Zornes zu nennen.
Man nenne ihre Freiheiten aber nicht Freiheiten
der Natur, ſondern, einer entarteten Natur, eines
deſpotiſch-orientaliſchen Weiberumganges. Mi-
chaelis hat bei den Morgenlaͤndern dies nicht
blos angezeigt a), ſondern auch zum Theile erklaͤrt.
Er war zu ſehr Kenner der orientaliſchen Natur, als
daß er ſie blos chriſtlich haͤtte verdammen, oder ar-
tig und wohlanſtaͤndig daruͤber verunglimpfen ſollen:
er entwickelte den Grund ihrer Licenz.


Bei den Roͤmern findet ſich nur, auf eine andre
Weiſe, eine Unterdruͤckung dieſer Sittlichkeit, die
ich aus ihrem, von jeher, rohem Charakter erklaͤre:
aus dem Kriegeriſchen, das ihnen zur Natur ward,
aus
[159]Zweites Waͤldchen.
aus der maͤnnlichen Haͤrte, die eine ſo zarte Empfin-
dung leicht etwas erſticken konnte. Jn den mei-
ſten ihrer Dichter, und faſt auch ihrer Schriftſteller
uͤberhaupt, herrſcht eine ſolche maͤnnliche Schamlo-
ſigkeit: wo wollte ich mir aber aufgeben, alle Pro-
ben davon aus ihrem Lucrez, Plautus, Horaz,
Ovid, Petron, Juvenal, Martial, Catull,
Tibull, Properz
u. ſ. w. zu ſammlen, und ein
wahres Feſt der Priapeen anzuſtellen. Hume mag
alſo fuͤr mich reden a): the ſcurrility of the an-
cients, in many inſtances, is quite ſhoking, and
exceeds all belief. Their vanity too is often not
a little offenſive; as well as the common licenti-
ouſneſſ and immodeſty of their ſtyle. Quicunque
impudicus
, adulter, ganeo, manu, ventre, PENE,
bona patria laceraverat
, ſays Salluſt in one of the
graveſt and moſt moral paſſages of this hiſtory.
Nam fuit ante Helenam cumus teterrima belli Cauſ-
ſa
is an expreſſion of Horace in tracing the ori-
gin of moral good and evil
u. ſ. w. Mit ſolchen
Beiſpielen faͤhrtder Philoſoph fort, zu zeigen, daß
die Roͤmer oft unſchamhaft geweſen, auch wo ſie
nicht ſchamlos, nicht unkeuſch ſeyn wollten: und
eben ſolche Beiſpiele muͤſſen die Horizonthoͤhe einer
roͤmiſchen Sittſamkeit beſtimmen, wenn man nicht
blos in die Welt hinein tadeln, oder loben will.


Auch
[160]Kritiſche Waͤlder.

Auch hier hielten die Griechen eine gewiſſe
ſchoͤne Mitte zwiſchen Morgenlaͤndern und Roͤmern-
Die aſiatiſche Hitze in etwas abgekuͤhlt durch die eu-
ropaͤiſche Maͤßigkeit, beſtimmte eben den mittlern
Ton einer warmen Liebe, einer ſanften Wolluſt, der
Materien dieſer Art bei ihnen durchgaͤngig zu cha-
rakteriſiren ſcheint. Vielleicht hat keine Sprache
der Welt ein ſo ſuͤßes Woͤrterbuch der Liebe, keine
Nation eine Menge ſo einfaͤltig unſchuldiger Liebesge-
maͤlde, kein Zeitpunkt der Politur vielleicht die Ur-
banitaͤt auf den ſimpeln und feinen Weltgenuß zu-
ruͤck gefuͤhrt, als der αστεισ μος der Griechen. Die
Liebesſchilderungen ihrer Poeten, die Menſchheitsge-
ſetze ihrer beſten Philoſophen, die hiſtoriſchen Ge-
maͤlde ihrer Lebensart in den beſten Zeiten, ſind ſo
ſehr in den Schranken der ſchoͤnen, unſchuldig ein-
faͤltigen Natur, als ſie von unſrer heutigen Galan-
terie und Politeſſe, und Hofartigkeit entfernt ſeyn
moͤgen. Jch wuͤnſche dem Schriftſteller a) griechi-
ſches Gefuͤhl, der uͤber die Schamhaftigkeit Ho-
mers ſchreiben will: ſo wie ichs einem andern, ſonſt
feinen und ſchaͤtzbaren Kenner b) gewuͤnſcht haͤtte,
da er von den Sitten griechiſcher Dichter zu ſchrei-
ben unternahm.


Jch weiß, daß ich in Beiſpielen dieſer Art nicht
blos die galanten Herren, ſondern auch manche
fromme
[161]Zweites Waͤldchen.
fromme Ehrbarkeitspedanten unſrer Zeit gegen mich
haben wuͤrde, die mit dem ehrbaren Schriftſteller, uͤber
den ich ſchreibe, oft gnug ausruffen doͤrften a)atque
ctiam fateor ipſe, mihi non omnino probari hune
locum, quem reliquae epici carminis maieſtati de-
trahere puto
(der gewoͤhnliche Lieblingstadel un-
ſers Verfaſſers) aber vielleicht auch, daß die Ken-
ner der Griechen inſonderheit in ihren poetiſchen Zei-
ten auf meiner Seite ſeyn doͤrſten: atque etiam fa-
teor contra, mihi, tanquam Graeco, \& Graece
ſentienti, omnino probari hunc locum, quem
molli Graecorum de venuſtate iudicio optime re-
ſpondere puto.
Und in der That, wenn die fei-
ne ioniſche Wohlluſt nicht dem poetiſchen Geiſte der
Griechen Charakter gegeben haͤtte: wie viel ſchoͤne
Kinder der Poeſie von Homer und Anakreon, und
Sappho an, bis auf Theokrit und Moſchus zu,
wuͤrden Embryonen der idealiſchen Wohlluſt ge-
blieben ſeyn! Und wer, nach dem Kloſterzwange unſrer
Zeit, eine beurtheilen, uns eine rauben will, der raube
uns lieber die Mutter mit allen Kindern! alle uͤppige
Bilder griechiſcher Wohlluſt! — Das iſt ein wuͤrdi-
ger, zuͤchtiger, ſchamhafter Kunſtrichter unſrer Zeit.


Der zweite Punkt griechiſcher Freiheit betrifft
das Nackende ihrer Bilder, und ſo auch ihrer Aus-
druͤcke des Nackenden in der Sprache. Wer ken-
net hier nicht die griechiſche Freiheit? allein, wer ſie
ken-
L
[162]Kritiſche Waͤlder.
kennet, wird ſie verdammen? Einem Lehrer der
Kunſt muͤſſen Worte erlaubt ſeyn, die keinem an-
dern, und einem Griechen, die keinem Deutſchen er-
laubt ſind. Nicht nur, daß die herrlichſten Denk-
maale der Kunſt vor ihren Augen nackend, blos ſtan-
den, und ihre Kunſt uͤberhaupt mehr das ſchoͤne
Nackte, als das zuͤchtig Verhuͤllte liebte: auch in
der Natur ſelbſt bildete ſich hier eine Art von eigner
nationalgriechiſcher Schamhaftigkeit des Auges,
die niemanden fremde duͤnken kann, als wer unter
ihnen noch kein Grieche geworden. Nackte Ringer,
nackte Kaͤmpfer, nackte olympiſche Sieger, nackte
badende Schoͤnen, nackte Taͤnze, nackte Spiele,
nackte Feſte, halbnackte Trachten — und ihre
Dichtkunſt ſollte einpreſſende Kloſterlumpen dulden?
Jhre beſten Schriftſteller ſollten eine Nonnenehr-
barkeit ſich einander eingeſtehen, die das Auge des
ganzen Griechenlandes, und die Zunge der Aelte-
ſten, Ehrwuͤrdigſten und Feinſten des Publikum
ſich nicht eingeſtand? die ſich ſelbſt die Philoſophen
in ihren Sittenſtunden nicht eingeſtanden? Jn ei-
nem Punkte, wo es ſo ſehr auf Gewohnheit der
Augen
ankommt, ſollte man, denke ich, eben dieſe
Augengewohnheit doch wohl bei einem Volke zu
Rathe ziehen, das ſich in ihr ſo ſehr auszeichnet.
Noch jetzt iſt das Gefuͤhl der Jtaliener uͤber dieſen
Punkt, von dem Gefuͤhle nordlicher Europaͤer, ſehr
verſchieden: und ſie ſind doch, dem einen Theile
nach
[163]Zweites Waͤldchen.
nach, ſelbſt ja nordliche Europaͤer: und ſie ſind doch,
dem andern Theile nach, noch keine Griechen an
Natur: und ſie wohnen doch nur unter zertruͤmmer-
ten Reſten griechiſcher Kunſt: und ſie haben doch
eine Religion, die ſo ſehr die Verhuͤllung liebet:
und ſie ſind ſchon in einer Lebensart, die ſchon vom
buͤrgerlichen Wohlſtande, und der Politeſſe gebildet
worden — Wie? und die Griechen, zum Ge-
fuͤhle der Wohlluſt gebohren, von Jugend auf unter
den Schoͤnheiten der offnen Natur erwachſen, zur
Luſt und Freude bei ihren Spielen eingeweihet, und
noch nicht zum ſclaviſchen Puppenwohlſtande ver-
dammt, ſie ſollten nicht eine eigne Sittlichkeit des
Nackenden haben doͤrfen? ſie wollten wir verdam-
men, wenn ſie nicht nach Nonnentrachten ihrer Zeit
ſchildern? ſie ſollen ſich nicht der Jugend der Welt, der
Unſchuld ihres Zeitalters erfreuen doͤrfen, von unſern
zuͤchtigen Verhuͤllungen frei zu ſeyn? ſie ſollen ver-
ſchleyerte perſianiſche Figuren, Chineſerſchoͤnheiten
mit verhuͤllten Fingerſpitzen werden? und ihre Dich-
ter eine Briſeis mit ſchoͤnen Knieen, eine Sparta-
nerinn mit ſchoͤnen Huͤften, eine Venus Anadyo-
mene, einen Bacchus mit ſchoͤnem Bauche, einen
Bathyllus, wie ihn Anakreon ſehen will:


Ἁπαλων δ’ ὑπερϑε μηρων

Μηρων το πυρ εχοντων

Αφελη ποιησον αιδω

Παφιην ϑελουσαν ηδη.

L 2nicht
[164]Kritiſche Waͤlder.

nicht unſchuldig zuͤchtig nennen doͤrfen, da ganz
Griechenland ſie ſo ſiehet. So wenig ich dieſe Frei-
heiten zum Privilegium unſrer Zeit, ſtatt einer ur-
alten deutſchen Beſcheidenheit, haben will; ſo wenig
will ichs den Griechen, in der Morgenroͤthe ihrer
Sittlichkeit angeſtritten haben. Jch will vielmehr
mit der Unſchuld, mit der Plato ſeinen Greiſen er-
laubt, die Spiele der muntern Jugend anzuſehen,
aus meinem greiſen Zeitalter hinaustreten, und die
Freuden griechiſcher Jugend, und die Naturſprache
griechiſcher Dichter, und nackte Schoͤne der grie-
chiſchen Kunſt, und die Philoſophie der Liebe bei
einem Sokrates ſo betrachten, als wenn ich mich
ſelbſt in die muntere Unſchuld dieſer Weltjugend
zuruͤckſetzen, und zu einem griechiſchen Gefuͤhle zu-
ruͤck verjuͤnget wuͤrde – dann kann ich Griechen
leſen.


Ein dritter Punkt griechiſcher Freiheit kann ei-
gentlich nicht Schamhaftigkeit heißen, er betrifft
den Anſtand der Reinigkeit, der Zierde, der Wuͤrde,
und wer kennet da nicht die Taubenreinheit der Grie-
chen? Mich freuets, wie ernſthaft mein Autor uͤber
den Unterſchied der Wortwuͤrde zwiſchen ονϑος und
κοπρος, zwiſchen κοπρος und κονις diſputirt a): wie
offenherzig er eine Stelle Homers mit ſeinem Kopf-
ſchuͤtteln begleitet: me offendit fere, vt libere ſen-
tentiam dicam, haec imago
— wie er bei ſolcher
Klei-
[165]Zweites Waͤldchen.
kleinigkeit Gelegenheit nimmt, auch der Erneſti-
ſchen Ausgabe Homers einen Liebesſtreich zu ver-
ſetzen, daß ſie das ονϑος, das dem derben Ajax um
Mund und Naſe fliegt, und den κοπρος, in wel-
chem ſich Priamus waͤlzet, nicht in ein artiges
quidni potius per pulverem? verdollmetſchet und
verhoͤflichet hat. Mich freuet die wuͤrdige Diſpuͤte,
und ich empfehle naͤchſtens den Unterſchied zwiſchen
ονϑος und κοπρος einem buͤndigen Concilio κο-
προνυμω, vt libere ſententiam dicat.


Was goͤlte es aber, wenn wir auch einen ehrli-
chen Scythen mit dahin ſchickten, der ſich ſchon ein-
mal mit Solon uͤber eine ſolche Kothmaterie beſpro-
chen, der ſich nicht gnug wundern konnte, da er die
wettringenden Juͤnglinge ſich im Staube waͤlzen
ſah, der uͤber dieſen mit ſolchem boͤſen Ueberguſſe
gypſirten Figuren ſeltſame Augen macht, immer
wieder darauf zuruͤckkommt, und ſich endlich von
dem griechiſchen Geſetzgeber ſchwer, ſchwer dieſe Koth-
uͤbungen erklaͤren laͤßt. Es iſt der Anacharſis des
Lucians. Dieſer gute Kahlkopf mag lehren, daß
die oͤftern freien Leibesuͤbungen der alten Griechen
von Jugend auf, auf Erde, Staub und Koth ihnen
einen ſolchen Anblick des Ajax oder Priamus, den
ihnen Homer vorlegt, wohl nicht ſo ekel gemacht
haben doͤrften, als uns, die wir auf Pflaſter und
Polſter treten. — —


L 3Von
[166]Kritiſche Waͤlder.

Von der eigentlichen Anſtaͤndigkeit unſrer Zeit,
von der Hoſpoliteſſe unſres Wohlſtandes haben die
Griechen mit allem ihrem αςεισμος an der Hand
der attiſchen Venus nichts gewußt; ganz nichts
gewußt. „Schade gnug fuͤr ſie!„ Jmmerhin
Schade! nur noch mehr Schade um den ehrbaren
Tadel unſrer Kunſtrichter, die etwas in Griechen-
land ſuchen, worauf kein Grieche Anſpruch machen
will, und das nicht zu ſchaͤtzen wiſſen, was ſich an
freiem edlen Gefuͤhle unter den Griechen findet! O
daß eine Muſe, eine der Charitinnen ſelbſt, aus
Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreun-
dinn, die griechiſche Schamhaftigkeit, zu zeigen, nur
daß dieſe keine Kloſter- oder Hofpuppe ſey!


5.


Ich darf nicht weiter: denn ich habe nur den
Unterſchied, der zwiſchen Nationen und Zeiten ſeyn
koͤnne, anzeigen, und es merklich machen wollen,
daß wer uͤber die Schamhaftigkeit griechiſcher und
roͤmiſcher Autoren urtheilen wolle, aus einem Na-
tionalgefuͤhle derſelben urtheilen muͤſſe. Hr. Klotz
hat das erſte gewollt, und das letzte nicht gewollt;
in ſeiner Abhandlung alſo ſind die wahren und fal-
ſchen Gattungen von Schamhaftigkeit, die natuͤr-
lichen und kuͤnſtlichen Arten derſelben, der griechi-
ſche und roͤmiſche Geſchmack hieruͤber, alle Zeiten,
und allerlei Schriftſteller beider Nationen auf eine
ſo
[167]Zweites Waͤldchen.
ſo ſeltne Weiſe vermiſchet, daß der denkende Leſer
nach allen Gemeinſaͤtzen hinten nach Luſt bekommt,
zu fragen: weiß dieſer Redner auch, was Scham-
haftigkeit ſey?


Ein paarmal habe ich meinem Verfaſſer ſchon
Gemeinſaͤtze, die er ausſchuͤttet, Schuld gegeben,
und in allen ſeinen Abhandlungen liegen gnug Bei-
ſpiele davon vor Augen. Jede derſelben iſt damit ſo
beladen, als ein gothiſches Gebaͤude mit Nebenwer-
ken, daß man recht ſuchen muß, wo die Chrie ſelbſt
anfange. Jn der That, wenn ich die herzliche
Liebe eines Autors zu ſolchen Collcktaneenbrocken
und Gemeinſaͤtzen betrachte: ſo ſtehet mir in ſeiner
bepackten Muſe der leibhafte Junker Hudibras vor
Augen:


His Back, or rather Burthen, ſhow’d

As if it ſtoop’d with its own Load.

For as Aeneas bore his Sire

Upon his Shoulders thro’ the Fire;

Our Knight did bear no leſſ a Pack

Of his own Buttocks on his Back

Which now had almoft got the Upper —

Hand of his Head, for want his Crupper.

Und wenn ich nun dieſe liebe Muſe umkehre,
und die herzliche Liebe derſelben zu gelehrten Citatio-
nen noch zu Geſichte nehmen muß! ſiehe da ſtehe
auch der umgekehrte Ritter nach ſeinem Vorder-
theile:


L 4To
[168]Kritiſche Waͤlder.
To poiſe this equally he bore

A Pounch of the ſame Bulk before

Which ſtill he had a ſpecial Care

To keep well-kramm’d with thrifty Fare;

As White-Pot, Buttermilk and Curts

Such as a Country-Houſe affords u. ſ. w.

Welch ein ſchoͤnes Bild!


Bekannte Gemeinoͤrter an unrechter Stelle; ge-
lehrte Citationen, die nichts zur Sache thun; Ma-
ſchienen von tauſend Buͤchern, um eine Kleinigkeit
fortzuſpielen, die kaum einen Fingerdruck verdient
—; andre ſo viel uͤberhaupt denken laſſen, daß
man beſonders fuͤr ſeine einzelne Materie ſelbſt
zu denken vergißt, aus Wuͤſten in Moraͤſte gera-
then, wie anders? als daß dies endlich die verdruͤß-
liche Frage dem Leſer abzwingt: wo iſt denn der
Weg? wo ſind wir? wie weit ſind wir gekommen?
— Jch mag nicht gern eine Beſchuldigung ohne
Beweis vorbringen; ich muß alſo die Schulchrie
zergliedern.


Imt. Parum recte tractari a multis veteres ſcri-
ptores.
a) Praͤchtiger Eintritt! nur daß er, wie
ich bewieſen, nicht fuͤr dieſe Schamunterſuchung
gehoͤrt. Leſſing, da er Horaz in einem aͤhnlichen
Falle vertheidigen will, ſchwingt ſich freilich nicht ſo
hoch: ſein Eingang gehoͤrt aber zum Gebaͤude.


Dictum:
[169]Zweites Waͤldchen.

Dictum: Verecundiam tribui Virgilio, ſed mi-
re.
a) Welche Verecundia? die perſoͤnliche oder
die ſchriftſtelleriſche Verecundia des Virgils? Doch
was brauchen wir das zu wiſſen, uͤber ein unbe-
ſtimmtes Thema laͤßt ſich am beſten rhetoriſiren.
Jezt alſo noch


Exord. Verecundia poëtae copioſius exponiturb).
Man verſtehe dies copioſius nicht ſo, daß es be-
ſtimmter, reicher an Gruͤnden heiße: Denn wie
wenig Hr. Kl. dies in ſeinem ganzen Libello beob-
achtet, wird der Verfolg geben. Dies Exordium
iſt, wie billig ein exordium ſeyn muß — ein vor-
laͤufiges Nichts!


Loc. commun. I. Stoicorum de turpitudine ver-
borum opinio.
c) Was ſoll der allgemeine Troͤ-
ſter hier? ſoll man, um Schamhaftigkeit zu be-
ſtimmen, von Worten anfangen? von der Lehrmei-
nung einer Sekte anfangen, die nicht hieher gehoͤrt:
nicht fuͤr Virgil: nicht fuͤrs epiſche Gedicht: nicht
ſuͤr Virgils Sitten — koͤnnen ausgeriſſene Citatio-
nen gelten, da wir was turpia verba ſind? wie ſie
beurtheilt werden ſollen? noch nicht wiſſen — noch
nicht wiſſen, wer Recht gehabt, od der Stoiker,
oder der Cyniker, oder der homo ſui judicii,Peter
Baile,
oder der Hr. Gatakerus und Rittershuſius,
und Petitus, und Balſacius, und Arnaldus, und
Bergerus, oder der kahle Ausſpruch des Herrn
L 5Klotzius
[170]Kritiſche Waͤlder.
Klotzius hinten nach a): atque etiam, ſiaccuratius
rem conſidero, homines quaſi conſenſiſſe inter
ſe et firme ſtatuiſſe videntur, vnam eamdemque
rem certis verbis expreſſam laedere pudorem, ean-
demque aliis enunciatam aequis auribus audiri et
ſalua verecundia.
Wie? wenn das der ganze Ur-
ſprung der Schamhaftigkeit iſt, daß eine und dieſelbe
Sache mit gewiſſen Worten geſagt, ſchamhaft, mit
gewiſſen, ſchamlos ſey — welche Luftblaſe von
Schamhaftigkeit? Welche Thorheit, mit ſolcher
Luftblaſe kaͤmpfen zu wollen? Welch ein wuͤrdiger
Vertrag, ſolche Augenblende zum heiligſten Ver-
buͤndniſſe zu machen? O wenn man auf einer ſo
weitlaͤuftigen Reiſe von Beleſenheit im gelehrten
Utopien nichts mehr erlernet — meine Condolenz
zur Wiederkunft mit allen gelehrten Citationen!


Loc. commun. II. Poetas inprimis decere
pudorem!
b) Wer hat an dem Regelchen je gezwei-
felt? Wer hat es aber auch je deßwegen geglaubt,
weil die Poeſie das vortrefflichſte Geſchenk der Goͤt-
ter, weil es eine Narrheit iſt, das ſelbſt von ſich zu
erwaͤhnen, was kein andrer, ohne unſre bona fama
zu beleidigen, von uns erwaͤhnen koͤnnte u. ſ. w.
Elende Sachen!


Conſect. Plinii opinio non probaturc). Die
citirte Stelle, bei welcher dieſer Randtitel ſteht, ge-
hoͤrt meines Wiſſens dem Catull. Plinius hat
mit
[171]Zweites Waͤldchen.
mit ſeinen Briefen, als Roͤmer, als ein Roͤmer ſei-
ner Zeit Recht. Was ſoll der Conſularis vir bei
einigen muntern Zeiten? was ſoll die levitas Plinia-
na
bei Vertheidiaung ſolcher Zeilen? Plinius war
ja kein Alonge-Buͤrgermeiſter in * *; und einige
loſe Verſe von ihm kein Rathſchluß der Stadt
Rom.


Loc. commun III. Concedenda videtur ali-
qua libertas
a). Gnaͤdige Freiheit! huldreichſte
Erlaubniß! fuͤr die alle Poeten von Anakreon zu-
Gleim, und von Ovid bis zu Wieland, unterthaͤnig
danken ſollen. Daß man ja aber das Privilegium
nicht mißbrauche, ſo iſt aus der poetiſchen Freiheit
wieder nichts, als ein elendes moraliſches Regelchen,
geworden, ohne poetiſche Beſtimmtheit, ohne genaue
Eingraͤnzung in die Gattungen der Gedichte, ohne
hieſige Abzweckung. Und ſiehe! das Collektaneen.
buch wird redender:


Illuſtr.

  • I. a Campani Palinodia
  • II. a voto Fontanii
  • III. a morte Addiſoni
  • IV. a Regnierii et Grecurtii levitate.b)

Schoͤne Geſellſchaft! der Papiſt Campanns, in
ſeiner Religion, nach ſeiner Zeit, nach ſeinen Schrif-
ten, nach ſeiner damaligen Faſſung — und der von
je her reifbeſonnene la Fontaine in ſeinem letzten
Wun-
[172]Kritiſche Waͤlder.
Wunſche! — ehrwuͤrdige Bußprediger! Welch
ein Uz und Wieland wird vor ihnen die Haͤnde fal-
ten, ſeine Liederchen nicht gleich verbrennen! —
Man thut uns einen Gefallen, wenn man uns reli-
gioͤs; nicht aber, daß man uns uͤberglaͤubiſch, und
eine gute Sache durch den unuͤberdachten Beweg-
grund laͤcherlich machen will. —


Ueberdem was ſoll Addiſon hier? Jch verehre
den ſeligen Young in dieſem Zeugniſſe von ihm:
vielleicht hat er auch ſeine Abſicht erreicht, um vom
Andenken an denſelben einige ſchwarze Zuͤge mit
Pope u. ſ. w. wegzuwiſchen, und eine im Unterge-
hen glaͤnzende Sonne in ſeinem Namen darzuſtel-
len — was ſoll das aber hier? — Und denn uͤber-
haupt thaͤte Hr. Klotz am beſten, wenn er mit dem gott-
loſen Fontanio, Regnierio, Grecurtio und andern
ſchamloſen franzoͤſiſchen Dichtern, unter denen wohl
Voltarius oben an ſtehen wird, ein chriſtliches Au-
to-da Fe vornaͤhme. Die Flamme wuͤrde weit zuͤn-
den, und die ſchamloſen Boccacios, Aretinos, Wie-
landios
u. ſ. w. auch als einen Bann der Erde
wegthun. Zum Nothfalle doͤrfte ſich auch bei ei-
nigen dieſer, die ſchon verſtorben, ihr letzter Wille,
als Bußſpiegel, zur Berechtigung eines ſolchen
Vertilgens von der Erde, vorfinden, wie etwa Vir-
gil ein Teſtament uͤber ſeine Aeneide gab: und wo
es ſich nicht faͤnde, doͤrfte man nur die noch leben-
den ſchamloſen Dichter chriſtlich toͤdten, und ih-
nen
[173]Zweites Waͤldchen.
nen den letzten Willen erzwingen: ſo iſt das Auto-
da-Fe gerichtlich und teſtamentariſch fertig, u. —


Doch ich ſpotte, und wer kann wohl uͤber ſo Et-
was anders, als ſpotten. Reuig indeſſen finde
ich mich zu meinem gelehrten libello zuruͤck: und
Gottlob! endlich am Thema.


Them. Virgilii verecundia triplex.a) Um
Virgil mag ich mich nicht bekuͤmmern, ſondern nur
erſt uͤber die Klotziſchen Begriffe von Schamhaf-
tigkeit, und ſiehe! da iſt wieder Criſpin! ſein lie-
bes κακοφατον vor der Stirn.


  • I. Κακοφατον b). Es ſei gnug, gezeigt zu
    haben, daß Hr. Klotz Quintilian nur halb verſtan-
    den, daß es nur ein ſehr unzuverlaͤßiges Jungfern-
    lob uͤber die Keuſchheit eines Zeitalters, einer Na-
    tion, einer Sprache, eines Schriftſtellers ſey, uͤber
    das κακοφατον ſich zu waͤhlig, zu ekel beweiſen.
    Wer zur Satyre Luſt haͤtte, koͤnnte dieſe erſte Jung-
    fernprobe unſers Autors ſehr ehrbar, als das We-
    ſen der Schamhaftigkeit, und eben damit ſchon laͤ-
    cherlich darſtellen.
  • II. Ab omni obſcenitate per totum carmen
    et per partes abhorret
    c). Hier werden Griechen
    und Roͤmer, wahre und falſche Obſcoͤnitaͤten, wah-
    re und falſche Anſtaͤndigkeiten durch einander gewor-
    fen: ohne Grundſaͤtze und Beſtimmungen liegen ſie
    da:
    [174]Kritiſche Waͤlder.
    da: wer will den zuſammengefloſſenen Unrath
    ſondern?
  • III. Verecundia in verbis et formulisa). Der
    vorige Klumpe! obſcena, ſordida, humilia etc.
    alles in einer Grube! ohne einigen beſtimmten Be-
    griff und Unterſcheidung! Ob Vorſtellungen, oder
    nur ihre Ausdruͤcke beleidigen? ob dieſe Beleidi-
    gung Ekel, oder Schaam, oder nur galanter Unwille
    ſey, den ſie erregen? ob es wider das Reine des
    Auges im Begriffe ſelbſt, oder wider die Zucht des
    Ohrs im Ausdrucke? ob wider die natuͤrliche
    Schaam, oder die geſellſchaftliche Anſtaͤndigkeit,
    oder nur wider die Sprachwuͤrde ſey? ob dieſe un-
    ter allen Voͤlkern, zu allen Zeiten, in allen Gattun-
    gen der Schriftſtellerei dieſelbe ſey? — Alles
    Einerlei und Unerwogen: ſo getadelt: ſo gelobt —
    wozu kann das Gemiſche dienen?

6.


Um Virgils Schamhaftigkeit zu beweiſen.
Wozu das aber ohne Beſtimmung der Begriffe, ohne
Ort und Ordnung? Es iſt immer ein falſcher Ge-
ſchmack, ein Ueberbleibſel der alten philologiſchen
Notenmacher, Stellen und Sachen zuſammen zu
haͤufen, die ſo gut anders wo, als hier ſtehen koͤn-
nen, die hier nichts zur Sache thun, ſondern die
Haupt-
[175]Zweites Waͤldchen.
Hauptfigur vielmehr ausloͤſchen. Und das iſt doch
der Klotziſche Geſchmack in allen eignen Schriftchen
deſſelben. Hier trete ich in einen ſo großen Wald
kahler fremder compilirter Stellen, daß mein
Schriftſteller Virgil faſt darunter verſchwindet.


Um die Schamhaftigkeit Virgils zu beweiſen?
hat unſer Autor da gewußt, was er beweiſen ſoll:
und hat er, was er zu beweiſen ſcheint, bewieſen?
Virgils Schamhaftigkeit kann zweierlei bedeuten:
die Zuͤchtigkeit ſeines perſoͤnlichen Charakters, oder
ſeine Ehrbarkeit als Schriftſteller. Beide ſind
ganz verſchiedne Sachen; Hr. Klotz hat ſie nicht
unterſchieden; er beweiſet auf alle beide los, und be-
weiſet keine.


Nicht recht die Schamhaftigkeit Virgils als
Schriftſteller: Denn wodurch beweiſet er ſie? Durch
das κακοφατον? Er, das κακοφατον eines Roͤmers,
eines antikſprechenden Dichters, eines graͤciſiren-
den epiſchen Dichters kennen, aufzaͤhlen, beurthei-
len? Wer weiß es nicht, daß die feinſten Zweideu-
tigkeiten blos auf dem ſchluͤpfrigen Witze einiger Zeit-
genoſſen, auf dem wandelbaren Eigenſinne eines uͤp-
pigen Sprachgebrauchs, oder Sprachmißbrauchs,
beruhen? Wer weiß nicht, daß es am wenigſten
zum κακοφατον gehoͤre, wie ein Wort ausgeſpro-
chen werde (quomodo veteres pronunciarint ver-
ba
a)) ſondern wie dieſe und jene Geſellſchaft, die-
ſer
[176]Kritiſche Waͤlder.
ſer und der Wortmaͤckler ſie verſtanden, oder miß-
verſtanden; (mala conſuetudine in obſcenum intel-
lectum detorſerint)
Wer weiß nicht, daß eben ein
archaiſirender Schriftſteller, wofuͤr Virgil bekannt
iſt, am erſten Gefahr laͤuft, den Neulingen der
Sprache obſcoͤn zu werden? daß ein epiſcher Dich-
ter, inſonderheit der dem Genie einer fremden ho-
hen Sprache nacheifert, der erſte ſey, unſchuldige
κακοφατα zu machen, wie ſie ja fuͤr unſre verbli-
chene Gottſchedianer keiner mehr, als Klopſtock, ge-
macht hat? Wer weiß nicht, daß ein epiſcher Dich-
ter immer lieber einen hohen alten ſtarken Ausdruck
ſancte et religioſe ſetzen, als fuͤr die Ohren einiger
Zuchtkraͤmer auslaſſen wird? Und wer weiß nicht,
daß nach der Auslegung des Servius, und nach der
Tortur, die Celſus dem Virgiliſchen:


incipiunt agitata tumeſcere

anthun konnte, kein Dichter vielleicht unſchuldiger
Weiſe fuͤr die Witzlinge juͤngerer Roͤmer mehr κα-
κοφατα gemacht haben kann, als eben Virgil?
Und wenn ſolche Stellen nicht vor Mißdeutungen
ſicher geblieben, welche waͤren’s denn? Und welch
ein unwuͤrdiger Begriff, einen epiſchen Dichter zu-
erſt
und vornehmlich zu ſolchem Ehrbarkeitspedan-
ten zu machen? Und wie vergeblich, jetzt in Vir-
gil Proben des κακοφατον, oder des vermiedenen
κακοφατον auffinden zu wollen? — — O des
Schutzredners fuͤr Virgil! Er iſt im Stande, ihn
mit
[177]Zweites Waͤldchen.
mit ſeiner Schutzrede ſelbſt in Verdacht zu bringen,
ſelbſt ſchamroth zu machen! — — Am beſten,
daß er hinter das ganze Non-ſenſe dieſes Haupt-
ſtuͤcks hinten nach ſagt: Vom Virgil wußte ich
hieruͤber nichts zu ſagen!


Oder ſoll es die Schamhaftigkeit Virgils aus-
machen, daß man ihn gegen die Auslegungen eines
Servius rettet? a) So hat man ihn laͤngſt, und
wir werden ſehen, wie fern gerettet.


Oder ſoll es die Schamhaftigkeit Virgils aus-
machen, daß er die Umarmung der Dido nicht mah-
len wollen? b) Und wer wird ſie mahlen wollen?
Hat denn Homer ſeine Umarmung der Helena ge-
mahlet? Ohngeachtet des hoͤflichen non probo! un-
ſers Autors finde ich Homeren in ſeiner unſchuldig
einfaͤltigen Erzaͤlung keuſcher, als Virgilen in ſei-
nem Shandyſchen; Macht die Thuͤr zu! und
des kahlen: non decet talis pictura carminis epici
dignitatem!
bin ich, wenn nichts weiter iſt, herz-
lich muͤde.


Bei Homer iſt blos das Charakteriſtiſche im An-
trage des Paris der Zweck der Muſe; wenn der
Antrag und zwar zu der Zeit, in der Situation
wegfaͤllt; ſo falle die ganze Stelle weg: ſo brauche
die Muſe dieſen Schritt nicht. Bei Virgilen iſts
die Umarmung ſeines Paares ſelbſt, die in das
MWeſen
[178]Kritiſche Waͤlder.
Weſen des Gedichts verflochten iſt: dieſe Schaͤfer-
ſtunde, dieſer Eingang in die Hoͤhle iſt ein Haupt-
knoten ſeiner Epopee:


Ille dies primus leti, primusque malorum
Cauſſa fuit.

Wer iſt nun ſchamhafter, der eine ſolche Sache, nur
beilaͤufig, nur ihrem Antrage nach, nur als Cha-
rakterzug, mitnahm; oder der ſie in das Weſen ſeiner
Epopee mit einknuͤpfte, der von ihr ſo viel abhan-
gen laͤßt, der auf ſie, als auf eine Haupthandlung,
unſer Auge richtet? — Jenes thut Homer;
dies Virgil — weſſen Muſe verdient eher ein
non probo?


Ueberdem iſts unpaſſend, die junoniſche Liebes-
ſcene in Homer mit der didoniſchen auch nur von
weitem in Vergleich zu ſetzen a); ſie ſind ſo wenig
zu paralleliſiren, als Goͤtter und Menſchen uͤber-
haupt. So in Homer, als in Virgil, haben die
Goͤtter ihr eigenes Etiquette: und beiden ſetze man
alſo Goͤtter in Vergleichung, oder nichts. Da
ſtehe alſo gegen den homeriſchen Jupiter und Ju-
no b), ein virgilianiſcher Vulcan und Venus c),
und wer malet ſchamhafter, der Grieche oder der Roͤ-
mer? Der Grieche, der, uns bei den ſchoͤnen Vor-
bereitungen zu ergoͤtzen, ſeine Kunſt anleget; oder
der
[179]Zweites Waͤldchen.
der Roͤmer, der ſein Werk darauf ſetzet, um die er-
regten Empfindungen ſelbſt auszumalen? Der
Grieche, der mit ſeiner poetiſchen Schilderung von
Pracht und Schoͤnheit der Juno, mit ſeiner ſchoͤ-
nen allegoriſchen Dichtung vom Guͤrtel der Venus,
unſer Auge ſtiehlt; oder der Roͤmer, der es recht
eigentlich auf die Liebesumarmung ſelbſt richtet?
Der Grieche, bei dem wir die edle Bildung der Juno
in einer ganz unſchuldigen Gelegenheit antreffen,
da ſie ſich ſchmuͤckt: oder der Roͤmer, der uns die
ſchneeweißen Venusarme nur alsdenn zeigt, wenn
ſie ſich um Vulcan ſchlingen, wenn ſie ihm den elek-
triſchen Funken der Liebe durch Leib und Seele ja-
gen? Der Grieche, der uns die himmliſche Koͤ-
niginn in ihrem Brautgemache, nur bei verſchloſ-
ſenen Thuͤren, entkleidet, ſie nur badend, ſalbend,
zierend zeigt, und das Uebrige unter den Guͤrtel der
Venus verhuͤllet; der ſie auf Jda um Nichts ſo
lange, ſo angelegentlich beſorgt ſeyn laͤßt, als um
Verborgenheit, um nicht geſehen zu werden: be-
ſchaͤmt zeigt ſie Zevs dem ringsum offnen Jda:
ſchamhaft bezeuget ſie, wie, wenn ſie von andern
belauſchet wuͤrden, ſie keinem Gotte unter die Augen
wuͤrde treten koͤnnnen: zuͤchtig ſchlaͤgt ſie ihm ſein
Ehebette, ſeine Schlafkammer vor: ſie laͤßt ſich
nicht anders, als durch die dickſte goldene Wolke ſi-
cher machen: der Roͤmer uͤberhebt ſeine Venus al-
ler dieſer Beſorglichkeiten: ungeſtoͤrt faͤngt ſie ihr
M 2Liebes-
[180]Kritiſche Waͤlder.
Liebesſpiel ſelbſt an. Bei Homer muß Juno in ei-
ner ganz andern Abſicht den Jda vorbeiziehen,
ganz, wie es ſcheint, ohne Abſicht, ihm das Herz
entwenden, ſich anhalten, und durch ein außeror-
dentliches Verlangen ihres Ehegemals, durch das
offne Liebesbekenntniß, daß dieſe Schaͤferſtunde alle,
alle ſeine Schaͤferſtunden nach Namen und Zahl
uͤbertreffe, u. ſ. w. ſich weigernd in die-goldne Wol-
ke ziehen laſſen: bei Virgil ſetzt es Venus mit ih-
ren Umarmungen offenbar darauf an. Bei Ho-
mer iſt die Schaͤferſtunde nur ein Mittel, die Au-
gen des Jupiters durch den Schlaf zu feſſeln; bei
Virgil iſt ſie der Marktpreis, daß Venus ihre Ab-
ſichten erreiche — Wer iſt ſchamhafter, anſtaͤn-
diger, edler? Gewiß! ſo weit Juno die Venus an
Hoheit und Adel: ſo weit uͤbertrifft Homer ſei-
nen roͤmiſchen Nachahmer an innerer Wuͤrde und
Schamhaftigkeit. Jener erzaͤlet unſchuldig, offen-
herzig und, wenn man will, langweilig: der Roͤ-
mer verſteckt, verkuͤrzet; er hat ſein: Jch koͤnnte
mehr ſagen! Jener erzaͤlt epiſch, uͤbergehend: die-
ſer malet, damit er Funken errege — wer verliert
bei der Vergleichung?


Es bleibt Virgils Zucht in Worten und Formeln
uͤber a). Jn Worten und Formeln? Daruͤber
ſollte Maͤcenas urtheilen: wir, jetzt, nach der Ana-
logie unſrer Sprache, nach den wenigen Huͤlfsmit-
teln
[181]Zweites Waͤldchen.
teln zu einem Lexicon der Wortwuͤrde damaliger Zeit,
kaum! Kein Theil der Sprache haͤngt ſo ſehr von
Nebenbegriffen des Gebrauchs, vom Eigenſinne der
Mode ab, als dieſer: und in meinem Autor finde
ich ſo wenig Materialien zu einem Woͤrterbuche der
Sprachwuͤrde uͤber Virgil: ſo wenig Virgil
ein Lexicon der Liebe geben wollen. Ueberdem was
thuts zur Schamhaftigkeit Virgils, ob er ſtercus
oder fimus geſagt a); ob er das vomere genannt,
oder noch ekler umſchrieben. Was thuts zur Scham-
haftigkeit Virgils, wie fein und ſchluͤpfrig er hier
und da das Wort Liebe verhoͤflichet, wenn nicht be-
wieſen wird, daß in den Vorſtellungen ſelbſt hier
nichts, als Zuͤchtiges, enthalten ſey, und das alles
in Virgil, als dem Roͤmer.


Jn Virgil, als dem Roͤmer. Denn haͤtte
deſſen Beſcheidenheit nicht darnach beſtimmt wer-
den ſollen, was fuͤr ein Geiſt der Schamhaftigkeit,
nach Sprache, Verfaſſung, Lebensart und Empfin-
dung, ſich einmal unter den Roͤmern formirt und
gebildet? was fuͤr Eindruͤcke, beſonders dem
Schriftſtellerpublicum der Roͤmer, ihre erſte
Schriftſteller und Dichter gegeben? wie weit dieſe
Decenz den Griechen gefolget, oder ſich von ihnen
abgelenket? wie hoch ſie zur Zeit Virgils geweſen?
wo er das Muſter der Griechen befolget, oder verlaſ-
ſen? wo muthmaßlich verlaſſen muͤſſen, wo nachzu-
M 3folgen
[182]Kritiſche Waͤlder.
folgen zu bloͤde geweſen? Wie weit wir jetzt uͤber
dieſen Punkt urtheilen koͤnnen, oder ſchweigen muͤſ-
ſen? — So haͤtte der roͤmiſche Virgil erſcheinen
ſollen: der Roͤmer ſeiner Zeit: der Dichter: der epi-
ſche Dichter: Virgil.


Und der erſcheint in unſerm lateiniſchen libello
nirgends. Nichts, was ſeinen urſpruͤnglichen,
nationellen, zeitmaͤßigen, lateiniſchen, poetiſchen,
epiſchen Charakter, von dieſer Seite aus, entwi-
ckelte; uns, von ihr aus, in die Welt der Roͤmer
fuͤhrte; dieſe uns in abſtechendem Lichte gegen die
Sittſamkeit der Griechen, und der Neuern zeigte,
und uns alles andere vergeſſen lehrte — davon
Nichts. Man haͤtte uns mehr geſagt, wenn der
erſte beſte Schultroͤſter, wo Blumen und loci com-
munes
aus Virgil geſammlet ſind, wie er z. E.
amare, amor, amicitia, Venus \&c. poetiſch aus-
druͤckt: etwa ein andrer dazu, wo er mit den Grie-
chen gegen einander gehalten iſt, zur Hand genom-
men, und in Reflexion gezogen waͤre. Wenn ich
Alles fremde, unnuͤtze wegwerfe, was bleibt mir
uͤber die Beſcheidenheit Virgils uͤbrig? Der Flit-
terſtaat iſt der Puppe abgezogen; da ſteht die Stan-
ge Holz mit ihrem bemalten Kopfe! die duͤrre Ab-
handlung mit ihrem lockenden Thema!


7. Und
[183]Zweites Waͤldchen.

7.


Und das betraf nur die Schamhaftigkeit Vir-
gils, als eines Schriftſtellers; nun war aber dieſe,
wie mich duͤnkt, eben nicht das, was ich ſuchte.
Hr. Kl. legt die Stellen Donatus und Servius
zum Grunde a), und was koͤnnte alſo der Leſer er-
warten, als daß er ſich uͤber dieſe Stellen, uͤber die
Anſchuldigungen derſelben, kurz! uͤber die perſoͤnli-
che Charakterſchamhaftigkeit Virgils erklaͤren moͤch-
te; vielleicht aber, daß ihn ſeine Collektaneen uͤber
dieſen Punkt verlaſſen haben; denn er lenket fein ar-
tig ab. Donatus ſagt: Virgil ſoll ſchoͤne Kna-
ben geliebet; er ſoll die Plotia Hieria gekannt;
er ſoll in dieſem Punkte nicht die Jungfer geweſen
ſeyn, fuͤr die er galt. Servius ſagt beinahe eben
das; und Hr. Kl. haͤtte wiſſen koͤnnen, daß ſchon
lange vorher auch Martial und Apulejus auch ſo
Etwas geſagt hatten, daß es eine allgemeine Sa-
ge von Virgil geweſen, das — kurz! alles das
ſagt das Geruͤcht, und Hr. Kl. beweiſet, daß ſeine
Aeneide, und die Gedichte ſeines Namens keine
Hurenlieder ſind — wer will das bewieſen haben?


Hr. Kl. meynet zwar b), daß Eins das An-
dre aufhebe; daß es eben ſo ſey, als wenn ihn je-
mand fuͤr einen gelehrten Grammaticus hielte, und
ihm doch zeige, daß er weder Griechiſch noch Latei-
M 4niſch
[184]Kritiſche Waͤlder.
niſch recht verſtanden; allein, das meyne ich nicht.
Virgil kann immer ein ſchamhaftes Geſicht gehabt,
anſtaͤndig geſprochen (ore probus), immer eine
fromme, edle Seele (animo probus), und eine an-
ſtaͤndige Lebensart bewieſen (cætera vita probus);
und doch ſchoͤne Knaben geliebt, und doch die Plo-
tia Hieria gekannt haben. Jch ſehe nichts, das
ſich aufhebe, und inſonderheit zu den Zeiten Maͤce-
nas, haͤtte aufheben doͤrfen. Jſts denn ſo wider-
ſprechend, daß ein Menſch, zur ſanften Wohlluſt
geboren, auch dies Sanfte in ſeiner Mine zeige,
daß das, was in der weiblichen Mine ſchmachtend,
ein Liebreiz der Venus waͤre; in einem maͤnnlichen
Geſichte eine Art von Unſchuld, von jungfraͤulicher
Beſcheidenheit, von ſchamhafter Froͤmmigkeit wer-
de? Ohne die Phyſiognomien der Liebe ſtudirt zu
haben, ſehe ich beides nicht zuſammenhangend, und
da alſo ore probus Virgilius. Muß ferner der,
der ſchoͤne Knaben liebt, denn damit aller buͤrgerli-
chen Ehrbarkeit, und, der ſie unſchuldig liebt, aller
Tugend der Seele entſagen? Und ſiehe! da iſt ani-
mo, cætera vita probus Virgilius
— wo iſt der
ungereimte Widerſpruch, inſonderheit zu den Zei-
ten Maͤcenas?


Es ſey indeſſen, oder nicht; was will Hr. Kl.
mit ſeinem ganzen Buͤchlein? Ein Heldengedicht,
ein Gedicht von der Feldwirthſchaft, Schaͤferpoe-
ſien, koͤnnen Virgilen immer, als Dichter, und,
wenn
[185]Zweites Waͤldchen.
wenn man will, als beſcheidnen Dichter, zeigen;
aber auf ſein Leben, auf ſeinen Charakter, und in-
ſonderheit auf die fromme Mine ſeines Geſichts koͤn-
nen ſie weniger beweiſen, als Swifts Predigt uͤber
die Dreieinigkeit beweiſen kann, daß er in die
Biergeſellſchaften, als ein verkleideter Satyr, ge-
gangen; daß er ſein Maͤrchen von der Tonne ge-
ſchrieben. Wenn dieſe Abhandlung beweiſen ſoll,
daß er im Verſtande Donatus ore probus gewe-
ſen, beweiſet ſie nichts. Wer wird ſagen, daß
deßwegen D. Luther zuͤchtig ausgeſehen; oder, daß
er in ſeinen Tiſchreden jedes Wort auf die Goldwa-
ge gelegt, weil ſich nichts von ſolcher Art in ſeinem
Geſangbuche befindet? Wenn Virgil ſcriptis pro-
bus
iſt: muß er darum auch ore probus geweſen
ſeyn? Jch weiß nicht, wie durch ſolchen Weg Et-
was auf Virgils perſoͤnlichen Charakter folge.


Fuͤr uns iſts ſchwer, etwas auf ihn auszuma-
chen; ob es aber ganz unmoͤglich ſey, ob Virgils
perſoͤnlicher Charakter ganz zweideutig bleiben muͤſ-
ſe, ſehe ich auch nicht ſo helle, daß ich Hrn. Klotzens
non licet aliquid certi hac de re ſtatuerea) unter-
ſchreiben doͤrfte. Mir fehlet die Kunſt Leſſings,
Virgil, ſeinem gewoͤhnlichen Charakter nach, ſo
zu retten, als er ſeinen Horaz gerettet hat; und
außer dem fehlet mir der Ort dazu. Jch will alſo
wenigſtens einige Materialien anfuͤhren, die ein an-
M 5drer
[186]Kritiſche Waͤlder.
drer vermehren und ordnen koͤnnte, um Virgils
Schamhaftigkeit zu retten, oder wenigſtens genau-
er des Gegentheils uͤberzeugt zu werden.


Der Hauptzeuge uͤber Virgils Unmaͤßigkeit
pflegt Donatus zu ſeyn: aber wer iſt Donatus?
Aller Wahrſcheinlichkeit nach, iſt das Leben Virgils,
das unter ſeinem Namen geht, von juͤngerer Hand,
und kann kaum den Grundzuͤgen nach, dem Gram-
matiker ſelbſt zugehoͤren a). Der Autor der An-
klage iſt alſo ungewiß, und ſo, wie er ſie vortraͤgt,
die Anklage ſelbſt. Famaeſt, eum libidinis pro-
nioris in pueros fuiſſe,
und von wem ruͤhrt dieſe
Fama her? Das liebe Soll, das gewoͤhnliche
Man ſagt hat, wie Leſſing ſich munter ausdruͤckt,
ſchon manchen ehrlichen Mann um ſeinen ehrlichen
Namen gebracht. — — Kurz! als Hauptzeu-
ge, als erſter Anklaͤger, kann dieſer Donatus ohne
Kopf und Mund nicht gelten: er trete zuruͤck,
bis die Reihe an ihn kommt.


Servius tritt auf: aber Servius iſt ein Aus-
leger, ein Gruͤbler uͤber Virgil; und was laͤßt ſich
nicht ausgruͤbeln? Seine ſpaͤtere Sage gilt noch
weniger, als die erſte; denn was ließ ſich zwiſchen
Virgil uud Servius nicht alles ſagen, und wieder
ſagen? ohne daß es jemand zuletzt bekraͤftigen, ohne
daß es jemand wiederlegen konnte? Ein Zeugniß
alſo, Jahrhunderte nachher, aus einer ſo truͤben
Quel-
[187]Zweites Waͤldchen.
Quelle, oder vielmehr aus dem ſo weit abgeleiteten
Abfluſſe einer ſo truͤben Quelle gilt nicht. Es
muͤſſen fruͤhere Zeugen gegen Virgil auftreten, von
denen etwa die Sage kam, die der Begebenheit naͤ-
her waren, und da ſind; Hr. Kl. hat ſie nicht fuͤr
gut befunden, anzufuͤhren oder abzuhoͤren, Mar-
tial
und Apulejus.


Und was ſagt denn Martial aus a)? Er
ſingt das alte Lied, daß ein Maͤcenas einen Maro
mit ſeinen Geſchenken hervor gebracht: daß es gut
ſey, ein Virgil zu werden, wenn man ſein Landgut
zuruͤck, wenn man Reichthuͤmer oben daruͤber, wenn
man alles bekommt, was unſer Herz wuͤnſchet; z. E.
einen ſchoͤnen Alexis —


Accipe divitias \& vatum maximus eſto

Tu, licet \& noſtrum, dixit, Alexin ames.

Adſtabat domini menſis pulcherrimus ille,

Marmorea fundens nigra Falerna manu;

Et libata dabat roſeis carcheſia labris,

Quæ poterant ipſum ſollicitare Jovem.

Excidit attonito pinguis Galathea Poetæ

Theſtylis, \& rubras meſſibus uſta genas.

Protinus Italiam concepit, \& arma, virumque

Was hat nun Martial Boͤſes ausgeſagt? Un-
gruͤndliches, ſeichten Halbwitz, der ihm nicht viel
Ehre macht, wohl; aber Boͤſes, das Virgils Na-
men
[188]Kritiſche Waͤlder
men befleckte? Nichts. Jch lerne Virgil aus die-
ſem
Epigramm blos als einen gluͤcklichen Dichter,
als einen ungemeſſenen Guͤnſtling ſeines Herrn,
und, wenn man will, als einen ſeinen Wohlluͤſtling,
kennen; anders nicht. Seine geraubten Guͤter hat
er zuruͤck; reiche Geſchenke nach reichen Geſchenken;
ihm ſteht der ſchoͤne junge Alexis bei Maͤcen kaum
an, und ſo gleich iſt er ſein eigen. Da ſitzt nun
Virgil an ſeiner Goͤttertafel, und ſein ſchoͤner Gany-
medes vor ihm! bei ſolchem Ganymedes laͤßt ſich frei-
lich ſeine vorige feiſte Landſchoͤne, Galathea, wohl
vergeſſen; da laͤßt ſich wohl ein arma virumque an-
ſtimmen — — Man ſiehet, wo Martial mit
ſeinem hinkenden Schluſſe hinaus will; aber im
mindeſten nicht auf Virgils Ehre. War es denn
Schamloſigkeit, einen Alexis vom Mecaͤnas zum
Geſchenke annehmen, ihn lieben, ſich an ihm, als
Mundſchenken, bei Tafel erfreuen, ſchoͤne Leute und,
nach roͤmiſcher Wirthſchaft, ſchoͤne Knaben um ſich
zu ſehen? Jch weiß nicht, welcher Ehrbare nicht in
der Stelle Virgils, in ſeiner Gunſt Mecaͤnas, in
ſeiner feinen Art, dieſe Gunſt zu genießen, ſeyn koͤnn-
te. Von boͤsartiger Anſpielung ſehe ich im Epi-
gramm nichts, ganz und gar nichts. Und iſt
Martial wohl der Mann, ſo Etwas zu verſchwei-
gen, wenn ers haͤtte ſagen koͤnnen? Jſt er nicht eben
der, der gewiß zu erſt die beruͤchtigte virgilianiſche
Ekloge angezogen haͤtte, wenn ſie ihm unter einer
boͤsar-
[189]Zweites Waͤldchen.
boͤsartigen Allegorie, und nicht anders, haͤtte be-
kannt ſeyn muͤſſen? Wer den witzigen menſchen-
freundlichen Martial kennet, wird in ſolchem Falle
ſolch Betragen ſehr epigrammatiſch, ſehr martiali-
ſtiſch finden. Da er gegentheils nichts daruͤber aͤußert,
an mehr als einem Orte nichts aͤußert: ſo iſt Martial
nicht blos kein Zeuge gegen Virgil, ſondern durch ſein
Stillſchweigen faſt auch ein Zeuge fuͤr ihn. Ein boͤſer
Witzling, wie er, haͤtte Virgilen gewiß nicht ſo hoͤflich
durchwiſchen laſſen, wenn er Schamloſigkeit als Vir-
gils Hauptvergnuͤgen gekannt haͤtte. Wie? er haͤt-
te Virgils Gluͤck und Vergnuͤgen beſchreien wollen,
und ſo etwas ſich koͤnnen entwiſchen laſſen?


„Schon aber Apulejus a) deutet ja die beruͤch-
„tigte Ekloge auf ſeine Liebeshaͤndel mit dem Ale-
„xis.„ Gut! ich nehme ſein Wort fuͤr Etwas mehr,
als Deutung, fuͤr Zeugniß an; und wofuͤr mehr
kann ichs nehmen? Virgil alſo habe ſein Schaͤfer-
gedicht auf den Knaben ſeines Freundes gemacht;
er ſeys, der unter dem Namen Coridons ſpreche,
und fuͤhle, und ſeufze, weil es Apulejus ſagt —
wozu aber ſagt es Apulejus? Etwa um Virgils
Unmaͤßigkeit zu tadeln, und ſeine boͤſen Sitten zu
ſchelten? Umgekehrt! mitten unter Apologien fuͤr
die Liebhaber der Schoͤnheit fuͤhrt er ihn noch mit
einem Lobe der Beſcheidenheit an, daß er der Na-
men ſeiner Guͤnſtlinge im Gedichte geſchonet.
Schlech-
[190]Kritiſche Waͤlder.
Schlechtes Lob! wird man ſagen, uͤber eine tadels-
werthe Handlung; elende Bekleidung eines Feh-
lers, ihn namenlos zu begehen! Aber wo mag der
Fehler, die tadelswerthe Handlung denn bei Apulej
wohnen?


Jch mag keine neue Vertheidigung der ſo-
kratiſchen Liebe uͤbernehmen, da ſchon mehr, als ei-
ner, ſie vertheidiget hat: ich betrachte Virgil nicht
mehr, als ſokratiſchen Liebhaber ſeines Alexis, ſon-
dern als den Liebesſaͤnger deſſelben; und welch ein
brennender Liebesgeſang? wer koͤnnte die Flamme
noch entſchuldigen? — Jch bins, der ſie ent-
ſchuldigt; und eben der Apulejus, der meinen Eklo-
giſten fuͤr einen Liebesſaͤnger in ſeinem, ob gleich
verdeckten, Namen angiebt, mag ihn auch rechtfer-
tigen. Er rede: Quanto modeſtius Mantuanus
Poeta, qui itidem, ut ego, puerum amici ſui Pol-
lionis Bucolico ludisro laudans
— — Wie? ſo
iſt Virgils Ekloge, nach Apulejus Zeugniß, blos
ein ſcherzhaftes Lob- ein ſcherzhaftes Hirtenge-
dicht geweſen? ſo unſchuldig, daß Apulej ſich nicht
ſicherer ſtellen kann, als mit ihm in eine Claſſe? ſo
unſchuldig, daß es zu Apulejs Zeiten offenbar
nur fuͤr einen Spaß, fuͤr eine ſcherzhafte Taͤndelei
galt? — Was ſoll den Apulej gegen ihn; er iſt
der beſte Freund fuͤr ihn.


Und was iſt wahrſcheinlicher, als Apulejus
Nachricht? Jch ſtelle mir den huͤbſchen Jungen
des
[191]Zweites Waͤldchen.
des Pollio, und das ſchamhafte Jungfrauengeſicht,
den zuͤchtigen Virgil, vor, wie er nach ihm ſchielet;
wie er ſein Auge an ihm weidet, ihn lobet, ihm lieb-
koſet. Pollio macht die Sache zum Spaße: ſein
Freund ſoll erſt ein Coridon werden; ſoll erſt um
Alexis werben. Virgil wird Coridon: er verwan-
delt ſich in einen poetiſchen Schaͤfer: ahmt Theokri-
ten nach, und ſetzt ſich nach Sicilien mit ſeinem Ale-
xis. Da klaget er den Waͤldern ungefuͤhlte Leiden:
da aͤchzt er uͤber ſeine unempfundne Verzweiflung:
da ſeufzt er uͤber ſeine Verachtung, uͤber die Sproͤ-
digkeit ſeines Lieblinges — da wird ſeine zweite
Ekloge. Ein ſeines Lobgedicht auf Alexis! eine
ſchoͤne poetiſche Liebeswerbung — werth eines ſchoͤ-
nen Knaben, werth eines Alexis. Virgil hat ihn
ſich erſungen: da ſteht er nun, wie Martial dichte-
te, vor dem Tiſche ſeines neuen Herrn, ein irdiſcher
Ganymedes, und gießt mit weißer Marmorhand
Falernerwein: da koſtet er mit Roſenlippen den
Trank, den ein Jupiter ſelbſt beneiden koͤnnte. Da
kann der im Schauen geſaͤttigte Dichter wohl ſeine
alte geſunde Landgalathee, ſeine verbrannte Theſtylis
vergeſſen: der feine Wohlluͤſtling, der enthaltſame
Virgil, hat beſſere Freuden, die ihm — ſein lu-
dicrum
Βουκολικον, ſein feines Lobgedicht brachte.


So ſprach das Alterthum vom Virgil: aber
von jeher hat es auch nicht an Klotziisa) gefehlt,
die
[192]Kritiſche Waͤlder.
die die bona fama eines Dichters aus ſeinen Ge-
dichten beurtheilen, die den feinen Schluß machen
konnten: Quid? ea de ſe ipſo commemorat faci-
nora Poeta, cur non alius qaisque ab illo patrata
eſſe diceret?
Von jeher hat es nicht an Leuten ge-
fehlet, die nicht nach den Schriften, ſondern nach
den Anekdotchen eines Autors begierig, ſolche Perſo-
nalien halb aufhoͤrten, und halb dichteten, und ſie
denn, wenn ſie beſcheiden waren, mit einem unge-
betnen Er ſoll! der Welt empfahlen, oder, wenn
ſie die Beſcheidenheit nicht brauchten, mit einem ge-
wiſſenhaften Er hat! aufdrangen. Und das iſt
das Ungluͤck Virgils, das iſt das Ungluͤck ſo man-
cher Unſchuldigen geweſen.


Zuerſt Donatus — doch nein! wie geſagt,
Donatus nicht ſelbſt, ſondern ſein Zuſammenſtop-
pler, ſein Ergaͤnzer — dieſer Pſeudo-Donatus
alſo, was konnte er beſſer, als den biographiſchen
Grundriß, den er vorfand, mit Anekdotchen zu er-
gaͤnzen, mit perſonellen Luͤgen zuſammen zu ſtoppeln?
Und zu dieſer ſo angenehmen, den Leſern ſo beluſti-
genden Sache, wie gelegen war ihm der Brocke, den
Apulej entfallen laſſen! Apulejus erzaͤlt: Virgil
habe ſeine Lieblinge nach Sokrates Art gehabt —
freilich, das unleugbar! aber bilde es aus; ſage:
wen Sokrates ſo geliebet? und ſetze den hoͤflichen
locus communis voraus: eum libidinis pronioris
in pueros fuiſſe
— Freilich ein ungereimter
Wider-
[193]Zweites Waͤldchen.
Widerſpruch! eine unerhoͤrte ſich ſelbſt ſtrafende
Luͤge: denn wo hat Sokrates ſo geliebt? Aber, was
ſchadet das? ein man ſagt; ein fama eſt! kann
ſchon Etwas bei dem Poͤbelleſer zur Noth zudecken;
und fuͤr wen andern werden Anekdoten fabricirt?
So war eine Luͤge, eine widerſinnige Luͤge fertig:
widerſinnig, denn welcher Menſch, der bei ſich ſelbſt
iſt, wird ohne Ruͤckſicht beides glauben koͤnnen,
eum libidinis pronioris in pueros fuiſſe, und doch
eum amaſſe vt Socrates — und doch vita et ani-
mo probum fuiſſe.
So wenig ich mir von der
Sittlichkeit der damaligen Roͤmerwelt große Be-
griffe mache: ſo kann der Widerſpruch doch in ſich
ſelbſt nicht Statt finden. Er iſt Chikane, er iſt
Verlaͤumdung, Verdrehung eines alten gutherzigen
Autors.


Woher aber die Knaben, die man ihm unter-
ſchob? Was weiß ich das? Gnug! Apulejus hatte
den Namen Alexis fuͤr einen erdichteten Namen
angegeben, und nun konnte unter ihm was eher, als
ein Alexander, verborgen liegen, der nur ins Sylben-
maaß nicht konnte? Nur noch ein Cebes, eine
Plotia Hieria, oder Leria, oder Aleria, oder wie
man die Aelia Laͤlia Criſpis nennen wolle, dazu,
und die Tradition iſt zum voͤlligen Maͤrchen gewor-
den. Wie anders, als daß jetzt jeder gruͤndliche
Ausleger der Coridonsekloge ſolche artige Erlaͤute-
rung nicht auslaſſen kann? Er laſſe lieber, um der-
Nſelben
[194]Kritiſche Waͤlder.
ſelben noch mehr Gewißheit, um ſeinem Texte mehr
Anſchaulichkeit zu geben, noch gar das fama eſt,
vulgatum eſt,
weg: denn wer will hier Geſchichte?
das Maͤrchen erlaͤutert ja ſo ſchoͤn! — armer Vir-
gil! der Stab iſt uͤber dich gebrochen! deine
ſchamloſe Ekloge liegt ja der Welt vor Augen! Da
iſt dein Servius!


Nun ſage mir ein poetiſcher Leſer, wie, wenn
die Ekloge eine hiſtoriſchwahre Liebesflamme ſeyn
ſoll, die beſten Stellen erklaͤrt werden ſollen. Wo
waren denn die dunkeln Waͤlder, die Corydon mit
ſeinen Klagen erfuͤllte? Wo iſt die Wahrheit des
Schaͤferreichthums, den er preiſet? Wo ſind ſeine
Heerden in Sicilien, ſeine Amaryllis, Theſtilis,
Menalkas? Wo der Bach, in dem er neulich zu-
erſt ſich geſehen? Wo ſeine ganze Schaͤferwelt, in
der die Ekloge lebet? Jſt ſie poetiſch, iſt ſie dich-
teriſch — wie? und der Jnhalt ſoll nicht dichteriſch
ſeyn? Jhr wollet, was ihr nicht deuten koͤnnet,
der Muſe, und was ihr nicht deuten ſollet, dem
Virgil, als Menſchen aufbuͤrden? Jhr wollet das
Gedicht zu einem Ungeheuer von hiſtoriſcher Ekloge,
von allegoriſcher Geſchichte verdammen? Wie?
wenn ich jedem Dichter das auf ſeine bona fama
anrechnen wollte, was ſeine Muſe ſingt — Tyran-
niſche Verſtuͤmmelung! wer wollte noch Dichter
ſeyn?


„Ja
[195]Zweites Waͤldchen.

„Ja aber, alte Sage, hiſtoriſche Tradition!„
Was Tradition? Sie hat ſich aus Martial, aus
Apulejus, und wo weiß ich mehr her? entſponnen,
und Martial und Apulejus ſtrafen die Tradition
ſelbſt Luͤgen. Der eine ſchweigt, der eine nennt es
ein „ſcherzhaftes Lobgedicht: ich habe Zeugen,
die aͤlter ſind, als die Tradition.


Aber das iſt Schade, daß man auf der andern
Seite rettend faſt immer zu weit gegangen, und
damit Virgils guter Sache ſelbſt geſchadet. Die
Ekloge ſoll blos poetiſches Exercitium, ſoll ganz oh-
ne die geringſte lebendige Anſpielung, Corydon
und Alexis ſollen ganz romantiſche Weſen ſeyn, und
dies iſt freilich, nach dem, was Martial und Apu-
lejus ſagen, zu viel verneinet. Virgil kann immer
der verkleidete Corydon, Alexis immer der ſchoͤne
Junge des Pollio, die Ekloge immer ein Jndivi-
dualgedicht ſeyn: nur es iſt eine poetiſche Maske-
rade; ein feines Lobgedicht, ein ludicrum, nach
Theokrits Manier.


Man thut alſo am beſten, wenn man dieſe ent-
wickelt, wenn man die dem Griechen nachgeahmten
Stellen anmerket, wenn man zeigt, daß der ganze
Bau des Gedichts keine Halbgeſchichte, und keine
Halbpoeſie zulaſſe, daß der Poet nach ſeinem Plane
einmal ſo habe dichten muͤſſen, daß — doch was
zaͤhle ich das her, das in der letzten, ſchoͤnſten Aus-
N 2gabe
[196]Kritiſche Waͤlder.
gabe Virgils ſo fein und genau a) erfuͤllet worden
Es iſt keine Partheilichkeit, wenn ich bekenne, daß
die Heiniſche Ausgabe Virgils die Erſte in ihrer
Art ſey, und daß ſie in dem bisher ſo ſehr verſaͤum-
ten Geſchaͤffte, einen Schriftſteller des Alterthums
in dem eigenen Geſchmacke deſſelben, jedes Wort
und jene Note an ihrer Stelle, neu und unentbehr-
lich, ohne den Dunſt unendlicher Parallelſtellen
und unbrauchbarer Citationen, mit dem ſtillen
Fleiße, und dem ruhigen Gefuͤhle der Schoͤnheit —
ich ſage, einen ſchoͤnen Schriftſteller des Alterthums
ſo zu commentiren, dazu macht die heiniſche Aus-
gabe Virgils Epoche.



III.
[197]Zweites Waͤldchen.

III.
Ueber einige horaziſche Rettungen

und
Erlaͤuterungen.



1.


Von Rettungen des ſchamhaften Virgils auf
Rettungen meines Horaz. Vindiciae Ho-
ratii Flacci.
a) — —


Jch Endesunterſchriebener bekenne, gelobe und
ſchwoͤre vor dem hochgelahrten Apollo, vor ſeinen
lieben Toͤchtern, und vor allen aͤchten und unaͤchten
Soͤhnen des- und derſelben, daß ich glaube und fuͤr
wahr halte, wasmaßen ein Horatius Flaccus ſ.
Horazius Flaccus, auf der Welt geweſen, und die
Oden, Satyren und Briefe verfertigt, die von ihm
verfertigt ſind, die ich alſo demſelben auf keinerlei
Art abſprechen und entwenden, noch nach meinem
beſten Wiſſen und Gewiſſen andern nicht zuerken-
nen, noch den heilloſen Behauptungen des Har-
duins und aller Harduine beitreten, ſondern vor al-
ler Welt behaupten will, daß Horaz kein andrer in
der Welt als Horaz geweſen: ſo wahr — —


N 3Nun
[198]Kritiſche Waͤlder.

Nun! wie komme ich an eine ſo ſchreckliche Ei-
desformel? Ach! mein lieber leſender Freund! wo-
zu kann man nicht im erſten feierlichen Gefuͤhle kom-
men, wenn man aus einem aͤngſtlichen Traume, von
Moraſt, von Sandwuͤſte mit Ehren hinaus iſt?
— Wiſſe alſo, daß ich eben, dem großen Apollo
ſei Dank! durch ein Buch, oder vielmehr durch ein
Gewimmel von Citationen durchgearbeitet, das auf
280 Seiten, ſ. zwei hundert und achtzig Seiten, mit
einem Schatten aus Swifts Monde, mit einem
Narren ficht, und nichts beweiſet, als daß Horaz
Horaz geweſen — dies aber mit ſo vielen Citatio-
nen ruͤck- und vorwaͤrts beweiſet, daß, wenn ich die
Haͤlfte davon auſſchlagen muͤßte, mich vielleicht der
juͤngſte Tag mit allen heiligen Engeln uͤberraſchen
koͤnnte. Gott Lob alſo, daß ich durch bin, und
kaum will ich wieder zuruͤck.


Bedaͤchtlich ſchreibe ichs nieder: kaum wieder
zuruͤck: denn ſo gerne ich in vortrefflichen Schriften
die zweite Reiſe thue: ſo ſehr ichs mir zum Geſetze
gemacht, kein vortreffliches Buch nur einmal hin-
zuleſen: ſo erfreulich mir der erſte beſte Wink iſt,
die Schriften unſrer Winkelmanns und Leſſings,
Hagedorne und Mendelsſohne noch, und nochmals
zu durchwandern: ſo ſchwer wird mir die Ruͤckkehr
hier; und ich glaube, meinen Leſern einen wahren
Liebesdienſt zu thun, wenn ich ſie durch Vorzeigung
meines
[199]Zweites Waͤldchen.
meines Reiſejournals auf den ſandigen, moraͤſtigen
und immer ausſchweifenden Weg vorbereite.


Man kennet Harduin, und ſeine, es ſei nun aberwi-
tzigen oder leichtſinnigen Behauptungen, daß das mei-
ſte Alterthum kein Alterthum ſey. Mag aber hinter
ſeinen gelehrten Narrheiten auch ſo viel Jeſuiterei ſte-
cken, als da will—ich glaube, man haͤtte nur immer
ſummariſch gegen ihn verfahren, auf einzelne Ein-
wuͤrfe ſich denn nur einlaſſen doͤrfen, wo dieſe durch
Sonderbarkeit und falſchen Anſtrich blenden koͤnn-
ten. Viele von ihnen ſind voͤllig unter einer Wi-
derlegung: keiner Aufmerkſamkeit, keiner Antwort
werth. Viele ſind Baͤche, die ſich von ſelbſt im
Sande verlieren, wenn man die Quelle verſtopft.
Viele fallen auf die Erde, wenn man nur den ſta-
tum cauſſae,
den Punkt der Frage, nicht aus der
Acht laͤſſet: und das letzte muß keiner, der einiger-
maßen gegen einen Harduin wuͤrdig ſchreiben will.
Bei einem lebenden, noch ſchreienden Autor kann
man es noͤthig haben, auf einzelne nugas ſich kritiſch
herablaſſen zu muͤſſen, wenn er naͤmlich eine Zunft
hat, die ſolche nugas anbetet: aber uͤber Harduin
iſt ſchon gerichtet. Die Nachwelt, ſo viele wuͤrdige
Maͤnner, die uͤber einen unſinnigen Todten urtheil-
ten, haben das Urtheil ſchon gegen ihn geſprochen:
das Urtheil iſt allgemein angenommen: der Zuſtand
unſrer Litteratur macht, wenn auch hier und da noch
ein[e] neue Pilze, ein junger Harduin, aufſchoͤſſe, eine
N 4lange
[200]Kritiſche Waͤlder.
lange formelle Widerlegung in allen Nichtswuͤrdig-
keiten, langweilig, nichtswuͤrdig, ekelhaft. Jch
ſehe ein kleines kindiſches Maͤdchen, das, nachdem
einmal der Saal aufgeraͤumt worden, ſich hinten
nach damit abgiebt, in einem Winkel unnuͤtzen
Staub wegzuwiſchen, und glaubt, ſie habe den
Saal aufgeraͤumet.


Jch kann nicht verhelen, daß bei den Vindiciis,
die vor mir liegen, dies mehr als einmal mir ein-
gefallen. Harduins Behauptungen in ihrer Quelle
kaum angeſehen: jede ſeiner einzelnen Verdrehun-
gen und widerſinnigen Einfaͤlle langſam mitgenom-
men, mit gelehrten Citationen bis zum Ueberdruſſe
widerlegt: dabei immer ſo entfernte Umſchweife, ſo
ſchoͤne Auswege, daß man oft nicht weiß, wo man
ſey? wie das hieher komme? — Denke man ſich
einmal ſolche Vindicias und urtheile. Oft iſts
zum Lachen, wenn ein thoͤrichter Einfall, ein Ein-
wurf der Unwiſſenheit oder Kuͤhnheit ſo ernſthaft,
ſo gelehrt, ſo gruͤndlich widerlegt wird, ohne daß
man dabei Etwas, als citirte Buͤchertitel lerne.
Noch oͤfter aber iſts zum Aergern, wenn man alles
Nothwendige und Nutzbare vorbei, ſo weit abge-
fuͤhrt wird, daß man den aus dem lieben Collekta-
neentroͤſter ausgeſchuͤtteten locus communis wohl
uͤberall anders, nur nicht hier, ſuchen und finden
wollte.


Harduin
[201]Zweites Waͤldchen.

Harduin z. E. ſchießt den ſtumpfen Pfeil gegen Ho-
raz ab: daß, da die Satyren deſſelben ſo ganz anders,
als ſeine Oden ſeyn, Horaz die Oden nicht geſchrie-
ben habe, ſolche Oden kaum habe ſchreiben koͤnnen.
Harduin alſo weiß ſo ſicher zu ſchließen, als in un-
ſern Zeiten Hr. Duſch, der es Leſſingen in die Au-
gen demonſtrirt hat, daß Er, Leſſing, der Catull
in Kleinigkeiten, durchaus kein tragiſches Genie ſeyn
koͤnne. Was ſoll nun der Retter Horaz? Den
harduinſchen Anfall als thoͤricht zeigen, und dazu
ſind fuͤr Vernuͤnftige ein Paar Worte gnug! —
Ja! mein Leſer! ſo wohlfeil kommen wir bei un-
ſerm Vindex nicht ab! Auf ſechs langen Seiten a)
ſchuͤttet er uns den locus communis aus, den er,
etwa als Knabe, vormals in ſeine Collektaneen zu-
ſammengetragen: non omnia poſſumus omnes;
ſunt autem, quibus etiam plura tentare licuit!

und ſo treten wider das Luftſpiel des tollen Har-
duins nicht weniger, als zwei und funfzig bewaff-
nete Maͤnner auf, Beiſpiele, die zuerſt, nach Kriegs-
liſt, mit ihm gemeinſchaftliche Sache zu machen
ſcheinen. Ploͤtzlich aber bricht der Hinterhalt her-
vor, und Harduin! du biſt verlohren! — Nun ſage
man: ſoll dieſe Exempelarmee gegen Harduin ſtrei-
ten? Nichts kleingroͤßers! nichts laͤcherlichers!
oder ſoll ſie eine Auseinanderſetzung des Satzes ſeyn:
wie fern ein Genie ſich an Einerlei und an Mehrer-
N 5lei
[202]Kritiſche Waͤlder.
lei wagen doͤrfe? ſo kenne ich nichts armſeligers,
Es iſt ein zuſammengetragnes Regiſter bekannter
Maler- und Dichternamen, das ich ſogleich aus
dem Gedaͤchtniſſe vermehren koͤnnte: es iſt eine ge-
lehrte Uebung, die ich nirgends, als im Tageregi-
ſter der Lectuͤre eines Juͤnglinges, leſen mag: ohne
Grundſaͤtze und Graͤnzſcheidung: ohne Kopf und
Fuß — rudis indigeſtaque moles.


Harduin fuͤhrt eine Muͤnze von Horaz an, der
Harduin ſelbſt das Alterthum abſpricht, die nichts
zur Streitfrage thut. Herr Klotz alſo haͤtte den
ſpaniſchen Reuter ſtehen laſſen, oder ſtill weg-
ſchieben koͤnnen; er ſteht ihm ja nicht im Wege.
Nicht doch! ſo wuͤrden ja neunzehn Seiten leer
bleiben a), „daß uns allerdings alte Muͤnzen auf
„Gelehrte uͤbrig ſind? auf welche? zu welcher Zeit
„gepraͤget? ein Verzeichniß der Buͤcher hieruͤber ꝛc.
War der harduinſche Nebeneinfall: „nur auf Fuͤr-
„ſten hat das Alterthum vorzuͤglich Muͤnzen ge-
„praͤget,„ dieſen großen Umſprung werth? Jch
nenne ihn Umſprung: Abhandlung, vollſtaͤndige
Abhandlung uͤber die beregte Materie iſt er nicht:
in den horaziſchen Zwiſt gehoͤret er nicht: er iſt ein
locus communis, in einer muͤßigen Stunde aus
dem Muͤnzenfache einer Bibliothek zuſammenge-
tragen.


Der
[203]Zweites Waͤldchen.

Der Jeſuit will das Wort ales carminis nicht
verdauen, und der weiſe Geßner, der Maaß wußte,
hat in einer kleinen Note gegen ihn gnug geſagt.
Klotz iſt gelehrter und gruͤndlicher: ausfuͤhrlich
zeigt er a), daß Poeten, daß Gedichte mit Voͤgeln ver-
glichen werden: ausfuͤhrlich ſetzt er nach Schmids
Regiſter zum Pindar, eine Reihe von Stellen her,
da er ſich mit einem Adler, wer weiß? womit mehr
— vergleiche: ausfuͤhrlich die Stellen, auf die ihn
wieder Pindar brachte — — Der Mann iſt ſehr
gelehrt! Welche Beleſenheit! welche Citationen!
Nun aber ſchlage, mein lieber bewundernder Kna-
be! deinen Uz, deinen Gleim, deinen Gerſtenberg,
deinen Ramler, deinen Cramer, deinen Creuz, und
wen du wolleſt, auf: du wirſt einen Uz hoͤren:


Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth
Mich auf der Ode kuͤhnen Fluͤgeln u.ſ.w.


und nicht blos das Gleichniß, die hohe Pindariſche
Allegorie ſelbſt, in dieſer und andern Uziſchen Oden;
in Gleims Kriegsliedern oft einen Geſang,


‘Hoch wie des Adlers Sonnenflug,’

im Ramler den Anfang


‘Zu dir entfliegt mein Geſang, u. ſ. w.’

und in den dir ſo lieben Taͤndeleien gar eine ganze
mehr als horaziſche Verwandlung in einen Vogel
finden.
[204]Kritiſche Waͤlder.
finden. Nun ſage! kannſt du nicht mit deiner Be-
leſenheit eben das, was Hr. Klotz mit der ſeinigen?


Geßner will bei dem bekannten: animae ma-
gnae prodigum Paullum
einen Gegenſatz finden,
und findet freilich damit nur ein froſtiges Wortſpiel.
Herr Klotz nimmt Geßnern ſein Wort ſo hoch auf,
als haͤtte er ſelbſt das graͤulichſte Wortſpiel began-
gen, und in eben dem Othem fuͤhrt er eine Reihe
von Wortſpielen a) an, die man bei den Alten, den
Griechen, den Roͤmern, die doch auch der aulae
Auguſti
gefallen wollten, faͤnde. Wider wen redet
der Vindex, wider Harduin, wider Geßner oder
wider ſich ſelbſt? Und fuͤr wen iſt er ſo gelehrt?


Er findet ein Bild des Cupido b). Siehe da!
in Alciphron, in Ariſtaͤnet, in Muſaͤus, in Uz, in
Taſſo auch ein Bildchen! Wir wollen die Figuren
zuſammentragen — ei! da ſteht ja eine ganze Galle-
rie von Kupido’s! Schon uͤber das Zuſammentra-
gen kann ſich ja das leicht froͤliche Herz eines Au-
tors ſo freuen, als waͤre man der Albano, der alle
dieſe Liebesgoͤtter gemacht haͤtte. Freilich ſind dieſe
paar Geſtalten des Amors immer armſelig, gegen
die, die mehrere Dichter von Anakreon bis zu Gleim
und andern Uziſchen Schilderungen gegeben —
was hindert das aber zu einer kuͤnftigen Geſchichte
des Amors? Eine gute Sache iſt an jedem Orte gut,
und
[205]Zweites Waͤldchen.
und dieſe gute Sache alſo — bewundre, wer will;
ich uͤberſchlage ſie.


Der einzige Fall, wo ein ſolcher philoſophiſcher
Parallelenkram noch einiger maßen leidlich wird,
iſt — nun was anders, als ein Streit uͤber ein
Wort; Schade aber, daß Harduin hier meiſtens
unter der Critik iſt. Sein Geſchrei: das iſt nicht
Latein! das iſt Unpoetiſch; verraͤth oft grobe Un-
wiſſenheit, oft noch groͤbere Kuͤhnheit, die Sprache
der Roͤmer zweitauſend Jahre zuruͤck kennen, und
die neologiſche Sprache eines Horaz zweitauſend
Jahre zuruͤck pruͤfen zu wollen. Wie wenig Glau-
ben weiß ſich Harduin von dieſer Seite auch nur
bei einem Halbkenner der lateiniſchen Sprache zu
verſchaffen, und wie ſummariſch war gegen einen
ſolchen Thoren zu verfahren? — Aber nun! ſind
da nicht eine Menge von Huͤlfsmitteln? unſaͤgliche
Commentatoren uͤber die roͤmiſchen Schriftſteller,
die nie eine Stelle blos fuͤr ſich, an ihrem Ort er-
laͤutern, ſondern bei Veranlaſſung eines Worts, alle
anderweitige moͤgliche und unmoͤgliche Vorkom-
menheiten deſſelben beilaͤufig aufhaͤufen. Wie? hat
hier nicht die ganze Genealogie lateiniſcher Wortkri-
tiker und Notenmacher vorgearbeitet? kann hier
nicht ein maͤßiger Beſuch dieſer Wortmaͤrkte, dieſer
Sammelplaͤße fremder Beleſenheit Wunder thun?
— So komme denn, liebe Goͤttinn gedankenloſer
Geduld! komm zu Huͤlfe! — Nimm Lexica und
Regi-
[206]Kritiſche Waͤlder.
Regiſter zur Hand, jage, und werbe nach aͤhnli-
chen Worten und Redarten, mache ein Geſtoͤber
von Citationen und Wortſtellen, um — einen tod-
ten Hund ſchweigend zu machen! — Jn der That!
nach meinem Gefuͤhle muß ich bekennen, daß ich
eine ſolche philoſophiſche Muͤhe nie anders, als nach
Zwecke und Gebrauche, ſchaͤtzen kann; wo der aber
verſchwindet — o! da iſt unſer Jahrhundert
Gott Lob! ſo weit, unnuͤtze Namenregiſter und Col-
lektaneen ſelbſt zu uͤberſchlagen.


Der Jeſuit laͤugnet, daß das Wort parens
ſonſt von Jupiter gebraucht werde. Laß es nicht
gebraucht werden: der Schriftſteller der horaziſchen
Oden brauchts, und Harduin kann ja keinen Be-
weis fuͤhren, daß wer parens brauche, kein Horaz
ſeyn koͤnne. — Herr Klotz aber a) nimmt ſich die
Muͤhe, Stellen zu citiren: wo parens und wo ge-
nitor,
und wo pater, und was weiß ich mehr? vor-
komme, und thut dabei ſo wichtig, als wenn der,
der parens gebraucht, wirklich Horaz ſeyn muͤßte.
Horaz ſingt: ſtat nive candidum Soracte; und
Herr Klotz weiß b), wie eine lebendige Concordanz,
wer ſonſt das ſtat in dieſem eben nicht, aber gnug!
in anderm Verſtande gebraucht habe. Jſt ein
Wortregiſter nicht eine herrliche Sache? — Jch
berufe mich auf meine Leſer. Man thue einen
blinden Griff in die Vindicias meines Autors: Drei
gegen
[207]Zweites Waͤldchen.
gegen Eins, und man wird eine Reihe Buͤcher-
oder Wortcitationen ohne Nutzen und Gebrauch ei-
nes denkenden Liebhabers Horaz aufgreifen.


Wie klein haͤtten die Vindiciae Horatii ohne
dieſen elenden Wortgeſchwulſt ſeyn muͤſſen! Har-
duin da widerlegt, wo ers verdient: ihm den Weg
gleich anfangs verhauen: nur die ſcheinbarſten ſei-
ner Einwuͤrfe entbloͤßt: (denn die ſchwaͤchſten am
weitlaͤuftigſten widerlegen, iſt Papier- und Zeitver-
derb!) jedesmal in den Punkt der Frage, ohne Um-
ſchweife eingedrungen: ſo ſpreche man. So hat
neulich (denn die aͤltern will ich nicht anfuͤhren)
neulich noch gegen Harduin Michaelisa) geſpro-
chen; aber als Michaelis, als gegen Harduin, wuͤr-
dig, kurz, buͤndig. Nur ach! ſeine Abfertigung
iſt ja kaum acht, und nicht 180 Seiten lang; ſie iſt
ja leider! nur Ein Paragraph, leider! ohne hun-
dert unnuͤtze Citationen, und (das groͤßte leider!)
ſelbſt gedacht.Lugete, Veneres, Cupidi-
nesque!


Jndeſſen troͤſte ich mich mit einem Reiſenden
in Jtalien, den ich gerne leſe b): „Man kann hof-
„fen, ſagt er, daß der gute Geſchmack und die
„Gruͤndlichkeit, welche die Herrſchaft uͤber die Wiſ-
„ſenſchaften und Gelehrſamkeit bereits ausgebrei-
„tet haben, endlich den abgeſchmackten Ton ver-
„ban-
[208]Kritiſche Waͤlder
„bannen werde, welcher noch in den mehreſten ge-
„lehrten Abhandlungen Jtaliens herrſchet, daß man
„dieſe Abhandlungen nur auf dasjenige, was ſie
„verſprechen, einſchraͤnken, und ſie von den locis
„communibus
einer ſcheinbaren Gelehrſamkeit und
„tauſendmal wiederholten und uͤberall anzutreffen-
„den Sachen reinigen werde.„ Jch weiß keinen
meiner Landesleute, deſſen Schriften ſaͤmmtlich und
ſonders ich ein ſolches critiſches Fegefeuer mehr
wuͤnſchen doͤrfte, als den libellis des Autors, uͤber
den ich ſchreibe. Zwar doͤrfte von ſeinen bisherigen
alsdenn wohl wenig uͤbrig bleiben; warum aber
ſoll man nicht in Zukunft bei ihm noch einmal
die Zeit eines beſſern Geſchmacks und einer reellern
Gelehrſamkeit hoffen?


2.


Accedit Commentarius in carmina poetae.
Schon einige harduinſche Streitigkeiten koͤnnen frei-
lich von dem Raͤcher Horazens Gelegenheit ſchaffen,
ihn zu erlaͤutern, und ich wollte, daß Hr. Klotz kei-
ne ſolche Gelegenheit verſaͤumt haͤtte. Jndeſſen
wuͤnſchte ich den Commentarius immer von den
Vindiciis lieber abgeſondert: denn nun, wenn Hr.
Klotz ſeine Streitigkeiten mit Harduin, und ſeinen
Commentar uͤber Horaz, und denn noch manche lie-
be Beiſeitgedanken unter einander fortlaufen laͤßt,
die Citationen des Dichters unter hundert andere
Citatio-
[209]Zweites Waͤldchen.
Citationen vergraͤbt, bei Harduin Gelegenheit zu
commentiren, und beim Commentar wieder Gele-
genheit nimmt, auszuſchweifen — welche Verwir-
rung! welch ein Chaos von Buche!


Ueberdem iſt eine Fechtſchule nie der rechte
Platz, einen Dichter ruhig zu leſen, mit ganzer
Seele zu fuͤhlen, und gleichſam mit neuer Heiterkeit
der Seele zu erlaͤutern; die Exegeten des heiligſten
Buches haben von dieſer Wahrheit zu betruͤbte Bei-
ſpiele gegeben. Wenn Harduin ſagt: dies Wort
iſt barbariſch, unpoetiſch u. ſ. w. und Hr. Kl. ſich wie-
der befleißt, die Latinitaͤt, die Poeſie des Worts zu
erhaͤrten: wie leicht iſt da die Ausſchweifung auf
der entgegen geſetzten Seite, Harduin zum Poſſen
mehr Nachdruck darinn zu finden, als darinn liegt,
als Horaz hinein legen wollte. Jch bin gewiß,
daß, wenn Hr. Klotz, bei kuͤnftigen Jahren, wieder
feinen Commentar commentirete; er manches zuruͤck
ziehen werde, wo er jetzt in einzelnen Worten, als
ein guter Coccejaner, zu viel Nachdruck fand. So
hat es allemal die jugendliche Einbildungskraft der
Ausleger gemacht, daß ſie nur gar zu oft, bei ihrem
einzelnen Nachdrucke, den Nachdruck, den Ton des
Ganzen ſchwaͤchten: es mochte nun dies Ganze die
Bibel, oder ein Poet ſeyn. Alsdenn folgt gemei-
niglich auf den emphatiſchen Ausleger ein anderer
von der weiſen Maͤßigkeit eines Geßners, wenn er
hinter Baxter, oder eines Erneſti, wenn er hinter
OClar-
[210]Kritiſche Waͤlder.
Clarke einher ſpatzieret, und mit kaltem, ruhigem
Blute die Auslegung ſeines Vorgaͤngers waͤget.
Hr. Kl. wuͤrde dieſer Uebertreibung des Ausdruckes
mehr entgangen ſeyn, wenn er nicht eben im Strei-
te mit einem andern den Poeten haͤtte commentiren,
ſondern ſich den ruhigen Eindruͤcken deſſelben, ohne
einen fremden Gegenſtoß, haͤtte uͤberlaſſen wollen.


Ja, ich habe noch Eins auf dem Herzen, das
ich beim Leſen der klotziſchen Schriften uͤber Horaz
mehr, als einmal, empfunden. Niemand in der
Welt ſpricht bei aller Gelegenheit vom ingenio
amœno,
vom ſenſu boni \& pulcri lieber, als
Hr. Kl. und niemand in der Welt hat die Kritiker
mehr, und bis zum Ueberdruſſe mehr getadelt, tam-
quam omnis venuſtatis expertes,
als Er. Bei
dem Anfange eines jeden Schriftchens, in der Mit-
te, und am Ende, findet er immer Gelegenheit und
Platz, ſein ingenium venuſtum, elegans, pul-
crum
zu preiſen, gegen die Criticos aller Zeiten zu
preiſen, es ſeiner Zeit, als eine Ausnahme, als den
Anfang einer Epoche, als den Stifter einer neuen
guͤldnen Zeit des Geſchmacks anzuruͤhmen; indeſſen
ſehe ich doch dies ingenium venuſtum nicht immer,
wo ichs ſehen will. Hr. Klotz, den ich nicht die
Ehre habe, von Perſon zu kennen, ſcheint eine feu-
rige, zarte Seele zu haben, die den Eindruck des
Schoͤnen lebhaft fuͤhlet, und mit der Einbildungs-
kraft oft ausbildet. Will man mir indeſſen ein
Aber
[211]Zweites Waͤldchen.
Aber erlauben: ſo glaube ich dieſe Eindruͤcke ſeines
Gefuͤhls noch zu ſchnell, zu voruͤbergehend, als daß
ſie Grundſaͤtze, ſelbſtgefuͤhlte Grundſaͤtze des Schoͤ-
nen zuruͤcklaſſen, und einen gewiſſen und veſten Ge-
ſchmack bilden koͤnnten. Er erhaſchte, was ihm
auf der erſten Flucht begegnete; allein ſelten ſcheint
dies Empfundne noch zu der Veſtigkeit der See-
le gediehen zu ſeyn, die man nur durch eignes
reifes Nachdenken, und durch Selbſtpruͤfung erhaͤlt.
Ueber einzelne Bilderchen, uͤber die Oberflaͤche des
Geſchmacks, ſo weit Wortkritik, eine fluͤchtige Em-
pfindung oder Gedaͤchtniß hinreicht, mag ihm ſein
Urtheil gelingen; wo aber die Empfindung in den
Verſtand gleichſam uͤbergeht, wo es auf ein reifes
ſelbſtgebildetes Urtheil uͤber ein Ganzes, kurz! wo
es auf Grundſaͤtze ankommt, da kenne ich wenige,
die ſich im Urtheile ſo untreu werden koͤnnten, als
Er ſich ſelbſt. — — Doch ich will ohne vor-
gefaßte Meinung zu ſeinem Commentar: wie ſchwer
wirds, in dieſem Staube Gold zu ſuchen.


Hor. L. 1. Od. 1. Jch beklage, daß Hr Kl. uns
mit ſeiner gelehrten Erlaͤuterung ganz aus dem To-
ne, der im Ganzen der Ode herrſcht, wegerlaͤutert:
uns mit ſeinen furchtbaren Citationen den ganzen
Sinn des Liedes, die ganze ſchoͤne Stimmung der
Seele, in der Horaz ſang, wegcommentirt — und
wer koͤnnte gefaͤhrlicher commentiren? — Baxter
hat diesmal den Hauptton der Ode mit ſeiner Ueber-
O 2ſchrift
[212]Kritiſche Waͤlder.
ſchrift ſehr gut ausgedruͤckt: Horatius fatetur, ſe
cum cæteris mortalibus inſanire.
Er zaͤlt naͤmlich
ſeinem Maͤcen die ganze Mannichfaltigkeit der
menſchlichen Beſtrebungen her: daß freilich jeder
ſeine Neigung habe; daß es aber keiner an ihrer
kleinen Doſis von Thorheit fehle. Der ſammlet
ſich olympiſchen Staub; dem iſts ſein hoͤchſter
Wunſch, ein Ziel umzufahren; den macht ein
Palmenzweig ſelig, wie die olympiſchen Goͤtter:
groß, wie die Herren der Erde. Dieſer, wenn
ihn der wandelbare Poͤbel ein Paar, ein Drei
Ehrenſtellen zuerkennet; jener, daß, was in Li-
byen geerndtet wird, eben in ſeiner, und in keines
andern Menſchen Scheure liege u. ſ. w. kurz!
jeder hat ſeinen Kopſ, und der iſt ihm ſein Gluͤcks-
gott, warum ſollte ich nicht den meinen haben?
Der kann eines wilden Schweins wegen Naͤchte lang
unter freiem, kaltem Himmel dauren, und ich —


Me doctarum hederæ, præmia frontium

Diis miſcent ſuperis: me gelidum nemus \&c.

Wenn jeder auf ſeine Art ſchwaͤrmt, warum
ſollte ich nicht auch auf die meinige ſchwaͤrmen? Man
laſſe mir das Gluͤck, daß ein paar Zweige auf mei-
ner Stirne mich in meiner Empfindung unter die
Goͤtter verſetzen, daß ich in kalten Hainen mit Sa-
tyren und Nymphen Umgang pflege; daß ich Alles
habe,
[213]Zweites Waͤldchen.
habe, wenn meine Muſe mir eine Dichterſtunde
goͤnnet, und wenn du mich, o Maͤcen! wuͤrdigeſt,
mich unter die lyriſchen Dichter einzutragen —
o ſo reicht mein erhabener Scheitel bis an die Ster-
ne! — Leſer von horaziſchem Gefuͤhle werden im
Ganzen dieſer Ode den von mir angegebenen Ton
nicht verkennen: ſie werden finden, daß ſich eine kleine
Schattirung in die Farbe des Laͤcherlichen, uͤber die
Charakteriſtik menſchlicher Neigungen, in dieſer Ode
ausbreite: daß es eigentlich der Zweck Horaz ſey,
jede derſelben, eigentlich bei einer feinen Schwach-
heit, zu faſſen, nur ſo gelinde zu faſſen, als es uͤber-
haupt Horazens Art iſt, nur weiſe, nur mit ehrba-
rer Mine zu laͤcheln, zu ſpotten, als ob er die
Wahrheit ſage. — So redet er von andern, ſo
auch von ſich.


Nun denke man ſich den komiſchen Auftritt,
wenn der Commentator, der dieſe ganze horaziſche
Manier nicht fuͤhlt, dazu kommt, um ein ſolches
Liedchen ſeiner Laune, ſeines ſtillen vergnuͤgten An-
laͤchelns, als ein Lehrbuch voll ernſthafter diktatori-
ſcher Spruͤche, annimmt, ihm recht gelehrt auf-
horcht, und, was er noch nicht gelehrt gnug geſagt,
noch gelehrter umſchreibet. Man denke ſich dies,
leſe a)Diis immixtum eſſe ſuperis \& ſecerni po-
pulo
unam quidem, eademque rem deſignant, ſed
illud ſignificantius eſt, remque clariorem reddit.

O 3Utra-
[214]Kritiſche Waͤlder.
Utraque ſententia nihil aliud innuit, quam inge-
nium Poetæ lyrici concipiendis viſionibus aptum,
impetum, virtutem, eumque furorem, quo af-
flatus ſibi in nemora \& ſpecus agi, in ſocietatem
Deorum admitti, in cœlo verſari, numina videre,
Bacchum carmina \&c. \&c.
Man laſſe mich nicht
weiter ſchreiben, was alles der lyriſche Enthuſias-
mus ſey? wie ihn Boileau beſchreibe? wie er
zum lyriſchen Dichter noͤthig ſey? Vortreffliche
Sachen: nur von deren Lehre Horaz ſich hier nicht
traͤumen laͤßt. Vielleicht, daß man ſich in der
muntern Geſellſchaft Maͤcenas uͤber den poetiſchen
Paroxysmus, uͤber ſein Gefuͤhl fuͤr eine Dichter-
ſtunde, uͤber ſeine Liebe zur Einſamkeit, und poeti-
ſchen Stille, uͤber ſeine Begierde nach Dichterlobe,
kurz! uͤber ſein poetiſches Temperament luſtig ge-
macht; und da raͤchet ſich Horaz. Er bringt ſei-
nem lieben Maͤcenas ein Gedichtchen, das ganz un-
ſchuldig und ehrbar anfaͤngt: freilich ſind Leute,
die anders denken: der ſo, und jener ſo; der liebt
dieſe: und der jene Thorheit; etwas Schwaͤche muß
man ja jedem Liebhaber ſeiner Sache verzeihen: war-
um mir nicht das Bißchen Thorheit bei der meini-
gen? — So launigt aber, mit ſo halblaͤcheln-
dem Ernſte, ſo unwichtig wichtig in der Charakte-
riſtik jeder einzelnen Neigung, und feines eignen
Temperaments, daß eben dieſe Mine, ja der Ton
des ganzen Stuͤcks wird. Wie wuͤrde ſich nun
der
[215]Zweites Waͤldchen.
der urbane Roͤmer freuen, wenn er ſein ſchalkhaftes
Selbſtlob ſo ciceronianiſch commentirt laͤſe: Si
tuum, inquit, docte mæcenas judicium acceſſerit,
fi tibi placuerint carmina mea, tuque me in lyri-
corum, quos Græcia admirata eſt, numerum re-
tuleris, tum mihi beatiſſimus videbor, tum n hil
ad gloriam, ad laudem, ad felicitatem meam ad-
di poterit: quemadmodum fimili ſenſu dicitur:
cœlum digito attingere. Vide de formula Schra-
derum
in obſerv. ad Muſæum c. 10. p. 203. \&c.

Wenn er ſich ſo ehrbar ausgelegt ſaͤhea), wie wuͤr-
de er laͤcheln? oder vielmehr, wie wuͤrde er uns
uͤber unſre gelehrten Ausleger bedauren?


Denn nun wird der Ode ihr Geiſt, die leben-
dige Grazie der Anſchaulichkeit genommen: der Ton
eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Af-
fekt und Alles verfehlt. Was iſt unangenehmer,
als ein muſikaliſches Stuͤck in einer widerſinnigen
Temperatur: und ein Gedicht, im widerſinnigen
Tone zu leſen! weg mit dem Leyern! Hat Horaz ein
ernſthaftes, vollſtaͤndiges, gruͤndliches Bild von
der Mannichfaltigkeit menſchlicher Charaktere geben
wollen, wie ungruͤndlich, unvollſtaͤndig, wie ſehr
von einer Nebenſeite, wie oft nahe am Kindiſchen?
hat Horaz ſeine Dichtergabe, und ſeine Dichterge-
ſinnung ernſthaft und vollſtaͤndig ſchildern wollen;
unausſtehlich! kleingroß, kindiſch! Ein Lorberzweig
O 4ſoll
[216]Kritiſche Waͤlder.
ſoll ihn unter die Goͤtter verſetzen: die Nymphen
und Satyren ſollen poetiſche Phraſes fuͤr ſeine lyri-
ſche Begeiſterung ſeyn: wenn Maͤcen ſeinen Na-
men in ſein Dichterbuch eintraͤgt, will er mit ſeiner
Scheitel an die Sterne! — O der Thor! und
mit aller phraſeologiſchen Auslegung noch ein Thor!
Die Laune der ganzen Ode iſt weg: ſie iſt ein un-
ausſtehliches Dichterexercitium!


Jch will nicht nachblaͤttern, ob mehrere die
Ode ſo weiſe commentirt: vermuthlich! Denn
was iſt doch fuͤr das Heer der Scholiaſten und
Wortcommentatoren eine unerhoͤrtere Sache, als
auf Laune, auf Stimmung des Dichtertons zu mer-
ken? aber das weis ich, daß ich mit Mitleiden die
kritiſche Tortur geleſen, die die Ausleger, und unter
ihnen auch Hr. Kl. dieſer Ode angethan. Jſts
nicht zu bedauern, wie ſich Bentlei uͤber die impedi-
tam \& ſalebroſam orationem
der Ode zermartert:
wie er ſie zerreißt, wie ernſthaft er daruͤber kunſt-
richtert: daß doch der kein Narr ſey, der nicht zu
Schiffe wolle; daß es doch wahrhaftig kaum wahr
ſey, daß ein großer Reichthum uns unter die Goͤt-
ter erhebe; daß dahin der Weg ſo leicht, ſo gebahnt
nicht ſey, daß die olympiſchen Sieger wirklich ισο-
ϑεοι geweſen u. ſ. w. was giebt ſich der arme Bent-
lei fuͤr unnuͤtze Muͤhe? Was fuͤr unnuͤtze Muͤhe,
wenn Hr. Kl. Phraſes aufſucht, wie ein Lorbeer-
kranz die Sieger wirklich habe zu Goͤttern machen
koͤnnen?
[217]Zweites Waͤldchen.
koͤnnen? wie Horaz ſich habe unter die Goͤtter ver-
ſetzt, ſich an den Himmel empor ragend denken koͤn-
nen? Was fuͤr eine recht luſtig tragikaliſche Nach-
ahmung, wenn Horazianer recht horaziſch zu ſeyn
glauben, wenn ſie, wie er, ſchon mit dem Scheitel
an den Himmel ſtoßen, und was er launiſch ſagt,
mit recht guter Beſinnung, und, ſo Gott will! recht
horaziſch nachplappern! Was fuͤr ein huͤbſches
Ebenbild endlich in der langiſchen Ueberſetzung,
wenn dieſe fein ſchalkhafte Mine Horaz, ins ehrbar-
ſte Prieſtergeſicht umgebildet, und mit allem korpu-
lenten Ernſte anhebt:


Maͤcen, — — —

Mein Schutz, und ſuͤßer Ruhm! Es freuen ſich viele,

Wenn der olympiſche Staub den Wagen bedecket u. ſ. w.

Und wenn ein marſiſch Schwein das Garn durchgeriſſen,

Und mich geſellt gelehrter St͞irn͝en Lo͝hn, Epheu,

Den Goͤttern zu; mich unterſcheidet vom Poͤbel

Ein kuͤhler Wald — —

Wenn du mich zu den Odendichtern geſelleſt,

So ruͤhr ich mit erhabnem Nacken die Sterne!

Jſt Horaz nicht ein braver Kerl? — Und da-
zu macht ihn auch Hr. Klotz, wie ich denken ſollte.


Jch weiß, ich komme nicht bei allen gelehr-
ten Leſern Horaz damit an, daß ich ſage; ſo etwas
widerſpricht dem Tone des Ganzen; es zerſtoͤrt die
O 5Harmo-
[218]Kritiſche Waͤlder.
Harmonie des ganzen lyriſchen Geſanges; denn was
iſt Ton, Harmonie des Ganzen? Die Empfindung
davon laͤßt ſich dem Ohre keines Menſchen geben.
So muß ich denn leider! umgekehrt ſagen, daß der
Ton des Ernſtes ſchon exegetiſch Widerſpruͤche in
die Ode bringe: daß es ja nichtswuͤrdig von Horaz
waͤre, von den olympiſchen Siegern nichts zu ſagen,
als daß ſie Staub ſammlen, und mit dem Ra-
de umlenken; daß unter den Roͤmern die edlen,
goͤttergleichen Spiele ſich eigentlich nicht ſo ge-
funden, wie bei den Griechen; daß das Beiwort
wandelbare Roͤmer alsdenn dem Sinne Horaz
ſelbſt entgegen, daß es magrer Gegenſatz zwiſchen
proprio horreo, und Libycis areis ſey; daß das
wahre ηϑος in dem patrios agros, die beſte Kraft
des numquam dimoveas verlohren gehe: daß der
Wiederſpruch in dem metuens, und mox reficit
rates
froſtig werde: daß das nec partem ſolido de
die,
aller klotziſchen gelehrten Erlaͤuterung ungeach-
tet, kein wahrer Gegenſatz mehr bleibe: daß ich als-
denn nicht ſehe, warum vom Kriege eben der lituo
tubae permiſtus ſonitus
reizen, warum die Kriege
hier eben matribus deteſtata heißen muͤſſen: warum
eben das marſiſche Schwein eben vor Horaz zu ſte-
hen kommt: warum er eben ſolche Armſeligkeiten,
als Lohn der Dichtkunſt, anfuͤhren; warum er Goͤt-
ter und Volk, und Sterne, einen armſeligen
Lohn! dreimal ſagen; warum er eben die Nichts-
wuͤrdig-
[219]Zweites Waͤldchen.
wuͤrdigkeit waͤhlen muͤſſe; in ein Dichterregiſter ge-
kleckt zu werden, als ob auf der alles beruhe: war-
um eben ein ſo poſſirliches Bild ſchließen ſoll. —
Kurz! Horaz muß ſo nuͤchtern, ſo zuſammenhan-
gend, ſo kleingroß in der Ode, in ſeiner erſten Ode
werden, als ich ſchon nicht zuerſt dies bemerkt, als
jeder aber werden muß, wenn man ein launiſches
Stuͤck von ihm ernſthaft umſchrauben will. —
Da heißts:


‘Ein Thor ſagt laͤcherlich, was Cato weislich ſprach.’

Der arme Horaz! ſeine erſte Ode bildet alsdenn
wohl kaum das προσωπον τελαυγες, was Pindar
zur Ehrenpforte eines lyriſchen Gebaͤudes wollte.


Ueber einzelne klotziſche Erlaͤuterungen kann ich
mich nicht einlaſſen: manche haben verfehlen muͤſ-
ſen, weil der Sinn des Ganzen verfehlt iſt. War-
um aber wiederholt Hr. Klotz ſo viel bekannte Sa-
chen: als, daß terrarum Dominos eine Appoſition-
zu Deos, was das partem ſolido de die demere
ſey? Geßner iſt ja in aller Haͤnden. Quid vero
docti videamur? removeamus paullum illam eru-
ditionis ſpeciem, \& ſimpliciter interpretemur
a).
Jch wollte dieſe Worte zum Wahlſpruche des ganzen
klotziſchen Commentars haben.


Noch ein Wort uͤber die erſte Ode, denn wer
wird nicht von Horaz wenigſtens die Erſte Ode in-
ne
[220]Kritiſche Waͤlder.
ne haben? Hr. Kl. referirt a) das dimoveas ſechs
Verſe ruͤckwaͤrts, bis auf hunc \& illum; oder um-
gekehrt das hunc \& illum auf dimoveas; allein
die Relation duͤnkt mich dem Baue des horaziſchen
Perioden in dieſem Sylbenmaße entgegen; ſie macht
den Flug des Choriamben matt. Man erin-
nere ſich des Bildes, daß das ſtolzhoͤrende klop-
ſtockſche Ohr b) von dieſer Art choriambiſcher Ode
hinwirft: „mitten im Fluge ſchwebt ſie, und ſetzt
„alsdenn mit einmal wieder den Flug fort.„. Nun
fliege man einmal auf den Fittigen dieſer Ode; man
fuͤhle, wie Horaz die Abſaͤtze ſeiner Materie und
ſeiner Perioden ſo recht in den Sylbenklang einfuͤge:
wie beinahe jedes Wort, und jeder Gedanke von ſei-
ner Stelle Staͤrke empfange: wie in jedem Verſe
Anfang, Caͤſur und Ende auch den Sinn jedesmal
unterſcheide, aufhalte, ſtuͤtze, hebe: wie die Einpaſ-
ſung aller einzelnen Redeglieder das Ganze zu ei-
nem kuͤnſtlichen Gebaͤude, auch in Abſicht des lyri-
ſchen Ausdrucks mache? — Wer dies empfindet,
dem wird der lyriſche Bau, das ſymmetriſche; Sunt,
quos — hunc — illum
wohl nicht Zeit laſſen, in
einem zweiten Stuͤcke des Gebaͤudes, das ſich mit
einem Participium ſchon wieder, als ein eignes
Ganze anfieng, hinten nach ein dimoveas zu ſuchen:
ſollte
[221]Zweites Waͤldchen.
ſollte auch im Fluge der Choriambe das hunc, illum,
mitten inne
zwiſchen iuvat und dimoveas ohne ei-
gentliche Kuppel ſtehen bleiben. Jmmer roͤmiſch,
poetiſch, choriambiſch: da jenes zwar gut proſaiſch
und conſtructionsmaͤßig, aber die Fuͤlle, den ſchwe-
benden Flug des Sylbenmaßes zerſtoͤrt. Dignum
certe critico,
ſagt Hr. Kl. von Bentlei, qui ſingu-
la verba examinat, nec tam ſe Horatianae elo-
quentiae flumine abripi patitur, quam \&c.
Von
wem goͤlte dies bei Auslegung des Ganzen der Ode
noch wohl mehr, als von Bentlei?


3.


Horat. l. 1. Od. 2. Alles Unnuͤtze und Neben-
werk bei Seite! nichts, als wahre und neue Erlaͤute-
rung, ſuchend; ach! ſo — erlaͤutert mich Hr. Kl. wie-
der aus dem Tone der Ode; er zerſtoͤrt mir die Har-
monie des lyriſchen Ganzen. Mich widert der
Klumpe von locus communisa), in welchem Al-
lerlei Auguſt mit Merkur habe koͤnnen wuͤrdig ver-
glichen werden, denn er ſtuͤrzt, wie eine einſinkende
Bombe das ganze Gebaͤude des Geſanges nieder.
Jch will mich erklaͤren.


Horaz faͤngt mit einer Erzaͤlung ſchrecklicher
Zeiten, grauſamer Vorbedeutungen einer goͤttlichen
Rache, trauriger Wunderzeichen, und noch trauri-
gerer
[222]Kritiſche Waͤlder.
gerer Vorfaͤlle an. Er wendet ſich: wem wird Ju-
piter das Amt auftragen, das Volk zu entſuͤndigen?
Wird Apollo, oder Venus, oder Mars, oder Mer-
kur erſcheinen? Ploͤtzlich bricht er ab, und wendet
ſich an Auguſtus, aber ſo geſchickt, daß ſelbſt der
ſtrengſte Republikaner das Lob billigen, die Wendung
ſchoͤn finden konnte. Der ſchnelle unvermuthete
Uebergang von Goͤttern auf den Kaiſer, von raͤchen-
den, drohenden, ſchrecklichen Goͤttern auf den Vater
des Vaterlandes, von Goͤttern, die am Blute der
Roͤmer Rache genommen, auf den, der ſein Schwert
gegen die Barbarn wandte — Dies iſt der Gang
der lyriſchen Muſe, dies iſt der Hauptzug des hora-
ziſchen Lobes.


Und wie ſchoͤn weiß er die beiden Stuͤcke des lo-
benden Gegenſatzes zu verſchraͤnken. Das Land iſt
voll ſchrecklicher Vorboten, und voll Strafe der Goͤt-
ter geweſen: das Strafwetter iſt vorbei; wer wird
ſich der Roͤmer, ſie zu entſuͤndigen, annehmen? Apollo?
Er iſt augur Apollo. Venus? Sie iſt die Mut-
ter der Roͤmer. Mars? Er iſt der Vater derſel-
ben. Merkur? Er iſt der Bote der Goͤtter mit ſei-
nem Caduceus. Einer ſteige herab Rom zu ent-
ſuͤndigen. Wer iſts? hier ein verſtohlner Wink auf
Auguſtus thut große Wirkung: der Bote der Goͤt-
ter iſt da! Merkur in der Geſtalt Auguſt. Als
Bote der Goͤtter, alſo hat er Caͤſars Tod geraͤchet:


pati-
[223]Zweites Waͤldchen.
— patiens vocari

Caeſaris vltor.

Als Bote der Goͤtter giebt er jetzt Rom Entſuͤndi-
gung und Friede. Sogleich verſchwinden Wunder-
zeichen, Goͤtter und Raͤcher. „Lang, o Kaiſer,
und gluͤcklich ſei unter deinem Volke: und wende dei-
nen Arm (von den Feinden deines Vorgaͤngers und
Hauſes ab, lieber) auf die Feinde Roms, die Bar-
barn! Das ſind Kriege, (nicht wie die, die du im
Namen der Rachgoͤtter gefuͤhret haſt: bella non
habitura triumphos,
ſondern) die dir Triumphe
bringen koͤnnen: dann biſt du ein Vater deines Va-
terlandes. — Jrre ich nicht, ſo iſt das der Ton
der im Ganzen der Ode herrſcht! und die Feinheit,
die vorige Rache des Caͤſars, den ſtrafenden Goͤt-
tern, die jetzige entſuͤndigte Ruhe Roms dem Kai-
ſer zuzuſchreiben, iſt gleichſam die lebende, die roͤmi-
ſche Grazie der Ode.


Nun komme jemand, und ſchreibe ſeitenlang
den mythologiſchen locus commuuis aus: was
Merkur fuͤr ein guter Menſch, daß er beredt, auch
ein Erfinder der Citter, auch ein Aufſeher der Kampf-
ſpiele, und was weiß ich mehr? geweſen, daß Mer-
kur wirklich mit ihm verglichen werden koͤnne —
elender Auswurf der Mythologie! So wenig, als
mit Merkur, dem liſtigen Betruͤger, dem Schaf-
diebe; ſo wenig wird er mit Merkur dem Erfinder
der Citter, dem Aufſeher der Kampfſpiele u. ſ. w.
ver-
[224]Kritiſche Waͤlder.
verglichen. Hier iſt Merkur „ein Bote der Goͤt-
„ter,„ Caͤſars Tod zu raͤchen (patiens vocari Ca-
ſaris vltor)
oder wenn man noch mehr will, Rom
zu entſuͤndigen; nichts mehr! Der Poet giebt auch
nicht ſo eigentlich und ausfuͤhrlich dem Auguſt die
Praͤdikate Merkurs, daß ein kuͤnftiger Ausleger ſo
manches Schoͤne daruͤber ſagen koͤnne: Auguſtus
perſonam Mercurii induens pacifer, ſalus generis
humani, eloquens etc.
Wir von Gottes Gnaden,
unter dem Bilde Merkurs, der Friedengeber, die
Luſt der Welt, beredt, ein Liebhaber der Muſen,
und was der mythologiſche Kram uns vom Mer-
kur mehr ſagen moͤge. So viel ich ſehe, ſo macht
Horaz nur eine polite Einkleidung. Nicht Auguſt
ſoll es ſeyn, der Caͤſars Tod vormals geraͤchet: die
Goͤtter ſelbſt ſinds geweſen, und der Bote der Goͤt-
ter ſelbſt. Haͤtte es dem Dichter gefallen, den raͤ-
chenden Apollo oder den erzuͤrnten Mars zuletzt zu
ſetzen: ſo haͤtte er, nur mit umgeaͤnderter Einklei-
dung, den Roͤmern denſelben Gedanken ſagen koͤn-
nen, der jetzt die Ode durch herrſchet: die Zeiten
der Strafen und Strafbedeutungen ſind vorbei:
„man denke nicht mehr an Unfaͤlle, wobei die Goͤt-
„ter ſelbſt ihre Hand im Spiele gehabt: jetzt haben
„wir einen Entſuͤndiger, einen Vater des Volks,
„einen Auguſt!„ Und welche Ode konnte mit
der Einkleidung, die Horaz gewaͤhlet, der Zeit wuͤr-
diger ſeyn, die Geßner bei dieſer Ode annimmt.


Schon
[225]Zweites Waͤldchen.

Schon geſagt, daß ich mich uͤber einzelne Wort-
ſtreitigkeiten nicht einlaſſe, aber welche unwuͤrdige
Schwierigkeit, die ſich Hr. Klotz uͤber die Worte
macht: a)

vlmo
nota quae ſedes fuerat columbis.


eine Schwierigkeit, bei der er ſo gar zum gefaͤhrlich-
ſten Mittel greifen muß: quid prohibet, quo mi-
nus Horatio aliquid humani accidiſſe dicamus?

Jch wollte wiſſen, wo Horazen denn hier Menſch-
lichkeiten doͤrfen entfallen ſeyn. Jch bin kein Jaͤ-
ger, aber das weiß ich, daß mehr als eine Gattung
von Tauben, die ſogenannten Ringeltauben, oben
auf Baͤumen niſten; und columba iſt ja ein Haupt-
geſchlecht. — Einige Blaͤtter harduinſche Nichts-
wuͤrdigkeiten weggeſchlagen, und da fallen mir wie-
der die ſchrecklichen Worte ins Geſicht b): immo
totus locus non recte intellectus ab interpretibus.

Laß ſehen!


L. I. Od. IV. dum graves Cyclopum


Vulcanus ardens vrit officinas. Nun hoͤre
man den Erlaͤuterer: graues expono per ſulphu-
reas officinas; has officinas vrit i.e. igne et ſlam-
mis implet: Vulcanus ardens i. e. qui plenus eſt
flammis, dum in loco, vbi omnia lucent igne,
verſatur. Quid prohibet, quo minus hunc locum


Pita
[226]Kritiſche Waͤlder.

ita interpreteris? Gilt die Frage: quid prohibet?
auch mich: ſo antworte ich: alles iſt zuwider! das
ganze horaziſche Bild verſchwindet damit. Jetzt
ſehe ich den vor Hitze und Arbeit gluͤhenden Vul-
kan; nicht einen, dem der Glanz des Feuers das
Geſicht roͤthet: nicht einen, der einen Feuers-
brand in die Schwefelhoͤle traͤgt, und damit ſie voll
Flammen macht: ſondern, der ſichs ſauer werden
laͤßt (indeß daß ſeine. Gemahlinn tanzt) es ſei nun,
daß er das Feuer anfacht, oder das gluͤhende Eiſen
mit dem Amboſe, auf der eigentlichen Werkſtaͤte
der Cyklopen, hammert. Gnug vrit officinas, und
zwar graves officinas; ich kann kein vielſagender
kontraſtirender Beiwort zu der in kuͤhler Nacht bei
ſtillem Mondſcheine tanzenden Venus finden. Die
Klotziſche Erlaͤuterung kann gelehrt und berg-
werksmaͤßig ſeyn: ſie kontraſtirt nicht, ſie iſt nicht
poetiſch.


Iam te premet nox, fabulaeque manesa).
Das Comma, das mit ſo vielem Geraͤuſche zwiſchen
fabulae und manes geſetzt wird, iſt nichts Neues:
und doch laſſe ich nicht einmal zu ſehr commatiſiren,
denn ſie gehoͤren zuſammen: „eine Todtenbekannt-
„ſchaft, von der ſo viele Geſchichtchen lauten.„
Jch ſchlage einige Oden weiter, und wieder eine
neue und vielleicht wieder verfehlte Erklaͤrung:
Od. X,
[227]Zweites Waͤldchen.
Od. X, 3. ſteht unter Merkurs Lobſpruͤchen das
Sabiniſche Wort: catus:


— — qui feros cultus hominum rece ntum

Voce formaſti catus —

und wer weiß, was catus iſt? Hr. Klotz ſoll es
ſagen a). Non ſola voce hoc fecit, ſed eatus h. e.
acutus ſtudia vniuscuiusque ſectatus ad animos
velut deſcendit, et callide ita quemque mouere
ſtuduit, vt illius cupiditates poſcere videbantur.

Entweder ich verſtehe Horaz nicht, oder Hr. Klotz
hat ihn nicht verſtanden. Merkur, denke ich, bil-
dete die erſten Wilden, theils, daß er, der ſcharfſin-
nige Merkur, ihnen Sprache gab; theils daß er
ihre Glieder bildete; jenes, nach der allgemeinen
Tradition, die Menſchen ſeyn durch die Sprache ge-
ſittet geworden; dies, um ihnen die thieriſche Plump-
heit des Koͤrpers abzugewoͤhnen. Jſt dies der
Verſtand des Dichters: ſo iſt das quomodo leni-
verit
hominum animos
wohl nichts; ſo iſts wohl
kein Gegenſatz: non ſola voce hoc fecit, ſed ca-
tus:
ſo hat mein Commentator ein Non-ſenſe ge-
ſagt. Jſt dies aber nicht der Verſtand des Dich-
ters; wollte er ſagen: Merkur habe den Thiermen-
ſchen taͤglich eine beredte Predigt gehalten, in der
er catus auf die Neigungen und Gemuͤthsart jedes
ſeiner reſpektiven Herren Zuhoͤrer geſehen, ſich zu
ihnen herabgelaſſen, und nach vollbrachter Predigt
P 2ſie
[228]Kritiſche Waͤlder.
ſie zum Fechtplatze gefuͤhrt — iſt dies der Sinn des
Dichters, ſo bitte ich, der ich nicht ſo catus wie
Merkur bin, um Verzeihung.


Od. XII, 42. 43. Horaz ſingt: ſaeua paupertas
tulit hunc et illum etc.
und wie bekannt, daß
eine ſchwere Armuth, eine druͤckende Noth die groͤſ-
ſeſten Maͤnner hervorbrachte? Ecce autem ſu-
percilium dialectici diſtinguentis
a): ſaeua pau-
pertas aliis videtur, non viſa eſt Camillo, Curio-
que.
So genau eben wollte ich das nicht behau-
pten. Eben auch den haͤrtlichen Roͤmern konnte
doch oft die Laſt der Duͤrftigkeit, des Elendes, der
Verbannung empfindbar, wirklich empfindbar ſeyn.
Ein Camillus, ein Heinrich von Navarra, konnte
wirklich den Druck der Noth fuͤhlen, und eben dies
Gefuͤhl, die Laſt der Nothwendigkeit bildete ſie, wie
nach der bekannten Fabel, der gedruͤckte Palm-
baum.


Noch immer beim erſten Buche des Horaz?
Ja! und ich ſehe die Striche am Rande meines
Buchs ſich nicht mindern: ſondern mehren. We-
nig Erlaͤuterungen, die neu waͤren, Stich hielten,
eine neue Ausgabe verdienten. Meiſtens ſtrauchelt
der Commentator, indem er erlaͤutert, ſelbſt aus
dem Pfade der Ode Horaz, und die wichtigſten
Rettungen gegen Harduin finde ich in der Geßneri-
ſchen Ausgabe Horaz ſchon vorgezeichnet, aber
nach
[229]Zweites Waͤldchen.
nach Geßnerſcher Weiſe, das iſt weiſe, kurz, und
buͤndig — Wozu indeſſen ſoll die unſelige Muͤhe,
jeden Strich auf dem Rande meines Exemplars in
viele Worte erſt zu verwandeln: hier Parentheſen,
wo Seiten und Blaͤtter nicht hergehoͤren: dort Fra-
gezeichen, wo ich ungewiß; hier Nullen, wo ich ge-
genſeitiger Meinung bin, und dort ein oͤfters! zum
Zeichen eines herzlichen Ohe. Jch will damit lie-
ber auf die lectiones Venuſinas warten; jetzt eine
allgemeine Anmerkung.


Der unverſchaͤmte Harduin ſpricht a) dem
wohlklingendſten der lyriſchen Roͤmer allen Wohl-
klang ab, alle Barbarei zu: Hr. Klotz alſo ſollte
Horazens lyriſchen Wohlklang retten; allein — er
hat ihn nicht gerettet. Er widerlegt Harduin durch
Citationen, und durch einige ſchale Beiſpiele, daß
dieſer und jener Vers bei ihm ein Echo ſeines Sin-
nes ſey; allein wem war an Etwas gelegen, was
Stuͤmpern oft mehr gluͤckt, als Dichtern, wenig-
ſtens jene oft gnug uͤbertreiben. Er haͤtte uns
auf den, dem Horaz eigenen, lyriſchen Wohlklang
aufmerkſam machen, in dieſem und jenem Sylben-
maaße die Lieblingsgaͤnge Horaz bemerken ſollen,
nach denen er die Worte ſtellet, und ſich einen Pe-
rioden ſchaffet. Einmal waͤre es Zeit, daß ein
deutſcher Dionyſius es entwickelte, wie das allge-
meine Ding, was wir Periode nennen, nur eigent-
P 3lich
[230]Kritiſche Waͤlder.
lich Reden zukomme, und daß uͤbrigens, ſo wie je-
de Gattung des Vortrages, ſo auch jedes Haupt-
ſylbenmaaß der Dichtkunſt, gleichſam ſeinen eignen
Perioden von Vinktur, Junktur, und Concinnitaͤt,
das iſt ſeine eignen Wortbindungen, Verſchraͤnkun-
gen und Wohlklaͤnge habe, woruͤber ſich, wer ſich
wie Klopſtock auszudruͤcken wuͤßte, bei Horaz gewiß
zuerſt die angenehmſten Betrachtungen machen ließen.
An ſo Etwas hat Hr. Klotz nicht gedacht.


4.


Und hat uͤberhaupt mit ſeinen bisherigen Ho-
raziſchen Schriften wenig zum Behufe des poetiſchen
Leſen, zum Leſen Horaz in Horaz Sinne beigetra-
gen. Einzelne Bilderchen, etwa ein ſectis in iu-
uenes vnguibus,
ein Oſcula, quae Venus quinta
parte ſui etc.
hat er mit Gefuͤhle des Schoͤnen aus
einander geſetzt; mit der Methode, mit dem Ge-
ſchmacke uͤberhaupt, zu dem ſeine Schriften fuͤhren,
Horaz zu leſen, bin ich um ſo weniger zufrieden.


Seine Schrift, de felici audacia Horatii,a)
(die, eine Menge froſtiger Allgemeinſaͤtze b) abgerech-
net, eine ſeiner beſten Schriftchen, und mehr als ein
ſpecimen Academicum iſt,) dieſe Schrift, ſage ich,
iſt, ſo ſehr ſie ſich mit ihrer ſchoͤnen Critik ſelbſt
vor-
[231]Zweites Waͤldchen.
vorzeigt, fuͤr mich kein Muſter des Geſchmacks,
Horaz zu leſen. Sie iſt nach dem Fachregiſter des
lieben Batteux gezimmert, wie man bei einer Ode
Sprung, Abreißung, Umſchweifung, Anfang und
Ende, u. ſ. w. bemerken und ſich abſtecken muͤſſe a),
eben als wenn Horaz je nach ſolchen Abſtechungen,
wie uͤber ein Schulthema, gearbeitet haͤtte. An
ſich iſt ſolch Fachwerk, eine ſolche Topik der Ode,
immer gut, ſo fern es nur den Bemerkungsgeiſt bei
einzelnen Oden ſtaͤrken will. So bald es aber or-
dentliches Geruͤſt, und nothwendige Erklaͤrungsart
der Ode wird: ſo iſts mir zuwider. Jch weiß,
daß ich hier gegen die Mode ſchreibe; denn ſeit ei-
niger Zeit zirkeln wir Deutſchen kein Gedicht ſo gern
ab, als eine Ode, ſo wie die Franzoſen ihr Drama
nach allen drei Einheiten nur abzirkeln koͤnnen; und
das heißt denn die Manier Horaz. Und ich kenne
keine Manier, in der Horaz mehr zerriſſen, und ſeich-
ter nachgeahmt werden koͤnnte, als dieſe. Jch habe
angefangen, die Stellen Horaz, die hinter jeder Klo-
tziſchen Rubrik: abgeriſſener Anfang, Sprung, Di-
greſſion, u. ſ. w. ſtehen, aufzublaͤttern; ekelhaft aber
ward mir mein Aufblaͤttern bald, und ich verlohr oft
dabei den Sinn meines lieben Horaz. Jch ſchlug
das Buch zu, und lernte aus Erfahrung, daß Ho-
raz auf keiner Tortur mehr koͤnne gedehnt und ge-
martert werden, als auf ſolchem Regelngeruͤſte.


P 41. Ab-
[232]Kritiſche Waͤlder.

1. Abrupta carminum initia. Wie? wenn es
hier Geſetz der horaziſchen Ode wuͤrde a): arripit
lyram poeta, nec quaeren[s] verba, quibus ordia-
tur carmen, non ſollicitns, quam formulam pri-
mo loco ponat, quodcunque ii, quibus excitatur,
motus verbum ſuggerunt, eloquitur
— welcher
unfoͤrmliche Parenthyrſus wuͤrde unſere Horaze be-
zeichnen. Nur von wenigen horaziſchen Oden kann
man eigentlich dieſe ploͤtzliche Abgebrochenheit des
Anfanges ſagen, und bei jeder, wo ſie ſich findet,
hat ſie eine Art von Beſonderheit in ihrer Urſache.
Das ſo oft mißbrauchte: quo me, Bacche, rapis? iſt
kein allgemeines Geſetz, es iſt ein einzelnes, und darf
ich ſagen, ſonderbares Beiſpiel. Der Poet dichtet
die ganze Ode durch eine foͤrmliche Trunkenheit:
voll ſeines Bacchus in Hoͤlen und Waͤlder getrie-
ben, weiß er ſelbſt nicht, wie ihm geſchieht: ſein
Geiſt ſchwebt umher, oder vielmehr wird hinwegge-
riſſen, nichts Großes, nichts Sterbliches zu ſingen
und — er ſinget Auguſt. Schoͤne Lobeseinklei-
dung, wie Plato ſeinen Sokrates vom trunkenen Al-
cibiades loben laͤßt: ſo kann hier der trunkene Flac-
cus dithyrambiſiren; es ſtimmt mit dem ganzen
Tone der Ode. Jn Abſicht auf dieſen iſt der An-
fang nicht abgebrochen, weil alles in der Ode abge-
brochen, hingeworfen, trunken iſt: ja, die ganze
Ode, kurz und buͤndig, iſt ein abgebrochnes Stuͤck
eines
[233]Zweites Waͤldchen.
eines poetiſchen ενϑεισμου. Nun komme ein nuͤch-
terner Claſſifikateur, und mache ihn folgendergeſtalt
zum locus communisa): Poeta admiratus egregia
facta Auguſti, atque plenus hac cogitatione, Au-
guſtique magnitudine excitatus a Baccho abripi
videtur,
ſo iſt die Harmonie der ganzen Ode zerſtoͤrt.
Welcher Zuſammenhang, die Thaten Auguſts be-
wundernd uͤberdenken, und vom Bacchus fortgeriſ-
ſen werden? Nuͤchterne Trunkenheit! Unhoraziſcher
Horaz! Nein! mein Roͤmer berauſcht ſich nicht ge-
ſetzmaͤßig, um Auguſtus zu ſingen: er ſingt Auguſt,
weil ihn Bacchus treibt, weil er ſich begeiſtert fuͤhlt.
Das Lob des Kaiſers verliert alles, wenn es ein ſtu-
dirtes Lob iſt: es iſt alſo nur ein hingeworfner, mitten
in der Begeiſterung gefuͤhlter Gedanke, und Horaz
folgt ſeinem Bacchus weiter, ohne an Auguſt zu
denken. Die klotziſche Erklaͤrung des Anfanges iſt
alſo nuͤchtern, ſie iſt wider den Ton der Ode.


Jch laſſe mich auf die uͤbrigen Beiſpiele nicht
ein; ſage aber nur ſo viel: Jeder unvermuthete
Anfang ſcheint abgebrochen; ſo bald aber der ab-
gebrochne Anfang merkbar wird, und den Ton der
ganzen Ode uͤberſchreiet: ſo iſt er keine Schoͤnheit
mehr, er iſt ein Fehler der Ode. Er frappirt nicht
mehr angenehm, ſondern er beſtuͤrmet unſer Ohr
entſetzlich. So ſind die neuern Horazianer oftmals;
ſie fangen an, als wollten ſie mit ihrer Ode den
P 5Olymp
[234]Kritiſche Waͤlder.
Olymp beſtuͤrmen, und ſiehe da; ſie liegen im San-
de. Zevs nieſt, es blitzt! fieng jener an, und ich
— wuͤnſche ihm, ſich auszunieſen.


Kein Anfang alſo kann ohne den Ton des Gan-
zen in Betracht kommen: kein abgerißner Anfang
an ſich iſt ein Zeichen der Kuͤhnheit, wenn er nicht
verfolgt, wenn er nicht ausgefuͤhrt wird. Und eine
durchhin ausgefuͤhrte Abgebrochenheit der Gedan-
ken hat Horaz nur bei wenigen Oden: etwa, wo eine
Dichtung, ein Geſicht, (II. 19. Epod. 7.) ein ſchneller
Vorfall, eine auffodernde Stimme dazu Gelegen-
heit giebt. Und ſolche Oden unterſcheiden ſich durch-
aus im Ganzen.


Andernfalls macht Horaz ſolche ſchreiende An-
faͤnge ſich wohl nicht zur Gewohnheit. Die meh-
reſten ſeiner auch erhabnen Oden fangen ſich mit ei-
ner langſamen Geſetztheit: ſeine lehrenden Oden ru-
hig: und ſeine Oden der Freude meiſtens ſanft an.
Wo in der Ode: quis deſiderio ſit pudor aut mo-
dus etc.
der kuͤhne abgebrochne Anfang ſey: a) ſehe
ich nicht. Was iſt ſanfter und beinahe elegiſch, als
wenn ein Gleim um ſeinen Stille anſtimmt:


Wer maͤßigt ſich in ſo gerechtem Leide?

Der meine Freud’ und aller Menſchen Freude,

Der Muſen Ehre war,

Der iſt nicht mehr!

Die
[235]Zweites Waͤldchen.

Die erhabenſten, die kuͤhnſten der uziſchen Oden
fangen ſich maͤßig an: nur denn iſt der Anfang ab-
gebrochen, wenn etwa ein lyriſcher Ueberfall, ein ly-
riſches Blendwerk uns bereitet werden ſoll, und das
iſt meiſtens kurz, außerordentlich. Die abgebroch-
ne Hymne des Callimachus iſt ενϑεισμος, und die
vortrefflichſten pindariſchen Oden ſind dem Anfange
nach ſehr geſetzt, und maͤßig. Jch kenne keine Re-
gel, die als locus communis von Horaz abgezogen,
und ohne Verbindung zum erſten Stuͤcke ſeines lyri-
ſchen Odenbaues erhoben, auch abgebrochner, das
iſt halbirt und mehr zu mißdeuten ſey, als die: „er
„ſchreit abgebrochen, ohne erſt Worte zu ſuchen,
„auf!„


2. Longae digreſſiones. Ein neuer Canon
der horaziſchen Ode, und oft ein ſehr mißbrauchter
Canon. Meiſtens liegt in Horaz bei dem Anſcheine
einer ſolchen Digreſſion was wichtigers zum Grun-
de, was er mitnehmen, aber nicht zum Geſetze, ſon-
dern nach der Jndividualſituation ſeiner Ode ſo mit-
nehmen wollte; oft iſts auch wirklich keine Digreſ-
ſion, was wir ſo zu nennen belieben. Horaz er-
muntert den Thaliarchus zur Froͤlichkeit: ſei gu-
tes Muths, und permitte Divis cetera, qui ſimul
ſtravere ventos etc.
Wer kann ſich nun den Er-
klaͤrer ſo einfallend denken a): Permitte Divis ce-
tera. Hic deſinere poterat poeta. Ad ſenſum

nihil
[236]Kritiſche Waͤlder.
nihil requirebatur amplius. Poëtae vero vivi-
dum ingenium, dum Deos cogitat, ſtatim deſcri-
ptionem aliquam immenſae poteſtatis Deorum
praebet.
— Was kann praͤceptormaͤßigers ge-
ſagt werden? Jch ſahe Horaz, wie einen Schulkna-
ben uͤber ſein Thema arbeiten, und den Lehrer dar-
neben: gut! gnug! der Verſtand iſt aus: zum
Thema wird nichts mehr erfodert; aber nun! eine
kleine Amplification. Permitte Divis cetera war
das letzte: Goͤtter alſo — wie koͤnnen Goͤtter etwa
umſchrieben werden? faͤllt deiner lebhaften Einbil-
dungskraft — — O des armen Horaz! Wenn
Thaliarch zur Freude ermuntert werden mußte, was
natuͤrlicher, als daß er mißvergnuͤgt war, daß er
Ungluͤck hatte? Und was fuͤr ein poetiſcher Bild
vom Ungluͤcke, als Sturm, Seeſturm? Und was
fuͤr ein paßlicher Bild in das Ganze dieſer Win-
terode? Wer fuͤhlt nicht ſein Caminfeuer mit dop-
peltem Freudenſchauer gleichſam, wenn der Wind
um die Fenſter raſet, wenn man ſich Seeſtuͤrme
dabei gedenkt, wenn von Meersgefahren daneben
erzaͤhlt wird? Wo iſt hier die mindeſte Digreſſion
vom Thema der Ode?


Es iſt keine Digreſſion a), wenn Horaz in ſei-
ner zweiten Ode eine kurze Beſchreibung der Zeiten
Deukalions giebt: denn ſo ſollen die damaligen
Schreckwunderzeiten in Rom gedacht werden. Er
ver-
[237]Zweites Waͤldchen.
vermehrt alſo das Grauſen im Zuruͤckdenken an ſie,
wo ers nicht durch ihre eigne Schilderung thun konn-
te, durch ein ausgemaltes Gleichniß alter, grauſer,
ſchrecklicher Zeiten. Die Empfindung, der Ton
der Ode wird mit dem Zuge der grauſen Unordnung
verſtaͤrkt, und iſt das Digreſſion? Nur ein ge-
fuͤhlloſer Scholiaſt konnte ſchreiben: leviter in re
tam atroci, \& piſcium, \& palumborum meminit;

denn ihm fiel nichts, als das Gericht Fiſche und
die Tauben, ins Geſicht; wenn Hr. Klotz aber das
Grauſen des Andenkens an Zeiten fuͤhlt, wo Fiſche
auf den Gipfeln der Baͤume ſchwimmen, und die
armen waſſerſcheuen, furchtſamen Tauben angſtvoll
in den Fluthen arbeiten: ſo ſollte er nicht den Scho-
liaſten nachſchreiben.


I. 34. Vbi currum Iovis memorat, ſoll Ho-
raz eine Digreſſion machen a)? Und wer wuͤßte
denn nicht, daß hier die eine, oder die andere Er-
klaͤrung der Ode angenommen, der Donnerwagen
Jupiters das Bekehrungsmittel des Horaz, folglich
nach jedem moͤglichen Sinne der Hauptgegenſtand
der Ode iſt? Jſts denn Digreſſion, ein Donner-
wetter zu beſchreiben, wenn der geruͤhrte Dichter ſich
hinſetzt, es zu beſchreiben; oder gar, wenn es ſeine
ganze Denkart aͤndern kann? Jch denke: eine Ode
aufs Ungewitter, ohne Ungewitter, iſt nichts.


I. 22. Vbi
[238]Kritiſche Waͤlder.

I. 22. Vbi lupum, qui ipſi pepercerat, n[o]-
minat.
Digreſſion a)? Eben das Abentheuer mit
dem Wolfe iſt ja die Veranlaſſung der Ode: eben
daruͤber macht ja Horaz die poetiſche Bemerkung,
mit der er anfaͤngt: und eben daruͤber faßt er ja den
poetiſchen Entſchluß, mit dem er endigt. Es iſt
doch grauſam, uns vor ſehenden Augen den Mittel-
punkt des Zirkels zum Beruͤhrungspunkte der
Tangente machen zu wollen.


Was ſoll ich die weitern Citationen eines Com-
mentators nachſchlagen, der ſein Gefuͤhl daruͤber ver-
laͤugnet, was Hauptgegenſtand, was Hauptton der
Ode ſey oder nicht? wer kann mit einem ſolchen dar-
uͤber einig werden, was Digreſſion ſey, quod ad
argumentum pertineat, nec ne?
Hr. Kl. hat
ſchon zu einer andern Zeit b) Gedanken uͤber die Di-
greſſion, und zwar bei dem Poeten, in dem ſie am
merkbarſten wird, bei Pindar geaͤußert, die mich
beinahe verzweifeln laſſen, daß ich Pindar kenne,
und den Plan ſeines ειδος ſtudirt habe. Jch habe
zwar nicht den Leiſten des Ruͤckersfelders, noch die
Schuldiſpoſition des Eraſmus Schmid; aber auch
gewiß nicht die Digreſſionen in ihm gefunden, die
Hr. Kl. Ruͤckersfeldern vordemonſtrirt.


Non recte Vir Cel. intellexiſſe videtur natu-
ram \& originem digreſſionum illarum Pindarica-

rum.
[239]Zweites Waͤldchen.
rum. Schoͤn! unſer Vir Cel. ſetzt ſich alſo zurecht,
dem Niederlaͤnder die Natur, und den Urſprung
pindariſcher Digreſſionen zu erklaͤren.


Odam, quae hoc nomine digna ſit, Pindari-
cam animo valde commoto oriri, facile mihi da-
bunt, qui vel legerint eiusmodi carmina.
Und
wenn ich auch durch den Trumpf, den Hr. Kl. auf
ſeine Behauptung ſetzet, fuͤr einen Unwiſſenden in
Pindar gelten muͤßte: ſo kenne ich keine, ich ſage mit
Fleiße keine Ode in Pindar, die zu ihrem Cha-
rakter haͤtte, aus einer geruͤhrten, erregten, ſehr
erregten
Seele zu entſpringen. Als einen hohen,
erhabnen, fliegenden Geiſt, der, nach ſeinem eignen
Bilde, die hoͤchſte Bluͤthe jeder poetiſchen Schoͤn-
heit bricht, kenne ich meinen alten Pindar wohl;
aber eine erregte, ſehr erregte Seele, die dieſes erreg-
ten Zuſtandes wegen auf. Digreſſionen aus-
ſchweift? — Jch zucke die Achſeln! nur ein groͤ-
ßerer Kenner Pindars, als ich, kann grandes affe-
ctus
a) zum Charakter Pindars, zu ſeinem Unter-
ſchiedscharakter von David machen.


Quid cantavit Pindarus, certe in iis, quæ ad
noſtram ætatem pervenerunt, carminibus? Vnum
idemque eſt omnium argumentum: victoria e lu-
dis reportata. In his quomodo poterat \& verita-
tem adhibere, \& faſtidio occurrere, niſi liberius
hanc rem tractaret \&c.
b) Der alte lahme Troͤ-
ſter
[240]Kritiſche Waͤlder.
ſter von Entſchuldigung! Freilich, wer ſeine Geſaͤn-
ge blos aus der Ueberſchrift: Ολυμπιονικαι, Πυ-
ϑιονικαι, Νεμεονικαι, Ιςμιονικαι anſieht, der kann
Pindar herzlich beklagen, daß er uͤber ſolch eine
Kleinigkeit ſo viel habe leyern, und ihm ſchon im
Voraus Ablaß ertheilen, wenn der arme Leyers-
mann hat ausſchweifen muͤſſen, um doch Etwas zu
ſagen. Wer aber die griechiſchen Zeiten, und das
National- und Stadt- und Familien- und Perſo-
nalintereſſe der griechiſchen Spiele und Sieger ken-
net, der wird jede pindariſche Ode fuͤr nichts, als wo-
fuͤr ſie Pindar giebt, fuͤr ein Jndividualſtuͤck halten:
ein ειδος ſeines Siegers, ein Bild deſſelben nach
griechiſchen Begriffen, und o! welch ein Thema iſt
je reicher, als ein ſolches Jndividualthema! welch
Thema reicher, als das Lob eines edeln griechiſchen
Juͤnglinges, eines Helden, eines Siegers! und
von allen ſeinen lobwuͤrdigen Seiten! und nach je-
der Ausſicht griechiſcher Schaͤtzbarkeit! Hier ein
National- dort ein Familien- dort ein perſoͤnliches
Lob! — Wer kann nun mit dem, der das Haupt-
thema Pindars in ſeinen Zeiten, und in ſeinem Jn-
dividualfalle fuͤr eine wuͤſte und wilde Ausſchwei-
fung ſeines aufgebrachten Gehirns haͤlt, wer mag
mit dem weiter uͤber eine Digreſſion ſtreiten? einzel-
ne Exempel unterſuchen? Wer das ganze pindari-
ſche Geſanggeſchaͤffte fuͤr ein poetiſches Exercitium
haͤlt, eine abgedroſchene Materie, einen Spiel-
kampf,
[241]Zweites Waͤldchen.
kampf, einen Wettlauf, ein Ballſchlagen; denn was
iſt jenes mehr? neu ausgeziert, ſchoͤn variirt, praͤch-
tig amplificirt in Verſe zu zwingen: dem Kenner
Pindars iſt erlaubt zu ſchreiben a): Nempe, ſi
quid videmus, de tota re ita iudicandum eſt:
Exornandi argumenti cauſſa adſumere, Pindarum
plerumque ea, quae cum illo aliquo modo coniun-
cta ſint: interdum verecunde
(welch ein Praͤceptor-
urtheil!) in his verſari \& modeſte, ſaepius auda-
cius, liberiusque euagari, atque etiam, quae lon-
gius petita
ſint, non tam adducere, quam trahere

(wie ungleich waͤre Pindar dem Vorbilde ſeines Ge-
ſanges, dem edeln Juͤnglinge, der gewiß ja die kuͤr-
zeſte Bahn nahm!) diutius etiam interdum in iis
morari, quam reliqua pati videantur, ſed habere
Poetam non ſolum excuſationem neceſſitatis
— —
Jch ſchreibe nicht weiter. Fuͤr ſolchen theuren
Schulpindar mit allen ſeinen Digreſſionen danke.
Vielleicht wird mir ein andrer Ort Muße geben,
den edlen griechiſchen Pindar zu zeichnen, den man
ſo ſehr verkennet: und da auch die horaziſchen Oden
mitzunehmen, die ich in Pindars Manier glaube.


III. Saltus in carmine ab alia re in aliam.
Mich duͤnkt, der Verfaſſer wird ſelbſt den Spott,
uͤber die ſo genannte ſcientifiſche Merhode b), hier
nicht
Q
[242]Kritiſche Waͤlder.
nicht fuͤr ortmaͤßig, und ſeine Beiſpiele nicht im-
mer fuͤr die gewaͤhlteſten halten. Der Ton der
ganzen ſiebenten Ode wird zerſtoͤrt, wenn man ſie
in der Paraphraſe des Verfaſſers lieſet a). Wie?
Horaz wollte es dem Plancus vorraiſonniren, daß
zuverlaͤßig Rhodos, Mitylene, Corinth, und eine
ganze Geographie ſchoͤner Gegenden, nicht ſo viel
Reize habe, als die tiburtiniſche Villa des Plancus:
das wollte mein laͤßiger Horaz behaupten wollen?
Nichts minder! er laͤßt jedem Orte ſeine Vorzuͤge:
er laͤßt jeden, was er will, loben: „mir gefaͤllt mei-
„ne Villa, und auch Du ſey in deinem Tibur ver-
„gnuͤgt: es wird ſchon alles gehen: alles Schlim-
„me ſchon mit der Zeit beſſer werden.„ Jch ſehe
hier keinen poetiſchen Sprung, keine Stapelgerech-
tigkeit der Ode; es iſt ein politiſcher Uebergang,
die artige Wendung eines Hofmannes, der ſich nach
ſeinen Zeiten richtet — Wer wollte daraus einen
locus communis der Odenkuͤhnheit machen?


Weiter hin will ich nicht nachſuchen. Jch ſa-
ge uͤberhaupt, daß ich mir meinen Horaz ſelbſt in
ſeiner lyriſchen Kuͤhnheit nicht nach ſolchen Allge-
meinfaͤchern will zerhacken laſſen, ſo ſehr ſie unter
uns (Hr. Kl. hat einige wortmaͤßig aus Batteux
uͤberſetzet b)) Mode geworden. Seit dem wir in
Deutſch-
[243]Zweites Waͤldchen.
Deutſchland dieſe kuͤnſtliche Odenform mit ihrem ab-
gebrochnen Anfange, und ihrer ſchoͤnen Digreſſion,
und ihrem kuͤnſtlichen Sprunge, und ihrer kuͤnſtli-
chen Unordnung, und ihren ſchoͤnen Strophenuͤber-
gaͤngen, und artigen Enjambements recht hand-
werksmaͤßig geformet und gegoſſen: ſeit dem iſt we-
nig Neues im Geiſte hoher Oden erſchienen. Gluͤck-
liche Theorie von der hohen Kuͤhnheit eines Dich-
ters, die uns das eigne Gefuͤhl ſolcher Dichterkuͤhn-
heit einſchlaͤfert.


5.


Der zweite Abweg, Horaz zu leſen, iſt, wenn
ſie Hauptgeſchmack wird, die Parallelenmacherei.
Hr. Kl. darf nur ein großes Bild, einen gefallen-
den Gedanken in einem Dichter finden: ſo ſteht ihm
bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich
ſo viele andre zu Dienſte, daß der vorige Gedanke
glatt weg iſt. Nun iſt eine ſolche Arbeit bei einer
maͤßigen Beleſenheit, oder einem maͤßigen Gebrau-
che von Regiſtern, Anthologien, Florilegiis, und
wie die Sammelplaͤtze mehr heißen, ziemlich leicht:
ſie kann auch bei Anfaͤngern, oder bei dunkeln, ver-
deckten Stellen manchmal nutzbar ſeyn; im Gan-
zen iſt ſie verderblich. Schade um die Schoͤnheit,
die ich erſt aus hundert Vergleichungen ſchoͤn fin-
den ſoll: Schade um die Schoͤne, die mich erſt
Q 2durch
[244]Kritiſche Waͤlder.
durch ihren Namen reizet, die mir nur denn gefaͤl-
let, wenn ſie neben andern ſtehet. Der Anblick,
das innere ſchnelle Gefuͤhl eines poetiſchen Bildes
muß das Herz entwenden: wer blos durch Verglei-
chungen, durch Parallelen Empfindung bekommt,
dem ſchadets nicht, wenn er keine habe.


Das ſchoͤnſte Bild eines Autors muß mit den
Worten, an der Stelle, das ſchoͤnſte ſeyn, da ers
ſaget, da es ſtehet: eine Blume, die in ihrem Erd-
reiche die natuͤrlichſte, die ſchoͤnſte iſt. Man wurzle
ſie aus, man verpflanze ſie unter zehn andre Gattun-
gen ihres Geſchlechts, aber nicht ihrer Art, ihres Him-
melſtrichs, ihres Bodens, und man hat ihren Platz,
ihre Natur, ihre beſte Schoͤnheit genommen. Je-
de Gattung der Poeſie, jeder eigenthuͤmliche Zweck
giebt auch dem Bilde Geiſt und Leben, nicht blos
Colorit und Gewand: man reiße es aus ſeinem Or-
te, aus ſeiner Verbindung, aus ſeiner Localwirkung,
und es iſt ein Schatten. Jmmer iſts ein Verderb
der Dichtkunſt geweſen, aus ihr Anthologien zu ſamm-
len, und faſt immer ein kalter Gebrauch des Dich-
ters, ihm einzelne Federn zu entrupfen, ſie mit an-
dern zuſammen zu legen: da wird, nach der alten
Fabel, die weißeſte Schwanfeder von der ſtruppich-
ten Adlersfeder verzehrt.


Jch koͤnnte zehn gegen ein Beiſpiel meines Au-
tors uͤber dieſen Parallelengeſchmack anfuͤhren; denn
es iſt ja ſein allerliebſter Geſchmack. Und fuͤr mich
immer
[245]Zweites Waͤldchen.
immer der kaͤlteſte. Solche Bilderchen an ſich ſind
Spielwerk: ſo hinter einander geſtellt, wer mag ſie
leſen? Er iſt auch ſehr unſicher. Der epiſche Dich-
ter giebt ſeinem Gedanken ein epiſches, der lyriſche
ein lyriſches, der dramatiſche ein dramatiſches Ge-
wand: jede Zeit, jede Sprache, jeder Zweck giebt
dem Bilde wieder ſeine eigne Farbe. Nun flicke
ein beleſener Mann von Geſchmacke eine Reihe ſol-
cher Bilder ohne Abſicht und Zweck an einander —
ein Bettlerrock! ein Harlekinsputz! Er iſt auch ſel-
ten weder erlaͤuternd, noch poetiſch. Jch koͤnnte
Beiſpiele geben, wie weit man uns mit ſolchem Ge-
ſchmacke wegerlaͤutern, und vom Tone des Poeten
fortleiten koͤnne. Man wird nie das Ganze eines
D chters, eines Gedichts recht innig fuͤhlen, recht
mit ſeiner Seele verfolgen, wenn man an Stellen
klebt. Mitten im Sonnenlichte wird man blind,
wenn man mit einer Menge Lichter, Lampen, Fa-
ckeln, Kerzen kommt, unter dem Vorwande, daß ei-
ne Reihe ſolcher Blendwerke hinter einander doch
recht ſchoͤn laſſe. Recht ſchoͤn fuͤr den, der Luſt hat.


Noch weniger kann ein Genie mit der geſchmacks-
vollen Erklaͤrungsmethode zufrieden ſeyn, die ich
den edlen Gemmengeſchmack nennen will. Jch lobe
die ſtillen, die edlen Verdienſte eines Lipperts um
den Geſchmack an den Antiken in Deutſchland;
aber Hr. Kl. ſollte kaum der Lobredner deſſelben ſeyn:
durch das Beiſpiel ſeines eignen Gebrauchs lobt er
Q 3ihn
[246]Kritiſche Waͤlder
ihn ſchwerlich. Welcher leidige Kram der meiſten
Gemmengelehrſamkeit in den klotziſchen Schriften!
Selten, daß er eine wichtige Stelle neu erlaͤutert:
oft, daß er muͤßig da ſteht, und oft, daß wir ihn
gar wegwuͤnſchen; denn er bringt uns aus dem poeti-
ſchen Tone des Ganzen. Der Cupido, der als
Kuͤnſtler vor dem Kopfe des Sokrates, Plato, Ho-
raz ſitzt, ſchnitze ihn, nur er verſtuͤmmle ihn nicht,
er ſchone ihm Naſ’ und Wange.


Ohne daß man mirs vordemonſtrire, erkenne
ich den vielfaͤltigen, nutzbaren Gebrauch der geſchnit-
tenen Steine, und wuͤnſchte bei der klotziſchen Schrift,
daß nicht blos der Nutzen der lippertſchen Daktylio-
thek ſo obenhin (denn das mehreſte neue Nutzbare
dieſer Schrift wird man bei Lippert ſelbſt, und viel-
leicht edler und einfaͤltiger finden) ſondern in man-
chen Proben ſo gezeigt waͤre, wie Demokrit die Be-
wegung demonſtrirte: naͤmlich, ich bewege mich
ſelbſt! Aber das muͤßte uns Hr. Klotz doch nicht
bereden wollen, daß bei Leſung der Dichter der An-
blick der Gemmen uns eigentlich poetiſchen Anblick
gewaͤhre. Eine Hauptfigur, eine Stellung, etwa
ein Charakter, ſo fern er ſich koͤrperlich aͤußert —
das kann die Kunſt ſchildern. Aber dem Dichter,
deſſen Blick immer aufs Ganze geht, wie der freie
Blick der Juno, der mit jedem einzelnen Bilde nur
auf die Hauptwirkung ſeiner Energie fort arbeitet:
der nicht fuͤr das Auge artige, ſpielende Figuren
und
[247]Zweites Waͤldchen.
und Puppen, und Bilder und Taͤndeleien, (wohin
unſre Zeit verfaͤllt:) ſondern fuͤr die Seele, fuͤr die
Einbildungskraft, fuͤr den Verſtand, fuͤr die Affek-
ten feurige Gedanken reden will, dem beruͤhrt ſie nur
immer den Saum ſeines Kleides. Will ſie ſich
an ihn haͤngen: ſoll ich bei jedem Bildchen Ho-
mers, Pindars und Horaz erſt nachſehen, wie denn
dieſer und jener alte Kuͤnſtler das Figurchen gebil-
det: ſoll ich hier lange klotziſche Compilationen durch-
laufen, wie es von einer andern Seite ausſehe —
hinderndes Saͤumniß! es haͤlt den Dichter auf,
und zerſtuͤckt ihn mit ſeinen Erlaͤuterungen; oder
dieſer gewaltige Laͤufer reißt ſich los, und eilt zu
ſeinem Ziele unaufhaltſam: der Gemmenzaͤhler aber
— da liegt er laͤngelang auf dem Ruͤcken!


Jnſonderheit bitte ich fuͤr den poetiſchen Juͤng-
ling im erſten feurigen Leſen eines Dichters: daß
man ihn doch da nicht mit ſchoͤnen Muͤnzerlaͤute-
rungen und Gemmeneinſichten in dem poetiſchen Lau-
fe ſeiner Einbildungskraft ſtoͤre! daß man ihn doch
nicht jeden Augenblick zuruͤck halte, um doch ein
Steinchen zu bemerken, und ihn vom ſuͤßen fortwal-
lenden Traume ſeiner Lieblingsidee zu wecken, und
die unaufhaltſame Ergießung ſeiner Seele augen-
blicklich zu verſtopfen. Jch mag nicht Caylus in
der Hand haben, wenn ich Homer leſe, und noch
weniger wuͤnſchte ich, ihn zur Hand gehabt zu ha-
Q 4ben,
[248]Kritiſche Waͤlder.
ben, da ich ihn das erſtemal las. Hr. Kl. a)
freue ſich in der Jdee, wie ſchoͤn ſich Virgil mit al-
len Erlaͤuterungen aus geſchnittenen Steinen muͤſſe
leſen laſſen: ich will ihn mir nicht ſo vorleſen laſſen.
Fuͤr mich liegt Horaz unter dem klotziſchen Commen-
tar, wie jener Rieſe unter einem Berge voll Lava
und Steine: ich finde ſeine Glieder zerſtuͤckt und
zerſtreuet, wie die Glieder jenes Abſyrthus. Jſts
denn nicht einmal Zeit, Gelehrſamkeit, Beleſenheit
und Kunſtgeſchmack ſchaͤtzen, und doch die Schran-
ken ihres Gebrauchs beſtimmen zu doͤrfen?


Damit der nicht ein Barbar heiße, der ſo et-
was ſagen darf: ſo rede der Quintilian Deutſch-
lands, der gelehrte Geßner b): „Seit dem die aus
„den Quellen ſelbſt geſchoͤpfte Gelehrſamkeit abzu-
„nehmen anfing; die ſeltner wurden, die jede Gat-
„tung alter Schriftſteller ſelbſt nachſchlugen; noch
„aber ſolche uͤbrig waren, die etwa Einen derſelben
„kennen und verſtehen mochten: ſeit dem entſtand
„das Auslegergeſchlecht, das aller Orten her, aus
„Gedaͤchtniß- und Denkmaalen zuſammenſchleppte,
„was nur etwa zur Erlaͤuterung deſſelben dienen
„koͤnnte; ſo daß die, denen der uͤbrige Vorrath von
„Gelehrſamkeit fehlte, die ſich nicht alles ſelbſt ver-
„ſchaffen konnten, was zur Erklaͤrung ſeines Sin-
„nes
[249]Zweites Waͤldchen.
„nes gehoͤrte, durch die Arbeit andrer unterſtuͤtzt,
„nichts miſſen doͤrften. — — Bei Wiederauf-
„lebung der Wiſſenſchaften fanden ſich Gelehrte, die
„durch weitlaͤuftige, und nach dem Geſchmacke der
„damaligen Zeit, weit und breit beleſene Vorleſun-
„gen die alten Schriftſteller erklaͤrten. Des Man-
„cinelli, Pomponii, Beroaldi, Calderini, Aſcen-
„ſii
Vorleſungen wurden mit großem Fleiße gehoͤ-
„ret, und noch jetzt fuͤllen ihre Baͤnde ganze Bi-
„bliotheken. Vor andern iſt hier die Muͤhſamkeit
„des Nic. Perotti bekannt, der, um Ein Buch Mar-
„tials zu erklaͤren, ganze Schaͤtze lateiniſcher Spra-
„che und Gelehrſamkeit ausſchuͤttete, und ein Cor-
„nu copiæ
gab, aus dem faſt alles geſammlet wer-
„den kann, was man jetzt aus Woͤrterbuͤchern
„ſammlet, und aus dem ſich auch die Woͤrterbuͤ-
„cher ſehr bereichert. — — Nachher gab Sal-
„maſius uns ſein ungeheueres Werk uͤber den Soli-
„nus; in dem er aber weder mit Gelehrſamkeit,
„noch Digreſſionen Maß wußte u. ſ. w. — —
„Dieſer Gewohnheit folgen oft die Lehrer der Phi-
„lologie, die zur Erklaͤrung eines Buchs, ſo viel
„ſie nur koͤnnen, den groͤßten Apparat von Gelehr-
„ſamkeit zuſammentragen, und nichts unangefuͤhrt
„laſſen, was ſich nur einiger maßen, auch nur durch
„Umſchweife, dahin wohlkoͤnnte ziehen laſſen. Feb-
„len einigen hiezu eingeſammlete Huͤlfsmittel —
„ei! die nehmen die Commentarios anderer, Woͤr-
Q 5„terbuͤ-
[250]Kritiſche Waͤlder.
„terbuͤcher, und ſolche Troͤſter zu Huͤlfe, und wiſſen
„es ſo weit zu bringen, daß man ihre Aufſaͤtze fuͤr
„große Schatzkammern anſehe. Moͤgen ſie doch!
„(Neque carbones eſſe dixerim equidem, ſagt
„Geßner: wer will, ſage es nach) oft aber kann
„man ſich ſolchen Reichthum mit minderm Zeitver-
„luſte ſammlen.„ Statt zu deuten, fahre ich in
Geßner fort: er redet jetzt eigentlich vom Zerbroͤ-
ckeln eines Autors in der Schule; allein der Scha-
de iſt uͤberall derſelbe.


„Wir wollen uns alſo einmal die Fabel jenes
„von ſeiner Schweſter zerſtuͤckten Abſyrthus geden-
„ken, und ſie uns vorſtellen, daß ſie ihren Bruder
„nicht glieder-ſondern gelenkweiſe zerhacket, und
„hier ein halbes Auge (die andre Haͤlfte liegt weit
„ab!) dort die Haͤlfte vom rechten Ohre, hier den
„dritten Theil der Naſe, dort ein Stuͤck vom Au-
„genbraune u. ſ. w. hingeworfen, alles weit aus
„einander geworfen haͤtte: wie doch? haͤtte der
„Vater auch wohl argwoͤhnen koͤnnen: das ſey ſein
„Sohn? Eben ſo wenig, als ein der Optik Uner-
„fahrner eine Anamorphoſe ſich wird ſammlen, und
„recht vors Auge bringen koͤnnen. Jſts aber
„nicht eben ſo mit der heutigen Erlaͤuterungsme-
„thode der claſſiſchen Schriſtſteller? jedes einzelne
„Wort erklaͤrt, die Perioden aus einander gezogen,
„jeden vierten Tag, ein kleines Penſum auf die
„Art in kleine Brocken zerſtuͤckt. Jſts moͤglich,
„daß
[251]Zweites Waͤldchen.
„daß ein Juͤngling auch von Seelenkraͤften, und
„gutem Gedaͤchtniſſe, dieſe mit Erklaͤrungen uͤber-
„ladnen und aufgedunſteten Theile, ſich ſo gegenwaͤr-
„tig erhalten, ſie ſo verbinden koͤnne, daß ein Koͤr-
„per, ich will nicht ſagen, ein ſchoͤner Koͤrper; nein!
„nur allenfalls ein Koͤrper, daraus werde; daß er
„nur, was er leſe, behalte, und daruͤber Rechen-
„ſchaft gebe.„ Geßner giebt Beiſpiele, die ei-
gentlich nicht fuͤr mich gehoͤren; ich erinnere mei-
ne Leſer daran: wie oft es moͤglich ſey, ſolcher-
geſtalt ſeinen Schriftſteller ſo ganz aus dem Ge-
ſichte zu verlieren, daß man endlich nichts min-
der, als ihn, erlaͤutert, anfuͤhret und kennet. Er
fahre fort:


„Auch daher, oder ich muͤßte mich ſehr irren,
„auch daher unter andern ruͤhrt der ſtupor pædago-
„gicus,
der faſt zum Sprichworte geworden, daß
„man Leute ſieht, die einen guten Theil ihres Lebens
„unter den weiſeſten Geiſtern von der Welt zubrin-
„gen, und doch daher nichts, als Worte, mitbrin-
„gen; ſtatt ihnen gleich zu werden; ſtatt, wie ſie,
„denken, ſchließen, reden zu lernen.


„Um ſo minder kann jemand bei ſolcher Lang-
„ſamkeit von der wahren Geſtalt und Schoͤnheit ei-
„nes Buchs einen Eindruck bekommen: denn, je
„lebhafter, um ſo verdruͤßlicher wirds ihm ſeyn,
„ſich zu bewegen, und nicht weiter zu kommen (ſe
„movere quidem, ſed non promovere)
inſon-
derheit
[252]Kritiſche Waͤlder.
„derheit da er, der Umſchweife wegen, eine Stelle,
„ein Bild zwei, drei, viermal hoͤren mußte.


„So wie aber bei ſolcher Zerſtuͤckung und
„Zertheilung der Begriff der Sache verlohren
„geht: ſo ermattet, oder erloͤſchet auch die Luſt zu
„leſen, die ſonſt vorzuͤglich dadurch erhalten und
„angefeuert wird, daß wir zu Ende eilen, daß wir
„den ganzen Verlauf zu wiſſen verlangen. Schon
„dieſer Reiz macht, daß Leute, die ſonſt uͤbrigens
„keine Leſeſucht haben, einen Telemach, Robinſon,
„Gulliver gleichſam verſchlingen, und ſie nicht weg-
„legen, ehe ſie zu Ende ſind; einen Homer, Virgil,
„Plautus, Terenz, Ovid, Sueton, Curtius hinge-
„gen, eben ſo angenehme Schriftſteller, erregen der
„Jugend Schauder, weil ſie nie ein betraͤchtliches
„Stuͤck, gleichſam in einem Othem weglieſet, um
„vom ganzen Koͤrper zu urtheilen, um durch die
„Erwartung des endlichen Ausfalles angefriſcht zu
„werden. — —


„Und gewiß durch ein ſo ſtaͤtiges, muͤhſames
„und aͤngſtliches Leſen wird man kaum die Alten
„verſtehen lernen. Wenige Worte haben einen ſo
„gewiſſen und beſtimmten Sinn, daß ſie uͤberall Ei-
„nerlei bedeuten: aus der Nachbarſchaft, aus dem
„Zuſammenhange der ganzen Rede, aus der Reihe
„der Sachen, bekommen ſie ihren Werth; anderswo,
„im Munde andrer Perſonen, in andrer Materie
„bedeu-
[253]Zweites Waͤldchen.
„bedeuten ſie anders. Um dies uͤberall zu verſte-
„hen; um es ſogleich zu erreichen, nicht, was ein
„Wort bedeuten koͤnne, ſondern bedeute, kann nicht
„anders, als durch vielfaches Fortleſen vieler Buͤ-
„cher, geſchehen u. ſ. w.„


Geßner redet noch weiter vom Schulgebrauche
fort: ich will nur hinzuſetzen, daß, wenn kaum der
Wortverſtand, kaum der gewoͤhnliche hiſtoriſche
Sinn bei ſolchen Commentarien und Erlaͤuterungen
erreicht werde: ei der erſte feurige ſchnelle Anblick,
der da bildet? ei das poetiſche Auge, das mit ei-
nem Adlersblicke aufs Ganze, und vom Ganzen auf
Theile hinlaͤuft? ei der edle unnennbare Sinn, der
allen fremden Plunder wegwirft, und hinzueilet,
das nackte ganze Bild vom Geiſte eines Autors zu
umarmen, zu lieben, anzubeten? Ei der? —


Er hoͤre den ſuͤßlallenden Autor a): „wenn
„man einem jungen Menſchen, dem die Natur eine
„feine Seele und ein empfindliches Herz gegeben,
„dieſe Steine zeigt, erklaͤrt, und ſie mit den home-
„riſchen Verſen vergleicht, welche Fruͤchte kann
„man ſich nicht von einem ſolchen Unterrichte ver-
„ſprechen! Die Erzaͤlung geht ſelbſt in Handlung
„uͤber: wir glauben nicht mehr die Geſchichte zu
„leſen, wir ſehen ſie ſelbſt mit an: wir wohnen den
„Auftritten bei: in der Einbildungskraft verſetzen
„wir
[254]Kritiſche Waͤlder.
„wir uns nach Troja, in das griechiſche Lager, und
„ſchauen die unſterblichen Helden von Angeſicht.
„Auf dieſe Art fuͤhlen wir das Nachdruͤckliche, das
„Erhabne, das Schoͤne der alten Dichter doppelt,
„und ein zartes Gemuͤth nimmt einen Eindruck an,
„den es beſtaͤndig behaͤlt, und der ſich in den edel-
„ſten Wirkungen aͤußert. Seitdem ich den Nep-
„tun geſehen, wie ihn die goͤttliche Kunſt eines al-
„ten Steinſchneiders abgebildet, hat der virgiliani-
„ſche Neptun in meiner Einbildung Leben und
„Seele bekommen. Vier Pferde — — o wer
kann den ſuͤßen Ton weiter hoͤren! Das alles wird
der poetiſche Juͤngling ſagen, das alles erſt, ſeit
du das Steinchen ſaheſt? So hatte der virgiliani-
ſche Neptun vorher nicht Leben und Seele? So gieng
bei dir die homeriſche Erzaͤlung nicht in Handlung
uͤber? Du ſaheſt ſie nicht ſelbſt? du wohnteſt nicht
den Auftritten bei? du warſt nicht in Troja? im
griechiſchen Lager? kannteſt die griechiſchen Helden
nicht blos von Angeſichte? ſondern von Seele, von
Seele? ſaheſt ſie ſprechen, Affektvoll ſprechen, han-
deln, wuͤten — — das alles ſaheſt du leſend nicht?
Nur vom Steine bekameſt du Eindruck? O du haͤt-
teſt Homer nicht leſen ſollen! bei mir lebte, da
ich las — Doch warum wollen wir den poetiſchen
Juͤngling weiter reden laſſen? Bei wem wird denn
die Schilderung Homers in allen Stellungen, Em-
pfindungen, Reden, Handlungen im fortgehen-
den
[255]Zweites Waͤldchen.
den Strome des Epos, denn mit den einzelnen
Bilderchen, die uns ein Abdruck gewaͤhrt, einer-
lei Wirkung thun? auch nur zu vergleichen ſeyn?
Und die ganze poetiſche Energie Homers? —


6.


Nochmals geſagt: man muͤſſe auch in Poeten
den Gebrauch ſo aller, ſo auch der Kunſtbeleſen-
heit (Kunſtkenntniß, Philoſophie der Kunſt, kann
ichs wohl bei Hrn. Klotzen kaum nennen) ſehr lo-
ben, wo er zu rechter Zeit kommt: aber daß eine
Jliade in Steinen mehr, als die in Verſen, des
poetiſchen Anblicks faͤhig, mehr als jene zur Bil-
dung eines Poeten, oder auch nur zur poetiſchen
Jlluſion mit jener gleich energiſch ſey, das wolle
mich niemand bereden. Kunſt gewaͤhrt Kunſt-
anblick; der iſt mit der ſucceſſiven Energie des
Dichters gar nicht einerlei, kaum zu vergleichen,
und Herr Klotz fechte immer in der Stille mit
dem Schatten des Laokoons, nie zu verwirren.
Jch wollte, daß Hr. Klotz durch ſeine Gelehrſam-
keit und Kunſterlaͤuterungen uns nie die Kraft des
Dichters, die ſich nur fortgehend aͤußert, geſtoͤret
haͤtte.


Jch ſchreibe uͤber Horaz: wer will, der hoͤre
mich von meiner Erklaͤrungsmethode dieſes Dich-
ters ſchwatzen. Zuerſt iſt das ausgemacht, daß
keiner
[256]Kritiſche Waͤlder.
keiner meiner Horazianer aus Horaz Latein oder
roͤmiſche Alterthuͤmer lernen ſolle. Lieber komme
ich jedem zuvor: lieber praͤvenire ich ihn unver-
merkt, mit der Welt, in der ich ihn fuͤhren will, mit
der Sprache, in der der Dichter ſprechen wird: un-
vermerkt ſuche ich ihm die ganze Situation unter-
zuſchieben, ihm den Pfad von Gedanken und Bil-
dern von weitem zu zeigen, wo wir den Dichter
finden werden. Jch fange an: und ohne Bemer-
kung einzelner Schoͤnheiten, ſchoͤner Ausdruͤcke,
gewaͤhlter Phraſes, jage ich ſeine Ode hinab; ich
fliege mit ihm, oder ſchwimme den Strom ſeines
Geſanges hinunter. Unlieb, wenn mich mein Zu-
hoͤrer ſtoͤrte, unlieb, wenn ſein Auge an Kleinig-
keiten hangen bliebe: denn ſo wuͤrde der ganze
Zweck des Dichters, die Art von Taͤuſchung geſtoͤrt,
in die mich ſein Geſang ſetzen ſoll. Jch bin dar-
inn geſetzt, ich bin zu Ende: das Ganze der Ode,
Ein Haupteindruck, in wenigen, aber maͤchtigen
Zuͤgen, lebt in meiner Seele: die Situation der ho-
raziſchen Ode ſteht mir vor Augen, und — mein
Buch iſt zu. Nicht vom Papiere, aus dem tiefen
Grunde meiner Seele hole ich dieſe wenigen, maͤch-
tigen Eindruͤcke hervor: mir iſt die Ode ein Gan-
zes der Empfindung geworden. Dies bewahre
ich: die wenigen zuſammenfließenden Zuͤge des
Bildes bleiben in meiner Seele: dies iſt Energie,
die mir die Muſe ſucceſſiv bereitet, ſie will ich um
keine
[257]Zweites Waͤldchen.
keine ſpaͤtere Divertiſſements in klotziſchen Com-
mentarien geben.


Das Buch wird wieder aufgeſchlagen, und
nun habe ich kleine Ruheplaͤtze, Ausſchweifungen,
Umwege aber nicht. Der Lauf des Dichters iſt
mir Augenmerk, und wenn ich mir ſage: hier war
der Geſichtspunkt — wie reich, wie praͤchtig, wie
anlockend! das alles nahm der Dichter ins Auge:
ſo mußte er anfangen, und fortfahren. Jenes
und dies kam dem Dichter in ſeinem Laufe zur
Hand, und wie ein Strom, in den ſich Stroͤme ſtuͤr-
zen, waͤlzt ſein Geſang ſich praͤchtiger fort. Hier
ein Fels: anprallend nahm er andern Weg, oder
ſchlaͤngelte ſich durchs gebluͤmte Thal: uͤberall aber
der Roͤmer, der Roͤmer ſeiner Zeit, als — Dich-
ter.
Jch ſage, wenn ich mir dies jetzt deutlicher
entwickle; ſo um des Gottes willen! denke ich an
keine Allgemeinregeln! an keinen Longin und Bat-
teux, an keine Faͤcher der Odenfabrik. Dieſer
Roͤmer, und dieſer Dichter, und dieſe Situation,
und dieſe Ode iſt mein Alles jetzt. So weit das
Odengenie und –


Noch denkts an keine Gelegenheit, ſelbſt —
wie? etwa Wortkritiken zu machen? etwa uͤber ei-
nen Geßner, eines kleinen Fehltritts wegen, ſei-
tenlang die Achſeln zu ziehen? etwa die Bentleys
und Baxters und Sanadons zu verlaͤumden? — o
Rwer
[258]Kritiſche Waͤlder.
wer wird noch an ſo etwas denken? Es denkt ſelbt
noch nicht an — eine Gelegenheit, dieſe Ode nach-
zubilden. „Das iſt viel! wird man ſagen,„ ja
das iſt viel! und vortrefflich, daß es an ſo etwas
nicht denkt. Einſt ſtoße ihm eine Situation auf:
Apollo wecke ihn mit der Leyer: er wird ſingen,
horaziſch oder — vielleicht mehr als horaziſch ſin-
gen; ohne aber, daß dem geneigten Leſer dabei
nichts, als Purpurlappen des Roͤmers, zu Geſichte
kaͤmen, ohne ihm die proelia virginum, und die
iras faciles und das mea virtute me involvo etwa
nachzulallen.


Nun gebe ich ihm einige ſogenannte Horatios
ſecundos
in die Hand. Er laͤuft die erſte Ode
durch a): „Ach der ganze Bau derſelben ſchon be-
„kannt; aber eins vermiſſe ich, Horaz den Bau-
„meiſter. Freilich ſind hier die fontes vitrei und der
in nemore obvius Amor, und die gaudia amanti-
„um,
und die riſus hilares, und die blandi oculi,
„und die colla lactea, und die mellea baſia,
„und die grata ſilentia — — alle dieſe horaziſche
Bluͤmchen ſind hier auf einen Haufen, aber ach!
zuſammengeleſen und verdorret. Hier aͤußert
ſich der ignis inſolitus, und die vis in pectore
nova
dadurch, daß der Dichter ſich in ſeiner er-
ſten
[259]Zweites Waͤldchen.
ſten poetiſchen Wuth — „nun! nicht etwa den
„Hals abſchneidet, oder ſich, wie jener loͤwenſche
„Romanzenpoet, mit dem Federmeſſer in die Au-
„gen laͤuft?„ So boͤſe nicht! daß er ſich ein Myr-
thenkraͤnzchen flechtet. Nichts mehr? noch etwas!
auf die Recommendation des Amors, (man denke!
aber er kannte das Naͤrrchen auch genau: es war
der Gemmenamor, alis conſpicuus Amor) auf die
Empfehlung deſſelben faͤngt der, der im Walde ru-
hig lag, auf einmal an, — ſeine lateiniſche Chloe
zu beſingen,


  • ihre ſchoͤne ſchwavze Augen,
  • ihre ſuͤße Honigkuͤſſe,
  • ihre leichte drohnde Minen,
  • ihre — —

kurz, hundert Dinge, die er auf die Empfehlung
Amors ſo unerhoͤrt und ungeſehen ſingen kann, als
der Ritter von der traurigen Geſtalt ſeine Dulci-
nea. Jch ſage ſingen; aber beſſer:


Die es ihm jetzt beliebt, in Verſen vorzutragen,

(juvat dicere verſibus.) Und dies beliebt ihm, ſo
oft die ſtille Nacht anbricht, ſo oft die Luna ihr
ſchoͤnes Haupt vorſtreckt, ſo oft es der Echo beliebt
nachzuſeufzen. — Mein unverdorbner Leſer Horaz
wirft ſolche Horaze zuruͤck, es fehlt ihnen Eins:
der Geiſt Horaz im Ganzen der Ode.


R 2Wer
[260]Kritiſche Waͤlder.

Wer aber kein Odengenie iſt? der ſoll wenig-
ſtens ein Juͤngling von Geſchmacke werden. So
ſang der Roͤmer, das iſt ſeine Welt; ſo wir nicht
— wer hat Vorzuͤge? So ſang Horaz: das iſt ſein
Wortbau, ſeine Lieblingsgegenſtaͤnde, ſeine beſten
Uebergaͤnge, die Compoſition ſeiner Gemaͤlde, die
Einpflanzung derſelben in dies und jenes Sylben-
maaß: dies waͤhlt er jetzt, dies irgendwo anders.
Nun endlich — wie ausgeſucht Alles! Gedanke,
Wendung, Ausdruck, Wort! das iſt ſeine Manier,
das iſt mein lieber Horaz! — Und wenn mein
Juͤngling auch von der Kritik Profeſſion machte:
wenn ich ihm auch nachher vollſtaͤndiges kritiſches
Geraͤth zur Hand legte, und die vornehmſten Ab-
wege der Kritiker zeigte — niemals weiche er doch
aus dem Gleiſe, aus der Odenilluſion des Dichters
— — Wie weit ſich Herr Klotz mit ſeinen bis-
herigen horaziſchen Werkchen um dieſe verdient
gemacht, beurtheile ein andrer.


7.


Jch ſchließe, und finde noͤthig, folgendes hinzu zu
ſetzen. Freilich habe ich diesmal, ſtatt in kritiſchen
Waͤldern, oft in kritiſchen nugis herumwandeln
muͤſſen: allein warum ſchreibt Hr. Klotz ſolche am
liebſten? warum hat er faſt nichts, als ſolche, ge-
ſchrie-
[261]Zweites Waͤldchen.
ſchrieben? warum ſpricht er bei ihnen in ſo vorneh-
men Tone? warum laͤßt man ſich von dieſem Tone
ſo uͤberſtimmen, daß man ſie als Offenbarungen
Apollo’s lobet?


Das muß uns freilich Herr Klotz nicht uͤberre-
den wollen, daß ſeine Verweiſe, und Lobſpruͤche auf
Homer, daß ſeine mythologiſchen Achtsſtralen, daß
ſeine ſchoͤne Kunſtvorſchlaͤge aus unſrer Religion,
daß ſeine Schamviſionen, daß ſeine horaziſchen
Einfaͤlle Etwas, auch nur einen Funken Neues
enthielten; blos den mittelmaͤßigſt beleſenen Leſer
kann ſeine Mine ſo Etwas uͤberreden. Aber daß
alle dieſe ſogenannten Alterthumsſchriften voll Feh-
ler und Jrrthuͤmer, und durchgaͤngig mit dem
ſeichteſten Urtheile abgefaſſet ſind: das will ich
nicht den Leſer uͤberreden, das mag er ſelbſt beur-
theilen.


Wie ich aber an dies Urtheil komme? Nicht
anders, als auf einem ſehr erlaubten Wege. Jch
habe nicht die Ehre, Herrn Klotz von Perſon zu
kennen, oder mit ihm in einiger Verbindung zu
ſtehen; aber ſeine Schriftchen habe ich geleſen, uͤber-
dacht, ſeicht gefunden, und endlich mich gewun-
dert, daß jemand ſie anders finden koͤnnen. Zwar
warum mich gewundert? mich ſelbſt hat beim er-
ſten Leſen die lateiniſche Sprache, und die leichte
R 3und
[262]Kritiſche Waͤlder
und doch ſo vornehme Mine blenden koͤnnen; aber
beim zweiten Leſen war der Duft verflogen, und
eben die Mine, mit der er ſeine Schrift uͤber das
Studium des Alterthums, ſeine Muͤnzenſchme-
ckereigeſchichte
u.ſ.w. ſchreiben — die gute deut-
ſche Ehrlichkeit, mit der ſo viele dieſe Mine haben
anſehen koͤnnen; freilich! die, und nichts mehr,
hat mich zu einem kritiſchen Spatziergange in ſei-
nen Schriften luͤſtern gemacht, mit dem ich fortzu-
fahren gedenke.


Jch habe eigentlich nicht fuͤr, auch nicht ge-
Gen
Hr. Klotz geſchrieben. Jſt aber jemand, der
meinen Gruͤnden Gegengruͤnde, und meinen Zwei-
feln Beweiſe entgegen ſetzen will: wohl! mein
Name iſt keine Suͤnde, ihn wolle man alſo nicht
errathen, oder weißagen; wenn aber meine Schrift
Suͤnde ſeyn ſoll, ſo bin ich der Erſte, ſie auf den
Erſten Wink zu pruͤfen; zu verdammen oder zu
vertheidigen. Nimmt aber Jemand zu dem elen-
den Mittel ſeine Zuflucht, die Sache in Perſonell-
vermuthungen, in leere Allgemeinſaͤtze, in Neben-
ſachen, oder gar in die Gegend des Laͤcherlichen,
oder der Poͤbelſchimpfe zu ſpielen: ſo erklaͤre ich
mich, daß ich dies als das ſicherſte Kennzeichen
vom Treffenden meines Urtheils anſehen, und ru-
hig fortfahren werde. Und uͤberhaupt habe ich zu
viel
[263]Zweites Waͤldchen.
viel Achtung gegen mich ſelbſt, als daß ich mit
dem Verfaſſer des Anti-Burmannus, des Funus
Petri Burmanni ſecundi,
der Rede des Milphio ad
compotores,
und des Schulmeiſtergedichts auf
den Tod Burmanns, einen gelehrten Streit fuͤh-
ren wollte; vielleicht wird das Publikum auch Et-
was von der Achtung gegen mich haben, mir einen
ſolchen Streit zu erlaſſen.



[[264]][[265]][[266]][[267]][[268]][[269]][[270]]
Notes
a)
Epiſt. Homer. Altenb. 1764.
a)
p. 5—24.
b)
p. 5. 6.
c)
p. 6. 7. conf. Act. litter. Vol. I. p. 245—49.
d)
p. 8. 9.
e)
p. 10—12.
f)
p. 12. 13.
g)
p. 13. 14.
h)
p. 15. 16.
i)
p. 16. 17.
k)
p. 18.
l)
p. 18.
a)
p. 19.
b)
p. 20—23.
c)
Fortunam Priami cantabo. Horat. A. P.
a)
Epiſt. Homer. p. 24.
a)
Epiſt. Homer. p. 24.
a)
p. 19. Jch weis dieſen Ausdruck, als gewoͤhnliche la-
teiniſche Phraſis; allein ich mag keine Phraſis, die eſ
urſpruͤnglich nicht war, die keine Wahrheit hinter ſich
hat.
a)
p. 24. \&c.
b)
p. 21 — 23.
c)
p. 24. 25.
a)
p. 24. 25. \&c.
a)
Leben der Mahler Th. I. p. 81. Eben der Tadel, nur
veraͤndert, iſt Voltaͤren und andern Franzoſen eigen,
und Hr. Leſſing hat zu verſchiednen malen die Sache
von der Seite des Drama in Beleuchtung genom-
men; ſ. Dramaturg. 1. und 2. Band hin und wieder.
a)
Geſchicht. der Kunſt und Anmerk. dazu, p. 42. etc.
a)
Iliad. ἁ v. 595.
a)
p. 25.
a)
Jch hoffe doch nicht, daß man mir Plato’s Urtheil
(de Republ. 1. 3.) dagegen anfuͤhren werde: denn
Plato will hier, wie er, oder Sokrates in andern
Stellen, keinen Ausleger Homers, ſondern den Mo-
raliſten, den Staatslehrer ſeiner Zeit aus Homer ma-
chen. Und ſchlimm gnug, wenn der Poͤbel der Grie-
chen dieſe Stelle ſo nahm, wenn er die Goͤtter ſich
hieraus als φιλογέλωτας dachte, und ihnen wenigſtens
im Gelaͤchter nachſtreben wollte!
a)
Τι λείψανον ένδιατρί [...]ειν, καὶ περι [...]ομ [...]εῖν τὰ ἆτα κα-
ϑάπερ ἠχώ τινα παρατείνουσαν τὴν ἀκρόασιν, καὶ ἴχνη
τῶν λόγων μελιχρὰ ἄττα κ. τ. λ. Lucian. εικον.
b)
p. 31.
c)
p. 31.
d)
p. 32.
a)
p. 25.
b)
Odyſſ. L. 18.
c)
Iliad. ά.
a)
p. 32. 33.
a)
Neue Bibl. d. ſch. W. 1 B. 2. St. p. 213.
a)
Epiſt. Hom. p. 33.
b)
p. 34. 35.
a)
Odyſſ. σ v. 1 — 106.
a)
Odyſſ. ς v. 65. \&c.
a)
p. 31.
a)
p. 36. \&c.
b)
p. 44-55.
a)
p. 55.
b)
Jch weiß, ohne die allſehende Muſe noͤ-
thig zu haben, daß Hr. Klotz Parentheſen liebt, in Ei-
ner wieder Eine, und in dieſer noch eine, und in der drit-
ten zur Noth noch eine vierte machen kann; iſt das aber
Anordnung? — Zu dem, damit ich auch eine Paren-
theſe mache, gebe ich dem ſeligen Geßner vor Hrn. Klotz,
wenigſtens bei mir, Recht, daß Ovids Proſerpine zu
nahe dem Kindiſchen
ſey, (nimis puella) ohne daß
daruͤber ein uͤberladnes Gericht Claudianſcher Mytholo-
gie gelobt werde.
a)
Act. liter. Vol. I. P. III. p. 250. \&c. Funccii de
lectione auctor. claſſicor. P. II.
b)
Epiſt. Hom. p. 58.
a)
ibid. p. 83. 84.
b)
Klotz Opuſc. Poet. — Car-
mina omnia,
und bei welchem Titel ihrer Titel man ſie
ſonſt nennen will.
a)
Epiſt. Hom. p. 82. 83.
a)
p. 58-86.
a)
p. 73 — 75. etc.
a)
Epiſt. Homer. p. 79.
a)
Parad. loſt B. IV.
a)
Geſch. d. Kunſt, p. 28.
a)
Parad. loſt. Book IV. v. 266.
a)
B. IV. v. 499.
b)
B. IV. v. 705.
a)
Daß Hr. Kl. ihn ſchwerlich ſo gekannt, koͤnnte ich
aus der offenbar ungerechten Anſchuldigung beweiſen.
Milton ſage hier nicht einmal ſein Salva Venia: vt
eſt in fabulis, vt poetae aiunt, aut alia eiusmo-
di, quibus excuſari illa poſſunt.
Zwar, wenn ers
auch nicht ſagte? Nun aber muß ja Hr. Kl. v. 705.
das though but feign’d nicht geleſen haben, und
wer wird eine Stelle anfuͤhren, die man nicht gele-
ſen hat?
a)
p. 56. bis 86. auf jeder Seite.
a)
Pro ingenii ſui — favebat maxime Zinzendor-
fianorum partibus, nihilque aliquoties propius
abfuit, quam vt eorum ſodalitati nomen daret.
Harleſ. vit. philolog. in vita Klotz. p. 184. P. I.
a)
Gorlitii cum eſſet, dixit ſaepius in villis ſubur-
banis pro ſacris roſtris ad populum, quod etiam
aliquoties in patria (
Ei ja!) ab illo factum eſt.
Harleſ. vit. philol. ibid.
a)
Der Meſſias Geſang; 6.
b)
Geſang 7.
a)
Epiſt. Homer. p. 86.
a)
p. 97. 98.
b)
Nord. Aufſeh. 3. B. St. 150.
a)
St. 172. 174. 186. Nord. Aufſeh. 3. Th.
a)
p. 108. 109.
a)
p. 115—122. Oſtendi uno, eoque ſatis illuſtri
exemplo, quomodo imitari poſſint noſtri artifi-
ces veterum monimenta
— iſt das nicht viel?
a)
p. 98. Ipſe Deus ſibi manus tribuit, dorſum, na-
ſum, pedes etc. iſt der Grund nicht buͤndig?
a)
p. 111. 112. Hr. Kl. hat fuͤr gut gefunden, bei der Ges
legenheit die Winkelmanniſche Beſchreibung Apollo’s
in ſein Latein hinzugießen.
a)
p. 120.
a)
Epiſt. Hom. p. 124 — 135.
b)
p. 124.
c)
p. 125.
d)
p. 125.
e)
p. 126.
f)
p. 127.
a)
p. 126.
a)
p. 127. 128. etc.
a)
Jch fuͤhre nur Eins an, den Rambler, eine Schrift
voll Menſchenkenhtniß, und voll ſchlaͤfriger Allege-
tien.
a)
p. 136 — 144.
b)
p. 144 — 147.
c)
p. 148 — 158.
d)
p. 158 — 188.
e)
Erneſt. Opuſc. philol. critic. p. 126. Die Cita-
tion dieſes Stuͤcks im Indice des genannten Buchs
iſt zu corrigiren.
a)
p. 188 — 223.
b)
Viert. Geſang p. 120.
c)
p. 224. — 23[2].
a)
p. 233 — 51.
b)
p. 251 — 67.
c)
p. 274. \&c.
d)
p. 271 — 81.
a)
p. 282.
a)
De verecundia Virgilii. v. Klotz. opuſc. var.
argum. p. 242. \&c.
b)
p. 242 — 44.
a)
p. [...]49.
a)
Quod ad animum quidem attinet, aliquoties il-
lius imaginem carminibus intexuit. Nam \&
in Opuſc. poet. Humana inquit fortis ſubjiciam
mihi \&c.
p.
172. 73. 74. 75. 76. 77. 78.
a)
Gleims Lieder Th. 1. p. 2.
b)
p. 23.
c)
p. 29.
a)
p. 16.
b)
p. 3.
c)
p. 3.
d)
p. 3.
e)
p. 19.
f)
p. 39. Jm Ernſte
weiß ich, daß ein ſehr erbaulicher Schriftſteller ſich
uͤber die Worte:
Soll ich mir den Himmel wuͤnſchen?
Nein! dann wuͤnſcht’ ich ja zu ſterben!
recht fromm geaͤrgert, und ſich gegen die Neckereien
mit
f)
mit dem Tode auch in ſeinen bloßen Todesſchriften oft
gnug erklaͤret.
a)
p. 151 — 152.
a)
Kants Betrachtungen uͤber das Schoͤne und Erha-
bene. p. 61 – 65.
a)
p. 254.
a)
Inſtit. orator. VIII. 3.
a)
p. 264.
a)
Daß ich nicht der Erſte bin, der das in Homer fin-
det, mag Maximas Tyrius zeigen, der in ſeiner
zweiten Rede von der. Sokratiſchen Liebe die Liebes-
epiſoden in Homer genau und charaktermaͤßig claßi-
ficirt.
a)
Iliad. Ξ’ v. 346.
a)
Eſſays and Treatiſes of ſeveral Subjects. Vol. 1.
Eſlai XVII. p.
192.
a)
Lowth de ſacra Poeſi Hebræor, Præl. VIII.
p.
135.
a)
Eſſays Vol. I. on the Riſe of Arts and Scien-
ces, p. 181. \&c.
a)
Harles de verecundia Homer. libell. promiſſus.
b)
Ueber die Sitten der griechiſchen Dichter Th. I.
a)
p. 264. de verecund. Virgil.
a)
p. 269. 270.
a)
Opuſc. var. argum. p. 242—244.
a)
p. 244. 245.
b)
p. 245. 246.
c)
247. 248.
a)
p. 248. 249.
b)
249.
c)
250.
a)
p. 250. 251.
b)
p. 252. 253.
a)
p. 254.
b)
p. 254.
c)
p. 255 - 266.
a)
p. 266-273.
a)
p. 255.
a)
p. 256.
b)
p. 261 — 263.
a)
p. 264.
b)
Iliad. [...].
c)
Aeneid. VIII.
a)
p. 266.
a)
268. 69.
a)
p. 244.
b)
p. 245.
a)
p. 245.
a)
v. Hein. Virgil. p. CXVII.
a)
Llb. VIII. 56.
a)
Apul. Apolog.
a)
Opuſc. var. arg. p. 249.
a)
Eclog. II. p. 14. etc.
a)
Klotz. vindic. Horat. Flacc.
a)
p. 18 — 23.
a)
p. 33 etc.
a)
p. 95. etc.
a)
p. 119. feq.
b)
p. 249.
a)
p. 118. ſeq.
b)
p. 110.
a)
Einleit. ins N. T. S. 15.
b)
Großley Nachrichten von Jtalien.
a)
Vindic. p. 65. 66.
a)
p. 66.
a)
p. 63.
a)
p. 62. 62.
b)
Von Nachahm. der griech. Sylbenmaße. Meſ-
ſias
B. 2.
a)
p. 77 — 82.
a)
p. 69.
b)
p. 93.
a)
p. 94.
a)
p. 112.
a)
p. 122.
a)
p. 51. 52.
a)
Opuſc. var. argum. p. 114.
b)
Audacia et fertilitas ſaepe ſcriptoribus tributa:
audacia poetis neceſſaria: etc.
a)
p. 130 — 40.
a)
p. 130.
a)
p. 131.
a)
p. 132.
a)
p. 135.
a)
p. 136.
a)
p. 136.
a)
p. 136.
b)
Klotz. act. litter. Vol. I. p. 122.
a)
Klotz. act. lit. Vol. II. p. 151.
b)
Act. lit. Vol. I. p. 24.
a)
Klotz. act. litt. Vol I. p. 128.
b)
Opuſc. p. 137.
a)
p. 138.
b)
p. 130. 135. \&c. conf. mit Batteux Einleit. 3. B.
p. 20 21.
a)
Ueber den Gebrauch der geſchnittnen Steine hin und
wieder.
b)
Præf. in Liv.
a)
Ueber die geſchn. Steine.
a)
Klotz carm. omn. Carm. I.

Lizenz
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Kritische Wälder. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnn9.0