Deutſcher
Art und Kunſt.
Bey Bode.
I.
Auszug
aus einem
Briefwechſel
uͤber
Oſſian
und die
Lieder alter Voͤlker.
I. Aus-
[][]
I.
Auszug
aus einem
Briefwechſel uͤber Oſſian
und die
Lieder alter Voͤlker.
… Auch ich bin, wie Sie, uͤber die
Ueberſetzung Oſſians fuͤr unſer
Volk und unſre Sprache, eben
ſo ſehr als uͤber ein Epiſches Original entzuͤckt.
Ein Dichter, ſo voll Hoheit, Unſchuld, Ein-
falt, Thaͤtigkeit, und Seligkeit des menſchli-
chen Lebens, muß, wenn man in faca Ro-
muli an der Wuͤrkſamkeit guter Buͤcher nicht
ganz verzweifeln will, gewiß wuͤrken und Her-
zen ruͤhren, die auch in der armen Schotti-
ſchen Huͤtte zu leben wuͤnſchen, und ſich ihre
Haͤuſer zu ſolchem Huͤttenfeſt einweihen —
Auch Denis Ueberſetzung verraͤth ſo viel Fleiß
und Geſchmack, theils gluͤcklichen Schwung
der Bilder, theils Staͤrke der deutſchen Spra-
che, daß ich auch ſie gleich unter die Lieblings-
buͤcher meiner Bibliothek geſtellt, und Deutſch-
land zu einem Barden Gluͤck gewuͤnſcht, den
A 2der
[4] der ſchottiſche Barde nur gewecket — Aber
Sie, der vorher ſo halsſtarrig an der Wahr-
heit und Authenticitaͤt des ſchottiſchen Oſſians
zweifelte, hoͤren Sie jetzt mich den Verthei-
diger, nicht halsſtarrig zweifeln, ſondern be-
haupten, daß Trotz alles Fleiſſes und Ge-
ſchmacks und Schwunges und Staͤrke der
deutſchen Ueberſetzung unſer Oſſian gewiß
nicht der wahre Oſſian mehr ſey. Der Raum
fehlt mir, das jetzt zu beweiſen: ich muß alſo
meine Behauptung nur, wie ein tuͤrkiſcher
Mufti, ſein Fetwa hinſetzen, und hier der
Name des Mufti …
… Meine Gruͤnde gegen den deutſchen
Oſſian ſind nicht blos, wie Sie
guͤtigſt waͤhnen, Eigenſinn gegen den deut-
ſchen Hexameter uͤberhaupt: denn was
trauen Sie mir fuͤr Empfindung, fuͤr Ton
und Harmonie der Seele zu, wenn ich z. E.
den Kleiſtiſchen, den Klopſtockiſchen Hexame-
ter nicht fuͤhlen ſollte? aber freylich, weil Sie
doch Einmal ſelbſt darauf gekommen ſind, der
Klopſtockſche Hexameter bey Oſſian? freylich
auch hinc illæ lacrimæ! Haͤtte der Herr D.
die eigentliche Manier Oſſians nur etwas
auch mit dem innern Ohre uͤberlegt — Oſſian
ſo
[5] ſo kurz, ſtark, maͤnnlich, abgebrochen in Bil-
dern und Empfindungen — Klopſtocks Ma-
nier, ſo ausmalend, ſo vortreflich, Empfin-
dungen ganz ausſtroͤmen, und wie ſie Wellen
ſchlagen, ſich legen und wiederkommen, auch
die Worte, die Sprachfuͤgungen ergieſſen zu
laſſen — welch ein Unterſchied? und was iſt
nun ein Oſſian in Klopſtocks Hexameter? in
Klopſtocks Manier? Faſt kenne ich keine zwo
verſchiednere, auch Oſſian ſchon wuͤrklich wie
Epopaͤiſt betrachtet.
Aber das iſt er nun nicht, und ſehen Sie,
das wollte ich Jhnen nur ſagen, von jenem
hat ſchon, wie mich duͤnkt, eine Kritiſche Bi-
bliothek geredet, und das geht mich nichts an.
Jhnen wollte ich nur in Erinnerung bringen,
daß Oſſians Gedichte Lieder, Lieder des
Volks, Lieder eines ungebildeten ſinnlichen
Volks ſind, die ſich ſo lange im Munde der
vaͤterlichen Tradition haben fortſingen koͤn-
nen — ſind ſie das in unſrer ſchoͤnen epiſchen
Geſtalt geweſen? haben ſies ſeyn koͤnnen? —
mein Freund, wenn ich mich zuerſt gegen Jhre
zweifelnde Halsſtarrigkeit gegen die Urſpruͤng-
lichkeit Oſſians auf Nichts ſo ſehr, als auf
inneres Zeugniß, auf den Geiſt des Werks
ſelbſt berief, der uns mit weiſſagender Stim-
me zuſagte: „ſo etwas kann Macpherſon un-
moͤglich gedichtet haben! ſo was laͤßt ſich in
A 3unſerm
[6] unſerm Jahrhunderte nicht dichten!‟ mit
eben dem innern Zeugniß rufe ich jetzt eben ſo
laut: „das laͤßt ſich wahrhaftig nicht ſingen!
in ſolchem Ton von einem wilden Bergvolke
wahrhaftig nicht fortſingen und erhalten folg-
lich iſts nicht Oſſtan, der da ſang, der ſo lan-
ge fortgeſungen wurde!‟ Was ſagen Sie zu
meinem innern Beweiſe? — naͤchſtens fuͤlle
ich Jhnen vielleicht damit Seiten!
… So eigenſinnig fuͤr Jhren deutſchen
Oſſian haͤtte ich Sie doch nicht ge-
glaubt! Es mir durch Zergliederungen und
einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen,
„daß er gewiß ſo gut, als der Engliſche ſey!‟
Jn Sachen der bloſſen, ſchnellen Empfindung,
was laͤßt ſich da nicht aus zergliedern? was
nicht durch ein gruͤbeln des Zerlegen heraus be-
weiſen, was — wenigſtens die vorige ſchnelle
Empfindung gewiß nicht iſt. Haben Sie es
wohl diesmal bedacht, was Sie ſo oft, oft, und
taͤglich fuͤhlen, „was die Auslaſſung Eines,
„der Zuſatz eines andern, die Umſchreibung
„und Wiederholung eines dritten Worts;
„was mir andrer Accent, Blick, Stimme
„der Rede durchaus fuͤr anderen Ton geben
„koͤnne?„ Jch will den Sinn noch immer
blei-
[7] bleiben laſſen; aber Ton? Farbe? die ſchnel-
leſte Empfindung von Eigenheit des Orts, des
Zwecks? — Und beruht nicht auf dieſen alle
Schoͤnheit eines Gedichts, aller Geiſt und
Kraft der Rede? — Jhnen alſo immer zuge-
geben, daß unſer Oſſian, als ein poetiſches
Werk ſo gut, ja beſſer, als der Engliſche
ſey — eben weil er ein ſo ſchoͤnes poetiſches
Werk iſt, ſo iſt er der alte Barde, Oſſian,
nicht mehr; das will ich ja eben ſagen?
Nehmen Sie doch Eins der alten Lieder,
die in Shakeſpear, oder in den engliſchen
Sammlungen dieſer Art vorkommen, und ent-
kleiden Sies von allem Lyriſchen des Wohl-
klanges, des Reims, der Wortſetzung, des
dunkeln Ganges der Melodie: laſſen Sie
ihm blos den Sinn, ſo ſo, und auf ſolche und
ſolche Weiſe in eine andre Sprache uͤbertra-
gen; iſts nicht, als wenn Sie die Noten in
einer Melodie von Pergoleſe, oder die Let-
tern auf einer Blattſeite umwuͤrfen? wo blie-
be der Sinn der Seite? wo bliebe Pergoleſe?
Mir faͤllt eben das Liedchen aus Shakeſpears
Twelfth-Night in die Haͤnde, bey welchem
der Liebeſieche Herzog von hinnen ſcheiden
will: —
that old and antik ſongMe thought it did relieve my paſſionmuch —
A 4More
[8]More than light airs and recollected termsOf theſe moſt briſk and giddy paced times— — it is old and plainThe Spinſters and the Knitlers in the SunAnd the free Maids that weave theirThread with BonesDo uſe to chant it: it is ſitly ſoathAnd daillies with the innocence of LoveLike the old Age —
Nun, werden Sie bey ſolchem Lobe nicht ſo
begierig, wie der verliebte Ritter ſelbſt? Auf!
uͤberſetzen Sies flugs in Denisſche Hexame-
ter:
Song.Come away, come away, death!And in ſad cypreſs let me be laid!Fly away, fly away, breath!I am ſlain by a fair cruel Maid!My Shrowd of white ſtuck all with yewOh prepare itMy Part of death, no one ſo trueDid ſhare it!Not a Flow’r, not a Flow’r ſweetOn my black Coffin let there be ſtrownNot a Friend, not a Friend greetMy poor Corps, where my Bonesſhall be thrown.A thouſand thouſand Sighs to ſaveLay me o whereTrue Lover never find my GraveTo weep there.
Der
[9]
Der ſollte nicht mein Freund ſeyn, der bey
dieſem ſo einfaͤltigen, Nichtsſagenden Liede,
inſonderheit lebendig geſungen, nichts mit
fuͤhlte! Jndeſſen, wenn es uͤberſetzt wuͤrde
(Wieland hat es, ſo wie die Meiſten dieſer
Art, nicht uͤberſetzt!) wenn der Einige faſt,
dem ich hiezu Biegſamkeit zutraue, der Saͤn-
ger des Skaldengeſanges und der Grabſchrift
Aſpaſiens, und des griechiſchen Schnitterlied-
chens und der ſuͤſſen Naͤnie auf Wachtel und
das Schnittermaͤdchen des Himmels, und auf
die Herzensangſt jenes guten Pfarrers —
wenn dieſer Dichter, der ſo Mancherley, und
dies Mancherley ſo vortreflich ſeyn kann, es
uͤberſetzte, wie anders erhaͤlt er den Abdruck
der innern Empfindung, als durch den Ab-
druck des Aeuſſern, des Sinnlichen, in
Form, Klang, Ton, Melodie, alles des
Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem
Geſange ſtromweiſe in die Seele flieſſet.
Schlagen Sie die Dodslei’ſchen Reliques of
ancient Poetry auf, von Einem Ende zum
Andern; uͤberſetzen Sie was und wie ſchoͤn
Sie es wollen, aber auſſer dem Ton des Ge-
ſanges, und ſehen Sie denn, was Sie ha-
ben werden!
Sie kennen doch die liebe, ſuͤſſe Romanze,
von der ich mich wundere, daß ſie ſich in den
A 5Dods-
[10] Dodsleiſchen Reliques nicht finde: Heinrich
und Kathrine
Lord Henry was well knowne —’
ein engliſcher Schulrector, ſeines Namens
Samuel Biſhop, hat gewiſſe Ferias poeti-
cas gefeyret: i. e. Carmina Anglicana
Elegiaci plerumque argumenti (ich ſchrei-
be Jhnen den verdienſtvollen Titel) latine
reddita geſchrieben, und in dieſen Carmi-
nibus Anglicanis latine redditis iſt auch
unſre Romanze Elegiaci argumenti, und
alſo auch Elegiaco verſu, ſchoͤn ſkandirt
und phraſeologiſirt, die ſich alſo anhebt:
Henricus priſcæ nobilitatis honos!’
und wo iſt nun die Romanze? — Daß es
mit Oſſian kaum anders ſey, ſehen Sie nur
einmal die ſchoͤne Macferlanſche Ueber-
ſetzung von Temora. Der Verf. ſelbſt ein
Schotte? der Oſſian ſingen gehoͤrt? ihn doch
alſo fuͤhlen muß? Sehen Sie nun, was un-
ter den Haͤnden des guten, flinken Lateiners
aus der ruͤhrenden Stelle geworden iſt, da
Oſcar faͤllt, und der Dichter ploͤtzlich abbre-
chend, ſich an ſeine Geliebte wendet — Jn
der N. Bibl. der ſch. W. Band 9. St. 2.
S. 344. ſind die Ueberſetzungen aus Mac-
ferſon
[11]ferſon Macferlan, und Denis neben ein-
ander. Sie koͤnnen nachſchlagen und ſe-
hen! …
… Jhre Einwuͤrfe ſind ſonderbar. Bey
alten Gothiſchen Geſaͤngen, wie
Sie ſie zu nennen belieben, bey Reimgedich-
ten, Romanzen, Sonnets und dergleichen
ſchon kuͤnſtlichen oder gar gekuͤnſtelten Stan-
zen, geben Sie mir nach; aber bey alten unge-
kuͤnſtelten Liedern, wilder, ungeſitteter Voͤl-
ker — wilder ungeſitteter Voͤlker? ich kann
ihre Stelle kaum ausſchreiben. So gehoͤrte
ihr Oſſian und ſein edler, groſſer Fingal ſo
ſchlechthin zu einem wilden ungeſitteten Volk?
und wenn jener auch alles idealiſirt haͤtte, wer
ſo idealiſiren konnte, und wem ſo idealiſirt,
dergleichen Bilder, dergleichen Geſchichte,
der Traum des Nachts, und das Vorbild
des Tags, Gemuͤthserholung und beſte Her-
zensluſt ſeyn konnte; der war wildes Volk?
Wohin man doch abgerathen kann, um nur
ſeine Lieblingsmeinung zu retten.
Wiſſen Sie alſo, daß je wilder, d. i. je le-
bendiger, je freywirkender ein Volk iſt, (denn
mehr heißt dies Wort doch nicht!) deſto wilder,
d. i. deſto lebendiger, freyer, ſinnlicher, lyriſch
han-
[12] handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat,
ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher,
wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let-
ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch
ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte
Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben-
digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan-
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,
vom Zuſammenhange und gleichſam Noth-
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-
chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der
Melodie, und von hundert andern Sachen,
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-
tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin-
den — davon, und davon allein haͤngt das
Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige
Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent-
zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und
Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die
Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen
durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht-
niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll,
deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See-
lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit
und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte
trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie
ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde-
res
[13] res rauheres Volk, als die weich idealiſirten
Schotten: mir iſt von jenen kein Gedicht be-
kannt, wo ſanfte Empfindung ſtroͤme: ihr Tritt
iſt ganz auf Felſen und Eis und gefrorner Erde,
und in Abſicht auf ſolche Bearbeitung und Kul-
tur iſt mir von ihnen kein Stuͤck bekannt, das
ſich mit den Oſſianſchen darinn vergleichen laſſe.
Aber ſehen ſie einmal im Worm, im Bar-
tholin, im Periſtiold, und Verel ihre Ge-
dichte an — wie viel Sylbenmaaſſe! wie ge-
nau jedes unmittelbar durch den fuͤhlbaren
Takt des Ohrs beſtimmt! aͤhnliche Anfangsſyl-
ben mitten in den Verſen ſymmetriſch aufge-
zaͤhlt, gleichſam Loſungen zum Schlage des
Takts, Anſchlaͤge zum Tritt, zum Gange des
Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchſtaben
zum Anſtoß, zum Schallen des Bardengeſan-
ges in die Schilde! Diſticha und Verſe ſich ent-
ſprechend! Vokale gleich! Sylben Conſon —
wahrhaftig eine Rythmik des Verſes, ſo kuͤnſt-
lich, ſo ſchnell, ſo genau, daß es uns Buͤcherge-
lehrten ſchwer wird, ſie nur mit den Augen auf-
zufinden; aber denken Sie nicht, daß ſie jenen
lebendigen Voͤlkern, die ſie hoͤrten und nicht la-
ſen, von Jugend auf hoͤrten und mit ſangen,
und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten,
eben ſo ſchwer geweſen ſey. Nichts iſt ſtaͤrker
und ewiger, und ſchneller, und feiner, als Ge-
wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie
lange
[14] lange behaͤlt daſſelbe! Jn der Jugend, mit
dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie leb-
haft kommt es zuruͤck, und ſo ſchnell mit allen
Erſcheinungen der lebendigen Welt verbun-
den, wie reich und maͤchtig kommt es wie er.
Aus Muſik, Geſang und Rede koͤnnt’ ich Jh-
nen eine Menge ſonderbarer Phaͤnomene an-
fuͤhren, wenn ich einmal pſychologiſiren wollte!
Denken Sie nicht, daß ich uͤbertreibe. Un-
ter 136 Rhythmusarten der Skalden, habe ich
nur Einen, den Saugbaren, in Worm naͤher
ſtudirt (denn ihre eigentliche Proſodie, der zwei-
te Theil der Edda iſt meines Wiſſens noch
nicht erſchienen!) und was denken Sie, wenn
in dieſem Rythmus von 8 Reihen nicht blos
2 Diſticha, ſondern in jedem Diſtichon 3 An-
fangaͤhnliche Buchſtaben, 3 conſone Woͤrter
und Schaͤlle, und dieſe in ihren Regionen wie-
der ſo metriſch beſtimmt ſind, daß die ganze
Strophe gleichſam eine proſodiſche Runentex-
tur geworden iſt — und alles waren Schaͤlle,
Laute eines lebenden Geſanges, Wecker des
Takes und der Erinnerung, alles klopfte, und
ſtieß und ſchallte zuſammen! — Machen Sie
nun die Probe, und ſtudiren Reyner Lod-
brogs Sterbegeſang in den Runen des
Worms, und leſen denn die feine, zierliche
Ueberſetzung, die wir davon im Dentſchen, in
ganz anderm Ton und ganz anderm Sylben-
maaſſe
[15] maaſſe haben — der verzogenſte Kupferſtich
von einem ſchoͤnen Gemaͤlde! Nun komme je-
mand und mache aus dem Schlachtgeſang der
Dyſen, aus dem Zaubergeſpraͤch Odins am
Thor der Hoͤlle, aus dem juͤngſten Gericht der
Eddagoͤtter ein ſchoͤnes Heldengedicht in He-
xametern, oder ſchoͤne griechiſche Sylben-
maaſſe, wie Herr Denis aus dem Geſpraͤch
Gauls und Mornis, Fingals und Ros-
kranen gemacht hat; aus Evind Skalda-
ſpillers Trauerlied auf Hako eine Elegie im
Ton der Rothſchildsgraͤber — was wuͤrde Va-
ter Odin und der alte Skaldaſpiller ſagen? —
Daß ſich nun dieſe Skaldiſche Rhytmik nicht
auf Jsland und Skandinavien eingeſchraͤnkt,
koͤnnen ſie aus Hickes, und andern; am neue-
ſten noch in den Dodslei’ſchen reliques aus
der Vorabhandlung von dem complaint of
conſcience (Th. 2. B. 3. S. 277.) ſehen, wo
aus dem Angelſaͤchſiſchen dergleichen mehr als
Eine Probe angefuͤhrt wird.
Aber noch mehr. Gehen Sie die Gedichte
Oſſians durch. Bey allen Gelegenheiten des
Bardengeſanges ſind ſie einem andern Volk ſo
aͤhnlich, das noch jetzt auf der Erde lebet, ſin-
get, und Thaten thut; in deren Geſchichte ich
alſo ohne Vorurtheil und Wahn die Geſchichte
Oſſians und ſeiner Vaͤter mehr als Einmal le-
bendig erkannt habe. Es ſind die fuͤnf Na-
tionen
[16]tionen in Nordamerika: Sterbelied und
Kriegsgeſang, Schlacht- und Grablied, hiſto-
riſche Lobgeſaͤnge auf die Vaͤter und an die Vaͤ-
ter — alles iſt den Barden Oſſians und den
Wilden in Nordamerika gemein; der letzten
Marter- und Rachelied nehme ich aus, dafuͤr
die ſanften Kaledonier ihre Geſaͤnge mit dem
ſanften Blut der Liebe faͤrbten. Nun ſehen
Sie einmal, was alle Reiſebeſchreiber, Char-
levoix und Lafiteau, Roger, und Cad-
wallader Colden vom Ton, vom Rythmus,
von der Macht dieſer Geſaͤnge auch fuͤr Ohren
der Fremdlinge ſagen. Sehen Sie nach, wie
viel nach allen Berichten darinn auf lebende
Bewegung, Melodie, Zeichen ſprache und Pan-
tomime ankoͤmmt, und wenn nun Reiſende,
die die Schotten kannten, und mit den Ameri-
kanern ſo lange gelebt hatten, Kapt. Timber-
lake z. B. die offenbare Aehnlichkeit der Geſaͤnge
beyder Nationen anerkannten — ſo ſchlieſſen
Sie weiter. Bey Denis ſtehen wir ſteif und
feſt auf der Erde: hoͤren etwa Sinn und Jn-
halt in eigner, guter poetiſcher Sprache, aber
nach der Analogie aller wilden Voͤlker kein Laut,
kein Ton, kein lebendiges Luͤftchen von den Huͤ-
geln der Kaledonier, das uns hebe und ſchwinge,
und den lebendigen Ton ihrer Lieder hoͤren laſ-
ſen: wir ſitzen, wir leſen, wir kleben ſteif und
feſt an der Erde.
Als
[17]
Als eine Reiſe nach England noch in meiner
Seele lebte — o Freund, Sie wiſſen nicht,
wie ſehr ich damals auch auf dieſe Schotten
rechnete! Ein Blick, dachte ich, auf den oͤf-
fentlichen Geiſt, und die Schaubuͤhne, und
das ganze lebende Schauſpiel des engliſchen
Volks, um im Ganzen die Jdeen mir aufzu-
klaͤren, die ſich im Kopf eines Auslaͤnders in
Geſchichte, Philoſophie, Politik und Sonder-
barkeiten dieſer wunderbaren Nation, ſo dun-
kel und ſonderbar zu bilden und zu verwirren
pflegen. Alsdenn die groͤßte Abwechſelung des
Schauſpiels, zu den Schotten! zu Macferſon!
Da will ich die Geſaͤnge eines lebenden Volks
lebendig hoͤren, ſie in alle der Wuͤrkung ſehen,
die ſie machen, die Oerter ſehen, die allenthal-
ben in den Gedichten leben, die Reſte dieſer
alten Welt in ihren Sitten ſtudiren! eine Zeit-
lang ein alter Kaledonier werden — und denn
nach England zuruͤck, um die Monumente ihrer
Litteratur und ihre zuſammengeſchleppten Kunſt-
worte und das Detail ihres Charakters mehr
zu kennen — wie freute ich mich auf den Plan!
und als Ueberſetzer haͤtte ich gewiß auf andern
Wegen aͤhnliche Schritte thun wollen, die jetzt —
Denis nicht gethan hat! Fuͤr ihn iſt ſelbſt die
Macpherſonſche Probe der Urſprache ganz
vergebens abgedruckt geweſen.
B… Sie
[18]
… Sie lachen uͤber meinen Enthuſias-
mus fuͤr die Wilden beynahe ſo,
wie Voltaire uͤber Rouſſeau, daß ihm das
Gehen auf Vieren ſo wohl gefiele: Glauben
Sie nicht, daß ich deswegen unſre ſittlichen
und geſitteten Vorzuͤge, worinn es auch ſey,
verachte. Das menſchliche Geſchlecht iſt zu
einem Fortgange von Scenen, von Bildung,
von Sitten beſtimmt: wehe dem Menſchen,
dem die Scene mißfaͤllt, in der er auftreten, han-
deln und ſich verleben ſoll! Wehe aber auch dem
Philoſophen uͤber Menſchheit und Sitten, dem
Seine Scene die Einzige iſt, und der die Erſte
immer, auch als die Schlechteſte, verkennet!
Wenn alle mit zum Ganzen des fortgehenden
Schauſpiels gehoͤren: ſo zeigt ſich in jeder eine
neue, ſehr merkwuͤrdige Seite der Menſch-
heit — und nehmen Sie ſich nur in Acht, daß
ich Sie nicht naͤchſtens mit einer Philologie
aus den Gedichten Oſſians heimſuche.
Die Jdeen wenigſtens dazu liegen tief und le-
bendig genug in meiner Seele, und ſie wuͤrden
manches Sonderbare leſen!
Fuͤr jetzt. Wiſſen Sie, warum ich ein ſolch
Gefuͤhl theils fuͤr Lieder der Wilden, theils
fuͤr Oſſian inſonderheit habe? Oſſian zuerſt,
habe ich in Situationen geleſen, wo ihn die
meiſten,
[19] meiſten, immer in buͤrgerlichen Geſchaͤften, und
Sitten und Vergnuͤgen zerſtreute Leſer, als
blos amuſante, abgebrochene Lecture,
kaum leſen koͤnnen. Sie wiſſen das Aben-
theuer meiner Schiffahrt; aber nie koͤnnen Sie
ſich die Wuͤrkung einer ſolchen, etwas langen
Schiffahrt ſo denken, wie man ſie fuͤhlt. Auf
Einmal aus Geſchaͤften, Tumult und Ranges-
poſſen der buͤrgerlichen Welt, aus dem Lehn-
ſtuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha
der Geſellſchaften auf Einmal weggeworfen,
ohne Zerſtreuungen, Buͤcherſaͤle, gelehrten
und ungelehrten Zeitungen, uͤber Einem Brette,
auf ofnem allweiten Meere, in einem kleinen
Staat von Menſchen, die ſtrengere Geſetze
haben, als die Republik Lykurgus, mitten im
Schauſpiel einer ganz andern, lebenden und
webenden Natur, zwiſchen Abgrund und Him-
mel ſchwebend, taͤglich mit denſelben endloſen
Elementen umgeben, und dann und wann nur
auf eine neue ferne Kuͤſte, auf eine neue Wolke,
auf eine ideale Weltgegend merkend — nun
die Lieder und Thaten der alten Skalden in der
Hand, ganz die Seele damit erfuͤllet, an den
Orten, da ſie geſchahen — hier die Klippen
Olaus vorbey, von denen ſo viele Wunderge-
ſchichte lauten — dort dem Eilande gegenuͤber,
das jene Zauberoſe, mit ihren vier maͤchtigen
Sternebeſtirnten Stieren abpfluͤgte, „das
B 2„Meer
[20] „Meer ſchlug, wie Platzregen, in die Luͤfte
„empor, und wo ſich, ihren ſchweren Pflug
„ziehend, die Stiere wandten, glaͤnzten 8
„Sterne vor ihrem Haupte„ uͤber dem Sand-
lande hin, wo vormals Skalden und Vikinge
mit Schwerdt und Liede auf ihren Roſſen des
Erdeguͤrtels (Schiffen) das Meer durchwan-
delten, jetzt von fern die Kuͤſten vorbey, da
Fingals Thaten geſchahen, und Oſſians Lieder
Wehmuth ſangen, unter eben dem Weben der
Luft, in der Welt, der Stille — glauben Sie,
da laſſen ſich Skalden und Barden anders leſen,
als neben dem Katheder des Profeſſors. Wood
mit ſeinem Homer auf den Truͤmmern Tro-
ja’s, und die Argonauten, Odyſſeen und Luſia-
den unter wehendem Segel, unter raſſelndem
Steuer: Die Geſchichte Uthals und Nina-
thoma im Anblick der Jnſel, da ſie geſchahe;
wenigſtens fuͤr mich ſinnlichen Menſchen ha-
ben ſolche ſinnliche Situationen ſo viel Wuͤr-
kung. Und das Gefuͤhl der Nacht iſt noch in
mir, da ich auf ſcheiterndem Schiffe, das kein
Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit
Meer beſpuͤlt, und mit Mitternachtwind um-
ſchauert, Fingal las und Morgen hofte …
Verzeihen Sie es alſo wenigſtens einer altern-
den Einbildung, die ſich auf Eindruͤcke dieſer
Art, als auf alte bekannte und innige Freunde
ſtuͤtzet. —
Aber
[21]
Aber auch das iſt noch nicht eigentlich Ge-
neſis des Enthuſiasmus, uͤber welchen Sie mir
Vorwuͤrfe machen: denn ſonſt waͤre er vielleicht
nichts als individuelles Blendwerk, ein bloſſes
Meergeſpenſt, das mir erſcheinet. Wiſſen
Sie alſo, daß ich ſelbſt Gelegenheit gehabt,
lebendige Reſte dieſes alten, wilden Geſanges,
Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Voͤlkern
zu ſehen, denen unſre Sitten noch nicht voͤllig
Sprache und Lieder und Gebraͤuche haben neh-
men koͤnnen, um ihnen dafuͤr etwas ſehr Ver-
ſtuͤmmeltes oder Nichts zu geben. Wiſſen Sie
alſo, daß, wenn ich einen ſolchen alten — —
Geſang mit ſeinem wilden Gange gehoͤrt, ich
faſt immer, wie der franzoͤſiſche Marcell ge-
ſtanden: que de choſes dans un menuet!
oder vielmehr, was haben ſolche Voͤlker durch
Umtauſch ihrer Geſaͤnge gegen eine verſtuͤm-
melte Menuet, und Reimleins, die dieſer Me-
nuet gleich ſind, gewonnen? —
Sie kennen die beyden lettiſchen Lieder-
chen, die Leßing in den Litteraturbrie-
fen aus Ruhig anzog, und wiſſen, wie viel
ſinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We-
ſen liegen mußte; laſſen Sie mich itzt ein paar
Peruaniſche aus Garcilaſſo di Vega zie-
hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth-
mus ſo viel moͤglich uͤbertragen; Sie werden
aber gleich ſelbſt ſehen, wie weit ſie ſich uͤbertra-
gen laſſen.
B 3Das
[22]
Das Erſte iſt die Serenate eines Liebhabers
in der Abenddaͤmmerung:
Schlummre, ſchlummr’, o Maͤdchen,Sanft in meine Lieder,Mitternachts, o Maͤdchen,Weck’ ich dich ſchon wieder!
Was laͤßt ſich ſeinem Maͤdchen mehr und ſuͤſſer
ſagen? — Das andre iſt ein bloſſes Bild,
eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und
Blitz. Jn den Wolken iſt eine Nymphe mit
einem Waſſerkruge in der Hand, beſtellet, um
zu gehoͤriger Zeit der Erde Regen zu geben.
Unterlaͤßt ſies, laͤßt ſie die Erde in Duͤrre ſchmach-
ten, ſo koͤmmt ihr Bruder, zerſchlaͤgt ihren
Krug, das giebt Blitz und Donner, und denn
zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom
Ungewitter in der Duͤrre, mit Regen be-
gleitet, Jhnen als ſinnlich, als anſchauend ge-
gefaͤllt: ſo hoͤren ſie das Lied oder Gebet an ſie,
wie Sie wollen:
Schoͤne Goͤttin,Himmelstochter!Mit dem vollenWaſſerkruge,Den dein BruderJetzt zerſchmettertDaß es wettertUngewitter,Blitz und Donner!
Schoͤne
[23]Schoͤne Goͤttin,Koͤnigstochter!Und nun traͤufelſtDu uns Regen,Milden Regen!Doch oft ſtreueſtDu auch FlockenUnd auch Schloſſen!Denn ſo hat dirEr der Weltgeiſt!Er der Weltgott!Virakocha!Macht gegebenAmt gegeben!
Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht
angefuͤhrt: denn Sie wiſſen, in welchem Ruf
die dummen Peruaner ſtehen? ich rede von
Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren,
und da arbeitet meine Nachbildung dem Ori-
ginal ſo matt und ſchwach nach.
Sie kennen das Kleiſtiſche Lied eines
Lapplaͤnders, und die Hand dieſes braven Man-
nes konnte fuͤr uns gewiß nicht anders, als
verſchoͤnern: aber wenn ich Jhnen nun den ro-
hen Lapplaͤnder gaͤbe? — wenigſtens aus der
dritten Hand, denn ich habe Scheffer nicht
bey mir:
O Sonne, dein helleſter Schimmer beglaͤnzeden Orra See!Jch wuͤrde den Fichtengipfel erſteigen, koͤnnt’ ichſchauen den Orra-See!
B 4Jch
[24]Jch wuͤrd’ ihn erſteigen, den Gipfel, meineBlumenfreundinn zu ſehn!Jch wuͤrd ihn beſcheeren, ihm alle Zweige, ſeinegruͤnen Zweige ſtuͤmmeln —Haͤtt’ ich Fluͤgel, zu dir zu fliegen, Fluͤgel derKraͤhenDem Laufe der Wolken folgt’ ich, ziehend zumOrra-See!Aber mir mangeln die Fluͤgel! Entefluͤgel!Fuͤſſe der Ente!Rudernde Fuͤſſe der Gaͤnſe, die mich zu dirbringen!O du haſt lange gewartet, ſo viel Tage!ſchoͤne Tage,Du mit erquickenden Augen, mit deinem freund-lichen Herzen! —Was iſt ſtaͤrker, als Flechte Sehnen! als eiſene,maͤchtige KettenSo feſſelt uns die Liebe, die Umſchafferinn Sinnsund Willens:Denn der Wille des liebenden Juͤnglings iſtWindesgangDie Gedanken des Liebenden lange Gedanken!Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom rechtenWeg’ ab.Drum bleibt mir Ein Entſchluß, die ſichre Bahnzu gehn!
Es iſt, wie geſagt, aus der dritten Hand, die-
ſes lapplaͤndiſche Lied — Aber noch immer,
wie natuͤrlich, wie ſehnlich ſinnet der junge,
begehrende Lapplaͤnder, dem ſein Weg zu lange
wird, dem Alles, was er ſieht, Sonne und
Wipfel und Wolke und Kraͤhe und Ruderfuͤſſe
ſich
[25] ſich zum Orraſee, auf ſein Maͤdchen beziehen
muß! Der auf die Schnelle und Langſam-
keit ſeines Weges, auf ſein Hineilen der Seele,
auf ſeine vorwandernde Gedanken, auf ſeine
Luſt, Richtſteige zu ſuchen, wie natuͤrlich! wie
ſehnlich zuruͤck kommt! Que de choſes dans
un menuet! und ich liefre Jhnen doch nur
die ſtammlendſten, zerriſſenſten Reſte.
Ein andres lapplaͤndiſches Liebeslied an ſein
Rennthier wollte ich Jhnen auch mittheilen;
aber es iſt verworfen, und wer mag Zettel ſu-
chen? Dafuͤr ſtehe hier ein altes, recht ſchau-
derhaftes Schottiſches Lied, fuͤr das ich ſchon
mehr ſtehen kann, weil ichs unmittelbar aus
der Urſprache habe. Es iſt ein Geſpraͤch zwi-
ſchen Mutter und Sohn, und ſoll im Schotti-
ſchen mit der ruͤhrendſten Landmelodie beglei-
tet ſeyn, der der Text ſo viel Raum goͤnnet:
Dein Schwerdt, wie iſts von Blut ſo roth?Edward, Edward!|Dein Schwerdt, wie iſts von Blut ſo rothUnd gehſt ſo traurig da! — O!Jch hab geſchlagen meinen Geyer todtMutter, Mutter!Jch hab geſchlagen meinen Geyer todt,Und das, das geht mir nah! — O!Dein’s Geyers Blut iſt nicht ſo roth!Edward, Edward!Dein’s Geyers Blut iſt nicht ſo roth,Mein Sohn, bekenn mir frey! — O!
B 5Jch
[26]Jch hab geſchlagen mein Rothroß todt!Mutter, Mutter!Jch hab geſchlagen mein Rothroß todt!Und’s war ſo ſtolz und treu! O!Dein Roß war alt und haſts nicht noth!Edward, Edward,Dein Roß war alt und haſts nicht noth,Dich druͤckt ein ander Schmerz! O!Jch hab geſchlagen meinen Vater todt,Mutter, Mutter!Jch hab geſchlagen meinen Vater todt,Und das, das quaͤlt mein Herz! O!Und was wirſt du nun an dir thun!Edward, Edward!Und was wirſt du nun an dir thun?Mein Sohn, bekenn mir mehr! O!Auf Erden ſoll mein Fuß nicht ruhn!Mutter, Mutter,Auf Erden ſoll mein Fuß nicht ruhn!Will wandern uͤber Meer! O!Und was ſoll werden dein Hof und Hall,Edward, Edward,Und was ſoll werden dein Hof und Hall,So herrlich ſonſt und ſchoͤn! O!Ach! immer ſtehs und ſink’ und fall,Mutter, Mutter,Ach immer ſtehs und ſink’ und fall,Jch werd’ es nimmer ſehn! O!Und was ſoll werden dein Weib und Kind,Edward, Edward?Und was ſoll werden dein Weib und Kind,Wann du gehſt uͤber Meer — O!Die Welt iſt groß! laß ſie betteln drinn,Mutter, Mutter!
Die
[27]Die Welt iſt groß! laß ſie betteln drinn,Jch ſeh ſie nimmermehr! — O!Und was ſoll deine Mutter thun?Edward, Edward!Und was ſoll deine Mutter thun?Mein Sohn, das ſage mir! O!Der Fluch der Hoͤlle ſoll auf Euch ruhn,Mutter, Mutter!Der Fluch der Hoͤlle ſoll auf Euch ruhn,Denn ihr, ihr riethets mir! O.
Koͤnnte der Brudermord Kains in einem Po-
pulaͤrliede mit grauſendern Zuͤgen geſchildert
werden? und welche Wuͤrkung muß im leben-
digen Rhytmus das Lied thun? und ſo, wie
viele viele Lieder des Volks! Doch aus mei-
nem Briefe ſoll kein Buch werden u. ſ. w.
… Endlich werden Sie aufmerkſam, und
mahnen mich um mehrere ſolche
Volkslieder; ich aber beweiſe nun wieder ge-
gen Sie Eigenſinn. Denn aus Jhrem vorletz-
ten Briefe z. E. iſt mir noch ein Einwurf auf
dem Herzen. „Auch Herr D. habe ja ſo viel
lyriſche Stuͤcke, und die ſo ſchoͤn waͤren!‟
Lyriſche Stuͤcke hat er, und ſchoͤn ſind ſie;
aber wie viel lyriſche Stuͤcke, und wodurch ſind
ſie ſchoͤn? Was iſt das andre im Original, was
bey ihm nicht lyriſch iſt, der Grund des Ge-
dichts,
[28] dichts, auf dem ſeine Oden nur Blumen ſind,
iſt das Hexameter? Und denn auch, wie?| wo-
durch ſind ſie ſchoͤn? Durch ſchoͤne Roͤmiſche,
Griechiſche Sylbenmaaſſe, und durch ſo ſchoͤne
Anordnung in denſelben, daß ich ja eben des-
wegen behauptet, ſie ſeyn die ſchoͤnen Barden-
lieder Oſſians nicht mehr! Was macht Mac-
pherſon faſt bey jedem ſolcher Stuͤcke fuͤr Aus-
ruͤfe uͤber das Wilde, oder Sanfte, oder Feier-
liche oder Kriegeriſche ihres Rhythmus, ihrer
Melodien, ihrer Sylbenmaaſſe, das Seele
des Geſangs ſey — nun muß ich aber beken-
nen, daß bey den meiſten Faͤllen ich weder Wahl,
noch Veranlaſſung eben zu ſolchen Roͤmiſchen
und Griechiſchen Sylbenmaaſſe; ja wenn ich
von den Geſaͤngen der Wilden uͤberhaupt Ton
habe, nirgends Veranlaſſung zu Einem ſol-
cher Roͤmiſchen und Griechiſchen Sylbenmaaſſe
ſehe. Jch mag mit Herr D. nicht wetteifern;
er hat ſo viel poetiſchen Styl und Sprache in
ſeiner Gewalt; aber ich wolte Ein Stuͤck bey
ihm ſehen, das nicht in einem andern Sylben-
maaſſe eben ſo gut, das iſt, eben ſo geziert,
erſcheinen ſollte, und maches iſt, ohne Um-
ſchweif, uͤbel gewaͤhlt.
Zur Probe davon ſehen Sie einmal den drit-
ten Band durch. Da hat ihm, ich weiß nicht,
welcher Kunſtrichter, den Rath gegeben, mehr
des Skaldiſchen Sylbenmaaſſes zu gebrauchen,
und
[29] und nun ſehen Sie, wie es der Ueberſetzer miß-
braucht hat. Die vortrefliche, ſo vielſaitige
Goldharfe, die unter der Hand des daͤniſchen
Skalden allen Zauber- und Macht-und Leyer-
und Wunderton hat annehmen koͤnnen, ſo
wie gegenſeitig den Ton der Liebe, der Freund-
ſchaft, der Entzuͤckung, iſt in den Haͤnden des
Ueber ſetzers eine hoͤlzerne Trommel mit zween
Schlaͤgen geworden. — Schade nur, daß
eben dadurch die ſchoͤnen Lieder von Selma
und das ſuͤſſe Carrikthura verunſtaltet ſind.
Jm erſten Bande hat der Ueberſetzer gar eine
Cantate in Reimen nach aller Form erfunden,
und da ihm nun kaum zwey Reime gelingen, ſo
ſinkt dies ganze Stuͤck faſt unter die Kritik hinab.
Wie ganz anders hat Rlopſtock auch hier
z. E. in der Sprache gearbeitet! Der ſonſt ſo
ausflieſſende ausſtroͤmende Dichter, wie kurz!
wie ſtark und abgebrochen! wie altdeutſch hat
er ſich in ſeiner Hermanns-Schlacht zu ſeyn
beſtrebt! Welche Proſe gleicht da wohl ſeinem
Hexameter! welch lyriſches Sylbenmaaß ſeinen
ſonſt ſo ſtroͤmenden griechiſchen Sylbenmaaſſen!
Wenn in ſeinem Bardit wenig Drama iſt:
ſo iſt wenigſtens das Lyriſche im Bardit, und
im Lyriſchen mindſtens der Wortbau ſo Dra-
matiſch, ſo Deutſch! — Leſen Sie z. E. das
edle, ſimple Stuͤckchen:
‘Auf Mooſ’, am luftigen Bach ⁊c.’ ()
und
[30]
und ſo viele, ja faſt alle andre, und dann zeigen
Sie mir Etwas in dem Bardenton in Denis.
Da nun Klopſtock ſelbſt ſich ſo ſehr hat verlaͤug-
nen koͤnnen, veraͤndern muͤſſen — iſt dies
Muß nicht eine groſſe Lehre? Sie ſchreiben
mir neulich, da Sie Denis Sylbenmaaſſe prie-
ſen, Jhnen ſey bey ſeinem Fingal und Ros-
krane Klopſtocks Hermann und Thuſnel-
de (in den Brem. Beytr.) eingefallen: deſto
ſchlimmer, denn Klopſtocks neuerer Bardeton
iſt wohl nicht ganz der in Hermann und Thu-
ſnelde. Jch bins gewiß nicht allein, der die-
ſen veraͤnderten, haͤrtern Bardeton im neuern
Klopſtock empfindet, und ohne mich in das
Beſſre oder Schlechtre einzulaſſen, gehe ich
gern mit den Jahren des Dichters, und mit
der Natur fort, und bin ſtolz darauf das Deut-
ſche Bardenmaͤßige in ſeinem
und in allen neuern Stuͤcken, wo ſo viel kurzer,
dramatiſcher Dialog und Wurf der Gedanken
iſt, zu empfinden —
… Der Faden unſres Briefwechſels ver-
vielfaͤltigt ſich ſo, daß ich kaum
mehr weiß, wo ich ihn angreifen ſoll, um ihn
fort-
[31] fortzufuͤhren — am beſten alſo, wo er mir in
die Haͤnde faͤllt.
Die Anmerkungen, die Sie „uͤber das Dra-
matiſche in den alten Liedern‟ dieſer
Art machen, iſt ſo nach meinem Sinn, daß ichs
mir immer mit unter dem Charakterſtuͤcken der
Alten gedacht habe, die wir Neuere ſo wenig er-
reichen, als ein todtes momentariſches Ge-
maͤlde eine fortgehende, handelnde, lebendige
Scene. Jenes ſind unſre Oden; dies die ly-
riſchen Stuͤcke der Alten, inſonderheit wilder
Voͤlker. Alle Reden und Gedichte derſelben
ſind Handlung: Leſen Sie z. E. im Charle-
voix ſelbſt die unvorbereitete Kriegs-und Frie-
densrede des Eskimaux: es iſt alles in ihr
Bild, Strophe, Scene! Was fuͤr Handlung
in Odins Hoͤllenfahrt, im Webegeſange
der Valkyriur, im Beſchwoͤrungsliede
der Hervor, und bey Oſſian auf jeder Seite,
in jedem Stuͤcke! Damit Sie nun nicht wie-
der ſagen, daß ich Jhnen viel nenne und nichts
gebe: ſo mache ich mit Abtragung meiner
Schuld den Anfang, und lege Jhnen, zumal
ich jetzt zu ſchreiben, nicht mehr Zeit habe, ein
paar der genannten bey. Jch haͤtte ſie Jhnen
ſo neu aufſtutzen und idealiſiren koͤnnen: denn
blieben ſie ja aber nicht mehr, was ſie jetzt ſind,
und eben | am Alengo der Bildſaͤule, am dun-
keln,
[32] keln, einfoͤrmigen, nordiſchen Zauberton der
Stuͤcke, iſt Jhnen und mir ja gelegen:
Odins Hoͤllenfahrt.Es erhub ſich OdinDer Menſchen hoͤchſter!Und nahm ſein RoßUnd ſchwang ſich aufs RoßUnd ritt hinunterZu der Hoͤllen Thor.Da kam |ihm entgegenDer Hoͤllenhund!BlutbeſpritztWar ſeine Bruſt!Mit offnem Rachen,Und ſcharfem GebißUnd Wuth und Schaum.Und riß den RachenUnd bellt’ entgegenDem Zaubervater
Und bellte lang!Und fort ritt OdinUnd die Erd’ erbebte.Da kam er zum hohenHoͤllenſchloß,Und ritt gen AufgangZum Hoͤllenthor,Wo die SeherinJm Grabe lag.Und ſang der WeiſenTodtenẽrweckendenGraͤbergeſang:Und ſah’ gen RordenUnd legte Runen
Und
[33]Und beſchwur und fragt’,Und foderte RedeBis ſie zuͤrnend endlichSich erhub und begannTodtenſtimme:„Wer iſt der Mann?„Jch kenn’ ihn nicht!„Der meine Ruhe„Zu ſtoͤren beginnt!„Jch lag mit Schnee„Und Eis bedeckt,„Und Regen befloſſen„Und Thau benetzt,„Und lag ſo lang!„Ein Wandrer bin ich,Kriegersſohn.Du ſollſt mir KundeVom Hoͤllenreich geben.Jch will ſie dir gebenAus meiner Welt!Jener goldne SitzWem iſt er bereitet?Jenes goldne BetteFuͤr wen ſtehts da?„Fuͤr Balder’n ſteht,„Sieh her! der Trank,„Der Honigtrank„Und der Schild liegt drauf!„Bald werden um ihn„Die Goͤtter trauren!„Unwillig red’ ich„Nun laß mich ruhn!„Noch ruhe nicht, Jungfrau!Jch forſche| weiter
CUnd
[34]Und laſſe nicht ab,Bis ich Alles weiß!
Sprich, wer wird BaldernDen Tod bereiten?Und Leben berauben
Odins Sohn?„Hoder iſts,„Der wird dem Bruder„Den Tod bereiten„Und Leben berauben„Odins Sohn!„Unwillig red’ ich„Nun laß mich ruhn!Noch ruh, nicht, Jungfrau!Jch forſche weiter,Und laſſe nicht ab,Bis ich Alles weiß!Sprich, wer wird HodernDen Haß vergeltenUnd Balders MoͤrderZum Grabe ſenden?„Jn Weſten wird Rinda„Dem Odin zu Nacht„Einen Sohn gebaͤren,„Der kaum gebohren„Wird Waffen tragen,„Seine Hand nicht waſchen,„Sein Haar nicht kaͤmmen,„Bis er Balders Moͤrder„Zu Grabe gebracht.„Unwillig red’ ichs„Nun laß mich ruhn!
Noch
[35]Noch ruhe nicht, Jungfrau!Jch forſche weiter,Und laß nicht abBis ich Alles weiß.Wer ſind die Jungfraun,Die ſtumm dort weinenUnd Himmel an werfenJm Schmerz den Schley’rNoch das ſprich mirEher ſollt du nicht ruhn!„O du kein Wandrer,„Wie ich erſt gewaͤhnt!„Du biſt Odin ſelbſt„Der Menſchen Hoͤchſter.Und du keine WeiſePropheten Jungfrau;Keine Seherin!Drey-Rieſen-MutterVielmehr biſt du!„Weg, Odin! wandre„Nachheim! hinweg!„Und ruͤhme daheim,„Daß Niemand der Menſchen„Wie du’s vermocht,„Forſchen wird,„Bis einſt der Arge„Die Ketten bricht„Und die Goͤtter fallen„Und die Welt zerfaͤllt„Und Nacht beginnt!
C 2Der
[36]Der Webegeſang der Valkyriur.
(Der Schickſalsgoͤttinnen, vor der Schlacht, zu des
Grafen Randvers Tod, und des
Koͤnigs Siege)Umher wirds dunkelVon Pfeilgewoͤlken!Sie breiten umher ſichWetterverkuͤndend!Es regnet Blut!Auf! knuͤpfet an SpieſſeDas SchickſalsgewebeBlutrothen Einſchlags,Jhr TodesſchweſternZu Randvers Tod.Sie weben GewebeVon Menſchendaͤrmen!MenſchenhaͤupterHaͤngen ſie dran!Bluttriefende SpieſſeSchieſſen ſie durchUnd ſind mit WaffenUnd Pfeil geruͤſtetUnd dichten mit SchwerdterDas Sieggarn veſt.Sie kommen zu webenMit nackten SchwerdternHild, Hiorthrimul,
Sangrida, Svipul,Eh die Sonne ſinktWerden Schilde ſpaltenUnd Panzer brechen
Und
[37]Und Schwerdter treffen,Daß die Helme toͤnen.Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!Dies Schwerdt trug einſtEin Koͤnigs Sohn!Hinaus, hinausAn die Schaaren hinan,Wo unſre FreundeJn Waffen ſchon gluͤhn!Wir weben, wir webenSchlachtgewebe!Hinaus, hinausZum Koͤnig hinan!Qudr, Qondula!Da ſahen ſie ſchonSchilde blutrothDen Koͤnig decken!Wir weben, wir webenSchlachtgewebe!Hinaus, hinaus!Wo die Waffen toͤnenUnd Helden fechten!Wir wollen nicht fallenDen Koͤnig laſſen!Die Valkyriur waltenUeber Leben und Tod!Es ſoll gebiettn,Dem ErdenkreisDies Volk der Wuͤſte!Maͤchtiger KoͤnigJch verkuͤnde dirEs naht in Pfeilen
C 3Ein
[38]Ein Tod heran!Dein Feind iſt gefallen! —Und Jrrland wirdTrauer treffen,Die ſeinen SoͤhnenNie ſchwinden wird!’Das Geweb’ iſt gewebt!Das Schlachtfeld fließtVon rothem Blut!Der Krieg wird wuͤtenNoch Laͤnder hindurch!Wie iſts nun ſchrecklichUmherzuſchaun!Blutwolken fliegenJn der Luft umher!Ach! KriegerblutesWird die Luft getuͤncht,Eh unſre StimmenErfuͤllt einſt ſind.Singt all’ ihr SchweſternDem Koͤnige Heil!Und Siegeslieder!Und Heil uns SchweſternUnd unſerm Geſang’!Und wer ſie hoͤrtDie Schlachtgeſaͤnge,Der lern’ und ſingeSie den Kriegern vor.Und reiten auf RoſſenJn der Luft hinweg:Mit nackten SchwerdternHinweg von hier!
… Habe
[39]
… Habe ich denn je meine ſkaldiſche Ge-
dichte in Allem fuͤr Muſter neuerer
Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger!
ſie moͤgen ſo einfoͤrmig, ſo trocken ſeyn: andre
Nationen ſie ſo ſehr uͤbertreffen: ſie moͤgen fuͤr
Nichts als Geſaͤnge, nordiſcher Meiſterſaͤnger
oder Improviſatori gelten; was ich mit ihnen
beweiſen will, beweiſen ſie. Der Geiſt, der
ſie erfuͤllet, die rohe, einfaͤltige, aber groſſe,
zaubermaͤßige, feyerliche Art, die Tiefe des
Eindrucks, den jedes ſo ſtarkgeſagte Wort
macht, und der freye Wurf, mit dem der Ein-
druck gemacht wird — nur das wolte ich bey
den alten Voͤlkern, nicht als Seltenheit, als
Muſter, ſondern als Natur anfuͤhren, und
daruͤber alſo laſſen Sie mich reden.
Sie wiſſen aus Reiſebeſchreibungen, wie
ſtark und feſt ſich immer die Wilden ausdruͤk-
ken. Jmmer die Sache, die ſie ſagen wollen
ſinnlich, klar, lebendig anſchauend: den Zweck,
zu dem ſie reden, unmittelbar und genau fuͤh-
lend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen
und ſymboliſchen Letternverſtand (von dem ſie
in keinem Worte ihrer Sprache, da ſie faſt
keine abſtracta haben, wiſſen) durch alle dies
nicht zerſtreuet: noch minder durch Kuͤnſteleyen,
ſklaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende
Politik, und verwirrende Praͤmeditation ver-
dorben — uͤber alle dieſe Schwaͤchungen des
C 4Gei-
[40] Geiſtes ſeligunwiſſend, erfaſſen ſie den ganzen
Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies
mit jenem. Sie ſchweigen entweder, oder
reden im Moment des Jntereſſe mit einer un-
vorbedachten Feſtigkeit, Sicherheit und Schoͤn-
heit, die alle wohlſtudierte Europaͤer allezeit
haben bewundern muͤſſen, und — muͤſſen blei-
ben laſſen. Unſre Pedanten, die alles vor-
her zuſammen ſtoppeln, und auswendig lernen
muͤſſen, um alsdenn recht methodiſch zu ſtam-
meln; unſre Schulmeiſter, Kuͤſter, Halbge-
lehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehr-
ten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten,
als daß ſie endlich, wie Shakeſpear’s Laun-
celots, Policeydiener, und Todtengraͤber un-
eigen, unbeſtimmt, und wie in der letzten To-
desverwirrung ſprechen — dieſe gelehrte Leute,
was waͤren die gegen die Wilden? — Wer
noch bey uns Spuren von dieſer Feſtigkeit fin-
den will, der ſuche ſie ja nicht bey ſolchen; —
unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute
von gutem Naturverſtande, mehr durch Thaͤ-
tigkeit, als Spekulation gebildet, die ſind,
wenn das, was ich anfuͤhrete, Beredſamkeit
iſt, alsdenn die Einzigen und beſten Redner
unſrer Zeit.
Jn der alten Zeit aber waren es Dichter,
Skalden, Gelehrte, die eben dieſe Sicherheit
und Feſtigkeit des Ausdrucks am meiſten mit
Wuͤrde
[41] Wuͤrde, mit Wohlklang, mit Schoͤnheit zu paa-
ren wußten; und da ſie alſo Seele und Mund
in den feſten Bund gebracht hatten, ſich einan-
der nicht zu verwirren, ſondern zu unterſtuͤtzen,
beyzuhelfen: ſo entſtanden daher jene fuͤr uns
halbe Wunderwerke von αοιδοισ, Saͤngern,
Barden, Minſtrels, wie die groͤßten Dichter
der aͤltſten Zeiten waren. Homers Rhapſo-
dien und Oſſians Lieder waren gleichſam im
promptus, weil man damals noch von Nichts
als impromptus der Rede wußte: dem letz-
tern ſind die Minſtrels, wiewohl ſo ſchwach
und entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt,
bis endlich die Kunſt kam und die Natur aus-
loͤſchte. Jn fremden Sprachen quaͤlte man
ſich von Jugend auf Quantitaͤten von Sylben
kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und
Natur zu fuͤhlen gibt: nach Regeln zu arbeiten,
deren wenigſte, ein Genie, als Naturregeln
anerkennet; uͤber Gegenſtaͤnde zu dichten, uͤber
die ſich nichts denken, noch weniger ſinnen,
noch weniger imaginiren laͤßt; Leidenſchaften
zu erkuͤnſteln, die wir nicht haben, Seelen-
kraͤfte nachzuahmen, die wir nicht beſitzen —
und endlich wurde Alles Falſchheit, Schwaͤche,
und Kuͤnſteley. Selbſt jeder beſte Kopf ward
verwirret, und verlohr Feſtigkeit des Auges,
und der Hand, Sicherheit des Gedankens und
des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit
C 5und
[42] und Wahrheit und Andringlichkeit. — Alles
ging verlohren. Die Dichtkunſt, die die ſtuͤr-
mendſte, ſicherſte Tochter der menſchlichen Seele
ſeyn ſollte, ward die ungewiſſeſte, lahmſte,
wankendſte: die Gedichte fein oft corrigirte Kna-
ben, und Schulexercitien. Und freylich, wenn
das der Begriff unſrer Zeit iſt, ſo wollen wir
auch in den alten Stuͤcken immer mehr Kunſt
als Natur bewundern, finden alſo in ihnen bald
zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf
ſteht, und ſelten was in ihnen ſingt, den Geiſt
der Natur. Jch bin gewiß, daß Homer und
Oſſian, wenn ſie aufleben und ſich leſen, ſich
ruͤhmen hoͤren ſollten, mehr als zu oft uͤber das
erſtaunen wuͤrden, was ihnen gegeben und ge-
nommen, angekuͤnſtelt, und wiederum in ihnen
nicht gefuͤhlt wird.
Freylich ſind unſre Seelen heut zu Tage
durch lange Generationen und Erziehung von
Jugend auf anders gebildet. Wir ſehen und
fuͤhlen kaum mehr, ſondern denken und gruͤb-
len nur; wir dichten nicht uͤber und in leben-
diger Welt, im Sturm und im Zuſammenſtrom
ſolcher Gegenſtaͤnde, ſolcher Empfindungen;
ſondern erkuͤnſteln uns entweder Thema, oder
Art, das Thema zu behandeln, oder gar bey-
des — und haben uns das ſchon ſo lange,
ſo oft, ſo von fruͤh auf erkuͤnſtelt, daß uns frey-
lich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehr
gluͤcken
[43] gluͤcken wuͤrde, denn wie kann ein Lahmer ge-
hen? Daher alſo auch, daß unſern meiſten
neuen Gedichten, die Feſtigkeit, die Beſtimmt-
heit, der runde Contour ſo oft fehlet, den nur
der erſte Hinwurf verleihet, und kein ſpaͤteres
Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer
und Oſſian wuͤrden wir bey ſolchem poetiſchen
Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als ei-
nem Raphael oder Apelles, der durch Einen
Umriß ſich als Apelles zeigt, der ſchwachhaͤn-
dig, krizzelnde Lehrknabe — u. ſ. w.
… Als ob ich mit dem, was ich neulich
vom erſten Wurfe eines Gedichts
gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey
unſrer jungen Dichterlinge, auch nur im min-
zu ſtatten kommen koͤnnte? Denn was iſt doch
bey ihnen fuͤr ein Fehler ſichtbarer, als eben
die Unbeſtimmtheit, Unſicherheit der Gedanken
und der Worte, daß ſie nie wiſſen, was ſie ſa-
gen wollen, oder ſollen? — Weiß aber je-
mand das nicht, wie kann ers durch alle Kor-
rektur lernen? Durch Schnitzeley kann da je
ein Bratſpieß zur marmornen Bildſaͤule Apolls
werden?
Mich duͤnkt, nach der Lage unſrer gegenwaͤr-
tigen Dichtkunſt ſind hierinn zwey Hauptfaͤlle
moͤg-
[44] moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See-
lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine
Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend
ſind, vorſtellende, erkennende Kraͤfte ſind:
ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt
ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo
deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen,
daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die
Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem
Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck.
Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei-
denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei-
ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk-
ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er
nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem
Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und
bezaubert. Jm erſten Falle haben Milton,
Haller, Kleiſt und andre gedichtet: ſie ſan-
nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber,
ſo wards und ſtand. Bey Milton wenige
Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als
Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte,
und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: Hal-
ler, deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie
ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind:
Leßing iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk-
ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle
ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete
ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht
durch
[45] durch ein Schnelles, ſo durch ein Tiefes und
Beſtaͤndiges des Eindrucks aus. Sie dauren,
und die Seele findet bey jedem neuen wieder-
holten Eindruck gleichſam noch etwas Tiefers
und Vollendetes, was ſie anfangs nicht be-
merkte. Von der zweiten Art muß z. E. Klop-
ſtock in den ausſtroͤmendſten Stellen ſeiner
Gedichte ſeyn: Gleim, deſſen Gedichte ſo
viel Sichtbares vom Erſten Wurf haben: Ja-
cobi, deſſen Verſe Nichts, als ſanfte Unter-
haltungen des Moments werden, und andre,
die die Sache freylich nachher bis zu jeder Nach-
laͤſſigkeit uͤbertrieben haben. Rammler,
glaube ich, ſucht beyde Arten zu verbinden,
ob freylich gleich die Erſte, die Ausgedachte,
bey ihm ungleich ſichtbarer iſt. Wieland
ſucht ſie zu verbinden, ob er gleich immer doch
mehr, aus dem Fach der Weltkenntniß ſeines
Herzens zu ſchreiben ſcheint, Gerſtenberg
zu verbinden — und uͤberhaupt verbindet ſie
in gewiſſem Maaſſe jeder gluͤckliche Kopf: denn
ſo entfernt beyde Arten im Anfange ſcheinen;
ſo wenig Ein Genie ſich der Art des Andern
aus dem Stegreife bemaͤchtigen kann: ſo kom-
men ſie doch endlich beyde uͤberein; lange und
ſtark und lebendig gedacht, oder ſchnell und
wuͤrkſam empfunden — im Punkt der Thaͤ-
thigkeit wird beydes improptns, oder bekoͤmmt
die, Feſtigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und
Sicher-
[46] Sicherheit deſſelben, und das — nur das iſt,
was ich ſagen wollte. Was lieſſen ſich aber
auch nur aus dem fuͤr groſſe, reiche Wahrhei-
ten der Erziehung, der Bildung, der Unter-
weiſung ziehen! Was lieſſen ſich uͤberhaupt
aus dieſer Proportion oder Disproportion des
erkennenden und empfindenden Theils unſrer
Seele fuͤr pſychologiſche und praktiſche Anmer-
kungen machen! — Aber Sie muͤſſen auf meine
Pſychologie uͤber Oſſian warten!
Jch bleibe hier in meinem Felde. Da die
Gedichte der alten, und wilden Voͤlker ſo ſehr
aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittel-
barer Begeiſterung der Sinne, und der Ein-
bildung entſtehen, und doch ſo viel Wuͤrfe, ſo
viel Spruͤnge haben: ſo hat mich dies laͤngſt,
aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedan-
ken gebracht, die ich Jhnen hier zum freund-
ſchaftlichen Gutachten mittheile. Zuerſt, ſol-
ten alſo wohl fuͤr den ſinnlichen Verſtand, und
die Einbildung, alſo fuͤr die Seele des Volks,
die doch nur faſt ſinnlicher Verſtand und Ein-
bildung iſt, dergleichen lebhafte Spruͤnge,
Wuͤrfe, Wendungen, wie Sies nennen wollen,
ſo eine fremde boͤhmiſche Sache ſeyn, als uns
die Gelehrten und Kunſtrichter beybringen wol-
len? Sie wiſſen die Einwuͤrfe, die man hier
aus Klopſtocks Kirchenliedern, wie es immer
gelautet hat, fuͤr gute Sache des Chriſtlichen
Volks
[47] Volks gemacht hat, laſſen ſie uns ſehen, was
daran ſey?
Zuerſt muß ich Jhnen alſo, wenn es auf
Erfahrung und Autoritaͤt ankommt, ſagen,
daß Nichts in der Welt mehr Spruͤnge und
kuͤhne Wuͤrfe hat, als Lieder des Volks, und
eben die Lieder des Volks haben deren am mei-
ſten, die ſelbſt in ihrem Mittel gedacht, erſon-
nen, entſprungen und gebohren ſind, und die
ſie daher mit ſo viel Aufwallung und Feuer
ſingen, und zu fingen nicht ablaſſen koͤnnen.
Mir iſt z. E. ein Jaͤgerlied bekannt, das ich
wohl unterlaſſen werde, Jhnen ganz mitzuthei-
len, weil ſich das Meiſte und Anziehendſte in
ihm, auf lebendigen Ton und Melodie des
Horns beziehet; aber bey allem Simpeln und
Populaͤren iſt kein Vers ohne Sprung und
Wurf des Dialogs, der in einem neuen Ge-
dichte gewiß Erſtaunen machte, und uͤber den
unſre lahme Kunſtrichter, als ſo unverſtaͤndlich,
kuͤhn, dithyrambiſch ſchreyen wuͤrden. Ein
Jaͤger hat Abends ſpaͤt das Netz geſtellt, und
blaͤßt alleweil bey der Nacht, (welche Wort
die Jaͤgerreſonanz ſind) mit ſeinem Horne das
Wild aus dem Korn ins lange Holz: alleweil
bey Nacht begegnet ihm alſo von fern eine
Jungfrau ſtolz, und da hebt ſich dieſer Dia-
log an:
Wo
[48]
Wo aus? wo ein? du wildes Thier!
Alleweil bey der Nacht!
Jch bin ein Jaͤger, und fang dich ſchier, u. ſ. w.
„Biſt du ein Jaͤger, du faͤngſt mich nicht
Alleweil bey der Nacht!
„Mein’ hohe Spruͤng’, die weißt du nicht, u. ſ. w.
Dein’ hohe Spruͤng’, die weiß ich wohl,
Weiß wohl, wie ich ſie dir ſtellen ſoll. u. ſ. w.
Und ſehen Sie, ploͤtzlich, ohne alle weitere Vor-
bereitung erhebt ſich die Frage:
‘Was hat ſie an ihrem rechten Arm?’ ()
und ploͤtzlich, ohne weitere Vorbereitung die
Antwort:
Nun bin ich gefangen, u. ſ. w.Was hat ſie an ihrem linken Fuß?„Nun weiß ich, daß ich ſterben muß!‟
und ſo gehen die Wuͤrfe fort, und doch in einem
ſo gemeinen, populaͤren Jaͤgerliede! und wer
iſts, ders nicht verſtuͤnde, der nicht eben daher
auf eine dunkle Weiſe, das lebendige Poeti-
ſche empfaͤnde?
Alle alte Lieder ſind meine Zeugen! Aus
Lapp- und Eſthland, Lettiſch und Pohlniſch,
und Schottiſch und Deutſch, und die ich nur
kenne, je aͤlter, je volkmaͤßiger, je lebendiger;
deſto kuͤhner, deſto werfender. Wenn ihnen
meine Skaldiſchen, und Lapp-und Schottlaͤndi-
ſchen Lieder nicht genug ſind, hoͤren Sie ein-
mal ein Andres, aus den DodsleiſchenRe-
liques: ich waͤhle ein ganz gemeines, deren
wir
[49] wir unter unſerm Volk gewiß hundert aͤhnliche,
und wo nicht Lieder, doch Sager haben. Es iſt
nichts in der Welt mehr, als Sweet Williams
Ghoſt: und doch, wie wenig kann ich ihm in
der Ueberſetzung, ſeinen Aerago, ſein Feier-
liches Populaͤres laſſen.
Zu Hannchens Thuͤr, da kam ein Geiſt,Mit manchem Weh und Ach!Und druͤckt’ am Schloß und kehrt’ am SchloßUnd aͤchzte traurig nach.„Jſts, Vater Philipp! der iſt da?Biſts, Bruder! du, Johann?„Oder iſts Wilhelm, mein Braͤutigam!Aus Schottland kommen an!Dein Vater Philipp, der iſts nicht!Dein Bruder nicht, Johann!Es iſt Wilhelm, dein Braͤutigam,Aus Schottland kommen an!Hoͤr, ſuͤſſes Hannchen, hoͤre mich,Hoͤr’ und willfahre mir!Gib mir zuruͤck mein Wort und Treu,Das ich gegeben Dir!„Dein Wort und Treu geb’ ich dir nichtGeb’s nimmer wieder Dir!„Bis du zu meiner Kammer kommſt,Mit Liebeskuß zu mir!Zu deiner Kammer ſoll ich ein,Und bin kein Menſch nicht mehr?Und kuͤſſen deinen Roſenmund?So kuͤß ich Tod dir her!Nein ſuͤſſes Hannchen, hoͤre mich,Hoͤr’ und willfahre mir.Gib mir zuruͤck mein Wort und TreuDas ich gegeben Dir!
D„Dein
[50]„Dein Wort und Treu geb ich dir nicht,Geb’s nimmer wieder Dir!„Bis du mich fuͤhrſt zur Kirch’ hinanMit Treuering dafuͤr!‟Und an der Kirche lieg’ ich ſchonUnd bin ein Todtenbein!’S iſt, ſuͤſſes Hannchen, nur mein Geiſt,Der hier zu dir kommt ein!Ausſtreckt ſie ihre LiljenhandStreckt bebend ſie ihm zu:„Da, Wilhelm, haſt du Wort und Treu,Und geh, und geh zur Ruh!Und ſchnell warf ſie die Kleider anUnd ging dem Geiſte nach,Die ganze lange WinternachtGing ſie dem Geiſte nach.„Jſt, Wilhelm, Raum noch, dir zu Haupt,Noch Raum zu Fuͤſſen dir?„Jſt Ranm zu deiner Seite noch,So gib, o gib ihn mir!Zu Haupt und Fuß iſt mir nicht RaumKein Raum zur Seite mir!Mein Sarg iſt, ſuͤſſes Hannchen, ſchmalDas ich ihn gebe Dir!Da kraͤht der Hahn! da ſchlug die Uhr!Da brach der Morgen fuͤr!„Ach, Hannchen, nun, nun kommt die Zeit,Zu ſcheiden weg von Dir!‟Der Geiſt — und mehr, mehr ſprach er nichtUnd ſeufzte traurig dreinUnd ſchwand in Nacht und Dunkel hinUnd ſie, ſie ſtand allein!„Bleib, treue Liebe! bleibe| nochDein Maͤdchen rufet dich!‟Da brach ihr Blick! ihr Leib der ſank,Und ihre Wang’ erblich! —
Nun
[51]
Nun ſagen Sie mir, was kuͤhn geworfner,
abgebrochner und doch natuͤrlicher, gemeiner,
volksmaͤſſiger ſeyn kann? Jch ſage volksmaͤſſi-
ger: denn was die Braͤutigamsſitte betrift,
leſen Sie die Gebraͤuche der Wilden, z. E. der
Nordamerikaner; und das Koſtume der Er-
ſcheinung, in ſeiner ganzen Natur, brauche ich
Jhnen nicht zu erklaͤren — kuͤnftig weiter!
…Sie glauben, daß auch wir Deutſchen
wohl mehr ſolche Gedichte haͤtten,
als ich mit der ſchottiſchen Romanze angefuͤhret;
ich glaube nicht allein, ſondern ich weiß es.
Jn mehr als einer Provinz ſind mir Volkslie-
der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt,
die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai-
vetaͤt und Staͤrke der Sprache vielen derſelben
gewiß nichts nachgeben wuͤrden; nur wer iſt der
ſie ſammle? der ſich um ſie bekuͤmmre? ſich
um Lieder des Volks bekuͤmmre? auf Straſſen,
und Gaſſen und Fiſchmaͤrkten? im ungelehr-
ten Rundgeſange des Landvolks? um Lieder,
die oft nicht ſkandirt, und oft ſchlecht gereimt
ſind? | wer wollte | ſie ſammlen — wer fuͤr
unſre Kritiker, die ja ſo gut Sylben zaͤhlen,
und ſkandiren koͤnnen, drucken laſſen? Lieber
leſen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unſre
D 2neuere
[52] neuere ſchoͤngedruckte Dichter — Laß die Fran-
zoſen ihre alte Chanſons ſammlen? Laß Eng-
laͤnder ihre alte Songs und Balladen nnd Ro-
manzen in praͤchtigen Baͤnden herausgeben!
Laß in Deutſchland etwa der Einzige Leſſing
ſich um die Logaus und Scultetus und
Bardengeſaͤnge bekuͤmmern! Unſre neuen
Dichter ſind ja beſſer gedruckt und ſchoͤner zu
leſen; allenfalls laſſen wir noch aus Opitz,
Flemming, Gryphius Stuͤcke abdrucken. —
Der Reſt der aͤltern, der wahren Volksſtuͤcke,
mag mit der ſogenannten taͤglich verbreitetern
Kultur ganz untergehen, wie ſchon ſolche Schaͤtze
untergegangen ſind — wir haben ja Metha-
phyſik und Dogmatiken und Akten — und
traͤmen ruhig hin —
Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir
noch in unſern Provinzialliedern, jeder in ſei-
ner Provinz nachſuchten, wir vielleicht noch
Stuͤcke zuſammen braͤchten, vielleicht die Haͤlfte
der Dodsleien Sammlung von Reliques,
oder die derſelben beynahe an Werth gleich kaͤme!
Bey wie vielen Stuͤcken dieſer Sammlung, in-
ſonderheit den beſten ſchottiſchen Stuͤcken ſind
mir deutſche Sitten, deutſche Stuͤcke beyge-
fallen, die ich ſelbſt zum Theil gehoͤret — ha-
ben Sie Freunde in Elſaß, in der Schweitz,
in Franken, in Tyrol, in Schwaben, ſo bit-
te Sie — aber zuerſt, daß ſich dieſe Freunde
ja
[53] ja der Stuͤcke nicht ſchaͤmen; denn die dreuſten
Englaͤnder haben ſich z. E. nicht ſchaͤmen wol-
len und doͤrfen. Selbſt die Melodie des ihnen
einmal angefuͤhrten: Come away, come
away, death! erinnere ich mich einmal dun-
kel gehoͤrt zu haben, und noch nicht vor langer
Zeit erinnere ich mich eines Bettlerliedes, das
an Jnhalt ſo gemiſcht und voll Spruͤnge war,
und in ſeiner ſehr lyriſchen alten Melodie ſo
traurig toͤnte. — Unter ihrem Jammer kam
die Saͤngerin, eine Penia felbſt, im halben
Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn ſie
der bittre Tod uͤberwaͤnde, und ihr (ich
glaube es iſt Gewohnheit oder Ausdruck) die
Fuͤſſe baͤnde; endlich kaͤmen 4 oder 6 Leute,
die ſie von Hauſe nnd Freunden weg, unter dem
Schall der Todtenglocke, in ihr Grab trugen —
Und wenn die Glocke verliert ihren Ton
So haben meine Freunde vergeſſen mich ſchon! —
ſagen Sie, iſt der Zug nicht elegiſch und
ruͤhrend?
Da ich weiß, daß dieſer Brief keinem von
den eckeln Herren unſrer Zeit in die Haͤnde kom-
men wird, die uͤber einen veralteten Reim oder
Ausdruck gleich rumpfen! Da ich weiß, daß
Sie uͤberall mit mir mehr Natur, als Kunſt
ſuchen: ſo trage ich kein Bedenken, Jhnen z.
E. aus einer Sammlung ſchlechter Handwerks-
lieder, ein ſehnend-trauriges Liebeslied hinzu-
D 3ſetzen,
[54] ſetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler
oder Gerſtenberg nur etwas einlenkte, wie
viele der Neuern uͤbertraͤfe! —
Der ſuͤſſe Schlaf, der ſonſt ſtillt Alles wohlKann ſtillen nicht mein Herz mit Trauren voll,Das ſchafft allein, die mich erfreuen ſoll!Kein Speiſ’, kein Trank, mir Luſt, noch Nah-
rung geit,Kein Kurzweil iſt, die mir mein Herz erfreut,Das ſchafft allein, die mir im Herzen leit!Kein Geſellſchaft ich nicht mehr beſuchen mag,Ganz einig ſitz in Unmuth Nacht und Tag,Das ſchafft allein, die ich im Herzen trag’.Jn Zuverſicht allein an ihr ich hang’Und hoff, ſie ſoll mich nicht verlaſſen lang,Sonſt fiel ich g’wiß ins bittern Todes Zwang.
Jſt das Sylbenmaaß nicht ſchoͤn, die Sprache
nicht ſtark, der Ausdruck empfunden? Und,
glauben Sie, ſo wuͤrden ſich in jeder Art meh-
rere Stuͤcke ſinden, wenn nur Menſchen waͤ-
ren, die ſie ſuchten!
Wir haben z. B. viele und vielerley neue
Fabeln, was ſagen Sie demohngeachtet aber
zu einer ſolchen alten Fabel im alten Ausdruck
und Ton:
Kukuk und Nachtigall.Einmal in einem tiefen ThalDer Kukuk und die NachtigalEine Wett thaͤten anſchlagen,Zu ſingen um das Meiſterſtuͤck,
Wers
[55]Wers gewoͤnn’ aus Kunſt oder aus GluͤckDank ſollt’ er davon tragen.Der Kukuk ſprach: „ſo dirs gefaͤllt„— Hab der Sach einen Richter erwaͤhlt!„Und thaͤt den Eſel nennen.Denn weil der hat zwey Ohren groß,|So kann er hoͤren deſto baßUnd was recht iſt, erkennen!Als ihm die Sach nun ward erzaͤhlt, (ver-muthlich vertalt)Und er zu richten hat Gewalt,Schuf er: ſie ſolten ſingen!Die Nachtigall ſang lieblich aus;Der Eſel ſprach: Du machſt mirs kraus!Jch kanns in Kopf nicht bringen.Der Kukuk fing auch an und ſangWie er denn pflegt zu ſingen:Kukuk! Kukuk! — lacht fein darein!Das gefiel dem Eſel im Sinne ſein.Er ſprach: in allen RechtenWill ich ein Urtheil ſprechen:Haſt wohl geſungen, Nachtigal,Aber! — Kukuk! — ſingt gut Choral!Und haͤlt den Takt fein innen.Das ſprech’ ich nach meinem hohen Verſtand,Und ob es goͤlt ein ganzes LandSo laß ichs dich gewinnen —
Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber
zehn ſolche gemacht, als alle - - - ſche? Laſſen
Sie mich die Moral nicht dazu ſetzen, ſie iſt
ſchlechter geſagt, neuer, und wie vieler-
ley Moral kann ſich nicht jeder ſelbſt daraus
D 4zie-
[56] ziehen, — in Theilen und im Ganzen! Die
Herrn, die ſo buͤrgerlich feiſt wohlmeinend
achten, daß jener Titel und dieſer Kragen doch
das Ding verſtehen muͤßte —
Dieweil er hat zwey Ohren groß
So kann er freylich hoͤren baß!
Die Herren, die aus Stumpfſinn, und Ge-
dankenloſigkeit gleich uͤber jeden etwas gedraͤng-
ten oder lebhaften Styl ſchreyen, „ey nicht
„griechiſche Lauterkeit! Ciceroniſche Wohlberedt-
„heit im ellenlangen Deutſchlateiniſchen Perio-
den! ſo voll Anſpielungen, voll Bilder, voll
Gedanken — ſonſt aber freylich - - - kurz:
Der Eſel ſprach: du machſt mirs kraus,
Jch kanns in Kopf nicht bringen —
Aber Kukuk ſingt gut Choral
Und haͤlt den Tackt fein inne! —
Was lieſſen ſich ſonſt noch vor Deutungen
machen, wenn man etwas die Welt kennet? —
Aber zu unſerm Zweck: wie feſt und tief er-
zaͤhlt! Ohne erzwungne Luſtigkeit und doch wie
luſtig und ſtark und treffend in jedem Wort,
in jeder Wendung! — Aller guten Dinge ſind
drey! und zu unſern Zeiten wird ſo viel von
Liedern fuͤr Kinder geſprochen: wollen
Sie ein aͤlteres Deutſches hoͤren? Es enthaͤlt
zwar keine tranſcendente Weisheit und Mo-
ral, mit der die Kinder zeitig genug uͤberhaͤuft
werden — es nichts als ein kindiſches
Fabel-
[57]
Fabelliedchen.Es ſah’ ein Knab’ ein Roͤßlein ſtehnEin Roͤßlein auf der Heiden.Er ſah, es war ſo friſch und ſchoͤnUnd blieb ſtehn, es anzuſehenUnd ſtand in ſuͤſſen Freuden.
Jch ſupplire dieſe Reihe nur aus dem Gedaͤcht-
niß, und nun folgt das kindiſche Ritornellbey
jeder Strophe:
Roͤßlein, Roͤßlein, Roͤßlein roth,Roͤßlein auf der Heiden!Der Knabe ſprach: ich breche dich!Roͤßlein ⁊c.Das Roͤßlein ſprach: ich ſteche dich,Daß du ewig denkſt an michDaß ichs nicht will leiden! Roͤßlein ⁊c.Jedoch der wilde Knabe brach,Das Roͤßlein ⁊c.Das Roͤßlein wehrte ſich und ſtach,Aber er vergaß darnachBeym Genuß das Leiden! Roͤßlein ⁊c
Jſt das nicht Kinderton? Und noch muß ich
Jhnen Eine Aenderung des lebendigen Geſan-
ges melden. Der Vorſchlag thut bey den
Liedern des Volks eine ſo groſſe und gute Wuͤr-
kung, daß ich aus Deutſchen und Engliſchen
alten Stuͤcken ſehe, wie viel die Minſtrels
darauf gehalten: und der iſt nun noch im Deut-
ſchen wie im Engliſchen in den Volksliedern
meiſtens der dunkle Laut von the in beydem
Geſchlecht (de Knabe) ’s ſtatt das (’s Roͤß-
D 5lein)
[58]lein) und ſtatt ein ein dunkles a, und was
man noch immer in Liedern der Art mit’ aus-
druͤcken koͤnnte. Das Hauptwort bekommt
auf ſolche Weiſe immer weit mehr poetiſche
Subſtantialitaͤt und Perſoͤnlichkeit
- ’ Knabe ſprach
- ’ Roͤßlein ſprach, u. ſ. w.
in den Liedern mit mehr Accent, und endlich
laſſen Sie mich noch mit einer weitern Anmer-
kung hieraus ſchlieſſen. Jn ſchnellrollenden,
gereimten komiſchen Sachen, und aus dem ent-
gegen geſetzteſten Grunde in den ſtaͤrkſten, hef-
tigſten Stellen der tragiſchen Leidenſchaft,
dort inſonderheit in leichtſinnigen Liedern, hier
am meiſten in den gedrungnen Blank-Verſen
haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie ſchaͤd-
lich es uns Deutſchen ſey, daß wir keine Eli-
ſionen haben, oder uns machen wollen? Unſre
Vorfahren haben ſie haͤufig und zu haͤufig ge-
habt: die Englaͤnder mit ihren Artikeln, mit
den Vokalen bey unbedeutenden Woͤrtern, Par-
tikeln u. ſ. w. haben ſie zur Regel gemacht:
die innre Beſchaffenheit beyder Sprachen iſt in
dieſem Stuͤcke ganz Einerley: uns quaͤlen dieſe
ſchleppende Artikel, Partikeln u. ſ. w. oft ſo
ſehr, und hindern den Gang des Sinns oder
der Leidenſchaft — aber wer unter uns wird
zu elidiren wagen? Unſre Kunſtrichter zaͤhlen
ja Sylben, und koͤnnen ſo gut ſkandiren! Sie
alſo,
[59] alſo, der kein Kunſtrichter iſt, erlauben Sie
alſo in dergleichen Faͤllen mir wenigſtens, mich
freyherrlicher maaſſen des Zeichens (’) bedie-
nen zu koͤnnen, nach beſtem Belieben u. ſ. w.
…Und ſo fuͤhren Sie mich wieder auf
meine abgebrochne Materie: „wo-
„her anſcheinend einfaͤltige Voͤlker ſich an der-
„gleichen kuͤhne Spruͤnge und Wendungen
„haben gewoͤhnen koͤnnen?„ Gewoͤhnen waͤre
immer das Leichteſte zu erklaͤren: denn wozu
kann man ſich nicht gewoͤhnen, wenn man nichts
anders hat und kennet? Da wird uns im kur-
zen die Huͤtte zum Pallaſt, und der Fels zum
ebnen Wege — aber darauf kommen? Es als
eigne Natur ſo lieben koͤnnen? Das iſt die
Frage, und die Antwont drauf ſehr kurz: weil
das in der That die Art der Einbildung iſt,
und ſie auf keinem engern Wege je fortgehen
kann.
Alle Geſaͤnge ſolcher wilden Voͤlker weben
um daſeyende Gegenſtaͤnde, Handlungen, Be-
gebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie
reich und vielfach ſind da nun Umſtaͤnde, gegen-
waͤrtige Zuͤge, Theilvorfaͤlle! Und alle hat das
Auge geſehen! Die Seele ſtellet ſie ſich vor!
Das ſetzt Spruͤnge und Wuͤrfe! Es iſt kein
anderer
[60] anderer Zuſammenhang unter den Theilen des
Geſanges, als unter den Baͤumen und Gebuͤ-
ſchen im Walde, unter den Felſen und Grot-
ten in der Einoͤde, als unter den Scenen der
Begebenheit ſelbſt. Wenn der Groͤnlaͤnder
von ſeinem Seehundfange erzaͤhlt: ſo redet er
nicht, ſondern mahlet mit Worten nnd Bewe-
gungen, jeden Umſtand, jede Bewegung:
denn alle ſind Theile vom Bilde in ſeiner Seele.
Wenn er alſo auch ſeinem Verſtorbnen das
Leichenlob und die Todtenklage haͤlt, er lobt,
er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des
Verſtorbnen ſelbſt, mit allen Wuͤrfen der Ein-
bildung herbeygeriſſen, muß reden und bejam-
mern. Jch entbreche mich nicht ein Fragment
der Art hieher zu ſetzen; denn da es gewoͤhn-
lich iſt, Spruͤnge und Wuͤrfe ſolcher Stuͤcke
fuͤr Tollheiten der Morgenlaͤndiſchen Hitze, fuͤr
Enthuſiasmus des Prophetengeiſtes, oder fuͤr
ſchoͤne Kunſtſpruͤnge der Ode auszugeben, und
man aus dieſen eine ſo herrliche Webertheorie
vom Plan und den Spruͤngen der Ode recht regel-
maͤßig ausgeſponnen hat: ſo moͤge hier ein
kalter Groͤnlaͤnder faſt unterm Pol hervor, ohne
Hitze und Prophetengeiſt und Odentheorie, aus
dem volles Bilde ſeiner Phantaſie reden. Alle
Grabbegleiter und Freunde des Verſtorbnen
ſitzen im Trauerhauſe, den Kopf zwiſchen die
Haͤnde, die Arme aufs Knie geſtuͤtzt: die Wei-
ber
[61] ber auf dem Angeſicht und ſchluchzen und wei-
nen in der Stille; und der Vater, Sohn oder
naͤchſte Verwandte faͤngt mit heulender Stim-
me an:
„Wehe mir, daß ich deinen Sitz anſehen ſoll,
„der nun leer iſt! Deine Mutter bemuͤhet ſich
„vergebens, dir die Kleider zu trocknen!
„Siehe! meine Freude iſt ins Finſtre ge-
„gangen, und in den Berg verkrochen.
„Ehedem ging ich des Abends aus, und
„freute mich: ich ſtreckte meine Angen aus,
„und wartete auf dein Kommen.
„Siehe du kamſt! du kamſt muthig ange-
„rudert mit Jungen und Alten.
„Du kamſt nie leer von der See: dein Ka-
„jack war ſtets mit Seehunden oder Voͤgeln
„beladen.
„Deine Mutter machte Feuer und kochte.
„Von dem Gekochten, das du erworben harteſt,
„ließ deine Mutter den uͤbrigen Leuten vorle-
„gen, und ich nahm mir auch ein Stuͤck.
„Du ſaheſt der Schaluppe rothen Wimpel
„von weiten, und rufteſt: da kommt Lars
„(der Kaufmann.)
„Du liefſt an den Strand und hieltſt das
„Vordertheil der Schaluppe.
„Denn brachteſt du deine Seehunde hervor,
„von welchen deine Mutter den Speck abnahm,
„und dafuͤr bekamſt du Hemde und Pfeileiſen.
„Aber
[62]
„Aber das iſt nun aus. Wenn ich an dich
„denke, ſo brauſet mein Eingeweide.
„O daß ich weinen koͤnnte, wie ihr andern:
„ſo koͤnnte ich doch meinen Schmerz lindern.
„Was ſoll ich mir wuͤnſchen? Der Tod iſt
„mir nun ſelbſt annehmlich worden, aber wer
„ſoll mein Weib und meine uͤbrigen kleinen
„Kinder verſorgen?
„Jch will noch eine Zeitlang leben: aber
„meine Freude ſoll ſeyn in Enthaltung deſſen,
„was den Menſchen ſonſt ſo lieb iſt.„ —
Der Groͤnlaͤnder befolgt die feinſten Geſetze
vom Schweben der Elegie, die auch
‘— irrt, doch nicht verwirret! —’ ()
und von wem hat er ſie gelernet? Sollte es
mit den Geſetzen der Ode, des Liedes nicht
eben ſo ſeyn? und wenn ſie in der Natur der
Einbildung liegen, wen ſind ſie noͤthig zu
lehren? wem unmoͤglich zu faſſen, der nur die-
ſelbe Einbildung hat? — Alle Geſaͤnge des
A. T., Lieder, Elegien, Orakelſtuͤcke der Pro-
pheten ſind voll davon, und die ſollten doch
kaum poetiſche Uebungen ſeyn. —
Selbſt einen allgemeinen Satz, eine abge-
zogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im
Liede, im Geſange, nichts anders als auch ſo
lebendig, und kuͤhn behandeln: es weiß von
der Lehrart und dem Gange eines dogmatiſchen
Locus nicht, und es ſchlaͤft gewiß ein, wenn es
denſel-
[63] denſelben gefuͤhrt werden ſoll. Sehen Sie z.
E. in den mehr angefuͤhrten Dodsleiiſchen
Reliques die alten moraliſchen Stuͤcke an:
My heart to me a kingdom is u. ſ. w.
Sie brechen immer in ihren lyriſchen Gange
nur die Blumen ihrer Moral, und kommen,
da hier kein ſichtbarer Gegenſtand, keine an
einander hangende Geſchichte und Handlung
der Einbildung und dem Gedaͤchtniß vorſchwe-
bet, jenem immer durch Anwendung, dieſem
durch Symmetrie, Refrain des Verſes und
zehn andre Mittel zu ſtatten. Hoͤren Sie ein-
mal eine Probe der Art uͤber den allgemeinen
Satz: Der Liebe laͤßt ſich nicht wider-
ſtehen! Wie wuͤrde ein neuer analytiſcher,
dogmatiſcher Kopf den Satz ausgefuͤhrt haben,
und nun der alte Saͤnger?
Ueber die Berge!Ueber die Quellen!Unter den Graͤbern,Unter den WellenUnter Tiefen und SeenJn der Abgruͤnde StegUeber Felſen, uͤber HoͤhenFindt Liebe den Weg.Jn Ritzen, in Falten,Wo der Feurwurm nicht liegt!Jn Hoͤhlen, in Spalten,Wo die Fliege nicht kriecht!Wo Muͤcken nicht fliegen,Und ſchluͤpfen hinweg,
Kommt
[64]Kommt Liebe! Sie wird ſingenUnd finden den Weg!Sprecht, Amor ſey nimmerZu fuͤrchten das Kind!Lacht uͤber ihn immerAls Fluͤchtling, als blind!Und ſchließt ihn durch RiegelVom Tagſtrahl hinwegDurch Schloͤſſer und RiegelFind Liebe den Weg!Wenn Phoͤnix und AdlerSich unter euch beugt!Wenn Drache und TygerGefaͤllig ſich neigt!Die Loͤwin laͤßt kriegenDen Raub ſich hinweg.Aber Liebe wird ſiegenUnd finden ſich Weg!
Konnte der Gedanke ſinnlicher, maͤchtiger, ſtaͤr-
ker ausgefuͤhrt werden? Und mit welchem
Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Laſ-
ſen Sie den dummſten Menſchen das Lied drey-
mal hoͤren: er wirds koͤnnen, und mit Freude
und Entzuͤckung ſingen; ſagen Sie ihm aber
eben dieſelbe Sache auf einfoͤrmige, dogmati-
ſche Art, in huͤbſch abgezaͤhlten Strophen, und
ſeine Seele ſchlaͤft.
Alle unſre alte Kirchenlieder ſind voll dieſer
Wuͤrfe und Jnverſionen: keine aber faſt mehr
und maͤchtiger, als die von unſerm Luther.
Welche Klopſtockſche Wendung in ſeinen
Liedern
[65] Liedern kommt wohl den Transgreſſionen bey,
die in ſeinem „Ein feſte Burg iſt unſer
Gott!‟ „Gelobet ſeyſt du Jeſu Chriſt!‟
„Chriſt lag in Todesbanden!‟ und der-
gleichen vorkommen: und wie maͤchtig ſind dieſe
Uebergaͤnge und Jnverſionen! Wahrhaftig
nicht Nothfaͤlle einer ungeſchliffenen Muſe, fuͤr
die wir ſie guͤtig annehmen: ſie ſind allen alten
Liedern ſolcher Art, ſie ſind der urſpruͤnglichen,
unentnervten, freyen und maͤnnlichen Sprache
beſonders eigen: Die Einbildungskraft fuͤhret
natuͤrlich darauf, und das Volk, das mehr
Sinne und Einbildung hat, als der ſtudirende
Gelehrte, fuͤhlt ſie, zumal von Jugend auf ge-
lernt, und ſich gleichſam nach ihnen gebildet,
ſo innig und uͤbereinſtimmend, daß ich mich z.
E. wie uͤber zehn Thorheiten unſrer Liederver-
beſſerung, ſo auch daruͤber wundern muß, wie
ſorgfaͤltig man ſie wegbannet, und dafuͤr die
ſchlaͤfrigſten Zeilen, die erkuͤnſteltſten Partikeln,
die matteſten Reime hineinpropfet. Eben als
wenn der groſſe ehrwuͤrdige Theil des Publi-
cums, der Volk heißt, und fuͤr den doch die
Geſaͤnge caſtigirt werden, eine von den ſchoͤ-
nen Regeln fuͤhle, nach denen man ſie caſtigi-
ret! Und Lehren in trockner, ſchlaͤfriger, dog-
matiſcher Form, in einer Reihe todter, ſchlaf-
trunken, nickender Reime mehr fuͤhlen, empfin-
den und behalten werde, als wo ihm durch
EBild
[66] Bild und Feuer, Lehre und That auf Einmal
in Herz und Seele geworfen wird.
Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine
Schutzſchrift etwa fuͤr die Klopſtockiſchen
Lieder ſchreiben wolle? Jch glaube ſehr gerne,
daß auch ſie nicht immer Lieder des Volks
ſind, und daß ſie ſeltner ganze Gegenſtaͤnde,
als kleine Zuͤge aus dieſen Gegenſtaͤnden, ſelt-
ner ganze Pflichten, Thaten und Geſtalten des
Herzens, als feine Nuͤancen, oft Mittelnuͤan-
cen von Empfindungen beſingen, daß alſo ein
ſehr ſympathetiſcher, und zu gewiſſen Vorſtel-
lungen ſehr zugebildeter Charakter zum ganzen
Saͤnger ſeiner Lieder gehoͤre. Aber dem ohn-
geachtet iſt das, was viele ſonſt gegen ihn ſag-
ten, und noch mehr, was man ihm entgegen
ſtellet, ſo trocken, ſo mager, ſo unkundig der
menſchlichen Seele, daß ich immer wetten will,
das kuͤhnſte Klopſtockiſche Lied, voll Spruͤnge
und Jnverſionen, einem Kinde beygebracht,
und von ihm einigemal lebendig geſungen,
werde mehr fuͤr ihn ſeyn, und tiefer und ewiger
in ihm bleiben, als der dogmatiſchte Locus von
Liede, wo ja keine Zwiſchenpartikel und Zwi-
ſchengedanke ausgelaſſen iſt. — Mein Gott!
wie trocken und duͤrre ſtellen ſich doch manche
Leute die menſchliche Seele, die Seele eines
Kindes vor! Und was fuͤr ein groſſes, trefli-
ches Jdeal waͤre mir dieſelbe, wenn ich mich
je
[67] je an Lieder dieſer Art verſuchte! Eine ganze
jugendliche, kindliche Seele zu fuͤllen, Geſaͤnge
in ſie zu legen, die, meiſtens die Einzigen, le-
benslang in ihnen bleiben, und den Ton der-
ſelben anſtimmen, und ihnen ewige Stimme
zu Thaten und Ruhe, zu Tugenden und zum
Troſte ſeyn ſoll, wie Kriegs- Helden- und Vaͤ-
terlieder in der Seele der alten, wilden Voͤl-
ker — welch ein Zweck! welch ein Wort! und
wie viel wahrhafte Beſtrebungen zu ſolchem
Werke haben wir denn? Reimgebetlein und
Lehrverſe genug!
Wenn Luther uͤber jene beyde wegen der
Religion verbrannte anſtimmt:
Die Aſche will nicht laſſen ab,Sie ſtaͤubt in allen LandenHier hilft kein Bach und Grub’ und Grab,Sie macht den Feind zu ſchanden!Die er im Leben durch den MordZu ſchreyen hat gezwungen,Die muß er todt an allem OrtMit heller Stimm’ und ZungenGar froͤlich laſſen ſingen — —
oder wenn er ſchließt:
Die laß man liegen immerhinSie habens keinen Frommen!Wir wollen danken Gott darinnSein Wort iſt wieder kommen,Der Sommer iſt hart fuͤr der ThuͤtDer Winter iſt vergangen.Die Gartenblumen gehn herfuͤr,
E 2Der
[68]Der das hat angefangenDer wird es auch vollenden —
ſo wolte ich fragen, wie viele unſre neuern Lie-
derdichter dergleichen Strophen, (ich ſage nicht
dem Jnhalt, ſondern der Art nach) gemacht
haben? und wie viele haben Luthern ver-
beſſert?
… Auch Sie beklagens, daß die Romanze
dieſe urſpruͤnglich ſo edle und feyer-
liche Dichtart bey uns zu Nichts, als zum
Niedrigkomiſchen und Abentheuerlichen ge-
braucht, oder vielmehr gemißbraucht werde —
ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer,
tiefer und daurender iſt das Vergnuͤgen, das
eine ſanfte oder ruͤhrende Romanze, des alten
Englands oder der Provinzialen, und eine
neuere Deutſche voll niedrigen abgebrauchten,
poͤbelhaften Spottes und Wortwitzes nachlaͤßt.
Aber noch ſonderbarer iſts, daß in dieſer letzten
Geſtalt die Romanze uns faſt nur bekannt ge-
worden zu ſeyn ſcheint.
Gleim ſang ſeine Marianne ſo ſchoͤn —
ich ſage, er ſang ſie ſchoͤn: denn eigentlich iſt
das Stuͤck Zug vor Zug eine alte Franzoͤſiſche
Romanze, die Sie, (wenn Sie das noch nicht
wiſſen,) wie mich duͤnkt, auch in dem neuen
choix
[69]choix des Romances anciennes \& mo-
dernes finden werden — und ſo ſang man ihm
nach. Seine beyden andern Stuͤcke neigten
ſich ins Komiſche; die Nachſinger ſtuͤrzten ſich
mit ganzem plumpen Leibe hinein, und ſo haben
wir jetzt eine Menge des Zeugs, und Alle nach
Einem Schlage, und alle in der uneigentlich-
ſten Romanzenart, und faſt alle ſo gemein, ſo
ſehr auf ein Einmaliges leſen — daß, nach
weniger Zeit, wir faſt Nichts wieder, als die
Gleimſchen uͤbrig haben werden.
Dazu kommt nun noch das, daß die weni-
gen fremden, die uͤberſetzt ſind, ſo ſchlecht uͤber-
ſetzt ſind, (ich fuͤhre Jhnen nur die ſchoͤne Ro-
ſemunde, und Alkanzor und Zaide an,
welche letztere noch den Vorzug hat, zweymal
elend uͤberſetzt zu ſeyn) und da der Ton nun
Einmal gegeben iſt: ſo ſingt man fort, und
verfehlt alſo den ganzen Nutzen, den fuͤr unſer
jetziges Zeitalter dieſe Dichtart haben koͤnnte,
nemlich unſre lyriſchen Geſaͤnge, Oden,
Lieder, und wie man ſie ſonſt nennt, etwas
zu einfaͤltigen, an einfachere Gegenſtaͤnde
und edlere Behandlung derſelben zu gewoͤhnen,
kurz uns von ſo manchem druͤckenden Schmuck
zu befreyen, der uns jetzt faſt Geſetz geworden.
Sehen Sie einmal, in welcher gekuͤnſtel-
ten, uͤberladnen, gothiſchen Manier die neu-
ern ſogenannten Philoſophiſchen und Pinda-
E 3riſchen
[70] riſchen Oden der Englaͤnder ſind, die ihnen als
Meiſterſtuͤcke gelten! Von Gray, von Aken-
ſide, von Maſon u. ſ. w. ob wohl in ihren
Sylbenmaaß, oder Jnnhalt, oder Einklei-
dung die mindſte Odenwuͤrkung thun koͤnne?
Sehen Sie, in welche gekuͤnſtelte horaziſche
Manier wir Deutſche hie und da gefallen ſind —
Oſſian, die Lieder der Wilden, der Skalden
Romanzen, Provinzialgedichte koͤnnten uns
auf beſſern Weg bringen, wenn wir aber auch
hier nur mehr als Form, als Einkleidung,
als Sprache lernen wolten. Zum Ungluͤck aber
fangen wir hiervon an, und bleiben hiebey ſte-
hen, und da wird wieder Nichts. — Jrre ich
mich, oder iſts wahr, daß die ſchoͤnſten lyri-
ſchen Stuͤcke, die wir ſchon jetzt haben, und
laͤngſt gehabt haben, ſchon mit dieſem maͤnnli-
chen, ſtarken, feſten deutſchen Ton uͤberein-
kommen, oder ſich ihm naͤhern — was waͤre
nicht alſo von der Aufweckung mehrerer ſolcher
zu hoffen! —
II.Sha-
[[71]]
II.
Shakeſpear.
E 4
[[72]][73]
II.
Shakeſpear.
Wenn bey einem Manne mir jenes unge-
heure Bild einfaͤllt: „hoch auf einen
„Felſengipfel ſitzend! zu ſeinen Fuͤſſen, Sturm,
„Ungewitter und Brauſen des Meers; aber
„ſein Haupt in den Strahlen des Himmels!„
ſo iſts bey Shakeſpear! — Nur freylich
auch mit dem Zuſatz, wie unten am tiefſten
Fuſſe ſeines Felſenthrones Haufen murmeln,
die ihn — erklaͤren, retten, verdammen,
entſchuldigen, anbeten, verlaͤumden, uͤber-
ſetzen und laͤſtern! — und die Er alle nicht
hoͤret!
Welche Bibliothek iſt ſchon| uͤber fuͤr und
wider ihn geſchrieben! — die ich nun auf
keine Weiſe zu vermehren Luſt habe. Jch
moͤchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen
Kreiſe, wo dies geleſen wird, es niemand
mehr in den Sinn komme, uͤber fuͤr und
wider ihn zu ſchreiben: ihn weder zu entſchul-
digen, noch zu verlaͤumden; aber zu erklaͤren,
zu fuͤhlen wie er iſt, zu nuͤtzen, und — wo
E 5moͤg-
[74] moͤglich! — uns Deutſchen herzuſtellen.
Truͤge dies Blatt dazu etwas bey!
Die kuͤhnſten Feinde Shakeſpears haben
ihn — unter wie vielfachen Geſtalten! be-
ſchuldigt und verſpottet, daß er, wenn auch
ein groſſer Dichter, doch kein guter Schau-
ſpieldichter, und wenn auch dies, doch wahr-
lich kein ſo klaſſiſcher Trauerſpieler ſey, als
Sophokles, Euripides, Korneille und
Voltaire, die alles Hoͤchſte und Ganze dieſer
Kunſt erſchoͤpft. — Und die kuͤhnſten Freun-
de Shakeſpears haben ſich meiſtens nur be-
gnuͤget, ihn hieruͤber zu entſchuldigen, zu
retten: ſeine Schoͤnheiten nur immer mit
Anſtoß gegen die Regeln zu waͤgen, zu kom-
penſiren; ihm als Angeklagten das abſolvo
zu erreden, und denn ſein Groſſes deſto mehr
zu vergoͤttern, je mehr ſie uͤber Fehler die
Achſel ziehen muſten. So ſtehet die Sache
noch bey den neueſten Herausgebern und
Kommentatoren uͤber ihn — ich hoffe, dieſe
Blaͤtter ſollen den Geſichtspunkt veraͤndern,
daß ſein Bild in ein volleres Licht kommt.
Aber iſt die Hoffnung nicht zu kuͤhn? gegen
ſo viele, groſſe Leute, die ihn ſchon behandelt,
zu anmaſſend? ich glaube nicht. Wenn ich
zeige, daß man von beyden Seiten blos auf
ein Vorurtheil, auf Wahn gebauet, der
nichts iſt, wenn ich alſo nur eine Wolke von
den
[75] den Augen zu nehmen, oder hoͤchſtens das
Bild beſſer zu ſtellen habe, ohne im minde-
ſten etwas im Auge oder im Bilde zu aͤndern:
ſo kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall
gar ſchuld ſeyn, daß ich auf den Punkt ge-
troffen, darauf ich den Leſer nun feſt halte,
„hier ſtehe! oder du ſieheſt nichts als Karri-
„katur!„ Wenn wir den groſſen Knaul der
Gelehrſamkeit denn nur immer auf- und ab-
winden ſolten, ohne je mit ihm weiter zu kom-
men — welches traurige Schickſal um dies
hoͤlliſche Weben!
Es iſt von Griechenland aus, da man die
Woͤrter Drama, Tragoͤdie, Komoͤdie
geerbet, und ſo wie die Letternkultur des
menſchlichen Geſchlechts auf einen ſchmalen
Striche des Erdbodens den Weg nur durch
die Tradition genommen, ſo iſt in dem
Schooſſe und mit der Sprache dieſer, natuͤr-
lich auch ein gewiſſer Regelnvorrath uͤberall
mitgekommen, der von der Lehre unzertrenn-
lich ſchien. Da die Bildung eines Kindes
doch unmoͤglich durch Vernunft geſchehen
kann und geſchieht; ſondern durch Anſehen,
Eindruck, Goͤttlichkeit des Beyſpiels und der
Gewohnheit: ſo ſind ganze Nationen in Al-
lem, was ſie lernen, noch weit mehr Kinder.
Der Kern wuͤrde ohne Schlaube nicht wach-
ſen,
[76] ſen, und ſie werden auch nie den Kern ohne
Schlaube bekommen, ſelbſt wenn ſie von die-
ſer ganz keinen Gebrauch machen koͤnnten.
Es iſt der Fall mit dem griechiſchen und nor-
diſchen Drama.
Jn Griechenland entſtand das Drama,
wie es in Norden nicht entſtehen konnte. Jn
Griechenland wars, was es in Norden nicht
ſeyn kann. Jn Norden iſts alſo nicht und
darf nicht ſeyn, was es in Griechenland ge-
weſen. Alſo Sophokles Drama und Sha-
keſpears Drama ſind zwey Dinge, die in ge-
wiſſem Betracht kaum den Namen gemein
haben. Jch glaube dieſe Saͤtze aus Griechen-
land ſelbſt beweiſen zu koͤnnen, und eben da-
durch die Natur des nordiſchen Drama, und des
groͤſten Dramatiſten in Norden, Shakeſpears
ſehr zu entziffern. Man wird Geneſe Einer
Sache durch die Andre, aber zugleich Ver-
wandlung ſehen, daß ſie gar nicht mehr Die-
ſelbe bleibt.
Die griechiſche Tragoͤdie entſtand gleich-
ſam aus Einem Auftritt, aus dem Jmprom-
ptus des Dithyramben, des mimiſchen Tan-
zes, des Chors. Dieſer bekam Zuwachs,
Umſchmelzung: Aeſchylus brachte ſtatt Ei-
ner handelnden Perſon zween auf die Buͤhne,
erfand den Begriff der Hauptperſon, und
ver-
[77] verminderte das Chormaͤſſige. Sophokles
fuͤgte die dritte Perſon hinzu, erfand Buͤhne —
aus ſolchem Urſprunge, aber ſpaͤt, hob ſich
das griechiſche Trauerſpiel zu ſeiner Groͤſſe
empor, ward Meiſterſtuͤck des menſchlichen
Geiſtes, Gipfel der Dichtkunſt, den Ariſto-
teles ſo hoch ehret, und wir freylich nicht tief
gnug in Sophokles und Euripides be-
wundern koͤnnen.
Man ſiehet aber zugleich, daß aus dieſem
Urſprunge gewiſſe Dinge erklaͤrlich werden,
die man ſonſt, als todte Regeln angeſtaunet,
erſchrecklich verkennen muͤſſen. Jene Sim-
plicitaͤt der griechiſchen Fabel, jene
Nuͤchternheit griechiſcher Sitten, jenes
fort ausgehaltne Kothurnmaͤſſige des
Ausdrucks, Muſik, Buͤhne, Einheit
des Orts und der Zeit — das Alles
lag ohne Kunſt und Zauberey ſo natuͤrlich
und weſentlich im Urſprunge griechiſcher Tra-
goͤdie, daß dieſe ohne Veredlung zu alle Je-
nem nicht moͤglich war. Alles das war
Schlaube, in der die Frucht wuchs.
Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit
zuruͤck: Simplicitaͤt der Fabel lag wuͤrk-
lich ſo ſehr in dem, was Handlung der
Vorzeit, der Republik, des Vaterlan-
des, der Religion, was Heldenhandlung
hieß, daß der Dichter eher Muͤhe hatte, in
dieſer
[78] dieſer einfaͤltigen Groͤſſe Theile zu entdecken,
Anfang, Mittel und Ende dramatiſch hinein-
zubringen, als ſie gewaltſam zu ſondern, zu
verſtuͤmmeln, oder aus vielen, abgeſonder-
ten Begebenheiten Ein Ganzes zu kneten.
Wer jemals Aeſchylus oder Sophokles
geleſen, muͤſte das nie unbegreiflich finden.
Jm Erſten was iſt die Tragoͤdie als oft ein
allegoriſch-mythologiſch-halb epiſches
Gemaͤlde, faſt ohne Folge der Auftritte,
der Geſchichte, der Empfindungen, oder gar,
wie die Alten ſagten, nur noch Chor, dem ei-
nige Geſchichte zwiſchengeſetzt war — Konnte
hier uͤber Simplicitaͤt der Fabel die geringſte
Muͤhe und Kunſt ſeyn? Und wars in den
meiſten Stuͤcken des Sophokles anders? Sein
Philoktet Ajax, vertriebner Oedipus u.
ſ. w. naͤhern ſich noch immer ſo ſehr dem Ein-
artigen ihres Urſprunges, dem dramatiſchen
Bilde mitten im Chor. Kein Zweifel!
es iſt Geneſis der griechiſchen Buͤhne.
Nun ſehe man, wie viel aus der ſimpeln
Bemerkung folge. Nichts minder als: „das
„Kuͤnſtliche ihrer Regeln war — keine Kunſt!
„war Natur! — Einheit der Fabel — war
Einheit der Handlung, die vor ihnen lag;
die nach ihren Zeit- Vaterlands- Religions-
Sittenumſtaͤnden, nicht anders als ſolch ein
Eins ſeyn konnte. Einheit des Orts —
war
[79] war Einheit des Orts; denn die Eine, kurze
feierliche Handlung ging nur an Einem Ort,
im Tempel, Pallaſt, gleichſam auf einem
Markt des Vaterlandes vor: ſo wurde ſie
im Anfange, nur mimiſch und erzaͤhlend nach-
gemacht und zwiſchengeſchoben: ſo kamen end-
lich die Auftritte, die Scenen hinzu — aber
alles natuͤrlich noch Eine Scene. Wo der
Chor Alles band, wo der Natur der Sache
wegen Buͤhne nie leer bleiben kounte u. ſ. w.
Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte
und natuͤrlich mitging — welchem Kinde
brauchte das bewieſẽ zu werdẽ? Alle dieſe Din-
ge lagen damals in der Natur, daß der Dich-
ter mit alle ſeiner Kunſt ohne ſie nichts konnte!
Offenbar ſiehet man alſo auch: die Kunſt
der griechiſchen Dichter nahm ganz den ent-
gegen geſetzten Weg, den man uns heut zu
Tage aus ihnen zuſchreyet. Jene ſimpli-
ficirten nicht, denke ich, ſondern ſie verviel-
faͤltigten: Aeſchylus den Chor, Sopho-
kles den Aeſchylus, und man darf nur die
kuͤnſtlichſten Stuͤcke des letztern, und ſein
groſſes Meiſterſtuͤck, den Oedipus in Thebe
gegen den Prometheus, oder gegen die
Nachrichten vom alten Dithyramb halten:
ſo wird man die erſtaunliche Kunſt ſehen,
die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber
niemals Kunſt aus Vielen ein Eins zu ma-
chen,
[80] chen, ſondern eigentlich aus Einem ein Vieles,
ein ſchoͤnes Labyrinth von Scenen, wo ſeine
groͤſte Sorge blieb, an der verwickeltſten
Stelle des Labyrinths ſeine Zuſchauer mit
dem Wahn des vorigen Einen umzutauſchen,
den Knaͤuel ihrer Empfindungen ſo ſanft und
allmaͤhlig los zu winden, als ob ſie ihn noch
immer ganz haͤtten, die vorige Dithyram-
biſche Empfindung. Dazu zierte er ihnen
die Scene aus, behielt ja die Choͤre bey, und
machte ſie zu Ruheplaͤtzen der Handlung, er-
hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des
Ganzen, in Erwartung, in Wahn des
Werdens, des Schonhabens, (was der
lehrreiche Euripides nachher ſogleich, da
die Buͤhne kaum gebildet war, wieder verab-
ſaͤumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine
Sache, die man ſo erſchrecklich mißverſtehet)
Groͤſſe.
Und daß Ariſtoteles dieſe Kunſt ſeines
Genies in ihm zu ſchaͤtzen wuſte, und eben in
Allem, faſt das Umgekehrte war, was die
neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha-
ben, muͤſte Jedem einleuchten, der ihm ohne
Wahn und im Standpunkte ſeiner Zeit ge-
leſen. Eben daß er Theſpis und Aeſchylus
verließ, und ſich ganz an den vielfach dich-
tenden Sophokles haͤlt, daß er eben von
dieſe ſeiner Neuerung ausging, in ſie das
Weſen
[81]Weſen der neuen Dichtgattung zu ſetzen, daß
es ſein Lieblingsgedanke ward, nun einen
neuen Homer zu entwickeln, und ihn ſo vor-
theilhaft mit dem Erſten zu vergleichen; daß
er keinen unweſentlichen Umſtand vergaß, der
nur in der Vorſtellung ſeinen Begriff der
Groͤſſe habenden Handlung unterſtuͤtzen
konnte. — Alle das zeigt, daß der groſſe
Mann auch im groſſen Sinn ſeiner Zeit phi-
loſophirte, und nichts weniger, als an den
verengernden kindiſchen Laͤppereyen ſchuld iſt,
die man aus ihm ſpaͤter zum Papier geruͤſte
der Buͤhne machen wollen. Er hat offenbar,
in ſeinem vortreflichen Kapitel vom Weſen der
Fabel „in keine andre Regeln gewußt und an-
„erkannt, als den Blick des Zuſchauers, Seele,
„Jlluſion!„ und ſagt ausdruͤcklich, daß ſich
ſonſt die Schranken ihrer Laͤnge, mithin
noch weniger Art oder Zeit und Raum des
Baues durch keine Regeln beſtimmen laſſen.
O wenn Ariſtoteles wieder auf lebte, und den
falſchen, widerſinnigen Gebrauch ſeiner Re-
geln bey Drama’s ganz andrer Art ſaͤhe. —
Doch wir bleiben noch lieber bey der ſtillen,
ruhigen Unterſuchung.
Wie ſich Alles in der Welt aͤndert: ſo
muſte ſich auch die Natur aͤndern, die eigent-
lich das griechiſche Drama ſchuf. Welt-
Fver-
[82]verfaſſung, Sitten, Stand der Republi-
ken, Tradition der Heldenzeit, Glaube,
ſelbſt Muſik, Ausdruck Maas der Jlluſi-
on wandelte: und natuͤrlich ſchwand auch Stoff
zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung,
Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar
das Uralte, oder gar von andern Nationen
ein Fremdes herbey holen, und nach der ge-
gebnen Manier bekleiden: das that Alles aber
nicht die Wuͤrkung: folglich war in Allem
auch nicht die Seele: folglich wars auch nicht
(was ſollen wir mit Worten ſpielen?) das
Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Sta-
tuͤe, in der nur noch der andaͤchtigſte Kopf
den Daͤmon finden konnte, der die Statuͤe
belebte. Laſſet uns gleich (denn die Roͤmer
waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild
und unmaͤſſig, um ein voͤllig graͤciſirendes
Theater zu errichten) zu den neuen Athenien-
ſern Europens uͤbergehen, und die Sache
wird, duͤnkt mich, offenbar.
Alles was Puppe des griechiſchen Thea-
ters iſt, kann ohne Zweifel kaum vollkomm-
ner gedacht und gemacht werden, als es in
Frankreich geworden. Jch will nicht blos an
die ſogenannten Theaterregeln denken, die
man dem guten Ariſtoteles beymißt, Einheit
der Zeit, des Orts, der Handlung, Bin-
dung der Scenen, Wahrſcheinlichkeit
des
[83]des Brettergeruͤſtes, u. ſ. w. ſondern wuͤrk-
lich fragen, ob uͤber das gleiſſende, klaſſiſche
Ding, was die Korneille, Racine und
Voltaire gegeben haben, uͤber die Reihe
fchoͤner Auftritte, Geſpraͤche, Verſe und
Reime, mit der Abmeſſung, dem Wohl-
ſtande, dem Glanze — etwas in der Welt
moͤglich ſey? Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes
zweifelt nicht bloß daran, ſondern alle Ver-
ehrer Voltairs und der Franzoſen, zumal
dieſe edlen Athenienſer ſelbſt, werden es ge-
radezu laͤugnen — habens ja auch ſchon
gnug gethan, thuns und werdens thun, „uͤber
das geht nichts! das kann nicht uͤbertroffen
werden!‟ Und in den Geſichtspunkt des
Uebereinkommniſſes geſtellt, die Puppe aufs
Bretterngeruͤſte geſetzt — haben ſie recht,
und muͤſſens von Tag zu Tage je mehr man
ſich in das Gleiſſende vernarrt, und es nach-
aͤffet, in allen Laͤndern Europens mehr be-
kommen!
Bey alle dem iſts aber doch ein druͤckendes
unwiderſtrebliches Gefuͤhl „das iſt keine grie-
chiſche Tragoͤdie! von Zweck, Wuͤrkung, | Art,
Weſen kein griechiſches Drama!‟ und der
partheyiſchte Verehrer der Franzoſen kann,
wenn er Griechen gefuͤhlt hat, das nicht laͤug-
nen. Jch wills gar nicht Einmal unterſuchen
„ob ſie auch ihren Ariſtoteles den Regeln nach
F 2ſo
[84] ſo beobachten, wie ſies vorgeben, wo Leſſing
gegen die lauteſten Anmaaſſungen neulich
ſchreckliche Zweifel erregt hat.‟ Das Alles
aber auch zugegeben, Drama iſt nicht daſſelbe,
warum? weil im Jnnern nichts von ihm
Daſſelbe mit Jenem iſt, nicht Handlung,
Sitten, Sprache, Zweck, nichts — und
was huͤlfe alſo alles Aeuſſere ſo genau erhaltne
Einerley? Glaubt denn wohl jemand, daß
Ein Held des groſſen Corneille ein roͤmiſcher
oder franzoͤſiſcher Held ſey? Spaniſch-Sene-
kaſche Helden! galante Helden, abentheur-
lich tapfere, großmuͤthige, verliebte, grau-
ſame Helden alſo dramatiſche Fiktionen, die
auſſer dem Theater Narren heiſſen wuͤrden,
und wenigſtens fuͤr Frankreich ſchon damals
halb ſo fremde waren, als ſies jetzt bey den
meiſten Stuͤcken ganz ſind — das ſind ſie.
Racine ſpricht die Sprache der Empfindung
— allerdings nach dieſem Einen zugegebnen
Uebereinkommniſſe iſt nichts uͤber ihn; aber
auſſer dem auch — wuͤſte ich nicht, wo Eine
Empfindung ſo ſpraͤche? Es ſind Gemaͤlde
der Empfindung von dritter fremder Hand;
nie aber oder ſelten die unmittelbaren, erſten,
ungeſchminkten Regungen, wie ſie Worte
ſuchen und endlich finden. Der ſchoͤne Vol-
taͤrſche Vers, ſein Zuſchnitt, Jnhalt, Bil-
derwirthſchaft, Glanz, Witz, Philoſophie —
iſt
[85] iſt er nicht ein ſchoͤner Vers? Allerdings!
der ſchoͤnſte, den man ſich vielleicht denken
kann, und wenn ich ein Franzoſe waͤre, wuͤrde
ich verzweifeln, hinter Voltaͤr Einen Vers zu
machen — aber ſchoͤn oder nicht ſchoͤn, kein
Theatervers! fuͤr Handlung, Sprache, Sit-
ten, Leidenſchaften, Zweck eines (anders als
Franzoͤſiſchen) Drama, ewige Schulchrie,
Luͤge und Galimathias. Endlich Zweck
des Allen? durchaus kein griechiſcher, kein
tragiſcher Zweck! Ein ſchoͤnes Stuͤck, wenn
es auch eine ſchoͤne Handlung waͤre, auf die
Buͤhne zu bringen! eine Reihe artiger, wohl-
gekleideter Herrn und Dames ſchoͤne Reden,
auch die ſchoͤnſte und nuͤtzlichſte Philoſophie
in ſchoͤnen Verſen vortragen zu laſſen! ſie
alleſamt auch in eine Geſchichte dichten, die
einen Wahn der Vorſtellung giebt, und alſo
die Aufmerkſamkeit mit ſich fortzieht! endlich
das alles auch durch eine Anzahl wohlgeuͤbter
Herrn und Dames vorſtellen laſſen, die wuͤrk-
lich viel auf Deklamation, Stelzengang der
Sentenzen und Auſſenwerke der Empfindung,
Beyfall und Wohlgefallen anwenden — das
Alles koͤnnen vortrefliche und die beſten Zwecke
zu einer lebendigen Lecture, zur Uebung im
Ausdruck, Stellung und Wohlſtande, zum
Gemaͤlde guter oder gar heroiſcher Sitten,
und endlich gar eine voͤllige Akademie der
F 3Na-
[86] Nationalweißheit und Decence im Leben und
Sterben werden, (alle Nebenzwecke uͤbergan-
gen) ſchoͤn! bildend! lehrreich! vortreflich!
durchaus aber weder Hand noch Fuß vom
Zweck des griechiſchen Theaters.
Und welches war der Zweck? Ariſtoteles
hats geſagt, und man hat gnug daruͤber ge-
ſtritten — nichts mehr und minder, als eine
gewiſſe Erſchuͤtterung des Herzens, die
Erregung der Seele in gewiſſem Maaß
und von gewiſſen Seiten, kurz! eine Gat-
tung Jlluſion, die wahrhaftig! noch kein
franzoͤſiſches Stuͤck zuwege gebracht hat, oder
zuwege bringen wird. Und folglich (es heiſſe
ſo herrlich und nuͤtzlich, wie es wolle) grie-
chiſches Drama iſts nicht! Trauerſpiel des
Sophokles iſts nicht. Als Puppe ihm noch
ſo gleich; der Puppe fehlt Geiſt, Leben, Na-
tur, Wahrheit — mithin alle Elemente der
Ruͤhrung — mithin Zweck und Erreichung
des Zwecks — iſts alſo daſſelbe Ding
mehr?
Hiemit wuͤrde noch nichts uͤber Werth und
Unwerth entſchieden, es waͤre nur blos von
Verſchiedenheit die Rede, die ich mit dem
Vorigen ganz auſſer Zweifel geſetzt glaube.
Und nun gebe ichs jedem anheim, es ſelbſt
auszumachen, „ob eine Kopirung fremder
Zeiten, Sitten und Handlungen in Halb-
wahr-
[87] wahrheit, mit dem koͤſtlichen Zwecke, ſie der
zweyſtaͤndigen Vorſtellung auf einem Bret-
terngeruͤſte faͤhig und aͤhnlich zu machen, wohl
einer Nachbildung gleich‟ oder uͤberge-
ſchaͤtzt werden koͤnne, die in gewiſſem Be-
tracht die hoͤchſte Nationalnatur war? ob
eine Dichtung, deren Ganzes eigentlich (und
da wird ſich jeder Franzoſe winden oder vor-
bey ſingen muͤſſen) gar keinen Zweck hat —
das Gute iſt nach dem Bekaͤnntniß der beſten
Philoſophen nur eine Nachleſe im Detail — ob
die einer Landesanſtalt gleichgeſchaͤtzt wer-
den kann, wo in jedem kleinen Umſtande
Wuͤrkung, hoͤchſte, ſchwerſte Bildung lag?
Ob endlich nicht eine Zeit kommen muͤſte, da
man, wie die meiſten und kuͤnſtlichſten Stuͤcke
Corneillens ſchon vergeſſen ſind, Krebil-
lon und Voltaire mit der Bewundrung an-
ſehen wird, mit der man jetzt die Aſtraͤa des
Hrn. von Urfe, und alle Clelien und Aſpa-
ſien der Ritterzeit anſieht, „voll Kopf und
„Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es
„waͤre aus ihnen ſo viel! viel zu lernen —
„aber Schade! daß es in der Aſtraͤa und
„Klelia iſt.„ Das Ganze ihrer Kunſt iſt
ohne Natur! iſt abentheuerlich! iſt eckel! —
Gluͤcklich wenn wir im Geſchmack der Wahr-
heit ſchon an der Zeit waͤren! Das ganze
franzoͤſiſche Drama haͤtte ſich in eine Samm-
F 4lung
[88] lung ſchoͤner Verſe, Sentenzen, Sentimens
verwandelt — aber der groſſe Sophokles
ſtehet noch, wie er iſt!
Laſſet uns alſo ein Volk ſetzen, das aus
Umſtaͤnden, die wir nicht unterſuchen moͤgen,
Luſt haͤtte, ſich ſtatt nachzuaͤffen und mit der
Wallnußſchaale davon zu laufen, ſelbſt lieber,
ſein Drama zu erfinden: ſo iſts, duͤnkt
mich, wieder erſte Frage: wenn? wo?
unter welchen Umſtaͤnden? woraus ſolls
das thun? und es braucht keines Beweiſes,
daß die Erfindung nichts als Reſultat dieſer
Fragen ſeyn wird und ſeyn kann. Holt es
ſein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb
her: ſo kanns auch nichts Chormaͤſſiges Dithy-
rambiſches haben. Laͤge ihm keine ſolche Sim-
plicitaͤt von Faktis der Geſchichte, Tradi-
tion, Haͤußlichen, und Staats- und Re-
ligionsbeziehungen vor — natuͤrlich kanns
nichts von Alle dem haben. — Es wird
ſich, wo moͤglich, ſein Drama nach ſeiner Ge-
ſchichte, nach Zeitgeiſt, Sitten, Meinungen,
Sprache, Nationalvorurtheile, Traditionen,
und Liebhabereyen, wenn auch aus Faſtnachts-
und Marionettenſpiel (eben, wie die edlen
Griechen aus dem Chor) erfinden — und
das Erfundne wird Drama ſeyn, wenn es
bey
[89] bey dieſem Volk dramatiſchen Zweck erreicht.
Man ſieht, wir ſind bey den
toto diviſis ab orbe Britannis
und ihrem groſſen Shakeſpear.
Daß da, und zu der und vor der Zeit kein
Griechenland war, wird kein pullulus Ariſto-
telis laͤugnen, und hier und da alſo griechiſches
Drama zu fodern, daß es natuͤrlich (wir
reden von keiner Nachaͤffung) entſtehe, iſt
aͤrger, als daß ein Schaaf Loͤwen gebaͤren
ſolle. Es wird allein erſte und letzte Frage:
„wie iſt der Boden? worauf iſt er zubereitet?
„was iſt in ihn geſaͤet? was ſollte er tragen
„koͤnnen?„ — und Himmel! wie weit hier
von Griechenland weg! Geſchichte, Tradi-
tion, Sitten, Religion, Geiſt der Zeit, des
Volks, der Ruͤhrung, der Sprache — wie
weit von Griechenland weg! Der Leſer kenne
beyde Zeiten viel oder wenig, ſo wird er doch kei-
nen Augenblick verwechſeln, was nichts Aehnli-
ches hat. Und wenn nun in dieſer gluͤcklich oder
ungluͤcklich veraͤnderten Zeit, es eben Ein
Alter, Ein Genie gaͤbe, daß aus ſeinem Stoff
ſo natuͤrlich, groß, und original eine drama-
tiſche Schoͤpfung zoͤge, als die Griechen aus
dem Jhren — und dieſe Schoͤpfung eben auf
den verſchiedenſten Wegen dieſelbe Abſicht
erreichte, wenigſtens an ſich ein weit vielfach
Einfaͤltiger und Einfachvielfaͤltiger — alſo
F 5(nach
[90] (nach aller methaphyſiſchen Definition) ein
vollkommenes Ganzes waͤre — was fuͤr ein
Thor, der nun vergliche und gar verdammte,
weil dies Zweyte nicht das Erſte ſey? Und
alle ſein Weſen, Tugend und Vollkommen-
heit beruht ja darauf, daß es nicht das Erſte
iſt: daß aus dem Boden der Zeit, eben die
andre Pflanze erwuchs.
Shakeſpear fand vor und um ſich nichts
weniger als Simolicitaͤt von Vaterlandsſitten,
Thaten, Neigungen und Geſchichtstraditio-
nen, die das griechiſche Drama bildete, und da
alſo nach dem Erſten metaphyſiſchen Weis-
heitsſatze aus Nichts Nichts wird, ſo waͤre
Philoſophen uͤberlaſſen, nicht blos kein Grie-
chiſches, ſondern wenns auſſerdem Nichts
giebt, auch gar kein Drama in der Welt
mehr geworden, und haͤtte werden koͤnnen.
Da aber Genie bekanntermaaſſen mehr iſt,
als Philoſophie, und Schoͤpfer ein ander
Ding, als Zergliederer: ſo wars ein Sterb-
licher mit Goͤtterkraft begabt, eben aus dem
entgegen geſetzteſten Stoff, und in der ver-
ſchiedenſten Bearbeitung dieſelbe Wuͤrkung
hervor zu rufen, Furcht und Mitleid! und
beyde in einem Grade, wie jener Erſte Stoff
und Bearbeitung es kaum vormals hervor-
zubringen vermocht! — Gluͤcklicher Goͤtter-
ſohn uͤber ſein Unternehmen! Eben das Neue,
Erſte,
[91] Erſte, ganz Verſchiedne zeigt die Urkraft
ſeines Berufs.
Shakeſpear fand keinen Chor vor ſich;
aber wohl Staats und Marionettenſpiele —
wohl! er bildete alſo aus dieſen Staats- und
Marionettenſpielen, dem ſo ſchlechten Leim!
das herrliche Geſchoͤpf, das da vor uns ſteht
und lebt! Er fand keinen ſo einfachen Volks-
und Vaterlandscharakter, ſondern ein Viel-
faches von Staͤnden, Lebensarten, Geſin-
nungen, Voͤlkern und Spracharten — der
Gram um das Vorige waͤre vergebens ge-
weſen; er dichtete alſo Staͤnde und Men-
ſchen, Voͤlker und Spracharten, Koͤnig und
Narren, Narren und Koͤnig zu dem herrli-
chen Ganzen! Er fand keinen ſo einfachen
Geiſt der Geſchichte, der Fabel, der Hand-
lung: er nahm Geſchichte, wie er ſie fand,
und ſetzte mit Schoͤpfergeiſt das Verſchieden-
artigſte Zeug zu einem Wunderganzen zuſam-
men, was wir, wenn nicht Handlung im
griechiſchen Verſtande, ſo Aktion im Sinne
der mittlern, oder in der Sprache der neuern
Zeiten Begebenheit (evenement) groſſes
Eraͤugniß nennen wollen — o Ariſtoteles,
wenn du erſchieneſt, wie wuͤrdeſt du den neuen
Sophokles homeriſiren! wuͤrdeſt ſo eine eigne
Theorie uͤber ihn dichten, die jetzt ſeine Lands-
leute, Home und Hurd, Pope und John-
ſon
[92]ſon noch nicht gedichtet haben! Wuͤrdeſt dich
freuen, von Jedem Deiner Stuͤcke, Hand-
lung, Charakter, Meinungen, Aus-
druck, Buͤhne, wie aus zwey Punkten
des Dreyecks Linien ziehen zu koͤnnen, die
ſich oben in Einem Punkte des Zwecks, der
Vollkommenheit begegnen! Wuͤrdeſt zu
Sophokles ſagen: mahle das heilige Blatt
dieſes Altars! und du o nordiſcher Barde
alle Seiten und Waͤnde dieſes Tempels in
dein unſterbliches Fresko!
Man laſſe mich als Ausleger und Rhap-
ſodiſten fortfahren: denn ich bin Shakeſpear
naͤher als dem Griechen. Wenn bey dieſem
das Eine einer Handlung herrſcht: ſo ar-
beitet Jener auf das Ganze eines Eraͤugniſ-
ſes einer Begebenheit. Wenn bey |Je-
nem Ein Ton der Charaktere herrſchet, ſo
bey dieſem alle Charaktere, Staͤnde und Le-
bensarten, ſo viel nur faͤhig und noͤthig ſind,
den Hauptklang ſeines Concerts zu bilden.
Wenn in Jenem Eine ſingende feine Spra-
che, wie in einem hoͤhern Aether thoͤnet, ſo
ſpricht dieſer die Sprache aller Alter, Men-
ſchen und Menſcharten, iſt Dollmetſcher der
Natur in all’ ihren Zungen — und auf ſo
verſchiedenen Wegen beyde Vertraute Einer
Gottheit? — Und wenn jener Griechen
vorſtellt und lehrt und ruͤhrt und bildet, ſo
lehrt,
[93] lehrt, ruͤhrt und bildet Shakeſpear nordiſche
Menſchen! Mir iſt, wenn ich ihn leſe,
Theater, Akteur, Kouliſſe verſchwunden!
Lauter einzelne im Sturm der Zeiten we-
hende Blaͤtter aus dem Buch der Begeben-
heiten, der Vorſehung der Welt! — ein-
zelne Gepraͤge der Voͤlker, Staͤnde, Seelen!
die alle die verſchiedenartigſten und abgetrenn-
teſt handelnden Maſchinen, alle — was wir
in der Hand des Weltſchoͤpfers ſind — un-
wiſſende, blinde Werkzeuge zum Ganzen
Eines theatraliſchen Bildes, Einer Groͤſſe
habenden Begebenheit, die nur der Dichter
uͤberſchauet. Wer kann ſich einen groͤſſern
Dichter der nordiſchen Menſchheit und in
dem Zeitalter! denken!
Wie vor einem Meere von Begebenheit,
wo Wogen in Wogen rauſchen, ſo tritt vor
ſeine Buͤhne. Die Auftritte der Natur ruͤk-
ken vor und ab; wuͤrken in einander ſo di-
ſparat ſie ſcheinen; bringen ſich hervor, und
zerſtoͤhren ſich, damit die Abſicht des Schoͤ-
pfers, der alle im Plane der Trunkenheit und
Unordnung geſellet zu haben ſchien, erfuͤllt
werde — dunkle kleine Symbole zum Son-
nenriß einer Theodicee Gottes. Lear der
raſche, warme, edelſchwache Greis, wie er
da vor ſeiner Landcharte ſteht, und Kronen
wegſchenkt und Laͤnder zerreißt, — in der
Erſten
[94] Erſten Scene der Erſcheinung traͤgt ſchon
allen Saamen ſeiner Schickſale zur Ernte
der dunkelſten Zukunft in ſich. Siehe! der
gutherzige Verſchwender, der raſche Unbarm-
herzige, der kindiſche Vater wird es bald ſeyn
auch in den Vorhoͤfen ſeiner Toͤchter — bit-
tend, betend, bettelnd, fluchend, ſchwaͤr-
mend, ſegnend, — ach, Gott! und Wahn-
ſinn ahndend. Wirds ſeyn bald mit blaſſem
Scheitel unter Donner und Blitz, zur unter-
ſten Klaſſe von Menſchen herabgeſtuͤrzt, mit
einem Narren und in der Hoͤle eines tollen
Bettlers Wahnſinn gleichſam pochend vom
Himmel herab. — Und nun iſt wie ers iſt,
in der ganzen leichten Majeſtaͤt ſeines Elends
und Verlaſſens; und nun zu ſich kommend,
angeglaͤnzt vom letzten Strahle Hoffnung,
damit dieſe auf ewig, ewig erloͤſche! Gefan-
gen, die todte Wohlthaͤterin, Verzeiherin,
Kind, Tochter auf ſeinen Armen! auf ihrem
Leichnam ſterbend, der alte Knecht dem alten
Koͤnige nachſterbend — Gott! welch ein
Wechſel von Zeiten, Umſtaͤnden, Stuͤrmen,
Wetter, Zeitlaͤuften! und alle nicht blos
Eine Geſchichte — Helden und Staatsak-
tion, wenn du willt! von Einem Anfange zu
Einem Ende, nach der ſtrengſten Regel deines
Ariſtoteles; ſondern tritt naͤher, und fuͤhle
den Menſchengeiſt, der auch jede Perſon
und
[95] und Alter und Charakter und Nebending in
das Gemaͤlde ordnete. Zween alte Vaͤter
und alle ihre ſo verſchiedne Kinder! Des Einen
Sohn gegen einen betrognen Vater ungluͤcklich
dankbar, der andre gegen den gutherzigſten
Vater ſcheuslich undankbar und abſcheulich
gluͤcklich. Der gegen ſeine Toͤchter! dieſe gegen
ihn! ihre Gemal, Freyer und alle Helfers-
helfer im Gluͤck und Ungluͤck. Der blinde
Gloſter am Arm ſeines unerkannten Sohnes,
und der tolle Lear zu den Fuͤſſen ſeiner ver-
triebnen Tochter! und nun der Augenblick
der Wegſcheide des Gluͤcks, da Gloſter un-
ter ſeinem Baume ſtirbt, und die Trompete
rufet alle Nebenumſtaͤnde, Triebfedern, Cha-
ractere und Situationen dahin eingedichtet —
Alles im Spiel! zu Einem Ganzen ſich fort-
wickelnd — zu einem Vater- und Kinder-
Koͤnigs- und Narren- und Bettler- und
Elend-Ganzen zuſammen geordnet, wo
doch uͤberall bey den Diſparatſten Scenen
Seele der Begebenheit athmet, wo Oerter,
Zeiten, Umſtaͤnde ſelbſt moͤchte ich ſagen, die
heidniſche Schickſals- und Sternenphi-
loſophie, die durchweg herrſchet, ſo zu die-
ſem Ganzen gehoͤren, daß ich Nichts veraͤn-
dern, verſetzen, aus andern Stuͤcken hieher
oder hieraus in andre Stuͤcke bringen koͤnnte.
Und das waͤre kein Drama? Shakeſpear
kein
[96] kein dramatiſcher Dichter? Der hundert Auf-
tritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm
umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der Ei-
nen durchhauchenden, Alles belebenden Seele
erfuͤllet, und nicht Aufmerkſamkeit; Herz,
alle Leidenſchaften, die ganze Seele von An-
fang bis zu Ende fortreißt — wenn nicht
mehr, ſo ſoll Vater Ariſtoteles zeugen, „die
„Groͤſſe des lebendigen Geſchoͤpfs darf nur
„mit Einem Blick uͤberſehen werden koͤnnen„ —
und hier — Himmel! wie wird das Ganze
der Begebenheit mit tiefſter Seele fortgefuͤhlt
und geendet! — Eine Welt dramatiſcher
Geſchichte, ſo groß und tief wie die Natur;
aber der Schoͤpfer giebt uns Auge und Ge-
ſichtspunkt, ſo groß und tief zu ſehen!
Jn Othello, dem Mohren, welche Welt!
welch ein Ganzes! lebendige Geſchichte
der Entſtehung, Fortgangs, Ausbruchs,
traurigen Endes der Leidenſchaft die-
ſes Edlen Ungluͤckſeligen! und in welcher
Fuͤlle, und Zuſammenlauf der Raͤder zu
Einem Werke! Wie dieſer Jago, der Teu-
fel in Menſchengeſtalt, die Welt anſehn, und
mit allen, die um ihn ſind, ſpielen! und wie
nun die Gruppe ein Caſſio und Rodrich,
Othello und Desdemone in den Charakteren,
mit dem Zunder von Empfaͤnglichkeiten ſeiner
Hoͤllenflamme, um ihn ſtehen muß, und jedes
ihm
[97] ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht,
und Alles zum traurigen Ende eilet. —
Wenn ein Engel der Vorſehung menſchliche
Leidenſchaften gegen einander abwog, und
Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen
Anlaͤſſe, wo Jedes im Wahn des Freyen
handelt, zufuͤhrt, und er ſie alle mit dieſem
Wahne, als mit der Kette des Schickſals zu
ſeiner Jdee leitet — ſo war der menſchliche
Geiſt, der hier entwarf, ſann, zeichnete,
lenkte.
Daß Zeit und Ort, wie Huͤlſen um den
Kern immer mit gehen ſollte nicht einmal er-
innert werden duͤrfen, und doch iſt hieruͤber
eben das helleſte Geſchrey. Fand Shakeſpear
den Goͤttergriff Eine ganze Welt der diſpa-
rateſten Auftritte zu Einer Begebenheit zu
erfaſſen; natuͤrlich gehoͤrte es eben zur Wahr-
heit ſeiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit
jedesmal zu idealiſiren, daß ſie mit zur Taͤu-
ſchung beytruͤgen. Jſt wohl jemand in der
Welt zu einer Kleinigkeit ſeines Lebens Ort
und Zeit gleichguͤltig? und ſind ſies inſonder-
heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge-
regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju-
gend, in Scenen der Leidenſchaft, in allen
Handlungen aufs Leben! Jſts da nicht eben
Ort und Zeit und Fuͤlle der aͤuſſern Umſtaͤnde,
die der ganzen Geſchichte Haltung, Dauer,
GExſi-
[98]Exſiſtenz geben muß, und wird ein Kind,
ein Juͤngling, ein Verliebter, ein Mann im
Felde der Thaten ſich wohl Einen Umſtand
des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann?
wegſchneiden laſſen, ohne daß die ganze Vor-
ſtellung ſeiner Seele litte? Da iſt nun Sha-
keſpear der groͤſte Meiſter, eben weil er nur
und immer Diener der Natur iſt. Wenn
er die Begebenheiten ſeines Drama dachte,
im Kopf waͤlzte, wie waͤlzen ſich jedesmal
Oerter und Zeiten ſo mit umher! Aus Sce-
nen und Zeitlaͤuften aller Welt findet ſich,
wie durch ein Geſetz der Fatalitaͤt. eben die
hieher, die dem Gefuͤhl der Handlung, die
kraͤftigſte, die idealſte iſt; wo die ſonderbar-
ſten, kuͤhnſten Umſtaͤnde am meiſten den Trug
der Wahrheit unterſtuͤtzen, wo Zeit- und Ort-
wechſel, uͤber die der Dichter ſchaltet, am
lauteſten rufen: „hier iſt kein Dichter! iſt
Schoͤpfer! iſt Geſchichte der Welt!‟
Als z. E. der Dichter den ſchrecklichen Koͤ-
nigsmord, Trauerſpiel Macbeth genannt,
als Faktum der Schoͤpfung in ſeiner Seele
waͤlzte — biſt du, mein lieber Leſer, ſo bloͤde
geweſen, nun in keiner Scene, Scene und
Ort mit zu fuͤhlen — wehe Shakeſpear, dem
verwelkten Blatte in deiner Hand. So haſt
du nichts von der Eroͤfnung durch die Zaube-
rinnen auf der Haide unter Blitz und Donner!
nichts
[99] nichts nun vom blutigen Manne mit Mac-
beths Thaten zur Bothſchaft des Koͤniges an
ihn, nichts wider die Scene zu brechen, und
den prophetiſchen Zaubergeiſt zu eroͤfnen, und
die vorige Bothſchaft nun mit dieſem Gruſſe
in ſeinem Haupt zu miſchen — gefuͤhlt!
Nicht ſein Weib mit jener Abſch iſt des Schick-
ſalsbriefes in ihrem Schloſſe wandern ſehen,
die hernach wie grauerlich anders wandern
wird! Nicht mit dem ſtillen Koͤnige noch zu
guter letzt die Abendluft ſo ſanft gewittert,
rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe
ſo ſicher niſtet, aber du o Koͤnig — das iſt
im unſichtbaren Werk! — dich deiner Moͤr-
dergrube naͤherſt. Das Haus in unruhiger,
gaſtlicher Zubereitung, und Macbeth in Zu-
bereitung zum Morde! Die bereitende Nacht-
ſcene Bankos mit Fackel und Schwerdt!
Der Dolch! der ſchauerliche Dolch der Vi-
ſion! Glocke — kaum iſts geſchehen und
das Pochen an der Thuͤr! — Die Entdek-
kung, Verſammlung — man trabe alle
Oerter und Zeiten durch, wo das zu der Ab-
ſicht, in der Schoͤpfung, anders als da und
ſo geſchehen koͤnnte. Die Mordſcene Bankos
im Walde; das Nachtgaſtmahl und Bankos
Geiſt — nun wieder die Hexenhaide (denn
ſeine erſchreckliche Schickſalsthat iſt zu Ende!)
Nun Zauberhoͤle, Beſchwoͤrung, Prophe-
G 2zeyung,
[100] zeyung, Wuth und Verzweiflung! Der Tod
der Kinder Macdufs unter den Fluͤgeln ihrer
einſamen Mutter! und jene zween Vertriebne
unter dem Baum, und nun die grauerliche
Nachtwanderin im Schloſſe, und die wun-
derbare Erfuͤllung der Prophezeyung — der
heranziehende Wald — Macbeths Tod durch
das Schwerdt eines Ungebohrnen — ich
muͤßte alle, alle Scenen ausſchreiben, um
das idealiſirte Lokal des unnennbaren Gan-
zen, der Schickſals-Koͤnigsmords- und
Zauberwelt zu nennen, die als Seele das
Stuͤck, bis auf den kleinſten Umſtand von
Zeit, Ort, ſelbſt ſcheinbarer Zwiſchenver-
wirrung, belebt, Alles in der Seele zu Ei-
nem ſchauderhaften, unzertrennlichen Gan-
zen zu machen — und doch wuͤrde ich mit
Allem nichts ſagen.
Dies Jndividuelle jedes Stuͤcks, jedes
einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit
und Schoͤpfung durch alle Stuͤcke. Leſſing
hat einige Umſtaͤnde Hamlets in Verglei-
chung der Theaterkoͤnigin Semiramis ent-
wickelt — wie voll iſt das ganze Drama die-
ſes Lokalgeiſtes von Anfang, zu Ende. Schloß-
platz und bittre Kaͤlte, abloͤſende Wache und
Nachterzaͤhlungen, Unglaube und Glaube —
der Stern — und nun erſcheints! — Kann
Jemand ſeyn, der nicht in jedem Wort und
Um-
[101] Umſtaͤnde Bereitung und Natur ahnde! So
weiter. Alles Koſtume der Geiſter erſchoͤpft!
der Menſchen zur Erſcheinung erſchoͤpft!
Hahnkraͤh und Paukenſchall, ſtummer Wink
und der nahe Huͤgel, Wort und Unwort —
welches Lokal! welches tiefe Eingraben der
Wahrheit! Und wie der erſchreckte Koͤnig
kniet, und Hamlet vorbeyirrt in ſeiner Mut-
ter Kammer vor dem Bilde ſeines Vaters!
und nun die andre Erſcheinung! Er am
Grabe ſeiner Ophelia! der ruͤhrende good
Fellow in allen den Verbindungen mit Horaz
Ophelia, Laertes, Fortinbras! das Ju-
gendſpiel der Handlung, was durchs Stuͤck
fortlaͤuft und faſt bis zu Ende keine Handlung
wird — wer da Einen Augenblick Brettern-
geruͤſte fuͤhlt und ſucht, und Eine Reihe ge-
bundner artiger Geſpraͤche auf ihm ſucht, fuͤr
den hat Shakeſpear und Sophokles, kein
wahrer Dichter der Welt gedichtet.
Haͤtte ich doch Worte dazu, um die ein-
zelue Hauptempfindung, die alſo jedes Stuͤck
beherrſcht, und wie eine Weltſeele durchſtroͤmt,
zu bemerken. Wie es doch in Othello wuͤrk-
lich mit zu dem Stuͤcke gehoͤrt, ſo ſelbſt das
Nachtſuchen wie die fabelhafte Wunderliebe,
die Seefahrt, der Seeſturm, wie die brau-
ſende Leidenſchaft Othellos, die ſo ſehr ver-
ſpottete Todesart, das Entkleiden unter dem
G 3Ster-
[102] Sterbeliedchen und dem Windesſauſen, wie
die Art der Suͤnde und Leidenſchaft ſelbſt —
ſein Eintritt, Rede ans Nachtlicht u. ſ. w.
waͤre es moͤglich, doch das in Worte zu faſ-
ſen, wie das Alles zu Einer Welt der Trauer-
begebenheit lebendig und innig gehoͤre —
aber es iſt nicht moͤglich. Kein elendes Far-
bengemaͤlde laͤßt ſich durch Worte beſchreiben
oder herſtellen, und wie die Empfindung Ei-
ner lebendigen Welt in allen Scenen, Um-
ſtaͤnden und Zaubereyen der Natur. Gehe,
mein Leſer, was du willt, Lear und die Ri-
chards, Caͤſar und die Heinrichs, ſelbſt
Zauberſtuͤcke und Divertiſſements, inſonder-
heit Romeo, das ſuͤſſe Stuͤck der Liebe, auch
Roman in jedem Zeitumſtande, und Ort und
Traum und Dichtung — gehe es durch, ver-
ſuche Etwas der Art wegzunehmen, zu tau-
ſchen, es gar auf ein franzoͤſiſches Brettern-
geruͤſte zu ſimplificiren — eine lebendige Welt
mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in
dies Geruͤſte verwandelt — ſchoͤner Tauſch!
ſchoͤne Wandlung! Nimm dieſer Pflanze
ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze
ſie in die Luft: nimm dieſem Menſchen Ort,
Zeit, individuelle Beſtandheit — du haſt
ihm Othem und Seele genommen, und iſt
ein Bild vom Geſchoͤpf.
Eben
[103]
Eben da iſt alſo Shakeſpear Sophokles
Bruder, wo er ihm dem Anſchein nach ſo
unaͤhnlich iſt, um im Jnnern, ganz wie Er,
zu ſeyn. Da alle Taͤuſchung durch dies Ur-
kuͤndliche, Wahre, Schoͤpferiſche der Ge-
ſchichte erreicht wird, und ohne ſie nicht blos
nicht erreicht wuͤrde, ſondern kein Element
mehr (oder ich haͤtte umſonſt geſchrieben) von
Shakeſpears Drama und dramatiſchem
Geiſt bliebe: ſo ſieht man, die ganze Welt
iſt zu dieſem groſſen Geiſte allein Koͤrper:
alle Auftritte der Natur an dieſem Koͤrper
Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten
zu dieſem Geiſte Zuͤge — und das Ganze
mag jener Rieſengott des Spinoſa „Pan!
Univerſum!‟ heiſſen. Sophokles blieb der
Natur treu, da er Eine Handlung Eines
Orts und Einer Zeit bearbeitete: Shake-
ſpear konnt ihr allein treu bleiben, wenn er
ſeine Weltbegebenheit und Menſchenſchickſal
durch alle die Oerter und Zeiten waͤlzte, wo
ſie — nun, wo ſie geſchehen: und Gnade
Gott, dem kurzweiligen Franzoſen, der in
Shakeſpears fuͤnften Aufzug kaͤme, um da
die Ruͤhrung in der Quinteſſenz herunter zu
ſchlucken. Bey manchen franzoͤſiſchen Stuͤk-
ken mag dies wohl angehen, weil da Alles
nur fuͤrs Theater verſificirt und in Scenen
Schaugetragen wird; aber hier geht er eben
G 4ganz
[104] ganz leer aus. Da iſt Weltbegebenheit ſchon
vorbey: er ſieht nur die letzte, ſchlechteſte
Folge, Menſchen, wie Fligen fallen: er geht
hin und hoͤhnt: Shakeſpear iſt ihm Aerger-
niß und ſein Drama die dummeſte Thorheit.
Ueberhaupt waͤre der ganze Knaͤuel von
Ort- und Zeitquaͤſtionen laͤngſt aus ſeinem Ge-
wirre gekommen, wenn ein philoſophiſcher
Kopf uͤber das Drama ſich die Muͤhe haͤtte
nehmen wollen, auch hier zu fragen: „was
„denn Ort und Zeit ſey?„ Solls das Bret-
terngeruͤſte, und der Zeitraum eines Diver-
tiſſements au theatre ſeyn: ſo hat niemand
in der Welt Einheit des Orts, Maaß der
Zeit und der Scenen, als — die Franzoſen.
Die Griechen — bey ihrer hohen Taͤuſchung,
von der wir faſt keinen Begriff haben — bey
ihren Anſtalten fuͤr das Oeffentliche der Buͤh-
ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der-
ſelben, haben an nichts weniger als das je
gedacht. Wie muß die Taͤuſchung eines
Menſchen ſeyn, der hinter jedem Auftritt
nach ſeiner Uhr ſehen will, ob auch So Was
in So viel Zeit habe geſchehen koͤnnen? und
dem es ſodann Hauptelement der Herzens-
freude wuͤrde, daß der Dichter ihn doch ja
um keinen Augenblick betrogen, ſondern auf
dem
[105] dem Geruͤſte nur eben ſo viel gezeigt hat, als
er in der Zeit im Schneckengange ſeines Le-
bens ſehen wuͤrde — welch ein Geſchoͤpf,
dem das Hauptfreude waͤre! und welch ein
Dichter, der darauf als Hauptzweck arbei-
tete, und ſich denn mit dem Regelnkram bruͤ-
ſtete „wie artig habe ich nicht ſo viel und ſo
viel ſchoͤne Spielewerke! auf den engen ge-
gebnen Raum dieſer Brettergrube, theatre
François genannt, und in dengegebnen Zeit-
raum der Viſite dahin eingeklemmt und ein-
gepaßt! die Scenen filirt und enfilirt! alles
genau geflickt und geheftet‟ — elender Ce-
remonienmeiſter! Savogarde des Theaters,
nicht Schoͤpfer! Dichter! dramatiſcher Gott!
Als ſolchem ſchlaͤgt dir keine Uhr auf Thurm
und Tempel, ſondern du haſt Raum und
Zeitmaaſſe zu ſchaffen, und wenn du eine
Welt hervorbringen kannſt, und die nicht
anders, als in Raum und Zeit erſiſtiret, ſiehe,
ſo iſt da im Jnnern dein Maaß von Friſt und
Raum; dahin du alle Zuſchauer zaubern,
daß du Allen auf dringen mußt, oder du biſt —
was ich geſagt habe, nur nichts weniger, als
dramatiſcher Dichter.
Sollte es denn jemand in der Welt brau-
chen demonſtrirt zu werden, daß Raum und
Zeit eigentlich an ſich nichts, daß ſie die rela-
tiveſte Sache auf Daſeyn, Handlung, Lei-
G 5den-
[106] denſchaft, Gedankenfolge und Maaß der
Aufmerkſamkeit in oder auſſerhalb der Seele
ſind? Haſt du denn, gutherziger Uhrſteller
des Drama, nie Zeiten in deinem Leben ge-
habt, wo dir Stunden zu Augenblicken und
Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch
Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu
Jahren geworden ſind? Haſt du keine Si-
tuationen in deinem Leben gehabt, wo deine
Seele Einmal ganz auſſer dir wohnte, hier
in dieſem romantiſchen Zimmer deiner Ge-
liebten, dort auf jener ſtarren Leiche, hier
in dieſem Druͤckenden aͤuſſerer, beſchaͤmen-
der Noth — jetzt wieder uͤber Welt und
Zeit hinausflog, Raͤume und Weltgegenden
uͤberſpringet, alles um ſich vergaß, und im
Himmel, in der Seele, im Herzen deſſen
biſt, deſſen Exſiſtenz du nun empfindeſt? Und
wenn das in deinem traͤgen, ſchlaͤfrigen Wurm-
und Baumleben moͤglich iſt, wo dich ja Wur-
zeln gnug am todten Boden deiner Stelle
feſthalten, und jeder Kreis, den du ſchleppeſt,
dir langſames Moment gnug iſt, deinen
Wurmgang auszumeſſen — nun denke dich
Einen Augenblick in Eine andre, eine Dich-
terwelt nur in einen Traum? Haſt du nie
gefuͤhlt, wie im Traum dir Ort und Zeit
ſchwinden? was das alſo fuͤr unweſentliche
Dinge, fuͤr Schatten gegen das was Hand-
lung,
[107]lung, Wuͤrkung der Seele iſt, ſeyn muͤſſen?
wie es blos an dieſer Seele liege, ſich Raum,
Welt und Zeitmaaß zu ſchaffen, wie und
wo ſie will? Und haͤtteſt du das nur Ein-
mal in deinem Leben gefuͤhlt, waͤreſt nach
Einer Viertheilſtunde erwacht, und der dunkle
Reſt deiner Traumhandlungen haͤtte dich
ſchwoͤren gemacht, du habeſt Naͤchte hinweg
geſchlafen, getraͤumt und gehandelt! —
duͤrfte dir Mahomeds Traum, als Traum,
noch Einen Augenblick ungereimt ſeyn! und
waͤre es nicht eben jedes Genies, jedes Dich-
ters, und des dramatiſchen Dichters inſon-
derheit Erſte und Einzige Pflicht, dich in
Einen ſolchen Traum zu ſetzen? Und nun
denke, welche Welten du verwirreſt, wenn
du dem Dichter deine Taſchenuhr, oder dein
Viſitenzimmer vorzeigeſt, daß er dahin und
darnach dich traͤumen lehre?
Jm Gange ſeiner Begebenheit, im ordine
ſucccſſivorum und ſimultaneorum ſeiner
Welt, da liegt ſein Raum und Zeit. Wie,
und wo er dich hinreiſſe? wenn er dich nur
dahin reißt, da iſt ſeine Welt. Wie ſchnell
und langſam er die Zeiten folgen laſſe; er laͤßt
ſie folgen; er druͤckt dir dieſe Folge ein: das
iſt ſein Zeitmaaß — und wie iſt hier wieder
Shakeſpear Meiſter! langſam und ſchwer-
faͤllig fangen ſeine Begebenheiten an, in ſei-
ner
[108] ner Natur wie in der Natur: denn er giebt
dieſe nur im verjuͤngten Maaſſe. Wie muͤ-
hevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen!
je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie
kuͤrzer die Reden und gefluͤgelter die Seelen,
die Leidenſchaft, die Handlung! und wie
maͤchtig ſodann|dieſes Laufen, das Hinſtreuen
gewiſſer Worte, da niemand mehr Zeit hat.
Endlich zuletzt, wenn er den Leſer ganz ge-
taͤuſcht und im Abgrunde ſeiner Welt und
Leidenſchaft verlohren ſieht, wie wird er kuͤhn,
was laͤßt er auf einander folgen! Lear ſtirbt
nach Cordelia, und Kent nach Lear! es iſt
gleichſam Ende ſeiner Welt, juͤngſter Tag
da, da Alles auf einander rollet und hinſtuͤrzt,
der Himmel eingewickelt und die Berge fal-
len; das Maaß der Zeit iſt hinweg. —
Freylich wieder nicht fuͤr den luſtigen, mun-
tren Kaklogallinier, der mit heiler friſcher
Haut in den fuͤnften Akt kaͤme, um an der
Uhr zu meſſen, wie viel da in welcher Zeit
ſterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea-
ter, Jlluſion ſeyn ſoll — was waͤre denn
Kritik? Jlluſion? Theater? was bedeute-
ten alle die leeren Woͤrter.
Nun finge eben das Herz meiner Unter-
ſuchung an, „wie? auf welche Kunſt und
„Schoͤ-
[109] „Schoͤpferweiſe Shakeſpear eine elende
„Romanze, Novelle und Fabelhiſtorie zu
„ſolch einem lebendigen Ganzen habe dichten
„koͤnnen? Was fuͤr Geſetze unſrer hiſtori-
„ſchen, philoſophiſchen, dramatiſchen
„Kunſt in Jedem ſeiner Schritte und Kunſt-
„griffe liege?„ Welche Unterſuchung! wie
viel fuͤr unſern Geſchichtbau, Philoſophie
der Menſchenſeelen und Drama. — Aber
ich bin kein Mitglied aller unſrer hiſtoriſchen,
philoſophiſchen und ſchoͤnkuͤnſtlichen Akade-
mien, in denen man freylich an jedes Andre
eher, als an ſo etwas denkt! Selbſt Shake-
ſpears Landsleute denken nicht daran. Was
haben ihm oft ſeine Kommentatoren fuͤr hi-
ſtoriſche Fehler gezeihet! der fette Warbur-
ton z. E. welche hiſtoriſche Schoͤnheiten
Schuld gegeben! und noch der letzte Verfaſ-
ſer des Verſuchs uͤber ihr hat er wohl die
Lieblingsidee, die ich bey ihm ſuchte: „wie
„hat Shakeſpear aus Romanzen und No-
„vellen Drama gedichtet?„ erreicht? Sie
iſt ihm wie dem Ariſtoteles dieſes Brittiſchen
Sophokles, dem Lord Home kaum eingefallen.
Alſo nur Einen Wink in die gewoͤhnlichen
Klaſſificationen in ſeinen Stuͤcken. Noch
neuerlich hat ein Schriftſteller,(*) der gewiß
ſeinen
[110] ſeinen Shakeſpear ganz gefuͤhlt hat, den
Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fiſhmonger
von Hofmann, mit grauen Bart und Run-
zelgeſicht, triefenden Augen und ſeinem plen-
tiful lak of wit together with weak Hams,
das Kind Polonius zum Ariſtoteles des
Dichters zu machen, und die Reihe von Alt
und Cals, die er in ſeinem Geſchwaͤtz weg-
ſprudelt, zur ernſten Claſſification aller Stuͤcke
vorzuſchlagen. Jch zweifle. Shakeſpear
hat freylich die Tuͤcke, leere locos commu-
nes, Moralen und Claſſificationen, die auf
hundert Faͤlle angewandt, auf alle und keinen
recht paſſen, am liebſten Kindern und Nar-
ren in den Mund zu legen; und eines neuen
Stobæi und Florilegii, oder Cornu co-
piæ von Shakeſpears Weisheit, wie die
Englaͤnder theils ſchon haben und wir Deut-
ſche Gottlob! neulich auch haͤtten haben ſol-
len — deren wuͤrde ſich ſolch ein Polonius,
und Launcelot, Arlequin und Narr,
bloͤder Richard, oder aufgeblaſner Ritter-
koͤnig am meiſten zu erfreuen haben, weil
jeder ganze, geſunde Menſch bey ihm nie mehr
zu ſprechen hat, als er aus Mund in Hand
braucht, aber doch zweifle ich hier noch. Po-
lonius ſoll hier wahrſcheinlich nur das alte
Kind ſeyn, das Wolken fuͤr Kameele und
Kameele fuͤr Baßgeigen anſieht, in ſeiner
Ju-
[111] Jugend auch einmal den Julius Caͤſar ge-
ſpielt hat, und war ein guter Akteur, und
ward von Brutus umgebracht, und wohl
weiß
and Time is Time’
alſo auch hier einen Kreiſel theatraliſcher
Worte drehet — wer wollte aber darauf
bauen? oder was haͤtte man denn nun mit
der Eintheilung? Tragedy, Comedy,
Hiſtory, Paſtoral, Tragical-Hiſtorical,
und Hiſtorical-Paſtorell, und Paſtorical-
Comical und Comical-Hiſtorical-Paſto-
ral, und wenn wir die Calls noch hundertmal
miſchen, was haͤtten wir endlich? kein Stuͤck
waͤre doch griechiſche Tragedy, Comedy
und Paſtoral, und ſollte es nicht ſeyn. Je-
des Stuͤck iſt Hiſtory im weitſten Verſtande,
die ſich nun freylich bald in Tragedy, Co-
medy, u. ſ. w. mehr oder weniger nuan-
cirt. — Die Farben aber ſchweben da ſo
ins Unendliche hin, und am Ende bleibt doch
jedes Stuͤck und muß bleiben, — was es
iſt. Hiſtorie! Helden- und Staats-
aktion zur Jlluſion mittlerer Zeiten!
oder (wenige eigentliche Plays und Diver-
tiſſemens ausgenommen) ein voͤlliges Groͤſſe
habende Eraͤugniß einer Weltbegeben-
heit, eines menſchlichen Schickſals.
Trau-
[112]
Trauriger und wichtiger wird der Gedanke,
daß auch dieſergroſſe Schoͤpfer von Geſchichte
und Weltſeele immer mehr veralte! daß da
Worte und Sitten und Gattungen der Zeit-
alter, wie ein Herbſt von Blaͤttern welken
und abſinken, wir ſchon jetzt aus dieſen groſ-
ſen Truͤmmern der Ritternatur ſo weit heraus
ſind, daß ſelbſt Garrik, der Wiedererwek-
ker und Schutzengel auf ſeinem Grabe, ſo
viel aͤndern, auslaſſen, verſtuͤmmeln muß,
und bald vielleicht, da ſich alles ſo ſehr ver-
wiſcht und anders wohin neiget, auch ſein
Drama der lebendigen Vorſtellung ganz un-
faͤhig werden, und eine Truͤmmer von Ko-
loſſus, von Pyramide ſeyn wird, die Jeder
anſtaunet und keiner begreift. Gluͤcklich,
daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo
ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein
Freund, der du dich bey dieſem Leſen erken-
neſt und fuͤhlſt, und den ich vor ſeinem heili-
gen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo
du noch den ſuͤſſen und deiner wuͤrdigen
Traum haben kannſt, ſein Denkmal aus
unſern Ritterzeiten in unſrer Sprache,
unſerm ſo weit abgearteten Vaterlande her-
zuſtellen. Jch beneide dir den Traum, und
dein edles deutſches Wuͤrken laß nicht nach,
bis der Kranz dort oben hange. Und ſollteſt
du alsdenn auch ſpaͤter ſehen, wie unter deinem
Ge-
[113] Gebaͤude der Boden wankt, und der Poͤbel
umher ſtill ſteht und gafft, oder hoͤhnt, und
die daurende Pyramide nicht alten aegypti-
ſchen Geiſt wieder aufzuwecken vermag. —
Dein Werk wird bleiben, und ein treuer
Nachkomme dein Grab ſuchen, und mit an-
daͤchtiger Hand dir ſchreiben, was das Leben
faſt aller Wuͤrdigen der Welt geweſen:
voluit! quieſcit!
Nachſchrift.
Ja Nachſchrift! wo keine Schrift, wo lau-
ter Unrede rings um das leider! halb
erloſchne und entſtellte Schauſtuͤck der menſch-
lichen Natur Oſſian, iſt, oder es hoͤchſtens
ewige Vorrede wird, zu dem was kommen
will und kommen ſoll und nie kommt. Laſſen
Sie uns alſo, m. Fr., da die Sache einmal
ſo liegt, dem kluͤgern? oder bloͤdern? Theil
des Publikum wenigſtens ein favete linguis
ins Ohr liſpeln, wie nichtig es mit Einklei-
dung des Briefwechſels, der verſprochnen
Pſychologie Oſſians, (wenn der Druckfehler
anzumerken werth iſt) die Fabelreiſe zu ſeinen
Jnſeln voͤllig zu geſchweigen, ſtehen muͤſſe!
wie untreu eine Skandinaviſche Ueberſetzung
Hſey,
[114] ſey, wo der Autor nur aus Ueberſetzung und
hoͤchſtens Wortanſicht translatirte, zumal
endlich wie ſolch Geſchwaͤtz, auſſer dem viel-
leicht, was es hie und da ſage, ſo wenig Mu-
ſter ſeyn koͤnne und wolle, wie etwas der Art
in der Welt zu ſagen ſey? Ueberhaupt ſchien
damals die lyriſche Natur, zu der auch Oſſian
gebrochne Endtoͤne liefert, dem Briefwechs-
ler, noch ſo fernher zu toͤnen, daß er na-
tuͤrlich in die Mine des Lauſchers fallen muſte,
der zu hoͤren glaubt, wo andre vielleicht nichts
hoͤren, oder das ſauſende Kind der Luͤfte.
Gluͤcklich, daß er alle ſeinen kritiſchen
Wahn- und Ahndungsglauben jetzt durch Ei-
ne Erſcheinung (*) uͤbertroffen ſieht, der er
mit Pindariſchem Schwunge ſeinen Kranz
zuwerfen wollte, wenn der Kranz nicht dahin
verdorrte. Kein kritiſcher Schoͤpfeimer, und
alle Faͤſſer der Danaiden geben Waſſer, wo
kein Quell iſt — und es iſt und wird ewig
allein jener wunderthaͤtige Huf des Fluͤgel-
roſſes von Genie bleiben, der anſchlaͤgt und
der ſiebenfache Quell ſtroͤmet.
Siebenfacher Quell! Wenn deutſches Ohr
noch mehr als Wortklanges und Sylbenbaues
faͤhig iſt! wenns kein Maͤhrchen vom erſten
April ſeyn und bleiben darf, daß die Goͤttin
Harmonie
—— des
[115]‘—— des griechiſchen Himmels Kind —’ ()
noch Einmal mit der Aſtraͤa oder Uraniſchen
Venus unſer tiefes Cimmerien beſuchen wuͤr-
de. Am meiſten aber, wenn die volle, geſunde,
bluͤhende Weltjugend wieder hergeſtellt wer-
den kann und ſoll, daß in Ode und Tiſchgebet,
Kirchen- und Liebsgeſange das Herz und kein
Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil
ſtatt unſer, ſprechen duͤrfe — eine Goͤtterer-
ſcheinung auf dem Blumenguͤrtel der Grazien
und Genien des menſchlichen Geſchlechts darf
ſo wenig Aus- und Zurufs, als ſie den Augen
ſolcher Hinzugerufnen auch nur ſichtbar ſeyn
kann
‘—— vulgus \& arceo!’ ()
Allerdings wars nur immer, „lyriſchen
„Stabs Ende!„ wie unſre Lehrbuͤcher ſich
zeither mit Ode, Hymne, Pſalm, Elegie, und
womit nicht? getragen! — Gemaͤlde zu liefern,
ohne Subjekt, blos des kuͤnſtlich angelegten
und ſo wohl unterhaltnen Geſichtspunkts,
Kompoſitionsgeiſtes, Kolorits und alles an-
dern feinern Details wegen! Dies allein aus
der Autoritaͤt Eines fremden Vorbildes zu
lernen, bey dem doch hundert conventionelle
Befremdniſſe eben der Schleyer ſind, in dem
wirs zuerſt und zuletzt ſehen, es mit deutſchem
Kopf, Fleiß, Gluͤck und Ehrlichkeit zu ſtudiren,
und ſich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohl-
klang nur in Sylbenbau, Strophenbau, und
H 2Regi-
[116] Regionen der Perioden Deklamation zu ſetzen,
und Alles durch die Kunſt zu heben,
‘——— die wie die Floͤte
toͤnet, oder ——
uͤber die Floͤte ſich hebt.’ ()
Aus Alle dieſem muß nur immer ein Rem-
brand werden, und obgleich Rembrand ein
groſſer Meiſter —— ——
Heil uns, m. Fr. zu unſerm — wie ſoll ich
ſagen? Guido, Corregio oder Raphael!
Aber Engelgeſichte hat er gemalt in Menſchen-
geſtalt! Siehe dies Bild! welche Wahrheit!
Leben! tiefe Seele! wie heben ſich die Figuren
von der Leinwand hervor, und ſprechen (nicht
mit uns! uns ſehen ſie nicht an! denn ſie ſind
nicht fuͤr uns gemahlt!) aber unter ſich, wie han-
deln, wie ſprechen ſie, und umhuͤllen uns Geſicht
und Seele. Wehe, der hier ausruft: „das war
„noch Einmal geſungen!„ ſondern der es ſtill
fuͤhlt, „das muß ſo empfunden geweſen ſeyn,
oder —
Ode! ſie wird wieder, was ſie war! Ge-
fuͤhl ganzer Situation des Lebens! Geſpraͤch
menſchlichen Herzens — mit Gott! mit ſich!
mit der ganzen Natur.
Wohlklang! er wird was er war. Kein
aufgezaͤhltes Harmonienkunſtſtuͤck! Bewe-
gung! Melodie des Herzens! Tanz! Jn Feh-
lern und Eigenheiten, wie iſt ein Genie noch
uͤberall lehrend!
Daß
[117]
Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi-
tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh-
„lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel-
mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ-
ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem
gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich
um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein
Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.
Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau —
welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die
Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung?
Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel?
bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo
endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder
Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri-
den und Kaſtalinnen, wo?
Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben
noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte,
das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod
Jeſu, als Werk des Genies, der Seele, des
Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes,
(ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer
ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen —
ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon
von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde
kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun
zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer
ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre
aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com-
munis in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in
allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und
H 3von
[118] von einer zur andern mit den ſonderbarſten Spruͤn-
gen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fort-
gehender Faden der Empfindung, des Plans, des
Zwecks — R. Tod Jeſu iſt ein erbauliches, nuͤtz-
liches Werk, das ich in ſolchem Betracht tauſend-
mal beneidet habe! Jede Arie iſt faſt ein ſchoͤnes
Ganze! Viele Recitative auch — aber als poeti-
ſches Werk des Genies — fuͤr die Muſik! — Hr.
R. hat ſelbſt ein viel zu feines Gefuͤhl, als daß er
das nicht weit inniger bemerke.
Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poeſie
fuͤr die Muſik? welch ein Plan? welch ein Ganzes?
Das Vordere zu hinterſt, und es iſt faſt noch im̃er
derſelbe Eindruck! Johlleneindruck, wo lauter
Schaͤferbilder und Worte und von Anfang bis zu
Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenſeele iſt! bloß
eine Maſke Jeſaias, Virgils und Pope in Schaͤfer-
kleidern! — Und endlich Poeſie zur Muſik — wo im
ganzen Stuͤck nur Bilder, und keine Empfindung!
Bilder fuͤr die Leinwand, (da die Lanze z. E. Zeilen
hindurch in die Erde wurzelt, empor ſtrebt, ſteht,
gruͤnt, wird ein Palmbaum u. ſ. w.) durchaus nicht
fuͤr den Tonſchoͤpfer! So weiterhin und was waͤre
von ſeiner Auferſtehung zu ſagen?
Und nun, wie bearbeiten unſre Tonkuͤnſtler das
Alles nach dem einmal hergebrachten Leiſten?
Da doch eben der Urſprung dieſes Leiſtens, die Um-
ſtaͤnde, unter welchen er entſtanden u. ſ. w. wo nicht
Jedermann, ſo doch gewiß uns Deutſchen zurufen
muͤſte: „nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hin-
„ten! und es wird ewig Schande ſeyn, einen Muͤn-
„ter an Metaſtaſio zu meſſen!„ Was das aber
nun fuͤr eine Gattung Poeſie ſey, die wahre Mit-
telgattung zwiſchen Gemaͤlde und Muſik! und was
das fuͤr eine Gattung Muſik ſey, die uͤber Poeſie
nicht herrſchet — — —
III.
[[119]]
III.
Von
Deutſcher Baukunſt.
D. M.
Ervini a Steinbach.
1773.
H 4
[[120]][121]
Von
Deutſcher Baukunſt.
D. M.
Ervini a Steinbach.
1773.
Als ich auf deinem Grabe herumwandelte,
edler Erwin, und den Stein ſuchte, der
mir deuten ſollte: Anno domini 1318. XVI.
Kal. Febr. obiit Magiſter Ervinus, Guberna-
tor Fabricæ Eccleſiæ Argentinenſis, und ich
ihn nicht finden, keiner deiner Landsleute, mir
ihn zeigen konnte, daß ſich meine Verehrung
deiner, an der heiligen Staͤtte ergoſſen haͤtte;
da ward ich tief in die Seele betruͤbt, und
mein Herz, juͤnger, waͤrmer, thoͤriger und
beſſer als jetzt, gelobte dir ein Denkmal, wenn
ich zum ruhigen Genuß meiner Beſitzthuͤmer
gelangen wuͤrde, von Marmor oder Sand-
ſteinen, wie ichs vermoͤgte.
H 5Was
[122]
Was brauchts dir Denkmal! Du haſt dir
das herrlichſte errichtet; und kuͤmmert die
Ameiſen, die drum krabein, dein Name nichts,
haſt du gleiches Schickſal mit dem Baumei-
ſter, der Berge aufthuͤrmte in die Wolken.
Wenigen ward es gegeben, einen Babelge-
danken in der Seele zu zeugen, ganz, groß,
und bis in den kleinſten Theil nothwendig
ſchoͤn, wie Baͤume Gottes; wenigern, auf
tauſend bietende Haͤnde zu treffen, Felſen-
grund zu graben, ſteile Hoͤhen drauf zu zau-
bern, und dann ſterbend ihren Soͤhnen zu ſa-
gen: ich bleibe bey euch, in den Wolken mei-
nes Geiſtes, vollendet das begonnene in die
Wolken.
Was brauchts dir Denkmal! und von mir!
Wenn der Poͤbel heilige Namen ausſpricht,
iſts Aberglaube oder Laͤſterung. Dem ſchwa-
chen Geſchmaͤckler wirds ewig ſchwindlen an
deinem Coloß, und ganze Seelen werden dich
erkennen ohne Deuter.
Alſo nur, trefflicher Mann, eh ich mein
geflicktes Schiffchen wieder auf den Ocean
wage, wahrſcheinlicher dem Tod als dem Ge-
winnſt entgegen, ſiehe hier in dieſem Hain,
wo ringsum die Namen meiner Geliebten
gruͤnen, ſchneid ich den deinigen, in eine dei-
nem Thurm gleich ſchlankaufſteigende Buche,
haͤnge an ſeinen vier Zipfeln dies Schnupftuch
mit
[123] mit Gaben dabey auf Nicht ungleich jenem
Tuche, das dem heil. Apoſtel aus den Wolken
herab gelaſſen ward, voll reiner und unreiner
Thiere; ſo auch voll Blumen, Bluͤthen, Blaͤt-
ter, auch wohl duͤrres Gras und Moos und
uͤber Nacht geſchoßne Schwaͤmme, das alles
ich auf dem Spaziergang durch unbedeutende
Gegenden, kalt zu meinem Zeitvertreib bota-
niſirend eingeſammelt, dir nun zu Ehren der
Verweſung weihe.
Es iſt im kleinen Geſchmack, ſagt der Jta-
liaͤner, und geht vorbey. Kindereyen lallt
der Franzoſe nach, und ſchnellt triumphirend
auf ſeine Doſe a la Greque. Was habt
ihr gethan, daß ihr verachten duͤrft?
Hat nicht der, ſeinem Grab entſteigende
Genius der Alten, den deinen gefeſſelt, Wel-
ſcher! Krochſt an den maͤchtigen Reſten Ver-
haͤltniſſe zu betteln, flickteſt aus den heiligen
Truͤmmern dir Luſthaͤuſer zuſammen, und
haͤltſt dich fuͤr Verwahrer der Kunſtgeheim-
niſſe, weil du auf Zoll und Linien von Rie-
ſengebaͤuden Rechenſchaft geben kannſt. Haͤt-
teſt du mehr gefuͤhlt als gemeſſen, waͤre der
Geiſt der Maſſen uͤber dich gekommen, die
du anſtaunteſt, du haͤtteſt nicht ſo nur nach-
geahmt, weil ſie’s thaten und es ſchoͤn iſt;
nothwendig und wahr haͤtteſt du deine Plane
geſchaf-
[124] geſchaffen, und lebendige Schoͤnheit waͤre
bildend aus ihnen gequollen.
So haſt du deinen Beduͤrfniſſen einen
Schein von Wahrheit und Schoͤnheit auf-
getuͤncht. Die herrliche Wirkung der Saͤu-
len traf dich, du wollteſt auch ihrer brauchen
und mauerteſt ſie ein, wollteſt auch Saͤulen-
reihen haben, und umzirkelteſt den Vorhof
der Peterskirche mit Marmorgaͤngen, die
nirgends hin noch her fuͤhren, daß Mutter
Natur, die das ungehoͤrige und unnoͤthige
verachtet und haßt, deinen Poͤbel trieb, ihre
Herrlichkeit zu oͤffentlichen Kloacken zu proſti-
tuiren, daß ihr die Augen wegwendet und
die Naſen zuhaltet vorm Wunder der Welt.
Das geht nun ſo alles ſeinen Gang, die
Grille des Kuͤnſtlers dient dem Eigenſinne
des Reichen, der Reiſebeſchreiber gafft, und
unſre ſchoͤne Geiſter, genannt Philoſophen,
erdrechſeln aus protoplaſtiſchen Maͤhrchen,
Principien und Geſchichte der Kuͤnſte bis auf
den heutigen Tag, und aͤchte Menſchen er-
mordet der boͤſe Genius im Vorhof der Ge-
heimniſſe.
Schaͤdlicher als Beyſpiele ſind dem Genius
Principien. Vor ihm moͤgen einzelne Men-
ſchen, einzelne Theile bearbeitet haben. Er
iſt der erſte aus deſſen Seele die Theile, in
Ein ewiges Ganze zuſammen gewachſen, her-
vor-
[125] vortreten. Aber Schule und Principium
feſſelt alle Kraft der Erkenntniß und Thaͤtig-
keit. Was ſoll uns das, du neufranzoͤſcher
philoſophirender Kenner, daß der erſte zum
Beduͤrfniß erfindſame Menſch, vier Staͤmme
einrammelte, vier Stangen druͤber verband,
und Aeſte und Moos drauf deckte? Daraus
entſcheideſt du das gehoͤrige unſrer heutigen
Beduͤrfniſſe, eben als wenn du dein neues
Babylon, mit einfaͤltigem Patriarchaliſchem
Hausvaterſinn regieren wollteſt.
Und es iſt noch dazu falſch, daß deine Huͤtte
die erſtgebohrne der Welt iſt. Zwey an ihrem
Gipfel ſich kreuzende Stangen vornen, zwey
hinten und eine Stange queer uͤber zum Forſt,
iſt und bleibt, wie du alltaͤglich, an Huͤtern
der Felder und Weinberge erkennen kannſt,
eine weit primaͤvere Erfindung, von der du
doch nicht einmal Principium fuͤr deine
Schweinſtaͤlle abſtrahiren koͤnnteſt.
So vermag keiner deiner Schluͤſſe ſich zur
Region der Wahrheit zu erheben, ſie ſchwe-
ben alle in der Atmoſphaͤre deines Syſtems.
Du willſt uns lehren, was wir brauchen ſol-
len, weil das, was wir brauchen, ſich nach
deinen Grundſaͤtzen nicht rechtfertigen laͤßt.
Die Saͤule liegt dir ſehr am Herzen, und
in andrer Weltgegend waͤrſt du Prophet.
Du ſagſt: Die Saͤule iſt der erſte, weſent-
liche
[126] liche Beſtandtheil des Gebaͤudes, und der
ſchoͤnſte. Welche erhabene Eleganz der Form,
welche reine mannigfaltige Groͤſſe, wenn ſie
in Reihen da ſtehn! Nur huͤtet euch ſie un-
gehoͤrig zu brauchen; ihre Natur iſt, freyzu-
ſtehn. Wehe den Elenden, die ihren ſchlan-
ken Wuchs, an plumpe Mauern geſchmiedet
haben!
Und doch duͤnkt mich, lieber Abt, haͤtte
die oͤftere Wiederholung dieſer Unſchicklichkeit
des Saͤuleneinmauerns, daß die Neuern ſogar
antiker Tempel Jnterkolumnia mit Mauer-
werk ausſtopften, dir einiges Nachdenken er-
regen koͤnnen. Waͤre dein Ohr nicht fuͤr
Wahrheit taub, dieſe Steine wuͤrden ſie dir
gepredigt haben.
Saͤule iſt mit nichten ein Beſtandtheil un-
ſrer Wohnungen; ſie widerſpricht vielmehr
dem Weſen all unſrer Gebaͤude. Unſre Haͤu-
ſer entſtehen nicht aus vier Saͤulen in vier
Ecken; ſie entſiehen aus vier Mauern auf
vier Seiten, die ſtatt aller Saͤulen ſind, alle
Saͤulen ausſchlieſſen, und wo ihr ſie anflickt,
ſind ſie belaſtender Ueberfluß. Eben das
gilt von unſern Pallaͤſten und Kirchen. We-
nige Faͤlle ausgenommen, auf die ich nicht zu
achten brauche.
Eure Gebaͤude ſtellen euch alſo Flaͤchen dar,
die, je weiter ſie ſich ausbreiten, je kuͤhner ſie
gen
[127] gen Himmel ſteigen, mit deſto unertraͤgliche-
rer Einfoͤrmigkeit die Seele unterdruͤcken muͤſ-
ſen! Wohl! wenn uns der Genius nicht zu
Huͤlfe kaͤme, der Erwinen von Steinbach
eingab: vermannigfaltige die ungeheure Mau-
er, die du gen Himmel fuͤhren ſollſt, daß ſie
aufſteige gleich einem hocherhabnen, weit ver-
breiteten Baume Gottes, der mit tauſend
Aeſten, Millionen Zweigen, und Blaͤttern
wie der Sand am Meer, rings um, der
Gegend verkuͤndet, die Herrlichkeit des Herrn,
ſeines Meiſters.
Als ich das erſtemal nach dem Muͤnſter
gieng, hatte ich den Kopf voll allgemeiner
Erkenntniß guten Geſchmacks. Auf Hoͤren-
ſagen ehrt ich die Harmonie der Maſſen, die
Reinheit der Formen, war ein abgeſagter
Feind der verworrnen Willkuͤhrlichkeiten go-
thiſcher Verzierungen. Unter die Rubrik
Gothiſch, gleich dem Artikel eines Woͤrter-
buchs, haͤufte ich alle ſynonimiſche Mißver-
ſtaͤndniſſe, die mir von unbeſtimmtem, un-
geordnetem, unnatuͤrlichem, zuſammengeſtop-
peltem, aufgeflicktem, uͤberladenem, jemals
durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge-
ſcheider als ein Volk, das die ganze fremde
Welt barbariſch nennt, hieß alles gothiſch,
was nicht in mein Syſtem paßte, von dem
gedrech-
[128] gedrechſelten, bunten, Puppen- und Bilder-
werk an, womit unſre buͤrgerliche Edelleute
ihre Haͤuſer ſchmuͤcken, bis zu den ernſten
Reſten der aͤlteren deutſchen Baukunſt, uͤber
die ich, auf Anlaß einiger abentheuerlichen
Schnoͤrkel, in den allgemeinen Geſang ſtimm-
te: „Ganz von Zierrath erdruͤckt!„ und ſo
graute mirs im Gehen vorm Anblick eines
mißgeformten krausborſtigen Ungeheuers.
Mit welcher unerwarteten Empfindung
uͤberraſchte mich der Anblick, als ich davor
trat. Ein, ganzer, groſſer Eindruck fuͤllte
meine Seele, den, weil er aus tauſend harmo-
nirenden Einzelnheiten beſtand, ich wohl
ſchmecken und genieſſen, keineswegs aber er-
kennen und erklaͤren konnte. Sie ſagen, daß
es alſo mit den Freuden des Himmels ſey,
und wie oft bin ich zuruͤckgekehrt, dieſe himm-
liſch-irrdiſche Freude zu genieſſen, den Rie-
ſengeiſt unſrer aͤltern Bruͤder, in ihren Wer-
ken zu umfaſſen. Wie oft bin ich zuruͤckge-
kehrt, von allen Seiten, aus allen Entfer-
nungen in jedem Lichte des Tags, zu ſchauen
ſeine Wuͤrde und Herrlichkeit. Schwer iſt’s
dem Menſchengeiſt, wenn ſeines Bruders
Werk ſo hoch erhaben iſt, daß er nur beugen,
und anbeten muß. Wie oft hat die Abend-
daͤmmerung mein durch forſchendes Schauen
ermattetes Aug, mit freundlicher Ruhe ge-
letzt,
[129] letzt, wenn durch ſie die unzaͤhligen Theile,
zu ganzen Maſſen ſchmolzen, und nun dieſe,
einfach und groß, vor meiner Seele ſtanden,
und meine Kraft ſich wonnevoll entfaltete,
zugleich zu genieſſen und zu erkennen. Da
offenbarte ſich mir, in leiſen Ahndungen, der
Genius des groſſen Werkmeiſters. Was
ſtaunſt du, liſpelt er mir entgegen. Alle dieſe
Maſſen waren nothwendig, und ſiehſt du ſie
nicht an allen aͤlteren Kirchen meiner Stadt.
Nur ihre willkuͤhrlichen Groͤſſen hab ich zum
ſtimmenden Verhaͤltniß erhoben. Wie uͤber
dem Haupteingang, der zwey kleinere zu’n
Seiten beherrſcht, ſich der weite Kreis des
Fenſters oͤffnet, der dem Schiffe der Kirche
antwortet, und ſonſt nur Tageloch war, wie,
hoch druͤber der Glockenplatz die kleineren
Fenſter forderte! das all war nothwendig, und
ich bildete es ſchoͤn. Aber ach, wenn ich durch
die duͤſtern erhabnen Oeffnungen hier zur Seite
ſchwebe, die leer und vergebens dazu ſtehn ſchei-
nen. Jn ihre kuͤhne ſchlanke Geſtalt hab ich die
geheimnißvollen Kraͤfte verborgen, die jene
beyden Thuͤrme hoch in die Luft heben ſollten,
deren, ach, nur einer traurig da ſteht, ohne den
fuͤnfgethuͤrmten Hauptſchmuck, den ich ihm
beſtimmte, daß ihm und ſeinem koͤniglichen
Bruder die Provinzen umher huldigten. Und
ſo ſchied er von mir, und ich verſank in theil-
Jneh-
[130] nehmende Traurigkeit. Bis die Voͤgel des
Morgens, die in ſeinen tauſend Oeffnungen
wohnen, der Sonne entgegen jauchzten, und
mich aus dem Schlummer weckten. Wie
friſch leuchtet er im Morgenduftglanz mir
entgegen, wie froh konnt ich ihm meine Arme
entgegen ſtrecken, ſchauen die groſſen harmo-
niſchen Maſſen, zu unzaͤhlig kleinen Theilen
belebt; wie in Werken der ewigen Natur,
bis aufs geringſte Zaͤſerchen, alles Geſtalt,
und alles zweckend zum Ganzen; wie das
feſtgegruͤndete ungeheure Gebaͤude ſich leicht
in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und
doch fuͤr die Ewigkeit. Deinem Unterricht
dank ich’s, Genius, daß mirs nicht mehr
ſchwindelt an deinen Tiefen, daß in meine Seele
ein Tropfen ſich ſenkt, der Wonneruh des
Geiſtes, der auf ſolch eine Schoͤpfung herab-
ſchauen, und gottgleich ſprechen kann, es
iſt gut!
Und nun ſoll ich nicht ergrimmen, heiliger
Erwin, wenn der deutſche Kunſtgelehrte,
auf Hoͤrenſagen neidiſcher Nachbarn, ſeinen
Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unver-
ſtandnen Worte gothiſch verkleinert. Da
er Gott danken ſollte, laut verkuͤndigen zu
koͤnnen, das iſt deutſche Baukunſt, unſre
Baukunſt, da der Jtaliaͤner ſich keiner eignen
ruͤhmen
[131] ruͤhmen darf, vielweniger der Franzos. Und
wenn du dir ſelbſt dieſen Vorzug nicht zuge-
ſtehen willſt, ſo erweis uns, daß die Gothen
ſchon wirklich ſo gebaut haben, wo ſich einige
Schwuͤrigkeiten finden werden. Und, ganz
am Ende, wenn du nicht darthuſt, ein Ho-
mer ſey ſchon vor dem Homer geweſen, ſo
laſſen wir dir gerne die Geſchichte kleiner ge-
lungner und mißlungner Verſuche, und tre-
ten anbetend vor das Werk des Meiſters, der
zuerſt die zerſtreuten Elemente, in Ein leben-
diges Ganze zuſammen ſchuf. Und du, mein
lieber Bruder im Geiſte des Forſchens nach
Wahrheit und Schoͤnheit, verſchließ dein
Ohr vor allem Wortgeprahle uͤber bildende
Kunſt, komm, genieſſe und ſchaue. Huͤte
dich, den Namen deines edelſten Kuͤnſtlers
zu entheiligen, und eile herbey, daß du ſchaueſt
ſein trefliches Werk. Macht es dir einen
widrigen Eindruck, oder keinen, ſo gehab dich
wohl, laß einſpannen, und ſo weiter nach Paris.
Aber zu dir, theurer Juͤngling, geſell ich
mich, der du bewegt da ſtehſt, und die Wi-
derſpruͤche nicht vereinigen kannſt, die ſich in
deiner Seele kreuzen, bald die unwiderſteh-
liche Macht des groſſen Ganzen fuͤhlſt, bald
mich einen Traͤumer ſchiltſt, daß ich da Schoͤn-
heit ſehe, wo du nur Staͤrke und Rauheit
ſiehſt. Laß einen Mißverſtand uns nicht tren-
J 2nen,
[132] nen, laß die weiche Lehre neuerer Schoͤnhei-
teley, dich fuͤr das bedeutende Rauhe nicht
verzaͤrteln, daß nicht zuletzt deine kraͤnkelnde
Empfindung nur eine unbedeutende Glaͤtte
ertragen koͤnne. Sie wollen euch glauben
machen, die ſchoͤnen Kuͤnſte ſeyen entſtanden
aus dem Hang, den wir haben ſollen, die
Dinge rings um uns zu verſchoͤnern. Das
iſt nicht wahr! Denn in dem Sinne, darin
es wahr ſeyn koͤnnte, braucht wohl der Buͤr-
ger und Handwerker die Worte, kein Phi-
loſoph.
Die Kunſt iſt lange bildend, eh ſie ſchoͤn
iſt, und doch, ſo wahre, groſſe Kunſt, ja,
oft wahrer und groͤſſer, als die Schoͤne ſelbſt.
Denn in dem Menſchen iſt eine bildende Na-
tur, die gleich ſich thaͤtig beweiſt, wann ſeine
Exiſtenz geſichert iſt. Sobald er nichts zu
ſorgen und zu fuͤrchten hat, greift der Halb-
gott, wirkſam in ſeiner Ruhe, umher nach
Stoff, ihm ſeinen Geiſt einzuhauchen. Und
ſo modelt der Wilde mit abentheuerlichen Zuͤ-
gen, graͤßlichen Geſtalten, hohen Farben,
ſeine Cocos, ſeine Federn, und ſeinen Koͤr-
per. Und laßt dieſe Bildnerey aus den will-
kuͤhrlichſten Formen beſtehn, ſie wird ohne
Geſtaltsverhaͤltniß zuſammen ſtimmen, denn
Eine Empfindung ſchuf ſie zum karackteriſti-
ſchen Ganzen.
Dieſe
[133]
Dieſe karackteriſtiſche Kunſt, iſt nun die
einzige wahre. Wenn ſie aus inniger, eini-
ger, eigner, ſelbſtſtaͤndiger Empfindung um
ſich wirkt, unbekuͤmmert, ja unwiſſend alles
Fremden, da mag ſie aus rauher Wildheit,
oder aus gebildeter Empfindſamkeit geboh-
ren werden, ſie iſt ganz und lebendig. Da
ſeht ihr bey Nationen und einzelnen Men-
ſchen dann unzaͤhlige Grade. Jemehr ſich
die Seele erhebt zu dem Gefuͤhl der Verhaͤlt-
niſſe, die allein ſchoͤn und von Ewigkeit ſind,
deren Hauptakkorde man beweiſen, deren
Geheimniſſe man nur fuͤhlen kann, in denen
ſich allein das Leben des gottgleichen Genius
in ſeeligen Melodien herumwaͤlzt; jemehr
dieſe Schoͤnheit in das Weſen eines Geiſtes
eindringt, daß ſie mit ihm entſtanden zu ſeyn
ſcheint, daß ihm nichts genugthut als ſie,
daß er nichts aus ſich wirkt als ſie, deſto gluͤck-
licher iſt er, deſto tiefgebeugter ſtehen wir da
und beten an den Geſalbten Gottes.
Und von der Stufe, auf welche Erwin
geſtiegen iſt, wird ihn keiner herabſtoſſen.
Hier ſteht ſein Werk, tretet hin, und erkennt
das tiefſte Gefuͤhl von Wahrheit und Schoͤn-
heit der Verhaͤltniſſe, wuͤrkend aus ſtarker,
rauher, deutſcher Seele, auf dem eingeſchraͤnk-
ten duͤſtern Pfaffenſchauplatz des medii aevi.
J 3Und
[134]
Und unſer aevum? hat auf ſeinen Ge-
nius verziehen, hat ſeine Soͤhne umher ge-
ſchickt, fremde Gewaͤchſe zu ihrem Verder-
ben einzuſammeln. Der leichte Franzoſe,
der noch weit aͤrger ſtoppelt, hat wenigſtens
eine Art von Witz, ſeine Beute zu Einem
Ganzen zu fuͤgen, er baut jetzt aus griechiſchen
Saͤulen und deutſchen Gewoͤlbern ſeiner
Magdalene einen Wundertempel. Von ei-
nem unſrer Kuͤnſtler, als er erſucht ward,
zu einer alt deutſchen Kirche ein Portal zu
erfinden, hab ich geſehen ein Model fertigen,
ſtattlichen antiken Saͤulenwerks.
Wie ſehr unſre geſchminkte Puppenmah-
ler mix verhaßt ſind, mag ich nicht deklami-
ren. Sie haben durch theatraliſche Stel-
lungen, erlogne Teints, und bunte Kleider
die Augen der Weiber gefangen. Maͤnnli-
cher Albrecht Duͤrer, den die Neulinge an-
ſpoͤtteln, deine holzgeſchnitzteſte Geſtalt iſt
mir willkommner.
Und ihr ſelbſt, trefliche Menſchen, denen
die hoͤchſte Schoͤnheit zu genieſſen gegeben
ward, und nunmehr herabtretet, zu verkuͤn-
den eure Seeligkeit, ihr ſchadet dem Genius.
Er will auf keinen fremden Fluͤgeln, und
waͤren’s
[135] waͤren’s die Fluͤgel der Morgenroͤthe, empor
gehoben und fortgeruͤckt werden. Seine
eigne Kraͤfte ſind’s, die ſich im Kindertraum
entfalten, im Juͤnglingsleben bearbeiten, bis
er ſtark und behend, wie der Loͤwe des Ge-
buͤrges auseilt auf Raub. Drum erzieht ſie
meiſt die Natur, weil ihr Paͤdagogen ihm
nimmer den mannigfaltigen Schauplatz er-
kuͤnſteln koͤnnt, ſtets im gegenwaͤrtigen
Maaß ſeiner Kraͤfte zu handeln und zu ge-
nieſſen.
Heil dir, Knabe! der du mit einem ſchar-
fen Aug fuͤr Verhaͤltniſſe gebohren wirſt,
dich mit Leichtigkeit an allen Geſtalten zu
uͤben. Wenn denn nach und nach die Freude
des Lebens um dich erwacht, und du jauch-
zenden Menſchengenuß nach Arbeit, Furcht
und Hofnung fuͤhlſt; das muthige Geſchrey
des Winzers, wenn die Fuͤlle des Herbſts
ſeine Gefaͤſſe anſchwellt, den belebten Tanz
des Schnitters, wenn er die muͤßige Sichel
hoch in den Balken geheftet hat; wenn dann
maͤnnlicher, die gewaltige Nerve der Be-
gierden und Leiden in deinem Pinſel lebt,
du geſtrebt und gelitten genug haſt, und
genug genoſſen, und ſatt biſt irrdiſcher Schoͤn-
heit, und werth biſt auszuruhen in dem Arme
der Goͤttinn, werth an ihrem Buſen zu fuͤh-
J 4len,
[136] len, was den vergoͤtterten Herkules neu ge-
bahr; nimm ihn auf, himmliſche Schoͤnheit,
du Mittlerinn zwiſchen Goͤttern und Men-
ſchen, und mehr als Prometheus leit er die
Seeligkeit der Goͤtter auf die Erde.(*)
IV.
[[137]]
IV.
Verſuch
uͤber die
Gothiſche
Baukunſt.
Livorno, 1766.
Aus dem Jtalieniſchen des Friſi.
[[138]][139]
IV.
Verſuch
uͤber die
Gothiſche
Baukunſt.
Aus dem Jtalieniſchen.
Gerade und kreislaufende Linien ſind die
einzigen, deren Vitruv in ſeinem Werke
uͤber die Baukunſt erwaͤhnt, und die man
von den roͤmiſchen und griechiſchen Architekten
in ihren Tempeln und Pallaͤſten angebracht
ſieht. Man verband in jenen Zeiten die
Pracht mit der Einfalt, und man glaubte,
daß die Baukunſt die Einfalt der Geometrie,
die die zuſammengeſetzten Linien verlaͤßt, wenn
ſich die Aufgaben mit geraden und kraislau-
fenden aufloͤſen laſſen, beybehalten muͤſſe.
Man brauchte in Boͤgen, Gewoͤlben, Gie-
beln u. d. niemals jene krummen Linien,
welche ſeit den Zeiten des Boromini ſo haͤufig
bey Gebaͤuden angebracht worden ſind, und
ſelbſt die Schnecken an den Knaͤufen machte
man nur aus Halbkraiſen von verſchiedenen
Verhaͤltniſſen. Palladio und Jones ſind
den
[140] den Alten in dieſer Einfalt, ſo wie in der
Majeſtaͤt, Feſtigkeit und Sparſamkeit in der
Verzierung ihrer Werke am getreueſten ge-
blieben.
Die Alten pflegten in ihren Gallerien,
Baſiliken, Vortempeln u. d. die Gewoͤlbe
nie gerade auf die Knaͤufe der freyſtehenden
Saͤulen aufzufuͤhren, ſondern ſie zogen, wie
ſchon Vaſari(*) im 3. Kap. ſeiner Baukunſt
bemerkt, allezeit Architrabe darunter. Aber
die Gothen in Jtalien und die Mauren in
Spanien thaten es, ja ſie entfernten ſich uͤber-
haupt von den Alten in den Regeln, Formen
und Verhaͤltniſſen der Saͤulen und Knaͤufe.
Das erſte Beyſpiel von dergleichen auf frey-
ſtehenden Saͤulen aufgefuͤhrten Gewoͤlben
findet man in der Kirche des heil. Vitalis,
die in Ravenna gegen 541 unter der Regie-
rung der Amalaſunta angefangen worden
iſt: doch ſind die Boͤgen noch alle kraisrund,
und jeder iſt nur aus einem Mittelpunkte be-
ſchrieben. So ſind alle Boͤgen in den Ge-
baͤuden der Mauren, wovon uns Kolmenar
die Zeichnungen geliefert hat, als in dem alten
Pallaſte der Mauren, in Granada, in dem
Dome zu Toledo, in dem Pallaſte und Dome
zu Seviglia, u. ſ. w. Die deutſchen Bau-
kuͤnſtler fingen gegen das dreyzehnte Jahr-
hundert
[141] hundert an, ſich aller der Freyheiten der Go-
then und Saracenen zu bedienen. Sie ver-
banden mit den kleinen wunderlichen Verzie-
rungen, den hohen Gewoͤlben, den widerſin-
nigen Saͤulenkoͤpfen, die ſpitzigen Boͤgen,
ohne dabey jedoch von der Kruͤmmung der
Kraislinie gaͤnzlich abzugehn, denn ſie ver-
zeichneten dieſe Boͤgen nach den Durchſchnitts-
punkten zwoer Kraislinien, die die Mitte der
Saͤulenſpitze insgemein zum Mittelpunkte
und die Saͤulenweite zum Halbmeſſer hatten.
Und auf dieſe Weiſe fuͤhrten ſie die Bauart
ein, welche man die gothiſche genannt hat.
Die groſſe Kirche zu Strasburg, die zu
Rheims, die Peterskirche zu Yorck, die Ab-
tey zu Weſtmuͤnſter, die Stephanskirche zu
Wien u. d. ſind ſo, wie die Kirche zu Clair-
vaux, die Johannskirche zu Monza, die Cer-
toſa zu Pavia, der groſſe Dom zu Mayland,
welchen der Herzog Johann Galeazo Visconti
gegen das Jahr 1386. anfangen laſſen, kurz
nachdem die Kirche zu Monza geendigt, und
nicht lange vorher, als die Certoſa zu Pavia
angefangen worden war — alle die ſind in
dieſem gothiſchen Geſchmacke aufgefuͤhrt.
Caeſar Caeſarini, welcher den Vitruv in das
Jtalieniſche uͤberſetzt, und 1521. mit einem
Kommentar zu Komo herausgegeben hat,
ſagt in den Anmerkungen zum zweyten Ab-
ſchnitte
[142] ſchnitte des erſten Buchs, daß das gothiſche
Gewoͤlbe im Schluſſe ſtark und feſt genung
ſey, eine groſſe Laſt zu tragen, aber von da
an, nach den Seiten zu, reiſſe es leicht. Blon-
del merkt in ſeinem Cours d’Architecture
an, daß der gothiſche Bogen ſchwaͤchere Wi-
derlagen brauche, weil er gerade herab auf
die Saͤulen druͤcke, und daß man ſich deſſel-
ben nicht mehr bediene, geſchaͤhe aus keiner
andern Urſache, als weil er ein haͤßliches An-
ſehn habe. Dieſer Meynung iſt auch Kraft
in der Abhandlung uͤber einige Aufgaben aus
der Baukunſt (in dem erſten Tome der neuen
Kommentarien der Akademie zu Petersburg.)
Belidor hat eine Anweiſung gegeben, den
waagrechten Druck der roͤmiſchen und gothi-
ſchen Gewoͤlbe auf die Unterlagen zu berech-
nen. Dabey fuͤhrt er ausdruͤcklich an, daß
man keine gothiſche Gewoͤlbe uͤber Magazinen
anbringen ſolle, weil ſie die Bomben nicht
aushalten koͤnnten. Wir wiſſen auch wirk-
lich aus Beyſpielen, daß die roͤmiſchen Ge-
woͤlbe bey Belagerungen den Bomben wider-
ſtanden haben, nicht aber die gothiſchen.
Jch koͤnnte hier eine ganze geometriſche Ab-
handlung uͤber die Staͤrke und den Wider-
ſtand der Gewoͤlbe aus Halbkraiſen und
Spitzboͤgen liefern. Jch will mich aber be-
gnuͤgen. nur das einfache Reſultat davon
anzu-
[143] anzufuͤhren, damit ich dieſen Verſuch nicht
mit Demonſtrationen und Figuren zu verwir-
ren noͤthig habe. Erſtlich iſt es eine ausge-
machte Wahrheit, daß bey allen Arten von
Kuppeln und Gewoͤlben ein Theil von der
Wirkung der aufliegenden Laſt in der Haͤlfte,
oder dem dritten und vierten Theile der Kruͤm-
mung dadurch verlohren geht, daß ſie auf
die darunter angebrachten Saͤulen oder Ge-
woͤlbe waagrecht druͤckt. Zweytens iſt der
waagrechte Druck eines halbkraiſigten Bo-
gens auf die Unterlage dem halben Drucke, wel-
cher auf den Schluß wirkt, gleich, z. B. wenn
man ein Gewicht von 300000 Pfund auf den
Schluß des Bogens legte, ſo wuͤrde der
Druck auf die Unterlagen gleich 150000 Pf.
ſeyn. Endlich wenn man zween Bogen von
gleicher Weite, einen halbk eiſigten und einen
gothiſchen Spitzbogen annimmt, und auf den
einen ſo viel Gewicht als auf den andern legt,
ſo wird der waagrechte Druck auf die Spitze
des erſten gegen den, welchen die Stuͤtze des
zweyten auszuhalten hat, beynahe wie 15 zu
13 ſeyn: in der Mitte, zwiſchen dem Schluſſe
und den Stuͤtzen zweener ſolcher Bogen, wird
ſich dieſer Druck eines gleichen Gewichts bey
dem einen gegen den andern wie 5 zu 7 erhal-
ten; im dritten Theile hingegen wie 4 zu 5;
und zwiſchen der Haͤlfte und dem dritten Theile
der-
[144] derſelbe bey dem gothiſchen Bogen der halben
Laſt gleich werden, und folglich eben ſo wie
bey einem halbkraiſigten Bogen ſeyn. Da-
her hat die Widerlage beym gothiſchen Bo-
gen mehr Sicherheit als beym roͤmiſchen;
hergegen in der Mitte zwiſchen der Wider-
lage und dem Schluſſe verhaͤlt ſich’s umge-
kehrt, z. B. wenn man auf den Schluß des
gothiſchen Bogens ein Gewicht von 300000
Pfund legen wollte, ſo wuͤrde der waagrechte
Druck gegen den dritten Theil des Bogens
ungefehr gleich 150000 Pfund ſeyn, beym
roͤmiſchen hingegen nur 120000 Pf. Nun
nehmen de la Hire und Belidor als einen Er-
fahrungsſatz an, daß die Boͤgen und Gewoͤlbe
insgemein zwiſchen dem Schluſſe und der
Widerlage reiſſen: daher pflegt man auch die
eiſernen Klammern gegen den dritten Theil
des Bogens zu, anzubringen. Da nun der
gothiſche Bogen zwiſchen dem Schluſſe und
der Widerlage ſchwaͤcher iſt, wo doch die
Gefahr zu reiſſen groͤſſer, ſo kann man ihn
dem roͤmiſchen nicht vorziehn, und die deut-
ſchen Baukuͤnſtler haben alſo damit nicht nur
der Schoͤnheit, ſondern auch der Staͤrke und
Feſtigkeit der Gebaͤude Eintrag gethan. Ja
ſie gaben nicht nur den Bogen uͤberhaupt eben
nicht ihre ſchoͤnſte und angenehmſte Geſtalt,
ſondern ſie waren noch dazu darinnen unvor-
ſichtig,
[145] ſichtig, daß ſie ſie beſchwerten, ohne vorher
zu befeſtigen und hinreichend zu ſichern. Die
roͤmiſchen Architekten waren hingegen in dieſem
Stuͤcke ungemein beſorgt. Nach dem Vitruv
muͤſſen die Saͤulen der Winkel und Seiten
eines Tempels alſo eingerichtet werden, daß
ſie inwendig, nach der Mauer der Tempelcelle
zu, bleyrecht ſtehn, und ſich nur von auſſen
oberwaͤrts einziehen. Philander ſagt, die
nur von auſſen angebrachte Einziehung der
Saͤulen aufwaͤrts nach dem Knaufe zu, koͤnne,
beſonders wenn es darauf ankomme, einen
Seitendruck zu unterſtuͤtzen, in der Ausuͤbung
von groſſen Nutzen ſeyn, ob ſie gleich vielleicht
dem Auge mißfallen moͤge. Hierinnen waren
auch St. Gallo und die beſten Baukuͤnſtler
ſeiner Zeit mit ihm einerley Meinung. Pal-
ladio fuͤhrt an, die Saͤulen im antiken Tem-
pel zu Tivoli, der nach der gemeinen Meinung
der Veſta gewidmet geweſen, haben dieſe Ei-
genſchaft gehabt. Beym Tambur der Kup-
pel der Peterskirche, welchen Buonarotti
angegeben hat, ſcheint eben dieſe Regel zum
Grunde zu liegen.
Mit dieſen ſo einfachen Kautelen waaten’s
daher die alten Baukuͤnſtler ihre Gewoͤlbe
aufzufuͤhren. Das Gewoͤlbe des Pantheons
war in der Mitte offen, die uͤbrigen Tempel
mit runden und geſchloſſenen Daͤchern hatten
Kim
[146] im Schluſſe eine Blume, ſo groß als der
Knauf auf den Saͤulen, ohne die Pyramide.
(Vitruv 4. B. 7. K.) Die Tempel von die-
ſer Art hatten daher wenigſtens ein abgeſtutz-
tes oder halbes Gewoͤlbe. Da ſich Vitruv
aber nicht weiter daruͤber erklaͤrt hat, ſo
kann man nicht eigentlich ſagen, was die
Blume und die Pyramide geweſen ſey. Dem
ungeachtet hat der Marcheſe Galiani die Py-
ramide als einen kleinen Zierrath abzeichnen
laſſen, der die Mitte der Blume ausfuͤllte,
weil er vielleicht einige Spuren davon auf
Schaumuͤnzen angetroffen haben mochte. Die
Baumeiſter der Sophienkirche und andrer
alten Kirchen in Konſtantinopel haben die
Kuppeln geſchloſſen gelaſſen, und nicht noch
mit andern Laſten in der Mitte beſchwert.
Jn der Rotonda, die zu Theodorichs Zeiten
zu Ravenna erbauet worden, iſt die Kuppel
zwar ganz in einem Stuͤcke, aber es iſt doch
keine Kuppoline darauf angebracht worden.
Vor tauſend Jahren fingen die griechiſchen
Baumeiſter erſt an, oben auf die Kuppel der
Marcuskirche zu Venedig einige Werke in
Geſtalt von kleinen Kuppolinen zu ſetzen.
Beym Dome zu Piſa, dem zu Siena und den
Kirchen des Antonius und Juſtinus zu Padua,
wie auch in vielen andern, welche gleichfalls
vor tauſend Jahren erbauet worden ſind, en-
digen
[147] digen ſich die Kuppeln in einen Knopf
und kleine Zierrathen. Jn neuern Zeiten
hat Bramantes die Kuppel der Peterskirche
mit keinen kleinern beſchwert. Einige Kup-
peln von gothiſcher Banart, z. B. die auf
der Johanniskirche zu Monza, ſchlieſſen ſich
in der Mitte in antikem Geſchmacke. Die
zu Clairvaux, welche achtwinkelicht iſt, und
16½ Elle in der Laͤnge, und 14 in die Breite
hat, traͤgt einen Thurm von Mauerwerk von
9¾ Ellen Laͤnge, und 9 Ellen Breite. Die-
ſer Thurm hat 31 Ellen zur Hoͤhe und 1 Elle
zur Dicke der Mauer, und endigt ſich endlich
in eine Pyramide von 18 Ellen Hoͤhe. Es
iſt in der That ſehr ſeltſam, daß man auf
einem ſo ſchwachen Theil des Gebaͤudes, als
die Oefnung einer Kuppel im Schluſſe iſt,
noch einen Thurm aufgefuͤhrt hat. Wofern
ſich aber auch der Eigenſinn des Baumeiſters
in dieſer Beſonderheit nicht entſchuldigen
lieſſe: ſo muß man ihm doch fuͤr die Geſchick-
lichkeit, vermoͤge welcher er mit dem Durch-
meſſer des Thurms nicht mehr als ein Drit-
theil vom Durchmeſſer der Kuppel ausge-
fuͤllet hat, wiederum Gerechtigkeit wiederfah-
ren laſſen. Denn auf dieſe Art wird der
waagrechte Druck auf die untern Punkte viel
kleiner, als wenn die ganze Laſt des Thurms
einen kleinen Theil der Kuppel zur Baſe haͤtte:
K 2ein
[148] ein Satz, der eben ſo gut als alles vorherge-
hende zu beweiſen ſtuͤnde. Brunelliſcht und
Buonarotti wolten der groſſen Kuppel zu
Rom und Florenz mit verhaͤltnißmaͤſſigen
Laternen, die nach ihrem Tode auch wuͤrklich
noch aufgefuͤhrt worden ſind, mehr Licht ge-
ben. Vaſari ſchreibt in Brunelliſchi’s Le-
ben, dieſer Baumeiſter habe in ſeinem letzten
Willen verordnet, man ſolle die Laternen des
Doms in Florenz vollenden, oder das ganze
Gebaͤude zu Grunde richten. Denn da das
Gewoͤlbe ſpitzig, ſo ſey es ſchlechterdings noͤ-
thig, daß noch eine Laſt daruͤber aufgefuͤhrt
werde, wodurch es ſeine Veſtigkeit erhalte.
Darauf gruͤndet ſich das Vorurtheil das
einige haben, daß die Laſt der Laterne die
Veſtigkeit der Kuppel verſtaͤrke, Die drey
Mathematiker aber, welche uͤber die Kuppel
der Peterskirche geſchrieben haben, haben
bereits bemerkt, es ſey eine ausgemachte
Wahrheit, daß die Laternen in allen Arten
von Kuppeln den Seitendruck und folglich die
Gefahr des Einſturzes betraͤchtlich vermeh-
ren. Aus der Erfahrung wiſſen wir auch,
wie die Kuppel zu Florenz und die uͤber der
Peterskirche ſchon wuͤrklich gelitten haben,
imgleichen wie noch zwoͤlf andre Kuppeln in
Rom von der Laſt der Laternen beſchaͤdigt
worden ſind; da man hingegen doch nicht er-
fahren
[149] fahren hat, daß die Kuppel von St. Peter
in Montorio, worauf Bramantes keine La-
terne geſetzt, irgend etwas gelitten habe.
Aepinus hat in den Schriften der berliniſchen
Akademie der Wiſſenſchaften von 1755. die
vortheilhafteſte Figur einer Unterlage, welche
ſich auswaͤrts mit einer geraden Linie endigt,
beſtimmt, und bey dieſer Gelegenheit die
Grundſaͤtze angegeben, woraus ſich erweiſen
laͤßt, daß Michael Angelo der Kuppel auf
der Peterskirche dadurch eine groſſe Feſtig-
keit verſchaft, daß er ſie auf eine Atticke ge-
ſtuͤtzt, die Atticke aber auf ein weites ausge-
dehntes Gewoͤlbe, welches auf einer noch
groͤſſern Baſe ruht, und 16 Widerlagen,
jede aus 2 Saͤulen, hat. Ja es erhellet,
daß dieſe Feſtigkeit viel groͤſſer iſt, als bey
irgend einer gothiſchen Kuppel. Denn da
die gothiſchen Kuppeln mehr als die auf
St. Peter beſchwert ſind, dabey aber weder
Flanken noch Wiederlagen haben, und ſich
gegen die Grundflaͤche zu mehr einwaͤrts ge-
ben: ſo darf man ſich gar nicht wundern, daß
dieſe Kuppeln viele Riſſe haben, wovon
manche durch viele aͤuſſere Steine von der
Hoͤhe in die Tiefe gehn, daß ſelbſt einige
Steine in kleine waagrechte Stuͤcke zerbro-
chen ſind, und daß bisweilen gegen den dritten
Theil der gothiſchen Boͤgen, wo der waag-
K 3rechte
[150] rechte Druck groͤſſer iſt, einige Klammern
aus einander gehn.
Belidor und de la Hire haben in den an-
gezeigten Stellen die Gruͤnde zur Berechnung
aller Momente des Drucks und Widerſtands
in jeder Art von Gewoͤlben aus einander ge-
ſetzt. Sie erwaͤgten naͤmlich, daß ein Ge-
woͤlbe nur in 3 Stellen reiſſen koͤnnte, als
entweder in der Baſe, wenn ſich die innere
Seite der Widerlage auswaͤrts beugte, oder
da wo es aufliegt, indem ſich daſelbſt das
ganze Gewoͤlbe aus einander gaͤbe, oder ge-
gen die Spitze indem ſich der Schluß loͤſete,
und die Laterne ſenkte. Doch laͤßt ſich’s nur
auf die Gewoͤlbe von gemeinem Mauerwerke
einſchraͤnken, und die muͤſſen davon ausge-
nommen werden, welche aus keilfoͤrmig ge-
hauenen Steinen aufgefuͤhrt ſind. Ob dabey
nun gleich auch nach der Unterlage zu ein
Riß moͤglich iſt, ſo laͤßt ſich derſelbe doch duͤrch
einen geringen Druck von innen gegen die
Keile, welche von auſſen anfangen muͤſſen,
ſich aus einander zu geben, verhindern. Der
Stein laͤßt ſich ſeiner Natur nach freylich
einigermaaſſen zuſammen druͤcken. Aus
Muſchenbroecks Erfahrungen ſieht man, daß
ſich derſelbe in der Waͤrme ausdehnt, und
in der Kaͤlte wieder zuſammen zieht. Auch
aus Mariotte’s Beobachtungen ergiebt ſich
dieſe
[151] dieſe Eigenſchaft des Steins. Als man ſtei-
nerne Kugeln auf Amboſſen, die man mit
Talg beſtrichen hatte, unter den Hammer
brachte, ſpreiteten ſie ſich und lieſſen auf der
Oberflaͤche des Talgs weite kraisrunde Ein-
druͤcke. Nach den Bemerkungen der drey
bereits angefuͤhrten beruͤhmten Mathematiker
glaubt man, daß der Bogen und die Atticke
von St. Peter aus keiner andern Urſache ge-
borſten ſeyn, als weil die Steine zu ſehr zu-
ſammengedruckt worden. Freylich aber laͤßt
ſich dem ungeachtet aus dieſer Eigenſchaft
des Steins keine Ausnahme wider das Sy-
ſtem des Belidor und de la Hire machen.
Als dieſe Mathematiker fanden, daß der
Widerſtand zehnmal groͤſſer ſeyn muͤßte als
der Druck, wofern ſich der Bogen von St.
Peter oberwaͤhnter Maaſſen gegen den aͤuſſern
Winkel der Baſe haͤtte drehen ſollen, dennoch
aber der Augenſchein ergab, wie ſehr die Kup-
pel gelitten hatte: ſo geriethen ſie auf die
Vermuthung, daß vielleicht neue Riſſe da
ſeyn koͤnnten, wobey der innere Winkel haͤtte
unbeweglich bleiben, und ſich der Druck doch
nach den aͤuſſern Winkel neigen koͤnnen, und
der Bogen aus einander gehn muͤſſen. Auf
dieſe Art waͤren die Riſſe freylich viel leichter
als auf die erſte. Denn im Falle der Mittel-
punkt der Bewegung im aͤuſſern Winkel
K 4waͤre,
[152] waͤre, ſo muͤßte der Schwerpunkt des Bogens
ſteigen, im entgegen geſetzten Falle aber ſich
ſenken, und es waͤre alſo im zweiten Falle viel
weniger Kraft noͤthig als im erſten. Wenn
man nun dieſe zwote Hypotheſe zum Grunde
legt, und demnach annimmt, daß ſich uͤbri-
gens alle Widerlagen des Bogens der Kup-
pel von St. Peter losgegeben haͤtten, ſo waͤre
der Widerſtand doch nur um einen Drittheil
geringer als der Druck. Andere Schriftſtel-
ler bemerken darum vortreflich, ſo eine Ba-
lance des Drucks und Widerſtands muͤſſe in
dieſem Falle nicht die Urſache warum ſich die
Widerlagen losgegeben haͤtten, ſondern eine
Folge davon geweſen ſeyn; das iſt, dieſe
Balance muͤſſe erſt erfolgt ſeyn, nachdem ſich
die Widerlagen losgegeben. Nach der an-
dern Hypotheſe hingegen muͤßte der Wider-
ſtand, wenn die Widerlagen noch mit dem
Bogen verbunden geweſen, groͤſſer, und alle
Bewegungen gegen den aͤuſſern Winkel der
Baſe unmoͤglich geweſen ſeyn. Und deswe-
gen waren ſie der Meinung, man muͤſſe noch
eine dritte ganz andere Hypotheſe annehmen,
woraus der Riß der Widerlagen und die er-
ſten Verletzungen der Kuppel uͤberhaupt zu
erklaͤren waͤren.
Jch, meiner ſeits, halte dafuͤr, daß Kuppeln
und Gewoͤlbe auf tauſend andre Arten leiden
koͤnnen.
[153] koͤnnen. Belidor faͤngt in ſeiner Jngenieur-
wiſſenſchaft Nr. 13. B. 1. dieſe Lehre damit
an, daß er Mauren annimmt, deren Theile
in ſich mit einander verbunden und ſo unzer-
trennlich ſind, daß man zwar die Mauer ſelbſt
durch irgend eine Kraft umſtuͤrzen, aber nicht
von einander reiſſen kann. Von da aus geht
er in ſeiner Betrachtung zu dem Falle, wor-
auf de la Hire ſeine Hypotheſe gruͤndet, fort,
daß ſich nemlich die ganze Unterlage um den
aͤuſſern Winkel der Baſe drehe. Jch muß
aber hier bemerken, daß eine zu groſſe Laſt
die Steine zerdruͤckt und in Stuͤcken ſprengt,
wie man an uͤberladenen Kuppeln ſieht. Mit
zunehmenden Drucke breiten ſich die zerbro-
chenen Steine aus, und die Stuͤcke verviel-
faͤltigen ſich noch auf tauſenderley Weiſe; und
dermaaſſen kann eine Kuppel bald ſo, bald ſo,
leiden. Belidor’s und de la Hire’s Hypo-
theſen ſind dem Widerſtande der Gewoͤlbe ſehr
guͤnſtig, und ihnen zufolge kan man freylich
leicht beweiſen, daß einige gothiſche Kuppeln
ſo ſchwache Widerlagen haben, ſo ſehr gegen
die Baſe eingezogen und beſonders im Schluſſe
ſo uͤberladen ſind, daß jedes Moment des
horizontalen Drucks, indem es mit ſeiner
ganzen Laſt auf den dritten, ihm zur Unterlage
dienenden, Theil des gothiſchen Bogens wirkt,
groͤſſer iſt, als jedes Moment des Widerſtands;
K 5und
[154] und man ſich daher gar nicht zu verwundern
hat, daß dadurch auch manche Klammer ge-
borſten iſt und man ſo oft Riſſe und Spalten
ſieht.
Man muß freylich nicht glauben, daß die
vielen dicken eiſernen Klammern, womit das
gothiſche Mauerwerk in das Kreuz und in
die Quere befeſtigt wird, die Schwaͤche der
Bogen hinreichend erſetze, oder wohl gar
noch groͤſſere Laſten erhalten kann. Denn
erſtlich zieht die Kaͤlte das Eiſen zuſammen
und die Waͤrme dehnt es aus; und denn muͤſ-
ſen ſolche Klammern, die ſchon geſpannt und
ſehr beſchwert ſind, allein wegen der Veraͤn-
derung der Witterung nachgeben. Davon
koͤnnte ich viele Beyſpiele anfuͤhren. Zwey-
tens gruͤnden ſich die Rechnungen uͤber die
Staͤrke der Klammern auf zuverlaͤßig irrige
Grundſaͤtze: denn man nimmt an, daß die
Staͤrke des Eiſens in Verhaͤltniß zu ſeiner
Dicke zunehme, da doch nach van Muſchen-
broecks Verſuchen zu Eiſendrathen von 1, 2,
3, 4. Dicke die Gewichte 130, 230, 310, 450.
erfordert wurden, und folglich in geringern
Verhaͤltniß als die Dicke zunahmen. Und
endlich iſt es immer auch ſehr unſchicklich,
daß die Theile eines groſſen Gebaͤudes von
eiſernen Drathen und Klammern zuſammen
gehalten werden ſollen.
Jch
[155]
Jch kann hier einen ſchoͤnen Ausſpruch
des Vignola nicht mit Stillſchweigen uͤber-
gehn. Pellegrini hatte einen Taufſtein in
viereckigter Geſtalt mit vier Saͤulen von wei-
chem Steine auf erhabenen Piedeſtalen uͤber
zwoͤlf Model weit von einander auffuͤhren
laſſen. Martin Baſſo warf ihm daruͤber
vor, daß ſo groſſe Saͤulenweiten wider alle
Lehre Vitruvs und wider alle Beyſpiele lie-
fen, die man noch an den Tempeln Apolls,
Dianens, Vulkans u. d. ſehen koͤnnte. Pel-
legrini ſah den Fehler ein und ſchlug daher
vor, den Taufſtein durch eiſerne Klammern,
durch die er eine Saͤule mit der andern ver-
binden wollte, ſicher zu ſtellen. Die beruͤhm-
teſten Architeckte gaben dem Baſſo Recht.
Palladio meynte, man muͤſſe den Taufſtein
achteckigt oder kraisrund machen; dazu koͤnn-
ten die Saͤulen von joniſcher, nicht aber ko-
rinthiſcher Ordnung ſeyn. Vignola hielt die
Zuflucht zu Klammern nicht fuͤr gut; denn
ſie hoͤbe den wahren Fehler nicht, urtheilte
er, ſondern ſie gaͤben nur eine ſcheinbare
Staͤrke. Bey dieſer Gelegenheit ſagte er,
wohl angelegtes Mauerwerk muͤſſe ſich ſelbſt
tragen und nicht angehaͤngt werden. Eben
dieſe Architeckten und Baſſo mißbilligten auch
Pellegrins Gedanken, den Boden des Chors
im Dom zu Mayland etwa vier Ellen uͤber
den
[156] den Boden der Kirche zu erhoͤhen, und ſchief
und abhaͤngend zu machen. Auch waren ſie
wider die Jdee von einem unterirdiſchen Tem-
pel, der an Geſtalt, Ordnung und Diſpoſi-
tion dem uͤbrigen nicht entſpraͤche, ſondern
kralsrund ſeyn und acht Kolonnen Doriſcher
Ordnung nahe gegen den Mittelpunkt zu, von
den Kolonnen aber bis zum Umfange einen
Raum, der eben ſo breit als hoch waͤre, ha-
ben ſollte. Baſſo war unſtreitig ein vortref-
licher Architeckt. Er hat in Mayland unge-
meine Gebaͤude und beſonders die St. Lorenz-
kirche hinterlaſſen. Dieſe wird man gewiß
jederzeit mit Erſtaunen betrachten, ob ſie
gleich auch nicht ohne alle Fehler iſt, als
z. B. daß die Kuppel acht ungleiche Seiten
hat. Die gothiſchen Kuppeln ſind in dieſem
Stuͤcke meiſtens fehlerhaft, ſie ſind ordinair
achtwinkligt und ruhen auf einer quadrati-
ſchen Baſe von vier Gewoͤlben, daher kor-
reſpondiren auch die acht Winkel des Achtecks
mit dem leeren Raum der vier untern Ge-
woͤlbeboͤgen und die Fenſteroͤfnungen mit den
Tafeln der Saͤulen.
Caͤſar Caͤſarini mißbilligt die Jdee, ein
Oktogon auf ein Quadrat zu ſetzen, gaͤnzlich.
(ſ. die Anmerk. zu Vitruvs erſtem Buche,
2ten Abſchn.) Der Jngenieur Buſka hat
daruͤber bereits 1597 in einer Schrift aller-
ley
[157] ley ſchoͤne Betrachtungen angeſtellt. Wer
gut und ſicher bauen will, muß alles bley-
recht uͤber den wahren und veſten Grund auf-
fuͤhren: ſonſt werden ſeine Anlagen in der
That keinen Grund haben. Die Ribben,
Nerven und Knochen eines Gewoͤlbes ſind
nichts anders als Aeſte von Baͤumen, welche
ſich in der Mitte zuſammen geben. Ob ſie
ſich nun gleich woͤlben, ſo ruht und druͤckt ein
jeder doch allein auf den Stamm, woraus er
hervor gewachſen iſt. Jedermann ſieht frey-
lich die Wahrheit dieſes Satzes ein und den-
noch weiß ſich Niemand darnach zu richten.
Alle gruͤnden die Kuppeln ohne Urſache und
wider alle gute Regeln und Beyſpiele der Al-
ten in die Luft. Und das kommt insgemein
daher, daß man einen quadratiſchen Grund
macht und darauf doch ein rundes oder acht-
ſeitiges Gebaͤude errichten will. Es iſt eben
ſo, als wenn man uͤber einen runden Grund
ein quadratiſches Gebaͤude auffuͤhren wollte.
Die Winkel oder die Seiten muͤſſen daher
nothwendig uͤber den Grund herausgehn.
Die meiſten Kuppeln u. ſ. w. Man ſieht
alſo, daß die gothiſche Baukunſt weder fuͤr
die wahre noch fuͤr die ſcheinbare Feſtigkeit
hinreichend geſorgt hat, ſonſt haͤtte ſie das
Volle uͤber dem Vollen und das Leere unter
dem Leeren anbringen muͤſſen.
Eben
[158]
Eben dieſer Fehler faͤllt auch bey allen
wunderlichen kleinen gothiſchen Zierrathen,
die die Witterung allein ſchon verdirbt, und
bey den Statuͤen, die uͤber den obern Fenſter-
bogen, wie in der Luft haͤngen, in das Au-
ge. Der einzige Werth, den man dieſen Ge-
baͤuden noch zugeſtehn koͤnnte, wuͤrde in ih-
rer ungeheuren Groͤſſe, in der Weite der
Boͤgen, im Verbauen der Ribben der Schiffe
und in den guten Verhaͤltniſſen der vornehm-
ſten Glieder der Pfeiler, Saͤulen und Logen
beſtehn: die Saͤulenweiten ſind hingegen ins-
gemein zu groß, ſo wie man Beyſpiele in den
remplis diaſtylis der Alten antrift, als im
Tempel des Apoll und der Diana. Jn dem
Dome zu Mayland verdient noch der Fußbo-
den und die Vorderſeite vieles Lob. Sie iſt
von Pellegrini gezeichnet und vom H. Karl
genehmigt worden; der Kardinal Friedrich
hat angefangen, ſie unter des Baſſo Aufſicht
bauen zu laſſen. Pellegrini hat dabey gerade
das Mittel zwiſchen der gothiſchen und grie-
chiſchen Manier getroffen; eben ſo wie Vig-
nola und Julio Romano die Vorderſeite zu
St. Petron zu Bologna und Bramante zu
Certoſa zu Padua gezeichnet hatten. Mit
dieſen Gruͤnden laſſen ſich die verſchiedenen
Urtheile der Baumeiſter und Reiſenden uͤber
dieſes erſtaunliche Gebaͤude vereinigen. Caͤ-
ſar
[159] ſar Caͤſarini (bey der Anmerk. zum 2ten Ab-
ſchn. des erſten B. von Vitruv) hat den
Grundriß und Aufriß des Doms zu Mayland
und der Vorderſeite, die die erſten Architeckte
dazu beſtimmt hatten, aufbehalten. Er fin-
det den Grundriß den guten Regeln gemaͤß,
und ſagt, dies iſt gleichſam die Regel, deren
ſich die deutſchen Architeckte bey der Kirche
Baricefala zu Mayland bedient haben. Der
Ritter Georg Vaſari ſchreibt im Leben des
Nikkolo und Joannes aus Piſa: Viele legten
ſich zu Nikkolo’s Zeiten aus edler Eiferſucht
mit vielem Fleiſſe auf die Bildhauerey. Das,
was vorhin nicht geſchehn. Jn Mayland
fieng ſichs beſonders an. Denn dahin waren
viele lombardiſche und deutſche Kuͤnſtler zur
Erbauung des Doms zuſammen gekommen,
die ſich aber nachher wegen der Jrrungen zwi-
ſchen dem Kaiſer Friedrich und den Maylaͤn-
dern in Jtalien umher zerſtreueten. Nun-
mehr fiengen die Kuͤnſtler an, mit einander
ſowohl in der Bildhauerey als in der Bau-
kunſt zu wetteifern.
Jm 6ten Abſchnitte des 1ſten Theils im
1ſten Buche des Stamozzi heißt es: Gegen
die beſſere Zeit des 15ten Jahrhunderts trat
Bramante von Urbino auf und fieng an, die
Fehler zu ruͤgen, die Bernardino und Caͤſare
Caͤſarini beym Dome zu Mayland begangen
hat-
[160] hatten. (Ferner im 18ten Abſchn.) Konnte
wohl ein Koͤnig und ſelbſt ein Kaiſer etwas
Groͤſſers unternehmen, als 1387, nachdem
Jtalien wieder zur Freyheit gelanget, Joann
Galeazzo, Herzog von Mayland, unternahm,
ich meyne die Erbanung des Doms, der an
Groͤſſe, Vortreflichkeit der Steine, Menge der
Bildhauerey und des Schnitzwerks, jedem an-
dern Tempel, den irgend die Griechen oder Roͤ-
mer aufgefuͤhrt haben, gleich geachtet werden
kann? Aber er ſieht doch nicht anders aus, als
ein durchbrochenes Gebirge von Steinen und
andern Bauzeuge, das zugerichtet, aber unor-
dentlich durch einander zuſammen gethuͤrmt
worden iſt; denn es mangelt der Erfindung an
Schoͤnheit und allgemeiner Form, an Harmo-
nie, den Theilen und Gliedern an Verbindung;
alles iſt ſchwach und, gleich als ob es nicht zu-
ſammen gehoͤrte, von einander getrennt. Da-
her iſt es auch unmoͤglich geweſen, ſowohl die
Vorderſeite als den uͤbrigen Theil des Gebaͤu-
des bis zum Dache und die Kuppel auf eine nur
ertraͤgliche Weiſe auszufuͤhren. Zwar fanden
noch Pelegrini und Baſſi am Ende ein Mittel,
die Vorderſeite zu Stande zu bringen.
Blondel ſagt im 1ſten Abſchnitte ſeiner Ar-
chitecktur S. 1. die gute Architecktur ſey nach
den Einfaͤllen der Barbaren lange Zeit unter
den Ruinen der alten Gebaͤude verborgen ge-
blie-
[161] blieben, und habe jener ungeheuern unertraͤg-
lichen Manier, die noch zu unſerer Vaͤter Zei-
ten unter dem Namen der gothiſchen Baukunſt
gewoͤhnlich geweſen, Platz gelaſſen. Jm 16ten
Abſchnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt
er, die gothiſchen Gebaͤude haͤtten, im Ganzen
genommen, doch lauter Verhaͤltniſſe nach den
Regeln der Kunſt, und man koͤnne mitten unter
den vielen kleinen ſchlechten Zierrathen, womit
ſie uͤberhaͤuft waͤren, dennoch ihre Symmetrie
nicht verkennen. Zum Beweiſe fuͤhrt er im fol-
genden Abſchnitte die alte Zeichnung der Vor-
derſeite, welche von Caͤſarini erhalten worden
iſt, an.
Barattieri ſchrieb 1651 in ſeiner Abhand-
lung von der Verzierung des Doms: der Er-
finder habe in ſeinem Gehirne ein Chaos gothi-
ſcher Bizarrerie erſchaffen. Faſt gleichergeſtalt
behauptet der beruͤhmte Vanritelli, es ſey un-
ter allen Leuten von geſundem Urtheile ausge-
macht, daß die gothiſche Manier, ſowohl in An-
ſehung der Kapitaͤle als der Saͤulen ſelbſt und
aller andern Verzierungen allein von dem Ver-
fall der guten Baukunſt ihren Urſprung habe,
und waͤre die gute Baukunſt nicht verfallen, ſo
wuͤrde man gewiß auch den Dom nicht haben.
Aber von den Mathematikern auf Reiſebe-
ſchreiber zu kommen, muß ich anfuͤhren, daß
Miſſon, Pomponne und viele andre den Bo-
Lden
[162] den im Dom weit uͤber den in St. Peter erhe-
ben. Addiſon erzaͤhlt, dieſes erſtaunliche Ge-
baͤude ſey bis auf den Giebel von Marmor, und
ſelbſt der wuͤrde davon gemacht worden ſeyn,
wenn man den Stein nicht fuͤr zu ſchwer dazu
gehalten haͤtte. Freylich iſt dieſe Nachricht mit
noch einigen andern Nebendingen ganz aus
dem Nartiniere genommen. Mit der Stelle
aus der Reiſe eines beruͤhmten Schweitzers
will ich ſchlieſſen: Viele Theile, ſagt er, ver-
fallen vor Alter ſchon wieder, da doch die an-
dern noch nicht einmal fertig ſind. Man ver-
zoͤgert auf das Portal zu denken und arbeitet
einſtweilen an ungeheuren durchbrochenen Py-
ramiden, die man auf jeden Pfeiler anbringen
will, man macht Statuͤen und das Gebaͤude
hat ihrer doch ſchon innen und auſſen viele
tauſend, man macht kleine Genien und Ver-
zierungen fuͤr gewiſſe Oeffnungen, wodurch
ſich die obern Theile kommuniciren, mit eben
der Feinheit, von welcher die auserleſene
Goldſchmiedearbeit iſt, welche man wider alle
Erwartung hier antrift. Bis auf u. ſ. w.
V. Deut-
[[163]]
V.
Deutſche Geſchichte.
L 2
[[164]][165]
V.
Deutſche Geſchichte.*)
Die Geſchichte von Deutſchland hat mei-
nes Ermeſſens eine ganz neue Wendung
zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigen-
thuͤmer, als die wahren Beſtandtheile der Na-
tion durch alle ihre Veraͤnderungen verfolgen;
aus ihnen den Koͤrper bilden und die groſſen
und kleinen Bediente dieſer Nation als boͤſe
oder gute Zufaͤlle des Koͤrpers betrachten.
Wir koͤnnen ſodenn dieſer Geſchichte nicht al-
lein die Einheit, den Gang und die Macht
der Epopee geben, worinn die Territorialho-
heit und der Deſpotismus zuletzt die Stelle
einer gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Aufloͤ-
ſung vertritt; ſondern auch den Urſprung,
den Fortgang und das unterſchiedliche Ver-
haͤltniß des Nationalcharakters unter allen
Beraͤnderungen mit weit mehrerer Ordnung
und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir
blos das Leben und die Bemuͤhungen der
Aerzte beſchreiben, ohne des Kranken Koͤr-
pers zu gedenken. Der Einfluß, welchen
Geſetze und Gewohnheiten, Tugenden und
L 3Feh-
[166] Fehler der Regenten, falſche oder gute Maaß-
regeln, Handel, Geld, Staͤdte, Dienſt, Adel,
Sprachen, Meynungen, Kriege und Ver-
bindungen auf jenen Koͤrper und auf deſſen
Ehre und Eigenthum gehabt; die Wendun-
gen, welche die geſetzgebende Macht, oder die
Staatseinrichtung uͤberhaupt bey dieſen Ein-
fluͤſſen von Zeit zu Zeit genommen; die Art,
wie ſich Menſchen, Rechte und Begriffe al-
maͤhlich gebildet; die wunderbaren Engen und
Kruͤmmungen, wodurch der menſchliche Harg
die Territorialhoheit empor getrieben und die
gluͤckliche Maͤßigung, welche das Chriſter-
thum, das deutſche Herz, und eine der Frey-
heit guͤnſtige Sittenlehre gewuͤrket hat, wuͤrde
ſich, wie ich glaube, ſolchergeſtalt in ein voll-
kommenes fortgehendes Gemaͤhlde bringen
laſſen und dieſem eine ſolche Fuͤllung geben,
daß der Hiſtorienmahler alle uͤberfluͤßige
Grouppen entbehren koͤnnte.
Dieſe Geſchichte wuͤrde vier Hauptperioden
haben. Jn der erſten und guͤldnen war noch
mehrentheils jeder deutſcher Ackerhof mit ei-
nem Eigenthuͤmer oder Wehren beſetzt; kein
Knecht oder Leut auf dem Heerbannsgute ge-
feſtet; alle Freyheit, als eine ſchimpfliche
Ausnahme von der gemeinſamen Vertheidi-
gung verhaßt; nichts als hohe und gemeine
Ehre in der Nation bekannt; niemand auſſer
dem
[167] dem Leut oder Knechte einem Herrn zu folgen
verbunden; und der gemeine Vorſteher ein
Erwaͤhlter Richter, welcher bloß die Urtheile
beſtaͤtigte, ſo ihm von ſeinen Rechtsgenoſſen
zugewieſen wurden. Dieſe guͤldne Zeit dau-
rete noch guten Theils, wiewohl mit einer
auf den Hauptzweck ſchaͤrfer anziehenden Ein-
richtung unter Carln dem Groſſen. Carl
war aber auch der einzige Kopf zu dieſem an-
tiken Rumpfe.
Die zweyte Periode ging allmaͤhlig unter
Ludewig dem Frommen und Schwachen an.
Jhm, und den unter ihm entſtandenen Par-
theyen war zu wenig mit Bannaliſten, die
bloß ihren Heerd und ihr Vaterland bey eig-
ner Koſt und ohne Sold vertheidigen wollten,
gedienet. Er opferte aus Einfalt, Andacht,
Noth und falſcher Politik ſeine Gemeinen den
geiſtlichen Bedienten und Reichsvoͤgten auf.
Der Biſchoff, welcher vorhin nur zwey Heer-
maͤnner ad latus behalten durfte, und der
Graf oder Oberſte, der ihrer vier zum Schutze
ſeines Amts und ſeiner Familie beurlauben
konnte, verfuhren mit dem Reichsgute nach
Gefallen, beſetzten die erledigten manſos
mit Leuten und Knechten, und noͤthigten die
Wehren, ſich auf gleiche Bedingungen zu er-
geben. Henrich der Vogler ſuchte zwar bey
der damaligen allgemeinen Noth das Reichs-
L 4eigen-
[168] eigenthum wieder auf; und ſtellete den Heer-
bann mit einigen Veraͤnderungen wieder her.
Allein Otto der Groſſe ſchlug einen ganz an-
dern Weg ein und gab das gemeine Guth
denjenigen Preiß, die ihm zu ſeinen auswaͤr-
tigen Kriegen einige glaͤnzende und wohlge-
uͤbte Dienſtleute zufuͤhrten. Jhm war ein
Ritter, der mit ihm uͤber die Alpen zog, lie-
ber als tauſend Wehren, die keine Auflagen
bezahlten, und keine andre Dienſtpflicht, als
die Landesvertheidigung kannten. Seine
Groͤſſe, das damalige Anſehn des Reichs
und der Ton ſeiner Zeiten machten ihn ſicher
genug zu glauben, daß das deutſche Reich
ſeines Heerbanns niemals weiter noͤthig ha-
ben wuͤrde. Und ſo wurde derſelbe voͤllig
verachtet, gedruckt und verdunkelt. Der
Miſſus oder Heerbannscommiſſarius, wel-
cher unter Carln den Groſſen allein die Ur-
laubspaͤſſe fuͤr die Heermaͤnner zu ertheilen
hatte, verlohr ſein Amt und Controlle. Com-
miſſariat und Commando kam zum groͤßten
Nachtheil der Landeigenthuͤmer und der erſten
Reichsmatrikel in eine Hand.
Jn der dritten Periode, welche hierauf
folgte, iſt faſt alle gemeine Ehre verſchwun-
den. Sehr wenige ehrnhafte Gemeinen
haben noch einiges Reichsguth in domino
quiritario. Man verliert ſogar den Namen
und
[169] und den wahren Begriff des Eigenthums,
und der ganze Reichsboden verwandelt ſich
uͤberall in Lehn-Pacht-Zins- und Bauerguth,
ſo wie es dem Reichsoberhaupte, und ſeinen
Dienſtleuten gefaͤllt. Alle Ehre iſt im Dienſt;
und der ſchwaͤbiſche Friedrich bemuͤhet ſich
vergeblich, der Kaiſerlichen Krone, worin ehe-
dem jeder gemeiner Landeigenthuͤmer ein Klei-
nod war, durch bloſſe Dienſtleute ihren alten
Glanz wieder zu geben. Die verbundene
Staͤdte und ihre Pfalbuͤrger geben zwar der
Nation Hoffnung zu einem neuen gemeinen
Eigenthum. Allein die Haͤnde der Kaiſer
ſind zu ſchwach und ſchluͤpfrich, und anſtatt
dieſe Bundesgenoſſen mit einer magna
Charta zu begnadigen, und ſich aus allen
Buͤrgen und Staͤdten ein Unterhaus zu er-
ſchaffen, welches auf ſichere Weiſe den Un-
tergang der ehmaligen Landeigenthuͤmer wie-
der erſetzt haben wuͤrde, muͤſſen ſie gegen ſol-
che Verbindungen und alle Pfalbuͤrgerſchaft
ein Reichsgeſetze uͤbers andre machen. Ru-
dolph von Habsburg ſieht dieſen groſſen
Staatsfehler wohl ein, und iſt mehr als ein-
mal darauf bedacht, ihn zu verbeſſern. Al-
lein Carl der IV. arbeitet nach einem dem vo-
rigen ganz entgegengeſetzten Plan, indem er
die mittlere Gewalt im Staat wieder beguͤn-
ſtiget, und Wenzels groſſe Abſichten, welche
L 5den
[170] den Reichsfuͤrſten nicht umſonſt verhaßt wa-
ren, werden nie mit gehoͤriger Vorſicht, oft
durch gehaͤßige Mittel, und insgemein nur
halb ausgefuͤhrt. Alle ſind nur darauf be-
dacht, die Dienſtleute durch Dienſtleute zu
bezaͤhmen, und waͤhrender Zeit in Daͤnne-
mark der Landeigenthum ſich wieder unter die
Krone fuͤget; in Spanien der neue Heer-
bann, oder die Hermandad der mittlern Ge-
walt mit Huͤlfe der klugen Jſabelle das Gleich-
gewichte abgewinnt; und in der Schweiz drey
Bauren gemeine Ehre und Eigenthum wie-
der herſtellen, wurde die Abſicht des Bund-
ſchuhes und andrer nicht undeutlich bezeichne-
ter Bewegungen von den Kaiſern kaum em-
pfunden. Sigismund thut etwas, beſon-
ders fuͤr die Frieſen; und Maximilian
ſucht mit allen ſeinen guten und groſſen An-
ſtalten wohl nichts weniger, als die Gemei-
nen unter der mittlern Gewalt wieder hervor
und naͤher an ſich zu ziehen. Allein ſo fein
und neu auch die Mittel ſind, deren er ſich
bedient: ſo ſcheinet doch bey der Ausfuͤhrung
nicht allemal der Geiſt zu wachen, der den
Entwurf eingegeben hatte.
Mehr als einmal erforderte es in dieſer Pe-
riode die allgemeine Noth, alles Lehn-Pacht-
Zins- und Bauerweſen von Reichswegen wie-
der aufzuheben, und von jedem Manſo den
Ei-
[171] Eigenthuͤmer zur Reichsvertheidigung aufzu-
mahnen. Denn nachdem die Lehne erblich
geworden, fielen ſolche immer mehr und mehr
zuſammen. Der Kriegsleute wurden alſo
weniger. Sie waren zum Theil erſchoͤpft;
und wie die auswaͤrtigen Monarchien ſich auf
die gemeine Huͤlfe erhoben, nicht im Stande,
ihr Vaterland dagegen allein zu vertheidigen.
Allein eine ſo groſſe Revolution waͤre das
Werk eines Bundſchuhes geweſen. Man
mußte alſo auf einem fehlerhaften Plan fort-
gehn, und die Zahl der Dienſtleute mit un-
belehnten, unbeguͤterten und zum Theil ſchlech-
ten Leuten vermehren, allerhand Schaaren
von Knechten errichten, und den Weg ein-
ſchlagen, worauf man nachgehends zu den ſte-
henden Herren gekommen iſt. Eine Zeitlang
reichten die Kammerguͤter der Fuͤrſten, wel-
che ihre Macht auf dieſe Art vermehrten, zu
den Unkoſten hin; man wußte von keinen ge-
meinen Steuren; und in der That waren
auch keine ſteuerbare Unterthanen vorhanden,
weil der Bauer als Paͤchter ſich lediglich an
ſeinen Contrakt hielte, und ſein Heer frey
war, wenn er als Guthsherr fuͤrs Vater-
land, und als Vaſall fuͤr ſeinen Lehnsherrn
den Degen zog. Die Kammerguͤter wurden
aber bald erſchoͤpft, verpfaͤndet oder verkauft.
Und man mußte nunmehr ſeine Zuflucht zu
den
[172] den Lehnleuten und Guthsherren nehmen,
um ſich von ihnen eine auſſerordentliche Bey-
huͤlfe zu erbitten; und weil dieſe wohl einſa-
hen, daß es ihre Sicherheit erforderte, ſich
unter einander und mit einem Hauptherrn zu
verbinden: ſo entſtanden endlich Landſtaͤnde
und Landſchaften; wozu man die Staͤdte,
welche damals das Hauptweſen ausmachten,
auf alle Weiſe gern zog.
Alle noch uͤbrige Geſetze aus der guͤldnen
Zeit, worin die Reichs Manſi mit Eigen-
thuͤmern beſetzt geweſen waren, verſchwanden
in dieſer Periode gaͤnzlich; wozu die Staͤdte,
dieſe anomaliſchen Koͤrper, welche die Sach-
ſen ſo lange nicht hatten dulden wollen, nicht
wenig beytrugen, indem ſie die Begriffe von
Ehre und Eigenthum, worauf ſich die Saͤch-
ſiſche Geſetzgebung ehedem gegruͤndet hatte,
verwirreten und verdunkelten. Die Ehre
verlohr ſogleich ihren aͤuſſerlichen Werth, ſo-
bald das Geldreichthum das Landeigenthum
uͤberwog; und wie die Handlung der Staͤdte
unſichtbare heimliche Reichthuͤmer einfuͤhrte,
konnte die Wehrung der Menſchen nicht mehr
nach Gelde geſchehen. Es mußten alſo Leib-
und Lebensſtrafen eingefuͤhrt, und der obrig-
keitlichen Willkuͤhr verſchiedene Faͤlle zu ahn-
den uͤberlaſſen werden, worauf ſich die alten
Rechte nicht mehr anwenden, und bey einer
un-
[173] unſichtbaren Verhaͤltniß keine neue finden
laſſen wollten. Die Freyheit litt dadurch un-
gemein, und der ganze Staat arbeitete einer
neuen Verfaſſung entgegen, worin allmaͤhlig
jeder Menſch, eben wie unter den ſpaͤtern roͤ-
miſchen Kaiſern, zum Buͤrger oder Rechts-
genoſſen aufgenommen, und ſeine Verbind-
lichkeit und Pflicht auf der bloſſen Eigenſchaft
von Unterthanen gegruͤndet werden ſollte.
Eine Verfaſſung, wobey Deutſchland haͤtte
gluͤcklich werden koͤnnen, wenn es ſeine Groͤſſe
immerfort auf die Handlung gegruͤndet, dieſe
zu ſeinem Hauptintereſſe gemacht und dem per-
ſoͤnlichen Fleiſſe und baaren Vermoͤgen in be-
ſtimmten Verhaͤltniſſen gleiche Ehre mit dem
Landeigenthum gegeben haͤtte, indem alsdann
die damals verbundene und maͤchtige Staͤdte
das Nationalintereſſe auf dem Reichstage
mehrentheils allein entſchieden, Schiffe, Volk
und Steuren bewilligt, und die Zerreiſſung
in ſo viele kleine Territorien, deren eins im-
mer ſeinen Privatvortheil zum Nachtheil des
andern ſucht, wohl verhindert haben wuͤrden.
Der vierten Periode haben wir die gluͤck-
liche Landeshoheit oder vielmehr nur ihre
Vollkommenheit zu danken. Jhr erſter Grund
lag in der Reichsvogtey, welche ſich nach dem
Maaſſe erhob und ausdehnte, als die Karo-
lingiſche Grafſchaft, wovon uns keine einzige
uͤbrig
[174] uͤbrig geblieben, ihre Einrichtung, Befugniß
und Unterſtuͤtzung verlohr. Aus einzelen
Reichsvogteyen waren edle Herrlichkeiten er-
wachſen. Wo ein edler Herr ihrer mehrer
zuſammen gebracht und vereiniget hatte, war
es ihm leicht gelungen, dieſe Sammlung zu
einer neuen Grafſchaft erheben zu laſſen und
ſich damit die Obergerichte in ſeinen Vogteyen
zu erwerben. Vornehmlich aber hatten Bi-
ſchoͤfe, Herzoge, Pfalzgrafen und andre Kai-
ſerliche Repreſentanten in den Provinzien die
in ihren Sprengeln gelegne Vogteyen an ſich
gebracht, und ſich daruͤber mit dem Grafen-
bann, und auch wohl um alle fremde Ge-
richtsbarkeit abzuwenden, mit dem Freyher-
zogthum und der Freygrafſchaft belehnen laſ-
ſen. Der Adel, die Kloͤſter und die Staͤdte,
welche nicht unter der Vogtey geſtanden, hat-
ten ſich zum Theil gutwillig den Kaiſerlichen
Repreſentanten unterworfen, und der Kaiſer
zu einer Zeit, da noch keine Genecalpacht er-
laubt und bekannt war, ſich ein Vergnuͤgen
daraus gemacht, die mit vielen Beſchwerden
und mit wenigen Vortheil begleitete Aus-
uͤbung der Regalien, wozu er ſonſt eigne Lo-
calbeamte haͤtte beſtellen muͤſſen, den hoͤch-
ſten Obrigkeiten jedes Landes zu uͤberlaſſen,
und ſolchergeſtalt ſein eignes Gewiſſen zu be-
ruhigen. Hiezu war die Reformation ge-
kom-
[175] kommen und hatte allen Landesherren oͤftere
Gelegenheit gegeben, diejenigen Rechte, wel-
che ſich aus obigen leicht folgern lieſſen, in
ihrer voͤlligen Staͤrke auszuuͤben; insbeſon-
dere aber die Schranken, welche ihnen ihrer
Laͤnder eigne von der Kaiſerlichen Gnade un-
abhaͤngige Verfaſſung entgegen geſetzt hatte,
ziemlich zu erweitern, indem ſie die Vollmacht
theils von der Noth entlehnten, theils von
dem Haſſe der ſtreitenden Religionspartheyen
gutwillig erhielten. Und ſo war es endlich
kein Wunder, wenn beym Weſtphaͤliſchen
Frieden, nachdem alles lange genug in Ver-
wirrung geweſen, diejenigen Reichsſtaͤnde,
welche nach und nach die Vogtey, den Gra-
fenbann, das Freyherzogthum und die ganze
Vollmacht des Miſſi in ihrem Lande erlangt
hatten, die Beſtaͤtigung einer vollkommenen
Landeshoheit; andre hingegen, welche nur
die Vogtey gehabt, jedoch ſich der hoͤhern
Reichsbeamten erwehret hatten, die Unmittel-
barkeit und in Religionsſachen eine nothwen-
dige Unabhaͤngigkeit erhielten.
Wenn man auf die Anlage der deutſchen
Verfaſſung zuruͤck gehet: ſo zeigen ſich vier
Hauptwendungen, welche ſie haͤtte nehmen
koͤnnen. Entweder waͤre die erſte Controlle
der Reichsbeamte per miſſos geblieben; oder
aber jede Provinz haͤtte einen auf Lebenszeit
Mſtehen-
[176] ſtehenden Statthalter zum Controlleur und
Oberaufſeher aller Reichsbeamten erhalten;
oder ein neues Reichsunterhaus haͤtte den
Kronbedienten die Wage halten muͤſſen, wenn
man den vierten Fall, nemlich die Territorial-
hoheit nicht haͤtte zulaſſen wollen. Die erſte
Wendung wuͤrde uns reiſende und pluͤndernde
Baſſen zugezogen haben, oder alle Kaiſer haͤt-
ten das Genie von Carln dem Groſſen zu ei-
nem beſtaͤndigen Erbtheil haben muͤſſen. Jn
der andern wuͤrden wir mit der Zeit, wie die
Franzoſen, das Opfer einer ungeheuren Men-
ge von Reichs-Generalpaͤchtern geworden
ſeyn. Schwerlich wuͤrden auch unſre Schul-
tern die dritte ertragen haben, oder die ver-
bundnen Handelsſtaͤdte in Ober- und Nieder-
deutſchland haͤtten uns zugleich die Handlung
durch die ganze Welt, ſo wie ſie ſolche hat-
ten, behaupten und das ganze Reichs-Krie-
ges- und Steuerweſen unter ihrer Bewilli-
gung haben muͤſſen. Und ſo iſt die letztere,
worin jeder Landesfuͤrſt, die ihm anvertraue-
ten Reichsgemeinen als die ſeinigen betrach-
tet, ſein Gluͤck in dem ihrigen findet und we-
nigſtens ſeinem Hauſe zu Gefallen nicht alles
auf einmal verzehrt, allenfalls aber an dem al-
lerhoͤchſten Reichsoberhaupte noch einigen Wi-
derſtand hat, gewiß die beſte geweſen, nachdem
einmal groſſe Reiche entſtehen, und die Landei-
gen-
[177] genthuͤmer in jedem kleinen Striche, Staͤdte
und Feſtungen unter ſich dulden, geldreiche
Leute an der Geſetzgebung Theil nehmen laſſen
und nicht mehr beſugt bleiben ſollten, ſich ſelbſt
einen Richter zu ſetzen und Recht zu geben.
Dabey war es ein Gluͤck, ſowohl fuͤr den ca-
tholiſchen als evangeliſchen Reichsfuͤrſten, daß
der Kaiſer ſich der Reformation nicht ſo bedie-
net hatte, wie es wohl waͤre moͤglich geweſen.
Luthers Lehre war der gemeinen Freyheit guͤn-
ſtig. Eine unvorſichtige Anwendung derſelben
haͤtte hundert Thomas Muͤnzers erwecken, und
dem Kaiſer die vollkommenſte Monarchie zu-
wenden koͤnnen, wenn er die erſte Bewegung
recht genutzt, alles Pacht- Lehn- und Zinswe-
ſen im Reiche geſprengt, die Bauern zu Landei-
genthuͤmern gemacht, und ſich ihres wohlge-
meynten Wahns gegen ihre Landes Gerichts-
und Guthoherrn bedienet haͤtte. Allein er dach-
te zu groß dazu; und eine ſolche Unternehmung
wuͤrde, nachdem der Ausſchlag geweſen waͤre,
die groͤßte oder treuloſeſte geweſen ſeyn.
Jndeſſen verlohr ſich in dieſer Periode der
alte Begriff des Eigenthums voͤllig; man fuͤhl-
te es kaum mehr, daß einer Rechtsgenoß ſeyn
muͤſſe, um ein echtes Eigenthum zu haben.
Eben ſo gieng es ſowohl der hohen als gemeinen
Ehre. Erſtere verwandelte ſich faſt durchge-
hends in Freyheit; und von der letztern: ho-
M 2nore
[178]nore quiritario: haben wir kaum noch Ver-
muthungen, ohnerachtet ſie der Geiſt der deut-
ſchen Verfaſſung geweſen, und ewig bleiben
ſollen. Religion und Wiſſenſchaften hoben im-
mer mehr den Menſchen uͤber den Buͤrger, die
Rechte der Menſchheit ſiegten uͤber alle bedun-
gene und verglichene Rechte. Eine bequeme
Philoſophie unterſtuͤtzte die Folgerungen aus
allgemeinen Grundſaͤtzen beſſer, als diejenigen,
welche nicht ohne Gelehrſamkeit und Einſicht
gemacht werden konnten. Und die Menſchen-
liebe ward mit Huͤlfe der chriſtlichen Religion
eine Tugend, gleich der Buͤrgerliebe, derge-
ſtalt, daß es wenig fehlte oder die Reichsgeſetze
ſelbſt haͤtten die ehrloſeſten Leute, aus chriſtli-
cher Liebe, ehrenhaft und zunftfaͤhig erklaͤrt.
Die Schickſale des Reichsguthes waren
noch ſonderbarer. Erſt hatte jeder Manſus ſei-
nen Eigenthuͤmer zu Felde geſchickt; hernach
einen Baner aufgenommen, der den Dienſt-
mann ernaͤhrte; und zuletzt auch ſeinen Bauer
unter die Vogelſtange geſtellet. Jetzt aber
mußte es zu dieſen Laſten auch noch einen Soͤld-
ner ſtellen, und zu deſſen Unterhaltung eine
Landſteuer uͤbernehmen, indem die Territorial-
hoheit zu ihrer Erhaltung ſtaͤrkere Nerven, und
das Reich zu ſeiner Vertheidigung groͤſſere An-
ſtalten erfoderte, nachdem Frankreich ſich nicht
wie Deutſchland in einer Menge von Territo-
rien
[179] rien aufgeloͤſet, ſondern unter unruhigen Her-
ren vereiniget hatte. Von nun an war es zu ei-
ner allgemeinen Politik das Reichseigenthum
ſo viel moͤglich wieder aufzuſuchen, und zur ge-
meinen Huͤlfe zu bringen. Der Kaiſer unter-
ſtuͤtzte in dieſem Plan die Fuͤrſten. Dieſe unter-
ſuchten die Rechte der Dienſtleute, der Geiſtli-
chen und der Staͤdte, in Anſehung des Reichs-
eigenthums; und bemuͤheten ſich ſo viel moͤg-
lich, ſolches auf eine oder andre Art wieder zum
Reichs-Land-Kataſter zu bringen. Der Rechts-
gelehrſamkeit fehlte es an genugſamer Kennt-
niß der alten Verfaſſung, und vielleicht auch
an Kuͤhnheit, die Grundſaͤtze wieder einzufuͤh-
ren, nach welcher, wie in England, von dem
ganzen Reichsboden eine gemeine Huͤlfe erfor-
dert werden mogte. Das Steuerweſen gieng
alſo durch unendliche Kruͤmmungen und quere
Proceſſe in ſeinem Laufe fort. Geiſtliche, Edel-
leute und Staͤdte verlohren vieles von demjeni-
gen, was ſie in der mittlern Zeit und bey andern
Vertheidigungsanſtalten wohl erworben und
verdient hatten. Der Landesherr ward durch
die Nutzung des gemeinen Reichseigenthums
maͤchtiger. Ehrgeitz, Eiferſucht und Fantaſie
verfuͤhrten ihn zu ſtehenden Heeren; und die
Noth erfoderte ſie anfaͤnglich. Der Kaiſer
ſahe ſie aus dem groſſen Geſichtspunkte der all-
gemeinen Reichsvertheidigung gern, erſt ohne
M 3ſie
[180] ſie nach einem ſichern Verhaͤltniß beſtimmen zu
wollen, und bald, ohne es zu koͤnnen.
Jedoch ein aufmerkſamer Kenner der deut-
ſchen Geſchichte wird dieſes alles fruchtbarer
einſehen, und leicht erkennen, daß wir nur als-
denn erſt eine brauchbare und pragmatiſche Ge-
ſchichte unſers Vaterlandes erhalten werden,
wenn es einem Manne von gehoͤriger Einſicht
gelingen wird, ſich auf eine ſolche Hoͤhe zu ſe-
tzen, wovon er alle dieſe Veraͤnderungen, welche
den Reichsboden und ſeine Eigenthuͤmer be-
troffen, mit ihren Urſachen und Folgen in den
einzelnen Theilen des deutſchen Reichs uͤberſe-
hen, ſolche zu einem einzigen Hauptzwecke ver-
einigen, und dieſes in ſeiner ganzen Groͤſſe
umgemahlt und umgeſchnitzt, aber ſtark und
rein aufſtellen kann. Wie vieles wird aber ein
Gatterer noch mit Recht fodern, ehe ein Ge-
ſchichtſchreiber jene Hoͤhe beſteigen und ſein
ganzes Feld im vollkommenſten Lichte uͤberſe-
hen kann?
Jndeſſen bleibt ein ſolches Werk dem deut-
ſchen Genie und Fleiſſe noch immer angemeſſen,
und belohnt ihm die Muͤhe. Der maͤchtige und
reiſſende Hang groſſer Voͤlkervereinigungen
zur Monarchie und die unſaͤgliche Arbeit der
Ehre oder nach unſer Art zu reden der Freyheit,
womit ſie jenem Hange begegnen, oder ihrer
jetzt fallenden Saͤule einen bequemen Fall hat
ver-
[181] verſchaffen wollen, iſt das praͤchtigſte Schau-
ſpiel, was dem Menſchen zur Bewunderung
und zur Lehre gegeben werden kann; die Be-
rechnung der auf beyden Seiten wuͤrkenden
Kraͤfte und ihre Reſultate ſind fuͤr den Philoſo-
phen die erheblichſten Wahrheiten: und ſo viele
groſſe Bewegungsgruͤnde muͤſſen uns aufmun-
tern, unſrer Nation dieſe Ehre zu erwerben.
Sie muͤſſen einen jeden reitzen, ſeine Provinz
zu erleuchten, um ſie dem groſſen Geſchicht-
ſchreiber in dem wahren Lichte zu zeigen. Das
Coſtume der Zeiten, der Stil jeder Verfaſ-
ſung, jedes Geſetzes und ich moͤchte ſagen jedes
antiken Worts, muß den Kunſtliebenden ver-
gnuͤgen. Die Geſchichte der Religion, der
Rechtsgelehrſamkeit, der Philoſophie, der
Kuͤnſte und ſchoͤnen Wiſſenſchaften iſt auf
ſichere Weiſe von der Staatsgeſchichte unzer-
trennlich und wuͤrde ſich mit obigen Plan vor-
zuͤglich gut verbinden laſſen. Von Meiſterhaͤn-
den verſteht ſich. Der Stil aller Kuͤnſte, ja
ſelbſt der Depeſchen und Liebesbriefe eines Her-
zogs von Richelieu, ſteht gegen einander in eini-
gem Verhaͤltniß. Jeder Krieg hat ſeinen eige-
nen Ton und die Staatshandlungen haben ihr
Colorit, ihr Coſtume und ihre Manier in Ver-
bindung mit der Religion und den Wiſſenſchaf-
ten. Rußland giebt uns davon taͤglich Bey-
ſpiele; und das franzoͤſiſche eilfertige Genie
zeigt ſich in Staatshandlungen wie im Roman.
Man
[182] Man kann es ſogar unter der Erde an der Linie ken-
nen, womit es einen reinen Erzgang verfolgt und
ſich zuwuͤhlt. Der Geſchichtſchreiber wird dieſes
fuͤhlen, und allemal ſo viel von der Geſchichte der
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften mitnehmen, als er ge-
braucht, von den Veraͤnderungen der Staatsmo-
den Rechenſchaft zu geben.
Zur Geſchichte des weſtphaͤliſchen Friedens ge-
hoͤrt eine groſſe Kenntniß der Grundſaͤtze, welche
ſeine Verfaſſer hegten. Man wird von einer ſpaͤ-
tern Wendung in den oͤffentlichen Handlungen kei-
ne Rechenſchaft geben koͤnnen, ohne einen Thoma-
ſius zu nennen; und ohne zu wiſſen, wie unvorſich-
tig er ſeine Zeiten zum Raiſonniren |gefuͤhret habe.
Der Stil des letztern Krieges iſt daran kenntbar,
daß alle Partheyen ſich wenig auf den Grotius be-
rufen, ſondern ſich immer an eine bequeme Philo-
ſophie, welche kurz vorher in der gelehrten Welt
herrſchte, gehalten haben. Die neue Wendung,
welche ein Strube der deutſchen Denkungsart da-
durch giebt, daß er wie Grotius Geſchichtskunde,
Gelehrſamkeit und Philoſophie maͤchtig verknuͤpft,
iſt auch an verſchiedenen Staatshandlungen merk-
lich. Das oͤffentliche Vertrauen der Hoͤfe beruhet
auf ſolchen Grundſaͤtzen und ſolchen Maͤnnern, und
ihr Name mag wohl mit den groͤßten Feldherren ge-
nannt werden. Brechen endlich Religionsmeynun-
gen in buͤrgerliche Kriege aus: ſo wird ihre Ge-
ſchichte dem Staate vollends erheblich. Die Eigen-
liebe opfert Ehre und Eigenthum fuͤr ihre Rechtha-
bung auf. Der Sieger gewinnt allezeit zu viel; er
feſſelt, wie in Frankreich, zuletzt Katholiken und
Reformirte an ſeinen Wagen .... Aber wehe
dem Geſchichtsſchreiber, dem ſich dergleichen Ein-
miſchungen nicht in die Haͤnde draͤngen; und bey
dem ſie nicht das Reſultat wohlgenaͤhrter Kraͤfte
ſind!
[[183]][[184]]
Aufſatz waren Jahre vorher dem Verf. entkommen.
gentheil und auf die entgegen geſetzteſte Weiſe
behauptet, iſt beygeruͤckt worden, um vielleicht zu
einem dritten mittlern Anlaß zu geben: wo durch
Data unterſucht werde, „wo? wann? und wie
eigentlich gothiſche Baukunſt entſtanden? was in
ihr nordiſches Beduͤrfniß und Ausnahme von der
Regel groͤſſerer Schoͤnheit, oder etwa ſelbſt groͤſ-
ſerer Plan einer neuen Art von Schoͤnheit ſey,
u. ſ. w.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Von Deutscher Art und Kunst. Von Deutscher Art und Kunst. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnmh.0