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Alexander von Humboldts
Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden
des neuen Kontinents.


Dritter Band.

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Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung
Nachfolger.

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Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

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Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden.


A. v. Humboldt, Reiſe. III. 1
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Achtzehntes Kapitel.


San Fernando de Apure. — Verſchlingungen und Gabelteilungen
der Flüſſe Apure und Arauca. — Fahrt auf dem Rio Apure.


Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts waren
die großen Flüſſe Apure, Payara, Arauca und Meta in
Europa kaum dem Namen nach bekannt, ja, weniger als in
den vorhergehenden Jahrhunderten, als der tapfere Felipe de
Urre und die Eroberer von Tocuyo durch die Llanos zogen,
um jenſeits des Apure die große Stadt des Dorado und das
reiche Land Omaguas, das Timbuktu des neuen Kontinentes,
aufzuſuchen. So kühne Züge waren nur in voller Kriegs-
rüſtung auszuführen. Auch wurden die Waffen, die nur die
neuen Anſiedler ſchützen ſollten, beſtändig wider die unglück-
lichen Eingeborenen gekehrt. Als dieſen Zeiten der Gewalt-
thätigkeit und der allgemeinen Not friedlichere Zeiten folgten,
machten ſich zwei mächtige indianiſche Volksſtämme, die Cabres
und die Kariben vom Orinoko, zu Herren des Landes, welches,
die Konquiſtadoren jetzt nicht mehr verheerten. Von nun an
war es nur noch armen Mönchen geſtattet, ſüdlich von den
Steppen den Fuß zu ſetzen. Jenſeits des Uritucu begann
für die ſpaniſchen Anſiedler eine neue Welt, und die Nach-
kommen der unerſchrockenen Krieger, die von Peru bis zu den
Küſten von Neugranada und an den Amazonenſtrom alles
Land erobert hatten, kannten nicht die Wege, die von Coro
an den Rio Meta führen. Das Küſtenland von Venezuela
blieb iſoliert, und mit den langſamen Eroberungen der Miſ-
ſionäre von der Geſellſchaft Jeſu wollte es nur längs der
Ufer des Orinoko glücken. Dieſe Väter waren bereits bis
über die Katarakte von Atures und Maypures hinausge-
drungen, als die andaluſiſchen Kapuziner von der Küſte und
den Thälern von Aragua aus kaum die Ebenen von Calabozo
erreicht hatten. Aus den verſchiedenen Ordensregeln läßt ſich
[4] ein ſolcher Kontraſt nicht wohl erklären; vielmehr iſt der
Charakter des Landes ein Hauptmoment, ob die Miſſionen
raſchere oder langſamere Fortſchritte machen. Mitten im Lande,
in Gebirgen oder auf Steppen, überall, wo ſie nicht am ſelben
Fluſſe fortgehen, dringen ſie nur langſam vor. Man ſollte
es kaum glauben, daß die Stadt San Fernando am Apure,
die in gerader Linie nur 225 km von dem am früheſten be-
völkerten Küſtenſtrich von Caracas liegt, erſt im Jahre 1789
gegründet worden iſt. Man zeigte uns ein Pergament voll
hübſcher Malereien, die Stiftungsurkunde der kleinen Stadt.
Dieſelbe war auf Anſuchen der Mönche aus Madrid gekommen,
als man noch nichts ſah als ein paar Rohrhütten um ein
großes, mitten im Flecken aufgerichtetes Kreuz. Da die Miſ-
ſionäre und die weltlichen oberſten Behörden gleiches Inter-
eſſe haben, in Europa ihre Bemühungen für Förderung der
Kultur und der Bevölkerung in den Provinzen über dem Meer
in übertriebenem Lichte erſcheinen zu laſſen, ſo kommt es oft
vor, daß Stadt- und Dorfnamen lange vor der wirklichen
Gründung in der Liſte der neuen Eroberungen aufgeführt
werden. Wir werden an den Ufern des Orinoko und des
Caſſiquiare dergleichen Ortſchaften nennen, die längſt pro-
jektiert waren, aber nie anderswo ſtanden als auf den in
Rom und Madrid geſtochenen Miſſionskarten.


San Fernando, an einem großen ſchiffbaren Strome,
nahe bei der Einmündung eines anderen, der die ganze Provinz
Varinas durchzieht, iſt für den Handel ungemein günſtig ge-
legen. Alle Produkte dieſer Provinz, Häute, Kakao, Baum-
wolle, der Indigo von Mijagual, der ausgezeichnet gut iſt,
gehen über dieſe Stadt nach den Mündungen des Orinoko.
In der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angoſtura
nach San Francisco herauf, ſowie auf dem Rio Santo Do-
mingo nach Torunos, dem Hafen der Stadt Varinas. Um
dieſe Zeit treten die Flüſſe aus, und zwiſchen dem Apure,
dem Capanaparo und Sinaruco bildet ſich dann ein wahres
Labyrinth von Verzweigungen, das über eine Fläche Landes
von 8100 qkm reicht. Hier iſt der Punkt, wo der Orinoko,
nicht wegen naher Berge, ſondern durch das Gefälle der
Gegenhänge ſeinen Lauf ändert und ſofort, ſtatt wie bisher
die Richtung eines Meridians zu verfolgen, oſtwärts fließt.
Betrachtet man die Erdoberfläche als einen vielſeitigen Körper
mit verſchieden geneigten Flächen, ſo ſpringt ſchon bei einem
Blick auf die Karten in die Augen, daß zwiſchen San
[5] Fernando am Apure, Caycara und der Mündung des Meta
drei Gehänge, die gegen Nord, Weſt und Süd anſteigen, ſich
durchſchneiden, wodurch eine bedeutende Bodenſenkung ent-
ſtehen mußte. In dieſem Becken ſteht in der Regenzeit das
Waſſer 4 bis 4,5 m hoch auf den Grasfluren, ſo daß ſie
einem mächtigen See gleichen. Die Dörfer und Höfe, die
gleichſam auf Untiefen dieſes Sees liegen, ſtehen kaum 0,6 bis
1 m über dem Waſſer. Alles erinnert hier an die Ueber-
ſchwemmung in Unterägypten und an die Laguna de Xarayes,
die früher bei den Geographen ſo vielberufen war, obgleich
ſie nur ein paar Monate im Jahre beſteht. Das Austreten
der Flüſſe Apure, Meta und Orinoko iſt ebenſo an eine be-
ſtimmte Zeit gebunden. In der Regenzeit gehen die Pferde,
welche in der Savanne wild leben, zu Hunderten zu Grunde,
weil ſie die Plateaus oder die gewölbten Erhöhungen in den
Llanos nicht erreichen konnten. Man ſieht die Stuten, hinter
ihnen ihre Füllen, einen Teil des Tages herumſchwimmen und
die Gräſer abweiden, die nur mit den Spitzen über das Waſſer
reichen. Sie werden dabei von Krokodilen angefallen, und
man ſieht nicht ſelten Pferde, die an den Schenkeln Spuren
von den Zähnen dieſer fleiſchfreſſenden Reptilien aufzuweiſen
haben. Die Aaſe von Pferden, Maultieren und Kühen ziehen
zahlloſe Geier herbei. Die Zamuros1 ſind die Ibis oder
vielmehr Percnopterus des Landes. Sie haben ganz den
Habitus des „Huhns der Pharaonen“ und leiſten den Be-
wohnern der Llanos dieſelben Dienſte, wie der Vultur Per-
cnopterus
den Aegyptern.


Ueberdenkt man die Wirkungen dieſer Ueberſchwemmungen,
ſo kann man nicht umhin, dabei zu verweilen, wie wunderbar
biegſam die Organiſation der Tiere iſt, die der Menſch ſeiner
Herrſchaft unterworfen hat. In Grönland frißt der Hund
die Abfälle beim Fiſchfang, und gibt es keine Fiſche, ſo nährt
er ſich von Seegras. Der Eſel und das Pferd, die aus den
kalten, dürren Ebenen Hochaſiens ſtammen, begleiten den Men-
ſchen in die Neue Welt, treten hier in den wilden Zuſtand
zurück und friſten im heißen tropiſchen Klima ihr Leben unter
Unruhe und Beſchwerden. Jetzt von übermäßiger Dürre und
darauf von übermäßiger Näſſe geplagt, ſuchen ſie bald, um
ihren Durſt zu löſchen, eine Lache auf dem kahlen, ſtaubigten
Boden, bald flüchten ſie ſich vor den Waſſern der austretenden
[6] Flüſſe, vor einem Feinde, der ſie von allen Seiten umzingelt.
Den Tag über werden Pferde, Maultiere und Rinder von
Bremſen und Moskiten gepeinigt und bei Nacht von unge-
heuren Fledermäuſen angefallen, die ſich in ihren Rücken ein-
krallen und ihnen deſto ſchlimmere Wunden beibringen, da
alsbald Milben und andere bösartige Inſekten in Menge
hineinkommen. Zur Zeit der großen Dürre benagen die Maul-
tiere ſogar den ganz mit Stacheln beſetzten Melokaktus,1 um
zum erfriſchenden Saft und ſo gleichſam zu einer vegetabi-
liſchen Waſſerquelle zu gelangen. Während der großen Ueber-
ſchwemmungen leben dieſelben Tiere wahrhaft amphibiſch, in
Geſellſchaft von Krokodilen, Waſſerſchlangen und Seekühen.
Und dennoch erhält ſich, nach den unabänderlichen Geſetzen
der Natur, ihre Stammart im Kampf mit den Elementen,
mitten unter zahlloſen Plagen und Gefahren. Fällt das
Waſſer wieder, kehren die Flüſſe in ihre Betten zurück, ſo
überzieht ſich die Savanne mit zartem, angenehm duftendem
Gras, und im Herzen des heißen Landſtrichs ſcheinen die Tiere
des alten Europas und Hochaſiens in ihr Heimatland verſetzt
zu ſein und ſich des neuen Frühlingsgrüns zu freuen.


Während des hohen Waſſerſtandes gehen die Bewohner
dieſer Länder, um die ſtarke Strömung und die gefährlichen
Baumſtämme, die ſie treibt, zu vermeiden, in ihren Kanoen
nicht in den Flußbetten hinauf, ſondern fahren über die Gras-
fluren. Will man von San Fernando nach den Dörfern San
Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Fran-
cisco de Capanaparo, wendet man ſich gerade nach Süd, als
führe man auf einem einzigen 90 km breiten Strome. Die
Flüſſe Guarico, Apure, Cabullare und Arauca bilden da, wo
ſie ſich in den Orinoko ergießen, 720 km von der Küſte von
Guyana, eine Art Binnendelta, dergleichen die Hydro-
graphie in der Alten Welt wenige aufzuweiſen hat. Nach der
Höhe des Queckſilbers im Barometer hat der Apure von San
Fernando bis zur See nur ein Gefälle von 66 m. Dieſer
Fall iſt ſo unbedeutend als der von der Einmündung des
Oſagefluſſes und des Miſſouri in den Miſſiſſippi bis zur
Barre desſelben. Die Savannen in Niederlouiſiana erinnern
[7] überhaupt in allen Stücken an die Savannen am unteren
Orinoko.


Wir hielten uns 3 Tage in der kleinen Stadt San
Francisco auf. Wir wohnten beim Miſſionär, einem ſehr
wohlhabenden Kapuziner. Wir waren vom Biſchof von Ca-
racas an ihn empfohlen, und er bewies uns die größte Auf-
merkſamkeit und Gefälligkeit. Man hatte Uferbauten unter-
nommen, damit der Fluß den Boden, auf dem die Stadt
liegt, nicht unterwühlen könnte, und er zog mich deshalb zu
Rat. Durch den Einfluß der Portugueſa in den Apure wird
dieſer nach Südoſt gedrängt, und ſtatt dem Fluß freieren
Lauf zu verſchaffen, hatte man Dämme und Deiche gebaut,
um ihn einzuengen. Es war leicht vorauszuſagen, daß, wenn
die Flüſſe ſtark austraten, dieſe Wehren um ſo ſchneller weg-
geſchwemmt werden mußten, da man das Erdreich zu den
Waſſerbauten hinter dem Damme genommen und ſo das Ufer
geſchwächt hatte.


San Fernando iſt berüchtigt wegen der unmäßigen Hitze,
die hier den größten Teil des Jahres herrſcht, und bevor ich
von unſerer langen Fahrt auf den Strömen berichte, führe
ich hier einige Beobachtungen an, welche für die Meteorologie
der Tropenländer nicht ohne Wert ſein mögen. Wir begaben
uns mit Thermometern auf das mit weißem Sand bedeckte
Geſtade am Apure. Um 2 Uhr nachmittags zeigte der Sand
überall, wo er der Sonne ausgeſetzt war, 52,5°. In 48 cm
Höhe über dem Sand ſtand der Thermometer auf 42°, in
1,95 m Höhe auf 38,7°. Die Lufttemperatur im Schatten
eines Ceibabaumes war 36,2°. Dieſe Beobachtungen wurden
bei völlig ſtiller Luft gemacht. Sobald der Wind zu wehen
anfing, ſtieg die Temperatur der Luft um 3°, und doch be-
fanden wir uns in keinem „Sandwind“. Es waren vielmehr
Luftſchichten, die mit einem ſtark erhitzten Boden in Berüh-
rung geweſen, oder durch welche „Sandhoſen“ durchgegangen
waren Dieſer weſtliche Strich der Llanos iſt der heißeſte,
weil ihm die Luft zugeführt wird, welche bereits über die
ganze dürre Steppe weggegangen iſt. Denſelben Unterſchied
hat man zwiſchen den öſtlichen und weſtlichen Strichen der
afrikaniſchen Wüſten da bemerkt, wo die Paſſate wehen. —
In der Regenzeit nimmt die Hitze in den Llanos bedeutend
zu, beſonders im Juli, wenn der Himmel bedeckt iſt und die
ſtrahlende Wärme gegen den Erdboden zurückwirft. In dieſer
Zeit hört der Seewind ganz auf, und nach Pozos guten thermo-
[8] metriſchen Beobachtungen ſteigt der Thermometer im Schatten
auf 39 bis 39,5°,1 und zwar noch über 4,9 m vom Boden.
Je näher wir den Flüſſen Portugueſa, Apure und Apurito
kamen, deſto kühler wurde die Luft, infolge der Verdunſtung
ſo anſehnlicher Waſſermaſſen. Dies iſt beſonders bei Sonnen-
aufgang fühlbar; den Tag über werfen die mit weißem Sand
bedeckten Flußufer die Sonnenſtrahlen auf unerträgliche Weiſe
zurück, mehr als der gelbbraune Thonboden um Calabozo und
Tisnao.


Am 28. März bei Sonnenaufgang befand ich mich am
Ufer, um die Breite des Apure zu meſſen. Sie beträgt 411 m.
Es donnerte von allen Seiten; es war dies das erſte Ge-
witter und der erſte Regen der Jahreszeit. Der Fluß ſchlug
beim Oſtwind ſtarke Wellen, aber bald wurde die Luft wieder
ſtill, und alsbald fingen große Cetaceen aus der Familie der
Spritzfiſche, ganz ähnlich den Delphinen unſerer Meere, an
ſich in langen Reihen an der Waſſerfläche zu tummeln. Die
Krokodile, langſam und träge, ſchienen die Nähe dieſer lär-
menden, in ihren Bewegungen ungeſtümen Tiere zu ſcheuen;
wir ſahen ſie untertauchen, wenn die Spritzfiſche ihnen nahe-
kamen. Daß Cetaceen ſo weit von der Küſte vorkommen, iſt
ſehr auffallend. Die Spanier in den Miſſionen nennen ſie,
wie die Seedelphine, Toninas; ihr indianiſcher Name iſt
Orinucua. Sie ſind 1 bis 1,3 m lang und zeigen, wenn
ſie den Rücken krümmen und mit dem Schwanz auf die unteren
Waſſerſchichten ſchlagen, ein Stück des Rückens und der Rücken-
floſſe. Ich konnte keines Stückes habhaft werden, ſo oft ich
auch Indianer aufforderte, mit Pfeilen auf ſie zu ſchießen.
Pater Gili verſichert, die Guamos eſſen das Fleiſch derſelben.
Gehören dieſe Cetaceen den großen Strömen Südamerikas
eigentümlich an, wie der Lamantin (die Seekuh), der nach
Cuviers anatomiſchen Unterſuchungen gleichfalls ein Süß-
waſſerſäugetier
iſt, oder ſoll man annehmen, daß ſie aus
der See gegen die Strömung ſo weit heraufkommen, wie in
den aſiatiſchen Flüſſen der Delphinapterus Beluga zuweilen
thut? Was mir letztere Vermutung unwahrſcheinlich macht,
iſt der Umſtand, daß wir im Rio Atabapo, oberhalb der
großen Fälle des Orinoko, Toninas angetroffen haben. Sollten
ſie von der Mündung des Amazonenſtromes her durch die
Verbindungen desſelben mit dem Rio Negro, Caſſiquiare und
[9] Orinoko bis in das Herz von Südamerika gekommen ſein?
Man trifft ſie dort in allen Jahreszeiten an, und keine Spur
ſcheint anzudeuten, daß ſie zu beſtimmten Zeiten wandern wie
die Lachſe.


Während es bereits rings um uns donnerte, zeigten ſich
am Himmel nur einzelne Wolken, die langſam, und zwar in
entgegengeſetzter Richtung dem Zenith zuzogen. Delucs Hygro-
meter ſtand auf 53°, der Thermometer auf 23,7°; der Elektro-
meter mit rauchendem Docht zeigte keine Spur von Elektri-
zität. Während das Gewitter ſich zuſammenzog, wurde die
Farbe des Himmels zuerſt dunkelblau und dann grau. Die
Dunſtbläschen wurden ſichtbar, und der Thermometer ſtieg um
3°, wie faſt immer unter den Tropen bei bedecktem Himmel,
weil dieſer die ſtrahlende Wärme des Bodens zurückwirft.
Jetzt goß der Regen in Strömen nieder. Wir waren hin-
länglich an das Klima gewöhnt, um von einem tropiſchen
Regen keinen Nachteil fürchten zu dürfen; ſo blieben wir denn
am Ufer, um den Gang des Elektrometers genau zu beobachten.
Ich hielt ihn 2 m über dem Boden 20 Minuten lang in der
Hand und ſah die Fliedermarkkügelchen meiſt nur wenige
Sekunden vor dem Blitz auseinandergehen, und zwar 8 mm.
Die elektriſche Ladung blieb ſich mehrere Minuten lang gleich;
wir hatten Zeit, mittels einer Siegellackſtange die Elektrizität
zu unterſuchen, und ſo ſah ich hier, wie ſpäter oft auf dem
Rücken der Anden während eines Gewitters, daß die Luft-
elektrizität zuerſt poſitiv war, dann Null und endlich negativ
wurde. Dieſer Wechſel zwiſchen Poſitiv und Negativ (zwiſchen
Glas- und Harzelektrizität) wiederholte ſich öfters. Indeſſen
zeigte der Elektrometer ein wenig vor dem Blitz immer nur
Null oder poſitive Elektrizität, niemals negative. Gegen das
Ende des Gewitters wurde der Weſtwind ſehr heftig. Die
Wolken zerſtreuten ſich und der Thermometer fiel auf 22°
infolge der Verdunſtung am Boden und der freieren Wärme-
ſtrahlung gegen den Himmel.


Ich bin hier näher auf einzelnes über elektriſche Span-
nung der Luft eingegangen, weil die Reiſenden ſich meiſt
darauf beſchränken, den Eindruck zu beſchreiben, den ein tro-
piſches Gewitter auf einen neu angekommenen Europäer macht.
In einem Land, wo das Jahr in zwei große Hälften zerfällt,
in die trockene und in die naſſe Jahreszeit, oder, wie die
Indianer in ihrer ausdrucksvollen Sprache ſagen, in Sonnen-
zeit
und in Regenzeit, iſt es von großem Intereſſe, den
[10] Verlauf der meteorologiſchen Erſcheinung beim Uebergang von
einer Jahreszeit zur anderen zu verfolgen. Bereits ſeit dem
18. und 19. Februar hatten wir in den Thälern von Aragua
mit Einbruch der Nacht Wolken aufziehen ſehen. Mit Anfang
März wurde die Anhäufung ſichtbarer Dunſtbläschen und
damit die Anzeichen von Luftelektrizität von Tag zu Tag
ſtärker. Wir ſahen gegen Süd wetterleuchten und der Voltaſche
Elektrometer zeigte bei Sonnenuntergang fortwährend Gas-
elektrizität. Mit Einbruch der Nacht wichen die Fliedermark-
kügelchen, die ſich den Tag über nicht gerührt, 6 bis 8 mm
auseinander, dreimal weiter, als ich in Europa mit demſelben
Inſtrument bei heiterem Wetter in der Regel beobachtet. Vom
26. Mai an ſchien nun aber das elektriſche Gleichgewicht in
der Luft völlig geſtört. Stundenlang war die Elektrizität
Null, wurde dann ſehr ſtark — 8 bis 11 mm — und bald
darauf war ſie wieder unmerklich. Delucs Hygrometer zeigte
fortwährend große Trockenheit an, 33 bis 35°, und dennoch
ſchien die Luft nicht mehr dieſelbe. Während dieſes beſtändigen
Schwankens der Luftelektrizität fingen die kahlen Bäume be-
reits an, friſche Blätter zu treiben, als hätten ſie ein Vor-
gefühl vom nahenden Frühling.


Der Witterungswechſel, den wir hier beſchrieben, bezieht
ſich nicht etwa auf ein einzelnes Jahr. In der Aequinoktial-
zone folgen alle Erſcheinungen in wunderbarer Einförmigkeit
aufeinander, weil die lebendigen Kräfte der Natur ſich nach
leicht erkennbaren Geſetzen beſchränken und im Gleichgewicht
halten. Im Binnenlande, oſtwärts von den Kordilleren von
Merida und Neugranada, in den Llanos von Venezuela
und am Rio Meta, zwiſchen dem 4. und 10. Breitengrad, aller-
orten, wo es vom Mai bis Oktober beſtändig regnet und
demnach die Zeit der größten Hitze, die im Juli und Auguſt
eintritt, in die Regenzeit fällt, nehmen die atmoſphäriſchen
Erſcheinungen folgenden Verlauf.


Unvergleichlich iſt die Reinheit der Luft vom Dezember
bis in den Februar. Der Himmel iſt beſtändig wolkenlos,
und zieht je Gewölk auf, ſo iſt das ein Phänomen, das die
ganze Einwohnerſchaft beſchäftigt. Der Wind bläſt ſtark aus
Oſt und Oſt-Nord-Oſt. Da er beſtändig Luft von der gleichen
Temperatur herführt, ſo können die Dünſte nicht durch Ab-
kühlung ſichtbar werden. Gegen Ende Februar und zu Anfang
März iſt das Blau des Himmels nicht mehr ſo dunkel, der
Hygrometer zeigt allmählich ſtärkere Feuchtigkeit an, die Sterne
[11] ſind zuweilen von einer feinen Dunſtſchicht umſchleiert, ihr
Licht iſt nicht mehr planetariſch ruhig, man ſieht ſie hin und
wieder bis zu 20° über dem Horizont flimmern. Um dieſe
Zeit wird der Wind ſchwächer, unregelmäßiger, und es tritt
öfter als zuvor völlige Windſtille ein. In Süd-Süd-Oſt ziehen
Wolken auf. Sie erſcheinen wie ferne Gebirge mit ſehr ſcharfen
Umriſſen. Von Zeit zu Zeit löſen ſie ſich vom Horizont ab
und laufen über das Himmelsgewölbe mit einer Schnelligkeit,
die mit dem ſchwachen Wind in den unteren Luftſchichten außer
Verhältnis ſteht. Zu Ende März wird das ſüdliche Stück
des Himmels von kleinen, leuchtenden elektriſchen Entladungen
durchzuckt, phosphoriſchen Aufleuchtungen, die immer nur von
einer Dunſtmaſſe auszugehen ſcheinen. Von nun an dreht
ſich der Wind von Zeit zu Zeit und auf mehrere Stunden
nach Weſt und Südweſt. Es iſt dies ein ſicheres Zeichen,
daß die Regenzeit bevorſteht, die am Orinoko gegen Ende
April eintritt. Der Himmel fängt an, ſich zu beziehen, das
Blau verſchwindet und macht einem gleichförmigen Grau
Platz. Zugleich nimmt die Luftwärme ſtetig zu, und nicht
lange, ſo ſind nicht mehr Wolken am Himmel, ſondern ver-
dichtete Waſſerdünſte hüllen ihn vollkommen ein. Lange vor
Sonnenaufgang erheben die Brüllaffen ihr klägliches Geſchrei.
Die Luftelektrizität, die während der großen Dürre vom
Dezember bis März bei Tag faſt beſtändig gleich 3,6 bis 4 mm
am Voltaſchen Elektrometer war, fängt mit dem März an,
äußerſt veränderlich zu werden. Ganze Tage lang iſt ſie Null,
und dann weichen wieder die Fliedermarkkügelchen ein paar
Stunden lang 6 bis 8 mm auseinander. Die Luftelektrizität,
die in der heißen wie in der gemäßigten Zone in der Regel
Glaselektrizität iſt, ſchlägt auf 8 bis 10 Minuten in Harz-
elektrizität um. Die Regenzeit iſt die Zeit der Gewitter,
und doch erſcheint als Ergebnis meiner zahlreichen, dreijährigen
Beobachtungen, daß gerade in dieſer Gewitterzeit die elek-
triſche Spannung in den tiefen Luftregionen geringer iſt. Sind
die Gewitter die Folge dieſer ungleichen Ladung der über-
einander gelagerten Luftſchichten? Was hindert die Elektrizität
in einer Luft, die ſchon ſeit März feuchter geworden, auf den
Boden herabzukommen? Um dieſe Zeit ſcheint die Elektrizität
nicht durch die ganze Luft verbreitet, ſondern auf der äußeren
Hülle, auf der Oberfläche der Wolken angehäuft zu ſein. Daß
ſich das elektriſche Fluidum an die Oberfläche der Wolke zieht,
iſt, nach Gay-Luſſac, eben eine Folge der Wolkenbildung. In
[12] den Ebenen ſteigt das Gewitter 2 Stunden nach dem Durch-
gang der Sonne durch den Meridian auf, alſo kurze Zeit
nach dem Eintritt des täglichen Wärmemaximums unter den
Tropen. Im Binnenlande hört man bei Nacht oder Morgens
äußerſt ſelten donnern; nächtliche Gewitter kommen nur in
gewiſſen Flußthälern vor, die ein eigentümliches Klima haben.


Auf welchen Urſachen beruht es nun, daß das Gleich-
gewicht in der elektriſchen Spannung der Luft geſtört wird,
daß ſich die Dünſte fortwährend zu Waſſer verdichten, daß
der Wind aufhört, daß die Regenzeit eintritt und ſo lange
anhält? Ich bezweifle, daß die Elektrizität bei Bildung der
Dunſtbläschen mitwirkt; durch dieſe Bildung wird vielmehr
nur die elektriſche Spannung geſteigert und modifiziert. Nörd-
lich und ſüdlich vom Aequator kommen die Gewitter oder die
großen Entladungen in der gemäßigten und in der äquinok-
tialen Zone um dieſelbe Zeit vor. Beſteht ein Moment, das
durch das große Luftmeer aus jener Zone gegen die Tropen
her wirkt? Wie läßt ſich denken, daß in letzterem Himmels-
ſtrich, wo die Sonne ſich immer ſo hoch über den Horizont
erhebt, der Durchgang des Geſtirnes durch den Zenith be-
deutenden Einfluß auf die Vorgänge in der Luft haben ſollte?
Nach meiner Anſicht iſt die Urſache, welche unter den Tropen
das Eintreten des Regens bedingt, keine örtliche, und das
ſcheinbar ſo verwickelte Problem würde ſich wohl unſchwer
löſen, wenn wir mit den oberen Luftſtrömungen beſſer be-
kannt wären. Wir können nur beobachten, was in den unteren
Luftſchichten vorgeht. Ueber 3900 m Meereshöhe ſind die
Anden faſt unbewohnt, und in dieſer Höhe äußern die Nähe
des Bodens und die Gebirgsmaſſen, welche die Untiefen im
Luftozean ſind, bedeutenden Einfluß auf die umgebende Luft.
Was man auf der Hochebene von Antiſana beobachtet, iſt
etwas anderes, als was man wahrnähme, wenn man in
derſelben Höhe in einem Luftballon über den Llanos oder
über der Meeresfläche ſchwebte.


Wie wir geſehen haben, fällt in der nördlichen Aequinok-
tialzone der Anfang der Regenniederſchläge und Gewitter zu-
ſammen mit dem Durchgang der Sonne durch den Zenith
des Orts, mit dem Aufhören der See- oder Nordoſtwinde, mit
dem häufigen Eintreten von Windſtillen und Bendavales,
das heißt heftigen Südoſt- und Südweſtwinden bei bedecktem
Himmel. Vergegenwärtigt man ſich die allgemeinen Geſetze
des Gleichgewichtes, denen die Gasmaſſen, aus denen unſere
[13] Atmoſphäre beſteht, gehorchen, ſo iſt, nach meiner Anſicht,
in den Momenten, daß der Strom, der vom gleichnamigen
Pol herbläſt, unterbrochen wird, daß die Luft in der heißen
Zone ſich nicht mehr erneuert, und daß fortwährend ein feuchter
Strom aufwärts geht, einfach die Urſache zu ſuchen, warum
jene Erſcheinungen zuſammenfallen. Solange nördlich vom
Aequator der Seewind aus Nordoſt mit voller Kraft bläſt,
läßt er die Luft über den tropiſchen Ländern und Meeren
ſich nicht mit Waſſerdunſt ſättigen. Die heiße, trockene Luft
dieſer Erdſtriche ſteigt aufwärts und fließt den Polen zu ab,
während untere, trockene und kältere Luft herbeiführende Polar-
ſtrömungen jeden Augenblick die aufſteigenden Luftſäulen er-
ſetzen. Bei dieſem unaufhörlichen Spiel zweier entgegen-
geſetzten Luftſtrömungen kann ſich die Feuchtigkeit in der
Aequatorialzone nicht anhäufen, ſondern wird kalten und ge-
mäßigten Regionen zugeführt. Während dieſer Zeit der Nord-
oſtwinde, wo ſich die Sonne in den ſüdlichen Zeichen befindet,
bleibt der Himmel in der nördlichen Aequatorialzone beſtändig
heiter. Die Dunſtbläschen verdichten ſich nicht, weil die be-
ſtändig erneuerte Luft weit vom Sättigungspunkt entfernt
iſt. Je mehr die Sonne nach ihrem Eintritt in die nördlichen
Zeichen gegen den Zenith heraufrückt, deſto mehr legt ſich der
Nordoſtwind und hört nach und nach ganz auf. Der Temperatur-
unterſchied zwiſchen den Tropen und der nördlichen gemäßigten
Zone iſt jetzt der kleinſtmögliche. Es iſt Sommer am Nord-
pol, und während die mittlere Wintertemperatur unter dem
42. bis 52. Grad der Breite um 20 bis 26° niedriger
iſt als die Temperatur unter dem Aequator, beträgt der
Unterſchied im Sommer kaum 4 bis 6°. Steht nun die
Sonne im Zenith, und hört der Nordoſtwind auf, ſo treten
die Urſachen, welche Feuchtigkeit erzeugen und ſie in der nörd-
lichen Aequinoktialzone anhäufen, zumal in vermehrte Wirk-
ſamkeit. Die Luftſäule über dieſer Zone ſättigt ſich mit
Waſſerdampf, weil ſie nicht mehr durch den Polarſtrom er-
neuert wird. In dieſer geſättigten und durch die vereinten
Wirkungen der Strahlung und der Ausdehnung beim Auf-
ſteigen erkalteten Luft bilden ſich Wolken. Im Maß als
dieſe Luft ſich verdünnt, nimmt ihre Wärmekapazität zu.
Mit der Bildung und Zuſammenballung des Dunſtbläschens
häuft ſich die Elektrizität in den oberen Luftregionen an. Den
Tag über ſchlagen ſich die Dünſte fortwährend nieder; bei
Nacht hört dies meiſt auf, häufig ſogar ſchon nach Sonnen-
[14] untergang. Die Regengüſſe ſind regelmäßig am ſtärkſten und
von elektriſchen Entladungen begleitet, kurze Zeit nachdem
das Maximum der Tagestemperatur eingetreten iſt. Dieſer
Stand der Dinge dauert an, bis die Sonne in die ſüdlichen
Zeichen tritt. Jetzt beginnt in der nördlichen gemäßigten
Zone die kalte Witterung. Von nun an tritt die Luft-
ſtrömung vom Nordpol her wieder ein, weil der Unterſchied
zwiſchen den Wärmegraden im tropiſchen und im gemäßigten
Erdſtriche mit jedem Tage bedeutender wird. Der Nordoſt-
wind bläſt ſtark, die Luft unter den Tropen wird erneuert
und kann den Sättigungspunkt nicht mehr erreichen. Daher
hört es auf zu regnen, die Dunſtbläschen löſen ſich auf, der
Himmel wird wieder rein und blau. Von elektriſchen Ent-
ladungen iſt nichts mehr zu hören, ohne Zweifel weil die
Elektrizität in den oberen Luftregionen jetzt keine Haufen von
Dunſtbläschen, faſt hätte ich geſagt, keine Wolkenhüllen mehr
antrifft, auf denen ſich das Fluidum anhäufen könnte.


Wir haben das Aufhören des Nordoſtwindes als die
Haupturſache der tropiſchen Regen betrachtet. Dieſe Regen
dauern in jeder Halbkugel nur ſo lange, als die Sonne
die der Halbkugel gleichnamige Abweichung hat. Es muß
hier aber noch bemerkt werden, daß, wenn der Nordoſt auf-
hört, nicht immer Windſtille eintritt, ſondern die Ruhe der
Luft häufig, beſonders längs der Weſtküſten von Amerika,
durch Bendavales, das heißt Südweſt- und Südoſtwinde,
unterbrochen wird. Dieſe Erſcheinung ſcheint darauf hinzuweiſen,
daß die feuchten Luftſäulen, die im nördlichen äquatorialen
Erdſtriche aufſteigen, zuweilen dem Südpol zuſtrömen. In
der That hat in den Ländern der heißen Zone nördlich und
ſüdlich vom Aequator in ihrem Sommer, wenn die Sonne
durch ihren Zenith geht, der Unterſchied zwiſchen ihrer Tempe-
ratur und der am ungleichnamigen Pol ſein Maximum
erreicht. Die ſüdliche gemäßigte Zone hat jetzt Winter, während
es nördlich vom Aequator regnet und die mittlere Temperatur
um 5 bis 6° höher iſt als in der trockenen Jahreszeit, wo
die Sonne am tiefſten ſteht. Daß der Regen fortdauert,
während die Bendavales wehen, beweiſt, daß die Luftſtrö-
mungen vom entfernteren Pol her in der nördlichen Aequa-
torialzone nicht die Wirkung äußern wie die vom benach-
barten Pole her, weil die Südpolarſtrömung weit feuchter iſt.
Die Luft, welche dieſe Strömung herbeiführt, kommt aus
einer faſt ganz mit Waſſer bedeckten Halbkugel; ſie geht, bevor
[15] ſie zum 8. Grad nördlicher Breite gelangt, über die ganze
ſüdliche Aequinoktialzone weg, iſt folglich nicht ſo trocken, nicht
ſo kalt als der Nordpolarſtrom oder der Nordoſtwind, und
ſomit auch weniger geeignet, als Gegenſtrom aufzutreten
und die Luft unter den Tropen zu erneuern. Wenn die
Bendavales an manchen Küſten, z. B. an denen von Guatemala,
als heftige Winde auftreten, ſo rührt dies ohne Zweifel da-
her, daß ſie nicht Folge eines allmählichen, regelmäßigen Ab-
fluſſes der tropiſchen Luft gegen den Südpol ſind, ſondern
mit Windſtillen abwechſeln, von elektriſchen Entladungen be-
gleitet ſind und ihr Charakter als wahre Stoßwinde darauf
hinweiſt, daß im Luftmeer eine Rückſtauung, eine raſche, vor-
übergehende Störung des Gleichgewichtes ſtattgefunden hat.


Wir haben hier eine der wichtigſten meteorologiſchen Er-
ſcheinungen unter den Tropen aus einem allgemeinen Ge-
ſichtspunkte betrachtet. Wie die Grenzen der Paſſatwinde
keine mit dem Aequator parallelen Kreiſe bilden, ſo äußert
ſich auch die Wirkung der Polarluftſtrömungen unter ver-
ſchiedenen Luftſtrömungen verſchieden. In derſelben Halb-
kugel haben nicht ſelten die Gebirgsketten und das Küſten-
land entgegengeſetzte Jahreszeiten. Wir werden in der Folge
Gelegenheit haben, mehrere Anomalieen der Art zu erwähnen;
will man aber zur Erkenntnis der Naturgeſetze gelangen, ſo
muß man, bevor man ſich nach den Urſachen lokaler Erſchei-
nungen umſieht, den mittleren Zuſtand der Atmoſphäre
und die beſtändige Norm ihrer Veränderungen kennen.


Das Ausſehen des Himmels, der Gang der Elektrizität
und der Regenguß am 28. März verkündeten den Beginn
der Regenzeit; man riet uns indeſſen, von San Fernando am
Apure noch über San Francisco de Capanaparo, über den Rio
Sinaruco und den Hato San Antonio, nach dem kürzlich am
Ufer des Meta gegründeten Dorfe der Otomaken zu gehen und
uns auf dem Orinoko etwas oberhalb Carichana einzuſchiffen.
Dieſer Landweg führt durch einen ungeſunden, von Fiebern
heimgeſuchten Strich. Ein alter Pächter, Don Francisco Sanchez,
bot ſich uns gefällig als Führer an. Seine Tracht war ein
ſprechendes Bild der großen Sitteneinfalt in dieſen entlegenen
Ländern. Er hatte ein Vermögen von mehr als 100000 Piaſtern,
und doch ſtieg er mit nackten Füßen, an die mächtige ſilberne
Sporen geſchnallt waren, zu Pferde. Wir wußten aber aus
mehrwöchentlicher Erfahrung, wie traurig einförmig die Vege-
tation auf den Llanos iſt, und ſchlugen daher lieber den längeren
[16] Weg auf dem Rio Apure nach dem Orinoko ein. Wir wählten
dazu eine der ſehr breiten Pirogen, welche die Spanier
Lanchas nennen; zur Bemannung waren ein Steuermann
(el patron) und vier Indianer hinreichend. Am Hinterteil
wurde in wenigen Stunden eine mit Coryphablättern gedeckte
Hütte hergerichtet. Sie war ſo geräumig, daß Tiſch und
Bänke Platz darin fanden. Letztere beſtanden aus über Rahmen
von Braſilholz ſtraff geſpannten und angenagelten Ochſen-
häuten. Ich führe dieſe kleinen Umſtände an, um zu zeigen,
wie gut wir es auf dem Apure hatten, gegenüber dem Leben
auf dem Orinoko in den ſchmalen elenden Kanoen. Wir
nahmen in die Piroge Lebensmittel auf einen Monat ein.
In San Fernando 1 gibt es Hühner, Eier, Bananen, Maniok-
mehl und Kakao im Ueberfluß. Der gute Pater Kapuziner
gab uns Xereswein, Orangen und Tamarinden zu kühlender
Limonade. Es war vorauszuſehen, daß ein Dach aus Palmen-
blättern ſich im breiten Flußbett, wo man faſt immer den
ſenkrechten Sonnenſtrahlen ausgeſetzt iſt, ſehr ſtark erhitzen
mußte. Die Indianer rechneten weniger auf die Lebens-
mittel, die wir angeſchafft, als auf ihre Angeln und Netze.
Wir nahmen auch einige Schießgewehre mit, die wir bis zu
den Katarakten ziemlich verbreitet fanden, während weiter
nach Süden die Miſſionäre wegen der übermäßigen Feuchtig-
keit der Luft keine Feuerwaffen mehr führen können. Im
Rio Apure gibt es ſehr viele Fiſche, Seekühe und Schild-
kröten, deren Eier allerdings nährend, aber keine ſehr ange-
nehme Speiſe ſind. Die Ufer ſind mit unzähligen Vögel-
ſcharen bevölkert. Die erſprießlichſten für uns waren der
Pauxi und die Guacharaca, die man den Truthahn und den
Faſan des Landes nennen könnte. Ihr Fleiſch kam mir härter
und nicht ſo weiß vor als das unſerer hühnerartigen Vögel
in Europa, weil ſie ihre Muskeln ungleich ſtärker brauchen.
Neben dem Mundvorrat, dem Geräte zum Fiſchfang und den
Waffen vergaß man nicht ein paar Fäſſer Branntwein zum
Tauſchhandel mit den Indianern am Orinoko einzunehmen.


Wir fuhren von San Fernando am 30. März, um 4 Uhr
abends, bei ſehr ſtarker Hitze ab; der Thermometer ſtand im
[17] Schatten auf 34°, obgleich der Wind ſtark aus Südoſt blies.
Wegen dieſes widrigen Windes konnten wir keine Segel auf-
ziehen. Auf der ganzen Fahrt auf dem Apure, dem Orinoko
und Rio Negro begleitete uns der Schwager des Statthalters
der Provinz Varinas, Don Nicolas Soto, der erſt kürzlich
von Cadix angekommen war und einen Ausflug nach San
Fernando gemacht hatte. Um Länder kennen zu lernen, die
ein würdiges Ziel für die Wißbegierde des Europäers ſind,
entſchloß er ſich, mit uns 74 Tage auf einem engen, von
Moskiten wimmelnden Kanoe zuzubringen. Sein geiſtreiches,
liebenswürdiges Weſen und ſeine muntere Laune haben uns
oft die Beſchwerden einer zuweilen nicht gefahrloſen Fahrt
vergeſſen helfen. Wir fuhren am Einfluß des Apurito vor-
bei und an der Inſel dieſes Namens hin, die vom Apure
und dem Guarico gebildet wird. Dieſe Inſel iſt im Grunde
nichts als ein ganz niedriger Landſtrich, der von zwei großen
Flüſſen eingefaßt wird, die ſich in geringer Entfernung von-
einander in den Orinoko ergießen, nachdem ſie bereits unter-
halb San Fernando durch eine erſte Gabelung des Apure
ſich vereinigt haben. Die Isla del Apurito iſt 100 km
lang und 9 bis 13 km breit. Sie wird durch den Caño
de la Tigrera und den Caño del Manati in drei Stücke ge-
teilt, wovon die beiden äußerſten Isla de Blanco und Isla
de las Garzilas heißen. Ich mache hier dieſe umſtändlichen
Angaben, weil alle bis jetzt erſchienenen Karten den Lauf und
die Verzweigungen der Gewäſſer zwiſchen dem Guarico und
dem Meta aufs ſonderbarſte entſtellen. Unterhalb des Apurito
iſt das rechte Ufer des Apure etwas beſſer angebaut als das
linke, wo einige Hütten der Yaruro-Indianer aus Rohr und
Palmblattſtielen ſtehen. Sie leben von Jagd und Fiſchfang
und ſind beſonders geübt im Erlegen der Jaguare, daher die
unter dem Namen Tigerfelle bekannten Bälge vorzüglich durch
ſie in die ſpaniſchen Dörfer kommen. Ein Teil dieſer In-
dianer iſt getauft, beſucht aber niemals eine chriſtliche Kirche.
Man betrachtet ſie als Wilde, weil ſie unabhängig bleiben
wollen. Andere Stämme der Yaruro leben unter der Zucht
der Miſſionäre im Dorfe Achaguas, ſüdlich vom Rio Payara.
Die Leute dieſer Nation, die ich am Orinoko zu ſehen Ge-
legenheit gehabt, haben einige Züge von der fälſchlich ſo ge-
nannten tatariſchen Bildung, die manchen Zweigen der mon-
goliſchen Raſſe zukommt. Ihr Blick iſt ernſt, das Auge ſtark
in die Länge gezogen, die Jochbeine hervorragend, die Naſe
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 2
[18] aber der ganzen Länge nach vorſpringend. Sie ſind größer,
brauner und nicht ſo unterſetzt wie die Chaymas. Die Miſ-
ſionäre rühmen die geiſtigen Anlagen der Yaruro, die früher
eine mächtige, zahlreiche Nation an den Ufern des Orinoko
waren, beſonders in der Gegend von Caycara, oberhalb des
Einfluſſes des Guarico. Wir brachten die Nacht in Dia-
mante
zu, einer kleinen Zuckerpflanzung, der Inſel dieſes
Namens gegenüber.


Auf meiner ganzen Reiſe von San Fernando nach San
Carlos am Rio Negro und von dort nach der Stadt Ango-
ſtura war ich bemüht, Tag für Tag, ſei es im Kanoe, ſei es
im Nachtlager, aufzuſchreiben, was mir Bemerkenswertes vor-
gekommen. Durch den ſtarken Regen und die ungeheure
Menge Moskiten, von denen die Luft am Orinoko und Caſ-
ſiquiare wimmelt, hat dieſe Arbeit notwendig Lücken be-
kommen, die ich aber wenige Tage darauf ergänzt habe. Die
folgenden Seiten ſind ein Auszug aus dieſem Tagebuch. Was
im Angeſicht der geſchilderten Gegenſtände niedergeſchrieben
iſt, hat ein Gepräge von Wahrhaftigkeit (ich möchte ſagen
von Individualität), das auch den unbedeutendſten Dingen
einen gewiſſen Reiz gibt. Um unnötige Wiederholungen zu ver-
meiden, habe ich hin und wieder in das Tagebuch eingetragen,
was über die beſchriebenen Gegenſtände ſpäter zu meiner
Kenntnis gelangt iſt. Je gewaltiger und großartiger die
Natur in den von ungeheuren Strömen durchzogenen Wäldern
erſcheint, deſto ſtrenger muß man bei den Naturſchilderungen
an der Einfachheit feſthalten, die das vornehmſte, oft das
einzige Verdienſt eines erſten Entwurfes iſt.


Am 31. März. Der widrige Wind nötigte uns, bis
Mittag am Ufer zu bleiben. Wir ſahen die Zuckerfelder zum
Teil durch einen Brand zerſtört, der ſich aus einem nahen
Walde bis hierher fortgepflanzt hatte. Die wandernden In-
dianer zünden überall, wo ſie Nachtlager gehalten, den Wald
an, und in der dürren Jahreszeit würden ganze Provinzen
von dieſen Bränden verheert, wenn nicht das ausnehmend
harte Holz die Bäume vor der gänzlichen Zerſtörung ſchützte.
Wir fanden Stämme des Mahagonibaumes (Cahoba) und
von Desmanthus, die kaum 5 cm tief verkohlt waren.


Vom Diamante betritt man ein Gebiet, das nur von
Tigern, Krokodilen und Chiguire, einer großen Art von
Linnés Gattung Cavia, bewohnt iſt. Hier ſahen wir dicht-
gedrängte Vogelſchwärme ſich vom Himmel abheben wie eine
[19] ſchwärzlichte Wolke, deren Umriſſe ſich jeden Augenblick ver-
ändern. Der Fluß wird allmählich breiter. Das eine Ufer
iſt meiſt dürr und ſandig infolge der Ueberſchwemmungen;
das andere iſt höher und mit hochſtämmigen Bäumen be-
wachſen. Hin und wieder iſt der Fluß zu beiden Seiten be-
waldet und bildet einen geraden, 290 m breiten Kanal. Die
Stellung der Bäume iſt ſehr merkwürdig. Vorne ſieht man
Büſche von Sauſo(Hermesia castaneifolia), die gleichſam
eine 1,3 m hohe Hecke bilden, und es iſt, als wäre dieſe künſtlich
beſchnitten. Hinter dieſer Hecke kommt ein Gehölz von Ce-
drela, Braſilholz und Gayac. Die Palmen ſind ziemlich ſelten;
man ſieht nur hie und da einen Stamm der Corozo- und
der ſtacheligen Piritupalme. Die großen Vierfüßer dieſes
Landſtriches, die Tiger, Tapire und Pecariſchweine, haben
Durchgänge in die eben beſchriebene Sauſohecke gebrochen,
durch die ſie zum Trinken an den Strom gehen. Da ſie ſich
nicht viel daraus machen, wenn ein Kanoe herbeikommt, hat
man den Genuß, ſie langſam am Ufer hinſtreichen zu ſehen,
bis ſie durch eine der ſchmalen Lücken im Gebüſch im Walde
verſchwinden. Ich geſtehe, dieſe Auftritte, ſo oft ſie vor-
kamen, behielten immer großen Reiz für mich. Die Luſt, die
man empfindet, beruht nicht allein auf dem Intereſſe des
Naturforſchers, ſondern daneben auf einer Empfindung, die
allein im Schoße der Kultur aufgewachſenen Menſchen gemein
iſt. Man ſieht ſich einer neuen Welt, einer wilden, unge-
zähmten Natur gegenüber. Bald zeigt ſich am Geſtade der
Jaguar, der ſchöne amerikaniſche Panther; bald wandelt der
Hocco (Crax alector) mit ſchwarzem Gefieder und dem Feder-
buſch langſam an der Uferhecke hin. Tiere der verſchiedenſten
Klaſſen löſen einander ab. „Es como en el Paraiso“ (es
iſt wie im Paradies), ſagte unſer Steuermann, ein alter
Indianer aus den Miſſionen. Und wirklich, alles erinnert
hier an den Urzuſtand der Welt, deſſen Unſchuld und Glück
uralte ehrwürdige Ueberlieferungen allen Völkern vor Augen
ſtellen; beobachtet man aber das gegenſeitige Verhalten der
Tiere genau, ſo zeigt es ſich, daß ſie einander fürchten und
meiden. Das goldene Zeitalter iſt vorbei, und in dieſem
Paradies der amerikaniſchen Wälder, wie allerorten, hat lange
traurige Erfahrung alle Geſchöpfe gelehrt, daß Sanftmut und
Stärke ſelten beiſammen ſind.


Wo das Geſtade eine bedeutende Breite hat, bleibt die
Reihe von Sauſobüſchen weiter vom Strome weg. Auf dieſem
[20] Zwiſchengebiet ſieht man Krokodile, oft acht und zehn, auf
dem Sande liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem
Winkel aufgeſperrt, ruhen ſie nebeneinander, ohne irgend ein
Zeichen von Zuneigung, wie man ſie ſonſt bei geſellig leben-
den Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, ſobald er
vom Ufer aufbricht, und doch beſteht er wahrſcheinlich nur
aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn,
wie ſchon Descourtils, der die Krokodile auf San Domingo
ſo fleißig beobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen ſind
ziemlich ſelten, weil ſie in der Brunſt miteinander kämpfen
und ſich ums Leben bringen. Dieſe gewaltigen Reptilien ſind
ſo zahlreich, daß auf dem ganzen Stromlauf faſt jeden Augen-
blick ihrer fünf oder ſechs zu ſehen waren, und doch fing der
Apure erſt kaum merklich an zu ſteigen und Hunderte von
Krokodilen lagen alſo noch im Schlamme der Savannen be-
graben. Gegen 4 Uhr abends hielten wir an, um ein totes
Krokodil zu meſſen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es
war nur 5,38 m lang; einige Tage ſpäter fand Bonpland
ein anderes (männliches), das 7,22 m maß. Unter allen
Zonen, in Amerika wie in Aegypten, erreicht das Tier die-
ſelbe Größe; auch iſt die Art, die im Apure, im Orinoko und
im Magdalenenſtrom ſo häufig vorkommt, 1 kein Kaiman oder
Alligator, ſondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren
Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil ſehr ähnlich. Be-
denkt man, daß das männliche Tier erſt mit zehn Jahren
mannbar wird und daß es dann 2,6 m lang iſt, ſo läßt ſich
annehmen, daß das von Bonpland gemeſſene Tier wenigſtens
28 Jahre alt war. Die Indianer ſagten uns, in San Fer-
nando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei er-
wachſene Menſchen, namentlich Weiber beim Waſſerſchöpfen
am Fluß von dieſen fleiſchfreſſenden Eidechſen zerriſſen würden.
Man erzählte uns die Geſchichte eines jungen Mädchens aus
Uritucu, das ſich durch ſeltene Unerſchrockenheit und Geiſtes-
gegenwart aus dem Rachen eines Krokodils gerettet. Sobald
ſie ſich gepackt fühlte, griff ſie nach den Augen des Tieres
und ſtieß ihre Finger mit ſolcher Gewalt hinein, daß das
Krokodil vor Schmerz ſie fahren ließ, nachdem es ihr den
linken Vorderarm abgeriſſen. Trotz des ungeheuren Blut-
verluſtes gelangte die Indianerin, mit der übrig gebliebenen
[21] Hand ſchwimmend, glücklich ans Ufer. In dieſen Einöden,
wo der Menſch in beſtändigem Kampfe mit der Natur liegt,
unterhält man ſich täglich von den Kunſtgriffen, um einem
Tiger, einer Boa oder Traga Venado, einem Krokodil zu
entgehen; jeder rüſtet ſich gleichſam auf die bevorſtehende
Gefahr. „Ich wußte,“ ſagte das junge Mädchen in Uritucu
gelaſſen, „daß der Kaiman abläßt, wenn man ihm die Finger
in die Augen drückt.“ Lange nach meiner Rückkehr nach
Europa erfuhr ich, daß die Neger im inneren Afrika dasſelbe
Mittel kennen und anwenden. Wer erinnert ſich nicht mit
lebhafter Teilnahme, wie Iſaaco, der Führer des unglück-
lichen Mungo-Park, zweimal von einem Krokodil (bei Bulin-
kombu) gepackt wurde, und zweimal aus dem Rachen des Un-
geheuers entkam, weil es ihm gelang, demſelben unter dem
Waſſer die Finger in beide Augen zu drücken! Der Afrikaner
Iſaaco und die junge Amerikanerin dankten ihre Rettung der-
ſelben Geiſtesgegenwart, demſelben Gedankengang.


Das Krokodil im Apure bewegt ſich ſehr raſch und ge-
wandt, wenn es angreift, ſchleppt ſich dagegen, wenn es nicht
durch Zorn oder Hunger aufgeregt iſt, ſo langſam hin wie
ein Salamander. Läuft das Tier, ſo hört man ein trockenes
Geräuſch, das von der Reibung ſeiner Hautplatten gegen
einander herzurühren ſcheint. Bei dieſer Bewegung krümmt
es den Rücken und erſcheint hochbeiniger als in der Ruhe.
Oft hörten wir am Ufer dieſes Rauſchen der Platten ganz
in der Nähe; es iſt aber nicht wahr, was die Indianer be-
haupten, daß die alten Krokodile, gleich dem Schuppentier,
„ihre Schuppen und ihre ganze Rüſtung ſollen aufrichten
können“. Die Tiere bewegen ſich allerdings meiſtens gerade-
aus, oder vielmehr wie ein Pfeil, der von Strecke zu Strecke
ſeine Richtung änderte; aber trotz der kleinen Anhängſel von
falſchen Rippen, welche die Halswirbel verbinden und die
ſeitliche Bewegung zu beſchränken ſcheinen, wenden die Kro-
kodile ganz gut, wenn ſie wollen. Ich habe oft Junge ſich
in den Schwanz beißen ſehen; andere haben dasſelbe bei
erwachſenen Krokodilen beobachtet. Wenn ihre Bewegung faſt
immer geradlinig erſcheint, ſo rührt dies daher, daß dieſelbe,
wie bei unſeren kleinen Eidechſen, ſtoßweiſe erfolgt. Die
Krokodile ſchwimmen vortrefflich und überwinden leicht die
ſtärkſte Strömung. Es ſchien mir indeſſen, als ob ſie, wenn
ſie flußabwärts ſchwimmen, nicht wohl raſch umwenden
könnten. Eines Tages wurde ein großer Hund, der uns
[22] auf der Reiſe von Caracas an den Rio Negro begleitete, im
Fluſſe von einem ungeheuern Krokodil verfolgt; es war ſchon
ganz nahe an ihm und der Hund entging ſeinem Feinde nur
dadurch, daß er umwandte und auf einmal gegen den Strom
ſchwamm. Das Krokodil führte nun dieſelbe Bewegung aus,
aber weit langſamer als der Hund, und dieſer erreichte glücklich
das Ufer.


Die Krokodile im Apure finden reichliche Nahrung an den
Chiguire (Cavia Capybara, Waſſerſchwein), die in Rudeln
von 50 bis 60 Stücken an den Flußufern leben. Dieſe un-
glücklichen Tiere, von der Größe unſerer Schweine, beſitzen
keinerlei Waffe, ſich zu wehren; ſie ſchwimmen etwas beſſer,
als ſie laufen; aber auf dem Waſſer werden ſie eine Beute
der Krokodile und am Lande werden ſie von den Tigern ge-
freſſen. Man begreift kaum, wie ſie bei den Nachſtellungen
zweier gewaltigen Feinde ſo zahlreich ſein können; ſie ver-
mehren ſich aber ſo raſch wie die Cobayes, oder Meer-
ſchweinchen, die aus Braſilien zu uns gekommen ſind.


Unterhalb der Einmündung des Caño de la Tigrera, in
einer Bucht, Vuelta del Joval genannt, legten wir an, um
die Schnelligkeit der Strömung an der Oberfläche zu meſſen;
ſie betrug nur 1,13 m in der Sekunde, was 0,83 m mittlere
Geſchwindigkeit ergibt.1 Die Barometerhöhen ergaben, unter
Berückſichtigung der kleinen ſtündlichen Abweichungen, ein
Gefälle von kaum 45 cm auf die Seemeile (zu 1855 km).
Die Geſchwindigkeit iſt das Produkt zweier Momente, des
Falles des Bodens und des Steigens des Waſſers im oberen
Stromgebiete. Auch hier ſahen wir uns von Chiguire um-
geben, die beim Schwimmen wie die Hunde Kopf und Hals
aus dem Waſſer ſtrecken. Auf dem Strande gegenüber ſahen
wir zu unſerer Ueberraſchung ein mächtiges Krokodil mitten
unter dieſen Nagetieren regungslos daliegen und ſchlafen.
Es erwachte, als wir mit unſerer Piroge näher kamen, und
ging langſam dem Waſſer zu, ohne daß die Chiguire un-
ruhig wurden. Unſere Indianer ſahen den Grund dieſer
Gleichgültigkeit in der Dummheit des Tieres; wahrſcheinlich
aber wiſſen die Chiguire aus langer Erfahrung, daß das
[23] Krokodil des Apure und Orinoko auf dem Lande nicht an-
greift, der Gegenſtand, den es packen will, müßte ihm denn
im Augenblicke, wo es ſich ins Waſſer wirft, in den Weg
kommen.


Beim Joval wird der Charakter der Landſchaft groß-
artig wild. Hier ſahen wir den größten Tiger, der uns je
vorgekommen. Selbſt die Indianer erſtaunten über ſeine un-
geheure Länge; er war größer als alle indiſchen Tiger, die
ich in Europa in Menagerien geſehen. Das Tier lag im
Schatten eines großen Zamang. 1 Es hatte eben einen Chi-
guire erlegt, aber ſeine Beute noch nicht angebrochen; nur
eine ſeiner Tatzen lag darauf. Die Zamuros, eine Geierart,
die wir oben mit dem Percnopterus in Unterägypten ver-
glichen haben, hatten ſich in Scharen verſammelt, um die Reſte
vom Mahle des Jaguars zu verzehren. Sie ergötzten uns
nicht wenig durch den ſeltſamen Verein von Frechheit und
Scheu. Sie wagten ſich bis auf 60 cm vom Jaguar vor,
aber bei der leiſeſten Bewegung desſelben wichen ſie zurück.
Um die Sitten dieſer Tiere noch mehr in der Nähe zu be-
obachten, beſtiegen wir das kleine Kanoe, das unſere Piroge
mit ſich führte. Sehr ſelten greift der Tiger Kähne an, indem
er danach ſchwimmt, und dies kommt nur vor, wenn durch
langen Hunger ſeine Wut gereizt iſt. Beim Geräuſch unſerer
Ruder erhob ſich das Tier langſam, um ſich hinter den Sauſo-
büſchen am Ufer zu verbergen. Den Augenblick, wo er abzog,
wollten ſich die Geier zu Nutze machen, um den Chiguire zu
verzehren; aber der Tiger machte, trotz der Nähe unſeres
Kanoe, einen Satz unter ſie und ſchleppte zornerfüllt, wie
man an ſeinem Gange und am Schlagen ſeines Schwanzes
ſah, ſeine Beute in den Wald. Die Indianer bedauerten,
daß ſie ihre Lanzen nicht bei ſich hatten, um landen und den
Tiger angreifen zu können. Sie ſind an dieſe Waffe gewöhnt
und thaten wohl, ſich nicht auf unſere Gewehre zu verlaſſen,
die in einer ſo ungemein feuchten Luft häufig verſagten.


Im Weiterfahren flußabwärts ſahen wir die große Herde
der Chiguire, die der Tiger verjagt und aus der er ſich ein
Stück geholt hatte. Die Tiere ſahen uns ganz ruhig landen.
Manche ſaßen da und ſchienen uns zu betrachten, wobei ſie,
wie die Kaninchen, die Oberlippe bewegten. Vor den Menſchen
ſchienen ſie ſich nicht zu fürchten, aber beim Anblicke unſeres
[24] großen Hundes ergriffen ſie die Flucht. Da das Hintergeſtell
bei ihnen höher iſt als das Vordergeſtell, ſo laufen ſie im
kurzen Galopp, kommen aber dabei ſo wenig vorwärts, daß
wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der ſehr fertig
ſchwimmt, läßt im Laufen ein leiſes Seufzen hören, als ob
ihm das Atmen beſchwerlich würde. Er iſt das größte Tier
in der Familie der Nager; er ſetzt ſich nur in der äußerſten
Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet iſt. Da
ſeine Backzähne, beſonders die hinteren, ausnehmend ſtark und
ziemlich lang ſind, ſo kann er mit ſeinem Biſſe einem Tiger
die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Fleiſch
hat einen ziemlich unangenehmen Moſchusgeruch; man macht
indeſſen im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge-
wiſſermaßen den Namen Waſſerſchwein, den manche alte
Naturgeſchichtſchreiber dem Chiguire beilegen. Die geiſtlichen
Miſſionäre laſſen ſich in den Faſten dieſe Schinken ohne Be-
denken ſchmecken; in ihrem zoologiſchen Syſtem ſtehen das
Gürteltier, das Waſſerſchwein und der Lamantin oder die
Seekuh neben den Schildkröten; erſteres, weil es mit einer
harten Kruſte, einer Art Schale bedeckt iſt, die beiden anderen,
weil ſie im Waſſer wie auf dem Lande leben. An den Ufern
des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen
und auf den überſchwemmten Savannen der Llanos kommen
die Chiguire in ſolcher Menge vor, daß die Weiden darunter
leiden. Sie freſſen das Kraut weg, von dem die Pferde
am fetteſten werden, und das Chiguirero (Kraut des
Chiguire) heißt. Sie freſſen auch Fiſche, und wir ſahen mit
Verwunderung, daß das Tier, wenn es, erſchreckt durch ein
nahendes Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Waſſer
bleibt.


Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel
zu, obgleich auf einer Pflanzung, deren Beſitzer die Tiger-
jagd trieb. Er war faſt ganz nackt und ſchwärzlich braun wie
ein Zambo, zählte ſich aber nichtsdeſtoweniger zum weißen
Menſchenſchlage. Seine Frau und ſeine Tochter, die ſo nackt
waren wie er, nannte er Doſia Iſabela und Doña Manuela.
Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm
er den lebendigſten Anteil „an den Neuigkeiten aus Madrid,
an den Kriegen, deren kein Ende abzuſehen, und an all den
Geſchichten dort drüben (todas las cosas de allà)“. Er
wußte, daß der König von Spanien bald zum Beſuche „Ihrer
Herrlichkeiten im Lande Caracas“ herüberkommen würde, ſetzte
[25] aber ſcherzhaft hinzu: „Da die Hofleute nur Weizenbrot eſſen
können, werden ſie nie über die Stadt Valencia hinaus wollen,
und wir werden ſie hier nicht zu ſehen bekommen.“ Ich
hatte einen Chiguire mitgebracht und wollte ihn braten laſſen;
aber unſer Wirt verſicherte uns, nosotros cavalleros blancos,
weiße Leute wie er und ich ſeien nicht dazu gemacht, von
ſolchem „Indianerwildpret“ zu genießen. Er bot uns Hirſch-
fleiſch an; er hatte tags zuvor einen mit dem Pfeil erlegt,
denn er hatte weder Pulver noch Schießgewehr.


Wir glaubten nicht anders, als hinter einem Bananen-
gehölze liege die Hütte des Gehöftes; aber dieſer Mann, der
ſich auf ſeinen Adel und ſeine Hautfarbe ſo viel einbildete,
hatte ſich nicht die Mühe gegeben, aus Palmblättern eine
Ajupa zu errichten. Er forderte uns auf, unſere Hänge-
matten neben den ſeinigen zwiſchen zwei Bäumen befeſtigen
zu laſſen, und verſicherte uns mit ſelbſtgefälliger Miene, wenn
wir in der Regenzeit den Fluß wieder heraufkämen, würden
wir ihn unter Dach (baxo techo) finden. Wir kamen bald
in den Fall, eine Philoſophie zu verwünſchen, die der Faulheit
Vorſchub leiſtet und den Menſchen für alle Bequemlichkeiten
des Lebens gleichgültig macht. Nach Mitternacht erhob ſich
ein furchtbarer Sturmwind, Blitze durchzuckten den Horizont,
der Donner rollte und wir wurden bis auf die Haut durch-
näßt. Während des Ungewitters verſetzte uns ein ſeltſamer
Vorfall auf eine Weile in gute Laune. Doña Iſabelas
Katze hatte ſich auf den Tamarindenbaum geſetzt, unter dem
wir lagerten. Sie fiel in die Hängematte eines unſerer Be-
gleiter, und der Mann, zerkratzt von der Katze und aus dem
tiefſten Schlafe aufgeſchreckt, glaubte, ein wildes Tier aus
dem Walde habe ihn angefallen. Wir liefen auf ſein Geſchrei
hinzu und riſſen ihn nur mit Mühe aus ſeinem Irrtum.
Während es auf unſere Hängematten und unſere Inſtrumente,
die wir ausgeſchifft, in Strömen regnete, wünſchte uns Don
Ignacio Glück, daß wir nicht am Ufer geſchlafen, ſondern
uns auf ſeinem Gute befänden, „entre gente blanca y de
trato“
(unter Weißen und Leuten von Stande). Durchnäßt,
wie wir waren, fiel es uns denn doch ſchwer, uns zu über-
zeugen, daß wir es hier ſo beſonders gut haben, und wir
hörten ziemlich widerwillig zu, wie unſer Wirt ein langes
und breites von ſeinem ſogenannten Kriegszuge an den Rio
Meta erzählte, wie tapfer er ſich in einem blutigen Gefechte
mit den Guahibos gehalten, und „welche Dienſte er Gott und
[26] ſeinem König geleiſtet, indem er den Eltern die Kinder (los
Indiecitos
) genommen und in die Miſſionen verteilt.“ Welch
ſeltſamen Eindruck machte es, in dieſer weiten Einöde bei
einem Manne, der von europäiſcher Abkunft zu ſein glaubt
und kein anderes Obdach kennt als den Schatten eines Baumes,
alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile, alle Verkehrt-
heiten einer alten Kultur anzutreffen!


Am 1. April. Mit Sonnenaufgang verabſchiedeten wir
uns von Señor Don Ignacio und von Señora Doña Iſa-
bela, ſeiner Gemahlin. Die Luft war abgekühlt; der Thermo-
meter, der bei Tag meiſt auf 30 bis 35° ſtand, war auf 24°
gefallen. Die Temperatur des Fluſſes blieb ſich faſt ganz
gleich, ſie war fortwährend 26 bis 27°. Der Strom trieb
eine ungeheure Menge Baumſtämme. Man ſollte meinen,
auf einem völlig ebenen Boden, wo das Auge nicht die ge-
ringſte Erhöhung bemerkt, hätte ſich der Fluß durch die Gewalt
ſeiner Strömung einen ganz geraden Kanal graben müſſen.
Ein Blick auf die Karte, die ich nach meinen Aufnahmen mit
dem Kompaß entworfen, zeigt das Gegenteil. Das abſpülende
Waſſer findet an beiden Ufern nicht denſelben Widerſtand,
und faſt unmerkliche Bodenerhöhungen geben zu ſtarken Krüm-
mungen Anlaß. Unterhalb des Jovals, wo das Flußbett
etwas breiter wird, bildet dasſelbe wirklich einen Kanal, der
mit der Schnur gezogen ſcheint und zu beiden Seiten von
ſehr hohen Bäumen beſchattet iſt. Dieſes Stück des Fluſſes
heißt Caño rico; ich fand dasſelbe 265 m breit. Wir kamen
an einer niedrigen Inſel vorüber, auf der Flamingo, roſen-
farbige Löffelgänſe, Reiher und Waſſerhühner, die das mannig-
faltigſte Farbenſpiel boten, zu Tauſenden niſteten. Die Vögel
waren ſo dicht aneinander gedrängt, daß man meinte, ſie
könnten ſich gar nicht rühren. Die Inſel heißt Isla de
Aves. Weiterhin fuhren wir an der Stelle vorbei, wo der
Apure einen Arm (den Rio Arichuna) an den Cabullare ab-
gibt und dadurch bedeutend an Waſſer verliert. Wir hielten
am rechten Ufer bei einer kleinen indianiſchen, vom Stamme
der Guamos bewohnten Miſſion. Es ſtanden erſt 16 bis
18 Hütten aus Palmblättern; aber auf den ſtatiſtiſchen Ta-
bellen, welche die Miſſionäre jährlich bei Hofe einreichen, wird
dieſe Gruppe von Hütten als das Dorf Santa Barbara
de Arichuna
aufgeführt.


Die Guamos ſind ein Indianerſtamm, der ſehr ſchwer
ſeßhaft zu machen iſt. Sie haben in ihren Sitten vieles mit
[27] den Achagua, Guahibos und Otomaken gemein, namentlich
die Unreinlichkeit, die Rachſucht und die Liebe zum wandernden
Leben; aber ihre Sprachen weichen völlig voneinander ab.
Dieſe vier Stämme leben größtenteils von Fiſchfang und Jagd
auf den häufig überſchwemmten Ebenen zwiſchen dem Apure,
dem Meta und dem Guaviare. Das Wanderleben ſcheint
hier durch die Beſchaffenheit des Landes ſelbſt bedingt. Wir
werden bald ſehen, daß man, ſobald man die Berge an den
Katarakten des Orinoko betritt, bei den Piraoa, Macos und
Maquiritares ſanftere Sitten, Liebe zum Ackerbau und in den
Hütten große Reinlichkeit findet. Auf dem Rücken der Ge-
birge, in undurchdringlichen Wäldern ſieht ſich der Menſch
genötigt, ſich feſt niederzulaſſen und einen kleinen Fleck Erde
zu bebauen. Dazu bedarf es keiner großen Anſtrengung,
wogegen der Jäger in einem Lande, durch das keine anderen
Wege führen als die Flüſſe, ein hartes, mühſeliges Leben
führt. Die Guamos in der Miſſion Santa Barbara konnten
uns die Mundvorräte, die wir gerne gehabt hätten, nicht
liefern; ſie bauten nur etwas Maniok. Sie ſchienen indeſſen
gaſtfreundlich, und als wir in ihre Hütten traten, boten ſie
uns getrocknete Fiſche und Waſſer (in ihrer Sprache Cub) an.
Das Waſſer war in poröſen Gefäßen abgekühlt.


Unterhalb der Vuelta del Cochino roto, an einer Stelle,
wo ſich der Fluß ein neues Bett gegraben hatte, übernachteten
wir auf einem dürren, ſehr breiten Geſtade. In den dichten
Wald war nicht zu kommen, und ſo brachten wir nur mit
Not trockenes Holz zuſammen, um Feuer anmachen zu können,
wobei man, wie die Indianer glauben, vor dem nächtlichen An-
griffe des Tigers ſicher iſt. Unſere eigene Erfahrung ſcheint
dieſen Glauben zu beſtätigen; dagegen verſichert Azarro, zu
ſeiner Zeit habe in Paraguay ein Tiger einen Mann von
einem Feuer in der Savanne weggeholt.


Die Nacht war ſtill und heiter und der Mond ſchien
herrlich. Die Krokodile lagen am Ufer; ſie hatten ſich ſo
gelegt, daß ſie das Feuer ſehen konnten. Wir glauben bemerkt
zu haben, daß der Glanz desſelben ſie herlockt, wie die Fiſche,
die Krebſe und andere Waſſertiere. Die Indianer zeigten uns
im Sande die Fährten dreier Tiger, darunter zweier ganz
jungen. Ohne Zweifel hatte hier ein Weibchen ſeine Jungen
zum Trinken an den Fluß geführt. Da wir am Ufer keinen
Baum fanden, ſteckten wir die Ruder in den Boden und be-
feſtigſten unſere Hängematten daran. Alles blieb ziemlich
[28] ruhig bis um elf Uhr nachts; da aber erhob ſich im benach-
barten Walde ein ſo furchtbarer Lärm, daß man beinahe kein
Auge ſchließen konnte. Unter den vielen Stimmen wilder
Tiere, die zuſammen ſchrieen, erkannten unſere Indianer nur
diejenigen, die ſich auch einzeln hören ließen, namentlich die
leiſen Flötentöne der Sapaju, die Seufzer der Aluaten, das
Brüllen des Tigers und des Kuguars, oder amerikaniſchen
Löwen ohne Mähne, das Geſchrei des Biſamſchweines, des
Faultiers, des Hocco, des Parraqua und einiger anderen
hühnerartigen Vögel. Wenn die Jaguare dem Waldrande
ſich näherten, ſo fing unſer Hund, der bis dahin fortwährend
gebellt hatte, an zu heulen und ſuchte Schutz unter den
Hängematten. Zuweilen, nachdem es lange geſchwiegen, er-
ſcholl das Brüllen der Tiger von den Bäumen herunter,
und dann folgte darauf das anhaltende ſchrille Pfeifen der
Affen, die ſich wohl bei der drohenden Gefahr auf und davon
machten.


Ich ſchildere Zug für Zug dieſe nächtlichen Auftritte,
weil wir zu Anfang unſerer Fahrt auf dem Apure noch
nicht daran gewöhnt waren. Monatelang, allerorten, wo der
Wald nahe an die Flußufer rückt, hatten wir ſie zu erleben.
Die Sorgloſigkeit der Indianer macht dabei auch dem Rei-
ſenden Mut. Man redet ſich mit ihnen ein, die Tiger fürchten
alle das Feuer und greifen niemals einen Menſchen in ſeiner
Hängematte an. Und ſolche Angriffe kommen allerdings ſehr
ſelten vor und aus meinem langen Aufenthalte in Südamerika
erinnere ich mich nur eines einzigen Falles, wo, den Achaguas-
Inſeln gegenüber, ein Llanero in ſeiner Hängematte zerfleiſcht
gefunden wurde.


Befragt man die Indianer, warum die Tiere des Waldes
zu gewiſſen Stunden einen ſo furchtbaren Lärm erheben, ſo
geben ſie die luſtige Antwort: „Sie feiern den Vollmond.“
Ich glaube, die Unruhe rührt meiſt daher, daß im inneren
Walde ſich irgendwo ein Kampf entſponnen hat. Die Ja-
guare zum Beiſpiel machen Jagd auf die Biſamſchweine und
Tapire, die nur Schutz finden, wenn ſie beiſammenbleiben
und in gedrängten Rudeln fliehend das Gebüſch, das ihnen
in den Weg kommt, niederreißen. Die Affen, ſcheu und
furchtſam, erſchrecken ob dieſer Jagd und beantworten von
den Bäumen herab das Geſchrei der großen Tiere. Sie wecken
die geſellig lebenden Vögel auf, und nicht lange, ſo iſt die
ganze Menagerie in Aufruhr. Wir werden bald ſehen, daß
[29] dieſer Lärm keineswegs nur bei ſchönem Mondſchein, ſondern
vorzugsweiſe während der Gewitter und ſtarken Regengüſſe
unter den wilden Tieren ausbricht. „Der Himmel verleihe
ihnen eine ruhſame Nacht wie uns anderen!“ ſprach der Mönch,
der uns an den Rio Negro begleitete, wenn er, todmüde von
der Laſt des Tages, unſer Nachtlager einrichten half. Es
war allerdings ſeltſam, daß man mitten im einſamen Walde
ſollte keine Ruhe finden können. In den ſpaniſchen Herbergen
fürchtet man ſich vor den ſchrillen Tönen der Guitarren im
anſtoßenden Zimmer; in denen am Orinoko, das heißt auf
offenem Geſtade oder unter einem einzeln ſtehenden Baume,
beſorgt man durch Stimmen aus dem Walde im Schlafe ge-
ſtört zu werden.


Am 2. April. Wir gingen vor Sonnenaufgang unter
Segel. Der Morgen war ſchön und kühl, wie es Leuten
vorkommt, die an die große Hitze in dieſen Ländern gewöhnt
ſind. Der Thermometer ſtand in der Luft nur auf 28°, aber
der trockene, weiße Sand am Geſtade hatte trotz der Strah-
lung gegen einen wolkenloſen Himmel eine Temperatur von
36° behalten. Die Delphine (Toninas) zogen in langen
Reihen durch den Fluß und das Ufer war mit fiſchfangenden
Vögeln bedeckt. Manche machen ſich das Floßholz, das den
Fluß herabtreibt, zu Nutze und überraſchen die Fiſche, die ſich
mitten in der Strömung halten. Unſer Kanoe ſtieß im Laufe
des Morgens mehrmals an. Solche Stöße, wenn ſie ſehr
heftig ſind, können ſchwache Fahrzeuge zertrümmern. Wir
fuhren an den Spitzen mehrerer großer Bäume auf, die jahre-
lang in ſchiefer Richtung im Schlamme ſtecken bleiben. Dieſe
Bäume kommen beim Hochwaſſer aus dem Sarare herunter
und verſtopfen das Flußbett dergeſtalt, daß die Pirogen
ſtromaufwärts häufig zwiſchen den Untiefen und überall, wo
Wirbel ſind, kaum durchkommen. Wir kamen an eine Stelle
bei der Inſel Carizales, wo ungeheuer dicke Courbarilſtämme
aus dem Waſſer ragten. Sie ſaßen voll Vögeln, einer Art
Plotus, die der Anhinga ſehr nahe ſteht. Dieſe Vögel
ſitzen in Reihen auf, wie die Faſanen und die Parraqua,
und bleiben ſtundenlang, den Schnabel gen Himmel geſtreckt,
regungslos, was ihnen ein ungemein dummes Ausſehen gibt.


Von der Inſel Carizales an wurde die Abnahme des
Waſſers im Fluſſe deſto auffallender, da unterhalb der Gabe-
lung bei der Boca de Arichuna kein Arm, kein natürlicher
Abzugskanal mehr dem Apure Waſſer entzieht. Der Verluſt
[30] rührt allein von der Verdunſtung und Einſickerung auf ſan-
digen, durchnäßten Ufern her. Man kann ſich vorſtellen, wie
viel dies ausmacht, wenn man bedenkt, daß wir den trockenen
Sand zu verſchiedenen Tagesſtunden 36 bis 52°, den Sand,
über dem 8 bis 10 cm Waſſer ſtanden, noch 32° warm fanden.
Das Flußwaſſer erwärmt ſich dem Boden zu, ſo weit die
Sonnenſtrahlen eindringen können, ohne beim Durchgange
durch die übereinander gelagerten Waſſerſchichten zu ſehr ge-
ſchwächt zu werden. Dabei reicht die Einſickerung weit über
das Flußbett hinaus und iſt, ſozuſagen, ſeitlich. Das Ge-
ſtade, das ganz trocken ſcheint, iſt bis zur Höhe des Waſſer-
ſpiegels mit Waſſer getränkt. 97 m vom Fluſſe ſahen wir
Waſſer hervorquellen, ſo oft die Indianer die Ruder in den
Boden ſteckten; dieſer unten feuchte, oben trockene und dem
Sonnenſtrahle ausgeſetzte Sand wirkt nun aber wie ein
Schwamm. Er gibt jeden Augenblick durch Verdunſtung vom
eingeſickerten Waſſer ab; der ſich entwickelnde Waſſerdampf
zieht durch die obere, ſtark erhitzte Sandſchicht und wird ſicht-
bar, wenn ſich am Abend die Luft abkühlt. Im Maße, als
das Geſtade Waſſer abgibt, zieht es aus dem Strome neues
an, und man ſieht leicht, daß dieſes fortwährende Spiel von
Verdunſtung und ſeitlicher Einſaugung dem Fluſſe ungeheure
Waſſermaſſen entziehen muß, nur daß der Verluſt ſchwer genau
zu berechnen iſt. Die Zunahme dieſes Verluſtes wäre der
Länge des Stromlaufes proportional, wenn die Flüſſe von
der Quelle bis zur Mündung überall gleiche Ufer hätten; da
aber dieſe von den Anſchwemmungen herrühren, und die Ge-
wäſſer, je weiter von der Quelle weg, deſto langſamer fließen
und ſomit notwendig im unteren Stromlaufe mehr abſetzen
als im oberen, ſo werden viele Flüſſe im heißen Erdſtriche
ihrer Mündung zu ſeichter. Barrow hat die auffallende
Wirkung des Sandes im öſtlichen Afrika an den Ufern des
Orangefluſſes beobachtet. Sie gab ſogar bei den verſchiedenen
Annahmen über den Lauf des Nigers zu ſehr wichtigen Er-
örterungen Anlaß.


Bei der Vuelta de Baſilio, wo wir ans Land gingen,
um Pflanzen zu ſammeln, ſahen wir oben auf einem Baum
zwei hübſche, kleine, pechſchwarze Affen, von der Größe des
Saï, mit Wickelſchwänzen. Ihrem Geſichte und ihren Be-
wegungen nach konnte es weder der Coaïta, noch der Chamek,
noch überhaupt ein Atele ſein. Sogar unſere Indianer hatten
nie dergleichen geſehen. In dieſen Wäldern gibt es eine
[31] Menge Sapaju, welche die Zoologen in Europa noch nicht
kennen, und da die Affen, beſonders die in Rudeln lebenden
und darum rührigeren, zu gewiſſen Zeiten weit wandern, ſo
kommt es vor, das bei Eintritt der Regenzeit die Einge-
borenen bei ihren Hütten welche anſichtig werden, die ſie nie
zuvor geſehen. Am ſelben Ufer zeigten uns unſere Führer
ein Neſt junger Leguane, die nur 10 cm lang waren. Sie
waren kaum von einer gemeinen Eidechſe zu unterſcheiden.
Die Rückenſtacheln, die großen aufgerichteten Schuppen, all
die Anhängſel, die dem Leguan, wenn er 1,3 bis 1,6 m lang
iſt, ein ſo ungeheuerliches Anſehen geben, waren kaum in
Rudimenten vorhanden. Das Fleiſch dieſer Eidechſe fanden
wir in allen ſehr trockenen Ländern von angenehmem Ge-
ſchmack, ſelbſt zu Zeiten, wo es uns nicht an anderen Nah-
rungsmitteln fehlte. Es iſt ſehr weiß und nach dem Fleiſch
des Tatu oder Gürteltiers, das hier Cachicamo heißt, eines
der beſten, die man in den Hütten der Eingeborenen findet.


Gegen Abend regnete es; vor dem Regen ſtrichen die
Schwalben, die vollkommen den unſerigen glichen, über die
Waſſerfläche hin. Wir ſahen auch, wie ein Flug Papageien
von kleinen Habichten ohne Hauben verfolgt wurden. Das
durchdringende Geſchrei der Papageien ſtach vom Pfeifen der
Raubvögel ſeltſam ab. Wir übernachteten unter freiem Himmel
am Geſtade, in der Nähe der Inſel Carizales. Nicht weit
ſtanden mehrere indianiſche Hütten auf Pflanzungen. Unſer
Steuermann kündigte uns zum voraus an, daß wir den Ja-
guar hier nicht würden brüllen hören, weil er, wenn er nicht
großen Hunger hat, die Orte meidet, wo er nicht allein Herr
iſt. „Die Menſchen machen ihn übellaunig,“ „los hombres
lo enfadan,“
ſagt das Volk in den Miſſionen, ein ſpaßhafter,
naiver Ausdruck für eine richtige Beobachtung.


Am 3. April. — Seit der Abfahrt von San Fernando
iſt uns kein einziges Kanoe auf dem ſchönen Strome begegnet.
Ringsum herrſcht tiefe Einſamkeit. Am Morgen fingen unſere
Indianer mit der Angel den Fiſch, der hierzulande Ka-
ribe
oder Caribito heißt, weil keiner ſo blutgierig iſt. Er
fällt die Menſchen beim Baden und Schwimmen an und reißt
ihnen oft anſehnliche Stücke Fleiſch ab. Iſt man anfangs
auch nur unbedeutend verletzt, ſo kommt man doch nur ſchwer
aus dem Waſſer, ohne die ſchlimmſten Wunden davonzu-
tragen. Die Indianer fürchten dieſe Karibenfiſche ungemein,
und verſchiedene zeigten uns an Waden und Schenkeln ver-
[32] narbte, ſehr tiefe Wunden, die von dieſen kleinen Tieren her-
rührten, die bei den Maypures Umati heißen. Sie leben
auf dem Boden der Flüſſe, gießt man aber ein paar Tropfen
Blut ins Waſſer, ſo kommen ſie zu Tauſenden herauf. Be-
denkt man, wie zahlreich dieſe Fiſche ſind, von denen die ge-
fräßigſten und blutgierigſten nur 8 bis 10 cm lang werden,
betrachtet man ihre dreiſeitigen ſchneidenden, ſpitzen Zähne
und weites retraktiles Maul, ſo wundert man ſich nicht, daß
die Anwohner des Apure und des Orinoko den Karibe ſo
ſehr fürchten. An Stellen, wo der Fluß ganz klar und kein
Fiſch zu ſehen war, warfen wir kleine blutige Fleiſchſtücke ins
Waſſer. In wenigen Minuten war ein ganzer Schwarm von
Karibenfiſchen da und ſtritt ſich um den Fraß. Der Fiſch
hat einen kantigen, ſägenförmig gekerbten Bauch, ein Merkmal,
das mehreren Gattungen, den Serra-Salmen, den My-
leten
und den Priſtigaſtern zukommt. Nach dem Vor-
handenſein einer zweiten fetten Rückenfloße und der Form der
von den Lippen bedeckten, auseinanderſtehenden, in der unteren
Kinnlade größeren Zähne gehört der Karibe zu den Serra-
Salmen. Er hat ein viel weiter geſpaltenes Maul als Cu-
viers Myleten. Der Körper iſt am Rücken aſchgrau, ins
Grünliche ſpielend; aber Bauch, Kiemen, Bruſt-, Bauch- und
Afterfloßen ſind ſchön orangegelb. Im Orinoko kommen drei
Arten (oder Spielarten?) vor, die man nach der Größe unter-
ſcheidet. Die mittlere ſcheint identiſch mit Marcgravs mitt-
lerer Art des Piraya oder Piranha (Salmo rhombeus, Linné).
Ich habe ſie an Ort und Stelle gezeichnet. Der Caribito hat
einen ſehr angenehmen Geſchmack. Weil man nirgends zu
baden wagt, wo er vorkommt, iſt er als eine der größten
Plagen dieſer Landſtriche zu betrachten, wo der Stich der
Moskiten und der Ueberreiz der Haut das Baden zu einem
dringenden Bedürfnis machen.


Wir hielten gegen mittag an einem unbewohnten Ort,
Algodonal genannt. Ich trennte mich von meinen Ge-
fährten, während man das Fahrzeug ans Land zog und das
Mittageſſen rüſtete. Ich ging am Geſtade hin, um in der
Nähe einen Trupp Krokodile zu beobachten, die in der Sonne
ſchliefen, wobei ſie ihre mit breiten Platten belegten Schwänze
aufeinanderlegten. Kleine Schneeweiße Reiher 1 liefen ihnen
[33] auf dem Rücken, ſogar auf dem Kopf herum, als wären es
Baumſtämme. Die Krokodile waren graugrün, halb mit
trockenem Schlamm überzogen: ihrer Farbe und ihrer Regungs-
loſigkeit nach konnte man ſie für Bronzebilder halten. Wenig
fehlte aber, ſo wäre mir der Spaziergang übel bekommen.
Ich hatte immer nur nach dem Fluſſe hingeſehen, aber indem ich
Glimmerblättchen aus dem Sande aufnahm, bemerkte ich die
friſche Fährte eines Tigers, die an ihrer Form und Größe
ſo leicht zu erkennen iſt. Das Tier war dem Walde zuge-
gangen, und als ich nun dorthin blickte, ſah ich 80 Schritte
von mir einen Jaguar unter dem dichten Laub eines Ceiba
liegen. Nie iſt mir ein Tiger ſo groß vorgekommen.


Es gibt Vorfälle im Leben, wo man vergeblich die Ver-
nunft zu Hilfe ruft. Ich war ſehr erſchrocken, indeſſen noch
ſo weit Herr meiner ſelbſt und meiner Bewegungen, daß ich
die Verhaltungsmaßregeln befolgen konnte, die uns die In-
dianer ſchon oft für dergleichen Fälle erteilt hatten. Ich ging
weiter, lief aber nicht; ich vermied es, die Arme zu bewegen,
und glaubte zu bemerken, daß der Jaguar mit ſeinen Ge-
danken ganz bei einer Herde Capybaras war, die über den
Fluß ſchwammen. Jetzt kehrte ich um und beſchrieb einen
ziemlich weiten Bogen dem Ufer zu. Je weiter ich von ihm
wegkam, deſto raſcher glaubte ich gehen zu können. Wie oft
war ich in Verſuchung, mich umzuſehen, ob ich nicht verfolgt
werde! Glücklicherweiſe gab ich dieſem Drange erſt ſehr ſpät
nach. Der Jaguar war ruhig liegen geblieben. Dieſe un-
geheuren Katzen mit geflecktem Fell ſind hierzulande, wo es
Capybaras, Biſamſchweine und Hirſche im Ueberfluß gibt, ſo
gut genährt, daß ſie ſelten einen Menſchen anfallen. Ich
kam atemlos beim Schiffe an und erzählte den Indianern
mein Abenteuer. Sie ſchienen nicht viel daraus zu machen;
indeſſen luden wir unſere Flinten, und ſie gingen mit uns
auf den Ceibabaum zu, unter dem der Jaguar gelegen. Wir
trafen ihn nicht mehr, und ihm in den Wald nachzugehen,
war nicht geraten, da man ſich zerſtreuen oder in einer Reihe
durch die verſchlungenen Lianen gehen muß.


Abends kamen wir an der Mündung des Caño del
1
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 3
[34]Manati vorüber, ſo genannt wegen der ungeheuren Menge
Manati oder Lamantine, die jährlich hier gefangen werden.
Dieſes grasfreſſende Waſſerſäugetier, das die Indianer Apcia
und Avia nennen, wird hier meiſt 3,25 bis 4 m lang und
250 bis 400 kg ſchwer. Wir ſahen das Waſſer mit dem
Kot desſelben bedeckt, der ſehr ſtinkend iſt, aber ganz dem
des Rindviehs gleicht. Es iſt im Orinoko unterhalb der Ka-
tarakte, im Meta und im Apure zwiſchen den beiden Inſeln
Carizales und Conſerva ſehr häufig. Wir fanden keine Spur
von Nägeln auf der äußeren Fläche und am Rande der Schwimm-
floſſen, die ganz glatt ſind; zieht man aber die Haut der
Floſſe ab, ſo zeigen ſich an der dritten Phalange kleine Nägel-
rudimente. Bei einem 3 m langen Tier, das wir in Cari-
chana, einer Miſſion am Orinoko, zergliederten, ſprang die
Oberlippe 10 cm über die untere vor. Jene iſt mit einer
ſehr zarten Haut bekleidet und dient als Rüſſel oder Fühler
zum Betaſten der vorliegenden Körper. Die Mundhöhle, die
beim friſch getöteten Tier auffallend warm iſt, zeigt einen
ganz eigentümlichen Bau. Die Zunge iſt faſt unbeweglich;
aber vor derſelben befindet ſich in jeder Kinnlade ein fleiſchiger
Knopf und eine mit ſehr harter Haut ausgekleidete Höhlung,
die ineinander paſſen. Der Lamantin verſchluckt ſo viel Gras,
daß wir ſowohl den in mehrere Fächer geteilten Magen als
den 35 m langen Darm ganz damit angefüllt fanden. Schneidet
man das Tier am Rücken auf, ſo erſtaunt man über die
Größe, Geſtalt und Lage ſeiner Lunge. Sie hat ungemein
große Zellen und gleicht ungeheuren Schwimmblaſen; ſie iſt
1 m lang. Mit Luft gefüllt hat ſie ein Volumen von mehr
als 1000 Kubikzoll. Ich mußte mich nur wundern, daß
der Lamantin mit ſo anſehnlichen Luftbehältern ſo oft an die
Waſſerfläche heraufkommt, um zu atmen. Sein Fleiſch, das
aus irgend einem Vorurteil, für ungeſund und calenturioso
(fiebererzeugend) gilt, iſt ſehr ſchmackhaft; es ſchien mir mehr
Aehnlichkeit mit Schweinefleiſch als mit Rindfleiſch zu haben.
Die Guamos und Otomaken eſſen es am liebſten, daher geben
ſich auch dieſe zwei Stämme vorzugsweiſe mit dem Seekuh-
fang ab. Das eingeſalzene und an der Sonne gedörrte Fleiſch
wird das ganze Jahr aufbewahrt, und da dieſes Säugetier
bei der Kleriſei für einen Fiſch gilt, ſo iſt es in den Faſten
ſehr geſucht. Der Lamantin hat ein äußerſt zähes Leben;
man harpuniert ihn und bindet ihn ſodann, ſchlachtet ihn
aber erſt, nachdem er in die Piroge geſchafft worden. Dies
[35] geſchieht oft, wenn das Tier ſehr groß iſt, mitten auf dem
Fluſſe, und zwar ſo, daß man die Piroge zu zwei Dritt-
teilen mit Waſſer füllt, ſie unter das Tier ſchiebt und mit
einer Kürbisflaſche wieder ausſchöpft. Am leichteſten ſind
ſie am Ende der großen Ueberſchwemmungen zu fangen, wenn
ſie aus den Strömen in die umliegenden Seen und Sümpfe
geraten ſind und das Waſſer ſchnell fällt. Zur Zeit, wo die
Jeſuiten den Miſſionen am unteren Orinoko vorſtanden, kamen
dieſe alle Jahre in Cabruta unterhalb dem Apure zuſammen,
um mit den Indianern aus ihren Miſſionen am Fuße des
Berges, der gegenwärtig el Capuchino heißt, eine große See-
kuhjagd anzuſtellen. Das Fett des Tiers, die Manteca de
Manati, wird in den Kirchenlampen gebrannt, und man kocht
auch damit. Es hat nicht den widrigen Geruch des Walfiſch-
thranes oder des Fettes anderer Cetaceen mit Spritzlöchern.
Die Haut der Seekuh, die über 4 cm dick iſt, wird in
Streifen zerſchnitten, und dieſe dienen in den Llanos, wie die
Streifen von Ochſenhaut, als Stricke. Kommt ſie ins Waſſer,
ſo hat ſie den Fehler, daß ſie zu faulen anfängt. Man macht
in den ſpaniſchen Kolonieen Peitſchen daraus, daher auch die
Worte Latigo und Manati gleichbedeutend ſind. Dieſe Peit-
ſchen aus Seekuhhaut ſind ein ſchreckliches Werkzeug zur Züch-
tigung der unglücklichen Sklaven, ja der Indianer in den
Miſſionen, die nach den Geſetzen als freie Menſchen behandelt
werden ſollten.


Wir übernachteten der Inſel Conſerva gegenüber. Als
wir am Waldſaume hingingen, fiel uns ein ungeheurer, 22 m
hoher, mit veräſteten Dornen bedeckter Baum auf. Die In-
dianer nennen ihn Barba de Tigre. Es iſt vielleicht ein Baum
aus der Familie der Berberideen oder Sauerdorne. Die In-
dianer hatten unſere Feuer dicht am Waſſer angezündet; da
fanden wir wieder, daß ſein Glanz die Krokodile herlockte,
und ſogar die Delphine (Toninas), deren Lärm uns nicht
ſchlafen ließ, bis man das Feuer auslöſchte. Wir wurden in
dieſer Nacht zweimal auf die Beine gebracht, was ich nur
anführe, weil es ein paar Züge zum Bilde dieſer Wildnis
liefert. Ein weiblicher Jaguar kam unſerem Nachtlager nahe,
um ſein Junges am Strome trinken zu laſſen. Die Indianer
verjagten ihn; aber noch geraume Zeit hörten wir das Ge-
ſchrei des Jungen, das wie das Miauen einer jungen Katze
klang. Bald darauf wurde unſere große Dogge von unge-
heuren Fledermäuſen, die um unſere Hängematten flatterten,
[36] vorne an der Schnauze gebiſſen oder, wie die Eingeborenen
ſagen, geſtochen. Sie hatten lange Schwänze wie die Mo-
loſſen; ich glaube aber, daß es Phylloſtomen waren, deren
mit Warzen beſetzte Zunge ein Saugorgan iſt, das ſie be-
deutend verlängern können. Die Wunde war ganz klein und
rund. Der Hund heulte kläglich, ſobald er den Biß fühlte,
aber nicht aus Schmerz, ſondern weil er über die Fledermäuſe,
als ſie unter unſeren Hängematten hervorkamen, erſchrak.
Dergleichen Fälle ſind weit ſeltener, als man im Lande ſelbſt
glaubt. Obgleich wir in Ländern, wo die Vampyre und ähn-
liche Fledermausarten ſo häufig ſind, ſo manche Nacht unter
freiem Himmel geſchlafen haben, ſind wir doch nie von ihnen
gebiſſen worden. Ueberdem iſt der Stich keineswegs gefähr-
lich und der Schmerz meiſt ſo unbedeutend, daß man erſt
aufwacht, wenn die Fledermaus ſich bereits davongemacht hat.


Am 4. April. Dies war unſer letzter Tag auf dem
Apure. Der Pflanzenwuchs an den Ufern wurde immer ein-
förmiger. Seit einigen Tagen, beſonders ſeit der Miſſion
Arichuna, fingen wir an, arg von den Inſekten gequält zu
werden, die ſich uns auf Geſicht und Hände ſetzten. Es waren
keine Moskiten, die den Habitus kleiner Mücken von der
Gattung Simulium haben, 1 ſondern Zancudos, echte Schna-
ken, aber von unſerem Culex pipiens ganz verſchieden. Sie
kommen erſt nach Sonnenuntergang zum Vorſchein; ihr Saug-
rüſſel iſt ſo lang, daß, wenn ſie ſich an die Unterſeite der
Hängematte ſetzen, ihr Stachel durch die Hängematte und die
dickſten Kleider dringt.


Wir wollten in der Vuelta del Palmito übernachten,
aber an dieſem Strich des Apure gibt es ſo viele Jaguare,
daß unſere Indianer, als ſie unſere Hängematten befeſtigen
wollten, ihrer zwei hinter einem Courbarilſtamm verſteckt
fanden. Man riet uns, das Schiff wieder zu beſteigen und unſer
Nachtlager auf der Inſel Apurito, ganz nahe beim Einfluß in
den Orinoko, aufzuſchlagen. Dieſer Teil der Inſel gehört zu der
Provinz Caracas, dagegen das rechte Ufer des Apure zu der
Provinz Varinas und das rechte Ufer des Orinoko zu Spaniſch-
Guyana. Wir fanden keine Bäume, um unſere Hängematten
zu befeſtigen, und mußten am Boden auf Ochſenhäuten ſchlafen.
[37] Die Kanoen ſind zu eng und wimmeln zu ſehr von Zancudos,
als daß man darin übernachten könnte.


An der Stelle, wo wir unſere Inſtrumente ans Land
gebracht hatten, war das Ufer ziemlich ſteil, und da ſahen
wir denn einen neuen Beweis von der oben beſprochenen
Trägheit der hühnerartigen Vögel unter den Tropen. Die
Hocco und Pauxi 1 kommen immer mehrmals des Tages an
den Fluß herunter, um ihren Durſt zu löſchen. Sie trinken
viel und in kurzen Pauſen. Eine Menge dieſer Vögel und
ein Schwarm Parraqua-Faſanen hatten ſich bei unſerem
Nachtlager zuſammengefunden. Es wurde ihnen ſehr ſchwer,
am abſchüſſigen Ufer hinaufzukommen; ſie verſuchten es mehrere
Male, ohne ihre Flügel zu brauchen. Wir jagten ſie vor uns
her wie Schafe. Die Zamurosgeier entſchließen ſich gleichfalls
ſehr ſchwer zum Auffliegen.


Ich konnte nach Mitternacht eine gute Beobachtung der
Meridianhöhe α des ſüdlichen Kreuzes anſtellen. Der Einfluß
des Apure liegt unter 7° 36′ 23″ der Breite. Pater Gu-
milla gibt 5° 5′, d’Anville 7° 3′, Caulin 7° 26′ an. Die
Länge der Boca des Apure iſt nach den Sonnenhöhen, die
ich am 5. April morgens aufgenommen, 69° 7′ 29″, oder
1° 12′ 41″ öſtlich vom Meridian von San Fernando.


Am 5. April. Es fiel uns ſehr auf, wie gering die
Waſſermaſſe iſt, welche der Apure in dieſer Jahreszeit dem
Orinoko zuführt. Derſelbe Strom, der nach meinen Meſſungen
beim Caño Rico noch 265 m breit war, maß an ſeiner Aus-
mündung nur zwiſchen 117 und 156 m.2 Seine Tiefe betrug
hier nur 5,8 bis 9,7 m. Er verliert allerdings Waſſer durch
den Rio Arichuna und den Caño del Manati, zwei Arme des
Apure, die zum Payara und Guarico laufen; aber der größte
Verluſt ſcheint von der Einſickerung an den Ufern herzurühren,
von der oben die Rede war. Die Geſchwindigkeit der Strö-
mung bei der Ausmündung war nur 1 m in der Sekunde,
ſo daß ich die ganze Waſſermaſſe leicht berechnen könnte, wenn
mir durch Sondierung in kurzen Abſtänden alle Dimenſionen
des Querſchnitts bekannt wären. Der Barometer, der in
San Fernando, 9,1 m über dem mittleren Waſſerſtand des
Apure, um 9½ Uhr morgens 747 mm hoch geſtanden hatte,
[38] ſtand an der Ausmündung des Apure in den Orinoko 778 mm
hoch. Rechnet man die ganze Länge des Weges (die Krüm-
mungen des Stromes mitgerechnet) 1 zu 175 km, und nimmt
man die kleine, wegen der ſtündlichen Schwankung des Baro-
meters vorzunehmende Korrektion in Rechnung, ſo ergibt ſich
im Durchſchnitt ein Gefälle von 346 mm auf 1855 m. La
Condamine und der gelehrte Major Rennel glauben, daß der
Fall des Amazonenſtromes und des Ganges durchſchnittlich
kaum 10 bis 14 cm auf 1855 m beträgt.


Wir fuhren, ehe wir in den Orinoko einliefen, mehrmals
auf; die Anſchwemmungen ſind beim Zuſammenfluß der beiden
Ströme ungeheuer groß. Wir mußten uns längs des Ufers
am Tau ziehen laſſen. Welcher Kontraſt zwiſchen dieſem Zu-
ſtande des Stromes unmittelbar vor dem Beginn der Regen-
zeit, wo die Wirkungen der Trockenheit der Luft und der
Verdunſtung ihr Maximum erreicht haben, und dem Stande
im Herbſte, wo der Apure gleich einem Meeresarm, ſo weit
das Auge reicht, über den Grasfluren ſteht! Gegen Süd
ſahen wir die einzelſtehenden Hügel bei Coruato; im Oſten
fingen die Granitfelſen von Curiquima, der Zuckerhut von
Caycara und die Cerros del Tirano an, über den Horizont
emporzuſteigen. Mit einem gewiſſen Gefühl der Rührung
ſahen wir zum erſtenmal, wonach wir uns ſo lange geſehnt,
die Gewäſſer des Orinoko, an einem von der Meeresküſte ſo
weit entfernten Punkte.


[[39]]

Nennzehntes Kapitel.


Zuſammenfluß des Apure mit dem Orinoko. — Die Gebirge von
Encaramada. — Uruana. — Baraguan. — Carichana. — Der Einfluß
des Meta. — Die Inſel Panumana.


Mit der Ausfahrt aus dem Apure ſahen wir uns in ein
ganz anderes Land verſetzt. So weit das Auge reichte, dehnte
ſich eine ungeheure Waſſerfläche, einem See gleich, vor uns
aus. Das durchdringende Geſchrei der Reiher, Flamingo
und Löffelgänſe, wenn ſie in langen Schwärmen von einem
Ufer zum anderen ziehen, erfüllte nicht mehr die Luft. Ver-
geblich ſahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren
gewerbsmäßige Liſten bei jeder Sippe wieder andere ſind.
Die ganze Natur ſchien weniger belebt. Kaum bemerkten wir
in den Buchten der Wellen hie und da ein großes Krokodil,
das mittels ſeines Schwanzes die bewegte Waſſerfläche ſchief
durchſchnitt. Der Horizont war von einem Waldgürtel be-
grenzt, aber nirgends traten die Wälder bis ans Strombett
vor. Breite, beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzte Ufer, kahl
und dürr wie der Meeresſtrand, glichen infolge der Luft-
ſpiegelung von weitem Lachen ſtehenden Waſſers. Dieſe ſan-
digen Ufer verwiſchten vielmehr die Grenzen des Stromes,
ſtatt ſie für das Auge feſtzuſtellen; nach dem wechſelnden
Spiel der Strahlenbrechung rückten die Ufer bald nahe heran,
bald wieder weit weg.


Dieſe zerſtreuten Landſchaftszüge, dieſes Gepräge von
Einſamkeit und Großartigkeit kennzeichnen den Lauf des Ori-
noko, eines der gewaltigſten Ströme der Neuen Welt. Aller-
orten haben die Gewäſſer wie das Land ihren eigentümlichen,
individuellen Charakter. Das Bett des Orinoko iſt ganz anders
als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und
des Amazonenſtromes. Dieſe Unterſchiede rühren nicht bloß
von der Breite und der Geſchwindigkeit des Stromes her;
[40] ſie beruhen auf einer Geſamtheit von Verhältniſſen, die an
Ort und Stelle leichter aufzufaſſen, als genau zu beſchreiben
ſind. So erriete ein erfahrener Schiffer ſchon an der Form
der Wogen, an der Farbe des Waſſers, am Ausſehen des
Himmels und der Wolken, ob er ſich im Atlantiſchen Meere,
oder im Mittelmeere oder im tropiſchen Strich des Großen
Ozeanes befindet.


Der Wind wehte ſtark aus Oſt-Nord-Oſt; er war uns
günſtig, um ſtromaufwärts nach der Miſſion Encaramada zu
ſegeln; aber unſere Piroge leiſtete dem Wogenſchlage ſo ge-
ringen Widerſtand, daß, wer gewöhnlich ſeekrank wurde, bei
der heftigen Bewegung ſelbſt auf dem Fluſſe ſich ſehr un-
behaglich fühlte. Das Scholken rührt daher, daß die Gewäſſer
der beiden Ströme bei der Vereinigung aufeinander ſtoßen.
Dieſer Stoß iſt ſehr ſtark, aber lange nicht ſo gefährlich, als
Pater Gumilla behauptet. Wir fuhren an der Punta Curi-
quima vorbei, einer einzeln ſtehenden Maſſe von quarzigem
Granit, einem kleinen, aus abgerundeten Blöcken beſtehenden
Vorgebirge. Hier, auf dem rechten Ufer des Orinoko, hatte
zur Zeit der Jeſuiten Pater Rotella unter den Palenque-
und Viriviri-Indianern eine Miſſion angelegt. Bei Hoch-
waſſer waren der Berg Curiquima und das Dorf am Fuße
desſelben rings von Waſſer umgeben. Wegen dieſes großen
Uebelſtandes und wegen der Unzahl Moskiten und Niguas, 1
von denen Miſſionäre und Indianer geplagt wurden, gab
man den feuchten Ort auf. Jetzt iſt er völlig verlaſſen, wäh-
rend gegenüber auf dem linken Ufer in den Hügeln von Co-
ruato herumziehende Indianer hauſen, die entweder aus den
Miſſionen oder aus freien, den Mönchen nicht unterworfenen
Stämmen ausgeſtoßen worden ſind.


Die ungemeine Breite des Orinoko zwiſchen der Ein-
mündung des Apure und dem Berge Curiquima fiel mir ſehr
auf; ich berechnete ſie daher nach einer Standlinie, die ich am
weſtlichen Ufer zweimal abgemeſſen. Das Bett des Orinoko
war beim gegenwärtigen tiefen Waſſerſtande 3519 m breit;
aber in der Regenzeit, wenn der Berg Curiquima und der
Hof Capuchino beim Hügel Pocopocori Inſeln ſind, mögen
es 10752 m werden. Zum ſtarken Anſchwellen des Orinoko
[41] trägt auch der Druck der Waſſer des Apure bei, der nicht,
wie andere Nebenflüſſe, mit dem Oberteile des Hauptſtromes
einen ſpitzen Winkel bildet, ſondern unter einem rechten
Winkel einmündet. Wir maßen an verſchiedenen Punkten des
Bettes die Temperatur des Waſſers; mitten im Thalweg, wo
die Strömung am ſtärkſten iſt, betrug ſie 28,3°, in der Nähe
der Ufer 29,2°.


Wir fuhren zuerſt gegen Südweſt hinauf bis zum Ge-
ſtade der Guaricotos-Indianer, auf dem linken Ufer des Ori-
noko, und dann gegen Süd. Der Strom iſt ſo breit, daß
die Berge von Encaramada aus dem Waſſer emporzuſteigen
ſcheinen, wie wenn man ſie über dem Meereshorizonte ſähe.
Sie bilden eine ununterbrochene, von Oſt nach Weſt ſtreichende
Kette, und je näher man ihnen kommt, deſto maleriſcher wird
die Landſchaft. Dieſe Berge beſtehen aus ungeheuren zer-
klüfteten, aufeinander getürmten Granitblöcken. Die Teilung
der Gebirgsmaſſe in Blöcke iſt eine Folge der Verwitterung.
Zum Reize der Gegend von Encaramada trägt beſonders der
kräftige Pflanzenwuchs bei, der die Felswände bedeckt und
nur die abgerundeten Gipfel frei läßt. Man meint, altes
Gemäuer rage aus einem Walde empor. Auf dem Berge,
an den ſich die Miſſion lehnt, dem Tepupano der Tama-
naken, ſtehen drei ungeheure Granitcylinder, von denen zwei
geneigt ſind, während der dritte, unten ſchmälere und über
28 m hohe, ſenkrecht ſtehen geblieben iſt. Dieſer Felſen, deſſen
Form an die Schnarcher im Harz oder an die Orgeln
von Actopan
in Mexiko erinnert, war früher ein Stück
des runden Berggipfels. In allen Erdſtrichen hat der nicht ge-
ſchichtete Granit das Eigentümliche, daß er durch Verwitterung
in prismatiſche, cylindriſche oder ſäulenförmige Blöcke zerfällt.


Gegenüber dem Geſtade der Guaricotos kamen wir in
die Nähe eines anderen, ganz niedrigen, 5,5 bis 8 m langen
Felshaufens. Er ſteht mitten in der Ebene und gleicht nicht
ſowohl einem Tumulus als den Granitmaſſen, die man in
Holland und Niederdeutſchland Hünenbetten nennt. Der
Uferſand an dieſem Stücke des Orinoko iſt nicht mehr reiner
Quarzſand, er beſteht aus Thon und Glimmerblättchen in
ſehr dünnen Schichten, die meiſt unter einen Winkel von
40 bis 50° fallen; er ſieht aus wie verwitterter Glimmer-
ſchiefer. Dieſer Wechſel in der geologiſchen Beſchaffenheit der
Ufer tritt ſchon weit oberhalb der Mündung des Apure ein;
ſchon beim Algodonal und beim Caño de Manati fingen wir
[42] in letzterem Fluſſe an, denſelben zu bemerken. Die Glimmer-
blättchen kommen ohne Zweifel von den Granitbergen von
Curiquima und Encaramada, denn weiter nach Nord und Oſt
findet man nur Quarzſand, Sandſtein, feſten Kalkſtein und
Gips. Daß Anſchwemmungen von Süd nach Nord geführt
werden, kann am Orinoko nicht befremden; aber wie erklärt
ſich dieſelbe Erſcheinung im Bette des Apure, 31 km weſt-
wärts von ſeiner Ausmündung? Beim gegenwärtigen Zu-
ſtande der Dinge läuft der Apure auch beim höchſten Waſſer-
ſtande des Orinoko nie ſo weit rückwärts, und um ſich von
der Erſcheinung Rechenſchaft zu geben, muß man annehmen,
die Glimmerſchichten haben ſich zu einer Zeit niedergeſchlagen,
wo der ganze, ſehr tief gelegene Landſtrich zwiſchen Caycara,
dem Algodonal und den Bergen von Encaramada ein See-
becken war.


Wir verweilten einige Zeit im Hafen von Encaramada;
es iſt dies eine Art Ladeplatz, wo die Schiffe zuſammen-
kommen. Das Ufer beſteht aus einem 13 bis 16 m hohen
Felſen, wieder jenen aufeinander getürmten Granitblöcken, wie
ſie am Schneeberg in Franken und faſt in allen Granitgebirgen
in Europa vorkommen. Manche dieſer abgeſonderten Maſſen
ſind kugelig; es ſind aber keine Kugeln mit konzentriſchen
Schichten, ſondern nur abgerundete Blöcke, Kerne, von denen
das umhüllende Geſtein abgewittert iſt. Der Granit iſt blei-
grau, oft ſchwarz, wie mit Manganoxyd überzogen; aber dieſe
Farbe dringt kaum 0,44 mm tief ins Geſtein, das rötlich-
weiß, grobkörnig iſt und keine Hornblende enthält.


Die indianiſchen Namen der Miſſion San Luis del
Encaramada
ſind Guaja und Caramana. 1 Es iſt dies
[43] das kleine Dorf, das im Jahre 1749 vom Jeſuitenpater Gili,
dem Verfaſſer der in Rom gedruckten Storia dell’ Orinoco,
gegründet wurde. Dieſer in den Indianerſprachen ſehr be-
wanderte Mann lebte hier 18 Jahre in der Einſamkeit bis
zur Vertreibung der Jeſuiten. Man bekommt einen Begriff
davon, wie öde dieſe Landſtriche ſind, wenn man hört, daß
Pater Gili von Carichana, das 180 km von Encaramada liegt,
wie von einem weit entlegenen Orte ſpricht, und daß er nie
bis zu dem erſten Katarakt des Stromes gekommen iſt, an
deſſen Beſchreibung er ſich gewagt hat.


Im Hafen von Encaramada trafen wir Kariben aus
Panapana. Es war ein Kazike, der in ſeiner Piroge zum
berühmten Schildkröteneierfang den Fluß hinaufging. Seine
Piroge war gegen den Boden zugerundet wie ein Bongo
und führte ein kleineres Kanoe, Curiara genannt, mit ſich.
Er ſaß unter einer Art Zelt (Toldo), das, gleich dem Segel,
aus Palmblättern beſtand. Sein kalter, einſilbiger Ernſt,
die Ehrerbietung, die die Seinigen ihm bezeigten, alles zeigte,
daß man einen großen Herrn vor ſich hatte. Der Kazike trug
ſich übrigens ganz wie ſeine Indianer; alle waren nackt, mit
Bogen und Pfeilen bewaffnet und mit Onoto, dem Farbe-
ſtoff des Rocou, bemalt. Häuptling, Dienerſchaft, Geräte,
Fahrzeug, Segel, alles war rot angeſtrichen. Dieſe Kariben
ſind Menſchen von faſt athletiſchem Wuchs; ſie ſchienen uns
weit höher gewachſen als die Indianer, die wir bisher ge-
ſehen. Ihre glatten, dichten, auf der Stirne wie bei den
Chorknaben verſchnittenen Haare, ihre ſchwarz gefärbten Augen-
brauen, ihr finſterer und doch lebhafter Blick gaben ihrem
Geſichtsausdruck etwas ungemein Hartes. Wir hatten bis jetzt
nur in den Kabinetten in Europa ein paar Karibenſchädel von
den Antillen geſehen und waren daher überraſcht, daß bei
dieſen Indianern von reinem Blute die Stirne weit gewölbter
war, als man ſie uns beſchrieben. Die ſehr großen, aber
ekelhaft ſchmutzigen Weiber trugen ihre kleinen Kinder auf dem
Rücken. Die Ober- und Unterſchenkel der Kinder waren in
gewiſſen Abſtänden mit breiten Binden aus Baumwollenzeug
eingeſchnürt. Das Fleiſch unter den Binden wird ſtark zu-
ſammengepreßt und quillt in den Zwiſchenräumen heraus.
Die Kariben verwenden meiſt auf ihr Aeußeres und ihren
Putz ſo viel Sorgfalt, als nackte und rot bemalte Menſchen
nur immer können. Sie legen bedeutenden Wert auf gewiſſe
Körperformen, und eine Mutter würde gewiſſenloſer Gleich-
[44] gültigkeit gegen ihre Kinder beſchuldigt, wenn ſie ihnen nicht
durch künſtliche Mittel die Waden nach der Landesſitte formte.
Da keiner unſerer Indianer vom Apure karibiſch ſprach, konnten
wir uns beim Kaziken von Panapana nicht nach den Lager-
plätzen erkundigen, wo man in dieſer Jahreszeit auf mehreren
Inſeln im Orinoko zum Sammeln der Schildkröteneier zu-
ſammenkommt.


Bei Encaramada trennt eine ſehr lange Inſel den Strom
in zwei Arme. Wir übernachteten in einer Felſenbucht, gegen-
über der Einmündung des Rio Cabullare, zu dem der Payara
und der Atamaica ſich vereinigen, und den manche als einen
Zweig des Apure betrachten, weil er mit dieſem durch den
Rio Arichuna in Verbindung ſteht. Der Abend war ſchön;
der Mond beſchien die Spitzen der Granitfelſen. Trotz der
Feuchtigkeit der Luft war die Wärme ſo gleichmäßig verteilt,
daß man kein Sternflimmern bemerkte, ſelbſt nicht 4 oder 5°
über dem Horizont. Das Licht der Planeten war auf-
fallend geſchwächt, und ließe mich nicht die Kleinheit des ſchein-
baren Durchmeſſers Jupiters einen Irrtum in der Beobach-
tung fürchten, ſo ſagte ich, wir alle glaubten hier zum erſten-
mal mit bloßem Auge die Scheibe des Jupiters zu ſehen.
Gegen Mitternacht wurde der Nordoſtwind ſehr heftig. Er
führte keine Wolken herauf, aber der Himmel bezog ſich mehr
und mehr mit Dunſt. Es traten ſtarke Windſtöße ein und
machten uns für unſere Piroge beſorgt. Wir hatten den
ganzen Tag über nur ſehr wenige Krokodile geſehen, aber
lauter ungewöhnlich große, 6,5 bis 8 m lange. Die Indianer
verſicherten uns, die jungen Krokodile ſuchen lieber die Lachen
und weniger breite und tiefe Flüſſe auf; beſonders in den
Caños ſind ſie in Menge zu finden, und man könnte von
ihnen ſagen, was Abd-Allatif von den Nilkrokodilen ſagt,
„ſie wimmeln wie Würmer an den ſeichten Stromſtellen und
im Schutz der unbewohnten Inſeln“.


Am 6. April. Wir fuhren erſt gegen Süd, dann gegen
Südweſt weiter den Orinoko hinauf und bekamen den Süd-
abhang der Serrania oder der Bergkette Encaramada zu
Geſicht. Der dem Fuß am nächſten gelegene Strich iſt nicht
mehr als 270 bis 310 m hoch, aber die ſteilen Abhänge, die
Lage mitten in einer Savanne, ihre in unförmliche Prismen
zerklüfteten Felsgipfel laſſen die Serrania auffallend hoch
erſcheinen. Ihre größte Breite beträgt nur 13,5 km; nach
den Mitteilungen von Pareca-Indianern wird ſie gegen Oſt
[45] bedeutend breiter. Die Gipfel der Encaramada bilden den
nördlichſten Zug eines Bergſtockes, welcher ſich am rechten Ufer
des Orinoko zwiſchen dem 5. und 7½ Grad der Breite, vom
Einfluß des Rio Zama bis zu dem des Cabullare hinzieht.
Zwiſchen den verſchiedenen Zügen dieſes Bergſtockes liegen
kleine grasbewachſene Ebenen. Sie laufen einander nicht ganz
parallel, denn die nördlichſten ziehen ſich von Weſt nach Oſt,
die ſüdlichſten von Nordweſt nach Südoſt. Aus dieſer ver-
ſchiedenen Richtung erklärt ſich vollkommen, warum die Kor-
dillere der Parime gegen Oſt, zwiſchen den Quellen des Ori-
noko und des Rio Paruspa, breiter wird. Wenn wir ein-
mal über die großen Katarakte von Atures und Maypures
hinauf gelangt ſind, werden wir hintereinander 7 Hauptketten
erſcheinen ſehen, die Berge Encaramada oder Sacuina, Cha-
viripa, Baraguan, Carichana, Uniama, Calitamini und Sipapo.
Dieſe Ueberſicht mag einen allgemeinen Begriff von der geo-
logiſchen Beſchaffenheit des Bodens geben. Ueberall auf dem
Erdball zeigen die Gebirge, wenn ſie noch ſo unregelmäßig
gruppiert ſcheinen, eine Neigung zu regelmäßigen Formen.
Jede Kette erſcheint einem, wenn man auf dem Orinoko fährt,
im Querſchnitt als ein einzelner Berg, aber die Iſolierung
iſt nur ſcheinbar. Die Regelmäßigkeit im Streichen und dem
Auseinandertreten der Ketten ſcheint geringer zu werden, je
weiter man gegen Oſten kommt. Die Berge der Encaramada
hängen mit denen des Mato zuſammen, in welchen der Rio
Aſiveru oder Cuchivero entſpringt; die Berge von Chaviripe er-
ſtrecken ſich durch ihre Ausläufer, die Granitberge Coroſal, Amoco
und Murcielago, bis zu den Quellen des Erevato und Ventuari.


Ueber dieſe Berge, die von ſanftmütigen, ackerbauenden
Indianern bewohnt ſind, ließ bei der Expedition an die Grenze
General Iturriaga das Hornvieh gehen, mit dem die neue
Stadt San Fernando de Atabapo verſorgt werden ſollte. Die
Einwohner der Encaramada zeigten da den ſpaniſchen Sol-
daten den Weg zum Rio Manapiari, der in den Ventuari
mündet. Fährt man dieſe beiden Flüſſe hinab, ſo gelangt
man in den Orinoko und Atabapo, ohne über die großen
Katarakte zu kommen, über welche Vieh hinaufzuſchaffen ſo
gut wie unmöglich wäre. Der Unternehmungsgeiſt, der den
Kaſtilianern zur Zeit der Entdeckung von Amerika in ſo vor-
züglichem Grade eigen war, lebte in der Mitte des 18. Jahr-
hunderts auf kurze Friſt noch einmal auf, als König Fer-
dinand IV. die wahren Grenzen ſeiner ungeheuren Beſitzungen
[46] kennen lernen wollte, und in den Wäldern von Guyana, dem
klaſſiſchen Lande der Lüge und der märchenhaften Ueberliefe-
rungen, die Argliſt der Indianer die ſchimäriſche Vorſtellung
von den Schätzen des Dorado, welche die [Einbildungskraft]
der erſten Eroberer ſo gewaltig beſchäftigt hatte, von neuem
in Umlauf brachte.


In dieſen Bergen der Encaramada, die, wie der meiſte
grobkörnige Granit, keine Gänge enthalten, fragt man ſich,
wo die Goldgeſchiebe herkommen, welche Juan Martinez 1 und
Ralegh bei den Indianern am Orinoko in ſo großer Menge
geſehen haben wollen. Nach meinen Beobachtungen in dieſem
Teile von Amerika glaube ich, daß das Gold, wie das Zinn,
zuweilen in kaum ſichtbaren Teilchen durch die ganze Maſſe
des Granitgeſteins zerſtreut iſt, ohne daß man kleine veräſtete
und ineinander verſchlungene Gänge anzunehmen hat. Noch
nicht lange fanden Indianer aus Encaramada in der Que-
brada del Tigre (Tigerſchlucht) ein Goldkorn von 4 mm Durch-
meſſer. Es war rund und ſchien im Waſſer gerollt. Dieſe
Entdeckung war den Miſſionären noch wichtiger als den In-
dianern, aber ſie blieb alleinſtehend.


Ich kann dieſes erſte Glied des Bergſtockes der Encara-
mada nicht verlaſſen, ohne eines Umſtandes zu erwähnen, der
Pater Gili nicht unbekannt geblieben war, und deſſen man
während unſeres Aufenthaltes in den Miſſionen am Orinoko
häufig gegen uns erwähnte. Unter den Eingeborenen dieſer
Länder hat ſich die Sage erhalten, „beim großen Waſſer, als
ihre Väter das Kanoe beſteigen mußten, um der allgemeinen
Ueberſchwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres
die Felſen von Encaramada beſpült“. Dieſe Sage kommt
nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor,
ſie gehört zu einem Kreiſe geſchichtlicher Ueberlieferungen, aus
dem ſich einzelne Vorſtellungen bei den Maypures an den
großen Katarakten, bei den Indianern am Rio Erevato, der
ſich in den Caura ergießt, und faſt bei allen Stämmen am
oberen Orinoko finden. Fragt man die Tamanaken, wie das
Menſchengeſchlecht dieſe große Kataſtrophe, die Waſſerzeit
der Mexikaner, überlebt habe, ſo ſagen ſie, „ein Mann und
ein Weib haben ſich auf einen hohen Berg, Namens Ta-
manacu, am Ufer des Aſiveru, geflüchtet; da haben ſie Früchte
der Mauritiapalme hinter ſich über ihre Köpfe geworfen, und
[47] aus den Kernen derſelben ſeien Männlein und Weiblein ent-
ſproſſen, welche die Erde wieder bevölkerten“. In ſolch ein-
facher Geſtalt lebt bei jetzt wilden Völkern eine Sage, welche
von den Griechen mit allem Reiz der Einbildungskraft ge-
ſchmückt worden iſt. Ein paar Meilen von Encaramada ſteht
mitten in der Savanne ein Fels, der ſogenannte Tepume-
reme, der gemalte Fels
. Man ſieht darauf Tierbilder
und ſymboliſche Zeichen, ähnlich denen, wie wir ſie auf der
Rückfahrt auf dem Orinoko nicht weit unterhalb Encaramada
bei der Stadt Caycara geſehen. In Afrika heißen dergleichen
Felſen bei den Reiſenden Fetiſchſteine. Ich vermeide den
Ausdruck, weil die Eingeborenen am Orinoko von einem
Fetiſchdienſt nichts wiſſen, und weil die Bilder, die wir an
nunmehr unbewohnten Orten an Felſen gefunden, Sterne,
Sonnen, Tiger, Krokodile, mir keineswegs Gegenſtände reli-
giöſer Verehrung vorzuſtellen ſcheinen. Zwiſchen dem Caſſi-
quiare und dem Orinoko, zwiſchen Encaramada, Capuchino
und Caycara ſind die hieroglyphiſchen Figuren häufig ſehr
hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels
ſehr hoher Gerüſte gelangen könnte. Fragt man nun die
Eingeborenen, wie es möglich geweſen ſei, die Bilder einzu-
hauen, ſo erwidern ſie lächelnd, als ſprächen ſie eine That-
ſache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt ſein kann,
„zur Zeit des großen Waſſers ſeien ihre Väter ſo hoch
oben im Kanoe gefahren“.


Dieſe alten Sagen des Menſchengeſchlechtes, die wir gleich
Trümmern eines großen Schiffbruches über den Erdball zer-
ſtreut finden, ſind für die Geſchichtsphiloſophie von höchſter
Bedeutung. Wie gewiſſe Pflanzenfamilien in allen Klimaten
und in den verſchiedenſten Meereshöhen das Gepräge des ge-
meinſamen Typus behalten, ſo haben die kosmogoniſchen
Ueberlieferungen der Völker aller Orten denſelben Charakter,
eine Familienähnlichkeit, die uns in Erſtaunen ſetzt. Im
Grundgedanken hinſichtlich der Vernichtung der lebendigen
Schöpfung und der Erneuerung der Natur weichen die Sagen
faſt gar nicht ab, aber jedes Volk gibt ihnen eine örtliche
Färbung. Auf den großen Feſtländern wie auf den kleinſten
Inſeln im Stillen Meere haben ſich die übrig gebliebenen Men-
ſchen immer auf den höchſten Berg in der Nähe geflüchtet,
und das Ereignis erſcheint deſto neuer, je roher die Völker
ſind und je weniger, was ſie von ſich ſelbſt wiſſen, weit zurück-
reicht. Unterſucht man die mexikaniſchen Denkmale aus der
[48] Zeit vor der Entdeckung der Neuen Welt genau, dringt man
in die Wälder am Orinoko, ſieht man, wie unbedeutend, wie
vereinzelt die europäiſchen Niederlaſſungen ſind, und in welchen
Zuſtänden die unabhängig gebliebenen Stämme verharren, ſo
kann man nicht daran denken, die eben beſprochene Ueberein-
ſtimmung dem Einfluß der Miſſionäre und des Chriſtentums auf
die Volksſagen zuzuſchreiben. Ebenſo unwahrſcheinlich iſt es,
daß die Völker am Orinoko durch den Umſtand, daß ſie
Meeresprodukte hoch oben in den Gebirgen gefunden, auf die
Vorſtellung vom großen Waſſer gekommen ſein ſollten, das
eine Zeitlang die Keime des organiſchen Lebens auf der Erde
vernichtet habe. Das Land am rechten Ufer des Orinoko bis
zum Caſſiquiare und Rio Negro beſteht aus Urgebirge. Ich
habe dort wohl eine kleine Sandſtein- oder Konglomeratfor-
mation angetroffen, aber keinen ſekundären Kalkſtein, keine
Spur von Verſteinerungen.


Der friſche Nordoſtwind brachte uns mit vollen Segeln
zur Boca de la Tortuga. Gegen 11 Uhr vormittags
ſtiegen wir an einer Inſel mitten im Strome aus, welche
die Indianer in der Miſſion Uruana als ihr Eigentum be-
trachten. Dieſe Inſel iſt berühmt wegen des Schildkröten-
fanges, oder, wie man hier ſagt, wegen der Coſecha, der
Eierernte, die jährlich hier gehalten wird. Wir fanden hier
viele Indianer beiſammen und unter Hütten aus Palmblättern
gelagert. Das Lager war über 300 Köpfe ſtark. Seit San
Fernando am Apure waren wir nur an öde Geſtade ge-
wöhnt, und ſo fiel uns das Leben, das hier herrſchte, unge-
mein auf. Außer den Guamos und Otomaken aus Uruana,
die beide für wilde, unzähmbare Stämme gelten, waren Ka-
riben und andere Indianer vom unteren Orinoko da. Jeder
Stamm lagerte für ſich und unterſchied ſich durch die Farbe,
mit der die Haut bemalt war. Wir fanden in dieſem lär-
menden Haufen einige Weiße, namentlich „Pulperos“ oder
Krämer aus Angoſtura, die den Fluß heraufgekommen waren,
um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen. Wir
trafen auch den Miſſionär von Uruana, der aus Alcala de
Henarez gebürtig war. Der Mann verwunderte ſich nicht
wenig, uns hier zu finden. Nachdem er unſere Inſtrumente
bewundert, entwarf er uns eine übertriebene Schilderung
von den Beſchwerden, denen wir uns notwendig ausſetzten,
wenn wir auf dem Orinoko bis über die Fälle hinaufgingen.
Der Zweck unſerer Reiſe ſchien ihm in bedeutendes Dunkel
[49] gehüllt. „Wie ſoll einer glauben,“ ſagte er, „daß ihr euer
Vaterland verlaſſen habt, um euch auf dieſem Fluſſe von den
Moskiten aufzehren zu laſſen und Land zu vermeſſen, das
euch nicht gehört?“ Zum Glück hatten wir Empfehlungen
vom Pater Gardian der Franziskaner-Miſſion bei uns, und
der Schwager des Statthalters von Varinas, der bei uns war,
machte bald den Bedenken ein Ende, die durch unſere Tracht,
unſern Accent und unſere Ankunft auf dieſem ſandigen Eiland
unter den Weißen aufgetaucht waren. Der Miſſionär lud
uns zu ſeinem frugalen Mahle aus Bananen und Fiſchen ein
und erzählte uns, er ſei mit den Indianern über die „Eier-
ernte“ herübergekommen, „um jeden Morgen unter freiem
Himmel die Meſſe zu leſen und ſich das Oel für die Altar-
lampe zu verſchaffen, beſonders aber um dieſe Republica de
Indios y Castellanos
in Ordnung zu halten, in der jeder
für ſich allein haben wollte, was Gott allen beſchert“.


Wir umgingen die Inſel in Begleitung des Miſſionärs
und eines Pulpero, der ſich rühmte, daß er ſeit zehn Jahren
ins Lager der Indianer und zur Pesca de Tortugas komme.
Man beſucht dieſes Stück des Orinoko, wie man bei uns
die Meſſen von Frankfurt und Beaucaire beſucht. Wir be-
fanden uns auf einem ganz ebenen Sandſtriche. Man ſagte
uns: „So weit das Auge an den Ufern hin reicht, liegen
Schildkröteneier unter einer Erdſchicht.“ Der Miſſionär trug
eine lange Stange in der Hand. Er zeigte uns, wie man
mit der Stange (vara) ſondiert, um zu ſehen, wie weit die
Eier ſchicht reicht, wie der Bergmann die Grenzen eines
Lagers von Mergel, Raſeneiſenſtein oder Steinkohle ermittelt.
Stößt man die Vara ſenkrecht in den Boden, ſo ſpürt man
daran, daß der Widerſtand auf einmal aufhört, daß man in
die Höhlung oder das loſe Erdreich, in dem die Eier liegen,
gedrungen iſt. Wie wir ſahen, iſt die Schicht im ganzen ſo
gleichförmig verbreitet, daß die Sonde in einem Halbmeſſer
von 19,5 m rings um einen gegebenen Punkt ſicher darauf
ſtößt. Auch ſpricht man hier nur von Quadratſtangen
Eiern
, wie wenn man ein Bodenſtück, unter dem Mine-
ralien liegen, in Loſe teilte und ganz regelmäßig abbaute.
Indeſſen bedeckt die Eierſchicht bei weitem nicht die ganze
Inſel; ſie hört überall auf, wo der Boden raſch anſteigt,
weil die Schildkröte auf dieſe kleinen Plateaus nicht hinauf-
kriechen kann. Ich erzählte meinen Führern von den hoch-
trabenden Beſchreibungen Pater Gumillas, wie die Ufer des
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 4
[50] Orinoko nicht ſo viel Sandkörner enthalten als der Strom
Schildkröten, und wie dieſe Tiere die Schiffe in ihrem Laufe
aufhielten, wenn Menſchen und Tiger nicht alljährlich ſo viele
töteten. „Son cuentos de frailes,“ ſagte der Krämer aus
Angoſtura leiſe, denn da arme Miſſionäre hierzulande die ein-
zigen Reiſenden ſind, ſo nennt man hier „Pfaffenmärchen“, was
man in Europa den Reiſenden überhaupt aufbürden würde.


Die Indianer verſicherten uns, von der Mündung des
Orinoko bis zum Einfluß des Apure herauf finde man keine
einzige Inſel und kein einziges Geſtade, wo man Schild-
kröteneier in Maſſe ſammeln könnte. Die große Schildkröte,
der Arrau (ſprich Arra-u), meidet von Menſchen bewohnte
oder von Fahrzeugen beſuchte Orte. Es iſt ein furchtſames,
ſcheues Tier, das den Kopf über das Waſſer ſtreckt und ſich
beim leiſeſten Geräuſch verſteckt. Die Uferſtrecken, wo faſt
ſämtliche Schildkröten des Orinoko ſich jährlich zuſammenzu-
finden ſcheinen, liegen zwiſchen dem Zuſammenfluß des Orinoko
und des Apure und den großen Fällen oder Raudales, das
heißt zwiſchen Cabruta und der Miſſion Atures. Hier be-
finden ſich die drei berühmten Fangplätze Encaramada oder
Boca del Cabullare, Cucuruparu oder Boca de la Tortuaa,
und Pararuma, etwas unterhalb Carichana. Die Arrauſchild-
kröte geht, wie es ſcheint, nicht über die Fälle hinauf, und
wie man uns verſichert, kommen oberhalb Atures und May-
pures nur Terekayſchildkröten vor. Es iſt hier der Ort,
einige Worte über dieſe beiden Arten und ihr Verhältnis zu
den verſchiedenen Familien der Schildkröten zu ſagen.


Wir beginnen mit der Arrauſchildkröte, welche die
Spanier in den Kolonieen kurzweg Tortuga nennen, und
deren Geſchlecht für die Völker am unteren Orinoko von ſo
großer Bedeutung iſt. Es iſt eine große Süßwaſſerſchild-
kröte, mit Schwimmfüßen, ſehr plattem Kopf, zwei fleiſchigen,
ſehr ſpitzen Anhängen unter dem Kinn, mit fünf Zehen an
den Vorder- und vier an den Hinterfüßen, die unterhalb ge-
furcht ſind. Der Schild hat 5 Platten in der Mitte, 8 ſeit-
liche und 24 Randplatten; er iſt oben ſchwarzgrau, unten
orangegelb, die Füße ſind gleichfalls orangegelb und ſehr
lang. Zwiſchen den Augen iſt eine ſehr tiefe Furche. Die
Nägel ſind ſehr ſtark und gebogen. Die Afteröffnung be-
findet ſich am letzten Fünfteil des Schwanzes. Das er-
wachſene Tier wiegt 20 bis 25 kg. Die Eier, weit größer
als Taubeneier, ſind nicht ſo länglich wie die Eier des Terekay.
[51] Sie haben eine Kalkſchale und ſollen ſo feſt ſein, daß die
Kinder der Otomaken, die ſtarke Ballſpieler ſind, ſie einander
zuwerfen können. Käme der Arrau oberhalb der Katarakte
im Strome vor, ſo gingen die Indianer am oberen Orinoko
nicht ſo weit nach dem Fleiſch und den Eiern dieſer Schild-
kröte; man ſah aber früher ganze Volksſtämme von den Flüſſen
Atabapo und Caſſiquiare über die Raudales herabkommen,
um am Fang bei Uruana teilzunehmen.


Die Terekay ſind kleiner als die Arrau. Sie haben
meiſt nur 37 cm Durchmeſſer. Ihr Schild hat gleichviel
Platten, ſie ſind aber etwas anders verteilt. Ich zählte 4
im Mittelpunkt und zu jeder Seite 5 ſechsſeitige, am Rande
24 vierſeitige, ſtark gebogene. Der Schild iſt ſchwarz, ins
Grüne ſpielend; Füße und Nägel ſind wie beim Arrau. Das
ganze Tier iſt olivengrün, hat aber oben auf dem Kopfe zwei
aus rot und gelb gemiſchte Flecke. Auch der Hals iſt gelb
und hat einen ſtacheligen Anhang. Die Terekay thun ſich
nicht in große Schwärme zuſammen wie die Arrau, um ihre
Eier miteinander auf demſelben Ufer zu legen. Die Eier des
Terekay haben einen angenehmen Geſchmack und ſind bei den
Bewohnern von Spaniſch-Guyana ſehr geſucht. Sie kommen
ſowohl im oberen Orinoko als unterhalb der Fälle vor, ferner
im Apure, Uritucu, Guarico und den kleinen Flüſſen, welche
durch die Llanos von Caracas laufen. Nach der Bildung der
Füße und des Kopfes, nach den Anhängen an Kinn und Hals
und nach der Stellung der Afteröffnung ſcheint der Arrau
und wahrſcheinlich auch der Terekay eine neue Untergattung
zu bilden, die von den Emyden zu trennen wäre. Durch die
Anhänge und die Stellung des Afters nähern ſie ſich der
Emys nasuta Schweiggers und dem Matamata in Fran-
zöſiſch-Guyana, unterſcheiden ſich aber von letzterem durch
die Form der Schildplatten, die keine pyramidaliſchen Buckel
haben.


Die Zeit, wo die große Arrauſchildkröte ihre Eier legt,
fällt mit dem niedrigſten Waſſerſtand zuſammen. Da der
Orinoko von der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche an zu
ſteigen anfängt, ſo liegen von Anfang Januar bis zum 20.
oder 25. März die tiefſten Uferſtellen trocken. Die Arrau
ſammeln ſich ſchon im Januar in große Schwärme; ſie gehen
jetzt aus dem Waſſer und wärmen ſich auf dem Sand in der
Sonne. Die Indianer glauben, das Tier bedürfe zu ſeinem
Wohlbefinden notwendig ſtarker Hitze und das Liegen in der
[52] Sonne befördere das Eierlegen. Den ganzen Februar findet
man die Arrau faſt den ganzen Tag auf dem Ufer. Zu
Anfang März vereinigen ſich die zerſtreuten Haufen und
ſchwimmen zu den wenigen Inſeln, auf denen ſie gewöhnlich
ihre Eier legen. Wahrſcheinlich kommt dieſelbe Schildkröte
jedes Jahr an dasſelbe Ufer. Um dieſe Zeit, wenige Tage
vor dem Legen, erſcheinen viele tauſend Schildkröten in langen
Reihen an den Ufern der Inſeln Cucuruparu, Uruana und
Pararuma, recken den Hals und halten den Kopf über dem
Waſſer, ausſchauend, ob nichts von Tigern oder Menſchen zu
fürchten iſt. Die Indianer, denen viel daran liegt, daß die
vereinigten Schwärme auch beiſammen bleiben, daß ſich die
Schildkröten nicht zerſtreuen und in aller Ruhe ihre Eier
legen können, ſtellen längs des Ufers Wachen auf. Man be-
deutet den Fahrzeugen, ſich mitten im Strome zu halten und
die Schildkröten nicht durch Geſchrei zu verſcheuchen. Die
Eier werden immer bei Nacht gelegt, aber gleich von Sonnen-
untergang an. Das Tier gräbt mit ſeinen Hinterfüßen, die
ſehr lang ſind und krumme Klauen haben, ein 1 m weites
und 60 cm tiefes Loch. Die Indianer behaupten, um den
Uferſand zu befeſtigen, benetze die Schildkröte denſelben mit
ihrem Harn, und man glaubt ſolches am Geruche wahrzu-
nehmen, wenn man ein friſch gegrabenes Loch oder Eierneſt,
wie man hier ſagt, öffnet. Der Drang der Tiere zum Eier-
legen iſt ſo ſtark, daß manche in die von anderen gegrabenen,
noch nicht wieder mit Erde ausgefüllten Löcher hinuntergehen
und auf die friſch gelegte Eierſchicht noch eine zweite legen.
Bei dieſem ſtürmiſchen Durcheinander werden ungeheuer viele
Eier zerbrochen. Der Miſſionär zeigte uns, indem er den
Sand an mehreren Stellen aufgrub, daß der Verluſt ein
Dritteil der ganzen Ernte betragen mag. Durch das ver-
trocknete Gelb der zerbrochenen Eier backt der Sand noch
ſtärker zuſammen, und wir fanden Quarzſand und zerbrochene
Eierſchalen in großen Klumpen zuſammengekittet. Der Tiere,
welche in der Nacht am Ufer graben, ſind ſo unermeßlich viele,
daß manche der Tag überraſcht, ehe ſie mit dem Legen fertig
werden konnten. Da treibt ſie der doppelte Drang, ihre Eier
los zu werden und die gegrabenen Löcher zuzudecken, damit
der Tiger ſie nicht ſehen möge. Die Schildkröten, die ſich
verſpätet haben, achten auf keine Gefahr, die ihnen ſelbſt droht.
Sie arbeiten unter den Augen der Indianer, die frühmorgens
auf das Ufer kommen. Man nennt ſie „närriſche Schild-
[53] kröten“. Trotz ihrer ungeſtümen Bewegungen fängt man ſie
leicht mit den Händen.


Die drei Indianerlager an den oben erwähnten Orten
werden Ende März und in den erſten Tagen Aprils eröffnet.
Die Eierernte geht das eine Mal vor ſich wie das andere, mit
der Regelmäßigkeit, die bei allem herrſcht, was von Mönchen
ausgeht. Ehe die Miſſionäre an den Fluß kamen, beuteten
die Eingeborenen ein Produkt, das die Natur hier in ſo reicher
Fülle bietet, in weit geringerem Maße aus. Jeder Stamm
durchwühlte das Ufer nach ſeiner eigenen Weiſe und es wurden
unendlich viele Eier mutwillig zerbrochen, weil man nicht
vorſichtig grub und mehr Eier fand, als man mitnehmen
konnte. Es war, als würde eine Erzgrube von ungeſchickten
Händen ausgebeutet. Den Jeſuiten gebührt das Verdienſt,
daß ſie die Ausbeutung geregelt haben, und die Franziskaner,
welche die Jeſuiten in den Miſſionen am Orinoko abgelöſt
haben, rühmen ſich zwar, daß ſie das Verfahren ihrer Vor-
gänger einhalten, gehen aber leider keineswegs mit der ge-
hörigen Vorſicht zu Werke. Die Jeſuiten gaben nicht zu, daß
das ganze Ufer ausgebeutet wurde; ſie ließen ein Stück un-
berührt liegen, weil ſie beſorgten, die Arrauſchildkröten möchten,
wenn nicht ausgerottet werden, doch bedeutend abnehmen.
Jetzt wühlt man das ganze Ufer rückſichtslos um, und man
meint auch zu bemerken, daß die Ernten von Jahr zu Jahr
geringer werden.


Iſt das Lager aufgeſchlagen, ſo ernennt der Miſſionär
von Uruana ſeinen Stellvertreter oder den Kommiſſär, der
den Landſtrich, wo die Eier liegen, nach der Zahl der Indianer-
ſtämme, die ſich in die Ernte teilen, in Loſe zerlegt. Es ſind
lauter „Indianer aus den Miſſionen“, aber ſo nackt und ver-
ſunken wie die „Indianer aus den Wäldern“; man nennt
ſie reducidos und neofitos, weil ſie zur Kirche gehen, wenn
man die Glocke zieht, und gelernt haben, bei der Wandlung
auf die Kniee zu fallen.


Der Commiſſionado del Padre beginnt das Geſchäft
damit, daß er den Boden ſondiert. Mit einer langen höl-
zernen Stange, wie oben bemerkt, oder mit einem Bambu-
rohr unterſucht er, wie weit die „Eierſchicht“ reicht. Nach
unſeren Meſſungen erſtreckt ſich die Schicht bis zu 40 m vom
Ufer und iſt im Durchſchnitt 1 m tief. Der Kommiſſär ſteckt
ab, wie weit jeder Stamm arbeiten darf. Mit Verwunde-
rung hört man den Ertrag der Eierernte gerade wie den Er-
[54] trag eines Getreideackers ſchätzen. Es kam vor, daß ein
Areal genau 40 m lang und 10 m breit 100 Krüge oder für
1000 Franken Oel gab. Die Indianer graben den Boden
mit den Händen auf, legen die geſammelten Eier in kleine,
Mappiri genannte Körbe, tragen ſie ins Lager und werfen
ſie in große, mit Waſſer gefüllte hölzerne Tröge. In dieſen
Trögen werden die Eier mit ſchaufeln zerdrückt und umgerührt
und der Sonne ausgeſetzt, bis das Eigelb (der ölige Teil), das
obenauf ſchwimmt, dick geworden iſt. Dieſer ölige Teil wird,
wie er ſich auf dem Waſſer ſammelt, abgeſchöpft und bei
einem ſtarken Feuer gekocht. Dieſes tieriſche Oel, das bei
den Spaniern manteca de tortugas heißt, ſoll ſich deſto
beſſer halten, je ſtärker es gekocht wird. Gut zubereitet iſt
es ganz hell, geruchlos und kaum ein wenig gelb. Die Miſ-
ſionäre ſchätzen es dem beſten Olivenöl gleich, und man braucht
es nicht nur zum Brennen, ſondern auch, und zwar vorzugs-
weiſe, zum Kochen, da es den Speiſen keinerlei unangenehmen
Geſchmack gibt. Es hält indeſſen ſchwer, ganz reines Schild-
krötenöl zu bekommen. Es hat meiſt einen fauligen Geruch,
der davon herrührt, daß Eier darunter geraten ſind, in denen
ſich, weil ſie ſchon länger der Sonne ausgeſetzt geweſen, die
jungen Schildkröten (los tortuguillos) bereits ausgebildet
hatten. Dieſe unangenehme Erfahrung machten wir nament-
lich auf der Rückreiſe vom Rio Negro, wo das flüſſige Fett,
das wir hatten, braun und übelriechend geworden war. Die
Gefäße hatten einen faſerigen Bodenſatz, und dies iſt das
Kennzeichen des unreinen Schildkrötenöls.


Ich teile hier einige ſtatiſtiſche Angaben mit, die ich an
Ort und Stelle aus dem Munde des Miſſionärs von Uruana,
ſeines Kommiſſärs und der Krämer aus Angoſtura erhalten.
Das Ufer von Uruana gibt jährlich 1000 Botijas 1 oder Krüge
Oel (manteca). Der Krug gilt in der Hauptſtadt von Guyana,
gemeinhin Angoſtura genannt, 2 bis 2½ Piaſter. Der ganze
Ertrag der drei Uferſtrecken, wo jährlich die Cosecha oder
Ernte gehalten wird, läßt ſich auf 5000 Botijas anſchlagen.
Da nun 200 Eier eine Weinflaſche oder „limeta“ voll Oel
geben, ſo kommen 5000 Eier auf einen Krug oder eine Botija.
Nimmt man an, jede Schildkröte gebe 100 bis 116 Eier, und
ein Drittel werde während des Legens, namentlich von den
[55] „närriſchen“ Schildkröten zerbrochen, ſo ergibt ſich, daß, ſollen
jährlich 5000 Krüge Oel gewonnen werden, 330 000 Arrau-
ſchildkröten, die zuſammen 165 000 Zentner wiegen, auf den
drei Ernteplätzen 33 Millionen Eier legen müſſen. Und mit
dieſer Rechnung bleibt man noch weit unter der wahren Zahl.
Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; viele werden
im Augenblick, wo ſie aus dem Waſſer gehen, von den Ja-
guaren gefreſſen; die Indianer nehmen viele Eier mit, um
ſie an der Sonne zu trocknen und zu eſſen, und ſie zerbrechen
bei der Ernte ſehr viele aus Fahrläſſigkeit. Die Menge der
Eier, die bereits ausgeſchlüpft ſind, ehe der Menſch darüber
kommt, iſt ſo ungeheuer, daß ich beim Lagerplatz von Uruana
das ganze Ufer des Orinoko von jungen, 26 mm breiten
Schildkröten wimmeln ſah, die mit Not den Kindern der In-
dianer entkamen, welche Jagd auf ſie machten. Nimmt man
noch hinzu, daß nicht alle Arrau zu den drei Lagerplätzen
kommen, daß viele zwiſchen der Mündung des Orinoko und
dem Einfluß des Apure einzeln und ein paar Wochen ſpäter
legen, ſo kommt man notwendig zu dem Schluß, daß ſich die
Zahl der Schildkröten, welche jährlich an den Ufern des unteren
Orinoko ihre Eier legen, nahezu auf eine Million beläuft.
Dies iſt ausnehmend viel für ein Tier von beträchtlicher
Größe, das einen halben Zentner ſchwer wird, und unter
deſſen Geſchlecht der Menſch ſo furchtbar aufräumt. Im
allgemeinen pflanzt die Natur in der Tierwelt die großen
Arten in geringerer Zahl fort als die kleinen.


Das Erntegeſchäft und die Zubereitung des Oels währen
drei Wochen. Nur um dieſe Zeit ſtehen die Miſſionen mit
der Küſte und den benachbarten civiliſierten Ländern in Ver-
kehr. Die Franziskaner, die ſüdlich von den Katarakten leben,
kommen zur Eierernte nicht ſowohl, um ſich Oel zu ver-
ſchaffen, als um weiße Geſichter zu ſehen, wie ſie ſagen,
und um zu hören, „ob der König ſich im Eskorial oder in
San Ildefonſo aufhält, ob die Klöſter in Frankreich noch
immer aufgehoben ſind, vor allem aber, ob der Türke ſich
noch immer ruhig verhält“. Das iſt alles, wofür ein Mönch
am Orinoko Sinn hat, Dinge, worüber die Krämer aus Ango-
ſtura, die in die Lager kommen, nicht einmal genaue Aus-
kunft geben können. In dieſen weit entlegenen Ländern wird
eine Neuigkeit, die ein Weißer aus der Hauptſtadt bringt, nie-
mals in Zweifel gezogen. Zweifeln iſt faſt ſoviel wie Denken,
und wie ſollte man es nicht beſchwerlich finden, den Kopf
[56] anzuſtrengen, wenn man ſein Leben lang über die Hitze und
die Stiche der Moskiten zu klagen hat?


Die Oelhändler haben 70 bis 80 Prozent Gewinn; denn
die Indianer verkaufen den Krug oder die Botija für einen
harten Piaſter an ſie, und die Transportkoſten machen für den
Krug nur zwei Fünftel Piaſter. Die Indianer, welche die
Cosecha de huevos mitmachen, bringen auch ganze Maſſen
an der Sonne getrockneter oder leicht geſottener Eier nach
Hauſe. Unſere Ruderer hatten immer welche in Körben oder
kleinen Säcken von Baumwollenzeug. Der Geſchmack kam uns
nicht unangenehm vor, wenn ſie gut erhalten ſind. Man
zeigte uns große, von Jaguaren geleerte Schildkrötenpanzer.
Die Tiger gehen den Arrau auf die Uferſtriche nach, wo ſie
legen wollen. Sie überfallen ſie auf dem Sande, und um
ſie gemächlich verzehren zu können, kehren ſie ſie um, ſo daß
der Bruſtſchild nach oben ſieht. Aus dieſer Lage können die
Schildkröten ſich nicht aufrichten, und da der Tiger ihrer
weit mehr umwendet, als er in der Nacht verzehren kann,
ſo machen ſich die Indianer häufig ſeine Liſt und ſeine bos-
hafte Habſucht zu nutze.


Wenn man bedenkt, wie ſchwer der reiſende Naturforſcher
den Körper der Schildkröte herausbringt, wenn er Rücken-
und Bruſtſchild nicht trennen will, ſo kann man die Gewandt-
heit des Tigers nicht genug bewundern, der mit ſeiner Tatze
den Doppelſchild des Arrau leert, als wären die Anſätze der
Muskeln mit einem chirurgiſchen Inſtrumente losgetrennt.
Der Tiger verfolgt die Schildkröte ſogar ins Waſſer, wenn
dieſes nicht ſehr tief iſt. Er gräbt auch die Eier aus und
iſt nächſt dem Krokodil, den Reihern und dem Gallinazogeier
der furchtbarſte Feind der friſch ausgeſchlüpften Schildkröten.
Im verfloſſenen Jahre wurde die Inſel Pararuma während
der Eierernte von ſo vielen Krokodilen heimgeſucht, daß die
Indianer in einer einzigen Nacht ihrer 18, 4 bis 5 m lange,
mit hakenförmigen Eiſen und Seekuhfleiſch daran, fingen.
Außer den eben erwähnten Waldtieren thun auch die wilden
Indianer der Oelbereitung bedeutenden Eintrag. Sobald die
erſten kleinen Regenſchauer, von ihnen „Schildkrötenregen“
genannt, ſich einſtellen, ziehen ſie an die Ufer des Orinoko
und töten mit vergifteten Pfeilen die Schildkröten, die mit
emporgerecktem Kopf und ausgeſtreckten Tatzen ſich ſonnen.


Die jungen Schildkröten (tortuguillos) zerbrechen die
Eiſchale bei Tage, man ſieht ſie aber nie anders als bei Nacht
[57] aus dem Boden ſchlüpfen. Die Indianer behaupten, das
junge Tier ſcheue die Sonnenhitze. Sie wollten uns auch
zeigen, wie der Tortuguillo, wenn man ihn in einem Sack
weit weg vom Ufer trägt und ſo an den Boden ſetzt, daß er
dem Fluſſe den Rücken kehrt, alsbald den kürzeſten Weg zum
Waſſer einſchlägt. Ich geſtehe, daß dieſes Experiment, von
dem ſchon Pater Gumilla ſpricht, nicht immer gleich gut ge-
lingt; meiſt aber ſchienen mir die kleinen Tiere ſehr weit
vom Ufer, ſelbſt auf einer Inſel, mit äußerſt feinem Gefühl
zu ſpüren, von woher die feuchteſte Luft weht. Bedenkt man,
wie weit ſich die Eierſchicht faſt ohne Unterbrechung am Ufer
hin erſtreckt, und wie viele Tauſende kleiner Schildkröten gleich
nach dem Ausſchlüpfen dem Waſſer zugehen, ſo läßt ſich nicht
wohl annehmen, daß ſo viele Schildkröten, die am ſelben Orte
ihre Neſter gegraben, ihre Jungen herausfinden und ſie, wie
die Krokodile thun, in die Lachen am Orinoko führen können.
So viel iſt aber gewiß, daß das Tier ſeine erſten Lebensjahre
in den ſeichteſten Lachen zubringt und erſt, wenn es erwachſen
iſt, in das große Flußbett geht. Wie finden nun die Tortu-
guillos dieſe Lachen? Werden ſie von weiblichen Schildkröten
hingeführt, die ſich ihrer annehmen, wie ſie ihnen aufſtoßen?
Die Krokodile, deren weit nicht ſo viele ſind, legen ihre Eier
in abgeſonderte Löcher, und wir werden bald ſehen, daß in
dieſer Eidechſenfamilie das Weibchen gegen das Ende der
Brutzeit wieder hinkommt, den Jungen ruft, die darauf ant-
worten, und ihnen meiſt aus dem Boden hilft. Die Arrau-
ſchildkröte erkennt ſicher, ſo gut wie das Krokodil, den Ort
wieder, wo ſie ihr Neſt gemacht; da ſie aber nicht wagt,
wieder zum Ufer zu kommen, wo die Indianer ihr Lager auf-
geſchlagen haben, wie könnte ſie ihre Jungen von fremden
Tortuguillos unterſcheiden? Andererſeits wollen die Otomaken
beim Hochwaſſer weibliche Schildkröten geſehen haben, die eine
ganze Menge junger Schildkröten hinter ſich hatten. Dies
waren vielleicht Arrau, die allein an einem einſamen Ufer
gelegt hatten, zu dem ſie wieder kommen konnten. Männ-
liche Tiere ſind unter den Schildkröten ſehr ſelten; unter
mehreren Hunderten trifft man kaum eines. Der Grund
dieſer Erſcheinung kann hier nicht derſelbe ſein wie bei den
Krokodilen, die in der Brunſt einander blutige Gefechte liefern.


Unſer Steuermann war in die Playa de Huevos ein-
gelaufen, um einige Mundvorräte zu kaufen, die bei uns auf
die Neige gingen. Wir fanden daſelbſt friſches Fleiſch, Reis
[58] aus Angoſtura, ſogar Zwieback aus Weizenmehl. Unſere In-
dianer füllten die Piroge zu ihrem eigenen Bedarf mit jungen
Schildkröten und an der Sonne getrockneten Eiern. Nach-
dem wir vom Miſſionär, der uns ſehr herzlich aufgenommen,
uns verabſchiedet hatten, gingen wir gegen 4 Uhr abends
unter Segel. Der Wind blies friſch und in Stößen. Seit
wir uns im gebirgigen Teile des Landes befanden, hatten wir
die Bemerkung gemacht, daß unſere Piroge ein ſehr ſchlechtes
Segelwerk führe; aber der „Patron“ wollte den Indianern,
die am Ufer beiſammen ſtanden, zeigen, daß er, wenn er ſich
dicht am Wind halte, mit einem Schlage mitten in den
Strom kommen könne. Aber eben, als er ſeine Geſchicklich-
keit und die Kühnheit ſeines Manövers pries, fuhr der Wind
ſo heftig in das Segel, daß wir beinahe geſunken wären.
Der eine Bord kam unter Waſſer und dasſelbe ſtürzte mit
ſolcher Gewalt herein, daß wir bis zu den Knieen darin
ſtanden. Es lief über ein Tiſchchen weg, an dem ich im
Hinterteil des Fahrzeuges eben ſchrieb. Kaum rettete ich mein
Tagebuch, und im nächſten Augenblick ſahen wir unſere Bücher,
Papiere und getrockneten Pflanzen umherſchwimmen. Bon-
pland ſchlief mitten in der Piroge. Vom eindringenden
Waſſer und dem Geſchrei der Indianer aufgeſchreckt, überſah
er unſere Lage ſogleich mit der Kaltblütigkeit, die ihm unter
allen Verhältniſſen treu geblieben iſt. Der im Waſſer ſtehende
Bord hob ſich während der Windſtöße von Zeit zu Zeit wieder,
und ſo gab er das Fahrzeug nicht verloren. Sollte man es
auch verlaſſen müſſen, ſo konnte man ſich, glaubte er, durch
Schwimmen retten, da ſich kein Krokodil blicken ließ. Wäh-
rend wir ſo ängſtlich geſpannt waren, riß auf einmal das
Tauwerk des Segels. Derſelbe Sturm, der uns auf die
Seite geworfen, half uns jetzt aufrichten. Man machte ſich
alsbald daran, das Waſſer mit den Früchten der Crescentia
Cujete
auszuſchöpfen; das Segel wurde ausgebeſſert, und
in weniger als einer halben Stunde konnten wir wieder weiter
fahren. Der Wind hatte ſich etwas gelegt. Windſtöße, die
mit Windſtillen wechſeln, ſind übrigens hier, wo der Orinoko
im Gebirge läuft, ſehr häufig und können überladenen Schiffen
ohne Verdeck ſehr gefährlich werden. Wir waren wie durch
ein Wunder gerettet worden. Der Steuermann verſchanzte
ſich hinter ſein indianiſches Phlegma, als man ihn heftig
ſchalt, daß er ſich zu nahe am Winde gehalten. Er äußerte
kaltblütig, „es werde hier herum den weißen Leuten nicht an
[59] Sonne fehlen, um ihre Papiere zu trocknen“. Wir hatten
nur ein einziges Buch eingebüßt, und zwar den erſten Band
von Schrebers Genera plantarum, der ins Waſſer gefallen
war. Dergleichen Verluſte thun weh, wenn man auf ſo
wenige wiſſenſchaftliche Werke beſchränkt iſt.


Mit Einbruch der Nacht ſchlugen wir unſer Nachtlager
auf einer kahlen Inſel mitten im Strome in der Nähe der
Miſſion Uruana auf. Bei herrlichem Mondſchein, auf großen
Schildkrötenpanzern ſitzend, die am Ufer lagen, nahmen wir
unſer Abendeſſen ein. Wie herzlich freuten wir uns, daß wir
alle beiſammen waren! Wir ſtellten uns vor, wie es einem
ergangen wäre, der ſich beim Schiffbruch allein gerettet hätte,
wie er am öden Ufer auf und ab irrte, wo er jeden Augen-
blick an ein Waſſer kam, das in den Orinoko läuft und durch
das er wegen der vielen Krokodile und Karibenfiſche nur mit
Lebensgefahr ſchwimmen konnte. Und dieſer Mann mit ge-
fühlvollem Herzen weiß nicht, was aus ſeinen Unglücksgefährten
geworden iſt, und ihr Los bekümmert ihn mehr als das ſeine!
Gern überläßt man ſich ſolchen wehmütigen Vorſtellungen,
weil einen nach einer überſtandenen Gefahr unwillkürlich nach
ſtarken Eindrücken fort verlangt. Jeder von uns war inner-
lich mit dem beſchäftigt, was ſich eben vor unſeren Augen
zugetragen hatte. Es gibt Momente im Leben, wo einem,
ohne daß man gerade verzagte, vor der Zukunft banger iſt
als ſonſt. Wir waren erſt drei Tage auf dem Orinoko und
vor uns lag eine dreimonatliche Fahrt auf Flüſſen voll Klippen,
in Fahrzeugen noch kleiner als das, mit dem wir beinahe
zu Grunde gegangen wären.


Die Nacht war ſehr ſchwül. Wir lagen am Boden auf
Häuten, da wir keine Bäume zum Befeſtigen der Hängematten
fanden. Die Plage der Moskiten wurde mit jedem Tage
ärger. Wir bemerkten zu unſerer Ueberraſchung, daß die
Jaguare hier unſere Feuer nicht ſcheuten. Sie ſchwammen
über den Flußarm, der uns vom Lande trennte, und morgens
hörten wir ſie ganz in unſerer Nähe brüllen. Sie waren auf
die Inſel, wo wir die Nacht zubrachten, herübergekommen.
Die Indianer ſagten uns, während der Eierernte zeigen ſich
die Tiger an den Ufern hier immer häufiger als ſonſt, und
ſie ſeien um dieſe Zeit auch am keckſten.


Am 7. April. Im Weiterfahren lag uns zur Rechten
die Einmündung des großen Rio Arauca, der wegen der un-
geheuren Menge von Vögeln berühmt iſt, die auf ihm leben,
[60] zur Linken die Miſſion Uruana, gemeiniglich Concepcion de
Uruana genannt. Das kleine Dorf von 500 Seelen wurde
um das Jahr 1748 von den Jeſuiten gegründet und daſelbſt
Otomaken und Caveres- oder Cabres-Indianer angeſiedelt.
Es liegt am Fuße eines aus Granitblöcken beſtehenden Berges,
der, glaube ich, Saraguaca heißt. Durch die Verwitterung
voneinander getrennte Steinmaſſen bilden hier Höhlen, in
denen man unzweideutige Spuren einer alten Kultur der Ein-
geborenen findet. Man ſieht hier hieroglyphiſche Bilder, ſogar
Züge in Reihen eingehauen. Ich bezweifle indeſſen, daß dieſen
Zügen ein Alphabet zu Grunde liegt. Wir beſuchten die
Miſſion Uruana auf der Rückkehr vom Rio Negro und ſahen
daſelbſt mit eigenen Augen die Erdmaſſen, welche die Otomaken
eſſen und über die in Europa ſo viel geſtritten worden iſt.


Wir maßen die Breite des Orinoko zwiſchen der Isla
de Uruana und der Isla de Manteca, und es ergaben ſich,
bei Hochwaſſer, 5250 m. Er iſt demnach hier, 873 km von
der Mündung, achtmal breiter als der Nil bei Manfalut
und Syut. Die Temperatur des Waſſers an der Oberfläche
war bei Uruana 27,8°; den Zaire- oder Kongofluß in Afrika,
in gleichem Abſtand vom Aequator, fand Kapitän Tuckey im
Juli und Auguſt nur 23,9 bis 25,6° warm. Wir werden in
der Folge ſehen, daß im Orinoko, ſowohl in der Nähe der
Ufer, wo er in dichtem Schatten fließt, als mitten im Strom,
im Thalweg die Temperatur des Waſſers auf 29,5° 1 ſteigt
und nicht unter 27,5° herabgeht; die Lufttemperatur war aber
auch damals, vom April bis Juni, bei Tage meiſt 28 bis 30°,
bei Nacht 24 bis 26°, während im Thale des Kongo von
8 Uhr morgens bis Mittag der Thermometer nur zwiſchen
20,6° und 26,7° ſtand.


Das weſtliche Ufer des Orinoko bleibt flach bis über den
Einfluß des Meta hinauf, wogegen von der Miſſion Uruana
an die Berge immer näher an das öſtliche Ufer herantreten.
Da die Strömung ſtärker wird, je mehr das Flußbett ſich
einengt, ſo kamen wir jetzt mit unſerem Fahrzeuge bedeutend
langſamer vorwärts. Wir fuhren immer noch mit dem Segel
ſtromaufwärts, aber das hohe, mit Wald bewachſene Land
entzog uns den Wind, und dann brachen wieder aus den
engen Schluchten, an denen wir vorbeifuhren, heftige, aber
ſchnell vorübergehende Winde. Unterhalb des Einfluſſes des
[61] Rio Arauca zeigten ſich mehr Krokodile als bisher, beſonders
dem großen See Capanaparo gegenüber, der mit dem Ori-
noko in Verbindung ſteht, wie die Lagune Cabularito zugleich
in letzteren Fluß und in den Rio Arauca ausmündet. Die
Indianer ſagten uns, dieſe Krokodile kommen aus dem inneren
Lande, wo ſie im trockenen Schlamm der Savannen begraben
gelegen. Sobald ſie bei den erſten Regengüſſen aus ihrer
Erſtarrung erwachen, ſammeln ſie ſich in Rudel und ziehen
dem Strome zu, auf dem ſie ſich wieder zerſtreuen. Hier im
tropiſchen Erdſtrich wachen ſie auf, wenn es wieder feuchter
wird; dagegen in Georgien und in Florida, im gemäßigten
Erdſtrich, reißt die wieder zunehmende Wärme die Tiere aus
der Erſtarrung oder dem Zuſtande von Nerven- und Muskel-
ſchwäche, in dem der Atmungsprozeß unterbrochen oder doch
ſehr ſtark beſchränkt wird. Die Zeit der großen Trockenheit,
uneigentlich der Sommer der heißen Zone genannt, ent-
ſpricht dem Winter der gemäßigten Zone, und es iſt phyſio-
logiſch ſehr merkwürdig, daß in Nordamerika die Alligatoren
zur ſelben Zeit der Kälte wegen im Winterſchlaf liegen,
wo die Krokodile in den Llanos ihre Sommerſieſta halten.
Erſchiene es als wahrſcheinlich, daß dieſe derſelben Familie
angehörenden Tiere einmal in einem nördlicheren Lande zu-
ſammen gelebt hätten, ſo könnte man glauben, ſie fühlen,
auch näher an den Aequator verſetzt, noch immer, nachdem
ſie 7 bis 8 Monate ihre Muskeln gebraucht, das Bedürfnis
auszuruhen und bleiben auch unter einem neuen Himmels-
ſtrich ihrem Lebensgang treu, der aufs innigſte mit ihrem
Körperbau zuſammenzuhängen ſcheint.


Nachdem wir an der Mündung der Kanäle, die zum See
Capanaparo führen, vorbeigefahren, betraten wir ein Stromſtück,
wo das Bett durch die Berge des Baraguan eingeengt iſt. Es
iſt eine Art Engpaß, der bis zum Einfluß des Rio Suapure
reicht. Nach den Granitbergen hier hatten die Indianer früher
die Strecke des Orinoko zwiſchen dem Einfluſſe des Arauca und
dem des Atabapo den Fluß Baraguan genannt, wie denn bei
wilden Völkern große Ströme in verſchiedenen Strecken ihres
Laufes verſchiedene Namen haben. Der Paß von Baraguan
iſt ein recht maleriſcher Ort. Die Granitfelſen fallen ſenk-
recht ab, und da die Bergkette, die ſie bilden, von Nordweſt
nach Südoſt ſtreicht, und der Strom dieſen Gebirgsdamm
faſt unter einem rechten Winkel durchbricht, ſo ſtellen ſich die
Höhen als freiſtehende Gipfel dar. Die meiſten ſind nicht
[62] über 330 m hoch, aber durch ihre Lage inmitten einer kleinen
Ebene, durch ihre ſteilen, kahlen Abhänge erhalten ſie etwas
Großartiges. Auch hier ſind wieder ungeheure, an den
Rändern abgerundete Granitmaſſen, in Form von Parallelipi-
peden, übereinander getürmt. Die Blöcke ſind häufig 25 m
lang und 6 bis 10 m breit. Man müßte glauben, ſie ſeien
durch eine äußere Gewalt übereinander gehäuft, wenn nicht
ein ganz gleichartiges, nicht in Blöcke geteiltes, aber von
Gänzen durchzogenes Geſtein anſtünde und deutlich verriete,
daß das Zerfallen in Parallelipipede von atmoſphäriſchen
Einflüſſen herrührt. Jene 5 bis 8 cm mächtigen Gänge be-
ſtehen aus einem quarzreichen, feinkörnigen Granit im grob-
körnigen, faſt porphyrartigen, an ſchönen roten Feldſpatkriſtallen
reichen Granit. Umſonſt habe ich mich in der Kordillere des
Baraguan nach der Hornblende und den Speckſteinmaſſen um-
geſehen, die für mehrere Granite der Schweizer Alpen charak-
teriſtiſch ſind.


Mitten in der Stromenge beim Baraguan gingen wir
ans Land, um dieſelbe zu meſſen. Die Felſen ſtehen ſo dicht
am Fluſſe, daß ich nur mit Mühe eine Standlinie von 156 m
abmeſſen konnte. Ich fand den Strom 1733 m breit. Um
begreiflich zu finden, wie man dieſe Strecke eine Strom-
enge
nennen kann, muß man bedenken, daß der Strom von
Uruana bis zum Einfluß des Meta meiſt 2920 bis 4870 m
breit iſt. Am ſelben, außerordentlich heißen und trockenen
Punkte maß ich zwei ganz runde Granitgipfel, und fand ſie
nur 214 und 166 m hoch. Im Inneren der Bergkette ſind
wohl höhere Gipfel, im ganzen aber ſind dieſe ſo wild aus-
ſehenden Berge lange nicht ſo hoch, als die Miſſionäre angeben.


In den Ritzen des Geſteines, das ſteil wie Mauern da-
ſteht und Spuren von Schichtung zeigt, ſuchten wir vergeblich
nach Pflanzen. Wir fanden nichts als einen alten Stamm der
Aubletia Tiburda mit großer birnförmiger Frucht, und eine
neue Art aus der Familie der Apocyneen (Allamanda salici-
folia
). Das ganze Geſtein war mit zahlloſen Leguanen und
Gecko mit breiten, häutigen Zehen bedeckt. Regungslos, mit
aufgerichtetem Kopfe und offenem Maule ſaßen die Eidechſen
da und ſchienen ſich von der heißen Luft durchſtrömen zu
laſſen. Der Thermometer, an die Felswand gehalten, ſtieg
auf 50,2°. 1 Der Boden ſchien infolge der Luftſpiegelung
[63] auf und ab zu ſchwanken, während ſich kein Lüftchen rührte.
Die Sonne war nahe am Zenith und ihr glänzendes, vom
Spiegel des Stromes zurückgeworfenes Licht ſtach ſcharf ab
vom rötlichen Dunſt, der alle Gegenſtände in der Nähe um-
gab. Wie tief iſt doch der Eindruck, den in dieſen heißen
Landſtrichen um die Mittagszeit die Stille der Natur auf
uns macht! Die Waldtiere verbergen ſich im Dickicht, die
Vögel ſchlüpfen unter das Laub der Bäume oder in Fels-
ſpalten. Horcht man aber in dieſer ſcheinbaren tiefen Stille
auf die leiſeſten Laute, die die Luft an unſer Ohr trägt, ſo
vernimmt man ein dumpfes Schwirren, ein beſtändiges Brauſen
und Summen der Inſekten, von denen alle unteren Luft-
ſchichten wimmeln. Nichts kann dem Menſchen lebendiger vor
die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des
organiſchen Lebens iſt. Myriaden Inſekten kriechen auf dem
Boden oder umgaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten
Gewächſe. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Buſch, aus
faulen Baumſtämmen, aus den Felsſpalten, aus dem Boden,
in dem Eidechſen, Tauſendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben.
Es ſind ebenſo viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles
in der Natur atmet, daß in tauſendfältiger Geſtalt das Leben
im ſtaubigen, zerklüfteten Boden waltet, ſo gut wie im
Schoße der Waſſer und in der Luft, die uns umgibt. Die
Empfindungen, die ich hier andeute, ſind keinem fremd, der
zwar nicht bis zum Aequator gekommen, aber doch in Italien,
in Spanien oder in Aegypten geweſen iſt. Dieſer Kontraſt
zwiſchen Regſamkeit und Stille, dieſes ruhige und doch wieder
ſo bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Ein-
bildungskraft des Reiſenden, ſobald er das Becken des Mittel-
meeres, die Zone der Olive, des Chamärops und der Dattel-
palme betritt.


Wir übernachteten am öſtlichen Ufer des Orinoko am
Fuße eines Granithügels. An dieſem öden Fleck lag früher
die Miſſion San Regis. Gar gern hätten wir im Bara-
guan eine Quelle gefunden. Das Flußwaſſer hatte einen
Biſamgeruch und einen ſüßlichen, äußerſt unangenehmen Ge-
ſchmack. Beim Orinoko wie beim Apure iſt es ſehr auffallend,
wie abweichend ſich in dieſer Beziehung, am dürrſten Ufer,
verſchiedene Stellen im Strome verhalten. Bald iſt das
Waſſer ganz trinkbar, bald ſcheint es mit gallertigen Stoffen
beladen. „Das macht die Rinde (die lederartige Hautdecke)
der faulenden Kaiman,“ ſagen die Indianer. „Je älter der
[64] Kaiman, deſto bitterer iſt ſeine Rinde.“ Ich bezweifle
nicht, daß die Aaſe dieſer großen Reptilien, die der Seekühe,
die 250 kg wiegen, und der Umſtand, daß die im Fluſſe
lebenden Delphine eine ſchleimige Haut haben, das Waſſer
verderben mögen, zumal in Buchten, wo die Strömung ſchwach
iſt. Indeſſen waren die Punkte, wo man das übelriechendſte
Waſſer antraf, nicht immer ſolche, wo wir viele tote Tiere
am Ufer liegen ſahen. Wenn man in dieſem heißen Klima,
wo man fortwährend vom Durſt geplagt iſt, Flußwaſſer mit
einer Temperatur von 27 bis 28° trinken muß, ſo wünſcht
man natürlich, daß ein ſo warmes, mit Sand verunreinigtes
Waſſer wenigſtens geruchlos ſein möchte.


Am 8. April. Im Weiterfahren lagen gegen Oſt die
Einmündungen des Suapure oder Sivapuri und des Caripo,
gegen Weſt die des Sinaruco. Letzterer Fluß iſt nach dem
Rio Arauca der bedeutendſte zwiſchen Apure und Meta. Der
Suapure, der eine Menge kleiner Fälle bildet, iſt bei den
Indianern wegen des vielen wilden Honigs berühmt, den die
Waldungen liefern. Die Meliponen hängen dort ihre unge-
heuren Stöcke an die Baumäſte. Pater Gili hat im Jahre
1766 den Suapure und den Turiva, der ſich in jenen er-
gießt, befahren. Er fand dort Stämme der Nation der
Areverier. Wir übernachteten ein wenig unterhalb der Inſel
Macupina.


Am 9. April. Wir langten frühmorgens am Strande
von Pararuma
an und fanden daſelbſt ein Lager von In-
dianern, ähnlich dem, das wir an der Boca de la Tortuga
geſehen. Man war beiſammen, um den Sand aufzugraben,
die Schildkröteneier zu ſammeln und das Oel zu gewinnen,
aber man war leider ein paar Tage zu ſpät daran. Die
jungen Schildkröten waren ausgekrochen, ehe die Indianer
ihr Lager aufgeſchlagen hatten. Auch hatten ſich die Krokodile
und die Garzes, eine große weiße Reiherart, das Säumnis
zu nutze gemacht. Dieſe Tiere lieben das Fleiſch der jungen
Schildkröten ſehr und verzehren unzählige. Sie gehen auf
dieſen Fang bei Nacht aus, da die Tortuguillos erſt nach der
Abenddämmerung aus dem Boden kriechen und dem nahen
Fluſſe zulaufen. Die Zamurosgeier ſind zu träge, um nach
Sonnenuntergang zu jagen. Bei Tage ſtreifen ſie an den
Ufern umher und kommen mitten ins Lager der Indianer
herein, um Eßwaren zu entwenden, und meiſt bleibt ihnen,
um ihren Heißhunger zu ſtillen, nichts übrig, als auf dem
[65] Lande oder in ſeichtem Waſſer junge, 18 bis 21 cm lange
Krokodile anzugreifen. Es iſt merkwürdig anzuſehen, wie
ſchlau ſich die kleinen Tiere eine Zeitlang gegen die Geier
wehren. Sobald ſie einen anſichtig werden, richten ſie ſich
auf den Vorderfüßen auf, krümmen den Rücken, ſtrecken den
Kopf aufwärts und reißen den Rachen weit auf. Fortwäh-
rend, wenn auch langſam, kehren ſie ſich dem Feinde zu und
weiſen ihm die Zähne, die bei den eben ausgeſchlüpften Tieren
ſehr lang und ſpitz ſind. Oft, während ſo ein Zamuro ganz
die Aufmerkſamkeit des jungen Krokodils in Anſpruch nimmt,
benutzt ein anderer die gute Gelegenheit zu einem unerwarteten
Angriff. Er ſtößt auf das Tier nieder, packt es am Halſe
und ſteigt damit hoch in die Luft. Wir konnten dieſem Kampf-
ſpiel halbe Vormittage lang zuſehen; in der Stadt Mompox
am Magdalenenſtrom hatten wir mehr als 40 ſeit 14 Tagen
bis 3 Wochen ausgeſchlüpfte Krokodile in einem großen, mit
einer Mauer umgebenen Hofe beiſammen.


Wir trafen in Pararuma unter den Indianern einige
Weiße, die von Angoſtura heraufgekommen waren, um manteca
de tortuga
zu kaufen. Sie langweilten uns mit ihren Klagen
über die „ſchlechte Ernte“ und den Schaden, den die Tiger
während des Eierlegens angerichtet, und führten uns endlich
unter eine Ajupa mitten im Indianerlager. Hier ſaßen die
Miſſionäre von Carichana und von den Katarakten, Karten
ſpielend und aus langen Pfeifen rauchend am Boden. Mit
ihren weiten blauen Kutten, geſchorenen Köpfen und langen
Bärten hätten wir ſie für Orientalen gehalten. Die armen
Ordensleute nahmen uns ſehr freundlich auf und erteilten
uns alle Auskunft, deren wir zur Weiterfahrt bedurften.
Sie litten ſeit mehreren Monaten am dreitägigen Wechſel-
ſieber, und ihr blaſſes abgezehrtes Ausſehen überzeugte uns
unſchwer, daß in den Ländern, die wir zu betreten im Be-
griff ſtanden, die Geſundheit des Reiſenden allerdings ge-
fährdet ſei.


Dem indianiſchen Steuermann, der uns von San Fer-
nando am Apure bis zum Strande von Pararuma gebracht
hatte, war die Fahrt durch die Stromſchnellen1 des Ori-
noko neu, und er wollte uns nicht weiter führen. Wir mußten
uns ſeinem Willen fügen. Glücklicherweiſe fand ſich der
Miſſionär von Carichana willig, uns zu ſehr billigem Preiſe
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 5
[66] eine hübſche Piroge abzutreten; ja der Miſſionär von Atures
und Maypures bei den großen Katarakten, Pater Bernardo
Zea, erbot ſich, obgleich er krank war, uns bis zur Grenze
von Braſilien zu begleiten. Der Indianer, welche die Kanoen
über die Raudales hinaufſchaffen helfen, ſind ſo wenige,
daß wir, hätten wir keinen Mönch bei uns gehabt, Gefahr
gelaufen wären, wochenlang an dieſem feuchten, ungeſunden
Orte liegen bleiben zu müſſen. An den Ufern des Orinoko
gelten die Wälder am Rio Negro für ein köſtliches Land.
Wirklich iſt auch die Luft dort friſcher und geſünder, und es
gibt im Fluſſe faſt keine Krokodile; man kann unbeſorgt baden
und iſt bei Tag und Nacht weniger als am Orinoko vom
Inſektenſtich geplagt. Pater Zea hoffte, wenn er die Miſſionen
am Rio Negro beſuchte, ſeine Geſundheit wieder herzuſtellen.
Er ſprach von der dortigen Gegend mit der Begeiſterung, mit
der man in den Kolonieen auf dem Feſtlande alles anſieht,
was in weiter Ferne liegt.


Die Verſammlung der Indianer bei Pararuma bot uns
wieder ein Schauſpiel, wie es den Kulturmenſchen immer dazu
anregt, den wilden Menſchen und die allmähliche Entwicke-
lung unſerer Geiſteskräfte zu beobachten. Man ſträubt ſich
gegen die Vorſtellung, daß wir in dieſem geſellſchaftlichen
Kindheitszuſtande, in dieſem Haufen trübſeliger, ſchweigſamer,
teilnahmloſer Indianer das urſprüngliche Weſen unſeres Ge-
ſchlechtes vor uns haben ſollen. Die Menſchennatur tritt uns
hier nicht im Gewande liebenswürdiger Einfalt entgegen, wie
ſie die Poeſie in allen Sprachen ſo hinreißend ſchildert. Der
Wilde am Orinoko ſchien uns ſo widrig abſtoßend als der
Wilde am Miſſiſſippi, wie ihn der reiſende Philoſoph, 1 der
größte Meiſter in der Schilderung des Menſchen in verſchie-
denen Klimaten, gezeichnet hat. Gar gern redet man ſich
ein, dieſe Eingeborenen, wie ſie da, den Leib mit Erde und
Fett beſchmiert, um ihr Feuer hocken oder auf großen Schild-
krötenpanzern ſitzen und ſtundenlang mit dummen Geſichtern
auf das Getränk glotzen, das ſie bereiten, ſeien keineswegs
der urſprüngliche Typus unſerer Gattung, vielmehr ein ent-
artetes Geſchlecht, die ſchwachen Ueberreſte von Völkern, die
verſprengt lange in Wäldern gelebt und am Ende in Bar-
barei zurückgeſunken.


Die rote Bemalung iſt gleichſam die einzige Bekleidung
[67] der Indianer, und es laſſen ſich zwei Arten derſelben unter-
ſcheiden, nach der größeren oder geringeren Wohlhabenheit der
Individuen. Die gemeine Schminke der Kariben, Otomaken
und Yaruros iſt der Onoto, von den Spaniern Achote,
von den Koloniſten in Cayenne Rocou genannt. Es iſt der
Farbſtoff, den man aus dem Fruchtfleiſch der Bixa orellana
auszieht. Wenn ſie Onoto bereiten, werfen die indianiſchen
Weiber die Samen der Pflanze in eine Kufe mit Waſſer,
peitſchen das Waſſer eine Stunde lang und laſſen dann den
Farbſtoff, der lebhaft ziegelrot iſt, ſich ruhig abſetzen. Das
Waſſer wird abgegoſſen, der Bodenſatz herausgenommen, mit
den Händen ausgedrückt, mit Schildkröteneieröl geknetet und
runde 3 bis 4 Unzen ſchwere Kuchen daraus geformt. In
Ermangelung von Schildkrötenöl vermengen einige Nationen
den Onoto mit Krokodilfett. Ein anderer, weit koſtbarerer
Farbſtoff wird aus einer Pflanze aus der Familie der Big-
nonien gewonnen, die Bonpland unter dem Namen Big-
nonia Chica
bekannt gemacht hat. Die Tamanaken nennen
dieſelbe Craviri, die Maypures Chirraviri. Sie [klettert]
auf die höchſten Bäume und heftet ſich mit Ranken an. Die
zweilippigen Blüten ſind 26 mm lang, ſchön violett, und ſtehen
zu zweien oder dreien beiſammen. Die doppelt gefiederten
Blätter vertrocknen leicht und werden rötlich. Die Frucht iſt
eine 60 cm lange Schote mit geflügelten Samen. Dieſe Big-
nonie wächſt bei Maypures in Menge wild, ebenſo noch weiter
am Orinoko hinauf jenſeits des Einfluſſes des Guaviare,
von Santa Barbara bis zum hohen Berge Duida, beſonders
bei Esmeralda. Auch an den Ufern des Caſſiquiare haben
wir ſie gefunden. Der rote Farbſtoff des Chica wird nicht,
wie der Onoto, aus der Frucht gewonnen, ſondern aus den
im Waſſer geweichten Blättern. Er ſondert ſich in Geſtalt
eines ſehr leichten Pulvers ab. Man formt ihn, ohne ihn
mit Schildkrötenöl zu vermiſchen, zu kleinen 21 bis 23 cm
langen, 5 bis 8 cm hohen, an den Rändern abgerundeten
Broten. Erwärmt verbreiten dieſe Brote einen angenehmen
Geruch, wie Benzoe. Bei der Deſtillation zeigt der Chica
keine merkbare Spur von Ammoniak; es iſt kein ſtickſtoffhaltiger
Körper wie der Indigo. In Schwefel- und Salzſäure, ſelbſt
in den Alkalien löſt er ſich etwas auf. Mit Oel abgerieben,
gibt der Chica eine rote, dem Lack ähnliche Farbe. Tränkt
man Wolle damit, ſo könnte man ſie mit Krapprot verwechſeln.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Chica, der vor
[68] unſerer Reiſe in Europa unbekannt war, ſich techniſch nützlich
verwenden ließe. Am Orinoko wird dieſe Farbe am beſten
von den Völkerſchaften der Salivas, Guipunaves, Caveres
und Piraroas bereitet. Die meiſten Völker am Orinoko
können mit dem Infundieren und Macerieren gut umgehen.
So treiben die Maypures ihren Tauſchhandel mit kleinen
Broten von Pucuma, einem Pflanzenmehl, das wie der
Indigo getrocknet wird und eine ſehr dauerhafte gelbe Farbe
liefert. Die Chemie des Wilden beſchränkt ſich auf die Be-
reitung von Farbſtoffen und von Giften und auf das Aus-
ſüßen der ſtärkemehlhaltigen Wurzeln der Arumarten und der
Euphorbien.


Die meiſten Miſſionäre am oberen und unteren Orinoko
geſtatten den Indianern in ihren Miſſionen, ſich die Haut zu
bemalen. Leider gibt es manche, die auf die Nacktheit der
Eingeborenen ſpekulieren. Da die Mönche nicht Leinwand
und Kleider an ſie verkaufen können, ſo handeln ſie mit roter
Farbe, die bei den Eingeborenen ſo ſehr geſucht iſt. Oft ſah
ich in ihren Hütten, die vornehm Conventos heißen, Nieder-
lagen von Chica. Der Kuchen, die Turtu, wird bis zu vier
Franken verkauft. Um einen Begriff zu geben, welchen Luxus
die nackten Indianer mit ihrem Putze treiben, bemerke ich
hier, daß ein hochgewachſener Mann durch zweiwöchentliche
Arbeit kaum genug verdient, um ſich durch Tauſch ſo viel
Chica zu verſchaffen, daß er ſich rot bemalen kann. Wie man
daher in gemäßigten Ländern von einem armen Menſchen ſagt,
er habe nicht die Mittel, ſich zu kleiden, ſo hört man die In-
dianer am Orinoko ſagen: „Der Menſch iſt ſo elend, daß er
ſich den Leib nicht einmal halb malen kann.“ Der kleine
Handel mit Chica wird beſonders mit den Stämmen am
unteren Orinoko getrieben, in deren Land die Pflanze, die
den koſtbaren Stoff liefert, nicht wächſt. Die Kariben und
Otomaken färben ſich bloß Geſicht und Haare mit Chica, aber
den Salivas ſteht die Farbe in ſolcher Menge zu Gebote, daß
ſie den ganzen Körper damit überziehen können. Wenn die
Miſſionäre nach Angoſtura auf ihre Rechnung kleine Sen-
dungen von Kakao, Tabak und Chiquichiqui1 vom Rio
Negro machen, ſo packen ſie immer auch Chicakuchen, als
einen ſehr geſuchten Artikel, bei. Manche Leute europäiſcher
[69] Abkunft brauchen den Farbſtoff, mit Waſſer angerührt, als
ein vorzügliches harntreibendes Mittel.


Der Brauch, den Körper zu bemalen, iſt nicht bei allen
Völkern am Orinoko gleich alt. Erſt ſeit den häufigen Ein-
fällen der mächtigen Nation der Kariben in dieſe Länder iſt
derſelbe allgemeiner geworden. Sieger und Beſiegte waren
gleich nackt, und um dem Sieger gefällig zu ſein, mußte man
ſich bemalen wie er und ſeine Farbe tragen. Jetzt iſt es mit
der Macht der Kariben vorbei, ſie ſind auf das Gebiet zwi-
ſchen den Flüſſen Carony, Cuyuni und Paraguamuzi beſchränkt,
aber die karibiſche Mode, den ganzen Körper zu färben, hat
ſich erhalten; der Brauch iſt dauernder als die Eroberung.


Iſt nun der Gebrauch des Onoto und des Chica ein Kind
der bei wilden Völkern ſo häufigen Gefallſucht und ihrer
Liebe zum Putz, oder gründet er ſich vielleicht auf die Beob-
achtung, daß ein Ueberzug von färbenden und öligen Stoffen
die Haut gegen den Stich der Moskiten ſchützt? In den
Miſſionen am Orinoko und überall, wo die Luft von giftigen
Inſekten wimmelt, habe ich dieſe Frage ſehr oft erörtern
hören. Die Erfahrung zeigt, daß der Karibe und der Saliva,
die rot bemalt ſind, von Moskiten und Zancudos ſo arg ge-
plagt werden als die Indianer, die keine Farbe aufgetragen
haben. Bei beiden hat der Stich des Inſektes keine Ge-
ſchwulſt zur Folge; faſt nie bilden ſich die Blaſen oder kleinen
Beulen, die friſch angekommenen Europäern ein ſo unerträg-
liches Jucken verurſachen. Solange aber das Inſekt den
Saugrüſſel nicht aus der Haut gezogen hat, ſchmerzt der Stich
den Eingeborenen und den Weißen gleich ſehr. Nach tauſend
anderen nutzloſen Verſuchen haben Bonpland und ich uns
ſelbſt Hände und Arme mit Krokodilfett und Schildkröten-
eieröl eingerieben und davon nie die geringſte Erleichterung
geſpürt; wir wurden geſtochen nach wie vor. Ich weiß wohl,
daß Oel und Fett von den Lappen als die wirkſamſten Schutz-
mittel gerühmt werden, aber die ſkandinaviſchen Inſekten und
die am Orinoko ſind nicht von derſelben Art. Der Tabaks-
rauch verſcheucht unſere Schnaken, gegen die Zancudos hilft er
nichts. Wenn die Anwendung von fetten und adſtringieren-
den Stoffen 1 die unglücklichen Landeseinwohner vor der In-
ſektenplage ſchützte, wie Pater Gumilla behauptet, warum
[70] wäre der Brauch, ſich zu bemalen, hierzulande nicht ganz allge-
mein geworden? Wie könnten ſo viele nackte Völker, die ſich
bloß das Geſicht bemalen, dicht neben ſolchen wohnen, die den
ganzen Körper färben?


Es erſcheint auffallend, daß die Indianer am Orinoko,
wie die Eingeborenen in Nordamerika, rote Farbſtoffe allen
anderen vorziehen. Rührt dieſe Vorliebe davon her, daß der
Wilde ſich leicht ockerartige Erden oder das Farbmehl des
Rocou und des Chica verſchafft? Das möchte ich ſehr be-
zweifeln. In einem großen Teile des tropiſchen Amerikas
wächſt der Indigo wild, und dieſe Pflanze, wie ſo viele andere
Schotengewächſe, hätten den Eingeborenen reichlich Mittel geboten,
ſich blau zu färben wie die alten Britannier, und doch ſehen
wir in Amerika keine mit Indigo bemalten Stämme. Wenn
die Amerikaner der roten Farbe den Vorzug geben, ſo beruht
dies, wie ſchon oben bemerkt, wahrſcheinlich auf dem Triebe
der Völker, alles, was ſie nationell auszeichnet, ſchön zu finden.
Menſchen, deren Haut von Natur rotbraun iſt, lieben die rote
Farbe. Kommen ſie mit niedriger Stirn, mit abgeplattetem
Kopfe zur Welt, ſo ſuchen ſie bei ihren Kindern die Stirne
niederzudrücken. Unterſcheiden ſie ſich von anderen Völkern
durch ſehr dünnen Bart, ſo ſuchen ſie die wenigen Haare, welche
die Natur ihnen wachſen laſſen, auszuraufen. Sie halten ſich
für deſto ſchöner, je ſtärker ſie die charakteriſtiſchen Züge ihres
Stammes oder ihrer Nationalbildung hervortreten laſſen.


Im Lager auf Pararuma machten wir die auffallende
Bemerkung, daß ſehr alte Weiber mit ihrem Putz ſich mehr
zu ſchaffen machten als die jüngſten. Wir ſahen eine In-
dianerin vom Stamme der Otomaken, die ſich die Haare mit
Schildkrötenöl einreiben und den Rücken mit Onoto und
Caruto bemalen ließ; zwei ihrer Töchter mußten dieſes Ge-
ſchäft verrichten. Die Malerei beſtand in einer Art Gitter
von ſchwarzen ſich kreuzenden Linien auf rotem Grunde; in
jedes kleine Viereck wurde mitten ein ſchwarzer Punkt ge-
macht, eine Arbeit, zu der unglaubliche Geduld gehörte. Wir
hatten ſehr lange botaniſiert, und als wir zurückkamen, war die
Malerei noch nicht halb fertig. Man wundert ſich über einen
ſo umſtändlichen Putz um ſo mehr, wenn man bedenkt, daß
die Linien und Figuren nicht tättowiert werden, und daß das
ſo mühſam Aufgemalte ſich verwiſcht, 1 wenn ſich der Indianer
[71] unvorſichtigerweiſe einem ſtarken Regen ausſetzt. Manche Na-
tionen bemalen ſich nur, wenn ſie Feſte begehen, andere ſind
das ganze Jahr mit Farbe angeſtrichen, und bei dieſen iſt der
Gebrauch des Onoto ſo unumgänglich, daß Männer und
Weiber ſich wohl weniger ſchämten, wenn ſie ſich ohne
Guayuco, als wenn ſie ſich unbemalt blicken ließen. Die
Guayucos beſtehen am Orinoko teils aus Baumrinde, teils
aus Baumwollenzeug. Die Männer tragen ſie breiter als die
Weiber, die überhaupt (wie die Miſſionäre behaupten) weniger
Schamgefühl haben. Schon Chriſtoph Kolumbus hat eine
ähnliche Bemerkung gemacht. Sollte dieſe Gleichgültigkeit der
Weiber, dieſer ihr Mangel an Scham unter Völkern, deren
Sitten doch nicht ſehr verdorben ſind, nicht daher rühren, daß
das andere Geſchlecht in Südamerika durch Mißbrauch der
Gewalt von ſeiten der Männer ſo tief herabgewürdigt und
zu Sklavendienſten verurteilt iſt?


Iſt in Europa von einem Eingeborenen von Guyana die
Rede, ſo ſtellt man ſich einen Menſchen vor, der an Kopf
und Gürtel mit ſchönen Arras-, Tucan-, Tangara- und
Kolibrifedern geſchmückt iſt. Von jeher gilt bei unſeren Malern
und Bildhauern ſolcher Putz für das charakteriſtiſche Merkmal
eines Amerikaners. Zu unſerer Ueberraſchung ſahen wir in
den Miſſionen der Chaymas, in den Lagern von Uruana und
Pararuma, ja beinahe am ganzen Orinoko und Caſſiquiare
nirgends jene ſchönen Federbüſche, jene Federſchürzen, wie ſie
die Reiſenden ſo oft aus Cayenne und Demerary heimbringen.
Die meiſten Völkerſchaften in Guyana, ſelbſt die, deren Geiſtes-
kräfte ziemlich entwickelt ſind, die Ackerbau treiben und Baum-
wollenzeug weben, ſind ſo nackt, ſo arm, ſo ſchmucklos wie die
Neuholländer. Bei der ungeheuren Hitze, beim ſtarken Schweiß,
der den Körper den ganzen Tag über und zum Teil auch bei
Nacht bedeckt, iſt jede Bekleidung unerträglich. Die Putzſachen,
namentlich die Federbüſche werden nur bei Tanz und Feſtlich-
keit gebraucht. Die Federbüſche der Guaypuñaves ſind wegen
der Auswahl der ſchönen Manakin- und Papageienfedern die
berühmteſten.


1


[72]

Die Indianer bleiben nicht immer bei einem einfachen
Farbenüberzug ſtehen; zuweilen ahmen ſie mit ihrer Haut-
malerei in der wunderlichſten Weiſe den Schnitt europäiſcher
Kleidungsſtücke nach. Wir ſahen in Pararuma welche, die
ſich blaue Jacken mit ſchwarzen Knöpfen malen ließen. Die
Miſſionäre erzählten uns ſogar, die Guaynaves am Rio Caura
färben ſich mit Onoto und machen ſich dem Körper entlang
breite Querſtreifen, auf die ſie ſilberfarbige Glimmerblättchen
kleben. Von weitem ſieht es aus, als trügen die nackten
Menſchen mit Treſſen beſetzte Kleider. Wären die bemalten
Völker ſo ſcharf beobachtet worden wie die bekleideten, ſo
wäre man zum Schluſſe gelangt, daß beim Bemalen ſo gut
wie bei der Bekleidung, der Brauch von großer Fruchtbarkeit
der Einbildungskraft und ſtarkem Wechſel der Laune er-
zeugt wird.


Das Bemalen und Tättowieren iſt in beiden Welten weder
auf einen Menſchenſtamm, noch auf einen Erdſtrich be-
ſchränkt. Am häufigſten kommen dieſe Arten von Putz bei
Völkern malaiiſcher und amerikaniſcher Raſſe vor; aber zur
Zeit der Römer beſtand die Sitte auch bei der weißen Raſſe
im Norden von Europa. Wenn Kleidung und Tracht im
Griechiſchen Archipel und in Weſtaſien am maleriſchten ſind,
ſo ſind Bemalung und Tättowierung bei den Inſulanern der
Südſee am höchſten ausgebildet. Manche bekleideten Völker
bemalen ſich dabei doch Hände, Nägel und Geſicht. Die Be-
malung erſcheint hier auf die Körperteile beſchränkt, die allein
bloß getragen werden, und während die Schminke, die an den
wilden Zuſtand der Menſchheit erinnert, in Europa nach und
nach verſchwindet, meinen die Damen in manchen Städten
der Provinz Peru ihre doch ſo feine und ſehr weiße Haut
durch Auftragen von vegetabiliſchen Farbſtoffen, von Stärke,
Eiweiß und Mehl ſchöner zu machen. Wenn man lange
unter Menſchen gelebt hat, die mit Onoto und Chica bemalt
ſind, fallen einem dieſe Ueberreſte alter Barbarei inmitten
aller Gebräuche der gebildeten Welt nicht wenig auf.


Im Lager von Pararuma hatten wir Gelegenheit, manche
Tiere, die wir bis dahin nur von den europäiſchen Samm-
lungen her kannten, zum erſtenmal lebend zu ſehen. Die
Miſſionäre treiben mit dergleichen kleinen Tieren Handel.
Gegen Tabak, Maniharz, Chicafarbe, Gallitos (Felshühner),
Titi-, Kapuziner- und andere an den Küſten ſehr geſuchte
Affen tauſchen ſie Zeuge, Nägel, Aexte, Angeln und Steck-
[73] nadeln ein. Die Produkte vom Orinoko werden den India-
nern, die unter der Herrſchaft der Mönche leben, zu niedrigem
Preiſe abgekauft, und dieſelben Indianer kaufen dann von
den Mönchen, aber zu ſehr hohen Preiſen, mit dem Gelde, das
ſie bei der Eierernte erlöſen, ihre Fiſchergeräte und ihre Acker-
werkzeuge. Wir kauften mehrere Tiere, die uns auf der
übrigen Stromfahrt begleiteten und deren Lebensweiſe wir
ſomit beobachten konnten. Ich habe dieſe Beobachtungen in
einem anderen Werke bekannt gemacht; da ich aber einmal
von denſelben Gegenſtänden zweimal handeln muß, beſchränke
ich mich hier auf ganz kurze Angaben und füge Notizen bei,
wie ſie mir ſeitdem hie und da in meinen Reiſetagebüchern
aufſtießen.


Die Gallitos oder Felshühner, die man in Pararuma
in niedlichen kleinen Bauern aus Palmblattſtielen verkauft,
ſind an den Ufern des Orinoko und im ganzen Norden und
Weſten des tropiſchen Amerikas weit ſeltener als in franzöſiſch
Guyana. Man fand ſie bisher nur bei der Miſſion Encara-
mada und in den Raudales oder Fällen von Maypures.
Ich ſage ausdrücklich in den Fällen; denn dieſe Vögel niſten
gewöhnlich in den Höhlungen der kleinen Granitfelſen, die
ſich durch den Orinoko ziehen und ſo zahlreiche Waſſerfälle
bilden. Wir ſahen ſie manchmal mitten im Waſſerſchaum
zum Vorſchein kommen, ihrer Henne rufen und miteinander
kämpfen, wobei ſie wie unſere Hähne den doppelten beweg-
lichen Kamm, der ihren Kopfſchmuck bildet, zuſammenfalten.
Da die Indianer ſelten erwachſene Gallitos fangen und in
Europa nur die Männchen geſchätzt ſind, die vom dritten
Jahre an prächtig goldgelb werden, ſo muß der Käufer
auf der Hut ſein, um nicht ſtatt jungen Hahnen junge
Hennen zu bekommen. Beide ſind olivenbraun; aber der
Pollo oder junge Hahn zeichnet ſich ſchon ganz jung durch
ſeine Größe und ſeine gelben Füße aus. Die Henne bleibt
ihr Leben lang dunkelfarbig, braun, und nur die Spitzen und
der Unterteil der Flügel ſind bei ihr gelb. Soll der er-
wachſene Felshahn in unſeren Sammlungen die ſchöne Farbe
ſeines Gefieders erhalten, ſo darf man dasſelbe nicht dem.
Lichte ausſetzen. Die Farbe bleicht weit ſchneller als bei an-
deren Gattungen ſperlingsartiger Vögel. Die jungen Hahnen
haben, wie die meiſten Tiere, das Gefieder der Mutter. Es
wundert mich, wie ein ſo ausgezeichneter Beobachter wie Le
Vaillant in Zweifel ziehen kann, ob die Henne wirklich immer
[74] dunkelfarbig, olivenbraun bleibt. Die Indianer bei den Rau-
dales verſicherten mich alle, niemals ein goldfarbiges Weibchen
geſehen zu haben.


Unter den Affen, welche die Indianer in Paramara zu
Markte gebracht, ſahen wir mehrere Spielarten des Saï, 1
der der kleinen Gruppe der Winſelaffen angehört, die in den
ſpaniſchen Kolonieen Matchi heißen, ferner Marimondas2
oder Atelen mit rotem Bauche, Titi und Viuditas. Die
beiden letzteren Arten intereſſierten uns beſonders, und wir
kauften ſie, um ſie nach Europa zu ſchicken. 3 Buffons Uiſtiti4
iſt Azzaras Titi, der Titi5 von Cartagena und Darien
iſt Büffons Pinche, und der Titi6 vom Orinoko iſt der
Saïmiri der franzöſiſchen Zoologen, und dieſe Tiere dürfen
nicht verwechſelt werden. In den verſchiedenen ſpaniſchen
Kolonieen heißen Titi Affen, die drei verſchiedenen Unter-
gattungen angehören und in der Zahl der Backenzähne von-
einander abweichen. Nach dem eben Angeführten iſt die Be-
merkung faſt überflüſſig, wie wünſchenswert es wäre, daß
man in wiſſenſchaftlichen Werken ſich der landesüblichen Namen
enthielte, die durch unſere Orthographie entſtellt werden, die
in jeder Provinz wieder anders lauten, und ſo die klägliche
Verwirrung in der zoologiſchen Nomenklatur vermehren.


Der Titi vom Orinoko(Simia sciurea), bis jetzt
ſchlecht abgebildet, indeſſen in unſeren Sammlungen ſehr be-
kannt, heißt bei den Maypuresindianern Bititeni. Er kommt
ſüdlich von den Katarakten ſehr häufig vor. Er hat ein weißes
Geſicht und über Mund und Naſenſpitze weg einen kleinen
blauſchwarzen Fleck. Die am zierlichſten gebauten und am
ſchönſten gefärbten (der Pelz iſt goldgelb) kommen von den
Ufern des Caſſiquiare. Die man am Guaviare fängt, ſind
groß und ſchwer zu zähmen. Kein anderer Affe ſieht im
Geſichte einem Kinde ſo ähnlich wie der Titi; es iſt derſelbe
Ausdruck von Unſchuld, dasſelbe ſchalkhafte Lächeln, derſelbe
[75] raſche Uebergang von Freude zu Trauer. Seine großen Augen
füllen ſich mit Thränen, ſobald er über etwas ängſtlich wird.
Er iſt ſehr lüſtern nach Inſekten, beſonders nach Spinnen.
Das kleine Tier iſt ſo klug, daß ein Titi, den wir auf un-
ſerem Kanoe nach Angoſtura brachten, die Tafeln zu Cuviers
Tableau élémentaire d’histoire naturelle ganz gut unter-
ſchied. Dieſe Kupfer ſind nicht koloriert, und doch ſtreckte der
Titi raſch die kleine Hand aus, in der Hoffnung, eine Heu-
ſchrecke oder eine Weſpe zu erhaſchen, ſo oft wir ihm die
11. Tafel vorhielten, auf der dieſe Inſekten abgebildet ſind.
Zeigte man ihm Skelette oder Köpfe von Säugetieren, blieb
er völlig gleichgültig. 1 Setzt man mehrere dieſer kleinen Affen,
die im ſelben Käfig beiſammen ſind, dem Regen aus, und
fällt die gewöhnliche Lufttemperatur raſch um 2 bis 3°, ſo
ſchlingen ſie ſich den Schwanz, der übrigens kein Wickelſchwanz
iſt, um den Hals und verſchränken Arme und Beine, um ſich
gegenſeitig zu erwärmen. Die indianiſchen Jäger erzählten
uns, man finde in den Wäldern häufig Haufen von 10, 12
ſolcher Affen, die erbärmlich ſchreien, weil die auswärts Stehen-
den in den Knäuel hinein möchten, um Wärme und Schutz
zu finden. Schießt man mit Pfeilen, die in Curare des-
templado
(in verdünntes Gift) getaucht ſind, auf einen ſolchen
Knäuel, ſo fängt man viele junge Affen auf einmal lebendig.
Der junge Titi bleibt im Fallen an ſeiner Mutter hängen,
und wird er durch den Sturz nicht verletzt, ſo weicht er nicht
von Schulter und Hals des toten Tieres. Die meiſten, die
man in den Hütten der Indianer lebend antrifft, ſind auf
dieſe Weiſe von den Leichen ihrer Mütter geriſſen worden.
Erwachſene Tiere, wenn ſie auch von leichten Wunden geneſen
ſind, gehen meiſt zu Grunde, ehe ſie ſich an den Zuſtand der
Gefangenſchaft gewöhnt haben. Die Titi ſind meiſt zarte,
furchtſame kleine Tiere. Sie ſind aus den Miſſionen am
Orinoko ſchwer an die Küſten von Cumana und Caracas zu
bringen. Sobald man die Waldregion hinter ſich hat und
[76] die Llanos betritt, werden ſie traurig und niedergeſchlagen.
Der unbedeutenden Zunahme der Temperatur kann man dieſe
Veränderung nicht zuſchreiben, ſie ſcheint vielmehr vom ſtär-
keren Licht, von der gringeren Feuchtigkeit und von irgend
welcher chemiſchen Beſchaffenheit der Luft an der Küſte her-
zurühren.


Den Saïmiri oder Titi vom Orinoko, den Atelen,
Saju und anderen ſchon lange in Europa bekannten Vier-
händern ſteht in ſcharfem Abſtich, nach Habitus und Lebens-
weiſe, der Macavahu1 gegenüber, den die Miſſionäre Viudita
oder Witwe in Trauer nennen. Das kleine Tier hat feines,
glänzendes, ſchön ſchwarzes Haar. Das Geſicht hat eine weiß-
liche, ins Blaue ſpielende Larve, in der Augen, Naſe und
Mund ſtehen. Die Ohren haben einen umgebogenen Rand,
ſind klein, wohlgebildet und faſt ganz nackt. Vorn am Halſe
hat die Witwe einen weißen, zollbreiten Strich, der ein
halbes Halsband bildet. Die Hinterfüße oder vielmehr Hände
ſind ſchwarz wie der übrige Körper, aber die Vorderhände
ſind außen weiß und innen glänzend ſchwarz. Dieſe weißen
Abzeichen deuten nun die Miſſionäre als Schleier, Halstuch
und Handſchuhe einer Witwe in Trauer. Die Gemütsart
dieſes kleinen Affen, der ſich nur beim Freſſen auf den Hinter-
beinen aufrichtet, verrät ſich durch ſeine Haltung nur ſchwer.
Er ſieht ſanft und ſchüchtern aus; häufig berührt er das
Freſſen nicht, das man ihm bietet, ſelbſt wenn er ſtarken
Hunger hat. Er iſt nicht gern in Geſellſchaft anderer Affen;
wenn er den kleinſten Saïmiri anſichtig wird, läuft er davon.
Sein Auge verrät große Lebhaftigkeit. Wir ſahen ihn ſtunden-
lang regungslos daſitzen, ohne daß er ſchlief, und auf alles,
was um ihn vorging, achten. Aber dieſe Schüchternheit und
Sanftmut ſind nur ſcheinbar. Iſt die Viudita allein, ſich
ſelbſt überlaſſen, ſo wird ſie wütend, ſobald ſie einen Vogel
ſieht. Sie klettert und läuft dann mit erſtaunlicher Behendig-
keit; ſie macht einen Satz auf ihre Beute, wie die Katze, und
erwürgt, was ſie erhaſchen kann. Dieſer ſehr ſeltene und ſehr
zärtliche Affe lebt auf dem rechten Ufer des Orinoko in den
Granitgebirgen hinter der Miſſion Santa Barbara, ferner
am Guaviare bei San Fernando de Atabapo. Die Viudita
hat die ganze Reiſe auf dem Caſſiquiare und Rio Negro
mitgemacht und iſt zweimal mit uns über die Katarakte
[77] gegangen. Will man die Sitten der Tiere genau beobachten,
ſo iſt es nach meiner Meinung ſehr vorteilhaft, wenn man
ſie monatelang in freier Luft, nicht in Häuſern, wo ſie ihre
natürliche Lebhaftigkeit ganz verlieren, unter den Augen hat.


Die neue für uns beſtimmte Piroge wurde noch am
Abend geladen. Es war, wie alle indianiſchen Kanoen, ein
mit Axt und Feuer ausgehöhlter Baumſtamm, 13 m lang
und 1 m breit. Drei Perſonen konnten nicht nebeneinander
darin ſitzen. Dieſe Pirogen ſind ſo beweglich, ſie erfordern,
weil ſie ſo wenig Widerſtand leiſten, eine ſo gleichmäßige Ver-
teilung der Laſt, daß man, wenn man einen Augenblick auf-
ſtehen will, den Ruderern (bogas) zurufen muß, ſich auf die
entgegengeſetzte Seite zu lehnen; ohne dieſe Vorſicht liefe das
Waſſer notwendig über den geneigten Bord. Man macht ſich
nur ſchwer einen Begriff davon, wie übel man auf einem
ſolchen elenden Fahrzeuge daran iſt.


Der Miſſionär aus den Raudales betrieb die Zu-
rüſtungen zur Weiterfahrt eifriger, als uns lieb war. Man
beſorgte, nicht genug Macos- und Guahibos-Indianer zur
Hand zu haben, die mit dem Labyrinth von kleinen Kanälen
und Waſſerfällen, welche die Raudales oder Katarakte bilden,
bekannt wären; man legte daher die Nacht über zwei In-
dianer in den Cepo, das heißt, man legte ſie auf den Boden
und ſteckte ihnen die Beine durch zwei Holzſtücke mit Aus-
ſchnitten, um die man eine Kette mit Vorlegſchloß legte. Am
frühen Morgen weckte uns das Geſchrei eines jungen Mannes,
den man mit einem Seekuhriemen unbarmherzig peitſchte. Es
war Zerepe, ein ſehr verſtändiger Indianer, der uns in
der Folge die beſten Dienſte leiſtete, jetzt aber nicht mit uns
gehen wollte. Er war aus der Miſſion Atures gebürtig, ſein
Vater war ein Maco, ſeine Mutter vom Stamme der May-
pures; er war in die Wälder (al monte) entlaufen und
hatte ein paar Jahre unter nicht unterworfenen Indianern
gelebt. Dadurch hatte er ſich mehrere Sprachen zu eigen ge-
macht, und der Miſſionär brauchte ihn als Dolmetſcher. Nur
mit Mühe brachten wir es dahin, daß der junge Mann be-
gnadigt wurde. „Ohne ſolche Strenge,“ hieß es, „würde es
euch an allem fehlen. Die Indianer aus den Raudales und
vom oberen Orinoko ſind ein ſtärkerer und arbeitſamerer Men-
ſchenſchlag als die am unteren Orinoko. Sie wiſſen wohl,
daß ſie in Angoſtura ſehr geſucht ſind. Ließe man ſie machen,
ſo gingen ſie alle den Fluß hinunter, um ihre Produkte zu
[78] verkaufen und in voller Freiheit unter den Weißen zu leben,
und die Miſſionen ſtünden leer.“


Dieſe Gründe mögen ſcheinbar etwas für ſich haben,
richtig ſind ſie nicht. Will der Menſch der Vorteile des ge-
ſelligen Lebens genießen, ſo muß er allerdings ſeine natür-
lichen Rechte, ſeine frühere Unabhängigkeit zum Teil zum
Opfer bringen. Wird aber das Opfer, das man ihm auf-
erlegt, nicht durch die Vorteile der Civiliſation aufgewogen,
ſo nährt der Wilde fort und fort den Wunſch, in die Wälder
zurückzukehren, in denen er geboren worden. Weil der In-
dianer aus den Wäldern in den meiſten Miſſionen als ein
Leibeigener behandelt wird, weil er der Früchte ſeiner Arbeit
nicht froh wird, deshalb veröden die chriſtlichen Niederlaſſungen
am Orinoko. Ein Regiment, das ſich auf die Vernichtung
der Freiheit der Eingeborenen gründet, tötet die Geiſteskräfte
oder hemmt doch ihre Entwickelung.


Wenn man ſagt, der Wilde müſſe wie das Kind unter
ſtrenger Zucht gehalten werden, ſo iſt dies ein unrichtiger
Vergleich. Die Indianer am Orinoko haben in den Aeuße-
rungen ihrer Freude, im raſchen Wechſel ihrer Gemütsbewe-
gungen etwas Kindliches; ſie ſind aber keineswegs große Kinder,
ſo wenig als die armen Bauern im öſtlichen Europa, die in
der Barbarei des Feudalſyſtemes ſich der tiefſten Verkommen-
heit nicht entringen können. Zwang, als hauptſächlichſtes
und einziges Mittel zur Sittigung des Wilden, erſcheint zu-
dem als ein Grundſatz, der bei der Erziehung der Völker und
bei der Erziehung der Jugend gleich falſch iſt. Wie ſchwach
und wie tief geſunken auch der Menſch ſein mag, keine Fähig-
keit iſt ganz erſtorben. Die menſchliche Geiſteskraft iſt nur
dem Grade und der Entwickelung nach verſchieden. Der Wilde,
wie das Kind, vergleicht den gegenwärtigen Zuſtand mit dem
vergangenen; er beſtimmt ſeine Handlungen nicht nach blindem
Inſtinkt, ſondern nach Rückſichten der Nützlichkeit. Unter
allen Umſtänden kann Vernunft durch Vernunft aufgeklärt
werden; die Entwickelung derſelben wird aber deſto mehr
niedergehalten, je weiter diejenigen, die ſich zur Erziehung der
Jugend oder zur Regierung der Völker berufen glauben, im
hochmütigen Gefühl ihrer Ueberlegenheit auf die ihnen Unter-
gebenen herabblicken und Zwang oder Gewalt brauchen ſtatt
der ſittlichen Mittel, die allein keimende Fähigkeiten entwickeln,
die aufgeregten Leidenſchaften ſänftigen und die geſellſchaft-
liche Ordnung befeſtigen können.


[79]

Am 10. April. Wir konnten erſt um 10 Uhr morgens
unter Segel gehen. Nur ſchwer gewöhnten wir uns an die
neue Piroge, die uns eben ein neues Gefängnis war. Um
an Breite zu gewinnen, hatte man auf dem Hinterteile des
Fahrzeuges aus Baumzweigen eine Art Gitter angebracht, das
auf beiden Seiten über den Bord hinausreichte. Leider war
das Blätterdach (el toldo) darüber ſo niedrig, daß man ge-
bückt ſitzen oder ausgeſtreckt liegen mußte, wo man dann nichts
ſah. Da man die Pirogen durch die Stromſchnellen, ja von
einem Fluſſe zum anderen ſchleppen muß, und weil man dem
Winde zu viel Fläche böte, wenn man den Toldo höher machte,
ſo kann auf den kleinen Fahrzeugen, die zum Rio Negro
hinaufgehen, die Sache nicht anders eingerichtet werden. Das
Dach war für vier Perſonen beſtimmt, die auf dem Verdeck
oder dem Gitter aus Baumzweigen lagen; aber die Beine
reichen weit über das Gitter hinaus, und wenn es regnet,
wird man zum halben Leibe durchnäßt. Dabei liegt man auf
Ochſenhäuten oder Tigerfellen und die Baumzweige darunter
drücken einen durch die dünne Decke gewaltig. Das Vorder-
teil des Fahrzeuges nahmen die indianiſchen Ruderer ein, die
1 m lange, löffelförmige Pagaien führen. Sie ſind ganz
nackt, ſitzen paarweiſe und rudern im Takt, den ſie merk-
würdig genau einhalten. Ihr Geſang iſt trübſelig, eintönig.
Die kleinen Käfige mit unſeren Vögeln und Affen, deren
immer mehr wurden, je weiter wir kamen, waren teils am
Toldo, teils am Vorderteil aufgehängt. Es war unſere Reiſe-
menagerie. Obgleich viele der kleinen Tiere durch Zufall,
meiſt aber am Sonnenſtich zu Grunde gingen, hatten wir
ihrer bei der Rückkehr vom Caſſiquiare noch vierzehn. Natura-
lienſammler, die lebende Tiere nach Europa bringen wollen,
könnten ſich in Angoſtura und Gran-Para, den beiden Haupt-
ſtädten am Orinoko und Amazonenſtrom, eigens für ihren
Zweck Pirogen bauen laſſen, wo im erſten Dritteil zwei Reihen
gegen die Sonnenglut geſchützter Käfige angebracht wären.
Wenn wir unſer Nachtlager aufſchlugen, befanden ſich die
Menagerie und die Inſtrumente immer in der Mitte; rings-
um kamen fofort unſere Hängematten, dann die der Indianer,
und zu äußerſt die Feuer, die man für unentbehrlich hielt,
um den Jaguar fernzuhalten. Um Sonnenaufgang ſtimmten
unſere Affen in das Geſchrei der Affen im Walde ein. Dieſer
Verkehr zwiſchen Tieren derſelben Art, die einander zugethan
ſind, ohne ſich zu ſehen, von denen die einen der Freiheit
[80] genießen, nach der die anderen ſich ſehnen, hat etwas Weh-
mütiges, Rührendes.


Auf der überfüllten, keinen Meter breiten Piroge blieb
für die getrockneten Pflanzen, die Koffer, einen Sextanten,
den Inklinationskompaß und die meteorologiſchen Inſtrumente
kein Platz als der Raum unter dem Gitter aus Zweigen, auf
dem wir den größten Teil des Tages ausgeſtreckt liegen mußten.
Wollte man irgend etwas aus einem Koffer holen oder ein
Inſtrument gebrauchen, mußte man ans Ufer fahren und
ausſteigen. Zu dieſen Unbequemlichkeiten kam noch die Plage
der Moskiten, die unter einem ſo niedrigen Dache in Scharen
hauſen, und die Hitze, welche die Palmblätter ausſtrahlen,
deren obere Fläche beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzt iſt.
Jeden Augenblick ſuchten wir uns unſere Lage erträglicher
zu machen, und immer vergeblich. Während der eine ſich
unter ein Tuch ſteckte, um ſich vor den Inſekten zu ſchützen,
verlangte der andere, man ſolle grünes Holz unter dem Toldo
anzünden, um die Mücken durch den Rauch zu vertreiben.
Wegen des Brennens der Augen und der Steigerung der
ohnehin erſtickenden Hitze war das eine Mittel ſo wenig an-
wendbar als das andere. Aber mit einem munteren Geiſte,
bei gegenſeitiger Herzlichkeit, bei offenem Sinn und Auge für
die großartige Natur dieſer weiten Stromthäler fällt es den
Reiſenden nicht ſchwer, Beſchwerden zu ertragen, die zur Ge-
wohnheit werden. Wenn ich mich hier auf dieſe Kleinigkeiten
eingelaſſen habe, geſchah es nur, um die Schiffahrt auf dem
Orinoko zu ſchildern und begreiflich zu machen, daß Bonpland
und ich auf dieſem Stück unſerer Reiſe beim beſten Willen
lange nicht alle die Beobachtungen machen konnten, zu denen
uns die an wiſſenſchaftlicher Ausbeute ſo reiche Naturum-
gebung aufforderte.


Unſere Indianer zeigten uns am rechten Ufer den Ort,
wo früher die ums Jahr 1733 von den Jeſuiten gegründete
Miſſion Pararuma geſtanden. Eine Pockenepidemie, die unter
den Salivasindianern große Verheerungen anrichtete, war der
Hauptgrund, warum die Miſſion einging. Die wenigen Ein-
wohner, welche die ſchreckliche Seuche überlebten, wurden im
Dorfe Carichana aufgenommen, das wir bald beſuchen werden.
Hier bei Pararuma war es, wo, nach Pater Romans Aus-
ſage, gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts bei einem
ſtarken Gewitter Hagel fiel. Dies iſt ſo ziemlich der einzige
Fall, der meines Wiſſens in einer faſt im Niveau des Meeres
[81] liegenden Niederung vorgekommen; denn im allgemeinen hagelt
es unter den Tropen nur in mehr als 580 m Meereshöhe.
Bildet ſich der Hagel in derſelben Höhe über Niederungen
und Hochebenen, ſo muß man annehmen, er ſchmelze bei ſeinem
Durchgang durch die unterſten Luftſchichten (zwiſchen 0 und
580 m), deren mittlere Temperatur 27,5° und 24° beträgt.
Ich geſtehe indeſſen, daß es beim jetzigen Stande der Meteo-
rologie ſehr ſchwer zu erklären iſt, warum es in Philadelphia,
Rom und Montpellier in den heißeſten Monaten mit einer
mittleren Temperatur von 25 bis 26° hagelt, während in
Cumana, Guayra und überhaupt in den Niederungen in der
Nähe des Aequators die Erſcheinung nicht vorkommt. In
den Vereingten Staaten und im ſüdlichen Europa (unter dem
40. bis 43. Grad der Breite) iſt die Temperatur auf den
Niederungen im Sommer ungefähr ebenſo hoch als unter
den Tropen. Auch die Wärmeabnahme iſt nach meinen Unter-
ſuchungen nur wenig verſchieden. Rührt nun der Umſtand,
daß in der heißen Zone kein Hagel fällt, davon her, daß die
Hagelkörner beim Durchgang durch die unteren Luftſchichten
ſchmelzen, ſo muß man annehmen, daß die Körner im Mo-
ment der Bildung in der gemäßigten Zone größer ſind als
in der heißen. Wir kennen die Bedingungen, unter denen in
unſerem Klima das Waſſer in einer Gewitterwolke friert,
noch ſo wenig, daß wir nicht zu beurteilen vermögen, ob unter
dem Aequator über den Niederungen dieſelben Bedingungen
eintreten. Ich bezweifle, daß ſich der Hagel immer in einer
Luftregion bildet, deren mittlere Temperatur gleich Null iſt,
und die bei uns im Sommer 2920 bis 3120 m hoch liegt. Die
Wolken, in denen man die Hagelkörner, bevor ſie fallen, an-
einander ſchlagen hört, und die wagerecht ziehen, kamen mir
immer lange nicht ſo hoch vor, und es erſcheint begreiflich,
daß in ſolch geringerer Höhe durch die Ausdehnung der auf-
ſteigenden Luft, welche an Wärmekapazität zunimmt, durch
Ströme kalter Luft aus einer höheren Breite, beſonders aber
(nach Gay-Luſſac) durch die Strahlung der oberen Fläche
der Wolken, eine ungewöhnliche Erkältung hervorgebracht wird.
Ich werde Gelegenheit haben, auf dieſen Punkt zurückzu-
kommen, wenn von den verſchiedenen Formen die Rede iſt,
unter denen auf den Anden in 3900 bis 5070 m Meeres-
höhe Hagel und Graupen auftreten, und die Frage erörtert
wird, ob man die Wolken, welche die Gebirge einhüllen,
als eine horizontale Fortſetzung der Wolkenſchicht betrachten
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 6
[82] kann, die wir in den Niederungen gerade über uns ſich
bilden ſehen.


Im Orinoko ſind ſehr viele Inſeln und der Strom fängt
jetzt an, ſich in mehrere Arme zu teilen, deren weſtlichſter in
den Monaten Januar und Februar trocken liegt. Der ganze
Strom iſt 3,9 bis 5,8 km breit. Der Inſel Javanavo gegen-
über ſahen wir gegen Oſt die Mündung des Caño Au-
jacoa. Zwiſchen dieſem Caño und dem Rio Paruaſi oder
Paruati wird das Land immer ſtärker bewaldet. Aus einem
Palmenwalde nicht weit vom Orinoko ſteigt, ungemein maleriſch,
ein einzelner Fels empor, ein Granitpfeiler, ein Prisma, deſſen
kahle, ſchroffe Wände gegen 65 m hoch ſind. Den Gipfel,
der über die höchſten Waldbäume emporragt, krönt eine ebene,
wagerechte Felsplatte. Auf dieſem Gipfel, den die Miſſionäre
Pik oder Mogote de Cocuyza nennen, ſtehen wieder Bäume.
Dieſes großartig einfache Naturdenkmal erinnert an die cyklo-
piſchen Bauwerke. Sein ſcharf gezeichneter Umriß und oben
darauf die Bäume und das Buſchwerk heben ſich vom blauen
Himmel ab, ein Wald über einem Walde.


Weiterhin beim Einfluß des Paruaſi wird der Orinoko
wieder ſchmäler. Gegen Oſten ſahen wir einen Berg mit
plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er iſt
gegen 100 m hoch und diente den Jeſuiten als feſter Platz.
Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien
enthielt, und in dem beſtändig ein Militärpoſten lag. In
Carichana und Atures ſahen wir die Kanonen ohne Lafetten,
halb im Sande begraben. Die Jeſuitenſchanze (oder Fortaleza
de San Francisco Xavier
) wurde nach der Aufhebung der
Geſellſchaft Jeſu zerſtört, aber der Ort heißt noch el Castillo.
Auf einer in neueſter Zeit in Caracas von einem Weltgeiſt-
lichen entworfenen, nicht geſtochenen Karte führt derſelbe den
Namen Trinchera del despotismo monacal (Schanze des
Mönchsdeſpotismus). In allen politiſchen Umwälzungen ſpricht
ſich der Geiſt der Neuerung, der über die Menge kommt, auch
in der geographiſchen Nomenklatur aus.


Die Beſatzung, welche die Jeſuiten auf dieſem Felſen
hatten, ſollte nicht allein die Miſſionen gegen die Einfälle
der Kariben ſchützen, ſie diente auch zum Angriffskriege, oder,
wie man hier ſagt, zur Eroberung von Seelen (conquista
de almas).
Die Soldaten, durch die ausgeſetzten Geldbe-
lohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle
oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man
[83] brachte um, was Widerſtand zu leiſten wagte, man brannte
die Hütten nieder, zerſtörte die Pflanzungen und ſchleppte
Greiſe, Weiber und Kinder als Gefangene fort. Die Ge-
fangenen wurden ſofort in die Miſſionen am Meta, Rio
Negro und oberen Orinoko verteilt. Man wählte die ent-
legenſten Orte, damit ſie nicht in Verſuchung kämen, wieder
in ihr Heimatland zu entlaufen. Dieſes gewaltſame Mittel,
Seelen zu erobern, war zwar nach ſpaniſchem Geſetz
verboten, wurde aber von den bürgerlichen Behörden geduldet
und von den Oberen der Geſellſchaft, als der Religion
und dem Aufkommen der Miſſionen förderlich, höchlich ge-
prieſen. „Die Stimme des Evangeliums,“ ſagt ein Jeſuit
vom Orinoko in den ‚erbaulichen Briefen‘ 1 äußerſt naiv, „wird
nur da vernommen, wo die Indianer Pulver haben knallen
hören (el eco de la polvora). Sanftmut iſt ein gar lang-
ſames Mittel. Durch Züchtigung erleichtert man ſich die Be-
kehrung der Eingeborenen.“ Dergleichen die Menſchheit ſchän-
dende Grundſätze wurden ſicher nicht von allen Gliedern
einer Geſellſchaft geteilt, die in der Neuen Welt und überall,
wo die Erziehung ausſchließlich in den Händen von Mönchen
geblieben iſt, der Wiſſenſchaft und der Kultur Dienſte geleiſtet
hat. Aber die Entradas, die geiſtlichen Eroberungen
mit dem Bajonett waren einmal ein von einem Regiment,
bei dem es nur auf raſche Ausbreitung der Miſſionen ankam,
unzertrennlicher Greuel. Es thut dem Gemüte wohl, daß die
Franziskaner, Dominikaner und Auguſtiner, welche gegenwärtig
einen großen Teil von Südamerika regieren und, je nachdem
ſie von milder oder roher Sinnesart ſind, auf das Geſchick
von vielen Tauſenden von Eingeborenen den mächtigſten Ein-
fluß üben, nicht nach jenem Syſtem verfahren. Die Einfälle
mit bewaffneter Hand ſind faſt ganz abgeſtellt, und wo ſie
noch vorkommen, werden ſie von den Ordensoberen mißbilligt.
Wir wollen hier nicht ausmachen, ob dieſe Wendung des
Mönchregimentes zum Beſſeren daher rührt, daß die frühere
Thätigkeit erſchlafft iſt und der Lauheit und Indolenz Platz
gemacht hat, oder ob man darin, was man ſo gern thäte,
einen Beweis ſehen ſoll, daß die Aufklärung zunimmt und
eine höhere, dem wahren Geiſte des Chriſtentums entſprechen-
dere Geſinnung Platz greift.


[84]

Vom Einfluß des Rio Paruaſi an wird der Orinoko
wieder ſchmäler. Er iſt voll Inſeln und Granitklippen, und
ſo entſtehen hier die Stromſchnellen oder kleinen Fälle
(los remolinos), die beim erſten Anblick wegen der vielen
Wirbel dem Reiſenden bange machen können, aber in keiner
Jahreszeit den Schiffen gefährlich ſind. Man muß wenig zu
Schiffe geweſen ſein, wenn man wie Pater Gili, der ſonſt ſo
genau und verſtändig iſt, ſagen kann: „è terrible pe’ molti
scogli il tratto del fiume tral Castello e Caricciana.“
Eine
Reihe von Klippen, die faſt über den ganzen Fluß läuft,
heißt Raudal de Marimara. Wir legten ſie ohne Schwierig-
keit zurück, und zwar in einem ſchmalen Kanal, in dem das
Waſſer ungeſtüm, wie ſiedend, unter der Piedra de Mari-
mara heraufſchießt, einer kompakten Granitmaſſe, 26 m hoch
und 100 m im Umfang, ohne Spalten und ohne Spur von
Schichtung. Der Fluß tritt weit ins Land hinein und bildet
in den Felſen weite Buchten. Eine dieſer Buchten zwiſchen
zwei kahlen Vorgebirgen heißt der Hafen von Carichana.
Der Ort hat ein wildes Ausſehen; das Felſenufer wirft ſeine
mächtigen Schatten über den Waſſerſpiegel und das Waſſer
erſcheint ſchwarz, wenn ſich dieſe Granitmaſſen darin ſpiegeln,
die, wie ſchon bemerkt, wegen der eigenen Färbung ihrer
Oberfläche, bald wie Steinkohlen, bald wie Bleierz ausſehen.
Wir übernachteten im kleinen Dorfe Carichana, wo wir auf
die Empfehlung des guten Miſſionärs Fray Joſe Antonio
de Torre im Pfarrhauſe oder Convento Aufnahme fanden.
Wir hatten ſeit faſt 14 Tagen unter keinem Dache geſchlafen.


Am 11. April. Um die für die Geſundheit oft ſo nach-
teiligen Folgen der Ueberſchwemmungen zu vermeiden, wurde
die Miſſion Carichana 3,3 km vom Fluſſe angelegt. Die
Indianer ſind vom Stamme der Salivas. Die urſprüng-
lichen Wohnſitze desſelben ſcheinen auf dem weſtlichen Ufer
des Orinoko zwiſchen dem Rio Vichada und dem Guaviare,
ſowie zwiſchen dem Meta und dem Rio Paute geweſen zu ſein.
Gegenwärtig findet man Salivas nicht nur in Carichana,
ſondern auch in den Miſſionen der Provinz Caſanare, in
Cabapuna, Guanapalo, Cabiuna und Macuco. Letzteres im
Jahre 1730 vom Jeſuiten Fray Manuel Roman gegründete
Dorf hat 1300 Einwohner. Die Salivas ſind ein geſelliges,
ſanftes, faſt ſchüchternes Volk, und leichter, ich ſage nicht zu
civiliſieren, aber in der Zucht zu halten als andere am Ori-
noko. Um ſich der Herrſchaft der Kariben zu entziehen, ließen
[85] die Salivas ſich leicht herbei, ſich den erſten Jeſuitenmiſſionen
anzuſchließen. Die Patres rühmen aber auch in ihren Schriften
durchgängig ihren Verſtand und ihre Gelehrigkeit. Die Sa-
livas haben großen Hang zur Muſik; ſeit den älteſten Zeiten
blaſen ſie Trompeten aus gebrannter Erde, die 1,3 bis 1,6 m
lang ſind und mehrere kugelförmige Erweiterungen haben, die
durch enge Röhren zuſammenhängen. Dieſe Trompeten geben
ſehr klägliche Töne. Die Jeſuiten haben die natürliche Neigung
der Salivas zur Inſtrumentalmuſik mit Glück ausgebildet,
und auch nach der Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu haben die
Miſſionäre am Rio Meta in San Miguel de Macuco die
ſchöne Kirchenmuſik und den muſikaliſchen Unterricht der Jugend
fort gepflegt. Erſt kürzlich ſah ein Reiſender zu ſeiner Ver-
wunderung die Eingeborenen Violine, Violoncell, Triangel,
Guitarre und Flöte ſpielen.


In den vereinzelten Miſſionen am Orinoko wirkt die
Verwaltung nicht ſo günſtig auf die Entwickelung der Kultur
der Salivas und die Zunahme der Bevölkerung, als das
Syſtem, das die Auguſtiner auf den Ebenen am Caſanare
und Meta befolgen. In Macuco haben die Eingeborenen durch
den Verkehr mit den Weißen im Dorfe, die faſt lauter „Flücht-
linge von Socorro“ 1 ſind, ſehr gewonnen. Zur Jeſuitenzeit
wurden die drei Dörfer am Orinoko, Pararuma, Caſtillo oder
Marumarutu und Carichana in eines, Carichana, verſchmolzen,
das damit eine ſehr anſehnliche Miſſion wurde. Im Jahre
1759, als die Fortaleza de San Francisco Xavier und ihre
drei Batterien noch ſtanden, zählte Pater Caulin in der Miſ-
ſion Carichana 400 Salivas; im Jahre 1800 fand ich ihrer
kaum 150. Vom Dorfe iſt nichts übrig als einige Lehm-
hütten, die ſymmetriſch um ein ungeheuer hohes Kreuz her-
liegen.


[86]

Wir trafen unter dieſen Indianern eine Frau von weißer
Abkunft, die Schweſter eines Jeſuiten aus Neugranada. Un-
beſchreiblich iſt die Freude, wenn man mitten unter Völkern,
deren Sprache man nicht verſteht, einem Weſen begegnet, mit
dem man ſich ohne Dolmetſcher unterhalten kann. Jede Miſſion
hat zum wenigſten zwei ſolche Dolmetſcher, lenguarazes. Es
ſind Indianer, etwas weniger beſchränkt als die anderen, mittels
deren die Miſſionäre am Orinoko, die ſich gegenwärtig nur
ſelten die Mühe nehmen, die Landesſprachen kennen zu lernen,
mit den Neugetauften verkehren. Dieſe Dolmetſcher begleiteten
uns beim Botaniſieren. Sie verſtehen wohl ſpaniſch, aber
ſie können es nicht recht ſprechen. In ihrer faulen Gleich-
gültigkeit geben ſie, man mag fragen, was man will, wie
aufs Geratewohl, aber immer mit gefälligem Lächeln zur Ant-
wort: „Ja, Pater; nein, Pater.“ Man begreift leicht, daß
einem die Geduld ausgeht, wenn man monatelang ſolche Ge-
ſpräche zu führen hat, ſtatt über Gegenſtände Auskunft zu
erhalten, für die man ſich lebhaft intereſſiert. Nicht ſelten
konnten wir nur mittels mehrerer Dolmetſcher und ſo, daß
derſelbe Satz mehrmals überſetzt wurde, mit den Eingeborenen
verkehren.


„Von meiner Miſſion an,“ ſagte der gute Ordensmann
in Uruana, „werdet ihr reiſen wie Stumme.“ Und dieſe
Vorherſagung iſt ſo ziemlich in Erfüllung gegangen, und um
nicht um allen Nutzen zu kommen, den man aus dem Ver-
kehr ſelbſt mit den verſunkenſten Indianern ziehen kann, griffen
wir zuweilen zur Zeichenſprache. Sobald der Eingeborene
merkt, daß man ſich keines Dolmetſchers bedienen will, ſobald
man ihn unmittelbar befragt, indem man auf die Gegenſtände
deutet, ſo legt er ſeine gewöhnliche Stumpfheit ab und weiß
ſich mit merkwürdiger Gewandtheit verſtändlich zu machen.
Er macht Zeichen aller Art, er ſpricht die Worte langſam
aus, er wiederholt ſie unaufgefordert. Es ſcheint ſeiner
Eigenliebe zu ſchmeicheln, daß man ihn beachtet und ſich von
ihm belehren läßt. Dieſe Leichtigkeit, ſich verſtändlich zu
machen, zeigt ſich beſonders auffallend beim unabhängigen
Indianer, und was die chriſtlichen Niederlaſſungen betrifft,
muß ich den Reiſenden den Rat geben, ſich vorzugsweiſe an
Eingeborene zu wenden, die erſt ſeit kurzem unterworfen
ſind oder von Zeit zu Zeit wieder in den Wald laufen, um
ihrer früheren Freiheit zu genießen. Es unterliegt wohl keinem
Zweifel, daß der unmittelbare Verkehr mit den Eingebore-
[87] nen belehrender und ſicherer iſt als der mittels des Dol-
metſchers, wenn man nur ſeine Fragen zu vereinfachen weiß und
dieſelben hintereinander an mehrere Individuen in verſchiedener
Geſtalt richtet. Zudem ſind der Mundarten, welche am Meta,
Orinoko, Caſſiquiare und Rio Negro geſprochen werden, ſo
unglaublich viele, daß der Reiſende ſelbſt mit dem bedeutend-
ſten Sprachtalent nie ſo viele derſelben ſich aneignen könnte,
um ſich längs der ſchiffbaren Ströme von Angoſtura bis zum
Fort San Carlos am Rio Negro verſtändlich zu machen. In
Peru und Quito kommt man mit der Kenntnis der Quichua-
oder Inkaſprache aus, in Chile mit dem Araukaniſchen, in
Paraguay mit dem Guarani; man kann ſich wenigſtens der
Mehrzahl der Bevölkerung verſtändlich machen. Ganz anders
in den Miſſionen in ſpaniſch Guyana, wo im ſelben Dorfe
Völker verſchiedenen Stammes untereinander wohnen. Hier
wäre es nicht einmal genug, wenn man folgende Sprachen
verſtünde: Karibiſch oder Carina, Guamo, Guahiva, Jaruro,
Otomaco, Maypure, Saliva, Marivitano, Maquiritare und
Guaica, zehn Sprachen, von denen es nur ganz rohe Sprach-
lehren gibt und die untereinander weniger verwandt ſind als
Griechiſch, Deutſch und Perſiſch.


Die Umgegend der Miſſion Carichana ſchien uns aus-
gezeichnet ſchön. Das kleine Dorf liegt auf einer der gras-
bewachſenen Ebenen, wie ſie von Encaramada bis über die
Katarakte von Maypures hinauf ſich zwiſchen all den Ketten
der Granitberge hinziehen. Der Waldſaum zeigt ſich nur in
der Ferne. Ringsum iſt der Horizont von Bergen begrenzt,
zum Teil bewaldet, von düſterer Färbung, zum Teil kahl mit
felſigen Gipfeln, die der Strahl der untergehenden Sonne
vergoldet. Einen ganz eigentümlichen Charakter erhält die
Gegend durch die faſt ganz kahlen Felsbänke, die oft 260 m
im Umfang haben und ſich kaum ein paar Centimeter über
die umgebende Grasflur erheben. Sie machen gegenwärtig
einen Teil der Ebene aus. Man fragt ſich mit Verwunde-
rung, ob hier ein ungewöhnlich ſtürmiſches Ereignis Damm-
erde und Gewächſe weggeriſſen, oder ob der Granitkern unſeres
Planeten hier nackt zu Tage tritt, weil ſich die Keime des
Lebens noch nicht auf allen Punkten entwickelt haben. Die-
ſelbe Erſcheinung ſcheint in Schamo zwiſchen der Mongolei
und China vorzukommen. Dieſe in der Wüſte zerſtreuten
Felsbänke heißen Tſy. Es wären, wie mir ſcheint, eigentliche
Plateaus, wären von der Ebene umher der Sand und die
[88] Erde weg, welche das Waſſer an den tiefſten Stellen ange-
ſchwemmt hat. Auf den Felsplatten bei Carichana hat man,
was ſehr intereſſant iſt, den Gang der Vegetation von ihren
Anfängen durch die verſchiedenen Entwickelungsgrade vor
Augen. Da ſieht man Flechten, welche das Geſtein zer-
klüften und mehr oder weniger dicke Kruſten bilden; wo ein
wenig Quarzſand ſich angehäuft hat, finden Saftpflanzen
Nahrung; endlich in Höhlungen des Geſteins haben ſich ſchwarze,
aus zerſetzten Wurzeln und Blättern ſich bildende Erdſchichten
abgeſetzt, auf denen immergrünes Buſchwerk wächſt. Handelte
es ſich hier von großartigen Natureffekten, ſo käme ich
nicht auf unſere Gärten und die ängſtlichen Künſteleien der
Menſchenhand; aber der Kontraſt zwiſchen Felsgeſtein und
blühendem Geſträuch, die Gruppen kleiner Bäume da und
dort in der Savanne erinnert unwillkürlich an die mannig-
faltigſten und maleriſchten Partieen unſerer Parke. Es iſt,
als hätte hier der Menſch mit tiefem Gefühl für Natur-
ſchönheit den herben, rauhen Charakter der Gegend mildern
wollen.


Neun, zwölf Kilometer von der Miſſion findet man auf
dieſen von Granitbergen durchzogenen Ebenen eine ebenſo
üppige als mannigfaltige Vegetation. Allen Dörfern ober-
halb der großen Katarakte gegenüber kann man hier bei
Carichana auffallend leicht im Lande fortkommen, ohne daß
man ſich an die Flußufer hält und auf Wälder ſtößt, in die
nicht einzudringen iſt. Bonpland machte mehrere Ausflüge zu
Pferde, auf denen er ſehr viele Gewächſe erbeutete. Ich er-
wähne nur den Paraguatan, eine ſehr ſchöne Art von Macro-
cnemum, deren Rinde rot färbt, den Guaricamo mit gif-
tiger Wurzel, die Jacaranda obtusifolia und den Serrape
oder Jape der Salivasindianer, Aublets Coumarouna, der
in ganz Terra Firma wegen ſeiner aromatiſchen Frucht be-
rühmt iſt. Dieſe Frucht, die man in Caracas zwiſchen die
Wäſche legt, während man ſie in Europa unter dem Namen
Tonca- oder Tongobohne unter den Schnupftabak miſcht,
wird für giftig gehalten. In der Provinz Cumana glaubt
man allgemein, das eigentümliche Aroma des vortrefflichen
Liqueurs, der auf Martinique bereitet wird, komme vom
Jape; dies iſt aber unrichtig. Derſelbe heißt in den Miſ-
ſionen Simaruba, ein Name, der zu argen Mißgriffen An-
laß geben kann, denn die echte Simaruba iſt eine Quaſſia-
art, eine Fieberrinde, und wächſt in Spaniſch-Guyana nur
[89] im Thale des Rio Caura, wo die Paudacotosindianer ſie
Achecchari nennen.


In Carichana, auf dem großen Platze, fand ich die In-
klination der Magnetnadel gleich 33,70,° die Intenſität der
magnetiſchen Kraft gleich 227 Schwingungen in 10 Zeit-
minuten, eine Steigerung, bei der örtliche Anziehungen im
Spiel ſein mochten. Die vom Waſſer des Orinoko geſchwärzten
Granitblöcke wirken übrigens nicht merkbar auf den Magnet.
Der Barometer ſtand um Mittag 760 mm hoch, der Thermo-
meter zeigte im Schatten 30,6°. Bei Nacht fiel die Tempe-
ratur der Luft auf 26,2°; der Delucſche Hygrometer ſtand
auf 46°.


Am 10. April war der Fluß um mehrere Zoll geſtiegen;
die Erſcheinung war den Eingeborenen auffallend, da ſonſt
der Strom anfangs faſt unmerklich ſteigt, und man ganz
daran gewöhnt iſt, daß er im April ein paar Tage lang
wieder fällt. Der Orinoko ſtand bereits 1 m über dem niedrig-
ſten Punkte. Die Indianer zeigten uns an einer Granitwand
die Spuren der gegenwärtigen Hochgewäſſer; ſie ſtanden nach
unſerer Meſſung 13,6 m hoch, und dies iſt doppelt ſo viel als
durchſchnittlich beim Nil. Aber dieſes Maß wurde an einem
Orte genommen, wo das Strombett bedeutend durch Felſen
eingeengt iſt, und ich konnte mich nur an die Angabe der In-
dianer halten. Man ſieht leicht, daß das Stromprofil, die
Beſchaffenheit der mehr oder weniger hohen Ufer, die Zahl
der Nebenflüſſe, die das Regenwaſſer hereinführen, und die
Länge der vom Fluß zurückgelegten Strecke auf die Wirkungen
der Hochgewäſſer und auf ihre Höhe von bedeutendem Ein-
fluß ſein müſſen. Unzweifelhaft iſt, und es macht auf jeder-
mann im Lande einen ſtarken Eindruck, daß man bei Carichana,
San Borja, Atures und Maypures, wo ſich der Strom durch
die Berge Bahn gebrochen, 30, zuweilen 42 m über dem
höchſten gegenwärtigen Waſſerſtande ſchwarze Streifen und
Auswaſchungen ſieht, die beweiſen, daß das Waſſer einmal
ſo hoch geſtanden. So wäre denn dieſer Orinokoſtrom, der
uns ſo großartig und gewaltig erſcheint, nur ein ſchwacher
Neſt der ungeheuren Ströme ſüßen Waſſers, die einſt, ge-
ſchwellt von Alpenſchnee oder noch ſtärkeren Regennieder-
ſchlägen als den heutigen, überall von dichten Wäldern be-
ſchattet, nirgends von flachen Ufern eingefaßt, welche der
Verdunſtung Vorſchub leiſten, das Land gleich oſtwärts von
den Anden gleich Armen von Binnenmeeren durchzogen?
[90] In welchem Zuſtande müſſen ſich damals dieſe Niederungen
von Guyana befunden haben, die jetzt alle Jahre die Ueber-
ſchwemmungen durchzumachen haben? Welch ungeheure Maſſen
von Krokodilen, Seekühen und Boa müſſen auf dem weiten
Landſtrich gelebt haben, der dann wieder aus Lachen ſtehen-
den Waſſers beſtand, oder ein ausgedörrter, von Sprüngen
durchzogener Boden war! Der ruhigeren Welt, in der wir
leben, iſt eine ungleich ſtürmiſchere vorangegangen. Auf den
Hochebenen der Anden finden ſich Knochen von Maſtodonten
und amerikaniſchen eigentlichen Elefanten, und auf den Ebenen
von Uraguay lebte das Megatherium. Gräbt man tiefer in die
Erde, ſo findet man in hochgelegenen Thälern, wo jetzt keine
Palmen und Baumfarne mehr vorkommen, Steinkohlenflötze,
in denen rieſenhafte Reſte monokotyledoniſcher Gewächſe be-
graben liegen. Es war alſo lange vor der Jetztwelt eine
Zeit, wo die Familien der Gewächſe anders verteilt, wo die
Tiere größer, die Ströme breiter und tiefer waren. So viel
und nicht mehr ſagen uns die Naturdenkmale, die wir vor
Augen haben. Wir wiſſen nicht, ob das Menſchengeſchlecht,
das bei der Entdeckung von Amerika oſtwärts von den Kor-
dilleren kaum ein paar ſchwache Volksſtämme aufzuweiſen
hatte, bereits auf die Ebenen herabgekommen war, oder ob
die uralte Sage vom großen Waſſer, die ſich bei den
Völkern am Orinoko, Erevato und Caura findet, anderen
Himmelsſtrichen angehört, aus denen ſie in dieſen Teil des
neuen Kontinents gewandert iſt.


Am 11. April. Nach unſerer Abfahrt von Carichana
um 2 Uhr nachmittags fanden wir im Bette immer mehr
Granitblöcke, durch welche der Strom aufgehalten wird. Wir
ließen den Caño Orupe weſtwärts und fuhren darauf am
großen, unter dem Namen Piedra del Tigre bekannten Felſen
vorbei. Der Strom iſt hier ſo tief, daß ein Senkblei von
40 m den Grund nicht erreicht. Gegen Abend wurde der
Himmel bedeckt und düſter, Windſtöße und dazwiſchen ganz
ſtille Luft verkündeten, daß ein Gewitter im Anzug war.
Der Regen fiel in Strömen und das Blätterdach, unter dem
wir lagen, bot wenig Schutz. Zum Glück vertrieben die
Regenſtröme die Moskiten, die uns den Tag über grauſam
geplagt, wenigſtens auf eine Weile. Wir befanden uns vor
dem Katarakt von Cariven, und der Zug des Waſſers war ſo
ſtark, daß wir nur mit Mühe ans Land kamen. Wir wur-
den immer wieder mitten in die Strömung geworfen. End-
[91] lich ſprangen zwei Salivas, ausgezeichnete Schwimmer, ins
Waſſer, zogen die Piroge mit einem Stricke ans Ufer und
banden ſie an der Piedra del Carichana vieja feſt, einer
nackten Felsbank, auf der wir übernachteten. Das Gewitter
hielt lange in die Nacht hinein an; der Fluß ſtieg bedeutend
und man fürchtete mehreremal, die wilden Wogen möchten
unſer ſchwaches Fahrzeug vom Ufer losreißen.


Der Granitfels, auf dem wir lagerten, iſt einer von
denen, auf welchen Reiſende zuzeiten gegen Sonnenaufgang
unterirdiſche Töne, wie Orgelklang, vernommen haben. Die
Miſſionäre nennen dergleichen Steine laxas de musica. „Es
iſt Hexenwerk (cosa de bruxas),“ ſagte unſer junger in-
dianiſcher Steuermann, der kaſtilianiſch ſprach. Wir ſelbſt haben
dieſe geheimnisvollen Töne niemals gehört, weder in Carichana,
noch am oberen Orinoko; aber nach den Ausſagen glaub-
würdiger Zeugen läßt ſich die Erſcheinung wohl nicht in
Zweifel ziehen, und ſie ſcheint auf einem gewiſſen Zuſtande
der Luft zu beruhen. Die Felsbänke ſind voll feiner, ſehr
tiefer Spalten und ſie erhitzten ſich bei Tag auf 48 bis 50°.
Ich fand oft ihre Temperatur bei Nacht an der Oberfläche
39°, während die der umgebenden Luft 28° betrug. Es
leuchtet alsbald ein, daß der Temperaturunterſchied zwiſchen
der unterirdiſchen und der äußeren Luft ſein Maximum um
Sonnenaufgang erreicht, welcher Zeitpunkt ſich zugleich vom
Maximum der Wärme am vorhergehenden Tage am weiteſten
entfernt. Sollten nun die Orgeltöne, die man hört, wenn
man, das Ohr dicht am Geſtein, auf dem Fels ſchläft, nicht
von einem Luftſtrom herrühren, der aus den Spalten dringt?
Hilft nicht der Umſtand, daß die Luft an die elaſtiſchen
Glimmerplättchen ſtößt, welche in den Spalten hervorſtehen,
die Töne modifizieren? Läßt ſich nicht annehmen, daß die
alten Aegypter, die beſtändig den Nil auf und ab fuhren, an
gewiſſen Felſen in der Thebais dieſelbe Beobachtung gemacht,
und daß die „Muſik der Felſen“ Veranlaſſung zu den Gau-
keleien gegeben, welche die Prieſter mit der Bildſäule Mem-
nons trieben? Wenn die „roſenfingerige Eos ihrem Sohn,
dem ruhmreichen Memnon eine Stimme verlieh“, 1 ſo war
dieſe Stimme vielleicht die eines unter dem Fußgeſtell der
[92] Bildſäule verſteckten Menſchen, aber die Beobachtung der
Eingeborenen am Orinoko, von der hier die Rede iſt, ſcheint
ganz natürlich zu erklären, was zu dem Glauben der Aegypter,
ein Stein töne bei Sonnenaufgang, Anlaß gegeben.


Faſt zur ſelben Zeit, da ich dieſe Vermutungen einigen
Gelehrten in Europa mitteilte, kamen franzöſiſche Reiſende,
die Herren Jomard, Jollois und Devilliers, auf ähnliche
Gedanken. In einem Denkmal aus Granit, mitten in den
Tempelgebäuden von Karnak, hörten ſie bei Sonnenaufgang
ein Geräuſch wie von einer reißenden Saite. Gerade den-
ſelben Vergleich brauchen aber die Alten, wenn von der
Stimme Memnons die Rede iſt. Die franzöſiſchen Reiſen-
den ſind mit mir der Anſicht, das Durchſtreichen der Luft
durch die Spalten eines klingenden Steines habe wahrſchein-
lich die ägyptiſchen Prieſter auf die Gaukeleien im Mem-
nonium gebracht.


Am 12. April. Wir brachen um 4 Uhr morgens auf.
Der Miſſionär ſah voraus, daß wir Not haben würden, über
die Stromſchnellen und den Einfluß des Meta wegzukommen.
Die Indianer ruderten zwölfundeinhalb Stunden ohne Unter-
laß. Während dieſer Zeit nahmen ſie nichts zu ſich als Maniok
und Bananen. Bedenkt man, wie ſchwer es iſt, die Gewalt
der Strömung zu überwinden und die Katarakte hinaufzu-
fahren, und weiß man, daß die Indianer am Orinoko und
Amazonenſtrom auf zweimonatlichen Flußfahrten in dieſer
Weiſe ihre Muskeln anſtrengen, ſo wundert man ſich gleich
ſehr über die Körperkraft und über die Mäßigkeit dieſer Men-
ſchen. Stärkemehl- und zuckerhaltige Stoffe, zuweilen Fiſche
und Schildkröteneierfett erſetzen hier die Nahrung, welche die
zwei erſten Tierklaſſen, Säugetiere und Vögel, Tiere mit
rotem, warmem Blute, geben.


Wir fanden das Flußbett auf einer Strecke von 1170 m
voll Granitblöcken; dies iſt der ſogenannte Raudal de Cariven.
Wir liefen durch Kanäle, die nicht 1,6 m breit waren, und
manchmal ſtak unſere Piroge zwiſchen zwei Granitblöcken feſt.
Man ſuchte die Durchfahrten zu vermeiden, durch die ſich
das Waſſer mit furchtbarem Getöſe ſtürzt. Es iſt keine ernſt-
liche Gefahr vorhanden, wenn man einen guten indianiſchen
Steuermann hat. Iſt die Strömung nicht zu überwinden,
ſo ſpringen die Ruderer ins Waſſer, binden ein Seil an die
Felsſpitzen und ziehen die Piroge herauf. Dies geht ſehr
langſam vor ſich, und wir benutzten zuweilen die Gelegenheit
[93] und kletterten auf die Klippen, zwiſchen denen wir ſtaken.
Es gibt ihrer von allen Größen; ſie ſind abgerundet, ganz
ſchwarz, bleiglänzend und ohne alle Vegetation. Es iſt ein
merkwürdiger Anblick, wenn man auf einem der größten
Ströme der Erde gleichſam das Waſſer verſchwinden ſieht.
Ja noch weit vom Ufer ſahen wir die ungeheuren Granit-
blöcke aus dem Boden ſteigen und ſich aneinander lehnen.
In den Stromſchnellen ſind die Kanäle zwiſchen den Felſen
über 46 m tief, und ſie ſind um ſo ſchwerer zu finden, da
das Geſtein nicht ſelten nach unten eingezogen iſt und eine
Wölbung unter dem Flußſpiegel bildet. Im Raudal von
Cariven ſahen wir keine Krokodile; die Tiere ſcheinen das
Getöſe der Katarakte zu ſcheuen.


Von Cabruta bis zum Einfluß des Rio Sinaruco, auf
einer Strecke von faſt zwei Breitengraden, iſt das linke Ufer
des Orinoko völlig unbewohnt; aber weſtlich vom Raudal de
Cariven hat ein unternehmender Mann, Don Felix Relinchon,
Yaruro- und Otomakenindianer in einem kleinen Dorfe zu-
ſammengebracht. Auf dieſen Civiliſationsverſuch hatten die
Mönche unmittelbar keinen Einfluß. Es braucht kaum er-
wähnt zu werden, daß Don Felix mit den Miſſionären am
rechten Ufer des Stromes in offener Fehde lebt. Wir werden
anderswo die wichtige Frage beſprechen, ob unter den gegen-
wärtigen Verhältniſſen in Spaniſch-Amerika dergleichen Capi-
tanes pobladores
und fundadores an die Stelle der Mönche
treten können, und welche der beiden Regierungsarten, die
gleich launenhaft und willkürlich ſind, für die armen Indianer
die ſchlimmſte iſt.


Um 9 Uhr langten wir an der Einmündung des Meta
an, gegenüber dem Platze, wo früher die von den Jeſuiten
gegründete Miſſion Santa Tereſa geſtanden. Der Meta iſt
nach dem Guaviare der bedeutendſte unter den Nebenflüſſen
des Orinoko. Man kann ihn der Donau vergleichen, nicht
nach der Länge des Laufes, aber hinſichtlich der Waſſermaſſe.
Er iſt durchſchnittlich 11, oft bis zu 28 m tief. Die Ver-
einigung beider Ströme gewährt einen äußerſt großartigen
Anblick. Am öſtlichen Ufer ſteigen einzelne Felſen empor,
und aufeinander getürmte Granitblöcke ſehen von ferne wie
verfallene Burgen aus. Breite, ſandige Ufer legen ſich zwi-
ſchen den Strom und den Saum der Wälder, aber mitten in
dieſen ſieht man am Horizont auf den Berggipfeln einzelne
Palmen ſich vom Himmel abheben.


[94]

Wir brachten zwei Stunden auf einem großen Felſen
mitten im Orinoko zu, auf der Piedra de Paciencia, ſo ge-
nannt, weil die Pirogen, die den Fluß hinaufgehen, hier
nicht ſelten zwei Tage brauchen, um aus dem Strudel heraus-
zukommen, der von dieſem Felſen herrührt. Es gelang mir,
meine Inſtrumente darauf aufzuſtellen. Nach den Sonnen-
höhen, die ich aufnahm, liegt der Einfluß des Meta unter
70° 4′ 29″ der Länge. Nach dieſer chronometriſchen Beob-
achtung iſt d’Anvilles Karte von Südamerka, was dieſen Punkt
betrifft, in der Länge faſt ganz richtig, während der Fehler
in der Breite einen ganzen Grad beträgt.


Der Rio Meta durchzieht die weiten Ebenen von Caſa-
nare; er iſt faſt bis zum Fuß der Anden von Neugranada
ſchiffbar und muß einmal für die Bevölkerung von Guyana
und Venezuela politiſch von großer Bedeutung werden. Aus
dem Golfo Triſte und der Boca del Dragon kann eine Flo-
tille den Orinoko und Meta bis auf 67 bis 90 km von
Santa Fé de Bogota herauffahren. Auf demſelben Wege
kann das Mehl aus Neugranada hinunterkommen. Der Meta
iſt wie ein Schiffahrtskanal zwiſchen Ländern unter derſelben
Breite, die aber ihren Produkten nach ſo weit auseinander
ſind als Frankreich und der Senegal. Durch dieſen Umſtand
wird es von Belang, daß man die Quellen des Fluſſes, der
auf unſeren Karten ſo ſchlecht gezeichnet iſt, genau kennen
lernt. Der Meta entſteht durch die Vereinigung zweier Flüſſe,
die von den Paramos von Chingaſa und Suma Paz herab-
kommen. Erſterer iſt der Rio Negro, der weiter unten den
Pachaquiaro aufnimmt; der zweite iſt der Rio de Aguas
blancas oder Umadea. Sie vereinigen ſich in der Nähe des
Hafens von Marayal. Vom Paſo de la Cabulla, wo man
den Rio Negro verläßt, bis zur Hauptſtadt Santa Fé ſind
es nur 36 bis 45 km. Ich habe dieſe intereſſanten Notizen,
wie ich ſie aus dem Munde von Augenzeugen erhalten, in
der erſten Ausgabe meiner Karte vom Rio Meta benutzt.
Die Reiſebeſchreibung des Kanonikus Don Joſef Cortes Ma-
dariaga hat nicht allein meine erſte Anſicht vom Laufe des
Meta beſtätigt, ſondern mir auch ſchätzbares Material zur
Berichtigung meiner Arbeit geliefert. Von den Dörfern Xira-
mena und Cabullaro bis zu den Dörfern Guanapalo und
Santa Roſalia de Cabapuna, auf einer Strecke von 270 km
ſind die Ufer des Meta ſtärker bewohnt als die des Orinoko.
Es ſind dort 14 zum Teil ſtark bevölkerte chriſtliche Nieder-
[95] laſſungen, aber vom Einfluß des Pauto und des Caſanare an,
über 225 km weit, machen die wilden Guahibos den Meta
unſicher.


Zur Jeſuitenzeit, beſonders aber zur Zeit von Ituriagas
Expedition im Jahre 1756 war die Schiffahrt auf dem Strome
weit ſtärker als jetzt. Miſſionäre aus einem Orden waren
damals Herren an den Ufern des Meta und des Orinoko.
Die Dörfer Macuco, Zurimena, Caſimena einerſeits, anderer-
ſeits Uruana, Encaramada, Carichana waren von den Jeſuiten
gegründet. Die Patres gingen damit um, vom Einfluß des
Caſanare in den Meta bis zum Einfluß des Meta in den
Orinoko eine Reihe von Miſſionen zu gründen, ſo daß ein
ſchmaler Streif bebauten Landes über die weite Steppe zwi-
ſchen den Wäldern von Guyana und den Anden von Neu-
granada gelaufen wäre. Außer dem Mehl von Santa Fé
gingen damals zur Zeit der „Schildkröteneierernte“ das Salz
von Chita, die Baumwollenzeuge von San Gil und die ge-
druckten Decken von Socorro den Fluß herunter. Um den
Krämern, die dieſen Binnenhandel trieben, einigermaßen Sicher-
heit zu verſchaffen, machte man vom Caſtillo oder Fort
Carichana aus von Zeit zu Zeit einen Angriff auf die Gua-
hibosindianer.


Da auf demſelben Wege, der den Handel mit den Pro-
dukten von Neugranada förderte, das geſchmuggelte Gut von
der Küſte von Guyana ins Land ging, ſo ſetzte es der Handels-
ſtand von Cartagena de Indias bei der Regierung durch,
daß der freie Handel auf dem Meta bedeutend beſchränkt
wurde. Derſelbe Geiſt des Monopols ſchloß den Meta, den
Rio Atracto und den Amazonenſtrom. Es iſt doch eine wun-
derliche Politik von ſeiten der Mutterländer, zu glauben, es
ſei vorteilhaft, Länder, wo die Natur Keime der Fruchtbarkeit
mit vollen Händen ausgeſtreut, unangebaut liegen zu laſſen.
Daß das Land nicht bewohnt iſt, haben ſich nun die wilden
Indianer allerorten zu nutze gemacht. Sie ſind an die Flüſſe
herangerückt, ſie machen Angriffe auf die Vorüberfahrenden,
ſie ſuchen wiederzuerobern, was ſie ſeit Jahrhunderten
verloren. Um die Guahibos im Zaume zu halten, wollten
die Kapuziner, welche als Leiter der Miſſionen am Orinoko
auf die Jeſuiten folgten, an der Ausmündung des Meta unter
dem Namen Villa de San Carlos eine Stadt bauen. Trägheit
und die Furcht vor dem dreitägigen Fieber ließen es nicht
dazu kommen und ein ſauber gemaltes Wappen auf einem
[96] Pergament und ein ungeheures Kreuz am Ufer des Meta iſt
alles, was von der Villa de San Carlos beſtanden hat. Die
Guahibos, deren Kopfzahl, wie man behauptet, einige Tau-
ſende beträgt, ſind ſo frech geworden, daß ſie, als wir nach
Carichana kamen, dem Miſſionär hatten ankündigen laſſen,
ſie werden auf Flößen kommen und ihm ſein Dorf anzünden.
Dieſe Flöße (valzas), die wir zu ſehen Gelegenheit hatten,
ſind kaum 1 m breit und 4 m lang. Es fahren nur zwei bis
drei Indianer darauf, aber 15 bis 16 Flöße werden mit den
Stengeln von Paulinia, Dolichos und anderen Rankengewächſen
aneinander gebunden. Man begreift kaum, wie dieſe kleinen
Fahrzeuge in den Stromſchnellen beiſammen bleiben können.
Viele aus den Dörfern am Caſanare und Apure entlaufene
Indianer haben ſich den Guahibos angeſchloſſen und ihnen
Geſchmack am Rindfleiſch und den Gebrauch des Leders bei-
gebracht. Die Höfe San Vicente, Rubio und San Antonio
haben durch die Einfälle der Indianer einen großen Teil ihres
Hornviehs eingebüßt. Ihretwegen können auch die Reiſenden,
die den Meta hinaufgehen, bis zum Einfluſſe des Caſanare
die Nacht nicht am Ufer zubringen. Bei niedrigem Waſſer
kommt es ziemlich häufig vor, daß Krämer aus Neugranada,
die zuweilen noch das Lager bei Pararuma beſuchen, von den
Guahibos mit vergifteten Pfeilen erſchoſſen werden.


Vom Einfluſſe des Meta an erſchien der Orinoko freier
von Klippen und Felsmaſſen. Wir fuhren auf einer 970 m
breiten offenen Stromſtrecke. Die Indianer ruderten fort,
ohne die Piroge zu ſchieben und zu ziehen und uns dabei
mit ihrem wilden Geſchrei zu beläſtigen. Gegen Weſt lagen
im Vorbeifahren die Caños Uita und Endava, und es war
bereits Nacht, als wir vor dem Raudal de Tabaje hielten.
Die Indianer wollten es nicht mehr wagen, den Katarakt
hinaufzufahren, und wir ſchliefen daher am Lande, an einem
höchſt unbequemen Orte, auf einer mehr als 18° geneigten
Felsplatte, in deren Spalten Scharen von Fledermäuſen ſtaken.
Die ganze Nacht über hörten wir den Jaguar ganz in der
Nähe brüllen, und unſer großer Hund antwortete darauf mit
anhaltendem Geheul. Umſonſt wartete ich, ob nicht die Sterne
zum Vorſchein kämen; der Himmel war grauenhaft ſchwarz.
Das dumpfe Toſen der Fälle des Orinoko ſtach ſcharf ab vom
Donner, der weit weg, dem Walde zu, ſich hören ließ.


Am 13. April. Wir fuhren am frühen Morgen die
Stromſchnellen von Tabaje hinauf, bis wohin Pater Gumilla
[97] auf ſeiner Fahrt gekommen war, 1 und ſtiegen wieder aus.
Unſer Begleiter, Pater Zea, wollte in der neuen, ſeit zwei
Jahren beſtehenden Miſſion San Borja die Meſſe leſen. Wir
fanden daſelbſt ſechs von noch nicht katechiſierten Guahibos
bewohnte Häuſer. Sie unterſchieden ſich in nichts von den
wilden Indianern. Ihre ziemlich großen ſchwarzen Augen
verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen
Miſſionen. Vergeblich boten wir ihnen Branntwein an; ſie
wollten ihn nicht einmal koſten. Die Geſichter der jungen
Mädchen waren alle mit runden ſchwarzen Tupfen bemalt;
dieſelben nahmen ſich aus wie die Schönpfläſterchen, mit denen
früher die Weiber in Europa die Weiße ihrer Haut zu heben
meinten. Am übrigen Körper waren die Guahibos nicht be-
malt. Mehrere hatten einen Bart; ſie ſchienen ſtolz darauf,
faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu ver-
ſtehen, ſie ſeien wie wir. Sie ſind meiſt ziemlich ſchlank
gewachſen. Auch hier, wie bei den Salivas und Macos, fiel
mir wieder auf, wie wenig Aehnlichkeit die Indianer am
Orinoko in der Geſichtsbildung miteinander haben. Ihr Blick
iſt düſter, trübſelig, aber weder ſtreng noch wild. Sie haben
keinen Begriff von den chriſtlichen Religionsgebräuchen (der
Miſſionär von Carichana lieſt in San Borja nur drei- oder
viermal im Jahre Meſſe); dennoch benahmen ſie ſich in der
Kirche durchaus anſtändig. Die Indianer lieben es, ſich ein
Anſehen zu geben; gern dulden ſie eine Weile Zwang und
Unterwürfigkeit aller Art, wenn ſie nur wiſſen, daß man auf
ſie ſieht. Bei der Kommunion machten ſie einander Zeichen,
daß jetzt der Prieſter den Kelch zum Munde führen werde.
Dieſe Gebärde ausgenommen, ſaßen ſie da, ohne ſich zu rühren,
völlig teilnahmlos.


Die Teilnahme, mit der wir die armen Wilden betrachtet
hatten, war vielleicht ſchuld daran, daß die Miſſion einging.
Einige derſelben, die lieber umherzogen, als das Land bauten,
beredeten die anderen, wieder auf die Ebenen am Meta zu
ziehen; ſie ſagten ihnen, die Weißen würden wieder nach
San Borja kommen und ſie dann in ihren Kanoen fort-
ſchleppen und in Angoſtura als Poitos, als Sklaven ver-
kaufen. Die Guahibos warteten, bis ſie hörten, daß wir
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 7
[98] vom Rio Negro über den Caſſiquiare zurückkamen, und als ſie
erfuhren, daß wir beim erſten großen Katarakt, bei Apures,
angelangt ſeien, liefen alle davon in die Savannen weſtlich
vom Orinoko. Am ſelben Platze und unter demſelben Namen
hatten ſchon die Jeſuiten eine Miſſion gegründet. Kein Stamm
iſt ſchwerer ſeßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben
ſie von faulen Fiſchen, Tauſendfüßen und Würmern, als daß
ſie ein kleines Stück Land bebauen. Die anderen Indianer
ſagen daher ſprichwörtlich: „Ein Guahibo ißt alles auf der
Erde und unter der Erde.“


Kommt man auf dem Orinoko weiter nach Süden, ſo
nimmt die Hitze keineswegs zu, ſondern wird im Gegenteil
erträglicher. Die Lufttemperatur war bei Tage 26 bis 27,5°,
bei Nacht 23,7°. Das Waſſer des Stromes behielt ſeine ge-
wöhnliche Temperatur von 27,7°. Aber trotz der Abnahme
der Hitze nahm die Plage der Moskiten erſchrecklich zu. Nie
hatten wir ſo arg gelitten als in San Borja. Man konnte
nicht ſprechen oder das Geſicht entblößen, ohne Mund und
Naſe voll Inſekten zu bekommen. Wir wunderten uns, daß
wir den Thermometer nicht auf 35 oder 36° ſtehen ſahen;
beim ſchrecklichen Hautreiz ſchien uns die Luft zu glühen.
Wir übernachteten am Ufer bei Guaripo. Aus Furcht vor
den kleinen Karibenfiſchen badeten wir nicht. Die Krokodile,
die wir den Tag über geſehen, waren alle außerordentlich groß,
7 bis 8 m lang.


Am 14. April. Die Plage der Zancudos veranlaßte uns,
ſchon um 5 Uhr morgens aufzubrechen. In der Luftſchicht
über dem Fluſſe ſelbſt ſind weniger Inſekten als am Wald-
ſaume. Zum Frühſtück hielten wir an der Inſel Guachaco,
wo eine Sandſteinformation oder ein Konglomerat unmittelbar
auf dem Granit lagert. Der Sandſtein enthält Quarz-, ſogar
Feldſpattrümmer, und das Bindemittel iſt verhärteter Thon.
Es befinden ſich darin kleine Gänge von Brauneiſenerz, das
in liniendicken Schichten abblättert. Wir hatten dergleichen
Blätter bereits zwiſchen Encaramada und dem Baraguan am
Ufer gefunden, und die Miſſionäre hatten dieſelben bald für
Gold-, bald für Zinnerz gehalten. Wahrſcheinlich iſt dieſe
ſekundäre Bildung früher ungleich weiter verbreitet geweſen.
Wir fuhren an der Mündung des Rio Parueni vorüber, über
welcher die Macosindianer wohnen, und übernachteten auf
der Inſel Panumana. Nicht ohne Mühe kam ich dazu, zur
Beſtimmung der Länge des Ortes, bei dem der Fluß eine
[99] ſcharfe Wendung nach Weſt macht, Höhenwinkel des Canopus
zu meſſen. Die Inſel Panumana iſt ſehr reich an Pflanzen.
Auch hier findet man wieder die kahlen Felſen, die Melaſtomen-
büſche, die kleinen Baumpartieen, deren Gruppierung uns ſchon
in der Ebene bei Carichana aufgefallen war. Die Berge bei
den großen Katarakten begrenzten den Horizont gegen Südoſt.
Je weiter wir hinauf kamen, deſto großartiger und maleriſcher
wurden die Ufer des Orinoko.


[[100]]

Zwanzigſtes Kapitel.


Die Mündung des Rio Anaveni. — Der Pik Uniana. — Die
Miſſion Atures. — Der Katarakt oder Raudal Mapara. — Die
Inſeln Surupamana und Uirapuri.


Auf ſeinem Laufe von Süd nach Nord ſtreicht über den
Orinokoſtrom eine Kette von Granitbergen. Zweimal in ſeinem
Laufe gehemmt, bricht er ſich toſend an den Felſen, welche
Staffeln und Querdämme bilden. Nichts großartiger als dieſes
Landſchaftsbild. Weder der Fall des Tequendama bei Santa
Fé de Bogota, noch die gewaltige Naturſzenerie der Kordilleren
vermochten den Eindruck zu verwiſchen, den die Stromſchnellen
von Atures und Maypures auf mich machten, als ich ſie zum
erſtenmal ſah. Steht man ſo, daß man die ununterbrochene
Reihe von Katarakten, die ungeheure, von den Strahlen der
untergehenden Sonne beleuchtete Schaum- und Dunſtfläche mit
einem Blicke überſieht, ſo iſt es, als ſähe man den ganzen
Strom über ſeinem Bette hängen.


So ausgezeichnete Naturbildungen mußten ſchon ſeit
Jahrhunderten bei den Bewohnern der Neuen Welt Aufmerk-
ſamkeit erregen. Als Diego de Ordaz, Alfonſo de Herrera
und der unerſchrockene Ralegh in der Mündung des Orinoko
vor Anker gingen, wurde ihnen Kunde von den großen Ka-
tarakten aus dem Munde von Indianern, die niemals dort
geweſen; ſie verwechſelten ſie ſogar mit weiter oſtwärts ge-
legenen Fällen. Wie ſehr auch in der heißen Zone die Ueppigkeit
des Pflanzenwuchſes dem Verkehr unter den Völkern hinderlich
iſt, alles, was ſich auf den Lauf der großen Ströme bezieht,
erlangt einen Ruf, der ſich in ungeheure Fernen verbreitet.
Gleich Armen von Binnenmeeren durchziehen der Orinoko,
Amazonenſtrom und Uruguay einen mit Wäldern bedeckten
Landſtrich, auf dem Völker hauſen, die zum Teil Menſchen-
freſſer ſind. Noch iſt es nicht zwei Jahrhunderte her, ſeit
[101] die Kultur und das ſanfte Licht einer menſchlicheren Religion
an den Ufern dieſer uralten, von der Natur gegrabenen Kanäle
aufwärts ziehen; aber lange vor Einführung des Ackerbaues,
ehe zwiſchen den zerſtreuten, oft ſich befehdenden Horden ein
Tauſchverkehr zuſtande kam, verbreitete ſich auf tauſend zu-
fälligen Wegen die Kunde von außerordentlichen Naturerſchei-
nungen, von Waſſerfällen, vulkaniſchen Flammen, vom Schnee,
der vor der Hitze des Sommers nicht weicht. 1350 km von
den Küſten, im Herzen von Südamerika, unter Völkern, deren
Wanderungen ſich in den Grenzen von drei Tagereiſen halten,
findet man die Kunde vom Ozean, findet man Worte zur
Bezeichnung einer Maſſe von Salzwaſſer, die ſich hinbreitet,
ſo weit das Auge reicht. Verſchiedene Vorfälle, wie ſie im
Leben des Wilden nicht ſelten ſind, helfen zur Verbreitung
ſolcher Kenntniſſe. Infolge der kleinen Kriege zwiſchen be-
nachbarten Horden wird ein Gefangener in ein fremdes Land
geſchleppt, wo er als Poito oder Mero, das heißt als
Sklave behandelt wird. Nachdem er mehreremal verkauft und
wieder im Kriege gebraucht worden, entkommt er und kehrt
zu den Seinigen zurück. Da erzählt er denn, was er geſehen,
was er andere hat erzählen hören, deren Sprache er hat lernen
müſſen. So kommt es, daß man, wenn man eine Rippe
findet, von den großen Tieren weit im inneren Lande ſprechen
hört; ſo kommt es, daß man, wenn man das Thal eines
großen Fluſſes betritt, mit Ueberraſchung ſieht, wie viel die
Wilden, die gar nicht auf dem Waſſer fahren, von weit ent-
legenen Dingen zu ſagen wiſſen. Auf den erſten Stufen der
geſellſchaftlichen Entwickelung tritt in gewiſſem Grade der Ge-
dankenaustauſch früher ein als der Tauſch von Erzeugniſſen.


Die beiden großen Katarakte des Orinoko, die eines ſo
ausgebreiteten, uralten Rufes genießen, entſtehen dadurch, daß
der Strom die Berge der Parime durchbricht. Bei den Ein-
geborenen heißen ſie Mapara und Quituna; aber die
Miſſionäre haben dafür Atures und Maypures geſetzt, nach
den Namen der beiden Stämme, die ſie in den beiden den
Fällen zunächſt gelegenen Dörfern zuſammengebracht. An
den Küſten von Caracas nennt man die zwei großen Kata-
rakte einfach: die zwei Raudales 1 (Stromſchnellen), was
darauf hindeutet, daß man die anderen Fälle, ſogar die Strom-
[102] ſchnellen von Camiſeta und Carichana, gegenüber den Ka-
tarakten von Apures und Maypures, gar nicht der Beachtung
wert findet.


Letztere liegen unter dem 5. und 6. Grad nördlicher Breite,
450 km weſtwärts von den Kordilleren von Neugranada, im
Meridian von Porto Cabello, und nur 54 km voneinander.
Es iſt ſehr auffallend, daß d’Anville nichts von denſelben
gewußt hat, da er doch auf ſeiner ſchönen großen Karte von
Südamerika die unbedeutenden Fälle von Marimara und San
Borja unter dem Namen Stromſchnellen von Carichana und
Tabaje angibt. Die großen Katarakte teilen die chriſtlichen
Niederlaſſungen in Spaniſch-Guyana in zwei ungleiche Hälften.
Miſſionen am unteren Orinoko heißen die zwiſchen
dem Raudal von Atures und der Strommündung; unter
den Miſſionen am oberen Orinoko ſind die Dörfer
zwiſchen dem Raudal von Maypures und den Bergen des
Duida verſtanden. Der Lauf des unteren Orinoko iſt, wenn
man mit La Condamine die Krümmungen auf ein Dritteil
der geraden Richtung ſchätzt, 480 km, der des oberen Ori-
noko, die Quellen 3° oſtwärts vom Duida angenommen,
750 km lang.


Jenſeits der großen Katarakte beginnt ein unbekanntes
Land. Es iſt ein zum Teil gebirgiger, zum Teil ebener
Landſtrich, über den die Nebenflüſſe ſowohl des Amazonen-
ſtromes als des Orinoko ziehen. Wegen des leichten Verkehres
mit dem Rio Negro und Gran Para ſcheint derſelbe vielmehr
Braſilien als den ſpaniſchen Kolonieen anzugehören. Keiner
der Miſſionäre, die vor mir den Orinoko beſchrieben haben,
die Patres Gumilla, Gili und Caulin, iſt über den Raudal
von Maypures hinaufgekommen. Letzterer hat allerdings eine
ziemlich genaue Topographie vom oberen Orinoko und vom
Caſſiquiare geliefert, aber nur nach den Angaben von Militärs,
die Solanos Expedition mitgemacht. Oberhalb der großen Ka-
tarakte fanden wir längs des Orinoko auf einer Strecke von
450 km nur drei chriſtliche Niederlaſſungen, und in denſelben
waren kaum ſechs bis acht Weiße, das heißt Menſchen euro-
päiſcher Abkunft. Es iſt nicht zu verwundern, daß ein ſo
ödes Land von jeher der klaſſiſche Boden für Sagen und
Wundergeſchichten war. Hierher verſetzten ernſte Miſſionäre
die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf
oder den Mund unter dem Magen haben; hier fanden ſie
alles wieder, was die Alten von den Garamanten, den
[103] Arimaſpen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den
ſchlichten, zuweilen ein wenig rohen Miſſionären unrecht,
wenn man glaubte, ſie ſelbſt haben dieſe übertriebenen Mären
erfunden; ſie haben ſie vielmehr großenteils den Indianer-
geſchichten entnommen. In den Miſſionen erzählt man gern,
wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man ſich lang-
weilt. Ein Miſſionär iſt ſchon nach Standesgebühr nicht zum
Skeptizismus geneigt; er prägt ſich ein, was ihm die Ein-
geborenen ſo oft vorgeſagt, und kommt er nach Europa in
die civiliſierte Welt zurück, ſo findet er eine Entſchädigung
für ſeine Beſchwerden in der Luſt, durch die Erzählung von
Dingen, die er als Thatſachen aufgenommen, durch lebendige
Schilderung des im Raume ſo weit Entrückten, die Leute in
Verwunderung zu ſetzen. Ja, dieſe Cuentos de viageros
y frailes
werden immer unwahrſcheinlicher, je weiter man von
den Wäldern am Orinoko weg den Küſten zu kommt, wo
die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce-
lona und in anderen Seehäfen, die ſtarken Verkehr mit den
Miſſionen haben, einigen Unglauben merken, ſo ſchließt man
einem den Mund mit den wenigen Worten: „Die Patres
haben es geſehen,“ aber weit über den großen Katarakten,
„mas ariba de los Raudales“.


Jetzt, da wir ein ſo ſelten beſuchtes, von denen, die es
bereiſt, nur zum Teil beſchriebenes Land betreten, habe ich
mehrere Gründe, meine Reiſebeſchreibung auch ferner in der
Form eines Tagebuches fortzuſetzen. Der Leſer unterſcheidet
dabei leichter, was ich ſelbſt beobachtet, und was ich nach den
Ausſagen der Miſſionäre und Indianer berichte; er begleitet
die Reiſenden bei ihren täglichen Beſchäftigungen; er ſieht
zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote ſtand und mit welchen
Schwierigkeiten ſie zu kämpfen hatten, und wird in ſeinem
Urteil nachſichtiger.


Am 15. April. Wir brachen von der Inſel Panumana
um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang;
der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40°
hoch ſtehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns,
daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge-
witter ſo ausnehmend hoch ſtand? Es kam uns vor, als
würden in Europa die elektriſchen Schimmer ohne Donner,
das Wetterleuchten, wie man es mit unbeſtimmtem Ausdruck
nennt, in der Regel weit näher am Horizont geſehen. Beim
bedeckten Himmel, der die ſtrahlende Wärme des Bodens zu-
[104] rückwarf, war die Hitze erſtickend; kein Lüftchen bewegte das
Laub der Bäume. Wie gewöhnlich waren die Jaguare über
den Flußarm zwiſchen uns und dem Ufer herübergekommen,
und wir hörten ſie ganz in unſerer Nähe brüllen. Im Laufe
der Nacht hatten uns die Indianer geraten, aus dem Biwuak
in eine verlaſſene Hütte zu ziehen, die zu den „Conucos“ der
Einwohner von Apures gehört; ſie verrammelten den Eingang
mit Brettern, was uns ziemlich überflüſſig vorkam. Die Tiger
ſind bei den Katarakten ſo häufig, daß vor zwei Jahren ein
Indianer, der am Ende der Regenzeit, eben hier in den Co-
nucos von Panumana, ſeine Hütte wieder aufſuchte, dieſelbe
von einem Tigerweibchen mit zwei Jungen beſetzt fand. Die
Tiere hatten ſich ſeit mehreren Monaten hier aufgehalten;
nur mit Mühe brachte man ſie hinaus, und erſt nach hart-
näckigem Kampfe konnte der Eigentümer einziehen. Die Ja-
guare ziehen ſich gerne in verlaſſene Bauten, und nach meiner
Meinung thut der einzelne Reiſende meiſt klüger, unter freiem
Himmel zwiſchen zwei Feuern zu übernachten, als in unbe-
wohnten Hütten Schutz zu ſuchen.


Bei der Abfahrt von der Inſel Panumana ſahen wir
auf dem weſtlichen Stromufer die Lagerfeuer wilder Guahibos;
der Miſſionär, der bei uns war, ließ einige blinde Schüſſe
abfeuern, um ſie einzuſchüchtern, ſagte er, und ihnen zu zeigen,
daß wir uns wehren könnten. Die Wilden hatten ohne Zweifel
keine Kanoen und wohl auch keine Luſt, uns mitten auf dem
Strome zu Leibe zu gehen. Bei Sonnenaufgang kamen wir
am Einfluß des Rio Anaveni vorüber, der von den öſtlichen
Bergen herabkommt. Jetzt ſind ſeine Ufer verlaſſen; aber
zur Jeſuitenzeit hatte Pater Olmos hier Japuin- oder Yaruro-
indianer in einem kleinen Dorfe zuſammengebracht. Die Hitze
am Tage war ſo ſtark, daß wir lange an einem ſchattigen
Platze hielten und mit der Leine fiſchten. Wir konnten die
Fiſche, die wir gefangen, kaum alle fortbringen. Erſt ganz
ſpät langten wir unmittelbar unter dem großen Katarakt in
einer Bucht an, die der untere Hafen (puerto de abaxo)
heißt, und gingen, bei der dunkeln Nacht nicht ohne Be-
ſchwerde, auf ſchmalem Fußpfad in die Miſſion Atures, 4,5 km
vom Flußufer. Man kommt dabei über eine mit großen
Granitblöcken bedeckte Ebene.


Das kleine Dorf San Juan Nepomuceno de los
Atures
wurde im Jahre 1748 vom Jeſuiten Pater Fran-
cisco Gonzales angelegt. Es iſt ſtromaufwärts die letzte vom
[105] Orden des heiligen Ignatius gegründete chriſtliche Nieder-
laſſung. Die weiter nach Süd gelegenen Niederlaſſungen am
Atabapo, Caſſiquiare und Rio Negro rühren von den dem
Franziskanerorden angehörenden Obſervanten her. Wo jetzt
das Dorf Atures ſteht, muß früher der Orinoko gefloſſen ſein,
und die völlig ebene Grasflur um das Dorf war ohne Zweifel
ein Stück des Flußbettes. Oeſtlich von der Miſſion ſah ich
eine Felsreihe, die mir das alte Flußufer zu ſein ſchien. Im
Laufe der Jahrhunderte wurde der Strom gegen Weſt hin-
übergedrängt, weil den öſtlichen Bergen zu, von denen viele
Wildwaſſer herabkommen, die Anſchwemmungen ſtärker ſind.
Der Katarakt heißt, wie oben bemerkt, Mapara, während
das Dorf nach dem Volke der Atures genannt iſt, das man
jetzt für ausgeſtorben hält. Auf den Karten des 17. Jahr-
hunderts finde ich: „Inſel und Katarakt Athule“; dies iſt
Atures nach der Ausſprache der Tamanaken, die, wie ſo
viele Völker, die Konſonanten l und r verwechſeln. Noch bis
zur Mitte des 18. Jahrhunderts war dieſes gebirgige Land
in Europa ſo wenig bekannt, daß d’Anville in der erſten
Ausgabe ſeines Südamerika beim Salto de los Atures
vom Orinoko einen Arm abgehen läßt, der ſich in den Ama-
zonenſtrom ergießt und der bei ihm Rio Negro heißt.


Die alten Karten, ſowie Pater Gumilla in ſeinem Werke,
ſetzen die Miſſion unter 1° 30′ der Breite; der Abbé Gili
gibt 3° 30′ an. Nach Meridianhöhen des Canopus und des α
des ſüdlichen Kreuzes fand ich 5° 38′ 4″ Breite und durch
Uebertrag der Zeit 4 Stunden 41 Minuten 17 Sekunden
weſtliche Länge vom Pariſer Meridian. Die Inklination der
Magnetnadel war am 16. April 30,25°; 223 Schwingungen
in 10 Zeitminuten gaben das Maß der Intenſität der mag-
netiſchen Kraft; in Paris ſind es 245 Schwingungen.


Wir fanden die kleine Miſſion in der kläglichſten Ver-
faſſung. Zur Zeit von Solanos Expedition, gewöhnlich „die
Grenzexpedition“ genannt, waren noch 520 Indianer hier,
und als wir über die Katarakte gingen, nur noch 47, und
der Miſſionär verſicherte uns, mit jedem Jahre werde die Ab-
nahme ſtärker. Er zeigte uns, daß in 32 Monaten nur eine
einzige Ehe ins Kirchenbuch eingetragen worden; zwei weitere
Ehen waren von noch nicht katechiſierten Indianern vor dem
indianiſchen Governador geſchloſſen und damit, wie wir
in Europa ſagen, der Civilakt vollzogen worden. Bei der
Gründung der Miſſion waren hier Atures, Maypures, Meye-
[106] pures, Abanis und Quirupas untereinander; ſtatt dieſer
Stämme fanden wir nur Guahibos und ein paar Familien
vom Stamme der Macos. Die Atures ſind faſt völlig ver-
ſchwunden; man kennt ſie nur noch von ihren Gräbern in der
Höhle Ataruipe her, die an die Grabſtätten der Guanchen
auf Tenerifa erinnern. Wir hörten an Ort und Stelle, die
Atures haben mit den Quaquas und den Macos oder Piaroas
dem großen Völkerſtamme der Salivas angehört, wogegen
die Maypures, Abanis, Parenis und Guaypunaves einer Ab-
kunft ſeien mit den Cabres oder Caveres, die wegen ihrer
langen Kriege mit den Kariben viel genannt werden. In
dieſem Wirrwarr kleiner Völkerſchaften, die einander ſo ſchroff
gegenüberſtehen, wie einſt die Völker in Latium, Kleinaſien
und Sogdiana, läßt ſich das Zuſammengehörige im allge-
meinſten nur an der Sprachverwandtſchaft erkennen. Die
Sprachen ſind die einzigen Denkmäler, die aus der Urzeit
auf uns gekommen ſind; nur ſie, nicht an den Boden ge-
feſſelt, beweglich und dauernd zugleich, ſind ſozuſagen durch
Raum und Zeit hindurchgegangen. So zäh und über ſo viele
Strecken verbreitet erſcheinen ſie aber weit weniger bei er-
oberten und bei civiliſierten Völkern als bei wandernden,
halbwilden Stämmen, die auf der Flucht vor mächtigen Fein-
den in ihr tiefes Elend nichts mit ſich nehmen als ihre Weiber,
ihre Kinder und die Mundart ihrer Väter.


Zwiſchen dem 4. und 8. Breitengrad bildet der Orinoko
nicht nur die Grenze zwiſchen dem großen Walde der Pa-
rime und den kahlen Savannen am Apure, Meta und Gua-
viare, er ſcheidet auch Horden von ſehr verſchiedener Lebens-
weiſe. Im Weſten ziehen auf den baumloſen Ebenen die
Guahibos, Chiricoas und Guamos herum, ekelhaft ſchmutzige
Völker, ſtolz auf ihre wilde Unabhängigkeit, ſchwer an den
Boden zu feſſeln und an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen.
Die ſpaniſchen Miſſionäre bezeichnen ſie ganz gut als Indios
andantes
(laufende, umherziehende Indianer). Oeſtlich vom
Orinoko, zwiſchen den einander nahe liegenden Quellen des
Caura, des Cataniapo und Ventuari, hauſen die Macos, Salivas,
Curacicanas, Parecas und Maquiritares, ſanftmütige, ruhige,
Ackerbau treibende, leicht der Zucht in den Miſſionen zu unter-
werfende Völker. Der Indianer der Ebene unterſcheidet
ſich vom Indianer der Wälder durch Sprache wie durch
Sitten und die ganze Geiſtesrichtung; beide haben eine an
lebendigen, kecken Wendungen reiche Sprache, aber die des
[107] erſteren iſt rauher, kürzer, leidenſchaftlicher; beim zweiten iſt
ſie ſanfter, weitſchweifiger und reicher an abgeleiteten Aus-
drücken.


In der Miſſion Atures, wie in den meiſten Miſſionen
am Orinoko zwiſchen den Mündungen des Apure und des
Atabapo, leben die eben erwähnten beiden Arten von Volks-
ſtämmen nebeneinander; man trifft daſelbſt Indianer aus
den Wäldern und früher nomadiſche Indianer (Indios mon-
teros
und Indios andantes oder llaneros). Wir beſuchten
mit dem Miſſionär die Hütten der Macos, bei den Spaniern
Piraoas genannt, und der Guahibos. Im erſteren zeigt ſich
mehr Sinn für Ordnung, mehr Reinlichkeit und Wohlſtand.
Die unabhängigen Macos (Wilde möchte ich ſie nicht nennen)
haben ihre Rochelas oder feſten Wohnplätze zwei bis drei Tage-
reiſen öſtlich von Atures bei den Quellen des kleinen Fluſſes
Cataniapo. Sie ſind ſehr zahlreich, bauen, wie die meiſten
Waldindianer, keinen Mais, ſondern Maniok, und leben im
beſten Einvernehmen mit den chriſtlichen Indianern in der
Miſſion. Dieſe Eintracht hat der Franziskaner Pater Ber-
nardo Zea geſtiftet und durch Klugheit erhalten. Der Alkalde
der unterworfenen Macos verließ mit der Genehmigung
des Miſſionärs jedes Jahr das Dorf Atures, um ein paar
Monate auf den Pflanzungen zuzubringen, die er mitten in
den Wäldern beim Dorfe der unabhängigen Macos beſaß.
Infolge dieſes friedlichen Verkehres hatten ſich vor einiger
Zeit mehrere dieſer Indios monteros in der Miſſion nieder-
gelaſſen. Sie baten dringend um Meſſer, Fiſchangeln und
farbige Glasperlen, die trotz des ausdrücklichen Verbotes der
Ordensleute nicht als Halsbänder, ſondern zum Aufputz des
Guayuco (Gürtels) dienen. Nachdem ſie das Gewünſchte
erhalten, gingen ſie in die Wälder zurück, da ihnen die Zucht
in der Miſſion ſchlecht behagte. Epidemiſche Fieber, wie ſie
bei Eintritt der Regenzeit nicht ſelten heftig auftreten, trugen
viel zu der unerwarteten Ausreißerei bei. Im Jahre 1799
war die Sterblichkeit in Carichana, am Ufer des Meta und
im Raudal von Atures ſehr ſtark. Dem Waldindianer
wird das Leben des civiliſierten Menſchen zum Greuel, ſobald
ſeiner in der Miſſion lebenden Familie, ich will nicht ſagen
ein Unglück, ſondern nur unerwartet irgend etwas Widriges
zuſtößt. So ſah man neubekehrte Indianer wegen herrſchender
großer Trockenheit für immer aus den chriſtlichen Nieder-
laſſungen fortlaufen, als ob das Unheil ihre Pflanzungen
[108] nicht ebenſo betroffen hätte, wenn ſie immer unabhängig ge-
blieben wären.


Welches ſind die Urſachen der Fieber, die einen großen
Teil des Jahres hindurch in den Dörfern Atures und May-
pures an den zwei großen Katarakten des Orinoko herrſchen
und die Gegend für den europäiſchen Reiſenden ſo gefährlich
machen? Die große Hitze im Verein mit der außerordentlich
ſtarken Feuchtigkeit der Luft, die ſchlechte Nahrung und, wenn
man den Eingeborenen glaubt, giftige Dünſte, die ſich aus
den kahlen Felſen der Raudales entwickeln. Dieſe Orinoko-
fieber kommen, wie es uns ſchien, vollkommen mit denen
überein, die alle Jahre in der Nähe des Meeres zwiſchen
Nueva Barcelona, Guayra und Porto Cabello auftreten und
oft in adynamiſche Fieber ausarten. „Ich habe mein kleines
Fieber (mi calenturita) erſt ſeit acht Monaten,“ ſagte der
gute Miſſionär von Atures, der uns an den Rio Negro be-
gleitete; er ſprach davon wie von einem gewohnten, wohl zu
ertragenden Leiden. Die Anfälle waren heftig, aber von
kurzer Dauer; bald traten ſie ein, wenn er in der Piroge
auf einem Gitter von Baumzweigen lag, bald wenn er auf
offenem Ufer der heißen Sonne ausgeſetzt war. Dieſe drei-
tägigen Fieber ſind mit bedeutender Schwächung des Muskel-
ſyſtems verbunden; indeſſen ſieht man am Orinoko arme
Ordensgeiſtliche ſich jahrelang mit dieſen Calenturitas und
Tercianas ſchleppen; die Wirkungen ſind nicht ſo tief greifend
und gefährlich als bei kürzer dauernden Fiebern in gemäßigten
Himmelsſtrichen.


Ich erwähnte eben, daß die Eingeborenen und ſogar die
Miſſionäre den kahlen Felſen einen nachteiligen Einfluß auf
die Salubrität der Luft zuſchreiben. Dieſer Glaube verdient
um ſo mehr Beachtung, da er mit einer phyſikaliſchen Er-
ſcheinung zuſammenhängt, die kürzlich in verſchiedenen Land-
ſtrichen beobachtet worden und noch nicht gehörig erklärt iſt.
In den Katarakten und überall, wo der Orinoko zwiſchen den
Miſſionen Carichana und Santa Barbara periodiſch das
Granitgeſtein beſpült, iſt dieſes glatt, dunkelfarbig, wie mit
Waſſerblei überzogen. Die färbende Subſtanz dringt nicht in
den Stein ein, der ein grobkörniger Granit iſt, welcher hie
und da Hornblendekriſtalle enthält. Der ſchwarze Ueberzug
iſt 0,6 mm dick und findet ſich vorzüglich auf den quarzigen
Stellen; die Feldſpatkriſtalle haben zuweilen äußerlich ihre
rötlichweiße Farbe behalten und ſpringen aus der ſchwarzen
[109] Rinde vor. Zerſchlägt man das Geſtein mit dem Hammer,
ſo iſt es innen unverſehrt, weiß, ohne Spur von Zerſetzung.
Dieſe ungeheuren Steinmaſſen treten bald in viereckigen Um-
riſſen auf, bald in der halbkugligen Geſtalt, wie ſie dem
Granitgeſtein eigen iſt, wenn es ſich in Blöcke ſondert. Sie
geben der Gegend etwas eigentümlich Düſteres, da ihre Farbe
vom Waſſerſchaum, der ſie bedeckt, und vom Pflanzenwuchs
um ſie her ſcharf abſticht. Die Indianer ſagen, die Felſen
ſeien „von der Sonnenglut verbrannt oder verkohlt“. Wir
ſahen ſie nicht nur im Bette des Orinoko, ſonder in manchen
Punkten bis zu 970 m vom gegenwärtigen Ufer in Höhen,
bis wohin der Fluß beim höchſten Waſſerſtande jetzt nicht ſteigt.


Was iſt dieſe ſchwarzbraune Kruſte, die dieſen Felſen,
wenn ſie kugelig ſind, das Anſehen von Meteorſteinen gibt?
Wie hat man ſich die Wirkung des Waſſers bei dieſem Nieder-
ſchlag oder bei dieſem auffallenden Farbenwechſel zu denken?
Vor allem iſt zu bemerken, daß die Erſcheinung nicht auf die
Katarakte des Orinoko beſchränkt iſt, ſondern in beiden Hemi-
ſphären vorkommt. Als ich, nach der Rückkehr aus Mexiko,
im Jahre 1807 die Granite von Atures und Maypures Ro-
zière ſehen ließ, der das Nilthal, die Küſte des Roten Meeres
und den Berg Sinai bereiſt hat, ſo zeigte mir der gelehrte
Geolog, daß das Urgebirgsgeſtein bei den kleinen Katarakten
von Syene, gerade wie das am Orinoko, eine glänzende,
ſchwarzgraue, faſt bleifarbige Oberfläche hat; manche Bruch-
ſtücke ſehen aus wie mit Teer überzogen. Erſt neuerlich,
bei der unglücklichen Expedition des Kapitän Tuckey, fiel die-
ſelbe Erſcheinung engliſchen Naturforſchern an den Yellala
(Stromſchnellen und Klippen) auf, welche den Kongo- oder
Zairefluß verſtopfen. Dr. König hat im Britiſchen Muſeum
neben Syenite vom Kongo Granite von Atures geſtellt, die
einer Suite von Gebirgsarten entnommen ſind, die Bonpland
und ich dem Präſidenten der Londoner königlichen Geſellſchaft
überreicht hatten. „Dieſe Handſtücke,“ ſagt König, „ſehen
beide aus wie Meteorſteine; bei beiden Gebirgsarten, bei der
vom Orinoko wie bei der afrikaniſchen, beſteht die ſchwarze
Rinde, nach der Analyſe von Children, aus Eiſen- und Man-
ganoxyd.“


Nach einigen Verſuchen, die ich in Mexiko in Verbindung
mit del Rio gemacht, kam ich auf die Vermutung, das Ge-
ſtein von Atures, welches das Papier, in das es eingeſchlagen
iſt, ſchwarz färbt, möchte außer dem Manganoxyd Kohle und
[110] überkohlenſaures Eiſen enthalten. Am Orinoko ſind 13 bis
16 m dicke Granitmaſſen gleichförmig mit dieſen Oxyden über-
zogen, und ſo dünn dieſe Rinden erſcheinen, enthalten ſie
doch anſehnliche Mengen Eiſen und Mangan, da ſie über
20 qkm Fläche haben.


Es iſt zu bemerken, daß alle dieſe Erſcheinungen von
Färbung des Geſteines bis jetzt nur in der heißen Zone beob-
achtet worden ſind, an Flüſſen, deren Temperatur gewöhn-
lich 24 bis 28° beträgt und die nicht über Sandſtein oder
Kalkſtein, ſondern über Granit, Gneis und Hornblendegeſtein
laufen. Der Quarz und der Feldſpat enthalten kaum 5 bis
6 Tauſendteile Eiſen- und Manganoxyd; dagegen im Glim-
mer und in der Hornblende kommen dieſe Oxyde, beſonders
das Eiſenoxyd, nach Klaproth und Herrmann, bis zu 15 und
20 Prozent vor. Die Hornblende enthält zudem Kohle, wie auch
der lydiſche Stein und der Kieſelſchiefer. Bildet ſich nun
dieſe ſchwarze Rinde durch eine langſame Zerſetzung des Granits
unter dem doppelten Einfluß der Feuchtigkeit und der Sonne
der Tropen, wie ſoll man es erklären, daß die Oxyde ſich ſo
gleichförmig über die ganze Oberfläche des Geſteines verbreiten,
daß um einen Glimmer- und Hornblendekriſtall nicht mehr
davon liegt als über dem Feldſpat und dem milchigen Quarz?
Der eiſenſchüſſige Sandſtein, der Granit, der Marmor, die
aſchfarbig, zuweilen braun werden, haben ein ganz anderes
Ausſehen. Der Glanz und die gleiche Dicke der Rinde laſſen
vielmehr vermuten, daß der Stoff ein Niederſchlag aus dem
Waſſer des Orinoko iſt, das in die Spalten des Geſteines ge-
drungen. Geht man von dieſer Vorausſetzung aus, ſo fragt
man ſich, ob jene Oxyde im Fluſſe nur ſuſpendiert ſind, wie
der Sand und andere erdige Subſtanzen, oder wirklich chemiſch
aufgelöſt? Der erſteren Annahme widerſpricht der Umſtand,
daß die Rinde völlig homogen iſt und neben den Oxyden
weder Sandkörner noch Glimmerblättchen ſich darin finden.
Man muß daher annehmen, daß chemiſche Auflöſung vorliegt,
und die Vorgänge, die wir täglich in unſeren Laboratorien
beobachten, widerſprechen dieſer Vorausſetzung durchaus nicht.
Das Waſſer großer Flüſſe enthält Kohlenſäure, und wäre es
auch ganz rein, ſo könnte es doch immer in ſehr großen
Mengen einige Teilchen Metalloxyd oder Hydrat auflöſen,
wenn dieſelben auch für unauflöslich gelten. Im Nilſchlamm,
alſo im Niederſchlag der im Fluſſe ſuſpendierten Stoffe, findet
ſich kein Mangan; er enthält aber nach Reynaults Analyſe
[111] 6 Prozent Eiſenoxyd und ſeine anfangs ſchwarze Farbe wird
beim Trocknen und durch die Einwirkung der Luft gelbbraun.
Von dieſem Schlamme kann alſo die ſchwarze Rinde an den
Felſen von Syene nicht herrühren. Auf meine Bitte hat
Berzelius dieſe Rinde unterſucht; er fand darin Eiſen und
Mangan, wie in der auf den Graniten vom Orinoko und
Kongo. Der berühmte Chemiker iſt der Anſicht, die Oxyde
werden von den Flüſſen nicht dem Boden entzogen, über den
ſie laufen, ſie kommen ihnen vielmehr aus ihren unterirdiſchen
Quellen zu und ſie ſchlagen dieſelben auf das Geſtein nieder
wie durch Cementation, infolge eigentümlicher Affinitäten,
vielleicht durch Einwirkung des Kali im Feldſpat. Nur durch
einen langen Aufenthalt an den Katarakten des Orinoko, des
Nil und des Kongofluſſes und durch genaue Beobachtung der
Umſtände, unter denen die Färbung auftritt, kann die Frage,
die uns hier beſchäftigt hat, ganz zur Entſcheidung gebracht
werden. Iſt die Erſcheinung der Beſchaffenheit des Geſteines
unabhängig? Ich beſchränke mich auf die allgemeine Bemer-
kung, daß weder Granitmaſſen, die weit vom alten Bette des
Orinoko liegen, aber in der Regenzeit abwechſelnd befeuchtet
und von der Sonne erhitzt werden, noch der Granit, der von
den bräunlichen Waſſern des Rio Negro beſpült wird, äußer-
lich den Meteorſteinen ähnlich werden. Die Indianer ſagen,
„die Felſen ſeien nur da ſchwarz, wo das Waſſer weiß iſt“.
Sie ſollten vielleicht weiter ſagen: „wo das Waſſer eine große
Geſchwindigkeit erlangt hat und gegen das Geſtein am Ufer
anprallt.“ Die Cementation ſcheint zu erklären, warum die
Rinde ſo dünn bleibt.


Ob der in den Miſſionen am Orinoko herrſchende Glaube,
daß in der Nähe des kahlen Geſteines, beſonders der Fels-
maſſen mit einer Rinde von Kohle, Eiſen- und Manganoxyd
die Luft ungeſund ſei, grundlos iſt, weiß ich nicht zu ſagen.
In der heißen Zone werden noch mehr als anderswo die
krankheiterregenden Urſachen vom Volke willkürlich gehäuft.
Man ſcheut ſich dort im Freien zu ſchlafen, wenn einem der
Vollmond ins Geſicht ſchiene; ebenſo hält man es für be-
denklich, ſich nahe am Fluſſe auf Granit zu lagern, und man
erzählt viele Fälle, wo Leute nach einer auf dem ſchwarzen
kahlen Geſtein zugebrachten Nacht morgens mit einem ſtarken
Fieberanfall erwacht ſind. Wir ſchenkten nun zwar dieſer Be-
hauptung der Miſſionäre und der Eingeborenen nicht unbedingt
Glauben, mieden aber doch die Laxas negras und lagerten
[112] uns auf mit weißem Sande bedeckten Uferſtrecken, wenn wir
keine Bäume fanden, um unſere Hängematten zu befeſtigen.
In Carichana will man das Dorf abbrechen und verlegen,
nur um von den ſchwarzen Felſen wegzukommen, von
einem Orte, wo auf einer Strecke von mehr als 3,8 ha die
Bodenfläche aus kahlem Granitgeſtein beſteht. Aus ähnlichen
Gründen, die den Phyſikern in Europa als bloße Einbil-
dungen erſcheinen müſſen, verſetzten die Jeſuiten Olmo, For-
neri und Mellis ein Dorf der Yaruros an drei verſchiedene
Punkte zwiſchem dem Raudal von Tabaje und dem Rio Ana-
veni. Ich glaube dieſe Dinge, ganz wie ſie mir zu Ohren
gekommen, anführen zu müſſen, da wir ſo gut wie gar nicht
wiſſen, was eigentlich die Gasgemenge ſind, wodurch die Luft
ungeſund wird. Läßt ſich annehmen, daß unter dem Einfluß
ſtarker Hitze und beſtändiger Feuchtigkeit die ſchwarze Rinde
des Geſteines auf die umgebende Luft einwirkt und Miasmen,
ternäre Verbindungen von Kohlenſtoff, Stickſtoff und Waſſer-
ſtoff erzeugt? Ich zweifle daran. Der Granit am Orinoko
enthält allerdings häufig Hornblende, und praktiſche Berg-
leute wiſſen wohl, daß die ſchlimmſten Schwaden ſich in
Stollen bilden, die durch Syenit und Hornblendeſtein ge-
trieben werden. Aber im Freien, wo die Luft durch die
kleinen Strömungen fortwährend erneuert wird, kann die Wir-
kung nicht dieſelbe ſein wie in einer Grube.


Wahrſcheinlich iſt es nur deshalb gefährlich, auf den
Laxas negras zu ſchlafen, weil das Geſtein bei Nacht eine
ſehr hohe Temperatur behält. Ich fand dieſelbe bei Tage 48°,
während die Luft im Schatten 29,7° warm war; bei Nacht
zeigte der Thermometer, an das Geſtein gelegt, 36°, die Luft
nur 26°. Wenn die Wärmeanhäufung in den Geſteinsmaſſen
zum Stillſtand gekommen iſt, ſo haben dieſe Maſſen zu den-
ſelben Stunden immer wieder ungefähr dieſelbe Temperatur.
Den Ueberſchuß von Wärme, den ſie bei Tage bekommen, ver-
lieren ſie in der Nacht durch Strahlung, deren Stärke von
der Beſchaffenheit der Oberfläche des ſtrahlenden Körpers, von
der Anordnung ſeiner Moleküle im Inneren, beſonders aber
von der Reinheit des Himmels abhängt, das heißt davon, ob
die Luft durchſichtig und wolkenlos iſt. Wo der Unterſchied
in der Abweichung der Sonne nur gering iſt, geht von ihr
jeden Tag faſt die gleiche Wärmemenge aus und das Geſtein
iſt am Ende des Sommers nicht wärmer als zu Anfang des-
ſelben. Es kann ein gewiſſes Maximum nicht überſchreiten,
[113] weil ſich weder der Zuſtand ſeiner Oberfläche, noch ſeine Dich-
tigkeit, noch ſeine Wärmekapazität verändert hat. Steigt man
am Ufer des Orinoko bei Nacht aus der Hängematte und
betritt den Felsboden mit bloßen Füßen, ſo iſt die Wärme,
die man empfindet, ſehr auffallend. Wenn ich die Thermo-
meterkugel an das nackte Geſtein legte, fand ich faſt immer,
daß die Laxas negras bei Tage wärmer ſind als der rötlich-
weiße Granit weitab vom Ufer, daß aber letzterer ſich bei
Nacht nicht ſo ſchnell abkühlt als jener. Begreiflich geben
Maſſen mit einem ſchwarzen Ueberzug den Wärmeſtoff raſcher
wieder ab als ſolche, in denen viele ſilberfarbige Glimmer-
blätter ſtecken. Geht man in Carichana, Atures oder May-
pures zwiſchen 1 und 3 Uhr nachmittags unter dieſen auf-
getürmten Felsblöcken ohne alle Dammerde, ſo erſtickt man
beinahe, als ſtünde man vor der Mündung eines Schmelz-
ofens. Der Wind (wenn man ihn je in dieſen bewaldeten
Ländern ſpürt) bringt ſtatt Kühlung nur noch heißere Luft
herbei, da er über Steinſchichten und aufgetürmte Granit-
kugeln weggegangen iſt. Durch dieſe Steigerung der Hitze
wird das Klima noch ungeſünder als es ohnehin iſt.


Unter den Urſachen der Entvölkerung der Raudales habe
ich die Blattern nicht genannt, die in anderen Strichen von
Amerika ſo ſchreckliche Verheerungen anrichten, daß die Ein-
geborenen, von Entſetzen ergriffen, ihre Hütten anzünden,
ihre Kinder umbringen und alle Gemeinſchaft fliehen. Am
oberen Orinoko weiß man von dieſer Geißel ſo gut wie nichts,
und käme ſie je dahin, ſo iſt zu hoffen, daß ihr die Kuh-
pockenimpfung, deren Segen man auf den Küſten von Terra
Firma täglich empfindet, alsbald Schranken ſetzte. Die Ur-
ſachen der Entvölkerung in den chriſtlichen Niederlaſſungen
ſind der Widerwille der Indianer gegen die Zucht in den Miſ-
ſionen, das ungeſunde, zugleich heiße und feuchte Klima, die
ſchlechte Nahrung, die Verwahrloſung der Kinder, wenn ſie
krank ſind, und die ſchändliche Sitte der Mütter, giftige
Kräuter zu gebrauchen, damit ſie nicht ſchwanger werden. Bei
den barbariſchen Völkern in Guyana, wie bei den halb civili-
ſierten Bewohnern der Südſeeinſeln gibt es viele junge Weiber,
die nicht Mütter werden wollen. Bekommen ſie Kinder, ſo
ſind dieſelben nicht allein den Gefahren des Lebens in
der Wildnis, ſondern noch manchen anderen ausgeſetzt, die
aus dem abgeſchmackteſten Aberglauben herfließen. Sind es
Zwillinge, ſo verlangen verkehrte Begriffe von Anſtand und
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 8
[114] Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. „Zwillinge
in die Welt ſetzen, heißt ſich dem allgemeinen Spott preis-
geben, heißt es machen wie Ratten, Beuteltiere und das
niedrigſte Getier, das viele Junge zugleich wirft.“ Aber noch
mehr: „Zwei zugleich geborene Kinder können nicht von einem
Vater ſein.“ Das iſt ein Lehrſatz in der Phyſiologie der
Salivas, und unter allen Himmelsſtrichen, auf allen Stufen
der geſellſchaftlichen Entwickelung ſieht man, daß das Volk,
hat es ſich einmal einen Satz derart zu eigen gemacht, zäher
daran feſthält als die Unterrichteten, die ihn zuerſt aufs
Tapet gebracht. Um des Hausfriedens willen nehmen es alte
Baſen der Mutter oder die Mure japoic-nei (Hebamme) auf
ſich, eines der Kinder auf die Seite zu ſchaffen. Hat der
Neugeborene, wenn er auch kein Zwilling iſt, irgend eine
körperliche Mißbildung, ſo bringt ihn der Vater auf der Stelle
um. Man will nur wohlgebildete, kräftige Kinder; denn bei
den Mißbildungen hat der böſe Geiſt Joloquiamo die
Hand im Spiel, oder der Vogel Tikitiki, der Feind des
Menſchengeſchlechtes. Zuweilen haben auch bloß ſehr ſchwäch-
liche Kinder dasſelbe Los. Fragt man einen Vater, was aus
einem ſeiner Söhne geworden ſei, ſo thut er, als wäre er
ihm durch einen natürlichen Tod entriſſen worden. Er ver-
leugnet eine That, die er für tadelnswert, aber nicht für
ſtrafbar hält. „Das arme Mure (Kind),“ heißt es, „konnte
nicht mit uns Schritt halten; man hätte jeden Augenblick auf
es warten müſſen; man hat nichts mehr von ihm geſehen,
es iſt nicht dahin gekommen, wo wir geſchlafen haben.“ Dies
iſt die Unſchuld und Sitteneinfalt, dies iſt das geprieſene
Glück des Menſchen im Urzuſtand! Man bringt ſein Kind
um, um nicht wegen Zwillingen lächerlich zu werden, um
nicht langſamer wandern, um ſich nicht eine kleine Entbehrung
auferlegen zu müſſen.


Grauſamkeiten derart ſind nun allerdings nicht ſo häufig,
als man glaubt; indeſſen kommen ſie ſogar in den Miſſionen
vor, und zwar zur Zeit, wo die Indianer aus dem Dorfe
ziehen und ſich auf den „Conucos“ in den nahen Wäldern
aufhalten. Mit Unrecht ſchriebe man ſie der Polygamie zu,
in der die nicht katechiſierten Indianer leben. Bei der Viel-
weiberei iſt allerdings das häusliche Glück und der Friede
in den Familien gefährdet, aber trotz dieſes Brauches, der ja
auch ein Geſetz des Islams iſt, lieben die Morgenländer ihre
Kinder zärtlich. Bei den Indianern am Orinoko kommt der
[115] Vater nur nach Hauſe, um zu eſſen und ſich in ſeine Hänge-
matte zu legen; er liebkoſt weder ſeine kleinen Kinder, noch
ſeine Weiber, die da ſind, ihn zu bedienen. Die väter-
liche Zuneigung kommt erſt dann zum Vorſchein, wenn der
Sohn ſo weit herangewachſen iſt, daß er an der Jagd, am
Fiſchfang und an der Arbeit in den Pflanzungen teil-
nehmen kann.


Wenn nun aber auch der ſchändliche Brauch, durch ge-
wiſſe Tränke Kinder abzutreiben, die Zahl der Geburten ver-
mindert, ſo greifen dieſe Tränke die Geſundheit nicht ſo ſehr
an, daß nicht die jungen Weiber in reiferen Jahren wieder
Mütter werden könnten. Dieſe phyſiologiſch ſehr merkwürdige
Erſcheinung iſt den Mönchen in den Miſſionen längſt aufge-
fallen. Der Jeſuit Gili, der 15 Jahre lang die Indianer
am Orinoko Beichte gehört hat und ſich rühmt, i segreti delle
donne maritate
zu kennen, äußert ſich darüber mit verwunder-
licher Naivität. „In Europa,“ ſagt er, „fürchten ſich die Ehe-
weiber vor dem Kinderbekommen, weil ſie nicht wiſſen, wie
ſie ſie ernähren, kleiden, ausſtatten ſollen. Von all dieſen
Sorgen wiſſen die Weiber am Orinoko nichts. Sie wählen
die Zeit, wo ſie Mütter werden wollen, nach zwei gerade
entgegengeſetzten Syſtemen, je nachdem ſie von den Mitteln,
ſich friſch und ſchön zu erhalten, dieſe oder jene Vorſtellung
haben. Die einen behaupten, und dieſe Meinung iſt die vor-
herrſchende, es ſei beſſer, man fange ſpät an Kinder zu be-
kommen, um ſich in den erſten Jahren der Ehe ohne Unter-
brechung der Arbeit in Haus und Feld widmen zu können.
Andere glauben im Gegenteil, es ſtärke die Geſundheit und
verhelfe zu einem glücklichen Alter, wenn man ſehr jung
Mutter geworden ſei. Je nachdem die Indianer das eine
oder das andere Syſtem haben, werden die Abtreibemittel in
den verſchiedenen Lebensaltern gebraucht.“ Sieht man hier,
wie ſelbſtſüchtig der Wilde ſeine Berechnungen anſtellt, ſo
möchte man den civiliſierten Völkern in Europa Glück wün-
ſchen, daß Ecbolia, die dem Anſchein nach der Geſundheit
ſo wenig ſchaden, ihnen bis jetzt unbekannt geblieben ſind.
Durch die Einführung von dergleichen Tränken würde viel-
leicht die Sittenverderbnis in den Städten noch geſteigert,
wo ein Vierteil der Kinder nur zur Welt kommt, um von
den Eltern verſtoßen zu werden. Leicht möglich aber auch,
daß die neuen Abtreibemittel in unſerem Klima ſo gefährlich
wären wie der Sevenbaum, die Aloe und das flüchtige Zimt-
[116] und Gewürznelkenöl. Der kräftige Körper des Wilden, in
dem die verſchiedenen organiſchen Syſteme unabhängiger von-
einander ſind, widerſteht beſſer und länger übermäßigen Reizen
und dem Gebrauch dem Leben feindlicher Subſtanzen, als die
ſchwache Konſtitution des civiliſierten Menſchen. Ich glaubte
mich in dieſe nicht ſehr erfreulichen pathologiſchen Betrach-
tungen einlaſſen zu müſſen, weil ſie auf eine der Urſachen
hinweiſen, aus denen im verſunkenſten Zuſtande unſeres Ge-
ſchlechtes, wie auf der höchſten Stufe der Kultur, die Be-
völkerung kaum merklich zunimmt.


Zu den eben bezeichneten Urſachen kommen andere weſent-
lich verſchiedene. Im Kollegium für die Miſſionen von Piritu
zu Nueva Barcelona hat man die Bemerkung gemacht, daß
in den an ſehr trockenen Orten gelegenen Indianerdörfern
immer auffallend mehr Kinder geboren werden als an den
Dörfern an Flußufern. Die Sitte der indianiſchen Weiber,
mehreremal am Tage, bei Sonnenaufgang und nach Sonnen-
untergang, alſo wenn die Luft am kühlſten iſt, zu baden,
ſcheint die Konſtitution zu ſchwächen.


Der Pater Guardian der Franziskaner ſah mit Schrecken,
wie raſch die Bevölkerung in den beiden Dörfern an den Ka-
tarakten abnahm und ſchlug daher vor einigen Jahren dem
Statthalter der Provinz in Angoſtura vor, die Indianer durch
Neger zu erſetzen. Bekanntlich dauert die afrikaniſche Raſſe
in heißem und feuchtem Klima vortrefflich aus. Eine Nieder-
laſſung freier Neger am ungeſunden Ufer des Caura in der
Miſſion San Luis Guaraguaraico gedeiht ganz gut, und ſie
bekommen ausnehmend reiche Maisernten. Der Pater Guardian
beabſichtigte einen Teil dieſer ſchwarzen Koloniſten an die Ka-
tarakte des Orinoko zu verpflanzen, oder aber Sklaven auf
den Antillen zu kaufen und ſie, wie man am Caura gethan,
mit Negern, die aus Eſſequibo entlaufen, anzuſiedeln. Wahr-
ſcheinlich wäre der Plan ganz gut gelungen. Derſelbe er-
innerte im kleinen an die Niederlaſſungen in Sierra Leone;
es war Ausſicht vorhanden, daß der Zuſtand der Schwarzen
ſich damit verbeſſerte und ſo das Chriſtentum zu ſeinem ur-
ſprünglichen Ziele, Förderung des Glückes und der Freiheit
der unterſten Volksklaſſen, wieder hingeführt wurde. Ein
kleines Mißverſtändnis vereitelte die Sache. Der Statthalter
erwiderte den Mönchen: „Da man für das Leben der Neger
ſo wenig bürgen könne als für das der Indianer, ſo erſcheine
es nicht als gerecht, jene zur Niederlaſſung in den Dörfern
[117] bei den Katarakten zu zwingen.“ Gegenwärtig hängt die
Exiſtenz dieſer Miſſionen ſo ziemlich an zwei Guahibo- und
Macofamilien, den einzigen, bei denen man einige Spuren
von Civiliſation findet und die das Leben auf eigenem Grund
und Boden lieben. Sterben dieſe Haushaltungen aus, ſo
laufen die anderen Indianer, die der Miſſionszucht längſt
müde ſind, dem Pater Zea davon, und an einem Punkt, den
man als den Schlüſſel des Orinoko betrachten kann, finden
dann die Reiſenden nichts mehr, was ſie bedürfen, zumal
keinen Steuermann, der die Kanoen durch die Stromſchnellen
ſchafft; der Verkehr zwiſchen dem Fort am Rio Negro und
der Hauptſtadt Angoſtura wäre, wo nicht unterbrochen, doch
ungemein erſchwert. Es bedarf ganz genauer Kenntnis der
Oertlichkeiten, um ſich in das Labyrinth von Klippen und
Felsblöcken zu wagen, die bei Atures und Maypures das
Strombett verſtopfen.


Während man unſere Piroge auslud, betrachteten wir
von allen Punkten, wo wir ans Ufer gelangen konnten, in
der Nähe das ergreifende Schauſpiel eines eingeengten und
wie völlig in Schaum verwandelten großen Stromes. Ich
verſuche es, nicht unſere Empfindungen, ſondern eine Oertlich-
keit zu ſchildern, die unter den Landſchaften der Neuen Welt
ſo berühmt iſt. Je großartiger, majeſtätiſcher die Gegenſtände
ſind, deſto wichtiger iſt es, ſie in ihren kleinſten Zügen auf-
zufaſſen, die Umriſſe des Gemäldes, mit dem man zur Ein-
bildungskraft des Leſers ſprechen will, feſt zu zeichnen, die
bezeichnenden Merkmale der großen, unvergänglichen Denk-
mäler der Natur einfach zu ſchildern.


Von ſeiner Mündung bis zum Einfluß des Anaveni,
auf einer Strecke von 1170 km, iſt die Schiffahrt auf dem
Orinoko durchaus ungehindert. Bei Muitaco, in einer Bucht,
Boca del Infierno genannt, ſind Klippen und Wirbel; bei
Carichana und San Borja ſind Stromſchnellen (Raudalitos);
aber an all dieſen Punkten iſt der Strom nie ganz geſperrt,
es bleibt eine Waſſerſtraße, auf der die Fahrzeuge hinab und
hinauf fahren können.


Auf dieſer ganzen Fahrt auf dem unteren Orinoko wird
dem Reiſenden nur eines gefährlich, die natürlichen Flöße
aus Bäumen, die der Fluß entwurzelt und bei Hochwaſſer
forttreibt. Wehe den Pirogen, die bei Nacht an ſolchem
Gitterwerk aus Holz und Schlinggewächſen auffahren! Das-
ſelbe iſt mit Waſſerpflanzen bedeckt und gleicht hier, wie auf
[118] dem Miſſiſſippi, ſchwimmenden Wieſen, den Chinampas1
der mexikaniſchen Seen. Wenn die Indianer eine feindliche
Horde überfallen wollen, binden ſie mehrere Kanoen mit
Stricken zuſammen, bedecken ſie mit Kräutern Baumzweigen
und bilden ſo die Haufen von Bäumen nach, die der Orinoko
auf ſeinem Thalweg abwärts treibt. Man ſagt den Kariben
nach, ſie ſeien früher in dieſer Kriegsliſt ausgezeichnet ge-
weſen, und gegenwärtig bedienen ſich die ſpaniſchen Schmuggler
in der Nähe von Angoſtura desſelben Mittels, um die Zoll-
aufſeher hinter das Licht zu führen.


Oberhalb des Rio Anaveni, zwiſchen den Bergen von
Uniana und Sipapu, kommt man zu den Katarakten von
Mapara und Quituna, oder wie die Miſſionäre gemeiniglich
ſagen, zu den Raudales von Atures und Maypures. Dieſe
beiden vom einen zum anderen Ufer laufenden Stromſperren
geben im großen ungefähr dasſelbe Bild: zwiſchen zahlloſen
Inſeln, Felsdämmen, aufeinander getürmten, mit Palmen be-
wachſenen Granitblöcken löſt ſich einer der größten Ströme
der Neuen Welt in Schaum auf. Trotz dieſer Uebereinſtim-
mung im Ausſehen hat jeder der Fälle ſeinen eigentümlichen
Charakter. Der erſte, nördliche, iſt bei niedrigem Waſſer leichter
zu paſſieren; beim zweiten, dem von Maypures, iſt den In-
dianern die Zeit des Hochwaſſers lieber. Oberhalb Maypures
und der Einmündung des Caño Cameji iſt der Orinoko wieder
frei auf einer Strecke von mehr als 760 km, bis in die Nähe
ſeiner Quellen, das heißt bis zum Raudalito der Guaharibos,
oſtwärts vom Caño Chiguire und den hohen Bergen von
Yumariquin.


Ich habe die beiden Becken des Orinoko und des Ama-
zonenſtromes beſucht, und es fiel mir ungemein auf, wie ver-
ſchieden ſie ſich auf ihrem ungleich langen Laufe verhalten.
Beim Amazonenſtrom, der gegen 1820 km lang iſt, ſind die
großen Fälle ziemlich nahe bei den Quellen, im erſten Sechs-
teil der ganzen Länge; fünf Sechsteile ſeines Laufes ſind
vollkommen frei. Beim Orinoko ſind die Fälle, weit un-
günſtiger für die Schiffahrt, wenn nicht in der Mitte, doch
unterhalb des erſten Dritteils ſeiner Länge gelegen. Bei
beiden Strömen werden die Fälle nicht durch die Berge, nicht
durch die Stufen der übereinander liegenden Plateaus, wo
ſie entſpringen, gebildet, ſondern durch andere Berge, durch
[119] andere übereinander gelagerte Stufen, durch die ſich die Ströme
nach langem friedlichen Laufe Bahn brechen müſſen, wobei ſie
ſich von Staffel zu Staffel herabſtürzen.


Der Amazonenſtrom durchbricht keineswegs die Haupt-
kette der Anden, wie man zu einer Zeit behauptete, wo man
ohne Grund vorausſetzte, daß überall, wo ſich die Gebirge in
parallele Ketten teilen, die mittlere oder Centralkette höher
ſein müſſe als die anderen. Dieſer große Strom entſpringt
(und dieſer Umſtand iſt geologiſch nicht ohne Belang) oſtwärts
von der weſtlichen Kette, der einzigen, welche unter dieſer
Breite den Namen einer hohen Andenkette verdient. Er ent-
ſteht aus der Vereinigung der kleinen Flüſſe Aguamiros und
und Chavinillo, welch letzterer aus dem See Llauricocha kommt,
der in einem Längenthale zwiſchen der weſtlichen und der
mittleren Kette der Anden liegt. Um dieſe hydrographiſchen
Verhältniſſe richtig aufzufaſſen, muß man ſich vorſtellen, daß
der koloſſale Gebirgskuoten von Pasco und Huanuco ſich in
drei Ketten teilt. Die weſtlichſte, höchſte, ſtreicht unter dem
Namen Cordillera real de Nieve (zwiſchen Huary und Caxa-
tambo, Guamachuco und Lucma, Micuipampa und Guanga-
marca) über die Nevados von Viuda, Pelagatos, Moyopata
und Huaylillas, und die Paramos von Guamani und Gua-
ringa gegen die Stadt Loxa. Der mittlere Zug ſcheidet die
Gewäſſer des oberen Amazonenſtroms und des Huallaga und
bleibt lange nur 1950 m hoch; erſt ſüdlich von Huanuco ſteigt
er in der Kordillere von Saſaguanca über die Schneelinie
empor. Er ſtreicht zuerſt nach Nord über Huacrachuco, Chacha-
poyas, Moyobamba und den Paramo von Piscoguañuna,
dann fällt er allmählich ab, Peca, Capallin und der Miſſion
San Jago am öſtlichen Ende der Provinz Jaen de Braca-
moros zu. Die dritte, öſtlichſte Kette zieht ſich am rechten
Ufer des Rio Huallaga hin und läuft unter dem 7. Grad
der Breite in die Niederung aus. Solange der Amazonen-
ſtrom von Süd nach Nord im Längenthal zwiſchen zwei
Gebirgszügen von ungleicher Höhe läuft (das heißt von den
Höhen Quivilla und Guancaybamba, wo man auf hölzernen
Brücken über den Fluß geht, bis zum Einfluß des Rio Chinchipe),
iſt die Fahrt im Kanoe weder durch Felſen, noch durch ſonſt
etwas gehemmt. Die Fälle fangen erſt da an, wo der Ama-
zonenſtrom ſich gegen Oſt wendet und durch die mittlere Anden-
kette hindurchgeht, die gegen Norden bedeutend breiter wird.
Er ſtößt auf die erſten Felſen von rotem Sandſtein oder altem
[120] Konglomerat zwiſchen Tambillo und dem Pongo Rentema,
wo ich Breite, Tiefe und Geſchwindigkeit des Waſſers ge-
meſſen habe; er tritt aus dem roten Sandſtein oſtwärts von
der vielberufenen Stromenge Manſeriche beim Pongo Tayuchuc,
wo die Hügel ſich nur noch 78 bis 116 m über den Fluß-
ſpiegel erheben. Den öſtlichen Zug, der an den Pampas von
Sacramento hinläuft, erreicht der Fluß nicht. Von den Hügeln
von Tayuchuc bis Gran Para, auf einer Strecke von mehr als
3375 km, iſt die Schiffahrt ganz frei. Aus dieſer raſchen
Ueberſicht ergibt ſich, daß der Marañon, hätte er nicht das
Bergland zwiſchen San Jago und Tomependa, das zur Central-
kette der Anden gehört, zu durchziehen, ſchiffbar wäre von
ſeinem Ausfluß ins Meer bis Pumpo bei Piscobamba in der
Provinz Conchucos, 193 km von ſeiner Quelle.


Wir haben geſehen, daß ſich beim Orinoko wie beim
Amazonenſtrom die großen Fälle nicht in der Nähe des Ur-
ſprunges befinden. Nach einem ruhigen Lauf von mehr als
720 km vom kleinen Raudal der Guaharibos, oſtwärts von
Esmeralda, bis zu den Bergen von Sipapu, und nachdem er
ſich durch die Flüſſe Jao, Ventuari, Atabapo und Guaviare
verſtärkt, biegt der Orinoko aus ſeiner bisherigen Richtung
von Oſt nach Weſt raſch in die von Süd nach Nord um und
ſtößt auf dem Laufe über die „Land-Meerenge“ 1 in den Nie-
derungen am Meta auf die Ausläufer der Kordillere der
Parime. Und dadurch entſtehen nun Fälle, die weit ſtärker
ſind und der Schiffahrt ungleich mehr Eintrag thun als alle
Pongos im oberen Marañon, weil ſie, wie wir oben ausein-
andergeſetzt, der Mündung des Fluſſes verhältnismäßig näher
liegen. Ich habe mich in dieſe geographiſchen Details ein-
gelaſſen, um am Beiſpiel der größten Ströme der Neuen
Welt zu zeigen: 1) daß ſich nicht abſolut eine gewiſſe Meter-
zahl, eine gewiſſe Meereshöhe angeben läßt, über welcher die
Flüſſe noch nicht ſchiffbar ſind; 2) daß die Stromſchnellen
keineswegs immer, wie in manchen Handbüchern der allge-
meinen Topographie behauptet wird, nur am Abhang der
erſten Bergſchwellen, bei den erſten Höhenzügen vorkommen,
über welche die Gewäſſer in der Nähe ihrer Quellen zu laufen
haben.


[121]

Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko
hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer iſt
meiſt niedriger, gehört aber zu einem Landſtrich, der weſtwärts
von Atures gegen den Pik Uniana anſteigt, einen gegen 975 m
hohen Bergkegel auf einer ſteil abfallenden Felsmauer. Da-
durch, daß er frei aus der Ebene aufſteigt, nimmt ſich dieſer
Pik noch großartiger und majeſtätiſcher aus. In der Nähe
der Miſſion, auf dem Landſtrich am Katarakt nimmt die
Landſchaft bei jedem Schritt einen anderen Charakter an. Auf
engem Raume findet man hier die rauheſten, finſterſten Natur-
gebilde neben freiem Felde, bebauten, lachenden Fluren. In
der äußeren Natur wie in unſerem Inneren iſt der Gegen-
ſatz der Eindrücke, das Nebeneinander des Großartigen, Drohen-
den, und des Sanften, Friedlichen eine reiche Quelle unſerer
Empfindungen und Genüſſe.


Ich nehme hier einige zerſtreute Züge einer Schilderung
auf, die ich kurz nach meiner Rückkehr nach Europa in einem
anderen Buche entworfen. 1 Die mit zarten Kräutern und
Gräſern bewachſenen Savannen von Atures ſind wahre Prärien,
ähnlich unſeren europäiſchen Wieſen; ſie werden nie vom
Fluſſe überſchwemmt und ſcheinen nur der Menſchenhand zu
harren, die ſie umbricht. Trotz ihrer bedeutenden Ausdeh-
nung ſind ſie nicht ſo eintönig wie unſere Ebenen. Sie
laufen um Felsgruppen, um übereinander getürmte Granit-
blöcke her. Dicht am Rande dieſer Ebenen, dieſer offenen
Fluren ſtößt man auf Schluchten, in die kaum ein Strahl
der untergehenden Sonne dringt, auf Gründe, wo einem auf
dem feuchten, mit Arum, Helikonia und Lianen dicht be-
wachſenen Boden bei jedem Schritte die wilde Ueppigkeit der
Natur entgegentritt. Ueberall kommen, dem Boden gleich,
die ganz kahlen Granitplatten zu Tage, wie ich ſie bei Carichana
beſchrieben, und wie ich ſie in der Alten Welt nirgends ſo
ausnehmend breit geſehen habe wie im Orinokothale. Da wo
Quellen aus dem Schoße dieſes Geſteines vorbrechen, haben
ſich Verrucarien, Pſoren und Flechten an den verwitterten
Granit geheftet und Dammerde erzeugt. Kleine Euphorbien,
Peperomien und andere Saftpflanzen ſind den kryptogami-
ſchen Gewächſen gefolgt, und jetzt bildet immergrünes Strauch-
werk, Rhexien, Melaſtomen mit purpurroten Blüten, grüne
Eilande inmitten der öden ſteinigen Ebene. Man kommt
[122] immer wieder darauf zurück: die Bodenbildung, die über die
Savannen zerſtreuten Boskette aus kleinen Bäumen mit leder-
artigen, glänzenden Blättern, die kleinen Bäche, die ſich ein
Bett im Fels graben und ſich bald über fruchtbares ebenes
Land, bald über kahle Granitbänke ſchlängeln, alles erinnert
einen hier an die reizendſten, maleriſchten Partieen unſerer
Parkanlagen und Pflanzungen. Man meint mitten in der
wilden Landſchaft menſchlicher Kunſt und Spuren von Kultur
zu begegnen.


Aber nicht nur durch die Bodenbildung zunächſt bei der
Miſſion Atures erhält die Gegend eine ſo auffallende Phyſio-
gnomie: die hohen Berge, welche ringsum den Horizont be-
grenzen, tragen durch ihre Form und die Art ihres Pflanzen-
wuchſes das Ihrige dazu bei. Dieſe Berge erheben ſich meiſt
nur 225 bis 260 m über die umgebenden Ebenen. Ihre
Gipfel ſind abgerundet, wie in den meiſten Granitgebirgen,
und mit einem dichten Walde von Laurineen bedeckt. Gruppen
von Palmen (el Cucurito), deren gleich Federbüſchen ge-
kräuſelte Blätter unter einem Winkel von 70 Grad maje-
ſtätiſch emporſteigen, ſtehen mitten unter Bäumen mit wage-
rechten Aeſten; ihre nackten Stämme ſchießen gleich 30 bis
40 m hohen Säulen in die Luft hinauf und heben ſich vom
blauen Himmel ab, „ein Wald über dem Walde“. Wenn der
Mond den Bergen von Uniana zu unterging und die rötliche
Scheibe des Planeten ſich hinter das gefiederte Laub der Palmen
verſteckte und dann wieder im Luftſtrich zwiſchen beiden Wäl-
dern zum Vorſchein kam, ſo glaubte ich mich auf Augenblicke
in die Einſiedelei des Alten verſetzt, die Bernardin de Saint
Pierre als eine der herrlichſten Gegenden auf der Inſel Bourbon
ſchildert, und fühlte ſo recht, wie ſehr die Gewächſe nach Wuchs
und Gruppierung in beiden Welten einander gleichen. Mit
der Beſchreibung eines kleinen Erdwinkels auf einer Inſel im
Indiſchen Ozean hat der unnachahmliche Verfaſſer von Paul
und Virginie vom gewaltigen Bilde der tropiſchen Landſchaft
eine Skizze entworfen. Er wußte die Natur zu ſchildern,
nicht weil er ſie als Forſcher kannte, ſondern weil er für all
ihre harmoniſchen Verhältniſſe in Geſtaltung, Farbe und in-
neren Kräften ein tiefes Gefühl beſaß.


Oeſtlich von Atures, neben jenen abgerundeten Bergen,
auf denen zwei Wälder von Laurineen und Palmen überein-
ander ſtehen, erheben ſich andere Berge von ganz verſchiedenem
Ausſehen. Ihr Kamm iſt mit gezackten Felſen beſetzt, die
[123] wie Pfeiler über die Bäume und das Gebüſch emporragen.
Dieſe Bildung kommt allen Granitplateaus zu, im Harz, im
böhmiſchen Erzgebirge, in Galizien, an der Grenze beider
Kaſtilien; ſie wiederholt ſich überall, wo in unbedeutender
Meereshöhe (780 bis 1170 m) ein Granit neuerer Formation
zu Tage kommt. Die in Abſtänden ſich erhebenden Felſen
beſtehen entweder aus aufgetürmten Blöcken oder ſind in
regelmäßige, wagerechte Bänke geteilt. Auf die ganz nahe
am Orinoko ſtellen ſich die Flamingo, die Solbados1 und
und andere fiſchfangende Vögel, und nehmen ſich dann aus
wie Menſchen, die Wache ſtehen. Dies iſt zuweilen ſo täu-
ſchend, daß, wie mehrere Augenzeugen erzählen, die Einwohner
von Angoſtura eines Tages kurz nach der Gründung der
Stadt in die größte Beſtürzung gerieten, als ſich auf ein-
mal auf einem Berge gegen Süd Reiher, Solbados und
Garzas blicken ließen. Sie glaubten ſich von einem Ueber-
fall der Indios monteros (der wilden Indianer) bedroht,
und obgleich einige Leute, die mit dieſer Täuſchung bekannt
waren, die Sache aufklärten, beruhigte ſich das Volk nicht
eher ganz, als bis die Vögel in die Luft ſtiegen und ihre
Wanderung der Mündung des Orinoko zu fortſetzten.


Die ſchöne Vegetation der Berge iſt, wo nur auf dem
Felsboden Dammerde liegt, auch über die Ebenen verbreitet.
Meiſtens ſieht man zwiſchen dieſer ſchwarzen, mit Pflanzen-
faſern gemiſchten Dammerde und dem Granitgeſtein eine
Schichte weißen Sandes. Der Miſſionär verſicherte uns, in
der Nähe der Waſſerfälle ſei das Grün beſtändig friſch in-
folge des vielen Waſſerdampfes, der aus dem auf einer Strecke
von 5,8 bis 7,8 km in Strudel und Waſſerfälle zerſchlagenen
Strome aufſteigt.


Kaum hatte man in Atures ein paarmal donnern hören,
und bereits zeigte die Vegetation allerorten die kräftige Fülle
und den Farbenglanz, wie man ſie auf den Küſten erſt zu
Ende der Regenzeit findet. Die alten Bäume hingen voll
prächtiger Orchideen, gelber Banniſterien, Bignonien mit blauen
Blüten, Peperomia, Arum, Pothos. Auf einem einzigen Baum-
ſtamme waren mannigfaltigere Pflanzengebilde beiſammen, als
in unſerem Klima auf einem anſehnlichen Landſtriche. Neben
dieſen den heißen Klimaten eigenen Schmarotzergewächſen ſahen
wir hier mitten in der heißen Zone und faſt im Niveau des
[124] Meeres zu unſerer Ueberraſchung Mooſe, die vollkommen den
europäiſchen glichen. Beim großen Katarakt von Atures
pflückten wir die ſchöne Grimmia-Art mit Fontinalisblättern,
welche die Botaniker ſo ſehr beſchäftigt hat; ſie hängt an den
Aeſten der höchſten Bäume. Unter den Phanerogamen herr-
ſchen in den bewaldeten Strichen Mimoſen, Fikus und Lau-
rineen vor. Dies iſt um ſo charakteriſtiſcher, als nach Browns
neuerlicher Beobachtung auf dem gegenüberliegenden Kon-
tinent, im tropiſchen Afrika, die Laurineen faſt ganz zu fehlen
ſcheinen. Gewächſe, welche Feuchtigkeit lieben, ſchmücken die
Ufer am Waſſerfall. Man findet hier in den Niederungen
Büſche von Helikonia und anderen Scitamineen mit breiten,
glänzenden Blättern, Bamburohre, die drei Palmenarten
Murichi, Jagua und Vadgiai, deren jede beſondere
Gruppen bildet. Die Murichipalme oder die Mauritia mit
ſchuppiger Frucht iſt die berühmte Sagopalme der Guaraun-
indianer; ſie iſt ein wirkliches geſelliges Gewächs. Sie hat
handförmige Blätter und wächſt nicht unter den Palmen mit
gefiederten und gekräuſelten Blättern, dem Jagua, der eine
Art Kokospalme zu ſein ſcheint, und dem Vadgiai oder Cu-
curito
, den man neben die ſchöne Gattung Oreodaxa ſtellen
kann. Der Cucurito, bei den Fällen von Atures und May-
pures die häufigſte Palme, iſt durch ſeinen Habitus aus-
gezeichnet. Seine Blätter oder vielmehr Wedel ſtehen auf
einem 24 bis 32 m hohen Stamme faſt ſenkrecht, und zwar
im jugendlichen Zuſtande wie in der vollen Entwickelung;
nur die Spitzen ſind umgebogen. Es ſind wahre Federbüſche
vom zarteſten, friſcheſten Grün. Der Cucurito, der Seje,
deſſen Frucht der Aprikoſe gleicht, die Oreodoxa regia oder
Palma real von der Inſel Cuba und das Ceroxylon der
hohen Anden ſind im Wuchſe die großartigſten Palmen der
Neuen Welt. Je näher man der gemäßigten Zone kommt,
deſto mehr nehmen die Gewächſe dieſer Familie an Größe
und Schönheit ab. Welch ein Unterſchied zwiſchen den eben
erwähnten Arten und der orientaliſchen Dattelpalme, die bei
den europäiſchen Landſchaftsmalern leider der Typus der Pal-
menfamilie geworden iſt!


Es iſt nicht zu verwundern, daß, wer nur das nördliche
Afrika, Sizilien oder Murcia bereiſt hat, nicht begreifen kann,
daß unter allen großen Baumgeſtalten die Geſtalt der Palme
die großartigſte und ſchönſte ſein ſoll. Unzureichende Ana-
logieen ſind ſchuld, daß ſich der Europäer keine richtige Vor-
[125] ſtellung vom Charakter der heißen Zone macht. Jedermann
weiß zum Beiſpiel, daß die Kontraſte des Baumlaubes, be-
ſonders aber die große Menge von Gewächſen mit gefiederten
Blättern ein Hauptſchmuck dieſer Zone ſind. Die Eſche, der
Vogelbeerbaum, die Inga, die Akazie der Vereinigten Staaten,
die Gleditſchia, die Tamarinde, die Mimoſen, die Desmanthus
haben alle gefiederte Blätter mit mehr oder weniger großen,
dünnen, lederartigen und glänzenden Blättchen. Vermag nun
aber deshalb eine Gruppe von Eſchen, Vogelbeerbäumen oder
Sumachbäumen uns einen Begriff vom maleriſchen Effekte zu
geben, den das Laubdach der Tamarinden und Mimoſen macht,
wenn das Himmelsblau zwiſchen ihren kleinen, dünnen, zart-
gefiederten Blättern durchbricht? Dieſe Betrachtungen ſind
wichtiger, als ſie auf den erſten Blick ſcheinen. Die Geſtalten
der Gewächſe beſtimmen die Phyſiognomie der Natur, und
dieſe Phyſiognomie wirkt zurück auf die geiſtige Stimmung
der Völker. Jeder Pflanzentypus zerfällt in Arten, die im
allgemeinen Charakter miteinander übereinkommen, aber ſich
dadurch unterſcheiden, daß dieſelben Organe verſchiedentlich
entwickelt ſind. Die Palmen, die Scitamineen, die Malva-
ceen, die Bäume mit gefiederten Blättern ſind nicht alle ma-
leriſch gleich ſchön, und meiſt, im Pflanzenreiche wie im Tier-
reiche, gehören die ſchönſten Arten eines jeden Typus dem
tropiſchen Erdſtriche an.


Die Protaceen, Kroton, Agaven und die große Sippe
der Kaktus, die ausſchließlich nur in der Neuen Welt vor-
kommt, verſchwinden allmählich, wenn man auf dem Orinoko
über die Mündungen des Apure und des Meta hinaufkommt.
Indeſſen iſt viel mehr die Beſchattung und die Feuchtigkeit,
als die Entfernung von den Küſten daran ſchuld, wenn die
Kaktus nicht weiter nach Süden gehen. Wir haben öſtlich
von den Anden, in der Provinz Bracamoros, dem oberen
Amazonenſtrome zu, ganze Kaktuswälder, mit Kroton da-
zwiſchen, große dürre Landſtriche bedecken ſehen. Die Baum-
farne ſcheinen an den Fällen des Orinoko ganz zu fehlen; wir
fanden keine Art vor San Fernando de Atabapo, das heißt
vor dem Einfluſſe des Guaviare in den Orinoko.


Wir haben die Umgegend von Atures betrachtet, und ich
habe jetzt noch von den Stromſchnellen ſelbſt zu ſprechen, die
an einer Stelle des Thales liegen, wo das tief eingeſchnittene
Flußbett faſt unzugängliche Ufer hat. Nur an ſehr wenigen
Punkten konnten wir in den Orinoko gelangen, um zwiſchen
[126] zwei Waſſerfällen, in Buchten, wo das Waſſer langſam kreiſt,
zu baden. Auch wer ſich in den Alpen, in den Pyrenäen,
ſelbſt in den Kordilleren aufgehalten hat, ſo vielberufen wegen
der Zerriſſenheit des Bodens und der Zerſtörung, denen man
bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be-
ſchreibung ſich vom Zuſtande des Strombettes hier nur ſchwer
eine Vorſtellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als
9,2 km laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben-
ſo viele natürliche Wehre, ebenſo viele Schwellen, ähnlich
denen im Dnjepr, welche bei den Alten Phragmoi hießen.
Der Raum zwiſchen den Felsdämmen im Orinoko iſt mit
Inſeln von verſchiedener Größe gefüllt; manche ſind hügelig,
in verſchiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 m
lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Dieſe
Inſeln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in
denen das Waſſer ſich kochend an den Felſen bricht; alle ſind
mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbuſchartigem Laub
bewachſen, ein Palmendickicht mitten auf der ſchäumenden
Waſſerfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch
die Raudales ſchaffen, haben für jede Staffel, für jeden Felſen
einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuerſt
zum Salto del Piapoco, zum Sprung des Tucans; zwiſchen
den Inſeln Avaguri und Javariveni iſt der Raudal de Ja-
variveni; hier verweilten wir auf unſerer Rückkehr vom Rio
Negro mehrere Stunden mitten in den Stromſchnellen, um
unſer Kanoe zu erwarten. Der Strom ſcheint zu einem großen
Teil trocken zu liegen. Granitblöcke ſind aufeinander gehäuft,
wie in den Moränen, welche die Gletſcher in der Schweiz
vor ſich her ſchieben. Ueberall ſtürzt ſich der Fluß in die
Höhlen hinab, und in einer dieſer Höhlen hörten wir das
Waſſer zugleich über unſeren Köpfen und unter unſeren Füßen
rauſchen. Der Orinoko iſt wie in eine Menge Arme oder
Sturzbäche geteilt, deren jeder ſich durch die Felſen Bahn zu
brechen ſucht. Man muß nur ſtaunen, wie wenig Waſſer
man im Flußbett ſieht, über die Menge Waſſerſtürze, die ſich
unter dem Boden verlieren, über den Donner der Waſſer, die
ſich ſchäumend an den Felſen brechen.


Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis
Spumens invictis canescit fluctibus amnis.
1


[127]

Iſt man über den Raudal Javariveni weg (ich nenne
hier nur die wichtigſten der Fälle), ſo kommt man zum Raudal
Canucari, der durch eine Felsbank zwiſchen den Inſeln Suru-
pamana und Uirapuri gebildet wird. Sind die Dämme oder
natürlichen Wehre nur 60 bis 90 cm hoch, ſo wagen es die
Indianer, im Kanoe hinabzufahren. Flußaufwärts ſchwimmen
ſie voraus, bringen nach vielen vergeblichen Verſuchen ein
Seil um eine der Felsſpitzen über dem Damme und ziehen
das Fahrzeug am Seile auf die Höhe des Raudals. Wäh-
rend dieſer mühſeligen Arbeit füllt ſich das Fahrzeug häufig
mit Waſſer; andere Male zerſchellt es an den Felſen, und die
Indianer, mit zerſchlagenem, blutendem Körper, reißen ſich
mit Not aus dem Strudel und ſchwimmen an die nächſte
Inſel. Sind die Felsſtaffeln oder Schwellen ſehr hoch und
verſperren ſie den Strom ganz, ſo ſchafft man die leichten
Fahrzeuge ans Land, ſchiebt Baumäſte als Walzen darunter
und ſchleppt ſie bis an den Punkt, wo der Fluß wieder ſchiff-
bar wird.1 Bei Hochwaſſer iſt ſolches ſelten nötig. Spricht
man von den Waſſerfällen des Orinoko, ſo denkt man von
ſelbſt an die Art und Weiſe, wie man in alter Zeit über die
Katarakte des Nil herunterfuhr, wovon uns Seneca2 eine
Beſchreibung hinterlaſſen hat, die poetiſch, aber ſchwerlich
richtig iſt. Ich führe nur eine Stelle an, die vollkommen
vergegenwärtigt, was man in Atures, Maypures und in
einigen Pongos des Amazonenſtromes alle Tage ſieht. „Je
zwei miteinander beſteigen kleine Nachen, und einer lenkt das
Schiff, der andere ſchöpft es aus. Sodann, nachdem ſie unter
dem reißenden Toben des Nil und den ſich begegnenden Wellen
tüchtig herumgeſchaukelt worden ſind, halten ſie ſich endlich
an die ſeichteſten Kanäle, durch die ſie den Engpäſſen der
Felſen entgehen, und mit der ganzen Strömung niederſtürzend,
lenken ſie den ſchießenden Nachen.“


In den hydrographiſchen Beſchreibungen der Länder werden
meiſtens unter den unbeſtimmten Benennungen: „Saltos,
Chorros, Pongos, Cachoeiras, Raudales, Cataractes, Cas-
cades, Chûtes, Rapides,
Waſſerfälle, Waſſerſtürze, Strom-
ſchnellen,“ ſtürmiſche Bewegungen der Waſſer zuſammen-
[128] geworfen, die durch ſehr verſchiedene Bodenbildungen hervor-
gebracht werden. Zuweilen ſtürzt ſich ein ganzer Fluß aus
bedeutender Höhe in einem Falle herunter, wodurch die Schiff-
fahrt völlig unterbrochen wird. Dahin gehört der prächtige
Fall des Rio Tequendama, den ich in meinen Vues des Cor-
dillères
abgebildet habe; dahin die Fälle des Niagara und
der Rheinfall, die nicht ſowohl durch ihre Höhe als durch
die Waſſermaſſe bedeutend ſind. Andere Male liegen niedrige
Steindämme in weiten Abſtänden hintereinander und bilden
getrennte Waſſerfälle; dahin gehören die Cachoeiras des
Rio Negro und des Rio de la Madeira, die Saltos des
Rio Cauca und die meiſten Pongos im oberen Amazonen-
ſtrome zwiſchen dem Einfluſſe des Chinchipe und dem Dorfe
San Borja. Der höchſte und gefährlichſte dieſer Pongos,
den man auf Flößen herunterfährt, der bei Mayaſi, iſt
übrigens nur 1 m hoch. Noch andere Male liegen kleine Stein-
dämme ſo nahe aneinander, daß ſie auf mehrere Kilometer
Erſtreckung eine ununterbrochene Reihe von Fällen und Stru-
deln, Chorros und Remolinos, bilden, und dies nennt man
eigentlich Raudales, Rapides, Stromſchnellen. Dahin gehören
die Yellala, die Stromſchnellen des Zaire- oder Kongo-
fluſſes, mit denen uns Kapitän Tuckey kürzlich bekannt gemacht
hat; die Stromſchnellen des Orangefluſſes in Afrika oberhalb
Pella, und die 18 km langen Fälle des Miſſouri da, wo der
Fluß aus den Rocky Mountains hervorbricht. Hierher gehören
nun auch die Fälle von Atures und Maypures, die einzigen,
die, im tropiſchen Erdſtriche der Neuen Welt gelegen, mit
einer herrlichen Palmenvegetation geſchmückt ſind. Zu allen
Jahreszeiten gewähren ſie den Anblick eigentlicher Waſſerfälle
und hemmen die Schiffahrt auf dem Orinoko in ſehr be-
deutendem Grade, während die Stromſchnellen des Ohio und
in Oberägypten zur Zeit der Hochgewäſſer kaum ſichtbar ſind.
Ein vereinzelter Waſſerfall, wie der Niagara oder der Fall
bei Terni, gibt ein herrliches Bild, aber nur eines; es wird
nur anders, wenn der Zuſchauer ſeinen Standpunkt verändert;
Stromſchnellen dagegen, namentlich wenn ſie zu beiden Seiten
mit großen Bäumen beſetzt ſind, machen eine Landſchaft meilen-
weit ſchön. Zuweilen rührt die ſtürmiſche Bewegung des
Waſſers nur daher, daß die Strombetten ſehr eingeengt ſind.
Dahin gehört die Angoſtura de Carare im Magdalenenfluß,
ein Engpaß, der dem Verkehr zwiſchen Santa Fé de Bogota
und der Küſte von Cartagena Eintrag thut; dahin gehört
[129] der Pongo von Manſeriche im oberen Amazonenſtrome, den
La Condamine für weit gefährlicher gehalten hat, als er in
Wahrheit iſt, und den der Pfarrer von San Borja hinauf
muß, ſo oft er im Dorfe San Jago eine Amtsverrichtung hat.


Der Orinoko, der Rio Negro und faſt alle Nebenflüſſe
des Amazonenſtromes oder Marañon haben Fälle oder Strom-
ſchnellen entweder in der Nähe ihres Urſprunges durch Berge
laufen, oder weil ſie auf der mittleren Strecke ihres Laufes
auf andere Berge ſtoßen. Wenn, wie oben bemerkt, Waſſer
des Amazonenſtromes vom Pongo von Manſeriche bis zu ſeiner
Mündung, mehr als 3375 km weit, nirgends heftig aufgeregt
ſind, ſo verdankt er dieſen ungemein großen Vorteil dem Um-
ſtande, daß er immer die gleiche Richtung einhält. Er fließt
von Oſt nach Weſt über eine weite Ebene, die gleichſam ein
Längenthal zwiſchen der Bergkette der Parime und dem großen
braſilianiſchen Gebirgsſtocke bildet.


Zu meiner Ueberraſchung erſah ich aus unmittelbarer
Meſſung, daß die Stromſchnellen des Orinoko, deren Donner
man über 4,5 km weit hört, und die durch die mannigfaltige
Verteilung von Waſſer, Palmbäumen und Felſen ſo aus-
nehmend maleriſch ſind, in ihrer ganzen Länge ſchwerlich mehr
als 9,1 m ſenkrechte Höhe haben. Bei näherer Ueberlegung
zeigt es ſich, daß dies für Stromſchnellen viel iſt, während
es für einen einzelnen Waſſerfall ſehr wenig wäre. Bei den
Yellala im Kongofluß, in der Einſchnürung ſeines Bettes
zwiſchen Banza Noki und Banza Inga, iſt der Höhenunter-
ſchied zwiſchen den oberen und den unteren Staffeln weit
bedeutender; Barrow bemerkt aber, daß ſich hier unter den
vielen Stromſchnellen ein Fall findet, der allein 9,75 m hoch
iſt. Andererſeits haben die vielberufenen Pongos im Ama-
zonenſtrome, wo die Bergfahrt ſo gefährlich iſt, die Fälle von
Rentama, Escurrebragas und Mayaſi, auch nur ein paar Fuß
ſenkrechte Höhe. Wer ſich mit Waſſerbauten abgibt, weiß,
welche Wirkung in einem großen Fluſſe eine Schwellung von
48 bis 53 cm hat. Das Toben des Waſſers und die Wirbel
werden überall keineswegs allein von der Höhe der einzelnen
Fälle bedingt, ſondern vielmehr davon, wie nahe die Fälle
hintereinander liegen, ferner vom Neigungswinkel der Felſen-
dämme, von den ſogenannten Lames de réflexion, die in-
einander ſtoßen und übereinander weggehen, von der Geſtalt
der Inſeln und Klippen, von der Richtung der Gegenſtrö-
mungen, von den Krümmungen und engen Stellen in den
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 9
[130] Kanälen, durch die das Waſſer von einer Staffel zur anderen
ſich Bahn bricht. Von zwei gleich breiten Flüſſen kann der
eine Fälle haben, die nicht ſo hoch ſind als die des anderen,
und doch weit gefährlicher und tobender.


Meine obige Angabe über die ſenkrechte Höhe der Rau-
dales des Orinoko lautet nicht ganz beſtimmt, und ich habe
damit auch nur eine Grenzzahl gegeben. Ich brachte den
Barometer auf die kleine Ebene bei der Miſſion Atures und
den Katarakten, ich konnte aber keine konſtanten Unterſchiede
beobachten. Bekanntlich wird die barometriſche Meſſung ſehr
ſchwierig, wenn es ſich von ganz unbedeutenden Höhenunter-
ſchieden handelt. Durch kleine Unregelmäßigkeiten in der ſtünd-
lichen Schwankung (Unregelmäßigkeiten, die ſich mehr auf das
Maß der Schwankung als auf den Zeitpunkt beziehen) wird
das Ergebnis zweifelhaft, wenn man nicht an jedem der beiden
Standpunkte einen Barometer hat, und wenn man Unterſchiede
im Luftdruck von 1 mm auffaſſen ſoll.


Wahrſcheinlich wird die Waſſermaſſe des Stromes durch
die Katarakte geringer, nicht allein weil durch das Zerſchlagen
des Waſſers in Tropfen die Verdunſtung geſteigert wird,
ſondern auch, und hauptſächlich, weil viel Waſſer in unter-
irdiſche Höhlen verſinkt. Dieſer Verluſt iſt übrigens nicht ſehr
auffallend, wenn man die Waſſermaſſe da, wo ſie in die Rau-
dales eintritt, mit der vergleicht, welche beim Einfluſſe des
Rio Anaveni davon wegzieht. Durch eine ſolche Vergleichung
hat man gefunden, daß unter den Yellala oder Raudales
des Kongofluſſes unterirdiſche Höhlungen liegen müſſen. Im
Pongo von Manſeriche, der viel mehr eine Stromenge als ein
Waſſerfall heißen ſollte, verſchwindet auf eine noch nicht ge-
hörig ermittelte Weiſe das Waſſer des oberen Amazonenſtromes
zum Teil mit all ſeinem Treibholz.


Sitzt man am Ufer des Orinoko und betrachtet die Fels-
dämme, an denen ſich der Strom donnernd bricht, ſo fragt
man ſich, ob die Fälle im Laufe der Jahrhunderte nach Ge-
ſtaltung und Höhe ſich verändern werden. Ich bin nicht ſehr
geneigt, dem Stoße des Waſſers gegen Granitblöcke und dem
Zerfreſſen kieſelhaltigen Geſteines ſolche Wirkungen zuzu-
ſchreiben. Die nach unten ſich verengenden Löcher, die Trichter,
wie man ſie in den Raudales und bei ſo vielen Waſſerfällen
in Europa antrifft, entſtehen nur durch die Reibung des Sandes
und das Rollen der Quarzgeſchiebe. Wir haben ſolche Ge-
ſchiebe geſehen, welche die Strömung am Boden der Trichter
[131] beſtändig herumwirbelt und dieſe dadurch nach allen Durch-
meſſern erweitert. Die Pongos des Amazonenſtromes ſind
leicht zerſtörlich, da die Felsdämme nicht aus Granit beſtehen,
ſondern aus Konglomerat, aus rotem, grobkörnigem Sand-
ſtein. Der Pongo von Rentama ſtürzte vor 80 Jahren teil-
weiſe ein, und da ſich das Waſſer hinter einem neugebildeten
Damme ſtaute, ſo lag das Flußbett ein paar Stunden trocken
zur großen Verwunderung der Einwohner des Dorfes Puyaya,
31 km unter dem eingeſtürzten Pongo. Die Indianer in
Atures verſichern (und dieſe Ausſage widerſpricht der Anſicht
des Paters Caulin), die Felſen im Raudal haben immer das-
ſelbe Ausſehen, aber die einzelnen Strömungen, in die der
große Strom zerſchlagen wird, ändern beim Durchgang durch
die aufgehäuften Granitblöcke ihre Richtung und werfen bald
mehr, bald weniger Waſſer gegen das eine oder das andere
Ufer. Die Urſachen dieſes Wechſels können den Katarakten
ſehr ferne liegen; denn in den Flüſſen, die auf der Erd-
oberfläche Leben verbreiten, wie die Adern in den organi-
ſchen Körpern, pflanzen ſich alle Bewegungen weithin fort.
Schwingungen, die anfangs ganz lokal ſcheinen, wirken auf
die ganze flüſſige Maſſe im Stamme und den vielen Ver-
zweigungen desſelben.


Ich weiß wohl, daß, vergleicht man den heutigen Zu-
ſtand der Stromſchnellen bei Syene, deren einzelne Staffeln
kaum 15 cm hoch ſind,1 mit den großartigen Beſchreibungen
der Alten, man leicht geneigt iſt, im Nilbett die Wirkungen
der Auswaſchungen, überhaupt die gewaltigen Einflüſſe des
ſtrömenden Waſſers zu erblicken, aus denen man in der Geo-
logie lange die Bildung der Thäler und die Zerriſſenheit des
Bodens in den Kordilleren befriedigend erklären zu können
meinte. Dieſe Anſicht wird durch den Augenſchein keineswegs
unterſtützt. Wir ſtellen nicht in Abrede, daß die Ströme,
überhaupt fließende Waſſer, wo ſie in zerreibliches Geſtein,
in ſekundäre Gebirgsformationen einſchneiden, bedeutende
Wirkungen ausüben. Aber die Granitfelſen bei Elephantine
haben wahrſcheinlich ſeit Tauſenden von Jahren an abſoluter
Höhe ſo wenig abgenommen als der Gipfel des Montblanc
und des Canigou. Hat man die großen Naturſzenerieen in
[132] verſchiedenen Klimaten ſelbſt geſehen, ſo ſieht man ſich zu der
Anſchauung gedrängt, daß jene tiefen Spalten, jene hoch auf-
gerichteten Schichten, jene zerſtreuten Blöcke, all die Spuren
einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außergewöhnlicher
Urſachen ſind, die mit denen, welche im gegenwärtigen Zu-
ſtande der Ruhe und des Friedens an der Erdoberfläche thätig
ſind, nichts gemein haben. Was das Waſſer durch Auswaſchung
von Granit wegführt, was die feuchte Luft am harten, nicht
verwitterten Geſtein zerſtört, entzieht ſich unſeren Sinnen faſt
ganz, und ich kann nicht glauben, daß, wie manche Geologen
annehmen, die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen niedriger
werden, weil die Geſchiebe ſich in den Gründen am Fuße der
Gebirge aufhäufen. Im Nil wie im Orinoko können die
Stromſchnellen einen geringeren Fall bekommen, ohne daß die
Felsdämme merkbar anders werden. Die relative Höhe der
Fälle kann durch die Anſchwemmungen, die ſich unterhalb der
Stromſchnellen bilden, abnehmen.


Wenn auch dieſe Betrachtungen einiges Licht über die
anziehende Erſcheinung der Katarakte verbreiten, ſo ſind da-
mit die übertriebenen Beſchreibungen der Stromſchnellen bei
Syene, welche von den Alten1 auf uns gekommen, allerdings
nicht begreiflich zu machen. Sollten ſie aber nicht vielleicht
auf dieſen unteren Waſſerfall übertragen haben, was ſie vom
Hörenſagen von den oberen Fällen des Fluſſes in Nubien
und Dongola wußten, die zahlreicher und gefährlicher ſind?2
Syene lag an der Grenze des römiſchen Reiches,3 faſt an der
Grenze der bekannten Welt, und im Raume, wie in den
Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes fangen die phantaſti-
ſchen Vorſtellungen an, wo die klaren Begriffe aufhören.


[133]

Die Einwohner von Atures und Maypures werden, was
auch die Miſſionäre in ihren Schriften ſagen mögen, vom
Toſen der großen Katarakte ſo wenig taub als die Katadupen
am Nil. Hört man das Getöſe auf der Ebene bei der Miſſion,
ſtarke 4 km weit, ſo glaubt man in der Nähe einer felſigen
Meeresküſte mit ſtarker Brandung zu ſein. Es iſt bei Nacht
dreimal ſtärker als bei Tage und gibt dem einſamen Orte un-
ausſprechlichen Reiz. Woher mag wohl dieſe Verſtärkung des
Schalles in einer Einöde rühren, wo ſonſt nichts das Schweigen
der Natur zu unterbrechen ſcheint? Die Geſchwindigkeit der
Fortpflanzung des Schalles nimmt mit der Abnahme der
Temperatur nicht zu, ſondern vielmehr ab. Der Schall wird
ſchwächer, wenn ein der Richtung desſelben entgegengeſetzter
Wind weht, ferner durch Verdünnung der Luft; der Schall
iſt ſchwächer in hohen Luftregionen als in tiefen, wo die Zahl
der erſchütterten Luftteilchen in jedem Strahle größer iſt. Die
Stärke desſelben iſt in trockener und in mit Waſſerdunſt ver-
mengter Luft gleich groß, aber in kohlenſaurem Gas iſt ſie
geringer als in Gemengen von Stickſtoff und Sauerſtoff. Nach
dieſen Erfahrungsſätzen (und es ſind die einzigen einiger-
maßen zuverläſſigen) hält es ſchwer, eine Erſcheinung zu er-
klären, die man bei jedem Waſſerfalle in Europa beobachtet,
und die lange vor unſerer Ankunft im Dorfe Atures Miſ-
ſionären und Indianern aufgefallen war. Bei Nacht iſt die
Temperatur der Luft um 3° niedriger als bei Tage; zu-
gleich nimmt die merkbare Feuchtigkeit bei Nacht zu und der
Nebel, der auf den Katarakten liegt, wird dichter. Wir haben
aber eben geſehen, daß der hygroſkopiſche Zuſtand der Luft
auf die Fortpflanzung des Schalles keinen Einfluß hat, und
daß die Abkühlung der Luft die Geſchwindigkeit vermindert.


Man könnte meinen, auch an Orten, wo keine Menſchen
leben, bringe am Tage das Sumſen der Inſekten, der Geſang
der Vögel, das Rauſchen des Laubes beim leiſeſten Luftzuge
ein verworrenes Getöne hervor, das wir um ſo weniger wahr-
nehmen, da es ſich immer gleich bleibt und es fortwährend
zu unſerem Ohre dringt. Dieſes Getöſe, ſo unmerklich es
ſein mag, kann nun allerdings einen ſtärkeren Schall ſchwächen,
und dieſe Schwächung kann wegfallen, wenn in der Stille
der Nacht der Geſang der Vögel, das Sumſen der Inſekten
und die Wirkung des Windes auf das Laub aufhören. Wäre
aber dieſe Folgerung auch richtig, ſo findet ſie keine Anwen-
dung auf die Wälder am Orinoko, wo die Luft fortwährend
[134] von zahlloſen Moskitoſchwärmen erfüllt iſt, wo das Geſumſe
der Inſekten bei Nacht weit ſtärker iſt als bei Tage, wo der
Wind, wenn er je weht, ſich erſt nach Sonnenuntergang
aufmacht.


Ich bin vielmehr der Anſicht, daß, ſolange die Sonne
am Himmel ſteht, der Schall ſich langſamer fortpflanzt und
geſchwächt wird, weil die Luftſtröme von verſchiedener Dich-
tigkeit, die teilweiſen Schwingungen der Atmoſphäre infolge
der ungleichen Erwärmung der verſchiedenen Bodenſtücke,
Hinderniſſe bilden. In ruhiger Luft, ſei ſie nun trocken oder
mit gleichförmig verteilten Dunſtbläschen erfüllt, pflanzt ſich
die Schallwelle ungehindert fort; wird aber die Luft nach
allen Richtungen von kleinen Strömen wärmerer Luft durch-
zogen, ſo teilt ſich die Welle da, wo die Dichtigkeit des Mittels
raſch wechſelt, in zwei Wellen; es bilden ſich lokale Echo,
die den Schall ſchwächen, weil eine der Wellen zurückläuft;
es tritt die Teilung der Wellen ein, deren Theorie in jüngſter
Zeit von Poiſſon ſo ſcharfſinnig entwickelt worden iſt. Nach
unſerer Anſchauung wird daher die Fortpflanzung der Schall-
wellen nicht dadurch gehemmt, daß durch die Ortsveränderung
der im Luftſtrome von unten nach oben aufſteigenden Luft-
teilchen, durch die kleinen ſchiefen Strömungen ein Stoß aus-
geübt würde. Ein Stoß auf die Oberfläche einer Flüſſigkeit
bringt Kreiſe um den Mittelpunkt der Erſchütterung hervor,
ſelbſt wenn die Flüſſigkeit in Bewegung iſt. Mehrere Arten
von Wellen können ſich im Waſſer wie in der Luft kreuzen, ohne
ſich in ihrer Fortpflanzung zu ſtören; kleine Bewegungen
ſchieben ſich übereinander, und die wahre Urſache der geringeren
Stärke des Schalles bei Tage ſcheint die zu ſein, daß das
elaſtiſche Mittel dann nicht homogen iſt. Bei Tage ändert
ſich die Dichtigkeit raſch überall, wo kleine Luftzüge von
hoher Temperatur über ungleich erwärmten Bodenſtücken auf-
ſteigen. Die Schallwellen teilen ſich, wie die Lichtſtrahlen
ſich brechen, und überall, wo Luftſchichten von verſchiedener
Dichtigkeit ſich berühren, tritt Spiegelung ein. Der Schall
pflanzt ſich langſamer fort, wenn man in einer am einen
Ende geſchloſſenen Röhre eine Schicht Waſſerſtoffgas über eine
Schicht atmoſphäriſcher Luft aufſteigen läßt, und Biot erkärt
den Umſtand, daß ein Glas mit Champagner nicht hell klingt,
ſolange er perlt und die Luftblaſen im Weine aufſteigen,
ſehr gut eben daraus, daß die Bläschen von kohlenſaurem
Gas die Flüſſigkeit ungleichförmig machen.


[135]

Für dieſe Anſichten könnte ich mich faſt auf die Autorität
eines Philoſophen berufen, den die Phyſiker noch immer ſehr
geringſchätzig behandeln, während die ausgezeichnetſten Zoologen
ſeinem Scharfſinn als Beobachter längſt volle Gerechtigkeit
widerfahren laſſen. „Warum,“ ſagt Ariſtoteles in ſeiner merk-
würdigen Schrift von den Problemen, „hört man bei
Nacht alles beſſer als bei Tage? Weil alles bei Nacht regungs-
loſer iſt, da die Wärme fehlt. Dadurch wird überhaupt alles
ruhiger, denn die Sonne iſt es, die alles bewegt.“1 Sicher
[136] ſchwebte Ariſtoteles die wahre Urſache der Erſcheinung als
unbeſtimmte Ahnung vor; er ſchreibt aber die Bewegung der
Luft dem Stoße der kleinſten Teilchen derſelben zu, was viel-
mehr dem raſchen Wechſel der Dichtigkeit in ſich berührenden
Luftſchichten zuzuſchreiben ſein möchte.


Am 16. April gegen Abend erhielten wir Nachricht,
unſere Piroge ſei in weniger als 6 Stunden über die Strom-
ſchnellen geſchafft worden und liege wohlbehalten in einer Bucht,
Puerto de arriba, der obere Hafen, genannt. „Eure
Piroge wird nicht in Stücke gehen, weil ihr kein Kauf-
mannsgut führt und der Mönch aus den Raudales mit euch
reiſt,“ ſo hatte im Lager von Pararuma ein kleiner brauner
Mann, in dem wir an der Mundart den Katalonier erkannten,
boshaft gegen uns geäußert. Es war ein Schildkrötenöl-
händler, der mit den Indianern in den Miſſionen in Verkehr
und eben kein Freund der Miſſionäre war. „Die Fahrzeuge,
die leicht zerbrechen,“ fuhr er fort, „ſind die der Katalo-
nier
, die mit einem Lizenzſchein vom Statthalter von Guyana,
nicht aber mit der Genehmigung des Präſidenten der Miſ-
ſionen jenſeits Atures und Maypures Handel treiben wollen.
Man läßt unſere Pirogen in den Raudales, die der Schlüſſel
ſind zu den Miſſionen am oberen Orinoko, am Caſſiquiare
und Rio Negro, zu ſchanden gehen; man ſchafft uns dann
durch die Indianer in Atures nach Carichana zurück und zwingt
uns unſere Handelsſpekulationen aufzugeben.“ Als unpar-
teiiſcher Geſchichtſchreiber der von mir bereiſten Länder kann
ich einer ſolchen, wohl etwas leichtfertig ausgeſprochenen Mei-
nung nicht beitreten. Der gegenwärtige Miſſionär bei den
Raudales iſt nicht der Mann, die Plackereien, über welche
die kataloniſchen Krämer klagen, ſich zu ſchulden kommen zu
laſſen; man fragt ſich aber, weshalb das Regiment in den
Miſſionen ſogar in den ſpaniſchen Kolonieen ſo gründlich ver-
haßt iſt? Verleumdete man nur reiche Leute, ſo wären die
Miſſionäre am oberen Orinoko vor dergleichen boshaften An-
griffen ſicher. Sie beſitzen kein Pferd, keine Ziege, kaum eine
Kuh, während ihre Ordensbrüder, die Kapuziner in den Miſ-
ſionen am Carony, Herden von 40000 Stücken beſitzen. Der
Groll der arbeitenden Klaſſen unter den Koloniſten gilt alſo
1
[137] nicht dem Wohlſtand der Obſervanten, ſondern ihrem Prohi-
bitivſyſtem, ihren beharrlichen Bemühungen, ihr Gebiet gegen
die Weißen abzuſperren, den Hinderniſſen, die ſie dem Aus-
tauſch der Produkte in den Weg legen. Allerorten empört
ſich das Volk gegen Monopole, nicht allein wenn ſie auf den
Handel und die materiellen Lebensbedürfniſſe Einfluß äußern,
ſondern auch wenn ſich ein Stand oder eine Schicht der Ge-
ſellſchaft das Recht anmaßt, allein die Jugend zu erziehen
oder die Wilden in der Zucht zu halten, um nicht zu ſagen
zu civiliſieren.


Man zeigte uns in der kleinen Kirche von Atures einige
Ueberbleibſel vom einſtigen Wohlſtand der Jeſuiten. Eine
ſilberne Lampe von anſehnlichem Gewicht lag, halb im Sande
begraben, am Boden. Ein Gegenſtand derart würde aller-
dings nirgends die Habſucht des Wilden reizen; ich muß aber
hier zur Ehre der Eingeborenen am Orinoko erwähnen, daß
ſie keine Diebe ſind, wie die lange nicht ſo rohen Bewohner
der Südſeeinſeln. Jene haben große Achtung vor dem Eigen-
tum; ſie ſuchen nicht einmal Eßwaren, Fiſchangeln und Aexte
zu entwenden. In Maypures und Atures weiß man nichts
von Schlöſſern an den Thüren; ſie werden eingeführt werden,
ſobald Weiße und Miſchlinge ſich in den Miſſionen niederlaſſen.


Die Indianer in Atures ſind gutmütig, leidenſchaftslos,
dank ihrer Trägheit an die größten Entbehrungen gewöhnt.
Die Jeſuiten früher trieben ſie zur Arbeit an, und da fehlte
es ihnen nie an Lebensunterhalt. Die Patres bauten Mais,
Bohnen und andere europäiſche Gemüſe; ſie pflanzten um das
Dorf her ſogar ſüße Orangen und Tamarinden, ſie beſaßen
in den Grasfluren von Atures und Carichana 20000 bis
30000 Pferde und Stücke Rindvieh. Sie hielten für die
Herden eine Menge Sklaven und Knechte (peones). Gegen-
wärtig wird nichts gebaut als etwas Maniok und Bananen.
Und doch iſt der Boden ſo fruchtbar, daß ich in Atures an
einem einzigen Piſangbüſchel 108 Früchte zählte, deren 4 bis 5
faſt zur täglichen Nahrung eines Menſchen hinreichen. Der
Maisbau wird gänzlich vernachläſſigt, Roſſe und Kühe ſind
verſchwunden. Ein Uferſtrich am Raudal heißt noch Paso
del ganado
(Viehfurt), während die Nachkommen der In-
dianer, mit denen die Jeſuiten die Miſſion gegründet, vom
Hornvieh wie von einer ausgeſtorbenen Tiergattung ſprechen.
Auf unſerer Fahrt den Orinoko hinauf San Carlos am Rio
Negro zu ſahen wir in Carichana die letzte Kuh. Die Patres
[138] Obſervanten, welche gegenwärtig dieſe weiten Landſtriche unter
ſich haben, kamen nicht unmittelbar auf die Jeſuiten. Wäh-
rend eines achtzehnjährigen Interregnums wurden die Miſ-
ſionen nur von Zeit zu Zeit beſucht, und zwar von Kapu-
zinern. Unter dem Namen königlicher Kommiſſäre verwalteten
weltliche Regierungsbeamte die Hatos oder Höfe der Jeſuiten,
aber ſchändlich liederlich. Man ſtach das Vieh, um die Häute
zu verkaufen, viele jüngere Tiere wurden von den Tigern
gefreſſen, noch viel mehr gingen an den Biſſen der Fleder-
mäuſe zu Grunde, die an den Katarakten kleiner ſind, aber
kecker als in den Lanos. Zur Zeit der Grenzexpedition wurden
Pferde von Encaramada, Carichana und Atures bis San Joſe
de Maravitanos am Rio Negro ausgeführt, weil die Portu-
gieſen dort Pferde, und noch dazu geringe, nur aus weiter
Ferne auf dem Amazonenſtrom und dem Gran Para beziehen
konnten. Seit dem Jahre 1795 iſt das Vieh der Jeſuiten
gänzlich verſchwunden; als einziges Wahrzeichen des früheren
Anbaues dieſer Länder und der wirtſchaftlichen Thätigkeit der
erſten Miſſionäre ſieht man in den Savannen hie und da
mitten unter wilden Bäumen einen Orangen- oder Tama-
rindenſtamm.


Die Tiger oder Jaguare, die den Herden weniger ge-
fährlich ſind als die Fledermäuſe, kommen ſogar ins Dorf
herein und freſſen den armen Indianern die Schweine. Der
Miſſionär erzählte uns ein auffallendes Beiſpiel von der
Zuthulichkeit dieſer ſonſt ſo wilden Tiere. Einige Monate
vor unſerer Ankunft hatte ein Jaguar, den man für ein
junges Tier hielt, obgleich er groß war, ein Kind verwundet,
mit dem er ſpielte; der Ausdruck mag ſonderbar ſcheinen,
aber ich brauche ihn ohne Bedenken, da ich an Ort und Stelle
Thatſachen kennen lernen konnte, die für die Sittengeſchichte
der Tiere nicht ohne Bedeutung ſind. Zwei indianiſche Kinder
von 8 bis 9 Jahren, ein Knabe und ein Mädchen, ſaßen bei
Atures mitten in einer Savanne, über die wir oft gegangen,
im Gras. Es war 2 Uhr nachmittags, da kommt ein Ja-
guar aus dem Walde und auf die Kinder zu, die er ſpringend
umkreiſt; bald verſteckt er ſich im hohen Graſe, bald macht
er mit gekrümmtem Rücken und geſenktem Kopfe einen Sprung,
gerade wie unſere Katzen. Der kleine Junge ahnt nicht, in
welcher Gefahr er ſchwebt, und wird ſie erſt inne, als der
Jaguar ihn mit der Tatze auf den Kopf ſchlägt. Erſt ſchlägt
er ſachte, dann immer ſtärker; die Krallen verwunden das
[139] Kind und es blutet ſtark. Da nimmt das kleine Mädchen
einen Baumzweig, ſchlägt das Tier, und dieſes läuft vor ihr
davon. Auf das Schreien der Kinder kommen die Indianer
herbeigelaufen und ſehen den Jaguar, der ſichtbar an keine
Gegenwehr dachte, in Sprüngen ſich davonmachen.


Man führte uns den Jungen vor, der lebendig und ge-
ſcheit ausſah. Die Kralle des Jaguars hatte ihm unten an
der Stirn die Haut abgeſtreift, und eine zweite Narbe hatte
er oben auf dem Kopfe. Woher nun auf einmal dieſe muntere
Laune bei einem Tiere, das in unſeren Menagerien nicht ſchwer
zu zähmen, aber im Stand der Freiheit immer wild und grau-
ſam iſt? Nimmt man auch an, der Jaguar habe, ſicher ſeiner
Beute, mit dem kleinen Indianer geſpielt, wie unſere Katzen
mit Vögeln mit beſchnittenen Flügeln ſpielen, wie ſoll man
es ſich erklären, daß ein großer Jaguar ſo duldſam iſt, daß
er vor einem kleinen Mädchen davonläuft? Trieb den Jaguar
der Hunger nicht her, warum kam er auf die Kinder zu? In
der Zuneigung und im Haß der Tiere iſt manches Geheimnis-
volle. Wir haben geſehen, wie Löwen drei, vier Hunde, die
man in ihren Käfig ſetzte, umbrachten und einen fünften, der
weniger furchtſam, den König der Tiere an der Mähne packte,
vom erſten Augenblick an liebkoſten. Das ſind eben Aeuße-
rungen jenes Inſtinktes, der dem Menſchen ein Rätſel iſt.
Es iſt als ob der Schwache deſto mehr für ſich einnähme,
je zutraulicher er iſt.


Eben war von zahmen Schweinen die Rede, die von den
Jaguaren angefallen werden. Außer den gemeinen Schweinen
von europäiſcher Raſſe gibt es in dieſen Ländern verſchiedene
Arten von Pecari mit Drüſen an den Leiſten, von denen
nur zwei den europäiſchen Zoologen bekannt ſind. Die In-
dianer nennen den kleinen Pecari (Dicotiles torquatus) auf
maypuriſch Chacharo; Apida aber heißt bei ihnen ein
Schwein, das keinen Beutel haben ſoll und größer, ſchwarz-
braun und am Unterkiefer und den Bauch entlang weiß iſt.
Der Chacharo, den man im Hauſe aufzieht, wird ſo zahm
wie unſere Schafe und Rehe. Sein ſanftes Weſen erinnert
an die anatomiſch nachgewieſene intereſſante Aehnlichkeit zwiſchen
dem Bau der Pecari und dem der Wiederkäuer. Der Apida,
der ein Haustier wird wie unſere Schweine, zieht in Rudeln
von mehreren hundert Stücken. Man hört es ſchon von weitem,
wenn ſolche Rudel herbeikommen, nicht nur an den dumpfen,
rauhen Lauten, die ſie von ſich geben, ſondern noch mehr,
[140] weil ſie ungeſtüm das Gebüſch auf ihrem Wege zerknicken.
Bonpland rief einmal beim Botaniſiern ſein indianiſcher Führer
zu, er ſolle ſich hinter einen Baum verſtecken, und da ſah
er denn dieſe Pecari (Cochinos oder Puercos del monte)
ganz nahe an ſich vorüberkommen. Das Rudel zog in dicht
gedrängten Reihen, die männlichen Tiere voran, jedes Mutter-
ſchwein mit ſeinen Jungen hinter ſich. Die Chacharos haben
ein weichliches, nicht ſehr angenehmes Fleiſch; ſie werden
übrigens von den Indianern ſtark gegeſſen, die ſie mit kleinen
an Stricke gebundenen Spießen erlegen. Man verſicherte uns
in Atures, der Tiger fürchte ſich im Walde unter ein ſolches
Rudel von Wildſchweinen zu geraten, und ſuche ſich, um nicht
erdrückt zu werden, auf einen Baum zu flüchten. Iſt das
nun eine Jägergeſchichte oder eine wirkliche Beobachtung?
Wir werden bald ſehen, daß in manchen Ländern von Amerika
die Jäger an die Exiſtenz eines Javali oder einheimiſchen
Ebers mit nach außen gekrümmten Hauern1 glauben. Ich
habe nie einen geſehen, die amerikaniſchen Miſſionäre führen
ihn aber in ihren Schriften auf, und dieſe von unſeren Zoo-
logen zu wenig beachtete Quelle enthält neben den plumpſten
Uebertreibungen ſehr intereſſante lokale Beobachtungen.


Unter den Affen, die wir in der Miſſion Atures zu ſehen
bekamen, fanden wir eine neue Art aus der Sippe der Saïs
oder Saju, von den Hiſpano-Amerikanern gewöhnlich Ma-
chis
genannt. Es iſt dies der Uavapavi2 mit grauem
Pelz und bläulichem Geſicht. Augenränder und Stirn ſind
ſchneeweiß, und dadurch unterſcheidet er ſich auf den erſten
Blick von der Simia capucina, der Simia apella, Simia
trepida
und den anderen Winſelaffen, in deren Beſchreibung
bis jetzt ſo große Verwirrung herrſcht. Das kleine Tier iſt
ſo ſanftmütig als häßlich. Jeden Tag ſprang es im Hofe
der Miſſion auf ein Schwein und blieb auf demſelben von
Morgen bis Abend ſitzen, während es auf den Grasfluren
umherlief. Wir ſahen es auch auf dem Rücken einer großen
Katze, die mit ihm im Hauſe des Pater Zea aufgezogen wor-
den war.


In den Katarakten hörten wir auch zum erſtenmal von
[141] dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje
ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen
Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die
Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein-
geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz
dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten.
Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer
Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen
wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte
Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und
ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer
Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas
behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht
länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht
dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können,
der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit
eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel
von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den
Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten-
geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und
Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der
nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall,
ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß
wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in
Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir
bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube
beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich
am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in
den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von
Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen
dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören,
den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn
die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem
neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie
kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger
Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu
ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben
mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen.
Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,1 deſſen
Hundszähne über 14 mm lang ſind, der ein viel menſchen-
[142] ähnlicheres Geſicht hat als der Orang-Utan,1 der ſich den
Bart mit der Hand ſtreicht, wenn man ihn reizt, das Mär-
chen vom Salvaje veranlaßt haben? Allerdings iſt er nicht
ſo groß als der Coaïta (Simia paniscus); wenn man ihn
aber oben auf einem Baume und nur den Kopf von ihm ſieht,
könnte man ihn leicht für ein menſchliches Weſen halten. Es
wäre auch möglich (und dies ſcheint mir das Wahrſchein-
lichſte), daß der Waldmenſch einer der großen Bären iſt,
deren Fußſpur der menſchlichen ähnlich iſt und von denen
man in allen Ländern glaubt, daß ſie Weiber anfallen. Das
Tier, das zu meiner Zeit am Fuße der Berge von Merida
geſchoſſen und als ein Salvaje dem Oberſten Ungaro, Statt-
halter der Provinz Varinas, geſchickt wurde, war auch wirk-
lich nichts als ein Bär mit ſchwarzem, glänzendem Pelz.
Unſer Reiſegefährte Don Nicolas Soto hat denſelben näher
unterſucht. Die ſeltſame Vorſtellung von einem Sohlengänger,
bei dem die Zehen ſo ſtehen, als ob er rückwärts ginge, ſollte
ſie etwa daher rühren, daß die wahren wilden Waldmenſchen,
die ſchwächſten, furchtſamſten Indianerſtämme, den Brauch
haben, wenn ſie in den Wald oder über einen Uferſtrich ziehen,
ihre Feinde dadurch irre zu machen, daß ſie ihre Fußſtapfen
mit Sand bedecken oder rückwärts gehen?


Ich habe angegeben, weshalb zu bezweifeln iſt, daß es
eine unbekannte große Affenart auf einem Kontinente gibt,
wo gar keine Vierhänder aus der Familie des Orangs, Cyno-
cephali, Mandrils und Pongos vorzukommen ſcheinen. Es iſt
aber nicht zu vergeſſen, daß jeder, auch der abgeſchmackteſte
Volksglaube auf wirklichen, nur unrichtig aufgefaßten Natur-
verhältniſſen beruht. Wendet man ſich von dergleichen Dingen
mit Geringſchätzung ab, ſo kann man, in der Phyſik wie in
der Phyſiologie, leicht die Fährte einer Entdeckung verlieren.
Wir erklären daher auch keineswegs mit einem ſpaniſchen
Schriftſteller das Märchen vom Waldmenſchen für eine pfiffige
Erfindung der indianiſchen Weiber, die entführt worden ſein
wollen, wenn ſie hinter ihren Männern lange ausgeblieben
ſind; vielmehr fordern wir die Reiſenden, die nach uns an
den Orinoko kommen, auf, unſere Unterſuchungen hinſichtlich
des Salvaje oder großen Waldteufels wieder aufzunehmen
und zu ermitteln, ob eine unbekannte Bärenart oder ein ſehr
[143] ſeltener, der Simia chiropotes oder Simia Satanas ähnlicher
Affe ſo ſeltſame Märchen veranlaßt haben mag.


Nach zweitägigem Aufenthalt am Katarakt von Atures
waren wir ſehr froh, unſere Piroge wieder laden und einen
Ort verlaſſen zu können, wo der Thermometer bei Tage meiſt
auf 29°, bei Nacht auf 26° ſtand. Nach der Hitze, die uns
drückte, kam uns die Temperatur noch weit höher vor. Wenn
die Angabe des Inſtrumentes und die Empfindung ſo wenig
übereinſtimmten, ſo rührte dies vom beſtändigen Hautreiz
durch die Moskiten her. Eine von giftigen Inſekten wim-
melnde Luft kommt einem immer weit heißer vor, als ſie
wirklich iſt. Das Sauſſureſche Hygrometer — im Schatten
beobachtet, wie immer — zeigte bei Tage im Minimum (um
3 Uhr nachmittags) 78,2°, bei Nacht im Maximum 81,5°.
Die Feuchtigkeit iſt um 5° geringer als die mittlere Feuchtig-
keit an der Küſte von Cumana, aber um 10° ſtärker als die
mittlere Feuchtigkeit in den Llanos oder baumloſen Ebenen.
Die Waſſerfälle und die dichten Wälder ſteigern die Menge
des in der Luft enthaltenen Waſſerdampfes. Den Tag über
wurden wir von den Moskiten und den Jejen, kleinen gif-
tigen Mücken aus der Gattung Simulium, furchtbar geplagt,
bei Nacht von den Zancudos, einer großen Schnakenart,
vor denen ſich ſelbſt die Eingeborenen fürchten. Unſere Hände
fingen an ſtark zu ſchwellen und die Geſchwulſt nahm täglich
zu, bis wir an die Ufer des Temi kamen. Die Mittel, durch
die man die kleinen Tiere los zu werden ſucht, ſind ſehr merk-
würdig. Der gute Miſſionär Bernardo Zea, der ſein Leben
unter den Qualen der Moskiten zubringt, hatte ſich neben
der Kirche auf einem Gerüſte von Palmſtämmen ein kleines
Zimmer gebaut, in dem man freier atmete. Abends ſtiegen
wir mit einer Leiter in dasſelbe hinauf, um unſere Pflanzen
zu trocknen und unſer Tagebuch zu ſchreiben. Der Miſſionär
hatte die richtige Beobachtung gemacht, daß die Inſekten in
der tiefſten Luftſchicht am Boden 5 bis 7 m hoch, am häufig-
ſten ſind. In Maypures gehen die Indianer bei Nacht aus
dem Dorfe und ſchlafen auf kleinen Inſeln mitten in den
Waſſerfällen. Sie finden dort einige Ruhe, da die Moskiten
eine mit Waſſerdunſt beladene Luft zu fliehen ſcheinen. Ueberall
fanden wir ihrer mitten im Strom weniger als an den Seiten;
man hat daher auch weniger zu leiden, wenn man den Ori-
noko hinab, als wenn man aufwärts fährt.


Wer die großen Ströme des tropiſchen Amerikas, wie den
[144] Orinoko oder den Magdalenenfluß, nicht befahren hat, kann
nicht begreifen, wie man ohne Unterlaß, jeden Augenblick im
Leben von den Inſekten, die in der Luft ſchweben, gepeinigt
werden, weil die Unzahl dieſer kleinen Tiere weite Landſtrecken
faſt unbewohnbar machen kann. So ſehr man auch gewöhnt
ſein mag, den Schmerz ohne Klage zu ertragen, ſo lebhaft
einen auch der Gegenſtand, den man eben beobachtet, beſchäf-
tigen mag, unvermeidlich wird man immer wieder davon ab-
gezogen, wenn Moskiten, Zancudos, Jejen und Tem-
praneros
einem Hände und Geſicht bedecken, einen mit ihrem
Saugrüſſel, der in einen Stachel ausläuft, durch die Kleider
durch ſtechen, und in Naſe und Mund kriechen, ſo daß man
huſten und nießen muß, ſobald man in freier Luft ſpricht.
In den Miſſionen am Orinoko, in dieſen von unermeßlichen
Wäldern umgebenen Dörfern am Stromufer, iſt aber auch die
plaga de los moscos ein unerſchöpflicher Stoff der Unter-
haltung. Begegnen ſich morgens zwei Leute, ſo ſind ihre
erſten Fragen: „Que le han parecido los zancudos de noche?
Wie haben Sie die Zancados heute nacht gefunden?“ —
„Como stamos hoy de mosquitos? Wie ſteht es heute mit
den Moskiten?“ Dieſe Fragen erinnern an eine chineſiſche
Höflichkeitsformel, die auf den ehemaligen wilden Zuſtand
des Landes, in dem ſie entſtanden ſein mag, zurückweiſt. Man
begrüßte ſich früher im himmliſchen Reiche mit den Worten:
Vou-to-hou? Seid ihr dieſe Nacht von Schlangen be-
unruhigt worden?“ Wir werden bald ſehen, daß am Tua-
mini, auf dem Magdalenenſtrom, beſonders aber in Choco,
im Gold- und Platinalande, neben dem Moskitokompliment
auch das chineſiſche Schlangenkompliment am Platze wäre.


Es iſt hier der Ort, von der geographiſchen Ver-
teilung
dieſer Inſekten aus der Familie der Tipulae zu
ſprechen, die ganz merkwürdige Erſcheinungen darbietet. Die-
ſelbe ſcheint keineswegs bloß von der Hitze, der großen Feuchtig-
keit und den großen Wäldern abzuhängen, ſondern auch von
ſchwer zu ermittelnden örtlichen Verhältniſſen. Vorab iſt zu
bemerken, daß die Plage der Moskiten und Zancudos in der
heißen Zone nicht ſo allgemein iſt, als man gemeiniglich
glaubt. Auf Hochebenen mehr als 780 m über dem Meeres-
ſpiegel, in ſehr trockenen Niederungen weit von den großen
Strömen, z. B. in Cumana und Calabozo, gibt es nicht auf-
fallend mehr Schnaken als in dem am ſtärkſten bevölkerten
Teile Europas. In Nueva Barcelona dagegen, und weiter
[145] weſtwärts an der Küſte, die gegen Kap Codera läuft, nehmen
ſie ungeheuer zu. Zwiſchen dem kleinen Hafen von Higuerote
und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen
Einwohner den Brauch, ſich bei Nacht auf die Erde zu legen
und ſich 8 bis 10 cm tief in den Sand zu begraben, ſo daß
nur der Kopf frei bleibt, den ſie mit einem Tuche bedecken.
Man leidet vom Inſektenſtich, doch ſo, daß es leicht zu er-
tragen iſt, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango-
ſtura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt
zwiſchen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem
Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim
Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun
an findet der Reiſende keine Ruhe mehr. Hat er poetiſche
Stellen aus Dante im Kopfe, ſo mag ihm zu Mute ſein,
als hätte er die Città dolente betreten, als ſtänden an den
Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verſe aus dem
3. Buch der Hölle geſchrieben:


Noi sem venuti al luogo, ov’i’t’ho detto
Che tu vedrai le genti dolorose.
1

Die tiefen Luftſchichten vom Boden bis zu 5 bis 7 m
Höhe ſind mit giftigen Inſekten wie mit einem dichten Dunſte
angefüllt. Stellt man ſich an einen dunklen Ort, z. B. in
die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten
Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von
der Sonne beleuchtete Oeffnung, ſo ſieht man Wolken von
Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem
die Tierchen bei ihren langſamen und taktmäßigen Bewegungen
ſich zuſammen- oder auseinanderziehen. In der Miſſion San
Borja hat man ſchon mehr von den Moskiten zu leiden als
in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, beſonders
aber in Maypures erreicht die Plage ſozuſagen ihr Maxi-
mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der
Menſch grauſamere Qualen zu erdulden hat als hier in der
Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf,
wird man etwas weniger zerſtochen; aber am oberen Orinoko
ſind die Stiche ſchmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli-
gen Windſtille die Luft glühender iſt und die Haut, wo ſie
dieſelbe berührt, mehr reizt.


A. v. Humboldt, Reiſe. III. 10
[146]

„Wie gut muß im Mond wohnen ſein!“ ſagte ein Sa-
liva-Indianer zu Pater Gumilla. „Er iſt ſo ſchön und hell,
daß es dort gewiß keine Moskiten gibt.“ Dieſe Worte, die
dem Kindesalter eines Volkes angehören, ſind ſehr merk-
würdig. Ueberall iſt der Trabant der Erde für den wilden
Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber-
fluſſes. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baumſtamm,
den die Strömung an eine pflanzenloſe Küſte geworfen, ein
Schatz iſt, ſieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer
in den Wäldern am Orinoko ſieht darin kahle Savannen,
deren Bewohner nie von Moskiten geſtochen werden.


Weiterhin gegen Süd, wo das Syſtem der braungelben
Gewäſſer beginnt, gemeinhin ſchwarze Waſſer (aguas
negras
) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi,
Tuamini und des Rio Negro, genoſſen wir einer Ruhe, ich
hätte bald geſagt eines Glückes, wie wir es gar nicht er-
wartet hatten. Dieſe Flüſſe laufen wie der Orinoko durch
dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten
ſich von den „ſchwarzen Waſſern“ ferne. Kommen vielleicht
die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man
als eigentliche Waſſertiere betrachten kann, in dieſen Gewäſſern,
die ein wenig kühler ſind als die weißen und ſich chemiſch
anders verhalten, nicht ſo gut fort? Einige kleine Flüſſe, deren
Waſſer entweder dunkelblau oder braungelb iſt, der Toparo,
Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der ſonſt ziem-
lich allgemeinen Regel, daß es über „ſchwarzem Waſſer“ keine
Moskiten gibt. An jenen drei Flüſſen wimmelt es davon,
und ſelbſt die Indianer machten uns auf die rätſelhafte Er-
ſcheinung aufmerkſam und ließen uns über deren Urſachen
nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten
wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos
an der braſilianiſchen Grenze; allein dieſe Erleichterung unſerer
Lage war von kurzer Dauer, und unſere Leiden begannen von
neuem, ſobald wir in den Caſſiquiare kamen. In Esmeralda,
am öſtlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern
bekannte Welt ein Ende hat, ſind die Moskitowolken faſt ſo
dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden
wir einen alten Miſſionär, der mit jammervoller Miene gegen
uns äußerte, er habe ſeine 20 Moskitojahre auf dem
Rücken
(ya tengo mis veinte años de mosquitos). Er
forderte uns auf, ſeine Beine genau zu betrachten, damit wir
eines Tages „por alla” (über dem Meer) davon zu ſagen
[147] wüßten, was die armen Miſſionäre in den Wäldern am Caſ-
ſiquiare auszuſtehen haben. Da jeder Stich einen kleinen
ſchwarzbraunen Punkt zurückläßt, waren ſeine Beine der-
geſtalt gefleckt, daß man vor Flecken geronnenen Blutes kaum
die weiße Haut ſah. Auf dem Caſſiquiare, der weißes
Waſſer
hat, wimmelt es von Mücken aus der Gattung
Simulium, aber die Zancudos, der Gattung Culex ange-
hörig, ſind deſto ſeltener; man ſieht faſt keine, während auf
den Flüſſen mit ſchwarzem Waſſer meiſt einige Zancudos,
aber keine Moskiten vorkommen. Wir haben ſchon oben
bemerkt, daß wenn bei den kleinen Revolutionen im Schoße
des Ordens der Obſervanten der Pater Guardian ſich an einem
Laienbruder rächen will, er ihn nach Esmeralda ſchickt; er
wird damit verbannt oder, wie der muntere Ausdruck der
Ordensleute lautet, zu den Moskiten verurteilt.


Ich habe hier nach meinen eigenen Beobachtungen gezeigt,
daß in dieſem Labyrinth weißer und ſchwarzer Waſſer die
geographiſche Verteilung der giftigen Inſekten eine ſehr un-
gleichförmige iſt. Es wäre zu wünſchen, daß ein tüchtiger
Entomolog an Ort und Stelle die ſpezifiſchen Unterſchiede
dieſer bösartigen Inſekten, die trotz ihrer Kleinheit in der
heißen Zone eine bedeutende Rolle im Haushalte der Natur
ſpielen, beobachten könnte. Sehr merkwürdig ſchien uns der
Umſtand, der auch allen Miſſionären wohlbekannt iſt, daß die
verſchiedenen Arten nicht untereinander fliegen und daß man
zu verſchiedenen Tagesſtunden immer wieder von anderen Arten
geſtochen wird. So oft die Szene wechſelt und ehe, nach
dem naiven Ausdruck der Miſſionäre, andere Inſekten „auf
die Wache ziehen“, hat man ein paar Minuten, oft eine
Viertelſtunde Ruhe. Nach dem Abzug der einen Inſekten
ſind die Nachfolger nicht ſogleich in gleicher Menge zur Stelle.
Von 6½ Uhr morgens bis 5 Uhr abends wimmelt die Luft
von Moskiten, die nicht, wie in manchen Reiſebeſchreibungen
zu leſen iſt, unſeren Schnaken, 1 ſondern vielmehr einer kleinen
Mücke gleichen. Es ſind dies Arten der Gattung Simulium
aus der Familie der Nemoceren nach Latreilles Syſtem. Ihr
Stich hinterläßt einen kleinen braunroten Punkt, weil da,
[148] wo der Rüſſel die Haut durchbohrt hat, Blut ausgetreten und
geronnen iſt. Eine Stunde vor Sonnenuntergang werden die
Moskiten von einer kleinen Schnakenart abgelöſt, Tempra-
neros 1 genannt, weil ſie ſich auch bei Sonnenaufgang zeigen;
ſie bleiben kaum anderthalb Stunden und verſchwinden zwi-
ſchen 6 und 7 Uhr abends oder, wie man hier ſagt, nach
dem Angelus (a la oracion). Nach einigen Minuten Ruhe
fühlt man die Stiche der Zancudos, einer anderen
Schnakenart (Culex) mit ſehr langen Füßen. Der Zancudo,
deſſen Rüſſel eine ſtechende Saugröhre enthält, verurſacht die
heftigſten Schmerzen, und die Geſchwulſt, die dem Stiche folgt,
hält mehrere Wochen an; ſein Sumſen gleicht dem unſerer
europäiſchen Schnaken, nur iſt es ſtärker und anhaltender.
Die Indianer wollen Zancudos und Tempraneros „am
Geſang“ unterſcheiden können; letztere ſind wahre Dämme-
rungsinſekten
, während die Zancudos meiſt Nacht-
inſekten
ſind und mit Sonnenaufgang verſchwinden.


Auf der Reiſe von Cartagena nach Santa Fé de Bogota
machten wir die Beobachtung, daß zwiſchen Mompox und
Honda im Thal des großen Magdalenenfluſſes die Zancudos
zwiſchen 8 Uhr abends und Mitternacht die Luft verfinſtern,
gegen Mitternacht abnehmen, ſich 3, 4 Stunden lang ver-
kriechen und endlich gegen 4 Uhr morgens in Menge und
voll Heißhunger wieder erſcheinen. Welches iſt die Urſache
dieſes Wechſels von Bewegung und Ruhe? Werden die Tiere
vom langen Fliegen müde? Am Orinoko ſieht man bei Tag
ſehr ſelten wahre Schnaken, während man auf dem Magda-
lenenſtrom Tag und Nacht von ihnen geſtochen wird, nur
nicht von Mittag bis 2 Uhr. Ohne Zweifel ſind die Zan-
cudos beider Flüſſe verſchiedene Arten; werden etwa die zu-
ſammengeſetzten Augen der einen Art vom Sonnenlicht mehr
angegriffen als die der anderen?


Wir haben geſehen, daß die tropiſchen Inſekten in den
Zeitpunkten ihres Auftretens und Verſchwindens überall einen
gewiſſen Typus befolgen. In derſelben Jahreszeit und unter
derſelben Breite erhält die Luft zu beſtimmten, nie wechſeln-
den Stunden immer wieder eine andere Bevölkerung; und in
einem Erdſtrich, wo der Barometer zu einer Uhr wird, 2 wo
[149] alles mit ſo bewundernswürdiger Regelmäßigkeit aufeinander
folgt, könnte man beinahe am Sumſen der Inſekten und an
den Stichen, die je nach der Art des Giftes, das jedes In-
ſekt in der Wunde zurückläßt, wieder anders ſchmerzen, Tag
und Nacht mit verbundenen Augen erraten, welche Zeit es iſt.


Zur Zeit, da die Tier- und Pflanzengeographie noch
keine Wiſſenſchaft war, warf man häufig verwandte Arten
aus verſchiedenen Himmelsſtrichen zuſammen. In Japan, auf
dem Rücken der Anden und an der Magelhaensſchen Meerenge
glaubte man die Fichten und die Ranunkeln, die Hirſche, Ratten
und Schnaken des nördlichen Europa wiederzufinden. Hoch-
verdiente, berühmte Naturforſcher glaubten, der Maringuin
der heißen Zone ſei die Schnake unſerer Sümpfe, nur kräf-
tiger, gefräßiger, ſchädlicher infolge des heißen Klimas; dies
iſt aber ein großer Irrtum. Ich habe die Zancudos, von
denen man am ärgſten gequält wird, an Ort und Stelle ſorg-
fältig unterſucht und beſchrieben. Im Magdalenenfluß und
im Guayaquil gibt es allein fünf ganz verſchiedene Arten.


Die Culexarten in Südamerika ſind meiſt geflügelt,
Bruſtſtück und Füße ſind blau, geringelt, mit metalliſch glän-
zenden Flecken und daher ſchillernd. Hier wie in Europa
ſind die Männchen, die ſich durch ihre gefiederten Fühlhörner
auszeichnen, ſehr ſelten; man wird faſt immer nur von
Weibchen geſtochen. Aus dem großen Uebergewicht dieſes
Geſchlechtes erklärt ſich die ungeheure Vermehrung der Art,
da jedes Weibchen mehrere hundert Eier legt. Fährt man
einen der großen amerikaniſchen Ströme hinauf, ſo bemerkt
man, daß ſich aus dem Auftreten einer neuen Culexart ſchließen
läßt, daß bald wieder ein Nebenfluß hereinkommt. Ich führe
ein Beiſpiel dieſer merkwürdigen Erſcheinung an. Den Culex
lineatus,
deſſen Heimat der Caño Tamalameque iſt, trifft
man im Thal des Magdalenenſtroms nur bis auf 4,5 km
nördlich vom Zuſammenfluß der beiden Gewäſſer an; derſelbe
geht den großen Strom hinauf, aber nicht hinab; in ähnlicher
Weiſe verkündigt in einem Hauptgang das Auftreten einer
neuen Subſtanz in der Gangmaſſe dem Bergmann die Nähe
eines ſekundären Ganges, der ſich mit jenem verbindet.


Faſſen wir die hier mitgeteilten Beobachtungen zuſammen,
ſo ſehen wir, daß unter den Tropen die Moskiten und Ma-
ringuine am Abhang der Kordilleren 1 nicht in die gemäßigte
[150] Region hinaufgehen, wo die mittlere Temperatur weniger als
19 bis 20° beträgt; 1 daß ſie mit wenigen Ausnahmen die
ſchwarzen Gewäſſer und trockene, baumloſe Landſtriche
meiden. Am oberen Orinoko finden ſie ſich weit maſſenhafter
als am unteren, weil dort der Strom an ſeinen Ufern dicht
bewaldet iſt und kein weiter kahler Uferſtrich zwiſchen dem
Fluß und dem Waldſaum liegt. Mit dem Seichterwerden
der Gewäſſer und der Ausrodung der Wälder nehmen die
Moskiten auf dem neuen Kontinent ab; aber alle dieſe Mo-
mente ſind in ihren Wirkungen ſo langſam als die Fortſchritte
des Anbaues. Die Städte Angoſtura, Nueva Barcelona und
Mompox, wo ſchlechte Polizei auf den Straßen, den Plätzen
und in den Höfen der Häuſer das Buſchwerk wuchern läßt,
ſind wegen der Menge ihrer Zancudos in trauriger Weiſe
vielberufen.


Alle im Lande Geborenen, Weiße, Mulatten, Neger,
Indianer, haben vom Inſektenſtich zu leiden; wie aber der
Norden Europas trotz des Froſtes nicht unbewohnbar iſt, ſo
hindern auch die Moskiten den Menſchen nicht, ſich in Län-
dern, welche ſtark davon heimgeſucht ſind, niederzulaſſen, wenn
anders durch die Lage und Regierungsweiſe die Verhältniſſe
für Handel und Gewerbfleiß günſtige ſind. Die Leute klagen
ihr Leben lang de la plaga, del insufrible tormento de las
moscas;
aber trotz dieſes beſtändigen Jammerns ziehen ſie
doch und zwar mit einer gewiſſen Vorliebe, in die Handels-
ſtädte Angoſtura, Santa Marta und Rio la Hacha. So
ſehr gewöhnt man ſich an ein Uebel, das man zu jeder Tages-
ſtunde zu erdulden hat, daß die drei Miſſionen San Borja,
Atures und Esmeralda, wo es nach dem hyperboliſchen Aus-
druck der Mönche „mehr Mücken als Luft“ gibt (mas moscas
que ayre
), unzweifelhaft blühende Städte würden, wenn der
Orinoko den Koloniſten zum Austauſch der Produkte dieſelben
Vorteile gewährte wie der Ohio und der untere Miſſiſſippi.
Wo es ſehr viele Inſekten gibt, nimmt zwar die Bevölkerung lang-
ſamer zu, aber gänzlicher Stillſtand tritt deshalb doch nicht ein;
1
[151] die Weißen laſſen ſich aus dieſem Grunde nur da nicht nieder,
wo bei den kommerziellen und politiſchen Verhältniſſen des
Landes kein erklecklicher Vorteil in Ausſicht ſteht.


Ich habe anderswo in dieſem Werke des merkwürdigen
Umſtandes Erwähnung gethan, daß die in der heißen Zone
geborenen Weißen barfuß ungeſtraft in demſelben Zimmer
herumgehen, in dem ein friſch angekommener Europäer Ge-
fahr läuft, Niguas oder Chiques, Sandflöhe (Pulex
penetrans
), zu bekommen. Dieſe kaum ſichtbaren Tiere graben
ſich unter die Zehennägel ein und werden, bei der raſchen
Entwickelung der in einem eigenen Sack am Bauche des In-
ſektes liegenden Eier, ſo groß wie eine kleine Erbſe. Die
Nigua unterſcheidet alſo, was die feinſte chemiſche Analyſe
nicht vermöchte, Zellgewebe und Blut eines Europäers von
dem eines weißen Kreolen. Anders bei den Stechfliegen.
Trotz allem, was man darüber an den Küſten von Süd-
amerika hört, fallen dieſe Inſekten die Eingeborenen ſo gut
an wie die Europäer; nur die Folgen des Stichs ſind bei
beiden Menſchenraſſen verſchieden. Dieſelbe giftige Flüſſigkeit,
in die Haut eines kupferfarbigen Menſchen von indianiſcher
Raſſe und eines friſch angekommenen Weißen gebracht, bringt
beim erſteren keine Geſchwulſt hervor, beim letzteren dagegen
harte, ſtark entzündete Beulen, die mehrere Tage ſchmerzen.
So verſchieden reagiert das Hautſyſtem, je nachdem die Organe
bei dieſer oder jener Raſſe, bei dieſem oder jenem Individuum
mehr oder weniger reizbar ſind.


Ich gebe hier mehrere Beobachtungen, aus denen klar
hervorgeht, daß die Indianer, überhaupt alle Farbigen, ſo
gut wie die Weißen Schmerz empfinden, wenn auch vielleicht
in geringerem Grade. Bei Tage, ſelbſt während des Ruderns,
ſchlagen ſich die Indianer beſtändig mit der flachen Hand
heftig auf den Leib, um die Inſekten zu verſcheuchen. Im
Schlaf ſchlagen ſie, ungeſtüm in allen ihren Bewegungen, auf
ſich und ihre Schlafkameraden, wie es kommt. Bei ihren
derben Hieben denkt man an das perſiſche Märchen vom
Bären, der mit ſeiner Tatze die Fliegen auf der Stirn ſeines
Herrn totſchlägt. Bei Maypures ſahen wir junge Indianer
im Kreiſe ſitzen und mit am Feuer getrockneter Baumrinde
einander grauſam den Rücken zerreiben. Mit einer Geduld,
deren nur die kupferfarbige Raſſe fähig iſt, waren indianiſche
Weiber beſchäftigt, mit einem ſpitzen Knochen die kleine Maſſe
geronnenen Blutes in der Mitte jeden Stiches, die der Haut
[152] ein geflecktes Ausſehen gibt, auszuſtechen. Eines der bar-
bariſchten Völker am Orinoko, die Otomaken, kennt den Ge-
brauch der Mosquiteros (Fliegennetze), die aus den Faſern
der Murichipalme gewoben werden. Wir haben oben geſehen,
daß die Farbigen in Higuerote an der Küſte von Caracas
ſich zum Schlafen in den Sand graben. In den Dörfern
am Magdalenenfluß forderten uns die Indianer oft auf, uns
mit ihnen bei der Kirche auf der Plaza grande auf Ochſen-
häute zu legen. Man hatte daſelbſt alles Vieh aus der Um-
gegend zuſammengetrieben, denn in der Nähe desſelben findet
der Menſch ein wenig Ruhe. Wenn die Indianer am oberen
Orinoko oder am Caſſiquiare ſahen, daß Bonpland wegen
der unaufhörlichen Moskitoplage ſeine Pflanzen nicht einlegen
konnte, forderten ſie ihn auf, in ihre Hornitos (Oefen)
zu gehen. So heißen kleine Gemächer ohne Thüre und
Fenſter, in die man durch eine ganz niedrige Oeffnung auf
dem Bauche kriecht. Mittels eines Feuers von feuchtem Strauch-
werk, das viel Rauch gibt, jagt man die Inſekten hinaus und
verſchließt dann die Oeffnung des Ofens. Daß man jetzt
die Moskiten los iſt, erkauft man ziemlich teuer; denn bei der
ſtockenden Luft und dem Rauch einer Kopalfackel, die den
Ofen beleuchtet, wird es entſetzlich heiß darin. Bonpland hat
mit einem Mut und einer Geduld, die das höchſte Lob ver-
dienen, viele hundert Pflanzen in dieſen Hornitos der In-
dianer getrocknet.


Die Mühe, die ſich die Eingeborenen geben, um die
Inſektenplage zu lindern, beweiſt hinlänglich, daß der kupfer-
farbige Menſch trotz der verſchiedenen Organiſation ſeiner
Haut für die Mückenſtiche empfindlich iſt ſo gut wie der
Weiße; aber, wir wiederholen es, beim erſteren ſcheint der
Schmerz nicht ſo ſtark zu ſein und der Stich hat nicht die
Geſchwulſt zur Folge, die mehrere Wochen lang fort und fort
wiederkehrt, die Reizbarkeit der Haut ſteigert und empfindliche
Perſonen in den fieberhaften Zuſtand verſetzt, der allen Aus-
ſchlagskrankheiten eigen iſt. Die im tropiſchen Amerika ge-
borenen Weißen und die Europäer, die ſehr lange in den
Miſſionen in der Nähe der Wälder und an den großen Flüſſen
gelebt, haben weit mehr zu leiden als die Indianer, aber
unendlich weniger als friſch angekommene Europäer. Es kommt
alſo nicht, wie manche Reiſende behaupten, auf die Dicke der
Haut an, ob der Stich im Augenblick, wo man ihn erhält,
mehr oder weniger ſchmerzt, und bei den Indianern tritt
[153] nicht deshalb weniger Geſchwulſt und Entzündung ein, weil
ihre Haut eigentümlich organiſiert iſt, vielmehr hängen Grad
und Dauer des Schmerzes von der Reizbarkeit des Nerven-
ſyſtems der Haut ab. Die Reizbarkeit wird geſteigert durch
ſehr warme Bekleidung, durch den Gebrauch geiſtiger Getränke,
durch das Kratzen an den Stichwunden, endlich, und dieſe
phyſiologiſche Bemerkung beruht auf meiner eigenen Erfahrung,
durch zu häufiges Baden. An Orten, wo man in den Fluß
kann, weil keine Krokodile darin ſind, machten Bonpland und
ich die Erfahrung, daß das Baden, wenn man es übertreibt,
zwar den Schmerz der alten Schnakenſtiche linderte, aber uns
für neue Stiche weit empfindlicher machte. Badet man mehr
als zweimal täglich, ſo verſetzt man die Haut in einen Zu-
ſtand nervöſer Reizbarkeit, von dem man ſich in Europa keinen
Begriff machen kann. Es iſt einem, als zöge ſich alle Em-
pfindung in die Hautdecken.


Da die Moskiten und die Schnaken zwei Dritteile ihres
Lebens im Waſſer zubringen, ſo iſt es nicht zu verwundern,
daß in den von großen Flüſſen durchzogenen Wäldern dieſe
bösartigen Inſekten, je weiter vom Ufer weg, deſto ſeltener
werden. Sie ſcheinen ſich am liebſten an den Orten aufzu-
halten, wo ihre Verwandelung vor ſich gegangen iſt und wo
ſie ihrerſeits bald ihre Eier legen werden. Daher gewöhnen
ſich auch die wilden Indianer (Indios monteros) um ſo
ſchwerer an das Leben in den Miſſionen, da ſie in den chriſt-
lichen Niederlaſſungen eine Plage auszuſtehen haben, von der
ſie daheim im inneren Lande faſt nichts wiſſen. Man ſah in
Maypures, Atures, Esmeralda Eingeborene al monte (in die
Wälder) laufen, einzig aus Furcht vor den Moskiten. Leider
ſind gleich anfangs alle Miſſionen am Orinoko zu nahe am
Fluſſe angelegt worden. In Esmeralda verſicherten uns die
Einwohner, wenn man das Dorf auf eine der ſchönen Ebenen
um die hohen Berge des Duida und Maraguaca verlegte, ſo
könnten ſie freier atmen und fänden einige Ruhe. La nube
de moscos,
die Mückenwolke — ſo ſagen die Mönche — ſchwebt
nur über dem Orinoko und ſeinen Nebenflüſſen; die Wolke
zerteilt ſich mehr und mehr, wenn man von den Flüſſen
weggeht, und man machte ſich eine ganz falſche Vorſtellung
von Guyana und Braſilien, wenn man den großen, 1800 km
breiten Wald zwiſchen den Quellen der Madeira und dem
unteren Orinoko nach den Flußthälern beurteilte, die dadurch
hinziehen.


[154]

Man ſagte mir, die kleinen Inſekten aus der Familie
der Nemoceren wandern von Zeit zu Zeit, wie die geſellig
lebenden Affen der Gruppe der Aluaten. Man ſieht an ge-
wiſſen Orten mit dem Eintritt der Regenzeit Arten erſcheinen,
deren Stich man bis dahin nicht empfunden. Auf dem Magda-
lenenfluß erfuhren wir, in Simiti habe man früher keine
andere Culexart gekannt als den Jejen. Man hatte bei
Nacht Ruhe, weil der Jejen kein Nachtinſekt iſt. Seit dem
Jahre 1801 aber iſt die große Schnake mit blauen Flügeln
(Culex cyanopterus) in ſolchen Maſſen erſchienen, daß die
armen Einwohner von Simiti nicht wiſſen, wie ſie ſich Nacht-
ruhe verſchaffen ſollen. In den ſumpfigen Kanälen (esteros)
auf der Inſel Baru bei Cartagena lebt eine kleine weiß-
lichte Mücke, Cafaſi genannt. Sie iſt mit dem bloßen
Auge kaum ſichtbar und verurſacht doch äußerſt ſchmerzhafte
Geſchwülſte. Man muß die Toldos oder Baumwollen-
gewebe, die als Mückennetze dienen, anfeuchten, damit der
Cafaſi nicht zwiſchen den gekreuzten Fäden durchſchlüpfen
kann. Dieſes zum Glück ſonſt ziemlich ſeltene Inſekt geht
im Januar auf dem Kanal oder Dique von Mahates bis
Morales hinauf. Als wir im Mai in dieſes Dorf kamen,
trafen wir Mücken der Gattung Simulium und Zancudos an,
aber keine Jejen mehr.


Kleine Abweichungen in Nahrung und Klima ſcheinen
bei denſelben Mücken- und Schnakenarten auf die Wirkſam-
keit des Giftes, das die Tiere aus ihrem ſchneidenden und
am unteren Ende gezahnten Saugrüſſel ergießen, Einfluß zu
äußern. Am Orinoko ſind die läſtigſten oder, wie die Kreolen
ſagen, die wildeſten (los mas feroces) Inſekten die an den
großen Katarakten, in Esmeralda und Mandavaca. Im Mag-
dalenenſtrom iſt der Culex cyanopterus beſonders in Mompox,
Chilloa und Tamalameque gefürchtet. Er iſt dort größer und
ſtärker und ſeine Beine ſind ſchwärzer. Man kann ſich des
Lächelns nicht enthalten, wenn man die Miſſionäre über Größe
und Gefräßigkeit der Moskiten in verſchiedenen Strichen des-
ſelben Fluſſes ſtreiten hört. Mitten in einem Lande, wo
man gar nicht weiß, was in der übrigen Welt vorgeht, iſt
dies das Lieblingsthema der Unterhaltung. „Wie ſehr be-
daure ich Euch!“ ſagte beim Abſchied der Miſſionär aus den
Raudales zu dem am Caſſiquiare. „Ihr ſeid allein wie ich
in dieſem Lande der Tiger und der Affen; Fiſche gibt es
hier noch weniger, und heißer iſt es auch; was aber meine
[155] Mücken (mis moscas) anbelangt, ſo darf ich mich rühmen,
daß ich mit einer von den meinen drei von den Euren ſchlage.“


Dieſe Gefräßigkeit der Inſekten an gewiſſen Orten, dieſe
Blutgier, womit ſie den Menſchen anfallen, 1 die ungleiche
Wirkſamkeit des Giftes bei derſelben Art ſind ſehr merk-
würdige Erſcheinungen; es ſtellen ſich ihnen jedoch andere
aus den Klaſſen der großen Tiere zur Seite. In Angoſtura
greift das Krokodil den Menſchen an, während man in Nueva
Barcelona im Rio Neveri mitten unter dieſen fleiſchfreſſenden
Reptilien ruhig badet. Die Jaguare in Maturin, Cuma-
nacoa und auf der Landenge von Panama ſind feig denen
am oberen Orinoko gegenüber. Die Indianer wiſſen recht
gut, daß die Affen aus dieſem und jenem Thale leicht zu
zähmen ſind, während Individuen derſelben Art, die man
anderswo fängt, lieber Hungers ſterben, als ſich in die Ge-
fangenſchaft ergeben.


Das Volk in Amerika hat ſich hinſichtlich der Geſundheit
der Gegenden und der Krankheitserſcheinungen Syſteme ge-
bildet, ganz wie die Gelehrten in Europa, und dieſe Syſteme
widerſprechen ſich, gleichfalls wie bei uns, in den verſchiedenen
Provinzen, in die der neue Kontinent zerfällt, ganz und gar.
Am Magdalenenfluß findet man die vielen Moskiten läſtig,
aber ſie gelten für ſehr geſund. „Dieſe Tiere,“ ſagen die
Leute, „machen uns kleine Aderläſſe und ſchützen uns in
einem ſo furchtbar heißen Land vor dem Tabardillo, dem
Scharlachfieber, und anderen entzündlichen Krankheiten.“ Am
Orinoko, deſſen Ufer höchſt ungeſund ſind, ſchreiben die Kranken
alle ihre Leiden den Moskiten zu. „Dieſe Inſekten entſtehen
aus der Fäulnis und vermehren ſie; ſie entzünden das Blut
(vician y incienden el sangre).“ Der Volksglaube, als
wirkten die Moskiten durch örtliche Blutentziehung heilſam,
braucht hier nicht widerlegt zu werden. Sogar in Europa
wiſſen die Bewohner ſumpfiger Länder gar wohl, daß die
Inſekten das Hautſyſtem reizen und durch das Gift, das ſie
in die Wunden bringen, die Funktionen desſelben ſteigern.
[156] Durch die Stiche wird der entzündliche Zuſtand der Haut-
bedeckung nicht nur nicht vermindert, ſondern geſteigert.


Die Menge der Schnaken und Mücken deutet nur inſo-
fern auf die Ungeſundheit einer Gegend hin, als Entwicke-
lung und Vermehrung dieſer Inſekten von denſelben Urſachen
abhängen, aus denen Miasmen entſtehen. Dieſe läſtigen
Tiere lieben einen fruchtbaren, mit Pflanzen bewachſenen
Boden, ſtehendes Waſſer, eine feuchte, niemals vom Winde
bewegte Luft; ſtatt freier Gegend ſuchen ſie den Schatten auf,
das Halbdunkel, den mitteren Grad von Licht, Wärmeſtoff
und Feuchtigkeit, der dem Spiel chemiſcher Affinitäten Vor-
ſchub leiſtet und damit die Fäulnis organiſcher Subſtanzen
beſchleunigt. Tragen die Moskiten an ſich zur Ungeſundheit
der Luft bei? Bedenkt man, das bis auf 5 bis 8 m vom
Boden im Kubikfuß Luft häufig eine Million geflügelter
Inſekten 1 enthalten iſt, die eine ätzende, giftige Flüſſigkeit bei
ſich führen; daß mehrere Culexarten vom Kopf bis zum Ende
des Bruſtſtücks (die Füße ungerechnet) an 4 mm lang ſind;
endlich daß in dem Schnaken- und Mückenſchwarm, der wie
ein Rauch die Luft erfüllt, ſich eine Menge toter Inſekten
befinden, die durch den aufſteigenden Luftſtrom oder durch
ſeitliche, durch die ungleiche Erwärmung des Bodens erzeugte
Ströme fortgeriſſen werden, ſo fragt man ſich, ob eine ſolche
Anhäufung von tieriſchen Stoffen in der Luft nicht zur ört-
lichen Bildung von Miasmen Anlaß geben muß? Ich glaube,
dieſe Subſtanzen wirken anders auf die Luft als Sand und
Staub; man wird aber gut thun, in dieſer Beziehung keine
Behauptung aufzuſtellen. Von den vielen Rätſeln, welche das
Ungeſundſein der Luft uns aufgibt, hat die Chemie noch keines
gelöſt; ſie hat uns nur ſo viel gelehrt, daß wir gar vieles
nicht wiſſen, was wir vor 15 Jahren dank den ſinnreichen
Träumen der alten Eudiometrie zu wiſſen meinten.


Nicht ſo ungewiß und faſt durch tägliche Erfahrungen
beſtätigt iſt der Umſtand, daß am Orinoko, am Caſſiquiare,
am Rio Caura, überall, wo die Luft ſehr ungeſund iſt, der
Stich der Moskiten die Dispoſition der Organe zur Aufnahme
der Miasmen ſteigert. Wenn man monatelang Tag und
Nacht von den Inſekten gepeinigt wird, ſo erzeugt der be-
ſtändige Hautreiz fieberhafte Aufregung und ſchwächt, infolge
[157] des ſchon frühe erkannten Antagonismus zwiſchen dem gaſtri-
ſchen und dem Hautſyſtem, die Verrichtung des Magens.
Man fängt an ſchwer zu verdauen, die Entzündung der Haut
veranlaßt profuſe Schweiße, den Durſt kann man nicht löſchen,
und auf die beſtändig zunehmende Unruhe folgt bei Perſonen
von ſchwacher Konſtitution eine geiſtige Niedergeſchlagenheit,
in der alle pathogeniſchen Urſachen ſehr heftig einwirken.
Gegenwärtig ſind es nicht mehr die Gefahren der Schiffahrt
in kleinen Kanoen, nicht die wilden Indianer oder die Schlangen,
die Krokodile oder die Jaguare, was den Spaniern die Reiſe
auf dem Orinoko bedenklich macht, ſondern nur, wie ſie naiv
ſich ausdrücken, „el sudar y las moscas” (der Schweiß und
die Mücken). Es iſt zu hoffen, daß der Menſch, indem er
die Bodenfläche umgeſtaltet, damit auch die Beſchaffenheit der
Luft allmählich umändert. Die Inſekten werden ſich ver-
mindern, wenn einmal die alten Bäume im Walde verſchwun-
den ſind und man in dieſen öden Ländern die Stromufer
mit Dörfern beſetzt, die Ebenen mit Weiden und Fruchtfeldern
bedeckt ſieht.


Wer lange in von Moskiten heimgeſuchten Ländern ge-
lebt hat, wird gleich uns die Erfahrung gemacht haben, daß
es gegen die Inſektenplage kein Radikalmittel gibt. Die mit
Onoto, Bolus oder Schildkrötenfett beſchmierten Indianer
klatſchten ſich jeden Augenblick mit der flachen Hand auf
Schultern, Rücken und Beine, ungefähr wie wenn ſie gar
nicht bemalt wären. Es iſt überhaupt zweifelhaft, ob das
Bemalen Erleichterung verſchafft; ſo viel iſt aber gewiß, daß
es nicht ſchützt. Die Europäer, die eben erſt an den Ori-
noko, den Magdalenenſtrom, den Guayaquil oder den Rio
Chagre kommen (ich nenne hier die vier Flüſſe, wo die In-
ſekten am furchtbarſten ſind), bedecken ſich zuerſt Geſicht und
Hände; bald aber fühlen ſie eine unerträgliche Hitze, die Lange-
weile, da ſie gar nichts thun können, drückt ſie nieder, und
am Ende laſſen ſie Geſicht und Hände frei. Wer bei der
Flußſchiffahrt auf jede Beſchäftigung verzichten wollte, könnte
aus Europa eine eigens verfertigte, ſackförmige Kleidung mit-
bringen, in die er ſich ſteckte und die er nur alle halbe Stunden
aufmachte; der Sack müßte durch Fiſchbeinreife ausgeſpannt
ſein, denn eine bloße Maske und Handſchuhe wären nicht
zu ertragen. Da wir am Boden auf Häuten oder in Hänge-
matten lagen, hätten wir uns auf dem Orinoko der Fliegen-
netze (toldos) nicht bedienen können. Der Toldo leiſtet nur
[158] dann gute Dienſte, wenn er um das Lager ein ſo gut ge-
ſchloſſenes Zelt bildet, daß auch nicht die kleinſte Oeffnung
bleibt, durch die eine Schnake ſchlüpfen könnte. Dieſe Be-
dingung iſt aber ſchwer zu erfüllen, und gelingt es auch (wie
zum Beiſpiel bei der Bergfahrt auf dem Magdalenenſtrom,
wo man mit einiger Bequemlichkeit reiſt), ſo muß man, um
nicht vor Hitze zu erſticken, den Toldo verlaſſen und ſich in
freier Luft ergehen. Ein ſchwacher Wind, Rauch, ſtarke Ge-
rüche helfen an Orten, wo die Inſekten ſehr zahlreich und
gierig ſind, ſo gut wie nichts. Fälſchlich behauptet man, die
Tierchen fliehen vor dem eigentümlichen Geruch, den das
Krokodil verbreitet. In Bataillez auf dem Wege von Car-
tagena nach Honda wurden wir jämmerlich zerſtochen, wäh-
rend wir ein 3,5 m langes Krokodil zerlegten, das die Luft
weit umher verpeſtete. Die Indianer loben ſehr den Dunſt
von brennendem Kuhmiſt. Iſt der Wind ſehr ſtark und regnet
es dabei, ſo verſchwinden die Moskiten auf eine Weile; am
grauſamſten ſtechen ſie, wenn ein Gewitter im Anzug iſt,
beſonders wenn auf die elektriſchen Entladungen keine Regen-
güſſe folgen.


Alles, was um Kopf und Hände flattert, hilft die In-
ſekten verſcheuchen. „Je mehr ihr euch rührt, deſto weniger
werdet ihr geſtochen,“ ſagen die Miſſionäre. Der Zancudo
ſummt lange umher, ehe er ſich niederſetzt; hat er dann ein-
mal Vertrauen gefaßt, hat er einmal angefangen, ſeinen Saug-
rüſſel einzubohren und ſich voll zu ſaugen, ſo kann man ihm
die Flügel berühren, ohne daß er ſich verſcheuchen läßt. Er
ſtreckt währenddeſſen ſeine beiden Hinterfüße in die Luft, und
läßt man ihn ungeſtört ſich ſatt ſaugen, ſo bekommt man
keine Geſchwulſt, empfindet keinen Schmerz. Wir haben
dieſen Verſuch im Thale des Magdalenenſtroms nach dem
Rate der Indianer oft an uns ſelbſt gemacht. Man fragt
ſich, ob das Inſekt die reizende Flüſſigkeit erſt im Augenblick
ergießt, wo es wegfliegt, wenn man es verjagt, oder ob es
die Flüſſigkeit wieder aufpumpt, wenn man es ſaugen läßt,
ſo viel es will? Letztere Annahme ſcheint mir die wahrſchein-
lichere; denn hält man dem Culex cyanopterus ruhig den
Handrücken hin, ſo iſt der Schmerz anfangs ſehr heftig, nimmt
aber immer mehr ab, je mehr das Inſekt fortſaugt, und hört
ganz auf im Moment, wo es von ſelbſt fortfliegt. Ich habe
mich auch mit einer Nadel in die Haut geſtochen und die
Stiche mit zerdrückten Moskiten (mosquitos machucados)
[159] gerieben, es folgte aber keine Geſchwulſt darauf. Die reizende
Flüſſigkeit der Diptera Nemocera, die nach den bisherigen
chemiſchen Unterſuchungen ſich nicht wie eine Säure verhält,
iſt, wie bei den Ameiſen und anderen Hymenopteren, in
eigenen Drüſen enthalten; dieſelbe iſt wahrſcheinlich zu ſehr
verdünnt und damit zu ſchwach, wenn man die Haut mit
dem ganzen zerdrückten Tiere reibt.


Ich habe am Ende dieſes Kapitels alles zuſammen-
geſtellt, was wir auf unſeren Reiſen über Erſcheinungen in
Erfahrung bringen konnten, die bisher von der Naturforſchung
auffallend vernachläſſigt wurden, obgleich ſie auf das Wohl
der Bevölkerung, die Geſundheit der Länder und die Grün-
dung neuer Kolonieen an den Strömen des tropiſchen Amerika
von bedeutendem Einfluß ſind. Ich bedarf wohl keiner Recht-
fertigung, daß ich dieſen Gegenſtand mit einer Umſtändlichkeit
behandelt habe, die kleinlich erſcheinen könnte, fiele nicht der-
ſelbe unter einen allgemeineren phyſiologiſchen Geſichtspunkt.
Unſere Einbildungskraft wird nur vom Großen ſtark angeregt,
und ſo iſt es Sache der Naturphiloſophie, beim Kleinen zu
verweilen. Wir haben geſehen, wie geflügelte, geſellig lebende
Inſekten, die in ihrem Saugrüſſel eine die Haut reizende
Flüſſigkeit bergen, große Länder faſt unbewohnbar machen.
Andere, gleichfalls kleine Inſekten, die Termiten (Comejen),
ſetzen in mehreren heißen und gemäßigten Ländern des tro-
piſchen Erdſtriches der Entwickelung der Kultur ſchwer zu be-
ſiegende Hinderniſſe entgegen. Furchtbar raſch verzehren ſie
Papier, Pappe, Pergament; ſie zerſtören Archive und Biblio-
theken. In ganzen Provinzen von Spaniſch-Amerika gibt es
keine geſchriebene Urkunde, die hundert Jahre alt wäre. Wie
ſoll ſich die Kultur bei den Völkern entwickeln, wenn nicht
Gegenwart und Vergangenheit verknüpft, wenn man die
Niederlagen menſchlicher Kenntniſſe öfters erneuern muß, wenn
die geiſtige Errungenſchaft der Nachwelt nicht überliefert wer-
den kann?


Je weiter man gegen die Hochebene der Anden hinauf-
kommt, deſto mehr ſchwindet dieſe Plage. Dort atmet der
Menſch eine friſche, reine Luft, und die Inſekten ſtören nicht
mehr Tagesarbeit und Nachtruhe. Dort kann man Urkunden
in Archiven niederlegen ohne Furcht vor gefährlichen Ter-
miten. In 390 m Meereshöhe fürchtet man die Mücken nicht
mehr; die Termiten ſind in 580 m Höhe ſehr häufig, aber
in Mexiko, Santa Fé de Bogota und Quito kommen ſie ſelten
[160] vor. In dieſen großen Hauptſtädten auf dem Rücken der
Kordilleren findet man Bibliotheken und Archive, die ſich durch
die Teilnahme gebildeter Bewohner täglich vermehren. Zu
dieſen Verhältniſſen, die ich hier nur flüchtig berühre, kommen
andere, welche der Alpenregion das moraliſche Uebergewicht
über die niederen Regionen des heißen Erdſtrichs ſichern.
Nimmt man nach den uralten Ueberlieferungen in beiden
Welten an, infolge der Erdumwälzungen, die der Erneuerung
unſeres Geſchlechts vorangegangen, ſei der Menſch von den
Gebirgen in die Niederungen herabgeſtiegen, ſo läßt ſich noch
weit beſtimmter annehmen, daß dieſe Berge, die Wiege ſo
vieler und ſo verſchiedener Völker, in der heißen Zone für
alle Zeit der Mittelpunkt der Geſittung bleiben werden. Von
dieſen fruchtbaren, gemäßigten Hochebenen, von dieſen Inſeln
im Ozean der Luft, werden ſich Aufklärung und der Segen
geſellſchaftlicher Einrichtungen über die unermeßlichen Wälder
am Fuße der Anden verbreiten, die jetzt noch von Stämmen
bewohnt ſind, welche eben die Fülle der Natur in Trägheit
niedergehalten hat.


[[161]]

Einundzwanzigſtes Kapitel.


Der Raudal von Garcita. — Maypures. — Die Katarakte von
Quituna. — Der Einfluß des Vichada und Zama. — Der Fels
Aricagua. — Siquita.


Unſere Piroge lag im Puerto de Arriba, oberhalb
des Katarakts von Atures, dem Einfluß des Rio Cataniapo
gegenüber; wir brachen dahin auf. Auf dem ſchmalen Wege,
der zum Landungsplatze führt, ſahen wir den Pik Uniana
zum letztenmal. Er erſchien wie eine über dem Horizont der
Ebenen aufſteigende Wolke. Die Guahibosindianer ziehen
am Fuße dieſer Gebirge umher und gehen bis zum Rio
Vichada. Man zeigte uns von weitem rechts vom Fluſſe die
Felſen bei der Höhle von Ataruipe; wir hatten aber nicht
Zeit, dieſe Grabſtätte des ausgeſtorbenen Stammes der Atures
zu beſuchen. Wir bedauerten dies um ſo mehr, da Pater
Zea nicht müde wurde, uns von den mit Onoto bemalten
Skeletten in der Höhle, von den großen Gefäßen aus ge-
brannter Erde, in welchen je die Gebeine einer Familie zu
liegen ſcheinen, und von vielen anderen merkwürdigen Dingen
zu erzählen, ſo daß wir uns vornahmen, dieſelben auf der
Rückreiſe vom Rio Negro in Augenſchein zu nehmen. „Sie
werden es kaum glauben,“ ſagte der Miſſionär, „daß dieſe
Gerippe, dieſe bemalten Töpfe, dieſe Dinge, von denen wir
meinten, kein Menſch in der Welt wiſſe davon, mir und meinem
Nachbar, dem Miſſionär von Carichana, Unglück gebracht
haben. Sie haben geſehen, wie elend ich in den Raudales
lebe, von den Moskiten gefreſſen, oft nicht einmal Bananen
und Maniok im Hauſe! Und dennoch habe ich Neider in
dieſem Lande gefunden. Ein Weißer, der auf den Weiden
zwiſchen dem Meta und dem Apure lebt, hat kürzlich der
Audiencia in Caracas die Anzeige gemacht, ich habe einen
Schatz, den ich mit dem Miſſionär von Carichana gefunden,
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 11
[162] unter den Gräbern der Indianer verſteckt. Man behauptet,
die Jeſuiten in Santa Fé de Bogota haben zum voraus ge-
wußt, daß die Geſellſchaft werde aufgehoben werden; da haben
ſie ihr Geld und ihre koſtbaren Gefäße beiſeite ſchaffen wollen
und dieſelben auf dem Rio Meta oder auf dem Vichada an
den Orinoko geſchickt, mit dem Befehl, ſie auf den Inſeln
mitten in den Raudales zu verſtecken. Dieſen Schatz nun ſoll
ich ohne Wiſſen meiner Oberen mir zugeeignet haben. Die
Audiencia von Caracas führte beim Statthalter von Guyana
Klage, und wir erhielten Befehl, perſönlich zu erſcheinen. Wir
mußten ganz umſonſt eine Reiſe von 675 km machen, und es
half nichts, daß wir erklärten, wir haben in den Höhlen nichts
gefunden als Menſchengebeine, Marder und vertrocknete Fleder-
mäuſe; man ernannte mit großer Wichtigkeit Kommiſſäre, die
ſich hierher begeben und an Ort und Stelle inſpizieren ſollen,
was noch vom Schatze der Jeſuiten vorhanden ſei. Aber wir
können lange auf die Kommiſſäre warten. Wenn ſie auf dem
Orinoko bis San Borja heraufkommen, werden ſie vor den
Moskiten Angſt bekommen und nicht weiter gehen. In der
Mückenwolke (nube de moscas), in der wir in den Raudales
ſtecken, iſt man gut geborgen.“


Dieſe Geſchichte des Miſſionärs wurde uns ſpäter in
Angoſtura aus dem Munde des Statthalters vollkommen be-
ſtätigt. Zufällige Umſtände geben zu den ſeltſamſten Ver-
mutungen Anlaß. In den Höhlen, wo die Mumien und
Skelette der Atures liegen, ja mitten in den Katarakten, auf
den unzugänglichſten Inſeln fanden die Indianer vor langer
Zeit eiſenbeſchlagene Kiſten mit verſchiedenen europäiſchen
Werkzeugen, Reſten von Kleidungsſtücken, Roſenkränzen und
Glaswaren. Man vermutete, die Gegenſtände haben portu-
gieſiſchen Handelsleuten vom Rio Negro und Gran-Para an-
gehört, die vor der Niederlaſſung der Jeſuiten am Orinoko
über Trageplätze und die Flußverbindungen im Inneren nach
Atures heraufkamen und mit den Eingeborenen Handel trieben.
Die Portugieſen, glaubte man, ſeien den Seuchen, die in den
Raudales ſo häufig ſind, erlegen und ihre Kiſten den In-
dianern in die Hände gefallen, die, wenn ſie wohlhabend ſind,
ſich mit dem Koſtbarſten, was ſie im Leben beſaßen, beerdigen
laſſen. Nach dieſen zweifelhaften Geſchichten wurde das Märchen
von einem verſteckten Schatze geſchmiedet. Wie in den Anden
von Quito jedes in Trümmern liegende Bauwerk, ſogar die
Grundmauern der Pyramiden, welche die franzöſiſchen Aka-
[163] demiker bei der Meſſung des Meridians errichtet, für ein
Inca pilca, das heißt für ein Werk des Inka gilt, ſo kann
am Orinoko jeder verborgene Schatz nur einem Orden gehört
haben, der ohne Zweifel die Miſſionen beſſer verwaltet hat,
als Kapuziner und Obſervanten, deſſen Reichtum und deſſen
Verdienſte um die Civiliſation der Indianer aber ſehr über-
trieben worden ſind. Als die Jeſuiten in Santa Fé ver-
haftet wurden, fand man bei ihnen keineswegs die Haufen
von Piaſtern, die Smaragde von Muzo, die Goldbarren von
Choco, die ſie den Widerſachern der Geſellſchaft zufolge be-
ſitzen ſollten. Man zog daraus den falſchen Schluß, die
Schätze ſeien allerdings vorhanden geweſen, aber treuen In-
dianern überantwortet und in den Katarakten des Orinoko bis
zur einſtigen Wiederherſtellung des Ordens verſteckt worden.
Ich kann ein achtbares Zeugnis beibringen, aus dem un-
zweifelhaft hervorgeht, daß der Vizekönig von Neugranada
die Jeſuiten vor der ihnen drohenden Gefahr nicht gewarnt
hatte. Don Vincente Orosco, ein ſpaniſcher Genieoffizier,
erzählte mir in Angoſtura, er habe mit Don Manuel Cen-
turion den Auftrag gehabt, die Miſſionäre in Carichana zu
verhaften, und dabei ſei ihnen eine indianiſche Piroge be-
gegnet, die den Rio Meta herabkam. Da dieſes Fahrzeug
mit Indianern bemannt war, die keine der Landesſprachen
verſtanden, ſo erregte ſein Erſcheinen Verdacht. Nach langem
fruchtloſen Suchen fand man eine Flaſche mit einem Briefe,
in dem der in Santa Fé reſidierende Superior der Geſell-
ſchaft die Miſſionäre am Orinoko von den Verfolgungen be-
nachrichtigte, welche die Jeſuiten in Neugranada zu erleiden
gehabt. Der Brief forderte zu keinerlei Vorſichtsmaßregeln
auf; er war kurz, unzweideutig und voll Reſpekt vor der Re-
gierung, deren Befehle mit unnötiger, unvernünftiger Strenge
vollzogen wurden.


Acht Indianer von Atures hatten unſere Piroge durch
die Raudales geſchafft; ſie ſchienen mit dem mäßigen Lohne,
der ihnen gereicht wurde,1 gar wohl zufrieden. Das Geſchäft
bringt ihnen wenig ein, und um einen richtigen Begriff von
den jämmerlichen Zuſtänden und dem Daniederliegen des
Handels in den Miſſionen am Orinoko zu geben, merke ich
hier an, daß der Miſſionär in drei Jahren, außer den Fahr-
zeugen, welche der Kommandant von San Carlos am Rio
[164] Negro jährlich nach Angoſtura ſchickt, um die Löhnung der
Truppen zu holen, nicht mehr als fünf Pirogen vom oberen
Orinoko, die zur Schildkröteneierernte fuhren, und acht mit
Handelsgut beladene Kanoen ſah.


Am 17. April. Nach dreiſtündigem Marſche kamen wir
gegen 11 Uhr morgens bei unſerem Fahrzeuge an. Pater
Zea ließ mit unſeren Inſtrumenten den wenigen Mundvorrat
einſchiffen, den man für die Reiſe, die er mit uns fortſetzen
ſollte, hatte auftreiben können: ein paar Bananenbüſchel,
Maniok und Hühner. Dicht am Landungsplatze fuhren wir
am Einfluſſe des Cataniapo vorbei, eines kleinen Fluſſes, an
deſſen Ufern, drei Tagereiſen weit, die Macos oder Piaroas
hauſen, die zur großen Familie der Salivas-Völker gehören.
Wir haben oben Gelegenheit gehabt, ihre Gutmütigkeit und
ihre Neigung zur Landwirtſchaft zu rühmen.


Im Weiterfahren fanden wir den Orinoko frei von Klippen,
und nach einigen Stunden gingen wir über den Raudal von
Garcita, deſſen Stromſchnellen bei Hochwaſſer leicht zu über-
winden ſind. Im Oſten kommt die kleine Bergkette Cuma-
daminari zum Vorſchein, die aus Gneis, nicht aus geſchich-
tetem Granit beſteht. Auffallend war uns eine Reihe großer
Löcher mehr als 58 m über dem jetzigen Spiegel des Orinoko,
die dennoch vom Waſſer ausgewaſchen ſcheinen. Wir werden
ſpäter ſehen, daß dieſe Erſcheinung beinahe in derſelben Höhe
an den Felſen neben den Katarakten von Maypures und
225 km gegen Oſt beim Einfluſſe des Rio Jao vorkommt.
Wir übernachteten im Freien am linken Stromufer unterhalb
der Inſel Tomo. Die Nacht war ſchön und hell, aber die
Moskitoſchicht nahe am Boden ſo dick, daß ich mit dem
Nivellement des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden
konnte und um die Sternbeobachtung kam. Ein Queckſilber-
horizont wäre mir auf dieſer Reiſe von großem Nutzen ge-
weſen.


Am 18. April. Wir brachen um 3 Uhr morgens auf,
um deſto ſicherer vor Einbruch der Nacht den unter dem Namen
Raudal de Guahibos bekannten Katarakt zu erreichen. Wir
legten am Einfluſſe des Rio Tomo an; die Indianer lagerten
ſich am Ufer, um ihr Eſſen zu bereiten und ein wenig zu
ruhen. Es war gegen 5 Uhr abends, als wir vor dem Raudal
ankamen. Es war keine geringe Aufgabe, die Strömung
hinaufzukommen und eine Waſſermaſſe zu überwinden, die ſich
von einer mehrere Fuß hohen Gneisbank ſtürzt. Ein Indianer
[165] ſchwamm auf den Fels zu, der den Fall in zwei Hälften teilt;
man band ein Seil an die Spitze desſelben, und nachdem
man die Piroge nahe genug hingezogen, ſchiffte man mitten
im Raudal unſere Inſtrumente, unſere getrockneten Pflanzen
und die wenigen Lebensmittel, die wir in Atures hatten auf-
treiben können, aus. Zu unſerer Ueberraſchung ſahen wir,
daß auf dem natürlichen Wehre, über das ſich der Strom
ſtürzt, ein beträchtliches Stück Boden trocken liegt. Hier blieben
wir ſtehen und ſahen unſere Pirogue heraufſchaffen.


Der Gneisfels hat kreisrunde Löcher, von denen die
größten 1,3 m tief und 48 cm weit ſind. In dieſen Trichtern
liegen Quarzkieſel und ſie ſcheinen durch die Reibung vom
Waſſer umhergerollter Körper entſtanden zu ſein. Unſer Stand-
punkt mitten im Katarakt war ſonderbar, aber durchaus nicht
gefährlich. Unſer Begleiter, der Miſſionär, bekam ſeinen
Fieberanfall. Um ihm den quälenden Durſt zu löſchen, kamen
wir auf den Einfall, ihm in einem der Felslöcher einen küh-
lenden Trank zu bereiten. Wir hatten von Atures einen
Mapire (indianiſchen Korb) mit Zucker, Citronen und Gre-
nadillen oder Früchten der Paſſionsblumen, von den Spaniern
Parchas genannt, mitgenommen. Da wir gar kein großes
Gefäß hatten, in dem man Flüſſigkeiten miſchen konnte, ſo
goß man mit einer Tutuma (Frucht der Crescentia Cujete)
Flußwaſſer in eines der Löcher und that den Zucker und den
Saft der ſauren Früchte dazu. In wenigen Augenblicken
hatten wir ein treffliches Getränke; es war das faſt eine
Schwelgerei am unwirtbaren Ort; aber der Drang des Be-
dürfniſſes machte uns von Tag zu Tag erfinderiſcher.


Nachdem wir unſeren Durſt gelöſcht, hatten wir große
Luſt zu baden. Wir unterſuchten genau den ſchmalen Fels-
damm, auf dem wir ſtanden, und bemerkten, daß er in ſeinem
oberen Teile kleine Buchten bildete, in denen das Waſſer ruhig
und klar war, und ſo badeten wir denn ganz behaglich beim
Getöſe des Katarakts und dem Geſchrei unſerer Indianer.
Ich erwähne dieſer kleinen Umſtände, einmal weil ſie unſere
Art zu reiſen lebendig ſchildern, und dann weil ſie allen,
die große Reiſen zu unternehmen gedenken, augenſcheinlich
zeigen, wie man unter allen Umſtänden im Leben ſich Genuß
verſchaffen kann.


Nach einer Stunde Harrens ſahen wir endlich die Piroge
über den Raudal heraufkommen. Man lud die Inſtrumente
und Vorräte wieder ein und wir eilten, vom Felſen der
[166] Guahibos wegzukommen. Es begann jetzt eine Fahrt, die nicht
ganz gefahrlos war. Der Fluß iſt 1560 m breit, und wir
mußten oberhalb des Katarakts ſchief darüber fahren, an einem
Punkte, wo das Waſſer, weil das Bett ſtärker fällt, dem
Wehre zu, über das es ſich ſtürzt, mit großer Gewalt hinunter-
zieht. Wir wurden von einem Gewitter überraſcht, bei dem
zum Glück kein ſtarker Wind ging, aber der Regen goß in
Strömen nieder. Man ruderte bereits ſeit zwanzig Minuten
und der Steuermann behauptete immer, ſtatt ſtroman kommen
wir wieder dem Raudal näher. Dieſe Augenblicke der Span-
nung kamen uns gewaltig lang vor. Die Indianer ſprachen
nur leiſe, wie immer, wenn ſie in einer verfänglichen Lage zu
ſein glauben. Indeſſen verdoppelten ſie ihre Anſtrengungen,
und wir langten ohne Unfall mit Einbruch der Nacht im
Hafen von Maypures an.


Die Gewitter unter den Tropen ſind ebenſo kurz als
heftig. Zwei Blitzſchläge waren ganz nahe an unſerer Piroge
gefallen, und der Blitz hatte dabei unzweifelhaft ins Waſſer
geſchlagen. Ich führe dieſen Fall an, weil man in dieſen
Ländern ziemlich allgemein glaubt, die Wolken, die auf ihrer
Oberfläche elektriſch geladen ſind, ſtehen ſo hoch, daß der Blitz
ſeltener in den Boden ſchlage als in Europa. Die Nacht
war ſehr finſter. Wir hatten noch zwei Stunden Wegs zum
Dorfe Maypures, und wir waren bis auf die Haut durch-
näßt. Wie der Regen nachließ, kamen auch die Zancudos
wieder mit dem Heißhunger, den die Schnaken nach einem
Gewitter immer zeigen. Meine Gefährten waren unſchlüſſig,
ob wir im Hafen im Freien lagern oder trotz der dunkeln
Nacht unſern Weg zu Fuß fortſetzen ſollten. Pater Zea, der
in beiden Raudales Miſſionär iſt, wollte durchaus noch nach
Hauſe kommen. Er hatte angefangen, ſich durch die Indianer
in der Miſſion ein großes Haus von zwei Stockwerken bauen
zu laſſen. „Sie finden dort,“ meinte er naiv, „dieſelbe Be-
quemlichkeit wie im Freien. Freilich habe ich weder Tiſch
noch Bank, aber Sie hätten nicht ſo viel von den Mücken zu
leiden; denn ſo unverſchämt ſind ſie in der Miſſion doch nicht
wie am Fluß.“


Wir folgten dem Rat des Miſſionärs und er ließ Ko-
palfackeln anzünden, von denen oben die Rede war, 6 mm
dicke, mit Harz gefüllte Röhren von Baumwurzeln. Wir
gingen anfangs über kahle, glatte Felsbänke, und dann kamen
wir in ſehr dichtes Palmgehölz. Zweimal mußten wir auf
[167] Baumſtämmen über einen Bach gehen. Bereits waren die
Fackeln erloſchen; dieſelben ſind wunderlich zuſammengeſetzt
(der hölzerne Docht umgibt das Harz), geben mehr Rauch
als Licht und gehen leicht aus. Unſer Gefährte, Don Nicolas
Soto, verlor das Gleichgewicht, als er auf einem runden
Stamme über den Sumpf ging. Wir waren anfangs ſehr
beſorgt um ihn, da wir nicht wußten, wie hoch er hinunter-
gefallen war. Zum Glück war der Grund nicht tief und er
hatte ſich nicht verletzt. Der indianiſche Steuermann, der ſich
ziemlich fertig auf ſpaniſch ausdrückte, ermangelte nicht, davon
zu ſprechen, daß wir leicht von Ottern, Waſſerſchlangen und
Tigern angegriffen werden könnten. Solches iſt eigentlich die
obligate Unterhaltung, wenn man nachts mit den Eingeborenen
unterwegs iſt. Die Indianer glauben, wenn ſie dem euro-
päiſchen Reiſenden Angſt einjagen, ſich notwendiger zu machen
und das Vertrauen des Fremden zu gewinnen. Der plumpſte
Burſche in den Miſſionen iſt mit den Kniffen bekannt, wie ſie
überall im Schwange ſind, wo Menſchen von ſehr verſchie-
denem Stand und Bildungsgrad miteinander verkehren. Unter
dem abſoluten und hie und da etwas quäleriſchen Regiment
der Mönche ſucht er ſeine Lage durch die kleinen Kunſtgriffe
zu verbeſſern, welche die Waffen der Kindheit und jeder phy-
ſiſchen und geiſtigen Schwäche ſind.


Da wir in der Miſſion San Joſe de Maypures
in der Nacht ankamen, fiel uns der Anblick und die Verödung
des Ortes doppelt auf. Die Indianer lagen im tiefſten Schlaf;
man hörte nichts als das Geſchrei der Nachtvögel und das
ferne Toſen des Katarakts. In der Stille der Nacht, in dieſer
tiefen Ruhe der Natur hat das eintönige Brauſen eines
Waſſerfalles etwas Niederſchlagendes, Drohendes. Wir blieben
drei Tage in Maypures, einem kleinen Dorfe, das von Don
Joſe Solano bei der Grenzexpedition gegründet wurde, und
das noch maleriſcher, man kann wohl ſagen wundervoller liegt
als Atures.


Der Raudal von Maypures, von den Indianern Qui-
tuna
genannt, entſteht, wie alle Waſſerfälle, durch den Wider-
ſtand, den der Fluß findet, indem er ſich durch einen Fels-
grat oder eine Bergkette Bahn bricht. Wer den Charakter
des Ortes kennen lernen will, den verweiſe ich auf den Plan,
den ich an Ort und Stelle aufgenommen, um dem General-
gouverneur von Caracas den Beweis zu liefern, daß ſich der
Raudal umgehen und die Schiffahrt bedeutend erleichtern
[168] ließe, wenn man zwiſchen zwei Nebenflüſſen des Orinoko, in
einem Thale, das früher das Strombett geweſen zu ſein ſcheint,
einen Kanal anlegte. Die hohen Berge Cunavami und Ca-
litamini, zwiſchen den Quellen der Flüſſe Cataniapo und
Ventuari, laufen gegen Weſt in eine Kette von Granithügeln
aus. Von dieſer Kette kommen drei Flüßchen herab, die den
Katarakt von Maypures gleichſam umfaſſen, nämlich am öſt-
lichen Ufer der Sanariapo, am weſtlichen der Cameji und
der Toparo. Dem Dorfe Maypures gegenüber ziehen ſich
die Berge in einen Bogen zurück und bilden, wie eine felſige
Küſte, eine nach Südweſt offene Bucht. Zwiſchen dem Ein-
fluſſe des Toparo und dem des Sanariapo, am weſtlichen
Ende dieſes großartigen Amphitheaters, iſt der Durchbruch des
Stromes erfolgt.


Gegenwärtig fließt der Orinoko am Fuße der öſtlichen
Bergkette. Vom weſtlichen Landſtriche hat er ſich ganz weg-
gezogen, und dort, in einem tiefen Grunde, erkennt man noch
leicht das alte Ufer. Eine Grasflur, kaum 10 m über dem
mittleren Waſſerſtande, breitet ſich von dieſem trockenen Grunde
bis zu den Katarakten aus. Hier ſteht aus Palmſtämmen die
kleine Kirche von Maypures und umher ſieben oder acht Hütten.
Im trockenen Grunde, der in gerader Linie von Süd nach Nord
läuft, vom Cameji zum Toparo, liegen eine Menge einzeln
ſtehender Granithügel, ganz ähnlich denen, die als Inſeln und
Klippen im jetzigen Strombett ſtehen. Dieſe ganz ähnliche
Geſtaltung fiel mir auf, als ich die Felſen Keri und Oco im
verlaſſenen Strombett weſtlich von Maypures mit den Inſeln
Uvitari und Camanitamini verglich, die öſtlich von der Miſſion
gleich alten Burgen mitten aus den Katarakten ragen. Der
geologiſche Charakter der Gegend, das inſelhafte Anſehen auch
der vom gegenwärtigen Stromufer entlegenſten Hügel, die
Löcher, welche das Waſſer im Felſen Oco ausgeſpült zu haben
ſcheint, und die genau im ſelben Niveau liegen (48 bis 58 m
hoch) wie die Höhlungen an der Inſel Uvitari gegenüber —
alle dieſe Umſtände zuſammen beweiſen, daß dieſe ganze, jetzt
trockene Bucht ehemals unter Waſſer ſtand. Das Waſſer bildete
hier wahrſcheinlich einen See, da es wegen des Dammes gegen
Nord nicht abfließen konnte; als aber dieſer Damm durch-
brochen wurde, erſchien die Grasflur um die Miſſion zuerſt
als eine ganz niedrige, von zwei Armen desſelben Fluſſes
umgebene Inſel. Man kann annehmen, der Orinoko habe
noch eine Zeitlang den Grund ausgefüllt, den wir nach dem
[169] Fels, der darin ſteht, den Keri-Grund nennen wollen; erſt
als das Waſſer allmählich fiel, zog es ſich ganz gegen die
öſtliche Kette und ließ den weſtlichen Stromarm trocken liegen.
Streifen, deren ſchwarze Farbe ohne Zweifel von Eiſen- und
Manganoxyden herrührt, ſcheinen die Richtigkeit dieſer Anſicht
zu beweiſen. Man findet dieſelben auf allem Geſtein, weit
weg von der Miſſion, und ſie weiſen darauf hin, daß hier
einſt das Waſſer geſtanden. Geht man den Fluß hinauf, ſo
ladet man die Fahrzeuge am Einfluſſe des Toparo in den
Orinoko aus und übergibt ſie den Eingeborenen, die den Raudal
ſo genau kennen, daß ſie für jede Staffel einen beſonderen
Namen haben. Sie bringen die Kanoen bis zum Einfluſſe
des Cameji, wo die Gefahr für überſtanden gilt.


Der Katarakt von Quituna oder Maypures ſtellt ſich
in den zwei Zeitpunkten, in denen ich denſelben beim Hinab-
und beim Hinauffahren beobachten konnte, unter folgendem
Bilde dar. Er beſteht, wie der von Mapara oder Atures,
aus einem Archipel von Inſeln, die auf einer Strecke von
5,8 km das Strombett verſtopfen, und aus Felsdämmen
zwiſchen dieſen Inſeln. Die berufenſten unter dieſen Dämmen
oder natürlichen Wehren ſind: Purimarimi, Manimi und
der Salto de la Sardina (der Sardellenſprung). Ich
nenne ſie in der Ordnung, wie ich ſie von Süd nach Nord
aufeinander folgen ſah. Die letztere dieſer drei Staffeln iſt
gegen 3 m hoch und bildet, ihrer Breite wegen, einen pracht-
vollen Fall. Aber, ich muß das wiederholen, das Getöſe,
mit dem die Waſſer niederſtürzen, gegeneinander ſtoßen und
zerſtäuben, hängt nicht ſowohl von der abſoluten Höhe jeder
Staffel, jedes Querdammes ab, als vielmehr von der Menge
der Strudel, von der Stellung der Inſeln und Klippen am
Fuß der Raudalitos oder partiellen Fälle, von der größeren
oder geringeren Weite der Kanäle, in denen das Fahrwaſſer
oft nur 7 bis 10 m breit iſt. Die öſtliche Hälfte der Kata-
rakte von Maypures iſt weit gefährlicher als die weſtliche,
weshalb auch die indianiſchen Steuerleute die Kanoen vor-
zugsweiſe am linken Ufer hinauf- und hinabſchaffen. Leider
liegt bei niedrigem Waſſer dieſes Ufer zum Teil trocken, und
dann muß man die Pirogen tragen, das heißt auf Walzen
oder runden Baumſtämmen ſchleppen. Wir haben ſchon oben
bemerkt, daß bei Hochwaſſer (aber nur dann) der Raudal von
Maypures leichter zu paſſieren iſt als der von Atures.


Um dieſe wilde Landſchaft in ihrer ganzen Großartigkeit
[170] mit einem Blicke zu umfaſſen, muß man ſich auf den Hügel
Manimi ſtellen, einen Granitgrat, der nördlich von der Miſ-
ſionskirche aus der Savanne aufſteigt und nichts iſt als eine
Fortſetzung der Staffeln, aus denen der Raudalito Manimi
beſteht. Wir waren oft auf dieſem Berge, denn man ſieht
ſich nicht ſatt an dieſem außerordentlichen Schauſpiel in einem
der [entlegenſten] Erdwinkel. Hat man den Gipfel des Felſen
erreicht, ſo liegt auf einmal, 4 bis 5 km weit, eine Schaum-
fläche vor einem da, aus der ungeheure Steinmaſſen eiſen-
ſchwarz aufragen. Die einen ſind, je zwei und zwei bei-
ſammen, abgerundete Maſſen, Baſalthügeln ähnlich; andere
gleichen Türmen, Kaſtellen, zerfallenen Gebäuden. Ihre düſtere
Färbung hebt ſich ſcharf vom Silberglanze des Waſſerſchaums
ab. Jeder Fels, jede Inſel iſt mit Gruppen kräftiger Bäume
bewachſen. Vom Fuße dieſer Felſen an ſchwebt, ſo weit das
Auge reicht, eine dichte Dunſtmaſſe über dem Strome, und
über den weißlichen Nebel ſchießt der Wipfel der hohen Palmen
empor. Dieſe großartigen Gewächſe — wie nennt man ſie?
Ich glaube es iſt der Vadgiai, eine neue Art der Gattung
Oreodoxa, deren Stamm über 25 m hoch iſt. Die einen
Federbuſch bildenden Blätter dieſer Palme ſind ſehr glänzend
und ſteigen faſt gerade himmelan. Zu jeder Tagesſtunde
nimmt ſich die Schaumfläche wieder anders aus. Bald
werfen die hohen Eilande und die Palmen ihre gewaltigen
Schatten darüber, bald bricht ſich der Strahl der unter-
gehenden Sonne in der feuchten Wolke, die den Katarakt
einhüllt. Farbige Bogen bilden ſich, verſchwinden und er-
ſcheinen wieder, und im Spiel der Lüfte ſchwebt ihr Bild
über der Fläche.


Solches iſt der Charakter der Landſchaft, wie ſie auf dem
Hügel Manimi vor einem liegt, und die noch kein Reiſender
beſchrieben hat. Ich wiederhole, was ich ſchon einmal ge-
äußert: weder die Zeit noch der Anblick der Kordilleren und
der Aufenthalt in den gemäßigten Thälern von Mexiko haben
den tiefen Eindruck verwiſcht, den das Schauſpiel der Kata-
rakte auf mich gemacht. Leſe ich eine Beſchreibung indiſcher
Landſchaften, deren Hauptreize ſtrömende Waſſer und ein kräf-
tiger Pflanzenwuchs ſind, ſo ſchwebt mir ein Schaummeer
vor, und Palmen, deren Kronen über eine Dunſtſchicht empor-
ragen. Es iſt mit den großartigen Naturſzenen wie mit dem
Höchſten in Poeſie und Kunſt: ſie laſſen Erinnerungen zurück,
die immer wieder wach werden und ſich unſer Leben lang in
[171] unſere Empfindung miſchen, ſo oft etwas Großes und Schönes
uns die Seele bewegt.


Die Stille in der Luft und das Toben der Waſſer bilden
einen Gegenſatz, wie er dieſem Himmelsſtriche eigentümlich iſt.
Nie bewegt hier ein Windhauch das Laub der Bäume, nie
trübt eine Wolke den Glanz des blauen Himmelsgewölbes;
eine gewaltige Lichtmaſſe iſt durch die Luft verbreitet, über
dem Boden, den Gewächſe mit glänzenden Blättern bedecken,
über dem Strom, der ſich unabſehbar hinbreitet. Dieſer An-
blick hat für den Reiſenden, der im Norden von Europa zu
Hauſe iſt, etwas ganz Befremdendes. Stellt er ſich eine
wilde Landſchaft vor, einen Strom, der von Fels zu Fels
niederſtürzt, ſo denkt er ſich auch ein Klima dazu, in dem
gar oft der Donner aus dem Gewölk mit dem Donner der
Waſſerfälle ſich miſcht, wo am düſteren, nebeligen Tage die
Wolken in das Thal herunterſteigen und in den Wipfeln der
Tannen hängen. In den Niederungen der Feſtländer unter
den Tropen hat die Landſchaft eine ganz eigene Phyſiognomie,
eine Großartigkeit und eine Ruhe, die ſelbſt da ſich nicht
verleugnet, wo eines der Elemente mit unüberwindlichen
Hinderniſſen zu kämpfen hat. In der Nähe des Aequators
kommen heftige Stürme und Ungewitter nur auf den Inſeln,
in pflanzenloſen Wüſten, kurz überall da vor, wo die Luft
auf Flächen mit ſehr abweichender Strahlung ruht.


Der Hügel Manimi bildet die öſtliche Grenze einer Ebene,
auf der man dieſelben für die Geſchichte der Vegetation, das
heißt ihrer allmählichen Entwickelung auf nackten, kahlen
Bodenſtrecken wichtigen Erſcheinungen beobachtet, wie wir ſie
oben beim Raudal von Atures beſchrieben. In der Regenzeit
ſchwemmt das Waſſer Dammerde auf dem Granitgeſtein zu-
ſammen, deſſen kahle Bänke wagerecht daliegen. Dieſe mit
den ſchönſten, wohlriechendſten Gewächſen geſchmückten Land-
eilande gleichen den mit Blumen bedeckten Granitblöcken, welche
die Alpenbewohner Jardins oder Courtils nennen, und die
in Savoyen mitten aus den Gletſchern emporragen. Mitten
in den Katarakten auf ziemlich ſchwer zugänglichen Klippen
wächſt die Vanille. Bonpland hat ungemein gewürzreiche und
außerordentlich lange Schoten gebrochen.


An einem Platze, wo wir tags zuvor gebadet hatten,
am Fuße des Felſen Manimi, ſchlugen die Indianer eine
2,4 m lange Schlange tot, die wir mit Muße unterſuchen
konnten. Die Macos nannten ſie Camudu; der Rücken
[172] hatte auf ſchön gelbem Grunde teils ſchwarze, teils braun-
grüne Querſtreifen, am Bauch waren die Streifen blau und
bildeten rautenförmige Flecken. Es war ein ſchönes, nicht
giftiges Tier, das, wie die Eingeborenen behaupten, über 5 m
lang wird. Ich hielt den Camudu anfangs für eine Boa,
ſah aber zu meiner Ueberraſchung, daß bei ihm die Platten
unter dem Schwanze in zwei Reihen geteilt waren. Es war
alſo eine Natter, vielleicht ein Python des neuen Kontinents;
ich ſage vielleicht, denn große Naturforſcher (Cuvier) ſcheinen
anzunehmen, daß alle Pythone der Alten, alle Boa der Neuen
Welt angehören. Da die Boa des Plinius1 eine afrikaniſche
und ſüdeuropäiſche Schlange war, ſo hätte Daudin wohl
die amerikaniſchen Boa Pythone und die indiſchen Pythone
Boa nennen ſollen. Die erſte Kunde von einem ungeheu-
ren Reptil, das Menſchen, ſogar große Vierfüßer packt, ſich
um ſie ſchlingt und ihnen ſo die Knochen zerbricht, das
Ziegen und Rehe verſchlingt, kam uns zuerſt aus Indien und
von der Küſte von Guinea zu. So wenig an Namen gelegen
iſt, ſo gewöhnt man ſich doch nur ſchwer daran, daß es in
der Halbkugel, in der Virgil die Qualen Laokoons beſungen
hat (die aſiatiſchen Griechen hatten die Sage weit ſüdlicheren
Völkern entlehnt), keine Boa constrictor geben ſoll. Ich
will die Verwirrung in der zoologiſchen Nomenklatur nicht
durch neue Vorſchläge zur Abänderung vermehren, und be-
merke nur, daß, wo nicht der große Haufen der Koloniſten
in Guyana, doch die Miſſionäre und die latiniſierten
Indianer in den Miſſionen ganz gut die Traga Venadas
(Zauberſchlangen, echte Boa mit einfachen Afterſchuppen)
von den Culebras de agua, den dem Camudu ähnlichen
Waſſerottern (Pythone mit doppelten Afterſchuppen), unter-
ſcheiden. Die Traga Venadas haben auf dem Rücken keine
Querſtreifen, ſondern eine Kette rautenförmiger oder ſechs-
eckiger Flecken. Manche Arten leben vorzugsweiſe an ganz
trockenen Orten, andere lieben das Waſſer, wie die Pythone
oder Culebras de agua.


Geht man nach Weſten, ſo ſieht man die runden Hügel
oder Eilande im verlaſſenen Orinokoarm mit denſelben Palmen
bewachſen, die auf den Felſen in den Katarakten ſtehen. Einer
[173] dieſer Felſen, der ſogenannte Keri, iſt im Lande berühmt
wegen eines weißen, weithin glänzenden Flecks, in dem die
Eingeborenen ein Bild des Vollmondes ſehen wollen. Ich
konnte die ſteile Felswand nicht erklimmen, wahrſcheinlich aber
iſt der weiße Fleck ein mächtiger Quarzknoten, wie zuſammen-
ſcharende Gänge ſie im Granit, der in Gneis übergeht, häufig
bilden. Gegenüber dem Keri oder Mondfelſen, am Zwil-
lingshügel Uvitari, der ein Eiland mitten in den Katarakten
iſt, zeigen einem die Indianer mit geheimnisvoller Wichtigkeit
einen ähnlichen weißen Fleck. Derſelbe iſt ſcheibenförmig, und
ſie ſagen, es ſei das Bild der Sonne, Camoſi. Vielleicht hat
die geographiſche Lage dieſer beiden Dinge Veranlaſſung ge-
geben, ſie ſo zu benennen; Keri liegt gegen Untergang, Camoſi
gegen Aufgang. Da die Sprachen die älteſten geſchichtlichen
Denkmäler der Völker ſind, ſo haben die Sprachforſcher die
Aehnlichkeit des amerikaniſchen Wortes Camoſi mit dem
Worte Kamoſch, das in einem ſemitiſchen Dialekt urſprüng-
lich Sonne bedeutet zu haben ſcheint, ſehr auffallend gefun-
den. Dieſe Aehnlichkeit hat zu Hypotheſen Anlaß gegeben,
die mir zum wenigſten ſehr gewagt ſcheinen.2 Der Gott der
Moabiter, Chamos oder Kamoſch, der den Gelehrten ſo viel
zu ſchaffen gemacht hat, der Apollo Chomeus, von dem Strabo
und Ammianus Marcellinus ſprechen, Beelphegor, Amun oder
Hamon und Adonis bedeuten ohne Zweifel alle die Sonne
im Winterſolſtitium; was will man aber aus einer einzelnen,
zufälligen Lautähnlichkeit in Sprachen ſchließen, die ſonſt nichts
miteinander gemein haben?


Betrachtet man die Namen der von den ſpaniſchen
Mönchen geſtifteten Miſſionen, ſo irrt man ſich leicht hin-
ſichtlich der Bevölkerungselemente, mit denen ſie gegründet
worden. Nach Encaramada und Atures brachten die Jeſuiten,
als ſie dieſe Dörfer erbauten, Maypuresindianer, aber die
Miſſion Maypures ſelbſt wurde nicht mit Indianern dieſes
Namens gegründet, vielmehr mit Guipunabisindianern, die
von den Ufern des Irimida ſtammen und nach der Sprach-
verwandtſchaft, ſamt den Maypures, Cabres, Avani und viel-
leicht den Pareni, demſelben Zweig der Orinokovölker ange-
hören. Zur Zeit der Jeſuiten war die Miſſion am Raudal
[174] von Maypures ſehr anſehnlich; ſie zählte 6000 Einwohner,
darunter mehrere weiße Familien. Unter der Verwaltung der
Obſervanten iſt die Bevölkerung auf weniger als 60 herab-
geſunken. Man kann überhaupt annehmen, daß in dieſem
Teile von Südamerika die Kultur ſeit einem halben Jahr-
hundert zurückgegangen iſt, während wir jenſeits der Wälder,
in den Provinzen in der Nähe der See, Dörfer mit 2000
bis 3000 Indianern finden. Die Einwohner von Maypures
ſind ein ſanftmütiges, mäßiges Volk, das ſich auch durch große
Reinlichkeit auszeichnet. Die meiſten Wilden am Orinoko
haben nicht den wüſten Hang zu geiſtigen Getränken, dem
man in Nordamerika begegnet. Die Otomaken, Yaruros,
Achaguas und Kariben berauſchen ſich allerdings oft durch
den übermäßigen Genuß der Chiza und ſo mancher anderen
gegorenen Getränke, die ſie aus Maniok, Mais und zucker-
haltigen Palmfrüchten zu bereiten wiſſen; die Reiſenden haben
aber, wie gewöhnlich, für allgemeine Sitte ausgegeben, was
nur einzelnen Stämmen zukommt. Sehr oft konnten wir
Guahibos oder Macos-Piaroas, die für uns arbeiteten und
ſehr erſchöpft ſchienen, nicht vermögen, auch nur ein wenig
Branntwein zu trinken. Die Europäer müſſen erſt länger in
dieſen Ländern geſeſſen haben, ehe ſich die Laſter ausbreiten,
die unter den Indianern an den Küſten bereits ſo gemein
ſind. In Maypures fanden wir in den Hütten der Ein-
geborenen eine Ordnung und eine Reinlichkeit, wie man den-
ſelben in den Häuſern der Miſſionäre ſelten begegnet.


Sie bauen Bananen und Maniok, aber keinen Mais.
35 bis 40 kg Maniok in Kuchen oder dünnen Scheiben, das
landesübliche Brot, koſten 6 Silberrealen, ungefähr 4 Franken.
Wie die meiſten Indianer am Orinoko haben auch die in
Maypures Getränke, die man nahrhafte nennen kann.
Eines dieſer Getränke, das im Lande ſehr berühmt iſt, wird
von einer Palme gewonnen, die in der Nähe der Miſſion,
am Ufer des Auvana wild wächſt. Dieſer Baum iſt der Seje;
ich habe an einer Blütentraube 44000 Blüten geſchätzt; der
Früchte, die meiſt unreif abfallen, waren 8000. Es iſt eine
kleine fleiſchige Steinfrucht. Man wirft ſie ein paar Minuten
lang in kochendes Waſſer, damit ſich der Kern vom Fleiſche
trennt, das zuckerſüß iſt, und ſofort in einem großen Gefäß
mit Waſſer zerſtampft und zerrieben wird. Der kalte Aufguß
gibt eine gelbliche Flüſſigkeit, die wie Mandelmilch ſchmeckt.
Man ſetzt manchmal Papelon oder Rohzucker zu. Der
[175] Miſſionär verſichert, die Eingeborenen werden in den zwei bis
drei Monaten, wo ſie Sejeſaft trinken, ſichtlich fetter; ſie brocken
Kaſſavekuchen hinein. Die Piaches, oder indianiſchen Gaukler,
gehen in die Wälder und blaſen unter der Sejepalme auf dem
Botuto (der heiligen Trompete). „Dadurch,“ ſagen ſie, „wird
der Baum gezwungen, im folgenden Jahre reichen Ertrag zu
geben.“ Das Volk bezahlt für dieſe Zeremonie, wie man bei
den Mongolen, Mauren, und manchen Völkern noch näher bei
uns, Schamanen, Marabutin und andere Arten von Prieſtern
dafür bezahlt, daß ſie mit Zauberſprüchen oder Gebeten die
weißen Ameiſen und die Heuſchrecken vertreiben, oder lang-
anhaltendem Regen ein Ende machen und die Ordnung der
Jahreszeiten verkehren.


„Tengo en mi pueblo la fabrica de loza“ (ich habe
in meinem Dorfe eine Steingutfabrik), ſprach Pater Zea und
führte uns zu einer indianiſchen Familie, die beſchäftigt war,
unter freiem Himmel an einem Feuer von Strauchwerk große,
75 cm hohe Thongefäße zu brennen. Dieſes Gewerbe iſt den
verſchiedenen Zweigen des großen Volksſtammes der Maypures
eigentümlich und ſie ſcheinen dasſelbe ſeit unvordenklicher Zeit
zu treiben. Ueberall in den Wäldern, weit von jedem menſch-
lichen Wohnſitz, ſtößt man, wenn man den Boden aufgräbt,
auf Scherben von Töpfen und bemaltem Steingut. Die Lieb-
haberei für dieſe Arbeit ſcheint früher unter den Ureinwohnern
Nord- und Südamerikas gleich verbreitet geweſen zu ſein.
Im Norden von Mexiko, am Rio Gila, in den Trümmern
einer aztekiſchen Stadt, in den Vereinigten Staaten bei den
Grabhügeln der Miami, in Florida und überall, wo ſich
Spuren einer alten Kultur finden, birgt der Boden Scherben
von bemalten Geſchirren. Und höchſt auffallend iſt die durch-
gängige große Aehnlichkeit der Verzierungen. Die wilden und
ſolche civiliſierten Völker, die durch ihre ſtaatlichen und reli-
giöſen Einrichtungen dazu verurteilt ſind, immer nur ſelbſt zu
kopieren,1 treibt ein gewiſſer Inſtinkt, immer dieſelben Formen
zu wiederholen, an einem eigentümlichen Typus oder Stil feſt-
zuhalten, immer nach denſelben Handgriffen und Methoden
zu arbeiten, wie ſchon die Vorfahren ſie gekannt. In Nord-
[176] amerika wurden Steingutſcherben an den Befeſtigungslinien
und in den Ringwällen gefunden, die von einem unbekannten,
gänzlich ausgeſtorbenen Volke herrühren. Die Malereien auf
dieſen Scherben haben die auffallendſte Aehnlichkeit mit denen,
welche die Eingeborenen von Louiſiana und Florida noch jetzt
auf gebranntem Thon anbringen. So malten denn auch die
Indianer in Maypures unter unſeren Augen Verzierungen,
ganz wie wir ſie in der Höhle von Ataruipe auf den Ge-
fäßen geſehen, in denen menſchliche Gebeine aufbewahrt ſind.
Es ſind wahre „Grecques“, Mäanderlinien, Figuren von
Krokodilen, von Affen und von einem großen vierfüßigen Tier,
von dem ich nicht wußte, was es vorſtellen ſoll, das aber
immer dieſelbe plumpe Geſtalt hat. Ich könnte bei dieſer
Gelegenheit eines Kopfs mit einem Elefantenrüſſel gedenken,
den ich im Muſeum zu Velletri auf einem alten mexikaniſchen
Gemälde gefunden; ich könnte keck die Hypotheſe aufſtellen,
das große vierfüßige Tier auf den Töpfen der Maypures ge-
höre einem anderen Lande an und der Typus desſelben habe
ſich auf der großen Wanderung der amerikaniſchen Völker von
Nordweſt nach Süd und Südoſt in der Erinnerung erhalten;
wer wollte ſich aber bei ſo ſchwankenden, auf nichts ſich
ſtützenden Vermutungen aufhalten? Ich möchte vielmehr glauben,
die Indianer am Orinoko haben einen Tapir vorſtellen wollen,
und die verzeichnete Figur eines einheimiſchen Tieres ſei einer
der Typen geworden, die ſich forterben. Oft hat nur Un-
geſchick und Zufall Figuren erzeugt, über deren Herkunft wir
gar ernſthaft verhandeln, weil wir nicht anders glauben, als
es liege ihnen eine Gedankenverbindung, eine abſichtliche Nach-
ahmung zu Grunde.


Am geſchickteſten führen die Maypures Verzierungen aus
geraden, mannigfach kombinierten Linien aus, wie wir ſie auf
den großgriechiſchen Vaſen, auf den mexikaniſchen Gebäuden
in Mitla und auf den Werken ſo vieler Völker ſehen, die,
ohne daß ſie miteinander in Verkehr geſtanden, eben gleiches
Vergnügen daran finden, ſymmetriſch dieſelben Formen zu
wiederholen. Die Arabesken, die Mäander vergnügen unſer
Auge, weil die Elemente, aus denen die Bänder beſtehen, in
rhythmiſcher Folge aneinander gereiht ſind. Das Auge ver-
hält ſich zu dieſer Anordnung, zu dieſer periodiſchen Wieder-
kehr derſelben Formen wie das Ohr zur taktmäßigen Auf-
einanderfolge von Tönen und Akkorden. Kann man aber
in Abrede ziehen, daß beim Menſchen das Gefühl für den
[177] Rhythmus ſchon beim erſten Morgenrot der Kultur, in den
roheſten Anfängen von Geſang und Poeſie zum Ausdruck
kommt?


Die Eingeborenen in Maypures (und beſonders die
Weiber verfertigen das Geſchirr) reinigen den Thon durch
wiederholtes Schlemmen, kneten ihn zu Cylindern und ar-
beiten mit den Händen die größten Gefäße aus. Der ameri-
kaniſche Indianer weiß nichts von der Töpferſcheibe, die ſich
bei den Völkern des Orientes aus dem früheſten Altertum
herſchreibt. Man kann ſich nicht wundern, daß die Miſſionäre
die Eingeborenen am Orinoko nicht mit dieſem einfachen,
nützlichen Werkzeug bekannt gemacht haben, wenn man be-
denkt, daß es nach drei Jahrhunderten noch nicht zu den In-
dianern auf der Halbinſel Araya, dem Hafen von Cumana
gegenüber, gedrungen iſt. Die Farben der Maypures ſind
Eiſen- und Manganoxyde, beſonders gelber und roter Ocker,
der in Höhlungen des Sandſteins vorkommt. Zuweilen wendet
man das Satzmehl der Bignonia Chica an, nachdem das
Geſchirr einem ganz ſchwachen Feuer ausgeſetzt worden. Man
überzieht die Malerei mit einem Firnis von Algarobo, dem
durchſichtigen Harz der Hymenaea Courbaril. Die großen
Gefäße zur Aufbewahrung der Chiza heißen Ciamacu, die
kleineren Mucra, woraus die Spanier an der Küſte Mur-
cura
gemacht haben. Uebrigens weiß man am Orinoko nicht
allein von den Maypures, ſondern auch von den Guaypu-
nabis, Kariben, Otomaken und ſelbſt von den Guamos, daß
ſie Geſchirr mit Malereien verfertigen. Früher war dieſes
Gewerbe bis zum Amazonenſtrom hin verbreitet. Schon
Orellana fielen die gemalten Verzierungen auf dem Geſchirr
der Omaguas auf, die zu ſeiner Zeit ein zahlreiches handel-
treibendes Volk waren.


Ehe ich von dieſen Spuren eines keimenden Gewerbfleißes
bei Völkern, die wir ohne Unterſchied als Wilde bezeichnen,
zu etwas anderem übergehe, mache ich noch eine Bemerkung,
die über die Geſchichte der amerikaniſchen Civiliſation einiges
Licht verbreiten kann. In den Vereinigten Staaten, oſtwärts
von den Alleghanies, beſonders zwiſchen dem Ohio und den
großen kanadiſchen Seen, findet man im Boden faſt überall
bemalte Topfſcherben und daneben kupferne Werkzeuge. Dies
erſcheint auffallend in einem Lande, wo die Eingeborenen bei
der Ankunft der Europäer mit dem Gebrauch der Metalle
unbekannt waren. In den Wäldern von Südamerika, die
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 12
[178] ſich vom Aequator bis zum 8. Grad nördlicher Breite, das
heißt vom Fuße der Anden bis zum Atlantiſchen Meer aus-
dehnen, findet man dasſelbe bemalte Töpfergeſchirr an den
einſamſten Orten; aber es kommen damit nur künſtlich durch-
bohrte Aexte aus Nephrit und anderem harten Stein vor.
Niemals hat man dort im Boden Werkzeuge oder Schmuck-
ſachen aus Metall gefunden, obgleich man in den Gebirgen
an der Küſte und auf dem Rücken der Kordilleren Gold und
Kupfer zu ſchmelzen und letzteres mit Zinn zur Verfertigung
von ſchneidenden Werkzeugen zu legieren verſtand. Woher rührt
dieſer ſcharfe Gegenſatz zwiſchen der gemäßigten und der heißen
Zone? Die peruaniſchen Inka hatten ihre Eroberungen und
Religionskriege bis an den Napo und den Amazonenſtrom
ausgedehnt, und dort hatte ſich auch ihre Sprache auf einem
beſchränkten Landſtrich verbreitet; aber niemals ſcheint die
Kultur der Peruaner, der Bewohner von Quito und der
Muyscas in Neugranada auf den moraliſchen Zuſtand der
Völker von Guyana irgend einen merklichen Einfluß geäußert
zu haben. Noch mehr: in Nordamerika, zwiſchen dem Ohio,
dem Miami und den Seen, hat ein unbekanntes Volk, das
die Syſtematiker von den Tolteken und Azteken abſtammen laſſen
möchten, aus Erde, zuweilen ſogar aus Steinen1 ohne Mörtel
3 bis 5 m hohe und 2,2 bis 2,6 km lange Mauern gebaut.
Dieſe rätſelhaften Ringwälle und Ringmauern umſchließen oft
gegen 150 Morgen Land. Bei den Niederungen am Orinoko,
wie bei den Niederungen an der Marietta, am Miami und
Ohio liegt der Mittelpunkt einer alten Kultur weſtwärts auf
dem Rücken der Gebirge; aber der Orinoko und die Länder
zwiſchen dieſem großen Fluß und dem Amazonenſtrom ſcheinen
niemals von Völkern bewohnt geweſen zu ſein, deren Bauten
dem Zahn der Zeit widerſtanden hätten. Sieht man dort
auch ſymboliſche Figuren ins härteſte Felsgeſtein eingegraben,
ſo hat man doch ſüdlich vom 8. Breitengrade bis jetzt nie
weder einen Grabhügel, noch einen Ringwall, noch Erddämme
gefunden, wie ſie weiter nordwärts auf den Ebenen von Va-
rinas und Canagua vorkommen. Solches iſt der Gegenſatz
zwiſchen den öſtlichen Stücken der beiden Amerika, zwiſchen
[179] denen, die ſich von der Hochebene von Cundiamarca und den
Gebirgen von Cayenne gegen das Atlantiſche Meer ausbreiten,
und denen, die von den Anden von Neuſpanien gegen die
Alleghanies hinſtreichen. In der Kultur vorgeſchrittene Völker,
deren Spuren uns am Ufer des Sees Teguyo und in den
Caſas grandes am Rio Gila entgegentreten, mochten einzelne
Stämme gegen Oſt in die offenen Fluren am Miſſouri und
Ohio vorſchieben, wo das Klima nicht viel anders iſt als in
Neumexiko; aber in Südamerika, wo die große Völkerſtrö-
mung von Nord nach Süd ging, konnten Menſchen, die ſchon
ſo lange auf dem Rücken der tropiſchen Kordilleren einer
milden Temperatur genoſſen, keine Luſt haben, in die glühend
heißen, mit Urwald bedeckten, periodiſch von den Flüſſen über-
ſchwemmten Ebenen niederzuſteigen. Man ſieht leicht, wie in
der heißen Zone die Ueberfülle des Pflanzenwuchſes, die Be-
ſchaffenheit von Boden und Klima die Wanderungen der Ein-
geborenen in ſtarken Haufen beſchränkten, Niederlaſſungen, die
eines weiten, freien Raumes bedürfen, nicht aufkommen ließen,
das Elend und die Verſunkenheit der vereinzelten Horden
verewigten.


Heutzutage geht die ſchwache Kultur, wie die ſpaniſchen
Mönche ſie eingeführt, wieder rückwärts. Pater Gili berichtet,
zur Zeit der Grenzexpedition habe der Ackerkau am Orinoko
angefangen Fortſchritte zu machen; das Vieh, beſonders die
Ziegen hatten ſich in Maypures bedeutend vermehrt. Wir
haben weder in dieſer Miſſion, noch ſonſt in einem Dorfe
am Orinoko mehr welche angetroffen; die Tiger haben die
Ziegen gefreſſen. Nur die ſchwarzen und weißen Schweine
(letztere heißen franzöſiſche Schweine, puercos franceses, weil
man glaubt, ſie ſeien von den Antillen gekommen) haben
trotz der reißenden Tiere ausgedauert. Mit großem Intereſſe
ſahen wir um die Hütten der Indianer Guacamayas oder
zahme Ara, die auf den Feldern herumflogen wie bei uns
die Tauben. Es iſt dies die größte und prächtigſte Papa-
geienart mit nicht gefiederten Wangen, die wir auf unſeren
Reiſen angetroffen. Sie mißt mit dem Schwanz 72 cm, und
wir haben ſie auch am Atabapo, Temi und Rio Negro gefun-
den. Das Fleiſch des Cahuei — ſo heißt hier der Vogel —
das häufig gegeſſen wird, iſt ſchwarz und etwas hart. Dieſe
Ara, deren Gefieder in den brennendſten Farben, purpurrot,
blau und gelb ſchimmert, ſind eine große Zierde der india-
niſchen Hühnerhöfe. Sie ſtehen an Pracht den Pfauen, Gold-
[180] faſanen, Pauxi und Alector nicht nach. Die Sitte, Papa-
geien, Vögel aus einer dem Hühnergeſchlecht ſo ferne ſtehenden
Familie aufzuziehen, war ſchon Chriſtoph Kolumbus aufge-
fallen. Gleich bei der Entdeckung Amerikas hatte er beobachtet,
daß die Eingeborenen auf den Antillen ſtatt Hühner Ara
oder große Papageien aßen.


Beim kleinen Dorfe Maypures wächſt ein prächtiger,
über 20 m hoher Baum, den die Koloniſten Fruta de Burro
nennen. Es iſt eine neue Gattung Unona, die den Habitus
von Aublets Uvaria Zeylandica hat und die ich früher Uvaria
febrifuga
benannt hatte. Ihre Zweige ſind gerade und ſtehen
pyramidaliſch aufwärts, faſt wie bei der Pappel vom Miſ-
ſiſſippi, fälſchlich italieniſche Pappel genannt. Der Baum iſt
berühmt, weil ſeine aromatiſchen Früchte, als Aufguß ge-
braucht, ein wirkſames Fiebermittel ſind. Die armen Miſ-
ſionäre am Orinoko, die den größten Teil des Jahres am
dreitägigen Fieber leiden, reiſen nicht leicht, ohne ein Säck-
chen mit Frutas de Burro bei ſich zu führen. Unter den
Tropen braucht man meiſt lieber aromatiſche Mittel, z. B.
ſehr ſtarken Kaffee, Croton Cascarilla oder die Fruchthülle
unſerer Unona, als die adſtringierenden Rinden der Cin-
chona und der Bonplandia trifoliata, welche letztere die China
von Angoſtura iſt. Das amerikaniſche Volk hat ein tief wur-
zelndes Vorurteil gegen den Gebrauch der verſchiedenen China-
arten, und in dem Lande, wo dieſes herrliche Heilmittel wächſt,
ſucht man die Fieber durch Aufgüſſe von Scoparia dulcisab-
zuſchneiden
, oder auch durch warme Limonade aus Zucker
und der kleinen wilden Zitrone, deren Rinde öligt und aro-
matiſch zugleich iſt.


Das Wetter war aſtronomiſchen Beobachtungen nicht
günſtig; indeſſen erhielt ich doch am 20. April eine gute
Reihe korreſpondierender Sonnenhöhen, nach denen der Chrono-
meter für die Miſſion Maypures 70° 37′ 33″ Länge ergab;
die Breite wurde durch Beobachtung eines Sternes gegen
Norden gleich 5° 13′ 57″ gefunden. Die neueſten Karten
ſind in der Länge um ½°, in der Breite um ¼° unrichtig.
Wie mühſam und qualvoll dieſe nächtlichen Beobachtungen
waren, vermöchte ich kaum zu beſchreiben. Nirgends war die
Moskitowolke ſo dick wie hier. Sie bildete ein paar Fuß
über dem Boden gleichſam eine eigene Schicht und wurde
immer dichter, je näher man gegen den künſtlichen Horizont
hinleuchtete. Die meiſten Einwohner von Maypures gehen
[181] aus dem Dorf und ſchlafen auf den Inſeln mitten in den
Katarakten, wo es weniger Inſekten gibt; andere machen aus
Strauchwerk Feuer in ihren Hütten an und hängen ihre
Matten mitten in den Rauch. Der Thermometer ſtand bei
Nacht auf 27 und 29°, bei Tage auf 30°. Am 19. April
fand ich um 2 Uhr nachmittags einen loſen, grobkörnigen
Granitſand 60,3°,1 einen gleichfalls weißen, aber feinkörnigen
und dichteren Granitſand 52,5° heiß; die Temperatur eines
kahlen Granitfelſen war 47,6°. Zu derſelben Stunde zeigte
der Thermometer 2,6 m über dem Boden im Schatten 29,6°,
in der Sonne 36,2°. Eine Stunde nach Sonnenuntergang
zeigte der grobe Sand 32°, der Granitfels 38,8°, die Luft
28,6°, das Waſſer des Orinoko im Raudal, an der Ober-
fläche, 27,6°, das Waſſer einer ſchönen Quelle, die hinter dem
Haus der Miſſionäre aus dem Granit kommt, 27,8°. Es iſt
dies vielleicht etwas weniger als die mittlere Jahrestemperatur
der Luft in Maypures. Die Inklination der Magnetnadel
in Maypures betrug 31,10°, alſo 1,15° weniger als im
Dorfe Atures, das um 25 Minuten der Breite weiter nach
Norden liegt.


Am 21. April. Nach einem Aufenthalt von zwei und
einem halben Tage im kleinen Dorfe Maypures neben dem
oberen großen Katarakt ſchifften wir uns um 2 Uhr nach-
mittags in derſelben Piroge wieder ein, die der Miſſionär von
Carichana uns überlaſſen; ſie war vom Schlagen an die
Klippen und durch die Unvorſichtigkeit der indianiſchen Schiffs-
leute ziemlich beſchädigt; aber ihrer warteten noch größere
Fährlichkeiten. Sie mußte vom Rio Tuamini zum Rio Negro
über eine Landenge 11,7 km weit geſchleppt werden, ſie mußte
über den Caſſiquiare wieder in den Orinoko herauf und zum
zweitenmal durch die beiden Raudale. Man unterſuchte Boden
und Seitenwände der Piroge und meinte, ſie ſei ſtark genug,
die lange Reiſe auszuhalten.


Sobald man über die großen Katarakte weg iſt, befindet
man ſich in einer neuen Welt; man fühlt es, man hat die
Schranke hinter ſich, welche die Natur ſelbſt zwiſchen den
kultivierten Küſtenſtrichen und den wilden, unbekannten Län-
dern im Inneren bezogen zu haben ſcheint. Gegen Oſt in
blauer Ferne zeigt ſich zum letztenmal die hohe Bergkette des
Cunavami; ihr langer, wagerechter Kamm erinnert an die
[182] Geſtalt der Meſa im Brigantin bei Cumana, nur endigt ſie mit
einem abgeſtutzten Kegel. Der Pik Calitamini (ſo heißt dieſer
Gipfel) iſt bei Sonnenuntergang wie von rötlichem Feuer
beſtrahlt, und zwar einen Tag wie den anderen. Kein Menſch
iſt je dieſem Berge nahe gekommen, der nicht über 1170 m
hoch iſt.1 Ich glaube, dieſer gewöhnlich rötliche, zuweilen ſilber-
weiße Schimmer iſt ein Reflex von großen Talgblättern oder
von Gneis, der in Glimmerſchiefer übergeht. Das ganze
Land beſteht hier aus Granitgeſtein, dem da und dort, auf
kleinen Ebenen, unmittelbar ein thonichter Sandſtein mit Quarz-
trümmern und Brauneiſenſtein aufgelagert iſt.


Auf dem Wege zum Landungsplatz fingen wir auf einem
Heveaſtamm2 eine neue, durch ihre ſchöne Färbung ausgezeich-
nete Froſchart. Der Bauch war gelb, Rücken und Kopf ſchön
ſamtartig purpurfarb; ein einziger ganz ſchmaler weißer Streif
lief von der Spitze des Maules zu den Hinterbeinen. Der
Froſch war 5 cm lang, nahe verwandt der Rana tinctoria,
deren Blut (wie man behauptet), wenn man es Papageien
da, wo man ihnen Federn ausgerauft, in die Haut einreibt,
macht, daß die neuen gelben oder roten Federn ſcheckigt werden.
Den Weg entlang zeigten uns die Indianer etwas, was hier-
zulande allerdings ſehr merkwürdig iſt, Räderſpuren im Ge-
ſtein. Sie ſprachen, wie von einem unbekannten Geſchöpf,
von den Tieren mit großen Hörnern, welche zur Zeit der
Grenzexpedition die Fahrzeuge durch das Thal des Keri vom
Rio Toparo zum Rio Cameji gezogen, um die Katarakte zu
umgehen und die Mühe des Umladens zu erſparen. Ich glaube,
dieſe armen Einwohner von Maypures wunderten ſich jetzt
beim Anblick eines Ochſen von kaſtiliſcher Raſſe wie die
Römer über die lukaniſchen Ochſen (die Elefanten im
Heere des Pyrrhus).


Wenn man durch das Thal des Keri einen Kanal zöge,
der die kleinen Flüſſe Cameji und Toparo vereinigte, brauchten
die Pirogen nicht mehr durch die Raudales zu gehen. Auf
dieſem ganz einfachen Gedanken beruht der Plan, den ich im
erſten Entwurf durch den Generalkapitän von Caracas, Gue-
vara Vasconzelos, der ſpaniſchen Regierung habe vorlegen
laſſen. Beim Katarakt von Maypures ſind die Bodenverhält-
[183] niſſe ſo günſtig, wie man ſie bei Atures vergeblich ſuchte. Der
Kanal würde 5555 m oder 2650 m lang, je nachdem man
ihn nahe an der Mündung der beiden Flüßchen oder weiter
ihren Quellen zu anfangen ließe. Das Terrain ſcheint im
Durchſchnitt von Süd-Süd-Oſt nach Nord-Nord-Weſt um 11 bis
13,5 m zu fallen, und im Thal des Keri iſt der Boden ganz
eben, mit Ausnahme eines kleinen Kammes oder einer Waſſer-
ſcheide, welche im Parallel der Kirche von Maypures die
beiden Nebenflüſſe des Stromes nach entgegengeſetzten Seiten
laufen läßt. Die Ausführung dieſes Planes wäre durchaus
nicht koſtſpielig, da die Landenge größtenteils aus ange-
ſchwemmtem Boden beſteht, und Pulver hätte man dabei gar
nicht nötig. Dieſer Kanal, der nicht über 3 m breit zu
ſein brauchte, wäre als ein ſchiffbarer Arm des Orinoko zu
betrachten. Es bedürfte keiner Schleuſe, und die Fahrzeuge,
die in den oberen Orinoko gehen, würden nicht mehr wie
jetzt durch die Reibung an den rauhen Klippen am Raudal
beſchädigt; man zöge ſie hinauf, und da man die Waren nicht
mehr auszuladen brauchte, würde viel Zeit erſpart. Man hat
die Frage erörtert, wozu der von mir in Vorſchlag gebrachte
Kanal dienen ſollte. Hier iſt die Antwort, die ich im Jahre
1801 auf meiner Reiſe nach Quito dem Miniſterium erteilt
habe: „Auf den Bau eines Kanales bei Maypures und eines
anderen, von dem in der Folge die Rede ſein wird, lege ich
nur in der Vorausſetzung Gewicht, daß die Regierung ſich
mit Handel und Gewerbefleiß am oberen Orinoko ernſtlich
beſchäftigen wollte. Unter den gegenwärtigen Verhältniſſen,
da, wie es ſcheint, die Ufer des majeſtätiſchen Stromes gänz-
lich vernachläſſigt bleiben ſollen, wären Kanäle allerdings ſo
gut wie überflüſſig.“


Nachdem wir uns im Puerto de Arriba eingeſchifft, gingen
wir mit ziemlicher Beſchwerde über den Raudal de Cameji;
dieſe Stelle gilt bei ſehr hohem Waſſerſtand für gefährlich.
Jenſeits des Raudals fanden wir den Strom ſpiegelglatt.
Wir übernachteten auf einer felſichten Inſel, genannt Piedra
Raton; ſie iſt gegen 3,3 km lang, und auch hier wiederholt
ſich die intereſſante Erſcheinung einer in der Entwickelung be-
griffenen Vegetation, jener zerſtreuten Gruppen von Buſchwerk
auf ebenem Felsboden, wovon ſchon öfters die Rede war.
Ich konnte in der Nacht mehrere Sternbeobachtungen machen
und fand die Breite der Inſel gleich 5° 4′ 51″, ihr Länge
gleich 70° 57′. Ich konnte die im Strom reflektierten Stern-
[184] bilder benützen; obgleich wir uns mitten im Orinoko befanden,
war die Moskitowolke ſo dick, daß ich nicht die Geduld hatte,
den künſtlichen Horizont zu richten.


Am 22. April. Wir brachen anderthalb Stunden vor
Sonnenaufgang auf. Der Morgen war feucht, aber herrlich;
kein Lüftchen ließ ſich ſpüren, denn ſüdlich von Atures und
Maypures herrſcht beſtändig Windſtille. Am Rio Negro und
Caſſiquiare, am Fuß des Cerro Duida in der Miſſion Santa
Barbara hörten wir niemals das Rauſchen des Laubes, das
in heißen Ländern einen ganz eigentümlichen Reiz hat. Die
Krümmungen des Stromes, die ſchützenden Berge, die un-
durchdringlichen Wälder und der Regen, der einen bis zwei
Grade nördlich vom Aequator faſt gar nicht ausſetzt, mögen
dieſe Erſcheinung veranlaſſen, die den Miſſionen am Orinoko
eigentümlich iſt.


In dem unter ſüdlicher Breite, aber ebenſo weit vom
Aequator gelegenen Thal des Amazonenſtromes erhebt ſich alle
Tage, 2 Stunden nach der Kulmination der Sonne, ein ſehr
ſtarker Wind. Derſelbe weht immer gegen die Strömung und
wird nur im Flußbett ſelbſt geſpürt. Unterhalb San Borja
iſt es ein Oſtwind; in Tomependa fand ich ihn zwiſchen Nord
und Nord-Nord-Oſt. Es iſt immer die Briſe, der von der
Umdrehung der Erde herrührende Wind, der aber durch kleine
örtliche Verhältniſſe bald dieſe, bald jene Richtung bekommt.
Mit dieſem beſtändigen Wind ſegelt man von Gran Para bis
Tefe, 3375 km weit, den Amazonenſtrom hinauf. In der
Provinz Jaen de Bracamoros, am Fuße des Weſtabhanges
der Kordilleren, tritt dieſer vom Atlantiſchen Meere herkom-
mende Wind zuweilen als ein eigentlicher Sturm auf. Wenn
man auf das Flußufer zugeht, kann man ſich kaum auf den
Beinen halten; ſo auffallend anders ſind die Verhältniſſe am
oberen Orinoko und am oberen Amazonenſtrom.


Sehr wahrſcheinlich iſt es dieſem beſtändig wehenden
Winde zuzuſchreiben, daß der Amazonenſtrom ſo viel geſunder
iſt. In der ſtockenden Luft am oberen Orinoko ſind die chemi-
ſchen Affinitäten eingreifender und es entwickeln ſich mehr
ſchädliche Miasmen. Die bewaldeten Ufer des Amazonen-
ſtromes wären ebenſo ungeſund, wenn nicht der Fluß, gleich
dem Niger, ſeiner ungeheuren Länge nach von Weſt nach Oſt,
alſo in der Richtung der Paſſatwinde, gerade fortliefe. Das
Thal des Amazonenſtromes iſt nur an ſeinem weſtlichen Ende,
wo es der Kordillere der Anden naherückt, geſchloſſen. Gegen
[185] Oſt, wo der Seewind auf den neuen Kontinent trifft, erhebt
ſich das Geſtade kaum ein paar Fuß über den Spiegel des
atlantiſchen Meeres. Der obere Orinoko läuft anfangs von
Oſt nach Weſt, und dann von Nord nach Süd. Da wo ſein
Lauf dem des Amazonenſtromes ziemlich parallel iſt, liegt
zwiſchen ihm und dem Atlantiſchen Meere ein ſehr gebirgiges
Land, der Gebirgsſtock der Parime und des holländiſchen und
franzöſiſchen Guyana, und läßt den Rotationswind nicht nach
Esmeralda kommen; erſt vom Einfluß des Apure an, von wo
der untere Orinoko von Weſt nach Oſt über eine weite, dem
Atlantiſchen Meer zu offene Ebene läuft, fängt der Wind an
kräftig aufzutreten; dieſes Stromſtück iſt daher auch nicht ſo
ungeſund als der obere Orinoko.


Als dritten Vergleichungspunkt führe ich das Thal des
Magdalenenſtromes an. Derſelbe behält, wie der Amazonen-
ſtrom, immer dieſelbe Richtung, aber ſie iſt ungünſtig, weil
ſie nicht mit der des Seewindes zuſammenfällt, ſondern von
Süd nach Nord geht. Obgleich im Striche der Paſſatwinde
gelegen, hat der Magdalenenſtrom eine ſo ſtockende Luft wie
der obere Orinoko. Vom Kanal Mahates bis Honda, namentlich
ſüdlich von der Stadt Mompox, ſpürten wir niemals etwas
von Wind, außer beim Anzug nächtlicher Gewitter. Kommt
man dagegen auf dem Fluß über Honda hinauf, ſo findet
man die Luft ziemlich oft in Bewegung. Die ſehr ſtarken
Winde, die ſich im Thale des Neiva verfangen, ſind als un-
gemein heiß weit berufen. Man mag es anfangs auffallend
finden, daß die Windſtille aufhört, wenn man im oberen
Stromlauf dem Gebirge näher kommt, aber es erſcheint er-
klärlich, wenn man bedenkt, daß die trockenen, heißen Winde
in den Llanos am Neiva von niedergehenden Luftſtrömungen
herrühren. Kalte Luftſäulen ſtürzen von den Nevadas von
Quindiu und Guanacas in das Thal nieder und jagen die
unteren Luftſchichten vor ſich her. Ueberall unter den Tropen,
wie in der gemäßigten Zone, entſtehen durch die ungleiche
Erwärmung des Bodens und durch die Nähe ſchneebedeckter
Gebirge örtliche Luftſtrömungen. Jene ſehr ſtarken Winde
am Neiva kommen nicht daher, daß die Paſſatwinde zurück-
geworfen würden; ſie entſtehen vielmehr da, wohin der See-
wind nicht gelangen kann, und wenn die meiſt ganz mit
Bäumen bewachſenen Berge am oberen Orinoko höher wären,
ſo würden ſie in der Luft dieſelben raſchen Gleichgewichts-
ſtörungen hervorbringen, wie wir ſie in den Gebirgen von
[186] Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur-
ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme,
der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be-
wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver-
dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un-
fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer
Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten
aufgefaßt würde!


Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton
kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die
Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des
Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz
unter Waſſer einen kleinen Fall, einen Raudalito. Der Rio
Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der
nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer
ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die-
ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem
Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von
Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen
mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor-
dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die
ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt
nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich
denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe
Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont-
ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An-
blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen-
aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel-
grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen
eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen.
Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene
und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden,
in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber
um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht,
verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze
Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt
als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um
den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um-
riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land-
ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der
Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins,
aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt.


[187]

Hinter dieſen Bergen am Sipapo lebte lange Cruzero,
der mächtige Häuptling der Guaypunabis, nachdem er mit
ſeiner kriegeriſchen Horde von den Ebenen zwiſchen dem Rio
Irinida und dem Chamochiquini abgezogen war. Die In-
dianer verſicherten uns, in den Wäldern am Sipapo wachſe
in Menge der Vehuco de Maimure. Dieſes Schling-
gewächs iſt den Indianern ſehr wichtig, weil ſie Körbe und
Matten daraus verfertigen. Die Wälder am Sipapo ſind
völlig unbekannt, und die Miſſionäre verſetzen hierher das Volk
der Rayas,1 „die den Mund am Nabel haben“. Ein alter
Indianer, den wir in Carichana antrafen und der ſich rühmte
oft Menſchenfleiſch gegeſſen zu haben, hatte dieſe kopfloſen
Menſchen „mit eigenen Augen“ geſehen. Dieſe abgeſchmackten
Märchen haben ſich auch in den Llanos verbreitet, und dort
iſt es nicht immer geraten, die Exiſtenz der Rayas-Indianer
in Zweifel zu ziehen. In allen Himmelsſtrichen iſt Unduld-
ſamkeit die Gefährtin der Leichtgläubigkeit, und man könnte
meinen, die Hirngeſpinnſte der alten Erdbeſchreiber ſeien aus
der einen Halbkugel in die andere gewandert, wenn man nicht
wüßte, daß die ſeltſamſten Ausgeburten der Phantaſie, gerade
wie die Naturbildungen, überall in Ausſehen und Geſtaltung
eine gewiſſe Aehnlichkeit zeigen.


Bei der Mündung des Rio Vichada oder Viſata ſtiegen
wir aus, um die Pflanzen des Landſtriches zu unterſuchen.
Die Gegend iſt höchſt merkwürdig; der Wald iſt nicht ſehr
dicht und eine Unzahl kleiner Felſen ſteht frei auf der Ebene.
Es ſind prismatiſche Steinmaſſen und ſie ſehen wie verfallene
Pfeiler, wie einzeln ſtehende 5 bis 7 m hohe Türmchen aus.
Die einen ſind von den Bäumen des Waldes beſchattet, bei
anderen iſt der Gipfel von Palmen gekrönt. Die Felſen ſind
Granit, der in Gneis übergeht. Befände man ſich hier nicht
im Bereich des Urgebirges, man glaubte ſich in den Felſen
von Adersbach in Böhmen oder von Streitberg und Fantaſie
in Franken verſetzt. Sandſtein und ſekundärer Kalkſtein können
keine groteskeren Formen annehmen. An der Mündung des
Vichada ſind die Granitfelſen, und was noch weit auffallender
iſt, der Boden ſelbſt mit Moſen und Flechten bedeckt. Letztere
haben den Habitus von Cladonia pyxidata und Lichen ran-
giferinus,
die im nördlichen Europa ſo häufig vorkommen.
[188] Wir konnten kaum glauben, daß wir uns keine 200 m über
dem Meer, unter dem 5. Breitengrad mitten in der heißen
Zone befanden, von der man ſo lange glaubte, daß keine
kryptogamiſchen Gewächſe in ihr vorkommen. Die mittlere
Temperatur dieſes ſchattigen, feuchten Ortes beträgt wahr-
ſcheinlich 26° des hundertteiligen Thermometers. In betracht
des wenigen Regens, der bis jetzt gefallen war, wunderten
wir uns über das ſchöne Grün der Wälder. Dieſer Umſtand
iſt für das obere Orinokothal charakteriſtiſch; an der Küſte
von Caracas und in den Llanos werfen die Bäume ihr Laub
im Winter1 ab und man ſieht am Boden nur gelbes, ver-
trocknetes Gras. Zwiſchen den eben beſchriebenen freiſtehenden
Felſen wuchſen mehrere große Stämme Säulenkaktus (Cactus
septemangularis)
, was ſüdlich von den Katarakten von Atures
und Maypures eine große Seltenheit iſt.


Am ſelben maleriſchen Ort hatte Bonpland das Glück,
mehrere Stämme von Laurus cinnamomoides anzutreffen,
eines ſehr gewürzreichen Zimtbaumes, der am Orinoko unter
dem Namen Varimacu und Canelilla bekannt iſt.2 Dieſes
koſtbare Produkt kommt auch im Thale des Rio Caura, wie
bei Esmeralda und öſtlich von den großen Katarakten vor.
Der Jeſuit Francisco de Olma ſcheint die Canelilla im Lande
der Piaroas bei den Quellen des Cataniapo entdeckt zu haben.
Der Miſſionär Gili, der nicht bis in die Gegend kam, von
der hier die Rede iſt, ſcheint den Varimacu oder Guari-
macu
mit der Myriſtica oder dem amerikaniſchen Muskat-
baum zu verwechſeln. Dieſe gewürzhaften Rinden und Früchte,
der Zimt, die Muskatnuß, Myrtus Pimenta und Laurus
pucheri
wären wichtige Handelsartikel geworden, wenn nicht
Europa bei der Entdeckung von Amerika bereits an die Ge-
würze und Wohlgerüche Oſtindiens gewöhnt geweſen wäre.
Der Zimt vom Orinoko und der aus den Miſſionen der
Andaquies, deſſen Anbau Mutis in Mariquita in Neugranada
eingeführt hat, ſind übrigens weniger gewürzhaft als der
[189] Ceylonzimt, und wären ſolches ſelbſt dann, wenn ſie ganz ſo
getrocknet und zubereitet würden.


Jede Halbkugel hat ihre eigenen Arten von Gewächſen,
und es erklärt ſich keineswegs aus der Verſchiedenheit der
Klimate, warum das tropiſche Afrika keine Laurineen, die
Neue Welt keine Heidekräuter hervorbringt, warum es in der
ſüdlichen Halbkugel keine Calceolarien gibt, warum auf dem
indiſchen Feſtlande das Gefieder der Vögel nicht ſo glänzend
iſt wie in den heißen Landſtrichen Amerikas, endlich warum
der Tiger nur Aſien, das Schnabeltier nur Neuholland eigen
iſt? Die Urſachen der Verteilung der Arten im Pflanzen-
wie im Tierreiche gehören zu den Rätſeln, welche die Natur-
philoſophie nicht zu löſen imſtande iſt. Mit dem Urſprung
der Weſen hat dieſe Wiſſenſchaft nichts zu thun, ſondern nur
mit den Geſetzen, nach denen die Weſen über den Erdball
verteilt ſind. Sie unterſucht das, was iſt, die Pflanzen- und
Tierbildungen, wie ſie unter jeder Breite, in verſchiedenen
Höhen und bei verſchiedenen Wärmegraden nebeneinander vor-
kommen; ſie erforſcht die Verhältniſſe, unter denen ſich dieſer
oder jener Organismus kräftiger entwickelt, ſich vermehrt oder
ſich umwandelt; aber ſie rührt nicht an Fragen, die unmög-
lich zu löſen ſind, weil ſie mit der Herkunft, mit dem Ur-
anfang eines Lebenskeimes zuſammenhängen. Ferner iſt zu
bemerken, daß die Verſuche, die Verteilung der Arten auf dem
Erdballe allein aus dem Einfluſſe der Klimate zu erklären,
einer Zeit angehören, wo die phyſiſche Geographie noch in der
Wiege lag, wo man fortwährend an vermeintlichen Gegen-
ſätzen beider Welten feſthielt und ſich vorſtellte, ganz Afrika
und Amerika gleichen den Wüſten Aegyptens und den Sümpfen
Cayennes. Seit man den Sachverhalt nicht nach einem will-
kürlich angenommenen Typus, ſondern nach poſitiven Kennt-
niſſen beurteilt, weiß man auch, daß die beiden Kontinente in
ihrer unermeßlichen Ausdehnung Bodenſtücke mit völlig über-
einſtimmenden Naturverhältniſſen aufzuweiſen haben. Amerika
hat ſo dürre und glühend heiße Landſtriche als das innere
Afrika. Die Inſeln, welche die indiſchen Gewürze erzeugen,
zeichnen ſich keineswegs durch Trockenheit aus, und die Feuch-
tigkeit des Klimas iſt durchaus nicht, wie in neueren Werken
behauptet wird, die Urſache, warum auf dem neuen Kontinent
die ſchönen Laurineen- und Myriſticeenarten nicht vorkommen,
die im Indiſchen Archipel in einem kleinen Erdwinkel neben-
einander wachſen. Seit einigen Jahren wird in mehreren
[190] Ländern des neuen Kontinents der echte Zimtbaum mit Erfolg
gebaut, und ein Landſtrich, auf dem der Coumarouna (die
Tongabohne), die Vanille, der Pucheri, die Ananas, Mirtus
pimenta,
der Tolubalſam, Myroxylon peruvianum, die
Crotonarten, die Citrosmen, der Pejoa (Gaultheria odorata),
der Incienſo der Silla von Caracas,1 der Quereme, die Pan-
kratiumarten und ſo viele herrliche Lilienarten wachſen, kann
nicht für einen gelten, dem es an Aromen fehlt. Zudem iſt
Trockenheit der Luft der Entwickelung aromatiſcher und rei-
zender Eigenſchaften nur bei gewiſſen Pflanzenarten förderlich.
Die heftigſten Gifte werden im feuchteſten Landſtriche Amerikas
erzeugt, und gerade unter dem Einfluß der anhaltend tropi-
ſchen Regen gedeiht der amerikaniſche Pfeffer (Capsicum bac-
catum)
am beſten, deſſen Frucht häufig ſo ſcharf und beißend
iſt als der oſtindiſche Pfeffer. Aus dieſen Betrachtungen geht
folgendes hervor: 1) der neue Kontinent beſitzt ſehr ſtarke
Gewürze, Arome und vegetabiliſche Gifte, die ihm allein an-
gehören, ſich aber ſpezifiſch von denen der alten Welt unter-
ſcheiden; 2) die urſprüngliche Verteilung der Arten in der
heißen Zone iſt allein aus dem Einfluß des Klimas, aus der
Verteilung der Wärme, wie ſie im gegenwärtigen Zuſtande
unſeres Planeten ſtattfindet, nicht zu erklären, aber dieſe Ver-
ſchiedenheit der Klimate macht es uns begreiflich, warum ein
gegebener organiſcher Typus ſich an der einen Oertlichkeit
kräftiger entwickelt als an der anderen. Wir begreifen von
einigen wenigen Pflanzenfamilien, wie von den Muſen und
Palmen, daß ſie wegen ihres inneren Baues und der Wich-
tigkeit gewiſſer Organe unmöglich ſehr kalten Landſtrichen an-
gehören können, wir vermögen aber nicht zu erklären, warum
keine Art aus der Familie der Melaſtomeen nördlich vom
30. Breitengrad wächſt, warum keine einzige Roſenart der
ſüdlichen Halbkugel angehört. Häufig ſind auf beiden Kon-
tinenten die Klimate analog, ohne daß die Erzeugniſſe gleich-
artig wären.


Der Rio Vichada (Bichada), der bei ſeinem Zuſammenfluß
mit dem Orinoko einen kleinen Raudal hat, ſchien mir nach
dem Meta und dem Guaviare der bedeutendſte unter den aus
Weſten kommenden Flüſſen. Seit vierzig Jahren hat kein
Europäer den Vichada befahren. Ueber ſeine Quellen habe
ich nichts in Erfahrung bringen können; ich vermute ſie mit
[191] denen des Tomo auf den Ebenen ſüdwärts von Caſimena.
Wenigſtens iſt wohl nicht zweifelhaft, daß die früheſten Miſ-
ſionen an den Ufern des Vichada von Jeſuiten aus den Miſ-
ſionen am Caſanare gegründet worden ſind. Noch in neueſter
Zeit ſah man flüchtige Indianer von Santa Roſalia de Caba-
puna, einem Dorfe am Meta, über den Rio Vichada an
den Katarakt von Maypures kommen, was darauf hinweiſt,
daß die Quellen desſelben nicht ſehr weit vom Meta ſein
können. Pater Gumilla hat uns die Namen mehrerer deutſcher
und ſpaniſcher Jeſuiten aufbewahrt, die im Jahre 1734 an
den jetzt öden Ufern des Vichada von der Hand der Kariben
als Opfer ihres religiöſen Eifers fielen.


Nachdem wir zuerſt gegen Oſt am Caño Pirajavi, ſodann
gegen Weſt an einem kleinen Fluß vorübergekommen, der nach
der Ausſage der Indianer aus einem See Namens Nao ent-
ſpringt, übernachteten wir am Ufer des Orinoko, beim Einfluß
des Zama, eines ſehr anſehnlichen Fluſſes, der ſo unbekannt
iſt als der Rio Vichada. Trotz des ſchwarzen Waſſers des
Zama hatten wir viel von den Inſekten auszuſtehen. Die
Nacht war ſchön; in den niederen Luftregionen wehte kein
Lüftchen, aber gegen 2 Uhr ſahen wir dicke Wolken raſch von
Oſt nach Weſt durch den Zenith gehen. Als ſie beim Nieder-
gehen gegen den Horizont vor die großen Nebelflecken im
Schützen oder im Schiff traten, erſchienen ſie ſchwarzblau.
Die Nebelflecken ſind nie lichtſtärker, als wenn ſie zum Teil
von Wolkenſtreifen bedeckt ſind. Wir beobachten in Europa
dieſelbe Erſcheinung an der Milchſtraße, beim Nordlicht, wenn
es im Silberlicht ſtrahlt, endlich bei Sonnenauf- und Untergang
an dem Stück des Himmels, das weiß wird aus Urſachen,
welche die Phyſik noch nicht gehörig ermittelt hat.


Kein Menſch kennt den weiten Landſtrich zwiſchen Meta,
Vichada und Guaviare weiter als auf 4 bis 5 km vom Ufer.
Man glaubt, daß hier wilde Indianer vom Stamme der Chi-
ricoas hauſen, die glücklicherweiſe keine Kanoen bauen. Früher,
als noch die Kariben und ihre Feinde, die Cabres, mit ihren
Geſchwadern von Flößen und Pirogen hier umherzogen,
wäre es unvorſichtig geweſen, an der Mündung eines Fluſſes
zu übernachten, der aus Weſten kommt. Gegenwärtig, da
die kleinen Niederlaſſungen der Europäer die unabhängigen
Indianer von den Ufern des oberen Orinoko verdrängt haben,
iſt dieſer Landſtrich ſo öde, daß uns von Carichana bis Ja-
vita und von Esmeralda bis San Fernando de Atabapo,
[192] auf einer Stromfahrt von 810 km, nicht ein einziges Fahr-
zeug begegnete.


Mit der Mündung des Rio Zama betraten wir ein Fluß-
ſyſtem, das große Aufmerkſamkeit verdient. Der Zama, der
Mataveni, der Atabapo, der Tuamini, der Temi, der Guainia
haben ſchwarzes Waſſer(aguas negras), das heißt, ihr
Waſſer, in großen Maſſen geſehen, erſcheint kaffeebraun oder
grünlich-ſchwarz, und doch ſind es die ſchönſten, klarſten, wohl-
ſchmeckendſten Waſſer. Ich habe ſchon oben erwähnt, daß die
Krokodile und, wenn auch nicht die Zancudos, doch die Moskiten
faſt überall die ſchwarzen Waſſer meiden. Das Volk behauptet
ferner, dieſe Waſſer bräunen das Geſtein nicht, und die weißen
Flüſſe haben ſchwarze, die ſchwarzen Flüſſe weiße Ufer. Und
allerdings ſieht man am Geſtade des Guainia, den die Euro-
päer unter dem Namen Rio Negro kennen, häufig blendend
weiße Quarzmaſſen aus dem Granit hervorſtehen. Im Glaſe
iſt das Waſſer des Mataveni ziemlich weiß, das des Ata-
bapo aber behält einen braungelblichen Schein. Wenn ein
gelinder Wind den Spiegel dieſer ſchwarzen Flüſſe
kräuſelt, ſo erſcheinen ſie ſchön wieſengrün, wie die Schweizer
Seen. Im Schatten iſt der Zama, der Atabapo, der Guainia
ſchwarz wie Kaffeeſatz. Dieſe Erſcheinungen ſind ſo auffallend,
daß die Indianer allerorten die Gewäſſer in ſchwarze und
weiße einteilen. Erſtere haben mir häufig als künſtlicher
Horizont gedient; ſie werfen die Sternbilder wunderbar ſcharf
zurück.


Die Farbe des Quellwaſſers, Flußwaſſers und Seewaſſers
gehört zu den phyſikaliſchen Problemen, die durch unmittelbare
Verſuche ſchwer oder gar nicht zu löſen ſind. Die Farben
bei reflektiertem Lichte ſind meiſt ganz andere als bei durch-
gehendem, beſonders wenn es durch eine große Maſſe Flüſſigkeit
durchgeht. Fände keine Abſorption der Strahlen ſtatt, ſo
hätte das durchgehende Licht immer die Farbe, welche die
komplementäre des reflektierten Lichtes wäre, und meiſt be-
urteilt man bei einem Waſſer in einem nicht tiefen Glaſe
mit enger Oeffnung das durchgehende Licht falſch. Bei einem
Fluſſe gelangt das reflektierte farbige Licht immer von den
inneren Schichten der Flüſſigkeit zu uns, nicht von der oberſten
Schicht derſelben.


Berühmte Phyſiker, welche das reinſte Gletſcherwaſſer
unterſucht haben, ſowie das, welches aus mit ewigem Schnee
bedeckten Bergen entſpringt, wo keine vegetabiliſchen Reſte ſich
[193] in der Erde finden, ſind der Meinung, die eigentümliche Farbe
des Waſſers möchte blau oder grün ſein. In der That iſt
durch nichts erwieſen, daß das Waſſer von Natur weiß iſt
und immer ein Farbſtoff im Spiele ſein muß, wenn dasſelbe,
bei reflektiertem Licht geſehen, eine Färbung zeigt. Wo Flüſſe
wirklich einen färbenden Stoff enthalten, iſt derſelbe meiſt in
ſo geringer Menge, daß er ſich jeder chemiſchen Unterſuchung
entzieht. Die Färbung des Meeres ſcheint häufig weder von
der Beſchaffenheit des Grundes, noch vom Reflex des Himmels
und der Wolken abzuhängen. Ein großer Phyſiker, Davy,
ſoll der Anſicht ſein, die verſchiedene Färbung der Meere
könnte daher rühren, daß das Jod in verſchiedenen Verhält-
niſſen darin enthalten iſt.


Aus den alten Erdbeſchreibern erſehen wir, daß bereits
den Griechen die blauen Waſſer der Thermopylen, die roten
bei Joppe, die ſchwarzen der heißen Bäder von Aſtyra, Lesbos
gegenüber, aufgefallen waren. Manche Flüſſe, z. B. die Rhone
bei Genf, haben eine entſchieden blaue Farbe. Das Schnee-
waſſer in den Schweizeralpen ſoll zuweilen ſmaragdgrün ſein,
in wieſengrün übergehend. Mehrere Seen in Savoyen und
Peru ſind bräunlich, ja faſt ſchwarz. Die meiſten dergleichen
Farbenerſcheinungen kommen bei Gewäſſern vor, welche für
die reinſten gelten, und man wird ſich viel mehr an auf Ana-
logieen gegründete Schlüſſe als an die unmittelbare Analyſe
halten müſſen, um über dieſen noch ſehr dunklen Punkt einiges
Licht zu verbreiten. In dem weit ausgedehnten Flußſyſteme,
das wir bereiſt — und dieſer Umſtand ſcheint mir ſehr auf-
fallend — kommen die ſchwarzen Waſſer vorzugsweiſe
nur in dem Striche in der Nähe des Aequators vor. Um
den 5. Grad nördlicher Breite fängt man an, ſie anzutreffen,
und ſie ſind über den Aequator hinaus bis gegen den 2. Grad
ſüdlicher Breite ſehr häufig. Die Mündung des Rio Negro
liegt ſogar unter dem 3° 9′ der Breite; aber auf dieſem
ganzen Landſtriche kommen in den Wäldern und auf den
Grasfluren weiße und ſchwarze Waſſer dergeſtalt untereinander
vor, daß man nicht weiß, welcher Urſache man die Färbung
des Waſſers zuſchreiben ſoll. Der Caſſiquiare, der ſich in den
Rio Negro ergießt, hat weißes Waſſer wie der Orinoko, aus
dem er entſpringt. Von zwei Nebenflüſſen des Caſſiquiare
nahe bei einander, Siapa und Pacimony, iſt der eine weiß,
der andere ſchwarz.


Fragt man die Indianer nach den Urſachen dieſer ſonder-
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 13
[194] baren Färbung, ſo lautet ihre Antwort, wie nicht ſelten auch
in Europa, wenn es ſich um phyſiſche und phyſiologiſche
Fragen handelt: ſie wiederholen das Faktum mit anderen
Worten. Wendet man ſich an die Miſſionäre, ſo ſprechen ſie,
als hätten ſie die ſtrengſten Beweiſe für ihre Behauptung,
„das Waſſer färbe ſich, wenn es über Sarſaparillewurzeln
laufe“. Die Smilaceen ſind allerdings am Rio Negro, Pa-
cimony und Cababury ſehr häufig, und ihre Wurzeln geben
in Waſſer eingeweicht einen braunen, bitteren, ſchleimigen
Extraktivſtoff; aber wie viele Smilaxbüſche haben wir an
Orten geſehen, wo die Waſſer ganz weiß ſind! Wie kommt
es, daß wir im ſumpfigen Walde, durch den wir unſere Piroge
vom Rio Tuamini zum Caño Pimichin und an den Rio Negro
ſchleppen mußten, auf demſelben Landſtriche jetzt durch Bäche
mit weißem, jetzt durch andere mit ſchwarzem Waſſer wateten?
Warum hat man niemals einen Fluß gefunden, der ſeiner
Quelle zu weiß und im unteren Stücke ſeines Laufes ſchwarz
war? Ich weiß nicht, ob der Rio Negro ſeine braungelbe
Farbe bis zur Mündung behält, obgleich ihm durch den
Caſſiquiare und den Rio Blanco ſehr viel weißes Waſſer zu-
fließt. Da La Condamine den Fluß nordwärts vom Aequator
nicht ſah, konnte er vom Unterſchied in der Farbe nicht
urteilen.


Die Vegetation iſt wegen der Regenfülle ganz in der
Nähe des Aequators allerdings kräftiger als 8 bis 10° gegen
Nord und gegen Süd; es läßt ſich aber keineswegs behaupten,
daß die Flüſſe mit ſchwarzem Waſſer vorzugsweiſe in den
dichteſten, ſchattigſten Wäldern entſpringen. Im Gegenteil
kommen ſehr viele aguas negras aus den offenen Grasfluren,
die ſich vom Meta jenſeits des Guaviare gegen den Caqueta
hinziehen. Auf einer Reiſe, die ich zur Zeit der Ueber-
ſchwemmung mit Herrn von Montufar vom Hafen von Guaya-
quil nach den Bodegas de Babaojo machte, fiel es mir auf,
daß die weiten Savannen am Invernadero de Carzal
und am Lagartero ganz ähnlich gefärbt waren wie der Rio
Negro und der Atabapo. Dieſe zum Teil ſeit drei Monaten
unter Waſſer ſtehenden Grasfluren beſtehen aus Paspalum,
Eriochloa und mehreren Cyperaceen. Wir fuhren in 1,3 bis
1,6 m tiefem Waſſer; dasſelbe war bei Tage 33 bis 34° warm;
es roch ſtark nach Schwefelwaſſerſtoff, was ohne Zweifel zum
Teil von den faulenden Arum- und Helikonienſtauden her-
rührte, die auf den Lachen ſchwammen. Das Waſſer des
[195] Lagartero ſah bei durchgehendem Lichte goldgelb, bei reflek-
tiertem kaffeebraun aus. Die Farbe rührt ohne Zweifel von
gekohltem Waſſerſtoff her. Man ſieht etwas Aehnliches am
Düngerwaſſer, das unſere Gärtner bereiten, und am Waſſer,
das aus Torfgruben abfließt. Läßt ſich demnach nicht an-
nehmen, daß auch die ſchwarzen Flüſſe, der Atabapo, der
Zama, der Mataveni, der Guainia, von einer Kohlen- und
Waſſerſtoffverbindung, von einem Pflanzenextraktivſtoff ge-
färbt werden? Der ſtarke Regen unter dem Aequator trägt
ohne Zweifel zur Färbung bei, indem das Waſſer durch einen
dichten Grasfilz ſickert. Ich gebe dieſen Gedanken nur als
Vermutung. Die färbende Subſtanz ſcheint in ſehr geringer
Menge im Waſſer enthalten; denn wenn man Waſſer aus
dem Guainia oder Rio Negro ſieden läßt, ſah ich es nicht
braun werden wie andere Flüſſigkeiten, welche viel Kohlen-
waſſerſtoff enthalten.


Es erſcheint übrigens ſehr merkwürdig, daß dieſe ſchwarzen
Waſſer
, von denen man glauben ſollte, ſie ſeien auf die Nie-
derungen der heißen Zone beſchränkt, gleichfalls, wenn auch
ſehr ſelten, auf den Hochebenen der Anden vorkommen. Wir
fanden die Stadt Cuenca im Königreich Quito von drei Bächen
umgeben, dem Machangara, dem Rio del Matadero und dem
Yanuncai. Die zwei erſteren ſind weiß, letzterer hat ſchwarzes
Waſſer. Dasſelbe iſt, wie das des Atabapo, kaffeebraun bei
reflektiertem, blaßgelb bei durchgehendem Licht. Es iſt ſehr
ſchön, und die Einwohner von Cuenca, die es vorzugsweiſe
trinken, ſchreiben die Farbe ohne weiteres der Sarſaparille zu,
die am Rio Yanuncai ſehr häufig wachſen ſoll.


Am 23. April. Wir brachen von der Mündung des
Zama um 3 Uhr morgens auf. Auf beiden Seiten lief fort-
während dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Oſten
ſchienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen zuerſt am
Einfluſſe des Rio Mataveni und dann an einer merkwürdig
geſtalteten Inſel vorbei. Ein viereckiger Granitfels ſteigt wie
eine Kiſte gerade aus dem Waſſer empor; die Miſſionäre
nennen ihn El Caſtillito. Aus ſchwarzen Streifen daran ſollte
man ſchließen, daß der Orinoko, wenn er anſchwillt, an dieſer
Stelle nicht über 2,6 m ſteigt, und daß die hohen Waſſer-
ſtände, die wir weiter unten beobachtet, von den Nebenflüſſen
herrühren, die nördlich von den Katarakten von Atures und
Maypures hereinkommen. Wir übernachteten am rechten Ufer,
der Mündung des Rio Siucurivapu gegenüber, bei einem
[196] Felſen, der Aricagua heißt. In der Nacht kamen zahlloſe
Fledermäuſe aus den Felsſpalten und ſchwirrten um unſere
Hängematten. Ich habe früher von dem Schaden geſprochen,
den dieſe Tiere unter den Herden anrichten. Sie vermehren
ſich beſonders ſtark in ſehr trockenen Jahren.


Am 24. April. Ein ſtarker Regen zwang uns, ſchon
ſehr früh morgens die Piroge wieder zu beſteigen. Wir fuhren
um 2 Uhr ab und mußten einige Bücher zurücklaſſen, die wir
in der finſteren Nacht auf dem Felſen Aricagua nicht finden
konnten. Der Strom läuft ganz gerade von Süd nach Nord;
die Ufer ſind niedrig und zu beiden Seiten von dichten Wäl-
dern beſchattet. Wir kamen an den Mündungen des Ucata,
des Arapa und des Caranaveni vorüber. Gegen 4 Uhr abends
ſtiegen wir bei den Conucos de Siquita aus, Pflanzungen
von Indianern aus der Miſſion San Fernando. Die guten
Leute hätten uns gerne behalten, aber wir fuhren weiter gegen
den Strom, der in der Sekunde 1,62 m zurücklegt. Dies iſt
das Ergebnis einer Meſſung, bei der ich die Zeit ſchätzte, die
ein ſchwimmender Körper braucht, um eine gegebene Strecke
zurückzulegen. Wir liefen bei finſterer Nacht in die Mündung
des Guaviare ein, fuhren über den Zuſammenfluß des Atabapo
mit dem Guaviare hinauf und langten nach Mitternacht in
der Miſſion an. Wir erhielten unſere Wohnung, wie immer,
im Kloſter, das heißt im Hauſe des Miſſionärs, der von
unſerem unerwarteten Beſuche höchlich überraſcht war, uns
aber nichtsdeſtoweniger mit der liebenswürdigſten Gaſtlichkeit
aufnahm.


[[197]]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.


San Fernando de Atabapo. — San Baltaſar. — Die Flüſſe Temi
und Tuamini. — Javita. — Trageplatz zwiſchen dem Tuamini und
dem Rio Negro.


Wir hatten in der Nacht faſt unvermerkt die Gewäſſer
des Orinoko verlaſſen und ſahen uns bei Sonnenaufgang wie
in ein anderes Land verſetzt, am Ufer eines Fluſſes, deſſen
Namen wir faſt noch nie hatten ausſprechen hören, und auf
dem wir über den Trageplatz am Pimichin zum Rio Negro
an der Grenze Braſiliens gelangen ſollten. „Sie müſſen,“
ſagte uns der Präſident der Miſſionen, der in San Fernando
ſeinen Sitz hat, „zuerſt den Atabapo, dann den Temi, endlich
den Tuamini hinauffahren. Können Sie bei der ſtarken
Strömung der ſchwarzen Waſſer nicht mehr weiter kommen,
ſo führt man Sie vom Flußbett weg durch die Wälder, die
Sie unter Waſſer finden werden. Auf dieſem wüſten Land-
ſtrich zwiſchen Orinoko und Rio Negro leben nur zwei Mönche,
aber in Javita finden Sie die Mittel, um Ihre Piroge vier
Tagereiſen weit über Land zum Caño Pimichin ziehen zu
laſſen. Zerbricht ſie nicht, ſo fahren Sie ohne Anſtand den
Rio Negro (von Nordweſt nach Südoſt) hinunter bis zur
Schanze San Carlos, ſodann den Caſſiquiare (von Süd nach
Nord) herauf und kommen in Monatsfriſt über den oberen
Orinoko (von Oſt nach Weſt) wieder nach San Fernando.“
Dieſen Plan entwarf man uns für unſere Flußfahrt, und
wir führten ihn nicht ohne Beſchwerden, aber immer leicht
und ohne Gefahr in 33 Tagen aus. Die Krümmungen in
dieſem Flußlabyrinth ſind ſo ſtark, daß man ſich ohne die
Reiſekarte, die ich entworfen, vom Wege, auf dem wir von
der Küſte von Caracas durch das innere Land an die Grenzen
der Capitania General von Gran-Para gelangt ſind, ſo gut
als keine Vorſtellung machen könnte. Für diejenigen, welche
[198] nicht gerne in Karten blicken, auf denen viele ſchwer zu be-
haltende Namen ſtehen, bemerke ich nochmals, daß der Orinoko
von ſeinen Quellen, oder doch von Esmeralda an von Oſt nach
Weſt, von San Fernando, alſo vom Zuſammenfluß des Ata-
bapo und des Guaviare an, bis zum Einfluß des Apure von
Süd nach Nord fließt und auf dieſer Strecke die großen Ka-
tarakte bildet, daß er endlich vom Einfluſſe des Apure bis
Angoſtura und zur Seeküſte von Weſt nach Oſt läuft. Auf
der erſten Strecke, auf dem Laufe von Oſt nach Weſt, bildet
er die berühmte Gabelung, welche die Geographen ſo oft in
Abrede gezogen und deren Lage ich zuerſt durch aſtronomiſche
Beobachtungen beſtimmen konnte. Ein Arm des Orinoko, der
Caſſiquiare, der von Nord nach Süd fließt, ergießt ſich in
den Guainia oder Rio Negro, der ſeinerſeits in den Marañon
oder Amazonenſtrom fällt. Der natürlichſte Weg zu Waſſer
von Angoſtura nach Gran-Para wäre alſo den Orinoko hinauf
bis Esmeralda, und dann den Caſſiquiare, Rio Negro und
Amazonenſtrom hinunter; da aber der Rio Negro auf ſeinem
oberen Laufe ſich ſehr den Quellen einiger Flüſſe nähert, die
ſich bei San Fernando de Atabapo in den Orinoko ergießen
(am Punkte, wo der Orinoko aus der Richtung von Oſt nach
Weſt raſch in die von Süd nach Nord umbiegt), ſo kann man
in den Rio Negro gelangen, ohne die Flußſtrecke zwiſchen
San Fernando und Esmeralda hinaufzufahren. Man geht
bei der Miſſion San Fernando vom Orinoko ab, fährt die
zuſammenhängenden kleinen ſchwarzen Flüſſe (Atabapo, Temi
und Tuamini) hinauf und läßt die Piroge über eine 11,7 km
breite Landenge an das Ufer eines Baches (Caño Pimichin)
tragen, der in den Rio Negro fällt. Dieſer Weg, den wir
einſchlugen, und der beſonders ſeit der Zeit, da Don Manuel
Centurion Statthalter von Guyana war, gebräuchlich geworden,
iſt ſo kurz, daß jetzt ein Bote von San Carlos am Rio Negro
nach Angoſtura Briefſchaften in 24 Tagen bringt, während
er früher über den Caſſiquiare herauf 50 bis 60 brauchte.
Man kann alſo über den Atabapo aus dem Amazonenſtrom
in den Orinoko kommen, ohne den Caſſiquiare herauf zu fahren,
der wegen der ſtarken Strömung, des Mangels an Lebens-
mitteln und der Moskiten gemieden wird. Für franzöſiſche
Leſer führe ich hier ein Beiſpiel aus der hydrographiſchen
Karte Frankreichs an. Wer von Nevers an der Loire nach
Montereau an der Seine will, könnte, ſtatt auf dem Kanal
von Orleans zu fahren, der, wie der Caſſiquiare, zwei Fluß-
[199] ſyſteme verbindet, von den Zuflüſſen der Loire zu denen der
Seine ſein Fahrzeug tragen laſſen; er könnte die Nièvre
hinauffahren, über eine Landenge beim Dorfe Menou gehen
und ſofort die Yonne hinab in die Seine gelangen.


Wir werden bald ſehen, welche Vorteile es hätte, wenn
man über den ſumpfigen Landſtrich zwiſchen dem Tuamini
und dem Pimichin einen Kanal zöge. Käme dieſer Plan
einmal zur Ausführung, ſo hätte die Fahrt vom Fort San
Carlos nach Angoſtura, der Hauptſtadt von Guyana, nur
noch den Rio Negro herauf bis zur Miſſion Maroa einige
Schwierigkeit; von da ginge es auf dem Tuamini, dem Temi,
Atabapo und Orinoko abwärts. Ueber den Caſſiquiare iſt
der Weg von San Carlos nach San Fernando am Atabapo
weit unangenehmer und um die Hälfte länger als über Javita
und den Caño Pimichin. Auf dieſem Landſtriche, in den zur
Zeit der Grenzexpedition kein aſtronomiſches Werkzeug ge-
kommen war, habe ich mit Louis Berthouds Chronometer und
durch Meridianhöhen von Geſtirnen Länge und Breite von
San Baltaſar am Atabapo, Javita, San Carlos am Rio
Negro, des Felſen Culimacari und der Miſſion Esmeralda
beſtimmt; die von mir entworfene Karte hat ſomit die Zweifel
über die gegenſeitigen Entfernungen der chriſtlichen Nieder-
laſſungen gehoben. Wenn es keinen anderen Weg gibt als
auf vielgekrümmten, verſchlungenen Gewäſſern, wenn in dichten
Wäldern nur kleine Dörfer ſtecken, wenn auf völlig ebenem
Lande kein Berg, kein erhabener Gegenſtand von zwei Punkten
zugleich ſichtbar iſt, kann man nur am Himmel leſen, wo
man ſich auf Erden befindet. In den wildeſten Ländern der
heißen Zone fühlt man mehr als anderswo das Bedürfnis
aſtronomiſcher Beobachtungen. Dieſelben ſind dort nicht allein
nützliche Hilfsmittel, um Karten zu vollenden und zu ver-
beſſern, ſie ſind vielmehr zur Aufnahme des Terrains von
vorne herein unerläßlich.


Der Miſſionär von San Fernando, bei dem wir zwei
Tage verweilten, führt den Titel eines Präſidenten der Miſ-
ſionen am Orinoko. Die 26 Ordensgeiſtlichen, die am Rio
Negro, Caſſiquiare, Atabapo, Caura und Orinoko leben, ſtehen
unter ihm und er ſeinerſeits ſteht unter dem Guardian des
Kloſters in Nueva Barcelona, oder, wie man hier ſagt, des
Colegio de la Purisima Concepcion de Propaganda Fide.
Sein Dorf ſah etwas wohlhabender aus, als die wir bis jetzt
auf unſerem Wege angetroffen, indeſſen hatte es doch nur
[200] 266 Einwohner. Ich habe ſchon öfters bemerkt, daß die
Miſſionen in der Nähe der Küſten, die gleichfalls unter den
Obſervanten ſtehen, z. B. Pilar, Caigua, Huere und Cupapui,
zwiſchen 800 und 2000 Einwohner zählen. Es ſind größere
und ſchönere Dörfer als in den kultivierteſten Ländern Europas.
Man verſicherte uns, die Miſſion San Fernando hahe un-
mittelbar nach der Gründung eine ſtärkere Bevölkerung gehabt
als jetzt. Da wir auf der Rückreiſe vom Rio Negro noch
einmal an den Ort kamen, ſo ſtelle ich hier die Beobachtungen
zuſammen, die wir an einem Punkte des Orinoko gemacht,
der einmal für den Handel und die Gewerbe der Kolonien
von großer Bedeutung werden kann.


San Fernando de Atabapo liegt an der Stelle, wo drei
große Flüſſe, der Orinoko, der Guaviare und der Atabapo
ſich vereinigen. Die Lage iſt ähnlich wie die von St. Louis
oder Neumadrid am Einfluſſe des Miſſouri und des Ohio
in den Miſſiſſippi. Je größeren Aufſchwung der Handel in
dieſen von ungeheuren Strömen durchzogenen Ländern nimmt,
deſto mehr werden die Städte, die an zwei Flüſſen liegen,
von ſelbſt Schiffsſtationen, Stapelplätze für die Handelsgüter,
wahre Mittelpunkte der Kultur. Pater Gumilla geſteht, daß
zu ſeiner Zeit kein Menſch vom Laufe des Orinoko oberhalb
des Einfluſſes des Guaviare etwas gewußt habe. Er ſagt
ferner ſehr naiv, er habe ſich an Einwohner von Timana und
Paſto um einige, noch dazu unſichere Auskunft über den oberen
Orinoko wenden müſſen. Heutzutage erkundigt man ſich aller-
dings nicht in den Anden von Popayan nach einem Fluſſe,
der am Weſtabhange der Gebirge von Cayenne entſpringt.
Pater Gumilla verwechſelte zwar nicht, wie man ihm ſchuld
gegeben, die Quellen des Guaviare und die des Orinoko;
da er aber das Stück des letzteren Fluſſes, das von Esmeralda
San Fernando zu von Oſt nach Weſt gerichtet iſt, nicht kannte,
ſo ſetzt er voraus, man müſſe, um oberhalb der Katarakte
und der Einmündung des Vichada und Guaviare den Orinoko
weiter hinaufzukommen, ſich nach Südweſt wenden. Zu jener
Zeit hatten die Geographen die Quellen des Orinoko in die
Nähe der Quellen des Putumayo und Caqueta an den öft-
lichen Abhang der Anden von Paſto und Popayan geſetzt,
alſo nach meinen Längenbeſtimmungen auf dem Rücken der
Kordilleren und in Esmeralda, 1080 km vom richtigen Punkte.
Unrichtige Angaben La Condamines über die Verzweigungen
des Caqueta, wodurch Sanſons Annahmen Beſtätigung zu
[201] finden ſchienen, haben Irrtümer verbreiten helfen, die ſich
jahrhundertelang erhalten haben. In der erſten Ausgabe
ſeiner großen Karte von Südamerika (eine ſehr ſeltene Aus-
gabe, die ich auf der großen Pariſer Bibliothek gefunden habe)
zeichnete d’Anville den Rio Negro als einen Arm des Orinoko,
der vom Hauptſtrome zwiſchen den Einflüſſen des Meta und
des Vichada, in der Nähe des Katarakts von Los Aſtures
(Atures) abgeht. Dieſem großen Geographen war damals
die Exiſtenz des Caſſiquiare und des Atabapo ganz unbekannt,
und er ließ den Orinoko oder Rio Paragua, den Japura und
den Putumayo aus drei Zweigen des Caqueta entſpringen.
Erſt durch die Grenzexpedition unter dem Befehl Ituriagas
und Solanos wurde das wahre Verhältnis bekannt. Solano
war als Ingenieur bei der Expedition und ging im Jahre 1756
über die großen Katarakte bis zum Einfluſſe des Guaviare
hinauf. Er ſah, daß man, um auf dem Orinoko weiter hinauf-
zukommen, ſich oſtwärts wenden müſſe, und daß die Waſſer
des Guaviare, der 9 km weiter oben den Atabapo aufgenommen
hat, da hereinkommen, wo der Strom unter 4° 4′ der Breite
die große Wendung macht. Da Solano daran gelegen war,
den portugieſiſchen Beſitzungen ſo nahe als möglich zu kommen,
ſo entſchloß er ſich, gegen Süd vorzudringen. Er fand am
Zuſammenfluſſe des Atabapo und Guaviare Indianer von
der kriegeriſchen Nation der Guaypunabis angeſiedelt. Er
lockte ſie durch Geſchenke an ſich und gründete mit ihnen die
Miſſion San Fernando, die er, in der Hoffnung, ſich beim
Miniſterium in Madrid wichtig zu machen, emphatiſch Villa
betitelte.


Um die politiſche Bedeutung dieſer Niederlaſſung zu
würdigen, muß man die damaligen Machtverhältniſſe zwiſchen
den kleinen Indianerſtämmen in Guyana ins Auge faſſen.
Die Ufer des unteren Orinoko waren lange der Schauplatz
der blutigen Kämpfe zwiſchen zwei mächtigen Völkern, den
Cabres und den Kariben, geweſen. Letztere, deren eigentliche
Wohnſitze ſeit dem Ende des 17. Jahrhunderts zwiſchen den
Quellen des Carony, des Eſſequibo, des Orinoko und des
Rio Parime liegen, waren nicht allein bis zu den großen
Katarakten Herren des Landes, ſie machten auch Einfälle in
die Länder am oberen Orinoko, und zwar über die Trage-
plätze
zwiſchen dem Paruspa und dem Caura, dem Erevato
und dem Ventuari, dem Conorichite und dem Atacavi. Nie-
mand wußte ſo gut, wie ſich die Flüſſe verzweigen, wo die
[202] Nebenflüſſe zur Hand ſind, wie man auf dem kürzeſten Wege
ans Ziel kommt. Die Kariben hatten die Cabres geſchlagen
und beinahe ausgerottet; waren ſie jetzt aber Herren am
unteren Orinoko, ſo ſtießen ſie auf Wiederſtand bei den Guay-
punabis, die ſich am oberen Orinoko die Herrſchaft errungen
hatten und neben den Cabres, Manitivitanos und Parenis
die ärgſten Anthropophagen in dieſem Landſtrich ſind. Sie
waren urſprünglich am großen Fluſſe Inirida bei ſeiner Ver-
einigung mit dem Chamochiquini und im Gebirgslande von
Mabicore zu Hauſe. Um das Jahr 1744 hieß ihr Häupt-
ling oder, wie die Eingeborenen ſagen, ihr Apoto (König),
Macapu, ein Mann, durch Geiſteskraft und Mut gleich aus-
gezeichnet. Er war mit einem Teile ſeiner Nation an den
Atabapo gekommen, und als der Jeſuit Roman ſeinen merk-
würdigen Zug vom Orinoko an den Rio Negro machte, ge-
ſtattete Macapu, daß der Miſſionär einige Familien Guay-
punabis mitnahm, um ſie in Uriana und beim Katarakt von
Maypures anzuſiedeln. Dieſe Nation gehört der Sprache nach
dem großen Volksſtamme der Maypures an; ſie iſt gewerb-
fleißiger, man könnte beinahe ſagen civiliſierter als die anderen
Völker am oberen Orinoko. Nach dem Berichte der Miſſionäre
waren die Guaypunabis, als ſie in dieſen Ländern die Herren
ſpielten, faſt alle bekleidet und beſaßen anſehnliche Dörfer.
Nach Macapus Tode ging das Regiment auf einen anderen
Krieger über, auf Cuſeru, von den Spaniern Kapitän Cru-
zero genannt. Er hatte am Inirida Verteidigungslinien und
eine Art Fort aus Erde und Holz angelegt. Die Pfähle
waren über 5 m hoch und umgaben das Haus des Apoto,
ſowie eine Niederlage von Bogen und Pfeilen. Pater Forneri
beſchreibt dieſe in einem ſonſt ſo wilden Lande merkwürdigen
Anlagen.


Am Rio Negro waren die Stämme der Marepizanas und
Manitivitanos die mächtigſten. Die Häuptlinge der erſteren
waren ums Jahr 1750 zwei Krieger Namens Imu und Ca-
jamu; der König der Manitivitanos war Cocuy, vielberufen
wegen ſeiner Grauſamkeit und ſeiner raffinierten Schwelgerei.
Zu meiner Zeit lebte noch ſeine Schweſter in der Nähe der
Miſſion Maypure. Man lächelt, wenn man hört, daß Männer
wie Cuſeru, Imu und Cocuy hierzulande ſo berühmt ſind
wie in Indien die Holkar, Tippo und die mächtigſten Fürſten.
Die Häuptlinge der Guaypunabis und Manitivitanos fochten
mit kleinen Haufen von 200 bis 300 Mann; aber in der
[203] langen Fehde verwüſteten ſie die Miſſionen, wo die armen
Ordensleute nur 15 bis 20 ſpaniſche Soldaten zur Verfügung
hatten. Horden, wegen ihrer Kopfzahl und ihrer Verteidigungs-
mittel gleich verächtlich, verbreiteten einen Schrecken, als wären
es Heere. Den Patres Jeſuiten gelang es nur dadurch, ihre
Miſſionen zu retten, daß ſie Liſt wider Gewalt ſetzten. Sie
zogen einige mächtige Häuptlinge in ihr Intereſſe und ſchwächten
die Indianer durch Entzweiung. Als Ituriaga und Solano
auf ihrem Zuge an den Orinoko kamen, hatten die Miſſionen
von den Einfällen der Kariben nichts mehr zu befürchten.
Cuſeru hatte ſich hinter den Granitbergen von Sipapo nieder-
gelaſſen; er war der Freund der Jeſuiten; aber andere Völker
vom oberen Orinoko und Rio Negro, die Marepizanos, Amui-
zanos und Manitivitanos, fielen unter Imus, Cajamus und
Cocuys Führung von Zeit zu Zeit in das Land nordwärts
von den großen Katarakten ein. Sie hatten andere Beweg-
gründe zur Feindſeligkeit als Haß. Sie trieben Menſchen-
jagd
, wie es früher bei den Kariben Brauch geweſen und
wie es in Afrika noch Brauch iſt. Bald lieferten ſie Sklaven
(poitos) den Holländern oder Paranaquiri (Meerbewohner);
bald verkauften ſie dieſelben an die Portugieſen oder Jaranavi
(Muſikantenſöhne).1 In Amerika wie in Afrika hat die
Habſucht der Europäer gleiches Unheil geſtiftet; ſie hat die
Eingeborenen gereizt, ſich zu bekriegen, um Gefangene zu be-
kommen. Ueberall führt der Verkehr zwiſchen Völkern auf
ſehr verſchiedenen Bildungsſtufen zum Mißbrauch der phy-
ſiſchen Gewalt und der geiſtigen Ueberlegenheit. Phönizien
und Karthago ſuchten einſt ihre Sklaven in Europa; heut-
zutage liegt dagegen die Hand Europas ſchwer auf den
Ländern, wo es die erſten Keime ſeines Wiſſens geholt, wie
auf denen, wo es dieſelben, ſo ziemlich wider Willen, ver-
breitet, indem es ihnen die Erzeugniſſe ſeines Gewerbfleißes
zuführt.


Ich habe hier treu berichtet, was ich über die Zuſtände
eines Landes in Erfahrung bringen konnte, wo die beſiegten
Völker nach und nach abſterben und keine andere Spur ihres
Daſeins hinterlaſſen als ein paar Worte ihrer Sprache, welche
[204] die ſiegenden Völker in die ihrige aufnehmen. Wir haben
geſehen, daß im Norden, jenſeits der Katarakte, die Kariben
und die Cabres, ſüdwärts am oberen Orinoko die Guaypunabis,
am Rio Negro die Marepizanos und Manitivitanos die mäch-
tigſten Nationen waren. Der lange Widerſtand, den die unter
einem tapferen Führer vereinigten Cabres den Kariben geleiſtet,
hatte jenen nach dem Jahre 1720 zum Verderben gereicht.
Sie hatten ihre Feinde an der Mündung des Rio Caura ge-
ſchlagen; eine Menge Kariben wurden auf ihrer eiligen Flucht
zwiſchen den Stromſchnellen des Torno und der Isla del
Infierno erſchlagen. Die Gefangenen wurden verzehrt; aber
mit jener raffinierten Verſchlagenheit und Grauſamkeit, wie
ſie den Völkern Süd- wie Nordamerikas eigen iſt, ließen ſie
einen Kariben am Leben, der, um Zeuge des barbariſchen
Auftrittes zu ſein, auf einen Baum ſteigen und ſofort den
Geſchlagenen die Kunde davon überbringen mußte. Der
Siegesrauſch Teps, des Häuptlings der Cabres, war von
kurzer Dauer. Die Kariben kamen in ſolcher Maſſe wieder,
daß nur kümmerliche Reſte der menſchenfreſſenden Cabres am
Rio Cuchivero übrig blieben.


Am oberen Orinoko lagen Cocuy und Cuſeru im erbit-
tertſten Kampfe gegeneinander, als Solano an der Mündung
des Guaviare erſchien. Erſterer hatte für die Portugieſen
Partei ergriffen; der letztere, ein Freund der Jeſuiten, that
es dieſen immer zu wiſſen, wenn die Manitivitanos gegen die
chriſtlichen Niederlaſſungen in Atures und Carichana im Anzuge
waren. Cuſeru wurde erſt wenige Tage vor ſeinem Tode
Chriſt; er hatte aber im Gefecht an ſeine linke Hüfte ein
Kruzifix gebunden, das die Miſſionäre ihm geſchenkt und mit
dem er ſich für unverletzlich hielt. Man erzählte uns eine
Anekdote, in der ſich ganz ſeine wilde Leidenſchaftlichkeit aus-
ſpricht. Er hatte die Tochter eines indianiſchen Häuptlings
vom Rio Temi geheiratet. Bei einem Ausbruch von Groll
gegen ſeinen Schwiegervater erklärte er ſeinem Weibe, er ziehe
aus, ſich mit ihm zu meſſen. Das Weib gab ihm zu bedenken,
wie tapfer und ausnehmend ſtark ihr Vater ſei; da nahm
Cuſeru, ohne ein Wort weiter zu ſprechen, einen vergifteten
Pfeil und ſchoß ihr ihn durch die Bruſt. Im Jahre 1756
verſetzte die Ankunft einer kleinen Abteilung ſpaniſcher Truppen
unter Solanos Befehl dieſen Häuptling der Guaypunabis in
üble Stimmung. Er ſtand im Begriffe, es auf ein Gefecht
ankommen zu laſſen, da gaben ihm die Patres Jeſuiten zu
[205] verſtehen, wie es ſein Vorteil wäre, ſich mit den Chriſten zu
vertragen. Cuſeru ſpeiſte am Tiſche des ſpaniſchen Generals;
man köderte ihn mit Verſprechungen, namentlich mit der Aus-
ſicht, daß man nächſtens ſeinen Feinden den Garaus machen
werde. Er war König geweſen, nunmehr ward er Dorfſchulze
und ließ ſich dazu herbei, ſich mit den Seinigen in der neuen
Miſſion San Fernando de Atabapo niederzulaſſen. Ein ſolch
trauriges Ende nahmen meiſt jene Häuptlinge, welche bei
Reiſenden und Miſſionären indianiſche Fürſten heißen. „In
meiner Miſſion,“ ſagt der gute Pater Gili, „hatte ich fünf
Reyecillos (kleine Könige) der Tamanaken, Avarigoten,
Parecas, Quaqua und Maypures. In der Kirche ſetzte ich
alle nebeneinander auf eine Bank, ermangelte aber nicht,
den erſten Platz Monaiti, dem Könige der Tamanaken, an-
zuweiſen, weil er mich bei der Gründung des Dorfes unter-
ſtützt hatte. Er ſchien ganz ſtolz auf dieſe Auszeichnung.“
Wir ſind auch Pater Gilis Meinung, daß ehemalige, von
ihrer Höhe herabgeſunkene Gewalthaber ſelten mit ſo wenigem
zufriedenzuſtellen ſind.


Als Cuſeru, der Häuptling der Guaypunabis, die ſpani-
ſchen Truppen durch die Katarakte ziehen ſah, riet er Don
Joſe Solano, die Niederlaſſung am Atabapo noch ein ganzes
Jahr aufzuſchieben; er prophezeite Unheil, das denn auch nicht
ausblieb. „Laßt mich,“ ſagte Cuſeru zu den Jeſuiten, „mit
den Meinigen arbeiten und das Land umbrechen; ich pflanze
Maniok, und ſo habt ihr ſpäter mit ſo vielen Leuten zu leben.“
Solano, in ſeiner Ungeduld, weiter vorzudringen, hörte nicht
auf den Rat des indianiſchen Häuptlings. Die neuen An-
ſiedler in San Fernando verfielen allen Schreckniſſen der
Hungersnot. Man ließ mit großen Koſten zu Schiff auf
dem Meta und dem Vichada Mehl aus Neugranada kommen.
Die Vorräte langten aber zu ſpät an, und viele Europäer
und Indianer erlagen den Krankheiten, die in allen Himmels-
ſtrichen Folgen des Mangels und der geſunkenen moraliſchen
Kraft ſind.


Man ſieht in San Fernando noch einige Spuren von
Anbau; jeder Indianer hat eine kleine Pflanzung von Kakao-
bäumen. Die Bäume tragen vom fünften Jahre an reichlich,
aber ſie hören damit früher auf als in den Thälern von
Aragua. Die Bohne iſt klein und von vorzüglicher Güte.
Ein Almuda, deren zehn auf eine Fanega gehen, koſtet in
San Fernando 6 Realen, etwa 4 Franken, an den Küſten
[206] wenigſtens 20 bis 25 Franken; aber die ganze Miſſion erzeugt
kaum 80 Fanegas im Jahre, und da, nach einem alten Miß-
brauche, die Miſſionäre am Orinoko und Rio Negro allein
mit Kakao Handel treiben, ſo wird der Indianer nicht auf-
gemuntert, einen Kulturzweig zu erweitern, von dem er ſo
gut wie keinen Nutzen hat. Es gibt bei San Fernando ein
paar Savannen und gute Weiden; man ſieht aber kaum ſieben
oder acht Kühe darauf, Ueberbleibſel der anſehnlichen Herde,
welche die Grenzexpedition ins Land gebracht. Die Indianer
ſind etwas civiliſierter als in den anderen Miſſionen. Zu
unſerer Ueberraſchung trafen wir einen Schmied von der ein-
geborenen Raſſe.


Was uns in der Miſſion San Fernando am meiſten
auffiel und was der Landſchaft einen eigentümlichen Charakter
gibt, das iſt die Pihiguao- oder Pirijao-Palme. Der mit
Stacheln bewehrte Stamm iſt über 20 m hoch; die Blätter
ſind gefiedert, ſehr ſchmal, wellenförmig und an den Spitzen
gekräuſelt. Höchſt merkwürdig ſind die Früchte des Baumes;
jede Traube trägt 50 bis 80; ſie ſind gelb wie Apfel, werden
beim Reifen rot, ſind 5 bis 8 cm dick und der Fruchtkern
kommt meiſt nicht zur Entwickelung. Unter den 80 bis 90
Palmenarten, die ausſchließlich der Neuen Welt angehören
und die ich in den Nova genera plantarum aequinoctialium
aufgezählt, iſt bei keiner das Fruchtfleiſch ſo außerordentlich
ſtark entwickelt. Die Frucht des Pirijao enthält einen meh-
ligen, eigelben, nicht ſtark ſüßen, ſehr nahrhaften Stoff. Man
ißt ſie wie die Banane und die Kartoffel, geſotten oder in
der Aſche gebraten; es iſt ein ebenſo geſundes als angenehmes
Nahrungsmittel. Indianer und Miſſionäre erſchöpfen ſich im
Lobe dieſer herrlichen Palme, die man die Pfirſichpalme
nennen könnte und die in San Fernando, San Baltaſar,
Santa Barbara, überall, wohin wir nach Süd und Oſt am
Atabapo und oberen Orinoko kamen, in Menge angebaut
fanden. In dieſen Landſtrichen erinnert man ſich unwillkürlich
der Behauptung Linnés, die Palmenregion ſei die urſprüng-
liche Heimat unſeres Geſchlechtes, der Menſch ſei eigentlich
ein Palmfruchteſſer.1 Muſtert man die Vorräte in den
Hütten der Indianer, ſo ſieht man, daß mehrere Monate im
[207] Jahre die mehlige Frucht des Pirijao für ſie ſo gut ein
Hauptnahrungsmittel iſt als der Maniok und die Banane.
Der Baum trägt nur einmal im Jahre, aber oft drei Trauben,
alſo 150 bis 200 Früchte.


San Fernando de Atabapo, San Carlos und San Fran-
cisco Solano ſind die bedeutendſten Miſſionen am oberen
Orinoko. In San Fernando wie in den benachbarten Dörfern
San Baltaſar und Javita fanden wir hübſche Pfarrhäuſer,
mit Schlingpflanzen bewachſen und mit Gärten umgeben. Die
ſchlanken Stämme der Pirijaopalme waren in unſeren Augen
die Hauptzierde dieſer Pflanzungen. Auf unſeren Spazier-
gängen erzählte uns der Pater Präſident ſehr lebhaft von
ſeinen Fahrten auf dem Rio Guaviare. Er ſprach davon,
wie ſehr ſich die Indianer auf Züge „zur Eroberung von
Seelen“ freuen; jedermann, ſelbſt Weiber und Greiſe, wollen
daran teilnehmen. Unter dem nichtigen Vorwande, man ver-
folge Neubekehrte, die aus dem Dorfe entlaufen, ſchleppt man
dabei acht- bis zehnjährige Kinder fort und verteilt ſie an
die Indianer in den Miſſionen als Leibeigene oder Poitos.
Die Reiſetagebücher, die Pater Bartolomeo Mancilla uns ge-
fällig mitteilte, enthalten ſehr wichtiges geographiſches Material.
Weiter unten, wenn von den Hauptnebenflüſſen des Orinoko
die Rede ſein wird, vom Guaviare, Ventuari, Meta, Caura
und Carony, gebe ich eine Ueberſicht dieſer Entdeckungen. Hier
nur ſo viel, daß es, nach meinen aſtronomiſchen Beobachtungen
am Atabapo und auf dem weſtlichen Abhange der Kordillere
der Anden beim Paramo de la Suma Paz, von San Fer-
nando bis zu den erſten Dörfern in den Provinzen Caguan
und San Juan de los Llanos nicht mehr als 480 km iſt.
Auch verſicherten mich Indianer, die früher weſtlich von der
Inſel Amanaveni, jenſeits des Einfluſſes des Rio Supavi,
gelebt, ſie haben auf einer Luſtfahrt im Kanoe (was die Wilden
ſo heißen) auf dem Guaviare bis über die Angoſtura (den
Engpaß) und den Hauptwaſſerfall hinauf, in drei Tagereiſen
Entfernung bärtige und bekleidete Männer getroffen, welche
Eier der Terekey-Schildkröte ſuchten. Darüber waren die
Indianer ſo erſchrocken, daß ſie in aller Eile umkehrten und
den Guaviare wieder hinunterfuhren. Wahrſcheinlich kamen
dieſe weißen, bärtigen Männer aus den Dörfern Aroma und
San Martin, da ſich die zwei Flüſſe Ariari und Guayavero
zum Guaviare vereinigen. Es iſt nicht zu verwundern, daß
die Miſſionäre am Orinoko und Atabapo faſt keine Ahnung
[208] davon haben, wie nahe ſie bei den Miſſionären von Mocoa,
am Rio Fragua und Caguan leben. In dieſen öden Land-
ſtrichen kann man nur durch Längenbeobachtungen die wahren
Entfernungen kennen lernen, und nur nach aſtronomiſchen Er-
mittelungen und den Erkundigungen, die ich in den Klöſtern
zu Popayan und Paſto weſtwärts von den Kordilleren der
Anden eingezogen, erhielt ich einen richtigen Begriff von der
gegenſeitigen Lage der chriſtlichen Niederlaſſungen am Atabapo,
Guayavero und Caqueta.


Sobald man das Bett des Atabapo betritt, iſt alles
anders, die Beſchaffenheit der Luft, die Farbe des Waſſers,
die Geſtalt der Bäume am Ufer. Bei Tage hat man von
den Moskiten nicht mehr zu leiden; die Schnaken mit langen
Füßen (Zancudos) werden bei Nacht ſehr ſelten, ja oberhalb
der Miſſion San Fernando verſchwinden dieſe Nachtinſekten
ganz. Das Waſſer des Orinoko iſt trübe, voll erdiger Stoffe,
und in den Buchten hat es wegen der vielen toten Krokodile
und anderer faulender Körper einen biſamartigen, ſüßlichen
Geruch. Um dieſes Waſſer trinken zu können, mußten wir
es nicht ſelten durch ein Tuch ſeihen. Das Waſſer des Ata-
bapo dagegen iſt rein, von angenehmem Geſchmack, ohne eine
Spur von Geruch, bei reflektiertem Lichte bräunlich, bei durch-
gehendem gelblich. Das Volk nennt dasſelbe „leicht“, im
Gegenſatze zum trüben, ſchweren Orinokowaſſer. Es iſt meiſt
um 2°, der Einmündung des Rio Temi zu um 3° kühler
als der obere Orinoko. Wenn man ein ganzes Jahr lang
Waſſer von 27 bis 28° trinken muß, hat man ſchon bei ein
paar Graden weniger ein äußerſt angenehmes Gefühl. Dieſe
geringere Temperatur rührt wohl daher, daß der Fluß nicht
ſo breit iſt, daß er keine ſandigen Ufer hat, die ſich am
Orinoko bei Tag auf 50° erhitzen, und daß der Atabapo,
Temi, Tuamini und der Rio Negro von dichten Wäldern
beſchattet ſind.


Daß die ſchwarzen Waſſer ungemein rein ſein müſſen,
das zeigt ihre Klarheit und Durchſichtigkeit und die Deutlich-
keit, mit der ſich die umgebenden Gegenſtände nach Umriß
und Färbung darin ſpiegeln. Auf 7 bis 10 m tief ſieht man
die kleinſten Fiſche darin und meiſt blickt man bis auf den
Grund des Fluſſes hinunter. Und dieſer iſt nicht etwa Schlamm
von der Farbe des Fluſſes, gelblich oder bräunlich, ſondern
blendend weißer Quarz- und Granitſand. Nichts geht über
die Schönheit der Ufer des Atabapo; ihr üppiger Pflanzen-
[209] wuchs, über den Palmen mit Federbuſchlaub hoch in die
Luft ſteigend, ſpiegelt ſich im Fluß. Das Grün am re-
flektierten Bilde iſt ganz ſo ſatt als am direkt geſehenen
Gegenſtand, ſo glatt und eben iſt die Waſſerfläche, ſo frei
von ſuspendiertem Sand und organiſchen Trümmern, die
auf der Oberfläche minder heller Flüſſe Streifen und Un-
ebenheiten bilden.


Wo man vom Orinoko abfährt, kommt man, aber ohne
alle Gefahr, über mehrere kleine Stromſchnellen. Mitten in
dieſen Raudialitos ergießt ſich, wie die Miſſionäre an-
nehmen, der Atabapo in den Orinoko. Nach meiner Anſicht
ergießt ſich aber der Atabapo vielmehr in den Guaviare, und
dieſen Namen ſollte man der Flußſtrecke vom Orinoko bis zur
Miſſion San Fernando geben. Der Rio Guaviare iſt weit
breiter als der Atabapo, hat weißes Waſſer, und der ganze
Anblick ſeiner Ufer, ſeine gefiederten Fiſchfänger, ſeine Fiſche,
die großen Krokodile, die darin hauſen, machen, daß er dem
Orinoko weit mehr gleicht als der Teil dieſes Fluſſes, der
von Esmeralda herkommt. Wenn ſich ein Strom durch die
Vereinigung zweier faſt gleich breiten Flüſſe bildet, ſo iſt
ſchwer zu ſagen, welchen derſelben man als die Quelle zu
betrachten hat. Die Indianer in San Fernando haben noch
heute eine Anſchauung, die der der Geographen gerade zu-
widerläuft. Sie behaupten, der Orinoko entſpringe aus zwei
Flüſſen, aus dem Guaviare und dem Rio Paragua. Unter
letzterem Namen verſtehen ſie den oberen Orinoko von San
Fernando und Santa Barbara bis über Esmeralda hinauf.
Dieſer Annahme zufolge iſt ihnen der Caſſiquiare kein Arm
des Orinoko, ſondern des Rio Paragua. Ein Blick auf die
von mir entworfene Karte zeigt, daß dieſe Benennungen völlig
willkürlich ſind. Ob man dem Rio Paragua den Namen
Orinoko abſtreitet, daran iſt wenig gelegen, wenn man nur
den Lauf der Flüſſe naturgetreu zeichnet, und nicht, wie man
vor meiner Reiſe gethan, Flüſſe, die untereinander zuſammen-
hängen und ein Syſtem bilden, durch eine Gebirgskette ge-
trennt ſein läßt. Will man einen der beiden Zweige, die
einen großen Fluß bilden, nach dem letzteren benennen, ſo
muß man den Namen dem waſſerreichſten derſelben beilegen.
In den beiden Jahreszeiten, wo ich den Guaviare und den
oberen Orinoko oder Rio Paragua (zwiſchen Esmeralda und
San Fernando) geſehen, kam es mir nun aber vor, als wäre
letzterer nicht ſo breit als der Guaviare. Die Vereinigung
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 14
[210] des oberen Miſſiſſippi mit dem Miſſouri und Ohio, die des
Marañon mit dem Huallaga und Ucayale, die des Indus
mit dem Chumab und Gurra oder Sutledge haben bei den
reiſenden Geographen ganz dieſelben Bedenken erregt. Um
die rein willkürlich angenommene Flußnomenklatur nicht noch
mehr zu verwirren, ſchlage ich keine neuen Benennungen vor.
Ich nenne mit Pater Caulin und den ſpaniſchen Geographen
den Fluß bei Esmeralda auch ferner Orinoko oder oberen
Orinoko, bemerke aber, daß wenn man den Orinoko von
San Fernando de Atabapo bis zum Delta, das er der Inſel
Trinidad gegenüber bildet, als eine Fortſetzung des Rio Gua-
viare und das Stück des oberen Orinoko zwiſchen Esmeralda
und der Miſſion San Fernando als einen Nebenfluß betrach-
tete, der Orinoko von den Savannen von San Juan de los
Llanos und dem Oſtabhang der Anden bis zu ſeiner Mün-
dung eine gleichförmigere und natürlichere Richtung von Süd-
weſt nach Nordoſt hätte.


Der Rio Paragua oder das Stück des Orinoko, auf dem
man oſtwärts von der Mündung des Guaviare hinauffährt,
hat klareres, durchſichtigeres und reineres Waſſer als das
Stück unterhalb San Fernando. Das Waſſer des Guaviare
dagegen iſt weiß und trüb; es hat, nach dem Ausſpruch der
Indianer, deren Sinne ſehr ſcharf und ſehr geübt ſind, den-
ſelben Geſchmack wie das Waſſer des Orinoko in den großen
Katarakten. „Gebt mir,“ ſagte ein alter Indianer aus der
Miſſion Javita zu uns, „Waſſer aus drei, vier großen Flüſſen
des Landes, ſo ſage ich euch nach dem Geſchmack zuverläſſig,
wo das Waſſer geſchöpft worden, ob aus einem weißen oder
ſchwarzen Fluß, ob aus dem Orinoko oder dem Atabapo, dem
Paragua oder Guaviare.“ Auch die großen Krokodile und
die Delphine (Toninas) haben der Guaviare und der untere
Orinoko miteinander gemein; dieſe Tiere kommen, wie man
uns ſagte, im Rio Paragua (oder oberen Orinoko zwiſchen
San Fernando und Esmeralda) gar nicht vor. Dies ſind
doch ſehr auffallende Verſchiedenheiten hinſichtlich der Beſchaffen-
heit der Gewäſſer und der Verteilung der Tiere. Die In-
dianer verfehlen nicht, ſie aufzuzählen, wenn ſie den Reiſen-
den beweiſen wollen, daß der obere Orinoko öſtlich von San
Fernando ein eigener, ſich in den Orinoko ergießender Fluß,
und der wahre Urſprung des letzteren in den Quellen des
Guaviare zu ſuchen ſei. Die europäiſchen Geographen haben
ſicher unrecht, daß ſie die Anſchauung der Indianer nicht
[211] teilen, welche die natürlichen Geographen ihres Landes ſind;
aber bei Nomenklatur und Orthographie thut man nicht ſelten
gut, eine Unrichtigkeit, auf die man aufmerkſam gemacht,
dennoch ſelbſt beizubehalten.


Meine aſtronomiſchen Beobachtungen in der Nacht des
25. April gaben mir die Breite nicht ſo beſtimmt, als zu
wünſchen war. Der Himmel war bewölkt und ich konnte nur
ein paar Höhen von α im Centaur und dem ſchönen Sterne
am Fuße des ſüdlichen Kreuzes nehmen. Nach dieſen Höhen
ſchien mir die Breite der Miſſion San Fernando gleich 4°
2′ 48″; Pater Caulin gibt auf der Karte, die Solanos Beob-
achtungen im Jahre 1756 zu Grunde legt, 4° 4′ an. Dieſe
Uebereinſtimmung ſpricht für die Richtigkeit meiner Beob-
achtung, obgleich ſich dieſelbe nur auf Höhen ziemlich weit
vom Meridian gründet. Eine gute Sternbeobachtung in Gua-
paſoſo ergibt mir für San Fernando 4° 2′. (Gumilla ſetzte
den Zuſammenfluß des Atabapo und Guaviare unter 0° 30′,
d’Auville unter 2° 51′.) Die Länge konnte ich auf der Fahrt
zum Rio Negro und auf dem Rückweg von dieſem Fluß ſehr
genau beſtimmen: ſie iſt 70° 30′ 46″ (oder 4° 0′ weſtlich
vom Meridian von Cumana). Der Gang des Chronometers
war während der Fahrt im Kanoe ſo regelmäßig, daß er vom
16. April bis 9. Juli nur um 27,9 bis 28,5 Sekunden ab-
wich. In San Fernando fand ich die ſehr ſorgfältig rekti-
fizierte Inklination der Magnetnadel gleich 29° 70, die In-
tenſität der Kraft 219. Der Winkel und die Schwingungen
waren alſo ſeit Maypures bei einem Breitenunterſchied von
1° 11′ beträchtlich kleiner und weniger geworden. Das an-
ſtehende Geſtein war nicht mehr eiſenſchüſſiger Sandſtein,
ſondern Granit in Gneis übergehend.


Am 26. April. Wir legten nur 9 bis 13 km zurück
und lagerten zur Nacht auf einem Felſen in der Nähe der
indianiſchen Pflanzungen oder Conucos von Guapaſoſo. Da
man das eigentliche Ufer nicht ſieht, und der Fluß, wenn er
anſchwillt, ſich in die Wälder verläuft, kann man nur da
landen, wo ein Fels oder ein kleines Plateau ſich über das
Waſſer erhebt. Der Atabapo hat überall ein eigentümliches An-
ſehen; das eigentliche Ufer, das aus einer 2,6 bis 3,2 m hohen
Bank beſteht, ſieht man nirgends; es verſteckt ſich hinter einer
Reihe von Palmen und kleinen Bäumen mit ſehr dünnen
Stämmen, deren Wurzeln vom Waſſer beſpült werden. Vom
Punkt, wo man vom Orinoko abgeht, bis zur Miſſion San
[212] Fernando gibt es viele Krokodile, und dieſer Umſtand beweiſt,
wie oben bemerkt, daß dieſes Flußſtück zum Guaviare, nicht
zum Atabapo gehört. Im eigentlichen Bett des letzteren ober-
halb San Fernando gibt es keine Krokodile mehr; man trifft
hie und da einen Bava an und viele Süßwaſſerdelphine,
aber keine Seekühe. Man ſucht hier auch vergeblich den
Chiguire, die Araguaten oder großen Brüllaffen, den Zamuro
oder Vultur aura und den Faſanen mit der Haube, den ſo-
genannten Guacharaca. Ungeheure Waſſernattern, im
Habitus der Boa gleich, ſind leider ſehr häufig und werden
den Indianern beim Baden gefährlich. Gleich in den erſten
Tagen ſahen wir welche neben unſerer Piroge herſchwimmen,
die 4 bis 5 m lang waren. Die Jaguare am Atabapo und
Temi ſind groß und gut genährt, ſie ſollen aber lange nicht
ſo keck ſein als die am Orinoko.


Am 27. April. Die Nacht war ſchön, ſchwärzliche
Wolken liefen von Zeit zu Zeit ungemein raſch durch den
Zenith. In den unteren Schichten der Atmoſphäre regte ſich
kein Lüftchen, der allgemeine Oſtwind wehte erſt in 1950 m
Höhe. Ich betone dieſen Umſtand: die Bewegung, die wir
bemerkten, war keine Folge von Gegenſtrömungen (von Weſt
nach Oſt), wie man ſie zuweilen in der heißen Zone auf den
höchſten Gebirgen der Kordilleren wahrzunehmen glaubt, ſie
rührte vielmehr von einer eigentlichen Briſe, vom Oſtwind
her. Ich konnte die Meridianhöhe von α im ſüdlichen Kreuz
gut beobachten; die einzelnen Reſultate ſchwankten nur um
8 bis 10 Sekunden um das Mittel. Die Breite von Gua-
paſoſo iſt 3° 53′ 55″. Das ſchwarze Waſſer des Fluſſes
diente mir als Horizont, und dieſe Beobachtungen machten
mir um ſo mehr Vergnügen, als wir auf den Flüſſen mit
weißem Waſſer, auf dem Apure und Orinoko, von den In-
ſekten furchtbar zerſtochen worden waren, während Bonpland
die Zeit am Chronometer beobachtete und ich den Horizont
richtete. Wir brachen um 2 Uhr von den Conucos von Gua-
paſoſo auf. Wir fuhren immer nach Süden hinauf und ſahen
den Fluß oder vielmehr den von Bäumen freien Teil ſeines
Bettes immer ſchmaler werden. Gegen Sonnenaufgang fing
es an zu regnen. Wir waren an dieſe Wälder, in denen es
weniger Tiere gibt als am Orinoko, noch nicht gewöhnt, und
ſo wunderten wir uns beinahe, daß wir die Araguaten nicht
mehr brüllen hörten. Die Delphine oder Toninas ſpielten
um unſer Kanoe. Nach Colebrooke begleitet der Delphinus
[213] gangeticus,
der Süßwaſſerdelphin der Alten Welt, gleichfalls
die Fahrzeuge, die nach Benares hinaufgehen; aber von Be-
nares bis zum Punkt, wo Salzwaſſer in den Ganges kommt,
ſind es nur 900 km, von Atabapo aber an die Mündung des
Orinoko über 1440 km.


Gegen Mittag lag gegen Oſt die Mündung des kleinen
Fluſſes Ipurichapano, und ſpäter kamen wir am Granithügel
vorbei, der unter dem Namen Piedra del Tigre bekannt iſt.
Dieſer einzeln ſtehende Fels iſt nur 20 m hoch und doch im
Lande weit berufen. Zwiſchen dem 4. und 5. Grad der
Breite, etwas ſüdlich von Bergen von Sipapo, erreicht man
das ſüdliche Ende der Kette der Katarakte, für die ich in
einer im Jahr 1800 veröffentlichten Abhandlung den Namen
Kette der Parime in Vorſchlag gebracht habe. Unter
4° 20′ ſtreicht ſie vom rechten Orinokoufer gegen Oſt und Oſt-
Süd-Oſt. Der ganze Landſtrich zwiſchen den Bergen der
Parime und dem Amazonenſtrom, über den der Atabapo,
Caſſiquiare und Rio Negro ziehen, iſt eine ungeheure, zum
Teil mit Wald, zum Teil mit Gras bewachſene Ebene. Kleine
Felſen erheben ſich da und dort, wie feſte Schlöſſer. Wir
bereuten es, unſer Nachtlager nicht beim Tigerfelſen aufge-
ſchlagen zu haben; denn wir fanden den Atabapo hinauf nur
ſehr ſchwer ein trockenes, freies Stück Land, groß genug, um
unſer Feuer anzuzünden und unſere Inſtrumente und Hänge-
matten unterbringen zu können.


Am 28. April. Der Regen goß ſeit Sonnenuntergang
in Strömen; wir fürchteten, unſere Sammlungen möchten be-
ſchädigt werden. Der arme Miſſionär bekam ſeinen Anfall
von Tertianfieber und bewog uns, bald nach Mitternacht
weiter zu fahren. Wir kamen mit Tagesanbruch an die
Piedra und den Raudalito von Guarinuma. Der Fels, auf
dem öſtlichen Ufer, iſt eine kahle, mit Psora Cladonia und
anderen Flechten bedeckte Granitbank. Ich glaubte mich in
das nördliche Europa verſetzt, auf den Kamm der Gneis- und
Granitberge zwiſchen Freiberg und Marienberg in Sachſen.
Die Cladonien ſchienen mir identiſch mit dem Lichen rangi-
ferinus,
dem L. pyxidatus und L. polymorphus Linnés.
Als wir die Stromſchnellen von Guarinuma hinter uns hatten,
zeigten uns die Indianer mitten im Wald zu unſerer Rechten
die Trümmer der ſeit lange verlaſſenen Miſſion Mendaxari.
Auf dem anderen, öſtlichen Ufer, beim kleinen Felſen Kema-
rumo, wurden wir auf einen rieſenhaften Käſebaum (Bombax
[214] Ceiba
) aufmerkſam, der mitten in den Pflanzungen der In-
dianer ſtand. Wir ſtiegen aus, um ihn zu meſſen: er war
gegen 40 m hoch und hatte 4,5 bis 5 m Durchmeſſer. Ein
ſo außerordentliches Wachstum fiel uns um ſo mehr auf, da
wir bisher am Atabapo nur kleine Bäume mit dünnem Stamm,
von weitem jungen Kirſchbäumen ähnlich, geſehen hatten.
Nach den Ausſagen der Indianer bilden dieſe kleinen Bäume
eine nur wenig verbreitete Gewächsgruppe. Sie werden durch
das Austreten des Fluſſes im Wachstum gehemmt; auf den
trockenen Strichen am Atabapo, Temi und Tuamini wächſt
dagegen vortreffliches Bauholz. Dieſe Wälder (und dieſer
Umſtand iſt wichtig, wenn man ſich von den Ebenen unter
dem Aequator am Rio Negro und Amazonenſtrom

eine richtige Vorſtellung machen will), dieſe Wälder erſtrecken
ſich nicht ohne Unterbrechung oſtwärts und weſtwärts bis zum
Caſſiquiare und Guaviare; es liegen vielmehr die kahlen Sa-
vannen von Manuteſo und am Rio Inirida dazwiſchen. Am
Abend kamen wir nur mit Mühe gegen die Strömung vor-
wärts, und wir übernachteten in einem Gehölz etwas ober-
halb Mendaxari. Hier iſt wieder ein Granitfels, durch den
eine Quarzſchicht läuft; wir fanden eine Gruppe ſchöner,
ſchwarzer Schörlkriſtalle darin.


Am 29. April. Die Luft war kühler; keine Zancudos,
aber der Himmel fortwährend bedeckt und ſternlos. Ich fing
an mich wieder auf den unteren Orinoko zu wünſchen. Bei der
ſtarken Strömung kamen wir wieder nur langſam vorwärts.
Einen großen Teil des Tages hielten wir an, um Pflanzen
zu ſuchen, und es war Nacht, als wir in der Miſſion San
Baltaſar ankamen, oder, wie die Mönche ſagen (da Baltaſar
nur der Name eines indianiſchen Häuptlings iſt), in der Miſſion
La divina Paſtora de Baltaſar de Atabapo. Wir wohnten
bei einem kataloniſchen Miſſionär, einem munteren, liebens-
würdigen Mann, der hier in der Wildnis ganz die ſeinem
Volksſtamm eigentümliche Thätigkeit entwickelte. Er hatte
einen ſchönen Garten angelegt, wo der europäiſche Feigen-
baum der Perſea, der Zitronenbaum dem Mamei zur Seite
ſtand. Das Dorf war nach einem regelmäßigen Plan gebaut,
wie man es in Norddeutſchland und im proteſtantiſchen Amerika
bei den Gemeinden der Mähriſchen Brüder ſieht. Die Pflan-
zungen der Indianer ſchienen beſſer gehalten als anderswo.
Hier ſahen wir zum erſtenmal den weißen, ſchwammigen Stoff,
den ich unter dem Namen Dapicho und Zapis bekannt
[215] gemacht habe. Wir ſahen gleich, daß derſelbe mit dem „elaſti-
ſchen Harz“ Aehnlichkeit hat; da uns aber die Indianer durch
Zeichen bedeuteten, man finde denſelben in der Erde, ſo ver-
muteten wir, bis wir in die Miſſion Javita kamen, das Da-
picho
möchte ein foſſiler Kautſchuk ſein, wenn auch ab-
weichend vom elaſtiſchen Bitumen in Derbyſhire. In der
Hütte des Miſſionärs ſaß ein Poimiſano-Indianer an einem
Feuer und verwandelte das Dapicho in ſchwarzen Kautſchuk.
Er hatte mehrere Stücke auf ein dünnes Holz geſpießt und
briet dieſelben wie Fleiſch. Je weicher und elaſtiſcher das
Dapicho wird, deſto mehr ſchwärzt es ſich. Nach dem harzi-
gen, aromatiſchen Geruch, der die Hütte erfüllte, rührt dieſes
Schwarzwerden wahrſcheinlich davon her, daß eine Verbindung
von Kohlenſtoff und Waſſerſtoff zerſetzt und der Kohlenſtoff
frei wird, während der Waſſerſtoff bei gelinder Hitze ver-
brennt. Der Indianer klopfte die erweichte ſchwarze Maſſe
mit einem vorne keulenförmigen Stück Braſilholz, knetete dann
den Dapicho zu Kugeln von 8 bis 10 cm Durchmeſſer und
ließ ihn erkalten. Dieſe Kugeln gleichen vollkommen dem
Kautſchuk, wie es in den Handel kommt, ſie bleiben jedoch
außen meiſt etwas klebrig. Man braucht ſie in San Bal-
taſar nicht zum indianiſchen Ballſpiel, das bei den Einwoh-
nern von Uruana und Encaramada in ſo hohem Anſehen
ſteht; man ſchneidet ſie cylindriſch zu, um ſie als Stöpſel
zu gebrauchen, die noch weit beſſer ſind als Korkſtöpſel. Dieſe
Anwendung des Kautſchuk war uns deſto intereſſanter, da
uns der Mangel europäiſcher Stöpſel oft in große Verlegen-
heit geſetzt hatte. Wie ungemein nützlich der Kork iſt, fühlt
man erſt in Ländern, wohin er durch den Handel nicht kommt.
In Südamerika kommt nirgends, ſelbſt nicht auf dem Rücken
der Anden, eine Eichenart vor, die dem Quercus suber nahe
ſtünde, und weder das leichte Holz der Bombax- und Ochroma-
Arten und anderer Malvaceen, noch die Maisſpindeln, deren
ſich die Indianer bedienen, erſetzen unſere Stöpſel vollkommen.
Der Miſſionär zeigte uns vor der Caſa de los Solteros (Haus,
wo ſich die jungen, nicht verheirateten Leute verſammeln)
eine Trommel, die aus einem 60 cm langen und 48 cm dicken
hohlen Cylinder beſtand. Man ſchlug dieſelbe mit großen
Stücken Dapicho wie mit Trommelſchlägeln; ſie hatte Löcher,
die man mit der Hand ſchließen konnte, um höhere oder tiefere
Töne hervorzubringen, und hing an zwei leichten Stützen.
Wilde Völker lieben rauſchende Muſik. Die Trommel und
[216] die Botutos oder Trompeten aus gebrannter Erde, 1 bis
1,3 m lange Röhren, die ſich an mehreren Stellen zu Hohl-
kugeln erweitern, ſind bei den Indianern unentbehrliche In-
ſtrumente, wenn es ſich davon handelt, mit Muſik Effekt zu
machen.


Am 30. April. Die Nacht war ziemlich ſchön, ſo daß
ich die Meridianhöhen des α im ſüdlichen Kreuz und der zwei
großen Sterne in den Füßen des Centauren beobachten konnte.
Ich fand für San Baltaſar eine Breite von 3° 14′ 23″.
Als Länge ergab ſich aus Stundenwinkeln der Sonne nach
dem Chronometer 70° 14′ 21″. Die Inklination der Magnet-
nadel war 27′ 80. Wir verließen die Miſſion morgens ziem-
lich ſpät und fuhren den Atabapo noch 22,5 km hinauf; ſtatt
ihm aber weiter ſeiner Quelle zu gegen Oſten, wo er Atacavi
heißt, zu folgen, liefen wir jetzt in den Rio Temi ein. Ehe
wir an die Mündung desſelben kamen, beim Einfluß des
Guaſacavi, wurden wir auf eine Granitkuppe am weſtlichen
Ufer aufmerkſam. Dieſelbe heißt der Fels der Guahiba-
Indianerin
, oder der Fels der Mutter, Piedra de la madre.
Wir fragten nach dem Grund einer ſo ſonderbaren Benennung.
Pater Zea konnte unſere Neugier nicht befriedigen, aber einige
Wochen ſpäter erzählte uns ein anderer Miſſionär einen Vor-
fall, den ich in meinem Tagebuch aufgezeichnet und der den
ſchmerzlichſten Eindruck auf uns machte. Wenn der Menſch
in dieſen Einöden kaum eine Spur ſeines Daſeins hinter ſich
läßt, ſo iſt es für den Europäer doppelt demütigend, daß durch
den Namen eines Felſens, durch eines der unvergänglichen
Denkmale der Natur, das Andenken an die ſittliche Ver-
worfenheit unſeres Geſchlechtes, an den Gegenſatz zwiſchen
der Tugend des Wilden und der Barbarei des civiliſierten
Menſchen verewigt wird.


Der Miſſionär von San Fernando1 war mit ſeinen In-
dianern an den Guaviare gezogen, um einen jener feindlichen
Einfälle zu machen, welche ſowohl die Religion als die ſpa-
niſchen Geſetze verbieten. Man fand in einer Hütte eine
Mutter vom Stamme der Guahibos mit drei Kindern, von
denen zwei noch nicht erwachſen waren. Sie bereiteten Ma-
niokmehl. An Widerſtand war nicht zu denken; der Vater
war auf dem Fiſchfang, und ſo ſuchte die Mutter mit ihren
[217] Kindern ſich durch die Flucht zu retten. Kaum hatte ſie die
Savanne erreicht, ſo wurde ſie von den Indianern aus der
Miſſion eingeholt, die auf die Menſchenjagd gehen, wie
die Weißen und die Neger in Afrika. Mutter und Kinder
wurden gebunden und an den Fluß geſchleppt. Der Ordens-
mann ſaß in ſeinem Boot, des Ausgangs der Expedition harrend,
die für ihn ſehr gefahrlos war. Hätte ſich die Mutter zu
ſtark gewehrt, ſo wäre ſie von den Indianern umgebracht
worden; alles iſt erlaubt, wenn man auf die Conquista
espiritual
auszieht, und man will beſonders der Kinder hab-
haft werden, die man dann in der Miſſion als Poitos oder
Sklaven der Chriſten behandelt. Man brachte die Gefangenen
nach San Fernando und meinte, die Mutter könne zu Land
ſich nicht wieder in ihre Heimat zurückfinden. Durch die
Trennung von den Kindern, die am Tage ihrer Entführung
den Vater begleitet hatten, geriet das Weib in die höchſte
Verzweiflung. Sie beſchloß, die Kinder, die in der Gewalt
des Miſſionärs waren, zur Familie zurückzubringen; ſie lief
mit ihnen mehrere Male von San Fernando fort, wurde aber
immer wieder von den Indianern gepackt, und nachdem der
Miſſionär ſie unbarmherzig hatte peitſchen laſſen, faßte er den
grauſamen Entſchluß, die Mutter von den beiden Kindern, die
mit ihr gefangen worden, zu trennen. Man führte ſie allein
den Atabapo hinauf, den Miſſionen am Rio Negro zu. Leicht
gebunden ſaß ſie auf dem Vorderteil des Fahrzeuges. Man
hatte ihr nicht geſagt, welches Los ihrer wartete, aber nach
der Richtung der Sonne ſah ſie wohl, daß ſie immer weiter
von ihrer Hütte und ihrer Heimat wegkam. Es gelang ihr,
ſich ihrer Bande zu entledigen, ſie ſprang in den Fluß und
ſchwamm dem linken Ufer des Atabapo zu. Die Strömung
trug ſie an eine Felsbank, die noch heute ihren Namen trägt.
Sie ging hier ans Land und lief ins Holz; aber der Präſi-
dent der Miſſionen befahl den Indianern, ans Ufer zu fahren
und den Spuren der Guahiba zu folgen. Am Abend wurde
ſie zurückgebracht, auf den Fels (piedra de la madre) gelegt
und mit einem Seekuhriemen, die hierzulande als Peitſchen
dienen und mit denen die Alkaden immer verſehen ſind, un-
barmherzig gepeitſcht. Man band dem unglücklichen Weibe
mit ſtarken Mavacureranken die Hände auf den Rücken und
brachte ſie in die Miſſion Javita.


Man ſperrte ſie hier in eine der Karawanſeraien, die
man hier Caſas del Rey nennt. Es war in der Regenzeit
[218] und die Nacht ganz finſter. Wälder, die man bis da für
undurchdringlich gehalten, liegen 112 km in gerader Linie
breit, zwiſchen Javita und San Fernando. Man kennt keinen
anderen Weg als die Flüſſe. Niemals hat ein Menſch ver-
ſucht zu Lande von einem Dorfe zum anderen zu gehen,
und lägen ſie auch nur ein paar Meilen auseinander. Aber
ſolche Schwierigkeiten halten eine Mutter, die man von ihren
Kindern getrennt, nicht auf. Ihre Kinder ſind in San Fer-
nando am Atabapo; ſie muß zu ihnen, ſie muß ſie aus den
Händen der Chriſten befreien, ſie muß ſie dem Vater am
Guaviare wiederbringen. Die Guahiba iſt im Karawanſerai
nachläſſig bewacht, und da ihre Arme ganz blutig waren,
hatten ihr die Indianer von Javita ohne Vorwiſſen des Miſ-
ſionärs und des Alkaden die Bande gelockert. Es gelingt
ihr, ſie mit den Zähnen vollends loszumachen, und ſie ver-
ſchwindet in der Nacht. Und als die Sonne zum viertenmal
aufgeht, ſieht man ſie in der Miſſion San Fernando um die
Hütte ſchleichen, wo ihre Kinder eingeſperrt ſind. „Was dieſes
Weib ausgeführt,“ ſagte der Miſſionär, der uns dieſe traurige
Geſchichte erzählte, „der kräftigſte Indianer hätte es ſich nicht
getraut, es zu unternehmen.“ Sie ging durch die Wälder in
einer Jahreszeit, wo der Himmel immer mit Wolken bedeckt
iſt und die Sonne tagelang nur auf wenige Minuten zum
Vorſchein kommt. Hatte ſie ſich nach dem Laufe der Waſſer
gerichtet? Aber da alles überſchwemmt war, mußte ſie ſich weit
von den Flußufern, mitten in den Wäldern halten, wo man
das Waſſer faſt gar nicht laufen ſieht. Wie oft mochte ſie
von den ſtachligen Lianen aufgehalten worden ſein, welche um
die von ihnen umſchlungenen Stämme ein Gitterwerk bilden!
Wie oft mußte ſie über die Bäche ſchwimmen, die ſich in den
Atabapo ergießen! Man fragte das unglückliche Weib, von
was ſie ſich vier Tage lang genährt; ſie ſagte, völlig erſchöpft
habe ſie ſich keine andere Nahrung verſchaffen können als die
großen ſchwarzen Ameiſen, Vachacos genannt, die in langen
Zügen an den Bäumen hinaufkriechen, um ihre harzigen
Neſter daran zu hängen. Wir wollten durchaus vom Miſ-
ſionär wiſſen, ob jetzt die Guahiba in Ruhe des Glückes habe
genießen können, um ihre Kinder zu ſein, ob man doch end-
lich bereut habe, daß man ſich ſo maßlos vergangen? Er fand
nicht für gut, unſere Neugierde zu befriedigen; aber auf der
Rückreiſe vom Rio Negro hörten wir, man habe der India-
nerin nicht Zeit gelaſſen, von ihren Wunden zu geneſen, ſondern
[219] ſie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Miſ-
ſion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies ſie alle Nah-
rung von ſich und ſtarb, wie die Indianer in großem Jam-
mer thun.


Dies iſt die Geſchichte, deren Andenken an dieſem un-
ſeligen Geſtein, an der Piedra de la madre, haftet. Es iſt
mir in dieſer meiner Reiſebeſchreibung nicht darum zu thun,
bei der Schilderung einzelner Unglücksſzenen zu verweilen.
Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und
Sklaven gibt, wo civiliſierte Europäer unter verſunkenen
Völkern leben, wo Prieſter mit unumſchränkter Gewalt über
unwiſſende, wehrloſe Menſchen herrſchen. Als Geſchichtſchreiber
der Länder, die ich bereiſt, beſchränke ich mich meiſt darauf,
anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiöſen Einrich-
tungen mangelhaft oder der Menſchheit verderblich erſcheint.
Wenn ich beim Fels der Guahiba länger verweilt habe,
geſchah es nur, um ein rührendes Beiſpiel von Mutterliebe
bei einer Menſchenart beizubringen, die man ſo lange ver-
leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen ſchien, einen
Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran-
ziskanern habe, und der beweiſt, wie notwendig es iſt, daß
das Auge des Geſetzgebers über dem Regiment der Miſſio-
näre wacht.


Oberhalb des Einfluſſes des Guaſacavi liefen wir in den
Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir
den Atabapo weiter hinaufgefahren, ſo wären wir gegen Oſt-
Süd-Oſt vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der
Temi iſt nur 155 bis 175 m breit, und in jedem anderen
Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender
Fluß. Das Land iſt äußerſt einförmig, nichts als Wald auf
völlig ebenem Boden. Die ſchöne Pirijaopalme mit Früchten
wie Pfirſiche, und eine neue Art Bache oder Mauritia mit
ſtachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen,
deren Wachstum, wie es ſcheint, durch das lange Stehen unter
Waſſer niedergehalten wird. Dieſe Mauritia aculeata heißt
bei den Indianern Juria oder Cauvaja. Sie hat fächer-
förmige, gegen den Boden geſenkte Blätter; auf jedem Blatte
ſieht man gegen die Mitte, wahrſcheinlich infolge einer Krank-
heit des Parenchyms, konzentriſche, abwechſelnd gelbe und
blaue Kreiſe; gegen die Mitte herrſcht das Gelb vor. Dieſe
Erſcheinung fiel uns ſehr auf. Dieſe wie ein Pfauenſchweif
gefärbten Blätter ſitzen auf kurzen, ſehr dicken Stämmen.
[220] Die Stacheln ſind nicht lang und dünn, wie beim Corozo
und anderen ſtachligen Palmen; ſie ſind im Gegenteil ſtark
holzig, kurz, gegen die Baſis breiter, wie die Stacheln der
Hura crepitans. An den Ufern des Atabapo und Temi
ſteht dieſe Palme in Gruppen von 12 bis 15 Stämmen, die
ſich ſo nah aneinander drängen, als kämen ſie aus einer
Wurzel. Im Habitus, in der Form und der geringen Zahl
der Blätter gleichen dieſe Bäume den Fächerpalmen und
Chamärops der Alten Welt. Wir bemerkten, daß einige Juria-
ſtämme gar keine Früchte trugen, während andere davon ganz
voll hingen; dies ſcheint auf eine Palme mit getrennten Ge-
ſchlechtern zu deuten.


Ueberall, wo der Temi Schlingen bildet, ſteht der Wald
über 10 qkm weit unter Waſſer. Um die Krümmungen zu
vermeiden und ſchneller vorwärts zu kommen, wird die Schiff-
fahrt hier ganz ſeltſam betrieben. Die Indianer bogen aus
dem Flußbett ab, und wir fuhren ſüdwärts durch den Wald
auf ſogenannten Sendas, das heißt 1,3 bis 1,6 m breiten,
offenen Kanälen. Das Waſſer iſt ſelten über einen halben
Faden tief. Dieſe Sendas bilden ſich im überſchwemmten
Wald wie auf trockenem Boden die Fußſteige. Die Indianer
ſchlagen von einer Miſſion zur anderen mit ihren Kanoen wo-
möglich immer denſelben Weg ein; da aber der Verkehr gering
iſt, ſo ſtößt man bei der üppigen Vegetation zuweilen un-
erwartet auf Hinderniſſe. Deshalb ſtand ein Indianer mit
einem Machete (ein großes Meſſer mit 37 cm langer Klinge)
vorne auf unſerem Fahrzeuge und hieb fortwährend die Zweige
ab, die ſich auf beiden Seiten des Kanales kreuzten. Im
dickſten Walde vernahmen wir mit Ueberraſchung einen ſonder-
baren Lärm. Wir ſchlugen an die Büſche, und da kam ein
Schwarm 1,3 m langer Toninas (Süßwaſſerdelphine) zum
Vorſchein und umgab unſer Fahrzeug. Die Tiere waren unter
den Aeſten eines Käſebaumes oder Bombax Ceiba verſteckt
geweſen. Sie machten ſich durch den Wald davon und warfen
dabei die Strahlen Waſſer und komprimierter Luft, nach denen
ſie in allen Sprachen Blaſefiſche oder Spritzfiſche, souff-
leurs
u. ſ. w. heißen. Ein ſonderbarer Anblick mitten im
Lande, 1300 bis 1800 km von den Mündungen des Orinoko
und des Amazonenſtroms! Ich weiß wohl, daß Fiſche von
der Familie Pleuronectes1 aus dem Atlantiſchen Meere in der
[221] Loire bis Orleans heraufgehen; aber ich bin immer noch der
Anſicht, daß die Delphine im Temi, wie die im Ganges und
wie die Rochen im Orinoko, von den Seerochen und See-
delphinen ganz verſchiedene Arten ſind. In den ungeheuren
Strömen Südamerikas und in den großen Seen Nordame-
rikas ſcheint die Natur mehrere Typen von Seetieren zu
wiederholen. Der Nil hat keine Delphine;1 ſie gehen aus
dem Meere im Delta nicht über Biana und Metonbis, Se-
lamun zu, hinauf.


Gegen 5 Uhr abends gingen wir nicht ohne Mühe in
das eigentliche Flußbett zurück. Unſere Piroge blieb ein paar
Minuten lang zwiſchen zwei Baumſtämmen ſtecken. Kaum
war ſie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo
mehrere Waſſerpfade oder kleine Kanäle ſich kreuzten, und der
Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenſte Weg
war. Wir haben oben geſehen, daß man in der Provinz
Varinas im Kanoe über die offenen Savannen von San Fer-
nando am Apure bis an den Arauca fährt; hier fuhren wir
durch einen Wald, der ſo dicht iſt, daß man ſich weder nach
der Sonne noch nach den Sternen orientieren kann. Heute
fiel es uns wieder recht auf, daß es in dieſem Landſtriche
keine baumartigen Farne mehr gibt. Sie nehmen vom 6. Grad
nördlicher Breite an ſichtbar ab, wogegen die Palmen dem
Aequator zu ungeheuer zunehmen. Die eigentliche Heimat
der baumartigen Farne iſt ein nicht ſo heißes Klima, ein
etwas bergiger Boden, Plateaus von 580 m Höhe. Nur wo
Berge ſind, gehen dieſe prachtvollen Gewächſe gegen die Nie-
derungen herab; ganz ebenes Land, wie das, über welches
der Caſſiquiare, der Temi, der Inirida und der Rio Negro
ziehen, ſcheinen ſie zu meiden. Wir übernachteten an einem
Felſen, den die Miſſionäre Piedra de Aſtor nennen. Von der
Mündung des Guaviare an iſt der geologiſche Charakter des
Bodens derſelbe. Es iſt eine weite aus Granit beſtehende
Ebene, auf der jede Meile einmal das Geſtein zu Tage kommt
und keine Hügel, ſondern kleine ſenkrechte Maſſen bildet, die
Pfeilern oder zerfallenen Gebäuden gleichen.


[222]

Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen-
aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen,
weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe
war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht
bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je
näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen.
Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte
beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald
die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken
Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald.
So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem
anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls
ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf.
Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini
liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er-
forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an
den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An-
tonio de Javita
erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein
an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein
furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün-
dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm,
den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und
einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht
weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete
es Mühe, ihn zu retten.


Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes-
lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten
uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange
zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz
am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht
allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um
uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen
litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken
und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das
ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit
der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen.
Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer.
Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die
kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben,
die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus
dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der
Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-
[223] liches Jucken verurſachten, eines um das andere herauszuholen.
Sie erhitzte an der Lampe die Spitze eines kleinen Splitters
ſehr harten Holzes und bohrte damit in den Furchen, die auf
der Haut ſichtbar waren. Nach langem Suchen verkündete
ſie mit dem pedantiſchen Ernſte, der den Farbigen eigen iſt,
da ſei bereits ein Arador. Ich ſah einen kleinen runden Sack,
der mir das Ei einer Milbe ſchien. Wenn die Mulattin
einmal drei, vier ſolche Aradores heraus hätte, ſollte ich mich
erleichtert fühlen. Da ich an beiden Händen die Haut voll
Acariden hatte, ging mir die Geduld über der Operation aus,
die bereits bis tief in die Nacht gedauert hatte. Am andern
Tage heilte uns ein Indianer aus Javita radikal und über-
raſchend ſchnell. Er brachte uns einen Zweig von einem
Strauch, genannt Uzao, mit kleinen, denen der Caſſia ähn-
lichen, ſtark lederartigen, glänzenden Blättern. Er machte von
der Rinde einen kalten Aufguß, der bläulich ausſah und wie
Süßholz (Glycirrhyza) ſchmeckte und geſchlagen ſtarken Schaum
gab. Auf einfaches Waſchen mit dem Uzaowaſſer hörte das
Jucken von den Aradores auf. Wir konnten vom Uzao weder
Blüte noch Frucht auftreiben. Der Strauch ſcheint der Familie
der Schotengewächſe anzugehören, deren chemiſche Eigenſchaften
ſo auffallend ungleichartig ſind. Der Schmerz, den wir aus-
zuſtehen gehabt, hatte uns ſo ängſtlich gemacht, daß wir bis
San Carlos immer ein paar Uzaozweige im Kanoe mitführten;
der Strauch wächſt am Pimichin in Menge. Warum hat
man kein Mittel gegen das Jucken entdeckt, das von den
Stichen der Zancudos herrührt, wie man eines gegen das
Jucken hat, das die Aradores oder mikroſkopiſchen Acariden
verurſuchen?


Im Jahre 1755, vor der Grenzexpedition, gewöhnlich
Solanos Expedition genannt, wurde dieſer Landſtrich zwiſchen
den Miſſionen Javita und San Baltaſar als zu Braſilien
gehörig betrachtet. Die Portugieſen waren vom Rio Negro
über den Trageplatz beim Caño Pimichin bis an den Temi
vorgedrungen. Ein indianiſcher Häuptling, Javita, berühmt
wegen ſeines Mutes und ſeines Unternehmungsgeiſtes, war
mit den Portugieſen verbündet. Seine Streifzüge gingen
vom Rio Jupura oder Caqueta, einem der großen Nebenflüſſe
des Amazonenſtromes, über den Rio Uaupe und Xie, bis zu
den ſchwarzen Gewäſſern des Temi und Tuamini, über 450 km
weit. Er war mit einem Patent verſehen, das ihn ermächtigte,
„Indianer aus dem Walde zu holen zur Eroberung der Seelen“.
[224] Er machte von dieſer Befugnis reichlichen Gebrauch; aber er
bezweckte mit ſeinen Einfällen etwas, das nicht ſo ganz geiſtlich
war, Sklaven (poitos) zu machen und ſie an die Portugieſen
zu verkaufen. Als Solano, der zweite Befehlshaber bei der
Grenzexpedition, nach San Fernando de Atabapo kam, ließ
er Kapitän Javita auf einem ſeiner Streifzüge am Temi feſt-
nehmen. Er behandelte ihn freundlich und es gelang ihm,
ihn durch Verſprechungen, die nicht gehalten wurden, für die
ſpaniſche Regierung zu gewinnen. Die Portugieſen, die bereits
einige feſte Niederlaſſungen im Lande gegründet hatten, wurden
bis an den unteren Rio Negro zurückgedrängt, und die Miſſion
San Antonio, die gewöhnlich nach ihrem indianiſchen Gründer
Javita heißt, weiter nördlich von den Quellen des Tuamini,
dahin verlegt, wo ſie jetzt liegt. Der alte Kapitän Javita
lebte noch, als wir an den Rio Negro gingen. Er iſt ein
Indianer von bedeutender Geiſtes- und Körperkraft. Er ſpricht
geläufig ſpaniſch und hat einen gewiſſen Einfluß auf die be-
nachbarten Völker behalten. Er begleitete uns immer beim
Botaniſieren und erteilte uns mancherlei Auskunft, die wir
deſto mehr ſchätzten, da die Miſſionäre ihn für ſehr zuverläſſig
halten. Er verſichert, er habe in ſeiner Jugend faſt alle
Indianerſtämme, welche auf dem großen Landſtriche zwiſchen
dem Orinoko, dem Rio Negro, dem Irinida und Jupura
wohnen, Menſchenfleiſch eſſen ſehen. Er hält die Daricavanas,
Puchirinavis und Manitibitanos für die ſtärkſten Anthropo-
phagen. Er hält dieſen abſcheulichen Brauch bei ihnen nur
für ein Stück ſyſtematiſcher Rachſucht: ſie eſſen nur Feinde,
die im Gefechte in ihre Hände gefallen. Die Beiſpiele, wo
der Indianer in der Grauſamkeit ſo weit geht, daß er ſeine
Nächſten, ſein Weib, eine ungetreue Geliebte verzehrt, ſind,
wie wir weiter unten ſehen werden, ſehr ſelten. Auch weiß
man am Orinoko nichts von der ſeltſamen Sitte der ſkythiſchen
und maſſagetiſchen Völker, der Capanaguas am Rio Ucayale
und der alten Bewohner der Antillen, welche dem Toten zu
Ehren die Leiche zum Teil aßen. Auf beiden Kontinenten
kommt dieſer Brauch nur bei Völkern vor, welche das Fleiſch
eines Gefangenen verabſcheuen. Der Indianer auf Hayti
(San Domingo) hätte geglaubt, dem Andenken eines Angehö-
rigen die Achtung zu verſagen, wenn er nicht ein wenig von
der gleich einer Guanchenmumie getrockneten und gepulverten
Leiche in ſein Getränk geworfen hätte. Da kann man wohl
mit einem orientaliſchen Dichter ſagen, „am ſeltſamſten in
[225] ſeinen Sitten, am ausſchweifendſten in ſeinen Trieben ſei von
allen Tieren der Menſch“.


Das Klima in San Antonio de Javita iſt ungemein
regneriſch. Sobald man über den dritten Breitengrad hinunter
dem Aequator zu kommt, findet man ſelten Gelegenheit, Sonne
und Geſtirne zu beobachten. Es regnet faſt das ganze Jahr
und der Himmel iſt beſtändig bedeckt. Da in dieſem unermeß-
lichen Urwalde von Guyana der Oſtwind nicht zu ſpüren iſt
und die Polarſtröme nicht hierher reichen, ſo wird die Luft-
ſäule, die auf dieſer Waldregion liegt, nicht durch trockenere
Schichten erſetzt. Der Waſſerdunſt, mit dem ſie geſättigt iſt,
verdichtet ſich zu äquatorialen Regengüſſen. Der Miſſionär
verſicherte uns, er habe hier oft vier, fünf Monate ohne Unter-
brechung regnen ſehen. Ich maß den Regen, der am 1. Mai
innerhalb 5 Stunden fiel: er ſtand 46,5 mm hoch, und am
3. Mai bekam ich ſogar 30 mm in 3 Stunden. Und zwar,
was wohl zu beachten, wurden dieſe Beobachtungen nicht bei
ſtarkem, ſondern bei ganz gewöhnlichem Regen angeſtellt. Be-
kanntlich fallen in Paris in ganzen Monaten, ſelbſt in den
naſſeſten, März, Juli und September, nur 62 bis 66 mm
Waſſer. Allerdings kommen auch bei uns Regengüſſe vor,
bei denen in der Stunde über 26 mm Waſſer fallen, man darf
aber nur den mittleren Zuſtand der Atmoſphäre in der ge-
mäßigten und in der heißen Zone vergleichen. Aus den Be-
obachtungen, die ich hintereinander im Hafen von Guayaquil
an der Südſee und in der Stadt Quito in 2908 m Meeres-
höhe angeſtellt, ſcheint hervorzugehen, daß gewöhnlich auf dem
Rücken der Anden in der Stunde 2 bis 3mal weniger Waſſer
fällt als im Niveau des Meeres. Es regnet im Gebirge
öfter, dabei fällt aber in einer gegebenen Zeit weniger Waſſer.
Am Rio Negro in Maroa und San Carlos iſt der Himmel
bedeutend heiterer als in Javita und am Temi. Dieſer
Unterſchied rührt nach meiner Anſicht daher, daß dort die
Savannen am unteren Rio Negro in der Nähe liegen, über
die der Oſtwind frei wehen kann, und die durch ihre Strah-
lung einen ſtärkeren aufſteigenden Luftſtrom verurſachen als
bewaldetes Land.


Es iſt in Javita kühler als in Maypures, aber bedeutend
heißer als am Rio Negro. Der hundertteilige Thermometer
ſtand bei Tage auf 26 bis 27°, bei Nacht auf 21°; nördlich
von den Katarakten, beſonders nördlich von der Mündung
des Meta, war die Temperatur bei Tage meiſt 28 bis 30°,
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 15
[226] bei Nacht 25 bis 26°. Dieſe Abnahme der Wärme am Ata-
bapo, Tuamini und Rio Negro rührt ohne Zweifel davon her,
daß bei dem beſtändig bedeckten Himmel die Sonne ſo wenig
ſcheint und die Verdunſtung auf dem naſſen Boden ſo ſtark
iſt. Ich ſpreche nicht vom erkältenden Einfluſſe der Wälder,
wo die zahlloſen Blätter ebenſo viele dünne Flächen ſind, die
ſich durch Strahlung gegen den Himmel abkühlen. Bei dem
mit Wolken umzogenen Himmel kann dieſes Moment nicht
viel ausmachen. Auch ſcheint die Meereshöhe von Javita
etwas dazu beizutragen, daß die Temperatur niedriger iſt.
Maypures liegt wahrſcheinlich 117 bis 136 m, San Fernando
de Atabapo 238, Javita 323 m über dem Meere. Da die
kleine atmoſphäriſche Ebbe und Flut an der Küſte (in Cu-
mana) von einem Tag zum anderen um 1,6 bis 4 mm variiert,
und ich das Unglück hatte, das Inſtrument zu zerbrechen, ehe
ich wieder an die See kam, ſo ſind dieſe Reſultate nicht ganz
zuverläſſig. Als ich in Javita die ſtündlichen Variationen
des Luftdruckes beobachtete, bemerkte ich, daß eine kleine Luft-
blaſe die Queckſilberſäule zum Teil ſperrte1 und durch ihre
thermometriſche Ausdehnung auf das Steigen und Fallen
Einfluß äußerte. Auf den elenden Fahrzeugen, in die wir
eingezwängt waren, ließ ſich der Barometer faſt unmöglich
ſenkrecht oder doch ſtark aufwärts geneigt halten. Ich benützte
unſeren Aufenthalt in Javita, um das Inſtrument auszu-
beſſern und zu berichtigen. Nachdem ich das Niveau gehörig
rektifiziert, ſtand der Thermometer bei 23,4° Temperatur
morgens 11½ Uhr 40 cm hoch. Ich lege einiges Gewicht
auf dieſe Beobachtung, da es für die Kenntnis der Boden-
bildung eines Kontinents von größerem Belang iſt, die Meeres-
höhe der Ebenen 900 bis 1300 km von der Küſte zu beſtimmen,
als die Gipfel der Kordilleren zu meſſen. Barometriſche Be-
obachtungen in Segu am Nigir, in Bornu oder auf den
Hochebenen von Khoten und Hami wären für die Geologie
wichtiger als die Beſtimmung der Höhe der Gebirge in Abeſ-
ſinien und im Muſart. Die ſtündlichen Variationen des
[227] Barometers treten in Javita zu denſelben Stunden ein wie an
den Küſten und im Hofe Antiſana, wo mein Inſtrument in
4100 m Meereshöhe hing. Sie betrugen von 9 Uhr morgens
bis 4 Uhr abends 3,2 mm, am 4. Mai ſogar faſt 4,4 mm.
Der Delucſche auf den Sauſſureſchen reduzierte Hygrometer
ſtand fortwährend im Schatten zwiſchen 84 und 92°, wobei
nur die Beobachtungen gerechnet ſind, die gemacht wurden,
ſolange es nicht regnete. Die Feuchtigkeit hatte ſomit ſeit
den großen Katarakten bedeutend zugenommen: ſie war mitten
in einem ſtark beſchatteten, von Aequatorialregen überfluteten
Lande faſt ſo groß wie auf der See.


Vom 29. April bis 4. Mai konnte ich keines Sternes
im Meridian anſichtig werden, um die Länge zu beſtimmen.
Ich blieb ganze Nächte wach, um die Methode der doppelten
Höhen anzuwenden; all mein Bemühen war vergeblich. Die
Nebel im nördlichen Europa ſind nicht anhaltender als hier
in Guyana in der Nähe des Aequators. Am 4. Mai kam
die Sonne auf einige Minuten zum Vorſchein. Ich fand mit
dem Chronometer und mittels Stundenwinkeln die Länge von
Javita gleich 70° 22′ oder 1° 1′ 5″ weiter nach Weſt als die
Länge der Einmündung des Apure in den Orinoko. Dieſes
Ergebnis iſt von Bedeutung, weil wir damit auf unſeren
Karten die Lage des gänzlich unbekannten Landes zwiſchen
dem Xie und den Quellen des Iſſana angeben können, die
auf demſelben Meridian wie die Miſſion Javita liegen. Die
Inklination der Magnetnadel war in der Miſſion 26,40°;
ſie hatte demnach ſeit dem großen nördlichen Katarakt, bei
einem Breitenunterſchiede von 3° 50′, um 5,85° abgenommen.
Die Abnahme der Intenſität der magnctiſchen Kraft war
ebenſo bedeutend. Die Kraft entſprach in Atures 223, in
Javita nur 218 Schwingungen in 10 Zeitminuten.


Die Indianer in Javita, 160 an der Zahl, ſind gegen-
wärtig größtenteils Poimiſanos, Echinavis und Paraginis,
und treiben Schiffbau. Man nimmt dazu Stämme einer
großen Lorbeerart, von den Miſſionären Saſſafras1 genannt,
die man mit Feuer und Axt zugleich aushöhlt. Dieſe Bäume
ſind über 30 m hoch; das Holz iſt gelb, harzig, verdirbt faſt
nie im Waſſer und hat einen ſehr angenehmen Geruch. Wir
ſahen es in San Fernando, in Javita, beſonders aber in
[228] Esmeralda, wo die meiſten Pirogen für den Orinoko gebaut
werden, weil die benachbarten Wälder die dickſten Saſſafras-
ſtämme liefern. Man bezahlt den Indianern für 84 cm oder
eine Vara vom Boden der Piroge, das heißt für den unteren,
hauptſächlichen Teil (der aus einem ausgehöhlten Stamme
beſteht), einen harten Piaſter, ſo daß ein 13,3 m langes Kanoe,
Holz und Arbeitslohn des Zimmerers, nur 16 Piaſter koſtet;
aber mit den Nägeln und den Seitenwänden, durch die man
das Fahrzeug geräumiger macht, kommt es doppelt ſo hoch.
Auf dem oberen Orinoko ſah ich 40 Piaſter oder 200 Franken
für eine 15,6 m lange Piroge bezahlen.


Im Walde zwiſchen Javita und dem Caño Pimichin
wächſt eine erſtaunliche Menge rieſenhafter Baumarten, Oco-
teen und echte Lorbeeren (die dritte Gruppe der Laurineen,
die Perſea, iſt wild nur in mehr als 1950 m Meereshöhe ge-
funden worden), die Amasonia arborea, das Retiniphyllum
secundiflorum,
der Curvana, der Jacio, der Jacifate, deſſen
Holz rot iſt wie Braſilholz, der Guamufate mit ſchönen, 18 bis
21 cm langen, denen des Calophyllum ähnlichen Blättern, die
Amyris Caranna und der Mani. Alle dieſe Bäume (mit
Ausnahme unſerer neuen Gattung Retiniphyllum) waren
32 bis 35 m hoch. Da die Aeſte erſt in der Nähe des Wipfels
vom Stamme abgehen, ſo koſtete es Mühe, ſich Blätter und
Blüten zu verſchaffen. Letztere lagen häufig unter den Bäumen
am Boden; da aber in dieſen Wäldern Arten verſchiedener
Familien durcheinander wachſen und jeder Baum mit Schling-
pflanzen bedeckt iſt, ſo ſchien es bedenklich, ſich allein auf die
Ausſage der Indianer zu verlaſſen, wenn dieſe uns verſicherten,
die Blüten gehören dieſem oder jenem Baume an. In der
Fülle der Naturſchätze machte uns das Botaniſieren mehr
Verdruß als Vergnügen. Was wir uns aneignen konnten,
ſchien uns von wenig Belang gegen das, was wir nicht zu
erreichen vermochten. Es regnete ſeit mehreren Monaten un-
aufhörlich und Bonpland gingen die Exemplare, die er mit
künſtlicher Wärme zu trocknen ſuchte, größtenteils zu Grunde.
Unſere Indianer kauten erſt, wie ſie gewöhnlich thun, das
Holz, und nannten dann den Baum. Die Blätter wußten
ſie beſſer zu unterſcheiden als Blüten und Früchte. Da ſie
nur Bauholz (Stämme zu Pirogen) ſuchen, kümmern ſie ſich
wenig um den Blütenſtand. „Alle dieſe großen Bäume tragen
weder Blüten noch Früchte,“ ſo lautete fortwährend ihr Be-
ſcheid. Gleich den Kräuterkennern im Altertum ziehen ſie in
[229] Abrede, was ſie nicht der Mühe wert gefunden zu unterſuchen.
Wenn unſere Fragen ſie langweilten, ſo machten ſie ihrerſeits
uns ärgerlich.


Wir haben ſchon oben die Bemerkung gemacht, daß zu-
weilen dieſelben chemiſchen Eigenſchaften denſelben Organen
in verſchiedenen Pflanzenfamilien zukommen, ſo daß dieſe
Familien in verſchiedenen Klimaten einander erſetzen. Die
Einwohner des tropiſchen Amerika und Afrika gewinnen von
mehreren Palmenarten das Oel, das uns der Olivenbaum
gibt. Was die Nadelhölzer für die gemäßigte Zone, das ſind
die Terebinthaceen und Guttiferen für die heiße. In dieſen
Wäldern des heißen Erdſtriches, wo es keine Fichte, keine
Thuia, kein Taxodium, nicht einmal einen Podocarpus gibt,
kommen Harze, Balſame, aromatiſches Gummi von den Mo-
ronobea-, Icica-, Amyrisarten. Das Einſammeln dieſer Gummi
und Harze iſt ein Erwerbszweig für das Dorf Javita. Das
berühmteſte Harz heißt Mani; wir ſahen mehrere Zentner
ſchwere Klumpen desſelben, die Kolophonium oder Maſtix
glichen. Der Baum, den die Paraginisindianer Mani nennen
und den Bonpland für die Moronobea coccinea hält, liefert
nur einen ſehr kleinen Teil der Maſſe, die in den Handel
von Angoſtura kommt. Das meiſte kommt vom Mararo
oder Caragna, der eine Amyris iſt. Es iſt ziemlich auf-
fallend, daß der Name Mani, den Aublet aus dem Munde
der Galibisindianer in Cayenne gehört hat, uns in Javita,
1300 km von franzöſiſch Guyana, wieder begegnete. Die
Moronobea oder Symphonia bei Javita gibt ein gelbes Harz,
der Caragna ein ſtark riechendes, ſchneeweißes Harz, das
gelb wird, wo es innen an alter Rinde ſitzt.


Wir gingen jeden Tag in den Wald, um zu ſehen, ob
es mit dem Transport unſeres Fahrzeuges zu Land vorwärts
ging. Dreiundzwanzig Indianer waren angeſtellt, dasſelbe
zu ſchleppen, wobei ſie nacheinander Baumäſte als Walzen
unterlegten. Ein kleines Kanoe gelangt in einem oder andert-
halb Tagen aus dem Tuamini in den Caño Pimichin, der in
den Rio Negro fällt; aber unſere Piroge war ſehr groß, und
da ſie noch einmal durch die Katarakte mußte, bedurfte es
beſonderer Vorſichtsmaßregeln, um die Reibung am Boden zu
vermindern. Der Transport währte auch über vier Tage.
Erſt ſeit dem Jahre 1795 iſt ein Weg durch den Wald an-
gelegt. Die Indianer in Javita haben denſelben zur Hälfte
vollendet, die andere Hälfte haben die Indianer in Maroa,
[230] Davipe und San Carlos herzuſtellen. Pater Eugenio Cereſo
maß den Weg mit einem 83,6 m langen Strick und fand
denſelben 14361 m lang. Legte man ſtatt des „Trageplatzes“
einen Kanal an, wie ich dem Miniſterium König Karls IV.
vorgeſchlagen, ſo würde die Verbindung zwiſchen dem Rio
Negro und Angoſtura, zwiſchen dem ſpaniſchen Orinoko und
den portugieſiſchen Beſitzungen am Amazonenſtrom ungemein
erleichtert. Die Fahrzeuge gingen dann von San Carlos nicht
mehr über den Caſſiquiare, der eine Menge Krümmungen hat
und wegen der ſtarken Strömung gerne gemieden wird; ſie
gingen nicht mehr den Orinoko von ſeiner Gabelteilung bis
San Fernando de Atabapo hinunter. Die Bergfahrt wäre
über den Rio Negro und den Caño Pimichin um die Hälfte
kürzer. Vom neuen Kanal bei Javita ginge es über den
Tuamini, Temi, Atabapo und Orinoko abwärts bis Ango-
ſtura. Ich glaube, man könnte auf dieſe Weiſe von der bra-
ſilianiſchen Grenze in die Hauptſtadt von Guyana leicht in
24 bis 26 Tagen gelangen; man brauchte unter gewöhnlichen
Umſtänden 10 Tage weniger und der Weg wäre für die Ru-
derer (Bogas) weniger beſchwerlich, weil man nur halb ſo
lang gegen die Strömung anfahren muß, als auf dem Caſſi-
quiare. Fährt man aber den Orinoko herauf, geht man von
Angoſtura an den Rio Negro, ſo beträgt der Unterſchied in
der Zeit kaum ein paar Tage; denn über dem Pimichin muß
man dann die kleinen Flüſſe hinauf, während man auf dem
alten Wege den Caſſiquiare hinunterfährt. Wie lange die
Fahrt von der Mündung des Orinoko nach San Carlos dauert,
hängt begreiflich von mehreren wechſelnden Umſtänden ab, ob
die Briſe zwiſchen Angoſtura und Carichana ſtärker oder
ſchwächer weht, wie in den Katarakten von Atures und May-
pures und in den Flüſſen überhaupt der Waſſerſtand iſt. Im
November und Dezember iſt die Briſe ziemlich kräftig und die
Strömung des Orinoko nicht ſtark, aber die kleinen Flüſſe
haben dann ſo wenig Waſſer, daß man jeden Augenblick Ge-
fahr läuft, aufzufahren. Die Miſſionäre reiſen am liebſten
im April, zur Zeit der Schildkröteneierernte, durch die an ein
paar Uferſtriche des Orinoko einiges Leben kommt. Man
fürchtet dann auch die Moskiten weniger, der Strom iſt halb
voll, die Briſe kommt einem noch zu gute und man kommt
leicht durch die großen Katarakte.


Aus den Barometerhöhen, die ich in Javita und beim
Landungsplatz am Pimichin beobachtet, geht hervor, daß der
[231] Kanal im Durchſchnitt von Nord nach Süd einen Fall von
58 bis 78 m hätte. Daher laufen auch die vielen Bäche,
über die man die Pirogen ſchleppen muß, alle dem Pimichin
zu. Wir bemerkten mit Ueberraſchung, daß unter dieſen
Bächen mit ſchwarzem Waſſer ſich einige befanden, deren
Waſſer bei reflektiertem Licht ſo weiß war als das Orinoko-
waſſer. Woher mag dieſer Unterſchied rühren? Alle dieſe
Quellen entſpringen auf denſelben Savannen, aus denſelben
Sümpfen im Walde. Pater Cereſo hat bei ſeiner Meſſung
nicht die gerade Linie eingehalten und iſt zu weit nach Oſt
gekommen, der Kanal würde daher nicht 11,7 km lang. Ich
ſteckte den kürzeſten Weg mittels des Kompaſſes ab und man
hieb hie und da in die älteſten Waldbäume Marken. Der
Boden iſt völlig eben; auf 22,5 km in der Runde findet ſich
nicht die kleinſte Erhöhung. Wie die Verhältniſſe jetzt ſind,
ſollte man das „Tragen“ wenigſtens dadurch erleichtern, daß
man den Weg beſſerte, die Pirogen auf Wagen führte und
Brücken über die Bäche ſchlüge, durch welche die Indianer
oft tagelang aufgehalten werden.


In dieſem Walde erhielten wir endlich auch genaue Aus-
kunft über den vermeintlichen foſſilen Kautſchuk, den die Indianer
Dapicho nennen. Der alte Kapitän Javita führte uns an
einen Bach, der in den Tuamini fällt. Er zeigte uns, wie
man, um dieſe Subſtanz zu bekommen, im ſumpfigen Erd-
reich 60 bis 90 cm zwiſchen den Wurzeln zweier Bäume,
des Jacio und des Curvana graben muß. Erſterer iſt
Aublets Hevea oder die Siphonia der neueren Botaniker, von
der, wie man weiß, der Kautſchuk kommt, der in Cayenne
und Gran Para im Handel iſt; der zweite hat gefiederte
Blätter; ſein Saft iſt milchig, aber ſehr dünn und faſt gar
nicht klebrig. Der Dapicho ſcheint ſich nun dadurch zu
bilden, daß der Saft aus den Wurzeln austritt, und dies
geſchieht beſonders, wenn die Bäume ſehr alt ſind, und
der Stamm hohl zu werden anfängt. Rinde und Splint be-
kommen Riſſe, und ſo erfolgt auf natürlichem Wege, was der
Menſch künſtlich thut, um den Milchſaft der Hevea, der Ca-
ſtilloa und der Kautſchuk gebenden Feigenbäume in Menge
zu ſammeln. Nach Aublets Bericht machen die Galibi und
Garipon in Cayenne zuerſt unten am Stamm einen tiefen
Schnitt bis ins Holz; bald darauf machen ſie ſenkrechte und
ſchiefe Einſchnitte, ſo daß dieſe von oben am Stamm bis
nahe über der Wurzel in jenen horizontalen Einſchnitt zu-
[232] ſammenlaufen. Alle dieſe Rinnen leiten den Milchſaft der
Stelle zu, wo das Thongefäß ſteht, in dem der Kautſchuk
aufgefangen wird. Die Indianer in Carichana ſahen wir
ungefähr ebenſo verfahren.


Wenn, wie ich vermute, die Anhäufung und das Aus-
treten der Milch beim Jacio und Curvana ein patholo-
giſche Erſcheinung iſt, ſo muß der Prozeß zuweilen durch die
Spitzen der längſten Wurzeln vor ſich gehen; denn wir fanden
60 cm breite und 10 cm dicke Maſſen Dapicho 2,6 m vom
Stamme entfernt. Oft ſucht man unter abgeſtorbenen Bäumen
vergebens, andere Male findet man Dapicho unter noch grü-
nenden Hevea- oder Jacioſtämmen. Die Subſtanz iſt weiß,
korkartig, zerbrechlich und gleicht durch die aufeinanderliegen-
den Blätter und die gewellten Ränder dem Boletus igniarius.
Vielleicht iſt zur Bildung des Dapicho lange Zeit erforderlich;
der Hergang dabei iſt wahrſcheinlich der, daß infolge eines
eigentümlichen Zuſtandes des vegetabiliſchen Gewebes der Saft
ſich verdickt, austritt und im feuchten Boden ohne Zutritt von
Licht gerinnt; es iſt ein eigentümlich beſchaffener, ich möchte
faſt ſagen „vergeilter“ Kautſchuk. Aus der Feuchtigkeit des
Bodens ſcheint ſich das wellige Anſehen der Ränder des Da-
picho und ſeine Blätterung zu erklären.


Ich habe in Peru oft beobachtet, daß, wenn man den
Milchſaft der Hevea oder den Saft der Carica langſam in
vieles Waſſer gießt, das Gerinnſel wellenförmige Umriſſe
zeigt. Das Dapicho kommt ſicher nicht bloß in dem Walde
zwiſchen Javita und dem Pimichin vor, obgleich es bis jetzt
nur hier gefunden worden iſt. Ich zweifle nicht, daß man
in franzöſiſch Guyana, wenn man unter den Wurzeln und
alten Stämmen der Hevea nachſuchte, zuweilen gleichfalls
ſolche ungeheure Klumpen von korkartigem Kautſchuk fände,
wie wir ſie eben beſchrieben. In Europa macht man die
Beobachtung, daß, wenn die Blätter fallen, der Saft ſich gegen
die Wurzeln zieht; es wäre intereſſant, zu unterſuchen, ob
etwa unter den Tropen die Milchſäfte der Urticeen, der Eu-
phorbien, und der Apocyneen in gewiſſen Jahreszeiten gleich-
falls abwärts gehen. Trotz der großen Gleichförmigkeit der
Temperatur durchlaufen die Bäume in der heißen Zone einen
Vegetationscyklus, unterliegen Veränderungen mit periodiſcher
Wiederkehr. Der Dapicho iſt wichtiger für die Pflanzen-
phyſiologie als für die organiſche Chemie. Wir haben eine
Abhandlung Allens über den Unterſchied zwiſchen dem Kaut-
[233] ſchuk in ſeinem gewöhnlichen Zuſtande und der bei Javita
gefundenen Subſtanz, von der ich Sir Joſeph Banks geſendet
hatte. Gegenwärtig kommt im Handel ein gelblich-weißer
Kautſchuk vor, den man leicht vom Dapicho unterſcheidet, da
er weder trocken wie Kork, noch zerreiblich iſt, ſondern ſehr
elaſtiſch, glänzend und ſeifenartig. Ich ſah kürzlich in London
anſehnliche Maſſen, die zwiſchen 6 und 15 Frank das Pfund
im Preiſe ſtanden. Dieſer weiße, fett anzufühlende Kautſchuk
kommt aus Oſtindien. Er hat den tieriſchen, nauſeoſen Ge-
ruch, den ich weiter oben von einer Miſchung von Käſeſtoff
und Eiweißſtoff abgeleitet habe. Wenn man bedenkt, wie
unendlich viele und mannigfaltige tropiſche Gewächſe Kaut-
ſchuk geben, ſo muß man bedauern, daß dieſer ſo nützliche
Stoff bei uns nicht wohlfeiler iſt. Man brauchte die Bäume
mit Milchſaft gar nicht künſtlich zu pflanzen; allein in den
Miſſionen am Orinoko ließe ſich ſo viel Kautſchuk gewinnen,
als das civiliſierte Europa immer bedürfen mag. Im König-
reich Neugranada iſt hie und da mit Glück verſucht worden,
aus dieſer Subſtanz Stiefeln und Schuhe ohne Naht zu machen.
Unter den amerikaniſchen Völkern verſtehen ſich die Omaguas
am Amazonenſtrom am beſten auf die Verarbeitung des
Kautſchuk.


Bereits waren vier Tage verfloſſen und unſere Piroge
hatte den Landungsplatz am Rio Pimichin immer noch nicht
erreicht. „Es fehlt Ihnen an nichts in meiner Miſſion,“
ſagte Pater Cereſo; „Sie haben Bananen und Fiſche, bei
Nacht werden Sie nicht von den Moskiten geſtochen, und je
länger Sie bleiben, deſto wahrſcheinlicher iſt es, daß Ihnen
auch noch die Geſtirne meines Landes zu Geſicht kommen.
Zerbricht Ihr Fahrzeug beim ‚Tragen‘, ſo geben wir Ihnen
ein anderes, und mir wird es ſo gut, daß ich ein paar Wochen
con gente blanca y de razon lebe.“1 Trotz unſerer Unge-
duld, hörten wir die Schilderungen des guten Miſſionärs mit
großem Intereſſe an. Er beſtätigte alles, was wir bereits
über die ſittlichen Zuſtände der Eingeborenen dieſer Landſtriche
vernommen hatten. Sie leben in einzelnen Horden von 40
bis 50 Köpfen unter einem Familienhaupte; einen gemein-
ſamen Häuptling (apoto, sibierene) erkennen ſie nur an, ſo-
[234] bald ſie mit ihren Nachbarn in Fehde geraten. Das gegen-
ſeitige Mißtrauen iſt bei dieſen Horden um ſo ſtärker, da ſelbſt
die, welche einander zunächſt hauſen, gänzlich verſchiedene
Sprachen ſprechen. Auf offenen Ebenen oder in Ländern mit
Grasfluren halten ſich die Völkerſchaften gerne nach der Stamm-
verwandtſchaft, nach der Aehnlichkeit der Gebräuche und Mund-
arten zuſammen. Auf dem tatariſchen Hochland wie in Nord-
amerika ſah man große Völkerfamilien in mehreren Marſch-
kolonnen über ſchwach bewaldete, leicht zugängliche Länder
fortziehen. Derart waren die Züge der toltekiſchen und azteki-
ſchen Raſſe über die Hochebenen von Mexiko vom 6. bis zum
11. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung; derart war vermut-
lich auch die Völkerſtrömung, in der ſich die kleinen Stämme
in Kanada, die Mengwe (Irokeſen) oder fünf Nationen, die
Algonkin oder Lenni-Lenape, die Chikeſaws und die Mus-
kohgees vereinigten. Da aber der unermeßliche Landſtrich
zwiſchen dem Aequator und dem 8. Breitengrad nur ein
Wald iſt, ſo zerſtreuten ſich darin die Horden, indem ſie den
Flußverzweigungen nachzogen, und die Beſchaffenheit des
Bodens nötigte ſie mehr oder weniger Ackerbauer zu werden.
So wirr iſt das Labyrinth der Flüſſe, daß die Familien ſich
niederließen, ohne zu wiſſen, welche Menſchenart zunächſt neben
ihnen wohnte. In ſpaniſch Guyana trennt zuweilen ein
Berg, ein 2 bis 3 km breiter Forſt Horden, die zwei Tage
zu Waſſer fahren müßten, um zuſammenzukommen. So wirken
denn in offenen oder in der Kultur ſchon vorgeſchrittenen
Ländern Flußverbindungen mächtig auf Verſchmelzung der
Sprachen, der Sitten und der politiſchen Einrichtungen; da-
gegen in den undurchdringlichen Wäldern des heißen Land-
ſtriches, wie im rohen Urzuſtand unſeres Geſchlechtes, zer-
ſchlagen ſie große Völker in Bruchſtücke, laſſen ſie Dialekte
zu Sprachen werden, die wie grundverſchieden ausſehen, nähren
ſie das Mißtrauen und den Haß unter den Völkern. Zwi-
ſchen dem Caura und dem Padamo trägt alles den Stempel
der Zwietracht und der Schwäche. Die Menſchen fliehen
einander, weil ſie einander nicht verſtehen; ſie haſſen ſich,
weil ſie einander fürchten.


Betrachtet man dieſes wilde Gebiet Amerikas mit Auf-
merkſamkeit, ſo glaubt man ſich in die Urzeit verſetzt, wo die
Erde ſich allmählich bevölkerte; man meint die früheſten ge-
ſellſchaftlichen Bildungen vor ſeinen Augen entſtehen zu ſehen.
In der Alten Welt ſehen wir, wie das Hirtenleben die Jäger-
[235] völker zum Leben des Ackerbaues erzieht. In der Neuen ſehen
wir uns vergeblich nach dieſer allmählichen Kulturentwickelung
um, nach dieſen Ruhe- und Haltpunkten im Leben der Völker.
Der üppige Pflanzenwuchs iſt den Indianern bei ihren Jagden
hinderlich; da die Ströme Meeresarmen gleichen, ſo hört des
tiefen Waſſers wegen der Fiſchfang monatelang auf. Die
Arten von Wiederkäuern, die der koſtbarſte Beſitz der Völker
der Alten Welt ſind, fehlen in der Neuen; der Biſon und
der Moſchusochſe ſind niemals Haustiere geworden. Die
Vermehrung der Lama und Guanako führte nicht zu den
Sitten des Hirtenlebens. In der gemäßigten Zone, an den
Ufern des Miſſouri wie auf dem Hochland von Neumexiko,
iſt der Amerikaner ein Jäger; in der heißen Zone dagegen,
in den Wäldern von Guyana pflanzt er Maniok, Bananen,
zuweilen Mais. Die Natur iſt ſo überſchwenglich freigebig,
daß die Ackerflur des Eingeborenen ein Fleckchen Boden iſt,
daß das Urbarmachen darin beſteht, daß man die Sträucher
wegbrennt, das Ackern darin, daß man ein paar Samen oder
Steckreiſer dem Boden anvertraut. So weit man ſich in Ge-
danken in der Zeit zurückverſetzt, nie kann man in dieſen
dicken Wäldern die Völker anders denken als ſo, daß ihnen
der Boden vorzugsweiſe die Nahrung lieferte; da aber dieſer
Boden auf der kleinſten Fläche faſt ohne Arbeit ſo reichlich
trägt, ſo hat man ſich wiederum vorzuſtellen, daß dieſe Völker
immer einem und demſelben Gewäſſer entlang häufig ihre
Wohnplätze wechſelten. Und der Eingeborene am Orinoko
wandert ja mit ſeinem Saatkorn noch heute, und legt wan-
dernd ſeine Pflanzung (conuco) an, wie der Araber ſein Zelt
aufſchlägt und die Weide wechſelt. Die Menge von Kultur-
gewächſen, die man mitten im Walde findet, weiſen deut-
lich auf ein ackerbauendes Volk mit nomadiſcher Lebensweiſe
hin. Kann man ſich wundern, daß bei ſolchen Sitten vom
Segen der feſten Niederlaſſung, des Getreidebaues, der weite
Flächen und viel mehr Arbeit erfordert, ſo gut wie nichts
übrig bleibt?


Die Völker am oberen Orinoko, am Atabapo und Ini-
rida verehren, gleich den alten Germanen und Perſern, keine
anderen Gottheiten als die Naturkräfte. Das gute Prinzip
nennen ſie Cachimana; das iſt der Manitu, der große Geiſt,
der die Jahreszeiten regiert und die Früchte reifen läßt. Neben
dem Cachimana ſteht ein böſes Prinzip, der Jolokiamo, der
nicht ſo mächtig iſt, aber ſchlauer und beſonders rühriger.
[236] Die Indianer aus den Wäldern, wenn ſie zuweilen in die
Miſſionen kommen, können ſich von einem Tempel oder einem
Bilde ſehr ſchwer einen Begriff machen. „Die guten Leute,“
ſagte der Miſſionär, „lieben Prozeſſionen nur im Freien.
Jüngſt beim Feſt meines Dorfpatrons, des heiligen Antonius,
wohnten die Indianer von Inirida der Meſſe bei. Da ſagten
ſie zu mir: ‚Euer Gott ſchließt ſich in ein Haus ein, als wäre
er alt und krank; der unſerige iſt im Wald, auf dem Feld,
auf den Sipabubergen, woher der Regen kommt.‘ Bei zahl-
reicheren und eben deshalb weniger barbariſchen Völkerſchaften
bilden ſich ſeltſame religiöſe Vereine. Ein paar alte Indianer
wollen in die göttlichen Dinge tiefer eingeweiht ſein als die
anderen, und dieſe haben das berühmte Botuto in Ver-
wahrung, von dem oben die Rede war, und das unter den
Palmen geblaſen wird, damit ſie reichlich Früchte tragen. An
den Ufern des Orinoko gibt es kein Götzenbild, wie bei allen
Völkern, die beim urſprünglichen Naturgottesdienſt ſtehen ge-
blieben ſind; aber der Botuto, die heilige Trompete, iſt zum
Gegenſtand der Verehrung geworden. Um in die Myſterien
des Botuto eingeweiht zu werden, muß man rein von Sitten
und unbeweibt ſein. Die Eingeweihten unterziehen ſich der
Geißelung, dem Faſten und anderen angreifenden Andachts-
übungen. Dieſer heiligen Trompeten ſind nur ganz wenige
und die altberühmteſte befindet ſich auf einem Hügel beim
Zuſammenfluß des Tomo mit dem Rio Negro. Sie ſoll zu-
gleich am Tuamini und in der Miſſion San Miguel de Davipe,
45 km weit gehört werden. Nach Pater Cereſos Bericht
ſprechen die Indianer von dieſem Botuto am Rio Tomo ſo,
als wäre derſelbe für mehrere Völkerſchaften in der Nähe ein
Gegenſtand der Verehrung. Man ſtellt Früchte und be-
rauſchende Getränke neben die heilige Trompete. Bald bläſt
der Große Geiſt (Cachimana) ſelbſt die Trompete, bald läßt
er nur ſeinen Willen durch den kund thun, der das heilige
Werkzeug in Verwahrung hat. Da dieſe Gaukeleien ſehr alt
ſind (von den Vätern unſerer Väter her, ſagen die Indianer),
ſo iſt es nicht zu verwundern, daß es bereits Menſchen gibt,
die nicht mehr daran glauben; aber dieſe Ungläubigen äußern
nur ganz leiſe, was ſie von den Myſterien des Botuto halten.
Die Weiber dürfen das wunderbare Inſtrument gar nicht
ſehen; ſie ſind überhaupt von jedem Gottesdienſte ausge-
ſchloſſen. Hat eine das Unglück, die Trompete zu erblicken,
ſo wird ſie ohne Gnade umgebracht. Der Miſſionär erzählte
[237] uns, im Jahr 1798 habe er das Glück gehabt, ein junges
Mädchen zu retten, der ein eiferſüchtiger rachſüchtiger Lieb-
haber ſchuld gegeben, ſie ſei aus Vorwitz den Indianern
nachgeſchlichen, die in den Pflanzungen den Botuto blieſen.
„Oeffentlich hätte man ſie nicht umgebracht,“ ſagte Pater
Cereſo, „aber wie ſollte man ſie vor dem Fanatismus der
Eingeborenen ſchützen, da es hierzulande ſo leicht iſt, einem
Gift beizubringen? Das Mädchen äußerte ſolche Beſorgnis
gegen mich und ich ſchickte ſie in eine Miſſion am unteren
Orinoko.“ Wären die Völker in Guyana Herren dieſes
großen Landes geblieben, könnten ſie, ungehindert von den
chriſtlichen Niederlaſſungen, ihre barbariſchen Gebräuche frei
entwickeln, ſo erhielte der Botutodienſt ohne Zweifel eine po-
litiſche Bedeutung. Dieſer geheimnisvolle Verein von Ein-
geweihten, dieſe Hüter der heiligen Trompete würden zu einer
mächtigen Prieſterkaſte und das Orakel am Rio Tomo ſchlänge
nach und nach ein Band um benachbarte Völker. Auf dieſe
Weiſe ſind durch gemeinſam Gottesverehrung (communia
sacra
), durch religiöſe Gebräuche und Myſterien ſo viele
Völker der Alten Welt einander näher gebracht, miteinander
verſöhnt und vielleicht der Geſittung zugeführt worden.


Am 4. Mai abends meldete man uns, ein Indianer, der
beim Schleppen unſerer Piroge an den Pimichin beſchäftigt
war, ſei von einer Natter gebiſſen worden. Der große, ſtarke
Mann wurde in ſehr bedenklichem Zuſtande in die Miſſion
gebracht. Er war bewußtlos rücklings zu Boden geſtürzt, und
auf die Ohnmacht waren Uebelkeit, Schwindel, Kongeſtionen
gegen den Kopf gefolgt. Die Liane Vejuco de Guaco,
die durch Mutis ſo berühmt geworden, und die das ſicherſte
Mittel gegen den Biß giftiger Schlangen iſt, war hierzulande
noch nicht bekannt. Viele Indianer liefen zur Hütte des
Kranken und man heilte ihn mit dem Aufguß von Raiz de
Mato
. Wir können nicht mit Beſtimmtheit angeben, von
welcher Pflanze dieſes Gegengift kommt. Der reiſende Bo-
taniker hat nur zu oft den Verdruß, daß er von den nutz-
barſten Gewächſen weder Blüte noch Frucht zu Geſichte be-
kommt, während er ſo viele Arten, die ſich durch keine be-
ſonderen Eigenſchaften auszeichnen, täglich mit allen Frukti-
fikationsorganen vor Augen hat. Der Raiz de Mato iſt
vermutlich ein Apocynee, vielleicht die Cerbera thevethia,
welche die Einwohner von Cumana Lengua de Mate oder
Contra-Culebra nennen und gleichfalls gegen Schlangen-
[238] biß brauchen. Eine der Cerbera ſehr naheſtehende Gattung
(Ophioxylon serpentinum) leiſtet in Indien denſelben Dienſt.
Ziemlich häufig findet man in derſelben Pflanzenfamilie vege-
tabiliſche Gifte und Gegengifte gegen den Biß der Reptilien.
Da viele tropiſche und narkotiſche Mittel mehr oder minder
wirkſame Gegengifte ſind, ſo kommen dieſe in weit auseinder-
ſtehenden Familien vor, bei den Ariſtolochien, Apocyneen, Gen-
tianen, Polygalen, Solaneen, Malvaceen, Drymyrhizeen, bei
den Pflanzen mit zuſammengeſetzten Blüten, und was noch
auffallender iſt, bei den Palmen.


In der Hütte des Indianers, der von einer Natter ge-
biſſen worden, fanden wir 5 bis 8 cm große Kugeln eines
erdigen, unreinen Salzes, Chivi genannt, das von den Ein-
geborenen ſehr ſorgfältig zubereitet wird. In Maypures ver-
brennt man eine Konferve, die der Orinoko, wenn er nach
dem Hochgewäſſer in ſein Bett zurückkehrt, auf dem Geſtein
ſitzen läßt. In Javita bereitet man Salz durch Einäſcherung
des Blütenkolbens und der Früchte der Seje oder Chimu-
palme
. Dieſe ſchöne Palme, die am Ufer des Auvena beim
Katarakt Guarinuma und zwiſchen dem Javita und dem Pi-
michin ſehr häufig vorkommt, ſcheint eine neue Art Kokos-
palme zu ſein. Bekanntlich iſt das in der gemeinen Kokos-
nuß eingeſchloſſene Waſſer häufig ſalzig, ſelbſt wenn der
Baum weit von der Meeresküſte wächſt. Auf Madagaskar
gewinnt man Salz aus dem Saft einer Palme Namens Cira.
Außer den Blütenkolben und den Früchten der Sejepalme
laugen die Indianer in Javita auch die Aſche des vielbe-
rufenen Schlinggewächſes Cupana aus. Es iſt dies eine
neue Art der Gattung Paullinia, alſo eine von Linnés Cu-
pania ſehr verſchiedene Pflanze. Ich bemerke bei dieſer Ge-
legenheit, daß ein Miſſionär ſelten auf die Reiſe geht, ohne
den zubereiteten Samen der Liane Cupana mitzunehmen.
Dieſe Zubereitung erfordert große Sorgfalt. Die Indianer
zerreiben den Samen, miſchen ihn mit Maniokmehl, wickeln
die Maſſe in Bananenblätter und laſſen ſie im Waſſer gären,
bis ſie ſafrangelb wird. Dieſer gelbe Teig wird an der Sonne
getrocknet, und mit Waſſer angegoſſen genießt man ihn mor-
gens ſtatt Thee. Das Getränk iſt bitter und magenſtärkend,
ich fand aber den Geſchmack ſehr widrig.


Am Nigir und in einem großen Teile des inneren Afrika,
wo das Salz ſehr ſelten iſt, heißt es von einem reichen Mann:
„Es geht ihm ſo gut, daß er Salz zu ſeinen Speiſen ißt.“
[239] Dieſes Wohlergehen iſt auch im Inneren Guyanas nicht allzu
häufig. Nur die Weißen, beſonders die Soldaten im Fort
San Carlos, wiſſen ſich reines Salz zu verſchaffen, entweder
von der Küſte von Caracas oder von Chita, am Oſtabhange
der Kordilleren von Neugranada, auf dem Rio Meta. Hier,
wie in ganz Amerika, eſſen die Indianer wenig Fleiſch und
verbrauchen faſt kein Salz. Daher trägt auch die Salzſteuer
allerorten, wo die Zahl der Eingeborenen bedeutend vorſchlägt,
wie in Mexiko und Guatemala, der Staatskaſſe wenig ein.
Der Chivi in Javita iſt ein Gemenge von ſalzſaurem Kali
und ſalzſaurem Natron, Aetzkalk und verſchiedenen erdigen
Salzen. Man löſt ein ganz klein wenig davon in Waſſer
auf, füllt mit der Auflöſung ein dütenförmig aufgewickeltes
Helikonienblatt und läßt wie aus der Spitze eines Filtrums
ein paar Tropfen auf die Speiſen fallen.


Am 5. Mai machten wir uns zu Fuß auf den Weg, um
unſere Piroge einzuholen, die endlich über den Trageplatz im
Caño Pimichin angelangt war. Wir mußten über eine Menge
Bäche waten, und es iſt dabei wegen der Nattern, von denen
die Sümpfe wimmeln, einige Vorſicht nötig. Die Indianer
zeigten uns auf dem naſſen Thon die Fährte der kleinen
ſchwarzen Bären, die am Temi ſo häufig vorkommen. Sie
unterſcheiden ſich wenigſtens in der Größe vom Ursus ame-
ricanus;
die Miſſionäre nennen ſie Oso carnicero zum
Unterſchiede vom Oso palmero (Myrmecophaga jubata)
und dem Oso hormigero oder Tamandua-Ameiſenfreſſer.
Dieſe Tiere ſind nicht übel zu eſſen; die beiden erſtgenannten
ſetzen ſich zur Wehre und ſtellen ſich dabei auf die Hinter-
beine. Buffons Tamanoir heißt bei den Indianern Uaraca;
er iſt reizbar und beherzt, was bei einem zahnloſen Tiere
ziemlich auffallend erſcheint. Im Weitergehen kamen wir auf
einige Lichtungen im Walde, der uns deſto reicher erſchien,
je zugänglicher er wurde. Wir fanden neue Arten von Coffea
(die amerikaniſche Gruppe mit Blüten in Riſpen bildet wahr-
ſcheinlich eine Gattung für ſich), die Galega piscatorum,
deren ſowie der Jacquinia und einer Pflanze mit zuſammen-
geſetzter Blüte vom Rio Temi1 die Indianer ſich als Bar-
basco
bedienen, um die Fiſche zu betäuben, endlich die hier
Vejuco de Mavacure genannte Liane, von der das viel-
[240] berufene Gift Curare kommt. Es iſt weder ein Phyllanthus,
noch eine Coriaria, wie Willdenow gemeint, ſondern nach
Kunths Unterſuchungen ſehr wahrſcheinlich ein Strychnos.
Wir werden unten Gelegenheit haben, von dieſer giftigen
Subſtanz zu ſprechen, die bei den Wilden ein wichtiger Handels-
artikel iſt. Wenn ein Reiſender, der ſich gleich uns durch
die Gaſtfreundſchaft der Miſſionäre gefördert ſähe, ein Jahr
am Atabapo, Tuamini und Rio Negro, und ein weiteres
Jahr in den Bergen bei Esmeralda und am oberen Orinoko
zubrächte, könnte er gewiß die Zahl der von Aublet und
Richard beſchriebenen Gattungen verdreifachen.


Auch im Walde am Pimichin haben die Bäume die rieſige
Höhe von 26 bis 40 m. Es ſind dies die Laurineen und
Amyris, die in dieſen heißen Himmelsſtrichen das ſchöne Bau-
holz liefern, das man an der Nordweſtküſte von Amerika, in
den Bergen, wo im Winter der Thermometer auf 20° unter
Null fällt, in der Familie der Nadelhölzer findet. In Amerika
iſt unter allen Himmelsſtrichen und in allen Pflanzenfamilien
die Vegetationskraft ſo ausnehmend ſtark, daß unter dem
57. Grad nördlicher Breite, auf derſelben Iſotherme wie
Petersburg und die Orkneyinſeln, Pinus canadensis 48 m
hohe und 2 m dicke Stämme hat. 1 Wir kamen gegen Nacht
in einem kleinen Hofe an, dem Puerto oder Landungsplatz
am Pimichin. Man zeigte uns ein Kreuz am Wege, das die
Stelle bezeichnet, „wo ein armer Miſſionär, ein Kapuziner,
von den Weſpen umgebracht worden“. Ich ſpreche dies dem
Mönch in Javita und den Indianern nach. Man ſpricht hier-
zulande viel von giftigen Weſpen und Ameiſen; wir konnten
aber keines von dieſen beiden Inſekten auftreiben. Bekanntlich
verurſachen im heißen Erdſtrich unbedeutende Stiche nicht
ſelten Fieberanfälle, faſt ſo heftig wie die, welche bei uns bei
ſehr bedeutenden organiſchen Verletzungen eintreten. Der Tod
des armen Mönchs wird wohl eher eine Folge der Erſchöpfung
und der Feuchtigkeit geweſen ſein, als des Giftes im Stachel
der Weſpen, vor deren Stich die nackten Indianer große Furcht
haben. Dieſe Weſpen bei Javita ſind nicht mit den Honig-
bienen zu verwechſeln, welche die Spanier Engelchen nennen
[241] und die ſich auf dem Gipfel der Silla bei Caracas uns haufen-
weiſe auf Geſicht und Hände ſetzten.


Der Landungsplatz am Pimichin liegt in einer kleinen
Pflanzung von Kakaobäumen. Die Bäume ſind ſehr kräftig
und hier wie am Atabapo und Rio Negro in allen Jahres-
zeiten mit Blüten und Früchten bedeckt. Sie fangen im vierten
Jahre an zu tragen, auf der Küſte von Caracas erſt im ſechſten
bis achten. Der Boden iſt am Tuamini und Pimichin überall,
wo er nicht ſumpfig iſt, leichter Sandboden, aber ungemein
fruchtbar. Bedenkt man, daß der Kakaobaum in dieſen Wäl-
dern der Parime; ſüdlich vom 6. Breitengrade, eigentlich zu
Hauſe iſt, und daß das naſſe Klima am oberen Orinoko dieſem
koſtbaren Baume weit beſſer zuſagt als die Luft in den Pro-
vinzen Caracas und Barcelona, die von Jahr zu Jahr
trockener wird, ſo muß man bedauern, daß dieſes ſchöne Stück
Erde in den Händen von Mönchen iſt, von denen keinerlei
Kultur befördert wird. Die Miſſionen der Obſervanten allein
könnten 4 600 000 kg Kakao in den Handel bringen, deſſen
Wert ſich in Europa auf mehr als 6 Millionen Franken be-
liefe. Um die Conucos am Pimichin wächſt wild der Igua,
ein Baum, ähnlich dem Caryocar nuciferum, den man in
holländiſch und franzöſiſch Guyana baut, und von dem neben
dem Almendron von Mariquita (Caryocar amygdaliferum),
dem Juvia von Esmeralda (Bertholletia excelsa) und der
Geoffräa vom Amazonenſtrome die geſuchteſten Mandeln in
Südamerika kommen. Die Früchte des Igua kommen hier
gar nicht in den Handel; dagegen ſah ich an den Küſten von
Terra Firma Fahrzeuge, die aus Demerary die Früchte des
Caryocar tomentosum, Aublets Pekea tuberculosa, ein-
führten. Dieſe Bäume werden 30 m hoch und nehmen ſich
mit ihrer ſchönen Blumenkrone und ihren vielen Staubfäden
prachtvoll aus. Ich müßte den Leſer ermüden, wollte ich die
Wunder der Pflanzenwelt, welche dieſe großen Wälder auf-
zuweiſen haben, noch weiter herzählen. Ihre erſtaunliche
Mannigfaltigkeit rührt daher, daß hier auf kleiner Bodenfläche
ſo viele Pflanzenfamilien nebeneinander vorkommen, und daß
bei dem mächtigen Reiz von Licht und Wärme die Säfte, die
in dieſen rieſenhaften Gewächſen zirkulieren, ſo vollkommen
ausgearbeitet werden.


Wir übernachteten in einer Hütte, welche erſt ſeit kurzem
verlaſſen ſtand. Eine indianiſche Familie hatte darin Fiſcher-
geräte zurückgelaſſen, irdenes Geſchirr, aus Palmblattſtielen
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 16
[242] geflochtene Matten, den ganzen Hausrat dieſer ſorgloſen, um
Eigentum wenig bekümmerten Menſchenart. Große Vorräte
von Mani (eine Miſchung vom Harz der Moronobea und
der Amyris Caraña) lagen um die Hütte. Die Indianer
bedienen ſich desſelben hier wie in Cayenne zum Teeren der
Pirogen und zum Befeſtigen des knöchernen Stachels der
Rochen an die Pfeile. Wir fanden ferner Näpfe voll vege-
tabiliſcher Milch, die zum Firniſſen dient und in den Miſſionen
als Leche para pindar viel genannt wird. Man beſtreicht
mit dieſem klebrigen Safte das Geräte, dem man eine ſchöne
weiße Farbe geben will. An der Luft verdickt er ſich, ohne
gelb zu werden, und nimmt einen bedeutenden Glanz an. Wie
oben bemerkt worden, 1 iſt der Kautſchuk der fette Teil, die
Butter in jeder Pflanzenmilch. Dieſes Gerinnſel nun, dieſe
weiße Haut, die glänzt, als wäre ſie mit Kopalfirnis über-
zogen, iſt ohne Zweifel eine eigene Form des Kautſchuk.
Könnte man dieſem milchigen Firnis verſchiedene Farben geben,
ſo hätte man damit, ſollte ich meinen, ein Mittel, um unſere
Kutſchenkaſten raſch, in einer Handlung zu bemalen und zu
firniſſen. Je genauer man die chemiſchen Verhältniſſe der
Gewächſe der heißen Zone kennen lernt, deſto mehr wird man
hie und da an abgelegenen, aber dem europäiſchen Handel
zugänglichen Orten in den Organen gewiſſer Gewächſe halb-
fertige Stoffe entdecken, die nach der bisherigen Anſicht nur
dem Tierreiche angehören, oder die wir auf künſtlichem, zwar
ſicherem, oft aber langem und mühſamem Wege hervorbringen.
So hat man bereits das Wachs gefunden, das den Palm-
baum der Anden von Quindiu überzieht, die Seide der
Mocoapalme, die nahrhafte Milch des Palo de Vaca, den
afrikaniſchen Butterbaum, den käſeartigen Stoff im faſt ani-
maliſchen Safte der Carica Papaya. Dergleichen Entdeckungen
werden ſich häufen, wenn, wie nach den gegenwärtigen poli-
tiſchen Verhältniſſen in der Welt wahrſcheinlich iſt, die euro-
päiſche Kultur großenteils in die Aequinoktialländer des neuen
Kontinents überfließt.


Wie ich oben erwähnt, iſt die ſumpfige Ebene zwiſchen
Javita und dem Landungsplatze am Pimichin wegen ihrer
vielen Nattern im Lande berüchtigt. Bevor wir von der ver-
laſſenen Hütte Beſitz nahmen, ſchlugen die Indianer zwei
große, 1,3 bis 2,6 m lange Mapanareſchlangen tot. Sie
[243] ſchienen mir von derſelben Art wie die vom Rio Magdalena,
die ich beſchrieben habe. Es iſt ein ſchönes, aber ſehr giftiges
Tier, am Bauche weiß, auf dem Rücken braun und rot ge-
fleckt. Da in der Hütte eine Menge Kraut lag und wir am
Boden ſchliefen (die Hängematten ließen ſich nicht befeſtigen),
ſo war man in der Nacht nicht ohne Beſorgnis; auch fand
man morgens, als man das Jaguarfell aufhob, unter dem
einer unſerer Diener am Boden gelegen, eine große Natter.
Wie die Indianer ſagen, ſind dieſe Reptilien langſam in ihren
Bewegungen, wenn ſie nicht verfolgt werden, und machen ſich
an den Menſchen, weil ſie der Wärme nachgehen. Am Mag-
dalenenſtrome kam wirklich eine Schlange zu einem unſerer
Reiſebegleiter ins Bett und brachte einen Teil der Nacht
darin zu, ohne ihm etwas zuleide zu thun. Ich will hier
keineswegs Nattern und Klapperſchlangen das Wort reden,
aber das läßt ſich behaupten, wären dieſe giftigen Tiere ſo
angriffsluſtig, als man glaubt, ſo hätte in manchen Strichen
Amerikas, z. B. am Orinoko und in den feuchten Bergen von
Choco, der Menſch ihrer Unzahl erliegen müſſen.


Am 6. Mai. Wir ſchifften uns bei Sonnenaufgang ein,
nachdem wir den Boden unſerer Piroge genau unterſucht hatten.
Er war beim „Tragen“ wohl dünner geworden, aber nicht
geſprungen. Wir dachten, das Fahrzeug könne die 1300 km,
die wir den Rio Negro hinab, den Caſſiquiare hinauf und
den Orinoko wieder hinab bis Angoſtura noch zu machen
hatten, wohl aushalten. Der Pimichin, der hier ein Bach
(Caño) heißt, iſt ſo breit wie die Seine, der Galerie der
Tuilerien gegenüber, aber kleine, gerne im Waſſer wachſende
Bäume, Coroſſols (Anona) und Achras, engen ſein Bett ſo
ein, daß nur ein 30 bis 40 m breites Fahrwaſſer offen bleibt.
Er gehört mit dem Rio Chagre zu den Gewäſſern, die in
Amerika wegen ihrer Krümmungen berüchtigt ſind. Man zählt
deren 85, wodurch die Fahrt bedeutend verlängert wird. Sie
bilden oft rechte Winkel und liegen auf einer Strecke von
9 bis 13 km hintereinander. Um den Längenunterſchied zwiſchen
dem Landungsplatze und dem Punkte, wo wir in den Rio
Negro einliefen, zu beſtimmen, nahm ich mit dem Kompaß
den Lauf des Caño Pimichin auf und bemerkte, wie lange
wir in derſelben Richtung fuhren. Die Strömung war nur
664 mm in der Sekunde, aber unſere Piroge legte beim Rudern
1,32 m zurück. Meiner Schätzung nach liegt der Landungs-
platz am Pimichin 2140 m weſtwärts von ſeiner Mündung
[244] und 0° 2′ weſtwärts von der Miſſion Javita. Der Caño iſt
das ganze Jahr ſchiffbar; er hat nur einen einzigen Raudal,
über den ziemlich ſchwer heraufzukommen iſt; ſeine Ufer ſind
niedrig, aber felſig. Nachdem wir fünftehalb Stunden lang
den Krümmungen des ſchmalen Fahrwaſſers gefolgt waren,
liefen wir endlich in den Rio Negro ein.


Der Morgen war kühl und ſchön. 36 Tage waren wir
in einem ſchmalen Kanoe eingeſperrt geweſen, das ſo unſtät
war, daß es umgeſchlagen hätte, wäre man unvorſichtig auf-
geſtanden, ohne den Ruderern am anderen Bord zuzurufen,
ſich überzulehnen und das Gleichgewicht herzuſtellen. Wir
hatten vom Inſektenſtiche furchtbar gelitten, aber das un-
geſunde Klima hatte uns nichts angehabt; wir waren, ohne
umzuſchlagen, über eine ganze Menge Waſſerfälle und Fluß-
dämme gekommen, welche die Stromfahrt ſehr beſchwerlich
und oft gefährlicher machen als lange Seereiſen. Nach allem,
was wir bis jetzt durchgemacht, wird es mir hoffentlich ge-
ſtattet ſein auszuſprechen, wie herzlich froh wir waren, daß
wir die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes erreicht, daß wir
die Landenge zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen hinter uns
hatten und nunmehr mit Zuverſicht der Erreichung des Haupt-
zweckes unſerer Reiſe entgegenſehen konnten, der aſtronomiſchen
Aufnahme jenes Armes des Orinoko, der ſich in den Rio
Negro ergießt, und deſſen Exiſtenz ſeit einem halben Jahr-
hundert bald bewieſen, bald wieder in Abrede gezogen worden.
Ein Gegenſtand, den man lange vor dem inneren Auge gehabt,
wächſt uns an Bedeutung, je näher wir ihm kommen. Jene
unbewohnten, mit Wald bedeckten, geſchichtsloſen Ufer des
Caſſiquiare beſchäftigten damals meine Einbildungskraft, wie
die in der Geſchichte der Kulturvölker hochberühmten Ufer des
Euphrat und des Oxus. Hier, inmitten des neuen Kontinents,
gewöhnt man ſich beinahe daran, den Menſchen als etwas zu
betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört.
Der Boden iſt dicht bedeckt mit Gewächſen, und ihre freie
Entwickelung findet nirgends ein Hindernis. Eine mächtige
Schicht Dammerde weiſt darauf hin, daß die organiſchen Kräfte
hier ohne Unterbrechung fort und fort gewaltet haben. Kro-
kodile und Boa ſind die Herren des Stromes; der Jaguar,
der Pecari, der Tapir und die Affen ſtreifen durch den Wald,
ohne Furcht und ohne Gefährde; ſie hauſen hier wie auf
ihrem angeſtammten Erbe. Dieſer Anblick der lebendigen
Natur, in der der Menſch nichts iſt, hat etwas Befremdendes
[245] und Niederſchlagendes. Selbſt auf dem Ozean und im Sande
Afrikas gewöhnt man ſich nur ſchwer daran, wenn einem auch
da, wo nichts an unſere Felder, unſere Gehölze und Bäche
erinnert, die weite Einöde, durch die man ſich bewegt, nicht
ſo ſtark auffällt. Hier, in einem fruchtbaren Lande, geſchmückt
mit unvergänglichem Grün, ſieht man ſich umſonſt nach einer
Spur von der Wirkſamkeit des Menſchen um; man glaubt
ſich in eine andere Welt verſetzt, als die uns geboren. Ein
Soldat, der ſein ganzes Leben in den Miſſionen am oberen
Orinoko zugebracht hatte, war einmal mit uns am Strome
gelagert. Es war ein geſcheiter Menſch, und in der ruhigen,
heiteren Nacht richtete er an mich Frage um Frage über die
Größe der Sterne, über die Mondbewohner, über tauſend
Dinge, von denen ich ſo viel wußte als er. Meine Antworten
konnten ſeiner Neugier nicht genügen, und ſo ſagte er in zu-
verſichtlichem Tone: „Was die Menſchen anlangt, ſo glaube
ich, es gibt da oben nicht mehr, als ihr angetroffen hättet,
wenn ihr zu Lande von Javita an den Caſſiquiare gegangen
wäret. In den Sternen, meine ich, iſt eben wie hier eine
weite Ebene mit hohem Gras und ein Wald (mucho monte),
durch den ein Strom fließt.“ Mit dieſen Worten iſt ganz
der Eindruck geſchildert, den der eintönige Anblick dieſer Ein-
öde hervorbringt. Möchte dieſe Eintönigkeit nicht auch auf
das Tagebuch unſerer Flußfahrt übergehen! Möchten Leſer,
die an die Beſchreibung der Landſchaften und an die geſchicht-
lichen Erinnerungen des alten Kontinents gewöhnt ſind, es
nicht ermüdend finden!


[[246]]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.


Der Rio Negro. — Die braſilianiſche Grenze.


Der Rio Negro iſt dem Amazonenſtrome, dem Rio de la
Plata und dem Orinoko gegenüber nur ein Fluß zweiten
Ranges. Der Beſitz desſelben war aber ſeit Jahrhunderten
für die ſpaniſche Regierung von großer politiſcher Wichtigkeit,
weil er für einen eiferſüchtigen Nachbar, für Portugal, eine
offene Straße iſt, um ſich in die Miſſionen in Guyana ein-
zudrängen und die ſüdlichen Grenzen der Capitania general
von Caracas zu beunruhigen. 300 Jahre verfloſſen über zu
nichts führenden Grenzſtreitigkeiten. Je nach dem Geiſt der
Zeiten und dem Kulturgrade der Völker hielt man ſich bald
an die Autorität des heiligen Vaters, bald an die Hilfsmittel
der Aſtronomie. Da man es meiſt vorteilhafter fand, den
Streit zu verſchleppen, als ihm ein Ende zu machen, ſo haben
nur die Nautik und die Geographie des neuen Kontinents
bei dieſem endloſen Prozeß gewonnen. Es iſt bekannt, daß
durch die Bullen der Päpſte Nikolaus V. und Alexander VI.,
durch den Vertrag von Tordeſillas und die Notwendigkeit,
eine feſte Grenzlinie zu ziehen, der Eifer, das Problem der
Längen zu löſen, die Ephemeriden zu verbeſſern und die In-
ſtrumente zu vervollkommnen, bedeutend geſtachelt worden iſt.
Als die Händel in Paraguay und der Beſitz der Kolonie am
Sacramento für die beiden Höfe zu Madrid und Liſſabon
Sachen von großem Belang wurden, ſchickte man Grenz-
kommiſſäre an den Orinoko, an den Amazonenſtrom und an
den Rio de la Plata.


Unter den Müßiggängern, welche die Archive mit Ver-
rechnungen und Protokollen füllten, fand ſich hie und da auch
ein unterrichteter Ingenieur, ein Marineoffizier, der mit den
Methoden, nach denen man weit von den Küſten Ortsbeſtim-
mungen vornehmen kann, Beſcheid mußte. Das Wenige, was
[247] wir am Schluſſe des vorigen Jahrhunderts von der aſtro-
nomiſchen Geographie des neuen Kontinents wußten, verdankt
man dieſen achtbaren, fleißigen Männern, den franzöſiſchen
und ſpaniſchen Akademikern, die in Quito den Meridian ge-
meſſen, und Offizieren, welche von Valparaiſo nach Buenos
Ayres gegangen waren, um ſich Malaſpinas Expedition anzu-
ſchließen. Mit Befriedigung gedenkt man, wie ſehr die Wiſſen-
ſchaften faſt zufällig durch jene „Grenzkommiſſionen“ gefördert
worden ſind, die für den Staat eine große Laſt waren und
von denen, die ſie ins Leben gerufen, noch öfter vergeſſen als
aufgelöſt wurden.


Weiß man, wie unzuverläſſig die Karten von Amerika
ſind, kennt man aus eigener Anſchauung die unbewohnten
Landſtriche zwiſchen dem Jupura und Rio Negro, dem Ma-
deira und Ucayale, dem Rio Branco und der Küſte von
Cayenne, die man ſich in Europa bis auf dieſen Tag allen
Ernſtes ſtreitig gemacht, ſo kann man ſich über die Beharr-
lichkeit, mit der man ſich um ein paar Quadratmeilen zankte,
nicht genug wundern. Zwiſchen dieſem ſtreitigen Gebiet und
den angebauten Strichen der Kolonieen liegen meiſt Wüſten,
deren Ausdehnung ganz unbekannt iſt. Auf den berühmten
Konferenzen in Puente de Caya (vom 4. November 1681 bis
22. Januar 1682) wurde die Frage verhandelt, ob der Papſt,
als er die Demarkationslinie 370 ſpaniſche Meilen1 weſtwärts
von den Inſeln des Grünen Vorgebirges zog, gemeint habe,
der erſte Meridian ſolle vom Mittelpunkt der Inſel San Ni-
colas aus, oder aber (wie der portugieſiſche Hof behauptete)
vom weſtlichen Ende der kleinen Inſel San Antonio gezählt
werden. Im Jahre 1754, zur Zeit von Ituriagas und So-
lanos Expedition, unterhandelte man über den Beſitz der da-
mals völlig unbewohnten Ufer des Tuamini und um ein
Stück Sumpfland, über das wir zwiſchen Javita und dem
Pimichin an einem Abend gegangen. Noch in neueſter Zeit
wollten die ſpaniſchen Kommiſſäre die Scheidungslinie an die
Einmündung des Apoporis in den Jupura legen, während
die portugieſiſchen Aſtronomen ſie bis zum Salto Grande zu-
rückſchoben. Die Miſſionäre und das Publikum überhaupt
beteiligten ſich ſehr lebhaft an dieſen Grenzſtreitigkeiten. In
den ſpaniſchen wie in den portugieſiſchen Kolonieen beſchuldigt
[248] man die Regierung der Gleichgültigkeit und Läſſigkeit. Ueberall
wo die Völker keine Verfaſſung haben, deren Grundlage die
Freiheit iſt, geraten die Gemüter nur dann in Aufregung,
wenn es ſich davon handelt, die Grenzen des Landes weiter
oder enger zu machen.


Der Rio Negro und der Jupura ſind zwei Nebenflüſſe
des Amazonenſtromes, die in Länge der Donau wenig nach-
geben, und deren oberer Lauf den Spaniern gehört, während
der untere in den Händen der Portugieſen iſt. An dieſen
zwei majeſtätiſchen Strömen hat ſich die Bevölkerung nur in
der Nähe des älteſten Mittelpunktes der Kultur bedeutend
vermehrt. Die Ufer des oberen Jupura oder Caqueta wurden
von Miſſionären kultiviert, die aus den Kordilleren von Po-
payan und Neiva gekommen waren. Von Macoa bis zum
Einfluß des Caguan gibt es ſehr viele chriſtliche Nieder-
laſſungen, während am unteren Jupura die Portugieſen kaum
ein paar Dörfer gegründet haben. Am Rio Negro dagegen
konnten es die Spanier ihren Nachbarn nicht gleich thun.
Wie kann man ſich auf eine Bevölkerung ſtützen, wenn ſie ſo
weit abliegt als die in der Provinz Caracas? Faſt völlig
unbewohnte Steppen und Wälder liegen, 720 km breit, zwi-
ſchen dem angebauten Küſtenſtrich und den vier Miſſionen
Macoa, Tomo, Davipe und San Carlos, den einzigen, welche
die ſpaniſchen Franziskaner längs des Rio Negro zuſtande
gebracht. Bei den Portugieſen in Braſilien hat das mili-
täriſche Regiment, das Syſtem der Presides und Capitanes
pobladores
dem Miſſionsregiment gegenüber die Oberhand
gewonnen. Von Gran-Para iſt es allerdings ſehr weit zur
Einmündung des Rio Negro;1 aber bei der bequemen Schiff-
fahrt auf dem Amazonenſtrom, der wie ein ungeheurer Kanal
von Weſt nach Oſt gerade fortläuft, konnte ſich die portu-
gieſiſche Bevölkerung längs des Stromes raſch ausbreiten.
Die Ufer des unteren Amazonenſtromes von Viſtoza bis
Serpa, ſowie die des Rio Negro von Forte da Bara bis
San Joſe de Marabitanos ſind geſchmückt mit reichem An-
bau und mit zahlreichen Städten und anſehnlichen Dörfern
bedeckt.


An dieſe Betrachtungen über die örtlichen Verhältniſſe
reihen ſich andere an, die ſich auf die moraliſche Verfaſſung
[249] der Völker beziehen. Auf der Nordweſtküſte Amerikas ſind
bis auf dieſen Tag keine feſten Niederlaſſungen außer den
ruſſiſchen und den ſpaniſchen Kolonieen. Noch ehe die Be-
völkerung der Vereinigten Staaten auf ihrem Zuge von Oſt
nach Weſt den Küſtenſtrich erreicht hatte, der zwiſchen dem
41. bis 50. Breitengrad lange die kaſtilianiſchen Mönche und
die ſibiriſchen Jäger1 getrennt, ließen ſich letztere ſüdlich vom
Rio Colombia nieder. So waren denn in Neukalifornien die
Miſſionäre vom Orden des heil. Franz, deren Lebenswandel
und deren Eifer für den Ackerbau alle Achtung verdienen,
nicht wenig erſtaunt, als ſie hörten, in ihrer Nachbarſchaft
ſeien griechiſche Prieſter eingetroffen, ſo daß die beiden Völker,
welche das Oſt- und das Weſtende von Europa bewohnen,
auf den Küſten Amerikas, China gegenüber, Nachbarn ge-
worden waren. Anders wiederum geſtalteten ſich die Ver-
hältniſſe in Guyana. Hier fanden die Spanier an ihren
Grenzen dieſelben Portugieſen wieder, die mit ihnen durch
Sprache und Gemeindeverfaſſung einen der edelſten Reſte des
römiſchen Europa bilden, die aber durch das Mißtrauen, wie
es aus Ungleichheit der Kräfte und allzu naher Berührung
gefloſſen, zu einer nicht ſelten feindſeligen, immer aber eifer-
ſüchtigen Macht geworden waren. Geht man von der Küſte
von Venezuela (wo, wie in der Havana und auf den Antillen
überhaupt, die europäiſche Handelspolitik der tägliche Gegen-
ſtand des Intereſſes iſt) nach Süd, ſo fühlt man ſich mit
jedem Tage mehr und mit wachſender Geſchwindigkeit allem
entrückt, was mit dem Mutterlande zuſammenhängt. Mitten
in den Steppen oder Lanos, in den mit Ochſenhäuten ge-
deckten Hütten inmitten wilder Herden unterhält man ſich
von nichts als von der Pflege des Viehes, von der Trocken-
heit des Landes, die den Weiden Eintrag thut, vom Schaden,
den die Fledermäuſe an Färſen und Füllen angerichtet. Kommt
man auf dem Orinoko in die Miſſionen in den Wäldern, ſo
findet man die Einwohnerſchaft wieder mit anderen Dingen
beſchäftigt, mit der Unzuverläſſigkeit der Indianer, die aus
[250] den Dörfern fortlaufen, mit der mehr oder minder reichen
Ernte der Schildkröteneier, mit den Beſchwerden eines heißen,
ungeſunden Klimas. Kommen die Mönche über der Plage
der Moskiten noch zu einem anderen Gedanken, ſo beklagt
man ſich leiſe über den Präſidenten der Miſſionen, ſo ſeufzt
man über die Verblendung der Leute, die im nächſten Kapitel
den Guardian des Kloſters in Nueva Barcelona wieder wäh-
len wollen. Alles hat hier ein rein örtliches Intereſſe, und
zwar beſchränkt ſich dasſelbe auf die Angelegenheiten des
Ordens, „auf dieſe Wälder, wie die Mönche ſagen, estas
selvas,
die Gott uns zum Wohnſitz angewieſen“. Dieſer
etwas enge, aber ziemlich trübſelige Ideenkreis erweitert ſich,
wenn man vom oberen Orinoko an den Rio Negro kommt
und ſich der Grenze Braſiliens nähert. Hier ſcheinen alle
Köpfe vom Dämon europäiſcher Politik beſeſſen. Das Nach-
barland jenſeits des Amazonenſtromes heißt in der Sprache
der ſpaniſchen Miſſionen weder Braſilien noch Capitania
general
von Gran-Para, ſondern Portugal; die kupfer-
farbigen Indianer, die halbſchwarzen Mulatten, die ich von
Barcelos zur ſpaniſchen Schanze San Carlos heraufkommen
ſah, ſind Portugieſen. Dieſe Namen ſind im Munde des
Volkes bis an die Küſte von Cumana, und mit Behagen er-
zählt man den Reiſenden, welche Verwirrung ſie im Kopfe
eines alten, aus den Bergen von Bierzo gebürtigen Kom-
mandanten von Vieja Guyana angerichtet hatten. Der alte
Kriegsmann beſchwerte ſich, daß er zur See habe an den
Orinoko kommen müſſen. „Iſt es wahr,“ ſprach er, „wie
ich hier höre, daß ſpaniſch Guyana, dieſe große Provinz, ſich
bis nach Portugal erſtreckt (zu los Portugueses), ſo möchte
ich wiſſen, warum der Hof mich in Cadiz ſich hat einſchiffen
laſſen? Ich hätte gerne ein paar Meilen weiter zu Lande
gemacht.“ Dieſe Aeußerung von naiver Unwiſſenheit erinnert
an eine verwunderliche Meinung des Kardinals Lorenzana.
Dieſer Prälat, der übrigens in der Geſchichte ganz zu Hauſe
iſt, ſagt in einem in neuerer Zeit in Mexiko gedruckten Buche,
die Beſitzungen des Königs von Spanien in Neukalifornien
und Neumexiko (ihr nördliches Ende liegt unter 37° 48′ der
Breite) „hängen über Land mit Sibirien zuſammen“.


Wenn zwei Völker, die in Europa nebeneinander wohnen,
Spanier und Portugieſen, auch auf dem neuen Kontinent
Nachbarn geworden ſind, ſo verdanken ſie dieſes Verhältnis,
um nicht zu ſagen dieſen Uebelſtand, dem Unternehmungs-
[251] geiſt, dem kecken Thatendrang, den beide zur Zeit ihres kriege-
riſchen Ruhmes und ihrer politiſchen Größe entwickelt. Die
kaſtilianiſche Sprache wird gegenwärtig in Süd- und Nord-
amerika auf einer 8850 km langen Strecke geſprochen; be-
trachtet man aber Südamerika für ſich, ſo zeigt ſich, daß das
Portugieſiſche über einen größeren Flächenraum verbreitet iſt,
aber von nicht ſo vielen Menſchen geſprochen wird als das
Kaſtilianiſche. Das innige Band, das die ſchönen Sprachen
eines Camoens und Lope de Vega verknüpft, hat, ſollte man
meinen, Völker, die widerwillig Nachbarn geworden, nur noch
weiter auseinander gebracht. Der Nationalhaß richtet ſich
keineswegs nur nach der Verſchiedenheit in Abſtammung,
Sitten und Kulturſtufe; überall, wo er ſehr ſtark ausge-
ſprochen iſt, erſcheint er als die Folge geographiſcher Ver-
hältniſſe und der damit gegebenen widerſtreitenden Intereſſen.
Man verabſcheut ſich etwas weniger, wenn man weit aus-
einander iſt und bei weſentlich verſchiedenen Sprachen gar
nicht in Verſuchung kommt, miteinander zu verkehren. Dieſe
Abſtufungen in der gegenſeitigen Stimmung nebeneinander
lebender Völker fallen jedem auf, der Neukalifornien, die
inneren Provinzen von Mexiko und die Nordgrenzen Bra-
ſiliens bereiſt.


Als ich mich am ſpaniſchen Rio Negro befand, war, in-
folge der auseinandergehenden Politik der beiden Höfe von
Liſſabon und Madrid, das ſyſtematiſche Mißtrauen, dem die
Kommandanten der benachbarten kleinen Forts auch in den
ruhigſten Zeiten gerne Nahrung geben, noch ſtärker als ge-
wöhnlich. Die Kanoen kamen von Barcellos bis zu den ſpa-
niſchen Miſſionen herauf, aber der Verkehr war gering. Der
Befehlshaber einer Truppenabteilung von 16 bis 18 Mann
plagte „die Garniſon“ mit Sicherheitsmaßregeln, welche „der
Ernſt der Lage“ erforderlich machte, und im Falle eines An-
griffes hoffte er „den Feind zu umzingeln“. Sprachen wir
davon, daß die portugieſiſche Regierung in Europa die vier
kleinen Dörfer, welche die Franziskaner am oberen Rio Negro
angelegt, ohne Zweifel ſehr wenig beachte, ſo fühlten ſich die
Leute durch die Gründe, mit denen wir ſie beruhigen wollten,
nur verletzt. Völkern, die durch alle Wechſel im Laufe von
Jahrhunderten ihren Nationalhaß ungeſchwächt erhalten haben,
iſt jede Gelegenheit erwünſcht, die demſelben neue Nahrung
gibt. Dem Menſchen iſt bei allem wohl, was ſein Gemüt
aufregt, was ihm eine lebhafte Empfindung zum Bewußtſein
[252] bringt, ſei es nun ein Gefühl der Zuneigung, oder jener
eiferſüchtige Neid, wie er aus althergebrachten Vorurteilen
entſpringt. Die ganze Perſönlichkeit der Völker iſt aus dem
Mutterlande in die entlegenſten Kolonieen übergegangen, und
der gegenſeitige Widerwille der Nationen hat nicht einmal da
ein Ende, wo der Einfluß der gleichen Sprache wegfällt. Wir
wiſſen aus Kruſenſterns anziehendem Reiſebericht, daß der
Haß zweier flüchtigen Matroſen, eines Franzoſen und eines
Engländers, zu einem langen Krieg zwiſchen den Bewohnern
der Marqueſasinſeln Anlaß gab. Am Amazonenſtrom und
Rio Negro können die Indianer in den benachbarten portu-
gieſiſchen und ſpaniſchen Dörfern einander nicht ausſtehen.
Dieſe armen Menſchen ſprechen nur amerikaniſche Sprachen,
ſie wiſſen gar nicht, was „am anderen Ufer des Ozeans,
drüben über der großen Salzlache“ vorgeht; aber die Kutten
ihrer Miſſionäre ſind von verſchiedener Farbe, und dies miß-
fällt ihnen im höchſten Grade.


Ich habe bei der Schilderung der Folgen des National-
haſſes verweilt, den kluge Beamte zu mildern ſuchten, ohne
ihn ganz beſchwichtigen zu können. Dieſe Eiferſucht iſt nicht
ohne Einfluß auf den Umſtand geweſen, daß unſere geogra-
phiſche Kunde von den Nebenflüſſen des Amazonenſtroms bis
jetzt ſo mangelhaft iſt. Wenn der Verkehr unter den Ein-
geborenen gehemmt iſt, und die eine Nation an der Mündung,
die andere im oberen Flußgebiet ſitzt, ſo fällt es den Karten-
zeichnern ſehr ſchwer, genaue Erkundigungen einzuziehen. Die
periodiſchen Ueberſchwemmungen, beſonders aber die Trage-
plätze, über die man die Kanoen von einem Nebenfluß zum
anderen ſchafft, deſſen Quellen in der Nähe liegen, verleiten
zur Annahme von Gabelungen und Verzweigungen der Flüſſe,
die in Wahrheit nicht beſtehen. Die Indianer in den portu-
gieſiſchen Miſſionen zum Beiſpiel ſchleichen ſich (wie ich an
Ort und Stelle erfahren) einerſeits auf dem Rio Guaicia
und Rio Temo in den ſpaniſchen Rio Negro, andererſeits
über die Trageplätze zwiſchen dem Cababuri, dem Paſimoni,
dem Idapa und dem Mavaca in den oberen Orinoko, um
hinter Esmeralda den aromatiſchen Samen des Puchery-
lorbeers zu ſammeln. Die Eingeborenen, ich wiederhole es,
ſind vortreffliche Geographen; ſie umgehen den Feind trotz
der Grenzen, wie ſie auf den Karten gezogen ſind, trotz der
Schanzen und Eſtacamientos, und wenn die Miſſionäre ſie
von ſo weit her, und zwar in ſo verſchiedenen Jahreszeiten
[253] kommen ſehen, ſo machen ſie ſich daran, Hypotheſen über ver-
meintliche Flußverbindungen zu ſchmieden. Jeder Teil hat
ein Intereſſe dabei, nicht zu ſagen, was er ganz gut weiß,
und der Hang zu allem Geheimnisvollen, der bei rohen Men-
ſchen ſo gemein und ſo lebendig iſt, thut das Seinige dazu,
um die Sache im Dunkeln zu laſſen. Noch mehr, die ver-
ſchiedenen Indianerſtämme, welche dieſes Waſſerlabyrinth be-
fahren, geben den Flüſſen ganz verſchiedene Namen, und dieſe
Namen werden durch Endungen, welche „Waſſer, großes
Waſſer, Strömung“ bedeuten, unkenntlich gemacht und ver-
längert. Wie oft bin ich beim notwendigen Geſchäft, die
Synonymie der Flüſſe ins reine zu bringen, in größter Ver-
legenheit geweſen, wenn ich die geſcheiteſten Indianer vor mir
hatte und ſie mittels eines Dolmetſchers über die Zahl der
Nebenflüſſe, die Quellen und die Trageplätze befragte! Da
in derſelben Miſſion drei, vier Sprachen geſprochen werden,
ſo hält es ſehr ſchwer, die Ausſagen in Uebereinſtimmung zu
bringen. Unſere Karten wimmeln von willkürlich abgekürzten
oder entſtellten Namen. Um herauszubringen, was darauf
richtig iſt, muß man ſich von der geographiſchen Lage der
Nebenflüſſe, faſt möchte ich ſagen von einem gewiſſen etymo-
logiſchen Takt leiten laſſen. Der Rio Uaupe oder Uapes der
portugieſiſchen Karten iſt der Guapue der ſpaniſchen und der
Ucayari der Eingeborenen. Der Anava der älteren Geo-
graphen iſt Arrowſmiths Anauahu, und der Unanauhau oder
Guanauhu der Indianer. Man ließ nicht gerne einen leeren
Raum auf den Karten, damit ſie recht genau ausſehen möchten,
und ſo erſchuf man Flüſſe und legte ihnen Namen bei, ohne
zu wiſſen, daß dieſelben nur Synonyme waren. Erſt in der
neueſten Zeit haben die Reiſenden in Amerika, in Perſien
und Indien eingeſehen, wie viel darauf ankommt, daß man
in der Namengebung korrekt iſt. Lieſt man die Reiſe des
berühmten Ralegh, ſo iſt es eben nicht leicht, im See Mrecabo
den See Maracaybo und im Marquis Paraco den Namen
Pizarros, des Zerſtörers des Reichs der Inka, zu erkennen.


Die großen Nebenflüſſe des Amazonenſtromes heißen,
ſelbſt bei den Miſſionären von europäiſcher Abſtammung, in
ihrem oberen Laufe anders als im unteren. Der Iça heißt
weiter oben Putumayo; der Jupura führt ſeinen Quellen zu
den Namen Caqueta. Wenn man in den Miſſionen der An-
daquies ſich nach dem wahren Urſprung des Rio Negro um-
ſah, ſo konnte dies um ſo weniger zu etwas führen, da man
[254] den indianiſchen Namen des Fluſſes nicht kannte. In Javita,
Maroa und San Carlos hörte ich ihn Guainia nennen.
Southey, der gelehrte Geſchichtſchreiber Braſiliens, den ich
überall ſehr genau fand, wo ich ſeine geographiſchen Angaben
mit dem, was ich ſelbſt auf meinen Reiſen geſammelt, ver-
gleichen konnte, ſagt ausdrücklich, der Rio Negro heiße auf
ſeinem unteren Laufe bei den Eingeborenen Guiari oder Cu-
rana, auf ſeinem oberen Laufe Ueneya. Das iſt ſoviel wie
Gueneya ſtatt Guainia; denn die Indianer in dieſen Land-
ſtrichen ſprechen ohne Unterſchied Guanaracua und Uanaracua,
Guarapo und Uarapo. Aus dem letzteren haben Hondius1
und alle alten Geographen durch ein komiſches Mißver-
ſtändnis ihren Europa fluvius gemacht.


Es iſt hier der Ort, von den Quellen des Rio Negro
zu ſprechen, über welche die Geographen ſchon ſo lange im
Streit liegen. Dieſe Frage erſcheint nicht allein darum wichtig,
weil es ſich vom Urſprung eines mächtigen Stromes handelt,
was ja immer von Intereſſe iſt; ſie hängt mit einer Menge
anderer Fragen zuſammen, mit den angeblichen Gabelungen
des Caqueta, mit den Verbindungen zwiſchen dem Rio Negro
und dem Orinoko, und mit dem örtlichen Mythus vom
Dorado, früher Enim oder das Reich des Großen Paytiti
geheißen. Studiert man die alten Karten dieſer Länder und
die Geſchichte der geographiſchen Irrtümer genau, ſo ſieht
man, wie der Mythus vom Dorado mit den Quellen des
Orinoko allmählich nach Weſten rückt. Er entſtand auf dem
Oſtabhang der Anden und ſetzte ſich zuerſt, wie ich ſpäter
nachweiſen werde, im Südweſten vom Rio Negro feſt. Der
tapfere Philipp de Urre ging, um die große Stadt Manoa
zu entdecken, über den Guaviare. Noch jetzt erzählen die In-
dianer in San Joſe de Maravitanos, „fahre man 14 Tage
lang auf dem Guape oder Uaupe nach Nordoſt, ſo komme
man zu einer berühmten Laguna de Oro, die von Bergen
umgeben und ſo groß ſei, daß man das Ufer gegenüber nicht
ſehen könne. Ein wildes Volk, die Guanes, leide nicht, daß
man im Sandboden um den See Gold ſammle.“ Pater
Acuña ſetzt den See Manoa oder Yenefiti zwiſchen den Ja-
pura und den Rio Negro. Manaosindianer (dies iſt das
Wort Manoa mit Verſchiebung der Vokale, was bei ſo vielen
[255] amerikaniſchen Völkern vorkommt) brachten dem Pater Fritz
im Jahre 1687 viele Blätter geſchlagenen Goldes. Dieſe
Nation, deren Namen noch heute am Urarira zwiſchen Lama-
longa und Moreira bekannt iſt, ſaß am Jurubeſh (Yurubech,
Yurubets). La Condamine ſagt mit Recht, dieſes Meſopo-
tamien zwiſchen dem Caqueta, dem Rio Negro, dem Juru-
beſh und dem Iquiare ſei der erſte Schauplatz des Dorado.
Wo ſoll man aber die Namen Jurubeſh und Iquiare der
Patres Acuña und Fritz ſuchen? Ich glaube ſie in den
Flüſſen Urubaxi und Iguari der handſchriftlichen portugieſi-
ſchen Karten wieder zu finden, die ich beſitze und die im hydro-
graphiſchen Depot zu Rio Janeiro gezeichnet wurden. Seit
vielen Jahren habe ich nach den älteſten Karten und einem
anſehnlichen, von mir geſammelten, nicht veröffentlichten Ma-
terial mit anhaltendem Eifer Unterſuchungen über die Geo-
graphie Südamerikas nördlich vom Amazonenſtrom angeſtellt.
Da ich meinem Werke den Charakter eines wiſſenſchaftlichen
Werkes bewahren möchte, darf ich mich nicht ſcheuen, von
Gegenſtänden zu handeln, über die ich hoffen kann einiges
Licht zu verbreiten, nämlich von den Quellen des Rio Negro
und des Orinoko, von der Verbindung dieſer Flüſſe mit dem
Amazonenſtrom, und vom Problem vom Goldlande, das den
Bewohnern der Neuen Welt ſo viel Blut und ſo viel Thränen
gekoſtet hat. Ich werde dieſe Fragen nacheinander behandeln,
wie ich in meinem Reiſetagebuche an die Orte komme, wo ſie
von den Einwohnern ſelbſt am lebhafteſten beſprochen werden.
Da ich aber ſehr ins Einzelne gehen müßte, wenn ich alle
Beweiſe für meine Aufſtellungen beibringen wollte, ſo be-
ſchränke ich mich hier darauf, die hauptſächlichſten Ergebniſſe
mitzuteilen, und verſchiebe die weitere Ausführung auf die
„Analyse des Cartes“ und den „Essai sur la géographie
astronomique du Nouveau-Continent“,
welche den geogra-
phiſchen Atlas eröffnen ſollen.


Dieſe meine Unterſuchungen führen zum allgemeinen
Schluß, daß die Natur bei der Verteilung fließender Gewäſſer
auf der Erdoberfläche, wie beim Bau der organiſchen Körper,
lange nicht nach einem ſo verwickelten Plane verfahren iſt,
als man unter dem Einfluß unbeſtimmter Anſchauungen und
des Hangs zum Wunderbaren geglaubt hat. Es geht auch
daraus hervor, daß alle jene Anomalieen, alle jene Ausnahmen
von den Geſetzen der Hydrographie, die im Inneren Amerikas
vorkommen, nur ſcheinbar ſind; daß in der Alten Welt beim
[256] Laufe fließender Gewäſſer gleich außerordentliche Erſcheinungen
vorkommen, daß aber dieſe Erſcheinungen vermöge ihres un-
bedeutenden Umfanges den Reiſenden weniger aufgefallen ſind.
Wenn ungeheure Ströme betrachtet werden können als aus
mehreren, untereinander parallelen, aber ungleich tiefen Rinnen
beſtehend, wenn dieſe Ströme nicht in Thäler eingeſchloſſen
ſind, und wenn das Innere eines großen Feſtlandes ſo eben
iſt als bei uns das Meeresufer, ſo müſſen die Verzweigungen,
die Gabelungen, die netzförmigen Verſchlingungen ſich ins Un-
endliche häufen. Nach allem, was wir vom Gleichgewicht der
Meere wiſſen, kann ich nicht glauben, daß die Neue Welt
ſpäter als die Alte dem Schoße des Waſſers entſtiegen, daß
das organiſche Leben in ihr jünger, friſcher ſein ſollte; wenn
man aber auch keine Gegenſätze zwiſchen den zwei Halbkugeln
desſelben Planeten gelten läßt, ſo begreift ſich doch, daß auf
derjenigen, welche die größte Waſſerfülle hat, die verſchiedenen
Flußſyſteme längere Zeit gebraucht haben, ſich voneinander
zu ſcheiden, ſich gegenſeitig völlig unabhängig zu machen. Die
Anſchwemmungen, die ſich überall bilden, wo fließendes Waſſer
an Geſchwindigkeit abnimmt, tragen allerdings dazu bei, die
großen Strombetten zu erhöhen und die Ueberſchwemmungen
ſtärker zu machen; aber auf die Länge werden die Flußarme
und ſchmalen Kanäle, welche benachbarte Flüſſe miteinander
verbinden, durch dieſe Anſchwemmungen ganz verſtopft. Was
das Regenwaſſer zuſammenſpült, bildet, indem es ſich auf-
häuft, Schwellen, isthmes d’attérissement, Waſſerſcheiden,
die zuvor nicht vorhanden waren. Die Folge davon iſt, daß
die natürlichen, urſprünglichen Verbindungskanäle nach und
nach in zwei Waſſerläufe zerfallen, und durch die Aufhöhung
des Bodens in der Quere zwei Gefälle nach entgegengeſetzten
Richtungen erhalten. Ein Teil ihres Waſſers fällt in den
Hauptwaſſerbehälter zurück, und zwiſchen zwei parallelen Becken
erhebt ſich eine Böſchung, ſo daß die ehemalige Verbindung
ſpurlos verſchwindet. Sofort beſtehen zwiſchen verſchiedenen
Flußſyſtemen keine Gabelungen mehr, und wo ſie zur Zeit
der großen Ueberſchwemmungen noch immer vorhanden ſind,
tritt das Waſſer vom Hauptbehälter nur weg, um nach größeren
oder kleineren Umwegen wieder dahin zurückzukehren. Die
Gebiete, deren Grenzen anfangs ſchwankend durcheinander
liefen, ſchließen ſich nach und nach ab, und im Laufe der
Jahrhunderte wirkt alles, was an der Erdoberfläche beweglich
iſt, Waſſer, Schwemmung und Sand zuſammen, um die
[257] Flußbetten zu trennen, wie die großen Seen in mehrere zer-
fallen und die Binnenmeere ihre alten Verbindungen ver-
lieren.1


Da die Geographen ſchon im 16. Jahrhundert die Ueber-
zeugung gewonnen hatten, daß in Südamerika zwiſchen ver-
ſchiedenen Flußſyſtemen Gabelteilungen beſtehen, die ſie gegen-
ſeitig voneinander abhängig machen, ſo nahmen ſie an, daß
die fünf großen Nebenflüſſe des Orinoko und des Amazonen-
ſtromes, Guaviare, Inirida, Rio Negro, Caqueta oder Hya-
pura, und Putumayo oder Iça untereinander zuſammenhängen.
Dieſe Hypotheſen, welche auf unſeren Karten in verſchiedenen
Geſtalten dargeſtellt ſind, entſtanden zum Teil in den Miſ-
ſionen in den Ebenen, zum Teil auf dem Rücken der Kor-
dilleren der Anden. Reiſt man von Santa Fé de Bogota
über Fuſagaſuga nach Popayan und Paſto, ſo hört man die
Gebirgsbewohner behaupten, am Oſtabhange der Paramos
de la Suma Paz (des ewigen Friedens), des Iscancè und
Aponte entſpringen alle Flüſſe, die zwiſchen dem Meta und
dem Putumayo durch die Wälder von Guyana ziehen. Da
man die Nebenflüſſe für den Hauptſtrom hält und man alle
Flüſſe rückwärts bis zur Bergkette reichen läßt, ſo wirft man
dort die Quellen des Orinoko, des Rio Negro und des Gua-
viare zuſammen. Am ſteilen Oſtabhange der Anden iſt ſehr
ſchwer herunterzukommen, eine engherzige Politik hat dem
Handel mit den Llanos am Meta, am San Juan und Caguan
Feſſeln angelegt, man hat wenig Intereſſe, die Flüſſe zu ver-
folgen, um ihre Verzweigungen kennen zu lernen; durch all
dieſe Umſtände iſt die geographiſche Verwirrung noch größer
geworden. Als ich in Santa Fé de Bogota war, kannte man
kaum den Weg, der über die Dörfer Usme, Ubaque und Ca-
queza nach Apiay und zum Landungsplatze am Rio Meta
führt. Erſt in neueſter Zeit konnte ich die Karte dieſes Fluſſes
nach den Reiſetagebüchern des Kanonikus Cortez Madariaga
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 17
[258] und nach den Ermittelungen während des Unabhängigkeits-
krieges in Venezuela berichtigen.


Ueber die Lage der Quellen am Fuße der Kordilleren
zwiſchen 4° 20″ und 1° 10′ nördlicher Breite wiſſen wir
zuverläſſig, was folgt. Hinter dem Paramo de la Suma
Paz, den ich von Pandi an aufnehmen konnte, entſpringt der
Rio de Aguas Blancas, der mit dem Pachaquiaro oder Rio
Negro von Apiay den Meta bildet; weiter nach Süden
kommt der Rio Ariari, ein Nebenfluß des Guaviare, deſſen
Mündung ich bei San Fernando de Atabapo geſehen. Geht
man auf dem Rücken der Kordillere weiter gegen Ceja und
den Paramo von Aponte zu, ſo kommt man an den Rio
Guayavero, der am Dorfe Aramo vorbeiläuft und ſich mit
dem Ariari verbindet; unterhalb ihrer Vereinigung bekommen
die Flüſſe den Namen Guaviare. Südweſtlich vom Paramo
de Aponte entſpringen am Fuße der Berge bei Santa Roſa
der Rio Caqueta, und auf der Kordillere ſelbſt der Rio de
Mocoa, der in der Geſchichte der Eroberung eine große Rolle
ſpielt. Dieſe beiden Flüſſe, die ſich etwas oberhalb der Miſſion
San Auguſtin de Nieto vereinigen, bilden den Japura oder
Caqueta. Der Cerro del Portachuelo, ein Berg, der ſich
auf der Hochebene der Kordilleren ſelbſt erhebt, liegt zwiſchen
den Quellen des Mocoa und dem See Sebondoy, aus dem
der Rio Putumayo oder Iça entſpringt. Der Meta, der
Guaviare, der Caqueta und der Putumayo ſind alſo die ein-
zigen großen Flüſſe, die unmittelbar am Oſtabhange der Anden
von Santa Fé, Popayan und Paſto entſpringen. Der Vichada,
der Zama, der Inirida, der Rio Negro, der Uaupe und der
Apoporis, die unſere Karten gleichfalls weſtwärts bis zum
Gebirge fortführen, entſpringen weit weg von demſelben ent-
weder in den Savannen zwiſchen Meta und Guaviare oder
im bergigen Lande, das, nach den Ausſagen der Eingeborenen,
fünf, ſechs Tagereiſen weſtwärts von den Miſſionen am Javita
und Maroa anfängt und ſich als Sierra Tunuhy jenſeits des
Xiè dem Iſſana zu erſtreckt.


Es erſcheint ziemlich auffallend, daß dieſer Kamm der
Kordillere, dem ſo viele majeſtätiſche Flüſſe entſpringen (Meta,
Guaviare, Caqueta, Putumayo), ſo wenig mit Schnee bedeckt
iſt als die abeſſiniſchen Gebirge, aus denen der blaue Nil
kommt; dagegen trifft man, wenn man die Gewäſſer, die
über die Ebenen ziehen, hinaufgeht, bevor man an die Kor-
dillere der Anden kommt, einen noch thätigen Vulkan. Der-
[259] ſelbe wurde erſt in neueſter Zeit von den Franziskanern
entdeckt, die von Ceja über den Rio Fragua an den Caqueta
herunterkommen. Nordöſtlich von der Miſſion Santa Roſa,
weſtlich vom Puerto del Pescado, liegt ein einzeln ſtehender
Hügel, der Tag und Nacht Rauch ausſtößt. Es rührt dies
von einem Seitenausbruche der Vulkane von Popayan und
Paſto her, wie der Guacamayo und der Sangay, die gleich-
falls am Fuße des Oſtabhanges der Anden liegen, von Seiten-
ausbrüchen des Vulkanſyſtemes von Quito herrühren. Iſt
man mit den Ufern des Orinoko und des Rio Negro bekannt,
wo überall das Granitgeſtein zu Tage kommt, bedenkt man,
daß in Braſilien, in Guyana, auf dem Küſtenlande von Vene-
zuela, vielleicht auf dem ganzen Kontinent oſtwärts von den
Anden, ſich gar kein Feuerſchlund findet, ſo erſcheinen die drei
thätigen Vulkane an den Quellen des Caqueta, des Napo und
des Rio Macas oder Morona ſehr intereſſant.


Die impoſante Größe des Rio Negro fiel ſchon Orellana
auf, der ihn im Jahre 1539 bei ſeinem Einfluß in den Ama-
zonenſtrom ſah, undas nigras spargens; aber erſt ein Jahr-
hundert ſpäter ſuchten die Geographen ſeine Quellen am
Abhange der Kordilleren auf. Acuñas Reiſe gab Anlaß zu
Hypotheſen, die ſich bis auf unſere Zeit erhalten haben und
von La Condamine und d’Anville maßlos gehäuft wurden.
Acuña hatte im Jahre 1638 an der Einmündung des Rio
Negro gehört, einer ſeiner Zweige ſtehe mit einem anderen
großen Strome in Verbindung, an dem die Holländer ſich
niedergelaſſen. Southey bemerkt ſcharfſinnig, daß man ſo
etwas in ſo ungeheurer Entfernung von der Küſte gewußt,
beweiſe, wie ſtark und vielfach damals der Verkehr unter den
barbariſchen Völkern dieſer Länder (beſonders unter denen von
karibiſchem Stamme) geweſen. Es bleibt unentſchieden, ob die
Indianer, die Acuña Rede ſtanden, den Caſſiquiare meinten,
den natürlichen Kanal zwiſchen Orinoko und Rio Negro, den
ich von San Carlos nach Esmeralda hinaufgefahren bin, oder
ob ſie ihm nur unbeſtimmt die Trageplätze zwiſchen den Quellen
des Rio Branco1 und des Rio Eſſequibo andeuten wollten.
Acuña ſelbſt dachte nicht daran, daß der große Strom, deſſen
Mündung die Holländer beſaßen, der Orinoko ſei; er nahm
[260] vielmehr eine Verbindung mit dem Rio San Felipe an, der
weſtlich vom Kap Nord ins Meer fällt, und auf dem nach
ſeiner Anſicht der Tyrann Lopez de Aguirre ſeine lange Fluß-
fahrt beſchloſſen hatte. Letztere Annahme ſcheint mir ſehr
gewagt, wenn auch der Tyrann in ſeinem närriſchen Briefe
an Philipp II. ſelbſt geſteht, „er wiſſe nicht, wie er und die
Seinigen aus der großen Waſſermaſſe herausgekommen“.


Bis zu Acuñas Reiſe und den ſchwankenden Angaben,
die er über Verbindungen mit einem anderen großen Fluſſe
nordwärts vom Amazonenſtrome erhielt, ſahen die unterrich-
tetſten Miſſionäre den Orinoko für eine Fortſetzung des Ca-
queta (Kaqueta, Caketa) an. „Dieſer Strom,“ ſagte Fray
Pedro Simon im Jahre 1625, „entſpringt am Weſtabhange
des Paramo d’Iscancè. Er nimmt den Papamene auf, der
von den Anden von Neiva herkommt, und heißt nacheinander
Rio Iscancè, Tama (wegen des angrenzenden Gebietes der
Tamasindianer), Guayare, Baraguan und Orinoko.“ Nach
der Lage des Paramo d’Iscancè, eines hohen Kegelberges,
den ich auf der Hochebene von Mamendoy und an den ſchönen
Ufern des Mayo geſehen, muß in dieſer Beſchreibung der
Caqueta gemeint ſein. Der Rio Papamene iſt der Rio de la
Fragua, der mit dem Rio Mocoa ein Hauptzweig des Caqueta
iſt; wir kennen denſelben von den ritterlichen Zügen Georgs
von Speier und Philipps von Hutten her.1 Die beiden Kriegs-
männer kamen an den Papamene erſt, nachdem ſie über den
Ariari und den Guayavero gegangen. Die Tamasindianer
ſind noch jetzt am nördlichen Ufer des Caqueta eine der ſtärkſten
Nationen; es iſt alſo nicht zu verwundern, daß, wie Fray
Pedro Simon ſagt, dieſer Fluß Rio Tama genannt wurde.
Da die Quellen der Nebenflüſſe des Caqueta und die Neben-
flüſſe des Guaviare nahe beiſammen liegen, und da dieſer
einer der großen Flüſſe iſt, die in den Orinoko fallen, ſo
bildete ſich mit dem Anfange des 17. Jahrhunderts die irrige
Anſicht, Caqueta (Rio de Iscancè und Papamene), Guaviare
(Guayare) und Orinoko ſeien ein und derſelbe Fluß. Niemand
war den Caqueta dem Amazonenſtrome zu hinabgefahren, ſonſt
hätte man geſehen, daß der Fluß, der weiter unten Jupupa
[261] heißt, eben der Caqueta iſt. Eine Sage, die ſich bis jetzt
unter der Bevölkerung dieſes Landſtriches erhalten hat, der
zufolge ein Arm des Caqueta oberhalb des Einfluſſes des
Caguan und des Payoya zum Irinida und Rio Negro geht,
muß auch zu der Meinung beigetragen haben, daß der Orinoko
am Abhange der Gebirge von Paſto entſpringe.


Wie wir geſehen, ſetzte man in Neugranada voraus, die
Waſſer des Caqueta laufen, wie die des Ariari, Meta und
Apure, dem großen Orinokobecken zu. Hätte man genauer
auf die Richtung dieſer Nebenflüſſe geachtet, ſo wäre man
gewahr geworden, daß allerdings das ganze Land im großen
nach Oſten abfällt, daß aber die Bodenpolyeder, aus denen
die Niederungen beſtehen, ſchiefe Flächen zweiter Ordnung
bilden, die nach Nordoſt und Südoſt geneigt ſind. Eine faſt
unmerkliche Waſſerſcheide läuft unter dem 2. Breitengrade von
den Anden von Timana zu der Landenge zwiſchen Javita
und dem Caño Pimichin, über die unſere Piroge geſchafft
worden. Nördlich vom Parallel von Timana laufen die Ge-
wäſſer1 nach Nordoſt und Oſt: es ſind die Nebenflüſſe des
Orinoko oder die Nebenflüſſe ſeiner Nebenflüſſe. Aber ſüdlich
vom Parallel von Timana, auf den Ebenen, welche denen
von San Juan vollkommen zu gleichen ſcheinen, laufen der
Caqueta oder Jupura, der Putumayo oder Iça, der Napo,
der Paſtaça und der Morona nach Südoſt und Süd-Südoſt
und ergießen ſich ins Becken des Amazonenſtromes. Dabei
iſt ſehr merkwürdig, daß dieſe Waſſerſcheide ſelbſt nur als eine
Fortſetzung derjenigen erſcheint, die ich in den Kordilleren auf
dem Wege von Popayan nach Paſto gefunden. Zieht man
den Landhöhen nach eine Linie über Ceja (etwas ſüdlich von
Timana) und den Paramo de las Papas zum Alto del Roble,
zwiſchen 1° 45′ und 2° 20′ der Breite, in 1890 m Meeres-
höhe, ſo findet man die divortia aquarum zwiſchen dem
Meere der Antillen und dem Stillen Ozean.


Vor Acuñas Reiſe herrſchte bei den Miſſionären die An-
ſicht, Caqueta, Guaviare und Orinoko ſeien nur verſchiedene
Benennungen desſelben Fluſſes; aber der Geograph Sanſon
ließ auf den Karten, die er nach Acuñas Beobachtungen ent-
warf, den Caqueta ſich in zwei Arme teilen, deren einer der
Orinoko, der andere der Rio Negro oder Curiguacuru ſein
[262] ſollte. Dieſe Gabelteilung unter rechtem Winkel erſcheint auf
allen Karten von Sanſon, Coronelli, du Val und de l’Isle
von 1656 bis 1730. Man glaubte auf dieſe Weiſe die Ver-
bindungen zwiſchen den großen Strömen zu erklären, von
denen Acuña die erſte Kunde von der Mündung des Rio
Negro mitgebracht, und man ahnte nicht, daß der Jupura die
Fortſetzung des Caqueta ſei. Zuweilen ließ man den Namen
Caqueta ganz weg und nannte den Fluß, der ſich gabelt, Rio
Paria oder Yuyapari, wie der Orinoko ehemals hieß. De
l’Isle ließ in ſeiner letzten Zeit den Caqueta ſich nicht mehr
gabeln, zum großen Verdruß La Condamines; er machte den
Putumayo, den Jupura und Rio Negro zu völlig unab-
hängigen Flüſſen, und als wollte er alle Ausſicht auf eine
Verbindung zwiſchen Orinoko und Rio Negro abſchneiden,
zeichnete er zwiſchen beiden Strömen eine hohe Bergkette.
Bereits Pater Fritz hatte dasſelbe Syſtem und zur Zeit des
Hondius galt es für das wahrſcheinlichſte.


La Condamines Reiſe, die über verſchiedene Striche
Amerikas ſo viel Licht verbreitet, hat in die ganze Angelegen-
heit vom Laufe des Caqueta, Orinoko und Rio Negro nur
noch mehr Verwirrung gebracht. Der berühmte Gelehrte ſah
allerdings wohl, daß der Caqueta (bei Mocoa) der Fluß iſt,
der am Amazonenſtrome Jupura heißt; dennoch nahm er nicht
allein Sanſons Hypotheſe an, er brachte die Zahl der Gabel-
teilungen des Caqueta ſogar auf drei. Durch die erſte gibt
der Caqueta einen Arm (den Jaoya) an den Putumayo ab;
eine zweite bildet den Rio Jupura und den Rio Paragua;
in einer dritten teilt ſich der Rio Paragua wiederum in zwei
Flüſſe, den Orinoko und den Rio Negro. Dieſes rein er-
ſonnene Syſtem ſieht man in der erſten Ausgabe von d’An-
villes ſchöner Karte von Amerika dargeſtellt. Es ergibt ſich
daraus, daß der Rio Negro vom Orinoko unterhalb der großen
Katarakte abgeht, und daß man, um an die Mündung des
Guaviare zu kommen, den Caqueta über die Gabelung, aus
der der Rio Jupura entſpringt, hinauf muß. Als La Con-
damine erfuhr, daß der Orinoko keineswegs am Fuße der
Anden von Paſto, ſondern auf der Rückſeite der Berge von
Cayenne entſpringe, änderte er ſeine Vorſtellungen auf ſehr
ſinnreiche Weiſe ab. Der Rio Negro geht jetzt nicht mehr
vom Orinoko ab; Guaviare, Atabapo, Caſſiquiare und die
Mündung des Inirida (unter dem Namen Iniricha) erſchienen
auf d’Anvilles zweiter Karte ungefähr in ihrer wahren Geſtalt,
[263] aber aus der dritten Gabelung des Caqueta entſtehen der
Inirida und der Rio Negro. Dieſes Syſtem wurde von
Pater Caulin gut geheißen, auf der Karte von La Cruz dar-
geſtellt und auf allen Karten bis zum Anfang des 19. Jahr-
hunderts kopiert. Dieſe Namen: Caqueta, Orinoko, Inirida,
haben allerdings nicht ſo viel Anziehendes, wie die Flüſſe im
Inneren Nigritiens; es knüpfen ſich eben keine geſchichtlichen
Erinnerungen daran; aber die mannigfaltigen Kombinationen
der Geographen der Neuen Welt erinnern an die krauſen
Zeichnungen vom Laufe des Nigir, des Weißen Nil, des
Gambaro, des Dſcholiba und des Zaïre. Von Jahr zu Jahr
nimmt das Bereich der Hypotheſen an Umfang ab; die Pro-
bleme ſind bündiger gefaßt und das alte Stück Geographie,
das man ſpekulative, um nicht zu ſagen divinatoriſche Geo-
graphie nennen könnte, zieht ſich in immer engere Grenzen
zuſammen.


Alſo nicht am Caqueta, ſondern am Guainia oder Rio
Negro kann man genaue Auskunft über die Quellen des
letzteren Fluſſes erhalten. Die Indianer in den Miſſionen
Maroa, Tomo und San Carlos wiſſen nichts von einer oberen
Verbindung des Guainia mit dem Jupura. Ich habe ſeine
Breite bei der Schanze San Agoſtino gemeſſen; es ergaben
ſich 569 m;1 die mittlere Breite war 380 bis 485 m. La
Condamine ſchätzt dieſelbe in der Nähe der Ausmündung in
den Amazonenſtrom an der ſchmälſten Stelle auf 2340 m;
der Fluß wäre alſo auf einem Laufe von 10 Grad in gerader
Linie um 1950 m breiter geworden. Obgleich die Waſſer-
maſſe, wie wir ſie zwiſchen Maroa und San Carlos geſehen,
ſchon ziemlich bedeutend iſt, verſichern die Indianer dennoch,
der Guainia entſpringe fünf Tagereiſen zu Waſſer nordweſt-
wärts von der Mündung des Pimichin in einem bergigen
Landſtriche, wo auch die Quellen des Inirida liegen. Da man
den Caſſiquiare von San Carlos bis zum Punkte der Gabel-
teilung am Orinoko in 10 bis 11 Tagen hinauffährt, ſo kann
man fünf Tage Bergfahrt gegen eine lange nicht ſo ſtarke
Strömung zu etwas über 1° 20′ in gerader Richtung anneh-
men, womit die Quellen des Guainia, nach meinen Längen-
beobachtungen in Javita und San Carlos, unter 71° 35′
weſtlich vom Meridian von Paris zu liegen kämen. Obgleich
[264] die Ausſagen der Eingeborenen vollkommen übereinſtimmten,
liegen die Quellen wohl noch weiter nach Weſten, da die
Kanoen nur ſo weit hinaufkommen, als das Flußbett es ge-
ſtattet. Nach der Analogie der europäiſchen Flüſſe läßt ſich
das Verhältnis zwiſchen der Breite und Länge des oberen
Flußſtückes 1 nicht beſtimmt beurteilen. In Amerika nimmt
häufig die Waſſermaſſe in den Flüſſen auf kurzen Strecken
ſehr auffallend zu.


Der Guainia iſt in ſeinem oberen Laufe vorzüglich dadurch
ausgezeichnet, daß er keine Krümmungen hat; er erſcheint wie
ein breiter Kanal, der durch einen dichten Wald gezogen iſt.
So oft der Fluß die Richtung verändert, liegt eine gleich
lange Waſſerſtrecke vor dem Auge. Die Ufer ſind hoch, aber
eben und ſelten felſig. Der Granit, den ungeheure Quarz-
gänge durchſetzen, kommt meiſt nur mitten im Bett zu Tage.
Fährt man den Guainia nach Nordweſt hinauf, ſo wird die
Strömung mit jeder Tagereiſe reißender. Die Flußufer ſind
unbewohnt; erſt in der Nähe der Quellen (las cavezeras), im
bergigen Lande, hauſen die Maniva- oder Poignave-India-
ner. Die Quellen des Inirida (Iniricha) liegen, nach der
Ausſage der Indianer, nur 9 bis 13 km von denen des
Guainia und es ließe ſich dort ein Trageplatz anlegen. Pater
Caulin hörte in Cabruta aus dem Munde eines indianiſchen
Häuptlings Namens Tapo, der Inirida ſei ſehr nahe beim
Patavida (Paddavida auf der Karte von La Cruz), der ein
Nebenfluß des Rio Negro iſt. Die Eingeborenen am oberen
Guainia kennen dieſen Namen nicht, ſo wenig als den eines
Sees (laguna del Rio Negro), der auf alten portugieſiſchen
Karten vorkommt. Dieſer angebliche Rio Patavita iſt wahr-
ſcheinlich nichts als der Guainia der Indianer in Maroa;
denn ſolange die Geographen an die Gabelteilung des Caqueta
glaubten, ließen ſie den Rio Negro aus dieſem Arme und
einem Fluſſe entſtehen, den ſie Patavita nannten. Nach dem
Berichte der Eingeborenen ſind die Berge bei den Quellen des
Inirida und Guainia nicht höher als der Baraguan, der nach
meiner Meſſung 240 m hoch iſt.


Portugieſiſche handſchriftliche Karten, die in neueſter Zeit
im hydrographiſchen Depot zu Rio Janeiro entworfen worden
ſind, beſtätigen, was ich an Ort und Stelle in Erfahrung
[265] gebracht. Sie geben keine der vier Verbindungen des Caqueta
oder Japura mit dem Guainia (Rio Negro), dem Inirida,
dem Uaupes (Guapue) und dem Putumayo an; ſie ſtellen
jeden dieſer Nebenflüſſe als einen unabhängigen Strom dar;
ſie laſſen den Rio Patavita weg und ſetzen die Quellen des
Guainia nur 2° 15′ weſtwärts vom Meridian von Javita.
Der Rio Uaupes, ein Nebenfluß des Guainia, ſcheint viel
weiter aus Weſten herzukommen als der Guainia ſelbſt; und
ſeine Richtung iſt ſo, daß kein Arm des Caqueta in den oberen
Guainia kommen könnte, ohne ihn zu ſchneiden. Ich bringe
zum Schluß dieſer Erörterung einen Beweis bei, der direkt
gegen die Annahme ſpricht, nach welcher der Guainia, wie
der Guaviare und der Caqueta, am Oſtabhange der Kordilleren
der Anden entſpringen ſoll.


Während meines Aufenthaltes in Popayan machte mir
der Guardian des Franziskanerkloſters, Fray Francisco Pugnet,
ein liebenswürdiger, verſtändiger Mann, zuverläſſige Mittei-
lungen über die Miſſionen der Adaquies, in denen er lange
gelebt hat. Der Pater hatte eine beſchwerliche Reiſe vom
Caqueta zum Guaviare unternommen. Seit Philipp von
Hutten (Urre) und den erſten Zeiten der Eroberung war kein
Europäer durch dieſes unbekannte Land gekommen. Pater
Pugnet kam von der Miſſion Caguan am Fluſſe dieſes Namens,
der in den Caqueta fällt, über eine unermeßliche, völlig baum-
loſe Savanne, in deren öſtlichem Striche die Tamas- und Co-
reguajesindianer hauſen. Nach ſechstägigem Marſche nord-
wärts kam er in einen kleinen Ort Namens Aramo am
Guayavero, etwa 67 km weſtlich vom Punkte, wo der Guaya-
vero und der Ariari den großen Guaviareſtrom bilden. Aramo
iſt das am weiteſten nach Weſt gelegene Dorf der Miſſionen
von San Juan de los Llanos. Pater Pugnet hörte dort
von den großen Katarakten des Rio Guaviare (ohne Zweifel
denſelben, die der Präſident der Miſſionen am Orinoko auf
ſeiner Fahrt von San Fernando de Apure den Guaviare
hinauf geſehen); aber er kam zwiſchen Caguan und Aramo
über keinen Fluß. Es iſt alſo erwieſen, daß unter dem
75. Grad der Länge, auf 180 km vom Abhange der Kordil-
leren, mitten in den Lanos weder Rio Negro (Patavita,
Guainia), noch Guapue (Uaupe), noch Inirida zu finden ſind
und daß dieſe drei Flüſſe oſtwärts von dieſem Meridian ent-
ſpringen. Dieſe Angaben ſind von großem Wert; denn im
inneren Afrika iſt die Geographie kaum ſo verworren als hier
[266] zwiſchen dem Atabapo und den Quellen des Meta, Guaviare
und Caqueta. „Man glaubt es kaum,“ ſagt Caldas in einer
wiſſenſchaftlichen Zeitſchrift, die in Santa Fé de Bogota er-
ſcheint, „daß wir noch keine Karte von den Ebenen beſitzen,
die am Oſtabhange der Gebirge beginnen, die wir täglich vor
Augen haben und auf denen die Kapellen Guadeloupe und
Monſerrate ſtehen. Kein Menſch weiß, wie breit die Kor-
dilleren ſind, noch wie die Flüſſe laufen, die in den Orinoko
und in den Amazonenſtrom fallen, und doch werden einſt in
beſſeren Zeiten eben auf dieſen Nebenflüſſen, dem Meta, dem
Guaviare, dem Rio Negro, dem Caqueta, die Einwohner von
Cundinamarca mit Braſilien und Paraguay verkehren.“


Ich weiß wohl, daß in den Miſſionen der Andaquies
ziemlich allgemein der Glaube herrſcht, der Caqueta gebe
zwiſchen dem Einfluſſe des Rio Fragua und des Caguan einen
Arm an den Putumayo, und weiter unten, unterhalb der
Einmündung des Rio Payoya, einen anderen an den Orinoko
ab; aber dieſe Meinung ſtützt ſich nur auf eine unbeſtimmte
Sage der Indianer, welche häufig Trageplätze und Gabel-
teilungen verwechſeln. Wegen der Katarakte an der Mündung
des Payoya und der wilden Huaquesindianer, auch „Murcie-
lagos“ (Fledermäuſe) genannt, weil ſie den Gefangenen das
Blut ausſaugen, können die ſpaniſchen Miſſionäre nicht den
Caqueta hinabfahren. Nie hat ein weißer Menſch den Weg
von San Miguel de Mocoa zum Einfluſſe des Caqueta in den
Amazonenſtrom gemacht. Bei der letzten Grenzkommiſſion
fuhren die portugieſiſchen Aſtronomen zuerſt den Caqueta bis
zu 0° 36′ ſüdlicher Breite, dann den Rio de los Engaños
(den trügeriſchen Fluß) und den Rio Cunare, die in den
Caqueta fallen, bis zu 0° 28′ nördlicher Breite hinauf. Auf
dieſer Fahrt ſahen ſie nordwärts keinen Arm vom Caqueta
abgehen. Der Amu und der Yabilla, deren Quellen ſie genau
unterſucht, ſind Flüßchen, die in den Rio de los Engaños
und mit dieſem in den Caqueta fallen. Findet alſo wirklich
eine Gabelteilung ſtatt, ſo wäre ſie nur auf der ganz kurzen
Strecke zwiſchen dem Einfluſſe des Payoya und dem zweiten
Katarakt oberhalb des Einfluſſes des Rio de los Engaños zu
ſuchen; aber, ich wiederhole es, wegen dieſes Fluſſes, wegen
des Cunare, des Apoporis und des Uaupes könnte dieſer an-
gebliche Arm des Caqueta gar nicht zum oberen Guainia ge-
langen. Alles ſcheint vielmehr darauf hinzuweiſen, daß zwiſchen
den Zuflüſſen des Caqueta und denen des Uaupes und Rio
[267] Negro eine Waſſerſcheide iſt. Noch mehr: Durch barometriſche
Beobachtung haben wir für das Ufer des Pimichin 253 m
Meereshöhe gefunden. Vorausgeſetzt, das bergige Land an
den Quellen des Guainia liege 97 m über Javita, ſo folgt
daraus, daß das Bett des Fluſſes in ſeinem oberen Laufe
wenigſtens 390 m über dem Meere liegt, alſo nur ſo hoch,
als wir mit dem Barometer das Ufer des Amazonenſtroms
bei Tomependa in der Provinz Jaen de Bracamoros gefunden.
Bedenkt man nun, wie ſtark dieſer ungeheure Strom von
Tomependa bis zum Meridian von 75° fällt und wie weit
es von den Miſſionen am Rio Caguan bis zur Kordillere iſt,
ſo bleibt kein Zweifel, daß das Bett des Caqueta unterhalb
der Mündungen des Caguan und des Payoya viel tiefer liegt
als das Bett des oberen Guainia, an den er einen Teil ſeines
Waſſers abgeben ſoll. Ueberdies iſt das Waſſer des Caqueta
durchaus weiß, das des Guainia dagegen ſchwarz oder kaffee-
braun; man hat aber kein Beiſpiel, daß ein weißer Fluß auf
ſeinem Laufe ſchwarz würde. Der obere Guainia kann alſo
kein Arm des Caqueta ſein. Ich zweifle ſogar, daß man
Grund hat anzunehmen, dem Guainia, als vornehmſten und
unabhängigen Waſſerbehälter, komme ſüdwärts durch einen
Seitenzweig einiges Waſſer zu.


Die kleine Berggruppe an den Quellen des Guainia, die
wir haben kennen lernen, iſt um ſo intereſſanter, da ſie einzeln
in der Ebene liegt, die ſich ſüdweſtlich vom Orinoko ausdehnt.
Nach der Länge, unter der ſie liegt, könnte man vermuten,
von ihr gehe ein Kamm ab, der zuerſt die Stromenge (Ango-
ſtura) des Guaviare und dann die großen Katarakte des
Uaupes und des Jupura bildet. Kommt vielleicht dort, wo
die Gebirgsart wahrſcheinlich, wie im Oſten, Granit iſt, Gold
in kleinen Teilen im Boden vor? Gibt es vielleicht weiter
nach Süden, dem Uaupes zu, am Iquiare (Iguiari, Iguari)
und am Yurubeſh (Yurubach, Urubaxi) Goldwäſchen? Dort
ſuchte Philipp von Hutten zuerſt den Dorado und lieferte
mit einer Handvoll Leute den Omagua das im ſechzehnten
Jahrhundert vielberufene Gefecht. Entkleidet man die Be-
richte der Konquiſtadoren des Fabelhaften, ſo erkennt man
an den erhaltenen Ortsnamen immerhin, daß geſchichtliche
Wahrheit zu Grunde liegt. Man folgt dem Zuge Huttens
über den Guaviare und den Caqueta, man erkennt in den
Guaypes unter dem Kaziken von Macatoa die Anwohner
des Uaupes, der auch Guape oder Guapue heißt; man er-
[268] innert ſich, daß Pater Acuña den Iquiari (Quiguiare) einen
Goldfluß nennt, und daß fünfzig Jahre ſpäter Pater Fritz,
ein ſehr glaubwürdiger Miſſionär, in ſeiner Miſſion Yuri-
maguas von den Manaos (Manoas) beſucht wurde, die mit
Goldblechen geputzt waren und aus dem Landſtriche zwiſchen
dem Uaupe und dem Caqueta oder Jupura kamen. Die
Flüſſe, die am Oſtabhange der Anden entſpringen (z. B. der
Napo), führen viel Gold, auch wenn ihre Quellen im Trachyt-
geſtein liegen: warum ſollte es oſtwärts von den Kordilleren
nicht ſo gut goldhaltiges aufgeſchwemmtes Land geben, wie
weſtwärts bei Sonora, Chocos und Barbacoas? Ich bin
weit [entfernt], den Reichtum dieſes Landſtriches übertreiben zu
wollen; aber ich halte mich nicht für berechtigt, das Vorkom-
men edler Metalle im Urgebirge von Guyana nur deshalb
in Abrede zu ziehen, weil wir auf unſerer Reiſe durch das
Land keinen Erzgang gefunden haben. Es iſt auffallend, daß
die Eingeborenen am Orinoko in ihren Sprachen ein Wort
für Gold haben (karibiſch Carucuru, tamanakiſch Caricuri,
maypuriſch Cavitta), während das Wort, das ſie für Silber
gebrauchen, Prata, offenbar dem Spaniſchen entlehnt iſt. Die
Nachrichten über Goldwäſchen ſüdlich und nördlich vom Rio
Uaupes, die Acuña, Pater Fritz und La Condamine geſammelt,
ſtimmen mit dem überein, was ich über die Goldlager in
dieſem Landſtriche in Erfahrung gebracht. So ſtark man ſich
auch den Verkehr unter den Völkern am Orinoko vor der
Ankunft der Europäer denken mag, ſo haben ſie doch ihr Gold
gewiß nicht vom Oſtabhang der Kordilleren geholt. Dieſer
Abhang iſt arm an Erzgruben, zumal an ſolchen, die ſchon
von alters her in Betrieb waren; er beſteht in den Provinzen
Popayan, Paſto und Quito faſt ganz aus vulkaniſchem Ge-
ſtein. Wahrſcheinlich kam das Gold nach Guyana aus dem
Lande oſtwärts von den Anden. Noch zu unſerer Zeit wurde
in einer Schlucht bei der Miſſion Encaramada ein Gold-
geſchiebe gefunden, und man darf ſich nicht wundern, daß
man, ſobald ſich Europäer in dieſen Einöden niederlaſſen,
weniger von Goldblech, Goldſtaub und Amuletten aus Nephrit
ſprechen hört, die man ſich früher von den Kariben und
anderen umherziehenden Völkern im Tauſchhandel verſchaffen
konnte. Die edlen Metalle waren am Orinoko, Rio Negro
und Amazonenſtrom nie ſehr häufig, und ſie verſchwinden faſt
ganz, ſobald die Zucht in den Miſſionen dem Verkehr der
Eingeborenen über weite Strecken ein Ende macht.


[269]

Am oberen Guainia iſt das Klima nicht ſo heiß, vielleicht
auch etwas weniger feucht als am Tuamini. Ich fand das
Waſſer des Rio Negro im Mai 23,9° warm, während der
Thermometer in der Luft bei Tage auf 22,7° bei Nacht 21,8°
ſtand. Dieſe Kühle des Waſſers, die faſt ebenſo beim Kongo-
fluſſe beobachtet wird, iſt ſo nahe beim Aequator (1° 53′ bis
2° 15′ nördliche Breite) ſehr auffallend. Der Orinoko iſt zwi-
ſchen dem 4. und 8. Grad der Breite meiſt 27,5° bis 29,5°
warm. Die Quellen, die bei Maypures aus dem Granit
kommen, haben 27,8°. Dieſe Abnahme der Wärme dem Aequa-
tor zu ſtimmt merkwürdig mit den Hypotheſen einiger Phyſiker
des Altertums; 1 es iſt indeſſen nur eine örtliche Erſcheinung
und nicht ſowohl eine Folge der Meereshöhe des Landſtriches,
als vielmehr des beſtändig bedeckten, regneriſchen Himmels,
der Feuchtigkeit des Bodens, der dichten Wälder, der ſtarken
Ausdünſtung der Gewächſe und des Umſtandes, daß kein ſan-
diges Ufer den Wärmeſtoff anzieht und durch Strahlung wie-
der von ſich gibt. Der Einfluß eines bezogenen Himmels
zeigt ſich recht deutlich am Küſtenſtriche in Peru, wo niemals
Regen fällt und die Sonne einen großen Teil des Jahres,
zur Zeit der Garua (Nebel), dem bloßen Auge wie die
Mondſcheibe erſcheint. Dort zwiſchen dem 10. und 12. Grad
ſüdlicher Breite iſt die mittlere Temperatur kaum höher als
in Algier und Kairo. Am Rio Negro regnet es faſt das
ganze Jahr, Dezember und Januar ausgenommen, und ſelbſt
in der trockenen Jahreszeit ſieht man das Blau des Himmels
ſelten zwei, drei Tage hintereinander. Bei heiterer Luft
erſcheint die Hitze deſto größer, da ſonſt das Jahr über die
Einwohner ſich bei Nacht über Froſt beklagen, obgleich die
Temperatur immer noch 21° beträgt. Ich ſtellte in San
Carlos, wie früher in Javita, Beobachtungen über die Regen-
menge an, die in einer gegebenen Zeit fällt. Dieſe Unter-
ſuchungen ſind von Belang, wenn es ſich davon handelt, die
ungeheure Anſchwellung der Flüſſe in der Nähe des Aequa-
tors zu erklären, von denen man lange glaubte, ſie werden
von den Kordilleren mit Schneewaſſer geſpeiſt. Ich ſah zu
verſchiedenen Zeiten in 2 Stunden 16 mm, in 3 Stunden
40 mm, in 9 Stunden 106,8 mm Regen fallen. Da es un-
aufhörlich fort regnet (der Regen iſt fein, aber ſehr dicht),
ſo können, glaube ich, in dieſen Wäldern jährlich nicht wohl
[270] unter 2,43 bis 2,71 m Waſſer fallen. So außerordentlich
viel dies auch ſcheinen mag, ſo wird dieſe Schätzung doch
durch die ſorgfältigen Beobachtungen des Ingenieuroberſten
Conſtanzo in Neuſpanien beſtätigt. In Veracruz fielen allein
in den Monaten Juli, Auguſt und September 948 mm im
ganzen Jahre 1,677 m Regenwaſſer; aber zwiſchen dem Klima
der dürren, kahlen mexikaniſchen Küſten und dem Klima in
den Wäldern iſt ein großer Unterſchied. Auf jenen Küſten
fällt in den Monaten Dezember und Januar kein Tropfen
Regen und im Februar, April und Mai meiſt nur 5 bis 6,1 cm;
in San Carlos dagegen iſt es neun, zehn Monate hintereinan-
der, als ob die Luft ſich in Waſſer auflöſte. In dieſem naſſen
Himmelsſtriche würde ohne die Verdunſtung und den Abzug
der Waſſer der Boden im Verlauf eines Jahres mit einer
2,6 m hohen Waſſerſchichte bedeckt. Dieſe Aequatorialregen,
welche die majeſtätiſchen Ströme Amerikas ſpeiſen, ſind von
elektriſchen Entladungen begleitet, und während man am Ende
desſelben Kontinents, auf der Weſtküſte von Grönland, 1 in
fünf und ſechs Jahren nicht einmal donnern hört, toben in der
Nähe des Aequators die Gewitter faſt Tag für Tag. Die
Gleichzeitigkeit der elektriſchen Entladungen und der Regengüſſe
unterſtützt übrigens keineswegs die alte Hypotheſe, nach der
ſich in der Luft durch Verbindung von Sauerſtoff und Waſſer-
ſtoff Waſſer bildet. Man hat bis zu 7016 m Höhe vergeb-
lich Waſſerſtoff geſucht. Die Menge des in der geſättigten
Luft enthaltenen Waſſers nimmt von 20 bis 25° weit raſcher
zu als von 10 bis 15°. Unter der heißen Zone bildet ſich
daher, wenn ſich die Luft um einen einzigen Grad abkühlt,
weit mehr ſichtbarer Waſſerdunſt als in der gemäßigten. Eine
durch die Strömungen fortwährend erneuerte Luft kann ſomit
alles Waſſer liefern, das bei den Aequatorialregen fällt und
dem Phyſiker ſo erſtaunlich groß dünkt.


Das Waſſer des Rio Negro iſt (bei reflektiertem Lichte)
dunkler von Farbe als das des Atabapo und des Tuamini.
Ja die Maſſe weißen Waſſers, die der Caſſiquiare hereinbringt,
[271] ändert unterhalb der Schanze San Carlos ſo wenig an der
Farbe, daß es mir auffiel. Der Verfaſſer der Chorographie
moderne du Brésil
ſagt ganz richtig, der Fluß habe überall,
wo er nicht tief ſei, eine Bernſteinfarbe, wo das Waſſer aber
ſehr tief ſei, erſcheine es ſchwarzbraun, wie Kaffeeſatz. Auch
bedeutet Curana, wie die Eingeborenen den unteren Guainia
nennen, ſchwarzes Waſſer. Die Vereinigung des Guainia
oder Rio Negro mit dem Amazonenſtrom gilt in der Statt-
halterſchaft Gran-Para für ein ſo wichtiges Moment, daß der
Rio das Amazonas weſtlich vom Rio Negro ſeinen Namen
ablegt und fortan Rio dos Solimoẽs heißt (eigentlich Sori-
moẽs, mit Anſpielung auf das Gift der Nation der Sorimans).
Weſtlich von Ucayale nimmt der Amazonenſtrom den Namen
Rio Maranhaõ oder Marañon an. Die Ufer des oberen
Guainia ſind im ganzen ungleich weniger von Waſſervögeln
bevölkert als die des Caſſiquiare, Meta und Arauca, wo die
Ornithologen die reichſte Ausbeute für die europäiſchen Samm-
lungen finden. Daß dieſe Tiere ſo ſelten ſind, rührt ohne
Zweifel daher, daß der Strom keine Untiefen und keine offenen
Geſtade hat, ſowie von der Beſchaffenheit des ſchwarzen
Waſſers, in dem (gerade wegen ſeiner Reinheit) Waſſerinſekten
und Fiſche weniger Nahrung finden. Trotzdem nähren ſich
die Indianer in dieſem Landſtriche zweimal im Jahre von Zug-
vögeln, die auf ihrer langen Wanderung am Ufer des Rio
Negro ausruhen. Wenn der Orinoko zu ſteigen anfängt, alſo
nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, ziehen die Enten
(Patos careteros) in ungeheuern Schwärmen vom 8. bis
3. Grad nördlicher zum 1. bis 4. Grad ſüdlicher Breite gegen
Süd-Südoſt. Dieſe Tiere verlaſſen um dieſe Zeit das Thal
des Orinoko, ohne Zweifel weil ſie, wenn das Waſſer ſteigt
und die Geſtade überflutet, keine Fiſche, Waſſerinſekten und
Würmer mehr fangen können. Man erlegt ſie zu Tauſenden,
wenn ſie über den Rio Negro ziehen. Auf der Wanderung
zum Aequator ſind ſie ſehr fett und wohlſchmeckend, aber im
September, wenn der Orinoko fällt und in ſein Bett zurück-
tritt, ziehen die Enten, ob ſie nun der Ruf der erfahrenſten
Zugvögel dazu antreibt, oder jenes innere Gefühl, das man
Inſtinkt nennt, weil es nicht zu erklären iſt, vom Amazonen-
ſtrome und Rio Branco wieder nach Norden. Sie ſind zu
mager, als daß die Indianer am Rio Negro lüſtern danach
wären, und ſie entgehen ihren Nachſtellungen um ſo eher, da
eine Reiherart (Gavanes) mit ihnen wandert, die ein vortreff-
[272] liches Nahrungsmittel abgibt. So eſſen denn die Eingeborenen
im März Enten, im September Reiher. Sie konnten uns
nicht ſagen, was aus den Gavanes wird, wenn der Orinoko
ausgetreten iſt, und warum ſie die Patos carateros auf
ihrer Wanderung vom Orinoko an den Rio Branco nicht be-
gleiten. Dieſes regelmäßige Ziehen der Vögel aus einem
Striche der Tropen in den anderen, in einer Zone, die das
ganze Jahr über dieſelbe Temperatur hat, iſt eine ziemlich
auffallende Erſcheinung. So kommen auch jedes Jahr, wenn
in Terra Firma die großen Flüſſe austreten, viele Schwärme
von Waſſervögeln vom Orinoko und ſeinen Nebenflüſſen an
die Südküſten der Antillen. Man muß annehmen, daß unter
den Tropen der Wechſel von Trockenheit und Näſſe auf die
Sitten der Tiere denſelben Einfluß hat, wie in unſerem
Himmelsſtriche bedeutende Temperaturwechſel. Die Sonnen-
wärme und die Inſektenjagd locken in den nördlichen Ländern
der Vereinigten Staaten und in Kanada die Kolibri bis zur
Breite von Paris und Berlin herauf; gleicherweiſe zieht der leich-
tere Fiſchfang die Schwimmvögel und die Stelzenläufer von
Nord nach Süd, vom Orinoko zum Amazonenſtrom. Nichts iſt
wunderbarer, und in geographiſcher Beziehung noch ſo dunkel
als die Wanderungen der Vögel nach ihrer Richtung, ihrer
Ausdehnung und ihrem Endziel.


Sobald wir aus dem Pimichin in den Rio Negro ge-
langt und durch den kleinen Katarakt am Zuſammenfluß ge-
gangen waren, lag auf etwa 1 km die Miſſion Maroa vor
uns. Dieſes Dorf mit 150 Indianern ſieht ſo ſauber und
wohlhabend aus, daß es angenehm auffällt. Wir kauften
daſelbſt ſchöne lebende Exemplare einiger Tucanarten (Pia-
poco
), mutiger Vögel, bei denen ſich die Intelligenz wie bei
unſeren zahmen Raben entwickelt. Oberhalb Maroa kamen
wir zuerſt rechts am Einfluſſe des Aquio, dann an dem des
Tomo vorbei; an letzterem Fluſſe wohnen die Cheruvichahenas-
indianer, von denen ich in San Francisco Solano ein paar
Familien geſehen habe. Derſelbe iſt ferner dadurch intereſſant,
daß er den heimlichen Verkehr mit den portugieſiſchen Be-
ſitzungen vermitteln hilft. Der Tomo kommt auf ſeinem
Laufe dem Rio Guaicia (Xie) ſehr nahe, und auf dieſem Wege
gelangen zuweilen flüchtige Indianer vom unteren Rio Negro
in die Miſſion Tomo. Wir betraten die Miſſion nicht, Pater
Zea erzählte uns aber lächelnd, die Indianer in Tomo und
in Maroa ſeien einmal in vollem Aufruhr geweſen, weil man
[273] ſie zwingen wollte, den vielberufenen „Teufelstanz“ zu tanzen.
Der Miſſionär hatte den Einfall gehabt, die Ceremonien,
womit die Piaches, die Prieſter, Aerzte und Zauberer zu-
gleich ſind, den böſen Geiſt Jolokiamo beſchwören, in bur-
leskem Stil darſtellen zu laſſen. Er hielt den „Teufelstanz“
für ein treffliches Mittel, ſeinen Neubekehrten darzuthun, daß
Jolokiamo keine Gewalt mehr über ſie habe. Einige junge
Indianer ließen ſich durch die Verſprechungen des Miſſionärs
bewegen, die Teufel vorzuſtellen, und ſie hatten ſich bereits
mit ſchwarzen und gelben Federn geputzt und die Jaguarfelle
mit lang nachſchleppenden Schwänzen umgenommen. Die
Soldaten, die in den Miſſionen liegen, um die Ermahnungen
der Ordensleute eindringlicher zu machen, ſtellte man um den
Platz vor der Kirche auf und führte die Indianer zur Feſt-
lichkeit herbei, die aber hinſichtlich der Folgen des Tanzes
und der Ohnmacht des böſen Geiſtes nicht ſo ganz beruhigt
waren. Die Partei der Alten und Furchtſamen gewann die
Oberhand; eine abergläubiſche Angſt kam über ſie, alle wollten
al monte laufen, und der Miſſionär legte ſeinen Plan, den
Teufel der Eingeborenen lächerlich zu machen, zurück. Was
für wunderliche Einfälle doch einem müßigen Mönche kommen,
der ſein Leben in den Wäldern zubringt, fern von allem, was
ihn an menſchliche Kultur mahnen könnte! Daß man in Tomo
den geheimnisvollen Teufelstanz mit aller Gewalt öffentlich
wollte aufführen laſſen, iſt um ſo auffallender, da in allen
von Miſſionären geſchriebenen Büchern davon die Rede iſt,
wie ſie ſich bemüht, daß keine Tänze aufgeführt werden, keine
„Totentänze“, keine „Tänze der heiligen Trompete“, auch nicht
der alte „Schlangentanz“, der Queti, bei dem vorgeſtellt
wird, wie dieſe liſtigen Tiere aus dem Wald kommen und
mit den Menſchen trinken, um ſie zu hintergehen und ihnen
die Weiber zu entführen.


Nach zweiſtündiger Fahrt kamen wir von der Mündung
des Tomo zu der kleinen Miſſion San Miguel da Davipe,
die im Jahr 1775 nicht von Mönchen, ſondern von einem
Milizlieutenant, Don Francisco Bobadilla, gegründet worden.
Der Miſſionär Pater Morillo, bei dem wir ein paar Stun-
den verweilten, nahm uns ſehr gaſtfreundlich auf und ſetzte
uns ſogar Maderawein vor. Als Tafelluxus wäre uns Weizen-
brot lieber geweſen. Auf die Länge fällt es einem weit ſchwerer,
das Brot zu entbehren als geiſtige Getränke. Durch die Portu-
gieſen am Amazonenſtrom kommt hie und da etwas Madera-
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 18
[274] wein an den Rio Negro, und da Madera auf ſpaniſch
Holz bedeutet, ſo hatten ſchon arme, in der Geographie nicht
ſehr bewanderte Miſſionäre Bedenken, ob ſie mit Maderawein
das Meßopfer verrichten dürften; ſie hielten denſelben für ein
irgend einem Baume abgezapftes gegorenes Getränk, wie
Palmwein, und forderten den Guardian der Miſſionen auf,
ſich darüber auszuſprechen, ob der vino de Madera Wein
aus Trauben (de uvas) ſei oder aber der Saft eines Baumes
(vino de algun palo). Schon zu Anfang der Eroberung
war die Frage aufgeworfen worden, ob es den Prieſtern ge-
ſtattet ſei, mit einem gegorenen, dem Traubenwein ähnlichen
Saft das Meßopfer zu verrichten. Wie vorauszuſehen, wurde
die Frage verneint.


Wir kauften in Davipe einigen Mundvorrat, namentlich
Hühner und ein Schwein. Dieſer Einkauf war unſeren In-
dianern ſehr wichtig, da ſie ſchon lange kein Fleiſch mehr ge-
geſſen hatten. Sie drängten zum Aufbruch, damit wir zeitig
auf die Inſel Dapa kämen, wo das Schwein geſchlachtet und
in der Nacht gebraten werden ſollte. Kaum hatten wir Zeit,
im Kloſter (convento) große Haufen Maniharz zu betrach-
ten, ſowie Seilwerk aus der Chiquichiquipalme, das in Europa
beſſer bekannt zu ſein verdiente. Dasſelbe iſt ausnehmend
leicht, ſchwimmt auf dem Waſſer und iſt auf der Flußfahrt
dauerhafter als Tauwerk aus Hanf. Zur See muß man es,
wenn es halten ſoll, öfter anfeuchten und es nicht oft der
tropiſchen Sonne ausſetzen. Don Antonio Santos, der im
Lande wegen ſeiner Reiſe zur Auffindung des Parimeſees
viel genannt wird, lehrte die Indianer am ſpaniſchen Rio
Negro die Blattſtiele des Chiquichiqui benützen, einer Palme
mit gefiederten Blättern, von der wir weder Blüten noch
Früchte zu Geſicht bekommen haben. Dieſer Offizier iſt der
einzige weiße Menſch, der, um von Angoſtura nach Gran-Para
zu kommen, von den Quellen des Rio Carony zu denen des
Rio Branco den Landweg gemacht hat. Er hatte ſich in den
portugieſiſchen Kolonien mit der Fabrikation der Chiquichiqui-
taue bekannt gemacht und führte, als er vom Amazonenſtrom
zurückkam, den Gewerbszweig in den Miſſionen in Guyana
ein. Es wäre zu wünſchen, daß am Rio Negro und Caſſi-
quiare große Seilbahnen angelegt werden könnten, um dieſe
Taue in den europäiſchen Handel zu bringen. Etwas weniges
wird bereits von Angoſtura auf die Antillen ausgeführt.
Sie koſten dort 50 bis 60 Prozent weniger als Hanf-
[275] taue. 1 Da man nur junge Palmen benützt, müßten ſie an-
gepflanzt und kultiviert werden.


Etwas oberhalb der Miſſion Davipe nimmt der Rio
Negro einen Arm des Caſſiquiare auf, der in der Geſchichte
der Flußverzweigungen eine merkwürdige Erſcheinung iſt.
Dieſer Arm geht nördlich von Vaſiva unter dem Namen Iti-
nivini vom Caſſiquiare ab, läuft 102 km lang durch ein ebenes,
faſt ganz unbewohntes Land und fällt unter dem Namen
Conorichite in den Rio Negro. Er ſchien mir an der Mün-
dung über 234 m breit und bringt eine bedeutende Maſſe
weißen Waſſers in das ſchwarze Gewäſſer. Obgleich die
Strömung im Conorichite ſehr ſtark iſt, kürzt dieſer natürliche
Kanal dennoch die Fahrt von Davipe nach Esmeralda um
drei Tage ab. Eine doppelte Verbindung zwiſchen Caſſiquiare
und Rio Negro kann nicht auffallen, wenn man weiß, wie
viele Flüſſe in Amerika beim Zuſammenfluß mit anderen Deltas
bilden. So ergießen ſich der Rio Branco und der Jupura
mit zahlreichen Armen in den Rio Negro und in den Ama-
zonenſtrom. Beim Einfluß des Jupura kommt noch etwas
weit Auffallenderes vor. Ehe dieſer Fluß ſich mit dem Ama-
zonenſtrom vereinigt, ſchickt dieſer, der Hauptwaſſerbehälter,
drei Arme, genannt Uaranapu, Manhama und Avateperana,
zum Jupura, alſo zum Nebenfluß. Der portugieſiſche Aſtronom
Ribeiro hat dieſen Umſtand außer Zweifel geſetzt. Der Ama-
zonenſtrom gibt Waſſer an den Jupura ab, ehe er dieſen
ſeinen Nebenfluß ſelbſt aufnimmt.


Der Rio Conorichite oder Itinivini ſpielte früher im
Sklavenhandel, den die Portugieſen auf ſpaniſchem Gebiet
trieben, eine bedeutende Rolle. Die Sklavenhändler fuhren
auf dem Caſſiquiare und dem Caño Mee in den Conorichite
hinauf, ſchleppten von da ihre Pirogen über einen Trage-
platz zu den Rochelas von Manuteſo und kamen ſo in den
Atabapo. Ich habe dieſen Weg auf meiner Reiſekarte des
Orinoko angegeben. Dieſer ſchändliche Handel dauerte bis
um das Jahr 1756. Solanos Expedition und die Errichtung
[276] der Miſſionen am Rio Negro machten demſelben ein Ende.
Alte Geſetze von Karl V. und Philipp III. verboten unter
Androhung der ſchwerſten Strafen (wie Verluſt bürgerlicher
Aemter und 2000 Piaſter Geldbuße), „Eingeborene durch ge-
waltſame Mittel zu bekehren und Bewaffnete gegen ſie zu
ſchicken“; aber dieſen weiſen, menſchenfreundlichen Geſetzen
zum Trotz hatte der Rio Negro noch in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts, wie ſich La Condamine ausdrückt, für die
europäiſche Politik nur inſofern Intereſſe, als er die Entra-
das
oder feindlichen Einfälle erleichterte und dem Sklaven-
handel Vorſchub that. Die Kariben, ein kriegeriſches Handels-
volk, erhielten von den Portugieſen und den Holländern
Meſſer, Fiſchangeln, kleine Spiegel und Glaswaren aller Art.
Dafür hetzten ſie die indianiſchen Häuptlinge gegeneinander
auf, ſo daß es zum Kriege kam; ſie kauften ihnen die Ge-
fangenen ab und ſchleppten ſelbſt mit Liſt oder Gewalt alles
fort, was ihnen in den Weg kam. Dieſe Streifzüge der
Kariben erſtreckten ſich über ein ungeheures Gebiet. Dieſelben
gingen vom Eſſequibo und Carony aus auf dem Rupunuri
und dem Paraguamuzi einerſeits gerade nach Süd dem Rio
Branco zu, andererſeits nach Südweſt über die Trageplätze
zwiſchen dem Rio Paragua, dem Caura und dem Ventuario.
Waren ſie einmal bei den zahlreichen Völkerſchaften am oberen
Orinoko, ſo teilten ſie ſich in mehrere Banden und kamen
über den Caſſiquiare, Cababury, Itinivini und Atabapo an
vielen Punkten zugleich an den Guainia oder Rio Negro und
trieben mit den Portugieſen Sklavenhandel. So empfanden
die unglücklichen Eingeborenen die Nachbarſchaft der Europäer
ſchwer, lange ehe ſie mit dieſen ſelbſt in Berührung kamen.
Dieſelben Urſachen haben überall dieſelben Folgen. Der bar-
bariſche Handel, den die civiliſierten Völker an der afrikani-
ſchen Küſte trieben und zum Teil noch treiben, wirkt ver-
derbenbringend bis in die Länder zurück, wo man vom Daſein
weißer Menſchen gar nichts weiß.


Nachdem wir von der Mündung des Conorichite und der
Miſſion Davipe aufgebrochen, langten wir bei Sonnenunter-
gang bei der Inſel Dapa an, die ungemein maleriſch mitten
im Strome liegt. Wir fanden daſelbſt zu unſerer nicht ge-
ringen Verwunderung einige angebaute Grundſtücke und auf
einem kleinen Hügel eine indianiſche Hütte. Vier Eingeborene
ſaßen um ein Feuer von Buſchwerk und aßen eine Art weißen,
ſchwarzgefleckten Teigs, der unſere Neugierde nicht wenig
[277] reizte. Es waren Vachacos, große Ameiſen, deren Hinter-
teil einem Fettknopf gleicht. Sie waren am Feuer getrocknet
und vom Rauch geſchwärzt. Wir ſahen mehrere Säcke voll
über dem Feuer hängen. Die guten Leute achteten wenig
auf uns, und doch lagen in der engen Hütte mehr als vier-
zehn Menſchen ganz nackt in Hängematten übereinander. Als
aber Pater Zea erſchien, wurde er mit großen Freudenbezei-
gungen empfangen. Am Rio Negro ſtehen wegen der Grenz-
wache mehr Soldaten als am Orinoko, und überall, wo Sol-
daten und Mönche ſich die Herrſchaft über die Indianer
ſtreitig machen, haben dieſe mehr Zuneigung zu den Mönchen.
Zwei junge Weiber ſtiegen aus den Hängematten, um uns
Caſavekuchen zu bereiten. Man fragte ſie durch einen Dol-
metſcher, ob der Boden der Inſel fruchtbar ſei; ſie erwiderten,
der Maniok gerate ſchlecht, dagegen ſei es ein gutes Amei-
ſenland
, man habe gut zu leben. Dieſe Vachacos dienen
den Indianern am Rio Negro wirklich zur Nahrung. Man
ißt die Ameiſen nicht aus Leckerei, ſondern weil, wie die
Miſſionäre ſagen, das Ameiſenfett (der weiße Teil des
Unterleibs) ſehr nahrhaft iſt. Als die Caſavekuchen fertig
waren, ließ ſich Pater Zea, bei dem das Fieber die Eßluſt
viel mehr zu reizen als zu ſchwächen ſchien, einen kleinen Sack
voll geräucherter Vachacos geben. Er miſchte die zerdrückten
Inſekten mit Maniokmehl und ließ nicht nach, bis wir davon
koſteten. Es ſchmeckte ungefähr wie ranzige Butter, mit Brot-
krumen geknetet. Der Maniok ſchmeckte nicht ſauer, es klebte
uns aber noch ſo viel europäiſches Vorurteil an, daß wir
mit dem guten Miſſionär, wenn er das Ding eine vor-
treffliche Ameiſenpaſtete nannte, nicht einverſtanden ſein
konnten.


Da der Regen in Strömen herabgoß, mußten wir in
der überfüllten Hütte übernachten. Die Indianer ſchliefen
nur von acht bis zwei Uhr; die übrige Zeit ſchwatzten ſie in
ihren Hängematten, bereiteten ihr bitteres Getränk Cupana,
ſchürten das Feuer und klagten über die Kälte, obgleich die
Lufttemperatur 21° war. Dieſe Sitte, vier, fünf Stunden
vor Sonnenaufgang wach, ja auf den Beinen zu ſein, herrſcht
bei den Indianern in Guyana allgemein. Wenn man daher
bei den „Entradas“ die Eingeborenen überraſchen will, wählt
man dazu die Zeit, wo ſie im erſten Schlafe liegen, von neun
Uhr bis Mitternacht.


Wir verließen die Inſel Dapa lange vor der Morgen-
[278] dämmerung und kamen trotz der ſtarken Strömung und des
Fleißes unſerer Ruderer erſt nach zwölfſtündiger Fahrt bei
der Schanze San Carlos del Rio Negro an. Links ließen
wir die Einmündung des Caſſiquiare, rechts die kleine Inſel
Cumarai. Man glaubt im Lande, die Schanze liege gerade
unter dem Aequator; aber nach meinen Beobachtungen am
Felſen Culimacari liegt ſie unter 1° 54′ 11″. Jede Nation
hat die Neigung. den Flächenraum ihrer Beſitzungen auf den
Karten zu vergrößern und die Grenzen hinauszurücken. Da
man es verſäumt, die Reiſeentfernungen auf Entfernungen
in gerader Linie zu reduzieren, ſo ſind immer die Grenzen
am meiſten verunſtaltet. Die Portugieſen ſetzen, vom Ama-
zonenſtrom ausgehend, San Carlos und San Joſe de Mara-
vitanos zu weit nach Nord, wogegen die Spanier, die von
der Küſte von Caracas aus rechnen, die Orte zu weit nach
Süd ſchieben. Dies gilt von allen Karten der Kolonieen.
Weiß man, wo ſie gezeichnet worden und in welcher Richtung
man an die Grenzen gekommen, ſo weiß man zum voraus,
nach welcher Seite hin die Irrtümer in Länge und Breite
laufen.


In San Carlos fanden wir Quartier beim Komman-
danten des Forts, einem Milizlieutenant. Von einer Galerie
des Hauſes hatte man eine ſehr hübſche Ausſicht auf drei
ſehr lange, dicht bewachſene Inſeln. Der Strom läuft gerade-
aus von Nord nach Süd, als wäre ſein Bett von Menſchen-
hand gegraben. Der beſtändig bedeckte Himmel gibt den
Landſchaften hier einen ernſten, finſtern Charakter. Wir fan-
den im Dorfe ein paar Juviaſtämme; es iſt dies das maje-
ſtätiſche Gewächs, von dem die dreieckigen Mandeln kommen,
die man in Europa Mandeln vom Amazonenſtrom nennt.
Wir haben dasſelbe unter dem Namen Bertholletia ex-
celsa
bekannt gemacht. Die Bäume werden in acht Jahren
10 m hoch.


Die bewaffnete Macht an der Grenze hier beſtand aus
ſiebzehn Mann, wovon zehn zum Schutz der Miſſionäre in
der Nachbarſchaft detachiert waren. Die Luft iſt ſo feucht,
daß nicht vier Gewehre ſchußfertig ſind. Die Portugieſen
haben fünfundzwanzig bis dreißig beſſer gekleidete und be-
waffnete Leute in der Schanze San Joſe de Maravitanos.
In der Miſſion San Carlos fanden wir nur eine Garita,
ein viereckiges Gebäude aus ungebrannten Backſteinen, in dem
ſechs Feldſtücke ſtanden. Die Schanze, oder, wie man hier
[279] gern ſagt, das Caſtillo de San Felipe, liegt San
Carlos gegenüber am weſtlichen Ufer des Rio Negro. Der
Kommandant trug Bedenken, Bonpland und mich die Forta-
leza
ſehen zu laſſen; in unſeren Päſſen ſtand wohl, daß ich
ſollte Berge meſſen und überall im Lande, wo es mir gefiele,
trigonometriſche Operationen vornehmen dürfen, aber vom Be-
ſehen feſter Plätze ſtand nichts darin. Unſer Reiſebegleiter,
Don Nicolas Soto, war als ſpaniſcher Offizier glücklicher als
wir. Man erlaubte ihm, über den Fluß zu gehen, und er
fand auf einer kleinen abgeholzten Ebene die Anfänge eines
Erdwerkes, das, wenn es vollendet wäre, zur Verteidigung
500 Mann erforderte. Es iſt eine viereckige Verſchanzung
mit kaum ſichtbarem Graben. Die Bruſtwehr iſt 1,6 m hoch
und mit großen Steinen verſtärkt. Dem Fluſſe zu liegen
zwei Baſtionen, in denen man vier bis fünf Stücke aufſtellen
könnte. Im ganzen Werk ſind 14 bis 15 Geſchütze, meiſt
ohne Lafetten und von zwei Mann bewacht. Um die Schanze
her ſtehen drei oder vier indianiſche Hütten. Dies heißt das
Dorf San Felipe, und damit das Miniſterium in Madrid
wunder meine, wie ſehr dieſe chriſtlichen Niederlaſſungen ge-
deihen, führt man für das angebliche Dorf ein eigenes Kirchen-
buch. Abends nach dem Angelus wurde dem Kommandanten
Rapport erſtattet und ſehr ernſthaft gemeldet, daß es überall
um die Feſtung ruhig ſcheine; dies erinnerte mich an die
Schanzen an der Küſte von Guinea, von denen man in Reiſe-
beſchreibungen lieſt, die zum Schutz der europäiſchen Faktoreien
dienen ſollen und in denen vier bis fünf Mann Garniſon
liegen. Die Soldaten in San Carlos ſind nicht beſſer daran
als die in den afrikaniſchen Faktoreien, denn überall an ſo
entlegenen Punkten herrſchen dieſelben Mißbräuche in der
Militärverwaltung. Nach einem Brauche, der ſchon ſehr lange
geduldet wird, bezahlen die Kommandanten die Truppen nicht
in Geld, ſondern liefern ihnen zu hohen Preiſen Kleidung
(Ropa), Salz und Lebensmittel. In Angoſtura fürchtet man
ſich ſo ſehr davor, in die Miſſionen am Carony, Caura und
Rio Negro detachiert oder vielmehr verbannt zu werden, daß
die Truppen ſehr ſchwer zu rekrutieren ſind. Die Lebens-
mittel ſind am Rio Negro ſehr teuer, weil man nur wenig
Maniok und Bananen baut und der Strom (wie alle ſchwarzen,
klaren Gewäſſer) wenig Fiſche hat. Die beſte Zufuhr kommt
von den portugieſiſchen Niederlaſſungen am Rio Negro, wo
die Indianer regſamer und wohlhabender ſind. Indeſſen
[280] werden bei dieſem Handel mit den Portugieſen jährlich kaum
für 3000 Piaſter Waren eingeführt.


Die Ufer des oberen Rio Negro werden mehr ertragen,
wenn einmal mit Ausrodung der Wälder die übermäßige
Feuchtigkeit der Luft und des Bodens abnimmt und die In-
ſekten, welche Wurzeln und Blätter der krautartigen Gewächſe
verzehren, ſich vermindern. Beim gegenwärtigen Zuſtand des
Ackerbaues kommt der Mais faſt gar nicht fort; der Tabak,
der auf den Küſten von Caracas von ausgezeichneter Güte
und ſehr geſucht iſt, kann eigentlich nur auf alten Bau-
ſtätten, bei zerfallenen Hütten, bei pueblo viejo, gebaut
werden. Infolge der nomadiſchen Lebensweiſe der Eingeborenen
fehlt es nun nicht an ſolchen Bauſtätten, wo der Boden um-
gebrochen worden und der Luft ausgeſetzt geweſen, ohne daß
etwas darauf wuchs. Der Tabak, der in friſch ausgerodeten
Wäldern gepflanzt wird, iſt wäſſerig und ohne Arom. Bei
den Dörfern Maroa, Davipe und Tomo iſt der Indigo ver-
wildert. Unter einer anderen Verwaltung, als wir ſie im
Lande getroffen, wird der Rio Negro eines Tages Indigo,
Kaffee, Kakao, Mais und Reis im Ueberfluß erzeugen.


Da man von der Mündung des Rio Negro nach Gran-
Para in 20 bis 25 Tagen fährt, ſo hätten wir den Amazonen-
ſtrom hinab bis zur Küſte von Braſilien nicht viel mehr Zeit
gebraucht, als um über den Caſſiquiare und den Orinoko an
die Nordküſte von Caracas zurückzukehren. Wir hörten in
San Carlos, der politiſchen Verhältniſſe wegen ſei im Augen-
blick aus den ſpaniſchen Beſitzungen ſchwer in die portugie-
ſiſchen zu kommen; aber erſt nach unſerer Rückkehr nach
Europa ſahen wir in vollem Umfang, welcher Gefahr wir
uns ausgeſetzt hätten, wenn wir bis Barcellos hinabgegangen
wären. Man hatte in Braſilien, vielleicht aus den Zeitungen,
deren wohlwollender, unüberlegter Eifer ſchon manchem Reiſen-
den Unheil gebracht hat, erfahren, ich werde in die Miſſionen
am Rio Negro kommen und den natürlichen Kanal unter-
ſuchen, der zwei große Stromſyſteme verbindet. In dieſen
öden Wäldern hatte man Inſtrumente nie anders als in den
Händen der Grenzkommiſſion geſehen, und die Unterbeamten
der portugieſiſchen Regierung hatten bis dahin ſo wenig als
der gute Miſſionär, von dem in einem früheren Kapitel die
Rede war, einen Begriff davon, wie ein vernünftiger Menſch
eine lange, beſchwerliche Reiſe unternehmen kann, „um Land
zu vermeſſen, das nicht ſein gehört“. Es war der Befehl
[281] ergangen, ſich meiner Perſon und meiner Inſtrumente zu ver-
ſichern, ganz beſonders aber der Verzeichniſſe aſtronomiſcher
Beobachtungen, welche die Sicherheit der Staaten ſo ſehr ge-
fährden könnten. Man hätte uns auf dem Amazonenfluß
nach Gran-Para geführt und uns von dort nach Liſſabon ge-
ſchickt. Dieſe Abſichten, die, wären ſie in Erfüllung gegangen,
eine auf fünf Jahre berechnete Reiſe ſtark gefährdet hätten,
erwähne ich hier nur, um zu zeigen, wie in den Kolonial-
regierungen meiſt ein ganz anderer Geiſt herrſcht als an der
Spitze der Verwaltung im Mutterland. Sobald das Mini-
ſterium in Liſſabon vom Dienſteifer ſeiner Untergebenen Kunde
erhielt, erließ es den Befehl, mich in meinen Arbeiten nicht
zu ſtören, im Gegenteil ſollte man mir hilfreich an die Hand
gehen, wenn ich durch einen Teil der portugieſiſchen Beſitzungen
käme. Von dieſem aufgeklärten Miniſterium ſelbſt wurde mir
kundgethan, welch freundliche Rückſicht man mir zugedacht, um
die ich mich in ſo großer Entfernung nicht hatte bewerben
können.


Unter den Portugieſen, die wir in San Carlos trafen,
befanden ſich mehrere Offiziere, welche die Reiſe von Barcellos
nach Gran-Para gemacht hatten. Ich ſtelle hier alles zuſam-
men, was ich über den Lauf des Rio Negro in Erfahrung
bringen konnte. Selten kommt man aus dem Amazonenſtrom
über den Einfluß des Cababuri herauf, der wegen der Sarſa-
parilleernte weitberufen iſt, und ſo iſt alles, was in neuerer
Zeit über die Geographie dieſer Länder veröffentlicht worden,
ſelbſt was von Rio Janeiro ausgeht, in hohem Grade ver-
worren.


Weiter den Rio Negro hinab läßt man rechts den Caño
Maliapo, links die Caños Dariba und Eny. 22,5 km weiter,
alſo etwa unter 1° 38′ nördlicher Breite, liegt die Inſel San
Joſef, die proviſoriſch (denn in dieſem endloſen Grenzprozeß
iſt alles proviſoriſch) als ſüdlicher Endpunkt der ſpaniſchen
Beſitzungen gilt. Etwas unterhalb dieſer Inſel, an einem
Ort, wo es viele verwilderte Orangebäume gibt, zeigt man
einen kleinen, 65 m hohen Felſen mit einer Höhle, welche bei
den Miſſionären „Cocuys Glorieta“ heißt. Dieſer Luſt-
ort
, denn ſolches bedeutet das Wort Glorieta im Spaniſchen,
weckt nicht die angenehmſten Erinnerungen. Hier hatte Cocuy,
der Häuptling der Manitivitanos, von dem oben die Rede
war, ſein Harem, und hier verſpeiſte er — um alles zu
ſagen — aus beſonderer Vorliebe die ſchönſten und fetteſten
[282] ſeiner Weiber. Ich zweifle nicht, daß Cocuy allerdings ein
wenig ein Menſchenfreſſer war; „es iſt dies,“ ſagt Pater
Gili mit der Naivität eines amerikaniſchen Miſſionärs, „eine
üble Gewohnheit dieſer Völker in Guyana, die ſonſt ſo ſanft
und gutmütig ſind“; aber zur Steuer der Wahrheit muß ich
hinzufügen, daß die Sage vom Harem und den abſcheulichen
Ausſchweifungen Cocuys am unteren Orinoko weit verbreiteter
iſt als am Rio Negro. Ja in San Carlos läßt man nicht
einmal den Verdacht gelten, als hätte er eine die Menſchheit
entehrende Handlung begangen; geſchieht ſolches vielleicht, weil
Cocuys Sohn, der Chriſt geworden und der mir ein verſtän-
diger, civiliſierter Menſch ſchien, gegenwärtig Hauptmann der
Indianer in San Carlos iſt?


Unterhalb der Glorieta kommen auf portugieſiſchem Ge-
biet das Port San Joſef de Maravitanos, die Dörfer Joam
Baptiſta de Mabbe, San Marcellino (beim Einfluß des Guaiſia
oder Uexie, von dem oben die Rede war), Noſſa Senhora da
Guya, Boaviſta am Rio Içanna, San Felipe, San Joaquin
de Coanne beim Einfluß des vielberufenen Rio Guape, Cal-
deron, San Miguel de Jparanna mit einer Schanze, San
Francisco de las Caculbaes, und endlich die Feſtung San
Gabriel de Cachoeiras. Ich zähle die Ortsnamen abſichtlich
auf, um zu zeigen, wie viele Niederlaſſungen die portugieſiſche
Regierung ſogar in dieſem abgelegenen Winkel von Braſilien
gegründet hat. Auf einer Strecke von 100 km liegen elf
Dörfer, und bis zum Ausfluß des Rio Negro kenne ich noch
neunzehn weitere, außer den ſechs Dörfern Thomare, Moreira
(am Rio Demenene oder Uaraca, wo ehemals die Guyana-
indianer wohnten), Barcellos, San Miguel del Rio Branco,
am Fluſſe desſelben Namens, der in den Fabeln vom Dorado
eine ſo große Rolle ſpielt, Moura und Villa de Rio Negro.
Die Ufer dieſes Nebenfluſſes des Amazonenſtroms allein ſind
daher zehnmal bevölkerter als die Ufer des oberen und des
unteren Orinoko, des Caſſiquiare, des Atabapo und des ſpani-
ſchen Rio Negro zuſammen. Dieſer Gegenſatz beruht keines-
wegs bloß auf dem Unterſchied in der Fruchtbarkeit des
Bodens, noch darauf, daß der Rio Negro, weil er fortwährend
von Nordweſt nach Südoſt läuft, leichter zu befahren iſt; er
iſt vielmehr Folge der politiſchen Einrichtungen. Nach der
Kolonialverfaſſung der Portugieſen ſtehen die Indianer unter
Civil- und Militärbehörden und unter den Mönchen vom
Berge Karmel zumal. Es iſt eine gemiſchte Regierung, wo-
[283] bei die weltliche Gewalt ſich unabhängig erhält. Die Ob-
ſervanten dagegen, unter denen die Miſſionen am Orinoko
ſtehen, vereinigen alle Gewalten in einer Hand. Die eine
wie die andere dieſer Regierungsweiſen iſt drückend in mehr
als einer Beziehung; aber in den portugieſiſchen Kolonieen
wird für den Verluſt der Freiheit wenigſtens durch etwas
mehr Wohlſtand und Kultur Erſatz geleiſtet.


Unter den Zuflüſſen, die der Rio Negro von Norden
her erhält, nehmen drei beſonders unſere Aufmerkſamkeit in
Anſpruch, weil ſie wegen ihrer Verzweigungen, ihrer Trage-
plätze und der Lage ihrer Quellen bei der ſo oft vorhandenen
Frage nach dem Urſprung des Orinoko ſtark in Betracht
kommen. Die am weiteſten ſüdwärts gelegenen dieſer Neben-
flüſſe ſind der Rio Branco, von dem man lange glaubte, er
entſpringe mit dem Orinoko aus dem Parimeſee, und der
Rio Padaviri, der mittels eines Trageplatzes mit dem Ma-
vaca und ſomit dem oberen Orinoko oſtwärts von der Miſſion
Esmeralda in Verbindung ſteht. Wir werden Gelegenheit
haben, vom Rio Branco und dem Padaviri zu ſprechen, wenn
wir in der letztgenannten Miſſion angelangt ſind; hier brau-
chen wir nur beim dritten Nebenfluß des Rio Negro, dem
Cababuri, zu verweilen, deſſen Verzweigungen mit dem Caſſi-
quiare in hydrographiſcher Beziehung und für den Sarſaparille-
handel gleich wichtig ſind. Von den hohen Gebirgen der Pa-
rime, die am Nordufer des Orinoko in ſeinem oberen Lauf
oberhalb Esmeralda hinſtreichen, geht ein Zug nach Süden
ab, in dem der Cerro de Unturan einer der Hauptgipfel iſt.
Dieſer gebirgige Landſtrich iſt nicht ſehr groß, aber reich an
vegetabiliſchen Produkten, beſonders an Mavacure-Lianen,
die zur Bereitung des Curaregiftes dienen, an Mandelbäumen
(Juvia oder Bertholletia excelsa), aromatiſchem Puchery
und wildem Kakao, und bildet eine Waſſerſcheide zwiſchen den
Gewäſſern, die in den Orinoko, in den Caſſiquiare und in
den Rio Negro gehen. Gegen Norden oder dem Orinoko zu
fließen der Mavaca und der Daracapo, nach Weſten oder
zum Caſſiquiare der Idapa und der Pacimoni, nach Süden
oder zum Rio Negro der Padaviri und der Cababuri. Der
letztere teilt ſich in der Nähe ſeiner Quelle in zwei Arme,
von denen der weſtlichſte unter dem Namen Baria bekannt
iſt. In der Miſſion San Francisco Solano gaben uns die
Indianer die umſtändlichſten Nachrichten über ſeinen Lauf.
Er verzweigt ſich, was ſehr ſelten vorkommt, ſo, daß zu einem
[284] unteren Zufluß das Waſſer eines oberen nicht herunterkommt,
ſondern daß im Gegenteil jener dieſem einen Teil ſeines
Waſſers in einer der Richtung des Hauptwaſſerbehälters ent-
gegengeſetzten Richtung zuſendet. Ich habe mehrere Beiſpiele
dieſer Verzweigungen mit Gegenſtrömungen, dieſes ſcheinbaren
Waſſerlaufs bergan, dieſer Flußgabelungen, derer Kenntnis
für die Hydrographen von Intereſſe iſt, auf einer Tafel
meines Atlas zuſammengeſtellt. Dieſelbe mag ihnen zeigen,
daß man nicht geradezu alles für Fabel erklären darf, was
von dem Typus abweicht, den wir uns nach Beobachtungen
gebildet, die einen zu unbedeutenden Teil der Erdoberfläche
umfaſſen.


Der Cababuri fällt bei der Miſſion Noſſa Senhora das
Caldas in den Rio Negro; aber die Flüſſe Ya und Dimity,
die weiter oben hereinkommen, ſtehen auch mit dem Cababuri
in Verbindung, ſo daß von der Schanze San Gabriel de
Cachoeiras an bis San Antonio de Caſtanheira die Indianer
aus den portugieſiſchen Beſitzungen auf dem Baria und dem
Pacimoni auf das Gebiet der ſpaniſchen Miſſionen ſich ein-
ſchleichen können. Wenn ich ſage Gebiet, ſo brauche ich den
gewöhnlichen Ausdruck der Obſervanten. Es iſt ſchwer zu
ſagen, auf was ſich das Eigentumsrecht in unbewohnten Län-
dern gründet, deren natürliche Grenzen man nicht kennt und
die man nicht zu kultivieren verſucht hat. In den portu-
gieſiſchen Miſſionen behaupten die Leute, ihr Gebiet erſtrecke
ſich überall ſo weit, als ſie im Kanoe auf einem Fluß, deſſen
Mündung in portugieſiſchem Beſitz iſt, gelangen können. Aber
Beſitzergreifung iſt eine Handlung, die durchaus nicht immer
ein Eigentumsrecht begründet, und nach den obigen Bemer-
kungen über die vielfachen Verzweigungen der Flüſſe dürfte
es für die Höfe von Madrid und Liſſabon gleich gefährlich
ſein, dieſen ſeltſamen Satz der Miſſionsjurisprudenz gelten
zu laſſen.


Der Hauptzweck bei den Einfällen auf dem Rio Caba-
buri iſt, Sarſaparille und die aromatiſchen Samen des Pu-
cherylorbeers (Laurus Pichurim) zu ſammeln. Man geht
dieſer koſtbaren Produkte wegen bis auf zwei Tagereiſen von
Esmeralda an einen See nördlich von Cerro Unturan hinauf,
und zwar über die Trageplätze zwiſchen dem Pacimoni und
Idapa, und dem Idapa und dem Mavaca, nicht weit vom
See desſelben Namens. Die Sarſaparille von dieſem Land-
ſtrich ſteht in Gran-Para, in Angoſtura, Cumana, Nueva
[285] Barcelona und anderen Orten von Terra Firma unter dem
Namen Zarza del Rio Negro in hohem Ruf. Es iſt die
wirkſamſte von allen, die man kennt; man zieht ſie der Zarza
aus der Provinz Caracas und von den Bergen von Merida
weit vor. Sie wird ſehr ſorgfältig getrocknet und abſichtlich
dem Rauch ausgeſetzt, damit ſie ſchwärzer wird. Dieſe Schling-
pflanze wächſt in Menge an den feuchten Abhängen der Berge
Unturan und Achivaquery. De Candolle vermutet mit Recht,
daß verſchiedene Arten von Smilax unter dem Namen Sarſa-
parille geſammelt werden. Wir fanden zwölf neue Arten,
von denen Smilax syphilitica vom Caſſiquiare und Smilax
officinalis
vom Magdalenenſtrom wegen ihrer harntreibenden
Eigenſchaften die geſuchteſten ſind. Da ſyphilitiſche Uebel
hierzulande unter Weißen und Farbigen ſo gemein als gut-
artig ſind, ſo wird in den ſpaniſchen Kolonieen eine ſehr
bedeutende Menge Sarſaparille als Hausmittel verbraucht.
Wir erſehen aus den Werken des Cluſius, daß Europa in
den erſten Zeiten der Eroberung dieſe heilſame Arznei von
der mexikaniſchen Küſte bei Honduras und aus dem Hafen
von Guayaquil bezog. Gegenwärtig iſt der Handel mit Zarza
lebhafter in den Häfen, die mit dem Orinoko, Rio Negro
und dem Amazonenſtrom Verbindungen haben.


Verſuche, die in mehreren botaniſchen Gärten in Europa
angeſtellt worden, thun dar, daß Smilax glauca aus Virgi-
nien, die man für Linnés Smilax Sarsaparilla erklärt, überall
im Freien gebaut werden kann, wo die mittlere Temperatur
des Winters mehr als 6 bis 7° des hundertteiligen Thermo-
meters beträgt;1 aber die wirkſamſten Arten gehören aus-
ſchließlich der heißen Zone an und verlangen einen weit
höheren Wärmegrad. Wenn man des Cluſius Werke lieſt,
begreift man nicht, warum in unſeren Handbüchern der ma-
teria medica
ein Gewächs der Vereinigten Staaten für den
älteſten Typus der offizinellen Smilaxarten gilt.


Wir fanden bei den Indianern am Rio Negro einige
der grünen Steine, die unter dem Namen Amazonenſteine
bekannt ſind, weil die Indianer nach einer alten Sage
[286] behaupten, ſie kommen aus dem Lande der „Weiber ohne
Männer“ (Cougnantainsecouima oder Aikeambenano
Weiber, die allein leben). In San Carlos und den benach-
barten Dörfern nannte man uns die Quellen des Orinoko
öſtlich von Esmeralda, in den Miſſionen am Carony und in
Angoſtura die Quellen des Rio Branco als die natürlichen
Lagerſtätten der grünen Steine. Dieſe Angaben beſtätigen den
Bericht eines alten Soldaten von der Garniſon von Cayenne,
von dem La Condamine ſpricht und demzufolge dieſe Mine-
ralien aus dem Lande der Weiber weſtwärts von den
Stromſchnellen des Oyapoc kommen. Die Indianer im Fort
Topayos am Amazonenſtrom, 5° oſtwärts vom Einfluß des
Rio Negro, beſaßen früher ziemlich viele Steine der Art.
Hatten ſie dieſelben von Norden her bekommen, das heißt
aus dem Lande, das die Indianer am Rio Negro angeben
und das ſich von den Bergen von Cayenne an bis an die
Quellen des Eſſequibo, des Carony, des Orinoko, des Parime
und des Rio Trombetas erſtreckt, oder ſind dieſe Steine aus
dem Süden gekommen, über den Rio Topayos, der von der
großen Hochebene der Campos Parecis herabkommt? Der
Aberglaube legt dieſen Steinen große Wichtigkeit bei; man
trägt ſie als Amulette am Hals, denn ſie ſchützen nach dem
Volksglauben vor Nervenleiden, Fiebern und dem Biß giftiger
Schlangen. Sie waren daher auch ſeit Jahrhunderten bei den
Eingeborenen nördlich und ſüdlich vom Orinoko ein Handels-
artikel. Durch die Kariben, die für die Bocharen der Neuen Welt
gelten können, lernte man ſie an der Küſte von Guyana kennen,
und da dieſelben Steine, gleich dem umlaufenden Geld, in
entgegengeſetzten Richtungen von Nation zu Nation gewandert
ſind, ſo kann es wohl ſein, daß ſie ſich nicht vermehren und
daß man ihre Lagerſtätte nicht verheimlicht, ſondern gar nicht
kennt. Vor wenigen Jahren wurden mitten im hochgebildeten
Europa, aus Anlaß eines lebhaften Streites über die ein-
heimiſche China, allen Ernſtes die grünen Steine vom Orinoko
als ein kräftiges Fiebermittel in Vorſchlag gebracht; wenn
man der Leichtgläubigkeit der Europäer ſo viel zutraut, kann
es nicht wunder nehmen, wenn die ſpaniſchen Koloniſten auf
dieſe Amulette ſo viel halten als die Indianer und ſie zu
ſehr bedeutenden Preiſen verkauft werden.1 Gewöhnlich gibt
[287] man ihnen die Form der der Länge nach durchbohrten und
mit Inſchriften und Bildwerk bedeckten perſepolitaniſchen Cy-
linder. Aber nicht die heutigen Indianer, nicht dieſe ſo tief
verſunkenen Eingeborenen am Orinoko und Amazonenſtrom
haben ſo harte Körper burchbohrt und Figuren von Tieren
und Früchten daraus geſchnitten. Dergleichen Arbeiten, wie
auch die durchbohrten und geſchnittenen Smaragde, die in den
Kordilleren von Neugranada und Quito vorkommen, weiſen
auf eine frühere Kultur zurück. Die gegenwärtigen Bewohner
dieſer Länder, beſonders der heißen Zone, haben ſo wenig einen
Begriff davon, wie man harte Steine (Smaragd, Nephrit,
dichten Feldſpat und Bergkriſtall) ſchneiden kann, daß ſie
ſich vorſtellen, der „grüne Stein“ komme urſprünglich weich
aus dem Boden und werde erſt hart, nachdem er bearbeitet
worden.


Aus dem hier Angeführten erhellt, daß der Amazonen-
ſtein nicht im Thale des Amazonenſtromes ſelbſt vorkommt
und daß er keineswegs von dieſem Fluſſe den Namen hat,
ſondern, wie dieſer ſelbſt, von einem Volke kriegeriſcher Weiber,
welche Pater Acuña und Oviedo in ſeinem Brief an den
Kardinal Bembo mit den Amazonen der Alten Welt vergleichen.
Was man in unſeren Sammlungen unter dem falſchen Namen
„Amazonenſtein“ ſieht, iſt weder Nephrit noch dichter Feld-
ſpat, ſondern gemeiner apfelgrüner Feldſpat, der vom Ural
am Onegaſee in Rußland kommt und den ich im Granitgebirge
von Guyana niemals geſehen habe. Zuweilen verwechſelt
man auch mit dem ſo ſeltenen und ſo harten Amazonenſtein
Werners Beilſtein,1 der lange nicht ſo zäh iſt. Das
Mineral, das ich aus der Hand der Indianer habe, iſt zum
Sauſſurit2 zu ſtellen, zum eigentlichen Nephrit, der ſich
oryktognoſtiſch dem dichten Feldſpat nähert und ein Beſtand-
teil des Verde de Corſica oder des Gabbro iſt. Er
nimmt eine ſchöne Politur an und geht vom Apfelgrünen ins
Smaragdgrüne über; er iſt an den Rändern durchſcheinend,
[288] ungemein zäh und klingend, ſo daß von den Eingeborenen
in alter Zeit geſchliffene, ſehr dünne, in der Mitte durch-
bohrte Platten, wenn man ſie an einem Faden aufhängt und
mit einem anderen harten Körper1 anſchlägt, faſt einen me-
talliſchen Ton geben.


Bei den Völkern beider Welten finden wir auf der erſten
Stufe der erwachenden Kultur eine beſondere Vorliebe für
gewiſſe Steine, nicht allein für ſolche, die dem Menſchen wegen
ihrer Härte als ſchneidende Werkzeuge dienen können, ſondern
auch für Mineralien, die der Menſch wegen ihrer Farbe oder
wegen ihrer natürlichen Form mit organiſchen Verrichtungen,
ja mit pſychiſchen Vorgängen verknüpft glaubt. Dieſer uralte
Steinkultus, dieſer Glaube an die heilſamen Wirkungen des
Nephrits und des Blutſteins kommen den Wilden Amerikas
zu, wie den Bewohnern der Wälder Thrakiens, die wir wegen
der ehrwürdigen Inſtitutionen des Orpheus und des Urſprungs
der Myſterien nicht wohl als Wilde anſprechen können. Der
Menſch, ſolange er ſeiner Wiege noch näher ſteht, empfindet
ſich als Autochthone; er fühlt ſich wie gefeſſelt an die Erde
und die Stoffe, die ſie in ihrem Schoße birgt. Die Natur-
kräfte, und mehr noch die zerſtörenden als die erhaltenden,
ſind die früheſten Gegenſtände ſeiner Verehrung. Und dieſe
Kräfte offenbaren ſich nicht allein im Gewitter, im Getöſe,
das dem Erdbeben vorangeht, im Feuer der Vulkane; der leb-
loſe Fels, die glänzenden, harten Steine, die gewaltigen, frei
aufſteigenden Berge wirken auf die jugendlichen Gemüter mit
einer Gewalt, von der wir bei vorgeſchrittener Kultur keinen
Begriff mehr haben. Beſteht dieſer Steinkultus einmal, ſo
erhält er ſich auch fort neben ſpäteren Kultusformen, und aus
einem Gegenſtand religiöſer Verehrung wird ein Gegenſtand
abergläubiſchen Vertrauens. Aus Götterſteinen werden Amu-
lette, die vor allen Leiden Körpers und der Seele bewahren.
Obgleich zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem Orinoko und
der mexikaniſchen Hochebene 2250 km liegen, obgleich die Ge-
ſchichte von keinem Zuſammenhang zwiſchen den wilden Völkern
von Guyana und den civiliſierten von Anahuac weiß, fand
[289] doch in der erſten Zeit der Eroberung der Mönch Bernhard
von Sahagun in Cholula grüne Steine, die einſt Quetzal-
cohuatl angehört und die als Reliquien aufbewahrt wurden.
Dieſe geheimnisvolle Perſon iſt der Buddha der Mexikaner; er
trat auf im Zeitalter der Tolteken, ſtiftete die erſten religiöſen
Vereine und führte eine Regierungsweiſe ein, die mit der in
Meroe und Japan Aehnlichkeit hat.


Die Geſchichte des Nephrits oder grünen Steins in
Guyana ſteht in inniger Verbindung mit der Geſchichte der
kriegeriſchen Weiber, welche die Reiſenden des 16. Jahrhun-
derts die Amazonen der Neuen Welt nennen. La Condamine
bringt viele Zeugniſſe zur Unterſtützung dieſer Sage bei. Seit
meiner Rückkehr vom Orinoko und Amazonenſtrom bin ich in
Paris oft gefragt worden, ob ich die Anſicht dieſes Gelehrten
teile, oder ob ich mit mehreren Zeitgenoſſen desſelben glaube,
er habe den Cougnantainsecouima, den unabhängigen
Weibern, die nur im Monat April Männer unter ſich auf-
nahmen, nur deshalb das Wort geredet, um in einer öffent-
lichen Sitzung der Akademie einer Verſammlung, die gar nicht
ungern etwas Neues hört, ſich angenehm zu machen. Es iſt
hier der Ort, mich offen über eine Sage auszuſprechen, die
einen ſo romantiſchen Anblick hat, um ſo mehr, als La Con-
damine behauptet, die Amazonen vom Rio Cayame ſeien über
den Marañon gegangen und haben ſich am Rio Negro nieder-
gelaſſen. Der Hang zum Wunderbaren und das Verlangen,
die Beſchreibung der Neuen Welt hie und da mit einem Zuge
aus dem klaſſiſchen Altertum aufzuputzen, haben ohne Zweifel
dazu beigetragen, daß Orellanas erſte Berichte ſo wichtig ge-
nommen wurden. Lieſt man die Schriften des Vespucci,
Ferdinand Kolumbus, Geraldini, Oviedo, Peter Martyr von
Anghiera, ſo begegnet man überall der Neigung der Schrift-
ſteller des 16. Jahrhunderts, bei neu entdeckten Völkern alles
wiederzufinden, was uns die Griechen vom erſten Zeitalter
der Welt und von den Sitten der barbariſchen Skythen und
Afrikaner erzählen. An der Hand dieſer Reiſenden, die uns
in eine andere Halbkugel verſetzen, glauben wir durch Zeiten
zu wandern, die längſt dahin ſind; denn die amerikaniſchen
Horden in ihrer primitiven Einfalt ſind ja für Europa „eine
Art Altertum, dem wir faſt als Zeitgenoſſen gegenüberſtehen“.
Was damals nur Stilblume und Geiſtesergötzlichkeit war,
iſt heutzutage zum Gegenſtand ernſter Erörterungen geworden.
In einer in Louiſiana erſchienenen Abhandlung wird die ganze
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 19
[290] griechiſche Mythologie, die Amazonen eingeſchloſſen, aus den
Oertlichkeiten am Nicaraguaſee und einigen anderen Gegenden
in Amerika entwickelt.


Wenn Oviedo in ſeinen Briefen an Kardinal Bembo
dem Geſchmack eines mit dem Studium des Altertums ſo
vertrauten Mannes ſchmeicheln zu müſſen glaubte, ſo hatte
der Seefahrer Sir Walter Ralegh einen minder poetiſchen
Zweck. Ihm war es darum zu thun, die Aufmerkſamkeit der
Königin Eliſabeth auf das große Reich Guyana zu lenken,
das nach ſeinem Plan England erobern ſollte. Er beſchrieb
die Morgentoilette des vergoldeten Königs (el dorado1),
wie ihn jeden Tag ſeine Kammerherren mit wohlriechenden
Oelen ſalben und ihm dann aus langen Blaſerohren den
Goldſtaub auf den Leib blaſen; nichts mußte aber die Ein-
bildungskraft Eliſabeths mehr anſprechen als die kriegeriſche
Republik der Weiber ohne Männer, die ſich gegen die kaſti-
lianiſchen Helden wehrten. Ich deute hiermit die Gründe an,
welche die Schriftſteller, die die amerikaniſchen Amazonen
vorzugsweiſe in Ruf gebracht, zur Ueberzeugung verführt
haben; aber dieſe Gründe berechtigen uns nach meiner Anſicht
nicht, eine Sage, die bei verſchiedenen, in gar keinem Verkehr
miteinander ſtehenden Völkern verbreitet iſt, gänzlich zu ver-
werfen.


Die Zeugniſſe, die La Condamine geſammelt, ſind ſehr
merkwürdig; er hat dieſelben ſehr umſtändlich bekannt gemacht,
und mit Vergnügen bemerke ich noch, daß dieſer Reiſende,
wenn er in Frankreich und England für einen Mann von
der unermüdlichſten Neugier galt, in Quito, im Lande, das
er beſchrieben, im Ruf des redlichſten, wahrheitsliebendſten
Mannes ſteht. Dreißig Jahre nach La Condamine hat ein
portugieſiſcher Aſtronom, der den Amazonenſtrom und ſeine
nördlichen Nebenflüſſe befahren, Ribeiro, alles, was der ge-
lehrte Franzoſe vorgebracht, an Ort und Stelle beſtätigt ge-
funden. Er fand bei den Indianern dieſelben Sagen und
ſammelte ſie deſto unparteiiſcher, da er ſelbſt nicht an Amazonen
glaubt, die eine beſondere Völkerſchaft gebildet hätten. Da
ich keine der Sprachen verſtehe, die am Orinoko und Rio
Negro geſprochen werden, ſo konnte ich hinſichtlich der Volks-
[291] ſagen von den Weibern ohne Männer und der Herkunft
der grünen Steine, die damit in genauer Verbindung
ſtehen ſollen, nichts Sicheres in Erfahrung bringen. Ich führe
aber ein neueres Zeugnis an, das nicht ohne Gewicht iſt,
das des Pater Gili. Dieſer gebildete Miſſionär ſagt: „Ich
fragte einen Quaquaindianer, welche Völker am Rio Cuchivero
lebten, und er nannte mir die Achirigotos, Pajuros und Aikeam-
benanos. Da ich gut tamanakiſch verſtand, war mir gleich
der Sinn des letzteren Wortes klar: es iſt ein zuſammengeſetztes
Wort und bedeutet: Weiber, die allein leben. Der In-
dianer beſtätigte dies auch und erzählte, die Aikeam-benanos
ſeien eine Geſellſchaft von Weibern, die lange Blaſerohre
und anderes Kriegsgerät verfertigten. Sie nehmen nur ein-
mal im Jahre Männer vom anwohnenden Stamme der Vo-
kearos bei ſich auf und machen ihnen zum Abſchied Blaſerohre
zum Geſchenk. Alle männlichen Kinder, welche in dieſer
Weiberhorde zur Welt kommen, werden ganz jung umgebracht.“
Dieſe Geſchichte erſcheint wie eine Kopie der Sagen, welche
bei den Indianern am Maran̅on und bei den Kariben in Um-
lauf ſind. Der Quaquaindianer, von dem Pater Gili ſpricht,
verſtand aber nicht ſpaniſch; er hatte niemals mit Weißen
verkehrt und wußte ſicher nicht, daß es ſüdlich vom Orinoko
einen anderen Fluß gibt, der der Fluß der Aikeam-benanos
oder der Amazonen heißt.


Was folgt aus dieſem Bericht des alten Miſſionärs von
Encaramada? Keineswegs, daß es am Cuchivero Amazonen
gibt, wohl aber, daß in verſchiedenen Landſtrichen Amerikas
Weiber, müde der Sklavendienſte, zu denen die Männer ſie
verurteilen, ſich wie die flüchtigen Neger in ein Palenque
zuſammengethan; daß der Trieb, ſich die Unabhängigkeit zu
erhalten, ſie kriegeriſch gemacht; daß ſie von einer befreundeten
Horde in der Nähe Beſuche bekamen, nur vielleicht nicht ganz
ſo methodiſch als in der Sage. Ein ſolcher Weiberverein
durfte nur irgendwo in Guyana einmal zu einer gewiſſen
Feſtigkeit gediehen ſein, ſo wurden ſehr einfache Vorfälle, wie
ſie an verſchiedenen Orten vorkommen mochten, nach einem
Muſter gemodelt und übertrieben. Dies iſt ja der eigentliche
Charakter der Sage, und hätte der große Sklavenaufſtand,
von dem oben die Rede war, nicht auf der Küſte von
Venezuela, ſondern mitten im Kontinent ſtattgefunden, ſo
hätte das leichtgläubige Volk in jedem Palenque von
Marronnegern den Hof des Königs Miguel, ſeinen Staats-
[292] rat und den ſchwarzen Biſchof von Buria geſehen. Die
Kariben in Terra Firma ſtanden mit denen auf den Inſeln
im Verkehr, und höchſt wahrſcheinlich haben ſich auf dieſem
Wege die Sagen vom Marañon und Orinoko gegen Norden
verbreitet. Schon vor Orellanas Flußfahrt glaubte Chriſtoph
Kolumbus auf den Antillen Amazonen gefunden zu haben.
Man erzählte dem großen Manne, die kleine Inſel Mada-
nino (Montſerrate) ſei von kriegeriſchen Weibern bewohnt,
die den größten Teil des Jahres keinen Verkehr mit Män-
nern hätten. Andere Male ſahen die Konquiſtadoren einen
Amazonenfreiſtaat, wo ſie nur Weiber vor ſich hatten, die
in Abweſenheit der Männer ihre Hütten verteidigten, oder
auch — und dieſes Mißverſtändnis iſt ſchwerer zu entſchul-
digen — jene religiöſen Vereine, jene Klöſter mexikaniſcher
Jungfrauen, die zu keiner Zeit im Jahre Männer bei ſich
aufnahmen, ſondern nach der ſtrengen Regel Quetzalcohuatls
lebten. Die allgemeine Stimmung brachte es mit ſich, daß
von den vielen Reiſenden, die nacheinander in der Neuen
Welt Entdeckungen machten und von den Wundern derſelben
berichteten, jeder auch geſehen haben wollte, was ſeine Vor-
gänger gemeldet hatten.


Wir brachten in San Carlos del Rio Negro drei Nächte
zu. Ich zähle die Nächte, weil ich ſie in der Hoffnung, den
Durchgang eines Sterns durch den Meridian beobachten zu
können, faſt ganz durchwachte. Um mir keinen Vorwurf
machen zu dürfen, waren die Inſtrumente immer zur Beobach-
tung hergerichtet; ich konnte aber nicht einmal doppelte Höhen
bekommen, um nach der Methode von Douwes die Breite zu
berechnen. Welch ein Kontraſt zwiſchen zwei Strichen der-
ſelben Zone! Dort der Himmel Cumanas, ewig heiter wie in
Perſien und Arabien, und hier der Himmel am Rio Negro,
dick umzogen wie auf den Faröerinſeln, ohne Sonne, Mond
und Sterne! Ich verließ die Schanze San Carlos mit deſto
größerem Verdruß, da ich keine Ausſicht hatte, in der Nähe
des Orts eine gute Breitenbeobachtung machen zu können.
Die Inklination der Magnetadel fand ich in San Carlos
gleich 20° 60′; 216 Schwingungen in zehn Zeitminuten gaben
das Maß der magnetiſchen Kraft. Da die magnetiſchen Pa-
rallelen gegen Weſt aufwärts gehen und ich auf dem Rücken
der Kordilleren zwiſchen Santa Fé de Bogota und Popayan
dieſelben Inklinationswinkel beobachtet habe wie am oberen
Orinoko und am Rio Negro, ſo ſind dieſe Beobachtungen für
[293] die Theorie der Linien von gleicher Intenſität oder
iſodynamiſchen Linien von großer Bedeutung geworden.
Die Zahl der Schwingungen iſt in Javita und Quito dieſelbe,
und doch iſt die magnetiſche Inklination am erſteren Ort
26° 40′, am zweiten 14° 85′. Nimmt man die Kraft unter
dem magnetiſchen Aequator (in Peru) gleich 1 an, ſo ergibt
ſich für Cumana 1,1779, für Carichana 1,1575, für Javita
1,0675, für San Carlos 1,0480. In dieſem Verhältniſſe
nimmt die Kraft von Nord nach Süd auf acht Breiten-
graden zwiſchen 66½ und 69° weſtlicher Länge von Paris
ab. Ich gebe abſichtlich die Meridianunterſchiede an; denn
ein Mathematiker, der auf dem Gebiete des Erdmagnetis-
mus große Erfahrung beſitzt, Hanſteen, hat meine iſodyna-
miſchen Beobachtungen
einer neuen Prüfung unter-
worfen und gefunden, daß die Intenſität der Kraft auf
demſelben magnetiſchen Parallel nach ſehr konſtanten Geſetzen
wechſelt und daß die ſcheinbaren Anomalieen der Erſcheinung
größtenteils verſchwinden, wenn man dieſe Geſetze kennt. Im
allgemeinen ſteht feſt, was für mich aus der ganzen Reihe
meiner Beobachtungen hervorgeht, daß die Intenſität der
Kraft vom magnetiſchen Aequator gegen den Pol zunimmt;
aber dieſe Zunahme ſcheint unter verſchiedenen Meridianen
mit ungleicher Geſchwindigkeit zu erfolgen. Wenn zwei Orte
dieſelbe Inklination haben, ſo iſt die Intenſität weſtwärts
vom Meridian, der mitten durch Südamerika läuft, am ſtärk-
ſten, und ſie nimmt unter demſelben Parallel oſtwärts, Europa
zu, ab. In der ſüdlichen Halbkugel ſcheint ſie ihr Minimum
an der Oſtküſte von Afrika zu erreichen; ſie nimmt dann unter
demſelben magnetiſchen Parallel gegen Neuholland hin wieder
zu. Ich fand die Intenſität der Kraft in Mexiko beinahe
ſo groß wie in Paris, aber der Unterſchied in der Inklination
beträgt mehr als 31°. Meine Nadel, die unter dem magne-
tiſchen Aequator (in Peru) 211mal ſchwang, hätte unter
demſelben Aequator auf dem Meridian der Philippinen nur
202 oder 203mal geſchwungen. Dieſer auffallende Unter-
ſchied ergibt ſich aus der Zuſammenſtellung meiner Beobach-
tungen der Intenſität in Santa Cruz auf Tenerifa mit denen,
die Roſſel daſelbſt ſieben Jahre früher gemacht.


Die magnetiſchen Beobachtungen am Rio Negro ſind
unter allen, die aus einem großen Feſtlande bekannt geworden,
die nächſten am magnetiſchen Aequator. Sie dienten ſomit
dazu, die Lage dieſes Aequators zu beſtimmen, über den ich
[294] weiter weſtwärts auf dem Kamm der Anden zwiſchen Micui-
pampa und Caxamarca unter dem 7. Grad ſüdlicher Breite
gegangen bin. Der magnetiſche Parallel von San Carlos
(der von 22° 60′) läuft durch Popayan und in die Südſee
an einem Punkt (unter 3° 12′ nördlicher Breite und 89° 36′
weſtlicher Länge), wo ich ſo glücklich war, bei ganz ſtiller Luft
beobachten zu können.

[][][]
Notes
1.
Vultur aura.
1.
Ganz beſonders geſchickt wiſſen die Eſel ſich die Feuchtigkeit
im Inneren des Cactus melocactus zu nutze zu machen. Sie ſtoßen
die Stacheln mit den Füßen ab, und man ſieht welche infolge
dieſes Verfahrens hinken.
1.
31,2° bis 31,6° R.
1.
Wir bezahlten von San Fernando de Apure bis Carichana
am Orinoko (8 Tagereiſen) 10 Piaſter für die Lancha, und außer-
dem dem Steuermann einen halben Piaſter oder 4 Realen und
jedem der indianiſchen Ruderer 2 Realen Taglohn.
1.
Es iſt dies der Arue der Tamanaken, der Amana der May-
puren, Cuviers Crocodilus acutus.
1.
Um die Geſchwindigkeit eines Stromes an der Oberfläche zu
ermitteln, maß ich meiſt am Ufer eine Standlinie von 81 m ab
und bemerkte mit dem Chronometer die Zeit, die ein frei im Strom
ſchwimmender Körper brauchte, um dieſelbe Strecke zurückzulegen.
1.
Eine Mimoſenart.
1.
Garzon Chico. In Oberägypten glaubt man, die Reiher
haben eine Zuneigung zum Krokodil, weil ſie ſich beim Fiſchfang
1.
den Umſtand zu nutze machen, daß die Fiſche ſich über das unge-
heure Tier entſetzen und ſich vor ihm vom Grunde des Waſſers an
die Oberfläche heraufflüchten; aber an den Ufern des Nils kommt
der Reiher dem Krokodil klüglich nicht zu nahe.
1.
Latreille hat gefunden, daß die Mouſtiques in Südkarolina
zur Gattung Simulium (Atractocera, Meigen) gehören.
1.
Letzterer (Crax Pauxi) iſt nicht ſo häufig als erſterer.
2.
Dies iſt nicht ganz die Breite der Seine am Pontroyal, den
Tuilerien gegenüber.
1.
Ich ſchätze ſie auf ein Vierteil der geraden Entfernung.
1.
Die Sandflöhe (Pulex penetrans, Linné), die ſich beim
Menſchen und Affen unter die Nägel der Zehen eingraben und da-
ſelbſt ihre Eier legen.
1.
Die Namen der Miſſionen in Südamerika beſtehen ſämtlich
aus zwei Worten, von denen das erſte notwendig ein Heiligenname
iſt (der Name des Schutzpatrons der Kirche), das zweite ein india-
niſches (der Name des Volkes, das hier lebt, und der Gegend, wo
die Miſſion liegt). So ſagt man: San Joſe de Maypures, Santa
Cruz de Chachipo, San Juan-Nepomuceno de los Atures ꝛc.
Dieſe zuſammengeſetzten Namen kommen aber nur in der amtlichen
Sprache vor; die Einwohner brauchen nur einen, meiſt, wenn er
wohlklingend iſt, den indianiſchen. Benachbarten Orten kommen oft
dieſelben Heiligennamen zu, und dadurch entſteht in der Geographie
eine heilloſe Verwirrung. Die Namen San Juan, San Pedro,
San Diego ſind wie aufs Geratewohl auf unſeren Karten umher-
geſtreut.
1.
Der Begleiter des Diego de Ordaz.
1.
Die Botija hält 25 franzöſiſche Flaſchen; ſie hat 1000 bis
1200 Kubikzoll Inhalt.
1.
23,6° R.
1.
40,1° R.
1.
Kleine Waſſerfälle, chorros, raudalitos.
1.
Volney
1.
Stricke aus den Blattſtielen einer Palme mit gefiederten
Blättern, von der unten die Rede ſein wird.
1.
Das Fleiſch des Rocou und auch der Chica ſind adſtrin-
gierend und leicht abführend.
1.
Der ſchwarze, ätzende Farbſtoff des Caruto(Genipa
1.
americana) widerſteht dem Waſſer länger, wie wir zu unſerem
großen Verdruß an uns ſelbſt erfuhren. Wir ſcherzten eines Tages
mit den Indianern und machten uns mit Caruto Tupfen und Striche
ins Geſicht, und man ſah dieſelben noch, als wir ſchon wieder in
Angoſtura, im Schoße europäiſcher Kultur waren.
1.
Simia capucina.
2.
Simia Belzebuth.
3.
Einen ſchönen Saïmiri oder Titi vom Orinoko kauft man
in Paramara für 8 bis 9 Piaſter; der Miſſionär bezahlt dem In-
dianer, der den Affen gefangen und gezähmt, 1½ Piaſter.
4.
Simia Jacobus.
5.
Simia Oedipus.
6.
Simia sciurea.
1.
Ich führe bei dieſer Gelegenheit an, daß ich niemals bemerkt
habe, daß ein Gemälde, auf dem Haſen und Rehe in natürlicher
Größe und vortrefflich abgebildet waren, auf Jagdhunde, bei denen
doch der Verſtand ſehr entwickelt ſchien, den mindeſten Eindruck
gemacht hätte. Gibt es einen beglaubigten Fall, wo ein Hund das
Porträt ſeines Herrn in ganzer Figur erkannt hätte? In allen
dieſen Fällen wird das Geſicht nicht vom Geruch unterſtützt.
1.
Simia lugens.
1.
Cartas edificantes de la Compañia de Jesus 1757.
1.
Die Stadt Socorro, ſüdlich vom Rio Sogamoza und nord-
nordöſtlich von Santa Fé de Bogota, war der Hauptherd des Auf-
ruhrs, der im Jahre 1781 im Königreich Neugranada unter dem
Erzbiſchof Vizekönig Gongora wegen der Plackereien ausbrach, denen
das Volk infolge der Einführung der Tabakspacht ausgeſetzt ge-
weſen. Viele fleißige Einwohner von Socorro wanderten damals
in die Llanos am Meta aus, um ſich den Verfolgungen zu ent-
ziehen, welche der vom Madrider Hof erteilten allgemeinen Amneſtie
folgten. Dieſe Ausgewanderten heißen in den Miſſionen Socor-
reños refugiados.
1.
So heißt es in einer Inſchrift, die bezeugt, daß am 13. des
Monats Pachon im zehnten Regierungsjahre Antonins die Töne
vernommen worden.
1.
Und doch will Gumilla auf dem Guaviare gefahren ſein.
Nach ihm liegt der Raudal de Tabaje unter 1° 4′ der Breite,
was um 5° 10′ zu wenig iſt.
1.
Vom ſpaniſchen Worte raudo, ſchnell, rapidus.
1.
Schwimmende Gärten.
1.
Dieſe Landenge, von der ſchon öfters die Rede war, wird
von den Kordilleren der Anden von Neugranada und von der
Kordillere der Parime gebildet.
1.
Anſichten der Natur Band I, Seite 122—138.
1.
Eine große Reiherart.
1.
Lucan. Pharsal. X, 132.
1.
Arastrando la Picagua. Von dieſem Worte arastrar,
auf dem Boden ziehen, kommt der ſpaniſche Ausdruck: Arastradero,
Trageplatz, Portage.
2.
Nat. Quaest. L. IV, c. 2.
1.
Der Chellal zwiſchen Philä und Syene hat zehn Staffeln,
die zuſammen einen 1,6 bis 2,3 m hohen Fall bilden, je nach dem
tiefen oder hohen Waſſerſtand des Nil. Der Fall iſt 970 m lang.
1.
Auszunehmen iſt Strabo, deſſen Beſchreibung ebenſo einfach
als genau erſcheint. Nach ihm hätte ſeit dem erſten Jahrhundert
vor unſerer Zeitrechnung die Schnelligkeit des Waſſerſturzes abge-
nommen und ſeine Richtung ſich verändert. Damals ging man
den Chellal auf beiden Seiten hinauf, gegenwärtig iſt nur auf
einer Seite eine Waſſerſtraße; der Katarakt iſt alſo eher ſchwerer
befahrbar geworden.
2.
Hatten wohl die Alten eine dunkle Kunde von den großen
Katarakten des öſtlichen oder blauen Nil zwiſchen Fazoql und Alata,
die über 65 m hoch ſind.
3.
Claustra imperii romani, ſagt Tacitus. Im Namen der
Inſel Philä findet man das koptiſche Wort phe-lakh, Ende (Ende
Aegyptens) wieder.
1.
Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit, daß, ſo mangelhaft noch
die Phyſik der Alten war, die Werke des Philoſophen von Stagira
ungleich mehr ſcharfſinnige Beobachtungen enthalten, als die der
anderen Philoſophen. Vergeblich ſucht man bei Ariſtoxenes (Liber
de musica
), bei Theophylactus Simocatta (De quaestionibus
physicis
), im fünften Buche von Senecas Quaestiones naturales
eine Erklärung der Verſtärkung des Schalles bei Nacht. Ein in den
Schriften der Alten ſehr bewanderter Mann, Herr Laurencit, hat
mir eine Stelle des Plutarch mitgeteilt (Tiſchgeſpräche, Buch VIII,
Frage 3), welche die angeführte des Ariſtoteles unterſtützt. —
Boethus, der erſte der Diſputierenden, behauptet, die Kälte bei
Nacht ziehe die Luft zuſammen und verdichte ſie, und man höre
den Schall bei Tage nicht ſo gut, weil dann weniger Zwiſchenräume
zwiſchen den Atomen ſeien. Der zweite der Diſputierenden, Am-
monius, verwirft die leeren Räume, wie Boethus ſie vorausſetzt,
und nimmt mit Anaxagoras an, die Luft werde von der Sonne
in eine zitternde und ſchwankende Bewegung verſetzt; man höre bei
Tage ſchlecht wegen der Staubteile, die im Sonnenſchein herum-
treiben und die ein gewiſſes Ziſchen und Geräuſch verurſachen; des
Nachts aber höre dieſe Bewegung auf und folglich auch das damit
verbundene Geräuſch. Boethus verſichert, daß er keineswegs Anaxo-
goras meiſtern wolle, meint aber, das Ziſchen der kleinſten Teile
müſſe man wohl aufgeben, die zitternde Bewegung und das Herum-
treiben derſelben im Sonnenſchein ſei ſchon hinreichend. Die Luft
macht den Körper und die Subſtanz der Stimme aus; iſt ſie alſo
ruhig und beſtändig, ſo läßt ſie auch die Teile und Schwingungen
des Schalles gerade, ungeteilt und ohne Hindernis fortgehen und
befördert deren Verbreitung. Windſtille iſt dem Schalle günſtig,
Erſchütterung der Luft aber zuwider. Die Bewegung in der Luft
verhindert, daß von einer Stimme artikulierte und ausgebildete
Töne zu den Ohren gelangen, ob ſie gleich immer von einer ſtarken
und vielfachen ihnen etwas zuzuführen pflegt. Die Sonne, dieſer
große und mächtige Beherrſcher des Himmels, bringt auch die klein-
ſten Teile der Luft in Bewegung, und ſobald er ſich zeigt, erregt
und belebt er alle Weſen. — (Auszug aus Kaltwaſſers Ueberſetzung;
1.
Humboldt hatte die alte franzöſiſche Ueberſetzung des Amyot aus-
gezogen. Anm. des Herausgebers.)
1.
Cortez behauptet, er habe am Magdalenenfluß einen Eber
mit gekrümmten Hauern und Längsſtreifen auf dem Rücken ge-
ſchoſſen. Sollte es dort verwilderte europäiſche Schweine geben?
2.
Simia albifrons, Humboldt.
1.
Simia chiropotes.
1.
Im Geſamtausdruck der Züge, nicht der Stirn nach.
1.
Inferno. C. III, 16.
1.
Culex pipiens. Dieſer Unterſchied zwiſchen Mosquito (kleine
Mücke, Simulium) und Zancudo (Schnake, Culex) beſteht in allen
ſpaniſchen Kolonieen. Das Wort Zancudo bedeutet „Langfuß“,
qui tiene las zancas largas.
1.
„Die früh auf ſind“, temprano.
2.
Durch die ausnehmende Regelmäßigkeit im ſtündlichen Wechſel
des Luftdrucks.
1.
Der europäiſche Culex pipiens meidet das Gebirgsland
1.
Das iſt die mittlere Temperatur von Montpellier und Rom.
1.
nicht, wie die Culexarten der heißen Zone Amerikas. Gieſecke
wurde in Disco in Grönland unter dem 70. Breitengrad von
Schnaken geplagt. In Lappland kommt die Schnake im Sommer
in 580 bis 780 m Meereshöhe bei einer mittleren Temperatur
von 11 bis 12° vor.
1.
Dieſe Gefräßigkeit, dieſe Blutgier bei kleinen Inſekten, die
ſonſt von Pflanzenſäften in einem faſt unbewohnten Lande leben,
hat allerdings etwas Auffallendes. „Was fräßen die Tiere, wenn
wir nicht hier vorüberkämen?“ ſagen oft die Kreolen auf dem
Wege durch ein Land, wo es nur mit einem Schuppenpanzer be-
deckte Krokodile und behaarte Affen gibt.
1.
Bei dieſer Gelegenheit ſoll nur daran erinnert werden, daß
der Kubikfuß 2985984 Kubiklinien enthält.
1.
Kaum 30 Sous der Mann.
1.
War es Coluber Elaphis, oder Coluber Aesculapii, oder
ein Python, ähnlich dem, der vom Heere des Regulus getötet
worden?
2.
Im Jahre 1806 erſchien in Leipzig ein Buch unter dem
Titel: „Unterſuchungen über die von Humboldt am Orinoko ent-
deckten Spuren der phöniziſchen Sprache“.
1.
Die Hindu, die Tibetaner, die Chineſen, die alten Aegypter,
die Azteken, die Peruaner, bei denen der Trieb zur Maſſenkultur
die freie Entwickelung der Geiſtesthätigkeit in den Individuen
niederhielt.
1.
Aus kieſelhaltigem Kalkſtein in Pique am großen Miami, aus
Sandſtein am Paint Creek 45 km von Chillicothe, wo die Mauer
2920 m lang iſt.
1.
Gräſer vom friſcheſten Grün wuchſen in dieſem Sand.
1.
Er erſcheint in Maypures unter einem Winkel von 1 Grad
27 Minuten.
2.
Einer der Bäume, deren Milch Kautſchuk gibt.
1.
Rochen, wegen der angeblichen Aehnlichkeit mit dem Fiſch
dieſes Namens, bei dem der Mund am Körper herabgerückt ſcheint.
1.
In der Jahreszeit, die man in Südamerika nördlich vom
Aequator Sommer heißt.
2.
Diminutiv des ſpaniſchen Wortes Canela, das Cinnamo-
mum (Kinnamomon
der Griechen) bedeutet. Letzteres Wort ge-
hört zu den wenigen, die ſeit dem höchſten Altertum aus dem Phö-
nikiſchen (einer ſemitiſchen Sprache) in die abendländiſchen Sprachen
übergegangen ſind.
1.
Trixis nereifolia.
1.
Die wilden Völker bezeichnen jedes europäiſche Handelsvolk
mit Beinamen, die ganz zufällig entſtanden zu ſein ſcheinen. Ich
habe ſchon oben bemerkt, daß die Spanier vorzugsweiſe bekleidete
Menſchen
, Pon gheme oder Uavemi, heißen.
1.
Homo habitat inter tropicos, vescitur Palmis, Loto-
phagus; hospitatur extra tropicos sub novercante Cerere,
carnivorus.
1.
Einer der Vorgänger des Geiſtlichen, den wir in San Fer-
nando als Präſidenten der Miſſionen fanden.
1.
Limanda.
1.
Die Delphine, welche in die Nilmündung kommen, fielen
indeſſen den Alten ſo auf, daß ſie auf einer Büſte des Flußgottes
aus Syenit im Pariſer Muſeum halb verſteckt im wallenden Barte
dargeſtellt ſind.
1.
Ich führe dieſen geringfügigen Umſtand hier an, um die
Reiſenden darauf aufmerkſam zu machen, wie nötig es iſt, nur
ſolche Barometer zu haben, bei denen die Röhre der ganzen Länge
nach ſichtbar iſt. Eine ganz kleine Luftblaſe kann das Queckſilber
zum Teil oder ganz ſperren, ohne daß der Ton beim Anſchlagen
des Queckſilbers am Ende der Röhre ſich veränderte.
1.
Ocotea cymbarum, ſehr verſchieden vom Laurus Sassa-
fras
in Nordamerika.
1.
„Mit weißen und vernünftigen Menſchen“. Die europäiſche
Eigenliebe ſtellt gemeiniglich die Gente de razon und die Gente
parda
einander gegenüber.
1.
Bailliera Barbasco.
1.
Langsdorf ſah bei den Bewohnern der Norfolkbucht Kanoen
aus einem Stück 16 m lang, 1,45 m breit und an den Rändern
1 m hoch; ſie faßten 30 Menſchen. Auch Populus balsamifera
wird auf den Bergen um Norfolkbucht ungeheuer hoch.
1.
S. Band II, Seite 247.
1.
Oder 22 Grad 14 Minuten, auf dem Aequator gezählt.
1.
In gerader Linie 675 km.
1.
Dieſe Jäger gehören zu Militärpoſten und hängen von der
ruſſiſchen Geſellſchaft ab, deren Hauptaktionäre in Irkutsk ſind.
Im Jahre 1804 war die kleine Feſtung (Krepoſt) in der Bucht von
Jakutal noch 2700 km von den nördlichſten mexikaniſchen Beſitzungen
entfernt.
1.
Auf ſeiner Karte zu Raleghs Reiſe.
1.
Die geologiſche Bodenbeſchaffenheit ſcheint, trotz der gegen-
wärtigen Verſchiedenheit in der Höhe des Waſſerſpiegels, darauf
hinzudeuten, daß in vorgeſchichtlicher Zeit das Schwarze Meer, das
Kaſpiſche Meer und der Aralſee miteinander in Verbindung ge-
ſtanden haben. Der Ausfluß des Arals in das Kaſpiſche Meer
ſcheint zum Teil ſogar jünger und unabhängig von der Gabel-
teilung des Gihon (Oxus), über die einer der gelehrteſten Geo-
graphen unſerer Zeit, Ritter, neues Licht verbreitet hat.
1.
Dies iſt der Rio Parime, Rio Blanco, Rio de Aguas Blancas
unſerer Karten, der unterhalb Barcellos in den Rio Negro fällt.
1.
Den berühmten Namen Hutten erkennt man in den ſpani-
ſchen Geſchichtſchreibern kaum wieder. Sie nennen Philipp von
Hutten, mit Wegwerfung des aſpirierten H, Felipe de Uten, de Urre,
oder de Utre.
1.
Inirida, Guaviare, Vichada, Zama, Meta, Caſamare, Apure.
1.
Dies iſt dreimal die Breite der Seine beim Jardin des
plantes.
1.
Bei Seine und Marne z. B. ſind es von Paris bis zu den
Quellen in gerader Richtung mehr als 2°.
1.
Geminus, Isagoge in Aratum cap. 13. Strabo lib. II.
1.
Der Ritter Giſeke, der ſieben Jahre unter dem 70. Breiten-
grad gelebt hat, ſah in der langen Verbannung, der er ſich aus
Liebe zur Wiſſenſchaft unterzogen, nur ein einzigesmal blitzen. Auf
der Küſte von Grönland verwechſelt man häufig das Getöſe der
Lawinen oder ſtürzenden Eismaſſen mit dem Donner.
1.
Ein Chiquichiquitau, 55 m lang und 14 cm im Durchmeſſer,
koſtet den Miſſionär 12 harte Piaſter, und es wird in Angoſtura
für 25 Piaſter verkauſt. Ein Stück von 25 mm Durchmeſſer, 58,5 m
lang, wird in den Miſſionen für 3 Piaſter, an der Küſte für 5
verkauſt.
1.
Wintertemperatur in London und Paris 4,2° und 3,7°,
in Montpellier 7,7°, in Rom 7,7°, in dem Teile von Mexiko
und Terra Firma, wo wir die wirkſamſten Sarſaparillearten (die-
jenigen, welche aus den ſpaniſchen und portugieſiſchen Kolonieen
in den Handel kommen) haben wachſen ſehen, 20 bis 26°.
1.
Ein 8 cm langer Cylinder koſtet 12 bis 15 Piaſter.
1.
Punamuſtein, Jade axinien. Die Steinäxte, die man in
Amerika, z. B. in Mexiko, findet, ſind kein Beilſtein, ſondern dichter
Feldſpat.
2.
Jade de Saussure nach Brongniarts Syſtem, Jade tenace
und Feldspat compacte tenace nach Haüy, einige Varietäten des
Varioliths nach Werner.
1.
Brongniart, dem ich nach meiner Rückkehr nach Europa ſolche
Platten zeigte, verglich dieſe Nephrite aus der Parime ganz richtig
mit den klingenden Steinen, welche die Chineſen zu ihren muſika-
liſchen Inſtrumenten, den ſogenannten King, verwenden.
1.
Dorado iſt nicht der Name eines Landes; es bedeutet nur
den Vergoldeten, el rey dorado.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnks.0