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Heidi's
Lehr- und Wanderjahre.


Eine Geſchichte
für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben.


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Gotha.:
Friedrich Andreas Perthes.
1880.
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Inhalt.


  • Seite
  • I. Zum Alm-Oehi hinauf  1
  • II. Beim Großvater  20
  • III. Auf der Weide  31
  • IV. Bei der Großmutter  51
  • V. Es kommt ein Beſuch und dann noch einer, der mehr
    Folgen hat72
  • VI. Ein neues Capitel und lauter neue Dinge  89
  • VII. Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag  102
  • VIII. Im Hauſe Seſemann geht's unruhig zu  124
  • IX. Der Hausherr hört Allerlei in ſeinem Hauſe, das er noch
    nicht gehört hat  140
  • X. Eine Großmama  150
  • XI. Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der andern ab  166
  • XII. Im Hauſe Seſemann ſpukt's  175
  • XIII. Am Sommerabend die Alm hinan  193
  • XIV. Am Sonntag, wenn's läutet  219
[]

Capitel I.
Zum Alm-Oehi hinauf.

Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fußweg
durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen,
die von dieſer Seite groß und ernſt auf das Thal her¬
niederſchauen. Wo der Fußweg zu ſteigen anfängt, be¬
ginnt bald Haideland mit dem kurzen Gras und den kräf¬
tigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn
der Fußweg geht ſteil und direkt zu den Alpen hinauf.


Auf dieſem ſchmalen Bergpfade ſtieg am hellen, ſonnigen
Junimorgen ein großes, kräftig ausſehendes Mädchen dieſes
Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, deſſen
Wangen ſo glühend waren, daß ſie ſelbſt die ſonnverbrannte,
völlig braune Haut des Kindes flammendroth durchleuchteten.
Es war auch kein Wunder, das Kind war trotz der heißen
Juniſonne ſo verpackt, als hätte es ſich eines bitteren Froſtes
zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre
zählen; was aber ſeine natürliche Geſtalt war, konnte man
nicht erſehen, denn es hatte ſichtlich zwei, wenn nicht drei
Kleine Geſchichten. III. 1[2] Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes,
rothes Baumwollentuch um und um gebunden, ſo daß die kleine
Perſon eine völlig formloſe Figur darſtellte, die, in zwei
ſchwere, mit Nägeln beſchlagene Bergſchuhe geſteckt, ſich heiß
und mühſam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom
Thal aufwärts mochten die Beiden geſtiegen ſein, als ſie
zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt
und „im Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden
faſt von jedem Hauſe aus angerufen, einmal vom Fenſter,
einmal von einer Hausthüre und einmal vom Wege her,
denn das Mädchen war in ſeinem Heimatsort angelangt.
Es machte aber nirgends Halt, ſondern erwiderte alle zu¬
gerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne ſtill zu
ſtehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der
zerſtreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer
Thür: „Wart' einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn
du weiter hinaufgehſt.“


Die Angeredete ſtand ſtill, ſofort machte ſich das Kind
von ihrer Hand los und ſetzte ſich auf den Boden.


„Biſt du müde, Heidi?“ fragte die Begleiterin.


„Nein, es iſt mir heiß“, entgegnete das Kind.


„Wir ſind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein
wenig anſtrengen und große Schritte nehmen, dann ſind
wir in einer Stunde oben“, ermunterte die Gefährtin.


Jetzt trat eine breite, gutmüthig ausſehende Frau aus der
Thür und geſellte ſich zu den Beiden. Das Kind war auf¬
[3] geſtanden und wanderte nun hinter den zwei alten Be¬
kannten her, die ſofort in ein lebhaftes Geſpräch geriethen
über allerlei Bewohner des „Dörfli“ und vieler umher¬
liegenden Behauſungen.


„Aber wohin willſt du eigentlich mit dem Kind, Dete?“
fragte jetzt die neu Hinzugekommene. „Es wird wohl deiner
Schweſter Kind ſein, das hinterlaſſene.“


„Das iſt es“, erwiderte Dete, „ich will mit ihm
hinauf zum Oehi, es muß dort bleiben.“


„Was, beim Alm-Oehi ſoll das Kind bleiben? Du biſt,
denk' ich, nicht recht bei Verſtand, Dete! Wie kannſt du
ſo Etwas thun! Der Alte wird dich aber ſchon heimſchicken
mit deinem Vorhaben!“


„Das kann er nicht, er iſt der Großvater, er muß
Etwas thun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt und das
kann ich dir ſchon ſagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie
ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten laſſe um des Kindes
willen; jetzt ſoll der Großvater das Seinige thun.“


„Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann ſchon“,
beſtätigte die kleine Barbel eifrig; „aber du kennſt ja den,
was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch
einem ſo kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo
willſt du denn hin?“


„Nach Frankfurt“, erklärte Dete, „da bekomm' ich
einen extra guten Dienſt. Die Herrſchaft war ſchon im
vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer
1*[4] auf meinem Gang gehabt und ſie beſorgt, und ſchon da¬
mals wollten ſie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fort¬
kommen, und jetzt ſind ſie wieder da und wollen mich mit¬
nehmen und ich will auch gehn, da kannſt du ſicher ſein.“


„Ich möchte nicht das Kind ſein“, rief die Barbel mit
abwehrender Geberde aus. „Es weiß ja kein Menſch, was
mit dem Alten da oben iſt! Mit keinem Menſchen will er
Etwas zu thun haben, Jahr aus Jahr ein ſetzt er keinen
Fuß in eine Kirche, und wenn er mit ſeinem dicken Stock
im Jahr einmal herunterkommt, ſo weicht ihm Alles aus
und muß ſich vor ihm fürchten. Mit ſeinen dicken grauen
Augenbrauen und dem furchtbaren Bart ſieht er auch aus
wie ein alter Heide und Indianer, daß man froh iſt, wenn
man ihm nicht allein begegnet.“


„Und wenn auch“, ſagte Dete trotzig, „er iſt der Gro߬
vater und muß für das Kind ſorgen, er wird ihm wohl
Nichts thun, ſonſt hat er's zu verantworten, nicht ich.“


„Ich möchte nur wiſſen“, ſagte die Barbel forſchend, „was
der Alte auf dem Gewiſſen hat, daß er ſolche Augen macht
und ſo mutterſeelenallein da droben auf der Alm bleibt
und ſich faſt nie blicken läßt. Man ſagt allerhand von
ihm, du weißt doch gewiß auch Etwas davon, von deiner
Schweſter, nicht, Dete?“


„Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, ſo käme
ich ſchön an!“


Aber die Barbel hätte ſchon lange gern gewußt, wie
[5] es ſich mit dem Alm-Oehi verhalte, daß er ſo menſchen¬
feindlich ausſehe und da oben ganz allein wohne und die
Leute immer ſo mit halben Worten von ihm redeten, als
fürchteten ſie ſich, gegen ihn zu ſein, und wollten doch nicht
für ihn ſein. Auch wußte die Barbel gar nicht, warum
der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Oehi genannt
wurde, er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den
ſämmtlichen Bewohnern ſein; da aber alle ihn ſo nannten,
that ſie es auch und nannte den Alten nie anders als Oehi,
was die Ausſprache der Gegend für Oheim iſt. Die Bar¬
bel hatte ſich erſt vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf
verheirathet, vorher hatte ſie unten im Prättigau gewohnt,
und ſo war ſie noch nicht ſo ganz bekannt mit allen Erleb¬
niſſen und beſondern Perſönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli
und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war
dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer
Mutter bis vor einem Jahr; da war dieſe geſtorben und
die Dete war nach dem Bade Ragatz hinübergezogen, wo ſie
im großen Hôtel als Zimmermädchen einen guten Verdienſt
fand. Sie war auch an dieſem Morgen mit dem Kinde
von Ragatz hergekommen; bis Mayenfeld hatte ſie auf einem
Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr
heimfuhr und ſie und das Kind mitnahm. Die Barbel
wollte aber dies Mal die gute Gelegenheit, Etwas zu ver¬
nehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen laſſen; ſie faßte ver¬
traulich die Dete am Arm und ſagte: „Von dir kann man
[6] doch vernehmen, was wahr iſt und was die Leute darüber
hinaus ſagen; du weißt, denk' ich, die ganze Geſchichte.
Sag' mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten iſt und ob
der immer ſo gefürchtet und ein ſolcher Menſchenhaſſer war.“


„Ob er immer ſo war, kann ich, denk' ich, nicht präzis
wiſſen, ich bin jetzt ſechsundzwanzig und er ſicher ſiebenzig
Jahr alt, ſo hab' ich ihn nicht geſehen, wie er jung war,
das wirſt du nicht erwarten. Wenn ich aber wüßte, daß
es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, ſo
könnte ich dir ſchon allerhand erzählen von ihm, meine
Mutter war aus dem Domleſchg und er auch.“


„A bah, Dete, was meinſt denn?“ gab die Barbel ein
wenig beleidigt zurück, „es geht nicht ſo ſtreng mit dem
Schwatzen im Prättigau, und dann kann ich ſchon etwas für
mich behalten, wenn es ſein muß. Erzähl' mir's jetzt, es
muß dich nicht gereuen.“


„Ja nu, ſo will ich, aber halt' Wort!“ mahnte die
Dete. Erſt ſah ſie ſich aber um, ob das Kind nicht zu
nah ſei und Alles anhöre, was ſie ſagen wollte; aber das
Kind war gar nicht zu ſehen, es mußte ſchon ſeit einiger
Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt ſein, dieſe
hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt.
Dete ſtand ſtill und ſchaute ſich überall um. Der Fußweg
machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn faſt bis
zum Dörfli hinunter überſehen, es war aber Niemand
darauf ſichtbar.

[7]

„Jetzt ſeh' ich's“, erklärte die Barbel, „ſiehſt du dort?“
und ſie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad.
„Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Gaißen-Peter und
ſeinen Gaißen. Warum der heut' ſo ſpät hinauffährt mit
ſeinen Thieren? Es iſt aber grad' recht, er kann nun zu
dem Kinde ſehen und du kannſt mir um ſo beſſer er¬
zählen.“


„Mit dem nach ihm Sehen muß ſich der Peter nicht
anſtrengen“, bemerkte die Dete; „es iſt nicht dumm für
ſeine fünf Jahre, es thut ſeine Augen auf und ſieht, was
vorgeht, das hab' ich ſchon bemerkt an ihm, und es wird
ihm einmal gut kommen, denn der Alte hat gar Nichts
mehr, als ſeine zwei Gaißen und die Almhütte.“


„Hat er denn einmal mehr gehabt?“ fragte die
Barbel.


„Der? Ja das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt
hat“, entgegnete eifrig die Dete, „eins der ſchönſten Bauern¬
güter im Domleſchg hat er gehabt. Er war der ältere
Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war ſtill und
ordentlich. Aber der Aeltere wollte Nichts thun, als den
Herrn ſpielen und im Land herumfahren und mit böſem
Volk zu thun haben, das Niemand kannte. Den ganzen
Hof hat er verſpielt und verzecht, und wie es herauskam,
da ſind ſein Vater und ſeine Mutter hinter einander ge¬
ſtorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch
am Bettelſtab war, iſt vor Verdruß in die Welt hinaus,
[8] es weiß kein Menſch wohin, und der Oehi ſelber, als er
Nichts mehr hatte, als einen böſen Namen, iſt auch ver¬
ſchwunden. Erſt wußte Niemand wohin, dann vernahm
man, er ſei unter das Militär gegangen nach Neapel, und
dann hörte man Nichts mehr von ihm zwölf oder fünfzehn
Jahre lang. Dann auf einmal erſchien er wieder im
Domleſchg mit einem halb gewachſenen Buben und wollte
dieſen in der Verwandtſchaft unterzubringen ſuchen. Aber es
ſchloſſen ſich alle Thüren vor ihm und Keiner wollte mehr
Etwas von ihm wiſſen. Das erbitterte ihn ſehr; er ſagte:
in's Domleſchg ſetze er keinen Fuß mehr, und dann kam
er hieher in's Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die
Frau muß eine Bündtnerin geweſen ſein, die er dort unten
getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er mußte
noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den To¬
bias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war
ein ordentlicher Menſch und wohl gelitten bei allen Leuten
im Dörfli. Aber dem Alten traute Keiner, man ſagte
auch, er ſei von Neapel deſertirt, es wäre ihm ſonſt ſchlimm
gegangen, denn er habe Einen erſchlagen, natürlich nicht im
Krieg, verſtehſt du, ſondern beim Raufhandel. Wir aner¬
kannten aber die Verwandtſchaft, da meiner Mutter Gro߬
mutter mit ſeiner Großmutter Geſchwiſterkind geweſen war.
So nannten wir ihn Oehi, und da wir faſt mit allen Leuten
im Dörfli wieder verwandt ſind vom Vater her, ſo nannten
ihn dieſe Alle auch Oehi, und ſeit er dann auf die Alm
[9] hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der ‚Alm-
Oehi’.“


„Aber wie iſt es dann mit dem Tobias gegangen?“
fragte geſpannt die Barbel.


„Wart' nur, das kommt ſchon, ich kann nicht Alles auf
einmal ſagen“, erklärte Dete. „Alſo der Tobias war in
der Lehre draußen in Mels, und ſo wie er fertig war, kam
er heim in's Dörfli und nahm meine Schweſter zur Frau,
die Adelheid, denn ſie hatten ſich ſchon immer gern gehabt,
und auch wie ſie nun verheirathet waren, konnten ſie's ſehr
gut zuſammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei
Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein
Balken auf ihn herunter und ſchlug ihn todt. Und wie
man den Mann ſo entſtellt nach Haus brachte, da fiel die
Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und
konnte ſich nicht mehr erholen, ſie war ſonſt nicht ſehr
kräftig und hatte manchmal ſo eigne Zuſtände gehabt, daß
man nicht recht wußte, ſchlief ſie, oder war ſie wach. Nur
ein paar Wochen, nachdem der Tobias todt war, begrub
man auch die Adelheid. Da ſprachen alle Leute weit und
breit von dem traurigen Schickſal der Beiden, und leiſe und
laut ſagten ſie, das ſei die Strafe, die der Oehi verdient
habe für ſein gottloſes Leben, und ihm ſelbſt wurde es ge¬
ſagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm in's Gewiſſen, er
ſollte doch jetzt Buße thun, aber er wurde nur immer grim¬
miger und verſtockter und redete mit Niemandem mehr, es
[10] ging ihm auch Jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es,
der Oehi ſei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht
mehr herunter, und ſeither iſt er dort und lebt mit Gott
und Menſchen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adel¬
heid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich, es war ein
Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter ſtarb
und ich im Bad drunten Etwas verdienen wollte, nahm ich
es mit und gab es der alten Urſel oben im Pfäfferſerdorf
an die Koſt. Ich konnte auch im Winter im Bad blei¬
ben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und flicken
verſtehe, und früh im Frühling kam die Herrſchaft aus
Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und
die mich mitnehmen will; übermorgen reiſen wir ab und
der Dienſt iſt gut, das kann ich dir ſagen.“


„Und dem Alten da droben willſt du nun das Kind
übergeben? Es nimmt mich nur Wunder, was du denkſt,
Dete“, ſagte die Barbel vorwurfsvoll.


„Was meinſt du denn?“ gab Dete zurück. „Ich habe
das Meinige an dem Kind gethan, und was ſollte ich denn
mit ihm machen? Ich denke, ich kann Eines, das erſt fünf
Jahr alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber
wohin gehſt du eigentlich, Barbel, wir ſind ja ſchon halb
Wegs auf der Alm.“


„Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß“, entgegnete
die Barbel; „ich habe mit der Gaißen-Peterin zu reden, ſie
ſpinnt mir im Winter. So leb' wohl, Dete, mit Glück!“

[11]

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb ſtehen,
während dieſe der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging,
die einige Schritte ſeitwärts vom Pfad in einer Mulde
ſtand, wo ſie vor dem Bergwind ziemlich geſchützt war. Die
Hütte ſtand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli
aus gerechnet, und daß ſie in einer kleinen Vertiefung des
Berges ſtand, war gut, denn ſie ſah ſo baufällig und ver¬
wittert aus, daß es auch ſo noch ein gefährliches Darinnen¬
wohnen ſein mußte, wenn der Föhnwind ſo mächtig über
die Berge ſtrich, daß Alles an der Hütte klapperte, Thüren
und Fenſter und alle die morſchen Balken zitterten und
krachten. Hätte die Hütte an ſolchen Tagen oben auf der
Alm geſtanden, ſie wäre unverzüglich in's Thal hinabge¬
weht worden.


Hier wohnte der Gaißen-Peter, der elfjährige Bube, der
jeden Morgen unten im Dörfli die Gaißen holte, um ſie
hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um ſie da die kurzen
kräftigen Kräuter freſſen zu laſſen bis zum Abend; dann
ſprang der Peter mit den leichtfüßigen Thierchen wieder
herunter, that, im Dörfli angekommen, einen ſchrillen Pfiff
durch die Finger und jeder Beſitzer holte ſeine Gaiß auf
dem Platz. Meiſtens kamen kleine Buben und Mädchen,
denn die friedlichen Gaißen waren nicht zu fürchten, und
das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit
am Tage, da der Peter mit Seinesgleichen verkehrte, ſonſt
lebte er nur mit den Gaißen. Er hatte zwar daheim
[12] ſeine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer
am Morgen ſehr früh fort mußte und am Abend vom
Dörfli ſpät heimkam, weil er ſich da noch ſo lang als
möglich mit den Kindern unterhalten mußte, ſo verbrachte
er daheim nur gerade ſo viel Zeit, um am Morgen ſeine
Milch und Brod und am Abend ebendaſſelbe herunterzu¬
ſchlucken und dann ſich auf's Ohr zu legen und zu ſchlafen.
Sein Vater, der auch ſchon der Gaißen-Peter genannt
worden war, weil er in früheren Jahren in demſelben Be¬
rufe geſtanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holz¬
fällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß,
wurde von Jedermann um des Zuſammenhangs willen die
Gaißen-Peterin genannt, und die blinde Großmutter kannten
weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
Großmutter.


Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und ſich
nach allen Seiten umgeſehen, ob die Kinder mit den Gaißen
noch nirgends zu ſehen ſeien; als dieß aber nicht der Fall
war, ſo ſtieg ſie noch ein wenig höher, wo ſie beſſer die
ganze Alm bis hinunter überſehen konnte und guckte nun
von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen großer
Ungeduld auf dem Geſicht und in den Bewegungen. Unter¬
deſſen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran,
denn der Peter wußte viele Stellen, wo allerhand Gutes
an Sträuchern und Gebüſchen für ſeine Gaißen zu nagen
war; darum machte er mit ſeiner Heerde vielerlei Wen¬
[13] dungen auf dem Wege. Erſt war das Kind mühſam nach¬
geklettert, in ſeiner ſchweren Rüſtung vor Hitze und Un¬
bequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anſtrengend. Es
ſagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den
Peter, der mit ſeinen nackten Füßen und leichten Höschen
ohne alle Mühe hin- und herſprang, bald auf die Gaißen,
die mit den dünnen, ſchlanken Beinchen noch leichter über
Buſch und Stein und ſteile Abhänge hinaufkletterten. Auf
einmal ſetzte das Kind ſich auf den Boden nieder, zog mit
großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, ſtand wieder
auf, zog ſein rothes, dickes Halstuch weg, machte ſein Röck¬
chen auf, zog es ſchnell aus und hatte gleich noch eins
auszuhäkeln, denn die Baſe Dete hatte ihm das Sonntags¬
kleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze
willen, damit Niemand es tragen müſſe. Blitzſchnell war
auch das Alltagsröcklein weg und nun ſtand das Kind im
leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen
Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausſtreckend.
Dann legte es ſchön Alles auf ein Häufchen, und nun ſprang
und kletterte es hinter den Gaißen und neben dem Peter
her, ſo leicht als nur Eines aus der ganzen Geſellſchaft.
Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache,
als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen
Bekleidung nachgeſprungen kam, zog er luſtig grinſend das
ganze Geſicht auseinander und ſchaute zurück, und wie er
unten das Häuflein Kleider liegen ſah, ging ſein Geſicht noch
[14] ein wenig mehr auseinander, und ſein Mund kam faſt von
einem Ohr bis zum andern; er ſagte aber Nichts. Wie
nun das Kind ſich ſo frei und leicht fühlte, fing es ein
Geſpräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden
und mußte auf vielerlei Fragen antworten, denn das Kind
wollte wiſſen, wie viele Gaißen er habe und wohin er mit
ihnen gehe und was er dort thue, wo er hinkomme. So
langten endlich die Kinder ſammt den Gaißen oben bei der
Hütte an und kamen der Baſe Dete zu Geſicht. Kaum
aber hatte dieſe die herankletternde Geſellſchaft erblickt, als
ſie laut aufſchrie: „Heidi, was machſt du? Wie ſiehſt du
aus? Wo haſt du deinen Rock und den zweiten und das
Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf
den Berg und dir neue Strümpfe gemacht und Alles fort!
Alles fort! Heidi, was machſt du, wo haſt du Alles?“


Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und ſagte:
„Dort!“ Die Baſe folgte ſeinem Finger. Richtig, dort
lag Etwas und oben auf war ein rother Punkt, das mußte
das Halstuch ſein.


„Du Unglückstropf!“ rief die Baſe in großer Auf¬
regung; „was kommt dir denn in den Sinn, warum haſt
du Alles ausgezogen? Was ſoll das ſein?“


„Ich brauch' es nicht“, ſagte das Kind und ſah gar
nicht reuevoll aus über ſeine That.


„Ach du unglückſeliges, vernunftloſes Heidi, haſt du denn
auch noch gar keine Begriffe?“ jammerte und ſchalt die
[15] Baſe weiter; „wer ſoll nun wieder da hinunter, es iſt ja
eine halbe Stunde! Komm', Peter, lauf' du mir ſchnell
zurück und hol' das Zeug, komm' ſchnell und ſteh' nicht
dort und glotze mich an, als wärſt du im Boden feſt¬
genagelt.“


„Ich bin ſchon zu ſpät“, ſagte Peter langſam und blieb,
ohne ſich zu rühren, auf demſelben Flecke ſtehen, von dem
aus er, beide Hände in die Taſchen geſteckt, dem Schreckens¬
ausbruch der Baſe zugehört hatte.


„Du ſtehſt ja doch nur und reißeſt deine Augen auf
und kommſt, denk' ich, nicht weit auf die Art“, rief ihm
die Baſe Dete zu, „komm' her, du mußt etwas Schönes
haben, ſiehſt du?“ Sie hielt ihm ein neues Fünferchen
hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich ſprang er
auf und davon auf dem geradeſten Weg die Alm hinunter
und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem
Häuflein Kleider an, packte ſie auf und erſchien damit ſo
ſchnell, daß ihn die Baſe rühmen mußte und ihm ſogleich
ſein Fünfrappenſtück überreichte. Peter ſteckte es ſchnell tief
in ſeine Taſche und ſein Geſicht glänzte und lachte in voller
Breite, denn ein ſolcher Schatz wurde ihm nicht oft zu Theil.


„Du kannſt mir das Zeug noch tragen bis zum Oehi
hinauf, du gehſt ja auch den Weg“, ſagte die Baſe Dete
jetzt, indem ſie ſich anſchickte, den ſteilen Abhang zu er¬
klimmen, der gleich hinter der Hütte des Gaißen-Peter's
emporragte. Willig übernahm dieſer den Auftrag und folgte
[16] der Voranſchreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm
um ſein Bündel geſchlungen, in der Rechten die Gaißenruthe
ſchwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und ſprangen
fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei
Viertelſtunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorſprung
des Berges die Hütte des alten Oehi ſtand, allen Winden
ausgeſetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit
der vollen Ausſicht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte
ſtanden drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeſchnittenen
Aeſten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch
hinauf in die alten, grauen Felſen, erſt noch über ſchöne,
kräuterreiche Höhen, dann in ſteiniges Geſtrüpp und endlich
zu den kahlen, ſteilen Felſen hinan.


An die Hütte feſt gemacht, der Thalſeite zu, hatte ſich
der Oehi eine Bank gezimmert. Hier ſaß er, eine Pfeife
im Mund, beide Hände auf ſeine Kniee gelegt und ſchaute
ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Baſe Dete
herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von
den Andern überholt worden. Heidi war zuerſt oben; es
ging gerade aus auf den Alten zu, ſtreckte ihm die Hand
entgegen und ſagte: „Guten Abend, Großvater!“


„So, ſo, wie iſt das gemeint?“ fragte der Alte barſch,
gab dem Kinde kurz die Hand und ſchaute es mit einem
langen, durchdringenden Blick an unter ſeinen buſchigen
[Augenbraunen] hervor. Heidi gab den langen Blick aus¬
dauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu
[17] zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
den dichten, grauen Augenbraunen, die in der Mitte zu¬
ſammengewachſen waren und ausſahen wie eine Art Ge¬
ſträuch, war ſo verwunderlich anzuſehen, daß Heidi ihn recht
betrachten mußte. Unterdeſſen war auch die Baſe heran¬
gekommen ſammt dem Peter, der eine Weile ſtille ſtand und
zuſah, was ſich da ereigne.


„Ich wünſche Euch guten Tag, Oehi“, ſagte die Dete,
hinzutretend, „und hier bring' ich Euch das Kind vom To¬
bias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr
kennen, denn ſeit es jährig war, habt Ihr es nie mehr
geſehen.“


„So, was muß das Kind bei mir?“ fragte der Alte
kurz, „und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannſt
gehen mit deinen Gaißen, du biſt nicht zu früh, nimm
meine mit!“


Der Peter gehorchte ſofort und verſchwand, denn der
Oehi hatte ihn angeſchaut, daß er ſchon genug davon hatte.


„Es muß eben bei Euch bleiben, Oehi“, gab die Dete
auf ſeine Frage zurück. „Ich habe, denk' ich, das Meinige
an ihm gethan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an
Euch ſein, das Eurige auch einmal zu thun.“


„So“, ſagte der Alte und warf einen blitzenden Blick
auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt dir
nachzuflennen und zu winſeln, wie kleine Unvernünftige
thun, was muß ich dann mit ihm anfangen?“

Kleine Geſchichten. III. 2[18]

„Das iſt dann Eure Sache“, warf die Dete zurück;
„ich meine faſt, es habe mir auch kein Menſch geſagt, wie
ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf
den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich ſchon für
mich und die Mutter genug zu thun hatte. Jetzt muß ich
meinem Verdienſt nach und Ihr ſeid der Nächſte am Kind;
wenn Ihr's nicht haben könnt, ſo macht mit ihm, was Ihr
wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
und Ihr werdet wohl nicht nöthig haben, noch etwas auf¬
zuladen.“


Die Dete hatte kein recht gutes Gewiſſen bei der Sache,
darum war ſie ſo hitzig geworden und hatte mehr geſagt,
als ſie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten
war der Oehi aufgeſtanden; er ſchaute ſie ſo an, daß ſie
einige Schritte zurückwich; dann ſtreckte er den Arm aus
und ſagte befehlend: „Mach', daß du hinunterkommſt, wo
du heraufgekommen biſt, und zeig' dich nicht ſo bald wieder!“
Das ließ ſich die Dete nicht zwei Mal ſagen. „So lebt
wohl, und du auch, Heidi“, ſagte ſie ſchnell und lief den
Berg hinunter in Einem Trab bis in's Dörfli hinab, denn
die innere Aufregung trieb ſie vorwärts, ſo wie ein wirk¬
ſamer Dampf. Im Dörfli wurde ſie diesmal noch viel
mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind
ſei; ſie kannten ja Alle die Dete genau und wußten, wem
das Kind gehörte, und Alles, was mit ihm vorgegangen
war. Als es nun aus allen Thüren und Fenſtern tönte:
[19] „Wo iſt das Kind? Dete, wo haſt du das Kind gelaſſen?“
rief ſie immer unwilliger zurück: „Droben beim Alm-Oehi!
Nu, beim Alm-Oehi, Ihr hört's ja!“


Sie wurde aber ſo maßleidig, weil die Frauen von
allen Seiten ihr zuriefen: „Wie kannſt du ſo etwas thun!“
und: „Das arme Tröpfli!“ und: „So ein kleines Hülfloſes
da droben laſſen!“ und dann wieder und wieder: „Das
arme Tröpfli!“ Die Dete lief, ſo ſchnell ſie konnte, weiter
und war froh, als ſie Nichts mehr hörte, denn es war ihr
nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim
Sterben das Kind noch übergeben. Aber ſie ſagte ſich zur
Beruhigung, ſie könne dann ja eher wieder etwas für das
Kind thun, wenn ſie nun viel Geld verdiene, und ſo war
ſie ſehr froh, daß ſie bald weit von allen Leuten, die ihr drein¬
redeten, weg- und zu einem ſchönen Verdienſt kommen konnte.


2*
[]

Capitel II.
Beim Großvater.

Nachdem die Dete verſchwunden war, hatte der Oehi
ſich wieder auf die Bank hingeſetzt und blies nun große
Wolken aus ſeiner Pfeife; dabei ſtarrte er auf den Boden
und ſagte kein Wort. Derweilen ſchaute das Heidi ver¬
gnüglich um ſich, entdeckte den Gaißenſtall, der an die Hütte
angebaut war, und guckte hinein. Es war Nichts darin.
Das Kind ſetzte ſeine Unterſuchungen fort und kam hinter
die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch
die Aeſte ſo ſtark, daß es ſauſte und brauſte oben in den
Wipfeln. Heidi blieb ſtehen und hörte zu. Als es ein
wenig ſtiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke
der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater
zurück. Als es dieſen noch in derſelben Stellung erblickte,
wie es ihn verlaſſen hatte, ſtellte es ſich vor ihn hin, legte
die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Gro߬
vater ſchaute auf. „Was willſt jetzt thun?“ fragte er, als
das Kind immer noch unbeweglich vor ihm ſtand.

[21]

„Ich will ſehen, was du drinnen haſt, in der Hütte“,
ſagte Heidi.


„So komm'!“ und der Großvater ſtand auf und ging
voran in die Hütte hinein.


„Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit“, befahl
er im Hereintreten.


„Das brauch' ich nicht mehr“, erklärte Heidi.


Der Alte kehrte ſich um und ſchaute durchdringend auf
das Kind, deſſen ſchwarze Augen glühten in Erwartung der
Dinge, die da drinnen ſein konnten. „Es kann ihm nicht
am Verſtand fehlen“, ſagte er halblaut. „Warum brauchſt
du's nicht mehr?“ ſetzte er laut hinzu.


„Ich will am liebſten gehen wie die Gaißen, die haben
ganz leichte Beinchen.“


„So, das kannſt du, aber hol' das Zeug“, befahl der
Großvater, „es kommt in den Kaſten.“ Heidi gehorchte.
Jetzt machte der Alte die Thür auf und Heidi trat hinter
ihm her in einen ziemlich großen Raum ein, es war der
Umfang der ganzen Hütte. Da ſtand ein Tiſch und ein
Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaf¬
lager, in einer andern hing der große Keſſel über dem
Heerd; auf der andern Seite war eine große Thür in der
Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank.
Da hingen ſeine Kleider drin und auf einem Geſtell lagen
ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
andern einige Teller und Taſſen und Gläſer und auf dem
[22] oberſten ein rundes Brod und geräuchertes Fleiſch und Käſe,
denn in dem Kaſten war Alles enthalten, was der Alm-Oehi
beſaß und zu ſeinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun
den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi ſchnell heran
und ſtieß ſein Zeug hinein, ſo weit hinter des Großvaters
Kleider als möglich, damit es nicht ſo leicht wieder zu finden
ſei. Nun ſah es ſich aufmerkſam um in dem Raum und
ſagte dann: „Wo muß ich ſchlafen, Großvater?“


„Wo du willſt“, gab dieſer zur Antwort.


Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle
Winkel hinein und ſchaute jedes Plätzchen aus, wo am
ſchönſten zu ſchlafen wäre. In der Ecke vorüber des Gro߬
vaters Lagerſtätte war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi
kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag
ein friſcher, duftender Heuhaufen oben und durch eine runde
Lücke ſah man weit in's Thal hinab.


„Hier will ich ſchlafen“, rief Heidi hinunter, „hier iſt's
ſchön! Komm' und ſieh' einmal, wie ſchön es hier iſt,
Großvater!“


„Ich weiß ſchon“, tönte es von unten herauf.


„Ich mache jetzt das Bett“, rief das Kind wieder,
indem es oben geſchäftig hin- und herfuhr, „aber du mußt
heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn
auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt
man.“


„So, ſo“, ſagte unten der Großvater, und nach einer
[23] Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin
herum; dann zog er unter ſeinen Hemden ein langes, grobes
Tuch hervor, das mußte ſo Etwas ſein, wie ein Leintuch.
Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heu¬
boden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
Kopf liegen mußte, war das Heu hoch aufgeſchichtet, und
das Geſicht kam ſo zu liegen, daß es gerade auf das offene,
runde Loch traf.


„Das iſt recht gemacht“, ſagte der Großvater, „jetzt
wird das Tuch kommen, aber wart' noch“, — damit nahm
er einen guten Wiſch Heu von dem Haufen und machte das
Lager doppelt ſo dick, damit der harte Boden nicht durch¬
gefühlt werden konnte, „ſo, jetzt komm' her damit.“ Heidi
hatte das Leintuch ſchnell zu Handen genommen, konnte es
aber faſt nicht tragen, ſo ſchwer war's; aber das war ſehr
gut, denn durch das feſte Zeug konnten die ſpitzen Heuhalme
nicht durchſtechen. Jetzt breiteten die Beiden miteinander
das Tuch über das Heu und wo es zu breit und zu lang
war, ſtopfte Heidi die Enden eilfertig unter das Lager.
Nun ſah es recht gut und reinlich aus, und Heidi ſtellte ſich
davor und betrachtete es nachdenklich.


„Wir haben noch etwas vergeſſen, Großvater“, ſagte
es dann.


„Was denn?“ fragte er.


„Eine Decke; denn wenn man in's Bett geht, kriecht
man zwiſchen das Leintuch und die Decke hinein.“

[24]

„So, meinſt du? Wenn ich aber keine habe?“ ſagte
der Alte.


„O dann iſt's gleich, Großvater“, beruhigte Heidi,
„dann nimmt man wieder Heu zur Decke“, und eilfertig
wollte es gleich wieder an den Heuſtock gehen, aber der
Großvater wehrte es ihm.


„Wart' einen Augenblick“, ſagte er, ſtieg die Leiter
hinab und ging an ſein Lager hin. Dann kam er wieder
und legte einen großen, ſchweren, leinenen Sack auf den
Boden.


„Iſt das nicht beſſer als Heu?“ fragte er. Heidi zog
aus Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn
auseinanderzulegen, aber die kleinen Hände konnten das
ſchwere Zeug nicht bewältigen. Der Großvater half, und
wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da ſah Alles
ſehr gut und haltbar aus, und Heidi ſtand ſtaunend vor
ſeinem neuen Lager und ſagte: „Das iſt eine prächtige
Decke und das ganze Bett! Jetzt wollt' ich, es wäre ſchon
Nacht, ſo könnte ich hinein liegen.“


„Ich meine, wir könnten erſt einmal etwas eſſen“,
ſagte der Großvater, „oder was meinſt du?“ Heidi hatte
über dem Eifer des Bettens alles Andere vergeſſen; nun
ihm aber der Gedanke an's Eſſen kam, ſtieg ein großer
Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar
Nichts bekommen, als früh am Morgen ſein Stück Brod
und ein paar Schlücke dünnen Kaffee, und nachher hatte es
[25] die lange Reiſe gemacht. So ſagte Heidi ganz zuſtimmend:
„Ja, ich meine es auch.“


„So geh' hinunter, wenn wir denn einig ſind“, ſagte
der Alte und folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann
ging er zum Keſſel hin, ſchob den großen weg und drehte
den kleinen heran, der an der Kette hing, ſetzte ſich auf den
hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz davor hin und
blies ein helles Feuer an. Im Keſſel fing es an zu ſieden
und unten hielt der Alte an einer langen Eiſengabel ein
großes Stück Käſe über das Feuer und drehte es hin und
her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte
mit geſpannter Aufmerkſamkeit zugeſehen; jetzt mußte ihm
etwas Neues in den Sinn gekommen ſein; auf einmal ſprang
es weg und an den Schrank und von da hin und her.
Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem Käſe¬
braten an der Gabel zum Tiſch heran; da lag ſchon das
runde Brod darauf und zwei Teller und zwei Meſſer, Alles
ſchön geordnet, denn das Heidi hatte Alles im Schrank gut
wahrgenommen und wußte, daß man das Alles nun gleich
zum Eſſen brauchen werde.


„So, das iſt recht, daß du ſelbſt etwas ausdenkſt“,
ſagte der Großvater und legte den Braten auf das Brod,
als Unterlage; „aber es fehlt noch Etwas auf dem Tiſch.“


Heidi ſah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte,
und ſprang ſchnell wieder an den Schrank. Da ſtand aber
nur ein einziges Schüſſelchen. Heidi war nicht lang in
[26] Verlegenheit, dort hinten ſtanden zwei Gläſer; augenblicklich
kam das Kind zurück und ſtellte Schüſſelchen und Glas auf
den Tiſch.


„Recht ſo, du weißt dir zu helfen; aber wo willſt du
ſitzen?“ Auf dem einzigen Stuhl ſaß der Großvater ſelbſt.
Heidi ſchoß pfeilſchnell zum Heerd hin, brachte den kleinen
Dreifuß zurück und ſetzte ſich drauf.


„Einen Sitz haſt du wenigſtens, das iſt wahr, nur ein
wenig weit unten“, ſagte der Großvater; aber von meinem
Stuhl wärſt auch zu kurz, auf den Tiſch zu langen; jetzt
mußt aber einmal Etwas haben, ſo komm'!“ Damit ſtand
er auf, füllte das Schüſſelchen mit Milch, ſtellte es auf den
Stuhl, und rutſchte den ganz nah an den Dreifuß hin, ſo
daß das Heidi nun einen Tiſch vor ſich hatte. Der Gro߬
vater legte ein großes Stück Brod und ein Stück von dem
goldenen Käſe darauf und ſagte: „Jetzt iß!“ Er ſelbſt
ſetzte ſich nun auf die Ecke des Tiſches und begann ſein
Mittagsmahl. Heidi ergriff ſein Schüſſelchen und trank
und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durſt ſeiner
langen Reiſe war ihm wieder aufgeſtiegen. Jetzt that es
einen langen Athemzug, denn im Eifer des Trinkens hatte
es lange den Athem nicht holen können, und ſtellte ſein
Schüſſelchen hin.


„Gefällt dir die Milch?“ fragte der Großvater.


„Ich habe noch gar nie ſo gute Milch getrunken“, ant¬
wortete Heidi.

[27]

„So mußt du mehr haben“, und der Großvater füllte
das Schüſſelchen noch einmal bis oben hin und ſtellte es
vor das Kind, das vergnüglich in ſein Brod biß und dann
von dem weichen Käſe darauf ſtrich, denn der war, ſo ge¬
braten, weich wie Butter, und das ſchmeckte ganz kräftig
zuſammen, und zwiſchen durch trank es ſeine Milch und ſah
ſehr vergnüglich aus. Als nun das Eſſen zu Ende war,
ging der Großvater in den Gaißenſtall hinaus und hatte da
allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi ſah ihm auf¬
merkſam zu, wie er erſt mit dem Beſen ſäuberte, dann
friſche Streu legte, daß die Thierchen darauf ſchlafen konnten;
wie er dann nach dem Schöpfchen ging nebenan und hier
runde Stöcke zurecht ſchnitt und an einem Brett herum
hackte und Löcher hinein bohrte und dann die runden Stöcke
hinein ſteckte und aufſtellte; da war es auf einmal ein
Stuhl, wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi
ſtaunte das Werk an, ſprachlos vor Verwunderung.


„Was iſt das, Heidi?“ fragte der Großvater.


„Das iſt mein Stuhl, weil er ſo hoch iſt; auf einmal
war er fertig“, ſagte das Kind noch in tiefem Erſtaunen
und Bewunderung.


„Es weiß, was es ſieht, es hat die Augen am rechten
Ort“, bemerkte der Großvater vor ſich hin, als er nun um
die Hütte herum ging und hier einen Nagel einſchlug und
dort einen und dann an der Thür etwas zu befeſtigen hatte
und ſo mit Hammer und Nägeln und Holzſtücken von einem
[28] Ort zum andern wanderte und immer etwas ausbeſſerte
oder wegſchlug, je nach dem Bedürfniß. Heidi ging Schritt
für Schritt hinter ihm her und ſchaute ihm unverwandt
mit der größten Aufmerkſamkeit, zu und Alles, was da vor¬
ging, war ihm ſehr kurzweilig anzuſehen. So kam der
Abend heran. Es fing an ſtärker zu rauſchen in den alten
Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und ſauſte und
brauſte durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi ſo
ſchön in die Ohren und in's Herz hinein, daß es ganz
fröhlich darüber wurde, und hüpfte und ſprang unter den
Tannen umher, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt.
Der Großvater ſtand unter der Schopfthür und ſchaute dem
Kinde zu. Jetzt ertönte ein ſchriller Pfiff. Heidi hielt an
in ſeinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
herunter kam es geſprungen, Gaiß um Gaiß, wie eine Jagd
und mitten drin der Peter. Mit einem Freudenruf ſchoß
Heidi mitten in den Rudel hinein und begrüßte die alten
Freunde von heute Morgen einen um den andern. Bei der
Hütte angekommen, ſtand Alles ſtill und aus der Heerde
heraus kamen zwei ſchöne, ſchlanke Gaißen, eine weiße und
eine braune auf den Großvater zu und leckten ſeine Hände,
denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend
zum Empfang ſeiner zwei Thierlein that. Der Peter ver¬
ſchwand mit ſeiner Schaar. Heidi ſtreichelte zärtlich die
eine und dann die andere von den Gaißen und ſprang um
ſie herum, um ſie von der andern Seite auch zu ſtreicheln,
[29] und war ganz Glück und Freude über die Thierchen. „Sind
ſie unſer, Großvater? Sind ſie beide unſer? Kommen ſie
in den Stall? Bleiben ſie immer bei uns?“ So fragte
Heidi hinter einander in ſeinem Vergnügen, und der Gro߬
vater konnte kaum ſein ſtätiges „Ja, ja!“ zwiſchen die
eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Gaißen
ihr Salz aufgeleckt hatten, ſagte der Alte: „Geh' und hol'
dein Schüſſelchen heraus und das Brod.“


Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der
Großvater gleich von der Weißen das Schüſſelchen voll und
ſchnitt ein Stück Brod ab und ſagte: „Nun iß und dann
geh' hinauf und ſchlaf'! Die Baſe Dete hat noch ein Bün¬
delchen abgelegt für dich, da ſeien Hemdlein und ſo etwas
darin, das liegt unten im Kaſten, wenn du's brauchſt; ich
muß nun mit den Gaißen hinein, ſo ſchlaf' wohl!“


„Gut' Nacht, Großvater! Gut' Nacht — wie heißen ſie,
Großvater, wie heißen ſie?“ rief das Kind und lief dem
verſchwindenden Alten und den Gaißen nach.


„Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli“,
gab der Großvater zurück.


„Gut' Nacht, Schwänli, gut' Nacht, Bärli“, rief nun
Heidi noch mit Macht, denn eben verſchwanden Beide in
den Stall hinein. Nun ſetzte ſich Heidi noch auf die Bank
und aß ſein Brod und trank ſeine Milch; aber der ſtarke
Wind wehte es faſt von ſeinem Sitz herunter; ſo machte
es ſchnell fertig, ging dann hinein und ſtieg zu ſeinem Bett
[30] hinauf, in dem es auch gleich nachher ſo feſt und herrlich
ſchlief, als nur Einer im ſchönſten Fürſtenbett ſchlafen konnte.
Nicht lange nachher, noch eh' es völlig dunkel war, legte
auch der Großvater ſich auf ſein Lager, denn am Morgen
war er immer ſchon mit der Sonne wieder draußen, und
die kam ſehr früh über die Berge hereingeſtiegen in dieſer
Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind ſo gewaltig,
daß bei ſeinen Stößen die ganze Hütte erzitterte und es in
allen Balken krachte; durch den Schornſtein heulte und
ächzte es wie Jammerſtimmen, und in den alten Tannen
draußen tobte es mit ſolcher Wuth, daß hie und da ein
Aſt niederkrachte. Mitten in der Nacht ſtand der Gro߬
vater auf und ſagte halblaut vor ſich hin: „Es wird ſich
wohl fürchten.“ Er ſtieg die Leiter hinauf und trat an
Heidi's Lager heran. Der Mond draußen ſtand einmal
hell leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden
Wolken darüber hin und Alles wurde dunkel. Jetzt kam
der Mondſchein eben leuchtend durch die runde Oeffnung
herein und fiel gerade auf Heidi's Lager. Es hatte ſich
feuerrothe Backen erſchlafen unter ſeiner ſchweren Decke,
und ganz ruhig und friedlich lag es auf ſeinem runden
Aermchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn ſein
Geſichtchen ſah ganz wohlgemuth aus. Der Großvater
ſchaute ſo lange auf das friedlich ſchlafende Kind, bis der
Mond wieder hinter die Wolken kam und es dunkel
wurde, dann kehrte er auf ſein Lager zurück.

[]

Capitel III.
Auf der Weide.

Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten
Pfiff, und als es die Augen aufſchlug, kam ein goldner
Schein durch das runde Loch hereingefloſſen auf ſein Lager
und auf das Heu daneben, daß Alles golden leuchtete rings¬
herum. Heidi ſchaute erſtaunt um ſich und wußte durchaus
nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Gro߬
vaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm Alles in den Sinn,
woher es gekommen war, und daß es nun auf der Alm
beim Großvater ſei, nicht mehr bei der alten Urſel, die
faſt Nichts mehr hörte und meiſtens fror, ſo daß ſie immer
am Küchenfeuer oder am Stubenofen geſeſſen hatte, wo
dann auch Heidi hatte verweilen müſſen oder doch ganz in der
Nähe, damit die Alte ſehen konnte, wo es war, weil ſie
es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi manchmal
zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So
war es ſehr froh, als es in der neuen Behauſung erwachte
und ſich erinnerte, wie viel Neues es geſtern geſehen hatte
[32] und was es heute wieder Alles ſehen könnte, vor Allem
das Schwänli und das Bärli. Heidi ſprang eilig aus ſeinem
Bett und hatte in wenig Minuten Alles wieder angelegt,
was es geſtern getragen hatte, denn es war ſehr wenig.
Nun ſtieg es die Leiter hinunter und ſprang vor die Hütte
hinaus. Da ſtand ſchon der Gaißen-Peter mit ſeiner Schaar
und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus
dem Stall herbei, daß ſie ſich der Geſellſchaft anſchlöſſen.
Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Gaißen guten
Tag zu ſagen.


„Willſt mit auf die Weide?“ fragte der Großvater.
Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor
Freuden.


„Aber erſt waſchen und ſauber ſein, ſonſt lacht Einen
die Sonne aus, wenn ſie ſo ſchön glänzt da droben und
ſieht, daß du ſchwarz biſt; ſieh, dort iſt's für dich gerichtet.“
Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Waſſer,
der vor der Thür in der Sonne ſtand. Heidi ſprang hin
und patſchte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unter¬
deſſen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief
dem Peter zu: „Komm' hieher, Gaißengeneral, und bring'
deinen Haberſack mit!“ Verwundert folgte Peter dem
Ruf und ſtreckte ſein Säcklein hin, in dem er ſein mageres
Mittageſſen bei ſich trug.


„Mach' auf!“ befahl der Alte und ſteckte nun ein großes
Stück Brod und ein ebenſo großes Stück Käſe hinein. Der
[33] Peter machte vor Erſtaunen ſeine runden Augen ſo weit
auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl
die Hälfte ſo groß wie die zwei, die er als eignes Mittags¬
mahl drinnen hatte.


„So, nun kommt noch das Schüſſelchen hinein“, fuhr
der Oehi fort, „denn das Kind kann nicht trinken wie
du, nur ſo von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du
melkſt ihm zwei Schüſſelchen voll zu Mittag, denn das
Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
herunterkommſt; gib Acht, daß es nicht über die Felſen
hinunterfällt, hörſt du?“


Nun kam Heidi hereingelaufen. „Kann mich die Sonne
jetzt nicht auslachen, Großvater?“ fragte es angelegentlich.
Es hatte ſich mit dem groben Tuch, das der Großvater
neben dem Waſſerzuber aufgehängt hatte, Geſicht, Hals und
Arme in ſeinem Schrecken vor der Sonne ſo erſtaunlich
gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater ſtand. Er
lachte ein wenig.


„Nein, nun hat ſie Nichts zu lachen“, beſtätigte er.
„Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommſt, da
gehſt du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fiſch;
denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man
ſchwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.“


Nun ging es luſtig die Alm hinan. Der Wind hatte
in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblaſen; dunkelblau
ſchaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten
Kleine Geſchichten. III. 3[34] drauf ſtand die leuchtende Sonne und ſchimmerte auf die
grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf
machten ihre Kelche auf und ſchauten ihr fröhlich entgegen.
Heidi ſprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
denn da waren ganze Trüppchen feiner, rother Himmels¬
ſchlüſſelchen bei einander, und dort ſchimmerte es ganz blau
von den ſchönen Enzianen, und überall lachten und nickten
die zartblättrigen, goldenen Cyſtusröschen in der Sonne.
Vor Entzücken über all den flimmernden, winkenden Blüm¬
chen vergaß Heidi ſogar die Gaißen und auch den Peter.
Es ſprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite,
denn dort funkelte es roth und da gelb und lockte Heidi
auf alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Schaaren
von den Blumen und packte ſie in ſein Schürzchen ein,
denn es wollte ſie alle mit heim nehmen und in's Heu
ſtecken in ſeiner Schlafkammer, daß es dort werde wie hier
draußen. So hatte der Peter heut' nach allen Seiten zu
gucken und ſeine kugelrunden Augen, die nicht beſonders
ſchnell hin- und hergingen, hatten mehr Arbeit, als der
Peter gut bewältigen konnte, denn die Gaißen hatten es
wie das Heidi, ſie liefen auch dahin und dorthin und er
mußte überallhin pfeifen und rufen und ſeine Ruthe ſchwin¬
gen, um wieder alle die Verlaufenen zuſammenzutreiben.


„Wo biſt du ſchon wieder, Heidi?“ rief er jetzt mit
ziemlich grimmiger Stimme.


„Da“, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte
[35] Peter Niemand, denn Heidi ſaß am Boden hinter einem
Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen beſät war;
da war die ganze Luft umher ſo mit Wohlgeruch erfüllt,
daß Heidi noch nie ſo Liebliches eingeathmet hatte. Es
ſetzte ſich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen
Zügen ein.


„Komm' nach“, rief der Peter wieder. „Du mußt
nicht über die Felſen hinunterfallen, der Oehi hat's ver¬
boten.“


„Wo ſind die Felſen?“ fragte Heidi zurück, bewegte
ſich aber nicht von der Stelle, denn der ſüße Duft ſtrömte
mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.


„Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum
komm' jetzt! Und oben am höchſten ſitzt der alte Raub¬
vogel und krächzt.“


Das half. Augenblicklich ſprang Heidi in die Höhe
und rannte mit ſeiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.


„Jetzt haſt genug“, ſagte dieſer, als ſie wieder zu¬
ſammen weiter kletterten, „ſonſt bleibſt du immer ſtecken,
und wenn du alle nimmſt, hat's morgen keine mehr.“ Der
letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die
Schürze ſchon ſo angefüllt, daß da wenig Platz mehr ge¬
weſen wäre, und morgen mußten auch noch da ſein. So
zog es nun mit dem Peter weiter und die Gaißen gingen
nun auch geregelter, denn ſie rochen die guten Kräuter von
dem hohen Weideplatz ſchon von fern und ſtrebten nun
3*[36] ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich
Halt machte mit ſeinen Gaißen und ſein Quartier für den Tag
aufſchlug, lag am Fuße der hohen Felſen, die, erſt noch von
Gebüſch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und ſchroff zum
Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp zogen ſich
Felſenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte Recht,
davor zu warnen. Als nun dieſer Punkt der Höhe erreicht
war, nahm Peter ſeinen Sack ab und legte ihn ſorgfältig in
eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind
kam manchmal in ſtarken Stößen daher gefahren, und den
kannte Peter und wollte ſeine koſtbare Habe nicht den Berg
hinunterrollen ſehen; dann ſtreckte er ſich lang und breit
auf den ſonnigen Weideboden hin, denn er mußte ſich nun
von der Anſtrengung des Steigens erholen.


Heidi hatte unterdeſſen ſein Schürzchen losgemacht und
ſchön feſt zuſammengerollt mit den Blumen darin zum
Proviantſack in die Vertiefung hineingelegt und nun ſetzte
es ſich neben den ausgeſtreckten Peter hin und ſchaute um
ſich. Das Thal lag weit unten im vollen Morgenglanz;
vor ſich ſah Heidi ein großes, weites Schneefeld ſich er¬
heben hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links
davon ſtand eine ungeheuere Felſenmaſſe und zu jeder Seite
derſelben ragte ein hoher Felſenthurm kahl und zackig in
die Bläue hinauf und ſchaute von dort oben ganz ernſthaft
auf das Heidi nieder. Das Kind ſaß mäuschenſtill da und
ſchaute ringsum, und weit umher war eine große, tiefe
[37] Stille, nur ganz ſanft und leiſe ging der Wind über die
zarten, blauen Glockenblümchen und die golden ſtrahlenden
Cyſtusröschen, die überall herumſtanden auf ihren dünnen
Stengelchen und leiſe und fröhlich hin- und hernickten.
Der Peter war entſchlafen nach ſeiner Anſtrengung und die
Gaißen kletterten oben an den Büſchen umher. Dem Heidi
war es ſo ſchön zu Muth, wie in ſeinem Leben noch nie.
Es trank das goldne Sonnenlicht, die friſchen Lüfte, den
zarten Blumenduft in ſich ein und begehrte gar Nichts
mehr, als ſo da zu bleiben immerzu. So verging eine
gute Zeit und Heidi hatte ſo oft und ſo lange zu den hohen
Bergſtöcken drüben aufgeſchaut, daß es nun war, als haben
ſie alle auch Geſichter bekommen und ſchauten ganz bekannt
zu ihm hernieder, ſo wie gute Freunde.


Jetzt hörte Heidi über ſich ein lautes, ſcharfes Geſchrei
und Krächzen ertönen, und wie es aufſchaute, kreiſte über ihm
ein ſo großer Vogel, wie es nie in ſeinem Leben geſehen
hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher,
und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und
krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf.


„Peter! Peter! erwach'!“ rief Heidi laut. „Sieh', der
Raubvogel iſt da, ſieh'! ſieh'!“


Peter erhob ſich auf den Ruf und ſchaute mit Heidi
dem Vogel nach, der ſich nun höher und höher hinauf¬
ſchwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felſen
verſchwand.

[38]

„Wo iſt er jetzt hin?“ fragte Heidi, das mit geſpannter
Aufmerkſamkeit den Vogel verfolgt hatte.


„Heim in's Neſt“, war Peter's Antwort.


„Iſt er dort oben daheim? O wie ſchön ſo hoch oben!
Warum ſchreit er ſo?“ fragte Heidi weiter.


„Weil er muß“, erklärte Peter.


„Wir wollen doch dort hinaufklettern und ſehen, wo
er daheim iſt“, ſchlug Heidi vor.


„O! O! O!“ brach der Peter aus, jeden Ausruf mit
verſtärkter Mißbilligung hervorſtoßend, „wenn keine Gaiß
mehr dort hinkann und der Oehi geſagt hat, du dürfeſt
nicht über die Felſen hinunterfallen.“


Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein ſo gewal¬
tiges Pfeifen und Rufen anzuſtimmen, daß Heidi gar nicht
wußte, was begegnen ſollte: aber die Gaißen mußten die
Töne verſtehen, denn eine nach der andern kam herunter¬
geſprungen und nun war die ganze Schaar auf der grünen
Halde verſammelt, die Einen fortnagend an den würzigen
Halmen, die Andern hin- und herrennend und die Dritten
ein wenig gegeneinanderſtoßend mit ihren Hörnern zum
Zeitvertreib. Heidi war aufgeſprungen und rannte mitten
unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer,
unbeſchreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durch¬
einander ſprangen und ſich luſtig machten, und Heidi ſprang
von einem zum andern und machte mit jedem ganz perſön¬
liche Bekanntſchaft, denn jedes war eine ganz beſondere Er¬
[39] ſcheinung für ſich und hatte ſeine eignen Manieren. Unter¬
deſſen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier
Stücke, die drin waren, ſchön auf den Boden hingelegt in
ein Viereck, die großen Stücke auf Heidi's Seite und die
kleinen auf die ſeinige hin, denn er wußte genau, wie er
ſie erhalten hatte. Dann nahm er das Schüſſelchen und
melkte ſchöne, friſche Milch hinein vom Schwänli und ſtellte
das Schüſſelchen mitten in's Viereck. Dann rief er Heidi
herbei, mußte aber länger rufen, als nach den Gaißen,
denn das Kind war ſo in Eifer und Freude über die mannig¬
faltigen Sprünge und Erluſtigungen ſeiner neuen Spiel¬
kameraden, daß es Nichts ſah und Nichts hörte außer dieſen.
Aber Peter wußte ſich verſtändlich zu machen, er rief, daß
es bis in die Felſen hinauf dröhnte, und nun erſchien Heidi
und die gedeckte Tafel ſah ſo einladend aus, daß es darum
herumhüpfte vor Wohlgefallen.


„Hör auf zu hopfen, es iſt Zeit zum Eſſen“, ſagte
Peter: „jetzt ſitz' und fang' an.“


Heidi ſetzte ſich hin. „Iſt die Milch mein?“ fragte
es, nochmals das ſchöne Viereck und den Hauptpunkt in der
Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.


„Ja“, erwiderte Peter, „und die zwei großen Stücke zum
Eſſen ſind auch dein und wenn du ausgetrunken haſt, bekommſt
du noch ein Schüſſelchen vom Schwänli und dann komm' ich.“


„Und von wem bekommſt du die Milch?“ wollte Heidi
wiſſen.

[40]

„Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal
zu eſſen an“, mahnte Peter wieder. Heidi fing bei ſeiner
Milch an, und ſo wie es ſein leeres Schüſſelchen hinſtellte,
ſtand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach
Heidi ein Stück von ſeinem Brod ab, und das ganze
übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's
eignes Stück geweſen, das nun ſchon ſammt der Zubehör
faſt zu Ende war, reichte es dieſem hinüber mit dem ganzen
großen Brocken Käſe und ſagte: „Das kannſt du haben,
ich habe nun genug.“


Peter ſchaute das Heidi mit ſprachloſer Verwunderung
an, denn noch nie in ſeinem Leben hätte er ſo ſagen und
Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn
er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernſt ſei;
aber dieſes hielt erſt feſt ſeine Stücke hin, und da Peter
nicht zugriff, legt' es ſie ihm auf's Knie. Nun ſah er,
daß es ernſt gemeint ſei, er erfaßte ſein Geſchenk, nickte in
Dank und Zuſtimmung und hielt nun ein ſo reichliches
Mittagsmahl, wie noch nie in ſeinem Leben als Gaißbub.
Heidi ſchaute derweilen nach den Gaißen aus. „Wie heißen
ſie alle, Peter?“ fragte es.


Das wußte dieſer nun ganz genau und konnte es um
ſo beſſer in ſeinem Kopf behalten, da er daneben wenig
darin aufzubewahren hatte. Er fing alſo an und nannte
ohne Anſtoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger
die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit geſpannter Auf¬
[41] merkſamkeit der Unterweiſung zu, und es währte gar nicht
lange, ſo konnte es ſie alle von einander unterſcheiden und
jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede
ihre Beſonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben
mußten, man mußte nur Allem genau zuſehen, und das
that Heidi. Da war der große Türk mit den ſtarken Hör¬
nern, der wollte mit dieſen immer gegen alle andern ſtoßen,
und die meiſten liefen davon, wenn er kam, und wollten
Nichts von dem groben Kameraden wiſſen. Nur der kecke
Diſtelfink, das ſchlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht
aus, ſondern rannte von ſich aus manchmal drei, vier Mal
hinter einander ſo raſch und tüchtig gegen ihn an, daß der
große Türk öfters ganz erſtaunt daſtand und nicht mehr
angriff, denn der Diſtelfink ſtand ganz kriegsluſtig vor ihm
und hatte ſcharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße
Schneehöppli, das immer ſo eindringlich und flehentlich
meckerte, daß Heidi ſchon mehrmals zu ihm hingelaufen
war und es tröſtend beim Kopf genommen hatte. Auch
jetzt ſprang das Kind wieder hin, denn die junge, jam¬
mernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen.
Heidi legte ſeinen Arm um den Hals des Gaißleins und
fragte ganz theilnehmend: „Was haſt du, Schneehöppli?
Warum rufſt du ſo um Hülfe?“ Das Gaißlein ſchmiegte
ſich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt
ganz ſtill. Peter rief von ſeinem Sitz aus, mit einigen
Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu
[42] ſchlucken: „Es thut ſo, weil die Alte nicht mehr mitkommt,
ſie haben ſie verkauft nach Mayenfeld vorgeſtern, nun
kommt ſie nicht mehr auf die Alm.“


„Wer iſt die Alte?“ fragte Heidi zurück.


„Pah, ſeine Mutter“, war die Antwort.


„Wo iſt die Großmutter?“ rief Heidi wieder.


„Hat keine.“


„Und der Großvater?“


„Hat keinen.“


„Du armes Schneehöppli du“, ſagte Heidi und drückte
das Thierlein zärtlich an ſich. „Aber jammere jetzt nur
nicht mehr ſo, ſiehſt du, ich komme nun jeden Tag mit
dir, dann biſt du nicht mehr ſo verlaſſen, und wenn dir
Etwas fehlt, kannſt du nur zu mir kommen.“


Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt ſeinen Kopf an
Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unter¬
deſſen hatte Peter ſein Mittagsmahl beendet und kam nun
auch wieder zu ſeiner Heerde und zu Heidi heran, das ſchon
wieder allerlei Betrachtungen angeſtellt hatte.


Weitaus die zwei ſchönſten und ſauberſten Gaißen der
ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die ſich auch
mit einer gewiſſen Vornehmheit betrugen, meiſtens ihre
eignen Wege gingen und beſonders dem zudringlichen Türk
abweiſend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten
nun wieder begonnen nach den Büſchen hinaufzuklettern,
und jedes hatte ſeine eigne Weiſe dabei, die einen leicht¬
[43] fertig über Alles weghüpfend, die andern bedächtlich die
guten Kräutlein ſuchend unterwegs, der Türk hie und da
ſeine Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten
hübſch und leicht hinan und fanden oben ſogleich die ſchön¬
ſten Büſche, ſtellten ſich geſchickt daran auf und nagten ſie
zierlich ab. Heidi ſtand mit den Händen auf dem Rücken
und ſchaute dem Allem mit der größten Aufmerkſamkeit zu.


„Peter“, bemerkte es jetzt dem wieder auf dem Boden
Liegenden, „die ſchönſten von allen ſind das Schwänli und
das Bärli.“


„Weiß ſchon“, war die Antwort. „Der Alm-Oehi putzt
und wäſcht ſie und giebt ihnen Salz und hat den ſchönſten
Stall.“


Aber auf einmal ſprang Peter auf und ſetzte in großen
Sprüngen den Gaißen nach, und das Heidi lief hinterdrein,
da mußte Etwas begegnet ſein, es konnte da nicht zurück¬
bleiben. Der Peter ſprang durch den Gaißenrudel durch
der Seite der Alm zu, wo die Felſen ſchroff und kahl
weit hinabſteigen und ein unbeſonnenes Gaißlein, wenn es
dorthin ging, leicht hinunterſtürzen und alle Beine brechen
konnte. Er hatte geſehen, wie der vorwitzige Diſtelfink nach
jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht,
denn eben ſprang das Gaißlein dem Rande des Abgrunds
zu. Peter wollte es eben packen, da ſtürzte er auf den
Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Thier¬
leins erwiſchen und es daran feſthalten. Der Diſtelfink
[44] meckerte voller Zorn und Ueberraſchung, daß er ſo am
Bein feſtgehalten und am Fortſetzen ſeines fröhlichen Streif¬
zugs gehindert war, und ſtrebte eigenſinnig vorwärts. Der
Peter ſchrie nach Heidi, daß es ihm beiſtehe, denn er konnte
nicht aufſtehen und riß dem Diſtelfink faſt das Bein aus.
Heidi war ſchon da und erkannte gleich die ſchlimme Lage
der Beiden. Es riß ſchnell einige wohlduftende Kräuter
aus dem Boden und hielt ſie dem Diſtelfink unter die Naſe
und ſagte begütigend: „Komm', komm', Diſtelfink, du mußt
auch vernünftig ſein! Sieh', da kannſt du hinabfallen und
ein Bein brechen, das thut dir furchtbar weh.“


Das Gaißlein hatte ſich ſchnell umgewandt und dem
Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefreſſen. Der¬
weilen war der Peter auf ſeine Füße gekommen und hatte
den Diſtelfink an der Schnur erfaßt, an welcher ſein Glöck¬
chen um den Hals gebunden war, und Heidi erfaßte dieſe
von der andern Seite und ſo führten die Beiden den Aus¬
reißer zu der friedlich weidenden Heerde zurück. Als ihn
aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er ſeine Ruthe
und wollte ihn zur [Strafe] tüchtig durchprügeln, und der
Diſtelfink wich ſcheu zurück, denn er merkte, was begegnen
ſollte. Aber Heidi ſchrie laut auf: „Nein, Peter, nein,
du mußt ihn nicht ſchlagen, ſieh', wie er ſich fürchtet.“


„Er verdient's“, ſchnurrte Peter und wollte zuſchlagen.
Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüſtet:
„Du darfſt ihm Nichts thun, es thut ihm weh, laß ihn los.“

[45]

Peter ſchaute erſtaunt auf das gebietende Heidi, deſſen
ſchwarze Augen ihn ſo anfunkelten, daß er unwillkürlich
ſeine Ruthe niederhielt. „So kann er gehen, wenn du mir
morgen wieder von deinem Käſe gibſt“, ſagte dann der
Peter nachgebend, denn eine Entſchädigung wollte er haben
für den Schrecken.


„Allen kannſt du haben, das ganze Stück morgen und
alle Tage, ich brauche ihn gar nicht“, ſagte Heidi zuſtim¬
mend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute,
aber dann darfſt du den Diſtelfink nie, gar nie ſchlagen
und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.“


„Es iſt mir gleich“, bemerkte Peter, und das war bei
ihm ſo viel als eine Zuſage. Jetzt ließ er den Schuldigen
los, und der fröhliche Diſtelfink ſprang in hohen Sprüngen
auf und davon in die Heerde hinein.


So war unvermerkt der Tag vergangen, und ſchon war
die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinab¬
zugehen. Heidi ſaß wieder am Boden und ſchaute ganz
ſtill auf die Blauglöckchen und die Cyſtusröschen, die im
goldnen Abendſchein leuchteten, und alles Gras wurde wie
golden angehaucht und die Felſen droben fingen zu ſchim¬
mern und zu funkeln an, und auf einmal ſprang Heidi auf
und ſchrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle
Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und
der Himmel. O ſieh'! ſieh'! der hohe Felſenberg iſt ganz
glühend! O der ſchöne, feurige Schnee! Peter, ſieh' auf,
[46] ſieh', das Feuer iſt auch beim Raubvogel! ſieh' doch die Fel¬
ſen! ſieh' die Tannen! Alles, Alles iſt im Feuer!“


„Es war immer ſo“, ſagte jetzt der Peter gemüthlich und
ſchälte an ſeiner Ruthe fort, „aber es iſt kein Feuer.“


„Was iſt es denn?“ rief Heidi und ſprang hierhin
und dorthin, daß es überallhin ſehe, denn es konnte gar
nicht genug bekommen, ſo ſchön war's auf allen Seiten.
„Was iſt es, Peter, was iſt es?“ rief Heidi wieder.


„Es kommt von ſelbſt ſo“, erklärte der Peter.


„O ſieh', ſieh'“, rief Heidi in großer Aufregung, „auf
einmal werden ſie roſenroth! Sieh' den mit dem Schnee
und den mit den hohen, ſpitzigen Felſen! wie heißen ſie,
Peter?“


„Berge heißen nicht“, erwiderte dieſer.


„O wie ſchön, ſieh' den roſenrothen Schnee! O, und
an den Felſen oben ſind viele, viele Roſen! O, nun wer¬
den ſie grau! O! O! Nun iſt Alles ausgelöſcht! Nun
iſt Alles aus, Peter!“ Und Heidi ſetzte ſich auf den Bo¬
den und ſah ſo verſtört aus, als ginge wirklich Alles zu
Ende.


„Es iſt morgen wieder ſo“, erklärte Peter. „Steh'
auf, nun müſſen wir heim.“


Die Gaißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und
die Heimfahrt angetreten.


„Iſt's alle Tage wieder ſo, alle Tage, wenn wir auf
der Weide ſind?“ fragte Heidi, begierig nach einer be¬
[47] jahenden Verſicherung horchend, als es nun neben dem
Peter die Alm hinunterſtieg.


„Meiſtens“, gab dieſer zur Antwort.


„Aber gewiß morgen wieder?“ wollte es noch wiſſen.


„Ja, ja, morgen ſchon!“ verſicherte Peter.


Nun war Heidi wieder froh' und es hatte ſo viele Ein¬
drücke in ſich aufgenommen und ſo viele Dinge gingen ihm
im Sinn herum, daß es nun ganz ſtill ſchwieg, bis es bei
der Almhütte ankam und unter den Tannen den Gro߬
vater ſitzen ſah, wo er auch eine Bank angebracht hatte
und am Abend ſeine Gaißen erwartete, die von dieſer Seite
herunterkamen. Heidi ſprang gleich auf ihn zu und Schwänli
und Bärli hinter ihm drein, denn die Gaißen kannten ihren
Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach:
„Komm' dann morgen wieder! Gute Nacht!“ Denn es
war ihm ſehr daran gelegen, daß das Heidi wiederkomme.


Da rannte das Heidi ſchnell wieder zurück und gab dem
Peter die Hand und verſicherte ihn, daß es wieder mit¬
komme und dann ſprang es mitten in die davonziehende
Heerde hinein und faßte noch einmal das Schneehöppli um
den Hals und ſagte vertraulich: „Schlaf' wohl, Schnee¬
höppli, und denk' dran, daß ich morgen wiederkomme und
daß du nie mehr ſo jämmerlich meckern mußt.“


Das Schneehöppli ſchaute ganz freundlich und dankbar
zu Heidi auf und ſprang dann fröhlich der Heerde nach.


Heidi kam unter die Tannen zurück.

[48]

„O Großvater, das war ſo ſchön!“ rief es, noch bevor
es bei ihm war, das Feuer und die Roſen am Felſen und
die blauen und gelben Blumen und ſieh', was ich dir
bringe!“ Und damit ſchüttete Heidi ſeinen ganzen Blumen¬
reichthum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Gro߬
vater hin. Aber wie ſahen die armen Blümchen aus!
Heidi erkannte ſie nicht mehr. Es war Alles wie Heu und
kein einziges Kelchlein ſtand mehr offen.


„O Großvater, was haben ſie?“ rief Heidi ganz er¬
ſchrocken aus, „ſo waren ſie nicht, warum ſehen ſie ſo
aus?“


„Die wollen draußen ſtehen in der Sonne und nicht
in's Schürzchen hinein“, ſagte der Großvater.


„Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Gro߬
vater, warum hat der Raubvogel ſo gekrächzt?“ fragte Heidi
nun angelegentlich.


„Jetzt gehſt du in's Waſſer und ich in den Stall und
hole Milch, und nachher kommen wir hinein zuſammen in
die Hütte und eſſen zu Nacht, dann ſag' ich dir's.“


So wurde gethan, und wie nun ſpäter Heidi auf ſeinem
hohen Stuhl ſaß vor ſeinem Milchſchüſſelchen und der Gro߬
vater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit ſeiner
Frage: „Warum krächzt der Raubvogel ſo und ſchreit immer
ſo herunter, Großvater?“


„Der höhnt die Leute aus dort unten, daß ſie ſo Viele
zuſammenſitzen in den Dörfern und einander bös machen.
[49] Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und
jedes ſeinen Weg und auf eine Höhe ſteigen, wie ich, ſo wär's
euch wohler!“ Der Großvater ſagte dieſe Worte faſt wild,
ſo daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch
eindrücklicher wurde in der Erinnerung.


„Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“
fragte Heidi wieder.


„Die haben Namen“, erwiderte dieſer, „und wenn du
mir einen ſo beſchreiben kannſt, daß ich ihn kenne, ſo ſage
ich dir, wie es heißt.“


Nun beſchrieb Heidi den Felſenberg mit den zwei hohen
Thürmen genau ſo, wie es ihn geſehen hatte, und der Gro߬
vater ſagte wohlgefällig: „Recht ſo, den kenn' ich, der heißt
Falkniß. Haſt du noch einen geſehen?“


Nun beſchrieb Heidi den Berg mit dem großen Schnee¬
feld, auf dem der ganze Schnee im Feuer geſtanden hatte
und dann roſenroth geworden war und dann auf einmal
ganz bleich und erloſchen daſtand.


„Den erkenn' ich auch“, ſagte der Großvater, „das iſt
der Cäſaplana; ſo hat es dir gefallen auf der Weide?“


Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie ſchön
es geweſen und beſonders von dem Feuer am Abend, und
nun ſollte der Großvater auch ſagen, woher es gekommen
war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt.


„Siehſt du“, erklärte der Großvater, „das macht die
Sonne, wenn ſie den Bergen gute Nacht ſagt, dann wirft
Kleine Geſchichten. III. 4[50] ſie ihnen noch ihre ſchönſten Strahlen zu, daß ſie ſie nicht
vergeſſen, bis ſie am Morgen wiederkommt.“


Das gefiel dem Heidi und es konnte faſt nicht erwar¬
ten, daß wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf
die Weide und wieder ſehen, wie die Sonne den Bergen
gute Nacht ſagte. Aber erſt mußte es nun ſchlafen gehen,
und es ſchlief auch die ganze Nacht herrlich auf ſeinem Heu¬
lager und träumte von lauter ſchimmernden Bergen und
rothen Roſen darauf und mitten drinn das Schneehöppli
in fröhlichen Sprüngen.

[]

Capitel IV.
Bei der Großmutter.

Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und
dann kam der Peter und die Gaißen, und wieder zogen ſie
Alle miteinander nach der Weide hinauf, und ſo ging es
Tag für Tag, und Heidi wurde bei dieſem Weideleben ganz
gebräunt und ſo kräftig und geſund, daß ihm gar nie etwas
fehlte, und ſo froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag
zum andern, wie nur die luſtigen Vögelein leben auf allen
Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbſt wurde und
der Wind lauter zu ſauſen anfing über die Berge hin, dann
ſagte etwa der Großvater: „Heut' bleibſt du da, Heidi; ein
Kleines, wie du biſt, kann der Wind mit einem Ruck über
alle Felſen in's Thal hinabwehen.“


Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, ſah
er ſehr unglücklich aus, denn er ſah lauter Mißgeſchick vor
ſich: einmal wußte er vor Langerweile nun gar nicht
mehr was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann
4*[52] kam er um ſein reichliches Mittagsmahl, und dann waren
die Gaißen ſo ſtörrig an dieſen Tagen, daß er die doppelte
Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch ſo an
Heidi's Geſellſchaft gewöhnt, daß ſie nicht vorwärts wollten,
wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten.
Heidi wurde niemals unglücklich, denn es ſah immer irgend
etwas Erfreuliches vor ſich; am liebſten ging es ſchon mit
Hirt und Gaißen auf die Weide zu den Blumen und zum
Raubvogel hinauf, wo ſo mannigfaltige Dinge zu erleben
waren mit all' den verſchieden gearteten Gaißen, aber auch
das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters
war ſehr unterhaltend für Heidi; und traf es ſich, daß er
gerade die ſchönen runden Gaißkäschen zubereitete, wenn es
daheimbleiben mußte, ſo war das ein ganz beſonderes
Vergnügen, dieſer merkwürdigen Thätigkeit zuzuſchauen, wobei
der Großvater beide Arme bloß machte und damit in dem
großen Keſſel herumrührte. Aber vor Allem anziehend
war für das Heidi an ſolchen Windtagen das Wogen und
Rauſchen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da
mußte es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem
Andern weg, was es auch ſein mochte, denn ſo ſchön und
wunderbar war gar Nichts, wie dieſes tiefe, geheimnißvolle
Toſen in den Wipfeln da droben; da ſtand Heidi unten
und lauſchte hinauf und konnte niemals genug bekommen zu
ſehen und zu hören, wie das wehte und wogte und rauſchte
in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne
[53] nicht mehr heiß wie im Sommer und Heidi ſuchte ſeine
Strümpfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn
nun wurde es immer friſcher und wenn das Heidi unter
den Tannen ſtand, wurde es durchblaſen wie ein dünnes
Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen
vernahm.


Dann wurde es kalt und der Peter hauchte in die
Hände, wenn er früh am Morgen herauf kam, aber nicht
lange; denn auf einmal fiel über Nacht ein tiefer Schnee
und am Morgen war die ganze Alm ſchneeweiß und kein
einziges grünes Blättlein mehr zu ſehen ringsum und um.
Da kam der Gaißen-Peter nicht mehr mit ſeiner Heerde,
und Heidi ſchaute ganz verwundert durch das kleine Fenſter,
denn nun fing es wieder zu ſchneien an, und die dicken
Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee ſo hoch wurde,
daß er bis an's Fenſter hinaufreichte und dann noch höher,
daß man das Fenſter gar nicht mehr aufmachen konnte und
man ganz verpackt war in dem Häuschen. Das kam dem
Heidi ſo luſtig vor, daß es immer von einem Fenſter zum
andern rannte, um zu ſehen, wie es denn noch werden
wollte und ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken
wollte, daß man müßte ein Licht anzünden am hellen Tag.
Es kam aber nicht ſo weit und am andern Tag ging der
Großvater hinaus, denn nun ſchneite es nicht mehr, und
ſchaufelte um's ganze Haus herum und warf große, große
[54] Schneehaufen auf einander, daß es war wie hier ein Berg
und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
die Fenſter wieder frei und auch die Thüre, und das war
gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater
am Feuer ſaßen, Jedes auf ſeinem Dreifuß, denn der
Großvater hatte längſt auch einen für das Kind gezimmert,
da polterte auf einmal etwas heran und ſchlug immer zu
gegen die Holzſchwelle und machte endlich die Thür auf.
Es war der Gaißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart
ſo gegen die Thüre gepoltert, ſondern um ſeinen Schnee
von den Schuhen abzuſchlagen, die hoch hinauf davon be¬
deckt waren; eigentlich der ganze Peter war von Schnee
bedeckt, denn er hatte ſich durch die hohen Schichten ſo
durchkämpfen müſſen, daß ganze Maſſen an ihm hängen
geblieben und auf ihm feſtgefroren waren, denn es war ſehr
kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zum
Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht ge¬
ſehn.


„Guten Abend“, ſagte er im Eintreten, ſtellte ſich
gleich ſo nah als möglich an's Feuer heran und ſagte weiter
Nichts mehr, aber ſein ganzes Geſicht lachte vor Vergnügen,
daß er da war. Heidi ſchaute ihn ſehr verwundert an,
denn nun er ſo nah am Feuer war, fing es überall an ihm
zu thauen an, ſo daß der ganze Peter anzuſehen war wie
ein gelinder Waſſerfall.


„Nu General, wie ſteht's?“ ſagte jetzt der Gro߬
[55] vater. Nun biſt du ohne Armee und mußt am Griffel
nagen!“


„Warum muß er am Griffel nagen, Großvater?“
fragte Heidi ſogleich mit Wißbegierde.


„Im Winter muß er in die Schule gehen“, erklärte
der Großvater, „da lernt man leſen und ſchreiben und das
geht manchmal ſchwer, da hilft's ein wenig nach, wenn
man am Griffel nagt, iſt's nicht wahr, General?“


„Ja, 's iſt wahr“, beſtätigte Peter.


Jetzt war Heidi's Theilnahme an der Sache wach ge¬
worden und es hatte ſehr viele Fragen über die Schule und
Alles, was da begegnete und zu hören und zu ſehen war,
an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloß
über einer Unterhaltung, an der Peter Theil nehmen mußte,
ſo konnte er derweilen ſchön trocknen von oben bis unten.
Es war immer eine große Anſtrengung für ihn, ſeine Vor¬
ſtellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er
meinte, aber diesmal hatte er's beſonders ſtreng, denn
kaum hatte er eine Antwort zu Stande gebracht, ſo hatte
ihm Heidi ſchon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen
zugeworfen und meiſtens ſolche, die einen ganzen Satz als
Antwort erforderten.


Der Großvater hatte ſich ganz ſtill verhalten während
dieſer Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz luſtig
um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, daß er
zuhörte.

[56]

„So General, nun warſt du im Feuer und brauchſt
Stärkung, komm', halt mit!“ Damit ſtand der Großvater
auf und holte das Abendeſſen aus dem Schrank hervor,
und Heidi rückte die Stühle zum Tiſch. Unterdeſſen war
auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
Großvater, nun er nicht mehr allein war, hatte er da
und dort allerlei Sitze zu Zweien eingerichtet, denn Heidi
hatte die Art, daß es ſich überall nah zum Großvater
hielt, wo er ging und ſtand und ſaß. So hatten ſie alle
drei gut Platz zum Sitzen und der Peter that ſeine runden
Augen ganz weit auf, als er ſah, welch ein mächtiges
Stück von dem ſchönen getrockneten Fleiſch der Alm-Oehi
ihm auf ſeine dicke Brodſchnitte legte. So gut hatte es der
Peter lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu
Ende war, fing es an zu dunkeln und Peter ſchickte ſich
zur Heimkehr an. Als er nun „gute Nacht“ und „Dank
Euch Gott“ geſagt hatte und ſchon unter der Thür war,
kehrte er ſich noch einmal um und ſagte: „Am Sonntag
komm' ich wieder, heut' über acht Tag', und du ſollteſt auch
einmal zur Großmutter kommen, hat ſie geſagt.“


Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, daß es zu
Jemandem gehen ſolle, aber er faßte auf der Stelle Boden
bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war ſein Erſtes,
daß es erklärte: „Großvater, jetzt muß ich gewiß zu der
Großmutter hinunter, ſie erwartet mich.“


„Es hat zu viel Schnee“, erwiderte der Großvater ab¬
[57] wehrend. Aber das Vorhaben ſaß feſt in Heidi's Sinn,
denn die Großmutter hatte es ja ſagen laſſen, ſo mußte es
ſein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht
fünf und ſechs Mal ſagte: „Großvater, jetzt muß ich gewiß
gehn, die Großmutter wartet ja immer auf mich.“


Am vierten Tag, als es draußen kniſterte und knarrte
vor Kälte bei jedem Schritt und die ganze große Schneedecke
ringsum hart gefroren war, aber eine ſchöne Sonne in's
Fenſter guckte gerade auf Heidi's hohen Stuhl hin, wo es
am Mittagsmahl ſaß, da begann es wieder ſein Sprüchlein:
„Heut' muß ich aber gewiß zur Großmutter gehn, es
währt ihr ſonſt zu lange.“ Da ſtand der Großvater auf
vom Mittagstiſch, ſtieg auf den Heuboden hinauf, brachte
den dicken Sack herunter, der Heidi's Bettdecke war und
ſagte: „So komm!“ In großer Freude hüpfte das Kind
ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den
alten Tannen war es nun ganz ſtill und auf allen Aeſten
lag der weiße Schnee und in dem Sonnenſchein ſchimmerte
und funkelte es überall von den Bäumen in ſolcher Pracht,
daß Heidi hoch aufſprang vor Entzücken und ein Mal über's
andere ausrief: „Komm' heraus, Großvater, komm' heraus!
Es iſt lauter Silber und Gold an den Tannen!“ Denn
der Großvater war in den Schopf hineingegangen und kam
nun heraus mit einem breiten Stoßſchlitten, da war vorn
eine Stange angebracht und von dem flachen Sitz konnte
man die Füße nach vorn hinunter halten und gegen den
[58] Schneeboden ſtemmen und der Fahrt die Weiſung geben.
Hier ſetzte ſich der Großvater hin, nachdem er erſt die
Tannen ringsum mit Heidi hatte beſchauen müſſen, nahm
das Kind auf ſeinen Schooß, wickelte es um und um
in den Sack ein, damit es hübſch warm bleibe, und drückte
es feſt mit dem linken Arm an ſich, denn das war nöthig
bei der kommenden Fahrt. Dann umfaßte er mit der
rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden
Füßen. Da ſchoß der Schlitten davon die Alm hinab mit
einer ſolchen Schnelligkeit, daß das Heidi meinte, es fliege
in der Luft, wie ein Vogel und laut aufjauchzte. Auf einmal
ſtand der Schlitten ſtill, gerade bei der Hütte vom Gaißen-
Peter. Der Großvater ſtellte das Kind auf den Boden,
wickelte es aus ſeiner Decke heraus und ſagte: „So, nun
geh' hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
komm' wieder heraus und mach' dich auf den Weg.“ Dann
kehrte er um mit ſeinem Schlitten und zog ihn den Berg
hinauf.


Heidi machte die Thüre auf und kam in einen kleinen
Raum hinein, da ſah es ſchwarz aus und ein Heerd war
da und einige Schüſſelchen auf einem Geſtell, das war die
kleine Küche; dann kam gleich wieder eine Thüre, die machte
Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn
das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden,
ſondern es war ein kleines, uraltes Häuschen, wo Alles
[59] eng war und ſchmal und dürftig. Als Heidi in das Stüb¬
chen trat, ſtand es gleich vor einem Tiſch, daran ſaß eine
Frau und flickte an Peter's Wams, denn dieſes erkannte
Heidi ſogleich. In der Ecke ſaß ein altes, gekrümmtes
Mütterchen und ſpann. Heidi wußte gleich, woran es war;
es ging gradaus auf das Spinnrad zu und ſagte: „Guten
Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir; haſt du gedacht,
es währe lang, bis ich komme?“


Die Großmutter erhob den Kopf und ſuchte die Hand,
die gegen ſie ausgeſtreckt war, und als ſie dieſe erfaßt hatte,
befühlte ſie dieſelbe erſt eine Weile nachdenklich in der
ihrigen, dann ſagte ſie: „Biſt du das Kind droben beim
Alm-Oehi, biſt du das Heidi?“


„Ja, ja“, beſtätigte das Kind, „jetzt gerade bin ich
mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren.“


„Wie iſt das möglich! Du haſt ja eine ſo warme
Hand! Sag', Brigitte, iſt der Alm-Oehi ſelber mit dem
Kind heruntergekommen?“


Peter's Mutter, die Brigitte, die am Tiſch geflickt hatte,
war aufgeſtanden und betrachtete nun mit Neugierde das
Kind von oben bis unten; dann ſagte ſie: „Ich weiß nicht,
Mutter, ob der Oehi ſelber heruntergekommen iſt mit
ihm, es iſt nicht glaublich, das Kind wird's nicht recht
wiſſen.“


Aber das Heidi ſah die Frau ſehr beſtimmt an und gar
nicht, als ſei es im Ungewiſſen, und ſagte: „Ich weiß ganz
[60] gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir
heruntergeſchlittet iſt, das iſt der Großvater.“


„Es muß doch etwas daran ſein, was der Peter ſo
geſagt hat den Sommer durch vom Alm-Oehi, wenn wir
dachten, er wiſſe es nicht recht“, ſagte die Großmutter,
„wer hätte freilich auch glauben können, daß ſo etwas
möglich ſei, ich dachte, das Kind lebe keine drei Wochen da
oben. Wie ſieht es auch aus, Brigitte?“ Dieſe hatte das
Kind unterdeſſen ſo von allen Seiten angeſehn, daß ſie nun
wohl berichten konnte, wie es ausſah.


„Es iſt ſo fein gegliedert, wie die Adelheid war“, gab
ſie zur Antwort, „aber es hat die ſchwarzen Augen und
das krauſe Haar, wie es der Tobias hatte und auch der
Alte droben, ich glaube, es ſieht den Zweien gleich.“


Unterdeſſen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte
ringsum geguckt und Alles genau betrachtet, was da zu ſehen
war. Jetzt ſagte es: „Sieh', Großmutter, dort ſchlägt es
einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde
auf der Stelle einen Nagel einſchlagen, daß er wieder feſt
hält, ſonſt ſchlägt er auch einmal eine Scheibe ein; ſieh',
ſieh', wie er thut!“


„Ach du gutes Kind,“ ſagte die Großmutter, „ſehn
kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl und noch
viel mehr, nicht nur den Laden, da kracht und klappert es
überall, wenn der Wind kommt und er kann überall herein
blaſen, es hält Nichts mehr zuſammen und in der Nacht,
[61] wenn ſie Beide ſchlafen, iſt es mir manchmal ſo angſt und
bang, es falle Alles über uns zuſammen und ſchlage uns
alle Drei todt; ach und da iſt kein Menſch, der etwas
ausbeſſern könnte an der Hütte, der Peter verſteht's nicht.“


„Aber warum kannſt du denn nicht ſehen, wie der
Laden thut, Großmutter? Sieh' jetzt wieder, dort gerade
dort.“ Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem
Finger.


„Ach Kind, ich kann ja gar Nichts ſehen, gar Nichts,
nicht nur den Laden nicht“, klagte die Großmutter.


„Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz auf¬
mache, daß es recht hell wird, kannſt du dann ſehen, Gro߬
mutter?“


„Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir Niemand
mehr hell machen.“


„Aber wenn du hinausgehſt in den ganz weißen
Schnee, dann wird es dir gewiß hell; komm' nur mit mir,
Großmutter, ich will dir's zeigen.“ Heidi nahm die Gro߬
mutter bei der Hand und wollte ſie fortziehn, denn es
fing an, ihm ganz ängſtlich zu Muth zu werden, daß es
ihr nirgends hell wurde.


„Laß mich nur ſitzen, du gutes Kind, es bleibt doch
dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, ſie dringt
nicht mehr in meine Augen.“


„Aber dann doch im Sommer, Großmutter“, ſagte
Heidi immer ängſtlicher nach einem guten Ausweg ſuchend,
[62] „weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunter¬
brennt und dann gute Nacht ſagt und die Berge alle
feuerroth ſchimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann
wird es dir wieder ſchön hell?“


„Ach Kind, ich kann ſie nie mehr ſehen, die feurigen
Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie
mehr hell auf Erden, nie mehr.“


Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller
Jammer ſchluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn
wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar
Niemand?“


Die Großmutter ſuchte nun das Kind zu tröſten, aber
es gelang ihr nicht ſo bald. Heidi weinte faſt nie; wenn
es aber einmal anfing, dann konnte es auch faſt nicht mehr
aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte
ſchon allerhand probiert, um das Kind zu beſchwichtigen,
denn es ging ihr zu Herzen, daß es ſo jämmerlich ſchluchzen
mußte. Jetzt ſagte ſie: „Komm', du gutes Heidi, komm'
hier heran, ich will dir etwas ſagen. Siehſt du, wenn
man Nichts ſehen kann, dann hört man ſo gern ein freund¬
liches Wort und ich höre es gern, wenn du redeſt; komm',
ſetz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du
machſt da droben und was der Großvater macht, ich habe
ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich ſeit manchem
Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter,
aber der ſagt nicht viel.“

[63]

Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wiſchte
raſch ſeine Thränen weg und ſagte tröſtlich: „Wart' nur,
Großmutter, ich will Alles dem Großvater ſagen, er macht
dir ſchon wieder hell und macht, daß die Hütte nicht zu¬
ſammenfällt, er kann Alles wieder in Ordnung machen.“


Die Großmutter ſchwieg ſtille, und nun fing Heidi an,
ihr mit großer Lebendigkeit zu erzählen von ſeinem Leben
mit dem Großvater und von den Tagen auf der Weide
und von dem jetzigen Winterleben mit dem Großvater, was
er Alles aus Holz machen könne, Bänke und Stühle und
ſchöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
Heu hineinlegen könnte, und einen großen neuen Waſſertrog
zum Baden im Sommer, und ein neues Milchſchüſſelchen
und Löffel, und Heidi wurde immer eifriger im Beſchreiben
all der ſchönen Sachen, die ſo auf einmal aus einem Stück
Holz herauskommen und wie es dann neben dem Gro߬
vater ſtehe und ihm zuſchaue und wie es das Alles auch
einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
Aufmerkſamkeit zu, und von Zeit zu Zeit ſagte ſie da¬
zwiſchen: „Hörſt du's auch, Brigitte? Hörſt du, was es
vom Oehi ſagt?“


Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen
durch ein großes Gepolter an der Thüre, und herein
ſtampfte der Peter, blieb aber ſogleich ſtille ſtehn und
ſperrte ſeine runden Augen ganz erſtaunlich weit auf, als
er das Heidi erblickte, und ſchnitt die allerfreundlichſte
[64] Grimaſſe, als es ihm ſogleich zurief: „Guten Abend,
Peter!“


„Iſt denn das möglich, daß der ſchon aus der Schule
kommt“, rief die Großmutter ganz verwundert aus; „ſo
geſchwind iſt mir ſeit manchem Jahr kein Nachmittag ver¬
gangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem
Leſen?“


„Gleich“, gab der Peter zur Antwort.


„So, ſo“, ſagte die Großmutter ein wenig ſeufzend,
„ich habe gedacht, es gebe vielleicht eine Aenderung auf die
Zeit, wenn du dann zwölf Jahr alt wirſt gegen den Hor¬
nung hin.“


„Warum muß es eine Aenderung geben, Großmutter?“
fragte Heidi gleich mit Intereſſe.


„Ich meine nur, daß er es etwa noch hätte lernen
können“, ſagte die Großmutter, „das Leſen mein' ich. Ich
habe dort oben auf dem Geſtell ein altes Gebetbuch, da
ſind ſchöne Lieder drin, die habe ich ſo lange nicht mehr
gehört, und im Gedächtniß habe ich ſie auch nicht mehr, da
habe ich gehofft, wenn der Peterli nun leſen lerne, ſo könne
er mir etwa ein gutes Lied leſen, aber er kann es nicht
lernen, es iſt ihm zu ſchwer.“


„Ich denke, ich muß Licht machen, es wird ja ſchon
ganz dunkel“, ſagte jetzt Peter's Mutter, die immer emſig
am Wams fortgeflickt hatte, „der Nachmittag iſt mir
auch vergangen, ohne daß ich's merkte.“

[65]

Nun ſprang Heidi von ſeinem Stühlchen auf, ſtreckte
eilig ſeine Hand aus und ſagte: „Gut' Nacht, Großmutter,
ich muß auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird“, und
hinter einander bot es dem Peter und ſeiner Mutter die
Hand und ging der Thüre zu. Aber die Großmutter rief
beſorgt: „Wart', wart', Heidi, ſo allein mußt du nicht
fort, der Peter muß mit dir, hörſt du? Und gib Acht
auf das Kind, Peterli, daß es nicht umfällt, und ſteh' nicht
ſtill mit ihm, daß es nicht friert, hörſt du? Hat es auch
ein dickes Halstuch an?“


„Ich habe gar kein Halstuch an“, rief Heidi zurück,
„aber ich will ſchon nicht frieren“; damit war es zur Thür
hinaus und huſchte ſo behend weiter, daß der Peter kaum
nachkam. Aber die Großmutter rief jammernd: „Lauf'
ihm nach, Brigitte, lauf', das Kind muß ja erfrieren, ſo
bei der Nacht, nimm mein Halſtuch mit, lauf' ſchnell!“
Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein
paar Schritte den Berg hinan gethan, ſo ſahen ſie von
oben herunter den Großvater kommen und mit wenigen
rüſtigen Schritten ſtand er vor ihnen.


„Recht ſo, Heidi, Wort gehalten!“ ſagte er, packte das
Kind wieder feſt in ſeine Decke ein, nahm es auf ſeinen
Arm und ſtieg den Berg hinauf. Eben hatte die Brigitte
noch geſehen, wie der Alte das Kind wohl verpackt auf
ſeinen Arm genommen und den Rückweg angetreten hatte.
Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein und
Kleine Geſchichten. III. 5[66] erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was ſie ge¬
ſehen hatte. Auch dieſe mußte ſich ſehr verwundern und
ein Mal über das andere ſagen: „Gott Lob und Dank,
daß er ſo iſt mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn
er es nur auch wieder zu mir läßt, das Kind hat mir ſo
wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
kann es ſo kurzweilig erzählen!“ Und immer wieder freute
ſich die Großmutter, und bis ſie in's Bett ging, ſagte ſie
immer wieder: „Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt
habe ich doch noch Etwas auf der Welt, auf das ich mich
freuen kann!“ Und die Brigitte ſtimmte jedes Mal ein,
wenn die Großmutter wieder daſſelbe ſagte, und auch der
Peter nickte jedes Mal zuſtimmend mit dem Kopf und zog
ſeinen Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und ſagte:
„Hab's ſchon gewußt.“


Unterdeſſen redete das Heidi in ſeinem Sack drinnen
immerzu an den Großvater heran; da die Stimme aber
nicht durch den achtfachen Umſchlag dringen konnte und er
daher kein Wort verſtand, ſagte er: „Wart' ein wenig,
bis wir daheim ſind, dann ſag's.“


Sobald er nun, oben angekommen, in ſeine Hütte ein¬
getreten war und Heidi aus ſeiner Hülle herausgeſchält
hatte, ſagte es: „Großvater, morgen müſſen wir den
Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden
feſtſchlagen bei der Großmutter und ſonſt noch viele Nägel
einſchlagen, denn es kracht und klappert Alles bei ihr.“

[67]

„Müſſen wir? So, das müſſen wir? Wer hat dir
das geſagt?“ fragte der Großvater.


„Das hat mir kein Menſch geſagt, ich weiß es ſonſt“,
entgegnete Heidi, „denn es hält Alles nicht mehr feſt und es
iſt der Großmutter angſt und bang, wenn ſie nicht ſchlafen
kann und es ſo thut, und ſie denkt: Jetzt fällt Alles ein
und gerade auf unſre Köpfe, und der Großmutter kann
man gar nicht mehr hell machen, ſie weiß gar nicht, wie
man es könnte, aber du kannſt es ſchon, Großvater, denk'
nur, wie traurig es iſt, wenn ſie immer im Dunkeln iſt
und es ihr dann noch angſt und bang iſt und es kann ihr
kein Menſch helfen, als du! Morgen wollen wir gehen
und ihr helfen, gelt, Großvater, wir wollen?“


Heidi hatte ſich an den Großvater angeklammert und
ſchaute mit zweifelloſem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte
ſchaute eine kleine Weile auf das Kind nieder, dann ſagte
er: „Ja, Heidi, wir wollen machen, daß es nicht mehr ſo
klappert bei der Großmutter, das können wir, morgen thun
wir's.“


Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hütten¬
raum herum und rief ein Mal um's andere: „Morgen
thun wir's! Morgen thun wir's!“


Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag
wurde dieſelbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorher¬
gehenden Tag ſtellte der Alte das Kind vor der Thüre der
Gaißenpeter-Hütte nieder und ſagte: „Nun geh' hinein, und
5 *[68] wenn's Nacht wird, komm' wieder. Dann legte er den Sack
auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.


Kaum hatte Heidi die Thüre aufgemacht und war in
die Stube hineingeſprungen, ſo rief ſchon die Großmutter
aus der Ecke: „Da kommt das Kind! Das iſt das Kind!“
Und ließ vor Freuden den Faden los und das Rädchen
ſtehen und ſtreckte beide Hände nach dem Kinde aus. Heidi
lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe
an ſie heran, ſetzte ſich darauf und hatte der Großmutter
ſchon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen
und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertönten ſo
gewaltige Schläge an das Haus, daß die Großmutter vor
Schrecken ſo zuſammenfuhr, daß ſie faſt das Spinnrad
umwarf, und zitternd ausrief: „Ach du mein Gott, jetzt
kommt's, es fällt Alles zuſammen!“ Aber Heidi hielt ſie
feſt um den Arm und ſagte tröſtend: „Nein, nein, Gro߬
mutter, erſchrick du nur nicht, das iſt der Großvater mit
dem Hammer, jetzt macht er Alles feſt, daß es dir nicht
mehr angſt und bang wird.“


„Ach iſt auch das möglich! Iſt auch ſo etwas möglich!
So hat uns doch der liebe Gott nicht ganz vergeſſen!“
rief die Großmutter aus. „Haſt du's gehört, Brigitte,
was es iſt, hörſt du's? Wahrhaftig, es iſt ein Hammer!
Geh' hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Oehi iſt, ſo ſag'
ihm, er ſoll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen,
daß ich ihm auch danken kann.“

[69]

Die Brigitte ging hinaus. Eben ſchlug der Alm-Oehi
mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer ein; Brigitte
trat an ihn heran und ſagte: „Ich wünſche Euch guten
Abend, Oehi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu
danken, daß Ihr uns einen ſolchen Dienſt thut, und die
Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen;
ſicher, es hätte uns das nicht grad Einer gethan, wir wollen
Euch auch dran denken, denn ſicher —“


„Macht's kurz“, unterbrach ſie der Alte hier; „was
Ihr vom Alm-Oehi haltet, weiß ich ſchon. Geht nur wieder
hinein; wo's fehlt, find' ich ſelber.“


Brigitte gehorchte ſogleich, denn der Oehi hatte eine Art,
der man ſich nicht leicht widerſetzte. Er klopfte und hämmerte
um das ganze Häuschen herum, ſtieg dann das ſchmale
Treppchen hinauf bis unter das Dach, hämmerte weiter
und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeſchlagen, den
er mitgebracht hatte. Unterdeſſen war auch ſchon die Dun¬
kelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergeſtiegen
und hatte ſeinen Schlitten hinter dem Gaißenſtall hervor¬
gezogen, als auch ſchon Heidi aus der Thüre trat und vom
Großvater wie geſtern verpackt auf den Arm genommen
und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf
ſitzend, wäre die ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und
es wäre faſt oder ganz erfroren. Das wußte der Gro߬
vater wohl und hielt das Kind ganz warm in ſeinem
Arm.

[70]

So ging der Winter dahin. In das freudloſe Leben
der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine
Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und
dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte ſie immer
Etwas in Ausſicht, nach dem ſie verlangen konnte. Vom
frühen Morgen an lauſchte ſie auch ſchon auf den trippelnden
Schritt, und ging dann die Thüre auf und das Kind kam
wirklich daher geſprungen, dann rief ſie jedes Mal in lauter
Freude: „Gott Lob, da kommt's wieder!“ Und Heidi
ſetzte ſich zu ihr und plauderte und erzählte ſo luſtig von
Allem, was es wußte, daß es der Großmutter ganz wohl
machte und ihr die Stunden dahin gingen, ſie merkte es
nicht, und kein einziges Mal fragte ſie mehr ſo wie früher:
„Brigitte, iſt der Tag noch nicht um?“ Sondern jedes
Mal, wenn Heidi die Thür hinter ſich ſchloß, ſagte ſie:
„Wie war doch der Nachmittag ſo kurz, iſt es nicht wahr,
Brigitte?“ Und dieſe ſagte: „Doch ſicher, es iſt mir, wir
haben erſt die Teller vom Eſſen weggeſtellt.“ Und die
Großmutter ſagte wieder: „Wenn mir nur der Herr Gott
das Kind erhält und dem Alm-Oehi den guten Willen! Sieht
es auch geſund aus, Brigitte?“ Und jedes Mal erwiderte
dieſe: „Es ſieht aus wie ein Erdbeerapfel.“


Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte
Großmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam,
daß ihr gar Niemand, auch der Großvater nicht mehr hell
machen konnte, überkam es immer wieder eine große Be¬
[71] trübniß; aber die Großmutter ſagte ihm immer wieder,
daß ſie am wenigſten davon leide, wenn es bei ihr ſei, und
Heidi kam auch an jedem ſchönen Wintertag heruntergefahren
auf ſeinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere
Worte, ſo fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und
allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nach¬
mittag durch an dem Gaißenpeter-Häuschen herumgeklopft.
Das hatte aber auch ſeine gute Wirkung; es krachte und
klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Gro߬
mutter ſagte, ſo habe ſie manchen Winter lang nicht mehr
ſchlafen können, das wolle ſie auch dem Oehi nie vergeſſen.

[]

Capitel V.
Es kommt ein Beſuch und dann noch einer, der mehr
Folgen hat.

Schnell war der Winter und noch ſchneller der fröh¬
liche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter
neigte ſich ſchon wieder dem Ende zu. Heidi war glücklich
und froh, wie die Vöglein des Himmels und freute ſich
jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage, da
der warme Föhn durch die Tannen brauſen und den Schnee
wegfegen würde und dann die helle Sonne die blauen und
gelben Blümlein hervorlocken und die Tage der Weide
kommen würden, die für Heidi das Schönſte mit ſich brach¬
ten, was es auf Erden geben konnte. Heidi ſtand nun in
ſeinem achten Jahre; es hatte vom Großvater allerlei Kunſt¬
griffe erlernt; mit den Gaißen wußte es ſo gut umzugehen,
als nur Einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach
wie treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude,
wenn ſie nur ſeine Stimme hörten. In dieſem Winter
hatte Peter ſchon zwei Mal vom Schullehrer im Dörfli
[73] den Bericht gebracht, der Alm-Oehi ſollte das Kind, das bei
ihm ſei, nun in die Schule ſchicken, es habe ſchon mehr als
das Alter und hätte ſchon im letzten Winter kommen ſollen.
Der Oehi hatte beide Male dem Schullehrer ſagen laſſen,
wenn er Etwas mit ihm wollte, ſo ſei er daheim, das
Kind ſchicke er nicht in die Schule. Dieſen Bericht hatte
der Peter richtig überbracht.


Als die Märzſonne den Schnee an den Abhängen ge¬
ſchmolzen hatte und überall die weißen Schneeglöckchen hervor¬
guckten im Thal und auf der Alm die Tannen ihre Schnee¬
laſt abgeſchüttelt hatten und die Aeſte wieder luſtig wehten,
da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her, von der
Hausthür zum Gaißenſtall und von da unter die Tannen
und dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu be¬
richten, wie viel größer das Stück grüner Boden unter den
Bäumen wieder geworden ſei, und gleich nachher kam es
wieder nachzuſehen, denn es konnte es nicht erwarten, daß
Alles wieder grün und der ganze ſchöne Sommer mit Grün
und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.


Als Heidi ſo am ſonnigen Märzmorgen hin- und her¬
rannte und jetzt wohl zum zehnten Mal über die Thür¬
ſchwelle ſprang, wäre es vor Schrecken faſt rückwärts wieder¬
hineingefallen, denn auf einmal ſtand es vor einem ſchwarzen,
alten Herrn, der es ganz ernſthaft anblickte. Als er aber
ſeinen Schrecken ſah, ſagte er freundlich: „Du mußt nicht
erſchrecken vor mir, die Kinder ſind mir lieb. Gib mir
[74] die Hand! du wirſt das Heidi ſein; wo iſt der Gro߬
vater?“


„Er ſitzt am Tiſch und ſchnitzt runde Löffel von Holz“,
erklärte Heidi und machte nun die Thüre wieder auf.


Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der
den Oehi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten
wohnte und ſein Nachbar war. Er trat in die Hütte ein,
ging auf den Alten zu, der ſich über ſein Schnitzwerk hin¬
beugte und ſagte: „Guten Morgen, Nachbar.“


Verwundert ſchaute dieſer in die Höhe, ſtand dann auf
und entgegnete: „Guten Morgen dem Herrn Pfarrer.“
Dann ſtellte er ſeinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr
fort: „Wenn der Herr Pfarrer einen Holzſitz nicht ſcheut,
hier iſt einer.“


Der Herr Pfarrer ſetzte ſich. „Ich habe Euch lange
nicht geſehen, Nachbar“, ſagte er dann.


„Ich den Herrn Pfarrer auch nicht“, war die Ant¬
wort.


„Ich komme heut', um Etwas mit Euch zu beſprechen“,
fing der Herr Pfarrer wieder an, „ich denke, ihr könnt
ſchon wiſſen, was meine Angelegenheit iſt, worüber ich mich
mit Euch verſtändigen und hören will, was Ihr im Sinne
habt.“


Der Herr Pfarrer ſchwieg und ſchaute auf Heidi, das
an der Thüre ſtand und die neue Erſcheinung aufmerkſam
betrachtete.

[75]

„Heidi, geh' zu den Gaißen“, ſagte der Großvater.
„Kannſt ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben,
bis ich auch komme.“


Heidi verſchwand ſofort.


„Das Kind hätte ſchon vor dem Jahr und noch ſicherer
dieſen Winter die Schule beſuchen ſollen“, ſagte nun der
Herr Pfarrer; „der Lehrer hat Euch mahnen laſſen, Ihr
habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem
Kind im Sinn, Nachbar?“


„Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu ſchicken“,
war die Antwort.


Verwundert ſchaute der Herr Pfarrer auf den Alten,
der mit gekreuzten Armen auf ſeiner Bank ſaß und gar
nicht nachgiebig ausſah.


„Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?“ fragte jetzt
der Herr Pfarrer.


„Nichts, es wächſt und gedeiht mit den Gaißen und
den Vögeln; bei denen iſt es ihm wohl und es lernt nichts
Böſes von ihnen.“


„Aber das Kind iſt keine Gaiß und kein Vogel, es iſt
ein Menſchenkind. Wenn es nichts Böſes lernt von dieſen
ſeinen Kameraden, ſo lernt es auch ſonſt Nichts von ihnen,
es ſoll aber Etwas lernen, und die Zeit dazu iſt da. Ich
bin gekommen, es Euch zeitig zu ſagen, Nachbar, damit Ihr
Euch beſinnen und einrichten könnt den Sommer durch.
Dieſes war der letzte Winter, den das Kind ſo ohne allen
[76] Unterricht zugebracht hat; nächſten Winter kommt es zur
Schule und zwar jeden Tag.“


„Ich thu's nicht, Herr Pfarrer“, ſagte der Alte un¬
entwegt.


„Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch
zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr ſo eigenſinnig bei Eurem
unvernünftigen Thun beharren wollt?“ ſagte der Herr
Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. „Ihr ſeid weit in der Welt
herumgekommen und habt viel geſehen und Vieles lernen
können, ich hätte Euch mehr Einſicht zugetraut, Nachbar.“


„So“, ſagte jetzt der Alte und ſeine Stimme verrieth,
daß es auch in ſeinem Innern nicht mehr ſo ganz ruhig
war; „und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirk¬
lich im nächſten Winter am eiſigen Morgen durch Sturm
und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunter¬
ſchicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder herauf¬
kommen laſſen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unſer¬
einer faſt in Wind und Schnee erſticken müßte und dann
ein Kind wie dieſes! Und vielleicht kann ſich der Herr
Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; ſie
war mondſüchtig und hatte Zufälle, ſoll das Kind auch ſo
Etwas holen mit der Anſtrengung? Es ſoll mir Einer
kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Ge¬
richte mit ihm, dann wollen wir ſehen, wer mich zwingt!“


„Ihr habt ganz Recht, Nachbar“, ſagte der Herr Pfarrer
mit Freundlichkeit; „es wäre nicht möglich, das Kind von
[77] hier aus zur Schule zu ſchicken; aber ich kann ſehen, das
Kind iſt Euch lieb, thut um ſeinetwillen Etwas, das Ihr
ſchon lange hättet thun ſollen, kommt wieder in's Dörfli
herunter und lebt wieder mit den Menſchen. Was iſt das
für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott
und Menſchen! Wenn Euch einmal Etwas zuſtoßen würde
hier oben, wer würde Euch beiſtehen? Ich kann auch gar
nicht begreifen, daß Ihr den Winter durch nicht halb er¬
friert in Eurer Hütte und wie das zarte Kind es nur aus¬
halten kann!“


„Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das
möchte ich dem Herrn Pfarrer ſagen, und dann noch Eins:
ich weiß, wo es Holz gibt, und auch wann die gute Zeit
iſt, es zu holen, der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf
hineinſehen, es iſt Etwas drinn, in meiner Hütte geht das
Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer
mit dem Herunterkommen meint, iſt nicht für mich; die
Menſchen da unten verachten mich und ich ſie auch, wir
bleiben von einander, ſo iſt's Beiden wohl.“


„Nein, nein, es iſt Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch
fehlt“, ſagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. „Mit
der Verachtung der Menſchen dort unten iſt es ſo ſchlimm
nicht. Glaubt mir, Nachbar, ſucht Frieden mit Euerm Gott
zu machen, bittet um Seine Verzeihung, wo Ihr ſie nöthig
habt, und dann kommt und ſeht, wie anders Euch die Men¬
ſchen anſehen und wie wohl es Euch noch werden kann.“

[78]

Der Herr Pfarrer war aufgeſtanden; er hielt dem Alten
die Hand hin und ſagte nochmals mit Herzlichkeit: „Ich
zähle darauf, Nachbar, im nächſten Winter ſeid Ihr wieder
unten bei uns und wir ſind die alten, guten Nachbarn.
Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen
Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben
wollt, ausgeſöhnt mit Gott und den Menſchen.“


Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und
ſagte feſt und beſtimmt: „Der Herr Pfarrer meint es
recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht,
ich ſag' es ſicher und ohne Wandel: das Kind ſchick' ich nicht,
und herunter komm' ich nicht.“


„So helf' Euch Gott!“ ſagte der Herr Pfarrer und
ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter.


Der Alm-Oehi war verſtimmt. Als Heidi am Nachmittag
ſagte: „Jetzt wollen wir zur Großmutter“, erwiderte er
kurz: „Heut' nicht.“ Den ganzen Tag ſprach er nicht mehr,
und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: „Gehen wir
heut' zur Großmutter?“ war er noch gleich kurz von Worten
wie im Ton und ſagte nur: „Wollen ſehen.“ Aber noch
bevor die Schüſſelchen vom Mittageſſen weggeſtellt waren,
trat ſchon wieder ein Beſuch zur Thür herein, es war die
Baſe Dete. Sie hatte einen ſchönen Hut auf dem Kopf
mit einer Feder drauf und ein Kleid, das Alles mitfegte,
was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei,
[79] das nicht an ein Kleid gehörte. Der Oehi ſchaute ſie an
von oben bis unten und ſagte kein Wort. Aber die Baſe
Dete hatte im Sinn, ein ſehr freundliches Geſpräch zu
führen, denn ſie fing gleich an zu rühmen und ſagte, das
Heidi ſehe ſo gut aus, ſie habe es faſt nicht mehr gekannt
und man könne ſchon ſehen, daß es ihm nicht ſchlecht ge¬
gangen ſei beim Großvater. Sie habe aber gewiß auch
immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn ſie
habe ja ſchon begreifen können, daß ihm das Kleine im Weg
ſein müſſe, aber in jenem Augenblick habe ſie es ja nirgends
ſonſt hinthun können; ſeither aber habe ſie Tag und Nacht
nachgeſonnen, wo ſie das Kind etwa unterbringen könnte,
und deßwegen komme ſie auch heute, denn auf einmal habe
ſie Etwas vernommen, da könne das Heidi zu einem ſolchen
Glück kommen, daß ſie es gar nicht habe glauben wollen.
Dann ſei ſie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
und nun könne ſie ſagen, es ſei Alles ſo gut wie in Rich¬
tigkeit, das Heidi komme zu einem Glück, wie unter Hundert¬
tauſenden nicht Eines. Furchtbar reiche Verwandte von
ihrer Herrſchaft, die faſt im ſchönſten Haus in ganz Frank¬
furt wohnen, die haben ein einziges Töchterlein, das müſſe
immer im Rollſtuhl ſitzen, denn es ſei auf einer Seite lahm
und ſonſt nicht geſund, und ſo ſei es faſt immer allein und
müſſe auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer,
und das ſei ihm ſo langweilig und auch ſonſt hätte es gern
eine Geſpielin im Haus, und da haben ſie ſo davon geredet
[80] bei ihrer Herrſchaft, und wenn man nur ſo ein Kind
finden könnte, wie die Dame beſchrieb, die in dem Haus
die Wirthſchaft führte, denn ihre Herrſchaft habe viel Mit¬
gefühl und möchte dem kranken Töchterlein eine gute Ge¬
ſpielin gönnen. Die Wirthſchaftsdame hatte nun geſagt, ſie
wolle ſo ein recht unverdorbenes, ſo ein eigenartiges, das
nicht ſei wie alle, die man ſo alle Tage ſehe. Da habe
ſie ſelbſt denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und
ſei gleich hingelaufen und habe der Dame Alles ſo be¬
ſchrieben vom Heidi und ſo von ſeinem Charakter, und die
Dame habe ſogleich zugeſagt. Nun könne gar kein Menſch
wiſſen, was dem Heidi Alles an Glück und Wohlfahrt be¬
vorſtehe, denn wenn es dann einmal dort ſei und die Leute
es gern mögen und es etwa mit dem eignen Töchterchen
Etwas geben ſollte, man könne ja nie wiſſen, es ſei doch
ſo ſchwächlich, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein
Kind bleiben wollten, ſo könnte ja das unerhörteſte Glück —


„Biſt du bald fertig?“ unterbrach hier der Oehi, der
bis dahin kein Wort dazwiſchengeredet hatte.


„Pah“, gab die Dete zurück und warf den Kopf auf,
„Ihr thut gerade, wie wenn ich Euch das ordinärſte Zeug
geſagt hätte und iſt doch durch's ganze Prättigau auf und
ab nicht Einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn
ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch gebracht habe.“


„Bring' ſie, wem du willſt, ich will Nichts davon“, ſagte
der Oehi trocken.

[81]

Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und
rief: „Ja, wenn Ihr es ſo meint, Oehi, ſo will ich Euch denn
ſchon auch ſagen, wie ich es meine: das Kind iſt jetzt acht
Jahre alt und kann Nichts und weiß Nichts und Ihr wollt
es Nichts lernen laſſen; Ihr wollt es in keine Schule und
in keine Kirche ſchicken, das haben ſie mir geſagt unten im
Dörfli, und es iſt meiner einzigen Schweſter Kind, ich hab'
es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind
ein Glück erlangen kann, wie jetzt das Heidi, ſo kann ihm
nur Einer davor ſein, dem es um alle Leute gleich iſt und
der Keinem etwas Gutes wünſcht. Aber ich gebe nicht
nach, das ſag' ich Euch, und die Leute habe ich alle für mich,
es iſt kein Einziger unten im Dörfli, der nicht mir hilft
und gegen Euch iſt, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
kommen laſſen, ſo beſinnt Euch wohl, Oehi, es gibt noch
Sachen, die Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr
nicht gern hörtet, denn wenn man's einmal mit dem Ge¬
richt zu thun hat, ſo wird noch Manches aufgeſpürt, an
das Keiner mehr denkt.“


„Schweig!“ donnerte der Oehi heraus, und ſeine Augen
flammten wie Feuer. „Nimm's und verdirb's! Komm'
mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich will's nie ſehen mit
dem Federnhut auf dem Kopf und Worten im Mund, wie
dich heut'!“


Der Oehi ging mit großen Schritten zur Thür hinaus.


„Du haſt den Großvater bös gemacht“, ſagte Heidi
Kleine Geſchichten. III. 6[82] und blitzte mit ſeinen ſchwarzen Augen die Baſe wenig
freundlich an.


„Er wird ſchon wieder gut, komm' jetzt“, drängte die
Baſe, „wo ſind deine Kleider?“


„Ich komme nicht“, ſagte Heidi.


„Was ſagſt du?“ fuhr die Baſe auf; dann änderte
ſie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärger¬
lich weiter: „Komm', komm', du verſtehſt's nicht beſſer, du
wirſt es ſo gut haben, wie du gar nicht weißt.“ Dann
ging ſie an den Schrank, nahm Heidi's Sachen hervor und
packte ſie zuſammen: „So, komm' jetzt, nimm dort dein
Hütchen, es ſieht nicht ſchön aus, aber es iſt gleich für ein¬
mal, ſetz' es auf und mach', daß wir fortkommen.“


„Ich komme nicht“, wiederholte Heidi.


„Sei doch nicht ſo dumm und ſtörrig, wie eine Gaiß,
denen haſt du's abgeſehen. Begreif' doch nur, jetzt iſt der
Großvater bös, du haſt's ja gehört, daß er geſagt hat, wir
ſollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun
haben, daß du mit mir gehſt, und jetzt mußt du ihn nicht
noch böſer machen. Du weißt gar nicht, wie ſchön es iſt
in Frankfurt und was du Alles ſehen wirſt, und gefällt es
dir dann nicht, ſo kannſt du wieder heimgehen; bis dahin
iſt der Großvater dann wieder gut.“


„Kann ich grad' wieder umkehren und heimkommen heut'
Abend?“ fragte Heidi.


„Ach was, komm' jetzt! Ich ſag' dir's ja, du kannſt
[83] wieder heim, wann du willſt. Heut' gehen wir bis nach
Mayenfeld hinunter und morgen früh ſitzen wir in der Eiſen¬
bahn, und mit der biſt du nachher im Augenblick wieder
daheim, das geht wie geflogen.“


Die Baſe Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den
Arm und Heidi an die Hand genommen, ſo gingen ſie den
Berg hinunter.


Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch
zur Schule in's Dörfli hinunter, oder ſollte doch dahin
gehen, er machte aber hie und da einen Tag Ferien, denn
er dachte, es nütze Nichts dahin zu gehen, das Leſen brauche
man auch nicht, und ein wenig herumfahren und große
Ruthen ſuchen, nütze Etwas, denn dieſe könne man brauchen.
So kam er eben in die Nähe ſeiner Hütte von der Seite
her mit ſichtlichem Erfolg ſeiner heutigen Beſtrebungen,
denn er trug ein ungeheueres Bündel langer, dicker Haſel¬
ruthen auf der Achſel. Er ſtand ſtill und ſtarrte die zwei
Entgegenkommenden an, bis ſie bei ihm ankamen; dann
ſagte er: „Wo willſt du hin?“


„Ich muß nur geſchwind nach Frankfurt mit der Baſe“,
antwortete Heidi, „aber ich will zuerſt noch zur Großmutter
hinein, ſie wartet auf mich.“


„Nein, nein, keine Rede, es iſt ſchon viel zu ſpät“,
ſagte die Baſe eilig und hielt das fortſtrebende Heidi feſt
bei der Hand, „du kannſt dann gehen, wenn du wieder
heimkommſt, komm' jetzt!“ Damit zog die Baſe das Heidi
6*[84] feſt weiter und ließ es nicht mehr los, denn ſie fürchtete,
es könnte drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
es wolle nicht fort, und die Großmutter könnte ihm helfen
wollen. Der Peter ſprang in die Hütte hinein und ſchlug
mit ſeinem ganzen Bündel Ruthen ſo furchtbar auf den
Tiſch los, daß Alles erzitterte und die Großmutter vor
Schrecken vom Spinnrad aufſprang und laut aufjammerte.
Der Peter hatte ſich Luft machen müſſen.


„Was iſt's denn? was iſt's denn?“ rief angſtvoll die
Großmutter, und die Mutter, die am Tiſch geſeſſen hatte
und faſt aufgeflogen war bei dem Knall, ſagte in ange¬
borner Langmuth: „Was haſt, Peterli, warum thuſt ſo
wüſt?“


„Weil ſie das Heidi mitgenommen hat“, erklärte
Peter.


„Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?“ fragte die
Großmutter jetzt mit neuer Angſt; ſie mußte aber ſchnell
errathen haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor
Kurzem berichtet, ſie habe die Dete geſehen zum Alm-Oehi
hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile, machte die Gro߬
mutter das Fenſter auf und rief flehentlich hinaus: „Dete,
Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das
Heidi nicht!“


Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die
Dete mochte wohl ahnen, was ſie rief, denn ſie faßte das
Kind noch feſter und lief, was ſie konnte. Heidi wider¬
[85] ſtrebte und ſagte: „Die Großmutter hat gerufen, ich will
zu ihr.“


Aber das wollte die Baſe gerade nicht und beſchwichtigte
das Kind, es ſolle nur ſchnell kommen jetzt, daß ſie nicht noch
zu ſpät kommen, ſondern, daß ſie morgen weiter reiſen können,
es könne ja dann ſehen, wie es ihm gefallen werde in Frank¬
furt, daß es gar nie mehr fort wolle dort, und wenn es
doch heim wolle, ſo könne es ja gleich gehen und dann erſt
noch der Großmutter Etwas mit heimbringen, was ſie
freue. Das war eine Ausſicht für Heidi, die ihm gefiel.
Es fing an zu laufen ohne Widerſtreben.


„Was kann ich der Großmutter heimbringen?“ fragte
es nach einer Weile.


„Etwas Gutes“, ſagte die Baſe, „ſo ſchöne, weiche
Weißbrödchen, da wird ſie Freud' haben daran, ſie kann ja
doch das harte, ſchwarze Brod faſt nicht mehr eſſen.“


„Ja, ſie gibt es immer wieder dem Peter und ſagt:
,Es iſt mir zu hart'; das habe ich ſelbſt geſehen“, beſtätigte
das Heidi. „So wollen wir geſchwind gehen, Baſe Dete;
dann kommen wir vielleicht heut' noch nach Frankfurt, daß
ich bald wieder da bin mit den Brödchen.“


Heidi fing nun ſo zu rennen an, daß die Baſe mit
ihrem Bündel auf dem Arm faſt nicht mehr nachkam. Aber
ſie war ſehr froh, daß es ſo raſch ging, denn nun kamen
ſie gleich zu den erſten Häuſern vom Dörfli, und da konnte
es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi
[86] wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief ſie
ſtracks durch, und das Kind zog dabei noch ſo ſtark an ihrer
Hand, daß alle Leute es ſehen konnten, wie ſie um des
Kindes willen ſo preſſiren mußte. So rief ſie auf alle
die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenſtern und
Thüren entgegentönten, nur immer zurück: „Ihr ſeht's ja,
ich kann jetzt nicht ſtill ſtehen, das Kind preſſirt und wir
haben noch weit.“


„Nimmſt's mit?“ „Läuft's dem Alm-Oehi fort?“ „Es
iſt nur ein Wunder, daß es noch am Leben iſt!“ „Und dazu
noch ſo rothbackig!“ So tönte es von allen Seiten, und
die Dete war froh, daß ſie ohne Verzug durchkam und
keinen Beſcheid geben mußte und auch Heidi kein Wort
ſagte, ſondern nur immer vorwärts ſtrebte in großem
Eifer.


Von dem Tage an machte der Alm-Oehi, wenn er herunter¬
kam und durch's Dörfli ging, ein böſeres Geſicht, als je
vorher. Er grüßte keinen Menſchen und ſah mit ſeinem
Käſereff auf dem Rücken, mit dem ungeheuern Stock in
der Hand und den zuſammengezogenen dicken Brauen ſo
drohend aus, daß die Frauen zu den kleinen Kindern ſag¬
ten: „Gib Acht! Geh dem Alm-Oehi aus dem Weg, er
könnte dir noch Etwas thun!“


Der Alte verkehrte mit keinem Menſchen im Dörfli, er
ging nur durch und weit in's Thal hinab, wo er ſeine
Käſe verhandelte und ſeine Vorräthe an Brod und Fleiſch
[87] einnahm. Wenn er ſo vorbeigegangen war im Dörfli,
dann ſtanden hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zu¬
ſammen, und Jeder wußte etwas Beſonderes, was er am
Alm-Oehi geſehen hatte, wie er immer wilder ausſehe und
daß er jetzt keinem Menſchen mehr auch nur einen Gruß ab¬
nehme, und Alle kamen darin überein, daß es ein großes
Glück ſei, daß das Kind habe entweichen können, und man
habe auch wohl geſehen, wie es fortgedrängt habe, ſo, als
fürchte es, der Alte ſei ſchon hinter ihm drein, um es zu¬
rückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt unverrückt
zum Alm-Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr ſpinnen
zu laſſen, oder das Geſponnene zu holen, dem erzählte ſie
es immer wieder, wie gut und ſorgfältig der Alm-Oehi mit
dem Kind geweſen ſei und was er an ihr und der Tochter
gethan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Häus¬
chen herumgeflickt, das ohne ſeine Hülfe gewiß ſchon zu¬
ſammengefallen wäre. So kamen denn auch dieſe Berichte
in's Dörfli herunter; aber die Meiſten, die ſie vernahmen,
ſagten dann, die Großmutter ſei vielleicht zu alt zum Be¬
greifen, ſie werde es wohl nicht recht verſtanden haben, ſie
werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil ſie Nichts
mehr ſehe.


Der Alm-Oehi zeigte ſich jetzt nie mehr bei den Gaißen¬
peters; es war gut, daß er die Hütte ſo feſt zuſammen¬
genagelt hatte, denn ſie blieb für lange Zeit ganz unbe¬
rührt. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage
[88] wieder mit Seufzen, und nicht einer verſtrich, an dem ſie
nicht klagend ſagte: „Ach, mit dem Kind iſt alles Gute und
alle Freude von uns genommen, und die Tage ſind ſo leer!
Wenn ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh' ich
ſterben muß!“

[]

Capitel VI.
Ein neues Capitel und lauter neue Dinge.

Im Hauſe des Herrn Seſemann in Frankfurt lag das
kranke Töchterlein, Klara, in dem bequemen Rollſtuhl, in
welchem es den ganzen Tag ſich aufhielt und von einem
Zimmer in's andere geſtoßen wurde. Jetzt ſaß es im ſo¬
genannten Studierzimmer, das neben der großen Eßſtube
lag und wo vielerlei Geräthſchaften herumſtanden und lagen,
die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, daß man
hier gewöhnlich ſich aufhielt. An dem großen, ſchönen
Bücherſchrank mit den Glasthüren konnte man ſehen, woher
das Zimmer ſeinen Namen hatte, und daß es wohl der
Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der tägliche Unter¬
richt ertheilt wurde.


Klara hatte ein blaſſes, ſchmales Geſichtchen, aus dem
zwei milde, blaue Augen herausſchauten, die in dieſem
Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren, die heute
beſonders langſam zu gehen ſchien, denn Klara, die ſonſt
[90] kaum ungeduldig wurde, ſagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld
in der Stimme: „Iſt es denn immer noch nicht Zeit,
Fräulein Rottenmeier?“


Die Letztere ſaß ſehr aufrecht an einem kleinen Arbeits¬
tiſch und ſtickte. Sie hatte eine geheimnißvolle Hülle um
ſich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der
Perſönlichkeit einen feierlichen Anſtrich verlieh, der noch
erhöht wurde durch eine Art von hochgebauter Kuppel, die
ſie auf dem Kopfe trug. Fräulein Rottenmeier war ſchon
ſeit mehreren Jahren, ſeitdem die Dame des Hauſes ge¬
ſtorben war, im Hauſe Seſemann, führte die Wirthſchaft
und hatte die Oberaufſicht über das ganze Dienſtperſonal.


Herr Seſemann war meiſtens auf Reiſen, überließ
daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit
der Bedingung, daß ſein Töchterchen in Allem eine Stimme
haben ſolle und Nichts gegen ſeinen Wunſch geſchehen
dürfe.


Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen
der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit
noch nicht da ſei, da die Erwarteten erſcheinen konnten, ſtand
unten vor der Hausthüre die Dete mit Heidi an der Hand
und fragte den Kutſcher Johann, der eben vom Wagen ge¬
ſtiegen war, ob ſie wohl Fräulein Rottenmeier ſo ſpät noch
ſtören dürfe.


„Das iſt nicht meine Sache“, brummte der Kutſcher;
„klingeln Sie den Sebaſtian herunter, drinnen im Corridor.“

[91]

Dete that, wie ihr geheißen war, und der Bediente des
Hauſes kam die Treppe herunter mit großen, runden
Knöpfen auf ſeinem Aufwärterrock und faſt ebenſo großen,
runden Augen im Kopf.


„Ich wollte fragen, ob ich um dieſe Zeit Fräulein
Rottenmeier noch ſtören dürfe“, brachte die Dete wieder an.


„Das iſt nicht meine Sache“, gab der Bediente zurück;
„klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der andern
Klingel“, und ohne weitere Auskunft verſchwand der Se¬
baſtian.


Dete klingelte wieder. Jetzt erſchien auf der Treppe
die Jungfer Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen
auf der Mitte des Kopfes und einer ſpöttiſchen Miene auf
dem Geſicht.


„Was iſt?“ fragte ſie auf der Treppe, ohne herunter¬
zukommen. Dete wiederholte ihr Geſuch. Jungfer Tinette
verſchwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe
herunter: „Sie ſind erwartet.“


Jetzt ſtieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat,
der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein.
Hier blieb Dete höflich an der Thüre ſtehn, Heidi immer
feſt an der Hand haltend, denn ſie war gar nicht ſicher,
was mit dem Kinde etwa begegnen konnte auf dieſem ihm
ſo fremden Boden.


Fräulein Rottenmeier erhob ſich langſam von ihrem
Sitz und kam näher, um die angekommene Geſpielin der
[92] Tochter des Hauſes zu betrachten. Der Anblick ſchien ſie
nicht zu befriedigen. Heidi hatte ſein einfaches Baumwoll¬
röckchen an und ſein altes, zerdrücktes Strohhütchen auf
dem Kopf. Das Kind guckte ſehr harmlos darunter hervor
und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Thurm¬
bau auf dem Kopf der Dame.


„Wie heißeſt du?“ fragte Fräulein Rottenmeier, nach¬
dem auch ſie einige Minuten lang forſchend das Kind an¬
geſehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte.


„Heidi“, antwortete es deutlich und mit klangvoller
Stimme.


„Wie? Wie? das ſoll doch wohl kein chriſtlicher Name
ſein? So biſt du doch nicht getauft worden. Welchen Namen
haſt du in der Taufe erhalten?“ fragte Fräulein Rotten¬
meier weiter.


„Das weiß ich jetzt nicht mehr“, entgegnete Heidi.


„Iſt das eine Antwort!“ bemerkte die Dame mit
Kopfſchütteln. „Jungfer Dete, iſt das Kind einfältig oder
ſchnippiſch?“


„Mit Erlaubniß und wenn es die Dame geſtattet, ſo
will ich gern reden für das Kind, denn es iſt ſehr uner¬
fahren“, ſagte die Dete, nachdem ſie dem Heidi heimlich
einen kleinen Stoß gegeben hatte für die unpaſſende Ant¬
wort. „Es iſt aber nicht einfältig und auch nicht ſchnippiſch,
davon weiß es gar Nichts; es meint Alles ſo, wie es redet.
Aber es iſt heut' zum erſten Mal in einem Herrenhaus
[93] und kennt die gute Manier nicht; aber es iſt willig und
nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachſicht
haben. Es iſt Adelheid getauft worden, wie ſeine Mutter,
meine Schweſter ſelig.“


„Nun wohl, dieß iſt doch ein Name, den man ſagen
kann“, bemerkte Fräulein Rottenmeier. „Aber, Jungfer
Dete, ich muß Ihnen doch ſagen, daß mir das Kind für
ſein Alter ſonderbar vorkommt. Ich hatte Ihnen mit¬
getheilt, die Geſpielin für Fräulein Klara müßte in ihrem
Alter ſein, um denſelben Unterricht mit ihr zu verfolgen
und überhaupt ihre Beſchäftigungen zu theilen. Fräulein
Klara hat das zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt iſt das
Kind?“


„Mit Erlaubniß der Dame“, fing die Dete wieder
beredt an, „es war mir eben ſelber nicht mehr ſo ganz
gegenwärtig, wie alt es ſei; es iſt wirklich ein wenig jünger,
viel trifft es nicht an, ich kann's ſo ganz genau nicht ſagen,
es wird ſo um das zehnte Jahr, oder ſo noch Etwas dazu
ſein, nehm' ich an.“


„Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's geſagt“, er¬
klärte Heidi. Die Baſe ſtieß es wieder an, aber Heidi hatte
keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen.


„Was, erſt acht Jahr alt?“ rief Fräulein Rottenmeier
mit einiger Entrüſtung aus. „Vier Jahre zu wenig! Was
ſoll das geben! Und was haſt du denn gelernt? was haſt
du für Bücher gehabt bei deinem Unterricht?“

[94]

„Keine“, ſagte Heidi.


„Wie? Was? Wie haſt du denn leſen gelernt?“ fragte
die Dame weiter.


„Das hab' ich nicht gelernt und der Peter auch nicht“,
berichtete Heidi.


„Barmherzigkeit! du kannſt nicht leſen? du kannſt wirk¬
lich nicht leſen!“ rief Fräulein Rottenmeier im höchſten
Schrecken aus. „Iſt es die Möglichkeit, nicht leſen! Was
haſt du denn aber gelernt?“


„Nichts“, ſagte Heidi der Wahrheit gemäß.


„Jungfer Dete“, ſagte Fräulein Rottenmeier nach einigen
Minuten, in denen ſie nach Faſſung rang; „es iſt Alles nicht
nach Abrede, wie konnten Sie mir dieſes Weſen zuführen?“
Aber die Dete ließ ſich nicht ſo bald einſchüchtern; ſie ant¬
wortete herzhaft: „Mit Erlaubniß der Dame, das Kind iſt
gerade, was ich dachte, daß ſie haben wolle; die Dame hat
mir beſchrieben, wie es ſein müſſe, ſo ganz apart und nicht
wie die andern, und ſo mußte ich das kleine nehmen, denn
die größeren ſind bei uns dann nicht mehr ſo apart, und
ich dachte, dieſes paſſe wie gemacht auf die Beſchreibung.
Jetzt muß ich aber gehen, denn meine Herrſchaft erwartet
mich, ich will, wenn's meine Herrſchaft erlaubt, bald wieder
kommen und nachſehen, wie es geht mit ihm.“ Mit einem
Knix war die Dete zur Thür hinaus und die Treppe
hinunter mit ſchnellen Schritten. Fräulein Rottenmeier
ſtand einen Augenblick noch da; dann lief ſie der Dete nach,
[95] es war ihr wohl in den Sinn gekommen, daß ſie noch eine
Menge von Dingen mit der Baſe beſprechen wollte, wenn
das Kind wirklich da bleiben ſollte, und da war es doch
nun einmal und, wie ſie bemerkte, hatte die Baſe feſt im
Sinn, es da zu laſſen.


Heidi ſtand noch auf demſelben Platz an der Thüre,
wo es von Anfang an geſtanden hatte. Bis dahin hatte
Klara von ihrem Seſſel aus ſchweigend Allem zugeſehen.
Jetzt winkte ſie Heidi: „Komm' hieher.“


Heidi trat an den Rollſtuhl heran.


„Willſt du lieber Heidi heißen, oder Adelheid?“ fragte
Klara.


„Ich heiße nur Heidi und ſonſt Nichts“, war Heidi's
Antwort.


„So will ich dich immer ſo nennen“, ſagte Klara;
„der Name gefällt mir für dich, ich habe ihn aber nie ge¬
hört, ich habe aber auch nie ein Kind geſehen, das ſo aus¬
ſieht wie du. Haſt du immer nur ſo kurzes, krauſes Haar
gehabt?“


„Ja, ich denk's“, gab Heidi zur Antwort.


„Biſt du gern nach Frankfurt gekommen?“ fragte
Klara weiter.


„Nein, aber morgen geh' ich dann wieder heim und
bringe der Großmutter weiße Brödchen“, erklärte Heidi.


„Du biſt aber ein curioſes Kind!“ fuhr jetzt Klara
auf. „Man hat dich ja expreß nach Frankfurt kommen
[96] laſſen, daß du bei mir bleibeſt und die Stunden mit mir
nehmeſt, und ſiehſt du, es wird nun ganz luſtig, weil du
gar nicht leſen kannſt, nun kommt etwas ganz Neues in
den Stunden vor. Sonſt iſt es manchmal ſo ſchrecklich
langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
Denn ſiehſt du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der
Herr Candidat, und dann fangen die Stunden an und
dauern bis um zwei Uhr, das iſt ſo lange. Der Herr
Candidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nah an's
Geſicht heran, ſo, als wäre er auf einmal ganz kurzſichtig
geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch,
und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit
ihr großes Taſchentuch hervor und hält es vor das ganze
Geſicht hin, ſo als ſei ſie ganz ergriffen von Etwas, das
wir leſen, aber ich weiß recht gut, daß ſie nur ganz ſchreck¬
lich gähnt dahinter, und dann ſollte ich auch ſo ſtark gähnen,
und muß es immer herunterſchlucken, denn wenn ich nur
ein einziges Mal herausgähne, ſo holt Fräulein Rotten¬
meier gleich den Fiſchthran und ſagt, ich ſei wieder ſchwach,
und Fiſchthran Nehmen iſt das Allerſchrecklichſte, da will ich
noch lieber Gähnen ſchlucken. Aber nun wird's viel kurz¬
weiliger, da kann ich dann zuhören, wie du leſen lernſt.“
Heidi ſchüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
Leſenlernen hörte.


„Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du leſen lernen,
alle Menſchen müſſen, und der Herr Candidat iſt ſehr gut,
[97] er wird niemals böſe, und er erklärt dir dann ſchon Alles.
Aber ſiehſt du, wenn er etwas erklärt, dann verſtehſt du
Nichts davon; dann mußt du nur warten und gar Nichts
ſagen, ſonſt erklärt er dir noch viel mehr, und du verſtehſt
es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du Etwas ge¬
lernt haſt und es weißt, dann verſtehſt du ſchon, was er
gemeint hat.“


Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder in's Zimmer
zurück; ſie hatte die Dete nicht mehr zurückrufen können
und war ſichtlich aufgeregt davon, denn ſie hatte dieſer
eigentlich gar nicht einläßlich ſagen können, was Alles nicht
nach Abrede ſei bei dem Kinde, und da ſie nicht wußte,
was nun zu thun ſei, um ihren Schritt rückgängig zu machen,
war ſie um ſo aufgeregter, denn ſie ſelbſt hatte die ganze
Sache angeſtiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer in's
Eßzimmer hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte
dann unmittelbar wieder um und fuhr hier den Sebaſtian an,
der ſeine runden Augen eben nachdenklich über den gedeckten
Tiſch gleiten ließ, um zu ſehen, ob ſein Werk keinen Mangel
habe.


„Denk' Er morgen Seine großen Gedanken fertig und
mach' Er, daß man heut' noch zu Tiſch komme.“


Mit dieſen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Se¬
baſtian vorbei und rief nach der Tinette, mit ſo wenig ein¬
ladendem Ton, daß die Jungfer Tinette noch mit viel klei¬
nern Schritten herantrippelte, als ſonſt gewöhnlich, und ſich
Kleine Geſchichten. III. 7[98] mit ſo ſpöttiſchem Geſicht hinſtellte, daß ſelbſt Fräulein
Rottenmeier nicht wagte, ſie anzufahren; umſomehr ſchlug ihr
die Aufregung nach innen.


„Das Zimmer der Angekommenen iſt in Ordnung zu
bringen, Tinette“, ſagte die Dame mit ſchwer errungener
Ruhe; „es liegt Alles bereit, nehmen Sie noch den Staub
von den Möbeln weg.“


„Es iſt der Mühe werth“, ſpöttelte Tinette und ging.


Unterdeſſen hatte Sebaſtian die Doppelthüren zum Stu¬
dierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeſchlagen, denn er war
ſehr ergrimmt, aber ſich in Antworten Luft machen, durfte
er nicht wagen Fräulein Rottenmeier gegenüber; dann trat er
ganz geladen in's Studierzimmer, um den Rollſtuhl hin¬
überzuſtoßen. Während er den Griff hinten am Stuhl,
der ſich verſchoben hatte, zurechtdrehte, ſtellte ſich Heidi
vor ihn hin und ſchaute ihn unverwandt an, was er be¬
merkte. Auf einmal fuhr er auf. „Na, was iſt denn da
Beſonderes dran?“ ſchnurrte er Heidi an in einer Weiſe,
wie er es wohl nicht gethan, hätte er Fräulein Rotten¬
meier geſehen, die eben wieder auf der Schwelle ſtand und
gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: „Du ſiehſt dem
Gaißenpeter gleich.“


Entſetzt ſchlug die Dame ihre Hände zuſammen. „Iſt
es die Möglichkeit!“ ſtöhnte ſie halblaut. „Nun duzt ſie
mir den Bedienten! dem Weſen fehlen alle Urbegriffe!“


Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von
[99] Sebaſtian hinausgehoben und auf ihren Seſſel an den Tiſch
geſetzt.


Fräulein Rottenmeier ſetzte ſich neben ſie und winkte
Heidi, es ſollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonſt
kam Niemand zu Tiſch, und es war viel Platz da; die
drei ſaßen auch weit auseinander, ſo daß Sebaſtian mit
ſeiner Schüſſel zum Anbieten ſehr guten Raum fand. Neben
Heidi's Teller lag ein ſchönes, weißes Brödchen; das Kind
ſchaute mit erfreuten Blicken darauf. Die Aehnlichkeit, die
Heidi entdeckt hatte, mußte ſein ganzes Vertrauen für den
Sebaſtian erweckt haben, denn es ſaß mäuschenſtill und
rührte ſich nicht, bis er mit der großen Schüſſel zu ihm
herantrat und ihm die gebratenen Fiſchchen hinhielt, dann
zeigte es auf das Brödchen und fragte: „Kann ich das
haben?“ Sebaſtian nickte und warf dabei einen Seiten¬
blick auf Fräulein Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was
die Frage für einen Eindruck auf ſie mache. Augenblicklich
ergriff Heidi ſein Brödchen und ſteckte es in die Taſche.
Sebaſtian machte eine Grimaſſe, denn das Lachen kam ihn
an; er wußte aber wohl, daß ihm das nicht erlaubt war.
Stumm und unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi
ſtehen, denn reden durfte er nicht, und weggehen durfte er
wieder nicht, bis man ſich bedient hatte. Heidi ſchaute ihm
eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte es: „Soll ich
auch von dem eſſen?“ Sebaſtian nickte wieder. „So gib
mir“, ſagte es und ſchaute ruhig auf ſeinen Teller. Se¬
7 *[100] baſtian's Grimaſſe wurde ſehr bedenklich, und die Schüſſel
in ſeinen Händen fing an gefährlich zu zittern.


„Er kann die Schüſſel auf den Tiſch ſetzen und nachher
wiederkommen“, ſagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit ſtrengem
Geſicht. Sebaſtian verſchwand ſogleich. „Dir, Adelheid,
muß ich überall die erſten Begriffe beibringen, das ſehe ich“,
fuhr Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. „Vor
Allem will ich dir zeigen, wie man ſich am Tiſche bedient“,
und nun machte die Dame deutlich und eingehend Alles vor,
was Heidi zu thun hatte. „Dann“, fuhr ſie weiter, „muß
ich dir hauptſächlich bemerken, daß du am Tiſch nicht mit
Sebaſtian zu ſprechen haſt, auch ſonſt nur dann, wenn du
einen Auftrag oder eine nothwendige Frage an ihn zu richten
haſt; dann aber nennſt du ihn nie mehr anders, als Sie
oder Er, hörſt du? daß ich dich niemals mehr ihn anders
nennen höre! Auch Tinette nennſt du Sie, Jungfer Ti¬
nette. Mich nennſt du ſo, wie du mich von Allen nennen
hörſt; wie du Klara nennen ſollſt, wird ſie ſelbſt beſtimmen.“


„Natürlich Klara“, ſagte dieſe. Nun folgte aber noch
eine Menge von Verhaltungsmaßregeln, über Aufſtehn und
Zubettegehn, über Hereintreten und Hinausgehn, über Ord¬
nunghalten, Thürenſchließen, und über alledem fielen dem
Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf Uhr auf¬
geſtanden, und hatte eine lange Reiſe gemacht. Es lehnte
ſich an den Seſſelrücken und ſchlief ein. Als dann nach
längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war
[101] mit ihrer Unterweiſung, ſagte ſie: „Nun denke dran, Adel¬
heid; haſt du Alles recht begriffen?“ „Heidi ſchläft ſchon
lange“, ſagte Klara mit ganz beluſtigtem Geſicht, denn das
Abendeſſen war für ſie ſeit langer Zeit nie ſo kurzweilig
verfloſſen.


„Es iſt doch völlig unerhört, was man mit dieſem
Kind erlebt“, rief Fräulein Rottenmeier in großem Aerger
und klingelte ſo heftig, daß Tinette und Sebaſtian mit
einander hereingeſtürzt kamen; aber trotz allen Lärms er¬
wachte Heidi nicht, und man hatte die größte Mühe, es ſo
weit zu erwecken, daß es nach ſeinem Schlafgemach gebracht
werden konnte, erſt durch das Studierzimmer, dann durch
Klara's Schlafſtube, dann durch die Stube von Fräulein
Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi einge¬
richtet war.

[]

Capitel VII.
Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag.

Als Heidi am erſten Morgen in Frankfurt ſeine Augen
aufſchlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblicke.
Es rieb ganz gewaltig ſeine Augen, guckte dann wieder auf
und ſah dasſelbe. Es ſaß auf einem hohen, weißen Bett
und vor ſich ſah es einen großen, weiten Raum, und wo
die Helle herkam, hingen lange, lange weiße Vorhänge, und
dabei ſtanden zwei Seſſel mit großen Blumen darauf, und
dann kam ein Sopha an der Wand mit denſelben Blumen
und ein runder Tiſch davor und in der Ecke ſtand ein
Waſchtiſch mit Sachen darauf, wie Heidi ſie noch gar nie
geſehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den
Sinn, daß es in Frankfurt ſei, und der ganze geſtrige Tag
kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
Unterweiſungen der Dame, ſo weit es ſie gehört hatte.
Heidi ſprang nun von ſeinem Bett herunter und machte
ſich fertig. Dann ging es an ein Fenſter und dann an
[103] das andere, es mußte den Himmel ſehen und die Erde
draußen, es fühlte ſich wie im Käfig hinter den großen
Vorhängen. Es konnte dieſe nicht wegſchieben; ſo kroch es
dahinter, um an ein Fenſter zu kommen. Aber dieſes war
ſo hoch, daß Heidi nur gerade mit dem Kopf ſo weit hinauf¬
reichte, daß es durchſehen konnte. Aber Heidi fand nicht,
was es ſuchte. Es lief von einem Fenſter zum andern
und dann wieder zum erſten zurück; aber immer war das¬
ſelbe vor ſeinen Augen, Mauern und Fenſter und wieder
Mauern und dann wieder Fenſter. Es wurde Heidi ganz
bange. Noch war es früh am Morgen, denn Heidi war
gewöhnt, früh aufzuſtehen auf der Alm und dann ſogleich
hinauszulaufen vor die Thüre und zu ſehen, wie's draußen
ſei, ob der Himmel blau und die Sonne ſchon droben ſei,
ob die Tannen rauſchen und die kleinen Blumen ſchon die
Augen offen haben. Wie das Vögelein, das zum erſten
Mal in ſeinem ſchön glänzenden Gefängniß ſitzt, hin- und
herſchießt und bei allen Stäben probiert, ob es nicht zwi¬
ſchen durchſchlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen könnte,
ſo lief Heidi immer von dem einen Fenſter zum andern,
um zu probiren, ob es nicht aufgemacht werden könnte,
denn dann mußte man doch etwas Anderes ſehen, als
Mauern und Fenſter, da mußte doch unten der Erdboden,
das grüne Gras und der letzte, ſchmelzende Schnee an den
Abhängen zum Vorſchein kommen, und Heidi ſehnte ſich,
das zu ſehen. Aber die Fenſter blieben feſt verſchloſſen,
[104] wie ſehr auch das Kind drehte und zog und von unten
ſuchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben,
damit es Kraft hätte, ſie aufzudrücken; es blieb Alles eiſen¬
feſt aufeinander ſitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einſah,
daß alle Anſtrengungen Nichts halfen, gab es ſeinen Plan
auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das
Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Gras¬
boden käme, denn es erinnerte ſich, daß es geſtern Abend
vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
klopfte es an ſeiner Thür und unmittelbar darauf ſteckte
Tinette den Kopf herein und ſagte kurz: „Frühſtück be¬
reit.“


Heidi verſtand keineswegs eine Einladung unter dieſen
Worten; auf dem ſpöttiſchen Geſicht der Tinette ſtand viel
mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine
freundliche Einladung geſchrieben, und das las Heidi deut¬
lich von dem Geſicht und richtete ſich danach. Es nahm
den kleinen Schemel unter dem Tiſch hervor, ſtellte ihn in
eine Ecke, ſetzte ſich darauf und wartete ſo ganz ſtill ab,
was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas
mit ziemlichem Geräuſch, es war Fräulein Rottenmeier, die
ſchon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's
Stube hineinrief: „Was iſt mit dir, Adelheid? Begreifſt
du nicht, was ein Frühſtück iſt? Komm' herüber!“


Das verſtand nun Heidi und folgte ſogleich nach. Im
Eßzimmer ſaß Klara ſchon lang an ihrem Platz und be¬
[105] grüßte Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnügteres
Geſicht, als ſonſt [gewöhnlich], denn ſie ſah voraus, daß heute
wieder allerlei Neues geſchehen würde. Das Frühſtück ging
nun ohne Störung vor ſich; Heidi aß ganz anſtändig ſein
Butterbrod, und wie Alles zu Ende war, wurde Klara
wieder in's Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde
von Fräulein Rottenmeier angewieſen, nachzufolgen und bei
Klara zu bleiben, bis der Herr Candidat kommen würde,
um die Unterrichtsſtunden zu beginnen. Als die beiden
Kinder allein waren, ſagte Heidi ſogleich: „Wie kann man
hinausſehen hier und ganz hinunter auf den Boden?“


„Man macht ein Fenſter auf und guckt hinaus“, ant¬
wortete Klara beluſtigt.


„Man kann dieſe Fenſter nicht aufmachen“, verſetzte
Heidi traurig.


„Doch, doch“, verſicherte Klara, „nur du noch nicht,
und ich kann dir auch nicht helfen, aber wenn du einmal
den Sebaſtian ſiehſt, ſo macht er dir ſchon eines auf.“


Das war eine große Erleichterung für Heidi, zu wiſſen,
daß man doch die Fenſter öffnen und hinausſchauen könne,
denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangen¬
ſeins von ſeinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi
zu fragen, wie es bei ihm zu Hauſe ſei, und Heidi erzählte
mit Freuden von der Alm und den Gaißen und der Weide
und Allem, was ihm lieb war.


Unterdeſſen war der Herr Candidat angekommen; aber
[106] Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's
Studierzimmer, denn ſie mußte ſich erſt ausſprechen und
geleitete ihn zu dieſem Zweck in's Eßzimmer, wo ſie ſich
vor ihn hinſetzte und ihm in großer Aufregung ihre be¬
drängte Lage ſchilderte und wie ſie in dieſe hineingekommen
war.


Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Seſemann
nach Paris geſchrieben, wo er eben verweilte, ſeine Tochter
habe längſt gewünſcht, es möchte eine Geſpielin für ſie in's
Haus aufgenommen werden, und auch ſie ſelbſt glaube, daß
eine ſolche in den Unterrichtsſtunden ein Sporn, in der
übrigen Zeit eine anregende Geſellſchaft für Klara ſein
würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier
ſelbſt ſehr wünſchbar, denn ſie wollte gern, daß Jemand da
ſei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme,
wenn es ihr zu viel war, was öfters geſchah. Herr Seſe¬
mann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunſch ſeiner
Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine ſolche Geſpielin
in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine
Kinderquälerei in ſeinem Hauſe, was freilich eine ſehr un¬
nütze Bemerkung von dem Herrn war, ſetzte Fräulein Rotten¬
meier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber
erzählte ſie weiter, wie ganz erſchrecklich ſie hineingefallen ſei
mit dem Kinde, und führte alle Beiſpiele von ſeinem völlig be¬
griffsloſen Daſein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht
nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchſtäblich beim
[107] ABC anfangen müſſe, ſondern daß auch ſie auf jedem
Punkte der menſchlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
beginnen hätte. Aus dieſer unheilvollen Lage ſehe ſie nur
Ein Rettungsmittel, wenn der Herr Candidat erklären
werde, zwei ſo verſchiedene Weſen könnten nicht mit einander
unterrichtet werden, ohne großen Schaden des vorgerückteren
Theiles; das wäre für Herrn Seſemann ein triftiger Grund,
die Sache rückgängig zu machen, und ſo würde er zugeben,
daß das Kind gleich wieder dahin zurückgeſchickt würde, woher
es gekommen war; ohne ſeine Zuſtimmung aber dürfte ſie das
nicht unternehmen, nun der Hausherr wiſſe, daß das Kind an¬
gekommen ſei. Aber der Herr Candidat war behutſam und
niemals einſeitig im Urtheilen. Er tröſtete Fräulein Rotten¬
meier mit vielen Worten und der Anſicht, wenn die junge
Tochter auf der einen Seite ſo ſehr zurück ſei, ſo möchte ſie
auf der andern um ſo geförderter ſein, was bei einem ge¬
regelten Unterricht bald in's Gleichgewicht kommen werde.
Als Fräulein Rottenmeier ſah, daß der Herr Candidat ſie
nicht unterſtützen, ſondern ſeinen ABC-Unterricht übernehmen
wollte, machte ſie ihm die Thüre zum Studierzimmer auf,
und nachdem er hineingetreten war, ſchloß ſie ſchnell hinter
ihm zu und blieb auf der andern Seite, denn vor dem
ABC hatte ſie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen
Schritten im Zimmer auf und nieder, denn ſie hatte zu
überlegen, wie die Dienſtboten Adelheid zu benennen hätten.
Herr Seſemann hatte ja geſchrieben, ſie müßte wie ſeine
[108] Tochter gehalten werden, und dieſes Wort mußte ſich haupt¬
ſächlich auf das Verhältniß zu den Dienſtboten beziehen,
dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
ungeſtört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
Studierzimmer ein erſchreckliches Gekrache fallender Gegen¬
ſtände und dann ein Hülferuf nach Sebaſtian. Sie ſtürzte
hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die
ſämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß
und obendarauf der Tiſchteppich, unter dem ein ſchwarzes
Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi
war verſchwunden.


„Da haben wir's!“ rief Fräulein Rottenmeier hände¬
ringend aus. „Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der
Tinte! das iſt noch nie geſchehen! das iſt das Unglücks¬
weſen, da iſt kein Zweifel!“


Der Herr Candidat ſtand ſehr erſchrocken da und ſchaute
auf die Verwüſtung, die für einmal nur Eine Seite hatte
und eine recht beſtürzende. Klara dagegen verfolgte mit
vergnügtem Geſicht die ungewöhnlichen Ereigniſſe und deren
Wirkungen und ſagte nun erklärend: „Ja, Heidi hat's ge¬
macht, aber nicht mit Abſicht, es muß gewiß nicht geſtraft
werden, es war nur ſo ſchrecklich eilig, fortzukommen und
riß den Teppich mit und ſo fiel Alles hintereinander auf
den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei,
darum iſt es ſo fortgeſchoſſen; es hat vielleicht noch nie eine
Kutſche geſehen.“

[109]

„Da, iſt's nicht, wie ich ſagte, Herr Candidat? Nicht
Einen Urbegriff hat das Weſen! Keine Ahnung davon,
was eine Unterrichtsſtunde iſt, daß man dabei zuzuhören
und ſtill zu ſitzen hat. Aber wo iſt das Unheil bringende
Ding hin? Wenn es fortgelaufen wäre! Was würde mir
Herr Seſemann —“


Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hin¬
unter. Hier, unter der geöffneten Hausthüre ſtand Heidi
und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab.


„Was iſt denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannſt
du ſo davonlaufen?“ fuhr Fräulein Rottenmeier das
Kind an.


„Ich habe die Tannen rauſchen gehört, aber ich weiß
nicht, wo ſie ſtehen, und höre ſie nicht mehr“, antwortete
Heidi und ſchaute enttäuſcht nach der Seite hin, wo das
Rollen der Wagen verhallt hatte, das in Heidi's Ohren
dem Toſen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen
hatte, ſo daß es in höchſter Freude dem Ton nachgerannt
war.


„Tannen! Sind wir im Wald? Was ſind das für
Einfälle! Komm' herauf und ſieh', was du angerichtet haſt!“
Damit ſtieg Fräulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan;
Heidi folgte ihr und ſtand nun ſehr verwundert vor der
großen Verheerung, denn es hatte nicht bemerkt, was es
Alles mitriß vor Freude und Eile, die Tannen zu hören.


„Das haſt du Ein Mal gethan, ein zweites Mal thuſt
[110] du's nicht wieder“, ſagte Fräulein Rottenmeier auf den
Boden zeigend; „zum Lernen ſitzt man ſtill auf ſeinem
Seſſel und gibt Acht. Kannſt du das nicht ſelbſt fertig
bringen, ſo muß ich dich an deinen Stuhl feſtbinden. Kannſt
du das verſtehen?“


„Ja“, entgegnete Heidi, „aber ich will ſchon feſt¬
ſitzen.“ Denn jetzt hatte es begriffen, daß es eine Regel
iſt, in einer Unterrichtsſtunde ſtill zu ſitzen.


Jetzt mußten Sebaſtian und Tinette hereinkommen, um
die Ordnung wieder herzuſtellen. Der Herr Candidat ent¬
fernte ſich, denn der weitere Unterricht mußte nun aufge¬
geben werden. Zum Gähnen war heute gar keine Zeit ge¬
weſen.


Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeit lang
ruhen und Heidi hatte alsdann ſeine Beſchäftigung ſelbſt
zu wählen; ſo hatte Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen
erklärt. Als nun nach Tiſch Klara ſich in ihrem Seſſel
zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier nach
ihrem Zimmer, und Heidi ſah, daß nun die Zeit da war,
da es ſeine Beſchäftigung ſelbſt wählen konnte. Das war
dem Heidi ſehr erwünſcht, denn es hatte ſchon immer im
Sinn, Etwas zu unternehmen; es mußte aber Hülfe dazu
haben und ſtellte ſich darum vor das Eßzimmer mitten auf
den Corridor, damit die Perſönlichkeit, die es zu berathen
gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach kurzer
Zeit kam Sebaſtian die Treppe herauf mit dem großen
[111] Theebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug
aus der Küche herauf, um es im Schrank des Eßzimmers
zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe
angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und ſagte mit
großer Deutlichkeit: „Sie oder Er!“


Sebaſtian riß die Augen ſo weit auf, als es nur mög¬
lich war, und ſagte ziemlich barſch: „Was ſoll das heißen,
Mamſell?“


„Ich möchte nur gern Etwas fragen, aber es iſt gewiß
nichts Böſes wie heute Morgen“, fügte Heidi beſchwichtigend
hinzu, denn es merkte, daß Sebaſtian ein wenig erbittert
war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Bo¬
den her.


„So, und warum muß es denn heißen Sie oder Er,
das möcht' ich zuerſt wiſſen“, gab Sebaſtian im gleichen
barſchen Ton zurück.


„Ja, ſo muß ich jetzt immer ſagen“, verſicherte Heidi,
„Fräulein Rottenmeier hat es befohlen.“


Jetzt lachte Sebaſtian ſo laut auf, daß Heidi ihn
ganz verwundert anſehen mußte, denn es hatte nichts
Luſtiges bemerkt; aber Sebaſtian hatte auf einmal be¬
griffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte, und ſagte
nun ſehr erluſtigt: „Schon recht, ſo fahre die Mamſell
nur zu.“


„Ich heiße gar nicht Mamſell“, ſagte nun Heidi ſeiner¬
ſeits ein wenig geärgert, „ich heiße Heidi.“

[112]

„Iſt ſchon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen,
daß ich Mamſell ſage“, erklärte Sebaſtian.


„Hat ſie? Ja, dann muß ich ſchon ſo heißen“, ſagte
Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, daß Alles
ſo geſchehen mußte, wie Fräulein Rottenmeier befahl.


„Jetzt habe ich ſchon drei Namen“, ſetzte es mit einem
Seufzer hinzu.


„Was wollte die kleine Mamſell denn fragen?“ fragte
Sebaſtian jetzt, indem er, in's Eßzimmer eingetreten, ſein
Silberzeug im Schrank zurecht legte.


„Wie kann man ein Fenſter aufmachen, Sebaſtian?“


„So, gerade ſo“, und er machte den großen Fenſter¬
flügel auf.


Heidi trat heran, aber es war zu klein, um Etwas
ſehen zu können; es langte nur bis zum Geſims hinauf.


„Da, ſo kann das Mamſellchen einmal hinausgucken
und ſehen, was unten iſt“, ſagte Sebaſtian, indem er einen
hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinſtellte.
Hoch erfreut ſtieg Heidi hinauf und konnte endlich den er¬
ſehnten Blick durch das Fenſter thun. Aber mit dem Aus¬
druck der größten Enttäuſchung zog es ſogleich den Kopf
wieder zurück.


„Man ſieht nur die ſteinerne Straße hier, ſonſt gar
Nichts“, ſagte das Kind bedauerlich; „aber wenn man um
das ganze Haus herum geht, was ſieht man dann auf der
andern Seite, Sebaſtian?“

[113]

„Gerade dasſelbe“, gab dieſer zur Antwort.


„Aber wohin kann man denn gehen, daß man weit,
weit hinunter ſehen kann über das ganze Thal hinab?“


„Da muß man auf einen hohen Thurm hinaufſteigen,
einen Kirchthurm, ſo einen, wie der dort iſt mit der goldnen
Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und
ſieht weit über Alles weg.“


Jetzt ſtieg Heidi eilig von ſeinem Schemel herunter,
rannte zur Thüre hinaus, die Treppe hinunter und trat auf
die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi
ſich vorgeſtellt hatte. Als es aus dem Fenſter den Thurm
geſehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die
Straße gehen, ſo müßte er gleich vor ihm ſtehen. Nun
ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht
an den Thurm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und
kam nun in eine andere Straße hinein und weiter und
weiter, aber immer noch ſah es den Thurm nicht. Es
gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren Alle ſo
eilig, daß Heidi dachte, ſie haben nicht Zeit, ihm Beſcheid
zu geben. Jetzt ſah es an der nächſten Straßenecke einen
Jungen ſtehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken
und ein ganz curioſes Thier auf dem Arme trug. Heidi
lief zu ihm hin und fragte: „Wo iſt der Thurm mit der
goldnen Kugel zu oberſt?“


„Weiß nicht“, war die Antwort.


„Wen kann ich denn fragen, wo er ſei?“ fragte Heidi weiter.

Kleine Geſchichten. III. 8[114]

„Weiß nicht.“


„Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen
Thurm?“


„Freilich weiß ich eine.“


„So komm' und zeige mir ſie.“


„Zeig' du zuerſt, was du mir dafür gibſt.“ Der Junge
hielt ſeine Hand hin. Heidi ſuchte in ſeiner Taſche herum.
Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein ſchönes Kränz¬
chen von rothen Roſen gemalt war; erſt ſah es noch eine
kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erſt
heute Morgen hatte Klara es ihm geſchenkt, aber hinunter¬
ſehen in's Thal, über die grünen Abhänge! „Da“, ſagte
Heidi und hielt das Bildchen hin, „willſt du das?“


Der Junge zog die Hand zurück und ſchüttelte den
Kopf.


„Was willſt du denn?“ fragte Heidi und ſteckte ver¬
gnügt ſein Bildchen wieder ein.


„Geld.“


„Ich habe keins, aber Klara hat, ſie gibt mir dann
ſchon, wie viel willſt du?“


„Zwanzig Pfennige.“


„So komm jetzt.“


Nun wanderten die Beiden eine lange Straße hin, und
auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem
Rücken trage und er erklärte ihm, es ſei eine ſchöne Orgel
unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Muſik, wenn
[115] er daran drehe. Auf einmal ſtanden ſie vor einer alten
Kirche mit hohem Thurm; der Junge ſtand ſtill und ſagte:
„Da!“


„Aber wie komm' ich da hinein?“ fragte Heidi, als es
die feſtverſchloſſenen Thüren ſah.


„Weiß nicht“, war wieder die Antwort.


„Glaubſt du, man könne hier klingeln, ſo wie man dem
Sebaſtian thut?“


„Weiß nicht.“


Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und
zog jetzt aus allen Kräften daran.


„Wenn ich dann hinaufgehe, ſo mußt du warten hier
unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt
mir ihn dann zeigen.“


„Was gibſt du mir dann?“


„Was muß ich dir dann wieder geben?“


„Wieder zwanzig Pfennige.“


Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und
die knarrende Thüre geöffnet; ein alter Mann trat heraus
und ſchaute erſt verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die
Kinder und fuhr ſie an: „Was unterſteht ihr euch, mich
da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht leſen, was über
der Klingel ſteht: ‚Für Solche, die den Thurm beſteigen
wollen?‘“


Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und
ſagte kein Wort.

8*[116]

Heidi antwortete: „Eben auf den Thurm wollte ich.“


„Was haſt du droben zu thun?“ fragte der Thürmer;
„hat dich Jemand geſchickt?“


„Nein“, entgegnete Heidi, „ich möchte nur hinauf¬
gehen, daß ich hinunterſehen kann.“


„Macht, daß ihr heimkommt und probirt den Spaß
nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten
Mal!“ Damit kehrte ſich der Thürmer um und wollte die
Thüre zumachen.


Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockſchooß und ſagte
bittend: „Nur ein einziges Mal!“


Er ſah ſich um und Heidi's Augen ſchauten ſo flehent¬
lich zu ihm auf, daß es ihn ganz umſtimmte; er nahm das
Kind bei der Hand und ſagte freundlich: „Wenn dir ſo
viel daran gelegen iſt, ſo komm' mit mir!“


Der Junge ſetzte ſich auf die ſteinernen Stufen vor der
Thüre nieder und zeigte, daß er nicht mit wollte.


Heidi ſtieg an der Hand des Thürmers viele, viele
Treppen hinauf; dann wurden dieſe immer ſchmaler, und
endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und
nun waren ſie oben. Der Thürmer hob Heidi vom Boden
auf und hielt es an das offene Fenſter.


„Da, jetzt guck hinunter“, ſagte er.


Heidi ſah auf ein Meer von Dächern, Thürmen und
Schornſteinen nieder; es zog bald ſeinen Kopf zurück und ſagte
niedergeſchlagen: „Es iſt gar nicht, wie ich gemeint habe.“

[117]

„Siehſt du wohl? Was verſteht ſo ein Kleines von
Ausſicht! So, komm' nun wieder herunter und läute nie
mehr an einem Thurm!“


Der Thürmer ſtellte Heidi wieder auf den Boden und
ſtieg ihm voran die ſchmalen Treppchen hinab. Wo dieſe
breiter wurden, kam links die Thüre, die in des Thürmers
Stübchen führte, und nebenan ging der Boden bis unter
das ſchräge Dach hin. Dort hinten ſtand ein großer Korb
und davor ſaß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in
dem Korb wohnte ihre Familie und ſie wollte jeden Vor¬
übergehenden davor warnen, ſich in ihre Familienangelegen¬
heiten zu miſchen. Heidi ſtand ſtill und ſchaute verwundert
hinüber, eine ſo mächtige Katze hatte es noch nie geſehen;
in dem alten Thurm wohnten aber ganze Heerden von
Mäuſen, ſo holte ſich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
halbes Dutzend Mäuſebraten. Der Thürmer ſah Heidi's
Bewunderung und ſagte: „Komm', ſie thut dir Nichts,
wenn ich dabei bin; du kannſt die Jungen anſehen.“


Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes
Entzücken aus.


„O, die netten Thierlein! die ſchönen Kätzchen!“ rief
es ein Mal um's andere und ſprang hin und her um den
Korb herum, um auch recht alle komiſchen Geberden und
Sprünge zu ſehen, welche die ſieben oder acht jungen Kätz¬
chen vollführten, die in dem Korb raſtlos übereinanderhin
krabbelten, ſprangen, fielen.

[118]

„Willſt du eins haben?“ fragte der Thürmer, der
Heidi's Freudenſprüngen vergnügt zuſchaute.


„Selbſt für mich? für immer?“ fragte Heidi geſpannt
und konnte das große Glück faſt nicht glauben.


„Ja, gewiß, du kannſt auch noch mehr haben, du kannſt
ſie alle zuſammen haben, wenn du Platz haſt“, ſagte der
Mann, dem es gerade recht war, ſeine kleinen Katzen los
zu werden, ohne daß er ihnen ein Leid anthun mußte.


Heidi war im höchſten Glück. In dem großen Hauſe hatten
ja die Kätzchen ſo viel Platz, und wie mußte Klara erſtaunt
und erfreut ſein, wenn die niedlichen Thierchen ankamen!


„Aber wie kann ich ſie mitnehmen?“ fragte nun Heidi
und wollte ſchnell einige fangen mit ſeinen Händen, aber
die dicke Katze ſprang ihm auf den Arm und fauchte es
ſo grimmig an, daß es ſehr erſchrocken zurückfuhr.


„Ich will ſie dir bringen, ſag' nur wohin“, ſagte der
Thürmer, der die alte Katze nun ſtreichelte, um ſie wieder
gut zu machen, denn ſie war ſeine Freundin und hatte
ſchon viele Jahre mit ihm auf dem Thurm gelebt.


„Zum Herrn Seſemann in dem großen Haus, wo an
der Hausthüre ein goldener Hundskopf iſt mit einem dicken
Ring im Maul“, erklärte Heidi.


Es hätte nicht einmal ſo viel gebraucht für den Thür¬
mer, der ſchon ſeit langen Jahren auf dem Thurm ſaß
und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebaſtian
noch ein alter Bekannter von ihm.

[119]

„Ich weiß ſchon“, bemerkte er; „aber wem muß ich
die Dinger bringen, wem muß ich nachfragen, du gehörſt
doch nicht Herrn Seſemann?“


„Nein, aber die Klara, ſie hat eine ſo große Freude,
wenn die Kätzchen kommen!“


Der Thürmer wollte nun weiter gehen, aber Heidi
konnte ſich von dem unterhaltenden Schauſpiel faſt nicht
trennen.


„Wenn ich nur ſchon eins oder zwei mitnehmen könnte!
Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?“


„So wart' ein wenig“, ſagte der Thürmer, trug dann
die alte Katze behutſam in ſein Stübchen hinein und ſtellte
ſie an das Eßſchüſſelchen hin, ſchloß die Thüre vor ihr zu
und kam zurück: „So, nun nimm zwei!“


Heidi's Augen leuchteten vor Wonne. Er las ein
weißes und dann ein gelb- und weißgeſtreiftes aus und ſteckte
eins in die rechte und eins in die linke Taſche. Nun ging's
die Treppe hinunter.


Der Junge ſaß noch auf den Stufen draußen, und als
nun der Thürmer hinter Heidi die Thüre zugeſchloſſen hatte,
ſagte das Kind: „Welchen Weg müſſen wir nun zu Herrn
Seſemann's Haus?“


„Weiß nicht“, war die Antwort.


Heidi fing nun an zu beſchreiben, was es wußte, die
Hausthür und die Fenſter und die Treppen, aber der Junge
ſchüttelte zu Allem den Kopf, es war ihm Alles unbekannt.

[120]

„Siehſt du“, fuhr dann Heidi im Beſchreiben fort,
„aus einem Fenſter ſieht man ein großes, großes, graues
Haus und das Dach geht ſo“ — Heidi zeichnete hier mit
dem Zeigefinger große Zacken in die Luft hinaus.


Jetzt ſprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merk¬
male haben, ſeine Wege zu finden. Er lief nun in Einem
Zug drauf los und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer
Zeit ſtanden ſie richtig vor der Hausthüre mit dem großen
Meſſingthierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erſchien Se¬
baſtian, und wie er Heidi erblickte, rief er drängend: „Schnell!
Schnell!“


Heidi ſprang eilig herein, und Sebaſtian ſchlug die Thüre
zu; den Jungen, der verblüfft draußen ſtand, hatte er gar
nicht bemerkt.


„Schnell, Mamſellchen“, drängte Sebaſtian weiter,
„gleich in's Eßzimmer hinein, ſie ſitzen ſchon am Tiſch,
Fräulein Rottenmeier ſieht aus wie eine geladene Kanone;
was ſtellt aber auch die kleine Mamſell an, ſo fortzu¬
laufen?“


Heidi war in's Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier
blickte nicht auf; Klara ſagte auch Nichts, es war eine
etwas unheimliche Stille. Sebaſtian rückte Heidi den Seſſel
zurecht. Jetzt, wie es auf ſeinem Stuhl ſaß, begann Fräu¬
lein Rottenmeier mit ſtrengem Geſicht und einem ganz
feierlich-ernſten Ton: „Adelheid, ich werde nachher mit dir
ſprechen, jetzt nur ſo viel: du haſt dich ſehr ungezogen,
[121] wirklich ſtrafbar benommen, daß du das Haus verläſſeſt,
ohne zu fragen, ohne daß Jemand ein Wort davon wußte
und herumſtreichſt bis zum ſpäten Abend, es iſt eine völlig
beiſpielloſe Aufführung.“


„Miau“, tönte es wie als Antwort zurück.


Aber jetzt ſtieg der Zorn der Dame: „Wie, Adelheid“,
rief ſie in immer höheren Tönen, „du unterſtehſt dich noch,
nach aller Ungezogenheit einen ſchlechten Spaß zu machen?
Hüte dich wohl, ſag' ich dir!“


„Ich mache“, fing Heidi an — „Miau! Miau!“


Sebaſtian warf faſt ſeine Schüſſel auf den Tiſch und
ſtürzte hinaus.


„Es iſt genug“, wollte Fräulein Rottenmeier rufen;
aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr.
„Steh' auf und verlaß das Zimmer.“


Heidi ſtand erſchrocken von ſeinem Seſſel auf und wollte
noch einmal erklären: „Ich mache gewiß“ — „Miau! Miau!
Miau!“


„Aber Heidi“, ſagte jetzt Klara, „wenn du doch ſiehſt,
daß du Fräulein Rottenmeier ſo böſe machſt; warum machſt
du immer wieder miau?“


„Ich mache nicht, die Kätzlein machen“, konnte Heidi
endlich ungeſtört hervorbringen.


„Wie? Was? Katzen? junge Katzen?“ ſchrie Fräulein
Rottenmeier auf. „Sebaſtian! Tinette! Sucht die greu¬
lichen Thiere! ſchafft ſie fort!“ damit ſtürzte die Dame
[122] in's Studierzimmer hinein und riegelte die Thüren zu, um
ſicherer zu ſein, denn junge Katzen waren für Fräulein
Rottenmeier das Schrecklichſte in der Schöpfung. Sebaſtian
ſtand draußen vor der Thür und mußte erſt fertig lachen,
eh' er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi be¬
diente, einen kleinen Katzenkopf aus deſſen Taſche heraus¬
gucken geſehen und ſah dem Spektakel entgegen, und wie er
nun ausbrach, konnte er ſich nicht mehr halten, kaum noch
ſeine Schüſſel auf den Tiſch ſetzen. Endlich trat er denn
wieder gefaßt in's Zimmer herein, nachdem die Hülferufe
der geängſteten Dame ſchon längere Zeit verklungen waren.
Jetzt ſah es ganz ſtill und friedlich aus drinnen; Klara
hielt die Kätzchen auf ihrem Schooß, Heidi kniete neben ihr
und Beide ſpielten mit großer Wonne mit den zwei win¬
zigen, graziöſen Thierchen.


„Sebaſtian“, ſagte Klara zu dem Eintretenden, „Sie
müſſen uns helfen; Sie müſſen ein Neſt finden für die
Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier ſie nicht ſieht, denn ſie
fürchtet ſich vor ihnen und will ſie fort haben; aber wir
wollen die niedlichen Thierchen behalten und ſie immer her¬
vorholen, ſobald wir allein ſind. Wo kann man ſie hin¬
thun?“


„Das will ich ſchon beſorgen, Fräulein Klara“, ent¬
gegnete Sebaſtian bereitwillig; „ich mache ein ſchönes Bett¬
chen in einem Korb und ſtelle den an einen Ort, wo mir
die furchtſame Dame nicht dahinterkommt, verlaſſen Sie
[123] ſich auf mich.“ Sebaſtian ging gleich an die Arbeit und
kicherte beſtändig vor ſich hin, denn er dachte: „Das wird
noch was abſetzen!“ und der Sebaſtian ſah es nicht ungern,
wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung ge¬
rieth.


Nach längerer Zeit erſt, als der Augenblick des Schlafen¬
gehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein
wenig die Thüre auf und rief durch das Spältchen heraus:
„Sind die abſcheulichen Thiere fortgeſchafft?“


„Ja wohl! Ja wohl!“ gab Sebaſtian zurück, der ſich
im Zimmer zu ſchaffen gemacht hatte in Erwartung dieſer
Frage. Schnell und leiſe faßte er die beiden Kätzchen auf
Klara's Schooß und verſchwand damit.


Die beſondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi
noch zu halten gedachte, verſchob ſie auf den folgenden Tag,
denn heute fühlte ſie ſich zu erſchöpft nach all' den vorher¬
gegangenen Gemüthsbewegungen von Aerger, Zorn und
Schrecken, die ihr Heidi ganz unwiſſentlich nacheinander
verurſacht hatte. Sie zog ſich ſchweigend zurück, und Klara
und Heidi folgten vergnügt nach, denn ſie wußten ihre
Kätzchen in einem guten Bett.

[]

Capitel VIII.
Im Hauſe Seſemann geht's unruhig zu.

Als Sebaſtian am folgenden Morgen dem Herrn Can¬
didaten die Hausthüre geöffnet und ihn zum Studierzimmer
geführt hatte, zog ſchon wieder Jemand die Hausglocke an, aber
mit ſolcher Gewalt, daß Sebaſtian die Treppe völlig hinunter¬
ſchoß, denn er dachte: „So ſchellt nur der Herr Seſemann
ſelbſt, er muß unerwartet nach Hauſe gekommen ſein.“ Er
riß die Thüre auf — ein zerlumpter Junge mit einer
Drehorgel auf dem Rücken ſtand vor ihm.


„Was ſoll das heißen?“ fuhr ihn Sebaſtian an. „Ich
will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was haſt du
hier zu thun?“


„Ich muß zur Klara“, war die Antwort.


„Du ungewaſchener Straßenkäfer du; kannſt du nicht
ſagen Fräulein Klara, wie unſereins thut? Was haſt du
bei Fräulein Klara zu thun?“ fragte Sebaſtian barſch.


„Sie iſt mir vierzig Pfennige ſchuldig“, erklärte der
Junge.

[125]

„Du biſt, denk' ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt
du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier iſt?“


„Geſtern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig
und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.“


„Da ſiehſt du, was für Zeug du zuſammenflunkerſt,
Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen,
mach, daß du dahin kommſt, wo du hin gehörſt', bevor ich
dir dazu verhelfe!“


Aber der Junge ließ ſich nicht einſchüchtern; er blieb
unbeweglich ſtehn und ſagte trocken: „Ich habe ſie doch ge¬
ſehen auf der Straße, ich kann ſie beſchreiben: ſie hat kurzes,
krauſes Haar, das iſt ſchwarz, und die Augen ſind ſchwarz
und der Rock iſt braun, und ſie kann nicht reden wie wir.“


„Oho“, dachte jetzt Sebaſtian und kicherte in ſich hinein,
„das iſt die kleine Mamſell, die hat wieder Etwas ange¬
ſtellt.“ Dann ſagte er, den Jungen hereinziehend: „'s iſt
ſchon recht, komm' mir nur nach und warte vor der Thüre,
bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlaſſe,
kannſt du gleich Etwas ſpielen, das Fräulein hört es
gern.“


Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde herein¬
gerufen.


„Es iſt ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara
ſelbſt Etwas zu beſtellen hat“, berichtete Sebaſtian.


Klara war ſehr erfreut über das außergewöhnliche Er¬
eigniß.

[126]

„Er ſoll nur gleich hereinkommen“, ſagte ſie, „nicht
wahr, Herr Candidat? wenn er doch mit mir ſelbſt ſprechen
muß.“


Der Junge war ſchon eingetreten, und nach Anweiſung
fing er ſofort ſeine Orgel zu drehen an. Fräulein Rotten¬
meier hatte, um dem ABC auszuweichen, ſich im Eßzimmer
Allerlei zu ſchaffen gemacht. Auf einmal horchte ſie auf. —
Kamen die Töne von der Straße her? Aber ſo nahe?
Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel er¬
tönen? Und dennoch — wahrhaftig — ſie ſtürzte durch
das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da — un¬
glaublich — da ſtand mitten im Studierzimmer ein zer¬
lumpter Orgelſpieler und drehte ſein Inſtrument mit größter
Emſigkeit. Der Herr Candidat ſchien immerfort Etwas
ſagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara
und Heidi hörten mit ganz erfreuten Geſichtern der Mu¬
ſik zu.


„Aufhören! Sofort aufhören!“ rief Fräulein Rotten¬
meier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt
von der Muſik. Jetzt lief ſie auf den Jungen zu — aber
auf einmal hatte ſie Etwas zwiſchen den Füßen, ſie ſah auf
den Boden — ein grauſiges, ſchwarzes Thier kroch ihr
zwiſchen den Füßen durch, eine Schildkröte. Jetzt that Fräu¬
lein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie ſie ſeit
vielen Jahren keinen gethan hatte, dann ſchrie ſie aus Leibes¬
kräften: „Sebaſtian! Sebaſtian!“

[127]

Plötzlich hielt der Orgelſpieler inne, denn dießmal hatte
die Stimme die Muſik übertönt. Sebaſtian ſtand draußen
vor der halb offenen Thüre und krümmte ſich vor Lachen,
denn er hatte zugeſehen, wie der Sprung vor ſich ging.
Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen
Stuhl niedergeſunken.


„Fort mit Allem, Menſch und Thier! Schaffen Sie ſie
weg, Sebaſtian, ſofort!“ rief ſie ihm entgegen. Sebaſtian
gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der ſchnell
ſeine Schildkröte erfaßt hatte, drückte ihm draußen etwas in
die Hand und ſagte: „Vierzig für Fräulein Klara, und
vierzig für's Spielen, das haſt du gut gemacht“; damit
ſchloß er hinter ihm die Hausthüre. Im Studierzimmer
war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder
fortgeſetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte ſich nun auch
feſtgeſetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähn¬
liche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte ſie nach den
Unterrichtsſtunden unterſuchen und den Schuldigen ſo be¬
ſtrafen, daß er daran denken würde.


Schon wieder klopfte es an die Thüre, und herein trat
abermals Sebaſtian mit der Nachricht, es ſei ein großer
Korb gebracht worden, der ſogleich an Fräulein Klara ſelbſt
abzugeben ſei.


„An mich?“ fragte Klara erſtaunt und äußerſt neu¬
gierig, was das ſein möchte; „zeigen Sie doch gleich einmal
her, wie er ausſieht.“

[128]

Sebaſtian brachte einen gedeckten Korb herein und ent¬
fernte ſich dann eilig wieder.


„Ich denke, erſt wird der Unterricht beendet, dann der
Korb ausgepackt“, bemerkte Fräulein Rottenmeier.


Klara konnte ſich nicht vorſtellen, was man ihr gebracht
hatte, ſie ſchaute ſehr verlangend nach dem Korb.


„Herr Candidat“, ſagte ſie, ſich ſelbſt in ihrem Decli¬
niren unterbrechend, „könnte ich nicht nur einmal ſchnell hinein¬
ſehen, um zu wiſſen, was drin iſt, und dann gleich wieder
fortfahren?“


„In einer Hinſicht könnte man dafür, in einer andern
dawider ſein“, entgegnete der Herr Candidat; „dafür ſpräche
der Grund, daß, wenn nun Ihre ganze Aufmerkſamkeit auf
dieſen Gegenſtand gerichtet iſt“ — die Rede konnte nicht
beendigt werden. Der Deckel des Korbes ſaß nur loſe
darauf, und nun ſprangen mit einem Mal ein, zwei, drei
und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
darunter hervor und in's Zimmer hinaus, und mit einer
ſo unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren ſie überall herum, daß
es war, als wäre das ganze Zimmer voll ſolcher Thierchen.
Sie ſprangen über die Stiefel des Herrn Candidaten, biſſen
an ſeinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein
Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Füße herum, ſprangen
an Klara's Seſſel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es
war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Ent¬
zücken: „O die niedlichen Thierchen! die luſtigen Sprünge!
[129] ſieh'! ſieh'! Heidi, hier, dort, ſieh' dieſes!“ Heidi ſchoß
ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Can¬
dat ſtand ſehr verlegen am Tiſch und zog bald den einen,
bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen
Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier ſaß erſt
ſprachles vor Entſetzen in ihrem Seſſel, dann fing ſie an
aus Leibeskräften zu ſchreien! „Tinette! Tinette! Se¬
baſtian! Sebaſtian!“ denn vom Seſſel aufzuſtehen konnte
ſie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle
die kleinen Scheuſale an ihr emporſpringen.


Endlich kamen Sebaſtian und Tinette auf die wieder¬
holten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach
dem andern der kleinen Geſchöpfe in den Korb hinein und
trug ſie auf den Eſtrich zu dem Katzenlager, das er für
die Zweie von geſtern bereitet hatte.


Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der
Unterrichtsſtunden ſtattgefunden. Am ſpäten Abend, als
Fräulein Rottenmeier ſich von den Aufregungen des Mor¬
gens wieder hinlänglich erholt hatte, berief ſie Sebaſtian
und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine
gründliche Unterſuchung über die ſtrafwürdigen Vorgänge
anzuſtellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf
ſeinem geſtrigen Ausflug die ſämmtlichen Ereigniſſe vorbe¬
reitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier ſaß
weiß vor Entrüſtung da und konnte erſt keine Worte für
ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß
Kleine Geſchichten. III. 9[130] Sebaſtian und Tinette ſich entfernen ſollten. Jetzt wandte
ſie ſich an Heidi, das neben Klara's Seſſel ſtand und nicht
recht begriff, was es verbrochen hatte.


„Adelheid“, begann ſie mit ſtrengem Ton, „ich weiß
nur Eine Strafe, die dir empfindlich ſein könnte, denn du
biſt eine Barbarin; aber wir wollen ſehen, ob du unten
im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirſt,
daß du dir keine ſolchen Dinge mehr einfallen läſſeſt.“


Heidi hörte ſtill und verwundert ſein Urtheil an, denn
in einem ſchreckhaften Keller war es noch nie geweſen; der
anſtoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater
Keller nannte, wo immer die fertigen Käſe lagen und die
friſche Milch ſtand, war eher ein anmuthiger und einladen¬
der Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine ge¬
ſehen.


Aber Klara erhob einen lauten Jammer: „Nein, nein,
Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da
iſt; er hat ja geſchrieben, er komme nun bald, und dann
will ich ihm Alles erzählen, und er ſagt dann ſchon, was
mit Heidi geſchehen ſoll.“


Gegen dieſen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier
Nichts einwenden, um ſo weniger, da er wirklich in Bälde
zu erwarten war. Sie ſtand auf und ſagte etwas grimmig:
„Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn
Seſemann ſprechen.“ Damit verließ ſie das Zimmer. —


Es verfloſſen nun ein paar ungeſtörtere Tage, aber
[131] Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung
heraus, ſtündlich trat ihr die Täuſchung vor Augen, die ſie
in Heidi's Perſönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als
ſei ſeit ſeiner Erſcheinung im Hauſe Seſemann Alles aus
den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara
war ſehr vergnügt; ſie langweilte ſich nie mehr, denn in
den Unterrichtsſtunden machte Heidi die kurzweiligſten Sachen:
die Buchſtaben machte es immer alle durcheinander und
konnte ſie nie kennen lernen, und wenn der Herr Candidat
mitten im Erklären und Beſchreiben ihrer Formen war,
um ſie ihm anſchaulicher zu machen und als Vergleichung
etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel ſprach da¬
bei, rief es auf einmal in aller Freude aus: „Es iſt eine
Gaiß!“ oder: „Es iſt der Raubvogel!“ Denn die Be¬
ſchreibungen weckten in ſeinem Gehirn allerlei Vorſtellungen,
nur keine Buchſtaben. In den ſpätern Nachmittagsſtunden
ſaß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder
von der Alm und dem Leben dort, ſo viel und ſo lange,
bis das Verlangen darnach in ihm ſo brennend wurde, daß
es immer zum Schluß verſicherte: „Nun muß ich gewiß
wieder heim! Morgen muß ich gewiß gehen!“ Aber Klara
beſchwichtigte immer wieder dieſe Anfälle und bewies Heidi,
daß es doch ſicher da bleiben müſſe, bis der Papa komme;
dann werde man ſchon ſehen, wie es weiter gehe. Wenn
Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zu¬
frieden war, ſo half ihm eine fröhliche Ausſicht dazu, die
9*[132] es im Stillen hatte, daß mit jedem Tage, den es noch da
blieb, ſein Häuflein Brödchen für die Großmutter wieder
um zwei größer würde, denn Mittags und Abends lag
immer ein ſchönes Weißbrödchen bei ſeinem Teller; das
ſteckte es gleich ein, denn es hätte das Brödchen nicht eſſen
können beim Gedanken, daß die Großmutter nie eines habe
und das harte, ſchwarze Brod faſt nicht mehr eſſen konnte.
Nach Tiſch ſaß Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang
ganz allein in ſeinem Zimmer und regte ſich nicht, denn
daß es in Frankfurt verboten war, nur ſo hinauszulaufen,
wie es auf der Alm gethan, das hatte es nun begriffen
und that es nie mehr. Mit Sebaſtian drüben im E߬
zimmer ein Geſpräch führen, durfte es auch nicht, das hatte
Fräulein Rottenmeier auch verboten und mit Tinette eine
Unterhaltung zu probiren, daran kam ihm kein Sinn, es
ging ihr immer ſcheu aus dem Wege, denn ſie redete nur
in höhniſchem Ton mit ihm und ſpöttelte es fortwährend
an und Heidi verſtand ihre Art ganz gut, und daß ſie es
nur immer ausſpottete. So ſaß Heidi täglich da und hatte
alle Zeit ſich auszudenken, wie nun die Alm wieder grün
war und wie die gelben Blümchen im Sonnenſchein glitzerten
und wie Alles leuchtete ringsum in der Sonne, der Schnee
und die Berge und das ganze, weite Thal, und Heidi konnte
es manchmal faſt nicht mehr aushalten vor Verlangen,
wieder dort zu ſein. Die Baſe hatte ja auch geſagt, es
könne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, daß
[133] Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller
Eile ſeine Brödchen in das große rothe Halstuch zuſammen,
ſetzte ſein Strohhütchen auf und zog aus. Aber ſchon unter
der Hausthüre traf es auf ein großes Reiſehinderniß, auf
Fräulein Rottenmeier ſelbſt, die eben von einem Ausgang
zurückkehrte. Sie ſtand ſtill und ſchaute in ſtarrem Er¬
ſtaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb
vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt
brach ſie los.


„Was iſt das für ein Aufzug? Was heißt das über¬
haupt? Habe ich dir nicht ſtreng verboten, je wieder herum¬
zuſtreichen? Nun probirſt du's doch wieder und dazu noch
völlig ausſehend wie eine Landſtreicherin.“


„Ich wollte nicht herumſtreichen, ich wollte nur heim¬
gehen“, entgegnete Heidi ein wenig erſchrocken.


„Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wollteſt du?“
Fräulein Rottenmeier ſchlug die Hände zuſammen vor Auf¬
regung. „Fortlaufen! Wenn das Herr Seſemann wüßte!
Fortlaufen aus ſeinem Hauſe! Mach' nicht, daß er das je
erfährt! Und was iſt dir denn nicht recht in ſeinem Hauſe?
Wirſt du nicht viel beſſer behandelt, als du verdienſt? Fehlt
es dir an irgend Etwas? Haſt du je in deinem ganzen Leben
eine Wohnung, oder einen Tiſch, oder eine Bedienung ge¬
habt, wie du hier haſt? ſag'!“


„Nein“, entgegnete Heidi.


„Das weiß ich wohl!“ fuhr die Dame eifrig fort,
[134] „Nichts fehlt dir, gar Nichts, du biſt ein ganz unglaublich
undankbares Ding, und vor lauter Wohlſein weißt du nicht,
was du noch Alles anſtellen willſt!“


Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm
war, und brach hervor: „Ich will ja nur heim, und wenn
ich ſo lang nicht komme, ſo muß das Schneehöppli immer
klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Diſtel¬
fink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käſe
bekommt, und hier kann man gar nie ſehen, wie die Sonne
gute Nacht ſagt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel
in Frankfurt oben über fliegen würde, ſo würde er noch
viel lauter krächzen, daß ſo viele Menſchen bei einander
ſitzen und einander bös machen und nicht auf den Felſen
gehen, wo es Einem wohl iſt.“


„Barmherzigkeit, das Kind iſt übergeſchnappt!“ rief
Fräulein Rottenmeier aus und ſtürzte mit Schrecken die
Treppe hinauf, wo ſie ſehr unſanft gegen den Sebaſtian
rannte, der eben hinunter wollte. „Holen Sie auf der
Stelle das unglückliche Weſen herauf“, rief ſie ihm zu,
indem ſie ſich den Kopf rieb, denn ſie war hart ange¬
ſtoßen.


„Ja, ja, ſchon recht, danke ſchön“, gab Sebaſtian zurück
und rieb ſich den ſeinen, denn er war noch harter ange¬
fahren.


Heidi ſtand mit flammenden Augen noch auf derſelben
Stelle feſt und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

[135]

„Na, ſchon wieder was angeſtellt?“ fragte Sebaſtian
luſtig; als er aber Heidi, das ſich nicht rührte, recht an¬
ſah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und ſagte
tröſtend: „Bah! bah! das muß ſich das Mamſellchen nicht
ſo zu Herzen nehmen, nur luſtig, das iſt die Hauptſache!
Sie hat mir eben jetzt auch faſt ein Loch in den Kopf ge¬
rannt, aber nur nicht einſchüchtern laſſen! Na? immer
noch auf demſelben Fleck? Wir müſſen hinauf, ſie hat's
befohlen.“


Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langſam und
leiſe und gar nicht wie ſonſt ſeine Art war. Das that
dem Sebaſtian leid zu ſehen; er ging hinter dem Heidi her
und ſprach ermuthigende Worte zu ihm: „Nur nicht ab¬
geben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer drauf
zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamſellchen, hat
noch gar nie geweint, ſeit es bei uns iſt, ſonſt weinen ſie
ja zwölf Mal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die
Kätzchen ſind auch luſtig droben, die ſpringen auf dem ganzen
Eſtrich herum und thun wie närriſch. Nachher gehen wir
'mal zuſammen hinauf und ſchauen ihnen zu, wenn die
Dame drinnen wieder weg iſt, ja?“


Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber ſo freudlos,
daß es dem Sebaſtian recht zu Herzen ging und er ganz
theilnehmend dem Heidi nachſchaute, wie es nach ſeinem
Zimmer hinſchlich.


Am Abendeſſen heute ſagte Fräulein Rottenmeier kein
[136] Wort, aber fortwährend warf ſie ſonderbar wachſame Blicke
zu Heidi hinüber, ſo als erwartete ſie, es könnte plötzlich
etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi ſaß mäuschen¬
ſtill am Tiſch und rührte ſich nicht, es aß nicht und trank
nicht; nur ſein Brödchen hatte es ſchnell in die Taſche ge¬
ſteckt.


Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die
Treppe heraufkam, winkte ihm Fräulein Rottenmeier ge¬
heimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte ſie ihm
in großer Aufregung ihre Beſorgniß mit, die Luftverände¬
rung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
hätten das Kind um den Verſtand gebracht, und ſie erzählte
ihm von Heidi's Fluchtverſuch und wiederholte ihm von
ſeinen ſonderbaren Reden, was ſie noch wußte. Aber der
Herr Candidat beſänftigte und beruhigte Fräulein Rotten¬
meier, indem er ſie verſicherte, daß er die Wahrnehmung
gemacht habe, die Adelheid ſei zwar einerſeits allerdings
eher excentriſch, aber anderſeits doch wieder bei richtigem
Verſtand, ſo daß ſich nach und nach bei einer allſeitig er¬
wogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einſtellen
könne, was er im Auge habe; er finde den Umſtand wich¬
tiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinaus¬
komme mit ihr, indem ſie die Buchſtaben nicht zu faſſen
im Stande ſei.


Fräulein Rottenmeier fühlte ſich beruhigter und entließ
den Herrn Candidaten zu ſeiner Arbeit. Am ſpätern Nach¬
[137] mittag ſtieg ihr die Erinnerung an Heidi's Aufzug bei
ſeiner vorgehabten Abreiſe auf, und ſie beſchloß, die Gewan¬
dung des Kindes durch verſchiedene Kleidungsſtücke der Klara
in den nöthigen Stand zu ſetzen, bevor Herr Seſemann
erſcheinen würde. Sie theilte ihre Gedanken darüber an
Klara mit, und da dieſe mit Allem einverſtanden war und
dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte ſchenken
wollte, verfügte ſich die Dame in Heidi's Zimmer, um
ſeinen Kleiderſchrank zu beſehen und zu unterſuchen, was da
von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden
ſolle. Aber in wenig Minuten kam ſie wieder zurück mit
Geberden des Abſcheus: „Was muß ich entdecken, Adel¬
heid“, rief ſie aus, „es iſt nie da geweſen! In deinem
Kleiderſchrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im
Fuß dieſes Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner
Brode! Brod, ſage ich, Klara, im Kleiderſchrank! Und
einen ſolchen Haufen aufſpeichern! Tinette“, rief ſie jetzt
in's Eßzimmer hinaus, „ſchaffen Sie mir das alte Brod
fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten
Strohhut auf dem Tiſch.“


„Nein! Nein!“ ſchrie Heidi auf, „ich muß den Hut
haben und die Brödchen ſind für die Großmutter“, und
Heidi wollte der Tinette nachſtürzen, aber es wurde von
Fräulein Rottenmeier feſtgehalten.


„Du bleibſt hier und der Kram wird hingebracht, wo
er hin gehört“, ſagte ſie beſtimmt und hielt das Kind zu¬
[138] rück. Aber nun warf ſich Heidi an Klara's Seſſel nieder
und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter
und ſchmerzlicher und ſchluchzte ein Mal um's andere in ſeinem
Jammer auf: „Nun hat die Großmutter keine Brödchen
mehr! Sie waren für die Großmutter, nun ſind ſie alle
fort und die Großmutter bekommt keine!“ und Heidi weinte
auf, als wollte ihm das Herz zerſpringen. Fräulein Rotten¬
meier lief hinaus. Klara wurde es angſt und bange bei
dem Jammer: „Heidi, Heidi, weine nur nicht ſo“, ſagte
ſie bittend, „hör' mich nur! Jammere nur nicht ſo, ſieh',
ich verſpreche dir, ich gebe dir gerade ſo viele Brödchen für
die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heim¬
gehſt, und dann ſind dieſe friſch und weich, und die deinen
wären ja ganz hart geworden und waren es ſchon. Komm',
Heidi, weine nur nicht mehr ſo.“


Heidi konnte noch lange nicht aus ſeinem Schluchzen
herauskommen; aber es verſtand Klara's Troſt und hielt
ſich daran, ſonſt hätte es gar nicht mehr zu weinen auf¬
hören können. Es mußte auch noch mehrere Male ſeiner
Hoffnung gewiß werden und Klara, durch die letzten An¬
fälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: „Gibſt du mir
ſo viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?“


Und Klara verſicherte immer wieder: „Gewiß, ganz ge¬
wiß, noch mehr, ſei nur wieder froh!“


Noch zum Abendtiſch kam Heidi mit den rothverweinten
Augen, und als es ſein Brödchen erblickte, mußte es gleich
[139] noch einmal aufſchluchzen. Aber es bezwang ſich jetzt mit
Gewalt, denn es verſtand, daß es ſich am Tiſch ruhig ver¬
halten mußte. Sebaſtian machte heute jedes Mal die merk¬
würdigſten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er
deutete bald auf ſeinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte
er wieder und kniff die Augen zu, ſo als wollte er ſagen:
„Nur getroſt! Ich hab's ſchon gemerkt und beſorgt.“


Als Heidi ſpäter in ſein Zimmer kam und in ſein Bett
ſteigen wollte, lag ſein zerdrücktes Strohhütchen unter der
Decke verſteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut her¬
vor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr
und verſteckte ihn dann, in ein Taſchentüchlein eingewickelt,
in die allerhinterſte Ecke ſeines Schranks. Das Hütchen
hatte der Sebaſtian unter die Decke geſteckt; er war zu
gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer geweſen, als dieſe
gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen.
Dann war er Tinette nachgegangen, und als ſie aus Heidi's
Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlaſt und dem Hütchen
oben drauf, hatte er ſchnell dieſes weggenommen und ihr
zugerufen: „Das will ich ſchon fort thun.“ Darauf hatte
er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim
Abendeſſen zur Erheiterung andeuten wollte.

[]

Capitel IX.
Der Hausherr hört Allerlei in ſeinem Hauſe, das er noch
nicht gehört hat.

Einige Tage nach dieſen Ereigniſſen war im Hauſe
Seſemann große Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf-
und Treppab-Rennen, denn eben war der Hausherr von
ſeiner Reiſe zurückgekehrt, und aus dem bepackten Wagen
wurde von Sebaſtian und Tinette eine Laſt nach der an¬
dern hinaufgetragen, denn Herr Seſemann brachte immer
eine Menge ſchöner Sachen mit nach Haus.


Er ſelbſt war vor Allem in das Zimmer ſeiner Tochter
eingetreten, um ſie zu begrüßen. Heidi ſaß bei ihr, denn
es war die Zeit des ſpätern Nachmittags, da die Beiden
immer zuſammen waren. Klara begrüßte ihren Vater mit
großer Zärtlichkeit, denn ſie liebte ihn ſehr, und der gute
Papa grüßte ſein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann
ſtreckte er ſeine Hand dem Heidi entgegen, das ſich leiſe in
eine Ecke zurückgezogen hatte, und ſagte freundlich: „Und
[141] das iſt unſere kleine Schweizerin; komm' her, gib mir 'mal
eine Hand! So iſt's recht! Nun ſag' mir mal, ſeid ihr
auch gute Freunde zuſammen, Klara und du? Nicht zanken
und böſe werden und dann weinen und dann verſöhnen und
dann wieder von vorn anfangen, nun?“


„Nein, Klara iſt immer gut mit mir“, entgegnete
Heidi.


„Und Heidi hat auch noch gar nie verſucht, zu zanken,
Papa“, warf Klara ſchnell ein.


„So iſt's gut, das hör' ich gern“, ſagte der Papa,
indem er aufſtand. „Nun mußt du aber erlauben, Klär¬
chen, daß ich Etwas genieße, heute habe ich noch Nichts be¬
kommen, nachher komm' ich wieder zu dir und du ſollſt
ſehen, was ich mitgebracht habe!“


Herr Seſemann trat in's Eßzimmer ein, wo Fräulein
Rottenmeier den Tiſch überſchaute, der für ſein Mittags¬
mahl gerüſtet war. Nachdem Herr Seſemann ſich nieder¬
gelaſſen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen
hatte und ausſah wie ein lebendiges Mißgeſchick, wandte
ſich der Hausherr zu ihr: „Aber Fräulein Rottenmeier,
was muß ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein
wahrhaft erſchreckendes Geſicht aufgeſetzt. Wo fehlt es denn?
Klärchen iſt ja ganz munter.“


„Herr Seſemann“, begann die Dame mit gewichtigem
Ernſt, „Klara iſt mitbetroffen, wir ſind fürchterlich getäuſcht
worden.“

[142]

„Wie ſo?“ fragte Herr Seſemann und trank in aller
Ruhe einen Schluck Wein.


„Wir hatten ja beſchloſſen, wie Sie wiſſen, Herr Seſe¬
mann, eine Geſpielin für Klara in's Haus zu nehmen, und
da ich ja weiß, wie ſehr Sie darauf halten, daß nur Gutes
und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn
auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte,
eines jener Weſen bei uns eintreten zu ſehen, von denen
ich ſchon ſo oft geleſen, welche, der reinen Bergluft ent¬
ſproſſen, ſozuſagen ohne die Erde zu berühren, durch das
Leben gehen.“


„Ich glaube zwar“, bemerkte hier Herr Seſemann,
„daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn
ſie vorwärts kommen wollen, ſonſt wären ihnen wohl Flügel
gewachſen ſtatt der Füße.“


„Ach, Herr Seſemann, Sie verſtehen mich wohl“,
fuhr das Fräulein fort, „ich meinte eine jener ſo be¬
kannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Ge¬
ſtalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüber¬
ziehn.“


„Was ſollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch
anfangen, Fräulein Rottenmeier?“


„Nein, Herr Seſemann, ich ſcherze nicht, die Sache iſt
mir ernſter, als Sie denken, ich bin ſchrecklich, wirklich ganz
erſchrecklich getäuſcht worden.“


„Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar
[143] erſchrecklich ſieht mir das Kind nicht aus“, bemerkte ruhig
Herr Seſemann.


„Sie ſollten nur Eines wiſſen, Herr Seſemann, nur
das Eine, mit was für Menſchen und Thieren dieſes Weſen
Ihr Haus in Ihrer Abweſenheit bevölkert hat; davon könnte
der Herr Candidat erzählen.“


„Mit Thieren? Wie muß ich das verſtehen, Fräulein
Rottenmeier?“


„Es iſt eben nicht zu verſtehen; die ganze Aufführung
dieſes Weſens wäre nicht zu verſtehen, wenn nicht aus dem
Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verſtandes¬
geſtörtheit hat.“


Bis hierher hatte Herr Seſemann die Sache nicht für
wichtig gehalten; aber Geſtörtheit des Verſtandes? eine ſolche
konnte ja für ſeine Tochter die bedenklichſten Folgen haben.
Herr Seſemann ſchaute Fräulein Rottenmeier ſehr genau
an, ſo als wollte er ſich erſt verſichern, ob nicht etwa bei
ihr eine derartige Störung zu bemerken ſei. In dieſem
Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Can¬
didat angemeldet.


„Ach da kommt unſer Herr Candidat, der wird uns
Aufſchluß geben“, rief ihm Herr Seſemann entgegen.
„Kommen Sie, kommen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir!“
Herr Seſemann ſtreckte dem Eintretenden die Hand ent¬
gegen. „Der Herr Candidat trinkt eine Taſſe ſchwarzen
Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie ſich,
[144] ſetzen Sie ſich, keine Complimente! Und nun ſagen Sie
mir, Herr Candidat, was iſt mit dem Kinde, das als Ge¬
ſpielin meiner Tochter in's Haus gekommen iſt und das
Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit
den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie ſteht es
mit ſeinem Verſtand?“


Der Herr Candidat mußte erſt ſeine Freude über Herrn
Seſemann's glückliche Rückkehr ausſprechen und ihn will¬
kommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr
Seſemann drängte ihn, daß er ihm Aufſchluß gebe über
die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Can¬
didat: „Wenn ich mich über das Weſen dieſes jungen
Mädchens ausſprechen ſoll, Herr Seſemann, ſo möchte ich
vor Allem darauf aufmerkſam machen, daß, wenn auch auf
der einen Seite ſich ein Mangel der Entwicklung, welcher
durch eine mehr oder weniger vernachläſſigte Erziehung,
oder beſſer geſagt, etwas verſpäteten Unterricht verur¬
ſacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus
nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil
ihre guten Seiten unſtreitig darthuende Abgeſchiedenheit
eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht
eine gewiſſe Dauer überſchreitet, ja ohne Zweifel ſeine gute
Seite —“


„Mein lieber Herr Candidat“, unterbrach hier Herr
Seſemann, „Sie geben ſich wirklich zu viel Mühe; ſagen
Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken bei¬
[145] gebracht durch eingeſchleppte Thiere, und was halten Sie
überhaupt von dieſem Umgang für mein Töchterchen?“


„Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu
nahe treten“, begann der Herr Candidat wieder, „denn
wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von geſell¬
ſchaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder we¬
niger uncultivirten Leben, in welchem das junge Mädchen
bis zu dem Augenblick ſeiner Verſetzung nach Frankfurt ſich
bewegte, welche Verſetzung allerdings in die Entwicklung
dieſes, ich möchte ſagen noch völlig, wenigſtens theilweiſe
unentwickelten, aber anderſeits mit nicht zu verachtenden
Anlagen begabten und wenn allſeitig umſichtig geleitet —“


„Entſchuldigen Sie, Herr Candidat, bitte, laſſen Sie
ſich nicht ſtören, ich werde — ich muß ſchnell einmal nach
meiner Tochter ſehen.“ Damit lief Herr Seſemann zur
Thür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studier¬
zimmer ſetzte er ſich zu ſeinem Töchterchen hin; Heidi war
aufgeſtanden. Herr Seſemann wandte ſich nach dem Kinde
um: „Hör' 'mal, Kleine, hol' mir doch ſchnell — wart'
einmal — hol' mir mal —“ (Herr Seſemann wußte nicht
recht, was er bedurfte, Heidi ſollte aber ein wenig ausge¬
ſchickt werden) — „hol' mir doch 'mal ein Glas Waſſer.“


„Friſches?“ fragte Heidi.


„Ja wohl! Ja wohl! Recht friſches!“ gab Herr Seſe¬
mann zurück. Heidi verſchwand.


„Nun, mein liebes Klärchen“, ſagte der Papa, indem
Kleine Geſchichten. III. 10[146] er ganz nah an ſein Töchterchen heranrückte und deſſen
Hand in die ſeinige legte, „ſag' du mir klar und faßlich:
was für Thiere hat dieſe deine Geſpielin in's Haus ge¬
bracht und warum muß Fräulein Rottenmeier denken, ſie
ſei zeitweiſe nicht ganz recht im Kopf, kannſt du mir das
ſagen?“


Das konnte Klara, denn die erſchrockene Dame hatte
auch ihr von Heidi's ſie verwirrenden Reden geſprochen,
die aber für Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzählte
erſt dem Vater die Geſchichten von der Schildkröte und den
jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidi's Reden, welche
die Dame ſo erſchreckt hatten. Jetzt lachte Herr Seſemann
herzlich: „So willſt du nicht, daß ich das Kind nach Haus
ſchicke, Klärchen, du biſt ſeiner nicht müde?“ fragte der
Vater.


„Nein, nein, Papa, thu' nur das nicht!“ rief Klara
abwehrend aus. „Seit Heidi da iſt, begegnet immer Etwas,
jeden Tag und es iſt ſo kurzweilig, ganz anders als vorher,
da begegnete nie Etwas, und Heidi erzählt mir auch ſo viel.“


„Schon gut, ſchon gut, Klärchen, da kommt ja auch
deine Freundin ſchon wieder. Na, ſchönes, friſches Waſſer
geholt?“ fragte Herr Seſemann, da ihm Heidi nun ein
Glas Waſſer hinſtreckte.


„Ja, friſch vom Brunnen“, antwortete Heidi.


„Du biſt doch nicht ſelbſt zum Brunnen gelaufen,
Heidi?“ ſagte Klara.

[147]

„Doch gewiß, es iſt ganz friſch, aber ich mußte weit
gehen, denn am erſten Brunnen waren ſo viele Leute. Da
ging ich die Straße ganz hinab, aber beim zweiten waren
wieder ſo viel Leute; da ging ich in die andere Straße
hinein und dort nahm ich Waſſer und der Herr mit den
weißen Haaren läßt Herrn Seſemann freundlich grüßen.“


„Na, die Expedition iſt gut“, lachte Herr Seſemann,
„und wer iſt denn der Herr?“


„Er kam beim Brunnen vorbei und dann ſtand er
ſtill und ſagte: ‚Weil du doch ein Glas haſt, ſo gib mir
auch einmal zu trinken; wem bringſt du dein Glas Waſſer?‘
Und ich ſagte: ‚Herrn Seſemann.‘ Da lachte er ſehr ſtark,
und dann ſagte er den Gruß und auch noch, Herr Seſe¬
mann ſolle ſich's ſchmecken laſſen.“


„So, und wer läßt mir denn wohl den guten Wunſch
ſagen? Wie ſah der Herr denn weiter aus?“ fragte Herr
Seſemann.


„Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette
und ein goldenes Ding hängt daran mit einem großen,
rothen Stein und auf ſeinem Stock iſt ein Roßkopf.“


„Das iſt der Herr Doktor“, „Das iſt mein alter
Doktor“, ſagten Klara und ihr Vater wie aus Einem
Munde und Herr Seſemann lachte noch ein wenig in ſich
hinein im Gedanken an ſeinen Freund und deſſen Betrach¬
tungen über dieſe neue Weiſe, ſeinen Waſſerbedarf ſich zu¬
führen zu laſſen.

10*[148]

Noch an demſelben Abend erklärte Herr Seſemann, als
er allein mit Fräulein Rottenmeier im Eßzimmer ſaß, um
allerlei häusliche Angelegenheiten mit ihr zu beſprechen,
die Geſpielin ſeiner Tochter werde im Hauſe bleiben; er
finde, das Kind ſei in einem normalen Zuſtand und ſeine
Geſellſchaft ſei ſeiner Tochter ſehr lieb und angenehmer, als
jede andere. „Ich wünſche daher“, ſetzte Herr Seſemann
ſehr beſtimmt hinzu, „daß dieſes Kind jederzeit durchaus
freundlich behandelt und ſeine Eigenthümlichkeiten nicht als
Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem
Kinde nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, ſo
iſt ja eine gute Hülfe für Sie in Ausſicht, da in nächſter
Zeit meine Mutter zu ihrem längern Aufenthalt in mein
Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menſchen
fertig, wie er ſich auch anſtelle, das wiſſen Sie ja wohl,
Fräulein Rottenmeier?“


„Ja wohl, das weiß ich, Herr Seſemann“, entgegnete
die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung
im Hinblick auf die angezeigte Hülfe.


Herr Seſemann hatte dieß Mal nur eine kurze Zeit Ruhe
zu Hauſe; ſchon nach vierzehn Tagen riefen ihn ſeine Ge¬
ſchäfte wieder nach Paris, und er tröſtete ſein Töchterchen,
das mit der nahen Abreiſe nicht einverſtanden war, mit
der Ausſicht auf die baldige Ankunft der Großmama, die
ſchon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.


Kaum war auch Herr Seſemann abgereiſt, als ſchon
[149] der Brief anlangte, der die Abreiſe der Frau Seſemann
aus Holſtein, wo ſie auf einem alten Gute wohnte, an¬
zeigte und die beſtimmte Zeit ihrer Ankunft auf den fol¬
genden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
geſchickt würde, um ſie abzuholen.


Klara war voller Freude über die Nachricht und er¬
zählte noch an demſelben Abend dem Heidi ſo viel und ſo lange
von der Großmama, daß Heidi auch anfing, von der „Gro߬
mama“ zu reden, worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit
Mißbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Be¬
ſonderes bezog, denn es fühlte ſich unter fortdauernder Mi߬
billigung der Dame. Als es ſich dann ſpäter entfernte, um
in ſein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier
es erſt in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe
niemals den Namen „Großmama“ anzuwenden, ſondern
wenn Frau Seſemann nun da ſei, habe es ſie ſtets „gnä¬
dige Frau“ anzureden. „Verſtehſt du das?“ fragte die
Dame, als Heidi ſie etwas zweifelhaft anſah; ſie gab ihm
aber einen ſo abſchließenden Blick zurück, daß Heidi ſich keine
Erklärung mehr erbat, obſchon es den Titel nicht verſtanden
hatte.

[]

Capitel X.
Eine Großmama.

Am folgenden Abend waren große Erwartungen und
lebhafte Vorbereitungen im Hauſe Seſemann ſichtbar, man
konnte deutlich bemerken, daß die erwartete Dame ein be¬
deutendes Wort im Hauſe mitzuſprechen hatte und daß
Jedermann großen Reſpekt vor ihr empfand. Tinette hatte
ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf geſetzt, und
Sebaſtian raffte eine Menge von Schemeln zuſammen und
ſtellte ſie an alle paſſenden Stellen hin, damit die Dame
gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin ſie ſich
auch ſetzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Muſte¬
rung der Dinge ſehr aufrecht durch die Zimmer, ſowie um
anzudeuten, daß, wenn auch eine zweite Herrſchermacht heran¬
nahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöſchen ſei.


Jetzt rollte der Wagen vor das Haus und Sebaſtian
und Tinette ſtürzten die Treppe hinunter; langſam und
würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn ſie wußte,
[151] daß auch ſie zum Empfang der Frau Seſemann zu erſcheinen
hatte. Heidi war beordert worden, ſich in ſein Zimmer
zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde,
denn die Großmama würde zuerſt bei Klara eintreten und
dieſe wohl allein ſehen wollen. Heidi ſetzte ſich in einen
Winkel und repetirte ſeine Anrede. Es währte gar nicht
lange, ſo ſteckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter
Heidi's Zimmerthür und ſagte kurz angebunden wie immer:
„Hinübergehen in's Studierzimmer!“


Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen,
wie es mit der Anrede ſei, aber es dachte, die Dame habe
ſich nur verſprochen, denn es hatte bis jetzt immer erſt den
Titel nennen gehört und nachher den Namen, ſo hatte es ſich
nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studier¬
zimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher
Stimme entgegen: „Ach, da kommt ja das Kind! Komm'
'mal her zu mir und laß dich recht anſehen.“


Heidi trat heran, und mit ſeiner klaren Stimme ſagte
es ſehr deutlich: „Guten Tag, Frau Gnädige.“


„Warum nicht gar!“ lachte die Großmama. „Sagt
man ſo bei euch? Haſt du das daheim auf der Alp ge¬
hört?“


„Nein, bei uns heißt Niemand ſo“, erklärte Heidi
ernſthaft.


„So, bei uns auch nicht“, lachte die Großmama wie¬
der und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. „Das
[152] iſt Nichts! In der Kinderſtube bin ich die Großmama;
ſo ſollſt du mich nennen, das kannſt du wohl behalten,
wie?“


„Ja, das kann ich gut“, verſicherte Heidi, „vorher hab'
ich ſchon immer ſo geſagt.“


„So, ſo, verſtehe ſchon!“ ſagte die Großmama und
nickte ganz luſtig mit dem Kopfe. Dann ſchaute ſie Heidi
genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem
Kopf und Heidi guckte ihr auch ganz herzhaft in die Augen,
denn da kam etwas ſo Herzliches heraus, daß es dem Heidi
ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem
Heidi ſo, daß es ſie unverwandt anſchauen mußte. Sie
hatte ſo ſchöne weiße Haare und um den Kopf ging eine
ſchöne Spitzenkrauſe, und zwei breite Bänder flatterten von
der Haube weg und bewegten ſich immer irgendwie, ſo als
ob ſtets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was
das Heidi ganz beſonders anmuthete.


„Und wie heißt du, Kind?“ fragte jetzt die Gro߬
mama.


„Ich heiße nur Heidi; aber weil ich ſoll Adelheid heißen,
ſo will ich ſchon Acht geben —“ Heidi ſtockte, denn es
fühlte ſich ein wenig ſchuldig, da es noch immer keine Ant¬
wort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unverſehens rief:
„Adelheid!“ indem es ihm noch immer nicht recht gegen¬
wärtig war, daß dieß ſein Name ſei, und Fräulein Rotten¬
meier war eben in's Zimmer getreten.

[153]

„Frau Seſemann wird unſtreitig billigen“, fiel hier die
eben Eingetretene ein, „daß ich einen Namen wählen mußte,
den man doch ausſprechen kann, ohne ſich ſelbſt geniren
zu müſſen, ſchon um der Dienſtboten willen.“


„Wertheſte Rottenmeier“, entgegnete Frau Seſemann,
„wenn ein Menſch einmal Heidi heißt und an den Namen
gewöhnt iſt, ſo nenn' ich ihn ſo, und dabei bleibt's!“


Es war Fräulein Rottenmeier ſehr genierlich, daß die
alte Dame ſie beſtändig nur bei ihrem Namen nannte, ohne
weitere Titulatur; aber da war Nichts zu machen; die
Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und dieſe ging
ſie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne
hatte die Großmama noch ganz ſcharf und geſund und ſie
bemerkte, was im Hauſe vorging, ſobald ſie es betreten
hatte.


Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara ſich zur ge¬
wohnten Zeit nach Tiſch niederlegte, ſetzte die Großmama
ſich neben ſie auf einen Lehnſtuhl und ſchloß ihre Augen
für einige Minuten, dann ſtand ſie ſchon wieder auf, denn
ſie war gleich wieder munter und trat in's Eßzimmer
hinaus; da war Niemand. „Die ſchläft“, ſagte ſie vor
ſich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rotten¬
meier und klopfte kräftig an die Thüre. Nach einiger Zeit
erſchien dieſe und fuhr erſchrocken ein wenig zurück bei dem
unerwarteten Beſuch.


„Wo hält ſich das Kind auf um dieſe Zeit, und
[154] was thut es? das wollte ich wiſſen“, ſagte Frau Seſe¬
mann.


„In ſeinem Zimmer ſitzt es, wo es ſich nützlich be¬
ſchäftigen könnte, wenn es den leiſeſten Thätigkeitstrieb hätte;
aber Frau Seſemann ſollte nur wiſſen, was für verkehrtes
Zeug ſich dieſes Weſen oft ausdenkt und wirklich ausführt,
Dinge, die ich in gebildeter Geſellſchaft kaum erzählen
könnte.“


„Das würde ich gerade auch thun, wenn ich ſo da
drinnen ſäße, wie dieſes Kind, das kann ich Ihnen ſagen,
und Sie könnten zuſehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter
Geſellſchaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir das
Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
daß ich ihm einige hübſche Bücher gebe, die ich mitgebracht
habe.“


„Das iſt ja gerade das Unglück, das iſt es ja eben“,
rief Fräulein Rottenmeier aus und ſchlug die Hände zu¬
ſammen. „Was ſollte das Kind mit Büchern thun? In
all dieſer Zeit hat es noch nicht einmal das ABC erlernt,
es iſt völlig unmöglich, dieſem Weſen auch nur Einen Be¬
griff beizubringen; davon kann der Herr Candidat reden!
Wenn dieſer treffliche Menſch nicht die Geduld eines himm¬
liſchen Engels beſäße, er hätte dieſen Unterricht längſt auf¬
gegeben.“


„So, das iſt merkwürdig, das Kind ſieht nicht aus
wie Eines, das das ABC nicht erlernen kann“, ſagte Frau
[155] Seſemann. „Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für
einmal die Bilder in den Büchern anſehen.“


Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken,
aber Frau Seſemann hatte ſich ſchon umgewandt und ging
raſch ihrem Zimmer zu. Sie mußte ſich ſehr verwundern
über die Nachricht von Heidi's Beſchränktheit und gedachte,
die Sache zu unterſuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Can¬
didaten, den ſie zwar um ſeines guten Charakters willen
ſehr ſchätzte; ſie grüßte ihn auch immer, wenn ſie mit
ihm zuſammentraf, überaus freundlich, lief dann aber ſehr
ſchnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Geſpräch mit
ihm verwickelt zu werden, denn ſeine Ausdrucksweiſe war
ihr ein wenig beſchwerlich.


Heidi erſchien im Zimmer der Großmama und macht
die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder
in den großen Büchern ſah, welche die Großmama [mit]
gebracht hatte. Auf einmal ſchrie Heidi laut auf, als
die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
glühendem Blick ſchaute es auf die Figuren, dann
ſtürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den [Augen]
und es fing gewaltig zu ſchluchzen an. Die Großmama
ſchaute auf das Bild. Es war eine ſchöne, grüne Weide,
wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen
Gebüſchen nagten. In der Mitte ſtand der Hirt, auf
einen langen Stab geſtützt, der ſchaute den fröhlichen
Thierchen zu. Alles war wie in Goldſchimmer gemalt,
[156] denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Unter¬
gehen.


Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. „Komm',
komm', Kind“, ſagte ſie in freundlichſter Weiſe, „nicht
weinen, nicht weinen.“ Das hat dich wohl an Etwas er¬
innert; aber ſieh', da iſt auch eine ſchöne Geſchichte dazu,
die erzähl' ich heut' Abend. Und da ſind noch ſo viele ſchöne
Geſchichten in dem Buch, die kann man alle leſen und
wiedererzählen. Komm', nun müſſen wir Etwas beſprechen
zuſammen, trockne ſchön deine Thränen, ſo, und nun ſtell'
dich hier vor mich hin, daß ich dich recht anſehen kann; ſo
iſt's recht, nun ſind wir wieder fröhlich.“


Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu ſchluchzen
aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute
Weile zur Erholung, nur ſagte ſie von Zeit zu Zeit er¬
munternd: „So, nun iſt's gut, nun ſind wir wieder froh
zuſammen.“


Als ſie endlich das Kind beruhigt ſah, ſagte ſie: „Nun
mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim
Herrn Candidaten in den Unterrichtsſtunden, lernſt du auch
gut und kannſt du 'was?


„O nein“, antwortete Heidi ſeufzend, „aber ich wußte
ſchon, daß man es nicht lernen kann.“


„Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinſt
du?“


„Leſen kann man nicht lernen, es iſt zu ſchwer.“

[157]

„Das wäre! Und woher weißt du denn dieſe Neuig¬
keit?“


„Der Peter hat es mir geſagt und er weiß es ſchon,
er muß immer wieder probiren, aber er kann es nie ler¬
nen, es iſt zu ſchwer.“


„So, das iſt mir ein eigner Peter, der! Aber ſieh',
Heidi, man muß nicht Alles nur ſo hinnehmen, was Einem
ein Peter ſagt, man muß ſelbſt probiren. Gewiß haſt du
nie recht mit all' deinen Gedanken dem Herrn Candidaten
zugehört und ſeine Buchſtaben angeſehen.“


„Es nützt Nichts“, verſicherte Heidi mit dem Ton der
vollen Ergebung in das Unabänderliche.


„Heidi“, ſagte nun die Großmama, „jetzt will ich dir
Etwas ſagen: du haſt noch nicht leſen gelernt, weil du
deinem Peter geglaubt haſt; nun aber ſollſt du mir glau¬
ben, und ich ſage dir feſt und ſicher, daß du in kurzer Zeit
leſen lernen kannſt, wie eine große Menge von Kindern,
die geartet ſind wie du und nicht wie der Peter. Und nun
mußt du wiſſen, was nachher kommt, wenn du dann leſen
kannſt — du haſt den Hirten geſehn auf der ſchönen grünen
Weide —, ſobald du nun leſen kannſt, bekommſt du das
Buch, da kannſt du ſeine ganze Geſchichte vernehmen, ganz
ſo, als ob ſie dir Jemand erzählte, Alles, was er macht
mit ſeinen Schafen und Ziegen und was ihm für merk¬
würdige Dinge begegnen. Das möchteſt du ſchon wiſſen,
Heidi, nicht?“

[158]

Heidi hatte mit geſpannter Aufmerkſamkeit zugehört, und
mit leuchtenden Augen ſagte es jetzt, tief Athem holend:
„O, wenn ich nur ſchon leſen könnte!“


„Jetzt wird's kommen und gar nicht lang wird's
währen, das kann ich ſchon ſehn, Heidi, und nun
müſſen wir 'mal nach der Klara ſehn, komm', die ſchönen
Bücher nehmen wir mit.“ Damit nahm die Großmama
Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studier¬
zimmer. —


Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und
Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgeſcholten und
ihm geſagt hatte, wie ſchlecht und undankbar es ſich erweiſe
durch ſein Fortlaufenwollen und wie gut es ſei, daß Herr
Seſemann Nichts davon wiſſe, war mit dem Kinde eine
Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, daß es nicht
heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Baſe geſagt
hatte, ſondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange,
lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verſtanden, daß
Herr Seſemann es ſehr undankbar von ihm finden würde,
wenn es heimgehen wollte, und es dachte ſich aus, daß die
Großmama und Klara auch ſo denken würden. So durfte
es keinem Menſchen ſagen, daß es heimgehen möchte, denn
daß die Großmama, die ſo freundlich mit ihm war, auch
böſe würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das
wollte Heidi nicht verurſachen. Aber in ſeinem Herzen wurde
die Laſt, die darinnen lag, immer ſchwerer; es konnte nicht
[159] mehr eſſen und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher.
Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einſchlafen, denn
ſobald es allein war und Alles ſtill ringsumher, kam ihm
Alles ſo lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnen¬
ſchein darauf und die Blumen, und ſchlief es endlich doch
ein, ſo ſah es im Traum die rothen Felſenſpitzen am Falk¬
niß und das feurige Schneefeld am Cäſaplana, und er¬
wachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude
hinausſpringen aus der Hütte — da war es auf einmal
in ſeinem großen Bett in Frankfurt, ſo weit, weit weg,
und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft ſeinen
Kopf in das Kiſſen und weinte lang, ganz leiſe, daß Nie¬
mand es höre.


Heidi's freudloſer Zuſtand entging der Großmama nicht.
Sie ließ einige [Tage vorübergehen] und ſah zu, ob die Sache
ſich ändere und das Kind ſein niedergeſchlagenes Weſen
verlieren würde. Als es aber gleich blieb und die Gro߬
mama manchmal am frühen Morgen ſchon ſehen konnte,
daß Heidi geweint hatte, da nahm ſie eines Tages das Kind
wieder in ihre Stube, ſtellte es vor ſich hin und ſagte mit
großer Freundlichkeit: „Jetzt ſag' mir, was dir fehlt, Heidi,
haſt du einen Kummer?“


Aber gerade dieſer freundlichen Großmama wollte Heidi
nicht ſich ſo undankbar zeigen, daß ſie vielleicht nachher gar
nicht mehr ſo freundlich wäre; ſo ſagte Heidi traurig:
„Man kann es nicht ſagen.“

[160]

„Nicht? Kann man es etwa der Klara ſagen?“ fragte
die Großmama.


„O nein, keinem Menſchen“, verſicherte Heidi und
ſah dabei ſo unglücklich aus, daß es die Großmama er¬
barmte.


„Komm', Kind“, ſagte ſie, „ich will dir 'was ſagen:
Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menſchen
ſagen kann, ſo klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel
und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid ab¬
helfen, das uns drückt. Das verſtehſt du, nicht wahr?
Du beteſt doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel
und dankſt ihm für alles Gute und bitteſt ihn, daß er dich
vor allem Böſen behüte?“


„O nein, das thu' ich nie“, antwortete das Kind.


„Haſt du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht,
was das iſt?“


„Nur mit der erſten Großmutter habe ich gebetet, aber
es iſt ſchon lang, und jetzt habe ich es vergeſſen.“


„Siehſt du, Heidi, darum mußt du ſo traurig ſein,
weil du jetzt gar Niemanden kennſt, der dir helfen kann.
Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen
im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man
kann ſo jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
ihm Alles ſagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns ſonſt
gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen
und uns geben, was uns wieder froh macht.“

[161]

Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenſtrahl: „Darf
man ihm Alles, Alles ſagen?“


„Alles, Heidi, Alles.“


Das Kind zog ſeine Hand aus den Händen der Gro߬
mama und ſagte eilig: „Kann ich gehn?“


„Gewiß! Gewiß!“ gab dieſe zur Antwort, und Heidi
lief davon und hinüber in ſein Zimmer, und hier ſetzte es
ſich auf ſeinen Schemel nieder und faltete ſeine Hände und
ſagte dem lieben Gott Alles, was in ſeinem Herzen war
und es ſo traurig machte, und bat ihn dringend und herz¬
lich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen laſſe zum
Großvater.


Es mochte etwas mehr als eine Woche verfloſſen ſein
ſeit dieſem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der
Frau Seſemann ſeine Aufwartung zu machen, indem er
eine Beſprechung über einen merkwürdigen Gegenſtand mit
der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube
berufen, und hier, wie er eintrat, ſtreckte ihm Frau Seſe¬
mann ſogleich freundlich die Hand entgegen: „Mein lieber
Herr Candidat, ſeien Sie mir willkommen! ſetzen Sie ſich
her zu mir, hier“ — ſie rückte ihm den Stuhl zurecht —;
„ſo, nun ſagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch
nichts Schlimmes? Keine Klagen?“


„Im Gegentheil, gnädige Frau“, begann der Herr
Candidat, „es iſt Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr
erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorher¬
Kleine Geſchichten. III. 11[162] gegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraus¬
ſetzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige
Unmöglichkeit ſein müſſe, was dennoch jetzt wirklich geſchehen
iſt und in der wunderbarſten Weiſe ſtattgefunden hat, gleich¬
ſam im Gegenſatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden —“


„Sollte das Kind Heidi etwa leſen gelernt haben, Herr
Candidat?“ ſetzte hier Frau Seſemann ein.


In ſprachloſem Erſtaunen ſchaute der überraſchte Herr
die Dame an.


„Es iſt ja wirklich völlig wunderbar“, ſagte er endlich,
„nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründ¬
lichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das
ABC nicht erlernt hat, ſondern auch und beſonders, daß
es jetzt in kürzeſter Zeit, nachdem ich mich entſchloſſen hatte,
das Unerreichbare aus den Augen zu laſſen und ohne alle
weitergreifenden Erläuterungen nur noch ſozuſagen die
nackten Buchſtaben vor die Augen des jungen Mädchens zu
bringen, ſozuſagen über Nacht das Leſen erfaßt hat, und
dazu ſogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie
mir bei Anfängern noch ſelten vorgekommen iſt. Faſt ebenſo
wunderbar aber iſt mir die Wahrnehmung, daß die gnädige
Frau gerade dieſe fernliegende Thatſache als Möglichkeit
vermuthete.“


„Es geſchehen viele wunderbare Dinge im Menſchen¬
leben“, beſtätigte Frau Seſemann und lächelte vergnüglich;
„es können auch einmal zwei Dinge glücklich zuſammen¬
[163] treffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode,
und beide können Nichts ſchaden, Herr Candidat. Jetzt
wollen wir uns freuen, daß das Kind ſo weit iſt, und auf
guten Fortgang hoffen.“


Damit begleitete ſie den Herrn Candidaten zur Thür
hinaus und ging raſch nach dem Studierzimmer, um ſich
ſelbſt der erfreulichen Nachricht zu verſichern. Richtig ſaß
hier Heidi neben Klara und las dieſer eine Geſchichte vor,
ſichtlich ſelbſt mit dem größten Erſtaunen und mit einem
wachſenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm
aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
ſchwarzen Buchſtaben Menſchen und Dinge entgegentraten
und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geſchichten
wurden. Noch an demſelben Abend, als man ſich zu Tiſche
ſetzte, fand Heidi auf ſeinem Teller das große Buch liegen
mit den ſchönen Bildern, und als es fragend nach der Gro߬
mama blickte, ſagte dieſe freundlich nickend: „Ja, ja, nun
gehört es dir.“


„Für immer? Auch wenn ich heimgehe?“ fragte Heidi,
ganz roth vor Freude.


„Gewiß, für immer!“ verſicherte die Großmama, „mor¬
gen fangen wir an zu leſen.“


„Aber du gehſt nicht heim, noch viele Jahre nicht,
Heidi“, warf Klara hier ein; „wenn nun die Gro߬
mama wieder fortgeht, dann mußt du erſt recht bei mir
bleiben.“

11*[164]

Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in ſeinem
Zimmer ſein ſchönes Buch anſehen, und von dem Tage an
war es ſein Liebſtes, über ſeinem Buch zu ſitzen und immer
wieder die Geſchichten zu leſen, zu denen die ſchönen, bunten
Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun
lieſt uns Heidi vor“, ſo war das Kind ſehr beglückt, denn
das Leſen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Ge¬
ſchichten laut vorlas, ſo kamen ſie ihm noch viel ſchöner
und verſtändlicher vor, und die Großmama erklärte dann
noch ſo Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am
liebſten beſchaute Heidi immer wieder ſeine grüne Weide
und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er ſo ver¬
gnüglich, auf ſeinen langen Stab gelehnt, daſtand, denn da
war er noch bei der ſchönen Heerde des Vaters und ging
nur den luſtigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn
freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus
weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen
hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Trä¬
bern, die er allein noch zu eſſen bekam. Und auf dem Bilde
ſchien auch die Sonne nicht mehr ſo golden, da war das
Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu
der Geſchichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten
Armen aus dem Hauſe heraus und lief dem heimkehrenden,
reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz
furchtſam und abgemagert in einem zerriſſenen Wams da¬
herkam. Das war Heidi's Lieblingsgeſchichte, die es immer
[165] wieder las, laut und leiſe und es konnte nie genug der
Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern
dazu machte. Da waren aber noch ſo viele ſchöne Ge¬
ſchichten in dem Buch, und bei dem Leſen derſelben und
dem Bilderbeſehen gingen die Tage ſehr ſchnell dahin, und
ſchon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer
Abreiſe beſtimmt hatte.

[]

Capitel XI.
Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der andern ab.

Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres
Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara ſich hinlegte und
Fräulein Rottenmeier wahrſcheinlich der Ruhe bedürftig,
geheimnißvoll verſchwand, ſich einen Augenblick neben Klara
hingeſetzt; aber ſchon nach fünf Minuten war ſie wieder
auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre
Stube berufen, ſich mit ihm beſprochen und es auf allerlei
Weiſe beſchäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte
hübſche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen
Kleider und Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte
Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen Frauen¬
zimmern die ſchönſten Röcke und Mäntelchen, denn die Gro߬
mama hatte immer Zeugſtücke von den prächtigſten Farben.
Nun Heidi leſen konnte, durfte es auch immer wieder der
Großmama ſeine Geſchichten vorleſen, das machte ihm die
größte Freude, denn je mehr es ſeine Geſchichten las, deſto
[167] lieber wurden ſie ihm, denn Heidi lebte Alles ganz mit
durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und ſo hatte
es zu ihnen allen ein ſehr nahes Verhältniß und freute ſich
immer wieder, bei ihnen zu ſein. Aber ſo recht froh ſah
Heidi nie aus und ſeine luſtigen Augen waren nie mehr
zu ſehen.


Es war die letzte Woche, welche die Großmama in
Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi ge¬
rufen, daß es auf ihre Stube komme; es war die Zeit,
da Klara ſchlief. Als Heidi eintrat mit ſeinem großen
Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, daß es
ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und
ſagte: „Nun komm', Kind, und ſag' mir, warum biſt du
nicht fröhlich? Haſt du immer noch denſelben Kummer im
Herzen?“


„Ja“, nickte Heidi.


„Haſt du ihn dem lieben Gott geklagt?“


„Ja.“


„Und beteſt du nun alle Tage, daß Alles gut werde
und er dich froh mache?“


„O nein, ich bete jetzt gar nie mehr.“


„Was ſagſt du mir, Heidi? Was muß ich hören!
Warum beteſt du denn nicht mehr?“


„Es nützt Nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört,
und ich glaube es auch wohl“, fuhr Heidi in einiger Auf¬
regung weiter, „wenn nun am Abend ſo viele, viele Leute
[168] in Frankfurt alle miteinander beten, ſo kann der liebe Gott
ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiß gar
nie gehört.“


„So, wie weißt du denn das ſo ſicher, Heidi?“

„Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche
lang und der liebe Gott hat es nie gethan.“


„Ja, ſo geht's nicht zu, Heidi! das mußt du nicht
meinen! Siehſt du, der liebe Gott iſt für uns Alle ein
guter Vater, der immer weiß, was gut für uns iſt, wenn
wir es gar nicht wiſſen. Wenn wir nun aber Etwas von
ihm haben wollen, das nicht gut für uns iſt, ſo gibt er
uns das nicht, ſondern etwas viel Beſſeres, wenn wir fort¬
fahren, ſo recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich
weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehſt
du, was du nun von ihm erbitten wollteſt, das war in
dieſem Augenblick nicht gut für dich; der liebe Gott hat
dich ſchon gehört, er kann alle Menſchen auf einmal an¬
hören und überſehn, ſiehſt du, dafür iſt er der liebe Gott
und nicht ein Menſch, wie du und ich. Und weil er nun
wohl wußte, was für dich gut iſt, dachte er bei ſich: ‚Ja,
das Heidi ſoll ſchon einmal haben, wofür es bittet, aber
erſt dann, wenn es ihm gut iſt, und ſo wie es darüber
recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt thue, was es
will, und es merkt nachher, daß es doch beſſer geweſen wäre,
ich hätte ihm ſeinen Willen nicht gethan, dann weint es
nachher und ſagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur nicht
[169] gegeben, wofür ich bat, es iſt gar nicht ſo gut, wie ich ge¬
meint habe.‘ Und während nun der liebe Gott auf dich
niederſah, ob du ihm auch recht vertraueſt und täglich zu
ihm kommeſt und beteſt und immer zu ihm aufſeheſt, wenn
dir Etwas fehlt, da biſt du weggelaufen ohne alles Ver¬
trauen, haſt nie mehr gebetet und haſt den lieben Gott ganz
vergeſſen. Aber ſiehſt du, wenn Einer es ſo macht und der
liebe Gott hört ſeine Stimme gar nie mehr unter den
Betenden, ſo vergißt er ihn auch und läßt ihn gehn, wohin
er will. Wenn es ihm aber dabei ſchlecht geht und er
jammert: ‚Mir hilft aber auch gar Niemand!‘ dann hat
Keiner Mitleiden mit ihm, ſondern Jeder ſagt zu ihm: ‚Du
biſt ja ſelbſt vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen
konnte!‘ Willſt du's ſo haben, Heidi, oder willſt du gleich
wieder zum lieben Gott gehn und ihn um Verzeihung bitten,
daß du ſo von ihm weggelaufen biſt, und dann alle Tage
zu ihm beten und ihm vertrauen, daß er Alles gut für dich
machen werde, ſo daß du auch wieder ein frohes Herz be¬
kommen kannſt?“


Heidi hatte ſehr aufmerkſam zugehört; jedes Wort der
Großmama fiel in ſein Herz, denn zu ihr hatte das Kind
ein unbedingtes Vertrauen.


„Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben
Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr ver¬
geſſen“, ſagte Heidi reumüthig.


„So iſt's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur
[170] rechten Zeit, ſei nur getroſt!“ ermunterte die Großmama,
und Heidi lief ſofort in ſein Zimmer hinüber und betete
ernſtlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er
es doch nicht vergeſſen und auch wieder zu ihm nieder¬
ſchauen möge. —


Der Tag der Abreiſe war gekommen, es war für Klara
und Heidi ein trauriger Tag; aber die Großmama wußte
es ſo einzurichten, daß ſie gar nicht zum Bewußtſein kamen,
daß es eigentlich ein trauriger Tag ſei, ſondern es war
eher wie ein Feſttag, bis die gute Großmama im Wagen
davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hauſe ein,
als wäre Alles vorüber, und ſo lange noch der Tag währte,
ſaßen Klara und Heidi wie verloren da und wußten gar
nicht, wie es nun weiter kommen ſollte.


Am folgenden Tag, als die Unterrichtsſtunden vorbei
und die Zeit da war, da die Kinder gewöhnlich zuſammen¬
ſaßen, trat Heidi mit ſeinem Buch unter dem Arm herein
und ſagte: „Ich will dir nun immer, immer vorleſen,
willſt du, Klara?“


Der Klara war der Vorſchlag recht für einmal, und
Heidi machte ſich mit Eifer an ſeine Thätigkeit. Aber
es ging nicht lange, ſo hörte ſchon wieder Alles auf,
denn kaum hatte Heidi eine Geſchichte zu leſen begonnen,
die von einer ſterbenden Großmutter handelte, als es auf
einmal laut aufſchrie: „O nun iſt die Großmutter todt!“
und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn Alles,
[171] was es las, war dem Heidi volle Gegenwart und es glaubte
nicht anders, als nun ſei die Großmutter auf der Alm
geſtorben und es klagte in immer lauterem Weinen: „Nun
iſt die Großmutter todt und ich kann nie mehr zu ihr
gehen und ſie hat nicht ein einziges Brödchen mehr be¬
kommen!“


Klara ſuchte immerfort dem Heidi zu erklären, daß es
ja nicht die Großmutter auf der Alm ſei, ſondern eine ganz
andere, von der dieſe Geſchichte handle; aber auch, als ſie
endlich dazu gekommen war, dem aufgeregten Heidi dieſe
Verwechslung klar zu machen, konnte es ſich doch nicht be¬
ruhigen und weinte immer noch untröſtlich weiter, denn der
Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
könne ja ſterben, während es ſo weit weg ſei, und der Gro߬
vater auch noch, und wenn es dann nach langer Zeit wie¬
der heimkomme, ſo ſei Alles ſtill und todt auf der Alm
und es ſtehe ganz allein da und könne niemals mehr die
ſehen, die ihm lieb waren.


Währenddeſſen war Fräulein Rottenmeier in's Zimmer
getreten und hatte noch Klara's Bemühungen, Heidi über
ſeinen Irrthum aufzuklären, mitangehört. Als das Kind
aber immer noch nicht aufhören konnte zu ſchluchzen, trat
ſie mit ſichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern
heran und ſagte mit beſtimmtem Ton: „Adelheid, nun iſt
des grundloſen Geſchrei's genug! Ich will dir Eines ſagen:
Wenn du noch ein einziges Mal beim Leſen deiner Ge¬
[172] ſchichten ſolchen Ausbrüchen den Lauf läſſeſt, ſo nehme ich
das Buch aus deinen Händen und für immer!“


Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor
Schrecken, das Buch war ſein höchſter Schatz. Es trocknete
in größter Eile ſeine Thränen und ſchluckte und würgte ſein
Schluchzen mit Gewalt hinunter, ſo daß kein Tönchen mehr
laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie
mehr, was es auch leſen mochte; aber manchmal hatte es
ſolche Anſtrengungen zu machen, um ſich zu überwinden und
nicht aufzuſchreien, daß Klara öfter ganz erſtaunt ſagte:
„Heidi, du machſt ſo ſchreckliche Grimaſſen, wie ich noch
nie geſehen habe.“ Aber die Grimaſſen machten keinen Lärm
und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf, und wenn
Heidi ſeinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit
niedergerungen hatte, kam Alles wieder in's Geleiſe für
einige Zeit und war tonlos vorübergegangen. Aber ſeinen
Appetit verlor Heidi ſo ſehr und ſah ſo mager und bleich
aus, daß der Sebaſtian faſt nicht ertragen konnte, das ſo
mit anzuſehen und Zeuge ſein zu müſſen, wie Heidi bei
Tiſch die ſchönſten Gerichte an ſich vorübergehen ließ und
Nichts eſſen wollte. Er flüſterte ihm auch öfter ermunternd
zu, wenn er ihm eine Schüſſel hinhielt: „Nehmen von
dem, Mamſellchen, 's iſt vortrefflich. Nicht ſo! Einen
rechten Löffel voll, noch einen!“ und dergleichen väterlicher
Räthe mehr; aber es half Nichts; Heidi aß faſt gar nicht
mehr, und wenn es ſich am Abend auf ſein Kiſſen legte,
[173] ſo hatte es augenblicklich Alles vor Augen, was daheim
war, und nur ganz leiſe weinte es dann vor Sehnſucht in
ſein Kiſſen hinein, ſo daß es gar Niemand hören konnte.


So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wußte gar nie,
ob es Sommer oder Winter ſei, denn die Mauern und
Fenſter, die es aus allen Fenſtern des Hauſes Seſemann er¬
blickte, ſahen immer gleich aus, und hinaus kam es nur,
wenn es Klara beſonders gut ging und eine Ausfahrt im
Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
ſehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu
fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Stein¬
ſtraßen heraus, ſondern kehrte gewöhnlich vorher wieder um
und fuhr immerfort durch große, ſchöne Straßen, wo Häuſer
und Menſchen in Fülle zu ſehen waren, aber nicht Gras
und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und Heidi's
Verlangen nach dem Anblick der ſchönen, gewohnten Dinge
ſteigerte ſich mit jedem Tage mehr, ſo daß es jetzt nur den
Namen eines dieſer Erinnerung-weckenden Worte zu leſen
brauchte, ſo war ſchon ein Ausbruch des Schmerzes nahe,
und Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So
waren Herbſt und Winter vergangen, und ſchon blendete
die Sonne wieder ſo ſtark auf die weißen Mauern am
Hauſe gegenüber, daß Heidi ahnte, nun ſei die Zeit nahe,
da der Peter wieder zur Alm führe mit den Gaißen, da die
goldenen Cyſtusröschen glitzerten droben im Sonnenſchein
und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer ſtänden.
[174] Heidi ſetzte ſich in ſeinem einſamen Zimmer in einen Winkel
und hielt ſich mit beiden Händen die Augen zu, daß es den
Sonnenſchein drüben an der Mauer nicht ſehe; und ſo ſaß
es regungslos, ſein brennendes Heimweh lautlos nieder¬
kämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.

[]

Capitel XII.
Im Hauſe Seſemann ſpukt's.

Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier
meiſtens ſchweigend und in ſich gekehrt im Haus herum.
Wenn ſie um die Zeit der Dämmerung von einem Zimmer
in's andere, oder über den langen Corridor ging, ſchaute
ſie öfters um ſich, gegen die Ecken hin und auch ſchnell
einmal hinter ſich, ſo als denke ſie, es könnte Jemand leiſe
hinter ihr herkommen und ſie unverſehens am Rock zupfen.
So allein ging ſie aber nur noch in den bewohnten Räumen
herum. Hatte ſie auf dem obern Boden, wo die feierlich
aufgerüſteten Gaſtzimmer lagen, oder gar in den untern
Räumen Etwas zu beſorgen, wo der große geheimnißvolle
Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin ſchallenden
Wiederhall gab und die alten Rathsherren mit den großen,
weißen Kragen ſo ernſthaft und unverwandt auf Einen
niederſchauten, da rief ſie nun regelmäßig die Tinette herbei
und ſagte ihr, ſie habe mitzukommen, im Fall Etwas von
[176] dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
ihrerſeits machte es pünktlich ebenſo; hatte ſie oben oder
unten irgend ein Geſchäft abzuthun, ſo rief ſie den Se¬
baſtian herbei und ſagte ihm, er habe ſie zu begleiten,
es möchte Etwas herbeizubringen ſein, das ſie nicht allein
tragen könnte. Wunderbarerweiſe that auch Sebaſtian akurat
dasſelbe; wurde er in die abgelegenen Räume geſchickt, ſo
holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu be¬
gleiten, im Fall er nicht herbeiſchaffen könnte, was erforder¬
lich ſei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf,
obſchon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, ſo daß
Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war ſo, als
denke der Herbeigerufene immer bei ſich, er könne den An¬
dern auch bald für denſelben Dienſt nöthig haben. Während
ſich Solches oben zutrug, ſtand unten die langjährige Köchin
tiefſinnig bei ihren Töpfen und ſchüttelte den Kopf und
ſeufzte: „Daß ich das noch erleben mußte!“


Es ging im Hauſe Seſemann ſeit einiger Zeit etwas
ganz Seltſames und Unheimliches vor. Jeden Morgen,
wenn die Dienerſchaft herunter kam, ſtand die Hausthüre
weit offen; aber weit und breit war Niemand zu ſehen, der
mit dieſer Erſcheinung im Zuſammenhang ſtehen konnte.
In den erſten Tagen, da dies geſchehen war, wurden gleich
mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauſes durch¬
ſucht, um zu ſehen, was Alles geſtohlen ſei, denn man
dachte, ein Dieb habe ſich im Hauſe verſtecken können und
[177] ſei in der Nacht mit dem Geſtohlenen entflohen; aber da
war gar Nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hauſe
nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Thüre
doppelt zugeriegelt, ſondern es wurde noch der hölzerne
Balken vorgeſchoben, — es half Nichts: am Morgen
ſtand die Thüre weit offen; und ſo früh nun auch die ganze
Dienerſchaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen
mochte: die Thür ſtand offen, wenn auch ringsum Alles
noch im tiefen Schlaf lag und Fenſter und Thüren an allen
andern Häuſern noch feſt verrammelt waren. Endlich faßten
ſich der Johann und der Sebaſtian ein Herz und machten
ſich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier
bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den großen
Saal ſtieß, zuzubringen und zu erwarten, was geſchehe.
Fräulein Rottenmeier ſuchte mehrere Waffen des Herrn
Seſemann hervor und übergab dem Sebaſtian eine große
Liqueurflaſche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr
nachfolgen könne, wo ſie nöthig ſei.


Die Beiden ſetzten ſich an dem feſtgeſetzten Abend hin
und fingen gleich an, ſich Stärkung zuzutrinken, was ſie
erſt ſehr geſprächig und dann ziemlich ſchläfrig machte,
worauf ſie Beide ſich an die Seſſelrücken lehnten und ver¬
ſtummten. Als die alte Thurmuhr drüben zwölfe ſchlug,
ermannte ſich Sebaſtian und rief ſeinen Kameraden an;
der war aber nicht leicht zu erwecken: ſo oft ihn Sebaſtian
anrief, legte er ſeinen Kopf von einer Seite der Seſſellehne
Kleine Geſchichten. llI. 12[178] auf die andere und ſchlief weiter. Sebaſtian lauſchte nun¬
mehr geſpannt, er war nun wieder ganz munter geworden.
Es war Alles mäuschenſtill, auch von der Straße war kein
Laut mehr zu hören. Sebaſtian entſchlief nicht wieder, denn
jetzt wurde es ihm ſehr unheimlich in der großen Stille
und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme
an und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich,
als es drüben ſchon ein Uhr geſchlagen hatte, war der
Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewußtſein
gekommen, warum er auf dem Stuhl ſitze und nicht in
ſeinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal ſehr tapfer
empor und rief: „Nu, Sebaſtian, wir müſſen doch einmal
hinaus und ſehen, wie's ſteht; du wirſt dich ja nicht fürchten,
nur mir nach!“


Johann machte die leicht angelehnte Zimmerthür weit
auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies von
der offenen Hausthüre ein ſcharfer Luftzug her und löſchte
das Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieſer
ſtürzte zurück, warf den hinter ihm ſtehenden Sebaſtian
beinah' rücklings in's Zimmer hinein, riß ihn dann mit,
ſchlug die Thüre zu und drehte in fieberhafter Eile den
Schlüſſel um, ſo lang er nur umging. Dann riß er ſeine
Streichhölzer hervor und zündete ſein Licht wieder an. Se¬
baſtian wußte gar nicht recht, was vorgefallen war, denn
hinter dem breiten Johann ſtehend, hatte er den Luftzug
nicht ſo deutlich empfunden. Wie er aber Jenen nun bei
[179] Licht beſah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann
war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. „Was
iſt's denn? Was war denn draußen?“ fragte der Se¬
baſtian theilnehmend.


„Sperrangelweit offen die Thür“, keuchte Johann,
„und auf der Treppe eine weiße Geſtalt, ſiehſt du, Seba¬
ſtian, nur ſo die Treppe hinauf — huſch und verſchwunden.“


Dem Sebaſtian gruſelte es den ganzen Rücken hinauf.
Jetzt ſetzten ſich die Beiden ganz nah' zuſammen und regten
ſich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es
auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten
ſie zuſammen hinaus, machten die weit offen ſtehende Haus¬
thüre zu und ſtiegen dann hinauf, um Fräulein Rotten¬
meier Bericht zu erſtatten über das Erlebte. Die Dame
war auch ſchon zu ſprechen, denn die Erwartung der zu
vernehmenden Dinge hatte ſie nicht mehr ſchlafen laſſen.
Sobald ſie nun vernommen hatte, was vorgefallen war,
ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb einen Brief an Herrn Seſe¬
mann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge ſich nur
ſogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hauſe zurück¬
kehren, denn da geſchähen unerhörte Dinge. Dann wurde
ihm das Vorgefallene mitgetheilt, ſo wie auch die Nach¬
richt, daß fortgeſetzt die Thüre jeden Morgen offen ſtehe;
daß alſo Keiner im Hauſe ſeines Lebens mehr ſicher ſei bei
dergeſtalt allnächtlich offen ſtehender Hauspforte und daß man
überhaupt nicht abſehen könne, was für dunkle Folgen dieſer
12*[180] unheimliche Vorgang noch nach ſich ziehen könne. Herr
Seſemann antwortete umgehend, es ſei ihm unmöglich, ſo
plötzlich Alles liegen zu laſſen und nach Hauſe zu kommen.
Die Geſpenſtergeſchichte ſei ihm ſehr befremdend, er hoffe
auch, ſie ſei vorübergehend; ſollte es indeſſen keine Ruhe
geben, ſo möge Fräulein Rottenmeier an Frau Seſemann
ſchreiben und ſie fragen, ob ſie nicht nach Frankfurt zu
Hülfe kommen wollte, gewiß würde ſeine Mutter in kürzeſter
Zeit mit den Geſpenſtern fertig, und dieſe trauten ſich
nachher ſicher ſo bald nicht wieder, ſein Haus zu beunruhigen.
Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton
dieſes Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernſt aufgefaßt.
Sie ſchrieb unverzüglich an Frau Seſemann, aber von
dieſer Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die
Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau
Seſemann ſchrieb, ſie gedenke nicht extra von Holſtein nach
Frankfurt hinunterzureiſen, weil die Rottenmeier Geſpenſter
ſehe. Uebrigens ſei niemals ein Geſpenſt geſehen worden
im Hauſe Seſemann, und wenn jetzt eines darin herum¬
fahre, ſo könne es nur ein lebendiges ſein, mit dem die
Rottenmeier ſich ſollte verſtändigen können; wo nicht, ſo
ſolle ſie die Nachtwächter zu Hülfe rufen.


Aber Fräulein Rottenmeier war entſchloſſen, ihre Tage
nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und ſie wußte ſich zu
helfen. Bis dahin hatte ſie den beiden Kindern Nichts von
der Geiſtererſcheinung geſagt, denn ſie befürchtete, die Kinder
[181] würden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr
allein bleiben wollen, und das konnte ſehr unbequeme Folgen
für ſie haben. Jetzt ging ſie ſtracks in's Studierzimmer
hinüber, wo die Beiden zuſammenſaßen, und erzählte mit
gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erſcheinungen eines
Unbekannten. Sofort ſchrie Klara auf, ſie bleibe keinen
Augenblick mehr allein, der Papa müſſe nach Hauſe kommen
und Fräulein Rottenmeier müſſe zum Schlafen in ihr
Zimmer hinüberziehen, und Heidi dürfe auch nicht mehr
allein ſein, ſonſt könne das Geſpenſt einmal zu ihm kommen
und ihm Etwas thun, ſie wollten Alle in einem Zimmer
ſchlafen und die ganze Nacht das Licht brennen laſſen, und
Tinette müſſe nebenan ſchlafen und der Sebaſtian und
der Johann müſſen auch herunterkommen und auf dem
Corridor ſchlafen, daß ſie gleich ſchreien und das Geſpenſt
erſchrecken können, wenn es etwa die Treppe heraufkommen
wollte. Klara war ſehr aufgeregt und Fräulein Rotten¬
meier hatte nun die größte Mühe, ſie etwas zu beſchwich¬
tigen. Sie verſprach ihr, ſogleich an den Papa zu ſchreiben
und auch ihr Bett in Klara's Zimmer ſtellen und ſie nie
mehr allein laſſen zu wollen. Alle konnten ſie nicht in
demſelben Raume ſchlafen, aber wenn Adelheid ſich auch
fürchten ſollte, ſo müßte Tinette ihr Nachtlager bei ihr auf¬
ſchlagen. Aber Heidi fürchtete ſich mehr vor der Tinette,
als vor Geſpenſtern, von denen das Kind noch gar nie
Etwas gehört hatte, und es erklärte gleich, es fürchte das
[182] Geſpenſt nicht und wolle ſchon allein in ſeinem Zimmer
bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren Schreib¬
tiſch und ſchrieb an Herrn Seſemann, die unheimlichen Vor¬
gänge im Hauſe, die allnächtlich ſich wiederholten, hätten die
zarte Conſtitution ſeiner Tochter dergeſtalt erſchüttert, daß
die ſchlimmſten Folgen zu beſorgen ſeien, man habe Bei¬
ſpiele von plötzlich eintretenden epileptiſchen Zufällen, oder
Beitstanz in ſolchen Verhältniſſen, und ſeine Tochter ſei Allem
ausgeſetzt, wenn dieſer Zuſtand des Schreckens im Hauſe
nicht gehoben werde.


Das half. Zwei Tage darauf ſtand Herr Seſemann
an ſeiner Thür und ſchellte dergeſtalt an ſeiner Hausglocke,
daß Alles zuſammenlief und Einer den Andern anſtarrte,
denn man glaubte nicht anders, als nun laſſe der Geiſt
frecher Weiſe noch vor Nacht ſeine boshaften Stücke aus.
Sebaſtian guckte ganz behutſam durch einen halbgeöffneten
Laden von oben herunter, in dem Augenblick ſchellte es noch
einmal ſo nachdrücklich, daß Jeder unwillkürlich eine Men¬
ſchenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermuthete. Sebaſtian
hatte die Hand erkannt, ſtürzte durch's Zimmer, kopfüber die
Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und
riß die Hausthür auf. Herr Seſemann grüßte kurz und
ſtieg ohne Weiteres nach dem Zimmer ſeiner Tochter hinauf.
Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf und
als er ſie ſo munter und völlig unverändert ſah, glättete
ſich ſeine Stirn, die er vorher ſehr zuſammengezogen hatte,
[183] und immer mehr, als er nun von ihr ſelbſt hörte, ſie ſei
ſo wohl wie immer und ſie ſei ſo froh, daß er gekommen
ſei, daß es ihr jetzt ganz recht ſei, daß ein Geiſt im Haus
herumfahre, weil er doch daran ſchuld ſei, daß der Papa
heimkommen mußte.


„Und wie führt ſich das Geſpenſt weiter auf, Fräulein
Rottenmeier?“ fragte nun Herr Seſemann mit einem luſtigen
Ausdruck in den Mundwinkeln.


„Nein, Herr Seſemann“, entgegnete die Dame ernſt,
„es iſt kein Scherz; ich zweifle nicht daran, daß morgen
Herr Seſemann nicht mehr lachen wird, denn was in dem
Hauſe vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das hier in ver¬
gangener Zeit muß vorgegangen und verheimlicht worden
ſein.“


„So, davon weiß ich nichts“, bemerkte Herr Seſe¬
mann, „muß aber bitten, meine völlig ehrenvollen Ahnen
nicht verdächtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den
Sebaſtian in's Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden.“


Herr Seſemann ging hinüber und Sebaſtian erſchien.
Es war Herrn Seſemann nicht entgangen, daß Sebaſtian
und Fräulein Rottenmeier ſich nicht eben mit Zuneigung
betrachteten; ſo hatte er ſeine Gedanken.


„Komm' Er her, Burſche“, winkte er dem Eintretenden
entgegen, „und ſag' Er mir nun ganz ehrlich: hat Er nicht
etwa ſelbſt ein wenig Geſpenſt geſpielt, ſo um Fräulein
Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, nu?“

[184]

„Nein, meiner Treu, das muß der gnädige Herr nicht
glauben, es iſt mir ſelbſt nicht ganz gemüthlich bei der
Sache“, entgegnete Sebaſtian mit unverkennbarer Ehr¬
lichkeit.


[Nun], wenn es ſo ſteht, ſo will ich morgen Ihm und
dem tapfern Johann zeigen, wie Geſpenſter beim Licht aus¬
ſehen. Schäm' Er ſich, Sebaſtian, ein junger, kräftiger
Burſch, wie Er iſt, vor Geſpenſtern davonzulaufen! Nun
geh' Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor
Claſſen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut'
Abend neun Uhr bei mir erſcheinen, ich ſei extra von Paris
hergereiſt, um ihn zu conſultiren. Er müſſe die Nacht bei
mir wachen, ſo ſchlimm ſei's; er ſolle ſich richten! Verſtan¬
den, Sebaſtian?“


„Ja wohl, ja wohl! der gnädige Herr kann ſicher
ſein, daß ich's gut mache.“ Damit entfernte ſich Sebaſtian,
und Herr Seſemann kehrte zu ſeinem Töchterchen zurück,
um ihr alle Furcht vor einer Erſcheinung zu benehmen, die
er noch heute in's nöthige Licht ſtellen wollte.


Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen
und auch Fräulein Rottenmeier ſich zurückgezogen hatte, er¬
ſchien der Doktor, der unter ſeinen grauen Haaren noch
ein recht friſches Geſicht und zwei lebhaft und freundlich
blickende Augen zeigte. Er ſah etwas ängſtlich aus, brach
aber gleich nach ſeiner Begrüßung in ein helles Lachen aus
und ſagte, ſeinem Freunde auf die Schulter klopfend: „Nu,
[185] nu, für Einen, bei dem man wachen ſoll, ſiehſt du noch
leidlich aus, Alter.“


„Nur Geduld, Alter“, gab Herr Seſemann zurück;
„derjenige, für den du wachen mußt, wird ſchon ſchlimmer
ausſehen, wenn wir ihn erſt abgefangen haben.“


„Alſo doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der
eingefangen werden muß?“


„Weit ſchlimmer, Doktor, weit ſchlimmer. Ein Ge¬
ſpenſt im Hauſe, bei mir ſpukt's!“


Der Doktor lachte laut auf.


„Schöne Theilnahme, das, Doktor!“ fuhr Herr Seſe¬
mann fort; „ſchade, daß meine Freundin Rottenmeier ſie nicht
genießen kann. Sie iſt feſt überzeugt, daß ein alter Seſe¬
mann hier herumrumort und Schauerthaten abbüßt.“


„Wie hat ſie ihn aber nur kennen gelernt?“ fragte
der Doktor immer noch ſehr erheitert.


Herr Seſemann erzählte nun ſeinem Freunde den ganzen
Vorgang und wie noch jetzt allnächtlich die Hausthür ge¬
öffnet werde, nach der Angabe der ſämmtlichen Hausbewohner,
und fügte hinzu, um für alle Fälle vorbereitet zu ſein, habe
er zwei gutgeladene Revolver in das Wachtlokal legen laſſen;
denn entweder die Sache ſei ein ſehr unerwünſchter Scherz,
den ſich vielleicht irgend ein Bekannter der Dienerſchaft
mache, um die Leute des Hauſes in Abweſenheit des Haus¬
herrn zu erſchrecken — dann könnte ein kleiner Schrecken,
wie ein guter Schuß in's Leere, ihm nicht unheilſam ſein —;
[186] oder auch es handle ſich um Diebe, die auf dieſe Weiſe
erſt den Gedanken an Geſpenſter aufkommen laſſen wollten,
um nachher um ſo ſicherer zu ſein, daß Niemand ſich heraus¬
wagte, — in dieſem Falle könnte eine gute Waffe auch nicht
ſchaden.


Während dieſer Erklärungen waren die Herren die Treppe
hinuntergeſtiegen und traten in dasſelbe Zimmer ein, wo
Johann und Sebaſtian auch gewacht hatten. Auf dem Tiſche
ſtanden einige Flaſchen ſchönen Weines, denn eine kleine Stär¬
kung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünſcht ſein, wenn
die Nacht da zugebracht werden mußte. Daneben lagen die
beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Arm¬
leuchter ſtanden mitten auf dem Tiſch, denn ſo im Halb¬
dunkel wollte Herr Seſemann das Geſpenſt denn doch nicht
erwarten.


Nun wurde die Thür an's Schloß gelehnt, denn zu
viel Licht durfte nicht in den Corridor hinausfließen, es
konnte das Geſpenſt verſcheuchen. Jetzt ſetzten ſich die Herren
gemüthlich in ihre Lehnſtühle und fingen an, ſich Allerlei
zu erzählen, nahmen auch hie und da dazwiſchen einen
guten Schluck, und ſo ſchlug es zwölf Uhr, eh' ſie ſich's
verſahen.


„Das Geſpenſt hat uns gewittert und kommt wohl
heut' gar nicht“, ſagte der Doktor jetzt.


„Nur Geduld, es ſoll erſt um ein Uhr kommen“, ent¬
gegnete der Freund.

[187]

Das Geſpräch wurde wieder aufgenommen. Es ſchlug
ein Uhr. Ringsum war es völlig ſtill, auch auf den Straßen
war aller Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor
den Finger empor.


„Bſt, Seſemann, hörſt du Nichts?“


Sie lauſchten Beide. Leiſe, aber ganz deutlich hörten
ſie, wie der Balken zurückgeſchoben, dann der Schlüſſel zwei
Mal im Schloß umgedreht, jetzt die Thür geöffnet wurde.
Herr Seſemann fuhr mit der Hand nach ſeinem Revolver.


„Du fürchteſt dich doch nicht?“ ſagte der Doktor und
ſtand auf.


„Behutſam iſt beſſer“, flüſterte Herr Seſemann, er¬
faßte mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit
der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der,
gleichermaßen mit Leuchter und Schießgewehr bewaffnet,
voranging. Sie traten auf den Corridor hinaus.


Durch die weitgeöffnete Thür floß ein bleicher Mond¬
ſchein herein und beleuchtete eine weiße Geſtalt, die regungs¬
los auf der Schwelle ſtand.


„Wer da?“ donnerte jetzt der Doktor heraus, daß es
durch den ganzen Corridor hallte und beide Herren traten
nun mit Lichtern und Waffen auf die Geſtalt heran. Sie
kehrte ſich um und that einen leiſen Schrei. Mit bloßen
Füßen im weißen Nachtkleidchen ſtand Heidi da, ſchaute mit
verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die
Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
[188] von oben bis unten. Die Herren ſchauten einander in
großem Erſtaunen an.


„Ich glaube wahrhaftig, Seſemann, es iſt deine kleine
Waſſerträgerin“, ſagte der Doktor.


„Kind, was ſoll das heißen?“ fragte nun Herr Seſe¬
mann. „Was wollteſt du thun? Warum biſt du hier
heruntergekommen?“


Schneeweiß vor Schrecken ſtand Heidi vor ihm und ſagte
faſt tonlos: „Ich weiß nicht.“


Jetzt trat der Doktor vor: „Seſemann, der Fall ge¬
hört in mein Gebiet, geh', ſetz' dich für einmal in deinen
Lehnſtuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen,
wo es hin gehört.“


Damit legte er ſeinen Revolver auf den Boden, nahm
das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging
mit ihm der Treppe zu.


„Nicht fürchten, nicht fürchten“, ſagte er freundlich im
Hinaufſteigen, „nur ganz ruhig ſein, da iſt gar nichts
Schlimmes dabei, nur getroſt ſein.“


In Heidi's Zimmer eingetreten, ſtellte der Doktor
ſeinen Leuchter auf den Tiſch, nahm Heidi auf den Arm,
legte es in ſein Bett hinein und deckte es ſorgfältig
zu. Dann ſetzte er ſich auf den Seſſel am Bett und
wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht
mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind
bei der Hand und ſagte begütigend: „So, nun iſt Alles
[189] in Ordnung, nun ſag' mir auch noch, wo wollteſt du denn
hin?“


„Ich wollte gewiß nirgends hin“, verſicherte Heidi, „ich
bin auch gar nicht ſelbſt hinuntergegangen, ich war nur auf
einmal da.“


„So, ſo, und haſt du etwa geträumt in der Nacht,
weißt du, ſo, daß du deutlich Etwas ſahſt und hörteſt?“


„Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich.
Dann mein' ich, ich ſei beim Großvater und draußen hör'
ich's in den Tannen ſauſen und denke, jetzt glitzern ſo ſchön
die Sterne am Himmel und ich laufe geſchwind und mache
die Thür auf an der Hütte und da iſt's ſo ſchön! Aber
wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.“ Heidi
fing ſchon an zu kämpfen und zu ſchlucken an dem Gewicht,
das den Hals hinaufſtieg.


„Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends?
Nicht im Kopf oder im Rücken?“


„O nein, nur hier drückt es ſo wie ein großer Stein
immerfort.“


„So, etwa ſo, wie wenn man Etwas gegeſſen hat und
wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?“


„Nein, ſo nicht, aber ſo ſchwer, wie wenn man ſtark
weinen ſollte.“


„So, ſo, und weinſt du denn ſo recht heraus?“


„O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier
hat es verboten.“

[190]

„Dann ſchluckſt du's herunter zum Andern, nicht wahr,
ſo? Richtig! Na, du biſt doch recht gern in Frankfurt,
nicht?“


„O ja“, war die leiſe Antwort; ſie klang aber ſo, als
bedeute ſie eher das Gegentheil.


„Hm, und wo haſt du mit deinem Großvater ge¬
lebt?“


„Immer auf der Alm.“


„So, da iſt's doch nicht ſo beſonders kurzweilig, eher
ein wenig langweilig, nicht?“


„O nein, da iſt's ſo ſchön! ſo ſchön!“ Heidi konnte
nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Auf¬
regung, das lang verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte
des Kindes; gewaltſam ſtürzten ihm die Thränen aus den
Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.


Der Doktor ſtand auf; er legte freundlich Heidi's Kopf
auf das Kiſſen nieder und ſagte: „So, noch ein klein wenig
weinen, das kann Nichts ſchaden, und dann ſchlafen, ganz
fröhlich einſchlafen, morgen wird Alles gut.“ Dann verließ
er das Zimmer.


Wieder unten in die Wachtſtube eingetreten, ließ er ſich
dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnſtuhl nieder
und erklärte dem mit geſpannter Erwartung Lauſchenden:
„Seſemann, dein kleiner Schützling iſt erſtens mondſüchtig,
völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Geſpenſt die
Hausthür aufgemacht und deiner ganzen Mannſchaft die
[191] Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird
das Kind vom Heimweh verzehrt, ſo daß es ſchon jetzt faſt
zum Geripplein abgemagert iſt und es noch völlig werden
würde; alſo ſchnelle Hülfe. Für das erſte Uebel und die
in hohem Grade ſtattfindende Nervenaufregung gibt es nur
Ein Heilmittel, nämlich, daß du ſofort das Kind in die
heimatliche Bergluft zurückverſetzeſt; für das zweite gibt's
ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieſelbe, demnach
reiſt das Kind morgen ab, das iſt mein Rezept.“


Herr Seſemann war aufgeſtanden. In größter Auf¬
regung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus:
„Mondſüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem
Hauſe! das Alles in meinem Hauſe! und Niemand ſieht zu
und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinſt, das
Kind, das friſch und geſund in mein Haus gekommen iſt,
ſchicke ich elend und abgemagert ſeinem Großvater zurück?
Nein, Doktor, das kannſt du nicht verlangen, das thu' ich
nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die
Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willſt, aber
mach' es mir heil und geſund, dann will ich es heimſchicken,
wenn es will, aber erſt hilf du!“


„Seſemann“, entgegnete der Doktor ernſthaft, „be¬
denke, was du thuſt! Dieſer Zuſtand iſt keine Krankheit,
die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat
keine zähe Natur, indeſſen, wenn du es jetzt gleich wieder
in die kräftige Bergluft hinaufſchickſt, an die es gewöhnt
[192] iſt, ſo kann es wieder völlig geſunden; wenn nicht — du
willſt nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar, oder
gar nicht mehr zurückkomme?“


Herr Seſemann war erſchrocken ſtehen geblieben: „Ja,
wenn du ſo redeſt, Doktor, dann iſt nur Ein Weg, dann
muß ſofort gehandelt werden.“ Mit dieſen Worten nahm
Herr Seſemann den Arm ſeines Freundes und wanderte
mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu be¬
ſprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Haus zu
gehen, denn es war unterdeſſen viel Zeit vergangen, und
durch die Hausthür, die diesmal vom Herrn des Hauſes
aufgeſchloſſen wurde, drang ſchon der helle Morgenſchimmer
herein.

[]

Capitel XIII.
Am Sommerabend die Alm hinan.

Herr Seſemann ſtieg in großer Erregtheit die Treppe
hinauf und wanderte mit feſtem Schritt zum Schlafgemach
der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er ſo ungewöhnlich
kräftig an die Thür, daß die Bewohnerin mit einem Schreckens¬
ruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des
Hausherrn draußen. „Bitte ſich zu beeilen und im E߬
zimmer zu erſcheinen, es muß ſofort eine Abreiſe vorbe¬
reitet werden.“


Fräulein Rottenmeier ſchaute auf ihre Uhr, es war
halb fünf des Morgens; zu ſolcher Stunde war ſie in
ihrem Leben noch nie aufgeſtanden. Was konnte nur vor¬
gefallen ſein? Vor Neugierde und angſtvoller Erwartung
nahm ſie Alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht
vorwärts, denn was ſie einmal auf den Leib gebracht hatte,
ſuchte ſie nachher raſtlos im Zimmer herum.


Unterdeſſen ging Herr Seſemann den Corridor entlang
Kleine Geſchichten. III. 13[194] und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für
die verſchiedenen Glieder der Dienerſchaft angebracht war,
ſo daß in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckens¬
geſtalt aus dem Bett ſprang und verkehrt in die Kleider
fuhr, denn Einer wie der Andere dachte ſogleich, das Ge¬
ſpenſt habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dieß ſei
ſein Hülferuf. So kamen ſie nach und nach, Einer ſchauer¬
licher ausſehend, als der Andere, herunter und ſtellten ſich
mit Erſtaunen vor den Hausherrn hin, denn dieſer ging
friſch und munter im Eßzimmer auf und ab und ſah keines¬
wegs aus, als habe ihn ein Geſpenſt erſchreckt. Johann
wurde ſofort hingeſchickt, Pferde und Wagen in Ordnung
zu bringen und ſie nachher vorzuführen. Tinette erhielt
den Auftrag, ſogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand
zu ſtellen, eine Reiſe anzutreten. Sebaſtian erhielt den
Auftrag, nach dem Hauſe zu eilen, wo Heidi's Baſe im
Dienſt ſtand, und dieſe herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier
war unterdeſſen zurechtgekommen mit ihrem Anzug und
Alles ſaß, wie es mußte, nur die Haube ſaß verkehrt auf
dem Kopf, ſo daß es von Weitem ausſah, als ſitze ihr das
Geſicht auf dem Rücken. Herr Seſemann ſchrieb den räthſel¬
haften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging un¬
verweilt an die Geſchäftsverhandlungen. Er erklärte der
Dame, ſie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu
ſchaffen, die ſämmtliche Habe des Schweizerkindes hineinzu¬
packen — ſo nannte Herr Seſemann gewöhnlich das Heidi,
[195] deſſen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen
guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes
mitbringe; es müſſe aber alles ſchnell und ohne langes Be¬
ſinnen vor ſich gehen.


Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraſchung wie in
den Boden eingewurzelt ſtehen und ſtarrte Herrn Seſemann
an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die
Mittheilung einer ſchauerlichen Geiſtergeſchichte machen, die
er in der Nacht erlebt und die ſie eben jetzt bei dem hellen
Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; ſtatt deſſen dieſe
völlig proſaiſchen und dazu noch ſehr unbequemen Aufträge.
So ſchnell konnte ſie das Unerwartete nicht bewältigen.
Sprachlos ſtand ſie immer noch da und erwartete ein
Weiteres.


Aber Herr Seſemann hatte keine Erklärungen im Sinn;
er ließ die Dame ſtehen, wo ſie ſtand, und ging nach dem
Zimmer ſeiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war dieſe
durch die ungewöhnliche Bewegung im Hauſe wach geworden
und lauſchte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.
Der Vater ſetzte ſich nun an ihr Bett und erzählte ihr
den ganzen Verlauf der Geiſtererſcheinung und daß Heidi
nach des Doktors Ausſpruch ſehr angegriffen ſei und wohl
nach und nach ſeine nächtlichen Wanderungen ausdehnen,
vielleicht gar das Dach beſteigen würde, was dann mit den
höchſten Gefahren verbunden wäre. Er habe alſo beſchloſſen,
das Kind ſofort heimzuſchicken, denn ſolche Verantwortung
13*[196] könne er nicht auf ſich nehmen, und Klara müſſe ſich darein
finden, ſie ſehe ja ein, daß es nicht anders ſein könne.


Klara war ſehr ſchmerzlich überraſcht von der Mitthei¬
lung und wollte erſt allerlei Auswege finden, aber es half
Nichts, der Vater blieb feſt bei ſeinem Entſchluß, verſprach
aber, im nächſten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu
reiſen, wenn ſie nun recht vernünftig ſei und keinen Jammer
erhebe. So ergab ſich Klara in das Unvermeidliche, be¬
gehrte aber zum Erſatz, daß der Koffer für Heidi in ihr
Zimmer gebracht und da verpackt werde, damit ſie hinein¬
ſtecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa ſehr
gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde
eine ſchöne Ausſteuer zurechtzumachen. Unterdeſſen war die
Baſe Dete angelangt und ſtand in großer Erwartung im
Vorzimmer, denn daß ſie um dieſe ungewöhnliche Zeit ein¬
berufen worden war, mußte etwas Außerordentliches be¬
deuten. Herr Seſemann trat zu ihr heraus und erklärte
ihr, wie es mit Heidi ſtehe, und daß er wünſche, ſie möchte
das Kind ſofort, gleich heute noch, nach Hauſe bringen.
Die Baſe ſah ſehr enttäuſcht aus, dieſe Nachricht hatte ſie
nicht erwartet. Sie erinnerte ſich auch noch recht wohl
der Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben
hatte, daß ſie ihm nie mehr vor die Augen kommen ſolle,
und ſo das Kind dem Alten einmal bringen und dann
nehmen und dann wiederbringen, das ſchien ihr nicht ganz
gerathen zu ſein. Sie beſann ſich alſo nicht lange, ſondern
[197] ſagte mit großer Beredtſamkeit, heute wäre es ihr leider
völlig unmöglich, die Reiſe anzutreten, und morgen könnte
ſie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre
es am allerunmöglichſten, um der darauffallenden Geſchäfte
willen, und nachher könnte ſie dann gar nicht mehr. Herr
Seſemann verſtand die Sprache und entließ die Baſe ohne
Weiteres. Nun ließ er den Sebaſtian vortreten und er¬
klärte ihm, er habe ſich unverzüglich zur Reiſe zu rüſten;
heute habe er mit dem Kinde bis nach Baſel zu fahren,
morgen bringe er es heim. Dann könne er ſogleich wieder
umkehren, zu berichten habe er Nichts, ein Brief an den
Großvater werde dieſem Alles erklären.


„Nun aber noch eine Hauptſache, Sebaſtian“, ſchloß
Herr Seſemann, „und daß Er mir das pünktlich beſorgt!
Den Gaſthof in Baſel, den ich Ihm hier auf meine Karte
geſchrieben, kenne ich. Er weiſt meine Karte vor, dann
wird Ihm ein gutes Zimmer angewieſen werden für das
Kind; für ſich ſelbſt wird Er ſchon ſorgen. Dann geht Er
erſt in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle
Fenſter ſo vollſtändig, daß nur große Gewalt ſie auf¬
zubringen vermöchte. Iſt das Kind zu Bett, ſo geht Er
und ſchließt von außen die Thür ab, denn das Kind wan¬
dert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem
fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Hausthür
aufmachen wollte, verſteht Er das?“


„Ah! ah! ah! das war's? ſo war's?“ ſtieß Se¬
[198] baſtian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war
ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geiſter¬
erſcheinung.


„Ja, ſo war's! das war's! und Er iſt ein Haſenfuß,
und dem Johann kann Er ſagen, er ſei desgleichen und Alle
miteinander eine lächerliche Mannſchaft.“ Damit ging Herr
Seſemann nach ſeiner Stube, ſetzte ſich hin und ſchrieb einen
Brief an den Alm-Oehi.


Sebaſtian war verdutzt mitten im Zimmer ſtehen ge¬
blieben und wiederholte jetzt zu öftern Malen in ſeinem
Innern: „Hätt' ich mich doch von dem Feigling von einem
Johann nicht in die Wachtſtube hineinreißen laſſen, ſondern
wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt
unzweifelhaft thun würde!“ denn jetzt beleuchtete die helle
Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller
Klarheit.


Unterdeſſen ſtand Heidi völlig ahnungslos in ſeinem
Sonntagsröckchen und wartete ab, was geſchehen ſollte, denn
die Tinette hatte es nur aus dem Schlaf gerüttelt, die
Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen be¬
fördert, ohne ein Wort zu ſagen. Sie ſprach niemals mit
dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.


Herr Seſemann trat mit ſeinem Brief in's Eßzimmer
ein, wo das Frühſtück bereit ſtand, und rief: „Wo iſt das
Kind?“


Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Seſemann
[199] herantrat, um ihm guten Morgen zu ſagen, ſchaute er ihm
fragend in's Geſicht: „Nun, was ſagſt du denn dazu,
Kleine?“


Heidi blickte verwundert zu ihm auf.


„Du weißt am Ende noch gar nichts“, lachte Herr
Seſemann. „Nun, heut' gehſt du heim, jetzt gleich.“


„Heim?“ wiederholte Heidi tonlos, und wurde ſchnee¬
weiß und eine kleine Weile konnte es gar keinen Athem
mehr holen, ſo ſtark wurde ſein Herz von dem Eindruck
gepackt.


„Nun, willſt du etwa Nichts wiſſen davon?“ fragte
Herr Seſemann lächelnd.


„O ja, ich will ſchon“, kam jetzt heraus, und nun war
Heidi dunkelroth geworden.


„Gut, gut“, ſagte Herr Seſemann ermunternd, indem
er ſich ſetzte und Heidi winkte, dasſelbe zu thun. „Und
nun tüchtig frühſtücken und hernach in den Wagen und
fort.“


Aber Heidi konnte keinen Biſſen herunterbringen, wie
es ſich auch zwingen wollte aus Gehorſam; es war in einem
Zuſtand von Aufregung, daß es gar nicht wußte, ob es
wache oder träume, und ob es vielleicht wieder auf einmal
erwachen und im Nachthemdchen an der Hausthür ſtehen
werde.


„Sebaſtian ſoll reichlich Proviant mitnehmen“, rief Herr
Seſemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; „das
[200] Kind kann nicht eſſen, begreiflicher Weiſe. Geh' hinüber zu
Klara, bis der Wagen vorfährt“, ſetzte er freundlich, zu
Heidi gewandt, hinzu.


Das war Heidi's Wunſch; es ſprang hinüber. Mitten
in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu ſehen,
noch ſtand deſſen Deckel weit offen.


„Komm', Heidi, komm'“, rief ihm Klara entgegen,
„ſieh', was ich dir habe einpacken laſſen, komm', freut's
dich?“


Und ſie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen,
Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgeräth, „und ſieh'
hier, Heidi“, und Klara hob triumphirend einen Korb in
die Höhe. Heidi guckte hinein und ſprang hoch auf vor
Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf ſchöne, weiße, runde
Brödchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen
in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick komme, da
ſie ſich trennen mußten, und als mit einem Mal der Ruf
erſchallte: „Der Wagen iſt bereit!“— da war keine Zeit
mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in ſein Zimmer, da
mußte noch ſein ſchönes Buch von der Großmama liegen,
Niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem
Kopfkiſſen, weil Heidi Tag und Nacht ſich nicht davon
trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Bröd¬
chen gelegt. Dann machte es ſeinen Schrank auf; noch
ſuchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht
eingepackt hatte. Richtig — auch das alte rothe Tuch
[201] lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering er¬
achtet, um noch eingepackt zu werden. Heidi wickelte es
um einen andern Gegenſtand und legte es zu oberſt auf
den Korb, ſo daß das rothe Packet ſehr ſichtbar zur Er¬
ſcheinung kam. Dann ſetzte es ſein ſchönes Hütchen auf
und verließ ſein Zimmer.


Die beiden Kinder mußten ſich ſchnell Lebewohl ſagen,
denn Herr Seſemann ſtand ſchon da, um Heidi nach dem
Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier ſtand oben an
der Treppe, um hier Heidi zu verabſchieden. Als ſie das
ſeltſame rothe Bündelchen erblickte, nahm ſie es ſchnell aus
dem Korb heraus und warf es auf den Boden.


„Nein, Adelheid“, ſagte ſie tadelnd, „ſo kannſt du
nicht reiſen von dieſem Hauſe aus, ſolches Zeug brauchſt
du überhaupt nicht mitzuſchleppen. Nun lebe wohl.“


Auf dieſes Verbot hin durfte Heidi ſein Bündelchen
nicht wieder aufnehmen, aber es ſchaute mit einem flehent¬
lichen Blick zu dem Hausherrn auf, ſo, als wollte man ihm
ſeinen größten Schatz nehmen.


„Nein, nein“, ſagte Herr Seſemann in ſehr beſtimmtem
Ton, „das Kind ſoll mit heimtragen, was ihm Freude
macht, und ſollte es auch junge Katzen oder Schildkröten
mit fortſchleppen, ſo wollen wir uns darüber nicht auf¬
regen, Fräulein Rottenmeier.“


Heidi hob eilig ſein Bündelchen wieder vom Boden
auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen.
[202] Unten am Wagen reichte Herr Seſemann dem Kinde die
Hand und ſagte ihm mit freundlichen Worten, ſie [würden]
ſeiner gedenken, er und ſeine Tochter Klara; er wünſchte
ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht ſchön
für alle Gutthaten, die ihm zu Theil geworden waren, und
zum Schluß ſagte es: „Und den Herrn Doktor laſſe ich
tauſendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.“


Denn es hatte ſich wohl gemerkt, wie er geſtern Abend
geſagt hatte: „Und morgen wird Alles gut.“ Nun war
es ſo gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.


Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der
Korb und die Provianttaſche und der Sebaſtian kamen nach.
Herr Seſemann rief noch einmal freundlich: „Glückliche
Reiſe!“ und der Wagen rollte davon.


Bald nachher ſaß Heidi in der Eiſenbahn und hielt
unbeweglich ſeinen Korb auf dem Schooße feſt, denn es
wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen laſſen,
ſeine koſtbaren Brödchen für die Großmutter waren ja
darin, die mußte es ſorglich hüten und von Zeit zu Zeit
einmal wieder anſehen und ſich freuen darüber. Heidi ſaß
mäuschenſtille während mehrerer Stunden, denn erſt jetzt
kam es recht zum Bewußtſein, daß es auf dem Wege ſei
heim zum Großvater, auf die Alm, zur Großmutter, zum
Gaißen-Peter, und nun kam ihm Alles vor Augen, Eins
nach dem Andern, was es wiederſehen werde, und wie Alles
ausſehen werde daheim, und dabei ſtiegen ihm wieder neue
[203] Gedanken auf, und auf einmal ſagte es ängſtlich: „Se¬
baſtian, iſt auch ſicher die Großmutter auf der Alm nicht
geſtorben?“


„Nein, nein“, beruhigte dieſer, „wollen's nicht hoffen,
wird ſchon noch am Leben ſein.“


Dann fiel Heidi wieder in ſein Sinnen zurück, nur hie
und da guckte es einmal in ſeinen Korb hinein, denn alle
die Brödchen der Großmutter auf den Tiſch zu legen, war
ſein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit ſagte es wieder:
„Sebaſtian, wenn man nur auch ganz ſicher wiſſen könnte,
daß die Großmutter noch am Leben iſt.“


„Ja wohl! Ja wohl!“ entgegnete der Begleiter halb
ſchlafend; „wird ſchon noch leben, wüßte auch gar nicht,
warum nicht.“


Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen
zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem
frühen Aufſtehen war es ſo ſchlafbedürftig, daß es erſt
wieder erwachte, als Sebaſtian es tüchtig am Arm ſchüttelte
und ihm zurief: „Erwachen! Erwachen! Gleich ausſteigen,
in Baſel angekommen!“


Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden
lang. Heidi ſaß wieder mit ſeinem Korb auf dem Schooß,
den es um keinen Preis dem Sebaſtian übergeben wollte;
aber heute ſagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde
mit jeder Stunde die Erwartung geſpannter. Dann auf
einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der
[204] Ruf: „Mayenfeld!“ Es ſprang von ſeinem Sitz auf, und
dasſelbe that Sebaſtian, der auch überraſcht worden war.
Jetzt ſtanden ſie draußen, der Koffer mit ihnen, und der
Bahnzug pfiff weiter in's Thal hinein. Sebaſtian ſah ihm
wehmüthig nach, denn er wäre viel lieber ſo ſicher und ohne
Mühe weitergereiſt, als daß er nun eine Fußpartie unter¬
nehmen ſollte, die dazu noch mit einer Bergbeſteigung enden
mußte, die ſehr beſchwerlich und dazu gefahrvoll ſein konnte
in dieſem Lande, wo doch Alles noch halb wild war, wie
Sebaſtian annahm. Er ſchaute daher ſehr vorſichtig um
ſich, wen er etwa berathen könnte über den ſicherſten Weg
nach dem „Dörfli“. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
ſtand ein kleiner Leiterwagen mit einem magern Rößlein
davor; auf dieſen wurden von einem breitſchultrigen Manne
ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn her¬
gebracht worden waren. Sebaſtian trat zu ihm heran und
brachte ſeine Frage nach dem ſicherſten Weg zum Dörfli vor.


„Hier ſind alle Wege ſicher“, war die kurze Ant¬
wort.


Jetzt fragte Sebaſtian nach dem beſten Wege, auf dem
man gehen könne, ohne in die Abgründe zu ſtürzen, und
auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli
befördern könnte. Der Mann ſchaute nach dem Koffer hin
und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er,
wenn das Ding nicht zu ſchwer ſei, ſo wolle er es auf
ſeinen Wagen nehmen, da er ſelbſt nach dem Dörfli fahre,
[205] und ſo gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen
die Beiden überein, der Mann ſolle Kind und Koffer mit
auf ſeinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus
könne das Kind am Abend mit irgend Jemand auf die Alm
geſchickt werden.


„Ich kann allein gehen, ich weiß ſchon den Weg vom
Dörfli auf die Alm“, ſagte hier Heidi, das mit Aufmerk¬
ſamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebaſtian
fiel eine ſchwere Laſt vom Herzen, als er ſich ſo auf ein¬
mal ſeiner Ausſicht auf das Bergklettern entledigt ſah. Er
winkte nun Heidi geheimnißvoll auf die Seite und überreichte
ihm hier eine ſchwere Rolle und einen Brief an den Gro߬
vater, und erklärte ihm, die Rolle ſei ein Geſchenk von
Herrn Seſemann, die müſſe aber zu unterſt in den Korb
geſteckt werden, noch unter die Brödchen, und darauf müſſe
genau Acht gegeben werden, daß ſie nicht verloren gehe,
denn darüber würde Herr Seſemann ganz fürchterlich böſe
und ſein Leben lang nie mehr gut werden, das ſollte das
Mamſellchen nur ja bedenken.


„Ich verliere ſie ſchon nicht“, ſagte Heidi zuverſichtlich
und ſteckte die Rolle ſammt dem Brief zu allerunterſt in
den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und
nachher hob Sebaſtian Heidi ſammt ſeinem Korb auf den
hohen Sitz empor, reichte ihm ſeine Hand hinauf zum Ab¬
ſchied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen,
auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
[206] Führer war noch in der Nähe, und Sebaſtian war vor¬
ſichtig, beſonders jetzt, da er wußte, er hätte eigentlich ſelbſt
das Kind an Ort und Stelle bringen ſollen. Der Führer
ſchwang ſich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der
Wagen rollte den Bergen zu, während Sebaſtian, froh über
ſeine Befreiung von der gefürchteten Bergreiſe, ſich am
Stationshäuschen niederſetzte, um den zurückkehrenden Bahn¬
zug abzuwarten.


Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom
Dörfli, der ſeine Mehlſäcke nach Hauſe fuhr. Er hatte
Heidi nie geſehen, aber wie Jedermann im Dörfli, wußte
er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi gebracht hatte;
auch hatte er Heidi's Eltern gekannt und ſich gleich vorge¬
ſtellt, er werde es mit dem viel beſprochenen Kinde hier zu
thun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das
Kind ſchon wieder heimkomme, und während der Fahrt fing
er nun mit Heidi ein Geſpräch an: „Du wirſt das Kind
ſein, das oben beim Alm-Oehi war, beim Großvater?“


„Ja.“


„So iſt es dir ſchlecht gegangen, daß du ſchon wieder
von ſo weit her heimkommſt?“


„Nein, das iſt es mir nicht, kein Menſch kann es ſo
gut haben, wie man es in Frankfurt hat.“


„Warum läufſt du denn heim?“


„Nur weil es mir der Herr Seſemann erlaubt hat,
ſonſt wär' ich nicht heimgelaufen.“

[207]

„Pah, warum biſt du denn aber nicht lieber dort ge¬
blieben, wenn man dir's ſchon erlaubt hat, heimzugehen?“


„Weil ich tauſendmal lieber heim will zum Großvater
auf die Alm, als ſonſt Alles auf der Welt.“


„Denkſt vielleicht anders, wenn du hinaufkommſt“,
brummte der Bäcker; „nimmt mich aber doch wunder“,
ſagte er dann zu ſich ſelbſt, „es kann wiſſen, wie's iſt.“


Nun fing er an zu pfeifen und ſagte Nichts mehr, und
Heidi ſchaute um ſich und fing an innerlich zu zittern vor
Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und
drüben ſtanden die hohen Zacken des Falkniß-Berges und
ſchauten zu ihm herüber, ſo als grüßten ſie es wie gute,
alte Freunde und Heidi grüßte wieder und mit jedem Schritt
vorwärts wurde Heidi's Erwartung geſpannter und es
meinte, es müſſe vom Wagen herunterſpringen und aus
allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es
blieb doch ſtill ſitzen und rührte ſich nicht, aber Alles zit¬
terte an ihm. Jetzt fuhren ſie im Dörfli ein, eben ſchlug
die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich ſammelte ſich eine Ge¬
ſellſchaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum,
und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der
Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die
Aufmerkſamkeit aller Umwohnenden auf ſich gezogen, und
Jeder wollte wiſſen, woher und wohin und wem Beide zu¬
gehören. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, ſagte es
eilig: „Danke, der Großvater holt dann ſchon den Koffer“,
[208] und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde
es feſtgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle
auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte ſich mit
einer ſolchen Angſt auf dem Geſichte durch die Leute, daß
man ihm unwillkührlich Platz machte und es laufen ließ,
und Einer ſagte zum Andern: „Du ſiehſt ja, wie es ſich
fürchtet, es hat auch alle Urſache.“ Und dann fingen ſie
noch an, ſich zu erzählen, wie der Alm-Oehi ſeit einem
Jahr noch viel ärger geworden ſei, als vorher, und mit
keinem Menſchen mehr ein Wort rede, und ein Geſicht
mache, als wollte er am liebſten Jeden umbringen, der ihm
in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen
Welt noch wüßte wohin, ſo liefe es nicht in das alte Drachen¬
neſt hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das Geſpräch
ein und ſagte, er werde wohl mehr wiſſen, als ſie Alle,
und erzählte dann ſehr geheimnißvoll, wie ein Herr das
Kind bis nach Mayenfeld gebracht und es ganz freundlich ent¬
laſſen habe, und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten
Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und
überhaupt könne er ſicher ſagen, daß es dem Kind wohl
genug geweſen ſei, wo es war, und es ſelbſt begehrt habe,
zum Großvater zurückzugehen. Dieſe Nachricht brachte eine
große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen
Dörfli ſo verbreitet, daß noch am gleichen Abend kein Haus
daſelbſt war, in dem man nicht davon redete, daß das Heidi
aus allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.

[209]

Heidi lief vom Dörfli bergan, ſo ſchnell es nur konnte;
von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich ſtille ſtehen, denn
es hatte ganz den Athem verloren; ſein Korb am Arm
war doch ziemlich ſchwer, und dazu ging es nun immer
ſteiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen
Gedanken: „Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
Plätzchen ſitzen am Spinnrad in der Ecke, iſt ſie auch nicht
geſtorben unterdeſſen?“ Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben
in der Vertiefung an der Alm, ſein Herz fing an zu klopfen,
Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter
ſchlug ihm das Herz. — Jetzt war es oben — vor Zittern
konnte es faſt die Thür nicht aufmachen — doch jetzt —
es ſprang hinein bis mitten in die kleine Stube und ſtand
da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor.


„Ach du mein Gott“, tönte es aus der Ecke hervor,
„ſo ſprang unſer Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein
Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer iſt hereinge¬
kommen?“


„Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja“, rief Heidi
jetzt und ſtürzte nach der Ecke und gleich auf ſeine Kniee
zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände,
und legte ſich an ſie und konnte vor Freude gar Nichts
mehr ſagen. Erſt war die Großmutter ſo überraſcht, daß
auch ſie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr ſie
mit der Hand ſtreichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und
nun ſagte ſie ein Mal über das andere: „Ja, ja, das ſind
Kleine Geſchichten. III. 14[210] ſeine Haare und es iſt ja ſeine Stimme, ach du lieber
Gott, daß du mich das noch erleben läſſeſt“ Und aus
den blinden Augen fielen ein paar große Freudenthränen
auf Heidi's Hand nieder. „Biſt du's auch, Heidi, biſt du
auch ſicher wieder da?“


„Ja, ja, ſicher, Großmutter“, rief Heidi nun mit aller
Zuverſicht, „weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da
und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und
du mußt auch manchen Tag kein hartes Brod mehr eſſen,
ſiehſt du, Großmutter, ſiehſt du?“


Und Heidi packte nun aus ſeinem Korb ein Brödchen
nach dem andern aus, bis es alle zwölfe auf dem Schooß
der Großmutter aufgehäuft hatte.


„Ach Kind! Ach Kind! was bringſt du denn für einen
Segen mit!“ rief die Großmutter aus, als es nicht enden
wollte mit den Brödchen und immer noch eines folgte.
„Aber der größte Segen biſt du mir doch ſelber, Kind!“
Dann griff ſie wieder in Heidi's krauſe Haare und ſtrich über
ſeine heißen Wangen, und ſagte wieder: „Sag' noch ein
Wort, Kind, ſag' noch Etwas, daß ich dich hören kann.“


Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angſt
es habe ausſtehen müſſen, ſie ſei vielleicht geſtorben unter¬
deſſen und habe nun gar nie die weißen Brödchen bekommen,
und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen.


Jetzt trat Peter's Mutter herein und blieb einen
Augenblick unbeweglich ſtehen vor Erſtaunen. Dann rief
[211] ſie: „Sicher, es iſt das Heidi, wie kann auch das
ſein!“


Heidi ſtand auf und gab ihr die Hand und die Brigitte
konnte ſich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi
ausſehe, und ging um das Kind herum und ſagte: „Gro߬
mutter, wenn du doch nur ſehen könnteſt, was für ein
ſchönes Röcklein das Heidi hat, und wie es ausſieht, man
kennt es faſt nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem
Tiſch gehört dir auch noch? Setz' es doch einmal auf, ſo
kann ich ſehen, wie du drin ausſiehſt.“


„Nein, ich will nicht“, erklärte Heidi, „du kannſt es
haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe ſchon noch mein
eigenes.“ Damit machte Heidi ſein rothes Bündelchen auf
und nahm ſein altes Hütchen daraus hervor, das auf der
Reiſe zu den Knicken, die es ſchon vorher gehabt, noch
einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi
wenig; dagegen hatte es nicht vergeſſen, wie der Großvater
beim Abſchied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle
er es niemals ſehen, darum hatte Heidi ſein Hütchen ſo
ſorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer an's Heim¬
gehen zum Großvater. Aber die Brigitte ſagte, ſo einfältig
müſſe es nicht ſein, es ſei ja ein prächtiges Hütchen, das
nehme ſie nicht, man könnte es ja etwa dem Töchterlein
vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld be¬
kommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber
Heidi blieb bei ſeinem Vorhaben und legte das Hütchen
14*[212] leiſe hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz
verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal ſein ſchönes
Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun
mit bloßen Armen daſtand, band es das rothe Halstuch,
und nun faßte es die Hand der Großmutter und ſagte:
„Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm'
ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.“


„Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen
wieder“, bat die Großmutter, und drückte ſeine Hand zwi¬
ſchen den ihrigen und konnte das Kind faſt nicht los¬
laſſen.


„Warum haſt du denn dein ſchönes Röcklein ausge¬
zogen?“ fragte die Brigitte.


„Weil ich lieber ſo zum Großvater will, ſonſt kennt er
mich vielleicht nicht mehr, du haſt mich ja auch faſt nicht
gekannt darin.“


Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus,
und hier ſagte ſie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: „Den
Rock hätteſt du ſchon anbehalten können, er hätte dich doch
gekannt; aber ſonſt mußt du dich in Acht nehmen, der
Peterli ſagt, der Alm-Oehi ſei jetzt immer bös und rede
kein Wort mehr.“


Heidi ſagte gute Nacht und ſtieg die Alm hinan mit
ſeinem Korb am Arm. Die Abendſonne leuchtete ringsum
auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große
Schneefeld am Cäſaplana ſichtbar geworden und ſtrahlte
[213] herüber. Heidi mußte alle paar Schritte wieder ſtille ſtehen
und ſich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken
beim Hinaufſteigen. Jetzt fiel ein rother Schimmer vor
ſeinen Füßen auf das Gras, es kehrte ſich um, da — ſo
hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und
auch nie ſo im Traum geſehen — die Felshörner am
Falkniß flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld
glühte und roſenrothe Wolken zogen darüber hin; das Gras
rings auf der Alm war golden, von allen Felſen flimmerte
und leuchtete es nieder und unten ſchwamm weithin das
ganze Thal in Duft und Gold. Heidi ſtand mitten in der
Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die
hellen Thränen die Wangen herunter, und es mußte die
Hände falten und in den Himmel hinaufſchauen und ganz
laut dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimge¬
bracht hatte, und daß Alles, Alles noch ſo ſchön ſei und
noch viel ſchöner, als es gewußt hatte, und daß Alles wie¬
der ihm gehöre, und Heidi war ſo glücklich und ſo reich in
all' der großen Herrlichkeit, daß es gar nicht Worte fand,
dem lieben Gott genug zu danken. Erſt als das Licht
ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg;
nun rannte es aber ſo den Berg hinan, daß es gar nicht
lange dauerte, ſo erblickte es oben die Tannenwipfel über
dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und
auf der Bank an der Hütte ſaß der Großvater und rauchte
ſein Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten
[214] Tannenwipfel und rauſchten im Abendwind. Jetzt rannte das
Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht ſehen
konnte, was da herankam, ſtürzte das Kind ſchon auf ihn
hin, warf ſeinen Korb auf den Boden und umklammerte
den Alten, und vor Aufregung des Wiederſehens konnte es
Nichts ſagen, als nur immer ausrufen: „Großvater! Gro߬
vater! Großvater!“


Der Großvater ſagte auch Nichts. Seit vielen Jahren
waren ihm zum erſten Mal wieder die Augen naß geworden,
und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löſte
er Heidi's Arme von ſeinem Hals, ſetzte das Kind auf
ſeine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: „So biſt
du wieder heimgekommen, Heidi“, ſagte er dann; „wie iſt
das? Beſonders hoffärtig ſiehſt du nicht aus, haben ſie
dich fortgeſchickt?“


„O nein, Großvater“, fing Heidi nun mit Eifer an,
„das mußt du nicht glauben, ſie waren ja Alle ſo gut, die
Klara und die Großmama und der Herr Seſemann; aber
ſiehſt du, Großvater, ich konnte es faſt gar nicht mehr aus¬
halten, bis ich wieder bei dir daheim ſein könnte, und ich
habe manchmal gemeint, ich müſſe ganz erſticken, ſo hat es
mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts geſagt, weil es
undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen
rief mich der Herr Seſemann ganz früh — aber ich glaube,
der Herr Doktor war ſchuld daran — aber es ſteht viel¬
leicht Alles in dem Brief“ — damit ſprang Heidi auf den
[215] Boden und holte ſeinen Brief und ſeine Rolle aus dem
Korb herbei und legte Beide in die Hand des Gro߬
vaters.


„Das gehört dir“, ſagte dieſer und legte die Rolle
neben ſich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und
las ihn durch; ohne ein Wort zu ſagen, ſteckte er dann
das Blatt in die Taſche.


„Meinſt, du könneſt auch noch Milch trinken mit mir,
Heidi?“ fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand
nahm, um in die Hütte einzutreten. „Aber nimm dort
dein Geld mit dir, da kannſt du ein ganzes Bett daraus
kaufen und Kleider für ein paar Jahre.“


„Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater“, verſicherte
Heidi; „ein Bett hab' ich ſchon, und Kleider hat mir
Klara ſo viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere
brauche.“


„Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirſt's
ſchon einmal brauchen können.“


Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in
die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiederſehen
in alle Winkel ſprang und die Leiter hinauf — aber da
ſtand es plötzlich ſtill und rief in Betroffenheit von oben
herunter: „O Großvater, ich habe kein Bett mehr!“


„Kommt ſchon wieder“, tönte es von unten herauf,
„wußte ja nicht, daß du wieder heimkommſt, jetzt komm'
zur Milch!“

[216]

Heidi kam herunter und ſetzte ſich auf ſeinen hohen
Stuhl am alten Platze und nun erfaßte es ſein Schüſſelchen
und trank mit einer Begierde, als wäre etwas ſo Köſtliches
noch nie in ſein Bereich gekommen, und als es mit einem
tiefen Athemzug das Schüſſelchen hinſtellte, ſagte es: „So
gut wie unſere Milch iſt doch gar Nichts auf der Welt,
Großvater.“


Jetzt ertönte draußen ein ſchriller Pfiff; wie der Blitz
ſchoß Heidi zur Thür hinaus. Da kam die ganze Schaar
der Gaißen hüpfend, ſpringend, Sätze machend von der
Höhe herunter, mitten drin der Peter. Als er Heidi's an¬
ſichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt
ſtehen und ſtarrte es ſprachlos an. Heidi rief: „Guten
Abend, Peter!“ und ſtürzte mitten in die Gaißen hinein:
„Schwänli! Bärli! kennt ihr mich noch?“ und die Gai߬
lein mußten ſeine Stimme gleich erkannt haben, denn ſie
rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen leidenſchaftlich zu
meckern an vor Freude, und Heidi rief alle nach einander
beim Namen und alle rannten wie wild durcheinander und
drängten ſich zu ihm heran; der ungeduldige Diſtelfink
ſprang hoch auf und über zwei Gaißen weg, um gleich in
die Nähe zu kommen, und ſogar das ſchüchterne Schnee¬
höppli drängte mit einem ziemlich eigenſinnigen Bohren den
großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über
die Frechheit daſtand und ſeinen Bart in die Luft hob, um
zu zeigen, daß er es ſei.

[217]

Heidi war außer ſich vor Freude, alle die alten Ge¬
fährten wieder zu haben, es umarmte das kleine, zärtliche
Schneehöppli wieder und wieder und ſtreichelte den ſtürmi¬
ſchen Diſtelfink und wurde vor großer Liebe und Zutrau¬
lichkeit der Gaißen hin- und hergedrängt und geſchoben, bis
es nun ganz in Peter's Nähe kam, der noch immer auf
demſelben Platze ſtand.


„Komm' herunter, Peter, und ſag' mir einmal guten
Abend!“ rief ihm Heidi jetzt zu.


„Biſt denn wieder da?“ brachte er nun endlich in ſeinem
Erſtaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidi's
Hand, die dieſes ihm ſchon lange hingehalten hatte, und nun
fragte er, ſo wie er immer gethan hatte bei der Heimkehr
am Abend: „Kommſt morgen wieder mit?“


„Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn
morgen muß ich zur Großmutter.“


„Es iſt recht, daß du wieder da biſt“, ſagte der Peter,
und verzog ſein Geſicht auf alle Seiten vor ungeheuerem
Vergnügen, dann ſchickte er ſich zur Heimfahrt an; aber
heute wurde es ihm ſo ſchwer wie noch nie mit ſeinen
Gaißen, denn als er ſie endlich mit Locken und Drohen ſo
weit gebracht hatte, daß ſie ſich um ihn ſammelten, und
Heidi, den einen Arm um Schwänli's, und den andern um
Bärli's Kopf gelegt, davonſpazierte, da kehrten mit einem
Mal alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi
mußte mit ſeinen zwei Gaißen in den Stall eintreten und
[218] die Thüre zumachen, ſonſt wäre der Peter niemals mit
ſeiner Heerde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte
zurückkam, da ſah es ſein Bett ſchon wieder aufgerichtet,
prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht
lange hereingeholt, und drüber hatte der Großvater ganz
ſorgfältig die ſauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte ſich
mit großer Luſt hinein und ſchlief ſo herrlich, wie es ein
ganzes Jahr lang nicht geſchlafen hatte. Während der
Nacht verließ der Großvater wohl zehn Mal ſein Lager
und ſtieg die Leiter hinauf und lauſchte ſorgſam, ob Heidi
auch ſchlafe und nicht unruhig werde, und ſuchte am Loch
nach, wo ſonſt der Mond hereinkam auf Heidi's Lager, ob
auch das Heu noch feſt drinnen ſitze, das er hineingeſtopft
hatte, denn von nun an durfte der Mondſchein nicht
mehr hereinkommen. Aber Heidi ſchlief in Einem Zuge
fort und wanderte keinen Schritt herum, denn ſein großes,
brennendes Verlangen war geſtillt worden: es hatte alle
Berge und Felſen wieder im Abendglühen geſehen, es hatte
die Tannen rauſchen gehört, es war wieder daheim auf der
Alm.

[]

Capitel XIV.
Am Sonntag, wenn's läutet.

Heidi ſtand unter den wogenden Tannen und wartete
auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom
Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter
wäre. Das Kind konnte es faſt nicht erwarten, die Gro߬
mutter wiederzuſehen und zu hören, wie ihr die Brödchen
geſchmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht
lange, denn es konnte ja nicht genug die heimathlichen Töne
von dem Tannenrauſchen über ihm und das Duften und
Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen
darauf eintrinken.


Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, ſchaute noch
einmal rings um ſich und ſagte dann mit zufriedenem Ton:
„So, nun können wir gehen.“


Denn es war Sonnabend heut', und an dem Tage
machte der Alm-Oehi Alles ſauber und in Ordnung in der
Hütte, im Stall und ringsherum, das war ſeine Gewohn¬
heit, und heut' hatte er den Morgen dazu genommen, um
[220] gleich Nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und ſo
ſah nun Alles ringsherum gut und zu ſeiner Zufriedenheit
aus. Bei der Gaißenpeter-Hütte trennten ſie ſich, und
Heidi ſprang herein. Schon hatte die Großmutter ſeinen
Schritt gehört und rief ihm liebevoll entgegen: „Kommſt
du, Kind? Kommſt du wieder?“


Dann erfaßte ſie Heidi's Hand und hielt ſie ganz feſt,
denn immer noch fürchtete ſie, das Kind könnte ihr wieder
entriſſen werden. Und nun mußte die Großmutter er¬
zählen, wie die Brödchen geſchmeckt hätten, und ſie ſagte,
ſie habe ſich ſo daran erlabt, daß ſie meine, ſie ſei heute
viel kräftiger, als lange nicht mehr, und Peter's Mutter
fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, ſie
werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brödchen eſſen
wollen, geſtern und heut' zuſammen, und ſie käme gewiß
noch ziemlich zu Kräften, wenn ſie ſo acht Tage lang hinter¬
einander jeden Tag eines eſſen wollte. Heidi hörte der
Brigitte mit Aufmerkſamkeit zu und blieb jetzt noch eine
Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es ſeinen Weg gefun¬
den. „Ich weiß ſchon, was ich mache, Großmutter“, ſagte
es in freudigem Eifer, „ich ſchreibe der Klara einen Brief
und dann ſchickt ſie mir gewiß noch einmal ſo viele Bröd¬
chen, wie da ſind, oder zweimal, denn ich hatte ſchon einen
großen Haufen ganz gleiche im Kaſten, und als man mir
ſie weggenommen hatte, ſagte Klara, ſie gebe mir gerade
ſo viele wieder, und das thut ſie ſchon.“

[221]

„Ach Gott“, ſagte die Brigitte, „das iſt eine gute
Meinung; aber denk', ſie werden auch hart. Wenn man
nur hie und da einen übrigen Batzen hätte, der Bäcker
unten im Dörfli macht auch ſolche, aber ich vermag kaum
das ſchwarze Brod zu bezahlen.“


Jetzt ſchoß ein heller Freudenſtrahl über Heidi's Ge¬
ſicht: „O ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter“, rief
es jubelnd aus und hüpfte vor Freuden in die Höhe, „jetzt
weiß ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage mußt du
ein neues Brödchen haben und am Sonntage zwei, und
der Peter kann ſie heraufbringen vom Dörfli.“


„Nein, nein, Kind!“ wehrte die Großmutter; „das
kann nicht ſein, das Geld haſt du nicht dazu bekommen,
du mußt es dem Großvater geben, er ſagt dir dann ſchon,
was du damit machen mußt.“


Aber Heidi ließ ſich nicht ſtören in ſeiner Freude, es
jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal
über's andere: „Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein
Brödchen eſſen und wird wieder ganz kräftig und — o Gro߬
mutter“, rief es mit neuem Jubel, „wenn du dann ſo ge¬
ſund wirſt, ſo wird es dir gewiß auch wieder hell, es iſt
vielleicht nur, weil du ſo ſchwach biſt.“


Die Großmutter ſchwieg ſtill, ſie wollte des Kindes Freude
nicht trüben. Bei ſeinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf
einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen,
und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: „Gro߬
[222] mutter, jetzt kann ich auch ganz gut leſen, ſoll ich dir ein¬
mal ein Lied leſen aus deinem alten Buch?“


„O ja“, bat die Großmutter freudig überraſcht, „kannſt
du das auch wirklich, Kind, kannſt du das?“


Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das
Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn
es hatte lange unberührt gelegen da droben; nun wiſchte
es Heidi ſauber ab, ſetzte ſich damit auf ſeinen Schemel
zur Großmutter hin und fragte, was es nun leſen
ſollte.


„Was du willſt, Kind, was du willſt“, und mit ge¬
ſpannter Erwartung ſaß die Großmutter da und hatte ihr
Spinnrad ein wenig von ſich geſchoben.


Heidi blätterte und las leiſe hie und da eine Linie:
„Jetzt kommt Etwas von der Sonne, das will ich dir
leſen, Großmutter.“ Und Heidi begann und wurde ſelbſt
immer eifriger und immer wärmer, während es las:


„Die güldne Sonne

Voll Freud' und Wonne

Bringt unſern Gränzen

Mit ihrem Glänzen

Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder

Die lagen darnieder;

Aber nun ſteh' ich,

Bin munter und fröhlich,

Schaue den Himmel mit meinem Geſicht.
[223]
Mein Auge ſchauet,

Was Gott gebauet

Zu ſeinen Ehren,

Und uns zu lehren,

Wie ſein Vermögen ſei mächtig und groß.
Und wo die Frommen

Dann ſollen hinkommen,

Wenn ſie mit Frieden

Von hinnen geſchieden

Aus dieſer Erde vergänglichem Schooß.
Alles vergehet,

Gott aber ſtehet

Ohn' alles Wanken,

Seine Gedanken,

Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
Sein Heil und Gnaden,

Die nehmen nicht Schaden,

Heilen im Herzen

Die tödtlichen Schmerzen,

Halten uns zeitlich und ewig geſund.
Kreuz und Elende —

Das nimmt ein Ende,

Nach Meeresbrauſen

Und Windesſauſen

Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht.
Freude die Fülle

Und ſelige Stille

[224]
Darf ich erwarten

Im himmliſchen Garten,

Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“

Die Großmutter ſaß ſtill da mit gefalteten Händen
und ein Ausdruck unbeſchreiblicher Freude, ſo wie ihn Heidi
nie an ihr geſehen hatte, lag auf ihrem Geſicht, obſchon
ihr die Thränen die Wangen herabliefen. Als Heidi ſchwieg,
bat ſie mit Verlangen: „O, noch einmal, Heidi, laß es
mich noch einmal hören:


„Kreuz und Elende

Das nimmt ein Ende —“

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener
Freude und Verlangen:


„Kreuz und Elende —

Das nimmt ein Ende;

Nach Meeresbrauſen

Und Windesſauſen

Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht.
Freude die Fülle

Und ſelige Stille

Darf ich erwarten

Im himmliſchen Garten,

Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“

„O Heidi, das macht hell! das macht ſo hell im Her¬
zen! O wie haſt du mir wohl gemacht, Heidi!“


Ein Mal um's andere ſagte die Großmutter die Worte
[225] der Freude, und Heidi ſtrahlte vor Glück und mußte ſie nur
immer anſehen, denn ſo hatte es die Großmutter nie ge¬
ſehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte, trübſelige Ge¬
ſicht, ſondern ſchaute ſo freudig und dankend auf, als ſähe
ſie ſchon mit neuen, hellen Augen in den ſchönen himm¬
liſchen Garten hinein.


Jetzt klopfte es am Fenſter, und Heidi ſah den Gro߬
vater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es
folgte ſchnell, aber nicht ohne die Großmutter zu verſichern,
morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter
auf die Weide gehe, ſo komme es doch im halben Tag zu¬
rück, denn daß es der Großmutter wieder hell machen konnte
und ſie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf
der ſonnigen Weide und bei den Blumen und Gaißen zu
ſein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Thür nach
mit Rock und Hut, daß es ſeine Habe mitnehme. Den
Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater kenne es
jetzt ſchon, dachte es bei ſich, aber den Hut wies es hart¬
näckig zurück, die Brigitte ſolle ihn nur behalten, es ſetze
ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war ſo erfüllt von
ſeinen Erlebniſſen, daß es gleich dem Großvater Alles er¬
zählen mußte, was ihm das Herz erfreute, daß man die
weißen Brödchen auch unten im Dörfli für die Großmutter
holen könne, wenn man nur Geld habe, und daß es der
Großmutter auf einmal ſo hell und wohl geworden war,
Kleine Geſchichten. III. 15[226] und wie Heidi das Alles zu Ende geſchildert hatte, kehrte
es wieder zum Erſten zurück und ſagte ganz zuverſichtlich:
„Gelt, Großvater, wenn die Großmutter ſchon nicht will,
ſo gibſt du mir doch alles Geld in der Rolle, daß ich dem
Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brödchen
und am Sonntag zwei?“


„Aber das Bett, Heidi“, ſagte der Großvater, „ein
rechtes Bett für dich wäre gut, und nachher bleibt ſchon
noch für manches Brödchen.“


Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies
ihm, daß es auf ſeinem Heubett viel beſſer ſchlafe, als es je¬
mals in ſeinem Kiſſenbett in Frankfurt geſchlafen habe, und
bat ſo eindringlich und unabläſſig, daß der Großvater zu¬
letzt ſagte: „Das Geld iſt dein, mach' was dich freut, du
kannſt der Großmutter manches Jahr lang Brod holen
dafür.“


Heidi jauchzte auf: „O juhe! Nun muß die Gro߬
mutter gar nie mehr hartes, ſchwarzes Brod eſſen, und o
Großvater! nun iſt doch Alles ſo ſchön, wie noch gar nie
ſeit wir leben!“ und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand
des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf, wie die
fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde
es ganz ernſthaft und ſagte: „O wenn nun der liebe Gott
gleich auf der Stelle gethan hätte, was ich ſo ſtark erbetete,
dann wäre doch Alles nicht ſo geworden, ich wäre nur gleich
wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige
[227] Brödchen gebracht, und hätte ihr nicht leſen können, was
ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte ſchon Alles aus¬
gedacht, ſo viel ſchöner, als ich es wußte; die Großmama
hat es mir geſagt und nun iſt Alles ſo gekommen. O wie
bin ich froh, daß der liebe Gott nicht nachgab, wie ich ſo
bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer ſo beten,
wie die Großmama ſagte, und dem lieben Gott immer
danken, und wenn er Etwas nicht thut, das ich erbeten will,
dann will ich gleich denken: es geht gewiß wieder wie in
Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiß etwas viel Beſſeres
aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Gro߬
vater, und wir wollen es nie mehr vergeſſen, damit der
liebe Gott uns auch nicht vergißt.“


„Und wenn's Einer doch thäte“, murmelte der Gro߬
vater.


„O dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergißt
ihn dann auch und läßt ihn ganz laufen, und wenn es ihm
einmal ſchlecht geht, und er jammert, ſo hat kein Menſch
Mitleid mit ihm, ſondern alle ſagen nur, er iſt ja zuerſt
vom lieben Gott weggelaufen, nun läßt ihn der liebe Gott
auch gehen, der ihm helfen könnte.“


„Das iſt wahr, Heidi, woher weißt du das?“


„Von der Großmama, ſie hat mir Alles erklärt.“


Der Großvater ging eine Weile ſchweigend weiter. Dann
ſagte er, ſeine Gedanken verfolgend, vor ſich hin: „Und
wenn's einmal ſo iſt, dann iſt's ſo; zurück kann Keiner,
15 *[228] und wen der Herrgott vergeſſen hat, den hat er ver¬
geſſen.“


„O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich
auch von der Großmama, und dann geht es ſo wie in der
ſchönen Geſchichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht;
jetzt ſind wir aber gleich daheim, und dann wirſt du ſchon
erfahren, wie ſchön die Geſchichte iſt.“


Heidi ſtrebte in ſeinem Eifer raſcher und raſcher die
letzte Steigung hinan — und kaum waren ſie oben ange¬
langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die
Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von
ſeinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem
Koffer hineingeſtoßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬
zubringen wäre ihm zu ſchwer geweſen. Dann ſetzte er ſich
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬
gerannt, ſein großes Buch unter dem Arm: „O das iſt
recht, Großvater, daß du ſchon daſitzeſt“, und mit einem
Satz war Heidi an ſeiner Seite und hatte ſchon ſeine
Geſchichte aufgeſchlagen, denn die hatte es ſchon ſo oft und
immer wieder geleſen, daß das Buch von ſelbſt aufging
an dieſer Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme
von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf
des Vaters Feldern die ſchönen Kühe und Schäflein wei¬
deten und er in einem ſchönen Mäntelchen, auf ſeinen
Hirtenſtab geſtützt, bei ihnen auf der Weide ſtehen und dem
Sonnenuntergang zuſehen konnte, wie es Alles auf dem
[229] Bilde zu ſehen war. Aber auf einmal wollte er ſein Hab
und Gut für ſich haben und ſein eigener Meiſter ſein und
forderte es dem Vater ab und lief fort damit und ver¬
praßte Alles. Und als er gar Nichts mehr hatte, mußte er
hingehen und Knecht ſein bei einem Bauer, der hatte aber
nicht ſo ſchöne Thiere, wie auf ſeines Vaters Feldern waren,
ſondern nur Schweinlein, dieſe mußte er hüten und er
hatte nur noch Fetzen auf ſich und bekam nur von den
Träbern, welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig.
Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt
und wie gut der Vater mit ihm geweſen war und wie un¬
dankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er mußte
weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: „Ich will
zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten
und ihm ſagen, ich bin nicht mehr werth, dein Sohn zu
heißen, aber laß mich nur dein Taglöhner bei dir ſein.“
Und wie er von ferne gegen das Haus ſeines Vaters kam,
da ſah ihn der Vater und kam herausgelaufen — „was
meinſt du jetzt, Großvater?“ unterbrach ſich Heidi in ſeinem
Vorleſen; „jetzt meinſt du, der Vater ſei noch böſe und
ſage zu ihm: ‚Ich habe dir's ja geſagt!?‘ Jetzt hör' nur, was
kommt: ‚Und ſein Vater ſah ihn und es jammerte ihn
und lief und fiel ihn um den Hals und küßte ihn und der
Sohn ſprach zu ihm: Vater, ich habe geſündigt gegen den
Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth dein Sohn
zu heißen. Aber der Vater ſprach zu ſeinen Knechten:
[230] Bringet das beſte Kleid her und zieht es ihm an und gebt
ihm einen Ring an ſeine Hand und Schuhe an die Füße,
und bringt das gemäſtete Kalb her und ſchlachtet es und
laßt uns eſſen und fröhlich ſein, denn dieſer mein Sohn
war todt und iſt wieder lebendig geworden und er war
verloren und iſt wieder gefunden worden. Und ſie fingen
an fröhlich zu ſein.‘


„Iſt denn das nicht eine ſchöne Geſchichte, Großvater?“
fragte Heidi, als dieſer immer noch ſchweigend da ſaß und
es doch erwartet hatte, er werde ſich freuen und verwundern.


„Doch, Heidi, die Geſchichte iſt ſchön“, ſagte der Gro߬
vater, aber ſein Geſicht war ſo ernſthaft, daß Heidi ganz
ſtille wurde und ſeine Bilder anſah. Leiſe ſchob es noch
einmal ſein Buch vor den Großvater hin und ſagte: „Sieh',
wie es ihm wohl iſt“, und zeigte mit ſeinem Finger auf
das Bild des Heimgekehrten, wie er im friſchen Kleid neben
dem Vater ſteht und wieder zu ihm gehört als ſein Sohn.


Ein paar Stunden ſpäter, als Heidi längſt im tiefen
Schlafe lag, ſtieg der Großvater die kleine Leiter hinauf;
er ſtellte ſein Lämpchen neben Heidi's Lager hin, ſo daß
das Licht auf das ſchlafende Kind fiel. Es lag da mit
gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht ver¬
geſſen. Auf ſeinem roſigen Geſichtchen lag ein Ausdruck des
Friedens und ſeligen Vertrauens, der zu dem Großvater
reden mußte, denn lange, lange ſtand er da und rührte
ſich nicht und wandte kein Auge von dem ſchlafenden Kinde
[231] ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut ſagte
er mit geſenktem Haupte: „Vater, ich habe geſündigt gegen
den Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth, dein
Sohn zu heißen!“ Und ein paar große Thränen rollten
dem Alten die Wangen herab.


Wenige Stunden nachher in der erſten Frühe des Tages
ſtand der Alm-Oehi vor ſeiner Hütte und ſchaute mit hellen
Augen um ſich. Der Sonntagmorgen flimmerte und
leuchtete über Berg und Thal. Einzelne Frühglocken tönten
aus den Thälern herauf, und oben in den Tannen ſangen
die Vögel fröhlich ihre Morgenlieder.


Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück: „Komm',
Heidi!“ rief er auf den Boden hinauf, „die Sonne iſt da!
Zieh' ein gutes Röcklein an, wir wollen in die Kirche mit
einander!“


Heidi machte nicht lange, das war ein ganz neuer Ruf
vom Großvater, dem mußte es ſchnell folgen. In kurzer
Zeit kam es heruntergeſprungen in ſeinem ſchmucken
Frankfurter Röckchen. Aber voller Erſtaunen blieb Heidi
vor ſeinem Großvater ſtehen und ſchaute ihn an: „O
Großvater, ſo hab' ich dich nie geſehen“, brach es endlich
aus, „und den Rock mit den ſilbernen Knöpfen haſt du
noch gar nicht getragen, o du biſt ſo ſchön in deinem
ſchönen Sonntagsrock.“


Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und
ſagte: „Und du in dem deinen; jetzt komm'.“ Er nahm
[232] Heidi's Hand in die ſeine, und ſo wanderten ſie mit einander
den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen
Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter
ſie kamen, und Heidi lauſchte mit Entzücken und ſagte:
„Hörſt du's, Großvater? Es iſt wie ein großes, großes
Feſt.“


Unten im Dörfli waren ſchon alle Leute in der Kirche
und fingen eben zu ſingen an, als der Großvater mit
Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank ſich
niederſetzte. Aber mitten im Singen ſtieß der zunächſt
Sitzende ſeinen Nachbar mit dem Ellbogen an und ſagte:
„Haſt du das geſehen? der Alm-Oehi iſt in der Kirche!“


Und der Angeſtoßene ſtieß den Zweiten an und ſo fort,
und in kürzeſter Zeit flüſterte es an allen Ecken: „Der Alm-
Oehi! Der Alm-Oehi!“ und die Frauen mußten faſt alle
einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meiſten fielen
ein wenig aus der Melodie, ſo daß der Vorſänger die
größte Mühe hatte, den Geſang ſchön aufrecht zu erhalten.
Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging
die Zerſtreutheit ganz vorüber, denn es war ein ſo warmes
Loben und Danken in ſeinen Worten, daß alle Zuhörer
davon ergriffen wurden und es war, als ſei ihnen Allen
eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienſt zu
Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand
heraus und ſchritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit
ihm heraustraten und die ſchon draußen ſtanden, ſchauten
[233] ihm nach, und die Meiſten gingen hinter ihm her, um zu
ſehen, ob er wirklich in's Pfarrhaus eintrete, was er that.
Dann ſammelten ſie ſich in Gruppen zuſammen und be¬
ſprachen in großer Aufregung das Unerhörte, daß der Alm-
Oehi in der Kirche erſchienen war, und Alle ſchauten mit
Spannung nach der Pfarrhausthür, wie der Oehi wohl
wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader,
oder im Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wußte
ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und
wie es eigentlich gemeint ſei. Aber doch war ſchon bei
Vielen eine neue Stimmung eingetreten, und Einer ſagte
zum Andern: „Es wird wohl mit dem Alm-Oehi nicht ſo
bös ſein, wie man thut; man kann ja nur ſehen, wie ſorg¬
lich er das Kleine an der Hand hält?“ Und der Andere
ſagte: „Das hab' ich ja immer geſagt, und zum Pfarrer
hinein gienge er auch nicht, wenn er ſo bodenſchlecht wäre,
ſonſt müßte er ſich ja fürchten, man übertreibt auch viel.“
Und der Bäcker ſagte: „Hab' ich das nicht zu allererſt ge¬
ſagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu eſſen
und zu trinken hat, was es will, und ſonſt alles Gute, aus
alle dem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös
und wild iſt und es ſich zu fürchten hat vor ihm?“ Und
es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Oehi
auf und nahm überhand, denn jetzt nahten ſich auch die
Frauen herzu, und dieſe hatten ſo Manches von der Gaißen-
Peterin und der Großmutter gehört, das den Alm-Oehi ganz
[234] anders darſtellte, als die allgemeine Meinung war und das
ihnen jetzt auf einmal glaublich ſchien, daß es mehr und
mehr ſo wurde, als warten ſie Alle da, um einen alten
Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.


Der Alm-Oehi war unterdeſſen an die Thür der Stu¬
dierſtube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer
machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht über¬
raſcht, wie er wohl hätte ſein können, ſondern ſo, als habe
er ihn erwartet; die ungewohnte Erſcheinung in der Kirche
mußte ihm nicht entgangen ſein. Er ergriff die Hand des
Alten und ſchüttelte ſie wiederholt mit der größten Herzlich¬
keit, und der Alm-Oehi ſtand ſchweigend da und konnte erſt
kein Wort herausbringen, denn auf ſolchen herzlichen
Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er ſich und
ſagte: „Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß
er mir die Worte vergeſſen möchte, die ich zu ihm auf der
Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle,
wenn ich widerſpenſtig war gegen ſeinen wohlmeinenden
Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt
und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt ſeinem Rathe
folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli
beziehen, denn die harte Jahreszeit iſt Nichts für das Kind
dort oben, es iſt zu zart, und wenn dann auch die Leute
hier unten mich von der Seite anſehen, ſo wie Einen, dem
nicht zu trauen iſt, ſo habe ich es nicht beſſer verdient,
und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun.“

[235]

Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor
Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und drückte
ſie in der ſeinen und ſagte mit Rührung: „Nachbar, Ihr
ſeid in der rechten Kirche geweſen, noch eh' Ihr in die
meinige herunterkamt; deß freu' ich mich, und daß Ihr
wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, ſoll Euch
nicht gereuen, bei mir ſollt Ihr als ein lieber Freund und
Nachbar allezeit willkommen ſein, und ich gedenke manches
Winterabendſtündchen fröhlich mit Euch zu verbringen, denn
Eure Geſellſchaft iſt mir lieb und werth und für das Kleine
wollen wir auch gute Freunde finden.“ Und der Herr
Pfarrer legte ſehr freundlich ſeine Hand auf Heidi's Kraus¬
kopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
indem er den Großvater fort begleitete, und erſt draußen
vor der Hausthür nahm er Abſchied, und nun konnten alle
die herumſtehenden Leute ſehen, wie der Herr Pfarrer dem
Alm-Oehi die Hand immer noch einmal ſchüttelte, gerade als
wäre das ſein beſter Freund, von dem er ſich faſt nicht
trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Thüre ſich
hinter dem Herrn Pfarrer geſchloſſen, ſo drängte die ganze
Verſammlung dem Alm-Oehi entgegen, und Jeder wollte der
Erſte ſein, und ſo viele Hände wurden miteinander dem
Herankommenden entgegengeſtreckt, daß er gar nicht wußte,
welche zuerſt ergreifen, und Einer rief ihm zu: „Das freut
mich! das freut mich, Oehi, daß Ihr auch wieder einmal
zu uns kommt!“ und ein Anderer: „Ich hätte auch ſchon
[236] lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch geredet,
Oehi!“ Und ſo tönte und drängte es von allen Seiten,
und wie nun der Oehi auf alle die freundlichen Be¬
grüßungen erwiderte, er gedenke, ſein altes Quartier im
Dörfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten
Bekannten zu verleben, da gab es erſt einen rechten Lärm,
und es war gerade ſo, wie wenn der Alm-Oehi die beliebteſte
Perſönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die Jeder mit Nach¬
theil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
Großvater und Kind von den Meiſten begleitet, und beim
Abſchied wollte Jeder die Verſicherung haben, daß der Alm-
Oehi bald einmal bei ihm vorſpreche, wenn er wieder
herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab
zurückkehrten, blieb der Alte ſtehn und ſchaute ihnen lange
nach, und auf ſeinem Geſichte lag ein ſo warmes Licht, als
ſchiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi ſchaute
unverwandt zu ihm auf und ſagte ganz erfreut: „Gro߬
vater, heut' wirſt du immer ſchöner, ſo warſt du noch
gar nie.“


„Meinſt du“, lächelte der „Ja, und ſiehſt
du, Heidi, mir geht's auch heut' über Verſtehen und Ver¬
dienen gut, und mit Gott und Menſchen im Frieden ſtehn,
das macht Einem ſo wohl! Der liebe Gott hat's gut mit
mir gemeint, daß er dich auf die Alm ſchickte.“


Bei der Gaißenpeter-Hütte angekommen, machte der
Großvater gleich die Thür auf und trat ein. „Grüß' Gott,
[237] Großmutter“, rief er hinein, „ich denke, wir müſſen einmal
wieder an's Flicken gehn, bevor der Herbſtwind kommt.“


„Du mein Gott, das iſt der Oehi!“ rief die Gro߬
mutter voll freudiger Ueberraſchung aus; „daß ich das noch
erlebe! daß ich Euch noch einmal danken kann für Alles,
das Ihr für uns gethan habt, Oehi! Vergelt's Gott!
Vergelt's Gott!“


Und mit zitternder Freude ſtreckte die alte Großmutter
ihre Hand aus, und als der Angeredete ſie herzlich ſchüttelte,
fuhr ſie fort, indem ſie die ſeinige feſthielt: „Und eine
Bitte hab' ich auch noch auf dem Herzen, Oehi: Wenn
ich Euch je Etwas zu Leid gethan habe, ſo ſtraft mich nicht
damit, daß Ihr noch einmal das Heidi fortlaßt, bevor
ich unten bei der Kirche liege. O Ihr wißt nicht, was
mir das Kind iſt!“ und ſie hielt es feſt an ſich, denn
Heidi hatte ſich ſchon an ſie geſchmiegt.


„Keine Sorge, Großmutter“, beruhigte der Oehi,
„damit will ich weder Euch noch mich ſtrafen, jetzt bleiben
wir Alle bei einander und will's Gott noch lange ſo.“


Jetzt zog die Brigitte den Oehi ein wenig geheimni߬
voll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das ſchöne Feder¬
hütchen, und erzählte ihm, wie es ſich damit verhalte,
und daß ſie ja natürlich ſo Etwas einem Kinde nicht ab¬
nehme.


Aber der Großvater ſah ganz wohlgefällig auf ſein Heidi
hin und ſagte: „Der Hut iſt ſein, und wenn es ihn
[238] nicht mehr auf den Kopf thun will, ſo hat es recht, und
hat es ihn dir gegeben, ſo nimm ihn nur.“


Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete
Urtheil. „Er iſt gewiß mehr als zehn Franken werth, ſeht
nur!“ und in ihrer Freude ſtreckte ſie das Hütchen hoch
auf. „Was aber auch dieſes Heidi für einen Segen von
Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe ſchon manchmal
denken müſſen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach
Frankfurt ſchicken ſolle; was meint Ihr, Oehi?“


Dem Oehi ſchoß es ganz luſtig aus den Augen. Er
meinte, es könnte dem Peterli Nichts ſchaden; aber er würde
doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.


Jetzt fuhr der Beſprochene eben zur Thür herein, nach¬
dem er zuerſt mit dem Kopf ſo feſt dagegen gerannt war,
daß Alles erklirrte davon; er mußte preſſirt ſein. Athemlos
und keuchend ſtand er nun mitten in der Stube ſtill und
ſtreckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereigniß, das
noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufſchrift
an das Heidi, den man ihm auf der Poſt im Dörfli über¬
geben hatte. Jetzt ſetzten ſich Alle voller Erwartung um
den Tiſch herum und Heidi machte ſeinen Brief auf und
las ihn laut und ohne Anſtoß vor. Der Brief war von
der Klara Seſemann geſchrieben. Sie erzählte Heidi, daß
es ſeit ſeiner Abreiſe ſo langweilig geworden ſei in ihrem
Hauſe, daß ſie es nicht lang hintereinander ſo aushalten
könne und ſo lange den Vater gebeten habe, bis er die
[239] Reiſe in's Bad Ragatz ſchon auf den kommenden Herbſt
feſtgeſtellt habe, und die Großmama wollte auch mitkommen,
denn ſie wollte auch das Heidi und den Großvater beſuchen
auf der Alm. Und weiter ließ die Großmama noch dem
Heidi ſagen, es habe recht gethan, daß es der alten Gro߬
mutter die Brödchen habe mitbringen wollen, und damit ſie
dieſe nicht trocken eſſen müſſe, komme gleich der Kaffee noch
dazu, er ſei ſchon auf der Reiſe und wenn ſie ſelbſt nach
der Alm komme, ſo müſſe das Heidi ſie auch zur Gro߬
mutter führen.


Da gab es nun eine ſolche Freude und Verwunderung
über dieſe Nachrichten, und ſo viel zu reden und zu fragen,
da die große Erwartung Alle gleich betraf, daß ſelbſt der
Großvater nicht bemerkte, wie ſpät es ſchon war, und ſo
vergnügt und fröhlich waren ſie Alle in der Ausſicht auf
die kommenden Tage und faſt noch mehr in der Freude über
das Zuſammenſein an dem heutigen, daß die Großmutter
zuletzt ſagte: „Das Schönſte iſt doch, wenn ſo ein alter
Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, ſo wie vor
langer Zeit; das gibt ſo ein tröſtliches Gefühl in's Herz,
daß wir einmal Alles wiederfinden, was uns lieb iſt. Ihr
kommt doch bald wieder, Oehi, und das Kind morgen
ſchon?“


Das wurde der Großmutter in die Hand hinein ver¬
ſprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der
Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie
[240] am Morgen die hellen Glocken von Nah und Fern ſie
heruntergerufen hatten, ſo begleitete nun aus dem Thale
herauf das friedliche Geläut der Abendglocken ſie bis hinauf
zur ſonnigen Almhütte, die ganz ſonntäglich im Abendſchimmer
ihnen entgegenglänzte.


Wenn aber die Großmama kommt im Herbſt, dann
gibt es gewiß noch manche neue Freude und Ueberraſchung
für das Heidi wie für die Großmutter, und ſicher kommt
auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf,
denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge
bald in die erwünſchte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
wie nach innen.

Appendix A

Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Spyri, Johanna. Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnn7.0