Dramaturgie.
In Commiſſion bey J. H. Cramer,in Bremen.:
[][]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ankuͤndigung.
Es wird ſich leicht errathen laſſen, daß die
neue Verwaltung des hieſigen Theaters
die Veranlaſſung des gegenwaͤrtigen Blattes
iſt.
Der Endzweck deſſelben ſoll den guten Abſich-
ten entſprechen, welche man den Maͤnnern, die
ſich dieſer Verwaltung unterziehen wollen, nicht
anders als beymeſſen kann. Sie haben ſich ſelbſt
hinlaͤnglich daruͤber erklaͤrt, und ihre Aeuſſerun-
gen ſind, ſowohl hier, als auswaͤrts, von dem
feinern Theile des Publikums mit dem Beyfalle
aufgenommen worden, den jede freywillige Be-
foͤrderung des allgemeinen Beſten verdienet, und
zu unſern Zeiten ſich verſprechen darf.
*Frey-
[]
Freylich giebt es immer und uͤberall Leute,
die, weil ſie ſich ſelbſt am beſten kennen, bey jedem
guten Unternehmen nichts als Nebenabſichten
erblicken. Man koͤnnte ihnen dieſe Beruhigung
ihrer ſelbſt gern goͤnnen; aber, wenn die ver-
meinten Nebenabſichten ſie wider die Sache ſelbſt
auf bringen; wenn ihr haͤmiſcher Neid, um jene
zu vereiteln, auch dieſe ſcheitern zu laſſen, be-
muͤht iſt: ſo muͤſſen ſie wiſſen, daß ſie die ver-
achtungswuͤrdigſten Glieder der menſchlichen
Geſellſchaft ſind.
Gluͤcklich der Ort, wo dieſe Elenden den Ton
nicht angeben; wo die groͤßere Anzahl wohlge-
ſinnter Buͤrger ſie in den Schranken der Ehr-
erbietung haͤlt, und nicht verſtattet, daß das
Beſſere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen,
und patriotiſche Abſichten ein Vorwurf ihres
ſpoͤttiſchen Aberwitzes werden!
So gluͤcklich ſey Hamburg in allem, woran
ſeinem Wohlſtande und ſeiner Freyheit gelegen:
denn es verdienet, ſo gluͤcklich zu ſeyn!
Als Schlegel, zur Aufnahme des daͤniſchen
Theaters, — (ein deutſcher Dichter des daͤniſchen
Thea-
[] Theaters!) — Vorſchlaͤge that, von welchen es
Deutſchland noch lange zum Vorwurfe gereichen
wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht wor-
den, ſie zur Aufnahme des unſrigen zu thun:
war dieſes der erſte und vornehmſte, 〟daß man
〟den Schauſpielern ſelbſt die Sorge nicht uͤber-
〟laſſen muͤſſe, fuͤr ihren Verluſt und Gewinnſt
〟zu arbeiten.〟 (*) Die Principalſchaft unter
ihnen hat eine freye Kunſt zu einem Handwerke
herabgeſetzt, welches der Meiſter mehrentheils
deſto nachlaͤßiger und eigennuͤtziger treiben laͤßt,
je gewiſſere Kunden, je mehrere Abnaͤhmer, ihm
Nothdurft oder Luxus verſprechen.
Wenn hier alſo bis itzt auch weiter noch nichts
geſchehen waͤre, als daß eine Geſellſchaft von
Freunden der Buͤhne Hand an das Werk ge-
legt, und nach einem gemeinnuͤtzigen Plane
arbeiten zu laſſen, ſich verbunden haͤtte: ſo waͤre
dennoch, blos dadurch, ſchon viel gewonnen.
Denn aus dieſer erſten Veraͤnderung koͤnnen,
auch bey einer nur maͤßigen Beguͤnſtigung des
Publikums, leicht und geſchwind alle andere
* 2Ver-
[] Verbeſſerungen erwachſen, deren unſer Theater
bedarf.
An Fleiß und Koſten wird ſicherlich nichts
geſparet werden: ob es an Geſchmack und Ein-
ſicht fehlen duͤrfte, muß die Zeit lehren. Und
hat es nicht das Publikum in ſeiner Gewalt,
was es hierinn mangelhaft finden ſollte, abſtellen
und verbeſſern zu laſſen? Es komme nur, und
ſehe und hoͤre, und pruͤfe und richte. Seine
Stimme ſoll nie geringſchaͤtzig verhoͤret, ſein
Urtheil ſoll nie ohne Unterwerfung vernommen
werden!
Nur daß ſich nicht jeder kleine Kritikaſter fuͤr
das Publikum halte, und derjenige, deſſen Er-
wartungen getaͤuſcht werden, auch ein wenig
mit ſich ſelbſt zu Rathe gehe, von welcher Art
ſeine Erwartungen geweſen. Nicht jeder Lieb-
haber iſt Kenner; nicht jeder, der die Schoͤn-
heiten Eines Stuͤcks, das richtige Spiel Eines
Acteurs empfindet, kann darum auch den Werth
aller andern ſchaͤtzen. Man hat keinen Ge-
ſchmack, wenn man nur einen einſeitigen Ge-
ſchmack hat; aber oft iſt man deſto partheyiſcher.
Der
[] Der wahre Geſchmack iſt der allgemeine, der
ſich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet,
aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent-
zuͤcken erwartet, als ſie nach ihrer Art gewaͤhren
kann.
Der Stuffen ſind viel, die eine werdende
Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu
durchſteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne iſt
von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher Weiſe, noch weiter
entfernt: und ich fuͤrchte ſehr, daß die deutſche
mehr dieſes als jenes iſt.
Alles kann folglich nicht auf einmal geſchehen.
Doch was man nicht wachſen ſieht, findet man
nach einiger Zeit gewachſen. Der Langſamſte,
der ſein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret,
geht noch immer geſchwinder, als der ohne Ziel
herum irret.
Dieſe Dramaturgie ſoll ein kritiſches Regiſter
von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und
jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl
des Dichters, als des Schauſpielers, hier thun
wird. Die Wahl der Stuͤcke iſt keine Kleinig-
keit: aber Wahl ſetzt Menge voraus; und wenn
* 3nicht
[] nicht immer Meiſterſtuͤcke aufgefuͤhret werden
ſollten, ſo ſieht man wohl, woran die Schuld
liegt. Indeß iſt es gut, wenn das Mittelmaͤßige
fuͤr nichts mehr ausgegeben wird, als es iſt;
und der unbefriedigte Zuſchauer wenigſtens
daran urtheilen lernt. Einem Menſchen von
geſundem Verſtande, wenn man ihm Geſchmack
beybringen will, braucht man es nur aus einan-
der zu ſetzen, warum ihm etwas nicht gefallen
hat. Gewiſſe mittelmaͤßige Stuͤcke muͤſſen auch
ſchon darum beybehalten werden, weil ſie gewiſſe
vorzuͤgliche Rollen haben, in welchen der oder
jener Acteur ſeine ganze Staͤrke zeigen kann.
So verwirft man nicht gleich eine muſikaliſche
Kompoſition, weil der Text dazu elend iſt.
Die groͤßte Feinheit eines dramatiſchen Rich-
ters zeiget ſich darinn, wenn er in jedem Falle
des Vergnuͤgens und Mißvergnuͤgens, unfehlbar
zu unterſcheiden weiß, was und wie viel davon
auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau-
ſpielers, zu ſetzen ſey. Den einen um etwas
tadeln, was der andere verſehen hat, heißt beyde
verderben. Jenem wird der Muth benommen,
und dieſer wird ſicher gemacht.
Be-
[]
Beſonders darf es der Schauſpieler verlan-
gen, daß man hierinn die groͤßte Strenge und
Unpartheylichkeit beobachte. Die Rechtferti-
gung des Dichters kann jederzeit angetreten
werden; ſein Werk bleibt da, und kann uns
immer wieder vor die Augen gelegt werden.
Aber die Kunſt des Schauſpielers iſt in ihren
Werken tranſitoriſch. Sein Gutes und Schlim-
mes rauſchet gleich ſchnell vorbey; und nicht
ſelten iſt die heutige Laune des Zuſchauers mehr
Urſache, als er ſelbſt, warum das eine oder
das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen
gemacht hat.
Eine ſchoͤne Figur, eine bezaubernde Mine,
ein ſprechendes Auge, ein reitzender Tritt, ein
lieblicher Ton, eine melodiſche Stimme: ſind
Dinge, die ſich nicht wohl mit Worten aus-
druͤcken laſſen. Doch ſind es auch weder die
einzigen noch groͤßten Vollkommenheiten des
Schauſpielers. Schaͤtzbare Gaben der Natur,
zu ſeinem Berufe ſehr noͤthig, aber noch lange
nicht ſeinen Beruf erfuͤllend! Er muß uͤberall
mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem
Dich-
[] Dichter etwas Menſchliches wiederfahren iſt,
fuͤr ihn denken.
Man hat allen Grund, haͤufige Beyſpiele
hiervon ſich von unſern Schauſpielern zu ver-
ſprechen. — Doch ich will die Erwartung des
Publikums nicht hoͤher ſtimmen. Beide ſcha-
den ſich ſelbſt: der zu viel verſpricht, und der zu
viel erwartet.
Heute geſchieht die Eroͤffnung der Buͤhne.
Sie wird viel entſcheiden; ſie muß aber nicht
alles entſcheiden ſollen. In den erſten Tagen
werden ſich die Urtheile ziemlich durchkreuzen.
Es wuͤrde Muͤhe koſten, ein ruhiges Gehoͤr zu
erlangen. — Das erſte Blatt dieſer Schrift ſoll
daher nicht eher, als mit dem Anfange des
kuͤnftigen Monats erſcheinen.
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Erſtes Stuͤck.
Das Theater iſt den 22ſten vorigen Monats
mit dem Trauerſpiele, Olint und So-
phronia, gluͤcklich eroͤfnet worden.
Ohne Zweifel wollte man gern mit einem
deutſchen Originale anfangen, welches hier noch
den Reitz der Neuheit habe. Der innere Werth
dieſes Stuͤckes konnte auf eine ſolche Ehre keinen
Anſpruch machen. Die Wahl waͤre zu tadeln,
wenn ſich zeigen lieſſe, daß man eine viel beſſere
haͤtte treffen koͤnnen.
Olint und Sophronia iſt das Werk eines jun-
gen Dichters, und ſein unvollendet hinterlaſſenes
Werk. Cronegk ſtarb allerdings fuͤr unſere
Buͤhne zu fruͤh; aber eigentlich gruͤndet ſich ſein
ARuhm
[2] Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile
ſeiner Freunde, fuͤr dieſelbe noch haͤtte leiſten
koͤnnen, als was er wirklich geleiſtet hat. Und
welcher dramatiſche Dichter, aus allen Zeiten
und Nationen, haͤtte in ſeinem ſechs und zwan-
zigſten Jahre ſterben koͤnnen, ohne die Kritik
uͤber ſeine wahren Talente nicht eben ſo zweifel-
haft zu laſſen?
Der Stoff iſt die bekannte Epiſode beym Taſſo.
Eine kleine ruͤhrende Erzehlung in ein ruͤhrendes
Drama umzuſchaffen, iſt ſo leicht nicht. Zwar
koſtet es wenig Muͤhe, neue Verwickelungen zu
erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen
auszudehnen. Aber zu verhuͤten wiſſen, daß
dieſe neue Verwickelungen weder das Intereſſe
ſchwaͤchen, noch der Wahrſcheinlichkeit Eintrag
thun; ſich aus dem Geſichtspunkte des Erzehlers
in den wahren Standort einer jeden Perſon ver-
ſetzen koͤnnen; die Leidenſchaften, nicht beſchrei-
ben, ſondern vor den Augen des Zuſchauers ent-
ſtehen, und ohne Sprung, in einer ſo illuſori-
ſchen Stetigkeit wachſen zu laſſen, daß dieſer ſym-
pathiſiren muß, er mag wollen oder nicht: das iſt
es, was dazu noͤthig iſt; was das Genie, ohne
es zu wiſſen, ohne es ſich langweilig zu erklaͤren,
thut, und was der blos witzige Kopf nachzu-
machen, vergebens ſich martert.
Taſſo
[3]
Taſſo ſcheinet, in ſeinem Olint und Sophronia,
den Virgil, in ſeinem Niſus und Euryalus, vor
Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in
dieſen die Staͤrke der Freundſchaft geſchildert
hatte, wollte Taſſo in jenen die Staͤrke der Liebe
ſchildern. Dort war es heldenmuͤthiger Dienſt-
eifer, der die Probe der Freundſchaft veran-
laßte: hier iſt es die Religion, welche der Liebe
Gelegenheit giebt, ſich in aller ihrer Kraft zu
zeigen. Aber die Religion, welche bey dem
Taſſo nur das Mittel iſt, wodurch er die Liebe
ſo wirkſam zeiget, iſt in Cronegks Bearbeitung
das Hauptwerk geworden. Er wollte den
Triumph dieſer, in den Triumph jener veredeln.
Gewiß, eine fromme Verbeſſerung — weiter aber
auch nichts, als fromm! Denn ſie hat ihn ver-
leitet, was bey dem Taſſo ſo ſimpel und natuͤr-
lich, ſo wahr und menſchlich iſt, ſo verwickelt
und romanenhaft, ſo wunderbar und himmliſch
zu machen, daß nichts daruͤber!
Beym Taſſo iſt es ein Zauberer, ein Kerl,
der weder Chriſt noch Mahomedaner iſt, ſondern
ſich aus beiden Religionen einen eigenen Aber-
glauben zuſammengeſponnen hat, welcher dem
Aladin den Rath giebt, das wunderthaͤtige
Marienbild aus dem Tempel in die Moſchee zu
bringen. Warum machte Cronegk aus dieſem
Zauberer einen mahomedaniſchen Prieſter?
A 2Wenn
[4] Wenn dieſer Prieſter in ſeiner Religion nicht
eben ſo unwiſſend war, als es der Dichter zu ſeyn
ſcheinet, ſo konnte er einen ſolchen Rath unmoͤg-
lich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder
in ihren Moſcheen. Cronegk verraͤth ſich in
mehrern Stuͤcken, daß ihm eine ſehr unrichtige
Vorſtellung von dem mahomedaniſchen Glauben
beygewohnet. Der groͤbſte Fehler aber iſt, daß
er eine Religion uͤberall des Polytheismus ſchul-
dig macht, die faſt mehr als jede andere auf die
Einheit Gottes dringet. Die Moſchee heißt
ihm 〟ein Sitz der falſchen Goͤtter,〟 und den
Prieſter ſelbſt laͤßt er ausrufen:
〟So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und
Strafe ruͤſten,
〟Ihr Goͤtter? Blitzt, vertilgt, das freche Volk
der Chriſten!
Der ſorgſame Schauſpieler hat in ſeiner Tracht
das Coſtume, vom Scheitel bis zur Zehe, genau
zu beobachten geſucht; und er muß ſolche Unge-
reimtheiten ſagen!
Beym Taſſo koͤmmt das Marienbild aus der
Moſchee weg, ohne daß man eigentlich weiß,
ob es von Menſchenhaͤnden entwendet worden,
oder ob eine hoͤhere Macht dabey im Spiele ge-
weſen. Cronegk macht den Olint zum Thaͤter.
Zwar verwandelt er das Marienbild in 〟ein
Bild
[5] Bild des Herrn am Kreuz;〟 aber Bild iſt Bild,
und dieſer armſelige Aberglaube giebt dem Olint
eine ſehr veraͤchtliche Seite. Man kann ihm
unmoͤglich wieder gut werden, daß er es wagen
koͤnnen, durch eine ſo kleine That ſein Volk an
den Rand des Verderbens zu ſtellen. Wenn er
ſich hernach freywillig dazu bekennet: ſo iſt es
nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Groß-
muth. Beym Taſſo laͤßt ihn blos die Liebe die-
ſen Schritt thun; er will Sophronien retten,
oder mit ihr ſterben; mit ihr ſterben, blos um
mit ihr zu ſterben; kann er mit ihr nicht Ein
Bette beſteigen, ſo ſey es Ein Scheiterhaufen;
an ihrer Seite, an den nehmlichen Pfahl gebun-
den, beſtimmt, von dem nehmlichen Feuer ver-
zehret zu werden, empfindet er blos das Gluͤck
einer ſo ſuͤßen Nachbarſchaft, denket an nichts,
was er jenſeit dem Grabe zu hoffen habe, und
wuͤnſchet nichts, als daß dieſe Nachbarſchaft
noch enger und vertrauter ſeyn moͤge, daß er
Bruſt gegen Bruſt druͤcken, und auf ihren Lip-
pen ſeinen Geiſt verhauchen duͤrfe.
Dieſer vortreffliche Kontraſt zwiſchen einer
lieben, ruhigen, ganz geiſtigen Schwaͤrmerinn,
und einem hitzigen, begierigen Juͤnglinge, iſt
beym Cronegk voͤllig verlohren. Sie ſind beide
von der kaͤlteſten Einfoͤrmigkeit; beide haben
nichts als das Maͤrterthum im Kopfe; und nicht
A 3genug,
[6] genug, daß Er, daß Sie, fuͤr die Religion
ſterben wollen; auch Evander wollte, auch Se-
rena haͤtte nicht uͤbel Luſt dazu.
Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen,
welche, wohl behalten, einen angehenden tragiſchen
Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann.
Die eine betrift das Trauerſpiel uͤberhaupt.
Wenn heldenmuͤthige Geſinnungen Bewunde-
rung erregen ſollen: ſo muß der Dichter nicht
zu verſchwenderiſch damit umgehen; denn was
man oͤfters, was man an mehrern ſieht, hoͤret
man auf zu bewundern. Hierwider hatte ſich
Cronegk ſchon in ſeinem Codrus ſehr verſuͤndi-
get. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum frey-
willigen Tode fuͤr daſſelbe, haͤtte den Codrus
allein auszeichnen ſollen: er haͤtte als ein einzel-
nes Weſen einer ganz beſondern Art da ſtehen
muͤſſen, um den Eindruck zu machen, welchen
der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber
Eleſinde und Philaide, und Medon, und wer
nicht? ſind alle gleich bereit, ihr Leben dem Va-
terlande aufzuopfern; unſere Bewunderung wird
getheilt, und Codrus verlieret ſich unter der Men-
ge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia
Chriſt iſt, das alles haͤlt gemartert werden und
ſterben, fuͤr ein Glas Waſſer trinken. Wir hoͤren
dieſe frommen Bravaden ſo oft, aus ſo verſchie-
denem Munde, daß ſie alle Wirkung verlieren.
Die
[7]
Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche
Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben
ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir
zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun-
den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder
Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth,
mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie-
genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines
Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen
itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah-
ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo
ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn-
nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die
Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir
die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er-
blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den
angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will.
Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei-
nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten
und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er
ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit
ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der
Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht
freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe!
Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu,
und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann
darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß
es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn
konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-
ten,
[8] ten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus
der Moſchee wieder zu entwenden. Es entſchul-
diget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben,
wo ein ſolcher Aberglaube allgemein war, und
bey vielen guten Eigenſchaften beſtehen konnte;
daß es noch Laͤnder giebt, wo er der frommen
Einfalt nichts befremdendes haben wuͤrde.
Denn er ſchrieb ſein Trauerſpiel eben ſo wenig
fuͤr jene Zeiten, als er es beſtimmte, in Boͤh-
men oder Spanien geſpielt zu werden. Der
gute Schriftſteller, er ſey von welcher Gattung
er wolle, wenn er nicht blos ſchreibet, ſeinen
Witz, ſeine Gelehrſamkeit zu zeigen, hat immer
die Erleuchteſten und Beſten ſeiner Zeit und ſei-
nes Landes in Augen, und nur was dieſen ge-
fallen, was dieſe ruͤhren kann, wuͤrdiget er zu
ſchreiben. Selbſt der dramatiſche, wenn er ſich
zu dem Poͤbel herablaͤßt, laͤßt ſich nur darum zu
ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu beſſern;
nicht aber ihn in ſeinen Vorurtheilen, ihn in
ſeiner unedeln Denkungsart zu beſtaͤrken.
Ham-
[[9]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zweytes Stuͤck.
Noch eine Anmerkung, gleichfalls das chriſt-
liche Trauerſpiel betreffend, wuͤrde uͤber
die Bekehrung der Clorinde zu machen
ſeyn. So uͤberzeugt wir auch immer von den un-
mittelbaren Wirkungen der Gnade ſeyn moͤgen, ſo
wenig koͤnnen ſie uns doch auf dem Theater gefal-
len, wo alles, was zu dem Charakter der Perſonen
gehoͤret, aus den natuͤrlichſten Urſachen entſprin-
gen muß. Wunder dulden wir da nur in der
phyſikaliſchen Welt; in der moraliſchen muß
alles ſeinen ordentlichen Lauf behalten, weil das
Theater die Schule der moraliſchen Welt ſeyn
ſoll. Die Bewegungsgruͤnde zu jedem Ent-
ſchluſſe, zu jeder Aenderung der geringſten Ge-
danken und Meynungen, muͤſſen, nach Maaß-
gebung des einmal angenommenen Charakters,
genau gegen einander abgewogen ſeyn, und jene
muͤſſen nie mehr hervorbringen, als ſie nach der
Bſtreng-
[10] ſtrengſten Wahrheit hervor bringen koͤnnen.
Der Dichter kann die Kunſt beſitzen, uns, durch
Schoͤnheiten des Detail, uͤber Mißverhaͤltniſſe
dieſer Art zu taͤuſchen; aber er taͤuſcht uns nur
einmal, und ſobald wir wieder kalt werden,
nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau-
ſchet hat, zuruͤck. Dieſes auf die vierte Scene
des dritten Akts angewendet, wird man finden,
daß die Reden und das Betragen der Sophronia
die Clorinde zwar zum Mitleiden haͤtte bewegen
koͤnnen, aber viel zu unvermoͤgend ſind, Bekeh-
rung an einer Perſon zu wirken, die gar keine
Anlage zum Enthuſiasmus hat. Beym Taſſo
nimmt Clorinde auch das Chriſtenthum an; aber
in ihrer letzten Stunde; aber erſt, nachdem ſie
kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern dieſem
Glauben zugethan geweſen: feine, erhebliche
Umſtaͤnde, durch welche die Wirkung einer hoͤ-
hern Macht in die Reihe natuͤrlicher Begeben-
heiten gleichſam mit eingeflochten wird. Nie-
mand hat es beſſer verſtanden, wie weit man in
dieſem Stuͤcke auf dem Theater gehen duͤrfe, als
Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle
Seele des Zamor, durch Beyſpiel und Bitten,
durch Großmuth und Ermahnungen beſtuͤrmet,
und bis in das Innerſte erſchuͤttert worden, laͤßt
er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren
Bekennern er ſo viel Großes ſieht, mehr vermu-
then, als glauben. Und vielleicht wuͤrde Vol-
taire
[11] taire auch dieſe Vermuthung unterdruͤckt haben,
wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers
etwas haͤtte geſchehen muͤſſen.
Selbſt der Polyeukt des Corneille iſt, in Ab-
ſicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und
wenn es ſeine Nachahmungen immer mehr ge-
worden ſind, ſo duͤrfte die erſte Tragoͤdie, die
den Namen einer chriſtlichen verdienet, ohne
Zweifel noch zu erwarten ſeyn. Ich meyne ein
Stuͤck, in welchem einzig der Chriſt als Chriſt
uns intereſſiret. — Iſt ein ſolches Stuͤck aber
auch wohl moͤglich? Iſt der Charakter des wah-
ren Chriſten nicht etwa ganz untheatraliſch?
Streiten nicht etwa die ſtille Gelaſſenheit, die
unveraͤnderliche Sanftmuth, die ſeine weſent-
lichſten Zuͤge ſind, mit dem ganzen Geſchaͤfte der
Tragoͤdie, welches Leidenſchaften durch Leiden-
ſchaften zu reinigen ſucht? Widerſpricht nicht
etwa ſeine Erwartung einer belohnenden Gluͤck-
ſeligkeit nach dieſem Leben, der Uneigennuͤtzigkeit,
mit welcher wir alle große und gute Handlungen
auf der Buͤhne unternommen und vollzogen zu
ſehen wuͤnſchen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur
aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie-
rigkeiten es zu uͤberſteigen vermag, dieſe Bedenk-
lichkeiten unwiderſprechlich widerlegt, waͤre alſo
mein Rath: — man lieſſe alle bisherige chriſt-
liche Trauerſpiele unaufgefuͤhret. Dieſer Rath,
B 2wel-
[12] welcher aus den Beduͤrfniſſen der Kunſt herge-
nommen iſt, welcher uns um weiter nichts, als
ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke bringen kann, iſt dar-
um nichts ſchlechter, weil er den ſchwaͤchern Ge-
muͤthern zu Statten koͤmmt, die, ich weiß nicht
welchen Schauder empfinden, wenn ſie Geſin-
nungen, auf die ſie ſich nur an einer heiligern
Staͤte gefaßt machen, im Theater zu hoͤren be-
kommen. Das Theater ſoll niemanden, wer es
auch ſey, Anſtoß geben; und ich wuͤnſchte, daß
es auch allem genommenen Anſtoße vorbeugen
koͤnnte und wollte.
Cronegk hatte ſein Stuͤck nur bis gegen das
Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das
uͤbrige hat eine Feder in Wien dazu gefuͤget;
eine Feder — denn die Arbeit eines Kopfes iſt
dabey nicht ſehr ſichtbar. Der Ergaͤnzer hat,
allem Anſehen nach, die Geſchichte ganz anders
geendet, als ſie Cronegk zu enden Willens gewe-
ſen. Der Tod loͤſet alle Verwirrungen am
beſten; darum laͤßt er beide ſterben, den Olint
und die Sophronia. Beym Taſſo kommen ſie
beide davon; denn Clorinde nimmt ſich mit der
uneigennuͤtzigſten Großmuth ihrer an. Cronegk
aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da
war es freylich ſchwer zu errathen, wie er zwey
Nebenbuhlerinnen aus einander ſetzen wollen,
ohne den Tod zu Huͤlfe zu rufen. In einem an-
dern noch ſchlechtern Trauerſpiele, wo eine von
den
[13] den Hauptperſonen ganz aus heiler Haut ſtarb,
fragte ein Zuſchauer ſeinen Nachbar: Aber
woran ſtirbt ſie denn? — Woran? am fuͤnften
Akte; antwortete dieſer. In Wahrheit; der
fuͤnfte Akt iſt eine garſtige boͤſe Staupe, die
manchen hinreißt, dem die erſten vier Akte ein
weit laͤngeres Leben verſprachen. —
Doch ich will mich in die Kritik des Stuͤckes
nicht tiefer einlaſſen. So mittelmaͤßig es iſt,
ſo ausnehmend iſt es vorgeſtellet worden. Ich
ſchweige von der aͤußern Pracht; denn dieſe Ver-
beſſerung unſers Theaters erfordert nichts als
Geld. Die Kuͤnſte, deren Huͤlfe dazu noͤthig
iſt, ſind bey uns in eben der Vollkommenheit,
als in jedem andern Lande; nur die Kuͤnſtler wol-
len eben ſo bezahlt ſeyn, wie in jedem andern
Lande.
Man muß mit der Vorſtellung eines Stuͤckes
zufrieden ſeyn, wenn unter vier, fuͤnf Perſonen,
einige vortrefflich, und die andern gut geſpielet
haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaͤnger
oder ſonſt ein Nothnagel, ſo ſehr beleidiget, daß
er uͤber das Ganze die Naſe ruͤmpft, der reiſe
nach Utopien, und beſuche da die vollkommenen
Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick iſt.
Herr Eckhof war Evander; Evander iſt zwar
der Vater des Olints, aber im Grunde doch
nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indeß mag
dieſer Mann eine Rolle machen, welche er will;
B 3man
[14] man erkennet ihn in der kleinſten noch immer fuͤr
den erſten Akteur, und betauert, auch nicht zu-
gleich alle uͤbrige Rollen von ihm ſehen zu koͤn-
nen. Ein ihm ganz eigenes Talent iſt dieſes,
daß er Sittenſpruͤche und allgemeine Betrach-
tungen, dieſe langweiligen Ausbeugungen eines
verlegenen Dichters, mit einem Anſtande, mit
einer Innigkeit zu ſagen weiß, daß das Trivialſte
von dieſer Art, in ſeinem Munde Neuheit und
Wuͤrde, das Froſtigſte Feuer und Leben erhaͤlt.
Die eingeſtreuten Moralen ſind Cronegks
beſte Seite. Er hat, in ſeinem Codrus und hier,
ſo manche in einer ſo ſchoͤnen nachdruͤcklichen
Kuͤrze ausgedruͤckt, daß viele von ſeinen Verſen
als Sentenzen behalten, und von dem Volke
unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit
aufgenommen zu werden verdienen. Leider ſucht
er uns nur auch oͤfters gefaͤrbtes Glas fuͤr Edel-
ſteine, und witzige Antitheſen fuͤr geſunden
Verſtand einzuſchwatzen. Zwey dergleichen Zei-
len, in dem erſten Akte, hatten eine beſondere Wir-
kung auf mich. Die eine,
〟Der Himmel kann verzeihn, allein ein Prieſter
nicht.〟
Die andere,
〟Wer ſchlimm von andern denkt, iſt ſelbſt ein
Boͤſewicht.〟
Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allge-
meine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu
bemer-
[15] bemerken, durch welches ſich der Beyfall aus-
druͤckt, wenn ihn die Aufmerkſamkeit nicht gaͤnz-
lich ausbrechen laͤßt. Theils dachte ich: Vor-
trefflich! man liebt hier die Moral; dieſes Par-
terr findet Geſchmack an Maximen; auf dieſer
Buͤhne koͤnnte ſich ein Euripides Ruhm erwer-
ben, und ein Sokrates wuͤrde ſie gern beſuchen.
Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie ſchielend,
wie falſch, wie anſtoͤßig dieſe vermeinten Maxi-
men waͤren, und ich wuͤnſchte ſehr, daß die
Mißbilligung an jenem Gemurmle den meiſten
Antheil moͤge gehabt haben. Es iſt nur Ein
Athen geweſen, es wird nur Ein Athen bleiben,
wo auch bey dem Poͤbel das ſittliche Gefuͤhl ſo
fein, ſo zaͤrtlich war, daß einer unlautern Moral
wegen, Schauſpieler und Dichter Gefahr liefen,
von dem Theater herabgeſtuͤrmet zu werden!
Ich weiß wohl, die Geſinnungen muͤſſen in dem
Drama dem angenommenen Charakter der Per-
ſon, welche ſie aͤußert, entſprechen; ſie koͤnnen
alſo das Siegel der abſoluten Wahrheit nicht
haben; genug, wenn ſie poetiſch wahr ſind,
wenn wir geſtehen muͤſſen, daß dieſer Charakter,
in dieſer Situation, bey dieſer Leidenſchaft,
nicht anders als ſo habe urtheilen koͤnnen. Aber
auch dieſe poetiſche Wahrheit muß ſich, auf einer
andern Seite, der abſoluten wiederum naͤhern,
und der Dichter muß nie ſo unphiloſophiſch den-
ken, daß er annimmt, ein Menſch koͤnne das
Boͤſe
[16] Boͤſe, um des Boͤſen wegen, wollen, er koͤnne
nach laſterhaften Grundſaͤtzen handeln, das La-
ſterhafte derſelben erkennen, und doch gegen ſich
und andere damit prahlen. Ein ſolcher Menſch
iſt ein Unding, ſo graͤßlich als ununterrichtend,
und nichts als die armſelige Zuflucht eines ſcha-
len Kopfes, der ſchimmernde Tiraden fuͤr die
hoͤchſte Schoͤnheit des Trauerſpieles haͤlt. Wenn
Iſmenor ein grauſamer Prieſter iſt, ſind darum
alle Prieſter Iſmenors? Man wende nicht ein,
daß von Prieſtern einer falſchen Religion die
Rede ſey. So falſch war noch keine in der
Welt, daß ihre Lehrer nothwendig Unmenſchen
ſeyn muͤſſen. Prieſter haben in den falſchen
Religionen, ſo wie in der wahren, Unheil ge-
ſtiftet, aber nicht weil ſie Prieſter, ſondern weil
ſie Boͤſewichter waren, die, zum Behuf ihrer
ſchlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines
jeden andern Standes gemißbraucht haͤtten.
Wenn die Buͤhne ſo unbeſonnene Urtheile
uͤber die Prieſter uͤberhaupt ertoͤnen laͤßt, was
Wunder, wenn ſich auch unter dieſen Unbeſon-
nene finden, die ſie als die grade Heerſtraße zur
Hoͤlle ausſchreyen?
Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des
Stuͤckes, und ich wollte von dem Schauſpieler
ſprechen.
Ham-
[[17]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drittes Stuͤck.
Und wodurch bewirkt dieſer Schauſpieler,
(Hr. Eckhof) daß wir auch die gemeinſte
Moral ſo gern von ihm hoͤren? Was iſt
es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen
hat, wenn wir ihn in ſolchem Falle eben ſo un-
terhaltend finden ſollen?
Alle Moral muß aus der Fuͤlle des Herzens
kommen, von der der Mund uͤbergehet; man
muß eben ſo wenig lange darauf zu denken, als
damit zu prahlen ſcheinen.
Es verſtehet ſich alſo von ſelbſt, daß die mo-
raliſchen Stellen vorzuͤglich wohl gelernet ſeyn
wollen. Sie muͤſſen ohne Stocken, ohne den
geringſten Anſtoß, in einem ununterbrochenen
Fluſſe der Worte, mit einer Leichtigkeit geſpro-
chen werden, daß ſie keine muͤhſame Auskrah-
mungen des Gedaͤchtniſſes, ſondern unmittelbare
CEin-
[18] Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen
ſcheinen.
Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher
Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur
plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns
durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen,
daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun-
gen habe.
Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth
auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit
iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch
von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin-
det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt,
die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat,
laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich
die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget;
aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich.
Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß
ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre
Reden richten, und nur alsdann —
Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich
viel Empfindung haben, und doch keine zu ha-
ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt
immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines
Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie
nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen
glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin-
dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach
ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen.
Nun
[19] Nun iſt es moͤglich, daß gewiſſe Dinge in dem
Baue des Koͤrpers dieſe Merkmale entweder gar
nicht verſtatten, oder doch ſchwaͤchen und zwey-
deutig machen. Der Akteur kann eine gewiſſe
Bildung des Geſichts, gewiſſe Minen, einen
gewiſſen Ton haben, mit denen wir ganz andere
Faͤhigkeiten, ganz andere Leidenſchaften, ganz
andere Geſinnungen zu verbinden gewohnt ſind,
als er gegenwaͤrtig aͤußern und ausdruͤcken ſoll.
Iſt dieſes, ſo mag er noch ſo viel empfinden,
wir glauben ihm nicht: denn er iſt mit ſich ſelbſt
im Widerſpruche. Gegentheils kann ein anderer
ſo gluͤcklich gebauet ſeyn; er kann ſo entſcheidende
Zuͤge beſitzen; alle ſeine Muſkeln koͤnnen ihm ſo
leicht, ſo geſchwind zu Gebothe ſtehen; er kann
ſo feine, ſo vielfaͤltige Abaͤnderungen der Stimme
in ſeiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen
zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem ſo
hohen Grade begluͤckt ſeyn, daß er uns in den-
jenigen Rollen, die er nicht urſpruͤnglich, ſon-
dern nach irgend einem guten Vorbilde ſpielet,
von der innigſten Empfindung beſeelet ſcheinen
wird, da doch alles, was er ſagt und thut,
nichts als mechaniſche Nachaͤffung iſt.
Ohne Zweifel iſt dieſer, ungeachtet ſeiner
Gleichguͤltigkeit und Kaͤlte, dennoch auf dem
Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er
lange genug nichts als nachgeaͤffet hat, haben
ſich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm
C 2ge-
[20] geſammelt, nach denen er ſelbſt zu handeln an-
faͤngt, und durch deren Beobachtung (zu Folge
dem Geſetze, daß eben die Modificationen der
Seele, welche gewiſſe Veraͤnderungen des Koͤr-
pers hervorbringen, hinwiederum durch dieſe
koͤrperliche Veraͤnderungen bewirket werden,)
er zu einer Art von Empfindung gelangt, die
zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in
der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben
kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorſtel-
lung kraͤftig genug iſt, etwas von den nicht frey-
willigen Veraͤnderungen des Koͤrpers hervorzu-
bringen, aus deren Daſeyn wir faſt allein auf
das innere Gefuͤhl zuverlaͤßig ſchlieſſen zu koͤnnen
glauben. Ein ſolcher Akteur ſoll z. E. die
aͤußerſte Wuth des Zornes ausdruͤcken; ich
nehme an, daß er ſeine Rolle nicht einmal
recht verſtehet, daß er die Gruͤnde dieſes Zornes
weder hinlaͤnglich zu faſſen, noch lebhaft genug
ſich vorzuſtellen vermag, um ſeine Seele ſelbſt
in Zorn zu ſetzen. Und ich ſage; wenn er nur
die allergroͤbſten Aeußerungen des Zornes, einem
Akteur von urſpruͤnglicher Empfindung abgeler-
net hat, und getreu nachzumachen weiß — den
haſtigen Gang, den ſtampfenden Fuß, den rau-
hen bald kreiſchenden bald verbiſſenen Ton, das
Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe,
das Knirſchen der Zaͤhne u. ſ. w. — wenn er,
ſage ich, nur dieſe Dinge, die ſich nachmachen
laſſen,
[21] laſſen, ſobald man will, gut nachmacht: ſo
wird dadurch unfehlbar ſeine Seele ein dunkles
Gefuͤhl von Zorn befallen, welches wiederum in
den Koͤrper zuruͤckwirkt, und da auch diejenigen
Veraͤnderungen hervorbringt, die nicht blos von
unſerm Willen abhangen; ſein Geſicht wird
gluͤhen, ſeine Augen werden blitzen, ſeine
Muſkeln werden ſchwellen; kurz, er wird ein
wahrer Zorniger zu ſeyn ſcheinen, ohne es zu
ſeyn, ohne im geringſten zu begreifen, warum
er es ſeyn ſollte.
Nach dieſen Grundſaͤtzen von der Empfindung
uͤberhaupt, habe ich mir zu beſtimmen geſucht,
welche aͤußerliche Merkmale diejenige Empfin-
dung begleiten, mit der moraliſche Betrachtun-
gen wollen geſprochen ſeyn, und welche von die-
ſen Merkmalen in unſerer Gewalt ſind, ſo daß
ſie jeder Akteur, er mag die Empfindung ſelbſt
haben, oder nicht, darſtellen kann. Mich duͤnkt
Folgendes.
Jede Moral iſt ein allgemeiner Satz, der,
als ſolcher, einen Grad von Sammlung der
Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er
will alſo mit Gelaſſenheit und einer gewiſſen
Kaͤlte geſagt ſeyn.
Allein dieſer allgemeine Satz iſt zugleich das
Reſultat von Eindruͤcken, welche individuelle
Umſtaͤnde auf die handelnden Perſonen machen;
er iſt kein bloßer ſymboliſcher Schluß; er iſt eine
C 3ge-
[22] generaliſirte Empfindung, und als dieſe will er
mit Feuer und einer gewiſſen Begeiſterung ge-
ſprochen ſeyn.
Folglich mit Begeiſterung und Gelaſſenheit,
mit Feuer und Kaͤlte? —
Nicht anders; mit einer Miſchung von bei-
den, in der aber, nach Beſchaffenheit der Situa-
tion, bald dieſes, bald jenes, hervorſticht.
Iſt die Situation ruhig, ſo muß ſich die
Seele durch die Moral gleichſam einen neuen
Schwung geben wollen; ſie muß uͤber ihr Gluͤck,
oder ihre Pflichten, blos darum allgemeine Be-
trachtungen zu machen ſcheinen, um durch dieſe All-
gemeinheit ſelbſt, jenes deſto lebhafter zu genieſſen,
dieſe deſto williger und muthiger zu beobachten.
Iſt die Situation hingegen heftig, ſo muß
ſich die Seele durch die Moral (unter welchem
Worte ich jede allgemeine Betrachtung verſtehe)
gleichſam von ihrem Fluge zuruͤckholen; ſie muß
ihren Leidenſchaften das Anſehen der Vernunft,
ſtuͤrmiſchen Ausbruͤchen den Schein vorbedaͤcht-
licher Entſchlieſſungen geben zu wollen ſcheinen.
Jenes erfodert einen erhabnen und begeiſter-
ten Ton; dieſes einen gemaͤßigten und feyerlichen.
Denn dort muß das Raiſonnement in Affekt ent-
brennen, und hier der Affekt in Raiſonnement
ſich auskuͤhlen.
Die meiſten Schauſpieler kehren es gerade
um. Sie poltern in heftigen Situationen die
all-
[23] allgemeinen Betrachtungen eben ſo ſtuͤrmiſch her-
aus, als das Uebrige; und in ruhigen, beten ſie
dieſelben eben ſo gelaſſen her, als das Uebrige.
Daher geſchieht es denn aber auch, daß ſich die
Moral weder in den einen, noch in den andern
bey ihnen ausnimmt; und daß wir ſie in jenen
eben ſo unnatuͤrlich, als in dieſen langweilig und
kalt finden. Sie uͤberlegten nie, daß die Stuͤcke-
rey von dem Grunde abſtechen muß, und Gold
auf Gold brodiren ein elender Geſchmack iſt.
Durch ihre Geſtus verderben ſie vollends
alles. Sie wiſſen weder, wenn ſie deren dabey
machen ſollen, noch was fuͤr welche. Sie machen
gemeiniglich zu viele, und zu unbedeutende.
Wenn in einer heftigen Situation die Seele
ſich auf einmal zu ſammeln ſcheinet, um einen
uͤberlegenden Blick auf ſich, oder auf das, was
ſie umgiebt, zu werfen; ſo iſt es natuͤrlich, daß
ſie allen Bewegungen des Koͤrpers, die von ih-
rem bloßen Willen abhangen, gebieten wird.
Nicht die Stimme allein wird gelaſſener; die
Glieder alle gerathen in einen Stand der Ruhe,
um die innere Ruhe auszudruͤcken, ohne die das
Auge der Vernunft nicht wohl um ſich ſchauen
kann. Mit eins tritt der fortſchreitende Fuß
feſt auf, die Arme ſinken, der ganze Koͤrper zieht
ſich in den wagrechten Stand; eine Pauſe —
und dann die Reflexion. Der Mann ſteht da, in
einer feyerlichen Stille, als ob er ſich nicht ſtoͤhren
wollte, ſich ſelbſt zu hoͤren. Die Reflexion iſt aus, —
wie-
[24] wieder eine Pauſe — und ſo wie die Reflexion ab-
gezielet, ſeine Leidenſchaft entweder zu maͤßigen,
oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal
wieder los, oder ſetzet allmaͤlig das Spiel ſeiner
Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Geſichte
bleiben, waͤhrend der Reflexion, die Spuren des
Affekts; Mine und Auge ſind noch in Bewegung
und Feuer; denn wir haben Mine und Auge nicht
ſo urploͤtzlich in unſerer Gewalt, als Fuß und
Hand. Und hierin dann, in dieſen ausdruͤckenden
Minen, in dieſem entbrannten Auge, und in dem
Ruheſtande des ganzen uͤbrigen Koͤrpers, beſtehet
die Miſchung von Feuer und Kaͤlte, mit welcher ich
glaube, daß die Moral in heftigen Situationen ge-
ſprochen ſeyn will.
Mit eben dieſer Miſchung will ſie auch in ruhi-
gen Situationen geſagt ſeyn; nur mit dem Unter-
ſchiede, daß der Theil der Aktion, welcher dort der
feurige war, hier der kaͤltere, und welcher dort der
kaͤltere war, hier der feurige ſeyn muß. Nehmlich:
da die Seele, wenn ſie nichts als ſanfte Empfindun-
gen hat, durch allgemeine Betrachtungen dieſen
ſanften Empfindungen einen hoͤhern Grad von Leb-
haftigkeit zu geben ſucht, ſo wird ſie auch die Glie-
der des Koͤrpers, die ihr unmittelbar zu Gebothe
ſtehen, dazu beytragen laſſen; die Haͤnde werden in
voller Bewegung ſeyn; nur der Ausdruck des Ge-
ſichts kann ſo geſchwind nicht nach, und in Mine
und Auge wird noch die Ruhe herrſchen, aus der ſie
der uͤbrige Koͤrper gern heraus arbeiten moͤchte.
Ham-
[[25]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Viertes Stuͤck.
Aber von was fuͤr Art ſind die Bewegungen
der Haͤnde, mit welchen, in ruhigen Si-
tuationen, die Moral geſprochen zu ſeyn
liebet?
Von der Chironomie der Alten, das iſt, von
dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten
den Bewegungen der Haͤnde vorgeſchrieben hat-
ten, wiſſen wir nur ſehr wenig; aber dieſes
wiſſen wir, daß ſie die Haͤndeſprache zu einer
Vollkommenheit gebracht, von der ſich aus dem,
was unſere Redner darinn zu leiſten im Stande
ſind, kaum die Moͤglichkeit ſollte begreifen laſ-
ſen. Wir ſcheinen von dieſer ganzen Sprache
nichts als ein unartikulirtes Geſchrey behalten
zu haben; nichts als das Vermoͤgen, Bewe-
gungen zu machen, ohne zu wiſſen, wie dieſen
Bewegungen eine fixirte Bedeutung zu geben,
und wie ſie unter einander zu verbinden, daß ſie
Dnicht
[26] nicht blos eines einzeln Sinnes, ſondern eines
zuſammenhangenden Verſtandes faͤhig werden.
Ich beſcheide mich gern, daß man, bey den
Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schau-
ſpieler vermengen muß. Die Haͤnde des Schau-
ſpielers waren bey weiten ſo geſchwaͤtzig nicht,
als die Haͤnde des Pantomimens. Bey dieſem
vertraten ſie die Stelle der Sprache; bey jenem
ſollten ſie nur den Nachdruck derſelben vermeh-
ren, und durch ihre Bewegungen, als natuͤr-
liche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen
der Stimme Wahrheit und Leben verſchaffen
helfen. Bey dem Pantomimen waren die Be-
wegungen der Haͤnde nicht blos natuͤrliche Zei-
chen; viele derſelben hatten eine conventionelle
Bedeutung, und dieſer mußte ſich der Schau-
ſpieler gaͤnzlich enthalten.
Er gebrauchte ſich alſo ſeiner Haͤnde ſparſa-
mer, als der Pantomime, aber eben ſo wenig
vergebens, als dieſer. Er ruͤhrte keine Hand,
wenn er nichts damit bedeuten oder verſtaͤrken
konnte. Er wußte nichts von den gleichguͤl-
tigen Bewegungen, durch deren beſtaͤndigen
einfoͤrmigen Gebrauch ein ſo großer Theil von
Schauſpielern, beſonders das Frauenzimmer,
ſich das vollkommene Anſehen von Dratpuppen
giebt. Bald mit der rechten, bald mit der lin-
ken Hand, die Haͤlfte einer krieplichten Achte,
abwaͤrts vom Koͤrper, beſchreiben, oder mit
beiden
[27] beiden Haͤnden zugleich die Luft von ſich weg-
rudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer
es mit einer gewiſſen Tanzmeiſtergrazie zu thun
geuͤbt iſt, o! der glaubt, uns bezaubern zu
koͤnnen.
Ich weiß wohl, daß ſelbſt Hogarth den Schau-
ſpielern befiehlt, ihre Hand in ſchoͤnen Schlan-
genlinien bewegen zu lernen; aber nach allen
Seiten, mit allen moͤglichen Abaͤnderungen,
deren dieſe Linien, in Anſehung ihres Schwun-
ges, ihrer Groͤße und Dauer, faͤhig ſind. Und
endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um
ſich zum Agiren dadurch geſchickt zu machen,
um den Armen die Biegungen des Reitzes ge-
laͤufig zu machen; nicht aber in der Meinung,
daß das Agiren ſelbſt in weiter nichts, als in der
Beſchreibung ſolcher ſchoͤnen Linien, immer nach
der nehmlichen Direktion, beſtehe.
Weg alſo mit dieſem unbedeutenden Porte-
bras, vornehmlich bey moraliſchen Stellen weg
mit ihm! Reitz am unrechten Orte, iſt Affektation
und Grimaſſe; und eben derſelbe Reitz, zu oft
hinter einander wiederholt, wird kalt und end-
lich eckel. Ich ſehe einen Schulknaben ſein
Spruͤchelchen aufſagen, wenn der Schauſpieler
allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung,
mit welcher man in der Menuet die Hand giebt,
mir zureicht, oder ſeine Moral gleichſam vom
Rocken ſpinnet.
D 2Jede
[28]
Jede Bewegung, welche die Hand bey mora-
liſchen Stellen macht, muß bedeutend ſeyn.
Oft kann man bis in das Mahleriſche damit ge-
hen; wenn man nur das Pantomimiſche vermei-
det. Es wird ſich vielleicht ein andermal Gele-
genheit finden, dieſe Gradation von bedeutenden
zu mahleriſchen, von mahleriſchen zu pantomi-
miſchen Geſten, ihren Unterſchied und ihren
Gebrauch, in Beyſpielen zu erlaͤutern. Itzt
wuͤrde mich dieſes zu weit fuͤhren, und ich merke
nur an, daß es unter den bedeutenden Geſten
eine Art giebt, die der Schauſpieler vor allen
Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen
er allein der Moral Licht und Leben ertheilen
kann. Es ſind dieſes, mit einem Worte, die
individualiſirenden Geſtus. Die Moral iſt ein
allgemeiner Satz, aus den beſondern Umſtaͤnden
der handelnden Perſonen gezogen; durch ſeine
Allgemeinheit wird er gewiſſermaßen der Sache
fremd, er wird eine Ausſchweifung, deren Be-
ziehung auf das Gegenwaͤrtige von dem weniger
aufmerkſamen, oder weniger ſcharfſinnigen Zu-
hoͤrer, nicht bemerkt oder nicht begriffen wird.
Wann es daher ein Mittel giebt, dieſe Bezie-
hung ſinnlich zu machen, das Symboliſche der
Moral wiederum auf das Anſchauende zuruͤck-
zubringen, und wann dieſes Mittel gewiſſe
Geſtus ſeyn koͤnnen, ſo muß ſie der Schauſpieler
ja nicht zu machen verſaͤumen.
Man
[29]
Man wird mich aus einem Exempel am beſten
verſtehen. Ich nehme es, wie mir es itzt bey-
faͤllt; der Schauſpieler wird ſich ohne Muͤhe auf
noch weit einleuchtendere beſinnen. — Wenn
Olint ſich mit der Hofnung ſchmeichelt, Gott
werde das Herz des Aladin bewegen, daß er ſo
grauſam mit den Chriſten nicht verfahre, als er
ihnen gedrohet: ſo kann Evander, als ein alter
Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrieg-
lichkeit unſrer Hofnungen zu Gemuͤthe fuͤhren.
〟Vertraue nicht, mein Sohn, Hofnungen,
die betriegen!〟
Sein Sohn iſt ein feuriger Juͤngling, und in
der Jugend iſt man vorzuͤglich geneigt, ſich von
der Zukunft nur das Beſte zu verſprechen.
〟Da ſie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Ju-
gend oft.〟
Doch indem beſinnt er ſich, daß das Alter zu
dem entgegen geſetzten Fehler nicht weniger ge-
neigt iſt; er will den unverzagten Juͤngling nicht
ganz niederſchlagen, und faͤhret fort:
〟Das Alter quaͤlt ſich ſelbſt, weil es zu wenig
hoft.〟
Dieſe Sentenzen mit einer gleichguͤltigen Aktion,
mit einer nichts als ſchoͤnen Bewegung des Ar-
mes begleiten, wuͤrde weit ſchlimmer ſeyn, als
ſie ganz ohne Aktion herſagen. Die einzige
ihnen angemeſſene Aktion iſt die, welche ihre
D 3All-
[30] Allgemeinheit wieder auf das Beſondere ein-
ſchraͤnkt. Die Zeile,
muß in dem Tone, mit dem Geſtu der vaͤterli-
chen Warnung, an und gegen den Olint ge-
ſprochen werden, weil Olint es iſt, deſſen uner-
fahrne leichtglaͤubige Jugend bey dem ſorgſamen
Alten dieſe Betrachtung veranlaßt. Die Zeile
hingegen,
erfordert den Ton, das Achſelzucken, mit dem
wir unſere eigene Schwachheiten zu geſtehen
pflegen, und die Haͤnde muͤſſen ſich nothwendig
gegen die Bruſt ziehen, um zu bemerken, daß
Evander dieſen Satz aus eigener Erfahrung
habe, daß er ſelbſt der Alte ſey, von dem er
gelte. —
Es iſt Zeit, daß ich von dieſer Ausſchweifung
uͤber den Vortrag der moraliſchen Stellen, wieder
zuruͤckkomme. Was man Lehrreiches darinn
findet, hat man lediglich den Beyſpielen des
Hrn. Eckhof zu danken; ich habe nichts als von
ihnen richtig zu abſtrahiren geſucht. Wie leicht,
wie angenehm iſt es, einem Kuͤnſtler nachzufor-
ſchen, dem das Gute nicht blos gelingt, ſondern
der es macht!
Die Rolle der Clorinde ward von Madame
Henſeln geſpielt, die ohnſtreitig eine von den
beſten Aktricen iſt, welche das deutſche Theater
jemals
[31] jemals gehabt hat. Ihr beſonderer Vorzug iſt
eine ſehr richtige Deklamation; ein falſcher Ac-
cent wird ihr ſchwerlich entwiſchen; ſie weiß den
verworrenſten, holprichſten, dunkelſten Vers,
mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤciſion zu
ſagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichſte
Erklaͤrung, den vollſtaͤndigſten Commentar er-
haͤlt. Sie verbindet damit nicht ſelten ein Raf-
finement, welches entweder von einer ſehr gluͤck-
lichen Empfindung, oder von einer ſehr richtigen
Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser-
klaͤrung, welche ſie dem Olint thut, noch zu hoͤren:
〟— Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger ſchweigen;
〟Verſtellung oder Stolz ſey niedern Seelen eigen.
〟Olint iſt in Gefahr, und ich bin außer mir —
〟Bewundernd ſah ich oft im Krieg und Schlacht
nach dir;
〟Mein Herz, das vor ſich ſelbſt ſich zu entdecken
ſcheute,
〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im
Streite.
〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin,
〟Und itzt erkenn ich erſt wie klein, wie ſchwach ich bin.
〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, haſſen,
〟Da du zur Pein beſtim̃t, von jedermann verlaſſen,
〟Verbrechern gleich geſtellt, ungluͤcklich und ein
Chriſt,
〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend biſt:
〟Itzt wag ichs zu geſtehn: itzt kenne meine Triebe!
Wie frey, wie edel war dieſer Ausbruch! Welches
Feuer, welche Inbrunſt beſeelten jeden Ton! Mit
welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberſtroͤ-
mung
[32] mung des Herzens ſprach ihr Mitleid! Mit welcher
Entſchloſſenheit ging ſie auf das Bekenntniß ihrer
Liebe los! Aber wie unerwartet, wie uͤberraſchend
brach ſie auf einmal ab, und veraͤnderte auf einmal
Stimme und Blick, und die ganze Haltung des
Koͤrpers, da es nun darauf ankam, die duͤrren
Worte ihres Bekenntniſſes zu ſprechen. Die Au-
gen zur Erde geſchlagen, nach einem langſamen
Seufzer, in dem furchtſamen gezogenen Tone der
Verwirrung, kam endlich,
heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der
nicht weiß, ob die Liebe ſich ſo erklaͤrt, empfand, daß
ſie ſich ſo erklaͤren ſollte. Sie entſchloß ſich als
Heldinn, ihre Liebe zu geſtehen, und geſtand ſie, als
ein zaͤrtliches, ſchamhaftes Weib. So Kriegerinn
als ſie war, ſo gewoͤhnt ſonſt in allem zu maͤnnlichen
Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Ober-
hand. Kaum aber waren ſie hervor, dieſe der Sitt-
ſamkeit ſo ſchwere Worte, und mit eins war auch
jener Ton der Freymuͤthigkeit wieder da. Sie fuhr
mit der ſorgloſeſten Lebhaftigkeit, in aller der unbe-
kuͤmmerten Hitze des Affekts fort:
— — — Und ſtolz auf meine Liebe,
〟Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten
kann,
〟Bieth ich dir Hand und Herz, und Kron und Pur-
pur an.
Denn die Liebe aͤußert ſich nun als großmuͤthige
Freundſchaft: und die Freundſchaft ſpricht eben ſo
dreiſt, als ſchuͤchtern die Liebe.
Ham-
[[33]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fuͤnftes Stuͤck.
Es iſt unſtreitig, daß die Schauſpielerinn
durch dieſe meiſterhafte Abſetzung der
Worte,
der Stelle eine Schoͤnheit gab, von der ſich der
Dichter, bey dem alles in dem nehmlichen Fluſſe
von Worten daher rauſcht, nicht das geringſte
Verdienſt beymeſſen kann. Aber wenn es ihr
doch gefallen haͤtte, in dieſen Verfeinerungen
ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht beſorgte ſie,
den Geiſt des Dichters ganz zu verfehlen; oder
vielleicht ſcheute ſie den Vorwurf, nicht das,
was der Dichter ſagt, ſondern was er haͤtte
ſagen ſollen, geſpielt zu haben. Aber welches
Lob koͤnnte groͤßer ſeyn, als ſo ein Vorwurf?
Freylich muß ſich nicht jeder Schauſpieler einbil-
den, dieſes Lob verdienen zu koͤnnen. Denn ſonſt
moͤchte es mit den armen Dichtern uͤbel ausſehen.
ECro-
[34]
Cronegk hat wahrlich aus ſeiner Clorinde ein
ſehr abgeſchmacktes, widerwaͤrtiges, haͤßliches
Ding gemacht. Und dem ohngeachtet iſt ſie
noch der einzige Charakter, der uns bey ihm in-
tereßiret. So ſehr er die ſchoͤne Natur in ihr
verfehlt, ſo thut doch noch die plumpe, unge-
ſchlachte Natur einige Wirkung. Das macht,
weil die uͤbrigen Charaktere ganz außer aller
Natur ſind, und wir doch noch leichter mit einem
Dragoner von Weibe, als mit himmelbruͤtenden
Schwaͤrmern ſympathiſiren. Nur gegen das
Ende, wo ſie mit in den begeiſterten Ton faͤllt,
wird ſie uns eben ſo gleichguͤltig und eckel. Alles
iſt Widerſpruch in ihr, und immer ſpringt ſie
von einem Aeußerſten auf das andere. Kaum
hat ſie ihre Liebe erklaͤrt, ſo fuͤgt ſie hinzu:
〟Wirſt du mein Herz verſchmaͤhn? Du ſchweigſt? —
Entſchlieſſe dich;
〟Und wenn du zweifeln kannſt — ſo zittre!
So zittre? Olint ſoll zittern? er, den ſie ſo oft,
in dem Tumulte der Schlacht, unerſchrocken
unter den Streichen des Todes geſehen? Und
ſoll vor ihr zittern? Was will ſie denn? Will
ſie ihm die Augen auskratzen? — O wenn es der
Schauſpielerinn eingefallen waͤre, fuͤr dieſe un-
gezogene weibliche Gaſconade 〟ſo zittre!〟 zu
ſagen: ich zittere! Sie konnte zittern, ſo viel
ſie wollte, ihre Liebe verſchmaͤht, ihren Stolz
beleidiget zu finden. Das waͤre ſehr natuͤrlich
gewe-
[35] geweſen. Aber es von dem Olint verlangen,
Gegenliebe von ihm, mit dem Meſſer an der
Gurgel, fodern, das iſt ſo unartig als laͤcherlich.
Doch was haͤtte es geholfen, den Dichter
einen Augenblick laͤnger in den Schranken des
Wohlſtandes und der Maͤßigung zu erhalten?
Er faͤhrt fort, Clorinden in dem wahren Tone
einer beſoffenen Marquetenderinn raſen zu laſſen;
und da findet keine Linderung, keine Bemaͤnte-
lung mehr Statt.
Das einzige, was die Schauſpielerinn zu ſei-
nem Beſten noch thun koͤnnte, waͤre vielleicht
dieſes, wenn ſie ſich von ſeinem wilden Feuer
nicht ſo ganz hinreiſſen lieſſe, wenn ſie ein wenig
an ſich hielte, wenn ſie die aͤußerſte Wuth nicht
mit der aͤußerſten Anſtrengung der Stimme,
nicht mit den gewaltſamſten Gebehrden aus-
druͤckte.
Wenn Shakeſpear nicht ein eben ſo großer
Schauſpieler in der Ausuͤbung geweſen iſt, als
er ein dramatiſcher Dichter war, ſo hat er doch
wenigſtens eben ſo gut gewußt, was zu der
Kunſt des einen, als was zu der Kunſt des an-
dern gehoͤret. Ja vielleicht hatte er uͤber die
Kunſt des erſtern um ſo viel tiefer nachgedacht,
weil er ſo viel weniger Genie dazu hatte. We-
nigſtens iſt jedes Wort, das er dem Hamlet,
wenn er die Komoͤdianten abrichtet, in den
Mund legt, eine goldene Regel fuͤr alle Schau-
E 2ſpieler,
[36] ſpieler, denen an einem vernuͤnftigen Beyfalle
gelegen iſt.
laͤßt er ihn unter
andern zu dem Komoͤdianten ſagen,
〟ſprecht die
〟Rede ſo, wie ich ſie Euch vorſagte; die Zunge
〟muß nur eben daruͤber hinlaufen. Aber wenn
〟ihr mir ſie ſo heraushalſet, wie es manche von
〟unſern Schauſpielern thun: ſeht, ſo waͤre mir
〟es eben ſo lieb geweſen, wenn der Stadtſchreyer
〟meine Verſe geſagt haͤtte. Auch durchſaͤgt
〟mir mit eurer Hand nicht ſo ſehr die Luft, ſon-
〟dern macht alles huͤbſch artig; denn mitten in
〟dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten,
〟ſo zu reden, in dem Wirbelwinde der Leiden-
〟ſchaften, muͤßt ihr noch einen Grad von Maͤßi-
〟gung beobachten, der ihnen das Glatte und Ge-
〟ſchmeidige giebt.
Man ſpricht ſo viel von dem Feuer des Schau-
ſpielers; man zerſtreitet ſich ſo ſehr, ob ein Schau-
ſpieler zu viel Feuer haben koͤnne. Wenn die,
welche es behaupten, zum Beweiſe anfuͤhren,
daß ein Schauſpieler ja wohl am unrechten Orte
heftig, oder wenigſtens heftiger ſeyn koͤnne, als
es die Umſtaͤnde erfodern: ſo haben die, welche
es leugnen, Recht zu ſagen, daß in ſolchem
Falle der Schauſpieler nicht zu viel Feuer, ſon-
dern zu wenig Verſtand zeige. Ueberhaupt
koͤmmt es aber wohl darauf an, was wir unter
dem Worte Feuer verſtehen. Wenn Geſchrey
und Kontorſionen Feuer ſind, ſo iſt es wohl un-
ſtreitig,
[37] ſtreitig, daß der Akteur darinn zu weit gehen
kann. Beſteht aber das Feuer in der Geſchwin-
digkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stuͤcke,
die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu bey-
tragen, um ſeinem Spiele den Schein der Wahr-
heit zu geben: ſo muͤßten wir dieſen Schein der
Wahrheit nicht bis zur aͤußerſten Illuſion getrie-
ben zu ſehen wuͤnſchen, wenn es moͤglich waͤre,
daß der Schauſpieler allzuviel Feuer in dieſem
Verſtande anwenden koͤnnte. Es kann alſo auch
nicht dieſes Feuer ſeyn, deſſen Maͤßigung Shake-
ſpear, ſelbſt in dem Strome, in dem Sturme,
in dem Wirbelwinde der Leidenſchaft verlangt:
er muß blos jene Heftigkeit der Stimme und der
Bewegungen meynen; und der Grund iſt leicht
zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die
geringſte Maͤßigung beobachtet hat, dennoch der
Schauſpieler ſich in beiden Stuͤcken maͤßigen
muͤſſe. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer
aͤußerſten Anſtrengung nicht widerwaͤrtig wuͤr-
den; und allzu ſchnelle, allzu ſtuͤrmiſche Bewe-
gungen werden ſelten edel ſeyn. Gleichwohl ſollen
weder unſere Augen und unſere Ohren beleidiget
werden; und nur alsdenn, wenn man bey Aeuſ-
ſerung der heftigen Leidenſchaften alles vermei-
det, was dieſen oder jenen unangenehm ſeyn
koͤnnte, haben ſie das Glatte und Geſchmeidige,
welches ein Hamlet auch noch da von ihnen ver-
langt, wenn ſie den hoͤchſten Eindruck machen,
E 3und
[38] und ihm das Gewiſſen verſtockter Frevler aus
dem Schlafe ſchrecken ſollen.
Die Kunſt des Schauſpielers ſtehet hier,
zwiſchen den bildenden Kuͤnſten und der Poeſie,
mitten inne. Als ſichtbare Mahlerey muß zwar
die Schoͤnheit ihr hoͤchſtes Geſetz ſeyn; doch als
tranſitoriſche Mahlerey braucht ſie ihren Stel-
lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche
die alten Kunſtwerke ſo imponirend macht. Sie
darf ſich, ſie muß ſich das Wilde eines Tempeſta,
das Freche eines Bernini oͤfters erlauben; es
hat bey ihr alle das Ausdruͤckende, welches ihm
eigenthuͤmlich iſt, ohne das Beleidigende zu
haben, das es in den bildenden Kuͤnſten durch
den permanenten Stand erhaͤlt. Nur muß ſie
nicht allzulang darinn verweilen; nur muß ſie
es durch die vorhergehenden Bewegungen all-
maͤlig vorbereiten, und durch die darauf folgen-
den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl-
anſtaͤndigen aufloͤſen; nur muß ſie ihm nie alle
die Staͤrke geben, zu der ſie der Dichter in ſei-
ner Bearbeitung treiben kann. Denn ſie iſt
zwar eine ſtumme Poeſie, aber die ſich unmittel-
bar unſern Augen verſtaͤndlich machen will; und
jeder Sinn will geſchmeichelt ſeyn, wenn er die
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen
giebet, unverfaͤlſcht uͤberliefern ſoll.
Es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich unſere Schau-
ſpieler bey der Maͤßigung, zu der ſie die Kunſt
auch
[39] auch in den heftigſten Leidenſchaften verbindet,
in Anſehung des Beyfalles, nicht allzuwohl be-
finden duͤrften. — Aber welches Beyfalles? —
Die Gallerie iſt freylich ein großer Liebhaber des
Lermenden und Tobenden, und ſelten wird ſie
ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Haͤnden
zu erwiedern. Auch das deutſche Parterr iſt
noch ziemlich von dieſem Geſchmacke, und es
giebt Akteurs, die ſchlau genug von dieſem Ge-
ſchmacke Vortheil zu ziehen wiſſen. Der Schlaͤf-
rigſte raft ſich, gegen das Ende der Scene,
wenn er abgehen ſoll, zuſammen, erhebet auf
einmal die Stimme, und uͤberladet die Aktion,
ohne zu uͤberlegen, ob der Sinn ſeiner Rede
dieſe hoͤhere Anſtrengung auch erfodere. Nicht
ſelten widerſpricht ſie ſogar der Verfaſſung, mit
der er abgehen ſoll; aber was thut das ihm?
Genug, daß er das Parterr dadurch erinnert
hat, aufmerkſam auf ihn zu ſeyn, und wenn es
die Guͤte haben will, ihm nachzuklatſchen. Nach-
ziſchen ſollte es ihm! Doch leider iſt es theils
nicht Kenner genug, theils zu gutherzig, und
nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen,
fuͤr die That.
Ich getraue mich nicht, von der Aktion der
uͤbrigen Schauſpieler in dieſem Stuͤcke etwas zu
ſagen. Wenn ſie nur immer bemuͤht ſeyn muͤſ-
ſen, Fehler zu bemaͤnteln, und das Mittel-
maͤßige geltend zu machen: ſo kann auch der
Beſte
[40] Beſte nicht anders, als in einem ſehr zweydeuti-
gen Lichte erſcheinen. Wenn wir ihn auch den
Verdruß, den uns der Dichter verurſacht, nicht
mit entgelten laſſen, ſo ſind wir doch nicht auf-
geraͤumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu
erweiſen, die er verdienet.
Den Beſchluß des erſten Abends machte der
Triumph der vergangenen Zeit, ein Luſtſpiel in
einem Aufzuge, nach dem Franzoͤſiſchen des
le Grand. Es iſt eines von den drey kleinen
Stuͤcken, welche le Grand unter dem allgemei-
nen Tittel, der Triumph der Zeit, im Jahr
1724 auf die franzoͤſiſche Buͤhne brachte, nach-
dem er den Stoff deſſelben, bereits einige Jahre
vorher, unter der Aufſchrift, die laͤcherlichen
Verliebten, behandelt, aber wenig Beyfall da-
mit erhalten hatte. Der Einfall, der dabey
zum Grunde liegt, iſt drollig genug, und einige
Situationen ſind ſehr laͤcherlich. Nur iſt das
Laͤcherliche von der Art, wie es ſich mehr fuͤr eine
ſatyriſche Erzaͤhlung, als auf die Buͤhne ſchickt.
Der Sieg der Zeit uͤber Schoͤnheit und Jugend
macht eine traurige Idee; die Einbildung eines
ſechszigjaͤhrigen Gecks und einer eben ſo alten
Naͤrrinn, daß die Zeit nur uͤber ihre Reitze keine
Gewalt ſollte gehabt haben, iſt zwar laͤcherlich;
aber dieſen Geck und dieſe Naͤrrinn ſelbſt zu ſehen,
iſt eckelhafter, als laͤcherlich.
Ham-
[[41]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechſtes Stuͤck.
Noch habe ich der Anreden an die Zuſchauer,
vor und nach dem großen Stuͤcke des
erſten Abends, nicht gedacht. Sie ſchrei-
ben ſich von einem Dichter her, der es mehr als
irgend ein anderer verſteht, tiefſinnigen Ver-
ſtand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem
Ernſte die gefaͤllige Mine des Scherzes zu geben.
Womit koͤnnte ich dieſe Blaͤtter beſſer auszieren,
als wenn ich ſie meinen Leſern ganz mittheile?
Hier ſind ſie. Sie beduͤrfen keines Commentars.
Ich wuͤnſche nur, daß manches darinn nicht in
den Wind geſagt ſey!
Sie wurden beide ungemein wohl, die erſtere
mit alle dem Anſtande und der Wuͤrde, und die
andere mit alle der Waͤrme und Feinheit und
einſchmeichelnden Verbindlichkeit geſprochen, die
der beſondere Inhalt einer jeden erfoderte.
FPro-
[42]
Prolog.
(Geſprochen von Madame Loͤwen.)
Ihr Freunde, denen hier das mannichfache Spiel
Des Menſchen, in der Kunſt der Nachahmung
gefiel:
Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, beſſern
Seelen,
Wie ſchoͤn, wie edel iſt die Luſt, ſich ſo zu quaͤlen;
Wenn bald die ſuͤße Thraͤn’, indem das Herz er-
weicht,
In Zaͤrtlichkeit zerſchmilzt, ſtill von den Wangen
ſchleicht,
Bald die beſtuͤrmte Seel’, in jeder Nerv’ erſchuͤttert,
Im Leiden Wolluſt fuͤhlt, und mit Vergnuͤgen zittert!
O ſagt, iſt dieſe Kunſt, die ſo Eur Herz zerſchmelzt,
Der Leidenſchaften Strom ſo durch Eur Inners waͤlzt,
Vergnuͤgend, wenn ſie ruͤhrt, entzuͤckend, wenn ſie
ſchrecket,
Zu Mitleid, Menſchenlieb’, und Edelmuth erwecket,
Die Sittenbilderinn, die jede Tugend lehrt,
Iſt die nicht Eurer Gunſt, und Eurer Pflege werth?
Die Fuͤrſicht ſendet ſie mitleidig auf die Erde,
Zum Beſten des Barbars, damit er menſchlich werde;
Weiht ſie, die Lehrerin der Koͤnige zu ſeyn,
Mit Wuͤrde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
Heißt
[43] Heißt ſie, mit ihrer Macht, durch Thraͤnen zu er-
goͤtzen,
Das ſtumpfeſte Gefuͤhl der Menſchenliebe wetzen;
Durch ſuͤße Herzensangſt, und angenehmes Graun
Die Bosheit baͤndigen, und an den Seelen baun;
Wohlthaͤtig fuͤr den Staat, den Wuͤthenden, den
Wilden,
Zum Menſchen, Buͤrger, Freund, und Patrioten
bilden.
Geſetze ſtaͤrken zwar der Staaten Sicherheit,
Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit:
Doch deckt noch immer Liſt den Boͤſen vor dem
Richter,
Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boͤſe-
wichter.
Wer raͤcht die Unſchuld dann? Weh dem gedruͤckten
Staat,
Der, ſtatt der Tugend, nichts, als ein Geſetzbuch hat!
Geſetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
Geſetze, die man lehrt des Haſſes Urtheil ſprechen,
Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Partheylichkeit
Fuͤr eines Solons Geiſt, den Geiſt der Druͤckung leiht!
Da lernt Beſtechung bald, um Strafen zu entgehen,
Das Schwerdt der Majeſtaͤt aus ihren Haͤnden
drehen:
Da pflanzet Herrſchbegier, ſich freuend des Verfalls
Der Redlichkeit, den Fuß der Freyheit auf den
Hals.
F 2Laͤßt
[44] Laͤßt den, der ſie vertritt, in Schimpf und Banden
ſchmachten,
Und das blutſchuld’ge Beil der Themis Unſchuld
ſchlachten!
Wenn der, den kein Geſetz ſtraft, oder ſtrafen kann,
Der ſchlaue Boͤſewicht, der blutige Tyrann,
Wenn der die Unſchuld druͤckt, wer wagt es, ſie zu
decken?
Den ſichert tiefe Liſt, und dieſen wafnet Schrecken.
Wer iſt ihr Genius, der ſich entgegen legt? —
Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geiſſel
traͤgt,
Die unerſchrokne Kunſt, die allen Mißgeſtalten
Strafloſer Thorheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
Die das Geweb’ enthuͤllt, worin ſich Liſt verſpinnt,
Und den Tyrannen ſagt, daß ſie Tyrannen ſind;
Die, ohne Menſchenfurcht, vor Thronen nicht er-
bloͤdet,
Und mit des Donners Stimm’ ans Herz der Fuͤrſten
redet;
Gekroͤnte Moͤrder ſchreckt, den Ehrgeitz nuͤchtern
macht,
Den Heuchler zuͤchtiget, und Thoren kluͤger lacht;
Sie, die zum Unterricht die Todten laͤßt erſcheinen,
Die große Kunſt, mit der wir lachen, oder weinen.
Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb’, und
Lehrbegier;
In Rom, in Gallien, in Albion, und — hier.
Ihr,
[45] Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Thraͤnen
floſſen,
Mit edler Weichlichkeit, die Euren mit vergoſſen;
Habt redlich Euren Schmerz mit ihrem Schmerz
vereint,
Und ihr aus voller Bruſt den Beyfall zugeweint:
Wie ſie gehaßt, geliebt, gehoffet, und geſcheuet,
Und Eurer Menſchlichkeit im Leiden Euch erfreuet.
Lang hat ſie ſich umſonſt nach Buͤhnen umgeſehn:
In Hamburg fand ſie Schutz: hier ſey denn ihr
Athen!
Hier, in dem Schooß der Ruh, im Schutze weiſer
Goͤnner,
Gemuthiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
Hier reifet — ja ich wuͤnſch’, ich hoff, ich weiſſag
es! —
Ein zweyter Roſcius, ein zweyter Sophokles,
Der Graͤciens Kothurn Germaniern erneure:
Und ein Theil dieſes Nuhms, ihr Goͤnner, wird der
Eure.
O ſeyd deſſelben werth! Bleibt Eurer Guͤte gleich,
Und denkt, o denkt daran, ganz Deutſchland ſieht
auf Euch!
F 3Epi-
[46]
Epilog.
(Geſprochen von Madame Henſel.)
Seht hier! ſo ſtandhaft ſtirbt der uͤberzeugte
Chriſt!
So lieblos haſſet der, dem Irrthum nuͤtzlich iſt,
Der Barbarey bedarf, damit er ſeine Sache,
Sein Anſehn, ſeinen Traum, zu Lehren Gottes mache.
Der Geiſt des Irrthums war Verfolgung und Ge-
walt,
Wo Blindheit fuͤr Verdienſt, und Furcht fuͤr An-
dacht galt.
So konnt er ſein Geſpinſt von Luͤgen, mit den Blitzen
Der Majeſtaͤt, mit Gifft, mit Meuchelmord beſchuͤtzen.
Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel
gut:
Die Wahrheit uͤberfuͤhrt, der Irrthum fodert Blut.
Verfolgen muß man die, und mit dem Schwerdt
bekehren,
Die anders Glaubens ſind, als die Ismenors lehren.
Und mancher Aladin ſieht Staatsklug oder ſchwach,
Dem ſchwarzen Blutgericht der heilgen Moͤrder nach,
Und muß mit ſeinem Schwerdt den, welchen Traͤu-
mer haſſen,
Den Freund, den Maͤrtyrer der Wahrheit wuͤrgen
laſſen,
Ab-
[47] Abſcheultchs Meiſterſtuͤck der Herrſchſucht und der
Liſt,
Wofuͤr kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos iſt!
O Lehre, die erlaubt, die Gottheit ſelbſt miß-
brauchen,
In ein unſchuldig Herz des Haſſes Dolch zu tauchen,
Dich, die ihr Blutpanier oft uͤber Leichen trug,
Dich, Greuel, zu verſchmaͤhn, wer leiht mir einen
Fluch!
Ihr Freund’, in deren Bruſt der Menſchheit edle
Stimme
Laut fuͤr die Heldinn ſprach, als Sie dem Prieſter
Grimme
Ein ſchuldlos Opfer ward, und fuͤr die Wahrheit ſank:
Habt Dank fuͤr dies Gefuͤhl, fuͤr jede Thraͤne Dank!
Wer irrt, verdient nicht Zucht des Haſſes oder
Spottes:
Was Menſchen haſſen lehrt, iſt keine Lehre Gottes!
Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
Zwar Schwaͤchere vielleicht, doch immer Menſchen
ſind.
Belehret, duldet ſie; und zwingt nicht die zu Thraͤnen,
Die ſonſt kein Vorwurf trift, als daß ſie anders
waͤhnen!
Rechtſchaffen iſt der Mann, den, ſeinem Glauben treu,
Nichts zur Verſtellung zwingt, zu boͤſer Heucheley;
Der fuͤr die Wahrheit gluͤht, und, nie durch Furcht
gezuͤgelt,
Sie freudig, wie Olint, mit ſeinem Blut verſiegelt.
Solch
[48] Solch Beyſpiel, edle Freund’, iſt Eures Beyfalls
werth:
O wohl uns! haͤtten wir, was Cronegk ſchoͤn gelehrt,
Gedanken, die ihn ſelbſt ſo ſehr veredelt haben,
Durch unſre Vorſtellung tief in Eur Herz gegraben!
Des Dichters Leben war ſchoͤn, wie ſein Nachruhm iſt;
Er war, und — o verzeiht die Thraͤn! — und ſtarb
ein Chriſt.
Ließ ſein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
Um ſie — was kann man mehr? noch todt zu un-
terrichten.
Verſaget, hat Euch itzt Sophronia geruͤhrt,
Denn ſeiner Aſche nicht, was ihr mit Recht gebuͤhrt,
Den Seufzer, daß er ſtarb, den Dank fuͤr ſeine Lehre,
Und — ach! den traurigen Tribut von einer Zaͤhre.
Uns aber, edle Freund’, ermuntre Guͤtigkeit;
Und haͤtten wir gefehlt, ſo tadelt; doch verzeiht.
Verzeihung muthiget zu edelerm Erkuͤhnen,
Und feiner Tadel lehrt, das hoͤchſte Lob verdienen.
Bedenkt, daß unter uns die Kunſt nur kaum beginnt,
In welcher tauſend Quins, fuͤr einen Garrick ſind;
Erwartet nicht zu viel, damit wir immer ſteigen,
Und — doch nur Euch gebuͤhrt zu richten, uns zu
ſchweigen.
Ham-
[[49]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Siebendes Stuͤck.
Der Prolog zeiget das Schauſpiel in ſeiner
hoͤchſten Wuͤrde, indem er es als das
Supplement der Geſetze betrachten laͤßt.
Es giebt Dinge in dem ſittlichen Betragen des
Menſchen, welche, in Anſehung ihres unmit-
telbaren Einflußes auf das Wohl der Geſell-
ſchaft, zu unbetraͤchtlich, und in ſich ſelbſt zu
veraͤnderlich ſind, als daß ſie werth oder faͤhig
waͤren, unter der eigentlichen Aufſicht des Ge-
ſetzes zu ſtehen. Es giebt wiederum andere,
gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faͤllt;
die in ihren Triebfedern ſo unbegreiflich, in ſich
ſelbſt ſo ungeheuer, in ihren Folgen ſo unermeß-
lich ſind, daß ſie entweder der Ahndung der Ge-
ſetze ganz entgehen, oder doch unmoͤglich nach
Verdienſt geahndet werden koͤnnen. Ich will
es nicht unternehmen, auf die erſtern, als auf
Gattungen des Laͤcherlichen, die Komoͤdie; und
Gauf
[50] auf die andern, als auf auſſerordentliche Erſchei-
nungen in dem Reiche der Sitten, welche die
Vernunft in Erſtaunen, und das Herz in Tu-
mult ſetzen, die Tragoͤdie einzuſchraͤnken. Das
Genie lacht uͤber alle die Grenzſcheidungen der
Kritik. Aber ſo viel iſt doch unſtreitig, daß das
Schauſpiel uͤberhaupt ſeinen Vorwurf entweder
diſſeits oder jenſeits der Grenzen des Geſetzes
waͤhlet, und die eigentlichen Gegenſtaͤnde deſſel-
ben nur in ſo fern behandelt, als ſie ſich entweder
in das Laͤcherliche verlieren, oder bis in das Ab-
ſcheuliche verbreiten.
Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt-
lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha-
raktere des Trauerſpiels mit abzwecken. Es
war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig
unuͤberlegt, in einem Stuͤcke, deſſen Stoff aus
den ungluͤcklichen Zeiten der Kreutzzuͤge genom-
men iſt, die Toleranz predigen, und die Abſcheu-
lichkeiten des Geiſtes der Verfolgung an den
Bekennern der mahomedaniſchen Religion zeigen
zu wollen. Denn dieſe Kreutzzuͤge ſelbſt, die
in ihrer Anlage ein politiſcher Kunſtgriff der
Paͤbſte waren, wurden in ihrer Ausfuͤhrung die
unmenſchlichſten Verfolgungen, deren ſich der
chriſtliche Aberglaube jemals ſchuldig gemacht
hat; die meiſten und blutgierigſten Iſmenors
hatte damals die wahre Religion; und einzelne
Per-
[51] Perſonen, die eine Moſchee beraubet haben,
zur Strafe ziehen, koͤmmt das wohl gegen die
unſelige Raſerey, welche das rechtglaͤubige Eu-
ropa entvoͤlkerte, um das unglaͤubige Aſien zu
verwuͤſten? Doch was der Tragicus in ſeinem
Werke ſehr unſchicklich angebracht hat, das
konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auf-
faſſen. Menſchlichkeit und Sanftmuth verdie-
nen bey jeder Gelegenheit empfohlen zu werden,
und kein Anlaß dazu kann ſo entfernt ſeyn, den
wenigſtens unſer Herz nicht ſehr natuͤrlich und
dringend finden ſollte.
Uebrigens ſtimme ich mit Vergnuͤgen dem ruͤh-
renden Lobe bey, welches der Dichter dem ſeligen
Cronegk ertheilet. Aber ich werde mich ſchwer-
lich bereden laſſen, daß er mit mir, uͤber den poe-
tiſchen Werth des kritiſirten Stuͤckes, nicht eben-
falls einig ſeyn ſollte. Ich bin ſehr betroffen
geweſen, als man mich verſichert, daß ich ver-
ſchiedene von meinen Leſern durch mein unver-
hohlnes Urtheil unwillig gemacht haͤtte. Wenn
ihnen beſcheidene Freyheit, bey der ſich durchaus
keine Nebenabſichten denken laſſen, mißfaͤllt, ſo
laufe ich Gefahr, ſie noch oft unwillig zu machen.
Ich habe gar nicht die Abſicht gehabt, ihnen die
Leſung eines Dichters zu verleiden, den unge-
kuͤnſtelter Witz, viel feine Empfindung und die
lauterſte Moral empfehlen. Dieſe Eigenſchaf-
G 2ten
[52] ten werden ihn jederzeit ſchaͤtzbar machen, ob
man ihm ſchon andere abſprechen muß, zu denen
er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu
ihrer Reife gewiſſe Jahre erfordern, weit unter
welchen er ſtarb. Sein Codrus ward von den
Verfaſſern der Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften gekroͤnet, aber wahrlich nicht als ein
gutes Stuͤck, ſondern als das beſte von denen,
die damals um den Preis ſtritten. Mein Urtheil
nimmt ihm alſo keine Ehre, die ihm die Kritik
damals ertheilet. Wenn Hinkende um die
Wette laufen, ſo bleibt der, welcher von ihnen
zuerſt an das Ziel koͤmmt, doch noch ein Hin-
kender.
Eine Stelle in dem Epilog iſt einer Mißdeu-
tung ausgeſetzt geweſen, von der ſie gerettet zu
werden verdienet. Der Dichter ſagt:
〟Bedenkt, daß unter uns die Kunſt nur kaum
beginnt,
〟In welcher tauſend Quins, fuͤr einen Garrick
ſind.
Quin, habe ich darwider erinnern hoͤren, iſt
kein ſchlechter Schauſpieler geweſen. — Nein,
gewiß nicht; er war Thomſons beſonderer
Freund, und die Freundſchaft, in der ein
Schauſpieler mit einem Dichter, wie Thomſon,
geſtanden, wird bey der Nachwelt immer ein
gu-
[53] gutes Vorurtheil fuͤr ſeine Kunſt erwecken.
Auch hat Quin noch mehr, als dieſes Vorur-
theil fuͤr ſich: man weiß, daß er in der Tragoͤdie
mit vieler Wuͤrde geſpielet; daß er beſonders der
erhabenen Sprache des Milton Genuͤge zu leiſten
gewußt; daß er, im Komiſchen, die Rolle des
Falſtaff zu ihrer groͤßten Vollkommenheit ge-
bracht. Doch alles dieſes macht ihn zu keinem
Garrick; und das Mißverſtaͤndniß liegt blos
darinn, daß man annimmt, der Dichter habe
dieſem allgemeinen und auſſerordentlichen Schau-
ſpieler einen ſchlechten, und fuͤr ſchlecht durch-
gaͤngig erkannten, entgegen ſetzen wollen. Quin
ſoll hier einen von der gewoͤhnlichen Sorte be-
deuten, wie man ſie alle Tage ſieht; einen
Mann, der uͤberhaupt ſeine Sache ſo gut weg-
macht, daß man mit ihm zufrieden iſt; der auch
dieſen und jenen Charakter ganz vortrefflich ſpie-
let, ſo wie ihm ſeine Figur, ſeine Stimme, ſein
Temperament dabey zu Huͤlfe kommen. So ein
Mann iſt ſehr brauchbar, und kann mit allem
Rechte ein guter Schauſpieler heiſſen; aber wie
viel fehlt ihm noch, um der Proteus in ſeiner
Kunſt zu ſeyn, fuͤr den das einſtimmige Geruͤcht
ſchon laͤngſt den Garrick erklaͤret hat. Ein ſol-
cher Quin machte, ohne Zweifel, den Koͤnig im
Hamlet, als Thomas Jones und Rebhuhn in
der Komoͤdie waren;(*) und der Rebhuhne giebt
G 3es
[54] es mehrere, die nicht einen Augenblick anſtehen,
ihn einem Garrick weit vorzuziehen. 〟Was?
ſagen ſie, Garrick der groͤßte Akteur? Er ſchien
ja nicht uͤber das Geſpenſt erſchrocken, ſondern
er war es. Was iſt das fuͤr eine Kunſt, uͤber
ein Geſpenſt zu erſchrecken? Gewiß und wahr-
haftig, wenn wir den Geiſt geſehen haͤtten, ſo
wuͤrden wir eben ſo ausgeſehen, und eben das
gethan haben, was er that. Der andere hin-
gegen, der Koͤnig, ſchien wohl auch, etwas ge-
ruͤhrt zu ſeyn, aber als ein guter Akteur gab er
ſich doch alle moͤgliche Muͤhe, es zu verbergen.
Zu dem ſprach er alle Worte ſo deutlich aus, und
redete noch einmal ſo laut, als jener kleine unan-
ſehnliche Mann, aus dem ihr ſo ein Aufhebens
macht!〟
Bey den Englaͤndern hat jedes neue Stuͤck
ſeinen Prolog und Epilog, den entweder der
Verfaſſer ſelbſt, oder ein Freund deſſelben, ab-
faſſet. Wozu die Alten den Prolog brauchten,
den Zuhoͤrer von verſchiedenen Dingen zu un-
terrichten, die zu einem geſchwindern Verſtaͤnd-
niſſe der zum Grunde liegenden Geſchichte des
Stuͤckes dienen, dazu brauchen ſie ihn zwar
nicht. Aber er iſt darum doch nicht ohne Nutzen.
Sie wiſſen hunderterley darinn zu ſagen, was
das Anditorium fuͤr den Dichter, oder fuͤr den
von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und un-
billigen
[55] billigen Kritiken, ſowohl uͤber ihn als uͤber die
Schauſpieler, vorbauen kann. Noch weniger
bedienen ſie ſich des Epilogs, ſo wie ſich wohl
Plautus deſſen manchmal bedienet; um die voͤl-
lige Aufloͤſung des Stuͤcks, die in dem fuͤnften
Akte nicht Raum hatte, darinn erzehlen zu laſ-
ſen. Sondern ſie machen ihn zu einer Art von
Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner
Bemerkungen uͤber die geſchilderten Sitten, und
uͤber die Kunſt, mit der ſie geſchildert worden;
und das alles in dem ſchnurrigſten, launigſten
Tone. Dieſen Ton aͤndern ſie auch nicht ein-
mal gern bey dem Trauerſpiele; und es iſt gar
nichts ungewoͤhnliches, daß nach dem blutigſten
und ruͤhrendſten, die Satyre ein ſo lautes Gelaͤch-
ter aufſchlaͤgt, und der Witz ſo muthwillig wird,
daß es ſcheinet, es ſey die ausdruͤckliche Abſicht,
mit allen Eindruͤcken des Guten ein Geſpoͤtte
zu treiben. Es iſt bekannt, wie ſehr Thomſon
wider dieſe Narrenſchellen, mit der man der
Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn
ich daher wuͤnſchte, daß auch bey uns neue Ori-
ginalſtuͤcke, nicht ganz ohne Einfuͤhrung und
Empfehlung, vor das Publikum gebracht wuͤrden,
ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß bey dem Trauer-
ſpiele der Ton des Epilogs unſerm deutſchen
Ernſte angemeſſener ſeyn muͤßte. Nach dem
Luſtſpiele koͤnnte er immer ſo burleſk ſeyn, als
er wollte. Dryden iſt es, der bey den Englaͤn-
dern
[56] dern Meiſterſtuͤcke von dieſer Art gemacht hat,
die noch itzt mit dem groͤßten Vergnuͤgen geleſen
werden, nachdem die Spiele ſelbſt, zu welchen
er ſie verfertiget, zum Theil laͤngſt vergeſſen
ſind. Hamburg haͤtte einen deutſchen Dryden
in der Naͤhe; und ich brauche ihn nicht noch ein-
mal zu bezeichnen, wer von unſern Dichtern
Moral und Kritik mit attiſchem Salze zu wuͤr-
zen, ſo gut als der Englaͤnder verſtehen wuͤrde.
Ham-
[[57]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Achtes Stuͤck.
Die Vorſtellungen des erſten Abends, wur-
den den zweyten wiederhohlt.
Den dritten Abend (Freytags, den 24ſten
v. M.) ward Melanide aufgefuͤhret. Dieſes
Stuͤck des Nivelle de la Chauſſee iſt bekannt.
Es iſt von der ruͤhrenden Gattung, der man
den ſpoͤttiſchen Beynamen, der Weinerlichen,
gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die
Thraͤnen nahe bringt, wobey wir nicht uͤbel Luſt
haͤtten zu weinen, ſo ſind verſchiedene Stuͤcke
von dieſer Gattung etwas mehr, als weinerlich;
ſie koſten einer empfindlichen Seele Stroͤme von
Thraͤnen; und der gemeine Praß franzoͤſiſcher
Trauerſpiele verdienet, in Vergleichung ihrer,
allein weinerlich genannt zu werden. Denn
eben bringen ſie es ungefaͤhr ſo weit, daß uns
Hwird,
[58] wird, als ob wir haͤtten weinen koͤnnen, wenn
der Dichter ſeine Kunſt beſſer verſtanden haͤtte.
Melanide iſt kein Meiſterſtuͤck von dieſer Gat-
tung; aber man ſieht es doch immer mit Ver-
gnuͤgen. Es hat ſich, ſelbſt auf dem franzoͤſiſchen
Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741
zuerſt geſpielt ward. Der Stoff, ſagt man,
ſey aus einem Roman, Mademoiſelle de Bon-
tems betittelt, entlehnet. Ich kenne dieſen Ro-
man nicht; aber wenn auch die Situation der
zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom-
men iſt, ſo muß ich einen Unbekannten, anſtatt
des de la Chauſſee, um das beneiden, weßwegen
ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben,
wuͤnſchte.
Die Ueberſetzung war nicht ſchlecht; ſie iſt
unendlich beſſer, als eine italieniſche, die in dem
zweyten Bande der theatraliſchen Bibliothek
des Diodati ſtehet. Ich muß es zum Troſte des
groͤßten Haufens unſerer Ueberſetzer anfuͤhren,
daß ihre italieniſchen Mitbruͤder meiſtentheils
noch weit elender ſind, als ſie. Gute Verſe
indeß in gute Proſa uͤberſetzen, erfodert etwas
mehr, als Genauigkeit; oder ich moͤchte wohl
ſagen, etwas anders. Allzu puͤnktliche Treue
macht jede Ueberſetzung ſteif, weil unmoͤglich
alles, was in der einen Sprache natuͤrlich iſt,
es auch in der andern ſeyn kann. Aber eine
Ueberſetzung aus Verſen macht ſie zugleich waͤß-
rig
[59] rig und ſchielend. Denn wo iſt der gluͤckliche
Verſificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie
der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort
etwas ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, fruͤher oder ſpaͤter,
ſagen lieſſe, als er es, frey von dieſem Zwange,
wuͤrde geſagt haben? Wenn nun der Ueberſetzer
dieſes nicht zu unterſcheiden weiß; wenn er nicht
Geſchmack, nicht Muth genug hat, hier einen
Nebenbegriff wegzulaſſen, da ſtatt der Metapher
den eigentlichen Ausdruck zu ſetzen, dort eine
Ellipſis zu ergaͤnzen oder anzubringen: ſo wird
er uns alle Nachlaͤßigkeiten ſeines Originals
uͤberliefert, und ihnen nichts als die Entſchul-
digung benommen haben, welche die Schwierig-
keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der
Grundſprache fuͤr ſie machen.
Die Rolle der Melanide ward von einer
Aktrice geſpielet, die nach einer neunjaͤhrigen
Entfernung vom Theater, aufs neue in allen
den Vollkommenheiten wieder erſchien, die Ken-
ner und Nichtkenner, mit und ohne Einſicht,
ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten.
Madame Loͤwen verbindet mit dem ſilbernen
Tone der ſonoreſten lieblichſten Stimme, mit
dem offenſten, ruhigſten und gleichwohl aus-
druckfaͤhigſten Geſichte von der Welt, das
feinſte ſchnellſte Gefuͤhl, die ſicherſte waͤrmſte
Empfindung, die ſich, zwar nicht immer ſo leb-
haft, als es viele wuͤnſchen, doch allezeit mit
H 2An-
[60] Anſtand und Wuͤrde aͤußert. In ihrer Dekla-
mation accentuirt ſie richtig, aber nicht merklich.
Der gaͤnzliche Mangel intenſiver Accente verur-
ſacht Monotonie; aber ohne ihr dieſe vorwerfen
zu koͤnnen, weiß ſie dem ſparſamern Gebrauche
derſelben durch eine andere Feinheit zu Huͤlfe zu
kommen, von der, leider! ſehr viele Akteurs
ganz und gar nichts wiſſen. Ich will mich er-
klaͤren. Man weiß, was in der Muſik das
Mouvement heißt; nicht der Takt, ſondern der
Grad der Langſamkeit oder Schnelligkeit, mit
welchen der Takt geſpielt wird. Dieſes Mou-
vement iſt durch das ganze Stuͤck einfoͤrmig; in
dem nehmlichen Maaße der Geſchwindigkeit, in
welchem die erſten Takte geſpielet worden, muͤſſen
ſie alle, bis zu den letzten, geſpielet werden.
Dieſe Einfoͤrmigkeit iſt in der Muſik nothwen-
dig, weil Ein Stuͤck nur einerley ausdruͤcken
kann, und ohne dieſelbe gar keine Verbindung
verſchiedener Inſtrumente und Stimmen moͤglich
ſeyn wuͤrde. Mit der Deklamation hingegen
iſt es ganz anders. Wenn wir einen Periodeu
von mehrern Gliedern, als ein beſonderes mu-
ſikaliſches Stuͤck annehmen, und die Glieder
als die Takte deſſelben betrachten, ſo muͤſſen dieſe
Glieder, auch alsdenn, wenn ſie vollkommen
gleicher Laͤnge waͤren, und aus der nehmlichen
Anzahl von Sylben des nehmlichen Zeitmaaßes
beſtuͤnden, dennoch nie mit einerley Geſchwin-
digkeit
[61] digkeit geſprochen werden. Denn da ſie, weder
in Abſicht auf die Deutlichkeit und den Nach-
druck, noch in Ruͤckſicht auf den in dem ganzen
Perioden herrſchenden Affekt, von einerley
Werth und Belang ſeyn koͤnnen: ſo iſt es der
Natur gemaͤß, daß die Stimme die geringfuͤgi-
gern ſchnell herausſtoͤßt, fluͤchtig und nachlaͤßig
daruͤber hinſchlupft; auf den betraͤchtlichern aber
verweilet, ſie dehnet und ſchleift, und jedes
Wort, und in jedem Worte jeden Buchſtaben,
uns zuzaͤhlet. Die Grade dieſer Verſchieden-
heit ſind unendlich; und ob ſie ſich ſchon durch
keine kuͤnſtliche Zeittheilchen beſtimmen und
gegen einander abmeſſen laſſen, ſo werden ſie
doch auch von dem ungelehrteſten Ohre unter-
ſchieden, ſo wie von der ungelehrteſten Zunge
beobachtet, wenn die Rede aus einem durch-
drungenen Herzen, und nicht blos aus einem fer-
tigen Gedaͤchtniſſe fließet. Die Wirkung iſt
unglaublich, die dieſes beſtaͤndig abwechſelnde
Mouvement der Stimme hat; und werden vol-
lends alle Abaͤnderungen des Tones, nicht blos
in Anſehung der Hoͤhe und Tiefe, der Staͤrke
und Schwaͤche, ſondern auch des Rauhen und
Sanften, des Schneidenden und Runden, ſo-
gar des Holprichten und Geſchmeidigen, an den
rechten Stellen, damit verbunden: ſo entſtehet
jene natuͤrliche Muſik, gegen die ſich unfehlbar
unſer Herz eroͤfnet, weil es empfindet, daß ſie
H 3aus
[62] aus den Herzen entſpringt, und die Kunſt nur
in ſo fern daran Antheil hat, als auch die Kunſt
zur Natur werden kann. Und in dieſer Muſik,
ſage ich, iſt die Aktrice, von welcher ich ſpreche,
ganz vortrefflich, und ihr niemand zu verglei-
chen, als Herr Eckhof, der aber, indem er die
intenſiven Accente auf einzelne Worte, worauf
ſie ſich weniger befleißiget, noch hinzufuͤget,
blos dadurch ſeiner Deklamation eine hoͤhere
Vollkommenheit zu geben im Stande iſt. Doch
vielleicht hat ſie auch dieſe in ihrer Gewalt; und
ich urtheile blos ſo von ihr, weil ich ſie noch in
keinen Rollen geſehen, in welchen ſich das Ruͤh-
rende zum Pathetiſchen erhebet. Ich erwarte
ſie in dem Trauerſpiele, und fahre indeß in der
Geſchichte unſers Theaters fort.
Den vierten Abend (Montags, den 27ſten v.
M.) ward ein neues deutſches Original, betittelt
Julie, oder Wettſtreit der Pflicht und Liebe, auf-
gefuͤhret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum
Verfaſſer, der uns ſagt, daß bereits zwey andere
Stuͤcke von ihm, den Beyfall des dortigen Publi-
kums erhalten haͤtten. Ich kenne ſie nicht; aber
nach dem gegenwaͤrtigen zu urtheilen, muͤſſen ſie
nicht ganz ſchlecht ſeyn.
Die Hauptzuͤge der Fabel und der groͤßte Theil
der Situationen, ſind aus der Neuen Heloiſe des
Rouſſeau entlehnet. Ich wuͤnſchte, daß Hr. Heu-
feld, ehe er zu Werke geſchritten, die Beurthei-
lung
[63] lung dieſes Romans in den Briefen, die neueſte Lit-
teratur betreffend,(*) geleſen und ſtudiert haͤtte.
Er wuͤrde mit einer ſicherern Einſicht in die Schoͤn-
heiten ſeines Originals gearbeitet haben, und viel-
leicht in vielen Stuͤcken gluͤcklicher geweſen ſeyn.
Der Werth der Neuen Heloiſe iſt, von der Seite
der Erfindung, ſehr gering, und das Beſte darinn
ganz und gar keiner dramatiſchen Bearbeitung
faͤhig. Die Situationen ſind alltaͤglich oder unna-
tuͤrlich, und die wenig guten ſo weit von einander
entfernt, daß ſie ſich, ohne Gewaltſamkeit, in den en-
gen Raum eines Schauſpiels von drey Aufzuͤgen
nicht zwingen laſſen. Die Geſchichte konnte ſich auf
der Buͤhne unmoͤglich ſo ſchlieſſen, wie ſie ſich in
dem Romane nicht ſowohl ſchließt, als verlieret.
Der Liebhaber der Julie mußte hier gluͤcklich wer-
den, und Hr. Heufeld laͤßt ihn gluͤcklich werden. Er
bekoͤmmt ſeine Schuͤlerinn. Aber hat Hr. Heufeld
auch uͤberlegt, daß ſeine Julie nun gar nicht mehr
die Julie des Rouſſeau iſt? Doch Julie des Rouſ-
ſeau, oder nicht: wem liegt daran? Wenn ſie nur
ſonſt eine Perſon iſt, die intereßiret. Aber eben das
iſt ſie nicht; ſie iſt nichts, als eine kleine verliebte
Naͤrrinn, die manchmal artig genug ſchwatzet,
wenn ſich Herr Heufeld auf eine ſchoͤne Stelle im
Rouſſeau beſinnet. 〟Julie, ſagt der Kunſtrichter,
deſſen Urtheils ich erwaͤhnet habe, ſpielt in der Ge-
ſchichte eine zweyfache Rolle. Sie iſt Anfangs ein
ſchwaches und ſogar etwas verfuͤhreriſches Maͤd-
chen,
[64] chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als
ein Muſter der Tugend, alle, die man jemals erdich-
tet hat, weit uͤbertrift.〟 Dieſes letztere wird ſie
durch ihren Gehorſam, durch die Aufopferung ih-
rer Liebe, durch die Gewalt, die ſie uͤber ihr Herz
gewinnet. Wenn nun aber von allen dieſen in dem
Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu ſehen iſt: was bleibt
von ihr uͤbrig, als, wie geſagt, das ſchwache ver-
fuͤhreriſche Maͤdchen, das Tugend und Weisheit
auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?
Den St. Preux des Rouſſeau hat Herr Heufeld in
einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund
ſchmecket bey uns ziemlich nach dem Domeſtiquen. Ich
wuͤnſchte, daß unſere dramatiſchen Dichter auch in ſol-
chen Kleinigkeiten ein wenig geſuchterer, und auf den
Ton der großen Welt aufmerkſamer ſeyn wollten. —
St. Preux ſpielt ſchon bey dem Rouſſeau eine ſehr ab-
geſchmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, ſagt der an-
gefuͤhrte Kunſtrichter, den Philoſophen. Den Philo-
ſophen! Ich moͤchte wiſſen, was der junge Menſch in
der ganzen Geſchichte ſpricht oder thut, dadurch er die-
ſen Namen verdienet? In meinen Augen iſt er der al-
bernſte Menſch von der Welt, der in allgemeinen Aus-
rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel
erhebt, und nicht den geringſten Funken davon beſitzet.
In ſeiner Liebe iſt er abentheuerlich, ſchwuͤlſtig, aus-
gelaſſen, und in ſeinem uͤbrigen Thun und Laſſen findet
ſich nicht die geringſte Spur von Ueberlegung. Er ſetzet
das ſtolzeſte Zutrauen in ſeine Vernunft, und iſt den-
noch nicht entſchloſſen genug, den kleinſten Schritt zu
thun, ohne von ſeiner Schuͤlerinn, oder von ſeinem
Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden.〟 — Aber
wie tief iſt der deutſche Siegmund noch unter dieſen
St. Preux!
Ham-
[[65]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neuntes Stuͤck.
In dem Romane hat St. Preux doch noch
dann und wann Gelegenheit, ſeinen auf-
geklaͤrten Verſtand zu zeigen, und die thaͤ-
tige Rolle des rechtſchaffenen Mannes zu ſpielen.
Aber Siegmund in der Komoͤdie iſt weiter nichts,
als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus ſei-
ner Schwachheit eine Tugend macht, und ſich
ſehr bele diget findet, daß man ſeinem zaͤrtlichen
Herzchen nicht durchgaͤngig will Gerechtigkeit
wiederfahren laſſen. Seine ganze Wirkſamkeit
laͤuft auf ein Paar maͤchtige Thorheiten heraus.
Das Buͤrſchchen will ſich ſchlagen und erſtechen.
Der Verfaſſer hat es ſelbſt empfunden, daß
ſein Siegmund nicht in genugſamer Handlung
erſcheinet; aber er glaubt, dieſem Einwurfe da-
durch vorzubeugen, wenn er zu erwaͤgen giebt:
〟daß ein Menſch ſeines gleichen, in einer Zeit
von vier und zwanzig Stunden, nicht wie ein
JKoͤnig,
[66] Koͤnig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu
darbieten, große Handlungen verrichten koͤnne.
Man muͤſſe zum voraus annehmen, daß er ein
rechtſchaffener Mann ſey, wie er beſchrieben
werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter,
Clariſſe, Eduard, lauter rechtſchaffene Leute,
ihn dafuͤr erkannt haͤtten.〟
Es iſt recht wohl gehandelt, wenn man, im
gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein
beleidigendes Mißtrauen ſetzt; wenn man dem
Zeugniſſe, das ſich ehrliche Leute unter einander
ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf
uns der dramatiſche Dichter mit dieſer Regel der
Billigkeit abſpeiſen? Gewiß nicht; ob er ſich
ſchon ſein Geſchaͤft dadurch ſehr leicht machen
koͤnnte. Wir wollen es auf der Buͤhne ſehen,
wer die Menſchen ſind, und koͤnnen es nur aus
ihren Thaten ſehen. Das Gute, das wir ihnen,
blos auf anderer Wort, zutrauen ſollen, kann
uns unmoͤglich fuͤr ſie intereſſiren; es laͤßt uns
voͤllig gleichguͤltig, und wenn wir nie die geringſte
eigene Erfahrung davon erhalten, ſo hat es ſo-
gar eine uͤble Ruͤckwirkung auf diejenigen, auf
deren Treu und Glauben wir es einzig und allein
annehmen ſollen. Weit gefehlt alſo, daß wir
deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clariſſe,
Eduard, den Siegmund fuͤr den vortrefflichſten,
vollkommenſten jungen Menſchen erklaͤren, ihn
auch dafuͤr zu erkennen bereit ſeyn ſollten: ſo
fan-
[67] fangen wir vielmehr an, in die Einſicht aller
dieſer Perſonen ein Mißtrauen zu ſetzen, wenn
wir nie mit unſern eigenen Augen etwas ſehen,
was ihre guͤnſtige Meinung rechtfertiget. Es
iſt wahr, in vier und zwanzig Stunden kann
eine Privatperſon nicht viel große Handlungen
verrichten. Aber wer verlangt denn große?
Auch in den kleinſten kann ſich der Charakter
ſchildern; und nur die, welche das meiſte Licht
auf ihn werfen, ſind, nach der poetiſchen
Schaͤtzung, die groͤßten. Wie traf es ſich
denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden
Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey
aͤußerſten Narrheiten Gelegenheit zu ſchaffen,
die einem Menſchen in ſeinen Umſtaͤnden nur
immer einfallen koͤnnen? Die Gelegenheiten ſind
auch darnach; koͤnnte der Verfaſſer antworten:
doch das wird er wohl nicht. Sie moͤchten aber
noch ſo natuͤrlich herbeygefuͤhret, noch ſo fein
behandelt ſeyn: ſo wuͤrden darum die Narrhei-
ten ſelbſt, die wir ihn zu begehen im Begriffe
ſehen, ihre uͤble Wirkung auf unſere Idee von
dem jungen ſtuͤrmiſchen Scheinweiſen, nicht ver-
lieren. Daß er ſchlecht handele, ſehen wir:
daß er gut handeln koͤnne, hoͤren wir nur, und
nicht einmal in Beyſpielen, ſondern in den all-
gemeinſten ſchwankendſten Ausdruͤcken.
Die Haͤrte, mit der Julien von ihrem Vater
begegnet wird, da ſie einen andern von ihm zum
J 2Ge-
[68] Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh-
let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be-
ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns
eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe
es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er
laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen.
Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be-
ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler
hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei-
ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand
dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der
Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte-
hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas
anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver-
langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf-
gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen
ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter-
laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu
dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn
in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft
Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es
nicht wirklich ſehen.
Die darauf folgende Scene iſt die hervor-
ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem
Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un-
wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen
miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter
fußfaͤllig um etwas bitten ſehen. Es beleidiget,
es kraͤnket uns, denjenigen ſo erniedriget zu er-
blicken,
[69] blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber-
tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen
auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe
iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da
keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da
ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch
die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur
noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur
durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar-
teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art
von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge-
liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche
Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln;
da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe
Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich
entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn
man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe
konnten wir es Julien in der Folge vergeben,
daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten
Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe
Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da
es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der
endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen-
dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die
Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe-
rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der-
ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in
Sicherheit ſetzen wollte? — Doch Kritik, und
kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan
J 3haͤtte,
[70] haͤtte, ſo wuͤrden wir um eine Scene gekommen
ſeyn, die, wenn ſie ſchon nicht ſo recht in das
Ganze paſſen will, doch ſehr kraͤftig iſt; er
wuͤrde uns ein hohes Licht in ſeiner Copie ver-
mahlt haben, von dem man zwar nicht eigentlich
weiß, wo es herkoͤmmt, das aber eine treffliche
Wirkung thut. Die Art, mit der Herr Eckhof
dieſe Scene ausfuͤhrte, die Aktion, mit der er
einen Theil der grauen Haare vors Auge brach-
te, bey welchen er die Tochter beſchwor; waͤren
es allein werth geweſen, eine kleine Unſchicklich-
keit zu begehen, die vielleicht niemanden, als
dem kalten Kunſtrichter, bey Zergliederung des
Planes, merklich wird.
Das Nachſpiel dieſes Abends war, der Schatz;
die Nachahmung des Plautinſchen Trinummus,
in welcher der Verfaſſer alle die komiſchen Sce-
nen ſeines Originals in einen Aufzug zu concen-
triren geſucht hat. Er ward ſehr wohl geſpielt.
Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der
Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomiſchen ſo noth-
wendig erfodert wird. Wenn ein halbſchieriger
Einfall, eine Unbeſonnenheit, ein Wortſpiel,
langſam und ſtotternd vorgebracht wird; wenn
ſich die Perſonen auf Armſeligkeiten, die weiter
nichts als den Mund in Falten ſetzen ſollen, noch
erſt viel beſinnen: ſo iſt die Langeweile unver-
meidlich. Poſſen muͤſſen Schlag auf Schlag
geſagt
[71] geſagt werden, und der Zuhoͤrer muß keinen
Augenblick Zeit haben, zu unterſuchen, wie
witzig oder unwitzig ſie ſind. Es ſind keine
Frauenzimmer in dieſem Stuͤcke; das einzige,
welches noch anzubringen geweſen waͤre, wuͤrde
eine froſtige Liebhaberinn ſeyn; und freylich lie-
ber keines, als ſo eines. Sonſt moͤchte ich es
niemanden rathen, ſich dieſer Beſondernheit zu
befleißigen. Wir ſind zu ſehr an die Unter-
mengung beider Geſchlechter gewoͤhnet, als daß
wir bey gaͤnzlicher Vermiſſung des reitzendern,
nicht etwas Leeres empfinden ſollten.
Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und
neuerlich unter den Franzoſen Destouches, das
nehmliche Luſtſpiel des Plautus wieder auf die
Buͤhne gebracht. Sie haben beide große Stuͤcke
von fuͤnf Aufzuͤgen daraus gemacht, und ſind
daher genoͤthiget geweſen, den Plan des Roͤ-
mers mit eignen Erfindungen zu erweitern.
Das vom Cecchi heißt, die Mitgift, und wird
vom Riccoboni, in ſeiner Geſchichte des italieni-
ſchen Theaters, als eines von den beſten alten
Luſtſpielen deſſelben empfohlen. Das vom Des-
touches fuͤhrt den Titel, der verborgne Schatz,
und ward ein einzigesmal, im Jahre 1745,
auf der italieniſchen Buͤhne zu Paris, und auch
dieſes einzigemal nicht ganz bis zu Ende, aufge-
fuͤhret. Es fand keinen Beyfall, und iſt erſt
nach
[72] nach dem Tode des Verfaſſers, und alſo ver-
ſchiedene Jahre ſpaͤter, als der deutſche Schatz,
im Drucke erſchienen. Plautus ſelbſt iſt nicht
der erſte Erfinder dieſes ſo gluͤcklichen, und von
mehrern mit ſo vieler Nacheifrung bearbeiteten
Stoffes geweſen; ſondern Philemon, bey dem
es eben die ſimple Aufſchrift hatte, zu der es im
Deutſchen wieder zuruͤckgefuͤhret worden. Plau-
tus hatte ſeine ganz eigne Manier, in Benen-
nung ſeiner Stuͤcke; und meiſtentheils nahm er
ſie von dem allerunerheblichſten Umſtande her.
Dieſes z. E. nennte er Trinummus, den Drey-
ling; weil der Sykophant einen Dreyling fuͤr
ſeine Muͤhe bekam.
Ham-
[[73]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zehntes Stuͤck.
Das Stuͤck des fuͤnften Abends (Dienſtags,
den 28ſten April,) war, das unvermu-
thete Hinderniß, oder das Hinderniß ohne
Hinderniß, vom Destouches.
Wenn wir die Annales des franzoͤſiſchen Thea-
ters nachſchlagen, ſo finden wir, daß die luſtig-
ſten Stuͤcke dieſes Verfaſſers, gerade den aller-
wenigſten Beyfall gehabt haben. Weder das
gegenwaͤrtige, noch der verborgene Schatz, noch
das Geſpenſt mit der Trommel, noch der poeti-
ſche Dorfjunker, haben ſich darauf erhalten;
und ſind ſelbſt in ihrer Neuheit, nur wenige-
mal aufgefuͤhret worden. Es beruhet ſehr viel
auf dem Tone, in welchem ſich ein Dichter an-
kuͤndiget, oder in welchem er ſeine beſten Werke
verfertiget. Man nimmt ſtillſchweigend an,
als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, ſich
von dieſem Tone niemals zu entfernen; und
Kwenn
[74] wenn er es thut, duͤnket man ſich berechtiget,
daruͤber zu ſtutzen. Man ſucht den Verfaſſer in
dem Verfaſſer, und glaubt, etwas ſchlechters
zu finden, ſobald man nicht das nehmliche findet.
Destouches hatte in ſeinem verheyratheten Phi-
loſophen, in ſeinem Ruhmredigen, in ſeinem
Verſchwender, Muſter eines feinern, hoͤhern
Komiſchen gegeben, als man vom Moliere, ſelbſt
in ſeinen ernſthafteſten Stuͤcken, gewohnt war.
Sogleich machten die Kunſtrichter, die ſo gern
klaßificiren, dieſes zu ſeiner eigenthuͤmlichen
Sphaͤre; was bey dem Poeten vielleicht nichts
als zufaͤllige Wahl war, erklaͤrten ſie fuͤr vor-
zuͤglichen Hang und herrſchende Faͤhigkeit; was
er einmal, zweymal, nicht gewollt hatte, ſchien
er ihnen nicht zu koͤnnen: und als er es nunmehr
wollte, was ſieht Kunſtrichtern aͤhnlicher, als
daß ſie ihm lieber nicht Gerechtigkeit wiederfahren
lieſſen, ehe ſie ihr voreiliges Urtheil aͤnderten?
Ich will damit nicht ſagen, daß das Niedrig-
komiſche des Destouches mit dem Molieriſchen
von einerley Guͤte ſey. Es iſt wirklich um vie-
les ſteifer; der witzige Kopf iſt mehr darinn zu
ſpuͤren, als der getreue Mahler; ſeine Narren
ſind ſelten von den behaͤglichen Narrren, wie ſie
aus den Haͤnden der Natur kommen, ſondern
mehrentheils von der hoͤlzernen Gattung, wie
ſie die Kunſt ſchnitzelt, und mit Affektation,
mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie uͤber-
ladet;
[75] ladet; ſein Schulwitz, ſein Maſuren, ſind da-
her froſtiger als laͤcherlich. Aber dem ohnge-
achtet, — und nur dieſes wollte ich ſagen, —
ſind ſeine luſtigen Stuͤcke am wahren Komiſchen
ſo geringhaltig noch nicht, als ſie ein verzaͤrtelter
Geſchmack findet; ſie haben Scenen mit unter,
die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen,
und die ihm allein einen anſehnlichen Rang unter
den komiſchen Dichtern verſichern koͤnnten.
Hierauf folget ein neues Luſtſpiel in einem
Aufzuge, betittelt, die neue Agneſe.
Madame Gertrude ſpielte vor den Augen der
Welt die fromme Sproͤde; aber insgeheim war
ſie die gefaͤllige feurige Freundinn eines gewiſſen
Bernard. Wie gluͤcklich, o wie gluͤcklich machſt
du mich, Bernard! rief ſie einſt in der Ent-
zuͤckung, und ward von ihrer Tochter behorcht.
Morgens darauf fragt das liebe einfaͤltige Maͤd-
chen: Aber, Mamma, wer iſt denn der Bernard,
der die Leute gluͤcklich macht? Die Mutter
merkte ſich verrathen, faßte ſich aber geſchwind.
Es iſt der Heilige, meine Tochter, den ich mir
kuͤrzlich gewaͤhlt habe; einer von den groͤßten im
Paradieſe. Nicht lange, ſo ward die Tochter
mit einem gewiſſen Hilar bekannt. Das gute
Kind fand in ſeinem Umgange recht viel Ver-
gnuͤgen; Mamma bekoͤmmt Verdacht; Mamma
beſchleicht das gluͤckliche Paar; und da bekoͤmmt
Mamma von dem Toͤchterchen eben ſo ſchoͤne
K 2Seuf-
[76] Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt
von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er-
grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn,
liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd-
chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt;
und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? —
Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen,
mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol-
taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es
gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi-
ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges
darinn, als die Namen der Heiligen, und die-
ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte
aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe,
eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und
der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der
unter den Namen und in der Geſtalt eines guten
Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum
Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter.
Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und
Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche
die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat
die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin-
gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit
befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter,
verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das
Ganze ſind eine Menge gute komiſche Einfaͤlle
verſtreuet, die zum Theil dem deutſchen Ver-
faſſer eigen ſind. Ich kann mich in die Veraͤn-
derun-
[77] derungen ſelbſt, die er mit ſeiner Urſchrift ge-
macht, nicht naͤher einlaſſen; aber Perſonen von
Geſchmack, welchen dieſe nicht unbekannt war,
wuͤnſchten, daß er die Nachbarinn, anſtatt des
Vaters, beybehalten haͤtte. — Die Rolle der
Agneſe ſpielte Mademoiſelle Felbrich, ein jun-
ges Frauenzimmer, das eine vortrefliche Ak-
trice verſpricht, und daher die beſte Aufmunte-
rung verdienet. Alter, Figur, Mine, Stim-
me, alles koͤmmt ihr hier zu ſtatten; und ob
ſich, bey dieſen Naturgaben, in einer ſolchen
Rolle ſchon vieles von ſelbſt ſpielet: ſo muß man
ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugeſtehen,
die Vorbedacht und Kunſt, aber gerade nicht
mehr und nicht weniger verriethen, als ſich an
einer Agneſe verrathen darf.
Den ſechſten Abend (Mittwochs, den 29ſten
April) ward die Semiramis des Hrn. von Vol-
taire aufgefuͤhret.
Dieſes Trauerſpiel ward im Jahre 1748 auf
die franzoͤſiſche Buͤhne gebracht, erhielt großen
Beyfall, und macht, in der Geſchichte dieſer
Buͤhne, gewiſſermaaßen Epoche. — Nachdem
der Hr. von Voltaire ſeine Zayre und Alzire,
ſeinen Brutus und Caͤſar geliefert hatte, ward
er in der Meinung beſtaͤrkt, daß die tragiſchen
Dichter ſeiner Nation die alten Griechen in vie-
len Stuͤcken weit uͤbertraͤfen. Von uns Fran-
zoſen, ſagt er, haͤtten die Griechen eine geſchick-
K 3tere
[78] tere Expoſition, und die große Kunſt, die Auf-
tritte unter einander ſo zu verbinden, daß die
Scene niemals leer bleibt, und keine Perſon we-
der ohne Urſache koͤmmt noch abgehet, lernen
koͤnnen. Von uns, ſagt er, haͤtten ſie lernen
koͤnnen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerin-
nen, in witzigen Antitheſen, mit einander ſpre-
chen; wie der Dichter, mit einer Menge erhabner,
glaͤnzender Gedanken, blenden und in Er-
ſtaunen ſetzen muͤſſe. Von uns haͤtten ſie lernen
koͤnnen — O freylich; was iſt von den Franzoſen
nicht alles zu lernen! Hier und da moͤchte zwar
ein Auslaͤnder, der die Alten auch ein wenig
geleſen hat, demuͤthig um Erlaubniß bitten,
anderer Meinung ſeyn zu duͤrfen. Er moͤchte
vielleicht einwenden, daß alle dieſe Vorzuͤge der
Franzoſen auf das Weſentliche des Trauerſpiels
eben keinen großen Einfluß haͤtten; daß es
Schoͤnheiten waͤren, welche die einfaͤltige Groͤße
der Alten verachtet habe. Doch was hilft es,
dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden?
Er ſpricht und man glaubt. Ein einziges ver-
mißte er bey ſeiner Buͤhne; daß die großen Mei-
ſterſtuͤcke derſelben nicht mit der Pracht aufge-
fuͤhret wuͤrden, deren doch die Griechen die klei-
nen Verſuche einer erſt ſich bildenden Kunſt ge-
wuͤrdiget haͤtten. Das Theater in Paris, ein
altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem
ſchlechteſten Geſchmacke, wo ſich in einem ſchmutzi-
gen
[79] gen Parterre das ſtehende Volk drengt und ſtoͤßt,
beleidigte ihn mit Recht; und beſonders belei-
digte ihn die barbariſche Gewohnheit, die Zu-
ſchauer auf der Buͤhne zu dulden, wo ſie den
Akteurs kaum ſo viel Platz laſſen, als zu ihren
nothwendigſten Bewegungen erforderlich iſt.
Er war uͤberzeugt, daß blos dieſer Uebelſtand
Frankreich um vieles gebracht habe, was man,
bey einem freyern, zu Handlungen bequemern
und praͤchtigern Theater, ohne Zweifel gewagt
haͤtte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver-
fertigte er ſeine Semiramis. Eine Koͤniginn,
welche die Staͤnde ihres Reichs verſammelt, um
ihnen ihre Vermaͤhlung zu eroͤffnen; ein Ge-
ſpenſt, das aus ſeiner Gruft ſteigt, um Blut-
ſchande zu verhindern, und ſich an ſeinem Moͤr-
der zu raͤchen; dieſe Gruft, in die ein Narr her-
eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus-
zukommen: das alles war in der That fuͤr die Fran-
zoſen etwas ganz Neues. Es macht ſo viel Ler-
men auf der Buͤhne, es erfordert ſo viel Pomp
und Verwandlung, als man nur immer in einer
Oper gewohnt iſt. Der Dichter glaubte das
Muſter zu einer ganz beſondern Gattung gege-
ben zu haben; und ob er es ſchon nicht fuͤr die
franzoͤſiſche Buͤhne, ſo wie ſie war, ſondern ſo
wie er ſie wuͤnſchte, gemacht hatte: ſo ward es
dennoch auf derſelben, vor der Hand, ſo gut
geſpielet, als es ſich ohngefaͤhr ſpielen ließ.
Bey
[80] Bey der erſten Vorſtellung ſaßen die Zuſchauer
noch mit auf dem Theater; und ich haͤtte wohl
ein altvaͤtriſches Geſpenſt in einem ſo galanten
Zirkel moͤgen erſcheinen ſehen. Erſt bey den fol-
genden Vorſtellungen ward dieſer Unſchicklich-
keit abgeholfen; die Akteurs machten ſich ihre
Buͤhne frey; und was damals nur eine Aus-
nahme, zum Beſten eines ſo auſſerordentlichen
Stuͤckes, war, iſt nach der Zeit die beſtaͤndige
Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur
fuͤr die Buͤhne in Paris; fuͤr die, wie geſagt, Se-
miramis in dieſem Stuͤcke Epoche macht. In
den Provinzen bleibet man noch haͤufig bey der
alten Mode, und will lieber aller Illuſion, als
dem Vorrechte entſagen, den Zayren und Me-
ropen auf die Schleppe treten zu koͤnnen.
Ham-
[[81]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Eilftes Stuͤck.
Die Erſcheinung eines Geiſtes war in einem
franzoͤſiſchen Trauerſpiele eine ſo kuͤhne
Neuheit, und der Dichter, der ſie wag-
te, rechtfertiget ſie mit ſo eignen Gruͤnden, daß
es ſich der Muͤhe lohnet, einen Augenblick da-
bey zu verweilen.
ſagt der Herr von Voltaire,
daß man an Ge-
ſpenſter nicht mehr glaube, und daß die Erſchei-
nung der Todten, in den Augen einer erleuchteten
Nation, nicht anders als kindiſch ſeyn koͤnne.
Wie?
verſetzt er dagegen;
das ganze Alterthum
haͤtte dieſe Wunder geglaubt, und es ſollte
nicht vergoͤnnt ſeyn, ſich nach dem Alterthume
zu richten? Wie? unſere Religion haͤtte der-
gleichen auſſerordentliche Fuͤgungen der Vorſicht
geheiliget, und es ſollte laͤcherlich ſeyn, ſie zu
erneuern?„
LDieſe
[82]
Dieſe Ausrufungen, duͤnkt mich, ſind rheto-
riſcher, als gruͤndlich. Vor allen Dingen
wuͤnſchte ich, die Religion hier aus dem Spiele
zu laſſen. In Dingen des Geſchmacks und der
Kritik, ſind Gruͤnde, aus ihr genommen, recht
gut, ſeinen Gegner zum Stillſchweigen zu brin-
gen, aber nicht ſo recht tauglich, ihn zu uͤber-
zeugen. Die Religion, als Religion, muß hier
nichts entſcheiden ſollen; nur als eine Art von
Ueberlieferung des Alterthums, gilt ihr Zeug-
niß nicht mehr und nicht weniger, als andere
Zeugniſſe des Alterthums gelten. Und ſo nach
haͤtten wir es auch hier, nur mit dem Alterthume
zu thun.
Sehr wohl; das ganze Alterthum hat Ge-
ſpenſter geglaubt. Die dramatiſchen Dichter
des Alterthums hatten alſo Recht, dieſen Glau-
ben zu nutzen; wenn wir bey einem von ihnen
wiederkommende Todte aufgefuͤhret finden, ſo
waͤre es unbillig, ihm nach unſern beſſern Ein-
ſichten den Proceß zu machen. Aber hat darum
der neue, dieſe unſere beſſere Einſichten theilende
dramatiſche Dichter, die nehmliche Befugniß?
Gewiß nicht. — Aber wenn er ſeine Geſchichte
in jene leichtglaͤubigere Zeiten zuruͤcklegt? Auch
alsdenn nicht. Denn der dramatiſche Dichter
iſt kein Geſchichtſchreiber; er erzehlt nicht, was
man ehedem geglaubt, daß es geſchehen, ſon-
dern
[83] dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge-
ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht
der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern
in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die
hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon-
dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will
uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren.
Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge-
ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau-
ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß-
te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym-
pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche
Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn-
geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi-
ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver-
loren.
Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er-
laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die
Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des
Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock-
net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie
zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich,
wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet,
und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt-
tiſch vorkommen, unſerer Einbildung ſehr fuͤrch-
terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher
anders fallen; und die Vorausſetzung wird nur
falſch ſeyn. Wir glauben keine Geſpenſter
L 2mehr?
[84] mehr? Wer ſagt das? Oder vielmehr, was
heißt das? Heißt es ſo viel: wir ſind endlich
in unſern Einſichten ſo weit gekommen, daß wir
die Unmoͤglichkeit davon erweiſen koͤnnen; ge-
wiſſe unumſtoͤßliche Wahrheiten, die mit dem
Glauben an Geſpenſter im Widerſpruche ſtehen,
ſind ſo allgemein bekannt worden, ſind auch dem
gemeinſten Manne immer und beſtaͤndig ſo ge-
genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit ſtreitet,
nothwendig laͤcherlich und abgeſchmackt vorkom-
men muß? Das kann es nicht heiſſen. Wir
glauben itzt keine Geſpenſter, kann alſo nur ſo
viel heiſſen: in dieſer Sache, uͤber die ſich faſt
eben ſo viel dafuͤr als darwider ſagen laͤßt, die
nicht entſchieden iſt, und nicht entſchieden wer-
den kann, hat die gegenwaͤrtig herrſchende Art
zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge-
wicht gegeben; einige wenige haben dieſe Art zu
denken, und viele wollen ſie zu haben ſcheinen;
dieſe machen das Geſchrey und geben den Ton;
der groͤßte Haufe ſchweigt und verhaͤlt ſich gleich-
guͤltig, und denkt bald ſo, bald anders, hoͤrt
beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge-
ſpenſter ſpotten, und bey dunkler Nacht mit
Grauſen davon erzehlen.
Aber in dieſem Verſtande keine Geſpenſter
glauben, kann und darf den dramatiſchen Dich-
ter im geringſten nicht abhalten, Gebrauch da-
von
[85] von zu machen. Der Saame, ſie zu glauben,
liegt in uns allen, und in denen am haͤufigſten,
fuͤr die er vornehmlich dichtet. Es koͤmmt nur
auf ſeine Kunſt an, dieſen Saamen zum Kaͤu-
men zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe,
den Gruͤnden fuͤr ihre Wirklichkeit in der Ge-
ſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er
dieſe in ſeiner Gewalt, ſo moͤgen wir in gemei-
nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater
muͤſſen wir glauben, was Er will.
So ein Dichter iſt Shakeſpear, und Shake-
ſpear faſt einzig und allein. Vor ſeinem Ge-
ſpenſte im Hamlet richten ſich die Haare zu Ber-
ge, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges
Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that
gar nicht wohl, ſich auf dieſes Geſpenſt zu be-
rufen; es macht ihn und ſeinen Geiſt des Ni-
nus — laͤcherlich.
Shakeſpears Geſpenſt koͤmmt wirklich aus
jener Welt; ſo duͤnkt uns. Denn es koͤmmt zu
der feyerlichen Stunde, in der ſchaudernden
Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller
der duͤſtern, geheimnißvollen Nebenbegriffe,
wenn und mit welchen wir, von der Amme an,
Geſpenſter zu erwarten und zu denken gewohnt
ſind. Aber Voltairens Geiſt iſt auch nicht ein-
mal zum Popanze gut, Kinder damit zu ſchrecken;
L 3es
[86] es iſt der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts
hat, nichts ſagt, nichts thut, was es wahr-
ſcheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr
er ſich ausgiebt; alle Umſtaͤnde vielmehr, unter
welchen er erſcheinet, ſtoͤren den Betrug, und
verrathen das Geſchoͤpf eines kalten Dichters,
der uns gern taͤuſchen und ſchrecken moͤchte, ohne
daß er weiß, wie er es anfangen ſoll. Man
uͤberlege auch nur dieſes einzige: am hellen Ta-
ge, mitten in der Verſamlung der Staͤnde des
Reichs, von einem Donnerſchlage angekuͤndiget,
tritt das Voltairiſche Geſpenſt aus ſeiner Gruft
hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß
Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau
haͤtte ihm nicht ſagen koͤnnen, daß die Geſpen-
ſter das Sonnenlicht ſcheuen, und große Geſell-
ſchaften gar nicht gern beſuchten? Doch Vol-
taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu
furchtſam, zu eckel, dieſe gemeinen Umſtaͤnde zu
nutzen; er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber
es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſeyn;
und durch dieſe edlere Art verdarb er alles.
Das Geſpenſt, das ſich Dinge herausnimmt,
die wider alles Herkommen, wider alle gute
Sitten unter den Geſpenſtern ſind, duͤnket mich
kein rechtes Geſpenſt zu ſeyn; und alles, was
die Illuſion hier nicht befoͤrdert, ſtoͤret die Il-
luſion.
Wenn
[87]
Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die
Pantomime genommen haͤtte, ſo wuͤrde er auch
von einer andern Seite die Unſchicklichkeit em-
pfunden haben, ein Geſpenſt vor den Augen
einer großen Menge erſcheinen zu laſſen. Alle
muͤſſen auf einmal, bey Erblickung deſſelben,
Furcht und Entſetzen aͤußern; alle muͤſſen es auf
verſchiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht
die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll.
Nun richte man einmal eine Heerde dumme
Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das
gluͤcklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man,
wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nehmli-
chen Affekts die Aufmerkſamkeit theilen, und
von den Hauptperſonen abziehen muß. Wenn
dieſe den rechten Eindruck auf uns machen ſollen,
ſo muͤſſen wir ſie nicht allein ſehen koͤnnen, ſon-
dern es iſt auch gut, wenn wir ſonſt nichts ſehen,
als ſie. Beym Shakeſpear iſt es der einzige
Hamlet, mit dem ſich das Geſpenſt einlaͤßt; in
der Scene, wo die Mutter dabey iſt, wird es
von der Mutter weder geſehen noch gehoͤrt. Alle
unſere Beobachtung geht alſo auf ihn, und
je mehr Merkmale eines von Schauder und
Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent-
decken, deſto bereitwilliger ſind wir, die Er-
ſcheinung, welche dieſe Zerruͤttung in ihm ver-
urſacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er ſie
haͤlt. Das Geſpenſt wirket auf uns, mehr
durch
[88] durch ihn, als durch ſich ſelbſt. Der Eindruck,
den es auf ihn macht, gehet in uns uͤber, und
die Wirkung iſt zu augenſcheinlich und zu ſtark,
als daß wir an der auſſerordentlichen Urſache
zweifeln ſollten. Wie wenig hat Voltaire auch
dieſen Kunſtgriff verſtanden! Es erſchrecken
uͤber ſeinen Geiſt viele; aber nicht viel. Se-
miramis ruft einmal: Himmel! ich ſterbe! und
die andern machen nicht mehr Umſtaͤnde mit ihm,
als man ohngefehr mit einem weit entfernt ge-
glaubten Freunde machen wuͤrde, der auf ein-
mal ins Zimmer tritt.
Ham-
[[89]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwoͤlftes Stuͤck.
Ich bemerke noch einen Unterſchied, der ſich
zwiſchen den Geſpenſtern des engliſchen
und franzoͤſiſchen Dichters findet. Vol-
tairs Geſpenſt iſt nichts als eine poetiſche Ma-
ſchine, die nur des Knotens wegen da iſt; es
intereſſirt uns fuͤr ſich ſelbſt nicht im geringſten.
Shakeſpears Geſpenſt hingegen iſt eine wirklich
handelnde Perſon, an deſſen Schickſale wir An-
theil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch
Mitleid.
Dieſer Unterſchied entſprang, ohne Zweifel,
aus der verſchiedenen Denkungsart beider Dich-
ter von den Geſpenſtern uͤberhaupt. Voltaire
betrachtet die Erſcheinung eines Verſtorbenen
als ein Wunder; Shakeſpear als eine ganz na-
tuͤrliche Begebenheit. Wer von beiden philo-
ſophiſcher denkt, duͤrfte keine Frage ſeyn; aber
Shakeſpear dachte poetiſcher. Der Geiſt des
MNi-
[90] Ninus kam bey Voltairen, als ein Weſen, das
noch jenſeit dem Grabe angenehmer und unange-
nehmer Empfindungen faͤhig iſt, mit welchem
wir alſo Mitleiden haben koͤnnen, in keine Be-
trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß
die hoͤchſte Macht, um verborgene Verbrechen
ans Licht zu bringen und zu beſtrafen, auch wohl
eine Ausnahme von ihren ewigen Geſetzen mache.
Ich will nicht ſagen, daß es ein Fehler iſt,
wenn der dramatiſche Dichter ſeine Fabel ſo ein-
richtet, daß ſie zur Erlaͤuterung oder Beſtaͤti-
gung irgend einer großen moraliſchen Wahrheit
dienen kann. Aber ich darf ſagen, daß dieſe
Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth-
wendig iſt; daß es ſehr lehrreiche vollkommene
Stuͤcke geben kann, die auf keine ſolche einzelne
Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den
letzten Sittenſpruch, den man zum Schluſſe ver-
ſchiedener Trauerſpiele der Alten findet, ſo an-
zuſehen, als ob das Ganze blos um ſeinetwillen
da waͤre.
Wenn daher die Semiramis des Herrn von
Voltaire weiter kein Verdienſt haͤtte, als dieſes,
worauf er ſich ſo viel zu gute thut, daß man
nehmlich daraus die hoͤchſte Gerechtigkeit vereh-
ren lerne, die auſſerordentliche Laſterthaten zu
ſtrafen, auſſerordentliche Wege waͤhle: ſo wuͤrde
Semiramis in meinen Augen nur ein ſehr mittel-
maͤßiges Stuͤck ſeyn. Beſonders da dieſe Moral
ſelbſt
[91] ſelbſt nicht eben die erbaulichſte iſt. Denn es iſt
ohnſtreitig dem weiſeſten Weſen weit anſtaͤndi-
ger, wenn es dieſer auſſerordentlichen Wege
nicht bedarf, und wir uns die Beſtrafung des
Guten und Boͤſen in die ordentliche Kette der
Dinge von ihr mit eingeflochten denken.
Doch ich will mich bey dem Stuͤcke nicht laͤn-
ger verweilen, um noch ein Wort von der Art
zu ſagen, wie es hier aufgefuͤhret worden. Man
hat alle Urſache, damit zufrieden zu ſeyn. Die
Buͤhne iſt geraͤumlich genug, die Menge von
Perſonen ohne Verwirrung zu faſſen, die der
Dichter in verſchiedenen Scenen auftreten laͤßt.
Die Verzierungen ſind neu, von dem beſten Ge-
ſchmacke, und ſammeln den ſo oft abwechſelnden
Ort ſo gut als moͤglich in einen.
Den ſiebenden Abend (Donnerſtags, den
30ſten April,) ward der verheyrathete Philo-
ſoph, vom Destouches, geſpielet.
Dieſes Luſtſpiel kam im Jahr 1727 zuerſt auf
die franzoͤſiſche Buͤhne, und fand ſo allgemeinen
Beyfall, daß es in Jahr und Tag ſechs und
dreyßigmal aufgefuͤhret ward. Die deutſche
Ueberſetzung iſt nicht die proſaiſche aus den zu
Berlin uͤberſetzten ſaͤmtlichen Werken des Des-
touches; ſondern eine in Verſen, an der mehrere
Haͤnde geflickt und gebeſſert haben. Sie hat
wirklich viel gluͤckliche Verſe, aber auch viel
harte und unnatuͤrliche Stellen. Es iſt unbe-
M 2ſchreib-
[92] ſchreiblich, wie ſchwer dergleichen Stellen dem
Schauſpieler das Agiren machen; und doch wer-
den wenig franzoͤſiſche Stuͤcke ſeyn, die auf
irgend einem deutſchen Theater jemals beſſer aus-
gefallen waͤren, als dieſes auf unſerm. Die
Rollen ſind alle auf das ſchicklichſte beſetzt, und
beſonders ſpielet Madame Loͤwen die launigte
Celiante als eine Meiſterinn, und Herr Acker-
mann den Geront unverbeſſerlich. Ich kann es
uͤberhoben ſeyn, von dem Stuͤcke ſelbſt zu reden.
Es iſt zu bekannt, und gehoͤrt unſtreitig unter die
Meiſterſtuͤcke der franzoͤſiſchen Buͤhne, die man
auch unter uns immer mit Vergnuͤgen ſehen wird.
Das Stuͤck des achten Abends (Freytags,
den 1ſten May,) war das Kaffeehaus, oder die
Schottlaͤnderinn, des Hrn. von Voltaire.
Es lieſſe ſich eine lange Geſchichte von dieſem
Luſtſpiele machen. Sein Verfaſſer ſchickte es
als eine Ueberſetzung aus dem Engliſchen des
Hume, nicht des Geſchichtſchreibers und Philo-
ſophen, ſondern eines andern dieſes Namens,
der ſich durch das Trauerſpiel, Douglas, be-
kannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in
einigen Charakteren mit der Kaffeeſchenke des
Goldoni etwas Aehnliches; beſonders ſcheint
der Don Marzio des Goldoni, das Urbild des
Frelon geweſen zu ſeyn. Was aber dort blos
ein boͤsartiger Kerl iſt, iſt hier zugleich ein elen-
der Scribent, den er Frelon nannte, damit die
Aus-
[93] Ausleger deſto geſchwinder auf ſeinen geſchwor-
nen Feind, den Jurnaliſten Freron, fallen
moͤchten. Dieſen wollte er damit zu Boden
ſchlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen
empfindlichen Streich verſetzt. Wir Auslaͤn-
der, die wir an den haͤmiſchen Neckereyen der
franzoͤſiſchen Gelehrten unter ſich, keinen An-
theil nehmen, ſehen uͤber die Perſoͤnlichkeiten
dieſes Stuͤcks weg, und finden in dem Frelon
nichts als die getreue Schilderung einer Art von
Leuten, die auch bey uns nicht fremd iſt. Wir
haben unſere Frelons ſo gut, wie die Franzoſen
und Englaͤnder, nur daß ſie bey uns weniger
Aufſehen machen, weil uns unſere Litteratur
uͤberhaupt gleichguͤltiger iſt. Fiele das Tref-
fende dieſes Charakters aber auch gaͤnzlich in
Deutſchland weg, ſo hat das Stuͤck doch, noch
außer ihm, Intereſſe genug, und der ehrliche
Freeport allein, koͤnnte es in unſerer Gunſt er-
halten. Wir lieben ſeine plumpe Edelmuͤthig-
keit, und die Englaͤnder ſelbſt haben ſich dadurch
geſchmeichelt gefunden.
Denn nur ſeinetwegen haben ſie erſt kuͤrzlich
den ganzen Stamm auf den Grund wirklich ver-
pflanzt, auf welchem er ſich gewachſen zu ſeyn
ruͤhmte. Colman, unſtreitig itzt ihr beſter ko-
miſcher Dichter, hat die Schottlaͤnderinn, unter
dem Titel des Engliſchen Kaufmanns, uͤberſetzt,
und ihr vollends alle das nationale Colorit gege-
M 3ben,
[94] ben, das ihr in dem Originale noch mangelte.
So ſehr der Herr von Voltaire die engliſchen
Sitten auch kennen will, ſo hatte er doch haͤufig
dagegen verſtoſſen; z. E. darinn, daß er ſeine
Lindane auf einem Kaffeehauſe wohnen laͤßt.
Colman miethet ſie dafuͤr bey einer ehrlichen Frau
ein, die moͤblirte Zimmer haͤlt, und dieſe Frau
iſt weit anſtaͤndiger die Freundinn und Wohl-
thaͤterinn der jungen verlaſſenen Schoͤne, als
Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuͤr
den engliſchen Geſchmack kraͤftiger zu machen ge-
ſucht. Lady Alton iſt nicht blos eine eiferſuͤch-
tige Furie; ſie will ein Frauenzimmer von Ge-
nie, von Geſchmack und Gelehrſamkeit ſeyn,
und giebt ſich das Anſehen einer Schutzgoͤttinn
der Litteratur. Hierdurch glaubte er die Ver-
bindung wahrſcheinlicher zu machen, in der ſie
mit dem elenden Frelon ſtehet, den er Spatter
nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere
Sphaͤre von Thaͤtigkeit bekommen, und er nimmt
ſich des Vaters der Lindane eben ſo eifrig an,
als der Lindane ſelbſt. Was im Franzoͤſiſchen
der Lord Falbridge zu deſſen Begnadigung thut,
thut im Engliſchen Freeport, und er iſt es allein,
der alles zu einem gluͤcklichen Ende bringet.
Die engliſchen Kunſtrichter haben in Colmans
Umarbeitung die Geſinnungen durchaus vor-
trefflich, den Dialog fein und lebhaft, und die
Charaktere ſehr wohl ausgefuͤhrt gefunden. Aber
doch
[95] doch ziehen ſie ihr Colmans uͤbrige Stuͤcke weit vor,
von welchen man die eiferſuͤchtige Ehefrau auf dem
Ackermanniſchen Theater ehedem hier geſehen, und
nach der diejenigen, die ſich ihrer erinnern, un-
gefehr urtheilen koͤnnen. Der engliſche Kauf-
mann hat ihnen nicht Handlung genug; die Neu-
gierde wird ihnen nicht genug darinn genaͤhret;
die ganze Verwickelung iſt in dem erſten Akte
ſichtbar. Hiernaͤchſt hat er ihnen zu viel Aehn-
lichkeit mit andern Stuͤcken, und den beſten Si-
tuationen fehlt die Neuheit. Freeport, meynen
ſie, haͤtte nicht den geringſten Funken von Lieben
gegen die Lindane empfinden muͤſſen; ſeine gute
That verliere dadurch alles Verdienſt u. ſ. w.
Es iſt an dieſer Kritik manches nicht ganz un-
gegruͤndet; indeß ſind wir Deutſchen es ſehr
wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher
und verwickelter iſt. Die engliſche Manier in
dieſem Punkte, zerſtreuet und ermuͤdet uns; wir
lieben einen einfaͤltigen Plan, der ſich auf einmal
uͤberſehen laͤßt. So wie die Englaͤnder die fran-
zoͤſiſchen Stuͤcke mit Epiſoden erſt vollpfropfen
muͤſſen, wenn ſie auf ihrer Buͤhne gefallen ſol-
len; ſo muͤßten wir die engliſchen Stuͤcke von
ihren Epiſoden erſt entladen, wenn wir unſere
Buͤhne gluͤcklich damit bereichern wollten. Ihre
beſten Luſtſpiele eines Congreve und Wycherley
wuͤrden uns, ohne dieſen Aushau des allzu wol-
luͤſtigen Wuchſes, unausſtehlich ſeyn. Mit
ihren
[96] ihren Tragoͤdien werden wir noch eher fertig;
dieſe ſind zum Theil bey weiten ſo verworren
nicht, als ihre Komoͤdien, und verſchiedene haben,
ohne die geringſte Veraͤnderung, bey uns Gluͤck
gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer
Komoͤdien zu ſagen wuͤßte.
Auch die Italiener haben eine Ueberſetzung
von der Schottlaͤnderinn, die in dem erſten Theile
der theatraliſchen Bibliothek des Diodati ſtehet.
Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt,
ſo wie die deutſche; nur eine Scene zum Schluſſe
hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire
ſagte, Frelon werde in der engliſchen Ur-
ſchrift am Ende beſtraft; aber ſo verdient dieſe
Beſtrafungen ſey, ſo habe ſie ihm doch dem
Hauptintereſſe zu ſchaden geſchienen; er habe ſie
alſo weggelaſſen. Dem Italiener duͤnkte dieſe
Entſchuldigung nicht hinlaͤnglich, und er er-
gaͤnzte die Beſtrafung des Frelons aus ſeinem
Kopfe; denn die Italiener ſind große Liebhaber
der poetiſchen Gerechtigkeit.
Ham-
[[97]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Dreyzehntes Stuͤck.
Den neunten Abend (Montags, den 4ten
May,) ſollte Cenie geſpielet werden. Es
wurden aber auf einmal mehr als die
Haͤlfte der Schauſpieler, durch einen epidemiſchen
Zufall, auſſer Stand geſetzet zu agiren; und man
mußte ſich ſo gut zu helfen ſuchen, als moͤglich.
Man wiederholte die neue Agneſe, und gab das
Singſpiel, die Gouvernante.
Den zehnten Abend (Dienſtags, den 5ten
May,) ward der poetiſche Dorfjunker, vom
Destouches, aufgefuͤhrt.
Dieſes Stuͤck hat im Franzoͤſiſchen drey Auf-
zuͤge, und in der Ueberſetzung fuͤnfe. Ohne
dieſe Verbeſſerung war es nicht werth, in die
deutſche Schaubuͤhne des weiland beruͤhmten
Herrn Profeſſor Gottſcheds aufgenommen zu
werden, und ſeine gelehrte Freundinn, die Ueber-
ſetzerinn, war eine viel zu brave Ehefrau, als
Ndaß
[98] daß ſie ſich nicht den kritiſchen Ausſpruͤchen ihres
Gemahls blindlings haͤtte unterwerfen ſollen.
Was koſtet es denn nun auch fuͤr große Muͤhe,
aus drey Aufzuͤgen fuͤnfe zu machen? Man laͤßt
in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken;
man ſchlaͤgt einen Spatziergang im Garten vor;
und wenn Noth an den Mann gehet, ſo kann ja
auch der Lichtputzer herauskommen und ſagen:
Meine Damen und Herren, treten ſie ein wenig
ab; die Zwiſchenakte ſind des Putzens wegen er-
funden, und was hilft ihr Spielen, wenn das
Parterr nicht ſehen kann? — Die Ueberſetzung
ſelbſt iſt ſonſt nicht ſchlecht, und beſonders ſind
der Fr. Profeſſorinn die Knittelverſe des Ma-
ſuren, wie billig, ſehr wohl gelungen. Ob ſie
uͤberall eben ſo gluͤcklich geweſen, wo ſie den
Einfaͤllen ihres Originals eine andere Wendung
geben zu muͤſſen geglaubt, wuͤrde ſich aus der
Vergleichung zeigen. Eine Verbeſſerung dieſer
Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut
gemeinet hatte, habe ich dem ohngeachtet auf-
mutzen hoͤren. In der Scene, wo Henriette
die alberne Dirne ſpielt, laͤßt Destouches den
Maſuren zu ihr ſagen: „Sie ſetzen mich in Er-
ſtaunen, Mademoiſell; ich habe Sie fuͤr eine
Virtuoſinn gehalten. O pfuy! erwiedert Hen-
riette; wofuͤr haben Sie mich gehalten? Ich
bin ein ehrliches Maͤdchen; daß Sie es nur wiſ-
ſen. Aber man kann ja, faͤllt ihr Maſuren ein,
bei-
[99] beides wohl zugleich, ein ehrliches Maͤdchen und
eine Virtuoſinn, ſeyn. Nein, ſagt Henriette;
ich behaupte, daß man das nicht zugleich ſeyn
kann. Ich eine Virtuoſinn!„ Man erinnere
ſich, was Madame Gottſched, anſtatt des
Worts, Virtuoſinn, geſetzt hat: ein Wun-
der. Kein Wunder! ſagte man, daß ſie das
that. Sie fuͤhlte ſich auch ſo etwas von einer
Virtuoſinn zu ſeyn, und ward uͤber den ver-
meinten Stich boͤſe. Aber ſie haͤtte nicht boͤſe
werden ſollen, und was die witzige und gelehrte
Henriette, in der Perſon einer dummen Agneſe,
ſagt, haͤtte die Frau Profeſſorinn immer, ohne
Maulſpitzen, nachſagen koͤnnen. Doch viel-
leicht war ihr nur das fremde Wort, Virtuoſinn,
anſtoͤßig; Wunder iſt deutſcher; zudem giebt es
unter unſern Schoͤnen funfzig Wunder gegen
eine Virtuoſinn; die Frau wollte rein und ver-
ſtaͤndlich uͤberſetzen; ſie hatte ſehr recht.
Den Beſchluß dieſes Abends machte die
ſtumme Schoͤnheit, von Schlegeln.
Schlegel hatte dieſes kleine Stuͤck fuͤr das
neuerrichtete Kopenhagenſche Theater geſchrie-
ben, um auf demſelben in einer daͤniſchen Ueber-
ſetzung aufgefuͤhret zu werden. Die Sitten
darinn ſind daher auch wirklich daͤniſcher, als
deutſch. Dem ohngeachtet iſt es unſtreitig unſer
beſtes komiſches Original, das in Verſen ge-
ſchrieben iſt. Schlegel hatte uͤberall eine eben
N 2ſo
[100] ſo fließende als zierliche Verſification, und es
war ein Gluͤck fuͤr ſeine Nachfolger, daß er ſeine
groͤßern Komoͤdien nicht auch in Verſen ſchrieb.
Er haͤtte ihnen leicht das Publikum verwoͤhnen
koͤnnen, und ſo wuͤrden ſie nicht allein ſeine Lehre,
ſondern auch ſein Beyſpiel wider ſich gehabt ha-
ben. Er hatte ſich ehedem der gereimten Ko-
moͤdie ſehr lebhaft angenommen; und je gluͤckli-
cher er die Schwierigkeiten derſelben uͤberſtiegen
haͤtte, deſto unwiderleglicher wuͤrden ſeine
Gruͤnde geſchienen haben. Doch, als er ſelbſt
Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel,
wie unſaͤgliche Muͤhe es koſte, nur einen Theil
derſelben zu uͤberſteigen, und wie wenig das
Vergnuͤgen, welches aus dieſen uͤberſtiegenen
Schwierigkeiten entſtehet, fuͤr die Menge klei-
ner Schoͤnheiten, die man ihnen aufopfern muͤſ-
ſe, ſchadlos halte. Die Franzoſen waren ehe-
dem ſo eckel, daß man ihnen die proſaiſchen
Stuͤcke des Moliere, nach ſeinem Tode, in
Verſe bringen mußte; und noch itzt hoͤren ſie ein
proſaiſches Luſtſpiel als ein Ding an, das ein
jeder von ihnen machen koͤnne. Den Englaͤnder
hingegen wuͤrde eine gereimte Komoͤdie aus dem
Theater jagen. Nur die Deutſchen ſind auch
hierinn, ſoll ich ſagen billiger, oder gleichguͤl-
tiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter
vorſetzt. Was waͤre es auch, wenn ſie itzt ſchon
waͤhlen und ausmuſtern wollten?
Die
[101]
Die Rolle der ſtummen Schoͤne hat ihre Be-
denklichkeiten. Eine ſtumme Schoͤne, ſagt
man, iſt nicht nothwendig eine dumme, und die
Schauſpielerinn hat Unrecht, die eine alberne
plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels
ſtumme Schoͤnheit iſt allerdings dumm zugleich;
denn daß ſie nichts ſpricht, koͤmmt daher, weil
ſie nichts denkt. Das Feine dabey wuͤrde alſo
dieſes ſeyn, daß man ſie uͤberall, wo ſie, um
artig zu ſcheinen, denken muͤßte, unartig machte,
dabey aber ihr alle die Artigkeiten lieſſe, die blos
mechaniſch ſind, und die ſie, ohne viel zu den-
ken, haben koͤnnte. Ihr Gang z. E. ihre Ver-
beugungen, brauchen gar nicht baͤuriſch zu ſeyn;
ſie koͤnnen ſo gut und zierlich ſeyn, als ſie nur
immer ein Tanzmeiſter lehren kann; denn warum
ſollte ſie von ihrem Tanzmeiſter nichts gelernt
haben, da ſie ſogar Quadrille gelernt hat? Und
ſie muß Quadrille nicht ſchlecht ſpielen; denn ſie
rechnet feſt darauf, dem Papa das Geld abzu-
gewinnen. Auch ihre Kleidung muß weder alt-
vaͤtriſch, noch ſchlumpicht ſeyn; denn Frau Praat-
gern ſagt ausdruͤcklich:
„Biſt du vielleicht nicht wohl gekleidet? — Laß
doch ſehn!
„Nun! — dreh dich um! — das iſt ja gut, und
ſitzt galant.
„Was ſagt denn der Phantaſt, dir fehlte der
Verſtand?
N 3In
[102]
In dieſer Muſterung der Fr. Praatgern uͤber-
haupt, hat der Dichter deutlich genug bemerkt,
wie er das Aeuſſerliche ſeiner ſtummen Schoͤne zu
ſeyn wuͤnſche. Gleichfalls ſchoͤn, nur nicht reitzend.
„Laß ſehn, wie traͤgſt du dich? — Den Kopf
nicht ſo zuruͤcke!
Dummheit ohne Erziehung haͤlt den Kopf mehr
vorwaͤrts, als zuruͤck; ihn zuruͤck halten, lehrt
der Tanzmeiſter; man muß alſo Charlotten den
Tanzmeiſter anſehen, und je mehr, je beſſer;
denn das ſchadet ihrer Stummheit nichts, viel-
mehr ſind die zierlich ſteifen Tanzmeiſtermanieren
gerade die, welche der ſtummen Schoͤnheit am
meiſten entſprechen; ſie zeigen die Schoͤnheit in
ihrem beſten Vortheile, nur daß ſie ihr das
Leben nehmen.
„Wer fragt: hat ſie Verſtand? der ſeh nur ihre
Blicke.
Recht wohl, wenn man eine Schauſpielerinn
mit großen ſchoͤnen Augen zu dieſer Rolle hat.
Nur muͤſſen ſich dieſe ſchoͤne Augen wenig oder
gar nicht regen; ihre Blicke muͤſſen langſam und
ſtier ſeyn; ſie muͤſſen uns, mit ihrem unbeweg-
lichen Brennpunkte, in Flammen ſetzen wollen,
aber nichts ſagen.
„Geh doch einmal herum. — Gut! hieher! —
Neige dich!
„Da haben wirs, das fehlt. Nein, ſieh! So
neigt man ſich.
Dieſe
[103]
Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn
man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen
dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung
muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem
Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat-
gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin-
den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat-
gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der
ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be-
merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube,
daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie
kann die feine Frau zu wenig verbergen, und
gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand-
lungen, dergleichung die Vertauſchung einer
Tochter iſt, durchaus nicht laſſen.
Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten
May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret.
Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan-
gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der
Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt
ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang,
und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea-
tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver-
kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle
ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind;
wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh-
men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir
ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge
eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nur
uͤbel
[104] uͤbel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man
eine Scene verkuͤrzen kann, ohne die ganze Folge
des Dialogs zu aͤndern. Aber wenn dem Ver-
faſſer die fremden Verkuͤrzungen nicht anſtehen;
ſo mache er ſelbſt welche, falls es ihm der Muͤhe
werth duͤnket, und er nicht von denjenigen iſt,
die Kinder in die Welt ſetzen, und auf ewig die
Hand von ihnen abziehen.
Madame Henſeln ſtarb ungemein anſtaͤndig;
in der mahleriſchſten Stellung; und beſonders
hat mich ein Zug auſſerordentlich uͤberraſcht. Es
iſt eine Bemerkung an Sterbenden, daß ſie mit
den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu
rupfen anfangen. Dieſe Bemerkung machte ſie
ſich auf die gluͤcklichſte Art zu Nutze; in dem
Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aͤuſ-
ſerte ſich auf einmal, aber nur in den Fingern
des erſtarrten Armes, ein gelinder Spasmus;
ſie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben
ward und gleich wieder ſank: das letzte Auf-
flattern eines verloͤſchenden Lichts; der juͤngſte
Strahl einer untergehenden Sonne. — Wer
dieſe Feinheit in meiner Beſchreibung nicht
ſchoͤn findet, der ſchiebe die Schuld auf meine
Beſchreibung: aber er ſehe ſie einmal!
Ham-
[[105]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vierzehntes Stuͤck.
Das buͤrgerliche Trauerſpiel hat an dem fran-
zoͤſiſchen Kunſtrichter, welcher die Sara
ſeiner Nation bekannt gemacht, (*) einen
ſehr gruͤndlichen Vertheidiger gefunden. Die
Franzoſen billigen ſonſt ſelten etwas, wovon ſie
kein Muſter unter ſich ſelbſt haben.
Die Namen von Fuͤrſten und Helden koͤnnen
einem Stuͤcke Pomp und Majeſtaͤt geben; aber
zur Ruͤhrung tragen ſie nichts bey. Das Un-
gluͤck derjenigen, deren Umſtaͤnde den unſrigen
am naͤchſten kommen, muß natuͤrlicher Weiſe
am tiefſten in unſere Seele dringen; und wenn
wir mit Koͤnigen Mitleiden haben, ſo haben wir
es mit ihnen als mit Menſchen, und nicht als
mit Koͤnigen. Macht ihr Stand ſchon oͤfters
ihre Unfaͤlle wichtiger, ſo macht er ſie darum
nicht
O
[106] nicht intereſſanter. Immerhin moͤgen ganze
Voͤlker darein verwickelt werden; unſere Sym-
pathie erfodert einen einzeln Gegenſtand, und
ein Staat iſt ein viel zu abſtrakter Begriff fuͤr
unſere Empfindungen.
ſagt auch Mormontel,
man verkennet die Na-
tur, wenn man glaubt, daß ſie Titel beduͤrfe,
uns zu bewegen und zu ruͤhren. Die geheiligten
Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb-
ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter,
des Menſchen uͤberhaupt: dieſe ſind pathetiſcher,
als alles; dieſe behaupten ihre Rechte immer und
ewig. Was liegt daran, welches der Rang,
der Geſchlechtsname, die Geburt des Ungluͤck-
lichen iſt, den ſeine Gefaͤlligkeit gegen unwuͤr-
dige Freunde, und das verfuͤhreriſche Beyſpiel,
ins Spiel verſtricket, der ſeinen Wohlſtand und
ſeine Ehre daruͤber zu Grunde gerichtet, und
nun im Gefaͤngniſſe ſeufzet, von Scham und
Reue zerriſſen? Wenn man fragt, wer er iſt;
ſo antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und
zu ſeiner Marter iſt er Gemahl und Vater; ſeine
Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird,
ſchmachtet in der aͤußerſten Beduͤrfniß, und kann
ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts
als Thraͤnen geben. Man zeige mir in der Ge-
ſchichte der Helden eine ruͤhrendere, moraliſchere,
mit einem Worte, tragiſchere Situation! Und
wenn
[107] wenn ſich endlich dieſer Ungluͤckliche vergiftet;
wenn er, nachdem er ſich vergiftet, erfaͤhrt, daß
der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet
dieſem ſchmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen-
blicke, wo ſich zu den Schreckniſſen des Todes
marternde Vorſtellungen, wie gluͤcklich er habe
leben koͤnnen, geſellen; was fehlt ihm, frage
ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu ſeyn? Das
Wunderbare, wird man antworten. Wie?
findet ſich denn nicht dieſes Wunderbare genug-
ſam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre
zur Schande, von der Unſchuld zum Verbre-
chen, von der ſuͤßeſten Ruhe zur Verzweiflung;
kurz, in dem aͤußerſten Ungluͤcke, in das eine
bloße Schwachheit geſtuͤrzet?„
Man laſſe aber dieſe Betrachtungen den Fran-
zoſen, von ihren Diderots und Mormontels,
noch ſo eingeſchaͤrft werden: es ſcheint doch nicht,
daß das buͤrgerliche Trauerſpiel darum bey ihnen
beſonders in Schwang kommen werde. Die
Nation iſt zu eitel, iſt in Titel und andere aͤußer-
liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein-
ſten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen;
und Geſellſchaft mit ſeines gleichen, iſt ſo viel
als ſchlechte Geſellſchaft. Zwar ein gluͤckliches
Genie vermag viel uͤber ſein Volk; die Natur
hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und ſie er-
wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der
ſie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigen
O 2ver-
[108] verſtehet. Der Verſuch, den ein Ungenannter
in einem Stuͤcke gemacht hat, welches er das
Gemaͤhlde der Duͤrftigkeit nennet, hat ſchon
große Schoͤnheiten; und bis die Franzoſen daran
Geſchmack gewinnen, haͤtten wir es fuͤr unſer
Theater adoptiren ſollen.
Was der erſtgedachte Kunſtrichter an der
deutſchen Sara ausſetzet, iſt zum Theil nicht
ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver-
faſſer wird lieber ſeine Fehler behalten, als ſich
der vielleicht ungluͤcklichen Muͤhe einer gaͤnzli-
chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er-
innert ſich, was Voltaire bey einer aͤhnlichen
Gelegenheit ſagte:
„Man kann nicht immer
alles ausfuͤhren, was uns unſere Freunde ra-
then. Es giebt auch nothwendige Fehler.
Einem Bucklichten, den man von ſeinem Buckel
heilen wollte, muͤßte man das Leben nehmen.
Mein Kind iſt bucklicht; aber es befindet ſich
ſonſt ganz gut.„
Den zwoͤlften Abend (Donnerſtags, den 7ten
May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf-
gefuͤhret.
Dieſes Stuͤck iſt ohne Zweifel das beſte, was
Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny,
der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die
Buͤhne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung
in Anſpruch. Er beklagte ſich, daß ihm Reg-
nard die Anlage und verſchiedene Scenen geſtoh-
len
[109] len habe; Regnard ſchob die Beſchuldigung zu-
ruͤck, und itzt wiſſen wir von dieſem Streite nur
ſo viel mit Zuverlaͤßigkeit, daß einer von beiden
der Plagiarius geweſen. Wenn es Regnard
war, ſo muͤſſen wir es ihm wohl noch dazu dan-
ken, daß er ſich uͤberwinden konnte, die Ver-
traulichkeit ſeines Freundes zu mißbrauchen; er
bemaͤchtigte ſich, blos zu unſerm Beſten, der
Materialien, von denen er voraus ſahe, daß ſie
verhunzt werden wuͤrden. Wir haͤtten nur
einen ſehr elenden Spieler, wenn er gewiſſen-
hafter geweſen waͤre. Doch haͤtte er die That
eingeſtehen, und dem armen Du Freny einen
Theil der damit erworbnen Ehre laſſen muͤſſen.
Den dreyzehnten Abend (Freytags, den 8ten
May,) ward der verheyrathete Philoſoph wie-
derholet; und den Beſchluß machte, der Liebha-
ber als Schriftſteller und Bedienter.
Der Verfaſſer dieſes kleinen artigen Stuͤcks
heißt Cerou; er ſtudierte die Rechte, als er es
im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu ſpie-
len gab. Es faͤllt ungemein wohl aus.
Den vierzehnten Abend (Montags, den 11ten
May) wurden die coquette Mutter vom Quinault,
und der Advocat Patelin aufgefuͤhrt.
Jene wird von den Kennern unter die beſten
Stuͤcke gerechnet, die ſich auf dem franzoͤſiſchen
Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten
haben. Es iſt wirklich viel gutes Komiſches
O 3darinn,
[110] darinn, deſſen ſich Moliere nicht haͤtte ſchaͤmen
duͤrfen. Aber der fuͤnfte Akt und die ganze Auf-
loͤſung haͤtte weit beſſer ſeyn koͤnnen; der alte
Sklave, deſſen in den vorhergehenden Akten ge-
dacht wird, koͤmmt nicht zum Vorſcheine; das
Stuͤck ſchließt mit einer kalten Erzehlung, nach-
dem wir auf eine theatraliſche Handlung vorbe-
reitet worden. Sonſt iſt es in der Geſchichte
des franzoͤſiſchen Theaters deswegen mit merk-
wuͤrdig, weil der laͤcherliche Marquis darinn der
erſte von ſeiner Art iſt. Die coquette Mutter
iſt auch ſein eigentlichſter Titel nicht, und
Quinault haͤtte es immer bey dem zweyten, die
veruneinigten Verliebten, koͤnnen bewenden
laſſen.
Der Advocat Patelin iſt eigentlich ein altes
Poſſenſpiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte,
das zu ſeiner Zeit auſſerordentlichen Beyfall fand.
Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen
Luſtigkeit, und des guten Komiſchen, das aus
der Handlung ſelbſt und aus der Situation der
Perſonen entſpringet, und nicht auf bloßen Ein-
faͤllen beruhet. Bruegs gab ihm eine neue
Sprache und brachte es in die Form, in welcher
es gegenwaͤrtig aufgefuͤhret wird. Hr. Eckhof
ſpielt den Patelin ganz vortrefflich.
Den funfzehnten Abend (Dienſtags, den
12ten May,) ward Leßings Freygeiſt vorge-
ſtellt.
Man
[111]
Man kennet ihn hier unter dem Titel des be-
ſchaͤmten Freygeiſtes, weil man ihn von dem
Trauerſpiele des Hrn. von Brave, das eben dieſe
Aufſchrift fuͤhret, unterſcheiden wollen. Ei-
gentlich kann man wohl nicht ſagen, daß derje-
nige beſchaͤmt wird, welcher ſich beſſert. Adraſt
iſt auch nicht einzig und allein der Freygeiſt;
ſondern es nehmen mehrere Perſonen an dieſem
Charakter Theil. Die eitle unbeſonnene Hen-
riette, der fuͤr Wahrheit und Irrthum gleich-
guͤltige Liſidor, der ſpitzbuͤbiſche Johann, ſind
alles Arten von Freygeiſtern, die zuſammen den
Titel des Stuͤcks erfuͤllen muͤſſen. Doch was
liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorſtel-
lung alles Beyfalls wuͤrdig war. Die Rollen
ſind ohne Ausnahme wohl beſetzt; und beſonders
ſpielt Herr Boͤck den Theophan mit alle dem
freundlichen Anſtande, den dieſer Charakter er-
fordert, um dem endlichen Unwillen uͤber die
Hartnaͤckigkeit, mit der ihn Adraſt verkennet,
und auf dem die ganze Kataſtrophe beruhet, da-
gegen abſtechen zu laſſen.
Den Beſchluß dieſes Abends machte das
Schaͤferſpiel des Hrn. Pfeffels, der Schatz.
Dieſer Dichter hat ſich, außer dieſem kleinen
Stuͤcke, noch durch ein anders, der Eremit,
nicht unruͤhmlich bekannt gemacht. In den
Schatz hat er mehr Intereſſe zu legen geſucht,
als gemeiniglich unſere Schaͤferſpiele zu haben
pfle-
[112] pflegen, deren ganzer Inhalt taͤndelnde Liebe
iſt. Sein Ausdruck iſt nur oͤfters ein wenig
zu geſucht und koſtbar, wodurch die ohnedem
ſchon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoͤchſt
ſtudiertes Anſehen bekommen, und zu nichts als
froſtigen Spielwerken des Witzes werden.
Dieſes gilt beſonders von ſeinem Eremiten,
welches ein kleines Trauerſpiel ſeyn ſoll, das
man, anſtatt der allzuluſtigen Nachſpiele, auf
ruͤhrende Stuͤcke koͤnnte folgen laſſen. Die Ab-
ſicht iſt recht gut; aber wir wollen vom Weinen
doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaͤhnen
uͤbergehen.
Ham-
[[113]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Funfzehntes Stuͤck.
Den ſechszehnten Abend (Mittewochs, den
13ten May,) ward die Zayre des Herrn
von Voltaire aufgefuͤhrt.
ſagt der Hr. von Voltaire,
wird es nicht unan-
genehm ſeyn, zu wiſſen, wie dieſes Stuͤck ent-
ſtanden. Verſchiedene Damen hatten dem Ver-
faſſer vorgeworfen, daß in ſeinen Tragoͤdien nicht
genug Liebe waͤre. Er antwortete ihnen, daß,
ſeiner Meynung nach, die Tragoͤdie auch eben
nicht der ſchicklichſte Ort fuͤr die Liebe ſey; wenn
ſie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden
haben muͤßten, ſo wolle er ihnen welche machen,
ſo gut als ein anderer. Das Stuͤck ward in acht-
zehn Tagen vollendet, und fand großen Beyfall.
Man nennt es zu Paris ein chriſtliches Trauer-
Pſpiel,
[114] ſpiel, und es iſt oft, anſtatt des Polyeukts, vor-
geſtellet worden.„
Den Damen haben wir alſo dieſes Stuͤck zu
verdanken, und es wird noch lange das Lieblings-
ſtuͤck der Damen bleiben. Ein junger feuriger
Monarch, nur der Liebe unterwuͤrfig; ein ſtolzer
Sieger, nur von der Schoͤnheit beſiegt; ein
Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den
freyen zugaͤnglichen Sitz einer unumſchraͤnkten
Gebieterinn verwandelt; ein verlaſſenes Maͤd-
chen, zur hoͤchſten Staffel des Gluͤcks, durch
nichts als ihre ſchoͤnen Augen, erhoͤhet; ein
Herz, um das Zaͤrtlichkeit und Religion ſtreiten,
das ſich zwiſchen ſeinen Gott und ſeinen Abgott
theilet, daß gern fromm ſeyn moͤchte, wenn es
nur nicht aufhoͤren ſollte zu lieben; ein Eifer-
ſuͤchtiger, der ſein Unrecht erkennet, und es an
ſich ſelbſt raͤchet: wenn dieſe ſchmeichelnde Ideen
das ſchoͤne Geſchlecht nicht beſtechen, durch was
ließe es ſich denn beſtechen?
Die Liebe ſelbſt hat Voltairen die Zayre diktirt:
ſagt ein Kunſtrichter artig genug. Richtiger
haͤtte er geſagt: die Galanterie. Ich kenne nur
eine Tragoͤdie, an der die Liebe ſelbſt arbeiten
helfen; und das iſt Romeo und Juliet, vom
Shakeſpear. Es iſt wahr, Voltaire laͤßt ſeine
verliebte Zayre ihre Empfindungen ſehr fein,
ſehr
[115] ſehr anſtaͤndig ausdruͤcken: aber was iſt dieſer
Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaͤhlde aller
der kleinſten geheimſten Raͤnke, durch die ſich
die Liebe in unſere Seele einſchleicht, aller der
unmerklichen Vortheile, die ſie darinn gewinnet,
aller der Kunſtgriffe, mit der ſie jede andere Lei-
denſchaft unter ſich bringt, bis ſie der einzige
Tyrann aller unſerer Begierden und Verab-
ſcheuungen wird? Voltaire verſtehet, wenn ich
ſo ſagen darf, den Kanzeleyſtyl der Liebe vor-
trefflich; das iſt, diejenige Sprache, denjenigen
Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn
ſie ſich auf das behutſamſte und gemaͤſſenſte aus-
druͤcken will, wenn ſie nichts ſagen will, als
was ſie bey der ſproͤden Sophiſtinn und bey dem
kalten Kunſtrichter verantworten kann. Aber
der beſte Kanzeliſte weiß von den Geheimniſſen
der Regierung nicht immer das meiſte; oder hat
gleichwohl Voltaire in das Weſen der Liebe eben
die tiefe Einſicht, die Shakeſpear gehabt, ſo
hat er ſie wenigſtens hier nicht zeigen wollen,
und das Gedicht iſt weit unter dem Dichter ge-
blieben.
Von der Eiferſucht laͤßt ſich ohngefehr eben
das ſagen. Der eiferſuͤchtige Orosmann ſpielt,
gegen den eiferſuͤchtigen Othello des Shakeſpear,
eine ſehr kahle Figur. Und doch iſt Othello of-
fenbar das Vorbild des Orosmann geweſen.
P 2Cib-
[116] Cibber ſagt, (*) Voltaire habe ſich des Brandes
bemaͤchtiget, der den tragiſchen Scheiterhaufen
des Shakeſpear in Gluth geſetzt. Ich haͤtte ge-
ſagt: eines Brandes aus dieſem flammenden
Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der
mehr dampft, als leuchtet und waͤrmet. Wir
hoͤren in dem Orosmann einen Eiferſuͤchtigen
reden, wir ſehen ihn die raſche That eines Eifer-
ſuͤchtigen begehen; aber von der Eiferſucht ſelbſt
lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir
vorher wußten. Othello hingegen iſt das voll-
ſtaͤndigſte Lehrbuch uͤber dieſe traurige Raſerey;
da koͤnnen wir alles lernen, was ſie angeht, ſie
erwecken und ſie vermeiden.
Aber iſt es denn immer Shakeſpear, werden ei-
nige meiner Leſer fragen, immer Shakeſpear,
der alles beſſer verſtanden hat, als die Franzo-
ſen? Das aͤrgert uns; wir koͤnnen ihn ja nicht
leſen. — Ich ergreife dieſe Gelegenheit, das
Publikum an etwas zu erinnern, das es vorſetz-
lich vergeſſen zu wollen ſcheinet. Wir haben
eine
[117] eine Ueberſetzung vom Shakeſpear. Sie iſt
noch kaum fertig geworden, und niemand be-
kuͤmmert ſich ſchon mehr darum. Die Kunſt-
richter haben viel Boͤſes davon geſagt. Ich
haͤtte große Luſt, ſehr viel Gutes davon zu ſagen.
Nicht, um dieſen gelehrten Maͤnnern zu wider-
ſprechen; nicht, um die Fehler zu vertheidigen,
die ſie darinn bemerkt haben: ſondern, weil ich
glaube, daß man von dieſen Fehlern kein ſolches
Aufheben haͤtte machen ſollen. Das Unterneh-
men war ſchwer; ein jeder anderer, als Herr
Wieland, wuͤrde in der Eil noch oͤftrer verſtoßen,
und aus Unwiſſenheit oder Bequemlichkeit noch
mehr uͤberhuͤpft haben; aber was er gut gemacht
hat, wird ſchwerlich jemand beſſer machen. So
wie er uns den Shakeſpear geliefert hat, iſt es
noch immer ein Buch, das man unter uns nicht
genug empfehlen kann. Wir haben an den
Schoͤnheiten, die es uns liefert, noch lange zu
lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es ſie
liefert, ſo beleidigen, daß wir nothwendig eine
beſſere Ueberſetzung haben muͤßten.
Doch wieder zur Zayre. Der Verfaſſer
brachte ſie im Jahre 1733 auf die Pariſer Buͤh-
ne; und drey Jahr darauf ward ſie ins Engliſche
uͤberſetzt, und auch in London auf dem Theater
in Drury-Lane geſpielt. Der Ueberſetzer war
Aaron Hill, ſelbſt ein dramatiſcher Dichter,
P 3nicht
[118] nicht von der ſchlechteſten Gattung. Voltaire
fand ſich ſehr dadurch geſchmeichelt, und was er,
in dem ihm eigenen Tone der ſtolzen Beſcheiden-
heit, in der Zuſchrift ſeines Stuͤcks an den Eng-
laͤnder Fackener, davon ſagt, verdient geleſen
zu werden. Nur muß man nicht alles fuͤr voll-
kommen ſo wahr annehmen, als er es ausgiebt.
Wehe dem, der Voltairens Schriften uͤber-
haupt nicht mit dem ſkeptiſchen Geiſte lieſet, in
welchen er einen Theil derſelben geſchrieben hat!
Er ſagt z. E. zu ſeinem engliſchen Freunde:
„Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der ſich
ſelbſt Addiſon (*) unterworfen; denn Gewohn-
heit iſt ſo maͤchtig als Vernunft und Geſetz.
Dieſe gar nicht vernuͤnftige Gewohnheit beſtand
darinn, daß jeder Akt mit Verſen beſchloſſen
werden mußte, die in einem ganz andern Ge-
ſchmacke waren, als das Uebrige des Stuͤcks;
und
[119] und nothwendig mußten dieſe Verſe eine Ver-
gleichung enthalten. Phaͤdra, indem ſie ab-
geht, vergleicht ſich ſehr poetiſch mit einem Rehe,
Cato mit einem Felſen, und Cleopatra mit Kin-
dern, die ſo lange weinen, bis ſie einſchlafen.
Der Ueberſetzer der Zayre iſt der erſte, der es
gewagt hat, die Geſetze der Natur gegen einen
von ihr ſo entfernten Geſchmack zu behaupten. Er
hat dieſen Gebrauch abgeſchaft; er hat es empfun-
den, daß die Leidenſchaft ihre wahre Sprache fuͤh-
ren, und der Poet ſich uͤberall verbergen muͤſſe,
um uns nur den Helden erkennen zu laſſen.„
Es ſind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten
in dieſer Stelle; und das iſt fuͤr den Hrn. von
Voltaire eben nicht viel. Wahr iſt es, daß die
Englaͤnder, vom Shakeſpear an, und vielleicht
auch von noch laͤnger her, die Gewohnheit ge-
habt, ihre Stuͤcke in ungereimten Verſen mit
ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß
dieſe gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen
enthielten, daß ſie nothwendig Vergleichungen
enthalten muͤſſen, das iſt grundfalſch; und ich
begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire
einem Englaͤnder, von dem er doch glauben konn-
te, daß er die tragiſchen Dichter ſeines Volkes
auch geleſen habe, ſo etwas unter die Naſe ſagen
koͤnnen. Zweytens iſt es nicht andem, daß Hill in
ſeiner Ueberſetzung der Zayre von dieſer Gewohn-
heit abgegangen. Es iſt zwar beynahe nicht glaub-
lich
[120] lich, daß der Hr. von Voltaire die Ueberſetzung ſei-
nes Stuͤcks nicht genauer ſollte angeſehen haben,
als ich, oder ein anderer. Gleichwohl muß es ſo
ſeyn. Denn ſo gewiß ſie in reimfreyen Verſen iſt,
ſo gewiß ſchließt ſich auch jeder Akt mit zwey oder
vier gereimten Zeilen. Vergleichungen enthalten
ſie freylich nicht; aber, wie geſagt, unter allen der-
gleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shake-
ſpear, und Johnſon, und Dryden, und Lee, und
Otway, und Rowe, und wie ſie alle heiſſen, ihre
Aufzuͤge ſchlieſſen, ſind ſicherlich hundert gegen
fuͤnfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte
denn Hill alſo beſonders? Haͤtte er aber auch wirk-
lich das Beſondere gehabt, das ihm Voltaire lei-
het: ſo waͤre doch drittens das nicht wahr, daß ſein
Beyſpiel von dem Einfluſſe geweſen, von dem es
Voltaire ſeyn laͤßt. Noch bis dieſe Stunde erſchei-
nen in England eben ſo viel, wo nicht noch mehr
Trauerſpiele, deren Akte ſich mit gereimten Zeilen
enden, als die es nicht thun. Hill ſelbſt hat in kei-
nem einzigen Stuͤcke, deren er doch verſchiedene,
noch nach der Ueberſetzung der Zayre, gemacht, ſich
der alten Mode gaͤnzlich entaͤußert. Und was iſt es
denn nun, ob wir zuletzt Reime hoͤren oder keine?
Wenn ſie da ſind, koͤnnen ſie vielleicht dem Orche-
ſter noch nutzen; als Zeichen nehmlich, nach den
Inſtrumenten zu greifen, welches Zeichen auf dieſe
Art weit ſchicklicher aus dem Stuͤcke ſelbſt abge-
nommen wuͤrde, als daß es die Pfeiffe oder der
Schluͤſſel giebt.
Ham-
[[121]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechszehntes Stuͤck.
Die engliſchen Schauſpieler waren zu Hills
Zeiten ein wenig ſehr unnatuͤrlich; be-
ſonders war ihr tragiſches Spiel aͤußerſt
wild und uͤbertrieben; wo ſie heftige Leidenſchaf-
ten auszudruͤcken hatten, ſchrien und gebehrdeten
ſie ſich als Beſeſſene; und das Uebrige toͤnten ſie
in einer ſteifen, ſtrotzenden Feyerlichkeit daher,
die in jeder Sylbe den Komoͤdianten verrieth.
Als er daher ſeine Ueberſetzung der Zayre auf-
fuͤhren zu laſſen bedacht war, vertraute er die
Rolle der Zayre einem jungen Frauenzimmer,
das noch nie in der Tragoͤdie geſpielt hatte. Er
urtheilte ſo: dieſes junge Frauenzimmer hat Ge-
fuͤhl, und Stimme, und Figur, und Anſtand; ſie
hat den falſchen Ton des Theaters noch nicht an-
genommen; ſie braucht keine Fehler erſt zu ver-
lernen; wenn ſie ſich nur ein Paar Stunden
uͤberreden kann, das wirklich zu ſeyn, was ſie
Qvor-
[122] vorſtellet, ſo darf ſie nur reden, wie ihr der
Mund gewachſen, und alles wird gut gehen.
Es gieng auch; und die Theaterpedanten, welche
gegen Hillen behaupteten, daß nur eine ſehr ge-
uͤbte, ſehr erfahrene Perſon einer ſolchen Rolle
Genuͤge leiſten koͤnne, wurden beſchaͤmt. Dieſe
junge Aktrice war die Frau des Komoͤdianten
Colley Cibber, und der erſte Verſuch in ihrem
achtzehnten Jahre ward ein Meiſterſtuͤck. Es
iſt merkwuͤrdig, daß auch die franzoͤſiſche Schau-
ſpielerinn, welche die Zayre zuerſt ſpielte, eine
Anfaͤngerinn war. Die junge reitzende Made-
moiſell Goſſin ward auf einmal dadurch beruͤhmt,
und ſelbſt Voltaire ward ſo entzuͤckt uͤber ſie, daß
er ſein Alter recht klaͤglich betauerte.
Die Rolle des Orosmann hatte ein Anver-
wandter des Hill uͤbernommen, der kein Komoͤ-
diant von Profeßion, ſondern ein Mann von
Stande war. Er ſpielte aus Liebhaberey, und
machte ſich nicht das geringſte Bedenken, oͤffent-
lich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das
ſo ſchaͤtzbar als irgend ein anders iſt. In Eng-
land ſind dergleichen Exempel von angeſehenen
Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnuͤgen einmal
mitſpielen, nicht ſelten.
„Alles was uns dabey
befremden ſollte,
ſagt der Hr. von Voltaire,
iſt
dieſes, daß es uns befremdet. Wir ſollten
uͤberlegen, daß alle Dinge in der Welt von der
Gewohnheit und Meinung abhangen. Der
fran-
[123] franzoͤſiſche Hof hat ehedem auf dem Theater mit
den Opernſpielern getanzt; und man hat weiter
nichts beſonders dabey gefunden, als daß dieſe
Art von Luſtbarkeit aus der Mode gekommen.
Was iſt zwiſchen den beiden Kuͤnſten fuͤr ein Un-
terſchied, als daß die eine uͤber die andere eben
ſo weit erhaben iſt, als es Talente, welche vor-
zuͤgliche Seelenkraͤfte erfodern, uͤber bloß koͤr-
perliche Fertigkeiten ſind?„
Ins Italieniſche hat der Graf Gozzi die Zayre
uͤberſetzt; ſehr genau und ſehr zierlich; ſie ſtehet
in dem dritten Theile ſeiner Werke. In welcher
Sprache koͤnnen zaͤrtliche Klagen ruͤhrender klin-
gen, als in dieſer? Mit der einzigen Freyheit,
die ſich Gozzi gegen das Ende des Stuͤcks ge-
nommen, wird man ſchwerlich zufrieden ſeyn.
Nachdem ſich Orosmann erſtochen, laͤßt ihn Vol-
taire nur noch ein Paar Worte ſagen, uns uͤber
das Schickſal des Nereſtan zu beruhigen. Aber
was thut Gozzi? Der Italiener fand es ohne
Zweifel zu kalt, einen Tuͤrken ſo gelaſſen weg-
ſterben zu laſſen. Er legt alſo dem Orosmann
noch eine Tirade in den Mund, voller Ausru-
fungen, voller Winſeln und Verzweiflung. Ich
will ſie der Seltenheit halber unter den Text
ſetzen. (*)
Q 2Es
[124]
Es iſt doch ſonderbar, wie weit ſich hier der
deutſche Geſchmack von dem welſchen entfernet!
Dem Welſchen iſt Voltaire zu kurz; uns Deut-
ſchen iſt er zu lang. Kaum hat Orosmann ge-
ſagt „verehret und gerochen;„ kaum hat er ſich
den toͤdtlichen Stoß beygebracht, ſo laſſen wir
den Vorhang niederfallen. Iſt es denn aber
auch wahr, daß der deutſche Geſchmack dieſes ſo
haben will? Wir machen dergleichen Verkuͤr-
zung mit mehrern Stuͤcken: aber warum machen
wir ſie? Wollen wir denn im Ernſt, daß ſich
ein Trauerſpiel wie ein Epigramm ſchlieſſen ſoll?
Im-
(*)
[125] Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit
dem letzten Seufzer des Helden? Woher koͤmmt
uns gelaſſenen, ernſten Deutſchen die flatternde
Ungeduld, ſobald die Execution vorbey, durch-
aus nun weiter nichts hoͤren zu wollen, wenn es
auch noch ſo wenige, zur voͤlligen Rundung des
Stuͤcks noch ſo unentbehrliche Worte waͤren?
Doch ich forſche vergebens nach der Urſache einer
Sache, die nicht iſt. Wir haͤtten kalt Blut ge-
nug, den Dichter bis ans Ende zu hoͤren, wenn
es uns der Schauſpieler nur zutrauen wollte.
Wir wuͤrden recht gern die letzten Befehle des
großmuͤthigen Sultans vernehmen; recht gern
die Bewunderung und das Mitleid des Nereſtan
noch theilen: aber wir ſollen nicht. Und warum
ſollen wir nicht? Auf dieſes warum, weiß ich
kein darum. Sollten wohl die Orosmannsſpie-
ler daran Schuld ſeyn? Es waͤre begreiflich ge-
nug, warum ſie gern das letzte Wort haben
wollten. Erſtochen und geklatſcht! Man muß
Kuͤnſtlern kleine Eitelkeiten verzeihen.
Bey keiner Nation hat die Zayre einen ſchaͤr-
fern Kunſtrichter gefunden, als unter den Hol-
laͤndern. Friedrich Duim, vielleicht ein An-
verwandter des beruͤhmten Akteurs dieſes Na-
mens auf dem Amſterdamer Theater, fand ſo
viel daran auszuſetzen, daß er es fuͤr etwas klei-
nes hielt, eine beſſere zu machen. Er machte
Q 3auch
[126] auch wirklich eine — andere, (*) in der die Be-
kehrung der Zayre das Hauptwerk iſt, und die
ſich damit endet, daß der Sultan uͤber ſeine Liebe
ſieget, und die chriſtliche Zayre mit aller der
Pracht in ihr Vaterland ſchicket, die ihrer vor-
gehabten Erhoͤhung gemaͤß iſt; der alte Luſignan
ſtirbt vor Freuden. Wer iſt begierig, mehr da-
von zu wiſſen? Der einzige unverzeihliche Fehler
eines tragiſchen Dichters iſt dieſer, daß er uns
kalt laͤßt; er intereſſire uns, und mache mit den
kleinen mechaniſchen Regeln, was er will. Die
Duime koͤnnen wohl tadeln, aber den Bogen des
Ulyſſes muͤſſen ſie nicht ſelber ſpannen wollen.
Dieſes ſage ich darum, weil ich nicht gern zuruͤck,
von der mißlungenen Verbeſſerung auf den Un-
grund der Kritik, geſchloſſen wiſſen moͤchte.
Duims Tadel iſt in vielen Stuͤcken ganz gegruͤn-
det; beſonders hat er die Unſchicklichkeiten, deren
ſich Voltaire in Anſehung des Orts ſchuldig
macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug-
ſam motivirten Auftreten und Abgehen der Per-
ſonen, ſehr wohl angemerkt. Auch iſt ihm die
Ungereimtheit der ſechſten Scene im dritten Akte
nicht entgangen.
ſagt er,
koͤmmt,
Zayren in die Moſchee abzuholen; Zayre wei-
gert ſich, ohne die geringſte Urſache von ihrer
Weigerung anzufuͤhren; ſie geht ab, und Oros-
mann
[127] mann bleibt als ein Laffe (als eenen lafharti-
gen) ſtehen. Iſt das wohl ſeiner Wuͤrde ge-
maͤß? Reimet ſich das wohl mit ſeinem Cha-
rakter? Warum dringt er nicht in Zayren, ſich
deutlicher zu erklaͤren? Warum folgt er ihr nicht
in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin fol-
gen?„
— Guter Duim! wenn ſich Zayre deut-
licher erklaͤret haͤtte: wo haͤtten denn die andern
Akte ſollen herkommen? Waͤre nicht die ganze
Tragoͤdie daruͤber in die Bilze gegangen? —
Ganz Recht! auch die zweyte Scene des dritten
Akts iſt eben ſo abgeſchmackt: Orosmann
koͤmmt wieder zu Zayren; Zayre geht abermals,
ohne die geringſte naͤhere Erklaͤrung, ab, und
Orosmann, der gute Schlucker, (dien goeden
hals) troͤſtet ſich desfalls in einer Monologe.
Aber, wie geſagt, die Verwickelung, oder Un-
gewißheit, mußte doch bis zum fuͤnften Aufzuge
hinhalten; und wenn die ganze Kataſtrophe an
einem Haare haͤngt, ſo haͤngen mehr wichtige
Dinge in der Welt an keinem ſtaͤrkern.
Die letzterwaͤhnte Scene iſt ſonſt diejenige, in
welcher der Schauſpieler, der die Rolle des Oros-
mann hat, ſeine feinſte Kunſt in alle dem beſchei-
denen Glanze zeigen kann, in dem ſie nur ein
eben ſo ſeiner Kenner zu empfinden faͤhig iſt.
Er muß aus einer Gemuͤthsbewegung in die an-
dere uͤbergehen, und dieſen Uebergang durch das
ſtumme Spiel ſo natuͤrlich zu machen wiſſen, daß
der
[128] der Zuſchauer durchaus durch keinen Sprung,
ſondern durch eine zwar ſchnelle, aber doch da-
bey merkliche Gradation mit fortgeriſſen wird.
Erſt zeiget ſich Orosmann in aller ſeiner Groß-
muth, willig und geneigt, Zayren zu vergeben,
wann ihr Herz bereits eingenommen ſeyn ſollte,
Falls ſie nur aufrichtig genug iſt, ihm laͤnger
kein Geheimniß davon zu machen. Indem er-
wacht ſeine Leidenſchaft aufs neue, und er fodert
die Aufopferung ſeines Nebenbuhlers. Er
wird zaͤrtlich genug, ſie unter dieſer Bedingung
aller ſeiner Huld zu verſichern. Doch da
Zayre auf ihrer Unſchuld beſtehet, wider die er
ſo offenbar Beweiſe zu haben glaubet, bemeiſtert
ſich ſeiner nach und nach der aͤußerſte Unwille.
Und ſo geht er von dem Stolze zur Zaͤrtlichkeit,
und von der Zaͤrtlichkeit zur Erbitterung uͤber.
Alles was Remond de Saint Albine, in ſeinem
Schauſpieler, (*) hierbey beobachtet wiſſen will,
leiſtet Hr. Eckhof auf eine ſo vollkommene Art,
daß man glauben ſollte, er allein koͤnne das Vor-
bild des Kunſtrichters geweſen ſeyn.
Ham-
[[129]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Siebzehntes Stuͤck.
Den ſiebzehnten Abend (Donnerſtags, den
14ten May,) ward der Sidney, vom
Greſſet, aufgefuͤhret.
Dieſes Stuͤck kam im Jahre 1745 zuerſt aufs
Theater. Ein Luſtſpiel wider den Selbſtmord,
konnte in Paris kein großes Gluͤck machen. Die
Franzoſen ſagten: es waͤre ein Stuͤck fuͤr Lon-
don. Ich weiß auch nicht; denn die Englaͤnder
duͤrften vielleicht den Sidney ein wenig uneng-
liſch finden; er geht nicht raſch genug zu Werke;
er philoſophirt, ehe er die That begeht, zu viel,
und nachdem er ſie begangen zu haben glaubt, zu
wenig; ſeine Reue koͤnnte ſchimpflicher Klein-
muth ſcheinen; ja, ſich von einem franzoͤſiſchen
Bedienten ſo angefuͤhrt zu ſehen, moͤchte von
manchen fuͤr eine Beſchaͤmung gehalten werden,
die des Haͤngens allein wuͤrdig waͤre.
RDoch
[130]
Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns
Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine
Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn-
teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach-
theilig, wenn man uns von einem dummen
Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch
philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir
werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein
franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß
uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm
beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney
nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben
dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten
einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen:
„Kaum
kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! —
und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„
Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt,
die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der
Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge-
hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der
Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem
Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer
iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde
ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich-
ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider
ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen
Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig-
ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit
der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;
und
[131] und dann wuͤrde ich mich gegen Roſalien, und
gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn
zuruͤckkommen. Es ſey uns immer angelegener,
Menſchlichkeit zu zeigen, als Lebensart!
Herr Eckhof ſpielt den Sidney ſo vortreff-
lich — Es iſt ohnſtreitig eine von ſeinen ſtaͤrk-
ſten Rollen. Man kann die enthuſiaſtiſche Me-
lancholie, das Gefuͤhl der Fuͤhlloſigkeit, wenn
ich ſo ſagen darf, worinn die ganze Gemuͤthsver-
faſſung des Sidney beſtehet, ſchwerlich mit mehr
Kunſt, mit groͤßerer Wahrheit ausdruͤcken.
Welcher Reichthum von mahlenden Geſten,
durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichſam
Figur und Koͤrper giebt, und ſeine innerſten
Empfindungen in ſichtbare Gegenſtaͤnde ver-
wandelt! Welcher fortreiſſende Ton der Ueber-
zeugung! —
Den Beſchluß machte dieſen Abend ein Stuͤck
in einem Aufzuge, nach dem Franzoͤſiſchen des
l’Affichard, unter dem Titel: Iſt er von Fami-
lie? Man erraͤth gleich, daß ein Narr oder eine
Naͤrrinn darinn vorkommen muß, der es haupt-
ſaͤchlich um den alten Adel zu thun iſt. Ein jun-
ger wohlerzogener Menſch, aber von zweifelhaf-
tem Herkommen, bewirbt ſich um die Stieftoch-
ter eines Marquis. Die Einwilligung der
Mutter haͤngt von der Aufklaͤrung dieſes Punkts
ab. Der junge Menſch hielt ſich nur fuͤr den
Pflegeſohn eines gewiſſen buͤrgerlichen Liſanders,
R 2aber
[132] aber es findet ſich, daß Liſander ſein wahrer Va-
ter iſt. Nun waͤre weiter an die Heyrath nicht
zu denken, wenn nicht Liſander ſelbſt ſich nur
durch Unfaͤlle zu dem buͤrgerlichen Stande her-
ablaſſen muͤſſen. In der That iſt er von eben ſo
guter Geburt, als der Marquis; er iſt des Mar-
quis Sohn, den jugendlichen Ausſchweiffungen
aus dem vaͤterlichen Hauſe vertrieben. Nun
will er ſeinen Sohn brauchen, um ſich mit ſeinem
Vater auszuſoͤhnen. Die Ausſoͤhnung gelingt,
und macht das Stuͤck gegen das Ende ſehr ruͤh-
rend. Da alſo der Hauptton deſſelben ruͤhren-
der, als komiſch, iſt: ſollte uns nicht auch der
Titel mehr jenes als dieſes erwarten laſſen? Der
Titel iſt eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal
haͤtte ich ihn von dem einzigen laͤcherlichen Cha-
rakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt
weder anzuzeigen, noch zu erſchoͤpfen; aber er
ſollte doch auch nicht irre fuͤhren. Und dieſer
thut es ein wenig. Was iſt leichter zu aͤndern,
als ein Titel? Die uͤbrigen Abweichungen des
deutſchen Verfaſſers von dem Originale, gerei-
chen mehr zum Vortheile des Stuͤcks, und geben
ihm das einheimiſche Anſehen, das faſt allen von
dem franzoͤſiſchen Theater entlehnten Stuͤcken
mangelt.
Den achtzehnten Abend (Freytags, den 15ten
May,) ward das Geſpenſt mit der Trommel ge-
ſpielt.
Dieſes
[133]
Dieſes Stuͤck ſchreibt ſich eigentlich aus dem
Engliſchen des Addiſon her. Addiſon hat nur
eine Tragoͤdie, und nur eine Komoͤdie gemacht.
Die dramatiſche Poeſie uͤberhaupt war ſein Fach
nicht. Aber ein guter Kopf weiß ſich uͤberall
aus dem Handel zu ziehen; und ſo haben ſeine
beiden Stuͤcke, wenn ſchon nicht die hoͤchſten
Schoͤnheiten ihrer Gattung, wenigſtens andere,
die ſie noch immer zu ſehr ſchaͤtzbaren Werken
machen. Er ſuchte ſich mit dem einen ſowohl,
als mit dem andern, der franzoͤſiſchen Regel-
maͤßigkeit mehr zu naͤhern; aber noch zwanzig
Addiſons, und dieſe Regelmaͤßigkeit wird doch
nie nach dem Geſchmacke der Englaͤnder werden.
Begnuͤge ſich damit, wer keine hoͤhere Schoͤn-
heiten kennet!
Destouches, der in England perſoͤnlichen Um-
gang mit Addiſon gehabt hatte, zog das Luſtſpiel
deſſelben uͤber einen noch franzoͤſiſchern Leiſten.
Wir ſpielen es nach ſeiner Umarbeitung; in der
wirklich vieles feiner und natuͤrlicher, aber auch
manches kalter und kraftloſer geworden. Wenn
ich mich indeß nicht irre, ſo hat Madame Gott-
ſched, von der ſich die deutſche Ueberſetzung her-
ſchreibt, das engliſche Original mit zur Hand
genommen, und manchen guten Einfall wieder
daraus hergeſtellet.
R 3Den
[134]
Den neunzehnten Abend (Montags, den 18ten
May,) ward der verheyrathete Philoſoph, vom
Destouches, wiederholt.
Des Regnard Demokrit war das jenige Stuͤck,
welches den zwanzigſten Abend (Dienſtags, den
19ten May,) geſpielet wurde.
Dieſes Luſtſpiel wimmelt von Fehlern und
Ungereimtheiten, und doch gefaͤllt es. Der
Kenner lacht dabey ſo herzlich, als der Unwiſ-
ſendſte aus dem Poͤbel. Was folgt hieraus?
Daß die Schoͤnheiten, die es hat, wahre allge-
meine Schoͤnheiten ſeyn muͤſſen, und die Fehler
vielleicht nur willkuͤhrliche Regeln betreffen, uͤber
die man ſich leichter hinausſetzen kann, als es die
Kunſtrichter Wort haben wollen. Er hat keine
Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er
hat alles Uebliche aus den Augen geſetzt: im-
merhin. Sein Demokrit ſieht dem wahren De-
mokrit in keinem Stuͤcke aͤhnlich; ſein Athen
iſt ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun
wohl, ſo ſtreiche man Demokrit und Athen aus,
und ſetze blos erdichtete Namen dafuͤr. Reg-
nard hat es gewiß ſo gut, als ein anderer, ge-
wußt, daß um Athen keine Wuͤſte und keine Ti-
ger und Baͤre waren; daß es, zu der Zeit des
Demokrits, keinen Koͤnig hatte u. ſ. w. Aber
er hat das alles itzt nicht wiſſen wollen; ſeine Ab-
ſicht war, die Sitten ſeines Landes unter frem-
den
[135] den Namen zu ſchildern. Dieſe Schilderung iſt
das Hauptwerk des komiſchen Dichters, und
nicht die hiſtoriſche Wahrheit.
Andere Fehler moͤchten ſchwerer zu entſchuldi-
gen ſeyn; der Mangel des Intereſſe, die kahle
Verwickelung, die Menge muͤßiger Perſonen,
das abgeſchmackte Geſchwaͤtz des Demokrits,
nicht deswegen nur abgeſchmackt, weil es der
Idee widerſpricht, die wir von dem Demokrit
haben, ſondern weil es Unſinn in jedes andern
Munde ſeyn wuͤrde, der Dichter moͤchte ihn ge-
nannt haben, wie er wolle. Aber was uͤberſieht
man nicht bey der guten Laune, in die uns Strabo
und Thaler ſetzen? Der Charakter des Strabo iſt
gleichwohl ſchwer zu beſtimmen; man weiß nicht,
was man aus ihm machen ſoll; er aͤndert ſeinen
Ton gegen jeden, mit dem er ſpricht; bald iſt er
ein feiner witziger Spoͤtter, bald ein plumper
Spaßmacher, bald ein zaͤrtlicher Schulfuchs,
bald ein unverſchaͤmter Stutzer. Seine Erken-
nung mit der Cleanthis iſt ungemein komiſch,
aber unnatuͤrlich. Die Art, mit der Made-
moiſell Beauval und la Thorilliere dieſe Scenen
zuerſt ſpielten, hat ſich von einem Akteur zum
andern, von einer Aktrice zur andern fortge-
pflanzt. Es ſind die unanſtaͤndigſten Grimaſ-
ſen; aber da ſie durch die Ueberlieferung bey
Franzoſen und Deutſchen geheiliget ſind, ſo
koͤmmt
[136] koͤmmt es niemanden ein, etwas daran zu aͤndern,
und ich will mich wohl huͤten zu ſagen, daß man
ſie eigentlich kaum in dem niedrigſten Poſſen-
ſpiele dulden ſollte. Der beſte, drolligſte und
ausgefuͤhrteſte Charakter, iſt der Charakter des
Thalers; ein wahrer Bauer, ſchalkiſch und ge-
rade zu; voller boshafter Schnurren; und der,
von der poetiſchen Seite betrachtet, nichts weni-
ger als epiſodiſch, ſondern zu Aufloͤſung des Kno-
ten eben ſo ſchicklich als unentbehrlich iſt. (*)
Ham-
[[137]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Achtzehntes Stuͤck.
Den ein und zwanzigſten Abend (Mittewochs,
den 20ſten May,) wurde das Luſtſpiel
des Marivaux, die falſchen Vertraulich-
keiten, aufgefuͤhrt.
Marivaux hat faſt ein ganzes halbes Jahr-
hundert fuͤr die Theater in Paris gearbeitet; ſein
erſtes Stuͤck iſt vom Jahre 1712, und ſein Tod
erfolgte 1763, in einem Alter von zwey und
ſiebzig. Die Zahl ſeiner Luſtſpiele belaͤuft ſich
auf einige dreyßig, wovon mehr als zwey Drit-
theile den Harlekin haben, weil er ſie fuͤr die
italieniſche Buͤhne verfertigte. Unter dieſe ge-
hoͤren auch die falſchen Vertraulichkeiten, die
1763 zuerſt, ohne beſondern Beyfall, geſpielet,
zwey Jahre darauf aber wieder hervorgeſucht
wurden, und deſto groͤßern erhielten.
Seine Stuͤcke, ſo reich ſie auch an mannich-
faltigen Charakteren und Verwicklungen ſind,
Sſehen
[138] ſehen ſich einander dennoch ſehr aͤhnlich. In
allen der nehmliche ſchimmernde, und oͤfters allzu-
geſuchte Witz; in allen die nehmliche metaphyſi-
ſche Zergliederung der Leidenſchaften; in allen
die nehmliche blumenreiche, neologiſche Sprache.
Seine Plane ſind nur von einem ſehr geringen
Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides ſei-
ner Kunſt, weiß er den engen Bezirk derſelben
mit einer Menge ſo kleiner, und doch ſo merklich
abgeſetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir
am Ende einen noch ſo weiten Weg mit ihm zu-
ruͤckgelegt zu haben glauben.
Seitdem die Neuberinn, ſub Auſpiciis Sr.
Magnificenz, des Herrn Prof. Gottſcheds, den
Harlekin oͤffentlich von ihrem Theater verbannte,
haben alle deutſche Buͤhnen, denen daran gele-
gen war, regelmaͤßig zu heiſſen, dieſer Verban-
nung beyzutreten geſchienen. Ich ſage, geſchie-
nen; denn im Grunde hatten ſie nur das bunte
Jaͤckchen und den Namen abgeſchaft, aber den
Narren behalten. Die Neuberinn ſelbſt ſpielte
eine Menge Stuͤcke, in welchen Harlekin die
Hauptperſon war. Aber Harlekin hieß bey ihr
Haͤnnschen, und war ganz weiß, anſtatt ſcheckigt,
gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph fuͤr
den guten Geſchmack!
Auch die falſchen Vertraulichkeiten haben ei-
nen Harlekin, der in der deutſchen Ueberſetzung
zu einem Peter geworden. Die Neuberinn iſt
todt,
[139] todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir
zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern-
ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden
iſt, warum nicht auch unter ſeinem? „Er iſt ein
auslaͤndiſches Geſchoͤpf;„ ſagt man. Was
thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter
uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt ſich, wie ſich
kein Menſch unter uns traͤgt:„ — ſo braucht er
nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. „Es iſt
widerſinnig, das nehmliche Individuum alle
Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu
ſehen.„ Man muß ihn als kein Individuum,
ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es
iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen
im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau-
lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen,
vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat-
tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon
iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen-
land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha-
rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen
einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir
eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und
gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn,
als — ich will nicht ſagen, die Franzoſen und
Italiener ſind — ſondern, als ſelbſt die Roͤmer
und Griechen waren? War ihr Paraſit etwas
anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch
ſeine eigene, beſondere Tracht, in der er in ei-
S 2nem
[140] nem Stuͤcke uͤber dem andern vorkam? Hatten
die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das
jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten,
ſie mochten ſich nun in die Geſchichte des Stuͤcks
ſchicken oder nicht?
Harlekin hat, vor einigen Jahren, ſeine Sache
vor dem Richterſtuhle der wahren Kritik, mit
eben ſo vieler Laune als Gruͤndlichkeit, ver-
theidiget. Ich empfehle die Abhandlung des
Herrn Moͤſer uͤber das Groteske-Komiſche, allen
meinen Leſern, die ſie noch nicht kennen; die ſie
kennen, deren Stimme habe ich ſchon. Es
wird darinn beylaͤufig von einem gewiſſen
Schriftſteller geſagt, daß er Einſicht genug be-
ſitze, dermaleins der Lobredner des Harlekin zu
werden. Itzt iſt er es geworden! wird man
denken. Aber nein; er iſt es immer geweſen.
Den Einwurf, den ihm Herr Moͤſer wider den
Harlekin in den Mund legt, kann er ſich nie ge-
macht, ja nicht einmal gedacht zu haben er-
innern.
Auſſer dem Harlekin koͤmmt in den falſchen
Vertraulichkeiten noch ein anderer Bedienter
vor, der die ganze Intrigue fuͤhret. Beide
wurden ſehr wohl geſpielt; und unſer Theater
hat uͤberhaupt, an den Herren Henſel und
Merſchy, ein Paar Akteurs, die man zu den Be-
dientenrollen kaum beſſer verlangen kann.
Den
[141]
Den zwey und zwanzigſten Abend (Don-
nerſtags, den 21ſten May,) ward die Zelmire
des Herrn Du Belloy aufgefuͤhret.
Der Name Du Belloy kann niemanden unbe-
kannt ſeyn, der in der neuern franzoͤſiſchen Litte-
ratur nicht ganz ein Fremdling iſt. Des Ver-
faſſers der Belagerung von Calais! Wenn es
dieſes Stuͤck nicht verdiente, daß die Franzoſen
ein ſolches Lermen damit machten, ſo gereicht
doch dieſes Lermen ſelbſt, den Franzoſen zur Ehre.
Es zeigt ſie als ein Volk, das auf ſeinen Ruhm
eiferſuͤchtig iſt; auf das die großen Thaten ſeiner
Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben;
das, von dem Werthe eines Dichters und von
dem Einfluſſe des Theaters auf Tugend und Sit-
ten uͤberzeugt, jenen nicht zu ſeinen unnuͤtzen
Gliedern rechnet, dieſes nicht zu den Gegenſtaͤn-
den zaͤhlet, um die ſich nur geſchaͤftige Muͤßig-
gaͤnger bekuͤmmern. Wie weit ſind wir Deutſche
in dieſem Stuͤcke noch hinter den Franzoſen! Es
gerade herauszuſagen: wir ſind gegen ſie noch die
wahren Barbaren! Barbariſcher, als unſere
barbariſchſten Voraͤltern, denen ein Liederſaͤnger
ein ſehr ſchaͤtzbarer Mann war, und die, bey
aller ihrer Gleichguͤltigkeit gegen Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften, die Frage, ob ein Barde, oder
einer, der mit Baͤrfellen und Bernſtein handelt,
der nuͤtzlichere Buͤrger waͤre? ſicherlich fuͤr die
Frage eines Narren gehalten haͤtten! — Ich
S 3mag
[142] mag mich in Deutſchland umſehen, wo ich will,
die Stadt ſoll noch gebauet werden, von der ſich
erwarten lieſſe, daß ſie nur den tauſendſten Theil
der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen
deutſchen Dichter haben wuͤrde, die Calais gegen
den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es
immer fuͤr franzoͤſiſche Eitelkeit: wie weit haben
wir noch hin, ehe wir zu ſo einer Eitelkeit faͤhig
ſeyn werden! Was Wunder auch? Unſere Ge-
lehrte ſelbſt ſind klein genug, die Nation in der
Geringſchaͤtzung alles deſſen zu beſtaͤrken, was
nicht gerade zu den Beutel fuͤllet. Man ſpreche
von einem Werke des Genies, von welchem man
will; man rede von der Aufmunterung der
Kuͤnſtler; man aͤußere den Wunſch, daß eine
reiche bluͤhende Stadt der anſtaͤndigſten Erho-
lung fuͤr Maͤnner, die in ihren Geſchaͤften des
Tages Laſt und Hitze getragen, und der nuͤtzlich-
ſten Zeitverkuͤrzung fuͤr andere, die gar keine Ge-
ſchaͤfte haben wollen, (das wird doch wenigſtens
das Theater ſeyn?) durch ihre bloße Theilneh-
mung aufhelfen moͤge: — und ſehe und hoͤre um
ſich.
ruft nicht blos
der Wucherer Albinus,
daß unſere Buͤrger wich-
tigere Dinge zu thun haben!„
— — — — Eu!
Rem poteris ſervare tuam! — —
Wichtigere? Eintraͤglichere; das gebe ich zu!
Eintraͤglich iſt freylich unter uns nichts, was
im
[143] im geringſten mit den freyen Kuͤnſten in Ver-
bindung ſtehet. Aber,
— hæc animos ærugo et cura peculî
Cum ſemel imbuerit —
Doch ich vergeſſe mich. Wie gehoͤrt das alles
zur Zelmire?
Du Belloy war ein junger Menſch, der ſich
auf die Rechte legen wollte, oder ſollte. Sollte,
wird es wohl mehr geweſen ſeyn. Denn die
Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte
den Bartolus bey Seite, und ward Komoͤ-
diant. Er ſpielte einige Zeit unter der franzoͤſi-
ſchen Truppe zu Braunſchweig, machte ver-
ſchiedene Stuͤcke, kam wieder in ſein Vaterland,
und ward geſchwind durch ein Paar Trauerſpiele
ſo gluͤcklich und beruͤhmt, als ihn nur immer die
Rechtsgelehrſamkeit haͤtte machen koͤnnen, wenn
er auch ein Beaumont geworden waͤre. Wehe
dem jungen deutſchen Genie, daß dieſen Weg
einſchlagen wollte! Verachtung und Betteley
wuͤrden ſein gewiſſeſtes Loos ſeyn!
Das erſte Trauerſpiel des Du Belloy heißt Ti-
tus; und Zelmire war ſein zweytes. Titus fand
keinen Beyfall, und ward nur ein einzigesmal
geſpielt. Aber Zelmire fand deſto groͤßern; es
ward vierzehnmal hinter einander aufgefuͤhrt,
und die Pariſer hatten ſich noch nicht daran ſatt
geſehen. Der Inhalt iſt von des Dichters eige-
ner Erfindung.
Ein
[144]
Ein franzoͤſiſcher Kunſtrichter (*) nahm hiervon
Gelegenheit, ſich gegen die Trauerſpiele von dieſer
Gattung uͤberhaupt zu erklaͤren:
ſagt
er,
ein Stoff aus der Geſchlchte weit lieber geweſen.
Die Jahrbuͤcher der Welt ſind an beruͤchtigten Ver-
brechen ja ſo reich; und die Tragoͤdie iſt ja ausdruͤck-
lich dazu, daß ſie uns die großen Handlungen wirk-
licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung
vorſtellen ſoll. Indem ſie ſo den Tribut bezahlt, den
die Nachwelt ihrer Aſche ſchuldig iſt, befeuert ſie zu-
gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be-
gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht
ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur
Geburthen der Erdichtung waͤren. Die Namen der
beiden erſten ſind erdichtet, aber der Grund der Be-
gebenheiten iſt hiſtoriſch. Es hat wirklich Kreutz-
zuͤge gegeben, in welchen ſich Chriſten und Tuͤrken,
zur Ehre Gottes, ihres gemeinſchaftlichen Vaters,
haßten und wuͤrgten. Bey der Eroberung von
Mexico haben ſich nothwendig die gluͤcklichen und
erhabenen Contraſte zwiſchen den europaͤiſchen und
amerikaniſchen Sitten, zwiſchen der Schwaͤrmerey
und der wahren Religion, aͤußern muͤſſen. Und
was den Mahomet anbelangt, ſo iſt er der Auszug,
die Quinteſſenz, ſo zu reden, aus dem ganzen Leben
dieſes Betruͤgers; der Fanatismus, in Handlung
gezeigt; das ſchoͤnſte philoſophiſchſte Gemaͤhlde, das
jemals von dieſem gefaͤhrlichen Ungeheuer gemacht
worden.„
Ham-
[[145]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neunzehntes Stuͤck.
Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen
Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich,
ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen-
ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge-
meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig-
keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren
Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren-
zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und
ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer-
fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller
faͤngt mit einem beſcheidenen,
„Uns waͤre lieber
geweſen„
an, und geht zu ſo allgemein verbin-
denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben
ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik
ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol-
gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon-
dern hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln
Tge-
[146] gebildet, welche die Natur der Sache erfo-
dert.
Nun hat es Ariſtoteles laͤngſt entſchieden,
wie weit ſich der tragiſche Dichter um die hiſto-
riſche Wahrheit zu bekuͤmmern habe; nicht wei-
ter, als ſie einer wohleingerichteten Fabel aͤhn-
lich iſt, mit der er ſeine Abſichten verbinden
kann. Er braucht eine Geſchichte nicht darum,
weil ſie geſchehen iſt, ſondern darum, weil ſie
ſo geſchehen iſt, daß er ſie ſchwerlich zu ſeinem
gegenwaͤrtigen Zwecke beſſer erdichten koͤnnte.
Findet er dieſe Schicklichkeit von ohngefehr an
einem wahren Falle, ſo iſt ihm der wahre Fall
willkommen; aber die Geſchichtbuͤcher erſt lange
darum nachzuſchlagen, lohnt der Muͤhe nicht.
Und wie viele wiſſen denn, was geſchehen iſt?
Wenn wir die Moͤglichkeit, daß etwas geſchehen
kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge-
ſchehen iſt: was hindert uns, eine gaͤnzlich er-
dichtete Fabel fuͤr eine wirklich geſchehene Hi-
ſtorie zu halten, von der wir nie etwas gehoͤrt
haben? Was iſt das erſte, was uns eine Hiſtorie
glaubwuͤrdig macht? Iſt es nicht ihre innere
Wahrſcheinlichkeit? Und iſt es nicht einerley,
ob dieſe Wahrſcheinlichkeit von gar keinen Zeug-
niſſen und Ueberlieferungen beſtaͤtiget wird, oder
von ſolchen, die zu unſerer Wiſſenſchaft noch nie
gelangt ſind? Es wird ohne Grund angenom-
men,
[147] men, daß es eine Beſtimmung des Theaters mit
ſey, das Andenken großer Maͤnner zu erhalten;
dafuͤr iſt die Geſchichte, aber nicht das Theater.
Auf dem Theater ſollen wir nicht lernen, was
dieſer oder jener einzelne Menſch gethan hat, ſon-
dern was ein jeder Menſch von einem gewiſſen
Charakter unter gewiſſen gegebenen Umſtaͤnden
thun werde. Die Abſicht der Tragoͤdie iſt weit
philoſophiſcher, als die Abſicht der Geſchichte;
und es heißt ſie von ihrer wahren Wuͤrde herab-
ſetzen, wenn man ſie zu einem bloßen Panegyri-
kus beruͤhmter Maͤnner macht, oder ſie gar den
Nationalſtolz zu naͤhren mißbraucht.
Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran-
zoͤſiſchen Kunſtrichters gegen die Zelmire des
Du Belloy, iſt wichtiger. Er tadelt, daß ſie
faſt nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun-
derbarer Zufaͤlle ſey, die in den engen Raum
von vier und zwanzig Stunden zuſammenge-
preßt, aller Illuſion unfaͤhig wuͤrden. Eine
ſeltſam ausgeſparte Situation uͤber die andere!
ein Theaterſtreich uͤber den andern! Was ge-
ſchieht nicht alles! was hat man nicht alles zu
behalten! Wo ſich die Begebenheiten ſo dren-
gen, koͤnnen ſchwerlich alle vorbereitet genug
ſeyn. Wo uns ſo vieles uͤberraſcht, wird uns
leicht manches mehr befremden, als uͤberraſchen.
„Warum muß ſich z. E. der Tyrann dem Rham-
T 2nes
[148] nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm
ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht
gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde-
rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis
auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht,
nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf
die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein-
mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er
ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche
geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich-
ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So
muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt,
und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen
will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und
der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen
Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an-
ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht,
anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn
erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe
zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen
Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf
alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende
Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht
weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem
er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire
bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur
ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es ſo
natuͤrlicher geweſen, als daß die ganzen letzten
Akte ſich nunmehr auf die Art, wie Polidor
geht,
[149] geht, ob er ſeinen Ruͤcken dahin oder dorthin
kehret, gruͤnden muͤſſen. Mit dem Billet des
Azor hat es die nehmliche Bewandtniß: brachte
es der Soldat im zweyten Akte gleich mit, ſo
wie er es haͤtte mitbringen ſollen, ſo war der
Tyrann entlarvet, und das Stuͤck hatte ein
Ende.„
Die Ueberſetzung der Zelmire iſt nur in Proſa.
Aber wer wird nicht lieber eine koͤrnichte, wohl-
klingende Proſa hoͤren wollen, als matte, gera-
debrechte Verſe? Unter allen unſern gereimten
Ueberſetzungen werden kaum ein halbes Dutzend
ſeyn, die ertraͤglich ſind. Und daß man mich ja
nicht bey dem Worte nehme, ſie zu nennen! Ich
wuͤrde eher wiſſen, wo ich aufhoͤren, als wo ich
anfangen ſollte. Die beſte iſt an vielen Stellen
dunkel und zweydeutig; der Franzoſe war ſchon
nicht der groͤßte Verſifikateur, fondern ſtuͤm-
perte und flickte; der Deutſche war es noch we-
niger, und indem er ſich bemuͤhte, die gluͤcklichen
und ungluͤcklichen Zeilen ſeines Originals gleich
treu zu uͤberſetzen, ſo iſt es natuͤrlich, daß oͤf-
ters, was dort nur Luͤckenbuͤſſerey, oder Tavto-
logie, war, hier zu foͤrmlichem Unſinne werden
mußte. Der Ausdruck iſt dabey meiſtens ſo
niedrig, und die Konſtruction ſo verworfen, daß
der Schauſpieler allen ſeinen Adel noͤthig hat,
jenen aufzuhelfen, und allen ſeinen Verſtand
T 3brau-
[150] brauchet, dieſe nur nicht verfehlen zu laſſen.
Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran iſt
vollends gar nicht gedacht worden!
Aber verlohnt es denn auch der Muͤhe, auf
franzoͤſiſche Verſe ſo viel Fleiß zu wenden, bis
in unſerer Sprache eben ſo waͤßrig korrecte, eben
ſo grammatikaliſch kalte Verſe daraus werden?
Wenn wir hingegen den ganzen poetiſchen
Schmuck der Franzoſen in unſere Proſa uͤber-
tragen, ſo wird unſere Proſa dadurch eben noch
nicht ſehr poetiſch werden. Es wird der Zwit-
terton noch lange nicht daraus entſtehen, der aus
den proſaiſchen Ueberſetzungen engliſcher Dichter
entſtanden iſt, in welchen der Gebrauch der kuͤhn-
ſten Tropen und Figuren, außer einer gebunde-
nen cadenſirten Wortfuͤgung, uns an Beſof-
fene denken laͤßt, die ohne Muſik tanzen. Der
Ausdruck wird ſich hoͤchſtens uͤber die alltaͤgliche
Sprache nicht weiter erheben, als ſich die thea-
traliſche Deklamation uͤber den gewoͤhnlichen
Ton der geſellſchaftlichen Unterhaltungen erhe-
ben ſoll. Und ſo nach wuͤnſchte ich unſerm pro-
ſaiſchen Ueberſetzer recht viele Nachfolger; ob
ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte
gar nicht bin, daß das Syloͤenmaaß uͤberhaupt ein
kindiſcher Zwang ſey, dem ſich der dramatiſche
Dichter am wenigſten Urſache habe zu unterwer-
fen. Denn hier koͤm̃t es blos darauf an, unter zwey
Uebeln
[151] Uebeln das kleinſte zu waͤhlen; entweder Ver-
ſtand und Nachdruck der Verſifikation, oder
dieſe jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la
Motte war ſeine Meinung zu vergeben; er hatte
eine Sprache in Gedanken, in der das Metri-
ſche der Poeſie nur Kitzelung der Ohren iſt, und
zur Verſtaͤrkung des Ausdrucks nichts beytra-
gen kann; in der unſrigen hingegen iſt es etwas
mehr, und wir koͤnnen der griechiſchen ungleich
naͤher kommen, die durch den bloßen Rhytmus
ihrer Versarten die Leidenſchaften, die darinn
ausgedruͤckt werden, anzudeuten vermag. Die
franzoͤſiſchen Verſe haben nichts als den Werth
der uͤberſtandenen Schwierigkeit fuͤr ſich; und
freylich iſt dieſes nur ein ſehr elender Werth.
Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers
ungemein wohl geſpielt; mit aller der Beſonnen-
heit und Heiterkeit, die einem Boͤſewichte von
großem Verſtande ſo natuͤrlich zu ſeyn ſcheinen.
Kein mißlungener Anſchlag wird ihn in Verle-
genheit ſetzen; er iſt an immer neuen Raͤnken
unerſchoͤpflich; er beſinnt ſich kaum, und der
unerwarteſte Streich, der ihn in ſeiner Bloͤße
darzuſtellen drohte, empfaͤngt eine Wendung,
die ihm die Larve nur noch feſter aufdruͤckt.
Dieſen Charakter nicht zu verderben, iſt von
Seiten des Schauſpielers das getreueſte Ge-
daͤchtniß, die fertigſte Stimme, die freyeſte,
nach-
[152] nachlaͤßigſte Aktion, unumgaͤnglich noͤthig. Hr.
Borchers hat uͤberhaupt ſehr viele Talente, und
ſchon das muß ein guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr ihn
erwecken, daß er ſich in alten Rollen eben ſo
gern uͤbet, als in jungen. Dieſes zeiget von
ſeiner Liebe zur Kunſt; und der Kenner unter-
ſcheidet ihn ſogleich von ſo vielen andern jungen
Schauſpielern, die nur immer auf der Buͤhne
glaͤnzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, ſich
in lauter galanten liebenswuͤrdigen Rollen be-
gaffen und bewundern zu laſſen, ihr vornehm-
ſter, auch wohl oͤfters ihr einziger Beruff zum
Theater iſt.
Ham-
[[153]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwanzigſtes Stuͤck.
Den drey und zwanzigſten Abend (Freytags,
den 22ſten May,) ward Cenie aufgefuͤh-
ret.
Dieſes vortreffliche Stuͤck der Graffigny
mußte der Gottſchedinn zum Ueberſetzen in die
Haͤnde fallen. Nach dem Bekenntniſſe, wel-
ches ſie von ſich ſelbſt ablegt,
„daß ſie die Ehre,
welche man durch Ueberſetzung, oder auch Ver-
fertigung theatraliſcher Stuͤcke, erwerben koͤnne,
allezeit nur fuͤr ſehr mittelmaͤßig gehalten habe,„
laͤßt ſich leicht vermuthen, daß ſie, dieſe mittel-
maͤßige Ehre zu erlangen, auch nur ſehr mittel-
maͤßige Muͤhe werde angewendet haben. Ich
habe ihr die Gerechtigkeit wiederfahren laſſen,
daß ſie einige luſtige Stuͤcke des Destouches eben
nicht verdorben hat. Aber wie viel leichter iſt
es, eine Schnurre zu uͤberſetzen, als eine Em-
pfindung! Das Laͤcherliche kann der Witzige
Uund
[154] und Unwitzige nachſagen; aber die Sprache des
Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat
ihre eigene Regeln; und es iſt ganz um ſie ge-
ſchehen, ſobald man dieſe verkennt, und ſie da-
fuͤr den Regeln der Grammatik unterwerfen,
und ihr alle die kalte Vollſtaͤndigkeit, alle die
langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an
einem logiſchen Satze verlangen. Z. E. Do-
rimond hat dem Mericourt eine anſehnliche Ver-
bindung, nebſt dem vierten Theile ſeines Ver-
moͤgens, zugedacht. Aber das iſt das wenigſte,
worauf Mericourt geht; er verweigert ſich dem
großmuͤthigen Anerbieten, und will ſich ihm aus
Uneigennuͤtzigkeit verweigert zu haben ſcheinen.
ſagt er.
Warum wollen Sie ſich
ihres Vermoͤgens berauben? Genießen Sie ih-
rer Guͤter ſelbſt; ſie haben Ihnen Gefahr und
Arbeit genug gekoſtet.„ J’en jouirai, je vous
rendrai tous heureux:
laͤßt die Graffigny den
lieben gutherzigen Alten antworten.
„Ich will
ihrer genießen, ich will euch alle gluͤcklich machen.„
Vortrefflich! Hier iſt kein Wort zu viel! Die
wahre nachlaͤßige Kuͤrze, mit der ein Mann,
dem Guͤte zur Natur geworden iſt, von ſeiner
Guͤte ſpricht, wenn er davon ſprechen muß!
Seines Gluͤckes genießen, andere gluͤcklich
machen: beides iſt ihm nur eines; das eine iſt
ihm nicht blos eine Folge des andern, ein Theil
des andern; das eine iſt ihm ganz das andere:
und
[155] und ſo wie ſein Herz keinen Unterſchied darunter
kennet, ſo weiß auch ſein Mund keinen darunter
zu machen; er ſpricht, als ob er das nehmliche
zweymal ſpraͤche, als ob beide Saͤtze wahre tav-
tologiſche Saͤtze, vollkommen identiſche Saͤtze
waͤren; ohne das geringſte Verbindungswort.
O des Elenden, der die Verbindung nicht fuͤhlt,
dem ſie eine Partikel erſt fuͤhlbar machen ſoll!
Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die
Gottſchedinn jene acht Worte uͤberſetzt hat?
„Alsdenn werde ich meiner Guͤter erſt recht ge-
nießen, wenn ich euch beide dadurch werde gluͤck-
lich gemacht haben.„
Unertraͤglich! Der Sinn
iſt vollkommen uͤbergetragen, aber der Geiſt iſt
verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn er-
ſtickt. Dieſes Alsdenn, mit ſeinem Schwanze
von Wenn; dieſes Erſt; dieſes Recht; dieſes
Dadurch: lauter Beſtimmungen, die dem Aus-
bruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der
Ueberlegung geben, und eine warme Empfin-
dung in eine froſtige Schlußrede verwandeln.
Denen, die mich verſtehen, darf ich nur ſa-
gen, daß ungefehr auf dieſen Schlag das ganze
Stuͤck uͤberſetzt iſt. Jede feinere Geſinnung iſt
in ihren geſunden Menſchenverſtand paraphra-
ſirt, jeder affektvolle Ausdruck in die todten Be-
ſtandtheile ſeiner Bedeutung aufgeloͤſet worden.
Hierzu koͤmmt in vielen Stellen der haͤßliche Ton
des Ceremoniels; verabredete Ehrenbenennun-
U 2gen
[156] gen contraſtiren mit den Ausrufungen der ge-
ruͤhrten Natur auf die abſcheulichſte Weiſe.
Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft ſie:
Der Name Mutter iſt ſuͤß; aber Frau Mutter
iſt wahrer Honig mit Citronenſaft! Der herbe
Titel zieht das ganze, der Empfindung ſich oͤffende
Herz wieder zuſammen. Und in dem Augen-
blicke, da ſie ihren Vater findet, wirft ſie ſich
gar mit einem
„Gnaͤdiger Herr Vater! bin ich
Ihrer Gnade werth!„
ihm in die Arme.
pere!’
auf deutſch:
Was fuͤr ein reſpectuoͤſes Kind! Wenn ich Dor-
ſainville waͤre, ich haͤtte es eben ſo gern gar nicht
wieder gefunden, als mit dieſer Anrede.
Madame Loͤwen ſpielt die Orphiſe; man kann
ſie nicht mit mehrerer Wuͤrde und Empfindung
ſpielen. Jede Mine ſpricht das ruhige Be-
wußtſeyn ihres verkannten Werthes; und ſanfte
Melancholie auszudruͤcken, kann nur ihrem
Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.
Cenie iſt Madame Henſel. Kein Wort faͤllt
aus ihrem Munde auf die Erde. Was ſie ſagt,
hat ſie nicht gelernt; es koͤmmt aus ihrem eignen
Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag
ſprechen, oder ſie mag nicht ſprechen, ihr Spiel
geht ununterbrochen fort. Ich wuͤßte nur einen
einzigen Fehler; aber es iſt ein ſehr ſeltner Feh-
ler; ein ſehr beneidenswuͤrdiger Fehler. Die
Aktrice
[157] Aktrice iſt fuͤr die Rolle zu groß. Mich duͤnkt
einen Rieſen zu ſehen, der mit dem Gewehre
eines Cadets exerciret. Ich moͤchte nicht alles
machen, was ich vortrefflich machen koͤnnte.
Herr Eckhof in der Rolle des Dorimond, iſt
ganz Dorimond. Dieſe Miſchung von Sanft-
muth und Ernſt, von Weichherzigkeit und
Strenge, wird gerade in ſo einem Manne wirk-
lich ſeyn, oder ſie iſt es in keinem. Wann er
zum Schluſſe des Stuͤcks vom Mericourt ſagt:
„Ich will ihm ſo viel geben, daß er in der großen
Welt leben kann, die ſein Vaterland iſt; aber
ſehen mag ich ihn nicht mehr!„
wer hat den
Mann gelehrt, mit ein Paar erhobenen Fingern,
hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen
Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was
das fuͤr ein Land iſt, dieſes Vaterland des Me-
ricourt? Ein gefaͤhrliches, ein boͤſes Land!
Tot linguæ, quot membra viro! —
Den vier und zwanzigſten Abend (Freytags,
den 25ſten May,) ward die Amalia des Herrn
Weiß aufgefuͤhret.
Amalia wird von Kennern fuͤr das beſte Luſt-
ſpiel dieſes Dichters gehalten. Es hat auch
wirklich mehr Intereſſe, ausgefuͤhrtere Cha-
raktere und einen lebhaftern gedankenreichern
Dialog, als ſeine uͤbrige komiſche Stuͤcke. Die
Rollen ſind hier ſehr wohl beſetzt; beſonders
U 3macht
[158] macht Madame Boͤck den Manley, oder die ver-
kleidete Amalia, mit vieler Anmuth und mit
aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die
wir es ein wenig ſehr unwahrſcheinlich finden
wuͤrden, ein junges Frauenzimmer ſo lange ver-
kannt zu ſehen. Dergleichen Verkleidungen
uͤberhaupt geben einem dramatiſchen Stuͤcke
zwar ein romanenhaftes Anſehen, dafuͤr kann es
aber auch nicht fehlen, daß ſie nicht ſehr komi-
ſche, auch wohl ſehr intereſſante Scenen veran-
laſſen ſollten. Von dieſer Art iſt die fuͤnfte des
letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde ei-
nige allzu kuͤhn croquirte Pinſelſtriche zu lindern,
und mit dem Uebrigen in eine ſanftere Haltung
zu vertreiben, wohl rathen moͤchte. Ich weiß
nicht, was in der Welt geſchieht; ob man wirk-
lich mit dem Frauenzimmer manchmal in dieſem
zudringlichen Tone ſpricht. Ich will nicht un-
terſuchen, wie weit es mit der weiblichen Be-
ſcheidenheit beſtehen koͤnne, gewiſſe Dinge, ob-
ſchon unter der Verkleidung, ſo zu bruͤſquiren.
Ich will die Vermuthung ungeaͤußert laſſen,
daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art
ſey, eine Madame Freemann ins Enge zu trei-
ben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl
haͤtte feiner anfangen koͤnnen; daß man uͤber
einen ſchnellen Strom nicht in gerader Linie
ſchwimmen zu wollen verlangen muͤſſe; daß —
Wie geſagt, ich will dieſe Vermuthungen unge-
aͤußert
[159] aͤußert laſſen; denn es koͤnnte leicht bey einem
ſolchen Handel mehr als eine rechte Art geben.
Nachdem nehmlich die Gegenſtaͤnde ſind; ob-
ſchon alsdenn noch gar nicht ausgemacht iſt, daß
diejenige Frau, bey der die eine Art fehl geſchla-
gen, auch allen uͤbrigen Arten Obſtand halten
werde. Ich will blos bekennen, daß ich fuͤr
mein Theil nicht Herz genug gehabt haͤtte, eine
dergleichen Scene zu bearbeiten. Ich wuͤrde
mich von der einen Klippe, zu wenig Erfahrung
zu zeigen, eben ſo ſehr gefuͤrchtet haben, als vor
der andern, allzu viele zu verrathen. Ja wenn
ich mir auch einer mehr als Crebillonſchen Faͤ-
higkeit bewußt geweſen waͤre, mich zwiſchen
beide Klippen durchzuſtehlen: ſo weiß ich doch
nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern
Weg eingeſchlagen waͤre. Beſonders da ſich
dieſer andere Weg hier von ſelbſt oͤffnet. Man-
ley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann
mit ſeiner vorgeblichen Frau nicht geſetzmaͤßig
verbunden ſey. Warum konnte er alſo nicht
dieſes zum Grunde nehmen, ſie ihm gaͤnzlich ab-
ſpaͤnſtig zu machen, und ſich ihr nicht als einen
Galan, dem es nur um fluͤchtige Gunſtbezeigun-
gen zu thun, ſondern als einen ernſthaften Lieb-
haber anzutragen, der ſein ganzes Schickſal mit
ihr zu theilen bereit ſey? Seine Bewerbungen
wuͤrden dadurch, ich will nicht ſagen unſtraͤflich,
aber doch unſtraͤflicher geworden ſeyn; er wuͤrde,
ohne
[160] ohne ſie in ihren eigenen Augen zu beſchimpfen,
darauf haben beſtehen koͤnnen; die Probe waͤre
ungleich verfuͤhreriſcher, und das Beſtehen in der-
ſelben ungleich entſcheidender fuͤr ihre Liebe gegen
Freemann geweſen. Man wuͤrde zugleich einen
ordentlichen Plan von Seiten der Amalia dabey
abgeſehen haben; anſtatt daß man itzt nicht wohl
errathen kann, was ſie nun weiter thun koͤnnen,
wenn ſie ungluͤcklicher Weiſe in ihrer Verfuͤh-
rung gluͤcklich geweſen waͤre.
Nach der Amalia folgte das kleine Luſtſpiel
des Saintfoix, der Finanzpachter. Es beſteht
ungefehr aus ein Dutzend Scenen von der aͤußer-
ſten Lebhaftigkeit. Es duͤrfte ſchwer ſeyn, in
einen ſo engen Bezirk mehr geſunde Moral, mehr
Charaktere, mehr Intereſſe zu bringen. Die
Manier dieſes liebenswuͤrdigen Schriftſtellers iſt
bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres nied-
licheres Ganze zu machen gewußt, als Er.
Den fuͤnf und zwanzigſten Abend (Dienſtags,
den 26ſten May,) ward die Zelmire des Du
Belloy wiederholt.
Ham-
[[161]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und zwanzigſtes Stuͤck.
Den ſechs und zwanzigſten Abend (Freytags,
den 29ſten May) ward die Muͤtterſchule
des Nivelle de la Chauſſee aufgefuͤhret.
Es iſt die Geſchichte einer Mutter, die fuͤr
ihre partheyiſche Zaͤrtlichkeit gegen einen nichts-
wuͤrdigen ſchmeichleriſchen Sohn, die verdiente
Kraͤnkung erhaͤlt. Marivaux hat auch ein
Stuͤck unter dieſem Titel. Aber bey ihm iſt es
die Geſchichte einer Mutter, die ihre Tochter,
um ein recht gutes gehorſames Kind an ihr zu
haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt
und Erfahrung laͤßt: und wie geht es damit?
Wie man leicht errathen kann. Das liebe Maͤd-
chen hat ein empfindliches Herz; ſie weiß keiner
Gefahr auszuweichen, weil ſie keine Gefahr ken-
net; ſie verliebt ſich in den erſten in den beſten,
ohne Mamma darum zu fragen, und Mamma
mag dem Himmel danken, daß es noch ſo gut ab-
Xlaͤuft.
[162] laͤuft. In jener Schule giebt es eine Menge
ernſthafte Betrachtungen anzuſtellen; in dieſer
ſetzt es mehr zu lachen. Die eine iſt der Pen-
dant der andern; und ich glaube, es muͤßte fuͤr
Kenner ein Vergnuͤgen mehr ſeyn, beide an ei-
nem Abende hinter einander beſuchen zu koͤnnen.
Sie haben hierzu auch alle aͤußerliche Schicklich-
keit; das erſte Stuͤck iſt von fuͤnf Akten, das
andere von einem.
Den ſieben und zwanzigſten Abend (Montags,
den 1ſten Junius,) ward die Nanine des Herrn
von Voltaire geſpielt.
Nanine? fragten ſogenannte Kunſtrichter,
als dieſes Luſtſpiel im Jahre 1749 zuerſt er-
ſchien. Was iſt das fuͤr ein Titel? Was denkt
man dabey? — Nicht mehr und nicht weniger,
als man bey einem Titel denken ſoll. Ein Titel
muß kein Kuͤchenzettel ſeyn. Je weniger er von
dem Inhalte verraͤth, deſto beſſer iſt er. Dich-
ter und Zuſchauer finden ihre Rechnung dabey,
und die Alten haben ihren Komoͤdien ſelten andere,
als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne
kaum drey oder viere, die den Hauptcharakter
anzeigten, oder etwas von der Intrigue verrie-
then. Hierunter gehoͤret des Plautus Miles
glorioſus. Wie koͤmmt es, daß man noch nicht
angemerket, daß dieſer Titel dem Plautus nur
zur Haͤlfte gehoͤren kann? Plautus nannte ſein
Stuͤck
[163] Stuͤck blos Glorioſus; ſo wie er ein anderes
Truculentus uͤberſchrieb. Miles muß der Zu-
ſatz eines Grammatikers ſeyn. Es iſt wahr, der
Prahler, den Plautus ſchildert, iſt ein Soldat;
aber ſeine Prahlereyen beziehen ſich nicht blos auf
ſeinen Stand, und ſeine kriegeriſche Thaten.
Er iſt in dem Punkte der Liebe eben ſo groß-
ſprecheriſch; er ruͤhmt ſich nicht allein der tapfer-
ſte, ſondern auch der ſchoͤnſte und liebenswuͤr-
digſte Mann zu ſeyn. Beides kann in dem
Worte Glorioſus liegen; aber ſobald man
Miles hinzufuͤgt, wird das glorioſus nur auf
das erſtere eingeſchraͤnkt. Vielleicht hat den
Grammatiker, der dieſen Zuſatz machte, eine
Stelle des Cicero (*) verfuͤhrt; aber hier haͤtte
ihm Plautus ſelbſt, mehr als Cicero gelten ſollen.
Plautus ſelbſt ſagt:
Alazon Græce huic nomen eſt Co-
mœdiæ
Id nos latine glorioſum dici-
mus —
und in der Stelle des Cicero iſt es noch gar nicht
ausgemacht, daß eben das Stuͤck des Plautus
gemeinet ſey. Der Charakter eines großſpreche-
riſchen Soldaten kam in mehrern Stuͤcken vor.
Cicero kann eben ſowohl auf den Thraſo des
Terenz gezielet haben. — Doch dieſes beylaͤufig.
X 2Ich
[164] Ich erinnere mich, meine Meinung von den
Titeln der Komoͤdien uͤberhaupt, ſchon einmal ge-
aͤußert zu haben. Es koͤnnte ſeyn, daß die
Sache ſo unbedeutend nicht waͤre. Mancher
Stuͤmper hat zu einem ſchoͤnen Titel eine ſchlechte
Komoͤdie gemacht; und blos des ſchoͤnen Titels
wegen. Ich moͤchte doch lieber eine gute Ko-
moͤdie mit einem ſchlechten Titel. Wenn man
nachfragt, was fuͤr Charaktere bereits bearbei-
ten worden, ſo wird kaum einer zu erdenken ſeyn,
nach welchem, beſonders die Franzoſen, nicht
ſchon ein Stuͤck genannt haͤtten. Der iſt laͤngſt
da geweſen! ruft man. Der auch ſchon! Die-
ſer wuͤrde vom Moliere, jener vom Destouches
entlehnet ſeyn! Entlehnet? Das koͤmmt aus
den ſchoͤnen Titeln. Was fuͤr ein Eigenthums-
recht erhaͤlt ein Dichter auf einen gewiſſen Cha-
rakter dadurch, daß er ſeinen Titel davon herge-
nommen? Wenn er ihn ſtillſchweigend gebraucht
haͤtte, ſo wuͤrde ich ihn wiederum ſtillſchweigend
brauchen duͤrfen, und niemand wuͤrde mich dar-
uͤber zum Nachahmer machen. Aber ſo wage
es einer einmal, und mache z. E. einen neuen
Miſanthropen. Wann er auch keinen Zug von
dem Molierſchen nimmt, ſo wird ſein Miſan-
throp doch immer nur eine Copie heiſſen. Ge-
nug, daß Moliere den Namen zuerſt gebraucht
hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr ſpaͤ-
ter lebet; und daß die Sprache fuͤr die unendli-
chen
[165] chen Varietaͤten des menſchlichen Gemuͤths nicht
auch unendliche Benennungen hat.
Wenn der Titel Nanine nichts ſagt; ſo ſagt
der andere Titel deſto mehr: Nanine, oder das
beſiegte Vorurtheil. Und warum ſoll ein Stuͤck
nicht zwey Titel haben? Haben wir Menſchen
doch auch zwey, drey Namen. Die Namen
ſind der Unterſcheidung wegen; und mit zwey
Namen iſt die Verwechſelung ſchwerer, als mit
einem. Wegen des zweyten Titels ſcheinet der
Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit ſich
geweſen zu ſeyn. In der nehmlichen Ausgabe
ſeiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be-
ſiegte Vorurtheil; und auf dem andern, der
Mann ohne Vorurtheil. Doch beides iſt nicht
weit aus einander. Es iſt von dem Vorurtheile,
daß zu einer vernuͤnftigen Ehe die Gleichheit der
Geburt und des Standes erforderlich ſey, die
Rede. Kurz, die Geſchichte der Nanine iſt die
Geſchichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte
der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht
brauchen, weil ſchon einige Jahre vorher ein
Paar Stuͤcke unter dieſem Namen erſchienen
waren, und eben kein großes Gluͤck gemacht
hatten. Die Pamela des Boiſſy und des De la
Chauſſee ſind auch ziemlich kahle Stuͤcke; und
Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu ſeyn,
etwas weit Beſſeres zu machen.
X 3Na-
[166]
Nanine gehoͤrt unter die ruͤhrenden Luſtſpiele.
Es hat aber auch ſehr viel laͤcherliche Scenen,
und nur in ſo fern, als die laͤcherlichen Scenen
mit den ruͤhrenden abwechſeln, will Voltaire
dieſe in der Komoͤdie geduldet wiſſen. Eine
ganz ernſthafte Komoͤdie, wo man niemals lacht,
auch nicht einmal laͤchelt, wo man nur immer
weinen moͤchte, iſt ihm ein Ungeheuer. Hin-
gegen findet er den Uebergang von dem Ruͤhren-
den zum Laͤcherlichen, und von dem Laͤcherlichen
zum Ruͤhrenden, ſehr natuͤrlich. Das menſch-
liche Leben iſt nichts als eine beſtaͤndige Kette
ſolcher Uebergaͤnge, und die Komoͤdie ſoll ein
Spiegel des menſchlichen Lebens ſeyn.
„Was
iſt gewoͤhnlicher,
ſagt er,
als daß in dem nehm-
lichen Hauſe der zornige Vater poltert, die ver-
liebte Tochter ſeufzet, der Sohn ſich uͤber beide
aufhaͤlt, und jeder Anverwandte bey der nehm-
lichen Scene etwas anders empfindet? Man
verſpottet in einer Stube ſehr oft, was in der
Stube neben an aͤußerſt bewegt; und nicht ſel-
ten hat eben dieſelbe Perſon in eben derſelben
Viertelſtunde uͤber eben dieſelbe Sache gelacht
und geweinet. Eine ſehr ehrwuͤrdige Matrone
ſaß bey einer von ihren Toͤchtern, die gefaͤhr-
lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa-
milie ſtand um ihr herum. Sie wollte in Thraͤ-
nen zerfließen, ſie rang die Haͤnde, und rief:
O Gott! laß mir, laß mir dieſes Kind, nur die-
ſes;
[167] ſes; magſt du mir doch alle die andern dafuͤr neh-
men! Hier trat ein Mann, der eine von ihren
uͤbrigen Toͤchtern geheyrathet hatte, naͤher zu ihr
hinzu, zupfte ſie bey dem Aermel, und fragte:
Madame, auch die Schwiegerſoͤhne? Das
kalte Blut, der komiſche Ton, mit denen er dieſe
Worte ausſprach, machten einen ſolchen Ein-
druck auf die betruͤbte Dame, daß ſie in vollem
Gelaͤchter herauslaufen mußte; alles folgte ihr
und lachte; die Kranke ſelbſt, als ſie es hoͤrte,
waͤre vor Lachen faſt erſtickt.〟
ſagt er an einem andern Orte,
laͤßt
ſogar die Goͤtter, indem ſie das Schickſal der
Welt entſcheiden, uͤber den poßirlichen Anſtand
des Vulkans lachen. Hektor lacht uͤber die
Furcht ſeines kleinen Sohnes, indem Andro-
macha die heiſſeſten Thraͤnen vergießt. Es trift
ſich wohl, daß mitten unter den Greueln einer
Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuers-
brunſt, oder ſonſt eines traurigen Verhaͤng-
niſſes, ein Einfall, eine ungefehre Poſſe, Trotz
aller Beaͤngſtigung, Trotz alles Mitleids, das
unbaͤndigſte Lachen erregt. Man befahl, in
der Schlacht bey Speyern, einem Regimente,
daß es keinen Pardon geben ſollte. Ein deut-
ſcher Officier bat darum, und der Franzoſe, den
er darum bat, antwortete: Bitten Sie, mein
Herr, was Sie wollen; nur das Leben nicht;
da-
[168] damit kann ich unmoͤglich dienen! Dieſe Naive-
taͤt ging ſogleich von Mund zu Munde; man
lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht
in der Komoͤdie das Lachen auf ruͤhrende Empfin-
dungen folgen koͤnnen? Bewegt uns nicht Alk-
mene? Macht uns nicht Soſias zu lachen?
Welche elende und eitle Arbeit, wider die Er-
fahrung ſtreiten zu wollen.〟
Sehr wohl! Aber ſtreitet nicht auch der Herr
von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die
ganz ernſthafte Komoͤdie fuͤr eine eben ſo fehler-
hafte, als langweilige Gattung erklaͤret? Viel-
leicht damals, als er es ſchrieb, noch nicht.
Damals war noch keine Cenie, noch kein Haus-
vater vorhanden; und vieles muß das Genie
erſt wirklich machen, wenn wir es fuͤr moͤglich
erkennen ſollen.
Ham-
[[169]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und zwanzigſtes Stuͤck.
Den acht und zwanzigſten Abend (Dienſtags,
den 2ten Junius,) ward der Advokat Pa-
telin wiederholt, und mit der kranken
Frau des Herrn Gellert beſchloſſen.
Ohnſtreitig iſt unter allen unſern komiſchen
Schriftſtellern Herr Gellert derjenige, deſſen
Stuͤcke das meiſte urſpruͤnglich Deutſche haben.
Es ſind wahre Familiengemaͤlde, in denen man
ſogleich zu Hauſe iſt; jeder Zuſchauer glaubt,
einen Vetter, einen Schwager, ein Muͤhmchen
aus ſeiner eigenen Verwandtſchaft darinn zu er-
kennen. Sie beweiſen zugleich, daß es an Ori-
ginalnarren bey uns gar nicht mangelt, und daß
nur die Augen ein wenig ſelten ſind, denen ſie
ſich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unſere Thor-
heiten ſind bemerkbarer, als bemerkt; im gemei-
nen Leben ſehen wir uͤber viele aus Gutherzigkeit
hinweg; und in der Nachahmung haben ſich
Yunſere
[170] unſere Virtuoſen an eine allzuflache Manier ge-
woͤhnet. Sie machen ſie aͤhnlich, aber nicht
hervorſpringend. Sie treffen; aber da ſie ihren
Gegenſtand nicht vortheilhaft genug zu beleuch-
ten gewußt, ſo mangelt dem Bilde die Run-
dung, das Koͤrperliche; wir ſehen nur immer
Eine Seite, an der wir uns bald ſatt geſehen,
und deren allzuſchneidende Außenlinien uns
gleich an die Taͤuſchung erinnern, wenn wir in
Gedanken um die uͤbrigen Seiten herumgehen
wollen. Die Narren ſind in der ganzen Welt
platt und froſtig und eckel; wann ſie beluſtigen
ſollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem
Seinigen geben. Er muß ſie nicht in ihrer All-
tagskleidung, in der ſchmutzigen Nachlaͤßigkeit,
auf das Theater bringen, in der ſie innerhalb
ihren vier Pfaͤhlen herumtraͤumen. Sie muͤſſen
nichts von der engen Sphaͤre kuͤmmerlicher Um-
ſtaͤnde verrathen, aus der ſich ein jeder gern her-
ausarbeiten will. Er muß ſie aufputzen; er
muß ihnen Witz und Verſtand leihen, das Arm-
ſelige ihrer Thorheiten bemaͤnteln zu koͤnnen; er
muß ihnen den Ehrgeitz geben, damit glaͤnzen
zu wollen.
Ich weiß gar nicht, ſagte eine von meinen
Bekanntinnen, was das fuͤr ein Paar zuſam-
men iſt, dieſer Herr Stephan, und dieſe Frau
Stephan! Herr Stephan iſt ein reicher Mann,
und ein guter Mann. Gleichwohl muß ſeine
ge-
[171] geliebte Frau Stephan um eine lumpige
Adrienne ſo viel Umſtaͤnde machen! Wir ſind
freylich ſehr oft um ein Nichts krank; aber doch
um ein ſo gar großes Nichts nicht. Eine neue
Adrienne! Kann ſie nicht hinſchicken, und aus-
nehmen laſſen, und machen laſſen. Der Mann
wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl.
Ganz gewiß! ſagte eine andere. Aber ich
habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter
ſchrieb zu den Zeiten unſerer Muͤtter. Eine
Adrienne! Welche Schneidersfrau traͤgt denn
noch eine Adrienne? Es iſt nicht erlaubt, daß
die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig
nachgeholfen! Konnte ſie nicht Roberonde, Bene-
dietine, Reſpectueuſe, — (ich habe die andern Na-
men vergeſſen, ich wuͤrde ſie auch nicht zu ſchreiben
wiſſen,) — dafuͤr ſagen! Mich in einer Adrienne
zu denken; das allein koͤnnte mich krank machen.
Wenn es der neueſte Stoff iſt, wornach Madame
Stephan lechzet, ſo muß es auch die neueſte Tracht
ſeyn. Wie koͤnnen wir es ſonſt wahrſcheinlich
finden, daß ſie daruͤber krank geworden?
Und ich, ſagte eine dritte, (es war die gelehr-
teſte,) finde es ſehr unanſtaͤndig, daß die Stephan
ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib ge-
macht worden. Aber man ſieht wohl, was den
Verfaſſer zu dieſer — wie ſoll ich es nennen? —
Verkennung unſerer Delicateſſe gezwungen hat.
Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig
Y 2ſeyn;
[172] ſeyn; die Stephan ſollte es noch anziehen; und
in vier und zwanzig Stunden wird nicht immer
ein Kleid fertig. Ja er durfte ſich nicht einmal
zu einem kleinen Nachſpiele vier und zwanzig
Stunden gar wohl erlauben. Denn Ariſtoteles
ſagt — Hier ward meine Kunſtrichterinn unter-
brochen.
Den neun und zwanzigſten Abend (Mitte-
wochs, den 3ten Junius,) ward nach der Me-
lanide des De la Chauſſee, der Mann nach der
Uhr, oder der ordentliche Mann, geſpielet.
Der Verfaſſer dieſes Stuͤcks iſt Herr Hippel,
in Danzig. Es iſt reich an drolligen Einfaͤllen;
nur Schade, daß ein jeder, ſobald er den Titel
hoͤrt, alle dieſe Einfaͤlle vorausſieht. National
iſt es auch genug; oder vielmehr provincial.
Und dieſes koͤnnte leicht das andere Extremum
werden, in das unſere komiſchen Dichter ver-
fielen, wenn ſie wahre deutſche Sitten ſchildern
wollten. Ich fuͤrchte, daß jeder die armſeligen
Gewohnheiten des Winkels, in dem er gebohren
worden, fuͤr die eigentlichen Sitten des gemein-
ſchaftlichen Vaterlandes halten duͤrfte. Wem
aber liegt daran, zu erfahren, wie vielmal im
Jahre man da oder dort gruͤnen Kohl ißt?
Ein Luſtſpiel kann einen doppelten Titel ha-
ben; doch verſteht ſich, daß jeder etwas anders
ſagen muß. Hier iſt das nicht; der Mann nach
der
[173] der Uhr, oder der ordentliche Mann, ſagen
ziemlich das nehmliche; außer daß das erſte ohn-
gefehr die Karrikatur von dem andern iſt.
Den dreyßigſten Abend (Donnerſtags, den
4ten Junius,) ward der Graf von Eſſex, vom
Thomas Corneille, aufgefuͤhrt.
Dieſes Trauerſpiel iſt faſt das einzige, wel-
ches ſich aus der betraͤchtlichen Anzahl der Stuͤcke
des juͤngern Corneille, auf dem Theater erhalten
hat. Und ich glaube, es wird auf den deutſchen
Buͤhnen noch oͤfterer wiederholt, als auf den
franzoͤſiſchen. Es iſt vom Jahre 1678, nach-
dem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die
nehmliche Geſchichte bearbeitet hatte.
ſchreibt Corneille,
daß der
Graf von Eſſex bey der Koͤniginn Eliſabeth in
beſondern Gnaden geſtanden. Er war von Na-
tur ſehr ſtolz. Die Dienſte, die er England
geleiſtet hatte, blieſen ihn noch mehr auf. Seine
Feinde beſchuldigten ihn eines Verſtaͤndniſſes
mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen
in Irrland zu ihrem Haupte erwaͤhlet hatten.
Der Verdacht, der dieſerwegen auf ihm blieb,
brachte ihn um das Kommando der Armee. Er
ward erbittert, kam nach London, wiegelte das
Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verur-
theilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade
bitten wollen, den 25ſten Februar, 1601, ent-
Y 3hauptet.
[174] hauptet. So viel hat mir die Hiſtorie an die
Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Laſt
legt, daß ich ſie in einem wichtigen Stuͤcke ver-
faͤlſcht haͤtte, weil ich mich des Vorfalles mit
dem Ringe nicht bedienet, den die Koͤniginn dem
Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Be-
gnadigung, falls er ſich jemals eines Staatsver-
brechens ſchuldig machen ſollte, gegeben habe:
ſo muß mich dieſes ſehr befremden. Ich bin
verſichert, daß dieſer Ring eine Erfindung des
Calprenede iſt, wenigſtens habe ich in keinem
Geſchichtſchreiben das geringſte davon geleſen.〟
Allerdings ſtand es Corneillen frey, dieſen Um-
ſtand mit dem Ringe zu nutzen, oder nicht zu
nutzen; aber darinn ging er zu weit, daß er ihn
fuͤr eine poetiſche Erfindung erklaͤrte. Seine
hiſtoriſche Richtigkeit iſt neuerlich faſt außer
Zweifel geſetzt worden; und die bedaͤchtlichſten,
ſkeptiſchſten Geſchichtſchreiber, Hume und Ro-
bertſon, haben ihn in ihre Werke aufgenom-
men.
Wenn Robertſon in ſeiner Geſchichte von
Schottland von der Schwermuth redet, in wel-
che Eliſabeth vor ihrem Tode verfiel, ſo ſagt er:
〟Die gemeinſte Meinung damaliger Zeit, und
vielleicht die wahrſcheinlichſte, war dieſe, daß
dieſes Uebel aus einer betruͤbten Reue wegen des
Grafen von Eſſer entſtanden ſey. Sie hatte
eine ganz auſſerordentliche Achtung fuͤr das An-
denken
[175] denken dieſes ungluͤcklichen Herrn; und wiewohl
ſie oft uͤber ſeine Hartnaͤckigkeit klagte, ſo nannte
ſie doch ſeinen Namen ſelten ohne Thraͤnen.
Kurz vorher hatte ſich ein Vorfall zugetragen,
der ihre Neigung mit neuer Zaͤrtlichkeit belebte,
und ihre Betruͤbniß noch mehr vergaͤllte. Die
Graͤfinn von Notthingham, die auf ihrem Tod-
bette lag, wuͤnſchte die Koͤniginn zu ſehen, und
ihr ein Geheimniß zu offenbaren, deſſen Ver-
hehlung ſie nicht ruhig wuͤrde ſterben laſſen.
Wie die Koͤniginn in ihr Zimmer kam, ſagte ihr
die Graͤfinn, Eſſex habe, nachdem ihm das To-
desurtheil geſprochen worden, gewuͤnſcht, die
Koͤniginn um Vergebung zu bitten, und zwar
auf die Art, die Ihro Majeſtaͤt ihm ehemals
ſelbſt vorgeſchrieben. Er habe ihr nehmlich den
Ring zuſchicken wollen, den ſie ihm, zur Zeit
der Huld, mit der Verſicherung geſchenkt, daß,
wenn er ihr denſelben, bey einem etwanigen Un-
gluͤcke, als ein Zeichen ſenden wuͤrde, er ſich
ihrer voͤlligen Gnaden wiederum verſichert hal-
ten ſollte. Lady Scroop ſey die Perſon, durch
welche er ihn habe uͤberſenden wollen; durch ein
Verſehen aber ſey er, nicht in der Lady Scroop,
ſondern in ihre Haͤnde gerathen. Sie habe ih-
rem Gemahl die Sache erzehlt, (er war einer
von den unverſoͤhnlichſten Feinden des Eſſex,)
und der habe ihr verbothen, den Ring weder der
Koͤniginn zu geben, noch dem Grafen zuruͤck zu
ſen-
[176] ſenden. Wie die Graͤfinn der Koͤniginn ihr Ge-
heimniß entdeckt hatte, bath ſie dieſelbe um Ver-
gebung; allein Eliſabeth, die nunmehr ſowohl
die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre
eigene Ungerechtigkeit einſahe, daß ſie ihn im
Verdacht eines unbaͤndigen Eigenſinnes gehabt,
antwortete: Gott mag Euch vergeben; ich kann
es nimmermehr! Sie verließ das Zimmer in
großer Entſetzung, und von dem Augenblicke
an ſanken ihre Lebensgeiſter gaͤnzlich. Sie
nahm weder Speiſe noch Trank zu ſich; ſie ver-
weigerte ſich allen Arzeneyen; ſie kam in kein
Bette; ſie blieb zehn Tage und zehn Naͤchte auf
einem Polſter, ohne ein Wort zu ſprechen, in
Gedanken ſitzen; einen Finger im Munde, mit
offenen, auf die Erde geſchlagenen Augen; bis
ſie endlich, von innerlicher Angſt der Seelen
und von ſo langem Faſten ganz entkraͤftet, den
Geiſt aufgab.〟
Ham-
[[177]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und zwanzigſtes Stuͤck.
Der Herr von Voltaire hat den Eſſex auf eine
ſonderbare Weiſe kritiſirt. Ich moͤchte
nicht gegen ihn behaupten, daß Eſſex ein
vorzuͤglich gutes Stuͤck ſey; aber das iſt leicht
zu erweiſen, daß die Fehler, die er daran tadelt,
Theils ſich nicht darinn finden, Theils unerheb-
liche Kleinigkeiten ſind, die ſeiner Seits eben
nicht den richtigſten und wuͤrdigſten Begriff von
der Tragoͤdie vorausſetzen.
Es gehoͤrt mit unter die Schwachheiten des
Herrn von Voltaire, daß er ein ſehr profunder
Hiſtorikus ſeyn will. Er ſchwang ſich alſo auch
bey dem Eſſex auf dieſes ſein Streitroß, und
tummelte es gewaltig herum. Schade nur,
daß alle die Thaten, die er darauf verrichtet, des
Staubes nicht werth ſind, den er erregt.
ZTho-
[178]
Thomas Corneille hat ihm von der engliſchen
Geſchichte nur wenig gewußt; und zum Gluͤcke
fuͤr den Dichter, war das damalige Publikum
noch unwiſſender. Itzt, ſagt er, kennen wir
die Koͤniginn Eliſabeth und den Grafen Eſſex
beſſer; itzt wuͤrden einem Dichter dergleichen
grobe Verſtoßungen wider die hiſtoriſche Wahr-
heit ſchaͤrfer aufgemutzet werden.
Und welches ſind denn dieſe Verſtoßungen?
Voltaire hat ausgerechnet, daß die Koͤniginn
damals, als ſie dem Grafen den Proceß machen
ließ, acht und ſechzig Jahr alt war. Es waͤre
alſo laͤcherlich, ſagt er, wenn man ſich einbilden
wollte, daß die Liebe den geringſten Antheil an
dieſer Begebenheit koͤnne gehabt haben. War-
um das? Geſchieht nichts Laͤcherliches in der
Welt? Sich etwas Laͤcherliches als geſchehen
denken, iſt das ſo laͤcherlich?
〟Nachdem das
Urtheil uͤber den Eſſex abgegeben war,
ſagt
Hume,
fand ſich die Koͤniginn in der aͤußerſten
Unruhe und in der grauſamſten Ungewißheit.
Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden,
Sorge fuͤr ihre eigene Sicherheit und Bekuͤm-
merniß um das Leben ihres Lieblings, ſtritten
unauf hoͤrlich in ihr: und vielleicht, daß ſie in
dieſem quaͤlenden Zuſtande mehr zu beklagen
war, als Eſſex ſelbſt. Sie unterzeichnete und
wiederrufte den Befehl zu ſeiner Hinrichtung
ein-
[179] einmal uͤber das andere; itzt war ſie faſt ent-
ſchloſſen, ihn dem Tode zu uͤberliefern; den Au-
genblick darauf erwachte ihre Zaͤrtlichkeit aufs
neue, und er ſollte leben. Die Feinde des
Grafen ließen ſie nicht aus den Augen; ſie ſtell-
ten ihr vor, daß er ſelbſt den Tod wuͤnſche, daß
er ſelbſt erklaͤret habe, wie ſie doch anders keine
Ruhe vor ihm haben wuͤrde. Wahrſcheinlicher
Weiſe that dieſe Aeußerung von Reue und Ach-
tung fuͤr die Sicherheit der Koͤniginn, die der
Graf ſonach lieber durch ſeinen Tod befeſtigen
wollte, eine ganz andere Wirkung, als ſich ſeine
Feinde davon verſprochen hatten. Sie fachte
das Feuer einer alten Leidenſchaft, die ſie ſo
lange fuͤr den ungluͤcklichen Gefangnen genaͤhret
hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz
gegen ihn verhaͤrtete, war die vermeintliche Hals-
ſtarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten.
Sie verſahe ſich dieſes Schrittes von ihm alle
Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht
erfolgen wollte, ließ ſie dem Rechte endlich ſei-
nen Lauf.〟
Warum ſollte Eliſabeth nicht noch in ihrem
acht und ſechzigſten Jahre geliebt haben, ſie,
die ſich ſo gern lieben ließ? Sie, der es ſo ſehr
ſchmeichelte, wenn man ihre Schoͤnheit ruͤhmte?
Sie, die es ſo wohl aufnahm, wenn man ihre
Kette zu tragen ſchien? Die Welt muß in dieſem
Z 2Stuͤcke
[180] Stuͤcke keine eitlere Frau jemals geſehen haben.
Ihre Hoͤflinge ſtellten ſich daher alle in ſie ver-
liebt, und bedienten ſich gegen Ihro Majeſtaͤt,
mit allem Anſcheine des Ernſtes, des Styls der
laͤcherlichſten Galanterie. Als Raleigh in Un-
gnade fiel, ſchrieb er an ſeinen Freund Cecil
einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weiſen
ſollte, in welchem ihm die Koͤniginn eine Venus,
eine Diane, und ich weiß nicht was, war.
Gleichwohl war dieſe Goͤttinn damals ſchon
ſechzig Jahr alt. Fuͤnf Jahr darauf fuͤhrte
Heinrich Unton, ihr Abgeſandter in Frankreich,
die nehmliche Sprache mit ihr. Kurz, Cor-
neille iſt hinlaͤnglich berechtiget geweſen, ihr alle
die verliebte Schwachheit beyzulegen, durch die
er das zaͤrtliche Weib mit der ſtolzen Koͤniginn
in einen ſo intereſſanten Streit bringet.
Eben ſo wenig hat er den Charakter des Eſſex
verſtellet, oder verfaͤlſchet. Eſſex, ſagt Vol-
taire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Cor-
neille macht: er hat nie etwas merkwuͤrdiges ge-
than. Aber, wenn er es nicht war, ſo glaubte
er es doch zu ſeyn. Die Vernichtung der ſpani-
ſchen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der
ihn Voltaire wenig oder gar kein Theil laͤßt,
hielt er ſo ſehr fuͤr ſein Werk, daß er es durch-
aus nicht leiden wollte, wenn ſich jemand die ge-
ringſte Ehre davon anmaßte. Er erbot ſich, es
mit
[181] mit dem Degen in der Hand, gegen den Grafen
von Notthingham, unter dem er kommandirt
hatte, gegen ſeinen Sohn, gegen jeden von ſei-
nen Anverwandten, zu beweiſen, daß ſie ihm
allein zugehoͤre.
Corneille laͤßt den Grafen von ſeinen Feinden,
namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom
Cobhan, ſehr veraͤchtlich ſprechen. Auch das
will Voltaire nicht gut heiſſen. Es iſt nicht er-
laubt, ſagt er, eine ſo neue Geſchichte ſo groͤb-
lich zu verfaͤlſchen, und Maͤnner von ſo vorneh-
mer Geburt, von ſo großen Verdienſten, ſo
unwuͤrdig zu mißhandeln. Aber hier koͤmmt es
ja gar nicht darauf an, was dieſe Maͤnner
waren, ſondern wofuͤr ſie Eſſex hielt; und Eſſex
war auf ſeine eigene Verdienſte ſtolz genug, um
ihnen ganz und gar keine einzuraͤumen.
Wenn Corneille den Eſſex ſagen laͤßt, daß es
nur an ſeinem Willen gemangelt, den Thron
ſelbſt zu beſteigen, ſo laͤßt er ihn freylich etwas
ſagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt
war. Aber Voltaire haͤtte darum doch nicht
ausrufen muͤſſen:
〟Wie? Eſſex auf dem Thro-
ne? mit was fuͤr Recht? unter was fuͤr Vor-
wande? wie waͤre das moͤglich geweſen?〟
Denn Voltaire haͤtte ſich erinnern ſollen, daß
Eſſex von muͤtterlicher Seite aus dem Koͤnigli-
Z 3chen
[182] chen Hauſe abſtammte, und daß es wirklich An-
haͤnger von ihm gegeben, die unbeſonnen genug
waren, ihn mit unter diejenigen zu zaͤhlen, die
Anſpruͤche auf die Krone machen koͤnnten. Als
er daher mit dem Koͤnige Jakob von Schottland
in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das
erſte ſeyn, ihn zu verſichern, daß er ſelbſt der-
gleichen ehrgeitzige Gedanken nie gehabt habe.
Was er hier von ſich ablehnte, iſt nicht viel we-
niger, als was ihn Corneille vorausſetzen laͤßt.
Indem alſo Voltaire durch das ganze Stuͤck
nichts als hiſtoriſche Unrichtigkeiten findet, be-
geht er ſelbſt nicht geringe. Ueber eine hat ſich
Walpole (*) ſchon luſtig gemacht. Wenn
nehmlich Voltaire die erſtern Lieblinge der Koͤ-
niginn Eliſabeth nennen will, ſo nennt er den
Robert Dudley und den Grafen von Leiceſter.
Er wußte nicht, daß beide nur eine Perſon
waren, und daß man mit eben dem Rechte den
Poeten Arouet und den Kammerherrn von Vol-
taire zu zwey verſchiedenen Perſonen machen
koͤnnte. Eben ſo unverzeihlich iſt das Hyſteron-
proteron, in welches er mit der Ohrfeige verfaͤllt,
die die Koͤniginn dem Eſſex gab. Es iſt falſch,
daß er ſie nach ſeiner ungluͤcklichen Expedition
in Irrland bekam; er hatte ſie lange vorher be-
kommen; und es iſt ſo wenig wahr, daß er
da-
[183] damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge-
ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß
er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art
muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit
daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi-
gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die
Koͤniginn mußte ihn thun.
Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un-
wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo
wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des
Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich
will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen.
Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro-
man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we-
niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer
Namen bedienet hat?
Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre
Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen
Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die
Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt,
mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei-
gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger
Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art,
wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden
ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten.
Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi der
Dich-
[184] Dichter uͤbereinſtimmender auszudruͤcken: ſind
es die bloßen Facta, die Umſtaͤnde der Zeit und
des Ortes, oder ſind es die Charaktere der Per-
ſonen, durch welche die Facta wirklich gewor-
den, warum der Dichter lieber dieſe als eine an-
dere Begebenheit waͤhlet? Wenn es die Cha-
raktere ſind, ſo iſt die Frage gleich entſchieden,
wie weit der Dichter von der hiſtoriſchen Wahr-
heit abgehen koͤnne? In allem, was die Cha-
raktere nicht betrift, ſo weit er will. Nur die
Charaktere ſind ihm heilig; dieſe zu verſtaͤrken,
dieſe in ihrem beſten Lichte zu zeigen, iſt alles,
was er von dem Seinigen dabey hinzuthun darf;
die geringſte weſentliche Veraͤnderung wuͤrde die
Urſache aufheben, warum ſie dieſe und nicht
andere Namen fuͤhren; und nichts iſt anſtoͤßiger,
als wovon wir uns keine Urſache geben koͤnnen.
Ham-
[[185]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und zwanzigſtes Stuͤck.
Wenn der Charakter der Eliſabeth des Cor-
neille das poetiſche Ideal von dem wah-
ren Charakter iſt, den die Geſchichte der
Koͤniginn dieſes Namens beylegt; wenn wir in
ihr die Unentſchluͤßigkeit, die Widerſpruͤche, die
Beaͤngſtigung, die Reue, die Verzweiflung,
in die ein ſtolzes und zaͤrtliches Herz, wie das
Herz der Eliſabeth, ich will nicht ſagen, bey die-
ſen und jenen Umſtaͤnden wirklich verfallen iſt,
ſondern auch nur verfallen zu koͤnnen vermuthen
laſſen, mit wahren Farben geſchildert finden:
ſo hat der Dichter alles gethan, was ihm als
Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der
Chronologie in der Hand, unterſuchen; ihn vor
den Richterſtuhl der Geſchichte fuͤhren, um ihn
da jedes Datum, jede beylaͤufige Erwaͤhnung,
auch wohl ſolcher Perſonen, uͤber welche die Ge-
ſchichte ſelbſt in Zweifel iſt, mit Zeugniſſen be-
A alegen
[186] legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver-
kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken-
nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte,
chicaniren.
Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es
leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn.
Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter,
und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere
Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei-
ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe
von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi-
cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt
weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in
ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt
nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er
dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus,
in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi-
loſophie den witzigen Kopf.
Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht
und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen
koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch
verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der
Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein-
faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti-
gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra-
goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der
Dichter haͤtte Recht zu ſeinem Commentator zu
ſagen: 〟Mein Herr Notenmacher, dieſe Schwaͤnke
gehoͤren in eure allgemeine Geſchichte, nicht un-
ter
[187] ter meinen Text. Denn es iſt falſch, daß meine
Eliſabeth acht und ſechzig Jahr alt iſt. Weiſet
mir doch, wo ich das ſage. Was iſt in meinem
Stuͤcke, das Euch hinderte, ſie nicht ungefehr
mit dem Eſſex von gleichem Alter anzunehmen?
Ihr ſagt: Sie war aber nicht von gleichem Al-
ter: Welche Sie? Eure Eliſabeth im Rapin
de Thoyras; das kann ſeyn. Aber warum
habt ihr den Rapin de Thoyras geleſen? Warum
ſeyd ihr ſo gelehrt? Warum vermengt ihr dieſe
Eliſabeth mit meiner? Glaubt ihr im Ernſt,
daß die Erinnerung bey dem und jenem Zu-
ſchauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal
geleſen hat, lebhafter ſeyn werde, als der ſinn-
liche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice
in ihren beſten Jahren auf ihn macht? Er ſieht
ja meine Eliſabeth; und ſeine eigene Augen uͤber-
zeugen ihn, daß es nicht eure achtzigjaͤhrige Eli-
ſabeth iſt. Oder wird er dem Rapin de Thoyras
mehr glauben, als ſeinen eignen Augen?〟 —
So ungefehr koͤnnte ſich auch der Dichter uͤber
die Rolle des Eſſex erklaͤren. 〟Euer Eſſex im
Rapin de Thoyras, koͤnnte er ſagen, iſt nur der
Embryo von dem meinigen. Was ſich jener zu
ſeyn duͤnkte, iſt meiner wirklich. Was jener,
unter gluͤcklichern Umſtaͤnden, fuͤr die Koͤniginn
vielleicht gethan haͤtte, hat meiner gethan. Ihr
hoͤrt ja, daß es ihm die Koͤniginn ſelbſt zuge-
ſteht; wollt ihr meiner Koͤniginn nicht eben ſo
A a 2viel
[188] viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein
Eſſex iſt ein verdienter und großer, aber ſtolzer
und unbiegſamer Mann. Eurer war in der
That weder ſo groß, noch ſo unbiegſam: deſto
ſchlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er
doch immer noch groß und unbiegſam genug
war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe
ſeinen Namen zu laſſen.〟
Kurz: die Tragoͤdie iſt keine dialogirte Ge-
ſchichte; die Geſchichte iſt fuͤr die Tragoͤdie
nichts, als ein Repertorium von Namen, mit
denen wir gewiſſe Charaktere zu verbinden ge-
wohnt ſind. Findet der Dichter in der Ge-
ſchichte mehrere Umſtaͤnde zur Ausſchmuͤckung
und Individualiſirung ſeines Stoffes bequem:
wohl, ſo brauche er ſie. Nur daß man ihm hier-
aus eben ſo wenig ein Verdienſt, als aus dem
Gegentheile ein Verbrechen mache!
Dieſen Punkt von der hiſtoriſchen Wahrheit
abgerechnet, bin ich ſehr bereit, das uͤbrige Ur-
theil des Herrn von Voltaire zu unterſchreiben.
Eſſex iſt ein mittelmaͤßiges Stuͤck, ſowohl in
Anſehung der Intrigue, als des Stils. Den
Grafen zu einem ſeufzenden Liebhaber einer
Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung,
daß er der ihrige nicht ſeyn kann, als aus edel-
muͤthigem Stolze, ſich nicht zu Entſchuldigun-
gen und Bitten herab zu laſſen, auf das Schaf-
fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichſte Ein-
fall,
[189] fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber
als ein Franzoſe wohl haben mußte. Der Stil
iſt in der Grundſprache ſchwach; in der Ueber-
ſetzung iſt er oft kriechend geworden. Aber
uͤberhaupt iſt das Stuͤck nicht ohne Intereſſe,
und hat hier und da gluͤckliche Verſe; die aber
im Franzoͤſiſchen gluͤcklicher ſind, als im Deut-
ſchen.
ſetzt der Herr von
Voltaire hinzu,
beſonders die in der Provinz,
ſpielen die Rolle des Eſſex gar zu gern, weil ſie
in einem geſtickten Bande unter dem Knie, und
mit einem großen blauen Bande uͤber die Schul-
ter darinn erſcheinen koͤnnen. Der Graf iſt ein
Held von der erſten Klaſſe, den der Neid ver-
folgt: das macht Eindruck. Uebrigens iſt die
Zahl der guten Tragoͤdien bey allen Nationen in
der Welt ſo klein, daß die, welche nicht ganz
ſchlecht ſind, noch immer Zuſchauer an ſich zie-
hen, wenn ſie von guten Akteurs nur aufge-
ſtutzet werden.〟
Er beſtaͤtiget dieſes allgemeine Urtheil durch
verſchiedene einzelne Anmerkungen, die eben ſo
richtig, als ſcharfſinnig ſind, und deren man ſich
vielleicht, bey einer wiederholten Vorſtellung,
mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte. Ich theile die
vorzuͤglichſten alſo hier mit; in der feſten Ueber-
zeugung, daß die Kritik dem Genuſſe nicht ſcha-
det, und daß diejenigen, welche ein Stuͤck am
ſchaͤrfeſten zu beurtheilen gelernt haben, immer
A a 3die-
[190] diejenigen ſind, welche das Theater am fleißig-
ſten beſuchen.
〟Die Rolle des Cecils iſt eine Nebenrolle,
und eine ſehr froſtige Nebenrolle. Solche krie-
chende Schmeichler zu mahlen, muß man die
Farben in ſeiner Gewalt haben, mit welchen
Racine den Narciſſus geſchildert hat.〟
〟Die vorgebliche Herzoginn von Irton iſt eine
vernuͤnftige tugendhafte Frau, die ſich durch
ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der
Eliſabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heyra-
then wollen. Dieſer Charakter wuͤrde ſehr
ſchoͤn ſeyn, wenn er mehr Leben haͤtte, und
wenn er zur Verwickelung etwas beytruͤge; aber
hier vertritt ſie bloß die Stelle eines Freundes.
Das iſt fuͤr das Theater nicht hinlaͤnglich.〟
〟Mich duͤnket, daß alles, was die Perſonen
in dieſer Tragoͤdie ſagen und thun, immer noch
ſehr ſchielend, verwirret und unbeſtimmet iſt.
Die Handlung muß deutlich, der Knoten ver-
ſtaͤndlich, und jede Geſinnung plan und natuͤr-
lich ſeyn: das ſind die erſten, weſentlichſten
Regeln. Aber was will Eſſex? Was will Eli-
ſabeth? Worinn beſteht das Verbrechen des
Grafen? Iſt er ſchuldig, oder iſt er faͤlſchlich
angeklagt? Wenn ihn die Koͤniginn fuͤr un-
ſchuldig haͤlt, ſo muß ſie ſich ſeiner annehmen.
Iſt er aber ſchuldig: ſo iſt es ſehr unvernuͤnftig,
die Vertraute ſagen zu laſſen, daß er nimmer-
mehr
[191] mehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu
ſtolz dazu ſey. Dieſer Stolz ſchickt ſich ſehr
wohl fuͤr einen tugendhaften unſchuldigen Hel-
den, aber fuͤr keinen Mann, der des Hochver-
raths uͤberwieſen iſt. Er ſoll ſich unterwerfen:
ſagt die Koͤniginn. Iſt das wohl die eigentliche
Geſinnung, die ſie haben muß, wenn ſie ihn
liebt? Wenn er ſich nun unterworfen, wenn er
nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird
Eliſabeth darum von ihm mehr geliebt, als zu-
vor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich
ſelbſt: ſagt die Koͤniginn. Ah, Madame;
wenn es ſo weit mit Ihnen gekommen iſt, wenn
Ihre Leidenſchaft ſo heftig geworden: ſo unter-
ſuchen Sie doch die Beſchuldigungen Ihres Ge-
liebten ſelbſt, und verſtatten nicht, daß ihn ſeine
Feinde unter Ihrem Namen ſo verfolgen und
unterdruͤcken, wie es durch das ganze Stuͤck,
obwohl ganz ohne Grund, heißt.〟
〟Auch aus dem Freunde des Grafen, dem
Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er
ihn fuͤr ſchuldig oder fuͤr unſchuldig haͤlt. Er
ſtellt der Koͤniginn vor, daß der Anſchein oͤfters
betriege, daß man alles von der Partheylichkeit
und Ungerechtigkeit ſeiner Richter zu beſorgen
habe. Gleichwohl nimmt er ſeine Zuflucht
zur Gnade der Koͤniginn. Was hatte er dieſes
noͤthig, wenn er ſeinen Freund nicht ſtraf bar
glaubte? Aber was ſoll der Zuſchauer glau-
ben?
[192] ben? Der weiß eben ſo wenig, woran er mit
der Verſchwoͤrung des Grafen, als woran er
mit der Zaͤrtlichkeit der Koͤniginn gegen ihn
iſt.〟
〟Salisbury ſagt der Koͤniginn, daß man die
Unterſchrift des Grafen nachgemacht habe.
Aber die Koͤniginn laͤßt ſich im geringſten nicht
einfallen, einen ſo wichtigen Umſtand naͤher zu
unterſuchen. Gleichwohl war ſie als Koͤniginn
und als Geliebte dazu verbunden. Sie ant-
wortet nicht einmal auf dieſe Eroͤffnung, die ſie
doch begierigſt haͤtte ergreifen muͤſſen. Sie er-
wiedert bloß mit andern Worten, daß der Graf
allzu ſtolz ſeyn, und daß ſie durchaus wolle, er
ſolle um Gnade bitten.〟
〟Aber warum ſollte er um Gnade bitten, wenn
ſeine Unterſchrift nachgemacht war?〟
Ham-
[[193]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fuͤnf und zwanzigſtes Stuͤck.
〟Eſſex ſelbſt betheuert ſeine Unſchuld; aber
warum will er lieber ſterben, als die Koͤ-
niginn davon uͤberzeugen? Seine Feinde
haben ihn verleumdet; er kann ſie mit einem ein-
zigen Worte zu Boden ſchlagen; und er thut es
nicht. Iſt das dem Charakter eines ſo ſtolzen
Mannes gemaͤß? Soll er aus Liebe zur Irton
ſo widerſinnig handeln: ſo haͤtte ihn der Dichter
durch das ganze Stuͤck von ſeiner Leidenſchaft
mehr bemeiſtert zeigen muͤſſen. Die Heftigkeit
des Affekts kann alles entſchuldigen; aber in die-
ſer Heftigkeit ſehen wir ihn nicht.〟
〟Der Stolz der Koͤniginn ſtreitet unauf hoͤr-
lich mit dem Stolze des Eſſex; ein ſolcher Streit
kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieſer
Stolz ſie handeln laͤßt, ſo iſt er bey der Eliſa-
beth ſowohl, als bey dem Grafen, bloßer Ei-
genſinn. Er ſoll mich um Gnade bitten; ich
B bwill
[194] will ſie nicht um Gnade bitten: das iſt die ewige
Leyer. Der Zuſchauer muß vergeſſen, daß Eli-
ſabeth entweder ſehr abgeſchmackt, oder ſehr un-
gerecht iſt, wenn ſie verlangt, daß der Graf ſich
ein Verbrechen ſoll vergeben laſſen, welches er
nicht begangen, oder ſie nicht unterſucht hat.
Er muß es vergeſſen, und er vergißt es wirklich,
um ſich bloß mit den Geſinnungen des Stolzes
zu beſchaͤftigen, der dem menſchlichen Herze ſo
ſchmeichelhaft iſt.〟
〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die-
ſes Trauerſpiels iſt, was ſie ſeyn ſollte; alle ſind
verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo-
her dieſes Gefallen? Offenbar aus der Situa-
tion der Perſonen, die fuͤr ſich ſelbſt ruͤhrend
iſt. — Ein großer Mann, den man auf das
Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die
Vorſtellung ſeines Schickſals macht, auch ohne
alle Huͤlfe der Poeſie, Eindruck; ungefehr eben den
Eindruck, den die Wirklichkeit ſelbſt machen
wuͤrde.〟
So viel liegt fuͤr den tragiſchen Dichter an
der Wahl des Stoffes. Durch dieſe allein,
koͤnnen die ſchwaͤchſten verwirrteſten Stuͤcke eine
Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie
es koͤmmt, daß es immer ſolche Stuͤcke ſind, in
welchen ſich gute Akteurs am vortheilhafteſten
zeigen. Selten wird ein Meiſterſtuͤck ſo meiſter-
haft vorgeſtellt, als es geſchrieben iſt; das Mit-
tel-
[195] telmaͤßige faͤhrt mit ihnen immer beſſer. Viel-
leicht, weil ſie in dem Mittelmaͤßigen mehr von
dem Ihrigen hinzuthun koͤnnen; vielleicht, weil
uns das Mittelmaͤßige mehr Zeit und Ruhe
laͤßt, auf ihr Spiel aufmerkſam zu ſeyn; viel-
leicht, weil in dem Mittelmaͤßigen alles nur auf
einer oder zwey hervorſtechenden Perſonen beru-
het, anſtatt, daß in einem vollkommenern
Stuͤcke oͤfters eine jede Perſon ein Hauptakteur
ſeyn muͤßte, und wenn ſie es nicht iſt, indem ſie
ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die uͤbrigen
verderben hilft.
Beym Eſſex koͤnnen alle dieſe und mehrere
Urſachen zuſammen kommen. Weder der Graf
noch die Koͤniginn ſind von dem Dichter mit der
Staͤrke geſchildert, daß ſie durch die Aktion nicht
noch weit ſtaͤrker werden koͤnnten. Eſſex ſpricht
ſo ſtolz nicht, daß ihn der Schauſpieler nicht in
jeder Stellung, in jeder Gebehrde, in jeder
Mine, noch ſtolzer zeigen koͤnnte. Es iſt ſogar
dem Stolze weſentlich, daß er ſich weniger durch
Worte, als durch das uͤbrige Betragen, aͤußert.
Seine Worte ſind oͤfters beſcheiden, und es laͤßt
ſich nur ſehen, nicht hoͤren, daß es eine ſtolze
Beſcheidenheit iſt. Dieſe Rolle muß alſo noth-
wendig in der Vorſtellung gewinnen. Auch die
Nebenrollen koͤnnen keinen uͤbeln Einfluß auf
ihn haben; je ſubalterner Cecil und Salisbury
geſpielt werden, deſto mehr ragt Eſſex hervor.
B b 2Ich
[196] Ich darf es alſo nicht erſt lange ſagen, wie vor-
trefflich ein Eckhof das machen muß, was auch
der gleichguͤltigſte Akteur nicht ganz verderben
kann.
Mit der Rolle der Eliſabeth iſt es nicht voͤllig
ſo; aber doch kann ſie auch ſchwerlich ganz ver-
ungluͤcken. Eliſabeth iſt ſo zaͤrtlich, als ſtolz;
ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz
beides zugleich ſeyn kann; aber wie eine Aktrice
beides gleich gut vorſtellen koͤnne, das begreife
ich nicht recht. In der Natur ſelbſt trauen wir
einer ſtolzen Frau nicht viel Zaͤrtlichkeit, und
einer zaͤrtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen
es ihr nicht zu, ſage ich: denn die Kennzeichen
des einen widerſprechen den Kennzeichen des an-
dern. Es iſt ein Wunder, wenn ihr beide gleich
gelaͤufig ſind; hat ſie aber nur die einen vorzuͤg-
lich in ihrer Gewalt, ſo kann ſie die Leidenſchaft,
die ſich durch die andern ausdruͤckt, zwar em-
pfinden, aber ſchwerlich werden wir ihr glauben,
daß ſie dieſelbe ſo lebhaft empfindet, als ſie ſagt.
Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen, als
die Natur? Iſt ſie von einem majeſtaͤtiſchen
Wuchſe, toͤnt ihre Stimme voller und maͤnnli-
cher, iſt ihr Blick dreiſt, iſt ihre Bewegung
ſchnell und herzhaft: ſo werden ihr die ſtolzen
Stellen vortrefflich gelingen; aber wie ſteht es
mit den zaͤrtlichen? Iſt ihre Figur hingegen
weniger imponirend; herrſcht in ihren Minen
Sanft-
[197] Sanfmuth, in ihren Augen ein beſcheidnes
Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlkang, als
Nachdruck; iſt in ihrer Bewegung mehr An-
ſtand und Wuͤrde, als Kraft und Geiſt: ſo wird
ſie den zaͤrtlichen Stellen die voͤlligſte Genuͤge
leiſten; aber auch den ſtolzen? Sie wird ſie nicht
verderben, ganz gewiß nicht; ſie wird ſie noch
genug abſetzen; wir werden eine beleidigte zuͤr-
nende Liebhaberinn in ihr erblicken; nur keine
Eliſabeth nicht, die Manns genug war, ihren
General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach
Hauſe zu ſchicken. Ich meyne alſo, die Aktri-
cen, welche die ganze doppelte Eliſabeth uns
gleich taͤuſchend zu zeigen vermoͤgend waͤren,
duͤrften noch ſeltner ſeyn, als die Eliſabeths ſel-
ber; und wir koͤnnen und muͤſſen uns begnuͤgen,
wenn eine Haͤlfte nur recht gut geſpielt, und die
andere nicht ganz verwahrloſet wird.
Madame Loͤwen hat in der Rolle der Eliſa-
beth ſehr gefallen; aber, jene allgemeine An-
merkung nunmehr auf ſie anzuwenden, uns
mehr die zaͤrtliche Frau, als die ſtolze Mo-
narchinn, ſehen und hoͤren laſſen. Ihre Bil-
dung, ihre Stimme, ihre beſcheidene Aktion,
ließen es nicht anders erwarten; und mich duͤnkt,
unſer Vergnuͤgen hat dabey nichts verloren.
Denn wenn nothwendig eine die andere verfin-
ſtert, wenn es kaum anders ſeyn kann, als daß
nicht die Koͤniginn unter der Liebhaberinn, oder
B b 3dieſe
[198] dieſe unter jener leiden ſollte: ſo, glaube ich, iſt
es zutraͤglicher, wenn eher etwas von dem Stolze
und der Koͤniginn, als von der Liebhaberinn und
der Zaͤrtlichkeit, verloren geht.
Es iſt nicht bloß eigenſinniger Geſchmack,
wenn ich ſo urtheile; noch weniger iſt es meine
Abſicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment
damit zu machen, die noch immer eine Mei-
ſterinn in ihrer Kunſt ſeyn wuͤrde, wenn ihr
dieſe Rolle auch gar nicht gelungen waͤre. Ich
weiß einem Kuͤnſtler, er ſey von meinem oder
dem andern Geſchlechte, nur eine einzige Schmei-
cheley zu machen; und dieſe beſteht darinn, daß
ich annehme, er ſey von aller eiteln Empfindlich-
keit entfernt, die Kunſt gehe bey ihm uͤber alles,
er hoͤre gern frey und laut uͤber ſich urtheilen,
und wolle ſich lieber auch dann und wann falſch,
als ſeltner beurtheilet wiſſen. Wer dieſe Schmei-
cheley nicht verſteht, bey dem erkenne ich mich
gar bald irre, und er iſt es nicht werth, daß wir
ihn ſtudieren. Der wahre Virtuoſe glaubt es
nicht einmal, daß wir ſeine Vollkommenheit ein-
ſehen und empfinden, wenn wir auch noch ſo
viel Geſchrey davon machen, ehe er nicht merkt,
daß wir auch Augen und Gefuͤhl fuͤr ſeine
Schwaͤche haben. Er ſpottet bey ſich uͤber jede
uneingeſchraͤnkte Bewunderung, und nur das
Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß
er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.
Ich
[199]
Ich wollte ſagen, daß ſich Gruͤnde anfuͤhren
laſſen, warum es beſſer iſt, wenn die Aktrice
mehr die zaͤrtliche, als die ſtolze Eliſabeth aus-
druͤckt. Stolz muß ſie ſeyn, das iſt ausge-
macht: und daß ſie es iſt, das hoͤren wir. Die
Frage iſt nur, ob ſie zaͤrtlicher als ſtolz, oder
ſtolzer als zaͤrtlich ſcheinen ſoll; ob man, wenn
man unter zwey Aktricen zu waͤhlen haͤtte, lieber
die zur Eliſabeth nehmen ſollte, welche die be-
leidigte Koͤniginn, mit allem drohenden Ernſte,
mit allen Schrecken der raͤcheriſchen Majeſtaͤt,
auszudruͤcken vermoͤchte, oder die, welcher die
eiferſuͤchtige Liebhaberinn, mit allen kraͤnkenden
Empfindungen der verſchmaͤhten Liebe, mit aller
Bereitwilligkeit, dem theuern Frevler zu ver-
geben, mit aller Beaͤngſtigung uͤber ſeine Hart-
naͤckigkeit, mit allem Jammer uͤber ſeinen Ver-
luſt, augemeſſener waͤre? Und ich ſage: dieſe.
Denn erſtlich wird dadurch die Verdopplung
des nehmlichen Charakters vermieden. Eſſex
iſt ſtolz; und wenn Eliſabeth auch ſtolz ſeyn ſoll,
ſo muß ſie es wenigſtens auf eine andere Art
ſeyn. Wenn bey dem Grafen die Zaͤrtlichkeit
nicht anders, als dem Stolze untergeordnet ſeyn
kann, ſo muß bey der Koͤniginn die Zaͤrtlichkeit
den Stolz uͤberwiegen. Wenn der Graf ſich
eine hoͤhere Mine giebt, als ihm zukoͤmmt; ſo
muß die Koͤniginn etwas weniger zu ſeyn ſchei-
nen, als ſie iſt. Beide auf Stelzen, mit der
Naſe
[200] Naſe nur immer in der Luft einhertreten, beide
mit Verachtung auf alles, was um ſie iſt, her-
abblicken laſſen, wuͤrde die eckelſte Einfoͤrm gkeit
ſeyn. Man muß nicht glauben koͤnnen, daß
Eliſabeth, wenn ſie an des Eſſex Stelle waͤre,
eben ſo, wie Eſſex, handeln wuͤrde. Der Aus-
gang weiſet es, daß ſie nachgebender iſt, als er;
ſie muß alſo auch gleich von Anfange nicht ſo
hoch daherfahren, als er. Wer ſich durch
aͤußere Macht empor zu halten vermag, braucht
weniger Anſtrengung, als der es durch eigene
innere Kraft thun muß. Wir wiſſen darum
doch, daß Eliſabeth die Koͤniginn iſt, wenn ſich
gleich Eſſex das koͤniglichere Anſehen giebt.
Zweytens iſt es in dem Trauerſpiele ſchickli-
cher, daß die Perſonen in ihren Geſinnungen
ſteigen, als daß ſie fallen. Es iſt ſchicklicher,
daß ein zaͤrtlicher Charakter Augenblicke des
Stolzes hat, als daß ein ſtolzer von der Zaͤrtlich-
keit ſich fortreiſſen laͤßt. Jener ſcheint, ſich zu
erheben; dieſer, zu ſinken. Eine ernſthafte Koͤ-
niginn, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke,
der alles ſcheu und zitternd macht, mit einem Tone
der Stimme, der allein ihr Gehorſam verſchaffen
koͤnnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht
wird, und nach den kleinen Beduͤrfniſſen ihrer Lei-
denſchaft ſeufzet, iſt faſt, faſt laͤcherlich. Eine Ge-
liebte hingegen, die ihre Eiferſucht erinnert, daß
ſie Koͤniginn iſt, erhebt ſich uͤber ſich ſelbſt, und ihre
Schwachheit wird fuͤrchterlich.
Ham-
[[201]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und zwanzigſtes Stuͤck.
Den ein und dreyßigſten Abend (Mittewochs,
den 10ten Junius,) ward das Luſtſpiel
der Madame Gottſched, die Hausfran-
zoͤſinn, oder die Mammſell, aufgefuͤhret.
Dieſes Stuͤck iſt eines von den ſechs Origina-
len, mit welchen 1744, unter Gottſchediſcher
Geburthshuͤlfe, Deutſchland im fuͤnften Bande
der Schaubuͤhne beſchenkt ward. Man ſagt,
es ſey, zur Zeit ſeiner Neuheit, hier und da mit
Beyfall geſpielt worden. Man wollte verſu-
chen, welchen Beyfall es noch erhalten wuͤrde,
und es erhielt den, den es verdienet; gar keinen.
Das Teſtament, von eben derſelben Verfaſſerinn,
iſt noch ſo etwas; aber die Hausfranzoͤſinn iſt
ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts:
denn ſie iſt nicht allein niedrig, und platt, und
kalt, ſondern noch oben darein ſchmutzig, eckel,
und im hoͤchſten Grade beleidigend. Es iſt mir
C cunbe-
[202] unbegreiflich, wie eine Dame ſolches Zeug ſchrei-
ben koͤnnen. Ich will hoffen, daß man mir den
Beweis von dieſem allen ſchenken wird. ——
Den zwey und dreyßigſten Abend (Don-
nerſtags, den 11ten Junius,) ward die Semi-
ramis des Herrn von Voltaire wiederhohlt.
Da das Orcheſter bey unſern Schauſpielen
gewiſſermaßen die Stelle der alten Choͤre ver-
tritt, ſo haben Kenner ſchon laͤngſt gewuͤnſcht,
daß die Muſik, welche vor und zwiſchen und
nach dem Stuͤcke geſpielt wird, mit dem Inhalte
deſſelben mehr uͤbereinſtimmen moͤchte. Herr
Scheibe iſt unter den Muſicis derjenige, wel-
cher zuerſt hier ein ganz neues Feld fuͤr die Kunſt
bemerkte. Da er einſahe, daß, wenn die Ruͤh-
rung des Zuſchauers nicht auf eine unangenehme
Art geſchwaͤcht und unterbrochen werden ſollte,
ein jedes Schauſpiel ſeine eigene muſikaliſche Be-
gleitung erfordere: ſo machte er nicht allein be-
reits 1738 mit dem Polyeukt und Mithridat
den Verſuch, beſondere dieſen Stuͤcken entſpre-
chende Symphonien zu verfertigen, welche bey
der Geſellſchaft der Neuberinn, hier in Ham-
burg, in Leipzig, und anderwaͤrts aufgefuͤhret
wurden; ſondern ließ ſich auch in einem beſon-
dern Blatte ſeines kritiſchen Muſikus (*) um-
ſtaͤndlich daruͤber aus, was uͤberhaupt der Kom-
poniſt
[203] poniſt zu beobachten habe, der in dieſer neuen
Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.
ſagt er,
die zu einem
Schauſpiele verfertiget werden, ſollen ſich auf
den Inhalt und die Beſchaffenheit deſſelben be-
ziehen. Es gehoͤren alſo zu den Trauerſpielen
eine andere Art von Symphonien, als zu den
Luſtſpielen. So verſchieden die Tragoͤdien und
Komoͤdien unter ſich ſelbſt ſind, ſo verſchieden
muß auch die dazu gehoͤrige Muſik ſeyn. Ins-
beſondere aber hat man auch wegen der verſchie-
denen Abtheilungen der Muſik in den Schau-
ſpielen auf die Beſchaffenheit der Stellen, zu
welchen eine jede Abtheilung gehoͤrt, zu ſehen.
Daher muß die Anfangsſymphonie ſich auf den
erſten Aufzug des Stuͤckes beziehen; die Sym-
phonien aber, die zwiſchen den Aufzuͤgen vor-
kommen, muͤſſen Theils mit dem Schluſſe des
vorhergehenden Aufzuges, Theils aber mit dem
Anfange des folgenden Aufzuges uͤbereinkom-
men; ſo wie die letzte Symphonie dem Schluſſe
des letzten Aufzuges gemaͤß ſeyn muß.〟
〟Alle Symphonien zu Trauerſpielen muͤſſen
praͤchtig, feurig und geiſtreich geſetzt ſeyn. In-
ſonderheit aber hat man den Charakter der
Hauptperſonen, und den Hauptinhalt zu bemer-
ken, und darnach ſeine Erſindung einzurichten.
Dieſes iſt von keiner gemeinen Folge. Wir fin-
den Tragoͤdien, da bald dieſe, bald jene Tu-
C c 2gend
[204] gend eines Helden, oder einer Heldinn, der
Stoff geweſen iſt. Man halte einmal den Po-
lyeukt gegen den Brutus, oder auch die Alzire
gegen den Mithridat: ſo wird man gleich ſehen,
daß ſich keinesweges einerley Muſik dazu ſchicket.
Ein Trauerſpiel, in welchem die Religion und
Gottesfurcht den Helden, oder die Heldinn, in
allen Zufaͤllen begleiten, erfordert auch ſolche
Symphonien, die gewiſſermaßen das Praͤchtige
und Ernſthafte der Kirchenmuſik beweiſen.
Wenn aber die Großmuth, die Tapferkeit, oder
die Standhaftigkeit in allerley Ungluͤcksfaͤllen
im Trauerſpiele herrſchen: ſo muß auch die
Muſik weit feuriger und lebhafter ſeyn. Von
dieſer letztern Art ſind die Trauerſpiele Cato,
Brutus, Mithridat. Alzire aber und Zaire
erfordern hingegen ſchon eine etwas veraͤnderte
Muſik, weil die Begebenheiten und die Cha-
raktere in dieſen Stuͤcken von einer andern Be-
ſchaffenheit ſind, und mehr Veraͤnderung der
Affekten zeigen.〟
〟Eben ſo muͤſſen die Komoͤdienſymphonien
uͤberhaupt frey, fließend, und zuweilen auch
ſcherzhaft ſeyn; insbeſondere aber ſich nach dem
eigenthuͤmlichen Inhalte einer jeden Komoͤdie
richten. So wie die Komoͤdie bald ernſthafter,
bald verliebter, bald ſcherzhafter iſt, ſo muß
auch die Symphonie beſchaffen ſeyn. Z. E. die
Komoͤdien, der Falke und die beyderſeitige Un-
be-
[205] beſtaͤndigkeit, wuͤrden ganz andere Symphonien
erfordern, als der verlohrne Sohn. So wuͤr-
den ſich auch nicht die Symphonien, die ſich zum
Geitzigen, oder zum Kranken in der Einbildung,
ſehr wohl ſchicken moͤchten, zum Unentſchluͤßi-
gen, oder zum Zerſtreuten, ſchicken. Jene
muͤſſen ſchon luſtiger und ſcherzhafter ſeyn, dieſe
aber verdrießlicher und ernſthafter.〟
〟Die Anfangsſymphonie muß ſich auf das
ganze Stuͤck beziehen; zugleich aber muß ſie auch
den Anfang deſſelben vorbereiten, und folglich
mit dem erſten Auftritte uͤbereinkommen. Sie
kann aus zwey oder drey Saͤtzen beſtehen, ſo
wie es der Komponiſt fuͤr gut findet. — Die
Symphonien zwiſchen den Aufzuͤgen aber, weil
ſie ſich nach dem Schluſſe des vorhergehenden
Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden
richten ſollen, werden am natuͤrlichſten zwey
Saͤtze haben koͤnnen. Im erſten kann man mehr
auf das Vorhergegangene, im zweyten aber
mehr auf das Folgende ſehen. Doch iſt ſolches
nur allein noͤthig, wenn die Affekten einander
allzu ſehr entgegen ſind; ſonſt kann man auch
wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die
gehoͤrige Laͤnge erhaͤlt, damit die Beduͤrfniſſe
der Vorſtellung, als Lichtputzen, Umklei-
den u. ſ. w. indeß beſorget werden koͤnnen. —
Die Schlußſymphonie endlich muß mit dem
Schluſſe des Schauſpiels auf das genaueſte
C c 3uͤber-
[206] uͤbereinſtimmen, um die Begebenheit den Zu-
ſchauern deſto nachdruͤcklicher zu machen. Was
iſt laͤcherlicher, als wenn der Held auf eine un-
gluͤckliche Weiſe ſein Leben verlohren hat, und
es folgt eine luſtige und lebhafte Symphonie
darauf? Und was iſt abgeſchmackter, als wenn
ſich die Komoͤdie auf eine froͤhliche Art endiget,
und es folgt eine traurige und bewegliche Sym-
phonie darauf?〟 ——
〟Da uͤbrigens die Muſik zu den Schauſpielen
bloß allein aus Inſtrumenten beſtehet, ſo iſt eine
Veraͤnderung derſelben ſehr noͤthig, damit die
Zuhoͤrer deſto gewiſſer in der Aufmerkſamkeit er-
halten werden, die ſie vielleicht verlieren moͤch-
ten, wenn ſie immer einerley Inſtrumente hoͤren
ſollten. Es iſt aber beynahe eine Nothwendig-
keit, daß die Anfangsſymphonie ſehr ſtark und
vollſtaͤndig iſt, und alſo deſto nachdruͤcklicher ins
Gehoͤr falle. Die Veraͤnderung der Inſtru-
menten muß alſo vornehmlich in den Zwiſchen-
ſymphonien erſcheinen. Man muß aber wohl
urtheilen, welche Inſtrumente ſich am beſten zur
Sache ſchicken, und womit man dasjenige am
gewiſſeſten ausdruͤcken kann, was man aus-
druͤcken ſoll. Es muß alſo auch hier eine ver-
nuͤnftige Wahl getroffen werden, wenn man
ſeine Abſicht geſchickt und ſicher erreichen will.
Sonderlich aber iſt es nicht allzu gut, wenn man
in zwey auf einander folgenden Zwiſchenſympho-
nien
[207] nien einerley Veraͤnderung der Inſtrumente an-
wendet. Es iſt allemal beſſer und angenehmer,
wenn man dieſen Uebelſtand vermeidet.〟
Dieſes ſind die wichtigſten Regeln, um auch
hier die Tonkunſt und Poeſie in eine genauere
Verbindung zu bringen. Ich habe ſie lieber
mit den Worten eines Tonkuͤnſtlers, und zwar
desjenigen vortragen wollen, der ſich die Ehre
der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen.
Denn die Dichter und Kunſtrichter bekommen
nicht ſelten von den Muſicis den Vorwurf, daß
ſie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen,
als die Kunſt zu leiſten im Stande ſey. Die
mehreſten muͤſſen es von ihren Kunſtverwandten
erſt hoͤren, daß die Sache zu bewerkſtelligen iſt,
ehe ſie die geringſte Aufmerkſamkeit darauf wen-
den.
Zwar die Regeln ſelbſt waren leicht zu machen;
ſie lehren nur was geſchehen ſoll, ohne zu ſagen,
wie es geſchehen kann. Der Ausdruck der Lei-
denſchaften, auf welchen alles dabey ankoͤmmt,
iſt noch einzig das Werk des Genies. Denn ob
es ſchon Tonkuͤnſtler giebt und gegeben, die bis
zur Bewunderung darinn gluͤcklich ſind, ſo man-
gelt es doch unſtreitig noch an einem Philoſophen,
der ihnen die Wege abgelernt, und allgemeine
Grundſaͤtze aus ihren Beyſpielen hergeleitet
haͤtte. Aber je haͤufiger dieſe Beyſpiele werden,
je mehr ſich die Materialien zu dieſer Herleitung
ſam-
[208] ſammeln, deſto eher koͤnnen wir ſie uns verſpre-
chen; und ich muͤßte mich ſehr irren, wenn nicht
ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der
Tonkuͤnſtler in dergleichen dramatiſchen Sympho-
nien geſchehen koͤnnte. In der Vokalmuſik hilft
der Text dem Ausdrucke allzuſehr nach; der
ſchwaͤchſte und ſchwankendſte wird durch die
Worte beſtimmt und verſtaͤrkt: in der Inſtru-
mentalmuſik hingegen faͤllt dieſe Huͤlfe weg, und
ſie ſagt gar nichts, wenn ſie das, was ſie ſagen
will, nicht rechtſchaffen ſagt. Der Kuͤnſtler wird
alſo hier ſeine aͤußerſte Staͤrke anwenden muͤſſen;
er wird unter den verſchiedenen Folgen von Toͤnen,
die eine Empfindung ausdruͤcken koͤnnen, nur im-
mer diejenigen waͤhlen, die ſie am deutlichſten aus-
druͤcken; wir werden dieſe oͤfterer hoͤren, wir wer-
den ſie mit einander oͤfterer vergleichen, und durch
die Bemerkung deſſen, was ſie beſtaͤndig gemein ha-
ben, hinter das Geheimniß des Ausdrucks kom̃en.
Welchen Zuwachs unſer Vergnuͤgen im Theater da-
durch erhalten wuͤrde, begreift jeder von ſelbſt. Gleich
vom Anfange der neuen Verwaltung unſers Theaters,
hat man ſich daher nicht nur uͤberhaupt bemuͤht, das
Orcheſter in einen beſſern Stand zu ſetzen, ſondern es
haben ſich auch wuͤrdige Maͤnner bereit finden laſſen,
die Hand an das Werk zu legen, und Muſtere in dieſer
Art von Kompoſition zu machen, die uͤber alle Erwar-
tung ausgefallen ſind. Schon zu Cronegks Oliut und
Sophronia hatte Herr Hertel eigue Symphonien ver-
fertiget; und bey der zweyten Auffuͤhrung der Semira-
mis wurden dergleichen, von dem Herrn Agricola in
Berlin, aufgefuͤhrt.
Ham-
[[209]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und zwanzigſtes Stuͤck.
Ich will es verſuchen, einen Begriff von der
Muſik des Herrn Agricola zu machen.
Nicht zwar nach ihren Wirkungen; —
denn je lebhafter und feiner ein ſinnliches Ver-
gnuͤgen iſt, deſto weniger laͤßt es ſich mit Wor-
ten beſchreiben; man kann nicht wohl anders,
als in allgemeine Lobſpruͤche, in unbeſtimmte
Ausrufungen, in kreiſchende Bewunderung da-
mit verfallen, und dieſe ſind eben ſo ununterrich-
tend fuͤr den Liebhaber, als eckelhaft fuͤr den
Virtuoſen, den man zu ehren vermeinet; — ſon-
dern bloß nach den Abſichten, die ihr Meiſter
dabey gehabt, und nach den Mitteln uͤberhaupt,
deren er ſich, zu Erreichung derſelben, bedienen
wollen.
Die Anfangsſymphonie beſtehet aus drey
Saͤtzen. Der erſte Satz iſt ein Largo, nebſt
den Violinen, mit Hoboen und Floͤten; der
D dGrund-
[210] Grundbaß iſt durch Fagotte verſtaͤrkt. Sein
Ausdruck iſt ernſthaft; manchmal gar wild
und ſtuͤrmiſch; der Zuhoͤrer ſoll vermuthen, daß
er ein Schauſpiel ungefehr dieſes Inhalts zu er-
warten habe. Doch nicht dieſes Inhalts allein;
Zaͤrtlichkeit, Reue, Gewiſſensangſt, Unter-
werfung, nehmen ihr Theil daran; und der
zweyte Satz, ein Andante mit gedaͤmpften Vio-
linen und concertirenden Fagotten, beſchaͤftiget
ſich alſo mit dunkeln und mitleidigen Klagen.
In dem dritten Satze vermiſchen ſich die beweg-
lichen Tonwendungen mit ſtolzen; denn die
Buͤhne eroͤfnet ſich mit mehr als gewoͤhnlicher
Pracht; Semiramis nahet ſich dem Ende ihrer
Herrlichkeit; wie dieſe Herrlichkeit das Auge
ſpuͤren muß, ſoll ſie auch das Ohr vernehmen.
Der Charakter iſt Allegretto, und die Inſtru-
mente ſind wie in dem erſten, außer daß die Ho-
boen, Floͤten und Fagotte mit einander einige
beſondere kleinere Saͤtze haben.
Die Muſik zwiſchen den Akten hat durch-
gaͤngig nur einen einzigen Satz; deſſen Ausdruck
ſich auf das Vorhergehende beziehet. Einen
zweyten, der ſich auf das Folgende bezoͤge, ſchei-
net Herr Agricola alſo nicht zu billigen. Ich
wuͤrde hierinn ſehr ſeines Geſchmacks ſeyn.
Denn die Muſik ſoll dem Dichter nichts verder-
ben; der tragiſche Dichter liebt das Unerwar-
tete, das Ueberraſchende, mehr als ein anderer;
er
[211] er laͤßt ſeinen Gang nicht gern voraus verrathen;
und die Muſik wuͤrde ihn verrathen, wenn ſie
die folgende Leidenſchaft angeben wollte. Mit
der Anfangsſymphonie iſt es ein anders; ſie
kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und
doch muß auch ſie nur den allgemeinen Ton des
Stuͤcks angeben, und nicht ſtaͤrker, nicht be-
ſtimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt.
Man darf dem Zuhoͤrer wohl das Ziel zeigen,
wohin man ihn fuͤhren will, aber die verſchiede-
nen Wege, auf welchen er dahin gelangen ſoll,
muͤſſen ihm gaͤnzlich verborgen bleiben. Dieſer
Grund wider einen zweyten Satz zwiſchen den
Akten, iſt aus dem Vortheile des Dichters her-
genommen; und er wird durch einen andern,
der ſich aus den Schranken der Muſik ergiebt,
beſtaͤrkt. Denn geſetzt, daß die Leidenſchaften,
welche in zwey auf einander folgenden Akten
herrſchen, einander ganz entgegen waͤren, ſo
wuͤrden nothwendig auch die beiden Saͤtze von
eben ſo widriger Beſchaffenheit ſeyn muͤſſen.
Nun begreife ich ſehr wohl, wie uns der Dichter
aus einer jeden Leidenſchaft zu der ihr entgegen-
ſtehenden, zu ihrem voͤlligen Widerſpiele, ohne
unangenehme Gewaltſamkeit, bringen kann;
er thut es nach und nach, gemach und gemach;
er ſteiget die ganze Leiter von Sproſſe zu Sproſſe,
entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den
geringſten Sprung zu thun. Aber kann dieſes
D d 2auch
[212] auch der Muſikus? Es ſey, daß er es in Einem
Stuͤcke, von der erforderlichen Laͤnge, eben ſo
wohl thun koͤnne; aber in zwey beſondern, von
einander gaͤnzlich abgeſetzten Stuͤcken, muß der
Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stuͤr-
miſche, aus dem Zaͤrtlichen in das Grauſame,
nothwendig ſehr merklich ſeyn, und alle das
Beleidigende haben, was in der Natur jeder
ploͤtzliche Uebergang aus einem Aeußerſten in
das andere, aus der Finſterniß in das Licht, aus
der Kaͤlte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt
zerſchmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal
ſollen wir raſen. Wie? warum? wider wen?
wider eben den, fuͤr den unſere Seele ganz mit-
leidiges Gefuͤhl war? oder wider einen andern?
Alles das kann die Muſik nicht beſtimmen; ſie
laͤßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir
empfinden, ohne eine richtige Folge unſerer Em-
pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie
im Traume; und alle dieſe unordentliche Em-
pfindungen ſind mehr abmattend, als ergoͤtzend.
Die Poeſie hingegen laͤßt uns den Faden unſerer
Empfindungen nie verlieren; hier wiſſen wir
nicht allein, was wir empfinden ſollen, ſondern
auch, warum wir es empfinden ſollen; und nur
dieſes Warum macht die ploͤtzlichſten Uebergaͤnge
nicht allein ertraͤglich, ſondern auch angenehm.
In der That iſt dieſe Motivirung der ploͤtzli-
chen Uebergaͤnge einer der groͤßten Vortheile,
den
[213] den die Muſik aus der Vereinigung mit der
Poeſie ziehet; ja vielleicht der allergroͤßte.
Denn es iſt bey weitem nicht ſo nothwendig, die
allgemeinen unbeſtim̃ten Empfindungen der Mu-
ſik, z. E. der Freude, durch Worte auf einen
gewiſſen einzeln Gegenſtand der Freude einzu-
ſchraͤnken, weil auch jene dunkeln ſchwanken
Empfindungen noch immer ſehr angenehm ſind;
als nothwendig es iſt, abſtechende widerſpre-
chende Empfindungen durch deutliche Begriffe,
die nur Worte gewaͤhren koͤnnen, zu verbinden,
um ſie durch dieſe Verbindung in ein Ganzes zu
verweben, in welchem man nicht allein Mannich-
faltiges, ſondern auch Uebereinſtimmung des
Mannichfaltigen bemerke. Nun aber wuͤrde,
bey dem doppelten Satze zwiſchen den Akten ei-
nes Schauſpiels, dieſe Verbindung erſten hinten
nach kommen; wir wuͤrden es erſt hinten nach
erfahren, warum wir aus einer Leidenſchaft in
eine ganz entgegen geſetzte uͤberſpringen muͤſſen:
und das iſt fuͤr die Muſik ſo gut, als erfuͤhren
wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal ſeine
uͤble Wirkung gethan, und er hat uns darum
nicht weniger beleidiget, weil wir nun einſehen,
daß er uns nicht haͤtte beleidigen ſollen. Man
glaube aber nicht, daß ſo nach uͤberhaupt alle
Symphonien verwerflich ſeyn muͤßten, weil alle
aus mehrern Saͤtzen beſtehen, die von einander
unterſchieden ſind, und deren jeder etwas anders
D d 3aus-
[214] ausdruͤckt, als der andere. Sie druͤcken etwas
anders aus, aber nicht etwas verſchiednes; oder
vielmehr, ſie druͤcken das nehmliche, und nur
auf eine andere Art aus. Eine Symphonie,
die in ihren verſchiednen Saͤtzen verſchiedne, ſich
widerſprechende Leidenſchaften ausdruͤckt, iſt ein
muſikaliſches Ungeheuer; in Einer Symphonie
muß nur Eine Leidenſchaft herrſchen, und jeder
beſondere Satz muß eben dieſelbe Leidenſchaft,
bloß mit verſchiednen Abaͤnderungen, es ſey nun
nach den Graden ihrer Staͤrke und Lebhaftigkeit,
oder nach den mancherley Vermiſchungen mit an-
dern verwandten Leidenſchaften, ertoͤnen laſſen,
und in uns zu erwecken ſuchen. Die Anfangs-
ſymphonie war vollkommen von dieſer Beſchaf-
fenheit; das Ungeſtuͤme des erſten Satzes zer-
fließt in das Klagende des zweyten, welches ſich
in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Wuͤrde
erhebet. Ein Tonkuͤnſtler, der ſich in ſeinen Sym-
phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den
Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen
neuen ganz verſchiednen Affekt anzuheben, und
auch dieſen fahren laͤßt, um ſich in einen dritten
eben ſo verſchiednen zu werfen; kann viel Kunſt,
ohne Nutzen, verſchwendet haben, kann uͤber-
raſchen, kann betaͤuben, kann kitzeln, nur ruͤh-
ren kann er nicht. Wer mit unſerm Herzen ſpre-
chen, und ſympathetiſche Regungen in ihm er-
wecken will, muß eben ſowohl Zuſammenhang
be-
[215] beobachten, als wer unſern Verſtand zu unter-
halten und zu belehren denkt. Ohne Zuſammen-
hang, ohne die innigſte Verbindung aller und
jeder Theile, iſt die beſte Muſik ein eitler Sand-
haufen, der keines dauerhaften Eindruckes faͤhig
iſt; nur der Zuſammenhang macht ſie zu einem
feſten Marmor, an dem ſich die Hand des Kuͤnſt-
lers verewigen kann.
Der Satz nach dem erſten Akte ſucht alſo le-
diglich die Beſorgniſſe der Semiramis zu unter-
halten, denen der Dichter dieſen Akt gewidmet hat;
Beſorgniſſe, die noch mit einiger Hofnung ver-
miſcht ſind; ein Andante meſto, bloß mit ge-
daͤmpften Violinen und Bratſche.
In dem zweyten Akte ſpielt Aſſur eine zu wich-
tige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der
darauf folgenden Muſik beſtimmen ſollte. Eine
Allegro aſſai aus dem G dur, mit Waldhoͤrnern,
durch Floͤten und Hoboen, auch den Grundbaß
mitſpielende Fagotte verſtaͤrkt, druckt den durch
Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer
noch ſich wieder erhohlenden Stolz dieſes treu-
loſen und herrſchſuͤchtigen Miniſters aus.
In dem dritten Akte erſcheint das Geſpenſt.
Ich habe, bey Gelegenheit der erſten Vorſtel-
lung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck
Voltaire dieſe Erſcheinung auf die Anweſenden
machen laͤßt. Aber der Tonkuͤnſtler hat ſich,
wie billig, daran nicht gekehrt; er hohlt es nach,
was
[216] was der Dichter unterlaſſen hat, und ein Allegro aus
dem E moll, mit der nehmlichen Inſtrumentenbe-
ſetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hoͤrner mit
G-Hoͤrnern verſchiedentlich abwechſeln, ſchildert kein
ſtummes und traͤges Erſtaunen, ſondern die wahre
wilde Beſtuͤrzung, welche eine dergleichen Erſcheinung
unter dem Volke verurſachen muß.
Die Beaͤngſtigung der Semiramis im vierten
Aufzuge erweckt unſer Mitleid; wir betauern die
Reuende, ſo ſchuldig wir auch die Verbrecherinn
wiſſen. Betauern und Mitleid laͤßt alſo auch die
Muſik ertoͤnen; in einem Larghetto aus dem A moll,
mit gedaͤmpften Violinen und Bratſche, und einer
concertirenden Hoboe.
Endlich folget auch auf den fuͤnften Akt nur ein
einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, naͤchſt
den Violinen und der Bratſche, mit Hoͤrnern, mit
verſtaͤrkenden Hoboen und Floͤten, und mit Fagotten,
die mit dem Grundbaſſe gehen. Der Ausdruck iſt
den Perſonen des Trauerſpiels angemeſſene, und ins
Erhabene gezogene Betruͤbniß, mit einiger Ruͤck-
ſicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen,
in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme
gegen die Großen der Erde eben ſo wuͤrdig als maͤch-
tig erhebt.
Die Abſichten eines Tonkuͤnſtlers merken, heißt ihm
zugeſtehen, daß er ſie erreicht hat. Sein Werk ſoll kein
Raͤthſel ſeyn, deſſen Deutung eben ſo muͤhſam als
ſchwankend iſt. Was ein geſundes Ohr am geſchwinde-
ſten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er ſa-
gen wollen; ſein Lob waͤchſt mit ſeiner Verſtaͤndlichkeit;
je leichter, je allgemeiner dieſe, deſto verdienter je-
nes. — Es iſt kein Ruhm fuͤr mich, daß ich recht gehoͤrt
habe; aber fuͤr den Hrn. Agricola iſt es ein ſo viel groͤſ-
ſerer, daß in dieſer ſeine Compoſition niemand etwas
anders gehoͤrt hat, als ich.
Ham-
[[217]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und zwanzigſtes Stuͤck.
Den drey und dreyßigſten Abend (Freytags,
den 12ten Junius,) ward die Nanine
wiederholt, und den Beſchluß machte,
der Bauer mit der Erbſchaft, aus dem Franzoͤ-
ſiſchen des Marivaux.
Dieſes kleine Stuͤck iſt hier Waare fuͤr den
Platz, und macht daher allezeit viel Vergnuͤgen.
Juͤrge koͤmmt aus der Stadt zuruͤck, wo er einen
reichen Bruder begraben laſſen, von dem er hun-
dert tauſend Mark geerbt. Gluͤck aͤndert Stand
und Sitten; nun will er leben wie vornehme
Leute leben, erhebt ſeine Liſe zur Madame, fin-
det geſchwind fuͤr ſeinen Hanns und fuͤr ſeine
Grete eine anſehnliche Partie, alles iſt richtig,
aber der hinkende Bothe koͤmmt nach. Der
Makler, bey dem die hundert tauſend Mark ge-
ſtanden, hat Banquerot gemacht, Juͤrge iſt
wieder nichts wie Juͤrge, Hanns bekoͤmmt den
E eKorb,
[218] Korb, Grete bleibt ſitzen, und der Schluß
wuͤrde traurig genug ſeyn, wenn das Gluͤck
mehr nehmen koͤnnte, als es gegeben hat; ge-
ſund und vergnuͤgt waren ſie, geſund und ver-
gnuͤgt bleiben ſie.
Dieſe Fabel haͤtte jeder erfinden koͤnnen; aber
wenige wuͤrden ſie ſo unterhaltend zu machen ge-
wußt haben, als Marivaux. Die drolligſte
Laune, der ſchnurrigſte Witz, die ſchalkiſchſte
Satire, laſſen uns vor Lachen kaum zu uns ſelbſt
kommen; und die naive Bauernſprache giebt
allem eine ganz eigene Wuͤrze. Die Ueberſetzung
iſt von Kriegern, der das franzoͤſiſche Patois
in den hieſigen platten Dialekt meiſterhaft zu
uͤbertragen gewußt hat. Es iſt nur Schade,
daß verſchiedene Stellen hoͤchſt fehlerhaft und
verſtuͤmmelt abgedruckt werden. Einige muͤßten
nothwendig in der Vorſtellung berichtiget und
ergaͤnzt werden. Z. E. folgende, gleich in der
erſten Scene.
Juͤrge,He, he, he! Giv mie doch fief Schil-
link kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dah-
lers.Liſe.He, he, he! Segge doch, heſt du Schrul-
len med diene fief Schillink kleen Geld? wat wiſt
du damed maaken?Juͤrge.He, he, he, he! Giv mie fief Schil-
link kleen Geld, ſeg ik die.Liſe.Woto denn, Hans Narr?
Juͤrge.
[219]Juͤrge.Foͤr duͤſſen Jungen, de mie mienen
Buͤndel op dee Reiſe bed in unſe Doͤrp dragen hed,
un ik buͤn ganß licht un ſacht hergahn.Liſe.Buͤſt du to Foote hergahn?
Juͤrge.Ja. Wielt’t veel cummoder is.
Liſe.Da heſt du een Maark.
Juͤrge.Dat is doch noch reſuabel. Wo veel
maakt’t? So veel is dat. Een Maark hed ſe mie
dahn: da, da is’t. Nehmt’ hen; ſo is’t richdig.Liſe.Un du verdeihſt fief Schillink an een Jun-
gen, de die dat Pak dragen hed?Juͤrge.Ja! ik met ehm doch een Drankgeld
geven.Valentin.Sollen die fuͤnf Schilling fuͤr mich,
Herr Juͤrge?Juͤrge.Ja, mien Fruͤnd!
Valentin.Fuͤnf Schilling? ein reicher Erbe!
fuͤnf Schillinge? ein Mann von ihrem Stande!
Und wo bleibt die Hoheit der Seele?Juͤrge.O! et kumt mie even darop nich an,
jy doͤrft’t man ſeggen. Maake Fro, ſmiet ehm
noch een Schillink hen; by uns regnet man ſo.
Wie iſt das? Juͤrge iſt zu Fuße gegangen,
weil es kommoder iſt? Er fordert fuͤnf Schillin-
ge, und ſeine Frau giebt ihm ein Mark, die
ihm fuͤnf Schillinge nicht geben wollte? Die
Frau ſoll dem Jungen noch einen Schilling hin-
ſchmeiſſen? warum thut er es nicht ſelbſt? Von
dem Marke blieb ihm ja noch uͤbrig. Ohne das
E e 2Fran-
[220] Franzoͤſiſche wird man ſich ſchwerlich aus dem
Hanfe finden. Juͤrge war nicht zu Fuße ge-
kommen, ſondern mit der Kutſche: und darauf
geht ſein 〟Wielt’t veel cummoder is.〟 Aber
die Kutſche gieng vieleicht bey ſeinem Dorfe nur
vorbey, und von da, wo er abſtieg, ließ er ſich
bis zu ſeinem Hauſe das Buͤndel nachtragen.
Dafuͤr giebt er dem Jungen die fuͤnf Schillinge;
das Mark giebt ihm nicht die Frau, ſondern das
hat er fuͤr die Kutſche bezahlen muͤſſen, und er
erzehlt ihr nur, wie geſchwind er mit dem Kutſcher
daruͤber fertig geworden. (*)
Den
[221]
Den vier und dreyßigſten Abend (Montags,
den 29ſten Junius,) ward der Zerſtreute des
Regnard aufgefuͤhrt
Ich glaube ſchwerlich, daß unſere Großvaͤter
den deutſchen Titel dieſes Stuͤcks verſtanden haͤt-
ten. Noch Schlegel uͤberſetzte Diſtrait durch
Traͤumer. Zerſtreut ſeyn, ein Zerſtreuter, iſt
lediglich nach der Analogie des Franzoͤſiſchen ge-
macht. Wir wollen nicht unterſuchen, wer das
Recht hatte, dieſe Worte zu machen; ſondern
wir wollen ſie brauchen, nachdem ſie einmal ge-
macht ſind. Man verſteht ſie nunmehr, und
das iſt genug.
Regnard brachte ſeinen Zerſtreuten im Jahre
1697 aufs Theater; und er fand nicht den ge-
ringſten Beyfall. Aber vier und dreyßig Jahr
darauf, als ihn die Komoͤdianten wieder vor-
ſuchten, fand er einen ſo viel groͤßern. Wel-
ches Publikum hatte nun Recht? Vielleicht hat-
ten ſie beyde nicht Unrecht. Jenes ſtrenge Publi-
kum verwarf das Stuͤck als eine gute foͤrmliche
Komoͤdie, wofuͤr es der Dichter ohne Zweifel
E e 3aus-
(*)
[222] ausgab. Dieſes geneigtere nahm es fuͤr nichts
mehr auf, als es iſt; fuͤr eine Farce, fuͤr ein
Poſſenſpiel, das zu lachen machen ſoll; man
lachte, und war dankbar. Jenes Publikum
dachte:
—— non ſatis eſt riſu diducere rictum
Auditoris —— —— ——
und dieſes:
—— \& eſt quædam tamen hic quoque
virtus.
Auſſer der Verſification, die noch dazu ſehr
fehlerhaft und nachlaͤßig iſt, kann dem Regnard
dieſes Luſtſpiel nicht viel Muͤhe gemacht haben.
Den Charakter ſeiner Hauptperſon fand er bey
dem La Bruyere voͤllig entworfen. Er hatte
nichts zu thun, als die vornehmſten Zuͤge Theils
in Handlung zu bringen, Theils erzehlen zu laſ-
ſen. Was er von dem Seinigen hinzufuͤgte,
will nicht viel ſagen.
Wider dieſes Urtheil iſt nichts einzuwenden;
aber wider eine andere Kritik, die den Dichter
auf der Seite der Moralitaͤt faſſen will, deſto
mehr. Ein Zerſtreuter ſoll kein Vowurf fuͤr
die Komoͤdie ſeyn. Warum nicht? Zerſtreut
ſeyn, ſagt man, ſey eine Krankheit, ein Ungluͤck;
und kein Laſter. Ein Zerſtreuter verdiene eben
ſo wenig ausgelacht zu werden, als einer der
Kopfſchmerzen hat. Die Komoͤdie muͤſſe ſich
nur mit Fehlern abgeben, die ſich verbeſſern laſ-
ſen.
[223] ſen. Wer aber von Natur zerſtreut ſey, der
laſſe ſich durch Spoͤttereyen eben ſo wenig beſſern,
als ein Hinkender.
Aber iſt es denn wahr, daß die Zerſtreuung
ein Gebrechen der Seele iſt, dem unſere beſten
Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte ſie
wirklich mehr natuͤrliche Verwahrloſung, als
uͤble Angewohnheit ſeyn? Ich kann es nicht
glauben. Sind wir nicht Meiſter unſerer Auf-
merkſamkeit? Haben wir es nicht in unſerer Ge-
walt, ſie anzuſtrengen, ſie abzuziehen, wie wir
wollen? Und was iſt die Zerſtreuung anders,
als ein unrechter Gebrauch unſerer Aufmerkſam-
keit? Der Zerſtreute denkt, und denkt nur das
nicht, was er, ſeinen itzigen ſinnlichen Ein-
druͤcken zu Folge, denken ſollte. Seine Seele
iſt nicht entſchlummert, nicht betaͤubt, nicht
auſſer Thaͤtigkeit geſetzt; ſie iſt nur abweſend, ſie
iſt nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber ſo gut ſie dort
ſeyn kann, ſo gut kann ſie auch hier ſeyn; es iſt
ihr natuͤrlicher Beruff, bey den ſinnlichen Ver-
aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu ſeyn;
es koſtet Muͤhe, ſie dieſes Beruffs zu entwoͤhnen,
und es ſollte unmoͤglich ſeyn, ihr ihn wieder ge-
laͤufig zu machen?
Doch es ſey; die Zerſtreuung ſey unheilbar:
wo ſteht es denn geſchrieben, daß wir in der Ko-
moͤdie nur uͤber moraliſche Fehler, nur uͤber ver-
beſſerliche Untugenden lachen ſollen? Jede Un-
ge-
[224] gereimtheit, jeder Kontraſt von Mangel und
Realitaͤt, iſt laͤcherlich. Aber lachen und ver-
lachen iſt ſehr weit auseinander. Wir koͤnnen
uͤber einen Menſchen lachen, bey Gelegenheit
ſeiner lachen, ohne ihn im geringſten zu verla-
chen. So unſtreitig, ſo bekannt dieſer Unter-
ſchied iſt, ſo ſind doch alle Chicanen, welche
noch neuerlich Rouſſeau gegen den Nutzen der
Komoͤdie gemacht hat, nur daher entſtanden,
weil er ihn nicht gehoͤrig in Erwaͤgung gezogen.
Moliere, ſagt er z. E., macht uns uͤber den
Miſanthropen zu lachen, und doch iſt der Mi-
ſanthrop der ehrliche Mann des Stuͤcks; Mo-
liere beweiſet ſich alſo als einen Feind der Tu-
gend, indem er den Tugendhaften veraͤchtlich
macht. Nicht doch; der Miſanthrop wird nicht
veraͤchtlich, er bleibt wer er iſt, und das Lachen,
welches aus den Situationen entſpringt, in die
ihn der Dichter ſetzt, benimmt ihm von unſerer
Hochachtung nicht das geringſte. Der Zer-
ſtreute gleichfalls; wir lachen uͤber ihn, aber
verachten wir ihn darum? Wir ſchaͤtzen ſeine
uͤbrige guten Eigenſchaften, wie wir ſie ſchaͤtzen
ſollen; ja ohne ſie wuͤrden wir nicht einmal uͤber
ſeine Zerſtreuung lachen koͤnnen. Man gebe
dieſe Zerſtreuung einem boshaften, nichtswuͤr-
digen Manne, und ſehe, ob ſie noch laͤcherlich
ſeyn wird? Widrig, eckel, haͤßlich wird ſie ſeyn;
nicht laͤcherlich.
Ham-
[[225]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und zwanzigſtes Stuͤck.
Die Komoͤdie will durch Lachen beſſern; aber
nicht eben durch Verlachen; nicht gerade
diejenigen Unarten, uͤber die ſie zu lachen
macht, noch weniger bloß und allein die, an
welchen ſich dieſe laͤcherliche Unarten finden.
Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem
Lachen ſelbſt; in der Uebung unſerer Faͤhigkeit
das Laͤcherliche zu bemerken; es unter allen Be-
maͤntelungen der Leidenſchaft und der Mode, es
in allen Vermiſchungen mit noch ſchlimmern oder
mit guten Eigenſchaften, ſogar in den Runzeln
des feyerlichen Ernſtes, leicht und geſchwind zu
bemerken. Zugegeben, daß der Geitzige des
Moliere nie einen Geitzigen, der Spieler des
Regnard nie einen Spieler gebeſſert habe; ein-
geraͤumet, daß das Lachen dieſe Thoren gar nicht
beſſern koͤnne: deſto ſchlimmer fuͤr ſie, aber nicht
fuͤr die Komoͤdie. Ihr iſt genug, wenn ſie
F fkeine
[226] keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die
Geſunden in ihrer Geſundheit zu befeſtigen.
Auch dem Freygebigen iſt der Geitzige lehrreich;
auch dem, der gar nicht ſpielt, iſt der Spieler
unterrichtend; die Thorheiten, die ſie nicht ha-
ben, haben andere, mit welchen ſie leben muͤſ-
ſen; es iſt erſprießlich, diejenigen zu kennen,
mit welchen man in Colliſion kommen kann; er-
ſprießlich, ſich wieder alle Eindruͤcke des Bey-
ſpiels zu verwahren. Ein Preſervatif iſt auch
eine ſchaͤtzbare Arzeney; und die ganze Moral
hat kein kraͤftigers, wirkſamers, als das Laͤ-
cherliche. ——
Das Raͤthſel, oder, Was den Damen am
meiſten gefaͤllt, ein Luſtſpiel in einem Aufzuge
von Herr Loͤwen, machte dieſen Abend den Be-
ſchluß.
Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzeh-
lungen und Maͤhrchen geſchrieben haͤtten, ſo
wuͤrde das franzoͤſiſche Theater eine Menge
Neuigkeiten haben entbehren muͤſſen. Am mei-
ſten hat ſich die komiſche Oper aus dieſen Quel-
len bereichert. Des letztern Ce qui plait aux
Dames gab den Stoff zu einem mit Arien un-
termengten Luſtſpiele von vier Aufzuͤgen, welches,
unter dem Titel La Feé Urgele, von den ita-
lieniſchen Komoͤdianten zu Paris, im December
1765
[227] 1765 aufgefuͤhret ward. Herr Loͤwen ſcheinet
nicht ſowohl dieſes Stuͤck, als die Erzehlung
des Voltaire ſelbſt, vor Augen gehabt zu haben.
Wenn man bey Beurtheilung einer Bildſaͤule
mit auf den Marmorblock zu ſehen hat, aus wel-
chem ſie gemacht worden; wenn die primitive
Form dieſes Blockes es zu entſchuldigen ver-
mag, daß dieſes oder jenes Glied zu kurz, dieſe
oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: ſo
iſt die Kritik auf einmal abgewieſen, die den
Herrn Loͤwen wegen der Einrichtung ſeines
Stuͤcks in Anſpruch nehmen wollte. Mache
aus einem Hexenmaͤhrchen etwas Wahrſcheinli-
chers, wer da kann! Herr Loͤwen ſelbſt giebt
ſein Raͤthſel fuͤr nichts anders, als fuͤr eine
kleine Platſanterie, die auf dem Theater gefal-
len kann, wenn ſie gut geſpielt wird. Ver-
wandlung und Tanz und Geſang concurriren zu
dieſer Abſicht; und es waͤre bloßer Eigenſinn,
an keinem Belieben zu finden. Die Laune des
Pedrillo iſt zwar nicht original, aber doch gut
getroffen. Nur duͤnkt mich, daß ein Waffen-
traͤger oder Stallmeiſter, der das Abgeſchmackte
und Wahnſinnige der irrenden Ritterſchaft ein-
ſieht, ſich nicht ſo recht in eine Fabel paſſen will,
die ſich auf die Wirklichkeit der Zauberey gruͤn-
det, und ritterliche Abentheuer als ruͤhmliche
Handlungen eines vernuͤnftigen und tapfern
Mannes annimmt. Doch, wie geſagt, es iſt
F f 2eine
[228] eine Plaiſanterie; und Plaiſanteriern muß man
nicht zergliedern wollen.
Den fuͤnf und dreyßigſten Abend (Mitte-
wochs, den 1ſten Julius,) ward, in Gegen-
wart Sr. Koͤnigl. Majeſtaͤt von Daͤnemark,
die Rodogune des Peter Corneille aufgefuͤhrt.
Corneille bekannte, daß er ſich auf dieſes
Trauerſpiel das meiſte einbilde, daß er es weit
uͤber ſeinen Cinna und Cid ſetze, daß ſeine uͤbrige
Stuͤcke wenig Vorzuͤge haͤtten, die in dieſem
nicht vereint anzutreffen waͤren; ein gluͤcklicher
Stoff, ganz neue Erdichtungen, ſtarke Verſe,
ein gruͤndliches Raiſonnement, heftige Leiden-
ſchaften, ein von Akt zu Akt immer wachſendes
Intereſſe. —
Es iſt billig, daß wir uns bey dem Meiſter-
ſtuͤcke dieſes großen Mannes verweilen.
Die Geſchichte, auf die es gebauet iſt, erzehlt
Appianus Alexandrinus, gegen das Ende ſei-
nes Buchs von den ſyriſchen Kriegen.
〟De-
metrius, mit dem Zunamen Nicanor, unter-
nahm einen Feldzug gegen die Parther, und
lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem
Hofe ihres Koͤniges Phraates, mit deſſen
Schweſter Rodogune er ſich vermaͤhlte. In-
zwi-
[229] zwiſchen bemaͤchtigte ſich Diodotus, der den
vorigen Koͤnigen gedienet hatte, des ſyriſchen
Thrones, und erhob ein Kind, den Sohn des
Alexander Nothus, darauf, unter deſſen Na-
men er als Vormund anfangs die Regierung
fuͤhrte. Bald aber ſchafte er den jungen Koͤnig
aus dem Wege, ſetzte ſich ſelbſt die Krone auf,
und gab ſich den Namen Tryphon. Als An-
tiochus, der Bruder des gefangenen Koͤnigs,
das Schickſal deſſelben, und die darauf erfolgten
Unruhen des Reichs, zu Rhodus, wo er ſich
aufhielt, hoͤrte, kam er nach Syrien zuruͤck,
uͤberwand mit vieler Muͤhe den Tryphon, und
ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er ſeine
Waffen gegen den Phraates, und foderte die
Befreyung ſeines Bruders. Phraates, der
ſich des Schlimmſten beſorgte, gab den Deme-
trius auch wirklich los; aber nichts deſto weni-
ger kam es zwiſchen ihm und den Antiochus zum
Treffen, in welchem dieſer den kuͤrzern zog, und
ſich aus Verzweiflung ſelbſt entleibte. Deme-
trius, nachdem er wieder in ſein Reich gekehret
war, ward von ſeiner Gemahlinn, Cleopatra,
aus Haß gegen die Rhodogune, umgebracht;
obſchon Cleopatra ſelbſt, aus Verdruß uͤber
dieſe Heyrath, ſich mit dem nehmlichen Antio-
chus, ſeinem Bruder, vermaͤhlet hatte. Sie
hatte von dem Demetrius zwey Soͤhne, wovon
ſie den aͤlteſten, mit Namen Seleucus, der nach
F f 3dem
[230] dem Tode ſeines Vaters den Thron beſtieg, ei-
genhaͤndig mit einem Pfeile erſchoß; es ſey nun,
weil ſie beſorgte, er moͤchte den Tod ſeines Va-
ters an ihr raͤchen, oder weil ſie ſonſt ihre grau-
ſame Gemuͤthsart dazu veranlaßte. Der juͤngſte
Sohn hieß Antiochus; er folgte ſeinem Bruder
in der Regierung, und zwang ſeine abſcheuliche
Mutter, daß ſie den Giftbecher, dem ſie ihm
zugedacht hatte, ſelbſt trinken mußte.〟
In dieſer Erzehlung lag Stoff zu mehr als
einem Trauerſpiele. Es wuͤrde Corneillen eben
nicht viel mehr Erfindung gekoſtet haben, einen
Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius,
einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm,
eine Rodogune daraus zu erſchaffen, koſtete.
Was ihn aber vorzuͤglich darinn reitzte, war die
beleidigte Ehefrau, welche die uſurpirten Rechte
ihres Ranges und Bettes nicht grauſam genug
raͤchen zu koͤnnen glaubet. Dieſe alſo nahm er
heraus; und es iſt unſtreitig, daß ſo nach ſein
Stuͤck nicht Rodogune, ſondern Cleopatra heiſ-
ſen ſollte. Er geſtand es ſelbſt, und nur weil
er beſorgte, daß die Zuhoͤrer dieſe Koͤniginn von
Syrien mit jener beruͤhmten letzten Koͤniginn
von Aegypten gleiches Namens verwechſeln
duͤrften, wollte er lieber von der zweyten, als
von der erſten Perſon den Titel hernehmen.
ſagt er,
dieſer Freyheit um
ſo
[231] ſo eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt
hatte, daß die Alten ſelbſt es nicht fuͤr nothwen-
dig gehalten, ein Stuͤck eben nach ſeinem Hel-
den zu benennen, ſondern es ohne Bedenken
auch wohl nach dem Chore benannt haben, der
an der Handlung doch weit weniger Theil hat,
und weit epiſodiſcher iſt, als Rodogune; ſo
hat z. E. Sophokles eines ſeiner Trauerſpiele
die Trachinerinnen genannt, welches man itzi-
ger Zeit ſchwerlich anders, als den ſterbenden
Herkules nennen wuͤrde.〟
Dieſe Bemerkung iſt
an und fuͤr ſich ſehr richtig; die Alten hielten
den Titel fuͤr ganz unerheblich; ſie glaubten im
geringſten nicht, daß er den Inhalt angeben
muͤſſe; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von
dem andern unterſchieden ward, und hiezu iſt
der kleinſte Umſtand hinlaͤnglich. Allein, gleich-
wohl glaube ich ſchwerlich, daß Sophokles das
Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber-
ſchrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen.
Er ſtand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden
Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhreriſchen
Titel zu geben, einen Titel, der unſere Auf-
merkſamkeit auf einen falſchen Punkt richtet,
deſſen moͤchte er ſich ohne Zweifel mehr bedacht
haben. Die Beſorgniß des Corneille gieng
hiernaͤchſt zu weit; wer die aͤgyptiſche Cleopatra
kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten
iſt, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginnen
einer-
[232] einerley Namen gefuͤhrt haben; wer aber jene
nicht kennt, kann ſie auch mit dieſer nicht ver-
wechſeln. Wenigſtens haͤtte Corneille in dem
Stuͤck ſelbſt, den Namen Cleopatra nicht ſo ſorg-
faͤltig vermeiden ſollen; die Deutlichkeit hat in
dem erſten Akte darunter gelitten; und der deut-
ſche Ueberſetzer that daher ſehr wohl, daß er ſich
uͤber dieſe kleine Bedenklichkeit wegſetzte. Kein
Scribent, am wenigſten ein Dichter, muß ſeine
Leſer oder Zuhoͤrer ſo gar unwiſſend annehmen;
er darf auch gar wohl manchmal denken: was
ſie nicht wiſſen, das moͤgen ſie fragen!
Ham-
[[233]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Dreyßigſtes Stuͤck.
Cleopatra, in der Geſchichte, ermordet ihren
Gemahl, erſchießt den einen von ihren
Soͤhnen, und will den andern mit Gift
vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen
aus dem andern, und ſie hatten alle im Grunde
nur eine und eben dieſelbe Quelle. Wenigſtens
laͤßt es ſich mit Wahrſcheinlichkeit annehmen,
daß die einzige Eiferſucht ein wuͤthendes Ehe-
weib zu einer eben ſo wuͤthenden Mutter machte.
Sich eine zweyte Gemahlinn an die Seite geſtel-
let zu ſehen, mit dieſer die Liebe ihres Gatten
und die Hoheit ihres Ranges zu theilen, brachte
ein empfindliches und ſtolzes Herz leicht zu dem
Entſchluſſe, das gar nicht zu beſitzen, was es
nicht allein beſitzen konnte. Demetrius muß
nicht leben, weil er fuͤr Cleopatra nicht allein
leben will. Der ſchuldige Gemahl faͤllt; aber
in ihm faͤllt auch ein Vater, der raͤchende Soͤhne
G ghinter-
[234] hinterlaͤßt. An dieſe hatte die Mutter in der
Hitze ihrer Leidenſchaft nicht gedacht, oder nur
als an Ihre Soͤhne gedacht, von deren Ergeben-
heit ſie verſichert ſey, oder deren kindlicher Eifer
doch, wenn er unter Aeltern waͤhlen muͤßte,
ohnfehlbar ſich fuͤr den zuerſt beleidigten Theil
erklaͤren wuͤrde. Sie fand es aber ſo nicht; der
Sohn ward Koͤnig, und der Koͤnig ſahe in der
Cleopatra nicht die Mutter, ſondern die Koͤnigs-
moͤrderinn. Sie hatte alles von ihm zu fuͤrch-
ten; und von dem Augenblicke an, er alles von
ihr. Noch kochte die Eiferſucht in ihrem Her-
zen; noch war der treuloſe Gemahl in ſeinen
Soͤhnen uͤbrig; ſie fieng an alles zu haſſen, was
ſie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben;
die Selbſterhaltung ſtaͤrkte dieſen Haß; die
Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi-
gerinn fertiger, als der Beleidigte; ſie begieng
den zweyten Mord, um den erſten ungeſtraft
begangen zu haben; ſie begieng ihn an ihrem
Sohne, und beruhigte ſich mit der Vorſtellung,
daß ſie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes
Verderben beſchloſſen habe, daß ſie eigentlich
nicht morde, daß ſie ihrer Ermordung nur zuvor-
komme. Das Schickſal des aͤltern Sohnes
waͤre auch das Schickſal des juͤngern geworden;
aber dieſer war raſcher, oder war gluͤcklicher.
Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das
ſie ihm bereitet hat; ein unmenſchliches Verbre-
chen
[235] chen raͤchet das andere; und es koͤmmt bloß auf
die Umſtaͤnde an, auf welcher Seite wir mehr
Verabſcheuung, oder mehr Mitleid empfinden
ſollen.
Dieſer dreyfache Mord wuͤrde nur eine Hand-
lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel
und ihr Ende in der nehmlichen Leidenſchaft der
nehmlichen Perſon haͤtte. Was fehlt ihr alſo noch
zum Stoffe einer Tragoͤdie? Fuͤr das Genie
fehlt ihr nichts: fuͤr den Stuͤmper, alles. Da
iſt keine Liebe, da iſt keine Verwicklung, keine
Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer
Zwiſchenfall; alles geht ſeinen natuͤrlichen Gang.
Dieſer natuͤrliche Gang reitzet das Genie; und
den Stuͤmper ſchrecket er ab. Das Genie koͤn-
nen nur Begebenheiten beſchaͤftigen, die in ein-
ander gegruͤndet ſind, nur Ketten von Urſachen
und Wirkungen. Dieſe auf jene zuruͤck zu fuͤh-
ren, jene gegen dieſe abzuwaͤgen, uͤberall das
Ungefehr auszuſchlieſſen, alles, was geſchieht,
ſo geſchehen zu laſſen, daß es nicht anders ge-
ſchehen koͤnnen: das, das iſt ſeine Sache, wenn
es in dem Felde der Geſchichte arbeitet, um die
unnuͤtzen Schaͤtze des Gedaͤchtniſſes in Nahrun-
gen des Geiſtes zu verwandeln. Der Witz hin-
gegen, als der nicht auf das in einander Gegruͤn-
dete, ſondern nur auf das Aehnliche oder Un-
aͤhnliche gehet, wenn er ſich an Werke waget,
G g 2die
[236] die dem Genie allein vorgeſparet bleiben ſollten,
haͤlt ſich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts
mit einander gemein haben, als daß ſie zugleich
geſchehen. Dieſe mit einander zu verbinden,
ihre Faden ſo durch einander zu flechten und zu
verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen
unter dem andern verlieren, aus einer Befrem-
dung in die andere geſtuͤrzt werden: das kann
er, der Witz; und nur das. Aus der beſtaͤn-
digen Durchkreutzung ſolcher Faͤden von ganz
verſchiednen Farben, entſtehet denn eine Contex-
tur, die in der Kunſt eben das iſt, was die We-
berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem
man nicht ſagen kann, ob er blau oder roth,
gruͤn oder gelb iſt; der beydes iſt, der von dieſer
Seite ſo, von der andern anders erſcheinet; ein
Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz fuͤr Kin-
der.
Nun urtheile man, ob der große Corneille
ſeinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein
witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu
dieſer Beurtheilung weiter nichts, als die An-
wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel
zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver-
wicklung.
Cleopatra bringt, in der Geſchichte, ihren
Gemahl aus Eiferſucht um. Aus Eiferſucht?
dachte
[237] dachte Corneille: das waͤre ja eine ganz gemeine
Frau; nein, meine Cleopatra muß eine Heldinn
ſeyn, die noch wohl ihren Mann gern verlohren
haͤtte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr
Mann Rodogunen liebt, muß ſie nicht ſo ſehr
ſchmerzen, als daß Rodogune Koͤniginn ſeyn
ſoll, wie ſie; das iſt weit erhabner. —
Ganz recht; weit erhabner und — weit un-
natuͤrlicher. Denn einmal iſt der Stolz uͤber-
haupt ein unnatuͤrlicheres, ein gekuͤnſtelteres
Laſter, als die Eiferſucht. Zweytens iſt der
Stolz eines Weibes noch unnatuͤrlicher, als der
Stolz eines Mannes. Die Natur ruͤſtete das
weibliche Geſchlecht zur Liebe, nicht zu Gewalt-
ſeligkeiten aus; es ſoll Zaͤrtlichkeit, nicht Furcht
erwecken; nur ſeine Reitze ſollen es maͤchtig
machen; nur durch Liebkoſungen ſoll es herr-
ſchen, und ſoll nicht mehr beherrſchen wollen,
als es genieſſen kann. Eine Frau, der das
Herrſchen, bloß des Herrſchens wegen, gefaͤllt,
bey der alle Neigungen dem Ehrgeitze unterge-
ordnet ſind, die keine andere Gluͤckſeligkeit ken-
net, als zu gebiethen, zu tyranniſiren, und
ihren Fuß ganzen Voͤlkern auf den Nacken zu
ſetzen; ſo eine Frau kann wohl einmal, auch
mehr als einmal, wirklich geweſen ſeyn, aber
ſie iſt dem ohngeachtet eine Ausnahme, und wer
eine Ausnahme ſchildert, ſchildert ohnſtreitig
G g 3das
[238] das minder Natuͤrliche. Die Cleopatra des
Corneille, die ſo eine Frau iſt, die, ihren Ehr-
geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, ſich
alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit
machiavelliſchen Maximen um ſich wirft, iſt ein
Ungeheuer ihres Geſchlechts, und Medea iſt
gegen ihr tugendhaft und liebenswuͤrdig. Denn
alle die Grauſamkeiten, welche Medea begeht,
begeht ſie aus Eiferſucht. Einer zaͤrtlichen,
eiferſuͤchtigen Frau, will ich noch alles vergeben;
ſie iſt das, was ſie ſeyn ſoll, nur zu heftig. Aber
gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus
uͤberlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veruͤbet, em-
poͤrt ſich das ganze Herz; und alle Kunſt des
Dichters kann ſie uns nicht intereſſant machen.
Wir ſtaunen ſie an, wie wir ein Monſtrum an-
ſtaunen; und wenn wir unſere Neugierde geſaͤt-
tiget haben, ſo danken wir dem Himmel, daß
ſich die Natur nur alle tauſend Jahre einmal ſo
verirret, und aͤrgern uns uͤber den Dichter,
der uns dergleichen Mißgeſchoͤpfe fuͤr Menſchen
verkaufen will, deren Kenntniß uns erſprieß-
lich ſeyn koͤnnte. Man gehe die ganze Geſchichte
durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maͤnner
vom Throne geſtuͤrzet und ermordet haben, iſt
kaum eine, von der man nicht beweiſen koͤnnte,
daß nur beleidigte Liebe ſie zu dieſem Schritte
bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus
bloßem Stolze das Scepter ſelbſt zu fuͤhren,
wel-
[239] welches ein liebreicher Ehemann fuͤhrte, hat ſich
ſchwerlich eine ſo weit vergangen. Viele, nach-
dem ſie als beleidigte Gattinnen die Regierung
an ſich geriſſen, haben dieſe Regierung hernach
mit allem maͤnnlichen Stolze verwaltet: das iſt
wahr. Sie hatten bey ihren kalten, muͤrri-
ſchen, treuloſen Gatten alles, was die Unter-
wuͤrfigkeit kraͤnkendes hat, zu ſehr erfahren, als
daß ihnen nachher ihre mit der aͤußerſten Gefahr
erlangte Unabhaͤngigkeit nicht um ſo viel ſchaͤtz-
barer haͤtte ſeyn ſollen. Aber ſicherlich hat keine
das bey ſich gedacht und empfunden, was Cor-
neille ſeine Cleopatra ſelbſt von ſich ſagen laͤßt;
die unſinnigſten Bravaden des Laſters. Der
groͤßte Boͤſewicht weiß ſich vor ſich ſelbſt zu ent-
ſchuldigen, ſucht ſich ſelbſt zu uͤberreden, daß
das Laſter, welches er begeht, kein ſo großes
Laſter ſey, oder daß ihn die unvermeidliche
Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es iſt
wider alle Natur, daß er ſich des Laſters, als
Laſters ruͤhmet; und der Dichter iſt aͤußerſt zu
tadeln, der aus Begierde etwas Glaͤnzendes und
Starkes zu ſagen, uns das menſchliche Herz ſo
verkennen laͤßt, als ob ſeine Grundneigungen
auf das Boͤſe, als auf das Boͤſe, gehen koͤnn-
ten.
Dergleichen mißgeſchilderte Charaktere, der-
gleichen ſchaudernde Tiraden, ſind indeß bey
kei-
[240] keinem Dichter haͤufiger, als bey Corneillen,
und es koͤnnte leicht ſeyn, daß ſich zum Theil ſein
Beyname des Großen mit darauf gruͤnde. Es
iſt wahr, alles athmet bey ihm Heroismns;
aber auch das, was keines faͤhig ſeyn ſollte, und
wirklich auch keines faͤhig iſt: das Laſter. Den
Ungeheuern, den Gigantiſchen haͤtte man ihn
nennen ſollen; aber nicht den Großen. Denn
nichts iſt groß, was nicht wahr iſt.
Ham-
[[241]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und dreyßigſtes Stuͤck.
In der Geſchichte raͤchet ſich Cleopatra blos
an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte,
oder wollte ſie ſich nicht raͤchen. Bey dem
Dichter iſt jene Rache laͤngſt vorbey; die Ermor-
dung des Demetrius wird blos erzehlt, und alle
Handlung des Stuͤcks geht auf Rodogunen.
Corneille will ſeine Cleopatra nicht auf halbem
Wege ſtehen laſſen; ſie muß ſich noch gar nicht
geraͤchet zu haben glauben, wenn ſie ſich nicht
auch an Rodogunen raͤchet. Einer Eiferſuͤchti-
gen iſt es allerdings natuͤrlich, daß ſie gegen ihre
Nebenbuhlerinn noch unverſoͤhnlicher iſt, als
gegen ihren treuloſen Gemahl. Aber die Cleo-
patra des Corneille, wie geſagt, iſt wenig oder
gar nicht eiferſuͤchtig; ſie iſt bloß ehrgeitzig; und
die Rache einer Ehrgeitzigen ſollte nie der Rache
einer Eiferſuͤchtigen aͤhnlich ſeyn. Beide Lei-
denſchaften ſind zu ſehr unterſchieden, als daß
H hihre
[242] ihre Wirkungen die nehmlichen ſeyn koͤnnten.
Der Ehrgeitz iſt nie ohne eine Art von Edelmuth,
und die Rache ſtreitet mit dem Edelmuthe zu
ſehr, als daß die Rache des Ehrgeitzigen ohne
Maaß und Ziel ſeyn ſollte. So lange er ſeinen
Zweck verfolgt, kennet ſie keine Grenzen; aber
kaum hat er dieſen erreicht, kaum iſt ſeine Lei-
denſchaft befriediget, als auch ſeine Rache kaͤlter
und uͤberlegender zu werden anfaͤngt. Er pro-
portioniert ſie nicht ſowohl nach dem erlittenen
Nachtheile, als vielmehr nach dem noch zu be-
ſorgenden. Wer ihm nicht weiter ſchaden kann,
von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm ge-
ſchadet hat. Wen er nicht zu fuͤrchten hat, den
verachtet er; und wen er verachtet, der iſt weit
unter ſeiner Rache. Die Eiferſucht hingegen
iſt eine Art von Neid; und Neid iſt ein kleines,
kriechendes Laſter, das keine andere Befriedi-
gung kennet, als das gaͤnzliche Verderben ſeines
Gegenſtandes. Sie tobet in einem Feuer fort;
nichts kann ſie verſoͤhnen; da die Beleidigung,
die ſie erwecket hat, nie aufhoͤret, die nehmliche
Beleidigung zu ſeyn, und immer waͤchſet, je
laͤnger ſie dauert: ſo kann auch ihr Durſt nach
Rache nie erloͤſchen, die ſie ſpat oder fruͤh, im-
mer mit gleichem Grimme, vollziehen wird.
Gerade ſo iſt die Rache der Cleopatra beym Cor-
neille; und die Mißhelligkeit, in der dieſe Rache
alſo mit ihrem Charakter ſtehet, kann nicht anders
als
[243] als aͤußerſt beleidigend ſeyn. Ihre ſtolzen Ge-
ſinnungen, ihr unbaͤndiger Trieb nach Ehre und
Unabhaͤngigkeit, laſſen ſie uns als eine große,
erhabne Seele betrachten, die alle unſere Be-
wunderung verdienet. Aber ihr tuͤckiſcher
Groll; ihre haͤmiſche Rachſucht gegen eine Per-
ſon, von der ihr weiter nichts zu befuͤrchten ſtehet,
die ſie in ihrer Gewalt hat, der ſie, bey dem ge-
ringſten Funken von Edelmuthe, vergeben muͤß-
te; ihr Leichtſinn, mit dem ſie nicht allein ſelbſt
Verbrechen begeht, mit dem ſie auch andern die
unſinnigſten ſo plump und geradehin zumuthet:
machen ſie uns wiederum ſo klein, daß wir ſie
nicht genug verachten zu koͤnnen glauben. End-
lich muß dieſe Verachtung nothwendig jene Be-
wunderung aufzehren, und es bleibt in der gan-
zen Cleopatra nichts uͤbrig, als ein haͤßliches ab-
ſcheuliches Weib, das immer ſprudelt und raſet,
und die erſte Stelle im Tollhauſe verdienet.
Aber nicht genug, daß Cleopatra ſich an Ro-
dogunen raͤchet: der Dichter will, daß ſie es auf
eine ganz ausnehmende Weiſe thun ſoll. Wie
faͤngt er dieſes an? Wenn Cleopatra ſelbſt Ro-
dogunen aus dem Wege ſchaft, ſo iſt das Ding
viel zu natuͤrlich: denn was iſt natuͤrlicher, als
ſeine Feindinn hinzurichten? Gienge es nicht
an, daß zugleich eine Liebhaberinn in ihr hinge-
richtet wuͤrde? Und daß ſie von ihrem Liebhaber
H h 2hin-
[244] hingerichtet wuͤrde? Warum nicht? Laßt uns
erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius
noch nicht voͤllig vermaͤhlet geweſen; laßt uns
erdichten, daß nach ſeinem Tode ſich die beiden
Soͤhne in die Braut des Vaters verliebt haben;
laßt uns erdichten, daß die beiden Soͤhne Zwil-
linge ſind, daß dem aͤlteſten der Thron gehoͤret,
daß die Mutter es aber beſtaͤndig verborgen ge-
halten, welcher von ihnen der aͤlteſte ſey; laßt
uns erdichten, daß ſich endlich die Mutter ent-
ſchloſſen, dieſes Geheimniß zu entdecken, oder
vielmehr nicht zu entdecken, ſondern an deſſen
Statt denjenigen fuͤr den aͤlteſten zu erklaͤren,
und ihn dadurch auf den Thron zu ſetzen, wel-
cher eine gewiſſe Bedingung eingehen wolle; laßt
uns erdichten, daß dieſe Bedingung der Tod der
Rodogune ſey. Nun haͤtten wir ja, was wir
haben wollten: beide Prinzen ſind in Rodogu-
nen ſterblich verliebt; wer von beiden ſeine
Geliebte umbringen will, der ſoll regieren.
Schoͤn; aber koͤnnten wir den Handel nicht
noch mehr verwickeln? Koͤnnten wir die guten
Prinzen nicht noch in groͤßere Verlegenheit ſetzen?
Wir wollen verſuchen. Laßt uns alſo weiter
erdichten, daß Rodogune den Anſchlag der Cleo-
patra erfaͤhrt; laßt uns weiter erdichten, daß ſie
zwar einen von den Prinzen vorzuͤglich liebt,
aber es ihm nicht bekannt hat, auch ſonſt keinem
Men-
[245] Menſchen es bekannt hat, noch bekennen will,
daß ſie feſt entſchloſſen iſt, unter den Prinzen
weder dieſen geliebtern, noch den, welchem der
Thron heimfallen duͤrfte, zu ihrem Gemahle zu
waͤhlen, daß ſie allein den waͤhlen wolle, wel-
cher ſich ihr am wuͤrdigſten erzeigen werde; Ro-
dogune muß geraͤchet ſeyn wollen, muß an der
Mutter der Prinzen geraͤchet ſeyn wollen; Ro-
dogune muß ihnen erklaͤren: wer mich von euch
haben will, der ermorde ſeine Mutter!
Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intri-
gue! Dieſe Prinzen ſind gut angekommen! Die
ſollen zu thun haben, wenn ſie ſich herauswickeln
wollen! Die Mutter ſagt zu ihnen: wer von
euch regieren will, der ermorde ſeine Geliebte!
Und die Geliebte ſagt: wer mich haben will, er-
morde ſeine Mutter! Es verſteht ſich, daß es
ſehr tugendhafte Prinzen ſeyn muͤſſen, die ein-
ander von Grund der Seele lieben, die viel
Reſpekt fuͤr den Teufel von Mamma, und eben
ſo viel Zaͤrtlichkeit fuͤr eine liebaͤugelnde Furie
von Gebietherinn haben. Denn wenn ſie nicht
beide ſehr tugendhaft ſind, ſo iſt die Verwick-
lung ſo arg nicht, als es ſcheinet; oder ſie iſt zu
arg, daß es gar nicht moͤglich iſt, ſie wieder auf-
zuwickeln. Der eine geht hin und ſchlaͤgt die
Prinzeßinn todt, um den Thron zu haben: da-
mit iſt es aus. Oder der andere geht hin und
H h 3ſchlaͤgt
[246] ſchlaͤgt die Mutter todt, um die Prinzeßinn zu
haben: damit iſt es wieder aus. Oder ſie gehen
beide hin, und ſchlagen die Geliebte todt, und
wollen beide den Thron haben: ſo kann es gar
nicht auswerden. Oder ſie ſchlagen beide die
Mutter todt, und wollen beide das Maͤdchen
haben: und ſo kann es wiederum nicht auswer-
den. Aber wenn ſie beide fein tugendhaft ſind,
ſo will keiner weder die eine noch die andere todt
ſchlagen; ſo ſtehen ſie beide huͤbſch und ſperren
das Maul auf, und wiſſen nicht, was ſie thun
ſollen: und das iſt eben die Schoͤnheit davon.
Freylich wird das Stuͤck dadurch ein ſehr ſonder-
bares Anſehen bekommen, daß die Weiber
darinn aͤrger als raſende Maͤnner, und die
Maͤnner weibiſcher als die armſeligſten Weiber
handeln: aber was ſchadet das? Vielmehr iſt
dieſes ein Vorzug des Stuͤckes mehr; denn das
Gegentheil iſt ſo gewoͤhnlich, ſo abgedroſchen! —
Doch im Ernſte: ich weiß nicht, ob es viel
Muͤhe koſtet, dergleichen Erdichtungen zu ma-
chen; ich habe es nie verſucht, ich moͤchte es
auch ſchwerlich jemals verſuchen. Aber das
weiß ich, daß es einem ſehr ſauer wird, derglei-
chen Erdichtungen zu verdauen.
Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen ſind;
weil nicht die mindeſte Spur in der Geſchichte
davon
[247] davon zu finden. Dieſe Bedenklichkeit haͤtte
ſich Corneille immer erſparen koͤnnen.
〟Viel-
leicht,
ſagt er,
duͤrfte man zweifeln, ob ſich die
Freyheit der Poeſie ſo weit erſtrecket, daß ſie
unter bekannten Namen eine ganze Geſchichte
erdenken darf; ſo wie ich es hier gemacht habe,
wo nach der Erzehlung im erſten Akte, welche
die Grundlage des Folgenden iſt, bis zu den
Wirkungen im fuͤnften, nicht das geringſte vor-
koͤmmt, welches einigen hiſtoriſchen Grund
haͤtte. Doch, faͤhrt er fort, mich duͤnkt, wenn
wir nur das Reſultat einer Geſchichte beybehal-
ten, ſo ſind alle vorlaͤufige Umſtaͤnde, alle Ein-
leitungen zu dieſem Reſultate in unſerer Ge-
walt. Wenigſtens wuͤßte ich mich keiner Regel
dawider zu erinnern, und die Ausuͤbung der
Alten iſt voͤllig auf meiner Seite. Denn man
vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles
mit der Elektra des Euripides, und ſehe, ob ſie
mehr mit einander gemein haben, als das bloße
Reſultat, die letzten Wirkungen in den Begeg-
niſſen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem
beſondern Wege, durch ihm eigenthuͤmliche Mit-
tel gelanget, ſo daß wenigſtens eine davon noth-
wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver-
faſſers ſeyn muß. Oder man werfe nur die Au-
gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari-
ſtoteles zum Muſter einer vollkommenen Tragoͤ-
die giebt, und die doch ſehr darnach ausſieht,
daß
[248] daß ſie weiter nichts als eine Erdichtung iſt, in-
dem ſie ſich bloß auf das Vorgeben gruͤndet, daß
Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem
Altare, auf welchem ſie geopfert werden ſollte,
entruͤckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge-
ſchoben habe. Vornehmlich aber verdient die
Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo
ſowohl die Haupthandlung, als die Epiſoden,
ſowohl der Knoten, als die Aufloͤſung, gaͤnzlich
erdichtet ſind, und aus der Hiſtorie nichts als
die Namen haben.〟
Allerdings durfte Corneille mit den hiſtori-
ſchen Umſtaͤnden nach Gutduͤnken verfahren.
Er durfte, z. E. Rodogunen ſo jung annehmen,
als er wollte; und Voltaire hat ſehr Unrecht,
wenn er auch hier wiederum aus der Geſchichte
nachrechnet, daß Rodogune ſo jung nicht koͤnne
geweſen ſeyn; ſie habe den Demetrius geheyra-
thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig-
ſtens zwanzig Jahre haben muͤßten, noch in ihrer
Kindheit geweſen waͤren. Was geht das dem
Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme-
trius gar nicht geheyrathet; ſie war ſehr jung,
als ſie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel
aͤlter, als ſich die Soͤhne in ſie verliebten. Vol-
taire iſt mit ſeiner hiſtoriſchen Controlle ganz un-
leidlich. Wenn er doch lieber die Data in ſeiner all-
gemeinen Weltgeſchichte dafuͤr verificiren wollte!
Ham-
[[249]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und dreyßigſtes Stuͤck.
Mit den Beyſpielen der Alten haͤtte Cor-
neille noch weiter zuruͤck gehen koͤnnen.
Viele ſtellen ſich vor, daß die Tragoͤdie
in Griechenland wirklich zur Erneuerung des An-
denkens großer und ſonderbarer Begebenheiten
erfunden worden; daß ihre erſte Beſtimmung
alſo geweſen, genau in die Fußtapfen der Ge-
ſchichte zu treten, und weder zur Rechten noch
zur Linken auszuweichen. Aber ſie irren ſich.
Denn ſchon Theſpis ließ ſich um die hiſtoriſche
Richtigkeit ganz unbekuͤmmert. (*) Es iſt
wahr, er zog ſich daruͤber einen harten Verweis
von dem Solon zu. Doch ohne zu ſagen, daß
Solon ſich beſſer auf die Geſetze des Staats, als
der Dichtkunſt verſtanden: ſo laͤßt ſich den Fol-
gerungen, die man aus ſeiner Mißbilligung zie-
hen
J i
[250] hen koͤnnte, auf eine andere Art ausweichen.
Die Kunſt bediente ſich unter dem Theſpis ſchon
aller Vorrechte, als ſie ſich, von Seiten des
Nutzens, ihrer noch nicht wuͤrdig erzeigen konnte.
Theſpis erſann, erdichtete, ließ die bekannteſten
Perſonen ſagen und thun, was er wollte: aber
er wußte ſeine Erdichtungen vielleicht weder
wahrſcheinlich, noch lehrreich zu machen. So-
lon bemerkte in ihnen alſo nur das Unwahre,
ohne die geringſte Vermuthung von dem Nuͤtz-
lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift,
welches, ohne ſein Gegengift mit ſich zu fuͤhren,
leicht von uͤbeln Folgen ſeyn koͤnnte.
Ich fuͤrchte ſehr, Solon duͤrfte auch die Er-
dichtungen des großen Corneille nichts als lei-
dige Luͤgen genannt haben. Denn wozu alle
dieſe Erdichtungen? Machen ſie in der Geſchich-
te, die er damit uͤberladet, das geringſte wahr-
ſcheinlicher? Sie ſind nicht einmal fuͤr ſich ſelbſt
wahrſcheinlich. Corneille prahlte damit, als mit
ſehr wunderbaren Anſtrengungen der Erdich-
tungskraft; und er haͤtte doch wohl wiſſen ſol-
len, daß nicht das bloße Erdichten, ſondern das
zweckmaͤßige Erdichten, einen ſchoͤpfriſchen Geiſt
beweiſe.
Der Poet findet in der Geſchichte eine Frau,
die Mann und Soͤhne mordet; eine ſolche That
kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er
nimmt ſich vor, ſie in einer Tragoͤdie zu behan-
deln.
[251] deln. Aber die Geſchichte ſagt ihm weiter nichts,
als das bloße Factum, und dieſes iſt eben ſo
graͤßlich als auſſerordentlich. Es giebt hoͤchſtens
drey Scenen, und da es von allen naͤhern Um-
ſtaͤnden entbloͤßt iſt, drey unwahrſcheinliche
Scenen. — Was thut alſo der Poet?
So wie er dieſen Namen mehr oder weniger
verdient, wird ihm entweder die Unwahrſchein-
lichkeit oder die magere Kuͤrze der groͤßere Man-
gel ſeines Stuͤckes ſcheinen.
Iſt er in dem erſtern Falle, ſo wird er vor
allen Dingen bedacht ſeyn, eine Reihe von
Urſachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel-
cher jene unwahrſcheinliche Verbrechen nicht
wohl anders, als geſchehen muͤſſen. Unzufrieden,
ihre Moͤglichkeit blos auf die hiſtoriſche Glaub-
wuͤrdigkeit zu gruͤnden, wird er ſuchen, die Cha-
raktere ſeiner Perſonen ſo anzulegen; wird er ſu-
chen, die Vorfaͤlle, welche dieſe Charaktere in
Handlung ſetzen, ſo nothwendig einen aus dem
andern entſpringen zu laſſen; wird er ſuchen,
die Leidenſchaften nach eines jedem Charakter ſo
genau abzumeſſen; wird er ſuchen, dieſe Leiden-
ſchaften durch ſo allmaͤliche Stuffen durchzu-
fuͤhren: daß wir uͤberall nichts als den natuͤr-
lichſten, ordentlichſten Verlauf wahrnehmen;
daß wir bey jedem Schritte, den er ſeine Perſo-
nen thun laͤßt, bekennen muͤſſen, wir wuͤrden
ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenſchaft,
J i 2bey
[252] bey der nehmlichen Lage der Sachen, ſelbſt ge-
than haben; daß uns nichts dabey befremdet,
als die unmerkliche Annaͤherung eines Zieles,
von dem unſere Vorſtellungen zuruͤckbeben, und
an dem wir uns endlich, voll des innigſten Mit-
leids gegen die, welche ein ſo fataler Strom da-
hin reißt, und voll Schrecken uͤber das Bewußt-
ſeyn befinden, auch uns koͤnne ein aͤhnlicher
Strom dahin reiſſen, Dinge zu begehen, die
wir bey kaltem Gebluͤte noch ſo weit von uns
entfernt zu ſeyn glauben. — Und ſchlaͤgt der
Dichter dieſen Weg ein, ſagt ihm ſein Genie,
daß er darauf nicht ſchimpflich ermatten wer-
de: ſo iſt mit eins auch jene magere Kuͤrze
ſeiner Fabel verſchwunden; es bekuͤmmert ihn
nun nicht mehr, wie er mit ſo wenigen Vorfaͤl-
len fuͤnf Akte fuͤllen wolle; ihm iſt nur bange,
daß fuͤnf Akte alle den Stoff nicht faſſen werden,
der ſich unter ſeiner Bearbeitung aus ſich ſelbſt
immer mehr und mehr vergroͤßert, wenn er ein-
mal der verborgnen Organiſation deſſelben auf
die Spur gekommen, und ſie zu entwickeln ver-
ſtehet.
Hingegen dem Dichter, der dieſen Namen
weniger verdienet, der weiter nichts als ein
witziger Kopf, als ein guter Verſifikateur iſt,
dem, ſage ich, wird die Unwahrſcheinlichkeit
ſeines Vorwurfs ſo wenig anſtoͤßig ſeyn, daß er
vielmehr eben hierinn das Wunderbare deſſelben
zu
[253] zu finden vermeinet, welches er auf keine Weiſe
vermindern duͤrfe, wenn er ſich nicht ſelbſt des
ſicherſten Mittels berauben wolle, Schrecken
und Mitleid zu erregen. Denn er weiß ſo we-
nig, worinn eigentlich dieſes Schrecken und die-
ſes Mitleid beſtehet, daß er, um jenes hervor
zu bringen, nicht ſonderbare, unerwartete, un-
glaubliche, ungeheure Dinge genug haͤufen zu
koͤnnen glaubt, und um dieſes zu erwecken, nur
immer ſeine Zuflucht zu den auſſerordentlichſten,
graͤßlichſten Ungluͤcksfaͤllen und Frevelthaten,
nehmen zu muͤſſen vermeinet. Kaum hat er alſo
in der Geſchichte eine Cleopatra, eine Moͤrderinn
ihres Gemahls und ihrer Soͤhne, aufgejagt, ſo
ſieht er, um eine Tragoͤdie daraus zu machen,
weiter nichts dabey zu thun, als die Luͤcken zwi-
ſchen beiden Verbrechen auszufuͤllen, und ſie
mit Dingen auszufuͤllen, die wenigſtens eben ſo
befremdend ſind, als dieſe Verbrechen ſelbſt.
Alles dieſes, ſeine Erfindungen und die hiſtori-
ſchen Materialien, knaͤtet er denn in einen fein
langen, fein ſchwer zu faſſenden Roman zuſam-
men; und wenn er es ſo gut zuſammen geknaͤtet
hat, als ſich nur immer Heckſel und Mehl zuſam-
men knaͤten laſſen: ſo bringt er ſeinen Teig auf
das Dratgerippe von Akten und Scenen, laͤßt
erzehlen und erzehlen, laͤßt raſen und reimen, —
und in vier, ſechs Wochen, nachdem ihm das
Reimen leichter oder ſaurer ankoͤmmt, iſt das
J i 3Wun-
[254] Wunder fertig; es heißt ein Trauerſpiel, — wird
gedruckt und aufgefuͤhrt, — geleſen und angeſe-
hen, — bewundert oder ausgepfiffen, — beybe-
halten oder vergeſſen, — ſo wie es das liebe Gluͤck
will. Denn \& habent ſua fata libelli.
Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon
auf den großen Corneille zu machen? Oder
brauche ich ſie noch lange zu machen? — Nach
dem geheimnißvollen Schickſale, welches die
Schriften ſo gut als die Menſchen haben, iſt
ſeine Rodogune, nun laͤnger als hundert Jahr,
als das groͤßte Meiſterſtuͤck des groͤßten tragi-
ſchen Dichters, von ganz Frankreich, und gele-
gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor-
den. Kann eine hundertjaͤhrige Bewunderung
wohl ohne Grund ſeyn? Wo haben die Menſchen
ſo lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt?
War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur-
giſchen Dramaturgiſten auf behalten, Flecken
in der Sonne zu ſehen, und ein Geſtirn auf ein
Meteor herabzuſetzen?
O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte ſaß
einmal ein ehrlicher Hurone in der Baſtille zu
Paris; dem ward die Zeit lang, ob er ſchon in
Paris war; und vor langer Weile ſtudierte er
die franzoͤſiſchen Poeten; dieſem Huronen wollte
die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb-
te, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, ir-
gendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den
Kopf
[255] Kopf von den Trauerſpielen der Griechen und
ſeiner Landesleute des ſechszehnten Seculi voll,
und der fand an der Rodogune gleichfals vieles
auszuſetzen. Endlich kam vor einigen Jahren
ſogar auch ein Franzoſe, ſonſt ein gewaltiger
Verehrer des Corneilleſchen Namens, (denn,
weil er reich war, und ein ſehr gutes Herz hatte,
ſo nahm er ſich einer armen verlaßnen Enkelinn
dieſes großen Dichters an, ließ ſie unter ſeinen
Augen erziehen, lehrte ſie huͤbſche Verſe machen,
ſammelte Allmoſen fuͤr ſie, ſchrieb zu ihrer Aus-
ſteuer einen großen eintraͤglichen Commentar
uͤber die Werke ihres Großvaters u. ſ. w.) aber
gleichwohl erklaͤrte er die Rodogune fuͤr ein ſehr
ungereimtes Gedicht, und wollte ſich des Todes
verwundern, wie ein ſo großer Mann, als der
große Corneille, ſolch widerſinniges Zeug habe
ſchreiben koͤnnen. — Bey einem von dieſen iſt der
Dramaturgiſt ohnſtreitig in die Schule gegan-
gen; und aller Wahrſcheinlichkeit nach bey dem
letztern; denn es iſt doch gemeiniglich ein Fran-
zoſe, der den Auslaͤndern uͤber die Fehler eines
Franzoſen die Augen eroͤffnet. Dieſem ganz
gewiß betet er nach; — oder iſt es nicht dieſem,
wenigſtens dem Welſchen, — wo nicht gar dem
Huronen. Von einem muß er es doch haben.
Denn daß ein Deutſcher ſelbſt daͤchte, von ſelbſt
die Kuͤhnheit haͤtte, an der Vortrefflichkeit eines
Franzoſen zu zweifeln, wer kann ſich das einbilden?
Ich
[256]
Ich rede von dieſen meinen Vorgaͤngern mehr,
bey der naͤchſten Wiederholung der Rodogune.
Meine Leſer wuͤnſchen aus der Stelle zu kom-
men; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein
Wort von der Ueberſetzung, nach welcher dieſes
Stuͤck aufgefuͤhret worden. Es war nicht die
alte Wolfenbuͤttelſche vom Breſſand, ſondern
eine ganz neue, hier verfertigte, die noch unge-
druckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie
darf ſich gegen die beſte von dieſer Art nicht ſchaͤ-
men, und iſt voller ſtarken, gluͤcklichen Stellen.
Der Verfaſſer aber, weiß ich, hat zu viel Ein-
ſicht und Geſchmack, als daß er ſich einer ſo
undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen
wollte. Corneillen gut zu uͤberſetzen, muß man
beſſere Verſe machen koͤnnen, als er ſelbſt.
Ham-
[[257]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und dreyßigſtes Stuͤck.
Den ſechs und dreyßigſten Abend (Freytags,
den 3ten Julius,) ward das Luſtſpiel des
Herrn Favart, Solimann der Zweyte,
ebenfals in Gegenwart Sr. Koͤnigl. Majeſtaͤt
von Daͤnemark, aufgefuͤhret.
Ich mag nicht unterſuchen, wie weit es die
Geſchichte beſtaͤtiget, daß Solimann II. ſich in
eine europaͤiſchen Sklavinn verliebt habe, die
ihn ſo zu feſſeln, ſo nach ihrem Willen zu lenken
gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit ſeines
Reichs, ſich foͤrmlich mit ihr verbinden und ſie
zur Kaiſerinn erklaͤren muͤſſen. Genug, daß Mar-
montel hierauf eine von ſeinen moraliſchen Er-
zehlungen gegruͤndet, in der er aber jene Sklavinn,
die eine Italienerinn ſoll geweſen ſeyn, zu einer
Franzoͤſinn macht; ohne Zweifel, weil er es ganz
unwahrſcheinlich gefunden, daß irgend eine an-
dere Schoͤne, als eine Franzoͤſiſche, einen ſo
K kſelt-
[258] ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten
koͤnnen.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-
zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß
ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen
den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer
Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret,
und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben
waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind;
von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt.
Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche
ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo
anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine
oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch,
weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?
Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-
luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch
nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel
gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch
etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder
geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich
die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt-
lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft:
dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in
der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der
Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma-
gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken;
bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge-
ſun-
[259] ſunden Magen Abſcheu erwecken wuͤrde, auf
faule Eyer, auf Rattenſchwaͤnze und Raupen-
paſteten; die ſchmecken ihm. Die edelſte, be-
ſcheidenſte Schoͤnheit, mit dem ſchmachtendſten
Auge, groß und blau, mit der unſchuldigſten
empfindlichſten Seele, beherrſcht den Sultan, —
bis ſie gewonnen iſt. Eine andere, majeſtaͤti-
ſcher in ihrer Form, blendender von Colorit,
bluͤhende Svada auf ihren Lippen, und in ihrer
Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder
Toͤne, eine wahre Muſe, nur verfuͤhreriſcher,
wird — genoſſen, und vergeſſen. Endlich er-
ſcheinet ein weibliches Ding, fluͤchtig, unbe-
dachtſam, wild, witzig bis zur Unverſchaͤmtheit,
luſtig bis zum Tollen, viel Phyſiognomie wenig
Schoͤnheit, niedlicher als wohlgeſtaltet, Taille
aber keine Figur; dieſes Ding, als es den Sul-
tan erblickt, faͤllt mit der plumpeſten Schmeiche-
ley, wie mit der Thuͤre ins Haus:
ciel, voici une figure humaine!’
— (Eine
Schmeicheley, die nicht blos dieſer Sultan, auch
mancher deutſcher Fuͤrſt, dann und wann etwas
feiner, dann und wann aber auch wohl noch
plumper, zu hoͤren bekommen, und mit der unter
zehnen neune, ſo gut wie der Sultan, vorlieb
genommen, ohne die Beſchimpfung, die ſie wirk-
lich enthaͤlt, zu fuͤhlen.) Und ſo wie dieſes Ein-
gangscompliment, ſo das Uebrige —
Vous
eres beaucoup mieux, qu’il n’appartient
K k 2à
[260]à un Turc: vous avez même quelque
choſe d’un François — En vérité ces Turcs
ſont plaiſans — Je me charge d’apprendre
à vivre à ce Turc — Je ne déſeſpére pas
d’en faire quelque jour un François. —
Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und
ſchilt, es droht und ſpottet, es liebaͤugelt und
mault, bis der Sultau, nicht genug, ihm zu
gefallen, dem Serraglio eine neue Geſtalt gegeben
zu haben, auch Reichsgeſetze abaͤndern, und
Geiſtlichkeit und Poͤbel wieder ſich aufzubringen
Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr
eben ſo gluͤcklich ſeyn will, als ſchon der und
jener, wie ſie ihm ſelbſt bekennet, in ihrem Va-
terlande mit ihr geweſen. Das verlohnte ſich
wohl der Muͤhe!
Marmontel faͤngt ſeine Erzehlung mit der Be-
trachtung an, daß große Staatsveraͤnderungen
oft durch ſehr geringfuͤgige Kleinigkeiten veran-
laßt worden, und laͤßt den Sultan mit der heim-
lichen Frage an ſich ſelbſt ſchlieſſen: wie iſt es
moͤglich, daß eine kleine aufgeſtuͤlpte Naſe die
Geſetze eines Reiches umſtoſſen koͤnnen? Man
ſollte alſo faſt glauben, daß er blos dieſe Be-
merkung, dieſes anſcheinende Mißverhaͤltniß
zwiſchen Urſache und Wirkung, durch ein Exem-
pel erlaͤutern wollen. Doch dieſe Lehre waͤre
unſtreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in
der Vorrede ſelbſt, daß er eine ganz andere und
weit
[261] weit ſpeciellere dabey zur Abſicht gehabt.
〟Ich
nahm mir vor, ſagt er, die Thorheit derjenigen
zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An-
ſehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol-
len; ich waͤhlte alſo zum Beyſpiele einen Sultan
und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der
Herrſchaft und Abhaͤngigkeit.〟
Allein Mar-
montel muß ſicherlich auch dieſen ſeinen Vorſatz
waͤhrend der Ausarbeitung vergeſſen haben; faſt
nichts zielet dahin ab; man ſieht nicht den ge-
ringſten Verſuch einiger Gewaltſamkeit von
Seiten des Sultans; er iſt gleich bey den erſten
Inſolenzen, die ihm die galante Franzoͤſinn ſagt,
der zuruͤckhaltendſte, nachgebendſte, gefaͤlligſte,
folgſamſte, unterthaͤnigſte Mann,
pâte de mari,’
als kaum in Frankreich zu finden
ſeyn wuͤrde. Alſo nur gerade heraus; entweder
es liegt gar keine Moral in dieſer Erzehlung des
Marmontel, oder es iſt die, auf welche ich, oben
bey dem Charakter des Sultans, gewieſen: der
Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchſchwaͤrmt
hat, bleibt endlich auf dem Miſte liegen.
Doch Moral oder keine Moral; dem drama-
tiſchen Dichter iſt es gleich viel, ob ſich aus ſei-
ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt
oder nicht; und alſo war die Erzehlung des Mar-
montel darum nichts mehr und nichts weniger
geſchickt, auf das Theater gebracht zu werden.
Das that Favart, und ſehr gluͤcklich. Ich
K k 3rathe
[262] rathe allen, die unter uns das Theater aus aͤhn-
lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa-
vartſche Ausfuͤhrung mit dem Marmontelſchen
Urſtoffe zuſammen zu halten. Wenn ſie die
Gabe zu abſtrahiren haben, ſo werden ihnen die
geringſten Veraͤnderungen, die dieſer gelitten,
und zum Theil leiden muͤſſen, lehrreich ſeyn,
und ihre Empfindung wird ſie auf manchen
Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation
wohl unentdeckt geblieben waͤre, den noch kein
Kritikus zur Regel generaliſiret hat, ob er es
ſchon verdiente, und der oͤfters mehr Wahrheit,
mehr Leben in ihr Stuͤck bringen wird, als alle
die mechaniſchen Geſetze, mit denen ſich kahle
Kunſtrichter herumſchlagen, und deren Beobach-
tung ſie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein-
zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama
machen moͤchten.
Ich will nur bey einer von dieſen Veraͤnde-
rungen ſtehen bleiben. Aber ich muß vorher
das Urtheil anfuͤhren, welches Franzoſen ſelbſt
uͤber das Stuͤck gefaͤllt haben. (*) Anfangs
aͤußern ſie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels.
ſagen
ſie,
war einer von den groͤßten Fuͤrſten ſeines
Jahrhunderts; die Tuͤrken haben keinen Kaiſer,
deſſen Andenken ihnen theurer waͤre, als dieſes
Solimanns; ſeine Siege, ſeine Talente und
Tu-
[263] Tugenden, machten ihn ſelbſt bey den Feinden
verehrungswuͤrdig, uͤber die er ſiegte: aber
welche kleine, jaͤmmerliche Rolle laͤßt ihn Mar-
montel ſpielen? Roxelane war, nach der Ge-
ſchichte, eine verſchlagene, ehrgeitzige Frau, die,
ihren Stolz zu befriedigen, der kuͤhnſten, ſchwaͤr-
zeſten Streiche faͤhig war, die den Sultan durch
ihre Raͤnke und falſche Zaͤrtlichkeit ſo weit zu
bringen wußte, daß er wider ſein eigenes Blut
wuͤthete, daß er ſeinen Ruhm durch die Hinrich-
tung eines unſchuldigen Sohnes befleckte: und
dieſe Roxelane iſt bey dem Marmontel eine kleine
naͤrriſche Coquette, wie nur immer eine in Paris
herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das
Herz mehr gut als boͤſe. Sind dergleichen Ver-
kleidungen, fragen ſie, wohl erlaubt? Darf
ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch
noch ſo viel Freyheit verſtattet, dieſe Freyheit
wohl bis auf die allerbekannteſten Charaktere er-
ſtrecken? Wenn er Facta nach ſeinem Gutduͤn-
ken veraͤndern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt, und einen Sokrates galant ſchildern?〟
Das heißt einem mit aller Beſcheidenheit zu Leibe
gehen. Ich moͤchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar-
montel nicht uͤbernehmen; ich habe mich vielmehr
ſchon dahin geaͤußert, (*) daß die Charaktere dem Dich-
ter weit heiliger ſeyn muͤſſen, als die Facta. Einmal,
weil, wenn jene genau beobachtet werden, dieſe, inſo-
fern ſie eine Folge von jenen ſind, von ſelbſt nicht viel
anders ausfallen koͤnnen; da hingegen einerley Factum
ſich aus ganz verſchiednen Charakteren herleiten laͤßt.
Zwey-
[264] Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen
Factis, ſondern in der Erkenntniß beſtehet, daß dieſe
Charaktere unter dieſen Umſtaͤnden ſolche Facta her-
vor zu bringen pflegen, und hervor bringen muͤſſen.
Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß
es einmal in dem Serraglio eine europaͤiſche Skla-
vinn gegeben, die ſich zur geſetzmaͤßigen Gemahlinn des
Kaiſers zu machen gewußt: das iſt das Factum. Die
Charaktere dieſer Sklavinn und dieſes Kaiſers beſtim-
men die Art und Weiſe, wie dieſes Factum wirklich ge-
worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha-
rakteren wirklich werden koͤnnen; ſo ſteht es freylich
bey dem Dichter, als Dichter, welche von dieſen Arten
er waͤhlen will; ob die, welche die Hiſtorie beſtaͤtiget,
oder eine andere, ſo wie der moraliſchen Abſicht, die
er mit ſeiner Erzehlung verbindet, das eine oder das
andere gemaͤßer iſt. Nur ſollte er ſich, im Fall daß er
andere Charaktere, als die hiſtoriſchen, oder wohl gar
dieſen voͤllig entgegen geſetzte waͤhlet, auch der hiſtori-
ſchen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten
Perſonen das bekannte Factum beylegen, als bekann-
ten Perſonen nicht zukommende Charaktere andichten.
Jenes vermehret unſere Kenntniß, oder ſcheinet ſie
wenigſtens zu vermehren, und iſt dadurch angenehm.
Dieſes widerſpricht der Kenntniß, die wir bereits ha-
ben, und iſt dadurch unangenehm. Die Facta betrach-
ten wir als etwas zufaͤlliges, als etwas, das mehrern
Perſonen gemein ſeyn kann; die Charaktere hingegen
als etwas weſentliches u. eigenthuͤmliches. Mit jenen
laſſen wir den Dichter umſpringen, wie er will, ſo lange
er ſie nur nicht mit den Charakteren in Widerſpruch
ſetzet; dieſe hingegen darf er wohl ins Licht ſtellen, aber
nicht veraͤndern; die geringſte Veraͤnderung ſcheinet
uns die Individulitaͤt aufzuheben, und andere Perſo-
nen unterzuſchieben, betruͤgeriſche Perſonen, die frem-
de Namen uſurpiren, und ſich fuͤr etwas ausgeben, was
ſie nicht ſind.
Ham-
[[265]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und dreyßigſtes Stuͤck.
Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit
verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen
die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge-
waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten
der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten
des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener
Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte-
hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver-
goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath
ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus
ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor
zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum
aus; (*) was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent-
weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht
wiſſen,
L l
[266] wiſſen, als inſofern es in ſeinen Kram taugt;
es verſtoͤßt alſo, bald aus Sicherheit bald aus
Stolz, bald mit bald ohne Vorſatz, ſo oft, ſo
groͤblich, daß wir andern guten Leute uns nicht
genug daruͤber verwundern koͤnnen; wir ſtehen
und ſtaunen und ſchlagen die Haͤnde zuſammen
und rufen:
〟Aber, wie hat ein ſo großer Mann
nicht wiſſen koͤnnen! — wie iſt es moͤglich, daß
ihm nicht beyfiel! — uͤberlegte er denn nicht?〟
O, laßt uns ja ſchweigen; wir glauben ihn zu de-
muͤthigen, und wir machen uns in ſeinen Augen
laͤcherlich; alles, was wir beſſer wiſſen, als er,
beweiſet blos, daß wir fleißiger zur Schule ge-
gangen, als er; und das hatten wir leider noͤ-
thig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoͤpfe
bleiben wollten.
Marmontels Solimann haͤtte daher meinet-
wegen immer ein ganz anderer Solimann, und
ſeine Roxelane eine ganz andere Roxelane ſeyn
moͤgen, als mich die Geſchichte kennen lehret:
wenn ich nur gefunden haͤtte, daß, ob ſie ſchon
nicht aus dieſer wirklichen Welt ſind, ſie dennoch
zu einer andern Welt gehoͤren koͤnnten; zu einer
Welt, deren Zufaͤlligkeiten in einer andern Ord-
nung verbunden, aber doch eben ſo genau ver-
bunden ſind, als in dieſer; zu einer Welt, in
welcher Urſachen und Wirkungen zwar in einer
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all-
gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz,
zu
[267] zu der Welt eines Genies, das — (es ſey mir
erlaubt, den Schoͤpfer ohne Namen durch ſein
edelſtes Geſchoͤpf zu bezeichnen!) das, ſage ich,
um das hoͤchſte Genie im Kleinen nachzuahmen,
die Theile der gegenwaͤrtigen Welt verſetzet, ver-
tauſcht, verringert, vermehret, um ſich ein ei-
genes Ganze daraus zu machen, mit dem es ſeine
eigene Abſichten verbindet. Doch da ich dieſes
in dem Werke des Marmontels nicht finde, ſo
kann ich es zufrieden ſeyn, daß man ihm auch
jenes nicht fuͤr genoſſen ausgehen laͤßt. Wer
uns nicht ſchadlos halten kann, oder will, muß
uns nicht vorſetzlich beleidigen. Und hier hat
es wirklich Marmontel, es ſey nun nicht gekonnt,
oder nicht gewollt.
Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den
wir uns von dem Genie zu machen haben, ſind
wir berechtiget, in allen Charakteren, die der
Dichter ausbildet, oder ſich ſchaffet, Ueberein-
ſtimmung und Abſicht zu verlangen, wenn er
von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies
betrachtet zu werden.
Uebereinſtimmung: — Nichts muß ſich in den
Charakteren widerſprechen; ſie muͤſſen immer
einfoͤrmig, immer ſich ſelbſt aͤhnlich bleiben; ſie
duͤrfen ſich itzt ſtaͤrker, itzt ſchwaͤcher aͤußern,
nach dem die Umſtaͤnde auf ſie wirken; aber keine
von dieſen Umſtaͤnden muͤſſen maͤchtig genug ſeyn
koͤnnen, ſie von ſchwarz auf weiß zu aͤndern.
L l 2Ein
[268] Ein Tuͤrk und Deſpot muß, auch wenn er ver-
liebt iſt, noch Tuͤrk und Deſpot ſeyn. Dem
Tuͤrken, der nur die ſinnliche Liebe kennt, muͤſ-
ſen keine von den Raffinements beyfallen, die
eine verwoͤhnte Europaͤiſche Einbildungskraft
damit verbindet.
〟Ich bin dieſer liebkoſenden
〟Maſchinen ſatt; ihre weiche Gelehrigkeit hat
〟nichts anzuͤgliches, nichts ſchmeichelhaftes; ich
〟will Schwierigkeiten zu uͤberwinden haben,
〟und wenn ich ſie uͤberwunden habe, durch neue
〟Schwierigkeiten in Athem erhalten ſeyn:〟
ſo
kann ein Koͤnig von Frankreich denken, aber
kein Sultan. Es iſt wahr, wenn man einem
Sultan dieſe Denkungsart einmal giebt, ſo
koͤmmt der Deſpot nicht mehr in Betrachtung;
er entaͤußert ſich ſeines Deſpotismus ſelbſt, um
einer freyern Liebe zu genieſſen; aber wird er
deßwegen auf einmal der zahme Affe ſeyn, den
eine dreiſte Gaucklerinn kann tanzen laſſen, wie
ſie will? Marmontel ſagt: Solimann war ein
zu großer Mann, als daß er die kleinen Angele-
genheiten ſeines Serraglio auf den Fuß wichtiger
Staatsgeſchaͤfte haͤtte treiben ſollen. Sehr
wohl; aber ſo haͤtte er auch am Ende wichtige
Staatsgeſchaͤfte nicht auf den Fuß der kleinen
Angelegenheiten ſeines Serraglio treiben muͤſ-
ſen. Denn zu einem großen Manne gehoͤrt bei-
des: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wich-
tige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln.
Er
[269] Er ſuchte, wie ihn Marmontel ſelbſt ſagen laͤßt,
freye Herzen, die ſich aus bloſſer Liebe zu ſeiner
Perſon die Sklaverey gefallen lieſſen; er haͤtte
ein ſolches Herz an der Elmire gefunden; aber
weiß er, was er will? Die zaͤrtliche Elmire wird
von einer wolluͤſtigen Delia verdrengt, bis ihm
eine Unbeſonnene den Strick uͤber die Hoͤrner
wirft, der er ſich ſelbſt zum Sklaven machen
muß, ehe er die zweydeutige Gunſt genieſſet,
die bisher immer der Tod ſeiner Begierden ge-
weſen. Wird ſie es nicht auch hier ſeyn? Ich
muß lachen uͤber den guten Sultan, und er ver-
diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El-
mire und Delia, nach dem Genuſſe auf einmal
alles verlieren, was ihn vorher entzuͤckte: was
wird denn Roxelane, nach dieſem kritiſchen Au-
genblicke, fuͤr ihn noch behalten? Wird er es,
acht Tage nach ihrer Kroͤnung, noch der Muͤhe
werth halten, ihr dieſes Opfer gebracht zu ha-
ben? Ich fuͤrchte ſehr, daß er ſchon den erſten
Morgen, ſobald er ſich den Schlaf aus den Au-
gen gewiſcht, in ſeiner verehelichten Sultane
weiter nichts ſieht, als ihre zuverſichtliche Frech-
heit und ihre aufgeſtuͤlpte Naſe. Mich duͤnkt,
ich hoͤre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo
habe ich meine Augen gehabt!
Ich leugne nicht, daß bey alle den Widerſpruͤ-
chen, die uns dieſen Solimann ſo armſelig und
veraͤchtlich machen, er nicht wirklich ſeyn koͤnnte?
L l 3Es
[270] Es giebt Menſchen genug, die noch klaͤglichere
Widerſpruͤche in ſich vereinigen. Aber dieſe
koͤnnen auch, eben darum, keine Gegenſtaͤnde
der poetiſchen Nachahmung ſeyn. Sie ſind un-
ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;
es waͤre denn, daß man ihre Widerſpruͤche ſelbſt,
das Laͤcherliche oder die ungluͤcklichen Folgen der-
ſelben, zum Unterrichtenden machte, welches
jedoch Marmontel bey ſeinem Solimann zu thun
offenbar weit entfernt geweſen. Einem Cha-
rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem
fehlet die
Abſicht. — Mit Abſicht handeln iſt das, was
den Menſchen uͤber geringere Geſchoͤpfe erhebt;
mit Abſicht dichten, mit Abſicht nachahmen, iſt
das, was das Genie von den kleinen Kuͤnſtlern
unterſcheidet, die nur dichten um zu dichten, die
nur nachahmen um nachzuahmen, die ſich mit
dem geringen Vergnuͤgen befriedigen, das mit
dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden iſt, die
dieſe Mittel zu ihrer ganzen Abſicht machen, und
verlangen, daß auch wir uns mit dem eben ſo
geringen Vergnuͤgen befriedigen ſollen, welches
aus dem Anſchauen ihres kunſtreichen aber abſicht-
loſen Gebrauches ihrer Mittel entſpringet. Es
iſt wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun-
gen faͤngt das Genie an, zu lernen; es ſind ſeine
Voruͤbungen; auch braucht es ſie in groͤßern
Werken zu Fuͤllungen, zu Ruhepunkten unſerer
waͤr-
[271] waͤrmern Theilnehmung: allein mit der Anlage
und Ausbildung ſeiner Hauptcharaktere verbin-
det es weitere und groͤßere Abſichten; die Abſicht
uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu
laſſen haben; die Abſicht uns mit den eigentli-
chen Merkmahlen des Guten und Boͤſen, des
Anſtaͤndigen und Laͤcherlichen bekannt zu machen;
die Abſicht uns jenes in allen ſeinen Verbindun-
gen und Folgen als ſchoͤn und als gluͤcklich ſelbſt
im Ungluͤcke, dieſes hingegen als haͤßlich und
ungluͤcklich ſelbſt im Gluͤcke, zu zeigen; die Ab-
ſicht, bey Vorwuͤrfen, wo keine unmittelbare
Nacheiferung, keine unmittelbare Abſchreckung
fuͤr uns Statt hat, wenigſtens unſere Begeh-
rungs- und Verabſcheuungskraͤfte mit ſolchen
Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, die es zu ſeyn
verdienen, und dieſe Gegenſtaͤnde jederzeit in ihr
wahres Licht zu ſtellen, damit uns kein falſcher
Tag verfuͤhrt, was wir begehren ſollten zu ver-
abſcheuen, und was wir verabſcheuen ſollten zu
begehren.
Was iſt nun von dieſen allen in dem Charakter des
Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich
ſchon geſagt habe: Nichts. Aber von manchem iſt ge-
rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir
verachten ſollten, wovon uns das eine Eckel und das
andere Unwille eigentlich erregen muͤßte, ein ſtum-
pfer Wolluͤſtling, eine abgefaͤumte Buhlerinn, wer-
den uns mit ſo verfuͤhreriſchen Zuͤgen, mit ſo lachenden
Farben geſchildert, daß es mich nicht wundern ſollte,
wenn mancher Ehemann ſich daraus berechtiget zu ſeyn
glaubte,
[272] glaubte, ſeiner rechtſchaffen und ſo ſchoͤnen als gefaͤlli-
gen Gattinn uͤberdruͤßig zu ſeyn, weil ſie eine Elmire
und keine Roxelane iſt.
Wenn Fehler, die wir adoptiren, unſere eigene Feh-
ler ſind, ſo haben die angefuͤhrten franzoͤſiſchen Kunſt-
richter Recht, daß ſie alle das Tadelhafte des Marmon-
telſchen Stoffes dem Favart mit zur Laſt legen. Dieſer
ſcheinet ihnen ſogar dabey noch mehr geſuͤndiget zu ha-
ben, als jener.
ſagen ſie,
auf
die es vielleicht in einer Erzehlung ſo ſehr nicht an-
koͤmmt, iſt in einem dramatiſchen Stuͤcke unumgaͤng-
lich noͤthig; und dieſe iſt in dem gegenwaͤrtigen auf das
aͤußerſte verletzet. Der große Solimann ſpielet eine
ſehr kleine Rolle, u. es iſt unangenehm, ſo einen Helden
nur immer aus ſo einem Geſichtspunkte zu betrachten.
Der Charakter eines Sultans iſt noch mehr verunſtal-
tet; da iſt auch nicht ein Schatten von der unum-
ſchraͤnkten Gewalt, vor der alles ſich ſchmiegen muß.
Man haͤtte dieſe Gewalt wohl lindern koͤnnen; nur
ganz vertilgen haͤtte man ſie nicht muͤſſen. Der Cha-
rakter der Roxelane hat wegen ſeines Spiels gefallen;
aber wenn die Ueberlegung daruͤber koͤmmt, wie ſieht es
dann mit ihm aus? Iſt ihre Rolle im geringſten wahr-
ſcheinlich? Sie ſpricht mit dem Sultan, wie mit einem
Pariſer Buͤrger; ſie tadelt alle ſeine Gebraͤuche; ſie
widerſpricht in allen ſeinem Geſchmacke, und ſagt ihm
ſehr harte, nicht ſelten ſehr beleidigende Dinge. Viel-
leicht zwar haͤtte ſie das alles ſagen koͤnnen; wenn ſie es
nur mit gemeſſenern Ansdruͤcken geſagt haͤtte. Aber
wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei-
ner jungen Landſtreicherinn ſo hofmeiſtern zu hoͤren?
Er ſoll ſogar die Kunſt zu regieren von ihr lernen. Der
Zug mit dem verſchmaͤhten Schnupftuche iſt hart; und
der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner-
traͤglich.〟
Ham-
[[273]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fuͤnf und dreyßigſtes Stuͤck.
Der letztere Zug, muß man wiſſen, gehoͤrt
dem Favart ganz allein; Marmontel hat
ſich ihn nicht erlaubt. Auch iſt der erſtere
bey dieſem feiner, als bey jenem. Denn beym
Favart giebt Roxelane das Tuch, welches der
Sultan ihr gegeben, weg; ſie ſcheinet es der
Delia lieber zu goͤnnen, als ſich ſelbſt; ſie ſchei-
net es zu verſchmaͤhen: das iſt Beleidigung.
Beym Marmontel hingegen laͤßt ſich Roxelane
das Tuch von dem Sultan geben, und giebt es
der Delia in ſeinem Namen; ſie beuget damit
einer Gunſtbezeigung nur vor, die ſie ſelbſt noch
nicht anzunehmen Willens iſt, und das mit der
uneigennuͤtzigſten, gutherzigſten Mine: der Sul-
tan kann ſich uͤber nichts beſchweren, als daß ſie
ſeine Geſinnungen ſo ſchlecht erraͤth, oder nicht
beſſer errathen will.
M mOhn
[274]
Ohne Zweifel glaubte Favart durch derglei-
chen Ueberladungen das Spiel der Roxelane noch
lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinen-
zen ſahe er einmal gemacht, und eine mehr oder
weniger konnte ihm nichts verſchlagen, beſon-
ders wenn er die Wendung in Gedanken hatte,
die er am Ende mit dieſer Perſon nehmen wollte.
Denn ohngeachtet, daß ſeine Roxelane noch un-
bedachtſamere Streiche macht, noch plumpern
Muthwillen treibet, ſo hat er ſie dennoch zu ei-
nem beſſern und edlern Charaktere zu machen
gewußt, als wir in Marmontels Roxelane er-
kennen. Und wie das? warum das?
Eben auf dieſe Veraͤnderung wollte ich
oben (*) kommen; und mich duͤnkt, ſie iſt ſo
gluͤcklich und vortheilhaft, daß ſie von den Fran-
zoſen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu
werden verdient haͤtte.
Marmontels Roxelane iſt wirklich, was ſie
ſcheinet, ein kleines naͤrriſches, vermeſſenes
Ding, deſſen Gluͤck es iſt, daß der Sultan Ge-
ſchmack an ihm gefunden, und das die Kunſt ver-
ſteht, dieſen Geſchmack durch Hunger immer gie-
riger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedi-
gen, als bis ſie ihren Zwecke erreicht hat. Hin-
ter Favarts Roxelane hingegen ſteckt mehr, ſie
ſcheinet die kecke Buhlerinn mehr geſpielt zu ha-
ben, als zu ſeyn, durch ihre Dreiſtigkeiten den
Sul-
[275] Sultan mehr auf die Probe geſtellt, als ſeine
Schwaͤche gemißbraucht zu haben. Denn kaum
hat ſie den Sultan dahin gebracht, wo ſie ihn
haben will, kaum erkennt ſie, daß ſeine Liebe
ohne Grenzen iſt, als ſie gleichſam die Larve ab-
nimmt, und ihm eine Erklaͤrung thut, die zwar
ein wenig unvorbereitet koͤmmt, aber ein Licht
auf ihre vorige Auffuͤhrung wirft, durch wel-
ches wir ganz mit ihr ausgeſoͤhnet werden.
〟Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine
Seele, bis in ihre geheimſte Triebfedern, er-
forſcht; es iſt eine edle, große Seele, ganz den
Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu-
gend entzuͤckt mich! Aber lerne nun auch, mich
kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß
dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte,
nimm meine Freyheit zuruͤck; ſey mein Sultan,
mein Held, mein Gebiether! Ich wuͤrde dir
ſonſt ſehr eitel, ſehr ungerecht ſcheinen muͤſſen.
Nein, thue nichts, als was dich dein Geſetz zu
thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen
man Achtung ſchuldig iſt. Ich verlange einen
Liebhaber, der meinetwegen nicht erroͤthen darf;
ſieh hier in Roxelanen — nichts, als deine un-
terthaͤnige Sklavinn. (*)〟
So ſagt ſie, und
M m 2uns
[276] uns wird auf einmal ganz anders; die Coquette
verſchwindet, und ein liebes, eben ſo vernuͤnf-
tiges als drolligtes Maͤdchen ſteht vor uns; So-
limann hoͤret auf, uns veraͤchtlich zu ſcheinen,
denn dieſe beſſere Roxelane iſt ſeiner Liebe wuͤr-
dig; wir fangen ſogar in dem Augenblicke an zu
fuͤrchten, er moͤchte die nicht genug lieben, die
er uns zuvor viel zu ſehr zu lieben ſchien, er
moͤchte ſie bey ihrem Worte faſſen, der Liebha-
ber moͤchte den Deſpoten wieder annehmen, ſo-
bald ſich die Liebhaberinn in die Sklavinn
ſchickt, eine kalte Dankſagung, daß ſie ihn noch
zu rechter Zeit von einem ſo bedenklichen Schritte
zuruͤck halten wollen, moͤchte anſtatt einer feu-
rigen Beſtaͤtigung ſeines Entſchluſſes erfolgen,
das gute Kind moͤchte durch ihre Großmuth
wieder auf einmal verlieren, was ſie durch muth-
willige Vermeſſenheiten ſo muͤhſam gewonnen:
doch dieſe Furcht iſt vergebens, und das Stuͤck
ſchließt ſich zu unſerer voͤlligen Zufriedenheit.
Und
[277]
Und nun, was bewog den Favart zu dieſer
Veraͤnderung? Iſt ſie blos willkuͤhrlich, oder
fand er ſich durch die beſondern Regeln der Gat-
tung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden?
Warum gab nicht auch Marmontel ſeiner Er-
zehlung dieſen vergnuͤgendern Ausgang? Iſt das
Gegentheil von dem, was dort eine Schoͤnheit
iſt, hier ein Fehler?
Ich erinnere mich, bereits an einem andern
Orte angemerkt zu haben, welcher Unterſchied
ſich zwiſchen der Handlung der aeſopiſchen Fabel
und des Drama findet. Was von jener gilt,
gilt von jeder moraliſchen Erzehlung, welche die
Abſicht hat, einen allgemeinen moraliſchen Satz
zur Intuition zu bringen. Wir ſind zufrieden,
wenn dieſe Abſicht erreicht wird, und es iſt uns
gleichviel, ob es durch eine vollſtaͤndige Hand-
lung, die fuͤr ſich ein wohlgeruͤndetes Ganze
ausmacht, geſchiehet oder nicht; der Dichter
kann ſie abbrechen, wo er will, ſobald er ſich an
ſeinem Ziele ſieht; wegen des Antheils, den wir
an dem Schickſale der Perſonen nehmen, durch
welche er ſie ausfuͤhren laͤßt, iſt er unbekuͤmmert,
er hat uns nicht intereſſiren, er hat uns unter-
richten wollen; er hat es lediglich mit unſerm
Verſtande, nicht mit unſerm Herzen zu thun,
dieſes mag befriediget werden, oder nicht, wenn
jener nur erleuchtet wird. Das Drama hin-
gegen macht auf eine einzige, beſtimmte, aus
M m 3ſeiner
[278] ſeiner Fabel fließende Lehre, keinen Anſpruch;
es gehet entweder auf die Leidenſchaften, welche
der Verlauf und die Gluͤcksveraͤnderungen ſeiner
Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermoͤ-
gend ſind, oder auf das Vergnuͤgen, welches
eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten
und Charaktere gewaͤhret; und beides erfordert
eine gewiſſe Vollſtaͤndigkeit der Handlung, ein
gewiſſes befriedigendes Ende, welches wir bey
der moraliſchen Erzehlung nicht vermiſſen, weil
alle unſere Aufmerkſamkeit auf den allgemeinen
Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall
derſelben ein ſo einleuchtendes Beyſpiel giebt.
Wenn es alſo wahr iſt, daß Marmontel durch
ſeine Erzehlung lehren wollte, die Liebe laſſe ſich
nicht erzwingen, ſie muͤſſe durch Nachſicht und
Gefaͤlligkeit, nicht durch Anſehen und Gewalt
erhalten werden: ſo hatte er Recht ſo aufzuhoͤ-
ren, wie er aufhoͤrt. Die unbaͤndige Roxe-
lane wird durch nichts als Nachgeben gewon-
nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans
Charakter denken, iſt ihm ganz gleichguͤltig,
moͤgen wir ſie doch immer fuͤr eine Naͤrrinn und
ihn fuͤr nichts beſſers halten. Auch hat er gar
nicht Urſache, uns wegen der Folge zu beruhi-
gen; es mag uns immer noch ſo wahrſcheinlich
ſeyn, daß den Sultan ſeine blinde Gefaͤlligkeit
bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er
wollte uns zeigen, was die Gefaͤlligkeit uͤber das
Frauen-
[279] Frauenzimmer uͤberhaupt vermag; er nahm alſo
eines der wildeſten; unbekuͤmmert, ob es eine
ſolche Gefaͤlligkeit werth ſey, oder nicht.
Allein, als Favart dieſe Erzehlung auf das
Theater bringen wollte, ſo empfand er bald, daß
durch die dramatiſche Form die Intuition des
moraliſchen Satzes groͤßten Theils verlohren
gehe, und daß, wenn ſie auch vollkommen er-
halten werden koͤnne, das daraus erwachſende
Vergnuͤgen doch nicht ſo groß und lebhaft ſey,
daß man dabey ein anderes, welches dem Drama
weſentlicher iſt, entbehren koͤnne. Ich meine
das Vergnuͤgen, welches uns eben ſo rein ge-
dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaͤh-
ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten
dieſer, mehr, als der Widerſpruch, in welchem
wir ihren moraliſchen Werth oder Unwerth mit
der Behandlung des Dichters finden; wenn
wir finden, daß ſich dieſer entweder ſelbſt damit
betrogen hat, oder uns wenigſtens damit betrie-
gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he-
bet, muthwilligen Thorheiten den Anſtrich hei-
terer Weisheit giebt, und Laſter und Ungereimt-
heiten mit allen betriegeriſchen Reitzen der Mode,
des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen
Welt ausſtaffiret. Je mehr unſere erſten Blicke
dadurch geblendet werden, deſto ſtrenger verfaͤhrt
unſere Ueberlegung; das haͤßliche Geſicht, das
wir ſo ſchoͤn geſchminkt ſehen, wird fuͤr noch ein-
mal
[280] mal ſo haͤßlich erklaͤrt, als es wirklich iſt; und
der Dichter hat nur zu waͤhlen, ob er von uns
lieber fuͤr ein Giftmiſcher oder fuͤr einen Bloͤdſin-
nigen will gehalten ſeyn. So waͤre es dem Fa-
vart, ſo waͤre es ſeinen Charakteren des Soli-
manns und der Roxelane ergangen; und das
empfand Favart. Aber da er dieſe Charaktere
nicht von Anfang aͤndern konnte, ohne ſich eine
Menge Theaterſpiele zu verderben, die er ſo voll-
kommen nach dem Geſchmacke ſeines Parterrs zu
ſeyn urtheilte, ſo blieb ihn nichts zu thun uͤbrig,
als was er that. Nun freuen wir uns, uns an
nichts vergnuͤgt zu haben, was wir nicht auch
hochachten koͤnnten; und zugleich befriediget dieſe
Hochachtung unſere Neugierde und Beſorgniß
wegen der Zukunft. Denn da die Illuſion des
Drama weit ſtaͤrker iſt, als einer bloßen Erzeh-
lung, ſo intereſſiren uns auch die Perſonen in
jenem weit mehr, als in dieſer, und wir begnuͤ-
gen uns nicht, ihr Schickſal bloß fuͤr den gegen-
waͤrtigen Augenblick entſchieden zu ſehen, ſon-
dern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden
geſtellet wiſſen.
Ham-
[[281]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und dreyßigſtes Stuͤck.
So unſtreitig wir aber, ohne die gluͤckliche
Wendung, welche Favart am Ende dem
Charakter der Roxelane giebt, ihre dar-
auf folgende Kroͤnung nicht anders als mit Spott
und Verachtung, nicht anders als den laͤcherli-
chen Triumph einer Serva Padrona, wuͤrden
betrachtet haben; ſo gewiß, ohne ſie, der Kaiſer
in unſern Augen nichts als ein klaͤglicher Pim-
pinello, und die neue Kaiſerinn nichts als eine haͤß-
liche, verſchmitzte Serbinette geweſen waͤre, von
der wir voraus geſehen haͤtten, daß ſie nun bald
dem armen Sultan, Pimpinello dem Zweyten,
noch ganz anders mitſpielen werde: ſo leicht und
natuͤrlich duͤnkt uns doch auch dieſe Wendung
ſelbſt; und wir muͤſſen uns wundern, daß ſie,
dem ohngeachtet, ſo manchem Dichter nicht bey-
gefallen, und ſo manche drollige und dem An-
ſehen nach wirklich komiſche Erzehlung, in der
N ndra-
[282] dramatiſchen Form daruͤber verungluͤcken muͤſ-
ſen.
Zum Exempel, die Matrone von Epheſus.
Man kennt dieſes beiſſende Maͤhrchen, und es
iſt unſtreitig die bitterſte Satyre, die jemals
gegen den weiblichen Leichtſinn gemacht worden.
Man hat es dem Petron tauſendmal nach erzehlt;
und da es ſelbſt in der ſchlechteſten Copie noch
immer gefiel, ſo glaubte man, daß es ein eben
ſo gluͤcklicher Stoff auch fuͤr das Theater ſeyn
muͤſſe. Houdar de la Motte, und andere, mach-
ten den Verſuch; aber ich berufe mich auf jedes
feinere Gefuͤhl, wie dieſer Verſuch ausgefallen.
Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh-
lung ein nicht unangenehmes hoͤhniſches Laͤcheln
uͤber die Vermeſſenheit der ehelichen Liebe er-
weckt, wird in dem Drama eckel und graͤßlich.
Wir finden hier die Ueberredungen, deren ſich
der Soldat gegen ſie bedienet, bey weitem nicht
ſo fein und dringend und ſiegend, als wir ſie uns
dort vorſtellen. Dort bilden wir uns ein em-
pfindliches Weibchen ein, dem es mit ſeinem
Schmerze wirklich Ernſt iſt, das aber den Ver-
ſuchungen und ihrem Temperamente unterliegt;
ihre Schwaͤche duͤnkt uns die Schwaͤche des gan-
zen Geſchlechts zu ſeyn; wir faſſen alſo keinen
beſondern Haß gegen ſie; was ſie thut, glauben
wir, wuͤrde ungefehr jede Frau gethan haben;
ſelbſt ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber
ver-
[283] vermittelſt des todten Mannes zu retten, glau-
ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beſon-
nenheit wegen, verzeihen zu muͤſſen; oder viel-
mehr eben das Sinnreiche dieſes Einfalls bringt
uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur
ein bloßer Zuſatz des haͤmiſchen Erzehlers ſey,
der ſein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen
Spitze ſchlieſſen wollen. Aber in dem Drama
findet dieſe Vermuthung nicht Statt; was wir
dort nur hoͤren, daß es geſchehen ſey, ſehen wir
hier wirklich geſchehen; woran wir dort noch
zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unſer ei-
gener Sinn hier zu unwiderſprechlich; bey der
bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche
der That, bey ihrer Wirklichkeit ſehen wir bloß
ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unſern
Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt
unſere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der
Buͤhne den Ruͤcken, und ſagen mit dem Lykas
beym Petron, auch ohne uns in dem beſondern
Falle des Lykas zu befinden:
rator fuiſſet, debuit patrisfamiliæ corpus
in monimentum referre, mulierem ad-
figere cruci.’
Und dieſe Strafe ſcheinet ſie
uns um ſo viel mehr zu verdienen, je weniger
Kunſt der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange-
wendet; denn wir verdammen ſodann in ihr
nicht das ſchwache Weib uͤberhaupt, ſondern
ein vorzuͤglich leichtſinniges, luͤderliches Weibs-
N n 2ſtuͤck
[284] ſtuͤck insbeſondere. — Kurz, die petroniſche Fa-
bel gluͤcklich auf das Theater zu bringen, muͤßte
ſie den nehmlichen Ausgang behalten, und auch
nicht behalten; muͤßte die Matrone ſo weit ge-
hen, und auch nicht ſo weit gehen. — Die Er-
klaͤrung hieruͤber anderwaͤrts!
Den ſieben und dreyßigſten Abend (Sonna-
bends, den 4ten Julius,) wurden Nanine und
der Advokat Patelin wiederholt.
Den acht und dreyßigſten Abend (Dienſtags,
den 7ten Julius,) ward die Merope des Herrn
von Voltaire aufgefuͤhrt.
Voltaire verfertigte dieſes Trauerſpiel auf
Veranlaſſung der Merope des Maffei; ver-
muthlich im Jahr 1737, und vermuthlich zu
Cirey, bey ſeine Urania, der Marquiſe du
Chatelet. Denn ſchon im Jenner 1738 lag die
Handſchrift davon zu Paris bey dem Pater Bru-
moy, der als Jeſuit, und als Verfaſſer des
Theatre des Grecs, am geſchickteſten war,
die beſten Vorurtheile dafuͤr einzufloͤſſen, und
die Erwartung der Hauptſtadt dieſen Vorur-
theilen gemaͤß zu ſtimmen. Brumoy zeigte ſie
den Freunden des Verfaſſers, und unter andern
mußte er ſie auch dem alten Vater Tournemine
ſchicken, der, ſehr geſchmeichelt, von ſeinem lie-
ben Sohne Voltaire uͤber ein Trauerſpiel, uͤber
eine Sache, wovon er eben nicht viel verſtand,
um
[285] um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol-
ler Lobeserhebungen an jenen daruͤber zuruͤck-
ſchrieb, welches nachher, allen unberufenen
Kunſtrichtern zur Lehre und zur Warnung, je-
derzeit dem Stuͤcke ſelbſt vorgedruckt worden.
Es wird darinn fuͤr eines von den vollkommen-
ſten Trauerſpielen, fuͤr ein wahres Muſter er-
klaͤrt, und wir koͤnnen uns nunmehr ganz zu-
frieden geben, daß das Stuͤck des Euripides
gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel-
mehr, dieſes iſt nun nicht laͤnger verlohren, Vol-
taire hat es uns wieder hergeſtellt.
So ſehr hierdurch nun auch Voltaire beru-
higet ſeyn mußte, ſo ſchien er ſich doch mit der
Vorſtellung nicht uͤbereilen zu wollen; welche
erſt im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von ſei-
ner ſtaatsklugen Verzoͤgerung auch alle die
Fruͤchte, die er ſich nur immer davon verſpre-
chen konnte. Merope fand den auſſerordentlich-
ſten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich-
ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein
Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem
das Publikum auch dem großen Corneille ſehr
vorzuͤglich; ſein Stuhl auf dem Theater ward
beſtaͤndig frey gelaſſen, wenn der Zulauf auch
noch ſo groß war, und wenn er kam, ſo ſtand
jedermann auf; eine Diſtinction, deren in Frank-
reich nur die Prinzen vom Gebluͤte gewuͤrdiget
werden. Corneille ward im Theater wie in ſei-
N n 3nem
[286] nem Hauſe angeſehen; und wenn der Hausherr
erſcheinet, was iſt billiger, als daß ihm die Gaͤſte
ihre Hoͤflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie-
derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr
ward begierig den Mann von Angeſicht zu ken-
nen, den es ſo ſehr bewundert hatte; wie die
Vorſtellung alſo zu Ende war, verlangte es ihn
zu ſehen, und rufte, und ſchrie und lermte, bis
der Herr von Voltaire heraustreten, und ſich
begaffen und beklatſchen laſſen mußte. Ich
weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr
befremdet haͤtte, ob die kindiſche Neugierde des
Publikums, oder die eitele Gefaͤlligkeit des
Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich-
ter ausſieht? Nicht wie andere Menſchen? Und
wie ſchwach muß der Eindruck ſeyn, den das
Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au-
genblicke auf nichts begieriger iſt, als die Figur
des Meiſters dagegen zu halten? Das wahre
Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤllet uns ſo ganz
mit ſich ſelbſt, daß wir des Urhebers daruͤber
vergeſſen; daß wir es nicht als das Produkt
eines einzeln Weſens, ſondern der allgemei-
nen Natur betrachten. Young ſagt von der
Sonne, es waͤre Suͤnde in den Heiden geweſen,
ſie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieſer Hy-
perbel liegt, ſo iſt es dieſer: der Glanz, die
Herrlichkeit der Sonne iſt ſo groß, ſo uͤber-
ſchwenglich, daß es dem rohern Menſchen zu
ver-
[287] verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er
ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz
ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der
Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer
der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die
wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi-
ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden
des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner
Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen
an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an
ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol-
len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung
dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul-
meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett-
ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen
Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt-
ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell-
ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem
Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns
hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr
ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber
deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo
neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig
ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann
von Genie das Verlangen des Publikums, ihn
von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was
hat er dabey auch wirklich vor dem erſten dem
beſten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbel
geſe-
[288] geſehen zu haben, eben ſo begierig iſt?) ſo wohl
ſcheinet ſich doch die Eitelkeit der franzoͤſiſchen
Dichter dabey befunden zu haben. Denn da
das Pariſer Parterr ſahe, wie leicht ein Vol-
taire in dieſe Falle zu locken ſey, wie zahm und
geſchmeidig ſo ein Mann durch zweydeutige Ca-
reſſen werden koͤnne: ſo machte es ſich dieſes
Vergnuͤgen oͤftrer, und ſelten ward nachher ein
neues Stuͤck aufgefuͤhrt, deſſen Verfaſſer nicht
gleichfalls hervor mußte, und auch ganz gern
hervor kam. Von Voltairen bis zum Marmon-
tel, und vom Marmontel bis tief herab zum Cor-
dier, haben faſt alle an dieſem Pranger geſtan-
den. Wie manches Armeſuͤndergeſichte muß
darunter geweſen ſeyn! Der Poſſe gieng endlich
ſo weit, daß ſich die Ernſthaftern von der Nation
ſelbſt daruͤber aͤrgerten. Der ſinnreiche Einfall
des weiſen Polichinell iſt bekannt. Und nur erſt
ganz neulich war ein junger Dichter kuͤhn genug,
das Parterr vergebens nach ſich rufen zu laſſen.
Er erſchien durchaus nicht; ſein Stuͤck war mit-
telmaͤßig, aber dieſes ſein Betragen deſto braver
und ruͤhmlicher. Ich wollte durch mein Bey-
ſpiel einen ſolchen Uebelſtand lieber abgeſchaft,
als durch zehn Meropen ihn veranlaßt haben.
Ham-
[[289]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und dreyßigſtes Stuͤck.
Ich habe geſagt, daß Voltairens Merope
durch die Merope des Maffei veranlaſſet
worden. Aber veranlaſſet, ſagt wohl zu
wenig: denn jene iſt ganz aus dieſer entſtanden;
Fabel und Plan und Sitten gehoͤren dem Maffei;
Voltaire wuͤrde ohne ihn gar keine, oder doch
ſicherlich eine ganz andere Merope geſchrieben
haben.
Alſo, um die Copie des Franzoſen richtig zu
beurtheilen, muͤſſen wir zuvoͤrderſt das Original
des Italieners kennen lernen; und um das poeti-
ſche Verdienſt des letztern gehoͤrig zu ſchaͤtzen,
muͤſſen wir vor allen Dingen einen Blick auf die
hiſtoriſchen Facta werfen, auf die er ſeine Fabel
gegruͤndet hat.
Maffei ſelbſt faſſet dieſe Facta, in der Zueig-
nungsſchrift ſeines Stuͤckes, folgender Geſtalt
zuſammen.
〟Daß, einige Zeit nach der Erobe-
O orung
[290] rung von Troja, als die Herakliden, d. i. die
Nachkommen des Herkules, ſich in Peloponne-
ſus wieder feſtgeſetzet, dem Kreſphont das Meſ-
ſeniſche Gebiete durch das Loos zugefallen; daß
die Gemahlinn dieſes Kreſphonts Merope ge-
heiſſen; daß Kreſphont, weil er dem Volke ſich
allzu guͤnſtig erwieſen, von den Maͤchtigern des
Staats, mit ſammt ſeinen Soͤhnen umgebracht
worden, den juͤngſten ausgenommen, welcher
auswaͤrts bey einem Anverwandten ſeiner Mut-
ter erzogen ward; daß dieſer juͤngſte Sohn, Na-
mens Aepytus, als er erwachſen, durch Huͤlfe
der Arkader und Dorier, ſich des vaͤterlichen
Reiches wieder bemaͤchtiget, und den Tod ſeines
Vaters an deſſen Moͤrdern geraͤchet habe: dieſes
erzehlet Pauſanias. Daß, nachdem Kreſphont
mit ſeinen zwey Soͤhnen umgebracht worden,
Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Ge-
ſchlechte der Herakliden war, die Regierung an
ſich geriſſen; daß dieſer die Merope gezwungen,
ſeine Gemahlinn zu werden; daß der dritte
Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen
laſſen, den Tyrannen nachher umgebracht und
das Reich wieder erobert habe: dieſes berichtet
Apollodorus. Daß Merope ſelbſt den gefluͤch-
teten Sohn unbekannter Weiſe toͤdten wollen;
daß ſie aber noch in dem Augenblicke von einem
alten Diener daran verhindert worden, welcher
ihr entdeckt, daß der, den ſie fuͤr den Moͤrder
ihres
[291] ihres Sohnes halte, ihr Sohn ſelbſt ſey; daß
der nun erkannte Sohn bey einem Opfer Gele-
genheit gefunden, den Polyphont hinzurichten:
dieſes meldet Hyginus, bey dem Aepytus aber
den Namen Telephontes fuͤhret.〟
Es waͤre zu verwundern, wenn eine ſolche
Geſchichte, die ſo beſondere Gluͤckswechſel und
Erkennungen hat, nicht ſchon von den alten Tra-
gicis waͤre genutzt worden. Und was ſollte ſie
nicht? Ariſtoteles, in ſeiner Dichtkunſt, gedenkt
eines Kreſphontes, in welchem Merope ihren
Sohn erkenne, eben da ſie im Begriffe ſey, ihn
als den vermeinten Moͤrder ihres Sohnes umzu-
bringen; und Plutarch, in ſeiner zweyten Ab-
handlung vom Fleiſcheſſen, zielet ohne Zweifel
auf eben dieſes Stuͤck, (*) wenn er ſich auf die
Bewegung beruft, in welcher das ganze Theater
gerathe, indem Merope die Axt gegen ihren
Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden
Zuſchauer befalle, daß der Streich geſchehen
werde, ehe der alte Diener dazu kommen koͤnne.
O o 2Ariſto-
[292] Ariſtoteles erwaͤhnet dieſes Kreſphonts zwar
ohne Namen des Verfaſſers; da wir aber, bey
dem Cicero und mehrern Alten, einen Kreſphont
des Euripides angezogen finden, ſo wird er wohl
kein anderes, als das Werk dieſes Dichters ge-
meinet haben.
Der Pater Tournemine ſagt in dem obge-
dachten Briefe:
〟Ariſtoteles, dieſer weiſe Ge-
〟ſetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Me-
〟rope in die erſte Klaſſe der tragiſchen Fabeln
〟geſetzt (a mis ce ſujet au premier rang
〟des ſujets tragiques.) Euripides hatte ſie
〟behandelt, und Ariſtoteles meldet, daß, ſo oft
〟der Kreſphont des Euripides auf dem Theater
〟des witzigen Athens vorgeſtellet worden, die-
〟ſes an tragiſche Meiſterſtuͤcke ſo gewoͤhnte
〟Volk ganz auſſerordentlich ſey betroffen, ge-
〟ruͤhrt und entzuͤckt worden.〟
— Huͤbſche Phra-
ſes, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret
ſich in beiden Punkten. Bey dem letztern hat
er den Ariſtoteles mit dem Plutarch vermengt,
und bey dem erſtern den Ariſtoteles nicht recht
verſtanden. Jenes iſt eine Kleinigkeit, aber
uͤber dieſes verlohnet es der Muͤhe, ein Paar
Worte zu ſagen, weil mehrere den Ariſtoteles
eben ſo unrecht verſtanden haben.
Die Sache verhaͤlt ſich, wie folget. Ari-
ſtoteles unterſucht, in dem vierzehnten Kapitel
ſeiner Dichtkunſt, durch was eigentlich fuͤr Be-
geben-
[293] gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer-
de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent-
weder unter Freunden, oder unter Feinden,
oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen.
Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt
weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der
That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all-
gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz-
lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden
iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per-
ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben-
heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru-
der muß den Bruder, ein Sohn den Vater,
eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter
toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine
empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan-
deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit,
oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen;
und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht
vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier
Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich-
ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre-
chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich,
mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche
ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber
nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie
wiſſentlich unternommen, und wirklich vollzogen
wird. Die dritte: wenn die That unwiſſend,
ohne Kenntniß des Gegenſtandes, unternom-
O o 3men
[294] men und vollzogen wird, und der Thaͤter die
Perſon, an der er ſie vollzogen, zu ſpaͤt kennen
lernet. Die vierte: wenn die unwiſſend unter-
nommene That nicht zur Vollziehung gelangt,
indem die darein verwickelten Perſonen einander
noch zur rechten Zeit erkennen. Von dieſen vier
Klaſſen giebt Ariſtoteles der letztern den Vor-
zug; und da er die Handlung der Merope, in
dem Kreſphont, davon zum Beyſpiele anfuͤhret:
ſo haben Tournemine, und andere, dieſes ſo
angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieſes
Trauerſpiels uͤberhaupt von der vollkommenſten
Gattung tragiſcher Fabeln zu ſeyn erklaͤre.
Indeß ſagt doch Ariſtoteles kurz zuvor, daß
eine gute tragiſche Fabel ſich nicht gluͤcklich, ſon-
dern ungluͤcklich enden muͤſſe. Wie kann dieſes
beides bey einander beſtehen? Sie ſoll ſich un-
gluͤcklich enden, und gleichwohl laͤuft die Bege-
benheit, welche er nach jener Klaſſification allen
andern tragiſchen Begebenheiten vorziehet, gluͤck-
lich ab. Widerſpricht ſich nicht alſo der große
Kunſtrichter offenbar?
Victorins, ſagt Dacier, ſey der einzige, welcher
dieſe Schwierigkeit geſehen; aber da er nicht ver-
ſtanden, was Ariſtoteles eigentlich in dem ganzen
vierzehnten Kapitel gewollt: ſo habe er auch nicht
einmal den geringſten Verſuch gewagt, ſie zu heben.
Ariſtoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von
der Fabel uͤberhaupt, ſondern wolle nur lehren, auf
wie mancherley Art der Dichter tragiſche Begeben-
heiten
[295] heiten behandeln koͤnne, ohne das Weſentliche, was
die Geſchichte davon meldet, zu veraͤndern, und
welche von dieſen Arten die beſte ſey. Wenn z. E.
die Ermordung der Klytemneſtra durch den Oreſt, der
Inhalt des Stuͤckes ſeyn ſollte, ſo zeige ſich, nach
dem Ariſtoteles, ein vierfacher Plan, dieſen Stoff
zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben-
heit der erſtern, oder der zweyten, oder der dritten,
oder der vierten Klaſſe; der Dichter muͤſſe nun uͤber-
legen, welcher hier der ſchicklichſte und beſte ſey.
Dieſe Ermordung als eine Begebenheit der erſtern
Klaſſe zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil
ſie nach der Hiſtorie wirklich geſchehen muͤſſe, und
durch den Oreſt geſchehen muͤſſe. Nach der zwey-
ten, darum nicht: weil ſie zu graͤßlich ſey. Nach
der vierten, darum nicht: weil Klytemneſtra dadurch
abermals gerettet wuͤrde, die doch durchaus nicht
gerettet werden ſolle. Folglich bleibe ihm nichts, als
die dritte Klaſſe uͤbrig.
Die dritte! Aber Ariſtoteles giebt ja der vierten
den Vorzug; und nicht blos in einzeln Faͤllen, nach
Maasgebung der Umſtaͤnde, ſondern uͤberhaupt.
Der ehrliche Dacier macht es oͤftrer ſo: Ariſtoteles
behaͤlt bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, ſon-
dern weil er Ariſtoteles iſt. Indem er auf der einen
Seite eine Bloͤße von ihm zu decken glaubt, macht
er ihm auf einer andern eine eben ſo ſchlimme. Wenn
nun der Gegner die Beſonnenheit hat, anſtatt nach
jener, in dieſe zu ſtoſſen: ſo iſt es ja doch um die
Untruͤglichkeit ſeines Alten geſchehen, an der ihm,
im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit ſelbſt
zu liegen ſcheinet. Wenn ſo viel auf die Ueberein-
ſtimmung der Geſchichte ankoͤmmt, wenn der Dich-
ter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern,
aber nie gaͤnzlich veraͤndern darf: wird es unter die-
ſen
[296] ſen nicht auch ſolche geben, die durchaus nach dem
erſten oder zweyten Plane behandelt werden muͤſ-
ſen? Die Ermordung der Klytemneſtra muͤßte ei-
gentlich nach dem zweyten vorgeſtellet werden; denn
Oreſtes hat ſie wiſſentlich und vorſetzlich vollzogen:
der Dichter aber kann den dritten waͤhlen, weil die-
ſer tragiſcher iſt, und der Geſchichte doch nicht ge-
radezu widerſpricht. Gut, es ſey ſo: aber z. E.
Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan
kann hier der Dichter anders einſchlagen, als den
zweyten? Denn ſie muß ſie umbringen, und ſie muß
ſie wiſſentlich umbringen; beides iſt aus der Ge-
ſchichte gleich allgemein bekannt. Was fuͤr eine
Rangordnung kann alſo unter dieſen Planen Statt
finden? Der in einem Falle der vorzuͤglichſte iſt,
koͤmmt in einem andern gar nicht in Betrachtung.
Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: ſo
mache man die Anwendung, nicht auf hiſtoriſche,
ſondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Geſetzt,
die Ermordung der Klytemneſtra waͤre von dieſer
letztern Art, und es haͤtte den Dichter frey geſtan-
den, ſie vollziehen oder nicht vollziehen zu laſſen,
ſie mit oder ohne voͤllige Kenntniß vollziehen zu laſ-
ſen. Welchen Plan haͤtte er dann waͤhlen muͤſſen,
um eine ſo viel als moͤglich vollkommene Tragoͤdie
daraus zu machen? Dacier ſagt ſelbſt: den vierten;
denn wenn er ihm den dritten vorziehe, ſo geſchaͤhe
es blos aus Achtung gegen die Geſchichte. Den
vierten alſo? Den alſo, welcher ſich gluͤcklich ſchließt?
Aber die beſten Tragoͤdien, ſagt eben der Ariſtote-
les, der dieſem vierten Plane den Vorzug vor
allen ertheilet, ſind ja die, welche ſich ungluͤcklich
ſchlieſſen? Und das iſt ja eben der Widerſpruch, den
Dacier heben wollte. Hat er ihn denn alſo gehoben?
Beſtaͤtiget hat er ihn vielmehr.
Ham-
[[297]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und dreyßigſtes Stuͤck.
Ich bin es auch nicht allein, dem die Ausle-
gung des Dacier keine Genuͤge leiſtet.
Unſern deutſchen Ueberſetzer der Ariſtote-
liſchen Dichtkunſt, (*) hat ſie eben ſo wenig be-
friediget. Er traͤgt ſeine Gruͤnde dagegen vor,
die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier
beſtreiten, aber ihn doch ſonſt erheblich genug
duͤnken, um ſeinen Autor lieber gaͤnzlich im
Stiche zu laſſen, als einen neuen Verſuch zu
wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten
ſey.
ſchließt er,
einer tiefern
〟Einſicht, dieſe Schwierigkeiten zu heben; ich
〟kann kein Licht zu ihrer Erklaͤrung finden, und
〟ſcheinet mir wahrſcheinlich, daß unſer Philo-
〟ſoph dieſes Kapitel nicht mit ſeiner gewoͤhnli-
〟chen Vorſicht durchgedacht habe.〟
Ich
P p
[298]
Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr-
ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider-
ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht
ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem
Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere
Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver-
ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit,
ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht
eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus
dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er-
ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche
verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn
dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider-
ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen
muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei-
nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer,
der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge-
wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir
ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter-
richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo
ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken
zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir
immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge-
irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte,
wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge-
gentheil behauptet, das kann Ariſtoteles nicht.
Endlich findet ſichs auch.
Doch ohne weitere Umſtaͤnde; hier iſt die Er-
klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. —
Auf
[299] Auf die Ehrr einer tiefern Einſicht mache ich des-
falls keinen Anſpruch. Ich will mich mit der
Ehre einer groͤßern Beſcheidenheit gegen einen
Philoſophen, wie Ariſtoteles, begnuͤgen.
Nichts empfiehlt Ariſtoteles dem tragiſchen
Dichter mehr, als die gute Abfaſſung der Fabel;
und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere
Bemerkungen zu erleichtern geſucht, als eben
dieſe. Denn die Fabel iſt es, die den Dichter
vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Ge-
ſinnungen und Ausdruck werden zehnen gera-
then, gegen einen, der in jener untadelhaft und
vortrefflich iſt. Er erklaͤrt aber die Fabel durch
die Nachahmung einer Handlung, πϱαξεως und
eine Handlung iſt ihm eine Verknuͤpfung von
Begebenheiten, συνϑεσις πραγματων. Die
Handlung iſt das Ganze, die Begebenheiten
ſind die Theile dieſes Ganzen: und ſo wie die
Guͤte eines jeden Ganzen, auf der Guͤte ſeiner
einzeln Theile und deren Verbindung beruhet,
ſo iſt auch die tragiſche Handlung mehr oder we-
niger vollkommen, nach dem die Begebenheiten,
aus welchen ſie beſtehet, jede fuͤr ſich und alle
zuſammen, den Abſichten der Tragoͤdie mehr
oder weniger entſprechen. Nun bringt Ariſto-
teles alle Begebenheiten, welche in der tragi-
ſchen Handlung Statt haben koͤnnen, unter drey
Hauptſtuͤcke: des Gluͤckswechſels, πεϱιπετειας
der Erkennung, ἀναγνωϱισου; und des Lei-
P p 2dens,
[300] dens, παϑους. Was er unter den beiden erſtern
verſteht, zeigen die Worte genugſam; unter
dem dritten aber faßt er alles zuſammen, was
den handelnden Perſonen verderbliches und
ſchmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun-
den, Martern und dergleichen. Jene, der
Gluͤckswechſel und die Erkennung, ſind das,
wodurch ſich die verwickelte Fabel, μυϑος πε-
πλεγμενος, von der einfachen, ἁπλω, unter-
ſcheidet; ſie ſind alſo keine weſentliche Stuͤcke
der Fabel; ſie machen die Handlung nur man-
nichfaltiger, und dadurch ſchoͤner und intereſ-
ſanter; aber eine Handlung kann auch ohne ſie
ihre voͤllige Einheit und Rundung und Groͤße
haben. Ohne das dritte hingegen laͤßt ſich gar
keine tragiſche Handlung denken; Arten des Lei-
dens, παϑη, muß jedes Trauerſpiel haben, die
Fabel deſſelben mag einfach oder verwickelt ſeyn;
denn ſie gehen geradezu auf die Abſicht des
Trauerſpiels, auf die Erregung des Schreckens
und Mitleids; dahingegen nicht jeder Gluͤcks-
wechſel, nicht jede Erkennung, ſondern nur ge-
wiſſe Arten derſelben dieſe Abſicht erreichen, ſie
in einem hoͤhern Grade erreichen helfen, andere
aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft ſind.
Indem nun Ariſtoteles, aus dieſem Geſichts-
punkte, die verſchiednen unter drey Hauptſtuͤcke
gebrachten Theile der tragiſchen Handlung, jeden
insbeſondere betrachtet, und unterſuchet, wel-
ches
[301] ches der beſte Gluͤckswechſel, welches die beſte
Erkennung, welches die beſte Behandlung des
Leidens ſey: ſo findet ſich in Anſehung des er-
ſtern, daß derjenige Gluͤckswechſel der beſte,
das iſt, der faͤhigſte, Schrecken und Mitleid
zu erwecken und zu befoͤrdern, ſey, welcher aus
dem Beſſern in das Schlimmere geſchieht; und
in Anſehung der letztern, daß diejenige Behand-
lung des Leidens die beſte in dem nehmlichen Ver-
ſtande ſey, wenn die Perſonen, unter welchen
das Leiden bevorſtehet, einander nicht kennen,
aber in eben dem Augenblicke, da dieſes Leiden
zur Wirklichkeit gelangen ſoll, einander kennen
lernen, ſo daß es dadurch unterbleibt.
Und dieſes ſoll ſich widerſprechen? Ich ver-
ſtehe nicht, wo man die Gedanken haben muß,
wenn man hier den geringſten Widerſpruch fin-
det. Der Philoſoph redet von verſchiedenen
Theilen: warum ſoll denn das, was er von die-
ſem Theile behauptet, auch von jenem gelten
muͤſſen? Iſt denn die moͤglichſte Vollkommen-
heit des einen, nothwendig auch die Vollkom-
menheit des andern? Oder iſt die Vollkommen-
heit eines Theils auch die Vollkommenheit des
Ganzen? Wenn der Gluͤckswechſel und das,
was Ariſtoteles unter dem Worte Leiden be-
greift, zwey verſchiedene Dinge ſind, wie ſie es
ſind, warum ſoll ſich nicht ganz etwas Verſchie-
denes von ihnen ſagen laſſen? Oder iſt es unmoͤg-
P p 3lich,
[302] lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen geſetz-
ten Eigenſchaften haben kann? Wo ſagt Ariſto-
teles, daß die beſte Tragoͤdie nichts als die Vor-
ſtellung einer Veraͤnderung des Gluͤckes in Un-
gluͤck ſey? Oder, wo ſagt er, daß die beſte Tra-
goͤdie auf nichts, als auf die Erkennung deſſen,
hinauslaufen muͤſſe, an dem eine grauſam wider-
natuͤrliche That veruͤbet werden ſollen? Er ſagt
weder das eine noch das andere von der Tragoͤdie
uͤberhaupt, ſondern jedes von einem beſondern
Theile derſelben, welcher dem Ende mehr oder
weniger nahe liegen, welcher auf den andern
mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar
keinen, haben kann. Der Gluͤckswechſel kann
ſich mitten in dem Stuͤcke eraͤugnen, und wenn
er ſchon bis an das Ende fortdauert, ſo macht er
doch nicht ſelbſt das Ende: ſo iſt z. E. der Gluͤcks-
wechſel im Oedip, der ſich bereits zum Schluſſe
des vierten Akts aͤußert, zu dem aber noch man-
cherley Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen
ſich eigentlich das Stuͤck ſchlieſſet. Gleichfalls
kann das Leiden mitten in dem Stuͤcke zur Voll-
ziehung gelangen ſollen, und in dem nehmlichen
Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben
werden, ſo daß durch dieſe Erkennung das Stuͤck
nichts weniger als geendet iſt; wie in der zwey-
ten Iphigenia des Euripides, wo Oreſtes, auch
ſchon in dem vierten Akte, von ſeiner Schweſter,
die ihn auſzuopfern im Begriffe iſt, erkannt
wird.
[303] wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ-
giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be-
handlung des Leidens ſich in einer und eben der-
ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der
Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber
was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha-
ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem
ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch
ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den
Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder
dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte?
Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo-
wohl mit dem Untergange der Mutter, als des
Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem
Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit-
leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das
hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit
ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum
ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den
er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen,
gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen
unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me-
rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden
Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden,
die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend
findet?
Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver-
anlaſſet haben kann. Man hat ſich einen Gluͤcks-
wechſel aus dem Beſſern in das Schlimmere nicht
ohne
[304] ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin-
derte Leiden nicht ohne Gluͤckswechſel denken koͤn-
nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das
andere ſeyn; nicht zu erwaͤhnen, daß auch nicht bei-
des eben die nehmliche Perſon treffen muß, und
wenn es die nehmliche Perſon trift, daß eben nicht
beides ſich zu der nehmlichen Zeit eraͤugnen darf,
ſondern eines auf das andere folgen, eines durch das
andere verurſachet werden kann. Ohne dieſes zu
uͤberlegen, hat man nur an ſolche Faͤlle und Fabeln
gedacht, in welchen beide Theile entweder zuſammen
flieſſen, oder der eine den andern nothwendig aus-
ſchließt. Daß es dergleichen giebt, iſt unſtreitig.
Aber iſt der Kunſtrichter deswegen zu tadeln, der
ſeine Regeln in der moͤglichſten Allgemeinheit ab-
faßt, ohne ſich um die Faͤlle zu bekuͤmmern, in wel-
chen ſeine allgemeinen Regeln in Colliſion kommen,
und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert
werden muß? Setzet ihn eine ſolche Colliſion mit
ſich ſelbſt in Widerſpruch? Er ſagt: dieſer Theil der
Fabel, wenn er ſeine Vollkommenheit haben ſoll,
muß von dieſer Beſchaffenheit ſeyn; jener von einer
andern, und ein dritter wiederum von einer andern.
Aber wo hat er geſagt, daß jede Fabel dieſe Theile
alle nothwendig haben muͤſſe? Genug fuͤr ihn, daß
es Fabeln giebt, die ſie alle haben koͤnnen. Wenn
eure Fabel aus der Zahl dieſer gluͤcklichen nicht iſt;
wenn ſie euch nur den beſten Gluͤckswechſel, oder
nur die beſte Behandlung des Leidens erlaubt: ſo
unterſuchet, bey welchem von beiden ihr am beſten
uͤberhaupt fahren wuͤrdet, und waͤhlet. Das iſt es
alles!
Ham-
[[305]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und dreyßigſtes Stuͤck.
Am Ende zwar mag ſich Ariſtoteles wider-
ſprochen, oder nicht widerſprochen haben;
Tournemine mag ihn recht verſtanden,
oder nicht recht verſtanden haben: die Fabel der
Merope iſt weder in dem einen, noch in dem an-
dern Falle, ſo ſchlechterdings fuͤr eine vollkom-
mene tragiſche Fabel zu erkennen. Denn hat
ſich Ariſtoteles widerſprochen, ſo behauptet er
eben ſowohl gerade das Gegentheil von ihr, und
es muß erſt unterſucht werden, wo er das groͤſ-
ſere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er ſich
aber, nach meiner Erklaͤrung, nicht widerſpro-
chen, ſo gilt das Gute, was er davon ſagt,
nicht von der ganzen Fabel, ſondern nur von ei-
nem einzeln Theile derſelben. Vielleicht war
der Mißbrauch ſeines Anſehens bey dem Pater
Tournemine auch nur ein bloßer Jeſuiterkniff,
um uns mit guter Art zu verſtehen zu geben, daß
Q qeine
[306] eine ſo vollkommene Fabel von einem ſo großen
Dichter, als Voltaire, bearbeitet, nothwendig
ein Meiſterſtuͤck werden muͤſſen.
Doch Tournemine und Tournemine — Ich
fuͤrchte, meine Leſer werden fragen: 〟Wer iſt
〟denn dieſer Tournemine? Wir kennen keinen
〟Tournemine.〟 Denn viele duͤrften ihn wirk-
lich nicht kennen; und manche duͤrften ſo fragen,
weil ſie ihn gar zu gut kennen; wie Montes-
quieu. (*)
Sie belieben alſo, anſtatt des Pater Tourne-
mine, den Herrn von Voltaire ſelbſt zu ſubſti-
tuiren. Denn auch er ſucht uns, von dem ver-
lohrnen Stuͤcke des Euripides, die nehmlichen
irrigen Begriffe zu machen. Auch er ſagt, daß
Ariſtoteles in ſeiner unſterblichen Dichtkunſt
nicht anſtehe, zu behaupten, daß die Erkennung
der Merope und ihres Sohnes der intereſſanteſte
Augenblick der ganzen griechiſchen Buͤhne ſey.
Auch er ſagt, daß Ariſtoteles dieſem Coup de
Théatre den Vorzug vor allen andern ertheile.
Und vom Plutarch verſichert er uns gar, daß er
dieſes Stuͤck des Euripides fuͤr das ruͤhrendſte
von allen Stuͤcken deſſelben gehalten habe. (**)
Die-
[307] Dieſes letztere iſt nun gaͤnzlich aus der Luft ge-
griffen. Denn Plutarch macht von dem Stuͤcke,
aus welchem er die Situation der Merope an-
fuͤhrt, nicht einmal den Titel namhaft; er ſagt
weder wie es heißt, noch wer der Verfaſſer deſ-
ſelben ſey; geſchweige, daß er es fuͤr das ruͤh-
rendſte von allen Stuͤcken des Euripides erklaͤre.
Ariſtoteles ſoll nicht anſtehen, zu behaupten,
daß die Erkennung der Merope und ihres Soh-
nes der intereſſanteſte Augenblick der ganzen
griechiſchen Buͤhne ſey! Welche Ausdruͤcke:
nicht anſtehen, zu behaupten! Welche Hyper-
bel: der intereſſanteſte Augenblick, der ganzen
griechiſchen Buͤhne! Sollte man hieraus nicht
ſchlieſſen: Ariſtoteles gehe mit Fleiß alle intereſ-
ſante Augenblicke, welche ein Trauerſpiel haben
koͤnne, durch, vergleiche einen mit dem andern,
wiege die verſchiedenen Beyſpiele, die er von
jedem insbeſondere bey allen, oder wenigſtens
den vornehmſten Dichtern gefunden, unter ein-
Q q 2an-
(**)
[308] ander ab, und thue endlich ſo dreiſt als ſicher
den Ausſpruch fuͤr dieſen Augenblick bey dem
Euripides. Gleichwohl iſt es nur eine einzelne
Art von intereſſanten Augenblicken, wovon er
ihn zum Beyſpiele anfuͤhret; gleichwohl iſt er
nicht einmal das einzige Beyſpiel von dieſer Art.
Denn Ariſtoteles fand aͤhnliche Beyſpiele in der
Iphigenia, wo die Schweſter den Bruder, und
in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet,
eben da die erſtern im Begriffe ſind, ſich gegen
die andern zu vergehen.
Das zweyte Beyſpiel von der Iphigenia iſt
wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie
Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die-
ſes Dichtees geweſen: ſo waͤre es doch ſonder-
bar, daß Ariſtoteles alle drey Beyſpiele von ei-
ner ſolchen gluͤcklichen Erkennung gerade bey
demjenigen Dichter gefunden haͤtte, der ſich der
ungluͤcklichen Peripetie am meiſten bediente.
Warum zwar ſonderbar? Wir haben ja geſehen,
daß die eine die andere nicht ausſchließt; und
obſchon in der Iphigenia die gluͤckliche Erken-
nung auf die ungluͤckliche Peripetie folgt, und
das Stuͤck uͤberhaupt alſo gluͤcklich ſich endet:
wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un-
gluͤckliche Peripetie auf die gluͤckliche Erkennung
folgte, und ſie alſo voͤllig in der Manier ſchloſ-
ſen, durch die ſich Euripides den Charakter des
tragiſchſten von allen tragiſchen Dichtern ver-
diente?
Mit
[309]
Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf
eine doppelte Art moͤglich; ob es aber wirklich
geſchehen, oder nicht geſchehen, laͤßt ſich aus
den wenigen Fragmenten, die uns von dem
Kreſphontes uͤbrig ſind, nicht ſchlieſſen. Sie
enthalten nichts als Sittenſpruͤche und morali-
ſche Geſinnungen, von ſpaͤtern Schriftſteller ge-
legentlich angezogen, und werfen nicht das ge-
ringſte Licht auf die Oekonomie des Stuͤckes. (*)
Aus dem einzigen, bey dem Polybius, welches
eine Anrufung an die Goͤttinn des Friedens iſt,
ſcheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche
die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Meſ-
ſeniſchen Staate noch nicht wieder hergeſtellet
geweſen; und aus ein Paar andern ſollte man
faſt ſchlieſſen, daß die Ermordung des Kreſphon-
tes und ſeiner zwey aͤltern Soͤhne, entweder ei-
nen Theil der Handlung ſelbſt ausgemacht habe,
oder doch nur kurz vorhergegangen ſey; welches
beides ſich mit der Erkennung des juͤngern Soh-
nes, der erſt verſchiedene Jahre nachher ſeinen
Vater und ſeine Bruͤder zu raͤchen kam, nicht
wohl zuſammen reimet. Die groͤßte Schwie-
rigkeit aber macht mir der Titel ſelbſt. Wenn
Q q 3dieſe
[310] dieſe Erkennung, wenn dieſe Rache des juͤngern
Sohnes der vornehmſte Inhalt geweſen: wie
konnte das Stuͤck Kreſphontes heiſſen? Kreſphon-
tes war der Name des Vaters; der Sohn aber
hieß nach einigen Aepytus, und nach andern
Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte,
und dieſes der angenommene Name war, den
er in der Fremde fuͤhrte, um unerkannt und vor
den Nachſtellungen des Polyphonts ſicher zu
bleiben. Der Vater muß laͤngſt todt ſeyn,
wenn ſich der Sohn des vaͤterlichen Reiches wie-
der bemaͤchtiget. Hat man jemals gehoͤrt, daß
ein Trauerſpiel nach einer Perſon benennet wor-
den, die gar nicht darinn vorkoͤmmt? Corneille
und Dacier haben ſich geſchwind uͤber dieſe
Schwierigkeit hinweg zu ſetzen gewußt, indem
ſie angenommen, daß der Sohn gleichfalls
Kreſphont geheiſſen; (*) aber mit welcher Wahr-
ſcheinlichkeit? aus welchem Grunde?
Wenn es indeß mit einer Entdeckung ſeine
Richtigkeit hat, mit der ſich Maffei ſchmeichelte:
ſo koͤnnen wir den Plan des Kreſphontes ziemlich
genau wiſſen. Er glaubte ihn nehmlich bey dem
Hyginus, in der hundert und vier und achtzig-
ſten
[311] ſten Fabel, gefunden zu haben. (*) Denn er
haͤlt die Fabeln des Hyginus uͤberhaupt, groͤßten
Theils
[312] Theils fuͤr nichts, als fuͤr die Argumente alter Tra-
goͤdien, welcher Meinung auch ſchon vor ihm Rei-
neſtus geweſen war; und empfiehlt daher den
neuern Dichtern, lieber in dieſem verfallenen
Schachte nach alten tragiſchen Fabeln zu ſuchen,
als ſich neue zu erdichten. Der Rath iſt nicht
uͤbel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher be-
folgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne
zu wiſſen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat
den Stoff zu ſeineni Thyeſt aus dieſer Grube
geholt; und es wartet da noch mancher auf ein
verſtaͤndiges Auge. Nur moͤchte es nicht der
groͤßte, ſondern vielleicht gerade der allerkleinſte
Theil ſeyn, der in dieſer Abſicht von dem Werke
des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch dar-
um gar nicht aus den Argumenten der alten Tra-
goͤdien zuſammen geſetzt zu ſeyn; es kann aus
eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar,
gefloſſen ſeyn, zu welchen die Tragoͤdienſchreiber
ſelbſt ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder
wer ſonſt die Compilation gemacht, ſcheinet ſelbſt,
die Tragoͤdien als abgeleitete verdorbene Baͤche
betrachtet zu haben; indem er an verſchiedenen
Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwuͤr-
digkeit eines tragiſchen Dichters vor ſich hatte,
ausdruͤcklich von der alten aͤchtern Tradition ab-
ſondert. So erzehlt er, z. E. die Fabel von der Ino,
und die Fabel von der Antiopa, zuerſt nach dieſer,
und darauf in einem beſondern Abſchnitte, nach
der Behandlung des Euripides.
Ham-
[[313]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vierzigſtes Stuͤck.
Damit will ich jedoch nicht ſagen, daß, weil
uͤber der hundert und vier achtzigſten Fa-
bel der Name des Euripides nicht ſtehe,
ſie auch nicht aus dem Kreſphont deſſelben koͤnne
gezogen ſeyn. Vielmehr bekenne ich, daß ſie
wirklich den Gang und die Verwickelung eines
Trauerſpieles hat; ſo daß, wenn ſie keines ge-
weſen iſt, ſie doch leicht eines werden koͤnnte,
und zwar eines, deſſen Plan der alten Simpli-
citaͤt weit naͤher kaͤme, als alle neuere Meropen.
Man urtheile ſelbſt: die Erzehlung des Hygi-
nus, die ich oben nur verkuͤrzt angefuͤhrt, iſt
nach allen ihren Umſtaͤnden folgende.
Kreſphontes war Koͤnig von Meſſenien, und
hatte mit ſeiner Gemahlinn Merope drey Soͤhne,
als Polyphontes einen Aufſtand gegen ihn er-
regte, in welchem er, nebſt ſeinen beiden aͤlteſten
Soͤhnen, das Leben verlohr. Polyphontes be-
maͤchtigte ſich hierauf des Reichs und der Hand
der Merope, welche waͤhrend dem Aufruhre
R rGe-
[314] Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn,
Namens Telephontes, zu einem Gaſtfreunde in
Aetolien in Sicherheit bringen zu laſſen. Je
mehr Telephontes heranwuchs, deſto unruhiger
ward Polyphontes. Er konnte ſich nichts Gu-
tes von ihm gewaͤrtigen, und verſprach alſo dem-
jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem
Wege raͤumen wuͤrde. Dieſes erfuhr Telephon-
tes; und da er ſich nunmehr faͤhig fuͤhlte, ſeine
Rache zu unternehmen, ſo machte er ſich heimlich
aus Aetolien weg, ging nach Meſſenien, kam
zu dem Tyrannen, ſagte, daß er den Telephon-
tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm
dafuͤr ausgeſetzte Belohnung. Polyphontes
nahm ihn auf, und befahl, ihn ſo lange in ſei-
nem Pallaſte zu bewirthen, bis er ihn weiter aus-
fragen koͤnne. Telephontes ward alſo in das
Gaſtzimmer gebracht, wo er vor Muͤdigkeit ein-
ſchlief. Indeß kam der alte Diener, welchen
bisher Mutter und Sohn zu ihren wechſelſeiti-
gen Bothſchaften gebraucht, weinend zu Mero-
pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto-
lien weg ſey, ohne daß man wiſſe, wo er hinge-
kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht
unbekannt geblieben, weßen ſich der angekom-
mene Fremde ruͤhme, mit einer Axt nach dem
Gaſtzimmer, und haͤtte ihn im Schlafe unfehl-
bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr
dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten
Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthat
ver-
[315] verhindert haͤtte. Nunmehr machten beide ge-
meinſchaftliche Sache, und Merope ſtellte ſich
gegen ihren Gemahl ruhig und verſoͤhnt. Po-
lyphontes duͤnkte ſich aller ſeiner Wuͤnſche ge-
waͤhret, und wollte den Goͤttern durch ein feyer-
liches Opfer ſeinen Dank bezeigen. Als ſie aber
alle um den Altar verſammelt waren, fuͤhrte Te-
lephontes den Streich, mit dem er das Opfer-
thier faͤllen zu wollen ſich ſtellte, auf den Koͤnig;
der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu
dem Beſitze ſeines vaͤterlichen Reiches. (*)
R r 2Auch
[316]
Auch hatten, ſchon in dem ſechszehnten Jahr-
hunderte, zwey italieniſche Dichter, Joh. Bapt.
Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ih-
ren Trauerſpielen, Kreſphont und Merope, aus
dieſer Fabel des Hyginus genommen, und waren
ſonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen
des Euripides getreten, ohne es zu wiſſen. Doch
dieſer Ueberzeugung ohngeachtet, wollte Maffei
ſelbſt, ſein Werk ſo wenig zu einer bloßen Di-
vination uͤber den Euripides machen, und den
verlohrnen Kreſphont in ſeiner Merope wieder
aufleben laſſen, daß er vielmehr mit Fleiß von
ver-
(*)
[317] verſchiednen Hauptzuͤgen dieſes vermeintlichen
Euripidiſchen Planes abging, und nur die ein-
zige Situation, die ihn vornehmlich darinn ge-
ruͤhrt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen
ſuchte.
Die Mutter nehmlich, die ihren Sohn ſo
feurig liebte, daß ſie ſich an dem Moͤrder deſſel-
ben mit eigner Hand raͤchen wollte, brachte ihn
auf den Gedanken, die muͤtterliche Zaͤrtlichkeit
uͤberhaupt zu ſchildern, und mit Ausſchlieſſung
aller andern Liebe, durch dieſe einzige reine und
tugendhafte Leidenſchaft ſein ganzes Stuͤck zu
beleben. Was dieſer Abſicht alſo nicht vollkom-
R r 3men
(*)
[318] men zuſprach, ward veraͤndert; welches beſon-
ders die Umſtaͤnde von Meropens zweyter Ver-
heyrathung und von des Sohnes auswaͤrtiger
Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht
die Gemahlinn des Polyphonts ſeyn; denn es
ſchien dem Dichter mit der Gewiſſenhaftigkeit
einer ſo frommen Mutter zu ſtreiten, ſich den
Umarmungen eines zweyten Mannes uͤberlaſſen
zu haben, in dem ſie den Moͤrder ihres erſten
kannte, und deſſen eigene Erhaltung es erfor-
derte, ſich durchaus von allen, welche naͤhere
Anſpruͤche auf den Thron haben koͤnnten, zu be-
freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor-
nehmen Gaſtfreunde ſeines vaͤterlichen Hauſes,
in aller Sicherheit und Gemaͤchlichkeit, in der
voͤlligen Kenntniß ſeines Standes und ſeiner
Beſtimmung, erzogen ſeyn: denn die muͤtterliche
Liebe erkaltet natuͤrlicher Weiſe, wenn ſie nicht
durch die beſtaͤndigen Vorſtellungen des Unge-
machs, der immer neuen Gefahren, in welche
ihr abweſender Gegenſtand gerathen kann, ge-
reitzet und angeſtrenget wird. Er mußte nicht
in der ausdruͤcklichen Abſicht kommen, ſich an
dem Tyrannen zu raͤchen; er muß nicht von Me-
ropen fuͤr den Moͤrder ihres Sohnes gehalten
werden, weil er ſich ſelbſt dafuͤr ausgiebt, ſon-
dern weil eine gewiſſe Verbindung von Zufaͤllen
dieſen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er
ſeine Mutter, ſo iſt ihre Verlegenheit bey der
erſten muͤndlichen Erklaͤrung aus, und ihr ruͤh-
ren-
[319] render Kummer, ihre zaͤrtliche Verzweiflung hat
nicht freyes Spiel genug.
Und dieſen Veraͤnderungen zu Folge, kann man ſich
den Maffeiſchen Plan ungefehr vorſtellen. Polyphon-
tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fuͤhlet er
ſich auf dem Throne noch nicht befeſtiget genug. Denn
das Volk iſt noch immer dem Hauſe ſeines vorigen Koͤ-
niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten
Zweig deſſelben. Die Mißvergnuͤgten zu beruhigen,
faͤllt ihm ein, ſich mit Meropen zu verbinden. Er traͤgt
ihr ſeine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli-
chen Liebe. Doch Merope weiſet ihn mit dieſem Vor-
wande zu empfindlich ab; und nun ſucht er durch Dro-
hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn ſeine Ver-
ſtellung nicht verhelfen koͤnnen. Eben dringt er am
ſchaͤrfeſten in ſie; als ein Juͤngling vor ihn gebracht
wird, den man auf der Landſtraße uͤber einem Morde
ergriffen hat. Aegisth, ſo nañte ſich der Juͤngling, hatte
nichts gethan, als ſein eignes Leben gegen einen Raͤu-
ber vertheidiget; ſein Anſehen verraͤth ſo viel Adel und
Unſchuld, ſeine Rede ſo viel Wahrheit, daß Merope,
die noch auſſerdem eine gewiſſe Falte ſeines Mundes be-
merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen
wird, den Koͤnig fuͤr ihn zu bitten; und der Koͤnig be-
gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih-
ren juͤngſten Sohn, den ſie einem alten Diener, Na-
mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls
anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als ſein eige-
nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuͤr ſei-
nen Vater haͤlt, heimlich verlaſſen, um die Welt zu ſe-
hen; aber er iſt nirgends wieder aufzufinden. Dem
Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmſte;
auf der Landſtraße iſt jemand ermordet worden; wie,
wenn es ihr Sohn geweſen waͤre? So denkt ſie, und
wird in ihrer bangen Vermuthung durch verſchiedene
Umſtaͤnde, durch die Bereitwilligkeit des Koͤnigs, den
Moͤrder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen
Ring
[320] Ring beſtaͤrket, den man bey dem Aegisth gefunden, u.
von dem ihr geſagt wird, daß ihn Aegisth dem Erſchla-
genen abgenommen habe. Es iſt dieſes der Siegelring
ihres Gemahls, den ſie dem Polydor mitgegeben hatte,
um ihn ihrem Sohne einzuhaͤndigen, wenn er erwach-
ſen, und es Zeit ſeyn wuͤrde, ihm ſeinen Stand zu ent-
decken. Sogleich laͤßt ſie den Juͤngling, fuͤr den ſie vor-
her ſelbſt gebeten, an eine Saͤule binden, und will ihm
das Herz mit eigner Hand durchſtoſſen. Der Juͤngling
erinnert ſich in dieſem Augenblicke ſeiner Aeltern; ihm
entfaͤhrt der Name Meſſene; er gedenkt des Verbots
ſeines Vaters, dieſen Ort ſorgfaͤltig zu vermeiden;
Merope verlangt hieruͤber Erklaͤrung: indem koͤmmt
der Koͤnig dazu, und der Juͤngling wird befreyet. So
nahe Merope der Erkennung ihres Irrthums war, ſo
tief verfaͤllt ſie wiederum darein zuruͤck, als ſie ſiehet,
wie hoͤhniſch der Koͤnig uͤber ihre Verzweiflung trium-
phirt. Nun iſt Aegisth unfehlbar der Moͤrder ihres
Sohnes, u. nichts ſoll ihn vor ihrer Rache ſchuͤtzen. Sie
erfaͤhrt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vor-
ſaale ſey, wo er eingeſchlafen, u. koͤm̃t mit einer Axt, ihn
den Kopf zu ſpalten; und ſchon hat ſie die Axt zu dem
Streiche erhoben, als ihr Polydor, der ſich kurz zuvor
in eben den Vorſaal eingeſchlichen, und den ſchlafen-
den Aegisth erkañt hatte, in die Arme faͤllt. Aegisth er-
wacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren
eigenen Sohn in dem vermeinten Moͤrder ihres Soh-
nes. Sie will ihm nach, und wuͤrde ihn leicht durch ihre
ſtuͤrmiſche Zaͤrtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben,
wenn ſie der Alte nicht auch hiervon zuruͤck gehalten
haͤtte. Mit fruͤhem Morgen ſoll ihre Vermaͤhlung mit
dem Koͤnige vollzogen werden; ſie muß zu dem Altare,
aber ſie will eher ſterben, als ihre Einwilligung erthei-
len. Indeß hat Polydor auch den Aegisth ſich keñen ge-
lehrt; Aegisth eilet in den Tempel, drenget ſich durch
das Volk, und — das Uebrige wie bey dem Hyginus.
Ham-
[[321]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und vierzigſtes Stuͤck.
Je ſchlechter es, zu Anfange dieſes Jahrhun-
derts, mit dem italieniſchen Theater uͤber-
haupt ausſahe, deſto groͤßer war der Bey-
fall und das Zujauchzen, womit die Merope des
Maffei aufgenommen wurde.
Neſcio quid majus naſcitur Oedipode:’
ſchrie Leonardo Adami, der nur noch die erſten
zwey Akte in Rom davon geſehen hatte. In
Venedig ward 1714, das ganze Carneval hin-
durch, faſt kein anderes Stuͤck geſpielt, als Me-
rope; die ganze Welt wollte die neue Tragoͤdie
ſehen und wieder ſehen; und ſelbſt die Operbuͤh-
nen fanden ſich daruͤber verlaſſen. Sie ward in
einem Jahre viermal gedruckt; und in ſechszehn
Jahren (von 1714—1730) ſind mehr als drey-
ßig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien,
zu Paris, zu London davon gemacht worden.
S sSie
[322] Sie ward ins Franzoͤſiſche, ins Engliſche, ins
Deutſche uͤberſetzt; und man hatte vor, ſie mit
allen dieſen Ueberſetzungen zugleich drucken zu
laſſen. Ins Franzoͤſiſche war ſie bereits zwey-
mal uͤberſetzt, als der Herr von Voltaire ſich
nochmals daruͤber machen wollte, um ſie auch
wirklich auf die franzoͤſiſche Buͤhne zu bringen.
Doch er fand bald, daß dieſes durch eine eigent-
liche Ueberſetzung nicht geſchehen koͤnnte, wovon
er die Urſachen in dem Schreiben an den Mar-
quis, welches er nachher ſeiner eignen Merope
vorſetzte, umſtaͤndlich angiebt.
〟Der Ton, ſagt er, ſey in der italieniſchen
Merope viel zu naif und buͤrgerlich, und der Ge-
ſchmack des franzoͤſiſchen Parterrs viel zu fein,
viel zu verzaͤrtelt, als daß ihm die bloße ſimple
Natur gefallen koͤnne. Es wolle die Natur nicht
anders als unter gewiſſen Zuͤgen der Kunſt ſe-
hen; und dieſe Zuͤge muͤßten zu Paris weit an-
ders als zu Verona ſeyn.〟
Das ganze Schrei-
ben iſt mit der aͤußerſten Politeſſe abgefaßt;
Maffei hat nirgends gefehlt; alle ſeine Nach-
laͤßigkeiten und Maͤngel werden auf die Rech-
nung ſeines Nationalgeſchmacks geſchrieben; es
ſind wohl noch gar Schoͤnheiten, aber leider nur
Schoͤnheiten fuͤr Italien. Gewiß, man kann
nicht hoͤflicher kritiſiren! Aber die verzweifelte
Hoͤflichkeit! Auch einem Franzoſen wird ſie gar
bald zu Laſt, wenn ſeine Eitelkeit im geringſten
da-
[323] dabey leidet. Die Hoͤflichkeit macht, daß wir
liebenswuͤrdig ſcheinen, aber nicht groß; und
der Franzoſe will eben ſo groß, als liebenswuͤr-
dig ſcheinen.
Was folgt alſo auf die galante Zueignungs-
ſchrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben
eines gewiſſen de la Lindelle, welcher dem guten
Maffei eben ſo viel Grobheiten ſagt, als ihm
Voltaire Verbindliches geſagt hatte. Der
Stil dieſes de la Lindelle iſt ziemlich der Voltai-
riſche Stil; es iſt Schade, daß eine ſo gute Fe-
der nicht mehr geſchrieben hat, und uͤbrigens ſo
unbekannt geblieben iſt. Doch Lindelle ſey
Voltaire, oder ſey wirklich Lindelle: wer einen
franzoͤſiſchen Januskopf ſehen will, der vorne
auf die einſchmeichelndſte Weiſe laͤchelt, und
hinten die haͤmiſchſten Grimaſſen ſchneidet, der
leſe beide Briefe in einem Zuge. Ich moͤchte
keinen geſchrieben haben; am wenigſten aber
beide. Aus Hoͤflichkeit bleibet Voltaire diſſeits
der Wahrheit ſtehen, und aus Verkleinerungs-
ſucht ſchweifet Lindelle bis jenſeit derſelben. Je-
ner haͤtte freymuͤthiger, und dieſer gerechter ſeyn
muͤſſen, wenn man nicht auf den Verdacht ge-
rathen ſollte, daß der nehmliche Schriftſteller
ſich hier unter einem fremden Namen wieder ein-
bringen wollen, was er ſich dort unter ſeinem
eigenen vergeben habe.
S s 2Vol-
[324]
Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo
hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un-
ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft
genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie
zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf
der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt-
lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent-
ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt,
daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm
nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr-
lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver-
wicklung darbieten, von den unſtudierten wah-
ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund
legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par-
terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit
dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in
ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem
Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; (*)
wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten
Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen,
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,
eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun-
den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht
will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den
Sohn
[325] Sohn gemeiner Aeltern haͤlt, und in dem Lande
auf Abentheuer ganz allein herumſchweift, nach-
dem er einen Mord veruͤbt, dem ohngeachtet
nicht ſoll fuͤr einen Raͤuber gehalten werden duͤr-
fen, weil es voraus ſieht, daß er der Held des
Stuͤckes werden muͤſſe; (*) wenn es beleidiget
wird, daß man einen ſolchem Menſchen keinen
koſtbarem Ring zutrauen will, da doch kein
Faͤhndrich in des Koͤnigs Armee ſey, der nicht
de belles Nippes beſitze. Das Pariſer Par-
terr, ſage ich, hat in dieſen und aͤhnlichen Faͤl-
len Unrecht: aber warum muß Voltairen auch
in andern Faͤllen, wo es gewiß nicht Unrecht hat,
dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu
geben ſcheinen wollen? Wenn die franzoͤſiſche
Hoͤflichkeit gegen Auslaͤnder darinn beſteht, daß
man ihnen auch in ſolchen Stuͤcken Recht giebt,
wo ſie ſich ſchaͤmen muͤßten, Recht zu haben, ſo
weiß ich nicht, was beleidigender und einem
freyen Menſchen unanſtaͤndiger ſeyn kann, als
dieſe franzoͤſiſche Hoͤflichkeit. Das Geſchwaͤtz,
welches Maffei ſeinem alten Polydor von luſti-
gen Hochzeiten, von praͤchtigen Kroͤnungen, de-
nen er vor dieſen beygewohnt, in den Mund legt,
und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das
Intereſſe aufs hoͤchſte geſtiegen und die Einbil-
S s 3dungs-
[326] dungskraft der Zuſchauer mit ganz andern Din-
gen beſchaͤftiget iſt: dieſes Neſtoriſche, aber am
unrechten Orte Neſtoriſche, Geſchwaͤtz, kann
durch keine Verſchiedenheit des Geſchmacks un-
ter verſchiedenen cultivirten Voͤlkern, entſchul-
diget werden; hier muß der Geſchmack uͤberall
der nehmliche ſeyn, und der Italiener hat nicht
ſeinen eignen, ſondern hat gar keinen Geſchmack,
wenn er nicht eben ſowohl dabey gaͤhnet und dar-
uͤber unwillig wird, als der Franzoſe.
〟Sie
〟haben,
ſagt Voltaire zu dem Marquis,
〟in
〟Ihrer Tragoͤdie jene ſchoͤne und ruͤhrende Ver-
〟gleichung des Virgils:‘Qualis populea mœrens Philomela ſub
umbra
Amiſſos queritur fœtus — — —’
〟uͤberſetzen und anbringen duͤrfen. Wenn ich
〟mir ſo eine Freyheit nehmen wollte, ſo wuͤrde
〟man mich damit in die Epopee verweiſen. Denn
〟Sie glauben nicht, wie ſtreng der Herr iſt,
〟dem wir zu gefallen ſuchen muͤſſen; ich meine
〟unſer Publikum. Dieſes verlangt, daß in
〟der Tragoͤdie uͤberall der Held, und nirgends
〟der Dichter ſprechen ſoll, und meinet, daß bey
〟kritiſchen Vorfaͤllen, in Rathsverſammlungen,
〟bey einer heftigen Leidenſchaft, bey einer drin-
〟genden Gefahr, kein Koͤnig, kein Miniſter
〟poetiſche Vergleichungen zu machen pflege.〟
Aber verlangt denn dieſes Publikum etwas un-
rech-
[327] rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit iſt?
Sollte nicht jedes Publikum eben dieſes verlan-
gen? eben dieſes meinen? Ein Publikum, das
anders richtet, verdient dieſen Namen nicht:
und muß Voltaire das ganze italieniſche Publi-
kum zu ſo einem Publiko machen wollen, weil
er nicht Freymuͤthigkeit genug hat, dem Dichter
gerade heraus zu ſagen, daß er hier und an meh-
rern Stellen luxurire, und ſeinen eignen Kopf
durch die Tapete ſtecke? Auch unerwogen, daß
ausfuͤhrliche Gleichniſſe uͤberhaupt ſchwerlich
eine ſchickliche Stelle in dem Trauerſpiele finden
koͤnnen, haͤtte er anmerken ſollen, daß jenes
Virgiliſche von dem Maffei aͤußerſt gemißbrau-
chet worden. Bey dem Virgil vermehret es
das Mitleiden, und dazu iſt es eigentlich ge-
ſchickt; bey dem Maffei aber iſt es in dem Munde
desjenigen, der uͤber das Ungluͤck, wovon es
das Bild ſeyn ſoll, triumphiret, und muͤßte
nach der Geſinnung des Polyphonts, mehr
Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich-
tigere, und auf das Ganze noch groͤßern Ein-
fluß habende Fehler ſcheuet ſich Voltaire nicht,
lieber dem Geſchmacke der Italiener uͤberhaupt,
als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Laſt zu
legen, und duͤnkt ſich von der allerfeinſten Le-
bensart, wenn er den Maffei damit troͤſtet, daß es
ſeine ganze Nation nicht beſſer verſtehe, als er; daß
ſeine Fehler die Fehler ſeiner Nation waͤren; daß
aber
[328] aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh-
ler waͤren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was
an und fuͤr ſich gut oder ſchlecht ſey, ſondern was die
Nation dafuͤr wolle gelten laſſen.
〟Wie haͤtte ich es
〟wagen duͤrfen,
faͤhrt er mit einem tiefen Buͤcklinge,
aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta-
ſche, gegen den Marquis fort,
〟bloße Nebenperſonen
〟ſo oft mit einander ſprechen zu laſſen, als Sie gethan
〟haben? Sie dienen bey Ihnen die intereſſanten Sce-
〟nen zwiſchen den Hauptperſonen vorzubereiten; es
〟ſind die Zugaͤnge zu einem ſchoͤnen Pallaſte; aber
〟unſer ungeduldiges Publikum will ſich auf einmal in
〟dieſem Pallaſte befinden. Wir muͤſſen uns alſo ſchon
〟nach dem Geſchmacke eines Volks richten, welches
〟ſich an Meiſterſtuͤcken ſatt geſehen hat, u. alſo aͤußerſt
〟verwoͤhnt iſt.〟
Was heißt dieſes anders, als: 〟Mein
Herr Marquis, Ihr Stuͤck hat ſehr, ſehr viel kalte,
langweilige, unnuͤtze Scenen. Aber es ſey fern von mir,
daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen ſollte!
Behuͤte der Himmel! ich bin ein Franzoſe; ich weiß zu
leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un-
ter die Naſe reiben. Ohne Zweifel haben Sie dieſe kal-
ten, langweiligen, unnuͤtzen Scenen mit Vorbedacht,
mit allem Fleiſſe gemacht; weil ſie gerade ſo ſind, wie
ſie ihre Nation braucht. Ich wuͤnſchte, daß ich auch ſo
wohlfeil davon kommen koͤnnte; aber leider iſt meine
Nation ſo weit, ſo weit, daß ich noch viel weiter ſeyn
muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir
darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da
jedoch meine Nation, die Ihre Nation ſo ſehr uͤber-
ſieht〟 — Weiter darf ich meine Paraphraſis wohl nicht
fortſetzen; denn ſonſt,
Deſinit in piſcem mulier formoſa ſuperne:
aus der Hoͤflichkeit wird Perſifflage, (ich brauche die-
ſes franzoͤſiſ. Wort, weil wir Deutſchen von der Sache
nichts wiſſen) und aus der Perſifflage, dummer Stolz.
Ham-
[[329]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und vierzigſtes Stuͤck.
Es iſt nicht zu leugnen, daß ein guter Theil
der Fehler, welche Voltaire als Eigen-
thuͤmlichkeiten des italieniſchen Geſchmacks
nur deswegen an ſeinem Vorgaͤnger zu entſchul-
digen ſcheinet, um ſie der italieniſchen Nation
uͤberhaupt zur Laſt zu legen, daß, ſage ich, die-
ſe, und noch mehrere, und noch groͤßere, ſich
in der Merope des Maffei befinden. Maffei
hatte in ſeiner Jugend viel Neigung zur Poeſie;
er machte mit vieler Leichtigkeit Verſe, in allen
verſchiednen Stilen der beruͤhmteſten Dichter
ſeines Landes: doch dieſe Neigung und dieſe
Leichtigkeit beweiſen fuͤr das eigentliche Genie,
welches zur Tragoͤdie erfodert wird, wenig oder
nichts. Hernach legte er ſich auf die Geſchichte,
auf Kritik und Alterthuͤmer; und ich zweifle, ob
dieſe Studien die rechte Nahrung fuͤr das tragi-
ſche Genie ſind. Er war unter Kirchenvaͤter
T tund
[330] und Diplomen vergraben, und ſchrieb wider die
Pfaffe und Basnagen, als er, auf geſellſchaft-
liche Veranlaſſung, ſeine Merope vor die Hand
nahm, und ſie in weniger als zwey Monaten zu
Stande brachte. Wenn dieſer Mann, unter
ſolchen Beſchaͤftigungen, in ſo kurzer Zeit, ein
Meiſterſtuͤck gemacht haͤtte, ſo muͤßte er der auſ-
ſerordentlichſte Kopf geweſen ſeyn; oder eine
Tragoͤdie uͤberhaupt iſt ein ſehr geringfuͤgiges
Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem
klaſſiſchen Geſchmacke, der ſo etwas mehr fuͤr
eine Erholung als fuͤr eine Arbeit anſieht, die
ſeiner wuͤrdig waͤre, leiſten kann, das leiſtete
auch er. Seine Anlage iſt geſuchter und aus-
gedrechſelter, als gluͤcklich; ſeine Charaktere ſind
mehr nach den Zergliederungen des Moraliſten,
oder nach bekannten Vorbildern in Buͤchern, als
nach dem Leben geſchildert; ſein Ausdruck zeigt
von mehr Phantaſie, als Gefuͤhl; der Litterator
und der Verſificateur laͤßt ſich uͤberall ſpuͤren,
aber nur ſelten das Genie und der Dichter.
Als Verſificateur laͤuft er den Beſchreibun-
gen und Gleichniſſen zu ſehr nach. Er hat ver-
ſchiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaͤhlde,
die in ſeinem Munde nicht genug bewundert wer-
den koͤnnten; aber in dem Munde ſeiner Perſo-
nen unertraͤglich ſind, und in die laͤcherlichſten
Ungereimtheiten ausarten. So iſt es, z. E.
zwar ſehr ſchicklich, daß Aegisth ſeinen Kampf
mit
[331] mit dem Raͤuber, den er umgebracht, umſtaͤnd-
lich beſchreibet, denn auf dieſen Umſtaͤnden be-
ruhet ſeine Vertheidigung; daß er aber auch,
wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu
haben bekennet, alle, ſelbſt die allerkleinſten,
Phaͤnomena mahlet, die den Fall eines ſchweren
Koͤrpers ins Waſſer begleiten, wie er hinein
ſchießt, mit welchem Geraͤuſche er das Waſſer
zertheilet, das hoch in die Luft ſpritzet, und wie
ſich die Fluth wieder uͤber ihn zuſchließt: (*) das
wuͤrde man auch nicht einmal einem kalten ge-
ſchwaͤtzigen Advokaten, der fuͤr ihn ſpraͤche,
verzeihen, geſchweige ihm ſelbſt. Wer vor ſei-
nem Richter ſtehet, und ſein Leben zu vertheidi-
gen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen,
als daß er in ſeiner Erzehlung ſo kindiſch genau
ſeyn koͤnnte.
T t 2Als
[332]
Als Litterator hat er zu viel Achtung fuͤr die
Simplicitaͤt der alten griechiſchen Sitten, und
fuͤr das Coſtume bezeigt, mit welchem wir ſie bey
dem Homer und Euripides geſchildert finden,
das aber allerdings um etwas, ich will nicht ſa-
gen veredelt, ſondern unſerm Coſtume naͤher
gebracht werden muß, wenn es der Ruͤhrung
im Trauerſpiele nicht mehr ſchaͤdlich, als zutraͤg-
lich ſeyn ſoll. Auch hat er zugefliſſendlich ſchoͤne
Stellen aus den Alten nachzuahmen geſucht,
ohne zu unterſcheiden, aus was fuͤr einer Art
von Werken er ſie entlehnt, und in was fuͤr eine
Art von Werken er ſie uͤbertraͤgt. Neſtor iſt in
der Epopee ein geſpraͤchiger freundlicher Alte;
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der
Tragoͤdie ein alter eckler Saalbader. Wenn
Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides
haͤtte folgen wollen: ſo wuͤrde uns der Litterator
vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er
haͤtte es ſodann fuͤr ſeine Schuldigkeit geachtet,
alle die kleinen Fragmente, die uns von dem
Kreſphontes uͤbrig ſind, zu nutzen, und ſeinem
Werke getreulich einzuflechten. (*) Wo er alſo
geglaubt haͤtte, daß ſie ſich hinpaßten, haͤtte er
ſie als Pfaͤhle aufgerichtet, nach welchen ſich der
Weg
[333] Weg ſeines Dialogs richten und ſchlingen muͤſ-
ſen. Welcher pedantiſche Zwang! Und wozu?
Sind es nicht dieſe Sittenſpruͤche, womit man
ſeine Luͤcken fuͤllet, ſo ſind es andere.
Dem ohngeachtet moͤchten ſich wiederum
Stellen finden, wo man wuͤnſchen duͤrfte, daß
ſich der Litterator weniger vergeſſen haͤtte. Z. E.
Nachdem die Erkennung vorgegangen, und Me-
rope einſieht, in welcher Gefahr ſie zweymal ge-
weſen ſey, ihren eignen Sohn umzubringen, ſo
laͤßt er die Iſmene, voller Erſtaunen ausrufen:
〟Welche wunderbare Begebenheit, wunderba-
〟rer, als ſie jemals auf einer Buͤhne erdichtet
〟worden!〟
Non vide mai favoleggiar le ſcene.’
Maffei hat ſich nicht erinnert, daß die Geſchichte
ſeines Stuͤcks in eine Zeit faͤllt, da noch an kein
Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Ho-
mer, deſſen Gedichte den erſten Saamen des
Drama ausſtreuten. Ich wuͤrde dieſe Unacht-
ſamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der ſich
in der Vorrede entſchuldigen zu muͤſſen glaubte,
daß er den Namen Meſſene zu einer Zeit brau-
T t 3che,
(*)
[334] che, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieſes
Namens geweſen, weil Homer keiner erwaͤhne.
Ein Dichter kann es mit ſolchen Kleinigkeiten
halten, wie er will: nur verlangt man, daß er
ſich immer gleich bleibet, und daß er ſich nicht
einmal uͤber etwas Bedenken macht, woruͤber
er ein andermal kuͤhnlich weggeht; wenn man
nicht glauben ſoll, daß er den Anſtoß vielmehr
aus Unwiſſenheit nicht geſehen, als nicht ſehen
wollen. Ueberhaupt wuͤrden mir die angefuͤhr-
ten Zeilen nicht gefallen, wenn ſie auch keinen
Anachroniſmus enthielten. Der tragiſche Dich-
ter ſollte alles vermeiden, was die Zuſchauer an
ihre Illuſion erinnern kann; denn ſobald ſie
daran erinnert ſind, ſo iſt ſie weg. Hier ſchei-
net es zwar, als ob Maffei die Illuſion eher
noch beſtaͤrken wollen, indem er das Theater
ausdruͤcklich außer dem Theater annehmen laͤßt;
doch die bloßen Worte, Buͤhne und erdichten,
ſind der Sache ſchon nachtheilig, und bringen
uns geraden Weges dahin, wovon ſie uns ab-
bringen ſollen. Dem komiſchen Dichter iſt es
eher erlaubt, auf dieſe Weiſe ſeiner Vorſtellung
Vorſtellungen entgegen zu ſetzen; denn unſer
Lachen zu erregen, braucht es des Grades der
Taͤuſchung nicht, den unſer Mitleiden erfor-
dert.
Ich habe ſchon geſagt, wie hart de la Lin-
delle dem Maffei mitſpielt. Nach ſeinem Ur-
theile
[335] theile hat Maffei ſich mit dem begnuͤgt, was ihm
ſein Stoff von ſelbſt anbot, ohne die geringſte
Kunſt dabey anzuwenden; ſein Dialog iſt ohne
alle Wahrſcheinlichkeit, ohne allen Anſtand und
Wuͤrde; da iſt ſo viel Kleines und Kriechendes,
das kaum in einem Poſſenſpiele, in der Bude
des Harlekins zu dulden waͤre; alles wimmelt
von Ungereimtheiten und Schulſchnitzern.
〟Mit
〟einem Worte,
ſchließt er,
das Werk des Maf-
〟fei enthaͤlt einen ſchoͤnen Stoff, iſt aber ein ſehr
〟elendes Stuͤck. Alle Welt koͤmmt in Paris
〟darinn uͤberein, daß man die Vorſtellung deſ-
〟ſelben nicht wuͤrde haben aushalten koͤnnen;
〟und in Italien ſelbſt wird von verſtaͤndigen
〟Leuten ſehr wenig daraus gemacht. Verge-
〟bens hat der Verfaſſer auf ſeinen Reiſen die
〟elendeſten Schriftſteller in Sold genommen,
〟ſeine Tragoͤdie zu uͤberſetzen; er konnte leichter
〟einen Ueberſetzer bezahlen, als ſein Stuͤck ver-
〟beſſern.〟
So wie es ſelten Komplimente giebt, ohne
alle Luͤgen, ſo finden ſich auch ſelten Grobheiten
ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen
Stuͤcken wider den Maffei Recht, und moͤchte
er doch hoͤflich oder grob ſeyn, wenn er ſich be-
gnuͤgte, ihn blos zu tadeln. Aber er will ihn
unter die Fuͤße treten, vernichten, und gehet
mit ihm ſo blind als treulos zu Werke. Er
ſchaͤmt ſich nicht, offenbare Luͤgen zu ſagen, au-
gen-
[336] genſcheinliche Verfaͤlſchungen zu begehen, um
nur ein recht haͤmiſches Gelaͤchter aufſchlagen zu
koͤnnen. Unter drey Streichen, die er thut,
geht immer einer in die Luft, und von den an-
dern zweyen, die ſeinen Gegner ſtreifen oder
treffen, trift einer unfehlbar den zugleich mit,
dem ſeine Klopffechterey Platz machen ſoll, Vol-
tairen ſelbſt. Voltaire ſcheinet dieſes auch zum
Theil gefuͤhlt zu haben, und iſt daher nicht ſaum-
ſelig, in der Antwort an Lindellen, den Maffei
in allen den Stuͤcken zu vertheidigen, in welchen
er ſich zugleich mit vertheidigen zu muͤſſen glaubt.
Dieſer ganzen Correſpondenz mit ſich ſelbſt,
duͤnkt mich, fehlt das intereſſanteſte Stuͤck; die
Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch
dieſe der Hr. von Voltaire haͤtte mittheilen wol-
len. Oder war ſie etwa ſo nicht, wie er ſie
durch ſeine Schmeicheley zu erſchleichen hofte?
Nahm ſich Maffei etwa die Freyheit, ihm hin-
wiederum die Eigenthuͤmlichkeiten des franzoͤſi-
ſchen Geſchmacks ins Licht zu ſtellen? ihm zu
zeigen, warum die franzoͤſiſche Merope eben ſo
wenig in Italien, als die italieniſche in Frank-
reich gefallen koͤnne? —
Ham-
[[337]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und vierzigſtes Stuͤck.
So etwas laͤßt ſich vermuthen. Doch ich
will lieber beweiſen, was ich ſelbſt geſagt
habe, als vermuthen, was andere ge-
ſagt haben koͤnnten.
Lindern, vors erſte, ließe ſich der Tadel des
Lindelle faſt in allen Punkten. Wenn Maffei
gefehlt hat, ſo hat er doch nicht immer ſo plump
gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen.
Er ſagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nun-
mehr erſtechen wolle, rufe aus: O mein alter
Vater! und die Koͤniginn werde durch dieſes
Wort, alter Vater, ſo geruͤhret, daß ſie von
ihrem Vorſatze ablaſſe und auf die Vermuthung
komme, Aegisth koͤnne wohl ihr Sohn ſeyn.
Iſt das nicht, ſetzt er hoͤhniſch hinzu, eine ſehr
gegruͤndete Vermuthung! Denn freylich iſt es
ganz etwas ſonderbares, daß ein junger Menſch
einen alten Vater hat!
faͤhrt er fort,
U u〟hat
[338]
〟hat mit dieſem Fehler, dieſem Mangel von
〟Kunſt und Genie, einen andern Fehler ver-
〟beſſern wollen, den er in der erſtern Ausgabe
〟ſeines Stuͤckes begangen hatte. Aegisth rief
〟da: Ach, Polydor, mein Vater! Und dieſer
〟Polydor war eben der Mann, dem Merope ih-
〟ren Sohn anvertrauet hatte. Bey dem Na-
〟men Polydor haͤtte die Koͤniginn gar nicht mehr
〟zweifeln muͤſſen, daß Aegisth ihr Sohn ſey;
〟und das Stuͤck waͤre aus geweſen. Nun iſt
〟dieſer Fehler zwar weggeſchaft; aber ſeine
〟Stelle hat ein noch weit groͤberer eingenom-
〟men.〟
Es iſt wahr, in der erſten Ausgabe
nennt Aegisth den Polydor ſeinen Vater; aber
in den nachherigen Ausgaben iſt von gar keinem
Vater mehr die Rede. Die Koͤniginn ſtutzt
blos bey dem Namen Polydor, der den Aegisth
gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Meſſeni-
ſche Gebiete zu ſetzen. Sie giebt auch ihr Vor-
haben darum nicht auf; ſie fodert blos naͤhere
Erklaͤrung; und ehe ſie dieſe erhalten kann,
koͤmmt der Koͤnig dazu. Der Koͤnig laͤßt den
Aegisth wieder los binden, und da er die That,
weßwegen Aegisth eingebracht worden, billiget
und ruͤhmet, und ſie als eine wahre Heldenthat
zu belohnen verſpricht: ſo muß wohl Merope in
ihren erſten Verdacht wieder zuruͤckfallen. Kann
der ihr Sohn ſeyn, den Polyphontes eben dar-
um belohnen will, weil er ihren Sohn umge-
bracht
[339] bracht habe? Dieſer Schluß muß nothwendig
bey ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie
bereuet es nunmehr auch, daß ſie eines bloßen
Namens wegen, den ja wohl mehrere fuͤhren
koͤnnen, mit der Vollziehung ihrer Rache gezau-
dert habe;
nome
Trattenere mi laſciai, quaſi un tal
nome
Altri aver non poteſſe —’
und die folgenden Aeußerungen des Tyrannen
koͤnnen ſie nicht anders als in der Meinung vol-
lends beſtaͤrken, daß er von dem Tode ihres Soh-
nes die allerzuverlaͤßigſte, gewiſſeſte Nachricht
haben muͤſſe. Iſt denn das alſo nun ſo gar ab-
geſchmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß
ich geſtehen, daß ich die Verbeſſerung des Maffei
nicht einmal fuͤr ſehr noͤthig halte. Laßt es den
Aegisth immerhin ſagen, daß ſein Vater Poly-
dor heiſſe! Ob es ſein Vater oder ſein Freund
war, der ſo hieſſe, und ihn vor Meſſene warnte,
das nimmt einander nicht viel. Genug, daß
Merope, ohne alle Widerrede, das fuͤr wahr-
ſcheinlicher halten muß, was der Tyrann von
ihm glaubet, da ſie weiß, daß er ihrem Sohne
ſo lange, ſo eifrig nachgeſtellt, als das, was
ſie aus der bloßen Uebereinſtimmung eines Na-
mens ſchlieſſen koͤnnte. Freylich, wenn ſie wuͤß-
U u 2te,
[340] te, daß ſich die Meinung des Tyrannen, Aegisth
ſey der Moͤrder ihres Sohnes, auf weiter nichts
als ihre eigene Vermuthung gruͤnde: ſo waͤre
es etwas anders. Aber dieſes weiß ſie nicht;
vielmehr hat ſie allen Grund zu glauben, daß
er ſeiner Sache werde gewiß ſeyn. — Es verſteht
ſich, daß ich das, was man zur Noth entſchul-
digen kann, darum nicht fuͤr ſchoͤn ausgebe; der
Poet haͤtte unſtreitig ſeine Anlage viel feiner
machen koͤnnen. Sondern ich will nur ſagen,
daß auch ſo, wie er ſie gemacht hat, Merope
noch immer nicht ohne zureichenden Grund han-
delt; und daß es gar wohl moͤglich und wahr-
ſcheinlich iſt, daß Merope in ihrem Vorſatze der
Rache verharren, und bey der erſten Gelegen-
heit einen neuen Verſuch, ſie zu vollziehen,
wagen koͤnnen. Woruͤber ich mich alſo beleidi-
get finden moͤchte, waͤre nicht dieſes, daß ſie
zum zweytenmale, ihren Sohn als den Moͤrder
ihres Sohnes zu ermorden, koͤmmt: ſondern
dieſes, daß ſie zum zweytenmale durch einen
gluͤcklichen ungefehren Zufall daran verhindert
wird. Ich wuͤrde es dem Dichter verzeihen,
wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den
Gruͤnden der groͤßern Wahrſcheinlichkeit ſich be-
ſtimmen ließe; denn die Leidenſchaft, in der ſie
iſt, koͤnnte auch den Gruͤnden der ſchwaͤchern
das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich
ihm nicht verzeihen, daß er ſich ſo viel Freyheit
mit
[341] mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder-
baren deſſelben ſo verſchwenderiſch iſt, als mit
den gemeinſten ordentlichſten Begebenheiten.
Daß der Zufall Einmal der Mutter einen ſo
frommen Dienſt erweiſet, das kann ſeyn; wir
wollen es um ſo viel lieber glauben, je mehr uns
die Ueberraſchung gefaͤllt. Aber daß er zum
zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die
nehmliche Weiſe, verhindern werde, das ſieht
dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieſelbe Ueber-
raſchung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraſchung zu
ſeyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir
aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben ſo
abentheurlich, aber nicht eben ſo mannichfaltig zu
ſeyn weiß, als der Zufall.
Von den augenſcheinlichen und vorſetzlichen
Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey
anfuͤhren. —
ſagt er,
faͤngt
〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi-
〟ſchen dem Tyrannen und der Vertrauten der
〟Merope an; hierauf begegnet dieſe Vertraute,
〟ich weiß ſelbſt nicht wie, dem jungen Aegisth,
〟und beredet ihn, ſich in dem Vorhauſe zur
〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeſchla-
〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch-
〟lichkeit umbringen koͤnne. Er ſchlaͤft auch
〟wirklich ein, ſo wie er es verſprochen hat. O
〟ſchoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten-
〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun-
U u 3〟gen
[342] 〟gen Menſchen umzubringen, der ausdruͤcklich
〟deswegen ſchlaͤft. Dieſe nehmliche Situation,
〟zweymal wiederholt, verraͤth die aͤußerſte Un-
〟fruchtbarkeit; und dieſer Schlaf des jungen
〟Menſchen iſt ſo laͤcherlich, daß in der Welt
〟nichts laͤcherlicher ſeyn kann.〟
Aber iſt es
denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu die-
ſem Schlafe beredet? Das luͤgt Lindelle. (*)
Aegisth trift die Vertraute an, und bittet ſie,
ihm doch die Urſache zu entdecken, warum die
Koͤniginn ſo ergrimmt auf ihn ſey. Die Ver-
traute antwortet, ſie wolle ihm gern alles ſagen;
aber ein wichtiges Geſchaͤfte rufe ſie itzt wo an-
ders hin; er ſolle einen Augenblick hier verzie-
hen; ſie wolle gleich wieder bey ihm ſeyn. Al-
lerdings hat die Vertraute die Abſicht, ihn der
Koͤ-
[343] Koͤniginn in die Haͤnde zu liefern; ſie beredet ihn
zu bleiben, aber nicht zu ſchlafen; und Aegisth,
welcher, ſeinem Verſprechen nach, bleibet,
ſchlaͤft, nicht ſeinem Verſprechen nach, ſondern
ſchlaͤft, weil er muͤde iſt, weil es Nacht iſt,
weil er nicht ſiehet, wo er die Nacht ſonſt werde
zubringen koͤnnen, als hier. (*) — Die zweyte
Luͤge des Lindelle iſt von eben dem Schlage.
ſagt er,
nachdem ſie der alte Poly-
〟dor an der Ermordung ihres Sohnes verhin-
〟dert, fragt ihn, was fuͤr eine Belohnung er
〟dafuͤr verlange; und der alte Narr bittet ſie,
〟ihn zu verjuͤngen.〟
Bittet ſie, ihn zu ver-
juͤngen?
antwortet der Alte,
iſt dieſer Dienſt ſelbſt; iſt
dieſes, daß ich dich vergnuͤgt ſehe. Was koͤnn-
teſt du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich
verlange nichts. Eines moͤchte ich mir wuͤn-
ſchen; aber das ſtehet weder in deiner, noch in
irgend
[344] irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu ge-
waͤhren; daß mir die Laſt meiner Jahre, unter
welcher ich erliege, erleichtert wuͤrde, u. ſ. w.〟 (*)
Heißt das: erleichtere Du mir dieſe Laſt? gieb
Du mir Staͤrke und Jugend wieder? Ich will
gar nicht fagen, daß eine ſolche Klage uͤber die
Ungemaͤchlichkeiten des Alters hier an dem ſchick-
lichſten Orte ſtehe, ob ſie ſchon vollkommen in
dem Charakter des Polydors iſt. Aber iſt denn
jede Unſchicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten
nicht Polydor und ſein Dichter, im eigentlich-
ſten Verſtande wahnwitzig ſeyn, wenn dieſer
jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die
Lindelle ihnen anluͤgt. — Anluͤgt! Luͤgen! Ver-
dienen ſolche Kleinigkeiten wohl ſo harte Wor-
te? — Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wich-
tig genug war, darum zu luͤgen, ſoll das einem
dritten nicht wichtig genug ſeyn, ihm zu ſagen,
daß er gelogen hat? —
Ham-
[[345]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und vierzigſtes Stuͤck.
Ich komme auf den Tadel des Lindelle, wel-
cher den Voltaire ſo gut als den Maffei
trift, dem er doch nur allein zugedacht war.
Ich uͤbergehe die beiden Punkte, bey welchen
es Voltaire ſelbſt fuͤhlte, daß der Wurf auf ihn
zuruͤckpralle. — Lindelle hatte geſagt, daß es
ſehr ſchwache und unedle Merkmale waͤren, aus
welchen Merope bey dem Maffei ſchlieſſe, daß
Aegisth der Moͤrder ihres Sohnes ſey. Vol-
taire antwortet:
〟Ich kann es Ihnen nicht ber-
〟gen; ich finde, daß Maffei es viel kuͤnſtlicher
〟angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu
〟machen, daß ihr Sohn der Moͤrder ihres Soh-
〟nes ſey. Er konnte ſich eines Ringes dazu be-
〟dienen, und das durfte ich nicht; denn ſeit dem
〟koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in ſeinen
〟Satyren ſpottet, wuͤrde das auf unſerm Thea-
〟ter ſehr klein ſcheinen.〟
Aber mußte denn
X xVol-
[346] Voltaire eben eine alte Ruͤſtung anſtatt des Rin-
ges waͤhlen? Als Narbas das Kind mit ſich
nahm, was bewog ihn denn, auch die Ruͤſtung
des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit
Aegisth, wenn er erwachſen waͤre, ſich keine
neue Ruͤſtung kaufen duͤrfe, und ſich mit der
alten ſeines Vaters behelfen koͤnne? Der vor-
ſichtige Alte! Ließ er ſich nicht auch ein Paar
alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder
geſchah es, damit Aegisth einmal an dieſer Ruͤ-
ſtung erkannt werden koͤnne? So eine Ruͤſtung
gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Fa-
milienruͤſtung, die Vulkan ſelbſt dem Großgroß-
vater gemacht hatte? Eine undurchdringliche
Ruͤſtung? Oder wenigſtens mit ſchoͤnen Figuren
und Sinnbildern verſehen, an welchen ſie Euri-
kles und Merope nach funfzehn Jahren ſogleich
wieder erkannten? Wenn das iſt: ſo mußte ſie
der Alte freylich mitnehmen; und der Hr. von
Voltaire hat Urſache, ihm verbunden zu ſeyn,
daß er unter den blutigen Verwirrungen, bey
welchen ein anderer nur an das Kind gedacht
haͤtte, auch zugleich an eine ſo nuͤtzliche Moͤbel
dachte. Wenn Aegisth ſchon das Reich ſeines
Vaters verlor, ſo mußte er doch nicht auch die
Ruͤſtung ſeines Vaters verlieren, in der er jenes
wieder erobern konnte. — Zweytens hatte ſich
Lindelle uͤber den Polyphont des Maffei aufge-
halten, der die Merope mit aller Gewalt hey-
rathen
[347] rathen will. Als ob der Voltairiſche das nicht
auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher:
〟Weder Maffei, noch ich, haben die Urſachen
〟dringend genug gemacht, warum Polyphont
〟durchaus Meropen zu ſeiner Gemahlinn ver-
〟langt. Das iſt vielleicht ein Fehler des Stof-
〟fes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen ſol-
〟chen Fehler fuͤr ſehr gering halte, wenn das
〟Intereſſe, welches er hervor bringt, betraͤcht-
〟lich iſt.〟
Nein, der Fehler liegt nicht in dem
Stoffe. Denn in dieſem Umſtande eben hat
Maffei den Stoff veraͤndert. Was brauchte
Voltaire dieſe Veraͤnderung anzunehmen, wenn
er ſeinen Vortheil nicht dabey ſahe? —
Der Punkte ſind mehrere, bey welchen Vol-
taire eine aͤhnliche Ruͤckſicht auf ſich ſelbſt haͤtte
nehmen koͤnnen: aber welcher Vater ſieht alle
Fehler ſeines Kindes? Der Fremde, dem ſie in
die Augen fallen, braucht darum gar nicht ſcharf-
ſichtiger zu ſeyn, als der Vater; genug, daß
er nicht der Vater iſt. Geſetzt alſo, ich waͤre die-
ſer Fremde!
Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er ſeine
Scenen oft nicht verbinde, daß er das Theater
oft leer laſſe, daß ſeine Perſonen oft ohne Urſache
auftraͤten und abgiengen; alles weſentliche Feh-
ler, die man heut zu Tage auch dem armſelig-
ſten Poeten nicht mehr verzeihe. — Weſentliche
Fehler dieſes? Doch das iſt die Sprache der
X x 2fran-
[348] franzoͤſiſchen Kunſtrichter uͤberhaupt; die muß
ich ihm ſchon laſſen, wenn ich nicht ganz von
vorne mit ihm anfangen will. So weſentlich
oder unweſentlich ſie aber auch ſeyn moͤgen; wol-
len wir es Lindellen auf ſein Wort glauben, daß
ſie bey den Dichtern ſeines Volks ſo ſelten ſind?
Es iſt wahr, ſie ſind es, die ſich der groͤßten
Regelmaͤßigkeit ruͤhmen; aber ſie ſind es auch,
die entweder dieſen Regeln eine ſolche Ausdeh-
nung geben, daß es ſich kaum mehr der Muͤhe
verlohnet, ſie als Regeln vorzutragen, oder ſie
auf eine ſolche linke und gezwungene Art beobach-
ten, daß es weit mehr beleidiget, ſie ſo beobach-
tet zu ſehen, als gar nicht. (*) Beſonders iſt
Vol-
[349] Voltaire ein Meiſter, ſich die Feſſeln der Kunſt
ſo leicht, ſo weit zu machen, daß er alle Freyheit
behaͤlt, ſich zu bewegen, wie er will; und doch
bewegt er ſich oft ſo plump und ſchwer, und
macht ſo aͤngſtliche Verdrehungen, daß man
meinen ſollte, jedes Glied von ihm ſey an ein
beſonderes Klotz geſchmiedet. Es koſtet mir
Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die-
ſem Geſichtspunkte zu betrachten; doch da es,
bey der gemeinen Klaſſe von Kunſtrichtern, noch
X x 3ſo
(*)
[350] ſo ſehr Mode iſt, es faſt aus keinem andern, als
aus dieſem, zu betrachten; da es der iſt, aus wel-
chem die Bewunderer des franzoͤſiſchen Theaters,
das lauteſte Geſchrey erheben: ſo will ich doch
erſt genauer hinſehen, ehe ich in ihr Geſchrey
mit einſtimme.
1. Die Scene iſt zu Meſſene, in dem Pallaſte
der Merope. Das iſt, gleich Anfangs, die
ſtrenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den
Grundſaͤtzen und Beyſpielen der Alten, ein He-
delin verlangen zu koͤnnen glaubte. Die Scene
muß kein ganzer Pallaſt, ſondern nur ein Theil
des Pallaſtes ſeyn, wie ihn das Auge aus einem
und eben demſelben Standorte zu uͤberſehen faͤ-
hig iſt. Ob ſie ein ganzer Pallaſt, oder eine
ganze Stadt, oder eine ganze Provinz iſt, das
macht im Grunde einerley Ungereimtheit. Doch
ſchon Corneille gab dieſem Geſetze, von dem ſich
ohnedem kein ausdruͤckliches Gebot bey den Al-
ten findet, die weitere Ausdehnung, und woll-
te, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes
hinreichend ſey. Wenn er ſeine beſten Stuͤcke
von dieſer Seite rechtfertigen wollte, ſo mußte
er wohl ſo nachgebend ſeyn. Was Corneillen
aber erlaubt war, das muß Voltairen Recht
ſeyn. Ich ſage alſo nichts dagegen, daß eigent-
lich die Scene bald in dem Zimmer der Koͤniginn,
bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vor-
hofe, bald nach dieſer bald nach einer andern
Aus-
[351] Ausſicht, muß gedacht werden. Nur haͤtte er
bey dieſen Abwechſelungen auch die Vorſicht
brauchen ſollen, die Corneille dabey empfahl:
ſie muͤſſen nicht in dem nehmlichen Akte, am
wenigſten in der nehmlichen Scene angebracht
werden. Der Ort, welcher zu Anfange des
Akts iſt, muß durch dieſen ganzen Akt dauern;
und ihn vollends in eben derſelben Scene abaͤn-
dern, oder auch nur erweitern oder verengern,
iſt die aͤußerſte Ungereimtheit von der Welt. —
Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen
Platze, unter einem Saͤulengange, oder in ei-
nem Saale ſpielen, in deſſen Vertiefung das
Grabmahl des Kreſphontes zu ſehen, an wel-
chem die Koͤniginn den Aegisth mit eigner Hand
hinrichten will: was kann man ſich armſeliger
vorſtellen, als daß, mitten in der vierten Scene,
Eurikles, der den Aegisth wegfuͤhret, dieſe
Vertiefung hinter ſich zuſchlieſſen muß? Wie
ſchließt er ſie zu? Faͤllt ein Vorhang hinter ihm
nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das,
was Hedelin von dergleichen Vorhaͤngen uͤber-
haupt ſagt, gepaßt hat, ſo iſt es auf dieſen; (*)
be-
[352] beſonders wenn man zugleich die Urſache erwegt,
warum Aegisth ſo ploͤtzlich abgefuͤhrt, durch
dieſe Maſchinerie ſo augenblicklich aus dem Ge-
ſichte gebracht werden muß, von der ich hernach
reden will. — Eben ſo ein Vorhang wird in dem
fuͤnften Akte aufgezogen. Die erſten ſechs Sce-
nen ſpielen in einem Saale des Pallaſtes: und
mit der ſiebenden erhalten wir auf einmal die
offene Ausſicht in den Tempel, um einen todten
Koͤrper in einem blutigen Rocke ſehen zu koͤnnen.
Durch welches Wunder? Und war dieſer An-
blick dieſes Wunders wohl werth? Man wird
ſagen, die Thuͤren dieſes Tempels eroͤffnen ſich
auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem
ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen
wir die Einſicht in denſelben. Ich verſtehe;
dieſer Tempel war Ihro verwittweten Koͤnigli-
chen Majeſtaͤt Schloßkapelle, die gerade an den
Saal ſtieß, und mit ihm Communication hatte,
damit Allerhoͤchſtdieſelben jederzeit trockes Fußes
zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten.
Nur ſollten wir ſie dieſes Weges nicht allein her-
auskommen, ſondern auch hereingehen ſehen;
wenigſtens den Aegisth, der am Ende der vier-
ten Scene zu laufen hat, und ja den kuͤrzeſten
Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf,
ſeine That ſchon vollbracht haben ſoll.
Ham-
[[353]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fuͤnf und vierzigſtes Stuͤck.
2. Nicht weniger bequem hat es ſich der Herr
von Voltaire mit der Einheit der Zeit
gemacht. Man denke ſich einmal al-
les das, was er in ſeiner Merope vorgehen laͤßt,
an Einem Tage geſchehen; und ſage, wie viel
Ungereimtheiten man ſich dabey denken muß.
Man nehme immer einen voͤlligen, natuͤrlichen
Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun-
den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau-
ben will. Es iſt wahr, ich ſehe zwar keine phy-
ſikaliſche Hinderniſſe, warum alle die Begeben-
heiten in dieſem Zeitraume nicht haͤtten geſche-
hen koͤnnen; aber deſto mehr moraliſche. Es
iſt freylich nicht unmoͤglich, daß man innerhalb
zwoͤlf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten
und mit ihr getrauet ſeyn kann; beſonders,
wenn man es mit Gewalt vor den Prieſter
ſchleppen darf. Aber wenn es geſchieht, ver-
Y ylangt
[354] langt man nicht eine ſo gewaltſame Beſchleuni-
gung durch die allertriftigſten und dringendſten
Urſachen gerechtfertiget zu wiſſen? Findet ſich
hingegen auch kein Schatten von ſolchen Urſa-
chen, wodurch ſoll uns, was blos phyſikaliſcher
Weiſe moͤglich iſt, denn wahrſcheinlich werden?
Der Staat will ſich einen Koͤnig waͤhlen; Po-
lyphont und der abweſende Aegisth koͤnnen al-
lein dabey in Betrachtung kommen; um die An-
ſpruͤche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont
die Mutter deſſelben heyrathen; an eben demſel-
den Tage, da die Wahl geſchehen ſoll, macht
er ihr den Antrag; ſie weiſet ihn ab; die Wahl
geht vor ſich, und faͤllt fuͤr ihn aus; Polyphont
iſt alſo Koͤnig, und man ſollte glauben, Aegisth
moͤge [nunmehr][erſcheinen], wenn er wolle, der
neuerwaͤhlte Koͤnig koͤnne es, vors erſte, mit ihm
anſehen. Nichtsweniger; er beſtehet auf der
Heyrath, und beſtehet darauf, daß ſie noch deſ-
ſelben Tages vollzogen werden ſoll; eben des
Tages, an dem er Meropen zum erſtenmale
ſeine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn
das Volk zum Koͤnige ausgerufen. Ein ſo alter
Soldat, und ein ſo hitziger Freyer! Aber ſeine
Freyerey, iſt nichts als Politik. Deſto ſchlim-
mer; diejenige, die er in ſein Intereſſe ver-
wickeln will, ſo zu mißhandeln! Merope hatte
ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht
Koͤnig war, als ſie glauben mußte, daß ihn ihre
Hand
[355] Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen ſoll-
te; aber nun iſt er Koͤnig, und iſt es geworden,
ohne ſich auf den Titel ihres Gemahls zu gruͤn-
den; er wiederhole ſeinen Antrag, und viel-
leicht giebt ſie es naͤher; er laſſe ihr Zeit, den
Abſtand zu vergeſſen, der ſich ehedem zwiſchen
ihnen befand, ſich zu gewoͤhnen, ihn als ihres
gleichen zu betrachten, und vielleicht iſt nur
kurze Zeit dazu noͤthig. Wenn er ſie nicht ge-
winnen kann, was hilft es ihn, ſie zu zwingen?
Wird es ihren Anhaͤngern unbekannt bleiben,
daß ſie gezwungen worden? Werden ſie ihn
nicht auch darum haſſen zu muͤſſen glauben?
Werden ſie nicht auch darum dem Aegisth, ſo-
bald er ſich zeigt, beyzutreten, und in ſeiner Sache
zugleich die Sache ſeiner Mutter zu betreiben,
ſich fuͤr verbunden achten? Vergebens, daß das
Schickſal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn
Jahr ſonſt ſo bedaͤchtlich zu Werke gegangen,
dieſen Aegisth nun ſelbſt in die Haͤnde liefert,
und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne
alle Anſpruͤche zu beſitzen, anbietet, das weit
kuͤrzer, weit unfehlbarer iſt, als die Verbin-
dung mit ſeiner Mutter: es ſoll und muß gehey-
rathet ſeyn, und noch heute, und noch dieſen
Abend; der neue Koͤnig will bey der alten Koͤ-
niginn noch dieſe Nacht ſchlafen, oder es geht
nicht gut. Kann man ſich etwas komiſcheres
denken? In der Vorſtellung, meine ich; denn
Y y 2daß
[356] daß es einem Menſchen, der nur einen Funken
von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich
ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was
hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen
Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-
chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak-
tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf
die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch
lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo-
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-
tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber
nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage
thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan
werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es
an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die
moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen
und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver-
letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine
Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer
ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich-
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.
in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge-
reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen
ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen
merklich, welche den Abſtand des einen Ortes
von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht
alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;
aber
[357] aber alle Menſchen koͤnnen es an ſich ſelbſt mer-
ken, zu welchen Handlungen man ſich Einen
Tag, und zu welchen man ſich mehrere nehmen
ſollte. Welcher Dichter alſo die phyſiſche Ein-
heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung
der moraliſchen zu beobachten verſtehet, und ſich
kein Bedenken macht, dieſe jener aufzuopfern,
der verſtehet ſich ſehr ſchlecht auf ſeinen Vortheil,
und opfert das Weſentlichere dem Zufaͤlligen
auf. — Maffei nimmt doch wenigſtens noch eine
Nacht zu Huͤlfe; und die Vermaͤhlung, die Po-
lyphont der Merope heute andeutet, wird erſt
den Morgen darauf vollzogen. Auch iſt es bey
ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den
Thron beſteiget; die Begebenheiten preſſen ſich
folglich weniger; ſie eilen, aber ſie uͤbereilen ſich
nicht. Voltairens Polyphont iſt ein Epheme-
ron von einem Koͤnige, der ſchon darum den
zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil
er den erſten ſeine Sache ſo gar albern und
dumm anfaͤngt.
3. Maffei, ſagt Lindelle, verbinde oͤfters die
Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein
Fehler, den man heut zu Tage auch den gering-
ſten Poeten nicht verzeihe.
〟Die Verbindung
〟der Scenen,
ſagt Corneille,
iſt eine große
〟Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns
〟von der Stetigkeit der Handlung beſſer verſi-
〟chern, als die Stetigkeit der Vorſtellung. Sie
Y y 3〟iſt
[358] 〟iſt aber doch nur eine Zierde, und keine Regel;
〟denn die Alten haben ſich ihr nicht immer unter-
〟worfen u. ſ. w.〟
Wie? iſt die Tragoͤdie bey
den Franzoſen ſeit ihrem großen Corneille ſo viel
vollkommener geworden, daß das, was dieſer
blos fuͤr eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein
unverzeihlicher Fehler iſt? Oder haben die Fran-
zoſen ſeit ihm das Weſentliche der Tragoͤdie noch
mehr verkennen gelernt, daß ſie auf Dinge einen
ſo großen Werth legen, die im Grunde keinen ha-
ben? Bis uns dieſe Frage entſchieden iſt, mag Cor-
neille immer wenigſtens eben ſo glaubwuͤrdig ſeyn,
als Lindelle; und was, nach jenem, alſo eben
noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei
iſt, mag gegen den minder ſtreitigen des Vol-
taire aufgehen, nach welchem er das Theater oͤf-
ters laͤnger voll laͤßt, als es bleiben ſollte. Wenn
z. E., in dem erſten Akte, Polyphont zu der
Koͤniginn koͤmmt, und die Koͤniginn mit der
dritten Scene abgeht, mit was fuͤr Recht kann
Polyphont in dem Zimmer der Koͤniginn ver-
weilen? Iſt dieſes Zimmer der Ort, wo er ſich
gegen ſeinen Vertrauten ſo frey herauslaſſen
ſollte? Das Beduͤrfniß des Dichters verraͤth
ſich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der
wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig
wiſſen muͤſſen, nur daß wir ſie an einem Orte
erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haͤt-
ten.
4. Maf-
[359]
4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge-
hen ſeiner Perſonen oft gar nicht: — und Vol-
taire motivirt es eben ſo oft falſch; welches wohl
noch ſchlimmer iſt. Es iſt nicht genug, daß eine
Perſon ſagt, warum ſie koͤmmt, man muß auch
aus der Verbindung einſehen, daß ſie darum
kommen muͤſſen. Es iſt nicht genug, daß ſie
ſagt, warum ſie abgeht, man muß auch in dem
Folgenden ſehen, daß ſie wirklich darum abge-
gangen iſt. Denn ſonſt iſt das, was ihr der
Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer
Vorwand, und keine Urſache. Wenn z. E.
Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts
abgeht, um, wie er ſagt, die Freunde der Koͤ-
niginn zu verſammeln; ſo muͤßte man von dieſen
Freunden und von dieſer ihrer Verſammlung
auch hernach etwas hoͤren. Da wir aber nichts
davon zu hoͤren bekommen, ſo iſt ſein Vorgeben
ein ſchuͤlerhaftes Peto veniam exeundi, mit
der erſten beſten Luͤgen, die dem Knaben einfaͤllt.
Er geht nicht ab, um das zu thun, was er ſagt,
ſondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer
Nachricht wiederkommen zu koͤnnen, die der
Poet durch keinen andern ertheilen zu laſſen
wußte. Noch ungeſchickter geht Voltaire mit
dem Schluſſe ganzer Akte zu Werke. Am Ende
des dritten ſagt Polyphont zu Meropen, daß
der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feyerlichen
Verbindung ſchon alles bereit ſey; und ſo geht
er
[360] er mit einem
ab. Madame
aber folgt ihm nicht, ſondern geht mit einer
Exklamation zu einer andern Couliſſe hinein;
worauf Polyphont den vierten Akt wieder an-
faͤngt, und nicht etwa ſeinen Unwillen aͤußert,
daß ihm die Koͤniginn nicht in den Tempel ge-
folgt iſt, (denn er irrte ſich, es hat mit der Trau-
ung noch Zeit,) ſondern wiederum mit ſeinem
Erox Dinge plaudert, uͤber die er nicht hier,
uͤber die er zu Hauſe in ſeinem Gemache, mit
ihm haͤtte ſchwatzen ſollen. Nun ſchließt auch
der vierte Akt, und ſchließt vollkommen wie der
dritte. Polyphont citirt die Koͤniginn nochmals
nach dem Tempel, Merope ſelbſt ſchreyet,
mon outrage;’
und zu den Opferprieſtern, die ſie dahin abholen
ſollen, ſagt ſie,
Folglich werden ſie doch gewiß zu Anfange des
fuͤnften Akts in dem Tempel ſeyn, wo ſie nicht
ſchon gar wieder zuruͤck ſind? Keines von beiden;
gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch
etwas vergeſſen, und koͤmmt noch einmal wieder,
und ſchickt auch die Koͤniginn noch einmal wieder.
Vortrefflich! Zwiſchen dem dritten und vierten, und
zwiſchen dem vierten und fuͤnften Akte geſchieht dem-
nach nicht allein das nicht, was geſchehen ſollte; ſon-
dern es geſchieht auch, platter Dings, gar nichts, und
der dritte u. vierte Akt ſchlieſſen blos, damit der vierte
und fuͤnfte wieder anfangen koͤnnen.
Ham-
[[361]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und vierzigſtes Stuͤck.
Ein anderes iſt, ſich mit den Regeln abfinden;
ein anderes, ſie wirklich beobachten. Je-
nes thun die Franzoſen; dieſes ſcheinen
nur die Alten verſtanden zu haben.
Die Einheit der Handlung war das erſte dra-
matiſche Geſetz der Alten; die Einheit der Zeit
und die Einheit des Ortes waren gleichſam nur
Folgen aus jener, die ſie ſchwerlich ſtrenger be-
obachtet haben wuͤrden, als es jene nothwendig
erfordert haͤtte, wenn nicht die Verbindung des
Chors dazu gekommen waͤre. Da nehmlich ihre
Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen ha-
ben mußten, und dieſe Menge immer die nehm-
liche blieb, welche ſich weder weiter von ihren
Wohnungen entfernen, noch laͤnger aus denſel-
ben wegbleiben konnte, als man gewoͤhnlicher-
maaßen der bloßen Neugierde wegen zu thun
Z zpflegt:
[362] pflegt; ſo konnten ſie faſt nicht anders, als den
Ort auf einen und eben denſelben individuellen
Platz, und die Zeit auf einen und eben denſel-
ben Tag einſchraͤnken. Dieſer Einſchraͤnkung
unterwarfen ſie ſich denn auch bona fide; aber
mit einer Biegſamkeit, mit einem Verſtande,
daß ſie, unter neunmalen, ſiebenmal weit mehr
dabey gewannen, als verloren. Denn ſie lieſ-
ſen ſich dieſen Zwang einen Anlaß ſeyn, die
Handlung ſelbſt ſo zu ſimplifiiren, alles Ueber-
fluͤßige ſo ſorgfaͤltig von ihr abzuſondern, daß
ſie, auf ihre weſentlichſten Beſtandtheile ge-
bracht, nichts als ein Ideal von dieſer Hand-
lung ward, welches ſich gerade in derjenigen
Form am gluͤcklichſten ausbildete, die den we-
nigſten Zuſatz von Umſtaͤnden der Zeit und des
Ortes verlangte.
Die Franzoſen hingegen, die an der wahren
Einheit der Handlung keinen Geſchmack fanden,
die durch die wilden Intriguen der ſpaniſchen
Stuͤcke ſchon verwoͤhnt waren, ehe ſie die grie-
chiſche Simplicitaͤt kennen lernten, betrachteten
die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als
Folgen jener Einheit, ſondern als fuͤr ſich zur
Vorſtellung einer Handlung unumgaͤngliche Er-
forderniſſe, welche ſie auch ihren reichern und
verwickeltern Handlungen in eben der Strenge
anpaſſen muͤßten, als es nur immer der Gebrauch
des
[363] des Chors erfordern koͤnnte, dem ſie doch gaͤnz-
lich entſagt hatten. Da ſie aber fanden, wie
ſchwer, ja wie unmoͤglich oͤfters, dieſes ſey: ſo
trafen ſie mit den tyranniſchen Regeln, welchen
ſie ihren voͤlligen Gehorſam aufzukuͤndigen, nicht
Muth genug hatten, ein Abkommen. Anſtatt
eines einzigen Ortes, fuͤhrten ſie einen unbe-
ſtimmten Ort ein, unter dem man ſich bald den,
bald jenen, einbilden koͤnne; genug, wenn dieſe
Orte zuſammen nur nicht gar zu weit aus einan-
der laͤgen, und keiner eine beſondere Verzierung
beduͤrfe, ſondern die nehmliche Verzierung un-
gefehr dem einen ſo gut als dem andern zukom-
men koͤnne. Anſtatt der Einheit des Tages
ſchoben ſie die Einheit der Dauer unter; und
eine gewiſſe Zeit, in der man von keinem Auf-
gehen und Untergehen der Sonne hoͤrte, in der
niemand zu Bette ging, wenigſtens nicht oͤfterer
als einmal zu Bette ging, mochte ſich doch ſonſt
noch ſo viel und mancherley darinn eraͤugnen,
ließen ſie fuͤr Einen Tag gelten.
Niemand wuͤrde ihnen dieſes verdacht haben;
denn unſtreitig laſſen ſich auch ſo noch vortreff-
liche Stuͤcke machen; und das Sprichwort ſagt,
bohre das Bret, wo es am duͤnnſten iſt. — Aber
ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren
laſſen. Ich muß ihm nicht immer nur die dicke-
ſte Kante, den aſtigſten Theil des Bretes zei-
Z z 2gen,
[364] gen, und ſchreyen: Da bohre mir durch! da
pflege ich durchzubohren! — Gleichwohl ſchreyen
die franzoͤſiſchen Kunſtrichter alle ſo; beſonders
wenn ſie auf die dramatiſchen Stuͤcke der Eng-
laͤnder kommen. Was fuͤr ein Aufhebens ma-
chen ſie von der Regelmaͤßigkeit, die ſie ſich ſo
unendlich erleichtert haben! — Doch mir eckelt,
mich bey dieſen Elementen laͤnger aufzuhalten.
Moͤchten meinetwegen Voltairens und Maf-
feis Merope acht Tage dauern, und an ſieben
Orten in Griechenland ſpielen! Moͤchten ſie aber
auch nur die Schoͤnheiten haben, die mich dieſe
Pedanterieen vergeſſen machen!
Die ſtrengſte Regelmaͤßigkeit kann den klein-
ſten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen.
Wie abgeſchmackt Polyphont bey dem Maffei
oͤfters ſpricht und handelt, iſt Lindellen nicht
entgangen. Er hat Recht uͤber die heilloſen
Maximen zu ſpotten, die Maffei ſeinem Tyran-
nen in den Mund legt. Die Edelſten und Be-
ſten des Staats aus dem Wege zu raͤumen; das
Volk in alle die Wolluͤſte zu verſenken, die es
entkraͤften und weibiſch machen koͤnnen; die groͤß-
ten Verbrechen, unter dem Scheine des Mit-
leids und der Gnade, ungeſtraft zu laſſen u. ſ. w.
wenn es einen Tyrannen giebt, der dieſen un-
ſinnigen Weg zu regieren einſchlaͤgt, wird er
ſich
[365] ſich deſſen auch ruͤhmen? So ſchildert man die
Tyrannen in einer Schuluͤbung; aber ſo hat
noch keiner von ſich ſelbſt geſprochen. (*) — Es
iſt wahr, ſo gar froſtig und wahnwitzig laͤßt
Voltaire ſeinen Polyphont nicht deklamiren;
aber mit unter laͤßt er ihn doch auch Dinge ſa-
gen, die gewiß kein Mann von dieſer Art uͤber
die Zunge bringt. Z. E.
patience
Fait ſur nous à pas lents deſcendre
la vengence —’
Z z 3Ein
[366]
Ein Polyphont ſollte dieſe Betrachtung wohl
machen; aber er macht ſie nie. Noch weniger
wird er ſie in dem Augenblicke machen, da er
ſich zu neuen Verbrechen aufmuntert:
Wie unbeſonnen, und in den Tag hinein, er
gegen Meropen handelt, habe ich ſchon beruͤhrt.
Sein Betragen gegen den Aegisth ſieht einem
eben ſo verſchlagenen als entſchloſſenen Manne,
wie ihn uns der Dichter von Anfange ſchildert,
noch weniger aͤhnlich. Aegisth haͤtte bey dem
Opfer gerade nicht erſcheinen muͤſſen. Was
ſoll er da? Ihm Gehorſam ſchwoͤren? In den
Augen des Volks? Unter dem Geſchrey ſeiner
verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehl-
bar geſchehen, was er zuvor ſelbſt beſorgte? (*)
Er
(*)
[367] Er hat ſich fuͤr ſeine Perſon alles von dem
Aegisth zu verſehen; Aegisth verlangt nur ſein
Schwerdt wieder, um den ganzen Streit zwiſchen
ihnen mit eins zu entſcheiden; und dieſen tollkuͤh-
nen Aegisth laͤßt er ſich an dem Altare, wo das
erſte das beſte, was ihm in die Hand faͤllt, ein
Schwerdt werden kann, ſo nahe kommen? Der
Polyphont des Maffei iſt von dieſen Ungereimt-
heiten frey; denn dieſer kennt den Aegisth nicht,
und haͤlt ihn fuͤr ſeinen Freund. Warum haͤtte
Aegisth ſich ihm alſo bey dem Altare nicht naͤ-
hern duͤrfen? Niemand gab auf ſeine Bewe-
gungen Acht; der Streich war geſchehen, und
er zu dem zweyten ſchon bereit, ehe es noch ei-
nem Menſchen einkommen konnte, den erſten zu
raͤchen.
〟Me-
[368]
ſagt Lindelle,
wenn ſie bey dem
〟Maffei erfaͤhrt, daß ihr Sohn ermordet ſey,
〟will dem Moͤrder das Herz aus dem Leibe reiſ-
〟ſen, und es mit ihren Zaͤhnen zerfleiſchen. (*)
〟Das heißt, ſich wie eine Kannibalinn, und
〟nicht wie eine betruͤbte Mutter ausdruͤcken;
〟das Anſtaͤndige muß uͤberall beobachtet wer-
〟den.〟
Ganz recht; aber obgleich die franzoͤ-
ſiſche Merope delikater iſt, als daß ſie ſo in ein
rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beiſſen
ſollte: ſo duͤnkt mich doch, iſt ſie im Grunde
eben ſo gut Kannibalinn, als die Italieni-
ſche. —
Ham-
[[369]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und vierzigſtes Stuͤck.
Und wie das? — Wenn es unſtreitig iſt, daß
man den Menſchen mehr nach ſeinen Tha-
ten, als nach ſeinen Reden richten muß;
daß ein raſches Wort, in der Hitze der Leiden-
ſchaft ausgeſtoſſen, fuͤr ſeinen moraliſchen Cha-
rakter wenig, eine uͤberlegte kalte Handlung
aber alles beweiſet: ſo werde ich wohl Recht ha-
ben. Merope, die ſich in der Ungewißheit, in
welcher ſie von dem Schickſale ihres Sohnes iſt,
dem bangſten Kummer uͤberlaͤßt, die immer das
Schrecklichſte beſorgt, und in der Vorſtellung,
wie ungluͤcklich ihr abweſender Sohn vielleicht
ſey, ihr Mitleid uͤber alle Ungluͤckliche erſtrecket:
iſt das ſchoͤne Ideal einer Mutter. Merope,
die in dem Augenblicke, da ſie den Verluſt des
Gegenſtandes ihrer Zaͤrtlichkeit erfaͤhrt, von ih-
rem Schmerze betaͤubt dahin ſinkt, und ploͤtzlich,
ſobald ſie den Moͤrder in ihrer Gewalt hoͤret,
A a awieder
[370] wieder aufſpringt, und tobet, und wuͤthet, und
die blutigſte ſchrecklichſte Rache an ihm zu voll-
ziehen drohet, und wirklich vollziehen wuͤrde,
wenn er ſich eben unter ihren Haͤnden befaͤnde:
iſt eben dieſes Ideal, nur in dem Stande einer
gewaltſamen Handlung, in welchem es an Aus-
druck und Kraft gewinnet, was es an Schoͤn-
heit und Ruͤhrung verlohren hat. Aber Me-
rope, die ſich zu dieſer Rache Zeit nimmt, An-
ſtalten dazu vorkehret, Feyerlichkeiten dazu an-
ordnet, und ſelbſt die Henkerinn ſeyn, nicht
toͤdten ſondern martern, nicht ſtrafen ſondern
ihre Augen an der Strafe weiden will: iſt das
auch noch eine Mutter? Freylich wohl; aber
eine Mutter, wie wir ſie uns unter den Kani-
balinnen denken; eine Mutter, wie es jede
Baͤrinn iſt. — Dieſe Handlung der Merope
gefalle wem da will; mir ſage er es nur nicht,
daß ſie ihm gefaͤllt, wenn ich ihn nicht eben ſo
ſehr verachten, als verabſcheuen ſoll.
Vielleicht duͤrfte der Herr von Voltaire auch
dieſes zu einem Fehler des Stoffes machen; viel-
leicht duͤrfte er ſagen, Merope muͤſſe ja wohl den
Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen,
oder der ganze Coup de Théatre, den Ariſto-
teles ſo ſehr anpreiſe, der die empfindlichen Athe-
nienſer ehedem ſo ſehr entzuͤckt habe, falle weg.
Aber der Herr von Voltaire wuͤrde ſich wieder-
um irren, und die willkuͤhrlichen Abweichungen
des
[371] des Maffei abermals fuͤr den Stoff ſelbſt neh-
men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope
den Aegisth mit eigner Hand ermorden will,
allein er erfordert nicht, daß ſie es mit aller
Ueberlegung thun muß. Und ſo ſcheinet ſie es
auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben,
wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuͤr den
Auszug ſeines Stuͤcks annehmen duͤrfen. Der
Alte koͤmmt und ſagt der Koͤniginn weinend, daß
ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte ſie ge-
hoͤrt, daß ein Fremder angelangt ſey, der ſich
ruͤhme, ihn umgebracht zu haben, und daß die-
ſer Fremde ruhig unter ihrem Dache ſchlafe; ſie
ergreift das erſte das beſte, was ihr in die Haͤnde
faͤllt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des
Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er-
kennung geſchieht in dem Augenblicke, da das
Verbrechen geſchehen ſollte. Das war ſehr
ſimpel und natuͤrlich, ſehr ruͤhrend und menſch-
lich! Die Athenienſer zitterten fuͤr den Aegisth,
ohne Meropen verabſcheuen zu duͤrfen. Sie
zitterten fuͤr Meropen ſelbſt, die durch die gut-
artigſte Uebereilung Gefahr lief, die Moͤrderinn
ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire
aber machen mich blos fuͤr den Aegisth zittern;
denn auf ihre Merope bin ich ſo ungehalten, daß
ich es ihr faſt goͤnnen moͤchte, ſie vollfuͤhrte den
Streich. Moͤchte ſie es doch haben! Kann ſie
ſich Zeit zur Rache nehmen, ſo haͤtte ſie ſich auch
A a a 2Zeit
[372] Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum
iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren
Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten
Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver-
zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn
ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze
zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen
jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in-
tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf-
richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man
eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr
Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres
Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit
eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache
und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O
pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren,
oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly-
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-
rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein
Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*)
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-
phont Meropen gleich nach der Ermordung des
Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub-
lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an-
genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht?
Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym
Vol-
[373] Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren
bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu ge-
ben, (*) haͤtten ſie auch vor funfzehn Jahren
dazu vermoͤgen koͤnnen. Es war ſehr in der
Denkungsart der alten griechiſchen Frauen, daß
ſie ihren Abſcheu gegen die Moͤrder ihrer Maͤn-
ner uͤberwanden und ſie zu ihren zweyten Maͤn-
ner annahmen, wenn ſie ſahen, daß den Kin-
dern ihrer erſten Ehe Vortheil daraus erwachſen
koͤnne. Ich erinnere mich etwas aͤhnliches in
dem griechiſchen Roman des Charitons, den
d’Orville herausgegeben, ehedem geleſen zu ha-
ben, wo eine Mutter das Kind ſelbſt, welches
A a a 3ſie
[374] ſie noch unter ihren Herzen traͤgt, auf eine ſehr
ruͤhrende Art daruͤber zum Richter nimmt. Ich
glaube, die Stelle verdiente angefuͤhrt zu wer-
den; aber ich habe das Buch nicht bey der Hand.
Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire
ſelbſt in den Mund legt, hinreichend geweſen
waͤre, die Auffuͤhrung ſeiner Merope zu recht-
fertigen, wenn er ſie als die Gemahlinn des Po-
lyphonts eingefuͤhret haͤtte. Die kalten Scenen
einer politiſchen Liebe waͤren dadurch weggefal-
len; und ich ſehe mehr als einen Weg, wie das
Intereſſe durch dieſen Umſtand ſelbſt noch weit
lebhafter, und die Situationen noch weit intri-
guanter haͤtten werden koͤnnen.
Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege
bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und
weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es ei-
nen
(*)
[375] nen beſſern geben koͤnne, daß dieſer beſſere eben
der ſey, der ſchon vor Alters befahren worden,
ſo beguuͤgte er ſich auf jenem ein Paar Sand-
ſteine aus dem Gleiſſe zu raͤumen, uͤber die er
meinet, daß ſein Vorgaͤnger faſt umgeſchmiſſen
haͤtte. Wuͤrde er wohl ſonſt auch dieſes von
ihm beybehalten haben, daß Aegisth, unbekannt
mit ſich ſelbſt, von ungefehr nach Meſſene ge-
rathen, und daſelbſt durch kleine zweydeutige
Merkmahle in den Verdacht kommen muß, daß
er der Moͤrder ſeiner ſelbſt ſey? Bey dem Euri-
pides kannte ſich Aegisth vollkommen, kam in
dem ausdruͤcklichen Vorſatze, ſich zu raͤchen,
nach Meſſene, und gab ſich ſelbſt fuͤr den Moͤr-
der des Aegisth aus; nur daß er ſich ſeiner
Mutter nicht entdeckte, es ſey aus Vorſicht, oder
aus Mißtrauen, oder aus was ſonſt fuͤr Urſa-
che, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird
haben mangeln laſſen. Ich habe zwar oben (*)
dem Maffeini einige Gruͤnde zu allen den Ver-
aͤnderungen, die er mit dem Plane des Euripi-
des gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen.
Aber ich bin weit entfernt, die Gruͤnde fuͤr wich-
tig, und die Veraͤnderungen fuͤr gluͤcklich genug
auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder
Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen
zu thun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß
ſich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefehr
nach
[376] nach Meſſene koͤmmt, und per combinazione d’ac-
cidenti (wie Maffei es ausdruͤckt) fuͤr den Moͤrder
des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der
ganzen Geſchichte ein ſehr verwirrtes, zweydeutiges
und romanenhaftes Anſehen, ſondern ſchwaͤcht auch
das Jutereſſe ungemein. Bey dem Euripides wußte
es der Zuſchauer von dem Aegisth ſelbſt, daß er
Aegisth ſey, und je gewiſſer er es wußte, daß Me-
rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, deſto
groͤßer mußte nothwendig das Schrecken ſeyn, das
ihn daruͤber befiel, deſto quaͤlender das Mitleid,
welches er voraus ſahe, Falls Merope an der Voll-
ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuͤrde. Bey
dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir
es nur, daß der vermeinte Moͤrder des Sohnes der
Sohn wohl ſelbſt ſeyn koͤnne, und unſer groͤßtes
Schrecken iſt auf den einzigen Augenblick verſparet,
in welchem es Schrecken zu ſeyn aufhoͤret. Das
ſchlimmſte dabey iſt noch dieſes, daß die Gruͤnde,
die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der
Merope vermuthen laſſen, eben die Gruͤnde ſind,
aus welchen es Merope ſelbſt vermuthen ſollte; und
daß wir ihn, beſonders bey Voltairen, nicht in dem
allergeringſten Stuͤcke naͤher und zuverlaͤßiger ken-
nen, als ſie ihn ſelbſt kennen kann. Wir trauen
alſo dieſen Gruͤnden entweder eben ſo viel, als ih-
nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr.
Trauen wir ihnen eben ſo viel, ſo halten wir den
Juͤngling mit ihr fuͤr einen Betrieger, und das
Schickſal, das ſie ihm zugedacht, kann uns nicht
ſehr ruͤhren. Trauen wir ihnen mehr, ſo tadeln
wir Meropen, daß ſie nicht beſſer darauf merket,
und ſich von weit ſeichtern Gruͤnden hinreiſſen laͤßt.
Beides aber taugt nicht.
Ham-
[[377]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und vierzigſtes Stuͤck.
Es iſt wahr, unſere Ueberraſchung iſt groͤſ-
ſer, wenn wir es nicht eher mit voͤlliger
Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth
iſt, als bis es Merope ſelbſt erfaͤhrt. Aber das
armſelige Vergnuͤgen einer Ueberraſchung! Und
was braucht der Dichter uns zu uͤberraſchen?
Er uͤberraſche ſeine Perſonen, ſo viel er will;
wir werden unſer Theil ſchon davon zu nehmen
wiſſen, wenn wir, was ſie ganz unvermuthet
treffen muß, auch noch ſo lange vorausgeſehen
haben. Ja, unſer Antheil wird um ſo lebhafter
und ſtaͤrker ſeyn, je laͤnger und zuverlaͤßiger wir
es vorausgeſehen haben.
Ich will, uͤber dieſen Punkt, den beſten franzoͤ-
ſiſchen Kunſtrichter fuͤr mich ſprechen laſſen.
〟In
den verwickelten Stuͤcken,
ſagt Diderot,
(*) iſt
das
B b b
[378] das Intereſſe mehr die Wirkung des Plans, als
der Reden; in den einfachen Stuͤcken hingegen
iſt es mehr die Wirkung der Reden, als des
Plans. Allein worauf muß ſich das Intereſſe
beziehen? Auf die Perſonen? Oder auf die Zu-
ſchauer? Die Zuſchauer ſind nichts als Zeugen,
von welchen man nichts weiß. Folglich ſind es
die Perſonen, die man vor Augen haben muß.
Ohnſtreitig! Dieſe laſſe man den Knoten ſchuͤr-
zen, ohne daß ſie es wiſſen; fuͤr dieſe ſey alles
undurchdringlich; dieſe bringe man, ohne daß
ſie es merken, der Aufloͤſung immer naͤher und
naͤher. Sind dieſe nur in Bewegung, ſo wer-
den wir Zuſchauer den nehmlichen Bewegungen
ſchon auch nachgeben, ſie ſchon auch empfinden
muͤſſen. — Weit gefehlt, daß ich mit den mei-
ſten, die von der dramatiſchen Dichtkunſt ge-
ſchrieben haben, glauben ſollte, man muͤſſe die
Entwicklung vor dem Zuſchauer verbergen. Ich
daͤchte vielmehr, es ſollte meine Kraͤfte nicht
uͤberſteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen
vorſetzte, wo die Entwicklung gleich in der erſten
Scene verrathen wuͤrde, und aus dieſem Um-
ſtande ſelbſt das allerſtaͤrkeſte Intereſſe entſpraͤn-
ge. — Fuͤr den Zuſchauer muß alles klar ſeyn.
Er iſt der Vertraute einer jeden Perſon; er weiß
alles was vorgeht, alles was vorgegangen iſt;
und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts
beſſers thun kann, als daß man ihm gerade vor-
aus-
[379] ausſagt, was noch vorgehen ſoll. — O ihr Ver-
fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verſteht
ihr die Kunſt, und wie wenig beſitzt ihr von dem
Genie, das die Muſter hervorgebracht hat, auf
welche ihr ſie bauet, und das ſie uͤbertreten kann,
ſo oft es ihm beliebt! — Meine Gedanken moͤgen
ſo paradox ſcheinen, als ſie wollen: ſo viel weiß
ich gewiß, daß fuͤr Eine Gelegenheit, wo es
nuͤtzlich iſt, dem Zuſchauer einen wichtigen Vor-
fall ſo lange zu verhehlen, bis er ſich eraͤugnet,
es immer zehn und mehrere giebt, wo das In-
tereſſe gerade das Gegentheil erfodert. — Der
Dichter bewerkſtelliget durch ſein Geheimniß
eine kurze Ueberraſchung; und in welche anhal-
tende Unruhe haͤtte er uns ſtuͤrzen koͤnnen, wenn
er uns kein Geheimniß daraus gemacht haͤtte! —
Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder-
geſchlagen wird, den kann ich auch nur Einen
Augenblick betauern. Aber wie ſteht es als-
denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte,
wenn ich ſehe, daß ſich das Ungewitter uͤber mei-
nem oder eines andern Haupte zuſammenziehet,
und lange Zeit daruͤber verweilet? — Meinet-
wegen moͤgen die Perſonen alle einander nicht
kennen; wenn ſie nur der Zuſchauer alle ken-
net. — Ja, ich wollte faſt behaupten, daß der
Stoff, bey welchem die Verſchweigungen noth-
wendig ſind, ein undankbarer Stoff iſt; daß
der Plan, in welchem man ſeine Zuflucht zu ih-
B b b 2nen
[380] nen nimmt, nicht ſo gut iſt, als der, in wel-
chem man ſie haͤtte entuͤbrigen koͤnnen. Sie
werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben.
Immer werden wir uns mit Vorbereitungen be-
ſchaͤftigen muͤſſen, die entweder allzu dunkel
oder allzu deutlich ſind. Das ganze Gedicht
wird ein Zuſammenhang von kleinen Kunſtgrif-
fen werden, durch die man weiter nichts als eine
kurze Ueberraſchung hervorzubringen vermag.
Iſt hingegen alles, was die Perſonen angeht,
bekannt: ſo ſehe ich in dieſer Vorausſetzung die
Quelle der allerheftigſten Bewegungen. —
Warum haben gewiſſe Monologen eine ſo große
Wirkung? Darum, weil ſie mir die geheimen
Anſchlaͤge einer Perſon vertrauen, und dieſe
Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht
oder Hoffnung erfuͤllet. — Wenn der Zuſtand
der Perſonen unbekannt iſt, ſo kann ſich der Zu-
ſchauer fuͤr die Handlung nicht ſtaͤrker intereſ-
ſiren, als die Perſonen. Das Intereſſe aber
wird ſich fuͤr den Zuſchauer verdoppeln, wenn
er Licht genug hat, und es fuͤhlet, daß Hand-
lung und Reden ganz anders ſeyn wuͤrden, wenn
ſich die Perſonen kennten. Alsdenn nur werde
ich es kaum erwarten koͤnnen, was aus ihnen
werden wird, wenn ich das, was ſie wirklich
ſind, mit dem, was ſie thun oder thun wollen,
vergleichen kann.〟
Dieſes
[381]
Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es
klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di-
derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu-
ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange
den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt;
oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire
ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und
den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das
ganze Stuͤck
〟zu einem Zuſammenhange von
kleinen Kunſtgriffen〟
macht, die weiter nichts
als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.
Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine
Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering-
fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und
ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den
Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn-
det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung
ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der
Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden.
Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor-
gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun-
gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder
Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts
entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol-
ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil
haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung
ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken
der Alten abgeſehen hatten.
B b b 3Un-
[382]
Unter dieſen war beſonders Euripides ſeiner
Sache ſo gewiß, daß er faſt immer den Zu-
ſchauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er
ſie fuͤhren wollte. Ja, ich waͤre ſehr geneigt,
aus dieſem Geſichtspunkte die Vertheidigung
ſeiner Prologen zu uͤbernehmen, die den neuern
Kriticis ſo ſehr mißfallen.
ſagt
Hedelin,
daß er meiſtentheils alles, was vor der
Handlung des Stuͤcks vorhergegangen, durch
eine von ſeinen Hauptperſonen den Zuhoͤrern ge-
radezu erzehlen laͤßt, um ihnen auf dieſe Weiſe
das Folgende verſtaͤndlich zu machen: er nimmt
auch wohl oͤfters einen Gott dazu, von dem wir
annehmen muͤſſen, daß er alles weiß, und durch
den er nicht allein was geſchehen iſt, ſondern
auch alles, was noch geſchehen ſoll, uns kund
macht. Wir erfahren ſonach gleich Anfangs
die Entwicklung und die ganze Kataſtrophe,
und ſehen jeden Zufall ſchon von weiten kom-
men. Dieſes aber iſt ein ſehr merklicher Fehler,
welcher der Ungewißheit und Erwartung, die
auf dem Theater beſtaͤndig herrſchen ſollen,
gaͤnzlich zuwider iſt, und alle Annehmlichkeiten
des Stuͤckes vernichtet, die faſt einzig und al-
lein auf der Neuheit und Ueberraſchung beru-
hen.〟 (*)
Nein: der tragiſchſte von allen
tragiſchen Dichtern dachte ſo geringſchaͤtzig von
ſeiner Kunſt nicht; er wußte, daß ſie einer weit
hoͤ-
[383] hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß
die Ergetzung einer kindiſchen Neugierde das
geringſte ſey, worauf ſie Anſpruch mache. Er
ließ ſeine Zuhoͤrer alſo, ohne Bedenken, von
der bevorſtehenden Handlung eben ſo viel wiſ-
ſen, als nur immer ein Gott davon wiſſen konn-
te; und verſprach ſich die Ruͤhrung, die er her-
vorbringen wollte, nicht ſowohl von dem, was
geſchehen ſollte, als von der Art, wie es ge-
ſchehen ſollte. Folglich muͤßte den Kunſtrich-
tern hier eigentlich weiter nichts anſtoͤßig ſeyn,
als nur dieſes, daß er uns die noͤthige Kenntniß
des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht
durch einen feinern Kunſtgriff beyzubringen ge-
ſucht; daß er ein hoͤheres Weſen, welches wohl
noch dazu an der Handlung keinen Antheil
nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieſes hoͤ-
here Weſen ſich geradezu an die Zuſchauer wen-
den laſſen, wodurch die dramatiſche Gattung
mit der erzehlenden vermiſcht werde. Wenn ſie
aber ihren Tadel ſodann blos hierauf einſchraͤnk-
ten, was waͤre denn ihr Tadel? Iſt uns das
Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom-
men, als wenn es uns verſtohlner Weiſe zuge-
ſchanzt wird? Giebt es nicht Dinge, beſonders
in der Zukunft, die durchaus niemand anders
als ein Gott wiſſen kann? Und wenn das In-
tereſſe auf ſolchen Dingen beruht, iſt es nicht
beſſer, daß wir ſie durch die Darzwiſchenkunft
eines
[384] eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht?
Was will man endlich mit der Vermiſchung der
Gattungen uͤberhaupt? In den Lehrbuͤchern
ſondre man ſie ſo genau von einander ab, als
moͤglich: aber wenn ein Genie, hoͤherer Abſich-
ten wegen, mehrere derſelben in einem und eben
demſelben Werke zuſammenflieſſen laͤßt, ſo ver-
geſſe man das Lehrbuch, und unterſuche blos,
ob es dieſe hoͤhere Abſichten erreicht hat. Was
geht mich es an, ob ſo ein Stuͤck des Euripides
weder ganz Erzehlung, noch ganz Drama iſt?
Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß
mich dieſer Zwitter mehr vergnuͤgt, mehr er-
bauet, als die geſetzmaͤßigſten Geburten eurer
correkten Racinen, oder wie ſie ſonſt heiſſen.
Weil der Mauleſel weder Pferd noch Eſel iſt,
iſt er darum weniger eines von nutzbarſten laſt-
tragenden Thieren? —
Ham-
[[385]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und vierzigſtes Stuͤck.
Mit einem Worte; wo die Tadler des Eu-
ripides nichts als den Dichter zu ſehen
glauben, der ſich aus Unvermoͤgen, oder
aus Gemaͤchlichkeit, oder aus beiden Urſachen,
ſeine Arbeit ſo leicht machte, als moͤglich; wo
ſie die dramatiſche Kunſt in ihrer Wiege zu fin-
den vermeinen: da glaube ich dieſe in ihrer Voll-
kommenheit zu ſehen, und bewundere in jenem
den Meiſter, der im Grunde eben ſo regelmaͤßig
iſt, als ſie ihn zu ſeyn verlangen, und es nur dadurch
weniger zu ſeyn ſcheinet, weil er ſeinen Stuͤcken
eine Schoͤnheit mehr ertheilen wollen, von der
ſie keinen Begriff haben.
Denn es iſt klar, daß alle die Stuͤcke, deren
Prologe ihnen ſo viel Aergerniß machen, auch
ohne dieſe Prologe, vollkommen ganz, und
vollkommen verſtaͤndlich ſind. Streichet z. E.
vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor der
C c cHe-
[386] Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt
jenen ſogleich mit der Morgenandacht des Jon,
und dieſe mit den Klagen der Hekuba anfangen:
ſind beide darum im geringſten verſtuͤmmelt?
Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggeſtrichen habt,
vermiſſen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt
nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen
Zuſammenhang? Bekennet ſogar, daß die
Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, deſto ſchoͤ-
ner ſeyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen
nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreuſa
will vergiften laſſen, der Sohn dieſer Kreuſa iſt;
daß die Kreuſa, welche Jon von dem Altar zu
einem ſchmaͤhlichen Tode reiſſen will, die Mut-
ter dieſes Jon iſt; wenn wir nicht wuͤßten, daß
an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum
Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau
auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er-
fahren ſolle. Denn alles dieſes wuͤrde die
trefflichſten Ueberraſchungen geben, und dieſe
Ueberraſchungen wuͤrden noch dazu vorbereitet
genug ſeyn: ohne daß ihr ſagen koͤnntet, ſie
braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der
helleſten Wolke hervor; ſie erfolgten nicht, ſon-
dern ſie entſtuͤnden; man wolle euch, nicht auf
einmal etwas entdecken, ſondern etwas aufhef-
ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem
Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man-
gel der Kunſt vor? Vergebt ihm doch immer
einen
[387] einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der
Feder gut zu machen iſt. Einen wolluͤſtigen
Schoͤßling ſchneidet der Gaͤrtner in der Stille
ab, ohne auf den geſunden Baum zu ſchelten,
der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen
Augenblick annehmen, — es iſt wahr, es heißt
ſehr viel annehmen, — daß Euripides vielleicht
eben ſo viel Einſicht, eben ſo viel Geſchmack
koͤnne gehabt haben, als ihr; und es wundert
euch um ſo viel mehr, wie er bey dieſer großen
Einſicht, bey dieſem feinen Geſchmacke, dennoch
einen ſo groben Fehler begehen koͤnnen: ſo tretet
zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler
nennt, aus meinem Standorte. Euripides
ſahe es ſo gut, als wir, daß z. E. ſein Jon ohne
den Prolog beſtehen koͤnne; daß er, ohne den-
ſelben, ein Stuͤck ſey, welches die Ungewißheit
und Erwartung des Zuſchauers, bis an das
Ende unterhalte: aber eben an dieſer Ungewiß-
heit und Erwartung war ihm nichts gelegen.
Denn erfuhr es der Zuſchauer erſt in dem fuͤnf-
ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreuſa ſey:
ſo iſt es fuͤr ihn nicht ihr Sohn, ſondern ein
Fremder, ein Feind, den ſie in dem dritten
Akte aus dem Wege raͤumen will; ſo iſt es fuͤr
ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher ſich
Jon in dem vierten Akte raͤchen will, ſondern
blos die Maͤuchelmoͤrderinn. Wo ſollten aber
alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen?
C c c 2Die
[388] Die bloße Vermuthung, die ſich etwa aus uͤber-
eintreffenden Umſtaͤnden haͤtte ziehen laſſen, daß
Jon und Kreuſa einander wohl naͤher angehen
koͤnnten, als ſie meinen, wuͤrde dazu nicht hin-
reichend geweſen ſeyn. Dieſe Vermuthung
mußte zur Gewißheit werden; und wenn der
Zuhoͤrer dieſe Gewißheit nur von außen erhalten
konnte, wenn es nicht moͤglich war, daß er ſie
einer von den handelnden Perſonen ſelbſt zu dan-
ken haben konnte: war es nicht immer beſſer,
daß der Dichter ſie ihm auf die einzige moͤgliche
Weiſe ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieſer
Weiſe, was ihr wollt: genug, ſie hat ihn ſein
Ziel erreichen helfen; ſeine Tragoͤdie iſt dadurch,
was eine Tragoͤdie ſeyn ſoll; und wenn ihr noch
unwillig ſeyd, daß er die Form dem Weſen nach-
geſetzet hat, ſo verſorge euch eure gelehrte Kritik
mit nichts als Stuͤcken, wo das Weſen der Form
aufgeopfert iſt, und ihr ſeyd belohnt! Immer-
hin gefalle euch Whiteheads Kreuſa, wo euch
kein Gott etwas vorausſagt, wo ihr alles von
einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt,
den eine verſchlagne Zigeunerinn ausfragt, im-
merhin gefalle ſie euch beſſer, als des Euripides
Jon: und ich werde euch nie beneiden!
Wenn Ariſtoteles den Euripides den tragiſch-
ſten von allen tragiſchen Dichtern nennet, ſo
ſahe er nicht blos darauf, daß die meiſten ſeiner
Stuͤcke eine ungluͤckliche Kataſtrophe haben; ob
ich
[389] ich ſchon weiß, daß viele den Stagyriten ſo ver-
ſtehen. Denn das Kunſtſtuͤck waͤre ihm ja wohl
bald abgelernt; und der Stuͤmper, der brav
wuͤrgen und morden, und keine von ſeinen Per-
ſonen geſund oder lebendig von der Buͤhne kom-
men lieſſe, wuͤrde ſich eben ſo tragiſch duͤnken
duͤrfen, als Euripides. Ariſtoteles hatte un-
ſtreitig mehrere Eigenſchaften im Sinne, wel-
chen zu Folge er ihm dieſen Charakter ertheilte;
und ohne Zweifel, daß die eben beruͤhrte mit
dazu gehoͤrte, vermoͤge der er nehmlich den Zu-
ſchauern alle das Ungluͤck, welches ſeine Per-
ſonen uͤberraſchen ſollte, lange vorher zeigte,
um die Zuſchauer auch dann ſchon mit Mitlei-
den fuͤr die Perſonen einzunehmen, wenn dieſe
Perſonen ſelbſt ſich noch weit entfernt glaubten,
Mitleid zu verdienen. — Sokrates war der Leh-
rer und Freund des Euripides; und wie man-
cher duͤrfte der Meinung ſeyn, daß der Dichter
dieſer Freundſchaft des Philoſophen weiter nichts
zu danken habe, als den Reichthum von ſchoͤnen
Sittenſpruͤchen, den er ſo verſchwendriſch in ſei-
nen Stuͤcken ausſtreuet. Ich denke, daß er ihr
weit mehr ſchuldig war; er haͤtte, ohne ſie, eben
ſo ſpruchreich ſeyn koͤnnen; aber vielleicht wuͤrde
er, ohne ſie, nicht ſo tragiſch geworden ſeyn.
Schoͤne Sentenzen und Moralen ſind uͤberhaupt
gerade das, was wir von einem Philoſophen,
wie Sokrates, am ſeltenſten hoͤren; ſein Lebens-
C c c 3wan-
[390] wandel iſt die einzige Moral, die er prediget.
Aber den Menſchen, und uns ſelbſt kennen; auf
unſere Empfindungen aufmerkſam ſeyn; in allen
die ebenſten und kuͤrzeſten Wege der Natur aus-
forſchen und lieben; jedes Ding nach ſeiner Ab-
ſicht beurtheilen: das iſt es, was wir in ſeinem
Umgange lernen; das iſt es, was Euripides
von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem
Ernſten in ſeiner Kunſt machte. Gluͤcklich der
Dichter, der ſo einen Freund hat, — und ihn alle
Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann! —
Auch Voltaire ſcheinet es empfunden zu ha-
ben, daß es gut ſeyn wuͤrde, wenn er uns mit
dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt
machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung,
daß der liebenswuͤrdige ungluͤckliche Juͤngling,
den Merope erſt in Schutz nimmt, und den ſie
bald darauf als den Moͤrder ihres Aegisths hin-
richten will, der nehmliche Aegisth ſey, ſofort
koͤnne ausſetzen laſſen. Aber der Juͤngling
kennt ſich ſelbſt nicht; auch iſt ſonſt niemand da,
der ihn beſſer kennte, und durch den wir ihn
koͤnnten kennen lernen. Was thut alſo der
Dichter? Wie faͤngt er es an, daß wir es gewiß
wiſſen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren
eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas
zuruft? — O, das faͤngt er ſehr ſinnreich an!
Auf ſo einen Kunſtgriff konnte ſich nur ein Vol-
taire beſinnen! — Er laͤßt, ſobald der unbekannte
Juͤng-
[391] Juͤngling auftritt, uͤber das erſte, was er ſagt,
mit großen, ſchoͤnen, leſerlichen Buchſtaben,
den ganzen, vollen Namen, Aegisth, ſetzen;
und ſo weiter uͤber jede ſeiner folgenden Reden.
Nun wiſſen wir es; Merope hat in dem Vor-
hergehenden ihren Sohn ſchon mehr wie einmal
bey dieſem Namen genannt; und wenn ſie das
auch nicht gethan haͤtte, ſo duͤrften wir ja nur
das vorgedruckte Verzeichniß der Perſonen nach-
ſehen; da ſteht es lang und breit! Freylich iſt es
ein wenig laͤcherlich, wenn die Perſon, uͤber deren
Reden wir nun ſchon zehnmal den Namen Ae-
gisth geleſen haben, auf die Frage:
connu?
Le nom d’Egiſte au moins jusqu’à vous
eſt venu?
Quel était votre état, votre rang, votre
père?’
antwortet:
miſère;
Policlete eſt ſon nom; mais Egiſte,
Narbas,
Ceux dont vous me parlez, je ne les
connais pas.’
Freylich iſt es ſehr ſonderbar, daß wir von die-
ſem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auch
keinen
[392] keinen andern Namen hoͤren; daß, da er der
Koͤniginn antwortet, ſein Vater heiſſe Polyklet,
er nicht auch hinzuſetzt, er heiſſe ſo und ſo.
Denn einen Namen muß er doch haben; und
den haͤtte der Herr von Voltaire ja wohl ſchon
mit erfinden koͤnnen, da er ſo viel erfunden hat!
Leſer, die den Rummel einer Tragoͤdie nicht
recht gut verſtehen, koͤnnen leicht daruͤber irre
werden. Sie leſen, daß hier ein Burſche ge-
bracht wird, der auf der Landſtraße einen Mord
begangen hat; dieſer Burſche, ſehen ſie, heißt
Aegisth, aber er ſagt, er heiſſe nicht ſo, und
ſagt doch auch nicht, wie er heiſſe: o, mit dem
Burſchen, ſchlieſſen ſie, iſt es nicht richtig;
das iſt ein abgeſaͤumter Straßenraͤuber, ſo jung
er iſt, ſo unſchuldig er ſich ſtellt. So, ſage
ich, ſind unerfahrne Leſer zu denken in Gefahr;
und doch glaube ich in allem Ernſte, daß es fuͤr
die erfahrnen Leſer beſſer iſt, auch ſo, gleich An-
fangs, zu erfahren, wer der unbekannte Juͤng-
ling iſt, als gar nicht. Nur daß man mir nicht
ſage, daß dieſe Art ſie davon zu unterrichten,
im geringſten kuͤnſtlicher und feiner ſey, als ein
Prolog, im Geſchmacke des Euripides! —
Ham-
[[393]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Funfzigſtes Stuͤck.
Bey dem Maffei hat der Juͤngling ſeine
zwey Namen, wie es ſich gehoͤrt; Ae-
gisth heißt er, als der Sohn des Poly-
dor, und Kreſphont, als der Sohn der Mero-
pe. In dem Verzeichniſſe der handelnden Per-
ſonen wird er auch nur unter jenem eingefuͤhrt;
und Becelli rechnet es ſeiner Ausgabe des Stuͤcks
als kein geringes Verdienſt an, daß dieſes Ver-
zeichniß den wahren Stand des Aegisth nicht
voraus verrathe. (*) Das iſt, die Italiener
ſind
D d d
[394] ſind von den Ueberraſchungen noch groͤßere Lieb-
haber, als die Franzoſen. —
Aber noch immer Merope! — Wahrlich, ich
betaure meine Leſer, die ſich an dieſem Blatte
eine theatraliſche Zeitung verſprochen haben, ſo
mancherley und bunt, ſo unterhaltend und
ſchnurrig, als eine theatraliſche Zeitung nur
ſeyn kann. Anſtatt des Inhalts der hier gang-
baren Stuͤcke, in kleine luſtige oder ruͤhrende
Romane gebracht; anſtatt beylaͤufiger Lebens-
beſchreibungen drolliger, ſonderbarer, naͤrriſcher
Geſchoͤpfe, wie die doch wohl ſeyn muͤſſen, die
ſich mit Komoͤdienſchreiben abgeben; anſtatt
kurzweiliger, auch wohl ein wenig ſkandaloͤſer
Anekdoten von Schauſpielern und beſonders
Schauſpielerinnen: anſtatt aller dieſer artigen
Saͤchelchen, die ſie erwarteten, bekommen ſie
lange, ernſthafte, trockne Kritiken uͤber alte be-
kannte Stuͤcke; ſchwerfaͤllige Unterſuchungen
uͤber das, was in einer Tragoͤdie ſeyn ſollte und
nicht ſeyn ſollte; mit unter wohl gar Erklaͤrun-
gen des Ariſtoteles. Und das ſollen ſie leſen?
Wie geſagt, ich betauere ſie; ſie ſind gewaltig
angefuͤhrt! — Doch im Vertrauen: beſſer, daß
ſie es ſind, als ich. Und ich wuͤrde es ſehr ſeyn,
wenn ich mir ihre Erwartungen zum Geſetze
machen muͤßte. Nicht daß ihre Erwartungen
ſehr ſchwer zu erfuͤllen waͤren; wirklich nicht;
ich wuͤrde ſie vielmehr ſehr bequem finden, wenn
ſie
[395] ſie ſich mit meinen Abſichten nur beſſer vertragen
wollten.
Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein-
mal wegzukommen ſuchen. — Ich wollte eigent-
lich nur erweiſen, daß die Merope des Voltaire
im Grunde nichts als die Merope des Maffei
ſey; und ich meine, dieſes habe ich erwieſen.
Nicht ebenderſelbe Stoff, ſagt Ariſtoteles,
ſondern ebendieſelbe Verwicklung und Aufloͤ-
ſung machen, daß zwey oder mehrere Stuͤcke
fuͤr ebendieſelben Stuͤcke zu halten ſind. Alſo,
nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge-
ſchichte behandelt hat, ſondern weil er ſie mit
ihm auf ebendieſelbe Art behandelt hat, iſt er
hier fuͤr weiter nichts, als fuͤr den Ueberſetzer
und Nachahmer deſſelben zu erklaͤren. Maffei
hat die Merope des Euripides nicht blos wieder
hergeſtellet; er hat eine eigene Merope gemacht:
denn er ging voͤllig von dem Plane des Euripi-
des ab; und in dem Vorſatze ein Stuͤck ohne
Galanterie zu machen, in welchem das ganze
Intereſſe blos aus der muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit
entſpringe, ſchuf er die ganze Fabel um; gut,
oder uͤbel, das iſt hier die Frage nicht; genug,
er fchuf ſie doch um. Voltaire aber entlehnte
von Maffei die ganze ſo umgeſchaffene Fabel; er
entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly-
phont nicht vermaͤhlt iſt; er entlehnte von ihm
die politiſchen Urſachen, aus welchen der Tyrann,
D d d 2nun
[396] nun erſt, nach funfzehn Jahren, auf dieſe Ver-
maͤhlung dringen zu muͤſſen glaubet; er ent-
lehnte von ihm, daß der Sohn der Merope ſich
ſelbſt nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie
und warum dieſer von ſeinem vermeinten Vater
entkoͤmmt; er entlehnte von ihm den Vorfall,
der den Aegisth als einen Moͤrder nach Meſſene
bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung,
durch die er fuͤr den Moͤrder ſeiner ſelbſt gehalten
wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regun-
gen der muͤtterlichen Liebe, wenn Merope den
Aegisth zum erſtenmale erblickt; er entlehnte
von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor
Meropens Augen, von ihren eignen Haͤnden
ſterben ſoll, die Entdeckung ſeiner Mitſchuldi-
gen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom
Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er
nicht auch die ganze Aufloͤſung von ihm entlehnt,
indem er das Opfer, bey welchem Polyphont
umgebracht werden ſollte, von ihm mit der
Handlung verbinden lernte? Maffei machte es
zu einer hochzeitlichen Feyer, und vielleicht, daß
er, blos darum, ſeinen Tyrannen itzt erſt auf die
Verbindung mit Meropen fallen ließ, um die-
ſes Opfer deſto natuͤrlicher anzubringen. Was
Maffei erfand, that Voltaire nach.
Es iſt wahr, Voltaire gab verſchiedenen von
den Umſtaͤnden, die er vom Maffei entlehnte,
eine andere Wendung. Z. E. Anſtatt daß, beym
Maffei,
[397] Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie-
ret hat, laͤßt er die Unruhen in Meſſene ganzer
funfzehn Jahre dauern, und den Staat ſo lange
in der unwahrſcheinlichſten Anarchie verharren.
Anſtatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem
Raͤuber auf der Straße angefallen wird, laͤßt
er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey
Unbekannten uͤberfallen werden, die es ihm uͤbel
nehmen, daß er den Herkules fuͤr die Herakliden,
den Gott des Tempels fuͤr die Nachkommen deſſel-
ben, anfleht. Anſtatt daß, beym Maffei, Ae-
gisth durch einen Ring in Verdacht geraͤth,
laͤßt Voltaire dieſen Verdacht durch eine Ruͤ-
ſtung entſtehen, u. ſ. w. Aber alle dieſe Ver-
aͤnderungen betreffen die unerheblichſten Kleinig-
keiten, die faſt alle außer dem Stuͤcke ſind, und
auf die Oekonomie des Stuͤckes ſelbſt keinen
Einfluß haben. Und doch wollte ich ſie Voltai-
ren noch gern als Aeußerungen ſeines ſchoͤpferi-
ſchen Genies anrechnen, wenn ich nur faͤnde,
daß er das, was er aͤndern zu muͤſſen vermeinte,
in allen ſeinen Folgen zu aͤndern verſtanden haͤt-
te. Ich will mich an dem mittelſten von den
angefuͤhrten Beyſpielen erklaͤren. Maffei laͤßt
ſeinen Aegisth von einem Raͤuber angefallen
werden, der den Augenblick abpaßt, da er ſich
mit ihm auf dem Wege allein ſieht, ohnfern ei-
ner Bruͤcke uͤber die Pamiſe; Aegisth erlegt den
Raͤuber, und wirft den Koͤrper in den Fluß,
D d d 3aus
[398] aus Furcht, wenn der Koͤrper auf der Straße
gefunden wuͤrde, daß man den Moͤrder verfol-
gen und ihn dafuͤr erkennen duͤrfte. Ein Raͤu-
ber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den
Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, iſt
fuͤr mein feines, edles Parterr ein viel zu nie-
driges Bild; beſſer, aus dieſem Raͤuber einen
Mißvergnuͤgten gemacht, der dem Aegisth als
einem Anhaͤnger der Herakliden zu Leibe will.
Und warum nur Einen? Lieber zwey; ſo iſt die
Heldenthat des Aegisths deſto groͤßer, und der,
welcher von dieſen zweyen entrinnt, wenn er zu
dem aͤltrern gemacht wird, kann hernach fuͤr den
Narbas genommen werden. Recht gut, mein
lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter.
Wenn Aegisth den einen von dieſen Mißver-
gnuͤgten erlegt hat, was thut er alsdenn? Er
traͤgt den todten Koͤrper auch ins Waſſer. Auch?
Aber wie denn? warum denn? Von der leeren
Landſtraße in den nahen Fluß; das iſt ganz be-
greiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß,
dieſes auch? War denn außer ihnen niemand in
dieſem Tempel? Es ſey ſo; auch iſt das die groͤßte
Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe ſich
noch denken: aber das Warum gar nicht. Maf-
feis Aegisth traͤgt den Koͤrper in den Fluß, weil
er ſonſt verfolgt und erkannt zu werden fuͤrchtet;
weil er glaubt, wenn der Koͤrper bey Seite ge-
ſchaft ſey, daß ſodann nichts ſeine That verra-
then
[399] then koͤnne; daß dieſe ſodann, mit ſammt dem
Koͤrper, in der Fluth begraben ſey. Aber kann
das Voltairens Aegisth auch glauben? Nim-
mermehr; oder der zweyte haͤtte nicht entkom-
men muͤſſen. Wird ſich dieſer begnuͤgen, ſein
Leben davon getragen zu haben? Wird er ihm
nicht, wenn er auch noch ſo furchtſam iſt, von
weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit ſei-
nem Geſchrey verfolgen, bis ihn andere feſthal-
ten? Wird er ihn nicht anklagen, und wider
ihn zeugen? Was hilft es dem Moͤrder alſo, das
Corpus delicti weggebracht zu haben? Hier
iſt ein Zeuge, welcher es nachweiſen kann. Dieſe
vergebene Muͤhe haͤtte er ſparen, und dafuͤr eilen
ſollen, je eher je lieber uͤber die Grenze zu kom-
men. Freylich mußte der Koͤrper, des Folgen-
den wegen, ins Waſſer geworfen werden; es
war Voltairen eben ſo noͤthig als dem Maffei,
daß Merope nicht durch die Beſichtigung deſſel-
ben aus ihrem Irrthume geriſſen werden konnte;
nur daß, was bey dieſem Aegisth ſich ſelber zum
Beſten thut, er bey jenem blos dem Dichter zu
gefallen thun muß. Denn Voltaire corrigirte
die Urſache weg, ohne zu uͤberlegen, daß er die
Wirkung dieſer Urſache brauche, die nunmehr
von nichts, als von ſeiner Beduͤrfniß abhaͤngt.
Eine einzige Veraͤnderung, die Voltaire in dem
Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen
einer Verbeſſerung. Die nehmlich, durch welche er
den
[400] den wiederholten Verſuch der Merope, ſich an dem
vermeinten Moͤrder ihres Sohnes zu raͤchen, unter-
druͤckt, und dafuͤr die Erkeunung von Seiten des
Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geſchehen
laͤßt. Hier erkenne ich den Dichter, und beſonders
iſt die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff-
lich. Ich wuͤnſchte nur, daß die Erkennung uͤber-
haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von
beiden Seiten erfolgen zu muͤſſen das Anſehen hat,
mit mehrerer Kunſt haͤtte getheilet werden koͤnnen.
Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles
weggefuͤhret wird, und die Vertiefung ſich hinter
ihm ſchließt, iſt ein ſehr gewaltſames Mittel. Es
iſt nicht ein Haar beſſer, als die uͤbereilte Flucht,
mit der ſich Aegisth bey dem Maffei rettet, und uͤber
die Voltaire ſeinen Lindelle ſo ſpotten laͤßt. Oder
vielmehr, dieſe Flucht iſt um vieles natuͤrlicher;
wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter
einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gaͤnzlich
die erſten ruͤhrenden Ausbruͤche ihrer beiderſeitigen
Empfindungen gegen einander, vorenthalten haͤtte.
Vielleicht wuͤrde Voltaire die Erkennung uͤberhaupt
nicht getheilet haben, wenn er ſeine Materie nicht
haͤtte dehnen muͤſſen, um fuͤnf Akte damit vollzu-
machen. Er jammert mehr als einmal uͤber cette
longue carriére de cinq actes qui eſt prodigieu-
ſement difficile à remplir ſans epiſodes — Und
nun fuͤr dieſesmal genug von der Merope!
Ham-
[[401]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und funfzigſtes Stuͤck.
Den neun und dreyßigſten Abend (Mitte-
wochs, den 8ten Julius,) wurden der
verheyrathete Philoſoph und die neue
Agneſe, wiederholt. (*)
Chevrier ſagt, (**) daß Destouches ſein Stuͤck
aus einem Luſtſpiele des Campiſtron geſchoͤpft
habe, und daß, wenn dieſer nicht ſeinen Jaloux
deſabuſé geſchrieben haͤtte, wir wohl ſchwerlich
einen verheyratheten Philoſophen haben wuͤrden.
Die Komoͤdie des Campiſtron iſt unter uns we-
nig bekannt; ich wuͤßte nicht, daß ſie auf irgend
einem deutſchen Theater waͤre geſpielt worden;
auch iſt keine Ueberſetzung davon vorhanden.
Man duͤrfte alſo vielleicht um ſo viel lieber wiſ-
ſen
E e e
[402] ſen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des
Chevrier ſey.
Die Fabel des Campiſtronſchen Stuͤcks iſt
kurz dieſe: Ein Bruder hat das anſehnliche Ver-
moͤgen ſeiner Schweſter in Haͤnden, und um die-
ſes nicht herausgeben zu duͤrfen, moͤchte er ſie
lieber gar nicht verheyrathen. Aber die Frau
dieſes Bruders denkt beſſer, oder wenigſtens
anders, und um ihren Mann zu vermoͤgen, ſeine
Schweſter zu verſorgen, ſucht ſie ihn auf alle
Weiſe eiferſuͤchtig zu machen, indem ſie ver-
ſchiedne junge Mannsperſonen ſehr guͤtig auf-
nimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, ſich
um ihre Schwaͤgerinn zu bewerben, zu ihr ins
Haus kommen. Die Liſt gelingt; der Mann
wird eiferſuͤchtig; und williget endlich, um ſei-
ner Frau den vermeinten Vorwand, ihre An-
beter um ſich zu haben, zu benehmen, in die
Verbindung ſeiner Schweſter mit Clitandern,
einem Anverwandten ſeiner Frau, dem zu ge-
fallen ſie die Rolle der Coquette geſpielt hatte.
Der Mann ſieht ſich beruͤckt, iſt aber ſehr zu-
frieden, weil er zugleich von dem Ungrunde ſei-
ner Eiferſucht uͤberzeugt wird.
Was hat dieſe Fabel mit der Fabel des ver-
heyratheten Philoſophen aͤhnliches? Die Fabel
nicht das geringſte. Aber hier iſt eine Stelle
aus dem zweyten Akte des Campiſtronſchen
Stuͤcks, zwiſchen Dorante, ſo heißt der Eifer-
ſuͤch-
[403] ſuͤchtige, und Dubois, ſeinem Sekretair. Dieſe
wird gleich zeigen, was Chevrier gemeinet hat.
Und was fehlt Ihnen denn?
Ich bin verdruͤßlich, aͤrgerlich;
alle meine ehemalige Heiterkeit iſt weg; alle meine
Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen
Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht auf-
hoͤren wird, mich zu martern, zu peinigen —
Und wer iſt denn dieſer Tyrann,
dieſer Henker?
Meine Frau.
Ihre Frau, mein Herr?
Ja, meine Frau, meine Frau. —
Sie bringt mich zur Verzweiflung.
Haſſen Sie ſie denn?
Wollte Gott! So waͤre ich ru-
hig. — Aber ich liebe ſie, und liebe ſie ſo ſehr —
Verwuͤnſchte Quaal!
Sie ſind doch wohl nicht eiferſuͤchtig?
Bis zur Raſerey.
Wie? Sie, mein Herr? Sie eifer-
ſuͤchtig? Sie, der Sie von je her uͤber alles, was
Eiferſucht heißt, —
Gelacht, und geſpottet. Deſto
ſchlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von
den elenden Sitten der großen Welt ſo hinreiſſen zu
laſſen! In das Geſchrey der Narren einzuſtimmen,
die ſich uͤber die Ordnung und Zucht unſerer ehrli-
chen Vorfahren ſo luſtig machen! Und ich ſtimmte
E e e 2nicht
[404] nicht blos ein; es waͤhrte nicht lange, ſo gab ich
den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen,
was fuͤr albernes Zeug habe ich nicht geſprochen!
Eheliche Treue, beſtaͤndige Liebe, pfuy, wie ſchmeckt
das nach dem kleinſtaͤdiſchen Buͤrger! Der Mann,
der ſeiner Frau nicht allen Willen laͤßt, iſt ein
Baͤr! Der es ihr uͤbel nimmt, wenn ſie auch andern
gefaͤllt und zu gefallen ſucht, gehoͤrt ins Tollhaus.
So ſprach ich, und mich haͤtte man da ſollen ins
Tollhaus ſchicken. —
Aber warum ſprachen Sie ſo?
Hoͤrſt du nicht? Weil ich ein Geck
war, und glaubte, es ließe noch ſo galant und
weiſe. — Inzwiſchen wollte mich meine Familie ver-
heyrathet wiſſen. Sie ſchlugen mir ein junges,
unſchuldiges Maͤdchen vor; und ich nahm es. Mit
der, dachte ich, ſoll es gute Wege haben; die ſoll
in meiner Denkungsart nicht viel aͤndern; ich liebe
ſie itzt nicht beſonders, und der Beſitz wird mich
noch gleichguͤltiger gegen ſie machen. Aber wie
ſehr habe ich mich betrogen! Sie ward taͤglich ſchoͤ-
ner, taglich reitzender. Ich ſah es und entbrannte,
und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich
ſo verliebt, ſo verliebt in ſie —
Nun, das nenne ich gefangen wer-
den!
Denn ich bin ſo eiferſuͤchtig! —
Daß ich mich ſchame, es auch nur dir zu beken-
nen. — Alle meine Freunde ſind mir zuwider —
und
[405] und verdaͤchtig; die ich ſonſt nicht ofte genug um
mich haben konnte, ſehe ich itzt lieber gehen als
kommen. Was haben ſie auch in meinem Hauſe
zu ſuchen? Was wollen die Muͤßiggaͤnger? Wozu
alle die Schmeicheleyen, die ſie meiner Frau ma-
chen? Der eine lobt ihren Verſtand; der andere er-
hebt ihr gefaͤlliges Weſen bis in den Himmel. Den
entzuͤcken ihre himmliſchen Augen, und den ihre
ſchoͤnen Zaͤhne. Alle finden ſie hoͤchſt reitzend,
hoͤchſt anbetenswuͤrdig; und immer ſchließt ſich ihr
verdammtes Geſchwaͤtze mit der verwuͤnſchten Be-
trachtung, was fuͤr ein gluͤcklicher, was fuͤr ein
beneidenswuͤrdiger Mann ich bin.
Ja, ja, es iſt wahr, ſo geht es zu.
O, ſie treiben ihre unverſchaͤmte
Kuͤhnheit wohl noch weiter! Kaum iſt ſie aus dem
Bette, ſo ſind ſie um ihre Toilette. Da ſollteſt
du erſt ſehen und hoͤren! Jeder will da ſeine Auf-
merkſamkeit und ſeinen Witz mit dem andern um die
Wette zeigen. Ein abgeſchmackter Einfall jagt den
andern, eine boshafte Spoͤtterey die andere, ein
kuͤtzelndes Hiſtoͤrchen das andere. Und das alles
mit Zeichen, mit Minen, mit Liebaͤugeleyen, die
meine Frau ſo leutſelig anuimmt, ſo verbindlich
erwiedert, daß — daß mich der Schlag oft ruͤhren
moͤchte! Kannſt du glauben, Dubois? ich muß es
wohl mit anſehen, daß ſie ihr die Hand kuͤſſen.
Das iſt arg!
E e e 3Do-
[406]
Gleichwohl darf ich nicht muchſen.
Denn was wuͤrde die Welt dazu ſagen? Wie laͤ-
cherlich wuͤrde ich mich machen, wenn ich meinen
Verdruß auslaſſen wollte? Die Kinder auf der
Straaße wuͤrden mit Fingern auf mich weiſen.
Alle Tage wuͤrde ein Epigramm, ein Gaſſenhauer
auf mich zum Vorſcheine kommen u. ſ. w.
Dieſe Situation muß es ſeyn, in welcher
Chevrier das Aehnliche mit dem verheyratheten
Philoſophen gefunden hat. So wie der Eifer-
ſuͤchtige des Campiſtron ſich ſchaͤmet, ſeine Ei-
ferſucht auszulaſſen, weil er ſich ehedem uͤber
dieſe Schwachheit allzuluſtig gemacht hat: ſo
ſchaͤmt ſich auch der Philoſoph des Destouches,
ſeine Heyrath bekannt zu machen, weil er ehe-
dem uͤber alle ernſthafte Liebe geſpottet, und
den eheloſen Stand fuͤr den einzigen erklaͤrt hat-
te, der einem freyen und weiſen Manne anſtaͤn-
dig ſey. Es kann auch nicht fehlen, daß dieſe
aͤhnliche Schaam ſie nicht beide in mancherley
aͤhnliche Verlegenheiten bringen ſollte. So iſt,
z. E., die, in welcher ſich Dorante beym Cam-
piſtron ſiehet, wenn er von ſeiner Frau verlangt,
ihm die uͤberlaͤſtigen Beſucher von Halſe zu
ſchaffen, dieſe aber ihn bedeutet, daß das eine
Sache ſey, die er ſelbſt bewerkſtelligen muͤſſe,
faſt die nehmliche mit der bey dem Destouches,
in welcher ſich Ariſt befindet, wenn er es ſelbſt
dem
[407] dem Marquis ſagen ſoll, daß er ſich auf Meliten
keine Rechnung machen koͤnne. Auch leidet
dort der Eiferſuͤchtige, wenn ſeine Freunde in
ſeiner Gegenwart uͤber die Eiferſuͤchtigen ſpot-
ten, und er ſelbſt ſein Wort dazu geben muß,
ungefehr auf gleiche Weiſe, als hier der Philo-
ſoph, wenn er ſich muß ſagen laſſen, daß er ohne
Zweifel viel zu klug und vorſichtig ſey, als daß
er ſich zu ſo einer Thorheit, wie das Heyrathen,
ſollte haben verleiten laſſen.
Dem ohngeachtet aber ſehe ich nicht, warum
Destouches bey ſeinem Stuͤcke nothwendig das
Stuͤck des Campiſtron vor Augen gehabt haben
muͤßte; und mir iſt es ganz begreiflich, daß wir
jenes haben koͤnnten, wenn dieſes auch nicht vor-
handen waͤre. Die verſchiedenſten Charaktere
koͤnnen in aͤhnliche Situationen gerathen; und
da in der Komoͤdie die Charaktere das Haupt-
werk, die Situationen aber nur die Mittel ſind,
jene ſich aͤußern zu laſſen, und ins Spiel zu ſetzen:
ſo muß man nicht die Situationen, ſondern die
Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man
beſtimmen will, ob ein Stuͤck Original oder Co-
pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt iſt
es in der Tragoͤdie, wo die Charaktere weniger
weſentlich ſind, und Schrecken und Mitleid vor-
nehmlich aus den Situationen entſpringt. Aehn-
liche Situationen geben alſo aͤhnliche Tragoͤdien,
aber nicht aͤhnliche Komoͤdien. Hingegen geben
aͤhn-
[408] aͤhnliche Charaktere aͤhnliche Komoͤdien, anſtatt
daß ſie in den Tragoͤdien faſt gar nicht in Erwaͤ-
gung kommen.
Der Sohn unſers Dichters, welcher die
praͤchtige Ausgabe der Werke ſeines Vaters
beſorgt hat, die vor einigen Jahren in vier
Quartbaͤnden aus der Koͤniglichen Druckerey
zu Paris erſchien, meldet uns, in der Vorrede
zu dieſer Ausgabe, eine beſondere dieſes Stuͤck
betreffende Anekdote. Der Dichter nehmlich
habe ſich in England verheyrathet, und aus ge-
wiſſen Urſachen ſeine Verbindung geheim halten
muͤſſen. Eine Perſon aus der Familie ſeiner
Frau aber habe das Geheimniß fruͤher ausge-
plaudert, als ihm lieb geweſen; und dieſes habe
Gelegenheit zu dem verheyratheten Philoſophen
gegeben. Wenn dieſes wahr iſt, — und warum
ſollten wir es ſeinem Sohne nicht glauben? —
ſo duͤrfte die vermeinte Nachahmung des Cam-
piſtron um ſo eher wegfallen.
Ham-
[[409]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und funfzigſtes Stuͤck.
Den vierzigſten Abend (Donnerſtags, den
9ten Julius,) ward Schlegels Tri-
umph der guten Frauen, aufgefuͤhret.
Dieſes Luſtſpiel iſt unſtreitig eines der beſten
deutſchen Originale. Es war, ſo viel ich weiß,
das letzte komiſche Werk des Dichters, das ſeine
fruͤhern Geſchwiſter unendlich uͤbertrift, und
von der Reife ſeines Urhebers zeiget. Der ge-
ſchaͤftige Muͤßiggaͤnger war der erſte jugendliche
Verſuch, und fiel aus, wie alle ſolche jugend-
liche Verſuche ausfallen. Der Witz verzeihe es
denen, und raͤche ſich nie an ihnen, die allzuviel
Witz darinn gefunden haben! Er enthaͤlt das
kalteſte, langweiligſte Alltagsgewaͤſche, das nur
immer in dem Hauſe eines Meißniſchen Pelz-
haͤndlers vorfallen kann. Ich wuͤßte nicht, daß
er jemals waͤre aufgefuͤhrt worden, und ich
zweifle, daß ſeine Vorſtellung duͤrfte auszuhal-
F f ften
[410] ten ſeyn. Der Geheimnißvolle iſt um vieles beſ-
ſer; ob es gleich der Geheimnißvolle gar nicht
geworden iſt, den Moliere in der Stelle geſchil-
dert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu
dieſem Stuͤcke wollte genommen haben. (*)
Moliers Geheimnißvoller iſt ein Geck, der ſich
ein wichtiges Anſehen geben will; Schlegels
Geheimnißvoller aber ein gutes ehrliches Schaf,
das den Fuchs ſpielen will, um von den Woͤlfen
nicht gefreſſen zu werden. Daher koͤmmt es
auch, daß er ſo viel aͤhnliches mit dem Charakter
des Mißtrauiſchen hat, den Cronegk hernach
auf die Buͤhne brachte. Beide Charaktere aber,
oder vielmehr beide Nuancen des nehmlichen
Charakters, koͤnnen nicht anders als in einer ſo
kleinen und armſeligen, oder ſo menſchenfeindli-
chen und haͤßlichen Seele ſich finden, daß ihre
Vor-
[411] Vorſtellungen nothwendig mehr Mitleiden oder
Abſcheu erwecken muͤſſen, als Lachen. Der Ge-
heimnißvolle iſt wohl ſonſt hier aufgefuͤhret wor-
den; man verſichert mich aber auch durchgaͤngig,
und aus der eben gemachten Betrachtung iſt mir
es ſehr begreiflich, daß man ihn laͤppiſcher ge-
funden habe, als luſtig.
Der Triumph der guten Frauen hingegen hat,
wo er noch aufgefuͤhret worden, und ſo oft er
noch aufgefuͤhret worden, uͤberall und jederzeit,
einen ſehr vorzuͤglichen Beyfall erhalten; und
daß ſich dieſer Beyfall auf wahre Schoͤnheiten
gruͤnden muͤſſe, daß er nicht das Werk einer
uͤberraſchenden blendenden Vorſtellung ſey, iſt
daher klar, weil ihn noch niemand, nach Leſung
des Stuͤcks, zuruͤckgenommen. Wer es zuerſt
geleſen, dem gefaͤllt es um ſo viel mehr, wenn
er es ſpielen ſieht: und wer es zuerſt ſpielen ge-
ſehen, dem gefaͤllt es um ſo viel mehr, wenn er
es lieſet. Auch haben es die ſtrengeſten Kunſt-
richter eben ſo ſehr ſeinen uͤbrigen Luſtſpielen,
als dieſe uͤberhaupt dem gewoͤhnlichen Praſſe
deutſcher Komoͤdien vorgezogen.
ſagt einer von ihnen, (*)
den ge-
ſchaͤftigen Muͤßiggaͤnger: die Charaktere ſchie-
F f f 2nen
[412] nen mir vollkommen nach dem Leben; ſolche
Muͤßiggaͤnger, ſolche in ihre Kinder vernarrte
Muͤtter, ſolche ſchalwitzige Beſuche, und ſolche
dumme Pelzhaͤndler ſehen wir alle Tage. So
denkt, ſo lebt, ſo handelt der Mittelſtand unter
den Deutſchen. Der Dichter hat ſeine Pflicht
gethan, er hat uns geſchildert, wie wir ſind.
Allein ich gaͤhnte vor Langeweile. — Ich las
darauf den Triumph der guten Frauen. Wel-
che Unterſchied! Hier finde ich Leben in den
Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, aͤch-
ten Witz in ihren Geſpraͤchen, und den Ton ei-
ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan-
ge.〟
Der vornehmſte Fehler, den ebenderſelbe
Kunſtrichter daran bemerkt hat, iſt der, daß die
Charaktere an ſich ſelbſt nicht deutſch ſind. Und
leider, muß man dieſen zugeſtehen. Wir ſind
aber in unſern Luſtſpielen ſchon zu ſehr an frem-
de, und beſonders an franzoͤſiſche Sitten ge-
woͤhnt, als daß er eine beſonders uͤble Wirkung
auf uns haben koͤnnte.
heißt es,
iſt ein franzoͤſiſcher
Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht,
allem Frauenzimmer nachſtellt, keinem im Ern-
ſte gewogen iſt, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit
zu ſtuͤrzen, aller Frauen Verfuͤhrer und aller
Maͤn-
[413] Maͤnner Schrecken zu werden ſucht, und der
bey allem dieſen kein ſchlechtes Herz hat. Die
herrſchende Verderbniß der Sitten und Grund-
ſaͤtze ſcheinet ihn mit fortgeriſſen zu haben. Gott-
lob! daß ein Deutſcher, der ſo leben will, das
verderbteſte Herz von der Welt haben muß. —
Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wo-
chen nach der Hochzeit verlaſſen, und nunmehr
in zehn Jahren nicht geſehen hat, koͤmmt auf
den Einfall ihn aufzuſuchen. Sie kleidet ſich
als eine Mannsperſon, und folgt ihm, unter
dem Namen Philint, in alle Haͤuſer nach, wo
er Avanturen ſucht. Philint iſt witziger, flat-
terhafter und unverſchaͤmter als Nikander. Das
Frauenzimmer iſt dem Philint mehr gewogen,
und ſobald er mit ſeinem frechen aber doch arti-
gen Weſen ſich ſehen laͤßt, ſtehet Nikander da
wie verſtummt. Dieſes giebt Gelegenheit zu
ſehr lebhaften Situationen. Die Erfindung
iſt artig, der zweyfache Charakter wohl gezeich-
net, und gluͤcklich in Bewegung geſetzt; aber
das Original zu dieſem nachgeahmten Petit-
maitre iſt gewiß kein Deutſcher.〟
faͤhrt er fort,
ſonſt an dieſem
Luſtſpiele mißfaͤllt, iſt der Charakter des Age-
nors. Den Triumph der guten Frauen voll-
kommen zu machen, zeigt dieſer Agenor den Ehe-
mann von einer gar zu haͤßlichen Seite. Er
F f f 3ty-
[414] tyranniſiret ſeine unſchuldige Juliane auf das
unwuͤrdigſte, und hat recht ſeine Luſt ſie zu quaͤ-
len. Graͤmlich, ſo oft er ſich ſehen laͤßt, ſpoͤt-
tiſch bey den Thraͤnen ſeiner gekraͤnkten Frau,
argwoͤhniſch bey ihren Liebkoſungen, boshaft
genug, ihre unſchuldigſten Reden und Hand-
lungen durch eine falſche Wendung zu ihrem
Nachtheile auszulegen, eiferſuͤchtig, hart, un-
empfindlich, und, wie ſie ſich leicht einbilden
koͤnnen, in ſeiner Frauen Kammermaͤdchen ver-
liebt. — Ein ſolcher Mann iſt gar zu verderbt,
als daß wir ihm eine ſchleunige Beſſerung zu-
trauen koͤnnten. Der Dichter giebt ihm eine
Nebenrolle, in welcher ſich die Falten ſeines
nichtswuͤrdigen Herzens nicht genug entwickeln
koͤnnen. Er tobt, und weder Juliane noch
die Leſer wiſſen recht, was er will. Eben ſo
wenig hat der Dichter Raum gehabt, ſeine
Beſſerung gehoͤrig vorzubereiten und zu veran-
ſtalten. Er mußte ſich begnuͤgen, dieſes gleich-
ſam im Vorbeygehen zu thun, weil die Haupt-
handlung mit Nikander und Philinten zu ſchaf-
fen hatte. Kathrine, dieſes edelmuͤthige Kam-
mermaͤdchen der Juliane, das Agenor verfolgt
hatte, ſagt gar recht am Ende des Luſtſpiels:
Die geſchwindeſten Bekehrungen ſind nicht alle-
mal die aufrichtigſten! Wenigſtens ſo lange die-
ſes Maͤdchen im Hauſe iſt, moͤchte ich nicht fuͤr
die Aufrichtigkeit ſtehen.〟
Ich
[415]
Ich freue mich, daß die beſte deutſche Ko-
moͤdie dem richtigſten deutſchen Beurtheiler in
die Haͤnden gefallen iſt. Und doch war es viel-
leicht die erſte Komoͤdie, die dieſer Mann be-
urtheilte.
Ende des erſten Bandes.
Appendix A Druckfehler.
- S. 119. Z. 7. iſt auſtatt Geſetze zu leſen Rechte.
- S. ebd. Z. 17. — — Stuͤcke — — Aufzuͤge.
- S. 151. Z. 16. — — des Polydors — — des
Antenors. - S. 177. Z. 5. — — daß die Fehler — — daß
viele von den Fehlern.
Appendix B Nachricht.
Den Titel zu dieſem Bande werden die Leſer am
Ende des zweyten Bandes, zum Schluſſe des Jah-
res, auf Oſtern, erhalten.
[[417]][[418]][[419]][[420]][[421]][[422]]
From Engliſh Plays, Zara’s French authorfir’dConfeſſ’d his Muſe, beyond herſelf, in-ſpir’d;From rack’d Othello’s rage, he raiſ’d hisſtyleAnd ſnatch’d the brand, that lights thistragic pile.
hinzu. Wie waͤre das wohl recht zu uͤberſetzen?
Sage heißt, weiſe: aber der weiſeſte unter den
engliſchen Schriftſtellern, wer wuͤrde den Ad-
diſon dafuͤr erkennen? Ich beſinne mich, daß
die Franzoſen auch ein Maͤdchen ſage nennen,
dem man keinen Feyltritt, ſo keinen von den
groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieſer
Sinn duͤrfte vielleicht hier paſſen. Und nach
dieſem koͤnnte man ja wohl gerade zu uͤberſetzen:
Addiſon, derjenige von euern Schriftſtellern,
der uns harmloſen, nuͤchternen Franzoſen am
naͤchſten koͤmmt.
Queſto mortale orror che per le vene
Tutte mi ſcorre, omai non è dolore,
Che
Feroce cor, cor diſpietato, e miſero,
Paga la pena del delitto orrendo.
Mani ciudeli — oh Dio — Mani, che ſiete
Tinte del ſangue di ſì cara donna,
Voi — voi — dov’ è quel ferro? Un’ altra
volta
In mezzo al petto — Oimè, dov’ è quel
ferro?
In acuta punta — —
Tenebre, e notte
Si fanno intorno — —
Perchè non poſſo — —
Non poſſo ſpargere
Il ſangue tutto?
Sì, ſì, lo ſpargo tutto, anima mia,
Dove ſei? — piu non poſſo — oh Dio! non
poſſo —
Vorrei — vederti — io manco, io manco,
oh Dio!’
ſterdam 1745.
p. 164.
Blaise.Eh! eh! eh! baille-moi cinq ſols
de monnoye, je n’ons que de groſſes piéces.Claudine.(le contrefaiſant) Eh! eh!
eh! di donc, Nicaiſe, avec tes cinq ſols de
monnoye, qu’eſt-ce que t’en veux faire?Blaise.Eh! eh! eh! baille moi cinq ſols
de monnoye, te dis-je.Claudine.Pourquoi donc, Nicodeme?
Blasie.Pour ce garçong qui apporte mon
paquet depis la voiture jusqu’à cheux nous,
pendant que je marchois tout bellement et
à mon aiſe.Claudine.T’es venu dans la voiture?
Blaise.Oui, parce que cela eſt plus com-
mode.Claudine.T’a baillé un écu?
Blaise.Oh bian noblement. Combien
faut-il? ai-je fait. Un écu, ce m’a-t-on
fait
fait. Tenez, le vela, prennez. Tout
comme ça.Claudine.Et tu dépenſes cinq ſols en
porteurs de paquets?Blaise.Oui, par maniere de recreation.
Arlequis.Eſt-ce pour moi les cinq ſols;
Monſieur Blaiſe?Blaise.Oui, mon ami. \&c.
Sultan, j’ai pénetré ton ame;
J’en ai demêlé les reſſorts.
Elle eſt grande, elle eſt fiere, \& la gloire
l’enflame,
Tant
A ton tour, tu vas me connoitre:
Je t’aime, Soliman; mes tu l’as mérité.
Reprends tes droits, reprends ma liberté;
Sois mon Sultan, mon Heros \& mon
Maitre.
Tu me ſoupçonnerois d’injuſte vanité.
Va, ne fais rien, que ta loi n’autoriſe;
Il eſt des préjugés qu’on ne doit point trahir,
Et je veux un Amant, qui n’ai point à rougir:
Tu vois dans Roxelane une Eſclave ſoumiſe.’
ſicher vorausſetzen kann, weil es bey den alten
Dichtern nicht gebraͤuchlich, und auch nicht
erlaubt war, einander ſolche eigene Situatio-
nen abzuſtehlen,) wuͤrde ſich an der angezoge-
nen Stelle des Plutarchs ein Fragment des
Euripides finden, welches Joſua Barnes nicht
mitgenommen haͤtte, und ein neuer Heraus-
geber des Dichters nutzen koͤnnte.
Ariſtote, dans ſa Poëtique immortelle, ne
balance pas à dire que la reconnoiſſance
de Merope \& de ſon fils étaient le moment
le plus intereſſant de toute la ſcène Grec-
que.
preferance ſur tous les autres. Plutarque
dit que les Grecs, ce peuple ſi ſenſible,
fremiſſaient de crainte que le vieillard, qui
devait arrêter le bras de Merope, n’ar-
rivât pas aſſez-tot. Cette piéce, qu’on
jouait de ſon tems, \& dont il nous reſte
tres peu de fragmens, lui paraiſſait la plus
touchante de toutes les tragedies d’Euri-
pide \&c. Lettre à Mr. Maffeì.’
que d’Ariſtote, Chap. XV. Rem. 23.) ohne
ſich zu erinnern, wo er es geleſen, ſtehet bey
dem Plutarch in der Abhandlung, Wie man
ſeine Feinde nuͤtzen ſolle.
de la Poet. d’Ariſt. Une Mere, qui
va tuer ſon fils, comme Merope va tuer
Creſphonte \&c.’
nel leggere la Favola 184 d’Igino, la
quale a mio credere altro non è, che l’Ar-
gomento di quella Tragedia, in cui ſi rap-
preſenta interamente la condotta di eſſa.
Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi,
ch’ io feci già in quell’ Autore, mi apparve
ſubito nella mente, altro non eſſere le più
di quelle Favole, che gli Argomenti delle
Tragedie antiche: mi accertai di ciò col
confrontarne alcune poche con le Trage-
die, che ancora abbiamo; e appunto in
queſti giorni, venuta a mano l’ultima edi-
zione d’Igino, mi è ſtato caro di vedere
in un paſſo addotto, coma fu anche il
Reineſio di tal ſentimento. Una miniera
è però queſta di Tragici Argomenti, che
ſe foſſe ſtata nota a’ Poeti, non avrebbero
penato tanto in rinvenir ſoggetti a lor fan-
taſia: io la ſcoprirò loro di buona voglia,
perchè rendano col loro ingegno alla no-
ſtra età ciò, che dal tempo invidioſo le fu
rapito. Merita dunque, almeno per queſto
capo, alquanto più di conſiderazione quell’
Operetta, anche tal qual l’abbiamo, che
da gli Eruditi non è ſtato creduto: e quan-
to al diſcordar tal volta dagli altri Scrit-
tori delle favoloſe Storie, queſta avertenza
ce ne addita la ragione, non avendole
coſtui narrate ſecondo la tradizione, ma
conforme i Poeti in proprio uſo conver-
tendole, le avean ridotte.’
cher obige Erzehlung genommen, ſind offen-
bar Begebenheiten in einander gefloſſen, die
nicht die geringſte Verbindung unter ſich ha-
ben. Sie faͤngt an mit dem Schickſale des
Pentheus und der Agave, und endet ſich mit
der Geſchichte der Merope. Ich kann gar
nicht begreifen, wie die Herausgeber dieſe
Verwirrung unangemerkt laſſen koͤnnen; es
waͤre denn, daß ſie ſich blos in derjenigen Aus-
gabe, welche ich vor mir habe, (Joannis
Schefferi, Hamburgi 1674) befaͤnde. Dieſe
Unterſuchung uͤberlaſſe ich dem, der die Mittel
dazu bey der Hand hat. Genug, daß hier,
bey mir, die 184ſte Fabel mit den Worten,
quam Licoterſes excepit, aus ſeyn muß.
Das uͤbrige macht entweder eine beſondere
Fabel, von der die Anfangsworte verlohren
gegangen; oder gehoͤret, welches mir das
wahrſcheinlichſte iſt, zu der 137ſten, ſo daß,
beides mit einander verbunden, ich die ganze
Fabel von der Merope, man mag ſie nun zu
der
len, folgendermaaßen zuſammenleſen wuͤrde.
Es verſteht ſich, daß in der letztern die Wor-
te, cum qua Polyphontes, occiſo Creſ-
phonte, regnum occupavit, als eine unnoͤ-
thige Wiederholung, mit ſammt dem darauf
folgenden ejus, welches auch ſo ſchon uͤber-
fluͤßig iſt, wegfallen muͤßte.
Merope.
Polyphontes, Meſſeniæ rex, Creſphon-
tem Ariſtomachi filium cum interfeciſſet,
ejus imperium \& Meropem uxorem poſſe-
dit. Filium autem infantem Merope ma-
ter, quem ex Creſphonte habebat, abs-
conſe ad hoſpitem in Ætoliam mandavit.
Hunc Polyphontes maxima cum induſtria
quærebat, aurumque pollicebatur, ſi quis
eum necaſſet. Qui poſtquam ad puberem
ætatem venit, capit conſilium, ut exequa-
tur patris \& fratrum mortem. Itaque
venit
titum, dicens ſe Creſphontis interfeciſſe
filium \& Meropis, Telephontem. Interim
rex eum juſſit in hoſpitio manere, ut am-
plius de eo perquireret. Qui cum per laſ-
ſitudinem obdormiſſet, ſenex qui inter
matrem \& filium internuncius erat, flens
ad Meropem venit, negans eum apud ho-
ſpitem eſſe, nec comparere. Merope cre-
dens eum eſſe filii ſui interfectorem, qui
dormiebat, in Chalcidicum cum ſecuri
venit, inſcia ut filium ſuum interficeret,
quem ſenex cognovit, \& matrem a ſcelere
retraxit. Merope poſtquam invenit, oc-
caſionem ſibi datam eſſe, ab inimico ſe
ulciſcendi, redit cum Polyphonte in gra-
tiam. Rex lætus cum rem divinam face-
ret, hoſpes falſo ſimulavit ſe hoſtiam per-
cuſſiſſe, eumque interfecit, patriumque
regnum adeptus eſt.’
anneau, parce que depuis l’anneau royal
dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres,
cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.’
heros pour un voleur, quoique la circon-
ſtance ou il ſe trouve autoriſe cette mepriſe.’
— — — — — — In core
Pero mi venne di lanciar nel fiume
Il morto, ò ſemivivo; e con fatica
(Ch’ inutil’ era per riuſcire, e vana)
L’alzai da terra, e in terra rimaneva
Una pozza di ſangue: a mezo il ponte
Portailo in fretta, di vermiglia ſtriſcia
Sempre rigando il ſuol; quinci cadere
Col capo in giù il laſciai: piombò, e gran
tonfo
S’udì nel profondarſi: in alto ſalſe
Lo ſpruzzo, e l’onda ſopra lui ſi chiuſe.’
Non eſſendo dunque ſtato mio penſiero di
ſeguir la Tragedia d’Euripide, non ho cer-
cato per conſequenza di porre nella mia
que’ ſentimenti di eſſa, che ſon rimaſti
qua,
Cicerone, e recati tre paſſi Plutarco, e
due verfi Gellio, e alcuni trovandoſene
ancora, ſe la memoria non m’inganna,
preſſo Stobeo.’
nicht allein Lindelle ſagt; enſuite cette ſui-
vante rencontre le jeune Egiſte, je ne ſais
comment, \& lui perſuade de ſe repoſer
dans le veſtibule, afin que, quand il ſera
endormi, la reine puiſſe le tuer tout à ſon
aiſe: ſondern auch der Hr. von Voltaire ſelbſt:
la confidente de Mérope engage le jeune
Egiſte à dormir ſur la ſcene, afin de donner
le tems à la reine de venir l’y aſſaſ ſiner.
Was aus dieſer Uebereinſtimmung zu ſchlieſſen
iſt, brauche ich nicht erſt zu ſagen. Selten
ſtimmt ein Luͤgner mit ſich ſelbſt uͤberein; und
wenn zwey Luͤgner mit einander uͤbereinſtim-
men, ſo iſt es gewiß abgeredete Karte.
Egi. Mà di tanto furor, di tanto affanno
Qual’ ebbe mai cagion? — —.
Iſm. Il tutto
Scoprirti io non ricuſo; mà egli è d’uopo
Che qui t’arreſti per brev’ ora: urgente
Cura or mi chiama altrove.
Egi. Io volontieri
T’attendo quanto vuoi. Iſm. Mà non partire
E non for ſì, ch’ iò quà ritorni indarno.
Egi. Mia fè dò in pegno; e dove gir do-
vrei? —’
Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potro io
Darti già mai mercè, che i merti agguagli?
Pol. Il mio ſteſſo ſervir fu premio; ed ora
M’è, il vederti contenta, ampia mercede.
Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro
Sol mi ſaria ciò, ch’ altridar non puoto.
Che ſcemato mi foſſe il grave incarco
De gli anni, che mi ſtà ſù’l capo, e à terra
Il curva, e preme ſi, che parmi un monte —’
unſers Schlegels.
〟Die Wahrheit zu geſte-
〟hen,
me des daͤniſchen Theaters,
〟beobachten die
〟Englaͤnder, die ſich keiner Einheit des Ortes
〟ruͤhmen, dieſelbe großentheils viel beſſer,
〟als die Franzoſen, die ſich damit viel wiſſen,
〟daß ſie die Regeln des Ariſtoteles ſo genau
〟beobachten. Darauf koͤmmt gerade am al-
〟lerwenigſten an, daß das Gemaͤhlde der Sce-
〟nen nicht veraͤndert wird. Aber wenn keine
〟Urſache vorhanden iſt, warum die auftreten-
〟den Perſonen ſich an dem angezeigten Orte
〟befinden, und nicht vielmehr an demjenigen
〟geblieben ſind, wo ſie vorhin waren; wenn
〟eine Perſon ſich als Herr und Bewohner eben
〟des Zimmers auffuͤhrt, wo kurz vorher eine
〟an-
〟andere, als ob ſie ebenfalls Herr vom Hauſe
〟waͤre, in aller Gelaſſenheit mit ſich ſelbſt,
〟oder mit einem Vertrauten geſprochen, oh-
〟ne daß dieſer Umſtand auf eine wahrſchein-
〟liche Weiſe entſchuldiget wird; kurz, wenn
〟die Perſonen nur deswegen in den angezeig-
〟ten Saal oder Garten kommen, um auf die
〟Schaubuͤhne zu treten: ſo wuͤrde der Ver-
〟faſſer des Schauſpiels am beſten gethan ha-
〟ben, anſtatt der Worte, 〟der Schauplatz iſt
〟ein Saal in Climenens Hauſe,〟 unter das
〟Verzeichniß ſeiner Perſonen zu ſetzen: 〟der
〟Schauplatz iſt auf dem Theater.〟 Oder im
〟Ernſte zu reden, es wuͤrde weit beſſer gewe-
〟ſen ſeyn, wenn der Verfaſſer, nach dem Ge-
〟brauche der Englaͤnder, die Scene aus dem
〟Hauſe des einen in das Haus eines andern
〟verlegt, und alſo den Zuſchauer ſeinem Hel-
〟den nachgefuͤhret haͤtte; als daß er ſeinem
〟Helden die Muͤhe macht, den Zuſchauern zu
〟gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er
〟nichts zu thun hat.〟
pour faire que les Acteurs paroiſſent \&
diſparoiſſent ſelon la neceſſité du Sujet —
ces rideaux ne ſont bons qu’ à faire des cou-
vertures pour berner ceux qui les ont in-
ventez, \& ceux qui les approuvent. Pra-
tique du Theatre Liv. II. chap. 6.’
—— —— —— Quando
Saran da poi ſopiti alquanto, e queti
Gli animi, l’arte del regnar mi giovi.
Per mute oblique vie n’andranno a Stige
L’alme piu audaci, e generoſe. A i vizi
Per cui vigor ſi abbatte, ardir ſi toglie
Il freno allargherò. Lunga clemenza
Con pompa di pieta farò, che ſplenda
Su i delinquenti; a i gran delitti invito,
Onde reſtino i buoni eſpoſti, e paghi
Renda gl’ iniqui la licenza; ed onde
Poi fra ſe diſtruggendoſi, in crudeli
Gare private il lor furor ſi ſtempri.
Udrai ſovence riſonar gli editti,
E raddopiar le leggi, che al ſovrano’
Giovan
Si ce fils, tant pleuré, dans Meſſene eſt
produit,
De quinze ans de travaux j’ai perdu tout
le fruit.’
Croi-
Correr minaccia ognor di guerra eſterna;
Ond’ io n’andrò ſu l’atterita plebe
Sempre creſcendo i peſi, e peregrine
Milizie introdurrò. —— ——’
ſance
Revivrons dans les cœurs, y prendront ſa
defenſe.
Le ſouvenir du pere, \& cent rois pour
ayeux,
Cet honneur pretendu d’être iſſu de nos
Dieux;
Le cris, \& le deſeſpoir d’une mere eplo-
rée,
Detruiront ma puiſſance encor mal aſ-
ſurée.’
Quel ſcelerato in mio poter vorrei
Per trarne prima, ſ’ebbe parte in queſto
Aſſaſſinio il tiranno; io voglio poi
Con una ſcure ſpalancargli il petto
Voglio ſtrappargli il cor, voglio co’ denti
Lacerarlo, e ſbranarlo —— ——’
Acte II. Sc. 1.
— —
Non, mon fils ne le
ſouffrirait pas.
L’exil, ou ſon enfance a langui condamnée
Lui ſerait moins affreux que ce lâche hy-
menée.
Il le condamnerait, ſi, paiſible en
ſon rang,
Il n’en croyait ici que les droits de ſon ſang;
Mais ſi par les malheurs ſon ame etait in-
ſtruite,
Sur ſes vrais intérêts s’il réglait ſa con-
duite,
De ſes triſtes amis s’il conſultait la voix,
Et la neceſſité ſouveraine des loix,
Il verrait que jamais ſa malheureuſe mere
Ne lui donna d’amour une marque plus
chère.
Me.
Me.Ah que me dites-vous?
Eur.De dures vérités
Qui m’arrachent mon zéle \& vos calamités.Me.Quoi! Vous me demandez que l’interet
ſurmonte
Cette invincible horreur que j’ai pour Po-
lifonte!
Vous qui me l’avez peint de ſi noires cou-
leurs!Eur.Je l’ai peint dangereux, je connais
ſes fureurs;
Mais il eſt tout-puiſſant; mais rien ne lui
reſiſte;
Il eſt ſans héritier, \& vous aimez Egiſte. —
dem Hausvater S. 327. d. Uebſ.
quell’ errore, comuniſſimo alle ſtampe
d’ogni drama, di ſcoprire il ſecreto nel
premettergli, e per conſeguenza di levare
il piacere a chi legge, overo aſcolta, eſſen-
doſi meſſo Egiſto, dove era, Cresfonte
ſotto nome d’Egiſto.’
und 91.
C’eſt de la tête aux pieds, un homme tout
miſtere,
Qui vous jette, en paſſant, un coup d’oeil
egaré,
Et ſans aucune affaire eſt toujours affairé.
Tout ce qu’il vous debite en grimaces
abonde.
A force de façons il aſſomme le monde.
Sans ceſſe il a tout bas, par rompre l’en-
tretien.
Un ſecret à vous dire, \& ce ſecret n’eſt rien.
De la moindre vetille il fait une merveille
Et juſques au bon jour, il dit tout à l’oreille.’
Th. XXI. S. 133.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Lessing, Gotthold Ephraim. Hamburgische Dramaturgie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnn8.0