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Problematiſche Naturen.
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Problematiſche Naturen.

Roman

Dritter Band.

Berlin.
: Verlag von Otto Janke.
1861.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.

Am nächſten Tage hatte ſich der Himmel wieder
aufgeklärt. Die Morgenſonne war in dichtem Nebel
verhüllt geweſen, aber einige Stunden ſpäter zerriß
ſie den grauen Schleier und goß ihr goldenes Licht
verſchwenderiſch auf die regengetränkte Erde. In dem
Schloßgarten war es ſo paradieſiſch friſch und duftig,
wie am erſten Schöpfungstage. Die Blumen hoben
die Köpfe wieder und wenn noch hier und da Tropfen
an den bunten Kelchen hingen, ſo glichen ſie jetzt in
dem funkelnden Sonnenſchein hellen Freudenthränen;
die Vögel jubelirten in den dichten Laubkronen der
Bäume, und das kleine Gewürm, das ſo ruhig in den
Ritzen, unter den Blättern, unter den Steinen auf
Sonnenſchein gewartet hatte, regte ſich wieder in ſeiner
ganzen geſchäftigen Emſigkeit.


Und um die grauen Mauern des Schloſſes, die
jetzt im roſigen Licht gebadet waren, ſchoſſen eilige
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 1[2] Schwalben und auf den Dächern, in den Dachrinnen,
in den Stuckornamenten ſetzten die zankſüchtigen Spatzen
die unterbrochenen Streitigkeiten wieder fort. In dem
großen Saal, wo an den Wänden die Porträts der
Grenwitzer Barone und Baroneſſen hingen in langer
Reihe von dem halb fabelhaften Sven von Grenwitz
bis hinab auf die Bilder der Großtante Grenwitz
„wie ſie als achtzehnjähriges Mädchen geweſen war,“
und Oskar's „der mit dem Wodan ſtürzte,“ und
Harald's, „dem es beſſer geweſen wäre, er hätte ſich
am Sarge ſeines Vaters todt geweint“ — tanzten die
Staubatome, welche aus den alten Prunkmeubeln mit
den verblichenen Damaſtüberzügen aufſtiegen in den
ſchrägen Lichtſäulen, die durch die drei hohen Bogen¬
fenſter fielen.


Unten im Wohnzimmer nahmen der Baron und
die Baronin ein frugales Frühſtück ein. Sie ſahen
reiſefertig aus und Anna-Maria hatte ſogar ſchon
einen Hut mit weit vorſpringenden Flügeln, wie ſie
in den zwanziger Jahren Mode geweſen waren, auf
dem Kopfe. Denn der große Reiſewagen hielt ſchon
vor der Thür. Die vier ſchwerfälligen Braunen we¬
delten ſich bedächtig mit den langen Schweifen die
Fliegen ab, und der ſchweigſame Kutſcher klatſchte
regelmäßig alle fünf Minuten mit der Peitſche, aus
[3] purer Gewohnheit und nicht etwa, um die Reiſeluſtigen
zur Eile zu ermahnen, was dem ſeiner Herrſchaft
ſchuldigen Reſpect ebenſo ſehr widerſprochen hätte, als
ſeinem phlegmatiſchen Naturell.


„Ich wußte es ja ſchon vorher,“ ſagte die Ba¬
ronin, ihrem Gemal ein Glas halb voll Moſelwein
ſchenkend — „trink das, lieber Grenwitz, es wird Dich
zu der langen Fahrt ſtärken — ich wußte es ja vor¬
her. Er ſchlägt unſre freundliche Einladung aus, weil
er ſich nicht ganz wohl fühle! lächerlich!“


„Er ſieht wirklich, ſeitdem wir in Barnewitz waren,
recht angegriffen aus, liebe Anna-Maria,“ ſagte der
alte Baron, „und dann iſt es auch wol nicht ganz in
der Ordnung, daß wir ihn auffordern mitzufahren in
dem Augenblicke, wo der Wagen ſchon vor der Thüre
ſteht. Wir hätten das auch wol früher thun müſſen.“


„Ich begreife Dich nicht, lieber Grenwitz,“ ſagte
die Baronin; „Du thuſt doch gerade, als ob Herr
Stein unſers Gleichen wäre! Da iſt es gar kein
Wunder, wenn der junge Menſch ſich vor Hochmuth
nicht zu laſſen weiß. Zu einer Fahrt in die Nach¬
barſchaft ihn eine Woche vorher auffordern! Das
fehlte noch! Haben wir doch ſelbſt über die Helgolän¬
der Reiſe noch nicht einmal mit ihm geſprochen!“


„Ich hätte es längſt gethan, wenn Du nur einen
1*[4] beſtimmten Entſchluß hinſichtlich ſeiner faſſen könnteſt;“
ſagte der alte Herr, ſich hinter dem Ohre krauend.


„Ich habe jetzt meinen Entſchluß gefaßt,“ ſagte
die Baronin gereizt: „in dieſem Augenblick gefaßt.
Wenn er uns nicht einmal auf einer dreitägigen Fahrt
in die Nachbarſchaft begleiten will, wenn es ihm zu
umſtändlich iſt, bei unſeren Bekannten, die ihm alle
mit der größten Herablaſſung entgegengekommen ſind,
mit uns einen Abſchiedsbeſuch zu machen, ſo zeigt er
ja deutlich, daß er gar nicht Abſchied zu nehmen ge¬
denkt, und ſo mag er denn auch bleiben, wo er will.“


„Aber liebe Anna-Maria,“ ſagte der Baron, „das
iſt doch am Ende nicht ganz daſſelbe, und dann, wo
ſoll er unterdeſſen bleiben? und wie ſollen wir mit
den beiden Knaben allein fertig werden?“


„Ich ſage Dir ja, lieber Grenwitz,“ entgegnete
die Baronin, „es iſt mir ganz gleich, wo er bleibt,
ganz gleich. Er geht ja im Allgemeinen ſo gern ſeine
eigenen Wege, ſo mag er es auch in dieſem Fall.
Er kann eine Fußreiſe durch die Inſel machen, oder
ſeinen Freund Oldenburg beſuchen, oder ſchlimmſten
Falls hier bleiben, obgleich ſein Hierbleiben allerdings
Umſtände machen würde. Uns iſt er auf der Reiſe,
die ſo ſchon koſtſpielig genug iſt, eine ganz überflüſſige
Laſt. Er wird ſich wie gewöhnlich nur um Bruno
[5] bekümmern, die Sorge um Malte gütigſt uns ſelbſt
überlaſſen. Bleibt er hier, ſo muß Bruno ſchon noth¬
gedrungen ſich mehr an Malte anſchließen, und da es
ſich während dieſer Zeit doch nur um eine Aufſicht
der Knaben handelt, ſo übergebe ich die unſerm Jo¬
hann eben ſo gern und lieber noch als Herrn Stein.
Ja, wir können auf der Rückreiſe, wenn wir Helene
noch bei uns haben, nicht einmal alle in einem Wagen
fortkommen. Nein, nein! er bleibt hier; ich bin jetzt
mit mir darüber ganz im Reinen — vollkommen im
Reinen.“


„Ich weiß nicht —“ ſagte der alte Herr verdrießlich.


„Aber ich weiß es,“ ſagte die Baronin aufſtehend;
„das pflegte Dir ja ſonſt genug zu ſein, lieber Gren¬
witz. Komm, es iſt die höchſte Zeit, das wir auf¬
brechen, wenn wir zu Mittag noch beim Grafen
Grieben ſein wollen. Da kommt Malte. Biſt Du
auch warm angezogen, lieber Junge? Wo ſteckt denn
der Bruno?“


„Oben beim Doctor. Er will nicht mit, wenn
der Doctor zu Hauſe bleibt.“


„Siehſt Du, lieber Grenwitz, da haben wir's, eine
vortreffliche Erziehung, in der That! Sogleich gehe
hinauf, Malte! Bruno ſoll ſich ſofort fertig machen,
hörſt Du: ſofort!“


[6]

„Ich werde mich wohl hüten,“ erwiederte Malte,
„das magſt Du ihm ſelber ſagen.“


„Das werde ich,“ ſagte die Baronin und zog die
Schelle. „Ich laſſe Herrn Doctor Stein bitten,“
ſagte ſie zu dem eintretenden Bedienten, „auf einen
Augenblick zu mir zu kommen.“


Der Bediente verſchwand, die Baronin ging mit
ſchnellen Schritten in dem Gemache auf und ab.


„Nur um Himmelswillen keine Scene, liebe Anna-
Maria,“ ſagte der alte Herr, der ebenfalls aufge¬
ſtanden war, ängſtlich.


Die Baronin antwortete nicht, denn in dieſem
Augenblicke öffnete ſich die Thür, und hereintraten
Oswald und Bruno, Bruno mit düſterem, trotzigen
Geſicht und die Spuren eben geweinter Thränen in
dem dunklen Auge, aber vollkommen reiſefertig, den
mit Wachsleinen überzogenen Strohhut in der Hand.


„Sie befehlen, gnädige Frau?“ ſagte Oswald, ſich
vor der Baronin verbeugend.


Die Baronin war durch dieſe unerwartete Löſung
der ſchwierigen Frage ein wenig aus der Faſſung
gebracht.


„Ich hörte, Bruno weigere ſich, uns zu beglei¬
ten,“ ſagte ſie, „und da wollte ich —“


„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ unterbrach ſie
[7] Oswald, „von einer Weigerung Bruno's, einem aus¬
drücklichen Wunſche Ihrerſeits nachzukommen, kann
wohl ſelbſtverſtändlich nicht die Rede ſein. Bruno
hätte mir gern Geſellſchaft geleiſtet, das iſt Alles. Es
bedurfte natürlich nur eines Wortes, ihn daran zu
erinnern, daß er meinethalben nicht die Rückſichten
aus den Augen ſetzen dürfe, die er gegen Sie und
den Herrn Baron zu nehmen hat.“


„Nun, das dachte ich mir doch gleich,“ ſagte die
Baronin, die im Innern ſehr froh war, der „Scene“
mit Oswald, vor dem ſie, ohne es ſich ſelbſt geſtehen
zu wollen, eine ſie demüthigende aber unüberwindliche
Scheu empfand, überhoben zu ſein. „Es wird ihn
nicht gereuen, ſich unſeren Wünſchen accommodirt zu
haben. Das Wetter iſt herrlich und wir werden,
denke ich, recht vergnügt ſein. Wie Schade iſt es,
lieber Herr Doctor, daß Sie nicht auch von der
Partie ſein können! Nun, wir hoffen, Sie bei unſerer
Rückkehr, die in zwei bis drei Tagen erfolgen wird,
wieder in vollem Wohlſein zu treffen. — Ah, Made¬
moiſelle! iſt Alles bereit? Nun, dann laß uns auf¬
brechen, lieber Grenwitz. Adieu, lieber Herr Doctor!
Adieu, mademoiselle, n'oubliez pas ce que je vous
ai dit
! — Ah, Herr Timm! wahrhaftig, ich hätte
Sie beinahe vergeſſen —“

[8]

„Eben ſo ſchmeichelhaft, wie natürlich,“ ſagte
Herr Timm! der mit der Reißfeder hinter dem Ohr
und etwas ſtark derangirter Toilette ſoeben erſchienen
war, um ſich den Herrſchaften zu empfehlen, und jetzt
der Baronin in den Wagen half. „Bon voyage!
grüßen Sie den alten Grafen Grieben beſtens von
mir! famoſer alter Herr, der einen capitalen Rhein¬
wein führt. All right! Hotte, hü!“ — und Herr
Timm verſetzte dem ihm zunächſt befindlichen Pferde
einen derben Schlag mit der flachen Hand, und warf
dann den Inſaſſen des Wagens, der ſich jetzt in Be¬
wegung ſetzte, eine Kußhand zu.


„Gott ſei Dank,“ ſagte er, als die Kutſche in
dem Thor verſchwunden war, und rieb ſich vergnügt
die Hände. „Nun ſind wir doch einmal unter uns
Mädchen! Was fangen wir nun vor Entzücken an?
Qu'en dites-vous, Monsieur le Docteur? qu'en
dites-vous, Mademoiselle?


„Ich habe ein paar Briefe zu ſchreiben, und werde
mich deshalb auf mein Zimmer begeben; ſagte Os¬
wald, in das Haus gehend.


„So wollen wir eine franzöſiſche Lection im Gar¬
ten nehmen, kleine Marguerite;“ ſagte Herr Timm,
den Arm der jungen Dame ohne Umſtände in den
ſeinen legend.


[9]

„Ich nicht habe die Zeit,“ ſagte die hübſche Fran¬
zöſin, und verſuchte ihren Arm loszumachen.


„Dummes Zeug!“ ſagte Albert, wenn Du nicht
jetzt haſt die Zeit, wo die alte Vogelſcheuche fort iſt,
wann wollen Sie Zeit haben! Kommen Sie! Venez!
komm, Du kleiner Zieraffe! Wir haben ſchon ſo ſchöne
Fortſchritte gemacht in der Conjugation von aimer:
J'aime, tu aimes — nous aimons —“


Und Albert zog die ſich nicht allzuſehr ſträubende
Marguerite in den Garten, und wer ſich für dies ro¬
mantiſche Paar intereſſirte, konnte es bis zum Mittag
daſelbſt Arm in Arm umherſchweifen ſehen, und die
Beobachtung machen, daß es den verſchiedenen Bos¬
kets und den dichteren Baumgängen entſchieden den
Vorzug vor den offenen Plätzen gab, was bei der
großen Hitze des Tages am Ende auch ganz natür¬
lich war.


Es war am Nachmittage und Oswald ſaß wieder
an ſeinem Schreibtiſche, den er nur, um mit Albert
und Marguerite ein kurzes und von ſeiner Seite ſehr
ſchweigſames Mittagsmahl einzunehmen, verlaſſen
hatte, als ihm ein Billet gebracht wurde. Oswald
war, ſeitdem er auf Grenwitz lebte, ſo wenig gewohnt,
dergleichen zu empfangen, daß er den Bedienten, der
es ihm einhändigte, ganz erſtaunt fragte: von wem?


[10]

„Von Baron Oldenburg,“ erwiederte dieſer; „des
Barons Wagen hält vor der Thür.“


Oswald erbrach das Billet und las:


„Lieber Freund! Wenn Sie die lehrbegierige Brut
loswerden können und ſonſt nichts Beſſeres zu thun
haben, wollen Sie nicht einem einſamen Hypochonder
auf ein paar Stunden Geſellſchaft leiſten und ſich bei
der Gelegenheit überzeugen, wie gut unſerm Heide¬
blümchen die Verſetzung in das fremde Erdreich be¬
kommt? Mein Kutſcher iſt der Ueberbringer dieſes.
Er hat den Auftrag, mit Ihnen oder auf Ihnen zurück¬
zukommen. Alſo — wählen Sie! Ihr Oldenburg.“


Oswald ſchwankte, was er thun ſollte. Mit dem
Sonnenſchein war die Sehnſucht nach Melitta mächtig
in ſeinem Herzen erwacht. Er konnte es nicht be¬
greifen, daß er drei volle Tage hatte vorübergehen
laſſen, ohne auch nur einen Verſuch zu machen, ſie zu
ſehen. Und dennoch, trotzdem er wußte, daß die
Wolke, die ſich an dem Ballabend zwiſchen ſie und
ihn gelagert hatte, längſt verſchwunden war, trotzdem
er ihr ſein Unrecht tauſend und tauſendmal im Herzen
abgebeten hatte, ſcheute er ſich, den erſten Schritt zur
Verſöhnung zu thun. — Wer kennte nicht die Wider¬
ſprüche, in die ſich ein junges Herz ſo leicht verirrt,
wenn Stolz und Liebe ſich in ihm ſtreiten! und
[11] Oswald's ſtolzes Herz ſollte noch manchen Schlag
thun, bis es die Liebe lernte, die echte Liebe, von der
es in jener wunderbar ſchönen und tiefſinnigen Stelle
der Schrift heißt, daß ſie nicht hoffärtig iſt und ſich
nicht erbittern läßt und Alles duldet und Alles glaubt.
Die wahre Liebe lebt nur in Herzen, die viel erfah¬
ren und viel erduldet haben, wie an den Bäumen,
die der herbſtliche Wind ſchon ihres ſommerlichen
Blätterſchmuckes zu berauben anfängt, die ſüßeſten
und köſtlichſten Früchte hängen.


Oswald nahm einen Briefbogen, um dem Baron
zu ſchreiben, daß er ſeiner Einladung nicht Folge
leiſten könne, und ſchon im nächſten Augenblick hatte
er ſeinen Hut ergriffen und eilte hinab. Derſelbe
elegante Holſteiner, in welchem er mit dem Baron von
Barnewitz zurückgekommen war, hielt mit den zwei
feurigen Rappen beſpannt vor dem Portale. Der
Kutſcher, ein hübſcher Mann mit einem ungeheuren
Barte, lächelte ihm, in Erinnerung des neulich erhal¬
tenen ſchweren Trinkgeldes, freundlich zu. Als er
einſtieg, rief Albert über die Gartenmauer:


„Können Sie mich nicht mitnehmen, Monsieur le
docteur
?“


„Nicht wohl!“ ſagte Oswald.


„Nun, dann fahren Sie allein!“ rief Albert, „zum
[12] Teufel“, ſetzte er hinzu, als der Wagen davon rollte.
„Du haſt recht, Marguerite“, ſagte er zu der kleinen
Franzöſin, die jetzt aus dem Gebüſch, in welchem ſie
ſich vor Oswald verſteckt hatte, hervorkam: „Der
Doctor iſt wirklich ein fat, wie Du ſagſt, und ich
werde nächſtens auch anfangen, ihn zu haſſen.“


Unterdeſſen rollte der Gegenſtand dieſes in Herrn
Timm's anſpruchsloſem Gemüth aufſteigenden Haſſes
durch das kleinere Thor dem Feldweg zu, der um den
Wall herum in den Buchwald führte, welcher ſich von
hier bis an den Strand zog, und den man paſſiren
mußte, wenn man von Grenwitz nach Cona, dem
Stammgut der Oldenburger, wollte. Es war eine
köſtliche Fahrt in den hohen, kühlen Büchenhallen, wo
durch die dichten grünen Baumkronen der blaue Him¬
mel leuchtete, und links, wenn zwiſchen den mächtigen
Stämmen das Unterholz weniger üppig wucherte, von
Zeit zu Zeit das blaue Meer herüberblitzte, im An¬
fang ſelten und nur auf Augenblicke, dann, je näher
ſie dem Saum des Waldes kamen, öfter und länger,
bis es plötzlich bei dem Ausgang aus dem Walde
da lag, blau und unermeßlich, blitzend im prächtigen
Sonnenſchein.


Der Weg führte auf der Höhe des Ufers hin,
manchmal ſich ſo dem Rande nähernd, daß man das
[13] Branden der Wogen zwiſchen den großen Steinen
des Strandes deutlich vernahm, dann wieder auf wei¬
tere Entfernung zurückweichend. Rechts ſchweifte das
Auge über ungeheure Kornbreiten, die den Rücken
des Plateaus bedeckten. Die langen kräftigen Halme
bogen ſich unter der Laſt der Aehren, und wehten
hinüber und herüber vor dem lauen Wind, der von
dem Meere her über ſie dahinfuhr. Hier und da
flatterte eine Lerche, deren Neſt allzudicht am Wege
war, empor und ſtieg ſingend in den blauen Himmel.


Dann ſenkte ſich der Weg in ein muldenförmiges
Thal, durch das ein ziemlich bedeutender Bach, der
Abfluß des Faſchwitzer Moores, dem Meere zueilte.
An dem Bach entlang und bis hart an's Meer lag
ein Dorf, das meiſtens von Fiſchern bewohnt wurde,
die dem Baron Grenwitz zinspflichtig waren. Der
Wagen mußte das Dorf paſſiren, das mit ſeinen klei¬
nen ſauberen Häuschen und den kleinen mit Muſcheln
eingefaßten Gärtchen vor den Thüren einen freund¬
lichen Eindruck machte. Vor der Thür eines der grö¬
ßeren Häuſer, das ſich durch ein Schild, auf welchem
ein Schiff mit vollen Segeln durch grasgrüne ſchaum¬
gekrönte Wogen fuhr, als Wirthshaus ankündigte,
hielt ein Reiter auf einem wundervollen braunen Voll¬
blutpferde. Er trug einen langen Ueberrock, und Os¬
[14] wald konnte das Geſicht nicht ſehen, da der Reiter
ſich eben niederbeugte, ein Glas Branntwein entgegen¬
zunehmen, das eine blauäugige, blonde Schifferdirn
mit einem allerliebſten Stumpfnäschen ihm präſentirte.


„Das Pferd iſt unter Brüdern ſeine zweihundert
Louisd'or werth,“ ſagte der Kutſcher, welcher ein
Kenner war.


„Wer iſt der Herr?“ fragte Oswald.


„Weiß nicht; ich konnte ſein Geſicht nicht ſehen.“


Hinter dem Fiſcherdorfe ſtieg der Weg ziemlich
ſchnell zu einer bedeutenderen Höhe, als von welcher
er auf jener Seite herabgeſunken war. Auch nahm
die Landſchaft hier einen anderen Charakter an. Das
Terrain war weniger eben; ſtatt des gelben nickenden
Kornes bedeckte braunes Haidekraut den Boden, der
hier und da auf große Strecken eine mit kleinen und
großen Steinen und ödem, nur ſpärliche Gräſer trei¬
bendem Sande bedeckte Wüſte war. Auch die Luft
ſchien weniger warm, und man hörte, da ſich der Weg
näher am Rande des hohen ſteilen Ufers hinzog,
deutlicher das Brauſen des Meeres. Ein Seeadler
zog hoch oben in der blauen Luft ſeine Kreiſe, einige¬
mal ſchwebte ſein blauer Schatten über den ſonne¬
beſchienenen, ſteinigen Weg.


„Iſt es noch weit bis Cona?“ fragte Oswald.


[15]

„Der Hof liegt dort hinaus,“ ſagte der Kut¬
ſcher, mit dem Peitſchenſtiel rechts über die Haide
deutend; „Sie können ihn von hier aus nicht ſehen.
Ich fahre den Herrn Doctor nach dem Schweizer¬
häuschen.“


„Und wo liegt das?“


„Gerade vor uns, in den Tannen.“


Ein Wäldchen von hohen Tannen krönte den höch¬
ſten Punkt des Ufers, zu dem jetzt der Weg, der
immer ſteiler und ſteiniger wurde, ziemlich raſch hin¬
aufführte. Als Oswald ſich, um die zurückgelegte
Strecke zu überſchauen, im Wagen umwandte, erblickte
er in der Entfernung von vier bis fünfhundert Schrit¬
ten den Reiter, der vorhin vor dem Wirthshauſe ge¬
halten hatte. Er ritt mit derſelben Geſchwindigkeit,
in welcher der Wagen fuhr, und als dieſer zufällig
hielt, weil eine Schnalle an dem Riemenzeug auf¬
gegangen war, hielt er ebenfalls ſein Pferd an, ſo
lange bis das Fuhrwerk ſich wieder in Bewegung ſetzte.
Oswald, dem dies Benehmen aufgefallen war, bat den
Kutſcher nach einigen Minuten abermals zu halten.
Er wandte ſich um: der Reiter hielt ebenfalls. Er
ließ dies Manöver noch ein paar Mal wiederholen,
ſtets mit demſelben Erfolg.


„Das iſt doch ſonderbar,“ ſagte Oswald.


[16]

„Ja,“ ſagte der Kutſcher; „ich weiß auch nicht,
was das zu bedeuten hat.“


In dieſem Augenblick verließ der Reiter den Weg
und trabte quer über die Haide nach der Richtung
fort, in welcher, wie der Kutſcher ſagte, hinter dem
Kamm des Plateaus, der Gutshof von Cona lag.


Der Wagen hatte jetzt die Tannen erreicht, die
ſo dicht ſtanden, daß man vom Meere nichts mehr
ſehen und nur noch ſein Brauſen hören konnte, das
ſich mit dem Wehen des Windes in den hohen Bäu¬
men vermiſchte. Dann blitzte es bei einer Wendung
des Weges wieder auf und vor, ihnen, auf einem
freien, nach dem Meere zu offenen Platze lag ein aus
Holz im Schweizerſtyl aufgeführtes Haus, Oldenburg's
Sommerwohnung.

[[17]]

Zweites Kapitel.

Als der Wagen auf dem von hohen Bäumen um¬
ragten und mit braunen Nadeln wie mit einem Tep¬
pich überdeckten Platze vor der Thür hielt, erſchien
Oldenburg oben auf der Gallerie, welche die zwei
Stockwerke trennte und ſich um das ganze Haus zog,
und grüßte freundlich hinab. Im nächſten Augenblick
war er an der Thür und ſchüttelte Oswald mit Herz¬
lichkeit die Hand.


„Alſo doch!“ ſagte er; „ich fürchtete ſchon, es
wäre Ihnen ergangen, wie den meiſten Leuten, die,
wenn ſie einmal mit mir zuſammen geweſen ſind, für
alle Ewigkeit genug haben.“


„Ich weiß nicht, Herr Baron, ob Sie ſich den
meiſten Leuten ſo zeigen, wie Sie ſich mir gezeigt
haben,“ ſagte Oswald; „wäre dies der Fall, ſo habe ich
für mein Theil nicht den Geſchmack der meiſten Leute.“


„Wahrlich, ein Selam in optima forma!“ ſagte
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 2[18] Oldenburg lachend; „ein paar alte graubärtige Söhne
Mohammed's könnten es nicht beſſer. Es fehlt blos
noch, daß wir zum Schluß unſre eignen Fingerſpitzen
küſſen! Aber kommen Sie in's Haus, da können wir
die Sache noch bequemer haben.“


Sie traten auf einen kleinen Flur, von welchem
man auf einer niedrigen breiten Treppe in das obere
Stockwerk auf ein Entrée gelangte, das von oben Licht
empfing. Aus dieſem gingen ſie in ein weites, ziem¬
lich hohes Gemach, zwiſchen deſſen zwei Fenſtern eine
Glasthür auf die breite Gallerie führte, die eine un¬
beſchränkte Ausſicht auf das Meer gewährte, und ob¬
gleich noch ziemlich dreißig Fuß zwiſchen dem Hauſe
und dem ſcharf abfallenden Rande des Ufers lagen,
unmittelbar über der Brandung, welche tief unten
zwiſchen den Rollſteinen und auf den Kieſeln des
Strandes murmelte, zu hängen ſchien.


Der Blick von dieſem erhabenen Standpunkte auf
das blaue, unermeßliche Meer und auf das hohe weiße
Kreideufer, das ſich nach links in einem weiten Halb¬
mond hinziehend, zuletzt in einem Vorgebirge endigte,
welches der Buchwald von Grenwitz krönte, war ſo
unbeſchreiblich großartig, daß Oswald einen lauten
Ruf der Bewunderung nicht unterdrücken konnte.


„Nicht wahr?“ ſagte Oldenburg, ſich neben Os¬
[19] wald auf die Brüſtung der Gallerie lehnend, „es war
ein geſcheidter Einfall meines würdigen Großvaters,
an dieſem Punkte, nebenbei einem der höchſten der
ganzen Inſel, ein Haus zu bauen. Ich habe den
alten Mann mit ſeinem langen eisgrauen Barte noch
gekannt, und ſehe ihn im Geiſte noch hier auf dieſer
Gallerie ſitzen und, wie der König von Thule, mit
ſeinen verlöſchenden Augen auf das heilige Meer
ſchauen, das er verehrte, wie ein Enkel ſeine alte
Großmutter ehrt, und liebte, wie ein Jüngling die
Geliebte ſeiner Seele liebt. Ich wollte, er hätte mir
außer ſeiner Figur auch ſeine unermeßliche Fähigkeit,
für Naturſchönheit ſchwärmen zu können, vererbt.
Leider bin ich in der letzten Beziehung in demſelben
Grade zu kurz gekommen, wie in der erſten zu lang.“


„Iſt das Ihr Ernſt?“ ſagte Oswald.


„Wahrhaftig,“ ſagte Oldenburg, „und ich habe
mich auf meinen Reiſen oft genug deshalb geſchämt,
und meine äſthetiſche Verſtocktheit, die mich auf den
ſchönſten Punkten, wo Andre vor Vergnügen Purzel¬
bäume ſchlugen oder ſentimentale Thränen weinten,
geradezu nichts empfinden ließ, verwünſcht. Vergebens,
daß ich, wie die engliſchen Miſſes an meiner Seite:
beautifully, very fine indeed! ſeufzte, vergebens,
daß ich Tag und Nacht die herrlichſten Naturſchilde¬
2*[20] rungen von Byron und Lamartine las, bis ich ſie
auswendig wußte — es half Alles nichts. Ich brachte
es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die
ewige Natur wie ein lackirtes Bild erſchien; und ein
paar Bettelbuben, die ſich auf dem Sande des Stran¬
des balgten, und ein armer Fellah, der ſein Waſſer¬
rad drehte, waren mir intereſſanter, als der Golf von
Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menſchen
und Menſchentreiben meine Freude — von der Natur
verſtehe ich ein für alle Mal nichts.“


„Aber warum verbannen Sie ſich denn in dieſe
Einſamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch
haben können, anſtatt hier an dieſem nordiſchen
Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬
cines
, oder in London auf dem Pall-Mall?“


„Aus demſelben Grunde, aus welchem man den
Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt,
vierundzwanzig Stunden faſten läßt — um meinen
Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu ſchärfen.
Wenn ich hier ein paar Wochen gehauſt habe, ſind
meine Sinne wieder friſch und empfänglich, und das
Schauſpiel des Menſchentreibens hat wieder ſeinen
alten Reiz für mich.“


„Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu
bleiben?“


[21]

„Ich weiß noch nicht. Meine Solitude, — ſo
taufte nämlich mein Großvater dieſen ſeinen Lieblings¬
ort — gefällt mir diesmal beſſer, als ſonſt wohl.
Ich habe in den letzten Jahren ein etwas buntes
Leben geführt und ſo viel Adamskinder der verſchie¬
denſten Racen und Culturzuſtände durcheinander ge¬
ſehen, daß zuletzt einer genau ſo ausſah, wie der an¬
dere, ein Beweis, daß meine Sinne vollkommen abge¬
ſtumpft waren und eine längere Hungercur nöthig iſt.
Daß ich nicht ganz verhungere, dafür ſollen Sie und
die Czika ſorgen.“


„Und wo iſt denn unſer kleiner Findling?“


„Irgendwo auf der Haide, wo ſie ſich in den
blühenden Ginſter legt und in den Himmel ſtarrt,
oder am Strande, wo ſie zwiſchen den Felsblöcken
umherklettert und vor Vergnügen in die Hände klatſcht,
wenn eine Welle ihre nackten Füße benetzt. Bis zu
Schuhen hat ſie es nämlich noch nicht gebracht, das
heißt: ich habe ſie noch nicht dazu bringen können.
Ich laſſe ihr überhaupt abſolute Freiheit, ſeitdem ſie mir
gleich am zweiten Tage, als ich ſie bei dem ſchauder¬
haften Wetter nicht herauslaſſen wollte, ſehr energiſch er¬
klärte: Czika ſtirbt, wenn Czika nicht in den Regen darf.“


„Sehnt ſie ſich denn nicht nach ihrer Mutter zurück?“


„Glauben Sie wirklich, das das braune Weib, das
[22] ich übrigens nur ganz flüchtig geſehen habe, des Kin¬
des Mutter iſt?“


„Unbedingt. Die Aehnlichkeit zwiſchen Ezika und
der braunen Gräfin iſt unverkennbar.“


„Von wem habe ich doch dieſen Ausdruck ſchon
gehört?“ ſagte Oldenburg nachdenklich, „von Ihnen
neulich, ohne Zweifel; aber er kam mir gleich ſo be¬
kannt vor. Stammt die Bezeichnung von Ihnen?“


„Nein, von Frau von Berkow,“ ſagte Oswald,
den Blick feſt auf Oldenburg richtend.


„So, ſo,“ ſagte der Baron.


Es war das erſte Mal, daß Melitte's Namen
unter den beiden Männern Erwähnung geſchah, und
es war bezeichnend genug, daß ſofort eine Pauſe in
dem Geſpräche eintrat.


„Bei welcher Gelegenheit hat denn Frau von
Berkow die Bekanntſchaft der Zigeunerin gemacht?“
fragte der Baron nach einiger Zeit.


Oswald erzählte in kurzen Zügen die Geſchichte
von der braunen Gräfin, ſo wie ſie ihm Melitta mit¬
getheilt hatte.


Oldenburg lächelte. „Ja, ja,“ ſagte er, „jetzt er¬
innere ich mich. Frau von Berkow hat mir die
Anecdote ſchon vor ein paar Jahren erzählt. Die
Geſchichte iſt allerliebſt, beſonders für den, welcher
[23] ſich für Frau von Berkow intereſſirt, weil ſie für den
liebenswürdigen, aus Muthwillen, Schalkheit und
Gutmüthigkeit wunderbar gemiſchten Charakter dieſer
Dame unendlich bezeichnend iſt.“


Der Baron ſagte das einfach und ſo ruhig, als
hätte es niemals eine Zeit gegeben, wo er für ein
Lächeln „dieſer Dame“ ſein Leben auf's Spiel geſetzt
haben würde.


„Aber wollen wir nicht hineingehen,“ fuhr er fort,
„ich ſehe, Hermann, mein Rabe und Factotum, hat
einen Tiſch mit allerlei Appetitlichem gar zierlich ge¬
deckt, und dort kommt auch Thusnelda, ſeine Ge¬
mahlin und meine Amme, um uns feierlich zum Ves¬
perbrod zu laden.“


Eine alte, ſehr würdig ausſehende Frau von ſtatt¬
lichem Umfange erſchien in der Glasthüre, machte
einen tiefen Knix und ſagte:


„Herr Baron, es iſt angerichtet.“


„Schön,“ ſagte Oldenburg; „haſt Du die Czika
nicht geſehen?“


„Ich dachte, ſie wäre beim Herrn Baron,“ ant¬
wortete die Matrone, ängſtlich umherblickend.


„Nein. Bring ſie doch herauf, wenn ſie unter¬
deſſen kommen ſollte. Du kannſt Dich einmal nach
ihr umſehen. Kommen Sie, Doctor, ich hoffe, der
[24] weite Weg hat Sie hungrig, zum mindeſten durſtig
gemacht; Thusnelda hat für beide Fälle geſorgt.“


Oswald ſchaute ſich, während ſie an dem mit Er¬
friſchungen aller Art reichlich beſetzten Tiſche Platz
nahmen, in dem Zimmer um. Der weite Raum
wurde durch einen großen Schreibtiſch von Eichenholz
und durch Stühle und Sophas von mancherlei For¬
men, die den Platz häufig zu verändern ſchienen,
weſentlich verringert. An den Wänden ſtanden
Eichenſchränke mit Büchern angefüllt. Bücher lagen
auf den Tiſchen, den Sophas, den Stühlen, Bücher
lagen auf dem Boden. Einige ſchöne Büſten nach
der Antike, und ein paar große Kupferſtiche waren
der einzige Schmuck des im übrigen offenbar auf
Eleganz nicht den mindeſten Anſpruch machenden
Zimmers; zwiſchen zwei der Schränke, wo ein Kupfer¬
ſtich hingehörte, war eine grünſeidne Gardine, die ent¬
weder ein ungeſchickt angebrachtes Fenſter oder ein
Bild verdeckte, welches der Beſitzer aus dieſem oder
jenem Grunde dem Blicke neugieriger Beſucher nicht
ausgeſetzt wünſchte.


Sodann wurde ſeine Aufmerkſamkeit wieder von
dem Baron ſelbſt in Anſpruch genommen, der ihm
heute in einem langen, gelben, leinenen Rock, welcher
ſeiner langen, hagern Figur gar ſeltſam ſtand, ein
[25] ganz Anderer zu ſein ſchien. Mehr aber noch, als
der veränderte Anzug war es der veränderte Aus¬
druck des Geſichtes, der Oswald auffiel. Der höhniſche
Zug um den Mund, den ſelbſt der dichte Bart nicht
ganz verdecken konnte, die ſcharfen kleinen Fältchen
auf der hohen Stirn, um die Augen und die Naſen¬
flügel — Alles war von einem freundlichen Lächeln
ausgelöſcht, das den grauen, ſonſt ſo ſtechenden Augen
einen Ausdruck von Milde und Gutmüthigkeit gab,
den Oswald, ſo weit er auch von ſeinem Vorurtheil
gegen den Baron zurückgekommen war, niemals für
möglich gehalten haben würde. Ja, der Gedanke, daß
ein Weib dieſen ſeltſamen Mann von ganzem Herzen
lieben könnte, ſchien ihm nicht mehr ſo wunderlich,
wie auf dem Balle in Barnewitz. Er dachte an das
Blatt in Melitta's Album, er dachte an ſeine eigenen
Worte: Dieſer Mann wird niemals glücklich ſein, weil
er niemals wird glücklich ſein wollen, und an Melitta's
Antwort: „Darum iſt dieſer Mann aus meinem Leben
losgelöſt, wie ſein Bild aus dieſem Album,“ und er
ſagte ſich jetzt: er hätte glücklich ſein können, wenn
er gewollt hätte; warum wollte er es nicht? was
trennte dieſe Beiden? wer von ihnen ſprach das Wort,
das ſie — wie es ſcheint — auf ewig trennte?


Dieſe Gedanken erweckten heute in Oswald nicht
[26] mehr jene wilde Eiferſucht, die ſein Herz an dem
Tage, wo er dem Baron zuerſt im Walde begegnete,
und hernach auf dem Balle in Barnewitz, zerfleiſcht
hatte — aber das geheimnißvolle Dunkel, welches
über dieſen Vorgängen lag, das er nicht lüften konnte
und, was ſchlimmer war, nicht einmal zu lüften wagte,
erfüllte ſeine Seele mit jener Trauer und jenem Mit¬
leid, das wir mit uns ſelbſt empfinden, wenn wir da
in unſerer Andacht geſtört werden, wo wir ſo gern
aus vollem, überſtrömendem Herzen anbeten möchten.


Oswald ſuchte dieſer trüben Stimmung Herr zu
werden; es war ihm, als ob des Barons ſcharfe Augen
leſen könnten, was in ſeiner Seele vorging. Indeſſen
ſchien dieſer vollkommen unbefangen und ganz von dem
Thema ihres Geſprächs in Anſpruch genommen, das,
wie erklärlich, ſich hauptſächlich um Czika und die braune
Gräfin drehte. Beide Männer verſuchten ihren Scharf¬
ſinn vergeblich an der Löſung der vielen Räthſel dieſer
wunderbaren Angelegenheit. Was hatte die braune
Gräfin beſtimmt, ihr Kind, an welchem ſie doch mit
großer Liebe zu hängen ſchien, ſo ohne Weiteres fremden
Männern zu überlaſſen? Woher nahm ſie zu dieſer
Entſagung den Muth in dem Augenblicke, wo ſie durch
die brutalen Scherze der jungen Edelleute (der Reitknecht
des jungen Graf Grieben hatte Oldenburg's Kutſcher
[27] die Sache erzählt) und durch den, allerdings blos ſcherz¬
haft gemeinten, Raub der Kleinen ſo außer ſich ge¬
bracht war? Hatte ſie das Kind Oswald, oder dem
Baron, oder hatte ſie es Beiden geſchenkt? oder hatte
ſie es ihnen nicht geſchenkt, ſondern verkauft, und hatte
ſie nur den Zahlungstermin einen Monat hinaus¬
geſchoben, in der Hoffnung, daß die beiden Männer,
oder auch einer von ihnen, das ſchöne Kind während
dieſer Zeit lieb gewinnen und demnach gern einen
größeren Preis zahlen würde?


„Meine größte Furcht,“ ſagte Oldenburg, „iſt,
daß die braune Gräfin der noch nicht einmal abge¬
ſchloſſene Handel gereut und ſie mir das Kind wieder
raubt, oder auch die Czika ſelbſt der Sehnſucht nach
ihrem Wanderleben nicht widerſtehen kann und eines
ſchönen Morgens verſchwunden iſt. Ich geſtehe, daß
es ein harter Schlag für mich ſein würde. Ihre
Prophezeihung, daß ich in der ſüßen Dirn einen
Schatz gefunden habe, köſtlicher als Alladin's Wunder¬
lampe, ſcheint in Erfüllung zu gehen. Ich ſage mit
dem weiſen Nathan: ich bliebe, oder richtiger: ich
wäre des Mädchens Vater doch ſo gern! ich möchte
ſo gern dieſer bis jetzt ſtummen Seele eine Sprache
entlocken, und in dieſer Sprache meinen eigenen Ge¬
danken veredelt und verſchönert wieder hören! ich
[28] möchte ſie an mich ketten mit allen Banden, durch die
ein Vater an ſeine Tochter, eine Tochter an ihren
Vater gefeſſelt ſein kann — verſteht ſich, um ſie nach¬
träglich alle dieſe Bande zerreißen und ſich dem erſten
beſten Gelbſchnabel in die Arme werfen zu ſehen,
deſſen Rock um einen Grad beſſer ſitzt, als die ſeiner
Nachbarn. Aber bis dahin möchte ich wenigſtens, daß
ſie mein wäre! Ich ſtehe jetzt in den Jahren, wo
man ſich, wenn man nicht zufällig ein Swift iſt, der
bekanntlich die Kinder hätte freſſen mögen, aber nicht
aus Liebe — nach Kindern ſehnt, wie ein müder
Wanderer nach einem Stab, die erſchlaffenden Glieder
zu ſtützen. Wenn wir fühlen, daß wir den höchſten
Punkt auf unſerem Lebenswege erreicht haben und es
nun unaufhaltſam bergab geht, und das Land unſerer
Jugend hinter dem Kamm des Hügels allgemach ver¬
ſchwindet, da möchten wir fröhliche Kinderſtimmen von
drüben ertönen hören, die uns unſere eigene ſelige
Jugendzeit wieder in die Erinnerung rufen. Sie
werden mich fragen, weshalb ich denn dieſer ſpie߬
bürgerlichen Tendenz nicht nachgebe und heirathe? oder
Sie werden mich das auch nicht fragen, denn Sie
werden ſich ſelber ſagen, daß für Jemand, der ſich
die zehn beſten Jahre ſeines Lebens in allerlei liai¬
sons dangereuses und innocentes
— unausgeſetzt
[29] bewegt hat, das Heirathen eine moraliſche Unmöglich¬
keit iſt. Ich will keine Frau, die ſo blaſirt wäre,
nicht von mir hören zu wollen: ich liebe Dich! und
wie kann ich das, ohne mir ſelbſt lächerlich vorzu¬
kommen, zu ihr ſagen, wenn ich es ſchon ſo und ſo
vielen anderen in allen mir bekannten Sprachen ge¬
ſagt habe? Nein, nein! mit ſolchen Geſinnungen mag
man Türke werden und ſich einen Harem anſchaffen,
aber für die monogamiſche Ehe im höchſten, reinſten
Sinne, wo ſie eine wunderbare Alchymie iſt, die aus
den Zweien Eines macht, für dieſe Ehe, die auch ich
heilig halte, iſt man wahrlich zu ſchlecht.“


„Und doch,“ ſagte Oswald, „liegt in der wahren
Liebe eine reinigende und heiligende Macht, vor der
alle Zweifel an uns ſelbſt verſchwinden, wie der Nebel
vor den Strahlen der Sonne. Die wahre Liebe wiſcht,
wie der echte Haß „von der Tafel der Erinnerung
weg alle thörichten Geſchichten“ und macht uns mit
einem Schlage aus wüſten Barbaren zu zartfühlenden,
feinſinnigen Hellenen. Die rohe Kraft, die vorher
ſich nur bethätigen wollte, gleichviel ob ſie ſchaffte
oder zerſtörte, nimmt jetzt Form an, und wo ſie früher
einen Siva ſchuf, deſſen glühender Blick alle Creatur
verzehrt, ſchafft ſie jetzt einen olympiſchen Zeus, der
Alles, was iſt, mit Vateraugen ſegnet.“

[30]

„Sehr ſchön geſagt,“ erwiederte der Baron, „wollen
Sie nicht dieſe Liebfrauenmilch verſuchen, der Wein
macht ſeinem Namen Ehre — ſehr ſchön geſagt, auch
wol wahr — nur nicht für problematiſche Naturen.“


„Was nennen Sie problematiſche Naturen?“


„Es iſt ein Goethe'ſcher Ausdruck und kommt in
einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat.
Es giebt problematiſche Naturen, ſagt Goethe — ich
glaube in Dichtung und Wahrheit — die keiner Lage
gewachſen ſind, in der ſie ſich befinden, und denen
keine genug thut. Daraus, fügt er hinzu, entſteht der
ungeheure Widerſtreit, der das Leben ohne Genuß
verzehrt. — Es iſt ein grauſiges Wort, denn es
ſpricht in olympiſcher Ruhe das Todesurtheil über
eine, beſonders in unſeren Tagen, weit verbreitete
Gattung guter Menſchen und ſchlechter Muſikanten. —
Da iſt Czika!“


„Wo?“


„Hinter Ihnen.“


Oswald wandte ſich um. In der offenen Thür,
die auf den Balcon führte, ſtand das ſchöne Kind,
vom rothen Licht der untergehenden Sonne umfloſſen.
Ihr üppiges, blauſchwarzes Haar fiel von beiden
Seiten über die ſeine Stirn auf die Schultern, die
aus einer blauen türkiſchen Blouſe hervorragten, welche
[31] mit einem dünnen, rothſeidenen Shawl um die ſchlanke
Hüfte gegürtet war. Türkiſche Beinkleider reichten
bis zu den nackten Füßen. Als ſie einen Fremden in
dem Zimmer erblickte, hatte ſie ſich leiſe, wie ſie ge¬
kommen war, wieder wegſtehlen wollen, bis der Aus¬
ruf des Barons ſie bannte und Oswald ſich umge¬
wandt hatte. Bei ſeinem Erblicken flog ein freudiges
Lächeln über ihr ernſtes, dunkles Geſicht, und die
braunen Gazellenaugen ſchauten beinahe zärtlich zu
ihm empor, als er jetzt, eine ihrer Hände in der
ſeinen haltend und mit der andern ihr das üppige
Haar ſchlichtend, vor ihr ſtand.


„Czika kennt Dich,“ ſagte ſie; „Du biſt ſehr gut.
Du haſt die Armen lieb, die Armen haben Dich lieb.“


„Eine Liebeserklärung!“ ſagte Oldenburg, der am
Tiſche ſitzen geblieben war, lachend, „die wie vielſte,
Doctor. in den letzten acht Tagen! Doctor, Sie ſind
ein gefährlicher Menſch und ich werde mich genöthigt
ſehen, Ihnen mein Haus zu verbieten.“


„Warum biſt Du nicht immer hier?“ ſagte Czika,
ihre großen Augen von dem Baron wieder zu Oswald
wendend. „Czika will mit Dir an dem großen Waſſer
ſitzen, Czika will Dir Blumen auf der Haide pflücken.
Warum biſt Du nicht immer hier?“


„Er kann nicht immer hier ſein, Czika,“ ſagte der
[32] Baron, „aber er wird recht oft herkommen. Nicht
wahr, Doctor?“


Die Thür nach dem Vorſaal wurde geöffnet und
Madame Müller, oder Thusnelda, wie ſie der Baron
nannte, ſchaute herein.


„Ich kann ſie nicht — ah! da iſt ſie ja. Wo
biſt Du denn geweſen, mein Herzenspüppchen? komm,
ich will Dich ein wenig zurecht machen. Wie Du
wieder ausſiehſt — ganz voll Haidekraut, wie ge¬
wöhnlich; was ſollen die Herren von uns denken...“


So ſprach die Matrone, das Kind mit ſanfter Ge¬
walt an der Hand aus dem Zimmer führend.


„Sie müſſen wiſſen, daß eine große Liebe zwiſchen
den Beiden beſteht,“ ſagte der Baron. „Meine alte
Amme hat viel blühende Kinder gehabt, die alle früh¬
zeitig geſtorben ſind. Anderer Frauen Herz wird durch
ſolches Unglück oft verhärtet, aber Thusnelda's Herz
iſt weich geblieben, und jetzt liebt ſie die Czika, als
wäre ſie ihr Erſtgeborenes. Das iſt nun aber gerade,
als wenn eine Taube einen Falken ausgebrütet hätte.
Czika's Tendenzen zu einem möglichſt ungebundenen
Daſein bringen die arme alte Dame alle Tage zehn¬
mal in die größte Noth und Verzweiflung. Und dann
iſt noch ein Umſtand. Thusnelda iſt gut kirchen¬
fromm — und Czika hat — horribile dictu — gar
[33] keine Religion — es müßte denn irgend ein geheim¬
nißvoller Sterndienſt ſein, die ſie begeht, wenn ſie
ſich des Nachts von ihrem Lager ſtiehlt und auf der
Höhe des Strandes im Mondenſcheine tanzt, wie
Thusnelda es mit Grauſen und Schaudern geſehen
zu haben ſchwört. Uebrigens glaube ich Thusnelda
in dieſem Falle. Ich habe wenigſtens ſchon früher
die Beobachtung gemacht, daß, wenn die Zigeuner
Gegenſtände der Anbetung haben, es Sonne, Mond
und Sterne ſind.“


„Haben Sie auf Ihren Reiſen nicht öfter Ge¬
legenheit gehabt, mit dieſem intereſſanten Volke in
nähere Berührung zu kommen?“


„O ja,“ ſagte der Baron, „ſogar in ſehr nahe
Berührung; beſonders einmal — in Ungarn — vor
zwölf Jahren etwa.“


Der Baron ſchwieg, ſchenkte ſich ein Glas Wein
ein und trank es in mehren Abſätzen langſam aus,
die Augen auf die Tiſchdecke geheftet, wie Jemand
deſſen Gedanken von einer Erinnerung ganz in An¬
ſpruch genommen ſind.


„Nun“, ſagte Oswald, „wie war das?“


„Was?“ ſagte der Baron, wie aus einem Traum
erwachend; „ja ſo, Sie wollen wiſſen, was ich in
Ungarn mit den Zigeunern zu thun hatte.“

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 3[34]

„Ich vermuthe, es ſteckt dahinter eine romantiſche
Geſchichte.“


„Allerdings“, ſagte der Baron; „ich ſelbſt ſtand
damals noch in den Jahren, wo jeder Menſch, er
müßte denn zufällig ein geborner Stockfiſch ſein, ein
lebendiges Stück Romantik iſt. Ich ſchwärmte für
Eichendorff's mondſcheindurchleuchtete Zaubernächte,
für Brunnen und Wälderrauſchen, und vor allem
ſchwärmte ich für ſchlanke Mägdelein mit und ohne
Guitarre am blauen Bande.


Meine ganze Weltanſchauung war in einem emi¬
nenten Grade romantiſch, vor allem meine Moral.
Das ganze Leben hatte für mich nicht mehr Bedeu¬
tung, als ein Schattenſpiel an der Wand, und das
einzige Reelle, was ich gelten ließ, war die ſouve¬
räne Ironie. Mit einem Worte: ich war ein char¬
manter Kerl, und wenn man mich an den erſten beſten
Galgen gehangen hätte, ſo wäre das nur „mir zur
gerechten Straff, anderen aber zum abſcheulichen
Exempul“ geweſen. —


Ich hatte damals das Studiren in Bonn und
Heidelberg gerade herzlich ſatt. Ich hatte in tauſend
Büchern vergeblich nach der Löſung des Räthſels ge¬
ſucht, über dem ſich ſchon ſo viel beſſere Köpfe als
ich den Kopf zerbrochen haben, und wollte es nun
[35] einmal auf andere Weiſe anfangen. Ich ſchrieb an
meinen Vormund und drückte ihm meinen Wunſch
aus, ein paar Jahre zu reiſen. Der Vormund bil¬
ligte dieſen Plan höchlichſt, wie er denn Alles billigte,
was mein Spatzenkopf ausheckte — nur um mich los
zu werden — ſchickte mir Wechſel und Empfehlungs¬
briefe, und ich begab mich auf die Wanderſchaft. Ich
reiſte durch Süddeutſchland, die Schweiz, Oberitalien.
Wenn Sie aber einen auch nur oberflächlichen Bericht
dieſer Reiſe von mir verlangten, ſo käme ich in die
größte Verlegenheit. Ich weiß von den Gegenden
noch gerade ſo viel, wie von Landſchaften, die man
im Traume ſieht. Zuletzt war ich in Ungarn. Der
Zufall, der überhaupt mein Reiſemarſchall war, hatte
mich dort hingeführt. Ich war in Wien mit einem
jungen ungariſchen Edelmann bekannt geworden, deſſen
Vater am Fuße des Tetragebirges reich begütert war.
Er hatte mich eingeladen, mit ihm zu kommen; ich
war dieſer Einladung gefolgt. Wir führten ein ſehr
idylliſches Leben, deſſen Hauptingredienzien Würfel,
Wein und Weiber waren. Herr von Kryvan hatte
ein paar ſehr ſchöne Schweſtern, in die ich mich der
Reihe nach verliebte. Sodann begeiſterte ich mich für
die franzöſiſche Geſellſchafterin der alten Frau von
Kryvan, die eben friſch von Paris gekommen war,
3*[36] und die jungen Ungarinen durch die Grazie ihrer Ma¬
niren, ihr Conſervationstalent und ihren Geſchmack in
Sachen der Toilette beſchämte.


Als ich einſt, voll von dem Bilde dieſer Huld¬
göttin, die ich nebenbei einige Jahre darauf in Paris
unter weſentlich andern Verhältniſſen wieder traf —
für den Augenblick glaubte ich an die Echtheit ihrer
Perlen und ihrer Tugend — als ich einſt, ſage ich,
träumend in dem Walde umherlief, der ſich von Kry¬
van weit in das Gebirge hinauf erſtreckte, führte mich
mein Reiſemarſchall auf eine Lichtung im Walde, die
ſich eine Zigeunerbande zu ihrem temporären Wohn¬
ort erwählt hatte. Kleine Hütten aus Lehm und
Reiſig in ſehr archaiſtiſchem Stile aufgeführt, eine
Feuerſtelle, an der ein altes Mütterchen einen Mar¬
der briet, Thierfelle und Lumpen an den Zweigen der
Bäume zum Trocknen aufgehängt — das war das
Bild, das ſich meinen erſtaunten Blicken darbot. Die
ganze Bande war abweſend, mit Ausnahme beſagter
alter Hexe, einiger ganz kleiner Kinder, die ſich in
paradieſiſcher Nacktheit im Sande wälzten, und eines
Zigeunermädchens von fünfzehn Jahren etwa —“


Der Baron ſchenkte ſich ein Glas voll und trank
es mit einem Zuge aus.


„Von fünfzehn Jahren etwa — vielleicht war ſie
[37] auch älter — es iſt das Alter von Zigeunermädchen
ſchwer zu beſtimmen. Sie war ſchlank, und geſchmei¬
dig, wie ein Reh, und ihre dunklen Augen leuchteten
in einem ſo magiſch ſinnlich-überſinnlichen Feuer, daß
mich ein Schauder des Entzückens packte, als ich tief
und tiefer hineinſchaute, während ſie unter allerlei
wunderlichen Manipulationen mir aus der flachen
Hand mein Schickſal verkündete. Mein Schickſal war
in ihren Augen viel deutlicher zu leſen, als in meiner
Hand. Ich war entzückt, berauſcht, außer mir; die
Welt war für mich verſunken. — Sie erinnern ſich,
daß ich damals Zwanzig Jahre und Romantiker vom
reinſten Waſſer war — und daß ein Zigeuner ſein,
ſich von Mardern nähren und ſich in den Augen eines
Zigeunermädchens ſonnen, der Weisheit letzter Schluß
und das höchſte Ziel menſchlichen Strebens ſei, war
für mich über allen Zweifel erhaben. Ich blieb bei
den Zigeunern — ich weiß nicht, wie viel Tage. Meine
Freunde im Schloſſe glaubten, die Wölfe hätten mich
zerriſſen. — Da eines Abends — die Sonne war
ſchon hinter die Bergwand geſunken, die unſern La¬
gerplatz nach Norden ſchirmte — die Bande war noch
nicht von ihrem Streifzuge zurück — ich ſaß mit der
Zingarella am Fuß einer alten Eiche und war ſelig in
meiner jungen Liebe — da —


[38]

„Ich glaube gar, wir bekommen noch Beſuch“ —
unterbrach ſich der Baron; „war das nicht eine fremde
Stimme?“


„Ich hoffe nicht,“ ſagte Oswald.


Die Thür wurde geöffnet, der alte Herrmann
ſchaute herein und ſagte:


„Herr von Cloten wünſcht ſeine Aufwartung zu
machen, Herr Baron; ſind Sie zu Hauſe?“


„Bewahre,“ ſagte der Baron; „aber freilich, ich kann
ihn nicht gut abweiſen; er kommt um mich — hm, hm!“


„Laſſen Sie ſich durch mich in der Ausübung
Ihrer Gaſtfreundſchaft nicht ſtören,“ ſagte Oswald,
aufſtehend.


„Bleiben Sie! bleiben Sie!“ ſagte der Baron; „er
wird ſich hoffentlich nicht lange aufhalten. Er kommt
in einer gewiſſen Angelegenheit, in welcher er meinen
Rath haben will. Das iſt Alles. Führe ihn herauf,
Hermann!“


Einen Augenblick darauf trat Herr von Cloten
ein. Er war in Reitfrack und Stulpenſtiefel und ſchien
einen weiten Ritt gemacht zu haben. Wenigſtens ſah
er ſehr erhitzt aus. Oswald's Anweſenheit ſchien ihn
zu ärgern, oder verlegen zu machen; wenigſtens be¬
grüßte er ihn mit auffallender Förmlichkeit, nachdem
er dem Baron die Hand geſchüttelt hatte.


[39]

„Sehr warm heute,“ näſelte er, auf einem Stuhl,
den ihm der Baron anbot, am Tiſche Platz nehmend;
„Robin trieft von Schweiß; habe Ihrem Reitknecht ge¬
ſagt, ihn mit Stroh abzureiben. Conſervirt die Pferde
merkwürdig. Angenehmer Wein, — Liebfrauenmilch? —
famoſer Wein — hatten neulich auch welchen in Barne¬
witz — nicht halb ſo gut. Apropos Barnewitz — gut
bekommen, Baron? War etwas vor der Zeit fortge¬
fahren — Hitze wirklich abominabel“ —


„Wollen Sie nicht ablegen, Cloten?“


„Danke, danke! Will gleich wieder fort; wollte
nur einmal, weil gerade in der Nähe — war auf
Grenwitz — Alles ausgeflogen dort — vorſprechen,
zu ſehen, wie es ſteht.“


„Aber Sie werden doch ein paar Minuten Zeit
haben.“


„Keinen Augenblick — auf Ehre,“ ſagte Herr von
Cloten, ſein Glas leerend und aufſtehend, „ſpreche
morgen vielleicht wieder vor. Adieu, Baron.“


Von Cloten verbeugte ſich wiederum ſehr förmlich
vor Oswald und ſchritt, von dem Baron begleitet,
nach der Thür.


„Bitte, bitte, derangiren Sie ſich nicht;“ ſagte
Cloten.


„Ich will mir nur Ihren Robin einmal anſehen,“
[40] ſagte der Baron, und dann zu Oswald: „entſchuldigen
Sie mich für ein paar Augenblicke, Herr Doctor.“


Oswald war allein; das auffallend kühle Benehmen
des jungen Edelmanns hatte, wie ſehr er denſelben
auch verachten zu dürfen glaubte, doch ſeinen leicht
verletzlichen Stolz beleidigt. Er ging erregt in dem
Gemache auf und ab. Sein Adelshaß hatte wieder
neue Nahrung bekommen; auch Oldenburg's Benehmen
ſchien ihm während Cloten's Viſite weniger herzlich
geweſen zu ſein.


„Ich ſage es ja,“ murmelte er durch die Zähne,
„wo zwei zuſammen ſind, iſt der Kaſtengeiſt mitten
unter ihnen und ſie fließen zuſammen wie Queckſilber.“


Sein Blick haftete auf dem grünſeidenen Vorhang
zwiſchen den beiden Bücherſchränken, der ſeine Auf¬
merkſamkeit ſchon vorhin erregt hatte.


„Welches iſt denn dies verſchleierte Bild? irgend
ein wollüſtiger Correggio vermuthlich; auf jeden Fall
ein Beitrag zur intimeren Kenntniß dieſes wunder¬
lichen Mannes. Sie entſchuldigen meine Neugierde,
Monsieur le Baron!

Oswald zog mit einem Ruck der ſeidenen Schnur
den Vorhang zurück; und der Jüngling zu Sais, als
er den Schleier von dem heiligen Bilde der Iſis hob,
kann kaum erſchütterter geweſen ſein, wie es Oswald
[41] war, als er anſtatt eines farbetrunkenen italieniſchen
Gemäldes in einer Niſche eine Büſte aus keuſchem
weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem
Haarſchmuck und ein wenig idealiſirt, nichts war, als
ein ſprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war
ihr reiches, welliges Haar, das war ihre ſchöne zarte
Stirn, die feine gerade Naſe, das waren die weichen,
ſelbſt noch im Marmor thaufriſchen Lippen!


Ehe ſich Oswald von ſeinem Erſtaunen, der Ge¬
liebten ſich ſo plötzlich gegenüber zu ſehen, nur ſo
weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das
Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.


„Entſchuldigen Sie meine Indiscretion,“ ſagte
Oswald, ſich ſchnell faſſend; „aber wer heißt Sie
auch, verſchleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬
ſtellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬
währen.“


„Sie haben Recht,“ ſagte der Baron, ohne eine
Spur von Verwirrung; dieſer grüne Schleier iſt, wie
andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬
bei iſt es ſehr thöricht, die Copie zu verſchleiern, da
Jedermann das Original unverſchleiert ſehen kann,
wenn er ſich die Mühe giebt, nach Palermo zu reiſen,
und ſich eine Erlaubniß verſchafft, die Villa Serra
di Falco beſuchen zu dürfen.“

[42]

„In der That!“ sagte Oswald, den die unver¬
wüſtliche Ruhe, mit welcher ihm der Baron dies
Märchen aufzuheften ſuchte, ein wenig ärgerte: „alſo
bei Palermo? ich war ſchon verſucht, das Original
weniger weit zu ſuchen.“


„Sie meinen im Berliner Muſeum?“ ſagte der
Baron; „es exiſtirt dort allerdings eine Muſe, die mit
dieſem Bilde große Aehnlichkeit hat, aber der Unter¬
ſchied iſt doch, wenn ſie genauer vergleichen, ſehr
bedeutend.“


„Allerdings,“ ſagte Oswald; „die Naſe iſt an
jenem Bilde energiſcher; auch iſt die Haltung des
Kopfes eine andere, und überhaupt die Aehnlichkeit
mit Frau von Berkow, die an dieſer Büſte ſo frappant
iſt, weniger auffallend.“


„Finden Sie?“ ſagte der Baron, aufſtehend und
vor das Bild tretend. „Wahrhaftig, Sie haben
Recht. Es iſt wirklich eine flüchtige Aehnlichkeit
zwiſchen dieſem Bilde und Frau von Berkow. Nun,
das macht mir das Bild nicht ſchlechter, denn ich ge¬
ſtehe, daß es wenige Damen auf der Welt giebt, an
die ich mich ſo gern erinnern ließe, als an dieſe, ebenſo
liebenswürdige wie geiſtreiche Frau.“


Der Baron zog den Vorhang wieder über das
[43] Bild, als wünſchte er, jetzt das Geſpräch darüber ab¬
zubrechen.


„Kommen Sie, Doctor,“ ſagte er, „ſetzen Sie
ſich wieder und thun Sie, als ob Cloten, dieſer geiſt¬
reichſte Jüngling, nicht hier geweſen wäre.“


„Ich glaube, es iſt die höchſte Zeit, daß ich auf¬
breche,“ ſagte Oswald; „die Sonne iſt im Untergehen
— ich möchte gerade heute nicht ſpät nach Hauſe
kommen.“


„Wie Sie wollen,“ ſagte der Baron; „man ſoll
den kommenden Gaſt willkommen heißen und den da¬
voneilenden nicht halten. Ich habe große Luſt, Sie
eine Strecke zu begleiten. Sind Sie Reiter?


„Ein wenig.“


„So wollen wir reiten, wenn es Ihnen recht
iſt. Ich nehme einen meiner Leute mit. Entſchul¬
digen Sie mich für einen Augenblick. Ich will
nur ein wenig Toilette machen und die nöthigen Be¬
fehle geben.“


„Sie ſitzen gut zu Pferde, Doctor,“ ſagte der
Baron, als ſie eine Viertelſtunde ſpäter auf der Höhe
des Strandes langſam dahinritten. „Es iſt wirklich
merkwürdig, welch wunderbares Talent Sie in dieſen
Dingen zeigen. Ich glaube, es giebt keine körperliche
[44] Geſchicklichkeit, in der Sie es nicht in kurzer Zeit zur
Meiſterſchaft bringen könnten.“


„Es iſt das um ſo merkwürdiger,“ ſagte Oswald,
„weil ich doch eigentlich in Folge meiner plebejiſchen
Geburt und Erziehung gar keine Anſprüche auf dieſe
ariſtokratiſchen Vorzüge machen kann.“


„Schade, daß ich nicht Cloten bin,“ ſagte der
Baron.“


„Weshalb?“


„Weil ich dann die Ironie in Ihren Worten
nicht im Entfernteſten ahnen, im Gegentheil durch
Ihre rührende Beſcheidenheit von der an Haß grenzen¬
den Abneigung gegen Sie zurückkommen würde.“


„Iſt Herr von Cloten ſo gegen mich geſinnt?“


„Denken Sie denn, daß es einem Dandy lieb iſt,
wenn ein Anderer ſich ihm im Piſtolenſchießen, Tanzen,
Courmachen u. ſ. w., kurz in Allem überlegen zeigt,
was der größte Stolz ſeiner kleinen Seele iſt? Weiber
und weibiſche Männer verzeihen dergleichen nie. Ich
habe mich an dem Abend in Barnewitz königlich über
die Geſichter amüſirt, die, natürlich hinter Ihrem
Rücken, von einigen dieſer geiſtreichen Jünglinge ge¬
ſchnitten wurden, und mir leider den billigen Spaß
gemacht, durch allerlei kleine Teufeleien dieſe Püppchen
noch mehr in Harniſch zu bringen.“

[45]

„Warum leider? ich verſichere Sie, daß mir an
der guten oder ſchlechten Meinung dieſer Herren ſehr
wenig gelegen iſt.“


„Ohne Zweifel; aber Sie ſind, ſo lange Sie in
dieſer Gegend bleiben, genöthigt, mit dieſen Leuten zu
verkehren, und es iſt eine Regel der allergewöhnlichſten
Klugheit, daß man ſeinen Mitreiſenden nicht gefliſſent¬
lich auf die Hühneraugen tritt. — Wer zum Teufel
kommt denn da querfeldein von Cona her?“


Dieſer Ausruf des Barons galt dem geheimni߬
vollen Reiter, welchen Oswald bei ſeiner Ankunft be¬
merkt hatte, und der jetzt wieder quer über die Haide
herantrabte, und ungefähr vierhundert Schritte vor
ihnen auf den Weg gelangte.


Oswald erzählte dem Baron, was ihm mit dem
Reiter begegnet war.


„Das müſſen wir doch unterſuchen,“ ſagte der
Baron; „laſſen Sie uns einmal Trab reiten.“


Sie hatten kaum ein paar Schritte zurückgelegt,
als der Reiter vor ihnen, wie auf Verabredung, ſein
Pferd ebenfalls in Trab ſetzte. Es ſchien, als ob er
ſich einige Male verſtohlen umſchaute; doch war dies
bei dem Dämmerlichte, das jetzt herrſchte, nicht mehr
deutlich zu erkennen.


[46]

„Verſuchen wir es einmal mit Galopp“, ſagte Os¬
wald; „ich ſehe, der Geheimnißvolle macht es gerade
ſo, wie heute Nachmittag.“


Sie befanden ſich jetzt auf der weiten ebenen Fläche,
die, ſich allmälig zum Fiſcherdorfe ſenkend, dem ſtei¬
nigen und weniger ebenen Terrain des Vorgebirges,
auf welchem Oldenburg's Villa lag, folgte. Der Boden
war nur mit einer dünnen Erdſchichte, in welchem
ſpärliches Haidekraut wuchs, überkleideter Fels und
erdröhnte vom Hufſchlag der Pferde, die jetzt wacker
ausgriffen.


Der Geheimnißvolle war, ſo wie ſein Ohr den
ſchnelleren Hufſchlag vernahm, dem Beiſpiel gefolgt
und galoppirte jetzt, immer in derſelben Entfernung,
vor ſeinen Verfolgern her.


Stern chase is a long chase,“ ſagte Oldenburg,
dem die Sache großes Vergnügen zu machen ſchien.
„Der Burſche iſt übrigens ausgezeichnet beritten. Se¬
hen Sie nur, wie das Thier den Boden kaum mit
den Hufen zu berühren ſcheint. Weißt Du nicht,
Karl, wer es ſein kann?“


„Nein, Herr,“ ſagte der Reitknecht, der jetzt in
einer Linie mit den beiden Herren ritt; „es kann
Niemand aus unſerer Gegend ſein, ſonſt müßten wir
ihn ſchon geholt haben.“

[47]

„Karl ſchmeichelt ſich nämlich mit dem Gedanken,
daß er die beſten und ſchnellſten Pferde weit und breit
unter ſeinem Commando hat,“ bemerkte der Baron.


„Er hält es auch nicht lange mehr aus, Herr!“
ſagte Karl.


„Das müſſen wir abwarten,“ meinte der Baron.


„Sollen wir nicht, um dem Dinge ein Ende zu
machen, die Pferde einmal laufen laſſen?“ ſagte Os¬
wald nach einigen Minuten; „es muß ſich dann ja
zeigen, ob wir ihn einholen können, oder nicht.“


„Meinetwegen,“ ſagte Oldenburg, „en avant!“


Die drei Reiter ließen ihren Pferden die Zügel.
Die edlen Thiere, wie entzückt über die ihnen ge¬
währte Freiheit, und als wüßten ſie, daß ihr Ruf
als beſte Renner der ganzen Gegend heute auf dem
Spiele ſtand, ſtürmten mit gewaltiger Geſchwindigkeit
dahin, zuerſt Bruſt an Bruſt, bis Oldenburg's Rappe
die Spitze nahm und behauptete, ſo oft auch eins
der beiden andern Pferde ihm den Rang ſtreitig zu
machen ſuchte.


Der Geheimnißvolle hatte, als ſeine Verfolger ihre
Pferde in Carriere ſetzten, ſie bis auf zweihundert
Schritt herankommen laſſen. Schon glaubten ſie die
Jagd ihrem Ende nahe und der Reitknecht ſeine und
ſeiner Pferde Ehre gerettet, als plötzlich der Mann
[48] vor ihnen ſeinem Renner die Sporen gab und ſeinen
Kopf tief hinab bis faſt auf die Mähne des Thieres
beugend mit einer Schnelligkeit dahinſchoß, die bald
die Unmöglichkeit ihn einzuholen ſelbſt dem wüthenden
Reitknecht klar machte.


„Ich glaube, es iſt der Teufel ſelber,“ ſagte er
durch die Zähne.


Oldenburg lachte; „ich glaube es auch,“ rief er;
„wir wollen die Sache aufgeben.“


Es dauerte einige Zeit, bis die aufgeregten Pferde
ſich beruhigen konnten. Der Geheimnißvolle ſtürmte
mit unverminderter Geſchwindigkeit weiter und war
ſchon nach wenigen Minuten in dem Hohlwege, der
nach dem Fiſcherdorfe hinunterführte, verſchwunden.


Eine, halbe Stunde ſpäter langten ſie vor dem
Thore von Grenwitz an. Oswald ſtieg ab und über¬
gab die Zügel ſeines Pferdes dem Reitknecht, um dem
Baron die Hand zu ſchütteln.


„Wenn Sie ſich nicht allzuſehr gelangweilt haben,“
ſagte dieſer, „ſo wollen wir das Experiment in den
nächſten Tagen wiederholen. Leben Sie wohl!“


Oswald gelangte auf ſeine Stube, ohne auf dem
ſtillen Hofe, in dem ſtillen Hauſe auch nur einem
Menſchen begegnet zu ſein. Als er ſich in das offene
Fenſter lehnte und in den ſchon vom Abenddunkel er¬
[49] füllten Garten hinabſah, bemerkte er zwei Geſtalten,
die flüſternd und toſend in den Gängen auf- und ab¬
ſchritten. Es waren Albert und Marguerite. Sie
hatten offenbar die ſchöne Gelegenheit, in der Con¬
jugation von aimer weiter zu kommen, nicht unbenutzt
verſtreichen laſſen.


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 4
[[50]]

Drittes Kapitel.

„Mein Herr! Nach allen Seiten gleichmäßig zu
reüſſiren gelingt Keinem, ſelbſt nicht dem vom Glück
am meiſten begünſtigten Ritter. Werden Sie es da¬
her begreiflich finden, wenn Jemand, der mit einigem
Staunen die Fortſchritte beobachtet hat, die Sie in
der Gunſt einer gewiſſen Dame machten, das Ge¬
heimniß des Zaubers Ihrer Perſönlichkeit kennen zu
lernen und zu dem Zwecke Ihre nähere Bekannt¬
ſchaft
zu machen wünſcht? Und würden Sie wol,
um ihm dies Vergnügen zu gewähren, die Güte haben
heute Abend 11 Uhr einen Spaziergang aus dem
kleinen Thore von Grenwitz zu machen? Sie würden
vierhundert Schritte von demſelben auf dem Feldwege
nach Berkow einen Wagen treffen, in den Sie nur
zu ſteigen brauchten, um an den Ort des Rendezvous
zu gelangen. Dort ſollen Sie Alles finden, was zur
[51] Anknüpfung eines intimeren Verhältniſſes unter Gent¬
lemen nöthig iſt.


Es iſt wol nicht beſonders nothwendig, Sie daran
zu erinnern, daß dieſe delicate Angelegenheit in Ge¬
heimniß gehüllt bleiben muß. Der Lenker des Wa¬
gens wird aus der Antwort „Moi“ auf ſeinen Anruf:
qui vive?“ hören, daß Sie der Rechte ſind. Au
revoir
, Monsieur!“


So lautete der Inhalt eines expreſſen Briefes, den
der Poſtbote aus dem nächſten Städtchen am Abend
des folgenden Tages Oswald brachte.


Er las das ſonderbare Schreiben mehrmals, bevor
er ſich von ſeinem Erſtaunen erholen konnte. Wer
war der „Jemand“, der ſeine nähere Bekanntſchaft
zu machen wünſchte? wer die Dame, um die es ſich
handelte? War das Geheimniß der Waldkapelle ent¬
weiht worden? hatte Jemand die Scene in der Fenſter¬
niſche auf dem Balle in Barnewitz belauſcht? Konnte
Herr von Cloten der Herausforderer ſein? Das auf¬
fallend kühle Benehmen dieſes jungen Edelmannes
bei der zufälligen Begegnung geſtern ſchien dafür zu
ſprechen. Oder war dieſe Begegnung nicht zufällig,
und ſtand der geheimnißvolle Reiter damit in Ver¬
bindung? war es nur ein Spion Cloten's? Aber
war die Unterredung zwiſchen Herrn von Barnewitz
4*[52] und dem Baron, bei welcher Oswald ein ſo unfrei¬
williger Zeuge geweſen war, nicht Beweis genug, daß
Cloten nach einer ganz anderen Seite hin in Anſpruch
genommen und mit ſeinen eigenen Angelegenheiten
vollauf beſchäftigt war?


Oswald ließ die Reihe der jungen Edelleute, deren
Bekanntſchaft er auf dem Balle gemacht hatte, an
ſeinem Geiſte vorübergehen, und ſein Verdacht blieb
ſchließlich auf dem jungen Grafen Grieben haften,
jenem langen, blonden Jüngling, der ſo komiſche An¬
ſtrengungen machte, den ſtarken Geiſt zu ſpielen und
ſich die Gunſt der übermüthigen Emilie zu erwerben,
und in beiden Bemühungen ſo unglücklich geweſen war.
Er konnte am erſten der Erfinder der Phraſe von
dem „vom Glück begünſtigten Ritter“ ſein.


Was ſollte er thun? Sollte er ſich der vielleicht
nichts weniger als edlen Rache der jungen Edelleute aus¬
ſetzen? ſollte er in einen Kampf gehen, in welchem er die
Wahl der Waffen, der Zeugen, des Ortes, kurz Alles
ſeinem Gegner zu überlaſſen gezwungen war? Konnte
es ihm ein billig denkender Mann verargen, wenn er die
Herausforderung eines Namenloſen unbeachtet ließ?


Aber hatte er es denn mit billig denkenden Män¬
nern zu thun? hatte er nicht die Erfahrung gemacht,
bewies nicht Alles, was er ſah und hörte, daß in
[53] dieſen bevorzugten Kreiſen ſubjectives Belieben für
Recht galt und die frivolſte Laune des Augenblicks
die Richtſchnur des Handelns war? Fand ſich dieſer
Zug nicht ſelbſt bei denen, welche Geiſt und Charakter
ſo hoch über den gewöhnlichen Troß ihrer Standes¬
genoſſen erhob: bei Oldenburg und Melitta?


Und würde ihm ein Ablehnen der Herausforderung
nicht als Feigheit, nicht als ein Mangel jenes feinen
Ehrgefühls ausgelegt werden, auf welches ſich der Adel
ſo viel zu Gute thut?


Nein, nein; er mußte den Fehdehandſchuh auf¬
nehmen, wie verächtlich auch die Hand ſein mochte,
die ihm denſelben aus dem Dunkel heraus vor die
Füße geſchleudert hatte. Er mußte den Junkern zeigen,
daß er ſich nicht fürchtete, allein, ohne Freunde, waffen¬
los ihrer Rache gegenüber zu treten.


Sein Blut kochte. Er ging erregt im Zimmer
auf und ab.


„Nur zu, nur zu!“ murmelte er durch die Zähne;
„ich wollte, ſie ſtellten ſich mir gegenüber, einer nach
dem andern, mein Haß würde mir die Kraft geben,
ſie Alle niederzuſchmettern. Es iſt ganz recht ſo,
ganz recht! Was habe ich hier zu thun unter dieſen
Wölfen? Zerriſſen werden oder zerreißen — das hätte
ich mir von vornherein ſagen können.


[54]

Oswald fühlte, wie aus dem tiefſten Grunde ſeiner
Seele, in den ſein Auge noch nie gedrungen war, es
aufſtieg mit dämoniſcher Gewalt. Eine wilde Leiden¬
ſchaft, ein heißer Durſt nach Rache, ein wahnſinniges
Verlangen, zu zerſtören, zu vernichten, erfaßte ihn;
der ganze fanatiſche Haß gegen den Adel, den er als
Knabe empfunden, wenn er ſeinem Vater in dem
Garten hinter der Stadtmauer die Piſtolen lud, mit
denen jener auf die Aſſe ſchoß, die eben ſo viele Her¬
zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬
bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier
las, oder auf ſeiner Stube die thränenreiche Geſchichte
der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen!
Hier in dieſem Schloſſe, vielleicht in denſelben Zim¬
mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger
Grauſamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬
liche, ſchöne Marie mit tauſend heißen Thränen die
Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers
geglaubt zu haben.


Sie war als Opfer gefallen, denn ſie war ein
ſchwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen,
Thränen, die kein Erbarmen fanden. Dieſe Thränen
waren noch nicht geſühnt. Wie? wenn er als Rächer
für ſie aufſtände, wenn er dieſe Thränen eines Bür¬
germädchens ſühnte in dem Blut eines Adligen? . . .


[55]

Solche Gedanken wirbelten durch Oswald's Ge¬
hirn, während er für den Fall eines ſchlimmen Aus¬
gangs — den er übrigens ſonderbarer Weiſe kaum
für möglich hielt, ſo ſchnell hatte er ſich in die Rolle
eines Rächers gefunden — einige flüchtige Vorberei¬
tungen traf, das heißt, die Briefe, von denen er nicht
wünſchte, daß ſie jemals in fremde Hände fielen, ver¬
brannte und überhaupt etwas Ordnung in ſeine Pa¬
piere brachte; ſchließlich auch ein paar Zeilen an Pro¬
feſſor Berger ſchrieb, die er aber hernach wieder zer¬
riß und in den Ofen warf.


Tant de bruit pour une omelette,“ ſagte er;
„das Lumpenvolk iſt nicht werth, daß man ſeinethal¬
ſo viel Umſtände macht.“


Mit Ungeduld erwartete er die bezeichnete Stunde.


Es ſchlug zehn auf der Schloßuhr. Er hörte,
daß die Leute zu Bette gingen, auch aus Albert's
Zimmer ſchimmerte Licht in den dunklen Garten hinab.
Es ſchlug halb elf. Oswald machte ſorgfältig Toilette,
nahm eine Roſe aus einem Blumenſtrauß, den er
ſich heute im Garten gepflückt hatte, und ſteckte ſie
ins Knopfloch.


Dann ging er leiſe aus ſeinem Zimmer die enge
Treppe, auf welcher Marie in jener ſtürmiſchen Herbſt¬
nacht ſich aus dem Schloß geſtohlen hatte, hinab in
[56] den Garten, durch den Garten nach dem Gitterthor,
welches neben dem Schloß auf den Hof führte und
von dem man nur noch ein paar Schritte zu dem
kleinen Thor hatte, vor welchem ihn der Wagen er¬
warten ſollte.


Der nächtliche Himmel war mit Wolkendunſt be¬
deckt, durch welchen nur ſpärliche Sterne leuchteten;
es war ſo finſter, daß Oswald, bis ſich ſein Auge
an das Dunkel gewöhnt hatte, den ſo bekannten Weg
mit Vorſicht gehen mußte, um nicht rechts oder links
in den Graben zu gerathen.


Plötzlich tauchte ein großer Gegenſtand aus dem
Dunkel vor ihm auf, und in demſelben Augenblick rief
eine tiefe, rauhe Stimme: qui vive!


Moi“, antwortete Oswald.


Er ſah die deutlichen Umriſſe einer langen Geſtalt,
die ihm die Thür des Wagens öffnete und den Schlag
herabließ.


Sobald er eingeſtiegen war, wurde die Thür hin¬
ter ihm geſchloſſen und ſofort zogen auch die Pferde
an; er konnte nicht erkennen, ob die Geſtalt neben
dem Kutſcher Platz genommen hatte, oder der Kutſcher
ſelbſt war.


Kutſcher und Pferde mußten den Weg ſehr genau
kennen, oder in dunkler Nacht ſo gut ſehen können,
[57] wie am hellen Tage; denn der Wagen bewegte ſich
mit einer Schnelligkeit, gegen die ſelbſt ein ungedul¬
diger Liebender nichts hätte einwenden können. Der
Weg war gut, und wenn auch hie oder da ein Stein
im Geleiſe lag, ſo hing der Wagen in ſo vortreff¬
lichen Federn, daß man den dadurch verurſachten
Stoß kaum ſpürte.


Oswald lehnte ſich in die ſchwellenden Kiſſen.
Der weiche Sammet ſchien einen feinen Wohlgeruch
auszuſtrömen, der den engen Raum erfüllte, wie das
Boudoir einer hübſchen Frau. Ja, es war Oswald,
als ob es daſſelbe Parfüm ſei, das Melitta zu führen
gewohnt war. Und plötzlich war es ihm, als ſäße
Melitta neben ihm, als berühre ihre warme weiche
Hand ſeine Hand, als fühlte er das Wehen ihres
Athems an ſeiner Stirn, als legten ſich ihre Lippen
leicht wie ein Hauch auf ſeinen Mund.


Und vor dieſem wonnigen Traum verſank die
Wirklichkeit in nichts. Oswald vergaß, was er vor¬
hatte; er dachte nicht daran, was ſeiner harrte; er
wußte nicht mehr, wo er war — und nur ſie, ſie
allein erfüllte ſeine ganze Seele. Wie eine Sturm¬
fluth von Seligkeit überkam ihn die Erinnerung an
ihren Liebreiz, ihre Güte, ihre holde Rede und ihren
ſüßen Kuß. Mit wunderbarer Klarheit zogen die köſt¬
[58] lichen Bilder der einzig wonnigen Stunden, die er an
ihrer Seite, zu ihren Füßen verlebt hatte, durch ſeine
Erinnerung, von jener erſten Begegnung auf dem
Raſenplatze hinter dem Schloſſe von Grenwitz bis zu
dem Augenblick, wo ſie, mit Thränen in den lieben
Augen, ſich von ihm wandte in jener Nacht unſeligen
Angedenkens, wo der Dämon der Eiferſucht die ſcharfen
Krallen in ſein zuckendes Herz ſchlug.


„Vergieb mir, Melitta; vergieb mir!“ ſtöhnte er,
ſeinen Kopf in die Kiſſen drückend.


Da plötzlich hielt der Wagen. Die Thür wurde
aufgeriſſen; die lange Geſtalt, die ihm den Schlag
herabgelaſſen hatte, half ihm ausſteigen, reichte ihm
die Hand, führte ihn einige Stufen hinauf zu einer
hohen Fenſterthür, durch deren rothe Vorhänge ein
mattes Licht ſchimmerte. Die Thür that ſich auf,
und Oswald ſah ſich in dem Gartenſaal von Melit¬
ta's Schloß und Melitta ſchlang ihre Arme um
ſeinen Hals und Melitta's Stimme flüſterte: „ver¬
gieb mir, Oswald! vergieb mir!


„Du Grauſamer!“ ſagte Melitta, als der erſte
wilde Sturm des Entzückens mit ſeinen Thränen¬
ſchauern der Wonne vorübergebrauſt war; „wie haſt
Du nur ſo viele Tage Dein Herz vor mir verſchlie¬
[59] ßen können, und wußteſt doch, daß ich da draußen
ſtand und um Einlaß bettelte! Aber ich will Dich nicht
ſchelten. Du biſt ja hier und nun iſt Alles wieder
gut.“


Sie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt und ſchaute
durch Thränen lächelnd zu ihm empor: „nicht wahr,
lieb Herz, nun iſt Alles wieder gut? nun iſt Melitta
wieder, was ſie Dir vorher war, was ſie Dir ewig
ſein wird trotz aller hübſchen ſechzehnjährigen Mäd¬
chen, ſie mögen Emilie heißen oder —“


„Melitta!“


„Oder Melitta! denn es giebt nur eine Melitta
und wenn tauſend ſo hießen und dieſe eine bin ich.
Und daß Du dieſen wichtigen Umſtand vergeſſen konn¬
teſt, welche Umſtände haſt Du mir dadurch bereitet,
mir und dem armen alten Baumann! Ich will von
mir nichts ſagen, denn Leid will Freud und Freud
will Leid haben, und wenn man rechtſchaffen liebt,
kommt es auf ein paar Thränen, ein paar durch¬
wachte Nächte, ein paar angefangene und wieder zer¬
riſſene Briefe mehr oder weniger nicht an; aber der
arme Baumann! Denke Dir nur! ich war am erſten
Tage ganz ruhig, denn ich dachte: er wird ſchon kom¬
men, und Dich fußfällig um Verzeihung bitten; als
Du aber nicht kamſt, nicht am zweiten, nicht am drit¬
[60] ten Tage, da ſank mir der Muth und ich mag wohl
recht troſtlos ausgeſehen haben, denn wie ich hier,
den Kopf aufgeſtützt ſaß, fühlte ich plötzlich eine Hand
auf meiner Schulter und als ich aufſchaue, ſteht der
gute alte Baumann da und ſagt: „ſoll ich einmal
nachſehen, wo er ſo lange bleibt?“ — „Ach ja, lieber
Baumann“, ſagte ich. Da ging die treue Seele, ohne
weiter ein Wort zu ſagen fort, und kam erſt ſpät am
Abend wieder. „Hat Er ihn geſehen?“ — „Zu Be¬
fehl; er iſt wohl und munter; ich bin mit ihm in die
Wette geritten.“


„So war der alte Baumann der geheimnißvolle
Reiter?“


„Natürlich und er lachte in ſeiner ſtillen Weiſe,
wie er erzählte, daß Ihr ihn gejagt hättet, als wollte
er ſagen: dieſe Kinder! dachten, ſie könnten mich über¬
holen auf dem Brownlock!“


„Das war der Brownlock, von dem mir Bruno
ſchon ſo viel vorgeſchwärmt hat; ja freilich! nun er¬
klärt ſich Alles!“


„Nicht wahr? nun erklärt ſich auch, weshalb ſich
Baumann hinſetzte und nach meinem Dictat den Brief
ſchrieb. Der Alte wollte nicht und ſagte: ein Duell
iſt kein Kinderſpiel und das heißt den Scherz zu
weit treiben; aber ich lachte und weinte, bis er es
[61] doch that und heute Morgen noch einmal auf den
Brownlock ſtieg und in die Stadt ritt, und heute
Abend nach Grenwitz fuhr.“


„Und wenn ich nun der Herausforderung nicht ge¬
folgt wäre?“


„Das deutete auch Baumann an und ich antwor¬
tete ihm: ſchäme Er ſich, Baumann, ſo etwas zu
ſagen.“


Oswald lachte: „Natürlich! wir müſſen uns jedes
Mal ſchämen, ſo oft wir etwas ſagen oder thun,
was nicht in die Welt paßt, wie ſie ſich in Euren
Köpfen malt.“


Melitta antwortete nicht und Oswald ſah, daß
ein Schatten über ihr Geſicht flog. Er ließ ſich vor
ihr auf ein Knie nieder und ſagte, ihre herabhängende
Hand ergreifend:


„Habe ich Dich beleidigt, Melitta?“


„Nein“, ſagte ſie; „aber dieſe Bemerkung hätteſt
Du vor acht Tagen nicht gemacht.


„Wie meinſt Du das?“


„Komm, ſteh auf! laß uns ein wenig in den Gar¬
ten gehen. Es iſt ſo ſchwül in den Zimmern: mich
verlangt nach der kühlen Nachluft.“


Sie gingen hinab in den Garten und wanderten
Arm in Arm zwiſchen den Beeten, bis ſie zu der nie¬
[62] drigen Erdterraſſe gelangten, wo Oswald, als er an
jenem Sonntag Nachmittag den Beſuch auf Berkow
machte, Melitta getroffen hatte. Sie ſetzten ſich unter
den Tannenbaum, der ſeine Aeſte ſchützend über ſie
breitete, auf eine der Bänke. Die Nacht war laut¬
los ſtill; die Bäume ſtanden unbeweglich, wie in tie¬
fem Schlaf; würziger Blumenduft erfüllte die warme
thauloſe Luft; Glühwürmchen irrten wie leuchtende
Sterne durch das Dunkel.


„Du haſt mir auf meine Frage noch immer nicht
geantwortet, Melitta?“ ſagte Oswald, „was haben
denn die letzten acht Tage an mir verändert? bin ich
nicht mehr derſelbe, der ich war, nur daß die bittere
Reue, Dir weh gethan zu haben, meine Liebe zu Dir
nur noch tiefer und inniger gemacht hat?“


Melitta antwortete nicht; plötzlich ſagte ſie, ſchnell
und leiſe:


„Biſt Du ſeit dem Sonntag in Barnewitz oft mit
ihm zuſammengeweſen?“


„Mit wem, Melitta?“


„Nun mit — mit Baron Oldenburg. Gott ſei
Dank, nun iſt es endlich heraus! Es iſt recht kindiſch
und thöricht, daß ich mich bis jetzt ſtets geſträubt
habe, Oldenburgs zu erwähnen, und Dir zu ſagen,
welches meine Beziehungen zu dem Manne waren,
[63] und doch fühlte ich, daß Du ein Recht hatteſt, es zu
wiſſen, und daß ich die Pflicht habe, von meiner Ver¬
gangenheit, wo ſie Dir dunkel ſcheinen muß, den
Schleier zu heben. Dies Gefühl wurde zuletzt, be¬
ſonders, als ich ſeit geſtern wußte, daß Du mit dem
Baron auf einem intimen Fuße ſtandeſt, ſo ſtark,
daß ich Dich um jeden Preis hier zu haben wünſchte,
und da verfiel ich denn auf den kindiſch dummen
Einfall.“


„Ich habe nicht, wie Du ſagſt, das Recht zu einer
ſolchen Neugier, Melitta;“ antwortete Oswald. Für
die Liebe, die Du mir gewährſt, muß ich dankbar ſein
und bin ich dankbar, wie für eine holde Gnade des
Himmels. Ja, ich geſtehe, es gab eine Zeit, wo
meine Liebe noch den Zweifel kannte, aber da war ſie
noch nicht die echte Liebe. Jetzt iſt es mir undenkbar,
ich könnte je aufhören Dich zu lieben, und Deine
Liebe könnte jemals aufhören. Ja, es iſt mir, als
ob dieſe Liebe, wie ſie ewig ſein wird, auch ſchon von
Ewigkeit geweſen wäre. Ob Du ſchon früher geliebt
haſt, ich weiß es nicht; es iſt möglich, aber ich verſtehe
es nicht und würde es nicht verſtehen, wenn Du es
mich auch ausdrücklich verſicherteſt.“


„Und ich verſichre Dich,“ ſagte Melitta, ſich zärt¬
an den Geliebten ſchmiegend; „ich habe nie geliebt.
[64] bis ich Dich ſah; denn, was ich früher Liebe nannte,
war nur die unbefriedigte Sehnſucht nach einem Ideal,
das ich im tiefſten Herzen trug, das ſich mir niemals
zeigen wollte, und das, jemals zu finden, ich ſchon ſeit
Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte.“


„Und Du glaubſt, ich ſei dies verkörperte Ideal?
Arme Melitta! wie bald wirſt Du aus dieſem Traum
erwachen! Erwache, Melitta! erwache — noch iſt es
Zeit!“


„Nein, Oswald, es iſt zu ſpät. Es giebt eine
Liebe, die ſtark iſt wie der Tod, und aus ihr giebt
es kein Erwachen. Nein! kein Erwachen! Ich fühle
es, ich weiß es. Und wenn Du Dein Antlitz von
mir wendeteſt, und wenn Du mich von Dir ſtießeſt
— Dir gegenüber habe ich keinen gekränkten Stolz,
keine verletzte Eitelkeit — nur Liebe, unergründliche,
unermeßliche, unerſchöpfliche Liebe. Bis jetzt wußte
ich nur, daß ich lieben könne; wie ſehr ich lieben
könne, haſt Du mich erſt gelehrt. . . .


„Und nun kann ich auch ruhig über die Zeit
ſprechen, in der ich Dich noch nicht kannte — denn
jenes Leben war nur ein Scheinleben — und Alles,
was ich fühlte und dachte, war nur ein unbeſtimmtes
Träumen ohne Zuſammenhang und Sinn. Jetzt weiß
ich es, jetzt, wo ich in dem Sonnenſtrahl Deiner
[65] Liebe die Augen aufſchlug und nun das Leben ſo
durchſichtig klar vor mir liegt, daß mir die dichte
Nacht, die uns umgiebt, heller däucht, wie ſonſt der
lichteſte Tag, und die dunkelſten Räthſel meines Her¬
zens gelöſt ſind. Jetzt kann ich von der Melitta der
früheren Zeit ſprechen, wie von einem fremden We¬
ſen, für deſſen Thun und Laſſen ich mich nicht ver¬
antwortlich fühle; jetzt kann und will ich Dir erzäh¬
len, was es für eine Bewandniß mit dem Bilde in
meinem Album hat, dem losgelöſten Blatt, deſſen Vor¬
handenſein Dich damals ſo erſchreckte, liebes Herz.
Ja, ja, ich hab es wol bemerkt — Du entfärbteſt
Dich und konnteſt nicht faſſen, wie ich Dich um Dein
Urtheil über den Mann befragen konnte, den Du für
meinen Geliebten halten mußteſt. Und doch war
das Oldenburg nie, oder es müßte in der Liebe tau¬
ſend Grade geben, von denen der niedrigſte von dem
höchſten ſo weit entfernt iſt, wie die Erde von dem
Himmel.


„Ich kannte Oldenburg ſchon von meiner früheſten
Kindheit an. Salchow, das Gut meines Vaters, grenzt
an Cona, wo Du geſtern warſt. Meine Tante, die
nach dem frühen Tode meiner Mutter meine Er¬
ziehung leitete, und Oldenburg's Mutter waren ſehr
gute Freundinnen und kamen faſt täglich zuſammen.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 5[66] Natürlich auch wir Kinder. Oldenburg war ein paar
Jahre älter als ich, aber da die Mädchen den Knaben
ſtets in der Entwickelung voraus ſind, ſo wurde der
Unterſchied des Alters von uns nicht empfunden, wir
ſpielten und arbeiteten zuſammen, und hielten gute
Kameradſchaft — für gewöhnlich; denn es kam auch
manchmal zu heftigem Wortwechſel und Zank und
Thränen. Ich gab ſelten Veranlaſſung dazu, denn
ich war wenig rechthaberiſch und ſtets zu Conceſſionen
bereit, aber Adalbert war über die Maßen empfind¬
lich, ſtörriſch und eigenwillig. Die Doppelnatur
ſeines Weſens, die er ſpäter auszugleichen ſich be¬
mühte und vor weniger Scharfſichtigen auch meiſtens
zu verbergen wußte, lag damals offen zu Tage. Es
war unmöglich, ſich nicht für ihn zu intereſſiren, aber
ich glaube, es gab Niemanden, der ihn wirklich liebte.
Er fühlte das, und dies Gefühl, welches er wie eine
geheime Wunde ſtets mit ſich herumtrug, machte ihn
ſchon ſehr früh zu einem Hypochonder und Menſchen
feind. Was half es ihm, daß Jedermann ſeine emi¬
nenten Gaben bewunderte, daß Niemand an ſeinem
Muth, ſeiner Wahrheitsliebe zweifelte! ſein ſtörriſches,
eigenſinniges Weſen ſtieß Alle zurück, verletzte Alle;
ja ſelbſt ſeine lange, unſchöne Geſtalt und ſeine täp¬
piſchen, linkiſchen Bewegungen trugen dazu bei, die
[67] Herzen der Menſchen von ihm zu wenden. Wenigſtens
war es ſo bei mir, da ich mich von Jugend auf zu
allem, was ſchön und anmuthig war, unwiderſtehlich
hingezogen fühlte, und einen wahren Abſcheu vor dem
Häßlichen und Formloſen hatte. Ich konnte mich nicht
überwinden, Adalbert zu lieben, obgleich er mit großer,
aber freilich ſtets hinter Schroffheit und Kälte ſorg¬
ſam verſteckter Zärtlichkeit an mir hing und manch¬
mal, wenn ſeine Leidenſchaftlichkeit über die künſtliche
Ruhe, die er zur Schau trug, ſiegte, mir in den
herbſten, bitterſten Ausdrücken meine Liebloſigkeit,
meinen Leichtſinn, meinen Wankelmuth vorwarf.


Dies Verhältniß blieb, bis Adalbert mit ſechzehn
Jahren das Gymnaſium bezog, denn er hatte es bei
ſeinem Vormunde — ſeine Mutter war jetzt auch ge¬
ſtorben — durchgeſetzt, daß er ſtudiren durſte. Er
kam nur noch ſelten und immer nur auf wenige Tage
nach Cona. Dann war ich zwei Jahre lang in Pen¬
ſion. So kam es, daß wir uns, bis er nach Heidel¬
berg ging, nur im Vorübergehen ſahen. Als er von
der Univerſität und ſeiner erſten größeren Reiſe zu¬
rückkehrte, war ich ſchon zwei Jahre verheirathet ge¬
weſen.


Es dauerte eine geraume Zeit, bis er einen Be¬
ſuch auf Berkow machte. Unſer Wiederſehen war
5*[68] eigenthümlich genug. Er ſchien den ganzen, ſo verän¬
derten Zuſtand nur als ein fait accompli hinzu¬
nehmen, dem man ſich beugt, weil man muß. Er
beläſtigte mich nicht mit Fragen; er verlangte keine
vertrauliche Mittheilung, auf die der einzige Freund
meiner Kinder- und Mädchenjahre doch wohl An¬
ſpruch hatte. Er machte mir auch keine Vorwürfe;
er ſagte mir nicht, daß er mich geliebt, daß er auf
meine Hand gehofft hatte, obgleich ich nachher erfuhr,
daß dies doch der Fall geweſen, und daß er, als ihn
die Nachricht von meiner Verheirathung in Heidel¬
berg traf, faſt in Raſerei gefallen war und wochen¬
lang, monatelang an einer unbeſieglichen Schwermuth
gekrankt hatte. Er ſuchte ſich durch eigene Beobach¬
tung ein möglichſt klares Bild meines jetzigen Ver¬
hältniſſes zu verſchaffen. Ich ſah, daß ihm nichts
entging, daß keine meiner Aeußerungen von ihm un¬
berückſichtigt, keine meiner Mienen von ihm unbeobach¬
tet blieb. Dieſes Bewußtſein, unter der Controle
eines ſo ſcharfſichtigen Auges zu ſtehen, war nichts
weniger als behaglich, zumal wenn, wie in dieſem
Falle, ſo Vieles hätte anders ſein können, anders
ſein müſſen. Es trat bald wieder daſſelbe Verhält¬
niß ein, welches früher zwiſchen uns geherrſcht hatte,
nur daß die heftigen Scenen wegblieben, die damals
[69] durch ſeine Leidenſchaft gelegentlich herbeigeführt wur¬
den. Wie er mir früher alle hübſchen Muſcheln,
Steine und Blumen, die er am Strande, zwiſchen den
Klippen, auf den Wieſen gefunden hatte, zutrug, ſo
theilte er mir jetzt alles mit, was er Intereſſantes
auf den vielen Feldern des Wiſſens, auf denen ſich
ſein unerſättlicher und unermüdlicher Geiſt umhertrieb,
entdecken konnte: bald ein ſchönes Gedicht, bald eine
tiefſinnige Sentenz, — und er empfand es jetzt nicht
weniger ſchmerzlich, daß ich mit den geiſtigen Schätzen
nicht haushälteriſcher umging, als mit den Blumen,
die ich vertrocknen ließ, und den Steinen und Muſcheln,
die ich wegwarf. Ich wußte, daß ich keinen treueren
Freund hatte, als ihn, und er, daß ſich in das Ge¬
fühl, welches ich für ihn empfand, auch nicht die min¬
deſte Liebe miſchte; um ſo uneigennütziger war ſeine
Freundſchaft, und um ſo unverantwortlicher die Lau¬
nenhaftigkeit, mit der ich ihn behandelte.


Seine Freundſchaft ſollte bald eine traurige Ge¬
legenheit finden, ſich zu bethätigen. Die Schwermuth,
in die Carlo kurz nach Julius Geburt gefallen war,
nahm einen immer krankhafteren Charakter an. Aus¬
brüche einer unberechenbaren Laune, die Vorboten der
letzten fürchterlichen Kataſtrophe, wurden immer häu¬
figer. Er wollte jetzt Niemand um ſich haben, als
[70] Adalbert, was um ſo auffallender war, als er, der
Lebemann, den tiefſinnigen, melancholiſchen, und um
ſo viel jüngeren Baron — den Jüngling von Sais
nannte er ihn — früher ſtets verlacht, verſpottet und
eigentlich wohl gehaßt hatte. Jetzt begleitete er ihn
auf Tritt und Schritt, jetzt war Oldenburg's Stimme
die einzige, welche die finſtern Dämonen, die um ſein
Haupt die Flügel ſchlugen, auf Augenblicke wenigſtens
verſcheuchen konnte. Und die Aufopferung, mit der
Oldenburg ſich dieſem Liebesdienſt unterzog, iſt nicht
hoch genug anzuerkennen und ich müßte ſie ihm, ſo
lange ich lebe, danken. Dann kam die Kataſtrophe.
Oldenburg ſtand mir in dieſen ſchweren Tagen treu
zur Seite; oder genauer: er nahm alle Laſt und Ver¬
antwortung ſo ganz auf ſich und leitete Alles mit
ſolcher Energie und Umſicht, daß ich nur immer Ja
zu ſagen hatte.


Carlo war in eine Anſtalt im ſüdlichen Deutſch¬
land gebracht und ich war allein hier auf Berkow,
mich ganz der Erziehung meines Julius, der damals
fünf Jahre alt war, und dem ich auf Oldenburg's
Rath ſchon jetzt in Bemperlein einen Freund und
Lehrer gegeben hatte, widmend. Oldenburg kam jetzt
ſeltener als früher, aber doch noch immer ſehr häufig,
wie mir ſchien. Ich glaubte zu bemerken, daß ſich
[71] ein Ton von Zärtlichkeit in die Freundſchaft miſchte,
die ich einzig von ihm wünſchte und erwartete; und
kaum hatte ich dieſe Bemerkung gemacht, als ich mich
ſchon berechtigt glaubte, ihn, ſo ſchonend wie möglich
freilich, auf die allzugroße Häufigkeit ſeiner Beſuche
aufmerkſam zu machen. Es war dies vielleicht ent¬
ſetzlich undankbar von mir; aber uns Frauen wird es
auch entſetzlich ſchwer, gegen den dankbar zu ſein, den
wir nicht lieben.


„Den nächſten Tag ſchon war Oldenburg abgereiſt;
Niemand wußte wohin. Dann wollte ihn ein halbes
Jahr ſpäter Einer in London geſehen haben; ein An¬
derer ſah ihn ein Jahr darauf in Paris. Er war bald
hier, bald dort, ruhelos umhergetrieben von ſeinem
wilden Herzen und ſeinem unerſättlichen Wiſſensdurſt.


So waren vier Jahre verfloſſen, die in meinen
Verhältniſſen ſehr wenig geändert hatten. Oldenburg's
gedachte ich ſelten und immer wie eines Verſtorbenen.
Da — es iſt nun drei Jahre her — ließ ich mich
von meinem Vetter und meiner Couſine bereden, ſie
auf der Reiſe nach Italien zu begleiten. Als wir
eines Abends im Mondenſchein das Coliſeum beſuchten,
ſtand plötzlich Oldenburg vor uns. „Endlich!“ ſagte
er leiſe, indem er mir die Hand drückte. Er wollte
uns ganz zufällig getroffen haben; hernach geſtand er
[72] mir, daß er in Paris, ich weiß nicht durch wen?
unſern Reiſeplan erfahren, uns ſchon von München
aus verfolgt und immer verfehlt habe, bis es ihm
endlich hier gelang, uns einzuholen. Ich muß ge¬
ſtehen, daß ich mich über dies Zuſammentreffen auf¬
richtig freute und es mit einiger Genugthuung em¬
pfand, daß es kein zufälliges war. Es vereinigte ſich
Alles, um Oldenburg bei mir einen guten Empfang
zu bereiten. Man ſchließt ſich auf Reiſen ſelbſt an
Fremde leicht an: wie ſollte uns der Freund unſerer
Jugend, wenn wir ihn plötzlich in fernen Landen
treffen, nicht willkommen ſein? Oldenburg hatte Ita¬
lien ſchon mehrmals bereiſt und kannte jeden Meiſter
von jedem Altargemälde in jeder Kloſterkirche Seine
lehrreiche Unterhaltung ſtach gegen das banale Ge¬
ſchwätz meiner Verwandten gar ſehr zu ſeinem Vor¬
theile ab, und dazu kam, daß Oldenburg durch die
vielfache Berührung mit der feinſten Geſellſchaft jetzt
die ſchroffen und rauhen Seiten ſeines Weſens be¬
deutend abgeſchliffen hatte. Sein Auftreten war, wie
Du es jetzt ſiehſt, das heißt, bei aller bis an Nach¬
läſſigkeit ſtreifenden Ungezwungenheit, doch im ſchönſten
Sinne des Wortes ariſtokratiſch. Mit einem Worte:
er machte jetzt einen Eindruck auf mich, den ich früher
nie für möglich gehalten hätte. Es war nicht Liebe,
[73] was ich für ihn empfand, aber es war doch auch
mehr als die kühle Freundſchaft, welche ich ihm bis
jetzt entgegengebracht hatte. Aber ſeltſam, in dem¬
ſelben Maße, in welchem ich die geheime Antipathie,
die ich ſchon von meinen Kinderjahren her gegen ihn
hatte, einer beinahe herzlichen Zuneigung weichen fühlte,
wurde ſein Benehmen gegen mich ſchroffer und kälter.
Er richtete ſeine Unterhaltung, wenn wir beiſammen
waren, faſt ausſchließlich an meine Couſine und be¬
handelte mich wie ein verzogenes Kind, dem man den
Willen thut, nur damit es nicht anfängt zu weinen.
Das verletzte meine Eitelkeit und dieſer verletzten Eitel¬
keit und der Eiferſucht, die ich gegen meine Couſine
empfand, zu Liebe, legte ich es ernſtlich darauf an,
mir Oldenburg's Zuneigung, die ich durch eine mir
unbekannte Urſache verloren zu haben glaubte, wieder
zu gewinnen. Das bewirkte alsbald eine völlige Um¬
wandlung in Oldenburg's Betragen. Er überſchüttete
mich jetzt mit Aufmerkſamkeiten, er ſchien Hortenſe
vollkommen vergeſſen zu haben, und ſobald wir allein
waren, zeigte er eine Leidenſchaft, die mich zuerſt in
Verwunderung und dann in Schrecken ſetzte. Dabei
wußte er jeder eigentlichen Erklärung ſorgfältig aus¬
zuweichen und mich ſtets in Zweifel zu erhalten, ob
dies nur eine ſeiner tollen Launen war, die er ge¬
[74] legentlich annimmt und ablegt, wie ein Kleid, oder
der Ausdruck einer wirklichen tiefgewurzelten Neigung.
Es war unmöglich, Oldenburg in dieſer Zeit nicht zu
bewundern. Sein Genius zeigte ſich glänzender, wie
je zuvor; die Fülle von Geiſt, die er verſchwenderiſch
entfaltete, war in der That außerordentlich. Er war
die Seele jeder Geſellſchaft; man riß ſich förmlich
um ihn, und da er franzöſiſch, engliſch, italieniſch und
ich weiß nicht, wie viel Sprachen außerdem, ſo gut
wie deutſch ſpricht, ſo ſchien jede Nation ihn als einen
der ihrigen anſehen zu dürfen und zu wollen. Wenn
er nun mich zur Königin jedes Feſtes machte, wenn
er Alle zwang, mir zu huldigen, wenn er alle Schätze
ſeines reichen Geiſtes mir entfaltete, um ſie mir zu
Füßen zu legen, ſo iſt es wol natürlich, daß ich da¬
gegen nicht gleichgültig bleiben konnte, daß ich mir
eine kurze Zeit lang einbildete, ihn zu lieben. Ohne
ihn geradezu aufzumuntern, ließ ich ihn doch gewähren,
wenn er mich in Augenblicken, wo wir allein waren,
mit dem vertraulichen Du unſerer Kinderjahre an¬
redete, wenn er in Geſellſchaft mir jene Aufmerkſam¬
keiten erwies, die man ſonſt nur von einem erklärten
Liebhaber entgegenzunehmen gewohnt iſt.”


„Still, Melitta, mir war, als hörte ich Jemand
im Garten.”

[75]

„Ich hörte nichts.“


„Sind wir hier auch vor jeder Störung ſicher?“


„Vollkommen. Indeſſen, laß uns in's Haus zurück¬
kehren; mir däucht, der Nachtthau beginnt zu fallen.“


Sie erhoben ſich und gingen Arm in Arm nach
der Treppe, die von der Terraſſe in den Garten
führte. Als ſie die letzte Stufe hinabſtiegen, ſtand
plötzlich ein Mann vor ihnen. Das Zuſammentreffen
war für Oswald und Melitta ſo unerwartet, daß ſie
unwillkürlich zurückzuckten. Indeſſen war an ein Aus¬
weichen nicht mehr zu denken, und überdies hatte Herr
Bemperlein — denn Niemand anderes war es — ſie
ſchon erkannt, denn die Sterne leuchteten jetzt in voller
Pracht, und aus den Fenſtern des Gartenſaales fiel
ein Lichtſchimmer den Gang hinab, gerade in die Ge¬
ſichter der Beiden.


„Mein Gott, gnädige Frau, wie kommen Sie hier¬
her?“ rief Herr Bemperlein.


„Ich gebe die Frage zurück,“ ſagte Melitta, und
dann zu Oswald, deſſen Arm ſie nicht losgelaſſen
hatte, leiſe: „Sei ruhig, Herz; er verräth uns nicht.“


„Es iſt doch Julius kein Unglück zugeſtoßen?
Sprechen Sie, lieber Bemperlein, ich habe keine Ge¬
heimniſſe vor — Oswald.“


Herr Bemperlein ergriff Oswald's Hand und
[76] drückte ſie, als wollte er ſagen: ich weiß jetzt Alles,
rechnet auf mich.


„Nein,“ ſagte er; „Julius iſt wohl und munter,
aber ich bekam heute einen Brief von Dr. Birkenhain,
dem zufolge es mit dem Befinden Herrn von Berkow's
ſo ſchlecht ſteht, daß man täglich ſein Ende erwartet.
Seltſamer Weiſe iſt er bei vollkommener Beſinnung
und verlangt dringend nach Ihnen. Dr. Birkenhain
hielt es für ſeine Pflicht, Ihnen dieſen Wunſch eines
Sterbenden mitzutheilen. Jedenfalls wird dies der
Inhalt des eingelegten Briefes an Sie ſein. Ich
habe ihn ſelbſt gebracht, damit Sie ſofort über meine
Dienſte verfügen könnten, im Falle Sie ſich zu einer
Reiſe entſchließen ſollten. Der Wagen, in welchem
ich gekommen bin, wird jetzt wol ſchon vor dem Hauſe
halten; ich hatte den kürzeren Weg durch den Garten
vorgezogen.“


Die Drei waren in den Gartenſaal getreten. Me¬
litta hatte Oswald's Arm losgelaſſen und ſich der
Lampe genähert, den Brief zu leſen, welchen Bem¬
perlein ihr überbracht hatte. Oswald ſah, daß ſie
ſehr blaß geworden war, und daß ihre Hand, die den
Brief hielt, zitterte. Bemperlein ſtand, den Blick von
Melitta auf Oswald, von Oswald auf Melitta
wendend, da, wie Jemand, der, aus einem ſchweren
[77] Schlaf erwachend, ſich noch nicht von der Wirklichkeit
deſſen, was er vor ſeinen Augen ſieht, überzeugen
kann.


Melitta hatte den Brief geleſen: „Da, Oswald,“
ſagte ſie, „lies und ſage, was ſoll ich thun.“


Oswald durchflog das Schreiben, welches, wie
Bemperlein ſchon geſagt hatte, Melitta auffor¬
derte, ſich ſofort auf den Weg zu machen, falls ſie
den ſterbenden Gatten noch einmal zu ſprechen wünſche.


„Du mußt reiſen, Melitta, ohne Frage,“ ſagte
Oswald, den Brief wieder zuſammenfaltend. „Du
würdeſt es Dir nie vergeben können, wollteſt Du jetzt
dieſe Pflicht nicht erfüllen.“


Melitta warf ſich ſtürmiſch in die Arme ihres Ge¬
liebten: „Es war von vornherein mein Wille zu reiſen;
ich wollte ihn nur von Dir beſtätigt hören,“ ſagte
ſie. „Ich reiſe noch in dieſer Nacht, noch in dieſer
Stunde. — Wollen Sie mich begleiten, lieber Bem¬
perlein?“


„Ich bin in dieſer Abſicht hierher gekommen, gnä¬
dige Frau,“ ſagte Herr Bemperlein, „und habe den
Reiſeplan ſchon entworfen. Wenn wir in einer Stunde
etwa aufbrechen, ſind wir noch vor Sonnenaufgang
an der Fähre. Drüben nehmen wir Extrapoſt bis P.,
[78] von da Eiſenbahn. So ſind wir übermorgen Nacht
ſpäteſtens an Ort und Stelle.“


„Sie guter, treuer Freund,“ ſagte Melitta, Bem¬
perlein's beide Hände in die ihren nehmend und herz¬
lich drückend.


„Bitte, bitte, gnädige Frau!“ rief Herr Bemper¬
lein, „ganz im Gegentheil, wollte ſagen, nur meine
verdammte Pflicht und Schuldigkeit.“


„Ich will mich ſogleich zur Reiſe fertig machen,“
ſagte Melitta, ein Licht ergreifend. „Bleibe ruhig
hier, Oswald. Wenn Jemand von den Leuten Dich
ſehen ſollte, biſt Du mit Bemperlein gekommen; es
wird Dich aber Niemand ſehen.“


Melitta hatte das Zimmer verlaſſen. Bald hörte
man in dem eben noch ſo ſtillen Hauſe das Geräuſch
von eiligen Schritten, von Thüren, die haſtig auf- und
wieder zugemacht wurden, von dumpfen Stimmen, die
ängſtlich durcheinander ſprachen.


Von den beiden Männern wagte in den erſten
Minuten keiner das Schweigen zu brechen. Beide
fühlten das Wunderliche der Situation, in die ſie ſo
urplötzlich gerathen waren; vor allem Bemperlein, der
ſich innerlich noch immer nicht von ſeinem tiefen Er¬
ſtaunen erholen konnte. Melitta ſtand in ſeinen
Augen ſo unerreichbar hoch da, daß er ſchlechterdings
[79] nicht zu begreifen vermochte, wie es irgend einem
Sterblichen gelingen könnte, ſich zu dieſer Höhe zu
erheben, und auf der andern Seite war er ſeit vielen
Jahren ſo daran gewöhnt, Alles, was ſie that, für
gut und recht und unverbeſſerlich zu halten, daß er
von dieſer Regel ſelbſt jetzt eine Ausnahme zu machen
nicht den Muth hatte.


„Wir ſehen uns auf eine gar ſeltſame Weiſe wie¬
der, Herr Bemperlein,“ ſagte Oswald endlich.


„Ja wohl, ja wohl!“ ſagte Herr Bemper¬
lein. „Mein Kommen war weder erwartet, noch er¬
wünſcht, ich begreife das vollkommen — die arme
gnädige Frau! aber welchen Muth ſie hat, welche
Schnelligkeit des Entſchluſſes! ich habe es ja immer
geſagt: ſie iſt aus beſſerem Stoffe, als wir an¬
deren Menſchenkinder. Ein wahres Glück, daß Dr.
Birkenhain den geſcheidten Einfall hatte, nicht direct
an ſie zu ſchreiben. So kann ich, wenn auch nicht
viel, doch etwas wenigſtens zu ihrer Unterſtützung
thun.“


„Sie Glücklicher!“ ſagte Oswald. „Sie dürfen
für ſie wirken und ſchaffen; und ich kann nichts thun,
nichts als ihr eine glückliche Reiſe wünſchen und ſo¬
dann die Hände müßig in den Schooß legen.“


„Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, wahr¬
[80] haſtig,“ ſagte Herr Bemperlein. „Es iſt eine ſchwere
Aufgabe, die Ihnen zugemuthet wird; aber wo viel
Licht iſt, da iſt auch viel Schatten. Wir werden fleißig
ſchreiben — Sie ſollen von jedem Schritte, den wir
thun, Nachricht erhalten. Und dann hoffe ich, daß
unſere Reiſe nicht lange dauert, und vor allem, daß
Herr von Berkow ſchon geſtorben iſt, wenn wir in
N. angekommen.“


„Das hoffen Sie? und doch ſcheinen Sie dieſe
Reiſe für nothwendig zu halten?“


„Gewiß,“ ſagte Herr Bemperlein. „Es giebt ge¬
wiſſe traurige Pflichten, die man erfüllen muß, nicht
der Welt wegen, die uns nicht ſchelten könnte und
ſchelten würde, wollten wir ſie unerfüllt laſſen; nicht
des Andern wegen, dem unſere Opferfreudigkeit zugute
kommt, und den wir vielleicht weder lieben noch achten,
ſondern um der Achtung willen, die wir vor uns
ſelber haben. Doch was demonſtrire ich Ihnen noch
lange vor, was Sie ſo gut und noch beſſer wiſſen
wie ich. Sie haben ja auch zu dieſer Reiſe gerathen,
obgleich Sie doch am meiſten dabei verlieren. Es
muß eine ſchauerliche Empfindung ſein, ſo plötzlich aus
allen ſeinen Himmeln geriſſen zu werden. Seltſam!
ſeltſam! je länger ich über dies Alles nachdenke,
deſto begreiflicher wird es mir. Ja, ja — daß Sie
[81] die herrliche Frau lieben, das iſt ja ſo natürlich, ſo
— ich möchte ſagen: logiſch — das Gegentheil würde
baarer Unſinn ſein: Es muß ſie Jeder lieben, und
um ſo mehr lieben, je edler ſein Herz, je empfäng¬
licher ſeine Seele für das Gute und Schöne iſt. Ihr
Herz iſt edel, Ihre Seele klingt harmoniſch mit allem
Schönen zuſammen; ſo müſſen Sie auch dieſe ſchönſte
und beſte Frau von ganzem Herzen, von ganzer
Seele lieben. Und auf der anderen Seite: iſt ſie
nicht frei? wenn auch nicht vor den Menſchen, ſo doch
vor dem Richter, der in's Verborgene ſieht? hat ſie
ihren Gemahl jemals geliebt? konnte ſie ihn lieben,
dem ſie verkauft wurde um ſchnödes Geld — verkauft
von dem eigenen Vater, als ſie noch viel zu jung und
unſchuldig war, das Bubenſtück auch nur zu ahnen,
geſchweige denn zu durchſchauen? O! mein Blut kocht,
wenn ich daran denke! nein, nein! ſie durfte Sie
lieben, ſie mußte Sie lieben, ſie, deren Herz ganz
Liebe und Güte iſt. Ich freue mich, daß es ſo ge¬
kommen iſt, ich wünſche Ihnen Glück von ganzem
Herzen. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Menſch
und würde im Gefühl dieſer meiner Unbedeutenheit
nimmer den Blick zu ſolcher Höhe zu erheben wagen;
aber, wenn ich einen Andern kühn und ſtolz auf dieſer
Höhe wandeln ſehe, ſo erfüllt das meine Bruſt mit
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 6[82] Bewunderung, die von Neid frei, ganz frei iſt, und
noch einmal: ich wünſche Ihnen Heil und Segen von
ganzem Herzen!“


Herr Bemperlein ergriff Oswald's beide Hände
und drückte ſie mit Lebhaftigkeit. Die Augen ſtanden
ihm voll Thränen; er war innerlichſt erſchüttert.


„Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen,“ ſagte
Oswald gerührt. „Das Urtheil eines Mannes, den
ich ſo tief achte, iſt mir tauſendmal mehr werth, als
das Urtheil der dummen, blinden Welt. Die Welt
wird unſere Liebe verketzern und verdammen, aber die
Welt weiß nichts von Gerechtigkeit.“


„Nein,“ ſagte Herr Bemperlein, „und dennoch iſt
ſie unſere Richterin, deren Ausſpruch wir uns fügen
müſſen, wir mögen wollen oder nicht. Und dieſer
Gedanke iſt es, welcher für meine Augen einen tiefen
Schatten auf das ſonnige Bild einer ſo reinen, un¬
eigennützigen Liebe wirft. Doch ich will Ihr Herz,
das in dieſem Augenblicke ſchon ſchwer genug iſt,
nicht noch ſchwerer machen. Dem Starken und
Muthigen hilft das Glück. Sie ſind ja ſtark und
muthig, und ſind es doppelt und dreifach, weil Sie
lieben. Es ſoll ja der Glaube Berge verſetzen können.
Was dem Glauben gelingt, kann der Liebe nicht un¬
möglich ſein. Doch ſtill, da kommt die gnädige Frau.“

[83]

Die Thür wurde geöffnet und Melitta erſchien im
Reiſeanzug. Der alte Baumann war bei ihr.


„Ich bin bereit, lieber Bemperlein,“ ſagte ſie zu
dieſem, und dann, ſich in Oswald's Arme werfend:
„Leb wohl, liebes Herz! leb wohl!“


6*
[[84]]

Viertes Kapitel.

Die Baronin Grenwitz war aus mehr denn einem
Grunde feſt entſchloſſen, Oswald auf der projectirten
Badereiſe nach Helgoland nicht mitzunehmen, und ſie
hatte während der dreitägigen Viſitentour vielfach bei
ſich überlegt, wie ſie, ohne ſich ſelbſt doch gar zu viel
zu vergeben, dieſen Entſchluß ausführen könnte. Wie
erfreut war ſie deshalb, als Oswald bei ihrer Zu¬
rückkunft (es war den Tag nach Melitta's Abreiſe)
ihre leiſeſte Anſpielung, ob es ihm nicht lieber wäre,
dieſe Zeit ganz zu ſeiner Erholung zu verwenden, be¬
gierig ergriff; als er erklärte, während dieſer Zeit
nicht einmal auf dem Schloſſe bleiben, ſondern eine
Reiſe, vielleicht durch die Inſel, die er noch nicht
kannte, vielleicht nach der Reſidenz zu ſeinen Freun¬
den machen zu wollen. Anna-Maria freute ſich ſo
ſehr über dieſes ganz unerwartete Entgegenkommen,
daß ſie nicht einmal über die Motive, die Oswald
[85] dazu beſtimmt haben mochten, nachdachte, eben ſo we¬
nig wie über ſein düſteres zerſtreutes Weſen, und
über die Gleichgültigkeit, mit der er den Vorbereitun¬
gen zur Reiſe zuſah und ſchließlich am Tage der Ab¬
reiſe von Allen, ſelbſt von Bruno Abſchied nahm.
Vielleicht ärgerte er ſich, daß man ihn nicht mitnahm,
vielleicht wußte er nicht, wo er bleiben ſollte. Gleich¬
viel, wenn er nur nicht auf dem Schloſſe blieb, wenn
er nur, wie er es wirklich that, in demſelben Augen¬
blicke, wo die Familienkutſche, beſpannt mit den vier
ſchwerfälligen, von dem ſchweigſamen Kutſcher gelenk¬
ten Braunen langſam und würdevoll zu dem Haupt¬
thor hinausfuhr, den leichten Ränzel auf dem Rücken
durch das andere Thor in die weite Welt hinein¬
wanderte.


Aber Herr Albert Timm durfte bleiben! Er machte
nicht ſo lächerliche Anſprüche, wie der hochmüthige
Oswald; er war mit Allem zufrieden! und dann
konnte er in der Einſamkeit des Schloſſes ſo unge¬
ſtört arbeiten und die ſchleunige Vollendung der Flur¬
karten war von ſo großer Wichtigkeit! Mademoiſelle
war angewieſen, es Herrn Timm an nichts fehlen zu
laſſen. Daß es vielleicht nicht ganz ſchicklich ſei, ein
junges Mädchen von zwanzig Jahren und einen jun¬
gen Mann von ſechsundzwanzig unter der Aufſicht
[86] einiger Dienſtleute, über welche das junge Mädchen
das Commando führte, auf einem einſamen Schloſſe
zurückzulaſſen, war ſonderbarer Weiſe der ſo überaus
ſtrengen Baronin gar nicht in den Sinn gekommen.
Die tugendhafte Frau würde die Naſe gerümpft,
würde es unverantwortlich, unverzeihlich gefunden haben,
wenn ſie gehört hätte, daß der junge Graf Grieben
mit Fräulein von Breeſen fünf Minuten nur in einem
Zimmer allein geweſen ſei, aber der Geometer Albert
Timm und ihre Wirthſchafterin Marguerite Roger
— du lieber Himmel! ſich um das Schickſal ſolcher
Leute auch noch den Kopf zu zerbrechen — das iſt
offenbar zu viel verlangt! Und Marguerite hatte
nicht einmal Eltern, denen man vielleicht verantwort¬
lich geweſen wäre — ſie hatte gar keine Verwandten
— wie kann man für Jemand verantwortlich ſein,
der ganz allein in der Welt daſteht! Man hatte Frau
Paſtor Jäger gebeten, ſich von Zeit zu Zeit zu über¬
zeugen, daß den Befehlen der Baronin ſtrenge Folge
geleiſtet würde — Frau Paſtor Jäger war eine vor¬
treffliche Frau, die kleine Marguerite ſtand alſo unter
vortrefflicher Aufſicht.


Die kleine Marguerite ſtand unter ſo vortrefflicher
Aufſicht, daß Albert die weiſe Fürſorge, welche die
Baronin getroffen hatte, nicht genug loben konnte.
[87] „Ich wollte, ſie kämen nicht wieder,“ ſagte er zu der
hübſchen Genferin, während ſie Arm in Arm im
Garten umherſpazierten; ich wollte, ſie kippten zwiſchen
Helgoland und der Düne, wo es am tiefſten iſt, mit
dem Boote um, und wir könnten hier, wie jetzt, herr¬
lich und in Freuden leben bis an unſer ſeliges Ende.
Was meinſt Du, kleine Marguerite, möchteſt Du wohl
Frau Rittergutsbeſitzerin Timm von Grenwitz auf
Grenwitz ſein? Das wäre doch famos! Dann wollte
ich Dir Wagen und Pferde halten, ja, und auch eine
Wirthſchafterin, die Du eben ſo quälen könnteſt, wie
Du jetzt gequält wirſt.“


„Ich bin ſchon zufrieden mit Wenigem, wenn ich
es nur kann theilen mit Sie.“


„Sehr edel gedacht, aber beſſer iſt beſſer, und
übrigens heißt es in dieſem Falle, nicht Sie, ſondern
Ihnen, oder vielmehr Dir, denn bei uns zu Lande
nennen ſich Leute die ſich lieben „Du,“ beſonders
wenn ſie die reſpectable Abſicht haben, ſich gelegent¬
lich zu heirathen.“


„Und Sie mich wirklich wollen 'eirathen? Ach,
ich es kann glauben kaum! Was will ein Mann,
comme vous, dem die ganze Welt iſt offen, 'eirathen
ein armes Mädchen, die nicht einmal iſt 'übſch.“


„Das iſt meine Sache. Und nebenbei biſt Du
[88] jedenfalls 'übſcher und reicher, als ich. Dreihundert
Thaler —“


„Dreihundert fünfundzwanzig Thaler,“ ſagte Ma¬
demoiſelle Marguerite eifrig.


„Deſto beſſer — das iſt immer ſchon etwas für
den Anfang. Wenn ich mein baares Vermögen dazu
rechne,“ — Herr Timm griff in die Taſche und
brachte einige Münzen zum Vorſchein — „haben wir
dreihundert fünfundzwanzig Thaler, ſiebenzehn Silber¬
groſchen und acht Pfennige. Das iſt ein ganzes
Capital.“


„Wir uns dafür werden kaufen ein kleines Haus.“


„Verſteht ſich.“


„Ich werde geben Unterricht im Franzöſiſchen.“


„Natürlich.“


„Und Du wirſt ſein fleißig und arbeiten.“

Comme un forçat — o, es wird ein ſcharmantes
Leben werden,“ und Herr Timm faßte die kleine
Franzöſin um die Taille und walzte mit ihr in der
Laube, in welcher ſie ſich befanden, umher.


„Ich nun muß hinein, den Leuten zu geben Ves¬
perbrot;“ ſagte Marguerite, ſich losmachend.


„So lauf, Du kleiner Grasaff; aber komm bald
wieder,“ ſagte Herr Timm.


[89]

Herr Timm ſah, der Enteilenden nach. „Dummes
kleines Frauenzimmer,“ ſagte er; „glaubt wahrhaftig,
ich werde ſie heirathen. Das fehlte auch noch — für
dreihundert Thaler, die ich früher an ein paar Aben¬
den verſpielt habe! Es iſt wirklich großartig, was ſich
dieſe Mädchen nicht alles einbilden! Und dabei iſt
dieſe gar nicht ſo dumm, wie ſie ausſieht und ſcheint
trotz ihres fürchterlichen Deutſch ihren Goethe gründ¬
lich ſtudirt zu haben: „thut keinem Dieb nur nichts
zu Lieb, als mit dem Ring am Finger —“ hm, hm!
ich werde ihr wahrhaftig einen Ring kaufen müſſen.
Die dreihundert Thaler wären freilich ſo übel nicht.
Dieſe verdammten Gläubiger! nicht einmal in dieſem
Winkel laſſen ſie einen ungeſchoren“ . . .


Herr Timm faßte in die Bruſttaſche und holte
einige Briefe von verdächtigem Anſehen hervor, die
er, nachdem er ſich in die Ecke einer Bank geſetzt,
einen nach dem andern, entfaltete und eifrig ſtudirte.
Sein ſonſt ſo luſtiges Geſicht verdüſterte ſich dabei
zuſehends. „Verdammt,“ murmelte er, „die Kerle
werden wirklich unverſchämt. Wenn ich den brum¬
menden Bären doch nur ſo ein paar hundert Thaler
in den Rachen werfen könnte, ſo ſchwiegen ſie doch
für eine Weile wenigſtens.“


„Hm, hm! die dreihundert Thaler, welche die kleine
[90] Marguerite im Sparkaſſenbuche hat, kämen mir wirklich
gelegen. Es wäre am Ende nur zu ihrem Vortheil,
wenn ich ſie darum ärmer machte. Denn daß ich mein
Verſprechen, ſie zu 'eirathen, ohne die dringendſte Noth
nicht halten werde, liegt doch für jeden Verſtändigen auf
der Hand. Fühle ich mich nun ihr gegenüber nicht blos
moraliſch, ſondern auch anderweitig verpflichtet, ſo hat
ſie immerhin eine Chance mehr. Ich kann ihr ja vor¬
ſchwindeln, ich könne das Geld beſſer anlegen oder der¬
gleichen. Wenn die dummen Dinger verliebt ſind,
glauben ſie ja Alles, was man ihnen aufbindet. Und
kann ſie das Geld beſſer anlegen, als wenn ſie ſich
damit einen charmanten Kerl von Mann erkauft, der
ſie im andern Falle nicht 'eirathen würde? Me her¬
culem!
ich fühle mich ordentlich gehoben durch den
Gedanken, auf dieſe Weiſe der Wohlthäter des Mäd¬
chens zu werden. Ich will die Kleine doch gleich ein¬
mal in's Gebet nehmen. Weigert ſie ſich, ſo werde
ich ſie freilich ihrer Klugheit wegen achten müſſen,
aber mit unſerer Liebe iſt es aus!“


Albert erhob ſich und ging, die Hände auf dem
Rücken, wie es ſeine Gewohnheit war, wenn ſein
ſcharfſinniger Kopf an der Löſung eines Problems
arbeitete, langſam nach dem Schloſſe. Marguerite
ſchaltete noch in der Küchenregion; Albert verfügte
[91] ſich auf ſein Zimmer, um noch einige Minuten unge¬
ſtört über ſeine Aufgabe nachzudenken.


Er beugte ſich über die Karte, die auf dem großen
Reißbrett aufgeſpannt war, und an der er ſeit der
Abreiſe der Familie, d. h. ſeit beinahe acht Tagen
nicht das Mindeſte gearbeitet hatte.


„Wenn das ſo fort geht, wird ſich Anna-Maria
über meine Fortſchritte wundern,“ murmelte er; „es
iſt wirklich überraſchend, welch' ein ausgebildetes Ta¬
lent zur Faulheit, oder höflicher ausgedrückt: zum
dolce far niente in mir ſteckt. Es giebt offenbar im
Leben verwunſchene Lazzaronis, wie es verwunſchene
Prinzen in Märchen giebt; und ich bin augenſcheinlich
ſo ein, in die Jammergeſtalt eines im Schweiße ſeines
Angeſichts ſein Brod eſſenden Geometers verwunſche¬
ner Sohn des ſonnegetränkten Neapels. Aber wie
kommt es denn eigentlich, daß ich ſeit einer Woche ſo
ganz meiner natürlichen Tendenz folge? Die kleine
Marguerite iſt doch nicht allein daran ſchuld? rich¬
tig — jetzt beſinne ich mich — ich brauche eine Karte
aus der Regiſtratur und ließ mir ſchon vor acht Tagen
den Schlüſſel dazu geben. Die muß ich mir wenigſtens
holen, ſonſt — bei meiner heißen Liebe zur kleinen
Marguerite! — bleibt dieſe angefangene Karte ein
Fragment in Ewigkeit.“

[92]

Albert ging in die Regiſtratur, ein großes Gemach
in dem Erdgeſchoß des alten Schloſſes, deſſen Wände
von oben bis unten mit Repoſitorien voller ganz oder
halb vergilbter Acten und Schriftſtücke der verſchie¬
denſten Art, von denen gar manches für einen fleißigen
Alterthümler von hohem Intereſſe geweſen ſein würde,
bedeckt waren. Während er in einem dieſer Repoſi¬
torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein
kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie
ſchon einige andere ähnliche, in das Verſteck, aus
welchem er ſie unverſehens hervorgeholt hatte, zurück¬
geſchleudert haben würde, wenn nicht die Aufſchrift:
„An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren
auf Grenwitz,“ ſeine Neugierde erregt hätte. Da eine
übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬
ſtechenden Eigenſchaften des Herrn Timm gehörte, ſo
löſte er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem
die Briefe zuſammengebunden waren, und begann die¬
ſelben einen nach dem andern zu leſen — eine Be¬
ſchäftigung, die ihn ſo ausnehmend intereſſirte, daß
er alles Andere darüber vergaß und ſelbſt das Rollen
eines Wagens überhörte, der vor dem Portale ſtill
hielt und deſſen höchſt unerwartete Ankunft eine nicht
geringe Senſation in dem Schloſſe hervorrief.

[[93]]

Fünftes Kapitel.

Während der acht Tage, die ſeit der Abreiſe der
Familie verfloſſen waren, hatte Oswald in der Ein¬
ſamkeit eines Fiſcherdorfes, Namens Saſſitz, nicht
weit von Berkow und Grenwitz, von allem Verkehr
mit der Welt abgeſchloſſen, gelebt. Wie er nach Saſ¬
ſitz gekommen war, wußte er ſelbſt kaum.


Seit ihm Melitta ſo plötzlich geraubt war, hatte
ihn eine grenzenloſe Gleichgültigkeit gegen Alles er¬
griffen, was nicht in irgend einer Beziehung zu ihr
ſtand, die jetzt ſeine ganze Seele erfüllte. In dieſer
Apathie hatte er ſich ſelbſt von Bruno ohne Schmerz
getrennt. Auf die Wünſche der Baronin ging er um
ſo bereitwilliger ein, als er ſich in ſeiner augenblick¬
lichen Stimmung nach Einſamkeit ſehnte, wie ein
Kranker nach Ruhe. So ſagte er denn zu Allem: Ja,
und als er den Wagen, welcher die Familie davon
führte, ſich in Bewegung ſetzen ſah, fiel es ihm wie
[94] eine ſchwere Laſt vom Herzen. Er wünſchte den Zu¬
rückbleibenden, Herrn Timm und Mademoiſelle, flüch¬
tig Lebewohl und wanderte, einen leichten Ränzel, der
noch aus ſeiner Studentenzeit ſtammte, auf dem Rücken,
zum andern Thore hinaus, wie der Held eines Mär¬
chens, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin er
ſeine Schritte lenken ſollte, und wo er heute Nacht
ſein Haupt zur Ruhe legen würde.


Die Sonne brannte heiß; Oswald fiel es ein,
daß es im Walde friſch und kühl ſein müſſe. So
bog er denn rechts vom Wege ab und bald rauſchten
über ihm die Tannen des Forſtes, der halb zu Gren¬
witz und halb zu Berkow gehörte. Das Rauſchen der
hohen Bäume lullte ihn in ſüße Träume. Träumend
wanderte er weiter, bis er plötzlich auf die Lichtung
heraustrat, wo in dem Schutze der vielhundertjährigen,
breitaſtigen Buche Melitta's Kapelle lag.


Die Thür des Häuschens war verſchloſſen, die
grünen Jalouſien vor den Fenſtern warm herunter¬
gelaſſen, die Treppe und die Veranda waren ſorgſam
gefegt, wie es die ſtrenge Ordnungsliebe des alten
Baumann, der jetzt das Regiment in Berkow führte,
erheiſchte. Oswald ſetzte ſich auf die Stufen der
Treppe und ſtützte den Kopf in die Hand. So ſaß
er in Nachdenken verſunken, während in den Zweigen
[95] der Buche über ihm ein Waldvöglein ſein eintöniges
Lied mit dem ſtets gleichen melancholiſchen Refrain
ertönen ließ... Wie einſam er ſich fühlte — wie
einſam und wie verlaſſen! Dem Kinde gleich, das
auf weitem öden Moore den Weg zum Hauſe der
lieben Eltern verloren hat. Hier an dieſer ſelben
Stelle hatte er in der Nacht vor der Geſellſchaft in
Barnewitz mit Melitta geſeſſen — ſie hatte den Kopf
an ſeine Bruſt gelehnt gehabt und ſüßeſte, köſtlichſte
Worte der Liebe hatte ihr holder Mund geflüſtert.
Jetzt war es ſtill, ſo ſtill um ihn her, daß er das
Klopfen ſeines eigenen Herzens hörte. Sehnſüchtige
Gedanken an die Entfernte glitten durch ſeine Seele,
wie Vögel, die den Süden ſuchen, durch den weiten
Himmelsraum . . .


Ein Sonnenſtrahl, der heiß und ſtechend durch
das Laubdach auf ihn fiel, mahnte ihn, daß es Zeit
ſei, aufzubrechen. Eile hatte er freilich nicht. Es
war noch früh am Nachmittage, und irgend einen,
gleichviel welchen Ort, wo er ſein Quartier für die
Nacht aufſchlagen konnte, mußte er immer noch er¬
reichen. So ſchlenderte er durch den Wald auf einem
Wege hin, den er noch nicht betreten hatte und der
ihn, ehe er ſich's verſah, an den Strand des Meeres
führte. Nun wanderte er am Strande fort, bald auf
[96] der Höhe des Ufers, wenn die See, wie es häufig
geſchah, unmittelbar den Fuß der Kreidefelſen beſpülte,
bald auf dem feſten körnigen Sande des ſchmalen
Vorſtrandes. Hier und da hatte einer der kurzen
waſſerreichen Bäche, die aus dem Innern der Inſel
dem Meere zueilen, das Ufer durchbrochen und eine
Schlucht gehöhlt, die jedesmal mit einer faſt ſüdlich
üppigen Vegetation bedeckt war. Aber mit Ausnahme
dieſer wenigen grünen Oaſen zeigte ſich dem Auge
nichts als kahler Fels, nackter Sand, das eintönige
blaue Meer, auf dem hier und da ein weißes Segel
ſchwamm, und der eintönige blaue Himmel, an dem
hier und da eine weiße Sommerwolke unbeweglich
ſtand. Und zu dieſem eintönigen Bilde die einförmige
Muſik der brandenden Wellen und dann und wann
der gelle Schrei der Möve oder das melancholiſche
Pfeifen der kleinen Strandläufer...


Die Monotonie dieſer Linien, dieſer Farben, dieſer
Töne wäre für ein glückliches, lebensfrohes Gemüth
unerträglich geweſen, aber ſie paßte wunderbar zu
Oswald's Seelenzuſtand. Es giebt Stunden, wo wir
Regenwetter oder eine öde Landſchaft wie Freunde
willkommen heißen, auf deren Geſichtern ſchon die
Theilnahme, die ſie an unſerm Schmerze nehmen,
ausgeprägt iſt; Stunden, wo uns Sonnenſchein und
[97] Vogelſang und das muntere Plätſchern des geſchwätzi¬
gen Baches wie eine Beleidigung erſcheinen. Oswald's
Schwermuth harmonirte mit dieſer tief ernſten Natur,
die von Glück und Freude nichts zu wiſſen ſchien,
deſto mehr aber von dem Jammer und der Qual des
Lebens. Klang der gelle Schrei, das ſchrille Pfeifen
der Meeresvögel nicht wie Klaggeſang? war es nicht,
als ob das Meer in den Wellen, die ſich in monoto¬
nen Cadenzen unaufhörlich am Strande brachen, das
verworrene Räthſel der Exiſtenz wie im halben Wahn¬
ſinn vor ſich hinmurmelte? ... Und ſein eigenes Leben
kam ihm ſo ziel- und zwecklos vor, wie dies ſein
Umherirren zwiſchen den Uferklippen. Glich es nicht
ſeinem Fußtritte auf dem harten Sande, wo die nächſte
Welle ſchon die leichte Spur gänzlich verwiſchte? Wa¬
rum geboren werden, Anderen und ſich ſelbſt Schmer¬
zen und Sorgen ohne Zahl bereiten, wenn Alles doch
zu nichts führt? wenn die Vergangenheit ſich hinter
uns aufthürmt wie das ſteile unerſteigliche Ufer, die
Zukunft uns angähnt wie das öde wüſte Meer, und
die Gegenwart ein ſchmaler Streifen Sand iſt, den
die unbarmherzig glühende Sonne nur deshalb ſo grell
zu erleuchten ſcheint, um ihn in ſeiner ganzen troſtlos
dürftigen Nacktheit zu zeigen?... Und wenn wirklich
einmal das Glück uns zu lächeln ſcheint, ſo ſcheint
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 7[98] es auch eben nur, ſo iſt es eben nur eine trügeriſche
Spiegelung, die eine ſchadenfrohe Fee aus dem un¬
wohnlichen tückiſchen Meere aufſteigen läßt, damit ſie
in dem Augenblicke verſinkt, wo wir das palmenge¬
ſchmückte, palaſtumſäumte Ufer zu berühren glauben . . .


Ein Dörfchen, dem ſich Oswald mit raſchen Schrit¬
ten näherte, lag in dem innerſten Winkel einer tiefen,
von hohen Kreidefelſen bis auf einen ſchmalen Aus¬
gang nach dem Meere zu rings umſchloſſenen Bucht,
wo das Waſſer ſo ſtill und glatt war wie in einem
Gartenteich. Einige der Hütten lagen hart am Strande,
andere waren an den Ufern eines Baches, der ſich an
dieſer Stelle in's Meer ergoß, in der tiefen breiten
Schlucht, die er ſich gewühlt hatte, erbaut. Vor den
Thüren waren kleine mit Muſcheln eingefaßte Gärt¬
chen; auf den mit weißem Sande ausgefüllten Gängen
zwiſchen den Häuſern hingen Netze zum Trocknen an
langen Stangen; ein paar rothhaarige Buben waren
eifrigſt mit Antheeren eines umgeſtülpten Bootes be¬
ſchäftigt; vor einer der größeren Hütten ſaßen ein
paar Frauen, Netze flickend.


Oswald näherte ſich den Frauen, die, als ſie ſei¬
nen Schritt vernahmen, neugierig von ihrer Arbeit
aufſahen, und fragte, ſie begrüßend, ob es ihm ver¬
ſtattet ſei, ſich hier etwas auszuruhen, und ob er
[99] einen Trunk Waſſer und ein Stück Brod haben
könne?


„Stine,“ ſagte die ältere von den drei Frauen,
eine Matrone von ſtattlichem Umfang und mit einem
überaus gutmüthigen, wettergebräunten Geſicht, zu
einem der beiden jungen Mädchen an ihrer Seite:
„ſteh auf und laß den Herren ſitzen. Siehſt Du
nicht, daß er zum Umfallen müde iſt? Geh ins Haus
und bring, was wir haben. Setzen Se ſich, junger
Herr. Se ſind gewiß auch ein Maler?“


„Warum meinen Sie das?“ fragte Oswald, den
angebotenen Platz annehmend.


„Nu, ein vernünftiger Menſch klettert nicht bei der
Hitze am Strande herum; das können nur Leute, die
hier (ſie deutete dabei mit dem Zeigefinger auf die
Stirn) nicht ganz richtig ſind. Nu, nicht für ungut,
Herr Maler. Ich hab ſchon einen von Ihren Ka¬
meraden bei mir wohnen gehabt, der zwei Wochen
hier geblieben iſt; und wenn Se eben ſo ein ordent¬
licher, ehrlicher Menſch ſind, ſo können Se auch bei
Mutter Karſten wohnen; aber die Wände dürfen
Se nicht vollkritzeln, das ſag' ich Ihnen gleich im
Voraus.“


Oswald mußte lächeln, als er ſo ohne Umſtände
zu einem auf einer Studienreiſe begriffenen Land¬
7*[100] ſchafter gemacht wurde. Wie? wenn er ſich die harm¬
loſe Rolle, die ihm aufgenöthigt wurde, gefallen ließ?
Es war ihm ſo gleichgültig, wo er blieb — Alles,
was er wollte, war Einſamkeit — und konnte er eine
tiefere Einſamkeit finden, wie hier in dieſer ſtillen
Bucht unter dieſen gutmüthigen, kindlichen Menſchen,
die nichts dagegen haben würden, wenn er halbe Tage
lang zwiſchen den Felſen des Strandes umherirrte?
Und dann war er doch hier in der Nähe von Ber¬
kow, von dem er ſich nicht allzu weit entfernen durfte,
da er mit Melitta verabredet hatte, daß, im Falle
ſich ihre Abweſenheit in die Länge zöge, der alte
Baumann, der in Berkow zurückgeblieben war, die
Correſpondenz zwiſchen ihnen vermitteln ſollte.


„So wollen Sie mich ein paar Tage hier behal¬
ten? fragte er.


„Ja, aber die Wände dürfen Se nicht voll¬
kritzeln“, ſagte Mutter Karſten.


„Das verſpreche ich,“ ſagte Oswald lächelnd.


„Dann können Se bleiben, ſo lange Se wollen.
Das iſt recht, Stine, rück den Tiſch näher an den
Herrn, und, hörſt Du, hol auch von dem alten Cog¬
nac, den der Claus Jochen aus England mitgebracht
hat, das bloße Waſſer thut nicht gut bei der unver¬
nünftigen Hitze

[101]

Oswald war beinahe ſchon acht Tage in Saſſitz
und er bereute es keinen Augenblick, der Einladung
Mutter Karſten's gefolgt zu ſein. Er ſtand in ſehr
großer Gunſt bei Mutter Karſten. Er hatte auch
nicht ein Strichelchen auf die weißgetünchten Wände
der kleinen Kammer, die er bewohnte, gezeichnet; er
hatte ſtets ein freundliches Wort für Jeden, ſelbſt für
den ſteinalten, halb blödſinnigen Vater von Mutter
Karſten, der den ganzen Tag in ſeinem Lehnſtuhle in
der Sonne ſaß und unverwandt auf das Meer hin¬
ausſtarrte, wenn ihm nicht, was freilich oft geſchah,
die alten noch immer ſcharfen Augen vor Müdigkeit
zufielen. Mutter Karſten erklärte, daß Oswald ein
eben ſo „ordentlicher, ehrlicher“ Menſch ſei, wie ſein
Vorgänger, daß es aber bei ihm hier (mit der be¬
zeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn)
noch weniger richtig ſei, als bei jenem. Was Mutter
Karſten zu dieſem Ausſpruch veranlaßte, war der
allerdings verdächtige Umſtand, daß der junge Menſch,
welcher doch nun einmal verrückt genug war, eine in
ihren Augen ſo überflüſſige Hantierung zu treiben,
nicht nur nicht die wieder übertünchten Wände ſeiner
Schlafkammer mit Kohlenſkizzen von Schiffen unter
vollem Segel, einſamen Klippen, über denen Möven
flatterten und originellen Matroſengeſichtern bedeckte,
[102] wie ſein Vorgänger weiland, ſondern überhaupt gar
nicht zeichnete und malte, ſondern den lieben langen
Tag nichts that, als am Strande umherlaufen, oder
auf einem der kleinen Ruderboote mutterſeelenallein ſo
weit aufs Meer hinausfahren, daß man ihn vom
Strande aus kaum noch ſehen konnte. Wie und wo¬
mit er ſich auf dieſen ſtundenlangen Spaziergängen
und Fahrten die Zeit vertrieb, war Mutter Karſten
ein unergründliches Räthſel, würde ſelbſt dann für ſie
noch immer ein Räthſel geweſen ſein, wenn ſie ge¬
ſehen hätte, daß Oswald, ſobald er ſich allein wußte,
einen Brief, den ihm vor ein paar Tagen ein alter,
ſonderbar ausſehender Mann gebracht hatte, aus der
Taſche nahm und ihn wieder und immer wieder ſtu¬
dirte, als ob er ihn nicht ſchon längſt Buchſtab für
Buchſtab und Zeichen für Zeichen auswendig gewußt
hätte. Der ſonderbar ausſehende alte Mann, der „ſo
ein hochbeiniges, langhalſiges Pferd ritt, wie ſie der
Claus Jochen in England geſehen hatte“, war näm¬
lich Niemand anders geweſen als der alte Baumann
auf dem Brownlock. Oswald hatte ihm gleich am
nächſten Tage nach ſeiner Ankunft in Saſſitz mitge¬
theilt, daß er ſich entſchloſſen habe, bis auf Weiteres
hier zu bleiben (auch nach Grenwitz hatte er dieſelbe
Botſchaft geſchickt, mit der Bitte, ihm etwa ankom¬
[103] mende Briefe nachzuſenden), und einen Tag ſpäter
konnte die treue Seele ſchon einen Brief der vielge¬
liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren
wenige Worte nur, auf der Reiſe, in einer Stadt
Mitteldeutſchlands, kurz vor dem Schlafengehen in
einem Hotel geſchrieben — wenige Worte, verwirrt
und traurig, aber ſüß und köſtlich, wie Küſſe von ge¬
liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung . . .
Er hatte Baumann ſeine Antwort mitgegeben und
erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren
Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬
aus freudige war.


Es iſt die Klage aller auf das Ideale gerichteten
Geiſter, daß nichts auf Erden reinlich ſei, und daß,
ſo oft wir auch verſuchen, in lichtere Regionen aufzu¬
ſteigen, uns ein peinlicher Erdenreſt zu tragen bleibt,
der uns ſehr bald wieder auf das Niveau des ewig
Geſtrigen herabzieht.


Das hatte Oswald nun ſchon ſo oft in ſeinem
Leben erfahren; es hatte ihn ſchon ſo viel Freuden
vergällt, ſo viel gute Menſchen und ſchlechte Muſi¬
kanten verleidet, es drohte jetzt auch ſeiner Liebe ver¬
derblich zu werden. Erſt hatte er an ſich ſelbſt die
ſchlimme Entdeckung machen müſſen, wie tief verbor¬
gen der Verrath in einem Herzen lauert, das ſich
[104] bis in ſeine geheimſten Tiefen ganz von Liebe erfüllt
glaubt. Zwar hatte er ſich über die Scene in der
Fenſterniſche auf dem Balle in Barnewitz mit der
Entſchuldigung zu tröſten geſucht: ich war außer mir;
ich wußte nicht was ich that; aber kann Eiferſucht
eine Entſchuldigung für Treuloſigkeit ſein? Und dann:
war dieſe Eiferſucht denn nun wenigſtens todt? war
ſie nicht, als er Melitta's Bild in dem Zimmer des
Barons hinter dem Vorhang entdeckte, in hellen
Flammen aufgeſchlagen? Hatte er nicht der Erzäh¬
lung Melitta's mit athemloſer Spannung gelauſcht,
immer fürchtend, daß jetzt — jetzt ein Umſtand er¬
wähnt werden möchte, der ſeinen Verdacht, daß ſie
den merkwürdigen Mann dennoch — vielleicht ohne
es ſelbſt zu wiſſen — geliebt habe, beſtätigen würde?
hatte ſie nicht geſagt; ich glaubte ihn zu lieben? —
— und nun gerade in dem Augenblicke, wo die Er¬
zählung bis zu der Kataſtrophe gekommen war, die
Alles und auch die Feindſchaft, die jetzt offenbar
zwiſchen ihr und dem Baron herrſchte, erkären mußte
— wird ihr eine Botſchaft gebracht, ſo ſonderbarer,
ſo unheimlicher Art, ſo ganz geeignet, Oswald's ohne
dies ſchon verſtörtes Gemüth ganz und gar zu ver¬
wirren! Nicht genug, daß ihm in Baron Oldenburg
ein Nebenbuhler, den zu verachten unmöglich war, in
[105] Fleiſch und Blut gegenüberſtand — hier kommt ein
Gemal, das Geſpenſt eines Gemals, aus einer ſieben
Jahre langen Wahnſinnsnacht emporgetaucht und
winkt ſie zu ſich an ſein Sterbebett — ſie, ſeine Ge¬
liebte, ſeine Melitta — — Oswald fühlte, daß er
ſelbſt wahnſinnig werden würde, wollte er dieſen Ge¬
danken zu Ende denken. Er hatte es ſo ganz und
gar vergeſſen, daß Melitta jemals vermält geweſen
war, daß ſie jemals in den Armen eines andern
Mannes, gleichviel, ob ſie ihn geliebt — und um ſo
gräßlicher, wenn ſie ihn nicht geliebt — geruht, daß
ſie jemals die Liebkoſungen eines andern Mannes ent¬
gegengenommen hatte — — er zerknitterte den Brief
Melitta's, er hätte laut aufſchreien mögen vor wil¬
dem Schmerz, er hätte ſein Haupt an den Fels¬
blöcken zerſchellen mögen . . . Warum dieſes Gift in
den köſtlichen Trank ſeiner Liebe? warum mußte das
leuchtende Gewand ſeines Engels in dem Schmutz des
Lebens ſchleifen? warum mußte die duftige Blüthe
vom ſchnöden Wurm benagt werden? — und wäre
ſie denn nur jetzt wenigſtens frei — aber ſie iſt es
nicht — ſelbſt dann nicht, wenn jenes Geſpenſt aus
der Nacht des Wahnſinns in die Nacht des Todes
ſinkt. Sie iſt die Mutter ihres Kindes — ſeines
Kindes, und dieſe Rückſicht, die ſie jetzt für einen
[106] Augenblick vergeſſen hat, wird in den Vordergrund
treten und mich wird ſie aufgeben — aufgeben müſſen.
Und wozu ſoll es auch führen? ſo lange dies heim¬
liche Verhältniß dauert, das ein tückiſcher Zufall ſei¬
nes Geheimniſſes berauben kann, ſteht ihr guter Ruf
auf eines Scheermeſſers Schneide — und kann aus
dieſem Verhältniſſe jemals ein anderes werden? kann
ich, der Freiheitsſchwärmer, jemals daran denken, die
Ariſtokratin zu heirathen? daran denken, mich in die
Geſellſchaft der verhaßten Menſchen zu drängen, die
den Parvenü ſtets über die Achſel anſehen würden?
nie! nie! Lieber leben, wie dieſe armen Fiſcher,
die täglich mit Gefahr des Lebens ſelbſt dem
grauſamen Meer den kärglichen Unterhalt abringen
müſſen ...


So irrte Oswald's Geiſt in einem Labyrinth von
ſchmerzlichen Zweifeln ruhelos umher, wie er ſelbſt
zwiſchen den Uferklippen auf dem öden Strande ruhe¬
los umherirrte, und wer weiß, zu welchem verderb¬
lichen Ausgang dies beſtändige Brüten über demſel¬
ben qualvollen Räthſel geführt haben würde, wenn
nicht ein Ereigniß eingetreten wäre, das ihn ſehr
gegen ſeine Vermuthung und ſeinen Wunſch, zwang,
in die Geſellſchaft, die er jetzt ſo gründlich haßte, zu¬
rückzukehren.

[[107]]

Sechstes Kapitel.

Als er nämlich an einem der folgenden Tage gegen
Abend nach einer Abweſenheit von mehren Stunden
ſich wieder dem Dorfe näherte, ſah er vor der Thür
von Mutter Karſten's Wohnung einen mit zwei Pferden
beſpannten Wagen halten. Dies war etwas ſo ganz
Außerordentliches in dem von allem Verkehr abge¬
ſchnittenen Saſſitz, daß Oswald ſich wol denken konnte,
es müſſe auch etwas ganz Beſonderes ſich unterdeſſen
ereignet haben. Um den Wagen und an die Thür
des Häuschens drängten ſich Frauen und Kinder und
die paar Männer, die nicht mit auf dem Fiſchfang
waren. Sie wollten wiſſen, ob der alte Steffen, Mut¬
ter Karſten's Vater, diesmal wirklich ſterben müſſe,
oder ob es dem jungen Doctor, nach dem Mutter
Karſten vor einigen Stunden die raſche Stina geſchickt
hatte, gelingen werde, ihn noch einmal von ſeinem
böſen Stickhuſten zu curiren.


[108]

So erzählten ſie Oswald mit verſtörten Mienen
und gegen die Gewohnheit redſelig, als er fragend
unter ſie trat. Denn Vater Steffen war der Patriarch
des Dorfes, von Allen geehrt, auch von Oswald, der
auf dieſe Nachricht hin, ohne ſein Incognito zu be¬
denken, in das Haus und die Wohnſtube eilte. Der
ſilberhaarige Greis ſaß in ſeinem Lehnſtuhl, matt und
bleich, aber, wie es ſchien, der Gefahr entriſſen —
Dank der rechtzeitigen Hülfe des Doctor Braun, der
ſo eben vor den Dankſagungen der tief gerührten
Mutter Karſten, ihrer Töchter und eines halben Dutzend
anderer Frauen nach der Thür retirirte.


„Gut, daß Sie kommen,“ rief er dem eintretenden
Oswald entgegen; „ich habe einen Auftrag an Sie;
wollen Sie mir erlauben, daß ich mich deſſelben, da
meine Zeit kurz gemeſſen iſt, ſogleich entledige?“


Der Doctor ergriff Oswald ohne Umſtände unter
dem Arm, ihn mit ſich fort zum Hauſe hinaus ziehend.


„Entſchuldigen Sie mein Ungeſtüm,“ ſagte er, als
ſie, Arm in Arm, am Strande hinſchritten; „aber
einmal trafen Sie mich in voller Flucht vor den Dank¬
ſagungen der guten Leute, und zweitens betrachte ich
Sie, trotzdem wir uns leider bis jetzt nur einmal
geſehen, als einen alten Bekannten, denn ich habe
mich, ſeitdem wir uns vor ein paar Wochen in der
[109] Hütte von Mutter Clauſen ſo zufällig begegneten, in
Gedanken ſehr viel mit Ihnen beſchäftigt. Aber nun
zu meinem Auftrag! Sie wiſſen jedenfalls noch nicht,
daß die Familie Grenwitz von der großen Badereiſe,
auf die ich ſie vor ein paar Tagen geſchickt hatte,
wohlbehalten wieder zurück iſt?“


„Nein!“ ſagte Oswald mit nicht geringer Ver¬
wunderung.


„Wie ſollten Sie auch in dieſem von aller menſch¬
lichen Cultur abgeſchnittenen Dorfe der Ichthyophagen!
Genug, die Familie iſt wieder da. Der Baron (ſo
erzählt die glaubwürdige Anna-Maria) hatte in Ham¬
burg einen fürchterlichen Fieberanfall. Der herbei¬
gerufene Arzt erklärte es für Wahnſinn, unter dieſen
Umſtänden die Reiſe über's Meer anzutreten und rieth
zur Umkehr. Sein Rath wurde von Anna-Maria, die
von vornherein gegen die Reiſe war, höchlichſt ge¬
billigt — bref! ſie packten ſich ſammt und ſonders,
und Fräulein Helene dazu, die ſie aus der Penſion
abholten, in die große Familienkutſche und ſind wieder
hier ſeit geſtern Abend. Es wurde natürlich ſofort
nach mir geſchickt. Ich bin heute Nachmittag dort
geweſen, und da ich zufälliger Weiſe erwähnte, ich
müſſe noch nach Saſſitz, bat mich die Baronin, die
von Ihrem hieſigen Aufenthalte unterrichtet war, Ihnen
[110] zu ſagen, daß man ſich in Grenwitz ganz ausnehmend
freuen würde, Sie möglichſt bald wieder innerhalb
des Schloßwalles zu ſehen. Ich erwiederte, wie mir
die Ausführung dieſes Auftrages zu ganz beſonderem
Vergnügen gereiche und daß ich Ihnen zur Rückfahrt
meinen Wagen und meine Geſellſchaft anbieten würde —
was ich denn, hochachtungsvoll und ergebenſt, hiermit
gethan haben will.“


So ſprach Doctor Braun, freundlich und lebhaft,
wie es ſeine Gewohnheit war, die grauen Augen mit
den braunen, leuchtenden Sternen forſchend auf Os¬
wald heftend. „Ich komme Ihnen recht ungelegen,
geſtehen Sie es nur!“ ſetzte er hinzu.


„Durchaus nicht!“ erwiederte Oswald, „das heißt,
ich weiß, wie Achill, als man ihm die Briſäis raubte,
den Boten von ſeiner Botſchaft wol zu unterſcheiden.“


„Und wer iſt die ſchöne Briſäis, die ich Ihnen
entführe?“ fragte der Doctor.


„Die Einſamkeit,“ erwiederte Oswald.


„Nun, daraus mache ich mir kein großes Ge¬
wiſſen,“ ſagte der Andere lachend; „die Einſamkeit iſt
wie der Duft einer Giftpflanze, ſüß aber betäubend
und mit der Zeit geradezu verderblich, ſelbſt für die
ſtärkſten Conſtitutionen. Wollen Sie meinem Rathe
folgen? laſſen Sie die ſchöne Briſäis Einſamkeit in
[111] Gottes Namen ziehen, zu wem ſie will; ſetzen Sie
ſich zu mir in den Wagen und kutſchiren Sie mit
mir nach Grenwitz, wo Sie überdies ein Mädchen
finden ſollen, bei deſſen Erblicken Sie ausrufen werden:
Hier iſt mehr denn Briſäis!“


„Fräulein Helene?“


„Fräulein Helene, auch ein griechiſcher Name, und
der einen beſſeren Klang hat, wie der andere. Aber
die Sonne, oder vielmehr Helios, ſenkt ſeinen Wagen
und meine Pferde werden ungeduldig. Sie kommen
doch mit?“


„Ohne Zweifel,“ ſagte Oswald


Eine Viertelſtunde ſpäter rollte der Wagen mit
den beiden jungen Männern bereits auf der Höhe des
Ufers nach Grenwitz zu, das nur eine Stunde Weges
entfernt war. Oswald hatte Mutter Karſten hoch und
theuer verſprechen müſſen, bald wieder nach Saſſitz
zu kommen, und überhaupt zeigte die große Herzlich¬
keit, mit der ſich beim Abſchied Alt und Jung um
ihn drängte und ihm ihr „Adjes, Herr Maler,“ nach¬
rief, daß er ſich während ſeines kurzen Aufenthaltes,
ohne es darauf anzulegen, die Gunſt des harmloſen
Völkchens in einem hohen Grade erworben hatte.


Der Abend war wunderſchön. Der rothe Sonnen¬
[112] ball hing am Horizonte und goß einen Zauberſchimmer
über die öde Küſtenlandſchaft. In dem hohen Haide¬
kraut rechts und links vom Wege zirpten die Cicaden;
Schwalben ſchoſſen hoch oben in der überaus klaren,
weichen Luft. Oswald fühlte ſich zum erſten Male
ſeit langer Zeit beinahe heiter, und er mußte im
Stillen dem klugen Manne an ſeiner Seite recht ge¬
ben, daß man die Freuden der Einſamkeit doch zu
theuer erkaufe.


„Wie leid thut es mir,“ ſagte er, „daß wir un¬
ſerem Vorſatz, uns häufiger zu ſehen, ſo wenig treu
geblieben ſind.“


„L’homme propose et Dien dispose,“ erwiederte
Doctor Braun. „Wir wollen es in Zukunft beſſer
zu machen verſuchen. Sie bleiben ja, wie ich höre,
noch lange in dieſer Gegend, und ich werde auch wol
meinen Plan, nach Grünwald überzuſiedeln, noch ſo
bald nicht ausführen können.“


„Sie wollen nach Grünwald?“


„Vorläufig wenigſtens. Ich concurrire hier mit
einem trefflichen Manne, der jedenfalls ein viel ge¬
wiegterer Praktiker iſt, wie ich Gelbſchnabel, trotzdem
aber durch mich in den Schatten geſtellt wird, weil
ich das Glück gehabt habe, ein paar gute Kuren zu
machen, wie ſie's nennen, und weil die Leute immer
[113] nach dem Neuen laufen, auch wenn es nicht das Beſſere
iſt. Zwei Aerzte aber trägt die Gegend nicht, und
mein College iſt alt und hat eine zahlreiche Familie
zu ernähren; ich bin jung und vorläufig nur verlobt,
folglich werde ich ihm den Platz räumen.“


„Das iſt ſehr edel.“


„So ſcheint es, aber ſcheint auch nur. Ich gieße
das reine Waſſer nur fort, weil ich noch reineres in
Ausſicht habe. Mein Schwiegervater iſt einer der
bedeutendſten Aerzte in Grünwald. Die Hälfte ſeiner
Praxis iſt mir, wenn er ſich zur Ruhe ſetzt, wozu er
ſich noch immer nicht entſchließen kann, gewiß, und
da meine Braut eine Grünwalderin iſt, jedes Fiſchlein
ſich aber in ſeinem Teich am wohlſten fühlt, ich über¬
dies die Geſellſchaft der Cyklopen und Ichthyophagen,
mit denen ich hier verkehren muß, herzlich ſatt habe,
ſo — ſehen Sie, daß mein Edelmuth die Grenzen
des Erlaubten noch keineswegs überſchreitet.“


„Iſt es zu indiscret nach dem Namen Ihrer
Fräulein Braut zu fragen?“


„Bewahre: Sophie Robran.“


„Ich hatte während meines Aufenthaltes in Grün¬
wald öfter das Vergnügen, mit Fräulein Robran in
Geſellſchaft zuſammenzutreffen. Mein würdiger Freund,
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 8[114] der Profeſſor Berger nennt ſie den einzigen Schwan
in einer gewaltigen Heerde von Gänſen.“


„So waren Sie längere Zeit in Grünwald?“


„Ich komme eben von dort her, nachdem ich ein
halbes Jahr in den ſchattig-ſtillen Straßen der
trefflichen Stadt ein äußerſt idylliſches Leben geführt,
und unter Berger's Auſpicien meine Examina abſol¬
virt hatte.“ „Aber — Sie werden jetzt mit größerem
Recht über meine Indiscretion klagen — was be¬
ſtimmte Sie, wenn Sie dieſe Brücke der Lahmen und
Blinden hinter ſich haben, der Wirkſamkeit in einem
größeren Kreiſe, für die Sie doch offenbar vorzüglich
befähigt ſind, das Stillleben eines Hauslehrers in
einer adligen Familie vorzuziehen, wo es Ihnen ge¬
radezu unmöglich wird, Ihre Kräfte frei zu entfalten?“


„Was mich dazu beſtimmte?“ antwortete Oswald,
„ich weiß es ſelbſt kaum. Einmal wohl der gründ¬
liche Abſcheu vor dem, was die Menſchen mit jenem,
für ein planetariſches Gemüth ſo äußerſt bedenklichen
Ausdruck: eine feſte Anſtellung, bezeichnen; ſodann der
Einfluß Berger's, der mir dringend rieth, mich nicht
vor der Zeit zu binden, ſondern noch ein paar Jahre
in der Welt herumzuſinbadiſiren, wozu ich jetzt, wenn
meinen Zöglingen die Flügel erſt noch ein wenig ge¬
wachſen ſein werden, ſogar contractlich verpflichtet bin.“

[115]

„Wiſſen Sie, daß ich fürchte, oder vielmehr hoffe,
Sie werden nicht im Stande ſein, dieſem Rath Ihres
wunderlichen Freundes bis zum Ende zu folgen?“


„Weshalb?“


„Weil — Sie erlauben, daß ich ganz offen bin —
weil Sie ſich hier in einer ſchiefen Stellung befinden,
die über kurz oder lang unleidlich für Sie werden
muß. Eine ſolche Stellung iſt nur gut für Je¬
mand, der, weil er nicht auf eignen Füßen ſtehen kann,
gezwungen iſt, ſich an Andere anzulehnen; der von
Jugend auf gewohnt iſt, ſeinen Willen, ſeine Meinung
dem Willen und der Meinung Anderer unterzuordnen,
oder beſſer noch, der überhaupt gar keinen eigenen
Willen und keine eigene Meinung hat. Von dem
Allen iſt bei Ihnen das Gegentheil der Fall. Sie
ſind viel zu bedeutend für dieſe unbedeutenden Menſchen.
Sie ärgern ſich über dieſe Menſchen, und vice versa.
Das iſt einmal nicht anders, wo ſo heterogene Ele¬
mente eine Verbindung eingehen ſollen. Sie halten
die Baronin für das, was ſie iſt, für eine dünkel¬
hafte, adelsſtolze, trotz ihrer Beleſenheit bornirte, eng¬
herzige, geizige Perſon, die Baronin hält Sie für das,
was Sie nicht ſind: für einen unendlich in ſich ver¬
liebten, hochmüthigen Narren. Sie leben in einem
Hauſe, Sie eſſen an einem Tiſch, und haben doch ſo
8 *[116] wenig Berührungspunkte, als ob Sie durch eine
Welt getrennt wären; Sie bleiben bei einander, weil
Keiner aus dieſem oder jenem Grunde das Wort der
Trennung ſprechen will, bis ein Augenblick kommt, der
den Einen und den Andern gebieteriſch zur Entſchei¬
dung drängt. Habe ich nicht recht?“


„Ich kann es nicht in Abrede ſtellen.“


„Sehen Sie. Und die Sache wird, glaube ich,
jetzt noch ſchlimmer werden.“


„Warum jetzt.“


„Bis jetzt hatten Sie in dieſem Narrenhauſe nur
ein edles Geſchöpf, das Sie lieben und bemitleiden
konnten: den köſtlichen Bruno; jetzt, wenn Sie zu¬
rückkehren, werden Sie noch einen zweiten Clienten,
oder vielmehr eine zweite Clientin finden. Ich fürchte,
das arme Kind iſt, um die erſte Rolle in einer
Familientragödie zu übernehmen, aus der Idylle ihres
Hamburger Penſionats hierher nach Grenwitz ge¬
ſchleppt worden. Ich fürchte, es ſteht eine ſchwere
Gewitterwolke über dem ſchönen Haupt des unglück¬
lichen Mädchens. Sie werden, wie ich Sie kenne,
verſuchen wollen, den Schlag abzuwenden, und un¬
tröſtlich ſein, daß Sie es nicht vermögen. Sie blicken
mich mit großen Augen fragend an, und ich ſehe, daß
Sie von den Geheimniſſen der Familie, in der Sie
[117] ſchon ſeit einem Vierteljahre leben, noch ſo gut wie
nichts wiſſen. Die Sache iſt die: Anna-Maria lebt
in beſtändiger Furcht vor dem Tode des alten Barons,
weil, wenn der Baron ſtirbt, ſie nicht nur einen alten
Gemahl, ſondern auch die angenehme Ausſicht verliert,
ſich aus dem Ueberſchuß der Revenüen nach und nach
ein bedeutendes Vermögen zurücklegen zu können.
Deshalb iſt ihr Malte lange nicht ſo wichtig. Den¬
noch fürchtet ſie auch für den, da bei ſeinem Tod das
Majorat ganz aus dieſer Linie heraus an eine noch
jüngere fallen würde, die durch Felix von Grenwitz,
einen Ex-Lieutenant und notoriſchen Roué, repräſentirt
wird. Und nun kommt die Teufelei: um, wenn auch
der Baron und ſelbſt Malte vor der Zeit ſterben
ſollten, doch immer noch, ſo zu ſagen, die Hand im
Spiele zu haben, hat Anna-Maria eine Heirath zwiſchen
Fräulein Helene und dem ausgezeichneten Vetter Felix
projectirt. Das arme Kind weiß nichts von dieſem
intereſſanten Plan, deſto mehr aber, fürchte ich, der
ausgezeichnete Felix, der in wenigen Tagen nach Gren¬
witz kommen wird, um fern von dem aufregenden
ſtädtiſchen Treiben in der Stille des Landlebens ganz
ſeiner angegriffenen Geſundheit zu leben, wie die
Baronin ſagt. Mit einem Worte: es iſt die alltäg¬
liche Miſère von Soll und Haben, das ganz gemeine
[118] Brimborium, durch welches ein unſchuldiges Püppchen
geknetet und zugerichtet wird, und Ihnen wird das
Glück zu Theil werden, dieſem erhebenden Schauſpiel
als unbefangener Beobachter beiwohnen zu dürfen.“


„Das wird nimmermehr geſchehen,“ rief Oswald.


„Sie wollen alſo Ihre Stelle aufgeben?“


„Ich muß es wohl, — oder —“ eine Sturmfluth
von Leidenſchaft brauſte durch Oswald's Seele. Er
dachte an die unglückliche Marie, die jetzt oft mit auf
der Bruſt gefaltenen Händen wie eine ſchmerzensreiche
Heilige durch ſeine Träume glitt, er dachte an Me¬
litta, die verkauft worden war von ihrem eigenen
Vater! Jetzt ſollte ſich das Bubenſtück wiederholen —
vor ſeinen Augen —


„Nimmermehr, nimmermehr!“ rief er.


„Sie wollen alſo Ihre Stelle aufgeben?


„Nein; wenigſtens nicht, bevor ich, ſo oder ſo, die
Ausführung dieſes ſchurkiſchen Planes vereitelt habe;
bevor ich gethan habe, was ich konnte, ihn zu vereiteln!“


„Aber was werden Sie thun können? Lieber Freund,
die Großmuth iſt eine Tugend, der wir genau auf
die Finger ſehen müſſen, damit ſie uns nicht die Hel¬
denkrone, von der wir träumen, in eine klingende
Schellenkappe verwandelt. Denken Sie an den edlen
Junker aus der Mancha, und wie ſein ritterlicher
[119] Leib geſchunden und geprügelt wurde für die Wallun¬
gen ſeines guten Herzens! — Und dann: wiſſen Sie
denn, ob die Andromeda, deren Perſeus Sie werden
wollen, überhaupt befreit ſein will? Ich kenne den
Baron Felix nicht — vielleicht iſt er beſſer, als ſein
Ruf; ich habe nicht drei Worte mit Fräulein Helene
geſprochen — vielleicht iſt ſie keineswegs ſo lieb und
gut, wie ſie ſchön iſt.“


„Sie iſt es, ſie iſt es, verlaſſen Sie ſich darauf;“
rief Oswald eifrig.


„Gut, daß Sie noch nicht dreißig Jahre alt ſind;“
ſagte der Doctor lachend.


„Weshalb?“


„Sie wiſſen, was den Schwärmern, nach Goethe's
Ausſpruch, in dem bezeichneten Lebensalter zukommt?
der Tod — an demſelben Kreuze, welches ſie bis
dahin keuchend durch das Leben ſchleppten. — Aber
da ſind wir ſchon nahe am Thor. Wollen Sie mir
erlauben, daß ich Sie hier abſetze? Ich habe noch
einen Beſuch im Dorfe zu machen und dieſer Weg
führt direct hin, während ich über den Schloßhof
einen langen Umweg machen muß. Uebermorgen
komme ich wieder nach Grenwitz. Hoffentlich geht Ihr
Puls dann ruhiger. Ich ſagte Ihnen ja gleich: Die Ein¬
ſamkeit iſt reines Gift für Ihre Natur. Adieu!“

[[120]]

Siebentes Kapitel.

Es war ein köſtlicher Anblick, den der Schloßhof
von Grenwitz in dem Augenblick gewährte, als ihn
Oswald durch das finſtere Thor betrat, ein Anblick,
wol geeignet, ein ſchmerzlich zuckendes Herz zur Ruhe
zu wiegen. Während die höchſten Kuppen der ge¬
waltigen Linden, die auf das Portal des Schloſſes
zuführten, und die Zinne des Thurmes noch vom
rothen Abendlichte angeſtrahlt waren, lag ſchon tiefer
Schatten unter den Bäumen, neben dem Walle, über
dem langen Graſe, das überall zwiſchen den Steinen
des Pflaſters emporwuchs. Aus den Kronen der Lin¬
den, die mit weißem Blüthenſchnee überdeckt waren,
ſtrömte ein ſüßer Duft, der die ganze Atmoſphäre
erfüllte. Rings umher war es ſo ſtill, daß man
deutlich das geſchäftige Summen der Inſecten ver¬
nahm; auf dem Rand des Brunnens mit der kopf¬
loſen Najade ſaß ein Vöglein und ſang der unter¬
[121] gehenden Sonne nach; hoch oben in der roſigen Luft
ſchoſſen noch immer einzelne Schwalben, als könnten
ſie ſich heute, wo es doch gar ſo wunderſchön ſei,
gar nicht entſchließen, zur Erde zurückzukehren.


Langſam, faſt zögernd, ſchritt Oswald dem Schloſſe
zu. Er fühlte tief den Zauber dieſer Abendſtunde und
wußte, daß das erſte Menſchenwort denſelben zerſtören
würde. Aber er begegnete Niemandem. Der ganze
Hof war wie ausgeſtorben. Er ſtieg die Wendeltreppe
hinauf und ging durch die langen Corridore, die von
ſeinem Fußtrit wiederhallten, auf ſein Zimmer. Die
Fenſter waren geöffnet, und der Lehnſtuhl in der Niſche
hatte den rechten Platz, auf dem Tiſche vor dem Sopha
ſtand eine Vaſe, angefüllt mit friſchen Blumen, der
Kopf des Apollo von Belvedere hatte ſich eine ſchmale
Krone von Epheu gefallen laſſen müſſen. Es war
aufgeräumt in dem Zimmer, aber ſo, wie es nur von
Jemand geſchehen kann, der die Eigenheiten des Be¬
wohners ganz genau kennt. Offenbar hatte hier Bru¬
no's Hand gewaltet.


Oswald fühlte ſich durch das ſtumme und doch
ſo beredte Willkommen auf das angenehmſte berührt.
Es war wie eine warme Hand, die freundlich die ſeine
drückte, wie ein Hauch, der liebevoll ſeinen Namen
flüſterte. Der Sturm in ſeiner Seele, welchen die
[122] Worte des Doctors erregt hatten, war vorübergebrauſt,
und an die Stelle des wilden Zornes eine ſchwermuths¬
volle Trauer getreten, daß die Menſchen dieſer herr¬
lichen Erde nicht werth ſeien und in ihres Sinnes
Thorheit ſich, gegen das Geſchick, Schmerzen und
Qualen ohne Zahl bereiteten ...


Oswald hatte, den Kopf in die Hand geſtützt, am
Fenſter geſeſſen. Da war es ihm, als hörte er von
dem Raſenplatze an der anderen Seite des Schloſſes
her Stimmen erſchallen. Er erinnerte ſich, daß es
wol an der Zeit ſei, die Geſellſchaft aufzuſuchen und
zu begrüßen. Er kleidete ſich um, nahm eine Nelke
aus dem Blumenſtrauß und ging hinunter.


Als er die Thür des Wohnzimmers öffnete, aus
welchem die Fenſterthür nach dem Raſenplatz führte,
hörte er die Stimmen deutlicher, und als er ein paar
Schritte in das leere Zimmer hinein gethan hatte,
ſah er auch ſchon einen Theil der Geſellſchaft, die
auf dem Raſen mit dem Lieblingsſpiel der Baronin,
dem Reifenſpiel, eifrigſt beſchäftigt war. Er näherte
ſich leiſe der Thür und blieb auf demſelben Platze
ſtehen, von welchem aus Melitta an jenem Nach¬
mittage ihn zum erſten Male erblickt hatte, als er
Arm in Arm mit Bruno unter den Bäumen hervortrat.


Die Geſellſchaft beſtand aus dem Baron und der
[123] Baronin, Mademoiſelle Marguerite und Herrn Timm,
Malte und Bruno und einer jungen Dame, die Os¬
wald den Rücken zugewandt hatte, ſo daß er nur die
ſchlanke, leichte Geſtalt, deren reizende Formen ein
einfaches weißes Gewand gar anmuthig hervortreten
ließ, und das üppig dichte, leicht gekräuſelte, blau¬
ſchwarze Haar bemerken konnte, welches in der Mitte
geſcheitelt und hinten in vielen Zöpfen zuſammen¬
geſteckt, die Linien des wundervoll ſchön geformten
Kopfes in weichen Umriſſen nachzeichnete.


Oswald's Blicke waren, wie von einem Zauber,
an dieſe jugendliche Geſtalt gefeſſelt, die, ohne den
Platz zu verlaſſen, beinahe regungslos daſtand, und nur
in regelmäßigen Zwiſchenräumen die Arme hob, um
den Reif aufzufangen, den Bruno, ihr Nachbar, mit
nie fehlender Sicherheit ſtets ſo ſchlenderte, daß er
in einem Halbbogen unmittelbar auf ihren Stock her¬
abſchwebte, oder den eben aufgefangenen Reif weiter
zu ſchicken an Malte, der ihn jedes zweite Mal fallen
ließ und ſich bitter beklagte, Helene werfe ſo ſchlecht,
und Helene thue es ihm nur zum Aerger, und es
müſſe ein Anderer an Helenen's Stelle treten.


„So komm hierher, Helene,“ ſagte die Baronin,
„Du wirfſt auch wirklich ſehr ſchlecht.“


Mutter und Tochter tauſchten mit den Plätzen,
[124] und Oswald konnte jetzt Helene voll in's Antlitz
ſehen ...


Es war eins der Geſichter, die man nie wieder
vergißt, wenn man einmal mit fühlenden Augen hin¬
eingeſchaut, an die ſich noch der Greis über ein halbes
Jahrhundert weg mit wehmüthiger Freude erinnert,
wie er ſich an einen warmen Sommerabend erinnert,
als er — ein kleiner Schulknabe — mit den Brüdern
im Garten ſpielte und aus der Laube das Lachen der
großen Mädchen klang; eins der Geſichter, die uns,
wenn wir noch ſo traurig ſind, anlächeln, wie ein
Sonnenblick an einem düſtern Herbſttage, die, wenn
es in unſerm Herzen noch ſo öde iſt, uns wieder an
Poeſie und Alles, was ſchön und göttlich iſt, glauben
machen.


Oswald ſtand in Bewunderung verloren, wie man
vor einem wunderherrlichen Gemälde anbetend ſtehen
bleibt. Es war nicht das liebliche Oval des reizenden
Geſichtes; es waren nicht die großen, dunkeln, träu¬
meriſchen Augen, die aus den langen ſchwarzen Wim¬
pern mit einem ſo zauberiſchen Lichte leuchteten; es
waren nicht die vollen roſigen Lippen, die ſo freundlich
lächeln konnten; es war nicht das dunkle Incarnat
des ſammetweichen Teints — es war eben Alles in
Allem. Wer kann die Sonnenſtrahlen fangen? wer
[125] die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die
Schönheit zergliedern? Oswald verſuchte es auch
nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im
Leben geſehen habe, nie wieder ſehen werde, und es
war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft
geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob
die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬
ſucht, nun endlich gefunden ſei...


Oswald wollte die Geſellſchaft begrüßen, aber es
war, als ob ſein Fuß an den Boden gefeſſelt wäre.
Eine ihm unerklärliche Angſt ergriff ihn, ein banges
Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geſchehen müſſe,
als werde in dieſem Augenblick von geheimen Mächten
des Schickſals über das Wohl und Wehe ſeines Lebens
entſchieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort,
in die tiefſte Einſamkeit...


Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es
draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreiſe aus¬
geſchieden war und ſich dem Hauſe näherte. Er raffte
ſich gewaltſam empor und trat durch die Fenſterthür
dem Kommenden entgegen. Sein Erſcheinen wurde
natürlich ſofort bemerkt und ein allgemeines: ah,
Herr Stein! ſieh da, Herr Doctor! bewillkommnete
ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein
paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬
[126] armt hatte, ehe er an Jene herantreten und ſie be¬
grüßen konnte.


„Das iſt ja charmant, Herr Doctor;“ ſagte die
Baronin mit ihrem gnädigſten Lächeln. „Wir waren
ſchon untröſtlich bei dem Gedanken, Sie noch wochen¬
lang entbehren zu müſſen und nun ſind Sie ſchon
wieder in unſrer Mitte. Was ſagen Sie denn, daß
wir ſo bald wieder umkehren mußten! Der arme
Grenwitz, er iſt recht krank geweſen! Geh hinein,
lieber Grenwitz; es iſt wirklich ſchon recht kühl draußen.
Wir wollen Alle hineingehen — Und unſer kleiner
Kreis hat ſich unterdeſſen vergrößert. Wo iſt denn
Helene — Hélène, venez ici, ma chère! Laſſen
Sie mich Ihnen meine Tochter Helene vorſtellen; ich
habe ihr Hoffnung gemacht, daß Sie die Güte haben
wollen, ihr zu helfen, die vielen, vielen Lücken in
ihren Kenntniſſen etwas auszufüllen, denn Sie glau¬
ben nicht, welch eine Stümperei eine ſolche Penſio¬
nats-Erziehung in wiſſenſchaftlicher Hinſicht iſt! Nicht
wahr, Sie werden die Kleine in die Zahl Ihrer
Schüler aufnehmen? — Mademoiselle, n'avez vous
pas vu mon fichu? ah — le voilà, merci bien! et
dites donc, qu'on allume la lampe
! Ich denke,
wir bleiben Alle etwas im Salon beiſammen.“


„Ohne Zweifel,“ ſagte Herr Timm, der gegen
[127] ſeine Gewohnheit bis jetzt ſehr ſtill geweſen war;
„ſaure Wochen, frohe Feſte, Tages Arbeit und Abends
eine gemüthliche Bowle, wie der alte Geheimrath ſagt.
Das ſoll keine Anſpielung ſein, gnädige Frau, bei
Leibe nicht!“


„Aber es wäre Ihnen doch nicht unlieb, wenn
ich es für eine Anſpielung nähme,“ ſagte die Ba¬
ronin, die heute Abend entſchloſſen ſchien, Alles zu
bezaubern.


„Ich müßte lügen, wollte ich das Gegentheil be¬
haupten,“ ſagte Herr Timm, die Hand aufs Herz
legend; „und Sie wiſſen, gnädige Frau, daß mir alle
Lüge in den Tod verhaßt iſt.“


Eh bien!“ ſagte die Baronin, „und Sie ſollen
die Ingredienzien ſelbſt beſtimmen; wollen Sie ſich
darüber mit Mademoiſelle in Einvernehmen ſetzen?“


„Famos,“ ſagte Herr Timm, „gnädige Frau, ich
muß Ihnen die Hand küſſen;“ und nachdem er den
Worten die That hatte folgen laſſen, zog er die kleine
Franzöſin bei Seite, ihr das Recept zu einer „famo¬
ſen Bowle“ mitzutheilen.


Man war vielleicht eine Stunde plaudernd im Salon
beiſammen geweſen, Herr Timm hatte einige komiſche
Lieder eigener Compoſition am Clavier recht hübſch
vorgetragen, einige komiſche Scenen, in denen er zu
[128] gleicher Zeit als zwei oder drei verſchiedene Perſonen
auftrat und mit zwei oder drei verſchiedenen Stim¬
men redete, aufgeführt, — kurz, er hatte Alles, was
in ſeinen Kräften ſtand, gethan, um die nach den
erſten zehn Minuten ziemlich einſylbige Geſellſchaft zu
unterhalten, und trotz alledem die von ihm ſelbſt ge¬
braute Bowle auch ziemlich allein ausgetrunken —
als die Baronin zum Aufbruch mahnte. Herr
Timm erbat ſich als einzigen Ehrenſold für ſeine
künſtleriſchen Bemühungen am heutigen Abend die
Erlaubniß, den Damen vom Hauſe die Hand küſſen
zu dürfen, eine Erlaubniß, die ihm von der Baronin
mit gnädiger Bereitwilligkeit, von Fräulein Helene
aber nicht zugeſtanden wurde, die kurz und trocken,
und die ſchönen Brauen ein wenig zuſammenziehend,
bemerkte, der Künſtler müſſe ſeinen Lohn in ſich ſelbſt
tragen. Herr Timm wollte dagegen Einwendungen
erheben, aber Oswald ſchnitt die weiteren Auseinan¬
derſetzungen ab, indem er „gute Nacht“ wünſchte und
mit Bruno (Malte hatte ſich ſchon früher entfernt)
das Zimmer verließ und ſo Herrn Timm, der in
demſelben Theile des Schloſſes wohnte, zwang, ſich
ebenfalls zu empfehlen. Ueberhaupt hatte Oswald
ſeinen neuen Freund heute Abend nicht gerade freund¬
lich behandelt und es gehörte die ganze Gutmüthigkeit
[129] und Anſpruchsloſigkeit dieſes Letzteren dazu, ſich da¬
durch in keiner Weiſe ſtören zu laſſen, und in ſeinem
übermüthigen Geſchwätz fortzufahren, bis ſie ſich, vor
ihren Thüren angekommen, trennten.


„Gott ſei Dank!“ ſagte Oswald, als er ſich mit
Bruno in ſeinem Zimmer allein ſah; „endlich ſind
wir den läſtigen Schwätzer los. Und ich habe dich
noch gar nicht um Verzeihung bitten können, daß ich
neulich beim Abſchied ſo kalt und gleichgültig war, Dir
noch nicht danken können, daß Du brüderlich Alles ver¬
geſſen haſt — mir ein ſo freundliches Willkommen be¬
reitet haſt. Nicht wahr, dieſe Blumen ſind von Dir?“


„Ja — “


„Und der Epheukranz dort um die Stirn des Apollo
iſt von Dir?


„Ja —“


„Und Du haſt den Lehnſtuhl an die rechte Stelle
gerückt?“


„Ja —“


„Du lieber, lieber Junge! komm, wir wollen uns
Beide hineinſetzen, und nun ſollſt Du mir von Dei¬
nen Irrfahrten erzählen, von den Städten, die Du
geſehen, von den Kyklopen, die Du geblendet, von den
Leiden, die Du erduldet haſt in Deiner lieben Seele
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III.9[130] — Alles, der Ordnung gemäß, weißt Du, wie Po¬
lyphem ſeine Schaafe melkt.‟


Oswald hatte ſich in den Stuhl geworfen und
Bruno zu ſich gezogen. So ſaßen ſie; und der Knabe
ſchmiegte ſich innig an ſeinen einzigen Freund, und
fing an zu erzählen, erſt mit ſatyriſcher Laune die
Hinfahrt ſchildernd, wie bald der Baron und bald
Malte nicht hatten rückwärts fahren können, wie zu¬
letzt Beide auf dem Bock geſeſſen hatten, und der
Poſtillon im Wagen — und wie er, Bruno, vergnügt
geweſen ſei, als immer neue Städte und Dörfer vor
ſeinen Blicken auftauchten, und nun zuletzt das große
Hamburg.


Dann nahm ſeine Erzählung einen andern Ton
an. Er ſchilderte mit allem Ernſte den Eindruck,
welchen die Stadt auf ihn gemacht hatte, die großen
ſtattlichen Häuſer, das Gedränge in den Straßen, das
Treiben im Hafen, die vielen Schiffe, das Alſter¬
baſſin, in welchem ſich die großen Lichter ſpiegelten,
und welche zauberiſche Wirkung das herrorbringe,
wenn man langſam am Rande hinſpaziere, und wie
er einmal beinahe ins Waſſer gefallen wäre, wenn
ihn Helene nicht gehalten hätte. Und nun nachdem
Helenens Namen erſt einmal genannt war, tauchte er
immer wieder auf, wie ein leuchtender Stern aus
[131] treibenden Wolken: wie Helene geweint habe, als ſie
von Hamburg abreiſten, wie ſie auf das Wort ihrer
Mutter: „es ſcheint Dir recht viele Freude zumachen,
zu Deinen Eltern zurückzukehren,” die Thränen ge¬
trocknet, aber auch auf der ganzen Reiſe kaum einmal
wieder gelächelt habe. Denn ſie ſei ſehr ſtolz, aber
auch ſehr, ſehr gut gegen Alle, die ſie lieb habe, zum
Beiſpiel gegen ihren Vater, und auch gegen ihn
(Bruno), obgleich er durchaus nicht behaupten wolle,
daß ſie ihn lieb habe — ſo arrogant ſei er durchaus
nicht — aber ſo viel ſei gewiß, daß ſie eines Abends,
als es ſchon ſehr ſpät war und er, von dem vielem
Fahren müde, die Augen nicht mehr aufhalten, vor
all dem Rütteln und Schütteln aber nicht zum Schlafen
kommen konnte, es ſich ruhig gefallen ließ, als ſein
Kopf in der Schlaftrunkenheit auf ihre Schulter ſank,
und dort wol eine halbe Stunde liegen blieb. Das
werde er ihr nie vergeſſen und wenn er einmal Ge¬
legenheit haben ſollte, ihr einen Dienſt zu leiſten,
dann wünſche er nur, daß es dabei um Hals und
Kragen gehe, ſonſt hätte es doch keine rechte Art.


So ſprach der Knabe und ſeine Worte fielen dicht
wie Feuerfunken aus einem Gebäude, das in hellen
Flammen ſteht und ſeine Wangen glühten. Oswald
bemerkte wol, daß das ſchöne Mädchen einen großen
9 *[132] Eindruck auf den wilden Knaben gemacht hatte, aber
wie groß, wie allmächtig dieſer Eindruck war, welche
Revolution in dieſer frühreifen, übermächtigen Natur
eine erſte, wie ein Lavaſtrom hereinbrechende Liebe
hervorgebracht hatte — das ahnte er nicht. Er
ſcherzte über ſeines Lieblings feurigen Enthuſiasmus,
um ſo witziger und feiner, als er denſelben in nicht
geringem Grade theilte, und Bruno, der ſich von
Oswald Alles gefallen ließ, lachte mit und lächelnd
und ſcherzend ſagten ſie ſich gute Nacht. Bruno
ging in ſeine Kammer, Oswald ſetzte ſich wieder in
den Lehnſtuhl . . .


Auf dem Tiſch vor dem Sopha brannte die Lampe,
aber ſo dunkel, daß man das Flimmern des Mondes,
der eben über die Buchen des Walles heraufſtieg,
wol in der Stube bemerkte; ein einzelner Stern in
der Nähe der Mondſichel ſchimmerte aus dem tiefen
Blau des nächtlichen Himmels. Durch das offene
Fenſter ſtrömte die weiche balſamiſche Nachtluft —
es war ſo ſtill, daß man die fallenden Thautropfen
deutlich hörte. Und jetzt, während Oswald ſaß und
lauſchte, klangen, wie die Töne einer Aeolsharfe, auf
einem Fügel mit kunſtgeübter Hand angeſchlagene Ac¬
corde zu ihm herüber, erſt leiſe, leiſe als fürchtete
man die Nacht aus dem Schlafe zu wecken, dann
[133] ganz allmälig lauter. Die Accorde floſſen zuſammen
zu der Melodie eines Liedes, und bald begann eine
weiche Altſtimme das Lied zu der Melodie zu ſingen...
Oswald konnte die Worte nicht vernehmen, aber ſie
ſchienen ſanft und traurig zu ſein, wie die Melodie,
deren einfache rührende Klage wunderbar zum Herzen
ſprach . . .


Dieſe Muſik zu dieſer Stunde würde Oswald
entzückt haben, auch wenn er nicht hätte ahnen können,
wer die Sängerin war. Jetzt aber, wo er wußte,
daß es Niemand ſein konnte, als das ſchöne Mädchen,
vor dem ſich heute Abend, wie vor einer überirdiſchen
Erſcheinung, ſeine Seele anbetend geneigt hatte, bei
deſſen Anblick es über ihn gekommen war, wie die
Offenbarung einer höheren Welt — klangen die tief¬
ſten Seiten ſeines Herzens mit, und wie der Gläu¬
bige, was in ihm wogt und drängt, in ein Gebet zu
gießen verſucht, ſo fühlte Oswald den Drang, in
Worten auszuſprechen, was ſeine Seele ſo mächtig
erregte. Er erhob ſich wie trunken, aus dem Sitz
am Fenſter; er ſchritt an den Tiſch und ſchrieb kaum
wiſſend, was er ſchrieb:


Nie, ſeit der wunderbaren heil'gen Stunde,

Die Milton's hoher Genius beſang,

Als von des erſten Menſchen reinem Munde

Das erſte ſüße Wort der Liebe klang,

[134]
Und alle Vöglein ſangen's in der Runde,

Und jedes Blümlein aus der Knospe ſprang —

Nie iſt ein Weib auf Erden je erſchienen,

Denn, ſo wie Dir, die Engel ſichtbar dienen.
O, Du biſt lieb! lieb, wie der Gott der Träume,

Der uns Vergeſſenheit der Schmerzen bringt,

So hold, wie Mondſchein, der durch Blüthenbäume

In unſer lauſchig dunkles Zimmer dringt —

Süß, wie Dein Sang, der durch die ſtillen Räume

In tiefer Nacht zu mir herüberklingt —

Du biſt ſo ſchön, daß man wie ſie Dich nannte,

Für die der Krieg um Troja einſt entbrannte.
Geheimnißvolle hehre Macht des Schönen!

Als unſer Heiland biſt Du uns geſandt.

Du ſollſt uns wieder mit uns ſelbſt verſöhnen,

Die wir zu ſtürmiſch durch die Welt gerannt;

Und wie mit ſeiner Harfe goldnen Tönen,

Iſai's Sohn des Saulus Weh gebannt,

So wird aus Deinen liebetiefen Augen

Manch' düſtrer Blick ſich Licht und Hoffnung ſaugen.
Aus Deinen holden Augen! wo ſie ſtrahlen

In ihrer dunklen, märchenhaften Pracht,

Da ſind vergeſſen alle Erdenqualen,

Da wird es hell in tiefſter Leidensnacht,

Wo ſie erglänzen, wird in kummerfahlen,

Geſenkten Stirnen Leben neu entfacht —

In müden Pilgern, die in allen Landen

Die blaue Blume ſuchten und nicht fanden.
O Blume, Mädchen! nie leg ab die Krone,

Die jetzt auf Deinem jungen Haupte ruht,

Gieb nimmer Raum dem frevelhaften Hohne,

Daß, was ſo engelſchön, nicht engelgut!

[135]
Wie heute ſtets, in heil'ger Unſchuld, wohne,

In aller guten Geiſter treuer Hut,

Auf daß getroſt in trüber Erdenferne

Verirrte Wandrer folgen Deinem Sterne ...

Oswald trat wieder ans Fenſter; der Mond und
der Stern waren von einer ſchweren Wetterwolke be¬
deckt, die hinter ihnen her über den Wall heraufge¬
zogen war; der Geſang war verſtummt, lauter rauſchte
der Nachtwind in den Bäumen . . .


Er ſchloß das Fenſter und ſuchte ſein Lager auf.
Es umfing ihn ein ſchwerer Schlaf, durch den be¬
ängſtigende Träume zogen. Bald befand er ſich in
Feuersgefahr, bald ſollte er von wilden Thieren zer¬
riſſen werden, bald überfiel ihn jene Angſt, deren un¬
ſägliches Grauſen nicht von dieſer Welt zu ſtammen
ſcheint; aber ſtets, in dem Augenblicke der höchſten
Noth, trat ihm ein Engel zur Seite, und ſtreckte
ſchützend ſeine Hand über ihn, und dieſer Engel trug
die Züge — Melitta's.

[[136]]

Achtes Kapitel.

Als Oswald am nächſten Morgen unter den Pa¬
pieren auf ſeinem Schreibtiſch kramte, fiel ihm ein
Briefchen in die Hände, das er geſtern Abend über¬
ſehen hatte. Er erkannte ſogleich die Handſchrift,
welche mit ihren bald kühnen und großartigen, bald
kritzlich verworrenen Zügen ſo problematiſch war, wie
der Charakter des Schreibers. Das Billet war von
Oldenburg und lautete:


So eben erhalte ich eine Nachricht, die mich
nöthigt, ſofort eine größere Reiſe anzutreten, von der
ich nicht zu beſtimmen vermag, wie lange ſie dauern
wird. Unter acht Tagen ſchwerlich. Ich ſchreibe
dieſen Brief, um ihn auf Grenwitz abzugeben, im
Falle ich Sie nicht perſönlich ſprechen ſollte, was mir
ſehr leid thun würde, da ich Ihnen Vieles zu ſagen
hätte. Unſere Czika nehme ich mit, da mir die So¬
litüde während meiner Abweſenheit kein ſicherer Auf¬
[137] enthalt für das Kind ſcheint. Bis zu dem Termin,
den uns die Zigeunerin geſtellt hat, bin ich jedenfalls
zurück. Bis dahin leben Sie wohl!


In großer Eile und noch größerer Freundſchaft


A. v. O.


Oswald fühlte ſich durch dieſen Brief eigenthüm¬
lich berührt, denn er ahnte mit jener Divinationsgabe,
die in Herzensangelegenheiten eine ſo große Rolle
ſpielt, irgend einen Zuſammenhang zwiſchen dieſer
plötzlichen Abreiſe Oldenburg's und der Abreiſe Me¬
litta's. War es, daß er in der letzten Zeit wiederum
ſo viel über das Verhältniß der Beiden, das ihm
durch Melitta's in der Mitte abgebrochene Erzählung
in einem ganz neuen Lichte erſchienen und doch noch
lange nicht hinreichend aufgehellt war, nachgedacht
hatte; war es nur der Umſtand, daß der Brief Ol¬
denburg's ſo dunkel gehalten war — genug, Oswald
empfand es als eine Art Beleidigung, daß er nach
dieſer Seite hin fort und fort auf Räthſel ſtieß. Er
nahm ſich vor, noch heute nach Berkow hinüberzugehen
und bei'm alten Baumann anzufragen, ob ein Brief
Melitta's für ihn da ſei.


Dann nahmen ſeine Gedanken eine andere Rich¬
tung, als ſein Auge auf die Verſe fiel, die er geſtern
Abend geſchrieben hatte. Er mußte lächeln, als er
[138] ſie jetzt durchlas. „Da hat Dir Deine leidige Phan¬
taſie wieder einmal einen rechten Streich geſpielt;“
ſprach er bei ſich. „Es braucht Dir nur Jemand
von einem hübſchen Mädchen zu erzählen, das einen
Andern, als Deine Hoheit, heirathen ſoll, und Du ge¬
räthſt in einen Paroxysmus des Mitleidens mit dem
jungen Mädchen und in einen Paroxysmus des Haſſes
gegen den jungen Mann. Und hernach brauchſt Du
das Mädchen nur ſelber zu ſehen und zu finden, daß
ſie große dunkle leuchtende Augen hat und überhaupt
intereſſanter ausſieht, als die Backfiſche im Allgemeinen,
und ein Knabe braucht Dir nur eine halbe Stunde
von beſagtem Backfisch vorzuſchwärmen, ſo fühlſt Du
Dich gemüßigt, ſo überſchwängliche Verſe zu ſchreiben
wie dieſe hier, die ich in das Feuer des Ofens ſtecken
würde, wenn wir uns nicht unglücklicherweiſe in den
Hundstagen befänden.“


Indeſſen Oswald ſtellte das Autodafé nicht an,
obgleich die Flamme eines Lichtes dieſelben Dienſte
gethan haben würde, wie das Feuer im Ofen, ſondern
legte das Blatt ſehr ſorgfältig in ſein Pult — ver¬
muthlich, es zur Erinnerung an eine ſchwache Stunde
aufzubewahren, da er ſonſt ziemlich frei von der
Affenliebe war, welche junge angehende Dichter für
die Kinder ihres Geiſtes zu empfinden pflegen.


[139]

Der Morgen grüßte ſo freundlich aus dem thau¬
friſchen Garten herauf, daß Oswald dem Verlangen,
ein wenig zwiſchen den blumenreichen Beeten und in
den ſchattigen Laubgängen umherzuſchlendern, nicht
widerſtehen konnte. Ueberdies war es noch ſehr früh
— noch beinahe zwei Stunden Zeit — die Knaben
ſchliefen noch.


Oswald eilte hinab und ſuchte ſeinen Lieblings¬
platz auf, den mächtigen Wall, der Schloß und Garten
und Hof umfaßte und auf welchem es ſich unter den
Buchen und Nußbäumen gar anmuthig promenirte,
beſonders am Morgen, wenn die rothen Sonnen¬
ſtrahlen durch die wehenden Zweige blitzten und die
halbwilden Enten noch luſtiger als ſonſt auf dem
grün überwachſenen Graben ihr Weſen trieben.


Oswald ſchlenderte langſam dahin, die reizenden
Einzelheiten des wonnigen Morgens mit allen Sinnen
genießend, heute um ſo mehr, als die Lieblichkeit, die
ſanfte Schönheit, die ihn hier rings umher anlächelte,
gar ſeltſam mit der öden Monotonie der Meeresküſte,
die er in der letzten Zeit beſtändig vor Augen gehabt
hatte, contraſtirte. Heute Morgen war es ihm bei¬
nahe unbegreiflich, wie er ſich von ſeiner düſtern
Laune ſo ganz habe beherrſchen laſſen können. Der
Doctor hatte Recht: die Einſamkeit iſt ein ſüßes be¬
[140] rauſchendes und zuletzt tödliches Gift. Ich muß den
Doctor öfter zu Rathe ziehen. Ein klarer Kopf, der
die Dinge und Menſchen und Verhältniſſe ſtets in
dem rechten Lichte ſieht. Aber in Betreff der zwiſchen
Fräulein Helene und ihrem Vetter projectirten Hei¬
rath irrt er ſich doch. Erſtens iſt ſie noch viel zu
jung, zweitens iſt ſie viel zu ſchön und drittens will
ich es nicht. Hören Sie, Madame la Baroneſſe:
ich will es nicht! Sie werden Ihr ſauberes Project
nicht ausführen, wenn Sie auch noch ſo ſehr mit
ihren großen herrſchſüchtigen Augen rollen und ſich zu
Ihrer ganzen ſtattlichen Höhe emporrichten.


Es war ein Glück, daß Oswald dieſe Worte nicht
pathetiſch in den ſtillen Garten hineindeclamirte, ſon¬
dern nur leiſe durch die Zähne murmelte, denn wie
er eben um eine Ecke des Walles bog, die durch ein
dichtes weit vorſpringendes Gebüſch noch ſchärfer ge¬
macht wurde, fand er ſich plötzlich Fräulein Helene,
die von der andern Seite kam, gegenüber. Dies Zu¬
ſammentreffen war für beide Theile ſo überraſchend,
daß das junge Mädchen nur mit Mühe einen leiſen
Schrei unterdrückte, und Oswald, ſehr gegen ſeine
Gewohnheit, geradezu verlegen wurde und nicht wußte,
ob er die junge Dame anreden, oder grüßend ſtumm
vorübergehen ſolle.


[141]

Aus dieſem Zweifel wurde er durch Fräulein He¬
lene befreit, die es vielleicht ganz begreiflich fand, daß
der junge Hauslehrer, von deſſen Unterhaltungsgabe
ſie geſtern Abend keine beſonders große Meinung be¬
kommen hatte, nicht die Geiſtesgegenwart habe, aus
dem Stegreife eine Converſation zu beginnen; und
deshalb glaubte, daß eine harmloſe Bemerkung ihrer¬
ſeits über den ſchönen Morgen das für die Situation
Paſſendſte ſein dürfte.


„Der ſchöne Morgen hat Sie auch herausgelockt,
wie ich ſehe.“


„Ja, mein Fräulein. Der Morgen iſt in der That
ſehr ſchön.“


„Köſtlich. Haben Sie immer ſo herrliches Wetter
in der letzten Zeit gehabt?“


„Immer; das heißt, einige Regentage ausge¬
nommen.“


„Wenn man den Himmel ſo blau ſieht, ſollte man
ſchlechtes Wetter für ein Märchen halten, meinen Sie
nicht auch?“


„Gewiß.“


Fräulein Helene mochte glauben, daß dieſe geiſt¬
reiche Unterhaltung nun lange genug gedauert habe,
und da ſie zufällig an einer Stelle angelangt waren,
wo eine ſchmale Treppe von dem Wall hinab in den
[142] Garten führte, ſo hielt ſie es in ihrem und ihres
einſilbigen Begleiters Intereſſe für gerathen, dieſe
Gelegenheit, die Scene abzubrechen, nicht unbenutzt
zu laſſen.


„Haben Sie eine Ahnung, welche Zeit wir haben?“


„Halb ſieben.“


„Schon? Da muß ich eilen, in's Schloß zurück¬
zukommen, ehe Mama meine Abweſenheit bemerkt.“


Fräulein Helene nickte vornehm mit dem Kopfe,
ſtieg leicht die Treppe hinab und ging langſam zwiſchen
den Blumenbeeten dem Hauſe zu.


„Dem Glücklichen ſchlägt keine Stunde,“ ſagte
Oswald bei ſich, als er der jugendlich ſchlanken Ge¬
ſtalt nachſchaute, „glücklich habe ich ſie alſo durch
meine meteorologiſchen Bemerkungen nicht gemacht;
und ihre Eile in's Schloß zu gelangen war weniger
groß, als die von mir fortzukommen. Jedenfalls
ſcheint ſie noch Zeit genug zu haben, ſich ein reizendes
Bouquet zu pflücken. Ohne Zweifel für mich. Ich
habe augenſcheinlich eine vollſtändige Eroberung ge¬
macht. Wie ſie mich mit ihren wunderbaren Augen,
ſo mitleidig halb und halb verächtlich, anblickte, als
wollte ſie ſagen: ich thue Dir wol einen großen Ge¬
fallen, wenn ich Dich mit Deiner Blödigkeit allein
laſſe! Sie iſt ſtolz, ſagt Bruno; gewiß, aber wie
[143] köſtlich ſteht ihr dieſer Stolz; wie kann ein Mädchen
mit dieſem Geſicht, dieſen Augen, dieſem Haar anders
als ſtolz ſein. Es iſt die Atmoſphäre, in die ſie ſo
nothwendig gehört, wie ein Adler in die höchſten Lüfte.
Der Adler iſt auch ſtolz und kein Menſch nimmt es
ihm übel. . . . Wie ſchön das Mädchen iſt! eine
prächtige Schönheit, die das helle Sonnenlicht nicht
zu ſcheuen braucht, die nur noch ſchöner zu werden
ſcheint, je köſtlicher der Rahmen iſt, der ſie umgiebt.
Eine unheimliche Schönheit, die uns feſſelt und er¬
ſtarren macht, wie die der tödtlich ſchönen Meduſe.
Dies Mädchen eine Blume? wo waren meine Augen
geſtern? ſie iſt kein lyriſches Gedicht voll Vogelſang
und Sonnenſchein, ſie iſt eine ſchwermüthige Ballade,
in der Schwerter klirren und Herzen verbluten, wäh¬
rend oben aus dem Thurme ein weißes Tüchlein
weht. — Und halt! jetzt weiß ich's: es iſt das leib¬
haftige Gottſeibeiunsgeſicht der Grenwitzer, wie Albert
vortrefflich ſagt — Zug für Zug! es iſt das Geſicht
Harald's in's Weibliche überſetzt, dieſelben dämoniſchen
Augen, derſelbe berauſchend ſinnliche Zug in den vollen,
faſt zu vollen Lippen, dieſelbe Kraft in dem üppig
dichten blauſchwarzen Haar, das ſich über der breiten,
feſten Stirn aufträufelt! — Vortreffliche Frau Mama!
Sie irren ſich ſehr, wenn Sie glauben, daß dieſe
[144] Stirn ſich ſo gutwillig unter ihre Beſchlüſſe beugen
wird; ausgezeichneter Baron Felix, Sie müſſen Ihrem
Namen wahrhaftig Ehre machen, wenn Sie in dieſem
Falle reüſſiren wollen! Der Morgen iſt in der That köſt¬
lich, und man ſollte wirklich, wenn man den Himmel ſo
blau ſieht, ſchlechtes Wetter für ein Märchen halten


Oswald hatte ſich in der letzten Zeit ſo ausſchlie߬
lich mit ſeinen eigenen Angelegenheiten beſchäftigt, daß
es ihm jetzt ein Bedürfniß ſchien, ſich zur Abwechſe¬
lung einmal auch um die anderer Leute zu bekümmern.
Die Baronin war erſtaunt über das Intereſſe, mit
welchem er heute bei Tiſch, und mehr noch in einer
längeren Unterredung, die ſie nach der Mahlzeit hatten,
auf ihre Gedanken einging und verſchiedene von ihr
aufgeworfene Fragen betreffs des Unterrichts erörterte:
ob es nicht bei der großen Hitze zweckmäßiger ſei, die
Lectionen um ſieben, ſtatt wie bisher um acht zu be¬
ginnen? ob man die Nachmittagsſtunden nicht lieber
ganz ausfallen laſſen wolle? ob die Bücher, aus wel¬
chen Helene bis jetzt Geſchichte und Literatur ſtudirt
habe, für ſie noch brauchbar ſeien? ob zwei Lectionen
wöchentlich für Helenen's Fortbildung hinreichten? und
ob er den Morgen oder den Abend für die geeignetere
Zeit halte?


[145]

Auch der alte Baron war auf das Angenehmſte
überraſcht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬
ſamen Zuhörer der langen Geſchichte ſeiner kleinen
Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn ſtets mit
vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer
für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann
gehalten, trotz des entſchiedenen Widerſpruchs ſeiner
Anna-Maria und der mindeſtens zweifelhaften Zu¬
ſtimmung des Paſtors Jäger; und er war ordentlich
froh, daß er dieſer Geſinnung heute, wo auch die Ba¬
ronin ſie zu theilen ſchien, endlich einmal einen Aus¬
druck geben konnte. Ueberhaupt ſchien die Reiſe einen
ſehr günſtigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu
haben. Mademoiſelle Marguerite, der man in dieſer
Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete
gegen Albert, „ſie iſt verändert totalement, ſie hat
mich nicht geſcholten ein einziges Mal den ganzen
Tag;“ worauf der ſinnige Albert erwiederte: „ja, ich
finde ſelbſt, der alte Drache iſt heute beinahe genie߬
bar.“ Mit einem Worte, es herrſchte heute ein ſo
gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Geſellſchaft
auf Schloß Grenwitz. Jeder ſchien die Gründe, die
er hatte, mit Dieſem oder Jenem weniger zufrieden
zu ſein, vergeſſen oder doch in den Hintergrund ge¬
ſchoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 10[146] waren, mochten allerdings für die Einzelnen ſehr ver¬
ſchieden ſein; da aber das Reſultat für Alle angenehm
war, ſo nahm man bereitwilligſt für baare Münze,
was der Andere dafür bot — natürlich, um ſich das
Recht zuzuſprechen, Jenem mit derſelben Münze zu
bezahlen.


Oswald hatte die Begegnung mit Fräulein Helene
am Morgen nicht vergeſſen und ſich des Eindrucks,
den er dabei auf die ſtolze, junge Dame gemacht haben
mußte, wol bewußt, ſah er es nicht ungern, daß ihm
im Laufe des Tages mehr als eine Gelegenheit wurde,
ſeine natürlichen Vorzüge geltend zu machen. Bei
Tiſche um eine Erzählung deſſen, was ihm während
der Abweſenheit der Familie begegnet war, gebeten,
gab er eine Schilderung ſeines einſamen Lebens in
Saſſitz, wobei er ſich eine halb humoriſtiſche und halb
ſentimentale Rolle zutheilte, natürlich ohne das ro¬
mantiſche Dunkel, welches über ſeinem dortigen Auf¬
enthalte lag, im mindeſten zu lüften. Die derbe Mutter
Karſten wurde zu einem Heldenweib, ihr rothhaarigen
Töchter Stine und Line zu ſchönen Waſſernixen und
der alte halb blödſinnige Vater Steffen zu einem
weiſen Merlin; die Kreidefelſen der Küſte wuchſen
in's Ungeheure und die Brandung donnerte zwiſchen
den Klippen des Strandes mit wahrhaft Oſſianiſcher
[147] Majeſtät. Die Geſellſchaft, obgleich ſie die Ueber¬
treibungen wol herausfühlte, horchte mit athemloſer
Spannung, und Oswald empfand es als den ſchönſten
Lohn ſeiner phantaſtiſchen Improviſation, daß die
großen, glänzenden Augen Helene's während ſeines
Vertrages mit einem Ausdruck halb der Verwunde¬
rung und halb des Zweifels unverwandt auf ihn ge¬
richtet waren.


Er war ſo ganz die Seele der Geſellſchaft ge¬
worden, daß man es ihm ernſtlich übel zu nehmen
ſchien, als er gleich nach der Abendmahlzeit erklärte,
den verabredeten Spaziergang durch den Buchenwald
nach dem Strande nicht mitmachen zu können, da
morgen Poſttag ſei und er einige ſehr wichtige Briefe
zu ſchreiben habe. Wenn Oswald die bekannte Regel,
ſich in dem Augenblicke aus einer Geſellſchaft zurück¬
zuziehen, wo man ſich ihr unentbehrlich gemacht hat,
durch dieſe Weigerung befolgen wollte, ſo konnte er
mit der beabſichtigten Wirkung vollkommen zufrieden
ſein. Fräulein Helene wenigſtens ließ ſich herab, ihn
direct zum Bleiben aufzufordern, und wandte ſich, als
er bei ſeinem Vorhaben beharrte, ſo kurz von ihm
weg, daß ihr Unmuth nur zu erſichtlich war.


Indeſſen Oswald hatte diesmal andere und beſſere
Gründe, die ihn nicht zu bleiben beſtimmten. Der
10*[148] funkelnde Stern, der ſoeben über ſeinem Horizonte
aufgegangen war, hatte ihn nicht ſo verblendet, daß
er das Geſtirn, welches nun ſchon ſo lange mit nim¬
mer verlöſchendem, ſtets gleichem, treuem, lieblichem
Licht auf ihn herabblickte, darüber vergeſſen hätte. Er
hatte ſchon geſtern in Saſſitz mit Beſtimmtheit auf
einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬
mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor
weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde.
Wohl hatte er Mutter Karſten geſagt, daß er nach
Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der
alte Baumann einen Brief Melitta's, der ſo leicht in
andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch
hatte Oswald eine große Sehnſucht nach dem längſt
erwarteten Brief!


So ſtahl er ſich denn, gleich nachdem die Geſell¬
ſchaft den Schloßhof verlaſſen hatte, durch den Gar¬
ten nach dem großen Thor, aus dem man faſt un¬
mittelbar in den Tannenwald zwiſchen Grenwitz und
Berkow gelangte. Es dunkelte ſchon unter den hohen
Bäumen mit den weit überhangenden Aeſten. Das
von der Hitze des Tages durchwärmte Holz ſtrömte
jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem
weiten Revier herrſchte eine faſt unheimliche Stille.


Und jetzt in dieſer feierlichen Abendſtunde, in die¬
[149] ſem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung
an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre
hohe, und bei aller lieblichen Fülle ſo jungfräuliche
Geſtalt, ihr reiches, braunes Haar, das in ſo weichen
Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre
dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬
keit, ihr liebliches neckiſches Weſen — und ach! vor
allem ihre unendliche Güte und Liebe — wie deutlich
ihr Bild vor ſeiner Seele ſtand! wie heiß er ſich ge¬
lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur
in Gedanken untreu zu werden, und komme, was
da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬
wiedern.


Da ertönte Hufſchlag durch den ſtillen Wald und
bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der
in raſchem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein
freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten
Baumann auf dem Brownlock erkannte.


„Einen Brief? Haben Sie einen Brief?“ rief er
mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur
Seite ſpringen machte.


„Ruhig, Brownlock, ruhig,“ ſagte der Alte, dem
Pferde den ſchlanken Hals hätſchelnd; „guten Abend,
junger Herr! Ich habe Sie ſchon in Saſſitz geſucht,
allwo ich erfahren, daß Sie ſich am geſtrigen Tage
[150] zurück nach Grenwitz begeben. Nun wollte ich ſo eben
dorthin reiten —“


„Aber, wenn Sie mich nicht ſelbſt getroffen hätten?
und unter welchem Vorwande wollten Sie ſich bei
mir einführen laſſen?


Doch gleichviel — wo iſt der Brief?“


„Hier!“ ſagte der Alte, der unterdeſſen vom
Pferde geſtiegen war, ein nicht unbedeutendes Packet
aus der tiefen Taſche ſeines langen Ueberrockes holend.


„Geben Sie!“


„Nur Geduld, junger Herr! Ich habe an Alles
gedacht. Dies Packet iſt, wie Sie ſehen, wohl zuge¬
bunden und verſiegelt, und trägt die Aufſchrift: Hier¬
bei die bewußten Bücher mit beſtem Dank zurück.
Die andern wird Ihnen Baumann zuſtellen, ſobald
ich ſie durchgeleſen habe — und die Unterſchrift: Ihr
ergebenſter B. — das kann ja wohl ſo gut Bemper¬
lein als Baumann heißen, nicht wahr?“


Der alte Baumann hatte, während er ſprach, die
Schnur um das Packet gelöſt und aus einem der drei
Bücher, die es enthielt, einen Brief genommen, den
Oswald haſtig erbrach und gegen das Licht hielt, um
ihn zu leſen. Aber das Dunkel unter den hohen
Bäumen war bereits zu dicht; er vermochte nur noch die
Ueberſchrift: liebſtes Herz, mit Mühe zu entziffern.

[151]

„Ich kann nichts mehr ſehen,“ ſagte er traurig.


„Wären Sie in Saſſitz geblieben, wie Sie neu¬
lich wollten, oder hätten Sie geſtern nur dem alten
Baumann ein Wort zukommen laſſen, ſo wären Sie
noch bei guter Tageszeit in Beſitz dieſes Briefes von
meiner gnädigen Frau geweſen.“


Oswald fühlte wohl den Vorwurf, der in dieſen
ſehr ruhig geſprochenen Worten lag und es wurde
ihm nicht ſchwer, dem treuen Diener und Freunde
Melitta's ſein Unrecht einzugeſtehen.


„Verzeihen Sie mir,“ ſagte er, daß ich Ihnen die
zweifache Mühe gemacht habe, ich habe meine Unbe¬
ſonnenheit den ganzen Tag hindurch ſchon verwünſcht
und ich bin ſchwer genug dafür beſtraft, denn hier
halte ich den theuren Brief in den Händen, und kann
doch nicht erfahren, wie es ihr, wie es Frau von
Berkow geht, ob ſie wohl iſt, ob ſie glücklich in N.
angekommen iſt, und tauſenderlei, was ich Alles
wiſſen möchte und was ohne Zweifel hier ſteht“ —
und er verſuchte noch einmal den Brief zu leſen.


„Nu, nu!“ ſagte der alte Baumann; „wegen
meiner haben Sie nun ſchon keine Sorge nicht; ſo
eine Meile oder zwei mehr oder weniger, darauf
kommt es mir und dem Brownlock nicht eben an.
Und was die Nachrichten betrifft, die Sie zu haben
[152] wünſchen, ſo weiß ich davon auch eine oder die andere
mitzutheilen, ſintemalen Herr Bemperlein mir einen
Schreibebrief überſandt hat, in welchem die Reiſe und
was ſich bei der Ankunft zugetragen, Alles ausführ¬
lich berichtet iſt.


Der alte Mann hatte den Zügel über den Arm
gehängt und ging neben Oswald her, der ſeine Schritte
beeilte, um möglichſt bald nach Grenwitz und auf ſein
Zimmer zu kommen.


„Die gnädige Frau — Gott behüte ſie,“ ſagte
der Alte, „iſt mit Herrn Bemperlein nach Verlauf
von drei Tagen glücklich an Ort und Stelle ange¬
kommen. Herr Bemperlein hat ſich ſogleich mit Dr.
Birkenhain in Vernehmen geſetzt und erkundet, daß
Herr von Berkow noch lebe, auch noch immer ſeiner Be¬
ſinnung mächtig, aber zu ſchwach ſei, um den Beſuch
der gnädigen Frau entgegenzunehmen. Das hat nun
ſo gedauert bis zum Tage vor dem Abgang des
Briefes, allwo die gnädige Frau in Begleitung des
Herrn Bemperlein und des Herrn —“


Der Alte unterbrach ſich und huſtete.


„Nun, weſſen?“ fragte Oswald, deſſen Verdacht
in Betreff des Barons Oldenburg wieder erwachte.


„Nun, des Herrn Doctors natürlich, weſſen ſonſt,“
ſagte der Alte; „ja, was wollte ich doch gleich ſagen,
[153] Sie haben mich durch Ihre Frage ganz aus dem
Text gebracht — richtig: alſo in Begleitung des
Herrn Bemperlein und — hm, hm! des Herrn Doc¬
tors auf wenige Minuten nur bei dem Baron von
Berkow geweſen ſind. Er hat ſie gleich erkannt, aber
der gnädige Herr ſoll ſich ſo verändert haben, daß er
der gnädigen Frau, wie ſie ſelbſt geſagt hat, wie ein
vollkommen fremder unglücklicher Mann erſchienen iſt.
Geſprochen hat er nur ein paar Worte, von denen
aber nur das eine: Engel, zu verſtehen geweſen iſt.
Dann ſind ſie wieder fortgegangen, und alsbald hat
der gnädige Herr wieder die Beſinnung verloren und
angefangen zu phantaſiren, und der Doctor meinte,
das werde wol nun bis zu ſeinem Ende ſo fortgehen,
— welches denn der Herr Gott in ſeiner Gnade recht
bald möge eintreten laſſen, damit der arme Mann
von ſeiner Qual befreit iſt und die arme gnädige Frau
endlich einmal wieder frei aufathmen kann!“


„Amen;“ ſagte Oswald.


„Denn ſehen Sie, junger Herr,“ fuhr der
Alte fort, „die gnädige Frau hat nicht viel Freude
gehabt ihr liebes Leben lang, und das thut mir
weh, denn ich habe ſie lieb, als wäre ſie mein
eigenes Kind, ja, und wol noch lieber. Denn ich
habe freilich ſelbſt nie welche gehabt, aber ich ſehe
[154] doch, wie es andere Väter mit ihren Kindern machen,
und daß ſie ſich nicht ſchämen, nicht blos wie kein
Vater, ſondern nicht einmal wie ein Chriſtenmenſch
an ihren Kindern zu handeln. Und der Vater von
der gnädigen Frau — nun, er war mein gnädiger
Herr, und ich habe unter ihm die Campagne mit¬
gemacht, und von den Todten ſoll man nichts Uebles
reden — aber zu Ihnen darf ich es ſchon ſagen,
weil Sie uns doch nun nicht mehr fremd ſind — ja,
das war ein böſer Herr, oder auch eigentlich nicht
böſe, aber wild und leichtſinnig, wie der jüngſte Offi¬
zier in ſeinem Regiment. Je toller ein Streich war,
deſto lieber war es ihm; na, und tolle Streiche und
ſchlechte Streiche, die ſehen ſich manchmal zum Ver¬
wechſeln ähnlich. So dachte er ſich nicht Böſes da¬
bei, wenn er, noch als Verheirateter, den Frauenzim¬
mern gerade ſo nachſtellte, wie er es ſonſt gethan,
aber der armen gnädigen Frau, welche eine gar gute,
liebe Dame war, brach darüber das Herz, und ſie
ſtarb, als ihr einziges Kind erſt zwei Jahre alt war.
Da gab es nun eigentlich Niemand, der für das arme
Ding ſorgte, als den alten Baumann. Ich hab's
herumgetragen und habe mit ihm geſpielt, und hernach,
als es größer wurde, habe ich mit ihm ſchreiben und
leſen gelernt, was ich damals noch nicht konnte, und
[155] ein bischen franzöſiſch und was noch ſonſt in meinen
alten Kopf hineinwollte. Und hernach habe ich ſie
reiten gelehrt, daß ihr nun wol ſo leicht keine darin
gleichkommt; und ſo bin ich wieder mit ihr jung ge¬
weſen und hab' mich nie nach Kindern geſehnt, denn
ſie war ja mein liebes, herziges Kind, obgleich ich
nur ein armer unwiſſender Reitersmann und ſie ein
fürnehmes, hochadliges Fräulein war. Und ich habe
manchmal ſo in meinem Sinn gedacht: ob ſie es nicht
beſſer im Leben gehabt hätte, wenn ſie wirklich mein
Kind geweſen wäre. Denn vornehm ſein und reich
ſein, das iſt Alles recht gut, aber ich meine doch, wen
Gott lieb hat, den läßt er arm geboren werden. Ich
wäre nie auf den Gedanken gekommen, mein eigen
Fleiſch und Blut um ſchnöden Mammon zu verkaufen;
ich hätte nie vor meinem Kinde auf den Knien gele¬
gen und geflennt: dein Vater iſt ehrlos, wenn Du
nicht den und den heirateſt, von dem ich wol weiß,
daß Du ihn nicht liebſt, der aber ſo viel Geld hat,
daß er all meine Schulden bezahlen kann und doch
noch genug für euch Beide behält. Und es ſtand gar
nicht einmal ſo ſchlimm mit Herrn von Barnewitz.
Was er im Spiel verloren hatte, konnte er auch im
Spiel wieder gewinnen, und hat's auch hernach zum
Theil wieder gewonnen, ſo daß er ſpäter, wenn er
[156] zu viel getrunken, oft zu mir geſagt hat: hätte ich ge¬
wußt, Baumann, daß ich noch ſolch Glück im Pharao
haben würde, da hätte der — es war ein häßliches
Wort und ein ordentlicher Menſch bringt es nicht
gern über die Lippen, — da hätte ich Herrn von
Berkow auch was anders gegeben, als meine Tochter.
Mein einziger Troſt iſt nur, daß ers nicht lange
mehr treibt, und dann kann ſie ja noch immer einen
andern heiraten. Nun, der gnädige Herr trieb es
ſelbſt nicht lange mehr, aber doch noch lange genug,
daß er das Unglück, welches er angerichtet hatte, mit
ſeinen leiblichen Augen ſehen konnte. Da hätte er
gern ſein Leben drum gegeben, um ungeſchehen zu
machen, was geſchehen war; aber wer ſich mit dem
Teufel einläßt, darf ſich nicht wundern, wenn der liebe
Gott nichts von ihm wiſſen will. So war die ſchöne
junge Frau eine Witwe und war es doch auch wieder
nicht. Reichthum hatte ſie nun, die Hülle und Fülle;
aber mir däucht, ſie wäre doch glücklicher geweſen,
wenn ſie unter einem Strohdach mit einem braven
Mann gelebt hatte, als ſo mutterſeelenallein in dem
großen, öden Hauſe. Nun war freilich der Julius
da, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer,
und ein Kind iſt noch immer keine Familie. Sehen
Sie, junger Herr, das hat mein altes Herz oft bluten
[157] machen, und wenn ich die liebe gnädige Frau ſo des
Abends allein durch den einſamen Garten wandeln
ſah, da habe ich oft den lieben Gott gebeten, er ſolle
den armen Herrn von Berkow in Gnaden zu ſich
nehmen, und verſtatten, daß die arme gnädige Frau
doch einmal in ihrem Leben glücklich wird, wie es
doch andere Frauen ſind, die nicht werth ſind, daß ſie
ihr die Schuhriemen löſen. Reich braucht der Mann
nicht zu ſein, denn ſie hat, wenns doch ja Reichthum
ſein ſoll, genug für Beide, — aber Kopf und Herz
muß er auf dem rechten Fleck haben und lieb muß er
ſie haben, mehr wie ſeinen Augapfel. Und wenn ich
einen ſolchen Mann wüßte, und ihr einen ſolchen
Mann verſchaffen könnte, und ich ſähe ſie nun glück¬
lich an der Seite dieſes Mannes, da wollte ich auch
beten: nun, Herr, laſſe Deinen Diener in Frieden
fahren. — Aber da ſind wir ja ſchon am Thore.
Nun, wohlſchlafende Nacht, junger Herr! Wenn Sie
morgen früh vielleicht eine Antwort auf den Brief
von der gnädigen Frau fertig haben, ſo will ich einen
Büchſenſchuß weiter in den Wald hinein zwiſchen
fünf und ſechs darauf warten. Die gnädige Frau
würde ſich doch freuen, wenn Sie recht bald ſchrieben.“


„Ich werde pünktlich um fünf dort ſein,“ ſagte
Oswald.


[158]

„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht
an,“ ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend.
„Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin
ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich
wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“


Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze,
lenkte den Brownlock herum und trabte durch die
Tannen zurück nach Berkow.


Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu
begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang
noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete
er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt,
um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen,
wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort
uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.


Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort
zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern
Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt
hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er
fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬
chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu
Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬
weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬
lichſt zu überhören verſuchte.

[[159]]

Neuntes Kapitel.

Leider ſollte ihm jeder folgende Tag Gelegenheit
geben, ſich in dieſer ſchlimmen Kunſt zu üben.


Gleich am nächſten Morgen, als er von ſeinem
Gang in den Wald, wo Baumann an der bezeichneten
Stelle ſeiner harrte und den Brief entgegennahm,
zurückkehrte, konnte er es ſich nicht verſagen, noch ein
wenig in dem Garten zu promeniren. Er wollte
eigentlich nur einige Minuten bleiben, nur eben ein¬
mal auf dem Wall die Runde um den Garten machen;
aber er hatte die Promenade nun ſchon zweimal vom
großen Thor bis wieder zum großen Thor gemacht —
und begann ſie eben zum dritten Male, denn der
Morgen war allerdings köſtlich und, wenn ihn ſeine
Augen nicht täuſchten, ſo ſchimmerte durch die Büſche
und Bäume auf der andern Seite ein helles Ge¬
wand. Ohne Zweifel eines der Mädchen aus dem
Dorfe, die im Garten arbeiteten. Wie erſtaunt war
[160] er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begeg¬
nenden Fräulein Helene erkannte. An ein Ausweichen
war nicht zu denken. Es führten von dem Wall nur
ſehr wenige ſchmale Treppen in den Garten hinab.
So blieb ihm freilich nichts übrig, als, die Hände
auf dem Rücken, und die Vögel, die über ihm durch
die Zweige flatterten und die Enten unten auf dem
Graben mit geſpannter Aufmerkſamkeit beobachtend,
langſam weiter zu ſchlendern, und ein ganz klein
wenig überraſcht zu ſein, Fräulein Helene genau um
dieſelbe Zeit und an derſelben Stelle, wie geſtern, zu
begegnen.


Fräulein Helene erwiederte ſeinen Gruß mit jener
vornehmen Ruhe, die dem etwas düſtern Charakter
ihrer Schönheit ſo gut ſtand, obgleich ſie für ein
Mädchen von dieſem jugendlichen Alter faſt zu kalt
und vornehm ſchien. Vielleicht wäre ihr Gruß nicht
ganz ſo förmlich geweſen, wenn Oswald ſelbſt nicht
jede Spur einer freudigen Regung gefliſſentlich unter¬
drückt hätte. Eine kurze, nichts weniger als geiſtreiche
Unterhaltung über das Wetter, ein paar gleichgültige
Fragen Oswald's über den Spaziergang von geſtern
Abend und ein paar kurze Antworten Helene's folgten.
Darauf abermalige höflich kühle Begrüßung von beiden
Seiten. Fräulein Helene ſetzte ihren Spaziergang
[161] fort, Oswald hatte ſeine Promenade, die er „regel¬
mäßig zwiſchen ſechs und ſieben auf dem Walle mache“
— eine Angabe, die mit der Wahrheit nicht beſonders
genau übereinſtimmte — beendet und begab ſich auf
ſein Zimmer. „Schade, daß dieſe prächtige Schönheit
doch nur die Hülle einer ziemlich alltäglichen Pſyche
zu ſein ſcheint,“ ſprach er bei ſich. „Was Profeſſor
Berger wohl ſagen würde, wenn er ſeine liebliche
Knospe jetzt zu einer dunkelrothen Roſe entfaltet
ſähe? ob er wieder einen Sonettenkranz flechten und
auf das üppige Haar drücken würde? Guter Berger,
war es ein Stück des guten oder des böſen Engels,
die ſich ewig in Deiner großen Seele bekämpfen, daß
Du mich hierher in's Lager unſerer Feinde ſchickteſt?
Ich ſollte Dir viel ruhmreiche Trophäen zurückbringen,
Scalps erſchlagener Irokeſen, die wir in unſerem
Wigwam aufhängen wollten, um unſere Freude daran
zu haben — wie würdeſt Du erſtaunen, wenn Du
hörteſt, wie oft ſchon Dein Unkas nur mit genauer
Noth dem Scalpirtwerden entgangen iſt! Aber das
eine Verſprechen will ich halten: ich werde mich nicht
in dieſe frühbeſungene Schönheit verlieben — nein,
und wenn ſie eben ſo geiſtreich wäre, wie ſie ſchön iſt.“


Als Oswald zur Mittagstafel nach unten kam,
wurde er auf's angenehmſte durch die Gegenwart des
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 11[162][Doctor] Braun überraſcht, der vor einigen Minuten
gekommen war und die Einladung der Baronin, zu
Mittage auf dem Schloſſe zu bleiben, angenommen
hatte.


Der Doctor erwies ſich in dem größeren Kreiſe
als ein eben ſo bequem geſelliger, fein gebildeter
Mann, wie ihn Oswald bis dahin gekannt hatte; ja,
Oswald hatte jetzt noch mehr Gelegenheit, die aus¬
gezeichnete Unterhaltungsgabe und die ſichere Haltung
des jungen Arztes zu bewundern. Und was noch
mehr für Doctor Braun einnehmen mußte, und ihm
auch wirklich Aller, wenigſtens aller Verſtändigen,
Herzen gewann, war, daß er ſich ſeiner Vorzüge ent¬
weder wirklich nicht bewußt war, oder wenigſtens
nicht bewußt zu ſein ſchien. Nichts lag ihm ferner
als ein Geltenmachen ſeiner Perſon; im Gegentheil,
er hatte ſeine Freude daran, wenn er Andere zur
Entwickelung ihrer Anſichten bringen konnte: und ſo
war er ein nicht minder geduldiger und guter Zu¬
hörer, als gewandter Sprecher — zwei Tugenden,
die ſich ſo ſelten zuſammen finden.


Oswald ſah mit einigem Erſtaunen, daß, wenn
der Doctor irgend Jemand in der Geſellſchaft aus¬
zeichnete, es nur Fräulein Helene ſein konnte, und
mit nicht minder großer Verwunderung, daß die junge
[163] Dame dem Doctor gegenüber offenbar einen Theil
ihrer vornehmen Kälte ablegte. Sie hatten ſchon
vor Tiſche zuſammen muſicirt, eine Sonate à quatre
mains
geſpielt; ſodann hatte Helene einige Lieder ge¬
ſungen, die ihr der Doctor begleitete. Bei Tiſche
ſaßen ſie nebeneinander und unterhielten ſich lebhaft
über die verſchiedenen Style in der Muſik, wobei der
Doctor eine ſehr detaillirte Kenntniß des General¬
baſſes und Fräulein Helene zum mindeſten ein leb¬
haftes Verſtändniß für muſikaliſche Dinge entwickelte;
und als er ſich gleich nach Tiſch empfahl, bedauerte
ſie ſeine Eile ſo lebhaft, bat ihn ſo dringend, ihr die
verſprochenen Noten recht bald zu ſchicken — nein,
lieber ſelbſt zu bringen, damit ſie dieſelben gleich zu¬
ſammen durchgehen könnten, daß der Doctor, wenn
er es darauf angelegt hatte, einen möglichſt günſtigen
Eindruck auf die junge Dame zu machen, mit ſeinem
Erfolge ganz wohl zufrieden ſein durfte.


„Sie ſind nicht muſikaliſch?“ fragte er Oswald,
dem er noch für ein paar Minuten, bis die Pferde
angeſchirrt wurden, auf ſein Zimmer gefolgt war.


„Nein, und die Eintracht ſüßer Töne lockt mich
ſo wenig, daß ich geſtern Abend, als Fräulein Helene
die Barcarole ſang, von der Sie ſo entzückt waren,
ſogar das Fenſter ſchloß.“

11 *[164]

„Das iſt in der That merkwürdig. Ich erinnere
mich nicht, eine ſo weiche, ſo — ich möchte ſagen —
myſtiſche Altſtimme gehört zu haben.“


„Sollte die Schönheit der Sängerin nicht die
Reinheit des Urtheils in etwas trüben?“


„Nein, ich verſichere Sie, daß ich ganz objectiv
urtheile; obgleich ich gern zugebe, daß eine ſo dämo¬
niſche Schönheit mehr in das Reich der Träume, als
in die reale Welt zu gehören ſcheint.“


Der Doctor hatte ſich in Oswald's Lehnſtuhl ge¬
ſetzt und blies den Rauch der Cigarre, die er ſich
eben angezündet, in blauen Wolken durch das offene
Fenſter.


„Es iſt eine Schönheit,“ ſagte er, die einen
Maler zur Verzweiflung bringen könnte, weil ſie ſich
gerade in ihrer duftigſten Blüthe durch Linien und
Farben gar nicht mehr ausdrücken, ſondern ſich nur
in Muſik überſetzen läßt. Ich wollte Beethoven hätte
ſie geſehen, oder Robert Schumann; und dann ſollten
Sie die geiſterhafte, dämoniſche Compoſition hören, zu
welcher dieſe Erſcheinung die Beiden begeiſtert hätte.“


„Aber, wer von uns Beiden iſt denn nun der
Schwärmer?“ fragte Oswald lächelnd; „Sie oder ich?“


„Sie,“ ſagte der Doctor, denn der höchſte Grad
der Extaſe iſt tiefes Schweigen. Wer noch Worte
[165] für ſeine Begeiſterung findet, hat die Zügel noch in
der Hand. Und dann kann ich ein ſchönes Mädchen¬
bild ſehen, und auch dafür ſchwärmen, ohne daß mir,
wie Sie ſehen, die Cigarre auch nur einen Grad
weniger gut ſchmeckte. Sie aber ſind im Stande
darüber Eſſen und Trinken und Alles zu vergeſſen
mir ſich, Hals über Kopf, in die Charybdis Ihrer
Begeiſterung zu ſtürzen, ohne auch nur daran zu
denken, ob Sie im Stande ſein werden, jemals wie¬
der zum roſigen Lichte aufzutauchen.“


„Wiſſen Sie das ſo gewiß?“


„Ganz gewiß; ich habe Ihnen in der letzten Zeit
ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden,
daß Sie eines der vortrefflichſten Exemplare einer in
unſeren Tagen ziemlich weit verbreiteten Species ge¬
neris humani
ſind, Nachkommen des weiland vom
Teufel geholten Doctor Fauſtus, Fauſtuli posthumi,
ſo zu ſagen, die den langen Docentenbart abge¬
ſchnitten, auch nicht im romantiſchen Rittercoſtüm,
ſondern einfach im modernen Frack einherſpazieren;
im Uebrigen aber auf gut fauſtiſch von Begierde zu
Genuß taumeln, und im Genuß nach Begierde ver¬
ſchmachten.


„Problematiſche Naturen, nennt ſie der Baron
Oldenburg,“ bemerkte Oswald.


[166]

„Eine ſehr gute Bezeichnung,“ ſagte der Doctor.
„Freilich der Baron muß es wiſſen, der iſt ſelbſt von
der Brüderſchaft und ich vermuthe, daß er einen ziem¬
lich hohen Grad einnimmt. Wenigſtens nach Allem,
was ich von ihm höre, denn geſprochen habe ich ihn
nie, und nur einmal flüchtig geſehen.“


„Der Baron iſt ein räthſelhafter Charakter, über
den es ſehr ſchwer hält, ſich ein richtiges Urtheil zu
bilden.“


„Wäre er ſonſt eine problematiſche Natur? Ich
höre, Sie ſind ein ſpecieller Freund des Barons,
einer von den wenigen, die er, wie es heißt, auf Er¬
den hat. Und gerade deshalb ſpreche ich offen. Ich
kann es nicht billigen, daß ein Mann von den emi¬
nenten Gaben des Barons ſein Leben in Müßiggang
verdämmert — in einem geſchäftigen Müßiggang, der
ſchwerſte Vorwurf, der meiner Meinung nach einen
Mann in unſerer Zeit treffen kann, wo es wahrlich
ſo viel, ſo viel zu thun giebt.“


„Was kann der arme Baron dafür, daß ihm der
Speck und das Brod des Alltagsleben nicht ſchmeckt?“


„Glauben Sie denn, daß es mir ſchmeckt?“ ſagte
Doctor Braun, und ſeine Wangen rötheten ſich und
ſeine Augen leuchteten; „glauben Sie, daß der herr¬
liche Gott Apollo, als er die Rinder des Admet wei¬
[167] dete und im Schatten der Eiche das ſchnöde Sklaven¬
mahl verzehrte, ſich nicht zurückſehnte nach der Am¬
broſia und dem Nektar auf den goldenen Tiſchen im
Hauſe des Zeus? Dennoch trug er ſein Loos und
duldete das Verhängniß, wie der noch viel herrlichere
Jeſus von Nazareth das ſeinige. Und ich muß ge¬
ſtehen, mir erſchien es immer als eine grobe Incon¬
ſequenz, daß des Menſchen Sohn von allen, zum we¬
nigſten von den ſtärkſten menſchlichen Banden los und
ledig dargeſtellt wird. Sollte er den Leidenskelch wirk¬
lich bis auf den letzten bitterſten Tropfen leeren,
mußte er durch die ſtille Nacht auf dem Oelberge
die Stimmen eines angebeteten Weibes, geliebter Kin¬
der zu hören glauben, die ängſtlich nach dem Gatten,
dem Vater riefen. Denn menſchlich allem Menſch¬
lichen ergeben ſein, und dennoch die himmliche Ab¬
kunft nicht vergeſſen und dennoch bis an den Tod mit
den reißenden Wölfen der Tyrannei und Lüge kämpfen
und das ſchwere Kreuz des ganz Gemeinen und ewig
Geſtrigen, das auf uns laſtet, bis nach Golgatha
tragen — das erſcheint mir als das eigentliche Loos
des Menſchenſohns!“


Der Doctor war aufgeſprungen; er ging ein paar
Mal mit raſchen Schritten in dem Gemache auf und
ab, dann blieb er vor Oswald ſtehen, ſtreckte ihm
[168] mit herzgewinnender Freundlichkeit die Hand entgegen
und ſagte: „Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie durch
dies oder jenes Wort, das vielleicht weniger überlegt
war, gekränkt haben ſollte. Aber ich gerathe jedes¬
mal in Aufregung, wenn ich eine hohe Intelligenz
feiern, oder in einer falſchen Richtung thätig ſehe. Das
erſte iſt die Sünde gegen den heiligen Geiſt, die un¬
ſerer Sünden größte iſt, die zweite iſt nicht ganz ſo
groß, aber kommt jener faſt gleich. Von jener ſpreche
ich Sie los, dieſer erkläre ich Sie für ſchuldig. Sie
wiſſen, wie ich über Ihre Stellung hier ſchon neulich
dachte; jetzt, nachdem ich Sie zum erſten Male in dem
Kreiſe ſelbſt geſehen habe, finde ich das Verhältniß
noch viel bedenklicher. Geben Sie es auf, ehe es zu
ſpät iſt! Es mag eine entſetzliche Indiscretion ſein,
daß ich mir erlaube, ſo zu Ihnen zu ſprechen; aber
Sie wiſſen, wir Aerzte haben einmal das Recht, in¬
discret zu ſein. Sind Sie mir bös?“


„Ich wäre der lächerlichſte Narr, wenn ich ſo
ſchwach ſein könnte,“ antwortete Oswald. „Im Ge¬
gentheil, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir eine
Theilnahme zeigen, die ich ſogar nicht verdient zu
haben mir bewußt bin. Aber ich glaube, Sie ſehen die
Dinge ein wenig zu ſchwarz —“


„Blos zu ſchwarz?“ ſagte der Doctor lachend;
[169] „ich ſehe ſie weder grau noch ſchwarz, ich ſehe ſie
gar nicht; ich bin blind, ſtockblind auf beiden Augen.
Adieu, mon cher, adieu. Wenn ſie ſich über kurz
oder lang nicht mehr ſo kerngeſund fühlen ſollten,
wie zu dieſer Stunde — ſo ſchicken Sie nur zu mir!
Sie ſollen ſehen, daß ich nicht blos ein Arzt für die
Geſunden bin, ſondern auch für die Kranken.“


Mit dieſen Worten eilte der Doctor zur Thür hin¬
aus, und einen Augenblick ſpäter hörte Oswald das
Knirſchen der Räder ſeines Wagens auf dem Kies vor
dem Portale.

[[170]]

Zehntes Kapitel.

Es iſt bekanntlich das Schickſal faſt jeden guten
Raths, daß er entweder zu ſpät kommt, oder in dem
Augenblick, wo er gegeben wird, ausgeführt werden
müßte, und nur leider aus dieſem oder jenem Grunde
nicht ausgeführt werden kann. So war es auch in
dieſem Fall. Der Rath des Doctors war vortreff¬
lich; das ſah ſelbſt Oswald ein, um ſo mehr als er
noch vor ganz kurzer Zeit über ſeine ſchiefe und ganz
unhaltbare Situation in dieſer hochadligen Familie
nicht viel anders gedacht hatte, als der Doctor. Aber
einen Ausweg aus dieſem Labyrinth vermochte er
nicht zu entdecken; wenigſtens nicht für den Augen¬
blick. Daß er in der letzten Zeit über ſeine Liebe zu
Melitta alles Andere vergeſſen und an eine Verän¬
derung, die ihn ſofort von der Geliebten entfernen
mußte, am wenigſten gedacht, ja die Möglichkeit einer
ſolchen als das größte Unglück angeſehen hatte, war
[171] ſo natürlich. Und [auch] jetzt, wo durch Melitta's
Reiſe und durch den wahrſcheinlichen Tod des Herrn
von Berkow die Gegenwart und die Zukunft gleich
dunkel und verworren ſchien, konnte er ſich unmöglich
über einen Punkt entſcheiden, der für Melitta nicht
weniger wichtig war, als für ihn ſelbſt. Und dann,
ganz abgeſehen von ſeinem Verhältniß zu Melitta,
hatte er ſo gar keinen oſtenſibeln Grund, die Stel¬
lung, zu der er ſich auf mehre Jahre verpflichtet
hatte, aufzugeben, daß er einen Bruch hätte gewalt¬
ſam herbeiführen müſſen. Ein ſolcher Staatsſtreich
aber würde zu jeder Zeit für Oswald's Hamlet-Natur
etwas Peinliches und Widerliches gehabt haben, und
jetzt, wo die Baronin, gegen die er ſich doch in einem
ſolchen Falle wenden mußte, ſich offenbar bemühte,
mit ihm, ebenſo wie mit aller Welt, in Frieden und
Freundſchaft zu leben, fehlte es ihm ſogar an dem
Allerwichtigſten, an einem Gegner, welcher den von
ihm hingeſchleuderten Fehdehandſchuh hätte aufnehmen
können und mögen.


Ueberdies hatte er noch ganz kürzlich der Baronin
den Gang des Unterrichts der Knaben bis zu der Zeit,
wo er mit ihnen die projectirte große Reiſe durch
Deutſchland, England, Frankreich, vielleicht auch Ita¬
lien antreten würde, ausführlich geſchildert, mit einem
[172] warmen Intereſſe, das, wenn es ſeine Abſicht war
die Ausführung dieſes Planes einem Andern zu über¬
laſſen, mindeſtens unerkärlich ſchien. Auch auf den
Wunſch der Baronin, mit Fräulein Helene die durch
ihren Fortgang von der Penſion unterbrochenen Stu¬
dien wieder aufzunehmen, war er bereitwilligſt einge¬
gangen; und morgen ſchon ſollten dieſe Lectionen, an
denen auch die lernluſtige Baronin manchmal theilzu¬
nehmen verſprach, ihren Anfang nehmen.


Und, abgeſehen von dem Allen, ſo hätte er ja doch,
ging er von Grenwitz fort, auch Bruno verlaſſen
müſſen, Bruno, den er ſo brüderlich liebte, deſſen
glänzende Fähigkeiten zu entwickeln, ihm eine ſo köſt¬
liche Aufgabe däuchte, den in die Wiſſenſchaft und
hernach in das Leben einzuführen, bisher einer ſeiner
liebſten Wünſche geweſen war!


Die kurze Reiſe ſchien, wie auf Alle, ſo auch auf
Bruno, einen ſehr wohlthätigen Einfluß gehabt zu
haben. Er hatte viel von ſeinem trotzig düſtern Weſen
abgelegt; er ſuchte jetzt die Geſellſchaft, die er früher
im Verein mit Oswald gemieden hatte, auf und gab
auch Oswald gute Worte, an Spaziergängen und
andern gemeinſamen Vergnügungen Theil zu nehmen.
Er ahnte nicht, daß Oswald ihm durchaus kein großes
Opfer brachte, wenn er dieſen Bitten nachgab, ja daß
[173] dieſer ſich nur zum Schein bitten ließ, um vor ſich
ſelbſt die Inconſequenz, deren er ſich in dieſer Be¬
ziehung ſchuldig machte, zu beſchönigen. Bruno, von
Oswald mit ſeinem Intereſſe an Dingen und Perſo¬
nen, die ihm ſonſt gleichgültig oder verhaßt geweſen
waren, geneckt, ſagte, er wiſſe nicht, was mit einem
Male über ihn gekommen ſei; ihm ſei zu Muthe, wie
einem Vogel, der, aus ſeinem Käfig entflogen, die
Freiheit wieder erlangt habe, wie einer Blume, wenn
nach Sturm und Regen die Sonne wieder ſcheine.
Und wirklich, Bruno war ausgelaſſen wie ein Vogel
und in dieſer ſeiner Heiterkeit, ſchön wie eine Blume,
die eben dem Lichte den vollen Kelch erſchließt. Es
war unmöglich, den herrlichen Knaben nicht zu be¬
wundern: ſeine Freundlichkeit war eben ſo hinreißend
liebenswürdig, wie ſein Trotz abſtoßend und oft ge¬
radezu beleidigend war. Alle waren miteinander dar¬
über einig, daß eine merkwürdige Veränderung mit
Bruno vorgegangen ſei; was aber dieſe Veränderung
hervorgebracht hatte, — das wußte, das ahnte Keiner.


Dennoch hätte der Grund derſelben einem ſcharf¬
ſichtigen Beobachter nicht entgehen können, und würde
auch wol Oswald nicht entgangen ſein, wenn er mit
ſeinen eigenen Herzensangelegenheiten nicht ſo vollauf
beſchäftigt geweſen wäre. Schon die Unterhaltung mit
[174] Bruno am erſten Abend hätte ihm einen Aufſchluß
geben müſſen. Wie Helene's Name dort wieder und
immer wiederkehrte, ſo ließ ſich jetzt Alles, was der
Knabe ſagte und that, ſchließlich auf Helene zurück¬
beziehen, obgleich er allerdings, dem Vogel gleich, der
durch Hin- und Herflattern den Verfolger von ſeinem
Neſt fortzulocken ſucht, ſorgfältig darauf bedacht war,
Andere vorzuſchieben und ſich für Helene gerade am
wenigſten zu intereſſiren ſchien. Denn nicht nur die
Schande, auch die Liebe wird heimlich geboren und
in Heimlichkeit gepflegt und genährt, zumal wenn das
Herz, das ſie gebar, jung und unſchuldig iſt, ſo un¬
ſchuldig, daß es kaum weiß, wie ihm geſchah, und
nur das Eine fühlt, daß ein Gott es berührt hat.
Was iſt nur mit dem Knaben, fragten ſich die Andern,
wenn ſie ſahen, wie ſeine dunkeln Augen leuchteten,
wie ſtolz und kühn ſeine Haltung, wie elaſtiſch ſein
Schritt war; wenn ſie ſeine Stimme hörten, die bald
ſo weich war, wie lauer Abendwind, bald in der Auf¬
regung des Spiels, oder wenn ſonſt etwas ſeine Ener¬
gie herausforderte, klar und ſcharf und machtvoll wie
Trommetenton.


Und wenn es wirklich manchmal ſchien, als ob
Bruno nur ſeiner ſchönen Couſine zu Liebe dem Ein¬
ſiedlerleben entſagt habe, ſo konnte dies um ſo we¬
[175] niger auffallen, als Alle mehr oder weniger ſeit der
Reiſe ſich verändert hatten, und Alle mehr oder we¬
niger dem neu aufgegangenen glänzenden Stern hul¬
digten. Oder weshalb war die Baronin jetzt ganz
Freundlichkeit und Güte? Weshalb erſchien ſie bei
Tiſch jetzt ſtets mit einem lächelnden Geſicht und be¬
mühte ſich, die Unterhaltung während der Mahlzeit
nicht in's Stocken gerathen zu laſſen? weshalb ließ
der Baron, zum großen Aerger des ſchweigſamen
Kutſchers, ſobald nur der Wunſch ausgeſprochen war,
dieſen oder jenen weiter gelegenen Punkt zu beſuchen,
die ſchwerfälligen Braunen anſpannen — während ſo
etwas vor der Reiſe geradezu ein Ereigniß hätte ge¬
nannt werden müſſen? weshalb hatte Herr Timm
jetzt zum erſten Male ſeinen Frack aus der Ecke des
melancholiſchen Koffers hervorgeſucht und mit dem
Frack, wie es ſchien, eine etwas weniger nachläſſige
Haltung und eine etwas weniger burſchikoſe Sprache?
weshalb klang der Ton von Mademoiſelle Margueri¬
te's Stimme jetzt etwas weniger ſcharf, wie ſonſt?
und weshalb hatte ſie ſich gerade jetzt darauf beſonnen,
daß ſie ein paar recht hübſche ſeidene Schleifen beſitze,
die ſchon ſeit Jahren in ihrer Commode müßig ge¬
legen hatten? weshalb gab ſich jetzt ſelbſt Malte beim
Reifenſpiel Mühe, die Spielregeln zu beobachten und
[176] den ihm zugeſchleuderten Reifen womöglich aufzu¬
fangen?


Ob Fräulein Helene wußte, daß ſie die Urſache
aller dieſer großen und kleinen Veränderungen war?
Es war ſehr ſchwer, zu ſagen, ob Fräulein Helene
etwas bemerkt hatte oder nicht; ja, ob ſie ſich über
etwas freute oder nicht, ob ſie heiter war oder nicht;
ob Jemand in der Geſellſchaft für ſie vorhanden war,
oder nicht. Ihre ſtolze ruhige Miene veränderte ſich
ſehr ſelten, und das lächeln, zu dem ſie ſich gelegent¬
lich herabließ, war, obgleich außerordentlich reizend,
doch ſo flüchtig, daß man nicht wol den Antheil, den
ihr Herz etwa dabei hatte, beſtimmen konnte. Sie
war gegen ihre Eltern ganz die gehorſame, aufmerk¬
ſame Tochter, gegen ihren Bruder die ältere Schwe¬
ſter, die, wenn ſie die Schwächen des Bruders ſchonen
ſoll, auch ihrerſeits reſpectirt zu werden wünſcht;
gegen Mademoiſelle Marguerite ganz die freundliche
Herrin, die ſich in jedem Augenblicke des Unterſchiedes
der Stellung bewußt bleibt; gegen Oswald und Albert
ganz die vornehme junge Dame, welche von der Pen¬
ſion her noch ſehr gut weiß, wie tief die Verbeugung
vor Herren in niedrigeren Lebensſtellungen ſein muß
und nur für Bruno ſchien ſie eine herzlichere Zu¬
neigung zu haben, nur ihm gegenüber ließ ſie ein
[177] wenig von der ruhig vornehmen Haltung nach, die
ſie im Uebrigen ſo wenig ablegen zu können ſchien,
wie die dunkle Farbe ihres reichen Haares, oder den
tiefen Glanz ihrer großen grauſchwarzen Augen.


Aber wenn ſelbſt die Baronin ſich gegen ihren
Gemahl über Helene's faſt allzuſchroffes Weſen be¬
klagte, wenn ſie die Bemerkung machte, die lange Ab¬
weſenheit ſcheine denn doch Helene ihrer Familie etwas
entfremdet zu haben, ſo war dies freilich nur zu wahr,
aber die Schuld daran traf weniger die junge Dame,
als die Baronin ſelbſt. Sie war es geweſen, auf
deren Wunſch Helene ſo lange Jahre fern von ihrem
elterlichen Hauſe geweſen war; ſie hatte dem ſchwachen
Gemahl, wenn er ſich nach der geliebten Tochter ſehnte,
auseinandergeſetzt, wie vortheilhaft für die Tournüre
und für die Bildung einer jungen Dame es ſei, wenn
ſie ſo früh wie möglich in die ſtrenge Schule eines
Muſterpenſionats komme und ſo lange wie möglich
dort bleibe; ſie hatte ſchon vorher, wenn die Kleine
ſich liebevoll an ſie ſchmiegen wollte, nur eine kalte
Miene und ein paar kühle franzöſiſche Redensarten
für ſie gehabt, bis das Kind, größer geworden, die
Hoffnungsloſigkeit des Verſuchs, einen Weg zum Mut¬
terherzen zu finden, einſah und ſie fortan mit Lieb¬
koſungen, die nicht erwiedert wurden, verſchonte. Die
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 12[178] arme Kleine mußte das Unrecht, kein Knabe zu ſein
und nichts zur Sicherung des Majorats in der Fa¬
milie thun zu können, ſchwer büßen, und ſie hätte
wol noch lange, von der Mutter halb vergeſſen, in
der Verbannung leben können, wenn dieſe nicht endlich
auf den Gedanken gekommen wäre, ob Helene durch
eine Heirath mit ihrem Couſin Felix, dem Majorats¬
erben der Grenwitz'ſchen Güter nach Malte's Tode,
nicht doch vielleicht mittelbar zur Erhaltung der Herr¬
ſchaft beitragen könne. Daß dieſer Gedanke ſich würde
ausführen laſſen, daran zweifelte die energiſche Frau
nicht. Felix hatte nicht nur das Project höchlichſt
gebilligt, ſondern ſchon alle Schritte gethan, die ihm
die Baronin als nothwendige Präliminarien zum ab¬
zuſchließenden Heirathscontract bezeichnete. Er hatte
ſeinen Abſchied genommen; er hatte die Garniſons¬
ſtadt, den Schauplatz ſeiner Heldenthaten, verlaſſen
und ſich auf ſeine Güter begeben, vermuthlich um ſich
die Stellen anzuſehen, wo einſt die ſchönen Waldungen
ſtanden, die er erbarmungslos hatte umhauen laſſen,
um die dringendſten Gläubiger zu befriedigen. Baron
Felix hatte die Gewohnheit, Jedem, der ihm Geld lieh,
Alles zu verſprechen, was man verlangte — warum
ſollte er nicht der Baronin verſprechen, ihre Tochter
zu heirathen, wenn ſie ſich anheiſchig machte, ſeine
[179] Schulden, die drückendſten wenigſtens, zu bezahlen
und ihm zu helfen, die in Grund und Boden gewirth¬
ſchafteten Güter wieder nutzbar zu machen? Von
dieſer Seite ſah die Baronin alſo nicht das kleinſte
Hinderniß der Ausführung ihres Projects. Von Sei¬
ten Helene's erwartete ſie eben ſo wenig einen ernſt¬
lichen Widerſtand, oder genauer, hatte ſie bis zu
dieſem Augenblick einen ſolchen nicht erwartet. Sie
hatte vergeſſen, daß ſie ihre Tochter drei Jahre lang
nicht geſehen, daß drei Jahre viel zu ändern ver¬
mögen und unter anderm auch aus einem trotzigen,
aber doch aus Furcht und Gewohnheit gehorſamen
vierzehnjährigen Mädchen eine ſiebenzehnjährige ſtolze
junge Dame machen können, die unterdeſſen verlernt
hat, vor ihrer Mutter zu zittern und unter Leitung
einer ſtrengen, aber hochherzigen Erzieherin viel zu
ſelbſtändig geworden iſt, um ihren Willen ſo ohne
Weiteres dem eines Anderen, er ſei auch, wer er ſei,
unterzuordnen.


Dies erkannte die Baronin faſt auf den erſten
Blick, als ſie im Empfangsſaale der Penſion ihre
Tochter zur Thür hereintreten ſah. An der Tournüre
der jungen Dame, die ohne Haſt, aber auch nicht zu
langſam, auf die Mutter zuſchritt, ihr die dargebotene
Hand küßte und dann einen Schritt zurücktretend, wie
12*[180] weiterer Befehle gewärtig, in ruhiger Haltung ſtehen
blieb, war ſicher nichts auszuſetzen; aber die großen
Augen blickten ſo ſtolz und gelaſſen, und die Worte
fielen ſo gemeſſen von den ausdrucksvollen Lippen,
daß die Mutter fühlte, bei dieſer ihrer Tochter, die
ihr ſo fremd erſchien, könne ſie auf kindlichen Ge¬
horſam, auf einen Gehorſam aus Liebe, mit Sicher¬
heit nicht rechnen. Das große Project, welches ſie
ſo ganz fertig im Kopf trug, erſchien ihr plötzlich in
ſehr ungewiſſem Lichte, und die erſten Worte, die ſie
nach dieſer Begegnung zu ihrem Gemahl ſprach, waren:
„Ich glaube, lieber Grenwitz, wir werden in der
Heirathsangelegenheit recht vorſichtig zu Werke gehen
müſſen. Du würdeſt mich verpflichten, wenn Du mir
die Sache vollkommen überließeſt. Eine ungeſchickte
Einleitung, ja nur eine Andeutung zur unrechten Zeit
könnte leicht Alles verderben;“ — eine Aufforderung,
welcher der gute alte Mann um ſo lieber nachkam,
als ſelbſt ſein felſenfeſter Glaube an die Unfehlbarkeit
ſeiner Anna-Maria nicht im Stande geweſen war, die
Bedenken, welche er gegen das Heirathsproject hatte,
gänzlich zu beſeitigen.


Die Baronin ſah ein, daß im Falle Couſin Felix
vor Helene's Augen keine Gnade finden ſollte — und
dieſer Fall war zum mindeſten nicht unmöglich —
[181] durch Einſchüchterung, durch Gewaltmaßregeln nichts
ausgerichtet werden könnte, und daß Güte nicht nur
der ſicherſte, ſondern auch der einzige Weg ſei. So
war ſie denn gütig, nach ihren Begriffen äußerſt gütig
gegen die ſchöne Tochter, und damit die Andern nicht
merkten, worauf dies Alles hinausging, oder auch nur
um in der Uebung zu bleiben, war ſie es gegen dieſe
auch. Seltſamerweiſe indeſſen ſchien gerade die, für
welche dieſe Gnadenſonne leuchtete, am wenigſten da¬
durch erwärmt zu werden. Helene veränderte ihre
ruhig abgemeſſene Haltung, ihr höflig kühles Weſen
auch nicht im Mindeſten: die von der Baronin ſtets
ſo gerühmte Penſion hatte in der Erziehung Fräulein
Helene's offenbar ein Meiſterſtück geliefert.


Und dennoch war dieſes junge Herz, das ſo kalt,
ſo unzugänglich ſchien, warmer Gefühle wol fähig.
Sie hatte, als ſie von ihren Freundinnen und der
hoch verehrten Lehrerin Abſchied nahm, heiße Thränen
geweint, die ſie freilich, als die Mutter eine Bemerkung
darüber machte, ſofort trocknete; ſie erwies dem Vater
manche Aufmerkſamkeiten, auf welche die bloße Höflich¬
keit nie verfällt; ſie konnte ein armes Kind nicht blos
beſchenken, ſondern auch an die Hand nehmen und
freundlich mit ihm ſprechen. Ihre Freundinnen, deren
ſie allerdings immer nur ſehr wenige beſaß, hatten
[182] niemals Urſache gehabt, über Liebloſigkeit von Seiten
Helene's zu klagen; und die Briefe, die ſie von Gren¬
witz aus nach Hamburg ſchrieb, waren der Beweis, daß
ſie wenigſtens gegen die, welche ſie liebte, weder kalt
noch verſchloſſen war. So ſchrieb ſie unter anderem
an Mary Burton, eine junge ſchöne Engländerin, die
ſie von allen Freundinnen am meiſten liebte und die
einen großen Einfluß auf ſie ausgeübt hatte.


„Doch das ſind tempi passati, meine gute Mary?
ich muß nun lernen mich an der Muſik zu ergötzen,
ohne ſie zuſammen mit Dir zu hören, und eine Ge¬
ſellſchaft erträglich zu finden, in der ich nicht Deinen
holden Augen begegne. Biſt jetzt freilich fehlſt Du
mir überall, und auch die andern; bis jetzt halte ich
es nur für eine Möglichkeit, auch ohne euch froh ſein
zu können. Glaube indeſſen nicht, daß man mir hier
unfreundlich begegnet! im Gegentheil, ich muß geſte¬
hen, daß mir die Meinigen über all mein Erwarten
liebenswürdig entgegen gekommen ſind. Von meinem
Vater hatte ich es freilich nie anders erwartet, aber
— Du haſt ja die Briefe meiner Mama geleſen! Du
meinteſt ja, ſie glichen ſich wie eine Schneeflocke der
anderen — auch ſie iſt viel weniger ſtreng, als ich
ſie von früher her kannte und als ſie in ihren Briefen
erſcheint. Sie läßt mir alle nur möglichen Freiheiten;
[183] ich kann — was wir uns in der Penſion immer als
das Höchſte dachten — thun und laſſen, was ich will.
Meine Zimmer liegen im Erdgeſchoß des alten Schloſſes,
dicht über dem Garten, in welchen aus meinem Sa¬
lon eine Thür mit ein paar Stufen hinabführt. So
lebe ich ganz ungeſtört, obgleich ich mit wenigen
Schritten über die Corridore in die Wohnzimmer ge¬
langen kann. Du weißt, ich fürchtete ſchon, hier nicht
meiner großen Leidenſchaft, des Abends ſpät, wenn
Alles rings um mich her ſtill iſt, zu muſiciren, folgen
zu können. So bin ich dieſer Sorge vollkommen
überhoben, und ich habe auch ſchon jeden Abend von
dieſer Freiheit den ausgedehnteſten Gebrauch gemacht.
Ich ſtöre ja Niemanden, es müßten denn einige Her¬
ren ſein, die ebenfalls in dieſem Theile des Schloſſes
irgendwo über mir hauſen, glücklicherweiſe zur Kate¬
gorie derer gehören, die man in eurer aufrichtigen
Sprache ſo glücklich mit dem Ausdruck Nobody be¬
zeichnet. Es ſind nämlich der Hauslehrer, ein ge¬
wiſſer Herr Stein, und ein Geometer, der für Papa
arbeitet, und den ariſtokratiſchen Namen Timm führt.
Sie können Beide für hübſche Männer gelten, oder,
um ganz aufrichtig zu ſein, ich vermuthe faſt, daß
Du den Herrn Stein handsome and very gentle¬
manlike indeed
finden würdeſt; aber Du brauchſt
[184] deshalb nicht zu glauben, daß ſie, oder einer von ihnen,
einen beſonderen Eindruck auf mich gemacht hätten.
Ich habe eine Antipathie gegen Leute in dergleichen
untergeordneten Stellungen, wie etwa gegen Kattun¬
kleider oder böhmiſche Diamanten. Das mag recht
gut ſein für Bürgermädchen und Gouvernanten, aber
für uns paßt es nicht. Ich ſehe die Herren des
Mittags, des Abends — im Uebrigen exeſtiren ſie
nicht für mich. Herrn Stein begegne ich außerdem
noch jeden Morgen früh im Garten, denn die Vögel
ſingen hier ſo dicht unter meinen Fenſtern, daß man
aufſtehen muß, man mag wollen oder nicht. Ich wäre
dieſen Begegnungen gern überhoben, aber was läßt
ſich thun? Ich kann dem armen Menſchen, der her¬
nach von ſieben bis elf den Knaben Unterricht er¬
theilt, nicht wohl verbieten, die einzige freie Morgen¬
ſtunde, die er hat, zu benutzen, und wenn ich ſelbſt
ſpäter ginge, ſo käme ich wieder um den ſchönſten
Genuß; alſo: ich muß es mir gefallen laſſen — non
son' rose senza spine!
Uebrigens iſt dieſer Stein,
trotzdem er nur ein böhmiſcher Diamant iſt, ſo fein
geſchliffen, daß ihn ein weniger geübtes Auge leicht
mit einem echten verwechſeln könnte. Er hat, was
man bei Leuten aus den unteren Ständen ſo ſelten
findet, viel Haltung und Selbſtbeherrſchung. Er hat
[185] eine Weiſe, mit der ruhigſten Miene von der Welt,
Jemandem, er ſei, wer er ſei, eine Schmeichelei oder
eine Malice zu ſagen, die wirklich in Erſtaunen ſetzt.


So ſagte er geſtern, als wir uns zum dritten
Male zur ſelben Zeit und an demſelben Orte auf
dem Walle begegneten und daſſelbe Geſpräch über
das Wetter geführt hatten, ob wir nicht in Zukunft
bis eine Veränderung des Wetters einträte, ganz ein¬
fach weiter nichts, als: „wie geſtern“; ſagen wollten?
Wir wären denn doch nicht ganz ſtumm an einander
vorübergegangen, was für Hausgenoſſen immer etwas
Peinliches habe, und dabei wären doch die Koſten der
Converſation beinahe bis auf Null reducirt, eine Erſpar¬
niß, die ſelbſt für den Geiſtreichſten — hierbei eine halb
ironiſche Verbeugung — nicht ganz unbedeutend ſei.
— Das war doch ziemlich ſtark; aber wie geſagt, er
bringt dergleichen mit ſo ruhigem Lächeln vor, daß
man niemals weiß, ob er es im Scherz oder im Ernſt
ſagt. Auch ſcheinen Alle, ſelbſt Mama, einen ziem¬
lichen Reſpect vor ihm zu haben. Zwiſchen Bruno
und ihm exiſtirt ein ganz eigenthümliches Verhältniß,
gar nicht wie zwiſchen Lehrer und Schüler, ſondern
wie zwiſchen zwei Freunden, die innigſt verbrüdert
ſind, etwa wie Oreſt und Pylades; und wirklich, es
iſt ein reizender Anblick, wenn man ſie Arm in Arm
[186] zuſammen durch den Garten ſchlendern ſieht. Dieſe
rührende Freundſchaft hindert indeſſen Bruno nicht,
ſich bei jeder Gelegenheit als mein Ritter zu geriren.
Der Junge ſieht mir wahrlich an den Augen ab, was
ich will und wünſche; oder vielmehr er ahnt und weiß
es, ohne daß er mich nur anzuſehen brauchte. Es iſt
mir manchmal ordentlich unheimlich dabei. Wenn ich
auf dem Spaziergange denke, Du könnteſt auch wohl
ohne Tuch gehen, ſagt Bruno ſicher: ſoll ich Dir das
Tuch ein wenig tragen, Helene? Bei Tiſch, wo er
neben mir ſitzt, reicht er mir nur, was ich gern habe,
anderes läßt er vorübergehen und ſagt: daß ißt Du
doch nicht, Helene! Er iſt ein zu lieber Junge, ob¬
gleich eigentlich dieſer Name nicht mehr recht auf ihn
paßt, denn er wird nächſtens ſechszehn Jahr, und iſt
groß und ſtark und ſchön, wie ein junger Achill. Ich
glaube, er würde für mich durchs Feuer gehen; ins
Waſſer wenigſtens iſt er geſtern ſchon für mich ge¬
ſprungen. Wir gingen des Abends auf dem Wall
ſpazieren und ein plötzlicher Windſtoß warf meinen run¬
den Strohhut — Du kennſt ihn ja — in den Graben.
Mein armer Hut! rief ich. — Willſt Du ihn wieder
haben? fragte Bruno. — Ei natürlich, ſagte ich, —
aber nur im Scherz, denn ich weiß, daß der Graben
ſehr tief iſt und an dieſer Stelle war er noch dazu
[187] wohl zwanzig Schritt breit, und der Hut ſchwamm
mitten drauf. Aber Bruno war mit zwei Sprüngen
den Wall hinab und ins Waſſer hinein. Ich war
wirklich erſchrocken und ich glaube, ich ſtieß ſogar
einen leichten Schrei aus. — Beruhigen Sie ſich,
ſagte Herr Stein — außerdem war glücklicherweiſe
Niemand zugegen — Bruno ſchwimmt wie ein Neu¬
foundländer, und ſelbſt wenn er nicht wieder heraus¬
käme, ſo iſt er ritterlich im Dienſte der Damen ge¬
ſtorben. Das iſt immer ein Troſt. — Glücklicher¬
weiſe kam Bruno nach ein oder zwei ängſtlichen Mi¬
nuten wieder ans Land geſchwommen, und Herr Stein
half ihm beim Herausſteigen, dann gingen ſie beide
lachend von dannen und ließen mich mit dem naſſen
Hut in der Hand — ein rührendes Bild — ganz
allein ſtehen. — Uebrigens ſcheint mir Herr Stein
doch übel genommen zu haben, daß ich ſeinen Liebling
in dieſe Gefahr brachte. Wenigſtens iſt er heute
Morgen nicht auf der Promenade erſchienen, bei Tiſche
ſehr einſilbig geweſen und hat die Literaturſtunde, die
er mir wöchentlich zweimal giebt, abſagen laſſen, „weil
er Kopfſchmerz habe“, was ihn freilich, wie ich von
meiner Stube aus beobachten kann, nicht hindert, in
der glühenden Nachmittagsſonne draußen im Garten
mit unbedecktem Haupt eine halbe Stunde lang, die
[188] Arme untereinander geſchlagen, auf einem Fleck zu
ſtehen und in das Waſſerbecken eines Brunnens zu
ſtarren, von dem eine hochgeſchürzte Najade lächelnd
auf ihn herabſchaut — es iſt ein wunderlicher Heiliger


Die junge Dame mochte in dieſem Briefe, der
jedenfalls von ihren geheimſten Gedanken mehr ent¬
hüllte, als ſie ſelbſt wol wußte, durchaus der Wahr¬
heit haben die Ehre geben wollen und derſelben auch
überall ſo ziemlich nahe gekommen ſein; aber in Hin¬
ſicht des Grundes zu Oswald's zerſtreutem und
düſterm Weſen an dieſem leuchtenden Sommertage
irrte ſie ſich doch.

[[189]]

Elftes Kapitel.

Es war an dem Abend deſſelben Tages, an wel¬
chem Helene von ihrem Schreibtiſche aus Oswald
am Brunnen der Najade beobachtete, daß in einem
Zimmer des Hotels Bellevue in dem Kurort N., be¬
rühmt durch Dr. Birkenhain's große Heilanſtalt für
Geiſteskranke, zwei Perſonen, eine Dame und ein
Herr, in der Nähe der geöffneten Balkonthür ſaßen.
Es dämmerte bereits; Kurgäſte kamen beſtäubt von
ihrer Nachmittags-Promenade zurück, von Zeit zu
Zeit rollte eine elegante Kutſche vorüber, in welcher,
vornehm in die ſchwellenden Kiſſen gedrückt, ſchön ge¬
ſchmückte Frauen ſaßen. Dann wurde es ſtiller auf
der Straße; drüben über den Gärten ſchimmerte der
Abendſtern aus dem ſafranfarbenen Himmel. Die
Dame in der Thür des Balkons hatte die Augen auf
den Stern gerichtet, der Herr, der tiefer im Zimmer
ſaß, die ſeinen auf das Antlitz der Dame. Die Bei¬
[190] den hatten ſeit einer halben Stunde kaum ein Wort
geſprochen: jetzt ſtand der Herr auf, trat nahe an den
Stuhl der Dame heran und ſagte leiſe:


„Ich will fort, Melitta!“


„Wann kommen Sie morgen wieder?“


„Ich komme morgen nicht wieder; ich will fort
von N., heute Abend noch.“


„Aber Sie wollten doch ſo lange hier bleiben, als
irgend möglich, das heißt: bis die Zuſammenkunft
mit der braunen Gräfin Ihre Abreiſe nothwendig
macht.“


„Ich wollte es, aber es kann nichts nützen. Ich
habe noch heute ausführlich mit Birkenhain geſprochen;
er hält es für unmöglich, daß Carlo noch einmal vor
ſeinem Ende zum vollen Bewußtſein erwacht. Und
geſetzt auch, er thäte es, was hat er davon, daß ich
zugegen bin? Kam ich doch neulich noch zur rechten
Zeit; und was wollte er von mir? nichts — mich
fragen; ob das Teſtament ſicher verwahrt iſt; das
war Alles.“


„Aber Carlo könnte ja doch ſeinen Willen ändern—“


„Nein. Als er damals das Teſtament in meiner
und des alten Baumann Gegenwart aufſetzte, war er,
obgleich ſchon krank und hinfällig, doch noch bei
vollem Verſtande; er hat Sie zur Univerſalerbin ein¬
[191] geſetzt, mit Fug und Recht. Er wußte, daß er Ihnen
wenigſtens dieſes Zeichen ſeiner Reue ſchuldig war.
Er wollte damit ſagen: ich bin nicht ganz ſo ſchlecht
als Du gedacht haſt; ich ſehe wenigſtens ein, daß ich
Dich unglücklich gemacht habe, und würde das Ge¬
ſchehene ungeſchehen machen, wenn ich nur könnte.“


„Brechen wir ab von dieſem Thema!“ ſagte Me¬
litta, aufſtehend und ſich für einen Augenblick auf
das Geländer des Balkons lehnend, um in die ſchon
dunkelnde Straße hinabzublicken. Dann trat ſie wie¬
der in das Zimmer zurück und ſagte:


„Reiſen Sie direct nach Cona zurück?“


„Nein, ich will die Zeit, die mir noch bleibt, zu
einer Rheinreiſe benutzen; vielleicht komme ich wieder
über N.“


„So laſſen Sie mir die Czika bis dahin; es ſoll
ein Pfand ſein, daß Sie hierher zurückkommen.“


„Wünſchen Sie es, Melitta?“


„Sie ſind wieder einmal ſehr gut gegen mich ge¬
weſen.“


„Alſo bloße Dankbarkeit?“


„Und — Freundſchaft.“


„Leben Sie wohl, Melitta!“


„Reiſen Sie glücklich, Oldenburg!“


Der Baron ging mit langſamen Schritten nach der
[192] Thür; dort angelangt, blieb er ſtehen, dann kam er
noch einmal zurück und ſagte:


„Haben Sie immer geglaubt, daß ich Ihr Freund
ſei, Melitta?“


„Ja.“


„Haben Sie je geglaubt, daß ich Sie liebe?“


Melitta ſchwieg.


„Nie? zu keiner Zeit?“ fragte der Baron mit
dumpfer Stimme.


„Laſſen Sie das Vergangene vergangen ſein!“


„Nein, Melitta, laſſen Sie uns davon ſprechen.
Ich finde eine Gelegenheit wie dieſe vielleicht nicht
zum zweiten Mal im Leben, wieder; nein, nie! Denn
das alte gute Verhältniß zwiſchen uns iſt todt, ſeit¬
dem ich unſinnig genug war, Ihnen zu zeigen, daß
ich Sie liebte — und über dieſen Schlund, der da
zwiſchen uns aufklaffte, giebt es keine Brücke. Für
den Augenblick hat uns die Noth zuſammengeführt;
ſobald ich aus dieſem Zimmer gehe, ſind wir uns
wieder Fremde. Melitta, um unſerer alten Freund¬
ſchaft willen, bei der Erinnerung an die gemeinſam
verlebte ſelige Jugendzeit, ſagen Sie mir, haben Sie
nie geglaubt, daß ich Sie liebte?“


„Ich weiß es nicht —“


„Das iſt hart,“ ſagte der Baron leiſe; „das iſt
[193] hart.“ Er ließ ſich auf einen Stuhl ſinken, ſtützte
den Arm auf die Lehne und verbarg ſein Geſicht in
der Hand.


Er ſtand wieder auf, ging, die Arme über der
Bruſt kreuzend, mit langen Schritten in dem Gemache
auf und ab und ſprach, als ob er mit ſich ſelbſt
redete: „Was beklagen ſich denn die Menſchen, die
lieben und wieder geliebt werden, wenn ſie, ſo oder
ſo, um ihre Hoffnungen betrogen wurden? oder die,
welche lieben, und wenn ihre Leidenſchaft auch nicht
erwiedert wird, doch wenigſtens den Troſt haben,
daß man ihren Kummer ehrt, daß man Mitleid mit
ihren Qualen hat? Nein — lieben, lieben, wie nur
ein Erdenſohn lieben kann, mit allen Kräften ſeiner
Seele, mit jedem Blutstropfen in ſeinen Adern, und
dann erfahren — nicht, daß man uns nicht wieder
liebt — pah, was iſt das! — nein, erfahren, daß
man uns für einen Lügner hält, für einen Spaßmacher,
einen Schäker — ha, ha, ha! das iſt das Wahre!
das iſt ein Labſal, wie es Teufel armen Gefolterten
glühend in den lechzenden Mund träufeln“ . . .


„Und wenn ich nicht an Ihre Liebe glaube, wer
iſt denn Schuld daran? wer hatte die Scene im
Garten der Villa Serra di Falco arrangirt? ich
oder Sie?“

F.Spielhagen , Problematiſche Naturen. III. 13[194]

„Wie?“ ſagte der Baron ſtehen bleibend; „ſind
Sie wirklich ein ſolcher Neuling in der Liebe, daß ich
Ihnen in allem Ernſt die Erklärung zu dieſer Farce
geben muß? Glauben Sie wirklich, daß ich — dem
doch ſonſt ſo leicht nichts entgeht — Sie nicht ſchon
längſt hinter den Myrthengebüſchen bemerkt hatte,
ehe ich zu Hortenſe's Füßen ſank, und die Sonne,
obgleich ſie untergegangen war, und den Mond, ob¬
gleich er nicht ſchien und die Sterne, die es beſſer wu߬
ten, zu Zeugen meiner heißen Liebe anrief? das hätten
Sie auch nur einen Augenblick für Ernſt gehalten?“


„Was war es denn?“


„Eine Allegorie. Ich wollte Ihnen zeigen: ſieh!
dies bleibt mir übrig, wenn Du meine Liebe ver¬
ſchmähſt! Du zwingſt mich, der ich immerdar vor
einer Heiligen anbeten möchte, in den Armen einer
Buhlerin Vergeſſenheit zu ſuchen. Melitta, Melitta;
geſtehe es! Du wußteſt recht gut, daß dies eine Farce
war; aber es war Dir bequem, ſie für Ernſt zu
nehmen. Du wollteſt von mir befreit ſein, ſelbſt
um den Preis — eines Mißverſtändniſſes!“


„Und wenn dies mein Wille geweſen wäre, —
und ich will annehmen, es war mein Wille — iſt es
nicht des Mannes Pflicht, den Willen einer Frau,
noch dazu einer Frau, die er liebt, zu ehren?“

[195]

„Habe ich es nicht gethan? bin ich nicht noch in
derſelben Nacht auf ein Wort, ja auf einen Wink
hin, abgereiſt, bin ich nicht drei lange Jahre wie
Ahasver ruhelos durch alle Lande geirrt, und habe
ich, als ich dann endlich zurückkehrte — zurückkehrte,
weil mir eine Ahnung ſagte, daß Dir ein Unglück be¬
vorſtände — nicht jede Gelegenheit mit Dir zuſam¬
menzutreffen, ſorgfältig vermieden? war es mein
Wille, daß ich Dich auf dem Balle in Barnewitz
traf? iſt es mein Wunſch geweſen, der uns hier zu¬
ſammenführte? Nein, Melitta, Du kannſt nicht über
mich klagen. Ich habe meine Liebe zu Dir lange,
lange Jahre — denn ich liebe Dich, ſeitdem ich den¬
ken kann, ſeitdem ich weiß, daß Nachtigallengeſang
und Sonnenſchein und Wogenrauſchen köſtlich ſind —
tief verſteckt im Herzen getragen; und wenn ich einen
Augenblick thöricht genug war, die Hoffnungsloſigkeit
dieſer Leidenſchaft zu vergeſſen, ſo habe ich dieſe Thor¬
heit ſchwer genug gebüßt. Wußte ich doch ſchon als
Knabe, daß Du Dein Pferd und Deinen Hund lieber
hatteſt, als mich; und doch bezwang ich den ſchwer
verletzten Stolz, und doch demüthigte ich mich wieder
und immer wieder vor Dir; ich, der ich nie in meinem
Leben eine Bitte über die Lippen bringen konnte!“


Der Baron ſetzte ſeine ruheloſe Wanderung durch
13 *[196] das Zimmer wieder eine Zeit lang ſchweigend fort,
dann blieb er abermals vor Melitta ſtehen, und ſagte:


„Ich habe mich noch tiefer gedemüthigt. Ich
habe geſehen, daß das Weib, nach der ſich meine
Seele ſehnt, wie der Gekreuzigte nach einem Labetrunk,
von einem andern geliebt wird; habe geſehen, daß ſie
dieſen Andern wieder liebt mit jener Liebe, um die
ich Gott auf meinen Knieen tauſend und tauſendmal
mit heißen Thränen gebeten habe — und habe nicht
mit der Wimper gezuckt; ich habe der Schlange Eifer¬
ſucht den Kopf zertreten — ja, und mehr! ich habe
redlich verſucht, dieſen Glücklichen nicht zu haſſen, ich
bin ihm entgegengekommen mit Gruß und Handſchlag,
ich habe mir ſein Vertrauen, ſeine Liebe zu erwerben
geſucht, nicht um zum Verräther an ihm und an Dir
zu werden, ſondern weil ich fühlte, daß mir Dein
Glück theurer war, als Alles, und daß der, welchen
Du liebteſt, auch von mir geliebt werden oder von
meiner Hand ſterben müſſe.“


„Sie ſind fürchterlich, Oldenburg!“ rief Melitta,
ſich halb vom Stuhle erhebend; „ſoll denn nicht der
geheimſte Winkel meines Herzens vor Ihnen verbor¬
gen bleiben?“


„Ich bin nicht fürchterlich,“ ſagte der Baron; „ich
bin nur unbequem; das iſt das Recht des Freundes.
[197] Glaube nicht, daß ich mich auf krummem Wege in
Dein Geheimniß geſtohlen habe! Ich habe nur die
Augen nicht geſchloſſen, das iſt Alles. Oder glaubſt
Du, man lerne nicht zuletzt die leiſeſte Regung in
einem Geſicht verſtehen, das man ſtets im Wachen
und ach, wie oft im Traume! vor ſich ſieht? Und
dann, wenn man die Hoffnung, je geliebt zu werden,
aufgegeben hat, ſo will man wenigſtens die Ueberzeu¬
gung haben, daß derjenige, welchem dieſes Glück zu
Theil wird, auch kein Unwürdiger iſt.“


„Oldenburg!“


„Er iſt kein Unwürdiger, aber — ich bin Dein
Freund, Melitta! er iſt Deiner auch nicht würdig,
noch nicht würdig. Er hat viele große und ſchöne
Eigenſchaften, ich weiß es wol; aber ſein Charakter
iſt noch nicht im dreimal heiligen Feuer des Unglücks
geſtählt, und ſo weiß er auch das Glück noch nicht
zu ſchätzen. Er hat eine unendliche Empfänglichkeit
für Alles, was ſchön und anmuthig iſt, und deshalb
betet er Dich an; aber, weil er ſeiner Natur nach
eben für Alles empfänglich iſt, wird es ihm unendlich
ſchwer, nicht über dem Anmuthigeren und Schöneren
das Schöne und Anmuthige zu vergeſſen; das heißt:
treu zu ſein. Er iſt ein Dichter, und eines Dichters
Liebe iſt das Ideal. Er wird das köſtlichſte Gefäß
[198] verächtlich bei Seite ſchieben, weil ſein feines Auge
doch irgendwo einen Flecken daran bemerkt hat; er
wird Alles, was ihm die Erde bietet, gierig ergreifen
und verächtlich wieder fortwerfen, weil es eben irdiſch,
weil es, und wäre es noch ſo himmliſch, doch immer
mit einem Erdenreſt behaftet iſt.“


„Sie ſagen mir nichts, Oldenburg, was ich mir
nicht ſchon hundert und tauſendmal ſelbſt geſagt
hätte.“


„Ich weiß es. Die Beurtheilung ſolcher Naturen
kann Ihnen nicht ſchwer werden, denn auch Sie ſind
dieſem Dämon unterthan. Aber Sie ſind ein Weib,
und über euch hat der Dämon nicht, wie über uns,
unbedingte Gewalt. Ihr, und wenn ihr euch auch
noch ſo ſehr ſträubt, laßt euch zuletzt doch in der
Liebe Feſſeln ſchlagen und ſeid ſtolz auf dieſe Feſſeln;
der Mann, und wenn er im Anfang noch ſo ſehr mit
dem neuen Schmucke prunkt, ſchleudert ihn zuletzt doch
von ſich. Und ſo wird es geſchehen.“


„Nein, nein!“


„Ja, Melitta; es wird geſchehen und — jetzt
weiß ich auch, welches dieſes Unglück iſt, das ich über
Deinem theuren Haupte wie eine finſtere Wetterwolke
ſchweben ſah. Glaube es mir, der Schlag wird über
kurz oder lang auf Dich niederſchmettern, und wenn
[199] Du dann zerſchmettert am Boden liegſt und nicht
mehr leben magſt und doch nicht ſterben kannſt —
dann, Melitta, dann vielleicht wirſt Du die Qualen
begreifen, die ich erduldet; dann wirſt Du mir im
Herzen das Unrecht abbitten, das Du mir gethan!
Wollte Gott, Du kämeſt nie zu dieſer Erkenntniß!
Der Preis iſt ungeheuer! aber, aber — Du wirſt
ihn doch bezahlen müſſen. Leb wohl, Melitta! ver¬
zeihe, daß ich Dir weh gethan habe; es wird nicht
wieder geſchehen; es iſt das erſte, und es iſt das letzte
Mal, daß ich ſo zu Dir geredet. Leb wohl, Melitta!
— Melitta, haſt Du kein freundliches Wort zum Ab¬
ſchied für mich?“


Melitta hatte das Geſicht in die Hände gedrückt;
bei der Dämmerung, die in dem Gemache herrſchte,
waren nur noch eben die Umriſſe ihrer Geſtalt zu er¬
kennen.– Sie wollte, oder konnte nicht antworten.


Der Baron hielt ſeine beiden Hände über das
ſchöne gebeugte Haupt.


„Gott ſegne Dich, Melitta!“ ſagte er, und die
Stimme des ſtolzen, harten Mannes klang weich und
mild wie eines Vaters Stimme.


Als Melitta die Thür ſich hinter dem Baron
ſchließen hörte, ſprang ſie von dem Stuhle auf, und
that raſch einige Schritte, als wollte ſie ihn zurück¬
[200] rufen. Aber mitten im Zimmer blieb ſie wieder
ſtehen.


„Nein, nein!“ murmelte ſie, „es iſt beſſer ſo, ich
darf ihm keinen Schimmer von Hoffnung laſſen.“


Sie ging langſam wieder zu ihrem Stuhl zurück.
Sie ſetzte ſich wieder, ſie bedeckte wieder das Geſicht
mit den Händen. Und nun brachen die lange zurück¬
gehaltenen Thränen in Strömen aus ihren Augen.
„Ich weiß es ja, daß es ſo kommen wird;“ murmelte
ſie; „aber weshalb den kurzen Traum des Glücks ſo
grauſam ſtören!“

[[201]]

Zwölftes Kapitel.

Der Poſtbote, welcher am Abend den Brief Hele¬
ne's nach der Stadt trug, war am Morgen deſſelben
Tages ſchon einmal dageweſen. Er hatte Oswald
ein Schreiben aus Grünwald von einem ſeiner dorti¬
gen Bekannten gebracht, der auch zu gleicher Zeit
einer von den Wenigen war, mit denen Profeſſor
Berger in einem intimeren Verhältniſſe ſtand. Der
Bekannte, ein Docent an der Univerſität, ſchrieb Os¬
wald, daß er ihm die ſchleunige Nachricht von einem
Ereigniſſe ſchuldig zu ſein glaube, das ſeit geſtern
Nachmittag die ganze Stadt in die größte Beſtürzung
verſetzt habe. Profeſſor Berger ſei ganz plötzlich, zum
wenigſten ohne daß irgend Jemand eine Ahnung von
ſeiner Krankheit gehabt habe, wahnſinnig geworden.
Er ſei um vier Uhr, wie gewöhnlich, in ſeine Vorle¬
ſung über Logik gekommen, habe angefangen zu doci¬
ren, ſcharfſinnig, geiſtreich, wie immer. Dann hätte
[202] ſeine Rede begonnen, verworren und immer verwor¬
rener zu werden, ſo daß ein Student nach dem an¬
dern die Feder niedergelegt und den Nachbar voll
Verwunderung und Schrecken angeſtarrt habe. „Wiſſen
Sie, meine Heren, habe Berger gerufen, was der
Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier hob,
der das große Geheimniß barg, — das große Geheim¬
niß, welches der Schlüſſel ſein ſollte zu den verwor¬
renen Räthſeln des Lebens? Sehen Sie, meine Her¬
ren, hier nehme ich meinen Kopf auseinander, die
eine Hälfte in dieſe, die andere in jene Hand — was
erblicken Sie in dem Kopfe des berühmten Profeſſor
Berger, zu deſſen Füßen Sie ſitzen, ſeinen weiſen
Worten zu lauſchen, und ſie mit abſcheulich kritzelnden
Federn in Ihre langweiligen Hefte zu ſchreiben? was
erblicken Sie? — genau daſſelbe, was der Jüngling
von Sais erblickte, als er den Schleier von der
Wahrheit hob: Nichts! abſolut gar nichts, nichts für
ſich, nichts an ſich, an und für ſich: nichts! und daß
dieſes hohle, öde Nichts des Pudels Kern ſei, daß
all unſer beſtes Streben nichts ſei, wir unſer Herz¬
blut an nichts und wieder nichts ſetzen, ſehen Sie,
meine Herren, das hat den Jüngling von Sais toll
gemacht, das hat mich verrückt gemacht, und wird auch
Sie um den Verſtand bringen, wenn Sie irgend¬
[203] welchen aus Ihren Spatzenköpfen zu verlieren haben.
Und nun, meine Herren, machen Sie Ihre dummen
Hefte zu, damit das abſcheuliche Kritzeln endlich ein¬
mal aufhört und ſtimmen Sie mit mir in das tief¬
ſinnige und erhebende Lied ein: „O, da ſitzt ne Flieg'
an der Wand!“ Berger habe darauf mit lauter Stimme
und das Katheder mit den Fäuſten bearbeitend ange¬
fangen, zu ſingen, ſei dann in dem Auditorium an den
Wänden entlang gelaufen, nach imaginären Fliegen
haſchend, habe dann jedesmal die Hand geöffnet, hin¬
eingeſchaut, und triumphirend gerufen: Nichts meine
Herren, ſehen Sie, nichts und wieder nichts!


Der Bekannte ſchloß den Brief mit der Mitthei¬
lung, daß Profeſſor Berger ſogleich am folgenden
Tage auf den Rath ſeiner Aerzte nach R. in die be¬
rühmte Heilanſtalt des Dr. Birkenhain transportirt
ſei; er habe Alles gutwillig mit ſich geſchehen laſſen,
nachdem man ihm vorgeredet: man wolle ihm das
große Ur-Nichts zeigen . . .


Oswald war durch den Inhalt dieſes Briefes tief
erſchüttert. Er hatte in Berger ſeinen Freund und
Lehrer geliebt und geehrt; er hatte ſich des wunder¬
lichen Mannes Liebe in hohem Grade erworben; er
hatte tiefere Blicke, als wol irgend Jemand ſonſt, in
dieſen unendlich reichen Geiſt gethan. Wie oft hatte
[204] er dem Außerordentlichen mit entzücktem Schweigen
zugehört, wenn dieſer von einem ſcharfſinnigen und
genau formulirten Satze ausgehend, plötzlich aus dem
Gebiete der Logik in eine Welt gerieth, die ſich ihm
nur durch eine höhere Intuition erſchließen konnte,
und nun Traum an Traum und Geſicht an Geſicht
reihte, ſo phantaſtiſch, ſo märchenhaft, aber auch ſo
himmliſch ſchön und rein, daß Oswald alles Andere
darüber vergaß und leibhaftig in dieſer Fata Morgana
umherzuwandeln glaubte, bis der Magier mit einem
Worte höhnenden Schmerzes und wilder Verzweiflung
die köſtliche Spiegelung verſinken ließ! Und nun war
dieſer reiche edle Geiſt zerſtört! und dieſe hohe In¬
telligenz in des Wahnſiuns öde Nacht geſunken!...
Oswald erſchien dies ſo ungeheuer, ſo unfaßbar, daß
ihm war, als ſei die Welt aus den Fugen gegangen;
als müſſe jetzt, nachdem dieſe erhabene Säule geſtürzt,
Alles in grauſe Trümmer zerfallen. Wenn dies ge¬
ſchehen konnte, was war dann noch unmöglich? Dann
war ja auch wol Freundſchaft ein Märchen und Liebe
eine Fabel — dann mochte ja auch wol etwas mehr
hinter dem Zufall zu ſuchen ſein, der ihm heute Morgen
den augenblicklichen Aufenthaltsort Oldenburg's ver¬
rieth. — Als Oswald nämlich einen Blick auf die
Aufſchriften der Briefe warf, welche der Poſtbote aus
[205] ſeiner Taſche genommen hatte und durch die Hand
laufen ließ, um den für Oswald beſtimmten heraus¬
zuſuchen, fiel ihm einer auf, auf welchem die Adreſſe
offenbar von Oldenburg's höchſt eigenthümlicher und
ſchwer mit einer andern zu verwechſelnder Handſchrift
war. Der Brief war an des Barons Verwalter in
Cona adreſſirt. Weshalb ſollte der Baron nicht an
ſeinen Verwalter ſchreiben dürfen? Aber Oswald
erfuhr auch zugleich durch den Poſtſtempel den Ort,
von welchem aus dieſer Brief abgeſandt war; und
dieſer Ort war derſelbe, wohin man Berger geſchickt
hatte, derſelbe, wo Herr von Berkow ſeit ſieben Jah¬
ren — und wo Melitta ſeit vierzehn Tagen war, das
heißt, zwei Tage länger, als die geheimnißvolle Reiſe
Oldenburg's gedauert hatte! In dem ausführlichen
Briefe Melitta's, den Oswald vor einigen Tagen durch
Baumann erhielt, hatte ſie des Barons Anweſenheit
mit keinem Worte erwähnt; Baumann ſelbſt aber
mußte durch Bemperlein davon unterrichtet geweſen
ſein, denn er war in Verlegenheit gerathen, als er
die Perſonen nannte, die bei dem Beſuche, welchen
Melitta ihrem ſterbenden Gemahl machte, zugegen ge¬
weſen waren. Warum dieſes geheimnißvolle Weſen
bei einem Manne, der die Geradheit und Offenheit
ſelbſt ſchien? war er dazu beauftragt, oder hatte er,
[206] der die Verhältniſſe ſeiner Herrin ſo genau kannte,
ſeine beſondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu
verheimlichen?


Dies waren die ſchlimmen Gedanken, die durch
Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬
ſonnenſchein barhaupt an dem Brunnen der Najade
ſtand und bewegungslos in das Waſſer ſtarrte, wäh¬
rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtiſch Betrach¬
tungen darüber anſtellte, ob ſie ſelbſt vielleicht die
Urſache dieſer Verſtimmung ſei. Ehe ſie indeſſen dar¬
über zu einem Reſultat gekommen war, klopfte es an
ihre Thür. Das junge Mädchen ſchloß ſofort ihre
Schreibmappe und ſchien ganz in Lamartine's Voyage
en Orient
vertieft, als ſich auf ihr Herein! die Thür
öffnete und die Baronin in's Zimmer trat.


„Störe ich Dich, liebe Helene?“


„Durchaus nicht, liebe Mama!“ ſagte das junge
Mädchen aufſtehend und ihrer Mutter entgegengehend.


„Du bliebſt heut ſo außergewöhnlich lange auf
Deinem Zimmer, daß ich doch ſehen wollte, was Dich
denn ſo ſehr feſſelte. Lamartine's Voyage? nun, ein
recht hübſches Buch, aber ein wenig überſpannt, wie
mir ſcheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man
eine etwas andere Anſicht von dem Leben, und ſo
auch von den Büchern und den Menſchen. Aber ich
[207] freue mich, daß Du nicht müßig biſt, daß Du das
Talent haſt, Dich zweckmäßig zu beſchäftigen. Ich
fürchtete ſchon, die Monotonie unſers Lebens hier
würde doch gar zu ſehr von dem muntern Treiben in
der Penſion abſtechen, und Du würdeſt dieſen Unter¬
ſchied ſchmerzlich empfinden. Wir können Dir hier
ſo wenig bieten! das war immer mein Refrain, wenn
der gute Vater darauf drang, Dich endlich einmal
aus der Penſion zu nehmen.“


„Aber ich verſichere Dich, liebe Mama, Du haſt
Dir ganz unnöthige Sorge meinethalben gemacht,“
ſagte Fräulein Helene, die dargebotene Hand der Mut¬
ter an die Lippe ziehend; „ich fühle mich hier ſehr
glücklich, und wie wäre das auch anders möglich!
Bin ich nicht im elterlichen Hauſe, wo mir Alle mit
Liebe oder doch mit Freundlichkeit entgegenkommen?
habe ich nicht Alles, was ich nur wünſchen kann?
Ich wäre wahrlich ſehr, ſehr undankbar, könnte ich
das auch nur einen Augenblick vergeſſen.“


„Du biſt ein gutes, verſtändiges Kind,“ ſagte die
Baronin, ihre ſchöne Tochter auf die Stirn küſſend,
„ich werde noch recht viel Freude an Dir erleben.
Das iſt meine ſichere Hoffnung, wie es mein tägliches
Gebet iſt. Ach, meine liebe Tochter, glaube mir, ich
bedarf gar ſehr dieſes Troſtes, wenn ich nicht den
[208] vielen Sorgen, die auf mich einſtürmen, unterliegen
ſoll.“


Die Baronin hatte ſich auf ein kleines Sopha
geſetzt; ſie ſchien ſehr erregt und trocknete ſich mit
dem Taſchentuche die naſſen Augen.


„Was haſt Du, liebe Mama?“ ſagte Fräulein
Helene mit wirklicher Theilnahme; „ich bin nur ein
einfältiges unerfahrenes Mädchen, aber wenn Du Ver¬
trauen zu mir haben kannſt, theile Dich mir mit.
Wenn ich Dir auch nicht rathen und helfen kann, ſo
vermag ich doch vielleicht Dich zu tröſten, und das
würde mir eine unendliche Freude bereiten.“


„Liebes Kind,“ ſagte die Baronin, „Du biſt ſo
lange — komm, ſetze Dich hier zu mir und laß uns
einmal recht vertraulich mit einander reden — Du
biſt ſo lange vom elterlichen Hauſe entfernt geweſen
und warſt noch ſo jung, als Du es verließeſt, daß
Du nothwendigerweiſe von unſern Verhältniſſen ſo
gut wie gänzlich ununterrichtet biſt. Du glaubſt, wir
ſeien reich, ſehr reich; aber es iſt beinahe das Gegen¬
theil der Fall, für uns Frauen wenigſtens. Das ganze
große Vermögen fällt nach des Vaters Tode — den
der allmächtige Gott in ſeiner Gnade noch recht lange
verhüten möge — an Deinen Bruder. Mir bleibt,
außer einer ſehr geringen Wittwepenſion, nichts
[209] — und Du, mein armes Kind, gehſt gänzlich leer
aus.“


„Aber, Mama, ich hörte doch immer, daß Stan¬
tow und Bärwalde dem Vater gehörten, und daß er
darüber ganz frei verfügen könne?“


„Du irrſt, mein Kind; die beiden Güter gehören
nicht dem Vater. Sie werden ihm vielleicht einſt ge¬
hören, wenn ſich der eigentliche Erbe bis zu einer
gewiſſen Zeit nicht meldet. Ich kann über dieſen
Punkt nicht ausführlich ſein, liebes Kind, weil ich
dabei gewiſſe Verhältniſſe Deines Onkels Harald be¬
rühren müßte, über die man mit einem jungen Mäd¬
chen lieber nicht ſpricht. Genug, auf die Güter können
wir mit Beſtimmtheit nicht rechnen. Alles, was uns
bleibt, ſind einige Tauſend Thaler, die Dein Vater
und ich bis jetzt von unſerer Rente haben erübrigen
können.“


„Liebe Mama, mache Dir meinethalben keine
Sorge,“ ſagte Fräulein Helene; „ich bin in Hamburg
nicht verwöhnt, und der Luxus, mit dem mich hier
Deine Güte umgeben hat, iſt mir etwas ganz Neues.
Ich werde auch mit Wenigem zufrieden und glücklich
ſein können — und dann, der gute Vater iſt ja jetzt,
Gott ſei Dank, wieder ſo munter und rüſtig, hat ſich
von dem Fieberanfall in Hamburg ſo auffallend ſchnell
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 14[210] erholt, daß wir uns ſeiner Liebe und Fürſorge gewiß
noch recht lange werden erfreuen können.“


„Das gebe Gott!“ ſagte die Baronin; „aber ich
fürchte, wir müſſen uns auf das Schlimmſte gefaßt
machen. Der Vater iſt keineswegs ſo rüſtig, wie Du
glaubſt. Er kränkelt fortwährend, obgleich er es uns
ſo wenig wie möglich merken läßt. Der Hamburger
Arzt ſchilderte mir des Vaters Zuſtand als ſehr be¬
denklich. Sollte er uns entriſſen werden, dann wür¬
deſt Du leider Gelegenheit erhalten, die Stichhaltigkeit
Deiner Grundſätze zu erproben. Aber, mein Kind,
Du kennſt das Leben nicht. Es läßt ſich leicht von
Armuth ſprechen, wenn man ſie nur von Hörenſagen
kennt. Ich kenne ſie aus Erfahrung; ich war ein
armes Mädchen, als mich Dein Vater heirathete; ich
weiß, was es heißt, ein Kleid wenden und wieder
wenden, weil man kein Geld hat, ein neues zu kaufen;
ich weiß, welchen tauſendfachen Demüthigungen ein
armes Mädchen von Adel ausgeſetzt iſt.“


„Es wird anders und beſſer kommen, als Du
denkſt, theuerſte Mama. Ich weiß nicht, iſt es meine
Jugend oder iſt es der ſchöne leuchtende Sommertag
— ich kann unſere Lage nicht in dem trüben Lichte
ſehen. Ich werde —“


„Mich mit einem reichen und würdigen Mann ver¬
[211] heirathen?“ ſagte die Baronin mit einem Lächeln,
das ihr ſehr ſonderbar ſtand.


„Aber Mama —“


Ich weiß es wohl, daß Du etwas Anderes ſagen
wollteſt, meine Tochter. Es iſt ein Scherz von mir,
aus dem hoffentlich ein recht erfreulicher Ernſt wird.
Du ſtehſt in den Jahren, wo es einem jungen Mäd¬
chen wohl erlaubt iſt, in Zucht und Ehren einem
ſolchen Gedanken in ihrem Herzen Raum zu geben.
Wohl ihr, wenn ſie ihre Wahl auf einen Würdigen
lenkt, beſſer noch, wenn ſie dieſelbe ihren Eltern über¬
läßt, die nur ihr Glück wollen und durch die reiche
Erfahrung eines langen Lebens in dieſem Bemühen
unterſtützt werden.“


„Aber Mama, dahin hat's doch noch lange Zeit.“


„Sehr wahrſcheinlich, mein Kind; indeſſen man
kann nicht wiſſen, was der Himmel über Dich be¬
ſchloſſen hat. Ihm muß man in dieſen, wie freilich
auch in den andern Dingen des Lebens Alles an¬
heimſtellen. — Aber, wer iſt nur der Mann, welcher
dort ſo lange unbeweglich am Baume ſteht; ich habe
meine Lorgnette in meinem Zimmer gelaſſen.“


„Es iſt Herr Stein, Mama; er ſteht dort ſchon
ſeit einer halben Stunde mindeſtens; ich glaube, er
iſt feſtgewachſen.“

14 *[212]

„Ein wunderlicher Menſch, dieſer Stein; ſagte die
Baronin. Er hat für mich geradezu etwas Unheim¬
liches. Es iſt ſchlechterdings unmöglich, aus ihm
klug zu werden. Wie gefällt er denn Dir, liebe
Helene?“


„Aber, Mama, ich habe wirklich noch nicht darüber
nachgedacht: und bei ſolchen Leuten kann eigentlich
doch von Gefallen oder Misfallen kaum die Rede ſein.
Ich dächte, ſie wären ſich alle gleich oder wenigſtens
ſind die Unterſchiede ſo gering, daß man ſie nicht
wohl bemerken kann; — der Eine heißt Stein, der
Andere Timm — das iſt doch im Grunde Alles.“


„Du haſt recht, liebe Tochter,“ ſagte die Baronin.
„Dieſe Leute ſind Statiſten, man ſieht ſie nur, wenn
die handelnden Perſonen einmal abgetreten ſind.
Glücklicherweiſe kann ich Dir in allernächſter Zukunft
eine andere und beſſere Geſellſchaft verſprechen.“


„Und die wäre?“


„Dein Couſin Felix. Ich erhielt ſoeben einen
Brief von ihm — der Poſtbote iſt noch draußen in
der Küche, Du kannſt ihm einen Brief mitgeben,
wenn Du vielleicht ein paar Zeilen nach Hamburg
ſchreiben willſt — er meldet uns ſeinen Beſuch auf
morgen oder übermorgen an. Aber war das nicht
Deines Vaters Stimme? Adieu, liebes Kind; mache
[213] Dich zurecht, wir wollen etwas früher eſſen und dann
noch eine Viſite bei Plüggens machen.“


Die Baronin küßte ihre Tochter auf die Stirn
und verließ das Zimmer. Fräulein Helene holte eilig
den auf die Seite geſchobenen Brief wieder hervor,
um noch dazu zu ſchreiben: „Mama, die mich ſoeben
verläßt, iſt doch wirklich ſehr gut und freundlich zu
mir. Sie ſpricht mit einer Offenheit, die mich in
Erſtaunen ſetzt, von unſern Verhältniſſen. Sie kün¬
digte mir einen Beſuch an: Couſin Felix (der Lieute¬
nant). Es wird wohl durch ihn etwas mehr Leben
nach Grenwitz kommen, denn auf Herrn Stein ſcheint
man nicht mehr rechnen zu können. Er ſteht noch
immer am Brunnen. Adieu, dearest, dearest
Mary!
“ . . .

[[214]]

Dreizehntes Kapitel.

Wer ſich für Albert Timm ſpecieller intereſſirte,
konnte bemerken, daß dieſem Herrn in den letzten
Tagen irgend etwas Beſonderes zugeſtoßen ſein mußte.
Zwar ließen ſich der ſchwarze Frack, den er jetzt be¬
ſtändig trug, die größere Sorgfalt, die er auf ſeine
Toilette verwandte, und andere mit ſeinem äußeren
Menſchen geſchehene Veränderungen füglich durch die
Anweſenheit Fräulein Helene's und die gehobenere
Stimmung, welche durch dieſelbe in die Geſellſchaft
auf Schloß Grenwitz gekommen war, erklären, aber
wie ſollte man den Ernſt deuten, der jetzt häufig auf
ſeiner weißen Stirn und in ſeinen hellen blauen
Augen lag? wie die Schweigſamkeit, zu der er, der
ſonſt keine Minute ſtill ſein konnte, ſich oft auf
Stunden verurtheilte? wie vor allen Dingen den raſt¬
loſen Fleiß, mit welchem er jetzt halbe Tage lang
über ſein Reißbrett gebeugt ſtand und zeichnete und
[215] tuſchte? Allerdings hatte Herr Timm während der
kurzen Abweſenheit der Familie nur den harmloſen
Freuden eines angenehmen ländlichen Aufenthaltes ge¬
lebt bis zu dem Augenblicke, wo er, von einer plötz¬
lichen Anwandlung von Fleiß ergriffen, in die Re¬
giſtratur ging, die alten Flurkarten zu holen, und bei
dieſer Gelegenheit ein kleines, mit einem rothſeidenen
Faden zuſammengebundenes Packet Briefe fand, in
deren Lectüre er durch das Rollen des Wagens, wel¬
cher die Familie Grenwitz ſo unverhofft zurückbrachte,
geſtört wurde. Indeſſen, es war ganz gegen Albert's
Natur, über ein dolce far niente, dem er ſich län¬
gere oder kürzere Zeit hingegeben, Reue zu empfin¬
den; und überdies arbeitete er ſo ſchnell und gewandt,
daß es ihm ein Kleines war, auch größere Verſäum¬
niſſe in ſehr kurzer Zeit nachzuholen. Die Flurkarten
alſo, weder die neuen noch die alten, waren es ſicher
nicht, über denen er ſich den Kopf zerbrach. Davon
würde man ſich überzeugt haben, wenn man an dem
Nachmittage einen Blick in ſein Zimmer, das er, ſehr
gegen ſeine Gewohnheit, hinter ſich abgeſchloſſen, ge¬
worfen hätte.


Herr Timm ſaß auf dem kleinen Sopha in ſeiner
Stube, ein Bein untergeſchlagen, den Kopf in die
Hand geſtützt, und aus ſeiner Cigarre mächtige
[216] Wolken blaſend, offenbar in tiefes Nachdenken ver¬
loren. Neben ihm auf dem Sopha lagen die Briefe,
die er in dem Repoſitorium der Regiſtratur gefunden.
Es waren ihrer nicht viele, alle von derſelben zier¬
lichen Hand auf ziemlich graues Papier geſchrieben,
wie man es noch vor einigen Jahrzehnten ganz all¬
gemein ſelbſt zu Briefen benutzte. Die Briefe mußten
wohl dieſes Alter haben, denn die Tinte war ganz
vergilbt und konnte ſo einigermaßen das Datum er¬
ſetzen, das in ſämmtlichen Briefen fehlte.


„Es muß ſich etwas mit dieſen Briefen anfangen
laſſen“, ſagte Albert, leiſe mit ſeinem beſten Freunde
und einzigen Vertrauten, ſeinem eigenen lieben Selbſt,
redend, „ich weiß nur nicht gleich was. Wenn es
mir gelänge, die Antworten dazu zu finden, ſo müßte
es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein ſo ſchlauer
Kopf, wie der meine, dem großen Geheimniß nicht
bis in ſeine verborgenſte Höhle nachſpürte. Auf der
richtigen Spur, deute ich, bin ich ſchon jetzt. Daß
Mutter und Kind geſtorben ſein ſollten, iſt ſo un¬
wahrſcheinlich wie möglich. Die Marie war allem
Anſchein nach ein wahres Kernmädel und das bischen
Jammer und Kummer wird ihr das Herz ſchon nicht
gebrochen haben. Das Kind aber aus dieſer wilden
Ehe hat ſich jedenfalls des legitimen Vorrechts aller
[217] illegitimen Sprößlinge, weniger hoch, als wohlgeboren
zu ſein, zu erfreuen gehabt. Die Mutter alſo, oder
das Kind, oder Beide leben noch. Leben Sie aber —
und ich wünſche und hoffe es — ſo wiſſen ſie ent¬
weder nichts von dem koſtbaren Codicill zum Teſta¬
mente des ſeligen Bruder Liederlich, oder ſie ſind da¬
von unterrichtet. In dem letzteren Fall, der nicht
ſehr wahrſcheinlich iſt, — denn vor einer ſo fetten
gebratenen Taube den Mund zu verſchließen, über¬
ſtiege doch Alles, was ich von menſchlicher Dumm¬
heit bis jetzt gehört und geſehen habe, und das will
ſehr viel ſagen, — müßte man ſie zu beſtimmen
ſuchen, von ihrem guten Rechte Gebrauch zu machen;
in dem erſten Fall, dem bei weitem wahrſcheinlicheren,
müßte man ihrer erbarmungswürdigen Unwiſſenheit
freundlichſt zu Hülfe kommen; in jedem Falle — und
da liegt der Haſe im Pfeffer — müßte man erſt
wiſſen, wo ſie denn überhaupt zur Zeit ſich befinden.
Daß ſie ſich in allzugroßer Nähe einen Zufluchtsort
geſucht haben ſollten, iſt nicht anzunehmen. Denn
einmal würde ſie Harald, der jedenfalls keine Mittel
unbenutzt ließ und das Geld nicht ſchonte, nach der
Flucht gefunden haben, zweitens pflegen die Leute bei
ſolchen Gelegenheiten ſo weit zu laufen, als es irgend
möglich iſt, und drittens ſcheint dieſer Monſieur
[218] d'Eſtein ein viel zu ſchlauer Fuchs geweſen zu ſein,
um ſich vor dem Löwen, der ihm auf der Fährte war,
nicht ſicher mit ſeinem Täubchen zu verſtecken. Ueber¬
haupt iſt dieſer Monſieur eine ſehr irrationale Größe,
die ſich in meiner Rechnung als ein äußerſt ſtörender
Factor erweiſt. Wenn er nicht bald nachher geſtor¬
ben iſt, ſo hat er jedenfalls noch viel Unſinn ange¬
richtet, vielleicht ſogar die kleine Marie geheiratet, das
Kind adoptirt und die Beiden zurück nach Frankreich,
oder nach Amerika oder ſonſt wohin, wo für mich die
Welt mit Brettern zugenagelt iſt, geführt, und mir
ſo den ganzen Spaß verdorben. Das wäre ſchändlich,
denn die Geſchichte könnte wirklich über alle Begriffe
ſpaßhaft werden. Ich möchte wohl die Geſichter von
den Beiden ſehen, wenn ich vor ſie träte und ſagte:
meine armen Schelme, was gebt Ihr mir, wenn ich
euch zu einem hübſchen Vermögen von einigen hun¬
derttauſend Thälerchen verhelfe? oder auch — und
das wäre nicht minder bequem, ja vielleicht ein gut
Theil bequemer — wenn ich mich eines ſchönen Nach¬
mittags bei der guten Anna-Maria introducirte und
ſagte: Entſchuldigen Sie meine Gnädigſte, wenn ich
ſtöre; aber ich habe — unter den Papieren meines
Vaters, der, wie Sie wiſſen, mit Ihrem verſtorbenen
Vetter Harald in Geſchäftsverbindung ſtand, gewiſſe
[219] Papiere aufgefunden, die mich in den Stand geſetzt
haben, die rechtmäßigen Beſitzer von Stantow und
Bärwalde mit ziemlicher Gewißheit angeben zu kön¬
nen. Mein Rechtlichkeitsgefühl und die ſpecielle Ver¬
ehrung, die ich für Sie und Ihr Fräulein Tochter
empfinde, liegen ſich nun ſehr bedeutend in den Haa¬
ren. Das erſtere befiehlt mir, von meiner Entdeckung
den pflichtſchuldigen Gebrauch zu machen, die letztere
heißt mich, die Sache zu vertuſchen. Wie wär' es,
hochverehrte Frau, wenn ſie meiner vollkommen un¬
eigennützigen Verehrung mit einigen tauſend Thalern,
die ich, auf Ehre, ſehr nothwendig brauche, zu Hülfe
kämen?“


Dieſer Gedanke ſchien für Herrn Timm etwas
Begeiſterndes zu haben. Er ſprang vom Sopha auf,
und ging mit raſchen Schritten, lebhaft geſticulirend,
in ſeinem Gemache auf und ab. „Das könnte eine
wahre Schatzgrube für mich werden“, murmelte er;
„ich wollte das ſtolze Weib ängſtigen, daß ihre großen
grauen Augen noch einmal ſo groß würden; ich wollte
ihr Daumſchrauben anſetzen und jedesmal, wenn ich
Geld brauchte, die Schraube etwas feſter anziehen.
Sie würde Alles und Jedes thun, ehe ſie es auf
einen Proceß ankommen ließe. Dann wäre ich ſo ein
Stück von Herr im Hauſe: dann könnte ich die Nar¬
[220] renmaske fallen laſſen und mich einmal in meiner
wahren Geſtalt zeigen. Dann könnte ich beſtimmen,
wen Fräulein Helene heiraten ſoll, ja könnte ſie ſelber
heiraten, wenn ich wollte, und jedenfalls der Ankunft
meines guten Freundes Felix, die mir die gute Anna-
Maria eben in allem Vertrauen mittheilte, mit aller
Ruhe entgegen ſehen. Zwar bin ich auch ſo nicht be¬
ſonders unruhig darüber, denn Freund Felix war der
würdige Schüler ſeines Meiſters und ſchlug die Volte
nicht ſchlechter als ich, und wenn ihn ſein alter Adel
nicht geſchützt hätte, ſo wäre es ihm wahrſcheinlich
nicht beſſer ergangen. So freilich kam der Fähndrich
Baron Felix von Grenwitz mit einer Warnung davon
und der Fähndrich Albert Timm mußte ſpringen. Ich
bin doch neugierig auf unſer Wiederſehen. Vielleicht
kennt er mich nicht mehr; vielleicht wird er verſuchen,
den unbequemen Gaſt möglichſt bald aus dem Hauſe
und ſich aus den Augen zu ſchaffen. Ha, wie ſollte
ſich das Blatt wenden, wenn dieſe verdammten Briefe
nicht ſo frauenzimmermäßig gerade über die wichtigſten
Punkte flüchtig weghuſchten!“


Albert ſetzte ſich wieder auf das Sopha und begann
die Briefe, obgleich er ſie jetzt ſchon ſo ziemlich aus¬
wendig wußte, noch einmal der Reihe nach — er hatte
ſie ſorgfältig numerirt — zu leſen.


[221]

Nr. 1. Mein Herr! Ich kenne Sie nicht und
wenn Sie derſelbe ſind, der ſich vor einigen Wochen
im Thiergarten ſo unaufgefordert in die Unterhaltung
miſchte, die ich mit meinem Begleiter führte und ſich
von dem letzteren eine ſo derbe Zurechtweiſung zuzog;
derſelbe, der mich jetzt allabendlich, wenn ich aus dem
Geſchäft nach Hauſe gehe, verfolgt — ſo werden Sie
es begreiflich finden, daß ich ſehr wenig Luſt verſpüre,
Sie kennen zu lernen. Ich bitte, verſchonen Sie
mich mit Ihren Zudringlichkeiten, zu welchen ich vor
allem auch Ihre Briefe rechne. Ich würde dieſen,
wie die andern, unbeantwortet gelaſſen haben, wenn
ich nicht fürchtete, durch fortgeſetztes Schweigen Ihre
Kühnheit zu begünſtigen. Sollte es wirklich Männer
geben, welche der directen Bitte einer Frau, und noch
dazu einer unbeſchützten und ſchutzloſen Frau, wider¬
ſtehen können?


Marie Montbert.


Nr. 2. Mein Herr! Sie ſcheinen allerdings die
Wege zu kennen, durch die man ſich die Verzeihung
einer Frau, die man beleidigt hat, gewinnt. — Welches
auch die Motive waren, von denen ſie bei Ihrer
Handlung geleitet wurden, — Sie haben viel Thrä¬
nen getrocknet. Sie haben eine ganze Familie von der
Verzweiflung gerettet. Ich ſelbſt konnte nichts mehr
[222] für meine armen Landsleute thun — als nur Gott
bitten, ihnen einen Retter zu ſenden. Er hat Sie ge¬
ſandt. Beweiſen Sie ſich dieſer Gnade würdig! Be¬
denken Sie, daß, wer Lohn begehrt, ſeinen Lohn dahin
hat, und laſſen Sie nicht Ihre Linke wiſſen, was
Ihre Rechte that.


Ihre ergebene Dienerin
Marie Montbert.


Nr. 3. Was wiſſen Sie von dem Schickſale meines
Vaters? um Gotteswillen, mein Herr, ſpielen Sie
nicht mit dem Herzen eines Kindes! Sie wollen von
einem Obriſt der großen Armee, in deſſen Regiment
er den Feldzug nach Rußland mitmachte, ganz genaue
Einzelheiten über ihn während der Campagne und die
näheren Umſtände bei ſeinem Tode kurz vor dem
Uebergang über die Bereſina erfahren haben. Es
klingt das Alles ſo unwahrſcheinlich — und doch,
woher könnten Sie es wiſſen, wenn nicht aus ſicherer
Quelle? — auch der Name des Obriſten, wie ich aus
Briefen meines Vaters an meine Mutter erſehe,
ſtimmt, Ich weiß nicht, was ich glauben ſoll — aber
weshalb mir dieſe Mittheilungen, die, ich geſtehe es,
von unendlichem Werth für mich ſind, nicht in meiner
Wohnung — ich will ſagen: in der Wohnung der
guten Frau, die bei mir ſeit langen Jahren Mutter¬
[223] ſtelle vertritt, machen? Weshalb dieſes geheimnißvolle
Rendezvous? Weshalb ein Kind, das Nachricht von
dem Tode ſeines Vaters erwartet, zwingen, einen
Schritt zu thun, den dieſer Vater, wenn er lebte,
niemals billigen würde? Ich werde nicht umſonſt an
Ihr Herz appelliren; ich weiß, daß es der Großmuth
fähig iſt.


Meine Wohnung iſt Marienſtraße 21. Wenn Sie
die drei engen Treppen nicht ſcheuen, ſo werde ich
Morgen Sonntag, zwiſchen 10 und 12 Uhr zu Ihrem


Empfang bereit ſein.


Ihre ergebenſte Dienerin
Marie Montbert.


Nr. 4. Sie beſtehen auf dem Rendezvous, das,
wie Sie ſagen, durchaus kein geheimnißvolles ſei, denn
es fände auf offener Straße, an einem der belebteſten
Punkte der Stadt und zu einer Zeit, wo die Straßen
noch von Fußgängern ſchwärmten, ſtatt. Sie wollen
mir die Gründe, die Sie beſtimmen, meinen Wunſch,
„ſo ſchmerzlich es Ihnen auch ſei,“ nicht zu erfüllen,
ſelbſt ſagen, und Sie ſchwören mir, ich werde dieſe
Gründe, wenn ich ſie erfahren, billigen. Sind Sie
deſſen ſo gewiß? — Aber freilich, Sie ſind der Ge¬
ber — ich die Empfängerin — ich muß mich wol
Ihren Wünſchen fügen; daß Sie mich täuſchen wollten,
[224] will ich, kann ich nicht denken. Sie ſind einmal ſo
großmüthig gegen Arme und Hülfloſe geweſen, Sie
können das andere Mal gegen ein armes, hülfloſes
Mädchen nicht ſo ungroßmüthig ſein. M. M.


Nr. 5. Herr Baron! Nochmals meinen innigſten,
herzlichſten Dank! Dank auch für die Zartheit, mit
welcher Sie Alles eingeleitet hatten! Wie bitter Un¬
recht habe ich Ihnen gethan? Aber konnte ich ahnen,
daß Sie mich mit dem Herrn Obriſten von St. Cyr
ſelbſt bekannt machen würden? daß ich aus dem Munde
dieſes Veteranen in meiner geliebten Mutterſprache
den Heldentod meines Vaters ſollte erzählen hören?
Sie wollten nicht, daß der Obriſt die Tochter eines
Helden, den letzten Sproß einer einſt reich begüterten,
angeſehenen Familie in ſo dürftigen Verhältniſſen fände;
Sie wollten mir die Verlegenheit erſparen, den Grafen
von St. Cyr und den Baron von Grenwitz in einer
Dachkammer zu empfangen. Sie zogen es vor, mich
als Erzieherin in einer Ihnen nahe verwandten Fa¬
milie vorzuſtellen — und es war am Ende recht und
billig, daß ich in Ihrer Geſellſchaft den kranken und
von der Reiſe angegriffenen alten Herrn in ſeinem
Hotel aufſuchte. Nochmals vielen, vielen Dank! auch
dafür, daß Sie auf dem langen Rückwege vom Hotel
[225] bis zu meiner Wohnung den friſchen Schmerz durch
ein Schweigen ehrten, das Ihnen bei Ihrem lebhaften
Naturell gewiß nicht leicht geworden iſt. Wodurch
habe ich denn nur das Intereſſe, welches Sie an
meinem Schickſal nehmen, verdient? Ich bin doch
wahrlich recht unartig und unfreundlich gegen Sie ge¬
weſen! Sie fragten mich zuletzt, ob ich jetzt glaube,
daß Sie es gut mit mir meinen? Dieſer Brief mag
Ihnen darauf Antwort geben. Sie verlaſſen morgen
die Stadt — reiſen Sie glücklich, und laſſen Sie ſich
durch die beifolgende kleine Arbeit — ich habe ſie in
dieſer Nacht gefertigt — manchmal erinnern an Ihre


dankbare
Marie Montbert.


„Nun iſt das Püppchen geknetet und zugerichtet,“
ſagte Albert, der mit einem gar ſeltſamen und un¬
heimlichen Eifer — wie ein Beſchwörer, der die Re¬
cepte eines Nebenbuhlers in der ſchwarzen Kunſt ſtu¬
dirt — die ſchon mehrmals geleſenen Briefe wieder
las. „Dieſer Harald — das muß man ihm laſſen —
war der richtige Rattenfänger. Ich möchte nur wiſſen,
was für eine Sorte von Obriſt das geweſen ſein mag,
der dem dummen Dinge das Märchen von der Be¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 15[226] reſina aufband. Vielleicht der Teufel Oberſter, jeden¬
falls einer ſeiner Helfershelfer — die Sache muß dem
braven Harald ein ſchmähliches Geld gekoſtet haben.
Indeſſen, es wurde zweckmäßig verthan, denn in Nr. 6
hat er ſchon ſehr bedeutende Progreſſen gemacht.


Nr. 6. Kaum kann ich zu mir ſelbſt kommen!
Sie wieder hier! und hier um meinetwillen! hier,
weil die Sehnſucht nach mir Ihnen keine Ruhe ließ!
Mein Gott, mein Gott! wohin ſoll dies führen! Sie
ſind ein reicher Edelmann — ich bin ein blutarmes
Mädchen, das, mögen meine Ahnen geweſen ſein, wer
ſie wollten — mit ſeiner Hände Arbeit ſich das täg¬
liche Brod verdient. Meine Vernunft ſagt mir, daß
aus dem Allen für mich nur Unglück über Unglück
erfolgen kann, daß ich Sie fliehen — ich weiß nicht,
was ich Ihnen geſtern geſagt, was ich Ihnen ver¬
ſprochen habe — geben Sie mir mein Wort zurück!
Ich kann Sie heute — ich darf Sie nie, nie wieder
ſehen. Ich beſchwöre Sie, reiſen Sie wieder ab.
Sie müſſen es, wenn Sie mich wirklich lieben. Leben
Sie wohl viel tauſendmal!


Ihre
Marie.


„Was ſo ein acht Tage Abweſenheit nicht Alles
bewirken können,“ ſagte Albert, ſich die Cigarre, die
[227] ihm in dem Eifer des Leſens ausgegangen war, wieder
anzündend, „Ihre Marie!“ ausgezeichnet! wie ſich der
biedere Harald wol in's Fäuſtchen gelacht haben mag,
als er dieſe thränenreiche Epiſtel — denn hier ſind
noch die Spuren davon — las. Aber weiter!


Nr. 7. Nehmen Sie den köſtlichen Schmuck, den
heute ein unbekannter Mann für mich abgegeben hat,
wieder. Womit habe ich es verdient, daß Sie ſo
niedrig von mir denken? Daß ich Sie liebe, liebe,
trotzdem meine Vernunft mir deshalb die entſetzlichſten
Vorwürfe macht, Sie wiſſen es; ich habe es nicht
länger vor Ihnen verbergen können, verbergen wollen;
aber weshalb mir nicht wenigſtens den Troſt laſſen,
daß dieſe meine Liebe rein von jedem unedlen Neben¬
gedanken iſt! Dieſe koſtbaren Rubinen, dieſes rothe
Gold — es brennt in meiner Hand wie glühende
Kohlen — laſſen Sie mich, wie Sie mich fanden!
Wenn das arme, ſchmuckloſe Mädchen Ihre Liebe ge¬
winnen konnte, ſo ſehen Sie ja ſelbſt, daß Armuth
und Dürftigkeit ſich recht gut mit Liebe verträgt.


M. M.


„Sehr hübſch geſagt,“ äußerte Albert, dieſen Brief
zu den andern legend; „aber doch ſehr dumm! Ar¬
muth und Liebe vertragen ſich gerade ſo gut, wie
15*[228] Waſſer und Feuer. Ich möchte die feurige Liebe
kennen, die nicht ausginge, wenn ihr ein Eimer Ar¬
muth über den Kopf geſchüttet wird! Pah, das muß
ich beſſer wiſſen! Ich glaube, ich wäre albern genug,
die kleine Marguerite zu heirathen, wenn ich ein Mann
in Amt und Würden mit vom Staat garantirter guter
Beköſtigung wäre, aber da ich nichts weiter bin als
ein armer Teufel mit einem famoſen Appetit und
wahren Patent-Magen, ſo wäre es doch reiner Selbſt¬
mord, wollte ich die ſchon knapp genug zugemeſſene
tägliche Ration noch mit einem Andern theilen. Liebe!
Unſinn! Liebe iſt höchſtens ein ganz wünſchenswerthes
Deſſert zum Diner des Lebens. Ein gutes Diner ohne
Deſſert — bon! ein Diner mit Deſſert — noch beſſer,
aber ein Deſſert ohne Diner! — nun, für Frauen¬
zimmer mag auch das genügen; aber mit meiner Con¬
ſtitution verträgt es ſich nicht. Ob die gute Marie,
wenn ſie noch lebt, wie ich ſehr ſtark hoffe, jetzt nicht
doch manchmal beklagt, daß ſie die koſtbaren Rubinen
und das rothe Gold anderen jungen Damen, die es
weniger verdienten, zugewandt hat? Im nächſten
Brief wird die tugendhafte kleine Perſon ſogar ganz
übermüthig.


Nr. 8. Sieh, ſieh, mein Lieber; alſo auch eifer¬
ſüchtig können Sie ſein! wer hätte dem Baron Ha¬
[229] rald von Grenwitz ſolche bürgerliche Schwächen zu¬
getraut! Ich ſoll eine andere Wohnung beziehen;
weshalb? Damit ich im Winter nicht vor Froſt und
im Sommer vor Hitze umkomme; nicht alle Tage ein
paar Mal Gefahr laufe, mir auf den engen, ſteilen
Treppen den Hals zu brechen? bewahre! nur weil die
Madame Schwarz, bei der ich wohne, dem gnädigen
Herrn nicht gefällt, und weil der gnädige Herr in
Erfahrung gebracht hat, daß ein junger Franzoſe, ein
Monſieur d'Eſtein, mit mir auf demſelben Flure wohnt,
daß ich mit beſagtem Monſieur auf einem ſehr ver¬
trauten Fuße ſtehe, ja mit demſelben, ſelbſt des Abends
ſpät, Arm in Arm, auf der Straße geſehen worden
bin! Entſetzlich! Aber, im Ernſt, theuerſter Harald,
Sie haben wahrlich keine Urſache, ſich zu beklagen.
Die Madame Schwarz iſt eine ſehr ehrbare, ausge¬
zeichnete Frau, der ich unſäglich viel verdanke und
die, ſo lange ich denken kann, eine Mutter für mich
geweſen iſt; und was Monſieur d'Eſtein anbetrifft,
ſo wird Ihre Eiferſucht ſich wol wieder ſchlafen legen,
wenn ich Ihnen ſage, daß es derſelbe kleine, ältliche
Herr iſt, an deſſen Arm Sie mich zum erſten Mal
im Thiergarten ſahen. Monſieur d'Eſtein könnte den
Jahren nach mein Vater ſein, wie er denn auch der
Freund meines Paters war. Er ſtammt wie wir aus
[230] einer Familie franzöſiſcher Réfügiés und wäre wol
ſchon längſt in das geliebte Land ſeiner Väter zurück¬
gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬
mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort,
wo alle Welt die Sprache ſpricht, in der er hier Un¬
terricht ertheilt, Hungers zu ſterben. Er iſt ſehr
wunderlich, aber das bravſte Herz von der Welt. Er
würde für mich durch's Feuer gehen und au déses
poir ſein, wenn er nur die leiſeſte Ahnung von un¬
ſerem Verhältniſſe hätte. — Dies Alles würde ich
Ihnen ſchon geſtern Abend geſagt haben; aber ich
wollte einmal ſehen, ob Sie auch Widerſpruch ver¬
tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir,
Monsieur le Baron!


Votre très-méchante Marie M.


„Dies iſt die einzige Notiz über dieſen Monſieur
d'Eſtein,“ ſagte Albert, den Brief auf den Schooß
ſinken laſſend und nachdenkliche Wolken aus ſeiner
Cigarre blaſend; „ohne Zweifel derſelbe, welcher in
der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬
tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und
hernach die Entführung der bedrängten Unſchuld be¬
werkſtelligt. Ich fürchte, es ſind hier einige Briefe
verloren gegangen, denn als der nächſtfolgende ge¬
[231] ſchrieben wurde, waren die Affairen ſchon ſehr weit
gediehen.


Nr. 9. Soeben erhalte ich den — was ſoll ich
es verſchweigen! — längſt erwarteten Brief Ihrer
Frau Tante. Sie ſchreibt mir mit zitternder, aber
doch leſerlicher Hand, daß ſie das Lebensglück ihres
geliebten Großneffen höher ſtelle, als die Ruhe der
wenigen Tage, die ſie noch zu leben habe; ja daß ſie
ſich freue, eine ſo dringende Veranlaſſung zu haben,
nach dem Stammſitz ihrer Väter, dem Orte ihrer Ge¬
burt, wo ſie denn nun auch zu ſterben gedenke, eine
Reiſe, die letzte vor der großen Reiſe, anzutreten.
Sie werde am 13. von St. abreiſen, und bereits
vor mir in Grenwitz angekommen ſein, „da Sie ein
tête-à-tête mit meinem wilden Neffen ſo ſehr fürchten,
liebes Kind“ “ . . . Ich wie nicht ſagen, unaus¬
ſprechlich mich ſo viel Güte und Liebe rührt! wie
dankbar ich der herrlichen alten Dame bin, wie ich
mich freue, ihr die welken, lieben Hände zu küſſen!
Ja, Harald, wenn ſie, die Greiſin, die Aelteſte
Deines ritterlichen Geſchlechts mich Deiner würdig
gefunden hat, wenn ſie unſere Liebe ſegnet, dann
will ich mit tauſend Freuden die Deine ſein. Nur
Eines ſchmerzt mich, daß ich mich bei Nacht und
Nebel wie ein Dieb von hier, von der Frau, die ich
[232] wie eine Mutter liebe, von dem Manne, der mir
Vater und Bruder geweſen iſt, fortſchleichen ſoll.
Und doch — es geht nicht anders. Du haſt recht:
ſie würden mir den Abſchied nur noch ſchwerer machen;
ſie würden das Ganze ein romantiſches Abenteuer
ſchelten. Sie kennen Dich ja nicht, Sie wiſſen ja
nicht, wie treu und gut Du biſt. Aber Lebewohl darf
ich ihnen doch wenigſtens ſchriftlich ſagen! ihnen in
ein paar Worten für alle Güte und Liebe danken und
ſie über den Schmerz, den ich ihnen jetzt bereiten
muß, auf eine fröhliche Zukunft vertröſten. Ach,
wäre dieſe Zukunft doch erſt Gegenwart! Ihr neuer
Kammerdiener, der mir übrigens viel weniger ge¬
fällt, als der alte mit dem treuen, ehrlichen Geſicht,
meldete mir geſtern Abend, daß alle Vorbereitungen
auf übermorgen früh getroffen ſeien. Es iſt mir lieb,
daß ich in Ihrer Equipage und in Begleitung Ihrer
Leute fahren ſoll; der Gedanke einer ſo weiten Reiſe
hat ſo viel weniger Peinliches für mich. Auf bal¬
diges, köſtliches Wiederſehen, Du Vielgeliebter! M. M.


„Nun iſt das Vögelchen in's Garn gegangen,“
ſagte Albert, dieſen Brief, den letzten, zu den andern
legend, und alle wieder ſorgfältig mit dem rothſeidenen
Bande zuſammenbindend; „das Uebrige könnte man
[233] ſich zur Noth denken, wenn man es nicht aus der
langen Geſchichte der alten Hexe, der guten Freundin
meines ausgezeichneten Freundes Stein, wüßte. Ich
glaube, die Alte könnte noch mehr erzählen, wenn ſie
wollte. Ich muß mir Ihre Gunſt zu erwerben ſuchen
und mir freien Zutritt in ihre Salons verſchaffen.
Sollte ſie nicht noch Manches aus dem Nachlaſſe von
Fräulein Unſchuld in ihrem Beſitz haben, das zu
weiteren Entdeckungen führen könnte? Die Kleine hat
jedenfalls bei der eiligen nächtlichen Flucht ihre Kiſten
und Kaſten nicht zu ſorgfältig ausgekramt, und die
Alte eine gute Nachleſe an Bändern, Strümpfen,
Schuhen und warum nicht auch Briefen? gehalten.
Das Alles mag in ſicherer Ruhe in der großen, höl¬
zernen Lade, auf der ich mir an jenem Nachmittage
die Rippen wund gelegen habe, ſeiner Auferſtehung
entgegenſehen. Das iſt ein Gedanke!“


Albert war aufgeſprungen und hatte ſich vor den
Spiegel geſtellt, wahrſcheinlich um zu ſehen, wie ſich
ein ſo geiſtreicher Kopf denn eigentlich ausnehme.
„Das iſt ein Gedanke,“ und er warf ſeinem Spie¬
gelbilde eine Kußhand zu, welche dieſes in Anbetracht
der Vortrefflichkeit des Originals freundlich erwiederte
— „ein ganz famoſer Gedanke, den ich ausführen
muß, es koſte, was es wolle. Vielleicht war der
[234] Schacherjude ein wirklicher rechter Iſraeliter und Ab¬
geſandter des Monſieur d'Eſtein; vielleicht hat er der
Kleinen nur einen Brief überbracht, in welchem der
Plan der Flucht entworfen war, und dieſer Brief
fände ſich, und mit dem Briefe in der Hand könnte
man der Flüchtigen auf die Spur kommen.“


Herr Timm hielt plötzlich in ſeinem Monologe
inne und ſein Geſicht verdüſterte ſich: „Verdammt,“
murmelte er, „nun fehlt es wieder am Beſten, an
dem nervus rerum, an der Wünſchelruthe, mit der
ich den Schatz heben könnte. Offenbar werde ich zur
Erreichung meines Zweckes einige Reiſen machen
müſſen, zum mindeſten in die Reſidenz, um Marien¬
ſtraße Nr. 21 drei Treppen hoch im Hofe gewiſſe
Erkundigungen anzuſtellen; aber Reiſen koſten Geld
und mein actives Vermögen beſteht jetzt aus fünf
Silbergroſchen, von denen einer, glaube ich, nicht ein¬
mal echt iſt. Ich muß eine Zwangsanleihe bei der
kleinen Marguerite machen. Es geht wahrlich nicht
anders. Ich wollte es ja auch neulich ſchon, als
plötzlich die intereſſante Familie wieder einrückte und
unſerm idylliſchen Leben ein Ende machte. Freilich
dieſe verdammten Karten müſſen erſt fertig; ſonſt
läßt mich Anna-Maria nicht aus ihren Klauen. Ich
muß ſchon in den ſauren Apfel beißen.“

[235]

Und Herr Timm zündete ſich eine friſche Cigarre
an, entriegelte die Thür, beugte ſich über ſein Rei߬
brett, und zeichnete mit einem Eifer, als ob er in
der Welt keine andere Pläne kenne, als die, mit wel¬
cher ſich ein tüchtiger Geometer von Berufswegen ab¬
geben muß.


Ende des dritten Bandes.
[]

Appendix A

Druck von F. Hoffſchläger in Berlin.


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CC-BY-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Spielhagen, Friedrich. Problematische Naturen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnjp.0