grüne Heinrich.
grüne Heinrich.
Dritter Band.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1854.
Erſtes Kapitel.
Ich ſchlief feſt und traumlos bis zum Mittag;
als ich erwachte, wehte noch immer der warme
Suͤdwind und es regnete in Einem fort. Ich
ſah aus dem Fenſter und erblickte das Thal auf
und nieder, wie Hunderte von Maͤnnern am
Waſſer arbeiteten, um die Wehren und Daͤmme
herzuſtellen, da in den Bergen aller Schnee
ſchmelzen mußte und eine große Fluth zu er¬
warten war. Das Fluͤßchen rauſchte ſchon an¬
ſehnlich und grau gelblich daher; fuͤr unſer Haus
war gar keine Gefahr, da es an einem ſicher ab¬
gedaͤmmten Seitenarme lag, der die Muͤhle trieb;
doch waren alle Mannsperſonen fort, um die
Wieſen zu ſchuͤtzen, und ich ſaß mit den Frauens¬
leuten allein zu Tiſche. Nachher ging ich auch
hinaus und ſah die Maͤnner eben ſo ruͤſtig und
III. 1[2] entſchloſſen bei der Arbeit, als ſie geſtern die
Freude angefaßt hatten. Sie handtierten wie die
Teufel in Erde, Holz und Steinen, ſtanden bis
uͤber die Kniee in Schlamm und Waſſer, ſchwan¬
gen Aexte und trugen Faſchinen und Balken um¬
her, und wenn ſo acht Mann unter einem ſchwe¬
ren Werkſtuͤcke einher gingen, hielten die Witz¬
bolde unter ihnen ohne Zeitverluſt keinen Einfall
zuruͤck; nur der Unterſchied war gegen geſtern,
daß man keine Tabakspfeifen ſah, da dies Volk
bei der Arbeit wohl wußte, was guter Ton iſt.
Ich konnte nicht viel helfen und war den Leuten
eher im Wege; nachdem ich daher eine Strecke
weit das Waſſer hinaufgeſchlendert, kehrte ich
oben durch das Dorf zuruͤck und ſah auf dieſem
Gange die Thaͤtigkeit auf allen ihren gewohnten
Wegen. Wer nicht am Waſſer beſchaͤftigt war,
der fuhr ins Holz, um die dortige Arbeit noch
ſchnell abzuthun, und auf einem Acker ſah ich
einen Mann ſo ruhig und aufmerkſam pfluͤgen,
als ob weder der Nachtag eines Feſtes, noch eine
Gefahr im Lande waͤren. Ich ſchaͤmte mich, allein
ſo muͤßig und zwecklos umherzugehen, und um
[3] nur etwas Entſchiedenes zu thun, entſchloß ich
mich, ſogleich nach der Stadt zuruͤckzukehren.
Zwar hatte ich leider nicht viel zu verſaͤumen und
meine ungeleitete haltloſe Arbeit bot mir in dieſem
Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja ſie
kam mir ſchaal und nichtig vor; da aber der
Nachmittag ſchon vorgeruͤckt war und ich durch
Koth und Regen in die Nacht hinein wandern
mußte, ſo ließ eine ascetiſche Laune mir dieſen
Gang als eine Wohlthat erſcheinen, und ich machte
mich trotz aller Einreden meiner Verwandten
ungeſaͤumt auf den Weg.
So ſtuͤrmiſch und muͤhevoll dieſer war, legte
ich doch die bedeutende Strecke zuruͤck wie einen
ſonnigen Gartenpfad; denn in meinem Innern
erwachten alle Gedanken und ſpielten fort und
fort mit dem Raͤthſel des Lebens, wie mit einer
goldenen Kugel, und ich war nicht wenig uͤber¬
raſcht, mich unverſehens vor dem Stadtthore zu
befinden. Als ich vor unſer Haus kam, merkte
ich an den dunkeln Fenſtern, daß meine Mutter
ſchon ſchlief; mit einem heimkehrenden Hausge¬
noſſen ſchluͤpfte ich in's Haus und auf meine
1 *[4] Kammer, und am Morgen that meine Mutter
die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet
zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah.
Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube
eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war.
Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand,
welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem
Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬
zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬
fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des
Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬
flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber
auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher,
an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden,
mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf
dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬
fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine
Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden
kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke,
welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte,
um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬
bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der
große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬
[5] treten waͤre; denn ſo wenige Jahre ſeit ſeinem
Tode verfloſſen, ſo hatte ſein Bild in der Vor¬
ſtellung des juͤngſten Geſchlechtes bereits etwas
Daͤmoniſch-Goͤttliches angenommen, das, wenn
es als eine Geſtaltung der entfeſſelten Phantaſie
Einem im Traume erſchien, mit ahnungsvollem
Schauer erfuͤllen konnte. Vor einigen Jahren
hatte ein deutſcher Schreinergeſelle, welcher in
unſerer Stube etwas zurecht haͤmmerte, dabei von
ungefaͤhr geſagt: »Der große Goͤthe iſt geſtorben,«
und dies unbeachtete Wort klang mir immer
wieder nach. Der unbekannte Todte ſchritt faſt
durch alle Beſchaͤftigungen und Anregungen und
uͤberall zog er angeknuͤpfte Faͤden an ſich, deren
Enden nur in ſeiner unſichtbaren Hand ver¬
ſchwanden. Als ob ich jetzt alle dieſe Faͤden in
dem ungeſchlachten Knoten der Schnur, welche
die Buͤcher umwand, beiſammen haͤtte, fiel ich
uͤber denſelben her und begann haſtig ihn aufzu¬
loͤſen, und als er endlich aufging, da fielen die
goldenen Fruͤchte des achtzigjaͤhrigen Lebens auf
das Schoͤnſte auseinander, verbreiteten ſich uͤber
das Ruhbett und fielen uͤber deſſen Rand auf
[6] den Boden, daß ich alle Haͤnde voll zu thun
hatte, den Reichthum zuſammen zu halten. Ich
entfernte mich von ſelber Stunde an nicht mehr
vom Lotterbettchen und las dreißig Tage lang,
indeſſen es noch ein Mal ſtrenger Winter und
wieder Fruͤhling wurde; aber der weiße Schnee
ging mir wie ein Traum voruͤber, den ich unbe¬
achtet von der Seite glaͤnzen ſah. Ich griff zu¬
erſt nach Allem, was ſich durch den Druck als
Dramatiſch zeigte, dann las ich alles Gereimte,
dann die Romane, dann die italieniſche Reiſe,
dann einige kuͤnſtleriſche Monographien, und als
ſich der Strom hinauf in die proſaiſchen Gefilde
des taͤglichen Fleißes, der Einzelmuͤhe verlief, ließ
ich das Weitere liegen und fing von vorn an
und entdeckte diesmal die einzelnen Sternbilder
in ihren ſchoͤnen Stellungen zu einander und da¬
zwiſchen einzelne ſeltſam glaͤnzende Sterne, wie
den Reineke Fuchs oder den Benvenuto Cellini.
So hatte ich noch ein Mal dieſen Himmel durch¬
ſchweift und Vieles wieder doppelt geleſen und
entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen
Stern: Dichtung und Wahrheit. Ich war eben
[7] mit dieſem Ein Mal zu Ende, als der Troͤdler
hereintrat und ſich erkundigte, ob ich die Werke
behalten wolle, da ſich ſonſt ein anderweitiger
Kaͤufer gezeigt habe. Unter dieſen Umſtaͤnden
mußte der Schatz baar bezahlt werden, was weit
uͤber meine Kraͤfte ging; die Mutter ſah wohl,
daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein drei¬
ßigtaͤgiges Liegen und Leſen machte ſie unent¬
ſchloſſen und daruͤber ergriff der Mann wieder
ſeine Schnur, band die Buͤcher zuſammen,
ſchwang den Pack auf den Ruͤcken und em¬
pfahl ſich.
Es war, als ob eine Schaar glaͤnzender und
ſingender Geiſter die Stube verließen, ſo daß
dieſe auf einmal ſtill und leer ſchien; ich ſprang
auf, ſah mich um und wuͤrde mich wie in einem
Grabe geduͤnkt haben, wenn nicht die Stricknadeln
meiner Mutter ein freundliches Geraͤuſch verur¬
ſacht haͤtten. Ich machte mich in's Freie; die
alte Bergſtadt, Felſen, Wald, Fluß und See und
das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein
der Maͤrzſonne, und indem meine Blicke Alles
umfaßten, empfand ich ein reines und nachhal¬
[8] tiges Vergnuͤgen, das ich fruͤher nicht gekannt.
Es war die hingebende Liebe an alles Gewor¬
dene und Beſtehende, welche das Recht und die
Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zuſam¬
menhang und die Tiefe der Welt empfindet.
Dieſe Liebe ſteht hoͤher als das kuͤnſtleriſche Her¬
ausſtehlen des Einzelnen zu eigennuͤtzigem Zwecke,
welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune
fuͤhrt; ſie ſteht auch hoͤher, als das Genießen
und Abſondern nach Stimmungen und romanti¬
ſchen Liebhabereien, und nur ſie allein vermag
eine gleichmaͤßige und dauernde Gluth zu geben.
Es kam mir nun Alles und immer neu, ſchoͤn
und merkwuͤrdig vor und ich begann, nicht nur
die Form, ſondern auch den Inhalt, das Weſen
und die Geſchichte der Dinge zu ſehen und zu
lieben. Obgleich ich nicht ſtraks mit einem ſol¬
chen fix und fertigen Bewußtſein herumlief, ſo
entſprang das nach und nach Erwachende doch
durchaus aus jenen dreißig Tagen, ſowie deren
Geſammteindrucke noch folgende Ergebniſſe ur¬
ſpruͤnglich zuzuſchreiben ſind.
Nur die Ruhe in der Bewegung haͤlt die
[9] Welt und macht den Mann; die Welt iſt inner¬
lich ruhig und ſtill, und ſo muß es auch der
Mann ſein, der ſie verſtehen und als ein wir¬
kender Theil von ihr ſie widerſpiegeln will.
Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verſcheucht es;
Gott haͤlt ſich maͤuschenſtill, darum bewegt ſich
die Welt um ihn. Fuͤr den kuͤnſtleriſchen Menſchen
nun waͤre dies ſo anzuwenden, daß er ſich eher
leidend und zuſehend verhalten und die Dinge
an ſich voruͤberziehen laſſen, als ihnen nachjagen
ſoll; denn wer in einem feſtlichen Zuge mitzieht,
kann denſelben nicht ſo beſchreiben, wie der,
welcher am Wege ſteht. Dieſer iſt darum nicht
uͤberfluͤſſig oder muͤßig, und der Seher iſt erſt
das ganze Leben des Geſehenen, und wenn er
ein rechter Seher iſt, ſo kommt der Augenblick,
wo er ſich dem Zuge anſchließt mit ſeinem gol¬
denen Spiegel, gleich dem achten Koͤnige im
Macbeth, der in ſeinem Spiegel noch viele Koͤ¬
nige ſehen ließ. Auch nicht ohne aͤußere That
und Muͤhe iſt das Sehen des ruhig Leidenden,
gleichwie der Zuſchauer eines Feſtzuges genug
Muͤhe hat, einen guten Platz zu erringen oder
[10] zu behaupten. Dies iſt die Erhaltung der Frei¬
heit und Unbeſcholtenheit unſerer Augen.
Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner
Anſchauung vom Poetiſchen. Ich hatte mir, ohne
zu wiſſen wann und wie, angewoͤhnt, Alles, was
ich im Leben und Kunſt als brauchbar, gut und
ſchoͤn befand, poetiſch zu nennen, und ſelbſt die
Gegenſtaͤnde meines erwaͤhlten Berufes, Farben
wie Formen, nannte ich nicht maleriſch, ſondern
immer poetiſch, ſo gut wie alle menſchlichen Er¬
eigniſſe, welche mich anregend beruͤhrten. Dies
war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung,
denn es iſt das gleiche Geſetz, welches die ver¬
ſchiedenen Dinge poetiſch oder der Widerſpiege¬
lung ihres Lebens werth macht; aber in Bezug
auf Manches, was ich bisher poetiſch nannte,
lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Un¬
moͤgliche, das Abenteuerliche und Ueberſchwaͤng¬
liche nicht poetiſch ſind und daß, wie dort die
Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur
Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz
und Geſtalten herrſchen muͤſſen, um etwas Poe¬
tiſches oder, was gleich bedeutend iſt, etwas Le¬
[11] bendiges und Vernuͤnftiges hervorzubringen, mit
einem Wort, daß die ſogenannte Zweckloſigkeit
der Kunſt nicht mit Grundloſigkeit verwechſelt
werden darf. Dies iſt zwar eine alte Geſchichte,
indem man ſchon im Ariſtoteles erſehen kann,
daß ſeine ſtofflichen Betrachtungen uͤber die pro¬
ſaiſch-politiſche Redekunſt zugleich die beſten Re¬
cepte auch fuͤr den Dichter ſind.
Denn wie es mir ſcheint, geht alles richtige
Beſtreben auf Vereinfachung, Zuruͤckfuͤhrung und
Vereinigung des ſcheinbar Getrennten und Ver¬
ſchiedenen auf Einen Lebensgrund, und in dieſem
Beſtreben das Nothwendige und Einfache mit
Kraft und Fuͤlle und in ſeinem ganzen Weſen
darzuſtellen, iſt Kunſt; darum unterſcheiden ſich
die Kuͤnſtler nur dadurch von den anderen Men¬
ſchen, daß ſie das Weſentliche gleich ſehen und
es mit Fuͤlle darzuſtellen wiſſen, waͤhrend die
Anderen dies wieder erkennen muͤſſen und daruͤber
erſtaunen, und darum ſind auch alle die keine
Meiſter, zu deren Verſtaͤndniß es einer beſonderen
Geſchmacksrichtung oder einer kuͤnſtlichen Schule
bedarf.
Ich hatte es weder mit dem menſchlichen Wort,
noch mit der menſchlichen Geſtalt zu thun und
fuͤhlte mich nur gluͤcklich und zufrieden, daß ich
auf das beſcheidenſte Gebiet mit meinen Fuß ſetzen
konnte, auf den irdiſchen Grund und Boden,
auf dem ſich der Menſch bewegt, und ſo in der
poetiſchen Welt wenigſtens einen Teppichbewahrer
abgeben durfte. Goͤthe hatte ja viel und mit
Liebe von landſchaftlichen Dingen geſprochen
und durch dieſe Bruͤcke glaubte ich ohne Unbe¬
ſcheidenheit mich ein wenig mit ſeiner Welt ver¬
binden zu koͤnnen.
Ich wollte ſogleich anfangen, nun ſo recht mit
Liebe und Aufmerkſamkeit die Dinge zu behan¬
deln und mich ganz an die Natur zu halten, nichts
Ueberfluͤſſiges oder Muͤſſiges zu machen und mir
bei jedem Striche ganz klar zu ſein. Im Geiſte
ſah ich ſchon einen reichen Schatz von Arbeiten vor
mir, welche alle huͤbſch, werth- und gehaltvoll
ausſahen, angefuͤllt mit zarten und ſtarken Strichen,
von denen keiner ohne Bedeutung war. Ich
ſetzte mich in's Freie, um das erſte Blatt dieſer
vortrefflichen Sammlung zu beginnen; aber nun
[13] ergab es ſich, daß ich eben da fortfahren mußte,
wo ich zuletzt aufgehoͤrt hatte, und daß ich durch¬
aus nicht im Stande war, ploͤtzlich etwas Neues
zu ſchaffen, weil ich dazu erſt etwas Neues haͤtte
ſehen muͤſſen. Da mir aber nicht Ein Blatt
eines Meiſters zu Gebote ſtand und die praͤchtigen
Blaͤtter meiner Phantaſie ſogleich in Nichts ſich
aufloͤſten, wenn ich den Stift auf das Papier
ſetzte, ſo brachte ich ein truͤbſeliges Gekritzel zu
Stande, indem ich aus meiner alten Weiſe her¬
auszukommen ſuchte, welche ich verachtete, waͤhrend
ich ſie jetzt ſogar nur verdarb. So quaͤlte ich
mich mehrere Tage herum, in Gedanken immer
eine gute und ſachgemaͤße Arbeit ſehend, aber
rathlos mit der Hand. Es wurde mir angſt und
bange, ich glaubte jetzt ſogleich verzweifeln zu
muͤſſen, wenn es mir nicht gelaͤnge, und ſeufzend
bat ich Gott, mir aus der Klemme zu helfen.
Ich betete noch mit den gleichen kindlichen Worten,
wie ſchon vor zehn Jahren, immer das Gleiche
wiederholend, ſo daß es mir ſelbſt auffiel, als ich
halblaut vor mich hin fluͤſterte. Daruͤber nach¬
ſinnend hielt ich mit der haſtigen Arbeit inne
[14] und ſah in Gedanken verloren auf das Papier
und mit einem wehmuͤthigen Laͤcheln. Da uͤber¬
ſchattete ſich ploͤtzlich der weiße Bogen auf meinen
Knieen, der vorher von der Sonne beglaͤnzt war;
erſchrocken ſchaute ich um und ſah einen an¬
ſehnlichen, fremd gekleideten Mann hinter mir
ſtehen, welcher den Schatten verurſachte. Er
war groß und ſchlank, hatte ein bedeutſames und
ernſtes Geſicht mit einer ſtark gebogenen Naſe
und einem ſorgfaͤltig gedrehten Schnurbart und
trug ſehr feine Waͤſche. In hochdeutſcher
Sprache redete er mich an: »Darf man wohl
ein wenig Ihre Arbeit beſehen, junger Herr?«
Halb erfreut und halb verlegen hielt ich meine
Zeichnung hin, welche er einige Augenblicke auf¬
merkſam beſah; dann fragte er mich, ob ich noch
mehr in meiner Mappe bei mir haͤtte und ob ich
wirklicher Kuͤnſtler werden wollte. Ich trug
allerdings immer einen Vorrath des zuletzt Ge¬
machten mit mir herum, wenn ich nach der
Natur zeichnete, um jedenfalls Etwas zu tragen,
wenn ich einen unergiebigen Tag hatte, und
waͤhrend ich nun die Sachen nach und nach her¬
[15] vorzog, erzaͤhlte ich fleißig und zutraulich meine
bisherigen Kuͤnſtlerſchickſale; denn ich merkte ſo¬
gleich an der Art, wie der Fremde die Sachen
anſah, daß er es verſtand, wo nicht ſelbſt ein
Kuͤnſtler war. Dies beſtaͤtigte ſich auch ſogleich,
als er mich auf meine Hauptfehler aufmerkſam
machte, die Studie, welche ich gerade vor hatte,
mit der Natur verglich und mir an letzterer ſelbſt
das Weſentliche hervorhob und mich es ſehen
lehrte. Ich fuͤhlte mich uͤbergluͤcklich und hielt
mich ganz ſtill, wie Jemand, der ſich vergnuͤglich
eine Wohlthat erzeigen laͤßt, als er einige Laub¬
partien auf meinem Papiere mit ihrem Vorbilde
in der Natur verglich, mir zeigte, wie ich es
ganz anders machen muͤßte, Schatten und Licht
klar machte und auf dem Rande des Blattes
mit wenigen muͤhloſen Meiſterſtrichen das her¬
ſtellte, was ich vergeblich geſucht hatte. Er blieb
wohl eine halbe Stunde bei mir, dann ſagte er:
»Sie haben vorhin den wackern Haberſaat ge¬
nannt; wiſſen Sie, daß ich vor fuͤnfzehn Jahren
auch ein dienſtbarer Geiſt in ſeinem verwuͤnſchten
Kloſter war? Ich habe mich aber bei Zeiten aus
[16] dem Staube gemacht und bin ſeither immer in
Italien und Frankreich geweſen. Ich bin Land¬
ſchafter, heiße Roͤmer, und gedenke mich eine Zeit
lang in meiner Heimath aufzuhalten. Es ſoll
mich freuen, wenn ich Ihnen etwas nachhelfen
kann, ich habe viele Sachen bei mir, beſuchen Sie
mich einmal oder kommen Sie gleich mit mir nach
Hauſe, wenn's Ihnen recht iſt!«
Ich packte eilig zuſammen und begleitete
in feierlicher Stimmung den Herrn Roͤmer,
und mit nicht geringem Stolze. Ich hatte oft
von ihm ſprechen gehoͤrt; denn er war eine der
großen Sagen des Refektoriums und Meiſter
Haberſaat that ſich nicht wenig darauf zu gut,
wenn es hieß, ſein ehemaliger Schuͤler Roͤmer ſei
ein beruͤhmter Aquarelliſt in Rom und verkaufe
ſeine Arbeiten nur an Fuͤrſten und Englaͤnder.
Auf dem Wege, ſo lange wir noch im Freien
waren, zeigte mir Roͤmer allerlei gute Dinge in
der Natur, ſei es in Licht und Toͤnen, ſei es in
Form und Charakter. Aufmerkſam begeiſtert ſah
ich hin, wo er mit der Hand fein wegſtreichend
hindeutete: ich war erſtaunt, zu entdecken, daß
[17] ich eigentlich, ſo gut ich erſt kuͤrzlich noch zu ſehen
geglaubt, noch gar nichts geſehen hatte, und ich
ſtaunte noch mehr, das Bedeutende und Lehrreiche
nun meiſtens in Erſcheinungen zu finden, die ich
vorher entweder uͤberſehen, oder wenig beachtet.
Jedoch freute ich mich, ſogleich zu verſtehen, was
mein Begleiter jeweilig meinte, und mit ihm
einen kraͤftigen und doch klaren Schatten, einen
milden Ton oder eine zierliche Ausladung eines
Baumes zu ſehen, und nachdem ich erſt einige
Male mit ihm ſpaziert, hatte ich mich bald ge¬
woͤhnt, die ganze landſchaftliche Natur nicht mehr
als etwas Rundes und Greifliches, ſondern nur
als Ein gemaltes Bilder- und Studiencabinet,
als etwas bloß vom richtigen Standpunkte aus
Sichtbares zu betrachten und in techniſchen Aus¬
druͤcken zu beurtheilen.
Als wir in ſeiner Wohnung anlangten, welche
aus ein paar eleganten Zimmern in einem ſchoͤ¬
nen Hauſe beſtand, ſetzte Roͤmer ſogleich ſeine
Mappen auf einen Stuhl vor das Sopha, hieß
mich auf dieſes neben ihn ſitzen und begann
die Sammlung ſeiner groͤßten und werthvollſten
III. 2[18] Studien eine um die andere umzuwenden und
aufzuſtellen. Es waren alles umfangreiche Blaͤtter
aus Italien, auf ſtarkes grobkoͤrniges Papier mit
Waſſerfarben gemalt, doch auf eine mir ganz
neue Weiſe und mit unbekannten kuͤhnen und
geiſtreichen Mitteln, ſo daß ſie eben ſo viel
Schmelz und Duft, als Klarheit und Kraft zeig¬
ten und vor Allem aus in jedem Striche bewie¬
ſen, daß ſie vor der lebendigen Natur gemacht
waren. Ich wußte nicht, ſollte ich uͤber die glaͤn¬
zende und angenehm nahe tretende Meiſterſchaft
der Behandlung oder uͤber die Gegenſtaͤnde mehr
Freude empfinden, denn von den maͤchtigen dun¬
klen Cypreſſengruppen der roͤmiſchen Villen, von
den ſchoͤnen Sabinerbergen bis zu den Ruinen
von Paͤſtum und dem leuchtenden Golf von Nea¬
pel, bis zu den Kuͤſten von Sicilien mit den
zauberhaften hingehauchten, gedichteten Linien,
tauchte Bild um Bild vor mir auf mit den koͤſt¬
lichen Merkzeichen des Tages, des Ortes und
des Sonnenſcheins, unter welchem ſie entſtanden.
Schoͤne Kloͤſter und Kaſtelle glaͤnzten in dieſem
Sonnenſchein an ſchoͤnen Bergabhaͤngen, Himmel
[19] und Meer ruhten in tiefer Blaͤue oder in heitrem
Silberton und in dieſem badete ſich die praͤchtige,
edle Pflanzenwelt mit ihren klaſſiſch einfachen und
doch ſo reichen Formen. Dazwiſchen ſangen und
klangen die italiſchen Namen, wenn Roͤmer die
Gegenſtaͤnde benannte und Bemerkungen uͤber ihre
Natur und Lage machte. Manchmal ſah ich uͤber
die Blaͤtter hinaus im Zimmer umher, wo ich hier
eine rothe Fiſcherkappe aus Neapel, dort ein roͤmi¬
ſches Taſchenmeſſer, eine Korallenſchnur oder einen
ſilbernen Haarpfeil erblickte; dann ſah ich meinen
neuen Beſchuͤtzer aufmerkſam und von Grund aus
wohlwollend an, ſeine weiße Weſte, ſeine Manſchet¬
ten, und erſt, wenn er das Blatt umwandte, fuhr
mein Blick wieder auf daſſelbe, um es noch ein¬
mal zu uͤberfliegen, ehe das naͤchſte erſchien.
Als wir mit dieſer Mappe zu Ende waren,
ließ mich Roͤmer noch fluͤchtig in einige andere
blicken, von denen die eine einen Reichthum far¬
biger Details, die andere eine Unzahl Bleiſtift¬
ſtudien, eine dritte lauter auf das Meer, Schiff¬
fahrt und Fiſcherei Bezuͤgliches, eine vierte end¬
lich verſchiedene Phaͤnomene und Farbenwunder,
[20] wie die blaue Grotte, außergewoͤhnliche Wolken¬
erſcheinungen, Veſuvausbruͤche, gluͤhende Lava¬
baͤche u. ſ. w. enthielten. Dann zeigte er mir
noch im andern Zimmer ſeine gegenwaͤrtige Ar¬
beit, ein groͤßeres Bild auf einer Staffelei, wel¬
ches den Garten der Villa d'Eſte vorſtellte.
Dunkle Rieſencypreſſen ragten aus flatternden
Reben und Lorbeerbuͤſchen, aus Marmorbrunnen
und blumigen Gelaͤndern, an welchen eine einzige
Figur, Arioſt, lehnte, in ſchwarzem ritterlichen
Kleide, den Degen an der Seite. Im Mittel¬
grunde zogen ſich Haͤuſer und Baͤume von Ti¬
voli hin, von Duft umhuͤllt, und daruͤber hinweg
dehnte ſich das weite Feld, vom Purpur des
Abends uͤbergoſſen, in welchem am aͤußerſten Ho¬
rizonte die Peterkuppel auftauchte.
»Genug fuͤr heute!« ſagte Roͤmer, »kommen
Sie oͤfter zu mir, alle Tage, wenn Sie Luſt ha¬
ben; bringen Sie mir Ihre Sachen mit, vielleicht
kann ich Ihnen Dies und Jenes zum Copiren
mitgeben, damit Sie eine leichtere und zweckmaͤ¬
ßigere Technik erlangen!«
Mit der dankbarſten Verehrung verabſchiedete
[21] ich mich und ſprang mehr, als ich ging, nach
Hauſe. Dort erzaͤhlte ich meiner Mutter das
gluͤckliche Abenteuer mit den beredteſten Worten
und verfehlte nicht, den fremden Herrn und Kuͤnſt¬
ler mit allem Glanz auszuſtatten, deſſen ich hab¬
haft war; ich freute mich, ihr endlich ein Bei¬
ſpiel ruͤhmlichen Gelingens als einen Troſt fuͤr
meine eigene Zukunft vorfuͤhren zu koͤnnen; be¬
ſonders da ja Roͤmer ebenfalls aus Herrn Ha¬
berſaat's kuͤmmerlicher Pflanzſchule hervorgegan¬
gen war. Allein die fuͤnfzehn in der weiten Ferne
zugebrachten Jahre, welche zu dieſem Gelingen
gebraucht worden, leuchteten meiner Mutter nicht
ſonderlich ein, auch hielt ſie dafuͤr, daß es noch
gar nicht ausgemacht waͤre, ob der Fremde wirk¬
lich gluͤcklich ſei, indem er als ſolcher ſo einſam
und unbekannt in ſeiner Heimath angekommen
ſei. Ich hatte aber ein anderweitiges geheimes
Zeichen von der Richtigkeit meiner Hoffnungen,
naͤmlich das ploͤtzliche Erſcheinen Roͤmer's unmit¬
telbar nachdem ich gebetet hatte. Hiervon ſagte
ich aber Nichts zu meiner Mutter, denn erſtens
war zwiſchen uns nicht herkoͤmmlich, daß man
[22] viel von ſolchen Dingen ſprach, beſonders wenn
ſie nach ſalbungsvoller Prahlerei ausgeſehen haͤt¬
ten, und dann baute die Mutter wohl feſt auf
die Huͤlfe Gottes, aber es wuͤrde ihr nicht gefallen
haben, wenn ich mich eines ſo eclatanten und
theatraliſchen Falles geruͤhmt haͤtte, und als ein
ſolcher waͤre ihr meine Erzaͤhlung ohne Zweifel
erſchienen, da ſie viel zu ſchlicht und beſcheiden
war, um ein ſolches Einſchreiten in ſolchen An¬
gelegenheiten von Gott zu erwarten. Sie war
froh, wenn er das Brot nicht ausgehen ließ und
fuͤr ſchwere Leiden, fuͤr Faͤlle auf Leben und Tod
ſeine Huͤlfe in Bereitſchaft hatte. Sie haͤtte mich
wahrſcheinlich ziemlich ironiſch zurechtgewieſen;
deſto mehr beſchaͤftigte ich mich den Abend hin¬
durch mit dem Vorfalle und muß geſtehen, daß
ich dabei doch eine gruͤbelnde Empfindung hatte.
Ich konnte mir die Vorſtellung eines langen
Drahtes nicht unterdruͤcken, an welchem der fremde
Mann auf mein Gebet herbeigezogen ſei, waͤh¬
rend, gegenuͤber dieſem laͤcherlichen Bilde, mir ein
Zufall noch weniger munden wollte, da ich mir
das Ausbleiben deſſelben nun gar nicht mehr den¬
[23] ken mochte. Seither habe ich mich gewoͤhnt, der¬
gleichen Gluͤcksfaͤlle, ſo wie ihr Gegentheil, wenn
ich naͤmlich ein unangenehmes Ereigniß als die
Strafe fuͤr einen unmittelbar vorhergegangenen,
bewußten Fehler anzuſehen mich immer wieder
getrieben fuͤhle, als vollendete Thatſachen einzu¬
tragen und Gott dafuͤr dankbar zu ſein, ohne mir
des Genaueren einzubilden, es ſei unmittelbar
und insbeſondere fuͤr mich geſchehen. Doch kann
ich mich bei jeder Gelegenheit, wo ich mir nicht
zu helfen weiß, nicht enthalten, von Neuem durch
Gebet ſolche huͤbſche faits accomplis herbeizufuͤh¬
ren und fuͤr die Zurechtweiſungen des Schickſals
einen Grund in meinen Fehlern zu ſuchen und
Gott Beſſerung zu geloben.
Ich wartete ungeduldig einen Tag und ging
dann am darauf folgenden mit einer ganzen Laſt
meiner bisherigen Arbeiten zu Roͤmer. Er em¬
pfing mich freundlich zuvorkommend und beſah
die Sachen mit aufmerkſamer Theilnahme. Da¬
bei gab er mir fortwaͤhrend guten Rath und als
wir zu Ende waren, ſagte er, ich muͤßte vor Al¬
lem die ungeſchickte alte Manier, das Material
[24] zu behandeln, aufgeben, denn damit ließe ſich gar
Nichts mehr ausrichten. Nach der Natur ſollte
ich fleißig vor der Hand mit einem weichen Blei
zeichnen und fuͤr das Haus anfangen, ſeine Weiſe
einzuuͤben, wobei er mir gerne behuͤlflich ſein
wolle. Auch ſuchte er mir aus ſeinen Mappen
einige einfache Studien in Bleiſtift ſo wie in
Farben, welche ich zur Probe copiren ſollte und
als ich hierauf mich empfehlen wollte, ſagte er:
»O! bleiben Sie noch ein Stuͤndchen hier, Sie
werden den Vormittag doch nichts mehr machen
koͤnnen: ſehen Sie mir ein wenig zu und plaudern
wir ein Bischen!« Mit Vergnuͤgen that ich dies,
hoͤrte auf ſeine Bemerkungen, die er uͤber ſein
Verfahren machte, und ſah zum erſten Mal
die einfache freie und ſichere Art, mit der ein
Kuͤnſtler arbeitet. Es ging mir ein neues Licht
auf und es duͤnkte mich, wenn ich mich ſelbſt
auf meine bisherige Art arbeitend vorſtellte, als
ob ich bis heute nur Struͤmpfe geſtrickt oder
etwas Aehnliches gethan haͤtte.
Raſch copirte ich die Blaͤtter, die Roͤmer mir
mitgab, mit aller Luſt und allem Gelingen,
[25] welche ein erſter Anlauf giebt, und als ich ſie
ihm brachte, ſagte er: »Das geht ja vortrefflich,
ganz gut!« An dieſem Tage lud er mich ein, da
das Wetter ſehr ſchoͤn war, einen Spaziergang
mit ihm zu machen, und auf dieſem verband er
das, was ich in ſeinem Hauſe bereits eingeſehen,
mit der lebendigen Natur, und dazwiſchen ſprach
er vertraulich uͤber andere Dinge, Menſchen und
Verhaͤltniſſe, welche vorkamen, bald ſcharf kritiſch,
bald ſcherzend, ſo daß ich mit einem Male einen
zuverlaͤſſigen Lehrer und einen unterhaltenden
und umgaͤnglichen Freund beſaß. Ich erzaͤhlte
ihm Vieles von meinen Verhaͤltniſſen und Ge¬
ſchichten, faſt Alles, mit Ausnahme der Anna
und Judith, und er faßte Alles ſo auf, wie ich
nur wuͤnſchen konnte, vom Standpunkte eines
freien und erfahrenen Menſchen und als Kuͤnſtler.
So ſtellte ſich ſchnell ein ungezwungener Um¬
gang her, bei welchem ich mich ganz konnte
gehen laſſen und keinen Einfall zu unterdruͤcken
brauchte, ohne daß ich die Beſcheidenheit und
Ehrerbietung zu ſehr verletzte, und wenn ich
dies that, ſo glich die widerſpruchsloſe Bereit¬
2 *[26] willigkeit, welche jenes Alter den Zurechtweiſungen
der wahren und wohlmeinenden Autoritaͤt ent¬
gegenbringt, den Fehler bald wieder aus.
Bald fuͤhlte ich das Beduͤrfniß, immer und
ganz in ſeiner Naͤhe zu ſein, und machte daher
immer haͤufiger von meiner Freiheit, ihn zu be¬
ſuchen, Gebrauch, als er eines Tages, nachdem
er mir gruͤndlich und ſchon etwas ſtrenger eine
Arbeit durchgeſehen, zu mir ſagte: »Es wuͤrde
gut fuͤr Sie ſein, noch eine Zeit ganz unter der
Leitung eines Lehrers zu ſtehen; es wuͤrde mir
auch zum Vergnuͤgen und zur Erheiterung ge¬
reichen, Ihnen meine Dienſte anzubieten; da
aber meine Verhaͤltniſſe leider nicht der Art ſind,
daß ich dies ganz ohne Entſchaͤdigung thun koͤnnte,
wenigſtens wenn es nicht durchaus ſein muß, ſo
beſprechen Sie ſich mit Ihrer Frau Mutter, ob
Sie monatlich zwei Louisd'or daran wenden
wollen. Ich bleibe jedenfalls einige Zeit hier
und in einem halben Jahre hoffe ich Sie ſo weit
zu bringen, daß Sie ſpaͤter beſſer vorbereitet und
ſelbſt im Stande, einigen Erwerb zu finden, Ihre
Reiſen antreten koͤnnten. Sie wuͤrden jeden
[27] Morgen um acht Uhr kommen und den ganzen
Tag bei mir arbeiten.«
Ich wuͤnſchte nichts Beſſeres zu thun und
lief eiligſt nach Hauſe, den Vorſchlag meiner
Mutter zu hinterbringen. Allein ſie war nicht
ſo eilig, wie ich, und ging, da es ſich um Aus¬
gabe einer erkleklichen Summe handelte und ich
ſelbſt einen Theil des an Haberſaat Bezahlten
fuͤr verlorenes Geld hielt, erſt jenen vornehmen
Herrn, bei dem ſie ſchon fruͤher ein Mal geweſen,
um Rath zu fragen; denn ſie dachte, derſelbe
werde jedenfalls wiſſen, ob Roͤmer wirklich der
geachtete und beruͤhmte Kuͤnſtler ſei, fuͤr welchen
ich ihn ſo eifrig ausgab. Doch man zuckte die
Achſeln, gab zwar zu, daß er als Kuͤnſtler talent¬
voll und in der Ferne renommirt ſei; uͤber ſeinen
Charakter jedoch huͤllte man ſich in's Unklare,
wollte nicht viel Gutes wiſſen, ohne etwas Naͤheres
angeben zu koͤnnen, und meinte ſchließlich, wir
ſollten uns in Acht nehmen. Jedenfalls ſei die
Forderung zu groß, unſere Stadt ſei nicht Rom
oder Paris, auch hielte man dafuͤr, es waͤre ge¬
rathener, die Mittel fuͤr meine Reiſen aufzuſparen
[28] und dieſe deſto fruͤher anzutreten, wo ich dann
ſelbſt ſehen und holen koͤnne, was Roͤmer be¬
ſaͤße.
Das Wort Reiſen war nun ſchon wiederholt
vorgekommen und war hinreichend, meine Mutter
zu beſtimmen, jeden Pfennig zur Ausſtattung
aufzubewahren. Daher theilte ſie mir die be¬
denklichen Aeußerungen mit, ohne zu viel Gewicht
auf die den Charakter betreffenden zu legen, welche
ich auch mit Entruͤſtung zu Nichte machte; denn
ich war ſchon dagegen gewaffnet, indem ich aus
verſchiedenen raͤthſelhaften Aeußerungen Roͤmer's
entnommen, daß er mit der Welt nicht zum
Beſten ſtehe und viel Unrecht erlitten habe. Ja,
es hatte ſich ſchon eine verſtaͤndnißvolle eigene
Sprache uͤber dieſen Punkt zwiſchen uns ausge¬
bildet, indem ich mit ehrerbietiger Theilnahme
ſeine Klagen entgegennahm und ſo erwiederte,
als ob ich ſelbſt ſchon die bitterſten Erfahrungen
gemacht oder wenigſtens zu erwarten haͤtte, welche
ich aber feſten Fußes erwarten und dann zugleich
mich und ihn raͤchen wollte. Wenn Roͤmer hier¬
auf mich zurechtwies und erinnerte, daß ich die
[29] Menſchen doch nicht beſſer werde kennen, als er,
ſo mußte ich dies annehmen und ließ mich mit
wichtiger Miene belehren, wie es anzufangen
waͤre, ſich gehoͤrig zu ſtellen, ohne daß ich eigent¬
lich wußte, warum es ſich handelte und worin
jene Erfahrungen denn beſtaͤnden.
Ich entſchloß mich kurz und ſagte zur Mutter,
ich wolle das Gold, welches in meinem ehemals
gepluͤnderten Sparkaͤſtchen uͤbrig geblieben, fuͤr
die Sache verwenden. Hiegegen hatte ſie Nichts
einzuwenden und ſchien eher froh zu ſein, dieſen
Mittelweg zu ſehen, auf welchem ich wenigſtens
meine Selbſtbeſtimmung bethaͤtigen konnte. Ich
nahm alſo die Schaumuͤnze und einige Dukaten,
welche dabei waren, und trug Alles zu einem
Goldſchmied, welcher mir acht Louisd'ors in
Silber dafuͤr bezahlte, brachte das Geld zu
Roͤmer und ſagte, das ſei Alles, was ich ver¬
wenden koͤnnte und ich wuͤnſchte wenigſtens vier
Monate dafuͤr ſeines Unterrichtes zu genießen.
Zuvorkommend ſagte er, das ſei gar nicht ſo ge¬
nau zu nehmen! Da ich thue, was ich koͤnne,
wie es einen Kunſtjuͤnger gezieme, ſo wolle er
[30] nicht zuruͤckbleiben und ebenfalls thun, was er
koͤnne, ſo lange er hier ſei, und ich ſolle nur gleich
morgen kommen und anfangen.
So richtete ich mich mit großer Befriedigung
bei ihm ein. Den erſten und zweiten Tag ging
es noch ziemlich gemuͤthlich zu; allein ſchon am
dritten begann Roͤmer einen ganz anderen Ton
zu ſingen, indem er urploͤtzlich hoͤchſt kritiſch und
ſtreng wurde, meine Arbeit erbarmungslos her¬
unter machte und mir bewies, daß ich nicht nur
noch nichts koͤnne, ſondern auch laͤſſig und un¬
achtſam ſei. Das kam mir hoͤchſt wunderlich
vor, ich nahm mich ein wenig zuſammen, was
aber nicht viel Dank einbrachte; im Gegentheil
wurde Roͤmer immer ſtrenger und ironiſcher in
ſeinem Tadel, den er nicht in die ruͤckſichtsvollſten
Ausdruͤcke faßte. Da nahm ich mich ernſtlicher
zuſammen, der Tadel wurde ebenfalls ernſtlich
und faſt ruͤhrend, bis ich endlich mich ganz zer¬
knirſcht und demuͤthig daran machte, mir bei je¬
dem Striche den Platz, wo er hin ſollte, wohl
beſah, manchmal ihn zart und bedaͤchtig hinſetzte,
manchmal nach kurzem Erwaͤgen ploͤtzlich wie
[31] einen Wuͤrfel auf gut Gluͤck hinwarf und endlich
Alles genau ſo zu machen ſuchte, wie Roͤmer es
verlangte. So erreichte ich endlich etwelches Fahr¬
waſſer, auf welchem ich ganz ſtill dem Ziele einer
leidlichen Arbeit zuſteuerte. Der Fuchs merkte
aber meine Abſicht und erſchwerte mir unverſehens
die Aufgaben, ſo daß die Noth von Neuem an¬
ging und die Kritik meines Meiſters ſchoͤner
bluͤhte, denn je. Wiederum ſteuerte ich endlich
nach vieler Muͤhe einer angehenden Tadelloſigkeit
entgegen und wurde nochmals durch ein erſchwer¬
tes Ziel zuruͤckgeworfen, ſtatt daß ich, wie ich ge¬
hofft, ein Weilchen auf den Lorbeeren einer er¬
reichten Stufe ausruhen konnte. So erhielt mich
Roͤmer einige Monate in großer Unterwuͤrfigkeit,
wobei jedoch die myſtiſchen Geſpraͤche uͤber die
bitteren Erfahrungen und uͤber dies und jenes
fortdauerten, und wenn die Tagesarbeit ge¬
ſchloſſen war oder auf unſeren Spaziergaͤngen
blieb unſer Verkehr der alte. Dadurch entſtand
eine ſeltſame Weiſe, indem Roͤmer mitten in einer
traulichen und tiefſinnigen Unterhaltung mich
jaͤhlings andonnerte: »Was haben Sie da ge¬
[32] macht! Was ſoll denn das ſein! O Herr Jeſus!
Haben Sie Ruß in den Augen?« ſo daß
ich ploͤtzlich ſtill wurde und voll Ingrimm uͤber
ihn und mich ſelbſt meine Arbeit mit verzweifel¬
ter Aufmerkſamkeit wieder aufnahm.
So lernte ich endlich die wahre Arbeit und
Muͤhe kennen, ohne daß mir dieſelbe laͤſtig wurde,
da ſie in ſich ſelbſt den Lohn der immer neuen
Erholung und Verjuͤngung traͤgt, und ich ſah
mich in den Stand geſetzt, eine große Studie
Roͤmer's, welche ſchon mehr ein ganzes Bild mit
den verſchiedenſten Beſtandtheilen vorſtellte, vor¬
nehmen zu duͤrfen und dieſelbe ſo zu copiren,
daß mein Lehrer erklaͤrte, es ſei nun genug in
dieſer Richtung, ich wuͤrde ihm ſonſt ſeine ganzen
Mappen nachzeichnen; dieſelben ſeien ſein einziges
Vermoͤgen und er wuͤnſche bei aller Freundſchaft
doch nicht, eine foͤrmliche Doublette deſſelben in
anderen Haͤnden zu wiſſen.
Durch dieſe Beſchaͤftigung war ich wunder¬
licher Weiſe im Suͤden weit mehr heimiſch ge¬
worden, als in meinem Vaterlande. Da die
Sachen, nach welchen ich arbeitete, alle unter
[33] freiem Himmel und ſehr trefflich gemacht waren,
auch die Erzaͤhlungen und Bemerkungen Roͤmer's
fortwaͤhrend meine Arbeit begleiteten, ſo verſtand
ich die ſuͤdliche Sonne, jenen Himmel und das
Meer beinahe, wie wenn ich ſie geſehen haͤtte,
wußte Kakteen, Aloe und Myrthenſtraͤuche beſſer
darzuſtellen, als Diſteln, Neſſeln und Weißdorn,
Pinien und immergruͤne Eichen beſſer als Foͤhren
und nordiſche Eichen, und Cypreſſen und Oel¬
baͤume waren mir bekannter als Pappeln
und Weiden. Selbſt der ſuͤdliche Boden war
mir viel leichter in der Hand als der nordiſche,
da jener mit beſtimmten glaͤnzenden Farben be¬
kleidet war und ſich im Gegenſatze zu der tiefen
Blaͤue der mittleren und fernen Gruͤnde faſt von
ſelbſt herſtellte, indeſſen dieſer, um wahr und gut
zu ſcheinen, eine unmerkliche aber verzweifelt
ſchwer zu treffende Verſchiedenheit und Feinheit
in grauen Toͤnen erforderte. Am See von Nemi
war ich beſſer zu Hauſe, als an unſerem See,
die Umriſſe von Capri und Iſchia kannte ich ge¬
nauer, als unſere naͤchſten Uferhoͤhen. Die rothen,
mit Epheu bekleideten Bogen der Waſſerleitungen
III. 3[34] in der ſonnverbrannten braungelben roͤmiſchen
Campagne mit den blauen Hoͤhenzuͤgen in der
Ferne und dem grauroͤthlichen Duft am Himmel
konnte ich auswendig herpinſeln.
Und wie ſchoͤn waren alle dieſe Gegenſtaͤnde!
Auf einer ſicilianiſchen Kuͤſtenſtudie war vorn
zwiſchen goldenen Felſen eine Stelle im Meere,
welche in der allerfabelhafteſten purpurnen Blaͤue
funkelte, wie ſie der ausſchweifendſte Maͤhrchen¬
dichter nicht auffallender haͤtte erſinnen koͤnnen.
Aber ſie war hier an ihrem rechten und geſetz¬
maͤßigen Platze und machte daher eine zehn Mal
poetiſchere Wirkung, als wenn ſie in einer er¬
fundenen Landſchaft unter anderen Umſtaͤnden
angebracht worden waͤre.
Einen beſonderen Reiz gewahrten mir die
Truͤmmer griechiſcher Baukunſt, welche ſich da
und dort fanden. Ich empfand wieder Poeſie,
wenn ich das weiße, ſonnige Marmorgebaͤlke
eines doriſchen Tempels vom blauen Himmel
abheben mußte. Die horizontalen Linien an Ar¬
chitrav, Fries und Kranz, ſowie die Kanelirun¬
gen der Saͤulen mußten mit der zarteſten Ge¬
[35] nauigkeit, mit wahrer Andacht, leis und doch
ſicher und elegant hingezogen werden; die Schlag¬
ſchatten auf dieſem weißgoldenen edlen Geſtein
waren rein blau und wenn ich den Blick fort¬
waͤhrend auf dies Blau gerichtet hatte, ſo glaubte
ich zuletzt wirklich einen leibhaften Tempel zu
ſehen. Jede Luͤcke im Gebaͤlke, durch welche der
Himmel ſchaute, jede Scharte an den Kane¬
lirungen war mir heilig und ich hielt genau
ihre kleinſten Eigenthuͤmlichkeiten feſt.
Im Nachlaſſe meines Vaters fand ſich ein
Werk uͤber Architektur, in welchem die Geſchichte
und Erklaͤrung der alten Bauſtyle nebſt guten
Abbildungen mit allem Detail enthalten waren.
Dies zog ich nun hervor und ſtudirte es begierig,
um die Truͤmmer beſſer zu verſtehen, und ihren
Werth ganz zu kennen. Auch erinnerte ich mich
der italieniſchen Reiſe von Goethe, welche ich
kuͤrzlich geleſen, Roͤmer erzaͤhlte mir viel von den
Menſchen und Sitten und der Vergangenheit
Italiens. Er las faſt keine Buͤcher, als die
deutſche Ueberſetzung von Homer und einen ita¬
lieniſchen Arioſt. Den Homer forderte er mich
3 *[36] auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei
Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht
gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬
fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt
und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬
zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬
wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee,
waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten
wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam,
wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das
einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie
jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe,
zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich
denken koͤnne, und wie endlich jede Situation
und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller
faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten
Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu
Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten
und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit
gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬
kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo
einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen
Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,
[37] daß Sie jemals die ausgeſuchte pikante Wahrheit
in der Lage des Odyſſeus, wo er nackt und mit
Schlamm bedeckt vor Nauſikaa und ihren Ge¬
ſpielen erſcheint, ſo recht aus Erfahrung empfin¬
den lernen! Wollen Sie wiſſen, wie dies zu¬
geht? Halten wir das Beiſpiel einmal feſt!
Wenn Sie einſt getrennt von Ihrer Heimath
und von Ihrer Mutter und Allem, was Ihnen
lieb iſt, in der Fremde umherſchweifen, und Sie
haben viel geſehen und viel erfahren, haben
Kummer und Sorge, ſind wohl gar elend und
verlaſſen: ſo wird es Ihnen des Nachts unfehl¬
bar traͤumen, daß Sie ſich Ihrer Heimath naͤhern:
Sie ſehen ſie glaͤnzen und leuchten in den ſchoͤnſten
Farben; holde, feine und liebe Geſtalten treten
Ihnen entgegen; da entdecken Sie ploͤtzlich,
daß Sie zerfetzt, nackt und kothbedeckt einher¬
gehen; eine namenloſe Scham und Angſt faßt
Sie, Sie ſuchen ſich zu bedecken, zu verbergen
und erwachen in Schweiß gebadet. Dies iſt,
ſo lange es Menſchen giebt, der Traum des
kummervollen umhergeworfenen Mannes, und ſo
hat Homer jene Lage aus dem tiefſten und
[38] ewigen Weſen der Menſchheit herausge¬
nommen!«
Da es mir einmal beſtimmt ſcheint, immer
ruckweiſe und durch kurze Blitze und Schlag¬
woͤrter auf eine neue Spur zu kommen, ſo be¬
wirkten dieſe Andeutungen Roͤmer's, beſonders
diejenigen uͤber das Pikante, mehr, als wenn ich
den Homer Jahre lang ſo fuͤr mich geleſen haͤtte.
Ich war begierig, ſelbſt dergleichen aufzufinden
und lernte dadurch mit mehr Bewußtſein und
Abſicht leſen.
Inzwiſchen war es gut, daß das Intereſſe
Roͤmer's, hinſichtlich des Copirens ſeiner Samm¬
lungen, ſich mit dem meinigen vereinigte; denn
als ich nun, gemaͤß ſeiner Aufforderung, mich
wieder vor die Natur hinſetzte, erwies es ſich,
daß ich Gefahr lief, meine ganze Copirfertigkeit
und mein italieniſches Wiſſen zu einer wunder¬
lichen Fiction werden zu ſehen. Es koſtete mich
die groͤßte Beharrlichkeit und Muͤhe, ein nur zum
zehnten Theile ſo anſtaͤndiges Blatt zuwege zu
bringen, als meine Copien waren; die erſten Ver¬
ſuche mißlangen faſt gaͤnzlich, und Roͤmer ſagte
[39] ſchadenfroh: »Ja, mein Lieber, das geht nicht
ſo raſch! Ich habe es wohl gedacht, daß es ſo
kommen wuͤrde; nun heißt es auf eigenen Fuͤßen
ſtehen, oder vielmehr mit eigenen Augen ſehen!
Eine gute Studie leidlich copiren, will nicht ſo
viel heißen! Glauben Sie denn, man laͤßt ſich
ohne Weiteres fuͤr Andere die Sonne auf den
Buckel zuͤnden?« u. ſ. f. Nun begann der ganze
Krieg des Tadels gegen das Bemuͤhen, demſelben
zuvorzukommen und ihm boshafte Streiche zu
ſpielen, von Neuem; Roͤmer ging mit hinaus
und malte ſelbſt, ſo daß er mich immer unter
ſeinen Augen hatte. Es war hier nicht gerathen,
die Thorheiten und Flauſen zu wiederholen, die
ich unter Herrn Haberſaat geſpielt hatte, da
Roͤmer durch Steine und Baͤume zu ſehen ſchien
und jedem Striche anmerkte, ob derſelbe gewiſſen¬
haft ſei oder nicht. Er ſah es jedem Aſte an,
ob derſelbe zu dick oder zu duͤnn ſei und wenn
ich meinte, derſelbe koͤnnte ja am Ende ſo ge¬
wachſen ſein, ſo ſagte er: »Laſſen Sie das gut
ſein! Die Natur iſt vernuͤnftig und zuverlaͤſſig;
uͤbrigens kennen wir ſolche Fineſſen wohl! Sie
[40] ſind nicht der erſte Hexenmeiſter, welcher der
Natur und ſeinem Lehrer ein X fuͤr ein U
machen will!«
Doch ruͤckte ich allmaͤlig vorwaͤrts; aber leider
muß ich geſtehen, daß mehr ein aͤußerer Ehrgeiz
mich dazu antrieb, als eine innere Treue. Denn
es war mir hauptſaͤchlich darum zu thun, daß
die Arbeiten, welche ich ſelbſt nach der Natur
machte, nicht zu ſehr zuruͤckſtehen moͤchten gegen
meine copirte Sammlung, und recht bald ein
geiſtiges Eigenthum von einigem Werth zu haben.
Ich gelangte auch im Laufe des Sommers in
Beſitz von einem Dutzend ſtarker und ſolider
Papierbogen, auf welchen ſich anſehnliche Baum¬
gruppen, Steingeroͤlle und Buſchwerke ziemlich
keck und ſachgemaͤß darſtellten, die einen Vorrath
von guten Motiven enthielten, die Spuren der
Natur und einer kuͤnſtleriſchen Leitung zeigten
und desnahen, wenn ſie auch weit entfernt waren,
etwas Meiſterhaftes zu verrathen, doch als eine
erſte ordentliche Grundlage zu der Mappe eines
Kuͤnſtlers betrachtet werden konnten, welche man
nicht nur der Erinnerung, ſondern auch der fort¬
[41] dauernden Nutzbarkeit wegen aufbewahren mag.
In dieſen Blaͤttern war dann noch dieſe oder
jene Lieblingsſtelle, wo ich einen gluͤcklichen Ton
getroffen und der Natur einen guten Blick abge¬
lauſcht, ohne es zu wiſſen, irgend ein gutes
Gruͤnlich-Grau oder ein deutliches Sonnenlicht
auf einem ſchwaͤrzlichen Steine, womit Roͤmer
ſo zufrieden war, daß er es der Brauchbarkeit
halber fuͤr ſich copirte. Er konnte dies unbe¬
ſchadet ſeiner Strenge thun: denn ich durfte nur
einen Blick auf ſeine eigenen Studien werfen,
welche er in dieſem Sommer machte, ſo verging
nur alle Ueberhebung, und wenn ich noch ſo viel
Freude an meinen Schuͤlerwerken empfand, ſo
war dieſe Freude noch viel groͤßer und ſchoͤner,
wenn ich Roͤmer's glaͤnzende und meiſterhafte
Arbeiten ſah. Aber duͤſter und einſilbig legte er
ſie zu ſeinen uͤbrigen Sachen, als ob er ſagen
wollte: Was hilft das Zeug! waͤhrend ich die
meinigen mit ſtolzer Hoffnung aufbewahrte und
die Zeit nahe ſah, wo ich eben ſolche Meiſterwerke
mein nennen wuͤrde.
Neben den ausgefuͤhrten Studien ſammelte
[42] ſich noch ein artiger Schatz von kleinen und frag¬
mentariſchen Bleiſtift- und Federſkizzen, die alle
wohl zu brauchen waren, und mein erſtes, auf
eigene Arbeit und wahre Einſicht gegruͤndetes
Beſitzthum vervollſtaͤndigten.
Weil ich die mir durch den Aufenthalt
Roͤmer's zugemeſſene Zeit wohl benutzen mußte,
ſo konnte ich nicht daran denken, das Dorf zu
beſuchen, obſchon ich verſchiedene Gruͤße und
Zeichen von daher erhalten hatte. Um ſo fleißiger
dachte ich an Anna, wenn ich arbeitete und die
gruͤnen Baͤume leiſe um mich rauſchten. Ich
freute mich fuͤr ſie meines Lernens und daß ich
in dieſem Jahre ſo reich an Erfahrung geworden
gegen das fruͤhere Jahr; ich hoffte einigen wirk¬
lichen Werth dadurch erhalten zu haben, der in
ihren Augen fuͤr mich ſpraͤche und in ihrem Hauſe
die Hoffnung begruͤnde, die ich ſelbſt fuͤr mich zu
hegen mir erlaubte.
Wenn ich aber nach gethaner Arbeit in meines
Lehrers Wohnung ausruhte, ſeinen Erzaͤhlungen
vom ſuͤdlichen Leben zuhoͤrte und dabei ſeine
Sachen beſchaute, worunter manches Studienbild
[43] einer ſchoͤnen vollen Roͤmerin oder Albanerin
dunkelaͤugig glaͤnzte, ſo trat unverſehens Judith's
Bild vor mich und wich nicht von mir, bis es,
von ſelbſt Anna's Geſtalt hervorrufend, von dieſer
verdraͤngt wurde. Wenn ich eine blendend weiße
Saͤulenreihe anſah und mit lebendiger Phantaſie
das Weben der heißen Luft zu fuͤhlen glaubte,
in welcher ſie ſtand, ſo ſchien Judith ploͤtzlich
hinter einer Saͤule hervorzutreten, langſam die
verfallenden Tempelſtufen herabzuſteigen und, mir
winkend, in ein bluͤhendes Oleandergebuͤſch zu
verſchwinden, unter welchem eine klare Quelle
hervorfloß. Folgten meine Gedanken aber dahin,
ſo ſahen ſie Anna im gruͤnen Kleide an der
Quelle ſitzen, das ſilberne Kroͤnchen auf dem
Kopfe und ſilberblinkende Thraͤnchen vergießend.
Der Herbſt war gekommen, und als ich eines
Mittags zum Eſſen nach Hauſe ging und in
unſere Stube trat, ſah ich auf dem Ruhbettchen
einen ſchwarz ſeidenen Mantel liegen. Freudig
betroffen eilte ich auf denſelben zu, hob das
leichte angenehme Ding in die Hoͤhe und beſah
es von allen Seiten, auf der Stelle Anna's
[44] Mantel erkennend. Ich eilte damit in die Kuͤche,
wo ich die Mutter beſchaͤftigt fand, ein feineres
Eſſen, als gewoͤhnlich, zu bereiten. Sie beſtaͤtigte
mir die Ankunft des Schulmeiſters und ſeiner
Tochter, ſetzte aber ſogleich mit beſorgtem Ernſt
hinzu, daß dieſelben nicht zum Vergnuͤgen gekommen
waͤren, ſondern um einen beruͤhmten Arzt zu be¬
ſuchen. Waͤhrend die Mutter in die Stube ging
und den Tiſch deckte, deutete ſie mir mit einigen
Worten an, daß ſich bei Anna ſeltſame und be¬
aͤngſtigende Anzeichen eingeſtellt haͤtten, daß der
Schulmeiſter ſehr bekuͤmmert ſei und ſie, die
Mutter, ſelbſt nicht minder, denn nach der gan¬
zen Erſcheinung des armen Maͤdchens glaube ſie
nicht, daß das feine zarte Weſen, lange leben
wuͤrde.
Ich ſaß auf dem Ruhbette, hielt den Mantel
feſt in meinen Haͤnden und hoͤrte ganz verwun¬
dert auf dieſe Worte, die mir ſo unerwartet und
fremd klangen, daß ſie mir mehr wunderlich als
erſchreckend vorkamen. In dieſem Augenblicke
ging die Thuͤr auf, und die eben ſo geliebten,
als wahrhaft geehrten Gaͤſte traten herein. Ueber¬
[45] raſcht ſtand ich auf und ging ihnen entgegen,
und erſt als ich Anna die Hand geben wollte,
ſah ich, daß ich immer noch ihren Mantel hielt.
Sie erroͤthete und laͤchelte zugleich, waͤhrend ich
verlegen daſtand; der Schulmeiſter warf mir vor,
warum ich mich den ganzen Sommer uͤber nie
ſehen laſſen, und ſo vergaß ich uͤber dieſen Be¬
gruͤßungen ganz die Mittheilung der Mutter, an
welche mich auch nichts Auffallendes erinnerte.
Erſt als wir am Tiſche ſaßen, wurde ich durch
eine gewiſſe vermehrte Liebe und Aufmerkſamkeit,
mit welcher meine Mutter Anna behandelte, er¬
innert und glaubte jetzt nur zu ſehen, daß ſie
gegen fruͤher faſt groͤßer, aber auch zugleich zarter
und ſchmaͤchtiger erſchien; ihre Geſichtsfarbe war
wie durchſichtig geworden und um ihre Augen,
welche erhoͤht glaͤnzten, bald in dem kindlichen
Feuer fruͤherer Tage, bald in einem traͤumeriſchen
tiefen Nachdenken, lag etwas Leidendes. Sie
war heiter und ſprach ziemlich viel, waͤhrend ich
ſchwieg, hoͤrte und ſie anſah; denn ſie hatte ein
dreifaches Recht zu ſprechen: als Gaſt, als Maͤd¬
chen und als die Hauptperſon dieſes Beſuches,
[46] wenn auch die Urſache traurig war. Andaͤchtig
und gern beſchied ich mich und goͤnnte von ganzem
Herzen Anna die Ehre, bei Tiſche mit den Ael¬
tern auf gleichem Fuße zu ſtehen, zumal ſie durch
ihr Schickſal dieſe Ehre mit fruͤhen Leiden zu
erkaufen beſtimmt ſchien. Auch der Schulmeiſter
war heiter und ganz wie ſonſt; denn bei den Schick¬
ſalen und Leiden, welche uns Angehoͤrige be¬
treffen, benehmen wir uns nicht lamentabel, ſon¬
dern faſt vom erſten Augenblicke an mit der
gleichen Gefaßtheit, mit dem gleichen Wechſel von
Hoffnung, Furcht und Selbſttaͤuſchung, wie die
Betroffenen ſelbſt. Doch ermahnte jetzt der Schul¬
meiſter ſeine Tochter, nicht zu viel zu ſprechen,
und mich fragte er, ob ich die Urſache der kleinen
Reiſe ſchon kenne, und fuͤgte hinzu: »Ja, lieber
Heinrich! meine Anna ſcheint krank werden zu
wollen! Doch laßt uns den Muth nicht verlieren!
Der Arzt hat ja geſagt, daß vor der Hand nicht
viel zu ſagen und zu thun waͤre. Er hat uns
einige Verhaltungsregeln gegeben und anbefohlen,
ruhig zuruͤckzukehren und dort zu leben, anſtatt
hieher zu ziehen, da die dortige Luft angemeſſener
[47] ſei. Fuͤr unſern Doctor will er uns einen Brief
mitgeben und von Zeit zu Zeit ſelbſt hinauskom¬
men und nachſehen.«
Ich wußte hierauf rein nichts zu erwiedern,
noch meine Theilnahme zu bezeugen; vielmehr
wurde ich ganz roth und ſchaͤmte mich nur, nicht
auch krank zu ſein. Anna hingegen ſah mich bei
den Worten ihres Vaters laͤchelnd an, als ob ſie
Mitleid mit mir haͤtte, ſo peinliche Dinge hoͤren
zu muͤſſen.
Nach dem Eſſen verlangte der Schulmeiſter, von
meinen Beſchaͤftigungen zu wiſſen und Etwas zu
ſehen; ich brachte meine wohlgefuͤllte Mappe her¬
bei und erzaͤhlte von meinem Meiſter; doch ſah
man jetzt wohl, daß er zu ſehr von ſeiner Sorge
befangen war, als daß er lange bei dieſen Din¬
gen haͤtte verweilen koͤnnen. Er machte ſich be¬
reit, einige Gaͤnge zu thun und Einkaͤufe zu ma¬
chen, welche hauptſaͤchlich in einigen auslaͤndiſchen
Producten zu Nahrungsmitteln fuͤr Anna beſtan¬
den, welche der Arzt einſtweilen verordnet. Meine
Mutter begleitete ihn und ich blieb allein mit
Anna zuruͤck. Sie fuhr fort, meine Sachen auf¬
[48] merkſam zu beſchauen; auf dem Ruhbett ſitzend,
ließ ſie ſich Alles von mir vorlegen und erklaͤ¬
ren. Waͤhrend ſie auf meine Landſchaften ſah,
blickte ich auf ſie nieder, manchmal mußte ich
mich beugen, manchmal hielten wir ein Blatt
zuſammen in den Haͤnden lange Zeit, doch er¬
eignete ſich ſonſt gar nichts Zaͤrtliches zwiſchen
uns; denn waͤhrend ſie fuͤr mich nun wieder ein
anderes Weſen war und ich mich ſcheute, ſie nur
von ferne zu verletzen, haͤufte ſie alle Aeußerungen
der Freude, der Aufmerkſamkeit und ſogar der
Ehrenbezeugung allein auf meine Arbeiten,
ſah ſie fort und fort an und wollte ſich gar nicht
von denſelben trennen, waͤhrend ſie mich ſelbſt nur
wenig anſah.
Ploͤtzlich ſagte ſie: »Unſere Tante im Pfarr¬
haus laͤßt Dir ſagen, Du ſolleſt mit uns ſogleich
hinausfahren, ſonſt ſei ſie boͤſe! Willſt Du?«
Ich erwiederte: »Ja, jetzt kann ich ſchon!« und
ſetzte hinzu: »Was fehlt Dir denn eigentlich?«
»Ach, ich weiß es ſelbſt nicht, ich bin immer
muͤde und leide manchmal ein wenig; die Anderen
machen mehr daraus, als ich ſelbſt!«
Meine Mutter und der Schulmeiſter kamen
zuruͤck; neben den ſeltſamen und fremdartigen
Packeten, die er mit einem verſtohlenen Seufzer
auf den Tiſch legte, brachte er einige Geſchenke
fuͤr Anna mit, feine Kleiderſtoffe, einen ſchoͤnen
großen Shawl und eine goldene Uhr, als ob er
mit dieſen koſtbaren und auf die Dauer berechne¬
ten Sachen eine guͤnſtige Wendung des Geſchickes
erzwingen wollte. Als Anna daruͤber erſchrak,
ſagte er, ſie habe dieſe Dinge ſchon lange ver¬
dient und das bischen Geld haͤtte gar keinen
Werth fuͤr ihn, wenn er nicht ihr eine kleine
Freude dadurch verſchaffen koͤnnte.
Er zeigte ſich zufrieden, daß ich mitfahren
wollte; meine Mutter ſah es auch gern und legte
mir einige Sachen zurecht, indeſſen ich das Ge¬
faͤhrt aus dem Gaſthauſe holte, wo es eingeſtellt
war. Anna ſah allerliebſt aus, als ſie wohl
vermummt und verſchleiert dem Schulmeiſter zur
Seite ſaß. Ich behauptete den Vorderſitz und
hatte das Leitſeil des gutgenaͤhrten Pferdes er¬
griffen, welches ungeduldig ſcharrte: die Mutter
machte ſich noch lange am Wagen zu ſchaffen
III. 4[50] und wiederholte dem Schulmeiſter ihre Anerbie¬
tungen zu jeglicher Huͤlfe und wenn es nothwen¬
dig wuͤrde, hinzukommen und Anna zu pflegen;
die Nachbaren ſteckten die Koͤpfe aus den Fen¬
ſtern und vermehrten mein angenehmes Selbſtbe¬
wußtſein, als ich endlich mit meiner liebenswuͤr¬
digen und anmuthigen Geſellſchaft die enge Straße
entlang fuhr.
Es glaͤnzte ein ſonniger Herbſtnachmittag auf
dem Lande. Wir fuhren durch Doͤrfer und Fel¬
der, ſahen die Gehoͤlze und Anhoͤhen im zarten
Dufte liegen, hoͤrten die Jaͤgerhoͤrnchen in der
Ferne, begegneten uͤberall zahlreichem Fuhrwerke,
welches den Herbſtſegen einbrachte; hier machten
die Leute die Gefaͤße zur Weinleſe zurecht, und
bauten große Kufen, dort ſtanden ſie reihenweiſe
auf den Aeckern und gruben Kartoffeln aus, an¬
derswo wieder pfluͤgten ſie die Erde um und die
ganze Familie war dabei verſammelt, von der
Herbſtſonne hinausgelockt; uͤberall war es leben¬
dig und zufrieden bewegt. Die Luft war ſo mild,
daß Anna ihren gruͤnen Schleier zuruͤckſchlug
und ihr liebliches Geſicht zeigte. Wir vergaßen
[51] alle Drei, warum wir eigentlich auf dieſen Wegen
fuhren; der Schulmeiſter war geſpraͤchig und er¬
zaͤhlte uns viele Geſchichten von den Gegenden,
durch welche wir kamen, zeigte uns die heiteren
Wohnungen, wo beruͤhmte Maͤnner hauſten, deren
wohlgeordnete und gepflegte Raͤume und Gaͤrten
die weiſe Klugheit ihrer Beſitzer verkuͤndeten oder
deren weiße Giebelwaͤnde und glaͤnzende Fenſter
auch von entlegenen Halden im Sonnenſchein die
gleiche Kunde gaben. Da und dort wohnte eine
beruͤhmte Tochter oder deren zwei, von denen et¬
was zu erblicken wir im Voruͤberfahren uns be¬
muͤhten, und wenn dies gelang, ſo benahm ſich
Anna mit dem beſcheidenen Anſtande derjenigen,
welche ſelbſt Blumen des Landes ſind.
Doch dunkelte es eine geraume Weile, ehe
wir an's Ziel gelangten, und mit der Dunkelheit
fiel es mir ploͤtzlich ein, daß ich Judith das Ver¬
ſprechen gegeben, ſie jedesmal zu beſuchen, wenn
ich in's Dorf kaͤme. Anna hatte ſich wieder ver¬
huͤllt, ich ſaß nun neben ihr, da der Schulmeiſter,
welcher die Wege beſſer kannte, die Zuͤgel genom¬
men, und weil wir der Dunkelheit wegen nun
4*[52] ſchweigſamer waren, ſo hatte ich Zeit, daruͤber
nachzudenken, was ich thun wollte.
Je unmoͤglicher es mir ſchien, mein Verſpre¬
chen zu halten, je weniger ich das Weſen, wel¬
ches ich mir zur Seite fuͤhlte und das ſich nun
ſanft an mich lehnte, auch nur im Gedanken be¬
leidigen und hintergehen mochte, deſto dringender
ward auf der andern Seite die Ueberzeugung,
daß ich am Ende doch mein Wort halten muͤſſe,
da mich Judith nur im Vertrauen auf daſſelbe
in jener Nacht entlaſſen, und ich nahm keinen An¬
ſtand, mir einzubilden, daß das Brechen deſſelben
ſie kraͤnken und ihr weh thun wuͤrde. Ich mochte
um Alles in der Welt gerade vor ihr nicht un¬
maͤnnlich als Einer erſcheinen, welcher aus Furcht
ein Verſprechen gaͤbe und aus Furcht daſſelbe
braͤche. Da fand ich einen ſehr klugen Ausweg,
wie ich dachte, der mich wenigſtens vor mir ſelbſt
rechtfertigen ſollte. Ich brauchte nur bei dem
Schulmeiſter zu wohnen, ſo war ich nicht im
Dorfe, und wenn ich am Tage daſſelbe beſuchte,
ſo brauchte ich Judith nicht zu ſehen, welche ſich
nur meinen naͤchtlichen und geheimen Beſuch waͤh¬
[53] rend eines Aufenthaltes im Dorfe ausbedungen
hatte.
Als wir daher in des Schulmeiſters Haus
ankamen und dort die Muhme mit einem Sohne
und zwei Toͤchtern vorfanden, welche uns erwar¬
teten, theils um ſogleich zu hoͤren, was der Arzt
geſprochen, theils um dem Schulmeiſter das Zu¬
ruͤckbringen des geliehenen Fuhrwerks zu erſpa¬
ren, als ſie nun mich mitnehmen wollten und der
Schulmeiſter ſich freundlich dagegen beſchwerte,
erklaͤrte ich unverſehens, hier bleiben zu wollen,
und die alte Katharine, welche jetzt Anna's wegen
ſehr ſorgenvoll und kleinlaut war, eilte, mir ein
Unterkommen zu bereiten, indeſſen Anna, welche
ganz ermuͤdet und angegriffen war und von Hu¬
ſten befallen wurde, ſich ſogleich zu Bett begeben
mußte. Sie fuͤhrte mich an einen artig eingerich¬
teten Tiſch, auf welchem ihre Buͤcher und Ar¬
beitsſachen, auch Papier und Schreibzeug lagen,
ſetzte Licht darauf und ſagte laͤchelnd: »Mein Va¬
ter bleibt alle Abend bei mir, bis ich eingeſchla¬
fen bin, und lieſt mir manchmal etwas vor. Hier
kannſt Du Dich vielleicht ſo lange beſchaͤftigen.
[54] Sieh, hier mache ich etwas fuͤr Dich!« und ſie
zeigte mir eine Stickerei zu einer kleinen Mappe,
welche ſie nach jener Blumenzeichnung verfertigte,
die ich vor mehreren Jahren in der Weinlaube ge¬
macht und ihr geſchenkt hatte. Das naive Bild
hing uͤber ihrem Tiſche. Dann gab ſie mir die
Hand und ſagte wehmuͤthig leiſe und doch ſo
freundlich: Gut' Nacht! und ich ſagte eben ſo leiſe
Gut' Nacht.
Einige Augenblicke nachher, als ſie gegangen,
kam der Schulmeiſter herein und ich ſah, daß er
ein ſchoͤn eingebundenes Andachtsbuch mitnahm,
als er ſich wieder entfernte, um in Anna's Zim¬
mer zu gehen. Ich hingegen beſchaute alle Saͤ¬
chelchen, welche auf dem Tiſche lagen, ſpielte mit
ihrer Scheere und konnte mir gar nicht ernſtlich
denken, daß irgend eine Gefahr fuͤr Anna ſein
ſollte.
Zweites Kapitel.
Da ich in dem Hauſe meines Liebchens zu
Gaſte war, ſo erwachte ich am Morgen ſehr fruͤh,
noch eh' eine Seele ſich regte. Ich machte das
Fenſter auf und ſah lange auf den See hinaus,
deſſen waldige Uferhoͤhen vom Morgenrothe be¬
glaͤnzt waren, indeſſen der ſpaͤte Mond noch am
Himmel ſtand und ſich ziemlich kraͤftig im dunk¬
len Waſſer ſpiegelte. Ich ſah ihn nach und nach
erbleichen vor der Sonne, welche nun die gelben
Kronen der Baͤume vergoldete und einen zarten
Schimmer uͤber den erblauenden See warf. Zu¬
gleich aber begann die Luft ſich wieder zu ver¬
huͤllen, ein leiſer Nebel zog ſich erſt wie ein Sil¬
berſchleier um alle Gegenſtaͤnde, und indem er
ein glaͤnzendes Bild um das andere ausloͤſchte,
daß ſich rings ein Reigen von aufleuchtendem
[56] Scheiden und Verſchwinden bewegte, wurde der
Nebel ploͤtzlich ſo dicht, daß ich nur noch das
Gaͤrtchen vor mir ſehen konnte, und zuletzt ver¬
huͤllte er auch dieſes und drang feucht an das
Fenſter. Ich ſchloß dieſes zu, trat aus der Kam¬
mer und fand die alte Katharine in der Kuͤche an
dem traulichen hellen Feuer.
Ich plauderte lange mit ihr; ſie ergoß ſich in
zaͤrtlichen Klagen uͤber Anna's bedenklichen Zu¬
ſtand, berichtete mir, ſeit wann derſelbe begon¬
nen, ohne daß ich jedoch uͤber ſeine eigentliche
Beſchaffenheit klar wurde, da ſie ſich mancher
dunkeln und geheimnißvollen Anſpielung bediente.
Dann begann ſie mit ruͤhrender, aber ganz treff¬
licher Beredtſamkeit das Lob Anna's zu verkuͤn¬
den und ihr bisheriges Leben zu beſchauen bis in
die Kinderjahre zuruͤck, und ich ſah deutlich vor
mir das dreijaͤhrige Engelchen umherſpringen, in
genau beſchriebener Kleidung, aber freilich auch
ein fruͤhes und leidenvolles Krankenlager, auf
welches das kleine Weſen dann Jahre lang gelegt
wurde, ſo daß ich nun ein ſchlo weißes, laͤnglich¬
geſtrecktes Leichnamchen erblickte, mit geduldigem,
[57] klugem und immer laͤchelndem Angeſicht. Doch
das kranke Reis erholte ſich, der wunderbare Aus¬
druck der durch das Leiden hervorgebrachten fruͤ¬
hen Weisheit verſchwand wieder in ſeine unbe¬
kannte Heimath, und ein roſig unbefangenes Kind
bluͤhte, als ob nichts vorgefallen waͤre, der Zeit
entgegen, wo ich es zuerſt ſah.
Endlich zeigte ſich der Schulmeiſter, welcher,
da ſeine Tochter nun des Morgens laͤnger im
Bette bleiben mußte und laͤnger ſchlief als fruͤher,
ſich des fruͤhen Aufſtehens auch nicht mehr freute
und in ſeiner Zeiteintheilung ganz nach derjeni¬
gen ſeines kranken Kindes richtete. Nach einer guten
Weile erſchien auch Anna und nahm ihr beſonders
vorgeſchriebenes Fruͤhſtuͤck, indeſſen wir das ge¬
woͤhnliche verzehrten. Es verbreitete ſich dadurch
eine gewiſſe Wehmuth uͤber den Tiſch, welche nach
und nach in eine ernſte Beſchaulichkeit uͤberging,
als wir Drei ſitzen blieben und uns unterhielten.
Der Schulmeiſter nahm ein Buch, die Nachfolge
Chriſti von Thomas a Kempis, und las einige
Seiten daraus vor, indeſſen Anna ihre Stickerei
vornahm. Dann hob ihr Vater uͤber das Geleſene
[58] ein Geſpraͤch an und ſuchte mich an demſelben zu be¬
theiligen und nach der herkoͤmmlichen Weiſe meine
Urtheilskraft zu pruͤfen, zu mildern und zu ge¬
meinſamer Erbauung auf einen belehrenden Ver¬
einigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch
den letzten Sommer die Luſt an ſolchen Eroͤrte¬
rungen faſt gaͤnzlich verloren, mein Blick war auf
ſinnliche Erſcheinung und Geſtalt gerichtet, und
ſelbſt die raͤthſelhaften Betrachtungen uͤber die
Erfahrungen, die ich mit Roͤmer anſtellte, gingen
in einem durchaus weltlichen Sinne vor ſich.
Außerdem fuͤhlte ich, daß ich nun die groͤßte Ruͤck¬
ſicht auf Anna nehmen mußte, und als ich be¬
merkte, daß ſie ſogar froh ſchien, mich hier einge¬
fangen und einem angehenden Bekehrungswerke
preisgegeben zu ſehen, huͤtete ich mich wohl,
einen Widerſpruch zu aͤußern, gab denjenigen
Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten
oder tief, ſchoͤn und kraftvoll ausgedruͤckt waren,
meinen aufrichtigen Beifall, oder uͤberließ mich
einer reizenden Langweile, die ſchoͤnen Farben an
Anna's Seidenknaͤulchen beſchauend.
Sie hatte ſich wohl ausgeruht und ſchien
[59] ziemlich munter zu ſein, ſo daß kein großer Un¬
terſchied gegen ihr fruͤheres Weſen waͤhrend des
Tages bemerklich war. Der angenehme Aufent¬
halt in ihrem Hauſe diente daher nur dazu, mei¬
nen Leichtſinn und meine Sorgloſigkeit zu beſtaͤr¬
ken und eine Bewegungsluſt in mir anzufachen,
die mich hinaustrieb. Außerdem mußte ich ja
am Tage meine Verwandten im Dorfe beſuchen,
wenn ich den kaſuiſtiſchen Ausweg, Judith zu
hintergehen, anwenden wollte.
Als ich daher in den dichten Nebel hinaus¬
ging, war ich, noch mehr aufgeweckt durch den
friſchen Herbſtgeruch, ſehr guter Dinge und mußte
lachen uͤber meine ſeltſame Liſt, zumal das ver¬
borgene Wandeln in der weiß verhuͤllten Natur
meinen Gang einem Schleichwege noch vollſtaͤn¬
dig aͤhnlich machte. Ich ging uͤber den Berg und
gelangte bald zum Dorfe; doch verfehlte ich hier
des Nebels wegen den rechten Weg und ſah mich
bald in ein Netz von ſchmalen Garten- und Wie¬
ſenpfaden verſetzt, welche bald zu einem entlege¬
nen Hauſe, bald wieder gaͤnzlich zum Dorfe hin¬
ausfuͤhrten. Ich konnte nicht vier Schritte vor
[60] mir ſehen, Leute hoͤrte ich immer, ohne ſie zu er¬
blicken, aber zufaͤlliger Weiſe traf ich Niemanden
auf meinen Wegen. Da kam ich zu einem offen
ſtehenden Pfoͤrtchen und entſchloß mich, hindurch
zu gehen und alle Gehoͤfte gerade zu durchkreuzen,
um endlich wieder auf die Hauptſtraße zu kom¬
men. Ich ſah mich in einen praͤchtigen großen
Baumgarten verſetzt, deſſen Baͤume alle voll der
ſchoͤnſten reifen Fruͤchte hingen. Man ſah aber
immer nur einen Baum ganz deutlich, die naͤch¬
ſten ſtanden ſchon halb verſchleiert im Kreiſe um¬
her, und dahinter ſchloß ſich wieder die weiße
Wand des Nebels. Es war daher, als ob man
in einen weiten Tempel getreten, deſſen Saͤulen
von Raͤucherwolken und Seidengeweben umhuͤllt
und von deſſen Decke gruͤne Kraͤnze mit goldenen
und rubinfarbigen Fruͤchten herabhingen. Ploͤtz¬
lich ſah ich Judith mir entgegen kommen, welche
einen großen Korb mit Aepfeln gefuͤllt in beiden
Haͤnden vor ſich her trug, daß von der kraͤftigen
Laſt die Korbweiden leiſe knarrten. Das Ein¬
ſammeln des Obſtes war faſt die einzige Arbeit,
der ſie ſich mit Liebe und Eifer hingab. Sie
[61] hatte ihr Kleid des naſſen Graſes wegen etwas
aufgeſchuͤrzt und zeigte die ſchoͤnſten Fuͤße; ihr
Haar war von Feuchte ſchwer und das Geſicht
von der Herbſtluft mit reinem Purpur geroͤthet.
So kam ſie gerade auf mich zu, auf ihren Korb
blickend, ſah mich ploͤtzlich, ſtellte erſt erbleichend
den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zei¬
chen der herzlichſten und aufrichtigſten Freude auf
mich zu, fiel mir um den Hals und druͤckte mir
ein Dutzend voll und rein ausgepraͤgte Kuͤſſe auf
die Lippen. Ich hatte Muͤhe, dies nicht zu er¬
wiedern und rang mich endlich von ihrer Bruſt
los.
»Sieh, ſieh! Du geſcheidtes Buͤrſchchen!« ſagte
ſie froh lachend, »Du biſt heute gekommen und
machſt Dir gleich den Nebel zu Nutze, mich noch
vor Nacht heimzuſuchen; das haͤtte ich Dir nicht
einmal zugetraut!«— »Nein,« erwiederte ich zur
Erde blickend, »ich bin geſtern gekommen und
wohne bei'm Schulmeiſter, weil Anna krank iſt.
Unter dieſen Umſtaͤnden kann ich jedenfalls nicht
zu Dir kommen!« Judith ſchwieg eine Weile,
die Arme uͤber einander geſchlagen und ſah mich
[62] klug und durchdringend an, daß mein Blick in
die Hoͤhe gezogen und auf den ihrigen gerichtet
wurde.
»Das waͤre allerdings noch geſcheidter, als
wie ich es meinte, ſagte ſie endlich, »wenn es
Dir nur etwas helfen wuͤrde! Doch weil un¬
ſer armes Schaͤtzchen krank iſt, ſo will ich billig
ſein und unſere Uebereinkunft abaͤndern. Der Ne¬
bel wird ſich wenigſtens zwei Wochen lang taͤg¬
lich mehrere Stunden auf dieſelbe Weiſe zeigen.
Wenn Du jeden Tag waͤhrend deſſelben zu mir
kommſt, ſo will ich Dich fuͤr die Nacht Deiner
Pflicht entbinden und Dir zugleich verſprechen,
Dich nie zu liebkoſen und Dich ſelbſt zurecht zu
weiſen, wenn du es thun wollteſt; nur mußt Du
mir jedes Mal auf ein und dieſelbe Frage ein
einziges Woͤrtchen antworten, ohne zu luͤgen!«
»Welche Frage?« ſagte ich. »Das wirſt Du ſchon
ſehen!« erwiederte ſie; »komm', ich habe ſchoͤne
Aepfel!«
Sie ging mir voran zu einem Baume, deſſen
Aeſte und Blaͤtter edler gebaut ſchienen, als die
der uͤbrigen, ſtieg auf einer Leiter einige Sproſſen
[63] hinan und brach einige ſchoͤn geformte und ge¬
faͤrbte Aepfel. Einen derſelben, der noch im feuch¬
ten Dufte glaͤnzte, biß ſie mit ihren weißen Zaͤh¬
nen entzwei, gab mir die abgebiſſene Haͤlfte und
fing an die andere zu eſſen. Ich aß die meinige
ebenfalls und raſch; ſie war von der ſeltenſten
Friſche und Gewuͤrzigkeit, und ich konnte kaum
erwarten, bis ſie es mit dem zweiten Apfel eben¬
ſo machte. Als wir drei Fruͤchte ſo gegeſſen,
war mein Mund ſo ſuͤß erfriſcht, daß ich mich
zwingen mußte, Judith nicht zu kuͤſſen und die
Suͤße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen.
Sie ſah es, lachte und ſprach: »Nun ſage: bin
ich Dir lieb?« Sie blickte mich dabei feſt an,
und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und be¬
ſtimmt an Anna dachte, nicht anders und ſagte
Ja! Zufrieden ſagte Judith: »Dies ſollſt Du
mir jeden Tag ſagen!«
Hierauf fing ſie an zu plaudern und ſagte:
»Weißt Du eigentlich, wie es mit dem guten
Kinde ſteht?« Als ich erwiederte, daß ich aller¬
dings nicht klug daraus wuͤrde, fuhr ſie fort:
»Man ſagt, daß das arme Maͤdchen ſeit einiger
[64] Zeit merkwuͤrdige Traͤume und Ahnungen habe,
daß ſie ſchon ein paar Dinge vorausgeſagt, die
wirklich eingetroffen, daß manchmal im Traume,
wie im Wachen ſie ploͤtzlich eine Art Vorſtellung
und Ahnung von dem bekomme, was entfernte
Perſonen, die ihr lieb ſind, jetzt thun oder laſſen
oder wie ſie ſich befinden, daß ſie jetzt ganz fromm
ſei und endlich auf der Bruſt leide! Ich glaube
dergleichen Sachen nicht, aber krank iſt ſie gewiß,
und ich wuͤnſche ihr aufrichtig alles Gute, denn
ſie iſt mir auch lieb um deinetwillen. — Aber
Alle muͤſſen leiden, was ihnen beſtimmt iſt!«
ſetzte ſie nachdenklich hinzu.
Waͤhrend ich unglaͤubig den Kopf ſchuͤttelte,
durchfuhr mich doch ein leichter Schauer, und ein
ſeltſamer Schleier der Fremdartigkeit legte ſich
um Anna's Geſtalt, welche meinem inneren Auge
vorſchwebte. Und faſt in demſelben Augenblicke
war es mir auch, als ob ſie mich jetzt ſehen
muͤſſe, wie ich vertraulich bei der Judith ſtand;
ich erſchrak daruͤber und ſah mich um. Der Ne¬
bel loͤſte ſich auf, ſchon ſah man durch ſeine ſil¬
bernen Flocken den blauen Himmel, einzelne Son¬
[65] nenſtrahlen fielen ſchimmernd auf die feuchten
Zweige und beglaͤnzten die Tropfen, welche von
denſelben fielen; ſchon ſah man den blauen Schat¬
ten eines Mannes voruͤbergehen und endlich drang
die Klarheit uͤberall durch, umgab uns und warf,
wie wir waren, unſer Beider Schlagſchatten auf
den matt beſonnten Grasboden.
Ich eilte davon und hoͤrte in dem Hauſe mei¬
nes Oheims die Beſtaͤtigung deſſen, was mir
Judith mitgetheilt; wohl aufgehoben in dem le¬
bendigen Hauſe und beruhigt durch das vertrau¬
liche Geſpraͤch, laͤchelte ich wieder unglaͤubig und
war froh, in meinen jungen Vettern Genoſſen
zu finden, welche ſich auch nicht viel aus derglei¬
chen machten. Doch blieb immer eine gemiſchte
Empfindung in mir zuruͤck, da ſchon die Neigung
zu ſolchen Erſcheinungen, der Anſpruch auf die¬
ſelben mir beinahe eine Anmaßung zu ſein ſchien,
die ich der guten Anna zwar keineswegs, aber
doch einem mir fremden und nicht willkommenen
Weſen zurechnen konnte, in welchem ich ſie jetzt
befangen ſah. So trat ich ihr, als ich Abends
zuruͤckkehrte, mit einer gewiſſen Scheu entgegen,
III. 5[66] welche jedoch durch ihre liebliche Gegenwart bald
wieder zerſtreut wurde, und als ſie nun ſelbſt, in
Gegenwart ihres Vaters, leiſe anfing, von einem
Traume zu ſprechen, den ſie vor einigen Tagen
getraͤumt, und ich daher ſah, daß ſie Willens ſei,
mich in das vermeintliche Geheimniß zu ziehen,
glaubte ich unverweilt an die Sache, ehrte ſie
und fand ſie nur um ſo liebenswuͤrdiger, je mehr
ich vorhin daran gezweifelt.
Als ich mich allein befand, dachte ich mehr
daruͤber nach und erinnerte mich, von ſolchen Be¬
richten geleſen zu haben, wo, ohne etwas Wun¬
derbares und Uebernatuͤrliches anzunehmen, auf
noch unerforſchte Gebiete und Faͤhigkeiten der
Natur ſelbſt hingewieſen wurde, ſo wie ich uͤber¬
haupt bei reiflicher Betrachtung noch manches
verborgene Band und Geſetz moͤglich halten mußte,
wenn ich meine groͤßte Moͤglichkeit, den lieben
Gott, nicht zu ſehr bloßſtellen und in eine oͤde
Einſamkeit bannen wollte.
Ich lag im Bette, als mir dieſe Gedanken
klar wurden und ich mit denſelben der Unſchuld
[67] und Redlichkeit Anna's gedachte, als welche doch
auch zu beruͤckſichtigen waͤren; und nicht ſo bald
befiel mich dieſe Vorſtellung, ſo ſtreckte ich mich
anſtaͤndig aus, kreuzte die Haͤnde zierlich uͤber
der Bruſt und nahm ſo eine hoͤchſt gewaͤhlte und
ideale Stellung ein, um mit Ehren zu beſtehen,
wenn Anna's Geiſterauge mich etwa unbewußt
erblicken ſollte. Allein das Einſchlafen brachte
mich bald aus dieſer ungewohnten Lage und ich
fand mich am Morgen zu meinem Verdruſſe in
der behaglichſten und trivialſten Figur von der
Welt.
Ich raffte mich haſtig zuſammen, und wie
man des Morgens Geſicht und Haͤnde waͤſcht, ſo
wuſch ich gewiſſermaßen Geſicht und Haͤnde mei¬
ner Seele und nahm ein zuſammengefaßtes und
ſorgfaͤltiges Weſen an, ſuchte meine Gedanken zu
beherrſchen und in jedem Augenblicke klar und
rein zu ſein. So erſchien ich vor Anna, wo mir
ein ſolch' gereinigtes und feſttaͤgliches Daſein
leicht wurde, indem in ihrer [Gegenwart] eigent¬
lich kein anderes moͤglich war. Der Morgen
nahm wieder ſeinen Verlauf wie geſtern, der Ne¬
[68] bel ſtand dicht vor den Fenſtern und ſchien mich
hinaus zu rufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe
befiel, Judith aufzuſuchen, ſo war dies weniger
eine maßloſe Unbeſtaͤndigkeit und Schwaͤche, als
eine gutmuͤthige Dankbarkeit, die ich fuͤhlte und
die mich draͤngte, der reizenden Frau fuͤr ihre
Neigung freundlich zu ſein; denn nach der un¬
vorbereiteten und unverſtellten Freude, in welcher
ich ſie geſtern uͤberraſcht, durfte ich mir nun wirk¬
lich einbilden, von ihr herzlich geliebt zu ſein.
Und ich glaubte ihr unbedenklich ſagen zu koͤnnen,
daß ſie mir lieb ſei, indem ich ſonderbarer Weiſe
dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefuͤhle fuͤr
Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war,
daß ich mit dieſer Verſicherung faſt nur das Ver¬
langen ausſprach, ihr recht heftig um den Hals
zu fallen. Zudem betrachtete ich meinen Beſuch
als eine gute Gelegenheit, mich zu beherrſchen
und in der gefaͤhrlichſten Umgebung doch immer
ſo zu ſein, daß mich ein verraͤtheriſcher Traum
zeigen durfte.
Unter ſolchen Sophismen machte ich mich auf,
nicht ohne einen aͤngſtlichen Blick auf Anna zu
[69] werfen, an welcher ich aber keinen Schatten eines
Zweifels wahrnahm. Draußen zoͤgerte ich wie¬
der, fand aber den Weg unbeirrt zu Judith's Gar¬
ten. Sie ſelbſt mußte ich erſt eine Weile ſuchen,
weil ſie, mich gleich am Eingange ſehend, ſich
verbarg, in den Nebelwolken hin und her ſchluͤpfte
und dadurch ſelbſt irre wurde, ſo daß ſie zuletzt
ſtill ſtand und mir leiſe rief, bis ich ſie fand.
Wir machten Beide unwillkuͤrlich eine Bewegung,
uns in den Arm zu fallen, hielten uns aber zu¬
ruͤck und gaben uns nur die Hand. Sie ſam¬
melte immer noch Obſt ein, aber nur die edleren
Arten, welche an kleinen Baͤumen wuchſen; das
Uebrige verkaufte ſie und ließ es von den Kaͤu¬
fern ſelbſt vom Baume nehmen. Ich half ihr
einen Korb voll brechen und ſtieg auf einige
Baͤume, wo ſie nicht hingelangen konnte. Aus
Muthwillen ſtieg ich auch zu oberſt auf einen ho¬
hen Apfelbaum, wo ſie mich des Nebels wegen
nicht mehr ſehen konnte. Sie fragte mich unten,
ob ich ſie lieb haͤtte, und ich antwortete gleich¬
ſam aus den Wolken mein Ja. Da rief ſie
ſchmeichelnd: »Ach, das iſt ein ſchoͤnes Lied, das
[70] hoͤr' ich gern! Komm herunter, du junger Vo¬
gel, der ſo artig ſingt!«
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu,
eh' ich zu meinem Oheim ging; wir ſprachen da¬
bei uͤber dies und jenes, ich erzaͤhlte viel von
Anna und ſie mußte Alles anhoͤren und that es
mit großer Geduld, nur damit ich da bliebe.
Denn waͤhrend ich in Anna den beſſeren und gei¬
ſtigeren Theil meiner ſelbſt liebte, ſuchte Judith
wieder etwas Edleres in meiner Jugend, als ihr
die Welt bisher geboten; und doch ſah ſie wohl,
daß ſie nur meine ſinnliche Haͤlfte anlockte, und
wenn ſie auch ahnte, daß mein Herz mehr dabei
war, als ich ſelbſt wußte, ſo huͤtete ſie ſich wohl,
es merken zu laſſen und ließ mich ihre taͤgliche
Frage in dem guten Glauben beantworten, daß
es nicht ſo viel auf ſich haͤtte.
Oft drang ich auch in ſie, mir von ihrem
Leben zu erzaͤhlen und warum ſie ſo einſam ſei.
Sie that es und ich hoͤrte ihr begierig zu. Ihren
verſtorbenen Mann hatte ſie als junges Maͤdchen
geheirathet, weil er ſchoͤn und kraftvoll ausſah.
Aber es zeigte ſich, daß er dumm, kleinlich und
[71] klatſchhaft war und ein laͤcherlicher Topfgucker,
welche Eigenſchaften ſich alle hinter der ſchweig¬
ſamen Bloͤdigkeit des Freiers verſteckt hatten.
Sie ſagte unbefangen, ſein Tod ſei ein großes
Gluͤck geweſen. Nachher bewarben ſich nur ſolche
Maͤnner um ſie, welche ihr kleines Vermoͤgen im
Auge hatten und ſich ſchnell anderswohin richte¬
ten, wenn ſie ein paar hundert Gulden mehr ver¬
ſpuͤrten. Sie ſah, wie bluͤhende, kluge und hand¬
liche Maͤnner ganz windſchiefe und blaſſe Weib¬
chen heiratheten mit ſpitzigen Naſen und vielem
Gelde, weswegen ſie ſich uͤber alle luſtig machte
und ſie ſchnoͤde behandelte. »Aber ich muß ſelbſt
Buße thun,« fuͤgte ſie hinzu, »warum hab' ich einen
ſchoͤnen Eſel genommen!«.
Nach acht Tagen kehrte ich zur Stadt zuruͤck
und nahm meine Arbeit bei Roͤmer wieder auf.
Da es mit dem Zeichnen im Freien vorbei und
auch nichts weiter zu copiren war, leitete mich
Roͤmer an, zu verſuchen, ob ich aus dem Gewon¬
nenen ein Ganzes und Selbſtaͤndiges herſtellen
koͤnne. Ich mußte unter meinen Studien ein
Motiv ſuchen und ſelbiges zu einem kleinen Bilde
[72] ausdehnen und abgraͤnzen. »Da wir hier ohne
alle Mittel ſind,« ſagte er, »außer meiner eigenen
Mappe, welche Sie mir dieſen Winter hindurch in
die Ihrige hinuͤberpinſeln wuͤrden, wenn ich es zu¬
gaͤbe, ſo iſt es am Beſten, wir machen es ſo:
Sie ſind zwar noch zu jung dazu und werden
noch ein oder zwei Mal mit neuen Erfahrungen
von vorn anfangen muͤſſen, ehe Sie etwas Dauer¬
haftes machen. Indeſſen wollen wir immerhin
verſuchen, ein Viereck ſo auszufuͤllen, daß Sie es
im Nothfall verkaufen koͤnnen!«
Mit der erſten Probe ging es ganz ordentlich;
ebenſo mit der zweiten und dritten. Die friſche
Luſt, die Einfachheit des Gegenſtandes und Roͤ¬
mer's ſichere Erfahrung ließen die Gruͤnde ſich wie
von ſelbſt aneinander fuͤgen, das Licht wurde
ohne Schwierigkeit vertheilt und jede Partie in
Licht und Schatten vernuͤnftig und klar ausge¬
fuͤllt, ſo daß keine nichtsſagenden und verworre¬
nen Stellen uͤbrig blieben. Großes Vergnuͤgen
gewaͤhrte es mir, wenn ich einen oder einige Ge¬
genſtaͤnde, zu denen die vorliegenden Studien im
Licht gehalten waren, in Schatten ſetzen mußte
[73] oder umgekehrt, wo dann durch eigenes Nachden¬
ken und Berechnung ein Neues und doch einzig
Nothwendiges bezweckt wurde, nach den Bedin¬
gungen der Localfarbe, der Tageszeit, des blauen
oder bewoͤlkten Himmels und der benachbarten
Gegenſtaͤnde, welche mehr oder weniger Licht und
Farbe zuruͤckwerfen mußten. Gelang es mir, den
wahrſcheinlichen Ton zu treffen, der unter aͤhn¬
lichen Verhaͤltniſſen uͤber der Natur ſelbſt ge¬
ſchwebt haͤtte — was man gleich ſah, indem ein
wahrer Ton immer einen ganz eigenthuͤmlichen
Zauber uͤbt — ſo beſchlich mich ein pantheiſtiſch
ſtolzes Gefuͤhl, in welchem mir meine Erfahrung
und das Weben der Natur Eins zu ſein ſchienen.
Dazu war es hoͤchſt vergnuͤglich, in Gedanken
um einen ſchoͤnen, gemalten Baum herum zu ge¬
hen und ſeine andere Seite zu betrachten, um zu
ermeſſen, wie viel Licht ſie wohl auf einen be¬
nachbarten Baum werfen koͤnne. Ich ſah dann
allerlei Geheimniſſe und Aeſte ſaͤuſeln, die nicht
auf dem Papiere waren, und guckte auf dieſen
Wanderungen auch nebenaus in verborgene Win¬
kel und Gruͤnde der Landſchaft. Dies war be¬
5 *[74] ſonders im Winter ſehr angenehm, wenn die
Schneeflocken vor dem Fenſter tanzten.
Allein das Vergnuͤgen wurde bald ſchwieriger,
als umfang- und inhaltsreichere Sachen unter¬
nommen wurden, und, durch dieſe Thaͤtigkeit her¬
vorgerufen, trotz Goͤthe, Natur und gutem Lehrer,
meine Erfindungsluſt wieder auftauchte und uͤber¬
wucherte. Das gewichtige Wort Componiren
ſummte mir mit prahleriſchem Klang in den
Ohren und ich ließ, als ich nun foͤrmliche Skizzen
entwarf, die zur Ausfuͤhrung beſtimmt waren,
meinem Hange den Zuͤgel ſchießen. Ueberall
ſuchte ich poetiſche Winkel und Plaͤtzchen, geiſt¬
reiche Beziehungen und Bedeutungen anzubrin¬
gen, welche mit der erforderlichen Ruhe und Ein¬
fachheit in Widerſpruch geriethen. Roͤmer ließ
mich eine ſolche Skizze unbeſchnitten ausfuͤhren
und das Bild nach allen Erfahrungen des Na¬
turſtudiums und der Technik fertig machen, und
als das Machwerk mir ſelbſt nicht behagen wollte,
ohne daß ich wußte warum, zeigte er mir trium¬
phirend, daß die techniſchen Mittel und die Na¬
turwahrheiten im Einzelnen der anſpruchsvollen
[75] und geſuchten Compoſition wegen keine Wirkung
thun, zu keiner Geſammtwahrheit werden koͤnn¬
ten und um meine hervorſtechende Zeichnung hin¬
gen, wie bunte Flitter um ein Gerippe, ja daß ſo¬
gar im Einzelnen keine friſche Wahrheit moͤglich
ſei, auch bei dem beſten Willen nicht, weil vor
der uͤberwiegenden Erfindung, vor dem anmaßen¬
den Spiritualismus (wie er ſich ausdruͤckte) die
Naturfriſche ſich ſogleich ſozuſagen aus der Pin¬
ſelſpitze in den Pinſelſtiel ſproͤde zuruͤckziehe.
»Es giebt allerdings, »ſagte Roͤmer,« eine
Richtung, deren Hauptgewicht auf der Erfindung,
auf Koſten der unmittelbaren Wahrheit, beruht.
Solche Bilder ſehen aber eher wie geſchriebene
Gedichte, als wie wirkliche Bilder aus, wie es
ja auch Gedichte giebt, welche mehr den Eindruck
einer Malerei machen moͤchten, als eines geiſtig
toͤnenden Wortes. Wenn Sie in Rom waͤren
und die Arbeiten des alten Koch oder Reinhard's
ſaͤhen, ſo wuͤrden Sie, Ihrer deutlichen Neigung
nach, ſich entzuͤckt den alten Kaͤuzen anſchließen;
es iſt aber gut, daß Sie nicht dort ſind, denn
dies iſt eine gefaͤhrliche Sache fuͤr einen jungen
[76] Kuͤnſtler. Es gehoͤrt dazu eine durchaus gedie¬
gene faſt wiſſenſchaftliche Bildung, eine ſtrenge,
ſichere und feine Zeichnung, welche noch mehr
auf dem Studium der menſchlichen Geſtalt, als
auf demjenigen der Baͤume und Straͤucher be¬
ruht, mit einem Wort: ein großer Styl, welcher
nur in dem Werthe einer ganzen reichen Erfah¬
rung beſtehen kann, um den Glanz gemeiner Na¬
turwahrheit vergeſſen zu laſſen; und mit allem
Dieſem iſt man erſt zu einer ewigen Sonderlings¬
ſtellung und Armuth verdammt, und das mit
Recht, denn die ganze Art iſt unberechtigt und
thoͤricht!«
Ich fuͤgte mich dieſen Reden aber nicht, weil
ich ihm ſchon abgemerkt hatte, daß das Erfinden
und ein tieferer Gehalt nicht ſeine Staͤrke waren;
denn ſchon mehr als ein Mal hatte er, meine
Anordnungen corrigirend, Lieblingsſtellen in Berg¬
zuͤgen oder Waldgruͤnden, die ich recht bedeutſam
glaubte, gar nicht einmal geſehen, indem er ſie
mit dem markigen Bleiſtifte ſchonungslos uͤber¬
ſchraffirte und zu einem kraͤftigen aber nichtsſa¬
genden Grunde ausglich. Wenn ſie auch ſtoͤrten,
[77] ſo haͤtte er meiner Meinung nach wenigſtens ſie
bemerken, mich verſtehen und etwas daruͤber ſa¬
gen muͤſſen.
Ich wagte daher zu widerſprechen, ſchob die
Schuld auf die Waſſerfarben, in welchen keine
Kraft und Freiheit moͤglich ſei, und ſprach meine
Sehnſucht aus nach guter Leinwand und Oel¬
farben, wo Alles ſchon von ſelbſt eine reſpectable
Geſtalt und Haltung gewinnen wuͤrde. Hiemit
griff ich aber meinen Lehrer in ſeiner Exiſtenz an,
indem er glaubte und behauptete, daß die ganze
und volle Kuͤnſtlerſchaft ſich hinlaͤnglich und vor¬
zuͤglich nur durch etwas weißes Papier und einige
engliſche Farbentaͤfelchen bethaͤtigen und zeigen
koͤnne. Er hatte ſeine Bahn abgeſchloſſen und
gedachte nichts Anderes mehr zu leiſten, als er
ſchon that, daher beleidigte ihn, wie ich nun zu
erkennen gab, daß ich das durch ihn Gelernte nur
als eine Staffel betrachte und bereits mich dar¬
uͤber hinweg zu etwas Hoͤherem berufen fuͤhle.
Er wurde um ſo empfindlicher, als ich einen leb¬
haften und wiederholten Streit uͤber dieſen Ge¬
genſtand hartnaͤckig aushielt, von meinen Hoff¬
[78] nungen nicht abließ und ſeine Ausſpruͤche, wenn
ſie in's Allgemeine gingen, nicht mehr unbedingt
annahm, vielmehr ungeſcheut beſtritt. Hieran
war hauptſaͤchlich der Umſtand ſchuld, daß ſeine
ſonſtigen Geſpraͤche und Mittheilungen einerſeits
immer deutlicher, andererſeits aber immer ſonder¬
barer und auffallender geworden und meine Ach¬
tung vor ſeiner Urtheilskraft geſchwaͤcht hatten.
Manches fiel zuſammen mit den dunklen Geruͤch¬
ten, die uͤber ihn ergingen, ſo daß ich eine Zeit¬
lang in der peinlichſten Spannung mich befand,
aus einem geehrten und zuverlaͤſſigen Lehrer die
ſeltſamſte und raͤthſelhafteſte Geſtalt ſich heraus¬
ſchaͤlen zu ſehen.
Schon ſeit einiger Zeit wurden ſeine Aeuße¬
rungen uͤber Menſchen und Verhaͤltniſſe immer
haͤrter und zugleich beſtimmter, indem ſie ſich aus¬
ſchließlicher auf politiſche Dinge bezogen. Er
ging alle Abende in den Leſezirkel unſerer Stadt,
las dort die franzoͤſiſchen und engliſchen Blaͤtter
und pflegte ſich Vieles zu notiren, ſowie er auch
in ſeiner Wohnung allerlei geheimnißvolle Papier¬
ſchnitzel handhabte und ſich oft uͤber wichtigem
[79] Schreiben betreffen ließ. Vorzuͤglich machte er
ſich oft mit dem Journal des Débats zu ſchaffen.
Unſere Regierung nannte er einen Trupp unge¬
ſchickter Kraͤhwinkler, den großen Rath aber ein
veraͤchtliches Geſindel und unſere heimiſchen Zu¬
ſtaͤnde im Ganzen dummes Zeug. Daruͤber ward
ich ſtutzig und hielt mit meinen Zuſtimmungen
zuruͤck oder vertheidigte unſere Verhaͤltniſſe und
hielt ihn fuͤr einen malcontanten Menſchen, wel¬
chen der lange Aufenthalt in fremden großen
Staͤdten mit Verachtung der engen Heimath ge¬
fuͤllt habe. Er ſprach oft von Louis Philipp
und tadelte deſſen Maßregeln und Schritte, wie
Einer, der eine geheime Vorſchrift nicht puͤnktlich
befolgt ſieht. Einſt kam er ganz unwirſch nach
Hauſe und beklagte ſich uͤber eine Rede, welche
der Miniſter Thiers gehalten. »Mit dieſem ver¬
tracten kleinen Burſchen iſt Nichts anzufangen!«
rief er, indem er ein Zeitungsexcerpt zerknitterte,
»ich haͤtte ihm dieſe eigenmaͤchtige Naſeweisheit
gar nicht angeſehen! Ich glaubte in ihm den
gelehrigſten meiner Schuͤler zu haben.« — »Zeich¬
net denn der Herr Thiers auch Landſchaften?«
[80] fragte ich und Roͤmer erwiederte, indem er ſich
bedeutungsvoll die Haͤnde rieb: »Das eben nicht!
laſſen wir das!«
Doch bald darauf deutete er mir an, daß alle
Faͤden der europaͤiſchen Politik in ſeiner Hand
zuſammenliefen und daß ein Tag, eine Stunde
des Nachlaſſes in ſeiner angeſtrengten Geiſtesar¬
beit, die ſeinen Koͤrper aufzureiben drohe, ſich
alſobald durch eine allgemeine Verwirrung der
oͤffentlichen Angelegenheiten bemerklich mache, daß
eine confuſe und aͤngſtliche Nummer des Journal
des Débats jedesmal bedeute, daß Er unpaͤßlich
oder abgeſpannt und ſein Rath ausgeblieben ſei.
Ich ſah meinen Lehrer ernſthaft an, er machte ein
unbefangenes und ernſthaftes Geſicht, die gebo¬
gene Naſe ſtand wie immer mitten darin, darun¬
ter der wohlgepflegte Schnurbart und uͤber die
Augen flog auch nicht das leiſeſte ungewiſſe Zu¬
cken.
Mein Erſtaunen gewann nicht Zeit, ſich auf¬
zuhellen, indem ich ferner erfuhr, daß Roͤmer,
waͤhrend er der verborgene Mittelpunkt aller
Weltregierung, zugleich das Opfer unerhoͤrter
[81] Tyranneien und Mißhandlungen war. Er, der
vor Aller Augen auf dem maͤchtigſten Throne
Europas haͤtte ſitzen ſollen von mehr als Eines
Rechtes wegen, wurde durch einen geheimnißvollen
Zwang gleich einem gebannten Daͤmon in Ver¬
borgenheit und Armuth gehalten, daß er kein
Glied ohne den Willen ſeiner Tyrannen ruͤhren
konnte, waͤhrend ſie ihm taͤglich gerade ſo viel
von ſeinem Genius abzapften, als ſie zu ihrer
kleinlichen Weltbeſorgung gebrauchten. Freilich,
waͤre er zu ſeinem Recht und zu ſeiner Freiheit
gekommen, ſo wuͤrde im ſelben Augenblicke die
Maͤuſewirthſchaft aufgehoͤrt haben und ein freies,
lichtes und gluͤckliches Zeitalter angebrochen ſein.
Allein die winzigen Doſen ſeines Geiſtes, welche
nun ſo tropfenweiſe verwandt wuͤrden, ſammelten
ſich doch allmaͤlig zu einem allmaͤchtigen Meere,
indem es ihre Art ſei, daß keine davon wieder
vergehen oder aufgehoben werden koͤnne, und in
jenem allbezwingenden Meere werde ſein Weſen
zu ſeinem Rechte kommen und die Welt erloͤſen,
daher er gerne ſeine koͤrperliche Perſon wolle ver¬
ſchmachten laſſen.
»Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?«
rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden,
die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen,
daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem
erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬
tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne
in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man
die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das
Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag
ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus
hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt,
daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und
Alles ſieht, was wir thun?«
Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte
einige Einwendungen zu machen, welche jedoch
durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬
tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So
lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der
wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe
halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen
anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung
genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir
geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher
[83] gelernt, aus der Hand des Wahnſinns empfangen
habe. Dieſer Gedanke empoͤrte mich und ich be¬
griff nicht, wie Jemand wahnſinnig ſein koͤnne.
Eine gewiſſe Unbarmherzigkeit erfuͤllte mich, ich
nahm mir vor, mit Einem klaren Worte die
ganze unſinnige Wolke gewiß zerſtreuen zu wollen;
ſtand ich aber dem Wahnſinne gegenuͤber, ſo
mußte ich ſeine Staͤrke und Undurchdringlichkeit
ſogleich fuͤhlen und froh ſein, wenn ich Worte
fand, welche, auf die verirrten Gedanken einge¬
hend, dem Leidenden durch Mittheilung einige
Erleichterung gewaͤhren konnten. Denn daß er
wirklich ungluͤcklich und leidend war und alle
eingebildeten Qualen wirklich fuͤhlte, konnte ich
nicht verkennen. Unter ſeinen Einbildungen war
eine einzige, welche ihm ein Erſatz fuͤr den uͤbri¬
gen Schaden zu ſein ſchien und zugleich ſo ko¬
miſch, daß ſie mich zum Gelaͤchter reizte. Er
lebte naͤmlich der Ueberzeugung, daß er bei allen
hohen diplomatiſchen Verheirathungen eine Art
Recht der erſten Nacht genoͤſſe, theils um einer je¬
den europaͤiſchen Verbindung durch ſeine perſoͤnliche
Einwirkung die rechte Weihe zu geben, theils
6*[84] um ihn durch ſolche Annehmlichkeit einzuſchlaͤfern
und ihn abzuhalten, eine eigene hohe Heirath
einzugehen, um ſeine Selbſtaͤndigkeit zu verhin¬
dern, da, wie er behauptete, durch die feſte Ver¬
bindung des Mannes mit dem Weibe, jener erſt
ſeine volle Freiheit und Bedeutung erhielte. Wenn
daher in den Zeitungen eine wichtige politiſche
Heirath gemeldet wurde, ſo machte er ſich fuͤr
eine kurze Zeit unſichtbar und uͤberließ ſich nach¬
her noch lange einer geheimnißvollen ſuͤßen Traͤu¬
merei, deren Schleier er mich nur mit verhuͤllten
Worten durchblicken ließ. Ich mußte mir als¬
dann die Moͤglichkeit vorzuſtellen ſuchen, wie er
an einem Tage an das entfernteſte Ende Europas
und wieder zuruͤckgelangen konnte.
Jedoch fiel aus dem Unſinne manch vernuͤnf¬
tiges Geſpraͤch, und die Eroͤrterungen uͤber ſein
Ungluͤck und die dasſelbe veranlaſſenden Menſchen
waren oft lehrreich. Einſt ſagte er: »Ich kann
mich ganz genau des Wendepunktes entſinnen, wo
mein Geſchick ſich verfinſterte. Ich war in Rom
und lag auf dieſem alten Weltplatze meinen
tiefen Studien ob. Nebenbei betrieb ich die
[85] Landſchaftmalerei, theils um durch ſie nach und
nach das Terrain von ganz Europa auf die ge¬
naueſte Weiſe kennen zu lernen, theils um, wie
ich ſelbſt fuͤr noͤthig fand, das Geheimniß meiner
Perſon zu verhuͤllen. Die diplomatiſche Welt
hatte dieſe Maske acceptirt und nahm mich unter
derſelben bei ſich auf. Wenn von meinen Ar¬
beiten geſprochen wurde, ſo war dies nur eine
ſymboliſche Blumenſprache, die jeder Eingeweihte
verſtand. Ich glaubte mich auf dem beſten
Wege, zu meiner offenen und freien Thatkraft zu
gelangen, als ich einen hochgeſtellten Mann un¬
verſehens gegen mich einnahm; es war der
. . . 'ſche Geſandte, welcher zum Zeitvertreibe
Kunſtnotizen in ein auswaͤrtiges weitverbreitetes
Blatt ſchrieb und in einer ſolchen auch meiner er¬
waͤhnte, deſſen geniale Aquarellen in roͤmiſchen Krei¬
ſen ein guͤnſtiges Aufſehen fuͤr den »beſcheidenen«
jungen Mann erregten. Er legte ein Hauptge¬
wicht auf meine vermeintliche Beſcheidenheit, ob¬
gleich der Eſel gar nicht wiſſen konnte, ob ich
beſcheiden oder nicht beſcheiden ſei. Die Be¬
ſprechung meiner Arbeiten war inſofern nicht
[86] uͤbel, als man in Paris, London und Petersburg
leidlich verſtehen konnte, was darunter gemeint
ſei; die ausfuͤhrliche Beſchreibung meiner Be¬
ſcheidenheit hingegen war die erſte Sonde, die
man an mich legte, um zu erfahren, ob ich das
volle Gefuͤhl meiner Groͤße in mir trage. Ich
ging richtig in die Falle und warf dem unbe¬
ſcheidenen Geſchaͤftsmacher ſeine Anmaßung vor,
indem ich ihm erklaͤrte, ich ſei gar nicht beſchei¬
den und er habe kein Recht, dies von mir zu
ſagen. Von dieſem Tage an desavouirte mich
die große Welt oͤffentlich und feſſelte mich an
mein ungluͤckſeliges Joch; denn ſie fuͤhlte wohl,
daß das Bewußtſein meiner Groͤße ſie bald aus¬
einander blaſen wuͤrde. Ich rathe Ihnen wohl¬
meinend, junger Mann! wenn einſt ein einfaͤltiger
Goͤnner von Ihnen ſagen ſollte, Sie ſeien ein be¬
ſcheidener Menſch, ſo widerſprechen Sie nicht,
ſonſt ſind Sie verloren!«
Ich verſchwieg Roͤmer's Irrſinn lange gegen
Jedermann und ſelbſt gegen meine Mutter, weil
ich meine eigene Ehre dabei betheiligt glaubte,
wenn ein ſo trefflicher Lehrer und Kuͤnſtler als
[87] toll erſchien, und weil es mir widerſtrebte, den
ſchlimmen Geruͤchten, die uͤber ihn im Umlauf
waren, entgegen zu kommen. Es war mir auch
aufgefallen, daß Roͤmer ganz vereinſamt lebte
und trotzdem, daß er mehrere Herren aus ange¬
ſehenen Haͤuſern kannte, die ſich zu gleicher Zeit
mit ihm in jenen großen Staͤdten aufgehalten,
doch von denſelben gemieden wurde. Daher wollte
ich ſeine Lage nicht noch verſchlimmern. Doch
verlockte mich einſt ein unwilliges republikaniſches
Gefuͤhl zum Plaudern. Nachdem er naͤmlich
oͤfter bedeutungsvoll bald von den Bourbonen,
bald von den Napoleoniden, bald von den Habs¬
burgern geſprochen, ereignete es ſich einſt, daß
die Koͤnigin-Mutter aus Neapel, eine alte Frau
mit vielen Dienern und Schachteln, einige Tage
ſich in unſerer Stadt aufhielt. Sogleich gerieth
Roͤmer in eine große Aufregung, lenkte auf
Spaziergaͤngen unſern Weg an dem Gaſthofe
vorbei, wo ſie logirte, ging in das Haus, als
ob er mit der Dame, die er als ſehr intrigant
beſchaͤftigt und ſeinetwegen hergekommen ſchilderte,
wichtige Unterredungen haͤtte, und ließ mich lange
[88] unten warten. Doch bemerkte ich, daß er ſich
nur an dem geheimſten und zugleich zugaͤnglichſten
Ort des Hauſes aufhielt, welches ein unange¬
nehmer Duft verrieth, den er an die friſche Luft
mit ſich brachte. Dieſe Narrenspoſſen, von einem
Manne mit ſo edlem und ernſtem Aeußern, em¬
poͤrten mich um ſo mehr, da ſie mit einer laͤcher¬
lichen Liſtigkeit betrieben wurden. Ein ander
Mal, nach dem Straßburger Attentat, als Frank¬
reich die Auslieferung des Urhebers Louis Na¬
poleon verlangte, mit Gewalt drohte und des¬
halb zum Schutze des Aſylrechtes oder vielmehr
des Buͤrgerrechtes eine große Aufregung herrſchte
und ſogar ſchon Truppen aufgeboten wurden,
ſtellte er ſich, als ob Thiers nur nach ſeinen,
des Schweizers, Vorſchriften handelte und das
Ganze nur ein berechneter Zug in ſeinem großen
Schachſpiele waͤre. Dazumal hielt ſich der be¬
ſagte Prinz zwei Tage in der Stadt auf, um
ſeine Angelegenheit auch in unſerm Canton zu
empfehlen; denn er hatte ſich noch nicht ent¬
ſchloſſen, freiwillig das Land zu verlaſſen. Wir
trafen ihn auf der Straße als einen jungen
[89] bleichen Mann mit einer großen Naſe, der in
Begleitung eines aͤlteren Mannes ging, welcher
ein rothes Baͤndchen im Knopfloch trug. Die
Leute blickten ihm ernſthaft nach, beſonders die
Frauen ſahen gar bedenklich darein, da ihre
Maͤnner und Soͤhne ſchon in Waffen umhergingen
und bereits Stunden lang im Regen ſtanden,
um zum Abmarſche Pulver und Blei, Aexte,
Keſſel u. d. gl. zu faſſen. Nur Roͤmer fuͤhlte
von Allem Nichts und gruͤßte im Voruͤbergehen
den Fremdling vertraulich laͤchelnd wie ein eben¬
buͤrtiger Vornehmer, wobei ich zugleich bemerkte,
daß er vor Aufregung zitterte, einem Napoleoni¬
den ſo nahe zu ſein.
Wenn ich den Wahnſinn verzeihen und tragen
mußte, ſo konnte ich hier die innere Urſache nicht
verzeihen, welche demſelben zu Grunde zu liegen
und nichts Anderes zu ſein ſchien, als jene un¬
ertraͤgliche Sucht eitler Menſchen, von der we¬
ſentlichen und inhaltvollen Einfachheit der Hei¬
math abzufallen und dem laͤcherlichen Schatten
auslaͤndiſch-diplomatiſcher Klug- und Feinthuerei
nachzutrachten. Die aufbrauſende Jugend war
[90] dazumal ſo ſchon erzuͤrnt uͤber einige gereiſte
Gelbſchnaͤbel, welche ſich eine Zeit lang darin ge¬
fielen, in dem laͤppiſchen Style muͤßiger Geſandt¬
ſchaftsbedienter Berichte uͤber unſere Heimath in
fremde Blaͤtter zu ſenden und ſich dabei das An¬
ſehen zu geben, als ob ſie durch ihre Diplomatie dem
Lande oder ihrer Partei Wunder was genuͤtzt
haͤtten. Als Roͤmer ſich ein Stuͤckchen rothes
Band an einem Frack befeſtigte und dieſen wie
von ungefaͤhr auf einen Stuhl legte, ſchien er
mir die zuſammengezogene Erſcheinung jenes ver¬
werflichen Unſinnes zu ſein, und ich ging mit
großem Zorne weg und beklagte mich zu Hauſe
uͤber den Ungluͤcklichen. Es waren gerade Leute
da, welche mehr von ihm wußten, und ich er¬
fuhr, daß es laͤngſt von ihm bekannt ſei, daß er
ſich bald fuͤr einen Sohn Napoleon's, bald fuͤr
den Sproͤßling dieſer oder jener aͤlteren Dynaſtie
halte. Von ſeinen einzelnen und ausfuͤhrlichen
Narrheiten wußten nur wenig Leute, hingegen
hielt man jene fixe Idee fuͤr eine abſichtliche Ver¬
ſtellung, um mittelſt derſelben ſich ungehoͤrige
Vortheile zu verſchaffen, Andere um's Geld zu
[91] bringen und ein muͤßiges, abenteuerliches Leben
zu fuͤhren, da er nicht gern arbeite und vom
Hochmuthe beſeſſen ſei, und man ſchrieb ihm dem¬
zufolge einen gefaͤhrlichen Charakter zu. Dieſe
Beurtheilung war im hoͤchſten Grade oberflaͤchlich
und ungerecht, und ich habe mit Muͤhe nach und
nach folgenden Sachverhalt herausbringen koͤnnen.
Er war auf dem Lande geboren und als ein
kleiner Junge nach der Stadt zu Haberſaat ge¬
bracht worden, da er große Neigung verrieth,
etwas Anderes zu werden, als ein Ackerbauer.
Es war in der Reſtaurationszeit, wo arme
Bauernkinder, wenn ſie etwas lernen wollten,
nur die Wahl hatten zwiſchen einem Handwerk
und einem Plaͤtzchen in einem ſtaͤdtiſchen Gewerbe.
Es war ein Gluͤck fuͤr ſie, wenn ſie als Lauf¬
buͤrſchchen in Handelshaͤuſern, Fabriken oder
Kanzleien ein Fleckchen fanden, auf dem ſie Fuß
faſſen und, wenn etwas an ihnen war, ſich auf¬
arbeiten konnten. Da Haberſaat's Anſtalt auch
eine Unterkunft dieſer Art war, obgleich eine
ſchlimme, ſo gerieth Roͤmer ganz zufaͤllig dahin,
ohne viel zu wiſſen, was man aus ihm machen
[92] wuͤrde. Er war fleißig und hielt ſeine Zeit aus,
nach welcher ihn ein franzoͤſiſcher Kunſthaͤndler,
welcher durchreiſte, um ein Werk ſchweizeriſcher
Proſpecte vorzubereiten, nebſt einigen anderen
jungen Leuten mit nach Paris nahm, indem der
Mann dort die Haberſaat'ſche Art, welche er ſehr
praktiſch fand, anwenden wollte. Roͤmer hielt
ſich tapfer; nach wenigen Jahren hatte er eine
artige Summe erſpart, mit welcher er nach Rom
ging, entſchloſſen, etwas Rechtes zu werden.
Indem er ſich umſah, ergriff er alſobald die eng¬
liſche Art, in Aquarell zu malen, hielt ſich aber
dabei gruͤndlich an die Natur und verbeſſerte das
Mittel durch einen reineren Zweck, ſo daß ſeine
Arbeiten einiges Aufſehen erregten und er unter
dem Zuſammenfluß von Kuͤnſtlern aller Nationen
bald ſeine eigenthuͤmliche Stellung einnahm. In¬
deſſen ſuchte er ſich auch ſonſt auszubilden und
ſtellte ſich endlich als ein feiner und unterrichteter
Mann in jeder Weiſe dar. Seine geiſtreichen
und zugleich eleganten Zeichnungen kamen be¬
ſonders dem Beduͤrfniß der vornehmen Welt ent¬
gegen; einer roͤmiſchen Prinzeſſin gefielen ſie ſo
[93] ſehr, daß er berufen wurde, ihr in ſeiner Technik
Unterricht zu geben, und taͤglich in den Palaſt
ihres Gemahles gehen mußte. Dies verdrehte
ihm den Kopf oder lenkte ihn vielmehr auf den
Weg, deſſen Anfang von je in ihm war; er
machte irgend eine Dummheit, auch mochte der
Vorfall mit der Beſcheidenheit, den er auf ſeine
Weiſe mir erzaͤhlt, dazukommen: ſein Gluͤck ver¬
ließ ihn ploͤtzlich, er wurde vermieden und ging
nach Paris zuruͤck. Dort gelang es ihm durch
den Kunſthaͤndler, auf guͤnſtige Weiſe bekannt zu
werden; er mußte eines Tages in die Tuilerien
gehen, ſeine Mappen vorlegen und ſah ſich in
einen allerliebſten kleinen Salon verſetzt, in welchem
die bluͤhenden Kinder des Koͤnigs, Maͤdchen und
Soͤhne, ſcherzend und lachend um ſeine Arbeiten
ſich draͤngten und Blaͤtter fuͤr ihre Albums aus¬
waͤhlten. Dieſe Auszeichnung wurde in den
Pariſer Journalen gemeldet und er las ſeinen
Namen im Journal des Débats, aber zum erſten
und letzten Male, obgleich er ſeither keinen Tag
ruhig ſchlafen konnte, wenn er dies Blatt nicht
geleſen.
Von nun an nahm der Irrſinn vollſtaͤndig
Platz in ihm, er behandelte ſeinen Beruf als
Nebenſache und trachtete mehr danach, ſeinen ein¬
gebildeten Rechten Geltung zu verſchaffen. Zum
zweiten Mal von der vornehmen Welt zuruͤckge¬
wieſen, mußte er in einen nachtheiligen Verkehr
mit Haͤndlern treten, um nur dann und wann
ein Blatt zu verkaufen. Von wohlhabenden
Landsleuten, die ſich zum Vergnuͤgen in Paris
aufhielten und den Umgang des Kuͤnſtlers ge¬
ſucht hatten, lieh er Geld, wenn er in Noth war,
und da er dieſes mit ernſthaften und anſtaͤndigen
Manieren that, das Geliehene aber nicht zuruͤck¬
gab, vielmehr von großen und wichtigen Dingen
ſprach, waͤhrend er doch ſonſt ein kluger und ein¬
ſichtiger Mann ſchien, ſo hielt man ihn bald fuͤr
einen durchtriebenen und gefaͤhrlichen Schelm,
der nur darauf ausgehe, Andere auf tuͤckiſche
Weiſe um das Ihrige zu bringen. Daß er in
der feſten Ueberzeugung lebte, jeden Tag ſein
großes Schickſal aufgehen zu ſehen, wo er als
ein Koͤnig dieſer Welt alles Empfangene hundert¬
fach vergelten koͤnne, wurde ihm nicht angerech¬
[95] net; vielmehr verzieh man ihm nicht, wenn er
einmal verruͤckt ſei, daß er doch mit ſo viel
ſchlauem Anſtand und wahrer Menſchenkenntniß
ſeine wohlhabenden Bekannten wiederholt habe
anfuͤhren koͤnnen. Er fuͤhlte dies recht gut mit
ſeiner vernuͤnftigeren Haͤlfte, welche durch die
Noth immer zur Noth wach gehalten wurde; denn
waͤhrend, unſerer ſeltſamen Geſpraͤche uͤber die Er¬
fahrungen ſagte er mir einſt: »Wenn Sie einſt
in Verlegenheit gerathen und Geld leihen muͤſſen,
ſo thun Sie dies ja nicht auf eine anſtaͤndige
und geſchickte Weiſe, wie es ernſten Leuten ge¬
ziemt, wenn Sie nicht ganz ſicher ſind, es auf
den beſtimmten Tag zuruͤckzugeben, ſonſt wird
man Sie fuͤr einen abgefeimten Betruͤger halten!
vielmehr thun Sie es ohne alle Scham und auf
liederliche, naͤrriſche Weiſe, damit die Leute ſagen
koͤnnen: Es iſt ein Lump, aber ein guter Teufel,
man muß ihm helfen!«
Ueberhaupt erſchien er ſonſt in allen Dingen
als ein gewandter und verſtaͤndiger Mann und
wußte ſeinen Irrſinn lange zu verbergen. Auch
hatte er nach Art der Irren doch immer ein
[96] boͤſes Gewiſſen, welches ihn trachten ließ, die
Leute uͤber ihn im Unklaren zu halten, um nicht
gewaltſam in ſeinen Gedankengaͤngen geſtoͤrt zu
werden, und jene Liſt, welche ſich manchmal ver¬
nuͤnftig ſtellt, um einen freieren Spielraum zum
Unſinne zu gewinnen. In einem ſolchen Ge¬
fuͤhle war er endlich in ſeine Heimath zuruͤckge¬
kehrt, um ſich da auszuruhen und durch fleißige
Arbeit und ein vernuͤnftiges Leben zu Kraͤften
und zu einem feſteren Standpunkte zu gelangen,
von dem aus er ſeinen Stern erwarten koͤnnte.
Allein er fand durch die Familien von einem
oder zweien jener Mutterſoͤhnchen, denen er maͤ¬
ßige Summen ſchuldete, die Stimmung ſo gegen
ſich eingenommen, daß er uͤberall abgeſtoßen und
mit Verdacht umgeben ward. Er ſchrieb dies
Mißgeſchick den Kabalen der europaͤiſchen Kabinette
zu, hielt ſich ganz ſtill, um dieſe zu taͤuſchen und
einzuſchlaͤfern, und machte dabei die ſchoͤnſten
Zeichnungen. Dieſe ſandte er aber nicht an nam¬
hafte Plaͤtze, weil er der Meinung war, ſeine
Feinde wuͤrden den Verkauf verhindern, ſondern
an entlegene Orte, von wo ſie immer unverkauft
[97] zuruͤckkamen. Ich glaube, daß Roͤmer waͤhrend
der Zeit ſeines Aufenthaltes keine anderen Mittel
hatte, als das wenige Geld, was er von mir
empfangen. Es ſtellte ſich erſt nachher heraus,
daß er nie etwas Warmes genoſſen, ſondern ſich
heimlich mit Brot und Kaͤſe ernaͤhrte, und ſeine
groͤßte Ausgabe beſtand in der Unterhaltung ſei¬
ner feinen Waͤſche und der Handſchuhe. Zu ſei¬
nen Kleidern wußte er ſo Sorge zu tragen, daß
ſie bei ſeiner Abreiſe noch eben ſo gut ausſahen,
wie bei der Ankunft, obſchon er immer dieſelben
trug.
Nachdem ich vier Monate unter ſeiner Lei¬
tung zugebracht, wollte ich mich zuruͤckziehen, in¬
dem ich die bezahlte Summe nun als ausgegli¬
chen betrachtete. Doch er wiederholte ſeine Aeu¬
ßerung, daß es hiemit nicht ſo genau zu nehmen
und die Studien deshalb nicht abzubrechen waͤ¬
ren; es ſei ihm im Gegentheil ein angenehmes
Beduͤrfniß, unſern Verkehr fortzuſetzen. So ar¬
beitete ich zwar nicht mehr anhaltend in ſeiner
Wohnung, beſuchte ihn aber jeden Tag, empfing
III. 7[98] ſeinen Rath und richtete mich manchmal auch
voruͤbergehend bei ihm ein. Weitere vier Monate
vergingen ſo, waͤhrend welcher er, durch die Noth
gezwungen, aber leicht hin und beilaͤufig mich
anfragte, ob meine Mutter ihm mit einem kleinen
Darlehen auf kurze Zeit aushelfen koͤnne? Er
bezeichnete ungefaͤhr eine gleiche Summe, wie die
ſchon empfangene, und ich brachte ihm dieſelbe
noch am gleichen Tage. Im Fruͤhjahr endlich
gelang es ihm, aber erſt in Folge eines [muͤhſeli¬
gen] Briefwechſels, wieder einmal eine Arbeit zu
verkaufen, wodurch er zum erſten Mal ſeit lan¬
ger Zeit eine Summe in die Haͤnde bekam. Mit
dieſer beſchloß er, wieder nach Paris zu gehen,
da ihm hier kein Heil bluͤhen wollte und ihn
ſonſt auch der Wahn forttrieb, durch Ortsveraͤn¬
derung ein beſſeres Loos erzwingen zu koͤnnen.
Denn trotz allem ſcharfſinnigen Inſtincte, den ein
Irrſinniger und Ungluͤcklicher hat, ahnte er von
ferne nicht, daß ſein wirkliches Geſchick viel ſchlim¬
mer, als ſein eingebildetes Leiden, und daß die
Welt uͤbereingekommen war, ſeine armen ſchoͤnen
Zeichnungen und Bilder entgelten zu laſſen,
[99] was man von ſeiner vermeintlichen Schlechtigkeit
hielt.
Ich fand ihn, wie er ſeine Sachen zuſammen¬
packte und einige Rechnungen bezahlte. Er kuͤn¬
digte mir ſeine Abreiſe an, die am andern Tage
erfolgen ſollte, und verabſchiedete ſich zugleich
freundlich von mir, noch einige geheimnißvolle
Andeutungen uͤber den Zweck der Reiſe beifuͤgend.
Als ich meiner Mutter die Nachricht mittheilte,
fragte ſie ſogleich, ob er denn nichts von dem ge¬
liehenen Gelde geſagt habe?
Ich hatte bei Roͤmer einen entſchiedenen Fort¬
ſchritt gemacht, mein ganzes Koͤnnen abgerundet
und meinen Blick erweitert, und es war gar nicht
zu berechnen und ſchon nicht mehr zu denken, wie
es ohne dies Alles mit mir haͤtte gehen ſollen. Des¬
wegen haͤtten wir das Geld fuͤglich als eine wohlan¬
gewandte Entſchaͤdigung anſehen muͤſſen, und dies
um ſo mehr, als Roͤmer mir die letzte Zeit nach
wie vor ſeinen Rath gegeben hatte. Allein wir
glaubten nur einen Beweis von der Richtigkeit
jener Geruͤchte zu ſehen und wußten auch dazumal
noch nicht, wie kuͤmmerlich er lebte; wir dachten
7 *[100] ihn im Beſitze guter Mittel, denn er hatte ſeine
Armuth ſorgfaͤltig verborgen. Meine Mutter be¬
ſtand darauf, daß er das Geliehene zuruͤckgeben
muͤſſe, und war zornig, daß Jemand von dem
zum Beſten ihres Soͤhnleins beſtimmten kleinen
Geldvorrathe ſich ohne Weiteres einen Theil an¬
eignen wolle. Was ich gelernt, zog ſie nicht in
Betracht, weil ſie es fuͤr die Schuldigkeit aller
Welt hielt, mir mitzutheilen, was man irgend
Gutes wußte.
Ich dagegen, theils weil ich zuletzt auch ge¬
gen Roͤmer eingenommen war und ihn fuͤr eine
Art Schwindler hielt, theils weil ich meine Mut¬
ter zur Herausgabe der Summe beredet, und end¬
lich aus Unverſtand und Verblendung, hatte nichts
einzuwenden und war vielmehr faſt ſchadenfroh,
Roͤmer etwas Feindliches anzuthun. Als daher
die Mutter ein Billet an ihn ſchrieb und ich ein¬
ſah, daß er, wenn er entſchloſſen war, das Geld
zu behalten, die Mahnung einer in ſeinen Augen
gewoͤhnlichen Frau nicht beachten werde, caſſirte
ich das Schreiben meiner Mutter, welche ohne¬
dies verlegen war, an einen ſo anſehnlichen und
[101] fremdartigen Mann zu ſchreiben, und entwarf ein
anderes, welches, ich muß es zu meiner Schande
geſtehen, hoͤchſt zweckmaͤßig eingerichtet war. In
hoͤflicher und geiſtreicher Sprache berechnete ich
halb ſeine fixen Ideen, halb ſeinen Stolz und
ſein Ehrgefuͤhl (dieſes dachte ich durch jene zu
zwingen) und indem das beſcheidene Billet erſt
zu einer Bitterkeit wurde, wenn es unberuͤckſich¬
tigt blieb, war es, wenn Roͤmer alles das ver¬
lachen ſollte, ſchließlich ſo beſchaffen, daß er doch
nicht lachen, ſondern ſich durchſchaut ſehen konnte.
So viel brauchte es indeſſen gar nicht; denn als
wir das Machwerk hinſchickten, kehrte der Bote
augenblicklich mit dem Gelde zuruͤck. Ich war
etwas beſchaͤmt; doch ſprachen wir jetzt alles Gute
von ihm, er ſei doch nicht ſo uͤbel u. ſ. f., nur
weil er uns das elende Haͤufchen Silber heraus¬
gegeben.
Ich glaube, wenn Roͤmer ſich eingebildet haͤtte,
ein Nilpferd oder ein Speiſeſchrank zu ſein, ſo
waͤre ich nicht ſo unbarmherzig und undankbar
gegen ihn geweſen; da er aber ein großer Prophet
ſein wollte, ſo fuͤhlte ſich meine eigene Eitelkeit
[102] dadurch verletzt und waffnete ſich mit den aͤußerli¬
chen ſcheinbaren Gruͤnden.
Nach einem Monate erhielt ich von Roͤmer
folgenden Brief aus Paris:
»Mein werther junger Freund!
Ich bin Ihnen eine Nachricht uͤber mein
Befinden ſchuldig, da ich gern annehme, mich
Ihrer ferneren Theilnahme und Freundſchaft er¬
freuen zu duͤrfen. Bin ich Ihnen doch meine
endliche Befreiung und Herrſchaft ſchuldig.
Durch Ihre Vermittlung, indem Sie das Geld
von mir zuruͤckverlangten (welches ich nicht ver¬
geſſen hatte, aber Ihnen in einem freieren Au¬
genblicke zuruͤckgeben wollte), bin ich endlich
in den Palaſt meiner Vaͤter eingezogen und
meiner wahren Beſtimmung anheimgegeben!
Aber es koſtete Muͤhſeligkeit. Ich gedachte jene
Summe zu meinem erſten Aufenthalte hier zu
verwenden; da Sie aber ſelbige zuruͤckverlang¬
ten, ſo blieb mir nach Abzug der Reiſekoſten
noch 1 Franc uͤbrig, mit welchem ich von der
Poſt ging. Es regnete ſehr ſtark und ver¬
[103] wandte ich daher den beſagten Franc dazu, nach
dem Mont piété zu fahren und dorten meinen
Koffer zu verſetzen. Bald darauf ſah ich mich
genoͤthigt, meine Sammlungen einem Troͤdler
fuͤr ein Trinkgeld zu verkaufen und erſt jetzt,
als ich endlich von aller angenommenen Kuͤnſt¬
lermaske und allem Kunſtapparate gluͤcklich be¬
freit und hungernd in den Straßen umherlief,
ohne Obdach, ohne Kleider, doch jubelnd uͤber
meine Freiheit, da fanden mich treue Diener
meines erlauchten Hauſes und fuͤhrten mich im
Triumph heim! Aber noch beobachtet man
mich zuweilen und ich benutze eine guͤnſtige
Gelegenheit, dies Zeichen zu ſenden. Sie ſind
mir werth geworden und ich habe etwas Gu¬
tes mit Ihnen vor! Inzwiſchen nehmen Sie
meinen Dank fuͤr die guͤnſtige Wendung, die
Sie herbeigefuͤhrt! Moͤge alles Elend der Erde
in Ihr Herz fahren, jugendlicher Held! Moͤ¬
gen Hunger, Verdacht und Mißtrauen Sie
liebkoſen und die ſchlimme Erfahrung Ihr
Tiſch- und Bettgenoſſe ſein! Als aufmerkſame
Pagen ſende ich Ihnen meine ewigen Verwuͤn¬
[104] ſchungen, mit denen ich mich bis auf Weiteres
Ihnen treulichſt empfehle!
Ihr wohlgewogener Freund.
Dies nur in Eile, ich bin zu ſehr beſchaͤftigt!«
Erſt vor einem Jahre erfuhr ich, daß Roͤmer
in einem franzoͤſiſchen Irrenhauſe verſchollen ſei.
Wie es dazu kam, wird in obigem Briefe ziem¬
lich klar. Meine Mutter, welcher ich Alles ver¬
hehlte, konnte keine Schuld treffen, als diejenige
aller Frauen, welche aus Sorge fuͤr ihre Ange¬
hoͤrigen engherzig und ruͤckſichtslos gegen alle
Welt werden. Ich hingegen, der ich gerade zu
dieſer Zeit mich gut und ſtrebſam glaubte, ſah
nun ein, welche Teufelei ich begangen hatte. Ich
log, verlaͤumdete, betrog oder ſtahl nicht, wie ich
es als Kind gethan, aber ich war undankbar,
ungerecht und hartherzig unter dem Scheine des
aͤußeren Rechtes. Ich mochte mir lange ſagen,
daß jene Forderung ja nur eine einfache Bitte
um das Geliehene geweſen ſei, wie ſie alle Welt
verſucht, und daß weder meine Mutter, noch ich
je gewaltſam darauf beſtanden haͤtten, ich mochte
[105] mir lange ſagen, daß Erfahrung den Meiſter
mache und man auch dieſe Art Unrecht, als die
gangbarſte und am leichteſten zu begehende, am
beſten durch ein tuͤchtiges Erlebniß recht einſehen
und vermeiden lerne, mochte ich mich auch uͤber¬
reden, daß Roͤmer's Weſen und Schickſal mein
Verhalten hervorgerufen und auch ohne dieſen
Vorgang ſeine Erfuͤllung erreicht haͤtte; alles
dies hinderte nicht, daß ich mir doch die bitterſten
Vorwuͤrfe machen mußte und mich ſchaͤmte, ſo
oft Roͤmer's Geſtalt vor meinen Sinn trat. Wenn
ich auch die Welt verwuͤnſchte, welche dergleichen
Handlungen als klug und recht anerkennt (denn
die rechtlichſten Leute hatten uns zu der Wieder¬
erlangung der Summe begluͤckwuͤnſcht), ſo fiel
doch alle Schuld wieder auf mich allein zuruͤck,
wenn ich an die Anfertigung jenes Billets dachte,
welches ich ſo recht con amore und ohne die
mindeſte Muͤhe geſchrieben und gleichſam aus
dem Aermel geſchuͤttelt hatte. Ich war bald acht¬
zehn Jahre alt und entdeckte jetzt erſt, wie ruhig
und unbefangen ich ſeit den Knabenſuͤnden und
Kriſen gelebt, ſechs lange Jahre! Und nun
[106] ploͤtzlich dieſe Teufelei! Wenn ich ſchließlich be¬
dachte, wie ich jenes unverhoffte Erſcheinen Roͤmer's
als eine hoͤhere Fuͤgung angeſehen, ſo wußte ich
nicht, ſollte ich lachen oder weinen uͤber den Dank,
den ich dafuͤr geſpendet. Den unheimlichen Brief
wagte ich nicht zu verbrennen und fuͤrchtete mich
ihn aufzubewahren; bald begrub ich ihn unter
entlegenem Geruͤmpel, bald zog ich ihn hervor
und legte ihn zu meinen liebſten Papieren, und
noch jetzt, ſo oft ich ihn finde, veraͤndere ich ſeinen
Ort und bringe ihn anderswo hin, ſo daß er
auf ſteter Wanderſchaft iſt.
Drittes Kapitel.
Dieſe Demuͤthigung traf mich um ſo ſtaͤrker,
als ich, in Anna's Traͤumen und Ahnungen rein
und gut zu erſcheinen, den Winter uͤber ein pu¬
ritaniſches Weſen angenommen hatte und nicht
nur meine aͤußerliche Haltung, ſondern auch meine
Gedanken ſorgfaͤltig uͤberwachte und mich beſtrebte
wie ein Glas zu ſein, das man jeden Augenblick
durchſchauen duͤrfe. Welche Ziererei und Selbſt¬
gefaͤlligkeit dabei thaͤtig war, wurde mir jetzt erſt
bei dieſer gewaltſamen Stoͤrung deutlich, und
meine Selbſtanklage wurde noch durch das Ge¬
fuͤhl der Narrheit und Eitelkeit verbittert.
Anna hatte waͤhrend des Winters ſtreng das
Zimmer huͤten gemußt und wurde im Fruͤhling
bettlaͤgerig. Der arme Schulmeiſter kam in die
Stadt, um meine Mutter abzuholen; er weinte
[108] als er in die Stube trat. Wir ſchloſſen alſo
unſere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus,
wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder
empfangen und geehrt wurde. Sie enthielt ſich
jedoch, alle die Orte, die ihr theuer waren, auf¬
zuſuchen und ihre gealterten Bekannten zu ſehen,
ſondern eilte, ſich bei dem kranken Kinde einzu¬
richten; erſt nach und nach benutzte ſie guͤnſtige
Augenblicke, und es dauerte Monate lang, bis ſie
alle Jugendfreunde geſehen, obgleich die meiſten
in der Naͤhe wohnten.
Ich hielt mich im Hauſe des Oheims auf
und ging alle Tage an den See hinuͤber. Anna
litt Morgens und Abends und in der Nacht am
meiſten; den Tag uͤber ſchlummerte ſie oder lag
laͤchelnd im Bette und ich ſaß an demſelben, ohne
viel zu wiſſen, was ich ſagen ſollte. Unſer Ver¬
haͤltniß trat aͤußerlich zuruͤck vor dem ſchweren
Leiden und der Trauer, welche die Zukunft nur
halb verhuͤllte. Wenn ich manchmal ganz allein
auf eine Viertelſtunde bei ihr ſaß, ſo hielt ich
ihre Hand, waͤhrend ſie mich bald ernſt, bald
laͤchelnd anſah, ohne zu ſprechen, oder hoͤchſtens,
[109] um ein Glas oder ſonſt einen Gegenſtand von
mir zu verlangen. Auch ließ ſie ſich oft ihre
Schaͤchtelchen und kleinen Schaͤtze auf das Bett
bringen, kramte dieſelben aus, bis ſie muͤde war,
wo ſie mich dann Alles wieder einpacken ließ.
Dies erfuͤllte uns mit einem ſtillen Gluͤcke und
wenn ich dann beinahe ſtolz auf dies ſo zarte
und reine Verhaͤltniß fortging, ſo konnte ich nicht
begreifen, wie und warum ich Anna in Er¬
wartung ſchmerzenvoller Qualen zuruͤckließ.
Der Fruͤhling bluͤhte nun in aller Pracht;
aber das arme Kind konnte kaum und ſelten
an's Fenſter gebracht werden. Wir fuͤllten daher
die Wohnſtube, in welcher ihr weißes Bett ſtand,
mit Blumenſtoͤcken und bauten vor dem Fenſter
ein breites Geruͤſte, um auf demſelben durch groͤ¬
ßere Toͤpfe moͤglichſt einen Garten einzurichten.
Wenn Anna an ſonnigen Nachmittagen eine
gute Stunde hatte und wir der warmen Mai¬
ſonne das Fenſter oͤffneten, der ſilberne See
durch die Roſen und Oleanderbluͤthen herein
glaͤnzte und Anna in ihrem weißen Kranken¬
kleide dalag, ſo ſchien hier ein ſanfter
[110] trauernder Kultus des Todes begangen zu
werden.
Manchmal aber wurde Anna in ſolchen
Stunden ganz munter und verhaͤltnißmaͤßig red¬
ſelig; wir ſetzten uns dann um ihr Bett herum
und fuͤhrten ein gemaͤchliches Geſpraͤch uͤber Per¬
ſonen und Begebenheiten, bald heiterer Natur,
und bald ernſter, ſo daß Anna Bericht erhielt
von dem, was unſere kleine Welt bewegte. Eines
Tages, als meine Mutter in das Dorf gegangen
war, fiel das Geſpraͤch auf mich ſelbſt, und der
Schulmeiſter wie ſeine Tochter ſchienen es auf
dieſem Gegenſtande ſo wohlwollend feſthalten zu
wollen, daß ich mich aͤußerſt geſchmeichelt fuͤhlte,
und aus behaglicher Dankbarkeit die groͤßte Auf¬
richtigkeit entgegen brachte. Ich benutzte den An¬
laß, mein Verhaͤltniß zu dem ungluͤcklichen Roͤmer
zu erzaͤhlen, uͤber welches ich ſeit jenem Briefe
mit Niemanden geſprochen, und ich brach in die
heftigſten Klagen uͤber den Vorfall und mein
Verhalten aus. Der Schulmeiſter verſtand mich
aber nicht recht; denn er wollte mich beruhigen
und die Sache als nicht halb ſo ſchlimm dar¬
[111] ſtellen, und was darin noch gefehlt war, ſollte
mich aufmerkſam machen, daß wir eben allzumal
Suͤnder und der Barmherzigkeit des Erloͤſers
beduͤrftig ſeien. Das Wort Suͤnder war mir
aber ein fuͤr alle Mal verhaßt und laͤcherlich und
ebenſo die Barmherzigkeit; vielmehr wollte ich
ganz unbarmherzig die Sache mit mir ſelbſt aus¬
fechten und mich verurtheilen auf gut weltlich ge¬
richtliche Art und durchaus nicht auf geiſtliche
Weiſe. Ploͤtzlich aber bekam Anna, welche ſich
bisher ſtill verhalten, aufgeregt durch meine Er¬
zaͤhlung und durch mein Gebaren, einen heftigen
Anfall ihrer Kraͤmpfe und Leiden, daß ich das
arme zarte Weſen zum erſten Mal ſeiner ganzen
huͤlfloſen Qual verfallen ſah. Große Thraͤnen,
durch Noth und Angſt erpreßt, rollten uͤber ihre
weißen Wangen, ohne daß ſie dieſelben aufhalten
konnte. Sie war ganz durch die Bewegungen
ihrer Leiden beſchaͤftigt, ſo daß bald alle Ruͤckſicht
und Haltung verſchwinden mußten, und nur dann
und wann richtete ſie einen kurzen irrenden Blick
auf mich, wie aus einer fremden Welt des
Schmerzes heraus; zugleich ſchien ſie dann eine
[112] zarte Scham zu aͤngſtigen, ſo maßlos vor mir
leiden zu muͤſſen; und ich muß bekennen, daß
meine Verlegenheit, ſo geſund und ungeſchlacht
vor dem Heiligthume dieſer Leidensſtaͤtte zu
ſtehen, faſt ſo groß war, als mein Mitleiden.
Ueberzeugt, daß ich ihr dadurch wenigſtens einige
Befreiung verſchaffe, ließ ich ſie in den Armen
ihres Vaters und eilte beſtuͤrzt und beſchaͤmt da¬
von, meine Mutter herbeizuholen.
Nachdem dieſe mit einer Nichte ſich fortbe¬
geben, um das kranke Kind zu pflegen, blieb ich
den Reſt des Tages im oheimlichen Hauſe, mir
Vorwuͤrfe machend uͤber mein plumpes Ungeſchick.
Nicht nur mein Unrecht gegen Roͤmer, ſondern
ſogar das Bekenntniß deſſelben und ſeine heutigen
Folgen warfen einen gehaͤſſigen Schein auf mich,
und ich fuͤhlte mich gebannt in einer jener dunklen
Stimmungen, wo Einem der Zweifel aufſteigt, ob
man wirklich ein guter, zum Gluͤck beſtimmter
Menſch ſei? wo es ſcheint, als ob nicht ſowohl
eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters,
als eine gewiſſe Schlechtigkeit des Kopfes, des
Geſchickes Einem anhafte, welche noch ungluͤck¬
[113] licher macht, als die entſchiedene Teufelei. Ich
konnte nicht einſchlafen vor dem Beduͤrfniſſe, mich
zu aͤußern, da das immerwaͤhrende Verſchweigen,
wie die mißlungene Aufrichtigkeit den Anſtrich
des Unheimlichen noch vermehrt. Ich ſtand nach
Mitternacht auf, kleidete mich an und ſchlich mich
aus dem Hauſe, um Judith aufzuſuchen. Unge¬
ſehen kam ich durch Gaͤrten und Hecken, fand
aber Alles dunkel und verſchloſſen bei ihr. Ich
ſtand einige Zeit unſchluͤſſig vor dem Hauſe; doch
kletterte ich zuletzt am Spalier empor und klopfte
zaghaft an das Fenſter; denn ich fuͤrchtete mich,
das gereifte und kluge Weib aus dem geheimni߬
vollen Schleier der Nacht aufzuſchrecken, ich be¬
ſorgte zu meiner Beſchaͤmung erfahren zu muͤſſen,
daß ein ſolches Weib zuletzt doch manchmal zu
thun fuͤr gut finden koͤnne, was nicht jeder Junge
zu wiſſen brauche. Aber ſie war ganz allein,
hoͤrte und erkannte mich ſogleich, ſtand auf, zog
ſich leicht an und ließ mich zum Fenſter hinein.
Dann machte ſie Licht, Helle zu verbreiten, weil
ſie glaubte, ich ſei in der Abſicht gekommen, ir¬
gend einige Liebkoſungen zu wagen. Aber ſie
III. 8[114] war ſehr verwundert, als ich anfing, meine Ge¬
ſchichten zu erzaͤhlen, erſt die gewaltſame Stoͤrung,
welche ich heute in die ſtille Krankenſtube ge¬
tragen, und dann die ungluͤckliche Geſchichte mit
Roͤmer, deren ganzen Verlauf ich ſchilderte. Nach¬
dem ich meinen kunſtreichen Mahnbrief und den
darauf erhaltenen Pariſerbrief beſchrieben, aus
deſſen Inhalt wir wohl Roͤmer's Schickſal ahnen
konnten, nur daß wir ſtatt des Irrenhauſes gar
ein Gefaͤngniß vermutheten, rief Judith: »Das
iſt ja ganz abſcheulich! Schaͤmſt Du Dich denn
nicht, Du Knirps?« Und indem ſie zornig auf
und niederging, malte ſie recht genau aus, wie
Roͤmer ſich vielleicht erholt haͤtte, wenn man
ihm nicht die Mittel zu ſeinem erſten Aufenthalte
in Paris entzogen, wie ihn der Erhaltungstrieb
vielleicht, ja ſicher eine Zeitlang haͤtte klug ſein
laſſen und hieraus unberechenbar eine beſſere
Wendung auf dieſe oder jene Weiſe moͤglich ge¬
weſen. »O haͤtte ich den armen Mann pflegen
koͤnnen,« rief ſie aus, »gewiß haͤtte ich ihn kurirt!
Ich haͤtte ihn ausgelacht und ihm geſchmeichelt,
bis er klug geworden waͤre!« Dann ſtand ſie
[115] ſtill, ſah mich an und ſagte: »Weißt Du wohl,
Heinrich, daß Du allbereits ein Menſchenleben
auf Deiner gruͤnen Seele haſt?« Dieſen Gedanken
hatte ich mir noch nicht einmal klar gemacht, und
ich ſagte betroffen: »Ho, ſo arg iſt es wohl nicht!
Im ſchlimmſten Falle waͤre es ein ungluͤcklicher
Zufall, den ich nicht herbeizufuͤhren je waͤhnen
konnte!« —»Ja,« erwiderte ſie ſachte, »wenn Du
eine einfache, ſogar grobe Forderung geſtellt
haͤtteſt! Durch Deinen ſauberen Hoͤllenzwang
aber haſt Du ihm foͤrmlich den Dolch auf die
Bruſt geſetzt, wie es auch ganz einer Zeit ge¬
maͤß iſt, wo man ſich mit Worten und Brieflein
todt ſticht! Ach, der arme Kerl! er war ſo
fleißig und gab ſich Muͤhe, aus der Patſche zu
kommen, und als er endlich ein Roͤllchen Geld
erwarb, nimmt man es ihm weg! Es iſt ſo
natuͤrlich, den Lohn der Arbeit zu ſeiner Er¬
naͤhrung zu verwenden; aber da heißt es: gieb
erſt zuruͤck, wenn Du geborgt haſt, und dann
verhungere!«
Wir ſaßen Beide eine Weile duͤſter und nach¬
denklich da; dann ſagte ich: »Das hilft nichts,
[116] geſchehene Dinge ſind einmal nicht zu aͤndern.
Die Geſchichte ſoll mir zur Warnung dienen;
aber ich kann ſie nicht ewig mit mir herum¬
ſchleppen, und da ich mein Unrecht einſehe und
bereue, ſo mußt Du es mir endlich verzeihen
und mir die Gewißheit geben, daß ich deswegen
nicht haſſenswerth und garſtig ausſehe!«
Ich merkte naͤmlich erſt jetzt, daß ich darum
hergekommen und allerdings beduͤrftig war,
durch Mittheilung und durch die Vermittlung
eines fremden Mundes die Vertilgung eines
druͤckenden Gefuͤhles oder Verzeihung zu erlangen,
wenn ich mich auch gegen des Schulmeiſters
chriſtliche Vermittlung ſtraͤubte. Aber Judith
antwortete: »Daraus wird Nichts! Die Vor¬
wuͤrfe Deines Gewiſſens ſind ein ganz geſundes
Brot fuͤr Dich, und daran ſollſt Du Dein Leben
lang kauen, ohne daß ich Dir die Butter der
Verzeihung darauf ſtreiche! Dies koͤnnte ich nicht
einmal; denn was nicht zu aͤndern iſt, iſt eben
deswegen auch nicht zu vergeſſen, duͤnkt mich,
ich habe dies genugſam erfahren! Uebrigens
fuͤhle ich leider nicht, daß Du mir irgend wider¬
[117] waͤrtig geworden waͤreſt; wozu waͤre man da,
wenn man nicht die Menſchen, wie ſie ſind, lieb
haben muͤßte?« Und ſie druͤckte, da ſie auf dem
Rande des Bettes und ich auf einer altmodiſch
bemalten Kiſte zu ihren Fuͤßen ſaß, meinen Kopf
auf ihren Schoß und verband ihre Haͤnde liebe¬
voll unter meinem Kinn.
Dieſe ſeltſame Aeußerung in Judith's Munde
machte mich tief betroffen und verurſachte mir
ein langes Nachſinnen; je laͤnger ich ſann, deſto
gewiſſer wurde es mir, daß Judith das Rechte
getroffen, und ich gelangte zu einem Schluß,
welcher, indem er zugleich zu einem Entſchluß
wurde, naͤmlich das Bewußtſein des begangenen
Unrechtes nie mehr vergeſſen und immer in ſeiner
ganzen Friſche tragen zu wollen, mir die einzig
moͤgliche Ausgleichung zu ſein ſchien. Nur Einer
kann und ſoll verzeihen und vergeſſen, der von
Unrecht Betroffene ſelbſt, der Thaͤter und alle
Anderen koͤnnen es niemals, ſo lange eine innere
oder aͤußere Spur uͤbrig bleibt. Dies kann man
am deutlichſten an den großen Beiſpielen der
Geſchichte ſehen. Die Tauſende, welche Philipp
[118] der Zweite verbrennen ließ, haben ihm gewiß
laͤngſt verziehen und betrachten ihn wie einen
anderen Mann, der gefehlt hat, waͤhrend
die Millionen Proteſtanten, welche leben, ihm
immer noch nicht verzeihen koͤnnen, weil die
Wirkungen ſeiner That noch taͤglich vor unſer
Aller Augen ſind, und, ihn ſelbſt betreffend, iſt
es gar nicht denkbar, daß er ſein weltgeſchicht¬
liches Unrecht habe vergeſſen koͤnnen; denn wenn
er auch mit ſeinem Tode als Koͤnig abgeſetzt
und in den Wirbel der anderen Weſen geriſſen
wurde, ſo hoͤrte er darum nicht auf, Philipp der
Zweite zu ſein, vielmehr, wenn er es je geweſen
iſt, wird er es ewig bleiben. Dadurch aber, daß
nur die vom Unrecht Betroffenen unmittelbar
verzeihen, was man ſo verzeihen nennt, bleibt
zuletzt doch kein Haß uͤbrig, als derjenige gegen
das Boͤſe, das man in ſich ſelber hat; denn das
Nichtverzeihen der Uebrigen iſt wieder etwas
Anderes.
Es iſt merkwuͤrdig, daß die Menſchen immer
nur große Dummheiten, die ſie begangen, glauben
nicht vergeſſen zu koͤnnen, ſich bei deren Erin¬
[119] nerung vor den Kopf ſchlagen und kein Hehl
daraus machen, zum Zeichen, daß ſie nun kluͤger
geworden; begangenes Unrecht aber machen ſie
ſich weiß, allmaͤlig vergeſſen zu koͤnnen, waͤhrend
es in der That nicht ſo iſt, ſchon deswegen, weil
das Unrecht mit der Dummheit nahe verwandt
und aͤhnlicher Natur iſt. Ja, dachte ich, ſo un¬
verzeihlich mir meine Dummheiten ſind, wird es
auch mein Unrecht ſein! Was ich an Roͤmer ge¬
than, werde ich von nun an nie mehr vergeſſen
und, wenn ich unſterblich bin, in die Unſterblich¬
keit hinuͤbernehmen, denn es gehoͤrt zu meiner
Perſon, zu meiner Geſchichte, zu meinem Weſen,
ſonſt waͤre es nicht paſſirt! Meine einzige Sorge
wird ſein, zu trachten, daß ich noch ſo viel Rech¬
tes thue, daß mein Daſein ertraͤglich bleibt!
Ich ſprang auf und verkuͤndete der Judith
dieſe Ausfuͤhrung und Anwendung ihrer einfachen
Worte; denn es duͤnkte mir ein wichtiges Ereig¬
niß, ſo fuͤr immer auf das Vergeſſen einer Uebel¬
that zu verzichten. Judith zog mich nieder und
ſagte mir in's Ohr: »Ja, ſo wird es ſein; Du
biſt jetzt erwachſen und haſt in dieſem Handel
[120] ſchon Deine moraliſche Jungfernſchaft verlo¬
ren! Nun kannſt Du Dich in Acht nehmen,
Buͤrſchchen, daß es nicht ſo fort geht!« Der
drollige Ausdruck, den ſie gebrauchte, ſtellte mir
die Sache noch in ein neues und laͤcherlich deut¬
liches Licht, daß ich einen großen Aerger empfand
und mich einen ausgeſuchten Eſel, Laffen und
aufgeblaͤheten Popanz ſchalt, der ſich ſo blindlings
habe uͤbertoͤlpeln laſſen. Judith lachte und rief:
»Denke daran, wenn man am geſcheidteſten zu
ſein glaubt, ſo kommt man am eheſten als ein
Eſel zum Vorſchein!« — »Du brauchſt nicht zu
lachen!« erwiederte ich aͤrgerlich, »ich habe Dir ſo
eben, als ich kam, auch einen Tort angethan:
ich habe gefuͤrchtet, daß Du vielleicht einen frem¬
den Mann bei Dir haben koͤnnteſt!«
Sie gab mir ſogleich eine Ohrfeige, doch wie
es mir ſchien, mehr aus Vergnuͤgen, als aus
Zorn und ſagte: »Du biſt ein recht unverſchaͤmter
Geſell und glaubſt wohl, Du brauchſt Deine
ſchaͤndlichen Gedanken nur einzugeſtehen, um von
mir abſolvirt zu ſein! Freilich ſind es nur die
beſchraͤnkten und vernagelten Leute, welche nie
[121] etwas eingeſtehen wollen; aber die Uebrigen machen
deswegen damit auch nicht Alles gut! Zur Strafe
gehſt Du mir jetzt gleich zum Tempel hinaus und
machſt, daß Du nach Hauſe kommſt! Morgen
des Nachts darfſt Du Dich wieder zeigen!« Sie
trieb mich unerbittlich aus dem Hauſe; denn ſie
hatte jetzt genugſam gemerkt, daß es mich ſtark
zu ihr hin zog und daß ich eiferſuͤchtig auf ſie
war.
Ich begab mich nun, ſo oft es anging, des
Nachts zu ihr; ſie brachte den Tag meiſtens allein
und einſam zu, waͤhrend ich entweder weite Streif¬
zuͤge unternahm, um zu zeichnen, oder in des
Schulmeiſters Haus, als in einer Schule des
Leidens, mich ſtill und gemeſſen halten mußte.
So hatten wir in dieſen Naͤchten vollauf zu plau¬
dern und ſaßen oft ſtundenlang am offenen Fen¬
ſter, wo der Glanz des naͤchtlichen Himmels uͤber
der ſommerlichen Welt lag, oder wir machten
daſſelbe zu, ſchloſſen die Laden und ſetzten uns
an den Tiſch und laſen zuſammen. Ich hatte
ihr im Herbſt auf ihr Verlangen nach einem
Buche eine deutſche Ueberſetzung des raſenden
8 *[122] Roland zuruͤckgelaſſen, welchen ich ſelbſt noch nicht
naͤher kannte; Judith hatte aber den Winter uͤber
oft darin geleſen und pries mir jetzt das Buch
als das allerſchoͤnſte in der Welt an. Judith
zweifelte nicht mehr an Anna's baldigem Tod und
ſagte mir dies unverholen, obgleich ich es nicht
zugeben wollte; durch dieſen Gegenſtand und meine
Berichte von jenem Krankenlager wurden wir
truͤbſelig und duͤſter, jedes auf ſeine Weiſe, und
wenn wir nun im Arioſt laſen, ſo vergaßen wir alle
Truͤbſal und tauchten uns in eine friſche glaͤnzende
Welt. Judith hatte das Buch erſt ganz volks¬
thuͤmlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es
war, ohne uͤber ſeinen Urſprung und ſeine Be¬
deutung zu gruͤbeln: als wir aber jetzt zuſammen
darin laſen, verlangte ſie Manches zu wiſſen, und
ich mußte ihr, ſo gut ich konnte, einen Begriff
geben von der Entſtehungsweiſe und der Geltung
eines ſolchen Werkes, von dem Wollen und den
bewußten Abſichten des Dichters, und ich erzaͤhlte,
ſo viel ich wußte, von Arioſt. Nun wurde ſie
erſt recht froͤhlich, nannte ihn einen klugen und
weiſen Mann und las die Geſaͤnge mit verdop¬
[123] pelter Luſt, da ſie wußte, daß dieſen ſo heiteren
und ſo tiefſinnigen Wechſelgeſchichten eine helle
und tiefgefuͤhlte Abſicht zu Grunde lag, ein Wol¬
len, Schaffen und Geſtalten, eine Einſicht und
ein Wiſſen, das ihr in ſeiner Neuheit wie ein
Stern aus dunkler Nacht erglaͤnzte. Wenn die
in Schoͤnheit leuchtenden Geſchoͤpfe raſtlos an uns
voruͤberzogen, von Taͤuſchung zu Taͤuſchung und
leidenſchaftlich ſich jagend und haſchend, immer
Eins dem Anderen entſchwand und ein Drittes
hervortrat, oder wenn ſie in kurzen Augenblicken
beſtraft und trauernd ruheten von ihrer Leiden¬
ſchaft, oder vielmehr ſich tiefer in dieſelbe hinein
zu ruhen ſchienen an klaren Gewaͤſſern, unter
wundervollen Baͤumen, ſo rief Judith: »O klu¬
ger Mann! Ja, ſo geht es zu, ſo ſind die Men¬
ſchen und ihr Leben, ſo ſind wir ſelbſt, wir
Narren!«
Noch mehr glaubte ich ſelbſt der Gegenſtand
eines poetiſchen Scherzes zu ſein, wenn ich mich
neben einem Weibe ſah, welches ganz wie jene
Fabelweſen auf der Stufe der voll entfalteten
Kraft und Schoͤnheit ſtill zu ſtehen und dazu an¬
[124] gethan ſchien, unablaͤſſig die Leidenſchaft fahren¬
der Helden zu erregen. An ihrer ganzen Geſtalt
hatte jeder Zug ein ſiegreiches feſtes Gepraͤge,
und die Faltenlagen ihrer einfachen Kleider waren
immer ſo ſchmuck und ſtattlich, daß man durch
ſie hindurch in der Aufregung wohl goldene Span¬
gen oder gar ſchimmernde Waffenſtuͤcke zu ahnen
glaubte. Entbloͤßte jedoch das uͤppige Gedicht
ſeine Frauen von Schmuck und Kleidung und
brachte ihre bloßgegebene Schoͤnheit in offene Be¬
draͤngniß oder in eine muthwillig verfuͤhreriſche
Lage, waͤhrend ich mich nur durch einen duͤnnen
Faden von der bluͤhendſten Wirklichkeit geſchieden
ſah, ſo war es mir vollends, als waͤre ich ein
thoͤrichter Fabelheld und das Spielzeug eines aus¬
gelaſſenen Dichters; nicht nur das platoniſche
Pflicht- und Treuegefuͤhl gegen das von chriſt¬
lichen Gebeten umgebene Leidensbett eines zarten
Weſens, ſondern auch die Furcht, ſchlechtweg durch
Anna's krankhafte Traͤume verrathen zu werden,
legten ein Band um die verlangenden Sinne,
waͤhrend Judith aus Ruͤckſicht fuͤr Anna und mich
und aus dem Beduͤrfniſſe ſich beherrſchte, in dem
[125] zierlich platoniſchen Weſen der Jugend noch etwas
mit zu leben. Unſere Haͤnde bewegten ſich manch¬
mal unwillkuͤrlich nach den Schultern oder den
Huͤften des Anderen, um ſich darum zu legen,
tappten aber auf halbem Wege in der Luft und
endigten mit einem zaghaften abgebrochenen Wan¬
genſtreicheln, ſo daß wir naͤrriſcher Weiſe zwei
jungen Katzen glichen, welche mit den Pfoͤtchen
nach einander auslangen, elektriſch zitternd und
unſchluͤſſig, ob ſie ſpielen oder ſich zerzauſen ſollen.
In ſolchen Augenblicken rafften wir uns auf;
Judith zog ihre Schuhe an und begleitete mich
in die Sommernacht hinaus; es reizte uns, un¬
geſehen in's Freie zu gelangen und auf naͤchtliche
Abenteuer durch den Wald und uͤber die Hoͤhen
zu gehen. Solche romantiſche Gewohnheiten ver¬
gnuͤgten meine Begleiterin um ſo mehr, als ſie
ihr neu waren und ſie noch nie ohne einen be¬
ſtimmten und außerordentlichen Zweck naͤchtlicher
Weiſe aus dem Dorfe gegangen war. Sie freuete
ſich aber dieſer Freiheit um ihrer ſelbſt willen und
nicht aus Naturſchwaͤrmerei, weil ſie einmal ein
abgeſondertes und eigenes Leben fuͤhrte, obgleich
[126] urſpruͤnglich Niemand beſſer als ſie zu einem fri¬
ſchen Zuſammenleben geſchaffen war. Sie ſtellte
daher keine gefuͤhlvollen Betrachtungen uͤber den
Mondſchein an, ſondern ſie rauſchte muthwillig
und raſch durch die Gebuͤſche, oder knickte halb
unmuthig manchen gruͤnen Zweig, mit dem ſie
mir in's Geſicht ſchlug, als ob ſie damit Alles
wegzaubern wollte, was zwiſchen mir und ihr
lag, die Jahre, die fremde Liebe und den un¬
gleichen Stand. Sie wurde dann ganz anders,
als ſie erſt in der Stube geweſen, und foͤrmlich
boshaft, ſpielte mir tauſend Schabernack, verlor
ſich im dunkeln Dickicht, daß ich ſie ploͤtzlich zu
faſſen bekam, oder hob beim Springen uͤber einen
Graben das Kleid ſo hoch, daß ich in Verwir¬
rung gerieth. Einmal erzaͤhlte ich ihr das Aben¬
teuer, das ich als kleiner Junge mit jener Schau¬
ſpielerin gehabt, und vertraute ihr ganz offen,
welchen Eindruck mir der erſte Anblick einer blo¬
ßen Frauenbruſt gemacht, ſo daß ich dieſelbe noch
immer in dem weißen Mondlicht vor mir ſehe
und dabei der laͤngſt entſchwundenen Frau faſt
ſehnſuͤchtig gedenke, waͤhrend ihre Geſichtszuͤge und
[127] ihr Name ſchon lange bis auf die letzte Spur in
meinem Gedaͤchtniß verwiſcht. Wir gingen ge¬
rade dem Waldbache entlang, uͤber welchem der
Mond ein geheimnißvolles Netz von Dunkel und
Licht zittern ließ; Judith verſchwand ploͤtzlich von
meiner Seite und huſchte durch die Buͤſche, waͤh¬
rend ich verbluͤfft vorwaͤrts ging. Dies dauerte
wohl fuͤnf Minuten, waͤhrend welcher ich keinen
Laut vernahm außer dem leiſen Wehen der Baͤume
und dem Rieſeln der Wellen. Es wurde mir zu
Muthe, wie wenn Judith ſich aufgeloͤſt haͤtte und
ſtill in die Natur verſchwunden waͤre, in welcher
mich ihre Elemente geiſterhaft neckend umrauſch¬
ten. So gelangte ich unverſehens in die Gegend
der Heidenſtube und ſah nun die graue Fels¬
wand im hellen Vollmond, der uͤber den Baͤumen
ſtand, in den Himmel ragen; das Waſſer und
die Steine zu meinen Fuͤßen waren ebenfalls be¬
ſchienen. Auf den Steinen lagen Kleider, zu
oberſt ein weißes Hemd, welches, als ich es auf¬
hob, noch ganz warm war, wie eine ſo eben ent¬
ſeelte irdiſche Huͤlle. Ich vernahm aber keinen
Laut, noch ſah ich etwas von Judith, es wurde
[128] mir wirklich unheimlich zu Muthe, da die Stille
der Nacht von einer daͤmoniſchen Abſicht ganz
getraͤnkt erſchien. Ich wollte eben Judith beim
Namen rufen, als ich ſeltſame, halb ſeufzende,
halb ſingende Toͤne vernahm, aus denen zuletzt
ein deutliches altes Lied wurde, das ich ſchon
hundertmal gehoͤrt und jetzt doch einen zauberhaf¬
ten Eindruck auf mich machte. Sein Inhalt war
die Tiefe des Waſſers, etwas von Liebe und ſonſt
nichts weiter; aber zuletzt war es von einem faſt
ſichtbaren verfuͤhreriſchen Laͤcheln durchdrungen
und von einem ſilbernen Geraͤuſch begleitet, wie
wenn Jemand im Waſſer plaͤtſchert und ſich daſ¬
ſelbe in ſanften Wellen gegen die Lenden ſchlaͤgt.
Wie ich ſo hinhorchte, entdeckte ich endlich mir
gegenuͤber eine undeutliche weiße Geſtalt, welche
ſich im Schatten hinter dem Felſen bewegte, ſich
an uͤberhaͤngende Zweige hing und den Koͤrper
im Waſſer treiben ließ oder ploͤtzlich ſich hoch
aufrichtete und eine Weile geſpenſtiſch unbeweglich
hielt. Es fuͤhrte ein untiefer Damm des Ge¬
ſchiebes zu jener Stelle und zwar in einem ziem¬
lich weiten Bogen, und als ich einen Augenblick
[129] mich vergeſſen hatte, ſah ich unverſehens die
nackte Judith ſchon auf der Mitte dieſes Weges
angelangt und auf mich zukommen. Sie war
bis unter die Bruſt im Waſſer; ſie naͤherte ſich
im Bogen und ich drehete mich magnetiſch nach
ihren Bewegungen. Jetzt trat ſie aus dem ſchief
uͤber das Fluͤßchen fallenden Schlagſchatten und
erſchien ploͤtzlich im Mondlichte; zugleich erreichte
ſie bald das Ufer und ſtieg immer hoͤher aus
dem Waſſer und dieſes rauſchte jetzt glaͤnzend
von ihren Huͤften und Knieen zuruͤck. Jetzt ſetzte
ſie den triefenden weißen Fuß auf die trockenen
Steine, ſah mich an und ich ſie; ſie war nur
noch drei Schritte von mir und ſtand einen Au¬
genblick ſtill; ich ſah jedes Glied in dem hellen
Lichte deutlich, aber wie fabelhaft vergroͤßert und
verſchoͤnt, gleich einem uͤber lebensgroßen alten
Marmorbilde. Auf den Schultern, auf den Bruͤ¬
ſten und auf den Huͤften ſchimmerte das Waſſer,
aber noch mehr leuchteten ihre Augen, die ſie
ſchweigend auf mich gerichtet hielt. Jetzt hob ſie
die Arme und bewegte ſich gegen mich; aber
ich, von einem heißkalten Schauer und Reſpect
III. 9[130] durchrieſelt, ging mit jedem Schritt, den ſie vor¬
waͤrts that, wie ein Krebs einen Schritt ruͤck¬
waͤrts, aber ſie nicht aus den Augen verlierend.
So trat ich unter die Baͤume zuruͤck, bis ich mich
in den Brombeerſtauden fing und wieder ſtill
ſtand. Ich war nun verborgen und im Dunkeln,
waͤhrend ſie im Lichte mir vorſchwebte und ſchim¬
merte; ich druͤckte meinen Kopf an einen kuͤhlen
Stamm und beſah unverwandt die Erſcheinung.
Jetzt ward es ihr ſelbſt unheimlich; ſie ſtand dicht bei
ihrem Gewande und begann wie der Blitz ſich an¬
zuziehen. Ich ſah aber, daß ſie erſt jetzt in Verlegen¬
heit gerieth, und trat unwillkuͤrlich, meine eigene Ver¬
wirrung vergeſſend, hervor, half ihr zitternd den
Rock uͤber der Bruſt zuheften und reichte ihr das
große weiße Halstuch. Hierauf umſchlang ich
ihren Hals und kuͤßte ſie auf den Mund, gewiſ¬
ſermaßen um keinen muͤſſigen Augenblick aufkom¬
men zu laſſen; ſie fuͤhlte dies wohl; denn ſie war
nun uͤber und uͤber roth bis in die noch feuchte
Bruſt hinein; ſie ſteckte haſtig ihre feinen Struͤmpfe
in die Taſche und ſchluͤpfte mit bloßen Fuͤßen in
die Schuhe, worauf ſie mich noch einmal um¬
[131] ſchloß und heftig kuͤßte, dann quer durch die
Baͤume die Halde hinan eilte und verſchwand,
indeſſen ich das Waſſer entlang nach Hauſe ging.
Ich fuͤhlte ſonderbarer Weiſe die Schuld dieſes
Abenteuers allein auf mir ruhen, obgleich ich
mich leidend dabei verhalten, waͤhrend ich ſchon
empfand, wie unausloͤſchlich der naͤchtliche Spuk,
die glaͤnzende Geſtalt fuͤr immer meinen Sin¬
nen eingepraͤgt ſei und wie ein weißes Feuer
in meinem Gehirne und in meinem Blute um¬
ging.
Zu dieſen ſo ganz entgegengeſetzten Aufre¬
gungen der Tage und der Naͤchte kamen dieſen
Sommer noch verſchiedene Auftritte im laͤndlichen
Familienleben, welche bei aller Einfachheit doch
den gewaltigen Wechſel des Lebens und ſein un¬
aufhaltſames Voruͤbergehen in's Licht ſtellten.
Der Haushalt des jungen Muͤllers ließ ſeine Hei¬
rath nicht laͤnger aufſchieben, und es wurde alſo
eine dreitaͤgige Hochzeit gefeiert, bei welcher die
ſpaͤrlichen Ueberreſte ſtaͤdtiſchen Gebrauches, ſo die
Braut aus ihrem Hauſe mitbrachte, gar jaͤmmer¬
lich dem laͤndlichen Pomp unterliegen mußten
9 *[132] Die Geigen ſchwiegen nicht waͤhrend der drei
Tage; ich ging jeden Abend hin und fand Judith
feſtlich geſchmuͤckt unter dem Gedraͤnge der Gaͤſte;
ein und das andere Mal tanzte ich beſcheiden
und wie ein Fremder mit ihr, und auch ſie hielt
ſich zuruͤck, obgleich wir waͤhrend der geraͤuſch¬
vollen Naͤchte Gelegenheit genug hatten, uns un¬
bemerkt nahe zu ſein. Aber erſt dadurch empfand
ich recht, welch ein zwingender Reiz in einem
ſolchen Doppelleben und welch ein Zauber in dem
Geheimniß liegt; ich war innerlich wie berauſcht,
und die ſchoͤne Judith ſah es wohl und bewegte
ſich um ſo ruhiger und mit allen Leuten lachend,
plaudernd herum, wobei es mir doch wohlgefiel,
daß ſie im Geheimen doch auch ernſter und lei¬
denſchaftlich bewegt ſchien. Alles war mir wie
ein Maͤhrchen; die Geigen und die Glaͤſer klan¬
gen, die Leute ſangen und tanzten, uͤberall faßte
man ſich bei den Haͤnden und lachte ſich an, und
wenn mich ſo eben ein luſtiges Maͤdchen geſtellt
und angeredet, und ich ſchweigend etwa das gol¬
dene Herzchen, das ihr vor der klopfenden Bruſt
tanzte, in die Hand genommen und von allen
[133] Seiten beſchaut, bis ſie mir auf die Finger ſchlug,
ſo ging ich um ſo nachdenklicher weiter. Dann
kam die gluͤckliche Braut, welche der Reihe nach
mit aller Welt einer geheim vertraulichen Unterhal¬
tung pflag, zog auch mich bei Seite, fragte, warum
ich nicht luſtiger ſei und verſicherte mir angele¬
gentlich, daß ich ein guter Junge und ihr ſehr
lieb ſei. Ich ward geruͤhrt und betroffen und
mußte mich von ihr wenden, da mir die Thraͤnen
nahe waren, ohne daß ich eigentlich wußte, warum,
und ſie noch weniger. Noch tiefer fuͤhlte ich mich
betroffen, als ich an einem der Tage meine Mut¬
ter, welche auf ein halbes Stuͤndchen erſchienen
war, fortbegleitete und ploͤtzlich aus dem Laͤrm
und Gedraͤnge der Hochzeit heraus mich auf die
ſtillen gruͤnen Sommerpfade verſetzt ſah. Meine
Mutter war ſo ruhig, zufrieden und geſpraͤchig
im Gefuͤhle der erfuͤllten Pflicht und eines immer
gleichen anſpruchloſen Lebens, daß mein leiden¬
ſchaftlich bewegtes Treiben im grellſten Lichte da¬
gegen abſtach, und ich, obgleich ich nun ſchon ein
anderes Sittengeſetz zu kennen glaubte, als das
uͤberkommene, mir den Gedanken nicht verwehren
[134] konnte, daß ich ſie mit dem hintergehe, wovon
ſie keine Ahnung hatte.
Kaum war die Hochzeit voruͤber, ſo erkrankte
die Muhme, welche noch nicht funfzig Jahre alt
war, und ſtarb in Zeit von drei Wochen. Sie
war eine ſtarke und geſunde Frau, daher ihre
Todeskrankheit um ſo gewaltſamer, und ſie ſtarb
ſehr ungern. Sie litt heftig und unruhig und
ergab ſich erſt in den letzten zwei Tagen, und
an dem Schrecken, der ſich im Hauſe verbreitete,
konnte man erſt ſehen, was ſie Allen geweſen.
Aber wie nach dem Hinſinken eines guten Sol¬
daten auf dem Felde der Ehre die Luͤcke ſchnell
wieder ausgefuͤllt wird und der Kampf ruͤſtig
fortgeht, ſo erwies ſich die Art des Lebens und
des Todes dieſer tapfern Frau auch auf das
Schoͤnſte dadurch, daß die Reihen ohne Lamen¬
tiren raſch ſich ſchloſſen, die Kinder theilten ſich
in Arbeit und Sorge und verſparten den beſchau¬
lichen Schmerz bis auf die Tage, wo geruht und
wo ihnen der Verluſt ihrer Mutter erſt ein ſchwe¬
res Wahrzeichen des Lebens werden wird. Nur
der Oheim aͤußerte erſt einige tiefere Klagen,
[135] faßte dieſe aber bald in das Wort »meine ſelige
Frau« zuſammen, das er nun bei jeder Gelegen¬
heit anbrachte. An dem Leichenbegaͤngniſſe ſah
ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug
ein ſtaͤdtiſches ſchwarzes Kleid bis unter das Kinn
zugeknoͤpft, ſah demuͤthig auf den Boden und
ging doch hoch und ſtolz einher.
Wenige Wochen ſpaͤter erſchien der junge
philoſophiſche Schullehrer im Hauſe und bewarb
ſich unverſehens um die juͤngſte Tochter. Die
Jungen wußten zwar ſchon laͤngſt, daß die Bei¬
den ſich leidenſchaftlich verbunden; allein dem
Vater kam es ganz unerwartet und man ſah nun
an ſeinem Erſtaunen und an ſeinem Unwillen,
den er wenig verhehlte, welch ein unwillkommener
Gaſt er bei allem Scherz fuͤr eine engere Ver¬
bindung war. Der Oheim wies ihn ab oder
wenigſtens auf die Zukunft, wegen des kuͤrzlichen
Todes ſeiner Frau und weil er auch deswegen
jetzt keine Tochter mehr entbehren koͤnne, am we¬
nigſten die juͤngſte. Doch der Philoſoph gab ſich
nicht zufrieden, ſondern wandte ein, daß er, zum
Oberlehrer vorgeruͤckt, nun einen eigenen Haus¬
[136] halt zu fuͤhren und eine Frau zu haben wuͤnſche,
uͤberhaupt er kein Hinderniß ſehe, zu heirathen,
da er und das Maͤdchen einverſtanden ſeien.
Hierauf ſetzte er eine lange Denkſchrift auf, in
welcher er durch philoſophiſche und rechtliche
Gruͤnde ſeine Sache vertheidigte, mit großer Logik
vom naturrechtlichen Standpunkt aus in die ver¬
wickelteren Verhaͤltniſſe unſeres Land- und Fa¬
milienrechtes uͤberging und alle Conſequenzen in
Ausſicht ſtellte, welche er zu benutzen oder her¬
vorzurufen wiſſen werde. Alles war in den kunſt¬
reichſten und ernſthafteſten Phraſen abgefaßt, und
er erſchien mit der Schrift und las dieſelbe nach
verlangter Erlaubniß mit ſeinem Silberſtimmchen
vor. Der Vater und die Soͤhne, welche letztere
durch ſein ruͤckſichtsloſes Benehmen nun auch ge¬
gen ihn eingenommen waren, glaubten nun ihre
Sache gewonnen und entſchieden, da ſie, beſon¬
ders wenn ſie das immer noch zierliche Miniatur¬
geſichtchen des Philoſophen anſahen, einer ſo ſpa߬
haften Wendung unmoͤglich eine ernſte Folge zu¬
ſchreiben mochten. Aber ſie taͤuſchten ſich ſehr.
Sie warfen ihn zwar aus dem Hauſe, wobei ſie
[137] auf das Schweſterchen keine große Ruͤckſicht nah¬
men, allein der ſeltſame Werber verklagte ſie ſo¬
gleich und begann einen Proceß um ſein Recht,
den er mit ſolcher Conſequenz und Energie durch¬
fuͤhrte, daß der Oheim entruͤſtet und aufgeregt
ſchon auf halbem Wege erklaͤrte, das Kind koͤnne
laufen, wohin es wolle. Noch glaubte man, das
junge Maͤdchen, das man immer noch als Kind
anzuſehen gewohnt war, wuͤrde jetzt wenigſtens
noch eine Zeit bleiben, bis es im Frieden gehen
koͤnne, und man konnte ſeinen Abfall von der
Familie nicht begreifen und ſchrieb denſelben einem
ſtoͤrriſchen und mangelhaften Herzen zu; aber es
kuͤmmerte ſich nicht darum, ſah nicht Vater, noch
Schweſtern und Bruͤder und kaum das Grab ſeiner
Mutter an und zog ohne Ausſteuer, ohne Sang
und Klang mit dem Philoſophen aus dem Dorfe.
Mit Verwunderung ſah ich, wie Logik und Leiden¬
ſchaft im Bunde in noch ſo jungen Koͤpfchen
wohl ſo viel Bewegung verurſachen koͤnnen, als
Erfahrung und gereifter Wille der Alten. Denn
das Philoſoͤphchen hatte ſich vorgenommen, ſtreng
nach ſeiner Vernunft und ſeinem Naturrechte zu
[138] handeln und auch ſeine Handlungen ganz in die¬
ſem Sinne durchgefuͤhrt, ſo daß er ſich unter der
ganzen Lehrerſchaft ein großes Anſehen erwarb,
als ein Beſieger des Vorurtheils, waͤhrend das
Maͤdchen durch ſeine unerwartete und ruͤckſichtsloſe
Leidenſchaft, fuͤr die es auf der ganzen Welt keine
Richtſchnur mehr gab, als der Wille des Gelieb¬
ten, weit herum ein wunderliches Aufſehen er¬
regte.
So war in kurzer Zeit die Geſtalt des oheim¬
lichen Hauſes veraͤndert und durch die verſchiede¬
nen Vorgaͤnge Alles aͤlter und ernſter geworden.
Von der traurigen Schaubuͤhne ihres Kranken¬
bettes ſah die arme Anna alle dieſe Veraͤnderun¬
gen, aber ſchon mehr als aͤußerlich getrennt von
den Ereigniſſen. Sie hatte eine geraume Zeit
im gleichen Zuſtande verharrt und Alle hofften,
daß ſie am Ende wieder aufleben wuͤrde. Aber
da man es am wenigſten dachte, erſchien eines
Morgens im Herbſte der Schulmeiſter ſchwarz ge¬
kleidet bei dem Oheim, welcher ſelbſt noch ſchwarz
ging, und verkuͤndete ihren Tod.
In einem Augenblicke war nicht nur das Haus
[139] von Klagen erfuͤllt, ſondern auch die benachbarte
Muͤhle, und die Voruͤbergehenden verbreiteten
das Leid im ganzen Dorfe. Seit bald einem
Jahre war der Gedanke an Anna's Tod groß
gezogen worden, und die Leute ſchienen ſich ein
rechtes Feſt der Klage und des Bedaurens auf¬
geſpart zu haben; denn fuͤr eine allgemeine Tod¬
tentrauer war dieſer anmuthige, ſchuldloſe und
geehrte Gegenſtand geeigneter, als die eigenen
Verluſte.
Ich hielt mich ganz ſtill im Hintergrunde;
denn wenn ich auch bei freudigen Anlaͤſſen laut
wurde und unwillkuͤrlich eine anmaßende Rolle
ſpielte, ſo wußte ich dagegen, wo es traurig her¬
ging, mich gar nicht vorzudraͤngen und gerieth
immer in die Verlegenheit, fuͤr theilnahmlos und
verhaͤrtet angeſehen zu werden, und dies um ſo
mehr, als mir von jeher nur die aus Schuld
oder Unrecht entſtandenen Mißſtimmungen, die
innere Beruͤhrung der Menſchen, nie aber das
unmittelbare Ungluͤck oder der Tod Thraͤnen zu
entlocken vermochten.
Jetzt aber war ich erſtaunt uͤber den fruͤhen
[140] Tod und noch mehr daruͤber, daß dies arme todte
Maͤdchen meine Geliebte war. Ich verſank in tiefes
Nachdenken daruͤber, ohne Schrecken oder heftigen
Schmerz zu empfinden, obgleich ich das Ereigniß
mit meinen Gedanken nach allen Seiten durch¬
fuͤhlte. Nicht einmal die Erinnerung an Judith
verurſachte mir Unruhe. Nachdem der Schulmei¬
ſter einige Anordnungen getroffen, wurde ich end¬
lich aus meiner Verborgenheit hervorgezogen, in¬
dem er mich aufforderte, nunmehr mit ihm zu¬
ruͤckzugehen und einige Zeit bei ihm zu wohnen.
Wir machten uns auf den Weg, indeſſen die
uͤbrigen Verwandten, beſonders die noch im
Hauſe lebende Tochter und die junge Muͤllerin,
verſprachen, ſogleich nachzukommen.
Auf dem Wege faßte der Schulmeiſter ſein
Leid zuſammen und gab ihm durch die nochmalige
Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens,
das gegen Morgen eintraf, Worte. Ich hoͤrte
Alles aufmerkſam und ſchweigend an; die Nacht
war beaͤngſtigend und leidenvoll geweſen, der
Tod ſelbſt aber faſt unmerklich und ſanft.
Meine Mutter und die alte Katherine hatten
[141] die Leiche ſchon geſchmuͤckt und in Anna's Kaͤm¬
merchen gelegt. Da lag ſie, nach des Schulmei¬
ſters Willen, auf dem ſchoͤnen Blumenteppich,
den ſie einſt fuͤr ihren Vater geſtickt und man
jetzt uͤber ihr ſchmales Bettchen gebreitet hatte;
denn nach ſolchem Dienſte gedachte der gute Mann
dieſe Decke immer zunaͤchſt um ſich zu haben, ſo
lange er noch lebte. Ueber ihr an der Wand
hatte Katherine, deren Haar nun ſchon ganz er¬
graut war und die auf's Heftigſte und Zaͤrtlichſte
lamentirte, das Bild hingehaͤngt, das ich einſt
von Anna gemacht, und gegenuͤber ſah man immer
noch die Landſchaft mit der Heidenſtube, welche
ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt.
Die beiden Fluͤgelthuͤren von Anna's Schrank
ſtanden geoͤffnet und ihr unſchuldiges Eigenthum
trat zu Tage und verlieh der ſtillen Todtenkam¬
mer einen wohlthuenden Schein von Leben. Auch
geſellte ſich der Schulmeiſter zu den beiden Frauen,
die vor dem Schranke ſich aufhielten, und half
ihnen, die zierlichſten und erinnerungsreichſten
Saͤchelchen, deren die Selige von fruͤher Kindheit
an geſammelt, hervorziehen und beſchauen. Dies
[142] gewaͤhrte ihm eine lindernde Zerſtreuung, welche
ihn doch nicht von dem Gegenſtande ſeines Schmer¬
zes abzog. Manches holte er ſogar aus ſeinem
eigenen Verwahrſam herbei, wie z. B. ein Buͤn¬
delchen Briefe, welche das Kind aus Welſchland
an ihn geſchrieben; dieſe legte er, nebſt den Ant¬
worten, die er nun im Schranke vorfand, auf
Anna's kleinen Tiſch, und ebenſo noch andere
Sachen, ihre Lieblingsbuͤcher, angefangene und
vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene ſilberne
Brautkrone. Einiges wurde ſogar ihr zur Seite
auf den Teppich gelegt, ſo daß hier unbewußt
und gegen den ſonſtigen Gebrauch von dieſen ein¬
fachen Leuten eine Sitte alter Voͤlker geuͤbt wurde.
Dabei ſprachen ſie immer ſo miteinander, als ob
die Todte es noch hoͤren koͤnnte und Keines mochte
ſich gern aus der Kammer entfernen.
Indeſſen verweilte ich ruhig bei der Leiche
und beſchauete ſie mit unverwandten Blicken;
aber ich ward durch das unmittelbare Anſchauen
des Todes nicht kluͤger aus dem Geheimniß deſ¬
ſelben, oder vielmehr nicht aufgeregter, als vor¬
hin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich ſie
[143] zuletzt geſehen, nur daß die Augen geſchloſſen
waren und das bluͤthenweiße Geſicht auf den
Wangen wunderbarer Weiſe mit einem leiſen ro¬
ſigen Hauche uͤberflogen, wie vom Widerſchein
eines fernen, fernen Morgen- oder Abendrothes.
Ihr Haar glaͤnzte friſch und golden, und ihre
weißen Haͤndchen lagen gefaltet auf dem weißen
Kleide mit einer weißen Roſe. Ich ſah Alles
wohl und empfand beinahe eine Art gluͤcklichen
Stolzes, in einer ſo traurigen Lage zu ſein und
eine ſo poetiſch ſchoͤne todte Jugendgeliebte vor
mir zu ſehen. Erſt als mir die alte Katherine
jene Stickerei in die Haͤnde gab, welche Anna zu
einer Mappe fuͤr mich beſtimmt und muͤhſam
vollendet hatte, mit dem Bericht, daß die Lei¬
dende waͤhrend der verwichenen Nacht ploͤtzlich
einmal geſagt, man ſolle nicht vergeſſen, mir das
Geſchenk zu uͤbergeben, ſo bald ich wieder komme,
erſt jetzt fiel es mir ein, daß wir unſterblich ſind
und fuͤhlte mich durch ein unaufloͤsliches Band
mit Anna verbunden.
Auch meine Mutter und der Schulmeiſter ſchie¬
nen ſtillſchweigend mir ein nahes Recht auf die
[144] Verſtorbene zuzugeſtehen, als man verabredete,
daß fortwaͤhrend Jemand bei der Todten weilen
und ich die erſte Wache halten ſollte, damit die
Uebrigen ſich in ihrer Erſchoͤpfung einſtweilen zu¬
ruͤckziehen und etwas erholen konnten. Ohne jene
Vorausſetzung haͤtten ſie mir eine ſolche zugleich
zarte und ernſte Zumuthung wohl nicht geſtellt.
Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna,
da bald die Baſen aus dem Dorfe kamen und
nach ihnen viele andere Maͤdchen und Frauen,
denen ein ſo ruͤhrendes Ereigniß und eine ſo be¬
ruͤhmte Leiche wichtig genug waren, die draͤn¬
gendſte Arbeit liegen zu laſſen und dem ehrfurchts¬
vollen Dienſte des Menſchengeſchickes, des Todes,
nachzugehen. Die Kammer fuͤllte ſich mit Frauens¬
leuten, welche erſt einer feierlich fluͤſternden Un¬
terhaltung pflagen, dann aber in ein ziemliches
Geplauder geriethen. Sie ſtanden dicht gedraͤngt
um die ſtille Anna herum, die Jungen mit ehr¬
bar aufeinander gelegten Haͤnden, die Aeltern
mit untergeſchlagenen Armen. Die Kammerthuͤr
ſtand geoͤffnet fuͤr die Ab- und Zugehenden und
ich nahm die Gelegenheit wahr, mich hinaus zu
[145] machen und im Freien umher zu ſchlendern, wo
die nach dem Dorfe fuͤhrenden Wege ungewoͤhn¬
lich belebt waren.
Erſt nach Mitternacht traf mich die Reihe
wieder, die Todtenwache zu verſehen, welche wir
ſeltſamer Weiſe nun einmal eingerichtet. Ich blieb
nun bis zum Morgen in der Kammer; aber ſo
ſchnell mir die Stunden voruͤbergingen, wie ein
Augenblick, ſo wenig wuͤßte ich eigentlich zu ſa¬
gen, was ich gedacht und empfunden. Es war
ſo ſtill, daß ich durch die Stille hindurch glaubte
das Rauſchen der Ewigkeit zu hoͤren; das todte
weiße Maͤdchen lag unbeweglich fort und fort,
die farbigen Blumen des Teppichs aber ſchienen
zu wachſen in dem ſchwachen Lichte. Nun ging
der Morgenſtern auf und ſpiegelte ſich im See;
ich loͤſchte die Lampe ihm zu Ehren, damit er
allein Anna's Todtenlicht ſei, ſaß nun im Dun¬
keln in meiner Ecke und ſah nach und nach die
Kammer ſich erhellen. Mit dem Morgengrauen,
welches in das reinſte goldene Morgenroth uͤber¬
ging, ſchien es zu leben und zu weben um die
ſtille Geſtalt, bis ſie deutlich und reglos im gol¬
III. 10[146] denen Tage da lag. Ich hatte mich erhoben und
vor das Bett geſtellt und indem ihre Geſichts¬
zuͤge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber
nur hauchend und tonlos; es blieb todtenſtill und
als ich zugleich zaghaft ihre Hand beruͤhrte, zog
ich die meinige entſetzt zuruͤck, als ob ich an gluͤ¬
hendes Eiſen gekommen waͤre; denn die Hand
war kalt, wie ein Haͤuflein kuͤhler Thon.
Wie dies abſtoßende kalte Gefuͤhl meinen gan¬
zen Koͤrper durchrieſelte, ließ es mir nun auch
ploͤtzlich das Geſicht der Leiche ſo ſeelenlos und
abweſend erſcheinen, daß mir beinahe der erſchreckte
Ausruf entfuhr: »Was hab' ich mit Dir zu ſchaf¬
fen?« als aus dem Saale her die Orgel in mil¬
den und doch kraͤftigen Toͤnen erklang, welche
nur manchmal in leidvollem Zittern ſchwankten,
dann aber wieder zu harmoniſcher Kraft ſich er¬
mannten. Es war der Schulmeiſter, welcher in
dieſer Morgenfruͤhe ſeinen Schmerz und ſeine
Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum
Lob der Unſterblichkeit zu lindern ſuchte. Ich
lauſchte der Melodie, ſie bezwang meinen koͤrper¬
lichen Schrecken, ihre geheimnißvollen Toͤne oͤffne¬
[147] ten die unſterbliche Geiſterwelt, und reuevoll ge¬
lobte ich Anna ewige Treue.
Ich fuͤhlte mich ſtolz und gluͤcklich durch die¬
ſen Entſchluß; aber zugleich wurde mir nun der
Aufenthalt in der Todtenkammer zuwider und ich
war froh, mit dem Gedanken der Unſterblichkeit
hinaus zu kommen in's lebendige Gruͤne. Es er¬
ſchien an dieſem Tage ein Schreinergeſell aus
dem Dorfe, um hier den Sarg zu machen. Der
Schulmeiſter hatte vor Jahren ſchon eigenhaͤndig
ein ſchlankes Taͤnnlein gefaͤllt und zu ſeinem
Sarge beſtimmt. Daſſelbe lag in Bretter geſaͤgt
hinter dem Hauſe, durch das Vordach geſchuͤtzt,
und hatte immer zu einer Ruhebank gedient, auf
welcher der Schulmeiſter zu leſen und ſeine Toch¬
ter als Kind zu ſpielen pflegte. Es zeigte ſich
nun, daß die obere ſchlankere Haͤlfte des Baumes
den ſchmalen Todtenſchrein Anna's abgeben koͤnne,
ohne den zukuͤnftigen Sarg des Vaters zu beein¬
traͤchtigen; die wohlgetrockneten Bretter wurden
abgehoben und eines nach dem anderen entzwei
geſaͤgt. Der Schulmeiſter vermochte aber nicht
lange dabei zu ſein, und ſelbſt die Frauen im
10*[148] Hauſe klagten uͤber den Ton der Saͤge. Der
Schreiner und ich trugen daher die Bretter und
das Werkzeug in den leichten Nachen und fuhren
an eine entlegene Stelle des Ufers, wo das Fluͤ߬
chen aus dem Gehoͤlze hervortritt und in den See
muͤndet. Junge Buchen bilden dort am Waſſer
eine lichte Vorhalle, und indem der Schreiner
einige der Bretter mittelſt Schraubzwingen an den
Staͤmmchen befeſtigte, ſtellte er eine zweckmaͤßige
Hobelbank her, uͤber welcher die goldenen Laub¬
kronen der Buchen ſich woͤlbten. Zuerſt mußte
der Boden des Sarges zuſammen gefuͤgt und ge¬
leimt werden. Ich machte aus den erſten Hobel¬
ſpaͤnen und aus Reiſig ein Feuer und ſetzte die
Leimpfanne darauf, in welche ich mit der Hand
aus dem Bache Waſſer traͤufelte, indeſſen der
Schreiner ruͤſtig darauf los ſaͤgte und hobelte.
Waͤhrend die gerollten Spaͤne ſich mit dem fal¬
lenden Laube vermiſchten und die Bretter weiß
wurden, machte ich die naͤhere Bekanntſchaft des
jungen Geſellen. Es war ein Norddeutſcher von
der fernſten Oſtſee, groß und ſchlank gewachſen,
mit kuͤhnen und ſchoͤn geſchnittenen Geſichtszuͤgen,
[149] hellblauen aber feurigen Augen und mit ſtarkem
goldenem Haar, welches man immer uͤber die
freie Stirn zuruͤckgeſtrichen und hinten in einen
Schopf gebunden zu ſehen glaubte, ſo urgerma¬
niſch ſah er aus. Seine Bewegungen bei der
Arbeit waren elegant und dabei hatte ſein Weſen
doch etwas Kindliches. Wir wurden bald ver¬
traut und er erzaͤhlte mir von ſeiner Heimath,
von den alten Staͤdten im Norden, vom Meere
und von der maͤchtigen Hanſa. Wohl unterrich¬
tet, erzaͤhlte er mir von der Vergangenheit, den
Sitten und Gebraͤuchen jener Seekuͤſten; ich ſah
den langen und hartnaͤckigen Kampf der Staͤdte
mit den Seeraͤubern, den Vitalienbruͤdern, und
wie Klaus Stuͤrzenbecher mit vielen Geſellen von
den Hamburgern gekoͤpft wurde; dann ſah ich
wieder, wie am erſten Mai aus den Thoren von
Stralſund der juͤngſte Rathsherr mit einem glaͤn¬
zenden Jugendgefolge im Waffenſchmuck zog und
in den praͤchtigen Buchenwaͤldern zum Maigrafen
gekroͤnt wurde mit einer gruͤnen Laubkrone, und
wie er Abends mit einer ſchoͤnen Maigraͤfin tanzte.
Auch beſchrieb er die Wohnungen und Trachten
[150] nordiſcher Bauern, von den Hinterpommern bis
zu den tuͤchtigen Frieſen, bei welchen noch Spu¬
ren maͤnnlichen Freiheitſinnes zu finden; ich ſah
ihre Hochzeiten und Leichenbegaͤngniſſe, bis der
Geſelle endlich auch von der Freiheit deutſcher
Nation redete, und wie bald die ſtattliche Re¬
publik eingefuͤhrt werden muͤßte. Ich ſchnitzte
unterdeſſen nach ſeiner Anleitung eine Anzahl hoͤl¬
zerner Naͤgel, er aber fuͤhrte ſchon mit dem Dop¬
pelhobel die letzten Stoͤße uͤber die Bretter, feine
Spaͤne loͤſten ſich gleich zarten glaͤnzenden Sei¬
denbaͤndern und mit einem hell ſingenden Tone,
welcher unter den Baͤumen ein ſeltſames Lied
war. Die Herbſtſonne ſchien warm und lieblich
drein, glaͤnzte frei auf dem Waſſer und verlor
ſich im blauen Duft der Waldnacht, an deren
Eingang wir uns angeſiedelt. Jetzt baueten wir
die glatten weißen Bretter zuſammen, die Ham¬
merſchlaͤge hallten wieder durch den Wald, daß
die Voͤgel uͤberraſcht aufflogen und die Schwalben
erſchreckt uͤber den Seeſpiegel ſtreiften, und bald
ſtand der fertige Sarg in ſeiner Einfachheit vor
uns, ſchlank und ebenmaͤßig, der Deckel ſchoͤn
[151] gewoͤlbt. Der Schreiner hobelte mit wenigen Zuͤ¬
gen eine ſchmale zierliche Hohlkehle um die Kan¬
ten, und ich ſah verwundert, wie die zarten Li¬
nien ſich ſpielend dem weichen Holze eindruͤckten;
dann zog er zwei ſchoͤne Stuͤcke Bimsſtein hervor
und rieb ſie aneinander, indem er ſie uͤber den
Sarg hielt und das weiße Pulver uͤber denſelben
verbreitete; ich mußte lachen, als er die Stuͤcke
gerade ſo gewandt und anmuthig handhabte und
abklopfte, wie ich bei meiner Mutter geſehen,
wenn ſie zwei Zuckerſchollen uͤber einem Kuchen
rieb. Als er aber den Sarg vollends mit dem
Steine abſchliff, wurde derſelbe ſo weiß, wie
Schnee, und kaum der leiſeſte roͤthliche Hauch des
Tannenholzes ſchimmerte noch durch, wie bei einer
Apfelbluͤthe. Er ſah ſo weit ſchoͤner und edler
aus, als wenn er gemalt, vergoldet oder gar mit
Erz beſchlagen geweſen waͤre. Am Haupte hatte
der Schreiner der Sitte gemaͤß eine Oeffnung
mit einem Schieber angebracht, durch welche man
das Geſicht ſehen konnte, bis der Sarg verſenkt
wurde; es galt nun noch eine Glasſcheibe einzu¬
ſetzen, welche man vergeſſen, und ich fuhr nach
[152] dem Hauſe, um eine ſolche zu holen. Ich wußte
ſchon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner
Rahmen lag, aus welchem das Bild lange ver¬
ſchwunden. Ich nahm das vergeſſene Glas, legte
es vorſichtig in den Nachen und fuhr zuruͤck. Der
Geſelle ſtreifte ein wenig im Gehoͤlze umher und
ſuchte Haſelnuͤſſe; ich probirte indeſſen die Scheibe,
und als ich fand, daß ſie genau in die Oeffnung
paßte, tauchte ich ſie, da ſie ganz beſtaubt und
verdunkelt war, in den klaren Bach und wuſch
ſie ſorgfaͤltig, ohne ſie an den Steinen zu zer¬
brechen. Dann hob ich ſie empor und ließ das
lautere Waſſer ablaufen, und indem ich das glaͤn¬
zende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch
daſſelbe ſchaute, erblickte ich das lieblichſte Wun¬
der, das ich je geſehen. Ich ſah naͤmlich drei
reizende, muſicirende Engelknaben; der mittlere
hielt ein Notenblatt und ſang, die beiden anderen
ſpielten auf alterthuͤmlichen Geigen, und Alle
ſchaueten freudig und andachtsvoll nach oben;
aber die Erſcheinung war ſo luftig und zart durch¬
ſichtig, daß ich nicht wußte, ob ſie auf den Son¬
nenſtrahlen, im Glaſe, oder nur in meiner Phan¬
[153] taſie ſchwebte. Wenn ich die Scheibe bewegte,
ſo verſchwanden die Engel auf Augenblicke, bis
ich ſie ploͤtzlich mit einer anderen Wendung wie¬
der entdeckte. Ich habe ſeither erfahren, daß
Kupferſtiche oder Zeichnungen, welche lange, lange
Jahre hinter einem Glaſe ungeſtoͤrt liegen, waͤh¬
rend der dunklen Naͤchte dieſer Jahre ſich dem
Glaſe mittheilen und gleichſam ihr dauerndes
Spiegelbild in demſelben zuruͤcklaſſen. Ich ahnte
jetzt auch etwas dergleichen, als ich die fromme
Schraffirung altdeutſcher Kupferſtecherei und in
dem Bilde die Art Van Eyck'ſcher Engel entdeckte.
Eine Schrift war nicht zu ſehen und alſo das
Blatt vielleicht ein ſeltener Probedruck geweſen,
der in dieſe Thaͤler auf ebenſo wunderbare Weiſe
gekommen, als er wieder verſchwunden war.
Jetzt aber war mir die koſtbare Scheibe die ſchoͤnſte
Gabe, welche ich in den Sarg legen konnte, und
ich befeſtigte ſie ſelbſt an dem Deckel, ohne Je¬
mandem etwas von dem Geheimniß zu ſagen.
Der Deutſche kam wieder herbei; wir ſuchten die
feinſten Hobelſpaͤne, unter welche ſich manches
gefallene Laub miſchte, zuſammen, und breiteten
[154] ſie zum letzten Bett in den Sarg; dann ſchloſſen
wir ihn zu, trugen ihn in den Kahn und ſchiff¬
ten mit dem weithin ſcheinenden weißen Geraͤth
uͤber den glaͤnzenden ſtillen See, und die Frauen
mit dem Schulmeiſter brachen in lautes Weinen
aus, als ſie uns heranfahren und landen ſahen.
Am folgenden Tage wurde die Aermſte in
den Sarg gelegt, von allen Blumen umgeben,
welche in Haus und Garten augenblicklich bluͤ¬
heten; aber auf die Woͤlbung des Sarges wurde
ein ſchwerer Kranz von Myrthenzweigen und wei¬
ßen Roſen gelegt, welchen die Jungfrauen aus
der Kirchgemeinde brachten, und außerdem noch ſo
viele einzelne Straͤuße weißer duftender Bluͤthen
aller Art, daß die ganze Oberflaͤche davon bedeckt
wurde und nur die Glasſcheibe frei blieb, durch
welche man das weiße zarte Geſicht der Leiche ſah.
Das Begraͤbniß ſollte vom Hauſe des Oheims
aus ſtattfinden, und zu dieſem Ende hin mußte
Anna erſt uͤber den Berg getragen werden. Es
erſchienen daher eine Anzahl Juͤnglinge aus dem
Dorfe, welche die Bahre abwechſelnd auf ihre
Schultern nahmen, und unſer kleines Gefolge der
[155] naͤchſten Angehoͤrigen begleitete den Zug. Auf
der ſonnigen Hoͤhe des Berges wurde ein kurzer
Halt gemacht und die Bahre auf die Erde ge¬
ſetzt. Es war ſo ſchoͤn hier oben! der Blick
ſchweifte uͤber die umliegenden Thaͤler bis in die
blauen Berge, das Land lag in glaͤnzender Far¬
benpracht rings um uns. Die vier kraͤftigen
Juͤnglinge, welche die Bahre zuletzt getragen,
ſaßen ruhend auf den Tragewangen derſelben, die
Haͤupter auf ihre Haͤnde geſtuͤtzt, und ſchaueten
ſchweigend in alle vier Weltgegenden hinaus.
Hoch am blauen Himmel zogen leuchtende weiße
Wolken und ſchienen uͤber dem Blumenſarge einen
Augenblick ſtill zu ſtehen und neugierig durch das
Fenſterchen zu gucken, welches faſt ſchalkhaft zwi¬
ſchen den Myrthen und Roſen hervorfunkelte im
Widerſcheine der Wolken. Wir ſaßen, wie es
ſich traf, umher und ſelbſt mich ruͤhrte jetzt eine
große Traurigkeit, ſo daß mir einige Thraͤnen
entfielen, als ich bedachte, daß Anna nun zum
letzten Mal und todt uͤber dieſen ſchoͤnen Berg
gehe.
Als wir in's Dorf hinunter geſtiegen, laͤutete
[156] die Todtenglocke zum erſten Mal; Kinder beglei¬
teten uns in Schaaren bis zum Hauſe, wo man
den Sarg unter die Nußbaͤume vor die Thuͤr
hinſtellte. Wehmuͤthig gewaͤhrten die Verwandten
der Todten das Gaſtrecht bei dieſer letzten Ein¬
kehr; es waren nun kaum anderthalb Jahre ver¬
gangen, ſeit jener froͤhliche Feſtzug der Hirten
ſich unter dieſen ſelben Baͤumen bewegte und
mit bewundernder Luſt Anna's damalige Erſchei¬
nung begruͤßte. Bald war der Platz voll Men¬
ſchen, welche ſich herandraͤngten, um der Seligen
zum letzten Mal in's Angeſicht zu ſchauen.
Nun ging der Leichenzug vor ſich, welcher
außerordentlich groß war; der Schulmeiſter, wel¬
cher dicht hinter dem Sarge ging, ſchluchzte fort¬
waͤhrend wie ein Kind. Ich bereute jetzt, keinen
ſchwarzen ehrbaren Anzug zu beſitzen, denn ich
ging unter meinen ſchwarz gekleideten Vettern in
meinem gruͤnen Habit, wie ein fremder Heide.
Die Kirche war ganz mit Leuten angefuͤllt, ob¬
gleich es im Felde viel zu thun gab. Nachdem
die Gemeinde den gewohnten Gottesdienſt be¬
endigt und mit einem Choral beſchloſſen, ſchaarte
[157] man ſich draußen um das Grab, wo die ganze
Jugend, außergewoͤhnlicher Weiſe, einige ſorgfaͤltig
eingeuͤbte Figuralgeſaͤnge mit heller und reiner
Stimme ſang. Ich hatte mich dicht an den Rand
des Grabes geſtellt, waͤhrend die uͤbrigen Ver¬
wandten mit dem leidvollen Vater in der Kirche
blieben. Jetzt ward der Sarg hinabgelaſſen: der
Todtengraͤber reichte den Kranz und die Blumen
herauf, daß man ſie aufbewahre, und der arme
Sarg ſtand nun blank in der feuchten Tiefe. Der
Geſang dauerte fort, aber alle Frauen ſchluchzten.
Der letzte Sonnenſtrahl leuchtete nun durch die
Glasſcheibe in das bleiche Geſicht, das darunter
lag; das Gefuͤhl, das ich jetzt empfand, war ſo
ſeltſam, daß ich es nicht anders, als mit dem
fremden hochtrabenden und kalten Worte »objectiv«
benennen kann, welches die deutſche Aeſthetik er¬
funden hat. Ich glaube, die Glasſcheibe that es
mir an, daß ich das Gut, was ſie verſchloß,
gleich einem in Glas und Rahmen gefaßten Theil
meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener
und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener
Ruhe begraben ſah; noch heute weiß ich nicht,
[158] war es Staͤrke oder Schwaͤche, daß ich dies tra¬
giſche und feierliche Ereigniß viel eher genoß, als
erduldete und mich beinahe des nun ernſt werden¬
den Wechſels des Lebens freute.
Der Schieber wurde zugethan, der Todten¬
graͤber und ſein Gehuͤlfe ſtiegen herauf und bald
war der braune Huͤgel aufgebaut.
Judith ließ ſich nicht ſehen am Grabe; in
einem demuͤthigen und entſagenden Gefuͤhle der
Fremdheit hielt ſie ſich in ihrem Hauſe verſchloſſen.
Am anderen Tage, als der Schulmeiſter zu
erkennen gab, daß er nun ſeinen Schmerz in der
Einſamkeit allein mit ſeinem Gott uͤberwinden
wolle, ſchickte ich mich an, mit der Mutter nach
der Stadt zuruͤck zu kehren. Vorher ging ich zur
Judith und fand ſie beſchaͤftigt, ihre Baͤume zu
muſtern, da die Zeit wieder gekommen war, wo
man das Obſt einſammelte. Der Herbſtnebel traf
gerade heute zum erſten Mal ein und verſchleierte
ſchon den Baumgarten mit ſeinem ſilbernen Ge¬
webe. Judith war ernſt und etwas verlegen, als
ſie mich ſah, da ſie nicht recht wußte, wie ſie
ſich zu dem traurigen Erlebniß ſtellen ſollte, waͤh¬
[159] rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich
mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬
geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte.
Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen,
um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr
immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen.
Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht
ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem
Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß
dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man
einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang
mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen
koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬
habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft
geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei.
Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein,
an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und
ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬
dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken
der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬
ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen
Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem
ſich alle meine Handlungen richten koͤnnten.
Als Judith dieſe Worte hoͤrte, erſchrak ſie
noch mehr und wurde zugleich ſchmerzlich beruͤhrt.
Es waren wieder von den Worten, von denen
ſie behauptete, daß niemals Jemand zu ihr welche
geſagt habe. Heftig ging ſie unter den Baͤumen
umher und ſagte dann: »Ich habe geglaubt, daß
Du mich wenigſtens auch etwas liebteſt!«
»Gerade deswegen,« erwiederte ich, »weil ich
wohl fuͤhle, daß ich heftig an Dir hange, muß
ein Ende gemacht werden!«
»Nein, gerade deswegen mußt Du erſt an¬
fangen, mich recht und ganz zu lieben!«
»Das waͤre eine ſchoͤne Wirthſchaft!« rief ich,
»was ſoll dann aus Anna werden?«
»Anna iſt todt!«
»Nein! Sie iſt nicht todt, ich werde ſie wie¬
derſehen und ich kann doch nicht einen ganzen
Harem von Frauen fuͤr die Ewigkeit anſammeln!«
Bitter lachend ſtand Judith vor mir ſtill und
ſagte:
»Das waͤre allerdings komiſch! Aber wiſſen
wir denn, ob es eigentlich eine Ewigkeit giebt?«
»So oder ſo,« erwiederte ich, »giebt es Eine,
[161] und wenn es nur diejenige des Gedankens und
der Wahrheit waͤre! Ja, wenn das todte Maͤdchen
fuͤr immer in das Nichts hingeſchwunden und ſich
gaͤnzlich aufgeloͤſt haͤtte, bis auf den Namen, ſo
waͤre dies erſt ein rechter Grund, der armen Ab¬
weſenden Treue und Glauben zu halten! Ich habe
es gelobt und Nichts ſoll mich in meinem Vor¬
ſatz wankend machen!«
»Nichts!« rief Judith, »o Du naͤrriſcher Ge¬
ſell! Willſt Du in ein Kloſter gehen? Du ſiehſt
mir darnach aus! Aber wir wollen uͤber dieſe
heikle Sache nicht ferner ſtreiten; ich habe nicht
gewuͤnſcht, daß Du nach der traurigen Begeben¬
heit ſogleich zu mir kommeſt und habe Dich nicht
erwartet. Geh' nach der Stadt und halte Dich
ein halbes Jahr ſtill und ruhig, und dann wirſt
Du ſchon ſehen, was ſich ferner begeben wird!«
»Ich ſeh' es jetzt ſchon,« erwiederte ich, »Du
wirſt mich nie wieder ſehen und ſprechen, dies
ſchwoͤre ich hiermit bei Gott und Allem, was
heilig iſt, bei dem beſſeren Theil meiner ſelbſt
und — «
»Halt inne!« rief Judith aͤngſtlich und legte
III. 11[162] mir die Hand auf den Mund; »Du wuͤrdeſt es
ſicher noch einmal bereuen, Dir ſelbſt eine ſo
grauſame Schlinge gelegt zu haben! Welche Teu¬
felei ſteckt in den Koͤpfen dieſer Menſchen! Und dazu
behaupten ſie und machen ſich ſelber weiß, daß ſie
nach ihrem Herzen handeln. Fuͤhlſt Du denn gar
nicht, daß ein Herz ſeine wahre Ehre nur darin finden
kann, zu lieben, wo es geliebt wird, wenn es
dies kann? Du kannſt es und thuſt es heimlich
doch, und ſomit waͤre Alles in der Ordnung!
Sobald Du mich nicht mehr leiden magſt, ſobald
die Jahre uns ſonſt auseinander fuͤhren, ſollſt Du
mich ganz und fuͤr immer verlaſſen und vergeſſen,
ich will dies uͤber mich nehmen; aber nur jetzt
verlaß mich und zwinge Dich nicht, mich zu ver¬
laſſen, dies allein thut mir weh, und es wuͤrde
mich wahrhaft [ungluͤcklich] machen, allein um un¬
ſerer Dummheit willen nicht einmal ein oder zwei
Jahre noch gluͤcklich ſein zu duͤrfen!«
»Dieſe zwei Jahre,« ſagte ich, »muͤſſen und
werden auch ſo voruͤbergehen, und gerade dann
werden wir beide gluͤcklicher ſein, wenn wir jetzt
ſcheiden; es iſt nun gerade noch die hoͤchſte Zeit,
[163] es ohne ſpaͤtere Reue und das Bisherige gut zu
machen, zu thun. Und wenn ich Dir es deutſch
heraus ſagen ſoll, ſo wiſſe, daß ich mir auch
Dein Andenken, was immer ein Andenken der
Verirrung fuͤr mich ſein wird, doch noch ſo rein
und ſchoͤn als moͤglich retten und erhalten moͤchte,
und das kann nur noch durch ein raſches Schei¬
den in dieſem Augenblicke geſchehen. Du ſagſt
und beklagſt es, daß Du nie Theil gehabt an der
edleren und hoͤheren Haͤlfte der Liebe! Welche
beſſere Gelegenheit kannſt Du ergreifen, als wenn
Du aus Liebe zu mir mir freiwillig erleichterſt,
Deiner mit Achtung und Liebe zu gedenken und
zugleich der Verſtorbenen treu zu ſein? Wirſt Du
Dich dadurch nicht an jener tieferen Art der Liebe
betheiligen?«
»O Alles Luft und Schall!« rief Judith, »ich
habe nichts geſagt, ich will nichts geſagt haben!
Ich will nicht Deine Achtung, ich will Dich ſelbſt
haben, ſo lange ich kann!«
Sie ſuchte meine beiden Haͤnde zu faſſen, er¬
griff dieſelben, und waͤhrend ich ſie ihr vergeblich
zu entziehen mich bemuͤhte, indeß ſie mir ganz
[164] flehentlich in die Augen ſah, fuhr ſie mit leiden¬
ſchaftlichem Tone fort:
»O liebſter Heinrich! Geh' nach der Stadt,
aber verſprich mir, Dich nicht ſelbſt zu binden
und zu zwingen durch ſolche ſchreckliche Schwuͤre
und Geluͤbde! Laß Dich — «
Ich wollte ſie unterbrechen, aber ſie verhinderte
mich am Reden und uͤberfluͤgelte mich:
»Laß es gehen, wie es will, ſag' ich Dir!
Auch an mich darfſt Du Dich nicht binden, Du
ſollſt frei ſein, wie der Wind! Gefaͤllt es Dir — «
Aber ich ließ Judith nicht ausreden, ſondern
riß mich los und rief:
»Nie werd' ich Dich wieder ſehen, ſo gewiß ich
ehrlich zu bleiben hoffe! Judith! leb' wohl!«
Ich eilte davon, ſah mich aber noch ein Mal
um, wie von einer ſtarken Gewalt gezwungen,
und ſah ſie in ihrer Rede unterbrochen daſtehen,
die Haͤnde noch ausgeſtreckt von dem Losreißen
der meinigen, und uͤberraſcht, kummervoll und
beleidigt zugleich mir nachſchauend, ohne ein Wort
hervorzubringen, bis mir der von der Sonne
durchwirkte Nebel ihr Bild verſchleierte.
Eine Stunde ſpaͤter ſaß ich mit meiner Mut¬
ter auf einem Gefaͤhrt, und einer der Soͤhne mei¬
nes Oheims fuͤhrte uns nach der Stadt. Ich
blieb den ganzen Winter allein und ohne allen
Umgang; meine Mappe und mein Handwerkszeug
mochte ich kaum anſehen, da es mich immer an
den ungluͤcklichen Roͤmer erinnerte und ich mir
kaum ein Recht zu haben ſchien, das, was er mich
gelehrt, fortzubilden und anzuwenden. Manch¬
mal machte ich den Verſuch, eine neue und eigene
Art zu erfinden, wobei ſich aber ſogleich heraus¬
ſtellte, daß ich ſelbſt das Urtheil und die Mittel,
die ich dazu verwandte, nur Roͤmern verdankte.
Dagegen las ich fort und fort, vom Morgen bis
zum Abend und tief in die Nacht hinein. Ich
las immer deutſche Buͤcher und auf die ſeltſamſte
Weiſe. Jeden Abend nahm ich mir vor, den
naͤchſten Morgen, und jeden Morgen, den naͤch¬
ſten Mittag die Buͤcher bei Seite zu werfen und
an meine Arbeit zu gehen; ſelbſt von Stunde zu
Stunde ſetzte ich den Termin; aber die Stunden
ſtahlen ſich fort, indem ich die Buchſeiten um¬
ſchlug, ich vergaß ſie buchſtaͤblich; die Tage, Wo¬
[166] chen und Monate vergingen ſo ſachte und heim¬
tuͤckiſch, als ob ſie, leiſe ſich draͤngend, ſich ſelbſt
entwendeten und zu meiner fortwaͤhrenden Beun¬
ruhigung lachend verſchwaͤnden. Sonſt, wenn ich
die Buͤcher alter und fremder Voͤlker las, fuͤllten
mich dieſelben ſtets mit friſcher Luſt zur Arbeit,
und ſelbſt die neueren franzoͤſiſchen oder italieni¬
ſchen Sachen waren, ſelbſt wenn ihr Gehalt nicht
vom erlauchteſten Geiſte, doch von ſolcher Geſtal¬
tungsluſt getraͤnkt, daß ich ſie oft froͤhlich weg¬
warf und auf eigenes Thun ſann. Durch die
deutſchen Buͤcher hingegen wurde ich tief und
tiefer in einen ſchmerzlichen Genuß unrechtmaͤßiger
Ruhe und Beſchaulichkeit hineingezogen, aus wel¬
chem mich der immer wache Vorwurf doch nicht
reißen konnte. Ja, ich empfand trotz des boͤſen
Gewiſſens ſogar mehr und mehr eine Sehnſucht,
ſelbſt uͤber den Rhein zu ſetzen und erſt recht
mitten in dieſe Welt zu gerathen.
Jedoch brachte der Fruͤhling eine kraͤftige Er¬
loͤſung aus dieſem unbehaglichen Zuſtande; ich
hatte nun das achtzehnte Jahr uͤberſchritten, war
militaͤrpflichtig geworden und mußte mich am feſt¬
[167] geſetzten Tage in der Kaſerne einfinden, um die
kleinen Geheimniſſe der Vaterlandsvertheidigung
zu lernen. Ich ſtieß auf ein ſummendes Gewim¬
mel von vielen hundert jungen Leuten aus allen
Staͤnden, welche jedoch bald von einer Handvoll
grimmiger Kriegsleute zur Stille gebracht, abge¬
theilt und waͤhrend vieler Stunden als ungefuͤger
Rohſtoff hin und her geſchoben wurden, bis ſie
das Brauchbare zuſammengeſtellt hatten. Als ſo¬
dann die Uebungen begannen und die Abtheilun¬
gen zum erſten Mal unter den einzelnen ſeltſamen
Vorgeſetzten, welches vielumhergerathene Sol¬
datennaturen waren, zuſammen kamen, wurde mir,
der ich nichts bedacht hatte, unter Gelaͤchter mein
langes Haar dicht am Kopfe weggeſchnitten.
Aber ich legte es mit dem groͤßten Vergnuͤgen
auf den Altar des Vaterlandes und fuͤhlte behag¬
lich die friſche Luft um meinen geſchorenen Kopf
wehen. Jetzt mußten wir aber auch die Haͤnde
darſtrecken, ob ſie gewaſchen und die Naͤgel ordent¬
lich beſchnitten ſeien und nun war die Reihe an
manchem biederen Handarbeiter, ſich geraͤuſchvoll
belehren zu laſſen. Dann gab man uns ein klei¬
[168] nes Buͤchelchen, das erſte einer ganzen Reihe, in
welchem Pflichten und Haltung des angehenden
Soldaten in wunderlichen Saͤtzen als Fragen und
Antworten deutlich gedruckt und numerirt waren.
Jeder Regel war aber eine tuͤchtige kurze Be¬
gruͤndung beigefuͤgt und wenn auch manchmal
dieſe in den Satz der Regel, die Regel aber
hintennach in die Begruͤndung hineingerathen war,
ſo lernten wir doch Alle jedes Wort eifrig und
andaͤchtig auswendig und ſetzten eine Ehre darein,
das Penſum ohne Stottern herzuſagen. Endlich
verging der Reſt des erſten Tages uͤber den Be¬
muͤhungen, von Neuem gerade ſtehen und einige
Schritte gehen zu lernen, was unter dem Wechſel
von Muth und Niedergeſchlagenheit ſich vollendete.
Es galt nun, ſich einer eiſernen Ordnung zu
fuͤgen und ſich jeder Puͤnktlichkeit zu befleißen, und
obgleich dies mich aus meiner vollkommenen Frei¬
heit und Selbſtherrlichkeit herausriß, ſo empfand
ich doch einen wahren Durſt, mich dieſer Strenge
hinzugeben, ſo komiſch auch ihre naͤchſten kleinen
Zwecke waren, und als ich einige Mal nahe an
der Strafe hinſtreifte, und zwar nur aus Ver¬
[169] ſehen, uͤberkam mich ein wahrhaftes Schamgefuͤhl
vor den Kameraden, welche ſich ihrerſeits ganz
aͤhnlich verhielten.
Als wir ſoweit waren, mit Ehren uͤber die
Straße zu marſchiren, zogen wir jeden Tag auf
den Exercierplatz, welcher im Freien lag und von
der Landſtraße durchſchnitten wurde. Eines Ta¬
ges, als ich mitten in einem Gliede von etwa
fuͤnfzehn Mann nach dem Kommando des In¬
ſtruktors, der unermuͤdlich ruͤckwaͤrts vor uns her
ging, ſchreiend und mit den Haͤnden das Tempo
ſchlagend, ſo ſchon ſtundenlang den weiten Platz
nach allen Richtungen durchmeſſen und vielfach
in unſeren Schwenkungen die vielen anderen Ab¬
theilungen gekreuzt hatte, kamen wir ploͤtzlich dicht
an die Landſtraße zu ſtehen und machten dort
Halt und Front gegen dieſelbe. Der Exercier¬
meiſter, welcher hinter der Front ſtand, ließ uns
eine Weile regungslos verharren, um einige nicht
ſchmeichelhafte Bemerkungen und Ausſtellungen
an unſeren Gliedmaßen anzubringen. Waͤhrend er
hinter unſerm Ruͤcken laͤrmte und fluchte, ſo weit
es ihm Geſetz und Sitte nur immer erlaubten,
11 *[170] und wir ſo mit dem Geſichte gegen die Straße
gewendet ihm zuhoͤrten, kam ein großer, mit ſechs
Pferden beſpannter Wagen angefahren, wie die
Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche ſich
nach den franzoͤſiſchen Haͤfen begeben. Dieſer
Wagen war mit anſehnlichem Gute beladen und
ſchien einer oder zwei ſtattlichen Familien zu die¬
nen, die nach Amerika gingen. Zwei kraͤftige
Maͤnner gingen neben den Pferden, vier oder
fuͤnf Frauen ſaßen auf dem Wagen unter einem
bequemen Zeltdache, nebſt mehreren Kindern und
ſelbſt einem Greiſe. Aber dieſen Leuten hatte ſich
Judith angeſchloſſen; denn ich entdeckte ſie, als
ich zufaͤllig hinſah, hoch und ſchoͤn unter den
Frauen, mit Reiſekleidern angethan. Ich erſchrak
heftig und das Herz ſchlug mir gewaltig, waͤh¬
rend ich mich nicht regen noch ruͤhren durfte.
Judith, welche im Voruͤberfahren, wie mir ſchien,
mit finſterem Blicke auf die Soldatenreihe ſah,
erſchaute mich mitten in derſelben und ſtreckte ſo¬
gleich die Haͤnde nach mir aus. Aber im gleichen
Augenblicke kommandirte unſer Tyrann »Kehrt
Euch!« und fuͤhrte uns wie ein Beſeſſener im
[171] Geſchwindſchritte ganz an das entgegengeſetzte
Ende des weiten Platzes. Ich lief immer mit,
die Arme vorſchriftsmaͤßig laͤngs des Leibes ange¬
ſchloſſen, »die kleinen Finger an der Hoſennaht,
die Daumen auswaͤrts gekehrt,« ohne mir was
anſehen zu laſſen, obgleich ich heftig bewegt war;
denn in dieſem Augenblicke war es mir, als ob
ſich mir das Herz in der Bruſt wenden wollte.
Als wir endlich das Geſicht wieder der Straße
zukehrten, nach den maßgebenden Zickzackgedanken
im Gehirne des Fuͤhrers, verſchwand der Wagen
eben in weiter Ferne.
Gluͤcklicher Weiſe ging man nun auseinander,
und indem ich mich ſogleich entfernte und die
Einſamkeit ſuchte, fuͤhlte ich, daß jetzt der erſte
Theil meines Lebens fuͤr mich abgeſchloſſen ſei
und ein anderer beginne.
In dieſem Fruͤhling traf es ſich noch, daß ich
mich zugleich in anderer Weiſe zum erſten Mal
als Buͤrger geltend machen durfte, indem eine
Integral-Erneuerung der geſetzgebenden Behoͤrde
und die von dieſer abhaͤngige Erneuerung der
[172] verwaltenden und richterlichen Gewalt vor ſich
ging und die Wahlen dazu feſtgeſetzt waren.
Als ich mich aber, hierzu aufgefordert, in
einige Vorverſammlungen und endlich am erſten
Maiſonntage in die Kirche begab, um meine
Stimme abzugeben, fand ich darin nicht jene Er¬
hebung, auf welche ich mich ſchon lange gefreut,
obgleich ich von den immer noch lebensfrohen
Freunden meines Vaters tapfer begruͤßt und auf¬
gemuntert wurde. Ich ſah, daß alle anderen
jungen Leute, die zum erſten Mal hier erſchienen,
als Handwerker, Kaufleute oder Studirende ent¬
weder ſchon ſelbſtaͤndig oder durch ihre Vaͤter
oder durch einen beſtimmten, nahe geſteckten Zweck
mit der oͤffentlichen Wohlfahrt in einem klaren
und ſicheren Zuſammenhang ſtanden; und wenn
ſelbſt dieſe Juͤnglinge ſich hoͤchſt beſcheiden und
ſtill verhielten bei der Ausuͤbung ihres Rechtes,
ſo mußte ich dies noch weit mehr thun und ſogar
von einer gewiſſen kuͤhlen Schuͤchternheit befangen
werden, da ich noch gar nicht abſah, wie bald
und auf welche Weiſe ich ein nuͤtzliches und wirk¬
ſames Glied dieſer Geſammtheit werden wuͤrde.
[173] Bis jetzt war durch mich noch nicht ein Biſſen
Brod in die Welt gekommen, und mein bisheri¬
ges Treiben hatte mich weit von dem betriebſa¬
men Verkehr abgefuͤhrt; ich gab alſo ohne großen
Aufwand von Gefuͤhlen meine Erſtlingsſtimme
in oͤffentlichen Dingen, mehr um einſtweilen mein
Recht zu wahren und daſſelbe bloß andeutungs¬
weiſe einmal auszuuͤben, ehe ich in die Weite
ging, um erſt etwas zu werden. Indeſſen be¬
trachtete ich mit Vergnuͤgen die verſammelten
Maͤnner und ihr Behaben, und freute mich an
ihnen ſowohl, wie an den zahlloſen Bluͤthen,
welche uͤberall die Erde bedeckten und an dem
blauen Maihimmel, welcher uͤber Alle ſich aus¬
ſpannte.
Mein einziges Trachten ging aber von nun
an dahin, ſo bald als moͤglich uͤber den Rhein
zu gelangen, und um mir bis dahin die Stunden
zu verkuͤrzen, habe ich mir dieſe Schrift geſchrieben.
Ende der Jugendgeſchichte.
Viertes Kapitel.
Das zweite Jahr ging ſeinem Ende entgegen,
ſeit Heinrich in der deutſchen Hauptſtadt, dem
Sitze eines vielſeitigen Kunſt-, Gelehrten- und
Volkslebens, ſich aufhielt, mitten in einem Zu¬
ſammenfluſſe von Fremden aller Gegenden in und
außer Deutſchland. Er hatte laͤngſt ſein Sam¬
metbaret und den beſchnuͤrten gruͤnen Rock abge¬
legt und ging in ſchlichten Kleidern und mit einem
Hute, der nur durch etwas breitere Kraͤmpen und
durch die ſorgloſe Art, mit welcher er behandelt
und getragen wurde, den Kuͤnſtler bezeichnete.
Aber deſto tiefer hatte ſich der inwendige gruͤne
Heinrich das Baretchen in die Augen gezogen und
in das naͤrriſche Roͤckchen eingeknoͤpft, und wenn
unſer Held in der großen Stadt raſch die Frei¬
heit und Sicherheit der aͤußerlichen Bewegung
[175] unter den vielen jungen Leuten angenommen hatte,
ſo verkuͤndete dagegen ſein ſelbſtvergeſſenes und
wie im Traume blitzendes Auge, daß er nicht
mehr der durch Einſamkeit fruͤhreife und unbe¬
fangene Beobachter ſeiner ſelbſt und der Welt
war, wie er ſich in ſeiner Jugendgeſchichte gezeigt,
ſondern daß er von der Gewalt einer großen Na¬
tionalkultur, wie dieſe an ſolchem Punkte und zu
dieſer Zeit gerade beſtand, gut oder ſchlecht, in
ihre Kreiſe gezogen worden. Er ſchwamm tapfer
mit in dieſer Stroͤmung und hielt Vieles, was
oft nur Liebhaberei und Ziererei iſt, fuͤr dauernd
und wohnlich, dem man ſich eifrig hingeben muͤſſe.
Denn wenn man von einer ganzen Menge, die
eine eigene techniſche Sprache dafuͤr hat, irgend
eine Sache ernſthaft und fertig betreiben ſieht,
ſo haͤlt man ſich leicht fuͤr geborgen, wenn man
dieſelbe nur mitſpielen kann und darf.
Da ihn aber dennoch irgend ein Gefuͤhl ahnen
ließ, daß auch dieſe Zeit mit ihren Anregungen
voruͤbergehen werde, ſo gab er ſich nur mit einem
bitterſuͤßen Widerſtreben hin, von dem er nicht
wußte, woher es kam. Heinrich war ausgezogen,
[176] die große Germania ſelbſt zu kuͤſſen, und hatte
ſich ſtatt deſſen in einem der ſchimmernden Haar¬
netze gefangen, mit welchen ſie ihre ſeltſamen
Soͤhne zu ſchmuͤcken pflegen.
Sein taͤglicher Umgang beſtand in zwei Ge¬
noſſen, welche, gleich ihm vom aͤußerſten Saume
deutſchen Volksthumes herbeigekommen, in ver¬
ſchiedener und doch aͤhnlicher Lage ſich befanden.
Der Zufall, welcher das Kleeblatt zuſammenge¬
fuͤhrt, ſchien bald ein nothwendiges Geſetz zu ſein,
ſo ſehr gewoͤhnten ſie ſich an einander.
Der Erſte und Hervorragendſte an koͤrperlicher
Groͤße und Wohlgeſtalt war Erickſon, ein Kind
der noͤrdlichen Gewaͤſſer, ein wahrer Rieſe, wel¬
cher ſelbſt nicht wußte, ob er eigentlich ein Daͤne
oder ein Deutſcher ſei, indeſſen gern deutſch ge¬
ſinnt war, wenn er um dieſen Preis den großen
Stock der Deutſchen, gewiſſermaßen das Reich
der Mitte, wie er es nannte, als charakterlos
und aus der Art geſchlagen tadeln durfte. Er
war ein vollkommener Jaͤger, ging ſtets in rauher
Jaͤgertracht und hielt ſich haͤufig auf dem Lande,
im Gebirge auf, um Birkhuͤhner zu ſchießen, ſich
[177] in der Gemsjagd zu verſuchen oder ſich ſelbſt den
Maͤnnern des Gebirges anzuſchließen, wenn ſie
nach einem ſeltenen Baͤren auszogen. Alle Vier¬
teljahr malte er regelmaͤßig ein Bildchen vom
allerkleinſten Maßſtabe, nicht groͤßer, als ſein
Handteller, das in einem oder anderthalb Tagen
fertig war. Dieſe Bildchen verkaufte er jedesmal
ziemlich theuer, und aus dem Erloͤſe lebte er und
ruͤhrte dann keinen Pinſel wieder an, bis die
Baarſchaft zu Ende ging. Seine kleinen Werke
enthielten weiter nichts, als ein Sandbord, einige
Zaunpfaͤhle mit Kuͤrbiſſen oder ein paar magere
Birken mit einem blaſſen ſchwindſuͤchtigen Woͤlk¬
chen in der Luft. Warum ſie den Liebhabern ge¬
fielen und wie er ſelbſt dazu gekommen, ſie zu
malen, wußte er nicht zu ſagen und Niemand.
Erickſon war nicht etwa ein ſchlechter Maler, dazu
war er zu geiſtreich; er war gar kein Maler.
Das wußte er ſelbſt am beſten, und aus humori¬
ſtiſcher Verzweiflung verhuͤllte er die Nuͤchternheit
und Duͤrre ſeiner Erfindungen und ſeine gaͤnzliche
Unproduktivitaͤt mit ſo verzwickten zierlichen Pin¬
ſelſtrichen, geiſtreichen Schwaͤnzchen und Schnoͤr¬
III. 12[178] kelchen, daß die reichen Kenner ihn fuͤr einen aus¬
geſuchten Kabinetsmaler hielten und ſich um ſeine
ſeltſamen Arbeiten ſtritten. Seine groͤßte, tief¬
ſinnigſte Kunſt, und von wahrhaftem Verdienſt,
beſtand in der weiſen Oekonomie, mit welcher er
ſeine Bildchen ſo anzuordnen wußte, daß weder
durch den Gegenſtand, noch durch die Beleuchtung
Schwierigkeiten erwuchſen und die Inhaltloſigkeit
und Armuth als elegante Abſichtlichkeit erſchienen.
Aber trotzdem waren jedesmal die anderthalb
Tage Arbeit ein hoͤlliſches Fegefeuer fuͤr den bie¬
deren Erickſon. Seine Huͤnengeſtalt, die ſonſt
nur in ruhig kraͤftiger That ſich bewegte, aͤngſtigte
ſich alsdann in peinlicher Unruhe vor dem kleinen
Raͤhmchen, das er bemalte: er ſtieß maͤchtige
Rauchwolken aus der kurzen Jaͤgerpfeife, welche
ihm an den Lippen hing, ſeufzte und ſtoͤhnte,
ſtand hundert Mal auf und ſetzte ſich wieder und
klagte, rief oder brummte: »O heiliges Donner¬
wetter! Welcher Teufel mußte mir einblaſen, ein
Maler zu werden! Dieſer verfluchte Aſt! Da hab'
ich zu viel Laub angebracht, ich kann in meinem
Leben nicht eine ſo anſehnliche Maſſe Baumſchlag
[179] zuſammenbringen! Welcher Hafer hat mich ge¬
ſtochen, daß ich ein ſo complicirtes Geſtraͤuch
wagte? O Gott, o Gott, o Gott, o Gott! O
waͤr' ich wo der Pfeffer waͤchſt! ei, ei, ei, ei! Das
iſt eine ſaubere Geſchichte — wenn ich nur dies¬
mal noch aus der Tinte komme! Oh! warum
bin ich nicht zu Hauſe geblieben und ein ehrlicher
Seemann geworden!«
Dann fing er aus Verzweiflung an zu ſingen;
denn er ſang ſo ſchoͤn und gewaltig, wie ein
alter Seekoͤnig, und ſang mit maͤchtiger Stimme:
Er ſang Lied auf Lied, Trinklieder, Wander¬
lieder, Jagdlieder, der Glanz und Duft der Na¬
tur kam uͤber ihn, er pinſelte in ſeiner Angſt
kuͤhn darauf los, und ſeine winzige Schilderei er¬
hielt zuletzt wirklich einen gewiſſen Zauber. War
das Bildchen fertig, ſo verſah es Erickſon mit
einem prachtvollen goldenen Rahmen, ſendete es
weg, und ſo bald er die gewichtigen Goldſtuͤcke
in der Taſche hatte, huͤtete er ſich, an die uͤber¬
ſtandenen Leiden zu denken oder von Kunſt zu
12 *[180] ſprechen, ſondern ging unbekuͤmmert und ſtolz
einher, war ein herrlicher Kumpan und Zechbru¬
der und machte ſich bereit, in's Gebirge zu ziehen,
aber nicht mit Farben und Stift, ſondern mit
Gewehr und Schrot.
Der Hervorragendſte an feinem Geiſte und
uͤberlegenem Koͤnnen in dem Bunde war ein Hol¬
laͤnder aus Amſterdam, Namens Ferdinand Lys,
ein junger Mann mit anmuthigen, verfuͤhreriſchen
Geſichtszuͤgen, der letzte Sproͤßling einer reichen
Handelsfamilie, ohne Aeltern und Geſchwiſter,
ſchon fruͤh in der Welt alleinſtehend und von halb
ſchwermuͤthiger, halb lebensluſtiger Gemuͤthsart,
gewandt und ſelbſtaͤndig und wegen des Zuſam¬
mentreffens ſeines großen Reichthumes, ſeiner
Einſamkeit und ſeines genußduͤrſtigen Witzes ein
großer Egoiſt.
Waͤhrend mehrerer Jahre, welche Ferdinand
in der Werkſtatt eines beruͤhmten genialen Mei¬
ſters zugebracht, hatte ſich ſein glaͤnzendes Talent
immer beſtimmter und ſiegreicher hervorgethan;
indem er ſich eifrig und aufrichtig der neuen deut¬
ſchen Kunſt anſchloß, ſchrieb er mit ſeiner Kohle
[181] ſchon faſt eben ſo ſchoͤn und ſicher, wie der Mei¬
ſter, auf den Karton die menſchliche Geſtalt, nackt
oder bekleidet, in Einem Zuge, langſam, feſt und
edel, gleich dem Zuge des Schwanes auf dem
glatten Waſſerſpiegel. Ebenſo zeigte er ſich in
Aneignung und Verſtaͤndniß der Farbe von Tag
zu Tag bluͤhender und maͤnnlicher, und die ſeltene
Reife in der Vereinigung beider Theile uͤberraſchte
Jedermann, erwarb ihm die Achtung von Alten
und Jungen und erweckte die groͤßten Hoffnungen,
wenn Erfahrung und Jahre ihm auch den tieferen
Inhalt und das Ziel fuͤr dieſe glaͤnzenden Fort¬
ſchritte braͤchten.
Als Ferdinand aber von einem vorlaͤufigen
einjaͤhrigen Aufenthalt in Italien zuruͤckkehrte,
war er wie umgewandelt. Er zerriß alle ſeine
fruͤheren Entwuͤrfe und Skizzen von Schlachten,
Staatsaktionen, mythologiſchen Inhalts und die¬
jenigen, welche nach Dichtungen gebildet waren,
was er Alles in ſeiner alten Wohnung aufgehaͤuft
fand, in tauſend Stuͤcke und ließ Nichts beſtehen,
als ſeine ſchoͤnen muſterhaften Studien nach der
Natur und ſeine Kopien nach den alten Italie¬
[182] nern. Eh' er nach Rom gegangen, war er ein
ſtolzer und ſproͤder Juͤngling, der mit jugendlichem
Ernſte nach dem Ideale der alten herkoͤmmlichen
großen Hiſtorie ſtrebte und von Zeit und Leben
keine Erfahrung hatte. Italien, ſeine Luft und
ſeine Frauen lehrten ihn, daß Form, Farbe und
Glanz nicht nur fuͤr die Leinwand, ſondern auch
zum lebendigen Gebrauch gut und dienlich ſeien.
Er wurde ein Realiſt und gewann von Tag zu
Tag eine ſolche Kraft und Tiefe in der Empfin¬
dung des Lebens und des Menſchlichen, daß die
Ueberlieferungen ſeiner Jugend und Schuͤlerzeit
dagegen erbleichen mußten. Wohl draͤngte ſich
dieſe Kraft gleich in die Malerhand; aber indem
er mit gewiſſenhaftem Fleiße ſich in die Werke
der Alten vertiefte, mußte er ſich uͤberzeugen, daß
dieſe großen Realiſten ſchon Alles gethan, was
in unſerem Jahrtauſend vielleicht uͤberhaupt er¬
reicht werden konnte, und daß wir einſtweilen
weder ſo erfinden und zeichnen werden, wie Ra¬
phael und Michel Angelo, noch ſo malen, wie die
Venetianer. Und wenn wir es koͤnnten, ſagte er
ſich, ſo haͤtten wir keinen Gegenſtand dafuͤr. Wir
[183] ſind wohl Etwas, aber wir ſehen wunderlicher
Weiſe nicht wie Etwas aus, wir ſind bloßes
Uebergangsgeſchiebe. Wir achten die alte Staats-
und religioͤſe Geſchichte nicht mehr und haben
noch keine neue hinter uns, die zu malen waͤre,
das Geſicht Napoleon's etwas ausgenommen; wir
haben das Paradies der Unſchuld, in welchem
Jene noch Alles malen konnten, was ihnen unter
die Haͤnde kam, verloren und leben nur in einem
Fegefeuer. Wenigſtens war es bei ihm wirklich
der Fall. Lys gaͤhnte ſchon, wenn er von Wei¬
tem ein hiſtoriſches, allegoriſches oder bibliſches
Bild ſah, war es auch von noch ſo gebildeten
und talentvollen Leuten gemacht, und rief: »Der
Teufel ſoll den holen, welcher behauptet, ergrif¬
fen zu ſein von dieſer Verſammlung von Baͤrten
und Nichtbaͤrten, welche die Arme ausrecken und
geſtikuliren!« Von dem Anlehnen des Malers an
die Dichtung oder gar an die Geſchichte der Dich¬
tung wollte er jetzt auch nichts mehr wiſſen; denn
ſeine Kunſt ſollte nicht die Bettlerin bei einer
anderen ſein. Alle dieſe Widerſpruͤche zu uͤber¬
winden und ihnen zum Trotz das darzuſtellen,
[184] was er nicht fuͤhlte noch glaubte, aber es durch
die Energie ſeines Talentes doch zum Leben zu
bringen, nur um zu malen, dazu war er zu ſehr
Philoſoph und, ſo ſeltſam es klingen mag, zu
wenig Maler.
So ſchloß er ſich nach ſeiner Ruͤckkehr ab,
malte nur wenig und langſam, und was er malte,
war wie ein Taſten nach der Zukunft, ein Suchen
nach dem ruhevollen Ausdruck des menſchlichen
Weſens, in dem Beſeligtſein in ſeiner eigenen
koͤrperlichen Form, ſei ſie von Luſt oder Schmerz
durchdrungen. Er malte am liebſten ſchoͤne Wei¬
ber nach der Natur, oder ſolche maͤnnliche Koͤpfe,
deren Inhaber Geiſt, Charakter und etwas Erleb¬
niß beſaßen. Die wenigen Bilder, welche er
Jahre lang unvollendet und doch mit großem
Reiz uͤbergoſſen bei ſich ſtehen hatte, enthielten
einzelne oder wenige Figuren in ruhiger Lage,
und zuletzt verfiel er ganz auf einen Kultus der
Perſoͤnlichkeit, deſſen naive Andacht, verbunden
mit der Ueberlegenheit des Machwerkes, allein
das Lachen der Anderen verhindern konnte. Die¬
ſer Kultus, heiße Sinnlichkeit und eine geheim¬
[185] nißvolle Trauer waren ziemlich die Elemente ſei¬
ner Thaͤtigkeit.
Er hatte drei oder vier Bilder, die er nie
ganz vollendete, die Niemand außer ſeinen naͤch¬
ſten Freunden zu ſehen bekam, aber auf Jeden,
welcher ſie ſah, einen immer neuen tiefen Ein¬
druck machten. Das erſte war ein Salomo mit
der Koͤnigin von Saba. Es war ein Mann von
wunderbarer Schoͤnheit, der ſowohl das hohe Lied
gedichtet, als geſchrieben haben mußte: es iſt Alles
eitel unter der Sonne! Die Koͤnigin war als
Weib, was er als Mann, und Beide, in reiche,
uͤppige Waͤnder gehuͤllt, ſaßen allein und einſam
ſich gegenuͤber und ſchienen, die brennenden Augen
Eines auf das Andere geheftet, in heißem, faſt
feindlichem Wortſpiele ſich das Raͤthſel ihres
Weſens, der Weisheit und des Gluͤckes heraus¬
locken zu wollen. Das Merkwuͤrdige dabei war,
daß der ſchoͤne Koͤnig in ſeinen Geſichtszuͤgen ein
zehnmal verſchoͤnter und verſtaͤrkter Ferdinand Lys
zu ſein ſchien.
Ein anderes Bild ſtellte einen Hamlet dar,
aber nicht nach einer Scene des großen Trauer¬
[186] ſpieles, ſondern als Portrait und ſo, als ob ein
anachroniſcher Vandyk den Prinzen in ſeinen
Staatsgewaͤndern gemalt hatte, ganz jung, bluͤ¬
hend und hoffnungsvoll, und doch mit ſeinem
ganzen Schickſal ſchon um Stirn und Augen.
Dieſer Hamlet glich ebenfalls ſtark dem Maler
ſelbſt.
Obgleich im ſtrengſten Styl gehalten, machte
doch einen uͤberwaͤltigenden, verfuͤhreriſchen Ein¬
druck eine Koͤnigin, welche, ſchon von jeder Huͤlle
entbloͤßt, eben mit dem Fuß in einen klaren Bach
zum Bade tritt und vergeſſen hat, ihre goldene
Krone vom Haupte zu thun. So trat ſie, mit
derſelben geſchmuͤckt, dem Beſchauer gerade ent¬
gegen, jeder Zoll ein majeſtaͤtiſches Weib, aus
einem Lorbeergebuͤſch hervor, den ruhigen Blick
auf das kuͤhle Waſſer geſenkt. Dies Bild, ſo
gewaltig es war, war doch mit wahrhaft klaſſi¬
ſcher Liebe und Kindlichkeit ausgeſchmuͤckt und
ausgefuͤhrt. Das Beiwerk, die glaͤnzenden Steine
im Bach, die durchſichtigen ſpielenden Wellen, die
ſtahlblauen Libellen daruͤber, die Blumen am
Ufer, die Lorbeerbaͤumchen und endlich die Wolken
[187] am tiefblauen Himmel, Alles war ſo friſch und
leuchtend und doch ſo ſtreng und fromm geformt,
daß die ſinnliche Gewalt, welche auf den reichen
Gliedern der Hauptfigur herrſchte, auf dem hei¬
ligſten Rechtsboden zu ſtehen ſchien.
Das Hauptbild aber und auf welches er den
meiſten Fleiß verwandte, war eine groͤßere Kom¬
poſition, deren Veranlaſſung die Pſalmworte ge¬
geben: Wohl dem, der nicht ſitzet auf der Bank
der Spoͤtter! Auf einer halbkreisfoͤrmigen Stein¬
bank in einer roͤmiſchen Villa, unter einem Re¬
bendache, ſaßen vier bis fuͤnf Maͤnner in der
Tracht des achtzehnten Jahrhunderts, einen an¬
tiken Marmortiſch vor ſich, auf welchem Cham¬
pagner in hohen venetianiſchen Glaͤſern perlte.
Vor dem Tiſche, mit dem Ruͤcken gegen den Be¬
ſchauer gewendet, ſaß einzeln ein uͤppig gewachſe¬
nes junges Maͤdchen, feſtlich geſchmuͤckt, welches
eine Laute ſtimmt und, waͤhrend ſie mit beiden
Haͤnden damit beſchaͤftigt iſt, aus einem Glaſe
trinkt, das ihr der naͤchſte der Maͤnner, ein kaum
neunzehnjaͤhriger Juͤngling, an den Mund haͤlt.
Dieſer ſah beim laͤſſigen Hinhalten des Glaſes
[188] nicht auf das Maͤdchen, ſondern fixirte den Be¬
ſchauer, indeſſen er ſich zu gleicher Zeit an einen
ſilberhaarigen Greis mit kahler Stirn und roͤth¬
lichem Geſicht lehnte. Der Greis ſah ebenfalls
auf den Beſchauer und ſchlug dazu ſpoͤttiſch muth¬
willig Schnippchen mit der einen Hand, indeſſen
die andere ſich gegen den Tiſch ſtemmte. Er
blinzelte ganz verzwickt freundlich mit den Augen
und zeigte allen Muthwillen eines Neunzehnjaͤh¬
rigen, indeſſen der Junge, mit trotzig ſchoͤnen
Lippen, matt gluͤhenden ſchwarzen Augen und
unbaͤndigen Haaren, deren Ebenholzſchwaͤrze durch
den verwiſchten Puder glaͤnzte, die Erfahrungen
eines Greiſes in ſich zu tragen ſchien. Auf der
Mitte der Bank, deren hohe zierlich gemeißelte
Lehne man durch die Luͤcken bemerkte, ſaß ein
ausgemachter Taugenichts und Hanswurſt, wel¬
cher mit offenbarem Hohne, die Naſe verziehend,
aus dem Bilde ſah, und ſeinen Hohn dadurch
noch beleidigender machte, daß er ſich durch eine
vor den Mund gehaltene Roſe das Anſehen gab,
als wolle er denſelben gutmuͤthig verhehlen. Auf
dieſen folgte ein ſtattlicher ernſter Mann; dieſer
[189] blickte ruhig, faſt ſchwermuͤthig, aber mit mitlei¬
digem, bedauerlichem Spott drein, und endlich
ſchloß den Halbkreis, dem Juͤngling gegenuͤber,
ein eleganter Abbé in ſeidener Soutane, welcher,
wie eben erſt aufmerkſam gemacht, einen forſchen¬
den ſtechenden Blick auf den Beſchauer richtete,
waͤhrend er eine Priſe in die Naſe druͤckte und in
dieſem Geſchaͤft einen Augenblick anhielt, ſo ſehr
ſchien ihn die Laͤcherlichkeit, Hohlheit oder Unlau¬
terkeit des Beſchauers zu frappiren und zu heil¬
loſen Witzen aufzufordern. So waren alle
Blicke, mit Ausnahme derer des Maͤdchens, auf
den gerichtet, welcher vor das Bild trat, und ſie
ſchienen mit unabwehrbarer Durchdringung jede
Selbſttaͤuſchung, Halbheit, Schwaͤrmerei, jede
verborgene Schwaͤche, jede unbewußte Heuchelei
aus ihm herauszufiſchen oder vielmehr ſchon ent¬
deckt zu haben. Auf ihren eigenen Stirnen und
uͤber ihren Augen, um ihre Mundwinkel ruhte
zwar unverkennbare Hoffnungsloſigkeit: aber trotz
ihrer Marmorblaͤſſe, die alle, ohne den roͤthlichen
Greis, uͤberzog, ſtaken ſie in einer ſo unverwuͤſt¬
lichen muntern Geſundheit, und der Beſchauer,
[190] der nicht ganz ſeiner bewußt war, befand ſich ſo
uͤbel unter dieſen Blicken, daß man eher verſucht
war auszurufen: Weh' dem, der da ſteht vor
der Bank der Spoͤtter! und ſich gern in das
Bild hinein gefluͤchtet haͤtte.
Waren nun Abſicht und Wirkung dieſes Bil¬
des durchaus verneinender Natur, ſo war dagegen
die Ausfuͤhrung mit der poſitivſten Lebenseſſenz
getraͤnkt. Jeder Kopf zeigte eine inhaltvolle
eigenthuͤmlichſte Individualitaͤt und war fuͤr ſich
eine ganze tragiſche Welt oder eine Komoͤdie,
und nebſt den ſchoͤnen arbeitloſen Haͤnden vor¬
trefflich beleuchtet und gemalt. Die geſtickten
Kleider der wunderlichen Herren, der gruͤne
Sammet und der rothe Atlaß an der reichen
Tracht des Weibes, ihr blendender Nacken, die
Korallenſchnur darum, ihre von Perlenſchnuͤren
durchzogenen ſchwarzen Zoͤpfe und Locken, die
goldene ſonnige Bildhauerarbeit an dem alten
Marmortiſche, die Glaͤſer mit den aufſchaͤumenden
Perlen, ſelbſt der glaͤnzende Sand des Bodens,
in welchen ſich der reizende Fuß des Maͤdchens
druͤckte, dieſe zarten weißen Knoͤchel im rothſeide¬
[191] nen Schuh: Alles dies war ſo zweifellos, breit
und ſicher und doch ohne alle Manier und Unbe¬
ſcheidenheit, ſondern aus dem reinſten naiven
Weſen der Kunſt und aus der Natur heraus¬
gemalt, daß der Widerſpruch zwiſchen dieſem
freudigen, kraftvollen Glanz und dem kritiſchen
Gegenſtand der Bilder die wunderbarſte Wirkung
hervorrief. Dies klare und frohe Leuchten der
Formenwelt war Antwort und Verſoͤhnung, und
die ehrliche Arbeit, das volle Koͤnnen, welche ihm
zu Grunde lagen, waren der Lohn und Troſt
fuͤr den, der die ſkeptiſchen Blicke der Spoͤtter
nicht zu ſcheuen brauchte, oder ſie tapfer aushielt.
Lys nannte dies Bild ſeine »hohe Commiſ¬
ſion,« ſeinen Ausſchuß der Sachverſtaͤndigen, vor
welchen er ſich ſelbſt zuweilen mit zerknirſchtem
Herzen ſtelle; auch fuͤhrte er manchmal einen
armen Suͤnder, deſſen gezierte Gefuͤhligkeit und
Weisheit nicht aus dem lauterſten Himmel zu
ſtammen ſchien, vor die Leinwand, wo dann der
Kauz mit ſeltſamem etwas einfaͤltigem Laͤcheln
ſeine Augen irgendwo unterzubringen ſuchte und
machte, daß er bald davon kam.
Heinrich wurde von ſeinen beiden Freunden
und anderen Geſellen auch hier der gruͤne Hein¬
rich genannt, da er ſie einſt mit dieſem Titel
bekannt gemacht, und er trug ihn, wie man ihn
gab, um ſo lieber, als er ſeiner gruͤnen Baͤume
und ſeiner hoffnungsvollen Geſinnung wegen den¬
ſelben wohl zu verdienen ſchien und ſich uͤberdies
heimathlich dadurch beruͤhrt fuͤhlte. Uebrigens war
er, wie es einſt der ungluͤckliche Roͤmer prophezeit,
richtig in den Hafen der gelehrten und ſtyliſirten
Landſchaften eingelaufen und gab ſich, indem er
ſeit ſeinem Hierſein nicht mehr aus den Mauern
der großen Stadt gekommen, ruͤckhaltlos einem
Spiritualismus hin, welcher ſeinen gruͤnen, an
den friſchen Wald erinnernden Namen faſt zu
einem bloßen Symbol machte.
Sobald er die angehaͤuften Kunſtſchaͤtze der
Reſidenz und dasjenige, was von Lebenden taͤg¬
lich neu ausgeſtellt wurde, geſehen, auch ſich in
den Mappen einiger jungen Leute umgeſchaut,
welche aus poetiſchen Schulen herkamen, ergriff
er ſogleich diejenige Richtung, welche ſich in rei¬
cher und bedeutungsvoller Erfindung, in mannig¬
[193] faltigen, ſich kreuzenden Linien und Gedanken
bewegt und es vorzieht, eine ideale Natur fort¬
waͤhrend aus dem Kopfe zu erzeugen, anſtatt ſich
die taͤgliche Nahrung aus der einfachen Wirklich¬
keit zu holen.
Der Verfaſſer dieſer Geſchichte fuͤhlt ſich
hier veranlaßt, ſich gewiſſermaßen zu entſchuldigen,
daß er ſo oft und ſo lange bei dieſen Kuͤnſtler¬
ſachen und Entwickelungen verweilt, und ſogar
eine kleine Rechtfertigung zu verſuchen. Es iſt
nicht ſeine Abſicht, ſo ſehr es ſcheinen moͤchte,
einen ſogenannten Kuͤnſtlerroman zu ſchreiben
und dieſe oder jene Kunſtanſchauungen durchzu¬
fuͤhren, ſondern die vorliegenden Kunſtbegeben¬
heiten ſind als reine gegebene Facta zu betrachten,
und was das Verweilen bei denſelben betrifft,
ſo hat es allein den Zweck, das menſchliche
Verhalten, das moraliſche Geſchick des gruͤnen
Heinrich, und ſomit das Allgemeine in dieſen
ſcheinbar zu abſonderlichen und berufsmaͤßigen
Dingen zu ſchildern. Wenn oft die Klage er¬
hoben wird, daß die Helden mancher Romane
ſich eigentlich mit Nichts beſchaͤftigen und durch
III. 13[194] einen andauernden Muͤßiggang den fleißigen
Leſer aͤrgern, ſo duͤrfte ſich der Verfaſſer ſogar
noch begluͤckwuͤnſchen, daß der Seinige wenigſtens
etwas thut, und wenn er auch nur Landſchaften
verfertigt. Das Handwerk hat einen goldenen
Boden und ganz gewiß in einem Romane eben¬
ſowohl wie anderswo. Uebrigens iſt nur zu
wuͤnſchen, daß der weitere Verlauf die Endabſicht
klar machen und der aufmerkſame Leſer inzwiſchen
ſolche Stellen dulden und von beſagtem Stand¬
punkte aus anſehen moͤge.
Alſo Heinrich verſenkte ſich nun ganz in jene
geiſtreiche und ſymboliſche Art. Da er ſeine
Jugendjahre meiſtens im Freien zugebracht, ſo
bewahrte er in ſeinem Gedaͤchtniſſe, unterſtuͤtzt
von einer lebendigen Vorſtellungskraft und ſeinen
alten Studienblaͤttern, eine ziemliche Kenntniß
der gruͤnen Natur, und dieſer Jugendſchatz kam
ihm jetzt gut zu Statten; denn von ihm zehrte
er dieſe ganzen Jahre. Aber dieſer Vorrath
blaßte endlich aus, man ſah es an Heinrichs
Baͤumen; je geiſtreicher und gebildeter dieſe wur¬
den, deſto mehr wurden ſie grau oder braͤunlich,
[195] ſtatt gruͤn; je kuͤnſtlicher und beziehungsreicher
ſeine Steingruppirungen und Steinchen ſich dar¬
ſtellten, ſeine Staͤmme und Wurzeln, deſto blaſſer
waren ſie, ohne Glanz und Thau, und am Ende
wurden alle dieſe Dinge zu bloßen ſchattenhaf¬
ten Symbolen, zu geſpenſtigen Schemen, welche
er mit wahrer Behendigkeit regierte und in im¬
mer neuen Entwuͤrfen verwandte. Er malte
uͤberhaupt nur wenig und machte ſelten etwas
ganz fertig; deſto eifriger war er dahinter her,
in Schwarz oder Grau große Kartons und Skiz¬
zen auszufuͤhren, welche immer einen beſtimmten,
ſehr gelehrten oder poetiſchen Gedanken enthielten
und ſehr ehrwuͤrdig ausſahen.
Und merkwuͤrdiger Weiſe waren dieſe Gegen¬
ſtaͤnde faſt immer ſolche, deren Natur er nicht
aus eigener Anſchauung kannte, oſſianiſche oder
nordiſch mythologiſche Wuͤſteneien, zwiſchen deren
Felſenmaͤlern und knorrigen Eichenhainen man die
Meereslinie am Horizonte ſah, duͤſtere Haidebil¬
der mit ungeheuren Wolkenzuͤgen, in welchen ein
einſames Huͤnengrab ragte, oder foͤrmliche Kultur¬
bilder, welche etwa einen deutſchen Landſtrich im
13 *[196] Mittelalter, mit gothiſchen Staͤdtchen, Bruͤcken,
Kloͤſtern, Stadtmauern, Galgen, Gaͤrten, kurz ein
ganzes Weichbild aus einem andern Jahrhundert
ausbreiteten, endlich ſogar hochtragiſche Scenen
aus den letzten Bewegungen der Erdoberflaͤche,
wo dann die ruͤſtige Reißkohle gaͤnzlich in Hypo¬
theſen hin und wieder fegte.
Daß Heinrich, dem doch ſo fruͤh ein guter
Sinn fuͤr das Wahre und Natuͤrliche aufgegangen
war, ſich dennoch ſo ſchnell und anhaltend dieſem
kuͤnſtlichen und abſonderlichen Weſen hingeben
konnte, davon lag einer der Gruͤnde nahe genug.
Er hatte von Jugend auf, ſeit er kaum ſein
inneres Auge aufgethan, alle Ueberlieferung und
alles Wunder von ſich geſtoßen und ſich einem
ſelbſtgemachten, manchmal etwas flachen Ratio¬
nalismus hingegeben, wie ihn eben ein ſich ſelbſt
uͤberlaſſener Knabe einſeitig gebaͤren kann.
In dem zweifelhaften Lichte dieſer Aufklaͤrung
ſtand einſam und unvermittelt ſein Gott, ein wahrer
Diamantberg von einem Wunder, in welchem ſich
die Zuſtaͤnde und Beduͤrfniſſe Heinrichs abſpiegel¬
ten und in fluͤchtigen Regenbogenfarben ausſtrahl¬
[197] ten. Er glaubte dieſen Diamantfels ureigen in
ſeiner Menſchenbruſt begruͤndet und angeboren,
weil unvorbereitet und ungezwungen ein inniges
und tiefes Gefuͤhl der Gottheit ihn erfuͤllte, ſo¬
bald er nur einen Blick an den Sternenhimmel
warf oder Beduͤrfniß und Verwirrung ihn draͤngten.
Er wußte oder bedachte aber nicht, daß das
Angeborne eines Gedankens noch kein Beweis
fuͤr deſſen Erfuͤllung iſt, ſondern ein bloßes Er¬
gebniß der langen Fortpflanzung in den Geſchlechts¬
folgen ſein kann; wie es denn wirklich ſittliche
oder unſittliche Eigenſchaften giebt, welche ſich
unbeſtritten in einzelnen Familien wie in ganzen
Staͤmmen fortpflanzen und oft ganz nah an das
Gebiet der Ideen ſtreifen, aber dennoch nicht un¬
austilgbar ſind. Es iſt wahrſcheinlich, daß die
angelſaͤchſiſche Race nahezu lange genug frei ge¬
weſen iſt, um das Freiheitsgefuͤhl phyſiſch an¬
geboren zu beſitzen, ohne es deswegen fuͤr alle
Zukunft geſichert zu haben, waͤhrend den Ruſſen
die Zuſammenfaſſung und Verherrlichung der
Nationalitaͤt in einer abſoluten und deſpotiſchen
Perſon und der daraus entſpringende Unterwuͤrfig¬
[198] keitstrieb ebenſowohl angeboren iſt, ohne deswe¬
gen unſterblich zu ſein. Da alſo beide, der Frei¬
heitsſinn ſowohl, wie das Unterthanenbewußtſein
im Menſchen angeboren vorkommen, ſo kann kei¬
nes ſich darauf berufen, um ſich als die unbe¬
dingte Wahrheit darzuſtellen; aber beide beſtehen
in der That um ſo kraͤftiger, als ihr Daſein
eben die Frucht tauſendjaͤhrigen Wachsthumes iſt.
Wo nun der Fall eintritt, daß der Gegenſtand
eines angeborenen Glaubens und Fuͤhlens, wel¬
ches durch Jahrtauſende ſich im Blut uͤberliefert,
außer dieſer koͤrperlichen Welt ſein ſoll, alſo gar
nicht vorhanden iſt, da ſpielt das erhabenſte
Trauer- und Luſtſpiel, wie es nur die ganze
Menſchheit mit Allen, die je gelebt haben und
leben, ſpielen kann, und zu deſſen Schauen es
wirklicher Goͤtter beduͤrfte, wenn nicht eben dieſe
Menſchheit aus der gleichen Gemuͤthstiefe, aus
welcher ſie die große Tragikomoͤdie dichtete, auch
das volle Verſtaͤndniß zum Selbſtgenuß ſchoͤpfen
koͤnnte.
Zahllos ſind die Verſchlingungen und Varia¬
tionen des uralten Themas und erſcheinen da
[199] am ſeltſamſten und merkwuͤrdigſten, wo ſie mit
Bildung und Sinnigkeit verwebt ſind.
Weil Heinrich auf eine unberechtigte und will¬
kuͤrliche Weiſe an Gott glaubte, ſo machte er un¬
ter anderem auch allegoriſche Landſchaften und
geiſtreiche, magere Baͤume; denn wo der wunder¬
thaͤtige Spiritualismus im Blute ſteckt, da muß
er trotz Aufklaͤrung und Proteſtation irgendwo
heraustreten. Der Spiritualismus iſt diejenige
Arbeitsſcheu, welche aus Mangel an Einſicht
und Gleichgewicht der Erfahrungen und Ueber¬
zeugungen hervorgeht und den Fleiß des wirk¬
lichen Lebens durch Wunderthaͤtigkeit erſetzen, aus
Steinen Brot machen will, anſtatt zu ackern, zu
ſaͤen, das Wachsthum der Aehren abzuwarten,
zu ſchneiden, dreſchen, malen und zu backen.
Das Herausſpinnen einer fingirten, kuͤnſtlichen,
allegoriſchen Welt aus der Erfindungskraft, mit
Umgehung der guten Natur, iſt eben nichts an¬
deres als jene Arbeitsſcheu; und wenn Roman¬
tiker und Allegoriſten aller Art den ganzen Tag
ſchreiben, dichten, malen und operiren, ſo iſt dies
alles nur Traͤgheit gegenuͤber derjenigen Thaͤtig¬
[200] keit, welche nichts anderes iſt, als das nothwen¬
dige und geſetzliche Wachsthum der Dinge. Alles
Schaffen aus dem Nothwendigen und Wirklichen
heraus ſind Leben und Muͤhe, die ſich ſelbſt ver¬
zehren, wie im Bluͤhen das Vergehen ſchon her¬
annaht; dies Erbluͤhen iſt die wahre Arbeit und
der wahre Fleiß; ſogar eine ſimple Roſe muß
vom Morgen bis zum Abend tapfer dabei ſein
mit ihrem ganzen Corpus und hat zum Lohne
das Welken. Dafuͤr iſt ſie aber eine wahrhaf¬
tige Roſe geweſen.
Es war ſo artig und bequem fuͤr Heinrich,
daß er eine ſo lebendige Erfindungsgabe beſaß,
aus dem Nichts heraus fort und fort ſchaffen,
zuſammenſetzen, binden und loͤſen konnte! Wie
ſchoͤn, lieblich und muͤhelos war dieſe Thaͤtigkeit,
wie wenig ahnte er, daß ſie nur ein uͤbertuͤnchtes
Grab ſei, das eine Welt umſchloß, welche nie
geweſen iſt, nicht iſt und nicht ſein wird! Wie
wunderbar duͤnkte ihm die ſchoͤne Gottesgabe des
vermeintlichen Ingeniums, und wie ſuͤß ſchmeckte
das Wunder dem rationellen aber dankbaren
Gottglaͤubigen! Er wußte ſich nicht recht zu er¬
[201] klaͤren und ging daruͤber hinweg, daß ſein Freund
Lys, wenn er nur einige Stunden in der Woche
ſtill und aufmerkſam gemalt hatte, viel zufriedener
und vergnuͤgter ſchien, obgleich er ein arger Atheiſt
war, als Heinrich, wenn er die ganze Woche
componirt und mit der Kohle gedichtet. Deſto
beſcheiden wohlgefaͤlliger nahm er die Achtung
vieler jungen Deutſchen hin, welche ſein tiefſin¬
niges Beſtreben lobten und ihn fuͤr einen hoͤchſt
reſpectablen Scholaren erklaͤrten.
Warum Heinrich nicht auf dem kuͤrzeſten
Wege, durch das gute Beiſpiel Ferdinand's, das
ihm ſo nahe war, zur geſunden Wahrheit zuruͤck¬
kehrte, fand ſeinen Grund eben in der Verſchie¬
denheit ihrer religioͤſen Einſichten. Der Hollaͤn¬
der hatte ohne beſondere Aufregungen abgeſchloſſen
und war ruhig; Heinrich griff ihn beſtaͤndig an;
aber Ferdinand ſetzte ihm jene Art von Ueber¬
legenheit entgegen, welche nicht ſowohl aus der
Wahrheit als aus der Harmonie der Grundſaͤtze
mit dem uͤbrigen Thun und Laſſen entſpringt,
waͤhrend Heinrich die Unruhe einer einzelnen,
verfruͤhten oder verſpaͤteten Ueberzeugung aͤußerte
[202] und ſonderbarer Weiſe, um dem Spotte, an wel¬
chen vielleicht Niemand dachte, zuvorzukommen,
Scharfſinn und Phantaſie aufbot. Andersdenkende
durch Witze in die Enge zu treiben. Wenn er
vor Ferdinands hoher Commiſſion, vor der ge¬
malten Bank der Spoͤtter ſtand, ſo lachte er den
wunderlichen Kaͤuzen in's Geſicht und freute
ſich uͤber ſie; denn er hielt ſich wegen ſeines
Rationalismus, auf den er ſich guthmuͤthig viel
zu gut that, halb und halb von der Geſellſchaft,
bis ihn ploͤtzlich die zornige Ahnung uͤberkam,
daß es auch auf ihn gemuͤnzt waͤre, und der gute
Lys, welcher Heinrich wirklich liebte und wohl
wußte, daß er nicht vor dies Tribunal gehoͤre,
mußte dann hundert Angriffe und Sarkasmen
aushalten.
Außer dieſem Umſtande verurſachte noch ein
anderer eine Ungleichheit zwiſchen beiden Freunden.
Lys, der wie Erikſon um ſechs bis ſieben Jahre
aͤlter war, als Heinrich, liebte das Gluͤck bei den
Weibern und ſah, wo er es fand, ohne bisher ein
Gefuͤhl fuͤr Treue und bindende Dauer empfun¬
den zu haben. Er war hoͤflich und aufmerkſam
[203] gegen ſie, ohne fuͤr ſie eine allzugroße Achtung
in ſich zu beherbergen, waͤhrend Heinrich zuruͤck¬
haltend, ſcheu und faſt grob gegen ſie war und
doch eine herzliche Achtung fuͤr jedes weibliche
Weſen hegte, das ſich nur einigermaßen zu halten
wußte. So ſeltſam vertraut und ſinnlich ſein
Umgang mit Judith geweſen, hatte ihn doch der
Inſtinct der Jugend und die ganze Lage der
Dinge vor dem Aeußerſten bewahrt, und dieſe
Rettung, auf die er ſich nun mit der Coquetterie
der Zwanzigjaͤhrigen viel zu gute that, betrachtete
er nun als ein zu erhaltendes Gluͤck und als eine
Erleichterung, dem reineren Andenken Annas
leben zu koͤnnen. Denn obgleich er nun auch
bereits merkte, daß jenes jugendliche Geluͤbde ein
Traum geweſen ſei, ſo war er doch weit entfernt,
irgend eine neue Liebe zu hoffen und nahe zu
ſehen, und ſeine Sehnſucht ging mit ihren Bildern
und Traͤumen daher immer in die Vergangenheit
zuruͤck. Dies gab ſeiner Denkungsart etwas Zar¬
tes und Edles, welches er wirklich fuͤhlte und
ihn uͤber ſich ſelbſt taͤuſchte.
Wenn daher Ferdinand die Weiber beurtheilte,
[204] wie ein Kenner eine Sache, wenn er in galanten,
eleganten und ausgeſuchten, ja frivolen Dingen,
Geraͤthſchaften, Geſpraͤchen und Gebraͤuchen ſich
gefiel, wenn er wirklich auf ein Abenteuer aus¬
ging oder von einem ſolchen erzaͤhlte, ſo wurde
Heinrich in ſeiner Geſinnung betroffen und ver¬
legen. Ferdinand beſaß ein mit einem Schloſſe
verſehenes Album, in welches er alle ſeine Liebes¬
abenteuer in verſchiedenen Laͤndern gezeichnet hatte.
Man erblickte die bald empfindſamen, bald leicht¬
fertigen Schoͤnen in den verſchiedenſten Lagen,
bald ſchmollend, zornig, weinend, bald uͤber¬
muͤthig und zaͤrtlich in Ferdinand's Armen, dieſen
aber immer mit der groͤßten Sorgfalt aͤhnlich
gemacht bis auf die Kleidungsſtuͤcke, und nicht
zu ſeinem Nachtheile, waͤhrend den zornigen und
ſchmollenden Schoͤnen durch allerlei Schabernack,
entbloͤßte Waden oder triviale Faltenlagen in
den Gewaͤndern weniger ein Reiz, als ein Anflug
von Laͤcherlichkeit und Erniedrigung gegeben war.
Dies Buch konnte Heinrich nicht ausſtehen; ſein
Freund ſchien ihm darin ſich ſelbſt herabgewuͤrdigt
zu haben; aber weit entfernt, mit ihm daruͤber
[205] zu disputiren oder den Sittenrichter zu ſpielen,
laͤchelte er vielmehr dazu. Anders, als in den
religioͤſen Fragen, wo er die Exiſtenz ſeines Be¬
wußtſeins auf dem Spiele glaubte, zwang er ſich
hier, die Art und Weiſe Anderer gelten zu laſſen
und ſie ſogar anzuerkennen. Es war ein Zeichen
ſeiner gaͤnzlichen geiſtigen Unſchuld; denn bei
mehr Erfahrung haͤtte das Verhaͤltniß gerade
umgekehrt ſein muͤſſen.
Aber alles zuſammengenommen bewirkte, daß
Heinrich glaubte, ſich ſeinen eigenen Weg in je¬
der Hinſicht frei halten zu muͤſſen, und fuͤr Fer¬
dinand's kuͤnſtleriſches Beiſpiel unzugaͤnglich wurde,
zumal in deſſen fertiger und bewußter Tuͤchtigkeit
etwas von der Keckheit und Erfahrungsreife,
von dem Liebesgluͤcke Ferdinand's zu liegen ſchien.
Sonſt waren die Drei, Lys, Erikſon und
Heinrich, die beſten Freunde von der Welt, und
Jeder gab ſeinen Charakter in der unbefangenſten
Weiſe dem Andern zum beſten. Sie waren um
ſo lieber und unzertrennlicher zuſammen, als noch
ein beſonderes gemeinſames Band ſie vereinigte.
Jeder von ihnen ſtammte aus einer Heimath, wo
[206] germaniſches Weſen noch in ausgepraͤgter und
alter Feſte lebte in Sitte, Sprachgebrauch und
perſoͤnlichem Unabhaͤngigkeitsſinne; alle Drei waren
von dem Sonderleben ihrer tuͤchtigen Heimath
abgefallen und zu dem großen Kern des beweg¬
lichen deutſchen Lebens geſtoßen, und alle Drei hat¬
ten daſſelbe, erſtaunt und erſchreckt uͤber deſſen Art, in
der Naͤhe geſehen. Schon die Sprache, welche der
große Haufen in Deutſchland fuͤhrt, war ihnen
unverſtaͤndlich und beklemmend; die tauſend und
aber tauſend »Entſchuldigen Sie gefaͤlligſt, Er¬
lauben Sie guͤtigſt, Wenn ich bitten darf, Bitt'
um Entſchuldigung«, welche die Luft durchſchwirr¬
ten und bei den nichtsſagendſten Anlaͤſſen unauf¬
hoͤrlich verwendet wurden, hatten ſie in ihrem
Leben nie und in keiner anderen Sprache gehoͤrt,
ſelbſt das »Pardon Monſieur« der hoͤflichen Fran¬
zoſen ſchien ihnen zehnmal kuͤrzer und ſtolzer, wie
es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird,
wo der Deutſche jedesmal um Verzeihung bittet.
Aber durch den duͤnnen Flor dieſer Hoͤflichkeit
brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren
Grobheit und Taktloſigkeit, welche ebenfalls ihren
[207] eigenthuͤmlichen Ausdruck hatten. Sie erinnerten
ſich, niemals weder in ihrer Heimath noch in
fremden Sprachen die in Deutſchland ſo gelaͤu¬
figen Geſellſchaftsformeln gehoͤrt zu haben: »Das
verſtehen Sie nicht, mein Herr! Wie koͤnnen
Sie behaupten, da Sie nicht einmal zu wiſſen
ſcheinen! Das iſt nicht wahr!« oder ſo haͤufige
leiſe Andeutungen im freundſchaftlichen Geſpraͤche,
daß man das, was ein Anderer ſo eben geſagt,
fuͤr erlogen halte, — welches wieder auf einen
anderen noch tieferen Uebelſtand ſchließen ließ.
Auch die allgemeine deutſche Autoritaͤtsſucht,
welche ſo wunderlich mit der unendlichen Nach¬
giebigkeit und Unterwuͤrfigkeit contraſtirte, machte
einen peinlichen Eindruck auf die Deutſchen vom
Graͤnzſaume des großen Volkes; Einer donnerte,
die Vortheile ſeiner Stellung benutzend, den An¬
dern an, und wer Niemand mehr um ſich hatte,
den er anfahren, dem er imponiren konnte, der
pruͤgelte ſeinen Hund. Recht eigentlich weh aber
that den Freunden die gegenſeitige Verachtung,
welche ſich die Suͤd- und Norddeutſchen bei jeder
Gelegenheit angedeihen ließen, und welche ihnen
[208] ebenſo auf ganz grundloſen Vorurtheilen zu be¬
ruhen als ſchaͤdlich ſchien. Bei Voͤlkerfamilien
und Sprachgenoſſenſchaften, welche zuſammen ein
Ganzes bilden ſollen, iſt es ein wahres Gluͤck,
wenn ſie unter einander ſich etwas aufzuruͤcken
und zu ſticheln haben; denn wie durch alle Welt
und Natur bindet auch da die Verſchiedenheit und
Mannigfaltigkeit, und das Ungleiche und doch
Verwandte haͤlt beſſer zuſammen; aber es muß
Gemuͤth und Verſtand in dem Scherzkampfe ſein
und dieſer zutreffend auf das wahre Weſen der
Gegenſaͤtze. Das, was die Nord- und Suͤddeut¬
ſchen ſich vorwerfen, iſt toͤdtlich beleidigend, in¬
dem dieſe jenen das Herz, jene aber dieſen den
Verſtand abſprechen, und zugleich kann es keine
unbegruͤndetere und unbegreiflichere Tradition und
Meinung geben, die nur von wenigen der tuͤch¬
tigſten Maͤnner beider Haͤlften nicht getheilt wird.
Wo im Norden wahrer Geiſt iſt, da iſt immer
und zuverlaͤſſig auch Gemuͤth, wo im Suͤden
wahres Gemuͤth, da auch Geiſt. Es giebt in
Norddeutſchland Unwiſſende und Strohkoͤpfe un¬
ter den Gebildeten und in Suͤddeutſchland unter
[209] den Bauern Witzbolde und Spekulanten. Wenn
nun die Drei ſo oft hoͤren mußten, wie die Nord¬
maͤnner die Suͤddeutſchen fuͤr einfaͤltige Leutchen,
fuͤr eine Art gemuͤthlicher Duſeler ausgaben, und
dieſe ihre nordiſchen Bruͤder hinter dem Ruͤcken
anmaßende Schwaͤtzer und unertraͤgliche Prahl¬
haͤnſe ſchalten, ſo ſchnitt ihnen dies widerliche
Schauſpiel in's Herz, weil ſie gekommen waren,
den Herd des guten lebendigen deutſchen Geiſtes
zu finden und nun eine große Waſchkuͤche voll
unnuͤtzen Geplauders zu ſehen glaubten.
Wie es Fremdlingen oft zu ergehen pflegt,
welche in einem Lande oder in einer Stadt im
Genuſſe des Gaſtrechtes zuſammentreffen, daß ſie,
daſſelbe uͤbel vergeltend, Geiſt und Sitten, welche
ſie vorfinden, mit der entfernten Heimath ver¬
gleichen und ſich in gemeinſamem Tadel auf
Koſten des gaſtlichen Landes einigen, uͤbertrieben
auch die drei Freunde vielfach ihren Tadel, nach¬
dem ſie einmal den Schmerz einer großen Ent¬
taͤuſchung empfunden zu haben glaubten, und ſie
redeten ſich oft in einen großen Zorn hinein und
ſagten Deutſchland feierlich ab. Erikſon ſagte,
III. 14[210] er wolle ſeiner Zwitternatur ein Ende machen
und ein guter Daͤne werden; Lys behauptete,
man muͤſſe an den Deutſchen ihr Großes und
Eigenthuͤmliches benutzen und ſich im Uebrigen
Nichts um ſie bekuͤmmern; nur der gruͤne Hein¬
rich hing mit ſeinem ganzen Herzen an Deutſch¬
land. Er ſchmaͤhte es zwar auch mit dem Munde
und ſprach vielleicht noch Staͤrkeres als die An¬
deren; er ſagte, da er vor allem aus Schweizer
ſei, wuͤnſche er manchmal ein Waͤlſcher zu ſein,
um nicht mehr deutſch denken zu muͤſſen, und er
ſei beinahe verſucht, franzoͤſiſch ſchreiben und den¬
ken zu lernen. Aber gerade weil es ihm hiermit
bitterer Ernſt war und mehr, als den Freunden,
war auch ſein Verdruß tiefer und gruͤndlicher.
In der Sprache, mit der man geboren, welche
die Vaͤter geſprochen, denkt man ſein ganzes Le¬
ben lang, ſo fertig man eine andere ſpricht;
und dies anders zu wuͤnſchen, die Sprache, in
der man ſein Geheimſtes denkt, vergeſſen zu
wollen, zeigt, wie tief man getroffen iſt und wie
ſehr man gerade dieſe Sprache liebt.
Aber deſſen ungeachtet ward er mit jedem
[211] Tage traͤumeriſcher und deutſcher und baute alle
Hoffnung auf das Deutſche; denn ſeit er in
Deutſchland war, hatte er die Krankheit uͤber¬
kommen, aller Einſicht zum Trotz das Gegentheil
von dem zu thun, was er ſprach, und Theorie
und Praxis himmelweit von einander zu trennen.
14 *
Fuͤnftes Kapitel.
Die beſte Gelegenheit, ihren Unmuth und Groll
zu vergeſſen und ſich wenigſtens an dem herauf¬
beſchworenen Glanze fruͤherer deutſcher Herrlich¬
keit zu erheitern, fanden ſie, als die ganze reich
geartete Kuͤnſtlerſchaft ſich zuſammenthat, um in
einem großen Schau- und Feſtzuge fuͤr die kom¬
mende Faſchingszeit ein Bild untergegangener
Reichsherrlichkeit zu ſchaffen; denn es war ein
wirkliches Schaffen, nicht mittelſt Leinwand, Pin¬
ſel, Stein und Hammer, ſondern wo man die
eigene Perſon als Stoff einſetzte und in vielhun¬
dertfaͤltigem Zuſammenthun Jeder ein lebendiger
Theil des Ganzen war und das Leben des Gan¬
zen in jedem Einzelnen pulſirte, von Auge zu
Auge ſtrahlte und eine kurze Nacht ſich ſelber
zur Wirklichkeit traͤumte.
[213] Es ſollte das alte Nuͤrnberg wieder auferweckt
werden, wie es wenigſtens in beweglichen Men¬
ſchengeſtalten ſich darſtellen konnte und wie es zu
der Zeit war, als der letzte Ritter, Kaiſer Maxi¬
milian I, in ihm Feſttage feierte und ſeinen
beſten Sohn, Albrecht Duͤrer, mit Ehren und
Wappen bekleidete. In einem einzelnen Kopfe
entſtanden, wurde die Idee ſogleich von achthun¬
dert Maͤnnern und Juͤnglingen, Kunſtbefliſſenen
aller Grade, aufgenommen und als tuͤchtiger
Handwerksſtoff ausgearbeitet, geſchmiedet und aus¬
gefeilt, als ob es gaͤlte, ein Werk fuͤr die Nach¬
welt zu ſchaffen. Das Vollkommene hat in dem
Augenblicke ſeinen ganzen Werth, wo es gewor¬
den iſt, und in dieſem Augenblicke liegt eine
Ewigkeit, welche durch eine Dauer von Jahren
nur weggeſpottet wird; die Kuͤnſtler empfanden
daher in der ſachgerechten und allſeitigen Vor¬
bereitung eine anhaltend wachſende Luſt und Ge¬
ſelligkeit, welche wohl von der Freude der eigent¬
lichen Feſtſtunden uͤberboten wurde, aber in der
Erinnerung endlich der hellere und deutlichere
Theil vom Ganzen blieb.
Der große Feſtzug zerfiel in drei einzelne Haupt¬
zuͤge, von denen der erſte die Nuͤrnbergiſche Buͤr¬
ger-, Kunſt- und Gewerbswelt, der zweite den
Kaiſer mit Reichsrittern und Helden und der
dritte einen mittelalterlichen Mummenſchanz um¬
faßte, wie von der reichen Stadt dem gekroͤnten
Gaſt etwa gegeben wurde. In dieſem letzten
Theile, welcher recht eigentlich ein Traum im
Traume genannt werden konnte, in welchem die
in hiſtoriſche Vergangenheit ſich Zuruͤcktraͤumen¬
den mit den Sinnen dieſer Vergangenheit das
Maͤhrchen und die Sage ſchauten, hatten die drei
Freunde ihren Raum gewaͤhlt, um als verdop¬
pelte Phantaſiegebilde dem Phantaſiebilde der
geſtorbenen Reichsherrlichkeit vorzutanzen.
Die Toͤchter, Schweſtern und Braͤute vieler
Kuͤnſtler hatten ſich artig und froh ergeben, dem
lebendigen Kunſtwerke zum hoͤchſten Schmucke zu
gereichen, in manchem Hauſe waren die Haͤnde
geſchaͤftig, ſchoͤne Frauenkoͤrper in die weiblichen
Prachtgewaͤnder der alten Reichsſtadt zu kleiden,
und es war nicht das geringſte Vergnuͤgen der
Kuͤnſtler, auch hier die Hand anzulegen und, die
[215] alten Trachtenbuͤcher und den Weißkunig vor ſich,
in Stoff, Schnitt und Schmuck die eigenſinnigen
Neigungen, den unkundigen Modegeſchmack der
Frauensleute im Zaum zu halten. Wo Liebe
mithalf, da ſpielte der anmuthigſte Roman in
den Sammet- und Goldſtoffen und um die Per¬
lenſchnuͤre, und manche zur Probe Vollgeſchmuͤckte
entzog ſich den verlangenden Armen ihres augen¬
ſeligen Geliebten mit einem Laͤcheln, welches den
weiſen Sinn der Schoͤnen verrieth, daß ſie auf
einen beſſern Augenblick zu hoffen wiſſe, wann
Pauken und Trompeten ertoͤnten und die glaͤnzen¬
den Paarreihen ſich ſchwaͤngen.
Heinrich ſah ſolchem Gluͤcke halb gleichguͤltig,
halb ſehnſuͤchtig zu und war, als frei und ledig
und mit ſeinen eigenen Sachen handlich und
ohne Geraͤuſch bald fertig, Anderen dienſtbar in
ihren vermehrten Geſchaͤften. Es war ſein muͤt¬
terliches Erbtheil, daß er ſtill und raſch ſeine
eigene Perſon zu verſehen und zugleich alle Auf¬
merkſamkeit Anderen zu ſchenken wußte. Solche
Zuͤge verkuͤnden ein tuͤchtiges Gebluͤt und weit
mehr ein wahrhaft gutes Herkommen, als alle
[216] angelernten Hoͤflichkeiten und Anſtandsformen.
Wo ſie ſich, wie hier, in unwichtigen Dingen,
ſogar nur in Sachen des Vergnuͤgens aͤußern,
waͤhrend ihre Ausbildung und Bethaͤtigung in
den großen Lebenslagen ſtockt, da muß ein ern¬
ſtes Schickſal, eine tiefe Verirrung im Anzuge
ſein, welche ſich nur dem unkundigen Beobachter
verbergen.
Beide Freunde Heinrich's waren zwei reizen¬
den Weſen fuͤr das kommende Feſt verpflichtet.
In einer vergeſſenen alterthuͤmlichen Gegend der
Stadt lag ein ganz kleiner, gevierter ſonniger
Platz, wo zwiſchen anderen ein ſchmales Haͤus¬
chen im Renaiſſance-Styl zierlichſt ſich auszeich¬
nete, in der Breite ein einziges Fenſter von den
ſchoͤnſten Verhaͤltniſſen zeigend. Beide Stockwerke
bildeten zuſammen einen kleinen Thurm oder eher
ein Monument und waren durch den Gedanken der
Gliederung ein Ganzes; die wohlgefuͤgten, von der
Zeit geſchwaͤrzten Backſteine zeigten eine ſcharfe
und gediegene Arbeit, und ſelbſt der Thuͤrklopfer
von Erz, welcher ein ſchlankes, den ſchmalen Leib
kuͤhn hinausbiegendes Meerweibchen vorſtellte,
[217] verrieth die Spuren vortrefflicher Kuͤnſtlerarbeit.
Ueber der reich verzierten Thuͤr ragte ein mor¬
genlaͤndiſches Marienbild von ſchwarzem Marmor,
das auf einem ſtark im Feuer vergoldeten metal¬
lenen Halbmonde ſtand. So erinnerte das Ganze
an jene kleinen zierlichen Baudenkmaͤler, welche
einſt große Herren fuͤr irgend eine Geliebte, oder
beruͤhmte Kuͤnſtler zu ihrem eigenen Wohnſitze
bauten. Hierher hatte Ferdinand ſeine Schritte
zu lenken; denn in dem reich geſimſten Fenſter ſah
man ein dunkles Maͤdchenhaupt auf ſchmalem
Koͤrper ſchwanken, wie eine Mohnblume auf
ihrem Stengel. Die Wittwe eines Malers aus
der vorhergegangenen Periode wohnte in dem
Haͤuschen, eines Malers, der zu ſeiner Zeit oft
genannt wurde, von welchem aber nirgends mehr
die Werke zu finden waren; ſogar ſeine ſeltſame
Wittwe, die einſt nur außerordentlich ſchoͤn ge¬
weſen, hatte das letzte Fetzchen gefaͤrbter Lein¬
wand weggeraͤumt und dafuͤr das alte Haus in¬
wendig bekleidet mit allen Erzeugniſſen der Mo¬
deninduſtrie und den Spielereien der Bequemlich¬
keit. Nur ihr pomphaftes Bildniß, wie der Ver¬
14 *[218] ſtorbene ſie einſt als geſchmuͤckte Braut gemalt
in aller ihrer Schoͤnheit, bewahrte ſie an einem
altaraͤhnlichen Platze und betete das Bild unver¬
droſſen an. Sonſt war die achtzehnjaͤhrige Toch¬
ter Agnes der einzige aͤſthetiſche Nachlaß des
Mannes, und man bedauerte bei ihrem Anblick
den Aermſten, daß er dieſes ſein beſtes Kunſtwerk
nicht ſelber mehr ſehen konnte, und man bedauerte
um ſo tiefer, als die Wittwe gar kein Auge fuͤr
das liebliche Wunder zu haben ſchien, ſondern,
in die Betrachtung ihrer eigenen fruͤheren Schoͤn¬
heit verſunken, die zarte Blume des Kindes
ſchwanken und bluͤhen ließ wie ſie eben wollte.
Von einer Schulter zur andern, mit Inbegriff
beider, war Agnes kaum eine Spanne breit, aber
Hals und Schultern waren bei aller Feinheit wie
aus Elfenbein gedrechſelt und rund, wie die zwei
kleinen vollkommenen Bruͤſtchen, und wie die
ſchlanken Arme, deren Ellbogen bei aller Schlaͤnke
ein anmuthiges Gruͤbchen zeigten. Bis zu den
Huͤften wurde der Leib immer ſchlangenartiger
und ſelbſt die Huͤften verurſachten eine faſt un¬
merkliche Woͤlbung; aber dieſe war ſo ſchoͤn, daß
[219] ſie beinahe mehr Kraft und Leben verrieth, als
die breiteſten Lenden. Das Gewand ſaß ihr
ſchoͤn und ſicher auf dem Leibe; ſie liebte es ganz
knapp zu tragen, ſo daß ihre ganze Schmalheit
erſt recht zu Tage trat, und doch berauſchten ſich
die Augen deſſen, der ſie ſah, mehr in dieſer Er¬
ſcheinung, als in den reichen Formen eines uͤppi¬
gen Weibes, und wer einer vollen Schoͤnheit kalt
voruͤberging, glaubte dies ſchmale Weſen augen¬
blicklich in die Arme ſchließen zu muͤſſen. Auf
ſolchem ſchwanken Stengel aber wiegte ſich die
wunderbarſte Blume des Hauptes. In dem
marmorweißen Geſicht glaͤnzten zwei große dun¬
kelblaue Augen und ein kirſchrother Mund, und
das Rund des Geſichtes ſpitzte ſich ſtark in dem
kleinen reizenden Kinne zu, und doch war dies
Kinn nicht ſo klein, daß es nicht noch die rei¬
zendſte Andeutung einer Verdoppelung geziert
haͤtte. Aber der breiteſte Theil der ganzen Ge¬
ſtalt im woͤrtlichen Sinne ſchien das große volle
Haar zu ſein, welches ſie kroͤnte; die gewaltige,
tiefſchwarze Laſt, vielfach geflochten und gewunden
und immer mit gruͤnem Seidenbande durchzogen,
[220] wuchtete rund um den kleinen Kopf, und da,
wenn die ſchlanke Geſchmeidige ſich anmuthig und
leicht bewegte und das ſchoͤne Haupt ſenkte, dies
unwillkuͤrlich die Vorſtellung erregte, das Gewicht
des dunklen Haarbundes verurſache das liebliche
Schwanken und Beugen, ſo rief ſie von ſelbſt
das Bild einer Blume hervor; aber noch froher
uͤberraſchte es, wenn ſie ſich unverſehens frei
aufrichtete und die ſchwere Krone ſo leicht und
unbewußt trug, wie ein ſchlanker Hirſch ſein
Geweih.
In ihr geiſtiges Leben war noch kein ſicherer
Blick zu thun. Meiſt ſchien ſie kindlicher zu ſein,
als es ihrem Maͤdchenalter eigentlich zukam; ge¬
lernt hatte ſie auch nicht viel und las nicht gern,
ausgenommen komiſche Erzaͤhlungen, wenn ſie
deren habhaft werden konnte; aber ſie mußten
gut, ja klaſſiſch ſein, und alsdann ſtudirte ſie die¬
ſelben ſehr ernſthaft und verzog nicht den Mund.
Manchmal ſchien ſie entſchieden beſchraͤnkten Ver¬
ſtandes und unbehuͤlflich; ſobald aber Ferdinand
da war, uͤberfloß ſie von klarem kryſtallenem Witze,
der noch in der Sonne der Kindheit funkelte, in¬
[221] deſſen ihre Augen eine reife Sinnenwaͤrme aus¬
ſtrahlten, wenn ſie neckend und zaͤrtlich an ſeinem
Halſe hing. Er durfte aber alsdann nicht wagen,
ſie koſend ebenfalls zu umfaſſen, wie er uͤberhaupt
ſich leidend verhalten mußte, wenn er ſie nicht
erzuͤrnen und von ſich ſcheuchen wollte.
Wie Ferdinand in das Haus gekommen,
wußte er ſelber kaum mehr zu ſagen; er hatte
das ſeltene Gebilde im Rahmen des alten Fen¬
ſters geſehen, und es war ihm nachtwandlerhaft
gelungen, ſich alſogleich einzufuͤhren und der taͤg¬
liche Beſucher zu werden.
Aber bald mußte er in einen Zwieſpalt mit
ſich ſelbſt gerathen, da das eigenthuͤmliche und
raͤthſelhafte Weſen nicht die gewohnte Art zuließ,
das Gluͤck bei Frauen zu erhaſchen. Dieſe Er¬
ſcheinung war zu koͤſtlich, zu ſelten und zugleich
zu kindlich und zu unbefangen, als daß ſie durfte
zum Gegenſtande einer voruͤbergehenden Neigung
gemacht werden, und auch wieder zu eigen und
abſonderlich unbeſtimmt, um gleich den Gedanken
einer Verbindung fuͤr das Leben zu erlauben.
Ferdinand ſah, daß das Kind ihn liebte, und er
[222] fuͤhlte auch, daß er ihr von Herzen gut war,
noch uͤber das leidenſchaftliche Wohlgefallen hin¬
aus, welches ihr Aeußeres erregte; aber er
glaubte uͤberhaupt nicht an ſeine Liebe, er bil¬
dete ſich ein, nicht dauernd lieben zu koͤnnen oder
zu duͤrfen, und wußte nicht, daß Liebe im Grunde
leichter zu erhalten, als auszuloͤſchen iſt; und
gerade dieſer verzweifelte Zweifel an ſich ſelbſt
ließ keine tiefere Neigung in ihm reif werden.
»Sie iſt ein Phaͤnomen!« ſagte er ſich und
glaubte zu erſchrecken bei dem Gedanken, ſich fuͤr
immer ein ſolches zu verbinden oder, einfach ge¬
ſagt, ein Phaͤnomen zur Frau zu haben. Und
doch war es ihm unmoͤglich, nur einen Tag vor¬
uͤbergehen zu laſſen, ohne das reizende Wunder
zu ſehen. Nun beſchuldigte er ſich wieder, daß
ſolches Beduͤrfniß nur die geheime Begierde ſei,
die Blume zu brechen, um ſie dann zu vergeſſen,
und da er feſt gewillt war, ſich treu und ehrlich
zu verhalten, ſchon aus einer Art von kuͤnſtleri¬
ſchem Gewiſſen die Verpflichtung fuͤhlend, dies
außergewoͤhnliche Daſein nicht zu verwirren und
zu ſtoͤren, ſo hielt er ſich ſtandhaft in ſeiner paſ¬
[223] ſiven Stellung und ſuchte derſelben einen bruͤder¬
lich freundſchaftlichen Anſtrich zu geben. Er be¬
handelte ſie mehr als Kind und nahm ſcheinbar
ihre Liebkoſungen als diejenigen einer kleinen
Freundin hin, ſuchte ſie zu unterrichten und nahm
hin und wieder ein kaltes und ernſthaftes Anſe¬
hen an. Aengſtlich vermied er, das Wort Liebe
auszuſprechen oder es zu veranlaſſen und ver¬
mied mit dem Maͤdchen allein zu ſein. So
glaubte er als ein Mann zu handeln und ſeiner
Pflicht und Ehre zu genuͤgen und ahnte nicht,
daß er aͤcht weiblich zu Werke ging. Denn er
war nun wirklich auf dem Punkte angelangt,
wo liebenswuͤrdige und geiſtreiche Maͤnner gerade
ſo auf eigennuͤtzige Weiſe mit weiblichen Weſen
ſpielen, wie es tugendhafte Coquetten mit jungen
Maͤnnern zu thun pflegen.
Auch wußte das aͤrmſte Kind ihm keinen
Dank dafuͤr. Sie achtete nicht auf ſeinen Unter¬
richt und wurde traurig oder unmuthig, wenn
er die vaͤterliche Art annahm. Hundertmal
ſuchte ſie das Wort auf Liebe und verliebte
Dinge ſchuͤchtern zu lenken; allein er ſtellte ſich,
[224] als kennte er dergleichen nicht, und der erwachende
Trotz verſchloß ihr den Mund. Hundertmal
liebkoſte ſie ihn jetzt und hielt ſich dann ein Weil¬
chen geduckt und ſtill, damit er das Koſen erwi¬
dern ſolle, und ſie war nicht mehr bereit, zornig
davon zu fliehen; allein er ruͤhrte ſich nicht und
ertrug das ungeduldige Spiel des ſchmalen
ſchlangenaͤhnlichen Koͤrpers mit der groͤßten
Standhaftigkeit. Dennoch ſah die Arme recht
gut, daß er mit ganz anderen Gefuͤhlen zu ihr
kam, als mit denen eines Bruders oder ſchul¬
meiſterlichen Freundes, und ſah wohl das verhal¬
tene Feuer in ſeinen Augen, wenn ſie ihm nahe
trat und das unablaͤſſig betrachtende Wohlgefallen,
wenn ſie umherging; und ſie war nur bekuͤmmert,
den Grund ſeines Betragens nicht zu kennen und
fuͤrchtete, da ſie die Welt nicht kannte, ihr ver¬
borgene, unheilvolle Dinge, die gar in ihr ſelbſt
laͤgen, duͤrften ihrem Gluͤcke im Wege ſtehen.
In dem Maße aber, in welchem ſie taͤglich
verliebter und trauriger wurde, gewann ihr
Weſen an Entſchiedenheit und Klugheit, und im
gleichen Maße wuchs die Verlegenheit Ferdinand's;
[225] denn er ſah nun ein, daß er nicht laͤnger ſich alſo
verhalten durfte. Ihr verliebtes und ſich hin¬
gebendes Weſen ſchreckte ihn durchaus nicht ab,
weil er deſſen Grund und Natur durchſchaute und
ſie darum nur um ſo reizender fand; dagegen
mußte er nun geſtehen, daß wohl eine artige und
koͤſtliche Frau aus ihr zu machen waͤre und ſchuͤt¬
telte ſich innerlich bei dem Gedanken, ſie je in
eines Andern Haͤnden zu ſehen, waͤhrend der Un¬
ſelige doch immer noch ſich nicht entſchließen
konnte, ſeine Selbſtherrlichkeit mit einem anderen
Weſen fuͤr immer zu theilen und noch fuͤr eine
zweite Haͤlfte zu leben.
Beide Wagſchalen ſtanden ſich vollkommen
gleich und das Zuͤnglein ſeiner Unentſchloſſenheit
ſchwebte ſtill in der Mitte, als das Kuͤnſtlerfeſt
herannahte. Agnes ſollte daran Theil nehmen;
Ferdinand war befliſſen, ihre Geſtalt vollends zu
einem Feenmaͤhrchen zu machen und faßte dabei
den Vorſatz, es nunmehr darauf ankommen zu
laſſen, ob das Feſt eine Entſcheidung herbeifuͤhre
oder nicht; er wollte eine ſolche weder ſuchen noch
ihr widerſtehen; denn noch immer hielt er ſich in
III. 15[226] ſeiner Selbſtſucht fuͤr vollkommen frei. Wenn
er aber das Maͤdchen nur ein einziges Mal ge¬
kuͤßt habe, gab er ſich das Wort, ſo ſolle ſie un¬
verbruͤchlich die Seinige ſein.
Agnes aber hatte einen aͤhnlichen Plan in
ihrem Herzchen ausgeſponnen, der indeſſen ſehr
einfach war. Sie gedachte, in einem geeigneten
guͤnſtigen Augenblicke ohne Weiteres mit ihren
Armen den Geliebten zu umſtricken und zum Ge¬
ſtaͤndniß ſeiner Neigung zu zwingen, und falls
dies noch nicht huͤlfe, die Aufregung der Feſtfreude
benutzend, ihn ſo mit Liebeſchmeicheln zu berau¬
ſchen und foͤrmlich zu verfuͤhren, daß er das Opfer
ihrer Unſchuld naͤhme. Dieſer verzweifelte Plan
gohr und rumorte in ihrem pochenden Buſen,
daß ſie wie eine Traͤumende umherging und nicht
einmal bemerkte, wie Ferdinand ſtarr auf ihren
jungen Buſen hinſah, als er einen Augenblick
beim Probiren der ſchimmernden Feſtgewaͤnder
entbloͤßt wurde. Sie war in ihrer Unſchuld feſt
uͤberzeugt, daß Ferdinand, wenn ihr Plan ge¬
laͤnge, alsdann fuͤr immer der Ihrige wuͤrde.
In nicht ſo bedenklicher Lage fand ſich Erik¬
[227] ſon, welchem ſich alle Dinge, außer ſeinen Bil¬
dern, muͤhelos und koͤrnig geſtalteten; er ſchritt
auch mit ausreichenden Waidmannsſchritten, ob¬
wohl nicht ohne die noͤthige Behutſamkeit, durch
ſein Liebesverhaͤltniß und auf das Theil zu, das
er oder das Schickſal ſich erwaͤhlt.
Eine reiche und ſchoͤne Brauerswittwe hatte
bei der Verlooſung der großen Gemaͤldeausſtellung
ein Bildchen von ihm gewonnen, welches ihm
theuer bezahlt worden war. Die Dame ſtand
nicht im Rufe einer beſonderen Kunſtfreundin,
und Erikſon hoffte, ſie wuͤrde froh ſein, ihm den
Gewinnſt um einen ermaͤßigten Preis wieder ab¬
zutreten; er gedachte dann das Bild anderwaͤrts
zu verſenden zu erhoͤhtem Preiſe und ſo abermals
eine Summe einzunehmen, ohne der Qual und
Muͤhſal des Erfindens und der Ausfuͤhrung eines
neuen Gegenſtandes ausgeſetzt zu ſein. Dieſe
Ausſicht gewaͤhrte ihm ſo viel Vergnuͤgen, daß er
ſich unverweilt aufmachte und mit dem Wunſche,
alle ſeine ſauern Arbeiten noch einmal und immer
wieder verkaufen zu koͤnnen, das Haus der Wittwe
aufſuchte.
Bald ſtand er auf dem Vorſaale des ſtatt¬
lichen Wittwenſitzes, deſſen Pracht das Geruͤcht
von dem unmaͤßigen hinterlaſſenen Vermoͤgen des
verſtorbenen Bierbrauers zu beſtaͤtigen ſchien.
Eine alte Aufwaͤrterin, welcher er ſein Anliegen
mittheilen mußte, brachte ihm indeſſen gleich den
Bericht, daß die Herrin das Bild mit Vergnuͤgen
wieder abtrete, daß er aber ein ander Mal vor¬
ſprechen moͤge. Weit entfernt, uͤber dieſe Will¬
faͤhrigkeit und Geringſchaͤtzung empfindlich zu ſein,
ging Erikſon ein zweites und drittes Mal hin,
und erſt das dritte Mal wurde er etwas betroffen
und erboſt, als dieſelbe Aufwaͤrterin endlich kund
that, daß die bequeme Dame das Bild um ein
Viertel des angegebenen Werthes wieder verkaufe
und die Summe fuͤr die Armen beſtimme, daß
der Herr Maler, um ihm nicht fernere Muͤhe zu
machen, es am anderen Tage beſtimmt abholen
und das Geld mitbringen moͤchte. Er troͤſtete
ſich indeſſen mit der Ausſicht, nunmehr ſicher ein
Vierteljahr nicht malen zu muͤſſen, und das Wet¬
ter betrachtend, ob es gute Jagdtage verſpraͤche,
machte er ſich zum vierten Male auf den Weg.
Die unvermeidliche Alte fuͤhrte ihn in ihr
kleines Waͤrtergemach und ließ ihn da ſtehen, um
das Kunſtwerkchen herbeizuholen. Dieſes war
aber nirgends zu finden; immer mehr Bedienſtete,
Koͤchin, Kammermaͤdchen und Hausknecht rann¬
ten umher und ſuchten in Kuͤche, Keller und
Kammern. Endlich rief das Geraͤuſch die ſchoͤne
Wittwe ſelbſt herbei, und als ſie, die, nach dem
kleinen wunderlichen Bildchen urtheilend, gewaͤhnt
hatte, einen ebenſo kleinen und duͤrftigen Urheber
zu finden, als ſie nun den gewaltigen Erikſon
daſtehen ſah, der mit der Stirn beinahe die Decke
des niedern Verſchlages beruͤhrte, indeſſen ſein
nordiſches Goldhaar glaͤnzend auf die breiten
Schultern fiel, da gerieth ſie in die groͤßte Ver¬
legenheit, zumal er, aus einem ruhigen Laͤcheln
erwachend, ſie jetzt mit feſtem und wohlgefaͤlligem
Blick betrachtete. Sie war aber auch des laͤng¬
ſten Anſchauens werth; kaum ſechs und zwanzig
Sommer alt, ſtand Roſalie liebreizend da, von
der Roſenfarbe der Geſundheit und Lebensfriſche
uͤberhaucht, von freundlichen Geſichtszuͤgen, mit
braunem Seidenhaar und noch brauneren lachen¬
[230] den Augen. Indeſſen, um ihre Verlegenheit zu
endigen, lud ſie den Maler ein, in das Zimmer
zu kommen, und wie ſie eintraten, ſahen ſie Beide
zugleich die kleine Gemaͤldekiſte, welche als Fu߬
ſchemel unter dem Arbeitstiſchchen der Wittwe
ſtand, dieſer ſelbſt unbewußt und vergeſſen, daß
ſie ſchon ſeit einigen Tagen mit ihren Fuͤßchen
muthwillig darauf getrommelt.
Erroͤthend lachte ſie und zog das Bild eigen¬
haͤndig hervor. Zugleich aber ſagte ſie, indem
ſie einen fluͤchtigen Blick auf Erikſon warf, ſie
haͤtte ſich eines anderen beſonnen und bedaure,
ihm das Bild nicht mehr fuͤr ein Viertel, ſondern
nur fuͤr die Haͤlfte des Werthes laſſen zu koͤnnen.
Beſorgt, ſie moͤchte noch mehr den Preis ſteigern,
zog er ſeine Boͤrſe und legte die Goldſtuͤcke auf
den Tiſch, indeſſen ſie das Bild anſcheinend auf¬
merkſam betrachtete und wieder begann. Je mehr
ſie die Arbeit, welche ſie bisher nur oberflaͤchlich be¬
ſehen, in's Auge faſſe, deſto beſſer gefiele ſie ihr,
ſie muͤſſe nunmehr wirklich die volle Summe for¬
dern ! Seufzend bot er drei Viertheile der Summe.
Allein die ſchoͤne Wittwe war unerbittlich und
[231] ſagte: »Ihr Eifer, mein Herr, durch baares Geld
ihr eigenes Bild wieder zu erwerben, beweiſt mir
den Werth, den ich erſt verkannt habe. Ich
fordere nun die doppelte Summe, die Freiheit
der Frauenlaune benutzend, oder ich will das
Werk lieber behalten.«
Als Erikſon dieſe ſeltſame Steigerung auffiel
und er ſie zu ſeinen Gunſten auszulegen und zu
wenden beſchloß, verbeugte er ſich laͤchelnd, ſtrich
ſein Geld wieder ein und erwiederte: »Da mein
kleines Bild eine ſo gute Stelle gefunden, waͤre
es lieblos von mir, es derſelben zu berauben!«
Die Schoͤne aber fuhr fort: »Und damit Sie
ſehen, daß nicht Habſucht mich zu dieſer Steige¬
rung antrieb, bitte ich, mir ein Seitenſtuͤck um
dieſen verdoppelten Preis zu malen, ſo bald als
moͤglich, und mir jetzt gleich den Platz fuͤr beide
Bilder ausſuchen zu helfen!«
Erikſon ſpazierte wohl eine Stunde mit ihr
in den Gemaͤchern herum, bis er den geeigneten
Platz gefunden, und als er ſich verabſchiedete,
gruͤßte ſie ihn freundlich, aber kurz, und lud ihn
nicht ein, ſonſt wieder zu kommen.
Aber er hatte wohlweislich vergeſſen, das
Maß des Bildchens gleich zu nehmen, und ſah
ſich daher gezwungen, am zweiten Tage ſich wie¬
der hinzubegeben, um Vieles ſorgfaͤltiger gekleidet.
Sie erſchien ſogleich ſelbſt und fuͤhrte ihn zu dem
Bildchen, hielt ihn aber nach gethaner Verrich¬
tung durchaus nicht weiter auf. Und doch ſchien
ſie dem Weggehenden ſo froh und munter waͤh¬
rend des kurzen Beſuches, daß er hoͤchſt zufrieden
nach Hauſe ging und die neue Arbeit begann.
Auch vergingen kaum einige Tage, als ihn Ro¬
ſalie hoͤchſt dringend rufen ließ, um ſich wegen
des Rahmens mit ihm zu beſprechen; derjenige
des erſten Bildes gefiele ihr ausnehmend wohl
und ſie wuͤnſche einen ganz gleichen zum zweiten
zu bekommen.
Als er ſie uͤber dieſen Punkt einigermaßen
beruhigt, entließ ihn die ihn ſtets ſchoͤner duͤn¬
kende Roſalie auf das Freundlichſte, doch nicht
ohne ihn auf den kommenden Sonntag zu Tiſche
gebeten zu haben, indem ſie, wie ſie anmuthig
ſich ausdruͤckte, dieſe Gelegenheit nun zu benutzen
wuͤnſche, ihr Haus mit einiger Kuͤnſtlerſchaft zu
[233] zieren und etwas zu lernen, damit ſolche grobe
Verſtoͤße, wie der begangene, immer weniger
wiederkehren koͤnnten.
Erikſon betrug ſich ruhig und beſcheiden, und
wie ein Jaͤger auf ein edles Wild ging er auf
ſein ſchoͤnes Ziel los mit klopfendem Herzen, aber
ohne einen Schritt zu viel, noch zu wenig zu
thun, und zwar nicht aus allzutiefer Berechnung,
ſondern aus natuͤrlicher Klugheit.
Inzwiſchen malte er das beſtellte Bildchen
und ließ ſich alle Zeit dazu; er malte diesmal mit
wahrer Zufriedenheit ein recht hoffnungsgruͤnes
Fruͤhlingslandſchaͤftchen, welches faſt reich und
anmuthig zu nennen war; denn es ſchwante ihm,
daß dieſes ſeine letzte Schilderei ſein werde.
Es war im Spaͤtherbſte, als ihm dies Aben¬
teuer begegnete, und im Februar war er ſchon ſo
weit, daß Roſalie unter ſeinem offenen Schutze
an dem Kuͤnſtlerfeſte erſcheinen wollte. Noch
hatte weder Erikſon Ferdinand's wunderſame
Agnes, noch dieſer die anmuthsvolle und freund¬
liche Wittwe geſehen, und Beide waren uͤberein¬
gekommen, daß dies am Feſte zum erſten Male
[234] geſchehen ſollte, Heinrich hingegen war beiden
Geliebten als ein ungefaͤhrliches junges Blut ge¬
legentlich vorgeſtellt worden und er freute ſich,
ohne leidenſchaftlich betheiligt zu ſein, die kom¬
mende Feſtzeit in dem Scheine ſolcher zwei Sterne
mit genießen zu koͤnnen.
Sechstes Kapitel.
Das große Theater war in einen Saal um¬
gewandelt und hatte, voll erleuchtet, bereits die
beiden Hauptkoͤrper des Feſtheeres, die, welche
das Feſtgeben, und die, welche es ſehen ſollten, in
ſich aufgenommen. Waͤhrend in den Logenreihen
die wohlhabendere und gebildete Haͤlfte der Stadt
in vollem Schmucke verſammelt harrte, den koͤnig¬
lichen Hof in der Mitte, waren die Seitenſaͤle
und Gaͤnge dicht angefuͤllt von den ſich ordnen¬
den Kuͤnſtlerſchaaren. Hier wogte es hundert¬
farbig und ſchimmernd durcheinander. Jeder war
fuͤr ſich eine inhaltvolle Erſcheinung, und indem
er ſelber etwas Rechtem gleich ſah, betrachtete er
freudig den Naͤchſten, welcher, durch die ſchoͤne
Tracht gaͤnzlich umgewandelt, nun ebenfalls ſo
[236] vortheilhaft und kraͤftig erſchien, wie man es gar
nicht in ihm geſucht haͤtte.
Allen klopfte das Herz vor froher Erwartung,
und doch hielten ſie ſich ruhig und gemeſſen, wie
Leute, welche fuͤhlten, daß ihnen eine ſchoͤnere
aͤußere Erſcheinung fuͤr das ganze Leben gebuͤhrte
und nicht bloß fuͤr eine Nacht.
Seltſame Zeit, wo die Menſchen, wenn ſie
ſich freudig erheben wollen, das Gewand der
Vergangenheit anziehen muͤſſen, um nur anſtaͤndig
zu erſcheinen! Und allerdings iſt es ein prickliches
Gefuͤhl, zu wiſſen, daß die Nachkommen unſere
jetzige Tracht nur etwa hervorziehen werden, um
ſich im Spotte zu ergehen, wie wir dies jetzo mit
derjenigen des achtzehnten Jahrhunderts thun,
welches ſich ſelbſt doch ſo wohl gefiel. Und wir
koͤnnen uns nicht anders raͤchen, als indem wir,
wie oͤfter geſchieht, die verborgene Zukunft in
muthmaßenden Zerrbildern laͤcherlich machen und
zum Voraus beſchimpfen! Wann wird wieder eine
Zeit kommen, wo wir uns um die eigene Achſe
drehen und uns in eigener Gegenwart genuͤ¬
gen?
Nun oͤffneten ſich endlich die Thuͤren und die
Trompeter und Pauker, welche klangvoll erſchie¬
nen, verbargen in ihrer Breite den hinter ihnen
anſchwellenden Zug, ſo daß man ungeduldig
harrte, bis ſie weiter vorgeſchritten und der reichen
Entfaltung Raum gaben. Ihnen folgten zwei
Zugfuͤhrer mit dem alten Wappen von Nuͤrnberg,
dem Jungfernadler auf den weißen und rothen
Wappenroͤcken, und hinter ihnen ſchritt ſchlank
und zierlich einher, in dieſelben Farben gekleidet,
aber mit einem maͤchtigen Laubkranze auf dem
Kopfe, der Zunftfuͤhrer, welcher der ſtattlichen
Zunft der Meiſterſaͤnger voranging mit ſeinem
goldenen Stabe. Alle bekraͤnzt, ging jetzt die
gute Schaar der nuͤrnbergiſchen Meiſterſaͤnger da¬
her mit ihrer Spruchtafel, die Jugend, in welcher
noch das abenteuernde Wanderblut wallte, voran
in kurzer Tracht mit der Zither auf dem Ruͤcken;
dann aber folgten die Alten, um den ehrwuͤrdigen
Hans Sachs geſellet; dieſer ſtellte ſich dar in
dunkelfarbigem Pelzmantel, ehrbar und ſtattlich
wie ein wohlgelungenes Leben und doch mit dem
Sonnenſchein ewiger Jugend um das weiße Haupt.
[238] Das junge Weib mit voller Bruſt und rundem
Leib, wie Goͤthe ſang, hatte ihm gezeigt:
Welcher auch das alte Weiblein zu ihm gleiten
ſah:
auch welcher that einen Narren ſpuͤren
welchem endlich ſtieg
Und obgleich hier der Saͤngergreis ganz erſchien,
[239] wie ihn ſein wackerer Schuͤler Puſchmann be¬
ſchrieben:
ſo verſtand der Darſteller doch ſein Urbild ſo
wohl, daß man ihm noch anſah, was Goͤthe wie¬
der ſang:
So ging er jetzt im Schmucke des Alters und der
Poeſie daher, ein großes Buch tragend.
Aber das buͤrgerliche Lied war dazumal ſo
reich und uͤberquellend, daß es mit jeder Meiſter¬
ſchaft unzertrennlich war und hauptſaͤchlich auch
unter dem Banner der nun folgenden Baderzunft
hinter Scheermeſſer und Bartbecken herging. Da
war unter den Kraͤnze-geſchmuͤckten Geſellen
Hans Roſenpluͤt, genannt der Schnepperer, der
vielgewanderte Schalks- und Wappendichter, ein
krumbuckliger munterer Geſell mit einer großen
Klyſtirſpritze im Arm. Mit langen Schritten
folgte dieſem der hochbeinige magere Hans Foltz
von Worms, der beruͤhmte Barbier und Dichter
der Faſtnachtsſpiele und Schwaͤnke und als ſol¬
cher Genoß des Roſenpluͤt und Vorzuͤnder des
Hans Sachs. Zwei Bartſcheerer und ein Schuh¬
macher pflegten ſo das zarte Schoß des deutſchen
Theaters.
Liederreich waren alle die alten Zuͤnfte, die
jetzt folgten in ihren beſtimmten Farben an Kleid
und Banner; die Schaͤffler und Brauer, die Metz¬
ger, welche in rothem und ſchwarzem, mit Fuchs¬
[241] pelz verbraͤmten Zunftgewande hoͤchſt tuͤchtig aus¬
ſahen, ſo wie die hechtgrauen und weißen Baͤcker;
die Wachszieher, lieblich in gruͤn, roth und weiß,
und die beruͤhmten Lebkuͤchler, hellbraun mit dun¬
kelroth gekleidet; die unſterblichen Schuſter, ſchwarz
und gruͤn, in die Farbe des Peches und der Hoff¬
nung gehuͤllt; buntflickig die Schneider; die Da¬
maſt- und Teppichwirker, bei welchen das Kuͤnſt¬
lichere den Anfang nahm und ſchon meiſterliche
Namen aufzeichnete; denn dieſe webten und wirk¬
ten die fuͤrſtlichen Teppiche und Tuͤcher, mit denen
die Haͤuſer der großen Kaufherren und Patricier
angefuͤllt waren.
Alle nun folgenden Zuͤnfte waren angefuͤllt
mit einer wahren Republik kraftvoller, erfindungs¬
reicher und arbeittreuer Handwerks- und Kunſt¬
maͤnner. Die Tuͤchtigkeit theilte ſich ſowohl un¬
ter die Geſellen, welche manchen handlichen be¬
ruͤhmten Burſchen aufzuweiſen hatten, als unter
die Meiſter. Schon die Dreher zeigten den Mei¬
ſter Hieronimus Gaͤrtner, welcher mit kindlich
frommem Eifer aus einem Stuͤcklein Holz eine
Kirſche ſchnitzte, ſo zart, daß ſie auf dem Stiele
III. 16[242] ſchwankte, und die Fliege, welche auf ihr ſaß, mit
den Fluͤgeln wehte und auf den Fuͤßen ſich be¬
wegte, wenn man daran hauchte — der aber zu¬
gleich ein erfahrener Meiſter und Errichter von
Waſſerwerken und kunſtreichen Brunnen war.
Unter den Hufſchmieden, roth und ſchwarz
gekleidet wie Feuer und Kohle, ging Meiſter Mel¬
chior, der die großen eiſernen Schlangengeſchuͤtze
aus freier Hand ſchmiedete; unter den Buͤchſen¬
machern der erfindungsreiche Geſelle Hans Dan¬
ner, welcher ſchon dazumal von den harten Me¬
tallen Spaͤne trieb, als haͤtte er weiches Holz
unter den Haͤnden, und ſein Bruder Leonhard,
der Erfinder von mauerſtuͤrzenden Brechſchrauben.
Da ging auch der Meiſter Wolff Danner, der
Erfinder des Feuerſteinſchloſſes an den Gewehren
und Buͤchſen, die er trefflich ſchmiedete und kuͤnſt¬
lich ausbohrte, und neben ihm Boͤheim, der Mei¬
ſter der Geſchuͤtzgießer, welche ihre gleißenden,
wohlverzierten Geſchuͤtzroͤhren, Kanonen, Metzen
und Karthaunen durch alle Welt beruͤhmt machten.
Ueberhaupt war der Krieg die zehnte Muſe.
Die Zunft der Schwertfeger und Waffenſchmiede
[243] allein umfaßte eine mehrfach gegliederte Welt
kunſtreicher, feiner und fleißiger Metallarbeiter.
Der Schwertfeger, der Haubenſchmied, der Har¬
niſchmacher, jeder von dieſen brachte den Theil
der kriegeriſchen Ruͤſtung, der ſeinem Namen ent¬
ſprach, zur groͤßten Gediegenheit und Zierlichkeit
und bewaͤhrte darin ein nachhaltiges Kuͤnſtlerda¬
ſein. Wunderbar loͤſte ſich dieſe ſtrenge Einthei¬
lung und Beſchraͤnkung in die Freiheit und All¬
ſeitigkeit, mit welcher die ſchlichten Zunftmaͤnner
wieder zu den wichtigſten Thaten und Erfindun¬
gen vorſchritten und Alle wieder Alles konnten,
oft ohne leſen und ſchreiben zu koͤnnen. So der
Schloſſer Hans Bullmann, der Verfertiger großer
Uhrwerke mit Planetenſyſtemen und muſicirenden
Figuren, und der Vervollkommner dieſer, Andreas
Heinlein, welcher auch ſo kleine Uhren zu wege
brachte, daß ſie im Knopfe der Spazierſtoͤcke Platz
fanden; auch Peter Hele, der eigentliche Erfinder
der Taſchenuhren, ging hier unter dem handfeſten
Namen eines Schloſſermeiſters.
Gleich auf dies handlich ſinnige Zunftweſen
folgte dasjenige, welches am ſchaͤrfſten dieſe Zeit
16 *[244] von einem fruͤheren Jahrtauſend unterſchied, naͤm¬
lich das der Buchdrucker und Formſchneider, welche
fuͤr Wort und Bild die Schleuſen der unendlichen
Vervielfaͤltigung aufthaten und den Strom los¬
ließen, der nun die Welt uͤberſchwemmt. Vor
bald vierhundert Jahren haben ſie den Zapfen
ausgeſtoßen, daß das Bruͤnnlein ſprang, und wo
ſtehen wir jetzt? Es iſt ein großes unentbehrliches
Mittel geworden, welches der Unſinn ebenſo be¬
hende braucht, als die Vernunft; es iſt die Luft,
welche der Gerechte, wie der Ungerechte athmet,
und der Tiſchklopfer badet ſich ſo munter und un¬
befangen in ſeiner Fluth, wie der Sperling im
Bache. Weit hinter dieſer Fluth iſt die lang¬
ſame aber ſtaͤte Bewegung des eigentlichen Gei¬
ſtes geblieben, des Geiſtes, der nicht auf dem
Papier, ſondern in Fleiſch und Blut lebt und ſich
nur von Leib zu Leib, von Auge zu Auge, von
Ohr zu Ohr mittheilt, uͤberzeugt, trennt und einigt.
Auch hier kommt zuletzt alles wieder auf den
perſoͤnlichen Menſchen an, wie er leibt und lebt
und zu dem Anderen hintritt mit ſeiner Wahrheit
oder Taͤuſchung.
Aber nichts deſto minder wollen wir die
Gruppe der Meiſter hoͤchlich ehren, welche nun
ſchwarz und weiß gekleidet daher kam. Es wa¬
ren die Maͤnner, welche nebſt der unſchaͤtzbaren
Bibel freilich auch das Corpus juris druckten, aber
daneben auch eifrig bemuͤht waren, ſtattliche Aus¬
gaben der wieder erſtandenen Klaſſiker herzuſtellen,
und eine Ehre darein ſetzten. So wackere und
faͤhige Werkleute waren ſie, daß ſie nicht nur
das kitzliche und zuſammengeſetzte Handwerkszeug
ſelbſt anfertigten und verbeſſerten, ſondern auch
die griechiſchen und lateiniſchen Buͤcher ſelbſt zu
corrigiren verſtanden.
Es lag aber etwas Griechiſches in der Luft
jener Zeit, und wie alle Gewerke ſchon durch den
Meiſtergeſang mit der Kunſt verbunden waren,
ſo ging beinahe jedes Einzelne unmittelbar in die
bildende Kunſt uͤber und hatte bei derſelben als
Legaten die Sproͤßlinge ſeiner Werkſtatt. So
waren hier mit den Buchdruckern die Formſchnei¬
der gepaart, deren Kunſt alſobald der jungen
Buchdruckerei zur Seite ging und in dem dama¬
ligen Drange, jedem geeigneten Raume Form und
[246] Bild aufzudruͤcken, ſich bluͤhend entfaltete. Ein
toͤdtlicher Froſt iſt dann lange Jahre hindurch auf
dieſen Bluͤthendrang, der in allem Handwerk
trieb, gefallen, und erſt in neueſter Zeit erholt er
ſich wieder ein wenig und faͤngt gerade, die bis
zur Ueberfeinerung gediehene Kupferſtecherei der
verdunkelten Jahre uͤberſpringend, wieder da an,
wie ehemals, naͤmlich beim Holzſchnitt. Aber
noch wuchert mit der zehnfachen Muͤhe, mit wel¬
cher das Gute zu thun waͤre, das Krabbeliche,
Charakterloſe und Schwaͤchliche und uͤberwuchert
das Klare und Feſte, und das Uebel ſcheint von
oben zu kommen, wo man den feſten Gedanken,
der zur feſten Form gehoͤrt, nicht freigeben will.
Bezeichnend hiefuͤr iſt ein Zug, welcher ſich un¬
laͤngſt zutrug. Der Koͤnig eines großen deutſchen
Staates hatte uͤber ſeine eigenen Porzellanwerk¬
ſtaͤtten in ernſter Kunſt ergraute Maͤnner geſetzt,
daß ſie die Formen der Gefaͤße uͤberwachten und
den unreinen Geſchmack austrieben und fernhiel¬
ten. Allein eine uͤberroyaliſtiſche Zeitung tadelte
des Koͤnigs Maßregel und bemerkte ziemlich un¬
botmaͤßig, daß ſich die vornehme Welt wohl keinen
[247] Geſchmack vorſchreiben ließe, und den Rococoſtyl,
welchen ſie einmal zu ihrem Zeichen erhoben, auf¬
recht zu halten wiſſen werde. Dieſe Palaſtrevo¬
lution gelang denn auch inſofern, als die Pairs
des Landes nicht des Koͤnigs rein geformte Blu¬
mengeſchirre kauften, ſondern ſich anderwaͤrts mit
ſolchen verſahen, welche einem aufrechtſtehenden
gefrorenen Waſchlappen gleichen, und die Waͤchter
des Geſchmackes bewachten trauernd des Koͤnigs
Ladenhuͤter.
Neben Hans Schaͤufelein, dem fleißigen Schuͤ¬
ler Albrecht Duͤrers, ging unter den Holzſchnei¬
dern ein kleines Maͤnnchen in einem Maͤntelchen
von Katzenpelz und einer eben ſolchen Zipfelkappe.
Dies war Hieronimus Roͤſch, ein großer Katzen¬
freund, in deſſen ſtiller Arbeitsſtube uͤberall ſpin¬
nende Katzen ſaßen, am Fenſter, auf Baͤnken und
auf dem Tiſche.
Auf das dunkle Katzenmaͤnnchen folgte eine
lichte Erſcheinung, die Silberſchmiede in himmel¬
blauem und roſenrothem Gewand mit weißem
Ueberwurf, die Klarheit und das kunſtweckende
Weſen ihres Metalles verkuͤndend, waͤhrend die
[248] Goldſchmiede, ganz roth gekleidet in ſchwarz-da¬
maſtenem Mantel und reich mit Gold geſtickt,
den tieferen Glanz ihres Stoffes zur Schau tru¬
gen. Silberne Bildtafeln und goldgetriebene
Schalen wurden ihnen vorangetragen; die plaſti¬
ſche Kunſt laͤchelte hier aus ſilberner Wiege und
die neugeborene Kupferſtecherkunſt hatte hier ihren
metalliſchen Urſprung, wunderlich getrennt von
dem Holzſchnitt, welcher mit der ſchwaͤrzlichen
Buchdruckerei ging.
Mit Holz und Kupfer nur hatten es die nun
auftretenden Kupfertreiber und Ornamentſchneider
zu thun, dafuͤr waren ſie aber ſchon ganz Kuͤnſtler
und unbezweifelte Bildwerker. Sebaſtian Lin¬
denaſt arbeitete ſeine kupfernen Gefaͤße und Scha¬
len ſo ſchoͤn und koſtbar, daß ihm der Kaiſer das
Vorrecht verlieh, ſie zu vergolden, welches ſonſt
Niemand durfte. Obgleich dergleichen fuͤr heute
nicht mehr ziemte, ſo kann es doch keine ſinnigere
Beſchraͤnkung und Befreiung von derſelben geben,
als dieſe, wo ein kunſtreicher treuer Mann vom
oberſten Haupte der Nation, des Reiches die Be¬
fugniß erhielt, ſein geringes Metall der edlen
[249] Form wegen, die er ihm zu geben wußte, mit
Goldglanz zu umgeben und es ſo zum Golde zu
erheben.
Neben dieſer, um dieſes Umſtandes willen ſo
lieblichen und wohlthuenden Geſtalt des Lindenaſt
(wie deutſch und gruͤn wehend war ſchon dieſer
Name!) ging Veit Stoß, der Mann von wunder¬
lichſter Miſchung. Dieſer ſchnitzte aus Holz ſo
holde Marienbilder und Engel, und bekleidete ſie
ſo lieblich mit Farben, guͤldenem Haar und Edel¬
ſteinen, daß damalige Dichter begeiſtert ſeine
Werke beſangen. Dazu war er ein maͤßiger und
ſtiller Mann, der keinen Wein trank und fleißig
ſeines Werkes oblag, die frommen Wunderbilder
fuͤr die Altaͤre zu Tage foͤrdernd. Welch reines
Gemuͤth mußte dieſer Kuͤnſtler in ſich tragen.
Aber er machte eifrigſt falſche Werthpapiere, um
ſein Gut zu erhoͤhen, und als er ertappt ward,
durchſtach man ihm beide Wangen oͤffentlich mit
gluͤhendem Eiſen. Aber weit entfernt, von ſolcher
Schmach gebrochen zu werden, erreichte er in aller
Gemaͤchlichkeit ein Alter von fuͤnf und neunzig
Jahren und ſchnitt nebenbei ſchoͤne und lehrreiche
[250] Reliefkarten von Landſchaften mit Staͤdten, Ge¬
birgen und Fluͤſſen; auch malte er und ſtach in
Kupfer.
Noch ein ſinnreicher Arbeiter in Kupfer war
Hans Frei, Duͤrer's Schwiegervater, welcher rei¬
zende und muthwillige Frauenfiguren in Kupfer
trieb, die aus den Bruͤſten und aus dem Kopf¬
putze Waſſer ſpringen ließen; zugleich ſpielte er
trefflich die Harfe und war in Muſik und Poeſie
wohl erfahren. Seine ſchoͤne boͤſe Tochter Agnes
aber, in welcher ſich Liebreiz und Unertraͤglichkeit
unablaͤſſig vermaͤhlten, brachte den Schoͤnheit be¬
duͤrftigen und ſanftmuͤthigen Albrecht unter den
Boden.
Doch als ein ganzer und klaſſiſcher Genoß
trat nun, unter dem ſchlichten Namen der Gelb-
und Rothgießer, Peter Biſcher einher mit ſeinen
fuͤnf Soͤhnen, die Handtierer in glaͤnzendem Erze.
Er ſah aus mit ſeinem kraͤftig gelockten Bart,
ſeiner runden Filzmuͤtze und ſeinem Schmiedefell,
wie der wackere Hephaͤſtos ſelber. Sein freund¬
liches großes Auge verkuͤndete, daß es ihm gelang,
aus reinlichem Erz ſich ein unvergaͤngliches Denk¬
[251] mal zu ſetzen, reich in der Arbeit vieler Jahre
und beſchienen von der fernen Sonne griechiſcher
Welt. Noch heute ſteht ſein Grabmal des hei¬
ligen Sebaldus, ein ſchlank edler Aufbau von
romantiſcher Phantaſie und klaſſiſcher Anmuth,
der reiche Wohnſitz einer Schaar edler mannig¬
faltiger Bildwerke, die in lichtem Raume den
ſilbernen Sarg des Heiligen huͤten. Er wohnte
mit ſeinen fuͤnf Soͤhnen ſammt deren Weibern
und Kindern in Einem Hauſe, an Einer Werk¬
ſtatt, und konnte ſo mit ſeiner Familie einem ge¬
heiligten Baume verglichen werden, in deſſen
Aeſten die koͤſtlichen Fruͤchte von Erz reiften, die
in alle Laͤnder hin ſich verbreiteten. Die Wiege
eines Helden, Staatsmannes oder Dichters muͤßte
einmal in ſolcher Werkſtatt ſtehen, wo unter lei¬
denſchaftlich bewegter Arbeit die ehernen Geſtalten
und eine Welt ebenmaͤßiger Zierrathen aus Einem
Kerne ſich bilden und das lang ausdauernde
Schaffen einem lebendigen Epos gleicht.
Zu den edelſten und vertrauenswertheſten Ge¬
ſtalten einer wohlbeſtehenden Stadt gehoͤren die
kundigen Baumeiſter. Sie ſtehen unter allen
[252] Kuͤnſtlern dem Rath am naͤchſten und ſind dem
Buͤrgerkinde ſtets eine werthe Erſcheinung, welche
ihm Einſicht, Maß und Zierde bedeutet, Rath
und That fuͤr das oͤffentliche Ganze, wie fuͤr das
Beduͤrfniß des Einzelnen. Sie ſind am innigſten
mit Land und Boden verbunden; denn ſie bauen
das Unbewegliche und muͤſſen daher kundig ſein
in Fels und Wald, wie am rauſchenden Waſſer.
Ganz in dieſem Sinne erſchien in dem Zuge mit
den Maurer- und Zimmermeiſtern beſonders der
Eine der beiden Behaims, Hans, von dem die
Nachrichten ſagen, er ſei angeſehen geweſen bei
Rath und Gemeinde, freundlich und guͤtigen Be¬
ſcheids gegen Jedermann, wie gegen die geringſten
ſeiner Arbeitsleute. Wenn man an die zierbe¬
gabten und gewaltigen Bauwerke jener Glanzzeit
denkt, ſo muß man dieſes Mannes vorzuͤglich zu¬
gleich gedenken. Wir aber, die wir nach menſch¬
licher Schwachheit immer lieber das auffallende
und ſeltſame Gute, als das in gereihter ſicherer
Ordnung erwachſene, betrachten, ſehen jetzt mit
Vorliebe jenen großen dickſtarken Mann heran¬
ſchreiten, den Zimmermann Georg Weber, zu
[253] deſſen grauem Kleide es einer Unzahl von Ellen
handfeſten Tuches bedurfte. Dieſer war ein rech¬
ter Waͤldervertilger; denn mit ſeinen Werkleuten,
die er alle ſo groß und ſtark ausſuchte, wie er
ſelber war, mit dieſer Rieſenſchaft werkte er ſo
maͤchtig in Baͤumen und Balken und zugleich ſo
ſinnreich und kuͤnſtlich, daß er ſeines Gleichen
nicht fand. Aber er war auch ein trotziger Volks¬
mann und machte im Bauernkrieg den Bauern
Geſchuͤtze aus gruͤnen Waldbaͤumen, aus welchen
ſie ganz emſig auf die Adeligen ſchoſſen. Er ſollte
desnahen zu Dinkelsbuͤhl gekoͤpft werden. Allein
der Rath von Nuͤrnberg loͤſte ihn wegen ſeiner
Kunſt und Nutzbarkeit aus und machte ihn zum
Stadtzimmermeiſter; denn er baute nicht nur
ſchoͤnes und feſtes Sparren- und Balkenwerk,
ſondern auch Muͤhl- und Hebemaſchinen und ge¬
waltige laſttragende Wagen und fand fuͤr jedes
Hinderniß, eine jede Gewichtmaſſe einen Anſchlag
unter ſeiner ſtarken Hirnſchale. Das Merkwuͤr¬
digſte war nun, daß er weder leſen noch ſchreiben
konnte und bei aller dieſer trotzigen Staͤrke doch
ſo genau, maßtreffend, ſorgfaͤltig und faſt zart in
[254] ſeinem Werke war, wie es nur die mit frommer
Kindesunſchuld gepaarte Kraft des Volkes ſein
kann.
Endlich erſchien, eroͤffnet von zwei »Lehrbu¬
ben«, die eigentliche Zunft der Maler und Bild¬
hauer; wie bei allen anderen Zuͤnften folgten auch
hier nach den Lehrlingen die Traͤger der Zunft¬
zeichen, und nach dieſen zwei Geſellen, der Maler
Hans Spring in Klee, Duͤrer's Schuͤler und
Hausgenoß und kunſtreich im Malen auf Perga¬
ment, in zierlich goldſchimmernden und azurblauen
Arabesken und Figuren; dann der Bildhauer Pe¬
ter Floͤtner, ein geiſtvoller handſicherer Geſell und
Kuͤnſtler. Einzeln ging jetzt ein ſchoͤner Edel¬
knabe mit dem Wappen, das in himmelblauem
Felde drei ſilberne Schildchen zeigt, und von
Maximilian dem großen Meiſter fuͤr die ganze ge¬
ehrte Kuͤnſtlerſchaft gegeben worden iſt. Der
Sinn dieſes Wappens duͤrfte ſich am einfachſten
in den Begriff von Tafeln oder Schilderei auf¬
loͤſen. Hatten die Maler ſelbſt es beſtimmen
duͤrfen, ſo wuͤrden ſie wahrſcheinlich in hergebrach¬
tem Sinne eine Trophaͤe der bekannten Maler¬
[255] geraͤthſchaften gewaͤhlt haben; der wappenkundige
und poetiſche Kaiſer aber wußte das einfache Be¬
ſondere in die einfachſte allgemeine ſinnige Form
zu kleiden.
Hinter dieſem anmuthigen Wappen ſchritt
nun Albrecht Duͤrer, zwiſchen ſeinem Lehrer Wohl¬
gemuth und Adam Kraft, wie zwiſchen den guten
Genien ſeines eigenen Namens. Fuͤr ſeine Per¬
ſon hatte ſich ein Maler gefunden, der ſein Aeu¬
ßeres, mit Ausnahme der Kleidung, nicht zu
aͤndern brauchte, um dem Bildniſſe des deutſchen
Meiſters, das dieſer ſelbſt von ſich gefertigt, bei¬
nahe ganz zu gleichen. Die hellen Ringellocken
fielen zu beiden Seiten gleich geſcheitelt ganz ſo
auf die breiten Pelz geſchmuͤckten Schultern nie¬
der, das gedankentiefe, fromme heitere Antlitz
ſchien aus jenem Bilde herausgeſchnitten, und ein
ſchlank geformter geſchmeidiger Leib bewegte ſich
in dem ſchwarzen Untergewande. Dieſe Erſchei¬
nung war ganz germaniſch und ganz chriſtlich,
und wenn ſich auch in den geringelten Haaren
ein anmuthiger Schalk ahnen ließ, ſo war auch
dieſer chriſtlich und ließ ſich von der kirchlich an¬
[256] getrauten boͤſen Ehehaͤlfte geduldig unter die Erde
zanken.
Wie anders jener roͤmiſche Raphael, der, vom
Anſchauen des alten Marmors geſaͤttigt, im Chriſt¬
lichen nur das Menſchliche ſah und ſein kurzes
bluͤhendes Leben in freudebringendem gewaltigen
Schaffen und freier Frauenliebe verzehrte. Albrecht
war ein eifriger Reformationsmann, eben weil er
ein tiefer Chriſt war; haͤtte Raphael die Refor¬
mation empfunden und mitgelebt, er wuͤrde viel¬
leicht nicht Raphael geweſen ſein. Der Gluͤckliche
traͤumte in einer anderen Welt, und Papſt wie
Luther gingen wie Schatten an ſeinem Auge vor¬
uͤber.
Albrecht Duͤrer ſchloß als der letzte die vor¬
uͤberwandelnde Schaar der Bildner und Werk¬
leute. Sie war der bedeutſamſte Theil des gan¬
zen Zuges geweſen, weil ſie fuͤr Alle noch eine
Wahrheit war. Wenn auch nicht als organiſches,
republikaniſch buͤrgerliches Gemeinweſen erwachſen,
wie jenes reichsſtaͤdtiſche, ſondern durch das Wort
eines zufaͤlligen Fuͤrſten zuſammengerufen, gepflegt
und beſtaͤrkt, hatten alle dieſe Maͤnner und Juͤng¬
[257] linge nicht nur durch die ungebrochene aͤußere Ge¬
ſtalt, ſondern auch durch ihr Koͤnnen und Wollen
die Faͤhigkeit und das Recht, jene bewaͤhrten Vor¬
fahren darzuſtellen. Denn es war kein dilletan¬
tiſches Beſtreben, was in dieſer Stadt herrſchte,
ſondern die Meiſterſchaft bluͤhte in hundert Zwei¬
gen in glaͤnzend reifender Technik. Außer den
vielen Malern und Bildhauern gingen Baumei¬
ſter, Erzgießer, Glas- und Porzellanmaler, Holz¬
ſchneider, Kupferſtecher, Steinzeichner, Medailleure
und viele andere Angehoͤrige eines vollen Kunſt¬
lebens. In den Gießhaͤuſern ſtanden zwoͤlf Ah¬
nenbilder fuͤr den Palaſt des Koͤnigs, ſo eben
vollendet, jedes zwoͤlf Fuß hoch und vom Scheitel
bis zur Zehe im Feuer vergoldet; zahlreiche koloſ¬
ſale Statuen von Fuͤrſten, Dichtern und anderen
Großen der Nation, zu Roß und Fuß, ſammt
den reichen Bildwerken ihrer Fußgeſtelle, waren
ſchon vollendet und uͤber Deutſchland zerſtreut,
rieſenhafte Unternehmungen begonnen und es ging
in dieſen Feuerhaͤuſern wohl ſchon ſo gewaltſam
und kraftvoll her, wie an jenem Gußofen zu Flo¬
renz, als Benvenuto ſeinen Perſeus goß. In
III. 17[258] Fresko und in Wachs waren ſchon unabſehbare
Waͤnde bemalt, ja in dieſem Gebiete war ein
Unerhoͤrtes und Neues geſchehen, indem ein ſchlich¬
ter Meiſter lange Hallen mit italieniſchen und
helleniſchen Landſchaften auf eine maßgebende und
bleibende Weiſe und zwar ſo bemalt hatte, daß die
Griechen, deren plaſtiſchem Auge unſere heutige Land¬
ſchafterei wahrſcheinlich ungenießbar waͤre, dieſe Bil¬
der verſtanden und genoſſen und darin unſerer Zeit
einen Vortheil beneidet haͤtten. Haushohe Glas¬
fenſter wurden hier gebrannt und zuſammengeſetzt in
einem Farbenfeuer und mit ſolch bewußtem Ge¬
ſchmacke, daß ſie gegen die alten Reſte, die wir
beſitzen, als eine neue That gelten konnten, und
was die Gemaͤldeſammlungen des Staates an
ſeltenen und unerſetzbaren Schaͤtzen auf verwit¬
terter Leinwand bewahrten, wurde zur Erhaltung
von bewaͤhrten Arbeitern mit anſpruchloſem Fleiße
auf Porzellanplatten und edle Gefaͤße getreu uͤber¬
getragen mit einer Kunſt, die man ſelbſt vor
zwanzig Jahren nicht geuͤbt hatte. Neue bedeut¬
ſame Sammlungen entſtanden auf dieſe Art.
Nachdem nun, was eine Stadt baut und ziert
[259] und von ihr liebend gehegt wird, vorangegangen,
trat gewiſſermaßen die Stadt ſelbſt auf, wenn
der nun folgende Zug von jenem irgend noch zu
trennen iſt; denn beide zuſammen machten ja das
Ganze aus, und ſein ruͤhmliches Wohl kannte nur
Einen Boden fuͤr ſeine Wurzeln.
Von zwei baͤrtigen Helebardirern begleitet
wurde das große Stadtbanner getragen. Hoch
trug der kecke Traͤger im weiß und rothen, uͤppig
geſchlitzten Kleide die wallende Fahne, die eine
Fauſt ſtattlich in die Seite geſtemmt und anmu¬
thig den Fuß vorſetzend. Alsdann kam der Stadt¬
hauptmann, kriegeriſch prachtvoll in roth und
ſchwarz gekleidet, mit einem Bruſtharniſch ange¬
than und den Kopf mit breitem, von Federn wo¬
genden Baretthute bedeckt.
Ihm folgten gleich die beiden Buͤrgermeiſter,
ſtaatsmaͤnniſchen und weiſen Anſehens, dann der
Syndikus und die Rathsherren, unter denen
manch ein im weiten Reich angeſehener und dem¬
ſelben erſprießlicher Mann war.
Von den beiden Stadtſchreibern, welche neben
einander gingen, war der eine ſchmaͤchtige Schwarz¬
[260] gekleidete, mit der ſchoͤn geſchnitzten Elfenbein¬
brille auf der Naſe, in Wirklichkeit der Literator
der Kuͤnſtlerſchaft und der gelehrte Beſchreiber
des Feſtes. Sein ruͤhmliches Gedenkbuch iſt un¬
ſerem Gedaͤchtniß dankbar zur Huͤlfe genommen.
Den Schluß bildeten nun die feſtlichen Reihen
der ehrbaren Geſchlechter. Seide, Gold und Ju¬
welen glaͤnzten hier in ſchwerem Ueberfluß. Dieſe
kaufmaͤnniſchen Patricier, deren Guͤter auf allen
Meeren ſchwammen, die zugleich in kriegeriſcher
Haltung mit dem ſelbſt gegoſſenen trefflichen Ge¬
ſchuͤtze ihre Stadt vertheidigten und an Reichs¬
kriegen Theil nahmen, uͤbertrafen den Adel an
Pracht und Reichthum und unterſchieden ſich von
ihm durch Gemeinſinn und ſittliche Wuͤrde, vom
gemeinen Buͤrger aber durch weitſehenden Blick
und umfaſſenden erhaltenden Sinn. Ihre Frauen
und Toͤchter rauſchten wie große lebende Blumen
einher, und die Damen mußten ſich ſelbſt geſtehen,
daß man vor vierhundert Jahren ſich auch zu
putzen wußte. Einige gingen mit goldenen Netzen
und Haͤubchen um die ſchoͤn gezoͤpften Haare,
andere mit federwallenden Baretten und Huͤten;
[261] manche die Bruͤſte ſtraff in Goldſtoff und Perlen¬
ſtickerei geſpannt, zwei Rubinen auf den hoͤchſten
Punkten, mit feinſtem Linnen den Hals umſchloſ¬
ſen, manche aber mit praͤchtig entbloͤßten Schul¬
tern, von koͤſtlichem Rauhwerk eingefaßt. Das
Fremde und Eigenſinnige im Schnitt der Gewaͤn¬
der entſtellte nicht, wie ſonſt verjaͤhrte oder un¬
kluge Moden, ſondern es ſchmuͤckte auf das Hoͤchſte
und berauſchte den Blick durch Eigenthuͤmlichkeit
und Phantaſie. Dieſe Trachten waren allerdings
den klaſſiſchen einfachen Gewandmaſſen griechiſcher
Welt gerade entgegengeſetzt; aber nichts deſto
minder verkuͤndeten ſie eine kecke Freude am Leben
und am Leiblichen, nur daß der perſoͤnliche Sinn,
der im Chriſtenthume liegt, ſich in den wunderlich
ausgedachten Umſpannungen und Angehaͤngſeln
des ſchoͤnen Koͤrpers zeigte.
Ueberhaupt machte der ganze Feſtzug durch
die bloße Tracht, welche auf das Genaueſte wie¬
dergegeben war, einen ganz anderen Eindruck, als
unſere neueſten froͤmmelnden Romantiker in ihren
unkundigen und ſiechen Schilderungen des Mittel¬
alters beabſichtigen.
Inmitten dieſen glaͤnzenden Reihen gingen
einige venetianiſche Patricier und Maler, als
Gaͤſte gedacht, poetiſch in ihre waͤlſchen, purpurnen
und ſchwarzen Maͤntel gehuͤllt um Haupt und
Schultern. Dieſe Geſtalten lenkten trefflich die
Vorſtellungskraft auf die Lagunenſtadt und von
da in's ungemeſſene Weite an die Kuͤſten der alten
und neuen Welt, um von da wieder zuruͤckzukeh¬
ren zur ſpitzbogigen Wunderſtadt mitten im Feſt¬
lande.
Trompeter und Pauker, gefolgt von drei Zug¬
fuͤhrern in Gold und Schwarz mit dem Reichs¬
adler, eroͤffneten jetzt den Zug des Kaiſers und
Reiches, mit Allem was dieſes an Tapferkeit und
Glanz um jenen geſchaart hatte.
Ein Haufen Landsknechte mit ſeinem robuſten
Hauptmann gab ſogleich ein lebendiges Bild jener
Kriegszeit und ihres unruhigen, auf Abenteuer
gehenden, wilden und doch ſangluſtigen kindlichen
Volksthumes, Dieſe frommen Landsknechte, einen
Wald von achtzehn Schuh langen Spießen tra¬
gend, ſahen ſehr unfromm aus in ihrer bunten,
[263] aus aller Herren Laͤndern zuſammengeraubten
Tracht. Die rechte und linke Seite an demſelben
Mann war nicht nur ungleichfarbig, ſondern auch
ungleich geſchnitten; das rechte Bein, der linke
Arm ſteckten in ungeheuer aufgebauſchten, fabel¬
haft zerſchlitzten und bebaͤnderten Gewandſtuͤcken,
waͤhrend der rechte Arm und das linke Bein in
knappeſter Umhuͤllung ſich formten. Der Eine
trug Hals und Schultern nackt und ſonnenver¬
brannt, der andere mit einem erbeuteten Panzer¬
ſtuͤck bedeckt; dieſem ſaß das leichtfertig gekerbte
Barett ſchief auf dem Kopfe, indeſſen die langen
angehaͤuften Federn ihm unten an die Kniekehle
ſchlugen; Jener hatte es auf dem Ruͤcken haͤngen
und ſchleifte die geſtohlenen Federn gar am Bo¬
den. Sonſt nannten ſie nichts ihre, als den
ſicheren Tod im Felde, und auf dies ſchlimme
Gut, auf Wein und Weibsbilder und etwa noch
auf ihren geliebten Fuͤhrer Frundsberg dichteten
ſie die artigſten Liedchen. In dieſen weithinzie¬
henden Fußknechten ſah der innere Blick Berg
und Thal, Waͤlder, Burgen und Veſten, deutſches
und waͤlſches Land ſich ausbreiten, nachdem die
[264] ſchoͤngebaute, mauergeſchuͤtzte und maßvolle Stadt
ſich vorhin kund gethan.
Vier Edelknaben mit den Wappenſchildern
von Burgund, von Holland, von Flandern und
von Oeſterreich, dann vier Ritter mit den Ban¬
nern von Steyer, Tyrol, Habsburg und mit dem
kaiſerlichen Paniere folgten; dann ein Schwert¬
traͤger und zwei Herolde mit dem ſchwarzen Dop¬
peladler auf dem goldenen Bruſt- und Ruͤckentheil
ihrer Roͤcke. Auf die Flamberge tragende Leib¬
wache des Kaiſers kam eine zarte Schaar Edel¬
knaben in kurzen goldſtoffenen Waͤmſern, goldene
Pokale tragend, dem kaiſerlichen Mundſchenk vor¬
auf. Ebenſo gingen gruͤne Jaͤger und Falkoniere
dem Oberjaͤgermeiſter voran, und wiederum Edel¬
knaben dem Kaiſer ſelbſt.
Fackeltraͤger mit vergitterten Geſicht umgaben
dieſen. Rock und Hermelinmantel von ſchwarz¬
durchwirktem Goldſtoff, einen goldenen Bruſthar¬
niſch tragend, nebſt goldenem Schwert in rother
Sammetſcheide, und auf dem Barett den koͤnig¬
lichen Zackenreif, ging Maximilian I. heroiſch da¬
her, das edle Angeſicht auf das Heldenmuͤthige,
[265] Ritterhafte, Gemuͤth- und Sinnreiche gerichtet.
So konnte man ſagen ſelbſt bei dieſem lebenden
Konterfei. Denn es hatte ſich fuͤr das Bild des
Kaiſers ein junger Mann aus den fernſten Gauen
des ehemaligen Reiches eingefunden, der, ein merk¬
wuͤrdiges Naturſpiel, von edler Haltung und edlem
Angeſicht, wie dazu geſchaffen war, ganz daſſelbe
offene, mannhafte und angenehme Geſicht, die
ſtarke gebogene Naſe, die bei den beſſeren Habs¬
burgern immer angenehm hervortretende Unter¬
lippe und das kraͤftige ſchlichte, rund um den
Kopf gleichgeſchnittene Haar.
Unmittelbar hinter dem Kaiſer ging ſein luſti¬
ger Rath Kunz von der Roſen, aber nicht gleich
einem Narren, ſondern wie ein kluger und wehr¬
barer Held launiger Weisheit. Er war ganz in
roſenrothen Sammet gekleidet, knapp am Leibe,
aber mit weiten ausgezackten haͤngenden Ober¬
aͤrmeln. Auf dem Kopfe trug er ein azurblaues
Barett mit einem Kranze von je einer Roſe und
einer goldenen Schelle; an der Huͤfte aber hing
an roſenfarbenem Gehaͤnge ein breites langes
Schlachtſchwert von gutem Stahl. Wie ſein Held
17 *[266] und Kaiſer war er nicht ſowohl ein Dichter, als
was ſchoͤner iſt, ſelbſt ein Gedicht.
Der Erbſchenk von Kaͤrnthen und Statthalter
der inneroͤſterreichiſchen Lande, Sigmund von
Dietrichſtein, der als vertrauteſter und treueſter
Rath Maximilian's zu deſſen Seite begraben liegt,
und der zum tuͤchtigen Feldherrn gediehene ge¬
lahrte Doktor der Rechte, Ulrich von Schellenberg,
eroͤffneten nun die lange Reihe deſſen, was die
Tafelrunde Maxens an glaͤnzenden Ritter- und
Fuͤrſtengeſtalten aufzuweiſen hatte. Da ſchritt in
Stahl gehuͤllt und waffenklirrend einher, was von
der Luͤneburger Haide bis zur alten Stadt Rom,
von den Pyrenaͤen bis zur tuͤrkiſchen Donau ge¬
fochten, geblutet und geſiegt hatte. Schlachten
und harte Belagerungen, Schießen, Mauerbrechen,
Haͤngen und Koͤpfen, ritterlich treues Leben und
ruhmreiche Thaten knuͤpften ſich an die Namen
aller dieſer Kaͤmpen, welche alle jedoch von den
raſtloſen wunderbaren Abenteuern und Thaten des
einzigen Kaiſers uͤbertroffen wurden.
Den Feldherrnſtab auf die Huͤfte geſtuͤtzt, trat
zuerſt auf Georg von Frondsberg, allein ſchon
[267] eine ganze Kriegszeit und Hiſtorie. Das Schwert
Franz I. von Frankreich wurde ihm auf goldenem
Kiſſen vorangetragen mit der Inſchrift: Pavia
1525. Ein baͤrtiger Landsknecht trug ſeine Helle¬
barte; denn er liebte es, mit gutem Werkzeug in
der Schlacht hie und da ſelbſt mit einigen Strei¬
chen nachzuhelfen und auszubeſſern, wie ein guter
Handwerksmeiſter, und man ſah ihn dann dergeſtalt
handtieren, daß er mit jedem Schlage einen Mann
niederſchlug und dazu hauchte, wie ein Holzhacker.
Ein Bergſchuͤtz aus ſeinem Stammland Tyrol,
mit Armbruſt, Koͤcher, Panzerhemd und Schwert,
trug ſeinen Wappenſchild.
Ihm folgte ein hoher gewaltiger Ritter, Her¬
zog Erich von Braunſchweig; ſeinen Stahlhelm
zierte die Herzogskrone, aus welcher ein ſchillern¬
der Buſch von Pfauenfedern empor ſchwankte, und
uͤber dieſem ſchwebte hoch ein goldener Stern.
Voraus ging ein Edelknabe mit einer boͤhmiſchen
Fahne, auf welcher geſchrieben ſtand: Regens¬
burg 1504. Die wilde Boͤhmenſchlacht, in wel¬
cher er dem Kaiſer das Leben gerettet, trat hiemit
vor das geiſtige Auge.
Schwer an Erinnerung und Bedeutſamkeit
folgte Franz von Sickingen, in Eiſen gehuͤllt, mit
ſeinem langen, gerechten und Freiheit liebenden
Schwert, ſeinem langen Arm. Ein Edelknabe
trug die Fahne der Picardie voran mit der In¬
ſchrift: Bouillon 1518. Zwei geharniſchte
Reiterknechte gingen hinter ihm mit Waffen und
Schild, der ſeinen Wahlſpruch glaͤnzen ließ: Got¬
tes Freund, aller Welt Feind. Er ſelbſt
aber ſah wohl aus wie der, welcher in der Noth
eines blutigen wilden Belagerungstodes im Har¬
niſchkaſten begraben wurde.
Wilhelm von Roggendorf und Graf Niklas
Salm, jener von mauriſchen Siegeszeichen und
der Inſchrift: Berg Spadan 1522, dieſer
mit tuͤrkiſchen und der Inſchrift: Wien 1529
begleitet, gaben das Bild einer ſchoͤnen Helden¬
freundſchaft. Denn der Eine, welcher als Juͤng¬
ling in die Waffenlehre des Anderen gegeben
ward, wurde in ſeltſam leidenſchaftlicher Umkeh¬
rung des Weltlaufes der jugendliche Schwieger¬
vater des Heldengreiſes, der ſeine Tochter liebte
und auch vor ihm, in heißer Tuͤrkenſchlacht in
[269] ſeinen Armen ſtarb. Beide aber ruhen in der¬
ſelben Gruft.
Dem Grafen Andreas von Sonnenburg ward
die franzoͤſiſche Fahne mit der Inſchrift: Guine¬
gaſte 1479 vorgetragen. Ein Bergſchuͤtz aus
ſeiner tyroliſchen Grafſchaft, in Panzerhemd und
Jaͤgerhut, mit breitem Guͤrtel, langem Bogen
und Koͤcher folgte und trug den Schild mit dem
alten ſchwaͤbiſchen Wappen, zu Ehren ſeines Ahn¬
herrn, der den letzten Hohenſtaufen im Tode bei¬
ſtand.
Dem Fuͤrſten Rudolph von Anhalt ging eine
Fahne mit der Inſchrift: Stuhlweißenburg
1490 voran, und ſeine Knappen trugen Lanze
und Schild mit den Worten: Anhalt das treue
Blut. Und endlich trug dem in blauer Ruͤſtung
und ſchwarzem Helmbuſch ſchreitenden Marx Sit¬
tich von Hohenems ein Edelknabe die venetianiſche
Fahne mit der Inſchrift: Verona 1516 voran.
Jetzt erſchienen die gelehrten Raͤthe des Kai¬
ſers; allein gleich der erſte derſelben, der beruͤhmte
Wilibald Pirkheimer war wieder ein Stuͤck Krieg,
und nicht nur Schriftſteller, Alterthumskenner
[270] und Beſchuͤtzer aller Gelehrten und Kuͤnſtler, ſon¬
dern auch zuweilen Feldherr; der edle und treue
Freund Duͤrer's fuͤhrte eine Kriegsſchaar ſeiner
Vaterſtadt Nuͤrnberg, ein zweiter Xenophon, gegen
die Schweizer im Schwabenkriege; und der ge¬
lehrte Mann mußte ſich freilich mit noch bewaͤhr¬
teren Kriegsfuͤrſten troͤſten, wenn er in dieſer
ſchlimmen Gegend nicht die Lorbeeren holte, wie
auf den ruhigen Gefilden der Wiſſenſchaft.
Melchior Pfinzing, Verfaſſer des Teuerdank,
und Marx Treitzſauerwein, der Geheimſchreiber
des Kaiſers und Ordner des Weißkuniges, erſchie¬
nen als die Zeugen der ſinnreichen und fabelwei¬
ſen Gemuͤthsrichtung des roͤmiſchen Koͤnigs.
Ein reicher Hof von Rittern und Edelfrauen
und endlich ein einſamer fahrender Ritter, gehar¬
niſcht und die Zither uͤber der Schulter, ſchloſſen
das Gefolge des Kaiſers, welches ein zweiter
Haufen Landsknechte von dem folgenden Zuge
trennte.
Auch dieſe Ritter- und Kriegswelt, von fried¬
lichen Kuͤnſtlern dargeſtellt, zeigte ſich deſſen un¬
geachtet wahr und weſentlich, getragen von ſtatt¬
[271] lich koͤrperlicher Befaͤhigung. Hier waren vor¬
zugsweiſe die in maͤnnlicher Reife, Kunſt und
buͤrgerlicher Stellung vorgeruͤckten Mitglieder ver¬
treten, deren durch ruͤſtiges und gelungenes Schaf¬
fen erreichter Wohlſtand die koſtbaren Gewaͤnder
moͤglich machte. Sie trugen mit kriegeriſchem
Anſtand die reichgeſchmiedeten Ruͤſtungen aus dem
Zeughauſe, und die kecken, mannigfach geſchnitte¬
nen Baͤrte ſchienen weniger die Zeichen maleriſchen
Behabens, als die Zierden wirklich thatenreicher
Kaͤmpen zu ſein. Da nun aber jeder einzelne
Mann nicht etwa ein ſchoͤngewachſenes Schema,
ein bloßer Statiſt, ſondern eine bedeutende Per¬
ſoͤnlichkeit, ein rechter Schmied ſeines Gluͤckes
war, der aus dieſem, der aus jenem Winkel deut¬
ſchen Volksthumes hervorgekommen, ſo mußte
man beim Anblick ſo Vieler unwillkuͤrlich die Hoff¬
nung faſſen, daß ein ſolches Volk doch noch zu
was Anderem faͤhig ſei, als zur Darſtellung der
Vergangenheit, und daß dieſe koͤrperliche Wohlge¬
ſtalt, welche ſo aͤhnliche Bilder todter Helden und
Kaiſer zeigte, unausbleiblich einſt die wahren Kai¬
ſer, die rechten Schmiede und Herrſcher des eige¬
[272] nen Geſchickes, die ſelbſtaͤndigen Maͤnner der Zu¬
kunft hervorbringen werde.
Waͤhrend die Schaaren aller bisher Voruͤber¬
geſchrittenen weithin dem Blicke entſchwanden und
im weiten Rundgange ſich kreuzten, rauſchte und
tanzte jetzt die Mummerei heran, in welcher alles,
was die Kuͤnſtlerſchaft an uͤbermuͤthigen Sonder¬
lingen, Witzbolden, ſeltſamen Luͤckenbuͤßern und
Kometennaturen in ſich hegte, Platz gewaͤhlt hatte.
Der Mummereimeiſter Peter von Altenhaus
eroͤffnete auf einem launiſchen Eſel den traͤumeri¬
ſchen Zug, und hinter ihm kollerten die altdeut¬
ſchen Narrengeſtalten, die zierlichen bunten Nar¬
ren Gylyme, Poͤck und Guggerillis und die
verwachſenen Schaͤlke Metterſchi und Duweindel
daher nebſt vielen anderen Narren, welche aber
nie beiſammen blieben, ſondern unaufhoͤrlich zwi¬
ſchen den Gruppen des Zuges herumfuhren.
Dann kam der bekraͤnzte Thyrſustraͤger, wel¬
cher die behaarte, gehoͤrnte und geſchwaͤnzte Mu¬
ſikbande fuͤhrte. In ihren Bockshaͤuten nach der
eigenen Muſik huͤpfend und hopſend, brachten
dieſe Geſellen eine uralte, ſeltſam ſchreiende und
[273] brummende Muſik hervor, bald in der Octave,
bald in lauter Quinten pfeifend und ſchnarrend,
jetzt in ſchwindelnder Hoͤhe, dann in der tiefſten
Tiefe.
Mit goldenem umlaubten Thyrſusſtabe ſchritt
der Anfuͤhrer des Bacchuszuges vor. Ein Kranz
blauer Trauben umſchattete tief ſeine gluͤhende
Stirn; von den Schultern flatterte und wallte
eine feſtliche Laſt buntgeſtreifter Seidenbaͤnder bis
auf die Fuͤße und verhuͤllte wehend den unbeklei¬
deten Koͤrper. Nur die Fuͤße waren mit goldenen
Sandalen verſehen.
In bibliſcher Erinnerung trugen hierauf, um¬
tanzt von halb mittelalterlich, halb antik geſchuͤrz¬
ten Winzern mit Kruͤgen, Traubenbutten, die
zwei Kundſchafter aus dem gelobten Lande an
ſchwer gebogener Stange die große Traube. Vier
noch kernhaftere Maͤnner trugen an vier aufrech¬
ten Fichten eine noch viel groͤßere Traube. Auch
der dicke Silen, welcher unbehuͤlflich und aͤngſtlich
zu Fuß ging und die tobende Schaar von Schen¬
ken, Faunen und Winzern, welche den Wagen
des Bacchus zogen, ſchoben und umſchwaͤrmten,
III. 18[274] Schalen, Becken und Staͤbe zuſammenſchlagend,
waren halb modern, halb mythologiſch gekleidet
Selbſt der junge, epheubekraͤnzte Bacchus, ſonſt
ganz nackt, trug mittelalterlich gedacht ein zier¬
liches Kuͤferſchuͤrzchen um die runden Huͤften.
Eine Rebenlaube woͤlbte ſich und die dichten Trau¬
ben bildeten einen dunkelblauen Himmel uͤber ihm,
in den er ſehnſuͤchtig hineinlaͤchelte. Es war ein
ſchoͤner roſiger Juͤngling mit ſchwarzgelocktem Haar.
Koͤnige mit Krone und Scepter, zerlumpte
Bettler mit dem Schnappſack, Pfaffen und Juden,
Tuͤrken und Mohren, Knaben und weiße Greiſe
zogen nun den Triumphwagen der Venus herbei.
Dieſe war Niemand anders als die ſchoͤne Roſalie
in aller Anmuth ihres roſig lachenden Weſens.
Sie ruhete auf einem Roſenlager unter durchſich¬
tiger Blumenlaube, in ein ſeidenes antikes Pur¬
purkleid gehuͤllt, mit bloßen Armen und Fuͤßen.
Ueber der Stirn ſtrahlte ein goldener Stern aus
den dunklen Locken, in der Hand hielt ſie eine
goldene Weltkugel, auf welcher zwei ſilberne
Taͤubchen ſaßen, die mit den Fluͤgeln ſchlagend
ſich ſchnaͤbelten. Zwei Kreuzfahrer gingen unter
[275] den Gefangenen der Venus zu beiden Seiten des
Wagens und gereichten ihr mit aufmerkſamer
Haltung zu beſonderem Schutzgeleit. Sie aber
ſah ſich dann und wann begierig und laͤchelnd
um, da gleich hinter ihrem Wagen der biedere
Erikſon, welcher den Zug der Diana anfuͤhrte,
als wilder Mann einherſchritt, ſeinen kraftvollen
ſchoͤnen Koͤrper nur um Lenden und Stirn mit
dichtem Eichenlaub geziert; er uͤberragte um einen
Kopf ſeine Umgebung, obgleich noch manche ſtatt¬
liche Geſtalt dabei war. Viele Jaͤger folgten ihm
mit gruͤnen Zweigen auf Huͤten und Kappen, die
großen Hifthoͤrner mit Laubwerk umwunden, das
Jagdkleid aber mit Iltisfellen, Luchskoͤpfen, Reh¬
pfoten und Eberzaͤhnen beſetzt. Einige fuͤhrten
Ruͤden und Windſpiele, einige, mit Gebirgsſchuhen
und Steigeiſen am Guͤrtel, trugen Gemsboͤcke
auf dem Ruͤcken, andere Auerhaͤhne und Buͤndel
von Faſanen und wieder andere auf Bahren
Schwarzwild und Hirſche mit verſilberten Hauern,
Geweihen und Pfoten. Dann trug eine Schaar
trotziger wilder Maͤnner einen wandernden Wald
belaubter Baͤume aller Gattung, in welchen Affen,
18*[276] wilde Katzen und Eichhoͤrnchen kletterten und Voͤ¬
gel niſteten. Durch die Staͤmme dieſes Waldes
aber ſah man bereits die ſilberne Geſtalt der
ſchmalen Diana ſchimmern, der lieblichen Agnes,
wie ſie von Ferdinand geſchmuͤckt worden war.
Ihr Wagen war von allem moͤglichen Wilde be¬
deckt und deſſen Koͤpfe umkraͤnzten ihn mit ver¬
goldetem Gehoͤrn und bunten Federn. Sie ſelbſt
ſaß mit Bogen und Pfeil auf einem bemoſten
Fels, aus welchem ein lebendiger Quell in ein
natuͤrliches Becken von Tropfſteinen ſprang, an
welches die wilden Maͤnner und Jaͤger ſich manch¬
mal durſtig niederbeugten und aus der Hand
tranken.
Agnes war in ein Gewand von Silberſtoff
gekleidet, welches bis tief auf die Huͤften ganz
anliegend war und alle ihre geſchmeidigen Formen
wie in Silber gegoſſen erſcheinen ließ. Die kleine
klare Bruſt war wie von einem Silberſchmied
zierlich getrieben. Vom Schooße abwaͤrts aber,
der von einem gruͤnen Guͤrtel mehrfach umwun¬
den war, floß das Gewand weit und faltig, mehr¬
fach geſchuͤrzt, doch bis auf die Fuͤßchen, welche
[277] mit ſilbernen Sandalen keuſch hervorguckten. Im
ſchwarzen, griechiſch geknuͤpften Haare machte ſich
mit Muͤhe die ſtrahlende Mondſichel ſichtbar, und
wenn ſich Agnes nur ein bischen regte, ſo wurde
ſie von den dunklen Locken zeitweiſe ganz bedeckt.
Ihr Geſicht war weiß wie Mondſchein und noch
bleicher als gewoͤhnlich; ihr Auge flammte dunkel
und ſuchte den Geliebten, waͤhrend in dem ſilber¬
glaͤnzenden Buſen der kuͤhne Anſchlag, den ſie
gefaßt, pochte und rumorte.
Ferdinand aber, welcher das Gewand eines
jagdliebenden Koͤnigs gewaͤhlt hatte, um der Diana
nahe zu ſein, hatte ſich laͤngſt unter den Triumph¬
zug der Venus gemiſcht, betrachtete ſie wie ein
Traͤumender unverwandt und wich keinen Schritt
von ihrem Wagen, ohne ſich deſſen inne zu wer¬
den; denn kaum hatte er Roſalien beim Beginne
des Feſtes geſehen, ſo ließ er Agnes, die er ge¬
ſchmuͤckt und ſo eben auf den Wagen gehoben,
wie ſie war, und folgte jener gleich einem Nacht¬
wandler.
Heinrich hatte ſich in ein laubgruͤnes Narren¬
kleid gehuͤllt und trug einen Jagdſpieß ſtatt des
[278] Kolbens; um die Schellenkappe hatte er ein Ge¬
flecht von Stachelpflanzen und Stechpalme mit
ihren rothen Beeren geſchlungen als eine gruͤnende
Dornenkrone. Was er damit wollte, wußte er
ſelbſt kaum zu ſagen; es war eine mehr unwill¬
kuͤrliche Geſchmacksaͤußerung, welche der innerſten
Seelenſtimmung entſprang. Er ging, nur hie
und da ſich umſehend und durch den wandelnden
Wald huſchend, immer der Diana zur Seite, da
ſonſt kein Befreundeter um ſie war; denn Erik¬
ſon, der wilde Mann, hielt ſein Auge auf Ro¬
ſalien und Ferdinand gerichtet, ohne indeſſen ſtark
aus ſeiner Gemuͤthsruhe zu gerathen.
Als nordiſches Maͤhrchen folgte dieſen ſuͤdlichen
Bildern der Zug des Bergkoͤnigs. Ein anſehn¬
liches Gebirge von glaͤnzenden Erzſtufen und Kry¬
ſtallen war auf ſeinem Wagen errichtet und dar¬
auf thronte die rieſige Geſtalt in grauem Pelz¬
talar, den ſchneeweißen Bart, wie das Haar bis
auf die Huͤften gebreitet und dieſe davon umwallt.
Das Haupt trug eine hohe goldene Zackenkrone.
Um ihn her ſchluͤpften und gruben kleine Gno¬
men in den Hoͤhlen und Gaͤngen; dieſes waren
[279] wirkliche kleine Buͤbchen; aber der kleine Berg¬
geiſt, welcher vorn auf dem Wagen ſtand, ein
ſtrahlendes Grubenlicht auf dem Koͤpfchen, den
Hammer in der Hand, war ein kaum drei Span¬
nen hoher, ausgewachſener Kuͤnſtler, aber dennoch
ebenmaͤßig fein gebaut, mit maͤnnlich ſchoͤnem
Geſichtchen, wundervollen blauen Augen und blon¬
dem Zwickelbart; das kleine Weſen, einem Zau¬
bermaͤhrchen gleichend, war nichts weniger als
eine bloße Seltſamkeit, vielmehr ein wohlbewu߬
ter und ruͤhmlicher Maler.
Hinter dem Bergkoͤnig auf demſelben Wagen
ſchlug der Praͤgemeiſter aus Silber und blankem
Kupfer (ſtatt des Goldes) kleine Denkmuͤnzen auf
das Feſt; ein Drache ſpeiete ſie in ein klingendes
Becken und ſie dieſem entnehmend, warfen zwei
Pagen »Gold« und »Silber«, die ſchimmern¬
den Muͤnzen, unter das ſchauende Volk.
Ganz zuletzt und einſam ſchlich der Narr
Guͤlichiſch her, traurig und achſelzuckend den ge¬
leerten Beutel ſchuͤttelnd, umkehrend und rings
umher zeigend. Es war aber noch nicht ernſt
gemeint mit dieſem Bedauern; denn dem nach¬
[280] hinkenden Narren auf dem Fuße folgte wieder
der glaͤnzende Anfang; wieder gingen die Zuͤnfte,
das alte Nuͤrnberg, Kaiſer und Reich und die
Fabelwelt voruͤber, und ſo zum dritten Male, bis
aller Augen ſich an dem Geſtaltenwechſel geſaͤttigt
hatten.
Dann ſchaarte ſich die ganze Maſſe in ge¬
draͤngte Ordnung; die ſangkundige Menge der
Kuͤnſtler ließ die Feſtlieder ertoͤnen und brachte
dem vergnuͤgten wirklichen Koͤnige, in deſſen
Machtkreis zuletzt dieſe ganze Traumwelt hing,
ein opferndes Lebehoch. Durch den Logenſaal
der koͤniglichen Familie, wo dieſe verſammelt war,
bewegte ſich nun der ganze Zug und auf bedeckten
Gaͤngen in die Reſidenz hinuͤber, durch deren Saͤle
und Korridore, welche alle von beguͤnſtigten Zu¬
ſchauern angefuͤllt waren.
Als Heinrich in die Naͤhe des zufriedenen
Koͤnigs kam, gedachte er jenes wunderlichen Auf¬
trittes, wo dieſer ihm die Muͤtze heruntergeſchlagen
hatte. Er hatte ihn nie wieder ſo nahe geſehen
bis jetzt, und ihm laͤngſt verziehen; denn wenn
die Koͤnige nicht beleidigt werden duͤrfen, ſo koͤn¬
[281] nen ſie auch nicht beleidigen noch beſchimpfen, da
ihre einſame Willkuͤr alle gewoͤhnliche Wirkung
aufhebt. Doch mußte er jetzt lachen, als er ſich
vorſtellte, wie ſchoͤn der Koͤnig ſich nun vergreifen
wuͤrde, wenn er ihm die ſtachlichte Schellenkappe
abſchlagen wollte. Muthwillig bot er ihm ſein
beſtechpalmtes Haupt hin und ſagte leiſe: He
Koͤnig! ſchlag' mir die Kappe 'runter! Der Koͤ¬
nig ſah ihn betroffen an, ſchien ſich zu erinnern
und ſagte kein Wort. Heinrich ſah ihn ernſthaft
an, klingelte bedeutſam mit den Schellen auf ſei¬
nem Kopfe und ſprang davon.
In den Gemaͤchern und Gaͤngen des Palaſtes,
wie in den Gartenarkaden gingen die Kuͤnſtler
recht durch ihr eigenes Werk, das in vielfaͤltiger
Geſtalt, von Saͤulen, Waͤnden, Decken und Trep¬
pen, in Gold, Farben und Marmor ſie umglaͤnzte.
Und als ſie uͤber den von Pechflammen erleuch¬
teten Platz zogen, durch das Gewoge des Stadt¬
volkes hin, ragte wieder uͤberall ihr Werk in Erz¬
bildern und hohen Gebaͤuden.
Doch muͤndete nun der Zug in das benach¬
barte große Odeon und ergoß ſich froh aufathmend
[282] in den zu Bankett und Spiel geſchmuͤckten maͤch¬
tigen Saal. Mit Muͤhe gelang es den Fuͤhrern
und Ceremonien-Meiſtern die Plaͤtze zu ordnen,
da die traumhafte Selbſttaͤuſchung auch hier fort¬
dauern und die Theilnehmer nach Rang und Be¬
deutung bankettiren ſollten. Ein erhoͤhtes Halb¬
rund war mit des Koͤnigs koſtbaren Teppichen,
welche er ſammt reichem Tiſchzeug, Silbergeſchirr
und goldenen Pokalen und Kannen aus ſeinen
Kammern gegeben, bekleidet, um den Kaiſer mit
ſeinen Grafen und den Patriziern aufzunehmen.
Mit großem Anſtande nahmen ſie Platz, und noch
mehr, als der glaͤnzende Kaiſer, welcher ſich mit
wirklich monarchiſchem Behagen gefiel, wußten
ſich die ſchoͤnen Damen in adelichem Thun zu ge¬
fallen. Die Mundſchenken und Edelknaben aber
dienten und warteten auf und fanden hierin, unter
Luſt und Scherz, ihre volle Zufriedenheit.
An langen Tafeln ſaßen die Zuͤnfte und die
Landsknechte; nur Albrecht Duͤrer hatte ſeinen
Platz neben dem Kaiſer, wo auch der majeſtaͤtiſche
maͤhrchenhafte Bergkoͤnig ragte.
Von hohen, mit goldgeſtickten Teppichen be¬
[283] hangenen, blumenuͤberwoͤlbten Gallerien toͤnten die
lauten Muſikchoͤre, bald ſelbſtaͤndig, bald die Ban¬
kettlieder begleitend; es war nicht ein Schuh von
moderner proſaiſcher Kleidung im Saale, und
ſelbſt in den Nebengemaͤchern, wo noch viele klei¬
nere Kreiſe tafelten und zechten, ſah man nichts
als Mittelalter bis auf die Leute des Wirthes,
welche alle koſtuͤmirt waren. Darum verbreitete
ſich ein praͤchtig rauſchender Strom der Freude
uͤber die Menge, in welchem ſie ſich froh und auf¬
bluͤhend badete. Kaum konnte der Kaiſer mit der
ſchoͤnſten Dame den alterthuͤmlichen Fackeltanz
eroͤffnen, bis die Reihen der Handwerksmaͤnner
und Landsknechte, welche an den ſpringenden gol¬
denen Weinquellen ſaßen, allmaͤlig ſich zuruͤck¬
draͤngen ließen, und ſie thaten es endlich um ſo
williger, als die praͤchtigen Damen ſich weigerten,
mit den Schuſtergeſellen und wilden Fußknechten
zu tanzen. Denn die Schoͤnen hatten ſich ſchon ſo
tief in ihre Gewaͤnder hineingelebt, daß ſie ver¬
gaßen, wie mancher der Verſchmaͤhten von glei¬
chem Range mit ihnen war und obgleich er ein
reinliches neues Schurzfell trug und in weißen
[284] Hemdsaͤrmeln ging, doch gleich ihnen ſich freute,
von einem wuͤrdigen Kaufmann, Profeſſor oder
geheimen Regiſtrator abzuſtammen. Fuͤr den An¬
blick gewann jedoch durch dieſe Wunderlichkeit
der Tanz an Schoͤnheit, als die Ritterpaare,
Raum gewinnend, mit wogenden Federn und
wehenden Maͤnteln in langſamem Walzer oder
anderen Taͤnzen ſich feierlich bewegten.
Doch wurde der Tanz oͤfters unterbrochen
durch die Schauzuͤge, welche in immer neuer Ge¬
ſtaltungsluſt durch den Saal toſten. Bald er¬
ſchien der Mummenſchanz, welcher nicht ſatt
wurde, ſich in neue Maͤhrchen umzubilden und
ſeine einzelnen Theile fabelhaft zu vermiſchen,
bald ſtuͤrmten die ſingenden Landsknechte vorbei,
welche es ſo gut trieben, daß ſich von dieſem
Feſte her noch lang eine foͤrmliche Landsknechts¬
cultur erhielt in Bild und Lied, und deren Zech¬
weiſe und verlorenes Leben als das loͤblichſte
Bild deutſcher Romantik erſchien. Bald gaben
die Zuͤnfte eine Schauſtellung, bald fuͤhrten die
Narren dem Kaiſer ihre Schwaͤnke auf.
Die Meiſterſaͤnger hielten in einem kleineren
[285] Saale bei offenen Thuͤren eine Singſchule. Es
wurde unter den zuͤnftigen Gebraͤuchen wettge¬
ſungen, ein Schulfreund oder Singer zum Meiſter
geſprochen u. dergl. Die vorgetragenen Gedichte
enthielten Lobpreiſungen und Dankſagungen gegen
den kunſtſinnigen Koͤnig, dann aber hauptſaͤchlich
Hecheleien der verſchiedenen Kunſtrichtungen, Ver¬
ſpottung irgend einer anmaßlichen oder eigenſin¬
nigen Geſtalt der Kuͤnſtlerſchaft, Klagen uͤber
Verwaltung gemeinſamer Anſtalten, geſellige
Uebelſtaͤnde und ſolches mehr. Es war ſo zu
ſagen eine allgemeine Abrechnung, und vorſorg¬
lich hatte jede Richtung und jede Groͤße ihren
Vertreter mit fertigem Gedicht unter die Meiſter¬
ſaͤnger geſteckt. Es erklangen oͤfter ganz ſcharfe
und ſatyriſche Verſe, aber dieſer Inhalt nahm
ſich hoͤchſt ſeltſam aus in den trockenen und feier¬
lichen Formen, in denen er vorgebracht wurde,
und mit dem komiſchen Weſen dieſer Formen.
Denn waͤhrend alle Singenden in demſelben ein¬
toͤnigen und ſchalkhaften Leierton ihr Gedicht ſan¬
gen, und in denſelben Knittelverſen, ſo wurde
doch bei jedem vorher mit lautem Ausruf eine
[286] andere neue Weiſe angegeben, wie ſie ehemals
von den wackeren Meiſterſaͤngern erfunden und
getauft wurden. Da wurde angeblich geſungen
in der »glatten Seidenweiſe, der rothbacketen
Oepfelinweiſe, der Strohhalmweiſe, der Schreib¬
papierweiſe, in der Stechpalmweiſe, ſuͤßen Pfir¬
ſichweiſe, blauen Traubenweiſe, Silberweiſe, uͤber¬
hohen Bergweiſe, glitzerigen Thurngockelweiſe,
Roſentonweiſe, ſpitzigen Pfeilweiſe, krummen Zin¬
kenweiſe, Orpheus ſehnlicher Klagweiſe«, in der
»gelben Loͤwenhautweiſe, ſtachlichten Igelweiſe«,
in der »ſchwarzen Agatſteinweiſe, blauen Korn¬
bluͤmelweiſe«, wie in der »verſchloſſenen Helm¬
weiſe«. Das Gelaͤchter war groß, wenn nach
dieſen pomphaften, maleriſchen und poetiſchen
Ankuͤndigungen ſich immer der alte graͤmliche
Leierton mit den trockenen Witzen hoͤren ließ.
Aber nicht alle Gedichte waren dieſes ſatyriſchen
Inhaltes. Einige blutjunge Meiſterſingerlein
wagten es, ihre durch den lauſchenden Frauen¬
kranz angeregten Gefuͤhle zu aͤußern und dieſe
oder jene Geſtalt nicht undeutlich zu beſingen.
Ein bluͤhendes Schuhmaͤcherlein pries, um Rache
[287] zu nehmen fuͤr den Stolz, welchen die Damen
beim Tanz gezeigt hatten, ſein heimliches Gluͤck
bei mehr als einer goldenen Graͤfin, und ſogleich
nahm ein luſtiger Schneiderlehrling den Kampf
mit ihm auf in Feſtſetzung der Liebes- und
Gluͤcksregeln im Frauendienſt. Der Schuſter be¬
hauptete, daß Tiefſinnigkeit, poetiſches Weſen und
ſtolze Beſcheidenheit die Frauen gewaͤnnen; der
Schneider hingegen verlangte zu ſolchem Gluͤcke
Anmaßung, Muthwillen und leichtſinniges Auf¬
geben der eigenen Perſon. Hans Roſenpluͤth,
der Schnepperer, aber ſchlichtete den Streit und
erklaͤrte die Frauen fuͤr wunderliche Weſen, welche
ſtets die eine Art liebten, wenn die andere gerade
nicht zu haben waͤre, und daß beide abwechſelnd
ihres Gluͤckes genoͤſſen.
In einer ſchoͤn geſchmuͤckten großen Niſche
war um Roſalien ein ordentlicher Venushof ver¬
ſammelt. Zwei oder drei anmuthige Frauen hat¬
ten ſich ihr zugeſellt, weil es hier froͤhlich und
galant herging und ſich der ganze Schwarm der
Gefangenen der Schoͤnheit mit großer Geſchick¬
lichkeit und Aufrichtigkeit in ſeine Rolle fand.
In einer anderen Niſche, welche mit dieſer
durch eine offene Thuͤr verbunden war, hatten
die Jaͤger ihren Sitz aufgeſchlagen, und einige
luſtige junge Maͤdchen zur Geſellſchaft der Diana
herbeigelockt. Heinrich ſaß Agnes zur Seite und
beſchuͤtzte ſie insbeſondere. Erikſon, der wilde
Mann, ging ab und zu; er konnte ſeiner ſelt¬
ſamen Tracht wegen nicht wohl tanzen, noch ſich
in zu große Naͤhe der Frauen ſetzen und be¬
ſchraͤnkte ſich daher, hier und dort einen Becher
zu trinken oder an den improviſirten Spielen
Theil zu nehmen. Faſt bereute er, dieſe Rolle
gewaͤhlt zu haben, und ſah ziemlich unbehaglich,
wie Ferdinand fort und fort Roſalien den Hof
machte; ſie hatte ſich mit weißen Atlasſchuhen
verſehen und tanzte zuweilen mit Ferdinand, der
in ſeinem Hubertusgewande ſehr wohl ausſah
und ſich mit ſicherem Anſtande betrug. Er hatte
einige koſtbare Brillanten, Zeichen ſeines hollaͤn¬
diſchen Reichthumes, in Ringen und Spangen
angelegt, und die reiche Roſalie benahm ſich ge¬
gen ihn mit der heiteren Ungezwungenheit, welche
die geſicherten Reichen gegenſeitig zu uͤben pflegen.
[289] Sie lachte, ſcherzte und ſtrahlte von freundlichem
Liebreiz, indem ſie gegen Alle ſich hold und froh
zeigte, gegen Ferdinand aber ihre Unwiſſenheit
beklagte und bedauerte, welche ſie ſo lange von
den wahrhaft frohen und klugen Kreiſen der
Kuͤnſtler fern gehalten habe und ſie ſelbſt jetzt
nur ihre Freude, nicht aber den Ernſt ihrer Ar¬
beit verſtehen laſſe. Sie druͤckte ſich aber mit
ſo artigen und klugen Worten aus, daß Ferdi¬
nand von ihrem naiven, anmuthigen Geiſte ent¬
zuͤckt wurde und immer weniger ſeine Blicke von
ihr wandte oder von ihrer Seite wich. Es wehte
ein ſuͤßer Hauch der Frauenhaftigkeit ihn an,
wenn ſie laͤchelte und ſprach, und der Stern in
ihren Locken glaͤnzte wirklich wie der Stern der
Venus.
Er fuͤhlte eine Feſſelung aller Sinne, welche
ihn alles Andere vergeſſen und alles Trachten auf
das reizende Weib richten ließ, von dem ſie aus¬
ging, als ob ſonſt kein Heil in Zeit und Ewig¬
keit zu finden waͤre. Bei den meiſten Maͤnnern
iſt dies ein voruͤbergehendes inneres Begehren,
eine raſche, allmaͤlig verwehende Aufwallung des
III. 19[290] Denkens, die hundertmal entſteht und hundertmal
verſchwindet. Ferdinand war aber Einer von
denen, welche, in allen anderen Dingen klar und
beſonnen, in dieſem Einen Punkte die Verblen¬
dung und Aufwallung mit ſchrankenloſer und un¬
verhuͤllter Selbſtſucht kund geben. Roſalie lieh
ſeiner beredten Aufmerkſamkeit ein williges Ohr
und blickte ihn dabei mit großem Wohlwollen
an, nur zuweilen einen fluͤchtigen, aber zufriede¬
nen Blick auf die prachtvoll und maͤchtig geformte
Geſtalt Erikſon's werfend, wenn er voruͤber ging,
ſo daß dieſer mit der Wahl ſeines Koſtuͤmes ſich
ausgeſoͤhnt, wenn er dieſe Blicke geſehen haͤtte.
Er ließ aber den Unmuth nicht uͤber ſich Herr
werden, ſondern betrug ſich gleichmuͤthig und
ſtolz, und nur wenn ſein Blick denjenigen Ro¬
ſaliens traf, ſah er ſie mit großen fragenden Au¬
gen an.
Agnes hatte ſchon lange ſtumm neben Hein¬
rich geſeſſen; ſie wiegte trauernd, und den Buſen
von ungeſtuͤmem Schmerze bewegt, das ſchwarz
gelockte Haupt auf den ſchmalen Silberſchultern,
und nur zuweilen ſchoß ſie einen flammenden
[291] Blick zu Ferdinand und Roſalien hinuͤber, zuwei¬
len ſah ſie verwundert und wehmuͤthig hin, aber
immer ſah ſie daſſelbe Schauſpiel.
Heinrich, welcher aus Ferdinand's Betragen
nicht klug wurde, indem ihm eine ſolche Unmit¬
telbarkeit des Wechſels und unter ſolchen Umſtaͤn¬
den doch nicht glaubhaft ſchien, verſank in tiefes
Sinnen. Die vergangene Zeit kam uͤber ihn, und
indem er an die bemalte Decke des Saales empor
ſah, erinnerte er ſich jener Faſtnacht, wo er unter
dem freien Himmel der Heimath, auf luftigen
Bergen unter Vermummten ſich umgetrieben oder
neben der todten Anna durch den Wald geritten.
Er verfiel mehr und mehr auf das Andenken
dieſes guten Maͤdchens, und eine große Verliebt¬
heit erfuͤllte ihn, wie er ſie lange nicht empfunden.
Ein tiefer Seufzer weckte ihn auf, welchen
die ſilberne Agnes neben ihm that, und ſogleich
ſchloſſen ſich ſeine Empfindungen, die aus dem
Schattenreiche gleich Abendnebeln aufgeſtiegen, an
dieſen lebendigen Kern; er ſah ihre ſeltſame
Schoͤnheit und trank verwirrt aus ſeinem Wein¬
glaſe, als Agnes ihn ploͤtzlich aufforderte, mit ihr
19 *[292] zu tanzen. Schon drehten ſie ſich raſch durch
die rauſchende Menge, und Jedermann lachte
voll Vergnuͤgen, als der gruͤngekleidete Narr mit
der elfengleichen Diana dahin walzte. Sie tanz¬
ten zwei und dreimal um den Saal und begeg¬
neten jedesmal der roſigen Venus, deren Pur¬
purgewand flog und den mit ihr tanzenden Lys
zeitweiſe halb verhuͤllte. Dieſer gruͤßte das Dia¬
nenpaar froh und zufrieden, wie man Kinder
gruͤßt, welche ſich gut zu unterhalten ſcheinen,
denn er war in dieſer Sache ſo verblendet, daß
er ſich vollkommen unverpflichtet und frei glaubte,
bloß weil er mit dem armen Maͤdchen abſichtlich
noch nie von Liebe geſprochen hatte. Roſalie
hingegen, welche von der fruͤheren Bewandtniß
dieſes Verhaͤltniſſes nichts wußte, freute ſich uͤber
das zierliche Kind und verlangte daſſelbe in ihrer
Naͤhe zu haben, als Heinrich mit Anderen an
einigen luſtigen Spielen, die aufgefuͤhrt wurden,
theilnehmen mußte.
Kunz von der Roſen fuͤhrte an einem langen
Seile alle vorhandenen Narren durch das Ge¬
draͤnge; jeder trug auf einer Tafel geſchrieben
[293] den Namen ſeiner Narrheit, und von den leich¬
teren und liebenswuͤrdigeren Narrheiten ſchied der
luſtige Rath neun ſchwere aus und ſtellte mit
ihnen vor dem Kaiſer ein Kegelſpiel auf. So
ſtanden da vor Aller Augen: Hochmuth, Neid,
Vielwiſſerei, Grobheit, Eitelkeit, Wankelmuth in
der Hoffnung, Halsſtarrigkeit, thatloſe Verglei¬
chungsſucht und unfruchtbare Selbſtbeſpiegelung.
Mit einer ungeheuren Kugel, welche die leichteren
Narren mit komiſch heftigen Geberden herbei¬
waͤlzten, verſuchte nun mancher Ritter und Buͤr¬
ger, nach den neun Narren zu ſchieben, aber
nicht Einer wankte allen dieſen Einzelwuͤrfen, bis
endlich der kaiſerliche, tadelloſe Held, in welchem
ſich gewiſſermaßen das ganze deutſche Volk dar¬
ſtellte, ſie alle mit Einem Wurfe uͤber den Hau¬
fen warf, daß ſie poſſierlich uͤbereinander purzelten.
Kunz von der Roſen richtete die Gefallenen
halb auf und ordnete ſie zu einer plaſtiſch-mimi¬
ſchen Darſtellung der Niobiden-Gruppe, und
von dieſem Scherze ging er zur Bildung anderer
beruͤhmten Gruppen uͤber; drei reizende, nicht
voͤllig ausgewachſene Schuͤler im Narrenhabit
[294] ſtellten die Grazien dar, und das ſo anmuthig
ſchalkhaft, daß ſie, kaum auseinander gegangen,
in den Kreis der Damen gelockt wurden, ohne
zu wiſſen wie, und ſich dort auf's liebreichſte ge¬
ſchmeichelt und gehaͤtſchelt ſahen. Des gleichen
Vorzuges genoß ein ſchoͤner Zwerg, der kleinere
Bruder jenes Koboldes auf dem Wagen des
Bergkoͤnigs, und welcher mit klaſſiſchem Anſtande
den ſterbenden Fechter machte in ſeinem Schellen¬
kleidchen. Dann ſtellte Erikſon den Laokoon vor
durch maͤchtige Papierſchlangen mit zwei jungen
Narren verbunden.
Als er in der beſchwerlichen Stellung da ſaß
und ſich nicht ruͤhren durfte, indeſſen ſeine kraͤf¬
tigen Muskeln alle in wunderſchoͤnem Spiele ſei¬
ner Bewegung gehorchten, ſah er, wie Roſalie,
deren Augen unverwandt an ihm gehangen, faſt
gewaltſam von Ferdinand weggezogen und durch
die Raͤume gefuͤhrt wurde. Er hielt es nun nicht
laͤnger aus, und kaum von den Schlangen los¬
gewickelt, durchſtuͤrmte er das Haus und bettelte
ſich von befreundeten Geſtalten Gewandſtuͤcke zu¬
ſammen, die ſie in der vorgeruͤckten Stunde nun
[295] wohl entbehren konnten, und warf ſich dieſelben
haſtig uͤber. Wunderlich gekleidet, theilweiſe ein
Moͤnch, ein Jaͤger und ein wilder Mann, den
Kopf noch gruͤn belaubt, ſuchte er die engere Ge¬
ſellſchaft auf und ſetzte ſich dicht an die andere
Seite Roſaliens; denn die Bacchusleute, die Jaͤ¬
ger und der Hof der Venus hatten ſich nun in
einem großen Kreiſe vereinigt, um bis zum na¬
henden Morgen gemeinſam zu jubiliren, und
Ferdinand wich nicht von der Seite der ſchoͤnen
Wittwe. Mit der groͤßten Tollheit fuhr er fort,
ihr den Hof zu machen, obgleich er die Hoff¬
nungen Erikſon's wohl kannte. Dieſer ſaß und
lauſchte ſeinen Worten, ohne daß er ſich ſeine
Unruhe anmerken ließ und ohne ſeine Schoͤne zu be¬
laͤſtigen, welche ebenfalls fortfuhr, Ferdinand's
Huldigungen ihre Freundlichkeit entgegen zu ſetzen
und ſich von ihm aufs Angenehmſte unterhalten
zu laſſen. Erikſon beſorgte wohl, daß der Teufel
ſein Spiel treiben und ihm die Jagd verderben
koͤnnte; aber als ein erfahrener Jaͤger verharrte
er unbeweglich auf dem Anſtande, weil ihm das
zu erjagende Wild zu koſtbar und edel war, als
[296] daß er ſich durch Leidenſchaftlichkeit verwirren
wollte.
Gegenuͤber an dem großen Tiſche ſaß Agnes,
welche den gruͤnen Heinrich aͤngſtlich bei ſich feſt¬
hielt, da er Ferdinand's Freund und das einzige
Band war, welches ſie mit dieſem Ungetreuen
einigermaßen zuſammenhielt. Alles freute und er¬
goͤtzte ſich, klang und jubelte in gewichtiger rau¬
ſchender Pracht um ſie her, nur ſie allein ver¬
[z]ehrte ſich in ungeſtillter Begierde. Die Nacht
naͤherte ſich ihrem Ende, und ſtatt die gehoffte
Liebesentſcheidung zu bringen, ſah ſie ihr Gluͤck
deutlich entfliehen.
In der ſchmerzlichſten Aufregung verlangte
ſie wieder zu tanzen und zog Heinrich fort. Die¬
ſer berauſchte ſich, indem er ſie zum Tanze um¬
fing, an ihrem Anblick; ein heftiges Begehren
wallte durch ſeinen ganzen Koͤrper, daß der
aͤußerſte Zipfel an ſeiner gruͤnen Kappe erzitterte
und die Schelle daran leiſe erklang. Als aber
Agnes ploͤtzlich anhielt, ihm die Hand auf die
Schulter legte und leidenſchaftlich ſchmeichelnd
bat, er moͤchte doch ſogleich hingehen und Ferdi¬
[297] nand bitten, daß er nur ein Mal mit ihr tanze,
lief er gehorſam, ja eifrig hin, zog ſeinen Freund
zur Seite und beſchwor ihn mit zaͤrtlichen Wor¬
ten, es zu thun. Lys bat ihn angelegentlich,
ſtatt ſeiner mit Agnes zu tanzen, und entzog ſich
ihm raſch.
Die beiden jungen Leute drehten ſich nun
wieder heftig und luſtig herum. Das Maͤdchen
athmete ſo hoch, daß die ſchmale Spanne ihrer
Silberbruſt wogte und funkelte, wie die glaͤn¬
zenden Wellen im Mondſchein, und alle Gloͤckchen
an Heinrich's Kleid und Kappe zitterten und
klangen.
Abermals ſandte ſie ihn zu Ferdinand mit
dem naͤmlichen Auftrag, und da Heinrich dieſen
mit eindringlichen und tadelnden Worten, ſehr
aufgeregt, ausrichtete, fuhr ihn jener an und
ſagte: Was iſt denn das fuͤr eine Sitte von
einem jungen Maͤdchen? Tanzt mit einander und
laßt mich zufrieden!«
Heinrich fuͤhlte ſich halb erzuͤrnt und halb
erfreut uͤber dieſe Antwort, und die daͤmoniſche
Luſt, eine ſchlimme Sachlage zu benutzen, ſtieg
[298] in ihm auf; doch bis er zu dem harrenden Maͤd¬
chen gelangte, ſiegte das Mitleid und die natuͤr¬
liche Artigkeit, und er hinterbrachte ihr nicht
Ferdinand's harte Worte, ſondern ſuchte ſie zu
vertroͤſten.
Noch einmal tanzten ſie und noch bewegter
und ungeſtuͤmer herum, und noch einmal ſandte
ſie ihn zu dem Wankelmuͤthigen und ließ dieſen
bitten, ſie nach Hauſe zu bringen.
Ferdinand eilte jetzt ſogleich herbei, beſorgte
den warmen Mantel des Maͤdchens und ihre
Ueberſchuhe, und als ſie gut verhuͤllt war, fuͤhrte
er ſie unter die Hausthuͤr, legte ihren Arm in
denjenigen Heinrich's und bat dieſen, indem er
ſich von Agnes in freundlich vaͤterlichem Wohl¬
wollen verabſchiedete, ſeine kleine Schutzbefohlene
recht ſorgſam und wacker nach Hauſe zu geleiten.
Zugleich verſchwand er, nachdem er Beiden
die Haͤnde gedruͤckt, wieder in der Menge, welche
die breite Treppe auf und nieder ſtieg.
Da ſtanden ſie nun auf der Straße; der
Wagen, welcher ſie hergebracht, war nicht zu
finden, und nachdem Agnes traurig an das er¬
[299] leuchtete Haus, in welchem es ſang und klang,
hinaufgeſehen, kehrte ſie ihm noch trauriger den
Ruͤcken und trat, von Heinrich gefuͤhrt, den Ruͤck¬
weg an durch die ſtillen Gaſſen, in denen der
Morgen graute.
Sie hielt das Koͤpfchen tief geſenkt und ver¬
mochte nicht auf den Mantel Acht zu geben, wel¬
cher alle Augenblicke von den Schultern ſank, ſo
daß ihr feiner Oberkoͤrper durch das Zwielicht
ſchimmerte, bis Heinrich ſie wieder verhuͤllte. In
der Hand trug ſie unbewußt den großen eiſernen
Hausſchluͤſſel, welchen ihr Lys in der Zerſtreuung
zugeſteckt, ſtatt ihrem Begleiter. Sie trug ihn
feſt umſchloſſen in dem dunklen Gefuͤhle, daß
Ferdinand ihr das kalte roſtige Eiſen gegeben.
Als ſie bei dem Hauſe angekommen waren, ſtand
ſie ſchweigend und ruͤhrte ſich nicht, obgleich
Heinrich ſie wiederholt fragte, ob er die Glocke
ziehen ſollte, und erſt als er den Schluͤſſel in
ihrer Hand entdeckte, aufſchloß und ſie bat, hin¬
einzugehen, legte ſie ihm langſam die Arme um
den Hals und kuͤßte ihn, aber wie im Traume
und ohne ihn anzuſehen. Sie zog hierauf die
[300] Arme enger zuſammen und kuͤßte ihn heißer und
heißer, bis Heinrich unwillkuͤrlich ſich regte und
ſie auch in die Arme ſchließen wollte. Da er¬
kannte ſie ihn, eilte wie wahnſinnig in's Haus
und ſchlug die Thuͤr zu. Heinrich hoͤrte, wie
ſie, die Treppe hinaufgehend, ſich wiederholt an
den Stufen ſtieß. Alles war dunkel und ſtill in
dem romantiſchen Hauſe; die Mutter ſchien feſt
zu ſchlafen, und nachdem Heinrich eine Weile
auf dem kleinen Platze, von ſeltſamen Empfin¬
dungen und Gedanken erfuͤllt, umhergegangen,
ſchlug er endlich den Ruͤckweg nach dem Odeon ein.
Die Sonne ging eben auf, als er in den
Saal trat. Alle Frauen und viele aͤltere Maͤnner
waren ſchon weggegangen; die große Menge der
Jungen aber, von hoͤchſter Luſt bewegt, tummelte
ſich ſingend durch einander und ſchickte ſich an,
eine Reihe von Wagen zu beſteigen, um unver¬
zuͤglich, ohne auszuruhen, in's Land hineinzufah¬
ren und das Gelage in den Forſthaͤuſern und
Waldſchenken fortzuſetzen, welche romantiſch an
den Ufern des breiten Gebirgsſtromes lagen.
Roſalie beſaß in jener Gegend ein Landhaus,
[301] und ſie hatte die froͤhlichen Leute der Mummerei
eingeladen, ſich auf den Mittag dort einzufinden,
bis wohin ſie als bereite Wirthin ebenfalls da
ſein wuͤrde. Insbeſondere hatte ſie viele Damen
gebeten, und dieſe hatten ausgemacht, da es ein¬
mal Faſching ſei, in der mittelalterlichen Tracht
hinaus zu fahren; denn auch ſie wuͤnſchten ſo
lange als moͤglich ſich des ſchoͤnen Ausnahmezu¬
ſtandes zu erfreuen.
Erikſon war nach Hauſe geeilt, um ſich nun
gaͤnzlich umzukleiden; mit Huͤlfe einer ganzen
Schneiderwerkſtatt brachte er in einigen Stunden
noch ein gutes ehrbares Jaͤgergewand zu Stande,
in welchem er hinaus eilte. Aber auch Ferdinand
war nicht muͤſſig. Er nahm einen Wagen, kaufte
theure Stoffe ein und fuhr von Schneider zu
Schneider, jedem ein Stuͤck in die Arbeit gebend
und dieſelben zur groͤßten Eile anſpornend. In
kaum einer Stunde war die Tracht eines alt¬
orientaliſchen Koͤnigs fertig, von feinſter weißer
Leinwand und Purpurſeide. Dann fuhr er zu
einem Banquier und von da zu allen Juwelie¬
ren, den tauglichſten Schmuck ausſuchend und
[302] ſich mit demſelben bedeckend; er verwandte eine
ſolche Summe fuͤr Gold und Steine, als ob er
damit handeln wollte, und doch wußte er recht
gut, daß es nur eine voruͤbergehende Leidenſchaft,
eine Art Tollwuth ſei, fuͤr welche er ſo hartnaͤckig
alles daran ſetzte, der ſonſt kein Verſchwender
war, ſondern vielmehr mit großer Sparſamkeit
und ſehr zweckmaͤßig die Mittel abwog, welche
er an ſein Leben und Vergnuͤgen wandte.
Zuletzt ließ er ſich das lockige Haar ſalben
mit den koͤſtlichſten Oelen; die Arme trug er
bloß und mit goldenen Spangen geſchmuͤckt, und
ſo erſchien er Mittags, ohne vorher die im Walde
lagernden Kuͤnſtler aufgeſucht zu haben, in Ro¬
ſaliens Landhaus.
Heinrich hingegen fuhr gleich in der Morgen¬
fruͤhe mit der uͤbrigen Schaar hinaus. Große
Wagen mit Landsknechten uͤber und uͤberladen
und von deren Spießen ſtarrend, fuhren voraus,
und ihnen nach die lange Reihe der bunten Ge¬
ſtalten in die helle Morgenſonne hinein, am
Rande der ſchoͤnen Buchenwaͤlder, hoch auf dem
Ufer des tiefliegenden Stromes, der in glaͤnzenden
[303] Windungen ſich um die Geſchiebe- und Gebuͤſch¬
inſeln waͤlzte. Ueber den Waͤldern ſah man wie
blaue Schatten die Kuppen des fernen Hoch¬
landes.
Es war ein milder Februartag und der Him¬
mel blau; die herrlichen Buchen wurden bald
von der waͤrmenden Sonne durchſchoſſen, und
wenn ihnen das Laub fehlte, ſo glaͤnzte das weiche
Moos am Boden und auf den Staͤmmen um
ſo gruͤner, und in der Tiefe dampfte und leuch¬
tete das blaue Bergwaſſer.
Der Zug ergoß ſich uͤber eine maleriſche
Gruppe von Haͤuſern, welche vom Wald um¬
geben auf der Uferhoͤhe lag. Ein Forſthof, ein
alterthuͤmliches Wirthshaus und eine Muͤhle an
ſchaͤumendem Waldbach waren bald in ein ge¬
meinſames, von Farben glaͤnzendes Freudenlager
verwandelt und verbunden; die ſtillen Bewohner
ſahen ſich wie von einem lebendig gewordenen
Traume uͤberfallen und umklungen; den Kuͤnſt¬
lern aber weckte die freie Natur, der erwachende
Lenz den Witz in der tiefſten Seele. Die friſche
Luft verwehte den Rauſch der Nacht und legte
[304] die zarteſten und beweglichſten Fuͤhlfaͤden der
Freude und Aufgeregtheit bloß; wenn die Luſt
der verſchwundenen Feſtnacht zum groͤßten Theil
auf Verabredung und Einrichtung beruhte, ſo
lockte dagegen die heutige ganz frei und in ſich
ſelbſt gegruͤndet, wie eine am Baume prangende
Frucht zum laͤſſigen Pfluͤcken. Die ſchoͤnen, dem
phantaſtiſchen Fuͤhlen und Genießen angemeſſenen
Kleider waren nun wie etwas Hergebrachtes, das
ſchon nicht mehr anders ſein kann, und in ihnen
begingen die Gluͤcklichen tauſend neue Scherze,
Spiele und Tollheiten von der geiſtreichſten, wie
von der allerkindlichſten Art, oft ploͤtzlich unter¬
brochen durch den wohlklingenden, feſten Maͤnner¬
geſang.
Heinrich trieb ſich uͤberall umher und vergaß
ſich ſelber; er war uͤberwacht und doch nicht
muͤde, vielmehr neugierig und begierig, erſt recht
in den glaͤnzenden Becher des Lebens zu ſchauen.
Das klare Licht, das Land, die Leute, der Geſang
umwirkten ihn ſeltſam. Als alle die Hundert
auf den naͤrriſchen Einfall eines Einzelnen ploͤtz¬
[305] lich auf die Baͤume geklettert waren und wie ein
großer Schwarm fremder, farbiger Voͤgel in den
kahlen Aeſten ſaßen, blieb er, nachdem ſie voll
Gelaͤchter hinabgeſprungen, in Gedanken auf einer
ſchwanken Birke ſitzen; denn er verwunderte ſich,
wie nun das ganze Weſen in die Runde gleich
einer ſtillen weiten Ferne um ihn war und die
Rufe und Lieder ſelbſt wie uͤber eine weite See
her klangen, auch die Geſtalten wirr und traum¬
haft ſich bewegten. Es war einer jener Augen¬
blicke, wo die Zeit eine Minute ſtill zu ſtehen
ſcheint und man von aller Außenwelt losgeloͤſt
endlich ſich ſelbſt ſieht, fuͤhlt und bemerkt. Es
fiel ihm auf, daß er nun ſchon bei fuͤnf und
ſechs Jahren zuruͤckzaͤhlen konnte, ohne aus dem
Bereiche des bewußten, reifenden Alters zu ge¬
rathen ; er fuͤhlte zum erſten Male die Flucht des
Lebens. Er war nun zwei und zwanzig Jahre
alt; ploͤtzlich kam es ihm in den Sinn, daß er
in ſeiner Wohnung dieſe und jene kleine Gegen¬
ſtaͤnde beſaß, ein Pappdeckelchen, eine Schachtel
oder gar etwas, das an Spielzeug graͤnzte, welche
unmittelbar aus der Kinderzeit ſtammten und
lll. 20[306] die er in fortwaͤhrendem Gebrauche um ſich ge¬
habt, ohne ſich deſſen inne zu ſein.
Er ſah deutlich ihre Geſtalt, kleine Beſchaͤdi¬
gungen, und erinnerte ſich, wo und wann er ſie
verfertigt, ein Stuͤckchen Papier abgeriſſen oder
mit dem Federmeſſer daran gekritzelt hatte.
Sogleich glaubte er vom Baume herunter¬
ſpringen, nach Hauſe laufen und die unſchuldigen
Sachen vernichten zu muͤſſen. Denn ſie kamen
ihm nun ganz unertraͤglich vor. Er ſah auch
ſeine Jugendgeſchichte vor Augen, ihren Einband,
den er ſelbſt verfertigt, das Geſchreibſel, Alles
wuͤrde er ſogleich zerriſſen und vernichtet haben,
wenn er es in Haͤnden gehabt haͤtte.
Alles Vergangene erſchien ihm thoͤricht, dumpf
und beſchaͤmend, auch erinnerte er ſich genau
aller Dummheiten, die er gemacht, ſogar ſolcher,
die er im Kinderroͤckchen begangen, und er fuͤhlte
ſich roth werden uͤber alle, weil er ſich jetzt un¬
endlich klug und gereift vorkam. Auch nahm er
ſich vor, von dieſem Augenblicke an ganz klug
zu ſein und durchaus nichts Thoͤrichtes mehr
anzuſtellen.
Aber alles dies geſchah mit reißender Schnel¬
ligkeit in wenig Augenblicken, und er ließ ſich,
ſchon von anderen Gedanken ergriffen, von der
Birke herunter, als eben Erikſon aus der Stadt
herangeſchritten kam.
Ihr erſtes Geſpraͤch war das Benehmen Fer¬
dinand's. Erikſon ſagte nicht viel, waͤhrend Hein¬
rich mit großer Beredſamkeit ſein Erſtaunen aus¬
druͤckte, wie jener ein ſolches Weſen, wie Agnes
ſei, alſo behandeln koͤnne. Er ergoß ſich in den
bitterſten Tadel und um ſo lauter, als er ſelbſt
in das ſchoͤne Kind verliebt war und ſein Gewiſ¬
ſen ihm ſagte, daß das nichts weniger als in der
Ordnung ſei.
Erikſon hoͤrte nicht viel darauf, ſondern ſagte:
»Ich will wetten, daß er das arme Ding heute
ſitzen laͤßt und nicht mitbringt. Wir ſollten ihm
aber einen Streich ſpielen, damit er zur Vernunft
kommt. Nimm einen der Wagen, fahre in die
Stadt und ſieh ein wenig zu! Findeſt Du den
verliebten Teufel nicht zu Hauſe, noch bei dem
Maͤdchen, ſo bring' dieſes ohne Weiteres mit, und
zwar in Roſaliens Namen und Auftrag, ſo kann
[308] die Mutter nichts dagegen haben; ich werde dies
verantworten. Zu Lys wirſt Du nachher einfach
ſagen, daß Du das fuͤr Deine Pflicht gehalten,
da er Dir die Schoͤne am Abend vorher ſo hart¬
naͤckig anvertraut.«
Heinrich ließ ſich nicht zweimal auffordern
und fuhr ſogleich in die Stadt. Auf dem Wege
traf er Ferdinand ganz allein in einer Kutſche.
»Wohin willſt Du?« rief er Heinrich zu. »Ich
ſoll,« erwiderte dieſer, »Dich aufſuchen und ſehen,
daß Du das feine Maͤdchen mitbringſt, im Fall
Du es nicht ohnehin thun wuͤrdeſt. Dies ſcheint
nun ſo zu ſein und ich will ſie holen, wenn Du
nichts dagegen haſt Erikſon's ſchoͤne Wittwe
wuͤnſcht es.«
»Thu' das, mein Sohn!« erwiderte Ferdinand
ganz gleichguͤltig, indem er ſich dichter in ſeinen
Mantel huͤllte und fuhr ſeines Weges, und Hein¬
rich hielt bald darauf vor Agneſens Wohnung an.
Das Rollen und ploͤtzliche Stillſtehen der Raͤder
widerhallte auffallend auf dem kleinen ſtillen
Platze, ſo daß Agnes im ſelben Augenblicke mit
ſtrahlenden Augen an's Fenſter fuhr. Als ſie
[309] Heinrich ausſteigen ſah, verſchleierte ſich der Blick
wieder, doch harrte ſie neugierig, daß er in die
Stube traͤte.
Ihre Mutter empfing ihn, beſchaute ihn um
und um, und indem ſie fortfuhr, mit einer
Straußfeder, die ſie in der Hand hielt, ihren
Altar, das darauf ſtehende Bild ihrer vergangenen
Schoͤnheit, die Porzellanſachen und Prunkglaͤſer
davor, abzuſtaͤuben und zu reinigen, begann ſie
mit einem ſeelenloſen, ſingenden Tone zu plau¬
dern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stuͤck
Carneval in's Haus, gelobt ſei Maria! Welch'
allerliebſter Narr iſt der Herr! Aber was tauſend
habt Ihr denn, was hat Herr Lys nur mit mei¬
ner Tochter angefangen? Da ſitzt ſie den ganzen
Morgen, ſagt nichts, ißt nichts, ſchlaͤft nicht,
lacht nicht und weint nicht! Dies iſt mein Bild,
Herr! wie ich vor zwanzig Jahren geweſen bin!
Dank ſei unſerem Herrn Jeſus Chriſt, man darf
es anſehen! Sagen Sie nur, was iſt es mit dem
Kinde? Gewiß hat ſie Herr Lys zurechtweiſen
muͤſſen, ich ſag' es immer, ſie iſt noch zu unge¬
bildet fuͤr den feinen Herrn, ſie lernt nichts und
[310] betraͤgt ſich unanſtaͤndig. Ja, ja, ſieh nur zu,
Neſi! lernſt Du das von mir? Siehſt Du nicht
auf dieſem Bild, welchen Anſtand ich hatte, als
ich jung war? Sah ich nicht aus, wie eine
Edeldame?«
Heinrich antwortete auf alles dies mit ſeiner
Einladung, welche er ſowohl in Ferdinand's als
in Roſaliens Namen ausrichtete; er ſuchte einige
Gruͤnde hervor, warum er und nicht jener ſelbſt
komme, indeſſen die Mutter einmal uͤber das an¬
dere rief: »So mach', ſo mach', Neſi! Jeſus
Maria, wie reiche Leute ſind da beiſammen! Ein
Bischen zu klein, ein kleines Bischen iſt die gnaͤ¬
dige Frau, ſonſt aber reizend! Nun kannſt Du
nachholen, was Du geſtern etwa verſaͤumt und
verbrochen! Geh, kleide Dich an, Undankbare!
mit den koſtbaren Kleidern, die Herr Ferdinand
Dir geſchenkt! Da liegt der koͤſtliche Halbmond
am Boden. Aber komm, jetzt muß ich Dir das
Haar machen, wenn's der Herr erlaubt!«
Agnes ſetzte ſich mitten in die Stube; ihre
Augen funkelten und die Wangen roͤtheten ſich
leis von Hoffnung. Ihre Mutter friſirte ſie nun
[311] mit großer Geſchicklichkeit; ſie fuͤhrte mit großer
Anmuth den Kamm und Heinrich mußte geſtehen,
als er die hochgewachſene Frau betrachtete und
die immer noch ſchoͤnen Anlagen und Zuͤge ihres
Geſichtes ſah, daß ſie wenigſtens einen wahren
Grund ihrer Eitelkeit gehabt. Doch wurde ſein
Auge bald von Agnes allein beſchaͤftigt. Sie ſaß
mit bloßem Halſe, von der Nacht der aufgeloͤſten
Haare umſchattet; um die langen Straͤnge zu
kaͤmmen und zu ſalben, mußte die Mutter weit
von ihr zuruͤcktreten. Sie ſprach fortwaͤhrend,
indeſſen weder Heinrich noch Agnes etwas ſagten.
Er haͤtte gewuͤnſcht, ein Jahr in dieſer Ruhe zu
verharren und keinen anderen Anblick zu haben,
als dieſen.
Endlich war das Haar gemacht und Agneſe
ging in ihre Kammer, das Dianengewand wieder
anzuziehen; die Mutter ging mit, ihr zu helfen;
allein ſobald ſie einigermaßen damit zu Stande
gekommen, erſchienen ſie wieder und vollendeten
den Anzug in der Stube, weil die Alte ſich un¬
terhalten wollte.
Agnes ſah nun wo moͤglich noch wunderbarer
[312] aus, als geſtern; denn ihr ſeltſamer Zuſtand, in
dem ſie nicht geſchlafen hatte, waͤhrend ſie doch
von neuer Hoffnung und Sehnſucht belebt und
durchgluͤht war, warf einen geiſterhaften Glanz
uͤber ſie.
Sie fuhren in verſchloſſenem Wagen durch
die Stadt; ſobald ſie aber im ſonnigen Freien
waren, ließ Heinrich die Decke zuruͤckſchlagen.
Agnes athmete auf und fing an zu plaudern.
Heinrich mußte ihr erzaͤhlen, wie die heutige Luſt¬
barkeit ſich veranlaßt habe, wer draußen zu tref¬
fen und wo Ferdinand ſei. Sie wurde immer
vertraulicher, ſah ihm freundlich laͤchelnd in die
Augen und ergriff ſeine Hand; denn er war ihr
wie ein guter Engel erſchienen, der ſie zum Gluͤcke
fuͤhren ſollte. Die Landleute am Wege ſahen
mit Verwunderung das einzelne Paͤrchen dahin
fahren, das wie aus einer anderen Welt kam,
und Heinrich fuͤhlte ſich zufrieden und begluͤckt.
Der Menſch naͤhrt ſich, wird gut oder boͤſe,
vom Schein. Wenn ihm das Gluͤck eine bloße
Situation giebt, ſo wurzelt er daran, wie eine
Pflanze am nackten Felſen. Weil Heinrich nun
[313] wieder mit einem reizenden und ungewoͤhnlichen
Maͤdchen, in ſchoͤner Tracht, in vertrautem Zu¬
ſammenſein unter dem blauen Himmel dahin
fuhr wie vor Jahren, als er mit einem wirklichen
Liebchen uͤber den Berg geritten, erklaͤrte ſich ſein
Herz zufrieden und verlangte nichts Beſſeres.
Er faßte ſich alſo zuſammen und nahm ſich
vor, ordentlich zu ſein. Zwar fuͤhlte er ſich noch
mehr als geſtern in Agnes verliebt, aber er fuͤhlte
nun auch, daß er ihr herzlich gut war und nur
Gutes wuͤnſchte. Daher entſchloß er ſich, ihr als
treuer Freund zu dienen und Alles daran zu ſetzen,
daß ihr kein Unrecht geſchaͤhe.
Als ſie ſchon das weiße Landhaus in geringer
Entfernung glaͤnzen ſahen, gerieth Agnes auf's
Neue in große Aufregung; ſie wurde bald roth,
bald blaß, und da ſich eine kleine laͤndliche Ka¬
pelle am Wege zeigte, verlangte ſie auszuſteigen.
Sie eilte, ihr langes Silbergewand zierlich
zuſammennehmend, in die Kapelle; der Kutſcher
nahm ſeinen Hut ab und ſtellte ihn neben ſich
auf den Bock, um die fromme Muße auch zu
einem Vaterunſer zu benutzen, und Heinrich trat
20 *[314] verlegen unter die offene Thuͤr. Das Innere
der Kapelle zeigte nichts, als einen wurmſtichigen
Altar, bedeckt mit einer verblichenen veilchen¬
blauen Decke. Das Altarbild enthielt einen eng¬
liſchen Gruß, und vor demſelben ſtand noch ein
kleines Marienbildchen in einem ſtarren Reif¬
roͤckchen von Seide und Metallflittern in allen
Farben. Rings um den Altar hingen geopferte
Herzen von Wachs, in allen Groͤßen und auf
die mannigfaltigſte Weiſe verziert; im einen ſtak
ein Papierbluͤmchen, im anderen eine Flamme von
Rauſchgold, das dritte durchbohrte ein Pfeil, wie¬
der ein anderes war ganz in rothe Seidenlaͤpp¬
chen gewickelt und mit Goldfaden umwunden,
eines war gar mit großen Stecknadeln beſteckt,
wie ein Nadelkiſſen, wohl zum Zeichen der ſchmerz¬
vollen Pein ſeiner Spenderin.
Auf den Baͤnken aber lagen zahlreiche Ab¬
druͤcke eines Gebetes, das auf Pappe gezogen
auch an der Thuͤr hing und folgende Ueberſchrift
trug: Gebet zur allerlieblichſten, allerſeligſten und
allerhoffnungsreichſten heiligen Jungfrau Maria,
der gnadenreichen und huͤlfeſpendenden Fuͤrbitterin
[315] Mutter Gottes. Approbirt und zum wirkſamen
Gebrauche empfohlen fuͤr bedraͤngte weibliche Her¬
zen durch den hochwuͤrdigſten Herrn Biſchof ꝛc.
Dazu war noch eine Gebrauchsanweiſung ge¬
fuͤgt, wie viele Ave und andere Spruͤche dazwi¬
ſchen zu beten ſeien.
Agnes lag auf den Knieen vor dem Altare,
und den Roſenkranz, den ſie aus dem Buſen ge¬
zogen, um die Haͤnde gebunden, betete ſie leiſe
aber inbruͤnſtig, das Gebet vor ſich auf dem
Boden. Wenn ſie einige Worte abgeleſen hatte,
ſo ſchaute ſie flehend auf zu dem Marienpuͤppchen
und bat die goͤttliche Frau mit heiligem Ernſt,
ihr beizuſtehen in ihrer Bedraͤngniß und in ihrem
Vorhaben.
Endlich ſtand ſie mit einem großen Seufzer
auf und ging nach dem Weihkeſſel, in welchen
ſie ihre weißen Finger tauchte. Da ſah ſie Hein¬
rich in die Thuͤr gelehnt, wie er ſie unverwandt
betrachtete und an ſeiner Haltung ſah ſie, daß
er ein Ketzer ſei. Aengſtlich tauchte ſie den vor¬
handenen Wedel tief in den Keſſel, eilte damit
auf Heinrich zu, wuſch ihm foͤrmlich das Geſicht
[316] und beſprengte ihn uͤber und uͤber mit Waſſer,
indem ſie mit dem Wedel unaufhoͤrliche Kreuze
ſchlug. Nachdem ſie ſo die ſchaͤdliche Einwirkung
ſeiner Ketzerei auf ihre Andacht gebannt, ergriff
ſie beruhigter ſeinen Arm und ließ ſich wieder in
die Kutſche heben.
Heinrich zog ſein Taſchentuch und trocknete
ſich das Geſicht, welches von Weihwaſſer troff:
Agnes wollte ihn daran verhindern und zog ihm
das Tuch weg, und indem ſie ſo in einen Streit
geriethen, der zuletzt zum muthwilligen Scherz
wurde, vergaßen ſie ganz, daß ſie bereits an dem
Garten Roſaliens angekommen waren.
Die zahlreiche Geſellſchaft, welche ſchon in
dem Landhauſe verſammelt war, begruͤßte die
liebliche Erſcheinung mit lauter Freude. Roſalie
hatte außer den Kuͤnſtlern und den Damen von
geſtern noch mehrere ihrer Verwandten und
Freunde holen laſſen, welche ſich nun in ſonntaͤg¬
licher moderner Kleidung unter die Vermummten
miſchten, wovon die Geſellſchaft ein zufaͤlliges
und leichtes Anſehen gewann. Roſalie ſelbſt, um
ihren Pflichten als Wirthin beſſer nachzukommen,
[317] zeigte ſich in einfacher haͤuslicher Tracht, welcher
ſie auf das Anmuthvollſte einigen heiteren Schmuck
beigefuͤgt hatte.
Als Agnes Ferdinand in ſeinem fremdartigen
und faſt weiblichen Schmucke erblickte, blieb ſie
einen Augenblick offenen Mundes ſtehen und ge¬
rieth in eine verwirrte Berauſchung, da er zaͤrt¬
lich auf ſie zueilte, Heinrich fuͤr ſeine Muͤhe
dankte und mit voller Aufmerkſamkeit fuͤr ſie be¬
ſorgt war. Erſt nach und nach kam ſie wieder
zum Bewußtſein, wachte nun auf in froher Hoff¬
nung und ging, indem es ihr wie ein Stein
vom Herzen fiel, in eine bluͤhende Froͤhlichkeit
uͤber. Sie fing an zu zwitſchern, wie ein Voͤ¬
gelchen im Fruͤhling, und ſchaute vergnuͤgt um
ſich; denn ſie ſah nun wirklich Ferdinand neben
ſich ſitzen und hoͤrte ſeine vertraute Stimme in
artigen Worten, die er an ſie richtete.
Das kleine, ſchoͤn gebaute Haus war mit
Gaͤſten angefuͤllt. In dem maͤßigen Saale und
den wohnlichen Zimmern brannte lockendes Ka¬
minfeuer, indeſſen die Sonne waͤrmend durch die
Fenſter ſchien und auf dem Garten lag, ſo daß
[318] man durch die offenen Glasthuͤren aus und ein
ging. Ueberall bluͤhten Hyacinthen und Tulpen,
und das Treibhaus, welches im ſchoͤnſten Flore
ſtand, war zwiſchen ſeinen gruͤnen Gebuͤſchen
mit gedeckten Tiſchchen verſehen. Einige Muſiker
waren beſtellt und man tanzte in dem Saale,
jedoch ohne Haſt und ohne Ceremonien, ſondern
behaglich und abwechſelnd. Es war anmuthig zu
ſehen, wie ein Theil der Geſellſchaft zierlich und
froͤhlich tanzte, waͤhrend ein anderer Theil ſich
in Spielen und Erfindungen erging in Haus und
Garten, indeſſen ein dritter ſich im traulichen
Zimmer in weitem Ringe um den runden Tiſch
reihte und die Champagnerglaͤſer hob. Die Wir¬
thin war ſo unermuͤdlich und liebenswuͤrdig, daß
der Fremdeſte ſich bald zu Hauſe fuͤhlte. Jedem
wußte ſie durch einen einzigen Blick, durch ein
Wort oder eine Frage dies Gefuͤhl zu geben, und
diejenigen jungen Leute, welche aus duͤrftiger
Dachkammer herabgeſtiegen, nur durch ihr Fa¬
ſchingsgewand in dieſe Raͤume der Wohlhaben¬
heit und Zierlichkeit gefuͤhrt und wenig an die
Gebraͤuche der ſogenannten guten Geſellſchaft ge¬
[319] woͤhnt waren, richteten ſich nichts deſto minder
mit großer Unbefangenheit an ihren Trinktiſchen
ein, und Roſalie ſchien geehrt und erfreut zu ſein
durch das treuherzige Schenkeleben, welches ſie
mit Maß und Sitte zur Schau ſtellten.
Dadurch gewann ſie ſich die Herzen aller An¬
weſenden, ſo daß ſich alle mehr oder weniger in
ſie verliebten. Sie war ſo zu ſagen die Frau
von Gottes Gnaden, deren Anmuth Wohlwollen
und Troſt ausſtrahlte und allgemeines Wohlwol¬
len erntete, und indem in ihrer Umgebung jeder
Einzelne bei ihrem Anblick des Glaubens wurde,
daß ſie ihm beſonders freundlich ſei, ſo begnuͤgte
er ſich mit dieſem Gefuͤhle, und ſie ſah ſich von
der Beſcheidenheit und Sitte Aller umgeben.
Nur Ferdinand verhaͤrtete ſich immer mehr
in ſeiner Leidenſchaft. Er hatte ſein Benehmen
gegen Agnes nur geaͤndert, um ihren Werth und
ihre Schoͤnheit erſt recht an das Licht zu ſtellen,
zu zeigen, welch' ein ſeltenes Weſen er ſo gut
wie in der Hand haͤtte, wie dieſes ihn aber ganz
unberuͤhrt laſſe, ja, wie er ſie ganz und gar nur
als ein liebliches Kind betrachte, welches neben
[320] der gereiften Schoͤnheit Roſaliens nicht in Rede
kommen koͤnne. Er hatte auch mit großer Fein¬
heit ſeine Rolle geſpielt, ſo daß Niemand deren
Falſchheit bemerkte, als Roſalie und Agnes ſelbſt,
welche bald nach ihrer erſten Freude die alte
Weiſe Ferdinand's erkannte und daruͤber toͤdtlich
erſchrak.
Roſalien war ſeine veraͤnderte kokette Tracht
aufgefallen, und ſie fuͤhlte ſich dadurch beleidigt;
auch hatte ſie von Erikſon, ſo viel dieſer davon
wußte, ſein Verhaͤltniß zu Agnes erfahren und
war erſt Willens, durch ein kluges Verfahren
dem jungen ſeltſamen Maͤdchen, das ihr wohl ge¬
fiel, zu ſeinem Rechte zu verhelfen und Ferdinand
in Guͤte zu ihr hinzulenken. Im Verlauf des
Tages ſah ſie aber ein, daß er kein Gluͤck ſei fuͤr
ein ſo naives Kind und daß ſie mit gutem Ge¬
wiſſen nicht in deſſen Geſchick eingreifen duͤrfe,
und ſie entſchloß ſich, den ſelbſtſuͤchtigen Untreuen
ſeinen Weg gehen zu laſſen und ihn auf ihre
Weiſe zu beſtrafen.
Als er daher Agnes, nachdem er ſie der Ob¬
hut Heinrich's uͤbergeben, ploͤtzlich wieder verließ
[321] und begann, ſeine Bewerbungen um Roſalien
fortzuſetzen, empfing ſie ihn mit alter Freundlich¬
keit, und als er ſie auf Schritt und Tritt be¬
gleitete, hoͤrte ſie ihn holdſelig an und that, als
ob ſie weder dies, noch die mißbilligende Verwun¬
derung der Geſellſchaft bemerkte.
In einem Seitengemache gefiel ſich eine ge¬
waͤhlte Geſellſchaft darin, in den glaͤnzenden Fa¬
belgewaͤndern ruhig eine Partie Whiſt zu ſpielen.
Roſalie und Ferdinand traten ein, um ſich hier
umzuſehen, und betheiligten ſich am Spiele. Er
benutzte daſſelbe, um allerlei Galanterien zu be¬
gehen und ungeſtoͤrt eine Weile ihr gegenuͤber zu
ſitzen. Sie laͤchelte ihm zu und hielt gut mit
ihm zuſammen Als die Partie geendet, ergriff
ſie die Karten und bat die Spieler und Andere,
welche in der Naͤhe waren und welche alle aus
vermoͤglichen Perſonen beſtanden, eine kleine Rede
von ihr anzuhoͤren.
»Ich habe mich,« ſagte ſie, bisher arg gegen
die Kunſt verſuͤndigt und trotzdem, daß ich mit
Gluͤcksguͤtern geſegnet bin, ſo viel wie nichts fuͤr
ſie gethan; ich bin um ſo tiefer beſchaͤmt, als ich
III. 21[322] durch dieſes Feſt die ſinnige, treuliche Lebensluſt
empfinden gelernt habe, welche in den Kuͤnſtlern
iſt und von ihnen ausgeht, und ich moͤchte einen
beſſeren Anfang machen und wuͤnſche in meiner
Dankbarkeit, daß heute in meinem Hauſe, wel¬
ches durch die froͤhliche Anweſenheit ſo vieler
Kuͤnſtler geehrt wird, etwas Gutes geſchaͤhe und
daß ich, was wie ich glaube fuͤr die rechte Kunſt¬
befoͤrderung eben ſo nothwendig iſt, auch Andere
veranlaſſe, etwas Gutes zu thun. Ich ſehe unter
meinen Gaͤſten ſo manches junge Buͤrſchchen mit
glaͤnzenden Augen, dem es aber, nach ſeiner
ſchuͤchternen Haltung zu urtheilen, nicht zum Be¬
ſten geht. Wie ſchoͤn waͤre es, wenn wir wenig¬
ſtens einen oder zwei dieſer fluͤggen Voͤgel unmit¬
telbar aus dieſer Feſtfreude heraus nach Italien
ſchicken koͤnnten! Da ich aber an Niemanden be¬
ſtimmte Anforderungen machen darf, ſo will ich
hier Bank halten und diejenigen, welche es koͤn¬
nen, zum Spiele einladen. Was gewonnen wird,
legen wir zuſammen, ich verdoppele die Summe
alsdann, und je nach dem Befunde waͤhlt dann
die anweſende Geſellſchaft denjenigen aus ihrer
[323] Mitte, welchen ſie fuͤr den Wuͤrdigſten und Be¬
duͤrftigſten haͤlt!«
Und mit verbindlichem Laͤcheln ſich zu Ferdi¬
nand wendend und ihn zum Tiſche ziehend, ſagte
ſie: »Herr Lys, ſie ſind ein reicher Mann! Geben
Sie ein gutes Beiſpiel und fangen Sie an!«
Ferdinand hatte von der bedeutenden Summe,
welche er in ſeiner Narrheit bei den Juwelieren
ausgegeben, noch zehn bis zwoͤlf Louisd'ors uͤbrig,
die er in ein Papier gewickelt in den Buſen ge¬
ſteckt hatte, da in der Eile an ſeinem ganzen Co¬
ſtuͤm nicht eine Taſche angebracht worden. Ver¬
legen zog er das Geld hervor, wie ein Maͤdchen
einen Liebesbrief, und verlor es ſchnell an die
ſchoͤne Bankhalterin.
Sie warf es in eine leere Fruchtſchale und
dankte ihm, indem ſie zugleich bedauerte, daß er
nicht mehr zu verlieren habe. Ihm ſchien aber
das Verlorene ſchon zu viel zu ſein und um wie¬
der etwas davon zu gewinnen, warf er, ſcheinbar
um noch mehr beizutragen, den kleinſten ſeiner
Ringe hin.
Allein er verlor auch dieſen, Roſalie hatte
21 *[324] zu ihrer großen Freude ein merkwuͤrdiges Gluͤck,
Ferdinand verlor Stuͤck um Stuͤck von ſeinem
Schmucke; Armſpangen, Agraffen, Ringe und
Ketten warf er auf den Tiſch in dem aufgeregten
Beſtreben, wieder zu dem Seinigen zu kommen;
Roſalie ſetzte gemuͤnztes Gold dagegen, aber nach
wenigen Schwankungen lag der ganze Schmuck
Ferdinand's, im Werth von uͤber drei tauſend
Gulden, ſchimmernd in der Schale.
Roſalie klatſchte in die Haͤnde und verkuͤndete
unverhohlen ihre Freude uͤber dies unverhoffte Ge¬
lingen, und als ſie Ferdinand holdſelig dankend
die Hand reichte, mußte auch dieſer eine gute
Miene machen, obgleich er nun eine ſeltſame Fi¬
gur ſpielte, da der noch ſeltſamere Schmuck jetzt
erſt recht die Aufmerkſamkeit erregte.
Aber nun ging es erſt recht an. Die Damen
wurden von den Edelſteinen maͤchtig angezogen,
und in der Hoffnung, dies oder jenes, was ihnen
beſonders gefiel, zu gewinnen, draͤngten ſich bald
alle um den Tiſch und ſpielten eifrig um den
Schmuck; denn ſie nahmen ſich ſammt und ſon¬
ders vor, ihre Maͤnner oder Vaͤter zu bewegen,
[325] den verhofften Gewinnſt mit baarem Gelde aus¬
zuloͤſen. Allein Roſalie hatte unverwuͤſtliches
Gluͤck und haͤufte endlich faſt alles vorhandene
Geld zu dem Schmuck in die Schale, und als
zuletzt Niemand mehr ſpielte, rief ſie: »Obgleich
mein Unternehmen einen Umfang gewonnen hat
weit uͤber das erwartete Ziel hinaus, ſo freue ich
mich dennoch, mein Wort zu halten und dieſen
ganzen Gewinnſt zu verdoppeln!«
Einige angeſehene aͤltere Kuͤnſtler und ein an¬
weſender Kaufmann beriethen nun die Sache, und
es fand ſich, daß man zwei junge Leute reichlich
ausſtatten koͤnne auf einige Jahre.
Das Ereigniß erregte das groͤßte Erſtaunen
und den freudigſten Jubel im ganzen Hauſe, und
die Freude war ſo ploͤtzlich gekommen, daß nicht
der leiſeſte Schatten von Neid ſich darunter
miſchte, als man nun auf Roſaliens Wunſch die
zwei jungen Maler auswaͤhlte, welche die Reiſe
nach Italien machen ſollten.
Die Wahl war ein neues und das edelſte
Vergnuͤgen von allen bisherigen, und es wurde
auf das Sinnreichſte und Lieblichſte hin und her
[326] gewandt, da es ſo gut ſchmeckte, und endlich wur¬
den zwei Bruͤder gewaͤhlt, welche ſich ebenſo
durch ihren Fleiß, als durch ihre Armuth aus¬
zeichneten, zwei liebenswuͤrdige Buͤrſchchen aus
Sachſen, welchen waͤhrend ihres Aufenthaltes in
der Kunſtſtadt Vater und Mutter geſtorben und
jeder Unterhalt verloren war. Man begriff nicht,
wie ſie leben konnten, ſo kuͤmmerlich naͤhrten ſie
ſich, und doch waren ſie der Kunſt ſo anhaͤnglich
und treu und immer ſo guten Muthes, daß ſie
bei aller Armuth und Sparſamkeit doch immer
einige blanke Gulden bereit hatten, jedes Kuͤnſt¬
lerfeſt mit zu feiern und Jedermann durch ihre
beſcheidene Froͤhlichkeit zu erfreuen.
Die zwei Kirchenmaͤuſe wußten nicht, wie
ihnen geſchah und kuͤßten in ihrer Verwirrung
der reizenden Urheberin dankbar die Hand. Ro¬
ſalie konnte ſich nicht enthalten, den ſchuͤchternen
jungen Buͤrſchchen die Wangen zu ſtreicheln und
haͤtte ſie gern gekuͤßt, wenn es ſich haͤtte thun
laſſen.
Sie wurden im Triumph herumgefuͤhrt, woraus
[327] ſich ein neues Anordnungs- und Wandervergnuͤ¬
gen ergab.
Indeſſen verfiel Ferdinand gaͤnzlich ſeinem
Geſchick. Es begab ſich mit ihm, was ſich immer
begeben hat, er gerieth durch das Schiefe und
Unrechte der einen Leidenſchaft in eine Niedrigkeit
des Empfindens und Denkens, welche ſonſt nicht
in ihm lag. Er war allerdings ſelbſtſuͤchtig und
ſparſam gegen Andere, ſobald es Geld oder Gut
betraf, aber doch nicht in dem Grade, daß es
ſich nicht im Allgemeinen mit einem anſtaͤndigen
und liebenswuͤrdigen Charakter vertragen haͤtte;
er wuͤrde uͤber den erlittenen Verluſt unter allen
Umſtaͤnden verdrießlich geworden ſein, aber nicht
ſo ſehr, daß der Verdruß im mindeſten auf an¬
dere Ideen und Vorſtellungen eingewirkt oder die¬
ſelben getruͤbt haͤtte. Jetzt aber verband ſich mit
ſeinem geheimen Aerger ſogleich der Gedanke, ſich
zu entſchaͤdigen; er machte in ſeinem Inneren
Roſalien ſich verpflichtet und hielt ſie durch den
Vorfall fuͤr gebunden an ihn durch ein ſtarkes
Band.
Dieſe bedenkliche Ausſchweifung verwirrte ihn
[328] ganz und trieb ihn demgemaͤß zum Handeln. Er
nahm ſich alſo aͤußerlich zuſammen, da er in ſei¬
ner Thorheit ſeiner Sache ſicher zu ſein glaubte,
und beobachtete Roſalien mit mehr Ruhe, um
den guͤnſtigen Augenblick zu finden, ſie allein zu
ſehen.
Roſalie ſchien ihn hierin zu unterſtuͤtzen; denn
er bemerkte, daß ſie mehrmals allein wegging
auf eine Weiſe, als ob ſie wuͤnſche, daß Jemand
ihr folge und ſie aufſuche.
Sie hatte Spiel, Schmuck und Ferdinand
vergeſſen und war jetzt mit einem anderen Ge¬
danken beſchaͤftigt, und dieſer Gedanke roͤthete
ihre Wangen und entfachte ihre Augen in holder
Gluth. Sie wuͤnſchte, daß Erikſon ſie ſuchte und
allein ſpraͤche, ohne daß ſie ihn geradezu auffor¬
derte. Aber dieſer merkte von allem nichts, und
anſtatt daß er ſelber auf den Gedanken kam, den
er vielmehr beinahe ſcheute, wie eine gefaͤhrliche Ent¬
ſcheidung, beobachtete er Ferdinand, der ſich nun
ruhiger hielt, und glich einem Jaͤger, der nach
einer anderen Seite ſieht, wo er etwa einen Fuchs
[329] vermuthet, waͤhrend das ſchoͤne Reh in Schu߬
weite vor ihm hinſpringt.
Ferdinand aber verlor nun keine Zeit mehr,
ſondern verſchwand unverſehens aus dem Saale,
als er geſehen, daß Roſalie ſich wiederum entfernt
habe. Sobald er auf dem Gange war, folgte er
ihr mit ſtuͤrmiſchen Schritten, daß ſeine aſſyriſchen
Gewaͤnder nur ſo flogen, erreichte ſie in einem
abgelegenen ſtillen Zimmerchen, welches zur Som¬
merzeit ihr Boudoir war, ergriff ihre beiden
Haͤnde und begann dieſelben leidenſchaftlich zu
kuͤſſen. Sie hatte gehofft, daß Erikſon hinter ihr
her kaͤme; aber bald erkannte ſie an dem leichten
Schritte, daß er es nicht ſei, und wußte nun in
der Verwirrung nicht ſogleich, was ſie anfangen
ſollte.
Doch entzog ſie ihm die Haͤnde, indeſſen er
ſagte: »Schoͤnſte Frau! Sie haben zwei Gluͤck¬
liche gemacht! Begluͤcken Sie den dritten, indem
Sie mir erlauben, Ihnen zu ſagen, wie tief ich
von Ihrer Schoͤnheit und Anmuth, von Ihrem
ganzen Weſen ergriffen bin!«
Roſalie zappelte mit ihren Haͤndchen, ihn
[330] abwehrend, und rief halb aͤngſtlich, halb lachend:
»Herr Lys! Herr Lys! ich bitte Sie! Sehen
Sie denn nicht, daß ich heute in meinen Alltags¬
kleidern ſtecke und nicht mehr die Goͤttin der
Liebe bin?«
»O ſchoͤne, liebe Roſalie!« rief Lys und fuhr
fort mit ſchoͤner Beredſamkeit, »mehr als je ſind
Sie die Schoͤnheit und Liebe ſelbſt und alles das,
was die Alten ſo tiefſinnig vergoͤttert haben!
Sie ſind eine ganze Frau im edelſten Sinne des
Wortes, in Ihnen iſt nur Anmuth und Wohl¬
wollen, und Sie verwandeln alles dazu, was um
Sie iſt. O jetzt begreife ich, warum ich ein Un¬
getreuer und Wankelmuͤthiger war mein Leben
lang! Wie kann man treu und ganz ſein, wo
man immer nur das halbe und durch Sonder¬
lichkeit getruͤbte Weib trifft, bald unfertig in ſei¬
nem Bewußtſein, bald eigenſinnig und uͤberreif
in demſelben? Sie ſind das wahre Weib, in dem
der Mann ſeine Ruhe und ſeinen dauernden Troſt
findet, Sie ſind heiter und ſich ſelber gleich, wie
der Stern der Venus, den Sie geſtern trugen!
O verkennen Sie ſich nicht, erkennen Sie Ihr
[331] eigenes Weſen! Dieſe goͤttliche Freundlichkeit,
welche Sie beſeelt, iſt nichts als Liebe, welche
gewaͤhren muß, ſobald ſie erkannt und verſtanden
wird! Sie muß ſich aͤußern hoch uͤber der truͤben
Welt von Tugend und Suͤnde, Pflicht und Ver¬
rath, in der Hoͤhe des klaren unveraͤnderlichen
Lebens ihres eigenen Weſens!«
Er hatte wieder ihre Hand ergriffen und ſah
jetzt ſo ſchoͤn und aufrichtig aus, daß ſie ihm
nicht gram werden konnte; ſie ließ ihm desnahen
noch eine Weile die Hand und ſagte mit großer
Anmuth und Freundlichkeit: »Sie ſind jetzt ſehr
liebenswuͤrdig, Herr Lys! und ich will deshalb
vernuͤnftig mit ihnen ſprechen. Ich bin weit ent¬
fernt, Ihre Grundſaͤtze zu verdammen, oder Ihnen
eine zimperliche Predigt halten zu wollen, da ich
ſehe, daß dieſelben nicht leere Worte eines un¬
ſicheren Mannes, vielmehr nur zu deutlich die
Aeußerung einer tiefer begruͤndeten Lebensrichtung
ſind. Sehen Sie zu, wie Sie dabei ihr Gluͤck
und Ihre Ruhe finden, von der Sie ſprechen!
Aber ich muß Ihnen wenigſtens ſagen und kann
Sie auf das Heiligſte verſichern, daß ich mich
[332] ſelber ſehr wohl kenne und daß Sie ſich hin¬
ſichtlich meines Weſens vollkommen getaͤuſcht ha¬
ben. Sehen Sie, Herr Lys! (und hier zog ſie
ihre Hand zuruͤck und maß ihm eine roſige Fin¬
gerſpitze vor, indeſſen ſie etwas ungeduldig mit
den Fuͤßchen ſtrampelte) ich empfinde nicht ſo viel
Neigung fuͤr Sie, und ich ſchwoͤre Ihnen, daß,
was meine Freundlichkeit betrifft, dieſelbe nun
und nimmermehr das fuͤr Sie ſein wird, was
Sie Liebe nennen oder was ich Liebe nenne! Ja
vielmehr ſteht ſie auf dem Punkte, in Haß und
Abſcheu umzuſchlagen, wenn Sie Ihr Benehmen
nicht ſogleich aͤndern! Entſchließen Sie ſich dazu,
oder ich bitte Sie, mein Haus zu verlaſſen, denn
Sie ſtoͤren mir alle Freude und machen ein un¬
nuͤtzes Aufſehen!«
Als ſie dies ſprach, funkelte zuletzt durch alle
laͤchelnde Freundlichkeit ein lichter Zorn in ihren
Augen, gleich einen Blitz im Sonnenſchein, wel¬
cher zwar bezaubernd, aber auch ſo deutlich und
entſchieden war, daß Lys nicht ein Wort zu er¬
widern wußte. Er ſah ſie erſtaunt und wehmuͤ¬
thig an, wie einer, der aus ſeiner ganzen perſoͤn¬
[333] lichen Beſchaffenheit und Ueberzeugung heraus
gehandelt hat und daruͤber traurig iſt, daß er
keinen Anklang findet. Dann ging er ohne ein
Wort zu ſagen langſam aus dem Zimmer.
Roſalie ſchaute ihm nach, und waͤhrend ſie
aufathmend ſich auf ein Sopha warf, miſchte ſich
in den freundlichen Spott, den ſie empfand, doch
ein geheimſtes bedauerndes Gefuͤhl, daß ihr Wohl¬
wollen nicht etwas der Art ſein duͤrfe, fuͤr was
Lys es gehalten wiſſen wollte.
Inzwiſchen hatte Erikſon endlich ihre und
Ferdinand's gleichzeitige Abweſenheit entdeckt und
da er Roſalien zu ſehr ehrte und liebte in ſeiner
breiten Bruſt, um ſie genauer zu kennen, und
auch ein ziemlicher Neuling in dieſer Lage war,
ſo verließ ihn ploͤtzlich ſein bisheriges Phlegma
und er gerieth in die heftigſte Aufregung.
Die abenteuerlichſten und graulichſten Ge¬
ſchichten von der geheimen Verworfenheit und
Schwachheit der Weiber, welche er in Schenken
und Maͤnnergeſellſchaften gehoͤrt, fuhren ihm wie
Geſpenſter durch den Kopf, die wunderlichſten
Eroberungen und Ueberrumpelungen durch kuͤhne
[334] Geſellen, unter den ſchwierigſten Umſtaͤnden, kamen
ihm in den Sinn und wechſelten mit dem Bilde
der ſich immer gleichen Roſalie, und dies Bild
verſcheuchte dann alle jene Schrecken fuͤr einen
Augenblick; aber ſie kehrten wieder und peinigten
ihn auf das Aergſte.
Und als er ſie endlich gewaltſam unterdruͤckte,
ſagte er ſich: Und was waͤre es denn, wenn mir
dieſer Teufel zuvorkaͤme und das thaͤte, was ich
ſchon laͤngſt haͤtte wagen ſollen? Wer waͤre zu
tadeln, als ich ſelbſt? Soll mir die liebe Schoͤne
ſich ſelbſt auf einem Teller praͤſentiren? Hole der
Henker das Geld! Ich glaube, ich waͤre nicht
halb ſo bloͤde, wenn ſie nicht ſo reich waͤre! Aber
was thut das zur Sache? Sie iſt ein Weib, ich
ein Mann, Himmel! ſie wird mir den Kopf nicht
abbeißen!
Als ob ſeine Seligkeit auf dem Spiele ſtaͤnde,
durchmaß er alle Zimmer, und als er ſie nirgends
fand, riß er voll Furcht und Zorn die letzte Thuͤr
auf, die ihm noch uͤbrig blieb, trat haſtig in das
ſchwach erleuchtete Stuͤbchen und fand Roſalien
auf dem Sopha ſitzend. Sie hielt ſich ganz ſtill
[335] und ſah ihn an, und Erikſon ſtand ploͤtzlich rath¬
los da.
Nachdem er eine Weile geſtanden, indeſſen
ſich die Schoͤne nicht geruͤhrt, gewann er uͤber
ihrem Anblicke ſeine Bewegung wieder, ſtaͤrker
als vorhin, aber nun rein und gleichmaͤßig, eine
ſchoͤne, maͤchtige Wallung. Er that einen Schritt
auf ſie zu, ergriff ihren Arm ſo feſt, daß es ſie
ſchmerzte und gab nun ſeinen Gefuͤhlen und Mei¬
nungen Worte, ſo gut er ſie zu finden vermochte.
Roſalie beklagte ſich nicht uͤber den Druck
ſeiner ſtarken Hand, es ſchien ſogar, als ob ihr
der kleine Schmerz das groͤßte Vergnuͤgen ge¬
waͤhre. Sie hoͤrte ihn mit ſchwerverhaltenem Laͤ¬
cheln an, und eine Viertelſtunde nachher ſah man
ihn feierlich und zufrieden durch die Raͤume kom¬
men, mit glaͤnzenden Augen einige Verwandte
Roſaliens zuſammen zu ſuchen und zu ihr zu
berufen, und abermals eine Viertelſtunde nachher
erſchienen dieſe wieder und ordneten in dem Saale
eine Abendtafel fuͤr die geſetztere Haͤlfte der Ge¬
ſellſchaft und beſonders fuͤr ſaͤmmtliche Verwandte
und Freunde Roſaliens, deren noch manche ſchnell
[336] geholt wurden: und als alles dies zu Stande ge¬
kommen, indeſſen auch die Lichter angeſteckt wur¬
den, verkuͤndete ein ehrwuͤrdiger Oheim die un¬
verhoffte Verlobung, und das gluͤckliche Paar
nahm die uͤberraſchten Gluͤckwuͤnſche von allen
Seiten frohlauſchend auf.
Alle, die in gewoͤhnlicher Kleidung anweſend
waren, fuͤhrten unter ſich alsbald eine gelinde
Kritik uͤber die ſeltſame Verlobung und die kuͤnſt¬
leriſchen Neigungen der reichen Wittwe, die ſo
raſch nach einander zu Tage traͤten: doch wenn
ſie, beſonders die Schoͤnen, auf Erikſon blickten,
ſo blieben ihre Worte nur noch toͤnende, waͤhrend
das Auge geſtehen mußte, daß die feine Roſalie
wohl zu waͤhlen gewußt habe.
Die Kuͤnſtler aber freuten ſich unbaͤndig uͤber
dieſe neue gluͤckliche Wendung zu Ehren ihres
Standes und machten Erikſon gluͤckwuͤnſchend zu
ihrem Helden, nicht ahnend, welcher Abfall von
Pinſel und Palette mit dieſer Verlobung ſich
vollende. Denn Erikſon hat in der That nie
wieder gemalt, obgleich er den Kuͤnſtlern zuge¬
[337] than blieb und mit vieler Behaglichkeit ſich ſpaͤ¬
ter eine Bilderſammlung anlegte.
Nur Ferdinand ertrug dieſen Vorfall nicht;
er verlor ſich in der groͤßten Uneinigkeit mit ſich
ſelbſt aus dem Hauſe und ſtuͤrmte in den Bu¬
chenwald hinaus, in welchem viele einzelne Mas¬
ken umherirrten und laͤrmten Viele kamen auch
von den Forſthaͤuſern auf die Kunde von den
artigen Begebenheiten in das Landhaus der Wittwe
oder nunmehrigen Braut und wurden da bewir¬
thet. Erikſon ruͤhrte ſich ſogleich luſtig als kuͤnf¬
tiger Herr des Hauſes und ſchaffte mit ausgiebi¬
ger Bewegung Raum und Stoff in die Verwir¬
rung, die rauſchend hereingebrochen war.
Dann aber geleitete er Roſalien, die ſich zu¬
ruͤckziehen wollte, als ſie Alles im beſten Gange
und durch treue Freunde und Diener uͤberwacht
ſah, nach der Stadt. Sie erbebte in der Dun¬
kelheit vor Vergnuͤgen, als er ſie in den Wagen
hob und als der leichte Kaſten heftig ſchaukelte,
da der huͤnenmaͤßige Erikſon einſtieg.
Waͤhrend ſich dies Alles begeben, hauſte in
dem Gewaͤchshauſe ein kleines Truͤppchen Leute,
III. 22[338] abgelegen und vergeſſen von der großen Geſell¬
ſchaft, und fuͤhrte zwiſchen den Myrthen- und
Orangenbaͤumen ein wunderlich verborgenes Le¬
ben. Da ſaß an einem Tiſchchen der fabelhafte
Bergkoͤnig, welcher mit ſeiner Krone und ſeinem
weißen Barte ausſah, als waͤre er eben aus den
Fluthen des Rheines, aus der Nibelungenzeit
heraufgeſtiegen, und ſang, indem er das lange
Kelchglas ſchwenkte, die luſtigſten Lieder; neben
ihm zechte ein Winzer aus dem Bacchuszuge, ein
wirklicher Rheinlaͤnder, welcher eine Anzahl Cham¬
pagnerflaſchen erhaſcht und unter den Myrthen
verborgen hatte. Es war ein unterſetzter Mann
von dreißig Jahren mit einem braunen Kraus¬
kopfe und kindlich lachenden Augen, welche bald
mit frommem Ausdrucke in die Welt ſchauten,
bald in ſchlauer Luſtigkeit funkelten. Seine Haͤnde
verkuͤndeten einen fleißigen Metallarbeiter und der
weichgeſchnittene Mund einen andaͤchtigen Trin¬
ker, indeſſen doch die Mundwinkel einen ſinnenden
feſten Zug hatten vom haͤufigen Verſchließen und
Verziehen des Mundes uͤber der beharrlichen pla¬
ſtiſchen Arbeit. Man nannte ihn den kleinen
[339] Gottesmacher, weil er nicht nur alle fuͤr den ka¬
tholiſchen Cultus nothwendigen Silbergefaͤße, ſon¬
dern auch ſehr wohlgearbeitete Chriſtusbilder in
Elfenbein verfertigte. Nebenbei war er ein
trefflicher Muſikus, der mehrere Inſtrumente
ſpielte und ein Kenner der alten Kirchenmuſik
ſowohl, als einer Menge melancholiſcher Volks¬
lieder war. Dieſe ſang er jetzt abwechſelnd mit
dem Bergkoͤnig und dem gruͤnen Heinrich, wel¬
cher mit Agnes den kleinen Kreis vervollſtaͤndigte.
Das verzweifelte Maͤdchen hatte ſich hieher
zuruͤckgezogen, weil ſie nicht unter den anderen
Frauensleuten ſein mochte, die alle gluͤcklich waren
und ſich ihres Lebens freuten. Sie ſaß nun
wieder ſtumm und ſtill und lauſchte auf die Worte
Heinrich's, welcher ihr fortwaͤhrend Hoffnung
machte und zufluͤſterte, ſie ſolle nur Geduld ha¬
ben; wenn erſt dieſe tolle Zeit voruͤber ſei, ſo
wuͤrde ſich Ferdinand ſchon beſinnen und muͤſſe
es, er wolle ihn dazu zwingen. Als das Geraͤuſch
der Verlobung ſich verbreitete, eilte Heinrich weg,
um Ferdinand aufzuſuchen, waͤhrend Agnes mit
banger Hoffnung und aufblitzender Lebensluſt ſei¬
22 *[340] ner harrte. Aber er fand ihn nirgends und kehrte
allein zuruͤck.
Agnes verſank in eine tiefe Erſtarrung, alles
vergeſſend, was um ſie war. Der Bergkoͤnig und
der Winzer begannen jetzt ihren Zuſtand zu er¬
kennen und bewaͤhrten ſich als beſcheidene und
treuherzige Geſellen, welche mit herzlicher Schick¬
lichkeit ihrer ſchonten und zugleich mit derſelben
ſie aufzuwecken und zu beleben ſuchten.
Heinrich bot ihr an, ſie nach Hauſe zu brin¬
gen; allein ſie verweigerte es und ging nicht von
der Stelle, indem ſie behauptete, Ferdinand muͤſſe
ſie nach Hauſe begleiten und wuͤrde gewiß noch
kommen. Sie trank nun mehrere Mal von dem
brauſenden Weine, den ſie in ihrem Leben noch
nie getrunken, und als derſelbe ſeine Waͤrme
durch ihr Blut ergoß, wurde ſie allmaͤlig laut
und ergab ſich einer ſelbſtbetaͤubenden Freude. Sie
ſang nun ſelbſt mit den Geſellen und ließ eine
ſo wohlklingende Stimme ertoͤnen, daß alle bezau¬
bert wurden. Sie wurde immer luſtiger und
trank in kurzer Zeit einige Glaͤſer aus.
Die drei Burſchen, wenig erfahren in ſo be¬
[341] denklichen Sachen, ließen ſich nun ohne Arg von
ihrer Ausgelaſſenheit hinreißen und freuten ſich
uͤber das reizende luſtige Maͤdchen, uͤber welches
ein eigenthuͤmlicher daͤmoniſcher Zauber gegoſſen
war. Sie brach bluͤhende Myrthen- und Lorbeer¬
zweige und flocht Kraͤnze daraus; ſie pluͤnderte
das ganze Gewaͤchshaus, um Straͤuße zu binden,
und indem ſie ihre Zechbruͤder mit den fremden
Wunderblumen aufputzte und ihnen die Kraͤnze
aufſetzte, ſowie ſich ſelbſt, tanzte ſie nicht wie eine
Diana, ſondern wie eine kleine angehende Bac¬
chantin herum, ohne daß indeß die ganze Scene
das Geringſte von ihrer Unſchuld und Harmloſig¬
keit verloren haͤtte.
Aber ploͤtzlich, als die Luſt am groͤßten war,
veraͤnderte ſich ihr Geſicht und ſie fing bitterlich
an zu weinen; ſie warf ſich auf einen Stuhl und
weinte mehr und mehr, es war als ob alle Quel¬
len des Leides ſich geoͤffnet haͤtten, und bald war
das Tiſchtuch, auf das ſie ihr ſchluchzendes Haupt
niederbeugte, von ihren ſtroͤmenden Thraͤnen be¬
netzt, die ſich mit dem Champagner ihres umge¬
ſtuͤrzten Glaſes vermiſchten.
Mit durchdringender, klagender Stimme rief
ſie, vom Schluchzen unterbrochen, nach Ferdinand,
nach ihrer Mutter. In groͤßter Rathloſigkeit ſuch¬
ten die Geſellen ſie zu beruhigen und aufzurich¬
ten, zugleich befuͤrchtend, daß andere Gaͤſte her¬
beikommen und Agneſens bedenklichen Zuſtand
ſehen moͤchten.
Allein ihr Schrecken wurde noch groͤßer, als
die Thraͤnen unverſehens verſiegten, Agnes vom
Stuhle ſank und in wilde Kraͤmpfe und Zuckun¬
gen verfiel. Sie warf ihre feinen weißen Arme
umher, die Bruſt drohte das ſpannende Silber¬
gewand zu ſprengen, und die ſchoͤnen dunkelblauen
Augen rollten wie irre Sterne in dem bleichen
Geſicht Heinrich wollte nach Huͤlfe rufen, aber
der Bergkoͤnig, welcher der aͤlteſte war, hielt ihn
davon ab, um einen allgemeinen Auftritt zu ver¬
huͤten. Sie hofften, der Anfall wuͤrde voruͤber¬
gehen, ſprengten ihr Waſſer in's Geſicht und luͤf¬
teten das Bruſtgewand, daß der kleine pochende
Buſen offen leuchtete. Heinrich hielt das ſchoͤne
tobende Maͤdchen, das mehr dem Tode, als dem
Leben nahe ſchien, auf ſeinen Knieen, da kein
[343] geeigneter Ruheſitz im Treibhauſe war, und in¬
dem er das zaͤrtlichſte Mitleid fuͤr ſie fuͤhlte, ver¬
wuͤnſchte er den eigenſuͤchtigen Ferdinand, welcher
nun weiß Gott wo umherſchweifen mochte.
Als aber der ungluͤckliche Zuſtand, anſtatt
voruͤberzugehen, immer ſchlimmer und bedrohlicher
wurde, indem die Zuckende kaum mehr zu halten
war, entſchloſſen ſie ſich in der groͤßten Angſt,
die Kranke vorſichtig nach dem Hauſe zu tragen.
Der Bergkoͤnig und der Winzer hoben ſie
auf ihre Arme und trugen die tobende Diana
auf dem dunkelſten Seitenwege durch den Garten,
indeſſen Heinrich voranging und die Gelegenheit
erſpaͤhte. So gelangten ſie mit der verraͤtheriſch
glaͤnzenden und aͤchzenden Laſt mit Muͤhe endlich
durch eine Hinterthuͤr in das Haus und in das
obere Stockwerk, wo ſie ein mit Betten verſehe¬
nes Zimmer fanden. Sie legten dort das arme
Kind hin und ſuchten in der Stille einige weib¬
liche Huͤlfe herbei. Es war auch die hoͤchſte Zeit,
denn ſie lag nun in tiefer Ohnmacht; zugleich er¬
regte aber die herbeigeeilte Gaͤrtnersfrau, die
Heinrich gefunden, ein ſolches Lamento, daß bald
[344] alle noch anweſenden Damen in dem Zimmer
waren, der Vorfall nun mit dem groͤßten Auf¬
ſehen bekannt ward und die betroffenen drei
Zecher ſich in den Hintergrund ziehen mußten.
Es gelang endlich, die Ohnmaͤchtige wieder
in's Leben zu rufen, und da ſich auch zweckmaͤßige
Huͤlfsmittel fanden, erholte ſie ſich in etwas,
ohne jedoch zum klaren Verſtande zu kommen.
Doch konnte keine Rede davon ſein, ſie noch
heute nach Hauſe zu bringen, obgleich ein ſchnell
herbeigekommener Arzt die Sache nicht fuͤr ge¬
faͤhrlich erklaͤrte und Ruhe und Schlaf als die
ſicherſte Huͤlfe zur gaͤnzlichen Erholung bezeichnete.
Heinrich machte ſich auf den Weg nach der
Stadt, um Agneſens Mutter zu benachrichtigen.
Die Fahrſtraße war bedeckt mit Wagen, die, mit
Tannenreis geſchmuͤckt, die heimkehrenden Masken
trugen, und dazwiſchen von vielen Fußgaͤngern.
Um ſchneller vorwaͤrts zu gelangen und ungeſtoͤr¬
ter zu ſein, ſchlug Heinrich einen Fußpfad ein,
welcher im lichten Walde ſich hinzog zur Seite
der Straße. Als er einige Zeit gegangen, holte
er Ferdinand ein, deſſen weiter ſeidener Mantel,
[345] ſowie der Saum des battiſtenen langen Rockes
ſich unablaͤſſig in den Straͤuchern und Dornen
verwickelten und zerriſſen und ſo ſein Fortkommen
erſchwerten. Fluchend ſchlug er ſich mit dem Ge¬
ſtruͤpp herum, als Heinrich zu ihm ſtieß.
Sobald ſie ſich erkannten, erzaͤhlte Heinrich
das Vorgefallene und in einem Tone, welcher
deutlich verrieth, wo der Erzaͤhler hinaus wollte.
Ferdinand, welcher ein ausdauernder Trinker
war, aber alle eigentliche Betrunkenheit ſchon an
Maͤnnern verabſcheute, empfand einen tiefen Ver¬
druß und ſuchte uͤberdies mit der Aeußerung deſ¬
ſelben den weiteren Auslaſſungen Heinrich's zu¬
vorzukommen.
»Das iſt eine ſchoͤne Geſchichte!« rief er, »iſt
das nun Deine groͤßte Heldenthat? Ein unerfah¬
renes Maͤdchen berauſcht zu machen? Wahrhaf¬
tig, ich habe das arme Kind guten Haͤnden uͤber¬
geben!«
»Uebergeben! Verlaſſen, verrathen willſt Du
ſagen!« rief Heinrich und uͤbergoß nun ſeinen
Freund mit einer Fluth der bitterſten Vorwuͤrfe.
»Iſt es denn ſo ſchwer,« ſchloß er, »ſeinen
[346] Neigungen einen feſten Halt zu geben und gerade
dadurch die Geſammtheit der Weiber recht zu lie¬
ben und zu ehren, daß man Einer treu iſt?
Denn es iſt ja doch Eine wie die Andere und in
der Einen hat man Alle!«
Ferdinand hatte ſich indeſſen aus den Dor¬
nen losgewickelt; er ſah nun aus wie ein zer¬
zauſter und gerupfter Vogel. Da er ſah, daß er
Heinrich nicht einſchuͤchtern konnte, ergab er ſich
und ſagte ruhig, indem ſie weiter gingen: »Laß
mich zufrieden, Du verſtehſt das nicht!«
Heinrich brauſte auf und rief: »Lange genug
habe ich mir eingebildet, daß in Deiner Sinnes-
und Handlungsweiſe etwas liege, was ich mit
meiner Erfahrung nicht uͤberſehen und beurtheilen
koͤnne! Jetzt aber ſehe ich nur zu deutlich, daß
es die trivialſte und nuͤchternſte Selbſtſucht und
Ruͤckſichtsloſigkeit iſt, welche Dich treibt, ſo leicht
erkennbar, als verabſcheuenswerth. O wenn Du
wuͤßteſt, wie tief Dich dieſe Art entſtellt und be¬
fleckt und allen Denen weh thut, welche Dich ken¬
nen und achten, Du wuͤrdeſt aus eben dieſer
[347] Selbſtſucht heraus Dich aͤndern und dieſen haͤ߬
lichen Mackel von Dir thun!«
»Ich ſage noch einmal,« erwiderte Lys, »Du
verſtehſt das nicht! Und das iſt Deine beſte Ent¬
ſchuldigung in meinen Augen fuͤr Deine unziem¬
lichen Reden! Nun, Du Tugendheld! ich will
Dich nicht an Deine Jugendgeſchichte erinnern,
die Du ſo artig aufgeſchrieben haſt, erſtens um
Dein Vertrauen nicht zu mißbrauchen, und zwei¬
tens, weil Dir nach meiner Anſicht aus derſelben
wirklich nichts vorzuwerfen iſt. Denn Du haſt
gethan, was Du nicht laſſen konnteſt, Du thuſt
es jetzt, und Du wirſt es thun, ſo lange Du
lebſt. —«
»Halt,« ſagte Heinrich, »ich hoffe wenigſtens,
daß ich immer weniger das thue, was ich laſſen
kann, und daß ich zu jeder Zeit etwas laſſen
kann, das ſchlecht und verwerflich iſt, ſobald ich
es nur erkenne!«
»Du wirſt zu jeder Zeit,« erwiderte Ferdi¬
nand kaltbluͤtig, »das laſſen, was Dir nicht an¬
genehm iſt!«
Heinrich wollte ihn ungeduldig nochmals un¬
[348] terbrechen, allein Lys uͤberſprach ihn und fuhr
fort: »Angenehm oder unangenehm aber iſt nicht
nur alles Sinnliche, ſondern auch die moraliſchen
Hirngeſpinnſte ſind es. So biſt Du jetzt ſinnlich
verliebt in das eigenthuͤmliche Maͤdchen, deſſen
abſonderliche Geſtalt und Art die aͤußerſten Sinne
reizt, wie ich nun an mir einſehe; dies iſt Dir
angenehm; aber weil Du wohl merkſt, daß Du
dabei kein rechtes Herz haſt, nicht in Deinem
eigentlichen Sinne liebſt, ſo verbindeſt Du mit
jenem Reiz noch die moraliſche Annehmlichkeit,
Dich fuͤr das ſchmale Weſen in's Zeug zu wer¬
fen und den uneigennuͤtzigen Beſchuͤtzer zu machen.
Wiſſe aber, wenn Du einen Funken eigentlicher
Leidenſchaft verſpuͤrteſt, ſo wuͤrdeſt und muͤßteſt
Du allein darnach trachten, Deinen Schuͤtzling
meinem Bereiche ganz zu entziehen und Dir an¬
zueignen. Du haſt aber die wahre Leidenſchaft
noch nie gekannt, weder in meinem noch in Dei¬
nem Sinne. Was Du als halbes Kind erlebt,
war das bloße Erwachen Deines Bewußtſeins,
das ſich auf ſehr normale Weiſe ſogleich in zwei
Theile ſpaltete und an die erſten zufaͤlligen Ge¬
[349] genſtaͤnde haftete, die Dir entgegen traten. Die
ſinnliche Haͤlfte an das reife kraͤftige Weib, die
zartere geiſtige an das junge transparente Maͤd¬
chen, das Du an jenes verrathen haſt. Dies
wuͤrdeſt Du, trotz Deiner ſelbſt, nie gethan ha¬
ben, wenn eine wirkliche ganze Liebe in Dir ge¬
weſen waͤre! Wiſſe ferner, was mich betrifft:
jeder ganze Mann muß jedes annehmliche Weib
ſogleich lieben, ſei es fuͤr kuͤrzer, laͤnger oder im¬
mer, der Unterſchied der Dauer liegt bloß in den
aͤußeren Umſtaͤnden. Das Auge iſt der Urheber,
der Vermittler und der Erhalter oder Vernichter
der Liebe; ich kann mir vornehmen, treu zu ſein,
aber das Auge nimmt ſich nichts vor, das ge¬
horcht und fuͤgt ſich der Kette der ewigen Natur¬
geſetze. Luther hat nur als Normalmann, als
einer von Denen geſprochen, welche Religionen
ſtiften, oder ſaͤubern und die Welt veraͤndern,
wenn er ſagte, er koͤnne kein Weib anſehen ohne
ihrer zu begehren! Erſt durch ein Weib, welches
durch ſpecifiſches Weſen, durch Reinheit von allem
eigenſinnigen, kraͤnklichen und abſonderlichen Bei¬
werke, eine Darſtellung einer ganzen Welt von
[350] Weibern iſt, durch ein Weib von ſo unverwuͤſt¬
licher Geſundheit, Heiterkeit, Guͤte und Klugheit,
wie dieſe Roſalie — kann ein kluger Mann fuͤr
immer gefeſſelt werden. Wie beſchaͤmt ſehe ich
nun ein, welche vergaͤngliche Specialitaͤt, welch
phaͤnomenartiges Weſen ich in dieſer Agnes mir
zu verbinden im Begriffe war! Du aber ſchaͤme
Dich ebenfalls, als ſolch ein zierlich entworfenes,
aber noch leeres Schema in der Welt umherzu¬
laufen, wie ein Schatten ohne Koͤrper! Suche,
daß Du endlich einen Inhalt, eine ſolide Fuͤllung
bekommſt, anſtatt Anderen mit Deinem Wortge¬
klingel beſchwerlich zu fallen!«
Vielfach beleidigt ſchwieg Heinrich eine Weile;
er war tief gereizt und es kochte und gaͤhrte ge¬
waltig in ihm; denn er war in ſeinem beſten
Bewußtſein angegriffen und fuͤhlte ſich um ſo
verletzter und verwirrter, als in Ferdinand's Wor¬
ten etwas lag, das er im Augenblick nicht zu er¬
widern wußte. Der genoſſene Wein und die nun
ſchon vierundzwanzigſtuͤndige ununterbrochene Auf¬
regung thaten auch das ihrige, ſeine Luſt, die
Sache vollends auszufechten, zu entflammen, und
[351] er begann daher wieder mit entſchiedener Stimme:
»Nach Deiner vorhinnigen Aeußerung zu urtheilen,
biſt Du alſo nicht ſehr Willens, dem Maͤdchen
die Hoffnungen, die Du ihr leichſinniger Weiſe
angeregt, zu erfuͤllen?«
»Ich habe keine Hoffnungen angeregt,« ſagte
Lys, »ich bin frei und meines Willens Herr, ge¬
gen ein Weib ſowohl wie gegen alle Welt! Uebri¬
gens werde ich fuͤr das gute Kind thun, was ich
kann, und ihr ein wahrer und uneigennuͤtziger
Freund ſein, ohne Ziererei und ohne Phraſen!
Und zum letzten Mal geſagt: Kuͤmmere Dich nicht
um meine Liebſchaften, ich weiſe es durchaus ab!«
»Ich werde mich aber darum kuͤmmern,« rief
Heinrich, »entweder ſollſt Du einmal Treue und Ehre
halten, oder ich will es Dir in die Seele hinein
beweiſen, daß Du Unrecht thuſt! Das kommt
aber nur von dem trivialen troſtloſen Atheismus!
Wo kein Gott iſt, da iſt kein Salz und kein
Schmalz, nichts als haltloſes Zeug!«
Ferdinand lachte laut auf und rief: »Nun
Dein Gott ſei gelobt! Dacht' ich doch, daß Du
endlich noch in dieſen gluͤckſeligen Hafen einlaufen
[352] wuͤrdeſt! Ich bitte Dich aber jetzt, gruͤner Hein¬
rich, laß den lieben Gott aus dem Spiele, der
hat hier ganz und gar nichts damit zu thun! Ich
verſichere Dich, ich wuͤrde mit oder ohne Gott
ganz der Gleiche ſein! Das haͤngt nicht von mei¬
nem Glauben, ſondern von meinen Augen, von
meinem Hirn, von meinem ganzen koͤrperlichen
Weſen ab!«
»Und von Deinem Herzen!« rief Heinrich
zornig und außer ſich, »ja, ſagen wir es nur her¬
aus, nicht Dein Kopf, ſondern Dein Herz kenn[e]
keinen Gott! Dein Glauben oder vielmehr Dein
Nichtglauben iſt Dein Charakter!«
»Nun hab' ich genug, Verlaͤumder!« donnerte
Ferdinand mit ſtarkem und erſchreckendem Tone,
»obgleich es ein Unſinn iſt, den Du ſprichſt, wel¬
cher an ſich nicht beleidigen kann, ſo weiß ich,
wie Du es meinſt; denn ich kenne dieſe unver¬
ſchaͤmte Sprache der Hirnſpinner und Fanatiker,
die ich Dir nie, nie zugetraut haͤtte! Sogleich
nimm zuruͤck, was Du geſagt haſt! Denn ich laſſe
nicht ungeſtraft meinen Charakter antaſten!«
»Nichts nehm' ich zuruͤck und werfe Dir Dei¬
[353] nen Verlaͤumder zu eigenem Gebrauche zu! Nun
wollen wir ſehen, wie weit Dich Deine gottloſe
Tollheit fuͤhrt!« Dies ſagte Heinrich, waͤhrend
eine wilde Streitluſt in ihm aufflammte Ferdi¬
nand aber antwortete mit bitterer verdrußvoller
Stimme: »Genug des Schimpfens! Du biſt von
mir gefordert! Und zwar mit Tagesanbruch halte
Dich bereit, einmal mit der Klinge in der Hand
fuͤr Deinen Gott einzuſtehen, fuͤr den Du ſo
weidlich zu ſchimpfen verſtehſt! Sorge fuͤr Deinen
Beiſtand, und nun geh' Deines Weges und laß
mich allein!«
Er brauchte dies nicht zweimal zu ſagen;
denn Heinrich hatte unter anderen Thorheiten,
als er fechten gelernt, ſich auch das großlaͤndiſche
Benehmen in ſogenannten Ehrenſachen gemerkt
und angeeignet, ohne daß er es bis jetzt bethaͤti¬
gen konnte; und obgleich er noch genug auf dem
Herzen hatte und gern noch lange geſprochen und
gezankt haͤtte, gleich den alten Helden, welche
wenigſtens eben ſo viele Worte als Streiche aus¬
zugeben wußten und bei aller Thatkraͤftigkeit
doch gern vorher den Streit gruͤndlich beſprachen,
III. 23[354] ſo ging er doch jetzt eben ſo ſtramm und lautlos
von hinnen, wie ein geforderter Student oder
Gardeofficier, waͤhrend der Zipfel ſeiner Kappe
gemuͤthlich klingelte und ſein Herz gewaltig klopfte.
Beide erzuͤrnte Freunde fanden nur zu leicht
und bald andere Thoͤrichte unter den heimwaͤrts
ſchwaͤrmenden Kuͤnſtlern, welche ſogleich mit feier¬
licher Bereitwilligkeit die erforderlichen Verabre¬
dungen und Vorbereitungen trafen. Das Duell
ſollte in Ferdinands Wohnung ſtattfinden.
Dieſer begab ſich nach Hauſe und blieb den
uͤbrigen Theil der Nacht auf, ohne ſich umzuklei¬
den. Er ſchrieb einige Briefe und verſiegelte ſie,
warf das erotiſche Album, das ihm in die Haͤnde
fiel, unwillkuͤrlich und erroͤthend in's Feuer, ord¬
nete dies und jenes, und als er damit zu Ende
war, loͤſchte er das Licht, ſetzte ſich an das Fen¬
ſter und erwartete den anbrechenden Morgen.
Ohne Haß gegen Heinrich zu empfinden, war er
doch ſehr traurig und gekraͤnkt durch das unbe¬
dachte und boͤsartige Wort, welches dieſer ihm
in's Geſicht geworfen. Er unterdruͤckte daher den
Gedanken, als der Aeltere die Beleidigung zu
[355] verzeihen und ſich bei kaltem Blute mit dem jun¬
gen Freunde auszugleichen, und gedachte dem
Unbeſonnenen als einem Vertreter einer ganzen
Gattung und Lebensrichtung einmal eine Lection
zu geben, oder wenigſtens durch den Ernſt des
Vorfalles ihm die Augen zu oͤffnen. Fuͤr ſich war
er nicht beſorgt und es war ihm in ſeiner jetzigen
Stimmung gleichguͤltig, was ihn betreffen moͤchte,
ja er wuͤnſchte, daß Heinrich ihn traͤfe und ſein
Blut vergoͤſſe, damit er recht empfindlich fuͤr
ſeine leichtſinnige Kraͤnkung beſtraft wuͤrde.
Dann richtete er ſeine Gedanken auf Roſalien,
die ihm nun, da ſie liebte und verlobt war, noch
ſchoͤner und wuͤnſchenswerther erſchien. Er glaubte
uͤberzeugt zu ſein, daß er ſie dauernd geliebt haͤtte
und ſah ſich die ſchoͤne Frau wie ein guter Stern
entſchwinden, der nie wiederkehrt.
Heinrich fuͤhlte ſich ſo aufgeregt und munter,
daß er, anſtatt nach Hauſe zu gehen und auszu¬
ruhen, ſich bis zum Morgen in verſchiedenen
Zechſtuben herumtrieb, wo die unermuͤdlichſten
der Kuͤnſtler die zweite Nacht ohne Schlaf bei
[356] Wein und Geſang vollendeten. Auch ſagte ihm
ein ſchlauer Inſtinkt, daß er, wenn er anders das
tuͤchtige Erlebniß, das thatkraͤftige Gebaren, das
ihn lockend durchfieberte, nicht verlieren wollte,
die Sache nicht vorher beſchlafen und mit der
Einkehr in ſeine Behauſung und bei ſich ſelbſt
etwa auf nuͤchterne Gedanken kommen duͤrfe.
Er ſah jetzt nur das Kreuzen der glaͤnzenden
Klingen, mit welchem er das Daſein Gottes ent¬
weder in die Bruſt des liebſten Freundes ſchrei¬
ben, oder es mit ſeinem eigenen Blute beſiegeln
wollte. Beides reizte ihn gleich angenehm, und
er dachte daher an Ferdinand mit ungewoͤhnlicher
Zaͤrtlichkeit, wie an ein koͤſtliches Pergament, auf
welches man ſeine heiligſte Ueberzeugung ſchreiben
will. Der Morgen ging endlich auf und Heinrich
eilte an den verabredeten Ort. Unterwegs kam
er an ſeiner Wohnung vorbei; aber er ging nicht
hinein, um nur das Geringſte zu beſorgen, ſon¬
dern eilte haſtig weiter. An einem Brunnen
wuſch er ſich ſorgfaͤltig Geſicht und Haͤnde und
ordnete ſeine Kleider, und darauf trat er friſch
und munter, mit ſeltſam geſpannter Lebenskraft
[357] in Ferdinand's großes Atelier, wo ſchon alle Be¬
theiligten verſammelt waren.
Man hatte kurze dreikantige Stoßdegen ge¬
waͤhlt, welche mit einer vergoldeten Glocke ver¬
ſehen waren, ſehr huͤbſch ausſahen und Pariſer
genannt wurden. Jeder nahm ſeine Waffe, ohne
den Anderen anzuſehen; doch als ſie ſich gegenuͤber¬
ſtanden, mußten ſie unwillkuͤrlich laͤcheln und be¬
gannen mit ſehnſuͤchtiger Luſt die Klingen in behag¬
licher Langſamkeit aneinander hingleiten zu laſſen.
Sie ſtanden gerade vor dem wandgroßen
Bilde, auf welchem die Bank der Spoͤtter gemalt
war. Das ſchoͤne Bild glaͤnzte im Morgenlicht
und in all' ſeiner feſten, vollen Farbenpracht, und
die Spoͤtter ſchienen die Kaͤmpfenden neugierig
und launig zu betrachten. Der Abbé nahm ſeine
Priſe, der Alte ſchlug ein Schnippchen und der
Taugenichts hielt die Roſe vor den hoͤhniſchen
Mund.
Bis jetzt war das Fechten ein Spiel geweſen,
bei welchem nichts herauskommen konnte, da Jeder
mit Leichtigkeit die Stoͤße des Anderen uͤberſah
und parirte. Die ſcharfgeſchliffenen Spitzen, welche
[358] vor ihren Augen herumflirrten, uͤbten aber eine
unwiderſtehliche Lockung, und Beide gingen faſt
gleichzeitig in ein raſcheres Tempo uͤber. Hein¬
rich, welcher der Hitzigere und Bethoͤrtere war, in
welchem auch eine Menge Weines gluͤhte, wurde
noch ungeſtuͤmer und entſchiedener, und unver¬
ſehens trat Lys mit einem leiſen Schrei einen
Schritt zuruͤck und ſank dann auf einen Stuhl.
Er war in die rechte Seite getroffen, das
Blut tropfte erſt langſam durch das weiße Kleid,
bis der Arzt die Wunde unterſuchte und offen
hielt, worauf es in vollen Stroͤmen ſich ergoß.
Nach einigen Minuten, waͤhrend welcher Ferdinand
ſich munter und aufrecht hielt, beruhigte der Arzt
die Anweſenden moͤglichſt und erklaͤrte die Ver¬
letzung zwar fuͤr gefaͤhrlich und bedenklich, aber
nicht fuͤr unbedingt toͤdtlich. Die Lunge ſei ver¬
letzt und alle Hoffnungen oder Befuͤrchtungen
eines ſolchen Falles muͤßten mit ruhiger Vorſicht
abgewartet werden.
Heinrich hoͤrte dies aber nicht, obgleich er
dicht bei dem Verwundeten ſtand und denſelben
umfaßt hielt. Er war nun todtenbleich und ſah
[359] ſich ganz verwundert um. Die Kraft verließ ihn
und er mußte ſich ſelbſt auf einen Stuhl ſetzen,
wo er wie durch einen Traum hindurch das rothe
Blut fließen ſah.
Erikſon, welchen es trieb, die Freunde aufzu¬
ſuchen und, da er ſich nun geborgen ſah, in ge¬
muͤthlichem Scherze den verungluͤckten Ferdinand
zu troͤſten und etwas zu haͤnſeln, trat jetzt ein
und ſah mit Schrecken das angerichtete Unheil,
nicht wiſſend, was es bedeute.
»Was zum Teufel treibt ihr denn da?« rief
er und eilte beſtuͤrzt und beſorgt auf Ferdinand zu.
»Nichts weiter,« ſagte dieſer ſchmerzlich laͤ¬
chelnd, »der gruͤne Heinrich hat nur die Feder,
mit welcher er ſeine Jugendgeſchichte geſchrieben,
an meiner Lunge ausgewiſcht — ein komiſcher
Kauz. — «
Weiter konnte er nicht ſprechen, da ihm Blut
aus dem Munde drang und eine tiefe Ohnmacht
ihn befiel.
Ende des dritten Bandes.
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- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der grüne Heinrich. Der grüne Heinrich. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnms.0